LOGIK und PSYCHOLOGIE.
LOGIK und PSYCHOLOGIE
UND
IHR VERHÄLTNISS ZU EINANDER
Motto:
Denken ist schwer.
FERD. DÜMMLER'S VERLAGSBUCHHANDLUNG.
1855.
[[IV]]
Gedruckt bei A. W. Schade in Berlin, Grünstr. 18.
[[V]]
Vorwort.
Im Begriffe, vorliegendes Buch, des Verfassers erstes Werk von
einigem Umfange, der Oeffentlichkeit zu übergeben, regen sich
in mir, nach den Erfahrungen, die ich bei Gelegenheit meiner
kleinen Schriften gemacht habe, mancherlei Befürchtungen rück-
sichtlich der Aufnahme, die es finden dürfte. Ich habe aber
weder die Macht noch die Absicht, allen möglichen Mißver-
ständnissen, Unterschiebungen und ungehörigen Urtheilen zuvor-
zukommen; am allerwenigsten könnte dies in einem kurzen Vor-
worte geschehen. Denen, die meine Eigenthümlichkeit nicht be-
greifen, werde ich mich nie aufschließen können; und die, wel-
che, von der Sache abspringend, in voreiligster Weise mit ethi-
scher Beurtheilung bei der Hand sind, muß ich unbeachtet
lassen.
So will ich mich denn hier nur für diejenigen, die mich
verstehen und kennen, über einige Punkte näher erklären.
Was zunächst meine hier gegebene Kritik Beckers be-
trifft, so muß sie wohl allen, die den Ansichten dieses Sprach-
forschers anhängen, sehr streng, hart, bitter erscheinen. Aber
konnte ich denn wohl anders reden? Ich hätte diesen und
jenen Satz unterdrücken, dieses und jenes Wort streichen kön-
nen; gemildert hätte ich die Sache dadurch keineswegs. Eine
Kritik, wie die vorliegende, so gänzlich zerstörend, das Ge-
bäude und den Grund; so vollständig zersetzend, im Ganzen und
im Einzelnen; die Fehler von der äußersten Oberfläche bis
in die innerste Tiefe aufsuchend — eine solche Kritik kann
[VI] dem, der von ihr betroffen wird, auch durch die zartesten Rede-
wendungen und die süßesten Worte nicht gemildert werden.
Es thut mir leid, es schmerzt mich — wer mich kennt, weiß
es — wenn ich Personen verletze; aber ich kann es nicht än-
dern; denn die Systeme leben in den Personen und bilden ihre
Substanz. Wenn der Schmerz das Vorrecht fühlender Wesen
genannt worden ist: so ist der Schmerz über vernichtete Ge-
dankensysteme das Vorrecht denkender Personen. Man glaube
aber nicht, der Kritiker auf den Trümmern, die er angerichtet,
sei voll von Siegeslust; er hat höchstens das Gefühl von Befrie-
digung, das aus dem Bewußtsein entsteht, seine Pflicht gethan
zu haben, so gut er konnte und wie er konnte.
Auch diese meine Kritik Beckers ist eine Ehrenbezeugung,
die ich ihm darbringe. Weil er einen so umfassenden Raum in
der Geschichte der Sprachwissenschaft einnimmt, habe ich ihm
so viel Mühe gewidmet. Dem scheint zu widersprechen, daß, nach
meiner Kritik Beckers, nicht nur des Haltbaren in seinem Systeme
wenig oder überhaupt kaum etwas zu finden ist, sondern auch
daß Becker selbst — um es nur kurz zu sagen — fast unverstän-
dig erscheint. Daß dies der Sinn meiner Darstellung ist, wie
könnte ich das läugnen? Ich habe mir selbst die Frage vorge-
legt: wie ist es möglich, daß ein Werk, wie Beckers Organism,
welches nach deiner Darstellung das leerste Nichts sein soll, das
je veröffentlicht wurde, dessenungeachtet seit einem Vierteljahr-
hundert als Meisterwerk gilt und der Mittelpunkt einer Schule
geworden ist, die mehr Anhänger zählt als jemals eine? und zwar
dies allein und lediglich durch den innern Einfluß des Buches
auf die Geister; denn ich wüßte nicht, welcher äußerliche Ein-
fluß hier obgewaltet hätte — ich fragte mich: wie ist es mög-
lich, daß ein Mann einerseits seit Jahrzehenden als Gründer der
neuen Grammatik anerkannt wird, und andererseits dir in einem
Lichte erscheint, daß du Mühe hast, ihn von denen zu unter-
scheiden, die man geisteskrank nennt?
Und hier ist die Antwort, die ich mir gab. Ist denn die-
ser Fall Beckers so einzig? Fragt doch Trendelenburg und viele
andere, ob sie Hegel und seine Schule von den Bewohnern
Bedlams zu unterscheiden wissen. Noch andere Fälle legte ich
[VII] mir vor und überhaupt die Schwierigkeit, bestimmt zu sagen,
welcher geistige Zustand es ist, den wir als Krankheit bezeich-
nen. Und weiter sagte ich mir: es giebt, ja es giebt Krank-
heiten des Geistes in der Geschichte der Menschheit, die durch
die einmal vorhandenen Umstände eben so nothwendig und für
die Entwickelung des menschlichen Geistes eben so heilsam sind,
wie körperliche Krankheiten im Leben des Körpers; und dieje-
nigen Männer, welche der classische Ausdruck dieser Geistes-
krankheiten sind, sind sogar groß zu nennen, und wir schicken
sie nicht ins Irrenhaus, weil wir dorthin nur die bringen, welche
an einer individuellen Krankheit leiden, an einem ihnen eigen-
thümlichen Irrthume, dessen Möglichkeit auf ganz besondern
Verhältnissen beruht, an denen sonst niemand Theil nimmt. Jene
Männer aber hegen einen Irrthum, der durch die allgemeinen
Zustände vorbereitet ist, dem Tausende erliegen und dem jeder,
in diese Zustände versetzt, erliegen würde. Ihr Wahn ist also
ein objectiver, kein bloß subjectiver.
Als Becker auftrat, war Organismus das Schlagwort, das
in allen Kreisen geistiger Thätigkeit widertönte. Er führte daher
dasselbe in die Grammatik ein, und alle, die diese Wissenschaft
betrieben, mußten um so eher davon ergriffen werden, je dun-
kler das Wort blieb. Man glaubte sich zu verstehen, weil
man für einen gemeinsamen dunkeln Drang ein gemeinsames Wort
hatte. So wirken Schlagwörter allemal um so weiter, je weni-
ger sie verstanden werden; und die Parteien zerfallen, sobald
sie sich ihr Schlagwort klar machen wollen.
Das ist also das Verdienst Beckers, einem allgemein herr-
schenden dunkeln Drange ein Wort gegeben zu haben; und
dann auch, die alte Grammatik vollendet, auf die Spitze getrie-
ben zu haben; denn die Vereinheitlichung der Grammatik mit
der Logik ist ihre Erbkrankheit. Ich will nicht so weit gehen
zu läugnen, daß nicht auch manche Mängel Beckers rein sub-
jectiv sind; jedoch sind diese gewiß unwesentlich, und auch
sie fließen ursprünglichst aus den objectiven Schwächen.
Auch diese Kritik Beckers, wie alle meine übrigen Kriti-
ken, ist eine Kritik meiner selbst: denn theils habe ich selbst
Beckers Fehler gehabt, theils hätte ich sie leicht haben können.
[VIII] Durch meine Kritik Beckers habe ich also theils mich von wirk-
lichen Fehlern zu befreien, theils mich vor möglichen zu wah-
ren gesucht. Daher die lebendige Erregung meines Innern, die
sich in der Darstellung meiner Kritik offenbart. Wie könnte
ich meinen Gefühlen Schweigen gebieten, da sie so innig mit
meinen Gedanken verschlungen sind!
In meiner Kritik Humboldts sehe ich eine Art Tragödie, in
Humboldt einen Hamlet, der sich eine große Aufgabe gestellt
hat, an deren Ausführung ihn tausend Bedenklichkeiten hin-
dern. Und vorzüglich auch darin ist Humboldt dem Hamlet
ähnlich, daß, wie dieser endlich im Augenblicke seines Unter-
ganges, sterbend noch sich aufrafft und seine That vollführt: so
auch Humboldt, nachdem er seine gehaltvolle Anschauung schon
der Reflexion aufgeopfert hat, sich mit einem „dennoch“ auf-
rafft und dieselbe hinstellt allem Vorangehenden zum Trotz. Eine
so strenge Tragödie bietet die Kritik Beckers nicht. Es ist das
Schauspiel eines Leichtsinnigen, der ohne alle Vor- und Um-
sicht handelt. Humboldt ringt fortwährend mit allen Schwierig-
keiten; Becker sieht deren nie und nirgends. Aber ein anziehendes
Seelengemälde bietet auch er dar. Wie er Schritt vor Schritt in
den Abgrund des Nichts fallen mußte, wie ein Irrthum den andern
herbeiführte, und jeder neu hinzugekommene die Rückkehr er-
schwerte, das Bewußtsein abstumpfte: das glaube ich klar gese-
hen und gezeigt zu haben. Auch hoffe ich, man werde finden,
daß ich meinen Gegner nicht leicht genommen habe. Ich habe
mir viel Mühe gegeben, ihn zu erklären und zu vertheidigen.
Ohne einen Mann im Innersten und Tiefsten zu erfassen, würde
man seine Fehler nicht begreifen.
Ich habe mit Lebhaftigkeit dargestellt, weil mich die Sache
lebhaft ergriffen hat. Ich hoffe aber, man werde nie finden, daß
ich mich so weit hätte hinreißen lassen, die positive Seite Bek-
kers zu übersehen; ich habe sie hervorgehoben. Ich habe Beckers
Verdienst anerkannt, das freilich nur in seinem Streben liegt.
Aber man höre doch auf von Unbescheidenheit zu reden, wo
es sich um Erforschung der Wahrheit handelt. Wissenschaft-
liche Darstellung verlangt erstlich Entschiedenheit und Bestimmt-
heit des Ausdruckes. Begriffe und Ideen müssen fest begrenzt
[IX] werden, und man darf die Urtheile nicht dem Schwanken und
der Willkür der Deutung überlassen. Ferner aber denke ich mit
Göthe: „Bescheidenheit gehört eigentlich nur für persönliche Ge-
genwart… In alle freien schriftlichen Darstellungen gehört Wahr-
heit, entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug
auf das Gefühl des Darstellenden, und, so Gott will, auf beides.
Wer einen Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt, nicht
lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen“.
Becker erhält endlich seine Berechtigung durch den Gegen-
satz, in welchem er zu seinen Zeitgenossen steht; und diese Be-
rechtigung erstreckt sich, wiewohl mit geminderter Kraft, auch
auf seine heutigen Anhänger. Denn wenn auch allerdings seit
dem Erscheinen des Organism nicht bloß Humboldts letzte um-
fassende Arbeit ans Licht getreten ist, sondern auch sämmtliche
deutsche Sprachforscher ein tieferes Gefühl vom Wesen der
Sprache in sich tragen, als Beckers Zeitgenossen hatten; so ist
doch die alte Ansicht von einem reflectirenden Machen
der Sprachen noch nicht völlig, noch nicht allgemein überwun-
den; und einer so falschen Anschauung gegenüber muß ich dem
Beckerschen Begriffe vom Organismus der Sprache, so mangel-
haft er auch ist, seines Strebens wegen den Vorrang einräu-
men. Die hier erwähnte, noch nicht ganz verschwundene An-
sicht von einem über Mittel und Zweck der Sprache nachsin-
nenden Machen der Sprachen hat neuerdings wieder ihren Aus-
druck gefunden in einem Werke, das nicht verfehlen wird, die
Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich zu ziehen: Bun-
sen, Outlines of the philosophy of universal history, applied to
language and religion. London 1854. 2 voll. In diesem Werke
sind lange Stücke von Hrn. Aufrecht und noch mehr von Hrn.
Müller, dem Herausgeber des Rigveda; und er ist es, der das
Recht der Beckerianer in unsern Augen klar darthut. Hr. Mül-
ler nämlich theilt die Sprachen in drei Klassen ein (a. a. O.
I. S. 281 ff.): Family-, Nomad- and State-Languages, welche
ganz den Klassen der alten Eintheilung entsprechen: es sind
nämlich die einsylbigen, agglutinirenden und flectirenden Spra-
chen. Das Semitische und die sanskritischen Sprachen bilden
die dritte Klasse, zu der auch das Aegyptische gehört, das nur
[X] eine frühe Abzweigung des Semitischen sein soll. Zur ersten
Klasse gehört das Chinesische; alle übrigen Sprachen der Erde
sollen Nomaden- oder Turanische Sprachen sein. Alle Spra-
chen aber stammen von einer Mutter. Nämlich, so lautet der
ganz naive Mythos des Hrn. Müller (das. I. S. 310), vor vielen
Jahrtausenden, oder Kalpas, lebte ein Mann, oder ein König
— denn er und seine Familie waren noch die einzigen Men-
schen —, genannt Feridun. Er hatte drei Söhne, Tur, Si-
lim und Irij. Der Mann hatte die Sündfluth durchlebt, und in
seinem Hause sprach man nicht mehr die antediluvianische Spra-
che, welche bloß aus Wurzeln bestand (das. S. 487). Wie der
Mythos dies meint, weiß ich nicht. Denn diese antediluviani-
sche Sprache soll zwar eine andere sein als die Familiensprache
d. h. die Sprache in der Familie Feriduns, in welcher aber doch
auch nur „Juxtaposition“ herrschte, wie heute noch im Chine-
sischen, wo also Wurzel neben Wurzel gestellt wird; und we-
niger als dies können doch auch die antediluvianischen Men-
schen nicht gethan haben. Wir dürfen indeß vom Müllerschen
Mythos nicht mehr Klarheit erwarten, als von jedem andern,
deutschen oder indischen oder persischen. Verfolgen wir also
nur den Mythos weiter. Feriduns Söhne verließen das väter-
liche Haus, um sich auf die Wanderschaft zu begeben. Was
wird nun aus der Sprache, die sie am heimathlichen Herde ge-
lernt hatten? Hören wir den Mythos in seinem heiligen Urtexte,
da zu fürchten steht, daß durch eine Uebersetzung in unser ab-
stractes Deutsch, seine ganze Naivität verwischt werde (das.
S. 310): „What they carried away from home were roots and
pronouns. Two of them, Silim and Irij seem both to have held
the secret how a root could be divided and changed so that
it might be used as a subject or as a predicate. Tur also may
have known it; but he either forgot it, or he did not like to
tamper with those sacred relics which he had carried away from
his father’s house … Now there were at least four things
which Tur had to express with his roots and pronouns. If he
possessed a root for cutting, he wanted to say, I cut (present);
I cut (past); cutter i. e. knife, and my cutter i. e. my knife.
These four little phrases were indispensable for him, if he wished
[XI] to get on in the world. As long as he was alone with his
family and children, he no doubt could make them understand
by some expressive accent when ngò.tà (moi battre) meant „I
beat“ and when ngò-tà meant „my stick“ (moi-bâton). What
followed would generally remove all incertainty, if it existed;
for ngo.ta.ni, I-strike-thou (moi battre vous) could only mean
„I strike thee“. All this may seem so natural, as far as con-
struction goes, that at first one hardly discovers any thing
peculiar in these different modes of expression. Still in the con-
struction of these two expressions, ngo.ta, I beat and ngo-ta
my stick there is something so individual and peculiar, that
neither Silim nor Irij could imitate it. This is the liberty of
putting the predicate first in one sentence and last in another.
Silim could say ngo.ta I beat (e’.qṭol) but never ngo-ta my-
stick… Irij again, at least in his early youth, could say ngo.ta
my stick (mad-danda) but never ngo.ta I-striking. Instead of
this he had to say striking-I (tudâmi). Silim divided his
roots into simple nouns and fuller verbs; … he had only one
difficulty, which, with all his acuteness, he could not overcome:
he could never think a predicate without first having thought
his subject … The opportunity, however, which he had of
forming at least these two verbal compounds, beating (of) me,
and I-beating, was not lost by Silim; and as he found it essen-
tial to make his friends understand either that he had paid or
that he meant to pay, he took the first form, paying (of) me,
in the sense of the preterite, while the mere assertion of I-paying
was left to answer the purpose of a present or a future payment.
— The mind of Irij was more comprehensive than that of
Silim … How then could Irij express his preterite? … Silim
when he found himself in the same dilemma etc. etc.“ Wir woll-
ten einen Mythos nicht mit profanen Fragezeichen und Bemer-
kungen unterbrechen. Wem dieser gefällt, der mag ihn weiter
lesen und ganz ausführlich a. a. O. In bestimmter dogmatischer
Form mag er dann noch lesen (das. S. 477): As in the forma-
tion of political societies, we do not require the admission of
any powerful individual mind to account for the presence of
governed and governing classes, or of laws against theft and
[XII] murder, but can explain these as the necessary result of social
agglutination, we see nothing in the organisation of the Turanian
languages that betrays the influence of some individual poetical
genius, as the framer of peculiar laws, or the author of certain
grammatical principles. In the Semitic and Arian languages, on
the contrary, we find institutions, laws, and agreements,
which, like the laws of inheritance and succession at
Rome or in India, show the stamp of an individual will
impressed on the previous traditions of scattered tribes. It is
possible that the Semitic and Arian languages also passed through
a stage of mechanical crystallisation, or uncontrolled conglome-
ration of grammatical elements; but they left it, and entered
into a new phase of growth and decay, and that through the
agency of one creative genius grasping the floating ele-
ments of speech, and preventing by his fiat their further atomi-
cal concretion.
Beckerianer, ihr seid gerechtfertigt!
Bunsen hat seine frühere Ansicht von der Dreitheilung der
Sprachen und Völker nach Sem, Ham und Japhet der Müller-
schen nach Tur, Silim und Irij, also den semitischen Mythos dem
arischen geopfert. Mythos gegen Mythos: ob das wohl der Mühe
des Tausches lohnt? — Ich erinnere mich, daß vor mehreren
Jahren ein Mann in Berlin lebte, Namens Schwartze, welcher
in zwei dicken Quartbänden und in einer Koptischen Gramma-
tik bewies, daß die ägyptische Sprache weder die Ursprache
des Semitischen und Sanskritischen sei, wie Bunsen ehemals
meinte, noch ein bloßer Zweig des Semitischen, wie er jetzt
meint; sondern ein Stamm neben den beiden andern Stämmen.
Der Mann verstand das Koptische vortrefflich und hatte eine
feine sprachwissenschaftliche Bildung.
Beckers Ansichten fanden bei den historischen Sprachfor-
schern von vorn herein Widerspruch, und ein Etymologe, wie
Pott, konnte sich keinen Augenblick mit Beckers Werk über
„das Wort“ vertragen. Aber ich wüßte doch nicht zu sagen,
wie weit wohl die historischen Sprachforscher über diesen blo-
ßen Widerspruch gegen Becker hinausgekommen sind. Ja, in
seiner Sphäre, d. h. in der allgemeinen Grammatik, hat man
[XIII] ihn sogar, principiell wenigstens, anerkennen müssen; man wollte
sich nur nicht von der allgemeinen Grammatik in die besondere
hineinreden lassen, und noch weniger die allgemeine als die
wichtigere oder gar als die allein wichtige angesehen wissen: da
sie doch vielmehr nur ein Organon der historischen Sprachwis-
senschaft sein sollte. Potts Verdienste um eine vernünftige Auf-
fassung der Sprache warten nicht auf des Verfassers Anerken-
nung. Käme es darauf an, daß wir diese besonders aussprä-
chen, wir würden uns wahrlich nicht begnügen, ihn denjenigen
Sprachforscher zu nennen, der unter allen die meisten Sprachen
kennt; wir würden Besseres von ihm zu sagen wissen; denn er
strebt nach höherem Ruhme. Die gemeinsame Grundlage Bek-
kers aber und der Historiker, auch Potts, zeigt sich in ihrem
gemeinsamen Widerspruche gegen unsere Ansicht, welche den
logischen Boden, auf dem beide stehen, gänzlich verläßt.
Darum muß es uns bedeutsamer erscheinen, daß ein Sprach-
philosoph auf philosophischem Boden sich der Beckerschen An-
sicht entgegenstellt. Dies ist Heyse. Der volle und reine
Ausdruck seines Systems ist leider noch nicht veröffentlicht.
Jedoch schadet es vielleicht nicht viel, daß es so lange auf sich
warten läßt; denn der größte Theil des Publicums scheint noch
wenig vorbereitet, seine Ideen zu würdigen. Das hat sich in
der Aufnahme seines Wörterbuches und seiner Grammatik der
deutschen Sprache gezeigt. Wiewohl diese Werke nicht der stren-
gen Wissenschaft angehören, so hätten sie doch mehr Beachtung
verdient, als ihnen gewidmet worden ist. Namentlich würde
Jacob Grimm, wenn er Heyses Wörterbuch einer näheren
Prüfung unterzogen hätte oder bei seiner jede andere ausschlie-
ßenden Richtung die eigenthümlichen Leistungen dieses Sprach-
forschers überhaupt gehörig zu würdigen vermöchte, jene durch-
aus selbstständige, gründliche Arbeit schwerlich in eine Reihe
mit fabrikmäßig angefertigten Auszügen und Compilationen ge-
stellt und mit diesen in Bausch und Bogen als nutz- und werth-
los verurtheilt haben. Ich kenne Grimms hohe Bedeutung und
habe daher seine Schrift: über den Ursprung der Sprache, die
in der That nur in sofern von Interesse ist, als sie die Unzu-
länglichkeit des historischen Standpunktes zur Lösung solcher
[XIV] über seinen Gesichtskreis hinaus liegenden Fragen im hellsten
Lichte zeigt, mit der seinen großen Verdiensten gebührenden
achtungsvollen Rücksicht behandelt. Wenn er aber jetzt die
Werke meines verehrten Lehrers und Freundes, dessen Streben
er verkennt, weil es auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, nicht
bloß, wie bisher, gänzlich ignorirt, sondern geringschätzig verur-
theilt: so wird mir kein Unparteiischer verargen, daß ich ihm
entschieden entgegentrete.
Ich kann aber noch nichts Näheres über Heyses Ansicht sa-
gen, so lange sie nicht der Oeffentlichkeit angehört. Nur muß
ich ausdrücklich bemerken, daß, so oft ich allgemein von
der bisherigen Grammatik rede, Heyse nicht mit eingeschlos-
sen ist.
Es liegt mir nun an, einiges über das Motto dieses Buches
zu sagen. „Denken ist schwer“: das ist der Wahl- oder Warn-
spruch der Kritik, wie ich sie verstehe, und welche ich von der
Kritik einer gewissen Partei der Sprachforscher geschieden wis-
sen will. Um nicht im Dunkel zu lassen, was und wen ich
meine, so will ich einen Vertreter dieser Partei nennen, den sie
wohl als solchen wird gelten lassen: Herrn Dr. Aufrecht.
Auch will ich sogleich auf eine specielle Aeußerung Rücksicht
nehmen.
Wir waren so glücklich, siebenzehn Jahre nach dem Tode
Humboldts noch ein ungeahntes posthumes Werk von ihm zu
erhalten, wenn es auch nur ein Brief ist. Wir meinen den in
der Zeitschr. f. vergl. Sprfschg. von Aufrecht und Kuhn Bd. II.
abgedruckten Brief über den Infinitiv. Nun stimmt freilich kein
Wort Humboldts zur Tendenz jener Zeitschrift. Die Aufnahme
des Briefes mußte entschuldigt werden; und dies geschieht durch
folgende Vorbemerkung des Hrn. Aufrecht: „Wie die Naturwis-
senschaften erst seit der Zeit zu reichster Entfaltung gelangt
sind, seitdem das Experiment in die einzelnen Disciplinen der-
selben eingeführt wurde.“ — Seit wann mag denn wohl letzteres
geschehen sein? ersteres natürlich erst in unserm Jahrhunderte;
auch letzteres? Hr. Aufrecht will uns dies glauben machen! Wer
wird ihm folgen? Der müßte z. B. nicht bedenken, daß die
Chemie als Wissenschaft noch nicht seit einem Jahrhundert exi-
[XV] stirt, wiewohl man das ganze Mittelalter hindurch viel expe-
rimentirt hat und sogar zu allen Zeiten und an allen Orten,
selbst unter den Wilden, chemische Erfahrungen hatte. Gerade
die Theorie war es, die Verstand und Vernunft in diese sinnlo-
sen Experimente brachte; und vorzüglich auch mit der rationel-
len Entwickelung der Theorie ist die Chemie zu dieser „reich-
sten Entfaltung gelangt,“ deren sie sich heute erfreut. Ebenso,
wenn der Fortschritt der Physiologie und der medicinischen Wis-
senschaft in geradem Verhältnisse zu den Experimenten stünde,
welche man täglich am Krankenbette macht: wie glänzend würde
es um dieselbe stehen! Aber nicht das Experiment allein, sondern
auch die Theorie macht den Fortschritt. Auch Newton über-
trifft Kepler dadurch, daß er zu seiner Beobachtung die Theo-
rie brachte. Doch hören wir nach obigem Wie auch das So:
„so wird die Sprachwissenschaft erst dann zu wahrem Gedeihen
gelangen, wenn mehr und mehr das Erfahrungsmäßige in der-
selben zum Bewußtsein gebracht sein wird.“ Schwerlich hat
sich Hr. Aufrecht klar gemacht, was er hier gesagt hat. Denn
wenn die Erfahrung zum Bewußtsein gebracht werden soll, so
geschieht dies eben nur durch die Theorie. Hr. Aufrecht wollte
freilich sagen, das Heil der Sprachwissenschaft hänge davon ab,
daß man wisse, sie sei empirisch. So fragen wir denn, war
etwa die Grammatik nicht zu allen Zeiten empirisch? War es
nicht besonders auch die Theorie, welche die neue Sprachwis-
senschaft schuf? war es nicht die tiefere philosophische Ansicht
vom Wesen der Sprache? War Bopp, der Gründer der verglei-
chenden Grammatik, der erste Sanskritist? Verstand vor Grimm,
dem Gründer der historischen Grammatik, niemand altdeutsch
und die beiden classischen Sprachen? — Hr. Aufrecht fährt fort:
„Apriorische Theorien“ — giebt es deren denn? — haben von
jeher die Wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze
Jahrhunderte gehemmt.“ Ein Beispiel, wenn’s beliebt! nur eins!
Wo wuchern denn die Theorien? nicht unter den Empirikern?
Wenn die Annahme einer besondern Lebenskraft z. B. der Phy-
siologie geschadet, waren es nicht Empiriker, welche sie hegten?
sind es nicht Philosophen, welche sie verbannen?
Endlich aber, wenn Hr. Aufrecht die Elemente der wahren
[XVI] Kritik kennte, hätte er sich nicht fragen müssen, warum sind
denn diese falschen Theorien Jahrhunderte lang festgehalten wor-
den? Denn wenn Hr. Aufrecht nicht so abstract, d. h. einsei-
tig wäre, wenn er die Sachen concret, d. h. in ihrer Totalität,
allseitig, anzuschauen fähig wäre, so würde er gesehen haben,
daß die falschen Theorien nicht die Ursache, sondern der That-
bestand selbst der gehemmten Wissenschaften waren und sind,
welcher Thatbestand nun eben erst Erklärung verlangt, aber
nicht durch die Theorien selbst erklärt werden kann, weil dies
ein idem per idem wäre.
Wenn man sich auf die Naturforscher berufen will, so muß
man sie besser kennen als Hr. Aufrecht sie zu kennen scheint,
der z. B. übersehen oder nicht beherzigt hat, was der Physiologe
Johannes Müller, der doch gewiß „das Erfahrungsmäßige
in der Physiologie zum Bewußtsein gebracht hat“ (Hand-
buch der Physiologie des Menschen *) II. S. 522) sagt: „Die
wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind we-
der allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie,
noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern
durch eine denkende Erfahrung … eine philosophische Er-
fahrung. In allen Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn
sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die
Sinne selbst nicht mehr erfahren, sondern durch den Geist ab-
strahirt wird… aber so weit Begriffe in einer Wissenschaft vor-
kommen, aus welchen Erscheinungen abgeleitet wer-
den, so weit ist sie auch philosophisch.“
Auch Schleiden mögen diejenigen, die ihn für eine hohe
Autorität halten, erst recht verstehen lernen; sie mögen von ihm
hören (Botanik 1849 I. S. 7): „Nun aber hat umgekehrt die Na-
turwissenschaft erst wieder von der Philosophie zu empfangen.“
— (S. 8): „Hier versteckt sich die empirische Unfähigkeit
immer hinter die Vieldeutigkeit unbestimmter und mangelhafte[r]
Abstraction, über welche die gesunde Empirie selbst keine Mach[t]
[XVII] hat, deren Aufklärung sie vielmehr allein von der Philosophie
erwarten muß.“ Nur ob sie das gerade von der Friesisch-Kan-
tischen Philosophie zu erwarten hat, sei zu bezweifeln erlaubt.
Wir sind hinaus über den Gegensatz von Theorie und Em-
pirie, a priori und a posteriori. — Hr. Aufrecht hält die Sprach-
philosophie für verfrüht. Das will in Wahrheit doch nur sagen,
daß er das Bedürfniß derselben nicht fühlt, nicht begreift, noch
weniger die Mittel kennt, dasselbe zu befriedigen. Statt des
Vielen, was hier zur Berechtigung dieses Bedürfnisses, über sei-
nen Umfang und über seine Bedeutung und endlich über das
Streben und die Möglichkeit es zu befriedigen, gesagt werden
könnte, stellen wir vielmehr die Frage, ob nicht, nach Hrn. Auf-
rechts strenger Ansicht, die Sprachphilosophie auf die griechi-
schen Kalenden zu verschieben sei.
Wenn jemand bekennt; „ich bilde mir nicht ein etwas Rech-
tes zu wissen,“ so ist zu bedenken, wie Faust diesen seinen
Ausspruch erklärt, indem er weiterhin sagt:
Wenn ihr Göthe verstehen wollt, so eignet euch sein „Ver-
mächtniß“ an.
Hr. Schleiden hat sich neuerdings noch einmal ganz ent-
schieden dahin erklärt, alle Streitigkeiten in der Wissenschaft
rührten bloß von der Methode her; und sobald man sich nur
erst über diese verständigt habe, so würde der ewige Friede da
sein. Es gäbe nämlich überall nur zwei Methoden: die gute
und die schlechte („im Garten gehn zwei Schafe, ein schwar-
zes und ein weißes“); die gute ist nach ihm die naturwis-
senschaftliche, die schlechte ist die historische; erstere
ist Selbstdenken, letztere ist Autoritätsglaube.
*
[XVIII]
Das sogenannte Selbstdenken ist aber vielmehr ein Selbst-
sehen und Selbstbetasten; und wie könnte es nun an Adepten
dieser Doctrin fehlen, die so streng sind, die Existenz Ameri-
kas und Napoleons zu läugnen; denn sie haben beide nicht selbst
gesehen.
Es fehlt diesen Herren an dem ABC der Psychologie und
der geschichtlichen Anschauung. Sie bilden sich ein, es genüge,
um ein tiefer Selbstdenker zu werden, daß man sich eines schö-
nen Morgens niedersetzt und zu sich spricht: ich will selbstden-
ken, ich will zweifeln. Da werden denn Sonne, Mond und Sterne
verpufft, Himmel und Erde bei Seite gezweifelt, um alles so-
gleich darauf doch wieder anzuerkennen — aber selbstden-
kend!
Wüßten die Herren etwas von Geschichte, so wüßten sie,
daß wir seit Bacon und Descartes über diese Skepsis hinaus
sind. Sie würden wissen, daß seit jener Zeit jedes Menschen-
alter schrie: „Kritik, Kritik! ja wir, wir sind nicht wie unsere
Väter, kein Autoritätsglaube mehr; wir leben im Zeitalter der
Kritik, wir sind nicht mehr im Mittelalter, wir!“ Und indem
man zu jeder Zeit so schrie, verurtheilte jede die vorangegan-
gene als unkritisch.
Fern von uns, in solche Lächerlichkeit mit einzustimmen!
Wir wissen, daß jede Zeit so denkt, wie sie denken kann, den-
ken muß. Die Kritik weiß, daß mit solchem Vorsatz, einmal
alles zu bezweifeln, noch nicht das Mindeste geschehen ist, und
daß man dadurch nicht zur Erkenntniß und Ablegung des klein-
sten oder größten Irrthums kommt; daß alle Irrthümer eben
Erzeugniß des Selbstdenkens sind. Die Kritik weiß: „Denken
ist schwer,“ und vollkommenes, absolutes Denken unmöglich.
Behutsam ist der Kritiker, und nennt man dies zweifeln, so be-
tonen wir stark, daß er vor allem räth, am eigenen Zweifel zu
zweifeln. Das dürfte jenen Skeptikern wohl nie in den Sinn
gekommen sein, daß nichts zweifelhafter ist, als ihr Zweifel.
Ist denn nicht, höre ich fragen, die Bezweiflung des Zwei-
fels eine doppelte Negation, also eine Bejahung des Dogmatis-
mus? — Das will uns eine sophistische Dialektik einreden; dem
[XIX] ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der
Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli-
chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer
abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un-
tersuchung, d. h. zur Kritik.
Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller-
dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind
tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm
alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte-
sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie
zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den-
ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent-
decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer
noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge
nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche
selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei-
fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die
mindeste Beachtung.
Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na-
tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also
Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die
vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor
der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der
uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in-
dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers
sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und
Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch-
geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.
Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre-
chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe
meine Abhandlung „Die Entwickelung der Schrift“ S. 19) ver-
sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich
zu erörtern; und zweitens war meine Schrift „Der Ursprung
der Sprache“ ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst
gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind
beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der
**
[XX] Grammatik zu bestimmen, und nur so weit und in so fern sie
zu diesem Zwecke gehörten, sind sie besprochen worden. Bei
der Untersuchung über den Ursprung der Sprache zumal wollte
ich die Aufgabe in ihrer größten Einfachheit, in ihrer rein-
sten Gestalt bearbeiten, abgelöst von allen Problemen, die sich
an sie knüpfen, aber wesentlich anderen Gedankenkreisen ange-
hören. Diese Vorsicht war nöthig, mindestens rathsam, indem
die Sache, wie ich sie faßte, auch so noch unübersteigliche
Schwierigkeiten darbot. Ich mußte mich damit begnügen, die
Frage nur erst zurecht gerückt und auf ihren wahren Boden
gestellt zu haben, und konnte nicht hoffen, indem ich sie in die-
ser ihrer wahren Gestalt zum ersten Male angriff, sie zur vollen
Befriedigung zu lösen. Wenn ich nun um Nachsicht bitte, so
wird zwar mancher glauben, solche Bitte stimme wenig zu dem
Tone, den ich überall anschlage; andere aber, hoffe ich, wer-
den mir wohl die Nachsicht gewähren, deren ich bedarf, indem
sie meine Eigenthümlichkeit besser verstehen und nicht überse-
hen werden, wie gewissenhaft ich gestrebt habe, und wie ich in
meinem Buche überall das Bewußtsein davon habe: es ist alles
angefangen, vollendet nichts.
Die Quellen, aus denen ich geschöpft, die Männer, deren
Werke mich angeregt haben, sind im Buche gelegentlich ge-
nannt. Den jüngeren Mitarbeitern, die mir Vertrauen schenken,
empfehle ich hier besonders die Arbeiten Lotzes, des größten
Denkers unserer Zeit. Seine Metaphysik und Logik sind mir
leider erst bekannt geworden, nachdem ich die Handschrift zu
diesem Buche schon aus Händen gegeben hatte. Besonders was
ich über die Logik im Allgemeinen gesagt habe, dürfte nach
Lotze besser zu sagen sein.
Die tiefste Anregung erhielt ich durch den Humboldtschen
Begriff der inneren Sprachform; und das vorliegende Buch ist
nur die Erläuterung dieses Begriffes. Ich sehe immer noch
Humboldt als den Urheber desselben an, wiewohl ich einerseits
nicht zurücknehmen kann, was ich in meiner Kritik Humboldts
(vergl. meine Schrift: Die Classification der Sprachen) überzeu-
gend bewiesen zu haben glaube, daß er nämlich in keiner Grund-
[XXI] frage der Sprachphilosophie zu einer entschiedenen Ansicht und
einem klaren Begriffe gelangt ist, und andererseits zugestanden
werden muß, daß nicht bloß überall und längst die innere Sprach-
form geahnt worden ist, nicht bloß die neuere vergleichende Ety-
mologie ihren lexikalischen Theil fleißig bearbeitet hat, sondern
daß auch innerhalb der historischen Grammatik selbst die Be-
deutungslehre aufgetaucht ist, die doch wohl nichts Anderes
sein wird, als die Darstellung der innern Sprachform. Reisig
ist der Urheber dieser Bedeutungslehre, die freilich bei ihm noch
einen sehr beschränkten Sinn hat, indem sie nur die Bedeutun-
gen der Wörter zum Gegenstande hat. Wir hoffen, daß es
seinem Herausgeber und Nachfolger Haase gelingen wird, das
begonnene Werk seines Lehrers glücklich fortzuführen. Es steht
ihm aber noch die Aufgabe bevor, die Bedeutungslehre wirklich
zu begründen, nur erst einmal ihr wahres Wesen und ihren Um-
fang, wie ihre allseitigen Beziehungen darzustellen, sei es theo-
retisch, begrifflich, oder an dem Beispiele einer besondern Gram-
matik. Pott und Benary haben Reisigs Idee sehr bereitwillig
anerkannt. Benary hat ihren Gegenstand erweitert, indem er
auch die Bedeutung der Wortformen hineinzog. Es will mir
aber kaum scheinen, als hätten sie die Sache richtig erfaßt:
sie würden sonst eben den Humboldtschen Begriff der innern
Sprachform besser erkannt haben. Die Bedeutungslehre kann
nicht im mindesten apriorisch sein; sie kann gar nichts mit der
Logik zu thun haben. Sie wird zunächst ganz individuell und
historisch sein, Bedeutungslehre der lateinischen, der griechischen
u. s. w., Sprache und wird ferner, in einem allgemeinen Theile,
auf allgemeine psychologische Gesetze zu gründen sein. Wir
gestehen also nicht bloß eine Verwandtschaft zwischen Bedeu-
tungslehre und innerer Sprachform zu, sondern meinen, die Be-
deutungslehre, wahrhaft aufgefaßt, sei eben Darstellung der in-
nern Sprachform. Trotzdem schließen wir uns lieber dem Sprach-
gebrauche Humboldts an, weil der Begriff Humboldts doch bestimm-
ter, entwickelter scheint als der Reisigs und selbst der Benarys,
und dies deswegen, weil die Benennung „innere Sprachform“, wie
ihr Inhalt, sich als Glied eines Systems von Begriffen und Na-
[XXII] men kund giebt. Sie weist nämlich sogleich auf den übergeordneten
Begriff, Sprachform, hin, worunter, wie in diesem Buche gezeigt
ist, Humboldt das individuelle Princip einer Sprache versteht,
nach welchem der lautliche Bau der Sprache einerseits und ihr
System von Vorstellungen und Vorstellungsbeziehungen anderer-
seits gebildet ist — das Princip, welches die Sprache zur Ein-
heit, zum Organismus, macht und jeder Einzelheit das bestimmte
Gepräge aufdrückt, durch welche sie auf das Ganze bezogen
wird. Alles dies und das Viele, was damit verknüpft ist und
daraus folgt, liegt nicht eben so klar und bestimmt in Bedeu-
tungslehre: darum spricht sie auch mit weniger Entschiedenheit
ihren Unterschied von der Logik aus. Noch ein anderes Ver-
hältniß scheint mir zu beweisen, daß das Wesen der Bedeu-
tungslehre, wie sie jetzt aufgefaßt wird, noch sehr ungenügend
bestimmt ist. Man will die Grammatik in drei Theile zerfallen
lassen: Etymologie, Bedeutungslehre und Syntax. Diese Ein-
theilung will mir wenig einleuchten. Bedeutungslehre ist kein
Begriff, der in derselben Reihe mit Etymologie und Syntax
steht, weder als nebengeordnet, noch als Stufenentwickelung,
noch als vermittelnd. Man sage statt Bedeutungslehre innere
Sprachform, und man wird eben so wohl das Unpassende die-
ser Dreitheilung fühlen, als auch sogleich das richtige Verhält-
niß erkennen. Bedeutung und innere Form ist sowohl in der
Etymologie, als auch in der Syntax, wie auch in beiden die
Lautform ist. Der Unterschied zwischen dem etymologischen
und dem syntaktischen Theile der Grammatik liegt doch wohl
einfach darin, daß jener die einzelnen Sprachelemente, dieser die
Zusammenfügung der Elemente bespricht. Vor diesen beiden
Theilen könnte wohl noch ein anderer als erster behandelt wer-
den, nämlich die Lehre von der Sprachtechnik (deren wichtig-
ster Theil die Lautlehre sein würde) oder von den Mitteln, welche
eine Sprache hat ihre Formen zu bilden, wie Lautwandel, Re-
duplication, Stellung u. s. w. Der zweite, der etymologische
Theil, würde zeigen, wie diese Mittel zur Erzeugung wirklicher
Formen verwandt sind, die Syntax endlich, wie sich diese For-
men an einander schließen. Die Lehre von der Technik würde
[XXIII] nicht bloß die Formenlehre, sondern auch die Syntax vorbereiten,
denn es giebt nicht nur eine etymologische, sondern auch eine
syntaktische Technik. Sie würde sich also zu Etymologie und
Syntax verhalten, wie die Physik zur Kosmologie, d. h. sie würde
die abstracten Kräfte darstellen, welche in der Erzeugung und
Bewegung der Sprache herrschen. In allen drei Theilen der Gram-
matik aber, in der abstracten Lehre von der Technik der Spra-
che, in der Lehre vom Wort und den Wortformen, und in
der Syntax, in jedem ist die Bedeutungslehre oder die Darstel-
lung der innern Form neben der äußern oder Lautform zu ge-
ben. Die Lehre von der Technik bespricht also z. B. die Re-
duplication in doppelter Beziehung, sowohl als lautlichen Pro-
ceß, als auch nach ihrer Bedeutung. Reduplication aber herrscht
sowohl in der Etymologie, als in der Syntax. Nachdem nun ihr
lautliches und inneres Wesen abstract festgestellt ist, zeigt die
Wortlehre die concrete Bildung des Perfectums, lautlich und in-
nerlich; und die Syntax endlich zeigt die Verwendung dieser
Form im Satze und Satzgefüge. In der Syntax wird weniger
Gelegenheit sein, äußere und innere Form zu scheiden, weil es
weniger syntaktisch erst zu bildende Formen giebt. Aber streng
genommen läßt sich auch hier die Unterscheidung machen.
Denn es ist doch nur ein Lautproceß, daß neben eine bestimmte
Substantivform eine bestimmte Adjectivform gesetzt wird; und
es ist Sache der innern Form oder Bedeutungslehre, daß solche
lautliche Zusammenstellung das attributive oder prädicative Ver-
hältniß bezeichnet. Hieraus wird also wohl klar geworden sein,
daß die Bedeutungslehre nicht ein Theil der Grammatik ne-
ben oder zwischen Etymologie und Syntax ist; sondern
daß sie die Grammatik nach ganz entgegengesetzter Richtung
durchschneidet, und dieser Durchschnitt sowohl die Etymologie
als auch die Syntax trifft, wie auch die Lehre von der Sprach-
technik, die abermals nicht in derselben Linie wie Etymologie
und Syntax steht. Und in allen diesen sechs Theilen der
Grammatik hat jede Sprache ein besonderes, gar nicht logisches,
sondern eben sprachliches Princip. Alles dies deutet mir der
Name innere Sprachform so deutlich an, als ein Name es thun
[XXIV] kann; aber nicht ebenso Bedeutungslehre. Die dargelegte Ver-
wirrung ihrer Verhältnisse aber zeigt, wie wichtig ein Name
sein kann.
Ich habe hier von der Bedeutungslehre gesprochen, wie ich
sie, von einer allgemeinen Anschauung und von Begriffen aus-
gehend, nicht anders auffassen kann, muß aber abwarten, wie
ein Mann, wie Hr. Haase, die Sache ansehen wird, der sich
die specielle Bearbeitung der Bedeutungslehre auf klassischem
Sprachgebiete zur besonderen Lebensaufgabe gestellt zu haben
scheint. Was er in der Halleschen Literaturzeitung von 1838
ausgesprochen hat, nämlich seine Abneigung gegen logisches
Schematisiren in der Grammatik und Anerkennung der Indivi-
dualität der Sprachen, läßt mich hoffen, daß wir zusammentref-
fen werden, so verschieden auch unsere Ausgangspunkte sein
mögen. Es führen viele Wege zur Wahrheit, und nicht bloß
einer, nicht bloß gerade dieses Buch und dieser Philosoph, wie
der Dogmatiker meint.
Was nun endlich die Darstellung betrifft, so hoffe ich,
vorliegendes Buch werde klarer sein, als alles, was ich früher
veröffentlicht habe, sowohl wegen der Ausführlichkeit, als auch
wegen der bessern Form. Das muß man freilich nie erwarten,
daß philosophische Untersuchungen über die schwierigsten Pro-
bleme der Wissenschaft im Gewande der gemeinen Umgangs-
und Haussprache erscheinen. Die Philosophie, wie jede Wis-
senschaft, hat ihre Kunstausdrücke, und die strenge Entwicke-
lung von Begriffen, die genaue Verfolgung und sorgfältige Schei-
dung psychologischer Thatsachen wird immer Anstrengung von
Seiten des Lesers erfordern. Der leichtsinnige Recensent, der
selbst eingesteht, daß er mich nicht verstehe und sich beklagt
über meinen „Hang, Dinge, die sich einfach mit wenigen Wor-
ten sagen ließen, durch philosophischen Phrasenkram aufzu-
stutzen,“ sollte doch bedenken, wenn er denken könnte, daß
er nicht im mindesten wissen kann, ob etwas, was ihm dunkel
und unverständlich geblieben ist, sich mit einfachen Worten
sagen lasse. Montaigne fragt: Ne tient-il qu’aux mots, qu’ils
n’entendent tout ce qu’ils trouvent par escrit? Aber wie kann
[XXV] man von solchem Recensenten verlangen, er solle sich einge-
stehen, es gäbe Gedanken und Arbeiten, die seiner Fähigkeit
unzugänglich sind! Stößt er auf solche, so schiebt er ihnen
seine Gedanken unter, die sich freilich „einfach mit wenigen
Worten“ sagen lassen, am besten aber ungesagt bleiben.
Ich habe S. 157 auf eine Arbeit von mir über die chinesi-
sche Sprache verwiesen, von der ich glaubte, daß sie vor dem
gegenwärtigen Buche erscheinen würde. Mancherlei Umstände
haben es veranlaßt, daß dieselbe noch ungedruckt ist; sie wird
jedoch vermuthlich noch im Laufe dieses Jahres der Oeffentlich-
keit übergeben werden.
Die Correctur dieses Buches ist, Dank der Verlagshand-
lung und meinen Berliner Freunden, mit vieler Sorgfalt betrie-
ben worden. Trotzdem sind mehrere Fehler stehen geblieben,
die der Leser zu verbessern gebeten wird; ich lasse sie auf der
Rückseite folgen und ergreife zugleich diese Gelegenheit, die von
mir bemerkten Fehler in meiner „Entwickelung der Schrift“ zu
verbessern.
Paris im Januar 1855.
[[XXVI]]
Berichtigungen.
- S. 21. Z. 11 v. u. statt Grundsätze lies ursprüngliche Richtung
- ‒ 41. ‒ 23 v. o. ‒ II. x. 2, lies II. S. 2.
- ‒ 41. ‒ 9 v. u. ‒ Beziehung lies Bejahung
- ‒ 68. ‒ 10 v. u. ‒ Wissenschaft lies Dialektik
- ‒ 96. ‒ 16 v. u. ‒ Philosophie lies Psychologie
- ‒ 96. ‒ 9 v. u. ‒ philosophische lies physiologische
- ‒ 113. ‒ 19 v. u. ‒ in dieser logischen u. s. w. lies durch diese
logische u. s. w. - ‒ 113. ‒ 17 v. u. ‒ abhängig lies unabhängig
- ‒ 117. ‒ 5 v. o. das Komma nach Logik zu streichen
- ‒ 138. ‒ 17 v. o. statt Physiologie lies Psychologie
- ‒ 178. ‒ 13 v. u. ist nach oder einzuschalten: „wenn das Auge bre-
chende Medien hat, kann es sehen“ oder: - ‒ 201. ‒ 10 v. u. statt nur lies nun
- ‒ 204. ‒ 2 v. o. ‒ Prädicat lies Subject
- ‒ 204. ‒ 14 v. u. ‒ er lies es
- ‒ 205. ‒ 17 v. u. ‒ abschneiden lies abscheiden
- ‒ 211. ‒ 10 v. o. ‒ es lies jenes Urtheil
- ‒ 217. ‒ 4 v. o. ‒ physischen lies psychischen
- ‒ 229. ‒ 21 v. o. ‒ Ursache lies Ursprache
Berichtigung
der Druckfehler in der „Entwickelung der Schrift.“
- S. 28. Z. 6 v. u. statt Mühe lies Weise
- ‒ 37. ‒ 6 v. u. setze hinter geschieden ein, und nach wird ein:
- ‒ 54. ‒ 4 v. o. statt quantitative lies qualitative
- ‒ 68. ‒ 13 v. u. ‒ umgeformte lies ungeformte
- ‒ 70. ‒ 16 v. o. ‒ Materien lies Weisen
- ‒ 73. ‒ 11 v. u. ‒ istae lies ista
- ‒ 76. ‒ 3 v. o. ‒ 1299 lies 1091
- ‒ 84. ‒ 11 v. o. vor bei ergänze wie
- ‒ 84. ‒ 5 v. u. statt es lies sie
- ‒ 97. ‒ 10 v. o. ‒ nun lies nur
- ‒ 97. ‒ 20 v. o. ‒ bemerke lies bemerkte
- ‒ 99. ‒ 10 v. o. ‒ Atterminativ lies Determinativ
- ‒ 108. ‒ 14 v. o. ‒ präfixirten lies präfigirten
[[XXVII]]
Inhalts-Verzeichniß.
- Erster Theil.
Die logische Grammatik. - A. Becker.
- 1. Beckers mangelhaftes Princip.
- a) Organismus im Allgemeinen.
- Seite
- §. 1. Grundbestimmung desselben 1
- §. 2. Fernere Merkmale 3
- §. 3. Unbegrenztheit des Organischen bei Becker 4
- §. 4. Gegensatz des Organischen zum Künstlichen 5
- §. 5. Die Freiheit 8
- §. 6. Der Tod 10
- §. 7. Formale Natur des Begriffs Organismus 11
- §. 8. Verdrehung der Merkmale des Organismus 12
- §. 9. Umschlag des Organismus in sein Gegentheil 15
- b) Organische Verrichtung.23
- c) Die Sprache als organische Verrichtung und als Organismus.
§. 10. Nominal-Definition der Sprache 25 - §. 11. Erstes Merkmal des Organischen nachgewiesen in der Sprache 29
- §. 12. Zweites Merkmal des Organischen in der Sprache 31
- §. 13. Die Sprache als gesprochene 34
- §. 14. Entstehung der Sprache 36
- §. 15. Schluß 40
- 2. Unorganischer Charakter der Beckerschen Sprach-
betrachtung.
a) Kategorie des Gegensatzes und der Einheit.
§. 16. Trendelenburg über den Gegensatz 41 - §. 17. Der Gegensatz bei Becker 43
- §. 18. Logische Dichotomie 46
- §. 19. Die Einheit 46
- Seite
- b) Grammatik und Logik.
§. 20. Logischer Formalismus 47 - §. 21. Einheit von Grammatik und Logik nach Becker 49
- §. 22. Verhältniß zwischen Logik und Grammatik bei Trendelenburg 51
- §. 23. Logik und Mechanik 54
- c) Darstellung des logisch-mechanischen Charakters der Becker-
schen Sprachbetrachtung.
§. 24. Beckers Rückfall in die alte Grammatik 55 - §. 25. Einheit von Begriff und Laut im Worte 56
- §. 26. Classification des Wortvorraths 59
- §. 27. Grammatische Formen 61
- §. 28. Gleichheit Beckers mit der alten Grammatik 62
- §. 29. Beispiel von einem Beckerschen Organismus 63
- 3. Beckers leerer Formalismus.65
- a) Beckers Mangel an Dialektik.
§. 30. Dialektik nach Trendelenburg 66 - §. 31. Dialektik, Speculation, logischer Formalismus 68
- §. 32. Tautologie 69
- b) Verleiblichung des Gedankens.71
- c) Beckers Theorie der Erkenntniß.
§. 33. Aufgabe des Denkens 78 - §. 34. Allgemeines und Besonderes; Thätigkeit und Sein 81
- §. 35. Arten der Begriffe 84
- §. 36. Formen der Begriffe 89
- §. 37. Begriff und Gedanke 91
- §. 38. Schluß 94
- 4. Verwechslung der Grammatik mit der Logik.95
- §. 39. Vernichtung der Grammatik durch Beckers Princip 96
- §. 40. Mangel eines grammatischen Princips 98
- §. 41. Erkennen und Darstellen 101
- §. 42. Logische und grammatische Form 105
- B. Widerstand der Grammatik und Logik gegen ihre wech-
selseitige Vermischung.
§. 43. 107 - §. 44. Schluß nach Analogien 108
- §. 45. Unfügsamkeit der Sprache unter die Logik 111
- §. 46. Rückweisung der Grammatik durch die Logik 113
- C. Vermittlung zwischen Grammatik und Logik.
§. 47. Beckers falsche Anklage 116 - §. 48. Verschiedenheit zwischen Grammatik und Logik nach Trendelen-
burg 116 - §. 49. Die logische Grammatik bei Humboldt 118
- Seite
- §. 50. Rückweisung der Vermittlung 120
- §. 51. Analogie und Anomalie 122
- §. 52. Trübung der Logik 122
- D. Humboldt.
§. 53. Abweichungen Beckers von Humboldt 123 - §. 54. Organismus bei Humboldt 125
- §. 55. Becker, die Vermittler und Humboldt 135
- Zweiter Theil.
Grammatik und Logik.
I. Allgemeine Vorbemerkungen.
A. Von der Sprachwissenschaft im Allgemeinen.
§. 56. Definitionen 137 - §. 57. Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft und Beziehungen der-
selben zu andern Wissenschaften 138 - §. 58. Bestimmung unserer Aufgabe 143
- B. Von der Logik im Allgemeinen.
§. 59. Bestimmung der Logik und Verschiedenheit des wissenschaftlichen
Charakters derselben von dem der Sprachwissenschaft 145 - §. 60. Vertheidigung der formalen Logik 147
- II. Nähere Darlegung des Unterschiedes zwi-
schen Grammatik und Logik.
1. Sind Sprechen und Denken identisch?
§. 61. Vorgebliche Untrennbarkeit und Einheit von Sprechen und Denken 152 - §. 62. Ablösbarkeit des Denkens vom Sprechen, erwiesen durch That-
sachen 153 - §. 63. Verschiedenheit von Denken und Sprechen, bewiesen durch Re-
flexion 158 - 2. Sind Grammatik und Logik identisch?163
- §. 64. Wort und Begriff verschieden 164
- §. 65. Wort- und Begriffsverhältnisse 166
- §. 66. Satz und Urtheil 168
- §. 67. Das hypothetische und disjunctive Urtheil 169
- §. 68. Eintheilung der Urtheile 175
- §. 69. Satzarten 176
- §. 70. Bei- und Unterordnung der Sätze 179
- §. 71. Verhältnisse der Satzverbindung 183
- Seite
- §. 72. Elemente des Satzes und des Urtheils 184
- §. 73. Prädicat und Attribut 185
- §. 74. Das Object 189
- §. 75. Das Prädicat 190
- §. 76. Logisches und grammatisches Subject und Prädicat als Begriff
und Wort 191 - §. 77. Begriff und Urtheil und Satz 192
- §. 78. Subject und Prädicat im Satz und Urtheil 197
- §. 79. Das allein oder absolut stehende Prädicat. Der Existentialsatz.
Das Sein und die Copula 200 - §. 80. Grammatische und logische Kategorien 211
- 3. Ist die Sprache logisch?
§. 81. Allgemeines Mißverhältniß zwischen Grammatik und Logik 215 - §. 82. Inwiefern die Sprache logisch und nicht logisch ist 218
- Dritter Theil.
Grundsätze der Grammatik.
§. 83. 225 - A.Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be-
ziehung zum geistigen Leben.
§. 84. 226 - 1. Entstehung und Entwickelung der Sprache.
§. 85. Stellung der Aufgabe 227 - a) Vorbildung und Anlage der Sprache im Menschen.
§. 86. Stufen des Seelenlebens vor dem Entstehen der Sprache 235 - §. 87. Reflexion und Association von Seelenthätigkeit und Körperbe-
wegung 246 - §. 88. Character der sinnlichen Wahrnehmung 259
- §. 89. Entwickelungsstufe der Thierseele 264
- §. 90. Vergleichung der Menschen- und Thierseele 271
- §. 91. Sprache als Befreiungsact der Seele 292
- b) Hervortreten der Sprache.
§. 92. Anschauung der Anschauung 295 - §. 93. Instinctives Selbstbewußtsein 298
- §. 94. Uebergang der Seele in den Geist 300
- §. 95. Verknüpfung der Anschauung mit dem Laute 303
- §. 96. Inhalt der innern Sprachform im Allgemeinen 304
- Seite
- c) Stufenentwickelung der innern Sprachform.306
- α) Pathognomische Stufe.
§. 97. Reflex der Gefühle — Interjectionen 307 - §. 98. Speciellere Definition der Sprache 310
- §. 99. Inhalt der innern Sprachform auf der Stufe der Onomatopöie 311
- β) Charakterisirende Stufe.313
- §. 100. 313
- §. 101. Dritte Stufe der innern Sprachform 314
- d) Mittheilung, Verständniß, Sprechenlernen der Kinder.
§. 102. 315 - 2. Leistung der Sprache für das Denken.
a) Wesen der Vorstellung im Allgemeinen.318 - §. 103. Wesen der Vorstellung 319
- §. 104. Das Wort — das Ding an sich 320
- §. 105. Das Wort — Allgemeines, die Art 320
- b) Nähere Darlegung des Wesens der Vorstellung und ihrer Ent-
wickelung.
§. 106. 322 - §. 107. Stoff und Form 322
- §. 108. Benennungen als erste Form der Sätze 323
- §. 109. Der explicite Satz 326
- §. 110. Ausbildung der Begriffe 330
- §. 111. Fernere Betrachtungen über die Leistungen der Sprache für das
Denken 332 - §. 112. Leistung der Vorstellung 333
- §. 113. Unterschied zwischen Satz und Urtheil, Vorstellung und Begriff 337
- B.Die Grammatik.
1. Die Principien der Grammatik.
§. 114. 340 - a) Inneres und Aeußeres.
§. 115. 341 - b) Bedeutung.
§. 116. 344 - §. 117. Wie die Sprache bedeutet 344
- §. 118. Was die Sprache bedeutet 346
- c) Sprechen und Sprachmaterial.
§. 119. 347 - 2. Hauptpunkte der Grammatik.
a) Die Lautlehre.
§. 120. Von der Articulation im Allgemeinen 348 - §. 121. Unterschied von tenuis und media352
- Seite
- §. 122. Einfache und zusammengesetzte Laute 353
- §. 123. Der Accent 354
- §. 124. Weitere Aufgabe der Lautlehre 354
- b) Innere Sprachform.
α) Stoff und Form.
§. 125. Von relativen Begriffen und Gegensätzen überhaupt 355 - §. 126. Die Sprache als Form des Gedankens 357
- §. 127. Stoff und Form in der Sprache 360
- §. 128. Formwörter und formlose Sprachen 362
- §. 129. Die alten und die neuern Formsprachen 366
- β) Copula.
§. 130. Copula und Aussage überhaupt 367 - §. 131. Das Verbum und der Infinitiv 368
- C.Verschiedenheit der Sprachen373
- 1. Grund der Sprachverschiedenheit.
§. 132. Verschiedenheit in der Lautseite der Sprachen 374 - §. 133. Verschiedenheit in der innern Sprachform 375
- §. 134. Tiefster Grund der Sprachverschiedenheit 378
- 2. Organismus, Princip und Individualität der Sprache.
§. 135. 379 - 3. Allgemeines Kategorienschema.
§. 136. 382 - 4. Die Classification der Sprachen.
§. 137. 387 - 5. Sprachwissenschaft als Moment der Völkerpsychologie387
- §. 138. Aufgabe der Völkerpsychologie überhaupt 388
- §. 139. Das Volk als geistige Individualität 389
- §. 140. Der Einzelne und das Volk 390
- §. 141. Producte des Volksgeistes 390
- §. 142. Eintheilung der Völkerpsychologie 391
- §. 143. Sprache und Volksgeist 391
Erster Theil.
Die logische Grammatik.
A. Becker.
1. Beckers mangelhaftes Princip.
Becker legt überall das größte Gewicht auf den Satz: die
Sprache ist nach ihrem Ursprunge wie in ihrer innern Einrich-
tung und in allen ihren Verhältnissen organisch; er macht ihn
zum Ausgangs-, Ziel- und Mittelpunkt seines Sprachsystems und
glaubt dadurch die neue Sprachwissenschaft geschaffen zu ha-
ben. Prüfen wir also, was mit jenem Satze gesagt wird. Zu-
nächst haben wir zu sehen, was Organismus überhaupt bei Becker
bedeutet; und dann, wie sich die Sprache organisch zeigt.
a) Organismus im Allgemeinen.
§. 1. Grundbestimmung.
Becker eröffnet sein Werk „Organism der Sprache“ mit
einer ausführlichen Darlegung der genannten beiden Punkte. Es
heißt rücksichtlich des ersteren sogleich am Anfange (§. 1): „Es
ist ein allgemeines Gesetz der lebenden Natur, daß in ihr jede
Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige in einem Leiblichen
in die Erscheinung tritt, und in der leiblichen Erscheinung seine
Begränzung und Gestaltung findet.“ Hierauf beruht nach Becker,
wie in §. 4. bestimmter ausgesprochen wird, das Wesen des Or-
ganismus: „Das allgemeine Leben der Natur wird zu einem
1
[2]organischen Leben, indem es in seinen Besonderheiten in die
Erscheinung tritt: jedes organische Ding ist als eine leiblich
gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als
ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen.“ In bei-
den Sätzen ist offenbar dasselbe gesagt, mit dem Unterschiede,
daß was im ersten Satze als Gesetz innerhalb der Natur gilt,
im anderen von der ganzen Natur als einer Einheit ausgesprochen
wird. Becker denkt sich die Natur, das All vielmehr, als ein
lebendes Wesen. Wir haben es also hier mit der Anschauung
von einem All-Leben zu thun, welches auch den Geist, das
geistige Leben in sich schließt. Es will uns aber scheinen, als
wenn Becker seine Ansicht nicht recht scharf ausgedrückt habe.
Wir nehmen Anstoß an den Worten: „das allgemeine Leben
wird zu einem organischen Leben.“ Ist denn das allgemeine
Leben nicht schon an sich organisch? muß es das erst werden?
ist etwa ein nicht oder noch nicht organisches Leben, ein Gei-
stiges, eine Thätigkeit außerhalb eines Leiblichen, eines Stoffes,
bevor sie in diese eingegangen sind, wirklich annehmbar? Be-
ckers Ansicht ist das schwerlich; und wir fürchten kaum zu
irren, wenn wir ihn folgendermaßen verstehen. Wie aus dem
Parallelismus der beiden angeführten Sätze und auch aus den
Worten des letztern: „jedes organische Ding ist als eine leiblich
gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als
ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen“ — wie
hieraus, sage ich, hervorgeht, ist nach Becker unter dem all-
gemeinen Leben der Natur der bloß für unsere erkennende Auf-
fassung geltende Gedanke der Natur, als vor ihrer Verwirkli-
chung seiend, zu verstehen; oder die Natur, wie wir sie uns als
vor ihrer Schöpfung sich selbst denkend vorstellen. Denn wenn
Becker das allgemeine Leben der Natur organisch nennt, so
meint er damit sicherlich, dasselbe sei eben nur und an sich or-
ganisch, also nur in seiner Besonderung und diese nur in der
Verleiblichung. Um aber die Natur zu begreifen, haben wir
eben den Vorgang der Verleiblichung zu betrachten und stellen
uns diesen vor als gegenwärtig zu Stande kommend, und vor
ihm also das Leben der Natur nur erst als noch bloßes Sich-
Denken, als Gedanken der Natur. Das Organische dieses vor
der Schöpfung der Natur angenommenen Denkens derselben be-
steht eben darin, daß ein allgemeiner Gedanke Natur sich in
einzelne Gedanken sondert. Diese Besonderung aber ist zugleich
[3] und an sich selbst die Verleiblichung des Gedankens, die Schö-
pfung der Natur. Die einzelnen Gedanken der Natur sind gar
nicht möglich ohne die Verleiblichung; und das allgemeine Leben
oder Denken der Natur nicht möglich ohne jene Besonderung
in einzelne Gedanken: das ist das Wesen des Organismus der
Natur, des Alls. Beruht also das Organische des allgemeinen
Gedankens der Natur auf der Verleiblichung, und wird nun der-
selbe zum Behufe der Erkenntniß vor dieser gedacht, so wird
er zunächst noch in seinem unorganischen Zustande gedacht,
und es läßt sich sagen, er werde erst durch die Verleiblichung
das was er eigentlich ist, organisch. Den Sinn von Beckers
Worten: „Das allgemeine Leben der Natur wird zu einem or-
ganischen, indem es“ würden wir also glauben angemessener
wiederzugeben durch: ist ein organisches, insofern es. So
unscheinbar diese Aenderung sein mag, so ist sie doch nicht be-
deutungslos. Der von Becker gebrauchte Ausdruck schließt
eine Unklarheit in sich, auf die wir zurückkommen werden.
§. 2. Fernere Merkmale.
Wenn wir schon Beckers eigentlichem Grundsatze mehr
Schärfe gewünscht hätten, so vermissen wir in der (§. 4) darauf
folgenden näheren Darlegung der Merkmale des Organischen
jede Entwickelung und Ableitung derselben von einander und
vom ersten Grundsatze. Die Sätze werden an einander gescho-
ben, theils ohne Conjunction, theils auch mit solchen, wie: „wie
… so“, „daher“, „aber“, ohne daß man jedoch den durch diese
Bindewörter angedeuteten Zusammenhang klar sähe. „Es ist
nur ein allgemeines Leben,“ so fährt Becker unmittelbar nach
der angeführten Stelle fort, „das in den besonderen Organismen
in die Erscheinung tritt; daher eine Uebereinstimmung aller or-
ganischen Dinge in gewissen Grundtypen der Gestaltung und
Entwickelung.“ Unmittelbar weiter heißt es: „Wie nun“ hier
eine Uebereinstimmung ist, so auch wieder in den besonderen
Organen des einzelnen organischen Dinges, welche alle einen
gemeinsamen, durch den Begriff, d. h. die Arteigenthümlichkeit,
des organischen Dinges bestimmten Typus an sich tragen, wie
wir später noch näher betrachten wollen. Weiter heißt es: „Das
besondere Organ hat aber nur Dasein und Bedeutung in und
von dem Ganzen, von dem es getragen wird; und das Ganze
ist und besteht nur in der Verbindung der besonderen Organe.
Darum ist in den organischen Dingen alles Besondere zugleich
1*
[4] Mittel und Zweck.“ So lose wird der so wichtige Zweckbegriff
eingeführt! durch ein bloßes „aber“! und mit diesem Satze er-
ledigt! Becker fährt conjunctionslos fort: „In der Lebensfunc-
tion (dem Begriff) des organischen Dinges liegen schon ur-
sprünglich alle Besonderheiten derselben, in dem Ganzen alle
besonderen Organe. Das organische Ding wird nicht durch eine
Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch eine
Entwickelung von innen. Das ganze Thier mit seinen man-
nigfaltigen Organen liegt schon vorgebildet in dem Ei“ — ein-
gebildet, möchte ich sagen. Welche Unklarheit verbirgt sich
hinter diesen Worten! Und abermals ohne Conjunction fährt Be-
cker fort: „In der besondern Lebensfunction (dem Begriffe, dem
specifischen Merkmale) des organischen Dinges und in den or-
ganischen Gegensätzen (z. B. Bewegung und Empfindung, Mus-
kel und Nerv) nach denen sich diese Function in besondere
Functionen scheidet, liegt das Gesetz seiner Entwickelung: dar-
um geschieht jede organische Entwickelung mit innerer Noth-
wendigkeit.“ Eine solche Darstellung des Organischen kann man
doch wohl nur unorganisch nennen.
§. 3. Unbegrenztheit des Organischen bei Becker.
Wir könnten jedoch zufrieden sein, wenn uns nur Becker
hier überhaupt hinlängliche Merkmale angegeben hätte, um uns
einen so deutlichen und bestimmten Begriff bilden zu können,
daß wir zu sagen vermöchten, dies ist organisch, jenes nicht.
Das ist aber durchaus nicht der Fall. Wir erfahren nicht bloß
nicht, wo denn der Gegensatz zum Organischen liege, durch
welche andere Begriffe das Reich desselben begrenzt werde;
sondern wir sind auch in Verlegenheit, wenn wir dies etwa aus
dem von Becker Gesagten erschließen wollten. Denn ist die
Natur, das All organisch, so ist denn alles organisch, und es
giebt weder im Himmel noch auf Erden etwas Unorganisches.
Organisch wird gleichbedeutend mit natürlich; Unnatürliches aber
giebt es nirgends; nicht einmal der Unsinn wäre unnatürlich,
sondern bloß die Vorstellung des Unnatürlichen, Unorganischen
wäre Unsinn.
Sicherlich hatte Becker eine weit bestimmtere Vorstellung
vom Wesen des Organischen, als im Obigen liegt; aber ist es
denn gleichgültig, ob jemand sein Princip an der Stelle, wo er
es erörtert, wirklich bestimmt darstellt oder nach allen Seiten
unbegrenzt verschwimmen läßt? Wenn selbst hier, wo die ganze
[5] Kraft des Geistes auf das Princip allein gerichtet ist, dieses keine
bestimmte Gestalt annehmen will, kann es bei der Entwickelung
des Besonderen, wo die Aufmerksamkeit des Geistes über einen
größeren Vorstellungskreis verbreitet ist, sich fester und klarer
vergegenwärtigen? Schwerlich! nur wird, je nachdem die Ge-
legenheit es herbeiführt, diese oder jene Seite des Princips her-
vortreten, die vorher nicht erörtert war. Streng genommen würde
diese Seite sogar unberechtigt sein; jedenfalls kann sie, gelöst
aus dem Zusammenhange mit allen übrigen Seiten des Ganzen,
nicht nach ihrer wahren Begrenzung auftreten. Sie verhilft uns
indeß dazu, uns Beckers Anschauung des Organischen zu ver-
vollständigen.
§. 4. Gegensatz des Organischen zum Künstlichen.
So tritt nun gelegentlich (§. 6. Anf.) folgendes höchst wich-
tige Moment hervor: „Als Product eines Organischen, welches
nicht mit Willkür hervorgebracht ist, sondern sich mit einer in-
neren Nothwendigkeit entwickelt hat, unterscheidet sich die Spra-
che von jedem Werke menschlicher Erfindung und Kunst. Das
Kunstwerk geht nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Le-
ben selbst hervor, sondern aus einer durch ein äußeres Bedürf-
niß angeregten Reflexion. Es hat das Gesetz seiner Entwicke-
lung und Gestaltung nicht in sich selbst, sondern empfängt es
von der Intelligenz des Erfinders; und seine Einrichtung ist
wandelbar, wie das Bedürfniß und die Erkenntniß des Künst-
lers.“ Hieraus entnehmen wir, daß wenn organisch das Natür-
liche ist, den Gegensatz dazu das mit Willkür Geschaffene bil-
det, die Erfindung und Kunst des Menschen. Hier erkennt man
aber auch sogleich alle Uebelstände, welche dem Herausgreifen
einer Seite des Princips anzuhaften pflegen. Welche Berechti-
gung hat dieser Gegensatz? Das geistige Leben gehört zum
All, ist eine besondere Art, eine Lebensfunction des allgemeinen
Lebens — wie spielt hier plötzlich das Unorganische hinein?
wie ist Willkür, als Gegensatz zum Organischen, möglich? wo-
her stammt im organischen All ein „äußeres Bedürfniß“? Das
Kunstwerk habe das Gesetz seiner Entwickelung und Gestaltung
nicht in sich, sondern empfange es von der Intelligenz des Er-
finders; aber die Intelligenz, wie Becker so häufig wiederholt,
ist organisch. Das Kunstwerk ist ein in der Materie verleib-
lichter Begriff oder Gedanke, also ist es organisch; es geht al-
lerdings „mit innerer Nothwendigkeit aus dem Leben selbst,“
[6] nämlich aus dem geistigen Leben der Menschheit hervor. Der
Künstler, der Denker ist das Erzeugniß seiner Vergangenheit;
und auch seine einzelnen Werke, ihre Fehler und Tugenden,
sind nicht willkürlich. Sophokles konnte nicht wie Shakespeare
dichten wollen, und Aristoteles kein System schaffen wollen wie
Hegel. „Das Bedürfniß und die Erkenntniß” ist auch orga-
nisch entstehend und vergehend. Soll hier also das Kunstwerk
von dem organisch Natürlichen unterschieden werden, so ge-
schieht das nur durch völlig unvorbereitete, und, wie wir sehen,
unberechtigte Bestimmungen, die eben darum auch von Becker
gar nicht klar und bestimmt eingeführt werden können. Der ein-
zige Satz aus der oben betrachteten Darlegung der Merkmale
des Organischen, welcher die hier gemachte Scheidung begrün-
den könnte, nämlich: „das organische Ding wird nicht durch
eine Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch
eine Entwickelung von innen,” ist nicht nur ebenfalls unbegreif-
lich, da man gar nicht weiß, wo im lebenden, organischen All
ein Außen sein soll; sondern auch, selbst diesen Satz zugestan-
den, so kann man immer die Maschine noch nicht vom Orga-
nismus unterscheiden. Denn einerseits wird auch die Maschine
durch die Entwickelung aus dem Innern des Denkens: sie ist
von einem Gedanken geschaffen und beseelt; jedes Rad nach
seiner Form und seinen Beziehungen folgt aus dem Begriffe, aus
der Function, welche in der Maschine in die Erscheinung tritt,
sich verleiblicht, in Gegensätzen besondert; alles Besondere in
ihr folgt also aus der Einheit, und also hat der Theil nur im
Ganzen Bedeutung, das Ganze nur durch seine Theile; und die
Theile sind alle in gegenseitiger Uebereinstimmung, mit einem
gleichartigen Typus aus dem Innern des Gedankens heraus ent-
worfen. Andererseits aber mag man noch so sehr von inne-
rer Nothwendigkeit des Organischen sprechen, von seiner Ent-
wickelung von innen, es entwickelt und erhält sich doch nur
durch Aufnahme geeigneter Stoffe von außen; schneidet ihm
nur Luft und Nahrung und Licht ab, und lasset es sich von
innen entwickeln!
Indessen müssen wir es uns doch gefallen lassen, wenn
Becker, weil er nun einmal will, den geistigen oder künstli-
chen Organismus von der natürlichen Maschine — nach Obigem
hat uns Becker diese Ausdrucksweise nicht untersagt — unter-
[7] scheidet und bloß die natürliche Maschine Organismus nennt,
das geistig Organische aber als unorganisch ansieht.
Hierdurch ist etwas an Bestimmtheit gewonnen, doch nicht
viel. Becker hätte uns auch noch sollen die Grenze zwischen
Natur und Kunst ziehen. Wir stehen vor einem blühenden Korn-
felde — sehen wir Natur oder Kunst? Organisches oder Unor-
ganisches? Dabei vergesse man dann auch nicht, daß vielleicht
vor hundert, vor zehn Jahren noch dieser Boden wirklich un-
fruchtbar, unfähig war, den ihm vertrauten Saamen reifen zu
lassen. Hier hat, wie in vielen Fällen, die Cultur erst die Na-
tur erzeugt. Ist es denn aber mit jener Bildsäule, die Becker
für unorganisch hält, so durchaus anders? Abgesehen von dem
schon Gesagten, daß auch hier ein verkörperter Gedanke, alles
in Einheit ist, jeder Theil aus dem Ganzen fließt, so daß un-
sere Künstler die fehlenden Glieder eines antiken Standbil-
des aus dem Gegebenen ableitend ergänzen, welche Ableitung
Becker und Trendelenburg nach Cuvier für ein wesentliches
Merkmal des Organischen halten, — abgesehen, sage ich, hier-
von, trägt nicht auch der Marmorblock den Apollo „vorgebil-
det“ in sich? Könnte der Künstler auch aus Flugsand, aus
morschem Holze bilden? Wirken nicht Stein, Hammer und Mei-
ßel nach nothwendigen ihnen innewohnenden Gesetzen? also mit
innerer Nothwendigkeit? Kurz kann die Cultur, die Kunst, um
mich des Baconschen Ausdruckes zu bedienen, die Natur an-
ders beherrschen, als indem sie ihr folgt? kann sie dieselbe zwin-
gen, oder muß sie sie nach ihrer inneren Gesetzmäßigkeit wir-
ken lassen?
Jedoch Becker meint wohl, organisch sei das natürliche
Ding auch nur, insoweit und insofern es ohne Hinzuthun
von menschlicher Absichtlichkeit entstanden ist und lebt. Die
Wälder, Brennesseln und Dorngesträuch sind durchaus orga-
nisch; das Kornfeld ist es nicht, insofern der Mensch gepflügt,
gedüngt, gesäet hat, aber insofern danach der Saame durch Re-
gen und Sonnenschein wächst. Die Bildsäule ist organisch ge-
worden, indem der Meißel u. s. w. nach nothwendigen natürli-
chen Gesetzen gewirkt hat, aber nicht insofern die Hand des
Künstlers das Leitende war. So würden denn die Begriffe or-
ganisch und natürlich dem Umfange und Inhalte nach zusam-
menfallen und als das Nothwendige und Gesetzmäßige der Frei-
[8] heit gegenüberstehen. Es ist uns freilich eine seltsame Zumu-
thung, den Geist als den Urheber des Unorganischen anzuse-
hen, als ein Außen, welches in das innere Naturleben störend
eingreift; es ist uns seltsam und abschreckend, den Geist, der
als Ausfluß des allgemeinen Lebens doch auch eine nothwen-
dige, unfreie, gebundene Seite hat, rücksichtlich dieser seiner
Unfreiheit als organisch, rücksichtlich seines Wesens und Wir-
kens aber, rücksichtlich seiner Freiheit als unorganisch zu be-
trachten. Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit sind unorganisch;
aber die Brennessel ist organisch! Becker mag es verant-
worten!
§. 5. Die Freiheit.
Wie ist nun aber die Freiheit möglich? das müssen wir
von Becker hören. Nicht im „Organism,“ aber im Werke
„Das Wort“ läßt sich Becker über diesen nach allen Seiten so
wichtigen Punkt folgendermaßen vernehmen (S. 255): „Die Ent-
wickelung der organischen Dinge geschieht nach einer inneren
Nothwendigkeit, indem bestimmte Kräfte und Thätigkeiten nach
bestimmten inneren Gesetzen einander anregend und beschrän-
kend zusammenwirken; und das Erzeugniß derselben organi-
schen Kräfte, welche nach denselben Gesetzen zusammenwirken,
kann immer nur als eins und dasselbe in die Erscheinung tre-
ten: daher in den organischen Dingen die Einheit der Arten.
Je mehr sich aber in den organischen Dingen die Gegensätze
von Kräften und Thätigkeiten vervielfältigen, und je mannigfal-
tiger insbesondere die Wechselwirkungen werden, in welche ein
organisches Ding mit anderen Dingen tritt; desto mehr wird das
Erzeugniß derselben Kräfte, welche nach denselben Gesetzen
wirken, als ein Mannigfaltiges erscheinen: daher in den orga-
nischen Dingen mannigfaltige Unterschiede der Individuen in
derselben Art.“ — „Daher?“ Nimmermehr! Hier ist eine
Täuschung, die auf dem schwankenden Sinne des Wortes
„mannigfaltig“ beruht. Wenn mannigfaltige Kräfte in man-
nigfaltigen Beziehungen wirken, so wird das Erzeugniß der-
selben, da alle jene Kräfte in allen jenen Beziehungen in
ihm wieder vorhanden sein müssen, ein in sich mannigfaltig
gegliedertes Wesen sein, wie Becker sagt, „als ein Mannig-
faltiges erscheinen;“ aber, wenn jene Kräfte nach unbeugsa-
men Gesetzen wirken, wird es immer dasselbe sein, ohne den
[9] mindesten Unterschied. Wenn zur Bildung und Entwickelung
des thierischen Ei’s die mannigfaltigsten Kräfte in den mannig-
faltigsten Beziehungen zusammenwirken, so werden sie in der
reifen thierischen Frucht abermals vorhanden sein, aber ganz
ebenso wie sie in den Eltern waren, in der einen Frucht, wie
in der anderen, und um kein Haar anders, wenn anders jene
Gesetze der Kräfte und die Beziehungen der Kräfte unwandel-
bar sind. Becker aber hat trüglich die Mannigfaltigkeit der
Gliederung der Frucht in mannigfaltig unterschiedene Indivi-
duen umgewandelt. Die ganze weitere Darlegung Beckers hat
damit ihren Werth für uns verloren; doch wollen wir sie ver-
folgen. „Diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bei Dingen
derselben Art hat zwar ebenfalls ihren letzten Grund in den in-
neren Verhältnissen der Kräfte und in den äußeren Wechsel-
wirkungen der Dinge” (wie elend wird hier ein Unterschied ge-
macht zwischen inneren und äußeren! als wenn die Dinge an-
ders als durch innere Kräfte in Wechselwirkung treten könn-
ten!), „und sie ist daher ebenfalls eigentlich nothwendig: weil
hier aber eins und dasselbe in der Erscheinung als ein Mannig-
faltiges hervortritt und die mannigfaltigen Formen der Erschei-
nung gleichsam spielend unter einander wechseln, ohne daß wir
einen Grund dieses Wechsels in den Formen der Erscheinung
erkennen; so bezeichnen wir diese Mannigfaltigkeit der Erschei-
nung bei der Einheit der organischen Kräfte als..” Der Leser
wird vielleicht die hier folgende Bezeichnung des Formspiels der
organischen Dinge noch nicht errathen. Er wird es aber, wenn
wir fortfahren: „So wechselt, um die Sache an einem Beispiele
anschaulich zu machen, die Form der Epheublätter in mannig-
faltigen Abstufungen zwischen der Pfeilform und der fast run-
den Form, obgleich sie Blätter einer und derselben Pflanze sind,
und die eigentliche Structur des Blattes, z. B. die Anzahl und
die Stellung der Blattrippen eine und dieselbe bleibt.” Jetzt,
denken wir, wird mit uns jeder diesen völlig gleichgültigen Wech-
sel der bedeutungslosen Form als Zufall bezeichnen! Becker
aber bezeichnet ihn als „organische Freiheit!” Becker
fährt fort: „Je höher die Stufe des organischen Lebens ist, auf
welche ein Ding gestellt ist,” oder „der die Function angehört,”
„desto mehr vervielfältigen sich in ihm die Gegensätze und Be-
ziehungen und desto mehr tritt die organische Freiheit hervor.”
„So findet sich bei dem Menschen die hier als organische Frei-
[10] heit bezeichnete Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen” in
höherem Grade als bei den Thieren und hier mehr als in den
Pflanzen, am wenigsten im Krystall; aber wiederum findet sie
sich beim Menschen „in weit geringerem Maaße in den Functio-
nen des Athmens, der Blutbewegung und der Ernährung, wel-
che dem vegetativen Leben angehören, als in der Function der
Willkürbewegung; und die größte Freiheit waltet in derjenigen
Function, in welcher das organische Leben sich zu einem gei-
stigen gesteigert hat, nämlich in der Function des Denkens, ob-
gleich auch diese eine organische Nothwendigkeit nicht gänz-
lich” (d. h. nach Obigem: „nicht eigentlich”) „ausschließt.”
Ueber diese Blasphemie mögen wir nicht viel Worte ma-
chen; wir wollen sie eben nur anmerken und sie Becker in
Rechnung bringen. Für uns haben allerdings die ethischen Be-
ziehungen der Wissenschaft einen hohen, den höchsten Werth.
Man läugne die Freiheit, wie es Spinoza thut; er läßt sie
untergehen in der unendlichen Substanz: das ist erhaben; und
die Erhabenheit, wie sehr sie auch die Nichtigkeit des Men-
schen betont, ist wesentlich erhebend. Daher hatten auch die
Hebräer, von denen sie zuerst geschaffen wurde, indem sie den
Menschen und das All vor Jehova als nichts setzten, eine er-
hebendere Vorstellung vom Wesen des Menschen, dem Eben-
bilde Jehovas, als die Griechen, die ihre Götter als Ebenbilder
der Menschen schufen. Also man läugne die Freiheit spino-
zistisch! aber sie behaupten, doch so daß man sie „eigentlich“
läugnet und, insofern man sie gelten läßt, sie als Wechselspiel
bedeutungsloser Formen ansieht: das ist Blasphemie.
§. 6. Der Tod.
Ein Mann, der so mit der Freiheit fertig wird, „spielend,“
wie sollte sich der vor dem Tode scheuen? Becker würde
also schwerlich in Verlegenheit kommen, wenn wir ihn fragten:
wo ist der Tod, das Sterben? das hast du ja ganz aus deinem
lebenden All, deinem All-Leben gestrichen! Der sich auflösende
animalische Leib kann doch nicht todt genannt werden; denn
die darin sich bildenden Körper, wie Wasser, Ammoniak u. s. w.,
entstehen hier in durchaus natürlicher, gesetzmäßiger Weise mit
innerer Nothwendigkeit: sie entwickeln sich im organischen Kör-
per wie das Ei von innen heraus. Leben bleibt Leben; denn
es giebt nur Leben und nur ein Leben nach Becker. Was
wir sterben nennen, ist nur der Wandel einer Art des Lebens
[11] in die andere. Tod ist Spiel des Lebens — eine Unsterblich-
keitslehre, würdig der obigen Freiheitslehre.
§. 7. Formale Natur des Begriffs Organismus.
Kehren wir zu Beckers Grundbestimmung des Organis-
mus zurück. Diese beruhte darauf, daß Becker in dem All
einen verleiblichten Gedanken erkannte, daß er die Natur als
sich nach einem Zwecke bestimmend, daß er sie teleologisch
ansah. Wir wollen und können Becker nicht das Recht zu
dieser Anschauungsweise bestreiten; sie ist nicht willkürlich sub-
jectiv; sondern die objectiven Verhältnisse der Natur fordern
dazu auf. Becker setzt also den Gedanken der Natur vor ih-
rer Schöpfung als den Zweck der Natur. Der Zweck ist es,
der jedem Organ seine besondere Gestalt giebt, und der Begriff
einer Thierart verleiht als Zweck allen einzelnen Organen, wie
Gebiß, Klaue u. s. w., den bestimmten Typus. Die bestimm-
teste Definition, die sich nach Becker vom organischen Dinge
geben ließe, wäre also: ein organisches Ding ist ein von der
Natur gesetzter und ausgeführter Zweck. So berechtigt nun
auch diese Betrachtungsweise der Natur ist, oder vielmehr ganz
abgesehen von der Berechtigung, auf die es uns hier nicht an-
kommt, ist aber das hervorzuheben, daß Beckers Begriff des Or-
ganismus, auf der Kategorie des Zweckes beruhend, gar keinen
materialen, sondern formalen Gehalt hat: daß er kein gegen-
ständliches Merkmal am Dinge, sondern eine Betrachtungsweise
des Dinges bezeichnet; daß er kein constitutiver, sondern ein
methodologischer Begriff ist. Wir läugnen hiermit nicht, daß
die organische Anschauungsweise, die Betrachtung der Natur
vom Gesichtspunkte des Zweckes aus, die Thatsachen innerlichst
berührt; sie nämlich in veränderte Beziehungen versetzt; aber
sie fügt nichts Neues, Thatsächliches hinzu und ist nur eine an-
dere Auffassung der thatsächlich vorliegenden Beziehungen; sie sieht
nicht mehr, auch nicht anderes, sondern sieht dasselbe, aber an-
ders; sie verfährt mit denselben gegebenen Elementen in ande-
rer Weise. Der Gegensatz zur teleologischen Betrachtung liegt
in der causalen. Die Elemente, wie gesagt, sind in dieser die-
selben wie in jener; aber ihre Beziehung wird verändert, je nach-
dem das schöpferische Element als Ursache oder Zweck gefaßt
wird. Der Zweck kann sich nie anders als vermittelst der Ur-
sachen verwirklichen und reicht nicht weiter als sie. Wirkende
Kräfte der Natur bilden einen Punkt a, gewirkte Erscheinungen
[12] einen andern b; die Erkenntniß bewegt sich vom einen zum an-
dern, entweder von a zu b: causale Betrachtung; oder von b
zu a, aber so daß sie b vor a setzt und nun vom vorgesetzten
b durch a an die erste Stelle des b gelangt: teleologische Be-
trachtung. Der Weg von a zu b ist auch hier unvermeidlich.
Becker hat aber seinen Begriff des Organismus, sein Wesen
verkennend, allerdings als gegenständlich genommen. Dies ist
nun Beckers Grundirrthum, aus dem seine vorzüglichsten ma-
terialen Fehler und methodischen Mängel mit Nothwendigkeit
erfolgen mußten. Diese Fehler organisch zu entwickeln, wollen
wir nun versuchen.
Der erste Punkt, der also hier zu betrachten wäre, ist, daß
Becker von organischen Dingen spricht und sie von unorga-
nischen Dingen scheidet, während er nach seiner Auffassung des
Organismus nur von einer organischen, teleologischen Betrach-
tung der Dinge reden sollte. Die Betrachtung nach Ursachen
und die nach Zwecken haben nicht etwa jede einen bestimm-
ten Kreis von Gegenständen besonders für sich; beide umfassen
das All, nur nach verschiedener Rücksicht. Jetzt, denke ich,
begreifen wir noch mehr, warum es Becker unmöglich wird
zu sagen, durch welches andere Reich von Dingen das Reich
der organischen Dinge begrenzt wird, wo die unorganischen
seien; denn es giebt wirklich keine, sondern nur eine unorgani-
sche Betrachtung der Dinge.
§. 8. Verdrehung der Merkmale des Organismus.
Berücksichtigen wir aber nun ferner, daß Becker denn doch
den Begriff des Organismus auf die Natur beschränkt, so wollen
wir ihm daraus, daß er den Zweck auf die Natur übertragen
hat, keinen Vorwurf machen; aber er hat damit das Reich des
Zweckes verkürzt. Dieser Punkt unserer Kritik ist zart, und
man verstehe uns recht. Nimmt man Organismus in dieser
Weise, wie z. B. auch Trendelenburg in seiner schönen und
klaren Darstellung des Zweckes (Logische Untersuchungen II,
VIII.) thut, so ist Organismus der von der Natur, die Maschine
der von der Kunst verwirklichte Zweck. Das meint auch Be-
cker eigentlich. Soll also der Organismus definirt werden, so
ist der Zweck das Allgemeine und die Natur das Besondere
desselben. Becker aber in seiner Bestimmung des Organismus
vom allgemeinen Leben der Natur ausgehend, hat das Verhält-
niß von Allgemeinem und Besonderem verdreht: ihm ist die Na-
[13] tur das allgemeine Merkmal des Organismus und der Zweckbe-
griff das besondere, welche Verdrehung freilich nicht vollkom-
men durchgeführt werden konnte, da der Zweck doch mindestens
ebenso allgemein als die Natur ist, weswegen aber auch keine
feste Bestimmung des Organismus zu Stande kommen konnte.
— Hierin liegt aber zugleich die Verdrehung des Begriffes Or-
ganismus selbst; er, der durch die Natur nach seiner Besonder-
heit bestimmt werden sollte, wird jetzt durch sie gerade nach
seiner Allgemeinheit, und durch den Zweck nach seiner Beson-
derheit bestimmt; er wird nicht so besonders, wie die Natur,
sondern eine Besonderheit innerhalb der Natur, eine Art der
Natur.
Diese Verdrehung war freilich, wie gesagt, gar nicht durch-
führbar, und sie erfährt nun durch eine andere ihr entgegenge-
setzte Verdrehung einen wunderlichen Rückschlag. Der Zweck-
begriff, allgemeiner als die Natur, wird zum specifischen Merk-
mal des Organismus gemacht. Was folgt hieraus? daß Orga-
nismus weiter, umfassender wird, als die Natur; die Natur ist
eine besondere Art des Organismus. Ein solcher Fehler muß
sich natürlich in der Darstellung ausdrücken. Nun lese man
den §. 4. und frage sich, was darin gesagt ist? Sicherlich nicht
sowohl, daß der Organismus ein natürlich gesetzter und ausge-
führter Zweck, als vielmehr umgekehrt, daß die Natur organisch
sei, mit einem, ich möchte sagen, unterdrückten „auch.” Daß
dieses ausgesprochen werde, läßt die erste Verdrehung nicht zu.
Beide Verdrehungen hemmen sich in ihrer Wirkung und so liegt
denn doch in dem Ergebnisse die Gleichheit von Organismus
und Natur, der gleiche Umfang sowohl, als auch derselbe In-
halt beider, wie aus jedem Satze des §. 4. erhellt. Der Unter-
schied aber von der einfachen Ansicht der Sache, wie sie bei
Trendelenburg vorliegt, ist dabei nicht zu verkennen. Wäh-
rend bei diesem die Natur das specifische Merkmal des Orga-
nismus abgiebt, der unter der Allgemeinheit des Zweckes steht,
drückt bei Becker Organismus das ganze Wesen der Natur
aus, ist ihr eines umfassendes Attribut, die Darlegung ihres Be-
griffs. Doch dieser Unterschied ist nicht so sehr von Bedeu-
tung als die Unbestimmtheit, welche einem in solcher Weise wie
der Beckersche Organismus gebildeten Begriffe fortwährend
anhaften muß. — Auch der Grund der doppelten Verdrehung
liegt klar in dem ersten Fehler, daß ein rein formal bestimmter
[14] Begriff zur Abgrenzung der Dinge gebraucht wird. Nun be-
zeichnet man allerdings gewöhnlich mit dem Worte Organismus
ein Reich bestimmter natürlicher Wesen: dies macht sich in der
ersten Verdrehung geltend. Da aber ein bloß methodologischer,
auf alle Dinge anwendbarer Begriff dieser Beschränkung Trotz
bot, so entstand der Rückschlag, und Becker erfuhr nur die
Ironie, daß er mit der Absicht, den Organismus zu definiren,
vielmehr ganz im Gegentheil die Natur als organisch erweist,
indem er darstellt, wie auch in ihr der Gedanke, der Zweck
herrscht. Hier erinnern wir an die schon oben besprochenen
Worte: „Das allgemeine Leben wird zu einem organischen.”
Der Ausdruck „ist” würde vielleicht die Subsumtion des Alls
unter die Kategorie des Organismus zu bestimmt ausgesprochen
haben. Diese Rücksicht konnte einerseits, obwohl sie doch so-
gleich darauf durchgeführt wird, vom „ist” zurückschrecken.
Andererseits könnte das „wird” durch eine doppelte Absicht,
welche im Hintergrunde des Bewußtseins dunkel wirkte, hervor-
getrieben sein. Erstlich die Absicht, nicht die ganze Natur, son-
dern nur einen Theil organisch sein zu lassen: indem hierbei
vorgestellt wurde, das allgemeine Leben sei nicht an sich, son-
dern werde unter folgenden Bedingungen, also theilweise nur
organisch; — dies wäre Wirkung der ersten Verdrehung. Zwei-
tens aber könnte das „wird” auch gerade dies hervorheben, daß
Organismus ein allgemeinerer, methodologisch formaler Begriff
sei, und das All, welches also nicht an sich organisch ist, werde
es für unsere Betrachtung, indem u. s. w. Wer das geheime
Wirken dunkeler Vorstellungen in der unbewußten Tiefe des
Bewußtseins beobachtet hat, wird die Möglichkeit nicht läug-
nen, daß Becker durch die dargelegten drei Rücksichten zu-
gleich bewogen die Wendung „wird” ergriffen hat.
Aus den beiden entgegengesetzten Bewegungen seiner Ge-
danken erhielt Becker eine mittlere Ansicht als Ergebniß, wo-
durch Organismus und Natur identisch wurden. Dadurch war
aber jede feste [Grenzbestimmung] des Reiches organischer Dinge
unmöglich geworden, wie überhaupt jede Definition. Denn die
Grenze kann doch nur durch das specifische Merkmal des Or-
ganismus gezogen werden, d. i. die Natur. Diese wird aber
nicht bloß zugleich zum Allgemeinen und zu einer Art des zu
Definirenden gemacht und kann also nach keiner Seite als spe-
cifisches Merkmal dienen, sondern auch nach dem mittleren Er-
[15] gebnisse ist sie dazu unfähig, da sie nun mit dem Organismus
selbst das zu Definirende wird und nicht in die Definition ein-
treten darf. Welche Unklarheit muß einen Begriff umhüllen,
dessen erklärendes Merkmal herausgerissen und als das zu Er-
klärende hingestellt ist. Und ein solcher Begriff soll als Princip
dienen!
§. 9. Umschlag des Organismus in sein Gegentheil.
Wir haben bisher nur die Dunkelheit und Unbestimmtheit
des Beckerschen Princips kennen gelernt, noch nicht sein Um-
schlagen, also noch nicht eigentlich Falsches. Doch dies kann
unmöglich ausbleiben. Das Unbestimmte ist nicht festzuhalten.
Begrenzt und bestimmt aber wird ein Begriff nur durch den
entgegengesetzten; wird er von dem nicht scharf geschieden, so
schlägt er in ihn um, da er mit ihm zu sehr verwandt, ja im
Grunde genommen identisch ist. Beckers Begriff des Orga-
nismus nun hat sein Wesen im Zweck, also seinen Gegensatz
in der causalen Naturbetrachtung. Die in letzterer hervortreten-
den Kategorien sind Ursache und Wirkung, Kraft und Aeuße-
rung; und gerade hier vorzüglich gelten die Bestimmungen der
Nothwendigkeit und Gesetzmäßigkeit. Bei Spinoza, der nur
die Ursache gelten läßt, herrscht darum auch ausschließlich die
Nothwendigkeit, welche sich wegen ihrer Unwandelbarkeit in
Gesetze fassen läßt. Diese Momente aber gerade, die Noth-
wendigkeit und Gesetzmäßigkeit, sind es, welche bei Becker
fast ausschließlich als Merkmale des Organischen hervortreten;
denn das Moment des Natürlichen wird nichtssagend, wenn es
mit organisch gleichbedeutend wird, und der Zweck schwindet
bis auf wenige Anklänge und hohle Phrasen gänzlich aus Beckers
Betrachtungsweise. So haben wir schon gelesen, daß das Or-
ganische von dem Werke menschlicher Erfindung und Kunst
dadurch geschieden wird, daß dieses durch Willkür, jenes aber
mit Nothwendigkeit entstanden sei.
Es kommt noch Folgendes hinzu. Die ursächliche Betrach-
tung wird dort vorzüglich angewendet werden, wo wir den Zweck
nicht vollständig erkennen, oder wo er so niedrig ist, daß er
die Ursachen in ihrer vereinzelten, blinden Wirkung wenig oder
gar nicht hemmt; und sie wird auch absichtlich einseitig verfolgt
werden müssen, um die Verhältnisse der ursächlichen Wirkungs-
weise, durch welche allein sich der Zweck verwirklichen kann,
an sich genau zu erforschen. Wie will man begreifen, was sie
[16] im Dienste des Zweckes leisten, wenn man nicht weiß, was sie
für sich, vereinzelt, also gewissermaßen in ihrer Autonomie,
wirken.
Physik und Chemie sind, mit Hinzuziehung der Mathema-
tik, die Wissenschaften, welche die Natur nach ihren causalen
Verhältnissen, ohne Rücksicht auf einen Zweck derselben, be-
trachten. Ein wesentliches Merkmal dieser Wissenschaften, das
aus dieser rein causalen Betrachtungsweise erfolgt, besteht darin,
daß sie die Elemente der Natur in möglichster Einfachheit, die
Kräfte in möglichst vollständiger Vereinzelung, in ihrer reinen,
durch keinen Zusammenstoß mit einander gehemmter oder ab-
gelenkter und umgestalteter Wirkungsweise zu erforschen suchen.
Das ist der unorganische Charakter dieser Wissenschaften, ihre
ungeheure Abstraction oder Analyse, ihr Ab- und Auslösen der
einzelnen Kräfte aus der Verflechtung von Kräften, in welcher
sie von der wirklichen Natur geboten werden. Mit den Ergeb-
nissen der Physik und Chemie geht man sodann an die Wirk-
lichkeit selbst, um, nachdem man die Elemente derselben ana-
lytisch erkannt hat, die wirkliche Synthesis oder die Wirklich-
keit in der Synthesis der Kräfte zu begreifen. Hierbei zeigt
sich nun aber ein ganz auffallender Unterschied, ob man mit
jenen Wissenschaften an den sogenannten Erdorganismus, das
organische Planeten- oder überhaupt Sternsystem tritt, oder aber
an das Reich des eigentlich oder im engeren Sinne so genannten
Lebens in der Pflanzen- und Thierwelt. Astronomie, Geologie,
Meteorologie sind kaum oder wirklich gar nichts anderes als
von der Natur gegebene oder gelöste mechanische Probleme,
physikalische und chemische Experimente, die sich von den Ex-
perimenten und Problemen des Laboratoriums, des Lineals und
Zirkels nur durch ihre großartige erhabene Darstellung unter-
scheiden. Die Resultate jener elementaren unorganischen Wis-
senschaften finden hier ihre unmittelbare Anwendung, offenbaren
unmittelbar ihre erklärende Brauchbarkeit. Denn auf diesen Ge-
bieten der Wirklichkeit herrschen die elementaren Kräfte noch
in ihrer Vereinzelung, noch in reiner Causalität, noch nicht ge-
bändigt durch den Zweck, weil der hier waltende Zweck noch
so gestaltlos ist, daß sie ihm dienen, sogar in ihrem selbststän-
digen Wirken. Die Rücksicht auf den Zweck ist hier eine so
unbestimmte — eben weil es der Zweck noch selbst ist; und
das Unbestimmte läßt sich auch nur unbestimmt berücksichti-
[17] gen — daß das Begreifen der hier auftretenden Erscheinungen
und Verhältnisse aus der reinen Ursächlichkeit in voller Befrie-
digung gelingt, und erst neue thatsächlich gegebene, aber zu-
nächst dem vorliegenden Gegenstande fernliegende, Elemente
hinzugenommen werden müssen, um das Bedürfniß und die Mög-
lichkeit der Zweckbetrachtung zu erzeugen. Die Gestaltung der
Erde z. B. in dem Verhältnisse ihres festen und flüssigen Ele-
ments oder von Land und Wasser zu einander, die bestimmte
Form der Gebirgszüge und ihre Entstehung selbst und die Lage
der Erdschichten, alles dies und vieles andere, was hierher ge-
hört, läßt sich durch die ursächliche, physikalische und chemische
Betrachtung begreifen, und wir haben kein Bedürfniß nach dem
Zwecke zu fragen. Nehmen wir aber die Geschichte hinzu, führen
wir also ein neues, aus dem vorliegenden Gegenstande selbst sich
noch nicht ergebendes Element ein, so entsteht die Zweckbe-
trachtung, indem wir etwa fragen, wie mußte das Land beschaf-
fen sein, in welchem ein Volk solche Thaten vollführen sollte.
Die Entwickelung der Weltgeschichte, wie sie in den Küsten-
ländern des Mittelländischen Meeres Statt hatte, war durch die
Beschaffenheit dieser Länder bedingt und hätte nicht bloß nicht
im Innern Africas, in Hochasien, sondern auch nicht in America
so vor sich gehen können. Diese teleologische Betrachtung der
Gestaltung der Erdoberfläche ist eine von den glänzendsten Sei-
ten unseres Gründers der wissenschaftlichen Geographie, des
geistvollen Ritter. Und so mag man die Erde, das All, immer-
hin nach allen Erscheinungen als Organismus, teleologisch anse-
hen: der Unterschied zwischen dieser Betrachtung und der des
engeren Lebens in Pflanzen und Thieren ist darum doch auch
für die Wissenschaft nicht minder klaffend wie für die gemeine
Anschauung. Dem Erdorganismus ist der Zweck ein transcen-
denter, außerhalb seiner liegend, daher er nicht aus sich selbst
auf ihn weist; dem lebendigen Wesen ist er immanent. Die Erd-
gestaltung zeigt einen Zweck, wenn sie in ihrem Verhältnisse
zur Geschichte betrachtet wird; aber das Auge kann gar nicht
betrachtet, erkannt werden ohne Rücksicht auf den Zweck, auf
das Sehen; denn dies ist ihm inwohnend, und das Auge ist ohne
Sehen ein Nichts.
Diese einfache Betrachtung führt uns nun dennoch dazu, zu
behaupten, was wir oben nach Beckers Auffassung der Sache
läugneten, daß mit dem Begriffe Organismus, weil er methodo-
2
[18] logisch bestimmt ist, ein Unterschied innerhalb der Dinge ge-
macht werden könne. Die Möglichkeit beruht zunächst darauf,
daß sein formaler Inhalt nicht ein bloß subjectiver, sondern auf
die objective Beschaffenheit der Dinge gegründet ist. Genau
genommen aber haben wir auch im Obigen noch gar nicht die
Dinge in organische und unorganische eingetheilt, sondern nur
in solche, auf welche die Zweckbetrachtung nothwendig, und
solche, auf welche sie nur mittelbar angewandt wird. Wir gehen
nun aber allerdings noch weiter und sagen: wenn gewisse Dinge
unmittelbar aus sich auf einen Zweck weisen, den sie in sich
tragen, und als solche organisch genannt werden, andere dies
nicht thun und unorganische heißen, so kommt das daher, weil
sie verschiedener Art sind. Nicht bloß die Zweckbetrachtung,
sondern auch die ursächliche ist bei den organischen, d. h. im
engeren Sinne lebenden Dingen eine ganz andere. Die Ergeb-
nisse der einfachen Physik und Chemie sind auf die lebenden
Pflanzen und Thiere nicht anwendbar, sondern müssen erst eine
Umgestaltung erfahren, wenn mit ihnen der organische Körper
begriffen werden soll: weil die Kräfte in diesem gar nicht in
der Vereinzelung wirken, wie sie in der Physik und Chemie
betrachtet werden und wie sie in dem Erdkörper und Planeten-
system wirklich auftreten, sondern nur in einer so vielfach ver-
schlungenen Verknüpfung, daß sie dadurch von ihrer ursprüng-
lichen Bahn abgeleitet, in ihrer Wirkungsweise abgewandelt
werden. So erkennt nun die Naturwissenschaft den Unterschied
von organischen und unorganischen Dingen vollständig an, indem
sie die Physiologie von der Physik und die organische Chemie
von der unorganischen scheidet. Dieser von der Wissenschaft
wie von der gemeinen Anschauung anerkannte, auf methodolo-
gische sowohl, als auch auf objective und causale Verhältnisse
gegründete Unterschied von organischen und unorganischen Din-
gen innerhalb der Natur ist auch der eigentliche Grund der oben
dargestellten ersten Verdrehung in Beckers Anschauung. Nach
dem eben Gesagten, hoffen wir, werde der Leser erkennen, wie
berechtigt, wie tief sogar Beckers Anschauung ihrem über sich
selbst unbewußten dunkeln Streben nach ist; aber zugleich
auch, daß sie wirklich durchaus unklar geblieben ist, und ihre
Elemente in Verwirrung gerathen sind. Ein durchgreifender,
bis auf den Grund zerstörender Fehler aber, der sich hier zu-
nächst ergiebt, und der auch von Becker anerkannt werden muß,
[19] indem im Hintergrunde seines Geistes ein unorganischer Theil
der Natur einem organischen gegenübersteht, ist folgender.
Wenn man, wie Becker in seiner Unklarheit thut, den
Unterschied organischer und unorganischer Wesen in der Na-
tur, todter und lebender, verwischt, und das All organisch,
lebend sein läßt, so hat man in Wahrheit nicht alles für die
Anschauung belebt, sondern getödtet. Oben sahen wir, daß
Becker den Tod aus dem All gestrichen hat; er hat vielmehr
das Leben gestrichen; denn nur was stirbt, lebt. Wenn er das
All organisch nennt, so kann er die Grundbestimmung des Or-
ganismus und seine wesentlichsten Merkmale nur dem Punkte
entlehnen, der allen Dingen gemeinsam ist — und heißt das
nicht das Leben zum Tod herabsetzen, wenn man es wesentlich
von derselben Seite wie den Tod auffaßt? — Wenn nun Becker
als Grundbestimmung des Organismus den Zweck hervorhebt,
so haben wir oben schon gesehen, in welche Verlegenheiten und
Verwirrungen ihn dieser zu weite und zu enge Begriff führte,
und werden das falsche Wesen dieses Begriffs bei Becker bald
noch gründlicher kennen lernen. Daß er mit den Merkmalen
der Nothwendigkeit und Gesetzmäßigkeit sogar in die causale
Betrachtung fällt, daß das des Natürlichen abermals zu eng und
zu weit und nichtssagend ist, haben wir ebenfalls schon gesehen
und werden wir bald noch mehr sehen. Hier aber wollen wir
besonders das Merkmal des Gegensatzes als den oben bezeich-
neten wahrhaft zerstörenden Fehler betrachten. Dieses Merkmal
nämlich ist wesentlich dem Erdorganismus, also wie wir jetzt
wissen, dem Reiche des Unorganischen entlehnt, dem Reiche,
wo die Kräfte in voller Einseitigkeit wirken und in ihrer Ver-
einzelung, wie sie eben sind, dem Zwecke genügen, wo die
Zweckbetrachtung noch keinen Raum hat, die reine Ursächlich-
keit herrscht. Polarität ist die Gliederung dieser elementar-
sten Kräfte, und somit der Gegensatz die elementarste, also ab-
stracteste Form der Besonderung. Wir nennen dieses gabelför-
mige Spalten in Gegensätze eben nur Besonderung, nicht etwa
Gliederung, Entwickelung, welche wir ausschließlich für das
engere Leben aufbewahren, wie für den Geist. Diese Polarität
aber, der Gegensatz, ist bei Becker die einzige Weise der
Besonderung, und sie gerade ist der Tod aller organischen Glie-
derung und Entwickelung. — Indem Becker den Gegensatz
zum Charakter des organischen Lebens macht, wird ihm dieses
2*
[20] zur leeren Phrase. Es heißt bei ihm §. 7 Anf.: „Die Verbin-
dung alles Besonderen und Einzelnen zu einem organischen Gan-
zen kömmt durch diejenige Wechselbeziehung zu Stande, welche
sich auf ein organisches Differenzverhältniß gründet. Orga-
nisch different nennt man nämlich in der Naturwissenschaft
solche Thätigkeiten und Stoffe, welche einander entgegen-
gesetzt sind, aber gerade durch den Gegensatz einander be-
dingen, und mit einander ein gegenseitiges Verhältniß eingehen,
vermöge dessen a nur dadurch a ist, daß es einem b entgegen-
gesetzt ist, und umgekehrt. Diese organischen Differenzverhält-
nisse treten in der Natur je nach den verschiedenen Arten der
organischen Dinge unter verschiedenen Gestalten hervor, z. B.
in dem Organism der Erde als Differenzen der positiven und
negativen Electricität, der Nord- und Südpolarität u. s. f.“ —
wie sollten nicht auch die chemischen Differenzverhältnisse, das
der Säuren und Basen, hierher gehören? —; „in den Thier-
organismen als Gegensatz von Contraction und Expansion“ —
welches Verhältniß aber auch in den unorganischen Dingen vor-
kommt, die vielfach durch Wärme Expansion, durch Kälte Con-
traction erleiden —, „von Assimilation und Secretion, von Mus-
kel und Nerv u. s. f.“ Wer so über den Gegensatz, den die
gemeine Anschauung wie die Wissenschaft zwischen todter und
lebender, unorganischer und organischer Natur macht, hinweg-
geht, dem dürfen wir wohl sagen: gieb sie nur frei, diese so-
genannt organischen Differenzverhältnisse im Thier- und Pflan-
zenkörper, und wenn du dann noch nicht weißt, was du an ihnen
hast, so wirst du es bald riechen. Auch Aristoteles, dieser
Gründer der Logik spricht sich, wo er auf das Reich des Or-
ganischen zu reden kommt, wie in dem Werke über die Theile
der Thiere, entschieden gegen die Dichotomirung aus, weil sie
den Organismus zerreiße. Wie willkürlich ist es, Muskel und
Nerv aus dem organischen Zusammenhange mit den Knochen,
den blutführenden Adern, mit dem ganzen Leibe herauszureißen,
um sie in einen polaren Gegensatz zu bringen!
Das eine allgemeine Leben der Natur ist der eine Tod,
die eine Starrheit der Natur. Der Begriff des Organismus, des
Lebens, hat nur Werth und Sinn im Gegensatze zu einem un-
organischen, todten Theile der Natur, der dem organischen Theile
fortwährend dient, den sich dieser fortwährend dienstbar zu ma-
chen, von dem er sich zu erhalten, zu ernähren, aus dem er
[21] Stoff und Kraft borgen, dessen polares Wirken er auszugleichen,
dessen Gegensätze er zu fesseln, den er sich zu assimiliren, an-
zueignen hat. Er fällt dagegen ihm anheim, sobald er die Kraft
ihn so zu beherrschen verloren hat. Es herrschen im Reiche
des Organismus nicht eigentlich andere Gesetze als in der un-
organischen, mechanischen Natur; sie bestehen beide aus densel-
ben elementaren Stoffen, und diese haben immer dieselben Kräfte.
Aber die allgemeinen Gesetze der Natur, die im Reiche des
Mechanismus und Chemismus in ihrer Einfachheit und Selb-
ständigkeit auftreten, sind im Organismus so kunstvoll in ein-
ander verflochten, so eigenthümlich an einander gebunden, daß
ihre Wirkungen, sich gegenseitig von der einfachen ihnen ur-
sprünglich angehörenden Bahn ablenkend, durchaus andere wer-
den. Durch die Weise ihres Zusammenwirkens können auch
diese an sich rein mechanischen Kräfte nicht anders, als sich
fortwährend aus der Vorrathskammer der unorganischen Natur
verstärken, zugleich aber auch diese Verstärkungen wieder in
die Vereinigung ziehen, in welcher sie selbst stehen, und also
die neue Kraft sogleich mit der Aufnahme ihrer Selbständig-
keit berauben und ihre Wirkung in die Bahn lenken, wel-
che durch die Zusammenfassung der Kräfte im Organismus
geschaffen ist. Der Feind des Organismus liegt nicht mehr
außerhalb seiner in der ihn umgebenden unorganischen Natur,
als innerhalb seiner; denn alle Kräfte, die in ihm zusammen-
gehalten, deren Verwandtschaft und gegenseitige Zuneigung, wie
sie in Gemäßheit ihrer Gegensätze Statt haben, unterdrückt und
unwirksam gemacht werden, und zwar so, daß sie sich selbst
gegenseitig hemmen, thun dies doch nur mit Verläugnung und
zum Trotz ihres selbständigen einzelnen Wirkens. Sie thun
sich selbst diese Gewalt an, sich gegen ihre Grundsätze und
Beckerisch „organischen Differenzverhältnisse“ zu vereinen;
aber diese Gewalt läßt der Spannung dieser Gegensätze gegen-
über nach; um so stärker wird ihr Streben nach Selbständig-
keit und Entfaltung ihrer elementaren polaren Wirksamkeit, bis
sie dieselbe endlich erlangen und der Organismus damit zerfällt.
Was also Becker Differenzverhältniß, Gegensatz nennt,
das ist die polare, zwiespältige Wirkungsweise im Unorgani-
schen. Selten auch nennt Becker jene Namen ohne das Bei-
wort „organisch“ hinzuzufügen, um sich und den Leser gewalt-
sam in der Täuschung zu erhalten, als habe man es hier mit
[22] Organischem zu thun. Ohne dies Beiwort hätten jene Aus-
drücke zu leicht und zu stark an die unorganische Natur erin-
nert; aber ein schönes Beiwort schläfert das eigene Gewissen
wie den unachtsamen oder schwachen Leser ein. Diesen Schlaf
wollen wir nun eben stören, indem wir darauf hinweisen, daß
der Bestand des Organischen darauf beruht, die im Unorgani-
schen herrschenden Gegensätze zur Gleichgültigkeit herabzu-
setzen, die chemischen Affinitäten oder Differenzverhältnisse zu
bannen. Die elementaren Kräfte können die in ihnen liegenden,
ihren Gehalt ausmachenden Gegensätze nur zur Geltung bringen,
so lange sie in ihrer Selbständigkeit vorhanden sind; aber ein-
mal in eine organische Zusammenfassung von Kräften eingegan-
gen, von einer umfassenden Einheit verschlungen, hört ihre ei-
genthümliche Wirkungsweise auf; ihr Gehalt bleibt ihnen, aber
nicht zu ihrer Verfügung; sie sind nur noch das, was sie in der
Vereinigung gelten, nach der Umgestaltung, die sie sowohl lei-
den, als auf einander üben. Und diese Umwandlung der
Kräfte, dieses Umbiegen ihrer Wirkungsbahnen ist sogar ihr
eigenes, den Gesetzen der Natur gemäßes Thun; denn thäten
sie es nicht aus sich, keine Macht könnte sie je organisch zu-
sammenfassen.
Es ist hier nicht der Ort zur Lösung der sehr schwierigen
Aufgabe, den Unterschied zwischen Organischem und Unorga-
nischem darzustellen, wobei man, schon aus polemischer Rück-
sicht, sehr leicht in die Gefahr geräth, bald die Verschiedenheit,
bald die Gleichheit zu übertreiben. Wir können nicht unter-
lassen, auf die classische Abhandlung „Lotzes Leben und Le-
benskraft“ zu verweisen, welche Rudolph Wagners Hand-
wörterbuch der Physiologie als Einleitung vorgesetzt ist, und
auf desselben Lotze „Allgemeine Physiologie.“ Aber auch schon
von Aristoteles hätte es sich Becker können sagen lassen (Ue-
ber die Theile der Thiere, Anf.), wie die Spaltung in Gegen-
sätze den Organismus zerreißt.
Worauf es uns hier ankam, war, darauf hinzuweisen, daß
die Entwickelung oder Gliederung des Organismus, dieser viel-
fachen Verbindung elementarer Kräfte, mannigfaltiger, verwickel-
ter, beziehungsreicher ist, als die unorganische Gabelung in Ge-
gensätze, diese elementare Besonderungsweise; jene ist nicht so
geradlinig, überhaupt nicht bloß linienartig, sondern netzförmig,
allseitig, auch nicht planimetrisch, sondern stereometrisch; aber
[23] auch nicht ruhend, sondern ewig bewegt, allseitig kreisend, so
daß der Organismus sich selbst auf das mannigfachste dem An-
blicke darbietet, selbst die vielfältigsten Gesichtspunkte veran-
laßt. Kein starres Oben und Unten, Hinten und Vorn, sondern
alles zugleich, und eins oder das andere nur, je nachdem wo
man gerade steht, wie es sich gerade zeigt; alles aus einem
springenden Punkte geworden, aber nachdem es nun geworden
ist, ohne Mittelpunkt und ohne Umfangslinie, sondern überall
Mitte und überall Oberfläche; kein Punkt aus dem andern ent-
standen, alles mit und neben einander, oder vielmehr in einander
— kurz nichts als Gegensatz, aber nicht einfacher, sondern ein-
heitlich vielfacher, allseitiger; sich ewig bekämpfend, ewig ver-
söhnt — ewiges Spiel.
b) Organische Verrichtung.
Becker giebt auf der ersten Seite seines Werkes eine
Definition der organischen Verrichtung. Aber welche Unme-
thodik liegt darin und welche Unklarheit verräth es, ab-
gelöst von der Definition des Organismus überhaupt und noch
vor einer solchen eine Definition der organischen Verrich-
tung zu geben! Doch sehen wir sie an: „eine organische
Verrichtung, d. h. eine von denjenigen Verrichtungen leben-
der Wesen, welche aus dem Leben des Dinges selbst mit ei-
ner inneren Nothwendigkeit hervorgehen, und zugleich das Le-
ben des Dinges selbst zum Zwecke haben, indem nur durch
diese Verrichtungen das Ding in der ihm eigenen Art sein und
bestehen kann.“ Diese Definition setzt aber entweder voraus,
daß das Leben, also der Organismus definirt sei, und ist dann,
da dies noch nicht geschehen ist, völlig unverständlich, also
nichtssagend; oder es wird beabsichtigt, mit der Definition der
organischen Verrichtung zugleich die des Organismus zu geben,
dann wäre sie eine lächerliche Tautologie, ein volles idem per
idem. Jedenfalls kann diese Definition die Unbestimmtheit,
welche wir bei der Bestimmung des Organismus überhaupt ge-
funden haben, nicht im mindesten heben. Mit den Worten
„eine von denjenigen Verrichtungen“ soll der Meinung nach
die organische Verrichtung von unorganischen geschieden wer-
den; aber wo wären unorganische Verrichtungen? Das ist
aus Becker nirgends zu ersehen. Denn erstlich haben wir oben
gesehen, daß es genau genommen nach ihm keine unorganischen
[24] Dinge giebt, deren Verrichtungen gemeint sein könnten; dann
aber kann er auch nicht zeigen, wie das organische Ding eine
unorganische Verrichtung haben könne, was für die obige De-
finition, welche unorganische Verrichtungen organischer Dinge
andeutet, noch wichtiger ist. Wir kommen hier wieder auf den
schon betrachteten Punkt der „organischen Freiheit.“ Selbst
zugestanden, jene Ableitung der Freiheit aus der Vielfältigkeit
der Kräfte und ihrer Beziehungen sei nicht so spielerisch, wie
sie ist, sondern stichhaltig; so würde sie nur viel Mannigfaltig-
keit innerhalb der Verrichtung möglich machen, aber nicht den
ganzen organischen Charakter derselben aufheben. Die Epheu-
blätter werden doch darum nicht unorganisch, weil in ihrer Form
so viel organische Freiheit herrscht; die Sprache, wie ausdrück-
lich dort gelehrt wird, ist eine organische Verrichtung, obgleich
in dem wirklichen Sprechen die Individualitäten der Völker und
Personen freien Spielraum haben. Ebenso muß das Denken,
wie so oft wiederholt wird, die Intelligenz, organisch bleiben,
obgleich hier die organische Freiheit gegenüber der organischen
Nothwendigkeit so groß ist. Woher also irgend welche unor-
ganische Verrichtung? Und also, um darauf zurückzukommen,
wenn keine unorganische Verrichtung, woher das unorganische
Ding? Das geistige Leben der Menschheit als Art des allge-
meinen Lebens ist organisch, und das wissenschaftliche und
künstlerische wie praktische Arbeiten, die Thätigkeiten der In-
telligenz und Sittlichkeit, „gehen aus dem Leben des Geistes
selbst hervor mit einer inneren Nothwendigkeit und haben zu-
gleich das Leben des Geistes selbst zum Zwecke, indem nur
durch diese Thätigkeiten der Geist in der ihm eigenen Art sein
und bestehen kann.“ Nach Becker aber müßten wir einer-
seits das Fließen des Flusses seine organische Verrichtung nen-
nen, und sagen, der Nil übe die organische Verrichtung der
Bewässerung Aegyptens — denn wer verkennt in diesen Verhältnis-
sen einen von der Natur durch vielfaches Zusammenfassen ur-
sächlicher Wirkungen erreichten Zweck? — andererseits würde
Beckers Ausarbeitung seines Organism eine unorganische Ver-
richtung gewesen sein, wie Becker meint, und der Leser viel-
leicht auch. Aber der Leser wird sich vielleicht auch mit uns
nicht dazu verstehen wollen, jeden Regentropfen, jede Schnee-
flocke, weil sie aus dem allgemeinen Leben der Natur stammt,
als organisches Ding, und das Schmelzen des Schnees als or-
[25] ganische Verrichtung, dagegen die Gruppe des Laokoon als un-
organisches Ding anzusehen!
Wenn es so, wie wir in Obigem gezeigt haben, mit dem
Principe steht, wie soll es mit der Entwickelung werden? Wird
denn wohl aus einem so unklar gefaßten, so vielfältig verscho-
benen Begriffe — verschoben nach seinem Werthe und seiner
Bedeutung: da er, an sich formal bestimmt, material genommen
wird; verschoben nach Umfang: da er der Wahrheit und der
Meinung Beckers gemäß innerhalb der Natur eine Grenze
ziehen sollte, der gegebenen Bestimmung gemäß über die Na-
tur hinausreicht, der Anwendung nach aber die Natur deckt;
verschoben nach seinem Inhalte: da der Zweck als seine Grund-
bestimmung behauptet wird, seine Merkmale aber den ursächli-
chen unorganischen Verhältnissen entlehnt sind — wird aus ihm
eine Entwickelung möglich sein? Wir können die Unmöglich-
keit im voraus befürchten; aber wir müssen das Gegebene prü-
fen. Vielleicht auch daß sich Becker nachträglich corrigirt.
c) Die Sprache als organische Verrichtung und als
Organismus.
§ 10. Nominal-Definition der Sprache.
Becker beginnt sein Werk: „Man versteht unter Spra-
che” — hiermit wird eine Worterklärung, eine Nominal-Defi-
nition angekündigt, die nur den Zweck haben kann, vor allem
zu bestimmen, von welchem Gegenstande die Rede sein solle.
Mit einer solchen zu beginnen, ist nicht nur durchaus erlaubt,
sondern meist rathsam, oft unerläßlich; die Mathematik, die
strengste Wissenschaft, beginnt mit Worterklärungen. Sie sind
aber nicht ohne Gefahr des, wenn auch unbeabsichtigten, Miß-
brauchs: Logisches Gesetz ist: sie dürfen nie mehr enthalten,
als: unter diesem Worte sei folgender Begriff verstanden; sie
dürfen nicht — und hierin liegt die Gefahr —, zu Real-Defini-
tionen werdend, das Wesen der Sache aussprechen, welches eben
erst im Verlaufe der Arbeit zu erweisen ist. Sie sind ein Mit-
tel zur Verständigung, sie ersetzen das materiale Zeigen eines
Dinges; aber sie können und dürfen keine Wahrheit ausspre-
chen, keine Erkenntniß. Sie bestimmen den Sprachgebrauch
des Schriftstellers, der allemal zugestanden werden muß, weiter
nichts. Heut zu Tage, wo man vielfach gewöhnt ist, verächt-
[26] lich von der formalen Logik zu sprechen, hat man an ihre Re-
geln ausdrücklich zu erinnern.
Hören wir also Becker: „Man versteht unter Sprache
entweder das Sprechen selbst als diejenige Verrichtung des
Menschen, in welcher der Gedanke in die Erscheinung tritt, und
durch welche ein gegenseitiger Austausch der Gedanken und
eine Gemeinschaft des geistigen Lebens in dem ganzen Ge-
schlechte zu Stande kömmt, oder die gesprochene Sprache
als ein Product der menschlichen Natur, in welchem die von
dem menschlichen Geiste gebildete Weltansicht ausgeprägt und
niedergelegt ist.” Ist das die versprochene Nominal-Definition?
Hier ist vielmehr in einer Real-Definition vorausgenommen, was
das ganze Werk erst zu erweisen hätte. Wenn man das un-
ter Sprache verstände, was Becker hier voraussetzt, so brauchte
man seine Belehrung nicht mehr; sein Werk wäre überflüssig.
— Was das Erzeugniß einer Entwickelung hätte sein sollen,
wird dem Leser an den Kopf geworfen. Das ist nicht die ru-
hige Sicherheit der Wahrheit, welche den Leser Schritt für
Schritt zum gewissen Ziele leitet; das ist die Angst, welche
mißtrauisch gegen sich selbst ihre Weisheit nicht glaubt an den
Mann bringen zu können, wenn sie nicht mit der Thür ins
Haus fällt; die überraschen, mit Sturm einnehmen will.
Das tiefste und das ganze Wesen der Sprache wird im er-
sten Satze ausgesprochen; aber wie? natürlich wie etwas ohne
alle Vorbereitung Vorausgegriffenes nur gesagt sein kann: unbe-
stimmt, nach allen Seiten überschwankend, nirgends eine be-
stimmte Grenze ziehend, zu eng und zu weit, mit einem Worte:
nichtssagend. Ein solcher Satz kann bloß durch Achselzucken
kritisirt werden, wird es aber dadurch auch wirklich. In Fol-
gendem thun wir nicht mehr als dieses Achselzucken in Worte
übersetzen. Daß durch irgend eine Verrichtung jemals der Ge-
danke, das rein Ideale, Immaterielle, in die Erscheinung treten
könne, und daß dies in der Sprache geschehe, begreift man zu-
nächst nicht; „der gegenseitige Austausch der Gedanken” mag
zugestanden, soll aber eben erst erklärt werden; „die Gemein-
schaft des geistigen Lebens in dem ganzen Geschlechte” ist eine
bombastische Phrase; daß die gesprochene Sprache ferner „ein
Product der menschlichen Natur” sei, ist ein unbestimmter Aus-
druck und bekanntlich zu allen Zeiten mindestens auch geläug-
net worden; daß aber gar in diesem „Producte der menschli-
[27] chen Natur” die „vom menschlichen Geiste gebildete Welt-
ansicht ausgeprägt und niedergelegt” sei, ist ein Widerspruch
in sich selbst; denn wie soll der Geist in dem Producte der
Natur etwas niedergelegt haben? Endlich stehen die beiden an-
gegebenen Bedeutungen der Sprache, als Verrichtung und Pro-
duct, im Widerspruch zu einander, und man begreift nicht, wie
man ohne wesentliche Nachtheile für die Erkenntniß mit ei-
nem Worte zwei entgegengesetzte Begriffe oder Sachen verbin-
den soll. Kurz in Beckers Anfangssatze liegen mit dem We-
sen der Sprache auch alle Schwierigkeiten dieses räthselhaften
Wesens: während es Aufgabe gewesen wäre, diese Schwierig-
keiten zu entwickeln, dem Leser zu zeigen.
Hat man so das Endergebniß unbegriffen und unbestimmt
am Anfange vorausgenommen, so hat man sich damit schon die
Möglichkeit abgeschnitten, dasselbe als eine schließliche Folge
einer Reihe unläugbarer oder sich einander stützender Sätze zu
erweisen und nach seinem vollen Umfange und mit klarer Ue-
bersicht der in ihm enthaltenen Momente zu begreifen. Oben
fürchteten wir, die Unklarheit, die Verworrenheit des Begriffs
Organismus bei Becker, seines Princips, werde keine Entwicke-
lung zu Stande kommen lassen; wir haben jetzt einen neuen
Grund zur Befürchtung, der mit dem ersten gewiß in Zusam-
menhang steht. Die ursprüngliche Unklarheit des Princips und
das Vorausgreifen des Ziels begünstigten einander, standen in
organischem Wechselverhältniß.
Zunächst gesellen sich zu den erwähnten Widersprüchen mit
jedem Satze neue, alle ungelöst, weil unbemerkt. „Die gesprochene
Sprache ist aber ein durch die Verrichtung des Sprechens gewor-
denes” — das widerspricht dem, daß sie ein Product sei; denn
etwas durch eine Verrichtung Entstandenes ist etwas Gemachtes,
kein Product; Product aber ist dasjenige, was nicht gemacht,
sondern von selbst gewachsen, geworden ist. Ferner ist die
Sprache ein Product der Natur, so ist sie nicht durch die Ver-
richtung erst geworden; sondern die Verrichtung des Sprechens
ist bloß die Anwendung der Sprache, des gegebenen Naturpro-
ducts — „und eigentlich ein durch diese Verrichtung noch in
jedem Augenblicke werdendes” — aber wie ist das denkbar?
Es ist hier gar nicht zu untersuchen, ob nicht diese Widersprüche
objectiv im Wesen der Sache liegen; denn Becker hat sie nicht
als solche Widersprüche dargestellt, noch weniger gelöst oder zu
[28] lösen gesucht. Sie sind ihm selbst nicht zur Klarheit gewor-
den; er kann die Widersprüche noch nicht einmal bestimmt aus-
sprechen. Daß das Gewordene in jedem Augenblick noch wird,
wer wüßte das nicht nach dem alten πάντα ῥεῖ? Was hätte
hieran die Sprache Besonderes? In ihr aber herrscht wirklich
dieser Gegensatz des Werdens und Gewordenseins in viel tieferer
Weise als von Becker gesagt und erkannt ist. — Doch hören
wir weiter: „In der gegebenen Sprache wird nur die ihrer Na-
tur nach flüchtige Erscheinung des Gedankens als ein Stätigge-
wordenes festgehalten” — aber wie ist das möglich? denkbar?
das seiner Natur nach Flüchtige festhalten, heißt das nicht, seine
Natur zerstören? Und ist es denn wohl wahr, daß wir unter
Sprache je die stätig gewordene Erscheinung des Gedankens
verstehen? oder was ist bei diesen Worten zu denken? — „und
sie (die gesprochene Sprache) ist eigentlich nur die als Stätig-
gewordenes aufgefaßte Verrichtung des Sprechens” — ist das
etwas anderes als das Vorangehende? Ist aber die gesprochene
Sprache „eigentlich nur die als Stätiggewordenes aufgefaßte
Verrichtung des Sprechens, so ist sie nicht, wie es doch so
eben hieß, das aus dieser entstandene Product; denn dann ist
sie überhaupt „eigentlich” nichts Objectives, Wirkliches, son-
dern nur Erzeugniß unseres Festhaltens und Auffassens, also ein
subjectives Geschöpf unserer Reflexion, dessen Möglichkeit, Be-
rechtigung, Nothwendigkeit zu erweisen ist.
Die Wahrheit des in diesem Eingange Gesagten konnte
nicht geprüft, nur die Unmethodik konnte dargelegt werden,
welche aus Unklarheit entsprungen, den Nebel verstärkt. Schließ-
lich jedoch noch folgende Bemerkung. Eine Nominal-Definition
sollte gegeben werden; statt dessen wird man mit sowohl in
sich selbst widerspruchsvollen als auch sich einander widerspre-
chenden Sätzen, welche eine Real-Definition enthalten, überschüt-
tet. Aber nicht bloß diese wird nicht erreicht, sondern auch
nicht einmal das, was eine Nominal-Definition leisten sollte, den
Gegenstand der Verhandlung zu bestimmen. Wie könnte man
den aus der ganzen mitgetheilten Stelle erkennen? Man könnte
bei allem Gesagten viel eher an Schreiben und Schrift, d. h.
auch an Bilderschrift und Knotenschnüre, denken; ja auf Schrei-
ben und Schrift paßt jener Unterschied von Verrichtung und
Product und ihre Einheit, wie das von Becker bestimmt ist,
[29] viel besser als auf Sprache. Hier ist wenigstens Stätiggewor-
denes.
Wenn man so, wie Becker hier gethan hat, das Ende an
den Anfang setzt und sich dadurch den ganzen Weg der Ent-
wickelung abschneidet, so ist natürlich Bewegung nur scheinbar
möglich; man rückt nicht von der Stelle, man dreht sich im
Kreise. Das ist die Tautologie: sie haftet an Beckers Fer-
sen wie ein Fluch; wir sind ihr wohl schon oben bei der De-
finition der Verrichtung begegnet und werden sie weiter nach-
weisen im Einzelnen und im Ganzen.
§. 11. Erstes Merkmal des Organischen nachgewiesen in der Sprache.
Auf den betrachteten Eingang folgt die seiner würdige,
oben schon besprochene, Definition der organischen Verrichtung;
aus ihr will Becker erweisen, daß auch die Sprache eine or-
ganische Verrichtung ist. Das kann nach der Beschaffenheit
dieser Definition, wonach alles Mögliche organisch ist, nicht
schwer sein. Schwer wäre nur das Gegentheil, wie es auch
Becker unterlassen hat, dieses Gegentheil, das Todte und die
Freiheit, wirklich nachzuweisen. Das Anziehende im Folgenden
liegt also nur darin, zu sehen, theils wie sich Becker bei die-
ser Arbeit, die keine ist, benimmt, theils aber auch, als welche
Art der organischen Verrichtung die Sprache von ihm bestimmt
wird.
Es werden die beiden in der Definition gegebenen Merk-
male: die aus dem Leben des Dinges nothwendig folgende Ent-
stehung und die Rückbeziehung auf das Leben als den Zweck,
jedes besonders rücksichtlich der Sprache untersucht. Zuerst
heißt es: „Die Verrichtung des Sprechens geht mit einer in-
neren Nothwendigkeit aus dem organischen Leben des
Menschen hervor: denn der Mensch spricht, weil er denkt,
und mit der Verrichtung des Denkens ist zugleich die Verrichtung
des Sprechens gegeben. Es ist ein allgemeines Gesetz der lebenden
Natur, daß in ihr jede Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige
in einem Leiblichen in die Erscheinung tritt und in der leibli-
chen Erscheinung seine Begrenzung und Gestaltung findet. Nach
diesem Gesetze tritt auch der Gedanke nothwendig in die Er-
scheinung und wird ein Leibliches in der Sprache. Die Spra-
che ist nichts anderes als der in die Erscheinung tretende Ge-
danke und beide sind innerlich nur eins und dasselbe.“ Dies
[30] sollte aus jenem Gesetze folgen? Ist denn die Sprache ein Stoff?
etwas Leibliches? Gesetzt aber, dies sei, sagt denn jenes Ge-
setz, daß das Leibliche nichts anderes ist, als das in ihm er-
scheinende Geistige? der Stoff nichts anderes als die in ihm
erscheinende Thätigkeit? der Stein z. B. ist nichts anderes als
die in ihm erscheinende Bewegung? oder Wärme? das Eisen
bloß der in ihm erscheinende Magnetismus? Gedanke und Spra-
che sollen aber „innerlich eins und dasselbe“ sein; äußerlich
nicht? und was bedeutet denn hier innerlich und äußerlich? und
sind eben so Stoff und Thätigkeit innerlich eins und dasselbe?
Doch weiter! „Auch erhält der Gedanke erst dadurch Gestalt
und Vollendung, daß er ein gesprochener wird“ (sollte dies Wort
„Vollendung“ eine versteckte Bedeutung haben? oben hieß es
nur, das Geistige erhalte im Leiblichen „Begrenzung und Ge-
staltung;“ soll Vollendung nichts mehr bedeuten als Begrenzung?);
„denn die Objecte der sinnlichen Anschauung, welche die
Verrichtung des Denkens in dem menschlichen Geiste zuerst
hervorrufen, werden gerade dadurch zu Begriffen, daß sie
durch die Rückbildung des Geistes in Objecte einer geisti-
gen Anschauung verwandelt, und als solche in dem gesproche-
nen Worte dem Geiste gegenübergestellt werden.“ Wissen wir
nun, warum es Becker, bewußt oder unbewußt, gefiel, Be-
grenzung durch Vollendung zu ersetzen? Wenn nur durch die
Sprache die sinnliche Anschauung zum Begriffe wird, so wird
durch sie das Denken allerdings erst vollendet; aber keineswegs
begrenzt; denn die sinnliche Anschauung hat gerade festere Ge-
staltung, bestimmtere Begrenzung als der in der Sprache aus-
gedrückte, immer allgemeine Begriff. Wir hätten also hier bei
der Anwendung des allgemeinen Begriffs Organismus auf die
Sprache etwas Unangemessenes gefunden. Durch die Sprache
wird nämlich nicht, wie sonst durch die Verleiblichung geschieht,
sinnlichere Gestaltung, festere Concretion erzeugt, sondern, ganz
im Gegentheil, Verringerung der Sinnlichkeit und wachsende
Abstraction. So hat aber Becker die Sache nicht gemeint;
sondern die sinnliche Anschauung wird durch die Selbstthätig-
keit des Geistes zum Begriff, und dieser erhält erst im Worte
Begrenzung und Gestalt; das Wort ist concreter, sinnlicher als
der Begriff. Hierauf werden wir zurückkommen. Jetzt nur die
Frage, was ist denn das für eine „Rückwirkung des Geistes“,
durch welche die sinnliche Anschauung in eine geistige verwan-
[31] delt wird? Soll etwa hiermit der Vorgang der Begriffsbildung
dargelegt sein? Und ferner, was treibt den Geist, diese gebil-
dete geistige Anschauung in das Wort zu legen? Was soll man
endlich zu einem Schriftsteller sagen, der zwei so schwierige
Gegenstände, wie die Verleiblichung des Gedankens im Worte
und die Begriffsbildung, in einem Werke, das diesen beiden Ge-
genständen gewidmet ist, im ersten Paragraph mit einem Satze,
den man durch „auch“ an das Vorangehende bindet, erledigt?
ja, erledigt, denn Becker sagt uns nirgends mehr, aber wie-
derholt es unzählige Male: „die Sprache ist der in die Erschei-
nung tretende Gedanke, und das Wort der in Lauten leiblich
gewordene Begriff;“ weil ihn die Furcht nicht losläßt, man
glaube ihm dies nicht; und er hat diese Furcht, weil er die
Sache selbst nicht begriffen hat. Um sie sich selbst glaublich
und annehmbar zu machen, spricht er sich jenen Satz fortwäh-
rend vor.
§. 12. Zweites Merkmal des Organischen in der Sprache.
Die Erfahrungen, auf die sich Becker beruft, um zu er-
weisen, daß das Denken erst in dem Sprechen seine Vollen-
dung erreicht, werden wir später betrachten. Wir gehen also
jetzt zum zweiten Merkmal des Organischen über, zum Zweck-
verhältnisse, und wollen sehen, wie Becker dies in der Spra-
che nachweist. Wenn es leicht war, rücksichtlich der Sprache
die nothwendige Entstehung und den organischen Zusammen-
hang mit dem Wesen des Menschen nachzuweisen vermöge der
Phrase der Erscheinung des Geistigen im Leiblichen, so ist der
Nachweis dieses Zweckverhältnisses noch leichter. Denn Be-
cker durfte ja nur folgenden Schluß aufstellen: Der Mensch ist
nur Mensch durch Denken; denken aber kann er vollkommen
nicht, ohne zu sprechen; folglich geht die Sprache nicht bloß
mit innerer Nothwendigkeit aus dem Denken hervor, sondern
hat auch nur das Denken, die eigentliche Menschlichkeit im
Menschen zum Zwecke. So verfährt aber Becker nicht. Je
näher indeß dieser Schluß lag, je einfacher und natürlicher er
sich darbot, und um so ferner das lag, was an seine Stelle tritt,
um so mehr wird sich behaupten lassen, es sei kein Zufall, daß
ihn Becker liegen ließ und nach etwas anderm griff, er mag
es übrigens mit oder ohne Absicht und Bewußtsein gethan ha-
ben. Es ist ganz unläugbar und eine Thatsache, die der Psy-
cholog zu entwickeln hat, daß sich im Gedankengange des Men-
[32] schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen,
ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh-
rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste
Geschäft des Kritikers — ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht
bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender
Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be-
trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge-
fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten.
In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine
drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei-
gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung
liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer,
auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem-
selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird;
sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder
wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung
mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder
ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke?
Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her-
vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene
nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei,
zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder
diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen —
d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel-
chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese-
hen wird.
Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden
ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf-
fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in
echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei-
ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil-
den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch
Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es
dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei-
ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem-
per-idem jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem
nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit
dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge-
sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung,
welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-
[33] lich alles als organisch erweisen. Das Fließen des Flusses z. B.
ist eine organische Verrichtung; denn es geht mit innerer Noth-
wendigkeit aus dem Leben des Flusses hervor und hat dieses
Leben zum Zwecke.
Becker hat dies nicht erkannt; ein horror vacui aber, der dem
Geiste eingeprägt ist, hat ihn von unserm obigen Schlusse zurück-
gehalten, in welchem das Vacuum seiner Tautologie klar an den
Tag gekommen wäre. Becker will doch nun aber einmal noch
ein zweites Merkmal des Organischen aufgestellt haben, will doch
nun einmal dieses in der Sprache finden; und was kann der Mensch
nicht alles, wenn er will! Suchet, so werdet ihr finden! Becker
hat gefunden: „Die Verrichtung des Sprechens hat das Leben
selbst, und zwar das innerste Leben des Menschen
zum Zwecke … denn“ — nun nicht obiger Schluß, der das
Verdienst hätte bei der Sache zu bleiben, freilich leer bei der
leeren; sondern es wird um dieselbe herumgegangen — „das
menschliche Leben fordert nicht bloß, wie das Leben der Thiere,
ein instinktartiges Beisammensein, durch welches die Erhaltung
der Gattung bedingt ist; es fordert als menschliches Leben
zugleich eine gesellige Mittheilung der Gedanken, und eine Ver-
einbarung des individuellen Denkens zu einer Allen gemeinsamen
Weltanschauung, durch welche auch das geistige Leben des
Einzelnen zu einem Leben der ganzen Gattung wird. Wie bei
den Geschlechtern der Thiere die Individuen durch instinktartige
Verrichtungen auf leibliche Weise, so werden beim Menschen
die Individuen durch die Sprache auf geistige Weise zu einer
Gattung verbunden.“ Es wird also hier von Becker die andere
Seite der Sprache hervorgehoben, wonach sie Werkzeug zur Mit-
theilung der Gedanken ist; und der Schein der Verschiedenheit
der beiden Merkmale, welche in der Definition der organischen Ver-
richtung aufgestellt sind, wird dadurch aufrecht erhalten, daß jedes
derselben auf eine der beiden Seiten der Sprache angewandt wird.
Das ist nun aber erstlich, wenn auch nicht beabsichtigte,
doch wirkliche Sophisterei. Wäre jene Definition treffend, so
müßte jedes ihrer Merkmale auf jede Seite des Definirten pas-
sen, da diese Seiten doch in wirklicher Einheit liegen müssen.
Unser obiger Schluß erfüllt diese Forderung; nämlich so: Die
Sprache ist organisch, nicht bloß nach der Seite ihres nothwen-
digen Zusammenhanges mit dem Denken, sondern auch nach
der andern, wonach sie die Gedankenmittheilung bewerkstelligt.
3
[34] Diese nämlich muß sein, folglich muß Sprache sein — das ist
die Entstehung mit innerer Nothwendigkeit —; und sie hat diese
dem geistigen Leben unentbehrliche Mittheilung, also das geistige
Leben selbst zum Zweck — das ist das organische Zweckver-
hältniß —: die Forderung ist erfüllt, aber im leersten Forma-
lismus; und man wird durch solche Schlüsse an Saphir erin-
nert. Becker hat nicht so geschlossen; aber wie schlimm, daß
es ihm noch zum Vorwurf gereicht, nicht einmal so geschlossen
zu haben! Denn nicht bloß ist die Weise, wie Becker statt
dessen verfuhr, sophistisch; sondern zweitens fällt hier Becker
wieder aus seiner Anschauung des Organischen zurück; denn
die Sprache als Werkzeug zur Mittheilung ansehen, heißt, sie
als ἔϱγον, wie Humboldt es nennt, d. h. sie unorganisch, als
Ding betrachten. Denn als solches Werkzeug wirkt eben die
Sprache nur wie ein Werkzeug, wie Geberdensprache, Bilder-
schrift, und sogar wie willkürliche Zeichen. In der angeführten
Stelle sagt auch Becker weiter nichts, als daß die Sprache
nicht bloß auf die Befriedigung äußerlicher Bedürfnisse gerich-
tet, sondern auch dem geistigen Leben nothwendig sei. Das-
selbe aber gilt von der Schrift, von der Buchdruckerei und so-
gar von gewissen socialen Instituten für „gesellige Mittheilung
der Gedanken und eine Vereinbarung des individuellen Denkens
zu einer Allen gemeinsamen Weltanschauung,“ wie Akademien,
Kaffeekränzchen u. s. w.
Endlich müssen wir noch den Schein aufheben, als sei im
ganzen Verlaufe des beinahe vier Seiten langen §. 1. irgend
welche fortschreitende Entwickelung gegeben, ein Begriff in seine
Momente zerlegt, oder gar eine Reihe von Gedanken aus ein-
ander abgeleitet; denn alles Gesagte war ja schon vollständig
im ersten Satze ausgesprochen: „Man versteht unter Sprache
entweder das Sprechen selbst als diejenige Verrichtung des Men-
schen, 1) in welcher der Gedanke in die Erscheinung tritt, und
2) durch welche ein gegenseitiger Austausch der Gedanken und
eine Gemeinschaft des geistigen Lebens in dem ganzen Ge-
schlechte zu Stande kömmt.“ Hat man im ganzen Paragraphen,
das Wort organisch ausgenommen, mehr gehört? So sehen wir
von neuem die Tautologie in noch umfangreicherer Weise.
§. 13. Die Sprache als gesprochene.
Wir haben bisher die Sprache nur nach dem Entweder,
d. h. als Sprechen, als Verrichtung betrachtet; welches Schick-
[35] sal wird sie im Oder, d. h. als gesprochene Sprache haben?
Becker sagt §. 3.: „Weil aber die Sprache eine Verrichtung
der Gattung ist, so muß das Wort Ausdruck des Gedankens
werden nicht allein für das sprechende, oder nur für das spre-
chende und angesprochene Individuum, sondern für das ganze
Geschlecht, und sogar für die nachkommenden Geschlechter.
Das Werdende muß als ein Gewordenes festgehalten, und
die flüchtige Erscheinung der organischen Verrichtung zu einem
bleibenden Producte werden. Fassen wir nun die Sprache nicht
mehr als die Verrichtung des Sprechens, sondern als ein Gewor-
denes, als bleibendes Product der Verrichtung auf, so wird uns
der Begriff der gesprochenen Sprache.“ Wir erfahren zwar hier
nicht, wie es zugeht, daß die Verrichtung des Sprechens ein
Gewordenes, ein Product wird, aber, warum das geschieht.
Nämlich die Verrichtung muß zum Producte werden — nicht
bloß etwas Bleibendes hervorbringen, sondern selbst das Erzeug-
niß werden, weil das Wort für die ganze Menschheit sein muß.
Hier sehe ich den ursächlichen Zusammenhang nicht; und warum
muß das Wort für die ganze Menschheit sein? warum darf ich
heute nicht anders reden als die alten Griechen? Weil, sagt
Becker, die Sprache eine Verrichtung der Gattung ist! Be-
cker fährt fort: „Dadurch daß das einmal gesprochene Wort
bleibend denselben Gedanken für die mitlebenden und nachkom-
menden Geschlechter ausdrückt, wird die gesprochene Sprache
das allgemeine Medium der Gedankenmittheilung unter den In-
dividuen.“ Man beachte doch diesen Fortschritt des Gedankens!
Nachdem zwei Sätze, man sieht nicht recht wie, durch „weil“
verbunden worden, werden sie umgestellt und durch die Con-
junction „dadurch daß“ verknüpft. Was eben Ursache war,
wird nun Wirkung. Das ist wahrscheinlich das organische Vor-
schreiten der Gedankenentwickelung! Hinter die angeführten
Worte wird ein Kolon gesetzt und hinzugefügt: „sie ist ver-
ständlich für alle, weil sie der Ausdruck einer dem ganzen Ge-
schlechte gemeinsamen Weltanschauung ist“; und vorher hieß
es, daß man erst durch die Sprache zu dieser gemeinsamen
Weltanschauung gelange. Wer in solcher Weise, mit einem
Paar solcher Sätze, die tiefsten Widersprüche, Räthsel der Sprache
abfertigt; und alle die, welche glauben, daß wer dies thun konnte,
der Schöpfer „der neuen Grammatik“ sei, wie können die et-
was von Humboldts gewaltiger Dialektik und tiefer Speculation
3*
[36] verstanden haben! Was können sie mit ihm gemein haben! Wie
hat Humboldt mit diesen Gegensätzen in der Natur der Sprache,
daß sie ewig werdend und immer geworden, flüssig und fest,
ganz und gar individuell und durchaus allgemein, Schöpfung
des Einzelnen und doch des Geschlechts, durchaus menschlich
und wesentlich über den Menschen hinausgreifend, vom Men-
schen geschaffen und doch unerschaffen — wie hat Humboldt,
sage ich, hiermit gerungen! Man muß es nicht bloß gelesen
haben, sondern mitfühlen! Denn auch Begriffe, Dialektik und
Speculation wollen gefühlt sein! Und dann dagegen Becker! —
§. 14. Entstehung der Sprache.
Hiermit haben wir Beckers Grundgedanken geprüft und
nichts als leere Tautologien, Phrasen gefunden. Wir wollen aber
noch, bevor wir weiter gehen, seine Ansicht über die Entstehung
der Sprache prüfen. Dieser Punkt ist schon bei Gelegenheit
des ersten organischen Merkmals der Sprache besprochen wor-
den. Das dort Gesagte hat sich für uns in nichts aufgelöst. Da
aber dieser Punkt so wichtig ist, so müssen wir sehen, ob viel-
leicht an einem anderen Orte, wo derselbe ausführlicher darge-
stellt wird, die Phrase der organischen Verleiblichung des Gei-
stigen einen wahren Gehalt findet. Becker sagt in seinem
Werke „Das Wort“ (S. 252): „Wenn man in der Sprache eine
organische Verrichtung erkennt, welche in dem menschlichen
Organism mit der Einheit des geistigen und leiblichen Lebens
gegeben ist, und ebenso wie die anderen organischen Functionen
ein ergänzendes Glied in der Kette der menschlichen Lebens-
verrichtungen ist; so kann die Frage nach dem Ursprunge der
Sprache nur den Sinn haben, wie der Mensch zuerst zu der
Ausübung der Function gelangt sei. Die Fähigkeit zu einer
organischen Function ist gegeben durch den Apparat der dieser
Function angehörigen Organe, z. B. die Fähigkeit zum Athmen
durch den Apparat der Respirationsorgane. Zu der wirklichen
Ausübung ist aber nach einem allgemeinen Gesetze außer dem
Apparate von Organen erforderlich, daß irgend ein Reiz von
außen auf die Organe einwirke und sie zur Thätigkeit anrege.
Dieser Reiz ist z. B. für die Function des Athmens die atmo-
sphärische Luft und für die Function der Verdauung Speise und
Trank. Wenden wir dieses auf die Sprachfunction an; so ist
die Fähigkeit zum Sprechen gegeben durch den Apparat der
[37] Sprachorgane; und es fragt sich nur noch, was eigentlich der
Reiz sei, der, von außen auf die Organe einwirkend, die wirk-
liche Ausübung der Function hervorruft. Für die willkürlich
beweglichen Organe ist eine geistige Thätigkeit derjenige Reiz,
welcher vermittelst der Nerven auf die Organe einwirkt und sie
zur Thätigkeit anregt. Da nun die Sprachorgane zu den Or-
ganen der willkürlichen Bewegung gehören; so kann der ihre
Thätigkeit hervorrufende Reiz kein anderer sein, als eine auf sie
einwirkende geistige Thätigkeit. Die Sprachorgane sind aber
von den anderen Organen der Willkürbewegung darin unter-
schieden, daß die Thätigkeit der letzteren eigentlich durch die
Einwirkung des Begehrungsvermögens (den Willen), die Thätig-
keit der ersteren hingegen durch die Thätigkeit des Vorstellungs-
vermögens (den Gedanken) hervorgerufen wird: wie in den er-
steren der Wille, so tritt in den letzteren der Gedanke in die
Erscheinung. Wie jedoch in der Einheit des menschlichen Gei-
stes Empfinden und Wollen von dem Erkennen und Denken
nicht geschieden sind, so tritt auch oft in der Function der
Sprachorgane die Empfindung und der Wille in die Erscheinung,
und die anderen Organe der Willkürbewegung werden, z. B. in
der Mienen- und Geberdensprache zu Sprachorganen … Der
Mensch spricht nothwendig, weil er denkt, wie er nothwendig
athmet, weil die atmosphärische Luft ihn berührt. Wie die
Respiration die äußere Erscheinung eines inneren Bildungsvor-
ganges, und wie die Willkürbewegung die äußere Erscheinung
der inneren Willensthätigkeit, so ist die Sprache die äußere Er-
scheinung des Gedankens.“
Was haben wir nun in dieser Darstellung mehr als die
Phrase der leiblichen Erscheinung des Gedankens? Die Analogie
mit dem Athmen! Wenn dieselbe nur nicht gar zu mangelhaft
wäre! Und wenn sie nur gründlich durchgeführt wäre! Daß
durch die bloße Uebertragung der beim Athmen erkannten Ver-
hältnisse auf die Sprache eine Erklärung des Ursprungs dersel-
ben gewonnen werde, ist unmöglich. Analogien sind niemals
unmittelbar erklärend. Sie sind aber anregend; sie geben Fin-
gerweise. Wie Becker sie hier anwendet, klagen sie ihn laut
an als Phraseologen und Analogienjäger.
Denn erstlich zeigt uns zwar der Physiolog, wie sowohl
die Athemwerkzeuge zur Ausübung ihres Amtes und zur Auf-
nahme des Reizes durchaus geeignet sind, ganz in Gemäßheit
[38] schon anderweitig erkannter Gesetze; als auch wie die Luft
nicht anders kann, als jene zu reizen. Becker aber zeigt nicht,
wie der Gedanke für die Thätigkeit der Sprachwerkzeuge ein
Reiz sein könne, ihre Bewegungen zu beginnen, und wie diese
geeignet seien, jenen Reiz von den Gedanken aus aufzunehmen,
um dadurch in eine so bestimmte Richtung ihrer Bewegungen
zu gelangen. Man verlangt also, daß wie der Physiolog uns
zeigt, inwiefern der Bau der Lungen und des Brustkastens, die
physikalische und chemische Beschaffenheit der Luft und des
Blutes den Athmungsproceß erzeugt, ebenso Becker zeigen
solle, wie vermöge ihrer eigenthümlichen Natur und Construc-
tion der Gedanke und die Sprachwerkzeuge zur Erzeugung der
Sprache zusammenwirken müssen. In einem Nebensatze behaup-
ten, die Wirkung dieses Reizes und die Empfänglichkeit dafür
sei „mit der Einheit des geistigen und leiblichen Lebens gege-
ben“, und tausendmal wiederholen: „der Geist erscheint orga-
nisch im Laute,“ das heißt eben nur die Sache in einer Phrase
aussprechen, aber nicht eine Erklärung derselben geben; höch-
stens wird dadurch der Anfang zur Lösung gemacht, der Weg
dazu gezeigt, nicht betreten. Wir verkennen Beckers Ver-
dienst nicht: wenn man früher fragte, wie sind diese beiden
Dinge, Gedanke und Laut, zusammengekommen? — eine unbe-
antwortbare, weil falsch gestellte Frage — so hat Becker eben
diese Falschheit erkannt und hat ausgesprochen: diese Dinge sind
nicht erst zusammengekommen, nachdem sie getrennt vorhan-
den waren; sondern sie sind eben nur zusammen. Das Ver-
dienst, die Frage so zurecht gerückt zu haben, ist bedeutend;
es ist aber nur der Anfang zur Lösung der Aufgabe; denn man
will wissen, inwiefern folgt es aus dem Wesen des Gedankens,
daß er nur mit dem Laute verbunden wirklich ist? Becker ant-
wortet: „Es ist ein allgemeines Gesetz, daß u. s. w.“ Wenn
ein solcher allgemeiner Satz das Besondere erklären soll, so ist
er eine sophistische Phrase.
Betrachten wir nun die Analogie zwischen Athmen und
Sprechen näher, so sehen wir, daß sie zu unvollkommen ist, als
daß eine genügende Durchführung möglich wäre. Denn erst-
lich: während beim Athmen die Werkzeuge und die reizende
Luft in demselben Bereiche physischer Kräfte liegen, liegt bei
der Sprache der Gedanke, welcher reizen soll, auf einem ganz
anderen Gebiete als die Werkzeuge, die gereizt werden sollen.
[39] Das Athmen ist ein durchaus physischer Vorgang, durchaus im
Gebiete der Stoffbewegung; es kommen dabei nur Gesetze in
Betracht, die anderweitig vielfach angewandt und bestätigt sind.
Dagegen sieht man gar nicht ein, welch ein Zusammenhang,
welch eine Beziehung zwischen Gedanken und Stimmwerkzeug
Statt habe, so daß jener als Reiz auf dieses wirken könne, daß
es töne, und auf die Mundhöhle und Zunge, daß sie den Ton
articuliren. Hier nur kurzweg von der äußeren Erscheinung
eines Geistigen im Leiblichen reden, ist eine sophistische Phrase!
Hieraus folgt nun weiter, daß auch die ganze Weise, wie
der Reiz wirkt und das Reizende in den Vorgang eingreift, und
das Erzeugniß des Vorgangs auf beiden Seiten so verschieden
ist, daß die Analogie schwindet. Luft, das Reizmittel, dringt
in die Lungen; in Berührung mit dem Blute erfährt sie Ver-
änderungen und wird hiernach ausgetrieben — alles nach ge-
meinen Gesetzen. Geht etwa so der Gedanke in die Sprach-
werkzeuge, wird er dort in bekannter Weise verändert und dann
wieder entsendet? Verhält sich der Gedanke zur Thätigkeit und
zum Erzeugniß der Sprachwerkzeuge, wie die Luft zu den Ath-
mungswerkzeugen und dem, was sie entsenden? Bei Becker aber
sind äußerliche Wirkungen, Vollführung des Willens, Darstel-
lung eines Unsichtbaren durch Zeichen, alles leibliche Erschei-
nungen eines Geistigen — Phrasen!
Die größte Schwierigkeit endlich, wodurch die Analogie
nicht nur nichtssagend wird, sondern die Anschauung vom or-
ganischen Wesen der Sprache zerstört, liegt in Folgendem. Die
Luft als Reizmittel für das Athmen, die Nahrung für die Ver-
dauung sind vor der Lunge und dem Magen vorhanden und mö-
gen wirken, sobald sie mit diesen Organen in Berührung kom-
men; so wie das Kind an die Luft tritt, ist diese bereit in die
Lunge zu dringen, und die Nahrung wird dem Magen zugeführt:
woher aber soll den Sprachorganen der Reiz kommen? da erst
durch ihre Bewegung das was sie reizen soll, der Gedanke, ent-
stehen kann? Becker sagt: „Das Wort tritt nothwendig sogleich
hervor, so wie sich in dem Geiste der Begriff gestaltet, der er-
regend auf die Sprachorgane einwirkt.“ Kann der Begriff ein-
wirken, bevor er ist? und kann er sein, bevor die Sprachorgane
thätig sind? „Das Wort wird mit dem Begriffe geboren“; also
kann der Begriff nicht der Reiz für die Bewegung der Sprach-
organe sein. Nun soll er dies aber dennoch sein nach Becker;
[40] dann ist er auch, wie die Luft vor dem Athmen ist, vor der
Schöpfung des Wortes; und hiermit sinkt also Becker in die
veraltete unorganische Anschauung zurück. Nun entsteht wieder
die Frage: wie gelangt der existirende Begriff zum lautlichen
Zeichen? Es ist also kein zufälliges Versehen, wenn Becker sagt
(S. 257): „Vermöge einer organischen Nothwendigkeit wird der
Begriff überhaupt leiblich im Laute; aber die Wahl des be-
sonderen Lautes, in welchem er leiblich wird, geschieht mit or-
ganischer Freiheit.“ Wenn hier Becker plötzlich aus seiner
Anschauung, wonach Laut und Begriff zusammen geboren wer-
den sollten, vollständig heraustritt, und für den vorhandenen
Begriff einen Laut wählen läßt, so thut er das, weil er mit
Nothwendigkeit aus seiner eigenen Anschauung heraus- und al-
lerdings zurückgedrängt wurde. Die ganze Anschauung aber
vom organischen Wesen der Sprache, von ihrer inneren Noth-
wendigkeit, ist hiermit aufgelöst; denn kann der Mensch für
einen Begriff einen Laut wählen, suchen, oder ist überhaupt nur
der Begriff vor dem Worte vorhanden, so könnte man ja auch
dieses Wählen unterlassen und die Bezeichnung des Begriffs
überhaupt oder die durch den Laut verschmähen. Diese Auf-
lösung seiner Ansicht mußte Becker wegen ihrer Unbestimmt-
heit erdulden. Trotz des ewig wiederholten Epitheton ornans
organisch hat er die organische Natur des Wortes und des Be-
griffs, die Nothwendigkeit jenes für die Entstehung dieses, nicht
erkannt. Wir sind seiner falschen, veralteten Ansicht, wonach
der Begriff vor dem Wort existirt, schon oben (S. 30) bei der
Betrachtung des ersten Merkmals des Organischen in der Spra-
che begegnet. Der Fehler steckt also nicht bloß im Werke
„das Wort“ sondern auch im „Organism.“ Denn er beruht
auf der Grundbestimmung des Organismus bei Becker, wonach
dieser darin besteht, daß ein Gedanke einen Leib gewinnt, wo-
bei allemal der Gedanke vor dem Leibe gedacht wird.
§. 15. Schluß.
Nach dieser Betrachtung des Grundgedankens der Becker-
schen Sprachbetrachtung sind wir wohl schon berechtigt zu ur-
theilen, daß Becker, im anerkennenswerthen Streben nach einer
organischen Auffassungsweise der Sprache, sein Ziel so wenig
erreicht hat, daß er zunächst in eine durchaus unorganische
Anschauung verfällt, dann aber sogar in die nichtssagendste
Phrasenhaftigkeit. Wir werden dies jetzt bei der näheren Dar-
[41] legung des Beckerschen Princips und seiner ersten Folgen noch
ausführlicher nachweisen.
2. Unorganischer Charakter der Beckerschen
Sprachbetrachtung.
Wir haben das Zurücksinken Beckers in eine durchaus
unorganische Anschauung von der Sprache schon im Allgemei-
nen erkannt und auch im Einzelnen wiedergefunden. Es ist aber
der allgemeine Charakter dieses unorganisch aufgefaßten Sprach-
wesens näher zu bestimmen. Wir verfolgen hierbei nur Be-
ckers Darstellung. Was er selbst als den eigentlich unterschei-
denden Charakter seiner, vermeintlich organischen, Entwickelung
bezeichnet, wird sich uns als der bezeichnende Zug des Unor-
ganischen offenbaren. Diesen Grundzug haben wir sogar schon
enthüllt: es ist der Gegensatz, der von Becker als Grund-
lage seiner Entwickelung angegeben wird, aber nur die elemen-
tare Besonderung der unorganischen Kräfte darstellt. Hier ha-
ben wir diesen Punkt weiter zu verfolgen.
a) Kategorie des Gegensatzes und der Einheit.
§. 16. Trendelenburg über den Gegensatz.
Vor allem: was ist Gegensatz? Wenden wir uns mit die-
ser Frage an Trendelenburg. Warum gerade an ihn, das
werden wir später angeben. Dieser Philosoph nun lehrt (Logi-
sche Untersuchungen II, x. 2), die Verneinung und der Wider-
spruch sei durchaus logisch. Statt ihrer „tritt real der Begriff
des Andern oder Verschiedenen auf, der sich bis zum Begriff
des Gegensatzes spannt. Aber Verneinung und Gegensatz sind
nicht einerlei. Die reine Verneinung, die Schärfe des Geistes,
hat sich in dem Gegensatz gleichsam verkörpert, jedoch durch
das individuelle Substrat von der Allgemeinheit eingebüßt. Be-
ziehung und Verneinung desselben Begriffs schließen sich ein-
ander aus ohne alle Aussicht eines Vertrages. Gegensätze indessen
haben, inwiefern sie bestehen, auch wesentlich etwas Gemeinsa-
mes, worin sie zusammenkommen können.“ Hier hat Trende-
lenburg den Ausdruck Gegensatz etwas lose und unbestimmt
genommen. um das Verschiedene oder Andere einzuschließen;
sonst, nämlich wenn der Gegensatz streng genommen und aus
dem bloß Verschiedenen herausgehoben werden sollte, müßte es
statt des „können“ am Schlusse des Satzes, „müssen“ lauten.
[42] Das bloß Andere bedarf keines gemeinsamen Punktes, aber durch-
aus der Gegensatz, wie aus Trendelenburgs folgenden Wor-
ten hervorgeht: „Der Begriff des Gegensatzes ist im Einzelnen
klar … Es ist jedoch eine schwierige Frage, wie dieser Begriff
im Allgemeinen festzuhalten sei… Zunächst weist aller Gegen-
satz auf ein höheres Allgemeines hin, z. B. auf die umfassende
Einheit eines Zweckes, die das Maß der Beziehung bildet. Be-
griffe, die nichts mit einander theilen, können auch nicht zu ei-
nem Gegensatz aus einander treten. Man hat ein schönes Bei-
spiel der zusammenwirkenden Gegensätze in der Harmonie der
sich fordernden Farben. — Die Begriffe ziehen als Allgemeines
das differente Einzelne in sich zusammen. Aber verglichen mit
einander fallen sie selbst außer einander. Die Begriffe ordnen
sich in Abständen; denn je nach ihrer Uebereinstimmung und
Verschiedenheit ziehen sie sich an und stoßen sich ab. So bil-
den sich, wenn man den Inhalt betrachtet, Reihen von Begrif-
fen. Diejenigen, die innerhalb desselben Geschlechtes am wei-
testen von einander abstehen, heißen Gegensätze.“ Diese
Bestimmung scheint etwas lose, indem der Gegensatz hier nur
als große Verschiedenheit bestimmt wird; der Unterschied
zwischen Gegensatz und bloß Anderm scheint quantitativ, von
einem mehr oder weniger des Gemeinsamen abhängig. Dies Mehr
oder Weniger aber ist völlig unbestimmt gelassen. Man fragt:
bilden wohl auch schon zwei Begriffe, die sich nur innerhalb
einer Art, und auch noch zwei, die sich sogar innerhalb einer
Ordnung am entferntesten stehen, einen Gegensatz? Diese schei-
nen ihn noch nicht, jene nicht mehr zu bilden. Und wie be-
stimmt man das Geschlecht, die Art und die Ordnung? In-
dessen dies ist wohl Trendelenburgs Ansicht gar nicht; nach
ihm ist die quantitative Entfernung, die größere oder geringere
Menge des Gemeinsamen für den Begriff des Gegensatzes gleich-
gültig, und nur dies kommt dabei in Betracht, daß die beiden
Begriffe an den beiden Grenzen „eines höhern Allgemeinen“
stehen, dieses mag viel oder wenig umfassen, eine Classe oder eine
bloße Art sein. — Trendelenburg fährt fort: „Dies Verhält-
niß ergiebt sich, wenn die Begriffe nach dem Inhalt und gleich-
sam in der Ruhe neben einander betrachtet werden. Das Zweite
ist die Richtung der Bewegung, wenn sie in der Wirkung auf-
gefaßt werden. Die räumliche Richtung des Anziehens und
Abstoßens, des Zusammen und Auseinander, des Widerstrebens
[43] und Weichens, des Verbindens und Scheidens u. s. w. bildet
darin durchgehends das Maß der zu Grunde liegenden Anschau-
ung. Alle Aeußerungen der Materie unterliegen diesem Kenn-
zeichen, da sie auf die Bewegung zurückgehen. Noch in den
Eindrücken der Sinne erkennen wir diese Aehnlichkeit. Und da
die Bewegung die erste That des nachbildenden und vorbilden-
den Denkens ist, so setzt sich diese Ansicht auch in den geisti-
gen Begriffen fort. — Abstand der Begriffe und die Richtung
in der Wirkung wäre hiernach das Kennzeichen des Gegen-
satzes.“ Wir fassen wohl beides zusammen in dem einen Aus-
drucke: Grenzbeziehung der Begriffe, wobei man nicht an die
beiden ruhenden Grenzpunkte, sondern an das Durchschreiten
des Abstandes von einer Grenze zur andern zu denken hat.
Trendelenburg hat die allgemeine Bestimmung des Gegen-
satzes für schwer erklärt. Man wird ihm darin Recht geben
müssen, wenn man weiß, wie viel Mühe dieser Begriff auch al-
len andern Philosophen gemacht hat, wie es ihm selbst kaum
gelungen ist, seinen Grundgedanken festzuhalten, dessen Dar-
stellung vielmehr einer kleinen Verbesserung bedurfte, und wie
wir nun endlich durch ihn immer noch nicht im Stande sind,
den Gegensatz vom grellen Widerspiel und der schneidenden Dis-
harmonie zu unterscheiden.
§. 17. Der Gegensatz bei Becker.
Becker kennt keine Schwierigkeiten; ihm ist alles leicht,
und er hat auf jede mögliche Frage die Antwort bereit. Wir
kennen seine Bestimmung des Gegensatzes schon (Organism §. 7):
„Organisch different“ (giebt es auch unorganisch Differen-
tes? nach Becker nirgends) „nennt man solche Thätigkeiten
und Stoffe, welche einander entgegengesetzt sind, aber ge-
rade durch den Gegensatz einander bedingen, und mit einander
ein gegenseitiges Verhältniß eingehen, vermöge dessen a nur da-
durch a ist, daß es einem b entgegengesetzt ist, und umgekehrt.“
Diese Tautologie ist noch schöner und klarer, als die obige in
der Definition der organischen Verrichtung. Differenz wird hier
durch Gegensatz definirt. Es ist freilich auch hier ein Schein
gerettet, als wäre die Differenz nur eine Art des Gegensatzes;
und auch umgekehrt sorgt der Zusatz organisch dafür, daß der
Gegensatz nur eine Art, nämlich die organische Art der Diffe-
renz zu sein scheint. Wir haben hier dasselbe Durcheinander
und Schwanken von Allgemeinem und Besonderem, das wir schon
[44] oben im Begriffe des Organismus gefunden haben. Das Ergeb-
niß der widersprechenden Begriffsbewegungen ist auch hier
wieder die Gleichheit der Begriffe Differenz, Gegensatz und or-
ganisch. Ja der Begriff des Zweckes schwindet vollständig aus
Beckers Organismus, wie er ja auch nur in der unbestimm-
ten Form des sich verleiblichenden Gedankens in denselben ein-
geführt war; und der Gegensatz ist es eigentlich, was das We-
sen des Organischen ausmacht. So weit Gegensatz, so weit
auch Organismus, und umgekehrt; sie sind gleich an Inhalt und
Umfang.
Uebrigens scheint der Definition Beckers vom Gegensatze
eine sehr bestimmte Anschauung zu Grunde zu liegen. Wir irren
schwerlich, wenn wir als Beckers Ansicht vom Gegensatze dies
aussprechen: Entgegengesetzt sind zwei Thätigkeiten oder Stoffe,
von denen jede ihre Wirksamkeit, ihr Sein darin hat, der andern
entgegengesetzt zu sein; so daß keine ohne die andere, jede
nur mit der andern sowohl sein, als auch gedacht werden kann.
Diese Definition ist aber, wie schon bemerkt, dem unorganischen
Auftreten des Gegensatzes im Gebiete der Elektricität und des
Magnetismus entlehnt, womit also der Organismus bei Becker
nur noch der Phrase nach, dem Wesen nach nur Unorganisches
vorhanden ist. Wir haben oben dagegen geltend gemacht, daß
im Organismus zwar polarischer Gegensatz herrscht, aber nicht
dieser einfache zweigliedrige; sondern hier steht jedes Ding in
vielseitigem Gegensatze zu vielen anderen, und das organische
Wesen derselben wird nur erkannt, indem die Einheit dieser
vielfachen Beziehungen aufgefunden wird, wird aber zerstört,
wenn die einzelnen Seiten des vielfachen Gegensatzes aus ein-
ander gezogen werden. Wenn a zu b, c, d u. s. w. in wechsel-
seitiger Beziehung steht und auch b, c, d u. s. w. unter einander
sich im Wechselverhältnisse befinden, welche dürftige Erkennt-
niß würde daraus entstehen, wenn man a einseitig als im pola-
rischen Gegensatze zu b begriffen auffaßt und darin sein gan-
zes Wesen aufgehen läßt! In solcher Weise aber behandelt
Becker den Organismus.
Die Beckersche Definition des Gegensatzes ist aber so eng,
daß sie auch den gerechtesten Sprachgebrauch des Wortes nicht
umfaßt. Der Gegensatz der Farben z. B. ist nach ihr schwer-
lich aufzufassen. Den Grund sieht man leicht ein. Während
dem Gegensatze der positiven und negativen Elektricität, der
[45] Nord- und Südpolarität das Bild der Linie mit zwei Grenz-
punkten oder das Bild zweier von einem Punkte, dem Indiffe-
renzpunkte, ausgehenden Linien zu Grunde liegt, wird das Ver-
hältniß der Farben in einem Dreiecke angeschaut. Becker sieht
aber darum in den Verhältnissen von roth und gelb, roth und
violett, grün und blau (S. 66) nur Gegensatz schlechtweg, Ge-
gensatz in dem einen wie in dem andern. So rächt sich hier
in auffallender Weise die zu große Enge, welche der Gegensatz
in Beckers Definition erhält, durch den Umschlag in zu große
Weite. Weil Becker bloß den linearen Gegensatz kennt, so
kann er, trotzdem er fortwährend das Beiwort polarisch im Munde
führt, den Gegensatz von der einfachen Verschiedenheit und die
sanft zur Einheit verschmelzende Harmonie von der schreienden
Disharmonie nicht unterscheiden; alles fällt in die gleichgültige
Verschiedenheit zurück, in ein bloß mechanisches Nebeneinan-
der, in ein inhaltsloses Anderssein; a und b sind andere gegen
einander: das ist der Inhalt des Beckerschen Organismus. Das
ist freilich nicht so zu verstehen, als wäre es einerlei, mit Be-
cker zu sagen: Nerv und Muskel stehen im Differenzverhältniß,
also ist Nerv nicht Muskel; oder zu sagen: Nerv ist nicht Stein,
nicht Luft u. s. w. Aber indem gesagt wird: Nerv ist nicht
Muskel, bleibt allerdings unbeachtet, daß er auch nicht Gehirn,
nicht Blut ist, nicht Knochen, nicht Haut und Haar. Indem
man aber aus einer Einheit vielfacher Gegensätze einen heraus-
hebt und zum polarischen Gegensatze zuspitzt, hat man diese
Einheit aufgelöst, und durch ihre Trennung sind diese Gegen-
sätze nicht nur gleichgültig gegen einander geworden, sondern,
da zur Kraft jedes einzelnen auch die andern beitragen müssen,
ist ihre gegensätzliche Beziehung zu einer Beziehung überhaupt,
in welche unser Denken zwei Elemente bringt, herabgesetzt, —
zu einer Beziehung, welche nicht viel höher als das bloße An-
derssein steht. So ist es Becker ergangen; und wenn er sagt (S.
66): „Die Verneinung gehöret ganz dem Gedanken und zwar
dem Urtheile, nicht dem Begriffe an. Wenn man sagt, a sei
nichtb, so wird nur in einem Urtheile die Identität der zu ei-
ner Gattung gehörigen Arten verneint, aber über das eigentliche
Verhältniß, in welchem a zu b steht, wird nichts ausgesagt“, und
somit überhaupt nichts über das Wesen von a oder b —; wenn
dies Becker selbst sagt, so hat er sich selbst verurtheilt.
[46]
§. 18. Logische Dichotomie.
Wir sehen hiermit, wie nicht bloß durch den Gegensatz
der Organismus unorganisch wird, sondern wie selbst der Ge-
gensatz nicht einmal auf seiner eigentlichen Höhe der Beziehung
festgehalten wird, sondern zur Beziehung überhaupt herabsinkt.
Hieraus folgt aber eine noch nähere Bestimmung. Wenn nämlich
der organische Zusammenhang zerrissen ist, so kann die an des-
sen Stelle tretende Beziehung eben nur dem Gedanken angehö-
ren, dem Urtheile, welches mit Willkür irgend ein Element zum
Ausgangspunkte der Vergleichung wählt und hiernach eine künst-
liche Classification von Begriffen, aber keine Entwickelung, wel-
che der Wirklichkeit entspräche, zu Stande bringt. Die Be-
griffe, hieß es bei Trendelenburg, ordnen sich in Abständen;
denn je nach ihrer Uebereinstimmung und Verschiedenheit zie-
hen sie sich an und stoßen sich ab. So bilden sich“ Ge-
schlechter,“ deren Grenzbegriffe Gegensätze bilden. Hierbei ist
es ganz gleichgültig, ob der eigentliche Ausgangspunkt und Maß-
stab jener Abstände der organische und reale ist, oder ein künst-
lich gewählter, von dem aus aber sehr streng logisch fortge-
schritten wird. Die so hervortretenden Gegensätze werden lo-
gisch unangreifbar sein, aber dennoch werthlos, weil bloß lo-
gisch-künstlich. An die Stelle des realen Gegensatzes tritt lo-
gische Dichotomie.
Als bezeichnendes Merkmal der unorganischen Sprachfor-
schung Beckers erkennen wir also näher die logische Dicho-
tomie der Begriffe.
§. 19. Die Einheit.
Hiermit ist nun aber auch schon das Wesen der Einheit
bei Becker bestimmt. Die Einheit des Organismus beruht ja
nach ihm lediglich darauf, daß die Elemente desselben organisch
different, einander entgegengesetzt sind (§. 7. Anf.): „Die Ver-
bindung alles Besonderen und Einzelnen in der Sprache zu Ei-
nem organischen Ganzen kömmt durch diejenige Wechselbezie-
hung zu Stande, welche sich, wie alle organische Wechselbe-
ziehung, auf ein organisches Differenzverhältniß gründet.“ Hier-
aus sollte man folgern, daß die begriffliche Einheit auf dem
Gegensatze der Begriffe beruhe; daß diese Wechselbeziehung
zweier entgegengesetzten Begriffe sie an einander binde. Becker
aber sagt §. 11: „Eine Differenz wird aber in dem Gedan-
ken nur dadurch zu einer organischen Einheit verbunden“ —
[47] die Differenz also, die an sich selbst das Verbindende, der Zeu-
gungsgrund der organischen Einheit ist, soll doch nun erst noch
eines anderen Umstandes bedürfen, um zur Einheit verbunden
zu werden? Hierin liegt eine, freilich unbewußt gebliebene,
Selbstkritik Beckers zu Tage. Seine differenten Elemente bil-
den also keine organische Einheit, sondern stoßen sich unorga-
nisch von einander ab; werden durch eine ihnen fremde Macht
an einander gebunden, indem ihre Wirksamkeit gehemmt wird.
Wie also kommt nach Becker diese Einheit der sich gegenseitig
abstoßenden Elemente zu Stande? dadurch —, „daß das eine
Glied des Verhältnisses in das andere aufgenommen, und
das eine dem anderen untergeordnet wird.“ Dadurch? wie
wäre aber überhaupt nur dieser Vorgang möglich? Die beiden
Factoren des Gegensatzes sind nothwendig einander nebenge-
ordnet; wie soll man einen dem andern unterordnen können?
Sie stoßen sich ab; wie soll einer den andern in sich aufneh-
men? „Diese durch eine organische Unterordnung bewirkte Ver-
bindung des Differenten zu einer Einheit, die sich auf die man-
nigfaltigste Weise in den Begriffsverhältnissen des Gedankens
wiederholt, und die man als die logische Form des Gedan-
kens und aller Begriffsverhältnisse in dem Gedanken bezeichnen
kann…“ Hier erklärt Becker selbst diese organische Einheit
für die logische; sie ist gar nicht die, welche in den wirkli-
chen Dingen lebt, sondern beruht darauf, daß zwei Begriffe nach
irgend einem logischen Merkmale in eine Beziehung versetzt
sind. Wie wir oben bei Becker den Gegensatz zur bloßen Ver-
schiedenheit herabsinken sahen, so hier die Einheit in gleicher
Weise. So erwarte man nun auch gar nicht, daß Beckers di-
chotomische Constructionen wirklich streng durchgeführt seien;
sie beruhen nur darauf, daß überhaupt zwei Begriffe auf einan-
der irgendwie logisch bezogen werden.
b) Grammatik und Logik.
§. 20. Logischer Formalismus.
So hat sich nun der unorganische Charakter der Becker-
schen Sprachbetrachtung näher als logischer Formalismus
erwiesen; der Gegensatz ist bloß Dichotomie, die Einheit logi-
sche Beziehung. Hiermit ist aber Becker schon gänzlich aus
seiner beabsichtigten Bahn seitwärts geschleudert. Er wollte
die Sprache als Naturproduct betrachten, eine Naturlehre (Phy-
[48] siologie) der Sprache geben; statt dessen enthält seine Gramma-
tik logische Gegensätze und logische Beziehungen. Daß Becker
diesen Widerspruch nicht gemerkt hat, liegt daran, daß er von
ihm nicht als Widerspruch erkannt, sondern als wahrheitbewei-
sende Harmonie angesehen wird; und dies kommt daher, daß
Becker zu dieser Verirrung aus der organischen Natur in me-
chanische Logik von zwei Seiten her getrieben wurde; und die
Uebereinstimmung zweier Grundirrthümer galt ihm als Wahr-
heit. Nämlich, was den ersten Punkt betrifft, so konnte Becker,
der das Wesen des Organismus im Gegensatze erkennt, die lo-
gische Dichotomie nur als das getreue Gedankenbild des wirk-
lichen Organismus ansehen. Den bloßen abstracten Formalis-
mus seiner Constructionen konnte er nicht merken, da er den
Blick für die realen Verhältnisse nicht hatte. Ferner aber ward
er nicht bloß von formaler Seite her, durch schwankende und
falsche Begriffsbestimmungen zur Logik getrieben; sondern hier-
durch erzeugte sich auch ein materialer Fehler, der ihn in der
Logik erst vollständig bestärkte. Sein logischer Formalismus
erhielt jetzt einen ihm durchaus angemessenen Gehalt; und diese
Uebereinstimmung von Form und Inhalt mußte jedes weitere
Nachdenken Beckers darüber, ob seine Sprachwissenschaft an
Form und Inhalt organisch sei, sehr erschweren. Nur wenn er
die Kraft gehabt hätte, bis auf den ersten Grund seines Irrthums
zurückzugehen, hätte er als Widersprüche sehen können, was
sich ihm vielmehr als die Eintracht der Wahrheit darbot. Für
ihn sind organische und logische Natur der Sprache zwei
so unzertrennliche Gedanken geworden, daß sie nur einer sind;
keiner kann nach ihm ohne den anderen behauptet oder geläug-
net werden. Weil die Sprache, sagt Becker, organische Ver-
leiblichung des Gedankens ist, darum ist sie logisch; weil das
Wesen, das specifische Merkmal, der Begriff des Sprechens
Denken ist, ist das Wesen der Grammatik logisch. Die For-
men der Sprache sind an sich selbst nichts anderes als die lo-
gischen Formen der Anschauung und des Denkens. Also nicht
bloß die Entwickelungsform der Beckerschen Sprachwissenschaft
ist logisch, sondern auch ihr Inhalt. Das Netz des Irrthums
hat sich über Becker so eng und fest zusammengezogen, daß
kein Entschlüpfen mehr möglich ist.
[49]
§. 21. Einheit von Grammatik und Logik nach Becker.
Man sieht leicht, wie durch diesen letzten Punkt alles
bisher von uns Betrachtete erst seine volle Bestätigung und ei-
gentliche Bedeutung erhält. Wir haben ihm daher vorzügliche
Sorgfalt zuzuwenden. Wir wollen Becker ausführlich hören. Er
läßt sich über das Verhältniß zwischen Grammatik und Logik
folgendermaßen aus (§. 10. Schluß): „Wie die Sprache mit dem
Gedanken, so steht die Grammatik mit der Logik in einer in-
nigen Beziehung; und die Grammatiken haben sich immer, wenn
sie nicht bei der rein etymologischen Betrachtung stehen blieben,
bei der Logik Rathes erholt. In dem griechischen Alterthume
stand die Logik noch mit der Grammatik in engem Bunde, und
sie gingen mit einander Hand in Hand. Dieses natürliche Bünd-
niß mußte bestehen, so lange man sein Augenmerk vorzüglich
auf die genetischen Verhältnisse des Gedankens und der Spra-
che richtete. Als aber einerseits die Logik die Formen der
Gedanken und Begriffe, und andererseits die Grammatik die
Formen der Wörter und ihrer Verbindungen nur als ein
Gegebenes auffaßte, und vorzüglich die Unterscheidung der
so aufgefaßten Formen zu ihrer Aufgabe machte, versank die
Logik ebenso wie die Grammatik in einen Zustand der Starr-
heit. Die Logik der Schule und die Grammatik der Schule
verstanden einander nicht mehr, und jede ging ihren eigenen
Weg. Auch war die Logik der Schule nicht die Logik der
Sprache; darum konnte die Grammatik von ihr wenig Vortheil
ziehen. Wie wenig die Logik der Schule mit der Logik der
Sprache übereinstimmt, tritt auf eine schlagende Weise hervor
in einer Erfahrung, die Sicard bei seinen Taubstummen machte.
Er hatte nämlich die Taubstummen gelehrt, in einer für sie er-
fundenen Zeichensprache die Zeichen immer nach einer den Ge-
setzen der Logik entsprechenden Aufeinanderfolge der Begriffe
zu gebrauchen; er wurde aber bald gewahr, daß die Taubstum-
men, wenn sie in den Erholungsstunden sich selbst überlassen
waren, die Zeichen in einer nach ganz anderen Gesetzen be-
stimmten Folge gebrauchten. Die Logik der Schule hat der
Grammatik bisher wenig Gedeihen gebracht; und man kann hier
die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Grammatik mehr von der
Logik, oder die Logik mehr von der Grammatik zu lernen habe.
Insofern die Logik uns die Einsicht in die genetischen und
darum organischen Verhältnisse der Gedanken und Begriffe auf-
4
[50] schließt, wird sie das Regulativ, nach dem die Grammatik ihre
eigentliche Aufgabe zu lösen hat. Insofern aber die Grammatik
die Formen darlegt, in denen die besonderen Verhältnisse der
Gedanken und Begriffe und ihre genetische Entwickelung sich
in der Sprache in einer leiblichen Gestalt ausprägen, eröffnet sie
der Logik die Einsicht in die innerste Werkstätte des denken-
den Geistes; und weil alle Formen des Gedankens, aber auch
nur diese, sich auch leiblich in der Sprache darstellen, so wird
sie für die Logik ein Korrektiv, dem sie bei der Lösung ihrer
Aufgabe mit Sicherheit vertrauen kann. Die Sprache ist die
älteste und zugleich die zuverlässigste Urkunde von der Ent-
wickelungsgeschichte des menschlichen Geistes; in ihr liegen
die Thatsachen, aus denen die organische Entwicke-
lung der Intelligenz in dem ganzen Geschlechte und
in dem Individuum erkannt wird“. (Welche Phrase!) „Es
ist darum höchst erfreulich, und eine Erscheinung guter Vorbe-
deutung für die Grammatik sowohl als für die Logik, daß in
der neuesten Zeit auch die Logik zu dem natürlichen Bündnisse
mit der Grammatik zurückkehret.“ Hier wird citirt: Trendelen-
burg Logische Untersuchungen.
Nehmen wir hierzu noch eine Stelle aus der Vorrede (S.
XIV.): „Es braucht nicht erst bemerkt zu werden, daß, wenn
der Verf. (Becker) von der Logik der Sprache redet, nicht das
logische System irgend einer Schule gemeint ist… Wenn sich
aber jetzt von vielen Seiten her die Behauptung vernehmen läßt,
Sprache und Logik hätten nichts mit einander zu schaffen; so
hat diese Behauptung in so weit Recht, als sie läugnet, daß das
logische System irgend einer Schule seinen reinen Abdruck in
der Sprache findet, und unmittelbar auf sie kann angewendet
werden: will die Behauptung aber weiter gelten und läugnen,
daß die allgemeinen formalen Denkgesetze sich in der Sprache
wiederfinden; so läugnet sie nicht allein die organische Natur
der Sprache, sondern auch die organische Natur des Denkens.
Schon die Geschichte der Grammatik sowohl als der Logik hätte
gegen eine solche Behauptung mißtrauisch machen sollen. Die
erste Bearbeitung der Logik durch Aristoteles schließt sich eng
an die Sprache an, und wird von ihr geleitet; und die Schule,
welche sich vorzugsweise mit Grammatik beschäftigte, die stoi-
sche, ist zugleich durch die Ausbildung der Logik berühmt.
Wenn aber die Logik schon seit Aristoteles keinen rechten Fort-
[51] schritt gemacht, sondern vielmehr immer mehr in Starrheit ver-
sunken ist; so möchte ein Hauptgrund dieser Erscheinung wohl
darin liegen, daß sie sich seit Aristoteles von der Sprache los-
gerissen hat. Die Sprache ist freilich nicht die Mutter der Lo-
gik, aber sie ist die Erscheinung des Gedankens, daher treten
uns die in dem Gedanken waltenden Gesetze in der Sprache,
gleichsam verkörpert, in lebendiger Anschaulichkeit entgegen.
Dies Verhältniß der Logik zur Sprache hat besonders A. Tren-
delenburg in seinen „logischen Untersuchungen“ wieder aner-
kannt und für die Logik fruchtbar benutzt.“
„Die Nothwendigkeit einer Verbindung der Logik mit der
Grammatik muß jedem, der da weiß, was Sprechen ist, ein-
leuchtend sein. Ist die Sprache der organische Leib des Ge-
dankens, so müssen sich in ihr auch wiederfinden lassen die
Gesetze des Denkens. Freilich darf man der Sprache kein lo-
gisches Schema unterlegen wollen; freilich darf man nicht a
priori festsetzen, was man in der Sprache finden will: aber die
allgemeinen Denkgesetze und Anschauungsformen, durch welche
und unter welchen der Mensch die Dinge wahrnimmt und zu
Erkenntnissen verarbeitet, müssen sich in jeder Sprache auf-
zeigen lassen. Jede andere Betrachtungsweise der Sprache hebt
den Begriff des Organism auf. Zwar giebt man jetzt allgemein
zu, daß die Sprache ein Organism sei; und die Ansicht, auf die
der Verfasser (Becker) noch in der Vorrede zur ersten Ausgabe
Rücksicht nehmen mußte, als sei die Sprache eine menschliche
Erfindung, gehört zu den verschollenen. Genau betrachtet aber
wurzelt jenes Widerstreben, in der Sprache die Denkgesetze zu
erkennen, in derselben verschollenen Ansicht; denn nur, wenn
das Wort die todte Hülle, nicht aber, wenn es der lebendige
Leib des Gedankens ist, läßt sich dasselbe für sich, abgesehen
von seinem Inhalte betrachten.“
§. 22. Verhältniß zwischen Logik und Grammatik bei Trendelenburg.
Wir sind auf Trendelenburg verwiesen und können also nicht
umhin, auch ihn zu berücksichtigen. Wir thun dies um so lie-
ber, da er einer von den wenigen Philosophen ist, welche die
besonderen Wissenschaften zur Berücksichtigung nicht heraus-,
sondern auffordern. Man höre seine vortrefflichen, den Philoso-
phen, wie den Forschern auf den besonderen Gebieten der Wis-
senschaft gleich beherzigenswerthen Worte in der Vorrede zu
seinen „Logischen Untersuchungen“ (S. VI.): „Die Thatsachen,
4*
[52] die die Logik beobachten sollte, um sie abzuleiten, sind die Me-
thoden der einzelnen Wissenschaften; denn diesen hat der er-
kennende Geist in den größten Abmessungen sein eigenes We-
sen eingedrückt. Die Wissenschaften versuchen glücklich ihre
eigenthümlichen Wege, aber zum Theil ohne nähere Rechen-
schaft der Methode, da sie auf ihren Gegenstand und nicht auf
das Verfahren gerichtet sind. Die Logik hätte hier die Aufgabe
zu beobachten und zu vergleichen, das Unbewußte zum Be-
wußtsein zu erheben und das Verschiedene im gemeinsamen Ur-
sprunge zu begreifen.“ Hiermit wird aber entschieden das We-
sen der Logik als empirische Wissenschaft ausgesprochen; eine
solche ist sie auch, wenn nicht vielmehr in Wahrheit mit dem
Wandel der Logik in eine empirische Disciplin die Wissenschaft
den Druck jenes Dualismus von Philosophie und Historie schon
abgeschüttelt hat. Trendelenburg fährt fort: „Ohne sorgfältigen
Hinblick auf die Methode der einzelnen Wissenschaften muß die
Logik ihr Ziel verfehlen, weil sie dann kein bestimmtes Object
hat, an dem sie sich in ihren Theorien zurechtfinde. Wenn sie
ferner die Nothwendigkeit verstehen soll, die von einer Seite in
den Principien der Dinge wurzelt: so kann sie von Neuem der
einzelnen Wissenschaften nicht entrathen, um von deren An-
fangs- oder Endpunkten her in die Quelle dieses Begriffes ein-
zudringen.“ Wir hoffen, daß aus unserer vorliegenden Arbeit
wie aus allen ihren Vorgängern das Streben in obigem Sinne
der Logik entgegenzuarbeiten klar hervorleuchte.
Sehen wir nun die von Becker citirte Stelle an (S. 314):
„Die Logik hat viel von der Grammatik gelernt. Beide Wis-
senschaften sind Zwillinge und haben sich, wie Geschwister, bei
ihren ersten Schritten gegenseitig unterstützt. Wir denken da-
bei an das Alterthum, auf dessen Gebiet ihr Ursprung liegt.
Wir erinnern an die schöne Betrachtung des Satzes in Platos
Sophisten, wo in den Verhältnissen der Rede die logische und
metaphysische Einheit des Beharrenden und Bewegten, des Seien-
den und Thätigen, wie in einem lebendigen Gegenbilde ange-
schaut wird. Wir erinnern an die Kategorien des Aristoteles,
die in dem zergliederten Satze ihre Begründung zu haben schei-
nen, und an seine Schrift über das Urtheil, die sogar den Na-
men „über den Ausdruck“ (πεϱὶ ἑϱμηνείας) führt. Auch bei
den Stoikern geht Logik und Grammatik Hand in Hand. Bald
nach ihnen erstarrt die Grammatik … Auf ähnliche Weise ist
[53] seit dem Alterthume die Logik erstarrt, und auch in der Logik
war die Zusammensetzung der doch nur scheinbar für sich be-
stehenden Elemente an die Stelle der Entwickelung getreten.
In neuerer Zeit machte namentlich E. Reinhold auf den Zusam-
menhang des Logischen und Grammatischen aufmerksam und
nahm in die Logik grammatische Betrachtungen auf. Die Lo-
gik hat Umgestaltungen gerade in einer Zeit versucht, in der
sich die wissenschaftliche Grammatik von verschiedenen Seiten
neue Bahnen bricht. Dieses Zusammentreffen ist nicht ohne
Bedeutung … Wenn sich nun meistens Logik und Grammatik
in einer genauen Verwandtschaft entwickeln“ u. s. w.
Mit welchem Rechte beruft sich denn also Becker auf Tren-
delenburg? Dieser behauptet nichts weiter als einen Parallelismus,
„eine genaue Verwandtschaft“ der Entwickelung, ein gegen-
seitiges Stützen und Handreichen; aber hier ist nichts von jenen
bestimmten Versicherungen Beckers zu finden, in der Sprache
herrschten die logischen Gesetze, selbst dann nicht, wenn auch
Trendelenburg, wie natürlich, die Verwandtschaft der Entwicke-
lung auf die des Gegenstandes gegründet glaubt. Ja Trende-
lenburg glaubt gewiß auch Punkte zu erkennen, wo die Logik
und Grammatik geradezu identisch werden; dazu berechtigt ihn
die vorliegende Thatsache der heutigen Grammatik und Logik,
die in wesentlichen Punkten wirklich zusammenfallen. Nichts
natürlicher also, als daß er fragt (S. 321): „Was hilft es denn,
ohne Grund die grammatische und logische Betrachtung zu
entzweien?“ Das würde nicht nur nichts helfen, sondern scha-
den, weil es falsch wäre. Trendelenburg hat aber auch in das
Wesen der Sprache einen tiefen Blick gethan, der freilich nur
dunkle Ahnung geblieben ist, weil ihm das Entgegenkommen
von Seiten der Sprachwissenschaft fehlte, durch welches er volle
Klarheit hätte erlangen können. Wir kommen hierauf zurück
und heben an dieser Stelle nur noch folgende Worte Trendelen-
burgs hervor, welche sich Becker hätte aneignen sollen (S. 318):
„es wäre von vorn herein ein wesentlicher Unterschied der
grammatischen und logischen Kategorien wahrscheinlich.“ Diese
Wahrscheinlichkeit zur festen Gewißheit zu erheben, diesen we-
sentlichen Unterschied der Grammatik von der Logik aus dem
Wesen der Sprache abzuleiten und darzustellen, ist Absicht der
vorliegenden Arbeit.
Trendelenburg beruft sich allerdings sonst vielfach auf Becker,
[54] wie Becker auf ihn. Während es aber unstatthaft ist, daß ein
Sprachforscher in sprachwissenschaftlichen Dingen sich auf einen
Philosophen beruft, ist es diesem durchaus gestattet, so oft sein
Gegenstand es erfordert, sich auf eine bedeutende Erscheinung
in der Sprachwissenschaft zu berufen. Bis jetzt aber ist das
Ineinandergreifen der Grammatik und Logik, wie wir hier im
Voraus bemerken wollen, nur unheilvoll für beide gewesen. Zu-
rück zu Becker.
§. 23. Logik und Mechanik.
Wir wollten zeigen, wie der unorganische Charakter der
Beckerschen Sprachbetrachtung dadurch seine volle Festigkeit
erhielt, daß nicht nur die Form derselben, sondern auch ihr
Inhalt logisch ist. Es kommt uns hier noch gar nicht darauf
an, in so fern es sich nicht schon aus allem Vorhergehenden er-
giebt, weiter darzuthun, wie dieses Verfahren, Logisches in die
Grammatik zu ziehen, völlig falsch und für diese ein zerstören-
der Irrthum war; es genügt uns hier zunächst und ist sehr
wichtig, als ein abgelegtes Selbstbekenntniß Beckers in diesen
Verhörsacten niederzuschreiben, daß er in der Sprache als dem
organischen Leibe des Gedankens gefunden habe „die Gesetze
des Denkens“; ja, daß er sagt: „alle Formen des Gedankens,
aber auch nur diese stellen sich auch leiblich in der Sprache
dar.“ Weil sich dies nach Beckers Sprachbetrachtung so verhält,
so ist sie nach Inhalt und Form nicht organisch, wie Becker
meint, sondern logisch, d. h. unorganisch. Denn die Logik ist
nicht bloß deswegen unorganisch, weil der Gegensatz in ihr wie
im Unorganischen von so hoher Bedeutung ist, daß man den
Gegensatz der Begriffe für eine Dichotomie der Kräfte ansehen
kann; sondern dies ist nur Folge einer tiefern Verwandtschaft.
Wir nennen Physik und Chemie unorganische Wissenschaften,
obwohl doch fast alle in ihnen behandelten Eigenschaften der Kör-
per auch am organischen Leibe hervortreten, wie Wärme, Elek-
tricität, Schwefel. Dies geschieht deshalb, weil jene Wissen-
schaften diese Kräfte in ihrer Vereinzelung, in ihrer durch das
Experiment bewirkten Analyse und Abstraction betrachten. Eben
so treten zwar alle logischen Formen im organischen Gedanken
auf; aber so wie sie Gegenstand der Logik sind, abgelöst aus
der Concretion des Bewußtseins, rein und lediglich an sich, sind
sie unorganisch. Der Name Analytik für Logik bei Aristoteles
[55] drückt diese Verwandtschaft der Logik mit der Mechanik pro-
phetisch aus.
Hiermit ist aber zunächst nur gesagt, daß Becker Unrecht
hatte, nach seiner Betrachtung die Sprache einen Organismus
zu nennen, da sie vielmehr nach ihm logisch ist und also un-
organisch zu nennen wäre. Daß aber die Sprache in Wahrheit
organisch, und folglich nicht logisch sei, dies können wir hier
noch nicht zeigen. Sobald es aber gezeigt sein wird, ist natür-
lich Becker aufs gründlichste und erschöpfend widerlegt. Dieser
hohen Wichtigkeit des vorliegenden Punktes wegen wollen wir
ihn als eingestandene Thatsache ausführlicher darstellen und da-
bei Beckers Verhältniß zur früheren Grammatik zeigen. Becker
hat dieses Verhältniß völlig verkannt, was nicht Wunder neh-
men kann, da er sich über sein Princip so unklar geblieben ist,
und dies nicht ohne Einfluß auf seine Auffassung der Ge-
schichte der Grammatik bleiben konnte.
c) Darstellung des logisch-mechanischen Charakters der
Beckerschen Sprachbetrachtung.
§. 24. Beckers Rückfall in die alte Grammatik.
Wenn Becker die Sprache einen Organismus nennt, so liegt
darin ganz offenbar das Streben, die Sprache als ein natürliches
spontanes Erzeugniß des menschlichen Wesens anzusehen. Dies
ist im Allgemeinen seine eigentlich positive Seite, durch welche
er sich über seine Vorgänger erhebt. Die Alten haben zwar
vielfach behauptet, die Sprache sei φύσει. Dieser Satz jedoch
ward niemals bei ihnen zu wirklicher Erkenntniß: so vielfach
sie ihn wandten, sie kamen darum doch nie darüber hinaus, die
Sprache als ein Gemachtes anzusehen, und sahen nie, daß der
Mensch sie erzeuge, oder daß sie im Menschen entstehe. Und
bis auf Herder und Hamann hinab, sie eingeschlossen, hatte man
das nicht erkannt. Becker dagegen spricht diesen Angelpunkt
des Ursprungs der Sprache mit folgenden Worten aus (das
Wort, S. 254): „Auch darf man sich die Entstehung der Sprache
nicht so denken, als habe der Mensch für Begriffe, die in
seinem Geiste früher vorhanden waren, die sie bezeichnenden
Laute und Wörter gesucht und gefunden. Die natürlichen Dinge
treten nothwendig ins Dasein, so wie die organischen Bedingun-
gen ihres Daseins gegeben sind. Wir bezeichnen dieses durch
die organischen Bedingungen gesetzte nothwendige Werden eines
[56] Dinges dadurch, daß wir sagen, ein Ding werde geboren.
Das Wort wird mit dem Begriffe geboren und nicht erst
für den schon vorhandenen Begriff gefunden.“ Weil man also
früher diese nothwendige Geburt der Sprache nicht erkannte,
sank man mit dem besten Willen, die φύσις der Sprache zu
behaupten, immer in die ϑέσις derselben hinein; und zuletzt war
die Frage nur noch, ob diese ϑέσις vom Menschen, oder von
Gott ausgegangen sei.
Weil aber Becker den Begriff des Organismus nicht in
hinlänglicher Bestimmtheit und nach seiner vollen Würde er-
faßt, und noch viel weniger das Wesen der Menschheit, die
Freiheit, erkannt hat, darum bleibt sein Streben ohne Ver-
wirklichung; darum ergeht es ihm ähnlich wie den Alten: auch
er sinkt in das Unorganische zurück, und er wird nur der Voll-
ender der alten, nicht der Gründer der neuen Grammatik. Man
betrachte nur die eben angeführten Worte, die zu seinen besten
gehören. Wird denselben gemäß nicht auch der verpestende
Dunst faulender Sümpfe organisch geboren? Daher kommt es,
daß, so wie Becker über das Wort „Organisch“ hinausgeht, er
dem Alten und nicht dem Neuen gehört. Er behauptet, die
Sprache sei organisch; wie er sie aber darlegt, so treten in ihr
nur wesentlich dieselben logisch-mechanischen Verhältnisse her-
vor, wie bei den früheren Grammatikern. Dies wollen wir aus-
führlicher nachweisen, und zwar eben sowohl in der lexikalischen
als in der grammatischen Betrachtung der Sprache.
§. 25. Einheit von Begriff und Laut im Worte.
Es ist nicht bloß die Spaltung in einfache Gegensätze,
welche das Unorganische vom Organischen scheidet, sondern
auch vorzüglich die Weise, wie die Glieder des Gegensatzes
sich in der Einheit zu einander verhalten. Wie verschieden
stehen in dieser Beziehung positive und negative Electricität,
Nord- und Südpolarität einerseits und Muskel und Nerv, Be-
wegung und Empfindung andererseits zu einander! Die Glieder
des organischen Verhältnisses — von einem Gegensatze zwischen
Muskel und Nerv kann ja gar nicht in dem Sinne die Rede
sein, wie zwischen Nord- und Südpolarität; es ist Beckers Will-
kür, Muskel und Nerv so einander gegenüber zu stellen, da das
Gefäßsystem mit dem Blute und der Lymphe und auch das
Knochensysiem zugleich in das Verhältniß eintreten; die Dicho-
tomie zerreißt allemal den Organismus — diese Glieder des
[57] organischen Verhältnisses, sage ich, haben eine viel größere
Selbständigkeit gegen einander, als die beiden Seiten des un-
organischen Gegensatzes, und gerade darum wirken sie thätiger
auf einander; oder vielmehr sie allein wirken auf einander,
während jene nur neben einander sind. Die chemischen
Verhältnisse zeigen schon einen Vorgang, Proceß; dagegen sinkt
im eigentlichen Mechanismus das Verhältniß zu einem gleich-
gültigen Nebeneinander hinab, und die mechanische Einheit ist
ein bloßes Kleben an einander. Nicht bloß bei der Adhäsion,
sondern auch bei der Cohäsion sind die Theile gegen einander
gleichgültig.
Wir sehen also im Reiche der Natur eine Stufenleiter rück-
sichtlich der Wesentlichkeit des Zusammenhanges und der Ein-
heit der Factoren, durch welche die Dinge gebildet werden: zu
unterst Theile, gleichgültig gegen sich und gegen das Ganze;
dann die beiden Seiten einer mechanischen Kraft, ferner die
Aequivalente oder Atome einer chemischen Verbindung,
endlich organische Glieder.
Das Wort, so hat man von jeher gesagt, und so sagt auch
Becker noch, ist die Einheit von Laut und Bedeutung. Welchen
Sinn aber hatte hier die „Einheit“? ist sie die Einheit zweier
Theile, Seiten, Atome, oder Glieder? Ohne Ausnahme, antworten
wir, galt das Wort für die mechanische Einheit zweier Theile,
des Lautes und der Bedeutung, welche äußerlich an einander
kleben. Dies ist bei allen klar, welche das Wort als das laut-
liche Zeichen für eine Vorstellung ansehen, wie Aristoteles und
Hegel und sämmtliche Grammatiker thun. Zeichen und Be-
zeichnetes bleiben immer mechanisch neben einander. Auch ist
nicht bloß das Band, welches sie für die Seele zusammenhält,
sondern selbst der Grund, welcher das Zeichen schuf, die Ideen-
association, also der eigentliche Mechanismus der Seele. Es liegt
eben im Begriffe des Zeichens, daß etwas an die Stelle eines
andern gesetzt wird, eines mit ihm wesentlich unvergleichbaren,
äußerlichen. Zwei so verschiedene Wesen können nie zur stren-
gern Einheit werden, sondern nur in unserer Vorstellung eine
enge Verbindung eingehen, so daß für unser Bewußtsein jedes
sogleich das andere hervorruft. Laut und Begriff sind durchaus
zwei incommensurable Größen; sie sind in ihrer Verbindung
neben und an einander, aber nicht so unablösbar von einander
wie Nord- und Südpolarität; sie sind nicht wie diese bloß die
[58] zweiseitige Ausstrahlung derselben Kraft von einem einheitlichen
Punkte aus; sie sind nicht, wie die mathematischen Begriffe po-
sitiv und negativ, eine und dieselbe Größe nach entgegengesetz-
ter Richtung betrachtet.
Dieses rein und gemein mechanische Nebeneinander von
Laut und Begriff ist auch bei Becker unter der Einheit des
Wortes verstanden, wie oft er uns auch versichert, diese Ein-
heit sei eine organische. Wir wollen die beiden wichtigsten
Aeußerungen Beckers über diesen Punkt prüfen. Er sagt zuerst
am Schlusse des §. 4.: „Die gesprochene Sprache hat, wie der
menschliche Organism, dem sie angehört, und wie die leiblichen
Organe desselben, z. B. das Auge, zwei Seiten: eine innere,
welche der Intelligenz, und eine äußere, welche der Erscheinung
zugewendet ist. Von jener Seite angesehen ist die Sprache Ge-
danke, von dieser Seite angesehen, ist sie eine Vielheit mannig-
faltiger Laute: wir nennen jene die logische und diese die
phonetische Seite der Sprache. In dem wirklichen Leben
der Sprache sind jedoch diese zwei Seiten nur Eins; wie der
Mensch eine Einheit von Geist und Leib, so ist das Wort die
Einheit von Begriff und Laut.“ Wir haben in diesem Satze ein
zwiefaches Wie, das wir als durchaus spielerisch und trügerisch
rügen müssen. Wie hat denn erstlich das Auge zwei Seiten?
wo ist denn im oder am Auge eine innere, der Intelligenz, und
eine äußere, der Erscheinung zugewandte Seite? wie hat denn
mein Arm, mein Rumpf zwei solche Seiten? Am menschlichen
Leibe ist alles äußerlich oder leiblich, und so ist es auch das
Auge; es ist ein optischer Apparat, im Dienste der Intelligenz,
aber ohne äußere und innere Seite. Zweitens aber, wenn es
heißt: „wie der Mensch eine Einheit von Geist und Leib, so
ist das Wort die Einheit von Begriff und Laut“, so frage ich,
wie ist denn der Mensch diese Einheit von Geist und Leib?
ist denn diese so klar? so von selbst verständlich, daß man nur
darauf hinzuweisen braucht? ist sie nicht vielmehr das Räthsel,
an welchem alle Lösungsversuche bis heute gescheitert sind? und
mit dem schwersten aller Räthsel ein anderes gelöst zu haben
vorgeben, das wäre nicht spielerisch und trügerisch? das hieße
nicht, das Wort mißbrauchen und den Forschungsgeist ein-
schläfern?
Wenn wir die Einheit von Begriff und Laut, wie sie ge-
faßt worden ist, eine mechanische nennen, und z. B. nicht ein-
[59] mal zugestehen, daß sie an Würde der chemischen Verbindung
der Elemente gleich komme, so wollen wir damit ausdrücken,
daß das Wort als Einheit von Begriff und Laut nur die Summe
beider ist, nicht aber etwas Drittes, von beiden in ihrer Beson-
derheit Verschiedenes, nicht etwas Neues, durch ihre Vereinigung
Erzeugtes, in welchem jedes der beiden als solches nicht mehr
da wäre. Wasser z. B. ist die chemische Einheit von Wasser-
stoff und Sauerstoff, aber etwas ganz Anderes nicht nur als jedes
von beiden, sondern auch als die mechanische Summe oder
Mengung beider; beide Elemente sind als solche gar nicht mehr
im Wasser vorhanden. Das Wasser hat darum auch Eigen-
genschaften, erfährt Veränderungen und geht Verbindungen ein,
welche nur ihm eigenthümlich sind und nicht seinen Elementen
in ihrer Getrenntheit zukommen. Und ebenso ist es in andern
Fällen. Zwei Substanzen, welche beide ohne Schaden gegessen
werden können, sind tödtliches Gift, wenn sie als eine chemische
Verbindung gegessen werden. Nicht in diesem Sinne ist die
Sprache Einheit von Gedanke und Laut; sondern diese beiden
Seiten, Theile der Sprache, werden jeder für sich betrachtet,
und ihre Summe ist das Ganze der Sprache. Gewisse Verände-
rungen betreffen den Laut, nicht den Begriff; andere diesen und
nicht jenen; und in noch anderen Fällen laufen Begriffs- und
Lautabänderung parallel neben einander. Es giebt aber keine
Veränderung, keine Eigenschaft des Wortes, die nicht eben eine
des Begriffs oder eine des Lautes oder beider zugleich wäre;
denn es ist kein Erzeugniß von diesen beiden und etwas von
ihnen Verschiedenes, sondern nur ihr Zusammen, also mecha-
nische Einheit. Wir haben den Schein aufzuheben, als verhielte
es sich bei Becker anders.
§. 26. Classification des Wortvorraths.
In seiner Betrachtung des Wortes, die er nicht bloß in
dem ihr gewidmeten Abschnitte im „Organism“, sondern auch
in einem besonderen Werke „Das Wort in seiner organischen
Verwandlung“ ausführlich gegeben hat, erregt Becker den
Schein, als wenn das Wort als Einheit von Begriff und Laut
doch mehr wäre, als ihr bloßes Zusammen. Er sagt (das Wort
S. 24): „Das Wort ist die Einheit von Laut und Begriff.
Die Betrachtung des Abänderungsvorganges behandelt daher“
(So schnell macht Becker Schlüsse! aus dem völlig unbestimmt
gelassenen Ausdrucke „Einheit“!) „in drei Abschnitten zuerst
[60] den phonetischen Wandel — die Abänderung des Lautver-
hältnisses —, alsdann den logischen Wandel — die Abänderung
des Begriffes — und zuletzt die Einheit von beiden — die Ab-
änderung des Wortes —.“ Durch diesen dritten Abschnitt ent-
steht der Schein, als wäre das Wort ein von dem Laute an
sich und dem Begriffe an sich Verschiedenes, ein drittes aus
beiden Gewordenes, welches Abänderungen erfährt, die weder
dem Laute als solchem, noch dem Begriffe als solchem zukom-
men, sondern lediglich dem Worte als der Einheit beider —
Abänderungen, welche das Wort als Ganzes, nicht seine Theile
beträfen. Könnte Becker solche aufweisen, so wäre das Wort
nicht mechanische Einheit, nicht bloßes Zusammen seiner Theile.
Sehen wir aber den Inhalt des dritten Abschnittes an und ver-
gleichen ihn mit dem der beiden ersten, so zeigt sich, daß diese
die analytische Grundlage, jener die synthetische Ausführung,
oder diese die allgemeinen Gesetze der Entwickelung des Wort-
vorraths in der Sprache, jener eine systematische Darstellung
dieses Wortvorrathes mit Ausübung der aufgestellten Gesetze
enthält. Es kommt also nach der Betrachtung des Laut- und
Begriffswandels keine dritte Art des Wandels mehr zum Vor-
schein. Die Darstellung der Gesetze des Wortwandels zerfiel
ganz unserer obigen Bemerkung gemäß in zwei Abschnitte, de-
ren einer die Gesetze des Lautwandels, der andere die des Be-
griffswandels darstellt; das System des Wortschatzes nach sei-
nen Classen, Ordnungen und Arten, welches nach diesen Ge-
setzen gebildet ist, könnte eben so zerfallen, und thut es auch,
wie wir sogleich zeigen werden, bei Becker. Man kann nämlich
den Wortschatz in Classen vertheilen entweder nach den Begriffen,
welche die Wörter bezeichnen, oder nach den Lauten, durch
welche die Begriffe bezeichnet werden; d. h. man kann erstlich
eine Classification der durch die Sprache bezeichneten Begriffe
geben ohne Rücksicht auf den Laut, und dann eine Classifica-
tion der Wortlaute ohne Rücksicht auf die Bedeutung. Letz-
teres geschieht, wenn auch unvollkommen, in den gewöhnlichen
alphabetischen Wörterbüchern, ersteres in den indischen und den
danach eingerichteten hinterindischen, auch chinesischen und
mandschurischen Wörterbüchern, welche nach Stoffen, wie man
es nennt, geordnet sind, und auch in unsern Vocabularien zum
Auswendiglernen von Wörtern, wo die Verwandtschaftsnamen,
Geräthschaften, Zeitverhältnisse u. s. f. zusammengestellt sind.
[61] Man kann also z. B. erstlich nach den Begriffen den
Wortschatz der Sprache in zwölf Classen eintheilen: 1) in sol-
che welche gehen, 2) welche leuchten, 3) welche lauten u. s. w.
bedeuten, ohne Rücksicht auf den Laut; oder zweitens man
kann die Wörter eintheilen in solche: 1) welche aus bloßem
Vocal bestehen, 2) aus anlautendem Vocal mit auslautendem
Kehllaut, 3) aus anlautendem Vocal mit auslautendem Zungen-
laut u. s. w. ohne Rücksicht auf die Bedeutung. So hätten wir
in Beckers drittem Abschnitt die beiden Theile wieder, welche
den beiden ersten Abschnitten entsprechen und der ganzen lo-
gischen, unorganischen Dichotomie Beckers angemessen sind.
Becker hat aber diese beiden Classificationsweisen, deren jede
er richtig als künstlich erkannte, nicht besonders gegeben; son-
dern, nach einer organisch-natürlichen strebend, hat er beide in
einander geschoben. Er hat nämlich zuerst alle Wörter nach
der Bedeutung in zwölf Classen getheilt, also rein logisch-meta-
physisch; innerhalb jeder Classe aber hat er die Wörter nach
dem Laute zusammengestellt. Hiermit ist er nicht über eine
mechanische Verbindung beider Classificationsweisen hinausge-
kommen, wie sein Wort nur die mechanische Verbindung von
Laut und Begriff ist; er hat also keine organische Classification
gegeben und durch die Verflechtung der beiden künstlichen, lo-
gischen Weisen hat er nichts weiter erreicht, als die unvollkom-
mene Durchführung eines jeden der beiden Eintheilungsprincipe;
nun hat man weder die verwandten Begriffe, noch die verwand-
ten Laute zusammen. Das mechanische Nebeneinander aber von
Begriff und Laut in Beckers Auffassung kann nicht deutlicher
zu Tage kommen, als hier geschieht.
§. 27. Grammatische Formen.
Eben so wie es sich hier mit dem Wortvorrath gezeigt hat,
verhält es sich mit den Wortformen, wie sie die bisherige Gram-
matik, Becker eingeschlossen, darstellt. Sie führt die Begriffs-
formen, d. h. die allgemeinen Verhältnisse der Begriffe zu den
Kategorien und zu einander auf, also die Redetheile und Flexions-
formen. Die innere Seite des Wortes ist ja der Begriff; wie
könnten also die Verhältnisse und Formen des Wortes nach
dieser innern Seite andere sein, als eben die des Begriffes, der
Logik und Metaphysik selbst? die Formen der Sprache sind
eben gerade die des Denkens. Substanz, Qualität, Bewegung,
Sein u. s. w., d. h. die wesentlichsten Punkte der Metaphysik und
[62] Logik gingen als solche in die Grammatik ein. Daneben wur-
den die lautlichen Formungen angegeben, durch welche jede Be-
griffsform sprachlich bezeichnet wurde; die Schemata wurden
aufgestellt. Der Dualismus ist hier noch klaffender; denn die
eine, die begriffliche, Seite war geschaffen von den griechischen
Philosophen, bevor die alexandrinischen Grammatiker die laut-
liche Seite schematisch ordneten; und nachdem dies nun ge-
schehen war, hat sich die Betrachtung der Begriffsformen wie-
der von der der Lautformen abgelöst und selbständig als all-
gemeine und philosophische Grammatik hingestellt.
§ 28. Gleichheit Beckers mit der alten Grammatik.
Nichts also als ein mechanisches Conglomerat von
Laut und Gedanken war die Sprache, und ist sie auch noch bei
Becker. Es muß Lachen erregen, wenn man sieht, wie Becker
etwas Neues zu sagen glaubt, indem er behauptet, in der Sprache
seien die Formen der Anschauung und des Denkens zu finden:
da dies nicht bloß von Plato und Aristoteles, sondern zu allen
Zeiten von allen Grammatikern ausgesprochen oder anerkannt
worden ist. Es ist durchaus in Abrede zu stellen, daß sich die
Grammatik je von der Logik getrennt habe, und daß man erst
in neuerer Zeit mit ihrer Umgestaltung auch auf ihre Verei-
nigung zurückgekommen sei. Die Grammatica speculativa des
alten Scholastikers Joannes Duns Scotus ebenso wie Scaligers
De causis linguae latinae tragen ihren logischen Charakter und
Gehalt unzweideutig vor sich her. Letzteres Werk ist durchaus
das Erzeugniß eines geistreichen Peripatetikers, der sich be-
müht, den Fußstapfen des Meisters zu folgen. Es heißt z. B.
bei ihm rücksichtlich der Redetheile: Si igitur dictio rerum nota
est, pro rerum speciebus partes quoque suas sortietur. Videa-
mus ergo in magna autorum controversia, quot, quaeve sint.
Quod Graeci ὄν vocant, apud nos autem usitato potius quam
Latino caret nomine, id partim significat res permanentes ut equum,
album, decempedam, quarum natura postquam perfecta est, diu
perstat; partim fluentes, quarum natura est, esse tandiu, quandiu
fiunt: ubi vero sunt absolutae, non sunt amplius. In hac parti-
tione tota vis orationis nostrae consistit … Constantium igitur
rerum notam nomen dixere, eorum vero quae fluunt, verbum.
Wir haben hier nicht zu untersuchen, ob Beckers Definitionen
vom Nomen und Verbum besser sind als Scaligers: das Princip
ist in diesen wie in jenen logisch-metaphysich, und Scaligers
[63] „Fluß und Dauer“ sind wesentlich Beckers „Thätigkeit und
Sein“.
Als die neue Philosophie mit Descartes erstand, nachdem
schon durch Bacos Organon das Bedürfniß einer Reform der
Logik sich ausgesprochen hatte, da war man besonders in Frank-
reich auf Logik und allgemeine Grammatik bedacht. La logique
de Port-Royal aber und die Grammaire générale et raisonnée de
Port-Royal, beide der classische Ausdruck dieser Bemühungen,
erfüllen die Forderung der Identität von Grammatik und Logik
derartig, wie sie aus der Voraussetzung der Einheit von Denken
und Sprechen zu schließen ist, und wie sie Becker nur wünschen
kann. Sie sind nicht nur beide aus einem Gusse, sondern die
allgemeine Grammatik ist, wie ehemals bei den Griechen, wirk-
lich und leibhaftig nur ein Capitel der Logik. So heißt es z. B.,
nachdem folgende Definition des Wortes gegeben ist: „Ainsi
l’on peut définir les mots, des sons distincts et articulés, dont
les hommes ont fait des signes pour signifier leurs pensées,“ un-
mittelbar weiter: „C’est pourquoi on ne peut bien comprendre les
diverses sortes de significations qui sont enfermées dans les mots,
qu’on n’ait bien compris auparavant ce qui se passe dans nos
pensées.“
Das alles genügt, denke ich, zu zeigen, wie die Verbindung
der Grammatik mit der Logik, worauf Becker als auf das we-
sentlichste Merkmal seiner sich so nennenden neuen Grammatik so
viel Gewicht legt, nicht nur von jeher Statt gehabt hat, son-
dern auch nie aufgegeben worden ist, der Grammatik aber auch
immer den dürren unorganischen Charakter verliehen hat.
§. 29. Beispiel von einem Beckerschen Organismus.
Zeigen wir endlich noch an einem Beispiele, was Becker unter
einer organischen Einheit mit organischer Gliederung versteht,
unter einem organischen Ganzen, in welchem alles Besondere
„nur durch das Ganze und als ein lebendiges Glied des Ganzen
Dasein und Bedeutung hat.“ Becker behauptet nämlich (Org. S.79):
„Das gesammte Reich der in der Sprache ausgedrückten Be-
griffe stellt sich in einem natürlichen Systeme dar, in dem ein
Urbegriff sich durch eine nach bestimmten Gesetzen fortschrei-
tende Scheidung des Allgemeinen in das Besondere, in seine
Arten, und diese in ihre Unterarten entwickeln.“ Wir vermu-
then in diesem Satze ein paar Druckfehler, durch welche das
Wort organisch ein paar Mal ausgefallen ist. Eine ausführli-
[64] chere Darstellung jenes „natürlichen Systems“ wird in dem
Werke „das Wort“ gegeben. Der Wortschatz wird als orga-
nisches Ganzes dargestellt, und jedes Glied ist als kleiner Or-
ganismus dem Ganzen nachgebildet. Wir wählen nur als Bei-
spiel den Kardinalbegriff „gehen“, welcher ein solches Organ
des ganzen Organismus des Wortschatzes ist. Die Besonder-
heiten, Scheidungen des genannten Kardinalbegriffs werden dort
(S. 104) folgendermaßen aufgestellt: „schreiten, kriechen, schlei-
chen, treten, gleiten, hinken, kehren, wenden, drehen, biegen,
wanken, winken, wachen, regen, leben, fahren, ziehen, reisen,
steigen, heben, tragen, sinken, fallen, schweben, schweifen, ra-
gen u. s. f.“ Dies soll organische Scheidung sein! diese zusam-
mengewürfelte Masse! Was bindet diese Wörter zusammen? Sie
sind alle Ausdrücke für die Bewegung lebender Wesen, sagt
Becker. Dieses Band ist eine ziemlich leere Abstraction. Sie
wird aber noch viel leerer, wenn man sieht, wie man auf den
ersten Blick thut, daß Beckers Angabe, hier die abgeleiteten
Begriffe der Bewegung des organischen Lebens zu geben, falsch
ist, da ja „gleiten, kehren, wenden, drehen, biegen, wanken, sin-
ken, fallen, schweben, ragen“, also von 26 Begriffen zehn, Bewe-
gungen lebloser Dinge bezeichnen, wenigstens eben so gut bezeich-
nen können. Hier ist also die „eine das Ganze und alle Glieder
durchdringende Kraft“ nichts als die Abstraction der Bewegung.
Diese Abstraction wird aber völlig leer, reines Nichts, dadurch
daß vermöge jener progressio ad contrarium (lucus a non lu-
cendo) auch „stehen, sitzen, liegen, weilen, wohnen, schlafen,
zögern, träge sein, fest sein, erstarren, hangen“ zu demselben
Organ gehören, wo auch abermals unter elf Begriffen fünf die
todte Ruhe oder Bewegung bezeichnen. — Das „u. s. f.“ am
Ende haben wir durch Typen auszeichnen lassen; in ihm liegt
die Selbstanklage Beckers. Denn wo es sich um die unorgani-
schen Bewegungen handelt, da haben wir die Form einer ins
Unendliche auslaufenden Linie. Dies wird durch u. s. f. ausge-
drückt; der Organismus aber schließt sich in sich zusammen,
ist ein Ganzes und wird darum durch das u. s. f. geläugnet.
Nicht einmal der Gegensatz bindet jene Wörter zusammen; sie
verhalten sich als reine Andere, als verschieden gegen einander,
als gleichgültige Sandkörner eines Sandhaufens.
[65]
3. Beckers leerer Formalismus.
Bei unserer Betrachtung des Beckerschen Princips haben
wir schon gelegentlich erkannt, wie dasselbe ursprünglich unbe-
stimmt gefaßt, bald gänzlich verwirrt, in der weiteren Darle-
gung, statt sich abzuklären und an Fülle des Inhalts sowohl als
an Festigkeit der Form zu gewinnen, vielmehr durch völlige
Unmethodik leerer Spielerei und Tautologie anheim fiel. Auch
bei der Entwickelung des logisch-mechanischen Charakters der
Beckerschen Sprachbetrachtung haben wir gefunden, wie abstract
und leer formal die logischen Kategorien gefaßt werden. Wir
haben dieses Formelspiel Beckers genauer kennen zu lernen.
Sobald sich Becker den logischen Formen als constitutiven
Leitern seiner Sprachwissenschaft ergab, war er dem unorgani-
schen Wesen verfallen, der unorganischen Gabelung der Gegen-
sätze. Da nun aber diese logischen Formen, immer allgemein, das
Wesen der besonderen Sache niemals decken, so erfaßt auch
Becker mit ihnen niemals den vollen Gehalt der Sache; ja, da
sie, an sich formal, aus sich heraus nicht auf die Besonderheit
des Inhalts weisen, so hat Becker an ihnen nichts als leere Fä-
cher, die gegen den Inhalt, den man ihnen giebt, gleichgültig
sind. Bei diesem Mißbrauch derselben bleiben sie in Wahrheit
leer, und auch dem Inhalte andererseits wird solche Gewalt an-
gethan, daß er verschwindet.
Die logische Auffassung der Sprache und die unorganische
Betrachtungsweise begünstigten sich einander. Wenn diese durch
jene gefördert war, so führte sie auch ihrerseits zu jener zurück.
Was war’s denn, was den Inhalt des Organismus bei Becker
ausmachte? Nicht ein Theil der Natur im Unterschiede von
einem anderen, unorganischen Theile; nicht die Natur im Ge-
gensatze zur Freiheit des Geistes; nicht der Zweckbegriff, die
Verkörperung eines Gedankens war schließlich jener Inhalt; son-
dern lediglich die Besonderung eines Allgemeinen nach dem ein-
fachen Gegensatze — ja, noch weniger als das, nämlich bloß
die Entgegensetzung, welche sowohl das Verhältniß eines Be-
sondern zu einem andern, als auch zum Allgemeinen umfaßt,
ja, welche bis zur bloßen Verschiedenheit herabsinkt. Und aus
dieser ärmsten logischen Kategorie sollte irgend welche inhalts-
volle Entwickelung eines wirklichen Wesens möglich sein? Die
kann sich ja nur an den Punkt anknüpfen, wo ein Allgemeines
5
[66] und ein Specifisches in Einheit liegen. Ohne diesen Verknüpfungs-
punkt gefunden zu haben, geht man immer um die Sachen herum,
zwischen die Sachen hindurch, ohne ihr Wesen zu berühren.
Eine solche Bewegung geschieht mit subjectiver Willkür nach
leeren logischen Formen. Die objectiven Beziehungen bleiben
unbeachtet; dagegen werden zufällig einzelne Seiten der Dinge
aus ihrem wirklichen Zusammenhange gelöst und in subjective,
logische, der Sache selbst aber fremdartige Beziehungen versetzt
und damit verfälscht, insofern und wenn sie einen Inhalt haben.
Meist aber werden sie alles Inhalts baar sein. Wir werden im
Folgenden zeigen, daß Beckers Grammatik, insofern sie einen
Inhalt hat, einen falschen hat, meist aber inhaltslos, leeres For-
melspiel ist. Sein Vorschreiten ist theils Schein, nämlich Tau-
tologie, theils ein Hindurchschreiten durch die Reihen der Dinge,
welche er in die logische Form des Gegensatzes einander ge-
genübergestellt hat. Nicht logisch, — mit der Aeußerlichkeit,
den Formeln der Logik schreitet er vor. Dem wirklichen In-
halte nach ist sein Princip nicht die Form des Gegensatzes, son-
dern nur willkürliches inhaltsloses Entgegenstellen zweier belie-
biger Elemente. So haben wir schon gesehen, wie er Muskel
und Nerv aus dem organischen Zusammenhange mit den Kno-
chen, den blutführenden Adern, kurz aus dem lebendigen Leibe
herausreißt, um sie in einen polaren Gegensatz zu bringen, auf
welchen er den Organismus gründet.
a) Beckers Mangel an Dialektik.
§ 30. Dialektik nach Trendelenburg.
Schon oben haben wir gelegentlich an Humboldt die Dia-
lektik gerühmt und ihren Mangel bei Becker getadelt. Der
ganze Zusammenhang zwar, in welchem dieser Vorwurf von uns
gegen Becker ausgesprochen ist, verhütet wohl schon an sich,
daß man ihn, bei dem Verrufe, in welchem die Dialektik als
Sophistik steht, zum Ruhme Beckers wendet. Es wird aber des-
senungeachtet gut sein, die Bedeutung und Nothwendigkeit der
Dialektik weiter darzulegen, und damit zugleich zu zeigen, welch
ein wesentlicher Mangel es an Becker ist, daß er von ihr keine
Spur hat. Wir wollen hierbei wieder von Trendelenburg aus-
gehen. Becker selbst hat sich auf ihn berufen, uns an ihn ver-
wiesen. Wie so oft die unberechtigt herbeigerufene Hülfe die
Vernichtung, der sie vorbeugen soll, beschleunigt, so soll uns
[67] hier Trendelenburg helfen Becker zu schlagen. Auch steht uns
Trendelenburg — wiewohl wir seine Metaphysik nach Seiten ih-
res Princips nicht zur unsrigen machen mögen — doch zu hoch,
als daß wir nicht suchen sollten, Becker jede Stütze, die er an
ihm zu haben meint, zu entziehen. Trendelenburg ist ein Mann,
von dem zu lernen ist; so haben wir zu zeigen, wie Becker von
ihm hätte lernen können, lernen sollen. Wir haben schon rück-
sichtlich der Bestimmung des Organismus und der Zweckbe-
trachtung auf Trendelenburg hingewiesen; ebenso rücksichtlich des
Gegensatzes, und werden es später noch einmal bei einer noch
wichtigern Gelegenheit thun. Wenn sich nun Trendelenburg
selbst öfter der Beckerschen Sprachwissenschaft durchaus nur
beipflichtend ausspricht, so hat er das zwar zu verantworten; wir
begreifen aber wohl, wie ein Philosoph über die Anwendung sei-
ner Grundsätze auf eine besondere Wissenschaft weniger richtig
urtheilt, als jemand der diese besondere Wissenschaft sich zur
Aufgabe gestellt hat.
Trendelenburg in seinen „logischen Untersuchungen“ geht,
indem er seine Aufgabe zu bestimmen sucht, davon aus (I.
S. 102), daß jeder wissenschaftlichen Betrachtung eine gewisse
Vorstellung von dem zu erkennenden Gegenstande vorausgehen
müsse: d. h. nicht bloß das Bewußtsein, daß ein solcher vor-
handen ist; sondern es muß sich auch schon an ihm etwas Räth-
selhaftes ergeben, der Vorstellung aufgedrängt haben, welches das
Denken zu weiterer Forschung reizt und herausfordert. Es wird
als Beispiel die physiologische Untersuchung des Sehens angeführt,
welche durchaus eine nähere Vorstellung vom Sehen voraussetzt.
„Sollte das Sehen begriffen werden, so mußte sich zuvor im
Sehen selbst ein Räthsel ergeben, ein Widerspruch des gleich-
sam sich selbst bewußt werdenden Vorganges mit dem bis da-
hin Begriffenen. Dieser Widerspruch erscheint in der Frage:
wie ist es möglich, daß sich die Gegenstände auf der Netzhaut
abmalen? Der Thatbestand widerspricht der nächsten Folgerung
der Erfahrung. Denn man sollte meinen, daß nach jedem Punkte
der Netzhaut die Strahlen der verschiedensten Gegenstände ge-
langen, und sich daher die verschiedensten Bilder einander ver-
nichten. Es wird also gefragt, wie dieser Betrachtung zum Trotze
das Sehen geschehen könne.“ — Was bei Trendelenburg eigent-
liche Sache, Aufgabe ist, das logische Erkennen des Erkennens,
mag uns hier als ein zweites Beispiel dienen. Die logische
5*
[68] Frage: wie ist Erkenntniß möglich? setzt ein Bewußtsein dar-
über voraus, daß der Vorgang des Erkennens in der Aufhebung
des Gegensatzes zwischen Denken und Sein besteht; und man
fragt sich, wie ist es aber nur möglich, daß das Denken das
Sein durchdringe, oder das Sein ins Denken gelange, da beide
so verschiedener Natur sind?
§ 31. Dialektik, Speculation, logischer Formalismus.
Dieses Verfahren, am Beginne einer Untersuchung sich die
Räthsel und Schwierigkeiten, die an dem zu betrachtenden Ge-
genstande hervortreten, vor allem klar zu vergegenwärtigen, ist
durchaus aristotelisch und konnte bei einem Kenner und Ver-
ehrer des Aristoteles, wie Trendelenburg, vorausgesetzt werden.
Die Erkenntniß der διαποϱίαι ist nach Aristoteles ein wesent-
licher Theil wissenschaftlicher Forschung. Ganz ähnlich sehen
auch Herbart und Hegel die Sache an. Es versteht sich von
selbst, daß sich die Wissenschaft nicht mit dem ersten An-
stoße von einem Widerspruche, auf den die gemeine oder erste
Betrachtung fällt, begnügen kann, sondern daß es ihr ein ern-
stes, wichtiges Geschäft ist, alle Widersprüche, die an ihren Ge-
genständen hervortreten, umsichtig und allseitig aufzusuchen.
Wir nennen diese Betrachtung die dialektische; sie muß sich
in die speculative, d. h. in die Ueberwindung der Wider-
sprüche auflösen. Die Speculation gewährt die eigentliche Er-
kenntniß, die Dialektik ist der Reiz dazu. Wie wichtig letz-
tere ist, liegt nun wohl auf der Hand; denn mit der Aufdeckung
der Widersprüche, mit der Stellung der Fragen ist Anfang und
Ende, Ausgangs- und Zielpunkt bestimmt; und wie sehr ist da-
durch schon der ganze Weg der Wissenschaft vorgezeichnet!
Ja, es ist überhaupt schwer, Dialektik und Speculation scharf zu
scheiden; sie bilden zusammen den einen Weg der Wissenschaft;
die Speculation ist die Fortsetzung der Wissenschaft; aber wie
wäre zu sagen, wo die eine aufhört, die andere beginnt? Spe-
culation ist die fortgesetzte Dialektik selbst; denn nur durch
die vollständigste Vergegenwärtigung der Widersprüche ver-
schwinden sie, und sie sind verschwunden, sobald sie vollständig
aufgefaßt sind.
Die Dialektik ist also gar nicht etwas Besonderes; sie ist
die wissenschaftliche Forschung selbst, und diese könnte sie nicht
aufgeben, ohne ihr Wesen zu verlieren. Sie muß also die Wis-
senschaft überall begleiten und kann nie fehlen. Sie ist nichts
[69] anderes als Kritik, als gewissenhaftes Prüfen, ob man sich nicht
täusche oder täuschen lasse; sie ist Hut vor Sophistik, vor dem
Trugschlusse wie vor der leeren Phrase. Sie fragt: wird hier
ein Gedanke geboten, oder ein bloßes Wort? und wenn ein Ge-
danke, ist er denkbar? und vorzüglich, stimmt die Thatsache
mit sich selbst und der Gedanke mit ihr?
Die Dialektik ist also wesentlich angewandte Logik, Mes-
sen des Gedachten an den Gesetzen des Denkens; sie ist die
das Denken begleitende Kritik.
Hiernach mag man schon ermessen, was der Vorwurf des
Mangels an Dialektik zu bedeuten habe: er giebt Becker nichts-
sagende und trügerische Wortspielerei Schuld. Die Beweise
sollen nicht fehlen.
Wir kennen aber auch mit dem Wesen der Dialektik den
Grund ihres Mangels bei Becker. Sie erfordert ein höchst sorg-
fältiges Eingehen auf die besondern Eigenthümlichkeiten des zu
erforschenden Gegenstandes, um die vorliegende Erscheinung,
wie sie sich giebt oder zu geben scheint, an den allgemeinen lo-
gischen Gesetzen zu messen. Becker aber bleibt abstract logisch,
ohne auf die Sache einzugehen. Die leere Kategorie Gegensatz,
nicht ihr Gehalt, die leere Form der Einheit, nicht ihr Grund,
ist es, wonach er hascht; ihm genügt die Schale des Wissens.
— Weil er aber nicht dialektisch ist, hat er weder vom Aus-
gangspunkte, dem Principe, noch vom Ziele, also auch nicht
vom ganzen Wege der Entwickelung eine scharf bestimmte An-
schauung. Hiermit steht seine Unmethodik in Verbindung: wie
denn natürlich alle bisher gerügten Fehler sich gegenseitig
stärken.
§. 32. Tautologie.
Wir gingen bei unserer Betrachtung der Dialektik mit Tren-
delenburg davon aus, daß sie der Reiz zur Wissenschaft sei.
Bleiben wir, um ihren Mangel bei Becker darzulegen, bei die-
sem Punkte stehen. Becker leitet in der Vorrede der ersten
Auflage seines „Organism“ die Nothwendigkeit der Grammatik
der besonderen Sprache für das Volk selbst, dem die Sprache
gehört, von dem Bedürfnisse ab, die durch Vermischung der
Mundarten und durch Einführung fremdartiger Elemente, welche
eine Folge der wachsenden Cultur sind, unverständlich geworde-
nen und in ihrer Bedeutung getrübten Formen wieder zum Bewußt-
sein zu bringen. Das ist in der Weise richtig, wie man auch
[70] die Nothwendigkeit der Physiologie von der Krankheit ableitet,
und wie Alles mit Bedürfnissen zusammenhängt, welche die Mut-
ter aller Erfindungen, Einrichtungen und Wissenschaften genannt
werden mögen. Woher erhält aber die streng theoretische Sprach-
wissenschaft ihre erste Anregung? welches Problem, welcher Wi-
derspruch, welches Räthsel reizt zuerst? Becker kennt ja gar
keine Schwierigkeit.
Indessen ist klar, dieser Ausgangspunkt der Sprachwissen-
schaft läßt sich in ganz ähnlicher Weise aussprechen, wie Tren-
delenburg den der Logik gefaßt hat. Wie die Erkenntniß auf
dem aufgehobenen und doch immer bleibenden Gegensatze von
Denken und Sein beruht, so die Sprache auf dem von Laut und
Bedeutung; wie also gefragt wird: wie durchdringt das Denken
das Sein, wie kommt das Sein in das Denken? so hier: wie
durchdringt der Gedanke den Laut; wie wird der Laut bedeut-
sam? — Wir meinen nicht, daß Becker diese Frage übersehen
habe; er hat sie beantwortet — aber wie? Statt die darin lie-
genden Gegensätze durch sorgfältige Untersuchung zu vermit-
teln, spricht er ihre Einheit ganz unmittelbar aus und er-
greift das Ziel im ersten Satze mit dem Worte: Organis-
mus. Man fragt: wie ist ein solcher Zusammenhang zwischen
Denken und Sprechen möglich? und Becker antwortet: Sprechen
ist mit dem Denken gegeben. Das heißt aber bloß die Frage
zurückgeben. Die Sprache ist das Organ für das Denken, wie
das Auge für das Sehen; der Mensch spricht, weil er denkt:
damit, meint Becker, sei jene Frage beantwortet. Ist das aber
wohl etwas anderes, als wenn der Physiolog auf die ihm vorge-
haltene Schwierigkeit des Sehens antwortete: das Sehen ist eine
organische Verrichtung, die sich im Auge verleiblicht; der Mensch
hat Augen, weil er sieht, und das Auge ist gar nichts anderes
als das leiblich gewordene Sehen?
Die oben schon vielfach gerügte Tautologie erkennen wir
hier in Beckers Princip, Organismus, wieder. Das im Anfang
vorausgegriffene Ziel kann nur durchaus leer sein; es kann nichts
anderes sein als die Wiederholung der anfänglichen Frage in
Form einer Antwort; und als Princip ist es nur die Form, be-
zeichnet es nur die leer gelassene Stelle desselben, erfüllt aber,
inhaltslos wie es ist, durchaus nichts. Wenn wir fragen: wie
ist der Vorgang des Sprechens möglich? wie kommt er zu Stande?
und Becker darauf antwortet: die Sprache ist ein organischer
[71] Vorgang; so ist damit nicht, wie Becker wähnt, gesagt: der Mensch
spricht, weil er denkt; sondern es ist bloß gesagt: er spricht,
weil er spricht. Denn jenes weil des Satzes: weil er denkt,
sollte eben erst erklärt werden; wie im obigen Beispiele die Ant-
wort: der Mensch sieht, weil er Augen hat, nur sagen würde:
er sieht, weil er sieht; denn jenes weil, d. h. die Beschaffen-
heit des Auges und des Lichts, wonach das Auge nothwendig
sehen muß, ist noch nicht dargelegt. — Was würde man zu
Trendelenburg gesagt haben, wenn er auf die Frage: wie ist Er-
kenntniß des Seienden möglich? geantwortet hätte: Erkenntniß
ist eine organisch nothwendige Verrichtung; und indem der
Mensch erkennt, erkennt er das Seiende; und Erkenntniß ist
gar nichts anderes, als Erkenntniß des Seienden? Wer so ge-
antwortet hätte, würde der Spott aller Philosophen geworden
sein! Beckers Organismus ist eine solche Antwort. Wir wollen
sie noch ein wenig näher ansehen.
b) Verleiblichung des Gedankens.
Der Mangel an Dialektik, d. h. der Mangel an wissenschaft-
lichem Ernst, an wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, an stren-
gem Denken, ist die tiefste Ursache von Beckers durchgängiger
Tautologie. Becker spricht kaum einen ernsten, wirklichen Ge-
danken aus; nichts als leeres Spielen mit Analogien. Wir ha-
ben schon gesehen, wie die Entstehung der Sprache durch eine
höchst lückenhafte Analogie erklärt werden sollte, ja wie das
Princip selbst, der Organismus, nur eine Analogie ist, sowohl in
seiner Anwendung auf die Sprache, als an sich selbst, wie wir
sogleich noch ausführlicher zeigen werden.
Analogien werden nie gänzlich zu vermeiden sein; man kann
sie mit Besonnenheit ohne Schaden, sogar mit großem Nutzen
anwenden. Aber je größer die Gefahr, sich durch dieselben in
Spielerei zu verlieren, um so größer muß der Ernst sein, mit
dem sie verfolgt werden. Becker ist ein warnendes Beispiel da-
von, wie man sich in ihnen vollständig verlieren und allen Halt
und Gehalt einbüßen kann.
Ausgangspunkt aller Beckerschen Analogien ist die Erschei-
nung eines Innern im Aeußern, Verleiblichung eines Geistigen.
Diese Worte sind bei Becker, wie wir schon gelegentlich bemerkt
haben, zu einer wahren Zauberformel geworden, durch die er mit
einem Schlage alle Schwierigkeiten gelöst glaubt; ja, mit dieser
[72] Formel im Munde wähnt er sich so sicher, daß er die Schwie-
rigkeiten und Hindernisse auf seiner Bahn nicht einmal beachtet.
Dadurch wird aber jene Formel eben nur zur leeren Phrase,
welche, alles wirklichen Denkens spottend, nur der Spott aller
wirklichen Denker sein kann.
Der Beckersche Begriff des Organismus, das Princip, war
ganz auf den Satz gegründet, daß im All ein schöpferischer
Gedanke leiblich, ein Inneres äußerlich werde, ein Allgemeines
sich im Besondern verwirkliche und gestalte; und auch die or-
ganische Natur der Sprache hatte demgemäß ihren Kern darin,
daß in ihr ein Inneres in die Erscheinung trete. Diese meta-
physische Voraussetzung hat Becker freilich nicht begründet,
nicht einmal zu begründen versucht, nur dogmatisch hingestellt!
aber auch noch nicht einmal klar dargestellt! Wenn wir daher
wollten, könnten wir diese Voraussetzung eben so dogmatisch
läugnen, nur kurzweg achselzuckend bezweifeln — und wir wä-
ren mit Becker fertig; d. h. er hat sich kein Recht, keinen An-
spruch auf unsere Anerkennung, ja nur auf unsere Berücksich-
tigung erworben. Wir dürften ihn schlechtweg beseitigen, un-
gehört lassen; aber wir hätten ihn nicht kritisirt. Wir neh-
men also die Voraussetzung als solche ruhig hin und fragen nur:
welchen Gebrauch hat Becker von ihr gemacht? wie schreitet
er von ihr aus weiter vor?
Er sagt (§. 4): „Wie nun das allgemeine Leben sich in
einer unendlichen Mannigfaltigkeit besonderer Arten und Unter-
arten von organischen Dingen gewissermaßen in besondere Le-
bensfunctionen scheidet; so stellt sich wieder die in einem orga-
nischen Dinge ausgeprägte besondere Lebensfunction, die gleich-
sam den Begriff des organischen Dinges ausmacht, in einer Man-
nigfaltigkeit besonderer Organe dar.“ Gleich bei diesem ersten
Schritte über die Voraussetzung hinaus, oder noch in ihrer nä-
hern Darlegung selbst, geräth Becker schon in jenes Spielen mit
Analogien, in ein Geistreicheln mit „gleichsam“ und „gewisser-
maßen“. Wissenschaftlichem Ernste wird dabei nicht wohl zu
Muthe. Was wird denn mit dieser bei Becker so häufig wie-
derkehrenden Redewendung „wie … so“ gesagt? an sich noch
gar nichts: da hiermit zunächst nur die Frage von dem einen
Punkte, dem So, auf den andern, das Wie, verschoben wird.
Dieses Wie aber schließt die Frage in sich, und so lange es
nicht beantwortet ist, ist durch die Verschiebung nichts gewon-
[73] nen. Ferner aber ist der in jener Wendung liegende Vergleich
fast immer so schief oder so abstract, daß die Sache nicht mit
Bestimmtheit und Klarheit gedacht werden kann. Wir haben
beide Uebelstände schon bei der Vergleichung des Sprechens
mit dem Athmen gesehen. Auch hier ist es doch eine künst-
liche, gewaltsame Anschauung, wonach das besondere lebende
Wesen zum allgemeinen Leben oder zu seiner Gattung sich eben
so verhalten soll, wie das einzelne Organ dieses besondern We-
sens zu dem ganzen Wesen selbst! Der Tiger sollte sich zum
Thier überhaupt verhalten, wie sein Magen, seine Klaue u. s. w.
zum ganzen Tiger! Hiernach würden Magen, Herz u. s. w. gar
nicht Organe des Thiers, sondern des Tigers sein. Das meint
Becker nicht, obwohl es in seinen schiefen Worten und seinem
schiefen Systeme liegt; er meint aber, wie er fortfährt: „Der
Begriff des organischen Dinges prägt sich in jedem Organe aus,
jedoch so, daß jedes besondere Organ diesen Begriff in irgend
einer Besonderheit darstellt. Daher ist überall in den organi-
schen Dingen der Typus, in dem sich das Ganze gestaltet und
entwickelt, auch der Grundtypus für die Gestaltung und Ent-
wickelung der besonderen Organe. Die besondere Lebensfunc-
tion — der Begriff — einer Thierart z. B. des Tigers stellt sich
in jedem besondern Organe, nicht nur in Gebiß und Klaue,
sondern in dem Baue aller Bewegungsorgane, in seinen Ver-
dauungsorganen, in seinem Auge u. s. f. dar, und der Naturfor-
scher erkennt schon aus dem Baue des einzelnen Organes die
besondere Lebensfunction des Thieres, und mit dieser den Bau
aller andern Organe und des ganzen Thieres.“ Man sieht, wie
hier Becker etwas seitwärts gegangen ist. Der Begriff des Ti-
gers entwickelt sich nicht in die Organe: Gebiß, Klaue, Magen
u. s. w., sondern verleiht diesen Organen die eigenthümliche Ge-
staltung. Nun überlege man doch, wie abstract ist die Kate-
gorie, welche das Verhältniß des Thieres zum allgemeinen Le-
ben, das des thierischen Organs zum Thier, und das der beson-
dern Gestaltung des Organs zur ganzen Arteigenthümlichkeit
des Thiers gleichmäßig umfaßt! Ferner ohne uns dabei aufzu-
halten, was wohl die Worte bedeuten mögen: „jedoch so, daß
jedes besondere Organ diesen Begriff in irgend einer Besonder-
heit darstellt“ — stellt etwa der Magen den Begriff des Tigers
anders dar als das Gebiß? sind sie nicht gerade in der Bezie-
hung auf den Tiger gleich, und nur durch ihre Natur als thie-
[74] rische Organe verschieden? — wichtiger ist es, zu fragen: haben
wir denn in diesen Verhältnissen noch das eines Gedankens,
eines Innern, welches in die Erscheinung tritt? Verhält sich die
besondere Gestaltung der Tiger-Klaue zum ganzen Typus des
Tigers, oder dieser zur allgemeinen Form der Säugethiere wie
ein Aeußeres zu seinem Innern? Was diese Analogien zusam-
menhält, ist nichts als die abstracteste, durchaus formal logische
Kategorie des Allgemeinen und Besondern. Diese ärmste aller
Kategorien umfaßt allerdings das All, und auf sie hat Becker
seinen Organismus gebaut! Darum ist aber sein Organismus,
seine Verleiblichung eines Geistigen, eine Phrase; sein wirkli-
cher Inhalt aber ist unorganisch. So fährt nun Becker con-
junctionslos fort: „Die organischen Gegensätze, die sich in dem
Ganzen darstellen, wiederholen sich in jedem besondern Organe:
wir finden z. B. in dem Auge die Gegensätze von Bewegung
und Empfindung, Ernährung und Absonderung, Muskel und
Nerv, Arterie und Vene wieder; und so stellt sich das Auge
auch für sich als ein dem Ganzen nachgebildeter Organismus
dar.“ Hiermit ist nun Becker nicht bloß abermals seitwärts
abgewichen, sondern er ist auch wieder ganz in der Gabelung
der Gegensätze, welche in dem beziehungsreichen Organismus
so leicht zu finden sind; unter dem Scheine der Consequenz
verbergen sie ihre Armuth an Gehalt; denn wir haben auch hier
kein Verhältniß von Aeußerm zu Innerm, sondern nur vom All-
gemeinern zum Besondern, abermals in einer andern Beziehung,
welche verschwiegen bleibt.
„Betrachten wir nun die Sprache; so ist sie ja ebenfalls
nur eine leiblich gewordene Function des menschlichen Lebens“.
— Hier wird wieder als längst zugestanden und bekannt voraus-
gesetzt, was erst bewiesen werden sollte; was aber eine leiblich
gewordene Function ist, wird sich bald zeigen; denn was könnte
man wohl zunächst bei diesen Worten denken? — „Auch in
dem menschlichen Organismus stellt sich das allgemeine Leben
in einer Besonderheit, aber zugleich in einer Vollendung dar,
die es in den andern Organismen nicht erreichen konnte; und
es ist vorzüglich die Function des Denkens, was diese Be-
sonderheit — den Begriff — des menschlichen Lebens ausmacht.
Diese Function ist, weil sie eine Besonderheit des allgemeinen
Lebens ist, eine organische, und tritt, wie alles organische
Leben, nothwendig leiblich in die Erscheinung. In sofern der
[75] Gedanke den besondern Begriff des menschlichen Organismus
ausmacht, ist er in dem ganzen Organismus ausgeprägt, und
tritt auch in der besondern Bildung der Sinnesorgane, der Be-
wegungsorgane u. s. f. in die Erscheinung. Weil aber der Ge-
danke nicht ausschließlich den Begriff des Menschen ausmacht,
so treten in diesen Organen mehr die dem Menschen mit andern
Organismen gemeinsamen Functionen in die Erscheinung; und
nur die Sprache gehört ganz dem Gedanken als der obersten
Function des menschlichen Lebens an. Wie die besondere Func-
tion des Sehens in dem Auge, so stellt sich die Function des
Denkens in der Sprache als dem ihr eigenen Organe dar; und
wie das Sehen den Begriff des Auges, so macht der Gedanke
den Begriff der Sprache aus.... Zwar ist die Sprache nicht
an und für sich ein selbständiger Organism; als Erzeugniß des
menschlichen Organism hat sie nur innerhalb der Sphäre dieses
Organism ein Dasein. Aber wie jede besondere Function eines
organischen Ganzen sich in einem besondern Organe, z. B. die
Function des Sehens in dem Auge, verkörpert, und wie dieses
Organ für sich gewissermaßen einen geschlossenen Organism
ausmacht; so ist auch die Function des Sprechens in der ge-
sprochenen Sprache etwas Bleibendes — gleichsam ein besonde-
res Organ des menschlichen Gattungsorganism — geworden,
welches sich auch für sich als ein in allen seinen Theilen und
Verhältnissen organisch gegliedertes Ganze darstellt, und dem
selbständigen Organism nachgebildet ist: wie das Auge das Or-
gan für die natürliche Function des Sehens, so ist die Sprache
das Organ für die dem Menschen eben so natürliche Function
der Gedankendarstellung und Gedankenmittheilung.“ Aber beim
Herkules! vergißt denn Becker bei jeder Zeile, die er schreibt,
was er in der vorigen geschrieben hat! Haben wir hier nicht
die Zusammenstellung der Sprache mit dem Auge in demselben
Paragraphen, auf demselben Blatte zum dritten Male vor uns, im-
mer in derselben Wendung: „wie … so“? Aber das Ganze ist
ja nichts als ein unorganisches Aneinanderschieben tautologischer
Sätze. Wo wäre denn hier etwas von Entwickelung? von vor-
schreitender Gedankenbewegung? Weiß man nun mehr, als was
schon in den ersten Zeilen des Buches gesagt ist: Die Sprache
ist „diejenige Verrichtung, in welcher der Gedanke in die
Erscheinung tritt“? Analogien sind noch gegeben, und recht
schiefe.
[76]
Sind denn das dieselben Verhältnisse: die Erscheinung des
allgemeinen Lebens in den besondern Organismen, das Hervor-
treten des Denkens als Grundtypus in der Gestaltung des mensch-
lichen Körpers, und drittens die Ausführung einer Function durch
ein Organ des Körpers? Wer hat wohl je noch so gesprochen,
wie Becker, eine Function werde leiblich, verkörpere sich in
dem Organe, von welchem sie geübt wird! Und die Darstellung
des Gedankens durch die Sprache, an sich von jenen an sich
verschiedenen drei Verhältnissen verschieden, wird als Viertes
mit ihnen unter der gleichen und selben Kategorie zusammen-
gefaßt! Becker gesteht zu, daß ein Unterschied sei zwischen
der Weise, wie sich der Gedanke in allen menschlichen Orga-
nen, und wie er sich in der Sprache darstelle; denn dieser Un-
terschied ist doch zu schneidend. Und wie sucht er ihn den-
noch zu verwischen? Er wird dazu hinabgedrückt, daß die
übrigen Organe nicht ganz, überhaupt weniger dem Gedanken
als etwa dem Schlingen, Verdauen u. s. w. angehören, die Spra-
che aber allein und ganz dem Gedanken. Wie stumpf!
Wie wäre es nun aber auch wohl ferner möglich, eine so
unbestimmt, so abstract gehaltene Anschauung von so inhalts-
vollen Verhältnissen ohne Verwirrung und Widerspruch durch-
zuführen! Zuerst heißt es: „Wie die besondere Function des Se-
hens in dem Auge, so stellt sich die Function des Denkens in
der Sprache als dem ihr eigenen Organe dar; und wie das Se-
hen den Begriff des Auges, so macht der Gedanke den Be-
griff der Sprache aus.“ Weiter aber heißt es: „Aber wie jede
besondere Function eines organischen Ganzen sich in einem beson-
dern Organe, z. B. die Function des Sehens in dem Auge, ver-
körpert; so ist auch die Function des Sprechens in der gespro-
chenen Sprache etwas Bleibendes, gleichsam ein besonderes Organ
geworden;“ und, müßten wir hier analogisch fortfahren, wie
das Sehen den Begriff des Auges, so macht das Sprechen
(nicht das Denken) den Begriff der Sprache aus. Jedenfalls
hätte sich Becker die Schwierigkeit vorhalten müssen, daß wenn
der Gedanke als menschliche Function im Sprechen sein Organ
hat, hier eine Function als Organ dient, die nun wieder eines
Organs bedürfte, aber nur „gleichsam“ ein Organ hat!
Hat denn aber die Sprache nicht auch ein wirkliches Or-
gan? Giebt es nicht Sprachwerkzeuge? Und sind nun die Sprach-
werkzeuge die verleiblichte Function des Sprechens? in der
[77] Weise wie das Auge das verleiblichte Sehen ist? allerdings!
Daher müßten wir also sagen: wie der Mensch sieht, weil er
Augen hat, so spricht er — nicht weil er denkt, sondern —
weil er Sprachwerkzeuge hat.
Ferner: oben sehen wir, wie Becker den Gedanken für den
Reiz der Sprachwerkzeuge zur Ausübung ihrer Function ansah.
Hier wird der Gedanke der Begriff der Sprache genannt, wie
das Sehen der Begriff des Auges. Ist nun auch das Sehen der
Reiz für die Thätigkeit des Auges?
So darf denn auch die Analogie zwischen sehen und spre-
chen gar nicht so ausgesprochen werden: der Mensch spricht,
weil er denkt, wie er sieht, weil er Augen hat; sondern: wie
er Augen hat, weil er sieht. Wie der Gedanke ferner die
Sprache schafft, so das Sehen das Auge, die Luft die Lunge.
Endlich: wo hat Becker das Gehirn gelassen? Das Gehirn
ist so sicher das Organ des Denkens, wie das Auge das des
Sehens. Hat also das Denken sein Organ, seine Verleiblichung
im Gehirn so gut wie jede andere Lebensfunction ihr physiolo-
gisches Organ, was wird nun aus der Sprache?
Wie wir oben sahen und bald noch mehr sehen werden,
daß bei Becker der Gegensatz zum bloßen Anderssein herab-
sinkt, seinen eigentlichen Gehalt verliert, daß die Dinge, ohne
Rücksicht auf ihr volles wirkliches Wesen nach subjectiven, un-
wesentlichen Beziehungen in die leere Form des Gegensatzes
gestellt werden; so sehen wir hier ganz verschiedene Verhält-
nisse in gleicher Weise in die Beziehung der Verleiblichung
versetzt, welche aber, um so Verschiedenartiges in sich aufneh-
men zu können, alles Inhalts beraubt werden mußte. So wur-
den schon am Anfange des Werkes (S. 2) in den Worten: „Es
ist ein allgemeines Gesetz der lebenden Natur, daß in ihr jede
Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige in einem Leiblichen
in die Erscheinung tritt“, zwei so verschiedene Verhältnisse wie
das der Thätigkeit zum Stoffe und des Geistigen zum Leiblichen
gleichmäßig unter der leeren Beziehung des In-die-Erscheinung-
tretens zusammengefaßt. Und was soll es nur heißen: eine
Thätigkeit tritt in einem Stoffe in die Erscheinung? Ist etwa
Eisen verleiblichter Magnetismus, verleiblichte Schwere u. s. w.?
Diese elende Spielerei mit der Verleiblichung und Erschei-
nung haben wir auch außerdem schon in einer Stelle gefunden,
wo sie noch auffallender ist. Wenn wir nämlich in dem Werke
[78] „das Wort“ rücksichtlich der Entstehung der Sprache lesen:
„Wie die Respiration die äußere Erscheinung eines innern Bil-
dungsvorganges, und wie die Willkürbewegung die äußere Er-
scheinung der innern Willensthätigkeit, so ist die Sprache die
äußere Erscheinung des Gedankens“; so dürfen wir wohl fra-
gen, ist es nicht gedankenlos oder leichtfertig, das Verhältniß
des Gedankens zur Sprache ebenso als Erscheinung eines Innern
zu fassen, wie das der willkürlichen Bewegungen zum Willen?
und abermals beide Verhältnisse als selbig zu fassen mit dem
der Respiration zu — ja wozu? Hier fehlt sogar das andere
Glied, um nur erst ein Verhältniß zu bilden! Wo der Begriff
fehlt, hat sich freilich ein Wort eingestellt: „innerer Bildungs-
vorgang“. Ich frage, wo ist beim Athmen ein innerer Bildungs-
vorgang? Hier ist nicht das mindeste Innerliche, Geistige, alles
äußerlich, chemischer und physikalischer Proceß! Und wo hat
sich hier die Thätigkeit verleiblicht, in welchem Stoffe? im Re-
spirationsapparat? im Blut? im ausgehauchten Kohlenstoff? —
Ja, noch mehr: kurz vor den angeführten Worten heißt es, wie
in den Organen der Willkürbewegung der Wille, so trete in den
Sprachorganen (oder in der Sprache? hier erfordert das analo-
gische Spiel die Organe) der Gedanke in die Erscheinung; wor-
auf es weiter heißt: „Wie jedoch in der Einheit des mensch-
lichen Geistes Empfinden und Wollen von dem Erkennen und
Denken nicht geschieden sind; so tritt auch oft in der Func-
tion der Sprachorgane die Empfindung und der Wille in die
Erscheinung“. Den obigen drei verschiedenen, von Becker den-
noch für selbig genommenen Verhältnissen wird also noch ein
viertes, wieder von allen verschiedenes gleichgesetzt! Und die
Möglichkeit selbst der Erscheinung des Willens und der Em-
pfindung in der Sprache wird kurzweg mit der „Einheit des
menschlichen Geistes“ abgefertigt! Und das Alles wäre nicht
jämmerliche Spielerei und Leichtfertigkeit? ernstes und gewis-
senhaftes Denken wäre das?
Und auf dieser Elendigkeit beruht Beckers Organismus!
c) Beckers Theorie der Erkenntniß.
§ 33. Aufgabe des Denkens.
Um Beckers leeren Formalismus, den Mangel wirklichen
Denkens in ihm vollständig zu erkennen, müssen wir uns seine
Darstellung vom Acte der Erkenntniß ansehen, das Princip sei-
[79] ner Logik und Metaphysik. Er sagt (Organ. §. 25): „Die Ver-
richtung des Denkens und die eigentliche Aufgabe des denken-
den Geistes besteht darin, daß der Geist die durch die Sinne
angeschaute Welt in sich aufnimmt, und durch eine organische
Assimilation die reale Welt der Dinge in eine geistige Welt
der Gedanken und Begriffe umschafft.“ Schelling und Hegel,
indem sie die Natur dachten, schufen dieselbe; Becker, indem
er sie denkt, vernichtet sie; die Wirklichkeit schwindet und löst
sich in Geist auf, in Idealität, Begriff und Gedanke. Wir wür-
den hiermit die eigentliche Nothwendigkeit der Hegelianer be-
griffen haben (würden uns nicht von den Beckerianern bald
alle realen Dinge ganz organisch in geistige verwandelt worden
sein, wenn jene nicht sie immer wieder frisch geschaffen hätten?),
wenn nur die im letzten Theile des obigen Beckerschen Sa-
tzes enthaltene Behauptung aus der im ersten Theile wirklich
folgte; aus dieser aber folgt nur, daß der Geist — nicht die
realen Dinge — die sinnlichen Anschauungen von den realen
Dingen in Begriffe umschaffe. Oder sind vielleicht auch die
sinnlichen Anschauungen schon bloß umgeschaffene reale Dinge?
Das ist wenigstens noch nicht gesagt. So sei es denn hiermit
geschehen, und sehen wir nun, wie diese „organische Assimila-
tion“ zu Stande kommt.
„Die sinnliche Anschauung bietet aber eine unendliche Man-
nigfaltigkeit von Dingen als ein Aggregat von individuel-
len Dingen dar, deren jedes als ein in sich identisches auf-
gefaßt wird, und die Dinge“ (d. h. auch nur die Anschauungen
davon) „können nicht als ein solches Aggregat von individuel-
len Dingen in den menschlichen Geist aufgenommen werden…
Bei einer tiefer eingehenden Betrachtung der realen Welt wird
man bald gewahr, daß auch sie an sich nicht, wie sie den Sin-
nen erscheint, ein Aggregat von Einzeldingen ist, sondern sich
als ein organisch gegliedertes Ganze entwickelt hat und noch
fortwährend entwickelt.“ Hier haben wir dieselbe unorganische
Hast wieder, die uns ihr organisch gegliedertes Ganzes an den
Kopf wirft, der wir schon oben begegnet sind. Becker ist nun
abermals fertig, bevor er angefangen hat, und, es versteht sich
nun von selbst, er gelangt nicht zum Anfang, also noch weni-
ger zu einem inhaltsvollen Ende. Woher kommt denn hier am
Anfang, wo wir eben noch ganz in der sinnlichen Anschauung
sind, sogleich „eine tiefer eingehende Betrachtung der Natur“?
[80] Wir wissen aber schon längst, daß wir von Becker keine ge-
netische Entwickelung, d. h. keine Darstellung der Entste-
hung, des allmählichen, stufenweise vorschreitenden Werdens der
Sache, hier der Erkenntniß, des Denkens, fordern dürfen; wir
sehen hier nur wieder ein auffallendes Beispiel davon, wie sich
der Mangel an Dialektik rächt, wie er gleichbedeutend ist mit
gedankenloser Tautologie und, im Grunde genommen, Sophistik.
Denn der Grundfehler lag schon in der Weise wie Becker die
Aufgabe aussprach: „Die Verrichtung des Denkens und die ei-
gentliche Aufgabe des denkenden Geistes besteht nur darin, daß
der Geist die durch die Sinne angeschaute Welt in sich auf-
nimmt u. s. w.“ Hier wird der Geist, das Denken, vorausgesetzt
als seiend vor der Aufnahme und Assimilation der realen Welt;
der Geist ist aber eben gar nicht vorher, sondern er entsteht
erst mit der Umbildung der realen Welt in eine geistige. Mit
dem Worte Geist, Denken hat Becker das Erzeugniß des Vor-
ganges schon vorausgesetzt, bevor er noch an die Darstellung
des Vorganges gekommen ist. Ist bei solchem Anfange etwas
anderes als nichtssagende Tautologie möglich? „Was die sinn-
liche Anschauung giebt, ist nur der Stoff, den der Geist seiner
eigenen Natur auf organische Weise assimilirt“ — wie soll aber
der Geist assimiliren, der erst durch diese Assimilation entsteht?
Sich diese Schwierigkeit vorzuhalten, wäre eben Dialektik gewesen.
Jene Assimilation ist nun eine organische. Worin bestand
doch das Wesen des Organismus? War’s nicht, in der Verleib-
lichung eines Gedankens? Hier aber scheint das Gegentheil der
Fall zu sein: der organische Vorgang des Denkens ist Entleib-
lichung der Natur. Man vergesse aber nicht: „Indem der Mensch
die reale Welt außer ihm in eine geistige Welt von Gedanken
und Begriffen in ihm verwandelt, werden Gedanken und Begriffe
sogleich wieder leiblich in der Sprache.“ Diese Verleiblichung
ist das Organische beim Denken. Indessen verläßt uns das Be-
denken nicht, wenn auch der Begriff „sogleich wieder leiblich
in der Sprache wird,“ so ist er doch erst entstanden; diese Ent-
stehung ist die eigentliche Assimilation, aber eine Entleibung der
Natur, und also nicht organisch. Dann ist freilich auch die Spra-
che nicht mehr organisch, wie schon oben gezeigt ist.
Trotz allem müssen wir uns doch einmal entschließen, die
Welt mit Becker „tiefer zu betrachten.“ Was sehen wir? „Ue-
berall in der realen Welt ist das Eine um des Andern willen,
[81] und das Besondere nur als Glied eines Ganzen da, dem es dient,
und von dem es getragen wird; das Allgemeine scheidet sich
überall durch mannigfaltige Gegensätze in Besonderes, und in
jedem Besonderen liegt noch ein zu einer Einheit verbundener
Gegensatz.“ Die Welt ist also „tiefer betrachtet“ ebenso wohl
ein organisches Wesen, wie der Geist; die realen Dinge stehen
sich einander in Gegensätzen gegenüber, und jedes ist nur für
sein Gegenüber da; und so organisch in einander entgegenge-
setzte Reihen aufgepflanzt, kann sie der Geist aufnehmen. Der
Fehler der Sinne wird also, gleichgültig wie, verbessert. Sie
waren so dumm, die Welt als ein bloßes Aggregat zu erfassen;
aber der Geist, obgleich er von der Welt gar nichts weiter weiß,
als was ihm die Sinne bieten, gestaltet in eigenem Schöpfungs-
triebe, wahrscheinlich jedoch von „einer tiefer eingehenden Be-
trachtung“ belehrt, das Empfangene in Begriffe um, und zwar —
man staune vor dem Wunder! — so, daß die Begriffe, nicht den
Anschauungen, sondern den realen Dingen entsprechend, das
organische Wesen der letztern bekunden. Tiefer betrachtet
schwindet wohl das Wunder. Denn die organische Anordnung
des Ganzen beruht einfach darauf, daß man alle Dinge der Welt
in zwei Reihen gegenüberstellt, Gegensätze oder Gegenstellun-
gen bildet. Das ist nicht schwer, und ob die Welt auch so
zwei sich starr anblickende Reihen bildet oder nicht, was küm-
mert das den Geist?
§. 34. Allgemeines und Besonderes; Thätigkeit und Sein.
„Als der oberste und allgemeinste Gegensatz stellt sich in
der realen Welt der Gegensatz von Thätigkeit und Sein —
Kraft und Materie — dar. Die Thätigkeit ist aber das Er-
ste, und das Sein nur die mit sich selbst in einen Gegensatz
getretene — durch sich selbst gehemmte — Thätigkeit: auch
in der Materie ist ein Gegensatz von Thätigkeiten — Ex-
pansion und Contraction — zu einer Einheit verbunden.“ Be-
cker giebt uns eine Geschichte der Schöpfung. Im Anfang
war die Kraft — oder die Thätigkeit? das ist einerlei. Die
Thätigkeit aber war gewiß eine organische; sie mußte sich also
verleiblichen — eine schwierige Aufgabe! Was that sie? sie trat
mit sich in einen Gegensatz. Woher kommt aber der Gegen-
satz? Die Thätigkeit hemmte sich — wie? warum? Genug,
sie thut’s. Also: und die Kraft war beim Gegensatz.
Was aber nun? so haben wir gehemmte Thätigkeit, gehemmte
6
[82] Kraft; und diese wäre Sein, Materie? Wie das? „auch in der
Materie ist ein Gegensatz von Thätigkeiten, Expansion und
Contraction, zu einer Einheit verbunden.“ Erst schien es, als
wäre die Materie das Zweite oder Dritte, je nachdem man zur
Thätigkeit als dem Ersten auch noch den Gegensatz vielleich tals
Vorerstes nimmt oder nicht; jetzt aber haben wir vor der Ma-
terie noch den Gegensatz von Expansion und Contraction, und
die Einheit. Woher kommen diese? Ferner: wenn es heißt: „die
Thätigkeit ist aber das Erste“, dann ist — ohne Malice — „das
Erste“ doch noch vor der Thätigkeit; das Erste ist also „das
Erste“, und woher kommt nun die Thätigkeit? — „Wie aber
die Thätigkeit das Erste ist, so ist sie auch das Allgemeinste“
— dann ist auch „das Allgemeinste“ vor der Thätigkeit.
Es bleibt aber trotz allem dabei: die Thätigkeit ist das
Erste, und sie hemmt sich, und die Thätigkeit wird Sein, oder
die Kraft wird Materie. Nun haben wir aber keine Kraft mehr,
keine Thätigkeit; denn Alles, was davon vorhanden war, ist auf-
gewandt, Materie und Sein zu schaffen. Im Sein ist alle Thä-
tigkeit, in der Materie alle Kraft gebunden; es giebt keine freie,
wirkende Kraft und Thätigkeit mehr. Wenn wir nun dennoch
Becker den obersten, allgemeinsten Gegensatz von Thätigkeit
und Sein zugestünden? Dann meint Becker genug zu haben, um
die ganze Welt zu erkennen. Denn „die reale Welt ist dadurch
geworden, daß sich der Gegensatz von Thätigkeit und Sein in
unendlich mannigfaltigen Verhältnissen in den besonderen Din-
gen wiederholt; in jedem besonderen Dinge liegen Thätigkeit und
Sein als zwei einander entgegengesetzte, aber zu einer Einheit
verbundene Momente des Dinges.“ Dann ist aber der Gegen-
satz von Thätigkeit und Sein nicht der oberste, allgemeinste,
sondern der einzige, ewig wiederholte. — Unmittelbar nach
dem angeführten Satze heißt es: „Wie aber die Thätigkeit das
Erste ist, so ist sie auch das Allgemeinste, durch das alles Be-
sondere zu einer Einheit des Ganzen verbunden ist.“ So täuscht
man wieder mit hochtrabenden Phrasen! Zu einer Einheit des
Ganzen verbunden? weil in allen Dingen sich der Gegensatz
von Thätigkeit und Sein wiederholt! Wiederholung ist gerade
so recht der Charakter des Unorganischen. Diese Einheit durch
Wiederholung ist die Einheit des Sandes: ein Korn die Wie-
derholung des andern. So finden wir hier nur eine schon oben
gemachte Bemerkung bestätigt, daß bei Becker die Dinge gar
[83] nicht im strengen, gespannten Gegensatze zu einander stehen;
sondern indem sie alle einander gleichgültige Wiederholungen
desselben einen Gegensatzes sind, sind sie bloß überhaupt ver-
schieden, andere gegen einander: a ist nicht b, nicht c u. s. w.
Selbst diese Wiederholung aber ist — ich sage nicht: noch
nicht als nothwendig nachgewiesen; sondern sie ist — nach der
Voraussetzung unmöglich. Denn wie sollen „unendlich mannig-
faltige Verhältnisse in den besonderen Dingen“ entstehen? wie
sind die besonderen Dinge entstanden? Ist es nicht wieder so-
phistische Tautologie, wenn, indem gezeigt werden soll, wodurch
die reale Welt geworden ist, die besonderen Dinge schon vor-
ausgesetzt werden, in denen der die Welt schaffende Gegensatz
von Thätigkeit und Sein sein Wesen treibt?
Der höchst schwierige, immer wichtigste Punkt, das Princip
der Besonderung im Allgemeinen, kümmert Becker nie; und
darum eben bleibt er ewig in den leersten allgemeinen Formeln.
Was soll man dazu sagen, wenn Becker hier die Besonderung
aus dem allgemeinsten Principe mit folgendem Satze abfertigt:
„und das Sein ist dasjenige Moment der Dinge, durch welches
sich das Allgemeine in Besonderes scheidet.“ Das Sein ist ja
selbst nur die gehemmte Thätigkeit; wie entsteht also durch das
Sein eine Scheidung des Allgemeinen in Besonderes?
Wie dem aber auch sei, wir gestehen am Ende zu, es giebt
besondere reale Dinge. „Die Thätigkeit ist in den realen Din-
gen überall nur eine in das Sein versenkte und durch das Sein
gebundene Thätigkeit;“ und umgekehrt kein Sein ohne alle Thä-
tigkeit. „In allen Dingen ist noch das Allgemeine — die Thä-
tigkeit; aber je weiter sich die Dinge in der Besonderheit ent-
wickeln, desto mehr wird in ihnen das Sein das vorwaltende
Moment. — Die reale Entwickelung der Dinge geht von der
mit dem allgemeinen Gegensatze von Thätigkeit und Sein ge-
gebenen Einheit aus; und das Allgemeine, die Thätigkeit,
strebt überall sich zu versenken in die Besonderheit des Seins.“
Wir haben uns also nach Becker zu denken: die Thätigkeit
hemmt sich und wird so Materie; doch das genügt der Thätig-
keit noch nicht, sie muß mehr Sein haben und versenkt sich in
das Thier-Sein; noch nicht genug, sie stürzt sich in das Wir-
belthier-Sein, dann in das Säugethier-Sein, endlich in dieses in-
dividuelle Sein. — Und das wäre Philosophie?
6*
[84]
§. 34. Arten der Begriffe.
Indem nun der Geist die durch solches fortdauernde Sich-
Versenken der Thätigkeit in immer mehr Sein organisch ent-
standene reale Welt durch eine ebenfalls organische Entwicke-
lung geistig reproduciren soll, befindet sich diese zur realen Ent-
wickelung in einer entgegengesetzten Richtung. Denn
während in der realen Entwickelung der allgemeinste Gegensatz
der Ausgangspunkt war, von dem aus sie durch die immer
wachsende Besonderheit des Seins endlich zum Individuum
gelangte, „geht hingegen die geistige Entwickelung der Begriffe
von der sinnlichen Anschauung aus, in der sich die Dinge in
ihrer letzten Besonderheit als Individuen und nicht als zu
einer Einheit verbundene Gegensätze, sondern als in sich iden-
tische Dinge darstellen; und es ist die Natur des Geistes, daß
er strebt, alle Besonderheiten des Seins wieder frei zu machen
und in ein Allgemeines zurückzuführen. Was also in der
Entwickelung der Dinge das Erste ist, wird in der
geistigen das Letzte sein, und umgekehrt.“
„Der assimilirende Vorgang, durch welchen der Geist die
reale Welt in sich aufnimmt, wird aber nur dadurch möglich,
daß in dem Realen und in dem Geiste ein beiden Gemeinsa-
mes liegt. Dieses Gemeinsame ist nun nichts anderes als die
Thätigkeit, welche in der Entwickelung der realen Welt das
Erste und Allgemeinste ist, und zugleich das eigentliche Wesen
des Geistes ausmacht; und der Geist erkennt in der Thätigkeit,
die ihm in der realen Welt entgegentritt, sein eigenes Wesen.“
In wiefern hätte denn aber hierdurch der Geist irgend etwas,
was ihn besonders zur Erkenntniß fähig macht? Daß in ihm
Thätigkeit ist, versteht sich von selbst, da in allen Dingen
Thätigkeit ist. Auch im Stein, im Metall ist Thätigkeit; also
müßten einerseits auch diese Dinge Erkenntniß haben. Aber
auch andererseits ist nicht einzusehen, wie das Wesen des Gei-
stes vorzugsweise und mehr als das Wesen der übrigen Dinge
in der Thätigkeit liege, nicht im Sein; denn „je weiter sich die
Dinge in der Besonderheit entwickeln,“ d. h. je mehr sie sich
von der obersten Allgemeinheit, der umfassendsten Gattung ent-
fernen und der Realität, dem Individuum nähern, „desto mehr
wird in ihnen das Sein das vorwaltende Moment;“ also ist im
Thier mehr Sein als in der Materie, im Säugethier mehr als im
Thier, am meisten in diesem individuellen Löwen. Der Geist
[85] Beckers wird nicht weniger in der Besonderheit entwickelt sein,
als dieser reale Stein; also muß er auch ebenso viel Sein ha-
ben. Und kurz alle realen Dinge müssen gleichviel Thätigkeit
und Sein haben; denn sie stehen alle auf gleicher Stufe der Ent-
wickelung der Besonderheit, alle auf der höchsten Stufe, der
individuellen Realität. — Doch es sei, der Geist erkenne ver-
möge der Thätigkeit.
„Die Thätigkeit ist aber in der realen Welt in die Beson-
derheit des Seins versenkt; und die sinnliche Anschauung, von
der die Bildung der Begriffe ausgehen soll, giebt die realen Dinge
in der letzten Besonderheit als Individuen, in denen das Sein
das aufs entschiedenste vorwaltende Moment ist. Sie können
daher nur dadurch in den Geist aufgenommen und ihm als Be-
griffe assimilirt werden, daß die Besonderheit des Seins unter
eine Thätigkeit als ein Allgemeines gestellt und als Art
aufgefaßt wird.“ Wir stoßen hier plötzlich auf den völlig un-
vorbereiteten, also ungerechtfertigten Ausdruck „ein Allgemei-
nes“, als gäbe es ein mehrfaches Allgemeines, da wir bis jetzt
nur das Allgemeine, die Thätigkeit, hatten. Im Sein, in der
Hemmung der Thätigkeit oder in der gehemmten Thätigkeit ha-
ben wir die Verschiedenheit zugestanden; aber wie soll nun auch
in der Thätigkeit, insofern sie nicht gehemmt ist, eine Verschie-
denheit möglich sein? Doch nur immer weiter! Wir haben also
jetzt, wenn wir Becker alles zugestehen, was er verlangt hat,
den Geist als zur Erkenntniß der Dinge durchaus fähig, weil
sein Wesen, das Allgemeine, die Thätigkeit, ihm mit den realen
Dingen gemeinsam ist. Sein Gang der Erkenntniß aber nimmt
die der realen Schöpfung entgegengesetzte Richtung, indem er
vom sinnlich Individuellen ausgeht, jene aber vom Allgemei-
nen; er zum Allgemeinen hinauf-, jene zum Realen hinabsteigt.
„Die Thätigkeit, die wir als das der realen Welt mit dem
Geiste Gemeinsame bezeichnet haben, kömmt in den realen Din-
gen dem Geiste nur vermittelst der sinnlichen Anschauung und
somit als in dem Besondern erscheinende Thätigkeit entge-
gen.“ Wozu braucht aber der Geist überhaupt erst darauf zu
warten, daß ihm die Thätigkeit entgegenkomme? er hat sie ja
in sich, und folglich muß er, ganz wie der Hegelsche abso-
lute Begriff, durch seine eigene Thätigkeit, Bewegung in sich,
die ganze Welt, a priori wie man sagt, aus sich heraus
setzen, construiren können Doch Becker meint, der Geist
[86] könne das nun einmal nicht; er muß warten, bis ihm die Thä-
tigkeit entgegenkommt; dann aber ergreift oder begreift er sie,
und zwar zunächst als im Sinnlichen erscheinende Thätigkeit.
„Die sinnliche Erscheinung der Thätigkeit ist aber Bewe-
gung; und so geschieht es, daß der Begriff der Bewegung
der Anfangspunkt wird, von dem die ganze Entwickelung der
Begriffe in dem menschlichen Geiste ausgeht. Die reale Ent-
wickelung geht von dem Allgemeinen, der Thätigkeit, abwärts
in das Besondere, das Sein; und die Dinge scheiden sich nach
dem Momente der Besonderheit in Arten des Seins: die Ent-
wickelung der Begriffe steigt in entgegengesetzter Richtung
von der größten Besonderheit des sinnlich angeschauten Seins
aufwärts zum Allgemeinen, der Thätigkeit; und die Begriffe
scheiden sich nach dem Momente der Allgemeinheit in Arten
der Thätigkeit.“
So viel Sätze in dieser angeführten Stelle enthalten sind,
so viel logische Fehler, und vielleicht noch mehr. Wie wäre
es aber möglich, ein solches Gewirr von verwirrten Vorstellun-
gen klar auseinander zu legen!
Bemerken wir nur sogleich das Wichtigste. Becker hat
es uns kurz hintereinander mehrere Male wiederholt, daß der
Geist vom Besondern ausgehend zum Allgemeinen hinaufsteige.
Nichtsdestoweniger beginnt er, wie er noch in demselben
Satze selbst sagt, seine Entwickelung der Begriffe, welche die
Geschichte „der von dem Geiste in dem einzelnen Menschen und
in dem ganzen Geschlechte gebildeten Weltanschauung“ sein
soll, mit der Bewegung, d. h. dem allgemeinsten obersten Be-
griffe, von dem er immer weiter abwärts steigt. Wir wollen zu-
gestehen, Bewegung sei die sinnliche Erscheinung der Thätig-
keit; wiewohl wir nicht im entferntesten einsehen, wie Thätig-
keit weniger sinnlich ist als Bewegung, oder Bewegung mehr als
Thätigkeit: jedenfalls ist eben Bewegung, wenn auch sinnliche
Erscheinung, doch sinnliche Erscheinung der Thätigkeit, des
Allgemeinen, d. h. des Allgemeinen an sich; und ohne zu fra-
gen, wie denn dieses Allgemeine sinnlich erscheinen könne, ist
doch also Bewegung immer das Allgemeine und nicht „die
größte Besonderheit des sinnlich angeschauten Seins“, womit
nach Becker selbst die Entwickelung der Begriffe beginnen sollte.
Die reale Entwickelung, sagte Becker selbst, geht „von der mit
dem allgemeinen Gegensatze von Thätigkeit und Sein gegebe-
[87] nen Einheit aus; die geistige hingegen von dem Aggregat
mannigfaltiger vereinzelter Dinge“; trotzdem will Becker den Be-
griff der Thätigkeit oder der Bewegung als die oberste Einheit
ansehen, als den eigentlichen Urbegriff, aus dem sich alle nach
ihren Arten und Unterarten unterschiedene Begriffe durch eine
fortschreitende Individualisirung entwickelt haben (S. 71). Das
heißt also, nach Becker selbst, die Sache auf den Kopf stellen.
Ferner: Die Thätigkeit ist das Allgemeine, das Sein ist das
Moment des Besondern; folglich sind die durch die seiende
Besonderheit geschiedenen Dinge geschieden in Arten der All-
gemeinheit, der Thätigkeit, aber nicht in Arten des Seins,
wie Becker sagt. Wie nun aber gar die Begriffe andererseits
sich nach dem Momente der Allgemeinheit sollen scheiden
können, läßt sich wohl nur nach Beckers ganz individueller Lo-
gik begreifen. Nach der allgemeinen Logik kann eine Schei-
dung nur durch das Moment des Besonderen erzeugt werden.
Würde aber dem Allgemeinen eine scheidende Kraft zugestanden,
so entstünden Arten des Seins, nicht des Allgemeinen — wenn
hierin nur ein Sinn läge!
So können wir in den angeführten Sätzen nichts mehr se-
hen als sophistisches Gaukelspiel mit den unbestimmt gelassenen
Begriffen Allgemeinheit und Besonderheit, Thätigkeit und Sein,
dem auch sehr leicht auf den Grund zu schauen ist. Wie wäre
nicht der Begriff der Thätigkeit nach Beckerscher Auffassung
die allgemeinste Kategorie! Das Beckersche Sein ist aber gerade
eben so allgemein. Becker sagt, daß beide in jedem Dinge
in Einheit liegen, und nie eins ohne das andere ist; also ist
eins so allgemein wie das andere. Was in Wahrheit und mit
Bestimmtheit Thätigkeit, was Sein ist? frage man doch ja
Becker nicht; für solche Fragen hat er weder Ohr noch Ver-
stand. Genug, es sind Wörter, und es muß sich doch bei ih-
nen etwas denken lassen. — Andererseits aber, gesteht man auch
gern sogleich zu, daß das Moment des Seins die Besonderheit
der Dinge bewirke; hört darum das Sein auf das Allgemeinste
zu sein? Durchaus nicht! Jedes Ding zeigt ein besonderes
Sein; das Sein ist das Allgemeine. Die Thätigkeit hinwiederum,
beharrt sie etwa in ihrer reinen Allgemeinheit? Keineswegs! auch
sie erscheint in jedem besonderen Dinge besonders. Thätigkeit,
oder gar Bewegung, sind Begriffe, denen nur wenig Wirklich-
keit entspricht; die Wirklichkeit ist immer etwas Besonderes
[88] und wird nur von Begriffen erfaßt, die mehr Inhalt und gerin-
gern Umfang haben. Bewegung existirt noch weniger als Thä-
tigkeit, existirt eigentlich gar nicht. Was wirklich ist, ist nur
der Wurf, der Fall des Steins, das Fließen des Wassers, das
Ausdehnen der Luft, das Anziehen des Magneten u. s. w. Nicht
wir bloß sagen das; wir lehren hier Becker nichts, was er nicht
wüßte; sondern wir kritisiren ihn, indem wir ihn mit sich selbst
vergleichen. Er selbst aber sagt (S. 72): „Der Begriff der Be-
wegung wird in der sinnlichen Anschauung nie in seiner ab-
stracten Allgemeinheit, sondern immer in einer concreten Beson-
derheit, z. B. als Bewegung eines Vogels, eines Steines, eines Flusses
aufgefaßt“; folglich, sagt die Kritik, hatte Becker nicht das Recht,
die Bewegung als den Urbegriff, die Einheit und den Erzeuger
aller Begriffe der Sprache hinzustellen. Und wenn nun Becker
selbst zugesteht: „eben darum kann sich dieser eine Urbegriff
nicht in der Sprache auch in einem Urworte darstellen, son-
dern muß uranfänglich schon in mannigfaltigen Wörtern her-
vortreten, in denen mannigfaltige concrete Besonderheiten der
Bewegung geschieden sind,“ so gesteht er damit auch zu, daß
seine Construction der Begriffe aus der Einheit nicht die in
der Sprache vorliegende Entwickelung der Begriffe darstellt,
sondern eine subjective, logische Anordnung der Begriffe ist; und
die Kritik hat weiter nichts zu thun, als dies Geständniß zu
Protokoll zu bringen.
Wenn also sowohl Thätigkeit als Sein eben so sehr als all-
gemein wie als besonders aufgefaßt werden können, die Bezie-
hungen aber, nach denen dieses oder jenes geschehen kann, von
Becker sophistisch unbeachtet gelassen werden: welch ein Spiel-
raum für Gegensätze, Trugschlüsse, Systeme aller Art! Nur
noch einer Schwierigkeit werde hier gedacht. Wir haben oben
schon das Bedenken geltend gemacht, daß nach Beckers Vor-
aussetzung nicht einzusehen ist, warum einerseits nicht auch der
Stein erkenne, da auch er Thätigkeit ist, und wie andererseits
der Geist zu erkennen vermöge, da auch er durchaus individuell,
also auch in ihm das Sein das vorwaltende Moment ist. Wir
stoßen aber hier auf einen neuen Punkt. Wenn die allgemeine
Thätigkeit als solche nirgends existirt, sondern überall nur be-
sondere Thätigkeit, so fragt sich: wie vermag der Geist vermöge
seiner besonderen Thätigkeit die besonderen Thätigkeiten aller
andern individuellen Dinge in sich aufzunehmen?
[89]
§. 36. Formen der Begriffe.
Wir sind mit Beckers Darstellung des Erkenntnißprocesses
noch nicht fertig. Denn (S. 67) „nachdem die Dinge der
realen Welt nach dem, was in ihnen das Allgemeine ist, unter
den Begriff der Thätigkeit gestellt und in allgemeine Arten
von Thätigkeitsbegriffen aufgenommen; ist die geistige
Assimilation des Realen noch nicht vollendet: die Dinge müssen
auch nach ihrer Besonderheit in den Geist aufgenommen wer-
den. Die Besonderheit der Dinge besteht nun darin“ — wissen
wir noch nicht, worin? nein! aber wenigstens sollten wir es
längst wissen; Becker hätte es uns längst sagen müssen, da
schon so viel von der Besonderheit der Dinge die Rede war!
worin also besteht sie? — „daß in ihnen die Thätigkeit als das
Allgemeine mit dem Sein als dem Besondern auf reale Weise
in den mannigfaltigsten Verhältnissen zu einer Einheit verbun-
den, und dadurch das Allgemeine zu einem Besondern geworden
ist.“ Die Besonderheit entsteht also durch die Verbindung des
Allgemeinen mit dem Besondern; und durch diese Verbindung
wird das Allgemeine zu einem Besondern! — Wir wären ja gern
bereit, Zugeständnisse zu machen, so viel man will; Unsinn aber
ist unmöglich zuzugestehen, freilich auch nicht anzugreifen. Also
weiter: „In dem Realen ist alles ein Individuelles; und es kann
nicht als ein Individuelles in den Begriff aufgenommen werden.“
— Wie oft hat uns dies Becker nun schon in diesem Paragraphen
wiederholt! — „Es fragt sich nun, wie die realen Dinge, nach-
dem sie als Allgemeines in allgemeine Arten von Thätigkeits-
begriffen aufgenommen worden, nun auch als Besonderes, und
doch als ein Allgemeines, als Art, in Begriffe aufgenommen
werden.“ Das muß allerdings ein Kunststück werden, Bosco’s
würdig. Man denke nur: als Besonderes und doch als Allge-
meines! Geben wir Acht! „Indem der Geist in die Dinge der
realen Welt eindringt, und in ihnen die Thätigkeit, die sein ei-
genes Wesen ist, als das Allgemeine erkennt, erkennt er in den
Dingen mit der Thätigkeit zugleich ihren Gegensatz, das Sein“
— d. h. indem der Geist erkennt, erkennt er; Geschwindigkeit
ist keine Hexerei: das wissen sogar unsere Kinder. Wie der
Geist in die Dinge der realen Welt eindringt, sollte nach-
gewiesen werden, wird aber vorausgesetzt, indem man ge-
schwind nicht bloß mit der rechten Hand die Erkenntniß des
Allgemeinen hinstellt, sondern zugleich mit der linken die des
[90] Seins. Wenn nur das Gleiche, wie Becker sagt, das Gleiche
erkennt, so kann die Thätigkeit des Geistes die Thätigkeit der
Realität erkennen; aber das reale Sein verbirgt sich ihm so voll-
ständig, daß er entweder von dem Vorhandensein desselben nie er-
fährt, oder doch höchstens nur darauf stößt als auf ein ihm Frem-
des, als Nicht-Thätigkeit, Nicht-Geist, Nicht-Ich, ohne je mehr
davon zu erkennen. Wenn auch das Sein nur gehemmte Thä-
tigkeit ist, so ist es eben durch die Hemmung eine der Erkennt-
niß entzogene Thätigkeit. Alles aber zugestanden: wenn also
der Geist Thätigkeit und Sein erkennt, dann „werden die Dinge,
die sich der sinnlichen Anschauung als in sich identische
Dinge darstellen, in der geistigen Anschauung als zu einer
Einheit verbundene Gegensätze von Thätigkeit und Sein
aufgefaßt“, wie uns schon oben als das Ergebniß der „tiefer
eingehenden Betrachtung“ angezeigt war; und nicht um einen
Schritt sind wir jetzt weiter. „Derselbe Gegensatz, welcher im
Realen die Besonderheit der Dinge ausmacht, wird geistiger
Weise reproducirt in der Besonderheit der Begriffe, jedoch so,
daß die Besonderheit, die im Realen Individuelles ist, in den
Begriffen noch ein Allgemeines ist.“ — Wie dies aber gesche-
hen könne, „fragt sich“ ja erst. Hat also wohl Becker mehr
gethan, als die Frage in Form eines assertorischen Urtheils
wiederholt? Auf die Frage: wie geschieht es? wird geantwortet:
so, daß es geschieht, oder indem es geschieht. Das Tautolo-
gisiren geht nun fort: „Die Besonderheiten der Dinge werden
nämlich als besondere Verhältnisse des zu einer Einheit verbun-
denen Gegensatzes von Thätigkeit und Sein gedacht, nach denen
die allgemeinen Arten von Thätigkeitsbegriffen sich in Unter-
arten scheiden“ — wie wir kurz vorher gehört haben. — „Wir
nennen diese besondern Verhältnisse des Gegensatzes die For-
men der Begriffe: so sind z. B. Band, Bund, Bündniß, bändigen
unterschiedene Formen des Art-Begriffes binden. Jeder Begriff ist
nach seiner Form entweder Begriff einer Thätigkeit, z. B.
binden, oder Begriff eines Seins, z. B. Band: jedoch wird jede
Thätigkeit gedacht als Thätigkeit eines Seins, und jeder Begriff
des Seins entweder als ein thätiges Sein, z. B. Band, Trinker,
oder als Object der Thätigkeit, z. B. Bund, Trank. So ist in
jeden Thätigkeitsbegriff ein Sein, und in jeden Begriff eines
Seins die Thätigkeit aufgenommen, und jeder Begriff eine Ein-
heit von Thätigkeit und Sein; die Formen der Begriffe sind nur
[91] dadurch unterschieden, daß in der einen Form mehr die
Thätigkeit, und in der andern mehr das Sein das vorwaltende
Moment des Begriffes ist.“ Nun vergesse man aber nicht, daß
durch diese bloß durch ein Mehr und Weniger von dem einen
oder andern Momente geschiedenen, an Zahl sich etwa bis auf
16 belaufenden Formen der Begriffe die mannigfaltigsten
Verhältnisse der Besonderheit der realen Dinge in
den Geist aufgenommen werden sollen — freilich, was die Sache
hinlänglich erklärt, „als Besonderes, und doch als ein Allge-
meines“.
§. 37. Begriff und Gedanke.
Das Ergebniß unserer Kritik lief auch hier, bei dieser Un-
tersuchung der Beckerschen Erkenntnißtheorie, auf das leerste
Nichts hinaus. Becker hat weder den Vorgang des Erkennens
dargestellt, noch überhaupt nur die Möglichkeit der Erkenntniß
nachweisen können. Als vorzüglich auffallend aber konnten wir
bemerken, welche Bewußtlosigkeit bei Becker über das Verhält-
niß des Allgemeinen und Besondern herrscht. Dieses ist nun
aber ein Grundverhältniß unseres Denkens, und so werden wir
noch ferner sehen, wie Becker, indem er dasselbe verkannte, in
die nichtigsten Spielereien verfiel.
(§. 26.): „Der erste Akt des sich entwickelnden Vorstel-
lungsvermögens, gleichsam der erste Pulsschlag in dem aufge-
henden Leben der Intelligenz“ — fragt nur Becker nicht, wie
dieser entstanden ist? organisch, wäre die kurze Antwort — „ist
ein Erkennen, d. h. ein Akt, durch den in dem Geiste ein Sein,
das Besondere, in eine Thätigkeit, das Allgemeine“ — man
beachte hier den Wechsel des bestimmten und unbestimmten
Artikels — „aufgenommen und der Gegensatz von Thätigkeit
und Sein zu einer Einheit verbunden wird. Dieses Erkennen
ist immer ein Urtheil, z. B. die Glocke läutet.“ Und diese
Glocke, und dieses Läuten hat Becker nicht aus seinem Schlaf
gerissen? Zeigt dies Beispiel nicht schlagend, daß die Thätig-
keit nicht allgemeiner ist als das Sein? denn es läutet nichts
weiter in der Welt als die Glocke. Becker aber schläft weiter:
„Der Thätigkeitsbegriff wird in diesem Akte schon als wirk-
licher Begriff gedacht“ — natürlich, weil Becker die Thätigkeit
nicht anders denn als allgemein, also als Begriff denkt —; „er
ist das Erste, und macht das wesentliche Element und den ei-
gentlichen Inhalt des Urtheils aus. Der Begriff des Seins hin-
[92] gegen wird in dem ersten Erkennen noch nicht als ein wirkli-
cher Begriff gedacht“ — sondern als was? —: „er wird erst
durch das Erkennen“ (d. h. durch ein ferneres) „zu einem Be-
griffe; und jeder Begriff eines Seins, wie er sich in dem Worte
— dem Substantiv — darstellt, ist Product eines Urtheiles. Ein
wirklicher Begriff eines Seins wird nämlich erst dadurch ge-
bildet, daß ein besonderes Sein, das noch nicht als Begriff ge-
dacht wird, durch das Erkennen in den Begriff einer Thätigkeit
als ein Allgemeines aufgenommen, das Sein unter einer Thätig-
keit begriffen wird.“ „Nämlich“ — Becker erzählt uns dies. Was
ist denn aber der Begriff des Seins, bevor er wirklicher Begriff
wird? Wenn es Becker nicht sagen will, so zwingen wir es ihm
ab: sinnliche Anschauung. Das Sein wird also zuerst, im ersten
Erkennen, als sinnliche Anschauung gefaßt, und wird durch das
Urtheil zum Begriff. Die Thätigkeit aber ist sogleich und an
sich allgemein und Begriff. Nun sagt aber Becker selbst (S. 72):
„Der Begriff der Bewegung wird in der sinnlichen Anschauung
nie in seiner abstracten Allgemeinheit, sondern immer in einer
concreten Besonderheit aufgefaßt“; also ist auch er im ersten
Erkennen noch nicht Begriff. Damit stürzt freilich auch das
Folgende. Wie soll nun das Sein allgemein, wirklicher Begriff
werden? denn wenn es nun im Urtheil mit der Thätigkeit ver-
bunden wird, so wird nicht ein Besonderes in das Allgemeine
aufgenommen, sondern es werden zwei Besonderheiten verbun-
den, von denen jede die erste und der eigentliche Inhalt des
Urtheils sein kann.
Hier kommt noch ein anderer Punkt in Betracht. Man
thut sich viel darauf zu gute, erkannt zu haben, daß das Ur-
theil früher sei als der Begriff. Becker hat vorzüglich diese
Ansicht befördert, und wir haben ja so eben gelesen, „der erste
Pulsschlag in dem aufgehenden Leben der Intelligenz“ sei das
Urtheil. Nun wird aber trotzdem auch von Becker nicht bloß
die Lehre von den Begriffen der vom Urtheile vorausgeschickt,
was sich aus didaktisch-methodischen Gründen rechtfertigen ließe;
sondern Becker kann das Urtheil gar nicht anders begreifen,
denn als eine mechanische Zusammenfassung zweier Begriffe,
die vor dem Urtheile existiren, dem Begriffe des Seins und der
Thätigkeit. Ersterer ist freilich noch kein wirklicher Begriff;
aber doch letzterer. Becker wird zwar, um den Vorwurf des
[93] Unorganischen von seinem Urtheile abzuwälzen, darauf hinwei-
sen, wie in seinem Urtheile „der organische Gegensatz von Thä-
tigkeit und Sein zu einer organischen Einheit verbunden wird“.
Es ist aber bloß Bewußtlosigkeit, wenn Becker nicht sieht, wie
eben eine Verbindung zweier Elemente zu einer Einheit des
Urtheils unorganisches Thun ist, da organisch nur die Geburt der
Begriffe aus dem Urtheile wäre. Dann wäre auch allerdings
das Urtheil vor dem Begriffe. Daß aber die so eben betrach-
tete Darstellung Beckers nicht bloß eine zufällig mißrathene
ist, zeigt eine andere Stelle, wo derselbe Gegenstand, der Ur-
sprung des Urtheils, an seinem eigentlichen Orte besprochen
wird. Obwohl da größere Genauigkeit zu erwarten ist, wird
man den Ursprung des Urtheils durch mechanisches Verbinden
zweier Begriffe nur noch bestimmter ausgesprochen finden. Die
Stelle lautet (§. 45.): „Der Geist hat in der organischen Ent-
wickelung der Begriffe die Dinge der realen Welt als ein
hleibendes Eigenthum in sich aufgenommen, und in einem or-
ganisch gegliederten Ganzen reproducirt, welches der realen
Welt der Dinge als ein Gegenbild entspricht. Aber wie die
reale Welt der Dinge in beständiger Verwandlung begriffen,
sich in jedem Augenblicke neu gebiert“ (welche Phrase! ist die
Verwandlung eine Neugeburt?), „so ist auch die geistige
Welt der Gedanken immer im Werden begriffen“ — welch ein
schmachvolles „wie … so“! Das tautologische Werden der
Natur steht freilich immer noch bei weitem höher als Be-
ckers tautologisches Gerede —; „und das eigentliche Leben
des denkenden Geistes besteht gerade darin, daß er aus den
zu seinem Eigenthume gewordenen Begriffen beständig Neues
schafft. Ihm sind die Begriffe als Begriffe nur der Stoff,
aus dem er schöpferisch Gedanken bildet, indem er mit der
größten Freiheit, jedoch nach ihm eigenen organischen Gese-
tzen“ — wir kennen schon das Spiel von Beckers organi-
scher Freiheit — „die Begriffe mit einander in den mannigfal-
tigsten Verhältnissen verbindet.“ Diese Zusammensetzung von
Begriffen ist die organische Production der Gedanken! die in
den mannigfaltigsten Verhältnissen mögliche Verbindung der als
Stoff todt daliegenden Begriffe ist das Werden der geistigen
Welt! ist lebendiger Geist! — So mag Becker durch Trendelen-
burg, auf den er sich beruft, verurtheilt werden (Log. Unters.
[94] I. S. 315); aber auch an einer andern Stelle (das. II. S. 143)
wird viel weniger — und vielleicht gar nicht — Herbarts An-
sicht, als vielmehr Becker getroffen.
§. 38. Schluß.
Wir schließen hiermit Beckers Theorie der Erkenntniß.
Einen Punkt, der hier noch zu erörtern wäre, den Unterschied
zwischen Erkennen und Darstellen, werden wir bald an geeig-
neter Stelle zu besprechen haben. Fassen wir also jetzt unser
Urtheil über Beckers wissenschaftliche Forschungsweise, Princip
und Methode zusammen.
Wir wissen jetzt, wie das Erkennen im Gegensatze zur
sinnlichen Anschauung darin besteht, die realen Dinge als in sich
und unter einander entgegengesetzt aufzufassen. Die Bedeutung
des Gegensatzes wurde aber näher bestimmt als der Gegensatz
vom Allgemeinen und Besondern, der sich ewig wiederholt. Da
er sich nun aber erstlich in jedem Dinge ebenso wie in den andern
wiederholt, so werden die Dinge einander gleichgültig, und man
sieht nicht im mindesten, was sie in die Spannung eines Gegensatzes
zu einander versetzen könne; da aber auch ferner das Allge-
meine und Besondere sich als völlig haltlose, durchaus willkür-
lich verwendete Bestimmungen ergeben haben, so schwindet der
Gegensatz völlig und wird zu einer leeren Form, d. h. zu einer
Form, die genau genommen gar keine ist, eine behauptete, aber
durchaus bestimmungslose Form, die reine Willkür. So geht denn
auch alles hinein, da sie nichts umschließt und nichts anderes
ist als die maßlose Leere. Gelegentlich findet man darum in
diese Form des Gegensatzes gestellt: das Allgemeine und Be-
sondere, Thätigkeit und Sein, Ganzes und Theile, Inneres und
Aeußeres, Organ und Function, Materie und Kraft, positive
und negative Kraft, die chemischen Elemente, die Farben, Nerv
und Muskel, Sonne und Planeten, Pflanze und Thier, Gedanke
und Sprache, Wurzel und Endung u. s. w. u. s. w.; und in allen
diesen Verhältnissen sieht Becker eins: Gegensatz. Der Grund,
das Wesen, der Inhalt dieser Verhältnisse bleibt unbeachtet; sie
stehen im Gegensatze: das ist ihre Erkenntniß. So genügt ihm
der Name, die leere Schale des Gegensatzes, sie, die weniger
ist als das Unorganische, die nichts ist als Leere. Die Kate-
gorie des Gegensatzes ist bei Becker die volle Nacht, in der
nichts erkannt wird, in der die Dinge bloß als Flecke erschei-
nen, die sich vor dem allgemeinen sie umhüllenden Dunkel
[95] nur durch noch dichteres Dunkel als besonderes Sein zu er-
kennen geben. Wenn erkennen so viel heißt, wie: die Dinge
sub specie quadam aeterni betrachten, so heißt das in Beckerisch
übersetzt, sie in die Form des Gegensatzes bringen. Diese Form
aber ist das Leere, das Hegelsche Nichts, d. h. nicht das Den-
ken des Denkens, sondern das Denken des Nichtdenkens, und
das Versetzen der Dinge in dieses Nirvāna ist nach Becker ihre
Wahrheit. Beckers Wissenschaft ist der jüngste Tag, die Ent-
leibung der realen Welt, seine Erkenntniß ein Todtentanz. Die
realen Dinge werden in Gegensätzen aufgestellt, der Reigen be-
ginnt. Wer führt die Chöre an? Ei nun, Sense-Thätigkeit und
Gerippe-Sein. Wo kommen denn aber diese Gäste her? Die Thä-
tigkeit, erzählt uns Becker, war das Erste, und das Sein ist nur
die durch sich selbst gehemmte Thätigkeit. Brav! Zuerst ist
der Tod da mit der Sense; er beginnt seinen Tanz, indem er
seine Sense gegen sein eigenes Haupt schwingt und sich zum
Gerippe macht. Dies zu begreifen ist zwar schwer, nicht min-
der schwer als das biblische: „es werde Licht“; indessen das
thut nichts, man setze sich nur über diese erste Schwierigkeit
hinweg, und ist nur der erste Schwung zum Tanz genom-
men, so geht alles leicht vorwärts. Wo du hinsiehst, Thätigkeit
und Sein in Einheit — Sense und Gerippe; und das wiederholt
sich unendliche Male. Die Thätigkeit aber ist’s, die alles ver-
bindet; die Sense macht alles gleich. Nur geschwind noch eine
Frage: wie kommen wir denn zur Erkenntniß dieses realen
Todtentanzes? Ei, das Wesen des Geistes ist die Thätigkeit;
siehst du nicht? die Sense — das ist Beckers Geist!
4. Verwechslung der Grammatik mit der Logik.
Becker betrachtet die Sprache unorganisch — aber sie ist viel-
leicht an sich kein Organismus? er betrachtet sie logisch — ihr
Wesen ist vielleicht Logik? er wird aber nichtssagend und spie-
lerisch — so spielt er vielleicht doch wenigstens mit gramma-
tischen Kategorien? Nein! Beckers Grundanschauung ist so
falsch, daß er seinen Gegenstand, die Grammatik, gänzlich bei
Seite läßt und ihr ein der Sprache fremdartiges Wesen unter-
schiebt; statt der Grammatik bietet Becker bloß Logik; er muß
die Grammatik längnen, nur Logik kann für ihn da sein. Es
verhält sich zwar bei Becker in der That doch anders, sein Or-
ganism will keine Logik sein; er sollte es aber sein. Wir
[96] haben oben Beckers Ansicht über die Einheit der Grammatik
und Logik mit seinen eigenen Worten dargestellt, ohne ihn zu
unterbrechen; nur die Neuheit dieser Ansicht haben wir geläug-
net. Jetzt haben wir aber zu zeigen, daß nach Becker eine
Disciplin wie Grammatik gar keinen Gegenstand vorfindet, den
sie bearbeiten könnte; daß dieser Gegenstand vielmehr der Lo-
gik gehört. Becker setzt nicht, wie er meint, die Grammatik
mit der Logik in Verbindung; sondern er streicht sie völlig und
setzt die Logik an ihre Stelle.
§. 39. Vernichtung der Grammatik durch Beckers Princip.
Vergegenwärtigen wir uns nur Beckers Princip und sehen
wir, was in ihm liegt. Wenn die Sprache der im Laute leiblich
gewordene, der verlautlichte Gedanke ist, wenn „die Sprache nichts
anderes ist als der in die Erscheinung tretende Gedanke“, so
sind nicht „beide, Gedanke und Sprache, innerlich nur eins und
dasselbe“, wie Becker schließt, sondern dann ist vielmehr der
Gedanke das Innere der Sprache, die Sprache, aber das Aeußere
des Gedankens. Die Sprache ist also bloß Aeußeres, und ihr
Inneres, d. h. was in ihr ist, ist nicht ihr Inneres, d. h. gehört
nicht ihr, sondern ist etwas anderes als sie, der Gedanke. Oder:
das Innere der Sprache nennen wir Gedanke, das Aeußere des
Gedankens Sprache; aber es ist hier nur ein Inneres, Gedanke,
und ein Aeußeres, Laut. Das Innere der Sprache betrachten,
heißt demnach den Gedanken betrachten, und das geschieht in
der Metaphysik, Logik und Philosophie, wozu etwa noch Hegels
Phänomenologie kommt.
Von einem Innern der Sprache läßt sich füglich gar nicht
mehr reden. Wer nennt das Sehen das Innere des Auges? Nun
ist aber nach Becker der Gedanke gerade so der Begriff der
Sprache, wie das Sehen der Begriff des Auges. Wenn nun der
anatomischen Betrachtung des Auges die Zergliederung der Laut-
gebilde der Sprache entspricht, so giebt es für die philosophi-
sche Betrachtung des Sehens auf Seiten der Sprache nur den
Gedanken, der zu untersuchen wäre. — Die Sprache ist das
Organ, die verleiblichte Function des Denkens; also bleibt nach
der anatomischen Zergliederung der Laute nur die Betrachtung
der Function selbst, des Denkens, übrig.
Wo bleibt also Stoff und Gelegenheit für die Grammatik
als eine von den eben genannten Disciplinen des Denkens und
der Begriffe geschiedene Wissenschaft? Nirgends. Beckers Clas-
[97] sificirung des Wortschatzes ist eine der Phänomenologie gehörende
Anordnung der Vorstellungen des gemeinen Bewußtseins; und
wenn nach Becker (Org. S. 26) „alle Formen des Gedankens,
aber auch nur diese, sich auch leiblich in der Sprache dar-
stellen“, so giebt es für die Betrachtung der Bedeutung der
sprachlichen Formen nur dieselbe Wissenschaft, welche die For-
men des Gedankens untersucht, die Logik. Da nun sogar die
sprachliche Verleiblichung der Formen des Gedankens die or-
ganische Erzeugung des Gedankens selbst ist, so ist die Analyse
der Sprache an sich die vollendete Logik; jede Zuthat und jede
Aenderung der sprachlichen Kategorien wäre Fälschung der Lo-
gik; die Logik nichts anderes als Physiologie der Sprache. Wie
der Begriff oder Gedanke des allgemeinen Lebens, welcher das
All schuf, nichts anderes ist als das in den einzelnen Organis-
men verwirklichte Leben oder die in den einzelnen Organismen
leiblich gewordenen besondern Begriffe, und die Erkenntniß die-
ser Begriffe eben die Erkenntniß des allgemeinen Gedankens
der Natur in seiner Besonderung und Verwirklichung ist: so
wären die Formen der Sprache die Besonderungen des allge-
meinen Begriffes Mensch oder des Denkens, und die Erkennt-
niß dieser Sprachformen wäre die Erkenntniß des Denkens in
seiner Besonderung und Verleiblichung.
Becker beginnt die Lehre von der Wortbildung (S. 62):
„Die Sprache ist der in die Erscheinung tretende Gedanke, und
das Wort der in Lauten leiblich gewordene Begriff; und die
organische Entwickelung des Wortes ist mit der organischen
Entwickelung des Begriffes gewissermaßen ein und derselbe Vor-
gang.“ Gewissermaßen bloß? durchaus und ganz und gar viel-
mehr, da erst als Wort der Begriff organisch ist. „Daher er-
klären sie sich einander gegenseitig“; auch wenn sie nur gewis-
sermaßen eins sind, ist vielmehr in der Erklärung des einen die
des andern enthalten: darum kann keiner den andern erklären,
oder man geräth in Tautologie. — Becker darf also nicht sagen:
„Die Grammatik steht mit der Logik in einer innigen Bezie-
hung“; er darf nicht reden von der Verbindung der Logik mit
der Grammatik; sondern es giebt nur eine Wissenschaft des
Gedankens. Nennt man nun dieselbe gewöhnlich Logik, so
bleibt kein Gegenstand mehr für die Grammatik; oder es wird
dann die Bedeutung der Grammatik auf diejenige zurückgeführt,
welche sie bei den Griechen der vor-alexandrinischen Zeit hatte,
7
[98] nämlich auf Kenntniß des Lesens und Schreibens, oder, wenn
man will, auf die Lautlehre und die schematische Zusammen-
stellung der Wortformen.
Je größeres Gewicht wir auf diesen Vorwurf legen, den
wir hier Becker machen, die Grammatik gestrichen und mit der
Logik vertauscht zu haben: um so sorgfältiger haben wir zuzu-
sehen, ob nicht Becker irgend eine Seite an der Sprache gefun-
den hat, welche einen Unterschied zwischen Grammatik und Lo-
gik begründen und ersterer ein besonderes Dasein verleihen könnte.
Wir haben aber zuvor noch einen andern Punkt zu erwäh-
nen, der mit dem vorliegenden eng zusammenhängt. Die Gram-
matiker haben zu allen Zeiten eine größere oder geringere Ver-
schiedenheit der Grammatiken der einzelnen Sprachen zugestan-
den. Wenn aber das, was man für Grammatik ausgab, nach
Becker vielmehr Logik ist, so versteht sich von selbst, daß diese
Unterschiede in den Sprachen nicht existiren können; daß der
Bedeutung nach die Sprachformen in allen Sprachen durchaus
dieselben sein müssen. Der Begriff des menschlichen Denkens
kann sich nur in einer gesetzmäßig organischen Weise beson-
dert haben, und es kann der organischen Freiheit nur rücksicht-
lich des lautlichen Ausdruckes Raum gestattet werden. Mit dem
Satze „die Logik ist nur eine“ wäre auch zugleich ausgesprochen,
daß alle Sprachen in der Bedeutung ihrer Formen übereinstim-
men. Wir haben also auch zugleich zu sehen, wie sich Becker
zu dieser Gleichheit der Sprachen verhält.
§. 40. Mangel eines grammatischen Princips.
Schon in der Vorrede stoßen wir auf Sätze, welche rück-
sichtlich des vorliegenden Punktes Bedenken erregen. Becker
sagt (S. XIV.): „Da die Sprache von der sinnlichen Anschau-
ung ausgeht und den Gedanken wieder in sinnlicher Anschau-
lichkeit darstellt; so haben auch die eigentlichen Denkgesetze
als solche keinen besondern Ausdruck, sondern werden unter die
Anschauungsformen gestellt.“ Auch sonst wird oft von Becker
darauf hingewiesen, daß die Sprache „ursprünglich von der
sinnlichen Anschauung ausgeht“, und damit manches, was als
Schnitzer gegen die Logik gelten müßte, entschuldigt oder auch
erklärt. Wir fragen aber Becker: wie ist es denn möglich, wenn
anders die Sprache die organische Verleiblichung des Gedankens
ist, daß die Anschauung zwar als Anschauung, aber nicht auch
der Begriff und die Formen des Denkens als Begriff und als
[99] Denkformen geäußert, im Laute äußerlich werden? Woher
kommt es, daß das Organ des Gedankens nicht das Concrete
als solches und das Abstracte als solches verleiblicht, sondern
dieses durch jenes ersetzt und „Uebergänge von Formen in ein-
ander“ gestattet? Hat unser Auge mit seiner vollendeten Bil-
dung gewartet, bis die Optik es werde als einen vollendeten
Sehapparat construiren können? — Wie ferner die Denkformen
und Anschauungsformen von der Sprache nicht geschieden wer-
den, so geschieht es auch, sagt Becker (S. 154), „daß in der
Sprache sehr häufig Formen, welche die Arten der Begriffe
ausdrücken, an die Stelle solcher Formen treten, welche Ver-
hältnisse der Gedanken ausdrücken.“ — Wie ist das möglich?
Die bloße Verwandtschaft und Aehnlichkeit der hier zu schei-
denden Dinge kann doch nicht als Grund, nicht einmal als Ent-
schuldigung, für eine Vermischung derselben gelten! Kurz: Alles
was im Denken geschieden ist, nicht weniger und nicht mehr,
muß sich auch im Laute in jeder Sprache mit klarer Geschie-
denheit verleiblichen — oder die Sprache ist eine Mißgeburt.
Denn das ist das Wesen der Mißgeburt, daß nahe liegende
Organe, welche aber doch geschieden sein sollten, mit einander
verwachsen, und daß andere zerrissen sind, welche eins sein
sollten. — Auch können wir nicht als Grund gelten lassen, daß
für den Menschen im ursprünglichen Naturzustande die Formen
des Denkens noch keine Bedeutung haben konnten; daß sie diese
doch nur erst später hätten erlangen können. Denn einer-
seits sind für das Bewußtsein des sprechenden Menschen
auch die Formen der sinnlichen Anschauung nicht; diese sind
nur für den Grammatiker. Andererseits aber sind die Formen
des Denkens alle auch schon im einfachsten, vielleicht sogar im
thierischen Denken, wirklich vorhanden und müßten sich also
auch in der ursprünglichsten Sprache finden. Ohne die Kate-
gorien der Causalität und des Zweckes z. B. ist menschliches
Treiben und Wesen gar nicht möglich; also mußten auch diese
Kategorien in der Sprache reine oder eigentliche, ihnen aus-
schließlich gewidmete Formen haben: während die Sprache oft
noch nicht einmal für die Zeitverhältnisse besondere Ausdrücke
hat, sondern dieselben durch räumliche Bezeichnung ersetzt.
Ferner aber schafft die Natur, das allgemeine Leben allerdings
Dinge, Organe, bevor sie noch gebraucht werden; oder hat etwa
das Kind, weil es noch nicht zeugungsfähig ist, keine Geschlechts-
7*
[100] organe? Ist also die Sprache organisches Product des allgemei-
nen Lebens, so muß sie alles haben, dessen sie je bedarf. Oder
wenn man, und mit Recht, annimmt, das Kind habe eben wirk-
lich noch keine Geschlechtsorgane, habe sie wenigstens nicht
vollständig; nun so erhält es dieselben von selbst, ohne sein Zu-
thun. Die Natur selbst füllt die Lücken aus, welche das neu-
entstandene Wesen noch an sich trägt. Ist also die Sprache
ein organisches Naturproduct, so mußte in dem Augenblicke,
wo im Geiste des Menschen eine neue Denkform aufging, gleich-
zeitig eine ihr entsprechende Sprachform geschaffen sein, welche
ihr leibliches Organ ist.
Was ferner den andern Punkt, die Verschiedenheit der Spra-
chen, betrifft, so wird sie auch von Becker zugestanden; und
wir fragen, mit welchem Recht? Er sagt (S. XVII): „Auf der
andern Seite aber kann Niemand mehr, als der Verfasser, der
Meinung abhold sein, als müßten sich in jeder Sprache diesel-
ben Formen und Ausdrücke der allgemeinen Denkgesetze in
gleicher Vollkommenheit entwickelt haben“ — das müßte aller-
dings geschehen sein. „Die Denkgesetze sind so allgemein, daß
sie sich in tausend Nüancirungen nicht nur aussprechen kön-
nen, sondern selbst müssen.“ Hier wird die Spitze der Sa-
che durch schwankende Ausdrücke abgestumpft. Die Gesetze
der Logik und ihre Kategorien mögen noch so allgemein sein,
sie sind scharf bestimmt und haben nur eine Weise der Ver-
leiblichung mit so viel organischer Freiheit als Epheublätter
oder die Augen der Menschen. Die Logik selbst, ihre Kate-
gorien, sind nie nüancirt, immer und ewig sich selbst gleich. —
Noch schlimmer ist es, wenn Becker sagt (S. XVIII): „Zugege-
ben muß werden, daß der Lautstoff sich zuweilen von der Herr-
schaft des Denkgesetzes mehr oder weniger frei gemacht und
eine selbständige Entwickelung scheint begonnen zu haben, ja
daß diese Entwickelung wieder auf das logische Element mag
zurückgewirkt haben.“ Aber wir fragen, wie ist das möglich?
Kann sich der materielle Stoff des Tigers von der Herrschaft
des Begriffs Tiger frei machen? Welche Mißgeburt wäre das!
Kann sich das Auge von der Herrschaft des Sehens befreien?
ich kann es schließen — ich kann schweigen und schlafen; es kann
erblinden — der Mensch kann stumm sein und sterben; es kann
durch Zufall, durch Krankheit oder falsche ursprüngliche Bil-
dung falsch sehen — wenn dies in der Sprache geschieht, so
[101] hat der Gedanke ein krankes, mißgebildetes Organ. So ohn-
mächtig wäre die höchste Besonderung des allgemeinen Lebens,
daß es sich nur in einer Mißgeburt offenbaren kann! Das Auge
ist regelmäßig gesund; die Sprachen aber wären alle und im-
mer krank!
§. 41. Erkennen und Darstellen.
Abgesehen von diesen Bemerkungen in der Vorrede hat
Becker nirgends den Unterschied zwischen Grammatik und Lo-
gik berührt, und da auch jene völlig unbegründet sind, so se-
hen wir hier wieder Beckers Mangel an Dialektik, d. h. seinen
Mangel an klarem Bewußtsein über seine Grundsätze, ihr We-
sen und ihre Tragweite. Gewissenhaftigkeit aber gebietet uns,
einen Punkt zu untersuchen, der, wenn auch Becker es nicht
bemerkt, einen Unterschied zwischen Grammatik und Logik viel-
leicht begründen könnte; wir meinen den von Becker aufgestell-
ten Unterschied zwischen Erkennen und Darstellen. Es
bietet sich leicht der Gedanke dar, Logik sei die Wissenschaft
des Erkennens, Grammatik die des Darstellens; aber er bietet
sich doch nur dem dar, der einen Unterschied zwischen diesen
Disciplinen sucht. Beckers Auge aber war so starr auf die Ein-
heit derselben gerichtet, daß er übersah, wie ihm die eine ganz
abhanden gekommen ist. Es ist also wohl zu bemerken, daß
Becker von jenem Unterschiede zwischen Erkennen und Darstellen
gar nicht in der Absicht spricht, in welcher wir hier den Punkt
erörtern; daß er ihn gar nicht als den Quellpunkt erkannt hat,
durch den die Grammatik erst Möglichkeit und Wirklichkeit
gewinnt. Becker kommt vielmehr auf diesen Unterschied erst,
nachdem er schon die „organische Lautbildung“ nicht bloß,
sondern auch die „organische Wortbildung“ betrachtet hat, in-
dem er die „organische Satzbildung“ beginnt, und kommt später
beim zusammengesetzten Satze auf denselben zurück. Dieser
gilt ihm also gar nicht als etwas, was noch vor dem wirklichen
Eingange der Grammatik liegt, sondern als ein Punkt innerhalb
derselben; und beide Seiten, Erkennen und Darstellen, gehören
nach Becker gleichmäßig der Grammatik an, also vielmehr der
Logik, wie wir im voraus zu vermuthen Grund genug haben;
was uns indeß nicht dazu bewegen darf, Becker ununtersucht
zu verurtheilen.
Becker sagt (S. 154): „Betrachtet man das Denken, in
der weitesten Bedeutung des Wortes, wie es sich in der Spra-
[102] che darstellt; so umfaßt es zwei in ihrer Richtung einander
entgegengesetzte Vorgänge, nämlich die Aufnahme des Indivi-
duellen in ein Allgemeines und die Zurückführung des Allge-
meinen auf das Individuelle … Die Aufnahme des Individuellen
in ein Allgemeines ist der eigentlich schöpferische Akt des Gei-
stes, durch den die realen Dinge zu geistigen Dingen, zu Be-
griffen und Gedanken, werden. Man kann diesen schöpferischen
Akt des Geistes, den man unter dem Denken in der engeren
Bedeutung des Wortes begreift, in einem näher bestimmten Aus-
drucke als das Erkennen bezeichnen. Die realen Dinge wer-
den als Individuelles angeschauet, aber nicht erkannt: das
Individuelle wird erst, wenn es in ein Allgemeines aufgenommen,
und so das Reale ein Geistiges wird, erkannt in dem Allgemei-
nen, in der Art. Man sagt, man erkenne ein Ding, wenn man
weiß, von welcher Art es ist, ob es z. B. ein Thier oder eine
Pflanze oder ein Stein ist. Durch dieses Erkennen wird das
Reale zu einem Eigenthume des Geistes; und der Mensch ver-
kündet die durch das Erkennen vollzogene Besitzergreifung da-
durch, daß er dem Dinge einen Namen giebt. Der Name be-
zeichnet die Art des Dinges. So lange man ein Ding nicht
erkannt, unter einen Artbegriff aufgenommen, hat, weiß man
dem Dinge keinen Namen zu geben. Nur das Sein ist an sich
ein Individuelles; daher kann eigentlich nur ein Sein erkannt
(in ein Allgemeines aufgenommen) werden. Die Thätigkei-
ten sind an sich schon ein Allgemeines“ (wenn es doch Becker
beliebt hätte, nur einmal zu sagen, was er unter allgemein ver-
steht, warum „Hund“ ein Individuelles, „bellt“ ein Allgemeines
sein soll!); „sie werden daher nicht eigentlich erkannt, son-
dern nur verstanden, d. h. die Art der Thätigkeit wird auf
Individuelles zurückgeführt.“
(S. 156): „Nun ist aber alles Erkennen ein Erkennen des
individuellen Geistes, und die durch das Erkennen gewonnene
Weltanschauung daher nur eine Weltanschauung des Individuums.
Das Denken ist aber eine Verrichtung der ganzen Gattung; und
die durch das Denken gebildete Weltanschauung soll die der
ganzen Gattung werden. Hierauf gründet sich die organische
Nothwendigkeit der Gedankenmittheilung, und die Sprache ist
nicht nur der organische Ausdruck des Gedankens in der Er-
scheinung, sondern sie ist zugleich das Organ der Gedan-
kenmittheilung unter den Individuen. Diese Gedankenmit-
[103] theilung fordert nun, daß durch einen dem Erkennen entgegen-
gesetzten Vorgang das Allgemeine in dem Denken wieder auf
Individuelles zurückgeführt, und in der Sprache als Individuel-
les dargestellt werde. Die Gedankenmittheilung geschieht
nämlich ebenfalls, indem das Mitgetheilte von dem Empfangen-
den nur als Individuelles aufgefaßt, und dann in ein Allgemei-
nes aufgenommen wird… Wenn Artbegriffe als ein Allgemei-
nes in dem Gedankenverkehr ausgetauscht werden; so werden sie
nicht eigentlich mitgetheilt, sondern als schon in dem Geiste
des Empfangenden vorhanden, als ein früher schon Erkanntes vor-
ausgesetzt. Soll einem Andern ein von ihm noch nicht erkann-
ter Artbegriff mitgetheilt werden; so muß der Artbegriff ihm
eben so, wie die Dinge in der sinnlichen Anschauung, zuerst als
ein Individuelles dargestellt, und das Individuelle dann von ihm
selbst in ein Allgemeines aufgenommen werden… Da aber alle
Begriffe der realen Dinge einmal als Allgemeines, als Artbegriffe,
in den Begriffsvorrath niedergelegt sind; und da nur diese Art-
begriffe der Stoff sind, aus dem der Geist Gedanken bildet: so
fragt sich, wie es überhaupt möglich ist, daß in dem Gedanken
das Allgemeine für die Darstellung auf Individuelles zurückge-
führt werde… Der Artbegriff kann nicht durch einen andern
Begriff, der ja auch ein Artbegriff ist, individualisirt werden.
Die Individualisirung des Artbegriffs in dem Gedanken kömmt
nur dadurch zu Stande, daß das unter einer Art begriffene
Ding in einer individuellen Beziehung zu dem Denken-
den aufgefaßt, und durch diese individuelle Beziehung von der
Art ausgeschieden wird, z. B. dieses Pferd, mein Pferd.“
Was haben wir also hier erfahren? Das real Individuelle
wird erkannt, das Allgemeine wird verstanden. Der Gedanke,
der sowohl Erkanntes als Verstandenes, aber nur Allgemeines
enthält, soll dargestellt werden. Darstellen und Verstehen, beide
bedeuten: das Allgemeine auf Individuelles zurückführen. Letz-
teres soll durch sprachliche Mittheilung geschehen. Hierzu wer-
den aber von der Sprache bloß Wörter geboten, welche Allge-
meines enthalten. In der Rede wird nun theils das Allgemeine
als solches ausgesprochen, und das Verständniß dem Hörer über-
lassen; theils wird das Allgemeine dargestellt, d. h. durch die
Versetzung in eine Beziehung zum Denkenden individualisirt.
Hieraus folgt die Unmöglichkeit, Logik und Grammatik als die
Wissenschaften des Erkennens und Darstellens scheiden zu wol-
[104] len. Denn die Sprache oder Rede umfaßt mehr als bloß die
Darstellung, da sie nicht jedes Allgemeine darstellt, sondern
manches Allgemeine nur ausspricht und in dem Geiste des Hö-
renden voraussetzt. Die Grammatik als Wissenschaft des Dar-
stellens würde somit nicht die ganze Wissenschaft der Spra-
che sein.
Ferner müssen wir hier aber wieder eine Sophisterei Beckers
aufdecken. Er hat mehrmals wiederholt, Darstellen heiße, das
Allgemeine auf Individuelles zurückführen. Ganz dasselbe heißt
aber bei ihm auch Verstehen. Man kann also nur darstellen,
was man verstanden hat, und beide sind nur dadurch verschie-
den, daß Verstehen ein Darstellen des Denkenden für ihn selbst
ist, Darstellen aber heißt: einem Andern zu verstehen geben.
So sagt auch Becker (S. 157): „Ein uns mitgetheilter Gedanke
wird um desto leichter verstanden, und um desto vollkomm-
ner in unsern Geist aufgenommen, je mehr in dem Gedanken
die Dinge in concreter Individualität dargestellt und
auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen An-
schauung zurückgeführt werden.“ Hier wird offenbar dem
von uns Gesagten gemäß Darstellen als gleichbedeutend mit
Verstehen genommen. Das Dargestellte wird dann „wieder er-
kannt.“ Ist denn nun aber das, was in der sprachlichen Dar-
stellung geschieht und nur geschehen kann, die Versetzung des
Artbegriffes in eine individuelle Beziehung zum Denkenden, ein
Darstellen „in concreter Individualität“ und ein „Zurückführen
auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen Anschauung“?
Hiernach finden wir aber auch eine neue, noch größere
Schwierigkeit, Grammatik von Logik zu scheiden. Oben sahen
wir nur, daß die Grammatik als Wissenschaft des Darstellens
nicht die ganze Sprache umfasse; jetzt sehen wir, daß die Dar-
stellung selbst wesentlich nichts anderes ist als Verständniß.
Da nun aber dieses eine wesentliche Ergänzung des Erkennens
ist und mit letzterem zusammen erst das Denken ausmacht, so
gehört auch Verständniß und also auch Darstellen in die Lehre
vom Denken, die wir hier kurzweg Logik nannten. Auch nennt
Becker ausdrücklich das Darstellen einen Vorgang „im Den-
ken.“
Endlich ist es wohl überflüssig, darauf aufmerksam zu ma-
chen, wie dieser Unterschied auf dem Spiel mit dem Allgemei-
nen und Besondern beruht, also in sich zusammenfällt. Ich bitte
[105] jeden Leser, sich zu fragen, was er in den folgenden Sätzen:
„der Ring ist von Golde, der Knecht ist treu, das Pferd ist alt“
für das Allgemeine, und was für das Besondere zu halten sich
gezwungen fühle, und dann bei Becker (S. 160) zu lesen, daß Ring,
Knecht und Pferd eine Art des Seins, also ein Allgemeines, sind,
welches auf Gold, treu, alt, als eine Unterart, also ein Besonderes,
zurückgeführt werden; dagegen ist in dem Satze: „der Feind
flieht“ (S. 162) der Feind das Besondere, welches in das All-
gemeine „flieht“ aufgenommen wird, und in „der fliehende Feind“
ist „Feind“ das Allgemeine und „fliehen“ das Besondere (S. 160).
Wie aber ferner der Widerspruch zu lösen ist, daß S. 157 ge-
sagt wird, „ein Begriff könne nicht durch einen andern Begriff
individualisirt werden,“ dagegen S. 160 gezeigt wird, wie „die
Sprache die Individualisirung des Subjectes in dem attributiven,
und die des Prädicates in dem objectiven Satzverhältnisse dar-
stellt“, mag jemand zu lösen versuchen, dem es besser als uns
gelingt, sich in Beckers Ansicht über das Allgemeine und Be-
sondere zu finden.
§. 42. Logische und grammatische Form.
Wir müssen aber noch eines andern Unterschiedes geden-
ken, der sich eng an den vorigen anschließt, nämlich zwischen
logischer und grammatischer Form des Satzes. Becker lehrt,
jeder Satz und jedes Satzverhältniß bildet eine Einheit, natür-
lich eine organische. Das Wort, auf welches zurückgeführt, in
welches aufgenommen wird, ist das bezogene Wort; dasjenige,
welches aufgenommen und zurückgeführt wird, ist das Bezie-
hungswort. Jenes enthält den übergeordneten, dieses den un-
tergeordneten Begriff. „Man unterscheidet daher den logischen
Werth der Factoren, und sagt, der bezogene Factor habe den
größern logischen Werth.“ Diese logische Unterordnung er-
zeugt eben die organische Einheit. Positive und negative Elek-
tricität zwar, wie Nord- und Südpolarität bilden, wie Becker nicht
läugnen wird, eine strenge organische Einheit, sind aber einan-
der keineswegs untergeordnet; ja es gehört sogar zum Wesen
des Gegensatzes, daß seine Glieder nebengeordnet seien. Da
aber Becker im Satze alles nach dem Gegensatze vom Allge-
meinen und Besondern bestimmt, diese aber im Verhältnisse der
Unterordnung stehen — woraus freilich mancher schließen würde,
daß sie nicht im Verhältnisse des Gegensatzes stehen —, so kann
im Satze die Einheit nur durch Unterordnung und nicht durch
[106] Verbindung von „Gleichem mit Gleichem“ entstehen. „Wir be-
zeichnen nun, sagt Becker (S. 163), die durch diese Unterord-
nung der Factoren bedingte Einheit des Gedankens als die
logische Form des Satzes.“ Diese logische Form des Ge-
dankens gehört in die Logik. Was hat die Grammatik, wenn
sie etwas anderes sein soll als Logik, mit ihr zu schaffen?
(§. 47): „Von dieser logischen Form muß man die gram-
matische Form unterscheiden, unter der wir die nach ihren
Arten unterschiedenen Verhältnisse begreifen, in denen der Ge-
danke entweder das Besondere in ein Allgemeines aufnimmt, oder
das Allgemeine auf ein Besonderes, und zwar entweder auf eine
Unterart oder auf Individuelles zurückführt.“ Also sind diese
grammatischen Formen nur die Arten der logischen Form. Diese
beruht darauf, daß das Besondere und Allgemeine einander un-
tergeordnet werden; die besondern Arten dieser Einheit entste-
hen durch die verschiedenen Verhältnisse des Gegensatzes von
Thätigkeit und Sein, was ja gleichbedeutend ist mit Allgemei-
nem und Besonderm. „Man nennt diese nach ihrer Art unter-
schiedenen Verhältnisse der grammatischen Form die Bezie-
hungen der Begriffe, und diese Beziehungen werden im Allge-
meinen durch die Flexion ausgedrückt.“ Da wir hier nur
Beziehungen der Begriffe, Unterarten der logischen Form,
begründet durch den logischen Gegensatz von Thätigkeit und
Sein, haben, so haben wir hier auch nur logischen Stoff, nichts
der Grammatik Eigenthümliches, oder überhaupt nichts Gram-
matisches. Ja Becker wiederholt gerade bei dieser Gelegenheit
(S. 168) wieder: „Es ist die eigentliche Aufgabe der Logik, die
Formen nachzuweisen, in welche der Geist die realen Dinge
und ihre Verhältnisse faßt, indem er sie in Begriffen und Ge-
danken zu seinem Eigenthum macht. Da aber die Sprache
nichts anderes ist, als der in die Erscheinung tretende Gedanke,
so geben sich die Formen des Denkens vorzüglich in der Spra-
che zu erkennen, und sie stellen sich in ihren Besonderheiten
zunächst in den Formen der grammatischen Beziehungen dar.“
Diese Beziehungen sind also vielmehr nicht grammatisch, son-
dern logisch.
Ein letzter Unterschied, den Becker macht zwischen „Be-
ziehungen der Begriffe auf einander“ und „Beziehungen der Be-
griffe auf den Sprechenden,“ fällt zusammen mit dem Unter-
schiede der logischen und grammatischen Form; und wenn man
[107] etwa Hoffnung gehabt hat, in den Beziehungen der Begriffe auf
den Sprechenden etwas echt Grammatisches gefunden zu haben,
so enttäuscht uns Becker S. 173, wo unter denselben begriffen
werden „die Zeit- und Raumverhältnisse, die Verhältnisse der
Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, der Möglichkeit und Noth-
wendigkeit und die Größenverhältnisse“ — Dinge, die doch
wohl nicht in der Grammatik erörtert werden können.
Hiermit sei es genug, um zu zeigen, daß bei Becker die
Grammatik weder ein eigenthümliches Princip noch einen be-
sonderen Inhalt haben kann; daß sie gänzlich von der Lehre
des Denkens verschlungen wird. Da nun aber Becker der Gram-
matik trotzdem ein eigenthümliches Dasein und Wesen zugesteht,
so erklärt er hiermit seine Unfähigkeit, das wahre Wesen der
Grammatik zu begreifen. Nach Beckers Princip sollte die Gram-
matik bloß Logik sein; dasselbe Princip aber will Princip
einer Grammatik sein, die nicht Logik ist; also ist Becker wi-
derlegt, indem seine Voraussetzungen das, was sie schaffen sol-
len, verläugnen, oder indem jene Voraussetzungen sich als un-
fähig erweisen, die Wissenschaft zu begründen, welche sie be-
gründen wollen.
B. Widerstand der Grammatik und Logik gegen ihre
wechselseitige Vermischung.
§. 43.
„Es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer
werden, daß alles über ihnen schwer wird“: darüber hat schon man-
cher Deutsche geklagt. Von Zeit zu Zeit könnte man aber wohl se-
hen, wohin es führt, wenn ein Deutscher leicht wird und sich die Sa-
chen leicht macht. Mag es also ein Fehler sein, daß wir in dem vor-
liegenden Werke über der Unterscheidung der Grammatik und Lo-
gik von einander schwer werden — wir sind mit unserm Fehler nicht
unzufrieden, zumal wir bei dieser Gelegenheit noch nicht einmal
Geschmack finden können an der französischen Leichtigkeit der
Logique de Port-Royal, welche ein Capitel über allgemein gram-
matische Punkte so einleitet: Il est peu important d’examiner
si c’est à la grammaire ou à la logique d’en traiter, et il est
plus court de dire, que tout ce qui est utile à la fin de chaque
art lui appartient, soit que la connaissance lui en soit particu-
lière, soit qu’il y ait aussi d’autres sciences qui s’en servent. —
Sans doute, Mr., antworten wir, das ist sehr kurz; der Deutsche
[108] aber übertrifft Sie noch an Kürze; denn darüber verliert er viel-
mehr gar kein Wort. Ihre kurze Rede ist um ihre ganze Kürze
zu lang; denn dergleichen braucht nicht gesagt zu werden. Die
deutsche Länge und Schwere erstreckt sich über die Frage, ob
es denn auch dem Endzweck der Logik und Grammatik för-
derlich sei, sie mit einander zu vermischen. Wir glauben mit
Kant und Herbart, es ist „nicht Vermehrung, sondern Verun-
staltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einan-
der laufen läßt“; und wenn man dagegen bemerkt hat: „Kant
mag Recht haben, so lange man die Felder der Wissenschaften
neben einander abmarkt, wie verschiedener Herren Eigenthum.
Eine solche Ansicht, die die Dinge im Raume fertig neben ein-
ander stellt, muß der Entwickelung Platz machen, die das Ver-
wandte aus dem gemeinsamen Grunde zu begreifen trachtet“;
so ist hier vor allem die Frage, ob Logik und Grammatik der-
artig verwandt sind, daß sie aus einem gemeinsamen Grunde
begriffen werden können; oder ob sie vielleicht beide getrübt
und verfälscht werden, wenn man ihnen einen gemeinsamen Grund
unterschiebt.
Der Fehler, die Grammatik durch Logik zu verfälschen, ist
freilich sehr alt, so alt wie die Grammatik selbst. Er beginnt
mit Plato und wächst fortwährend bis auf Becker. Nach sei-
nem vollen Umfange erkannt und in seiner ganzen Bedeutung
gewürdigt kann er erst dann werden, wenn wir das besondere
Princip der Grammatik werden kennen gelernt haben. Hier
aber können wir dennoch schon einige Punkte hervorheben, wel-
che gegen einen gemeinsamen Grund der Grammatik und Logik
sprechen und für die Grammatik ein eigenes Dasein, folglich ein
eigenes Princip, in Anspruch nehmen. Wir werden sehen, wie
eben so wohl die Grammatik als auch die Logik gegen ihre ge-
waltsame Vermischung Einspruch erheben, mit dem Unterschiede,
daß jene sich gegen ihre Vernichtung, diese gegen unangemes-
sene Füllung zu wehren hat.
§. 44. Schluß nach Analogien.
Wir hoffen, schon hier eine wenigstens ungefähr zutreffende
Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen der Grammatik er-
wecken und dadurch diesen vorläufigen Bemerkungen eine be-
stimmtere Richtung und damit zugleich mehr Deutlichkeit und
größere Bedeutsamkeit geben, auch über die Möglichkeit und
Wichtigkeit des begangenen Fehlers schon ein gewisses Licht
[109] fallen lassen zu können, wenn wir ein Beckersches „wie … so“
in seine wahre Form, ein „wieso?“ verwandeln und zu beant-
worten suchen. Becker hat oft das Auge, überhaupt organische
Verrichtungen mit dem Sprechen verglichen. Die Grammatik
soll die Physiologie der Function des Sprechens sein, wie es
auch eine Physiologie des Sehens, Hörens, Athmens u. s. w.
giebt. Es giebt aber außerdem noch eine physikalische Disciplin
der Optik, Akustik und eine physikalische und chemische Erkennt-
niß der Luft. Es giebt auch ferner eine Wissenschaft von den
Formen der Größen, welche gesehen werden (Mathematik), von
dem Rhythmus, der Harmonie und Melodie, von gesunden und
schädlichen Gasen. Was würde man nun zu dem Physiologen
sagen, welcher eine physiologische Darlegung des Sehens oder
Hörens oder Athmens verspräche und, nachdem er uns die ana-
tomischen Theile des Auges, des Ohres, der Lungen gezeigt
hat, die physikalischen Eigenschaften des Lichts, des Tones, der
Luftarten erörterte, und sogar vom Verhältnisse zwischen Kreis
und Viereck, von der Octave und von den tödtlichen Luftarten
spräche? Gerade dies aber thut die logische Grammatik. Sie
giebt zuerst die Anatomie der Sprachformen, und wenn man nach
der physiologischen Bedeutung derselben fragt, wenn man den
Proceß des Sprechens, wie den des Sehens, dargelegt haben will,
dann ist von den Formen des Gedankens die Rede. Nun sollte
der Gedanke der Reiz zum Sprechen sein, wie das Licht der
Reiz für das Auge und die Luft für die Lunge; also ist es nichts
anderes, in der Grammatik von den Formen des Gedankens re-
den, als in der Physiologie physikalische Optik geben. Ja, man
spricht endlich vom Unterschiede zwischen Person und Sache,
wie denn überhaupt vorausgesetzt wird, daß die metaphysischen
Gedankenbestimmungen in Wirklichkeit existiren, und so kommt
man in der Grammatik auf Dinge, die sich zum physiologischen
Proceß des Sprechens verhalten, wie die mathematische Be-
trachtung des Vierecks und Kreises zur physiologischen des
Sehens.
Hieraus ersieht man nun wohl ein Doppeltes: erstlich, welche
Bedeutung der begangene Fehler hat. Wer uns in der Phy-
siologie des Gehörs zeigt, durch welche Anzahl von Luftschwin-
gungen jener tiefe und durch welche andere jener hohe Ton erzeugt
wird: der spricht nicht vom Hören, sondern vom Gehörten;
ebenso spricht der Grammatiker, indem er von Thätigkeit und
[110] Sein spricht, nicht von den Formen des Sprechens, sondern von
denen des Gesprochenen; und wie die Farben und der Kreis ein
Gesehenes sind, dessen Definition und reale Entstehung nicht in die
Wissenschaft vom Sehen gehört, so ist auch der Gegensatz, die
Besonderung des Allgemeinen, Form des Gesprochenen, d. h.
Gedachten, und gehört nicht in die Wissenschaft vom Sprechen.
Andererseits sieht man aber auch, wie nahe die Verwechslung
lag. Auch die Physiologie spricht von den Farben und For-
men der Dinge, von der chemischen Wirkung der Luft, freilich
in anderer Beziehung als die Optik und Chemie. In der Spra-
che aber ist es nicht bloß viel schwerer, die verschiedenen Be-
ziehungen aus einander zu halten, sondern auch nur erst etwas
zu finden, was als Vorgang des Sprechens dem Gesprochenen,
dem Gesagten, so gegenübertrete, wie das Sehen dem Gesehe-
nen. Einstweilen halten wir nur fest, daß ein solcher Unter-
schied sich aus der Analogie mit den Naturwissenschaften er-
giebt; man halte ihn also zunächst für möglich.
Analogien sind Gängelbänder, für das erste Betreten einer
wissenschaftlichen Bahn nützlich und vielleicht unentbehrlich;
sie beweisen nichts, regen aber an. Also noch ein paar Ana-
logien; aber behutsam! Irgendwo wird gelegentlich bemerkt:
„In den Sprachen, als Zeichen der Gedanken, spiegeln sich die
Gedanken selbst, also auch deren Bestandtheile sammt ihren
Verhältnissen. Nimmt man aus der Sprache die Nomina pro-
pria hinweg, so bleiben Worte von sehr allgemeinem Gebrauche.
Bestimmt nun der Sprachforscher die Bedeutung der einzelnen
Worte, so ist er im Gebiete der allgemeinen Begriffe und
steht hier mit den Philosophen auf gleichem Boden“. — Durch-
aus nicht; sondern der Grammatiker beschäftigt sich bloß mit
den in der Sprache abgespiegelten Bildern der Begriffe. Diese
Bilder sind aber nicht die Begriffe selbst. Wenn die Sprache
eine Art Hohlspiegel wäre, oder in gewisser Weise farbig, wie
würden die Bilder den Begriffen entsprechen!
Die Sprache ist das Bild, die Darstellung des Gedankens.
Ein Maler stellt in einem Bilde den Uebergang Cäsars über den
Rubicon dar; der Aesthetiker will uns dies Kunstwerk analysi-
ren. Wenn er nun in dieser Absicht die Geschichte Cäsars
nach den historischen Quellen erzählte, was hätte er gethan?
Dasselbe, was der Grammatiker thut, der die Formen des Ge-
[111] dankens, welcher in der Sprache dargestellt ist, statt der Form
dieser Darstellung erörtert.
Wir stehen vor der Bildsäule Alexanders; was haben wir
vor uns? Den Stein-gewordenen Alexander? so wenig wie das
Wort das Laut-gewordene Ding ist. Das Wort aber soll der
verlautlichte Gedanke sein; ist etwa die Bildsäule Alexanders
der versteinerte Gedanke von jenem Jüngling, der das zersplit-
terte Hellas um sich schaarte, das morsche Asien zertrümmerte
und in einer neuen Stadt seines Namens einen Mittelpunkt der
Cultur und Civilisation schuf, in welchem die ganze alte Welt
zusammentraf? Auch das nicht! die Bildsäule ist die dem Stein
angebildete Anschauung des Künstlers. Dann ist aber auch das
Wort nicht der verleiblichte Begriff. Der Aesthetiker erzählt
uns nicht die Geschichte Alexanders und Cäsars, sondern zeigt,
wie die Geschichte dieser Helden in der Anschauung des Künst-
lers ein Spiegelbild hat; so erzählt uns der Grammatiker nicht
in Beckers Weise von den Formen des Denkens und des Ge-
dachten, sondern er zeigt uns in der Sprache ein Spiegelbild der
äußern und innern Welt nach Form und Inhalt derselben.
Der Webstuhl ist der verkörperte Gedanke des Webens;
der Techniker soll ihn uns analysiren. Er berichtet aber von
den Gesetzen des Hebels, der Structur und Wirkungsweise der
Muskeln, dem Knochenbau, und endlich gar von den gewebten
Stoffen: ein solcher Techniker ist der logische Grammatiker.
Man sieht wohl, der logische Grammatiker ist gar nicht
mehr bei der Sprache; er spricht nur von Dingen, die in nähe-
rer oder fernerer Beziehung zu ihr stehen; er ist beim Gedan-
ken, und also — um es kurz auszudrücken — Logiker. Die-
logische Grammatik ist Logik.
§. 45. Unfügsamkeit der Sprache unter die Logik.
Geht denn nun aber wohl die ganze Sprache hinein in die
Logik? Wir haben schon oben gesehen, wie Becker selbst meh-
rere Punkte zugestand, die sich der Logik nicht fügen wollen.
Wir haben oben Becker das Recht bestritten, deswegen der
Grammatik ein selbständiges Dasein zu verleihen; denn sein
Princip vernichtet diese Selbständigkeit der Grammatik, macht
sie vollständig der Logik selbig, und Becker hat nicht das Recht
zu sagen, die Grammatik weiche irgendwo von der Logik ab,
weil er diese Abweichung nicht rechtfertigen, nicht begreifen
[112] kann. Hier heben wir aber diese Punkte stark hervor, um dar-
auf hinzuweisen: wenn die Sprache die Macht hat, sich der
Logik entgegenzustellen, etwas anderes als Logisches zu geben,
sogar der Logik Widersprechendes, so kann sie dies doch wohl
nur — wie wenigstens zu vermuthen steht —, weil in ihr ein
eigenthümliches Leben webt, eine selbständige Kraft herrscht,
die keinen Herrn anerkennt. Wäre die Sprache der organisch
verleiblichte Gedanke, im Sinne der logischen Grammatik, wäre
die Grammatik die in Lautformen organisch ausgeprägte Logik,
so wäre unbegreiflich, wie beide sich nicht vollständig decken.
Die Sprache zeigt aber, an der Logik gemessen, bald Lücken,
bald Ueberfluß, bald Verschiedenes, bald Widerspruch. Also
— ich kann nicht anders schließen — muß das vorausgesetzte
Verhältniß zwischen Grammatik und Logik falsch sein.
Becker versichert uns in der Vorrede (S. XIV), daß, wenn
er „von der Logik der Sprache redet, nicht das logische System
irgend einer Schule gemeint ist. Er ist nirgends davon ausge-
gangen, Anschauungs- und Denkformen in der Sprache auffin-
den zu wollen, sondern hat die vorgefundenen Sprachformen zu-
nächst immer nach ihrer nächsten Bedeutung aufgefaßt und zu-
sammengestellt; und wenn sich die größeren Gruppen, die auf
diese Weise entstanden waren, zuletzt als von wenigen Gesetzen
der Gedankenentwickelung beherrscht zeigten, so war das ein
Resultat, das ihn selbst oft wunderbar überraschte.“ Das wol-
len wir ihm alles gern zugestehen. Nur finden wir in seiner
„wunderbaren Ueberraschung“ das Geständniß, daß er ein schlech-
ter Psycholog ist, der nicht begreift, wie der Mensch findet, was
er will, ohne zu wissen, daß er bloß findet, weil er will; — wir
sehen hierin ferner, daß er ein schlechter Kritiker ist, der nicht
weiß, daß auch Fehler eine Uebereinstimmung zeigen, beson-
ders wenn man nicht genau, dialektisch scharf hinsieht; — wir
sehen auch seinen Mangel an Kritik offen eingestanden in dem
Geständniß, daß er „die vorgefundenen Sprachformen zunächst
immer nach ihrer nächsten Bedeutung aufgefaßt hat“; denn wer
sagt ihm, daß die nächste Bedeutung die wahre sei? — end-
lich aber ist es sehr gleichgültig, welche Logik man in der
Sprache findet, ob die Logik dieser oder jener Schule oder
überhaupt die Logik einer Schule; und ohne zu fragen, ob es
eine Logik giebt, die nicht einer Schule angehörte, und wär’s auch
[113] nur der Beckerschen, so zeigt sich nach dem Obigen, daß über-
haupt in der Sprache nicht die Logik verleiblicht sein kann.
Becker sagt (S. 168), nachdem er wiederholt die Sprache
„den in die Erscheinung tretenden Gedanken“ genannt hat, des-
sen Formen „in der Sprache zu erkennen“ seien, Folgendes:
„Wenn wir nun auch den Gegenstand nicht auf eine erschö-
pfende Weise betrachten können; so müssen wir doch hier ver-
suchen, die besondern Formen des Denkens, wie sie in den un-
terschiedenen Formen der grammatischen Beziehungen hervor-
treten, näher zu bezeichnen.“ In einem so ausführlichen, diesem
Gegenstande ganz gewidmeten Werke, wie sein Organism ist, mußte
aber von dem Principe die Forderung gestellt werden, sämmt-
liche logische Formen aufzustellen und für jede die grammati-
sche Form nachzuweisen; weder hätte eine logische Form ohne
lautlichen Ausdruck, noch eine grammatische Form, ohne ihre
logische Stelle zu finden, übrig bleiben dürfen. Becker dagegen
zählt hierauf in der losesten Einführungsweise vier Formen auf,
Raum und Zeit, Gegensatz und Causalität, an welche er einige
andere anschließt. Diese Kategorien zeigen sich aber in der
Sprache gar nicht in dieser logischen Einfachheit und Reinheit;
und diese Umgestaltung der Logik in die Grammatik bekundet
eine eigenthümliche Macht der Sprache, im Gegensatze zur Lo-
gik, und von ihr abhängig.
§ 46. Rückweisung der Grammatik durch die Logik.
Noch unglücklicher aber lief die Logificirung der Gram-
matik bei einem Logiker ab, der uns mittelbar durch Becker
selbst, unmittelbar aber durch einen viel höher stehenden Mann,
durch Trendelenburg (I, S. 315), empfohlen ist, nämlich E. Rein-
hold. Sein Unternehmen mußte um so mehr mißlingen, je
strenger er sich auf logischem Standpunkte hielt; ja, weil er
wirklich lobenswerth streng war, schlug die beabsichtigte Auf-
nahme in eine völlige Abweisung um. Er lehrt uns (Lehrbuch
der philosophisch-propädeutischen Psychologie und der formalen
Logik, 2. Aufl. 1839. S. 327 u. ff.): „Gemäß dem Verhältniß,
in welchem die Wortsprache zu dem bewußtvollen Vorstellen
steht“ (nämlich das Wort ist Zeichen der Vorstellung), „gebührt
der Logik die Begründung und Nachweisung der für die gram-
matische Vermittlung des Denkens schlechterdings erforderlichen
Sprachformen, und die Hervorhebung ihres Unterschiedes von
8
[114] den übrigen, welche nur die Gewandtheit, Bequemlich-
keit und Leichtigkeit in der Gedankenverbindung und in
dem Gedankenausdruck bedingen und befördern.“ Dieser Ein-
gang spricht schon in vollständiger Bestimmtheit aus, daß es
unmöglich ist, die Grammatik ganz und gar zu vernichten und
ihren Inhalt der Logik anzueignen. Diese Aneignung will nur
zur Hälfte gelingen; die andere Hälfte ist das eigenthümliche
Erzeugniß der Sprache, und die Triebkraft desselben ist „Ge-
wandtheit, Bequemlichkeit und Leichtigkeit“ — wessen? der
Sprache, oder Reinholds und Beckers? Diese Worte haben uns
lebhaft an einen Satz der Grammaire générale et raisonnée de
Port-Royal erinnert, wo über die Geschlechtsendungen der Ad-
jectiva Folgendes gelehrt wird: Comme les noms adjectifs de leur
nature conviennent à plusieurs, on a jugé à propos, pour ren-
dre le discours moins confus, et aussi pour l’embellir par
la variété des terminaisons, d’inventer dans les ad-
jectifs une diversité selon les substantifs auxquels on les appli-
querait.
Vielleicht indessen vermuthet der Leser mit uns, daß die
nicht-logischen Formen der Sprache auch für die Grammatik
die unwesentlichen sind, wogegen der wesentliche Theil der
Grammatik vielmehr der Logik gehört. Reinhold fährt fort:
„Nun sind die Sprachformen sämmtlich auf die gewöhnlich so
genannten Redetheile oder Wortarten, und auf die Beugung und
die Stellung der Worte im Satze und in der Verknüpfung der
Sätze zurückzuführen. Aber von der Flexion ist gleich im
Voraus zu bemerken, daß sie keine andern als in logischer Hin-
sicht außerwesentlichen Formen enthält, und gleichfalls gilt
dies von der Wortstellung, daß sie in keinem Zusammenhange
unserer Vorstellungen mit Nothwendigkeit durch das Denken
bestimmt wird. Daher bleibt die Ausführung jenes Problems
auf den engen Bezirk einer Ableitung der Wortarten aus den
Classen der Einzelvorstellungen beschränkt.“ Wenn nun die
Flexion ohne Widerrede der wesentlichste Theil der Grammatik
ist, so fällt die Grammatik gerade mit ihm aus der Logik her-
aus. Das ist begreiflich mit Reinholds „Leichtigkeit und Be-
quemlichkeit“ und dem französischen juger à propos et embellis-
sement, aber nicht nach Beckers Organismus.
Wir sind nicht halsstarrig; lassen wir die Flexion als lo-
gisch unwesentlich fahren! Die Redetheile sind ja das eigent-
[115] liche Wesen der Flexion; wenn nur sie logisch sind! Wie steht
es mit ihnen bei Reinhold? Sehen wir nur sogleich das Ender-
gebniß seiner Ableitung (S. 330): „Demnach sind die Grund-
bestandtheile der Sprache, welche durch die logische Natur des
bewußtvollen Vorstellens mit Unerläßlichkeit erfordert werden:
1) das ursprüngliche Substantiv, 2) das ursprüngliche Adjectiv,
3) das aus dem ursprünglichen Adjectiv abgeleitete Substantiv.“
Weiter nichts? — Nein! — Und das Verbum? ist logisch un-
wesentlich. Die Copula, lehrt Reinhold, wird von der Logik
nicht gefordert; die bloße Nebeneinanderstellung des Subjects
und Prädicats genügt. Das Verbum Sein ist das ursprüngliche
Zeitwort und ist eine Verbindung der Copula mit der Zeitbe-
stimmung. Verbindet man mit diesem schon eine Verbindung
enthaltenden ursprünglichen Zeitwort Sein noch das Adjectivum,
so erhalten wir „das abgeleitete Zeitwort, das gewöhnlich
sogenannte Verbum.“ Endlich ist noch das Zahlwort „durchaus
erforderlich“. — Und Adverbium, Artikel, Pronomen, Präposi-
tion? nichts als das „Bedürfniß eines leichtern und bequemern
Ausdruckes“. Das zeigt denn doch wohl genügend, wie schwer
und unbequem sich die Grammatik für die Logik macht.
Wir sind nicht halsstarrig. Ist es nicht vielleicht ein blo-
ßes Vorurtheil, welches wir Grammatiker haben, daß wir so
viel Gewicht auf das Verbum legen? Laß fahren Verbum, Pro-
nomen, Präposition, Adverbium! Besser ein kleiner Besitz, aber
sicher und gehaltvoll, als ein großer, aber unsicher und leeres
Wort. Wir sind zufrieden! Von der ganzen Grammatik ist
nichts weiter wesentlich als Substantiv und Adjectiv, und diese
gehören der Logik, und da hierauf, auf der logischen Natur der
Sprache, nach Becker ihre organische Natur beruht, so soll sie
immer noch organisch sein, und wir nehmen nur noch eine An-
merkung Reinholds mit. „Was hier durch die logische Natur
unseres Denkens zunächst schlechthin erfordert wird, ist nur das
Vorhandensein jener Wortarten als der grammatischen Vorstel-
lungsmittel der angegebenen Bestandtheile des Urtheils. Daß jene
Arten sich auch durch ihre grammatischen Formen von einan-
der unterscheiden, ist zwar sehr zweckdienlich (à propos) und
wird in diesem Sinne durch die Logik von der Sprache ver-
langt; aber es ist nicht unumgänglich erforderlich, wird nicht
mit strenger Nothwendigkeit erheischt.“
Somit begiebt sich die Logik aller Forderungen an die
8*
[116] Grammatik, und die Sprache schafft ihre Formen in eigenem
Drange, nach eigenen Gesetzen, in unveräußerlicher Selbstherr-
schaft. Becker, der nur logische Gesetze kennt, ist ihrem Ge-
biete fern geblieben. Die obigen Analogien lassen uns aber zu-
gleich den Grund dieser Verschiedenheit von Grammatik und
Logik wenigstens ahnen.
C. Vermittlung zwischen Grammatik und Logik.
§. 47. Beckers falsche Anklage.
Beckers logische Betrachtung der Sprache ist, wie schon
bemerkt, die älteste und zugleich nie aufgegebene Weise der
Grammatik. Nur in neuester Zeit haben sich Stimmen erhoben,
welche die Grammatik von der Logik trennen und selbständiger
hinstellen wollen. Wenn nun Becker sagt, dieses Widerstreben,
in der Grammatik nichts als Logik zu sehen, wurzele, genau
betrachtet, in der verschollenen Ansicht von einer künstlichen
Erfindung der Sprache; so ist das den Thatsachen Hohn ge-
sprochen. Jene logischen Grammatiker gerade behaupteten die
Erfindung der Sprache, und wir haben mehrere Male gesehen,
wie Becker, weil er Logiker ist, nur von einer künstlichen Er-
findung der Sprache zu reden vermag; jetzt aber endlich, nach-
dem mit einer tiefern Ahnung von dem Wesen und dem Ur-
sprung der Sprache zugleich ein feineres Gefühl für ihre Eigen-
thümlichkeiten herrschend geworden ist, wird auch die Forde-
rung laut, daß die Grammatik von der Herrschaft der Logik
zu befreien sei. Wir begrüßen sie freudig als von bester Vor-
bedeutung, obwohl wir uns ihr nicht vollständig anschließen
können, weil sie uns noch nicht klar genug über ihr Wesen zu
sein scheint. Ihr zu dieser Klarheit zu verhelfen, tragen wir
mit aller Kraft bei, und wissen uns in diesem Bemühen in der
Gesellschaft der besten Männer.
§. 48. Verschiedenheit zwischen Grammatik und Logik nach Trendelenburg.
Je weitere und gründlichere Ausbildung die Etymologie in
diesem Jahrhunderte erlangte, je mehr die Vergleichung der
Sprachen in die unterscheidenden, individuellen Merkmale der-
selben eindrang, um so mehr drängte sich der Forschung ein
Wesen der Sprache auf, welches logisch unmeßbar blieb, häufig
auch der Logik und dem wahren Sachverhältnisse widersprach.
Ohne sich aber tiefer auf den Grund, auf die Möglichkeit die-
[117] ser Erscheinungen einzulassen, faßte man sie im Allgemeinen
zusammen unter dem Ausdrucke: Autonomie oder Indivi-
dualität der Sprache. Man suchte, wie es scheint, fast mehr eine
Entschuldigung als einen Grund für die Verstöße der Sprache
gegen die Logik, und die wirkliche Erkenntniß der Sache in der
Naivetät des Volksgeistes, welcher die Sprache schuf, in seiner
kindlich poetischen Anschauung, welche Todtes belebt, logische
Unterschiede übersieht, andere der Anschauung zugänglichere
an die Stelle jener setzt u. s. w. Vielleicht spricht sich hier-
über Niemand so gut aus wie Trendelenburg (I. S. 317): „Die
Sprache stellt überhaupt die Welt des Sprechenden dar und die
fremden Dinge als die eigenen. Daher wird sie, je näher dem
Anfange, desto mehr eine Richtung auf subjective Bezeichnungen
haben. Denn die hervorbrechende Sprache ist die erste leben-
dige Rückwirkung des individuellen Geistes gegen den Sturm
der Eindrücke von außen. Der Geist befreiet sich von der auf
ihm lastenden Masse und von der bunten Menge, indem er die
Dinge bezeichnet und sich dadurch in ihnen zurecht findet. Der
Sprechende ist sich gleichsam der Mittelpunkt des Weltalls, ähn-
lich wie sein Standort als der Mittelpunkt des Horizonts er-
scheint, und wie in der geographischen Vorstellung der Kindheit
der Wohnort den Mittelpunkt des Erdkreises bildet … In der
Sprache ist der Mensch das Maß der Dinge. — Mit dieser
subjectivirenden Richtung ringt das Recht des sich objectiviren-
den Geistes. In dem Erkennen wird das Denken gleichsam zur
Sache; es will diese und nur diese in ihren Verhältnissen und
ihrer Entstehung. Dieser nothwendige Drang prägt sich dem-
nach ebenso in der Sprache aus, und man gewahrt mit der er-
starkenden Reflexion diese zweite Richtung, auf ähnliche Weise,
wie in der organischen Entwickelung der griechischen Literatur
die der Wirklichkeit zugewandte Prosa später als die Poesie
erscheint. — Obwohl sich demnach zwei entgegenstrebende Rich-
tungen in der Sprache werden verfolgen lassen, so könnte es
doch leicht geschehen, daß diese oder jene Kategorie, die lo-
gisch betrachtet auch einen objectiven Charakter hat, in der
Sprache nur einen subjectiven Ausdruck empfangen hätte, und
es wäre von vorn herein ein wesentlicher Unterschied der
grammatischen und logischen Kategorien wahrschein-
lich.“ Diese Bemerkung ist allerdings nur bei Gelegenheit des
einen Punktes, nämlich der subjectiven und objectiven Bedeu-
[118] tung der Kategorien gemacht; aber sie läßt sich, ohne ihr Ge-
walt anzuthun, viel weiter ausdehnen, und fordert dies sogar.
Denn die subjectivirende Richtung der Sprache wird tausend-
fach mit der objectiven Richtung der Logik und Erkenntniß in
Zwiespalt gerathen. So erlangen wir hier einen Blick in die
Möglichkeit der Grammatik als einer von der Logik unterschie-
denen Disciplin. Becker darf sich auf diese subjectivirende Rich-
tung der Sprache nicht berufen; denn ist die Sprache die or-
ganische Verleiblichung, das Organ des Denkens, so ist sie an
sich das objective Denken selbst, und es kann in ihr keine sub-
jectivirende Richtung herrschen. Mit der obigen Bemerkung
Trendelenburgs ist der Beckersche Gedankenkreis vollständig
durchbrochen; wir sind aus dem Gebiete objectiver Verleibli-
chung herausgehoben und in das subjective Gebiet der mensch-
lich-geistigen Thätigkeit versetzt.
§. 49. Die logische Grammatik bei Humboldt.
Um aber volle Klarheit über das Wesen dieser vermitteln-
den Ansicht zu gewinnen, müssen wir uns doch an Humboldt
wenden, der wohl ihr vorzüglichster Vertreter genannt werden
muß. Nur müssen wir sogleich hier bemerken, daß nicht auch
umgekehrt diese Vermittlung die vorzüglichste Seite Humboldts
ist, wie sie denn auch nur in seiner ersten Abhandlung über
das vergleichende Sprachstudium ausgesprochen ist, in der Ein-
leitung in die Kawi-Sprache aber durchaus zurücktritt. Doch
läßt sich auch andererseits nicht sagen, daß Humboldt dieselbe
jemals aufgegeben habe. Sie scheint mir nun folgende zu sein.
Die Kategorien der Sprache sind dem größten Theile nach
logischen Wesens, allgemeine Denk- und Anschauungsformen,
die ein abgeschlossenes System bilden. Dieses System aber der
grammatischen oder grammatisch-logischen Formen gehört, eben
weil es ein logisches ist, gar nicht der Sprachwissenschaft an,
wenigstens noch nicht eigentlich und streng genommen; sondern
es bildet ihren allgemeinen Hintergrund. Es enthält die Lehn-
sätze aus der Logik, welche der Sprachwissenschaft unerläßlich
sind. Das ist es nun, was man philosophische oder allgemeine
Grammatik nennen mag, was aber noch gar nicht Grammatik
ist, sondern nur eine Zusammenstellung der logischen Katego-
rien, welche für die Grammatik in Betracht kommen. Anderer-
seits aber ist dieses Kategoriensystem doch auch nicht mehr
rein logisch; denn es enthält nicht bloß reine Lehnsätze aus
[119] der Logik; sondern die Kategorien sind schon in ein be-
stimmtes, nicht durch die Logik gegebenes, Verhältniß zu
einander gebracht, und in bestimmter, nicht von der Logik vor-
gezeichneter, Weise modificirt worden. Das Leitende dieser
Verhältnisse und Modificationen aber ist die Rücksicht auf die
Grammatik, auf die Bedürfnisse der Sprache. Diese logische
Grammatik, welche weder Grammatik noch Logik ist, bildet das
vermittelnde Glied zwischen beiden und spricht, wenn man einer-
seits von der Logik ausgeht, die Forderungen der Logik an die
Sprache, wenn man andererseits von der Grammatik ausgeht,
das Bedürfniß der Sprache nach ihrer logischen Seite aus.
Zu dieser logischen, idealen Grammatik, welche die wirk-
lichen Sprachen noch nicht berührt, käme nun erst die wirkliche
Grammatik, welche nicht bloß zu sehen hätte, welche Lautfor-
men in jeder Sprache für die Kategorien der idealen Gramma-
tik existiren, sondern auch, ob das ideale Kategoriensystem in
einer Sprache vollständig und ohne Lücke, rein nach der idea-
len Bedeutung oder im Gegentheil nur mit getrübter Bedeutung,
ausschließlich oder mit fremdartigen Elementen vermischt, ent-
halten ist. Denn nach allen diesen Beziehungen weichen die
wirklichen Sprachen von der idealen Grammatik ab. Sie be-
sitzen theils das ideale Schema nicht vollständig, theils haben
sie die Bedeutung einzelner Kategorien getrübt, theils haben sie
ganz eigenthümliche, weder der Logik angehörige, noch dem
Wesen der Sprache nothwendige Kategorien geschaffen und nicht
nur mit letztern den Mangel des Schemas ersetzt, sondern sogar
dieselben in wuchernder Ueppigkeit entwickelt. Diese wirkliche
Grammatik zerfiele in eine besondere und eine allgemeine. Die
besondere hätte die eben bestimmte Aufgabe für die besondere
Sprache zu erfüllen; die allgemeine hätte zu zeigen, welche Ka-
tegorien wohl überhaupt in der Sprache der Menschheit auftre-
ten, und welchen Grad, welchen Umfang die Verschiedenheit,
in der in Wirklichkeit jene idealen Kategorien der logischen
Grammatik umgestaltet worden sind, und welche Größe und
Bedeutung der Abstand der einzelnen Sprachen von einander
erreicht hat. Für diese allgemeine Grammatik würde die ideale
gewissermaßen das Knochengerüste bilden. Die ideale würde
aber auch erst durch die allgemeine mit sprachlichem Fleisch
und Blut bekleidet werden und erst durch sie etwas anderes
sein als ein todtes, trocknes Gerippe — lebendiger Leib; denn
[120] selbst die durchaus selbständigen Schöpfungen der Sprache, die
Kategorien, in denen sie ihre Autonomie zeigt, eben so wie jene
Kategorien, die ihrer Bedeutung nach nur durch die individuali-
sirende Richtung mehr oder weniger umgestaltet sind, müßten
sich als Unter- und Abarten der idealen Kategorien an sie an-
schließen.
Diese Ansicht, ohne daß sie meines Wissens in dieser Be-
stimmtheit und Vollständigkeit irgend wo ausgesprochen wäre,
ist zwar nicht die verbreitetste, aber gerade unter den bedeu-
tenden Sprachforschern verbreitet und von Humboldt häufig
und vielfach angedeutet, und als vermittelnde hat sie viel Em-
pfehlendes.
§. 50. Rückweisung der Vermittlung.
Wir aber hassen jede derartige Vermittlung im Grunde un-
serer Seele. Von den Gliedern eines Gegensatzes sagen wir: sie
sollen nicht sein; sind sie aber, so müssen sie sein, wie sie sind.
Jede Vermittlung dagegen scheint uns eine Verfälschung; jede
Vermittlung hindert den Fortschritt; denn sie hindert den Kampf,
den Sieg.
Was den vorliegenden Punkt betrifft, die Vermittlung zwi-
schen Logik und Grammatik in einer logischen Grammatik, so
erkennen wir der letztern gar kein Recht des Daseins zu, indem
wir nach dem Obigen ganz entschieden der Logik das Recht,
Forderungen an die Sprache zu stellen, und der Sprache ein
logisches Bedürfniß völlig absprechen müssen.
Stellen wir uns zuerst auf Beckers Seite, so kann die Spra-
che um kein Haar breit von der Logik abweichen; es darf keine
Grammatik geben, nur Logik. Wie kann die Sprache der Lo-
gik gegenüber eine Autonomie haben? denn wie kann sie ihr
gegenüber etwas sein? sie, die an sich selbst nichts ist als ver-
leiblichte Logik. Auch die Verschiedenheit der Sprache in
Rücksicht auf die Kategorien ist unmöglich; woher soll irgend
welche Umgestaltung kommen? Die allgemeinen logischen Ge-
setze des Denkens sind so fest, so starr, daß sie nicht die ge-
ringste Nüancirung erdulden, nicht in mir, nicht in dir, nicht
im Chinesen, nicht im Buschmann; so wenig wie die mechani-
schen, oder, da wir hier mit Becker reden, die organischen Ge-
setze der Natur hier andere sind als in China und am Cap.
Andererseits aber, herrscht in der Sprache Autonomie, kann
sie theils selbständig schaffen, theils sogar, was ihr die Logik
[121] durch die logische Grammatik bietet, umgestalten, wenn sie es
annimmt, aber auch liegen lassen: so ist sie überhaupt und über-
all selbstherrschend, und keine Logik hat das Recht, Forde-
rungen an sie zu stellen, welche von der Sprache so wenig an-
gehört werden, als sie selbst ein Bedürfniß nach Logik kund
giebt. Wo wäre denn je in der Natur ein solches Verhältniß,
daß berechtigte Forderungen unerfüllt blieben? ein Bedürfniß
die dargebotene Befriedigung zurückwiese? Vielmehr überall in
ihr, wo wir etwas vermissen, haben wir kein Recht zu fordern
oder ein Bedürfniß zu erdichten. Wir können uns freilich auf
einen ästhetischen, idealen Standpunkt stellen und die Dinge
rücksichtlich ihrer Vollkommenheit messen; wir können die Na-
tur kritisiren. War es zweckmäßig, schön von ihr, die Dinge
so einzurichten, wie sie sind? Ist das Auge ein guter optischer,
das Ohr ein guter akustischer Apparat? Fügen sich die Muskeln
so an die Knochen, daß die größte Kraft der Bewegung er-
reicht wird? und wenn nicht, geschah es vielleicht im Dienste
eines höhern Zweckes? u. s. w. Man braucht oder darf sogar
sich von solchen Untersuchungen nicht dadurch abhalten lassen,
daß man leicht Gefahr läuft, subjective Bedürfnisse zum Maß-
stabe zu nehmen; aber man muß auch diese Gefahr wirklich
überwinden, indem man die Untersuchung gänzlich auf die ob-
jective Erkenntniß des Dinges an und für sich gründet. Die
Forderung, die dem Dinge gestellt wird, muß von ihm selbst
ausgesprochen sein. Das Auge will sehen, das Ohr hören; da-
von können wir nicht absehen; und so läßt sich fragen, ob sie
dergestalt organisirt sind, daß sie sich selbst genügen. Wodurch
bekundet nun aber wohl die Sprache, daß sie der Logik genü-
gen, logisch sein wolle? sie, die der Logik spottet? sie nüancirt,
d. h. verhöhnt? Was giebt uns ein Recht, ihre Vortrefflichkeit
an der Logik zu messen? Wenn die Logik immer der Sprache
fremd ist, bleiben wir dann nicht mit diesem logischen Maß-
stabe außerhalb der Sprache? durchaus subjectiv? Ist die Spra-
che autonom, so liegt ihre Vortrefflichkeit auch nur darin, diese
Autonomie recht kräftig walten zu lassen; die Kraft ihrer Au-
tonomie ist der objective Maßstab für die Vortrefflichkeit der
Sprache. Und selbst wenn die Sprache die Entwickelung der
Erkenntniß, des logischen, verständigen Denkens fördert, so kann
sie es nur durch ihre Autonomie, nicht durch Unterwerfung unter
die ihr fremde Logik; sie kann nur kräftig wirken vermittelst
[122] und gemäß ihrer eigenthümlichen Natur, nicht durch ihre Unnatur.
Ihre Autonomie aber wäre ihre Natur, die Logik ihre Unnatur.
Also entweder die Logik verschlingt die Grammatik, oder
die Grammatik macht sich völlig frei von der Logik.
§ 51. Analogie und Anomalie.
Wenn man uns auf Plato und Aristoteles verwiesen hat,
welche Logik und Grammatik vereint bearbeitet haben, so ver-
weisen wir unsererseits auf die Stoiker, welche an die Anfänge
Platons und Aristoteles sich anschließend, von ihnen aus, von
dem Principe derselben ausgehend und folgerecht vorschreitend,
zu dem Ergebniß gelangten, in der Sprache herrsche nicht Ana-
logie, d. h. Uebereinstimmung mit der Logik, sondern Anomalie,
Abweichung von ihr. Die alexandrinischen Grammatiker haben
sich auf solche Untersuchungen nicht eingelassen; bei ihnen ha-
ben die Ausdrücke Analogie und Anomalie eine andere Bedeu-
tung erhalten. Jetzt sind wir auf die Frage der Stoiker, des
Chrysippos zurückgekommen. Becker ist der moderne Analoget;
die Vermittler wollen eine gemäßigte Analogie, sie machen einen
modernen Anomalisten, der die Untersuchungen des Chrysippos
wieder aufnähme, überflüssig; wir aber treten aus diesem ganzen
Streit heraus, indem wir behaupten: die Grammatik ist nicht
logisch, also die Sprache weder analog, noch anomal. Die Stoi-
ker haben nicht minder geirrt als ihre Gegner, die Anomalisten
nicht minder als die Analogeten; denn wer heißt sie die Spra-
che an der Logik messen? Indem ich die Logik als Maßstab
der Sprache verwerfe, weise ich auch jedes Ergebniß dieses
Messens zurück. Die Sprache ist nicht anomal, eben weil sie
um die Logik unbekümmert ist, von ihr keine Gesetze anzuneh-
men hat.
§ 52. Trübung der Logik.
Endlich noch eins. Man hat, indem man die Grammatik
logisch machen wollte, nicht bloß vom Wesen der Grammatik
die ungenügendste Vorstellung gehabt, sondern nicht einmal
immer das Wesen der Logik fest im Auge behalten. Es würde
uns zu weit führen, dies ausführlich darzulegen; aber an einer
Einzelheit wollen wir diesen Vorwurf rechtfertigen, weil sie eine
unmittelbare Ueberzeugung gewährt. Um zu beweisen, daß die
Logik der Sprache nicht immer die der Schule sei, führt, wie
wir oben mittheilten, Becker das Beispiel der Taubstummen an,
welche, wenn sie ohne Aufsicht des Lehrers waren, die Zeichen
[123] ihrer Zeichensprache nicht nach den Gesetzen der Logik der
Schule auf einander folgen ließen. Mir ist völlig unbekannt,
daß in der Logik der Schule ein Abschnitt eine bestimmte Wort-
folge festsetze, daß überhaupt in der Wortstellung eine logische
Bedeutung liege. Die Logik lehrt wohl, unter welchen Um-
ständen zwei Begriffe verbunden werden können; aber welches
Wort hierbei im Satze voranstehen, welches folgen solle, bleibt
ihr gleichgültig; a = b und b = a sind für die Logik nicht
verschieden: das gerade lehrt sie, z. B. bei Aristoteles πεϱὶ ἑϱμ.
10. — Wir fügen aber zu dieser Einzelheit noch eine allgemeine
Bemerkung eines der schärfsten Denker, Herbarts: „Und die
Logik ist keine Sprachlehre“, womit er mancherlei aus der Lo-
gik streicht, was hier nicht weiter zu erörtern ist. Wir wollen
nur die Grammatik von aller Einmischung der Logik befreien.
D. Humboldt.
Es wäre jetzt unsere Aufgabe, was wir oben durch Kritik
wie durch Analogien wahrscheinlich gemacht haben, ein durch-
aus selbständiges, von der Logik unberührtes Wesen der Sprache
und Grammatik, durch positive Erörterungen zur Gewißheit und
zur vollen Klarheit der Erkenntniß zu bringen. Wenn wir un-
sere Kritik nicht als bloße Bekämpfung anderer Ansichten, son-
dern vorzüglich als die eine Seite der Begründung unserer An-
sicht betrachtet wissen wollen, so wird doch auch hinwiederum
erst durch die positive Darlegung dieser das volle Licht auf
den Werth oder Unwerth der entgegenstehenden Meinungen
fallen. Wir wollen nur zuvor Einiges über Humboldt bemerken.
§. 53. Abweichungen Beckers von Humboldt.
Becker beruft sich vielfach auf Humboldt, und es herrscht
die Ansicht, er habe das Princip des Organismus der Sprache
von Humboldt entlehnt oder mit ihm gemeinsam und habe es
besonders entwickelt. Aus unserer Kritik indeß geht wohl hin-
länglich hervor, wohin Becker im Allgemeinen mit seiner phi-
losophischen Anschauungsweise gehört: in die Naturphilosophie,
wie sie am Anfange unseres Jahrhunderts ihr Wesen trieb —
eine Richtung, die von allen ernsten Denkern verachtet, vielfach
gegeißelt worden ist, und mit der Humboldt nicht das mindeste
gemein hat. Es ist ferner, um eine Uebereinstimmung zwischen
Humboldt und Becker durchaus zweifelhaft zu machen, wohl
[124] beachtenswerth, daß Humboldt nirgends Beckers gedenkt, ob-
wohl er sonst gelegentlich auf Schriften verweist, die er nur in
bedingter Weise billigt.
Wir wollen uns aber nicht damit begnügen, nur ganz all-
gemein auf den völlig verschiedenen Geist der Untersuchung so-
wohl, als die durchaus abweichenden Ergebnisse der Beckerschen
und Humboldtschen Sprachwissenschaft zu verweisen; sondern
wenn wir in ersterer Beziehung schon Humboldts Dialektik ge-
rühmt, Beckers Undialektik getadelt haben, so wollen wir hier
noch einige unterscheidende wesentliche Einzelheiten hervorheben.
Becker behauptet, sein grammatisches System sei allgemein
gültig für alle Sprachen, und dies sei der Beweis seiner Rich-
tigkeit; er erkennt zwar an, daß die Grammatik in den beson-
dern Sprachen Modificationen erfahre, dennoch sei „durch diese
autonomischen Besonderheiten keine absolute Grenze zwischen
die einzelnen Sprachen gesetzt“. Humboldt aber hat gerade,
schon in seiner Abhandlung über das Entstehen grammatischer
Formen, eine absolute Grenze zwischen zwei Sprachclassen ge-
setzt. Becker sagt weiter: „vielmehr hat die Grammatik von
jeher neben der Besonderheit die Einheit aller Sprachen aner-
kannt. Denn was ist es anders als die Anerkennung dieser Ein-
heit, wenn die Grammatik in fast allen Sprachen gleiche Wort-
formen, Casus, Modus, Präpositionen, Conjunctionen u. s. w. mit
denselben Namen unterschieden hat?“ Humboldt dagegen hat
sich mit aller Schärfe, schon in der genannten Abhandlung,
gegen dieses völlig unberechtigte Verfahren ausgesprochen, alle
Sprachen nach denselben grammatischen Kategorien zuzurichten.
— Becker sagt (S. 3.): „Wenn Völker, deren Intelligenz einen
höhern Aufschwung genommen, auch ihre Sprachen in größerem
Reichthum und in größerer Lebendigkeit entwickeln; so ist an-
dern Völkern unter übrigens gleichen Bedingungen ein höherer
Aufschwung der Intelligenz nur darum versagt, und besondere
Richtungen der geistigen Entwickelung bleiben ihnen nur darum
verschlossen, weil ihre Sprache durch besondere Geschicke die
jugendliche Frische und Beweglichkeit verloren hat, und in eine
Starrheit versunken ist, die einer freien Entwickelung der Intel-
ligenz hemmend entgegentritt.“ Ganz im Gegentheil meint
Humboldt, daß die hier gemeinten Sprachen schon ursprüng-
lich, entweder durch Schwäche oder durch eine falsche Rich-
tung des Sprachsinnes im Volke, mit ihren Mängeln geboren
[125] sind; darum eben sei ihren Mängeln nie vollkommen abzuhelfen,
während ursprünglich kräftige, aber in Schwäche versunkene
Sprachen nur des günstigen Augenblicks gewärtig seien, um sich
plötzlich in neuer Pracht zu erheben: dies eben setzt die abso-
lute Grenze zwischen jene schwachen und diese kräftigen Spra-
chen. — Endlich: Becker will die Anfügung der Flexionsendun-
gen an die Wurzel nicht anerkennen; Humboldt hat sie gerade
auch für das Indoeuropäische als die allgemeine Entstehungsweise
der Formen behauptet und will nur für einzelne Fälle auch die
andere Möglichkeit nicht läugnen. (Man vergl. außer §. 14. der
Einleitung auch S. CCCXCVII., CCCCXXIV) Rücksichtlich die-
ses Punktes scheint in den angeführten Stellen Humboldt sogar
ausdrücklich Becker widersprechen zu wollen; er scheint dessen
unklare Vorstellung von „organischem Differenzverhältniß“ von
sich abweisen zu wollen. Und sollte nicht ein beabsichtigter
Widerspruch gegen Beckers Sprachphysiologie darin liegen,
wenn er S. CCCXIII sagt, die Entwicklung der Sprache sei „nicht
die eines Instincts, der bloß physiologisch erklärt werden
könnte“?
§. 54. Organismus bei Humboldt.
Alle diese Punkte wird man leicht als wesentlich erkennen.
Man nehme hinzu, daß wir rücksichtlich des Verhältnisses zwi-
schen Grammatik und Logik Humboldt zu den Vermittlern zäh-
len müssen. Ausführlich aber wollen wir die Frage beantwor-
ten: Was bedeutet bei Humboldt Organismus? Auch an diesem
Schlagworte Beckers werden wir sehen, wie er nichts mit Hum-
boldt gemein hat. Es ist nun aber schon bemerkenswerth, daß
in der ganzen, 414 Quartseiten langen Einleitung in die Kawi-
Sprache das Wort Organ mit allen seinen Ableitungen, als or-
ganisch, Organismus, organisirt u. s. w. nur etwa 60 mal vor-
kommt*), also nicht öfter als zuweilen in einem Paragraphen
Beckers. Humboldt ist in der Sache und hat darum nicht nö-
[126] thig, den Namen auszusprechen; Becker muß sich fortwährend
das Wort vorsprechen, um sich einzureden, er sei bei der Sa-
che. Wichtiger ist noch, daß bei Humboldt jenes Wort durch-
aus keine principielle Bedeutung hat, daß er es ausdrücklich für
ein Bild erklärt, welches über das Wesen der Sache keinen
Aufschluß geben kann, daß es also bei ihm nur ein gelegentli-
cher Ausdruck ist. Doch was bedeutet es?
Beginnen wir mit der durch Becker berühmt gewordenen
Stelle der Abhandlung über das vergleichende Sprachstudium:
„Unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens in dessen
sinnlicher und geistiger Geltung, theilt die Sprache darin die Natur
alles Organischen, daß jedes in ihr durch das andere, und alles in
ihr nur durch die eine das Ganze durchdringende Kraft besteht.“
Auch in der Einleitung S. LX. wird die Sprache ein „Aushauch“
genannt; und damit, wie mit dem Beiwort „unmittelbar“, soll
wohl angedeutet sein, was S. XXI. bestimmter so ausgesprochen
wird: „Die Sprache entspringt aus einer Tiefe der Menschheit,
welche überall verbietet, sie als ein eigentliches Werk und als
eine Schöpfung der Völker zu betrachten. Sie besitzt eine sich
uns sichtbar offenbarende, wenn auch in ihrem Wesen unerklär-
liche, Selbstthätigkeit und ist von dieser Seite betrachtet, kein
Erzeugniß der Thätigkeit, sondern eine unwillkürliche Ema-
nation des Geistes, nicht ein Werk der Nationen, sondern eine
ihnen durch ihr inneres Geschick zugefallene Gabe.“ Die Spra-
che hat aber nach Humboldt allerdings noch eine andere, dieser
entgegengesetzte Seite, die von dem undialektischen Becker un-
beachtet bleibt, für Humboldt aber keine geringere Wichtigkeit,
als die hier besprochene hat. Mit Rücksicht auf diese wird auch
S. CCCXCIV. daran erinnert, daß die Sprache „eine lebendige
Schöpfung aus sich selbst“ ist. Aber ein Widerspruch tritt bei
Vergleichung dieser und anderer Stellen der Einleitung mit je-
ner der Abhandlung darin hervor, daß, während in letzterer die
Sprache „unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens in
dessen sinnlicher und geistiger Geltung“ genannt wird, sie
in der Einleitung fast durchaus nur mit dem Geiste in Verbin-
dung gesetzt wird. So mag z. B. die Stelle (S. LX.), die Spra-
che sei „ein geistiger Aushauch eines nationell individuellen Le-
bens“ immerhin ohne Absichtlichkeit gesetzt sein; es mag in
ihr eine ganz unbeabsichtigte Reminiscenz Humboldts an seine
[127] eigenen Worte der Abhandlung liegen: sie ist da, und zwar cor-
rigirend. Es ist allerdings richtig, daß Humboldt das Wesen
der Sprache nicht in dem bloß Innern sieht, sondern im Ge-
gentheil darin, daß das Innere den Laut durchdringe; dieses
Durchdringen ist die Synthesis der Sprache. Diese Thätigkeit
aber, dieser sprachschöpferische Act ist „ganz und ausschließ-
lich in der geistigen Natur des Menschen gegründet“; ein
„Drang der Seele nöthigt den körperlichen Werkzeugen den
articulirten Laut ab“ (§. 10. Anf.). Diese Abnöthigung der
Laute wird man doch nicht mit Beckers Ansicht von dem durch
die Begriffe auf die Sprachwerkzeuge ausgeübten organischen
Reiz gleichsetzen? Ja, Humboldt setzt zwischen den Laut und
das Innere eine gewisse Feindschaft, einen Widerspruch; der
Laut setzt dem Gedanken, der sich äußern will, einen Wider-
stand entgegen, und aus der mangelhaften Ueberwindung dieses
Widerstandes entstehen dann jene schwächlichen, unvollkomme-
nen Sprachen. So heißt es z. B. (S. CII.): „Man muß die
Sprachbildung überhaupt als eine Erzeugung ansehen, in welcher
die innere Idee, um sich zu manifestiren, eine Schwierigkeit
zu überwinden hat. Diese Schwierigkeit ist der Laut, und die
Ueberwindung gelingt nicht immer in gleichem Grade… Aller-
dings ist dann immer auch Schwäche der lauterzeugenden Ideen
im Spiel, da der wahrhaft kräftige Sprachsinn die Schwierigkeit
allemal siegreich überwindet“ u. s. w. So wird Seiten lang ein
Kampf des „von innen heraus arbeitenden Sprachsinnes“ mit dem
Laute geschildert. Wie anders Becker! Bei ihm spricht nicht
der Geist, sondern die Sprachwerkzeuge sprechen. Es sagt doch
Niemand: die Luft athmet, das Licht sieht, sondern die Lunge,
und das Auge; also spricht auch nicht der Geist, welcher nur
reizt, sondern der Mund. Die Luft dringt in die Lungen, der
Gedanke in die Zunge!
Auf den anderen Theil des angeführten Satzes der Abhand-
lung näher einzugehen, ist nicht nöthig, da wir schon wissen,
was bei Becker organische Einheit ist. Auf den Begriff des
conträren Gegensatzes gegründet, würde sie wenigstens den
Werth der logisch-systematischen Einheit haben, wenn nicht
diese Kategorie selbst bei ihm zur Phrase geworden wäre. End-
lich aber meinen wir, daß es völligen Mangel an Kritik, an ge-
wissenhaftem Denken verräth, sich auf eine so schwankende,
[128] haltlose Stelle, wie die in jener Abhandlung ist, zu berufen, da
Humboldt so viel gethan hat, um sie näher zu bestimmen, sogar
zu verbessern.
Was bedeutet nun in der Einleitung organisch? Zunächst:
was die Sprachorgane betrifft. So wird z. B. S. LXXXIX. ein
Gesetz organisch genannt und erklärt als: „aus den Sprach-
werkzeugen und ihrem Zusammenwirken entstehend, von der
Leichtigkeit und Schwierigkeit der Aussprache abhängend, und
daher der natürlichen Verwandtschaft der Laute folgend“, und
wird somit dem geistigen Principe der Sprache entgegenge-
setzt. Dieser Gegensatz ist aber so groß, „daß, wenn das gei-
stige Princip in der Kraft seiner Einwirkung nachläßt, das
organische das Uebergewicht gewinnt, so wie im thierischen
Körper beim Erlöschen des Lebensprincips die chemischen Affi-
nitäten die Herrschaft erhalten.“ Organisch bedeutet also hier
geradezu das Unorganische der Sprache, oder vielmehr nur über-
haupt das eigentliche Stoffelement derselben, welches je nach
der Combination der Atome organisch oder unorganisch ist. So
wenig in den möglichen Verbindungen des Sauerstoffs, abstract
oder an sich genommen, schon etwas Organisches oder Unorga-
nisches liegt, ebenso wenig in den möglichen Uebergängen und
Verwandlungen eines Lautes. Erst wenn ein organisches Princip
die Verbindung des Sauerstoffs mit anderen Elementen leitet,
entsteht ein organisches Erzeugniß; und eben so in der Sprache.
Es ist nur ein geringer Fortschritt, wenn organisch aus die-
ser Gleichgültigkeit gegen das Princip herausgehoben wird, und
nicht mehr bloß überhaupt das Stoffelement der Sprache, son-
dern die im Dienste der Sprache zweckmäßig geschaffene Verbin-
dung der Sprachelemente, der Laute, bezeichnet. Dies ist die häu-
figste, geradezu gewöhnliche Bedeutung des Wortes bei Humboldt.
So spricht er von organischem Sprachbau, organischer Structur,
organischem Sprachgebäude (S. CVI.) und versteht darunter „die
Sprache an sich“ im Gegensatz zum ausgesprochenen Gedanken,
Wortvorrath und grammatische Formen. Ebenso bedeutet „or-
ganisiren“ bauen, ordnen, formen, mit welchen Wörtern es wech-
selt; und da hierbei immer die Voraussetzung gemacht wird,
daß dies Bauen und Formen den Zwecken der Sprache gemäß
geschehe, so bedeutet organisch auch wohl so viel wie: gut, dem
wahren, idealen Wesen der Sprache angemessen, und man fin-
det die Ausdrücke: organisch richtig, und im Gegentheil: nicht
[129] rein organisch. Auch dem Geiste wird Organisation zugeschrie-
ben und darunter seine Neigung, Gewohnheit, Anschauungsweise,
sein Charakter verstanden; diese Organisation kann mehr oder
weniger glücklich sein, was von der Stärke, wie der Richtigkeit
und Angemessenheit der geistigen Thätigkeit abhängt.
Hiermit wird nun aber überhaupt die Sprache, jedoch nur
bildlich, wie ausdrücklich bemerkt wird, einem organischen Kör-
per oder Gliede verglichen. So wird sie (S. XVIII. LXVI.
CCV. CCVI.) „das bildende Organ des Gedankens“ genannt.
Man wird hierbei an die Drüsen des animalischen Leibes erin-
nert, welche gewisse Säfte aus- und absondern, wie an die Spei-
cheldrüsen, an die weiblichen Brüste. Wer bei diesem Bilde
stehen bleiben und, es streng verfolgend, Humboldts Ansicht
darin suchen wollte, würde sie gänzlich verkennen. Denn Hum-
boldt nimmt die Sprache nicht als etwas so Ruhendes, Festes,
wie ein leibliches Organ; sie ist ein geistiges Organ, d. h.
ein solches das, so oft man sich seiner bedienen will, erst selbst
in der Thätigkeit, zu der es mitwirken soll, geschaffen werden
muß; und dennoch andererseits immer ein Organ, das also ge-
geben sein muß. Das ist eben der Widerspruch, den die Me-
taphysik der Sprache klar darzulegen und zu lösen hat. — In
demselben Bilde ist S. CXCVII. von dem Vorzuge die Rede,
den eine Sprache „in den wahrhaft vitalen Theilen ihres Orga-
nismus“ hat; wie man etwa die Blutkügelchen im Gegensatze
zu den Knochen, oder gar Haaren, als besonders vital be-
zeichnet.
Organismus, Organ ist also bei Humboldt, auf die Spra-
che angewandt, bloß ein verdeutlichendes Bild, ohne Geistrei-
chigkeit, wie bei Becker und sonst vielfach, und ohne Mystik,
wie bei Friedrich Schlegel. Was aber unter dem Bilde zu ver-
stehen sei, ist durch die ganze Einleitung hindurch ausführlich
dargelegt; und wenn in ihr die Beziehung und der Zusam-
menhang der einzelnen Theile nur klarer hervorträte — denn
sie fehlt keineswegs —, wenn sie nur nicht scheinbar und dem
Wortlaute nach vielfach zerrissen und zerstückelt wäre — denn
wesentlich und dem Gedanken nach ist sie einheitlich —: so
würde die Sache keine besondere Schwierigkeit haben. Jetzt
aber ist eine Erklärung nöthig, und der Erklärer dabei in der
übeln Lage, die Einzelheit, die nur aus der Gesammtanschauung
Humboldts zu verstehen ist, wieder nur durch Einzelheiten er-
9
[130] klären zu können, die selbst der Erklärung bedürfen: wobei gar
leicht scheinbar und wirklich die Erklärung dunkler werden kann,
als Humboldts Satz selbst dem Leser ist; zumal in den meisten
Lesern noch nicht einmal die Erkenntniß der Dunkelheit und
das Bedürfniß der Erklärung vorhanden ist.
Die wichtigste und belehrendste Stelle über die Bedeu-
tung des bildlichen Ausdruckes Organismus in Bezug auf die
Sprache bei Humboldt, eine Stelle, von der wir ausgehen, die
wir zum Mittelpunkte dieser Untersuchung machen müssen, ist
die folgende (S. CXXI.): „Da die Sprache im unmittelbaren
Zusammenhange mit der Geisteskraft, ein vollständig durchge-
führter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloß Theile
unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens, oder viel-
mehr Richtungen und Bestrebungen desselben. Man kann diese,
wenn man den Organismus der Körper dagegen halten will, mit
den physiologischen Gesetzen vergleichen, deren wissenschaft-
liche Betrachtung sich auch wesentlich von der zergliedernden
Beschreibung der einzelnen Theile unterscheidet. Es wird da-
her hier nicht einzeln nach einander, wie in unsern Grammati-
ken, vom Lautsysteme, Nomen, Pronomen u. s. f., sondern von
Eigenthümlichkeiten der Sprache die Rede sein, welche durch
alle jene einzelnen Theile, sie selbst näher bestimmend, durch-
gehen.“ In diesem Satze liegt überhaupt der Mittelpunkt der
Humboldtschen Sprachbetrachtung; von ihm ausgehend ließen
sich ihre vorzüglichsten Seiten darstellen; woraus denn aber
auch unverkennbar klar werden müßte, daß Humboldt den
Aufschwung einer neuen Sprachwissenschaft bewirkt, Becker
aber davon zwar ein gewisses Schwirren vernommen habe, übri-
gens jedoch sich auf dem alten Boden der logischen Grammatik
bewege.
Betrachten wir den angeführten Satz näher, so bemerken
wir zunächst, daß die ersten Worte: „die Sprache in unmittel-
barem Zusammenhange mit der Geisteskraft“ eine Erklärung
des Ausdrucks „unmittelbarer Aushauch“ enthalten, abermals die
Sprache aus dem Gebiete des Natürlichen, Sinnlichen hinüber-
ziehend und dem Geiste aneignend. Doch ließ sich das mit
Beckers Satz: „die Sprache ist der in die Erscheinung tre-
tende Gedanke“ wegen der Inhaltslosigkeit dieses Satzes wohl
noch vereinen. Wenn es aber bei Humboldt weiter heißt: „so
lassen sich in ihr nicht bloß Theile unterscheiden, sondern auch
[131]Gesetze des Verfahrens, Richtungen und Bestrebungen dessel-
ben“: so wird mindestens der Verdacht rege, Becker sei wohl
bei den Theilen stehen geblieben, die er allerdings durch sein
organisches Differenzverhältniß in Beziehung zu einander bringt.
Sollte aber wohl dieser organische Gegensatz, diese eine immer
und ewig bei Becker wiederkehrende Form, das sein, was Hum-
boldt Richtungen und Bestrebungen des Verfahrens nennt? Wo
hat Becker in der Sprache „ein Verfahren“ erkannt, in welchem
sich verschiedene Richtungen und Bestrebungen geltend machen
könnten? Wenn Humboldt nicht von den einzelnen Theilen der
Sprache, von ihren Lauten, vom Nomen, Pronomen u. s. f. re-
den will, sondern von Eigenthümlichkeiten, welche durch jene
Theile, sie selbst bestimmend, hindurchgehen: wo ist bei Becker
Raum, Gelegenheit für solche Eigenthümlichkeiten? Und wenn
nun gerade diese die organische Natur der Sprache ausmachen,
ihre Betrachtung die physiologische Betrachtung der Sprache
genannt wird, wie kann wohl die Beckersche sich so nennen?
und wie kann Becker unter Organismus der Sprache dasselbe ver-
stehen wie Humboldt? Sehen wir aber, was das für Richtun-
gen und Bestrebungen des Verfahrens sind.
Versetzen wir uns in den Zusammenhang. Humboldt be-
spricht in den ersten sechs Paragraphen der Einleitung die wich-
tigsten Punkte oder Momente in der Entwicklungsweise des
Menschengeschlechts, die wichtigsten Triebfedern und Eigen-
thümlichkeiten derselben, immer zugleich mit Rücksicht auf die
Sprache, und will mit §. 7. die ausführlichere Darlegung dieses
Zusammenhanges der Sprache mit der Geschichte beginnen. Er
hält sich aber sogleich (§. 8. Anf.) die Schwierigkeit vor: „Die
Sprache bietet uns eine Unendlichkeit von Einzelheiten dar,
in Wörtern, Regeln, Analogien und Ausnahmen aller Art, und
wir gerathen in nicht geringe Verlegenheit, wie wir diese Menge,
die uns der schon in sie gebrachten Anordnung ungeachtet doch
noch als verwirrendes Chaos erscheint, mit der Einheit des Bil-
des der menschlichen Geisteskraft in beurtheilende Ver-
gleichung bringen sollen.“ Diese Stelle stimmt auffallend über-
ein mit dem Anfange des §. 13: „Wenn man das Wesen der
Sprache in der Laut- und Ideenform und der richtigen und
energischen Durchdringung beider sucht“ — diese drei Punkte
waren jeder besonders in den §§. 10. 11. 12. besprochen —, „so
bleibt dabei eine zahllose Menge die Anwendung verwirrender
9*
[132]Einzelheiten zu bestimmen übrig“ — wie dort. Ebenso fährt
Humboldt mit auffallender Uebereinstimmung fort, dort: es sei
sein Bemühen, „den Charakter eines jeden Sprachstammes in so
einfache Umrisse zusammenzuziehen, daß dadurch eine
fruchtbare Vergleichung derselben und die Bestimmung der ih-
nen, nach ihrem Verhältniß zur Geisteskraft der Nationen, ge-
bührenden Stelle in dem allgemeinen Geschäfte der Spracherzeu-
gung möglich wird“; — hier: „Um daher die Sprachen, in der
Verschiedenartigkeit ihres Baues als die nothwendige Grund-
lage der Fortbildung des menschlichen Geistes darzustellen und
den wechselseitigen Einfluß des einen auf das andere zu erör-
tern, ist es zugleich nothwendig, das Allgemeine mehr ausein-
ander zu legen, und das dann hervortretende Besondere dennoch
mehr in Einheit zusammenzuziehen.“ Es ist offenbar,
Humboldt will am Anfange des §. 13. da anknüpfen, wo er am
Schlusse des §. 8. stehen geblieben ist. Er mußte nämlich die
§. 7. angekündigte Darstellung, nachdem er in §. 8. die er-
ste nothwendige Vorbetrachtung gegeben hatte, noch wei-
ter durch die vier §§. 9—12. fortsetzen „und die Definition der
Sprache (§. 8.) ausführlicher entwickeln“, wie er §. 13. Anfang
sagt. Mit der Resumirung des Vorangehenden beginnt also §. 13.
Es soll die §. 7. angekündigte, aber §. 8. durch Anstoß an eine
Schwierigkeit verhinderte Darlegung begonnen werden, da jetzt
das Mittel gefunden ist, die Schwierigkeit zu überwinden. Es
läßt sich also im voraus erwarten, daß nach den beiden über
einstimmenden Sätzen in beiden Paragraphen noch ein dritter,
ebenfalls beiden gemeinsamer folgen werde, wenn nicht etwa mit
den beiden ersten Sätzen der Eingang des §. 13. schon beendet
und zur Sache selbst übergegangen wird; was aber nicht ge-
schieht. Der dritte Satz nun ist der oben angeführte, aus dem
wir Humboldts Ansicht über das organische Wesen der Spra-
che kennen lernen wollen. So haben wir also jetzt in §. 8. eine
Parallelstelle zu erwarten, die uns Licht schaffen muß. Der
Wortlaut selbst bestätigt diese Erwartung. Es heißt §. 13., es
sei also „nothwendig das Allgemeine mehr auseinander zu le-
gen und das Besondere mehr in Einheit zusammenzuziehen. Eine
solche Mitte zu erreichen bietet die Natur der Sprache selbst
die Hand. Da sie ein vollständig durchgeführter Organismus
ist, so lassen sich in ihr nicht bloß Theile unterscheiden, son-
dern auch… Eigenthümlichkeiten, welche durch alle Einzelhei-
[133] ten durchgehen.“ Und §. 8.: „Dies erfordert noch“ — geht
diesem Satze dasselbe voraus, was dem in §. 13., so muß doch
wohl dort wie hier dasselbe nothwendige Erforderniß folgen,
und welches ist dies? — „ein eigenes Aufsuchen der gemein-
schaftlichen Quellen der einzelnen Eigenthümlich-
keiten, das Zusammenziehen der zerstreuten Züge in das Bild
eines organischen Ganzen.“ Es ist bei der Vergleichung
dieser Sätze zu bemerken, daß was in dem letztern (§. 8.) „ein-
zelne Eigenthümlichkeiten“, „zerstreute Züge“ genannt wird
§. 13. „Einzelheiten und Theile“ heißt; dagegen die „Ei-
genthümlichkeiten, Gesetze, Richtungen und Bestrebungen des
Verfahrens“ (§. 13.) werden §. 8. „gemeinschaftliche Quellen, or-
ganisches Ganzes“ genannt. Sonst ist weiter kein Unterschied,
als daß, was §. 13. als dargestellte Voraussetzung nochmals kurz
in Erinnerung gebracht wird, §. 8. als Gegenstand der Unter-
suchung angekündigt wird. So muß denn also der Punkt, wel-
cher die organische Natur der Sprache ausmacht, aus dem §. 8.
hervorgehen, da die §§. 9—12 nur die weitere Ausführung ent-
halten. Hiernach scheint es uns eben so unwiderleglich als klar,
daß, wenn Humboldt die Sprache organisch nennt, dies aus-
drücklich ein „Bild“ genannt wird, welches nichts anderes be-
deutet, als daß in jeder Sprache eine der Individualität des
Volksgeistes entsprechende individuelle Form liege, welche
an jedem einzelnen Elemente haftet, weil sie der Thätigkeit der
Sprachschöpfung selbst angehört. Und von dieser Form läßt
sich also sagen, sie sei „die eine das Ganze durchdringende
Kraft“, durch welche alles in der Sprache besteht, und zwar
gerade in der Eigenthümlichkeit, wie es besteht; und da sie
vollständig jedem einzelnen Elemente anhaftet, so läßt sich sa-
gen, es bestehe jedes durch sich selbst, oder durch das andere,
oder durch das Ganze; denn alles besteht durch die allen ge-
meinsame Form; und insofern dem ersten Elemente in der Sprach-
schöpfung eine bestimmte Form verliehen ist, durch welche die
Schöpfung aller folgenden Elemente, der Weise, wie dem In-
halte nach, im voraus schon bestimmt sind, läßt sich sagen, mit
dem ersten Elemente sei mit einem Schlage die ganze Sprache
geschaffen. Diese Form ist also das Eigenthümliche der For-
men, die Richtung und Bestrebung des Sprachverfahrens, der
organische Springpunkt der Sprache.
Für diese Kategorie der Form der Sprache hat Becker kei-
[134] nen Raum in seinem Systeme. Wir können sie aber hier nicht
ausführlich erörtern und deuten nur folgende zwei Punkte an.
Becker sieht das Organische der Sprache darin, daß Wort und
Begriff in ihrer Entwickelung und ihren Verhältnissen durchaus
identisch sind; Humboldts Form dagegen beruht gar nicht auf
dem Begriff, sondern auf der Eigenthümlichkeit, mit welcher die
Sprache den Begriff bearbeitet oder beim Ausdruck des Begriffs
verfährt. Die Form ist das oben nach Analogien in der Spra-
che gesuchte physiologische Element, welches so wenig in dem
Begriff liegen kann, wie für das Auge im Licht, für die Lunge
in der Luft. Man sieht hier zugleich abermals, wie Becker bei
seiner Identificirung der Sprache mit dem Gedanken gar nicht
die Sprache, die Form, den Sprachorganismus berührt hat, son-
dern nur den Begriff, wie er an sich, außerhalb der Sprache
ist; und wie ihm eben darum, was er den Organism der Spra-
che nennt, zur formalen Logik umschlug.
Zweitens: bei Humboldt ist mit dieser Kategorie „Form“ die
Individualität der Sprache ausgesprochen, also sogleich die Viel-
heit von Formen, von individuellen Sprachen gegeben. Nach
Humboldt heißt es: weil die Sprache organisch ist, darum
giebt es eine mannigfaltige Verschiedenartigkeit in dem Bau der
Sprachen. Bei Becker dagegen ist die Mannigfaltigkeit der Spra-
chen unwesentlich, Erzeugniß der „organischen Freiheit“, ohne
erkennbaren Grund, zufällig, und genau genommen unorganisch.
Worauf also Humboldt seinen Organismus gründet, das gilt
Becker für unorganisch; worauf aber Becker den seinigen bauen
will, geht die Sprache gar nichts an, sondern ist Logik.
Wir fahren aber noch ein wenig fort, die in der Einleitung
versteckten Bestimmungen des Organischen der Sprache an das
Licht zu ziehen. Nachdem Humboldt in den §§. 13—18. die
angekündigten Richtungen und Bestrebungen des Sprachverfah-
rens dargelegt hat, kehrt er im §. 19. zu dem allgemeinen, diese
Richtungen umfassenden Begriff Form zurück, führt aber einen
andern Namen ein: „Princip“. Warum der andere Name? das
ist nicht zu sagen; das ist so Humboldts Manier, in die sich
der Leser fügen muß. Daß aber wirklich der Begriff Form,
nachdem er von §. 9—18. völlig geruht hat, obgleich ausschließ-
lich von seinen Unterschieden die Rede war, endlich §. 19.
wieder auftritt unter dem Namen Princip, beweist unläugbar
nicht bloß der Zusammenhang des Ganzen, sondern auch die
[135] nähere Bestimmung des Princips. Form und Princip werden
beide in gleicher Weise bestimmt als „Einheit der einzelnen
Sprachelemente.“ Uebrigens ist Princip ein Ausdruck, der für
jene „das Ganze durchdringende Kraft“ ansprechender scheint.
Neben Princip tritt aber abwechselnd auch der Ausdruck Form auf.
Nachdem im §. 20. der Charakter der Sprache als von der
Form des Sprachbaues noch verschieden besprochen worden ist,
wird §. 21. die Frage aufgeworfen: worauf die Lebensdauer und
Entwicklungsfähigkeit der Sprachen beruht? Natürlich auf der
Gesetzmäßigkeit und Reinheit des Princips, auf der Ange-
messenheit der Form, auf der Vollendung ihres Organismus.
Doch so drückt Humboldt das nicht aus; sondern davon aus-
gehend, daß jede Kraft nur in ihrer gesetzmäßigen Bahn sich
entwickeln kann, auf jeder andern auf Hindernisse stößt und
geschwächt wird, leitet Humboldt die Entwicklungsfähigkeit
der Sprachen nicht vom Princip oder der Form des Sprachver-
fahrens, sondern von ihrer Kraft ab, und da das Sprachver-
fahren in der Synthesis von Laut und Begriff besteht, von der
Stärke der sprachlichen Synthesis, d. h. des organi-
schen Triebes, der sich im Stoffe geltend machenden Form,
des die Einzelheiten durchdringenden Princips.
Organismus, wiederholen wir, hat bei Humboldt mehrere
Bedeutungen und gilt so auch als Bild für den wichtigsten
Gegenstand der Sprachwissenschaft; so viel Gewicht er aber
auf diesen Gegenstand legt, so gleichgültig ist ihm das Bild,
so daß er sogar allemal da, wo er sich ganz eigentlich in die
Sache versenkt, wie in den §§. 8. 19. 21. das Bild ganz fallen
läßt und dafür drei andere Ausdrücke setzt, Form, Princip,
Synthesis, wie sie für die Gelegenheit gerade passend erscheinen.
§. 55. Becker, die Vermittler und Humboldt.
Dieser Begriff kann hier noch nicht ausführlich untersucht
werden; nur müssen wir noch hinzufügen, daß gerade er das
Bedeutende der Humboldtschen Sprachwissenschaft ist, nicht die
Vermittlung zwischen Grammatik und Logik. Und wenn wir
auch hier noch nicht fragen können, ob diese Vermittlung nicht
durch jenen Begriff unmöglich gemacht wird und also eine Un-
folgerichtigkeit Humboldts, oder vielmehr, da dieselbe älter ist
als jener, ob sie nicht der unberechtigte Ueberrest einer durch
jenen vernichteten Sprachanschauung ist: so müssen wir doch
hervorheben, daß wenigstens auch Humboldt selbst ausgespro-
[136] chen hat, wie ihm jener Begriff höher stehe und als etwas Wesent-
licheres gelte, als dieses Verhältniß der Grammatik zur Logik.
Er sagt nämlich (S. CCLXVIII.), daß es, um eine Anschauung
von dem eigenthümlichen Wesen einer Sprache im Unterschiede
gegen die andern zu geben, das Unbedeutendste sei, wenn
man aufzählt, welche Kategorien sie bezeichne, wie viel Tem-
pora und Modi sie habe u. s. w., kurz wenn man ihr Verhält-
niß zur logischen Grammatik angiebt. Hierdurch, sagt Hum-
boldt ausdrücklich, bleibe man ohne Belehrung über das, worauf
es hauptsächlich ankomme, über die synthetische Kraft der Spra-
che. Wenn man, meint er, bei der Betrachtung der Sprachen
nur bis zur Aufzählung und Vergleichung der logischen, in der
Sprache ausgedrückten Formen der Anschauung und des Den-
kens geht und nicht weiter schreitet zu jener synthetischen Kraft,
so „geht man nicht tief genug und nicht bis zu den wahren in-
neren Bestrebungen der Sprachformung zurück, sondern bleibt
bei den Aeußerlichkeiten des Sprachbaues stehen“.
Dieser Vorwurf trifft Becker nicht minder, als die Verfasser der
amerikanischen, polynesischen, hinterindischen u. s. w. Gramma-
tiken, auf welche er sich in der Vorrede beruft. Aber auch die
Vermittler mögen sich fragen, in wiefern auch sie vielleicht ihn
noch immer verdienen.
[[137]]
Zweiter Theil.
Grammatik und Logik.
I. Allgemeine Vorbemerkungen.
A. Von der Sprachwissenschaft im Allgemeinen.
Die Sprachwissenschaft setzt, wie jede andere Wissenschaft,
das Dasein ihres Gegenstandes und das Bewußtsein davon vor-
aus. Der Gegenstand muß jedoch sogleich beim Eingange deut-
lich angegeben, bezeichnet, vorgewiesen werden, damit man von
vornherein außer Zweifel darüber ist, wovon im Laufe der Un-
tersuchung die Rede sein solle. Wir haben also mit einer No-
minal-Definition zu beginnen; die Real-Definition liegt in der
ganzen Darstellung der Wissenschaft.
§. 56. Definitionen.
Gegenstand der Sprachwissenschaft ist die Sprache oder
Sprache überhaupt, d. h. Aeußerung der bewußten innern,
seelischen und geistigen, Bewegungen, Zustände und Verhält-
nisse durch den articulirten Laut. — Wir unterscheiden hierbei
näher:
Sprechen, d. h. die gegenwärtige, oder als gegenwärtig
gedachte, Handlung oder Ausübung der Sprache.
Sprachfähigkeit, d. h. einerseits die physiologische Kraft,
articulirte Laute hervorzubringen und dazu noch andererseits
der sämmtliche Gehalt des Innern, welcher als der Sprache vor-
ausgehend gedacht wird und durch sie geäußert werden soll.
Sprachmaterial, d. h. die von der Sprachfähigkeit im
Sprechen einmal geschaffenen Elemente, welche immer von neuem
angewandt werden, so oft derjenige innere Gegenstand wieder
[138] geäußert werden soll, für dessen Aeußerung sie geschaffen wur-
den, als er zum ersten Male so geäußert wurde; oder richti-
ger: die bei der jedesmaligen ersten Aeußerung irgend eines
besondern innern Elementes ausgeübte Handlung, welche bei jeder
Gelegenheit, wo dasselbe innere Element wieder geäußert wer-
den soll, wiederholt wird.
Eine Sprache oder die einzelne Sprache ist der ge-
sammte Inbegriff des Sprachmaterials eines Volkes.
§ 57. Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft und Beziehungen dersel-
ben zu andern Wissenschaften.
Es kann aber nicht genügen, den Gegenstand bloß anzu-
geben, wie oben geschehen ist; es muß erst noch gezeigt wer-
den, nach welcher Beziehung von ihm die Rede sein solle. Denn
man kann von jedem Gegenstande in mannigfacher Beziehung
reden, ihn von verschiedenen Seiten und auf mancherlei Weise
ansehen. Das Denken z. B. ist Gegenstand der Logik, der Me-
taphysik und der Physiologie, aber in jeder dieser Wissenschaften
nach einer andern Beziehung; die Pflanzen sind Gegenstand der
Botanik und der Materia medica, aber in beiden von verschie-
denen Seiten. Man weiß auch schon im voraus, daß die Sprach-
wissenschaft die Sprache nicht von allen möglichen Seiten unter-
sucht. Niemand wird z. B. von ihr darüber Aufschluß fordern,
ob es erlaubt sei, anvertraute Geheimnisse auszusprechen; ob
Parlamente und Sprechzimmer schätzenswerthe Einrichtungen
sind. Die Wissenschaft aber hat sich zu bestimmen und so zu
erklären, daß man einsieht, was und was nicht, warum dies oder
jenes nicht von ihr zu verlangen ist, wenn auch noch Niemand
daran denkt, es von ihr zu fordern. Sie kann und soll sich na-
türlich nicht negativ von andern Wissenschaften und geistigen
Sphären abschließen; sie soll nicht erklären, dies und jenes sei
sie nicht; sondern sie soll sich positiv in sich einschließen, und
sie soll dadurch ihre Gränzen bestimmen, daß sie erklärt, was
sie ist.
Die theoretischen Thätigkeiten des Menschen lassen sich
unter zwei allgemeinen Classen zusammenfassen, oder beruhen
sämmtlich auf zwei geistigen Handlungen: urtheilen und beur-
theilen. Im Urtheil liegt eine Erkenntniß; in der Beurtheilung
liegt ein ausgesprochenes Lob oder ein Tadel. Man erkennt,
was ist, und wie beschaffen etwas ist; man beurtheilt, ob etwas
schön oder häßlich, gut oder schlecht, wahr oder falsch und,
[139] wenn auch nach minder hohen Rücksichten, richtig oder unrich-
tig, zweckmäßig oder unzweckmäßig sei. Es giebt also Wis-
senschaften, welche Thatsachen und thatsächliche Verhältnisse,
Existenzen und Gesetze zu erkennen, zu ergründen suchen; und
es giebt auch andere, welche Maßstäbe der Beurtheilung, Gründe
für Lob und Tadel aufzufinden streben.
Ist nun die Sprachwissenschaft eine erkennende, oder eine
beurtheilende Wissenschaft? Wir antworten: eine erkennende.
Etwas Gesprochenes ist nicht wahr und nicht falsch; wahr oder
falsch ist nur das Gesagte, d. h. das Gedachte. Wenn ferner
Sprechen sittlich gut oder schlecht ist, so ist es eine That, und
es gehört dann, wie jede andere, der Beurtheilung des Sitten-
richters an; denn der Gegenstand der Sprachwissenschaft ist
das Sprechen als Handlung und nicht als That. Ferner die
Beurtheilung, ob schön oder häßlich gesprochen worden sei, ge-
hört der Rhetorik und Poetik an, nicht der Sprachwissenschaft.
Darüber endlich, ob etwas richtig oder unrichtig gesprochen sei,
entscheidet sie allerdings, aber nur indirect. Indem sie nämlich
zeigt, wie man spricht, verbietet sie, anders zu sprechen, oder
tadelt es.
Die Sprachwissenschaft ist also wesentlich oder ursprüng-
lich erkennend, nicht beurtheilend, nicht — wie man die beur-
theilenden Wissenschaften auch genannt hat — ästhetisch. Sie
nähert sich aber den letztern oder nimmt auch wohl gänzlich
das Wesen derselben an in einigen ihrer Zweige. Dies ist
klar in der Metrik, welche reine Kunstlehre ist. Doch die
Metrik könnte man von der Sprachwissenschaft gänzlich abson-
dern und der Poetik zuweisen. Denn wenn es auch der Sprache
nicht zufällig geschieht, daß sie nach metrischen Gesetzen be-
handelt wird, so gehört doch diese metrische Behandlung nicht
zum Wesen der Sprache als Aeußerung des bewußten In-
nern. Weil die Sprache ein Tönen ist, so kann sie als Tonge-
bilde künstlerisch geformt werden; diese Formung aber bleibt
ihrem innern Wesen und Zwecke durchaus fremd. Die Bedeu-
tung wird vom Rhythmus nicht berührt, und völlig bedeutungs-
lose Sylben würden denselben metrischen Erfolg hervorbringen
als Wörter.
Zur Sprachwissenschaft gehört aber allerdings nicht bloß
die Betrachtung der Sprache überhaupt, auch nicht bloß die
jeder einzelnen Sprache an sich nach ihren einzelnen Elementen;
[140] sondern in ihren Kreis fällt auch die Anwendung einer Sprache
in den verschiedenen Arten der Literatur; d. h. nicht nur die
Form einer Sprache ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, son-
dern auch ihr Charakter und die in ihrer Literatur entwickelten
Style; und hier wird die Sprachwissenschaft allerdings ästhetisch.
Die Rhetorik und Poetik zwar wird hierbei von ihr nur berührt;
denn sie giebt keine Anweisung zum Reden und Dichten, son-
dern bleibt historisch, indem sie eigenthümliche Style darlegt;
aber sie greift dadurch in die Literaturgeschichte ein. Nur
so viel können wir zugestehen, nicht mehr. In der Literatur-
geschichte ist ein sprachwissenschaftliches Element, und ein sehr
bedeutendes; aber sie ist nicht nach der Gesammtheit ihrer Auf-
gabe und Leistung ein Theil der Sprachwissenschaft; denn sie
umfaßt außer jenem sprachwissenschaftlichen Elemente noch
andere, wesentlichere, mit welchen jene nichts zu thun haben
kann. Die Literaturgeschichte nämlich ist ein Theil der Kunst-
geschichte, und zwar derjenige Theil, welcher die Künste um-
faßt, deren Darstellungsmaterial Anschauungen und Gedanken,
also auch Sprache ist. Dies sind, wie bekannt, im Allgemeinen
sechs Künste: die epische, lyrische, dramatische, und die histori-
sche, philosophische und rhetorische Kunst. Insoweit nun das Dar-
stellungsmaterial dieser Künste die Sprache ist, entlehnt die Li-
teraturgeschichte von der Sprachwissenschaft. Zu diesem Dar-
stellungsmaterial aber gehört mehr als die Sprache; es gehören
dazu noch gedankliche Elemente, die gar nicht der Sprachwis-
senschaft, sondern ausschließlich dem Literarhistoriker angehö-
ren. Wir vergessen hierbei durchaus nicht Böckhs Warnung
davor, in die Literaturgeschichte mehr hineinzuziehen, als die
Form der Darstellung. Alles was zum Inhalt gehört, zum Dar-
gestellten, darf nicht in sie hineinkommen, sondern gehört der
Geschichte der Realien an. Die Darstellungsform, der Styl
Platos gehört in die Literaturgeschichte, seine Philosophie in
die Geschichte der Philosophie. Die Darstellungsform aber, der
Styl, beruht nicht bloß auf der Sprache. Der Platonische Styl
wird nicht erschöpft durch seinen sprachlichen Ausdruck. Der
Styl hängt allemal auch, und ursprünglicher und bedeutungs-
voller als an der Sprache, an der Anordnung und Verbindung
der Gedanken selbst, und diese Betrachtung gehört ausschließ-
lich der Literaturgeschichte, nicht der Sprachwissenschaft. Neh-
men wir noch ein anderes Beispiel. Die Geschichte des grie-
[141] chischen Dramas muß doch zur griechischen Literaturgeschichte
gehören; wohin wollte man sie sonst bringen? Auch gehört sie
hieher mit ihrem gesammten Wesen und wird hier erschöpfend
behandelt. Die Geschichte der griechischen Sage an sich ge-
hört freilich nicht in die Literatnrgeschichte, weil die Sage nicht
ein formales, sondern das materiale Element des Dramas ist.
Die Geschichte des griechischen Dramas aber beschäftigt sich
nur mit der dramatischen Formung dieser Sagen, und überläßt
letztere selbst der Geschichte der griechischen Sage. So viel
Berührungspunkte es also auch für die Geschichte des Dramas
und die der Sage geben mag, sie fallen nicht zusammen. Von
Seiten der Sage kommt also auch kein der Sprachwissenschaft
fremdes Element in die Geschichte der Tragödie. Sie wird aber
dennoch mancherlei erzählen, wie z. B. daß Aeschylos zwei re-
dende Personen auf die Bühne brachte, Sophokles drei, daß in
der spätern Komödie der Chor wegblieb u. s. w., was alles die
dramatische Form wesentlich und unmittelbar betrifft, die sprach-
liche Darstellung aber entweder gar nicht, oder erst mittelbar.
Der Literarhistoriker muß also wohl Sprachwissenschaft verste-
hen; aber die Literaturgeschichte geht nicht in ihr auf. Die
Sprachwissenschaft ragt weit in die Literaturgeschichte hinein,
füllt sie aber bei weitem nicht aus. Wir machen also hier be-
grifflich eine Scheidung, die aber praktisch verschwinden muß.
Ein solches Verhältniß kann nicht wundernehmen, wenn man
bedenkt, daß die Sprachwissenschaft aus der Philologie heraus-
geschnitten ist*)
Einen ästhetischen, beurtheilenden Charakter aber nimmt
die Sprachwissenschaft in einer Disciplin an, die ihr ganz we-
sentlich und eigenthümlich ist, nämlich in der systematischen
Anordnung oder Classificirung der Sprachen. Hierbei nämlich
begnügt sie sich nicht, die Sprachen nur nach den an ihnen er-
kannten gemeinsamen Merkmalen in Classen und Familien zu-
sammenzufassen; sondern sie bildet aus diesen Classen eine Stu-
fenleiter und Rangordnung. Sie beurtheilt also hier den Werth
der Sprachen, ihre Würdigkeit als geistige Erzeugnisse und zu-
gleich wieder als Mittel zur geistigen Entwickelung.
Endlich noch eine Unterscheidung. Sprechen ist eine See-
[142] lenthätigkeit und folglich gehört die Sprachwissenschaft in den
Kreis psychologischer Wissenschaften: gerade wie auch die Lehre
vom Denken und Wollen, d. h. wie Gedanken und Willensregungen
entstehen — nicht wie sie sein sollen — in die Psychologie ge-
hört. Daß die Betrachtung der Sprache überhaupt und der
Sprachfähigkeit durchaus und rein psychologisch ist, hat man
immer anerkannt; auch hat man ihr einen Abschnitt in den
Lehrbüchern der Psychologie gewidmet. Die Sprachwissenschaft
ragt mit ihrem Haupte vollständig in die Psychologie hinein.
Das Sprachmaterial aber, d. h. die einzelnen Sprachen sind be-
sondere Erzeugnisse des menschlichen Geistes, die nicht mehr der
Psychologie, sondern der Geschichte, d. h. der Sprachwissen-
schaft, angehören*), eben so wie die einzelnen bestimmten Wil-
lensregungen und Gedanken nicht mehr Gegenstand der Psycho-
logie sind. Das Sprechen aber, d. h. wie wir oben definirten,
die gegenwärtige oder als gegenwärtig gedachte Handlung der
Sprache, kann sowohl Gegenstand der Sprachwissenschaft, als der
eigentlichen Psychologie sein, natürlich nach verschiedenen Be-
ziehungen. Insofern in jedem Sprechen Sprache überhaupt ge-
geben und Sprachmaterial geschaffen oder angewandt ist, ist die-
ses Sprechen Gegenstand der Sprachwissenschaft. Das Sprach-
material aber besteht aus Vorstellungen, und selbst die bloßen
Laute, die Articulationen, sind eine Reihe von Seelen-Erregun-
gen: als solche können sie der rein psychologischen Betrachtung
unterworfen werden, welche vom Inhalte der Seelen-Erzeugnisse
absieht. So hat z. B. Herbart in einem Aufsatze „über Kate-
gorien und Conjunctionen“ (Sämmtliche Werke VII. S. 482 ff.)
die Sprache zum Gegenstande psychologischer Untersuchungen
gemacht, die nicht zur Sprachwissenschaft gehören, eben so wenig
wie desselben Philosophen psychologische Betrachtung der Far-
ben- und Tonvorstellungen für Farben- und Compositionslehre
gelten könnte.
Alles Nähere über das eigenthümliche Wesen der Sprach-
wissenschaft kann nur aus dem genauern Studium derselben her-
vorgehen und ist bis heute noch in den wichtigsten Punkten
sogar streitig. Denn der Charakter der Wissenschaft hängt, im
tiefsten Grunde, von ihrer Erkenntniß ihres Gegenstandes ab.
Je nach dem, was man in der Sprache sucht oder an ihr zu
[143] haben meint, richtet man auch die Betrachtungsweise ein. Was
aber in der Sprache zu finden ist, was man wirklich an ihr hat,
soll die Wissenschaft erst ausmachen — einer von den tausend
Kreisen, in denen sich die philologische Forschung ihrem We-
sen nach bewegt.
§. 58. Bestimmung unserer Aufgabe.
Die vorliegende Arbeit ist nun gerade ein Versuch, das
Princip und damit den Charakter der Sprachwissenschaft mit
Sicherheit festzustellen und genau zu bestimmen. Unsere Ab-
sicht ist nicht, ein System der Sprachwissenschaft aufzustellen,
sondern nur erst den Weg dazu anzubahnen, ihm einen Boden
zu bereiten, eine Grundlage zu geben. Wir können natürlich,
wie so eben bemerkt worden, das Princip der Grammatik nicht
anders finden, als indem wir uns in das allgemeine Wesen ihres
Gegenstandes zu vertiefen suchen. Denn nichts anderes als das
innerste und eigenste Wesen der Sprache, nichts anderes als
das Moment, auf welchem ihr Sein und Wirken beruht, von
welchem alle Verhältnisse, in denen sie steht, ganz vorzugsweise
und im letzten Punkte abhängen — weil mit diesem Momente
sogleich die eigenthümliche Thätigkeit der Sprache beginnt, und
ohne dasselbe nur todtes Material zur Sprache vorhanden sein
kann, welches erst von ihm zu lebendiger Sprache organisirt,
ja sogar von ihm erst herbeigeschafft wird —: nichts anderes
als dies kann, darf das Princip der Grammatik sein. Ohne
Sicherheit über dieses Princip würde sich nur der Bau, der
Lautkörper der Sprache, die Sprache so weit sie in die Sinn-
lichkeit fällt, äußerlich beschreiben lassen; aber die ihr inwoh-
nende Seele und lebendige Bewegung, ihr geistiger Inhalt und
seine Verhältnisse würden sich der Erkenntniß so vollständig
entziehen können, daß man sie ganz und gar übersähe und statt
ihrer der Sprache ein ganz fremdes Wesen unterschöbe. Daß
es der bisherigen Grammatik so ergangen sei, daß sie fälsch-
lich der Sprache eine logische Seele statt der eigenthümlich
sprachlichen geliehen habe, ist nach unserer voranstehenden Kri-
tik mindestens sehr wahrscheinlich geworden und muß zur Ge-
wißheit gelangen je nach dem Grade, in welchem es uns im
Folgenden gelingen wird, das wahre Wesen der Sprache, ihre
Momente und ihre Verhältnisse zu den übrigen geistigen Thä-
tigkeiten, ihre Stellung und Function in der Oekonomie des
geistigen Leben ins rechte Licht zu setzen.
[144]
Da es bei allen Untersuchungen höchst wichtig ist, falsche
Ansichten, welche sich festgesetzt haben und das Aufkommen
der Wahrheit verhindern, wegzuschaffen, so müssen wir mit un-
serm ausscheidenden Bemühen noch fortfahren: und zwar dies
um so mehr, als jede gründliche Negation auf eine Position hin-
weist; denn diese Position ist eben der Grund des Negirens und
der wahre Kern und die Kraft der Negation.
Wir werden uns aber bei diesen negativen Untersuchungen
nicht abermals an Personen wenden; sondern wir werden an die
Sache selbst gehen. Sie selbst werden wir fragen, ob die bis-
her herrschenden Ansichten die richtigen sind. Wir werden
also die Sprache fragen, ob Sprechen und Denken identisch sei,
wie man doch behauptet; ob Grammatik und Logik ein und
dasselbe seien, wie man doch behaupten müßte, und endlich
ob und in wiefern in der Sprache Logik, also die Sprache lo-
gisch gebildet sei, was Becker wenigstens fast absolut behauptet.
Haben wir auf diese Fragen negative Antworten bekommen, so
werden wir uns dann bemühen, in positiver Weise das wahre
Wesen der Sprache und ihre wahren Verhältnisse zu finden.
Obwohl uns nun bei diesen Untersuchungen über das Ver-
hältniß von Logik und Grammatik zu einander eigentlich nur
die Grammatik anliegt, weil wir nur in ihrem Dienste stehen:
so ist es doch durchaus unthunlich, nicht auch einen Blick auf
die Logik an sich zu werfen und rein logische Fragen in Be-
tracht zu ziehen, eben weil wir hier Gebietsstreitigkeiten zu
schlichten, ungerechte Besitznahmen rückgängig zu machen ver-
suchen. Wir können im voraus noch gar nicht wissen, was in
Wahrheit der Logik angehört, und was der Grammatik: wir
haben dies erst zu prüfen; und wo sich ein Verdacht ergiebt,
muß weiter das wahre Eigenthumsrecht erforscht werden. Wir
wollen die Logik aus der Grammatik ausweisen, die Sprach-
wissenschaft von ungehörigen logischen Elementen reinigen; wir
dürfen aber auch der Logik nichts Grammatisches lassen und
müssen sie von allem unrecht erworbenen Gute reinigen, das wir
für die Grammatik in Anspruch zu nehmen haben. Wir den-
ken zwar hierbei auch der Logik zu nützen, handeln aber zu-
nächst immer nur im Dienste der Grammatik. Denn lassen wir
jener, was vielmehr dieser gehört: so scheint es, da sie ihres Ei-
genthums nicht entbehren kann, als müsse sie es von jener bor-
gen; und diesen Schein haben wir zu zerstören. Alle diese Aus-
[145] einandersetzungen lassen sich aber nicht machen ohne Grund-
sätze; und ferner, um die Grenze zu bestimmen, muß man sie
erst überschritten haben. Das nöthigt also, näher auf die Logik
einzugehen, so ungern wir es auch thun, wohl wissend, daß wir
dort nicht einheimisch sind, und gerade genug dort bekannt, um
die Schwierigkeiten nicht zu übersehen, welche da zu überwin-
den sind, besonders mißtrauisch aber gegen uns selbst, da wir
so oft im Widerspruche zu anerkannten Männern oder Lehren
stehen. Was uns ermuthigt, unsere Ansicht frei und entschie-
den herauszusagen, sowohl hier wie anderswo, das ist, daß durch
das Aussprechen einer Ansicht, welche man mit Gründen zu
unterstützen sucht, niemals etwas verdorben wird — auf Auto-
rität aber kann niemand weniger Anspruch machen, als wir
hier oder dort oder irgendwo machen —; und daß es bei man-
chen Punkten einer Wissenschaft leichter ist, von außen hinein-
blickend das Richtige zu sehen, als wenn man sich ausschließ-
lich in ihr bewegt. Solche Punkte der Logik hoffen wir gerade
hier zu betrachten, und von einem günstigen Orte aus. So möge
man prüfen, was wir bieten, und abweisen oder annehmen, wie
die Wahrheit es verlangt.
B. Von der Logik im Allgemeinen.
§. 59. Bestimmung der Logik und Verschiedenheit des wissenschaftlichen
Charakters derselben von dem der Sprachwissenschaft.
Wir haben vorhin bemerkt, daß die Sprachwissenschaft eine
erkennende, urtheilende Wissenschaft sei; die Logik aber — so
unterscheidet sie sich von vorn herein durch ihren Charakter
von der Sprachwissenschaft — ist eine beurtheilende, eine ästhe-
tische Wissenschaft. Die Logik nämlich will nicht, wenigstens
nicht bloß, thatsächlich vorhandene Gegenstände und Verhält-
nisse erkennen; sondern sie will beurtheilen und sucht Maßstäbe
zu Beurtheilungen. Sie fragt aber, ob ein Gedanke richtig
oder unrichtig gebildet sei, oder ob etwas, das sich für
ein Gedachtes ausgiebt, wirklich gedacht werden könne; denn
was nicht richtig gedacht ist, ist vielmehr gar nicht gedacht,
sondern nur vorgeblich. Da sie bloß fragt, ob ein Gedachtes
richtig oder wirklich gedacht sei, oder nicht, so sucht sie ihre
Maßstäbe nur in der Natur des Denkens selbst, und die Denk-
fähigkeit ist ihr allgemeinster Maßstab.
Hieraus ergeben sich zwei Bemerkungen. Erstens nämlich
10
[146] folgt aus dem Gesagten, daß die Logik, wie alle ästhetischen
Wissenschaften, eine hypothetische Wissenschaft ist, womit ich
sagen will, daß sie bloß erklärt: wenn etwas gedacht wird, so
muß es so und so beschaffen sein; sie zeigt aber gar nicht, wie
man dazu kommt, dieses zu denken, d. h. sie ist nicht gene-
tisch. Die Logik zeigt also gar nicht, wie wir zu richtigen
und falschen Gedanken kommen, weil sie überhaupt nicht dar-
auf sieht, wie ein Gedachtes im Denken entsteht. Sie beurtheilt
die Gedanken, die ihr gegeben werden, aber erklärt dieselben
nicht; sie billigt sie als richtig gedacht, oder verurtheilt sie als
unrichtig gedacht, ohne zu fragen, woher sie im einen oder an-
dern Falle kommen. Sie zeigt also die Beschaffenheit des rich-
tig Gedachten, nicht seine Genesis. — Die Sprachwissenschaft
ganz im Gegentheil ist eine genetische Wissenschaft, die ihren
Gegenstand nicht bloß als seiend nimmt, sondern dessen Wer-
den und Entwickelung darlegt; denn hierin liegt das Wesen des
Gegenstandes und seine Verhältnisse im Innern, wie seine Be-
ziehung zu andern, was alles eben erkannt werden soll.
Die zweite Bemerkung betrifft die formale Natur der Lo-
gik. Weil nämlich der zu beurtheilende Gegenstand der Logik
das gegebene Gedachte ist, und zwar dieses rein an sich als
Erzeugniß des Denkens: so sieht sie nicht bloß von der psycho-
logischen Entstehung des Gedachten im Denken ab, sondern
auch von der Beziehung desselben zur Wirklichkeit, zum Da-
seienden, dessen Gedachtes es ist. Wegen dieser letztern Ei-
genthümlichkeit nennt man die Logik formal. Wie bei der Be-
trachtung des Dreiecks in der reinen Mathematik es gleichgültig
ist, von welchem Stoffe das Dreieck ist, indem eben bloß diese
Form des Dreiecks in Betracht kommt: so ist der Gegenstand
des der Logik vorliegenden Gedachten dieser Wissenschaft gleich-
gültig und nur die Denkform des Gedachten fällt ihrer Beur-
theilung anheim. Wegen dieser einseitigen Betrachtungsweise ist
die Logik unfähig zu beurtheilen, ob ein Gedanke wahr ist
oder nicht; sie weiß bloß, ob er richtig gedacht ist; d. h. sie
weiß, ob in einem Gedanken die Anforderungen des Denkens
an sich erfüllt sind, weiß aber nicht, ob dieser Gedanke das
Gedachte der Wirklichkeit ist. Diesen Mangel hat sie mit der
reinen Mathematik gemein. Gesetzt es zöge jemand einen Kreis
und den Durchmesser, und sagte uns: ich habe hier ein Qua-
drat mit einer Diagonale und werde nun beweisen, daß die
[147] beiden durch die Diagonale entstandenen Dreiecke im Quadrate
sich so oder so verhalten: so wird weder der Logiker noch der
Mathematiker hiergegen etwas einwenden können; und dennoch
ist alles was er sagt unwahr. Wer sein Vermögen berechnet,
aber dabei sein debet und habet nicht richtig ansetzt, mag im-
merhin sehr richtig rechnen: eine wahre Einsicht in den Bestand
seines Vermögens erlangt er nicht; die formalen Forderungen
sind wohl erfüllt, aber nicht die materialen.
Mag nun auch die formale Logik eine sehr einseitige Wis-
senschaft sein: sie ist es nicht mehr, als die reine Mathematik,
und die Erfüllung ihrer Gesetze bildet die Grundlage der Wahr-
heit. Sie bietet durchaus keine Bürgschaft für die Erkenntniß
der Wahrheit; aber was noch nicht einmal richtig gedacht wäre,
würde gewiß noch weniger wahr sein. Die Logik macht die
Voraussetzung, daß in der Wirklichkeit keine Verhältnisse vor-
kommen, die nur gegen die Gesetze der Logik gedacht werden
könnten; denn, kämen sie vor, so würden sie eben gar nicht
gedacht werden können und außerhalb unserer Einsicht und Er-
kenntniß fallen. Denn ein der Logik widersprechender Gedanke
ist eben gar nicht gedacht, und noch weniger also kann mit ihm
etwas begriffen sein.
So einseitig also auch die Logik ist, so wenig sie Wahr-
heit bietet, so ist sie dennoch von höchster Wichtigkeit, da die
Erfüllung ihrer Gesetze die conditio sine qua non der Wahrheit
und alles Denkens ist. Wir sehen es darum für ein Unglück
an, daß man sie in unserm Jahrhundert verachtet und vernach-
lässigt hat. Sie ist das Ein-Mal-Eins der Wahrheit und sollte
daher vorzüglich im Knabenalter und auf den Gymnasien nicht
bloß gelernt, sondern eingeübt werden.
§. 60. Vertheidigung der formalen Logik.
Von den absurden Angriffen der Identitätsphilosophen gegen
die formale Logik zu reden, wäre ein Anachronismus. Der
Weltgeist ist über diese eben so wahnsinnig anmaßende als in-
haltsleere Philosophie hinaus. Aber Trendelenburgs Kritik der
formalen Logik müssen wir näher betrachten.
Trendelenburg hat ein schönes kritisches Princip oder das
wahre kritische Verfahren. Dasselbe ist mit seinen eigenen Wor-
ten (Logische Untersuchungen I. S. 6) so auszusprechen: „Wir
fragen, wie weit ist es der Logik gelungen, ihre Aufgabe zu
lösen? … Wenn wir hiernach das Werk dieser Wissenschaft
10*
[148] zu prüfen versuchen, so haben wir dahin zu sehen, ob sich die
formale Logik innerhalb ihres Kreises vollendet, oder ob sie in
sich Elemente aufnimmt, welche die Form des Denkens über-
schreiten und den Inhalt der Gegenstände berühren. Wenn sich
dies Letzte erwiese, so würde sie sich damit selbst das Urtheil
sprechen.“ Solche Kritik muß sich die formale Logik gefallen
lassen. Es versteht sich aber auch von selbst, daß der Kritiker
den Kreis der formalen Logik nicht über ihre wahren Grenzen
ausdehnen, ihr nichts zumuthen und nichts zuschreiben darf, was
nicht in sie gehört. Welches dieser Kreis sei, welches ihre
Aufgabe und Tendenz sei, haben wir so eben, ich hoffe genü-
gend, dargelegt. Sollten Andere über die Grenzen der Logik
hinaus dieselbe haben ausdehnen wollen, so sind sie mit Recht
von Trendelenburg gewarnt: ne ultra! Wir können uns hier
natürlich nur um unsere Darstellung kümmern.
Schon von vornherein hat Trendelenburg eine ungehörige
Zumuthung an die Logik gestellt. Er geht nämlich, um sogleich
Zweifel gegen die Möglichkeit derselben zu erregen, von einer
Analogie aus. Alle Sinne und Organe, sagt er, werden nur be-
griffen, wenn sich die Aufmerksamkeit zugleich auf ihre Form
richtet und auf ihren Zweck, auf den Gegenstand, den zu er-
fassen sie bestimmt sind. Das Auge begreift man nur, indem
man neben der Form desselben auch die Natur des Lichts be-
trachtet u. s. w. Ebenso würden die Formen des Denkens nur
begriffen, indem man zugleich die Beziehung des Denkens zum
Gegenstande hervortreten läßt. Wenn nun gar die Logik die
Wahrheit als die Uebereinstimmung des Gedankens mit dem
Gegenstande erkläre, so stehe sie „von vornherein dem Bekennt-
niß ihrer Unzulänglichkeit nahe.“ Die Logik, erwiedern wir,
steht dem Bekenntnisse ihrer Unzulänglichkeit nicht bloß nahe,
sondern spricht es frei und offen aus. Die Logik lehrt nur
Richtigkeit des Gedachten, nicht Wahrheit; und sie macht nicht
den Anspruch, das Denken zu begreifen, wie die Physiologie
unsere Organe und Sinne erkennt: das überläßt sie theils der
Psychologie, theils der Metaphysik. Sie erforscht bloß die Be-
schaffenheit des richtig Gedachten.
Die Bemerkungen Trendelenburgs über den Begriff, wie ihn
die Logik ansieht, mögen wohl alle ganz richtig sein. Der Be-
griff ist wirklich für die Logik weiter nichts als eine Zusam-
menfassung von Merkmalen. Das ist eine sehr abstracte, sehr
[149] unvollständige Auffassung des Begriffs; es ist aber eben die der
formalen Logik. Die materialen Wissenschaften treten ergän-
zend hinzu, und selbst indem sie dies thun, muß die Logik sie
bewachen. Die Logik hat gegen einen Fisch oder einen Löwen
mit dem Kopfe und der Brust eines Weibes keine Einwendung
zu machen. Ihr ist der Begriff der Sphinx gegeben, als eine
Zusammenfassung von Merkmalen, welche sich als gedachte Mo-
mente unter einander nicht stören; also findet sie den Begriff
nicht unrichtig. Der vergleichende Anatom findet allerdings,
daß sich jene Merkmale stören, daß sie unvereinbar sind; und
nun ist es die Anatomie, oder vielmehr die Logik des Anatomen,
welche die Sphinx für einen unrichtigen Begriff erklärt. Hier-
mit soll nicht gesagt sein, daß es mehrere Logiken giebt, son-
dern wir meinen Folgendes. Dem Logiker sind mit dem Begriffe
der Sphinx die beiden Merkmale eines menschlichen Oberkörpers
und eines thierischen Unterkörpers gegeben. Da dies völlig
disparate Begriffe sind, so hält er ihre Vereinigung nicht für
unrichtig. Die Anatomie zeigt ihm aber, daß diese Begriffe
nicht disparat sind, daß im menschlichen Oberkörper ganz
bestimmte Beziehungen liegen, und ebenso im thierischen Unter-
körper, und daß diese verschiedenen Beziehungen in conträrem
Gegensatze stehen. Jetzt corrigirt sich der Logiker; wenn dem
so ist, sagt er, so ist die Sphinx ein durchaus unstatthafter Be-
griff. Hiermit ist aber die formale Logik schon zur angewand-
ten geworden.
Es ist hier noch eine andere Bemerkung zu machen. Tren-
delenburg scheint auch nicht gehörig beachtet zu haben, was es
heiße, wenn die formale Logik sagt, sie betrachte bloß das Ge-
dachte, nicht das Ding. Er bemerkt (S. 7): „Man wird die
Dinge doch nicht los; denn die Vorstellungen führen immer auf
das, dessen Gegenbild sie sind.“ Die Logik hat es aber nicht
bloß nicht mit den Dingen zu thun, sondern auch nicht mit
bestimmten Vorstellungen und Begriffen sondern nur mit dem
Gedachten überhaupt in Form von Begriffen, und Urtheilen und
Schlüssen. Ihr Gegenstand ist nicht dieser und jener Begriff
oder Schluß, sondern der Begriff, der Schluß überhaupt, das
Denken in diesen Formen. Der Begriff ist allerdings für sie
bloß eine Zusammenfassung von Merkmalen; aber sie weiß, daß
in jedem bestimmten Begriffe die Merkmale in einer bestimmten
Beziehung stehen. Von dieser Bestimmtheit der Beziehung muß
[150] sie absehen, und so bleiben ihr freilich die Merkmale ohne das
dieselben einende Band; d. h. es bleibt ihr die Merkmalheit,
wenn ich so sagen darf, d. h. die Eigenthümlichkeit des Begriffs,
Merkmale zu haben. Aber die Beziehung der Begriffe überhaupt,
das Band an sich, nur kein bestimmtes, ist wohl eine wichtige
Kategorie der Logik. So lehrt sie z. B., daß selbst conträre
Begriffe sich wohl mit einander vertragen, wenn sie nämlich in
der bloßen Beziehung der Summe stehen. Bei der Anwen-
dung gelangt die formale Logik natürlich zu ganz besondern Be-
stimmungen, d. h. diese werden ihr gegeben, und so werden
auch ihre Beziehungen bestimmter; aber bei dieser ganz bestimm-
ten Beurtheilung wendet sie doch nur ihre ganz allgemeinen Ka-
tegorien und Maßstäbe an. Der Grund des conträren Verhält-
nisses zweier Begriffe liegt freilich in ihrem Inhalte. Dieser In-
halt muß ihr gegeben sein; aber nicht ihn betrachtet sie, son-
dern nur das daran hervortretende Verhältniß des conträren Ge-
gensatzes. Wenn auch der Grund desselben im besondern In-
halte liegt: die Logik bestimmt dasselbe ganz allgemein nach
der Natur des Denkens als das Verhältniß zweier Begriffe,
die nicht zusammen gedacht werden können, weil das Denken
des einen das Denken des andern aufhebt und unmöglich macht.
Das lehrt und übt eben die formale Logik, zu scheiden, so nahe
an einander das zu Unterscheidende auch liegen mag.
Auch für alles Folgende, was Trendelenburg gegen die for-
male Logik vorbringt, wiederholen wir die schon gemachte Be-
merkung, daß Trendelenburg ganz richtig gesehen hat; daß er
aber theils Zumuthungen an sie stellt, denen sie vermöge ihrer be-
schränkten Tendenz nicht zu genügen unternehmen kann und will,
und daß er ihr das Recht abspricht, Gegebenes aufzunehmen,
wiewohl doch ihr ganzes Dasein auf dem gegebenen Gedachten
beruht. Er wirft ihr z. B. vor (S. 11), die Verneinung plötzlich
einzuführen, ohne die Abstammung und Bedeutung derselben für das
Erkennen gezeigt zu haben. Es ist hierauf einfach zu erwiedern,
daß ihr die Negation gegeben ist, wie der Begriff und das Ge-
dachte überhaupt, und sie dieselbe da einführt, wo es ihr angemes-
sen scheint. Nicht in der Logik kann die Entstehung der Ver-
neinung erörtert werden, sondern in der Psychologie, die über-
haupt das Entstehen des Gedachten zeigt.
Die formale Logik ist zwar nicht die aristotelische, aber
sie ist doch von Aristoteles eigentlich geschaffen, und er ist ihr
[151] Vater. Trendelenburg möchte dies läugnen. Indessen alles was
er zur Unterscheidung der aristotelischen und formalen Logik
vorbringt, beweist keine wesentliche Verschiedenheit, noch we-
niger etwa einen Rückschritt der formalen Logik, wenn man ihre
heutige Bearbeitung mit der aristotelischen vergleicht. Die Schei-
dung und Reinigung der Wissenschaften hat sich überhaupt seit
Aristoteles weiter ausgebildet, und so hat sich auch die Logik
strenger begrenzt und ist endlich rein formal geworden. So
streng formal war sie bei Aristoteles noch nicht, der noch nicht
einmal die Grammatik von ihr abgeschieden hat; aber die Ten-
denz zu ihrem reinen Formalismus war ihr schon von Aristo-
teles eingehaucht. Die formale Logik ist die Frucht seines Sa-
mens. Wir fordern mit Kant und Herbart strenge Abgrenzung
der wissenschaftlichen Gebiete, mindestens strenge begriffliche
Absonderung. Auch Göthe wollen wir hören, den Trendelen-
burg vielleicht noch höher schätzt (Propyläen, Einleitung): „Die
Künste selbst, so wie ihre Arten, sind unter einander verwandt,
sie haben eine gewisse Neigung, sich zu vereinigen, ja sich in
einander zu verlieren“ — gerade wie die Wissenschaften —;
„aber eben darin besteht die Pflicht, das Verdienst, die Würde
des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er ar-
beitet, von andern abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf
sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isoliren wisse.“
Und in der Wissenschaft sollte es anders sein?
Bleiben wir also bei der formalen Natur der Logik, so ha-
ben wir in ihr abermals einen Unterschied gegen die Gramma-
tik. Auch sie zwar ist formal, in so fern sie nicht den Inhalt
der Rede, sondern nur die sprachliche Form betrachtet. Aber
im Verhältniß zur Logik ist die Grammatik, wie die reine Ma-
thematik, schon etwas Materiales, indem in beiden ganz bestimmte
Denkprocesse vorkommen, welche sich als ein bestimmter Inhalt
in logischer Form offenbaren. Die sprachliche Form ist ein
Stoff, eine besondere Anwendung und Verkörperung der logi-
schen Form. Daher steht die Grammatik, wie jede andere Wis-
senschaft, unter der Logik und ist in keiner Weise mit ihr iden-
tisch.
Diese hier im Allgemeinen begründete Verschiedenheit zwi-
schen Grammatik und Logik wollen wir nun in der schon an-
gegebenen Weise ins Einzelne verfolgen.
[152]
II. Nähere Darlegung des Unterschiedes zwischen
Grammatik und Logik.
1. Sind Sprechen und Denken identisch?
§. 61. Vorgebliche Untrennbarkeit und Einheit von Sprechen und Denken.
Wenn man, wie auch wir thun, die Sprache Ausdruck des
Innern, Darstellung der Intelligenz, genannt hat, so hat man,
von Plato bis auf Becker, dieser aber in strengster und durch-
geführtester Weise, damit behaupten wollen, daß die Sprache
mit der Intelligenz durchaus identisch sei, d. h. daß die Bedeu-
tung der Sprachlaute durchaus nichts anderes sei, als die Er-
zeugnisse der Intellectualität selbst, Anschauungen, in weiterer
Ausbildung Begriffe, und Gedanken. Die Sprache sollte hiernach
zwei Seiten haben, eine äußere und eine innere, welche sich zu
einander wie Körper und Geist verhalten sollten; die äußere,
die Lautseite der Sprache, meinte man, sei das körperliche Ele-
ment, in welchem die innere Seite, die Intellectualität, lebe,
wohne und geboren werde, und durch welches Element sie sich
zugleich äußere und darstelle zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit.
Sprache ist Gedanke selbst, Wort ist Begriff selbst, Satz ist
Urtheil selbst, nur zugleich sprachlich ausgedrückt, lautlich wahr-
nehmbar. So streng hat man die Einheit von Sprechen und
Denken genommen, daß das eine ohne das andere organisch un-
möglich sein sollte, daß wenn sie nach ihrer organischen Natur
heranwüchsen, jedes mit dem andern nothwendig zugleich gege-
ben sein müßte, weil sie eben gar nicht zwei verschiedene
Wesenheiten seien, sondern nur eine. Der Laut, d. h. der or-
ganisch articulirte, ist nicht ein selbständiges Wesen für sich,
begründet nicht etwa ein Wesen, Sprache genannt, abgesondert
und verschieden vom Gedanken; sondern der Laut gehört dem
Denken selbst, ist ihm organisch so nothwendig, wie eine Mate-
rie der Kraft, ein Leib der Seele. Man hat sich von diesem
Drange, Sprechen und Denken zu vereinheitlichen, so weit trei-
ben lassen, daß man vergaß, sich zu fragen, was denn nun ei-
gentlich der Name Sprache noch bedeuten solle, jetzt, da selbst
der Laut ein Element des organischen Denkens ist? Auf diese
Frage würde ich nach Beckers Theorie nur antworten können,
Sprache bezeichne die organische Eigenschaft des Denkens, tönen
zu müssen.
[153]
Dem Denken fehle das Lauten niemals. Denn — und diese
Thatsache ist richtig — selbst unser stilles, lautloses Denken ist
ein mindestens beabsichtigtes Sprechen; die innere Ansicht der
Articulation begleitet dasselbe allemal. Stilles Denken ist gedachtes
Sprechen, Sprechen nur gesprochenes Denken. Ich habe an mir
eine Beobachtung gemacht, die gewiß auch jeder andere an sich
schon gemacht hat oder machen kann. Wenn ich nämlich aus-
wendig gelernte Reden und Gedichte schweigend in Gedanken
wiederholte, wobei allerdings auch eine gewisse Aufmerksamkeit
auf das äußere, wiewohl unterdrückte, Element des Vortrags
gerichtet war, so konnte ich sehr deutlich ein leises Zucken in
der Zunge, ein schwaches, oft nur beabsichtigtes, Nachahmen
aller Articulationen an mir bemerken. Auch Herbart sagt (Be-
merkungen über die Bildung und Entwickelung der Vorstellungs-
reihen, S. W. VII. S. 320): „Das stille Denken ist großentheils
merklich ein zurückgehaltenes Sprechen; und man hat allen
Grund anzunehmen, daß wirklich ein Handeln dabei vorgeht,
welches für die Seele schon ein äußeres Handeln ist; nämlich
ein Anregen der Nerven, welche die Sprachorgane regieren; nur
nicht stark genug, um die Muskeln zu bewegen.“
§. 62. Ablösbarkeit des Denkens vom Sprechen, erwiesen durch Thatsachen.
Dies halten wir für richtig. Wenn aber hieraus die Unzer-
trennlichkeit von Sprechen und Denken folgen mag, so folgt
daraus noch nicht ihre Einheit und Selbigkeit. Ja man darf
daraus noch nicht einmal ihre Unzertrennlichkeit schließen; denn
andere, nicht minder sichere Thatsachen, oder noch sichrere,
beweisen die Trennbarkeit.
Das Thier denkt ohne zu sprechen. Wir werden hierauf
zurückkommen. Nur kann es uns nicht einfallen, beweisen zu
wollen, daß das Thier denkt — es wäre überflüssige Mühe —,
noch daß es nicht spricht — es wäre verschwendete Mühe.
Wir wollen aber schon hier bemerken, daß das Thier nicht bloß
empirisch denkt, in rein sinnlicher Gegenwart lebt; sondern es
hat Gedächtniß, erkennt wieder — und hierin liegt ein Keim
zum Bewußtsein der Vergangenheit —, ja noch mehr, es ver-
muthet und erwartet die Zukunft, berechnet sie und macht über-
haupt Schlüsse: das ist sogar schon ein apriorisches Element.
„Das sind Thiere; aber der Mensch!“ — Nun, auch er
denkt in manchen Fällen ohne Sprache. Der Taubstumme denkt
oft verständiger als mancher Redende; er ist sogar meist schlau,
[154] und selbst ohne besondern Unterricht hat er religiöse Vorstel-
lungen. Er lernt ein Handwerk und wird ein nützliches Glied
der menschlichen Gesellschaft. Er erzählt, läßt sich erzählen,
ist der Unterhaltung fähig.
„Das ist der verstümmelte, unorganische Mensch! aber der
organische, der im Besitze aller menschlichen Kräfte ist! aber
wir!“ — Nun, auch wir denken oft genug ohne zu sprechen.
Wir träumen, und Träumen ist doch ein Denken. Es werde
zugestanden, daß geträumte Reden, wie unser leises Denken,
von schwachen Erregungen der Nerven der Sprachorgane be-
gleitet werden, und manchmal sind ja diese Nervenerregungen
stark genug, um die Muskeln der Sprachorgane in Bewegung
zu setzen und hörbares Schlafsprechen zu erzeugen. Die gan-
zen Traumbilder aber und Handlungen und Begebenheiten sind
doch sicherlich nicht ein bloßes leises Erzählen. Träumen ist
Phantasiren, also ein intellectuelles Handeln, aber ohne Worte.
„Das ist der träumende Mensch; aber der wachende!“ —
Auch er denkt gelegentlich ohne Wort, und gerade da, wo er
am besten denkt: in der Logik und in den mathematischen Wis-
senschaften. Der Geometer zeichnet seine Figur, zieht seine
Hülfslinien und durchläuft in Gedanken eine lange Demonstra-
tion, ohne daß ihm dazu die Sprache unentbehrlich wäre. Der
Chemiker sieht MnO2 + SO3 = O + MnO,SO3 und erkennt hieraus
eine ganze Geschichte von Trennungen und Verbindungen. Der
mathematische Psycholog giebt durch zu verstehen,
unter welchen Umständen zwei Vorstellungen eine dritte aus
dem Bewußtsein verdrängen. Der Logiker sieht
und erfaßt den Inhalt dieser Formel mit einem Blicke, ohne
Wort. Alle solche Formeln werden nicht gelesen, nicht gespro-
chen; sie werden gesehen und gedacht. Sie lassen sich aller-
dings in die Sprache übersetzen und gewinnen dann wohl an
Faßlichkeit, aber sicherlich nicht an Klarheit, und verlieren
sogar an Schärfe und Bestimmtheit. Und die größere Faß-
lichkeit rührt nur von unserer Gewohnheit her, sprechend zu
denken. Das Denken wird uns leichter mit Hülfe des Wortes,
weil wir an diese Krücke gewöhnt sind. So gelangt man durch
[155] die Sprache zum Verständniß jener Formeln; aber das Ziel ist,
sie zu schauen, sie zu denken ohne Wort.
Wer eine Beethovensche Symphonie verfolgt, der denkt,
aber ohne Wort. Wer ein Gemälde betrachtet, die Gesichts-
züge eines Menschen, die Construction einer Maschine zu er-
fassen sucht: der denkt ohne Wort.
Wenn wir über eine Rinne schreiten, eine Treppe auf- oder
absteigen, ein Loth oder zehn Pfund heben oder niedersetzen:
so messen wir genau das Maß der anzuwendenden Kraft ab,
bestimmen auch die Richtung unserer Kraft, denken also, ohne
zu sprechen.
Hieraus folgt nun, daß die unterste Stufe des Denkens, das
Anschauen von äußern oder innern Bildern, des Wortes nicht
bedarf; daß das gewöhnliche Denken des gemeinen mensch-
lichen Lebens wenigstens thatsächlich und in der Regel an die
Sprache gebunden ist; daß aber endlich der Geist auf einer
höhern Stufe der Ausbildung sich von der Last des Lautes zu
befreien sucht. Nur irgend ein sinnliches Zeichen muß er auch
auf der höchsten Höhe haben als Stab und Stütze, als Leit-
faden; oder, nach einem andern Bilde, die Zeichen sind dem
Geiste, indem er dem Begriffe nachspürt, eingeschlagene Pfähle
an den Stellen, wo er die Fußstapfen des Begriffs erkannt hat,
um die Schritte und den Weg desselben um so leichter von
neuem durchlaufen zu können. Dazu ist ihm aber das Wort oft
zu grob, und er wählt statt dessen das algebraische Zeichen.
Auf der untersten Stufe des Denkens bedarf er des Zeichens
nicht; hier ist es die Anschauung selbst, die er will, die ihm
stehen soll. Nur im mittleren Denkreiche herrscht gewöhnlich
das Wort. Daß es aber auch hier eben nur ein Zeichen ist,
als Zeichen dient und keinen höhern Werth hat, zeigt sich daran,
daß es beim unterrichteten Taubstummen durch Fingersprache
und Schriftzeichen vollständig ersetzt wird. Auch ist für den
Taubstummen, der sich von Kindheit auf an ein künstliches Fin-
geralphabet gewöhnt hat, die Fingerbewegung fast eben so un-
zertrennlich vom Denken, eben so nothwendig für dasselbe ge-
worden, wie bei uns das Wort. In den Anstalten, in denen ein
Fingeralphabet als gewöhnliche Umgangssprache dient, hat man
bemerkt, daß die Taubstummen bei ihrem stillen Denken die
Finger bewegten. Auch im Traume thun sie es oft. Die Fin-
gerbewegung ist also bei ihnen eben so sehr mit dem Denken
[156] verschmolzen, wie bei uns der Laut, die Articulation; was
darauf führt, auch die Verbindung der Articulation mit dem
Denken als den Erfolg einer Gewohnheit anzusehen. Späterhin
freilich werden wir sehen, daß zwischen Gewohnheit und Ge-
wohnheit ein Unterschied ist, daß nämlich die eine von der
Natur vorgezeichnet und angeordnet, die andere nur zum Ersatz
angenommen ist. Hier aber war zu zeigen, daß die behauptete
Unzertrennlichkeit von Denken und Sprechen eine Ueber-
treibung ist, und daß der Mensch nicht im Laute und durch
Laute denke, sondern an und in Begleitung von Lauten.
Denn weder ist die Wirklichkeit des Denkens von dieser An-
knüpfung desselben an den Laut durchaus abhängig und ohne
sie unmöglich, noch wird durch ihre Aneinanderknüpfung Wort
und Begriff, Sprache und Gedanke identisch.
Es ist eine schlechte Ausrede, zu behaupten, das lautlose
Denken sei unorganisch. Denn erstlich das Denken als An-
schauung, als Bildschöpfung, ist ohne Zeichen durchaus orga-
nisch. Das algebraische Denken ferner ist eine ganz nothwen-
dige, also organische Stufe in der organischen Entwickelung des
menschlichen Geistes, auf welche Stufe derselbe in ganz orga-
nischer Weise seiner organischen Natur nach gelangen muß.
Endlich aber, wäre der Laut dem Denken so organisch noth-
wendig, wie ein Leib der Seele, ein Stoff der Kraft: so müßte
die Trennung des Lautes vom Denken für beide eben so zer-
störend und tödtlich wirken, wie die Trennung des Leibes von
der Seele, oder so unmöglich sein, wie die des Stoffes von der
Kraft. Das ist aber nicht der Fall; sondern es findet das Wun-
der Statt, daß das Denken, obwohl unorganisch, doch fortlebt
— gewiß eine wunderliche Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit
des Gedankens.
Ich will zu den oben angeführten Beispielen des Denkens mit
Zeichen noch ein höchst merkwürdiges hinzufügen, wo man nicht
aus dem Mangel eines Sinnesorganes und nicht bloß zu be-
schränkten Zwecken, zu wissenschaftlichen Formeln, sondern wo
ein Volk zur Darstellung von Gedanken sich schriftlicher Zei-
chen bedient. Dies geschieht in China. Kein Chinese ist im
Stande, im alten erhabenen Style abgefaßte Schriftstücke, die
man ihm vorliest, durch bloßes Hören aufzufassen. Dies ist
eine vielfach versicherte und für den Kenner des Chinesischen
leicht begreifliche Thatsache. Diese chinesische Literatur alten
[157] Styles ist so umfangsreich wie irgend eine; sie ist ganz vorzüg-
lich reich an Darstellung von Reflexionen und Gefühlen, beson-
ders an Betrachtungen über die sittlichen Verhältnisse der mensch-
lichen Gesellschaft; sie ist weniger beschreibend, sinnlich, an-
schauungsvoll, als reflectirend, rein denkend; sie wird gepflegt und
studirt mit demselben Fleiße, wie der chinesische Ackerbau,
seit mehr denn zwei Jahrtausenden: und diese Literatur ist in
der That keine sprachliche, sondern eine Zeichenliteratur; denn
nicht sprechend wird sie mitgetheilt und hörend vernommen;
sondern in Zeichen geschrieben, wird sie nur durch Auschauung
aufgefaßt. Zwar hat jedes Zeichen einen Laut, mit dem es
ausgesprochen wird; aber was kann das nützen, da dieser Laut,
der das Zeichen trägt, bloß ausgesprochen, völlig unverständ-
lich bleibt, das Zeichen aber, gesehen, beim ersten Blicke eine
Vorstellung anregt? Hier redet also eine weite und tiefe Litera-
tur nicht zum Ohre, sondern zum Auge; hier wird also gar
nicht mit Lauten, sondern mit Schriftzeichen gedacht; und diese
Literatur ist das höchste Erzeugniß des Geistes eines der älte-
sten und cultivirtesten Völker der Erde.
Dies ist noch nicht alles. An einem andern Orte, wo ich
den Charakter dieser Literatur weitläufiger dargelegt, habe ich
auch gezeigt, daß diese Zeichen-Literatur durch die Eigen-
thümlichkeit der chinesischen Sprache selbst veranlaßt wurde;
daß diese, unfähig dem Gedanken bei seinem höhern Schwunge
die nöthige Unterstützung zu geben, dazu zwang, eine andere
Stütze zu suchen; daß sie, schon ursprünglich lose an den Ge-
danken gebunden und nicht mit ihm verschmolzen, die Scheidung
des Gedankens von ihr erleichterte.
Man überlege sich dies recht, und man wird finden, daß,
so sehr auch das menschliche Denken immer und überall das-
selbe ist, doch in dem hier besprochenen Falle in dem ersten
Hülfsmittel des Denkens, in der Sprache, eine Verschiedenheit
von dem regelmäßigen Verhältniß Statt findet, welche unmög-
lich gleichgültig sein kann für die Weise des Denkens selbst,
d. h. für diese psychologische Thätigkeit; und es liegt also hier
der Psychologie einer der merkwürdigsten Gegenstände zur Be-
trachtung vor. Denn wenn sich schon das erste Denken des
Kindes an eine Sprache schließt, die nur ein unvollkommener
Träger des Gedankens ist; wenn dann ferner der Knabe und
das Mädchen ihren Unterricht und ihre Studien von Anfang bis
[158] zu Ende, und das heißt sehr oft bis zum Greisenalter und zum
Tode, in einer sprachlosen Zeichenliteratur durchlaufen, die über-
dies wegen der Form und wegen des Inhalts die allgemeinste
höchste Verehrung genießt; wenn man solche Literatur nicht
nur unausgesetzt studirt, sondern auch unaufhörlich seine eige-
nen Gedanken nach dem Muster derselben darzustellen sich be-
müht; wenn aller Umgang nur mit Männern geschieht, die ge-
rade eben so ihre intellectuelle Bildung erworben haben, und
alle Unterhaltung, ernste und heitere, sich um die alte Literatur
bewegt und tausendfach auf sie anspielt, auch im Ausdruck sich
ihr nähert: wie muß nicht in einer solchen Intelligenz das Ver-
hältniß von Denken und Sprechen ganz anders sein, als dies
bei uns Statt findet! Man nenne nur immerhin ein solches Ver-
hältniß unorganisch. Damit hat man nur nichts erklärt, und
hat sogar einen Unsinn ausgesprochen. Denn ein organisches
Wesen ist entweder, und dann ist es nothwendig organisch;
oder es ist gar nicht: so ist es doch niemals unorganisch.
Endlich noch ein Beispiel, das viel näher liegt, als das der
chinesischen Sprache und Schrift, und doch mit ihm die größte
Aehnlichkeit hat. Es wird gewiß Vielen, die nur englische
Schriften gelesen, aber nicht englisch gesprochen haben, eben so
gehen wie mir, daß sie nämlich, wenn sie englisch hören, sich
das Gehörte schnell als geschrieben vergegenwärtigen und so
erst verstehen, d. h. den Gedanken auffassen. Das rührt von
der Verschiedenheit zwischen Schreibung und Aussprache und
der Gewöhnung her, immer die Schreibung dem Geiste gegen-
wärtig zu haben. Ich denke, dies beweist, daß, wenn man eng-
lisch zu uns spricht, wir nicht in englischen Lauten, sondern in
englischer Schrift denken; daß folglich Denken und Sprechen
wohl zertrennlich und also noch mehr verschieden sind.
§. 63. Verschiedenheit von Denken und Sprechen, bewiesen durch Reflexion.
Wir haben uns im Vorhergehenden auf Thatsachen beru-
fen. Wir fügen nun noch folgende Reflexion hinzu. Die Fä-
higkeit, eine fremde Sprache verstehen und sprechen zu lernen,
beweist schon mindestens die Möglichkeit, meine Gedanken von
meiner Sprache abzulösen. Ja, Uebersetzungen wären sonst rein
unmöglich. Man meint aber, indem dem Gedanken eine Sprache
genommen wird, so werde ihm ja dafür sogleich die andere un-
tergeschoben, und es werde nicht die organische Einheit des
Gedankens mit der einzelnen Sprache, sondern mit der Sprache
[159] überhaupt angenommen; alle Sprachen seien am Ende nur eine
Sprache und die Sprache. Das mag sein, und überhaupt, ist
das Denken in organischer Weise an den Laut gebunden, so ist
die Verschiedenheit der Sprachen wohl schwerlich zu erklären,
und man thut wohl daran, sie als unwesentlich auszugeben. Nur
müßte diese Unwesentlichkeit so groß sein, daß jeder Mensch
unmittelbar jede Sprache verstehen könnte. Denn selbst ver-
möge der Beckerschen „organischen Freiheit“ dürfte keine
Sprache sich so sehr von meiner organischen Sprach- und Ver-
stehkraft entfernen, daß ich sie nicht unmittelbar verstände. So
groß auch irgendwo das sogenannte „Spiel der organischen
Freiheit“ sein mag in Blättern und in Formbildung aller Art,
es ist nicht so groß, um nicht diese Blätter und Formen so-
gleich wiederzuerkennen, wenn man überhaupt ihre Art kennt.
Und wie es mit Pflanzen und Thieren ist, so müßte es auch
mit der Sprache sein. So mannigfach auch Gesicht und Gestalt
des Menschen geformt sein mag: man wird jeden Menschen so-
gleich als solchen erkennen; also müßte ich auch den Begriff
Mensch, wäre er im Sprachlaute organisch ausgedrückt, aus
jedem Worte, welches in den verschiedenen Sprachen Mensch
bedeutet, unmittelbar heraushören.
Es dürfte also bei der Voraussetzung der Identität von
Sprechen und Denken keinen mir unverständlichen Sprachlaut
geben. Hiermit wird zugleich behauptet, es müsse auch un-
möglich sein, künstlich einen Sprachlaut zu bilden, eine Sylbe,
ein Wort, welches keine Bedeutung hätte. Jeder articulirte
Laut müßte eine Bedeutung haben, und die reinste und vollen-
detste Quelle der Begriffsbildung müßte diejenige sein, welche
aus dem Bemühen entstünde, Wortlaute zu bilden. Wer ein
unerhörtes Gebilde eines Wortlautes gestaltet hätte, müßte eben
damit einen völlig neuen Begriff gebildet haben.
Becker dürfte nicht abgeneigt sein, letztere Forderung zu-
zugestehen; nur wird er sie näher bestimmen wollen, und zwar
so (Organism S. 2): „Begriffe, die für uns lange Zeit dunkel
und unbestimmt gewesen, werden uns oft mit einem Male klar
und bestimmt, indem wir sie besprechen“ (wahre Zauberei! Die
Philosophen aber, die man ehemals für Zauberer hielt, machen
sich heute die Begriffe dadurch klar, daß sie dieselben nicht
besprechen, sondern bedenken). „Es wird uns oft schwer, einem
Dinge den rechten Namen zu geben, weil uns der Begriff des
[160] Dinges noch nicht klar geworden; aber sehr oft wird uns ein
lange Zeit dunkeler Begriff, wie mit einem Schlage, klar, wenn
wir zufällig den rechten Namen finden“ (das rechte Wort, die
gehörigen Sylben geschmiedet haben! Der Denker aber sucht
nicht den Namen, sondern die Kategorie des Ganzen und die
Beziehungen seiner Theile, was sich allerdings alles an Laute,
wenigstens meist, anschließt und immer anschließen kann).
„Endlich“ (heißt das drittens? viertens? fünftens u. s. w.? nein!
zweitens! denke ich) „gehört hierher, daß nicht ausgespro-
chene Begriffe und Gedanken oft lange Zeit in dem Geiste
gleichsam schlummern, als seien sie nicht vorhanden; aber ein-
mal ausgesprochen üben sie plötzlich über das Urtheil und
die Handlung einzelner Menschen und ganzer Völker eine un-
widerstehliche Gewalt aus.“ Das heißt denn doch die Schöpfer-
kraft großer Männer herabsetzen — oder vielmehr nicht begrei-
fen. Das wären die Heroen der Geschichte der Menschheit,
Wecker schlummernder Gedanken? weiter nichts? Plato hätte
die schlummernden Ideen bloß geweckt? Kant die schlummernde
Kritik des Geistes geweckt? O nein, geschaffen haben sie die
Gedanken, neu, ursprünglich. Man sagt wohl, die Flamme
schlummre im Holze, und das mag man geistreich finden. In
Wahrheit aber ist doch die Flamme, die man schlummernd
nennt, gar nicht vorhanden: man kann sie erzeugen, wenn man
die noch fehlenden Bedingungen, unter denen sie entsteht, zum
Holze hinzubringt. So haben die großen Männer in noch viel
höherem Grade nicht schlummernde Gedanken, die also doch
schon vorhanden gewesen wären, bloß geweckt, sondern nicht-
vorhandene erzeugt, indem sie zu den vorhandenen etwas eige-
nes, sei es auch nur eine eigene Combination derselben hinzu-
brachten. Und auch dies zeigt die Zusammenhangslosigkeit von
Sprechen und Denken; denn mit dem alten Laute wird der
neue Begriff ausgesprochen.
Wenn sich ferner bei Kindern Sprache und Gedanke glei-
chen Schrittes entwickeln, so folgt daraus eben so wenig ihre
Identität, wie Becker meint, als die Identität von Seele und
Leib, oder von Physiologie und physikalischer Optik daraus,
daß beide sich gleichen Schrittes entwickeln.
Eine sehr innige Beziehung des Denkens zum Sprechen,
eine viel innigere als zu jedem andern Zeichen, eine von Natur
selbst gesetzte, wird nicht geläugnet und wird später dargestellt
[161] werden. Die innigste Beziehung aber ist noch nicht Identität.
Diese wird hier abgewiesen.
Becker sagt: „Es ist ein allgemeines Gesetz der lebenden
Natur, daß in ihr jede Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige
in einem Leiblichen in die Erscheinung tritt, und in der leib-
lichen Erscheinung seine Begrenzung und Gestaltung findet.
Nach diesem Gesetze tritt auch der Gedanke nothwendig in die
Erscheinung, und wird ein Leibliches in der Sprache. Die
Sprache ist nichts anderes als der in die Erscheinung tretende
Gedanke, und beide sind innerlich nur eins und dasselbe.“ Hier
wird also die Identität von Sprechen und Denken nach einer
allgemeinen Analogie aller natürlichen Existenzen beurtheilt. Dabei
macht man den Fehler, von allen specificirenden Merkmalen ab-
zusehen und das Wesen eines eigenthümlichen Daseienden mit
dem abstractesten, allgemeinsten Merkmale des Daseins über-
haupt erfassen zu wollen. Doch davon ist oben ausführlich ge-
sprochen. Gestehen wir hier die Analogie zu und sehen nur,
ob die Vergleichung richtig angestellt ist. Nun fragen wir: ist
denn Thätigkeit und Stoff darum identisch, weil jene in diesem
in die Erscheinung tritt? ist Geistiges und Leibliches identisch,
darum weil jenes in diesem lebt? (denn Begrenzung und Gestal-
tung findet das Geistige im Leiblichen nie und nimmer. Wie
soll Geist von Körper begrenzt werden!) Und eben so wenig
ist Sprechen und Denken identisch, weil dieses in jenem er-
scheint. Man beachte Beckers Wort „innerlich“; Sprechen
und Denken sind „innerlich nur eins und dasselbe.“ Und äußer-
lich? Und was ist hier innerlich und äußerlich? Hier ist Becker
inconsequent geworden, d. h. mit dem Worte innerlich durch-
bricht entweder eine alte Erinnerung oder ein Funke der Wahr-
heit Beckers Grundanschauung. Becker gehört, wie wir oben
sahen, der Identitätsphilosophie an, der Alles in einander lief und
eins ward. Wenn Becker die Einheit von Stoff und Thätigkeit,
Leiblichem und Geistigem, Sprechen und Denken behauptet, so
ist dies gegen die Unterscheidung der Kategorien Inneres und
Aeußeres gerichtet, deren Berechtigung die Identitätsphilosophie
nicht anerkennt. Es giebt kein Inneres und kein Aeußeres; es
giebt nur die Einheit, Eins. So giebt es auch kein Sprechen
als etwas Aeußeres, und kein Denken als etwas Inneres; es giebt
nur Eins: Denk-Sprechen, Sprech-Denken. Der Gedanke gehört
der Sprache, ist Sprache, und der Laut gehört dem Denken,
11
[162] ist Gedanke. Das ist Beckers Ansicht, welche durch obiges
„innerlich“ durchbrochen wird.
Wir werden später das Verhältniß von Innerem und Aeu-
ßerem zu betrachten haben. Beckers unbestimmte Auffassung
dieser Kategorien aber und die Verwirrung, die er mit seiner
Identität anrichtet, berechtigt uns schon hier eine Analogie vor-
zubringen, in der ebenfalls ein Inneres und Aeußeres, ein Geisti-
ges und Leibliches sich findet, also auch ihre Einheit. Ich zeige
eine Bildsäule Cäsars. Hier ist offenbar ein Geistiges im Leib-
lichen in die Erscheinung getreten, gerade wie bei der Sprache
der Gedanke im Laute erscheint. Darum sagt man, die Sprache
sei der lautgewordene, verlautlichte, in der Sprache leiblich ge-
wordene Begriff oder Gedanke. Wenn ich nun eben so sagte:
diese Bildsäule ist der Stein gewordene, versteinerte, im Steine
leiblich gewordene Cäsar, was würde man dazu meinen? oder
umgekehrt, wenn ich sagte, diese Bildsäule sei der Cäsar ge-
wordene Stein? — Diese Analogie ist noch nicht streng; ich
kann sie strenger machen. Sie würde nämlich nur passen, wenn
Becker gesagt hätte, die Sprache sei die lautgewordene oder
in Laute verwandelte Welt, d. h. eine vergeistigte, wenig-
stens dem Geiste genäherte Welt, wie Humboldt bemerkt hat,
der allemal zwei Seiten an den Dingen erkennt, wo Becker nur
eine sieht. Da also Becker in der Sprache keinen Vergeisti-
gungsproceß sieht, sondern nur die Verleiblichung des Gedan-
kens, so müßten wir auch sagen, diese Bildsäule ist unser ver-
leiblichter Gedanke Cäsars, unsere Stein gewordene, versteinerte
Vorstellung von Cäsar; und unsere Vorstellung von Cäsar und
die Bildsäule sind — soll ich „innerlich“ hinzusetzen? — nur
eins und dasselbe. So viel Wahrheit hierin liegt, so viel Wahr-
heit liegt in der Einheit von Denken und Sprechen. Die Be-
ckerianer mögen sich wohl hüten, mir dies zuzugestehen; sie
mögen sich wohl vorsehen! denn die Bildsäule ist nach Becker
unorganisch; folglich, wenn die Einheit des Geistigen und Leib-
lichen rücksichtlich der Sprache nicht diejenige ist, welche Eisen
und Magnetismus, Gase und Wärme verbindet, sondern dieje-
nige, welche den Gedanken mit dem Material eines Kunstwerks
vereinigt: so ist die Sprache nicht mehr organisch.
Wie verhält es sich denn nun aber mit dieser Einheit des
Geistigen und Leiblichen im Kunstwerke? Wir sehen erstlich,
wie schief sich Becker ausdrückt, wenn er von Einheit des
[163] Sprechens und Denkens redet. Denn wie im Kunstwerke Stein
und Idee sich vermählen: so sollte man sagen, in der Sprache
vermähle sich die Idee mit dem Laute. Idee aber bleibt Idee,
und wird weder Stein noch Laut; Vermählung ist nicht Iden-
tität: hierin wird mir mancher beipflichten.
Schief ausgedrückt oder nicht, wird der Beckerianer sagen,
allemal ist doch das Innere der Sprache die Idee, die Intellec-
tualität selbst; und das ist es, was Becker mit seiner Identität
von Sprechen und Denken sagen will. — Sehen wir nun die
Sache näher an. Jemand verlangt von mir, ich soll ihm die
Bildsäule Cäsars beschreiben: so verlangt jemand, der eine
Sprache lernen will, von seinem Lehrer, daß er sie ihm darlege.
Ich sage nun, um dem an mich gestellten Verlangen nachzukom-
men, die Bildsäule sei aus Parischem Marmor, in doppelter Men-
schengröße ausgearbeitet: der Sprachlehrer, um seinem Schüler
zu genügen, giebt ihm die Lautlehre. Beide Hörende sind damit
noch nicht befriedigt; von mir wird verlangt, ich solle auch die
Idee mittheilen, die man dem Marmor eingebildet habe: der
Sprachlehrling will die innere, geistige Seite zur lautlichen haben.
Was thut nun der Beckersche Sprachlehrer? er giebt ihm die
Logik und den Begriffsschatz, d. h. Form und Inhalt unserer
Intellectualität, unseres Denkens. Wenn ich nun eben so meinem
Hörer die Vorstellung von Cäsar mittheilte, er sei ein großer
Feldherr, Staatsmann, Schriftsteller, mild und liebenswürdig gewe-
sen, würde mein Zuhörer befriedigt sein? Nicht? — nun so ist
es Beckers Lehrling, oder ich bin es mindestens auch nicht.
Also: so gewiß die Idee einer Bildsäule Cäsars nicht unsere
Vorstellung von Cäsars Charakter, Talent, Verdiensten, Thaten,
nicht unsere Idee von Cäsar ist: so gewiß ist auch die Idee
des Lautes nicht der Inhalt und die Form unseres Denkens.
Folglich sind Denken und Sprechen völlig von einander ver-
schieden. Oder, um Beckers eigene Analogien anzuwenden: so
wenig die Idee oder das Innere des menschlichen Leibes der
menschliche Geist ist: eben so wenig ist auch die Idee der Laute
der Inhalt und die Form des Gedankens; folglich sind Sprache
und Gedanke nicht eins und dasselbe.
2. Sind Grammatik und Logik identisch?
Wenn, wie wir gesehen haben, Sprechen und Denken so
wenig identisch sind, wie Körper und Geist, Stoff und Kraft,
die Bildsäule und unsere Vorstellung von der dargestellten Per-
11*
[164] son identisch sind: so sind auch Grammatik und Logik eben so
wenig identisch, als Physiologie und Psychologie, Chemie und
Physik, Aesthetik und Historie identisch sind. Dies Ergebniß
steht also schon fest; wir haben es nur weiter aus einander zu
legen. Wir haben auch schon oben bei der Kritik Beckers auf
die Thatsache hingewiesen, daß eine Grammatik außer und ne-
ben der Logik existirt, und haben daraus geschlossen, daß sie
folglich doch verschieden an Wesen und Inhalt sein müßten.
Wir haben aber jetzt diese Thatsache, die wir in so fern be-
greifen gelernt haben, als sie nothwendig aus der Verschieden-
heit von Sprechen und Denken erfolgt, des Weitern darzulegen.
Wir können der Reihe nach alle Kategorien der Grammatik
durchgehen und ihre unlogische Natur darthun.
§. 64. Wort und Begriff verschieden.
Das Wort ist nicht das Aequivalent des wirklichen Din-
ges: das hat der Sophist Gorgias schon gewußt. Allerdings,
sagt Becker, aber das Wort ist das Aequivalent des Begriffs,
der lautgewordene Begriff selbst. Dann wäre aber, entgegnen
wir, die Synonymie unmöglich, d. h. es könnten nicht zur Be-
zeichnung desselben Begriffs mehrere durchaus verschiedene Wör-
ter vorhanden sein, deren jedes denselben Begriff eben so gut
bezeichnet wie das andere — der alte Einwand des Demokrit
gegen die Herakliteer. Denn es ist ja ganz einerlei, ob man
mit diesen behauptet, die Wörter seien Abbilder der Dinge,
oder ob man mit Becker das Wort für den verlautlichten Begriff
nimmt: jener Einwand bleibt unumstößlich; denn jedem Dinge
entspricht nur ein Begriff davon, und dem einen Begriffe nur
eine lautliche Erscheinung desselben. Es ist unbegreiflich, wie
derselbe Begriff in organischer Weise in zwei verschiedenen
Lautformen soll erscheinen können — wenn man nicht auch
hier den deus ex machina, die organische Freiheit, zur Hülfe
rufen will, wobei man aber eben den Widerspruch anerkennt.
Das Wort ist nun aber eben so wenig der Begriff selbst,
wie es das Ding selbst ist. Wenn Cicero virtus sprach, so
drückte dies Wort bloß Mannheit aus; aber war das sein Be-
griff, den er mit dem Worte virtus bezeichnete? Verstehen un-
sere Tugendlehrer unter dem Begriffe Tugend das, was das Wort
Tugend ausdrückt: Tauglichkeit? Wozu die Beispiele häufen,
da es sich hier um die längst bekannte Thatsache handelt, daß
die Etymologie der Wörter nicht vollständig und genau das
[165] ausspricht, was dieselben bedeuten. Hier machen wir nur die
Reflexion, die man zu machen meist vergessen hat — wie man
überhaupt aus jener Thatsache bis heute noch nicht die ganze
Folge gezogen hat —, daß es doch nur der etymologische Sinn
ist, was das Wort eigentlich und an sich aussagt. Das Wort
bedeutet nun freilich auch noch etwas anderes, was oft sehr fern
von dem etymologischen Sinne liegt, den Begriff; woraus doch
aber eben nur folgt, daß das Wort nicht der Begriff ist, son-
dern nur den Begriff bedeutet.
Noch nie seit Menschengedenken mag jemand gefragt ha-
ben: was oder welcher Begriff ist dieses Wort? sondern immer
hat man gefragt: was oder welchen Begriff bedeutet dieses
Wort. Das Wort virtusist so wenig der Begriff Tugend als
die Sache Tugend; aber es bedeutet zunächst den Begriff und
dann die Sache. Gerade weil das Wort bedeutet, ist es nicht
das, was es bedeutet. Im Begriffe des Bedeutens selbst liegt,
daß das Bedeutende und das Bedeutete von einander verschie-
den, und nicht bloß dies, sondern auch, daß das Bedeutete ab-
wesend oder versteckt sei. Denn gerade nur weil etwas nicht
gegenwärtig ist, nicht klar vorliegt und geschaut oder leicht wahr-
genommen werden kann, nur darum ersetzt man es durch etwas
anderes, welches gegenwärtig und offenbar ist, und welches durch
sich den ersten Gegenstand bedeutet oder verräth. Der menschliche
Körper bedeutet den menschlichen Geist, verräth ihn: so bedeu-
tet, verräth das Wort den Begriff; die Flagge mit ihren Far-
ben ist nicht die Nationalität: das Wort ist nicht der Begriff.
Wenn man das Wort als Begriff selbst nimmt, so muß man
die Sprache ein wahrhaft verpfuschtes Werk nennen. Denn wie
viele Wörter mögen wohl einen Begriff angemessen ausdrücken,
so daß mit der Etymologie des Wortes eine wahre Definition
des Begriffes gegeben wäre? Wahrscheinlich giebt es solche
Wörter gar nicht. Auch ist es gar nicht bloß der Ausdruck
abstracter Begriffe, wobei die Sprache ihre Schwäche verriethe;
sie ist nicht bloß zu concret und materiell: sie ist vielmehr an-
dererseits wieder zu abstract, und kann darum die Vorstellung
vom einfachsten Dinge nicht passend ausdrücken.
Zu einer logischen Classification oder Deduction der Wur-
zeln der Sprache, welche als Träger der Grundbedeutungen der
Wörter zugleich die Grundbegriffe unseres Begriffsschatzes ent-
halten, wie sie Becker erstrebt hat, giebt die Sprache nicht die
[166] mindeste Handhabe. Wir hätten nichts dagegen, wenn jemand
ein Wurzellexikon nach der Beckerschen Begriffsentwicklung
ordnete; diese Ordnung wäre eben so wissenschaftlich wie die
alphabetische, sei diese nach dem An- oder Auslaute gemacht;
denn beide sind gleich künstlich. Die Sprache weiß nichts
von einer Anordnung nach Buchstaben, ja sie weiß nicht einmal
etwas von Buchstaben: und eben so wenig kennt sie eine
Begriffsableitung, ja nur überhaupt Begriffe. Sie deutet die im
Beckerschen Systeme dargestellten Verwandtschafts- und Ablei-
tungsverhältnisse durchaus nicht in einer Weise an, aus welcher
zu schließen wäre, sie habe wirklich dieses System befolgt, sei
nach ihm gebildet, das System gehöre ihr an. Wir haben über
Beckers Wurzelsystem schon ausführlich gesprochen und die
trostlose Verwirrung dargelegt, in die er gerathen ist. Hier nur
noch eine Bemerkung. Das ursprünglichste Wort, weil der ur-
sprünglichste Begriff, soll nach Becker die Bewegung sein. Nun
fragen wir: welche Sprache hat denn wohl für „Bewegung“ ein
ursprüngliches Wort? Bewegung ist eine Abstraction, welche
die Sprache erst durch Cultur erhalten hat. Ueberhaupt aber
würde die Voraussetzung, daß die Wurzeln sich so, wie sie in
Beckers System an einander gereiht sind, auch in zeitlicher Ord-
nung entwickelt haben — und eine Genesis der Wurzeln hat
die zeitliche Entwickelung darzulegen — gar zu lächerliche Fol-
gerungen veranlassen.
Wenn der Wurzelschatz einer Sprache ein System ist, wie
Humboldt ausgesprochen hat, so ist sein Princip, seine schöpfe-
rische Einheit ganz wo anders zu suchen, als in der logisch-me-
taphysischen Deduction der Begriffe. Denn diese Begriffe ha-
ben mit den Wörtern nichts zu thun.
§. 65. Wort- und Begriffsverhältnisse.
Wir haben hier die Begriffe an sich und ihren sprachlichen
Ausdruck, die Wurzeln, an sich betrachtet und sie als verschie-
denartigen Wesens erkannt. Verschiedene Wesen haben noth-
wendig auch verschiedene Verhältnisse und Beziehungen; folglich
sind die logischen und metaphysischen Verhältnisse und Bezie-
hungen des Begriffes andere, als die grammatischen der Wurzel.
Das wollen wir näher betrachten.
Zunächst die Wortbildung und Wortableitung. Hier tref-
fen wir sogleich auf Unterscheidungen der Wörter, denen die
Logik keine entsprechende Unterscheidungen der Begriffe gegen-
[167] überstellt. Die Logik kennt den Begriff schön, gut; zum Un-
terschiede aber von schön und Schönheit, gut und Güte ge-
langt sie nicht; er existirt gar nicht für sie. Begriffe von
Substanzen sind Begriffe, Begriffe von Accidenzen sind es eben
so, und jeder Begriff bleibt was er ist. Güte ist eine Accidenz,
Schönheit ist eine solche, und gut und schön sind ebenfalls Ac-
cidenzen und von jenen für die Logik nicht verschieden. Doch
hiervon ausführlicher beim Urtheile.
Noch weniger wüßte die Logik das Verhältniß der Ablei-
tung zu rechtfertigen. Güte und Schönheit sind von gut und
schön abgeleitet; aber umgekehrt verhält sich Tugend zu tu-
gendhaft, Furcht zu furchtbar. Man sagt häßlich, Häßlich-
keit, aber Laster, lasterhaft. Solche Betrachtungen hat schon
der Stoiker Chrysippos angestellt. Er findet, daß die posi-
tiven und negativen Wörter nicht immer auch logische Posi-
tionen und Negationen ausdrücken, sondern daß das negative
Wort einen positiven Begriff, und das positive Wort einen ne-
gativen Begriff ausdrückt. In dem Satze z. B. Homer war
blind ist blind ein positives Wort; der Begriff der Blindheit
aber ist nur die Negation der Sehkraft. Umgekehrt ist unsterb-
lich ein negatives Wort; sagt man aber: die Götter sind un-
sterblich, so wird mit dem negativen Worte eine positive Ei-
genschaft der Götter dargestellt, ihre Ewigkeit.
Dies führt uns auf die beiden Kategorien der Begriffe nach
ihrer logischen Betrachtung, nämlich den Inhalt und Umfang
der Begriffe und ihren Gegensatz. Was erstern betrifft, so
sagen wir allerdings: Faulthier, Rennthier, Elenthier, Tan-
nenbaum und deuten also an dem Begriffe den höhern, über-
geordneten Begriff an, in dessen Umfang er gehört. Aber
wie selten geschieht dies! Löwe, Hund, Eiche u. s. w., Be-
sonnenheit, Tapferkeit u. s. w. und überhaupt die Regel in der
Benennung der Begriffe zeigt uns, daß die Sprache auf diese
Verhältnisse des Begriffs nach seinem Inhalte und Umfange
durchaus keine Rücksicht genommen hat. Noch wichtiger viel-
leicht für die Logik ist die andere Kategorie, der Gegensatz,
und zwar der conträre. Auch ist der conträre Gegensatz bei
Becker der Hebel aller Constructionen, der Leitfaden durch das
All. Die Sprache aber kennt nur den contradictorischen Ge-
gensatz — was auch im Namen liegt — und kennt den con-
trären, d. h. den eigentlichen logischen Gegensatz gar nicht.
[168] Conträre Begriffe sind für die Sprache nur disparate Begriffe.
Rund und eckig, schwarz und weiß, gut und schlecht, schön
und häßlich: das alles sind doch conträre Begriffe für den Lo-
giker; aber die Sprache, wodurch hätte sie das Verhältniß des
Gegensatzes angedeutet? sie sieht in jenen Begriffen, die sie
in zusammenhangslosen Wörtern darstellt, nur disparate Begriffe.
Nicht schön, nicht rein, nicht hell dagegen bezeichnen einen con-
tradictorischen Gegensatz, in welchem aber der Logiker einen
conträren erkennt.
§. 66. Satz und Urtheil.
Gehen wir jetzt weiter zu den Urtheilen. Wir werden
auch hier, und hier erst recht deutlich und ausführlich zeigen
können, daß Logik und Grammatik nicht congruent sind, daß
jede besondere Kategorien hat, und daß selbst die, welche sich
zu decken scheinen, doch nur parallel laufen, aber verschiedenen
Wesens sind.
Dies zeigt sich nun schon bei der Kategorie „Urtheil“ selbst.
Denn der Satz ist nicht eins und dasselbe mit dem Urtheil; son-
dern er ist die Darstellung des Urtheils und hat als Darstellung
seine eigenen Gesetze und Kategorien, nämlich grammatische,
und das Urtheil hat die seinigen, nämlich logische. Vor allem
ist beachtenswerth, daß die Logik die Unterscheidung von Be-
griff und Urtheil nicht machen kann *). Urtheil an sich ist eine
psychologische Kategorie; denn die Entstehung des Urtheils, den
Unterschied desselben vom einfachen Begriffe, kann nur die Psy-
chologie darthun. Die Logik aber nimmt das Urtheil, wie den
Begriff, als vorliegend und gegeben an und betrachtet nur die
an ihm hervortretenden Verhältnisse. Denn die Logik, wie wir
oben bemerkten, ist keine genetische Wissenschaft, sondern eine
ästhetische. Begriff und Urtheil werden ihr zur Beurtheilung
übergeben; woher diese kommen, fragt sie nicht. Die Sprach-
wissenschaft dagegen hat wohl nachzuweisen, wie der Satz ent-
stehe, und worin er sich vom einfachen Worte unterscheide.
Die Sprachwissenschaft hat also den Satz allseitig zu betrach-
ten und zu entwickeln; die Logik sieht das Urtheil nur einseitig
an, indem sie fragt, ob es richtig gebildet sei oder nicht.
Hieraus folgt nun, was schon Aristoteles bemerkt hat, daß
[169] zwar jeder Satz eine Verbindung von Begriffen enthält, wodurch
etwas ausgesagt wird; daß aber darum noch nicht jeder Satz
auch ein Urtheil darstellt, das der Beurtheilung der Logik an-
heimfiele. Denn die Frage, ob die Aussage richtig sei oder
nicht, welche an jedes Urtheil muß gerichtet werden können,
kann bei vielen Sätzen, wie den Frag- und Wunschsätzen gar
nicht angewandt werden. Da aber das Urtheil ein logisches
Wesen ist, so ist jene Frage ein Erkennungsmittel, ob ein Satz
ein Urtheil enthält oder nicht. Giebt es also Sätze, welche
keine Urtheile sind, so sind auch Satz und Urtheil wesentlich
verschieden.
§. 67. Das hypothetische und disjunctive Urtheil.
Das Auseinanderfallen von Satz und Urtheil zeigt sich nun
weiter darin, daß manches logische Urtheil in der sprachlichen
Darstellung durch zwei, sogar durch vier Sätze ausgedrückt
wird, und umgekehrt mancher Satz vier und mehr Urtheile in
sich schließt. Das hypothetische Urtheil in einfachster Gestalt
lautet nach der allgemeinen Formel: wenn A ist, so ist B; z. B.
wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der be-
harrlich Böse bestraft. Hier wird ein Urtheil durch zwei Sätze
ausgedrückt. Das Urtheil liegt in keinem der beiden Sätze, sondern
nur in dem Verhältnisse beider. Denn es wird gar nicht geur-
theilt: es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da, und: der be-
harrlich Böse wird bestraft; sondern es ist nur der Zusammen-
hang beider Sätze, „es ist nur die Consequenz, die durch jenes
Urtheil gedacht wird“ (Kant). Es sind also hier zwei Sätze,
welche keine Urtheile aussprechen; und andererseits liegt hier
ein Urtheil vor, das jenseits der Sätze liegt: also sind Urtheil
und Satz von einander geschieden.
Man kann die Formel des hypothetischen Urtheils erwei-
tern, so daß es sich durch vier Sätze ausspricht: angenommen
daß, wenn A ist, dann B ist: so wird, wenn C ist, dann D sein.
Hierdurch wird an der Sache nichts Wesentliches geändert; wir
haben bloß dasselbe Verhältniß doppelt oder vielmehr dreifach.
In ganz ähnlicher Weise, wie mit den hypothetischen Ur-
theilen, verhält es sich mit den disjunctiven. Man betrachte
z. B.: die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder
sie ist durch eine innere Nothwendigkeit entstanden, oder eine
äußere Ursache hat sie hervorgebracht; oder die allgemeine
Formel: m ist entweder a oder b oder c. Hier spricht sich ein
[170] Urtheil durch drei Sätze aus — oder mehre —, liegt aber
weder in einem derselben, noch in ihrer Summe, sondern in die-
ser und in dem Verhältnisse der Sätze zu einander. Folglich
drückt keiner jener Sätze ein Urtheil aus, und Urtheil und Satz
sind nicht dasselbe.
Vielmehr leben Satz und Urtheil außer einander; das Ur-
theil schwebt über den Sätzen, der Gedanke über der Sprache,
die Logik über der Grammatik, und darum ist auch das Ver-
hältniß von Sätzen und Urtheilen verschiebbar gegen einander.
So eben schien es, daß das disjunctive Urtheil sich durch meh-
rere Sätze ausspreche. Von einer anderen Seite betrachtet aber
können wir hier umgekehrt sehen, wie ein Satz drei und mehre
Urtheile zusammenfassend ausspricht. Bleiben wir, um Weitläu-
figkeiten zu vermeiden, bei der allgemeinen Formel: so drückt
das disjunctive Urtheil „m ist entweder a oder b oder c....“
mehrere hypothetische Urtheile aus: „m ist a, wenn es nicht b
oder c ist; m ist b, wenn es nicht a oder c ist, und m ist c,
wenn es nicht a oder b ist.“ Es ist willkürlich, hier ein Urtheil
in sechs Sätzen — und da jeder Satz für jedes Oder noch ei-
nen Satz in sich schließt, in 12, in 24 u. s. w. Sätzen — oder
einen Satz mit mehreren Urtheilen zu sehen.
Wenn diese Anschauungsweise vielleicht manchem künstlich
und gesucht erscheinen sollte, so bieten die hypothetischen Sätze
eine durchaus einfache und natürliche Verschiebung des oben
angenommenen Verhältnisses von Satz und Urtheil dar. Statt
nämlich zu sagen: „wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist,
so wird der beharrlich Böse bestraft“, können wir eben so na-
türlich und einfacher sagen: bei oder von einer vollkommenen
Gerechtigkeit wird der u. s. w. und noch einfacher: eine voll-
kommene Gerechtigkeit bestraft den beharrlich Bösen.
Ferner: „Rosen und Tulpen und Nelken sind Blumen“ ist
ein Satz, schließt aber drei Urtheile in sich; und endlich,
wenn durch Induction allgemeine Sätze gebildet werden, so ha-
ben wir einen Satz, aber viele Urtheile. Denn, bemerkt Her-
bart mit Recht (Einleitung in die Philosophie §. 57), „in diesem
Falle ist gar nicht dem Begriffe, der die Stelle des Subjects
einnimmt, ein Prädicat beigelegt worden; sondern das Wort
für diesen Begriff verhüllt nur die Vielheit der in jenem Be-
griffe, als ihrem gemeinsamen Merkmale, sich begegnenden Sub-
jecte, welchen allen das nämliche Prädicat zugedacht war. Viele
[171] Subjecte aber ergeben eben so viele Urtheile; und in die ganze
Menge derselben muß der verkürzte Ausdruck, der sie andeu-
tete, seinem wahren Sinne nach wieder aufgelöst werden. Die
logische Theorie darf unter dergleichen Verkürzungen nicht lei-
den“, d. h. man darf Satz und Urtheil nicht vermengen, wovor
sich auch Herbart, wie mir scheint, nicht immer in Acht genom-
men hat.
Wir sehen also, daß mehrere Urtheile sich zu einem
Satze zusammenziehen und ein Urtheil zu mehreren Sätzen sich
aus einander dehnen kann. Jetzt aber entsteht der Verdacht,
ob sich die Logik nicht zur Unterscheidung von Urtheilen hat
hinreißen lassen durch einen offenbaren Unterschied von Sätzen.
Sobald die Aufmerksamkeit einmal nicht darauf gerichtet war,
sich vor der Verwechslung des Urtheils mit dem Satze zu hü-
ten: so konnte man leicht verführt werden, Urtheile zu scheiden,
obwohl sie desselben Wesens sind, derselben Klasse angehören,
bloß weil ihr sprachlicher Ausdruck im Satze verschieden war.
Sollte nun vielleicht das ganze hypothetische Verhältniß
eine der Logik durchaus fremde Kategorie sein? sollte hier nicht
die Logik der Grammatik etwas Ungehöriges entlehnt haben?
Denn der Grammatik gehört das hypothetische Verhältniß un-
streitig an, da sie so klare und, z. B. im Griechischen, so
vielfach und so fein abgeschattete Darstellungsweisen für das-
selbe hat. Für die Logik aber scheinen die hypothetischen
Sätze nur kategorische Urtheile zu sein. Denn die drei Aus-
drucksweisen, die wir oben schon angeführt haben: 1) wenn
A ist, so ist B; 2) beim A oder durch A ist B; 3) A bewirkt
B, drücken alle drei nur denselben Gedanken, dasselbe Urtheil
aus. Da nun „A bewirkt B“ und „bei, durch A ist B“ kate-
gorische Urtheile sind, so ist auch das dritte Urtheil kategorisch,
und es kann der Logik nichts daran liegen, ob dieses Urtheil
durch einen einfachen, oder durch einen erweiterten Satz, oder
durch das hypothetische Satzverhältniß ausgedrückt wird; denn
nicht auf die grammatischen Kategorien hat die Logik zu sehen,
sondern auf den durch die Sprache ausgedrückten Gedanken-
inhalt, unbekümmert um die Darstellungsform.
Man hat den Unterschied zwischen den kategorischen und
hypothetischen Urtheilen auf den Unterschied von Inhärenz und
Dependenz oder Consequenz zurückführen wollen. Hiergegen
hat sich schon Herbart erklärt (Einleitung in die Phil. §. 60.
[172] Anm.). Er erinnert, „daß der Begriff der Inhärenz, durch den
man die Anknüpfung des Prädicats an das Subject im sogenann-
ten kategorischen Urtheile zu bestimmen glaubt, selbst gänzlich
unbestimmt und unbestimmbar ist, so daß er nichts mehr, als
Verknüpfung überhaupt bedeutet. Z. B. in dem Urtheile: diese
Begebenheit ist erfreulich, wird Niemand die Eigenschaft zu er-
freuen für eine zum Ereignisse selbst gehörige, ihm eigentlich
inhärirende Bestimmung halten, da sich dieselbe bloß auf sub-
jective Gefühle bezieht“; und Herbart fügt hinzu: „daß der
Begriff der Dependenz eben so unbestimmt ist und eben so ver-
geblich zum ausschließenden Merkmale des hypothetischen Ur-
theils gemacht wird. Sehr viele dergleichen Urtheile bezeichnen
bloß die wahrgenommene Verknüpfung zweier Ereignisse,
von denen man noch nicht weiß, sondern vielleicht eben jetzt
fragt, welches davon als Grund, und welches als Folge, oder
ob beide als Folgen eines Grundes anzusehen seien. Wer die
Natur des Barometers noch nicht kennt, der könnte gleichwohl
seine Bemerkung aussprechen: wenn es schönes Wetter sei, so
stehe gewöhnlich das Quecksilber hoch; und nun würde ihm die
doppelte Frage natürlich sein: welches ist die Ursache, welches
die Wirkung? — und welches ist anzusehen als das Zeichen
des andern? Hier wäre Ungewißheit sowohl wegen des Real-
grundes, als wegen des Erkenntnißgrundes; und gleichwohl, dies
bei Seite gesetzt, bestünde das hypothetische Urtheil als
Aussage einer bloßen Verknüpfung. — Hiermit fällt
zwar nicht der Unterschied zwischen Inhärenz und Dependenz
überhaupt hinweg, aber er hört auf, die Urtheile zu charakte-
risiren.“ Nun wüßte ich aber nicht, durch welches andere cha-
rakteristische Merkmal man das kategorische und hypothetische
Urtheil unterscheiden könnte; ja oben haben wir schon gezeigt,
daß das hypothetische Urtheil sich durch ein kategorisches voll-
ständig, seinem ganzen Inhalte nach, wiedergeben läßt, und also
fallen beide Urtheile zusammen und sind nur durch den sprach-
lichen Ausdruck geschieden, d. h. grammatisch, aber nicht lo-
gisch verschieden.
Wir haben zwar hier Hülfe von Herbart entlehnt, stehen
aber mit unserer Ansicht ihm noch mehr entgegen, als den an-
dern Logikern. Herbart nämlich läugnet nur, daß die Begriffe
Inhärenz und Dependenz den Unterschied zwischen kate-
gorischen und hypothetischen Urtheilen begründeten, hält aber
[173] diesen Unterschied der Urtheile dennoch fest, nur in anderer
Weise; wir dagegen sprechen ihm jeden logischen Grund und
jede logische Berechtigung ab. Aber andererseits halten wir
den Unterschied von kategorischen und hypothetischen Sätzen
als einen grammatischen Unterschied aufrecht und zwar ge-
rade durch die Kategorien Inhärenz und Dependenz. Und außer-
dem, während wir die sogenannten hypothetischen Urtheile zu
den kategorischen ziehen, behauptet Herbart gerade im Gegen-
theil, daß das sogenannte kategorische Urtheil „allemal hypo-
thetisch“ sei. Wir haben uns also hier nicht wenig gegen Her-
bart zu wehren.
Fangen wir damit an, zu sehen, welchen Unterschied zwi-
schen kategorischen und hypothetischen Sätzen er anstatt des
verworfenen von Inhärenz und Dependenz aufstellt. Er sagt
(das. §. 60): „Sehr gewöhnlich stellen sich Subject und Prädi-
cat unmittelbar als Begriffe dar; und alsdann wird die Verbin-
dung beider durch das Wörtchen ist, die Copula, entweder
wirklich ausgedrückt, oder man kann doch den Ausdruck auf
sie zurückführen. Allein in andern, ebenfalls häufigen Fällen,
werden Subject und Prädicat, als noch nicht fertige, sondern
erst zu bildende Begriffe, selbst in der Form von Urtheilen dar-
gestellt. Alsdann erscheint in der Sprachform keine Copula;
statt deren aber eine oder zwei Bezeichnungen, wodurch das
Subject als das Vorausgesetzte (antecedens), das Prädicat als
das Anzuknüpfende (mit einem zweideutigen Namen consequens,
während oftmals vielmehr jenes aus diesem folgt*) kenntlich
wird. Die deutsche Sprache hat dafür die Wörter wenn und
so; und in den Logiken findet man für das so zusammengesetzte
Urtheil den Namen des hypothetischen, während jenes erstere
mit der Copula die Benennung des kategorischen führt.“ Glaubt
man nicht in diesen Worten Herbarts einen Paragraphen der
deutschen Grammatik zu lesen? Der Unterschied zwischen ka-
tegorischen und hypothetischen Urtheilen besteht also bloß darin,
daß dort als Copula das Verbum ist dient, hier dagegen die
Conjunction wenn — so. Und das ist auch unsere Meinung,
und darum sehen wir in der Unterscheidung jener Urtheile bloß
[174] eine grammatische Unterscheidung der Sätze. Ob das Verhält-
niß von antecedens und consequens, oder, wie wir besser sagen,
von Vor- und Nachsatz immer ein Verhältniß von Subject und
Prädicat sei, haben wir später zu untersuchen, wo von letztern
Kategorien die Rede sein wird. Dieser Punkt ist für die vor-
liegende Frage gleichgültig. Es kommt also nur noch in Be-
tracht, ob dadurch ein logischer Unterschied entsteht, daß in
dem einen Falle Subject und Prädicat unmittelbar als Begriffe
gegeben sind, im andern Falle aber „als noch nicht fertige, son-
dern erst zu bildende Begriffe, selbst in der Form von Urthei-
len dargestellt werden.“ Die Antwort ist, daß letztere That-
sache nicht genau ausgedrückt ist. Nicht in der Form von
Urtheilen, sondern von Sätzen sind die Begriffe in dem andern
Falle gegeben. Wenn schönes Wetter ist, ist kein Urtheil, aber
wohl ein Satz. Ob nun ein Begriff durch ein Wort, oder durch
einen Satz ausgedrückt ist, das kann einen grammatischen Un-
terschied begründen, aber keinen logischen. Was kümmert es
die Logik, wie ihr der Begriff gegeben ist, als ein fertiger, oder
erst zu bildender? Der Begriff, das Begriffene ist Gegenstand
der Logik, nicht die Weise seiner Darstellung. Ob ich sage:
wenn schönes Wetter ist u. s. w. oder: schönes Wetter bewirkt
den hohen Stand des Quecksilbers, das macht keinen logischen
Unterschied aus. Herbart selbst beginnt die Logik (das. §. 34.)
mit den Worten: „Das Wort Begriff, indem es das Begrif-
fene bezeichnet, gebietet zu abstrahiren von der Art und Weise,
wie wir den Gedanken empfangen, produciren oder reproduciren
mögen“, also auch wie wir ihn sprachlich ausdrücken mögen.
Ueberhaupt aber kann es ja Herbart gar nicht ernstlich
darum zu thun sein, hypothetische und kategorische Urtheile
zu scheiden, da er selbst behauptet (Hauptpunkte der Logik):
„Der Unterschied der kategorischen, hypothetischen, disjunctiven
Urtheile gehört gänzlich der Sprachform … Und die Logik ist
keine Sprachlehre, sondern eine Lehre von dem Gefüge der
Gedanken.“
Um so auffallender ist es nun aber, wenn Herbart so viel
Gewicht darauf legt, daß jedes kategorische Urtheil vielmehr
hypothetisch sei. Ist denn dem so? Keineswegs! „Das Urtheil
A ist B enthält keineswegs die gewöhnlich hinzugedachte, aber
ganz fremdartige Behauptung, daß A sei; denn von A für sich
allein, und von seinem Dasein, seiner Gültigkeit, ist da keine
[175] Rede, wo man seiner bloß deshalb erwähnt, um die mögliche
Anknüpfung eines Prädicats an dasselbe zu untersuchen“; aber
eben darum liegt auch in dem Urtheil A ist B nicht das hypothe-
tische Verhältniß: wenn A ist, so ist es B. Hier ist weder
grammatische Hypothesis, denn sie ist im Ausdrucke nicht ge-
geben, noch auch logische, denn das Verhältniß des Begriffs
zum Sein, ob das Gedachte wirkliche Existenz hat, kümmert
die Logik nicht. In dem Sinne, wie Herbart das kategorische
Urtheil hypothetisch nennt, nannten wir vielmehr die ganze Lo-
gik hypothetisch.
Auch Trendelenburg legt wenig Gewicht auf die Unter-
scheidung des kategorischen und hypothetischen Urtheils, und
alles was er für die etwanige Aufrechthaltung desselben sagt
(II, S. 181), läuft am Ende doch nur auf sprachliche Bestim-
mungen hinaus, auf Verschiedenheit der Darstellung; alles was
er hierüber bemerkt, ist fein gedacht und scharf aufgefaßt.
Worauf es uns aber am Ende hier ankommt, ist nur der Unter-
schied zwischen grammatischen und logischen Verhältnissen, und
nicht nur Herbart hat ihn eingestanden, sondern auch Trende-
lenburg läßt sich hier (S. 182) die Bemerkung entreißen: „Der
grammatische Ausdruck ist im Logischen nur Kenn-
zeichen und keine entscheidende Bestimmung.“ Ent-
scheidend müßte aber die Grammatik für die Logik absolut sein,
wenn die Sprache der organische Ausdruck des Gedankens wäre,
der Satz das lautgewordene Urtheil.
Wir sehen hier, daß Satz und Urtheil sich nicht decken.
Dieses und daß auch Wort und Begriff nicht dasselbe sind,
geht nun auch daraus hervor, daß gelegentlich ein bloßer Be-
griff zum Satze wird, was ja eben in den hypothetischen Sätzen
geschieht; wie auch umgekehrt, daß ein Urtheil zum Wort zu-
sammenschmilzt, wie in den disjunctiven Fällen.
§. 68. Eintheilung der Urtheile.
Wenn nicht einmal Satz und Urtheil übereinstimmen, so
kann auch die Eintheilung der Urtheile nicht mit der der Sätze
zusammenfallen. Die wichtigste logische Eintheilung der Ur-
theile ist die nach der Qualität in bejahende und vernei-
nende. Die Grammatik kennt diesen Unterschied nicht. A ist
nicht gut, A ist sehr gut, oder A ist oft B, A ist nicht B, das
ist der Grammatik gleich. „Nicht“ ist für die Grammatik ein
[176] Adverbium wie jedes andere; „kein“ ist ein unbestimmtes Pro-
nomen, eben so wie jeder, mancher, einer.
Eben so wenig wie die Unterschiede der Qualität des Ur-
theils, werden die der Modalität und Quantität desselben gram-
matisch unterschieden. Es scheint zwar, gerade hier entsprächen
die Modi der Verba den logischen Verhältnissen. Eine Verwandt-
schaft soll auch nicht geläugnet werden. Aber die Identität des
Indicativs, Conjunctivs, Optativs und Imperativs mit dem asser-
torischen, problematischen und apodictischen Urtheile schwindet,
sobald man nur das Auge darauf ruhen läßt. Das apodictische
Urtheil wird durch den Indicativ ausgedrückt, wie das asserto-
rische; und auch das problematische Urtheil kann durch den
Indicativ ausgedrückt werden durch kann, mag; nicht immer
ist könnte, möchte angewandt. Wie will man ferner den
Conjunctiv nnd Optativ auf das problematische Urtheil verthei-
len? Und Conjunctiv und Optativ bedeuten weder ausschließ-
lich, noch ursprünglich das problematische Verhältniß. Der Im-
perativ entspricht dem apodictischen Urtheile, bildet aber noch
nicht einmal ein Urtheil, sondern nur einen Satz. Geh! schreib!
sind keine Urtheile, aber doch nothwendig Sätze. — Eben so
haben die allgemeinen, besondern und einzelnen Urtheile nichts
mit dem grammatischen Singular und Plural gemein. In dem Satze
„jeder Mensch ist sterblich“ wird von einem Allgemeinen etwas
allgemein ausgesagt, nach Aristoteles; aber kein Plural ist sicht-
bar. Ferner ist für die Logik der Unterschied von allgemeinen
und besondern Urtheilen das eigentlich Wichtige der Einthei-
lung der Urtheile nach der Quantität, während das judicium
singulare dem judicium commune gleich behandelt wird. Die
Grammatik hat nichts, was dem besondern Urtheile entspräche,
und scheidet vielmehr den Singular vom Plural. Schafft dage-
gen die Grammatik eine dritte Kategorie, so ist es der Dual,
wovon hinwiederum die Logik nichts ahnt.
§ 69. Satzarten.
Umgekehrt hat nun die Grammatik Satzarten, denen keine
logischen Arten des Urtheils entsprechen. Trendelenburg, obwohl
er doch, wie wir oben sahen, im grammatischen Ausdrucke nur
ein Kennzeichen für logische Verhältnisse sehen will, stellt trotz-
dem folgende Zumuthung an die formale Logik (I. S. 16): „Es
kann mit Recht gefordert werden, daß die grammatische Form
der Sätze in der Lehre des Urtheils eine Begründung finde.“
[177] Diese Forderung muß nach der obigen Darlegung völlig unge-
rechtfertigt genannt werden. „Und die Logik ist keine Sprach-
lehre“, grollt Herbart. „Wenn es grammatisch wesentliche For-
men von Sätzen gäbe“, fährt Trendelenburg fort, „die sich an
keine logische Form anknüpfen ließen: so würde das gramma-
tische Factum gegen den richtigen und vollständigen Bestand
der Logik zeugen.“ Bei der Zusammenhangslosigkeit von Satz
und Urtheil, bei ihrem ganz verschiedenen Wesen kann die
Grammatik in keiner Weise ein Maßstab der Logik werden, so
wenig wie sie es sich umgekehrt gefallen lassen kann, an der
Logik gemessen zu werden. Wie soll die Logik den Imperativ-,
den Wunsch-, den Erzähl-Satz begründen können? Sie gehören
nicht in die Logik, sagt Aristoteles. Trotzdem fährt der beste
Kenner des Aristoteles, der je gelebt hat, fort: „Ein solches
Factum der Sprache ist das Urtheil des Zweckes; es hat sich
eben so sehr, wie das hypothetische oder disjunctive Urtheil“
(oben sahen wir, daß dies eben keine logischen Urtheilsformen
seien) „seine eigenthümlichen Conjunctionen (auf daß, damit
u. s. w.) hervorgebildet. In der formalen Logik findet es nir-
gends seine Stelle“ — und mit Recht. Denn es giebt zwar
Zwecksätze, aber keine Zweckurtheile, da die Zwecksätze,
eben so sehr wie die Wunsch- und Befehl-Sätze, weder wahr
noch falsch sein können. Daß Trendelenburg dies übersehen
hat, läßt sich nicht aus seiner bloßen Neigung erklären, Gram-
matik und Logik mindestens zu parallelisiren, wenn nicht zu
identificiren; sondern man muß hinzunehmen, daß Trendelen-
burg, was ihm als Philosophen zur Ehre gereicht, immer von
der Kategorie des Zweckes voll ist, die in seinem Systeme eine
bedeutendere Rolle, als in irgend einem andern spielt. Doch
folgt weder aus der hohen Bedeutung des Zweckes, noch auch
daraus, daß die Sprache Conjunctionen, wie damit,afin que,
hat, die Berechtigung, Urtheile des Zweckes in der Logik auf-
zustellen. Denn, fragen wir also, liegt in dem Zwecksatze eine
Aussage, welche entweder wahr oder falsch ist? Keineswegs!
Wenn jemand sagt: das Auge hat brechende Medien, damit es
sehe, oder der Mensch steht aufrecht, damit er aufwärts blicken
könne, so liegt in diesem Zwecksatze nur in derselben Bezie-
hung etwas Wahres oder Falsches, als dies in der Erzählung
Statt findet: ein Blinder wünschte: o, wenn ich doch den Himmel
einmal sehen könnte! In dem Wunsche kann nichts Wahres
12
[178] oder Falsches liegen; aber die Behauptung, daß der Blinde die-
sen Wunsch habe, kann allerdings wahr oder falsch sein. Eben
so ist es dem Wahrheitsforscher anheimgegeben und unabweis-
liches Bedürfniß, zu fragen, ob es wahr ist oder nicht, daß eine
nach Zwecken schaffende Macht dem Auge brechende Medien,
dem menschlichen Körper die aufrechte Stellung gegeben habe,
und ob sie gerade diesen Zweck gehabt habe oder einen andern.
Das Ergebniß wird sich dann in irgend einer Form der Ur-
theile aussprechen, assertorisch oder problematisch: das giebt
noch kein Zweckurtheil. Ob einem Subject eine bloße Eigen-
schaft, oder eine Handlung, oder der Zweck einer Handlung zu-
geschrieben wird, oder auch die Ursache einer Handlung: alles
das kann den sprachlichen Ausdruck abändern, aber nicht ver-
schiedene Urtheilsformen begründen. Das Zweckverhältniß tritt
hier gar nicht nach seiner specifischen Eigenschaft auf, sondern
ganz allgemein als Prädicat.
Wo bringt denn nun Trendelenburg die Zwecksätze hin?
Oder vielmehr in welcher Stelle seines Systems der Urtheile hat
das Zweckurtheil Platz gefunden? Unter den hypothetischen
Urtheilen! Denn die Urtheile: „das Auge hat brechende Me-
dien, damit es sehe“ und „wenn das Auge sehen sollte, mußte
es brechende Medien haben“ haben denselben Inhalt. Eben
darum, sagen wir, ist ihre Verschiedenheit eine bloß grammati-
sche. Bloß grammatisch und gar nicht logisch ist von jenen
beiden Sätzen noch folgender dritte verschieden: „das Auge hat
um des Sehens willen brechende Medien“; ist das nun auch ein
Zwecksatz? — Wenn ich nun ferner sage: „das Auge sieht,
weil es brechende Medien hat“; oder: „das Auge kann der
brechenden Medien wegen sehen“: so haben wir in diesen drei
Sätzen grammatisch gleiche Formen, wie in den obigen; und
wie logisch? Insofern der Zwecksatz wahr oder falsch sein
kann, bildet er keine besondere Art der Urtheile; denn die
Verbindung eines Zweckes mit einer Thatsache oder Person ist
eine einfache Aussage, wie jede andere, und fällt den gewöhn-
lichen Kategorien des Urtheils anheim; insofern aber der Zweck-
satz an sich betrachtet wird, abgelöst von der Person oder That-
sache, enthält er, wie der Wunsch, weder Wahres noch Fal-
sches, ist folglich kein Urtheil. Eben so ist es mit den ent-
sprechenden Causalsätzen. Wir könnten endlich nur noch be-
merken, daß die bisherige formale Logik rücksichtlich der Zweck-
[179] sätze gerade dasselbe gethan hat, was Trendelenburg thut. Man
hat nämlich den Zweck als Beweggrund oder moralischen Grund
aufgefaßt, also als Unterabtheilung der Causalität oder Depen-
denz. Diese aber gilt für das wesentliche Moment der hypo-
thetischen Urtheile; also sind, nach der formalen Logik, Zweck-
urtheile eine Unterabtheilung der hypothetischen Urtheile, ge-
rade wie bei Trendelenburg. Nur finde ich bei ihm noch die
Schwierigkeit, daß, wenn ich mich nicht täusche, der Unter-
schied zwischen kategorischen und hypothetischen Urtheilen gar
nicht in sein System der Urtheile eintritt, also auch das Zweck-
urtheil darin gar keine besondere Stelle findet. — So viel über
Satz und Urtheil.
§. 70. Bei- und Unterordnung der Sätze.
Wenn zwischen Satz und Urtheil nicht bloß keine Iden-
tität, sondern auch nicht einmal Congruenz und Parallelismus
Statt findet, so kann auch in der Bei- und Unterordnung der
Sätze kein logisches Element liegen, das vom Urtheil abhängig
wäre.
Wir müssen hier zunächst wieder auf Becker eingehen, der
uns hier in unerwarteter, wir fürchten, inconsequenter Weise,
entgegen zu kommen scheint. Wir erinnern uns, daß Becker
die logische Form des Satzes von der grammatischen scheidet.
Die logische Form des Satzes ist freilich für uns kein ge-
ringerer Widerspruch, als spräche man von dem Winkel eines
Kreises, von der Peripherie des Dreiecks. Becker verstand aber
unter logischer Form die Weise der Ueber- und Unterordnung
der Factoren, die im Satze auf einander bezogen sind, wonach
der logische Werth dieser Factoren unterschieden wird. Daß
nun Becker Recht daran thut, da von einer logischen Form zu
reden, wo es sich nach seiner Ansicht um das Verhältniß von
Allgemeinem und Besonderm handelt — ein durchaus logisches
Verhältniß, von welchem, wie schon erwähnt, die Grammatik nichts
weiß, —: das ersieht man leicht. Wir haben oben in unserer
Kritik Beckers nur etwas vermißt, was in Wahrheit die gram-
matische Form ausmachen sollte und könnte. Denn wenn diese
auf den Gegensatz von Thätigkeit und Sein begründet wird, so
sind wir in der Metaphysik, nicht in der Grammatik. Gestehen
wir aber hier Becker diese Scheidung zu und nehmen also an,
die Verhältnisse des Satzes, insofern sie auf dem Gegensatze
von Thätigkeit und Sein beruhen, bilden dessen grammatische
12*
[180] Form; insofern sie aber auf der Beziehung des Allgemeinen
und Besondern beruhen, bilden sie seine logische Form. Bei
der grammatischen Form nun bringt Becker (§. 47.) die
Denkformen des Gegensatzes*), der Causalität, Möglichkeit
und Nothwendigkeit zur Sprache und die Anschauungsformen
des Raumes und der Zeit. Rücksichtlich der logischen Form
wird bemerkt (§. 46. S. 163): „Durch die Unterordnung der
Factoren wird das prädicative Verhältniß (der Satz) zu einer
Einheit des Gedankens, und das attributive und objective
Satzverhältniß zu einer Einheit des Begriffes verbunden:
weil aber jedes attributive und objective Satzverhältniß selbst
ein Factor des prädicativen Satzverhältnisses ist; so wird
durch die Unterordnung der Factoren jedes Glied eines Satz-
verhältnisses in die Einheit des Gedankens aufgenommen.“
Es ist also die logische Form, vermöge welcher in dem Satze:
der wahre Mensch liebt die Tugend das attributive Verhältniß:
der wahre Mensch und das objective: liebt die Tugend zur Ein-
heit des Begriffs, und dann wiederum beide im prädicativen
Verhältnisse zur Einheit des Gedankens verbunden sind. Daß
aber im vorliegenden Satze eine Bejahung liegt, eine Wirk-
lichkeit, nicht Möglichkeit oder Nothwendigkeit, daß Mensch
und Tugend ein Sein, liebt eine Thätigkeit, wahr eine Qualität
ist: das macht die grammatische Form aus. Man sieht also,
daß nothwendig logische und grammatische Form immer neben
einander im Satze vorhanden sind und nur hervortreten, je nach-
dem wir das Verhältniß zwischen Thätigkeit und Sein oder
Allgemeinem und Besonderm zum Gesichtspunkte wählen. Hier-
gegen wäre nichts einzuwenden und wir fahren mit Becker fort
(§. 100.):
„Wie die Sprache zwei Wörter in einer Zusammensetzung
oder auch in einem Satzverhältnisse dergestalt mit einander ver-
bindet, daß sie nur einen Begriff ausdrücken; so verbindet sie
auch vielfältig zwei Sätze in einem zusammengesetzten Satze,
der nun als der Ausdruck nur eines Gedankens aufgefaßt wird.“
Ferner aber ist natürlich auch „die Zusammensetzung der Sätze
dadurch bedingt, daß die Sätze mit einander in gewissem Ver-
[181] hältnisse stehen, vermöge deren die Gedanken zu einem Ge-
danken werden können. Diese Verhältnisse sind nun zwiefacher
Art; sie sind nämlich entweder logische Verhältnisse der Ge-
danken, oder grammatische Verhältnisse der Sätze.“ Was
gehen aber die Grammatik die logischen Verhältnisse der Ge-
danken an? Da wir jedoch beim einfachen Satze schon eine „lo-
gische Form des Satzes“ bei Becker gesehen haben, so wissen
wir auch schon, daß ihm die logischen Verhältnisse der Gedan-
ken eben logische Verhältnisse der Sätze sind, und daß über-
haupt Satz und Gedanke ihm für identisch gelten.
Worin besteht nun der Unterschied zwischen den logischen
und den grammatischen Verhältnissen der Sätze? Becker sagt:
„Nur ein Gedanke des Sprechenden z. B. „das Leben ist
kurz“ kann mit einem andern Gedanken des Sprechenden
„die Kunst ist lang“ in einem logischen Verhältnisse stehen:
und weil beide Sätze Gedanken des Sprechenden ausdrücken,
so werden sie als Hauptsätze mit einander verbunden, z. B.
„die Kunst ist lang; aber das Leben ist kurz“; und man nennt
diese Form der Verbindung die beiordnende Form. Wenn
ein Begriff, welcher als ein Glied eines Satzverhältnisses (als
Subject, Attribut oder Object) mit einem andern Begriffe in
einer grammatischen Beziehung steht, in der Form eines
Gedankens durch einen Satz ausgedrückt wird; so wird dieser
Satz ein Nebensatz genannt, und steht mit dem Hauptsatze
in einem grammatischen Verhältnisse, z. B. Wenn der Leib
in Staub zerfallen, (nach dem Tode) lebt der große Name noch.
Der Hauptsatz drückt dann insgemein einen Gedanken des
Sprechenden, der Nebensatz aber eigentlich nur einen Be-
griff aus; und man nennt die Form, in welcher der Nebensatz
mit dem Hauptsatze zu einem zusammengesetzten Satze verbun-
den ist, die unterordnende Form der Verbindung.“ Diese
Unterscheidung der grammatischen und logischen Verhältnisse
der Satzverbindung ist also gar nicht auf denselben Grundsatz
gegründet, wie die der grammatischen und logischen Form des
Satzes. Denn letztere Formen zeigen sich in jedem Satzver-
hältnisse zugleich. Das Attribut steht zur Substanz, das Sub-
ject zu dem Prädicat in einem grammatischen Verhältnisse, in-
sofern ihre Verbindung auf dem Gegensatze von Sein und Thä-
tigkeit beruht; aber sie stehen zugleich auch in einem logischen
Verhältnisse, insofern der Gegensatz vom Allgemeinen und
[182] Besondern hervorgehoben wird. Folglich muß auch in der unter-
ordnenden Form der Satzverbindung sowohl eine grammatische,
als auch eine logische Form, je nach dem verschiedenen Gesichts-
punkte, liegen. Und sollte andererseits in der Verbindung der
Hauptsätze nicht auch eine grammatische Form liegen? Wir
erhalten also: eine der sprachlichen Darstellung gehörende
logische Form der grammatischen Beziehung der Begriffe
neben einer grammatischen Form der grammatischen Beziehung
der Begriffe, und neben einer der sprachlichen Darstellung
angehörenden logischen Form der Verhältnisse der Gedanken,
und endlich einer grammatischen Form der logischen Ver-
hältnisse der Gedanken. Welche wunderlichen Widersprüche! —
Man bemerke ferner in der oben citirten Stelle Beckers, daß
nach dem Worte Gedanken noch hinzugefügt wird: des
Sprechenden, und zwar mit gesperrten Lettern; warum das?
welcher Gegensatz soll hier angedeutet werden? Können bei der
Sprache noch andere Gedanken in Betracht kommen, als die des
Sprechenden? Das muß wohl sein, und aus dem Zusammen-
hange wird klar, daß dem Gedanken des Sprechenden entgegen-
gesetzt ist der Gedanke, welcher nur die Form des Gedankens,
aber den Inhalt eines bloßen Begriffs hat. Zum „Gedanken des
Sprechenden“ ist also als Gegensatz zu nehmen der Gedanke
des Begriffs! d. h. die Peripherie des Quadrats. Wie es der
Sprache möglich ist, einen Begriff in Form eines Gedankens
einzukleiden, das scheint für Becker nicht mehr Schwierigkeit
zu haben, als daß sich ein Kind in den Pelz des Großvaters
hüllt.
Was sind denn das nun aber für logische Verhältnisse der
Gedanken in der beiordnenden Satzverbindung? — Die Denk-
formen des Gegensatzes und der Causalität! also gerade die,
welche beim einfachen Satze unter der grammatischen Satzform
betrachtet wurden. Und umgekehrt, während das Wesen der
logischen Satzform in der Unterordnung der Factoren lag, sol-
len es grammatische Verhältnisse sein, welche in der unterord-
nenden Satzverbindung auftreten. Der Attributsatz steht zum
Hauptsatze „nicht in einem logischen Verhältnisse der Gedan-
ken, sondern nur in einem grammatischen Verhältnisse“;
und dieses Verhältniß wird dennoch nicht bloß durch eine gram-
matische, sondern auch durch eine logische Form dargestellt. Das
logische Verhältniß der Gedanken wird durch die logische Form
[183] ausgedrückt; die besondere Art der logischen Form jedoch durch
Conjunctionen, d. h. durch die grammatische Form (§. 102. S. 486).
Widersprüche, wo man auch anrühren mag!
Das Wesentlichste ist Folgendes: Wenn die ganze Unter-
scheidung der bei- und unterordnenden Verbindung, der logi-
schen und grammatischen Verhältnisse, bloß darauf beruht, daß
dort Gedanken des Sprechenden, hier Gedanken des Begriffs
(oder Begriffe als Gedanken) vorliegen: so haben wir doch hier,
wie dort Gedanken, immerhin dort bei-, hier unterordnende Ver-
hältnisse, aber immer Verhältnisse von Gedanken und Begriffen,
also logische und keine grammatische Verhältnisse. Und von
Gedanken des Sprechenden zu reden, hat ebenfalls keinen
Sinn; denn der Sprechende als Sprechender hat keinen Gedan-
ken, sondern Sprache. Insofern aber die Sprache Gedanke
ist, sind diese Gedankenverhältnisse nicht logische, sondern
sprachliche, grammatische Verhältnisse.
§. 71. Verhältnisse der Satzverbindung.
Haben wir einmal solche Verwirrung bemerkt, so können
wir darauf gefaßt sein, bei der nähern Betrachtung der Ver-
hältnisse der Satzverbindung noch mancherlei andere zu ent-
decken. Indessen Becker selbst hat hiervon eine Ahnung und er
baut also vor (S. 471): „Die logischen Verhältnisse der Gedanken
werden von den grammatischen Verhältnissen der Begriffe zwar
im Allgemeinen dadurch unterschieden, daß in dem zusammen-
gesetzten Satze die ersteren in der beiordnenden und die
letztern in der unterordnenden Verbindungsform dargestellt
werden: sehr oft werden aber auch logische Verhältnisse der
Gedanken in der unterordnenden, und Begriffe, die in einem
grammatischen Verhältnisse stehen, in der Form eines Satzes in
beiordnender Form dargestellt“ — welches Eingeständniß
Beckers wir anmerken wollen; denn es folgt daraus, daß das
logische Verhältniß der Gedanken mit dem grammatischen Ver-
hältnisse — nicht der Begriffe, sondern — der Sätze nichts zu
schaffen habe. Statt dieser so einfachen Scheidung von Satz
und Gedanke macht Becker einen Unterschied zwischen „Ver-
bindungsform der Sätze“ und „Formen der Darstellung“, als
wenn nicht eben der Satz die Darstellung wäre. Becker sieht
also die Darstellung noch außerhalb der Sätze — ich weiß
nicht, ob neben, über, unter ihnen —, indem er sagt: „Die
mannigfachen Verhältnisse des zusammengesetzten Satzes können
[184] daher nur dann wahrhaft verstanden werden, wenn man nicht
nur die Verbindungsformen der Sätze, sondern die besondern
Arten der logischen und grammatischen Verhältnisse in ihren
Beziehungen zu den Formen der Darstellung näher betrachtet.“
Man sieht also, daß, wenn Becker von Darstellung, von
grammatischer und logischer Form, von grammatischen und lo-
gischen Verhältnissen spricht, er hiermit nicht diejenige Schei-
dung macht, welche wir verlangen, von Gedankeninhalt und
sprachlicher Darstellung; und daß bei Becker jene Scheidungen,
die er unter einander wirrt, nichts sind als Gespenster, als Rache-
geister der erstickten wahren Verhältnisse, welche ihn verfolgen.
Uebrigens kann die Freiheit und Selbständigkeit der sprach-
lichen Darstellung, ihre Unabhängigkeit und also sicherlich ihre
Verschiedenheit von dem Gedanken und seinen Verhältnissen
nicht klarer werden, als bei den vielfältigen Verhältnissen der
Unterordnung. Man vergleiche folgende Sätze, die in verschie-
denen Formen sprachlicher Darstellung denselben Gedanken aus-
drücken: „Rückwärts kannst du nun nicht mehr; daher (also)
mußt du vorwärts — Vorwärts mußt du; denn rückwärts kannst
du nun nicht mehr — Da (weil, wenn) du nicht mehr rückwärts
kannst, so mußt du vorwärts.“ Auch wechseln nicht bloß die
bei- und unterordnenden Verbindungen unter einander ab, so-
wohl innerhalb jeder Classe die Arten unter einander, als beide
Classen mit einander; sondern innerhalb der unterordnenden
Verbindung ist das Verhältniß des Ueber und Unter wandelbar;
z. B. „Wenn der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name
noch,“ oder auch: „Der Leib ist in Staub zerfallen, während der
große Name noch lebt.“
§. 72. Elemente des Satzes und des Urtheils.
Wir haben oben den Satz und das Urtheil und dann ihre
Zusammensetzung betrachtet. Steigen wir jetzt hinab in ihre
Elemente. Der Satz besteht aus drei Grundelementen: Sub-
ject, Prädicat und Copula, und so haben wir im Satze, in
der Darstellungsform des Urtheils, schon eine höchst bedeutende
Abweichung vom Urtheil, welches nur zwei Elemente hat: Sub-
ject und Prädicat. Dies ist aber ein schwieriger Punkt, wobei
ich wieder auf Herbart zurückkommen muß. Auf Becker ein-
zugehen, sei mir hier erlassen; es ist zu unerfreulich zu se-
hen, und mir unmöglich, mit Ruhe darzustellen, wie leichtfertig
er die Thatsachen dem Moloch seines Systems opfert. Er
[185] sagt z. B. vom Verbum substantivum sein (§. 58. S. 223):
„Auch ist es allen Sprachen gemein; und es scheint nur darum
einigen Sprachen zu fehlen, weil es in ihnen in einer uns unge-
wöhnlichen Form hervortritt.“ Das Verbum substantivum aber
ist eben nur eine Form; und wenn diese Form nicht in dieser
Form als diese Form, das Verbum substantivum als Verbum
substantivum und im Verbum substantivum sich vorfindet: so
ist diese Form, dieses Verbum substantivum, überhaupt und ganz
und gar nicht vorhanden. Der wichtigen Thatsache, daß der
größte Theil aller Sprachen der Erde kein Verbum substanti-
vum, noch nicht einmal ein Verbum der Existenz hat, ja daß
genau genommen am Ende nur der indoeuropäische Stamm es
in Wahrheit besitzen mag — einer Thatsache, bestätigt durch
Missionäre, welche ihr Leben unter den Völkern verbracht ha-
ben, über deren Sprachen sie berichten, welche eine sorgfältige
Kenntniß dieser Sprachen und Geist und Urtheilskraft über-
haupt zeigen; bestätigt durch Humboldt und nicht bloß bestä-
tigt, sondern selbst verstärkt durch ihn, indem er durch feine
analytische Untersuchungen der grammatischen Formen die ge-
legentlichen Scheinformen des Verbum substantivum bloß legte
— solchen Thatsachen und solchen Forschungen stellt Becker
ein in sich selbst undenkbares, sinnloses „scheint“ gegenüber!
§. 73. Prädicat und Attribut.
Der wesentlichste Punkt ist die Unterscheidung zwischen
der prädicativen und attributiven Verbindung. Was lehrt
also die Logik über diesen Unterschied? — Die Logik? gar
nichts; sie kennt ihn gar nicht! Die Logik kennt einen Begriff A
und einen Begriff B, welche durch Umfang und Inhalt in man-
cherlei Beziehungen zu einander stehen können: diese Begriffe
sind ihr gegeben. Ebenso wie die Begriffe, deren Beziehungen
sie darlegt, ist der Logik die Verbindung der Begriffe A + B
gegeben und diese Verbindung nennt sie ein Urtheil. Worauf
nun auch immer diese Verbindung zweier Begriffe beruhen mag,
sei es daß sie ein zufälliges Geschehen ist, welches zwei ge-
sonderte und für sich vorhandene Begriffe erfahren, sei es daß
sie nur die differente Form einer ursprünglichen Einheit ist —
diese Frage geht die formale Logik nichts an — die Logik,
auch die metaphysische, Begriff und Urtheil deducirende Logik,
kennt als Urtheil nur A + B oder A = B, oder wie man das
logische Verhältniß der Begriffe im Urtheile bezeichnen mag.
[186] Der Unterschied zwischen der Weise, wie die Begriffe in dem Ab-
schnitte der Logik über die Begriffe, und wie die Begriffe in dem
Abschnitte über das Urtheil betrachtet werden, liegt bloß darin,
daß dort die Beziehung, hier eine Verbindung der Begriffe be-
trachtet wird. Diese Verbindung deuten wir durch das Zeichen
= an. Ob aber dieselbe prädicativ oder attributiv sei, das ist
Sache der Grammatik, und weder Logik noch Metaphysik weiß
davon das Mindeste zu sagen. Gott = ewig: so spricht das
logische Urtheil. Ob ewig Prädicat oder Attribut ist — diese
Unterscheidung macht sie nicht, kann sie nicht machen; denn
sie kennt die Copula nicht, oder die Flexion, auf welcher der
Unterschied beruht.
Man betrachte nur die verschiedene Bedeutung der Wör-
ter Prädicat und Attribut in der Metaphysik und Logik
einerseits und in der Grammatik andererseits. Dort spricht
man von den Attributen der Substanz, und in diesen Begriffs-
kreis tritt die Kategorie Prädicat gar nicht ein; man spricht
vom Prädicat des Subjects, und in diesen Kreis tritt das Attri-
but nicht ein. Die Metaphysik betrachtet die Bedeutung und
Berechtigung der allgemeinsten Kategorien, unter denen wir das
Sein, die Welt, auffassen: zu diesen Kategorien gehören Sub-
stanz und Attribut, Ding und Eigenschaft und dann
noch etwa die Inhärenz oder die Weise, in welcher die ge-
nannten Kategorien auf einander bezogen werden; die logische
Lehre vom Urtheil betrachtet das Verhältniß der Begriffe, wel-
che unter jene Kategorien von Substanz und Attribut, Ding und
Eigenschaft fallen, insofern dieselben im Urtheil im Verhält-
niß von Subject und Prädicat zu einander stehen — es kann
eben so wenig von einem metaphysischen Prädicate, als von
einem logischen Attribute die Rede sein, weil die Metaphysik
nicht das Urtheil, die Logik nicht die realen Verhältnisse
kennt —: die Grammatik aber kennt Subject mit Prädicat und
Attribut; denn ihr Gegenstand ist der Satz. Das grammatische
Prädicat kann nun aber nicht das logische sein; denn es hat
das Attribut als Gegensatz neben sich: und das grammatische
Attribut kann nicht das metaphysische sein; denn es steht ne-
ben dem Subject: folglich kann auch das grammatische Subject
weder die metaphysische Substanz, noch das logische Subject
sein; denn es hat andere Gegensätze als diese. Was nämlich
andere Gegensätze hat, muß auch in sich selbst anderer Natur
[187] sein; denn der Gegensatz ist eben das Erzeugniß der innersten
Natur, oder noch wahrer: das entgegengesetzte Wesen ist Er-
zeugniß der Einheit, welche im Gegensatze die Glieder dessel-
ben schuf. Was also einen andern Gegensatz hat, als etwas
anderes, ist aus einem andern Wesen, als dieses andere entsprun-
gen, um ein anderes Wesen als jenes zu sein. Also ist das lo-
gische Subject und Prädicat, und die Substanz und das Attri-
but der Metaphysik anderer Natur, als das grammatische Sub-
ject, Prädicat und Attribut; und diese lassen sich nicht mit und
nicht aus jenen begreifen.
Becker, immer metaphysischer Logiker, hat darum nichts
von dem grammatischen Prädicat und Attribut begriffen, nichts
von der Copula. Er sagt ausdrücklich (§. 50. S. 198.): „Die
attributive Beziehung ist mit der prädicativen ein und dasselbe
Verhältniß der Begriffe zu einander, nämlich die Einheit des
Seins mit der von ihm prädicirten Thätigkeit. Wenn auch Thä-
tigkeit und Sein in dem einen Verhältnisse zu einem Gedan-
ken, und in dem andern zu einem Begriffe verbunden wer-
den; so ist darum die Beziehung der Begriffe zu einander
nicht eigentlich unterschieden“ — „nicht eigentlich!“ d. h. nicht
logisch. Wie ist es denn möglich, daß dieselbe Beziehung
der Begriffe dort einen Gedanken, hier einen Begriff giebt? kann
dieselbe Ursache verschiedene Wirkungen haben? Wenn die
Beziehung der Wörter nur als logische Beziehung der Begriffe
aufgefaßt wird, so ist allerdings die Beziehung im prädicativen
und attributiven Verhältnisse dieselbe; dann existirt dieser Un-
terschied von Prädicat und Attribut nicht.
Noch übler, als wir hier gesehen haben, gelingt Becker
der Versuch, Prädicat und Attribut zu unterscheiden, an einer
andern Stelle — denn er wiederholt sich ja beständig — (§. 60.
S. 229.): „Die organische Gestaltung des ganzen Satzes besteht
darin, daß in ihm ein Allgemeines mit einem Besondern in dem
Gegensatze von Thätigkeit und Sein zu einer organischen Ein-
heit verbunden ist, und daß sich bei der Entwickelung des
Satzes in jedem besondern Verhältnisse dieser zu einer Einheit
verbundene Gegensatz wiederholt.“ Wir wissen ja schon längst,
daß bei Becker Entwickelung nichts anderes ist als Wiederho-
lung, und der unendliche Schöpfer ein unaufhörlicher Tautolog.
Ob ein nichtsthuender Gott mehr Langeweile haben kann, als
der Beckersche repetirende? — „Der ganze Satz drückt die
[188] Einheit des Prädicates als des Hauptbegriffes und des Subjects
als des Beziehungsbegriffes aus; und man nennt dieses Bezie-
hungsverhältniß das prädicative. Dieses Verhältniß wieder-
holt sich in dem Subjecte, indem sich dieses in dem Gegensatze
eines Attributivs und seines Beziehungswortes (des Substantivs)
entwickelt; und wir nennen dieses Beziehungsverhältniß das at-
tributive.“ Das heißt ein Märchen erzählen. Denn wie der-
gleichen möglich sein solle, und warum es gar nothwendig sei,
davon wird nichts gezeigt. Wenn sich dasselbe Verhältniß
wie das prädicative im Subjecte des Satzes wiederholt, so ent-
steht kein Attribut, sondern etwa ein Subjectsatz; oder es ent-
steht ein doppeltes Prädicat, also ein zusammengezogener Satz.
Wie aus alle dem ein Attribut erwachsen solle und könne, davon
sieht man nichts.
Der Unterschied zwischen Attribut und Prädicat bei Becker
klammert sich an den Ausdruck Begriff und Gedanke. Das at-
tributive Verhältniß drückt nicht, wie das prädicative, ein Ur-
theil, einen Gedanken, sondern nur einen Begriff aus. Dann
ist es aber nicht von einem zusammengesetzten Worte unter-
schieden, z. B. schwarzes Brod nicht von Schwarzbrod. Darum
fügt Becker zur Unterscheidung hinzu (S. 266.), daß die Zu-
sammensetzungen, besonders die Verschmelzungen, als besondere
Artbegriffe „in den Begriffsvorrath der Sprache aufgenommen“
sind; der im attributiven Verhältnisse aber gebildete zusammen-
gesetzte Begriff „nur von dem Sprechenden für den Augenblick
der Rede“ seine Geltung und sein Dasein erhalte. Durch die-
sen Umstand nähert sich das attributive Verhältniß wieder dem
prädicativen, dem Satze, dem Gedanken. Denn (§. 45. S. 154.):
„der Gedanke und die in dem Denken gebildeten Verbindungen
der Begriffe unterscheiden sich von den Begriffen dadurch, daß
sie nicht, wie diese, als ein bleibendes Eigenthum des Geistes
in den Begriffsvorrath aufgenommen werden, sondern eigentlich
nur in dem Augenblicke des Denkens und für diesen Augen-
blick ein Dasein und eine Geltung haben“. Diese Unterschei-
dung scheint sehr annehmlich: stereotyper Begriff = Wort; vor-
übergehender Begriff = Satzverhältniß; immer vorübergehender
Gedanke = prädicatives Verhältniß oder Satz. Nur fest sind
diese Scheidungen keineswegs. Die sprachlichen Ausdrücke für
Begriffs- und Gedankenverhältnisse ebenso wohl, als die für Ge-
dankenverhältnisse und Gedanken ersetzen sich gegenseitig. „Da-
[189] her geschieht es, daß in der Sprache sehr häufig Formen, wel-
che die Arten der Begriffe ausdrücken, an die Stelle solcher
Formen treten, welche Verhältnisse der Gedanken ausdrücken,
z. B. Ableitungsformen an die Stelle syntaktischer Formen, und
umgekehrt“ (S. 154), und „oft wird ein wirkliches Urtheil des
Sprechenden nur in der Form eines Attributes“ (also ein Ge-
danke als Gedankenverhältniß) „dargestellt, z. B. „„Weg mit
diesem weichlichen Mitleiden!““ (Dieses Mitleiden ist weich-
lich, darum weg damit). „„Er zieht diesen undankbaren Sohn
allen andern vor““ (Er ist undankbar, und doch zieht er ihn
vor)“ (S. 266.). Hierin sehen wir ein Zugeständniß der Auto-
nomie der Sprache dem Gedanken gegenüber; Becker nimmt
aber daran keinen Anstoß, und seine Bemerkung, daß sowohl
die Entwickelung der Begriffe, als die der Sätze darauf beruhe,
„daß Besonderes unter ein Allgemeines aufgenommen, und All-
gemeines wieder auf Besonderes zurückgeführt wird“ (S. 153),
kann weder zur Erklärung, noch zur Entschuldigung solcher Ver-
tauschungen dienen.
§. 74. Das Object.
Kommen wir jetzt zum Object. Die Logik kennt weder
den Begriff, noch das Wort Object. In der Metaphysik da-
gegen spielt das Object eine bedeutende Rolle; denn hier han-
delt es sich nicht mehr, mindestens nicht mehr bloß, um das
subjective Denken, wie in der Logik, sondern um das objective
Denken, d. h. um das auf das Object, die Wirklichkeit, bezo-
gene subjective Denken. Diese Bemerkung genügt nun aber
auch schon, um die völlige Verschiedenheit der metaphysischen
Kategorie Object von der gleichnamigen grammatischen er-
kennen zu lassen. Das metaphysische Object steht dem Subject,
d. h. der Denkthätigkeit gegenüber. Das logische und das gram-
matische Subject ist gerade das metaphysische Object; und das
metaphysische Subject, das Denken, ist Object, d. h. Gegen-
stand der Betrachtung, für die Logik. In der Grammatik aber
— es genügt hier, dies nur ganz allgemein zu bemerken — spie-
len Subject und Object abermals eine ganz andere Rolle, als in
der Metaphysik und in der Logik. In einer jeden dieser drei
Wissenschaften haben also Subject und Object eine andere Be-
deutung, ein anderes Wesen, als in der andern; und die Weise,
wie sie in der einen bestimmt werden, darf nicht in die andere
übertragen werden.
[190]
Betrachten wir jetzt Beckers Darstellung des objectiven Satz-
verhältnisses (§. 74.) Wie alles andere, so kann er auch dieses
nur mit dem Allgemeinen und Besondern abthun. Er sagt
(S. 307.): „In dem objectiven Satzverhältnisse werden eben so,
wie in dem attributiven Satzverhältnisse, Artbegriffe auf Un-
terarten und auf Individuen, Allgemeines auf Besonderes
zurückgeführt“. — Also kann Becker das objective Satzverhält-
niß vom attributiven nicht unterscheiden, und folglich auch nicht
vom prädicativen.
§. 75. Das Prädicat.
Gehen wir endlich an das prädicative Verhältniß.
Becker sagt (§. 61. S. 230.): „Der Satz ist der Ausdruck eines
Gedankens, und der Gedanke ein Act des menschlichen Gei-
stes, durch welchen ein Sein als ein Besonderes in eine Thä-
tigkeit als ein Allgemeines aufgenommen, und die Thätigkeit
als die Thätigkeit des Seins angeschaut (von dem Sein prä-
dicirt) wird.“ Wenn aber ein Sein in eine Thätigkeit aufge-
nommen wird, so wird nicht die Thätigkeit als die Thätigkeit
des Seins angeschaut, sondern das Sein als das Sein der Thä-
tigkeit. Zugestanden aber, wir erhielten durch die Aufnahme
des Seins in eine Thätigkeit eine Thätigkeit, welche als die
Thätigkeit des Seins angeschaut wird, so würde der Artbegriff
der Thätigkeit zu einer Unterart besondert, aber nicht von
einem Sein prädicirt. Weiter! „Das Prädicat als das Allge-
meine, in welches das Sein als ein Besonderes aufgenommen
wird, macht den eigentlichen Inhalt des Gedankens aus, und ist
der Hauptbegriff des Satzes.“ Man denkt aber gewöhnlich um-
gekehrt: nicht das allgemeine Element, sondern das besondere
macht den eigentlichen Inhalt jedweden Wesens aus und ist
der Hauptbegriff, das Specifische in ihm. Doch von Beckers
wunderlicher Weise, wie er die Begriffe als Allgemeines und
Besonderes betrachtet, bald dieses als durch jenes, bald jenes
als durch dieses näher bestimmt ansieht, und bald dieses jenem,
bald jenes diesem unterordnet; wie er unterscheidet zwischen:
eins in das andere aufgenommen sein und eins auf das andere
bezogen sein (vergl. bei ihm S. 162, 163): von alle dem war
schon die Rede, und ich vermuthe, daß man, um diese Dinge
zu begreifen, gerade wie für die Hegelsche Philosophie, einen
besonderen Sinn, eine besondere grammatisch-speculative Ver-
nunft haben müsse, wie ich sie leider nicht habe.
[191]
§. 76. Logisches und grammatisches Subject und Prädicat als Begriff und
Wort.
Lassen wir also Becker, und sehen, wie sich das logische
Subject und Prädicat vom grammatischen Subject und Prädicat
unterscheidet. Wir haben schon im Allgemeinen gezeigt, daß
nur die Wörter dieselben sind, daß aber beide Wissenschaften
unter denselben Namen nothwendig Verschiedenes verstehen müs-
sen. Betrachten wir nun das Auseinanderfallen, also die Ver-
schiedenheit des grammatischen Subjects und Prädicats von dem
logischen etwas näher. Wir folgen auch hier, wie bei allen un-
sern logischen Betrachtungen, Herbarts Darstellung der formalen
Logik und Trendelenburgs logischen Untersuchungen.
Hier stoßen wir nun sogleich bei Trendelenburg auf einen
Punkt, der einen bedeutenden Unterschied zwischen Grammatik
und Logik in ihrer Weise, Subject und Prädicat zu betrachten,
andeutet. Er sagt nämlich (II. S. 143): „Im weitern Sinne mag
man Subject und Prädicat, das eine und das andere, als Begriffe
bezeichnen. Im engern Sinne wird nur die allgemein aufge-
faßte Substanz, das geistig wiedererzeugte Ding, Begriff heißen,
und daher wird zunächst dem Subject der Begriff entsprechen.
Das Prädicat als Prädicat trägt noch das Zeichen des Unselbst-
ständigen an sich; es wird erst freier Begriff, wenn es die Form
der Substanz annimmt, und in dieser Form Subject werden
kann. Diese Umwandlung vollzieht die schöpferische Phantasie,
welche selbst noch der isolirenden Abstraction zur Seite geht.
Thätigkeiten werden als Dinge vorgestellt, Abstracta als Sub-
stanzen. Die Sprache zeigt diese Umwandlung namentlich im
Infinitiv.“ Was sagt wohl Becker dazu? Die Verba, die Prä-
dicate sind gar keine Begriffe, bloß die Substantiva sind Be-
griffe. Die Verba aber sind doch Wörter; und nun soll Wort
und Begriff eins und dasselbe sein! Man glaube auch nicht, daß
noch ein Ausweg gelassen sei. Man könnte meinen, im engern
Sinne sei allerdings die Thätigkeit kein Begriff, aber im weitern
Sinne. Aus der angeführten Stelle nämlich, und specieller II.
S. 150, geht hervor, daß die Thätigkeit nur dann Begriff ge-
worden ist, wenn sie nicht Prädicat, sondern selbst Subject ist,
als Infinitiv oder abstractes Substantiv; das Verbum aber —
und die Thätigkeit als Prädicat ist regelmäßig Verbum, und das
Verbum immer Prädicat — ist kein Begriff.
Wir haben schon bemerkt, welch ein großer Unterschied
[192] zwischen Trendelenburg und Becker rücksichtlich der allgemei-
nen Weise der wissenschaftlichen Forschung Statt findet; auch
haben wir schon speciell bei der Ansicht Beckers von der Ent-
stehung und Bildung des Urtheils seinen Widerspruch gegen
Trendelenburg hervorgehoben. Hier kommen wir auf diesen
Punkt zurück. Denn es ist für unsere Absicht, die Verschie-
denheit von Logik und Grammatik darzuthun, interessant, zu
sehen, wie Trendelenburg, so gern er sich auch der sprach-
lichen Anschauung nähern möchte, ihr dennoch fern bleibt, als
Logiker: und wie dagegen Becker, von der Sprache immer zur
Logik abspringend, die eine verläßt, ohne die andere zu gewin-
nen, und so statt der grammatischen Ansicht nur eine schlechte
logische gewinnt; denn die sprachlichen Verhältnisse wirken doch
zu mächtig auf ihn, um zu einer reinen logischen Untersuchung
gelangen zu können. So kann uns also Beckers Widerspruch
gegen Trendelenburg in doppelter Beziehung die Verschiedenheit
von Grammatik und Logik zeigen; und noch abgesehen hiervon
werden wir diese Verschiedenheit auch daraus ersehen, daß
Trendelenburgs logische Theorie vom Urtheil den Satz nicht
berührt.
§. 77. Begriff und Urtheil und Satz.
Wenn Becker den Satz oder das Urtheil erklärt als die
Aufnahme eines Besondern, eines Seins, in ein Allgemeines, eine
Thätigkeit, welche beide als fertige Begriffe in dem Begriffsvor-
rathe der Sprache liegen: so findet sich hiervon bei Trendelenburg
nichts oder vielmehr gerade das Gegentheil. Er läßt den Begriff
aus einem primitiven Urtheil entstehen, welches eine bloße Thä-
tigkeit ohne Subject enthält. „Der Begriff“, heißt es bei ihm
(II. S. 145), „entsteht auf ähnliche Weise aus dem ersten Ur-
theil der bloßen Thätigkeit, wie die Substanz aus der gestalten-
den Thätigkeit; und wie sich ferner die Substanz in der Thä-
tigkeit äußert, so wird das Subject im Prädicate, der Begriff
im Urtheil lebendig. — Ein einfaches Beispiel mag es erläutern.
Die Sprache faßt den Satz: es blitzt nach seiner Form als
ein Urtheil einer ursprünglichen Thätigkeit auf. Diese Thätig-
keit wird im Begriffe Blitz Substanz, und die Substanz äußert
sich in Eigenschaften. Der Begriff offenbart sich im Prädicate,
z. B. der Blitz leuchtet, zackt sich u. s. w. So verhält es sich
ursprünglich immer; nur daß wir selten aus ersten Thätigkeiten,
sondern meistens aus der Thätigkeit der Subjecte ableiten.“
[193] Und weiter (S. 147): „Wie zunächst die Thätigkeit der Außen-
welt den Geist des Menschen trifft, oder die eigene Thätigkeit
in sie übergreift: so muß nothwendig auch das Gegenbild der
Thätigkeit das Erste in der Sprache sein.“ Also, meint Trende-
lenburg, „wird es eine Stufe des Urtheils geben, die dem Be-
griff und der Entwickelung des Urtheils gemeinsam zu Grunde
liegt… Auf diese Weise ist das Rudiment eines Urtheils das
Erste, z. B. es blitzt. Indem es sich zum Begriffe fixirt, z. B.
Blitz, begründet es das vollständige Urtheil, z. B. der Blitz wird
durch Eisen geleitet, und das vollständige Urtheil faßt seinen
Ertrag von Neuem in einen Begriff zusammen, z. B. Blitzableiter.
So vervielfachen sich die logischen Vorgänge, und indem sie
sich einander befruchten, erzeugen sie bestimmtere Gestalten.
So viel über Urtheil und Begriff, inwiefern sie sich zu einander
verhalten, wie Thätigkeit und Ding.“*)
Bei Trendelenburg also — dem Logiker, so viel er auch
auf die Sprache hinblickt — sind Begriff, Ding, Substanz einer-
seits und Urtheil, Thätigkeit, Prädicat andererseits correspondi-
rende und gewissermaßen identische Kategorien. Das Urtheil
ist nicht zusammengesetzt, sondern es tritt aus dem Begriff her-
vor, wie dieser selbst erst aus einem primitiven Urtheil entstan-
den ist. Das vollständige Urtheil ist die Einheit eines Begriffs
und eines primitiven Urtheils. Und so wäre denn doch das
Urtheil zusammengesetzt? Man hat z. B. das primitive Urtheil:
es blitzt, und ein anderes: es zackt sich, es leuchtet. Man hat
aus dem erstern den Begriff Blitz gebildet und setzt ihn zu-
sammen mit dem andern primitiven Urtheile zum vollständigen
Urtheil: der Blitz zackt sich, leuchtet. Was in Trendelenburgs
Entwickelung immer noch fehlt, das ist gerade, zu zeigen, wie
der Geist dazu komme, aus einem primitiven Urtheile einen Be-
griff zu bilden. Man sieht weder, wozu, noch wie er es thun
solle. Und ferner ist nicht gezeigt, wie nun aus dem Begriffe
ein vollständiges Urtheil entstehe: ob dies, wie wir eben mein-
ten, durch Zusammensetzung geschehe, oder ob der Begriff das
Prädicat aus sich gebäre, und wie der eine oder der andere Pro-
ceß vor sich gehe. Trendelenburg konnte diese Aufgabe nicht
13
[194] lösen, weil er sie sich nicht stellen konnte; und er konnte sie
sich nicht stellen, weil er sie schon gelöst zu haben meinte, in-
dem er zeigte, „wie sich die Substanz in der Thätigkeit äußert.“
Denn nach ihm wird, „was ein Ding thut, von seinem Be-
griffe geurtheilt.“ (S. 145). „Auf diesen Act der Sache, den
der Geist erfaßt, kommt es zunächst an; die subjective Ver-
knüpfung der Begriffe ergiebt sich daraus.“ Und dies hängt
zusammen mit Trendelenburgs metaphysisch-logischem Principe.
Er hat Hegel umgedreht. Hegel meint: weil wir die Kategorien
im reinen Begriffe denken, darum sind sie in der Welt der Wirk-
lichkeit objectiv vorhanden; denn der Begriff schlägt um ins
Object, die Idee erzeugt, entläßt aus sich die Natur. Trende-
lenburg dreht dies Verhältniß, welches wohl auf göttliches Den-
ken anwendbar sei, rücksichtlich des menschlischen Denkens ge-
rade um. Die Einheit des Seins und Denkens setzt er voraus,
wie Hegel; aber es ist das Sein, die objective Welt, welche im
Menschen das Denken erregt. Der menschliche Geist ist ge-
wissermaßen der Spiegel des Alls. Die Substanz also wird in
uns zum Begriffe verklärt; denn der Begriff ist das gedankliche
Abbild der Substanz. Das Urtheil ist nur das Abbild der rea-
len Thätigkeit. Im vollständigen Urtheil äußert sich der Begriff
gerade eben so, wie die Substanz sich in der Thätigkeit äußert,
von welchem Vorgange das vollständige Urtheil das Abbild ist.
Dieses Abspiegeln geht aber keineswegs so unmittelbar vor sich.
Der menschliche Geist ist kein passiver Spiegel. Die Substanz
wird nicht in jedem, im ersten besten Kopfe Begriff, und ihre
Selbstoffenbarung in der Thätigkeit Urtheil. Denken ist nicht
ein Bilder-Empfangen, sondern ein Bilden, eine Thätigkeit.
Diese Denkthätigkeit, welche das Abbild der Substanz und ihrer
Thätigkeit, d. h. Begriff und Urtheil bildet, hat Trendelenburg
nicht dargelegt. Es steht zu vermuthen, daß er das hier Aus-
gelassene in der Psychologie nachträgt, wohin es auch eigentlich
gehört.
Die Sprachwissenschaft nun aber hat gerade diese psycho-
logische Thätigkeit des Abbildens des Wirklichen darzustellen.
Wenn die objective Substanz nicht ihr Bild in unser Denken
als Begriff hineinwirft, so giebt sie uns auch nicht das Wort
dafür. Ist es vielmehr eine geistige Thätigkeit, welche in einem
langen, verwickelten Processe Begriff und Urtheil bildet, so muß
dieser ganze Proceß durchweg von der Sprache begleitet sein.
[195]Ist also das Urtheil das Abbild der realen Thätig-
keit, so ist der Satz — gar nicht das Abbild des Urtheils,
sondern — das Abbild des psychologischen Processes,
in welchem das Urtheil sich bildete.
Wie eng sich bei Trendelenburg der Begriff und das Ur-
theil an die Realität schließen, wie ernstlich er ihre Einheit faßt,
mag aus folgender Stelle hervorgehen (S. 144): „Jede Substanz
empfängt das Maß und die Gewähr ihrer Selbständigkeit und
ihrer Bedeutung in dem Grunde des Begriffs, jeder Begriff das
Reich seiner Macht in der Substanz. Jede Substanz sucht ihren
Geist im Begriff, jeder Begriff seinen Leib in der Substanz.“
Man sehe bei diesem Satze von der Methode ab, nach welcher
er gewonnen ist — denn Trendelenburgs Methode ist allerdings
fern von der Hegelschen Dialektik —; man setze statt des Aus-
drucks Substanz das Hegelsche Wort Object: und Hegel
wird diesen Satz Trendelenburgs unterschreiben*); d. h. die Ein-
heit des Hegelschen Begriffs und Objects ist gerade dieselbe, wie
die der Substanz und des Begriffs bei Trendelenburg. Er fährt
nun fort: „Auf ähnliche Weise bezieht sich das logische Urtheil
immer auf eine reale Thätigkeit oder auf die Thätigkeit einer
Substanz, und es kann ohne dies Gegenbild im Wirklichen nicht
begriffen werden. Man hat öfter versucht, das Urtheil rein lo-
gisch zu definiren, indem man sich innerhalb der Welt der Be-
griffe hält; aber eine solche Erklärung genügt nicht. Man nennt
etwa das Urtheil eine Verbindung von Begriffen. Die Bestim-
mung umfaßt jedoch zu viel. Begriffe können — nach dem
grammatischen Ausdrucke — prädicativ (der Baum blüht), attri-
butiv (der blühende Baum) und objectiv (blüht herrlich) ver-
bunden sein. Das Urtheil als Urtheil zeigt sich nur in der er-
sten Weise. Daher hat man weiter das Resultat der Verbin-
dung (der blühende Baum) und den Act selbst (der Baum blüht)
unterschieden, und das Urtheil den Act dieser Verknüpfung ge-
nannt. Aber auch diese Aushülfe reicht nicht zu. Denn der
Act, in welchem das Denken Begriffe verknüpft, ist
momentan; der im Urtheil ausgedrückte Act der
13*
[196]Sache kann dauernd sein. Auf diesen Act der Sache, den
der Geist erfaßt, kommt es zunächst an; die subjective Ver-
knüpfung der Begriffe ergiebt sich daraus. Kurz, was ein Ding
thut, das wird von seinem Begriffe geurtheilt.“*)
Durch diese Worte Trendelenburgs scheine ich mir in eine
platonische ideale Welt erhoben. Wie Plato Ideen als Muster-
bilder der Dinge erkannte, so scheint mir Trendelenburg eine
intelligible Welt von Begriffen und Urtheilen, den Substanzen
und Thätigkeiten gegenüber, aufzustellen, welche als schöpfe-
rische Musterbilder die reale Welt schaffen, welche im Denken
sind, ohne daß der Mensch sie erst noch subjectiv zu denken
hat. Einem dauernden Acte der Realität steht ein Urtheil ge-
genüber, dem auch das Moment dieser Dauer nicht fehlt; wäh-
rend unser subjectives Urtheil ein momentaner Act einer Begriffs-
verbindung im menschlichen Denken ist. Jenes objective Urtheil
allein, das unabhängig ist von subjectiver Begriffsverbindung,
ist Gegenstand der metaphysischen Logik.
Aber die Sprache, sagen wir, aber der Satz? Trendelen-
burgs metaphysische Logik entfernt sich von diesen um so
mehr, je inniger Begriff und Urtheil an die Realität geschlossen
werden. Wenn Trendelenburgs Entwickelung der Stufen des Ur-
theils entsprechende Sprachformen vorfindet, so beweist dies
bloß, daß die Sprache fähig ist, solche Entwicklungen zu be-
gleiten, oder daß die Sprache der Bildung des Urtheils immer
zur Seite stand — mehr nicht. Daß die Entwicklung des Ur-
theils an sich auch schon die Entwicklung des Satzes sei, bleibt
erst noch zu erweisen. Wir wollen aber hier auf einige Ver-
schiedenheiten zwischen Urtheil und Satz aufmerksam machen.
Ist der blühende Baum nicht das sprachliche Abbild der Sub-
stanz Baum und seiner Thätigkeit blühen, in welcher jene Sub-
stanz lebendig wird? Drücken jene Worte nicht die Einheit
eines Begriffs mit einem primitiven Urtheile, also ein vollstän-
diges Urtheil aus? Um dies gewisser zu machen, dehnen wir
das Beispiel aus: Dieser blühende Baum muß Früchte tragen,
d. h. dieser Baum blüht und folglich muß er Früchte tragen.
Auch hat uns ja Becker schon zugestanden, daß das attributive
Verhältniß den Werth eines Urtheils haben kann. Eben so das
[197] objective Verhältniß. Wenn Jemand sagt: „Ich hätte es nicht ge-
glaubt: dieser Baum blüht“, und man versetzt: „ei, er blüht herr-
lich“: so liegt in dem objectiven Verhältnisse ein Urtheil außer
demjenigen, welches im Prädicat liegt. Der eine Satz schließt
zwei Urtheile in sich. Man bestätigt zuerst das ausgesprochene
Urtheil, indem man es wiederholt: er blüht und fügt dann noch
ein neues Urtheil hinzu: und sein Blühen ist herrlich.
§ 78. Subject und Prädicat im Satz und Urtheil.
Betrachten wir jetzt das wesentlichste Verhältniß des Satzes
näher, das Verhältniß von Subject und Prädicat. Das Urtheil
schien ja gerade auch nur die Einheit von Subject und Prädicat
zu sein. Hier bemerken wir aber sogleich den Unterschied, daß
das Urtheil nur aus Subject und Prädicat besteht und keine andern
Elemente in sich schließt; der Satz hingegen noch das Attribut
und das Object als neue Prädicate hinzufügt, so daß wir im
Satze mit einem Attribute das Subject mit zwei Prädicaten, und
im objectiven Satzverhältnisse das Prädicat, obwohl es Prädicat
des Subjects bleibt, dennoch zugleich sich selbst in ein Subject
verwandeln sehen, wie obiges Beispiel lehrt. Ein Satz mit At-
tribut und Object ist also ein Satz, der drei Urtheile in sich
schließt, also drei logische Prädicate und zwei logische Subjecte,
deren eines doppelt zählt; denn das ursprüngliche Prädicat ist
hier logisches Subject so gut, wie das grammatische Subject.
Wem diese wundervolle Autonomie der Sprache gegenüber der
Logik unklar scheint, wer besonders etwa daran Anstoß nimmt,
daß das grammatische und logische Prädicat, indem es solches
bleibt, doch logisches Subject eines neuen Urtheils wird: der
möge Folgendes überlegen. Jedes Urtheil kann durch einen
Satz ausgedrückt werden. Also ist es leicht, sich durch die
Probe davon zu überzeugen, wie viel Urtheile in einem Satze
liegen; denn wie viel Urtheile vorliegen, so viel Sätze müssen
sich bilden lassen. Jetzt nehmen wir ein Beispiel. Gesetzt,
man machte einem Vater, der mit Strenge gegen seine Kinder
verfährt, den Vorwurf der Lieblosigkeit. Dagegen bemerkt man:
„der liebevolle Vater erzieht (seine Kinder) mit Strenge.“ Hier
haben wir drei Urtheile. Das Attribut ist hier wichtiger, als das
eigentliche Prädicat, es ist das logische Prädicat eines Urtheils:
der Vater ist liebevoll. Eben so ist mit Strenge ein wichti-
geres Prädicat, als das eigentliche, und macht das Urtheil aus:
sein Erziehen ist mit Strenge. Nun können wir aber ohne Mühe
[198] noch deutlicher machen, wie wir in liebevoll ein grammati-
sches Attribut und doch ein Prädicat, in erzieht ein logisches
und grammatisches Prädicat und doch zugleich logisches Sub-
ject haben. Nämlich wir brauchen nur zu sagen: der Vater,
welcher seine Kinder liebt, giebt eine Erziehung, welche streng
ist, oder erzieht so, wie es streng ist. In dieser Redewendung
haben wir die Rollen, die oben vermischt lagen, geschieden und
doch, Dank den Beziehungswörtern, so daß die Einheit klar
bleibt. Der Vater ist doppelt logisches Subject, ein Mal als
Vater und ein Mal als welcher; liebt ist Prädicat zu welcher
und Attribut zu Vater; giebt Erziehung ist Prädicat und in dem
Worte welche Subject; oder bei der andern Wendung ist erzieht
Prädicat und im Pronomen es Subject. Hieran schließen wir
die Bemerkung, daß der Unterschied zwischen einfachem und
zusammengesetztem Satze rein grammatisch ist und sich logisch
weder begründen, noch näher bestimmen läßt. Ist aber der Un-
terschied von Wort und Satz rein grammatisch, so sind diese
auch nicht mit Begriff und Urtheil identisch.
Die formale Logik sieht jede Verknüpfung zweier Begriffe
als Urtheil an. Trendelenburg meint zwar, das attributive und
objective Verhältniß der Begriffsverbindung ergäben kein Ur-
theil. Wir haben gesehen, daß sie dies allerdings thun, und
daß die Bestimmungen Attribut, Object nur grammatisch sind,
ohne die Logik zu berühren, welche auch in jenen nur Prädi-
cate sieht. Denn indem sie jede Verbindung von Begriffen als
Urtheil ansieht, betrachtet sie auch diese Begriffe allemal als
Subject und Prädicat; und sie definirt letztere so: der Begriff,
an welchen der andere geknüpft wird, ist das Subject; der, wel-
cher angeknüpft wird, das Prädicat. Trendelenburg würde das
Subject und Prädicat sehr kurz so definiren, daß er jenes den
Begriff, dieses das Urtheil nennt. Von diesem Unterschiede
zwischen der formalen und metaphysischen Logik können wir
hier absehen; denn die Verschiedenheit ist nicht derartig, daß
die eine Logik für das Subject halten könnte, was die andere
für das Prädicat nimmt, und umgekehrt. Die Grammatik aber,
werden wir jetzt zu zeigen suchen, verdreht gar oft das logische
Verhältniß von Subject und Prädicat.
Beginnen wir mit den klarsten Beispielen. Die hypotheti-
schen und die Adverbial- (oder Objectiv-) Sätze aller Art stel-
len logisch das Verhältniß von Subject und Prädicat dar; z. B.
[199]wenn das Auge brechende Medien hat, so kann es sehen; oder:
weil das Auge u. s. w.; oder wenn das Auge sehen soll, so muß
es brechende Medien haben. In allen drei Sätzen haben wir ein
logisches Subject: brechende Medien haben und ein logisches
Prädicat: sehen; denn der letztere Begriff wird an den ersten
geknüpft; oder, um mit Trendelenburg zu reden: in den ersten
beiden Sätzen wird der Begriff: brechende Medien haben lebendig
in der Thätigkeit: sehen; und im dritten Satze wird der Begriff
sehen thätig und wirksam in Schöpfung brechender Medien. Das
logische Verhältniß, denke ich, ist hier unläugbar. Aber der
grammatische Ausdruck hat die Sache ganz anders dargestellt. —
Die Sprache kann eine der Logik entsprechende Wendung neh-
men: brechende Medien ermöglichen dem Auge das Sehen; hier
ist grammatisch und logisch dasselbe Subject. Dasselbe drückt
man aus durch: vermöge brechender Medien sieht das Auge. Das
logische Subject muß doch wohl noch dasselbe sein, aber das
grammatische weicht von ihm ab. — In einem Vortrage über
den Blitz heißt es: das Eisen leitet ihn; Frage: wo ist das
Subject? Vom Eisen sollte nichts prädicirt werden, nicht von
ihm sollte geurtheilt werden, sondern vom Blitze; folglich ist
ihn das logische Subject. Umgekehrt, es sei vom Eisen die
Rede, und man sage: „Elektricität wird von ihm geleitet“; so
ist von ihm das Subject. — „Wie befindet sich Herr N.?“ „Der
Blitz hat ihn getroffen.“ Im zweiten Satze ist ihn das logische
Subject; denn vom Blitze ist ja gar nicht die Rede. — „Wem
gehört dieses Buch?“ „Es gehört Herrn N.“ Die beiden Da-
tive sind die beiden Subjecte dieser Sätze; denn an sie soll ein
anderer Begriff angeknüpft werden, nicht die Person an das Buch;
oder, nach Trendelenburg, der Begriff dieser Person wird leben-
dig und thätig im Besitzen des Buches. Auch hier läßt sich
wohl die doppelte, d. h. die verschiedene logische und gramma-
tische Rolle der beiden Dative sprachlich zerlegen, so daß die
beiden Rollen getrennt gespielt werden, und dennoch auch ihre
Einheit hervortritt: wer ist es, dem das Buch gehört? — „Wie
hat der Patient geschlafen?“ „Er hat gut geschlafen“; geschla-
fen ist im zweiten Satze Subject, gut Prädicat; denn man will
sagen: sein Schlaf war gut, ruhig. — „Schläft er jetzt?“ „Nein,
er hat geschlafen“; jetzt und geschlafen sind die Subjecte, schläft
er und hat die Prädicate. Ich überlasse es dem Leser, noch Sätze
anderer Art zu suchen, in welchen das grammatische Subject und
[200] Prädicat von dem logischen abweichen, was die Unabhängigkeit
der Grammatik von der Logik beweist.
§. 79. Das allein oder absolut stehende Prädicat. Der Existentialsatz.
Das Sein und die Copula.
Der einzige Stütz- und Beweispunkt, welchen Trendelen-
burg für seine Ansicht von der Entwickelung des Urtheils und
des Begriffs in der Sprache fand, war das sogenannte unpersön-
liche Verbum, z. B. es blitzt, worin er den Ausdruck der abso-
luten, der gestaltenden Thätigkeit, des primitiven Urtheils, fand.
Dieser Punkt führt uns auf die Betrachtung der Copula. Es
ist zunächst interessant zu sehen, wie rücksichtlich dieses Fal-
les, des unpersönlichen Verbums, die formale und die metaphy-
sische Logik einen extremen Gegensatz bilden. Was Trende-
lenburg für das Primitivste nimmt, das entwickelt Herbart (Ein-
leitung §. 63.) durch mancherlei Verhältnisse der Begriffe im Ur-
theile hindurch als das Letzte. Herbart bemerkt, „daß in jedem
Urtheil das Prädicat nur in beschränktem Sinne vorkomme,
nämlich in Beziehung auf sein Subject. Bei dem Satze: das
Wasser verdunstet, denkt man an Verdunsten nur, insofern
dies Merkmal im Begriff des Wassers vorkommt; man denkt
nicht an wohlriechende Dünste u. s. w. Diese Beschränkung des
Prädicats richtet sich ganz nach dem Subject; sie muß mit ihm
wachsen und abnehmen. Setzt man im obigen Beispiele statt
Wasser vielmehr heißes Wasser, oder noch bestimmter kochen-
des Wasser, so verengt sich die Bedeutung des Prädicats. Setzt
man Flüssigkeit überhaupt, so wächst die Sphäre, innerhalb de-
ren die Verdunstung gedacht wird. Die freie Stellung des Prä-
dicats im Urtheile muß ihr Maximum erreichen, wenn der In-
halt des Subjectbegriffes verschwindet. Im Beispiele, wenn gar
nicht angegeben wird, was das Verdunstende sei. In diesem
Falle scheint nun das Urtheil ganz zerstört, weil sein wesent-
licher Bestandtheil, das Subject, nicht vorhanden ist. Und al-
lerdings kann kein gewöhnliches Urtheil mehr übrig, es muß
aber etwas anderes an dessen Platz getreten sein, da die Be-
deutung des Prädicats bis zu diesem Punkte nicht ab-, sondern
vielmehr zugenommen hat. Das Prädicat nämlich wird jetzt
unbeschränkt, unbedingt aufgestellt; nicht als ein Begriff, der
an einen andern solle angelehnt werden, wie zuvor, da es noch
ein Subject hatte; auch nicht, als ob es einen andern Begriff
erwartete, welchem es selbst zur Stütze dienen sollte; sonst
[201] müßte es die Stelle des Subjects einnehmen. Die vorige Form
der Aufstellung mag bleiben; es mag zum Zeichen derselben
eine Copula vorhanden sein; so kann diese jetzt nichts anderes
bezeichnen, als: dieser Begriff hat nichts, woran er als Prädicat
sich anlehne; nichts, was seine Bedeutung beschränkte: er steht
für sich allein und selbständig da. Dieses nun ist der Auf-
schluß über die Verwandtschaft der Copula mit dem Begriffe
des Sein. Jene verwandelt sich in das Zeichen von diesem,
wenn für ein Prädicat das Subject fehlt; und es entsteht auf
die Weise ein Existentialsatz, den man unrichtig auslegt, wenn
man in ihm den Begriff des Sein für das ursprüngliche Prädi-
cat hält. Man bemerke zunächst solche Sätze, wie: es friert,
es regnet, es blitzt, es donnert u. a. m. Hier ist durch die
Sprachform selbst die Art der absoluten Aufstellung bezeichnet.
Die Worte lassen sich als Prädicate brauchen; z. B. Zeus blitzt,
Zeus donnert; allein damit schlechthin die Thatsache als vor-
handen bezeichnet werde, muß das Subject fehlen. Wenn Zeus
donnert, so fragt sich, ob Zeus existire? Wo nicht, so sagt das
Urtheil nicht, daß wirklich das Donnern geschehe. Allein die
Frage fällt weg, wenn schlechthin gesagt wird: es donnert.“
Gegen diese Entwickelung, scheint uns, sei mancherlei ein-
zuwenden. Die Existenzialsätze sind natürlich, wie Herbart
selbst bemerkt, nicht in solcher Weise allmählich entstanden;
die dargelegte Entwickelung ist keine reale, sondern eine ideale:
die reale gehört in die Psychologie, die ideale in die Logik.
Hiergegen ist nichts zu sagen. Das Obige aber scheint selbst
als logische Entwickelung nicht stichhaltig.
Der Begriff des Prädicats wird beschränkt durch den des
Subjects: je mehr dieser umfaßt, um so umfangsreicher ist auch
jener. Was kann erfolgen, wenn das Subject endlich verschwin-
det? nichts anderes, als daß nur der Prädicatbegriff seinen vol-
len Umfang hat, der ihm in unbeschränkter Weise zukommt.
Die Frage aber, ob dieses Prädicat wirklich ist, oder nicht,
kommt dabei gar nicht in Betracht. Will man aber überhaupt
diese Frage stellen, so muß dies nicht bloß bei dem Subject
mit dem Prädicate geschehen, sondern auch hier beim bloßen
Prädicat. Denn es ist gar nicht wahr, daß hier das Subject
absolut fehle. Herbart meint, die Copula beim alleinstehenden
Prädicate bezeichne: „dieser Begriff hat nichts, woran er als Prä-
dicat sich anlehne“. Wie sollte dies die Copula können, deren
[202] Wesen gerade dies ist, anzudeuten: dieser Begriff bezieht sich
als Prädicat auf ein Subject? Nur ist dies Subject nicht immer
ein explicites, besonderes, sondern zuweilen ein dem Prädi-
cate selbst inwohnendes und nicht näher bestimmtes, als durch
das ganze Prädicat selbst. In dem Satze es blitzt ist das
Subject zwar unbestimmt, aber doch durch das Prädicat selbst
aus der absoluten Unbestimmtheit herausgezogen: das Blitzende
blitzt; was dieses Blitzende sei, bleibt unbestimmt, aber bleibt
Subject. Weil das Blitzende unbestimmt bleibt, so kann es
durch das unbestimmte Subject es ersetzt werden. Die Exi-
stenz dieses es bleibt eben so hypothetisch, wie die jedes an-
dern Subjects. Könnte ein Prädicat allein die Existenz aus-
drücken, so würde es auch in Verbindung mit dem Subject so-
wohl seine eigene Existenz, als auch die des Subjects ausdrük-
ken, wenigstens in der Beschränkung, welche sich Subject and
Prädicat anthun. Wenn z. B. es blitzt die Existenz des Blitzens
aussagte, so würde auch das Prädicat blitzt in dem Urtheile:
Zeus blitzt aussagen, erstlich daß das Blitzen, in so weit es
von Zeus ausgeht, und nicht von Minerva, wirklich existire,
und daß folglich zweitens auch Zeus, insofern er blitzt, wenn
auch nicht insofern er Junos Gemahl oder Vater der Minerva
ist, wahres Dasein habe. Es wird aber keins von beiden aus-
gesagt, eben so wenig wie durch es blitzt das Blitzen als wirklich
bezeichnet wird — d. h. nicht für die Logik, welche sich um
das Verhältniß des Gedachten zum Sein gar nicht zu kümmern
hat, sondern nur fragt, ob das Gedachte richtig gedacht ist oder
nicht. Damit jedoch das Gesagte klar und gewiß werde, ha-
ben wir den Kernpunkt zu nennen, von dem hier alles abhängt,
und der einen vorzüglichen Unterschied zwischen logischem Ur-
theil und sprachlichem Satze begründet.
Wenn die Sprache sagt: A ist B, so wird allerdings ge-
sagt: A existirt und B existirt und zwar in A oder ist identisch
mit A. Denn der Satz drückt die Existenz des Subjects und
die Inhärenz des Prädicats im Subject, wie das Offenbarwerden
des Subjects im Prädicate aus. Der Sprechende, welcher sagt:
Zeus blitzt, spricht und meint, daß Zeus existire und sein Blitz.
Der Logiker dagegen sagt, das Urtheil drückt, wenn es nicht
ein Existenzialurtheil ist, nicht die Existenz des Begriffs, wel-
cher Subject ist, aus, sondern nur die Verknüpfung zweier Be-
griffe als Subject und Prädicat, unbekümmert um die Existenz
[203] beider. Die angewandte Logik hat also davor zu warnen, sich
von der täuschenden Sprache betrügen zu lassen, und, wenn die
Sprache mit ihrem A ist B uns zugleich weiß machen will, A
existire, dies nicht ohne weiteres zu glauben, sondern nachdem
man das Verhältniß der Begriffe A und B als richtig bestätigt
hat, nun die zugleich mit behauptete Existenz derselben als ein
neues Urtheil besonders zu prüfen.
Wenn es demnach allerdings wahr ist, daß der Satz:es
blitzt die Existenz des Blitzens aussagt, so ist es doch auch
eben so wahr, daß der Satz:Zeus blitzt zugleich eine Thä-
tigkeit des Zeus und seine Existenz ausdrückt, also weder die
Thätigkeit, noch die Existenz des Subjects hypothetisch läßt.
Und wenn nun andererseits der Logiker sich dadurch, daß das
Urtheil im Satze ausgesprochen ist, nicht verleiten lassen darf,
zu glauben, sobald das Urtheil richtig gedacht sei, sei auch al-
les richtig, was der Satz aussage; wenn der Logiker das Ur-
theil aus dem Satze herauszuschälen hat und die Zuthat des
Satzes, die behauptete Existenz, als zweites Urtheil der Prü-
fung übergeben muß — denn die Sprache kann es nicht prüfen —;
wenn also die Logik lehrt, daß es falsch gedacht sei, mit der
Sprache zu meinen, jedes Subject, dem ein Prädicat richtig zu-
geschrieben werde, müsse auch existiren: so muß sie dieselbe
Sorgfalt auch bei es blitzt anwenden — aber allerdings mit ei-
nem Unterschiede. Alle Sätze sind Existentialsätze, aber nicht
alle Urtheile Existentialurtheile. Nun enthalten die meisten
Sätze, obwohl jeder ein Existentialsatz ist, ein Urtheil, das kein
Existentialurtheil ist. Hier warnt Herbart mit Recht vor leicht
möglicher Verwirrung. Die Existentialurtheile haben aber auch
die Satzform, eine solche natürlich, wo das Prädicat eben nur
die Existenz ausdrückt: Gott ist, Gott existirt. Die Sprache
aber geht ihre eigenen Wege und hat für die Existentialurtheile
noch eine andere, eine abgekürzte Form: es blitzt. So sagt sie
auch statt: es giebt Gespenster oder Gespenster sind, in kür-
zerer Form: es spukt. Wodurch war denn diese Abkürzung
möglich, und warum ist dies eine passende Form, die reine Exi-
stenz auszudrücken ohne Anwendung des Prädicats sein oder
existiren? Sie ist darum passend, weil das Moment, welches in
allen Sätzen die Existenz bezeichnet, im Prädicate liegt; und
die Auslassung des Subjects ist möglich, weil es seinem ganzen
Wesen nach im Prädicate liegt. Denn jene unpersönlichen Prä-
[204] dicate bezeichnen ganz individuelle Thätigkeiten, deren Begriff
gar keinen weitern Umfang hat, die durch ein Prädicat weder
beschränkt zu werden brauchen, noch können, weil sie nur ein
eben so individuelles Subject haben, wie sie selbst ein indivi-
duelles Prädicat sind. Mit dem Prädicat ist also zugleich das
Subject gegeben, und darum braucht das Subject nicht beson-
ders ausgedrückt zu werden. Diese abgekürzte Form der Sätze
für die Existentialurtheile geht aber nur die Grammatik an, nicht
die Logik. Es versteht sich jedoch von selbst, daß, wenn die
Logik bei allen sonstigen Urtheilen davor warnt, dieselben, weil
sie allemal durch Existentialsätze ausgedrückt werden, für Exi-
stentialurtheile zu nehmen, es versteht sich von selbst, sage ich,
daß diese Warnung da nicht angebracht ist, wo eben der ganze
Inhalt des Urtheils nur die Existenz betrifft, bei den Existential-
urtheilen.
Herbart sagt: „Wenn Zeus donnert, so fragt sich, ob Zeus
existire?“ d.h. die Logik gebietet zwei Dinge zu scheiden: nämlich
die Frage, ob es richtig sei, das Subject Zeus und das Prädicat
donnert zu verbinden, von der Frage, ob es richtig sei, wenn
die erste Frage bejaht wird, deswegen dem Subjecte Zeus zu-
gleich das Prädicat der Existenz beizulegen. Herbart fährt
fort: „Wo nicht“, wenn nämlich Zeus nicht existirt, „so sagt
das Urtheil nicht, daß wirklich das Donnern geschehe“. Hier
sieht man, wie den schärfsten Logiker der Mangel an Unter-
scheidung von Satz und Urtheil verwirrt hat. Wenn nämlich
Zeus auch nicht existirt, so behauptet der Satz:Zeus donnert
dennoch, daß er donnert. Denn der Begriff der Existenz inhä-
rirt dem sprachlichen Prädicat vermittelst der Copula. Der Lo-
giker aber untersucht die Verbindung dieser Begriffe Zeus und
donnern, und findet sie, wenn Zeus nicht existirt, gerade darum
unrichtig, weil donnert existirt; denn es ist logisch unrichtig, ein
Existirendes einem Nicht-existirenden inhäriren zu lassen. Da
nun aber donnern einmal als wirkliche Thätigkeit ausgesagt
wird, so sind nur zwei Fälle möglich: entweder es existirt, so
muß ein anderes Subject zu diesem Prädicate gesucht werden;
oder es giebt gar kein Subject dazu und es existirt gar nicht,
so ist es auch falsch zu sagen: es donnert; d. h. die behauptete
Existenz des Donnerns ist ein Irrthum.
Der Unterschied zwischen subjectlosen Sätzen und den
Sätzen mit Subject ist also ein rein grammatischer. Alle Sätze
[205] sind Existentialsätze; die subjectlosen Sätze aber sind zugleich
Existentialurtheile, wiewohl diese auch in gewöhnlicher Satz-
form erscheinen. Hat nun die Logik zu warnen, nicht jeden
Satz für ein Existentialurtheil anzusehen, so hat sie auch vor
der Meinung zu warnen, als müßten alle subjectlosen Sätze
unzweifelhafte Wahrheit, unzweifelhafte Existenz aussprechen,
weil in ihnen das Prädicat absolut auftritt.
Worauf es uns also hier ankam, war gar nicht Herbart zu
bekämpfen: hierauf gehen wir allemal nur gezwungen ein. Wir
wollten den Unterschied zwischen Satz und Urtheil darlegen,
und das nöthigte uns, Herbart erst zu verbessern. Der Unter-
schied, den wir hier gefunden haben, beruht auf der Copula.
Die logische Copula ist ein Gleichheitszeichen; die grammatische
Copula ist Zeichen der Existenz und Inhärenz des Prädicats im
Subjecte.
Wir müssen indessen, um das Wesen der Copula noch näher
kennen zu lernen und sie vom Sein oder Existiren klar zu un-
terscheiden, noch einmal auf Herbart zurückkommen. Das Exi-
stentialurtheil in seiner vollständigen Form: Gott ist ist von
allen übrigen Sätzen, die ja alle die Existenz ausdrücken, gar
nicht verschieden, bloß um eine Bestimmung ärmer; denn die
Sätze: Gott ist gütig, Gott regiert sprechen die Existenz aus
und noch etwas mehr. Wie sich beim Prädicat regiert die Co-
pula abschneiden läßt: ist regierend, so kann man es auch beim
Prädicat ist, nämlich so: ist seiend. Wenn der Satz: Gott re-
giert dem Logiker hypothetisch bleibt, weil das Subject der ka-
tegorischen Sätze hypothetisch ist, so bleibt ihm der Existen-
tialsatz Gott ist gerade eben so hypothetisch. Denn was liegt
in Gott ist? Nicht mehr, als daß der Begriff des Seins als Prä-
dicat dem Begriffe Gott als dem Subjecte zukomme. Dieses
Subject bleibt aber hypothetisch, wie jedes andere. Also bleibt
auch der Existentialsatz: es spukt hypothetisch, d. h. für den
Logiker; denn der Sprechende drückt weder hier, noch dort
Zweifel aus. Aber auch der Logiker hat nur zu zeigen, daß
der Zweifel berechtigt ist; im Uebrigen geht er ihn nichts an, denn
er kann ihn nicht lösen. Er muß aber auch den Zweifel überall
anerkennen, in: Gott ist, nicht mehr, als in: es donnert; denn
während man spricht: es donnert, hört man vielleicht bloß ein
Poltern oder Wagengerassel. Wir sind also hier in demselben
Falle, wie bei: Zeus donnert. Wenn Zeus auch nicht ist, das
[206] Donnern bleibt; ebenso, wenn ich, von einem Wagen getäuscht,
spreche: es donnert, so bleibt das Donnern; nur das es ändert
sich. Das Subject ist nicht mehr dieses unbestimmte es, wel-
ches, obwohl unbestimmt, doch sehr bestimmt ist, indem es die
individuelle Ursache des Donners bezeichnet; sondern das Sub-
ject ist ein Wagen u. s. w.
Es ist gar nicht zu läugnen, daß blitzt, donnert in den
Sätzen es blitzt, es donnert,grammatisch genommen, Prädi-
cate sind; denn die Copula ist ihnen einverleibt, die allemal
das Prädicat andeutet, und das Subject steht ja neben ihnen;
es sei bestimmt oder unbestimmt, das ist einerlei. Daher ist
die Bezeichnung unpersönliches Verbum durchaus falsch.
Es blitzt ist so persönlich wie: ich schreibe, der Stein ruht u. s. w.
Aber logisch genommen, ist blitzt, donnert Subject oder Prä-
dicat? Hören wir zuerst Herbart, der nach der oben angeführ-
ten Stelle fortfährt: „Dergleichen Sätze nun“ (wie es donnert)
„würden in der Sprache außerordentlich häufig sein, wenn wir
nicht gewohnt wären, in der Auffassung dessen, was unmittel-
bar erscheint, unsre früher erlangten Kenntnisse einzumengen,
und uns dadurch Subjecte herbeizuschaffen, wo doch das Ge-
gebene keine enthält. Wir sagen z. B. die Glocke schlägt, die
Sonne scheint ins Zimmer; wo wir ohne Kenntniß der Glocke
und der Sonne sagen würden: es schlägt, es scheint.“ Hier
scheint Herbart mit Trendelenburg darin übereinzustimmen, daß
diese subjectlosen Sätze die ursprünglichern seien, denen erst
die weitere Erfahrung das Subject giebt. Wir glauben dies
keineswegs. Der ursprüngliche Mensch war unfähig, ein sub-
jectloses Prädicat zu erfassen; zu jeder Thätigkeit dichtete er
unmittelbar ein thuendes Subject hinzu. Man hat eher gesagt:
Zeus oder der Himmel blitzt, als: es blitzt. Die letztere Weise
ist schon eine Abstraction. Diese Sätze sind also fern davon,
das primitive Urtheil darzustellen. Blitz ist auch nicht von
blitzt abgeleitet, und man hat nicht bloß Zeus blitzt, sondern
auch Hephaistos schmiedet den Blitz eher gesagt, als das ab-
stracte: es blitzt. Doch weiter!
„Nach diesen Ueberlegungen wird man leichter einsehen,
wie die Sache sich verhalten müsse, wenn das Prädicat die Form
eines Substantivs hat, und die Copula ihm zur Seite steht. Da
geht der Satz: die Europäer sind Menschen bei der Erweiterung
des Subjects über in die Sätze: Menschen sind Menschen, einige
[207] Sterbliche sind Menschen, einige Wesen sind Menschen, — end-
lich: es sind Menschen (sunt homines), oder wie wir zu sa-
gen pflegen: es giebt Menschen. Hier ist die Bedeutung der
Copula verändert; aber offenbar darum, weil sie nichts mehr
findet, woran sie das Prädicat knüpfen, unter dessen Voraus-
setzung sie es aufstellen könnte. Eben hiedurch wird sie das
Zeichen der unbedingten Aufstellung“. Die Copula bleibt Co-
pula, und kommt sie in den Fall, kein Subject für ein Prädicat
zu finden, so würde sie eins andeuten, das der Logiker und
Grammatiker zu suchen haben. Die logische Copula bleibt
bloßes Zeichen der Verbindung, die grammatische ist dies und
Zeichen der Existenz. In obigen Beispielen wird aber auch
Herbarts Fehler klar. „Die Europäer sind Menschen“ soll nach
Herbart kein Existentialurtheil sein, die Existenz der Euro-
päer ist hypothetisch. „Einige Wesen sind Menschen“ ist aber
unzweifelhaft ein Existentialurtheil, wiewohl ein verstecktes. Die
Aussage der Existenz liegt im Subjecte Wesen. Dieser Satz
jedoch bleibt darum nicht minder hypothetisch; und das ganz
gleichbedeutende es sind Menschen sollte auf einmal aufhören
hypothetisch zu sein? die Copula sollte plötzlich ihre Natur
ändern?
Wir machen hier Herbart drei Vorwürfe: er hat erstlich
das Wesen und die Bedeutung des Wortes sind verkannt; er
hat ferner mit dem Satze: einige Wesen sind Menschen die
Natur des Satzes: die Europäer sind Menschen verdreht und
daraus ein Existentialurtheil gebildet, hat also schon hier den
Begriff des Seins einschleichen lassen, welcher nicht erst im
Satze: es sind Menschen auftritt, und hat folglich, drittens, das
Verhältniß dieser beiden Sätze zu einander verkannt. Dies
wollen wir beweisen.
Was bedeutet doch: es sind Menschen? Gesetzt ein schlecht
sehender Mann frage: was ist das dort für ein Busch? und sein
besser sehender Begleiter antworte: es sind Menschen! hierin
wird doch niemand ein Existentialurtheil sehen; sondern ein
ganz bestimmtes, aber noch unerkanntes, also ein Es, das was
du da siehst, ist das Subject. Nicht daß dieses Subject ist,
wird gesagt, sondern was es sei, d. h. es wird dem Subject,
das zunächst unbekannt ist, ein dasselbe erklärendes Prädicat
beigefügt. In diesem Falle ist sind reine Copula.
Jemand sieht wunderbare Gestalten und sagt sich: es sind
[208] Gespenster. Auch hier ist sind bloße Copula. Er streitet
darauf mit jemand, der das Dasein der Gespenster läugnet,
und er versichert ihm: es sind Gespenster, so ist der Ton ver-
schieden. Dort wurde Gespenster, hier wird sind hervorgeho-
ben, und sind ist das Verbum sein, d. h. existiren. Jener er-
stere Satz ist ein Qualitäts-Satz, dieser letztere ein Existential-
satz. Das ist, sind, im Existentialsatze, sind Prädicate wie
jedes Verbum und sind nicht selbst die Copula, sondern schlie-
ßen sie in sich, sind also gleich: ist seiend, sind seiend.
Eben so ist es mit: es blitzt, es donnert. Herbart fährt
fort: „Eben hiedurch“ (d. h. weil kein Subject mehr da ist)
„wird die Copula das Zeichen der unbedingten Aufstellung; wie
sie es auch sein würde, wenn wir anstatt es blitzt, es donnert viel-
mehr sprächen: es ist Blitz, es ist Donner. Wollte man lieber
sagen: Blitz ist; Donner ist: so würde nicht bloß derjenige Be-
griff, der bisher den Platz des Prädicats einnahm, jetzt als Sub-
ject aufgestellt, sondern zugleich verwandelt sich dabei die lo-
gische Copula ist in den Begriff des Sein“. Herbart verräth
eine ganz auffallende Verwirrung des Seins, als Existirens, mit
der Copula.
Gerade wie die Betonung auch äußerlich einen Unterschied
verräth zwischen: es sind Geister und: es sind Geister, im
ersten Falle mit dem Tone auf Geister, im andern mit dem Tone
auf sind, indem ersterer ein Qualitäts-Satz, letzterer ein Exi-
stentialsatz ist: gerade so ist auch es ist Blitz von es ist
Blitz verschieden. Hier ist ersterer Existentialsatz und ganz
gleichbedeutend mit: Blitz ist. Ist also in diesem letzten Falle
ist nicht bloße Copula, sondern das Sein, so ist es auch im er-
sten Falle dasselbe; denn der Unterschied zwischen beiden Sätzen
ist kein anderer, als der zwischen: ein Mann kam mir entgegen
und: es kam mir ein Mann entgegen. Es ist Zeichen der In-
version. Es verwandelt sich also weder die Copula, noch etwas
anderes, d. h. logisch genommen; die ganze Verwandlung ge-
hört der Grammatik.
Wir bleiben also dabei, Herbart hat das Wesen der Co-
pula verkannt und sie da noch in Reinheit gesehen, wo sie schon
dem Begriffe und Worte der Existenz einverleibt war. Der
andere Vorwurf, den wir ihm machen, besteht darin, daß er
nicht erkannt hat, wie nicht erst mit dem Satze: es sind Men-
schen die Aussage der Existenz auftritt, welche durch die Co-
[209] pula als solche bewerkstelligt werden sollte, wie vielmehr schon
mit dem vorangehenden Satze: einige Wesen sind Menschen
die Existenz ausgesagt wird. Dies leuchtet übrigens wohl von
selbst ein; denn Wesen bedeutet Existirendes, Seiendes. Nun
läßt sich: einige Wesen sind Menschen umdrehen, und wir dür-
fen sagen: Menschen sind Wesen, also Menschen sind Seiende,
also Menschen sind, und mit grammatischer Inversion: es sind
Menschen. Durch diese grammatische Inversion, könnte man
meinen, kehrten wir auch wieder zur ursprünglichen Form zu-
rück, da wir das Urtheil schon einmal umgewandt haben; und
die grammatische Inversion schlösse also hier eine logische in
sich. Es wäre Subject und entspräche dem obigen einige We-
sen. Denn da einige Wesen ein völlig unbestimmtes Subject
ist — wie oben ein schwarzer Fleck für den Kurzsichtigen ein
solches unbestimmtes Wesen war —, das im Prädicate seine
Aufklärung erhält, so würde es — wie oben — durch das all-
gemeine Zeichen des unbestimmten Subjects es ausgedrückt.
Es ist jedoch nicht schwer einzusehen, daß sich diese bei-
den Sätze: einige Wesen sind Menschen und es sind Menschen
oder Menschen sind anders zu einander verhalten. Sie sind rein
im Ausdrucke verschieden, sonst aber gleich. Wenn man es
als logisches Subject nähme, an Bedeutung gleich dem Aus-
drucke einige Wesen: so würden wir ja kein Existential-Urtheil
mehr haben, wie gerade die Vergleichung mit der Bemerkung
des Kurzsichtigen zeigt, dem man antwortet: es sind Men-
schen d. h. die einige Wesen, welche du undeutlich siehst, sind
Menschen, was ein qualitatives Urtheil ist. Ferner: es sind
Menschen und Menschen sind haben gleiche Bedeutung; in jedem
aber soll einige Wesen sind Menschen liegen: folglich kann nichts,
was dem letztern Satze gehört, in einem Worte liegen, welches
nur der eine jener beiden Sätze und nicht auch der andere
hätte; denn jedes Element des einen hat genau denselben Werth,
wie das entsprechende Element des andern; nur die Stellung ist
verschieden und nur diesem Umstande verdankt das es sein Da-
sein. Das Subject einige Wesen des einen Satzes wird also
nicht durch das es des andern dargestellt; aber wodurch denn?
Wenn beide Sätze der Bedeutung nach gleich, bloß dem Aus-
drucke nach verschieden sind, wo liegt die Bedeutung von: ei-
nige Wesen? Die Ausdrücke Menschen in beiden Sätzen sind
congruent. Da nun weder in Menschen, noch in es, einige We-
14
[210]sen liegen kann, so liegt dies in sind. Denn das sind des
Satzes: einige Wesen sind Menschen und des Satzes es sind
Menschen sind ja völlig verschieden, hier betont, dort unbetont;
dort Copula, hier das Sein ausdrückend. Es sind Menschen
bedeutet also: es sind Menschen wesend, oder Menschen sind
wesend.
Wir bemerken nun noch mancherlei. Erstlich machen wir
auch bei diesen Sätzen darauf aufmerksam, daß sie nicht mehr
absolut, nicht weniger hypothetisch sind, als alle andern Ur-
theile. Wenn einige Wesen, welche das Prädicat Menschen er-
warten, sind, so kommt ihnen das Prädicat zu; und ebenso
wird im andern Satze Menschen nur hypothetisch. Freilich lau-
tet das hypothetische Verhältniß der Existentialurtheile etwas
wunderlich: wenn das Subject ist, so ist es, oder: so ist es
seiend; welche Tautologie nur ausdrückt, daß die Logik dies
nicht zu entscheiden hat.
Zweitens muß man den Satz: es blitzt gerade eben so gut wie
den Satz: es sind Menschen doppelt fassen, indem er bald ein Qua-
litäts-, bald ein Existential-Urtheil enthalten kann. Jemand erwacht
des Nachts; er sieht eine schnell verschwindende Erhellung und
sagt sich: es blitzt. Hier ist es unbestimmtes Subject: das, was
du sahst, ist Blitz; gerade wie man dem Kurzsichtigen sagt:
es sind Menschen. In beiden Fällen kann man sich irren; die
Hellung war eine vorübergetragene Laterne, und im andern Bei-
spiele waren es vielleicht Bäume und keine Menschen: dies be-
weist, daß es sich bloß um ein Qualitätsurtheil handelt. Die
gesehene Helligkeit, der gesehene dunkele Fleck bleibt; es wird
eine Erklärung gesucht, was das Gesehene sei, und hierbei kann
man sich irren. Aber auch die Existenz des Gesehenen kann
bezweifelt werden. Die Helligkeit und der dunkle Fleck kön-
nen durch rein physiologische Eindrücke auf das Auge her-
vorgebracht worden sein. Durch einen Druck auf den Sehnerv,
durch den Blutandrang gegen das Auge entstand ein rein inne-
res Bild, Helligkeit oder Dunkel; dann wird natürlich das Ur-
theil: es blitzt, es sind Menschen falsch. Folglich sind auch
diese Urtheile hypothetisch; ihr Subject es ist hypothetisch.
Dieselbe Satzform, das absolute Prädicat, kann aber auch
ein Existentialurtheil darstellen. Man kann einem Bewohner der
Aequatorial-Gegend eine Vorstellung vom Frieren geben. Er
wird die Existenz [desselben] läugnen, und man wird ihm ver-
[211] sichern: es friert, d. h. Frost ist, oder: es ist Frost, d. h.
Frost ist seiend, es ist Frost seiend. Aber jemand, der in der
Stube sitzt, fragt den von der Straße eben Eintretenden: wie
ist das Wetter? oder: was ist für Wetter? und dieser antwortet
nicht mit dem Existentialurtheile, sondern mit einem Qualitäts-
urtheile: es regnet, es friert, d. h. Regen ist, Frost ist.
Es friert z. B. ist also bald Qualitäts-, bald Existential-
urtheil. Grammatisch genommen bleibt allemal, in diesem oder
jenem Falle, es das Subject, friert das Prädicat. Aber die Lo-
gik muß zwar in dem Falle, wo es Qualitätsurtheil ist, in friert
ein Prädicat sehen; in dem andern Falle aber, im Existential-
urtheil, muß sie darin ein Subject erkennen, dem die Existenz
als Prädicat zugeschrieben wird; denn friert heißt: Frieren ist.
Das ist fehlt aber. Wir hätten also in den Existentialurtheilen
kein absolutes Prädicat, sondern ein absolut gesetztes Subject;
wie z. B. auch in: es sind Menschen, das Subject Menschen
ist, dem das Prädicat der Existenz angeknüpft wird; denn es
ist logisch genommen gar nichts. Und man hat sich also auch
davor zu hüten, in jedem absoluten Prädicat, wie es friert, ein
Existentialurtheil zu sehen, da es oft ein gewöhnliches Quali-
tätsurtheil ist.
So sehen wir denn also Satz und Urtheil aufs vielfältigste
und ganz allseitig von einander abweichen, und erkennen selbst
in den Berührungspunkten dennoch eben nur Berührung ohne
Identität, ein verschiedenartiges Wesen in beiden. Ihre Vermi-
schung aber hat nicht nur der Grammatik, sondern auch der
Logik geschadet.
§. 80. Grammatische und logische Kategorien.
Betrachten wir nun endlich noch die Redetheile oder Wort-
classen. Auch hier tritt das eigenthümliche Wesen der Sprache
hervor; denn die Wortclassen sind nichts weniger als logische
und metaphysische Kategorien. Sie stimmen weder so überein,
daß die sprachlichen Kategorien das unmittelbare Abbild der
logischen und metaphysischen wären, noch lassen sich jene durch
logische oder metaphysische Bestimmungen in ihrem Wesen er-
fassen. Beckers Gerede von Thätigkeit und Sein ist schon im
Allgemeinen gerichtet; auch der Unterschied zwischen Verbum
und Substantivum läßt sich dadurch nicht bestimmen. Der
Strom des Wassers, der Tanz, die Tugend, die Gerechtigkeit
und Güte, der Kampf und Krieg und der Friede, die Freude,
14*
[212] der Schmerz und die Trauer, der Spott, das Gelächter und der
Hohn, die Trennung und die Hoffnung und das Wiedersehen
u. s. w. u. s. w., das sind lauter Thätigkeiten in der Bewegung
— und doch Substantiva!
Das Adjectivum soll nach Becker in der Mitte stehen zwi-
schen Verbum und Substantivum (§. 31. S. 101.): „es ist ent-
weder ein gewissermaßen substantivisch gewordenes Verb, oder
ein verbal gewordenes Substantiv“. Und weiter (das.): „Das
Adjectiv z. B. wach, laut, drückt eben so wie das Verb wach-et,
laut-et, eine Thätigkeit, und weil alle Thätigkeit in der Sprache
als Thätigkeit eines Seins gedacht wird, eine ausgesagte (prä-
dicirte) Thätigkeit aus; es unterscheidet sich aber von dem
Verb wesentlich dadurch, daß es nur die ausgesagte Thätigkeit,
und nicht, wie das Verb auch die Aussage ausdrückt. Dieser
Unterschied der Bedeutung tritt auf eine sehr bestimmte Weise
in der Flexion des Verbs und Adjectivs hervor: die Flexion
des Adjectivs z. B. ein blanker Degen, mit blankem Golde be-
zeichnet durch die Congruenz die Einheit der ausgesagten (prä-
dicirten) Thätigkeit mit dem Sein; die Flexion des Verbs hin-
gegen z. B. der Degen blinkt drückt die Aussage selbst (das
Urtheil) aus … Da nun alle Begriffe des Seins in den Sub-
stantiven als ein in eine prädicirte Thätigkeit aufgenommenes
Sein gedacht und dargestellt werden; so steht das Adjectiv als
der Ausdruck einer prädicirten Thätigkeit dem Substantiv sehr
nahe und geht leicht in ein Substantiv über“.
Das ist alles falsch. Daß wach, laut Thätigkeiten ausdrü-
cken, muß Becker wohl annehmen; denn wenn wir ihm sagten,
daß sie einen Zustand bezeichnen, so hat er ja für etwas, was
weder Sein noch Thätigkeit ist, keinen Raum. Er würde uns
sagen (S. 83. §. 28.): „Auch die Begriffe von Zuständen der
Ruhe und Unthätigkeit, wie stehen, sitzen, liegen, schlafen, müs-
sen im Gegensatze zu den Begriffen des Seins als Thätigkeits-
begriffe aufgefaßt werden, welche von dem Begriffe der Bewe-
gung abgeleitet sind — als eine Bewegung, welche durch
die ihr in entgegengesetzter Richtung entgegentretende Bewe-
gung gehemmt wird“. Das mag physisch und metaphysisch und
sogar sprachlich wahr sein; da man aber Zustandswörter von
Thätigkeiten abgeleitet hat, so drückte man eben damit aus,
daß man sie von ihnen unterscheiden wolle. Das Sprach-
gefühl unterscheidet auch leicht zwischen einem neutralen und
[213] einem objectiven Verbum, wie z. B. zwischen: er wacht (schläft
nicht) und: er wacht über das Gesetz oder bei einem Kranken.
Man sieht also hier auch ein Verb, welches einen Zustand und
keine Thätigkeit ausdrückt. Eben so wenig wie wach, ist laut
eine Thätigkeit, und wenn ich frage: wie lautet der Vers? so
haben wir abermals ein Verbum, welches keine Thätigkeit aus-
drückt.
Der angegebene Unterschied zwischen der Flexion des Ad-
jectivs und der des Verbs ist ein leeres Wort. Denn, „die Ein-
heit der prädicirten Thätigkeit mit dem Sein bezeichnen“, das
heißt eben nichts anderes, als das Prädiciren bezeichnen. Man
kann einen feinen Unterschied machen zwischen Einheit und
Aussage der Einheit, und man könnte also nach Obigem Becker
die Ansicht zuschreiben, daß am Adjectivum durch die Flexion
nur die Einheit, am Verbum aber nicht bloß diese, sondern
auch die Aussage der Einheit ausgedrückt werde. Das wäre
nun aber erstlich falsch. Am Adjectivum würde also die That-
sache der Einheit bezeichnet, am Verbum die subjective Thätig-
keit des Einens im Denken. Die Verbalflexion ist aber durch-
aus nicht so subjectiv. Wer sagt: die Rose blüht, drückt keines-
wegs aus, daß sein Urtheil, sein Denken es ist, welches von der
Rose das Prädicat blühen aussagt; sondern im Gegentheil, nicht
nur die objective Thatsache des Blühens der Rose wird aus-
gesagt; sondern sie wird auch als solche, in voller Objectivität,
ohne Beimischung unsers subjectiven Sehens und Urtheilens dar-
gestellt. Die logische Copula ist allerdings jenes Gleichheits-
und Verbindungszeichen, welches das subjective Denken setzt;
die grammatische Copula dagegen drückt objective Inhärenz aus.
Indem wir es nun aber unentschieden lassen, ob Becker im Obi-
gen diesen Fehler begangen hat, die grammatische Copula als
logische rein subjectiv zu nehmen, können wir doch eine andere
Stelle citiren, wo Becker dies nicht thut, wo dann aber auch
die Gleichheit der adjectivischen und verbalen Flexion ausge-
sprochen wird (§. 50. S. 198.): „Sowohl die prädicative als die
attributive Beziehung wird nicht durch diesen Beziehungen ei-
genthümliche Flexionsformen ausgedrückt; sondern die Einheit
von Thätigkeit und Sein wird nur durch die Congruenz der
Personalform an dem Prädicate und der Geschlechts- und Ca-
susform an dem Attribute bezeichnet.“
Becker meinte ferner, weil alle Substantive ein in eine prädi-
[214] cative Thätigkeit aufgenommenes Sein ausdrücken, so stehe ihnen
das Adjectivum sehr nahe, weil es eben der Ausdruck einer
prädicirten Thätigkeit sei. Wunderliche Nähe! wenn man nicht
das Sein sehr gering anschlagen will. Da nun aber das Ver-
bum gerade eben so sehr wie das Adjectivum Ausdruck einer
prädicirten Thätigkeit ist, so müßte auch dieses dem Substantivum
eben so nahe stehen, und so ist es auch. Becker selbst meint,
daß die substantivisch gewordenen Participien dies beweisen.
Nur schwindet damit wieder ein Unterschied zwischen Adjecti-
vum und Verbum, und das Verbum bildet auch gar nicht mehr
den polaren Gegensatz zum Substantiv, sondern steht in der
Mitte eines solchen neben dem Adjectivum. In manchen Aus-
drucksformen soll, nach Becker, das Adjectivum gleiche Bedeu-
tung mit einem Substantivum haben; aber auch mit einem Ver-
bum, hat er vorher schon gesagt, hat es gleiche Bedeutung;
z. B., wie Becker anführt, er wird karg (ein Geizhals); ich halte
ihn für falsch (für einen Heuchler). Wir fügen in Beckers Sinn
hinzu: er beginnt zu kargen, zu geizen; ich halte dafür, daß
er heuchelt, und noch genauer entsprechend im Accusativ cum
Infinitivo etwa: existimo eum simulare, wo das Verbum simulare
ganz dem Adjectivum falsch und dem Substantivum Heuchler
entspricht.
Ein anderer Unterschied zwischen Verbum und Adjectivum
soll nach Becker darin liegen, daß das Adjectivum allemal einen
Gegensatz ausdrücke, der nicht im Verbum liege. Aber wachen
bildet eben sowohl einen Gegensatz zu schlafen, als wach sein;
z. B. schläft er? nein, er wacht, oder: er ist wach. Hat er gear-
beitet? oder: war er fleißig? nein, er war faul, oder: er hat
gefeiert.
Aristoteles hat das Adjectivum und Verbum zusammenge-
faßt und dem Substantivum gegenübergestellt. Er hat wohl
daran gethan. Wer hat denn aber ihn, den Logiker, zum Gram-
matiker gestempelt?
Das einzig Haltbare bei der Trennung des Verbums vom
Adjectivum liegt in der Bestimmung des Verbums, die prädica-
tive Aussage zu bezeichnen, und dies ist kein logisches Ele-
ment.
Es ist unmöglich, alle Redetheile durch die rein logische
Zergliederung des Urtheils zu finden, und Aristoteles hat sie
nicht gefunden. Bleibt aber auch nur ein Redetheil logisch un-
[215] bestimmbar, so beweist dies schon, daß keiner logisch bestimmt
werden darf und kann. Denn ist die Sprache eine organische
Einheit, so können ihre Hauptkategorien nicht nach wesentlich
verschiedenen Principien bestimmt werden.
Bemerken wir nun endlich noch, um den ganzen Kreis der
hierher gehörigen Verhältnisse abzuschließen, daß die Declina-
tion der Nomina, die Comparation der Adjectiva, die Tempora
des Verbums ihren Grund allerdings in der sinnlichen Anschauung
haben; eben darum aber nicht der Logik angehören. Daß die
Modi sich nicht durch die logische Modalität erfassen lassen,
ist schon erwähnt.
So bleibt denn, wie aus allem oben Gesagten hervorgeht,
der logischen Grammatik nichts als ein ungeschiedenes Sprach-
material, innerlich ungeformt und unbestimmt, eine gallertartige,
flüssige Masse, welche zu formen die Logik umsonst sich ab-
quält. Denn die logische Grammatik hat der Sprache ihr ge-
staltendes, schaffendes Princip entzogen, ihr die Seele ausgetrie-
ben: so bleiben ihr die Theile ohne das geistige Band; es blei-
ben die Atome, die wie Flugsand durch einander wehen und
der Logik spotten, welche umsonst sie zusammenzuhalten und
daraus Gestalten zu bilden strebt. Was der Seelenwanderung
entgegensteht, daß jede Seele nur in ihrem Körper, den sie sich
schafft, leben kann, das steht auch der logischen Grammatik
entgegen. Im Sprachleibe wohnt eine Sprachseele, und es kann
keine logische in sie einwandern.
3. Ist die Sprache logisch?
Wenn weder Denken und Sprechen identisch sind, noch
auch die grammatischen Kategorien die logischen sind: wie sollte
die Sprache logisch, ein logisches Wesen, ein bewußtes oder
unbewußtes Erzeugniß der dem menschlichen Denken inwoh-
nenden Logik sein? Auch ist sie dies ganz und gar nicht.
§. 81. Allgemeines Mißverhältniß zwischen Grammatik und Logik.
Wäre die Sprache logisch, und ihre Form der organische
Abdruck der logischen Form des menschlichen Denkens: was
würde daraus folgen? Es würde mit unläugbarer Nothwendigkeit
aus dieser Voraussetzung Beckers folgen, daß es unmöglich sein
müßte, das unlogisch, d. h. das logisch falsch Gedachte, den
logischen Irrthum, sprachlich und sprachrichtig ausdrücken. Wir
würden also in der Fähigkeit einen Gedanken sprachlich auszu-
[216] drücken einen Prüfstein für die Richtigkeit dieses Gedankens
haben. Wenn z. B. zwei conträre Begriffe sich nicht als Sub-
ject und Prädicat in einem Urtheile mit einander verknüpfen
können; wenn das Urtheil: der Kreis ist viereckig, oder ein vier-
eckiger Kreis, undenkbar, logisch unrichtig ist: so müßte der-
gleichen auch in der Sprache unausdrückbar sein. So oft der
Mensch auf dem Punkte stünde, sich zu einem logischen Denk-
fehler hinreißen zu lassen, falsch, d. h. genau genommen, nicht
zu denken: so müßte ihn der Gebrauch der Sprache verlassen;
er müßte um das Wort oder um die grammatische Form in
Verlegenheit sein; es müßte wenigstens jeder Denkfehler mit
einem Sprachfehler, jeder Verstoß gegen die Logik mit einem
entsprechenden gegen die Grammatik unablöslich und unver-
meidlich verknüpft sein. So ist es doch nun aber nicht; son-
dern der tollste Unsinn läßt sich richtig und sogar in schönem
Satzbau ausdrücken.
Längst haben die abstract logischen Köpfe das unlogische
Wesen der Sprache verspottet. Die neuere grammatische Theo-
rie bemüht sich freilich, die Naivetät und sinnvoll phantastische
Anschauung der Sprache in Schutz zu nehmen. Damit wird
ja aber zugestanden, daß die Sprache kein Erzeugniß logischen
Denkens ist.
Wäre die Sprache die organische Darstellung des Ge-
dankens, die vom Gedanken selbst geschaffene Aeußerung seiner
selbst, so müßte sich die Sprache vollständig der Form des Ge-
dankens anschmiegen; die Gliederung und Zusammensetzung der
Sätze müßte ein getreuer Abguß der Gliederung und Construc-
tion der Gedanken sein. Ist sie denn das? Schon Herbart be-
merkte (Ueber Kategorien und Conjunctionen §. 22.) „das son-
derbare Mißverhältniß zwischen der Sprache, welche genöthigt
ist, alle Worte in die gerade Linie einer Zeitreihe zu stellen,
und der, davon vielfach abweichenden, innern Construction
der Gedanken. Man bemerkt dies am leichtesten, wenn ein
räumlicher Gegenstand, mit seinen drei Dimensionen, und mit
den verschiedenen Eigenschaften seiner einzelnen Theile, soll be-
schrieben werden; wozu die Reihe der Worte, die nur eine
Dimension haben kann, durchaus nicht paßt.“ Freilich hat die
Sprache Mittel, dieses Mißverhältniß auszugleichen: sonst könnte
man ja nichts vermöge der Sprache darstellen und mittheilen.
Aber diese Ausgleichung liefert eigenthümlich sprachliche Ka-
[217] tegorien, welche gar nicht logisch sind, deren Wesen vielmehr
auf einer Abweichung von der Logik beruht. Ferner können
solche Ausgleichungen vieles, aber nicht alles wieder gut machen.
Mit Recht bemerkt Herbart (das. §. 61.): „Hat man vom phy-
sischen Mechanismus und von der möglichen Verschiedenheit
und Bewegung der Vorstellungsmassen auch nur den ersten Be-
griff gefaßt: so weiß man, daß alle Sprachen der Welt, sammt
allen ihren Conjunctionen und Hülfsmitteln jeder Art, immer nur
einen unvollkommenen Ausdruck für die Structur der Vorstel-
lungsmassen liefern können; .... indem selbst der Periodenbau
mit aller seiner Mannigfaltigkeit noch lange nicht hinreicht, um
das Innere völlig auszusprechen.“
Noch einen argen Irrthum habe ich zu rügen. Gesetzt, die
Sprache wäre nichts als das im Laute gewissermaßen gefrorene
Denken: so wäre doch in der Sprache, da es unsere Sprache
ist, auch unser Denken gegeben. Ist denn unser Denken lo-
gisch? — Psychologisch ist unser Denken. Das logische Den-
ken ist unser Ideal, das wir nie erreichen. Das drückt Herbart
am bestimmtesten aus, der die Logik eine Ethik des Denkens
nennt; aber auch die metaphysische Logik unterscheidet das
objective Denken vom psychologischen, und nur letzteres ist das
gewöhnliche, übliche. Also kann auch die Sprache sich gar
nicht an die Logik anschließen, sondern nur an die Psycho-
logie.
Ferner aber könnte hier immer noch der Zweifel entste-
hen, ob die Sprache die Richtung und Absicht hat, unser
Denken darzustellen, ob sie nicht vielmehr die Realität wie-
dergeben will. Die Sprache belebt alle Dinge und begabt sie
mit einem Geschlecht. Hätte die Sprache ihre Aufmerksamkeit
auf unsere Vorstellungen und Begriffe gerichtet, wie käme sie
darauf? Die Vorstellung Mann ist nicht männlich, und die Vor-
stellung Weib ist nicht weiblich, und beide sind so wenig ge-
schlechtlich und eben so wenig oder eben so sehr lebendig, als
die Vorstellung Stein. Nur wenn die Wirklichkeit sprachlich
abgebildet werden sollte, konnten solche Unterschiede in die
Sprache eintreten. — Auch die sprachliche Copula, welche alle
Sätze zu Existentialsätzen macht, beweist, daß die Sprache
nicht unsere Denkthätigkeit, sondern die Wirklichkeit vor den
Sinn des Hörenden stellen will. Humboldt bemerkt über die
Copula (Einleitung in die Kawi-Sprache S. CCLXVI oder 251):
[218] Das Verbum „knüpft durch das Sein das Prädicat mit dem Sub-
jecte zusammen, allein so, daß das Sein, welches mit einem
energischen Prädicate in ein Handeln übergeht, dem Subjecte
selbst beigelegt, also das bloß als verknüpft Gedachte zum
Zustande oder Vorgange in der Wirklichkeit wird. Man denkt
nicht bloß den einschlagenden Blitz, sondern der Blitz ist es
selbst, der herniederfährt; man bringt nicht bloß den Geist und
das Unvergängliche als verknüpfbar zusammen, sondern der Geist
ist unvergänglich.“ Es ist nicht Humboldts Ansicht, daß die
Sprache die Welt malen wolle, sondern er meint, wie es unmit-
telbar weiter heißt: „Der Gedanke, wenn man sich so sinnlich
ausdrücken könnte, verläßt durch das Verbum seine innere
Wohnstätte und tritt in die Wirklichkeit über;“ d. h. es ist
zwar nicht die Welt, die Wirklichkeit, die in der Sprache dar-
gestellt wird, sondern der Gedanke, unser subjectiver Gedanke;
aber dieser wird nicht als solcher, sondern als Wirklichkeit dar-
gestellt. Die Sprache ist also weder Darstellung der Wirklich-
keit, noch des Gedankens, sondern des Gedankens als Wirk-
lichkeit.
Becker sagt (Organism S. XV): Will man „läugnen, daß
die allgemeinen formalen Denkgesetze sich in der Sprache wie-
der finden, so läugnet man nicht allein die organische Natur der
Sprache, sondern auch die organische Natur des Denkens“. —
Keins von beiden; man trennt nur beides, die organische Natur
der Sprache von der des Denkens.
§. 82. Inwiefern die Sprache logisch und nicht logisch ist.
Und so hoffen wir, man werde uns nicht den absurden Ein-
wand machen, wenn die Sprache nicht logisch ist, so sei sie
unlogisch, unvernünftig, was doch der Sinn der eben citirten
Bemerkung Beckers war. In diesem Einwande liegt ein ganz
gemeiner Fehler gegen die formale Logik: man schiebt einem
contradictorischen Verhältnisse den Werth des conträren Gegen-
satzes unter.
Wir können dasselbe, was wir so eben sagten, auch so aus-
drücken: man beachte nicht die Doppelbedeutung des Wortes
logisch. Dieses Adjectivum bedeutet eben sowohl, was zur
Wissenschaft der Logik gehört, z. B. eine logische Frage, ein
logisches Gesetz, als auch was den Gesetzen der Logik gemäß,
überhaupt vernünftig eingerichtet ist. Nur nach dem ersten
[219] Sinne wird behauptet, die Sprache sei nicht logisch; nicht nach
dem zweiten.
Um sich an diesen Unterschied zu gewöhnen, um ihn fest
halten zu lernen, wende man den Blick einmal auf andere
Wissenschaften. Die Physik, Chemie, Mathematik u. s. w. sind
nicht logisch, die Natur ist nicht logisch, d. h. es sind in ihnen
keine logischen Thatsachen, Kategorien und Lehrsätze gegeben;
aber sie sind darum doch sehr logisch, indem ihre Entwicke-
lungen nach den Gesetzen der Logik durchgeführt sind. Das-
selbe gilt von der Geschichte, und wenn man meint, und wenn
Hegel selbst gemeint hat, aus seinem Satze: „alles, auch die
Geschichte sei logisch, vernünftig“ müsse gefolgert werden, in
der Geschichte seien logische Kategorien darzustellen, und die
Völker und die Ereignisse und Zustände seien als die geschicht-
lichen Verwirklichungen der logischen Kategorien aufzufassen:
so scheint mir dies gerade derselbe Fehler, wie der, welchen wir
hier rücksichtlich der Sprache tadeln.
Der Gegenstand der einzelnen Wissenschaften ist ihnen
eigenthümlich, nicht bloß der Stoff, sondern auch die an ihm
hervortretenden allgemeinen Verhältnisse, die man eben Katego-
rien nennt, wie die Kenntniß der chemischen Stoffe und die
Verhältnisse, nach denen sie sich mit einander verbinden; wie
Kreis, Peripherie, Durchmesser und die Verhältnisse, in denen
sie zu einander stehen. Indem aber unsere Thätigkeit des ver-
ständigen Denkens diese Gegenstände betrachtet, diese Verhält-
nisse erforscht, so verfährt sie hierbei in einer Weise, in wel-
cher die Formen der Logik sichtbar werden; denn die Logik
ist eben die Analyse des Denkens, d. h. der Denkthätigkeit, ab-
gesehen von dem Gegenstande, auf den sie angewandt wird.
Noch mehr, die Natur erzeugt Gegenstände und verfährt dabei
durch Mittel und in einer Weise, welche die specielle Natur-
wissenschaft als ihren besondern Gegenstand darzustellen hat.
Indem wir diese Verfahrungsweise im Denken reproduciren und
den realen Gang des Werdens der Sache in einen subjectiven
Gang des Werdens des Begriffs umwandeln, d. h. bloß abbilden,
bemerken wir im Denken nicht bloß, sondern in der wirklichen
Natur selbst logische Verhältnisse, die ihr inne wohnen, logi-
sche Gesetze, die sie unverbrüchlich befolgt.
Ganz eben so wie die Natur und die Naturwissenschaften,
ist auch die Sprache und die Sprachwissenschaft logisch und
[220] nicht logisch: nämlich ihr Gegenstand mit seinen Verhältnissen
ist ihnen eigenthümlich; aber indem man diesen Gegenstand und
diese Verhältnisse denkt, bemerkt der Logiker, daß sowohl der
Sprachforscher nach logischen Gesetzen handelt, als auch, daß
bei dem Verfahren der Sprache, ihre Elemente zu bilden und
nach eigenthümlichen Gesetzen zusammenzufügen, logische Rück-
sichten und Gesetze unbewußt gewaltet haben. Diese logischen
Gesetze, welche die Sprache und der Sprachforscher, der Che-
miker und Physiker und die Natur befolgen, sind die gemeinen
logischen Gesetze, deren Darlegung der Sprach- und Natur-
forscher voraussetzt, die er nicht erforscht, die nicht sein beson-
derer Gegenstand sind.
Nach allem, was vorangegangen ist, kann die allgemeine
Scheidung der sprachlichen oder grammatischen Verhältnisse von
den Verhältnissen des Denkens und der Logik nicht mehr un-
gewiß, noch auch schwierig sein. Wir geben aber doch noch
ein neues Beispiel. Es tritt jemand an eine runde Tafel und
spricht: diese runde Tafel ist viereckig: so schweigt der Gram-
matiker, vollständig befriedigt; der Logiker aber ruft: Unsinn!
Jener spricht: dieser Tafel sind rund, oder hic tabulam sunt ro-
tundum: der Logiker an sich versteht weder Deutsch, noch Latein
und schweigt, der Grammatiker tadelt. Giebt man aber dem
Logiker zu seinem allgemeinen logischen Maßstabe noch das
besondere grammatische Gesetz der Congruenz, so würde auch
er tadeln. Ein solcher Logiker, der zu den logischen Ge-
setzen noch ein grammatisches hinzubringt, ist eben der Gram-
matiker. Denn dieser ist, außerdem daß er Grammatiker
ist, noch überdies Logiker, d. h. nach logischen Gesetzen
denkend und beurtheilend; aber der Logiker ist nicht auch
Grammatiker. Würde nun der obige Satz corrigirt: hoc tabu-
lum est rotundum, so wäre der Logiker selbst mit Kenntniß der
Congruenzregel befriedigt. Der Grammatiker aber hat eine fer-
nere Kenntniß der Sprache und verbessert: tabula. Dies ge-
nügt dem Logiker, um das Uebrige zu corrigiren; d. h. nun ist
der Grammatiker gezwungen, eine logische Anwendung der Re-
gel der Congruenz zu machen. Also die Congruenz-Regel und
das bestimmte Genus des Wortes tabula sind Verhältnisse, die
ausschließlich der Grammatik gehören, und sie mit ihresglei-
chen machen den Gegenstand der Grammatik, die Sprache aus.
In dem formalen Verfahren aber, in der Anwendung der sprach-
[221] lichen Gesetze auf sprachliche Stoffe tritt nothwendig die Lo-
gik ein.
Von einem Knaben wird das perfectum indicat. activi von
laudare verlangt; er wird diese Form durch eine Reflexion, durch
einen logischen Schluß finden, vorausgesetzt, daß er die la-
teinische Conjugation versteht. Die logische Operation ist sogar
ziemlich lang, so schnell der Knabe sie auch macht. Er ope-
rirt mit sprachlichem Stoffe in logischer Form. Was
aber hier in Beziehung auf die logische Denkform sprachlicher
Stoff heißt, das sind nicht bloß die Wurzelwörter, sondern auch
die grammatischen Formen und Verhältnisse, überhaupt alles,
was die Sprache ausmacht.
Wie es also chemische Kategorien giebt — z. B. Sauer-
stoff, Stickstoff, Wahlverwandtschaft —, physikalische und phy-
siologische — z. B. Wärme, Elektricität, Athmen, Verdauen —:
so giebt es grammatische, z. B. Substantivum, Verbum, Attribut;
wie die Natur und der Naturforscher mit ihren Kategorien lo-
gisch operiren: so auch die Sprache und der Sprachforscher; wie
aber hierdurch die Naturwissenschaft und die Natur nicht logisch
werden: so auch nicht Sprachwissenschaft und Grammatiker;
sondern hier wie dort bleiben die Kategorien jeder Wissenschaft
eigenthümlich, von denen die Logik nichts weiß, um deren Ge-
halt, Berechtigung, Herkunft sie sich nicht kümmert, zufrieden
damit, daß jene Kategorien, sowohl jede an sich, als auch die
Beziehung mehrerer zu einander, denkbar, d. h. logisch richtig
gedacht seien.
Das formalste Element der Sprache, ihre formalste Thätig-
keit, ist immer noch Stoff, ein ganz besonderer Stoff, ein Bei-
spiel für die Logik, und kann eintreten in die Logik, wie tausend
andere Beispiele; aber weder ist die Sprache Herr in der Logik, daß
sie dort in irgend einem Abschnitte gebietend auftreten könnte,
noch kann sie sich das Einreden der Logik gefallen lassen, so-
bald es sich um ihre Elemente als solche, um den Inhalt der-
selben handelt.
Die Sprache ist also gerade darum nicht unlogisch (dieses
Wort als conträren Gegensatz zu logisch genommen, also im
Sinne von: die Logik verletzend, gegen sie verstoßend), weil
sie nicht logisch ist (d. h. keine logischen Kategorien und Ge-
setze aufstellt, sondern ganz eigenthümliche). Die sprachlichen
und logischen Kategorien sind also disparate Begriffe, die ruhig
[222] neben einander bestehen, wie Kreis und roth; und es beweist
schon ein Mißverstehen des wahren Verhältnisses, wenn man
die Sprache an der Logik messen will, sei es um ihre Ueber-
einstimmung mit dieser, sei es, um ihren Widerstreit gegen die-
selbe zu erweisen.
Die Stoiker behaupteten, die Sprache sei anomal; d. h.
nämlich, indem sie die Sprache nach dem Maßstabe der Logik
beurtheilten, fanden sie, daß die Sprache bei solcher Messung
nicht Stich hielt. Die Aristarchianer, wozu sämmtliche moderne
Philologen — Humboldt ausgenommen; auch Buttmann wußte
von Aristarchs Schwäche — und Becker mit den Beckerianern
gehören, behaupteten im Gegentheil, die Sprache sei nicht ano-
mal, sie sei analog, logisch geformt, und man müsse nur den
logischen Maßstab recht zu handhaben wissen. Die einen sind
so unlogisch, wie die andern; sie irren beide. Wie es mit Be-
ckers Grammatik stehe, der Spitze der analogetischen Schule
Aristarchs, das haben wir ausführlich genug gezeigt; dem Ano-
malisten aber, der sich darüber aufhält, daß man die ewigen
Götter unsterblich nenne, was völlig gegen die Logik sei, dem
ist zu erwidern, daß es gerade eben so unlogisch ist, die Sprache
anomal zu nennen, sie, die sich um den νόμος der Logik nicht
kümmert.
Es ist echt logisch und organisch, daß die Sprache unlo-
gisch ist.
Die beste Analogie zur Sprache bietet allemal die Kunst:
sie haben beide das wesentlichste Merkmal gemeinsam, die Dar-
stellung. Die Kunst stellt die Wirklichkeit dar, die Sprache
den Gedanken. Nun ist es aber doch ein gemeiner Fehler, die
Wirklichkeit zum Maßstabe des Kunstwerks zu machen, in der
vollendeten Kunst nur das getreue Abbild der Wirklichkeit zu
sehen und nach dieser Treue den Werth des Kunstwerks zu be-
stimmen. Man begeht aber ganz denselben Fehler, wenn man
in der Sprache, als der Darstellung des Gedankens, nur ein Abbild
desselben sieht. Wie weit steht die Oper von der Wirklichkeit ab,
welche sie darstellt! darum ist sie in sich nicht unlogisch, nicht
unwahr. Und so ist auch die Sprache in sich vernünftig und
wahr, obwohl sie die Logik nicht in sich faßt.
Ferner: die Malerei stellt Körper dar, aber — wie unlo-
gisch! — in der Fläche, oder sie zeigt die Fläche als Körper.
Wer die drei Dimensionen kennt, weiß noch nichts von Schat-
[223] tirung und Perspective; und diese Kategorien der Malerei an
sich werden von dem Begriffe der Dimensionen eben nur be-
rührt, sind aber ganz anderer Natur.
Wir sind also durch unsere bisherigen Betrachtungen zu
der Forderung gelangt, der Sprache und Grammatik ein ganz
eigenthümliches System von Kategorien, Begriffen, gedanklichen
Verhältnissen zuzuschreiben, welche allerdings wohl richtig ge-
dacht, aber doch nicht der Logik zugehörig sein sollen; und nun
entsteht die Frage: was soll die Sprache bedeuten, wenn nicht
den Gedanken? was kann ihr Inneres sein, wenn nicht Anschau-
ung und Begriff? und welche Formen und Beziehungen können
also in dem Innern, in dem Bedeuteten der Sprache auftreten,
wenn nicht die der Anschauungen und Begriffe? was kann also
endlich die Grammatik untersuchen und finden, wenn nicht dasselbe
wie die Logik? Die Darstellung des Gedankens? aber diese
ist ja auch gedacht! und so kommen wir nur zu einem Denken des
Denkens, welches doch sicherlich der Logik angehört. Oder
sollte dieses darstellende Denken des Gedachten oder Den-
kens sich in eigenthümlichen Formen bewegen und eigenthümliche
Gesetze offenbaren? sollte es also neben dem logischen Denken
noch ein anderes geben, und sollte es dieses nicht-logische Den-
ken sein, welches in der Sprache in Lauten tönt?
Wäre das wohl so unwahrscheinlich? oder scheint das gar
unmöglich? Wie? kennt man denn nicht auch sonst schon ein
sehr erlaubtes, berechtigtes Denken, welches in seinen Formen
unbekümmert um Logik, in seinem Inhalte unbekümmert um
das reale Verhältniß der Sachen, welches die einzelnen Wissen-
schaften darstellen, seinen eigenen Weg geht: das poetische Den-
ken? Auf dieser Verschiedenheit des poetischen Denkens vom
gewöhnlichen logischen beruht die Schwierigkeit des Verständ-
nisses der Poesie, z. B. einer Ode. Denn das nennen wir hier
verstehen: das Uebersetzen des lyrischen Denkens in logisches
Denken. Das Verstehen des Aesthetikers geht noch weiter: er
begreift auch die Formen des poetischen, also hier des lyri-
schen Denkens an sich, d. h. er kennt die Logik der Lyrik,
die ganz andere Gesetze und Formen hat, als die Logik des
Verstandes.
Ein Beispiel: „Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, Grün
ist des Lebens goldner Baum“. Diese Verse verhöhnen alle Lo-
gik, alle Botanik, alle Farbenlehre — wenn man die Thorheit
[224] begeht, dieses poetische Denken am verständigen logischen Den-
ken zu messen. Diese Gedanken sind nicht logisch, also auch
nicht unlogisch, d. h. nicht antilogisch. Eben darum lassen sie
eine Uebersetzung in logisches Denken zu und entsprechen dann
allen Gesetzen desselben. Man kann obige Verse in die strenge
Form eines logischen Schlusses bringen.
Man wird also zugestehen müssen, daß es mehrere Denk-
weisen geben könne und giebt; daß die gewöhnliche Logik nur
die Gesetze des verständigen Denkens entwickelt, wogegen die
andern Denkweisen ihren eigenen Gang, ihre eigene Logik ha-
ben. Es soll der Logik des Verstandes weder der Vorrang,
noch ihr Recht, die andern zur Rechenschaft zu ziehen, in sie
einzugreifen, sie zu überwachen, die Grenzen ihrer Herrschaft
zu bestimmen, abgesprochen werden; aber die andern Logiken,
so zu sagen, sind von ihr verschieden und innerhalb ihres Kreises
Selbstherrscher, nach Gesetzen waltend, die sie sich selbst geben.
So darf man nun auch die Chemie die Logik der natürlichen
Körper, die Physik die Logik der physischen Bewegungen nen-
nen; aber die Logik der Natur ist nicht die Logik des Verstan-
des: diese beiden Logiken identificiren, ist sehr unlogisch.
Fassen wir nun zusammen. Ist die Sprache nicht unzer-
trennlich vom Denken, begleitet sie aber dennoch andrerseits
dasselbe meistentheils; — giebt es mehrere Denkweisen und folg-
lich mehrere Logiken, und verbindet sich die Sprache mit ihnen
allen, mit jeder so gut wie mit der andern, jedoch so, daß sie
das Denken immer nur begleitet, aber dabei ihren eigenen Gang
geht, ihren eigenen Gesetzen folgt, ihre eigenen Kategorien offen-
bart; — ist also die Sprache weder mit dem Denken überhaupt,
noch mit einer besondern Weise desselben identisch, und ist sie
dennoch mehr als bloßes Tönen, ein bedeutungsvolles Tönen mit
eigenthümlichen Begriffen und Verbindungen derselben: so scheint
sich nur die eine Annahme zu empfehlen, daß auch die Sprache
ein ganz eigenthümliches Denken sei und sich nach gewissen,
diesem Denken besonders angehörenden Gesetzen und Katego-
rien entfalte, welche eben die Grammatik darstellt.
Was sich hier als eine Vermuthung darstellt, worauf die
gewonnenen negativen Resultate hinweisen, das mag im Folgen-
den positiv begründet und näher erörtert werden.
[[225]]
Dritter Theil.
Grundsätze der Grammatik.
§. 83.
Wir gehen jetzt an die eigentliche oder positive Lösung
unserer Aufgabe, das Princip der Grammatik darzulegen und
die allgemeinsten Punkte, die sich daran knüpfen, zu erörtern.
Ohne schon in die Einzelheiten hinabzusteigen, kommt es vor
allem darauf an, die Momente näher zu bestimmen, welche das
Einzelne beherrschen und ihm seine Stellung und Bedeutung in
dem Ganzen anweisen. Wenn uns das Princip der Grammatik
ihren Ausgangspunkt, ihren Gegenstand, die Begrenzung ihres
Gebietes gezeigt hat, so bedürfen wir noch gewisser Grundsätze
über die Weise, wie die unter die Grammatik fallenden Gegenstände
anzusehen sind. Wir werden also erstlich, um das Princip der
Grammatik aufzuklären, das Wesen der Sprache an sich,
ihre Entstehung und Entwicklung, wie ihre Beziehung zum
geistigen Leben zu betrachten haben. Hierzu fügen wir dann
die Erörterung einiger Begriffe, deren Wichtigkeit wir schon
bei unserer Kritik kennen gelernt haben und deren unklare Auf-
fassung so viel Verwirrung angerichtet hat, wie: Inneres und
Aeußeres, Stoff und Form, und endlich Copula, welcher
Begriff schon in allen Einzelheiten der Grammatik lebendig wirk-
sam ist. Diese Betrachtungen beschränken sich auf Sprache
und Sprachmaterial überhaupt ohne Rücksicht auf die einzelnen
Sprachen. In Bezug auf diese entsteht nun die Frage, wie sie
sich zu einander, zum ganzen Sprachwesen des menschlichen
Geschlechts verhalten, und endlich was von einer allgemeinen
Grammatik zu halten sei.
15
[226]
A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be-
ziehung zum geistigen Leben.
§. 84.
Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin-
den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be-
ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der
geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung
des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben?
Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des
Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung,
diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig
zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke,
einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es
bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache
wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins
zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei-
sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen,
als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent-
wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur
wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er-
kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt
zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt
liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm
hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung
von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich
assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der
Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.
Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig
gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein-
fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol-
les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder,
indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an
Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man
die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte
der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der
Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht.
Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för-
dern, sind oben gegeben.
[227]
Noch eine andere Betrachtung kann ebenfalls die Ungehö-
rigkeit einer Definition der Sprache erweisen. Eine Definition
kann, wie ein Gemälde, nur etwas Ruhendes oder nur einen
Augenblick darstellen. Wie soll sie etwas bestimmen, das nicht
bloß in sich mannigfaltig ist, sondern das sich auch durch meh-
rere Stufen hindurch entwickelt und auf jeder Stufe ein verschie-
denes, reicheres, gebildeteres Wesen zeigt und in andere Ver-
hältnisse nach innen und außen tritt? Und so verhält es sich
mit der Sprache. Wenn man fragt, wie sie ist, so lautet die
richtige Antwort: sie ist, was sie wird; d. h. ihre Definition
liegt in ihrer Entwickelung.
1. Entstehung und Entwickelung der Sprache.
Es ist bei jeder Untersuchung von größter Wichtigkeit,
klar darüber zu sein, was man sucht. Ueber falsch gestellte,
unklar gedachte Fragen kann man Jahrhunderte streiten, ohne
daß man sich der Sache in Wahrheit nähert; man geht vor-
wärts, aber ins Blaue. Die richtige Stellung der Frage schließt
oft die Lösung gewissermaßen schon in sich, und ist in jedem
Falle der erste Schritt zu ihr, und wär’ es auch nur, daß sie
durch sich selbst lehrte: nur die Frage gebührt dem Menschen;
es gehört ihm nicht die Antwort.
Gehen wir also an die Untersuchung des Ursprungs der
Sprache nicht ohne vorher gesehen zu haben, welche Forderung
diese Frage in sich schließt, welche Bedeutung sie nur haben
kann.
§. 85. Stellung der Aufgabe.
Man macht einen Unterschied zwischen der Anfertigung
eines Dinges und der Erfindung desselben, und nur letztere
scheint das eigentlich Große und Bemerkenswerthe. Die erste
Räder-Uhr, die erste Dampfmaschine, die man construirt hat,
zieht die Neugier an, nicht die Hunderttausende, die man dar-
auf aller Orten gebaut hat, die wie die Schatten jener ersten
erscheinen. Erfinden ist das Schwere, Nachahmen und Lernen
geht von selbst. Wie die Erfindung gemacht worden ist, wie
die Sache angefangen hat, wie man auf den Einfall gekommen
ist, wie man den glücklichen Einfall verfolgt hat: das möchte
man wissen. Gerade so hat man — bis heute, kann man sa-
gen — von einer Erfindung der Sprache durch die Urmenschen
geredet. Erfindung will man es nun freilich nicht mehr nennen;
15*
[228] man nennt es Schöpfung. Das Erlernen der Sprache durch die
Kinder sah man wie neue Anfertigungen desselben schon erfun-
denen Dinges an. Die erste Schöpfung der Sprache kennen zu
lernen, darauf gingen die Untersuchungen über den Ursprung
der Sprache. Wie Adam und Eva im Paradiese mit einander
gekost haben, das hätte man gar zu gern wissen mögen. Was
man aber nicht wußte und gern wissen möchte, das träumte man.
Es werde zugestanden, daß die Erfindung der Dampfma-
schine wichtiger ist, als ihre heutige Vervielfältigung; und die
Geschichte der Anfertigung der ersten Maschine mag anzie-
hender sein, als die Beschreibung des Verfahrens, welches
man heute beim Baue derselben anwendet. Nichtsdestoweniger
giebt es doch etwas Wichtigeres und Anziehenderes sowohl als
dieses, wie als jenes, nämlich die Naturgesetze zu erforschen,
welche sowohl bei der ersten, als bei jeder heute gebauten Ma-
schine die bezweckte Wirkung hervorbringen. Denn während
uns die Erzählung der Erfindung und allmählichen Verbesserung
eines Dinges doch nur Zeitliches und mehr oder weniger Zufäl-
liges bietet: so lehren uns jene Gesetze das diesem Zeitlichen
zu Grunde liegende Ewige. Und so schließen wir auch für die
Sprache, daß es wichtiger und anziehender ist, die Gesetze zu
erforschen, nach denen sie sowohl ursprünglich geschaffen wurde,
als auch heute noch geschaffen wird, und daß weniger daran
liegt, die Besonderheiten zu kennen, unter denen die erste
Schöpfung und jede folgende von Statten gegangen sein mag.
So gestaltet sich also die Frage nach dem Ursprunge der
Sprache schon ganz anders, selbst wenn wir die rohe Anschau-
ungsweise gelten lassen, welche die Sprache als ein Ding ansieht,
und welche der obigen Analogie zu Grunde liegt. Und sie zu-
nächst noch nicht abändernd, fahren wir fort, indem wir darauf
hinweisen, daß es doch nicht gleichgültig ist, in welchem Zeit-
alter diese Erfindung gemacht ist. Jede Erfindung setzt die
Anlage dazu im Geiste der Menschheit voraus, nicht bloß eine
angeborne Fähigkeit, sondern eine gewisse vorläufige Bildung
und Bekanntschaft mit andern Erfindungen. Ohne diese Vor-
bereitung des erfinderischen Geistes würden ihm die günstigsten
Zufälle ungenutzt vorübergehen. Gewisse Erfindungen sind un-
möglich, wenn nicht schon gewisse andere gemacht sind, oder
wenn nicht gewisse Ansichten, Erkenntnisse und Bestrebungen
vorhanden sind; sie werden überflüssig gemacht durch spätere,
[229] die aber unmöglich gewesen wären, wären ihnen nicht jene vor-
angegangen. Es lassen sich also Zustände der Zeiten begrei-
fen, in denen eine Erfindung fast nothwendig, leicht, natürlich
erscheint; denn selbst das Zufällige, das allemal noch hinzukom-
men mußte, konnte derartig sein, daß es, wie es auch fiel —
und fallen mußte doch der Zufall nothwendig — die Erfindung
oder Entdeckung fördern mußte*). Lehrreicher nun als zu wis-
sen, nach welchen mancherlei Irrgängen und nach wie vielen
mißglückten Versuchen eine Erfindung gelang, in welcher Ord-
nung die Stücke einzeln erfunden wurden, welches zuerst und
welches zuletzt, und wie sie zusammengefügt wurden — lehr-
reicher, sage ich, als dies ist es, jene Zustände zu erforschen,
welche eben sowohl das vielfache Mißlingen, als das endliche
Gelingen bewirkten, sowohl die Hindernisse als auch die Mittel,
diese zu überwinden, darboten. Wirklich begriffen ist die Ge-
schichte der Erfindung auch nur dann, wenn man diese geisti-
gen Zustände begreift und daraus die Erfindung und ihren Gang
gewissermaßen ableiten kann. Indem man dies thut, erhebt man
sich ebenfalls über die Zeitlichkeit und das Zufällige in das
Reich des Nothwendigen und allwaltender Gesetze.
Wie man gar zu gern die Ursache leibhaftig kennen ge-
lernt hätte, so suchte man auch die Erfindung der Sprache in
Zusammenhang zu bringen mit dem gesammten materiellen und
intellectuellen Zustande der Urmenschen. Dieser Zustand war
aber ebenfalls unbekannt. Er muß hypothetisch erschlossen wer-
den und zumeist aus dem Wesen der Sprache selbst; aus dem
Erzeugnisse muß die erzeugende Kraft gefolgert werden. Nun
war aber das Wesen dieses Erzeugnisses, der Sprache, verkannt;
wie sollte also sein Ursprung richtig erschlossen werden!
Hier stoßen wir auf eine Kreisbewegung. Das wahre We-
sen der Sprache muß wohl unbekannt bleiben, wenn ihr Ur-
sprung nicht aufgehellt werden kann, und der Ursprung läßt
sich nur ergründen bei der tiefen Erkenntniß des Wesens.
[230]
Wie ist denn nun dennoch der Fortschritt gemacht wor-
den? Denn er ist wirklich schon gemacht, von Humboldt ge-
macht, und wie? Man ist aus dem Kreise ganz und gar her-
ausgetreten. Den Zusammenhang zwischen Wesen und Ursprung
der Sprache konnte man nicht aufheben; mit zwei unbekannten
Größen mag man rechnen, wie man will, man gelangt zu kei-
ner bekannten. Von einem dritten Punkte her aber traf beide
zugleich ein tief eindringender Lichtstrahl. Der ganze mensch-
liche Geist, die Intellectualität und das Gefühl, nahm in Kants
Epoche — die wir nach dem größten Namen so benennen, zu
der wir aber Lessing, Herder, Göthe und Schiller, den Philo-
logen Wolf und so viele Naturforscher rechnen — einen höhern
Aufschwung. Das Gefühl und Bewußtsein der menschlichen
Würde erlangte eine früher ungekannte Anspannung*), und da-
mit war die höhere Würdigung des menschlichen Erzeugnisses,
der Sprache, schon gegeben. Die höhere Würdigung war schon
ein Anfang der bessern Erkenntniß. Die Kantianer jedoch wa-
ren zu formal logisch, trocken und schlechte Psychologen. Man
hatte vor der Sprache immer noch nicht recht gestaunt: darum
hatte man sie noch nicht begriffen. Dem Kantischen Geiste
und Zeitalter mußte eine Zeit folgen, der Männer wie Böckh,
Grimm und Bopp und Genossen, und Naturforscher wie der
Geograph Ritter ihren geistigen Hauch verliehen, damit, von
solchem Geiste unterstützt, ein Mann wie Wilhelm von Hum-
boldt uns lehrte, ein Wunderwerk anzustaunen, bei dessen
Schöpfung die ganze Menschheit, der ganze Mensch nach sei-
nem allseitigen mikrokosmischen Wesen, Natur, Instinct, Geist,
wirksam ist — ein Wunderwerk, aus dem wir den Urzustand
des Menschengeschlechts, seine vorgeschichtlichen Schicksale
kennen lernen und das Schicksal der Völker, wie es in ihrem
eigenen Geiste vorgezeichnet und bestimmt ist, zu deuten unter-
nehmen dürfen — ein Wunderwerk endlich, das immer vollen-
det ist und sich ewig neu gebiert; das auf der Individualität
des Geistes beruhend, seine Schöpfung und sein getreuester
Spiegel, doch über allen individuellen Geist hinausweist auf eine
Einheit und Allgemeinheit des Geistes.
Das hat uns Humboldt gelehrt; es ist sehr viel, und er hat
auch nur wenig mehr gelehrt. Genau genommen ist doch die
[231] Sprache noch eine verschleierte Göttinn; die Blicke, die Hum-
boldt durch den Schleier hat dringen lassen, sind nicht klar
genug und haben auf seine Mit- und Nachwelt wenig Einfluß
gewonnen. Wir haben gesehen, wie uns eine über ganz Deutsch-
land verbreitete Richtung der Sprachwissenschaft, eine mecha-
nische Mengung von naturphilosophischen Phrasen und ab-
stract-logischen Kategorien, als eine den Manen Humboldts ge-
widmete Sprachlehre dargeboten wird; sie soll mit seinen Ideen
übereinstimmend gebildet sein, sie, die in jeder Einzelheit, wie
nach ihrem allgemeinen Geiste Humboldt widerspricht.
Mit den Sprachhistorikern aber rechten wir nicht. Sie ha-
ben ihn nie anders als dem Namen nach gekannt, und da wir
anfangen, es ernstlich mit Humboldt zu nehmen, mit seiner Ver-
ehrung und seinen Ideen: so wird er ihnen auch schon lästig.
Indem man noch aus Gewohnheit oder Heuchelei die Phrase
im Munde hat, „daß man ihn nie genug rühmen könne“: be-
klagt man sich doch, daß er wie eine Gottheit verehrt werde,
uns als ein Buddha gelte — er, der doch nicht einmal habe
geläufig sanskritisch conjugiren können! O, ihr ewigen Sextaner!
Wir haben hier nicht die Aufgabe, alle die so eben ange-
deuteten Punkte über das wundervolle Wesen der Sprache dar-
zulegen und zu erläutern, ihre Bezüge zu entwickeln zur Meta-
physik, zur Ethik, zu allen höchsten Ideen, zu allem was uns
lieb und heilig ist. Wir beschränken uns hier auf das, was
unser nächster Zweck erfordert, die trockne Entwicklung des
Ursprungs der Sprache, und wollen froh sein, wenn es uns ge-
lingt, hier einiges Licht zu gewinnen.
Wir lassen mit Humboldt die zeitliche Thatsache der Schö-
pfung der ersten Menschen, wie der ersten Sprache, als uner-
forschlich bei Seite. Wie der Naturforscher die Frage, wie die
Thierarten und der Mensch entstanden seien, gar nicht aufwirft,
als eine Frage, die außer dem Bereiche menschlicher Wissen-
schaft liegt, so fragt auch der Sprachforscher nicht, wie die
Sprache als einmalige Begebenheit geschaffen worden sei. Nur
die Schöpfung, wie sie als das ewige Leben der Natur sich
auch heute noch offenbart und zu allen Zeiten offenbart hat,
gehört der Erforschung der Wissenschaft: und eben so bedeutet
auch der Sprachwissenschaft der Ursprung der Sprache bloß,
wie sie sich im Munde des Säuglings und im Munde des Re-
denden im Augenblicke des Sprechens erzeugt.
[232]
Bei dieser gleichen Beschränkung des Sprach-, wie des Na-
turforschers aber scheint uns doch der Sprachforscher glück-
licher gestellt, als der andere; und dies beruht darauf, daß die
ursprüngliche Sprachschöpfung von der ewig wiederholten nicht
wesentlich abweichen konnte, und daß wir den Zustand der
menschlichen Seele, in welchem die Sprache entstand, heute
noch wie immer theils beobachten, theils erschließen können.
Die Spracherzeugung ist niemals eine Geburt ex ovo und
war ursprünglich keine generatio aequivoca oder wie man sonst
die erste Schöpfung einer Thierart nennen will. Die Sprache
entspringt immer in gleicher Weise der Seele des Menschen,
und dieser Quellpunkt ist ewig derselbe. Die Sprache ist eine
Emanation, eine Entwickelung der Seele, die mit natürlicher,
organischer Nothwendigkeit dann eintritt, wenn die Seelenbil-
dung an einen gewissen Punkt gelangt; und die Seele und ihre
Entwickelung ist heute und immer dieselbe. Wie jedes Embryo
in einer bestimmten Epoche seiner Entwickelung dieses oder jenes
Organ bildet, so bildet die Seele auf einem gewissen Punkte
nothwendig Sprache, heute, wie in der Urzeit.
Den Ursprung der Sprache erforschen heißt also, die See-
lenbildung verfolgen, den seelischen Zustand kennen lernen, der
unmittelbar der Spracherzeugung vorangeht, und begreifen, was
die Seele durch die Sprachschöpfung gewinnt. Der Unterschied
zwischen der Urschöpfung und der täglich wiederholten existirt
also rücksichtlich der Sprache gar nicht.
Und warum nicht? Betrachten wir den ausgesprochenen
Satz näher, so entspringt daraus eine Folge, die vielmehr dessen
Ursache ist. Wenn nämlich die Einsicht in den Ursprung der
Sprache darauf beruht, daß man einen Seelenzustand begreift,
der durch die in ihm wirkenden Elemente gedrängt wird, sich
im Laute zu äußern, in Lauten auszubrechen, und daß man
ferner erkennt, was die Seele durch solchen sprachlichen Aus-
bruch gewinnt: so heißt das eben das ganze Wesen der Sprache
erkennen, und die Folge also ist die: daß Wesen und Ursprung
der Sprache identisch sind; ihr Wesen liegt in ihrem Ursprunge,
und ihr Entspringen ist ihr Sein und Wesen. Die Sprache ist
nichts als ihre Entstehung, nichts als ewig sich neu erzeugende
Thätigkeit, ein Werden, das zu keinem Dasein erstarrt.
Und diese Folge ist vielmehr die Ursache davon, daß die
erste Schöpfung der Sprache und ihre heutige und ihre ewige
[233] Neugeburt immer dieselbe ist. Denn ist das Wesen die Ent-
stehung selbst, so kann sich die Entstehungsweise so wenig än-
dern, wie das Wesen selbst sich ändern darf; entstünde sie an-
ders, so wäre auch das Wesen verändert, wir hätten nicht mehr
die Sprache, sondern ein anderes Seelenerzeugniß. Ist unsere
Sprache (im allgemeinen Sinne) dieselbe, wie die der Urmen-
schen, dasselbe Wesen, dieselbe Kraft und Thätigkeit, so ist
auch ihre Entstehung in der Urzeit keine andere als die heutige.
Man sieht nun wohl, wie roh die Ansicht war, wonach man
die Erfindung der Sprache wie die einer Maschine betrachtete,
und das Sprechenlernen von heute wie eine neue Anfertigung
einer schon gemachten Erfindung. Gehen wir aber auf diese
Analogie ein, so bemerken wir, daß der Sprachforscher glück-
licher gestellt ist, als wer die Geschichte einer sonstigen Erfin-
dung erkundet, insofern die Gesetze, die heute noch beim Erler-
nen der Sprache sich in jedem Kinde wirksam zeigen, auch die
treibenden Kräfte bei der Erfindung waren. Denn eine Erfin-
dung, die von den Naturkräften selbst gemacht worden ist, bei
der der Mensch nicht freiwillig und bewußt handelte, zu der er
durch den geistigen Instinct getrieben ward, kann auch bei der
wiederholten Anfertigung immer nur wieder durch dieselben in-
stinctiven Kräfte hervorgebracht werden; und kennen wir letz-
tere, so kennen wir auch die erste Erfindung.
Darum aber nennen wir eben die Sprache nicht eine Er-
findung, sondern eine Erzeugung. Hierin liegt aber noch et-
was ausgedrückt. Wir haben oben nicht bloß die Erfindung
einer Maschine von ihrer Anfertigung geschieden, sondern noch
ein Drittes hinzugefügt, dessen Kenntniß wesentlicher, als die
Geschichte jener und die Beschreibung dieser ist: die Gesetze
der Natur, welche in der Maschine wirksam sind. Auch diese
Scheidung schwindet bei der Untersuchung über den Ursprung
der Sprache. Denn hier werden nicht mannigfache Materialien,
die sich ursprünglich einander fremd und gleichgültig sind, nach
einer bestimmten Absicht des Menschen zu einem Zwecke, der
die Materialien nichts angeht, zusammengefügt, wie dies bei der
Dampfmaschine geschieht; sondern in der Sprache wirken Ur-
sachen blind nach inwohnender Nothwendigkeit, sind aber von
der Natur selbst zu einem Zwecke vereint; in der Sprache sind
die Gesetze selbst zugleich auch die ausführenden Mächte. Das
heißt aber eben, die Erfindung ist von der Natur selbst ge-
[234] macht, oder es ist eine natürliche Schöpfung, eine Zeugung und
Geburt. Indem also der Sprachforscher bloß die Gesetze, die
wirksamen Ursachen erforscht, lernt er zugleich die Weise der
Anfertigung und die Geschichte der Erfindung der Sprachma-
schine kennen; oder vielmehr alle diese Unterschiede schwinden,
weil die Sprache keine erfundene Maschine, sondern ein natür-
liches Organ ist, d. h. ein seelisches Organ.
Unsere Erforschung des Ursprungs der Sprache bewegt
sich also nicht um den zeitlichen, zufälligen, sondern um
den ewigen, unwandelbaren Ursprung in der Seele des Men-
schen überhaupt oder um die Gesetze des Seelenlebens, nach
denen Sprache entsteht, welche uns aber zugleich das wirkliche
Entstehen derselben von heute sowohl, wie von der Urzeit ent-
hüllen.
Hiermit sind wir in die Psychologie versetzt.
Glückliche Fortschritte in der Sprachwissenschaft setzen
eine entwickelte Psychologie voraus. Umgekehrt freilich mag
auch diese von jener Hülfe erwarten. Der Sprachforscher darf
sich dadurch nicht abschrecken lassen, daß sein Gegenstand,
weil derselbe dem ganzen menschlichen Wesen entsprossen ist,
auch dessen allseitige Natur an sich trägt. Ist er dadurch ge-
nöthigt und berechtigt, von allen Seiten Hülfe in Anspruch zu
nehmen, so ist er darum auch verpflichtet, sie nach allen Seiten
hin zu leisten.
Es wäre nun also der Punkt der geistigen Entwickelung
zu suchen, wo die Sprache hervorbricht. Um diesen zu finden,
müßten wir die ganze Leiter dieser Entwickelung von der un-
tersten Stufe an verfolgen und darauf achten, auf welcher Stufe
die Wirksamkeit und eine Leistung der Sprache sichtbar wird.
Ihr Ursprung müßte zwischen den letzten Punkt, auf welchem
sie noch ruht, und den ersten, auf welchem sich ihr Einfluß
zeigt, in die Mitte fallen. Hierbei hätten wir uns aber davor
zu hüten, die Wirksamkeit der Sprache da schon zu erkennen,
wo sie noch nicht ist; da noch nicht, wo sie schon ist; und da
immer noch, wo sie schon wieder ruht; und auch davor hat man
sich in Acht zu nehmen, daß man ihr Wirkungen zuschreibt,
die sie gar nicht haben kann.
Um dieser Gefahr zu entgehen, ist eine längere psycholo-
gische Entwickelung nothwendig oder mindestens rathsam. Um
die Leistung der Sprache sicherer zu erkennen, die doch in das
[235] ganze Räderwerk des geistigen Mechanismus angemessen eingrei-
fen muß, haben wir überhaupt die Entwicklungsweise des Gei-
stes, den in ihr waltenden Trieb, das in ihr liegende Streben
genauer zu beobachten; wir müssen Analogien zu gewinnen su-
chen zwischen den einzelnen Fortschritten des Geistes durch
Vergleichung derselben mit einander, um durch diese Analogien
das zu unterstützen, was wir bei dem Auftreten und Wirken
der Sprache zu entdecken meinen. So erkennen wir gewisser-
maßen einen Ausgangs- und einen Zielpunkt des geistigen Gan-
ges und also eine Linie, in welcher auch der Quellpunkt der
Sprache liegen muß.
Ferner aber haben wir die untern Entwicklungsstufen der
Seele nicht sowohl überhaupt und an sich darzulegen, als viel-
mehr nur zu zeigen, in wie fern in ihnen die Keime und Vor-
bereitungen zur Sprache liegen. Und so zerfällt diese Unter-
suchung über den Ursprung der Sprache von selbst in drei Theile;
denn wir haben zuerst die Anlage zur Sprache in dem Zustande
des Menschen, der ihr vorangeht, zweitens das Hervorbrechen
der Sprache und drittens die weitere Entwickelung derselben
zu betrachten. Der erste Theil umfaßt also das embryonische
Leben der Sprache, der zweite ihre Geburt, der dritte ihr
Wachsthum.
a) Vorbildung und Anlage der Sprache im Men-
schen.
Die Sprache zeigt sich darin als recht eigenthümliche Schö-
pfung des Menschen, daß sie weder bloß dem Geiste, noch
bloß dem Körper angehört; sondern aus dem ganzen einheit-
lichen Wesen des Menschen entspringend, wie der Mensch selbst,
Einheit von Körper und Geist ist und auf der Verbindung
der menschlichen Seele mit dem Leibe beruht. Weil sie auf die-
ser Verbindung beruht, ist sie doppelseitig vorgebildet: in der
Seele und im Körper, und besonders in den Punkten, wo der
Leib sich in den Dienst der Seele begiebt, sich vergeistigt, und
wo die Seele, aus sich heraustretend, in den Körper bewegend
eingreift. Das Erste, das wahrhaft Thätige und Regierende,
bleibt natürlich die Seele, und so beginnen wir mit ihrer Ent-
wickelung.
§. 86. Stufen des Seelenlebens vor dem Entstehen der Sprache.
Die erste Aeußerung des Seelenlebens liegt im Gefühl,
[236] welches von der Empfindung zu unterscheiden ist. Die nie-
drigsten Thierarten dürften leicht bloß Gefühl ohne Empfindung
haben. Ersteres hängt von den Nerven und dem Gehirn oder
Centralorgan ab, letztere von den Sinnesorganen. Das Gefühl
ist überall im Körper, wo Nerven sind, wenn diese mit dem
Centralorgan in unverletztem Zusammenhange stehen; die Em-
pfindung verlangt zu ihrer Wirksamkeit eine ganz besondere
Einrichtung, einen Sinn, wie wir deren fünf haben. Den fünften
Sinn nennt man Gefühl; man muß aber auch diesen Gefühls-
sinn, wie man ihn genauer bezeichnen könnte, vom Gefühl un-
terscheiden; und das ist nicht schwer. Der Gefühlssinn, auch
Tastsinn genannt, unterscheidet zuerst Bestimmungen der Ober-
fläche der Körper, das Glatte und Rauhe, Harte und Weiche,
Stumpfe und Spitze oder Scharfe, auch die räumliche Ausdeh-
nung und Form, das Dicke und Dünne, Breite und Schmale,
das Eckige und Runde — wie das Auge; und der Tastsinn ist
ein grober Gesichtssinn, aber eben darum für die Erkenntniß
wichtiger, als Geruch und Geschmack. Er lehrt auch Gewichts-
bestimmungen, das Schwere und das Leichte, und Temperatur-
Unterschiede, also das Warme und Kalte.
Der Unterschied zwischen Gefühlssinn und Gefühl ist nun
folgender. Wer die Hand — oder überhaupt den Körper —
dem Feuer nahe bringt, der hat vermöge des Gefühlssinnes die
Empfindung der Wärme; wer sie aber ins Feuer selbst, in die
Flamme, steckt, glühendes Eisen berührt, in siedendes Wasser
taucht, der fühlt einen Schmerz, der nichts mehr mit der Wahr-
nehmung der Wärme gemein hat. Wenn man Schnee berührt,
so nimmt man Kälte wahr; wenn man aber die Hand längere
Zeit strenger Kälte aussetzt, so schmerzt sie eben so, als wäre
sie gebrannt.
Lust und Unlust, angenehm und unangenehm, das sind die
beiden allgemeinen Kategorien des Gefühls. Es beruht auf sub-
jectiven Zuständen, Veränderungen, Leiden, Förderungen des
eigenen Körpers. Der Gefühlssinn dagegen, wie alle Sinne, lie-
fert durch die Empfindungen Erkenntnisse von äußern objec-
tiven Verhältnissen, welche Wahrnehmungen immer noch mit ei-
nem Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen verbunden,
von ihm begleitet sein mögen. Der kranke Finger erregt nur
das Gefühl des Schmerzes, liefert aber keine Erkenntniß mehr,
ist empfindungslos; was er auch berührt, alles reizt ihn in glei-
[237] cher Weise schmerzhaft, und nicht bloß unterscheidet er nicht
mehr Warmes und Kaltes, Stumpfes und Scharfes, sondern er
erkennt überhaupt nichts Aeußeres, weiß gar nichts vom Aeu-
ßeren, hat kein Object, sondern bleibt in sich versenkt. Wenn
ein krankes Glied gestochen oder geschnitten wird, so wird nur
der Schmerz gefühlt; aber das stechende, schneidende Instru-
ment wird nicht empfunden.
Bei den übrigen Sinnen ist die Unterscheidung von Gefühl
und Empfindung noch leichter. Das Sehen und ein Schmerz
oder sonstiges Gefühl im Auge, das Hören und ein Schmerz
im Ohre können nicht mit einander verwechselt werden.
Auch entspricht diesem Unterschiede zwischen Gefühl und
Empfindung die physiologische Organisation. Denn nicht bloß
das Gesicht, Gehör u. s. w. verlangt ein besonderes Organ, son-
dern auch der Tastsinn. Ein gesunder Nerv giebt dem Finger
wohl Gefühl, aber noch nicht Empfindung; dazu gehört eine
besondere Veranstaltung in der Haut. Gefühlsnerven sind überall
im Körper, Tastnerven nur auf der Oberfläche des Körpers, in
der Haut, und besonders zahlreich in den Lippen und Finger-
spitzen. Sobald also im Finger die Organe der Empfindung
abgestorben, zerstört oder überreizt, kurz irgendwie unthätig
gemacht worden sind, so bleibt das Gefühl noch immer leben-
dig; daher das Schmerzgefühl da eintritt, wo die Gefühlsem-
pfindung aufhört. Wenn also den untersten Thieren die Sinnes-
organe fehlen, so mögen sie noch immer das Licht, den Schall
als ein Gefühl dunkel wahrnehmen, aber die Empfindungen der
Farbe, des Tons können sie nicht haben.
Betrachten wir nun die Art und Weise, das innere Wesen
dieses Fortschrittes vom Gefühl zur Sinnesempfindung: so zei-
gen sich hier schon alle wichtigen Punkte, auf denen überhaupt
aller Fortschritt der Seelenentwicklung beruht. Gehen wir aus
von dem wesentlichsten, auch schon ausgesprochenen, Unter-
schiede, daß das Gefühl nur einen subjectiven Zustand andeu-
tet, die Sinneserregung aber Erkenntniß eines Aeußern gewährt,
das sich allmählich zur geistigen oder ideellen Construction ei-
ner Außenwelt entwickelt. Worauf beruht dies? Unser Tast-
sinn sagt uns, ob ein Werkzeug scharf oder stumpf oder spitz
ist; dringt aber das Werkzeug in den Finger ein, so haben wir
einen Schmerz, der an sich nicht über die Eigenschaft des
schmerzerregenden Mittels belehrt. Wir fühlen, ob die uns um-
[238] gebende Luft warm oder kalt ist; aber ein wundes Glied, das,
der Luft ausgesetzt, schmerzt, kennt nur diesen Schmerz und
weiß nichts von der Luft. Der augenscheinliche Unterschied
besteht hier darin, daß beim Gefühl das Leiden des Körpers
oder die Einwirkung von außen auf denselben heftiger, gewalt-
samer, eindringender ist. Der Nerv wird verletzt und nicht so-
wohl erregt, als gestört, oder vielmehr zerstört. Was ihm hier
widerfährt, ist ihm fremd, seiner Bestimmung nicht angemessen.
Gegen so rohes Anpochen von außen zieht sich die Seele in
sich zurück, schließt sich in sich ein; sie ist — auch in der
Lust — überwältigt, unterjocht vom Aeußern, und weiß nicht,
wie ihr geschieht. Das Aeußere lastet auf der Seele, unter-
drückt ihre Thätigkeit, gebietet ihr Schweigen; und die Seele
erwidert hierauf nur mit einem Gefühl, wodurch sie bloß ihr
Dasein geltend macht. Bei der Sinnesempfindung im Gegentheil
ist es nur eine Berührung, die der Leib von außen erfährt. Es
ist ein einladendes Anklopfen, welches die Seele herauslockt.
Die Organe werden aus der Ruhe, dem Müßiggange geweckt;
indem ihnen ein angemessener Stoff in angemessener Stärke
naht, werden sie erregt, in die Bewegung versetzt, zu der sie
geeignet sind. Der von außen kommende Andrang versetzt sie
in ihr wahres Leben, überwältigt sie nicht. Diese Schwäche
des äußern Andranges ist nöthig. Daher kommt es, daß das
Auge den Dienst versagt, selbst wenn ihm der angemessene
Stoff, Licht, geboten wird, nur in zu großer Stärke. Und da-
her hat ferner nicht bloß das Embryo, sondern auch das neu-
geborene Kind bloß Gefühl und noch keine Empfindung: weil
für dessen Organe selbst die normale Stärke der äußern Ein-
drücke noch zu mächtig ist. Seine Organe müssen sich erst
kräftigen und Licht und Luft ertragen, und so empfinden
lernen.
Mit diesem ersten Punkte ist nun auch schon ein zweiter
gegeben. Ist in der Empfindung, wie wir so eben sagten, der
Andrang von außen schwächer, als im Gefühl, so ist umgekehrt
auch die Gegenwirkung der Seele in jener größer, als in die-
sem. In der Empfindung findet zwischen dem Organ, oder der
Seele, und dem erregenden Aeußern ein freundschaftlicher Ver-
kehr zweier gleich starker Mächte Statt, bei welchem die Seele
nicht bloß leidet, sondern auch thätig ist. Sie bewahrt ihre
Selbständigkeit und empfängt von außen etwas, was sie, es
[239] umbildend, sich assimilirt und aneignet. Auf Anregung von
außen erzeugt sie ein rein seelisches Gebilde, das bloß ihr an-
gehört und eben den Inhalt der Empfindung ausmacht. Die
Empfindung einer Farbe, eines Tones, der Säure u. s. w. hat
keine Aehnlichkeit mit dem Aeußern, auf dessen Anregung die
Seele diese Empfindungen erzeugt. Im Verhältniß zum Gefühle,
wo die Seele gänzlich unterworfen ist, kann man sagen, daß sie
bei der Empfindung schon frei sei. Im Gefühl ist die Seele le-
diglich, um negirt zu werden — ein Beispiel, wenn man will,
für die Hegelsche Identität des Seins und Nichtseins —; denn
im überwältigenden Gefühle erweist sich das Sein der Seele, in-
dem sie sich verletzen, unterjochen läßt, also in negativer Weise:
in der Sinneswahrnehmung erweist sich die Seele positiv, schö-
pferisch, aus Fremdem und Eigenem eine eigenthümliche, ihr
gehörende Einheit gestaltend. Hier ist der Anfang der Frei-
heit, der Anfang zur Handlung.
Weil nun also, drittens, die Seele in der Empfindung selb-
ständig auftritt, etwas ihr Eigenthümliches schafft, also ohne
vom Aeußern unterjocht zu werden, vielmehr das Aeußere sich
aneignet: so lernt sie auch bald sich vom Aeußern scheiden,
sich ihm entgegenstellen; sie beginnt, sich zum Selbst zu bil-
den, welchem sie die Außenwelt gegenüberstellt. Dies ist
das Wesen der Erkenntniß, die Scheidung von Subject und
Object. So schwach auch zunächst diese Scheidung und Ent-
gegensetzung ist: der Keim ist gegeben, der sich unaufhaltsam
fortentwickelt, wenn er die gehörigen Nahrungsmittel findet.
Wir haben hier den Unterschied zwischen Gefühl und Em-
pfindung mehr bloß dargestellt in der Weise, wie er sich zeigt,
als angegeben, wie und wodurch er bewirkt ist. Letzteres ist
keine leichte Aufgabe; sie macht den Psychologen viel zu schaf-
fen. Wir aber, glaube ich, können hier davon absehen. Wir
wollen nur ein paar wesentliche Punkte hervorheben, in denen
wir ein Prototyp für alle Entwickelung zu erkennen meinen;
hierbei haben wir auf einige physiologische Einrichtungen hin-
zuweisen, welche die Empfindungserkenntnisse ermöglichen. Wir
sehen die Empfindung als eine Entwickelung des Gefühls an,
die aber deutlich einen physiologischen Boden hat.
Das Gefühl — wir reden natürlich hier nur vom sinnlichen
Gefühl — ist nichts als überhaupt ein bewußt gewordener Ein-
druck des Aeußern auf die Seele. Hierbei tritt nicht bloß die
[240] Seele lediglich als ein unbestimmtes Dasein auf, welches sich
als daseiend erweist, indem es gegen den erfahrenen Druck von
außen einen seinem Wesen angemessenen Gegendruck ausübt
— und dieser Gegendruck ist eben der Inhalt des Gefühls —;
sondern auch die Außenwelt wirkt hier eben so bloß als ein
unbestimmtes, ununterschiedenes Etwas. Es ist hierbei noch
nicht einmal ein Unterschied vorhanden zwischen der Außen-
welt und dem Leibe der Seele; der eigene Leib ist hier auch
noch das Aeußere. Denn es ist für das Gefühl ganz gleich-
gültig, ob ein Brand im Leibe durch ein nahes Feuer von au-
ßen, oder durch einen rein innerhalb des Leibes beschränkten
Vorgang entstanden ist. Auch existirt ja hier selbst der Un-
terschied zwischen Seele und Aeußerm nur für uns, die Betrach-
tenden, aber noch nicht für die Seele selbst. Der Charakter
des Gefühls ist also ungeschiedene Einheit, Bestim-
mungs- und Formlosigkeit. Die Factoren im Gefühl, Seele
und Aeußeres, sind in einander vermischt, und jeder Factor in
sich einheitliches, unterschiedsloses, ungeformtes Wesen. Dies
zeigt sich auch so, daß der ganze Leib in allen seinen Theilen
ohne Unterschied der Seele dieselben Gefühle giebt.
In der Empfindung tritt nun zuerst Unterscheidung, Be-
grenzung auf, und zwar zunächst als räumliche Begrenzung, Lo-
calisirung. Die Empfindung also, möchten wir zuerst definiren,
ist ein localisirtes Gefühl. Die Sinnesnerven sind wahr-
scheinlich gar nicht specifisch von einander verschieden; ihre
specifisch verschiedene Thätigkeit, daß sie nicht Schmerz- oder
Lustgefühl geben, sondern dieser eine Gesichtsempfindung, der
andere eine Geschmacksempfindung, hängt vermuthlich bloß von
der bestimmten Stelle ab, welche sie im Leibe einnehmen, von
den Bedingungen der Umgebung, der Einfassung, der nahe her-
umliegenden leiblichen Gebilde. Der Tast- oder Gefühlssinn
scheint zwar wenig localisirt, im Verhältniß zu den andern
Sinnen. Man sieht nur an dem einen Orte, wo der Gesichts-
nerv ist; man hört nur an dem einen Orte, wo der Gehörnerv
liegt; aber man hat Tastempfindungen, Gefühlsempfindungen, an
der ganzen Oberfläche des Leibes, überall an der Haut, mit
größerer oder geringerer Feinheit, je nach dem Orte. Aber
eben ein Sinn, der in der Haut sitzt, ist schon localisirt gegen
das Gefühl, das überall im ganzen Leibe ist; und selbst in
der Haut ist der Gefühlssinn doch nur an einigen Punkten
[241] so entwickelt und fein, daß er bestimmte Empfindungserkennt-
nisse geben kann. Diese Localisirung zeigt sich auch darin,
daß die Einwirkung auf einen als Sinnesnerven localisirten Ner-
ven auf denselben beschränkt bleibt, während ein in einem Ge-
fühlsnerven erregtes Gefühl weit über den Leib ausstrahlt. Ist
irgend ein Punkt des Leibes verletzt, so dehnt sich das schmerz-
hafte Gefühl weit über die verletzte Stelle aus; die schmerzende
Gegend ist ungleich größer, als die Wunde. Der Sehnerv aber
z. B. theilt seine Lichterregung keinem andern Nerven mit; und
betasten wir mit der Fingerspitze die beiden Spitzen eines Zir-
kels, so können diese letztern sehr nahe an einander stehen, und
die Empfindung wird sie doch als zwei Spitzen von einander
unterscheiden, weil jede Spitze besonders von einem Tastorgan
empfunden wird, und die Empfindung des einen Organs nicht
auf das andere ausstrahlt und übergeht, sondern die Empfindung
jedes kleinen Organs auf sich beschränkt bleibt.
Mit dieser räumlichen, physiologischen Begrenzung der Em-
pfindung ist nun die innere Begrenzung des seelischen Empfin-
dungsinhaltes gegeben. Auf eine so bestimmt begrenzte Einwir-
kung von außen auf die Seele, wie sie in der Sinnesempfindung
vorliegt, antwortet die Seele in einer eben so begrenzten und
bestimmten Weise, und das liefert den specifischen Inhalt der
Empfindung, eine Farbe, einen Geschmack u. s. w. Die Seele
setzt nicht mehr, wie im Gefühle, dem Eindrucke von außen
ihr ganzes ungetheiltes Dasein entgegen, sondern nur eine be-
stimmte Seite desselben, eine bestimmte Weise ihrer reagiren-
den Thätigkeit. Es ist ein ganz isolirter Punkt des Leibes, von
dem aus sie erregt wird: also antwortet sie auch mit einem
ganz isolirten seelischen Erzeugnisse. Auf die Dumpfheit und
Verworrenheit des äußern Andranges im Gefühl konnte sie nur
eben so dumpf und verworren erwidern.
Jedoch die bloße Localisirung und Isolirung des äußern
Eindruckes genügt noch nicht, um die volle Bestimmtheit einer
Empfindung zu erklären. Es tritt noch etwas hinzu, was schon
angedeutet ist, die bestimmte Form des Sinnesorgans.
Die volle Scheidung verlangt, um nicht rein negativ, bloße Ab-
sonderung zu bleiben, noch ein positives Princip, die Formung.
Die eigenthümliche Form jedes Sinnesorgans leiht seiner Em-
pfindung einen besondern Inhalt, und diese Form ist es erst,
welche diesen bestimmten Empfindungsinhalt aus der unbestimm-
16
[242] ten Allgemeinheit des Gefühls heraushebt. Die wundervolle Or-
ganisation des Auges und des Ohres bewirkt, daß die zum Ge-
sichts- und Gehörnerven dringenden Eindrücke nicht bloß als
allgemeine dunkle Gefühle wahrgenommen werden, sondern als
bestimmte Empfindungen eine Erkenntniß geben.
Geringere Stärke des sinnlichen Eindruckes und größerer
Widerstand der Seele, und dann ferner eine gewisse Thätigkeit,
weniger Leiden, schon ein Keim der Freiheit der Seele: diese
beiden Punkte hatten wir als die unterscheidenden Merkmale
der Empfindung im Gegensatze zum Gefühl kennen gelernt. So-
eben haben wir nun Localisirung und Formung als die beiden
physiologischen Hülfsmittel erkannt, welche der Seele zur Her-
ausarbeitung der Empfindung aus dem Gefühle dienlich sind.
Die Beziehung nämlich dieser Mittel zu jenen Unterschieden
leuchtet wohl bald ein. Die Localisirung des Organs bedeutet
eine Beschränkung des Angriffspunktes. In dem Gefühle tappt
die Außenwelt geradezu nach dem Leibe und faßt ihn blind-
lings, wie es kommt; in der Empfindung faßt sie ihn an einer
bestimmten isolirten Stelle, die als besondere Handhabe dazu
geformt ist; und sie faßt ihn hier nur mit einem ihrer Ele-
mente, für welches gerade diese Handhabe geeignet ist. Der
äußere Andrang ist folglich viel schwächer; der Leib ist in der
Empfindung weniger ergriffen, als im Gefühl; er ist der Außen-
welt gegenüber freier, selbständiger, weil diese keine Gelegen-
heit hat, ihre volle Macht zu entfalten, und er derselben nur
einen beschränkten Angriffspunkt darbietet.
Noch wichtiger aber ist das andere Moment, die Form.
Diese bewirkt es, daß die Seele in der Empfindung thätig, ge-
staltend ist, also bis auf einen gewissen Grad schon frei, die
äußere Einwirkung überwindend und in ein ihrem Wesen ange-
hörendes Gebilde umwandelnd. In der Form des Organs liegt
das Mittel, wodurch die Herrschaft über den Andrang der Ele-
mente gewonnen wird. Denn die Form bestimmt durch sich
und sich gemäß das Element, welches eindringen soll, und den
Eindruck des Elementes schon im voraus. Die Form des Au-
ges, des Ohres, des Geruchs-Organes hält von dem empfinden-
den Nerven alle fremdartigen, diesen Sinnen unangemessenen
Eindrücke ab, und gestattet selbst den Elementen, für welche
der Sinn organisirt ist, nur dergestalt den Zutritt, wie es für
die Empfindung am vortheilhaftesten ist, die Berührung des Ner-
[243] ven mit dem Elemente bald abschwächend, bald verstärkend.
Um zu sehen, wie sicher und fest diese Vorausbestimmung ist,
welche der Eindruck des Elements auf das Organ durch die
Form des Organs erfährt, braucht man sich nur daran zu erin-
nern, daß der Gesichts- und Gehörsnerv nicht bloß durch Licht-
und Tonwellen zur Erzeugung von Licht- und Tonerscheinun-
gen veranlaßt werden, sondern auch durch jeden mechanischen
Stoß und Druck z. B., auch durch den elektrischen Schlag. Es
ist bekannt, daß jeder Druck auf den Sehnerven die subjective
Empfindung des Glanzes erzeugt. Bei solchem Leuchten ist
freilich das Auge nicht im Stande objectiv Dinge zu sehen, ei-
nen äußern Gegenstand wahrzunehmen, was doch das Wesent-
liche der Gesichtsempfindung ist; aber jenes subjective Sehen,
das innerliche Leuchten des Auges beweist, daß das Sehen nicht
bloß vom Elemente des Lichts abhängt, sondern durch die Ver-
einigung der Kraft des Auges, wie sie durch die Organisation
desselben bestimmt ist, mit dem Elemente hervorgebracht wird.
Der Leib verfügt also in der Empfindung vermöge der Or-
ganisation der Sinne über den Eindruck von außen; er ist mit-
hin bis auf einen gewissen Punkt frei. Er bestimmt das Ele-
ment, welches er zulassen, und die Weise, wie er es zulassen
will, damit es der Empfindung angemessen wirke. Was wir
nun hier den in der Empfindung frei gewordenen Leib nennen,
das ist vielmehr der in den Dienst der erkennenden Seele ge-
tretene Leib.
Wir haben aber den wichtigsten Punkt noch nicht erklärt,
daß sich nämlich die Seele mit ihrem Leibe der Außenwelt
gegenüberstellt, oder daß sie einen Gegenstand sich gegenüber-
setzt. Im Gefühle geschieht dies nicht; es ist eine Vereinigung
des Leibes mit dem Aeußern, wobei dieses in jenen eindringt,
eine Vereinigung beider, wobei die Selbständigkeit des Leibes,
selbst der niedrigste Begriff, die inhaltsloseste Form der Selbst-
ständigkeit, die Getrenntheit, aufgehoben wird. Im Gefühle
kann also die Frage nach der Ursache desselben gar nicht auf-
kommen; es giebt hier noch gar keine Unterscheidung eines
Bewirkten von einer Ursache, weil noch nicht einmal das Aeu-
ßere vom Leibe und der Seele abgesondert, ferngerückt ist.
Das Gefühl ist im Körper dauernd, noch nach der Einwirkung
von außen, und der Körper trägt es mit sich herum, wenn er
sich bewegt, ohne davon loszukommen. Das Gefühl gehört zum
16*
[244] Körper, macht gewissermaßen einen Bestandtheil desselben aus
und ist nicht ablösbar von ihm. Wie sollte also im Gefühl die
Seele veranlaßt werden, über den Körper in irgend einer Weise
hinauszugehen? Das Gefühl beschäftigt die Seele völlig, nimmt
sie ganz in Anspruch, hält sie gefangen; wie könnte sie vom
Körper absehen? — Ganz anders in der Empfindung. Diese
haftet nur am Körper, wie sie nur durch eine Berührung des
Organs mit dem Elemente erzeugt ist. Sie geht schnell vor-
über, sobald die äußere Erregung vorüber ist. Sie geht vor-
über, sobald sich der Körper von dem erregenden Elemente ab-
wendet; sie wird stärker und schwächer, je nachdem sich der
Leib dem Elemente mehr nähert, oder von ihm entfernt. Dabei
ist Leib und Seele von der Empfindung weniger ergriffen, und
die Seele bleibt ihrer mächtig. Man sieht also z. B. in diesem
Augenblicke die blaue Farbe; man wendet den Kopf und sieht
die grüne Farbe. Jetzt verschiebt sich aber das Ding und man
sieht wieder Blau. Man hört einen Ton, man hört ihn stärker
oder schwächer, je nachdem man das Ohr nähert oder entfernt.
Das Tönen hört auf, und man vernimmt nichts mehr, obgleich
der Körper sich nicht verändert hat; das Tönen dauert fort,
aber man entfernt sich und hört immer schwächer und schwä-
cher und endlich gar nicht mehr. Oder man hört zunächst
nichts, bleibt ruhig und hört nun plötzlich; man schreitet vor
und hört immer stärker, bis man der tönenden Ursache ganz
nahe ist; oder man ruht und hört dennoch stärker, weil die tö-
nende Ursache sich nähert. Solche Erscheinungen, die sich in
Fülle, jeden Augenblick darbieten, sind wohl im Stande, Auf-
merksamkeit zu erwecken. Die Seele merkt, daß die Empfin-
dung nicht im Zusammenhange stehen kann mit den Bewegun-
gen des eigenen Leibes, welche sie selbst leitet; daß sie ihr
zukommt ohne Bewegung des Leibes, und trotz derselben; daß
sie also nicht im Leibe ist, sondern ihr durch Bewegung von
außen zukommt; und so verlegt sie die Empfindung außer sich
und scheidet sich von ihr als dem Dinge, welches ihr etwas an-
thut, oder scheidet sich, zunächst wenigstens, von der Empfin-
dung als etwas Aeußerm, welches ihr angethan oder gegeben
wird, das sie nehmen kann. Man greift einen Gegenstand und
fühlt seine Glätte oder Rauhheit, man empfindet einen harten oder
weichen Stoff; man läßt ihn fallen, und die Empfindung ist
vorüber. Die Tastempfindung, schließt jetzt die Seele, freilich
[245] unbewußt, gehört also nicht der Hand; sondern kommt der
Hand von etwas Aeußerm zu, das sie nun wieder erfaßt, wo-
durch sie die gehabte Empfindung erneuert. In der Empfindung
also experimentirt die Seele, nach Zufall, absichtslos und unbe-
wußt; aber das Ergebniß ist das erwachende Bewußtsein von
einer Außenwelt*), oder genauer eine gewußte Außenwelt. Denn
noch weiß die Seele nichts von sich, nichts von einem Gegen-
satze ihrer selbst zur Außenwelt; sie weiß nur Aeußeres. Im
Gefühl aber wußte sie gar nichts. Die Empfindung ist also
das erste Wissen oder Erkennen, und dieses ist ein Wissen von
Aeußerm; d. h. thatsächlich ist es ein solches Wissen eines
Aeußern, obwohl die Seele noch nicht weiß, daß sie dem Aeu-
ßern als Inneres gegenübersteht. So viel über Gefühl und Em-
pfindung. Verfolgen wir jetzt die Bildung der Seele weiter.
Es ist eine wahre Schöpfungsgeschichte, durch welche wir
die Seele zu begleiten hätten. Das Erwachen der Empfindung
aus dem Gefühl ist ein wahres: und es ward Licht.
Das Gefühl ist gegeben; empfinden aber muß man lernen.
Hieran knüpfen sich sehr schwierige psychologische Aufgaben.
Es ist bekannt z. B., daß man eigentlich nur Flächen sieht;
Körper sehen nach ihren drei Ausdehnungen, Raumverhältnisse
erkennen, sich an seinem eigenen Leibe zurechtfinden, das muß
erst gelernt werden.
Denken wir uns nun den empfindenden Menschen. Von
allen Seiten strömen die Empfindungen gleichzeitig durch alle
Sinne auf ihn ein; er wird von ihnen überfluthet; und so findet
er sich jetzt erst recht in einem Chaos, worin nichts unterschie-
den ist. Die Empfindungen, obwohl sie durch besondere Pfor-
ten in die Seele treten, schmelzen in der Seele, diesem einheit-
lichen Wesen, zusammen; und noch ist keine Vorstellung von
einem besondern Dinge da. Wie der Fortschritt der Empfin-
dung gegen das Gefühl in der Scheidung bestand, so muß nun
auch weiter in dem Meere der Empfindungen unterschieden wer-
den, damit abgesonderte Gebilde und Gestaltungen hervortreten.
Dies geschieht nun hier abermals zunächst durch körperliche
Sonderung und Bewegung.
Die ganze Umgebung des Empfindenden schmilzt zu einer
[246] Einheit zusammen. Von diesem allgemeinen Hintergrunde he-
ben sich zuerst die lebenden Wesen hervor, die sich unaufhör-
lich im Raume hin und her bewegen und dadurch von allem,
was nicht zu ihnen gehört, ablösen. Das Kind sieht Personen
und Thiere gehen und kommen; es selbst geht aus den Armen
des Einen in die des Andern über. So lernt es jene als beson-
dere Einheiten von allem Uebrigen abscheiden. — Die Dinge
werden hin und her gerückt; Tische und Stühle stehen bald
dort, bald hier. Auf dem Tische steht bald dies, bald jenes,
bald gar nichts. Das Kind sieht die Dinge bald liegend, bald
weggenommen und bald wieder hingelegt, und nimmt sie selbst in
die Hand. So zerreißt also die Einheit des durch die Empfin-
dung Wahrgenommenen in so viele Stücke, als die Wirklichkeit
selbst sich auflöst. So bekommt das Kind Anschauungen
von Dingen. Sieht es dann auch noch den Tisch aus einan-
der gelegt, die Decke abgenommen, die Füße losgelöst: so zer-
legt sich die Anschauung des Tisches von neuem in eben so
viele und eben solche Anschauungen, als der Tisch in Theile
zerlegt ist, und es erhält zugleich die Anschauung der Thätig-
keiten des Auseinandernehmens und Zusammensetzens. Soviel
lernt ein Kind im ersten und zweiten Jahre, und so stehen wir
hier schon an der Schwelle der Sprache.
Die Sprache ist aber nicht reine geistige Thätigkeit, son-
dern zugleich eine leibliche, und zwar so, daß leibliche und
geistige Thätigkeit eng an einander geknüpft sind. Es ist da-
her nöthig, über den Zusammenhang zwischen Seele und Leib
einige für die Sprachschöpfung wichtige Punkte vorauszuschicken.
Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Thatsachen, die für un-
sern Zweck Interesse haben. Wir entlehnen sie dem berühm-
ten Werke J. Müllers: Handbuch der Physiologie des Men-
schen. Worauf es uns hier ankommt, das sind die Erscheinun-
gen, welche man als Association und Reflexion von Vor-
stellung oder Empfindung und Bewegung bezeichnet hat.
§. 87. Reflexion und Association von Seelenthätigkeit und Körper-
bewegung.
Mit dem Namen Association bezeichnet man die Erschei-
nung, daß etwas Empfundenes oder Gefühltes oder Gedachtes,
welches mit einem andern Seelenerzeugnisse in irgend eine Ver-
bindung gesetzt war (weil sie gleichzeitig oder dicht nach ein-
ander statthatten, oder weil beide eine gewisse Aehnlichkeit oder
[247] eine andere äußere oder innere Beziehung zeigen), durch seine
Reproduction bewirkt, daß auch das andere zugleich mit repro-
ducirt wird; oder daß eine Bewegung zugleich noch eine an-
dere erzeugt, sei es aus Ungeschicklichkeit oder Gewohnheit;
oder daß ein Gedachtes und eine Bewegung sich gegenseitig
hervorrufen, und zwar ohne Willen und bewußte Absicht. Un-
ter Reflexion versteht man die Erscheinung, daß eine Ner-
venerregung, die zum Gehirn oder Rückenmark geleitet worden
ist, daselbst nicht endet, sondern von da aus auf andere Nerven
übergeht. Reflexion ist also z. B. die Uebertragung der Erre-
gung eines Empfindungsnerven vermittelst des Gehirns auf ei-
nen Bewegungsnerven. Sie thut sich dadurch kund, daß auf
gewisse Empfindungen oder Bewegungen nach dem Gesetze der
Nervenmechanik unausbleiblich noch eine andere Bewegung er-
folgt. Diese Uebertragung geschieht allemal ohne Absicht, oft
gegen die Absicht, nach bloßen Naturgesetzen. Die Associa-
tion der Bewegung sowohl mit andern Bewegungen, als mit Vor-
stellungen mag von der Uebertragung nicht immer bestimmt zu
unterscheiden sein. Im Allgemeinen aber wird es genügen zu
bemerken, daß die Association ursprünglich zwar ebenfalls be-
wußtlos geschieht, aber durch Absicht eben so wohl entwickelt,
als auch aufgehoben werden kann; daß sie nicht unvermeidlich
ist, sondern durch Zufall und Absicht erzeugt und gestört wer-
den kann. Associationen sind oft nur übele Angewohnheiten,
welche bei höherer Bildung nicht vorkommen. Leute, deren
Hand leichter den Pflug und ein Gespann, als die Feder regiert,
verzerren beim Schreiben das Gesicht gar wunderlich. Ueber-
haupt bewegt der Ungebildete immer Massen von Nerven oder
Gliedern, während der Gebildete gelernt hat, nur das jedesmal
nothwendige Glied zu bewegen. Die Associationen sind theils
nützlich und zweckmäßig, theils unnütz und zweckwidrig; er-
stere hat man sich anzueignen, von letztern sich loszumachen.
Das Klavierspiel und jedes geschickt geübte Handwerk liefert
Beispiele von abgewöhnter und angelernter Association, von iso-
lirter und combinirter Seelenerregung, die zur zweiten Natur
geworden sind. Die Uebertragung dagegen, die weder gelernt,
noch abgewöhnt wird, scheint auch immer zweckmäßig zu sein,
selbst in den Fällen, wo sie unnütz erscheint, weil eine zu große
fremde Gewalt den Zweck nicht erreichen läßt. Soviel im All-
gemeinen. Nun einiges Nähere, wobei uns besonders die Ver-
[248] bindung und Uebertragung eines Gedachten, Vorgestellten mit
und auf eine Bewegung von Wichtigkeit ist. Müller (a. a. O.
II, S. 89.) sagt hierüber:
„Gewisse Gruppen der Muskeln des animalischen Systems
sind beständig in einer Disposition zu unwillkürlichen Bewegun-
gen wegen der Leichtigkeit der Affection ihrer Nerven, oder
vielmehr der Reizbarkeit der Hirntheile, von welchen sie ent-
springen. In diesem Falle befinden sich alle respiratorischen
Nerven, den Nervus facialis eingeschlossen … Die Zustände
der Seele können die Entladung des Nervenprincips nach den
Athemmuskeln bedingen. Jeder schnelle Uebergang in den Zu-
ständen der Seele ist im Stande eine Entladung nach diesen
Nerven von der Medulla oblongata aus zu bewirken. Das Sen-
sorium wirkt hier gerade so, wie der einzelne Nerv, in dem
jede schnelle Veränderung seines Zustandes, auf was immer für
eine Art, das Nervenprincip in Thätigkeit setzt. Hiernach ist
es zu beurtheilen, daß selbst ohne alle Leidenschaft ein so schnel-
ler Uebergang der Vorstellungen, wie er bei dem Eindruck des
Lächerlichen stattfindet, jene Entladung bewirkt, die sich dann
in den Gesichtsmuskeln und Athemmuskeln äußert. — Hierher
gehört auch das Gähnen, insofern es durch die Vorstellung des
Gähnens oder durch das Hören oder Sehen des Gähnens ver-
anlaßt werden kann. Die Disposition zu den respiratorischen
und Gesichtsbewegungen des Gähnens ist nämlich dann schon
vorher da gewesen; sie tritt in Erscheinung, indem durch die
Vorstellung die Bewegung des Nervenprincips die bestimmte Di-
rection erhält. Auch bei dieser Bewegung wirken die Respira-
tionsnerven und der N. facialis.... Plötzlich hervorgerufene Vor-
stellungen von furchtbaren oder verabscheuungswürdigen Gegen-
ständen erregen, auch wenn sie durch bloße erdichtete Erzäh-
lungen hervorgerufen werden, bei reizbaren Menschen zuweilen
die Muskelbewegung des Schauders, und dasselbe geschieht zu-
weilen bei der bloßen Vorstellung eines ekelhaften Arzneistoffes;
ja die Vorstellung eines ekelhaften Geschmackes kann sogar Vo-
miturition hervorbringen.“
Wir sehen also hier ein Doppeltes oder Dreifaches. Vor-
stellungen einer Bewegung erzeugen absichtslos die wirkliche
Ausführung der vorgestellten Bewegung; sie erzeugen ferner die
Gefühle, welche das wirkliche Vorhandensein des vorgestellten
Dinges oder Vorganges erzeugen würde, und diese bloß durch
[249] Vorstellungen verursachten Gefühle erzeugen, wie die auf die
Wirklichkeit begründeten Gefühle, neue Bewegungen. Für alles
dies finden sich in dem genannten Werke noch viele lehrreiche
Beispiele und Betrachtungen, von denen wir noch einiges mit-
theilen.
Zuschauer beim Fechten begleiten die Streiche mit leisen
unwillkürlichen Bewegungen ihres Körpers. Ferner: „Che-
vreul hat die Tendenz zu Bewegung, die durch Vorstellung
von Bewegungen entsteht, aufgeklärt und an einem verwickelten
Fall, nämlich an den Schwingungen eines mit der Hand gehal-
tenen Pendels erläutert. Die Bewegung des Pendels bei schein-
bar unbewegtem Arme wird nämlich nach seinen Untersuchun-
gen durch eine unbewußte leichte Muskelbewegung ausgeführt,
in die man unwillkürlich geräth, wenn man, indem man das
Pendel hält, zugleich darauf sieht, die aber bei verbundenen
Augen wegfällt“.
An einer andern Stelle heißt es (I, S. 729): „Ist auch ein
Empfindungsnerv“ (hier wird der von uns oben gemachte Un-
terschied zwischen Gefühl und Empfindung nicht beachtet; letz-
teres Wort bedeutet hier beides) „für gewöhnlich nicht im Stande,
eine reflectirte Bewegung hervorzurufen, so tritt sie doch bei
einiger Heftigkeit der Empfindung sogleich auf, und das Rücken-
mark und Gehirn reflectiren dann die von Seiten der Empfin-
dungsnerven erhaltene Strömung oder Schwingung in diejenigen
motorischen Nerven, zu welchen die Leitung von jenen Empfin-
dungsnerven durch die Fasern des Gehirns und Rückenmarkes
am leichtesten ist“. Und schon vorher hieß es (S. 728): „Die
großen Sinnesnerven sind vorzüglich geneigt, reflectirte Bewe-
gungen der motorischen Gehirnnerven zu verursachen, und na-
mentlich der N. opticus und acusticus; beide bewirken bei grel-
lem Lichte und starkem Schall eine reflectirte Erregung des N.
facialis und dadurch Schließen oder Blinzeln der Augenlider“.
II. S. 562 ff. ist ausführlich die Rede von den „Wirkungen
der Vorstellungen und Strebungen auf den Organismus“, „welche
an das Wunderbare grenzen“. Wir entnehmen von dem dort
Gesagten nur Folgendes. Die Vorstellungen erregen die Sinne,
so daß man glaubt zu sehen, was man nur vorstellt: dies sind
die Phantasmen und Hallucinationen. Ferner (S. 561): „Bei
Vorstellungen von Zuständen, die durch ein bestimmtes Organ
ausgeführt werden, entsteht ein Strom nach diesem Organ, sei
[250] es ein Muskel oder eine Drüse“. So läuft das Wasser im
Munde zusammen bei der Vorstellung einer angenehm schme-
ckenden Speise. Lüsterne Gedanken erregen die Geschlechts-
theile.
„Die Wirkung einer Vorstellung auf Bewegung erfolgt noch
leichter, als auf die Sinne. 1) Der Entschluß zu einer Bewe-
gung setzt die ihr entsprechenden Hirnfasern in Thätigkeit, und
sie wird ausgeführt, in wie weit es durch das System der Cere-
bro-Spinalnerven geschehen kann“ (dies sind nämlich die Ner-
ven der willkürlichen Bewegung). „2) Die Vorstellung einer
Bewegung bewirkt einen Strom nach dem Organ der Bewegung,
und führt sie ohne Willen aus. Dies ist hier ganz dasselbe, als
die Ausführung einer Vorstellung in der räumlichen Ausdehnung
des Sinnesorgans. Dahin gehören die ohne den Willen nach-
geahmten Bewegungen des Gähnens, Lachens, Seufzens, der
Krämpfe beim Sehen derselben. Die mimischen Bewegungen
sind gemischte Erscheinungen, bei denen willkürliche Darstel-
lungen mit einlaufen. 3) Plötzliche, ganz leidenschaftslose Ver-
änderungen der Vorstellungen, welche vollkommen objective Ver-
hältnisse betreffen, können unwillkürliche Bewegungen hervor-
rufen, wie die Bewegung des Lachens. Dahin gehört der plötz-
liche Widerspruch zweier Vorstellungen oder die überraschende
Auflösung eines Widerspruchs“.
Die Association der Bewegung und Vorstellung scheint, wie
schon bemerkt, nicht immer bestimmt von der Reflexion getrennt
werden zu können; die Association beruht vielleicht auf einer
ursprünglich schwachen Reflexion, die aber theils aufgehoben,
theils durch häufiges Eintreten verstärkt wird. Müller sagt (II,
S. 104): „Die Verkettung der Vorstellungen und Bewegungen
kann so innig werden, wie die der Vorstellungen unter sich, und
hier ist es in der That der Fall, daß, wenn eine Vorstellung
und Bewegung oft verbunden gewesen sind, die letztere sich
oft unwillkürlich zu der erstern gesellt. Durch diese Verkettung
geschieht, daß wir bei einer drohenden Bewegung vor den Au-
gen, selbst beim Herabfahren der Hand eines Andern vor unsern
Augen, unwillkürlich die Augen schließen; daß wir uns ange-
wöhnen, gewisse Vorstellungen nicht ohne gewisse Gesticulation
auszusprechen; daß wir unwillkürlich nach einem uns entfallen-
den Körper mit den Händen hinfahren; überhaupt je häufiger
Vorstellungen und Bewegungen willkürlich zusammen vorkom-
[251] men, um so leichter werden letztere bei dem Anlaß der erstern
mehr durch Vorstellung, als durch Willen bestimmt oder dem
Einflusse des Willens entzogen … Die Verkettung der Vorstel-
lungen und Bewegungen scheint darauf hinzudeuten, daß bei
jeder Vorstellung eine Bewegungstendenz im oder nach dem Ap-
parate ihrer Darstellung durch Bewegung entsteht, eine Tendenz
zu Bewegungen, die durch Uebung und Gewöhnung einen sol-
chen Grad der Leichtigkeit erhält, daß die in gewöhnlichen
Fällen bloße Disposition jedesmal in Action tritt.“ In den zu-
letzt angeführten Fällen ist jedoch das Verhältniß noch ein an-
deres, als beim Gähnen und Nachahmen des Fechtens; denn
man ahmt nicht die gesehene Bewegung vor dem Auge nach,
eben so wenig wie das Fallen eines Dinges; sondern man thut
etwas ganz anderes, was an sich mit dem Anblick jener Bewe-
gung nicht im Zusammenhange steht. Offenbar schiebt sich
hier zwischen den Anblick und die danach ausgeführte Bewe-
gung ein Gedanke ein, nämlich der Gedanke des Unheils, wenn
die gesehene Bewegung uns träfe, und dann noch ein neuer Ge-
danke, nämlich an das Mittel, das vor der drohenden Gefahr
schützen könnte. Wir sehen also hier eine Vergesellschaftung
dreier Vorstellungen, deren letzte zur Bewegung wird. Die Be-
wegung schließt sich nicht unmittelbar an eine Wahrnehmung,
sondern erst vermittelst einer Reihe von Gedanken, die aber
durchaus unentwickelt bleibt und gar nicht in das Bewußtsein
tritt. Eben so sahen wir oben eine Bewegung sich verbinden
mit einer Wahrnehmung vermittelst des Gefühls. Denn die Vor-
stellung eines ekelhaften Gegenstandes erregt zunächst das Ge-
fühl des Ekels und dann die Bewegung des Erbrechens.
Was lehrt uns denn nun alles dies? die Entstehung der
Sprache? Keineswegs. Die Verknüpfung einer Vorstellung mit
einem articulirten Lautgebilde, also mit einer vielfach zusammen-
gesetzten Bewegung der Lautorgane, ist durch die dargestellte
Verknüpfung der Vorstellung einer Bewegung mit dem Streben,
diese Bewegung auszuführen, keineswegs gleichartig. Die Vor-
stellung schlagen mag auf die Nerven wirken, welche den Arm
heben, die Faust ballen; aber wirkt sie auf die Sprachorgane
zur Hervorbringung des Lautes schlagen? Das sind noch zwei
sehr verschiedene Wirkungen.
Wir haben indeß doch etwas kennen gelernt: nämlich die
Verbindung des Gefühls, der Empfindung, der theoretischen See-
[252] lenthätigkeit überhaupt mit Bewegungen; und eine solche Ver-
bindung liegt unläugbar in der Sprache vor. Wir haben also die
Gattung oder Classe kennen gelernt, zu der die Sprache als eine
ganz besondere Art gehört. Fahren wir also nur fort, jene all-
gemeine Verbindung von theoretischer und practischer Thätig-
keit der Seele näher zu betrachten, in ihr Unterabtheilungen und
Arten zu unterscheiden. Wir müssen durch immer mehr hinzu-
gefügte Bestimmungen endlich die Art finden, die wir suchen.
Unter den angeführten Beispielen können wir schon leicht
zwei Classen scheiden. Das Nachahmen der Fechtbewegungen,
überhaupt das Ausführen einer Vorstellung ist leicht als verschie-
den zu erkennen von dem Erbrechen auf eine ekelhafte Vorstel-
lung, vom Lachen auf Kitzel oder einen unerwarteten Gedan-
ken, vom Weinen und Schluchzen oder Aechzen auf körperlichen
Schmerz oder eine Trauer erregende Vorstellung. Denn in die-
sen letztern Fällen wird etwas ganz anderes ausgeführt, als was
in der Vorstellung liegt, und Bewegung und Vorstellung stehen
hier in gar keinem erkennbaren Zusammenhange. Das Gähnen,
wenn es durch den Anblick eines Gähnenden entsteht, gehört
zur ersten Classe; das ursprüngliche Gähnen als Erfolg der Lan-
genweile gehört zur zweiten. Das Lachen gehört ebenfalls zu
beiden Classen; denn es entsteht nicht bloß durch Kitzel und
Anblick oder Vorstellung des Lächerlichen, als zur zweiten Classe
gehörig, sondern auch durch Nachahmung des Lachenden, also
als Ausführung der Vorstellung des Lachens, und selbst durch
den Gedanken des Nicht-Lachens. Man denke an das Spiel
der Kinder, die sich ernsthaft ins Gesicht sehen und in Lachen
ausbrechen, gerade weil sie den Gedanken, die Absicht des Nicht-
Lachens haben.
Die Sprache gehört offenbar in die zweite der beiden obi-
gen Classen, wenigstens nach dem, was wir bis jetzt von der
Sprache wissen. Ob und inwiefern wir bei näherer Kenntniß
des Wesens der Sprache ihre Stellung anders bestimmen, wird
sich später zeigen. Für jetzt genügt uns hier die Bemerkung:
die Sprache, als Verbindung von Vorstellung und Laut, hat mit
den Erscheinungen der zweiten Classe nicht bloß die Aehnlich-
keit, daß die mit der Vorstellung oder Empfindung verbundene
Bewegung durchaus keine Analogie, keinen Zusammenhang mit
der Vorstellung oder Empfindung zeigt, auf welche sie erfolgt;
sondern die Sprache zeigt mit jenen Erscheinungen auch noch
[253] die nähere Verwandtschaft, daß sie ebenso, wie die andern Be-
wegungen dieser Classe, eine Athembewegung ist. Denn die
Erzeugung der Sprachlaute, wie das Lachen, Gähnen, Niesen,
Aechzen, Stöhnen sind nichts als ein eigenthümlich abgeänder-
tes Athmen, welches im ruhigen, leidenschafts- und affectlosen
Zustande des Menschen unhörbar, tonlos, vorgeht, durch leiden-
schaftliche Erregungen und Affecte aber gestört, gehemmt, tö-
nend wirkt und hörbar wird. Tönen und Hörbarkeit könnte
also als dritte Aehnlichkeit der Sprache mit den Erscheinungen
der obigen zweiten Classe gelten. Die Verwandtschaft der Spra-
che mit den letztern ist also wohl klar und sicher. In der er-
sten Classe treten wohl auch Athembewegungen auf, aber eben
nur unter unzähligen andern Bewegungen. Das Athmen ist hier
nicht das Charakteristische. Weil gerade eine Athembewegung
vorgestellt, gesehen wird, wird sie ausgeführt, wie es jeder an-
dern eben so hätte widerfahren können; und der Zusammenhang
mit der Vorstellung ist klar. — Bei den Erscheinungen der zwei-
ten Classe bleibt es zwar nicht immer bei einer bloßen Athembe-
wegung; sondern es verknüpft sich mit ihr noch manche andere
Bewegung. Wenn ein Stein vom Dache vor uns niederfällt, wenn
wir plötzlich einen Lärm hören, so fahren wir erschrocken zu-
sammen, indem wir ein he! ausstoßen. Aber die Sprache wird
ja gerade ebenso von mancherlei Gesticulationsbewegungen be-
gleitet! Und so finden wir hier in einer scheinbaren Unähnlich-
keit eine neue Aehnlichkeit.
Wird uns nun die reflectirte Athembewegung besonders wich-
tig, so wollen wir sie uns auch noch vollständiger zu vergegen-
wärtigen suchen. Kempelen (Le Mécanisme de la parole,
Vienne 1791) sagt §. 32: „Nous savons que tous les mouvemens
violens et les efforts du corps humain causent des variations dans
la respiration, la ralentissent ou l’accêlèrent et l’interrompent
même quelques fois entièrement pendant quelque temps. Mais aussi
les plus legers mouvemens donnent lieu à des variations de cette
nature. Il suffit par exemple de tourner seulement les yeux sur
un autre objet, de porter la main sur une autre chose, pour trou-
bler une respiration régulièrement périodique. — §. 33. Les chan-
gemens que subit notre ame influent aussi sur la respiration.
Le saisissement, la peur, la colère, la pitié, la joie, l’amour, tout
cela fait une impression sur nos poumons, comme sur le coeur.
Mais ce ne sont pas les mouvemens et les passions violentes de
[254] l’ame qui seules font cet effet; les plus petites bagatelles occa-
sionnent à proportion les mêmes changemens. Lorsque l’esprit
fixe son attention sur le plus petit objet, comme sur un grain
de sable, la respiration s’arrête quelquefois entièrement, pour ne
pas occasioner le moindre mouvement du corps qui pourrait af-
faiblir l’application de nos sens .... On pourrait à-peu-près
deviner, en faisant seulement attention à la respiration d’une
personne sans qu’elle dise un mot, la situation de son esprit, si
elle est tranquille, inquiète, contente ou irritée. Nous observons
souvent dans des personnes qui se trouvent dans le plus parfait
repos de l’ame, un changement subit et nous pourrons souvent
déterminer le moment, où une idée est suivie d’une autre. Cela
s’observe non seulement lorsque la nouvelle idée est triste ou
désagréable, mais même lorsqu’elle est absolument indifférente.
L’esprit suivant son chemin uniforme, est arrêté momentanément
et doit prendre une autre tournure; pour cela il a besoin de
nouvelles forces qu’il trouve dans l’air frais respiré en abon-
dance.“
Hören wir nun noch, wie einer der besten Denker unserer
Zeit, Lotze, den Einfluß der Reflexbewegung auf die Entwi-
ckelung der Seele, überhaupt die Zweckmäßigkeit dieser physio-
logischen Einrichtung des Leibes darlegt (Medicinische Psycho-
logie S. 289 ff.): „Unbekannt mit der Structur und den Kräften
ihres Körpers, würde die Seele nie errathen, daß ihre Glieder
zur Bewegung bestimmt sind, und nie sie in Bewegung zu setzen
lernen, wenn nicht unabhängig von ihr in dem Körper selbst
Motive zur Vollziehung von Bewegungen lägen, deren spontan
erfolgende Wirkung sie beides „(Bewegung und Wirkung)“ lehrt.
So lange ein thierischer Körper lebt, müssen wir uns in seinen
motorischen Nerven und in ihren Centralorganen einen geringen
Grad der Thätigkeit beständig fortgehend denken, durch wel-
chen die elastische Haltung auch des ruhig und tief schlafenden
sich noch sehr von der Erschlaffung des todten Körpers unter-
scheidet. Wirkten keine äußern Reize ein, welche bestimmte
Bewegungen zu erzeugen geeignet wären, so würde vielleicht
die Reizlosigkeit der Nerven selbst ihre Erregbarkeit so wach-
sen lassen, daß sie unter dem Einfluß der kleinen Anstöße, die
ihnen der fortgehende Stoffwechsel immer zuführt, zu ungeord-
neten Bewegungen ausbrechen müßten. Aber die Geburt eines
Thieres führt ohnedies einen so großen Wechsel der äußern
[255] Umstände mit sich, daß alle Nerven des Körpers und mit ihnen
die Centralorgane eine bedeutende Veränderung ihres Erregungs-
zustandes erfahren müssen; eine Mannigfaltigkeit von Bewegun-
gen begleitet daher ebenso wie mancherlei Gefühle der Unlust,
die ersten Lebensaugenblicke unvermeidlich. Doch die Seele
würde bei der Ueberzahl der gleichzeitigen Eindrücke, die hier
auf sie einstürmen, und bei der Stumpfheit ihrer ungeübten Wahr-
nehmungskraft wenig Nutzen von ihnen ziehen, wenn nicht auch
späterhin die Bewegungen der Glieder noch häufig auf diesem
mechanischen Wege durch das periodische Wachsen der physi-
schen Nervenerregungen sich wiederholten. Und da diese Be-
wegungen von den Centraltheilen ausgehen, in denen die Nerven
so verflochten sind, daß ein einzelner Anstoß sie gruppenweis
in zweckmäßiger Verbindung anregt, so wird dieser physiologi-
sche Mechanismus jedem Thiere die seiner Gattung eigenthüm-
lichen Bewegungen öfter wieder vorführen, ehe es lernt, sie für
seine Zwecke zu benutzen.... Dieselben Bewegungen, die wir
durch innere Erregung der Centralorgane zwecklos und ohne
Bezug auf äußere Objecte entstehen sahen, werden jedoch auch
auf demselben automatischen Wege durch äußere Reize erweckt.
Sensible Nerven leiten ihre Erschütterung bis zu den Central-
organen; dort kann der Strom der Erregung sich in zwei Arme
theilen, deren einer zu dem Sitze der Seele dringend, in ihr eine
Empfindung des Reizes erweckt, während der andere unmittel-
bar auf die motorischen Organe fortwirkend, in ihnen mit me-
chanischer Nothwendigkeit eine zweckmäßig gruppirte Bewe-
gung erzeugt.“ (S. 291.) „Diese Reflexbewegungen erscheinen
daher, wie die Buchstaben des Alphabets, als die einfachen Ele-
mente der Zweckmäßigkeit, welche die Natur mechanisch deter-
minirt der Seele zu Gebote stellt, indem sie es ihr überläßt,
unter dem vereinigten Einflusse der Sinnesempfindungen und der
Ueberlegung sie zu hinlänglich feinen und lenksamen Mitteln zu
combiniren, um der unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher Reize
gewachsen zu sein … Nur die Beherrschung eines gegebenen
Mechanismus kann für die Seele von Werth sein; ihn selbst her-
vorzubringen und zu dirigiren, würde nur eine lästige und über-
flüssige Erschwerung ihrer Aufgabe sein … Wie schlecht würde
es um unser Leben stehen, sollte die Ueberlegung es vertheidi-
gen, und nicht der Mechanismus! Man frage Jemand, wie er
es anfangen würde, um fremde Körper aus der Luftröhre zu
[256] entfernen: er wird vielleicht eher auf Tracheotomie rathen, als
auf Husten“ (welches eine mechanische, unwillkürliche und un-
umgängliche Reflexbewegung ist, veranlaßt durch das Gefühl,
den Reiz des fremden Körpers); „und wie würde das Neugebo-
rene zur Nahrungsaufnahme gelangen, wenn es Saug- und Schling-
bewegungen erst zu erfinden hätte?“ (Sobald die hintere Zunge
gereizt wird, entsteht durch dieses Gefühl die Reflexbewegung
des Schlingens; daher muß man einen Bissen oder einen harten
Kern, der zufällig etwas zu weit in den hintern Theil des Mun-
des gerathen ist, gegen den Willen hinunterschlucken). „Miß-
trauisch gegen den Erfindungsgeist der Seele hat vielmehr die
Natur dem Körper diese Bewegungen, als mechanisch vollkom-
men bedingte Wirkungen der Reize mitgegeben. Und auch wo
Bewegungen nach innern Zuständen der Seele erfolgen sollen“
(wie bei der Sprache), „war es zweckmäßig, daß die Natur
nicht die Erfindung des erzeugenden Anstoßes zu ihnen,
sondern nur die eventuelle Verhinderung ihres Entstehens
der Seele überließ“ (also nicht die Erfindung der Sprache, son-
dern das Schweigen), „so daß im Allgemeinen der Naturzustand
darin besteht, daß die Bewegungen unwillkürlich dem Laufe der
innern Zustände folgen, während die Bildung die allzugroße
Leichtigkeit dieses Ueberganges hemmt.“ — Nun noch Folgen-
des zum Schlusse dieses Auszuges: „In den Reflexbewegungen
war eine Mitwirkung der Seele überhaupt nicht nothwendig, ob-
gleich sie nebenbei häufig stattfand, indem nicht nur der veran-
lassende Reiz wahrgenommen, sondern auch die von selbst ent-
stehende Bewegung noch außerdem gewollt werden konnte. In
den physiognomischen oder mimischen Bewegungen sehen
wir andere Beispiele eines solchen Mechanismus, in welchen je-
doch der Anfangspunkt des ganzen Processes ein innerer See-
lenzustand, die bestimmte Art und Größe der Gemüthser-
regung ist. Doch hängen diese Bewegungen weder von unserer
Intelligenz, noch von unserm Willen ab; denn weder wüßten
wir einen Grund, warum Lachen mit Lust, Weinen mit Schmerz
verbunden sein müßte, und nicht umgekehrt, noch vermögen
wir ohne Uebung und gewaltsame Anstrengung die unwillkürli-
che Entstehung der Gebärden zu unterdrücken. Auch sie sind
deshalb Erfolge, welche ein Zug der physischen Organisation
unsern innern Zuständen mit mechanischer Nothwendigkeit zu-
gesellt hat, und ihnen schließt sich die Sprache an, die so
[257] wenig, als der Ausdruck des Gesichtes, eine Erfindung mensch-
lichen Scharfsinnes ist. Jedes unwillkürliche Seufzen, jeder
Schmerzenslaut, so wie der Gesang stimmbegabter Thiere über-
zeugt uns, daß eine physiologische Nothwendigkeit die Erregung
sensibler Nerven und der Centralorgane vorzugsweise auf die Mus-
keln der Respiration und der Stimme überführt, theils um eine
erleichternde Ausgleichung der physischen Nervenerschütterung
zu bewirken, theils um der Seele auch dieses Mittel des Aus-
drucks innerer Zustände vorzuführen und es ihrer ausbildenden
Besitznahme und Verwendung zu übergeben.“
Sobald ich die Erscheinungen der associirten und reflectir-
ten Bewegungen, zunächst in Müllers Vorlesungen, dann in sei-
nem Werke über die Physiologie, kennen lernte, gerieth ich auf
den Gedanken, daß auch die Sprache nur eine weitere und
höchst merkwürdige Ausbildung einer ursprünglich mechanisch
entstandenen Reflexbewegung sei, und bin erfreut, diese Ansicht
schon bei Kempelen, noch mehr aber bei Lotze zu finden, wo-
durch mir die Sache zur Gewißheit wird. Daß die Sprache
eine Erfindung sei, davon kann heute nur noch als von einer
ehemaligen Ansicht geschichtlich geredet werden. Immer aber
blieb doch die Ansicht der Sprachforscher, Humboldts sowohl,
wie der historischen, nur unbestimmt und schwankend. Nicht
Erfindung; aber was denn? das wußte man nicht klar zu sagen.
Jetzt kennen wir die ganze Gattung von Erscheinungen, denen
die Sprache als besondere Art unterzuordnen ist; und ich denke,
die obigen Citate sind allgemein verständlich.
Hiermit ist jedoch erst die Hälfte der Definition gegeben.
Zwischen dem Lachen und allen sonstigen Reflexbewegungen ei-
nerseits und der Sprache andererseits liegt eine große Kluft, die
wir erst noch, so weit es geschehen kann, auszufüllen uns be-
mühen müssen.
Zunächst noch eine anatomisch-physiologische Bemerkung.
Die Sprachbewegungen unterscheiden sich zuerst vom Lachen
und Weinen durch ihre größere Mannigfaltigkeit. Schon die
Interjectionen des Schmerzes und der Freude sind mannigfalti-
ger, als Lachen und Weinen; außerdem aber giebt es noch an-
dere Interjectionen, und diese überhaupt sind doch noch nicht
einmal die Anfänge der Sprache. Der Ausdruck der Gesichts-
züge aber, je nach den verschiedenen innern Erregungszuständen,
dürfte eine gleiche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zeigen,
17
[258] wie die Interjectionen. Er wird durch den N. facialis erzeugt,
und Müller bemerkt hierüber (II, S. 92.): „Der so äußerst
verschiedene Ausdruck der Gesichtszüge in den verschiedenen
Leidenschaften zeigt, daß je nach der Art der Seelenzustände
ganz verschiedene Gruppen der Fasern des N. facialis in Thä-
tigkeit oder Abspannung gesetzt werden. Die Gründe dieser
Erscheinung, dieser Beziehung der Gesichtsmuskeln zu beson-
dern Leidenschaften sind gänzlich unbekannt.“ Der N. facialis,
der physiognomische Nerv, ist „der sensibelste Leiter leiden-
schaftlicher Zustände“ (ebenda), und wir sehen an ihm, wie ein
Nervenfaden vermöge der Spaltung seiner Fasern mannigfach
und verschiedenseitig wirken kann.
Der Nervus facialis ist nicht eigentlich ein Nerv für die
Sprachbewegung; aber er geht doch auch in die Muskeln, wel-
che die Kinnlade abziehen und das Zungenbein erheben; und
so, denke ich, muß er auch die Zunge irgendwie ein wenig erre-
gen, indem er dem Gesicht den Ausdruck giebt. Wird aber
die Zunge bewegt, so müssen doch dadurch auch wohl die Ner-
venfasern der Zunge, welche besonders die Sprachbewegungen
leiten, in Reizung versetzt werden. Also muß der N. facialis
mittelbar wohl auch zur Erzeugung der Töne wirken *). Gewiß
ist, daß „er bei allen verstärkten und angestrengten Athembe-
wegungen, besonders bei geschwächten Menschen, mitafficirt ist“
(das. I, 792.). Die eigentlichen Nerven der Sprachbewegungen
sind der N. vagus und N. hypoglossus; der erstere „verbreitet
sich constant in den Stimm- und Athemwerkzeugen“, der andere
ist „der motorische Nerv der Zunge bei allen Bewegungen die-
ses Organs zum Sprechen, Kauen, Schlingen u. s. w. Er ist
aber auch der Bewegungsnerv der großen Muskeln des Kehl-
kopfes und Zungenbeins“ (I, 795.); und hier, denke ich, muß er,
der eigentlich articulirende Nerv, mit dem so leicht reizbaren
physiognomischen N. facialis sich mittelbar begegnen. Wenn dies
richtig wäre, so hätten wir jetzt nicht bloß das Athmen und Tö-
nen, sondern auch die Articulation überhaupt, also die Elemente
der Sprache, als von innern Erregungen reflectirte Ausdrucks-
[259] oder physiognomische Bewegungen kennen gelernt. Hierzu nehme
man nun noch, daß die Reflexionsbewegung durch die wach-
sende Bildung der Seele, die steigende Selbstherrschaft des Men-
schen gehemmt und dadurch unterdrückt und geschwächt wird,
woraus wir rückwärts schließen müssen, daß sie ursprünglich
beim Neugebornen und beim Wilden, noch mehr aber beim Ur-
menschen ungleich kräftiger, durchgängiger, und darum auch
bestimmter war, als wir sie heute an uns beobachten können:
so wird man es nicht allzu gewagt finden, wenn wir meinen,
daß bei den Urmenschen erstlich keine Seelenerregung vorging
ohne eine entsprechende, reflectirte körperliche Bewegung; und
zweitens auch, daß jeder bestimmten, besondern Seelenbewegung
eine bestimmte körperliche entsprach, welche physiognomisch und
tönend zugleich war.
Nachdem wir so die Elemente der Sprache, wie sie gewis-
sermaßen im vorsprachlichen Zustande der Menschen gegeben
sind, kennen gelernt haben, könnten wir versuchen, sie in das
lebendige Spiel der Sprachthätigkeit zu versetzen. Wir müssen
jedoch zuvor den innern Besitzstand der Seele auf ihrer vor-
sprachlichen und also — da man die Sprache immer als Schei-
dungszeichen zwischen Mensch und Thier angesehen hat — thie-
rischen Bildungsstufe etwas näher betrachten. Dies wird natür-
lich bloß darauf hinauslaufen, das Wesen der Empfindungs-
erkenntnisse, der Wahrnehmung, zu entwickeln. Wir
können diese Arbeit nicht umgehen. Denn wir müssen doch
den Boden ausbreiten, auf oder aus welchem sich die Sprache
erhebt, um dann weiter sehen zu können, was und wie die Spra-
che, in Gemäßheit des ihr in der Seele Vorangehenden und der
allgemeinen Entwicklungsweise der Seele, für die Fortbildung
derselben, für die Entfaltung ihres Wesens wirkt; was die Seele
durch sie gewinnt, was sie sich in ihr schafft und giebt.
§. 88. Character der sinnlichen Wahrnehmung.
Man fühlt Lust und Unlust. Das Wort Gefühl bezeichnet
sowohl die allgemeine Fähigkeit des Fühlens, als auch eine Ver-
wirklichung derselben in einem besondern Falle. Man empfindet
vermittelst der Sinne die Elemente, Licht, Wärme, Ton u. s. w.
Man sagt aber wohl nicht: ich empfinde dich, den Tisch, eine
Blume. Empfinden bedeutet also nur im Allgemeinen: ver-
mittelst der Sinne wahrnehmen; jede besondere Wahrnehmung
eines der Sinne wird nicht mehr mit dem allgemeinen Worte
17*
[260]empfinden, sondern mit dem besondern Ausdruck sehen, hö-
ren u. s. w. bezeichnet. Nichtsdestoweniger muß der Psycholog,
wenn er sich allgemein ausdrücken will, sagen, die Farbe, die
Form des Dreiecks, ein Ton, werde empfunden, auch die Dauer
des Tons. Der Inhalt der Empfindung sind also sinn-
liche Qualitäten und die Verhältnisse des Raumes
und der Zeit.
Dinge werden nicht empfunden; sondern man hat eine An-
schauung von den Dingen. Die Anschauung von einem Dinge
ist der Complex der sämmtlichen Empfindungserkenntnisse, die
wir von diesem Dinge haben. Man sieht die Farbe und Form
des Tisches; der Gefühlssinn lehrt uns seine Härte, Schwere,
das Gehör seinen Klang: alles zusammen liefert die Anschauung
davon. Die Empfindung, weil sie ihre Erkenntnisse durch ver-
einzelte Organe giebt, verfährt allerdings analytisch; die An-
schauung ist eine Synthesis, aber eine unmittelbare, die durch
die Einheit der Seele gegeben ist. In der Anschauung liegt im-
mer eine Mannigfaltigkeit; denn das Einfache wird bloß em-
pfunden. Das von der Empfindung gelieferte verschiedene Ein-
zelne schmilzt unmittelbar, vermöge des einheitlichen Wesens
der Seele, synthetisch zur Anschauung zusammen. Zu dem in
der Anschauung schon gebildeten Complex von Qualitäten kön-
nen neue Empfindungserkenntnisse hinzutreten, die ebenfalls in
gleicher Unmittelbarkeit sich synthetisch der Anschauung hin-
zufügen *).
[261]
Was ist aber Wahrnehmung? Wir haben eine Stufen-
reihe von Gefühl, Empfindung, Anschauung gebildet. Wir könn-
ten dieser Reihe noch ein Glied ganz vorn anfügen, indem wir
vor das Gefühl das noch unbestimmtere, durchaus einheitliche,
sinnliche Gemeingefühl setzen, welches sich weder auf ein
äußeres Object, noch auf bestimmte Theile des Körpers bezieht,
sondern welches (nach Lotze, Medicinische Psychologie S. 281.)
„dem Bewußtsein die ganze Summe und Elasticität der vorhan-
denen disponibeln Lebenskraft zur Wahrnehmung bringt;“ jenes
Gefühl allgemeiner Anspannung oder Erschlaffung, der Leich-
tigkeit oder Schwere des gesammten Körpers; kurz die allge-
meine Weise, wie die Seele den Gesammtzustand ihres Leibes
als unzerlegte Einheit fühlt. Das bestimmte Gefühl wäre also
im Verhältnisse zu diesem Gemeingefühle schon eine Specifici-
rung desselben, schon ein Bruch der Einheit. Wo werden wir
nun aber der Wahrnehmung in der obigen Reihe den Platz
anweisen? Nirgends, weil überall! Wahrnehmung ist kein den
obigen Begriffen beizuordnender Begriff; er liegt seinem Inhalte
nach in einer ganz andern Reihe. Wahrnehmung bezeichnet
für den ganzen Entwickelungsgang der Seele durch die sinnli-
chen Erkenntnisse hindurch nichts anderes, als daß die leibliche
Erregung vermittelst der Nerven und des Centralorgans zur Seele
gelangt, von ihr aufgenommen ist. Alles, was die Sinnlichkeit
der Seele an Erkenntniß giebt, alles Sinnliche, dessen die Seele
bewußt wird, wird wahrgenommen, es sei als Gefühl oder Em-
pfindung. In der Anschauung ist schon keine Wahrnehmung
mehr, weil die Anschauung, obwohl auf Empfindungen gegrün-
*)
[262] det, doch rein der Seele angehört; denn sie ist nicht mehr, wie
die Empfindung, sinnliches Auffassen, sondern Zusammenfassung,
Synthesis des mannigfach Empfundenen. Sie ist dies freilich
noch nicht als Thätigkeit, sondern als Zustand, nicht thätiges
Zusammenfassen, sondern unmittelbare Zusammengefaßtheit, Ein-
heit. Weil die Anschauung unmittelbares Ergebniß der Seele
ist, darum ist die Wahrnehmung, nachdem sie bei der Empfin-
dung gedient hat, für die Anschauung nicht mehr nöthig; denn
die Anschauung hat eine andere Form als die Empfindung, hat
aber nur den Empfindungsinhalt. Eben darum aber müssen wir
auch die Anschauung noch als zu diesen niedrigern Bildungs-
stufen der Seele gehörend ansehen, welche wir allgemein als die
Stufe der Wahrnehmung bezeichnen können.
Im Gefühle ist die Seele die Substanz, und das Gefühl das
Attribut. Die Substanz ist aber eben bloß ihr Attribut, beide
sind in Einheit. So ist die Seele im Gefühle eins mit dem Ge-
fühl. Weil sie die Substanz ist, so ist sie nicht Subject, wel-
chem ein Object gegenüberstände; sondern das Object inhärirt
ihr als Gefühlsattribut. — In der Empfindung, welche Qualitä-
ten zum Bewußtsein bringt, ist die Qualität Prädicat, und die
Seele Subject: ich sehe Blau. Hier ist zwar keine Inhärenz mehr,
aber doch Beziehung, d. h. hier gegenseitige Abhängigkeit, oder
vielmehr das Verhältniß des Dazugehörens. Die empfundene
Qualität ist nicht mehr die Seele, inhärirt ihr nicht mehr, son-
dern gehört zu ihr. Auch hier also ist noch kein Object, also
die Seele noch nicht Subjectivität, noch nicht Ich. Erst in der
Anschauung befreit sich die Seele derartig von dem sinnlichen
Eindrucke, daß sie ihn ganz außer sich, sich gegenüber stellt,
indem sie nämlich die Qualitäten zusammengenommen einem
Dinge zuschreibt. In der Anschauung spricht die Seele: das
Wahrgenommene ist nicht ich, nicht mein Attribut, noch auch
gehört es zu mir und ist mein Prädicat; sondern es ist Attribut
eines Dinges. Die Seele weiß aber immer noch nichts von sich;
sie weiß sich nicht als anschauende.
Mit diesem Mangel an Selbstbewußtsein steht in enger Ver-
bindung, daß es auf diesem Gebiete der Anschauung, und über-
haupt der Wahrnehmung, nichts Allgemeines, sondern nur Ein-
zelnes giebt. Nur einzelne Qualitäten werden empfunden; nur
einzelne Dinge angeschaut. Es giebt keine Anschauungen von
Arten. Was man zuweilen so nennt, sind wissenschaftliche Ideen
[263] und Begriffe. Der innerlich oder äußerlich angeschaute Hund
ist eine bestimmte Einzelheit, bestimmt nach Farbe, Größe, Ge-
stalt, Stimme und allem was die Anschauung an ihm besitzt.
Das Thier, ein so umfassender Gattungsbegriff, wird gar nicht
angeschaut. Es mag wohl sein, daß das Kind mit seinen noch
so ungeübten Sinnen gerade von den Merkmalen eines Hundes,
welche er mit der Katze und dem Pferde als Thier gemeinsam
hat, am meisten betroffen wird, daß es bloß diese wahrnimmt
und über ihnen die andern übersieht. Der Hund, wie die Katze
ist für das Kind etwa ein Ding, das von selbst von einem Orte
zum andern gelangt, ohne, wie Tische, Stühle, getragen zu wer-
den; ein Ding, dem man ruft, dem man zu essen giebt u. s. w.
Wenn es aber auch an dem Hunde nichts weiter wahrnähme,
als die allgemeinen thierischen Merkmale, so wäre dies doch
keine Anschauung von einem Thiere, sondern nur eine unvoll-
kommene, d. h. sowohl unvollständige, als stumpfe, an Menge der
Merkmale und Schärfe der Auffassung mangelhafte Anschauung
von einem Hunde.
Wesentliche Bestimmungen der sinnlichen Anschauung sind
also: Mangel an Selbstbewußtsein, einzelne Wirklichkeit und
Einheit. Diese letzte ist noch besonders scharf zu nehmen. Die
Anschauung ist Einheit vieler Empfindungserkenntnisse, nicht
Vereinigung; bewußtlos gewordener Zustand des Zusammenseins
der Qualitäten, nicht bewußtvolle Thätigkeit des Zusammenfas-
sens. Die Seele weiß also nichts von der Mannigfaltigkeit, wel-
che in der Anschauung liegt. Sie hatte zuerst tausend Quali-
täten empfunden, die alle zur Einheit verschmolzen waren und
eine große, unklare Anschauung bildeten. Die Qualitäten rissen
aus einander, und so gelangte das anschauende Bewußtsein zu
eben so vielen Anschauungen, als die erste Anschauung in Theile
zerriß. Diese Theilanschauungen geben eine klarere Erkenntniß,
als die erste; aber sie tragen in Beziehung auf ihre Elemente
denselben Charakter der Unklarheit und Ungesondertheit, den
die erste in Bezug auf sie trug. Der Fortschritt der Seele wird
also nun darin liegen, daß auch die einzelnen Anschauungen
sich in ihre einzelnen Qualitäten auflösen. Wie dies geschehen
könne, zu untersuchen, ist unsere Aufgabe. Denn man begreift
oder ahnt sogleich, daß dies nicht wieder durch Zerreißung der
Wirklichkeit geschehen werde; denn diese führt niemals zu ab-
stracten Qualitäten, d. h. zu Qualitäten, welche nicht in einem
[264] ganzen Complex zu einem Dinge gehörten. Es wird also eine
bloß geistige Abstraction sein, welche Weiß und Kalt als Qua-
litäten des Schnees sowohl unter sich unterscheidet, als auch
von dem Dinge, an welchem sie haften, ablöst. Und dies wird
nicht ohne das Wort geschehen können.
Wir nannten diese Stufe der Seelenentwickelung, die Stufe
der Wahrnehmung oder sinnlichen Anschauung, die thierische.
Wir haben schon einige Andeutungen gefunden, daß sich die
weitere Bildung der Seele nicht ohne Sprache werde erzielen
lassen, daß die Sprache auf dem Punkte, zu dem unsere Be-
trachtung gelangt ist, werde hervorbrechen müssen. So wollen
wir denn nun auch hier untersuchen, wie weit die thierische See-
lenbildung gelangen mag.
§. 89. Entwickelungsstufe der Thierseele.
Wir sagten, es gebe keine Anschauungen von Gattungen
und Arten, überhaupt von Allgemeinem; sondern Gegenstand
und Inhalt der anschauenden Seele sei das wirklich daseiende
Einzelne. Das Bewußtsein des Thiers würde demnach auf die
Kenntniß von Individuen beschränkt sein, ohne diese zu Arten
zusammenzufassen und Arten von einander zu unterscheiden.
Und ich denke, dem ist so. Der Hund unterscheidet Hunde
von einander, Menschen von einander, und unterscheidet einen
Hund von einem Menschen und beide von einem Pferde. Aber
was beweist das? daß er den Menschen als diese besondere Art
von Wesen, daß er das Pferd als diese besondere Thierart auf-
faßt, und der Art, zu welcher er selbst gehört, als davon ver-
schiedene Arten entgegensetzt? Keineswegs. Der Hund unter-
scheidet einen Hund, ein Pferd und einen Menschen als drei
verschiedene Individuen, wie er verschiedene Hunde und meh-
rere Menschen ebenfalls als besondere Individuen scheidet. Er
sieht freilich ganz unfehlbar, daß Mensch und Mensch, Hund
und Hund sich ähnlicher sind, als Mensch und Hund. Aber al-
les das beweist noch nicht, daß er die Grade der Aehnlichkeit
nach Arten bestimmt, daß er die in bestimmten Grenzen be-
harrenden Verschiedenheiten als Art zusammenfaßt. Er sieht
nur Individuen, mehr oder weniger verschiedene. — Der Hund
unterscheidet den Hund von der Hündinn; unterscheidet er nun
in seinem Bewußtsein wohl auch ein männliches und weibliches
Geschlecht? Ich kann es nicht glauben. Der Hund unterschei-
det auch ohne Zweifel den Mann vom Weibe, den Stier von
[265] der Kuh. Wird er Hündinn, Kuh und Weib zusammenfassen
als weiblichen Geschlechts; Hund, Stier und Mann als männli-
lichen? Wodurch bewiese er denn, daß er das thäte? Gerade
rücksichtlich der Begattungsverhältnisse entwickelt das Thier
ganz wunderbare Seelenfähigkeiten. Aber wir dürfen auch an-
nehmen, daß, so oft es hier den gewöhnlichen Kreis seiner Kraft
überschreitet, ein bewußtloser Instinct wirksam war. Weiß der
Hund, indem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? von
Erhaltung seiner Art? weiß die Hündinn, sie werde befruchtet,
werde schwanger werden und Junge werfen, die sie dann zu
säugen habe? Weiß sie von alle dem in seinem causalen Zu-
sammenhange, oder auch nur als zeitliche Reihenfolge von Thä-
tigkeiten und Zuständen und Ereignissen? Das dürfte wohl Nie-
mand behaupten. Dann weiß aber auch der Hund nichts von
Geschlechtern. Er folgt in jedem Augenblicke dem unbewuß-
ten Instinct, jetzt in der Begattung, später im Säugen, ohne Be-
wußtsein vom Zusammenhange beider, ohne Nachdenken, warum
nicht auch der Nachbar säuge, warum er sich bei der Begat-
tung anders benehme — kurz ohne Unterscheidung der Geschlech-
ter, als eines Artbegriffs oder einer Artanschauung. In seinem
instinctiven Drange sucht der Hund ein Individuum, das geeig-
net ist, seinen Drang zu stillen. Daß dieses oder jenes Indivi-
duum dazu geeignet sei, ein anderes nicht: das weiß er, wie er
weiß, was er zu essen hat, und was liegen zu lassen. — Er sieht
eine fest gewurzelte Pflanze, ein sich bewegendes Thier, einen
bewegten Stein: er scheidet sie von einander, wie dieses Indi-
viduum von andern; er scheidet sie als verschiedene Etwas; er
scheidet sie nicht als artverschieden, als Pflanze, Thier und Stein.
Wir haben im Obigen schon die Ausdehnung der Zeit als
Gegenstand des Bewußtseins berührt. Der Hund hat Gedächt-
niß; denn das heißt nichts weiter, als er hat eine Seele, die
klarer Sinneseindrücke fähig ist; der wiederholte Sinneseindruck
muß ihm also als bekannt erscheinen. Er hat zwei Begeben-
heiten hinter einander wahrgenommen; beide Anschauungen as-
sociiren sich. Nimmt er die erste von neuem wahr, so steigt
auch die zweite wieder in seinem Bewußtsein auf: d. h. er er-
wartet sie. Er hat also eine Vergangenheit und eine Zukunft,
aber gewiß nur eine sehr unbestimmte. Die Vertrautheit mit
einer wiederholten Wahrnehmung, das Erwarten einer kommen
sollenden, ist noch kein Bewußtsein von der Ausdehnung der
[266] Zeit. Das Thier mag ein Gedächtniß für eine ziemlich lange
Vergangenheit haben; aber ob es die verschiedene Länge un-
terscheidet? schwerlich. Es erinnert sich des Vergangenen über-
haupt; aber es mißt die Zeit nicht. Das Thier soll öfter Lange-
weile haben; denn man sieht es gähnen! Als wenn das Gähnen
nicht ein Erzeugniß rein physischer Ursachen sein könnte. Ei-
nen Unterschied zwischen Arbeit und Müßiggang, Plackerei und
Wohlleben empfindet die thierische Seele in ihrem Gemeinge-
fühl gewiß. Das Thier spielt und belustigt sich, gerade ebenso
in Folge rein physischer Nervenlebendigkeit, wie es auch ruht,
wenn es müde geworden ist.
Zwischen Gedächtniß und Erinnerung ist ein Unterschied.
Die Erinnerung sucht im Gedächtnisse, wie sie auch zeitliche
Anordnung und Eintheilung der im Gedächtnisse aufbewahrten
Vergangenheit herstellt; denn Erinnerung ist nicht bloß Aufbe-
wahrung des Vergangenen in der Seele, sondern Bewußtsein
von der Ausdehnung der abgeflossenen Zeit. Sie ist darum auch
noch mehr: Vergegenwärtigung der Vergangenheit, und zwar
eines bestimmten, absichtlich jetzt gesuchten und zurückgefor-
derten Punktes der Vergangenheit. Diesen Unterschied hat, irre
ich nicht, schon Aristoteles gemacht und dem Thiere Gedächt-
niß, aber nicht Erinnerung zugeschrieben. Gedächtniß ist nichts
als Vertrautheit mit dem gegenwärtigen Eindrucke der
Sinne; das ist kein Bewußtsein von Vergangenheit, sondern nur
eine modificirte Gegenwart. Und eben so ist Erwartung des
nächsten Augenblickes noch kein Bewußtsein einer Zukunft, son-
dern bloß Gegenwart, insofern diese überhaupt ist. Denn streng
genommen ist sie ja nur der ewig vergangene und ewig kom-
mende ausdehnungslose Zeitpunkt. Was man im gewöhnlichen
Leben Gegenwart nennt, ist ein wenig Vergangenheit und ein
wenig Zukunft; und das hat das Thier. Es hat nur insofern
diese beiden, als es Gegenwart hat, d. h. als es lebt, und noth-
wendig in der Zeit lebt, und zwar mit Bewußtsein. Es hat Be-
wußtsein vom Gegenwärtigen, aber nicht von der Gegenwart;
dies nicht, weil nicht von Vergangenheit und Zukunft; und end-
lich dies nicht, weil es sich das Vergangene nicht vergegenwär-
tigt, weil es wohl Gedächtniß, aber nicht Erinnerung hat.
Das Thier lebt also nur in der Gegenwart, ohne Vergan-
genheit und Zukunft, weil seine Seelenstufe die Anschauung
ist, d. h. Bewußtsein vom einzelnen, wirklichen und gegen-
[267] wärtigen Gegenstand. Es hat ewig wiederholte Anschauun-
gen, d. h. die Wirklichkeit bietet der Seele immer wieder den-
selben Gegenstand dar; aber es hat keine erinnerte Anschauung,
d. h. Zurückrufung der gehabten Anschauung auf Befehl der
Seele.
Die Anschauung, sagten wir ferner, sei Einheit, d. h. un-
zergliedertes Bewußtsein von einem Dinge. Die Katze sieht die
gelbe Flamme, so oder so gestaltet, im Kamin und fühlt zu-
gleich die von ihr ausstrahlende Wärme, hört auch das Knistern.
Diese Empfindungen werden nothwendig zusammenschmelzen und
ihr die Anschauung des Feuers geben; d. h. die Katze wird diese
ganz stumpfe Summe mehrerer qualitativen Empfindungserkennt-
nisse haben. Unsere Begriffe sind noch etwas mehr, als die bloße
Summe der Merkmale; aber die thierische Anschauung ist ge-
rade dies und nichts anderes; und die Seele ist im anschauen-
den Bewußtsein bestimmt als: die Empfindungsqualitäten sum-
mirend, d. h. dieselben als vielfachen Zustand in sich zusammen-
haltend. Hier wird nicht der Gesichtseindruck vom Gefühls-
eindruck geschieden, nicht innerhalb des ersten abermals Form
und Farbe geschieden; sondern Form, Farbe, Tönen, Gefühl —
alles zusammen bezieht das Thier mehr auf sich selbst als einen
vielfach bestimmten Zustand. Das Bewußtsein von Objecten
ist hier noch schwach. Hier herrscht noch das Verhältniß, wel-
ches wir oben der Empfindung zuschrieben: die thierische Seele
ist Subject und hat das Object als ihr Prädicat. Sie hat das
Object noch nicht zum Subject eines Urtheils gemacht; sie hat
nicht gesagt: die Flamme leuchtet, ist warm u. s. w. Sie trägt
alle diese Urtheile noch als unvollzogen in summarischer Ein-
heit in sich; d. h. sie hat die Prädicate, die Empfindungsquali-
täten in sich, aber hat dazu noch gar kein Subject; es fehlt das
Ding. Die thierische Seele selbst vielmehr, sie, die die Prädi-
cate in sich hat, ist noch dinglich bestimmt; die Kategorie
Ding ist noch nicht wirksam geworden. Eben darum,
weil die Kategorie Ding der thierischen Anschauung noch fehlt,
ist letztere auch noch nicht Einheit, was sie nur durch jene Ka-
tegorie werden könnte, sondern bloßes Zusammen. Dieser Man-
gel der Dingkategorie, der scharfen Einheit, dieses stumpfe Bei-
sammen der Empfindung und die dingliche Bestimmtheit der Seele
spricht sich in dem starren Blicke des Thieres aus; der Hund
und auch noch der stumpfe Mensch starrt in die Flamme.
[268]
Auf dem Standpunkte der Anschauung wird nicht geur-
theilt; denn ihr Wesen ist Einheit. Urtheilt denn nun also das
Thier nicht? Sicherlich nicht, insofern dadurch die Einheit der
Anschauung aufgehoben würde. Es läßt sich aber urtheilen,
ohne die Anschauung in einzelne Qualitäten zu zertheilen —
Urtheile, welche sich auf das Ganze der Anschauung erstrecken.
Wenn ein Thier eine Anschauung gehabt hat, die ihm von neuem
dargeboten wird, so wird es das wohl wissen und gewisserma-
ßen urtheilen: dieses A = einem alten A. Ebenso wird es ge-
schehen, wenn zwei Anschauungen A und B mit einander in der
Seele des Thieres verbunden sind. Jetzt wiederhole sich A;
das Thier wird nicht bloß die Identität des A urtheilen, son-
dern auch B erwarten, und tritt B wirklich auf, von neuem ein
Identitäts-Urtheil bilden — natürlich alles dies nur in sehr un-
eigentlichem Sinne. Solche Identitäts-Urtheile, in denen Subject
und Prädicat identisch sind, zusammenfallen, können keine
wirklichen Urtheile erwecken. Es kommt hinzu, daß hier
das Subject immer noch die Seele selbst ist, die alte Anschau-
ung A. Die Identität des alten und neuen A ist also ein Ver-
schmelzen der Seele mit der neuen Anschauung, kein Urtheilen,
kein Unterscheiden. Diese Verschmelzung geht ruhig vor sich,
sie erregt keine weitere Seelenthätigkeit, sondern giebt im Ge-
gentheil das Gefühl der Befriedigung, in welcher die Seele ru-
hig beharrt, bis sie von neuem gestört wird.
Dieses gewissermaßen so anzusehende Identitätsurtheil war
affirmativ; wie sollte aber das Thier nicht auch, in gleichem
Sinne, wie das affirmirende, das die Identität negirende Urtheil
kennen? Die Kuh vor dem neuen Thore urtheilt negirend. Sie
sieht die alte Straße, das alte Haus und erwartet nun die mit
jenen beiden Anschauungen associirte Anschauung des alten
Thores; sie findet aber dieses nicht. Die neue Wahrnehmung
verschmilzt nicht mit der Seele: das ist ihre Negation. War
Behaglichkeit und Zufriedenheit Ausdruck der thierischen Affir-
mation, so ist der Ausdruck der thierischen Negation stumpfes
Staunen. Es kommt auch hier zu keinem Urtheil, auch beim
Menschen in ähnlichem Falle nicht; man weiß eben nicht, was
man dazu sagen solle. Die ganze Erkenntniß des Thiers be-
steht im Anerkennen und Verschmähen; beides geht nicht in
der Form des Urtheils vor sich.
Ein Thier schließt auch und hat praktische Absichten.
[269] Wenn z. B. ein Hund Hunger hat, so treibt ihn dieses Gefühl
zum Bellen, und man giebt ihm zu essen. Diese Reihe von
Anschauungen wird ihm bleiben; und wenn er wieder Hunger
hat, so wird er wieder bellen, damit man ihm wieder etwas zu
essen gebe. Solche Schlüsse, die innerhalb der Anschauung
bleiben, mag man den höhern Thieren in weitem Umfange zu-
schreiben. Der Hund wird seinen Schluß inductiv erweitern:
man hat mir auf mein Bellen zu essen gegeben, man hat also
meinen Willen gethan; jetzt will ich wieder etwas, ich werde
wieder bellen, und man wird wieder meinen Willen thun. Solche
Schlüsse nach Analogie und Induction mögen meist noch durch
einen rein physischen Drang unterstützt werden.
Wir können nicht verwundert sein, oder müssen sogar er-
warten, bei den Thieren Keime der Sprache zu finden. Denn
ist die Sprache eine Reflexionsbewegung, und erfolgen solche
reflectirte Bewegungen auf Gefühle und Empfindungen und hö-
here Seelenthätigkeiten, so kann die Sprache auch schon bei
den Thieren sich finden, nur in einer angemessenen Stufe. Das
Gemeingefühl spricht sich lebendig im Geschrei und Gesang der
Thiere aus, wie alle besondern Gefühle der Lust und Unlust.
Wir nehmen hier das Gemeingefühl in dem oben bestimmten
Sinne, als die allgemeine Weise, wie sich die Seele im Körper
fühlt. Es ist also das Gefühls-Ich. Aber auch hier tritt ge-
rade da, wo wir auf das Einzelnste zu stoßen meinen, ein All-
gemeines, Gemeinsames hervor. Der Wettgesang der Vögel ist
eine wahre thierische Unterredung und bekundet die gefühlte
Einheit der Gattung. Ebenso eine Heerde Schafe, die durch
einander blöken, und der Hund, der seinem bellenden Nachbar
bellend antwortet.
Hierauf, ich meine auf die tönenden Ausbrüche des Ge-
meingefühls, lege ich ein größeres Gewicht, als auf das Win-
seln des Hundes, der etwa vor einer geschlossenen Thür liegt
und einen vorübergehenden Menschen um Hülfe anzurufen scheint,
oder durch Bellen und Kratzen sich bemerklich machend die
im Zimmer befindlichen Personen um Eröffnung der Thüre bit-
tet. Hier liegt freilich eine sehr vielfache Association von An-
schauungen vor: Erwartung, daß wir Mitleid mit ihm haben,
d. h. ihn verstehen werden; was zugleich ausdrückt, daß er
wisse, wir haben die Kraft, die ihm fehle, die Macht ihm zu
helfen. Nur legt man gar zu leicht mehr hinein, als darin lie-
[270] gen mag. Ob die Absicht zur Mittheilung vorhanden sei? Das
scheint mir doch zweifelhaft. Der Hund winselt, und dies Win-
seln ist Ausdruck seiner Verlegenheit, der aber unbeabsichtigt
erfolgt, auch wenn Niemand da ist, der ihn hören wird. Er
hat nicht die Absicht, das Winseln zur Sprache zu verwenden.
Er hat gesehen, daß Menschen die Thüre öffnen; da er sie ge-
öffnet wünscht, ist es natürlich, daß er an die Anschauung ei-
nes Menschen die Anschauung der sich öffnenden Thüre knüpft.
Er erwartet, aber er bittet, er spricht nicht. Sein Kratzen an
der Thüre ist ebenfalls nicht ein Versuch, seinen Wunsch an-
zudeuten, sondern ein Arbeiten, ein Bemühen, die Thüre zu
öffnen, und da sie in Folge seines Kratzens öfter geöffnet wor-
den ist, so hält er sein Kratzen für ein wirkliches Eröffnungs-
mittel; es ist ihm mehr ein Schlüssel und Drücker, als eine
Sprache. Und das gilt sogar vom Bellen des Hundes und vom
Schreien der Kinder. Herbart scheint uns sehr Recht zu ha-
ben, wenn er bemerkt (Psychologie §. 155. Sämmtl. W. VI.
S. 401): „Daß in diesen ersten Anfängen sich alles aus Gefühl
und Beobachtung“ (Anschauung würden wir sagen, indem wir,
wie oben bemerkt, Beobachtung nennen möchten, was Herbart
Anschauung nennt), „ohne Willkür, zusammensetzt, sieht man
deutlich an eigensinnigen Kindern, die durch Schreien ihre Um-
gebung regieren; ja selbst an Thieren, denen oft auf ihre kla-
gende Stimme gewährt worden ist, was sie begehrten. Bei die-
sen wie bei jenen werden unverkennbar die Töne immer gebie-
terischer, je häufiger sie erfahren haben, daß sie etwas dadurch
ausrichten. Ihre Laute werden für sie ein Organ des
Handelns, so unnatürlich dies auch ist“ — d. h. uns scheint;
an sich ist es nicht unnatürlich, da der Hund und das Kind den
innern Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht einsehen.
Auf diesem anschauenden Standpunkte giebt es bloß Verbin-
dung zweier Ereignisse in der Anschauung und die Erwartung
des unfehlbaren Eintretens des zweiten, wenn das erste einge-
treten ist. „Die Complexion zwischen dem Schreien und dem
beobachteten guten Erfolge wirkt nach dem allgemeinen Gange
des psychologischen Mechanismus dahin, daß, sobald das Beob-
achtete zum Begehrten wird, sich die Stimme erhebt, und zwar
nach häufiger Wiederholung endlich mit der Zuversicht des Ge-
lingens, wodurch der Wunsch in den Willen, die Bitte in den
Befehl übergeht“ — d. h. abermals, wie es uns scheint. Denn
[271] von Bitten und Wünschen kann ja nicht die Rede sein da, wo
man „ein Organ des Handelns“ zu bewegen glaubt, wo man zu
arbeiten meint, wie Kind und Hund bei ihrem Schreien sich
einbilden. Der Uebergang vom Winseln zum lauten Schreien
und Bellen ist Folge des Verdrusses, daß der gewünschte Er-
folg noch nicht eingetreten ist; man fängt an, anstrengender,
kräftiger zu arbeiten. Hier fehlt durchaus das charakteristische
Element der Sprache: theoretische Mittheilung.
Wir glauben im Vorstehenden der thierischen Seele weder
zugeschrieben zu haben, was sie nicht hat, noch abgesprochen,
was sie besitzt. In beide Fehler verfällt man gar zu leicht.
Da wir denn doch immer bloß Wirkungen, thierisches Handeln
sehen, so schiebt man dem oft solche Motive unter, wie sie den
Menschen beseelen, wenn er dergleichen thut. Man übersieht
hierbei ein Doppeltes: erstlich, daß diesen thierischen Wirkun-
gen gar nicht nothwendig dieselbe Ursache zu Grunde zu liegen
brauche, als der entsprechenden menschlichen; und zweitens, daß
die thierische und menschliche Handlungsweise wohl vielfältige
Analogien und Aehnlichkeiten bieten, aber keine Gleichheit zei-
gen; daß vielmehr bei genauerer Betrachtung bedeutende Un-
terschiede hervortreten, die man unbeachtet läßt. Wir haben
auf solche Unterschiede aufmerksam gemacht und erkannt, daß
die menschliche Anschauung doch noch eine ganz andere ist,
als die thierische; wir haben den allgemeinen bezeichnenden Un-
terschied darin gefunden, daß nur der menschlichen Anschauung
die Kategorie des Dinges zu Grunde liege, nicht der thierischen;
daß also diese nur ein Zusammen, jene aber Einheit sei. In
diesem Unterschiede liegt aber schon eine Leistung der Sprache.
Ehe wir jedoch zeigen können, wie die Sprache dies leiste, fra-
gen wir: warum entspringt die Sprache aus den menschlichen
Wahrnehmungen und nicht auch aus den thierischen? was zu
einer nähern Vergleichung der menschlichen und thierischen
Seele führt.
§. 90. Vergleichung der Menschen- und Thierseele.
Man hat die Vergleichung zwischen Thier und Mensch bis-
her gewöhnlich in sehr ungehöriger Weise angestellt. Die Sache
scheint mir indeß so einleuchtend und gewiß, daß ich glauben
muß, hätte man einerseits die Verschiedenheit zwischen Mensch
und Thier, die Vorzüge des Menschen vor diesem nicht nur zu
sehr übertrieben, sondern auch am völlig unrechten Orte ge-
[272] sucht, man hätte sich andererseits durch das Streben des Wi-
derspruchs niemals können verleiten lassen, in der Gleichstellung
von Mensch und Thier so weit zu gehen, um jeden wesentlichen,
principiellen Unterschied zu läugnen. Beiderseits hat man aber
denselben Fehler gemacht. Erstererseits behauptete man, der
Unterschied liege in den sogenannten höhern Seelenfähigkeiten,
welche der Mensch als Ueberschuß zu und neben den untern
im Vorzuge vor dem Thiere besitze, welches bloß die untern
Seelenfähigkeiten habe. Hiergegen bemerkte nun andererseits
Herbart — denn ich rede hier nicht von Franzosen und fran-
zösirenden Deutschen; einem Manne wie Herbart aber merkt
man es an, daß nur sein Widerstand gegen eine Ansicht, die
alle Zweige der Philosophie verdorben hatte, ihn dazu führen
konnte, den Unterschied zwischen Mensch und Thier zu über-
sehen — Herbart also, sage ich, bemerkt gegen obige Ansicht
mit Recht, daß das, was man unter den höhern Seelenfähigkei-
ten versteht, gar nicht dem Menschen angeborne besondere Kräfte
sind, sondern ein im Laufe der Zeitalter vom Menschengeschlechte
erworbenes, durch Ueberlieferung von einem Geschlechte zum
andern fortgepflanztes und immer neu bereichertes Gut der Cul-
tur ist. Dieser Erwerb muß abgezogen werden, wenn die Seele
des Menschen mit der des Thieres verglichen werden soll; denn
er ist nicht einer höhern Kraft der Seele zu verdanken, son-
dern dem höher gebildeten menschlichen Leibe, nämlich seiner
kunstfähigen Hand und seinen gefügigen Sprachorganen. Ab-
gesehen von diesem leiblichen Vorzuge, sei die menschliche
Seele, wie die thierische; diese würde gleiche Cultur erreichen,
hätte ihr die Vorsehung Hände und Sprache gegeben. Denn
übrigens sei beim Thiere alles, wie beim Menschen, und man
könne beobachten, wie die Thierseele nach Hand und Sprache
gewissermaßen strebe, d. h. Pfote und Stimme als Hand und
Sprache zu verwenden strebe, dabei aber vom Leibe im Stiche
gelassen werde.
Beide Ansichten also sehen den Unterschied zwischen Mensch
und Thier nur in der weitern Bildung. Und dies halten wir
für falsch. Der Unterschied zeigt sich überall, schon beim er-
sten Beginn der Seelenwirksamkeit, schon im ersten Auftreten
derselben. Wenn die Sprache von jeher für das galt, was die-
sen Unterschied ausmache und begründe: so kommt es auch
wohl der Sprachwissenschaft zu, ihn festzustellen, sorgfältig dar-
[273] zulegen, die Würde der Menschheit zu behaupten, ohne in halt-
lose Uebertreibungen zu gerathen. Der Unterschied mag nicht
so groß sein, wie man sich ihn oft eingebildet hat: er bleibt
immerhin groß genug, um gewisse thierfreundliche Declamatio-
nen und über die Menschheit hinaus sich erstreckende Égalité-
und Fraternité-Gelüste als unfreiwillige Parodien der Bestrebun-
gen dieser Declamatoren selbst erscheinen zu lassen*).
Wir gründen unsere Ansicht vom Vorzuge des Menschen
auf folgenden einfachen Schluß. Zwei gleichartige und gleich
kräftige Ursachen müssen auch gleichartige und gleich kräftige
Wirkungen hervorbringen; finden wir nun letztere in Wirklich-
keit nicht gegeben, so dürfen wir auch erstere nicht annehmen,
müssen im Gegentheil aus der Verschiedenheit zweier Wirkun-
18
[274] gen auf eine derselben entsprechende Verschiedenheit der Ur-
sachen schließen: es müßten denn die Hindernisse nachgewie-
sen werden, welche die eine Ursache verhindert haben, ihre volle
Kraft wirken zu lassen zur Hervorbringung dessen, was in ihr
lag. Nun liegt es als Thatsache vor, daß das Thier keine
menschliche Welt gründen konnte; also kann es auch keine der
menschlichen Seele gleiche Seele haben. Behauptet man diese
Gleichheit dennoch, so hat man zu zeigen, worin das Hinder-
niß liege, welches die thierische Seele zurückhält, gleich der
menschlichen zu wirken. Dieses Hinderniß kann nicht in zu-
fälligen Umständen liegen, welche dem [thierischen] Wesen äußer-
lich wären; denn solche könnten unmöglich einen seit Beginn
der Schöpfung ununterbrochen dauernden und ausnahmslos wirk-
samen Einfluß geübt haben. Wenn aber dem thierischen We-
sen, als solchem, angehörende Verhältnisse als hemmend ange-
führt werden, so ist damit das niedrigere Wesen der Thierseele
anerkannt. Hier sagt man nun aber: nicht in der thierischen
Seele liegt das Hinderniß, sondern lediglich im thierischen Leibe;
und nur durch die höhere Organisation des Leibes unterscheide
sich ursprünglich der Mensch von dem Thiere, während die
Seelen beider zu einer Art gehören (Herbart, Psychologie
§. 130.).
Wenn man aber auch nicht Materialist ist, d. h. wenn man
nicht meint, daß die Seelenthätigkeit bloß Erzeugniß der Wirk-
samkeit animalisch-organischer Materie sei — denn dann schlösse
ja der Vorzug des Körpers den Vorzug der Seele schon in
sich —: auch dann muß man doch ein inniges wechselseitiges
Auf-einander-wirken zwischen Seele und Leib annehmen, wie
wir das täglich an uns und andern auch beobachten können;
und muß ferner zugestehen, daß die Seele auch auf die Schöpfung
selbst, auf die Formung und Gestaltung des Leibes einen abso-
lut bestimmenden Einfluß übe. Sieht man in der Welt nichts
als ein nothwendiges Wirken blinder Ursachen ohne regierenden
Zweck, so sind alle Schöpfungen Zufall, und die ungeheuer-
lichste Erscheinung ist so gerechtfertigt, als die in sich über-
einstimmendste — insofern dann noch von Rechtfertigung die
Rede sein kann. Glaubt man aber, die Welt sei nach Zwecken
geordnet: — und wie könnte man dann die weitere Annahme
eines allweisen, allgütigen und allmächtigen Schöpfers abwei-
sen? — so ist die Vereinigung der Seele, wie sie im mensch-
[275] lichen Leibe ist, mit dem Leibe eines Polypen, und immerhin
mit dem Leibe eines Hundes, Pferdes, Elephanten, ja eines Af-
fen, eine phantastische, ungeheuerliche Annahme, welche der
Anerkennung des Zweckes in der Welt widerspricht und den
Glauben an den Schöpfer verhöhnt.
Lassen wir diese sittliche Betrachtung außer Spiel, so bleibt
dennoch jede Ansicht, welche voraussetzt, es könne eine Seele
an einen ihr unangemessenen Leib gebunden sein, an einen Leib,
der ihren Bestrebungen nicht das genügende Organ gebe, völlig
unstatthaft. Wenn der Anatom noch nicht einmal einen Löwen-
kopf mit einem Eselsrumpfe vereinigen kann, wie will der Psy-
cholog eine menschliche Seele mit einem thierischen Leibe ver-
binden? Die Seele also, welche nicht die Kraft hatte, sich eine
menschliche Hand, Sprachorgane, und überhaupt einen mensch-
lichen Leib zu schaffen, ist auch keine menschliche Seele, und
sie hat sich jene Organe nicht geschaffen, weil sie kein Bedürf-
niß derselben hat, keinen Drang danach fühlt. Hätte sie die-
ses Bedürfniß gehabt, so wäre es auch an sich genügend ge-
wesen, sich Befriedigung zu schaffen; jener Drang, fände er
statt, er würde an sich selbst zur Schöpferkraft geworden sein
und jene Organe gebildet haben, wie sie ihm genügen. Der
Leib ist das Zeichen der Seele; so viel vermag die Seele, wie
sie durch den Leib vermag.
So viel gegen Herbart über die höhere Organisation des
menschlichen Leibes überhaupt, welche uns eine höhere Orga-
nisation der menschlichen Seele verräth. Was nun die Sprach-
werkzeuge insbesondere betrifft, so führt Herbart (Psychol. §. 130)
Rudolphis Behauptung an: „mechanische Hindernisse sind ge-
wiß nicht Schuld daran, daß die Thiere keine Sprache besitzen“,
und mißbilligt dies; denn nur mechanische, keine psychischen
Hindernisse könnten hier vorliegen. Er sagt: „Wenn man den
Hund bellen, das Pferd wiehern hört, so kann man wohl nicht
auf den Gedanken kommen, daß diesen sonst klugen Thie-
ren das Sprechen mechanisch möglich wäre; vielmehr liegt die
Erwartung nahe, sie würden, wenn ihre Stimmritze nur einige
Gelenkigkeit besäße, daraus etwas machen, das ihrem übrigen
Betragen angemessen wäre, und hierin das Hülfsmittel zwar
nicht einer menschlichen, doch einer höhern Ausbildung finden,
als sie jetzt besitzen“. Diese Thiere, antworten wir, haben
wirklich etwas aus ihrer Stimmritze gemacht, „das ihrem übri-
18*
[276] gen Betragen angemessen“ ist. Die Stimmritze des Hundes ist
doch so ungelenk gerade nicht. In seinem Winseln, Bellen und
Heulen liegt eine ganze Scala von Tönen; und Zunge und Kie-
fer sind beweglich genug. Wie? sagt Herbart, die Hunde, „die
auf so mancherlei Weise an menschlichen Angelegenheiten Theil
nehmen; die dem Menschen so gern Folgsamkeit beweisen, und
ihm Hülfe leisten? Also während Papageien und Elstern auf
menschliche Töne merken, und sie nachahmen, ohne von dem,
was der Mensch wünscht und will, das Geringste zu fassen,
kann der Hund, des Jägers und des Hirten treuer und geschick-
ter Gehülfe, nur bellen und heulen, — oder vielmehr, er könnte
sprechen, und versucht es doch niemals auch nur im Gering-
sten?“ Er spricht vielmehr wirklich, ist die Antwort, und ver-
sucht nicht bloß; er drückt uns durch sein Bellen, Heulen, Win-
seln in sehr verständlicher und durchaus genügender Weise seine
„Theilnahme an menschlichen Angelegenheiten, seine Folgsam-
keit“, auch seine Gefühlszustände aus — was kann mehr ver-
langt werden?
Daß die Hausthiere die menschliche Sprache auch im ent-
ferntesten nicht nachahmen, scheint allerdings in einem physi-
schen Mangel seinen Grund zu haben, aber weniger vielleicht
in ungefügigen Sprachwerkzeugen, als in mangelhaftem Gehör,
welches für die Unterschiede der Articulation keinen Sinn hat.
Hier wird man nun auch wieder ausrufen: Wie, der Hund, der
ein so feines Gehör hat! dem unsere Musik unerträglich ist,
weil er aus dem, was uns vollste Harmonie zu sein scheint,
schreiendste Disharmonie vernimmt! Doch das ist auch wieder
so einer von den völlig unbegründeten Schlüssen, die wir nach
Analogie von uns auf das Thier machen. Weil wir aufschreien,
wenn wir eine Disharmonie hören, meinen wir, der Hund, der
bei der Musik heult, müsse dies auch bloß darum thun, weil
er eine unerträgliche Disharmonie vernimmt. Hätte der Hund
einen so zarten Gehörsnerven, er würde sterben vor seinem ei-
genen ohrzerreißenden, Mark und Bein erschütternden Geheul.
Die Hauptsache also ist, daß die Thiere gerade so viel
Sprache haben, als ihrem ganzen Wesen und ihren Bedürfnis-
sen angemessen ist: Sprache des Gefühls und der Anschauung.
Freudig bellend springt der Hund, der spatzieren geführt wird:
Ausdruck des Gemeingefühls; jämmerlich heult der geschlagene,
winselt der bedrängte: Ausdruck des Gefühls; die Thiere stoßen
[277] Töne aus zum Anlocken und zum Warnen: Ausdruck ihrer An-
schauungen. In letzterm Falle ist in einem gewissen Sinne, wie
wir oben gesehen haben, schon Absichtlichkeit und zwar Ab-
sicht auf Mittheilung vorhanden. Jetzt frage man sich, was
sollen denn die Thiere noch sprechen können? was haben sie
noch zu sagen? Soll das Thier urtheilen in der Form einer Ver-
bindung von Subject und Prädicat? soll es in gleicher Form
seine Chronik erzählen? — Das Thier, von dem Herbart zuge-
steht (a. a. O. S. 211), daß es nur eine kurze Vergangenheit und
„etwas“ Zukunft hat, nämlich so viel als zwischen der Begierde
und ihrer Befriedigung liegt! Dazwischen liegt nun aber eben
wohl kaum auch nur etwas.
Herbart bemerkt sehr richtig (S. 213), „daß man die gro-
ßen Unterschiede, die aus dem Mehr und Weniger, in Rück-
sicht des Vorraths und der Verbindung der Vorstellungen, ent-
stehen müssen, niemals“ (vor ihm) „ernstlich genug erwogen
habe; und zudem“, sagt er, „bin ich völlig überzeugt, daß man
viel zu voreilig das Selbstbewußtsein, die sittlichen Gesetze, die
Begriffe vom Unendlichen und von der Gottheit, nebst andern
ähnlichen, für etwas Ursprüngliches, nicht weiter Abzuleitendes
gehalten, und dadurch die Speculation nicht gefördert, sondern
beschränkt und gehindert habe, ihr Werk gehörig durchzufüh-
ren. Denn es ist reiner Verlust für die Speculation, wenn man
das zu Erklärende absolut hinstellt, und es der Frage, warum
es also sei, und wie es mit Anderem zusammenhänge, ohne wei-
teres durch die Behauptung entzieht, es sei nun einmal so und
nicht anders“. Hier sieht man klar, wogegen Herbart mit allem
Rechte ankämpft. Aber er hat hierbei ein wenig seine Beson-
nenheit, die ihn sonst so umsichtig macht, verloren. So heißt
es nun weiter auf derselben Seite: „Jene Begriffe vom Ich, vom
Unendlichen u. s. w. können nicht die Menschheit allgemein cha-
rakterisiren. Das Kind in seiner frühesten Periode hat sie nicht;
der Wilde kommt ihnen vielleicht nicht so nahe als manches
Thier“. — Ich möchte wohl wissen, wann und wo wir einen
wilden Menschenstamm angetroffen hätten, der zu einer so be-
trübenden Behauptung auch nur die mindeste Veranlassung hätte
geben können. Es giebt keine einzige Sprache, die nicht ein
Wort für Ich hätte; und ihren Benennungen der Dinge liegt
allemal im Bewußtsein die Kategorie des Dinges zu Grunde.
Wer hat jemals beim klügsten Thiere ein Ich und ein Ding aus
[278] sichern Anzeigen zu erschließen vermocht! Das Thier unter-
scheidet sich von dem, was es frißt, und von dem Individuum,
mit dem es um den Fraß streitet. Wie weit ist von da zum
Ich des wildesten Wilden! Während man in die Thiere auf
die unkritischeste Weise alles Mögliche hinein deutet, verhält
man sich den Wilden gegenüber rein skeptisch und stellt sich
dieselben viel zu wild vor. Das Ich des Wilden ist von un-
serm gewöhnlichen Ich um kein Haar breit verschieden, wenn
es auch kein Fichtesches Ich ist. Und wenn das Kind sich bei
seinem Namen und als dritte Person nennt: Karl will essen,
statt: ich will; so liegt auch hierin schon mehr, als der klügste
Hund je erreicht, wiewohl es noch gar kein Ich ist. — „„Aber,
sagt man““, (und sagen auch wir) „„die Anlage dazu ist doch
vorhanden!““ — „Das sagt man“, entgegnet Herbart, „näm-
lich in der Hoffnung, die Metaphysik werde so geduldig sein,
sich die ursprünglichen Anlagen gefallen zu lassen. Wenn sie
nun nicht so geduldig ist, so wird man es schon darauf müssen
ankommen lassen, ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie
dies alles als Producte einer Veredlung erklären könne, zu wel-
cher der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel gelangt,
die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind zugetheilt
worden“. — Bettelgunst wäre sie, wenn sie sich bloß auf Aeu-
ßeres erstreckte, auf Hand und Fuß, und nicht auch auf die
innere Organisation der Seele selbst. „Die ursprünglichen An-
lagen“ sind es, wogegen sich Herbart wendet. Wenn wir aber
auch eine ursprünglich angelegte Vernunft, ein ursprüngliches
Bewußtsein vom reinen Ich, eine ursprüngliche Fähigkeit zur
intellectualen, absoluten Anschauung weglassen: so setzt doch
die „Veredelung“, deren nur der Mensch fähig ist, eine Mög-
lichkeit, Fähigkeit, Bedingungen, kurz eine Anlage voraus; und
alle diese Bedingungen sollten lediglich mit dem Leibe gegeben
sein? Die Seele des Menschen sollte nicht in sich selbst die al-
lererste und allerkräftigste Bedingung sein? — Nun auch einmal
eine Thatsache, den vielen schönen Hundegeschichten gegenüber.
Wer ist denn wohl besser gestellt, leiblich betrachtet, ein Hund
im Vollbesitze seiner Sinne, oder ein blindes, taubes, geruch-
und geschmackloses Kind? Den Tastsinn hatte es; aber was ist
die Hand gegen das Auge! Nun also, Hunde und Bären haben
höchstens tanzen gelernt; das blinde und taube Kind Laura
[279] Bridgman *) aber ist Lehrerin einer Blinden-Anstalt geworden,
und wir haben von ihr einen schön geschriebenen und mit rei-
zender Naivetät abgefaßten Brief an die schwedische Schrift-
stellerin Friederike Bremer gesehen. Das macht, weil sie zwar
weniger als einen thierischen Leib, aber eine menschliche
Seele hat.
Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Thiere
ist allerdings ursprünglich klein und an die leibliche höhere Or-
ganisation geknüpft; aber er wächst lawinenartig; und diese Fä-
higkeit der menschlichen Seele, sich dergestalt zu entwickeln,
daß sie durch ihre Wirkungen sich nie verzehrt, sondern an
Inhalt und Kraft gewinnt, gehört zu ihrer innersten Natur.
Betrachten wir nun den ursprünglichen, vom Schöpfer ge-
gebenen Unterschied etwas näher. Wir können hierbei nicht
zu fein, nicht zu haarscharf sein. Es steht zu erwarten, daß
wir hier nur auf feine Schattirungsverschiedenheiten stoßen, wel-
che aber an Ausdehnung und Werth bald so bedeutend anwach-
sen, daß es schwer wird, das endliche Ergebniß auf den ärm-
lichen Anfang zurückzuführen.
Was zunächst den physischen Unterschied zwischen dem
menschlichen und dem thierischen Leibe betrifft, so ist er, so weit
wir heute sehen, sehr gering. Eine Menge Unterschiede, die
man ehemals annahm, haben sich durch die Untersuchungen der
neuern Anatomie als unhaltbar gezeigt, so daß man sich be-
rechtigt fühlt, zu behaupten, daß in allen wesentlichen Verhält-
nissen der Geburt und des leiblichen Lebens Mensch und Thier
eben nicht mehr verschieden sind, als die Säugethiere unter
sich. Am liebsten sähe man einen Vorzug des Menschen rück-
sichtlich des Gehirns. Doch nach welcher Richtung man auch
die Vergleichung anstellen möge, ob man Gewicht oder Aus-
dehnung oder Form vergleiche, absolut oder relativ, das Cen-
tralorgan in Verhältniß zu den Nerven oder zum ganzen Kör-
per betrachtend — es ist noch nicht gelungen, einen consequen-
ten Maßstab der Werthschätzung aufzufinden. Dazu dürfte es
schwerlich genügen, nur ein einfaches Verhältniß zu Rathe zu
ziehen; es greifen hier vermuthlich mehrere Punkte mannigfach
[280] ineinander, und mannigfaltige Beziehungen wollen berücksichtigt
sein. Indessen andererseits, in welcher Weise man auch die
Gehirne vergleichen mag, immer nimmt der Mensch eine aus-
gezeichnete Stelle dabei ein. Das Wesentlichste aber wird wohl
nicht in allen diesen Beziehungen, sondern in der innern Structur
liegen. Aber wir kennen die Wirkungsweise des Gehirns noch
sehr wenig. Hier dürfen wir von der Zukunft noch mancherlei
Aufschlüsse erwarten.
Ferner die aufrechte Stellung. Dieser Punkt muß für die
Erregtheit des Leibes, wie der einzelnen Glieder, eine Menge
sehr fein unterschiedener Wirkungen hervorbringen, die auch auf
die Seelenthätigkeit vortheilhaft erregend wirken müssen, zu-
nächst besonders auf das Gefühl, wenn auch alle diese zarten
Wirkungen unsagbar bleiben möchten. Es liegt in der aufrech-
ten Stellung eine Befreiung vom Erdboden. Das Streben nach
ihr kann man durch das ganze Thierreich verfolgen. Je nie-
driger die Entwicklungsstufe des thierischen Leibes, desto mehr
ist die Gestalt der Erde zugewendet, und die untersten Stufen
sind sogar, wie die Pflanzen, am Boden angeheftet. Aufwärts
steigend wird der Kopf immer höher und damit beweglicher,
freier. Den Flug der Insecten und Vögel kann man als Bild
der abstracten Befreiung ansehen. So hoch sie auch fliegen, sie
gehören doch der Erde an. Den Fuß auf der Erde, das Haupt
frei und fähig sich von ihr abzuwenden: das ist das Bild der
wirklichen Freiheit, der Herrschaft; und so ist es die Stellung
des Menschen.
Hierbei ist nun näher zu berücksichtigen, daß die Weise,
wie der Kopf auf dem Halse sitzt, beim Menschen verschieden
ist von der Weise beim Thiere. Man beachte aufrecht stehende
Hunde und Affen: der Kopf fällt immer nach vorn. Die Befe-
stigungsstelle des Kopfes auf dem Halse (das Hinterhauptsloch)
ist bei diesen und allen vierfüßigen Thieren mehr am Hinter-
kopfe, während sie beim Menschen in der Mitte des Kopfes
sitzt. So thront der Kopf gerade auf dem Körper und hat da-
bei eine große Freiheit, sich rechts und links zu drehen, vor-
wärts hinab und rückwärts hinauf zu ziehen. So ist der mensch-
liche Kopf ungleich freier als der thierische; aber auch der ganze
übrige Körper ist es.
Ein Tuch, das an allen vier Ecken angeheftet ist, flattert
weniger frei als ein anderes, das nur an zwei Stellen befestigt
[281] ist; oder vielmehr nur dieses flattert frei in der Luft, jenes gar
nicht. Der thierische Leib ist ebenso mit seinen vier Füßen
an den Boden angeheftet, während der menschliche frei in die
Luft hinein ragt. Der fördernde Einfluß dieser freiern Beweg-
lichkeit durch die Bewegungsgefühle auf die Intellectualität ist
unberechenbar.
Hierzu kommen noch zwei andere Punkte, die sich beide
auf den Gefühlssinn beziehen. Der thierische Leib ist mit ei-
ner dicken starr behaarten Haut überzogen: der menschliche
Leib hat eine viel zartere, mit dünnen Haaren besetzte und vie-
len Gefühlsorganen versehene Haut. Hierdurch tritt der Mensch
in eine viel lebendigere Berührung mit der Außenwelt. Wo
das Thier nur dumpf fühlt, gewinnt der Mensch eine bestimmte
Empfindungserkenntniß.
Viel wichtiger aber noch und die eigentliche Spitze und
das Ziel der genannten beiden Einrichtungen des menschlichen
Körpers, nämlich der aufrechten Stellung und der zarten Ober-
haut, ist die Hand, oder der ganze Arm mit der Hand. Hier
erkennt man in wundervoller Weise die Oekonomie, die Spar-
samkeit der Natur. Ohne dem Menschen noch andere Glieder
zu geben, als dem Thiere, hat sie ihm dennoch mehr Glieder
gegeben. Denn indem sie die menschliche Gestalt so einrich-
tete, daß zwei Füße denselben Dienst verrichten, welchen dem
Thiere vier Füße leisten, konnte sie die beiden andern Füße
des Menschen zu Armen mit Händen umgestalten. Diese Glie-
der sind die freiesten des menschlichen Körpers; sie bewegen
sich nicht bloß nach allen sechs Seiten, vorwärts, rückwärts,
rechts, links, nach oben und nach unten, sondern diese Bewe-
gungen werden auch noch allseitig combinirt. An die Beweg-
lichkeit der Hand, des Daumens, brauche ich nur zu erinnern.
Dazu ist die Haut der Finger, besonders der Spitzen, mit dicht-
gedrängten kleinen Tastorganen übersäet. Solche Glieder hät-
ten schon viel nützen können, selbst wenn sie immer noch zum
Gehen verwendet werden müßten. Die aufrechte Stellung aber,
indem sie dieselben vom Boden losreißt, erhebt sie in die ihrer
würdige Sphäre der Freiheit. Nun wird Hand und Arm das
Werkzeug der Werkzeuge und ein besonderer Sinn zur Erkennt-
niß von Raumverhältnissen, durch welchen das Auge unterstützt
wird. Die räumlichen Anschauungen des Menschen müssen un-
gleich entwickelter sein, als die des Thiers. Die Raumanschau-
[282] ungen bilden aber die Grundlage aller Seelenerkenntniß. Diese
Grundlage muß beim Menschen, durch die freiere Beweglich-
keit des ganzen Körpers, durch die größere Feinheit des Ge-
fühlssinnes über der ganzen Oberhaut und endlich durch die
Hand, viel breiter, viel feiner durchgearbeitet, viel inhaltsreicher
und bestimmter sein. Auch ist der Mensch vermöge des Ar-
mes mit der Hand der einzige Arbeiter auf Erden; und wie
fördert die Arbeit die Erkenntniß! Arbeiten ist ein wahres Ex-
perimentiren.
Das Thier ist stärker als der Mensch. Aber was diesem
an Größe der Kraft abgeht, das ersetzt er reichlich, das über-
bietet er vielfach durch die Qualität, durch die innere Vortreff-
lichkeit. Das Thier hat einen schärfern Geruch, d. h. es riecht,
wo der Mensch nichts empfindet; aber für die verschiedenen
Arten von Wohlgerüchen scheint es weniger empfänglich. Doch
hierin könnte man einen reinen Luxus des Menschen sehen, der
vielleicht auch nicht dem Urzustande angehört. Das Thier
scheint aber nicht bloß zu riechen, wo der Mensch nichts em-
pfindet, sondern auch durch den Geruch unterscheidende Er-
kenntnisse zu erlangen, die dem Menschen abgehen. Hier möchte
ich einen unverkennbaren Vortheil des Thieres willig anerken-
nen. Auch ist beim Hunde z. B. das Riechorgan und der un-
mittelbar zu diesem Organ gehörende Theil des Gehirns auffal-
lend mehr entwickelt, innerlich reicher, sorgfältiger organisirt,
als beim Menschen. Die Absicht der Natur ist nicht unklar.
Zum Aufsuchen der Nahrung und zum Ersatz mancher andern,
dem Thiere für seine Selbsterhaltung nothwendigen Erkennt-
nisse unterstützte die Natur den Instinct durch einen nicht bloß
scharfen, sondern auch fein unterscheidenden Geruch. — Ge-
schmack dagegen kann das Thier nur sehr wenig haben, wie
aus der Einfachheit seiner Nahrungsmittel hervorgeht. Und
sind wir wohl sicher, daß es überhaupt einen Geschmackssinn
habe? Der Geruch scheint ihm denselben völlig zu ersetzen. —
Die drei wichtigsten, eigentlich theoretischen, Erkenntniß ver-
schaffenden Sinne sind: Gesicht, Gehör und Getast. Von letz-
term war schon die Rede: das Thier hat ihn im schwächsten,
der Mensch im höchsten Grade. Dagegen scheint das Thier
rücksichtlich der beiden andern, wie beim Geruch, im Vortheil:
es sieht besser und hört besser. Hier aber tritt nun unsere
obige Unterscheidung ein von Qualität und Quantität der Kraft.
[283] Das Thier sieht und hört besser; das heißt: es sieht in einer
Entfernung, hört aus einer Entfernung, in und aus welcher der
Mensch nicht sieht und hört; aber was der Mensch sieht und
hört, das erkennt er besser, d. h. mit mehr und mit feinern Un-
terschieden. Es fehlt erstlich dem Gesichtssinn des Thieres die
so lebendige Unterstützung des Tast- oder Gefühlssinnes; das
kann nicht ohne schwächenden Einfluß auf die Gesichtserkennt-
niß bleiben. Ferner fragt es sich, ob wohl die Thiere Farben-
unterschiede erkennen? Herbart bemerkt hierüber (Psych. §. 129.
Werke VI. S. 207): „Da es sogar Menschen giebt, die nach
Kants Ausdruck alles gleichsam in Kupferstich sehen *), so ist
leicht zu erwarten, daß wenigstens vielen Thiergattungen keine
vollkommnere Sinnesempfindung zugetheilt sein möge; wodurch
wiederum der ursprüngliche Vorrath an Elementarvorstellungen
eine sehr bedeutende Verminderung erleidet.“ Nun weiß man
freilich, wie gewisse Farben auf gewisse Thiere, wie z. B. das
Roth auf die Stiere, einen unbegreiflich bedeutenden Eindruck
machen. Dies scheint jedoch darauf hinzudeuten, daß die Far-
ben dem Thiere weniger Empfindungserkenntnisse geben, als
Gefühlsaufregungen verursachen mögen. Wir machen vielleicht
Kants eben angeführten Ausdruck noch treffender, wenn wir
sagen, das Thier sehe alles in Photographie; die objectiven Ver-
hältnisse, die uns als Farben erscheinen, mögen sich in das thie-
rische Sehen theils gar nicht einmischen, theils mögen sie in
ganz anderer Form gefühlt werden, aber dann sicherlich in ei-
ner der theoretischen Entwicklung nachtheiligen Form. — Und
ebenso endlich mag es sich mit dem Gehör verhalten: das thie-
rische, dem menschlichen quantitativ überlegen, steht ihm den-
noch qualitativ nach. Das Pferd spitzt die Ohren, lange bevor
der Reiter etwas merkt. Aber Sinn für wohllautende Töne, für
Harmonie und Rhythmik haben die Thiere nicht. Das Pferd
scheint vom Blasen der Hörner angenehm berührt zu werden;
der Hund heult die Musik an. Es giebt bekanntlich auch Men-
schen, welche für Musik keinen Sinn haben, denen Musik blo-
ßer Lärm ist. Wilhelm von Humboldt ist ein solches Beispiel,
er, der in den übrigen Künsten den gebildetsten Geschmack
hatte. Was unter den Menschen Ausnahme ist, kann leicht beim
Thier Regel sein. Ebenso mag dem Thiere der Unterschied der
Articulation völlig entgehen.
[284]
Betrachten wir also die Wirkung der Sinnesorgane insge-
sammt, so werden wir sagen müssen, daß die reine Naturkraft
der thierischen Sinne stärker ist, als die der menschlichen; daß
dafür der Mensch eine größere Mannigfaltigkeit von Eindrücken
hat, welche, weniger oder ganz und gar nicht der Nothwendig-
keit des leiblichen Lebens dienend, nur als ein wuchernder Ueber-
schuß von den Sinnen hervorgebracht werden und zum Luxus,
zur Annehmlichkeit des Lebens sich darbieten. Wir sehen hier
die Entstehung der Künste im Keime angelegt. Nämlich jeder
Ueberschuß über die Nothwendigkeit der Natur treibt zur Kunst,
zum Selbstbewußtsein. Das Thier riecht und schmeckt, damit
es die ihm wohlthuende Nahrung erkenne, damit es wisse, wenn
es genug gegessen habe. Der Mensch aber unterscheidet Wohl-
geruch und Wohlgeschmack. Er fühlt einen Gaumen- und Na-
senkitzel. Indem er das Bedürfniß des Essens, des Leibes be-
friedigt, gewährt er noch nebenbei der Seele einen Genuß, weckt
also die Seele, und schon hier beginnt das Ich. Helle und Dun-
kelheit, das Farbenspiel der Natur, das Tönen derselben ergreift
den Menschen, erregend und niederdrückend, erheiternd und be-
ängstigend, ohne daß sich sagen ließe, wie und warum? Diese
ästhetischen Eindrücke der einfachen Natur hat der Wilde, der
Urmensch in viel höherm Grade, als wir, und sie sind Quelle
der Kunst und Religion, Ueberschuß über die Sinne in den
Geist; das Thier aber hat davon sehr wenig, wenn überhaupt
etwas.
Wir haben hier besonders ein Gefühl hervorzuheben: den
Schauer, den der Urmensch etwa empfand, als er zum ersten
Male den dunkeln rauschenden Hain betrat. Ich glaube ihn
psychologisch erklären zu können. Wegen der Association der
Anschauungen hat der Mensch, und auch das Thier, Erwartun-
gen einer folgenden Anschauung, sobald ihm die erste gegeben
ist. Nun aber gewinnt der Mensch viel mehr Elementarkennt-
nisse. Der Vorgang der Association und Erwartung muß sich
also ungleich häufiger beim Menschen, als beim Thiere ereignen.
Die Erwartung wird eine viel festere Gewohnheit, wird ihm zum
Bedürfniß. Wenn sich eine Reihe von Anschauungen vor ihm
entwickelt, so kann er sich nicht enthalten, bei jeder einzelnen
eine andere, die in seiner Seele mit jener verknüpft ist, zu er-
warten. Oder es sind mehrere mit jeder verknüpft; so erwar-
tet er, welche derselben jetzt ihre volle Klarheit erlangen solle,
[285] dadurch daß ihm die wirkliche sinnliche Anschauung von neuem
geboten wird. So ist es, nur in geringerer Menge, beim Thiere
auch. Wird nun aber eine neue Anschauung geboten, welche
noch mit keiner andern verknüpft sein kann, so starrt das Thier
gleichgültig; der Mensch aber, der sich in eine Reihe von An-
schauungen geführt sieht, bei deren keiner er Gelegenheit hat
etwas Bekanntes zu erwarten; dem hier bevorsteht, daß ihm
einzeln nach und nach mehrere Anschauungen ohne vorgängige
Erwartung geboten werden: er fühlt in dieser ungewohnten Weise
des Anschauens jene Beklemmung des Schauers, in welchem er
bei jedem Schritte erst der Erholung, der Wiederherstellung
des Gleichgewichts im Bewußtsein bedarf. Es ist kein Ablauf
einer Reihe von Anschauungen, wo Welle auf Welle folgt; son-
dern es sind abgebrochene Schritte, deren jeder für sich, un-
associirt dasteht. Dieser Schauer des Unbekannten ist eine Quelle
der Religion.
Kommen wir zurück auf die Stärke der Sinne. Betrachten
wir es recht, was es heißt: stärkere Sinne haben? Mächtiger
von der Natur ergriffen, erregt sein, d. h. sinnlich, leiblich er-
griffen, d. h. leidend. Die Sinne sind beim Thiere breite Thore,
durch welche die äußere Natur mit solcher Macht in die Seele
einstürmt, daß diese unterworfen wird, Selbständigkeit und freie
Bewegung verliert. Bei den stumpfern Sinnen des Menschen ist
die menschliche Seele auch mehr gegen den überwältigenden
Eindruck der Außenwelt geschützt, und sie bleibt ihrer mäch-
tig. Sie nimmt durch die Sinne gerade so viel auf, als sie be-
darf und verarbeiten, sich assimiliren kann. Es findet also zwi-
schen Thier- und Menschenseele ein ähnlicher Unterschied statt,
wie zwischen Gefühl und Sinnesempfindung. Im sinnlichen Ge-
fühle erkennt die Seele die das Gefühl hervorrufende Außen-
welt nicht, weil sie zu sehr mit dem eigenen Körper beschäftigt
ist, zu sehr mit ihm leidet. Das geringere Leiden der Empfin-
dung gestattet ihr die Freiheit, das Bewußtsein, zu fragen:
woher kommt mir dies? und mit der Antwort hierauf eine Au-
ßenwelt zu setzen, anzuerkennen. In gleicher Weise nun kann
die Thierseele, von starken Sinnesempfindungen bestürmt und
unterjocht, sich nicht weiter entwickeln, nicht Gebieterinn ihrer
selbst und ihrer Empfindungen werden und letztere mannigfach
bearbeiten; aber die menschliche Seele, im Widerstande gegen
schwächere Empfindungen, bemächtigt sich derselben zur wei-
[286] tern Erkenntniß. Die menschliche Seele, weniger der Natur
hingegeben, mehr bei sich bleibend, entwickelt sich zum Geiste,
während die thierische im Leibe erstarrt.
Der ganze menschliche Leib ist schwächer, als der thieri-
sche; darum ist die menschliche Seele stärker, als die thierische.
Betrachtet man Natur oder Leib überhaupt im Gegensatze zur
Seele: so mag man sagen, die Seele sei der Parasit des Leibes.
Dieser Ausdruck ist uns aber zu schwach. Dabei wird der
Mensch als eine Art Thier betrachtet. Das Verhältniß zwischen
Leib und Seele ist aber im Menschen völlig umgestaltet. Wäh-
rend beim Thier die Seele des Körpers wegen da ist, der Leib
Herr, die Seele ihm dienend: so ist umgekehrt beim Menschen
der Leib nur der Seele wegen da; sie nur ist, und der Leib
ist ihre Stütze.
In der That, der Erfolg aller thierischen Seelenthätigkeit
geht auf im Dienste für den Leib; alle Sinne dienen dem Ma-
gen oder dem Ausweichen der Gefahr. Noch etwas mehr wol-
len wir zugestehen: das Thier spielt; und wenn man dies, und
wir meinen mit Recht, als bloße Nervenerregung ansieht, so ist
ferner daran zu erinnern, daß das Thier es freudig fühlt, wenn
man es freundlich streichelt, ihm wohlwollend schmeichelt, und
mancher Hund Eifersucht zu zeigen scheint, wenn er Liebes-
beweise seines Herrn gegen andere bemerkt. Das Thier hat also
mehr als bloß sinnliches Gefühl; natürlich! denn es hat An-
schauungen, und folglich hat es auch Affecte. Es beweist Liebe,
Treue, Dankbarkeit, Haß, Rache. Man kann nicht sagen, es
sei durchaus egoistisch; aber es ist durchaus praktisch oder
vielmehr utilistisch, und ist nicht theoretisch, liberal. Es bezieht
alles auf sich oder den es liebt, auf seinen Nutzen; was ihm
nicht nützt, ist nicht für das Thier, und was für dasselbe ist,
ist dies nur, insofern es ihm nützt. Abgesehen von den Spiel-
bewegungen, zu denen es erregt wird, ergötzt sich das Thier
nicht, nicht am Wohlgeruch, nicht am Anschauen, nicht am
Hören. Der Mensch, auch der Wilde, hat ein vielfältigeres In-
teresse an den Dingen; er verzehrt sie nicht bloß, sondern ge-
nießt sie, indem er sie gewähren läßt. Das ist ein Anfang rein
theoretischer Beobachtung. Das Thier genießt wesentlich nur
mit dem Leibe, dem die Seele dient; der Mensch mit der Seele,
welcher der Leib dient.
Nun ist aber auch die umgekehrte Betrachtung anzustellen.
[287] Der menschliche Leib ist so schwach und hülßbedürftig, er hat
an seinen Sinnen so ungenügende Warner, Rathertheiler und Ver-
sorger, ist durch seine Glieder so wenig geschützt und versorgt,
er hat so vielerlei Bedürfnisse, daß er in viel höherm Grade
als das Thier zur Erhaltung des Lebens die Thätigkeit der Seele
in Anspruch nimmt. Das Thier erhält über das, was es zu sei-
ner Erhaltung zu thun habe, genügende Belehrung durch den
Instinct, dem die Sinne noch helfen. Der Mensch hat von die-
sem Instincte wenig oder nichts. So könnte es scheinen, als
würde sich die menschliche Seele nie erheben können über diese
Dienstbarkeit gegen den Leib, zu welcher sie verdammt sei; als
müsse sie den Ueberschuß an Kraft und Fähigheit, den sie vor
dem Thiere voraus hat, gänzlich darauf verwenden, den Mangel
an Instinct zu ersetzen. Doch dem ist nicht so. Gerade der
thierische Instinct ist die im Dienste des Leibes stehende Seele;
die für den Körper Sorge tragende menschliche Seele sorgt für
jenen, wie ein Herr für seinen Knecht, dem er gute Nahrung,
Kleidung, Befriedigung aller Bedürfnisse verschafft, bloß damit
derselbe um so besser für ihn arbeite. Nicht anders sorgt die
menschliche Seele für ihren Leib. Darum eben hat und sucht
die Seele bei der Versorgung des Leibes zugleich noch ihre ei-
gene Befriedigung. Sie schafft nicht nur dem Leibe Speise,
sondern sucht dabei zugleich für sich den Wohlgeschmack; sie
verfertigt nicht nur Kleidung und Bewaffnung zum Schutze
gegen die Elemente und Feinde, sondern sie befriedigt dabei
zugleich ihr Wohlgefallen an Farbenpracht und Putz. Die
Seele spielt mit Nahrung und Kleidung; so erhebt sie sich über
das Bedürfniß, das Nothwendige, und tritt in den Kreis des
Freien.
Das Bedürfniß der Natur wird nun zwar immer und ewig
mit gleichem Lustgefühl befriedigt; aber nicht so das Bedürfniß
des Spiels. Es thut immer wohl, Hunger und Durst zu stillen,
Kleidung und Wohnung dem Wetter gemäß zu haben; aber
das Spiel wird einer Sache bald satt; es verlangt Abwechs-
lung, es erträgt das Gewohnte nicht. So wird also die Seele
zunächst durch das Bedürfniß des Leibes, sodann zur Befriedi-
gung des Spieltriebes in Anregung, in Thätigkeit versetzt; sie
muß suchen, und zwar mehr, als sie brauchte. Und jeder
Fund steigert die Lust am Suchen, und diese Lust wird nicht
eher befriedigt, als bis sie einen neuen höhern Fund erlangt
[288] hat; und so bildet sich selbst in der Befriedigung diese Sehn-
sucht, welche die menschliche Seele zur endlosen Entwicke-
lung treibt.
Endlich haben wir noch der Geselligkeit zu gedenken. Daß
dieselbe ein unentbehrliches Mittel der Seelenentwickelung ist,
sie, auf der Wetteifer, Bereicherung durch Mittheilung, Ueber-
lieferung auf folgende Geschlechter, also Einheit aller Seelen-
thätigkeit des ganzen Menschengeschlechts beruht, im Gegen-
satze zur Zersplitterung der Thierarten in vereinzelt lebende und
über ihr Leben hinaus nicht fortwirkende Individuen: das braucht
kaum angedeutet zu werden. Aber woher rührt sie? Auch
ist die Geselligkeit nicht allen Thierarten fremd. Ganz fremd
ist sie sogar keiner Art. Alle Thiere derselben Art erkennen
sich als solche, spielen und arbeiten wohl zusammen, gehen zu-
sammen auf Nahrung aus. Die sogenannten Raubthiere thun
dies wohl weniger. Sie, die doch wohl am meisten gegensei-
tiger Hülfe bedürften, schließen sich am meisten ab, weil sie
sich bei der Theilung der Raubes nicht vertragen würden. So
viel Rücksicht aber schenkt dennoch jedes Raubthier dem In-
dividuum seiner Art, daß es dasselbe nicht anfällt, um sich ein-
fach an ihm zu sättigen. Ein hungriger Wolf wird jedes lebende
Wesen, dem er begegnet, angreifen, aber keinen Wolf. Auch
der Mensch ist Egoist genug, daß er leicht, seiner gemeinen
Natur folgend, zerstreut und vereinzelt gelebt haben würde, nicht,
wie etwa der Elephant, in Gruppen und Haufen. Die Vorse-
hung aber hat ihn durch gewisse Einrichtungen auf den Weg
der Geselligkeit geleitet. Es ist nicht die Schwäche der Men-
schen überhaupt, welche sie an einander knüpft. Der Mensch
ist nicht so schwach, um nicht auch vereinzelt leben zu können;
und Rücksicht auf Vortheil, d. h. Egoismus, wie sollte der im
Stande sein, Verbindung, Gesellschaft zu erhalten! Aber die
Schwäche des neugeborenen Menschen, seine lange Kindheit,
unterhält lange Zeit den rein natürlichen Affect elterlicher Liebe,
knüpft zwischen Kind und Eltern ein durch Gewohnheit vieler
Jahre fest geschlungenes und fest gewebtes Band. Mit der Reife
der jüngsten Kinder fällt der Beginn der Altersschwäche der
Eltern zusammen, und das Band knüpft sich in umgekehrter
Weise von neuem. Auch mischen sich in das zunächst rein na-
türliche instinctive Gefühl der Eltern- und Kindesliebe sehr bald
ethische Elemente, die ja schon das Thier kennt. So entstehen
[289] sogleich Familienbande, gewebt aus Liebe, Dankbarkeit, Vereh-
rung, ja religiösem Gottesgefühl.
So bilden sich nun Familientraditionen. Die lange Kind-
heit des Menschen begünstigt den Unterricht; der Mensch hat
lange Lehrjahre, und ehe der Geschlechtstrieb erwacht, hat er
in sorglosem Leben schon eine bedeutende Bildung und Selb-
ständigkeit der Seele erlangt, deren weitere Entwickelung nun
durch die Geschlechtsreife mehr gefördert, als gehemmt wird.
Das Thier gelangt zu dieser Reife schnell; seine Kindheit ist
kurz, und kaum hat es angefangen zu lernen, so hat es die wei-
tere Lernfähigkeit verloren.
Der menschliche Körper ist schwächer, als der thierische,
und dennoch hat er mehr Lebensdauer, ist weniger abhängig
von den Einflüssen der Elemente. Die längere Dauer des Le-
bens ist vorzüglich wichtig. Der Mensch hat lange gelernt; nun
bleibt ihm aber noch drei-, vier-, fünfmal so viel Zeit, um das
Erlernte zu bereichern durch eigene Entdeckung und Erfindung
und selbst wieder zu lehren und später mit dem Lehrling zu-
sammen als Gesellen zu arbeiten.
Aus alle dem jedoch würde vielleicht nur folgen, daß die
Menschen familienweise in Höhlen zerstreut wohnten, wenn nicht
in des Menschen Brust noch ein besonderer Drang zur Gesel-
ligkeit lebte. Herbart bemerkt, wiewohl in einem andern Zu-
sammenhange (Psych. §. 135. Werke VI, S. 244.): „Das Kind
weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt, nicht
bloß seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die Vorstellungen
der bekannten Umgebung jetzt, in der unbekannten, eine Hem-
mung erleiden, die sich auf die Vorstellung von seiner eigenen
Person fortpflanzt. Selbst der mehr herangewachsene Mensch
empfindet eine ähnliche Hemmung im Dunkeln; er singt, er
spricht, er schreiet, um etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu
haben, das mit der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge.“
Diese Bemerkung wird gewiß jeder aus eigener Erfahrung be-
stätigen. Aber das Kind weint, selbst in der elterlichen Stube,
wenn man es allein läßt; und auch Herangewachsenen ist nicht
bloß die Dunkelheit, sondern auch, und vielleicht noch mehr,
die Einsamkeit drückend. Die Seele verlangt einen ungehemm-
ten Fluß der Vorstellung. Ist dieser Fluß weniger lebendig,
wird er matt, so fühlt man drückende Langeweile; man verlangt
von außen her Anregung, man sucht Gesellschaft. Denn das
19
[290] Gespräch, die Unterredung gewährt dieses Vergnügen, daß An-
schauungen in die Erinnerung, Gedanken in das Bewußtsein ge-
rufen werden. Und wie die Trägheit des eigenen Vorstellungs-
verlaufes, die Leerheit des eigenen Bewußtseins die Gesellschaft
aufsuchen läßt: so drängt auch die Fülle des Herzens und Gei-
stes, die Lebendigkeit des Wechsels der Vorstellungen zur Aeu-
ßerung, und jede Aeußerung will Mittheilung sein; also wird
man zur Gesellschaft getrieben.
So finden sich gleichgestimmte Seelen; es bildet sich Freund-
schaft, Gemeinsamkeit der Interessen, Wetteifer, und was sonst
noch Tugenden hervorruft und die Entwickelung des Geistes
fördert.
Wir haben hier einen bloß gedachten vorsprachlichen Ur-
zustand des Menschen construirt, gewissermaßen eine künstliche
Fiction, deren Wirklichkeit in der Zeit uns gar nicht kümmert.
Wir haben diesen rein theoretisch construirten Zustand der Men-
schenseele mit der thierischen verglichen, und für erstere überall
und in allen Beziehungen einen Ueberschuß an Kraft gefunden.
Diesen Ueberschuß lassen wir nun die menschliche Seele auf
die Bildung der Sprache verwenden. Darauf kam es uns ja
an, zu zeigen, warum zwar aus der menschlichen Seele, aus
ihrer Wahrnehmung, Sprache entspringe, nicht aber aus der
thierischen. Nach unserer obigen Vergleichung wird man nicht
mehr darüber verwundert sein, daß die thierische Seele da mit
ihrer Bildung aufhört, wo die menschliche Seele erst anfängt,
in der Schöpfung der Sprache ihre eigenthümliche Natur zu ent-
wickeln. Bei unserer ganzen obigen Darstellung der Thier- und
Menschenseele mußten wir von der Sprache absehen, deren Mög-
lichkeit ja erst erwiesen werden sollte. Woher die Kraft stamme,
vermittelst welcher die Seele Sprache bildet, das sollte erst ge-
zeigt werden, diese Kraft zur Schöpfung der Sprache kann na-
türlich nicht aus der Sprache stammen. Darum haben wir einen
Zustand des Menschen, wie er vor der Sprache ist, fingirt. Das
ist freilich nur eine Fiction; denn die Sprache ist dem mensch-
lichen Wesen so nothwendig und natürlich, daß ohne sie der
Mensch weder wirklich existirt, noch als wirklich existirend ge-
dacht werden kann. Der Mensch hat entweder Sprache, oder
er ist gar nicht. Andererseits aber — und dies rechtfertigt die
obige Fiction — darf doch die Sprache nicht als zum Sein der
menschlichen Seele selbst gehörig angesehen werden; sie ist viel-
[291] mehr allerdings schon eine nicht ohne ein gewisses Bewußtsein
vollbrachte Schöpfung des Menschen, wenn auch noch keine
selbstbewußte That. Sie ist eine Stufe der geistigen Entwicke-
lung der Seele und verlangt eine Ableitung aus den ihr voran-
gehenden Stufen. Mit ihr beginnt das eigentlich menschliche
Thun und Treiben; sie ist die Brücke, die aus dem Thierreiche
in das Menschenreich führt. Die Materialien dazu können nur
aus ersterm entlehnt werden; im Thier-Menschen muß die Mög-
lichkeit zur Sprache nachgewiesen werden. Warum sich aber
nur die menschliche Seele diese Brücke baut, warum nur der
Mensch vom Thierstande zur reinen Menschheit vermittelst der
Sprache schreitet, und nicht auch das Thier: das wollten wir
uns durch eine Vergleichung des Thieres mit dem Thier-Men-
schen klar machen. Diese Vergleichung zeigte uns, daß der
Mensch, wie wir ihn uns ohne Sprache fingiren müssen, zwar
ein Thier-Mensch, aber kein Menschenthier, noch sonst eine Art
Thier ist, sondern immer schon eine Art Mensch.
Wir fügen nun zum Beschlusse dieser Vergleichung des
Menschen mit dem Thiere noch eine Bemerkung hinzu, die das
Wesen der Sprache näher als alles früher Erwähnte betrifft und
diese Betrachtung mit der vorangehenden über den Zusammen-
hang von Leib und Seele zusammenschließt. Nämlich: die Thier-
seele wird von jeder leiblichen, sinnlichen Affection, vom Schmerz-
und Lustgefühl, wie von den Empfindungen, aufs lebhafteste mit
ergriffen, ohne Herr der Affection zu werden; umgekehrt wird
beim Menschen der Leib durch die Affectionen der Seele mit-
bewegt. Denn hat die menschliche Seele die Uebermacht über
den Leib, muß sie ihn ernähren, wahren, schützen, bleibt sie
den Sinneseindrücken gegenüber ihrer selbst mächtig und wird
nicht hingerissen in den Strudel sinnlicher Empfindung: so wirkt
sie auch aus eigener Erregung so kräftig auf den Leib zurück,
daß dieser zum treuen Spiegel ihrer Bewegungen wird. Die
Thierseele ist der Reflex des thierischen Leibes; beim Menschen
reflectirt der Leib die Seele. Sicht- und hörbare leibliche Ver-
änderungen, veranlaßt durch Seelenerregungen, verrathen uns
die unsichtbaren Seelenbewegungen, deren Reflex sie sind. Dies
ist der Quell der Sprache. Der Körper ist stumm, wenn er
seine eigene Masse, sein eigenes Gewicht gelten läßt; er
spricht, indem er die Form annimmt, die ihm die Seele auf-
prägt. Die Herrschaft des Geistes über den Körper
19*
[292]bricht in Tönen aus, und Freiheit ist das Wesen der
Sprache.
§. 91. Sprache als Befreiungsact der Seele.
Das Sprechen ist also eine Befreiungsthätigkeit. Das füh-
len wir ja alle heute noch, wie wir unsere Seele erleichtern, von
einem Drucke befreien, indem wir uns äußern. Die Sprache
wirkt hier wie ein Thränenerguß, und oft zusammen mit ihm.
Besonders aber das erste Hervorbrechen der Sprache beim Kinde
und beim Urmenschen ist eine Befreiung der Seele von dem
Drucke der auf sie eindringenden Sinnesempfindungen. Denn
je größer bei der fortschreitenden Entwickelung des Geistes die
Selbstbeherrschung wird, desto mehr lernen wir schweigen, d. h.
die von außen kommenden Eindrücke auch ohne Sprache über-
winden; gemäß dem ursprünglichen Verhältnisse aber muß man
ganz eigentlich, und nicht bloß bildlich, sagen: so wie ein ela-
stischer Körper, der erschüttert wird, in einen tönenden Zustand
versetzt wird und sich durch dieses Tönen von dem empfange-
nen Stoße losmacht, indem er ihn der Luft weiter giebt: eben
so tönt der Mensch, erregt durch die auf ihn einstürmenden Ge-
fühle und Anschauungen, in der Sprache und befreit sich von
den empfangenen Eindrücken, indem er sie an die Luft abgiebt
durch das Wort.
Wie gesagt, wir bewegen uns hier nicht in Metaphern, son-
dern stehen auf dem Boden der genauen Lehre von den phy-
sikalischen Kräften. Es ist zu interessant, die Sprache als Re-
flexbewegung unter das allgemeine Gesetz der physikalischen
Kräfte zu bringen, und sie so von dem umfassendsten Stand-
punkte aus anzusehen, als daß ich mir versagen könnte, die
hierauf bezüglichen Bemerkungen aus Lotzes Allgemeiner Phy-
siologie (S. 450 ff.) ausführlicher mitzutheilen. Gehen wir näm-
lich davon aus, daß jede Wirkung einer Kraft auf einen Kör-
per, nach dem Gesetze der Trägheit, so lange fortdauert, als
sie nicht durch entgegengesetzte Widerstände aufgezehrt wird,
wenn auch nicht nur ihre Richtung, sondern auch ihre Form
sich so umgestalten kann, daß sie nur in einem ihrer Größe
entsprechenden Aequivalent eines anderen von ihr angeregten
Processes fortdauert: so bemerken wir nun auch, daß auf den
lebendigen Körper in jedem Augenblicke seines Bestehens eine
große Anzahl physischer Kräfte einwirken, deren Wirkungen
ebenfalls entweder auf andere Körper übertragen, oder sonst wie
[293] aufgezehrt werden müssen. Es ist doch auch wohl ferner vor-
auszusetzen, daß der organische Körper, wie eine jener sinn-
vollsten Maschinen, die zufälligsten und formverschiedensten Ein-
wirkungen von außen nicht nur zu überdauern, sondern ihnen
zugleich einen benutzbaren Effect für seine eigenen Zwecke ab-
zugewinnen vermag. Ein Perpetuum mobile freilich ist auch er
nicht. Gewaltsamen Erschütterungen vermag er nicht zu wi-
derstehen. „Geringere Erschütterungen dagegen müssen wir bei
Pflanzen, wie bei Thieren, als aufgenommen in den Plan des Le-
bens ansehen, bei diesen als unvermeidliche Folgen der Muskel-
bewegung, bei jenen als Nebenumstände, welche mit dem Ge-
nusse des adäquaten Lebensreizes, der atmosphärischen Luft,
gleich unabtrennbar verbunden sind. Ein großer Theil dieser
zugeführten Erschütterungen geht nun allerdings nutzlos verlo-
ren; der Organismus theilt seine Bebungen dem Boden und der
umgebenden Luft mit; ein anderer Theil der Bewegung wird
auf Erzeugung von Schallschwingungen, ein kleinerer vielleicht
noch auf Bildung von Wärme verwandt.“ Andererseits aber
sind diese Erschütterungen förderlich für die Saftbewegung und
den Stoffwechsel, sowohl bei Thieren als bei Pflanzen.
Betrachten wir jetzt die Nervenwirkungen. Die Erre-
gung motorischer Nerven findet ihre Ausgleichung in der Con-
traction der Muskeln, und diese verliert sich in Wärmeerzeu-
gung und chemische Processe, außerdem daß die Glieder ihre
Bewegung nach außen mittheilen: dies ist leicht zu sehen. Aber
„wohin verlieren sich die unzähligen zum Theil so starken Ein-
drücke, denen unser sensibles Nervensystem jeden Augenblick
ausgesetzt ist? Diese Frage läßt sich nicht mit Sicherheit ent-
scheiden, doch giebt es einige Spuren, die wir verfolgen kön-
nen.“ Nämlich der Nerv nutzt sich ab, und so wird also
auch seine Erregung in chemische Processe umgewandelt. Doch
dies geschieht nicht schnell genug, und wir erkennen leicht noch
zwei Möglichkeiten, wodurch sich der Körper von den Nerven-
erregungen befreit, Muskelbewegung und Absonderung.
„Die Natur hat die erste Art der Ausgleichung sensibler
Erregung, ihre Uebertragung nämlich auf motorische Nerven,
nicht nur höchst ausgedehnt verwirklicht, sondern zugleich das
Unvermeidliche zum Besten gekehrt. Zwar nicht immer, aber
überall, wo die Function eines Organs dazu Veranlassung gab,
erscheinen diese Reflexbewegungen nicht nur als Ableitungen
[294] der Erregung in den sensiblen Nerven, sondern zugleich als
Auslösungen nützlicher Leistungen. Ein heftiger Lichteindruck
bringt sofort Schließung der Augenlieder hervor … Dem Ge-
hörnerven scheint kein so lenksamer Muskelapparat eigen zu
sein, durch dessen Erregungen er seine eigenen beruhigt; doch
dürften leicht theils die Stimmorgane, theils die gesammten Kör-
permuskeln, in denen wenigstens jede rhythmische Musik so leicht
Bewegungstriebe hervorbringt, eine Ableitung jener Erregungen
enthalten … Ueberraschende Reize, welche eine große Haut-
fläche zugleich treffen, oder intensive Schmerzen der äußern und
der innern Theile, bringen besonders deutliche Nachwirkungen
in den Bewegungen des Athmens und der Circulation hervor“,
wobei wenigstens eine Ausgleichung der sensiblen Erregung, wenn
auch keine teleologische Benutzung stattfindet. Nur kann man
recht wohl in den durch Reflexion der sensiblen Erregungen auf
die Tonorgane hervorgebrachten Lauten „eine zweckmäßige Dar-
bietung eines Ausdrucksmittels innerer Zustände sehen, dessen
sich die Ueberlegung“ (dies Wort ist nicht eigentlich zu neh-
men) „weiter bedient, um durch Gedankenmittheilung eine Hilfe
zu suchen, die nicht unmittelbar durch organische Processe ge-
leistet wird.“ Und endlich heißt es (S. 462.): „Nur dies möch-
ten wir bitten, daß man die physiologische Nothwendigkeit nicht
überhaupt verkennt, die in dem Zusammenhange dieser Processe,
z. B. der sensiblen und der motorischen obwaltet, und daß man
an seine Stelle nicht eine unbestimmte psychische Verknüpfung
setzt. Der Schrei des Leidenden ist keine Handlung, die aus
psychischen Motiven folgt, sie gehört gewiß zur nothwendigen
Verkettung physiologischer Processe … Es hat einen großen
Reiz, das ästhetisch Bedeutsame des Lebens oder die psychisch
nothwendigen Veranstaltungen mit unvermeidlichen mechanischen
Verhältnissen zusammenhängen zu sehn. So ist die Sprache
nicht allein eine Erfindung des Menschen, sondern in der An-
regung der Stimme durch innere Zustände überhaupt liegt ein
natürlicher Trieb zu ihrer Erfindung und Benutzung; und selbst
dieser Trieb ist von der Natur nicht blos willkürlich an jene
innern Zustände geknüpft, sondern enthält zugleich die unent-
behrliche mechanische Ausgleichung, die sie erfordern.“
Wir dürfen also jetzt in ganz eigentlichem Sinne sagen:
der Mensch spricht, wie der Hain rauscht. Luft, welche Töne
und Gerüche trägt, Lichtäther und Sonnenstrahlen, und der
[295] Hauch des Geistes fahren über den menschlichen Leib dahin,
und er tönt.
b) Hervortreten der Sprache.
Nach allem Vorangegangenen dürfen wir uns nun vorstel-
len, daß der Urmensch in größter Lebhaftigkeit alle Wahr-
nehmungen, alle Anschauungen, die seine Seele empfing, mit
leiblichen Bewegungen, mimischen Stellungen, Gebärden und
besonders Tönen, ja sogar articulirten Tönen, begleitete. Diese
Reflexbewegungen bedeuten nun thatsächlich schon die Seelen-
erregungen, deren Reflex sie sind. Was nun noch zur Sprache
fehlt, ist freilich nicht unbedeutend, ist vielmehr das Wichtigste,
nämlich das Bewußtsein dieser Bedeutung, die Verwendung
der Aeußerung. Die bewußte Verbindung erst der reflectirten
Körperbewegung mit der Seelenerregung giebt den Anfang der
Sprache. Die Seelenerregung aber, Gefühl, Empfindung, An-
schauung, ist schon Bewußtsein; also ist das Bewußtsein
vom Bewußtsein Anfang und Quell der Sprache, oder mit
der Sprache wird die Seele Bewußtsein des Bewußten, also
Selbstbewußtsein; die Seele wird Geist. Dieser Uebergang von
Seele in Geist ist also das Erste, was uns hier beschäftigt.
§. 92. Anschauung der Anschauung.
Wir denken uns hier den Menschen als anschauend; aber
wir dürfen noch nicht sagen, er besitze Anschauungen. Denn
er hat wohl Gedächtniß, wie auch das Thier, aber noch keine
Erinnerung, keine erinnerte Anschauung. Unser Mensch, wie
wir ihn hier als Fiction hinstellen, lebt, wie das Thier, im schnel-
len Wechsel gegenwärtiger, sinnlicher Anschauungen. Jede An-
schauung ist begleitet von einer Reflexbewegung, deren Zweck
Ableitung des Druckes von der Seele, Erleichterung ist. Hier-
mit ist beim Thiere die Sache aus; beim Menschen noch nicht,
sondern sie schreitet fort. Die menschliche Seele entledigt sich
ebenfalls des empfangenen Eindruckes; aber sie hat einen dop-
pelten Vortheil gegen die thierische. Bei der thierischen Em-
pfindung ist, wie wir oben gesehen haben, die leibliche Erre-
gung überwältigend für die Seele und darum die Gegenwirkung
der Seele schwach. Beim Menschen ist umgekehrt die leibliche
Erregung viel schwächer, die Seelenreaction viel stärker. Sollte
dies der Grund sein, warum der Mensch ein längeres Leben
[296] hat, als das Thier, obwohl sein Körper schwächer ist? Das
Thier wird so stark von der Außenwelt ergriffen, hat so wenig
natürlichen oder künstlichen Schutz gegen außen, daß es sich
schnell abnutzt und aufreibt. Des Menschen Körper, in feinerer
Weise und schwächer erregt und alle Stöße von außen kräftig
zurückgebend, erhält sich länger durch die Macht und Weisheit
der Seele. Die menschliche Seele also, fern davon ein Parasit
ihres Körpers zu sein, benimmt sich gegen ihn wie ein Herr,
der seinem Knecht aus milder Gesinnung und im eigenen Vor-
theil allen Schutz angedeihen läßt, um ihn länger zu bewahren.
Einwirkung von außen und Gegenwirkung der Seele stehen
also in umgekehrtem Verhältnisse. Die thierische Seele giebt
einen starken Eindruck schwach zurück und ist erschöpft; die
menschliche Seele giebt einen schwachen Eindruck mit Kraft
zurück, ihre Thätigkeit ist erregt, und es ist ein Ueberschuß
von Kraft da, der seiner Verwendung harret. Selbst die durch
die Reflexionsbewegung verlorene Kraft erhält die Seele unmit-
telbar wieder. Hier sehen wir, wie der psychisch-physische Or-
ganismus jenen vorzüglichsten Maschinen gleicht, welche den
durch ihre eigene Thätigkeit nothwendig entstandenen Verlust
im Verluste selbst sogleich wieder ersetzen. Denn die Seelen-
erregung reflectirt sich auf die Athembewegung und verstärkt
diese. Das Athemholen aber wirkt erregend auf die Seele und
führt ihr Kraft zu.
Die menschliche Seele also, durch die Anschauung erregt,
tritt hervor; und weil sie in der Anschauung nicht erschöpft,
weil eine größere Kraft erregt, als verwendet worden ist, so ist
nun die Seele nach Vollendung dieses Vorganges der Anschauung
und Reflexbewegung noch da als eine Kraft, die nach Thätigkeit
drängt. Die Empfindung hat die Seele heraufbeschworen; diese
aber, einmal aufgetreten, begnügt sich nicht damit, die Empfin-
dung bloß zu empfangen; ihre Kraft treibt nach einer Verwen-
dung, und nun, was wird sie thun? — Was kann sie thun?
Der Stoß von außen ist vorüber; sie hat ihn zurückgestoßen,
das ist auch vorüber; aber der Eindruck des ganzen Vorganges
bleibt in der Seele (im Gedächtniß). Es bleibt ihr also gar
nichts anderes zu thun, als in sich zurückzukehren; denn es
bleibt gar kein anderer Gegenstand, kein anderer Reiz, der die
Thätigkeit der Seele auf sich ziehen könnte, als der Eindruck,
den das Vorgefallene in ihr selbst zurückgelassen hat. Auf die-
[297] sen Eindruck richtet sie jetzt ihre Aufmerksamkeit, ihre Thä-
tigkeit.
Hierzu kommt noch etwas. Es liegt folgende Einwendung
sehr nahe. Die menschliche Seele wird wahrscheinlich nicht
nach der ersten Anschauung, die sie hatte, nach dargelegter
Weise in sich gehen; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
nach Ablauf der ersten Anschauung und ihrer leiblichen Refle-
xion eine zweite auftritt, und dann wieder eine andere Sinnes-
empfindung die Seele einnehmen wird u. s. f.; so daß die Seele
in ewiger Zerstreuung, von einer Anschauung zur andern über-
gehend, nie Kraft und Zeit gewinnt, in sich zu gehen und auf
sich selbst aufzumerken. Was also nach der ersten Anschauung
nicht geschieht, wird auch nach der hundertsten nicht gesche-
hen; denn an diese schließt sich die folgende, wie an jene, und
läßt die Seele nicht zu sich selbst kommen.
Die Sache ist indeß nicht so. Wir haben oben schon be-
merkt, daß zwar das Nothwendige immer in gleicher Weise
geschieht; daß aber Lust und Annehmlichkeit, also Interesse
und Empfänglichkeit nach jeder Befriedigung abnimmt. Der
Mensch schaut nicht nur an, sondern er freut sich zugleich sei-
ner Anschauung. Das Thier starrt an, der Mensch schaut mit
Interesse und Wohlgefallen. Durch Wiederholung derselben An-
schauungen aber sinkt die Empfänglichkeit, man wird gleichgül-
tig dagegen. Das Nothwendige bleibt dasselbe. Ein gesundes
Auge sieht denselben Gegenstand zum hundertsten Male eben
so, wie zum ersten. Das Nothwendige ist aber bloß das Leib-
liche. In der Seele aber hat sich das Verhältniß verändert.
Der zum hundertsten Male wiederholten Anschauung setzt sie
den im Gedächtnisse haftenden Eindruck von neun-und-neunzig-
maligem Anschauen entgegen. Die Seelenkraft, die jetzt der
gegenwärtigen Anschauung entgegentritt, ist also ungleich mäch-
tiger, als der äußere Eindruck. Und so dient die neue An-
schauung bloß dazu, um die Gesammtmasse der mit einander
verschmolzenen, im Gedächtnisse ruhenden wiederholten gleichen
Anschauungen, wie einen verborgenen Schatz aus der Tiefe der
Seele an das Licht zu heben und vor ihr Auge zu stellen. Sie
sieht also im Aeußern nicht mehr bloß das Aeußere, sondern
zugleich ihr Inneres; oder vielmehr ihr Blick gleitet schnell vom
Aeußern ab und richtet sich auf ihren eigenen Besitz; d. h. sie
wird sich ihrer selbst bewußt.
[298]
Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geht noch
auf dem Boden der Anschauung vor, oder erhebt sich aus ihr.
Die Seele, sich von der äußern Anschauung abwendend und in
sich kehrend, ihren Gedächtnißbesitz von Anschauungen wahr-
nehmend, wird zur Anschauung ihrer Anschauungen. Und so
bestimmen wir die erste Stufe des Selbstbewußtseins als An-
schauung der Anschauung.
§. 93. Instinctives Selbstbewußtsein.
Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geschieht aber
selbst noch ohne Bewußtsein. Es ist das unbewußte Selbstbe-
wußtsein, und das nennen wir das instinctive Selbstbe-
wußtsein. Der Mensch hat einen instinctiven Verstand, ver-
möge dessen er urtheilt und schließt. Wir sagten oben, es fühle
der Mensch unmittelbar; empfinden aber müsse er lernen durch
Erfahrung. Wir sehen z. B. bloß Flächen, keine Körper; wir
sehen Körper, aber keine Entfernungen, d. h. leere Räume. Wir
lernen jedoch, durch mancherlei Erfahrungen, Schlüsse und Ur-
theile, einen Kreis und eine Kugel, ein Quadrat und einen Wür-
fel unterscheiden. Doch dieses ganze experimentirende Nach-
denken, wodurch die ersten Erkenntnisse räumlicher Verhältnisse
erworben werden, wodurch wir lernen die Hand nach dem Munde
oder nach dem Fuße zu führen, was alles nicht unmittelbar ge-
geben ist, sondern gelernt werden muß: dieses Nachdenken sage
ich, geschieht bewußtlos; es ist instinctiver Verstand, der In-
stinct des Menschen. Dem Thiere scheint dieser Instinct zu
fehlen und durch den unmittelbarer wirkenden leiblichen Instinct
ersetzt zu sein. Daher das Thier alles das, was der Mensch
durch seinen instinctiven Verstand langsam erwirbt, viel schnel-
ler erlangt.
Zum menschlichen Instincte gehören außer der Ergänzung
der Empfindungen zu wahren Empfindungserkenntnissen alle jene
sogenannten angeborenen Ideen; und man sieht also, wie beide
Parteien, sowohl die, welche dieselben annahmen, als auch die,
welche behaupteten, sie würden erst später als Werk der Cultur
gebildet, im Irrthume waren. Jene Grundideen der menschli-
chen Erkenntniß werden dem Menschen nicht so angeboren, wie
seine Glieder, wie den Thieren die instinctive Kunstfertigkeit;
sie werden aber auch nicht mit Bewußtsein durch Verstandes-
cultur gebildet; denn sie gehen aller Verstandesbildung voraus
und liegen ihr zu Grunde: sie werden erworben — so weit ha-
[299] ben Letztere Recht — aber ohne Bewußtsein — so weit haben
Erstere Recht: sie werden instinctiv erworben. Auch die Spra-
che ist eine solche angeborene Idee, und nach dem eben Be-
merkten kann man beurtheilen, wie weit bei einem ganz ähn-
lichen Streite sowohl diejenigen, welche meinten, die Sprache
sei dem Menschen angeboren (oder von Gott gegeben), als auch
diejenigen, welche meinten, die Sprache sei ein künstliches Er-
zeugniß des Nachdenkens, wie weit beide, sage ich, theils irr-
ten, theils Recht hatten.
Der Instinct des Thieres ist wesentlich practisch, Kunst-
fertigkeit; und dies stimmt zu dem oben angemerkten Charak-
terzuge des Thieres, daß es practisch utilistisch ist. Das Theo-
retische spielt in den thierischen Instinct nur in so weit hinein,
als es die nothwendige Voraussetzung zum practischen Wesen
ist, oder als es nothwendig mit der Praxis in Verbindung steht.
Der menschliche Instinct ist rein theoretisch, Erkenntnisse ge-
winnend, Vorausnahme des Verstandes, und, als Sprache, Vor-
bild des Selbstbewußtseins.
In dem Begriffe des instinctiven Verstandes liegt keine Schwie-
rigkeit, wenigstens kein Widerspruch; jener ist nämlich der Ver-
stand der Anschauung. Hierbei verstehen wir unter Verstand,
mit Herbart, die Fähigkeit, unser Denken nach der Beschaffen-
heit des Gegenstandes zu richten. Warum sollte nun die An-
schauung, rein in ihrem Kreise beharrend, nicht die Kraft haben,
nach mehreren Fehlgriffen sich allmählig corrigirend, sich end-
lich dem Gegenstande gemäß einzurichten, dessen Anschauung
sie ist? Aber im unbewußten Selbstbewußtsein scheint ein Wi-
derspruch zu liegen. Suchen wir ihn aufzulösen, indem wir
die ihm zu Grunde liegenden Verhältnisse klarer von einander
scheiden.
In der Anschauung erkennt die Seele etwas außer sich.
Wir haben aber schon oben bemerkt, daß der thierischen An-
schauung — und die Anschauung des Menschen vor der Spra-
che ist nichts besseres — die Einheit, welche ihr der Mensch
später durch die Kategorie des Dinges giebt, noch fehle. Um
so weniger dürfen wir annehmen, daß die Seele in jener primi-
tiven Anschauung schon klar sich selbst von dem Angeschauten
absondere. Vielmehr ist anzunehmen, daß hier noch, wie bei
der Empfindung, die Seele zwar das Aeußere als Aeußeres auf-
faßt, doch aber noch nicht sich selbst als ein Inneres erkennt,
[300] und, Aeußeres vom Inneren scheidend, also auf beides achtend,
sich selbst dem Aeußern entgegenstellt, sich als anschauend dem
Angeschauten gegenüber. Diese selbstlose und der Innerlich-
keit ermangelnde Natur des Anschauens kann auch bei der An-
schauung der Anschauung noch nicht geändert sein. Die Seele
wird also hier ihre eigene Anschauung noch nicht als sich selbst
erkennen; sie wird nicht sich selbst, insofern sie anschaut, und
sich selbst, insofern sie selbst es ist, welche von ihr angeschaut
wird, unterscheiden; d. h. sie wird kein Bewußtsein davon ha-
ben, daß sie hier Subject und Object zugleich ist, Denkendes
und Gedachtes auf einmal, weil sie sich überhaupt noch nicht
als Subject, als Denkendes, weiß. Obwohl also hier thatsäch-
lich die Seele Subject und Object ist, so fehlt ihr doch das Be-
wußtsein hierüber; sie ist also thatsächliches, aber noch unbe-
wußtes Selbstbewußtsein. Weil hier die Seele bloß anschauend
ist, so ist für sie die angeschaute Anschauung auch nur eine
Anschauung überhaupt und ein Aeußeres. Anschauung ist Be-
wußtsein von einem Objectiven, Gegenständlichen. Das Be-
wußtsein von diesem Bewußtsein ist noch nicht Selbstbewußt-
sein, weil das Bewußtsein überhaupt hier noch kein Selbst, son-
dern nur Gegenständliches kennt. Dieses gegenständliche Be-
wußtsein von einem derartigen Bewußtsein wird also das letz-
tere, gedachte Bewußtsein, wiederum nur selbstlos als ein ge-
genständliches Wesen auffassen, ja sogar unmittelbar an den
äußern Gegenstand selbst anknüpfen und kaum oder nur sehr
schwach von ihm scheiden. Die Seele schreibt die angeschaute
Anschauung nicht sich zu, freilich auch nicht entschieden dem
Dinge. Denn die ganze Scheidung der Seele vom Dinge ist
noch nicht vollzogen. Und so giebt es hier überall noch kein
Selbst, d. h. kein gewußtes Selbst, wiewohl ein thatsächliches.
Dieses thatsächliche, instinctiv wirkende, anschauende Selbst-
bewußtsein ist die Vorbereitung des bewußten Selbstbewußt-
seins, der Keim desselben, und findet in der Sprache sein Le-
ben und seine Entwickelung.
§. 94. Uebergang der Seele in den Geist.
Das Wirken des instinctiven Selbstbewußtseins, der Spra-
che, ist die Thätigkeit der Seele, sich in Geist, bewußtes Selbst-
bewußtsein, umzusetzen. Die anschauende Seele wird denkender
Geist. Hierbei kommen nun manche Schwierigkeiten und Wi-
dersprüche zum Vorschein, die überhaupt im Begriffe des Wer-
[301] dens, der Veränderung liegen und hier nur nach den besondern
Umständen eine besondere Gestalt annehmen. In der Sprach-
schöpfung ist nicht mehr die anschauende Seele, und doch noch
nicht der denkende Geist, auch nichts Mittleres; sondern sie ist
der Uebergang von jener in diesen, also beides und keins von
beiden. Dies ist der Widerspruch, der in jeder Grenze liegt;
denn sie gehört den beiden begrenzten Dingen und ist keins
von beiden.
Die Sprache kann angesehen werden als das Erwachen des
Geistes aus seinem Schlafe im Zustande der Seele. Hier haben
wir denselben Widerspruch. Erwachen ist noch nicht Wachen
und doch nicht mehr Schlafen.
Diese Widersprüche können wir hier ruhig bei Seite las-
sen; sie gehören in die Metaphysik, der sie von den Special-
Wissenschaften übergeben worden. Ein anderer Widerspruch
aber geht uns näher an. Das Erwachen ist ein Selbstwecken;
aber wie kann das schlafende Wesen sich selbst wecken? muß
man nicht wach sein, um wecken zu können? Die menschliche
Seele kann nur erwachen, insofern sie Geist ist; das weckende
Princip in ihr ist der Geist. Bevor aber die Seele wacht, ist
der Geist noch nicht; wie kann er also wecken? Erst mit dem
Erwachen wird die Seele zum Selbst, und doch ist dieses Selbst
das Weckende; also wäre das vor dem Erwachen schon da,
was erst durch das Erwachen entstehen soll. Und warum er-
wacht nicht auch die thierische Seele zum Geiste?
Um dies zu erklären, bleiben wir bei der Analogie des leibli-
chen Schlafes stehen. Man erwacht nicht mit einem andern see-
lischen oder geistigen Wesen, als mit dem man sich niedergelegt
hat; sondern man ist schlafend und wachend ganz derselbe. Der
Unterschied aber beruht darauf, daß im Schlafe ein Druck des
ermüdeten Leibes auf dem Bewußtsein lastet; und eben so überall,
wo Bewußtlosigkeit eintritt. Wie das Einschlafen durch die
immer wachsende Kraft des Druckes geschieht, so kommt um-
gekehrt das Erwachen dadurch zu Stande, daß der sich erho-
lende Körper mit seinem Drucke in gleichem Verhältnisse nach-
läßt, als er an Spannkraft gewinnt; und endlich wird die Ner-
venerregung durch die angesammelte Kraft von selbst so groß,
daß der Druck völlig schwindet, und die Thätigkeit des Leibes
und der Seele neu beginnt. Anders kann es auch in unserm
Falle nicht sein. Wir müssen schon im Urmenschen und im
[302] Kinde dasselbe geistige Wesen annehmen, welches der ausge-
bildete Mensch zeigt; aber theils noch unter einem leiblichen
Drucke, theils noch ohne volle leibliche Unterstützung und noch
nicht im Besitze ideeller Hülfsmittel, die es sich freilich selbst
erschaffen muß. In diesem Sinne sagen wir, das Kind und der
Urmensch besitzen sämmtliches menschliches Wissen und Kön-
nen im Keime, in der Anlage; d. h. sie besitzen es zwar
noch nicht; aber sie können es erwerben.
Von den Thieren aber kann dies keineswegs gesagt werden.
Der Druck ihres Leibes auf ihre Seele, seine schwächere Un-
terstützung der Seele schwindet nie, weil diese Beschaffenheit
des Leibes der thierischen Seele angemessen ist, weil es eben
gar kein Druck ist, der von der Seele als Druck empfunden
würde, und endlich weil die Thierseele sich nicht jene ideellen Hülfs-
mittel des Menschen zu verschaffen vermag. Daher können wir
letztlich den Unterschied zwischen menschlicher und thierischer
Seele so ausdrücken, daß wir kurz sagen: das Thier hat Seele;
aber die menschliche Seele ist nicht eigentlich dies, sondern sie
ist schlafender Geist und wird zum wachenden Geiste werden,
sobald ein gewisser Druck geschwunden ist, eine gewisse Kraft
sich angesammelt hat. Wie dies nun aber geschieht, das haben
wir im Vorangehenden schon vielfach bemerkt, und werden es
noch weiter sehen.
Die Anlage zur Sprache in dem Sinne, wie wir sie so
eben dargelegt haben, diese Anlage, welche wir dem Thiere ab-
sprechen, dem Menschen aber zuerkennen (indem wir ihre See-
len nicht zu derselben Art rechnen), welche auch beim Men-
schen ursprünglich schlummert und dann hervorbricht: wir wüß-
ten nicht, was gegen dieselbe, selbst auf dem Standpunkte der
Herbartischen Metaphysik, eingewendet werden könnte. Denn
wir haben hier keine ursprüngliche Anlage, sondern ein Werk,
ein Organ, das die Seele nach ihrer durchaus einfachen Natur
sich erschafien muß, die thierische Seele aber nie zu erschaffen
vermag, weil sie nicht schlafender Geist ist, nicht als Geist er-
wachen wird. Die thierische Seele ist sehr bald alles was sie
sein kann; die menschliche Seele ist der Keim einer Frucht,
welche wir Geist nennen; und die Sprache ist in dieser Ana-
logie der Proceß des Reifens. Die thierische Seele ist ein see-
lischer Krystall; die menschliche Seele ist dagegen der schon
vorhandene, obwohl noch unreife Geist. Derjenige seelische
[303] Keim des Geistes nun, der nicht mehr bloßer Keim, sondern
schon befruchtet und reifend ist, ist Sprache oder instinctives
Selbstbewußtsein. Der Sprachlaut ist der Blütenstaub, der Sa-
men, der in die Seele dringt und sie befruchtet, daß sie den
Geist gebäre.
§. 95. Verknüpfung der Anschauung mit dem Laute.
Woher nimmt die Seele den Laut? wie kommt sie darauf,
ihn zu ihrer Stütze für die weitere geistige Entwickelung zu
wählen? — Sie wählt ihn nicht, ist die Antwort; sie nimmt
ihn sich nicht. Er ist ihr gegeben, und sie ergreift ihn mit
Nothwendigkeit, instinctiv, absichtslos.
Die Seelenthätigkeit bedarf materieller Stützen. Sie ist
ursprünglich an die Sinnlichkeit gebunden, und selbst in ihre
höchsten, freiesten Abstractionen mischen sich sinnliche Bilder.
Indem also die Seele die Anschauung ihrer Anschauung hildet,
knüpft sie dieselbe an den Laut. Wie sollte sie bei dem er-
sten Blicke, den sie in sich thut, schon die Kraft haben, ohne
materielle, sinnliche Stütze zu wirken? Indem sie zum ersten
Male ein ihr eigenes Erzeugniß, eine Anschauung, betrachtet,
stützt sie dieselbe körperlich durch den Laut, um sie gegen-
ständlicher zu machen. Der Laut ist ein Aeußeres, aber ein
Aeußeres, welches aus dem Innern stammt, ein Körperliches,
welches die Seele selbst geschaffen, ihrem Körper abgerungen
hat. Es theilt also die Natur des Aeußern und des Innern und
ist insofern höchst geeignet, sich einem Innern, der Anschauung,
anzuschließen, dieselbe mit sich selbst vereinigt von der Seele
abzuziehen und dem Seelenauge fester und sicherer vorzuhalten,
damit sie nicht mehr an der Seele haftend, sondern ihr als Ob-
ject gegenüberstehend, ruhig ihrem Blicke Stand halte. Dazu
bedarf aber für immer der Geist körperlicher Zeichen, sinnlicher
Anhaltepunkte, um, wie das leibliche Auge alles, was es sehen
soll, in einer gewissen Entfernung von sich haben muß, so auch
dem geistigen Auge das Object seiner Betrachtung in einer ge-
wissen Aeußerlichkeit und Ferne vorzustellen. Das kann nur
erreicht werden, wenn der innere Gegenstand an einen äußern,
der nur als Zeichen dient, angeknüpft wird, durch welches Ver-
fahren mit dem äußerlichen Zeichen zugleich der innere Gegen-
stand, den es bezeichnet, dem Geiste wie ein äußerer Gegen-
stand vorgehalten werden kann. Diese Weise des Geistes, sei-
nen Inhalt in Zeichen zu legen und sich dadurch äußerlich vor-
[304] zustellen, muß der Seele, wo sie zum ersten Male so verfahren
soll, instinctiv gegeben werden; sie würde sonst schwerlich von
selbst darauf gekommen sein. Das Zeichen konnte also nichts
Willkürliches haben und mußte durch seine eigene Natur zu
solcher Verwendung auffordern; es mußte von selbst vorhanden
sein, von selbst an den innern Gegenstand geknüpft sein, und
von selbst sich und das daran geknüpfte Innere heraussetzen,
der Seele gegenüber. So thut es der Laut. Denn der Laut
entspringt der Brust als Rückwirkung der Seele auf die sinn-
liche Erregung; so ist er da, ohne daß ihn die Seele gewollt
hätte, dennoch, obwohl als ein Sinnliches, durch die Seele. Als
etwas Sinnliches wird er nun von der Seele, die ihn erzeugt
hat, wahrgenommen, während die Anschauung, in Folge deren
er ausgestoßen ward, noch im Bewußtsein ist. Der wahrge-
nommene Laut associirt sich daher unmittelbar mit der An-
schauung, nach dem Mechanismus der Seele, und gerade eben
so unabsichtlich, als er entstanden ist. Jetzt kann weder die
Anschauung zurückgerufen werden, ohne den Laut zu reprodu-
ciren, noch kann der Laut wieder hervorgebracht, noch auch
nur gehört werden, ohne zugleich die damit associirte Anschauung
zu reproduciren, also mit sich zugleich die Anschauung aus dem
Innern in das Aeußere zu versetzen und so das Innere der Seele
vorzustellen. So wird der Laut zum Zeichen der Anschauung;
die lautliche Vergegenwärtigung dieser Anschauung ist An-
schauung der Anschauung; eine so angeschaute Anschauung aber
ist eine Vorstellung; und die Vorstellung also ist die Bedeu-
tung des Lautzeichens. Die Anschauung der Anschauung ist
die Versetzung der Anschauung in den Laut, die Verbindung
beider, die innere Sprachform; während der Laut die äu-
ßere Sprachform ist, und die Vorstellung zu dem Stoffe des
Bewußtseins gehört. Das Wesen der innern Sprachform ist
nun näher darzulegen. Es entwickelt sich aber stufenweise, und
hat auf jeder Stufe einen andern Werth.
§. 96. Inhalt der innern Sprachform im Allgemeinen.
Es liegt uns zunächst noch an, den Inhalt dessen, was wir
Anschauung der Anschauung oder innere Sprachform nennen,
im Allgemeinen näher zu bestimmen. Der Inhalt einer An-
schauung, überhaupt unseres Bewußtseins von einem Dinge, ist
nicht immer der volle Gehalt des Dinges, sondern nur soviel,
als wir von demselben wirklich erfaßt haben. Der Inhalt der
[305] Anschauung eines Dinges im Bewußtsein des Tauben ermangelt
aller Bestimmungen, welche das Tönen des Dinges betreffen,
und auch wir Vollsinnigen lernen die Dinge immer besser, d. h.
von den Dingen immer mehr kennen. Der Inhalt und Werth
unseres Bewußtseins ist also gerade das, was wir von den Din-
gen erfassen; nicht mehr, nicht das Ding, wie es in der Fülle
seines Inhaltes vorhanden ist, oder wie es von einem umfassen-
dern, tiefern Blicke gesehen wird. Die innere Sprachform oder
die Anschauung der Anschauung ist ebenfalls, wie das Anschauen
und Fühlen, eine Art des Bewußtseins, nicht aber ein Bewußt-
sein von äußern Gegenständen, sondern von innern, von An-
schauungen. Der Gegenstand also desjenigen Bewußtseins, wel-
ches als innere Sprachform qualificirt ist, ist die Anschauung;
der Inhalt und Werth der innern Sprachform aber oder dieses
Bewußtseins, welches Anschauung der Anschauung ist, ist gar
nicht gleich dem Inhalte, welchen die gegenständliche, ange-
schaute Anschauung hat, gerade wie der Inhalt der Anschauung
nicht gleich dem des Dinges ist.
Noch eins. Der Inhalt unseres ganzen Bewußtseins ist be-
kanntlich subjectiv, von unsern Empfindungen abhängig. Wir
sagen: der Zucker ist süß; d. h. in dem Inhalte unseres Be-
wußtseins vom Zucker liegt unter andern auch die Bestimmung,
daß derselbe uns durch unsere Geschmacksorgane die Empfin-
dung süß erregt; was das aber für den Zucker an sich ist,
daß er uns süß erscheint, kommt bei diesem Bewußtsein gar
nicht in Betracht. Was der Zucker an sich ist, geht unser
Bewußtsein gar nicht an; es hat nur Interesse an dem, was er
für es ist. Also nicht der Zucker an sich, seine Bestimmung
an sich, sondern was er für dieses Bewußtsein ist, süß, weiß,
hart, nur das macht den Inhalt desselben aus. Ganz ebenso
verhält es sich mit der Art des Bewußtseins, welche als innere
Sprachform bestimmt ist: der Inhalt dieses Bewußtseins ist nicht
der Inhalt der Anschauung an sich, welche sein Gegenstand ist,
sondern wie diese Anschauung ihm erscheint, welche Bestim-
mungen es an ihr heraushebt, das ist sein Inhalt. Wenn also
die Anschauung und unser ganzes Bewußtsein von den Objec-
ten subjectiv ist, so ist die innere Sprachform, die Anschauung
der Anschauung, doppelt subjectiv; denn ihr Bewußtsein von
der schon an sich subjectiven Anschauung wird nochmals nach
subjectiver Rücksicht gewonnen.
20
[306]
Die Subjectivität unseres Bewußtseins überhaupt von den
Dingen beruht auf der Beziehung der Dinge zu unsern Empfin-
dungen; worauf beruht denn die neu hinzutretende Subjectivität
des Bewußtseins als innerer Sprachform von den Anschauun-
gen? Auf der Verbindung der Anschauung mit dem Laute. Wie
unserm Bewußtsein überhaupt die Dinge so viel und gerade
das sind, wie viel und was sie auf unsere Sinnesorgane wirken:
so ist auch der innern Sprachform die Anschauung nur das und
so viel, was und wie viel in der Verbindungsform der Anschauung
mit dem Laute liegt. Das nun eben, was in dieser Verbindungs-
weise liegt, ist Inhalt der innern Sprachform und entwickelt
sich vorzüglich durch drei Stufen.
c) Stufenentwickelung der innern Sprachform.
Die Sprache ist die Verknüpfung von Laut und Anschauung,
welche letztere aber bei diesem Processe in eine Vorstellung
verwandelt wird, so daß sie nach dieser Verknüpfung mit dem
Laute, in der sprachlichen Darstellung nicht mehr Anschauung,
sondern Vorstellung ist, von welchem Unterschiede noch später
zu reden sein wird. Jene Verbindung aber ist instinctiv, mit
Nothwendigkeit vollzogen; dies führt schon darauf, daß beide
in ihrer Natur eine gewisse Verwandtschaft haben, sonst könnte
ihre Verbindung gar nicht stattfinden. Diese Verwandtschaft
liegt nicht bloß in ihrem gleichzeitigen Ursprunge; sondern
noch mehr, es liegt ein wahres Zeugungsverhältniß vor. Die
Anschauung reflectirte sich auf den Körper und dadurch ent-
stand der Laut; sie ist also Ursache, Erzeugerin desselben. Die
Verbindung der Anschauung also mit dem Laute beruht auf
einer Verwandtschaft und Gleichheit beider Momente, und die-
ses Verwandtschafts- oder Einheitsverhältniß ist der Inhalt der
innern Sprachform, ist das, was das Bewußtsein von ihrer An-
schauung erfaßt, indem es dieselbe anschaut. Dieses Verhält-
niß aber zwischen Laut und Anschauung ist kein festes, ein
für allemal gebildetes, sondern ändert sich ab, und die verschie-
denen Weisen ihrer Verwandtschaft und Einheit stellen eine
Stufenentwickelung der innern Sprachform, des instinctiven Selbst-
bewußtseins dar. Dieses nämlich erhält eine immer größere
Klarheit, wird immer geistiger, gewinnt an Form und Gestal-
tung.
[307]
α. Pathognomische Stufe.
Wenn ein unangenehmes Gefühl in einem Schmerzenslaute
ausbricht, ein angenehmes in einem Freudenrufe, so ist hier
noch nicht eigentlich Sprache gegeben. Denn Gefühl und Laut
sind zwar mit einander verbunden, und jenes stellt sich in die-
sem dar; es kann die Absicht, der Wunsch hinzutreten, der
Andere möge das Gefühl erkennen, und der Andere wird es
auch aus den Tönen erkennen. Dies wäre allenfalls anzusehen
als die Sprache des Gefühls, die thierische Sprache. Was hier
aber fehlt ist die innere Sprachform, die Anschauung des Ge-
fühls. Die innere Sprachform enthält allemal ein Verhältniß
zwischen Laut und Bedeutung; hier aber existirt ein solches
Verhältniß noch nicht, sondern Laut und Gefühl sind unmittel-
bar identisch. Der Laut ist hier nicht zum Zeichen eines In-
nern gesetzt; hier ist bloß Aeußeres; und der Laut, das Aech-
zen, Stöhnen z. B., ist nicht Zeichen des Schmerzes, sondern
Wirkung desselben, ist der Schmerz selber. Die Zuckungen
eines in Krämpfen sich wälzenden Unglücklichen werden wir
nicht für das Zeichen der Krämpfe halten; sondern die Zuckun-
gen sind eben die Krämpfe. Das glühende Antlitz, das fun-
kelnde Auge, die geschwollene Stirnader, das Schnauben der
Nase, sind nicht Zeichen des Zorns, sondern sind eben die Wirk-
lichkeit des Zorns. Lachen, Seufzen, Schluchzen sind nichts
anderes, als solche Wirklichkeiten der Gefühle. Sie sind nicht
Zeichen, sondern, wie wir es wohl am genauesten benennen,
Schein eines Innern, das Wort Schein im philosophischen Sinne
genommen als Offenbarung innerer Realität. Der Mimiker stellt
die Gefühle nicht dar, indem er die Zeichen derselben uns vor-
hält, sondern indem er den Schein derselben annimmt und ge-
währt. Wir stehen hier bei einem rein pathologischen Verhält-
nisse, einem physiologischen Processe.
Wenn nun aber alle diese Gefühlsausbrüche, im weitesten
Sinne des Wortes, noch nicht wesentlich zur Sprache gehören,
so stehen sie ihr doch nahe, zumal wenn man in den Gefühlen
Unterschiede macht. Sie entspringen theils mehr aus dem Kör-
per, theils mehr aus der Seele. Wenn auf einen körperlichen
Schlag oder Stoß, welcher Schmerz erregt, ein Schrei erfolgt;
so liegt hier die Vermittlung zwischen Schlag und Schrei rein
20*
[308] körperlich, mechanisch, im Centralorgan. Eine Wirkung der
Seele ist hier nicht sichtbar. Es ist auch gleichgültig, ob der
Schrei auf einen Schlag von außen erfolgt, oder auf einen
Schmerz, der rein innerlich im Leibe entstanden ist. Wo die
Seele nicht wirkt, kann keine Sprache sein. Es entstehen nun
aber auch Gefühle, die dem Leibe von der Seele her zukom-
men. Sie wirken im Allgemeinen schwächer auf denselben, als
körperliche Gefühle, und ihre körperlichen Ausbrüche sind sanf-
ter, zarter; wiewohl wir nicht übersehen, daß ein Seelenschmerz
oft genug den Körper in das erschütterndste Leiden und die
heftigsten Ausbrüche versetzt. Die sanftesten der hierbei aus-
gestoßenen Töne werden von der Sprache schon aufgenommen
als das untergeordnete Element der Interjectionen. Nun giebt
es aber Gefühle, die nichts oder nur wenig mit Lust und Un-
lust zu thun haben, wie Verwunderung, Ueberlegenheit, Spott
u. s. w. Diese vorzüglich liefern der Sprache Interjectionen.
Die Interjectionen bilden jedoch noch keinen Redetheil. Sie
ragen aus einer überwundenen Stufe in die Sprache hinein.
Ungebildete haben deren mehr als Gebildete, die südlichen Völ-
ker mehr als die nördlichen.
Wenn bei den rein körperlichen Gefühlen und ihrem Aus-
drucke in pathologischen Tönen nichts von innerer Sprachform
auftritt, weil zwischen Gefühl und Laut bloß der physiologisch
causale Mechanismus liegt; wenn auch bei Seelenschmerz und
Seelenlust Bedeutung und Aeußerung durch ein bloßes Natur-
band an einander geknüpft sind: so tritt bei den zuletzt ge-
nannten Gefühlen, die einen viel bestimmtern Inhalt haben, als
Schmerz und Lust überhaupt, auch schon zugleich etwas von
innerer Sprachform auf, ein Analogon, ein Vorbild derselben.
Zwischen einem Kitzel oder einem Witz und dem Lachen, zwi-
schen dem Gedanken an einen Verlust und dem Seufzen ist
kein deutbarer Zusammenhang, keine innere Sprachform. Wenn
man aber vor Verwunderung ah! ausruft, so fühlt man einen
Zusammenhang: die Seele wird von einem unerwarteten An-
blicke betroffen; die neue Anschauung findet in dem Vorrathe
der früher gehabten Anschauungen keine, an welche sie sich
anschließt; alles, was in der Seele liegt, wird also zurückge-
drängt, die neue Anschauung nimmt ganz allein das ganze Be-
wußtsein ein und will sich darin behaupten. Bei so starker
plötzlicher Veränderung im Bewußtsein leidet die Seele und
[309] dadurch auch der Leib. Man athmet stärker und der ganze
Luftweg ist angespannt; auch die Stimmbänder sind es, und so
tönen sie. Daher entsteht mit vieler Kraft der ursprünglichste,
absichtsloseste, reinste Laut a. In dieser Deutung liegt noch
wenig Sprachliches; aber der Laut a hat noch zu wenig sprach-
liches Element: er ist Stimmton, und weiter nichts. Nehmen
wir dagegen die Interjection der Geringschätzung pah! so ha-
ben wir hier schon etwas mehr. Es liegt darin ausgedrückt,
man achte eine Sache nicht mehr als die ausgeschnellte Luft.
Dieser Gedanke ist die innere Sprachform dieser Interjection,
das Band zwischen ihrer Bedeutung und ihrem Lautgehalt. —
„Eh, laß mich doch in Ruhe“; hier ist der ausgestoßene Laut
wie eine Hand, welche zurückstößt.
Kurz mit diesen Interjectionen treten wir schon auf die
Stufe der sogenannten Onomatopöie. Wie man diese als
den ursprünglichsten Sprachtrieb, der alle Elementarwörter ge-
schaffen hat, läugnen könne, sehen wir nicht ein — oder man
muß völlig auf allen und jeden innern Zusammenhang zwischen
Laut und Bedeutung Verzicht leisten, und in deren Verknüpfung
nichts als den sinnlosesten Zufall, „das Spiel organischer Frei-
heit“ sehen. Aber vor einem Mißverstande ist zu warnen. Man
muß die Onomatopöie nicht, wie Plato und alle folgenden, als
eine Lautnachahmung des angeschauten Gegenstandes betrach-
ten. Zwischen Laut und Ding ist gar keine unmittelbare Be-
ziehung. Die Onomatopöie beruht lediglich auf der Verwandt-
schaft des Lautes mit der Anschauung, und nur vermittelst die-
ser mit dem Dinge. Und noch mehr! auch zur Anschauung
steht der Laut nur in vermittelter Beziehung; der Laut malt
nur die Anschauung der Anschauung, d. h. dasjenige Merkmal
oder Element der Anschauung, welches das Bewußtsein, als in-
nere Sprachform bestimmt, aus dem Complex der Merkmale oder
Elemente der Anschauung heraushebt und erfaßt. Denn es ist
schon gesagt, daß die Anschauung der Anschauung nicht die
ganze Anschauung in sich aufnimmt und umfaßt, sondern nur das
was sie an ihr bemerkt; und nur dies legt sie in den Laut oder
knüpft sie an ihn. Dieses an der Anschauung von der innern
Sprachform Erkannte ist aber verbunden mit der Anschauung,
und so wird mittelbar durch Anschauung der Anschauung oder
innere Sprachform die Anschauung als Bedeutung an den Laut
geknüpft.
[310]
Ich denke, man unterscheidet bei diesen onomatopoetisch
gebildeten Wörtern, wie bei den Interjectionen, etwa pah, sehr
leicht die drei Factoren oder constitutiven Elemente der Sprache:
die Anschauung des Dinges und den Werth der Interjection als
Bedeutung (z. B. bei pah! etwa: dies Ding ist nichts werth,
geht mich nichts an), den Laut (die bestimmte Articulation der
Lippen mit dem kurzen a), und die innere Sprachform,
das Band zwischen Laut und Bedeutung, das Merkmal der An-
schauung, welches das Bewußtsein, indem es die gewonnene
Anschauung anschaut, heraushebend bemerkt (ich schätze dies
Ding wie einen Hauch). Welches Merkmal aber wird das Be-
wußtsein aus dem ganzen Complex der Empfindungen, aus de-
nen die Anschauung gebildet ist, hervorheben? Und woher
kommt es, daß es nicht die ganze ungetheilte Anschauung an-
schaut, sondern dieselbe nur theilweise ergreift? Hierüber scheint
mir Folgendes zu bemerken.
Daß Vorstellungen von Thätigkeiten unmittelbar auf die
Nerven wirken, welche die wirkliche Ausübung dieser Thätig-
keiten veranlassen, scheint mir nicht besonders räthselhaft; denn
was ist die Absicht, der Wille anderes, als eine vorgestellte Thä-
tigkeit oder die Vorstellung einer Thätigkeit? Bei dem innigen
Zusammenhange zwischen Seele und Leib bedarf nicht diese Er-
scheinung einer Erklärung, daß nämlich der Körper unmittelbar
vollzieht, was die Seele vorstellt; sondern nur die entgegenge-
setzte Erscheinung verlangt begreiflich gemacht zu werden: daß
wir nämlich so viel vorstellen, was wir nicht ausführen; und
die Erklärung hiervon liegt in der Selbstbeherrschung des Gei-
stes. Daß ferner Gefühle Bewegungen verursachen durch ihre
Reflectirung mittelst des Centralorgans auf naheliegende Bewe-
gungsnerven, hat wiederum nichts Auffallendes. Daß aber An-
schauungen Bewegungen verursachen, die gar nichts mit der
Verwirklichung jener Anschauungen zu thun haben, wie dies in
der Sprache vorliegt — da das Tönen und Articuliren keine Aus-
führung der angeschauten Dinge oder Bewegungen ist —: dies
scheint mir nur dadurch erklärbar zu sein, daß wir die An-
schauungen von Gefühlen begleitet sein lsssen. Das aber kann
uns nicht in Verwunderung setzen, da die Anschauungen sowohl
mannigfach mit Gefühlen in der Seele associirt sind, als auch
an sich auf Empfindungen beruhen, die nur ganz besonders be-
[311] stimmte und begrenzte Gefühle, und immer von Gefühlen be-
gleitet sind. Das die Anschauung begleitende Gefühl also ist
das Schöpferische in der Sprache; denn nur dieses setzt Stimme
und articulirende Organe in Bewegung. In der ursprünglichen
Sprache, auf der Stufe der Onomatopöie, ist das Gefühl das
eigentlich Tönende; und weil dieses ein viel bestimmteres Ge-
fühl ist, als bloß Lust und Schmerz im Allgemeinen, weil es
ein ganz besonderes, auf eigenthümlichen Associationen und be-
grenzten Empfindungen beruhendes Gefühl ist: darum wirkt es
auch in viel feinerer, begrenzterer Weise nicht bloß auf den
Athem, sondern auch auf einzelne Organe, und bringt dadurch
nicht ein unbestimmtes Aechzen, Schluchzen, Lachen, sondern
eine Articulation hervor. Die bestimmte Articulation als bloße
Reflexbewegung einer Anschauung hat nicht mehr Räthselhaftes,
als der verschiedene Gesichtsausdruck bei verschiedenen leiden-
schaftlichen und Gefühls-Erregungen, welcher Ausdruck, bei ge-
bildeten Menschen sehr fein abgeschattet, immer nur durch
denselben physiognomischen Gesichtsnerv (N. facialis) hervorge-
bracht wird.
Diese Betrachtung dient uns erstlich dazu, unsere Defini-
tion von der Sprache zu vervollständigen. Wenn wir aber die
Sprache als eine pathologische Reflexbewegung auffaßten, so
haben wir damit die allgemeine Classe der physiologischen Er-
scheinungen erkannt, zu der die Sprache gehörte; haben das
Genus proximum der Sprache angegeben. Damit aber ist die
Definition erst halb gegeben; wir verlangen noch das specifische
Merkmal, und dies ist nun gefunden. Sprache ist diejenige
pathognomische Reflexbewegung, welche auf rein
theoretische Anschauungen erfolgt, was vermittelst ge-
wisser mit den Anschauungen in mannigfacher Weise verbun-
dener Gefühle geschieht.
Indem nun das Bewußtsein die Anschauung anschaut und
gerade, während sie dies thut, zugleich den reflectirten Laut
wahrnimmt: so associirt sich nicht bloß der Laut mit der An-
schauung im Bewußtsein; sondern die Anschauung erhält auch
nur den Werth, den der Laut von ihr verkündet. Das Be-
wußtsein erfaßt von dem ganzen Inhalte der Anschauung na-
türlich nur das, was sich ihm durch den Laut in einer gegen-
wärtigen Wahrnehmung so lebendig aufdrängt. Indem sich die
[312] Seele fragt, was sie an der Anschauung, an diesem Complex
von Empfindungen besitze: antwortet ihr der eigene Laut, was
diese angeschaute Anschauung sei, verdrängt die andern Merk-
male derselben aus dem Bewußtsein und stellt sich demselben
dar als Aequivalent der ganzen Anschauung. Die Anschauung
der Anschauung, die innere Sprachform hat also den Werth,
den Inhalt, welchen der durch Reflex erzeugte onomatopoetische
Laut in sich trägt. So reich also auch z. B. die Thätigkeit
des Essens oder die Anschauung davon an Merkmalen sein mag,
bei der Wurzel pā, bibo, pappen ist der Inhalt der Anschauung
dieser Anschauung, der innern Sprachform, bloß die durch die
Lippenarticulation angedeutete Lippenbewegung. Unser deut-
sches Wort plump ist noch ganz die Interjection plumps, plautz!
So viele Merkmale nun auch in der Anschauung des Plumpen
liegen mögen, das Bewußtsein, indem es als innere Sprachform
die Anschauung jener Anschauung bildet, hat als solches nur
den Inhalt des breiten, schweren Aufschlagens nach einem Falle,
welchen Inhalt es vom reflectirten Laute empfängt.
Daß bei Anschauungen, in denen eine Lautempfindung liegt,
vorzüglich diese reflectirt werden wird, läßt sich wohl erwar-
ten. Daher so viele schallnachahmende Wörter. Ueberhaupt
aber läßt sich doch wohl annehmen, daß der reflectirte Laut
eine gewisse Aehnlichkeit mit der Anschauung haben wird, und
diese ist also das Wesen der Onomatopöie. Aber diese Aehn-
lichkeit ist nicht Folge einer Nachahmung, wobei immer Ab-
sicht vorausgesetzt wird; sondern es ist ein Lautreflex, wobei
sich die Sprachorgane wie ein Spiegel, wie die Netzhaut des
Auges, verhalten, indem sie zurückspiegeln, was auf sie wirkt.
Bei Anschauungen, in denen eine Tonempfindung liegt, wird
die Onomatopöie klarer sein, als bei andern, in denen keine sol-
che gegeben ist, aus einem dreifachen Grunde: zuerst nämlich
wegen der Gleichheit des Elements; ferner weil die Tonempfin-
dungen die lebhaftesten, erregendsten sind; drittens aber auch
noch aus einem andern Grunde. Man erinnere sich, daß wir
oben die Reflexbewegungen in zwei große Classen theilten: in
diejenigen, welche die Anschauung einer Bewegung unmittelbar
ausführen, und in diejenigen, welche auf ein Gefühl, eine Em-
pfindung erfolgen, ohne mit diesen selbst etwas ersichtlich Ge-
meinsames zu haben. Zur letztern Classe zählten wir die Sprache.
Man sieht aber wohl, daß bei Wörtern für Anschauungen mit
[313] Tonempfindungen jene beiden Classen zusammenfallen; denn hier
entsteht in Folge einer Anschauung eine Bewegung, die mit
jener eigentlich nichts zu thun hat; andererseits aber wird doch
die Tonempfindung, welche in das Bewußtsein tritt, so gut es
gehen will, unbewußt nachgeahmt, wie das gesehene Gähnen,
Fechten u. s. w.
Man könnte hier noch mancherlei untergeordnete Stufen
innerhalb des Standpunktes der Onomatopöie aufführen. Diese
Einzelheiten jedoch gehören nicht zu unserm Zwecke.
Hier wird das instinctive Selbstbewußtsein, die innere Sprach-
form, viel klarer und inhaltsvoller, und diese Stufe liefert den
eigentlichen Wirkungskreis der Etymologie. Wir rechnen näm-
lich hierher diejenigen Wörter, welche Anschauungen in der Weise
bedeuten, daß sie ein charakteristisches Merkmal dieser An-
schauung angeben. Der größte Theil der Substantiva gehört
hierher, indem die Dinge durch Thätigkeiten und Eigenschaften
angedeutet werden. Beispiele sind hier überflüssig. Doch auch
Verba, denke ich, gehören vielfach hierher, und Adjectiva. Oder
sollte man nicht z. B. das griechische φιλεῖν, das gothische fri-
jôn (amare) so ansehen müssen, daß die Thätigkeit der Liebe
durch ihre Freude (Saskr. prî,freuen) gekennzeichnet wird?
Und wie der Freund dargestellt wird als der, mit dem man sich
freut, so auch im Armenischen die Eigenschaft gutpari als
diejenige, an der man sich erfreut, oder schon in doppelt cha-
rakteristischer Stufe, was man liebt. Auch hierzu bieten sich
die Beispiele vielfach dar.
Eine scharfe Abgrenzung dieser Stufe von der vorigen ist
nicht gut möglich; denn sie ist auch in der Wirklichkeit nicht
vorhanden. Es giebt hier vielmehr mannigfache Uebergänge,
die uns zeigen, wie man zu dieser höhern Stufe aufstieg. Wenn
die Anschauung von einem Thiere durch einen reflectirten Laut
bezeichnet wird, wenn die Katze (im Chinesischen) Miau, das
Pferd vom Wiehern (Saskr. hrêsch) Roß heißt: so wird hier
schon eine Anschauung, die vielfache Merkmale in sich schließt,
durch eine besonders auffallende, kennzeichnende, benannt. Hier-
mit ist also auf der onomatopoetischen Stufe das Princip der
folgenden schon gegeben; nur werden auf dieser höhern Stufe
[314] nicht mehr ursprüngliche Reflexlaute, sondern schon aus den-
selben gebildete Wurzelwörter verwandt.
Der Inhalt der innern Sprachform auf dieser Stufe, das
was das Bewußtsein hier in seiner Anschauung anschaut, ist
klar; es ist nämlich eben das zur Bezeichnung dienende Merk-
mal; und die Etymologie ist es, welche uns den Sinn der in-
nern Sprachform, den Gedanken des instinctiven Selbstbewußt-
seins aufschließt. Das griechische Volk erkannte an seiner γυνή
(der Engländer an seiner Queen), die Gebärende, an Sohn ha-
ben wir den Erzeugten, an filius den saugenden, an unserm
Wolf den zerreißenden, an der Maus den Dieb u. s. w. Vieles
wäre hierbei noch zu bemerken; doch es ist alles schon bekannt.
Eine dritte Weise der Wortschöpfung giebt es eigentlich
nicht. Doch müssen wir eine dritte Stufe der innern Sprach-
form, des instinctiven Selbstbewußtseins anerkennen, wo zwar
nichts Neues auftritt, aber das Alte sich ändert. Dies ist die
Stufe der geschichtlichen Zeit, wo Laut und objective Anschauung
oder Bedeutung ohne Vermittlung verbunden sind, gerade so un-
mittelbar, wie Kitzel mit Lachen, ein Reiz in der Schleimhaut
der Nase mit Niesen und alle jene rein mechanischen Reflexbe-
wegungen, welche auf Gefühle erfolgen. Diese Unmittelbarkeit
in der Verbindung der Sprachfactoren rührt daher, daß die in-
nere Sprachform aus dem Bewußtsein geschwunden ist; so ist
es bei uns heute. Wie bei jenen Gefühlsreflexionen die Ver-
mittlung der beiden Momente im physiologischen Mechanismus
liegt: so ist in geschichtlicher Zeit das Band von Bedeutung
und Laut der reine psychische Mechanismus, das Gesetz der
Association. Die innere Sprachform ist jetzt nur noch der Punkt,
wo Laut und Bedeutung sich berühren, ein Punkt ohne Aus-
dehnung und Inhalt. Wir haben eben das instinctive Selbst-
bewußtsein nicht mehr; es ist verdrängt durch das wirkliche
Selbstbewußtsein, oder mindestens durch ein viel reicheres Be-
wußtsein, als jenes instinctive. Wir lernen am Wolfe, an der
Maus, am Weibe u. s. w. so viele Beziehungen kennen, und Be-
ziehungen, die wichtiger für uns sind, als die im Worte liegende,
daß diese letztere vor der hellen Beleuchtung, welche jene vom
Bewußtsein erhalten, allmählich in den Schatten tritt und end-
lich ganz in die Nacht der Vergessenheit sinkt. Dies wird wei-
terhin noch klarer werden.
[315]
d) Mittheilung, Verständniß, Sprechenlernen der
Kinder.
§. 102.
Die vorzüglichste Ursache, warum man früher das Wesen
und den Ursprung der Sprache mißverstand, oder das vorzüg-
lichste Mißverständniß über die Sprache lag darin, daß man
sie als bloße Mittheilung auffaßte, während sie im Gegentheil
wesentlichst und zunächst ein Selbstbewußtsein, d. h. eine Mit-
theilung an den Sprechenden selbst ist, eine Darstellung und
Auffassung zuerst für und durch den Redenden selbst, und dann
erst für Andere.
An eine Kritik der ältern Ansichten kann ich hier nicht
denken. Ich habe anderwärts Herder und Haman einander ent-
gegengesetzt und zu zeigen gesucht, wie sie sich an sich selbst
und an einander aufreiben. Hier will ich aber Herbarts An-
sicht über die Entstehung der Sprache anführen. Sie ist schwach
genug und könnte allen Psychologen zur Warnung dienen, die
sich der Sprachforschung entschlagen zu können meinen*). Aber
immer noch ist unsere Absicht, durch die folgende Anführung
Herbarts statt vieler andern Citate diesen größten Psychologen
und eigentlichen Gründer der wissenschaftlichen Psychologie
zu ehren; denn seine Ansicht ist doch werthvoller als die Her-
dersche, und schließt das Wahre der ganzen Vergangenheit in
sich. Zu seiner Entschuldigung mag noch dienen, daß Wil-
helm von Humboldts großes Werk erst erschien, als er seinem
Tode schon nahe war.
„Worin liegt denn das Wunderbare der Sprache?“ fragt
er (Psych. §. 130. Werke VI, S. 217.) unwillig über die „zu
starken“ Ausdrücke, in denen man vom „Wunderbaren“ der
Sprache redet. Man sieht sogleich wieder, daß er sich gegen
die Uebertreibung stemmt. Er fährt in der Absicht, das Wun-
der zu erklären, fort: „Wenn Sprache, ihrem Begriffe nach, ab-
sichtliche Mittheilung der Gedanken durch willkürliche Zeichen
ist, so konnten die ersten Mittheilungen unmöglich durch Spra-
che geschehen. Denn willkürliche Zeichen müssen verabredet
werden, sonst würden sie entweder nicht verstanden, oder höch-
[316] stens errathen werden; auf das Errathen aber kann der Spre-
chende nicht rechnen. Die Sprache setzt also Verabredung,
diese aber setzt Sprache voraus; mithin drehen wir uns im Kreise.
Man schlage nun den „(Herbartischen)“ Weg ein; d. h. man ent-
schlage sich des ungereimten Gedankens, und setze dessen Ge-
gentheil an die Stelle. Die ersten Mittheilungen also geschahen
entweder nicht absichtlich, oder nicht durch willkürliche Zei-
chen; sie waren nicht Sprache. Gleichwohl verstand man ein-
ander; und glaubte sich verstanden. Dies errieth man aus dem
zusammenstimmenden Handeln, welches den gemeinsamen Ge-
danken gemäß war; es konnte aber leicht zusammenstimmen,
wenn man unter gleichen Umständen gleiche Bedürfnisse hatte.
Die Naturlaute, oder zufälligen Aeußerungen bei Gelegenheit
des gemeinsamen Handelns, reproducirten sich bei jedem in wie-
derkehrender Lage, riefen jedem den nämlichen Gedanken zu-
rück, und waren mit Erwartung eines ähnlichen gemeinsamen
Handelns von beiden Seiten ohne weiteres Fragen und Zweifeln
verknüpft.“ (So weit ist der große Denker unverkennbar; im
Folgenden ist er es weniger.) „Wie es zugehe, daß Einer den
Andern verstehe; und ob er wohl verstehen oder mißverstehen
werde? das wurde nicht gefragt noch bedacht“ (aber wir fragen
und bedenken das); „sondern das Handeln war es, worauf, ohne
alles Denken an das Denken des Andern, die Erwartung
und die Aufmerksamkeit sich richtete. Blieb nun aber das er-
wartete Handeln des Andern aus, dann legte man mehr Anstren-
gung in den damit complicirten Laut.“ Als wenn eine mir
fremde Sprache dadurch verständlich für mich würde, daß man
sie mir in die Ohren schreit! Die Meinung des Volkes ist dies
allerdings. Denn so wie Mißverständniß eintritt oder Verständ-
niß ausbleibt, so giebt es Zank und Schlägerei — und der Thurm-
bau von Babel ist gestört. Herbart fährt fort: „Da fing die
Absichtlichkeit des Sprechens an“; also da, wo das Verständniß
ausblieb; absichtliche Mittheilung konnte ja aber noch weniger
verstanden werden! Das Folgende lassen wir aus Ehrfurcht vor
dem großen Denker ganz weg.
Wir haben also in unserer Darstellung den entgegengesetz-
ten Weg eingeschlagen. Nicht Mittheilung, sondern das Selbst-
bewußtsein ist Quell der Sprache. Das Bedürfniß zur Mitthei-
lung würde nie zur Sprache führen; aber die Sprache, im Gange
der Entwickelung der individuellen Seele einmal entsprungen,
[317] wird Werkzeug der Mittheilung, und zwar zunächst eben so
absichtslos, wie sie absichtslos entstanden ist.
Die Sprache ist an sich Darstellung der Anschauungen für
den Sprechenden selbst. Der Mensch ist aber in Gesellschaft;
eine lange Kindheit zwingt ihn dazu und macht ihm die Gesellschaft
auch für spätere Zeit unentbehrlich. Er denkt also ursprünglich
fast immer in Gesellschaft, und Denken ist für den Urmenschen
Sprechen. Er spricht also mit dem Andern, weil er mit dem
Andern ist, und weil menschliches Sein Denken, und das mensch-
liche Denken ursprünglich Sprechen ist; folglich ist Zusammen-
sein Unterredung. Esse oder vivere = cogitare, cogitare = lo-
qui, folglich vivere = loqui, und convivium = colloquium. Her-
bart denkt bloß an gemeinsames Arbeiten. Wäre es bloß dies,
ich meine, der Mensch würde so wenig Sprache geschaffen ha-
ben, wie die Bienen und Ameisen. Der Mensch aber ist kein
arbeitendes Thier. Man aß und trank zusammen und ruhte zu-
sammen, und freute sich zusammen an sich und an der Natur,
man dachte zusammen und erzählte einander. Nicht die Arbeit,
nicht Bedürfniß — Freude und Schmerz, die schönen verschwi-
sterten Götterfunken, entzünden die Sprache; das Herz springt,
das Gefühl strebt nach Gestaltung und bestimmter Form; und
so brach es in der Urzeit in bestimmten, articulirten Lauten aus,
wie heute noch die Beethovensche Symphonie nach dem Worte
greift.
Wie sollte das nicht verstanden werden, was in Gemein-
schaft erzeugt ist? Das Verständniß war da vor der Mitthei-
lung, und Mittheilung war Sein, Leben. Was der Eine dachte,
dachte der Andere und sprach der Andere aus, wie der Erste:
das war Sympathie. Im Krankenhause bekommt ein ganzer
Saal voll Kranker die Krämpfe, welche sie zuerst an Einem se-
hen. Der St. Veits-Tanz, die Tarantella, die Schwärmerei der
Bacchanten, der Revolutionäre, der Blutdurst der Terroristen,
der Muth der stürmenden Soldaten: alles dies und vieles andere
beweist uns die Wirkung dieser Sympathie, durch welche der
Mensch hingerissen wird, ohne Absicht, ja zuweilen gegen seine
Absicht, das zu thun, was er thun sieht. Das aber heißt ver-
stehen: reproduciren, nachmachen.
Wie wir bei lebhafter Freude es heute noch sehen, daß die
Stimme jauchzt, das Auge leuchtet, der Fuß und der ganze
Leib tanzt, Alles in elastischer Spannung ist und der ganze
[318] Mensch spricht: so sprach auch der Urmensch; quot membra
tot linguae. Je mehr der Geist sich entwickelte, je bestimmter
die Vorstellungen wurden, um so kälter wurde das Gefühl; wie
sich die Lautsprache hervorthat, so wurde die Mimik des Lei-
bes stummer, — auch unnöthiger.
Hier sehen wir abermals, wie die Sprache nicht bloß zu
der einen der beiden Classen von Reflexbewegungen gehört, son-
dern auch zu der andern, der Classe der unbewußten Nachah-
mungen. Sich mittheilen und verstanden werden, überhaupt
Gesellschaft ist von höchst günstigem Einflusse für die Entwi-
ckelung der Sprache und des Sprechenden selbst. Die Gegen-
wart des Andern treibt an zum Denken und Sprechen, während
man in der Einsamkeit schläft oder dumpf hinbrütet. Weil die
Gesellschaft der Entwickelung des Denkens nothwendig ist, darum
ist sie es auch für die Sprache. Die Sprache aber, die sich in
der Gesellschaft entwickelt, ist das gemeinsame, wechselwirkend
sympathetische Werk des Menschen, und darum schließt sie das
Verständniß schon in sich.
Daß alles Verständniß auf Sympathie beruhe, das geht auch
daraus hervor, daß es nur so weit reicht wie diese, und da auf-
hört, wo diese schwindet. Hört auf den Streit der Parteien und
ihr werdet vernehmen, wie es unaufhörlich herüber und hinüber
schallet: ihr versteht uns nicht. Wie oft werden wir, ob-
gleich wir uns klar genug ausdrückten, selbst vom Freunde nicht
verstanden, weil eine zufällige Association einer Vorstellung mit
einer andern in ihm die Sympathie unterbrochen hatte.
Das Kind lernt heute noch, wie der Urmensch, in Gesell-
schaft denken, und erlernt die Sprache, durch welche sein Den-
ken von außen her angeregt wird.
2. Leistung der Sprache für das Denken.
a) Wesen der Vorstellung im Allgemeinen.
Wir haben die Entstehung der Sprache kennen gelernt und
die bildenden Momente, in deren Zusammenwirken ihr Sein und
Leben liegt. Fragen wir uns nun, was durch dieselbe für die
geistige Entwickelung gewonnen ist. Die Entwickelung der Spra-
che, das haben wir gesehen, ist selbst eine Stufe des sich bil-
denden Bewußtseins, die wir sogar in drei sehr verschiedene
Unterstufen eintheilen mußten. Auf der dritten Stufe der in-
[319] nern Sprachform kann das Bewußtsein nicht mehr da sein, wo
wir es beim Aufgehen der Sprache fanden.
§. 103. Wesen der Vorstellung.
Die Anschauung, in der die Sprache ihre Wurzeln schlägt
und aus der sich ihr Stamm erhebt, ist, wie wir oben sahen,
ein Zusammen, ein Complex vieler Empfindungen, aber keine
Einheit. Diese Einheit wird nun eben in der Sprache gebildet,
und durch dieselbe wird die Anschauung zur Vorstellung.
Eine vermittelst der innern Sprachform erfaßte,
durch diese sich im Bewußtsein bewegende An-
schauung ist Vorstellung. Diese ist also die Einheit der An-
schauung und der innern Sprachform. Da letztere an den Laut
geknüpft ist, theilweise sogar ganz und bloß im Laute liegt, so
müssen wir statt ihrer den Ausdruck setzen, welcher ihre Ein-
heit oder Verbindung mit dem Laute bezeichnet, nämlich: das
Wort. Wort ist die Einheit eines Gedankens der innern Sprach-
form (oder des instinctiven Selbstbewußtseins), oder die Ein-
heit einer Anschauung von einer Anschauung mit dem zur Stütze
dienenden Laute. Die Vorstellung also ist die Einheit des Wor-
tes und der durch dieses Wort ausgedrückten Anschauung; oder
sie ist eine durch das Wort gedachte Anschauung.
Das Bewußtsein setzt beim Denken an die Stelle der An-
schauung die innere Sprachform derselben, und eine solche
Anschauung, welche dem Bewußtsein nicht unmit-
telbar gegenwärtig ist, auf welche aber das Bewußt-
sein mittelbar bezogen ist, indem es ihren Stellver-
treter, das Wort, vergegenwärtigt, ist Vorstellung.
Wodurch ist denn nun die Anschauung, die zunächst eine
Summe von Wahrnehmungen war, zu einer eigentlichen Einheit
geworden; wodurch ist die Kategorie des Dinges entstanden?
Hier begreifen wir das zwar noch nicht vollkommen; aber etwas
Bedeutendes erkennen wir schon. Indem nämlich durch die An-
schauung der Anschauung ein Moment herausgehoben wurde,
welches die Sprache zur Bezeichnung der ganzen Anschauung,
d. h. der Summe aller Momente, verwendet; indem dann ferner
das Bewußtsein es sich gefallen läßt, das so entstandene Wort
für die Anschauung selbst gelten zu lassen: so ist gerade durch
das Wort die Summe in eine Einheit versammelt worden; denn
die ganze Summe wird auf das Wort bezogen, so daß sich ge-
wissermaßen eine Pyramide bildet oder ein Kegel, dessen Grund-
[320] fläche die einzelnen zu der Anschauung gehörenden Wahrneh-
mungen bilden, die aber alle in die eine Spitze auslaufen, wel-
che das Wort bildet.
§. 104. Das Wort — das Ding an sich.
So erhält nun das Wort die Bedeutung des Dinges an
sich: es bezeichnet die Einheit, an welcher die Summe der
Wahrnehmungen haftet, den unveränderlichen Kern, welcher fest
bleibt, was er ist, wenn auch einzelne Merkmale sich ändern.
Der Mensch kennt z. B. den Wolf, d. h. er hat diesen bestimm-
ten, aus solchen und so verbundenen Wahrnehmungen bestehen-
den Complex. Die innere Sprachform, das instinctive Selbst-
bewußtsein, erfaßt diesen Complex an einer besonders hellen
Stelle, an der Anschauung des Zerreißens. Das Bewußt-
sein bildet also eine einheitliche Anschauung von diesem An-
schauungscomplex, indem es den Wolf sich vorstellt als den
Zerreißer. Nun ist der Zerreißer der Wolf an sich. Der
sich darbietende Wolf, die einzelne wirkliche Anschauung, ist
nicht immer ganz dasselbe: das Grau ist bald heller, bald dunk-
ler; die Größe, das Alter, die Wuth, die Kraft das eine Mal
geringer, als das andere Mal. In allen diesen Anschauungen
aber bleibt trotz aller Verschiedenheit in den einzelnen Wahr-
nehmungen, die in dem jedesmaligen Falle die Anschauungs-
summe ausmachen, die Einheit, in welcher die Summe vorgestellt
wird, der Zerreißende, durchaus beständig. Diese Einheit ist
also das Band aller einzelnen Wahrnehmungen; sie scheint der
Grund, welcher uns nöthigt, die Wahrnehmungen so, in solcher
Anzahl und solcher Form zusammenzufassen — und diese Ein-
heit ist das Wort; so bezeichnet das Wort das Ding an sich.
Auch hatte ja das einfache Volksbewußtsein und die Mystik
immer den Glauben, im Worte liege das Wesen des Dinges,
sein Leben; daher seine Bedeutung für alle Zauberei.
§. 105. Das Wort — Allgemeines, die Art.
Dies ist nun ein unermeßlicher Gewinn fär das Bewußt-
sein: diese Verwandlung der Anschauungssumme in die vor-
gestellte Einheit eines Dinges, an welchem jene Summe
hängt, und welches eben die Ursache ist, daß die Summe so
groß und gerade so gebildet ist. Mit dieser Einheit ist sogleich
zum ersten Male ein Allgemeines gegeben. Eine allgemeine sinn-
liche Anschauung ist an sich ein Widerspruch. Die Vorstel-
lung ist das erste allgemeine Erzeugniß des Bewußtseins; und
[321] sie wird gebildet durch das Wort, welches immer allgemein ist.
Denn der innere Gehalt des Wortes, die Anschauung einer An-
schauung, gehört nicht dieser und nicht jener einzelnen An-
schauung allein; sondern sie findet sich in allen Anschauungen
derselben Art wieder. Sie ist ja, wie oben bemerkt wurde, nicht
auf Veranlassung einer einfachen gegenwärtigen Anschauung ge-
bildet, sondern durch Vereinigung der gegenwärtigen Anschauung
mit der ganzen Masse der gleichartigen Anschauungen, die man
schon gehabt hat, und die als eine unklare Masse durch die
gegenwärtige Anschauung aus dem Gedächtnisse hervorgerufen
werden. Durch die Anschauung der Anschauung aber, oder
durch das Wort, wird nicht bloß eine Anschauungssumme zu
einer Einheit verbunden, sondern es werden damit zugleich auch
alle ähnlichen Einheiten (d. h. alle Anschauungssummen, denen
dasselbe einheitliche Ding als Band angelegt wird, welche unter
derselben Anschauung vom instinctiven Selbstbewußtsein ange-
schaut werden), zur Einheit einer Art zusammengefaßt. Der
Mensch hat viele Anschauungen vom Wolfe; sie werden
sämmtlich unter derselben Anschauung des [Zerreiſsenden] ange-
schaut oder vorgestellt. Es giebt also nur Eine Vorstellung
vom Wolfe und von jeder Anschauung; und sie ist das Allge-
meine, und das Wort bezeichnet die Art.
Weiter können wir zunächst die Sache noch nicht verfol-
gen. Man sieht aber schon hier, wie sich die Seele, indem sie
in der Sprache eine Welt von Dingen an sich und eine Welt
von Allgemeinheiten schuf, ein wahrhaftes neues Organ gewon-
nen hat, das zugleich die größte Gefügigkeit zeigt, weil es, von
der Seele selbst geschaffen, von wenig Sinnlichkeit belastet ist.
Nur die Natur dieses Organs konnten wir hier darlegen, woraus
schon auf seinen Werth zu schließen ist. Um seine volle Lei-
stung zu erkennen, müssen wir es wirken sehen. Die Wirkung
der Sprache aber enthält ihre eigene Entwickelung, d. h. die
Ausbreitung und dabei Gestaltung und Gliederung ihrer Ele-
mente. Und so haben wir uns zuerst diese klar zu machen,
wodurch wir die nähere Betrachtung der Grammatik vorbe-
reiten.
21
[322]
b) Nähere Darlegung des Wesens der Vorstellung
und ihrer Entwickelung.
§. 106.
Auf dem Punkte, wo wir hier stehen, ist allerdings die Ent-
wickelung der Sprache und des Gedankens identisch; denn wir
wollen eben zeigen, was das Denken durch das Sprechen ge-
winnt, welchen Zuwachs das Denken an Formbildung und Klar-
heit durch die Entwickelung der Sprache erhält. Die Sprache,
angesehen als instinctives Selbstbewußtsein, bildet eine Stufe in
der Entwickelung des Gedankens; und so weit diese Stufe reicht,
fällt also die Entwickelung des Denkens mit der des Sprechens
zusammen. Auch in der Zeit giebt es eine Epoche, in der Ge-
schichte des Urmenschen sowohl, wie im geistigen Wachsen des
Kindes, eine Epoche, sage ich, in welcher das Bewußtsein be-
stimmt ist als instinctives Selbstbewußtsein, und deren Wesen
darin besteht, daß die Entwickelung des Denkens Sprache ist.
In dieser Epoche löst das Bewußtsein die Aufgabe, den sämmt-
lichen gewonnenen Vorrath von Anschauungen nach und nach
durch das Wort in einen Schatz von Vorstellungen umzuwan-
deln. Dies giebt eine neue Definition der Sprache; denn sie ist
hiernach: der geistige Vorgang des Umwandelns der
Anschauung in Vorstellung. Die Seele läßt also allmäh-
lich ihr inneres Auge auf allen einzelnen Anschauungen, die sie
erworben hat, ruhen und erhebt sie dadurch, jede einzeln, in
das instinctive Selbstbewußtsein, wodurch sie zu Vorstellungen
werden.
§. 107. Stoff und Form.
Bei diesem Wandel, der also keineswegs mit einem Schlage
zauberhaft vollbracht wird, treten nun mancherlei formale Ele-
mente hervor. Wir haben bisher nur materiale Verhältnisse
des Denkinhaltes betrachtet: die Anschauung ist für das
Denken ein gegebener Stoff und hat noch keine dem Gedan-
ken angehörende Form. Nach einer gewissen philosophi-
schen Betrachtungsweise läßt sich wohl sagen, alles was Form
genannt werden kann, sei schon ein Erzeugniß der Seele. Das
Wesen der Anschauung an sich ist schon eine seelische Form.
Denn eigentlich liefert nur Empfindung und Gefühl Stoff. Wenn
aber die Anschauung eine bestimmte Summe der Empfindungen
ist, wie z. B. Gold und Silber zwei verschiedene bestimmte Sum-
[323] men von Gesichts-, Tast- und Gehörempfindungen sind, so ist
diese bestimmte Weise der Summirung schon eine Form, welche
die Seele zu den Empfindungen hinzuthut. Daß wir nicht bloß
keine andern Empfindungen hinzuzählen, sondern auch gerade
diese in solcher Weise vereinigen; daß wir die gelbe Farbe mit
solchem Klange und Gewichte u. s. w., als Gold, die weiße Farbe
mit anderm Klange und Gewichte, und nicht mit jenen, als Sil-
ber zusammenfassen: das ist schon Formthätigkeit der Seele.
Eben so die räumlichen geometrischen Formen. Indessen alle diese
Formen, die schon bei der Anschauung auftreten, haben ihren
Grund in den Objecten selbst; diese sind es, welche die Seele
zwingen, die Empfindungen in solchen bestimmten Formen aufzu-
fassen; es sind Formen der Objecte selbst, nicht Formen der
Auffassung der Objecte, nicht Formen des Denkens; materiale
Formen, möchte ich sagen, nicht formale; Bestimmungen am
Stoffe, Bestimmungen des Gedachten, nicht der Denkthätigkeit.
Erst mit der Vorstellung, erst mit dem Selbstbewußtsein,
zunächst nur dem instinctiven, treten Formbestimmungen des
Denkens auf; denn erst hier wird das Denken rein thätig, wäh-
rend es in der Wahrnehmung nur empfängt, leidet. Mit der
Vorstellung beginnt die selbstthätige Entwickelung des Denkens
auf seinem eigenen Boden. Hier beginnen die eigenthümlichen
Operationen des Denkens mit dem Erkenntnißschatze, den die
Seele durch die Sinne von der Außenwelt erlangt hat; und die-
ser Anfang liegt in der Sprache.
§. 108. Benennungen als erste Form der Sätze.
Wir stellen uns nun den Urmenschen oder das Kind vor,
die menschliche Seele, der alle Dinge noch neu genug sind,
deren Sinne noch frisch genug sind, um am bloßen Wahrneh-
men der Dinge ihre Freude zu haben, wie sich die Glieder ihres
Leibes an der bloßen nutzlosen Spielbewegung erfreuen. Ihre
Erkenntniß ergeht sich munter im Wiedererkennen schon gese-
hener Dinge und im Aufsuchen und Auffassen neuer; das heißt:
im Benennen der Dinge. „Das ist das!“ und „was ist das?“
dies sind die allgemeinen Kategorien, in denen sich dieses Den-
ken bewegt; wirklich sprachlich aber treten hier die Ausrufe-
Sätze auf: Hund! (oder Wauwau) Kuh! Auch wir brechen in
solche Ausrufesätze aus, sobald wir bei dem Erkennen eines Din-
ges in Affect gerathen, weil es uns angenehm oder unangenehm
ist, weil wir es anfangs nicht erkennen konnten, oder es nicht
21*
[324] erwarteten; z. B. Feuer! Land! Der Feind! Der König! Carl!
Man könnte dies auch Erkennungssätze nennen. Das psycholo-
gische Ereigniß, das hier vorliegt, ist einfach. Bei der gegen-
wärtigen Anschauung tritt die ganze in einander verschmolzene
und verwirrte Masse der gleichartigen schon vergangenen, aber
von der Seele aufbewahrten Anschauungen hervor, und die neue
verschmilzt mit den alten. Diese Verschmelzung heißt eben Er-
kennen. An die alte Masse verwirrter Anschauungen ist das
Wort geknüpft. Die Aufnahme der neuen Anschauung in die
alte Masse, das Erkennen, spricht sich dadurch aus, daß der
Name, welcher an die letztere geknüpft ist und mit ihr hervor-
tritt, auf jene übertragen wird. So wird das Wort gewisserma-
ßen ein Netz, welches die Seele auswirft, um die neue An-
schauung einzufangen.
Und so kann ich mir den Anfang der Sprache nicht an-
ders denken, als durch Benennung der Dinge, welche freilich
noch keine Substantiva giebt. Wenn Becker meint, Verba hät-
ten den Anfang der Sprache gebildet, so verkennt er das Wesen
der Verba, wie alle sprachliche Entwickelung. Trendelenburg
erkennt an (II, S. 146.), daß die Wurzel weder Substantivum,
noch Verbum ist; meint aber dennoch: „Wenn man die ersten
Wörter wieder auffinden könnte, so müßten sie schon einen vol-
len Gedanken enthalten; denn dahin drängt die Seele. Dem Ver-
bum allein ist dieser „„Act des synthetischen Setzens““ als
grammatische Function beigegeben … Daher werden die An-
fänge der Sprache in den Verben liegen.“ Aber von „gramma-
tischer Function“ ist eben hier noch gar nichts zu finden. Tren-
delenburg setzt hinzu: „Will man noch in der Sprache von der
Benennung ausgehen und daher die Namengebung der ruhenden,
abgeschlossenen Dinge für das Erste erklären: so verfährt man
äußerlich.“ Dieser Vorwurf trifft die alten Grammatiker, nicht
unsere obige Darstellung. Denn nach dieser handelt es sich
nicht um eine „Namengebung der ruhenden, abgeschlossenen
Dinge,“ zu welcher der Mensch, man weiß nicht, wodurch?
veranlaßt würde, sondern um ein Erkennen. Daher billigen wir,
was Trendelenburg hinzusetzt: „Selbst die Sprachentwickelung
in dem Kinde kann nicht als Analogie“ (für jene alte Ansicht)
„angeführt werden. Sind die ersten Wörter des Kindes nur
Namen? Freilich erscheinen sie isolirt. Aber schon sind sie ein
Satz. Die Kinder sprechen mit feinem Sinne dasjenige Wort
[325] als den Repräsentanten des ganzen Satzes, auf welches noch in
der gegliederten Periode als auf den Hauptbegriff des Ganzen
die vorwiegende Betonung fallen würde … Was an dem Ur-
theil in dem Ausdrucke der Sprache fehlt, das ersetzt die see-
lenvolle Betonung oder die lebhafte Geberde. Der Ton des
Staunens bezeichnet das Urtheil der Wirklichkeit“ (was wir
oben Erkennungssätze nannten), „das eilende Drängen im Tone
das Verlangen.“ An die obigen Ausrufungs- oder Erkennungs-
sätze schließen sich leicht die Befehlsätze; und wenn das aus-
gesprochene Wort im erstern Falle für uns ein Prädicat ist,
wozu die gegenwärtige Anschauung das verschwiegene Subject
bildet, so ist es im andern Falle, wie: Brod! Apfel! (sc. will
ich haben, gieb mir) das Object. Das Verbum wird in beiden
Fällen unterdrückt. Der Anfang der Sprache liegt in Sätzen,
aber in verblosen. Die Synthesis, welche das Wesen der
ganzen Sprache ausmacht, fehlt hier nicht: es ist die doppelte
Synthesis der neuen Anschauung mit den alten und mit dem
Worte. Die Verschmelzung der neuen Anschauung mit der al-
ten Masse ist für uns die Copula; grammatisch aber, sprach-
lich, ist letztere noch nicht vorhanden, und eben darum ist auch
noch kein Verbum da.
Was sagen wir denn nun zu der Thatsache, „daß es ver-
hältnißmäßig sehr wenige Substantiva giebt, in denen nicht noch
die Thätigkeit, also das Element des Urtheils, als das Ursprüng-
liche könnte erkannt werden?“ Nach allem was oben über die
innere Sprachform gesagt ist, kann diese Thatsache für uns
schon als erklärt gelten. Die Thätigkeiten, welche in den Sub-
stantiven liegen, sind keine Verba, sondern allenfalls Adjectiva,
Merkmalwörter; das Merkmal ist das Attribut, durch welches
das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauung als Einheit er-
faßt, sie sich vorstellt. So wie wir nie das Ding an sich er-
kennen, so hat auch die Sprache keine eigentlichen, ursprüng-
lichen Dingwörter; wie uns der Complex der Merkmale eines
Dinges für das Ding selbst gilt, so giebt es auch in der Spra-
che nur Merkmalwörter. Ein Merkmal aber wird aus dem Com-
plex von Merkmalen, welche für uns das Ding bilden, heraus-
gehoben und muß für das Ding an sich gelten, so z. B. der
Reißende für den Wolf. Der Reißende ist also an sich ein Merkmal-
wort, nach der Absicht und Verwendung in der Sprache aber ein
Dingwort. So ist Trendelenburgs „primitives Urtheil“ aufzufassen.
[326]
Bevor man den Wolf als den Reißenden bezeichnen konnte,
mußte freilich ein Wort für reißen, für die Thätigkeit an sich,
gebildet sein. Wir sahen ja auch, daß die Stufe, auf welcher
die innere Sprachform zu solcher Bildungsweise gelangte, nach
welcher Wolf gebildet ist, keineswegs die erste ist. Wir sind
aber in unserer Entwickelung noch nicht weit genug vorgerückt,
und haben noch gar nicht gesehen, wie die Seele zur Auffassung
von Thätigkeiten gelangt. Dies soll nun gezeigt werden.
§. 109. Der explicite Satz.
Wir stehen hier noch ganz am Anfange der Entwickelung
der Vorstellung; sie ist noch weiter nichts, als eine Anschauung,
deren Merkmale gedacht werden als sich an eines aus ihrer Mitte
anschließend. Hier ist nicht bloß noch kein grammatisches Ver-
bum, kein grammatisches Substantivum, sondern auch das Ding
und die Thätigkeit oder das Merkmal überhaupt sind noch nicht
streng von einander abgeschieden. Es ist wohl ein Merkmal
aus dem Complex hervorgehoben; aber dasselbe liegt doch noch
in ihm, es bildet den Mittelpunkt, oder, wie wir oben sagten,
die Spitze des Kegels; es umfaßt also sich und alle Merkmale
der Anschauung zugleich. Das Urtheil der Seele in der An-
schauung lautet: das wahrgenommene Object ist die Summe mei-
ner Empfindungen von demselben. In der Vorstellung wird hieran
zunächst nur dies geändert, daß durch eine Abkürzung statt der
sämmtlichen Empfindungen von einem Dinge nur eine im Laute
reflectirte und mit diesem Laute associirte gesetzt wird. Der
Werth und das Wesen dieses anschauenden Urtheils ist noch
nicht geändert, nur die Ausdrucksweise, die eine abkürzende ist.
Bei diesem ersten Auftreten der Vorstellung hat das eine, zu-
sammenfassende Merkmal, welches den ganzen Complex vertritt,
noch nicht die Bedeutung des Dinges an sich, die wir oben als
bezeichnend für die Vorstellung angaben; aber sie wird diese
Bedeutung sogleich erhalten, und damit wird erst das Ding von
seinen Thätigkeiten und Merkmalen geschieden. Und wie ge-
schieht dies?
Man begreift wohl schon, daß wenn der Complex von Merk-
malen der Anschauung einmal so zugespitzt ist, daß ein Merk-
mal sie alle vor dem Bewußtsein vertritt, vorstellt, bedeutet
(gewissermaßen wie ein Abgeordneter eine Gesammtheit vertritt
oder vorstellt), man begreift, sage ich, wie jetzt die Seele ge-
zwungen wird, sich klar zu machen, welche Merkmale es sind,
[327] die durch jenes eine vertreten werden. Sie findet aber hierzu
auch noch in der Außenwelt mancherlei Aufforderung.
Die Anschauung eines bestimmten Dinges umfaßt allemal
eine Menge gegenwärtiger, sinnlicher Wahrnehmungen. Diese
Menge, dieser Complex ist aber rücksichtlich desselben Dinges
nicht immer gleich; sondern es fehlen bald einige Merkmale,
bald sind einige mit andern vertauscht. Das Kind sieht den
Hund liegend, sieht ihn aufstehen und gehen, hat also drei An-
schauungen, alle drei identisch und doch verschieden. Wir den-
ken uns hier das Kind eben auf der Stufe, auf welcher unsere
Darlegung steht. Die Anschauung ist ihm zu einem Merk-
male zugespitzt; der ganze Hund wird vor seinem Bewußtsein
vertreten, vorgestellt durch Wauwau. Dieses Wauwau ist nicht
Substantiv, nicht Verb, nicht Ding, nicht Thätigkeit, sondern
alles was der Hund ist und thut; es gilt dem Kinde für alles
was es vom Hunde weiß, ist ihm das Aequivalent der ganzen
Masse von Anschauungen, welche es von ihm hat. Also Wau-
wau liegt, erhebt sich, geht, ist bald schwarz, bald weiß — denn
zunächst weiß das Kind nicht, daß der schwarze ein anderer
ist, als der weiße —; das Kind sieht dann auch mehrere Wau-
waus, große und kleine, schwarze und weiße beisammen. Und
auf alle diese verschiedenen Anschauungen bezieht sich sein Wau-
wau. Haben wir hier nicht schon die Einheit in der Verschie-
denheit? Nun wird Wauwau ein fester Punkt, eine Einheit, an
welche sich die bemerkten Verschiedenheiten anreihen; d. h.
Wauwau wird Subject, und die veränderlichen Merkmale wer-
den Prädicat. Wenn in der Anschauung die Summe der em-
pfundenen Merkmale gewissermaßen das Prädicat des Dinges,
des wirklichen Objects sind, welches als Subject gilt: so ist auf
der ersten Stufe der Vorstellung nur der Unterschied eingetre-
ten, daß sämmtliche Wahrnehmungen am Dinge, also z. B. am
Hunde, durch das eine Prädicat wauwau ersetzt werden. Jetzt
aber sahen wir die zweite Stufe eintreten, wo Wauwau zum
Subjecte der veränderlichen Merkmale wird, welche als Prädicate
gelten. Nun erst erhält Wauwau die Bedeutung des Hundes an
sich, der Substanz, des Dinges, und das Ding wird von seinen
Thätigkeiten und Eigenschaften geschieden. Die Wahrnehmun-
gen dieser veränderlichen Eigenschaften und Thätigkeiten sind
es jetzt, welche das Interesse des kindlichen Geistes erregen und
sich in Lauten reflectiren. Der Urmensch, kräftiger, als das
[328] Kind, wird solche Laute ursprünglich schaffen; das Kind spricht
gehörte Laute nach.
So denken wir uns den Vorgang der Schöpfung der Ding-,
Merkmal- und Thätigkeitswörter. Sie werden geschaffen, wie
wir dies oben bei der Darlegung der innern Sprachform gezeigt
haben. Uebrigens werden nun auch absolute Thätigkeiten wahr-
genommen, Thätigkeiten ohne Thuendes: blitzen, donnern, heu-
len, fließen, leuchten u. s. w. Sie werden benannt, und die Wör-
ter für sie werden nicht anders gebildet, als wir oben dargelegt
haben. Wenn man also meint, Dingwörter seien nicht die er-
sten, da ihnen allemal Merkmalswörter zu Grunde liegen: so
ist ganz dasselbe von den Thätigkeitswörtern zu sagen, denen
ebenfalls immer Merkmale zu Grunde liegen. Die Thätigkeit
wird ganz wie eine Substanz betrachtet, und der Eindruck, den
sie auf die Seele ausübt, reflectirt sich in einem Laute. Auch
hat eine Thätigkeit viele Merkmale, von denen eines endlich
alle vertritt und die Thätigkeit selbst bedeutet. Die ersten Wör-
ter sind also Merkmalsbezeichnungen und mithin, wollte man
einen grammatischen Ausdruck gebrauchen, Adverbia.
Dies ist nun also der vorzüglichste Unterschied zwischen
Anschauung und Vorstellung, daß jene einen Complex von Em-
pfindungen ungeschieden vergegenwärtigt, die Vorstellung dage-
gen Ding und Merkmal scheidet. Da es nun aber dennoch dar-
auf ankommt, Anschauungen auszudrücken, also den Complex
von Ding und Merkmal: so kann dies nicht anders geschehen,
als indem man die einzelnen Ding- und Merkmalsvorstellungen
im Urtheile zusammensetzt. Darum lebt die Vorstellung nur im
Satze, während sie als isolirtes Wort eine aus dem Empfindungs-
complex einer Anschauung herausgerissene, abgelöste einzelne
Empfindung ist, also ein todtes Abstractum, ein abgestorbenes
Glied eines lebendigen Organismus. Vorstellung ist wesentlich
Satz; der Satz ist das Urtheil der Vorstellung. Und so wird
nun erst im Satze recht klar, was es heißt, wenn wir sagen,
Sprache sei Anschauung der Anschauung; denn das Subject des
Satzes ist die angeschaute Anschauung, und das Prädicat ist
das Ergebniß dieses Anschauens der Anschauung, das an der
Anschauung Geschaute, das als was das Angeschaute erkannt,
vorgestellt wird. Streng genommen aber sollten wir sagen, der
Satz sei die Vorstellung der Vorstellung. Denn das Wort als
Vorstellung ist schon die Anschauung der Anschauung, das Wort
[329] ist das Urtheil der Anschauung; der Satz aber behandelt das
Wort gerade eben so, wie dieses die Anschauung behandelt hat,
d. h. wenn das Wort Vorstellung ist, so ist der Satz Vor-
stellung der Vorstellung. Das Subject ist die Vorstellung,
welche unter einer andern, dem Prädicate, aufgefaßt wird; eben
so ist das Attribut die Vorstellung, als welche die Vorstellung
des Substantivs vorgestellt wird, und ferner ist das Object das,
was an der Vorstellung der Thätigkeit vorgestellt, erkannt wird.
Hören wir hierüber noch den alten Kant (Kritik der reinen Ver-
nunft, Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt, Ausg.
v. Hartenstein 1853. S. 99): „Da keine Vorstellung unmittelbar
auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird
ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern
auf irgend eine andere Vorstellung von demselben (sie sei An-
schauung oder selbst schon Begriff) bezogen. Das Urtheil ist
also die mittelbare Erkenntniß eines Gegenstandes, mithin die
Vorstellung einer Vorstellung desselben. In jedem Ur-
theil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesen vielen
auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere dann
auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird. So bezieht sich
z. B. in dem Urtheile: alle Körper sind theilbar der Begriff des
Theilbaren auf verschiedene andere Begriffe; unter diesen aber
wird er hier besonders auf den Begriff des Körpers bezogen,
dieser aber auf gewisse uns vorkommende Erscheinungen. Also
werden diese Gegenstände durch den Begriff der Theilbarkeit
mittelbar vorgestellt.“
Ueber der Aehnlichkeit dieser Stelle Kants mit unserer
Darstellung aber werden wir die Verschiedenheit nicht überse-
hen. Bei Kant „ist Denken die Erkenntniß durch Begriffe“,
und der Verstand ist ein besonderes „Vermögen zu urtheilen“;
der Begriff aber nichts als „das Prädicat zu einem möglichen
Urtheile“. Das ist aber alles höchst einseitig und willkürlich.
Bei Trendelenburg sind umgekehrt gerade die Subjecte der Ur-
theile die Begriffe. Die Begriffe können als Subject und als
Prädicat stehen, und in diesem wie in jenem Falle beziehen sie
sich nicht mehr und nicht weniger auf einen Gegenstand. —
Verstand ferner ist kein besonderes Vermögen; Urtheilen ist
nicht die besondere Thätigkeit eines besondern Vermögens; und
Denken ist nicht bloß Erkenntniß durch Begriffe, d. h. durch
Urtheile. — Kant unterscheidet Anschauung und Begriff, wie
[330] wir; Vorstellung aber ist ihm der allgemeine Ausdruck für jene
beiden zugleich, sie umfassend, ihnen untergeordnet.
Uns ist Vorstellung eine coordinirte mittlere Stufe der See-
lenempfängnisse zwischen den Stufen der Anschauung und des
Begriffs. Urtheil ist eine Form der Denkthätigkeit, die sich,
verschieden gestaltet, auf allen drei Stufen findet. Das Urtheil
ist je nach der Stufe, auf der es auftritt: Anschauung der An-
schauung (Wort), Vorstellung der Vorstellung (Satz), Begriff
des Begriffs (logisches Urtheil).
Die Sätze und Urtheile sind nicht aus zwei Vorstellungen
oder Begriffen zusammengesetzt; sondern die Anschauung, d. h.
die Einheit ist das Erste, und das Urtheil ist die Auflösung
dieser Einheit. Von den vielen Momenten, den Merkmalen ei-
ner Anschauung oder eines Begriffs wird eines hervorgehoben,
nur dieses, als Prädicat, wird gedacht, und nur als dieses wird
in dem Augenblicke des Urtheils der Begriff des Subjects ge-
dacht, nur in ihm liegt der Werth des Subjects. In dem Ur-
theile z. B. alle Körper sind theilbar sind Subject und Prädicat
gleich, und zwar deswegen gleich, weil aus der unbestimmten
Menge der Merkmale des Körpers hier nur eines in das Be-
wußtsein gehoben wird, das der Theilbarkeit; diese ist alles,
was in jenem Urtheile bei der Vorstellung Körper gedacht wird.
Subject und Prädicat sind also wirklich identisch; denn das
Prädicat sagt aus, was das Subject ist. Der Hund läuft bedeu-
tet: der Hund ist ein laufender Hund; dieser Vogel ist grau
bedeutet: dieser Vogel ist ein grauer Vogel oder dies ist ein
grauer Vogel.
§. 110. Ausbildung der Begriffe.
Nun aber vervielfältigen sich die Sätze: der Hund läuft,
sitzt, ist schwarz, weiß, braun, grau u. s. w. Jeder Satz ver-
vollständigt die Analyse der Anschauung. Damit hält die Schö-
pfung der Merkmalwörter und die Entwickelung des Begriffs
gleichen Schritt. Denn der Begriff ist die vollständige analy-
tische Erkenntniß der Anschauung, d. h. der Momente dersel-
ben sowohl an sich, als in ihrer gegenseitigen Durchdringung
und ihrem Werthe für das Ganze. Je mehr Sätze entwickelt
werden, um so fester gilt das Wort als Ding an sich; um so
mehr aber schwindet die etymologische Bedeutung des Wortes,
wobei ein Merkmal als Ding an sich gilt. Bleibt nun zuletzt
[331] dem Worte an sich nichts mehr übrig als der Laut, wie dies
in geschichtlicher Zeit Statt findet, wo die Etymologie aus dem
Bewußtsein verloren ist: so ist die Vorstellung nichts weiter,
als die leere Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung
oder das wirkliche Ding, und erwartet erst im Prädicate einen
Inhalt. Wenn man sagt: der Körper ist theilbar, so wird bei
Körper gar nichts gedacht; das Wort Körper bewirkt aber eine
Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung des wirklichen
Körpers, eine Beziehung jedoch, die durchaus leer ist (weil die
Etymologie des Wortes Körper vergessen ist), und die erst durch
das Prädicat theilbar einen Inhalt erhält. Wenn sich nun diese
Beziehungen vielfach wiederholen und immer verschieden aus-
gefüllt werden; wenn, nach unserem obigen Gleichnisse, von der
inhaltslosen Spitze des Kegels der Anschauung nach allen Punk-
ten der Basis Linien gezogen werden und durch diese Linien
alle Punkte nach ihrem Zusammenhange mit einander und mit
dem Ganzen ins Bewußtsein gelangt sind: so erhalten wir den
Begriff, der eine große Fülle von Urtheilen in sich schließt.
Wie schwerfällig würde unser Denken sein, wenn wir da-
bei immer die volle Anschauung oder gar den Begriff, so weit
wir ihn gebildet haben, gegenwärtig im Bewußtsein haben müß-
ten, um daran neue Erkenntnisse zu knüpfen! Ja dies wäre bei
der Natur unseres Bewußtseins, welches nur sehr wenige ein-
fache Vorstellungen zugleich klar denken kann, rein unmöglich.
Das Wort kommt also hier dem Bewußtsein zu Hülfe. Denn,
indem es, ohne ihm etwas zu denken zu geben, dennoch den
ganzen Complex der Empfindungen, die in einer Anschauung
liegen, festhält, kann das Bewußtsein in völliger Freiheit sein
Auge ausschließlich auf diejenigen Punkte heften, um deren Er-
kenntniß es ihm gerade jetzt zu thun ist; und kann, da auch
diese Erkenntnisse an Wörter gebunden sind, mit denselben man-
cherlei Operationen vornehmen, ohne sie sich lebendig zu ver-
gegenwärtigen, indem es mit dem inhaltsleeren Worte als dem
vorgestellten Aequivalent des Erkannten operirt. Wie sollte
man etwas Allgemeines, etwa von Pflanzen und Thieren, auf-
fassen können, wenn man fortwährend die Anschauungen aller
Einzelheiten gegenwärtig haben müßte! Die Vorstellung, auf
ihrer niedrigsten Stufe der Allgemeinheit, bedeutet eine Art. So
vermittelt sie die höhere Allgemeinheit des Begriffs mit der An-
schauung, die nur Einzelnes erfaßt.
[332]
§. 111. Fernere Betrachtungen über die Leistungen der Sprache für das
Denken.
Ehe wir diesen Abschnitt abschließen, wollen wir noch Her-
bart hören von der Wirkung der Sprache (a. a. O.): „Etwas
schwerer“ (als die Entstehung der Sprache) „mag die Frage
von der Wirkung der Sprache sein; doch hat man auch hievon
zu viel Aufhebens gemacht. Daß man vermittelst der Spra-
che denke, ist ganz unrichtig. Man kann nicht ohne die
Worte denken, nachdem die Vorstellung der letztern“ (d. h. ihr
Wortlaut) „mit den Begriffen complicirt ist … Die Summe
aber, oder der Grad des Vorstellens, oder die Innigkeit der Ver-
bindung unter den Merkmalen eines Begriffs, dies alles, worauf
die Wirksamkeit unserer Vorstellungen beruht, wächst nicht im
geringsten durch das angeheftete Zeichen. Eine Täuschung, als
ob ein Ding ohne Namen nur unvollständig erkannt wäre, kann
daher entstehen, weil, nachdem alle andern Dinge den Ballast
eines Worts an sich tragen, dem Namenlosen ein Zusatz zu
fehlen scheint, wenn es mit jenen ins Gleichgewicht treten soll“
(Hier haben wir das Gegenstück zu Becker, dem die Wortschö-
pfung gleich gilt mit der Ideenschöpfung. Jedes dieser Extreme
gereicht dem andern zur Entschuldigung). „So bildet sich wohl
auch Einer, der eine fremde Sprache, noch außer der Mutter-
sprache, gelernt hat, ein, es fehle ihm etwas an der Kenntniß
des Gegenstandes, den er in die fremde Zunge nicht übersetzen
kann!“ Einen solchen „Einen“ möchte ich kennen. In Deutsch-
land lebt er schwerlich! wo man nicht einmal, wenn man das
Ding nicht in der Muttersprache zu benennen weiß, einen Man-
gel fühlt.
Man sieht übrigens von selbst, daß dieser Stelle die aller-
niedrigste Ansicht von der Sprache zu Grunde liegt. Die Spra-
che ist also „ein Ballast“, von dem gar nicht eingesehen wer-
den kann, wie der Mensch dazu kommt. Sie ist eben darum
auch als ein Uebel anzusehen: „Aller Vortheil der Sprache be-
ruht auf dem geselligen, gemeinsamen Gebrauch; auf der Ver-
längerung und Berichtigung der eignen Gedanken durch die der
Andern. Aber für den Einzelnen ist das Anheften der Gedan-
ken an die Sprache sogar nachtheilig. Denn hierdurch treten
für ihn die mehr und die minder verstandenen Worte, — die-
jenigen, die für ihn mehr und weniger Sinn haben, — scheinbar
in einen Rang. Daher so viel thörichter Wortkram, und so
[333] viel Eitelkeit, Unlauterkeit, falsche Schätzung des Wissens, Drei-
stigkeit des sinnlosen Plauderns!“ Und der große Psychologe
merkt nicht, daß er den Mephistopheles spielt, der vom Men-
schen meint, er habe die Vernunft nur, um das unvernünftigste
Vieh zu sein. Die Sprache ist also ein nothwendiges Uebel,
unsern Gedanken „angeheftet“.
Es kommt darauf an, zu erkennen, wie innig sich die Spra-
che in das Denken hineinschlingt. Das Wichtigste hierfür ha-
ben wir schon geleistet in dem, was wir über das Hervorbre-
chen der Sprache, die Entwickelung der innern Sprachform und
der Vorstellung dargethan. Denn dort haben wir das Denken
durch mehrere nothwendige Stufen seiner Entwickelung verfolgt.
Dort haben wir also schon theils geradezu die Identität, theils
die Durchdringung von Sprechen und Denken erkannt; und so
ist es für uns völlig unstatthaft, von „Ballast“ und „anheften“
zu reden. Nun bricht aber die Wirksamkeit der Sprache noch
nicht ab. Durch alle Urtheile hindurch, vermittelst deren die
Anschauung zum Begriffe wird, begleitet die Sprache das Den-
ken ganz offenbar. Und diese Begleitung, die ihren Grund in
der innigsten Verschlingung hat, sollte einflußlos auf das Den-
ken bleiben? ihm rein äußerlich angeheftet werden?
§. 112. Leistung der Vorstellung.
Das Wort, sagten wir, ist die inhaltslose Beziehung des
Bewußtseins auf die Anschauung und dadurch Stützpunkt der
Seele bei der Bildung des Begriffs. Man sieht also hieraus, daß
allerdings die Vorstellung nicht eigentlich in gleicher Linie mit
Anschauung und Begriff steht; sondern wie die Wahrnehmung
auf einer ganz andern Linie, als Gefühl, Empfindung und An-
schauung, lag: so liegt auch die Vorstellung nicht auf dersel-
ben, die sich zum Begriffe verlängert. Die Vorstellung ist viel-
mehr eine Fortsetzung der Linie, auf der die Wahrnehmung
liegt.
Wahrnehmung ist die Vermittlung der leiblichen Bewe-
gungen mit der Seele, die Beziehung der Seele auf den Leib,
ohne welche kein Bewußtsein, weder von der Außenwelt, noch
von der eigenen Leiblichkeit, entsteht. Wie viele Bewegungen
gehen in unserm Leibe vor, von denen wir nichts wissen, weil
wir sie nicht wahrnehmen, d. h. weil die Seele, das Bewußtsein,
nicht darauf bezogen ist. Das Für-uns-sein oder das Bewußt-
sein der Gefühle, Empfindungen und Anschauungen wird durch
[334] diese Weise der Beziehung der Seele bewirkt, welche wir Wahr-
nehmung nennen.
Wenn die Seele eine gehabte Anschauung wieder hervor-
treten läßt, so nennen wir diese Beziehung der Seele auf die
Anschauung Erinnerung. Dieser Name bezeichnet aber die
Beziehung der Seele auf jedwedes schon gehabte Seelenerzeug-
niß, also auch die Reproduction von Begriffen.
Die Vorstellung ist die Beziehung des Bewußtseins auf
die erinnerte Anschauung oder den erinnerten Begriff während
der Thätigkeit des Geistes, Anschauungen in Begriffe zu ver-
wandeln und Begriffe gemäß der Idee zu construiren. Die Vor-
stellung ist ursprünglich nicht ganz leer, sie ist die Abbreviatur
der Anschauung, wird aber endlich völlig leer. Dann wirkt sie,
wie die Null in der Arithmetik. Zwischen 3. 30. 0,3 besteht
der Unterschied, daß 3 sich an verschiedenen Orten findet. Diese
Verschiedenheit des Ortes verändert den Werth, und diese Werth-
veränderung wird bewirkt durch eine leere Stelle, eine Null.
Man denke sich den Zehner als die Anschauung und als das
Subject eines zu bildenden Urtheils, d. h. als Multiplicanden ei-
ner Multiplication. Denn durch den Proceß des Urtheilens, des
Multiplicirens, wird der Begriff, das Facit, gebildet. Das Prä-
dicat aber ist eigentlich das, was dem Subjecte den Werth leiht,
dessen Werth bestimmt, das Urtheil bildet, der Multiplicator.
Welch ein mühseliges Rechnen findet nun Statt, wenn man
den Zehner wirklich und voll auftreten läßt, also hinschreibt
X x III = XXX! Um wie viel leichter und einfacher werden
alle Operationen, wenn der Inhalt des Zehners bloß durch die
Stellung angedeutet und bloß der Multiplicator ausdrücklich
genannt wird! Dieselbe Erleichterung, welche dem Rechner die
Stellung der Zahl verschafft, gewährt dem Urtheilenden die Vor-
stellung, welche die Stelle der Anschauung im Urtheile vertritt.
Wir nannten hier immer die Vorstellung leer; dies muß
aber richtig verstanden werden. Sie ist zugleich leer und ge-
füllt; denn sie ist, wie wir oben sagten, die Anschauung selbst,
insofern sie durch die Sprache gedacht wird, also Einheit der
Anschauung und des Wortes, welches die Beziehung der Seele
auf die Anschauung enthält. Insofern sie also bloß Wort ist,
ist sie leer; insofern sie aber Anschauung ist, ist ja sie es ge-
rade, welche durch die Erkenntnisse in den Urtheilen an Inhalt
gewinnt. Ferner: die Vorstellung ist in Wahrheit der Satz;
[335] insofern sie nun Subject ist, wird sie leer und unbestimmt hin-
gestellt; durch jedes Prädicat aber, welches sie gewinnt, nimmt
sie zu an Inhalt und Klarheit. Die Vorstellung, insofern sie
die Anschauung ist, ist die Bedeutung des Wortes. Das Wort
wird aber durch die vielfachen Urtheile, in denen es angewandt
wird, immer reicher an Bedeutung; sein Sinn wird immer feiner
und bestimmter. Die Vorstellung ist also die sich aufklärende
und immer mehr ihre wesentlichen Bestimmungen entfaltende
Anschauung. Tritt aber die Vorstellung im Satze auf als Sub-
ject, von dem im Prädicate etwas erkannt wird: so vertritt sie
eben nur die Stelle der Anschauung, läßt ihren Inhalt bei Seite
und wirkt als Null. Die Vorstellung als Subject ist eine nackte
Bettlerin, der das Almosen des Prädicates gegeben wird; sie ist
aber nur eine verstellte Bettlerin, die zu Hause im Verborgenen
einen reichen Schatz von Prädicaten besitzt. Dieser Schatz ist
die Bedeutung des Wortes.
Die Wörter sind Benennungen der Dinge oder Anschauun-
gen; durch die Wörter werden uns die Anschauungen überlie-
fert, durch Wörter halten wir die selbständig gebildeten An-
schauungen fest. Kann es denn nun wohl für unser Denken
gleichgültig sein, wie reich die mit dem Worte gegebene Vor-
stellung an Inhalt, an Bedeutung ist? oder ist es gleichgültig,
welche Prädicate wir als Bedeutung an die Wörter hängen? Die
Wörter sind die Vorstellungen, d. h. die Beziehungen unseres
Bewußtseins auf die Dinge; und es soll gleichgültig sein, was
in diesen Beziehungen gegeben ist? Die Sprache ist also ge-
radezu das Bindeglied zwischen unserm Denken und der Außen-
welt, eine geistige Hand, die Dinge zu erfassen — denn so er-
fassen, begreifen wir zunächst die Dinge und Begriffe, wie das
Wort sie vorstellt — und dieses Seelenorgan soll unserm Be-
wußtsein gleichgültig, unserm Denken ein Ballast sein?
Man sieht z. B. etwas, und fragt: was ist das? ein Thier
wird geantwortet. Vor dieser Antwort sah man doch schon eine
gewisse Gestalt, Größe, Farbe; hat man nun durch diese Ant-
wort keinen weitern Zuwachs erlangt, als einen Lautballast? Al-
les was man sieht oder überhaupt wahrnimmt, ist eine Anschau-
ung. Indem man das Wort dazu erhält, gewinnt man die Er-
kenntniß der Art, Gattung u. s. w. kurz des Allgemeinen, zu
dem jene Anschauung gehört. Und ist die Bedeutung des Wor-
tes recht scharf bestimmt, so hat man durch das Wort — mit
[336] einem Schlage — eine sehr bedeutende Erkenntniß gewonnen.
So wird oft der größte Fortschritt in der Erkenntniß der Dinge
dadurch gemacht, daß ihnen der rechte Name gegeben wird.
Wie sehr endlich in dem eigentlichen Kreise der hohen Ab-
stractionen fein geschiedene Synonyma das Denken anregen und
befruchten: daran soll nur kurz erinnert werden.
Wahr aber bleibt Herbarts Schlußbemerkung: „Diejenigen,
welche die intellectuale Anschauung anpreisen, und das discur-
sive, in der Sprache ausgedrückte Denken herabsetzen, haben
insofern nicht ganz Unrecht, als das Kleben am Symbol, wenn
man sich darauf lehnt und stützt, das wahre Wissen zerbröckelt,
und das Scheinwissen einschwärzt. Es wäre nur zu wünschen,
daß jene selbst sich aus dem Wust ihrer Worte herauszuarbei-
ten verstünden. Gäbe es eine intellectuale Anschauung: so würde
ihr Angeschautes unaussprechlich sein. Gerade dieselbe Eigen-
schaft hat aber auch das wahre Wissen, welches aus dem dis-
cursiven Denken am Ende hervorgeht. Resultate vieljähriger
Forschungen bedürfen vieler Worte, um vorgetragen zu werden;
aber der Vortrag, der alle diese Worte auf einen langen Faden
reiht, ist nicht das Wissen selbst, welches in beinahe unge-
theilter Ueberschauung die ganze Kette der allmählich
ausgebildeten Gedanken trägt und festhält.“ Diese Worte eines
der klarsten, ich möchte sagen, discursivsten Denker erinnern
mich an eine Aeußerung Mozarts, wonach er Musik, deren We-
sen doch auf der Zeitfolge zu beruhen scheint, sich zeitlos,
dauernd gegenwärtig, wie ein Bild, vorstellt, also in „ungetheil-
ter Ueberschauung“. Mozart nämlich schreibt: „Wenn ich recht
für mich bin und guter Dinge etwa auf Reisen im Wagen, oder
nach guter Mahlzeit beim Spazieren, und in der Nacht, wenn
ich nicht schlafen kann, da kommen mir die Gedanken strom-
weis und am besten … Das erhitzt mir nun die Seele, wenn
ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer, und
ich breite es immer weiter und heller aus, und das Ding wird
im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang, so daß ich’s
hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes
Bild, oder einen hübschen Menschen, im Geist über-
sehe, und es auch gar nicht nach einander, wie es
hernach kommen muß, in der Einbildung höre, son-
dern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmaus!
Alles das Finden und Machen geht in mir nun wie in einem
[337] schönen, starken Traum vor. Aber das Ueberhören, so alles
zusammen, ist doch das Beste.“
§. 113. Unterschied zwischen Satz und Urtheil, Vorstellung und Begriff.
So viel über das Verhältniß der Vorstellung zur Anschauung
und zum Begriffe. Versuchen wir jetzt, uns das Wesen des Ur-
theils der Vorstellung klar zu machen. Es ist doppelter Art,
wie die Vorstellung selbst doppelter Natur ist. Denn sie ist
die Einheit des Wortes und seiner Bedeutung. Nach der Seite
der Bedeutung hin ist das Urtheil der Vorstellung vom Urtheile
des Begriffs nur dadurch verschieden, daß der Inhalt des er-
stern etwas für die Anschauung Zufälliges und Unwesentliches,
Einzelnes ist. „Ich habe gegessen und werde mich nun schla-
fen legen. Hr. N. ist gestorben u. s. w.“ sind Urtheile der Vor-
stellung. Wenn aber der Physiolog die Urtheile ausspricht:
der Mensch ißt, schläft, ist sterblich: so haben wir hier Allge-
meinheit und Nothwendigkeit, und also Urtheile des Begriffs.
Das ganze gemeine Leben bewegt sich in Vorstellungen; denn
es dreht sich um Zufälligkeiten und Einzelheiten und gelangt
nie dazu, die Merkmale der Anschauung zu vervollständigen und
aufzuklären, und besonders nach ihrer Würdigkeit abzuschätzen.
Die Wissenschaft ist der Kreis des Begriffs.
Insofern aber die Vorstellung Wort, innere Sprachform, ist,
hat sie ebenfalls ein Urtheil, nämlich eine Anschauung: von der
Gliederung der Anschauung oder des Begriffs, kurz der Bedeu-
tung. Wie die innere Sprachform Anschauung der Anschauung
ist, so ist sie auch Anschauung des Urtheils, d. h. Satz; und
wie nun überhaupt die innere Sprachform nicht denselben Inhalt
hat, wie die bedeutete Anschauung, sondern nur eine Auffas-
sungsweise derselben ist: so ist auch der Satz nur eine be-
sondere Anschauungsweise des Urtheils. Dies führt
aber specieller in die Grammatik, die eben, weil sie nur die in-
stinctive Anschauung der Logik ist, nicht die Logik selbst ist.
Wir sagten oben, daß in historischer Zeit, nachdem die
Etymologie des Wortes vergessen sei, der Laut ohne Vermitt-
lung der innern Sprachform unmittelbar mit der bedeuteten Vor-
stellung zusammenhänge, und daß dieses Verschwinden der in-
nern Sprachform von dem wachsenden Reichthum des Bewußt-
seins und der Ausbildung der Vorstellung zum Begriffe herrühre.
Hier sehen wir nun aber, daß bei der Entwickelung des Be-
griffs dieser, als die reale Bedeutung des Wortes, die Stelle
22
[338] der ehemals vom Worte bedeuteten Vorstellung einnimmt, und
die Vorstellung dadurch eine ganz ähnliche Rolle spielt, wie die
ehemalige innere Sprachform. Ein Beispiel mag uns den Ur-
sprung dieses Verhältnisses und den Unterschied zwischen Vor-
stellung und Begriff, psychologischem und logischem Urtheil klar
machen. Wenn man im gemeinen Leben sagt: das Wasser
macht naß, so denkt man hierbei wenig mehr als Laute; denn
bei Wasser bildet man nicht die Anschauung des Wassers; und
eben so wenig bildet man bei naß eine bestimmte Anschauung;
die Seele gleitet also bei jenen Worten nur ganz leise über jene
Anschauungen hin, bezieht sich bloß auf sie. Will man aber
bei jenem Satze sich etwas klar denken, so wird man sich wahr-
scheinlich die Anschauung eines von Wasser benetzten Gegen-
standes vergegenwärtigen, auch wohl noch die Thätigkeit des
Benetzens selbst im Hintergrunde, und dies alles als ein einheit-
lich angeschautes Bild in der Seele haben. Diese Anschauung
ist auch wirklich die Bedeutung jenes Satzes, welcher dieselbe
in Form der Vorstellung ausdrückt. Diese Form der Vorstel-
lung unterscheidet sich also von der der Anschauung erstlich
durch die Theilung der Elemente, welche die Anschauung als
zusammenhängendes Bild besitzt, und zweitens durch die Blässe,
Abstractheit, Allgemeinheit dieser Elemente, wie sie in den Wör-
tern naß, machen, Wasser, ausgedrückt liegen. Obgleich wir
nun hier auf der Stufe stehen, wo die Vorstellung mit der in-
nern Sprachform verschmolzen, oder letztere verschwunden ist:
so glaube ich doch, daß gerade in unserm Beispiele der Satz
an sich nach seiner innern Sprachform noch etwas anderes be-
deutet, als das psychologische Urtheil der Vorstellung. Denn
dieses meint gewiß bloß, daß etwas durch Wasser, es sei ab-
sichtlich oder zufällig darauf gegossen, naß werde, während
die innere Sprachform, der Satz, das Wasser als lebendiges ener-
gisches Subject ansieht, welches aus eigner Kraft „naß macht“.
Wenn aber der Chemiker von Wasser spricht, er, der den
Begriff des Wassers gebildet hat: so denkt er bei diesem
Worte etwas ganz anderes, als die gemeine Vorstellung und
Anschauung; und sein Begriff naß hat einen ganz andern Werth.
Bei ihm ist der Satz: Wasser macht naß ein Urtheil, welches
zu einem ganzen System von Urtheilen über das Wasser ge-
hört: dieses System von Urtheilen ist sein explicirter Begriff des
Wassers. Er denkt also bei jenem Satze das Urtheil, daß die
[339] chemische Verbindung zweier einfachen Körper (des Sauerstoffes
und Wasserstoffes) nach bestimmten Aequivalenten, durch wel-
che derjenige zusammengesetzte Körper entsteht, den man Was-
ser nennt, die Eigenschaft der Adhäsion habe, welche das Queck-
silber z. B. nicht hat. Spricht er den Satz aus: das Wasser
ist flüssig: so liegt darin ein Urtheil, welches wohl weiß, daß
Flüssig-sein kein wesentliches Element des Wassers ist, und er
wird dabei vielmehr an Temperatur und Luftdruck denken. Für
diese logischen Urtheile nun und diese Begriffe dient die Vor-
stellung des gemeinen Lebens, wie sie im Worte und im Satze
liegt, gerade eben so als eine gewisse Stütze, wie ehemals die
innere Sprachform der Vorstellung als Stütze diente. Wie dem
instinctiven Selbstbewußtsein zum Festhalten der Vorstellung
des Wassers (unda, ὕδωϱ von der Wurzel undfließen) die An-
schauung des Flüssigen diente, zum Festhalten der Vorstellung
naß (madere, Wurzel snāwaschen) die Anschauung des Gewa-
schenen: eben so dient dem wissenschaftlichen Selbstbewußtsein
zur Fixirung des Begriffes Wasser, naß, die gemeine Vorstel-
lung davon. Wie verschieden ist der naturwissenschaftliche Be-
griff Feuer von der gemeinen Vorstellung, die im Feuer ein wun-
derliches, die Dinge verzehrendes und dann spurlos verschwin-
dendes Wesen sieht! Diese Vorstellung dient dem Begriffe zur
Stütze, wie ursprünglich der Vorstellung die sprachliche An-
schauung des Reinen (Feuer, πῦϱ, Wurzel pūreinigen) diente.
Der Unterschied zwischen dem Urtheil der Vorstellung oder
dem psychologischen und dem des Begriffs oder dem logischen
besteht ebenso darin, daß jenes allemal nur assertorisch, dieses
dagegen apodictisch ist oder zu werden strebt. „Cäsar ist über
den Rubicon gegangen“ kann wohl ein Urtheil des Begriffs
sein, wenn es eben Glied einer philosophisch-geschichtlichen An-
schauung von Cäsars Leben ist, Glied eines Systems von Ur-
theilen, welche die Idee Cäsar umfaßt. Als Urtheil der Vor-
stellung bedeutet jener Satz nur eine vereinzelte That. Daß
aber das Urtheil der innern Sprachform, also der Satz, noch
etwas anderes sei, als das Urtheil der Vorstellung und des Be-
griffs; daß das grammatische Urtheil weder das gemeine psy-
chologische der Vorstellung, noch das logische des Begriffs ist:
geht daraus hervor, daß derselbe Inhalt in eine andre Satzform
gegossen werden kann, ohne eine Veränderung zu erleiden. „Cä-
sar hat den Rubicon überschritten“, oder „ist über den R. ge-
22*
[340] setzt“, oder „der Rubicon ist von Cäsar überschritten worden“.
Jede dieser Satzformen dient aber in gleicher Weise als Aus-
druck des Urtheils der Vorstellung, wie des Begriffs.
B. Die Grammatik.
In der vorangegangenen ausführlichen Betrachtung des We-
sens und der Entstehung der Sprache ist der wesentlichste Theil
der hier gestellten Aufgabe schon gelöst. Es bleibt uns aber
noch übrig, die Folgerungen für die Grammatik daraus zu zie-
hen. Zunächst sind die Principien der Grammatik und ihre ge-
genseitige Beziehung noch näher zu betrachten; und weiter ist
dann zu sehen, wie sich die Sprache in ihre grammatischen Ele-
mente gliedert.
1. Die Principien der Grammatik.
§. 114.
Aus allem schon Gesagten ergeben sich mit Klarheit zwei
Principien für die Grammatik: der Laut und das instinctive
Selbstbewußtsein oder die Anschauung der Anschauung; dieses
zweite Princip heißt, insofern es mit dem ersten verbunden ist,
die innere Sprachform. Der Laut, das leibliche Element
der Sprache, fehlte dem grammatischen Bewußtsein niemals,
obwohl erst in neuester Zeit eine wissenschaftliche Betrachtung
desselben erreicht worden ist. Man hat ihn früher verachtet,
weil man ihm nichts abzugewinnen verstand. Die innere Sprach-
form hat sich den frühern Grammatikern nur in dunkeln Ahnun-
gen offenbart. Durch die neuesten Etymologen ist sie kräftig
ins empirische Bewußtsein gedrungen. Unsere Aufgabe war es
hier, sie ins philosophische Bewußtsein zu erheben und dadurch
zu begründen, aufzuklären und schärfer zu bestimmen. Ihre Ab-
scheidung vom realen Denken, vom ausgesprochenen Inhalte der
Rede, wird nach unserer Auseinandersetzung keine Schwierigkeit
mehr bieten. Man wird jetzt auch die vielfachen Andeutungen
verstehen, die in den beiden ersten Abschnitten dieses Buches
als Ergebnisse theils der Kritik, theils der Vergleichung mit der
Kunst nur erst im Halblichte und mehr als Hypothese auftra-
ten. Wir haben also jetzt einen eigenthümlichen Boden und
[341] Gedankenstoff als ausschließliches Eigenthum der Grammatik
gewonnen, an welchem weder Logik, noch Metaphysik, noch
eine specielle Wissenschaft Antheil hat; wir haben ein Denken
gefunden, das sich nach grammatischen Gesetzen bewegt.
Wenn nun das instinctive Selbstbewußtsein hier als das In-
nere des Lautes erscheint, so müssen wir zuvörderst das Ver-
hältniß von Innerem und Aeußerem, wie es hier zu
fassen ist, näher bestimmen. Daran schließt sich die Betrach-
tung über das Wesen der Bedeutung und den Unterschied
zwischen Sprechen und Sprache.
a) Inneres und Aeußeres.
§. 115.
Ursprünglich ist das Innere dasjenige, was vom Aeußern
umschlossen wird, und das Aeußere ist das Umschließende.
Dieses Verhältniß auf das menschliche Wesen übertragen, er-
gab die Seele und alle geistige Thätigkeit als das Innere, wel-
ches vom Körper, dem Aeußern, eingeschlossen wird. So wur-
den Inneres und Seelisches, Aeußeres und Körperliches syno-
nyme Ausdrücke. Der Mensch aber beseelte, zunächst phanta-
stisch, später wissenschaftlich, die ganze Welt und alle Dinge
in der Welt; diese erscheinen uns zwar äußerlich, hinter der
äußern Erscheinung aber sollte ein Inneres verborgen sein. Ge-
gen diese Betrachtung wurde mit Recht angekämpft. So weit
die Natur reicht, ist Aeußeres; ihre Stoffe und ihre Kräfte,
alles an ihr ist Aeußeres. Hier soll natürlich nicht gewissen
metaphysischen Ansichten widersprochen werden, welche aller
Erscheinung ein inneres Wesen zu Grunde legen; man merkt
wohl, daß wir uns nur gegen Beckers Ansicht richten, wie wir
sie kennen gelernt haben. Alles Wirken der Natur ist Mecha-
nismus, Aeußerlichkeit. Die Seele, der Geist, ist das Innere.
Man mag immerhin den im Keime ruhenden Trieb, der aus ihm
die Wurzeln nach unten und den Stamm nach oben sendet, der
aus dem Stamme Zweige und Blätter und Blüten hervortreibt,
ein Inneres nennen, aber dann hat man auch Recht, zu sagen,
Aeußeres und Inneres sei identisch, und jedes reiche so weit,
wie das andere.
In der Sprache ist das Verhältniß von Innerem und Aeu-
ßerem ein anderes; denn in ihr ist wirklich ein körperliches
und ein davon wesentlich völlig verschiedenes seelisches Element
[342] vereinigt. Wir haben also hier Natur und Seele, zwar eine
Verbindung beider, aber keine Identität. Nun ist es höchst
wichtig zu erkennen, wie eng diese Verbindung ist. Es ist dies
darum so wichtig, weil wir kein Mittel haben, das Innere zu
erkennen, wenn nicht vermittelst des Aeußern. Die innere Sprach-
form ist uns nur so weit offenbar, als sie es durch die Lautform
wird. Es ist also eine Grundfrage für die Grammatik: Ist die
Einheit von Laut- und innerer Form so innig, daß jeder Punkt
im Innern sich in einem entsprechenden Punkte des Aeußern
offenbart oder ankündigt?
Wenn aus dem Vorangehenden die Beantwortung dieser
Frage nicht mit Bestimmtheit hervorgehen sollte: so könnte ich
sie hier nicht geben. Ich denke aber, daß allerdings die un-
bedingte Bejahung daraus hervorgeht. Die Verbindung des Lau-
tes mit der innern Sprachform, wie wir sie kennen gelernt ha-
ben als Product des Mechanismus der Seele und ihres Zusam-
menhanges mit dem Leibe, kann unmöglich so lose angenommen
werden, daß ursprünglich etwas in der innern Sprachform lie-
gen könnte, was nicht vollständig in der Lautform ausgeprägt
wäre. Nur ein wenig erläutert mag dies noch im Folgenden
werden.
Wir haben gesagt, das Verhältniß zwischen der innern
Sprachform und dem Laute sei wirklich das des Innern zum
Aeußern, wie das Verhältniß der Seele zum Leibe. Diese Ana-
logie bedarf näherer Bestimmung um so mehr, da das Verhält-
niß zwischen Seele und Leib in dem wesentlichsten Punkte Ge-
genstand des Streites ist. Auf diesen Streit aber brauchen wir
uns nicht einzulassen. Denn in jedem Falle steht so viel fest,
daß die innern seelischen und geistigen Erzeugnisse etwas Un-
körperliches, Unräumliches, nicht sinnlich Wahrnehmbares sind:
und ebenso ist es die innere Sprachform, welche eine bestimmte
Weise des Denkens ist. Diesem Innern gegenüber steht ein
Aeußeres; aber der Leib verhält sich doch ganz anders zur
Seele, als der Laut zur innern Sprachform. Dies rührt daher,
daß die Sprache schon ein Product des Zusammenhanges von
Leib und Seele, des Einwirkens der Seele auf den Leib ist. Die
innere Sprachform ist ein Erzeugniß der Seele, welches den
Leib zum Tönen reizt; und so ist jene die Ursache, der Ton
die Wirkung derselben, wiewohl der Leib nicht die Wirkung
der Seele ist.
[343]
In der Natur, sagten wir, sei nur Aeußeres; Ursache und
Wirkung, Kraft und Stoff, sind in gleicher Weise Aeußeres.
Dieselben Kategorien treten auch in der Seele auf, wo alles In-
neres ist. Eine Seelenerregung ist Ursache der andern; die ver-
schiedenen Seelenerzeugnisse sind Stoffe, die mit einer verschie-
denen Größe der Kraft wirken. In der Sprache aber liegt das
Verhältniß vor, daß die Ursache ein Inneres ist, und die Wir-
kung ein Aeußeres; und so ist es in allen Bewegungen, welche
auf Gedanken erfolgen, sowohl den gewollten, als auch den blo-
ßen Reflexbewegungen.
Die innere Sprachform ist also anzusehen als Ursache, als
Reiz für die Erzeugung des Lautes; sie ist aber eine unbe-
wußte, instinctive, mechanisch wirkende Ursache, in welcher an
sich zunächst noch gar keine sprachliche Absicht liegt, d. h.
noch nicht die Absicht, den Ton, welchen sie erzeugen wird,
mit ihr zu associiren und so Lautsprache zu bilden. Erst wenn
sie gewirkt, wenn sie den Laut erzeugt hat, wird eine andere
Eigenthümlichkeit der Seele wirksam, welche den blind erzeug-
ten Laut zweckgemäß, wiewohl immer noch mit Nothwendig-
keit und absichtslos, verwendet.
Bei diesem nothwendigen, blind bewirkten, mechanischen
Zusammenhange von Laut und innerer Sprachform, wie wäre
es da wohl möglich, daß ursprünglich in dieser etwas sein
könnte, was in jenem nicht ertönte oder wiederklänge? Wie
wäre es möglich, daß diese ein Leben für sich führte, das nicht
im Laute, im Worte, sein klares Abbild fände? Diese Möglich-
keit behaupten, heißt, die nothwendige — und um gegen Becker
zugleich in seiner Sprache zu reden — die organische Entste-
hung der Sprache, die organische Natur nicht bloß des Spre-
chens, sondern auch des Denkens läugnen.
Aber wohl gemerkt: die innere Sprachform ist es, welche
so innig am Laute hängt, in ihm tönt, nicht die Bedeutung:
deswegen nicht, weil die innere Sprachform dieselbe Bedeutung
in mancherlei Weise anschauen kann. Denn die innere Sprach-
form ist nicht selbst die Bedeutung, sondern nur die instinctiv
gebildete Anschauung von derselben. Ferner wird im Laufe der
Zeit diese innige Verbindung von Laut und innerer Form zer-
rissen, weil jener verfällt, und diese sich feiner ausbildet. So
wird in der englischen Sprache freilich Niemand mehr die in-
nere Form vollständig in der Lautform finden. Aber auch hier
[344] noch sind es die Reste der Lautformen und ihre Geschichte,
welche die innere Form suchen und deuten lehren.
b) Bedeutung.
§. 116.
Etwas, das auf etwas Anderes hindeutet, hinweist, so daß
wir dieses Andere, obwohl es fern oder versteckt ist, dennoch
aus jenem zu erkennen vermögen, bedeutet dieses Andere; und
diese seine Bedeutung wird erkannt, indem wir es deuten. In
diesem Sinne genommen ist alles und jedes in der Welt bedeut-
sam; denn jedes steht in vielseitiger Beziehung zu anderm, deu-
tet also auf anderes. Jedes Ding, jedes Erscheinende ist eine
Wirkung und bedeutet seine Ursache. Wir deuten jeden
Schein auf ein Wesen, jede Eigenschaft auf ein Ding, und um-
gekehrt.
Hiernach wäre es sehr nichtssagend, wollten wir die Spra-
che definiren als: bedeutsames Tönen. Denn jedes Ding,
jede Bewegung, und auch speciell jedes Tönen ist im obigen
Sinne bedeutsam. Es muß also noch gesagt werden, in wiefern
das sprachliche Tönen ganz besonders bedeutsam genannt werde,
und was es bedeute.
§. 117. Wie die Sprache bedeutet.
Jeder Ton deutet auf ein Tönendes, welches irgendwie zum
Tönen gebracht worden ist; d. h. er deutet auf eine Ursache,
und seine Deutung wäre demnach seine ursächliche Erklärung.
Er erzeugt aber auch eine Wirkung, und so verlangt er aber-
mals eine Deutung. Ich meine hier die Wirkung, welche alle
Wahrnehmungen auf die Seele, auf das Gefühl ausüben. Hier-
auf beruht zum Theil die Wirkung aller Künste; denn sie alle
reden durch Anschauungen zum Gefühl. Nur ist ihre Wirkung
schon zu mannigfach, ihre Anschauungen sind so zusammenge-
setzt, daß hier die Analyse sehr schwer wird. Aber jede ein-
fache Empfindung wirkt auf unser Gefühl. Wie stark stimmt
uns der Anblick einer Farbe oder einer Zusammenstellung meh-
rerer Farben! und wie noch viel mächtiger ergreifen uns ein-
fache Töne, Geräusche! Wenn ich hier das Aechzen und Stöh-
nen der Leidenden anführe: so könnte man sagen, das dadurch
erweckte Gefühl entstehe nur durch die Vorstellung des Schmer-
zes, welcher das Tönen erzeuge, nicht durch den Ton selbst.
[345] Aber auch das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches,
das Heulen des Sturmes, kurz das Tönen der leblosen Natur,
wirkt eben so auf unser Gefühl; und in Folge dessen belebte
die Phantasie kindlicher Völker die Natur. Und nun erst gar
die Musik, die sämmtliche Tonverhältnisse verwendet, in einer
so mannigfaltigen Combination, wie sie der menschliche Geist
sonst nirgends erzeugt!
Diese Wirkung der Sinnes-Empfindungen auf unser Gefühl
mag darauf beruhen, daß sie die Nerven in Zustände versetzen,
wobei der Zusammenhang ihrer Elemente, wie auch ihr Verhält-
niß zum Centralorgan eigenthümlich gestaltet wird. Kommen
uns nun aber die Töne, um bei diesen stehen zu bleiben, von
einem lebenden, fühlenden, denkenden Wesen zu: so werden wir
allemal, z. B. beim Gesang, stillschweigend voraussetzen, dieses
Wesen habe das Gefühl, welches auch uns, wenn wir es hätten,
veranlassen würde, eben so zu tönen. Daher ist das Gefühl,
welches durch den Gesang erzeugt wird, lebendiger, aber auch
gemischter, als das durch reine Instrumental-Musik erzeugte.
Aber auch rücksichtlich der letztern werden wir, wenn wir uns
ihre Wirkung auf unser Gemüth klar deuten wollen, wie die
Aesthetik es thut, voraussetzen müssen, daß dieselben Gefühle,
die sie in uns erregt hat, zwar nicht in den Instrumenten oder
in den Musikanten, aber doch im Tondichter gewaltet und ihm
solche Töne eingegeben haben, wie sie nothwendig in jedem Hö-
renden dieselben Gefühle bewirken müssen, von denen sie ver-
ursacht sind. Bei solcher Untersuchung der innern Bedeutung
der Töne fällt also die Deutung der Ursache und die der Wir-
kung zusammen.
Eben so wie die musikalischen und Naturtöne, sind auch
die Sprachtöne in doppelter Weise zu deuten: einmal von Sei-
ten der mechanischen Causalität, nach welcher z. B. ein Ton
zurückgeführt wird auf die Schwingungen einer Saite, welche
aus diesem oder jenem Stoffe besteht; in solchem oder einem
andern Grade gespannt, so oder so lang und stark, irgendwie
in Schwingung versetzt ist, und solchen Resonanzboden hat; das
andere Mal von Seiten der innern Ursache, welche identisch ist
mit der innern Wirkung. Hierdurch wird also der Grammatik
die Aufgabe gestellt, zuerst die Sprache als Laute in ihrer äu-
ßern Ursächlichkeit zu erklären, ihre Entstehung durch die
Sprachorgane: Lautlehre; und ferner die innere Ursache zu
[346] deuten, welche zugleich die innere Wirkung im Hörenden wird:
Bedeutungslehre.
Die Wirkung der Sprache ist aber eben so, wie ihre Ur-
sache eine doppelte. Wie die Sprache überhaupt ein Doppel-
wesen ist, so wird sie von innen her durch die Bedeutung, von
außen her durch die tönenden Organe erzeugt. Und so wirkt
sie auch doppelt: sie erweckt erstlich im Hörenden dieselbe Be-
deutung, aus der sie hervorgegangen ist; sie wirkt aber auch
außerdem noch als bloßes Tönen. Hieher gehört zunächst die
Wirkung des Wohl- oder Uebellauts der Sprache, sowohl der
Sprache eines Volkes, als auch des Einzelnen, der etwas Hei-
seres, Rauhes, Hartes, Schreiendes in seiner Stimme hat. Fer-
ner beruht hierauf die rhythmische Schönheit der Verse, wie
der Prosa, und endlich die Declamation, der pathetische Vor-
trag. Im Gesange nun gar wird die Sprache selbst zugleich
Musik.
§. 118. Was die Sprache bedeutet.
Verlangt man nun eine Definition von der Sprache, so wür-
den wir sagen: sie sei das pathologische articulirte Tö-
nen der Vorstellung und vermittelst derselben der
Intelligenz und des Gefühls, des menschlichen In-
nern überhaupt. Als Tönen ist die Sprache von jeder stum-
men Aeußerung des Innern abgeschieden. Sie ist es ferner von
sonstigen pathognomischen Tönen, wie Lachen, Seufzen, durch
die Articulation, äußerlich genommen, und durch die Vorstel-
lung, nach der innern Seite; denn was in jenen Tönen liegt, ist
bloßes Gefühl. Dieser Umstand bewirkt auch den Unterschied
zwischen Sprache und Musik. In letzterer tönt das Gefühl, aber
nicht in Geräuschen, wie Lachen, Seufzen, sondern in reinen
Tönen und vorzüglich vermöge der gegenseitigen Verhältnisse
der Töne zu einander. Das Gefühl kann wohl auch sprachlich
ausgedrückt werden; aber nicht unmittelbar, sondern nur die
Vorstellung davon. Es muß angeschaut werden, wie die Em-
pfindung; und so wird nicht das Gefühl, sondern die Anschauung
des Gefühls als innere Sprachform an den Laut geknüpft. Wie
denn überhaupt beachtet werden muß, daß, wenn man die Spra-
che bedeutsames Tönen nennt, und wenn man der Lautlehre die
Bedeutungslehre hinzufügt, unter Bedeutung ein Doppeltes ver-
standen wird; denn unmittelbar bedeutet der Laut die innere
[347] Sprachform; diese aber bedeutet den Denkinhalt, Gefühl, An-
schauung, Begriff, Begierde, Wille, kurz das vorgestellte Innere.
c) Sprechen und Sprachmaterial.
§. 119.
Die Verflechtung des Bedeuteten, der innern Sprachan-
schauung, und des Lautes wird immer fester. Durch das fort-
gesetzte Urtheilen sind eine große Fülle von Subjecten und Prä-
dicaten, Ding- und Merkmalswörtern gebildet. Indem aber das-
selbe Subject mit vielen Prädicaten, dasselbe Prädicat mit vielen
Subjecten verbunden wird, indem sich die Urtheile durchkreu-
zen: so zerschneiden sie sich und Subjects- und Prädicatswörter
zerfallen im Bewußtsein aus der Einheit des Urtheils. Eben
so ergeht es den Attributen, den Objecten. So bildet sich also
durch das Sprechen in der Seele ein „Schutt“, nach einem
geistreichen Ausdrucke Herbarts, lauter Material, das ehemals
ein Gebäude von an einander hängenden Urtheilen bildete; das
Gebäude ist im Laufe der Zeit verfallen und nur die Steine und
Balken liegen ohne Ordnung und Zusammenhang durch einan-
der. Jedes Stück dieses Materials aber trägt noch die Spuren
seines Zusammenhanges an sich.
Nun zeigt aber derselbe Stein einen vielfältigen Zusammen-
hang, und dieselbe Verbindungsweise zeigt sich an mehreren
Steinen und Balken in gleicher Weise. So trennt sich der Stoff,
das Material selbst, von der Methode, nach welcher es gefügt
war. Zum Sprachschutte gehört also Material und Fugen.
Im Augenblicke des Redens greift die Seele immer von
neuem nach diesem Schutte, und verwendet das Material, den
daran befindlichen Fugen folgend.
Das Sprachmaterial wird dargestellt in der Grammatik so-
wohl, als im Wörterbuche. Beide haben genau genommen den-
selben Inhalt, aber in verschiedener Weise behandelt. Das Wör-
terbuch stellt das Material auf und weist an jedem Stücke be-
sonders seine mögliche Fügung auf; die Grammatik geht von
der Fügungsweise aus, und zeigt, wie alle Stücke gefügt werden
müssen. Die Praxis hat der Bequemlichkeit wegen dieses Ver-
hältniß, wonach alles zweimal gesagt werden müßte, so umge-
staltet, daß sie das Ueberflüssige wegläßt und dem Wörter-
buche vorzugsweise das Material, der Grammatik vorzugsweise
die Fügungsweise zuertheilt.
[348]
2. Hauptpunkte der Grammatik.
Nachdem wir die Principien der Grammatik festgestellt ha-
ben, wollen wir noch die Hauptpunkte derselben näher erörtern.
Und so nun vor Allem Einiges über
a) die Lautlehre.
Wenn es schon überhaupt nicht unsere Absicht ist, hier
ausführlich auf Einzelheiten einzugehen, so sind wir dessen für
die Betrachtung der Lautseite der Sprache um so mehr über-
hoben, als wir auf die schöne Abhandlung Heyses verweisen
können: „System der Sprachlaute“ (in Höfers Zeitschrift f. d.
Wissensch. d. Spr. IV, 1. 1852; leider besitzen wir desselben
vortrefflichen Sprachforschers philosophische Sprachwissenschaft
noch immer nicht). Nur einige allgemeine Bemerkungen haben
wir hier zu machen, zu denen uns die genannte Abhandlung
veranlaßt.
§. 120. Von der Articulation im Allgemeinen.
Wir unterscheiden mit unserm Gehör die Sprachlaute sehr
bestimmt und in mannigfacher Weise. Der Ton ist aber, wie
die Farbe u. s. w., lediglich ein Product unserer Seele. Aeu-
ßerlich, mechanisch, ist nur die Schwingung eines Körpers vor-
handen, die sich dem uns umgebenden Elemente, also gewöhn-
lich der Luft, mittheilt und dadurch endlich auf unsere Gehör-
nerven fortpflanzt. Was nun aber in der Seele bei der Bildung
des Tones, der Farbe, bei der Umwandlung der bloß quantita-
tiven Bewegungen in eine qualitative, raumlose, einheitliche Em-
pfindung vorgeht? warum die Seele auf Veranlassung gewisser
materieller Bewegungen ihrer Leiblichkeit gerade diese oder jene
bestimmte Empfindung erzeugt? das wissen wir nicht; nur die
Bedingungen, die der Seele von der äußern Welt und dem ei-
genen Leibe gegeben sein müssen, um jene Gehör- und Gesichts-
wahrnehmungen zu bilden, sind Gegenstand der Wissenschaft.
Diese Bedingungen aber sind oft nicht vollständig bekannt;
sondern wir sehen bloß die ferner liegenden Ursachen. So wis-
sen wir also z. B., welche mechanischen Verhältnisse überhaupt
die Seele zur Bildung des Tons erregen, also Töne erzeugen;
wir wissen auch weiter, wodurch diejenige Eigenschaft der Ton-
empfindung bedingt wird, welche wir als bestimmten Grad der
Höhe und Tiefe, der Stärke oder Schwäche unterscheiden.
[349] Schwierig aber ist es schon zu sagen, durch welche Eigenthüm-
lichkeit der lauterzeugenden Bedingung der verschiedene Klang
der Töne entstehe: wir sehen hier nur die fernere Ursache, daß
der zuerst schwingende Körper Metall, Holz, eine Saite, Luft
ist; worin aber die Verschiedenheit ihrer Wirkung bestehe, wis-
sen wir nicht. Warum klingt Metall anders, als Holz? — Eben
so nun, wenn jemand den Laut te spricht: so wissen wir wohl
anzugeben, wovon die Höhe oder Tiefe, wovon die Stärke oder
Schwäche, weniger wovon der Klang dieses Lautes abhängt;
aber ganz und gar nicht, welche Eigenthümlichkeit der Luft-
schwingung, die sich unserm Gehörwerkzeuge mittheilt, die Seele
veranlaßt, den Laut te und nicht ka zu bilden. Das hindert
aber nicht, die fernere Ursache, nämlich die abweichende Stel-
lung der lauterzeugenden Organe zu prüfen, und davon die ver-
schiedene Wirkung abhängig zu machen. Kann der Laut „nicht
seiner Beschaffenheit“ (Humboldt) nach, weder als eigenthümli-
ches Seelenerzeugniß, noch als eigenthümliche materielle Bewe-
gung, sei es unseres Gehörorgans, sei es eines äußern Körpers,
beschrieben werden: so kann er doch „seiner Erzeugung nach“,
wie sie durch die Sprachorgane bewirkt wird, hinlänglich be-
stimmt werden. Und hierauf ging ja auch von jeher das Be-
mühen der Grammatiker.
Mit einer gewissen Schnelligkeit regelmäßig schwingende
Körper erzeugen Töne. So tönen auch die Stimmbänder in der
Kehle, wenn sie, mit Hülfe gewisser Muskeln hinlänglich straff
gespannt, durch die aus der Lunge gepreßte Luft in Erzitte-
rung versetzt werden. Den von ihnen erzeugten Ton nennt
man die Stimme. Diese ist das Element des Gesanges (d. h.
der Musik, wobei der Mensch der Spieler und das Instrument
zugleich ist), aber nicht eigentlich, nicht vorzugsweise das Ele-
ment der Sprache, obwohl sie sich derselben meist anschließt
und allerdings auch zur Erzeugung einiger Laute nothwendig
ist. Die meisten und wesentlichen Sprachlaute, der Kern der
Consonanten, sind keine regelmäßigen Töne, sondern unregel-
mäßige Geräusche, welche in der Mundhöhle durch die ausströ-
mende Luft hervorgebracht werden. Sie entstehen ganz ähnlich
wie das Schnalzen, Zischen u. s. w. und aus derselben Ursache,
wie das Geräusch beim Oeffnen einer verschlossenen Kapsel,
eines Pennals, wenn man den Deckel abzieht, oder beim Her-
ausziehen des Pfropfens aus einer Flasche. Zur Erzeugung der
[350] Consonanten nämlich stemmt man die jedesmal nöthigen Organe
gegen einander und verschließt dadurch die Mundhöhle. In
Folge dessen wird die Luft innerhalb der Mundhöhle, indem im-
mer mehr aus der Brust zuströmt und doch keine aus dem Munde
entweichen kann, zusammengepreßt, verdichtet; durch das plötz-
liche Oeffnen der Mundhöhle aber, indem die Stemmung der
Organe aufgehoben wird, verdünnt sich die Luft plötzlich. Hier-
durch wird die Luft erschüttert und es entsteht ein Geräusch,
welches wir als Consonanten wahrnehmen. Während also die
Stimme das Tönen der Stimmbänder ist: so sind diese Mund-
geräusche Töne der erschütterten Luft. Merkwürdig nun ist,
daß die Seele nicht bloß das Geräusch vernimmt, sondern auch
merkt, ob der Mundverschluß, der ihn verursachte, durch die
Lippen, oder durch die Zunge im Hintergrunde, oder durch die
Zunge im Vordergrunde des Mundes verursacht war. Denn je
nach der veränderten Stelle des Mundverschlusses nimmt sie das
Geräusch als p oder t oder k wahr. Woran merkt nun die
Seele die Weise des Mundverschlusses, die so mannigfach ab-
geändert werden kann, daß wir dreißig und mehr Consonanten
unterscheiden, und außerdem noch die Vocale? Offenbar an der
Verschiedenheit der Form der Luftwellen. Wenn die Luft im
Munde durch die Lippen gehemmt und dann ausgestoßen wird,
so bilden sich anders gestaltete Luftwellen, als wenn sie durch
die an den Gaumen gedrückte Zunge eingeschlossen war.
Da diese Mundgeräusche ganz anderer Natur sind, als die
Stimme, so können sie auch nicht zugleich mit dieser Statt ha-
ben; denn die Stimme erfordert freies Durchströmen des Athems
durch den Mundcanal, während die consonantische Articulation
denselben verschließt. Aber wohl kann sich die Stimme den
Consonanten vorn und hinten anschließen; denn sie kann vor
der Bildung und nach der Aufhebung des Verschlusses tönen.
So liefert sie den Vocal. Abgeändert wird der Vocal nicht
durch den Mundverschluß, aber wohl durch die Form des Mund-
canals, den wir bald mehr kurz und weit, bald mehr lang und
schmal gestalten können.
Die Articulation ist also die besondere Stellung der Mund-
höhle, bei welcher das Geräusch und die Stimme erzeugt wird:
durch diese Stellung wird der Weg, den die ausströmende Luft
nimmt, abgeändert und damit zugleich die Wellenbewegung der
erschütterten Luft. Es scheint sich in der gemeinen Ansicht
[351] etwas Mysteriöses an die Articulation geknüpft zu haben; man
sucht etwas ganz Eigenthümliches, Dynamisches dahinter. An
sich betrachtet aber, abgesehen von der Bedeutung, ist die durch
die Articulation bewirkte Abänderung der Sprachlaute nicht ver-
schieden von dem Unterschiede, den wir wahrnehmen, wenn
man die flachen, oder die gehöhlten Hände an einander schlägt.
Wahr aber bleibt, daß die Sprachorgane das vollendetste, kunst-
vollste Instrument bilden. Jeder Sprachlaut wird eigentlich von
einem besondern Instrumente erzeugt. Daß dieses, d. h. die
Form der Mundhöhle, der Ort der Lautbildung, recht scharf
begrenzt sei, unterscheidet die Sprachlaute von sonstigen Geräu-
schen und macht das Wesen der Articulation aus; denn je be-
grenzter die Mundhöhle, desto bestimmter der Laut. Bei den
Geräuschen des Hauchens, Zischens, Lallens u. s. w. ist es mehr
der ganze Mund, als ein bestimmter Ort desselben, wo der Ton
entsteht; und wir nennen sie darum unarticulirt. Der Unter-
schied der articulirten Laute gegen die unarticulirten wird be-
sonders in der Sylbe klar; denn bei dieser Aneinanderreihung
der articulirten Töne tritt erst recht ihre scharf geschiedene
Natur hervor, während die unarticulirten eines so leichten und
schnellen Ueberganges zu einander nicht fähig sind. Viele Na-
turgeräusche scheinen syllabisch, aber nur darum, weil sie kei-
nen bestimmten articulirten Laut darstellen, sondern wirr durch
einander rauschen. Unser Ohr, an die Wahrnehmung articulir-
ter Töne gewöhnt, hört aus diesem Gewirre verschiedene Con-
sonanten, wiewohl undeutlich, heraus, welche es in eine syllabi-
sche Verbindung bringt. Auch wo wir einen einfachen Conso-
nanten in einem Naturgeräusche zu hören meinen, ist es unser
Ohr, welches den unentschiedenen Naturlaut einem Consonanten
annähert. Unter den mechanisch erregten Schällen wird man
am meisten vocalähnliche Töne, dann auch oft ein dem p ähn-
liches Geräusch vernehmen; weniger kommen sie dem k, am
wenigsten wohl dem t nahe. Darum wird eine Sprechmaschine
wohl immer unvollkommen bleiben; Kempelen wenigstens gesteht,
daß er kein bestimmtes t k p mit seiner Maschine habe erzeu-
gen können, sondern nur einen zwischen diesen dreien schwan-
kenden Laut, den der Hörer so deutete, wie er ihn im voraus
zu hören erwartete, bald als den einen, bald als den andern.
Nach dieser Darlegung des allgemeinen Wesens der Arti-
culation sehen wir nun durchaus nicht ein, wie wir am Laute
[352] sollten Stoff und Form unterscheiden können. Auch hat Heyse,
der Beckers falsche Unterscheidungsweise von Stoff und Form
verwirft, aber nach einer vorgenommenen Verbesserung beibe-
halten will, den Unterschied, wie mir scheint, durchaus nicht
aufrecht erhalten können; er verschwindet ihm unter den Hän-
den. Betrachten wir die Mundhöhle als das Sprachinstrument,
welches den Hauch zum Tönen bringt, so ist die Articulation
den Vorgängen gleichzustellen, durch welche beim Blasinstru-
ment die Röhre verlängert oder verkürzt wird. So mögen wir
leicht am Instrument Stoff und Form scheiden; aber am Ton
ist weder Stoff, noch Form.
§. 121. Unterschied von tenuis und media.
Rücksichtlich der Einzelheiten sei noch einmal auf Heyse
verwiesen. Nur zwei Punkte will ich hier hervorheben. Daß
der Unterschied zwischen b und p auf der Intensität beruht,
nimmt auch Heyse an; er bezieht dieselbe auf die stärkere oder
gelindere Stemmung der Organe (a. a. O. S. 57 f.), und mit Recht.
Wir glauben aber eben darum auch Recht zu haben, wenn wir
sie zugleich auf den Hanch beziehen, wodurch wir Heyses und
Müllers Ansicht vereinen. Je intensiver sich die Organe gegen
einander stemmen, desto intensiver muß der Stoß des Hauches
sein, der sie von einander drängt; und umgekehrt kann sich bei
gelinder Stemmung kein starker Hauch bilden. Auf die gelinde
Stemmung der Lippen bei b folgt also ein gelinder Hauch, Spi-
ritus lenis; auf die kräftige Stemmung bei p nothwendig ein
starker Hauch, der Asper. „Stärkere Explosion“ ohne starken
Hauch, p mit Sp. lenis, ist nicht möglich. Man halte die Fin-
ger vor den Mund, spreche den Lenis und b, den Asper und p,
und vergleiche die Stärke des Eindruckes, den der Hauch in
diesen Fällen auf die Finger macht.
Rücksichtlich des von Heyse gegen Müller vorgebrachten
Einwandes, daß b + h nicht p, sondern bh giebt, und daß h
auch zu p tritt und ph bildet, bemerken wir, daß dieser Ein-
wand mindestens unsere hier vorgetragene Auffassung nicht trifft;
denn wir sagen nicht b + sp. a. = p; sondern Lippenarticula-
tion mit sp. a. giebt p, und da nun b schon Lippenarticulation
mit sp. len. ist, so sagen wir: b — sp. l. + sp. a. = p, während
b + sp. a. allerdings = bh. Das heißt also, b und p unterschei-
den sich nicht durch den vollen sp. a., sondern nur durch so
viel Hauch, als der Asper den Lenis übertrifft. Lippenarticu-
[353] lation ist noch kein Laut, sondern nur eine Bedingung zu einem
solchen. Tritt als fernere Bedingung der Lenis hinzu, so ent-
steht b; tritt dagegen der Asper hinzu, so entsteht p. Eben
darum ist p wie b ein untheilbarer einfacher Consonant, dessen
Dasein vernichtet ist, wenn man ihm den starken Hauch nimmt;
bh, ph dagegen kann ich nur als zusammengesetzten Laut oder
gar nur als Lautverbindung ansehen.
§. 122. Einfache und zusammengesetzte Laute.
Dies führt uns auf den Unterschied von einfachen und zu-
sammengesetzten Lauten und Lautverbindungen, rücksichtlich
dessen ich ebenfalls nicht vollständig mit Heyse übereinstimme.
Beginnen wir mit den Vocalen.
Die Diphthonge sind offenbar zusammengesetzte Laute. Es
zeigt sich ihr Unterschied von den einfachen Vocalen besonders
darin, daß sie nicht wie diese unendlich forttönen können. Wenn
man ai continuirt, so dehnt man bloß das i, nicht das a. Die
beiden Elemente des Diphthongs sind also wirklich geschieden:
das erste verschwindet, wenn das zweite auftritt. Sie sind aber
eng an einander gekettet, und eben darum beide etwas abgeän-
dert: das a nähert sich dem i oder e, das i neigt zur Conso-
nantirung. Eben so in oi, ui, wo o und u zu ö und ü neigen.
Diese Umlaute selbst aber ä, ö, ü kann ich nur als durchaus
einfache Laute anerkennen. Daraus daß bei ihrer Hervorbrin-
gung die Lippenöffnung wie bei a, o, u, die Gaumenöffnung wie
bei i ist, folgt nur, daß sie Mittellaute zwischen a, o, u und i
sind, und zwar dies allerdings in ganz anderer Weise, als auch e
ein Mittellaut zwischen a und i ist. Denn e liegt zwischen a
und i in der Mitte, ohne den einen oder den andern Laut zu
berühren, ä aber berührt a und i zugleich. In einem Linien-
bilde könnte die Sache so dargestellt werden:
Dieser Unterschied zwischen ä und e hindert einerseits nicht,
daß ä ein eben so einfacher Laut ist, wie e — weswegen es
auch durchaus klar und unverändert gedehnt werden kann —,
macht es aber dennoch andererseits rathsam, beide zu scheiden,
23
[354] was passend durch den Ausdruck Mischlaut für ä, ö, ü ge-
schieht, wenn man dabei an chemische Mischung denkt. Ein
Atom Wasser ist einfach und dennoch aus zwei Elementen ge-
mischt: eben so ist es ä. Dagegen ist e nicht gemischt, son-
dern nur mittlerer Natur.
In alle dem scheint mir kaum eine Schwierigkeit zu liegen.
Anders ist es mit den Consonanten. Heyse sieht in dem ita-
liänischen ce, ge, ferner in ps, ts, vs, pf, englischem tw, dw, und
in qu (kw) Mischconsonanten, ganz analog den Mischvocalen ä,
ö, ü. Dies kann ich nicht billigen und muß überhaupt die Mög-
lichkeit von Mischconsonanten läugnen. In dem Vocal, der sich
in dem ganzen Mundcanal bildet, liegt ein doppeltes Element,
der Eingang und der Ausgang des Canals: so ist eine Mischung
möglich. Der Consonant bildet sich an einem bestimmten Punkte
des Mundcanals: und so ist er durchaus einfach und jede Mi-
schung wird unmöglich. Das italiänische ce, ge, also der Pa-
latallaut, ist gar nicht ein so einfacher Laut, wie ä. Machen
wir die Probe. Der Palatallaut kann continuirt werden, aber
nur ein Element desselben, der nachtönende Zischlaut wird
fortgesetzt, der Vorlaut verschwindet, so daß der Palatal tsch
während der Dauer einem einfachen sch gleichkommt. Diese
Probe beweist nicht nur negativ, daß der Palatal nicht dem
Mischlaut ä entspricht, sondern auch positiv, daß er ein Dop-
pellaut ist, wie der Diphthong ai. Wir haben also einfache
Laute, wie a, k; Mischlaute wie ä, die nur Vocale sind; Dop-
pellaute, wie ai, italiänisches c, und Lautverbindungen wie aï,
kj, kt.
§. 123. Der Accent.
Endlich noch ein Wort über den Accent, die Betonung.
Man muß dabei gar nicht an Ton denken. Unsere Betonung
ist nicht das lateinische accentus, sondern ictus, und ist ein rein
rhythmisches Wesen, dasselbe was der Metriker Arsis (oder
nach älterm Sprachgebrauche vielmehr Thesis, le frappé) nennt.
Der Accent ist also Nachdruck, größere Stärke (nicht Höhe)
des Lautes, ein forte, und hat sein Wesen in der rhythmischen
Aufeinanderfolge von Sylben, Wörtern, Sätzen.
§. 124. Weitere Aufgabe der Lautlehre.
Die Lautlehre ist nicht auf die Betrachtung der einzelnen
Laute beschränkt. Sie bespricht auch den Sylben- und Wort-
bau, wobei auch der Lautwandel zur Sprache kommt, insofern
[355] er bedeutungslos, rein phonetisch ist. Und endlich gehört auch
hierher die Rhythmik der Verse und der Prosa.
Die Sprache als Material, sagten wir, sei Schutt. Eben
darum bleibt sie nicht ohne mancherlei Veränderung. Es giebt
also einen geschichtlichen Wandel der Laute; und die Laut-
lehre, die zunächst Mechanik der Laute ist, wird dann auch
Geschichte derselben.
Es kann keine Frage sein, daß die rein phonetische Natur
der Sprache auch für die innere Sprachform von höchster Wich-
tigkeit ist. Der Laut ist ursprünglich von der innern Form ge-
schaffen, aber das Dasein der innern Sprachform hängt eben so
sehr vom Laute ab, wie die Seele an den Körper gebunden ist.
Der Laut ist mehr, als bloßes Instrument; er ist der Leib der
innern Form. Nur wenn dieser Leib recht gesund und ge-
schmeidig ist, kann die innere Form sich kräftig entwickeln.
Doch zu diesen Betrachtungen ist hier noch nicht der rechte
Ort. Sie setzen schon die Verschiedenheiten der Sprachen vor-
aus, wovon wir auf diesem Punkte unserer Entwickelung noch
nichts wissen.
Für unsern Zweck genügen die wenigen Andeutungen, die
wir oben über den Laut gegeben haben. Es kam nur darauf
an, der Lautlehre ihren Platz in der Grammatik anzuweisen.
b) Innere Sprachform.
Die innere Sprachform umfaßt sämmtliche Kategorien der
Vorstellung, nach welchen das instinctive Selbstbewußtsein An-
schauungen und Begriffe auffaßt. Es liegt uns hier an, einige
ganz allgemeine Punkte, welche für dieselbe leitend und maß-
gebend werden, zu erörtern.
α) Stoff und Form.
Stoff und Form sind bezügliche Begriffe; d. h. jeder der-
selben wird nur mit Bezug auf den andern gedacht. Daraus
folgt aber nur, daß derselbe Gegenstand des Denkens oder der-
selbe Begriff im Verhältnisse zu verschiedenen Begriffen, oder
zwar zu demselben Begriffe, aber nach anderer Rücksicht, be-
ziehungsweise bald als Form, bald als Stoff angesehen werden
muß. Diese Verschiedenheiten der Beziehungen oder Rücksich-
ten müssen aber klar geschieden werden, und nur eine trügeri-
23*
[356] sche oder blöde Dialektik kann den Unterschied verwischen wol-
len. Dieselbe Größe kann sowohl positiv, als negativ angesehen
werden; aber sofern sie als eines von beiden, etwa als negativ
angenommen ist, hat sie nothwendig die positive Größe sich
gegenüber und kann nicht selbst in derselben Beziehung positiv
und negativ zugleich sein. Eben so verhält es sich mit Stoff
und Form. Die Formbestimmung ändert nie den Stoff; ändert
etwas den Stoff: so ist es Bestimmung des Stoffes, nicht der
Form. Man darf die Kategorien nicht ungehörig anwenden und
muß wissen, wohin eine jede gehört.
Der Grundsatz der Verschiedenheit entgegengesetzter Be-
griffe steht a priori so fest, daß andererseits, wenn man uns
eine Einheit derselben vorhält, eine zu Grunde liegende Täu-
schung nothwendig und a priori vorausgesetzt werden muß.
Denn die Gleichheit entgegengesetzter Begriffe ist undenkbar
und folglich noch weniger wirklich. Die Einheit des Wider-
spruches von Positivem und Negativem ist nicht „der Grund“;
sondern der Grund dieser Einheit ist eine Täuschung.
Allem Gegensatze muß wohl eine Einheit zu Grunde lie-
gen; Einheit und Gegensatz sind bezügliche Begriffe, und keiner
ist ohne den andern. Insofern aber zwei Begriffe entgegenge-
setzt sind, sind sie nicht identisch; und insofern sie identisch
sind, sind sie nicht entgegengesetzt.
Was der Verstand trennt, mag die Vernunft vereinigen;
aber sie darf es nicht vermengen und verwirren. Denn Ver-
stand und Vernunft sind nur dieselbe Intelligenz, die immer nach
denselben logischen Gesetzen erkennt, bald scheidend, bald zu-
sammenfassend; und diese eine Intelligenz kann nicht als Ver-
nunft ihrer verständigen Thätigkeit Hohn sprechen.
Dergleichen sich von selbst verstehende Dinge müssen frei-
lich gesagt werden, wenn einmal die bis zum Wahnwitze gestei-
gerte, sich mit dem Widerspruche gegen den gemeinen Sinn
kitzelnde Eitelkeit in die Philosophie und bis in die Logik selbst
gedrungen ist; wobei man denn vor allem natürlich auch sich
selbst vergißt. Denn wäre die Identität des Widerspruches denk-
bar, so würde, da der Widerspruch allein das Treibende in der
dialektischen Selbstbewegung des sich denkenden Begriffs sein
soll, diese ganze Bewegung gar nicht Statt haben, und der Geist
ruhig im ersten Widerspruche zwischen Sein und Nichtsein ver-
harren, ohne Bedürfniß aus ihm herauszutreten und fortzuschrei-
[357] ten. Die Dialektik beruht also auf der Anerkennung der Un-
denkbarkeit des Widerspruchs, und da nun die dialektische Phi-
losophie nichts anderes thut, als Widersprüche aufdecken, ohne
ihnen je zu entfliehen, ohne sie je zu lösen, von ihnen im Kreise
herumgejagt: so verurtheilt sie sich selbst als die Philosophie
des Falschen, welche nur erst Vorbereitung der wahren Philo-
sophie ist.
Da das Gesetz des Widerspruchs unserm Geiste so unver-
letzlich angehört, so sucht er, so oft er sich in einem Wider-
spruche befangen sieht, denselben aufzulösen, indem er die ihm
zu Grunde liegenden Beziehungen ändert. Diese Aenderung,
Verbesserung der Beziehungen wird sich aber nicht immer durch
bloße Bearbeitung der Begriffe, durch Spalten und neues Spal-
ten bewirken lassen; sondern es werden neue Thatsachen hinzu-
treten, und alte Thatsachen von neuem untersucht und in neuen
Begriffen erfaßt werden müssen.
Wenn wir nun von Laut- und innerer Sprachform reden,
also überhaupt die Sprache Form nennen: so müssen wir uns
klar zu machen suchen, in welchen Beziehungen hier Stoff und
Form auftreten, und wo der Stoff zur innern Sprachform liegt.
Man hat die Sprache Form des Gedankens genannt, inso-
fern sie ihn darstellt; der Gedanke umgekehrt sei der darge-
stellte Inhalt. Wir können uns, denke ich, dies recht wohl ge-
fallen lassen. Aber wir müssen uns klar vorhalten, was hierin
liegt. So gut wie die Sprache Darstellung von Gedanken ist,
ist auch die Bühne Darstellung der Welt, das Portrait Darstel-
lung einer Person. So wenig das Portrait die Person selbst, so
wenig die Bühne die Welt ist: eben so wenig ist die Sprache
der Gedanke; sondern wie die Bühne die Welt bedeutet, eben
so bedeutet die Sprache den Gedanken. Wir werden durch die
Bühne sogar an einen vollen Gegensatz zwischen Wirklichkeit
und Schein erinnert; denn darstellen heißt bloß den Schein er-
regen. Und wir wissen ja, wie oft leider Worte Gedanken nur
darstellen, d. h. den Schein von Gedanken erregen.
Darstellen heißt allerdings ursprünglich eine Sache hinstel-
len, vor Augen stellen. Niemals aber wird der Gedanke so
nackt hingestellt, wie er geboren ist; nie tritt er aus dem Ver-
stecke des Geistes, aus der Stätte seiner Empfängniß hervor.
Eben darum bedürfen wir eines Darstellungsmittels, welches die
[358] Person, für welche dargestellt wird, mit dem Gedanken vermit-
telt, mitten zwischen beide tritt. Dann sagen wir, der Gedanke
werde gewissermaßen in das Mittel gelegt und in ihm zur Dar-
stellung gebracht. Das Mittel an sich jedoch ist nicht der Ge-
danke selbst, sondern Zeichen desselben.
So hätten wir denn zwar in der Darstellung einen Stoff und
eine Form; aber diese Form, welche das Darstellungsmittel des
Stoffes ist, ist gar nicht die Form dieses Stoffes. Die Bühne ist
nicht die Form der Welt, das Portrait nicht die Form der
Person, die Sprache nicht die Form des Gedankens, sondern
Schein. Der Schein besteht eben bloß aus Form; und so ist
auch die Sprache bloße Form, bei deren Betrachtung der dar-
gestellte Inhalt nicht eingemischt werden darf.
Wenn das Wort Schein nicht gefällt: so sage man, die
Sprache sei die Erscheinung des Gedankens. Wie ein Stern
emporsteigt und erscheint, indem er uns seine Strahlen zusen-
det: so erscheint uns der Gedanke, indem er unserm Ohre in
zugesandten Lauten tönt. — Es sei! Aber die Strahlen sind
nicht der Stern, und die Laute nicht der Gedanke.
Der Inhalt hat nun aber noch an sich seine ihm eingebo-
rene Form, abgesehen von dem Scheine, welcher ihn darstellt;
und der Schein hat noch an sich einen Stoff. Um bei unsern
Beispielen zu bleiben, die Welt hat ihre Formen, die mit der
Bühne nichts zu thun haben; eben so der Mensch, dessen Por-
trait gezeigt wird. Die Bühne hat aber auch ihren Stoff: das
Brettergerüste und die Schauspieler; und das Portrait hat den
seinigen: Leinwand und Farbe. So hat auch der Gedanke seine
Formen, die nichts mit seinem sprachlichen Scheine zu thun
haben, seine logischen und metaphysischen Formen; und so hat
auch die Sprache ihren Stoff. Dieser Stoff ist das Mittel; und wir
kennen ja schon das doppelte Mittel der Sprache: den Laut und das
instinctive Selbstbewußtsein. Der Laut ist also gewissermaßen
die Leinwand, und das instinctive Selbstbewußtsein liefert die
Farben und die Zeichnung für die Abbildung des Gedankens
durch den Sprechenden.
So sehen wir also auf beiden Seiten, auf Seiten des Schei-
nes sowohl, wie des erscheinenden Inhaltes, Stoff und Form. Wie
wir aber vom Bilde sagen, es sei bloß Form, deswegen weil
die Form von dem Stoffe, den Farben und der Leinwand, ganz
unablösbar ist; und andererseits auch Farbe und Leinwand gar
[359] keinen andern Werth und keine andere [Bedeutung] haben, als
die in ihrer Form liegt, also als Form zu sein: so ist auch die
Sprache, sowohl Laut, als instinctives Selbstbewußtsein, bloß
Form, oder bloß geformt. So wie Farbe und Leinwand des
Bildes gar nicht als Farbe und Leinwand gelten wollen, sondern
als etwas ganz anderes: so wollen auch Laut und instinctives
Selbstbewußtsein für etwas anderes gelten; und hier, wie dort
beruht die Geltung auf der Form, also bei der Sprache auf der
bestimmten Articulation oder Lautform und der bestimmten An-
schauung der Anschauung.
Nun geschieht aber ferner jede Thätigkeit, jede Bewegung
nach gewissen Formen, Bestimmungen, Gesetzen, Regeln, in ge-
wissen Bahnen, Kategorien. Das Athmen geschieht durch Aus-
und Einathmen, welche beide man die Hauptkategorien des Ath-
mens nennen könnte; beim Blutumlauf kommt das Zusammen-
ziehen und Ausdehnen des Herzens, die beiden Kammern des
Herzens, der Unterschied von Arterie und Vene, der Puls in
Betracht, und das sind seine Kategorien oder Formen; der Tanz
hat seine Schritte, kreisend oder einfach vorschreitend, oder auf
derselben Stelle beharrend; die Metrik hat Füße, Verse, Cä-
suren u. s. w.; der Tischler hobelt, sägt, fügt in einander und
leimt zusammen. So hat auch die Sprache ihre Kategorien, wie
Sylbe, Wort, Wortbeugung, Wortfügung, Lautgesetze und syn-
taktische Gesetze.
Wir haben hier einen Unterschied aufgestellt, der besonders
bei der groben Vergleichung mit dem Tischler klar wird, zwi-
schen formender Thätigkeit und der dadurch erzeugten Form.
Das Hobeln, Sägen, u. s. w. sind die formbildenden Thätigkei-
ten, wodurch eine Form an einem Stoffe, ein geformtes Ding
entsteht. Beim Tanze beschreibt der Fuß und der ganze Kör-
per Linien in der Luft und auf dem Boden; diese Linien sind
die geformten Dinge, die Ergebnisse der formbildenden Bewe-
gung des Fußes und des Körpers. So scheint es nun, als er-
hielten wir eine doppelte Classe der Kategorien: Bestimmungen
der Form, welche für die Dauer als Erfolge gewisser Bewegun-
gen entstanden sind; und Bestimmungen dieser gestaltenden Be-
wegungen selbst. So würden für die Sprache die Lautgesetze die
Bestimmungen der Bewegung sein, durch welche die feste Wort-
form entsteht; die Wortfügung hat eben so ihre Gesetze und
durch sie entstehen die Casus, Redetheile u. s. w. als gebildete
[360] Formen. Der Sprachforscher jedoch erkennt auf seinem Ge-
biete, für die Sprache, diesen Unterschied nicht an. Für die
deutschen Sprachforscher ist es ja nun wohl schon eine gemeine
Bemerkung, daß die Sprache kein fertiges Werk ist, daß sie
gar kein ruhendes Dasein hat, sondern reine Thätigkeit, bloße
Bewegung ist. Nichts in der Sprache ist starr, alles flüssig;
und so ist auch das Wort und die bestimmte Bewegungsform
des Wortes nur die fließende Form einer Thätigkeit, ein Schritt
des Sprachganges, der verschwindet, wenn er vorüber ist; der
keine materialen Spuren zurückläßt, sondern bloß dynamische
in der Seele; der wohl wiederholt werden kann, aber dann eben
so materialiter verschwindet, und nur dynamisch zurückbleibt.
Der Laut, d. h. die allgemeine Fähigkeit des Lautens, und
das instinctive Selbstbewußtsein sind der Stoff, die Dynamis,
der Sprache; das wirkliche Sprechen ist die Energie; die Sprach-
form, sowohl Laut- als innere Form, ist die Entelechie, d. h.
die Bewegung, welche die Dynamis zur Wirklichkeit umgestal-
tet, den Stoff formt. Aber Energie und Entelechie sind nur
verschiedene Auffassungen desselben Wesens. Die Sprachform
ist allemal bewegtes Leben, dessen Wirken seine Geburt, dessen
Sein Wirken ist. Denn die Sprache ist ein geistiges Wesen;
und im Geiste ist nichts Wirkung, ist alles Wirken.
Abgesehen also davon, daß man die allgemeine Fähigkeit
zur Sprache als Stoff, die Verwirklichung als Form ansehen
kann, haben wir innerhalb der Sprache noch keinen Unterschied
zwischen Stoff und Form auffinden können. Die Sprache ist
also nichts als Form; ihr Stoff, der Gedanke, liegt außer ihr.
Sie ist darum reine Form, weil sie bloße Anschauung, Darstel-
lung, Schein des Gedankens ist. Der Gedanke aber enthält
Stoff und Form: Stoff, wie er ihn durch Sinnesempfindungen
und Gefühle erlangt; Form, wie der Geist sie nothwendig jenem
Stoffe anthut, indem er denselben auffaßt — denn die geistige
Auffassung ist nur Formung des durch die Sinne von außen
gewonnenen Stoffes. In der Sprache nun ist der Schein von
beiden Elementen des Gedankens, vom Stoff und von der Form.
Die Sprache ist also Darstellung oder Form sowohl des Gedan-
kenstoffes, als der Gedankenform.
Hätten wir nun etwa hiermit schon den Unterschied von ma-
terialen und formalen Elementen der Sprache gewonnen? Schwer-
[361] lich! Die Sprache bleibt immer noch rein formal; Stoff und
Form des Gedankens aber sind beide in gleicher Weise für die
Sprache ihr Stoff. Sie mögen für uns, die Logiker, sie mögen
an sich verschieden sein — was kümmert das die Sprache?
Sie ist Form für beide in gleicher Weise; sie sind nicht für die
Sprache verschieden. Das mag ein Beispiel klar machen und
bestätigen. Alle Bewegung ist Formänderung: die Bewegung
ist rein formal und eben darum eine Abstraction, die nur in
lebendiger Einheit mit dem Stoffe wirklich ist. Beobachtet spie-
lende, ringende Knaben; beobachtet die Wellen des Wassers,
der Kornfelder: ihr habt den bleibenden Stoff in Bewegung, d. h.
in fortwährend sich ändernder Form. Die Sprache schaut den
Stoff und die Form an; ein Wort bezeichnet den Stoff: die
Knaben, das Wasser, ein anderes die Form: spielen, wogt. Wer
hat nun je gesagt, die Verba seien Formwörter? und doch be-
deuten alle Verba und alle Merkmalwörter Formverhältnisse;
sind sie darum Formwörter? O ja, antworte ich, wenn man
will. Nun sind aber, wie wir gesehen haben, alle Wörter der
Sprache, auch die Ding- und Thätigkeitswörter, ursprünglich
Merkmalwörter, Adjectiva oder Adverbia; folglich besteht die
Sprache bloß aus Formwörtern, und so wären wir wieder auf
demselben Punkte, wie vorhin, zu behaupten, die Sprache sei
rein formal, enthalte nur formale Elemente.
Wir haben nun aber doch schon den Punkt gefunden, auf
den es ankäme, wenn die Sprache in sich einen Unterschied
zwischen Form und Stoff, materialen und formalen Elementen,
ausgebildet haben sollte. Es käme nämlich nur darauf an, daß
der Unterschied von Stoff und Form, welcher im Gedanken, so-
wohl an sich, als für den Logiker, vorliegt, auch für die Spra-
che werde; d. h. daß nicht nur alle Elemente des Gedankens
von der Sprache angeschaut und gleichmäßig dargestellt wer-
den, sondern daß dieselbe zugleich den Unterschied der mate-
rialen und formalen Momente des Gedankens anschaue und auch
diesen Unterschied darstelle. Die Sprache bliebe also ihrer un-
veränderlichen Natur gemäß rein formal; sie wäre aber theils
Form des Gedankenstoffes, theils Form der Gedankenform; und
zwar dies nicht bloß für uns, sondern sie müßte es auch an
sich und für sich selbst sein. Das instinctive Selbstbewußtsein
muß den Unterschied von materialen und formalen Momenten
des Gedankens aufgefaßt haben, und demgemäß auch als Trieb
[362] auf den Laut eingewirkt und dem Laute den erkannten Unter-
schied eingehaucht haben. Die Sprache kann nicht den Unter-
schied als ein drittes selbständiges Element neben dem Stoff- und
Formelement darstellen; sondern sie muß ihren Elementen, wel-
che den Stoff des Gedankens darstellen, und ihren Elementen,
welche die Form desselben darstellen, eine verschiedenartige Fär-
bung oder Schattirung geben, damit hieraus dem Sprechenden
selbst, wie dem Hörenden, der Unterschied zwischen den for-
malen und materialen Elementen des Gedankens auch aus den
Worten zart entgegentönt; damit nicht bloß die Gedankenele-
mente selbst vollständig im Laute erscheinen, sondern so, daß
sie zugleich ihrer verschiedenen Natur entsprechend in verschie-
denem Lichte erscheinen. Die Sprache erreicht dies durch die
den Wurzeln angefügten Endungen: die Wurzel bedeutet den
Stoff, die Endung die Form.
Stoff oder Form in der Sprache ist also dasjenige, was
für sie als das eine oder das andere gilt, was sie als das
eine oder das andere darstellt, was in ihr und für sie als
das eine oder das andere erscheint; beides unterscheidet sich
nicht so, wie wir die Sache ansehen, nicht wie die Zergliede-
rung des Gedankens an sich die Sache beurtheilt. Dieser Un-
terschied zwischen der Sprache und unserer logischen Analyse
ist ungeheuer und setzt eine tiefe Kluft zwischen Sprach- und
reiner Gedankenanalyse, zwischen Grammatik und Logik. Ich
wiederhole das schon angeführte Beispiel: alle Merkmale und
Bewegungen sind Formbestimmungen für die Logik; für die
Grammatik sind sie materiale Elemente, weil die Sprache, das
instinctive Selbstbewußtsein, jene Formbestimmungen als mate-
riale Elemente der Anschauung auffaßt und vorstellt. Das Sub-
stantivum als Subject gilt der Sprache für das Ding an sich,
für die Substanz, also den Stoff vorzugsweise. Der Inhalt die-
ser Substanz aber wird gerade in den Merkmalwörtern erfaßt;
auch diese sind also Stoffwörter.
Wir hätten oben bei der Darstellung des Satzes die Rede-
theile der Sprache zu entwickeln gehabt, oder hätten es weiter
unten zu thun. Dies würde uns aber weiter in das Einzelne
geführt haben, als hier unsere Absicht ist darauf einzugehen.
Wir setzen also die Redetheile hier voraus, und fragen nur, wie
sie sich zu Stoff und Form verhalten. Nun ist es aber gar keine
[363] Frage, daß Substantiva und Verba, wie auch Adjectiva und
Adverbia, Stoffelemente sind. Wie steht es aber mit dem Pro-
nomen?
Ich habe heute noch die Ansicht, die ich schon in den ein-
leitenden Bemerkungen zu meiner Schrift De pronomine relativo
ausgesprochen, daß die Pronomina Stoffwörter sind. Die Sache
ist mir zu wichtig — denn die Eintheilung der Sprachen in
formlose und Formsprachen, also der Kern der Classification der
Sprachen beruht hierauf — als daß ich nicht hier dabei ver-
weilen müßte.
Ich habe meine Ansicht aus Humboldt geschöpft, ein Um-
stand, dessen ich mir damals, als ich sie zuerst aussprach, gar
nicht bewußt war. Um dies Versehen wieder gut zu machen,
werde ich hier an Humboldt anknüpfen und die betreffenden
Stellen aus seiner Einleitung angeben. Sie finden sich nämlich
S. 332. (oder CCCXLVIII.), 275. (oder CCXCI.), wo bestimmt
das Pronomen von dem Personalzeichen am Verbum geschieden
wird. Nun sagt zwar Humboldt nicht, worin der Unterschied
liege, und doch gilt ihm derselbe für so groß und wichtig, daß
hierauf im Wesentlichsten die Reinheit und Vollkommenheit oder
Unreinheit und Unvollkommenheit der Sprachen beruht. Wir
glauben nun aber nicht bloß die Sache, sondern Humboldts Sinn,
sein sprachwissenschaftliches Gefühl zu deuten, indem wir an-
nehmen, daß die Pronomina ursprünglich Stoffwörter sind, die
Personalendungen dagegen formale Elemente. Daher haben alle
Sprachen, welche das Pronomen mit dem Particip verbinden,
z. B. statt amo nur ego amans sagen, wie alle hinterasiatische
Sprachen, das Tibetische, Mandschurische, Mongolische mit in-
begriffen, alle diese Sprachen, sage ich, haben keine Verbalfle-
xion, keine Formen, sind formlose Sprachen.
Was ist denn wohl für ein Unterschied zwischen amo
und ego amans? ist es denn so wesentlich, daß dort das Ele-
ment für ego mit der Verbalwurzel verbunden, hier von ihr ge-
trennt ist und für sich bleibt? Diese lautliche Beschaffenheit an
sich ist sehr gleichgültig, und auf solche Merkmale eine Clas-
sification der Sprachen gründen heißt auf Sand bauen. Wir
sagen „ich spreche“ in zwei völlig getrennten Wörtern, die aber
doch nur eine Verbalform und eine ganz reine Form bilden;
während jene Völker, und sprächen sie selbst eg⁀amans, immer
noch keine Form hätten; denn j’aime ist nicht reinere Form,
[364] als je parle. So wenig also je parle weniger vollkommene und
reine Form ist, als j’aime: so wenig würde auch ein mongoli-
sches, tibetisches u. s. w. eg⁀amans mehr Form sein, als ego
amans.
Nicht der Laut, sondern die innere Sprachform ist das Ent-
scheidende; denn sie ist es, die dem Laute seinen Werth, seine
Geltung und Bedeutung giebt: der Laut ist bloß Zeichen der
innern Sprachform. Der innere Unterschied aber zwischen ego
amans und amo besteht darin, daß uns dort ein Pronomen als
Subject neben einem Merkmalsworte, also zwei Stoffwörter ohne
formales Element gegeben sind; hier aber, in amo, ein Merkmal,
eine Thätigkeit, ausgedrückt durch ein Stoffwort, welches durch
seine Form in Beziehung zu einer Person gesetzt ist. Zwischen
Pronomen und Personalendung herrscht der Unterschied, daß
jenes eine wirkliche Person als ein materiales Wesen bedeutet:
ich heißt der hier jetzt sprechende Mensch, du heißt der hier
jetzt angeredete Mensch, er, sie, es das jetzt hier besprochene
Wesen; sind das nicht lauter Stoffelemente? Im Pronomen wird
also ein Stoff*), eine Person angeschaut, und zwar als redende,
angeredete oder besprochene unterschieden. Das Pronomen ist
ein abstractes Wort, ohne Zweifel. Ist aber Person, Rede,
Schönheit, Scharfsinn weniger abstract? Es sind abstracte Stoffe.
Das Pronomen hat zum Inhalt die Person und bezeichnet die-
selbe nach ihrem dreifach möglichen Bezuge zum Inhalt der Rede.
Die Personalendung aber bezeichnet nur diesen Bezug, und nicht
die Person, den Stoff selbst. Sie bezeichnet die Beziehung der
Thätigkeit auf die Persönlichkeit, oder sie drückt die persönli-
che Beziehung der Thätigkeit aus.
Für das instinctive Selbstbewußtsein ist jede Thätigkeit an
eine Person geknüpft, selbst wenn es diese Person nicht kennt,
wie in: es blitzt. Die Persönlichkeit, oder die Verknüpfung der
Thätigkeit mit derselben, ist also eine Form, die jeder Thätig-
keit, welche als wirklich gedacht wird, nothwendig zukommt;
eine Kategorie derselben, so nothwendig wie die Zeit. Und
diese Kategorie ist dreifach: erste, zweite und dritte Person.
Liegt in amo, amat ein Subject? Nein! denn es liegt nur
die Thätigkeit und ihre Beziehung auf ein Subject vor. Der
[365] Satz aber ist doch vollständig; denn das fehlende Subject wird
nothwendig hinzugedacht, da die Thätigkeit nur in Bezug auf
dasselbe ausgesprochen wird.
Wir fassen uns zusammen. Es sei eine Anschauung gege-
ben, z. B. die eines laufenden Hundes. Das instinctive Selbst-
bewußtsein tritt hinzu und erhebt diese Anschauung in das Ge-
biet der Vorstellung, indem es das Ding von dem Merkmal, der
Bewegung, scheidet, also aus der einen Anschauung zwei Vor-
stellungen bildet, welche aber im Satze wieder vereinigt wer-
den: der Hund läuft. Alle Sprachen stehen insofern auf der
Stufe der Vorstellung, daß sie die einheitliche Anschauung in
zwei Wörtern als Zeichen für zwei Vorstellungen auffassen.
Hiermit aber ist bloß der Stoff der Vorstellung bezeichnet, wie
ihn die Anschauung liefert. Das instinctive Selbstbewußtsein
erfaßt nun aber nicht bloß die Elemente, welche den Stoff der
Anschauung ausmachen, sondern auch die Beziehung dieser Ele-
mente auf einander. Der Hund wird also als Subject bezeich-
net und dadurch sogleich nicht absolut, sondern in Bezug auf
eine Thätigkeit vorgestellt; umgekehrt wird auch wieder die
Thätigkeit nicht absolut, sondern in Bezug auf das Subject als die
Person gesetzt. So sind beide Vorstellungen geformt. Aber
nicht im Geiste aller Völker hat das instinctive Selbstbewußt-
sein diese Macht gehabt, sowohl den Stoff der Anschauungen,
als auch die Form ihrer Elemente in der Vorstellung zu er-
fassen; und solche Völker und Sprachen haben wohl Prono-
mina, aber keine Personalendungen, also keine geformten Verba;
in Folge dessen auch keine geformten Substantiva, folglich keine
Form.
Man sieht also, daß die Formen der Sprache, der Wörter,
Formen der Vorstellung bezeichnen, daß diese aber weder lo-
gische Beziehungen der Begriffe, noch auch nur reale Beziehun-
gen der Dinge sind, sondern ein eigenthümliches Product des
instinctiven Selbstbewußtseins. Es ist eben darum auch gar
nicht unumgänglich nöthig, daß reale Beziehungen der Dinge
durch Beziehungen der Wörter bezeichnet werden; denn es kommt
erst noch darauf an, wie das instinctive Selbstbewußtsein die
gegebene Anschauung, z. B. eines A hinter einem B, auffaßt:
ob es nämlich überhaupt die reale Beziehung von A und B mit
in die Vorstellung aufnimmt, und selbst wenn es dies thut, ob
es die Beziehung der Dinge als eine Form derselben, oder als
[366] ein drittes Stoffelement der Anschauung vorstellt neben den bei-
den Dingen, welche zwei andere Stoffelemente der Anschauung
sind. So giebt es also Sprachen, welche die Anschauung „A
hinter B“ als drei Stoffelemente darstellen: „A Rücken B“, oder
in welcher Ordnung sie nun diese Elemente aufstellen mögen.
Solche Sprachen stellen die gegebene Form als Stoff dar, und
sind also formlose Sprachen.
Wie sehr sich aber abstracte Wörter den Formelementen
nähern, das zeigen die modernen sanskritischen Sprachen. Denn
unser deutsches „ich liebe“, sowie j’aime, I love u. s. w. sind
reine Formen, weil bei uns mit der fortschreitend abstractern
Ausbildung der Sprache die Pronomina endlich so sehr jeden
Stoff ihrer Bedeutung verloren haben, daß sie recht gut die Per-
sonalendungen verstärken oder völlig ersetzen konnten, sobald
die Formendungen der Wörter dem instinctiven Selbstbewußt-
sein nicht mehr klar genug waren. Dieses setzte also an die
Stelle der abgefallenen oder abgeschliffenen Personalendungen
die ausgehöhlten Pronomina. Und so sind denn unsere heutigen
Pronomina Formelemente, wenn nicht die hervorgehobene Be-
deutung ihnen ihren ursprünglichen materialen Werth zurück-
giebt. „Ich liebe den Wein“ hat kein Subject; „ich liebe
das Wasser“ hat eins. Vergl. Humboldt Einl. S. 290 (oder
CCCVI.).
Unsere Präpositionen endlich sind Formwörter, selbst wenn
sie ursprünglich Substantive waren; denn sie sind durch Ab-
straction zu Präpositionen geworden, gerade wie die Pronomina
zu Personalzeichen.
Der Unterschied der modernen sanskritischen Sprachen ge-
gen die alten beruht vorzüglich auf dem Ersatz der Formen
durch Formwörter. Diese Erscheinung ist längst beachtet und
vielfach besprochen worden, vielleicht aber doch noch nicht in
ihrem ganzen Umfange gewürdigt. Ich meine nämlich, daß
hierher auch diejenigen Fälle zu zählen sind, wo z. B. im Grie-
chischen ein bloßer Artikel, ein Pronomen demonstrativum, ein
Adjectivum genügt, während wir immer noch ein abstractes Sub-
stantivum hinzufügen müssen. Man nehme z. B. den Anfang
der Demosthenischen Rede De corona. Dort liest man: …
εὔχομαι … ὅπεϱ ἐστὶ μάλισϑ᾽ ὑπὲϱ ὑμῶν … τοῦτο (einen sol-
[367] chen Entschluß) παϱαστῆσαι τοὺς ϑεοὺς ὑμῖν, μὴ τὸν ἀντίδικον
σύμβουλον ποιήσασϑαι πεϱὶ τοῦ (die Weise) πῶς ἀκούειν ὑμᾶς
ἐμοῦ δεῖ, σχέτλιον γὰϱ ἄν εἴη τοῦτό γε (ein solches Betragen),
ἀλλὰ τοὺς νόμους καὶ τὸν ὅϱκον, ἐν ᾧ πϱὸς ἅπασι τοῖς ἄλλοις
δικαίοις (gerechte Anordnungen) καὶ τοῦτο γέγϱαπται κ. τ. λ.
Dieses Beispiel zeigt wohl klar, was ich meine. Das Wort
„Weise“, wofür der Grieche im Obigen seinen einfachen Artikel
setzt, ist ja auch schon in andern Fällen bei uns ganz zur Ad-
verbialendung geworden: vorzugsweise, glücklicherweise, natür-
licherweise, ganz wie das lateinische mente in den romanischen
Sprachen Adverbia bildet. Unser ganzer Geist, verglichen mit
dem griechischen, zeigt Mangel an Sinn für Form und Uebung
in Abstractionen.
Wie also überhaupt die innere Sprachform nicht die An-
schauung, wie sie gegeben ist, aufnimmt, sondern nur so viel
und gerade das, was das subjective Selbstbewußtsein vorstellt:
eben so tritt auch durchaus nicht mehr und nur die Form in
die Sprache ein, welche das instinctive Selbstbewußtsein bildet,
indem es die Anschauung analysirt und in den Kreis der Vor-
stellung erhebt. — Ferner: ursprüngliche Formsprachen können
abstracte Stoffwörter zur Bezeichnung der Form verwenden und
erhalten dadurch eine oberflächliche Aehnlichkeit mit form-
losen Sprachen. Diese nämlich bezeichnen Formverhältnisse durch
wirkliche Stoffwörter, schauen also die Form als Stoff an.
β) Copula.
Man versteht jetzt unter Copula gewöhnlich die prädicative
Aussage überhaupt. Das scheint mir zu weit und zu eng. Man
sollte diese Benennung lediglich auf das Aussagewort sein, ist,
beschränken, welches richtig als Formwort aufgefaßt worden
ist und als völlig gleich mit den Endungen der Verba. Ande-
rerseits aber hat man den Begriff der Aussage zu eng gefaßt,
wenn man sie auf das Prädicat allein beschränkt. Aussage, Syn-
thesis, sehe ich überall, wo eine Form in der Sprache auftritt.
Ich nehme also auch eine attributive Aussage und eine objective
an, jene in der Flexion des Attributes, diese in der des Objects.
Man könnte auch recht wohl von einer attributiven Copula spre-
chen; diese ist nämlich das Pronomen relativum, welches in vie-
len Sprachen auch beim einfachen Adjectivum und beim Geni-
[368] tiv auftritt. Die Präposition und Conjunction ist die Copula
des objectiven Verhältnisses. Also jedes Satzverhältniß
enthält eine Aussage, und jedes Formwort, welches
die Stelle der Flexion vertritt, ist eine Copula. Folg-
lich ist auch unser modernes persönliches Pronomen, da es bloß
zur Flexion dient, eine prädicative Copula, so gut wie ist: nur
daß ist neben dem prädicativen Adjectivum, das Pronomen ne-
ben dem Verbum steht.
Formwörter beziehen sich allemal auf die beiden Redetheile,
welche sie in Beziehung zu einander setzen, zugleich — ganz
natürlich: das liegt im Begriffe der Beziehung. Die Präposition
gehört zum Verbum und zum Object, ist und das persönliche
Fürwort zum gedachten Subject und zum Prädicat zugleich.
Wird die Aussage durch Flexion ausgedrückt, so liegt sie eben-
falls nicht einseitig in der Flexion des einen Redetheils, sondern
beider. Das prädicative Verhältniß liegt in der Verbalflexion
und der Nominativendung; die objective Aussage zugleich in
der activen Verbalflexion und dem Object. Ganz consequent
führt dies die Sprache nicht durch, besonders nicht im objecti-
ven und attributiven Verhältnisse, welche sich vielfach mischen.
Nur in dem wichtigsten Verhältnisse, dem prädicativen, ist die
doppelseitige Bezeichnung klar. Jedoch tritt hier der Umstand
ein, daß die Nominativendung bald abfällt.
Von hier aus könnte man nun die ganze Grammatik durch-
gehen. Ich werde aber nur einen Punkt hervorheben, den In-
finitiv.
Im Infinitiv nichts weiter als ein Substantivum sehen, ist
durchaus falsch. Auf diese Ansicht will ich nicht näher einge-
hen; sondern mich sogleich zu Humboldt wenden. In seinem
letzten großen Werke hat Humboldt nicht vom Infinitiv gespro-
chen. Neuerdings ist aber ein Brief von ihm, der vorzüglich
den Infinitiv betrifft, veröffentlicht worden in: Aufrecht und
Kuhn, Zeitschr. f. vergl. Sprachforschung II, 4. Dieser Brief
stammt aus dem Jahre 1826. Alle Schriften Humboldts aber
vor dem großen Werke können nicht als Darstellung seiner vol-
len wahren Ansicht gelten; und so dürfte Humboldt leicht, wäre
er später auf den Infinitiv zurückgekommen, die Sache vollstän-
diger erfaßt haben.
[369]
In dem genannten Briefe sieht Humboldt im Infinitiv „die
Darstellung des reinen Bewegens in der Zeit“. Der Infinitiv
habe also dieselbe Bedeutung wie die Wurzel, und die Endung
desselben habe weiter keinen Werth als den, jede andere En-
dung auszuschließen, da eine bloße Wurzel in den flectirenden
Sprachen nicht auftreten darf. Er ist also das Verbum an sich,
reiner Ausdruck der Energie, der Bewegung. Dies wäre ei-
gentlich „ein vorgrammatischer Zustand“ des Verbums, und ge-
rade diesen würde die Infinitiv-Endung bezeichnen. Humboldt
nennt den Infinitiv „eine bloße, allgemeine und vage ausgedrückte
Wahrnehmung. Hitze ist ein Abstractum, heißes Eisen zusam-
menzufügen, ist schon bestimmte Sprechart, aber Eisen heiß zu
sagen, ist der unmittelbare und unverbundene Ausdruck der
Wahrnehmung. Wie nun da heiß steht, so scheint mir (Hum-
boldt) der Infinitiv zu sein“ d. h. wesentlich nichts anderes als
„Wurzel“, „Stoff“, aus dem die übrigen Verbalformen werden.
Ich kann allem dem nicht beipflichten. Als wahr aber müs-
sen wir in Humboldts Ansicht eins anerkennen — und davon
wollen wir ausgehen —, daß der Infinitiv „die ganze Verbal-
natur beibehält“, folglich „streng zum Verbum zu rechnen“ und
„als etwas vom Attributivum und Substantivum verschiedenes
anzusehen“ ist. Die Schwierigkeit scheint mir in der That nur
damit zu beginnen, daß wir fragen: was ist „die ganze Ver-
balnatur“? Denn etwas Nominales ist genau genommen ganz
und gar nicht im Infinitiv. Niemand, denke ich, wenn er sagt:
ich will essen, ich sehe blitzen; fühlt hier im Infinitiv auch nur
eine Spur von nominalem Wesen. Der Deutsche konnte sich
rücksichtlich des Infinitivs leicht täuschen. Unsere Sprache neigt
zu Abstractionen, und die Substantiva sind den Abstractionen
günstiger, als die Verba, in denen eine sinnlichere Natur liegt.
Jedes Substantivum ist schon ein Abstractum, da es einen Art-
begriff, ein Allgemeines, ein Ding an sich bezeichnet; die Natur
des Verbums besteht gerade im Gegentheil darin, dieses Ab-
stractum des Subjects in die unmittelbare Wirklichkeit zu ver-
setzen. Der Infinitiv aber bietet sich mit Hülfe des Artikels
leicht zur Abstraction dar, und der Deutsche hat davon einen
so reichlichen Gebrauch gemacht, daß er viel von der leben-
digen verbalen Natur des Infinitivs aus seinem Sprachgefühl ver-
loren hat. Im Französischen und noch mehr im Englischen hat
sich der Infinitiv viel kräftiger erhalten. Indessen Sätze, wie
24
[370] die oben angeführten, lassen auch uns in unserer Sprache die
volle verbale Lebendigkeit des Infinitivs fühlen.
Worin liegt nun also diese ganze Verbalnatur? Man irrt
vollkommen, wenn man meint, in der Wurzel an sich liege auch
nur im mindesten etwas von verbaler Natur. Die Wurzel des
Verbums laufen bedeutet zwar eine Thätigkeit oder Bewegung.
Dies macht aber gar nicht die Verbalnatur aus. Die Wörter:
Zweifel, Bewegung, Vorgang, Rede, Anziehung, Theilung, Fluß,
Fall, das Sinken und Steigen, Lauf, Tanz, Schlaf, Hunger und
Durst u. s. w. u. s. w. bezeichnen Vorgänge als vorgehend, Zu-
stände als seiend und sind darum doch noch keine Verba. Die
Wurzel von laufen ist also die Indifferenz von laufen, Lauf,
Läufer, laufend, läuft, läufig, welche alle Thätigkeit und Bewe-
gung ausdrücken. Die Wurzel von laufen ist ein Wort, wenn
auch noch kein vollkommenes; sie bezeichnet wenigstens keine
ganze Anschauung, sondern nur einen Theil davon, z. B. von
der Anschauung eines laufenden Hundes. Diese Theilanschauung
ist der Stoff einer Vorstellung. Die Form aber fehlt noch gänz-
lich. Darum hat die chinesische Sprache, welche bloß Wur-
zeln hat, keine Form. Der Unterschied zwischen Nomen und
Verbum aber ist ein rein formaler und ist mit der Wurzel noch
gar nicht gegeben. Die Wurzel wird also bloß durch die Form
zum Nomen oder Verbum. Folglich hat die chinesische Spra-
che, die keine Form hat, kein Verbum, folglich keinen Infinitiv;
und eben so wenig sind die Sanskritischen Wurzeln Infinitive,
und die Infinitive bloß als Wörter bezeichnete Wurzeln; denn
sie sind ja volle Verbalformen. Sie bezeichnen also auch nicht
bloß „das reine Bewegen in der Zeit“ und sind nicht „bloße,
allgemeine und vage ausgedrückte Wahrnehmungen“; die Wur-
zeln sind dies allerdings, die Infinitive aber sind Verbalformen.
Was gehört denn nun aber zur Verbalnatur? Erstlich
und vorzüglich Personal-Beziehung; d. h. daß die Thätig-
keit ausgesagt werde als Thätigkeit der redenden oder angere-
deten oder besprochenen Person. Hieraus ergiebt sich nun zwei-
tens, daß die Thätigkeit dargestellt wird als die unmittelbar
aus der Person fließende „energische Kraftäußerung“. Der Satz:
die Rose blüht sagt nicht aus, man urtheile dem Begriffe Rose
den Begriff blühen zu; sondern er stellt die Thätigkeit des Blü-
hens als die Energie der Rose dar, reißt aber damit zugleich
unsere Vorstellung Rose heraus aus der Abstraction, wie wir
[371] sie im Kopfe tragen, versetzt sie in die Wirklichkeit hinein,
stellt sie unserm instinctiven Selbstbewußtsein zur Anschauung
vor, als die gemäß ihrer Energie blühende. Wenn Herbart,
wie wie oben (S. 171) sahen, bemerkt: „in dem Urtheile: diese
Begebenheit ist erfreulich“ (oder gar: erfreut mich sehr) „wird
niemand die Eigenschaft zu erfreuen für eine zum Ereignisse
selbst gehörige, ihm eigentlich inhärirende Bestimmung“ (oder
aus ihm fließende energische Handlung) „halten, da sich die-
selbe bloß auf subjective Gefühle bezieht“: so antworten wir,
daß dies kein Logiker und Metaphysiker thun wird; das in-
stinctive oder vorstellende oder sprachliche Selbstbewußtsein aber
thut es allerdings; es belebt im Verbum jedes Subject und theilt
ihm handelnde Kraft zu. Hieraus ergiebt sich drittens, daß
das Verbum, und zwar es allein, energisch genug ist, um die
prädicative Aussage zu enthalten und den Satz zu bilden.
Messen wir hieran den Infinitiv und die Participien und Ge-
rundien: so fehlt ihnen, um mit dem scheinbar Zweifellosen zu
beginnen, das dritte Merkmal: sie enthalten die prädicative Aus-
sage nicht. Gleichwohl, und das ist mindestens eben so sicher,
fehlt es ihnen nicht an der vollen verbalen Energie. Nun be-
haupte ich aber, und dieser Punkt entscheidet, daß ihnen die
Personalbeziehung nicht fehlt. Sie liegt in ihnen nur versteckt,
weil in einer andern Form, als im Verbum finitum: in diesem
nämlich liegt sie in finiter, bestimmter Weise, d. h. bestimmt als
erste oder zweite oder dritte Person, im Infinitiv aber und den
Participien und Gerundien in infiniter, unbestimmter Weise als
Beziehung auf Persönlichkeit überhaupt, gleichgültig dagegen,
ob es die erste, zweite oder dritte Person ist. Daher kann der
Infinitiv nur da stehen, wo keine Zweideutigkeit Statt hat, kein
Zweifel darüber möglich ist, auf welche Person er sich beziehe.
Ich will essen bedeutet also volo ut comedam. Der Infinitiv
drückt energisch die Personalbeziehung aus; und weil es sich
von selbst versteht, daß die Person, auf welche er sich bezieht,
im Beispiele die erste ist, so genügt er vollkommen. Soll aber
gesagt werden volo ut comedas, comedat, so kann nicht gesagt
werden: ich will essen, weil eben nicht zu ersehen wäre, auf
welche Person sich der Infinitiv beziehen solle.
Der Infinitiv steht daher in substantivischen Nebensätzen,
wenn sie dasselbe Subject wie der Hauptsatz haben: ich fürchte
zu fallen; ich fürchte, daß du fällst. Hier ist sicherlich zu
24*
[372]fallen nicht weniger verbaler Natur als: daß du fällst. Umge-
kehrt: du fürchtest zu fallen; du fürchtest, daß ich falle. Hieran
schließt sich der Accusativus cum Infinitivo, wo sogar bei ver-
ändertem Subjecte das Verbum im Infinitiv steht, weil die Per-
sonalbeziehung durch den dabei stehenden Accusativ zweifellos
gemacht wird. Ich sehe daher nicht im mindesten ein, mit
welchem Rechte behauptet worden ist: „Wenn ich sage: ich
sehe den Menschen gehen“ (hier fühlen auch wir noch lebendig
den Accusativ cum inf.) „sondere ich allerdings das Merkmal
des Gehens an dem Menschen ab“. Hier wird „gehen“ nicht
mehr von „den Menschen“ abgesondert, als wenn ich sage: der
Mensch geht; es wird nämlich nur insofern abgesondert, als es
eine aus der Totalität der Anschauung des gehenden Menschen
abgelöste Vorstellung ist. Diese Absonderung ist nothwendig;
denn auf ihr beruht der Proceß der Bildung der Vorstellung,
also der Sprache selbst. Die Absonderung wird aber nur ge-
setzt, um sogleich wieder aufgehoben zu werden; dies geschieht
in geht durch die bestimmte Personalbeziehung, in gehen durch
die zwar unbestimmte, aber darum nicht minder kräftige, Per-
sonalbeziehung. Der Accusativ c. inf. läßt sich als Attraction
auffassen. Ich sehe den Menschen gehen bedeutet ganz dasselbe,
wie: ich sehe das: der Mensch geht (ich sehe, daß der Mensch
geht); statt des Accusativs das setzt man das Subject des er-
klärenden Satzes in den Accusativ. Hierdurch verliert der er-
klärende Satz seine Selbständigkeit; er wird in den Hauptsatz
hineingezogen. Folglich muß sein Verbum, sein Prädicat seine
satzbildende Kraft verlieren, aber nicht seine prädicative; dies
wird erreicht, indem die finite Personalbeziehung in die infinite
verwandelt wird.
Selbst in den Fällen, wo der Infinitiv als Subject steht,
wie: irren ist menschlich ist der Infinitiv verbal und nicht no-
minal; denn hier bezieht sich der Infinitiv auf die allgemeine
Person man, und ist ein Satzverhältniß oder ein abgekürzter
Satz, gleich: daß man irrt. Man vergleiche: irren ist mensch-
lich mit: der Irrthum ist menschlich.
Die Bedeutung des Infinitivs läge also darin: mit voller
verbaler Energie begabt zu sein, zwar nicht finite, aber doch
infinite Personalbeziehung zu bezeichnen, zwar nicht satzbildende,
aber dennoch prädicative Kraft zu haben. Er ist mithin durch-
aus verbal, und vorzüglich geeignet, abhängige, unselbständige
[373] Sätze zu bilden, Zwitterdinge zwischen Sätzen und Satzverhält-
nissen. Die unbestimmte Personalbeziehung aber verwischt sich
leicht; tritt noch der Artikel hinzu, so schwindet sie gänzlich
und damit die ganze verbale Natur, und es bleibt bloß die Be-
deutung der Wurzel, die Thätigkeit als abstractes Substan-
tivum.
Die Participia sind nicht minder rein verbal, aber ebenfalls
nur mit infiniter Personalbeziehung; jedoch ist das Participium
dadurch vom Infinitiv geschieden, daß es nicht prädicative, son-
dern nur noch attributive Kraft hat; vom Adjectivum aber hin-
wiederum durch seine verbale Energie. Die Gerundia endlich
und die absoluten Participien im Genitiv oder Ablativ, ebenfalls
mit infiniter Personalbeziehung, bezeichnen die objective Aus-
sage, aber energischer, als bloße Adverbia. Participia und Ge-
rundia verhalten sich zum attributiven Adjectivum und objecti-
ven Adverbium, wie das Verbum finitum zum prädicativen Ad-
jectivum mit ist.
Die verbale Kraft des Infinitivs ist also zwar rein, aber
schwächer, als die der finiten Formen; immer noch rein, aber
noch schwächer, als im Infinitiv, ist die Verbalkraft im Parti-
cipium und Gerundium; denn jener konnte noch ein Prädicat,
diese können nur ein Attribut und ein Object darstellen. Aber
auch in den letztern ist die verbale Energie noch so groß, daß
sie nicht ein einfaches Satzverhältniß, sondern einen untergeord-
neten, vom Hautptsatze attrahirten Nebensatz darstellen.*).
C. Verschiedenheit der Sprachen.
Wir haben versucht, die Sprache überhaupt entstehen zu
sehen, in ihrem Entstehen ihr Wesen und Wirken zu erkennen,
aus ihrem Wesen die Principien der Grammatik abzuleiten, und
nach diesen Principien einige Hauptpunkte derselben zu ergrün-
[374] den. Bei letzterer Gelegenheit war es schon nicht mehr mög-
lich, von der Verschiedenheit der Sprachen abzusehen. Die Na-
tur dieser Verschiedenheit haben wir uns jetzt klarer zu machen.
1. Grund der Sprachverschiedenheit.
Zuerst fragt es sich: worin liegt die Verschiedenheit der
Sprachen? und wie ist sie möglich? bei der Einheit der mensch-
lichen Natur und des menschlichen Geistes!
Sie liegt sowohl in den einzelnen Lauten und der Weise
ihrer Aneinanderreihung, also in der Lautform an sich, als auch
in der innern Sprachform an sich, und auch in der Verbindung
dieser mit jener, so daß dieselbe Vorstellung in den verschie-
denen Sprachen verschiedene lautliche Bezeichnung findet.
§. 132. Verschiedenheit in der Lautseite der Sprachen.
Was zuerst die verschiedene Erzeugung der Laute betrifft,
so ist offenbar, daß die eine Sprache Laute hat, die der andern
ganz fehlen, und umgekehrt. Streng genommen aber läßt sich
geradezu behaupten, daß keine Sprache auch nur einen Laut
mit der andern wirklich und vollkommen gemein hat. Man ver-
gleiche z. B. das französische und englische Alphabet: jeder
Consonant und jeder Vocal der einen Sprache lautet anders, als
der entsprechende der andern. Valentin (Grundriß der Physio-
logie des Menschen, §. 1428) sagt: „Die physiologische Prüfung
der einzelnen Laute in den verschiedenen Sprachen und Dialek-
ten kann viele Fragen der vergleichenden Sprachkunde aufklä-
ren … Jeder Dialekt beruht auf einer eigenthümlichen Einstel-
lung, auf einer besondern Erziehung der Sprachwerkzeuge. Es
erklärt sich hieraus, weshalb gewisse Reihen von Lauten eigen-
thümlicher klingen oder nicht, warum eine bestimmte fremde
Sprache von den Angehörigen des einen Landes leichter und
besser, als von denen eines andern gesprochen wird, aus wel-
chem Grunde einzelne Accente der Muttersprache nachklingen.
Solche physiologische Betrachtungen erläutern häufig die Schick-
sale, denen dasselbe Wurzelwort im Laufe der Zeiten oder in
verschiedenen verwandten Sprachen unterworfen wurde, und
selbst manche Verhältnisse der Quantität oder Metrik in über-
raschender Weise.“
Ich sollte meinen, nicht bloß die „eigenthümliche Einstel-
lung der Sprachwerkzeuge“, sondern auch ihre Form müsse bei
[375] verschiedenen Völkern verschieden sein, und beide müssen sich
wechselseitig bestimmen. Wie nicht bloß die Gesichtszüge des
Engländers, sondern auch die ganze Form des englischen Kopfes
etwas Eigenthümliches hat, ebenso müssen auch seine Sprach-
organe in entsprechender Weise eigenthümlich gebildet sein. Nun
weiß man auch, wie eine gewohnte Arbeit die Entwickelung der
Glieder, die bei derselben vorzüglich beschäftigt sind, in auffal-
lender Weise bestimmt und diese Glieder besonders formt. Ein
englisches Kind also, das im ersten Lebensjahre nach Frank-
reich gebracht würde und die französische Sprache als Mutter-
sprache erlernte, und ein anderes, das in Rußland russisch lernte,
müßten beide ganz anders entwickelte und geformte Sprachor-
gane bekommen, als die Engländer, aber auch andere, als die
Franzosen und Russen, und jedes müßte andere Organe haben,
als das andere. Meßbar freilich, anatomisch bestimmbar, mö-
gen diese Verschiedenheiten nicht sein. Kann man aber einen
mongolischen und einen europäischen Kopf ansehen und meinen,
sie hätten nicht verschiedene Sprachorgane? Die Sprachen er-
scheinen lautlich immer noch ähnlicher, als man nach kraniolo-
gischen Verschiedenheiten vermuthen dürfte.
Daß dieselben Wahrnehmungen sich bei den verschiedenen
Völkern in verschiedenen Lauten reflectiren, kann eben so we-
nig Wunder nehmen, als daß der Zorn und jeder andere Affect,
jede Leidenschaft, sich auf verschiedenen Gesichtern doch ganz
verschieden offenbart, und bei den Menschen verschiedene pa-
thologische Erfolge hat. Den Einen treibt der Zorn zum To-
ben; dem Andern benimmt er den Athem, daß er nicht spre-
chen kann; dem Dritten erregt er einen Erguß der Galle. Kurz
alles Leiden des Leibes in Folge von Seelenerregungen zeigt
sich so mannigfach gestaltet je nach der individuellen Constitu-
tion des Leibes, daß die Verschiedenheit der Lautreflexe auf
dieselben Wahrnehmungen bei verschiedenen Völkern nicht auf-
fallen kann.
§. 133. Verschiedenheit in der innern Sprachform.
Der wesentlichste Punkt der Sprachverschiedenheit beruht
auf der innern Sprachform, auf der Weise, wie das instinctive
Selbstbewußtsein die Anschauungen sich aneignet und in Vor-
stellungen umsetzt.
Wir haben oben die Sprache mit der sogenannten angebore-
nen Idee, d. h. den allgemeinen Kategorien der geistigen Thä-
[376] tigkeit, zusammengestellt. Dies ist auch rücksichtlich des all-
gemeinsten Punktes, auf dem die Sprache beruht, nämlich des
Wandels der Anschauung in die Vorstellung, durchaus richtig.
Ueber diesen Punkt hinaus aber bricht ein Unterschied hervor.
Man vergesse nicht, daß die Vorstellung ein Doppeltes in
sich schließt; denn sie ist die durch eine sprachliche Anschauung
dargestellte Anschauung. Die sprachliche Anschauung ist Mit-
tel; die durch dieses Mittel dargestellte Anschauung ist der In-
halt und die eigentliche Sache der Vorstellung. Nennen wir
nun diese Anschauung des Inhaltes vorzugsweise Vorstellung,
so müssen wir sagen, daß es zwar für die Klarheit und voll-
kommene Entwickelung der Vorstellung zum Begriffe höchst
förderlich ist, wenn sie von einer parallel laufenden Entwicke-
lung des sprachlichen Mittels, der innern Sprachform, begleitet
wird; ja nach dem Einflusse, den die Sprache auf das Denken
ausübt, wie wir ihn oben kennen gelernt haben, dürfen wir sicher
behaupten, die Vorstellung, wenn sie nicht so weit von der in-
nern Sprachform begleitet wird, als dies möglich ist, wird nie
zu einer gewissen Höhe des Begriffs gelangen; aber es ist doch
mit diesem Vortheil, welchen die Vorstellung für ihre Entwicke-
lung aus der des Mittels ihrer Darstellung zieht, noch nicht ge-
geben, daß die Entwickelung des einen Elements nothwendig
eben so vor sich gehen müsse, wie die des andern. Die Vor-
stellung entwickelt sich nothwendig in Bahnen, nach Formen
und Gesetzen, die ganz unabänderlich und unausweichlich sind.
Die drei Dimensionen des Raumes, die einfache Ausdehnung der
Zeit, die Zahlenreihe, und alles was man Kategorien nennt, das
Ding mit seinen Eigenschaften, Ruhe und Bewegung, Sein und
Werden, Veränderung: das sind solche Formen geistiger Thä-
tigkeit, welche die Natur des Geistes constituiren, von denen
sich die Seele nicht losmachen kann, Organe und Gefäße des
Geistes. Hiervon aber ist die wirkliche Thätigkeit des Geistes,
das wirkliche Denken verschieden. Jene Formen sind allerdings
der Seele nicht eingeboren, es sind nicht ihr anerschaffene Or-
gane; sie haben sich selbst erst durch die Thätigkeit des Gei-
stes gebildet. Aber nicht nur sind sie nothwendig der Seele
entsprungen, und sind in allen Menschen unabänderlich diesel-
ben, unserer Willkür völlig entzogen; sondern sie bilden sich
auch bewußtlos aus und bleiben von dem größten Theile der
Menschen unbeachtet. Nur die philosophische Bildung richtet
[377] die Aufmerksamkeit auf jene Kategorien, obwohl dieselben in je-
dem Augenblicke des Denkens wirklich thätig sind: gerade wie
die Gesetze des Blutumlaufes wirken, ohne daß sich der Mensch
dessen bewußt wird, wenn er nicht Physiologie studirt. Jene
Kategorien wirken also im Denken, wie die Gesetze in der Na-
tur, unbekümmert darum, ob man ihrer bewußt wird. Sie sind
mithin der Weise ihrer Entstehung und Existenz nach von al-
lem sonstigen Inhalte des Geistes verschieden. Denn ob der
Geist diese oder jene Kenntniß oder Vorstellung hat, hängt
nicht von ihm selbst ab; die Kenntnisse werden ihm von außen
gegeben: jene Kategorien aber werden ihm nicht gegeben; son-
dern er bildet sie aus, indem er Vorstellungen bildet, sie seien,
welche sie wollen, auf diesen oder jenen Theil der Welt be-
züglich, wahr oder falsch. Die Kategorien sind darum auch
ihrem Inhalte nach und in ihrem Verhältnisse zu den wirklichen
Gedanken ganz eigener Art. Wie der Strom sich selbst sein
Bett wühlt, so graben die Vorstellungen, welche der Geist faßt,
in der Seele Bahnen, in denen sich die folgenden Vorstellungen
ebenfalls weiter wälzen. Für das Bett ist es gleichgültig, ob
das darin fließende Wasser aufgelösten Kalk oder Eisen ent-
hält, oder ob es gar von flüssiger Lava ausgefüllt wird: solch
ein Bett sind die Formen des Geistes. Sie bezeichnen nur Ver-
hältnisse, deren Factoren die Wirklichkeit und das materiale
Denken liefert; sie entspringen mit und an dem materialen Den-
ken, wie Spuren, welche dieses auf seinem Wege zurückläßt.
Ding und Eigenschaft z. B. sind zwei leere Plätze, die in Be-
ziehung zu einander stehen, die aber erst durch das materiale
Denken ausgefüllt werden müssen.
Für uns ist es vorzüglich wichtig dies festzuhalten, daß
diese Kategorien-Spuren, welche sich beim Denken durch das-
selbe bilden, durchaus bewußtlos entstehen. Millionen Menschen
unterscheiden fortwährend Dinge und Eigenschaften, ohne die
Kategorien hiervon, Substanz und Attribut, im Bewußtsein zu
haben. Das Kind, der Wilde urtheilt schon nach causalem Zu-
sammenhange, ohne Bewußtsein über die Kategorie der Ursache.
Diese Kategorien, Substanz, Ursache, leben also im Geiste des
Wilden, sind energisch in ihm, werden ihm aber nicht bewußt.
Wie könnte also die Entstehung dieser Kategorien von seinem
Bewußtsein abhängen? sie entstehen von selbst mit und an dem
Denken in nothwendiger Weise.
[378]
Diese Kategorien gehören aber nicht der Sprache; denn sie
gehören der Vorstellung, an der sie sich blind entwickeln, nicht
der innern Sprachform; sie sind ein Product des geistigen In-
stincts. Die innere Sprachform aber ist instinctives Selbstbe-
wußtsein; nicht die ganze Vorstellung liegt in ihr, sondern nur
so viel, als das instinctive Selbstbewußtsein von der materialen
Anschauung erfaßt, und nur in der Weise, wie dies geschieht.
Vorstellung oder materiale Anschauung und innere Sprachform
stehen also unter ganz verschiedenen Gesetzen der Entwicke-
lung: jene schafft sich ihre Bahnen und Formen mit unausweich-
barer und unabänderlicher Nothwendigkeit, im blinden Drange;
die innere Sprachform entwickelt, in einem Analogon von Selbst-
bewußtsein, sich selbst ihre Formen, wie sie dieselben an der
Anschauung aufzufassen versteht.
Das instinctive Selbstbewußtsein ist also instinctive Frei-
heit, ist Subjectivität, d. h. eine subjective Auffassung des Ob-
jectiven; und somit ist die Möglichkeit zu der größten Verschie-
denheit ihres Erzeugnisses, der innern Sprachform, gegeben.
Diese wird bald gewisse Formen besitzen, bald nicht, bald sol-
che und bald andere.
§. 134. Tießter Grund der Sprachverschiedenheit.
Diese Verschiedenheit des instinctiven Selbstbewußtseins
kann aber nicht unbedingt sein; sie muß, so zu sagen, ihren
genügenden Grund haben. Dieser ist ein doppelter: er liegt
ursprünglich und am tiefsten in der geistigen Organisation der
Völker, und dann auch in der Eigenthümlichkeit der Sprachor-
gane und der Weise, wie diese die Anschauung reflectiren. Zu-
nächst, auf der ursprünglichsten onomatopoetischen Stufe fällt
die innere Sprachform mit dem Laute zusammen; das instinctive
Selbstbewußtsein erwacht in und an dem reflectirten Laute. Was
im Laute liegt, das ist der erste Inhalt des Selbstbewußtseins.
Dann trennt sich die Entwickelung beider, aber doch nicht so,
daß dadurch die engste Wechselwirkung zwischen beiden aus-
geschlossen würde. Sie bestimmen sich gegenseitig, so lange
sie sich bilden, und dieses Bilden hört genau genommen nie auf.
Ueber diesen Zusammenhang der Verschiedenheit der Sprachen
mit der der Völker selbst, wird unten noch einiges gesagt
werden.
[379]
2. Organismus, Princip und Individualität der Sprache.
§. 135.
Man wird uns fragen, ob wir die Sprache einen Organis-
mus nennen wollen? — Was soll uns aber, frage ich, ein Wort,
das auf seinem einheimischen Boden niemals einen klaren Sinn
gehabt hat und schon seit langer Zeit alle Bedeutung mehr und
mehr zu verlieren droht? Doch sehen wir davon ab, welchen
Sinn kann für uns das Wort organisch haben? Es kann nicht
bestehen ohne seinen Gegensatz, das Unorganische; und wo
läge für die Sprache ein solcher Gegensatz?
Das Wort organisch könnte für uns nur einen übertragenen
Sinn haben; denn die Sprache gehört wesentlich dem Geiste,
ist ein geistiges Erzeugniß. Eine rein natürliche Bedeutung
könnte es sicherlich nicht haben. Soll es uns nun andeuten,
daß der Ursprung der Sprache in dem nothwendigen Gange
der geistigen Entwickelung liegt? und noch specieller, im Zu-
sammenhange von Seele und Leib? Man gestatte mir die Hoff-
nung oder, wenn man will, die Einbildung, daß ich diese Punkte
viel bestimmter erfaßt und gründlicher erörtert habe, als das
Wort organisch auszudrücken vermag, und sie zugleich von al-
len Schiefheiten und Uebertreibungen gereinigt habe, zu denen
dasselbe veranlaßt hatte. Dies Wort hat seine Epoche aus-
gelebt.
In einer andern Beziehung könnte uns das Wort Organis-
mus wichtiger werden, als es für Becker war, der die Indivi-
dualität der Sprachen nicht zu erfassen vermochte, weil er nicht
einmal ihre Verschiedenheit begriff. Indem wir nun hier von
der Verschiedenheit der Sprachen reden, müssen wir eben be-
merken, daß jede Sprache als eine vom instinctiven Selbst-
bewußtsein gebildete Anschauung der äußern und
innern Welt des Menschen anzusehen ist. Dieser instinc-
tiven Welt- und Selbstanschauung liegt aber ein individuelles
Princip zu Grunde; sie ist ein zusammenhängendes System, des-
sen Theile alle einen gemeinsamen Typus tragen, der ihnen von
dem Principe aufgeprägt ist, dessen Entwickelung sie sind. Durch
diesen gemeinsamen Charakter geben sie sich kund als aus dem-
selben Quell entsprungen und zu demselben Ziele wirkend, und
dieser Quell und dieses Ziel ist eben ihr Princip. Diese in je-
der Sprache liegende Einheit, welche daher rührt, daß das Ganze
[380] die Theile bestimmt, und jeder Theil als bestimmtes, besonde-
res Glied des Ganzen charakterisirt ist, könnten wir mit dem
Worte Organismus bezeichnen. Doch wozu? die gebrauchten
Wörter tragen eine geistigere Bedeutung in sich; und so ziehen
wir es vor, jede Sprache ein aus einem einheitlichen Principe
geflossenes System, ein individuelles geistiges Gebilde, zu nen-
nen. Der Grund aber dieser Einheit und Individualität der Spra-
chen liegt in der Eigenthümlichkeit des Volksgeistes. Wir ha-
ben schon im ersten Theile dieses Buches gezeigt, wie wir hier-
mit ganz im Sinne Humboldts verfahren.
Die individuelle Einheit, das besondere Princip jeder Sprache
ist nach drei Seiten darzustellen: nach der Seite des Lautes an
sich, der innern Form an sich, und des Verhältnisses beider zu
einander. So liegt z. B. das Individuelle der semitischen Spra-
chen schon in ihrem Alphabete und in der Verknüpfung der
Laute. Vielleicht geschieht es ausschließlich in diesen Spra-
chen, daß man Lautverbindungen wie tk, tp, kp im Anlaute des
Wortes bildet. Ferner ist die innere Form dieser Sprachen
durchaus individuell, und eben so ist es drittens die Weise, wie
die innere Form durch die Lautform ihre Bezeichnung findet,
wobei namentlich der Unterschied zwischen der Verwendung der
Vocale und der der Consonanten eine so auffallende Erschei-
nung darbietet. Höchst wichtig ist nun bei dem Princip der
Sprachen die Consequenz, mit welcher es durchgeführt wird;
und in dieser Beziehung, fürchte ich, sind die semitischen Spra-
chen von dem Vorwurf der Inconsequenz nicht frei. Ihre Wort-
beugung geschieht theils durch innern Wandel des Wurzelvo-
cals, theils durch Affixa.
Die Darstellung der Einheit der Sprachen zerfällt aber nach
einer andern Beziehung in zwei Theile: Einheit des Wortschatzes,
des materialen Elements der Sprache, und Einheit der Formbil-
dung. In jedem dieser Theile treten die obigen drei Rücksich-
ten auf. Die Einheit der Grammatik wird allemal eine engere
sein, als die des Wortschatzes, und ist auch besser begriffen
worden, als diese, rücksichtlich welcher noch Mißverständniß
herrscht. Beckers verunglückten Versuch, die lexikalische Ein-
heit darzulegen, haben wir schon kennen gelernt. Wir sehen
aber jetzt seinen Fehler klarer. Er wendet sich an die Begriffe
statt an die Sprachform, und so giebt er eine logische Constru-
ction statt einer lexikalischen.
[381]
Soll das System der Wörter einer Sprache gebildet wer-
den, so ist als leitendes Prinzip die innere Sprachform in ihrem
Zusammenhange mit dem Laute zu nehmen (vergl. Humboldt,
Einl. S. 108 ff. oder CXXIV.). Zuerst sind die Wörter auf
ihre Wurzeln zu reduciren, wobei mit aller Vorsicht die ur-
sprünglichste Lautform und innere Anschauung der Wurzel fest-
zustellen ist. Dann werden sich die Wurzeln, nach der Aehn-
lichkeit ihrer Laute und ihrer innern Anschauung zugleich, in
Gruppen oder Familien zusammenstellen. Es ist danach zu stre-
ben, solcher Gruppen möglichst große und möglichst wenige zu
erhalten. Doch muß man sich vor Uebertreibung hüten; es
wird nicht bloß nicht möglich sein, die Wurzeln alle von einer
abzuleiten, sondern auch nicht von zehn oder zwölf. Auch
wird es Wurzeln geben, die ganz isolirt bleiben und sich gar
keiner Gruppe anschließen. Für die hebräische Sprache und
für die griechische hat man solche Gruppirung der Wurzeln
schon längst versucht, indem man Wurzeln, welche ein wesent-
liches consonantisches Element gemeinsam haben, so daß sie
wie Variationen eines Wurzellautes erscheinen, und welche zu-
gleich eine verwandte Bedeutung haben, zusammenfaßte; z. B.
hebr. qārā (rufen), engl. to cry, hebr. kāras, κϱάζω κϱώζω, κη-
ϱύσσω; oder hebr. zāhal, zāhar, sāhar, hālal, zālal; zāchā, zachar;
zāhā, zāhab; sāhā, sāhab; tāhar, tāchar, welche alle in verschie-
denen Abstufungen und Färbungen das Hell ausdrücken, das
Glänzen, das Reine, das Gelbe (Gold), das moralisch Reine,
den hellen Klang; oder das griechische κέλλω, κίλλω, κυλίνϑω,
ἴλλω, εἴλω, ἑλίσσω u. s. w.
Schon hierbei kann man wahrnehmen, wie dieselbe Grund-
bedeutung sich mannigfach umgestaltet durch verschiedenartige
Färbung und metaphorische Verwendung. Das Wichtigste bleibt
aber, die eigenthümlichen Grundsätze aufzufinden, nach denen
in der Sprache sowohl durch Wortbildung, als im Laufe der
Zeit, mit der Entwickelung des Geistes, die Grundbedeutungen
sich entwickeln. Diese Einheit der in allen Bildungen, Wand-
lungen und Ableitungen herrschenden Gesetze ist die wahre Ein-
heit des Wortschatzes.
[382]
3. Allgemeines Kategorienschema.
§. 136.
Es hat sich unter dem Einflusse der aristotelischen und
auch der stoischen Philosophie eine besondere Disciplin gebil-
det: die philosophische Grammatik, welche die Absicht hat, ein
für alle Sprachen gültiges Kategorienschema aus der Natur der
Sprache und des Gedankens als absolut nothwendig und a priori
bestimmbar abzuleiten. Dieses Schema soll ein Skelett sein, das
nur mannigfach umkleidet ist. Auch komme es vor, daß dort
gewissermaßen ein Knochen sich in zwei getheilt habe, hier
zwei zusammengewachsen seien; oder daß der eine sich zu kräf-
tig entwickelt habe, und darüber der andere gänzlich verloren
gegangen sei. Dieses Schema umfaßt nun sowohl den Wort-
schatz, als auch besonders die Grammatik.
Es fragt sich: ist eine solche Disciplin, eine allgemeine
Grammatik, berechtigt und möglich? Sehen wir von der angeb-
lichen aprioristischen Ableitung ab, die doch nur eine Täuschung
ist, so liefern die philosophischen Grammatiken die vorzüglich-
sten, wenn nicht alle Kategorien der am höchsten organisirten
Sprachen. Dabei hat man jedoch, weil man die logischen For-
men in der Sprache suchte, die Bedeutung der grammatischen
Formen verkannt. Hiervon aber auch abgesehen, wird also ein
Sprachskelett geliefert, welches nur für den einen Sprachstamm,
den sanskritischen, wirklich gültig ist, wenigstens ungefähr; denn
vollständig paßt es für keine der zu diesem Stamme gehörenden
Sprachen. Diese Arbeit könnte, nach richtigen Grundsätzen un-
ternommen, sehr bedeutend werden, wenn man nämlich, zunächst
rein empirisch verfahrend, die Bedeutung der allen Sprachen des
Stammes gemeinsamen Formen entwickelte, darauf dieselbe ratio-
nell aus der Eigenthümlichkeit des Sprachstammes begründete;
dann aber gerade die Verschiedenheit der einzelnen Sprache her-
vorhöbe und aus dem individuellen Formprincipe derselben ab-
leitete. Dies würde eine allgemeine und rationelle Grammatik
des sanskritischen Sprachstammes geben. Für die übrigen Stämme
aber müßten besondere Arbeiten unternommen werden; denn für
sie ist das sanskritische Kategorienschema nicht gültig.
Man meint, alle Sprachen erfüllen trotz ihrer Verschieden-
heit den Zweck, Ausdruck des Gedankens zu sein. Um diesem
Zwecke zu genügen, müssen sie gewisse allgemeine Forderungen
[383] erfüllen, welche sich aus demselben nothwendig ergeben. Diese
Forderungen nun sollen eine Grundlage bilden, auf welcher alle
Sprachen, auch die verschiedensten, mit einander verglichen wer-
den können, indem man bei jeder einzelnen untersuche, in wel-
cher Weise sie den Forderungen nachzukommen strebe. Die
Gesammtheit derselben würde also einen festen Ausgangspunkt
für die Erforschung der Verschiedenheiten gewähren und einen
sichern Maßstab darbieten, um danach die Höhe der Organisa-
tionsstufe zu bestimmen.
Ferner sagt man: die logischen und metaphysischen For-
men des Gedankens sind gegeben und stehen ein für alle Mal
fest. Sie werden aber in der Sprache irgendwie ausgedrückt,
wenn auch mehr oder weniger rein und vollständig. Sie bilden
also das einende Band aller Sprachen, und es muß mithin im-
mer möglich sein, zu fragen: „wie wird diese oder jene logische
Form in den verschiedenen Sprachen dargestellt?“
Eben so, sagt man, verhalte es sich mit dem Thierreiche.
Die Thiere mögen noch so verschieden sein: man kann sie doch
mit einander vergleichen, z. B. selbst die Mücke mit dem Ele-
phanten, wenn auch nicht in der Weise, wie letztern mit dem
Pferde. Der Begriff des Thieres nämlich schließt gewisse For-
derungen in sich, denen jedes Wesen, welches ein Thier sein
soll, entsprechen muß, als z. B. Athmen, Verdauen. Diese For-
derungen des Begriffs bilden die Einheit aller Thiere, und nun
wird erst ihre Verschiedenheit recht klar, wenn man bei jeder
Art danach fragt, wie sie die allgemeinen Forderungen des Be-
griffs erfülle. Ganz ebenso verhalte es sich mit den Sprachen,
welche gewisse Punkte gemein haben müßten, wären diese auch
an sich ganz abstract, weil sie vom Begriffe der Sprache un-
ausweichlich gefordert würden.
Diese Anschauungsweise aber, entgegnen wir, ist falsch.
Solche allgemeine Forderungen seitens der Logik oder eines
andern Systems existiren für die Sprache nicht; denn die Spra-
che ist vor der Logik und vor dem verständigen Denken. Man
vergegenwärtige sich unsere obige Darstellung, und man wird
begreifen, wie völlig unangemessen jede Forderung ist, die an
die Sprache, d. h. an die Gestaltung der innern Sprachform, ge-
stellt wird. Wir sahen zunächst die Anschauung: sie ist form-
los, d. h. hat keine Gedankenform. Die erste Form, die der
Geist während seiner Denkthätigkeit aus sich bildet, ist dieje-
[384] nige, in welcher das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauung
auffaßt und dadurch zur Vorstellung umwandelt. Auf diesem
Wandel der Anschauung in die Vorstellung beruht alle Sprache,
und die Sprache bleibt immer auf ihn beschränkt. Sie geht
also aller Logik voran; sie schafft ihre Formen vollständig, be-
vor die Logik die ihrigen ausbildet. Sprache und Logik ent-
wickeln ganz unabhängig von einander ihre Formen. Und es
ist gar nicht wahr, daß die Sprache den Gedanken ausdrückt;
sie bedeutet ihn wohl, aber drückt nur aus, was sie an der An-
schauung erfaßt, und wie sie es erfaßt. Selbst insofern die
Sprache den Begriff und das rein logische Urtheil darstellt, z. B.
Gott ist absolut, geschieht dies nicht so, daß die Logik mit der
Sprache unterhandelte: „dies soll ausgedrückt werden; es steht
dir aber frei, es in einer beliebigen Weise zu thun: dies fordere
ich; du magst es aber erfüllen, in welcher Form und Gestalt
dir beliebt“. Sondern die Sprache behandelt auch die ihr dar-
gebotenen Begriffe wie die Anschauungen; d. h. die Begriffe
werden Gegenstand des instinctiven Selbstbewußtseins, und die-
ses erfaßt dieselben nach seiner Weise, wie es kann, unbeküm-
mert um jede Forderung, in seiner naiven und durchaus indivi-
duellen Weise. Das instinctive Selbstbewußtsein bildet sich
selbst eine Logik, und in den verschiedenen Volksgeistern in
verschiedener Weise. Folglich sind wir auch nicht im Stande,
die verschiedenen Logiken, welche in den Sprachen liegen, sei
es unter einander, oder mit unserer systematischen Logik zu
vergleichen, wenn sich die Aehnlichkeit nicht von selbst voll-
ständig darbietet.
Vergleichen freilich kann man alles: das beweisen Witz und
Humor. Die vergleichende Wissenschaft aber will durch Ver-
gleichung das Wesen der Dinge, ihr Werden, erkennen, und
darf nicht in witzige Spielerei ausarten. Die comparative Ana-
tomie war eine kurze Zeit solcher Gefahr ausgesetzt; jetzt ist
sie längst überwunden. Man sieht ein, daß man die Constru-
ction der Gliederthiere nicht besser begreift, wenn man, sie mit
den Wirbelthieren vergleichend, annimmt que les Articulés sont
des Vertébrés renversés sur le dos. Man hat freilich eine Ein-
heit der menschlichen Hand und des Pferdehufes gefunden, wenn
man sagt, sie seien beide das letzte Glied der vordern Extre-
mitäten; aber was wird damit erkannt? Der Satz: ich werde
von dir geliebt enthält eine Umkehrung der logischen Con-
[385] struction, nach welcher ich das Leidende, also das Object, und
von dir das Subject wäre; und so verhält sich, wie wir oben
schon gezeigt haben, die Sprache zur Logik, und eine Sprache
zur andern, gar oft wie das Gliederthier und Weichthier zum
Wirbelthier. Wir stoßen auf irrationale Größen, die keine Ver-
gleichung gestatten.
Man hat also erstlich jeden Sprachstamm für sich selbst
zu betrachten, und weder mit einem andern, noch mit irgend
welcher allgemeinen, über diesen Stamm hinausliegenden Sprach-
form oder gar logischen Kategorientafel zu vergleichen. Dann
ist, zweitens, jedes Formschema, welches allen Sprachen gemein-
sam angehören sollte, und zumal a priori bestimmbar wäre, ein
Unding; weil, drittens, Logik und Grammatik völlig irrationale
Größen sind, und jede Sprache eine rein subjective Schöpfung
von Formen und Kategorien ist, entstanden unter subjectiven Ein-
flüssen, die außerhalb jeder Berechnung liegen. Die innere
Sprachform hört auf keine andern Forderungen, als diejenigen,
die sie sich selbst stellt; und daß sie sich gerade diese stellt,
geht aus den Formen hervor, welche sie gebildet hat. Aus den
Formen jeder Sprache also sind die Forderungen kennen zu ler-
nen, welche jede an sich stellt; denn für die Sprachen ist zwi-
schen ihren Forderungen und ihren Leistungen kein Zwischen-
raum, da sich diese wie Ursache und Wirkung zu einander ver-
halten.
Bei Abfassung der Wörterbücher wird von einem doppel-
ten Punkte ausgegangen, indem theils das Wort der zu erklä-
renden Sprache durch die bekannte Sprache erläutert, theils an-
gegeben wird, welches Wort der fremden Sprache einem be-
stimmten Worte der bekannten Sprache entspricht. So könnte
es auch eine doppelte Grammatik geben; und es könnte gefor-
dert werden, man sollte ein Mal die vorhandenen Formen der
fremden Sprache darstellen und durch die entsprechenden Formen
unserer eigenen Sprache oder durch genaue Angabe ihres Werthes
erklären, das andre Mal aber von einer allgemeinen abstrac-
ten Grammatik ausgehend, angeben, welche Form der zu bear-
beitenden Sprache einer bestimmten Form der abstracten Gram-
matik entspreche. Wie man also Wörterbücher zum Ueber-
setzen aus der einheimischen in die fremde Sprache hat, so muß
es auch eine Grammatik geben, welche zeigt, wie die Formen
der einheimischen oder besser einer allgemeinen Grammatik durch
25
[386] die Formen der fremden Sprache wiederzugeben sind. Und in
diesem Sinne sind ja die meisten Grammatiken bisher wirklich
gemacht. Wir haben aber hierauf mit einer alten, vielfach wie-
derholten Bemerkung zu erwiedern. Es läßt sich wohl alles
ungefähr aus einer Sprache in die andere übersetzen, aber eben
nur ungefähr; man weiß, wie die Wörter zweier Sprachen für
dieselbe Vorstellung sich meist wie Synonyma verhalten, d. h.
neben der Gleichheit der Bedeutung einen feinen Unterschied
zeigen. Diese Verschiedenheit der Wörter verschiedener Spra-
chen wird noch größer, wenn man auf die innere Sprachform,
d. h. die Etymologie, zurückgeht. Unser Sohn und Tochter sind
nicht die lateinischen filius und filia, wie sie es auch juristisch,
im Verhältniß zu den Eltern, nicht sind. Gemeinsam haben
jene Wörter nur das reale Verhältniß, welches aber jenseits der
Sprache liegt. Ein solches Gemeinsames findet sich aber nicht
einmal überall, sondern nur da, wo dasselbe Ding nothwendig
zu benennen war. Wo es aber auf abstracte Begriffe ankommt,
wo also das zu Bezeichnende selbst erst zu erschaffen war, da
fehlt oft geradezu ein dem Worte der einen Sprache entspre-
chendes der andern, weil das andere Volk diesen Begriff nicht
gebildet hat. Auch hat man immer erkannt, daß nur die Wör-
terbücher, welche die darzustellende Sprache zum Ausgangspunkte
nahmen, den wirklichen Wortschatz dieser Sprache darstellen
und die wahrhafte Bedeutung der Wörter angeben. Und bei
der Grammatik sollte es anders sein? hier, wo es sich nur um
abstracte Formelemente handelt? wo alles, was bezeichnet wer-
den soll, selbst erst innerlich, subjectiv erkannt, geschaffen wer-
den muß; wo nichts gegeben ist, sondern alles auf der Energie
des instinctiven Selbstbewußtseins beruht? Welche Formen hat
eine Sprache? Das soll die Grammatik lehren; nicht aber: wel-
che Form entspricht dieser deutschen, jener lateinischen, oder
einer abstract logischen? Denn dies ist oft unsagbar, weil gar
keine genau entspricht.
Endlich sei noch bemerkt, daß der allgemeinen Gramma-
tik, als dem gemeinsamen Kategorienschema aller Sprachen, die
oberflächlichste und abstracteste Bedeutung des Allgemeinen zu
Grunde liegt. Das wahrhaft Allgemeine ist völlig untrennbar
von dem Einzelnen, dessen schöpferische Kraft es ist. Doch
dies führt auf
[387]
4. Die Classification der Sprachen.
§. 137.
Sie stellt das allgemeine Wesen der Sprache dar, wie es
sich in den einzelnen Sprachen in individuellen Formen verwirk-
licht hat, und ist die wahre allgemeine Grammatik. Sie stellt
jede Sprache dar als eine individuelle Verwirklichung des Be-
griffs der Sprache, und zeigt die Einheit der Sprachen, indem
sie dieselben sämmtlich zu einander in Beziehung setzt und nach
der Verwandtschaft und Würde ihrer Organisation zu einem
Systeme zusammenstellt.
Ich will hier nicht weiter auf diesen Punkt eingehen; es
wäre mehr darüber zu sagen, als der beabsichtigte Umfang die-
ses Buches erlaubt*).
5. Sprachwissenschaft als Moment der Völkerpsycho-
logie.
Wir haben schon in unsern Vorbemerkungen gesagt, daß
die Sprache nicht bloß als eine Seelenthätigkeit, wie jede an-
dere, ein Gegenstand psychologischer Betrachtung ist, sondern
daß auch der Nachweis ihrer Entstehung, ihres Wesens im All-
gemeinen, ihrer Stellung in der Entwickelung und Thätigkeit des
25*
[388] Geistes einen eigenthümlichen und wesentlichen Ahschnitt in der
Psychologie bildet. Mit unserer ganzen Darlegung der Sprache
und Grammatik überhaupt bis an die Wirklichkeit der verschie-
denen Sprachen bewegten wir uns durchaus auf psychologischem
Gebiete. Auch mit der Verschiedenheit der Sprachen treten wir
noch nicht aus diesem Gebiete heraus; wir verlassen nur die
eine Provinz desselben, auf welche heute allerdings die Psycho-
logie noch beschränkt ist, treten aber in eine andere, die nicht
minder zu ihm gehört, obwohl sie nur erst sehr gelegentlich
bearbeitet worden ist. Die heutige Psychologie nämlich ist in-
dividuelle Psychologie, d. h. ihr Gegenstand ist das seelische
Individuum, wie es sich ganz allgemein in jedem beseelten We-
sen, dem Menschen und auch, bis auf einen gewissen Punkt,
dem Thiere offenbart. Nun ist es aber eine wesentliche Bestim-
mung der menschlichen Seele, nicht ein für sich allein stehen-
des Individuum zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehö-
ren, und zwar zunächst, leiblich und seelisch, einem Volke.
Und so verlangt die individuelle Psychologie wesentlich eine
Ergänzung durch die Völkerpsychologie. Durch Geburt
gehört der Mensch einem Volke an, und er wird hierdurch in
seiner geistigen Entwickelung mannigfach bestimmt. Das Indi-
viduum kann also gar nicht vollständig begriffen werden ohne
Rücksicht auf die geistige Gesammtheit, in der es entstanden
ist und lebt.
§. 138. Aufgabe der Völkerpsychologie überhaupt.
Die Völkerpsychologie, sagen wir, ist nicht nur eine neue
Wissenschaft; sondern sie ist noch nicht einmal als solche, als
ein zusammenhängendes System von Begriffen und Erkenntnis-
sen, gegründet. Wir wissen wenigstens noch immer nichts wei-
ter darüber anzuführen, als einen Aufsatz von Dr. Lazarus im
deutschen Museum von 1851. Andeutungen zu einer solchen
Wissenschaft finden sich indessen allerdings bei unsern großen
Denkern. Ich erwähne hier nur Herbarts Bemerkungen über
die Anwendung der mathematischen Psychologie auf staatliche
und gesellschaftliche Verhältnisse in der Einleitung zu seiner Psy-
chologie; und führe noch eine sehr klare Aeußerung über un-
sere Wissenschaft von Carl Ritter an, dem Schöpfer der wis-
senschaftlichen Geographie, einem Naturforscher, der umfassende
Kenntniß und Tiefe des Gedankens in seltener Weise vereinigt.
Er sagt (Erdkunde I, S. 19), er mache es sich zur Aufgabe:
[389] „alle wesentlichen Naturverhältnisse darzulegen, in welche die
Völker auf diesem Erdenrunde gestellt sind, und es sollen aus
diesen alle Hauptrichtungen ihrer entwickelten Zustände, welche
die Natur bedingt, hervorgehen. Wäre dieses Ziel dann wirk-
lich erreicht: so würde eine Seite der Historie im Allgemeinen
einen Fortschritt gewonnen haben, indem das erregende Wesen
der Antriebe der äußern Naturverhältnisse auf den Entwicke-
lungsgang der Menschheit, welche dem Forscher der Alten schon
mehr als der Neuern Geschichte manche Aufschlüsse gegeben
haben, dadurch zu größerer Klarheit gekommen sein müßte.
Es bliebe ein anderes Gebiet, das der innern Antriebe der
von dem Aeußern unabhängigen rein geistigen Na-
tur in der Entwickelung des Menschen, der Völker
und Staaten, zur vergleichenden Untersuchung übrig, als
würdiger Gegenstand einer leicht noch glücklichern Betrachtung
und nicht minder lohnenden Forschung“. So spricht ein Mann,
der bei seiner speciellen Wissenschaft die Gesammtheit der wis-
senschaftlichen Bestrebungen im Auge behält. Seine Andeutung
genügt wohl, das Wesen unserer Wissenschaft klar zu machen.
Wie könnten wir endlich Humboldts vergessen, der die sie-
ben ersten Paragraphen seines großen Werkes ganz Betrach-
tungen gewidmet hat, welche die Grundlage der Völkerpsycho-
logie bilden, wie: der Zusammenhang der Völker zu einer Ein-
heit des Menschengeschlechts, Zusammenwirken der Individuen
und Nationen u. s. w.
§. 139. Das Volk als geistige Individualität.
Das Volk ist das Subject der Völkerpsychologie. Es ist
aber, wie der einzelne Mensch, im Verhältnisse zu den andern
Völkern und zur Menschheit eine Individualität. Die Grund-
lage derselben sind die eigenthümlichen körperlichen Verhält-
nisse, sowohl die leiblichen, als die der umgebenden Natur. Diese
darzulegen — und wer könnte ihre Wichtigkeit für das geistige
Leben läugnen? — ist Aufgabe der Erdkunde und physischen
Ethnologie. Auf dieser körperlichen Grundlage, zum Theil zwar
sicherlich unabhängig von derselben, aber immer in Wechselwir-
kung mit ihr, von ihr bestimmt und sie bestimmend, und von
dieser selbstthätigen Bestimmung die Rückwirkung empfindend,
erhebt sich die geistige Individualität des Volkes, der Gegen-
stand der Völkerpsychologie.
[390]
§. 140. Der Einzelne und das Volk.
Wir können uns den Menschen gar nicht anders denken,
denn als sprechend und folglich als Glied einer Volksgemein-
schaft, und folglich die Menschheit nicht anders, denn als ge-
theilt in Völker und Stämme. Jede andere Auffassung, die den
Menschen nimmt, wie er vor der Bildung der Völker und Spra-
chen war, kann eine nothwendige wissenschaftliche Fiction sein,
wie die mathematische Linie, der mathematische Punkt, der Fall
im luftleeren Raume; ergreift aber den Menschen keineswegs
nach seinem wirklichen Dasein. Die Völkerpsychologie versetzt
uns also sogleich mitten in die Wirklichkeit des menschlichen
Lebens mit der Geschiedenheit der Menschen nach Völkern und
kleinern Gemeinschaften innerhalb dieser.
Jedes Volk nun bildet eine abgeschlossene Einheit, eine in-
dividuelle Darstellung des menschlichen Wesens; und alle Indi-
viduen desselben Volkes tragen das Gepräge dieser individuellen
Natur des Volkes an ihrem Leibe und an ihrer Seele. Diese
Gleichheit rührt nach der leiblichen Seite her von der Gleich-
heit des Blutes, d. h. der Abstammung, ferner der äußern Ein-
flüsse der Natur und der Lebensart; für die Gleichheit der See-
lenbildung aber kommt in Betracht das Zusammenleben, d. h.
das Zusammendenken. Es wird ursprünglich nur in Gemein-
schaft gedacht; jeder knüpft seinen Gedanken an den eines An-
dern seines Stammes, und der daraus gebildete neue Gedanke
gehört also sogleich dem Andern eben sowohl, als ihm, wie das
Kind dem Vater und der Mutter gehört. Der gleiche Leib und
die gleichen Eindrücke von außen erzeugen gleiche Gefühle,
Neigungen, Begehrungen, und diese wiederum gleiche Gedanken,
gleiche Sprache. Den Menschen als nur im Volke lebend den-
ken können: das heißt sogleich, ihn nur als gleich mit vielen
Individuen —, das heißt, den Begriff Mensch nur als verschie-
dene Volkseinheiten, deren jede viele gleichgestimmte Individuen
umfaßt, denken können.
§. 141. Producte des Volksgeistes.
Die Einwirkung der körperlichen Einflüsse auf die Seele
verursacht gewisse Neigungen, Richtungen, Anlagen, Eigenschaf-
ten des Geistes, und zwar bei allen Individuen in gleicher Weise,
weswegen sie alle denselben Volksgeist haben. Dieser Volks-
geist thut sich kund zunächst in der Sprache, dann in Sitten
[391] und Gewohnheiten, Institutionen und Thaten, Ueberlieferungen
und Gesängen: dies sind die Erzeugnisse des Volksgeistes.
§ 142. Eintheilung der Völkerpsychologie.
Die Völkerpsychologie gliedert sich in folgende Zweige:
sie ist, erstlich, analytisch, indem sie die allgemeinen Gesetze
darlegt, nach welchen die im Volksleben wirkenden Kräfte sich
entwickeln und in einander eingreifen; sie ist synthetisch, in-
dem sie aus dieser Wirkungsweise der Kräfte die einzelnen Pro-
ducte entwickelt, und dieselben als einen aus vielfachen Organen
und Functionen zusammengesetzten Organismus betrachtet, und
zwar zunächst als einen auf sich fest beruhenden und in seiner
Constitution beharrenden, dann aber auch als sich in einem ge-
schichtlichen Leben entwickelnd; sie ist endlich psychische
Ethnologie, indem sie alle Völker der Erde als ein Reich
von Volksgeistern nach seinen individuellen Gestalten dar-
stellt.
So bildet die Völkerpsychologie die allseitige
Grundlage zur Philosophie der Geschichte.
§. 143. Sprache und Volksgeist.
Ueberall in diesen Betrachtungen nun spielt die Erforschung
der Sprache die bedeutendste Rolle, und die Sprachwissenschaft
führt am lebendigsten in die Völkerpsychologie ein; ja, wie die
Entwickelung des allgemeinen Wesens der Sprache geradezu ein
Capitel der individuellen Psychologie ist: so ist die Erforschung
der individuellen Sprachen als eigenthümlicher Verwirklichungs-
formen der Sprache überhaupt und als besonderer einheitlicher
Systeme einer instinctiven Weltanschauung, deren jedes sein be-
sonderes Princip hat, ein Capitel aus der psychischen Ethno-
logie. Denn wenn man auch die Entstehung und Entwickelung
der Sprache überhaupt aus dem individuellen Geiste heraus zu
verfolgen hat — wiewohl man auch hierbei schon auf den Men-
schen als ein gesellschaftliches Wesen stößt —: so fragt sich
nun, wenn man die wirkliche, geschaffene, und also sogleich in-
dividuelle Sprache betrachtet: wem gehört sie? wer hat
sie geschaffen? Nicht das Individuum an sich; sondern das
Individuum spricht in Gesellschaft. Indem es sprechend die
Sprache schuf, ward es verstanden; folglich war das was der
Eine sprach, und wie er es sprach, schon bevor er dies gethan
hatte, eben so im Geiste des Hörenden. Der Sprechende hat
also zugleich aus seiner Seele und aus der des Hörenden die
[392] Sprache geschaffen, und so gehört das gesprochene Wort nicht
bloß ihm, sondern auch dem Andern.
Die Sprache ist also wesentlich Erzeugniß der Gemeinschaft,
des Volkes. Nannten wir die Sprache das instinctive Selbstbe-
wußtsein, eine instinctive Weltanschauung und Logik: so be-
deutet dies also, daß sie das Selbstbewußtsein, die Welt-
anschauung und Logik des Volksgeistes ist.
Wie muß also auf alle Principien der Völkerpsychologie
seitens der Sprache das hellste Licht fallen! Die Einheit der
Individuen als Volk spiegelt sich in der gemeinsamen Sprache
ab; die bestimmte Individualität des Volksgeistes kann sich nir-
gends klarer abdrücken, als in der individuellen Form der Spra-
che; ihr individuell gestaltendes Princip ist der eigentlichste Kern
des Volksgeistes; das Zusammenwirken des Individuums mit sei-
nem Volke beruht vorzüglich auf der Sprache, in der und durch
welche er denkt, und die doch seinem Volke gehört. Und auf
das Innigste durchdringen sich die Geschichte der Sprache und
die geschichtliche Entwickelung des Volksgeistes, die Bildung
neuer Völker und neuer Sprachen. Der Verfall des lautlichen
Baues der Sprachen und dagegen die feinere Ausbildung der
innern Form ist einer der wichtigsten Punkte für die Erkennt-
niß des individuellen Volksgeistes.
Hiermit beschließen wir diese Andeutungen über die Völ-
kerpsychologie und unser Buch überhaupt. Unsere Aufgabe,
das Princip der Grammatik fest zu bestimmen, sie von der Lo-
gik scharf abzuscheiden und ihren Zusammenhang mit der Psy-
chologie zu zeigen, ist im Vorliegenden gelöst, so gut dies mög-
lich war, ich sage nicht: nach den heutigen Umständen über-
haupt, sondern nur nach meinen Mitteln und Verhältnissen. Möge
auch in dieser Beschränktheit meine Arbeit die Wissenschaft
fördern!
[[1]]
Appendix A
AUSZUG
AUS DEM
LINGUISTISCHEN VERLAGSKATALOGE
VON
FERD. DÜMMLER’S VERLAGSBUCHHANDLUNG.
DE PRONOMINE RELATIVO commentatio philosophico-
philologica cum excursu de nominativi particula. Scripsit
H. Steinthal, Dr. Adjecta est tabula lithographica signa
sinica continens. 1847. gr. 8. 20 Sgr.
Der Verfasser sucht die Bedeutung des Pronomen relativum für das
Satzgefüge aufzufinden. Die Untersuchung beginnt mit dem einfachsten
Satze. Indem nämlich der Verfasser sogleich von Anbeginn die philo-
sophische Reflexion mit den Thatsachen verbindet und nach der gegen-
seitigen Durchdringung beider strebt, zeigt sich, daß in den niedriger
stehenden Sprachen das Pronomen relativum schon zur Bezeichnung der
einfachsten Satzverhältnisse, vorzüglich aber als Partikel des Attributs
verwandt wird. Stufenweise wird die weitere Entwickelung des Satzes,
die schärfere Absonderung und formelle Ausbildung des Pronomen re-
lativum, wie endlich in immer steigender Vollendung der Organisation
der Sprachen verfolgt, welche drei Punkte, als mit einander Hand in
Hand gehend, in engerem Zusammenhange betrachtet werden. Diese
kleine Schrift, die erste des Verfassers, enthält den Keim zu allen sei-
nen folgenden Arbeiten und ist besonders ein guter Kommentar zu sei-
ner Classification der Sprachen.
DIE SPRACHWISSENSCHAFT WILHELM VON
HUMBOLDT’S und die Hegelsche Philosophie von Dr.
H. Steinthal. 1848. gr. 8. geh. 20 Sgr.
Es lag dem Verfasser zunächst und zu allermeist daran, die Unhalt-
barkeit der dialektischen Methode Hegels dadurch zu beweisen, daß er
zu zeigen suchte, wie diese über sich selbst zur genetischen hinaustreibt,
welcher Wilhelm v. Humboldt huldigt. Hierauf giebt er eine Darstel-
lung der Grundlagen und des Ziels der Sprachwissenschaft Humboldt’s
mit beständiger Zurückweisung der unberechtigten Forderungen und
gehaltlosen Leistungen der Dialektik.
[2]VERZEICHNISS SPRACHWISSENSCHAFTLICHER WERKE.
DIE CLASSIFICATION DER SPRACHEN dargestellt
als die Entwickelung der Sprachidee von Dr. H. Stein-
thal. 1850. gr. 8. geh. 15 Sgr.
Diese Schrift enthält zuerst eine Kritik der bisherigen Sprachclassi-
ficationen und damit der heutigen Sprachwissenschaft überhaupt. Be-
sonders ausführlich wird Wilhelm v. Humboldt nach seiner genialen, wie
nach seiner mangelhaften Seite dargestellt. Darauf giebt der Verfasser
nach einer neuen Auffassungsweise des Wesens der Sprache eine Ein-
theilung der Sprachen in dreizehn Classen nach einer den natürlichen Pflan-
zen- und Thiersystemen analogen Methode.
DER URSPRUNG DER SPRACHE im Zusammenhange
mit den letzten Fragen alles Wissens. Eine Darstel-
lung der Ansichten Wilhelm von Humboldts, ver-
glichen mit denen Herders und Hamanns von Dr.
H. Steinthal. 1851. gr. 8. geh. 15 Sgr.
Es lag dem Verfasser vorzüglich daran, die Gebildeten überhaupt,
besonders aber die Metaphysiker und Psychologen auf die hohe Wich-
tigkeit der Frage nach dem Ursprunge der Sprache dadurch aufmerksam
zu machen, daß er den Zusammenhang derselben mit dem Verhältniß
von Gott und Menschen, Unendlichem und Endlichem, Leben und Tod,
Allgemeinem und Einzelnem nachwies. Außerdem hat er seine früheren
Arbeiten über W. v. Humboldt hiermit ergänzen gewollt.
DIE ENTWICKLUNG DER SCHRIFT. Nebst einem
offenen Sendschreiben an Herrn Prof. Pott. Von Dr.
H. Steinthal. 1852. gr. 8. geh. 22½ Sgr.
Diese Abhandlung zerfällt in einen allgemeinen und einen besondern
Theil. Im erstern wird der Begriff der Schrift erörtert, wobei der Verf.
in seiner bekannten Weise an W. v. Humboldt anknüpft, ihn kritisirend,
begründend und weiterführend. Sein Gesichtspunkt ist der psychologi-
sche, von welchem aus im andern Theile der Abhandlung die verschiede-
nen Schriftarten als die Entwicklungsstufen des Begriffes der Schrift in
folgender Reihenfolge dargestellt werden: Die Schriftmalerei der wilden
Nordamerikaner und der Mexikaner; die Bilderschrift der Chinesen und Ae-
gypter, welche mit einander verglichen werden. Den übrigen bekannteren
Schriftarten, welche leichter erledigt werden konnten, wird in der Ent-
wicklungsreihe, die endlich mit den Runen schließt, die ihnen gebüh-
rende Stelle angewiesen. — Das Sendschreiben stellt des Verf. Verhält-
niß zu Humboldt dar und bespricht die innere Form und die Classi-
fication der Sprachen.
[3]FERD. DÜMMLER’S VERLAGSBUCHHANDLUNG IN BERLIN.
GRAMMATIK, LOGIK UND PSYCHOLOGIE, ihre
Principien und ihr Verhältniß zu einander, von Dr. H.
Steinthal, Privatdocenten für die allgemeine Sprach-
wissenschaft an der Universität zu Berlin. 1855. gr. 8.
geh. 2 Thlr. 15 Sgr.
In diesem Buche stellt der Verfasser, dessen frühere kleine Schrif-
ten eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregt haben, seine sprachwissen-
schaftliche Grundansicht in erwünschter Ausführlichkeit dar. Sein Be-
mühen ist vorzüglich darauf gerichtet, den Begriff der innern Sprachform
zu entwickeln, hierdurch der Grammatik einen eigenthümlichen Boden
anzuweisen, sie besonders scharf von der Logik abzuscheiden und mit
der Psychologie in enge Verbindung zu bringen. Das Buch zerfällt in
drei Theile: der erste weist die falsche Begründung durch die Logik
zurück; der zweite stellt ausführlich das Verhältniß zwischen Logik und
Grammatik dar, wobei die wichtigsten Punkte dieser beiden Wissen-
schaften vergleichend zur Sprache kommen; der dritte, der aber die
Hälfte des Buches umfaßt, legt die eigenthümlichen Principien der Gram-
matik und ihr psychologisches Wesen dar.
VERGLEICHENDES ACCENTUATIONSSYSTEM
nebst einer gedrängten Darstellung der grammatischen
Uebereinstimmungen des Sanskrit und Griechischen
von Franz Bopp. 1854. gr. 8. geh. 2 Thlr.
In der indo-europäischen Sprachfamilie lassen in Bezug auf die Ac-
centuation nur das Sanskrit und das Griechische eine durchgreifende
Vergleichung unter einander zu. Um die Uebereinstimmung beider Spra-
chen hinsichtlich ihres Accentuationsverfahrens in allen Einzelnheiten
nachzuweisen, war es nothwendig den ganzen Sprachorganismus in Be-
trachtung zu ziehen, so daß die obige Schrift außer der vergleichenden
Accentuationslehre, die ihre eigentliche Bestimmung ist, auch die Grund-
züge einer vergleichenden Formenlehre der betreffenden Sprachen dar-
bietet, wobei es nicht vermieden werden konnte, gelegentlich auch an-
deren Gliedern der indo-europäischen Sprachenfamilie einen Blick zuzu-
wenden. Am ausführlichsten ist die Wortbildung behandelt worden und
am Schlusse eine tabellarische Zusammenstellung der gewonnenen Re-
sultate gegeben, wodurch Jeder leicht zu der Ueberzeugung gelangen
wird, daß in diesem Theile der Grammatik die Jahrtausende, welche das
Griechische vom Sanskrit trennen, es nicht vermocht haben, in Bezug
auf Form oder Betonung in der einen oder andern der verglichenen Spra-
chen solche Aenderungen hervorzubringen, die nur einen augenblicklichen
Zweifel an der ursprünglichen Identität derselben veranlassen könnten.
[4]VERZEICHNISS SPRACHWISSENSCHAFTLICHER WERKE.
GRAMMAIRE DÉMOTIQUE CONTENANT LES
PRINCIPES GENÉRAUX DE LA LANGUE ET
DE L’ÉCRITURE POPULAIRES DES ANCIENS
ÉGYPTIENS par Henry Brugsch, de l’université royale
de Berlin. Avec un tableau de signes démotiques et
dix planches y annexées. 1855. fol. cart. 25 Thlr.
Diese Grammatik enthält eine vollständige und wissenschaftliche Darstel-
lung desjenigen ägyptischen Dialectes, welcher zu den Zeiten der letzten Pha-
raonen, der Griechen und Römer in Aegypten gesprochen und geschrieben
wurde. Mehrere zum Theil ausgezeichnete Gelehrte hatten es bisher unter-
nommen die demotische Schrift zu entziffern, eine Schriftgattung, welche
zu den complicirtesten gehört, deren sich ein Volk im Gebrauch des ge-
wöhnlichen Lebens bedienen konnte, da sie zum Theil auf denselben
Principien beruht, wie das Hieroglyphische und das Hieratische. Die
wenigen Resultate, zu welchen diese Gelehrten nach großen Bemühun-
gen gelangten, entsprachen jedoch den angewandten Kräften nicht. Der
Verf. war schon vor dem Jahre 1848 so glücklich, das Wesen der de-
motischen Schrift und den Haupttheil des grammatischen Gebäudes rich-
tig zu erkennen. Er lieferte in dem genannten Jahre als Beweis da-
für seine von allen Seiten anerkannte: Scriptura Aegyptiorum demo-
tica. Die gegenwärtige Publication enthält jedoch des Neuen bei wei-
tem mehr. Denn nicht nur sind die grammatischen Formen und ihre
graphische Darstellung bis in die kleinsten Details wiedergefunden, son-
dern auch mit reichlichen Beispielen unterstützt worden, welche sich dem
Verf. in allen Museen Europas und in Aegypten in Fülle darboten. Um
die Einheit des Ganzen und die Brauchbarkeit für das Studium des Ae-
gyptischen zu erhöhen, hat der Verf. überall die etwaige entsprechende
hieroglyphische Form (mit steter Hinweisung auf die grammaire égyp-
tienne Champollion’s d. j.) in Parallele gestellt und natürlich als Haupt-
beweismittel für die Richtigkeit der gewonnenen grammatischen Bedeu-
tung das Koptische herbeigezogen, gestützt auf die Grammatiken Pey-
ron’s, vorzüglich aber Schwartze’s. Um ein Beispiel für die Aus-
dehnung der gewonnenen Formen zu geben, welche im Vergleich mit
Champollion’s eben genannter hieroglyphischer Grammatik weit über die-
selbe hinausgeht, so bemerken wir, daß vom Verbum allein achtzehn ver-
schiedene Formen aufgefunden worden sind, während deren Zahl im Hie-
roglyphischen kaum die Hälfte davon übersteigt.
Die Verlagshandlung hat zu diesem Werke die ganze demotische
Schrift in mehr als dreihundert Haupttypen schneiden und gießen lassen,
worüber das folgende „Mémoire“ Auskunft zu geben bestimmt ist.
Zehn Tafeln geben die genauesten und treuesten Facsimiles von
verschiedenen demotischen Inschriften aus den Museen von Paris, Ley-
den, Turin, Dresden und aus Aegypten.
[5]FERD. DÜMMLER’S VERLAGSBUCHHANDLUNG IN BERLIN.
MÉMOIRE SUR LA REPRODUCTION IMPRIMÉE
DES CARACTÈRES DE L’ANCIENNE ÉCRI-
TURE DÉMOTIQUE DES ÉGYPTIENS, AU MO-
YEN DE TYPES MOBILES ET DE L’IMPRIME-
RIE; par Henry Brugsch, de l’université royale de
Berlin. 1855. 4. geh. 7½ Sgr.
ÜBER DEN NATURLAUT von Joh. Carl Ed. Busch-
mann. [Besondrer Abdruck aus den Abhandlungen der
Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus
dem Jahre 1852.] 1852. gr. 4. geh. 15 Sgr.
Der Verf. bemüht sich zu zeigen, daß aus der Thatsache, daß
für die Begriffe der nächsten Verwandtschaftsverhältnisse fast in allen
Sprachen ähnlich klingende Laute vorhanden sind, kein Schluß auf eine
allgemeine Verwandtschaft der Sprachen gezogen werden dürfe. Er be-
zeichnet diese einfachsten, aus dem Munde der Kinder zuerst vernom-
menen und folglich den Kindern geläufigsten Laute, die eben deshalb
von allen Völkern in gleicher Weise auf die Begriffe von Vater, Mutter
u. s. w. übertragen werden, mit dem Namen Naturlaut und stellt sie für
große Reihen von Sprachen in Tabellen auf.
ÜBER DIE AZTEKISCHEN ORTSNAMEN von Ed.
Buschmann. Erste Abtheilung. [Besondrer Abdruck aus
den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissen-
schaften zu Berlin aus dem Jahre 1852.] 1853. gr. 4.
geh. 2 Thlr.
Inhalt: I. Einleitung. II. Aztlan und die aztekische Sprache.
III. Merkwürdigkeiten der mexikanischen Sprache. IV. Hieroglyphische
Gemälde. V. Einwanderung von Norden. VI. Wanderungen und älteste
Geschichte. VII. Verbreitung aztekischer Ortsnamen im Allgemeinen
und im nördlichen Mexico. VIII. Guatemala. IX. Nicaragua. X. Gua-
temala (Schluß). XI. Wiederkehr der Ortsnamen.
ÜBER DEN URSPRUNG DER SPRACHE von Jacob
Grimm. Aus den abhandlungen der königlichen aka-
demie der wissenschaften vom jahre 1851. Dritte Auf-
lage. 1852. gr. 8. geh. 15 Sgr.
Es war vor Allem die Thunlichkeit einer Untersuchung über den
Ursprung der Sprache zu erweisen. Nachdem hierauf dargethan wor-
den, daß die Sprache dem Menschen weder von Gott unmittelbar aner-
schaffen, noch geoffenbart sein könne, wird sie als Erzeugniß freier
menschlicher Denkkraft betrachtet. Alle Sprachen bilden eine geschicht-
[6]VERZEICHNISS SPRACHWISSENSCHAFTLICHER WERKE.
liche Gemeinschaft und knüpfen die Welt an einander. In ihrer Ent-
wicklung werden drei Hauptperioden unterschieden, welche mit meister-
hafter Feinheit und Durchsichtigkeit geschildert werden.
ÜBER DIE VERSCHIEDENHEIT DES MENSCHLI-
CHEN SPRACHBAUES und ihren Einfluß auf die
geistige Entwickelung des Menschengeschlechts von
Wilhelm von Humboldt. 1836. gr. 4. geh. 4 Thlr.
In diesem Werke hat der berühmte Verfasser den Kern seines
ideellen Lebens niedergelegt. Wie er darin eine Anschauungsweise
der Sprachwissenschaft vom Standpunkte der Weltgeschichte aus be-
gründet, eben so sehr lehrt er darin eine Weltanschauung von dem
Standpunkte der Sprache aus. Beginnend mit der Betrachtung der die
geistige Entwickelung des Menschengeschlechts hauptsächlich bestimmen-
den Momente (§. 1—6) gelangt er zur Sprache, als einem vorzüglichen
Erklärungsgrunde jenes Entwickelungsganges (§. 7). Er zeichnet die
Richtung vor, welche die Sprachforschung zu nehmen hat, um ihren
Gegenstand in dieser Weise zu beurtheilen (§. 8) und wird dadurch
zu einer tieferen Darlegung des Wesens der Sprache geführt (§. 9—12).
Sodann genauer auf das Sprachverfahren eingehend, stellt er die allge-
meinsten und alle Theile der Sprache durchdringenden Eigenthümlich-
keiten derselben dar (§. 13—18), nach welchen er sie classificirt (§. 19).
Als den Punkt aber, von dem die Vollendung der Sprache, ihre Ent-
wickelungsfähigkeit und ihr Einfluß auf den Volksgeist abhängt, hebt
er die größere oder geringere Stärke der synthetischen Kraft dersel-
ben hervor und führt den Nachweis sowohl rücksichtlich der indoeuro-
päischen, als der semitischen, amerikanischen und der einsylbigen Spra-
chen (§. 21—24). Die Beantwortung der Frage, ob der mehrsylbige
Sprachbau aus der Einsylbigkeit hervorgegangen sei, bildet den Schluß
(§. 25) dieses großartigen Werkes.
ÜBER DEN DUALIS von Wilhelm von Humboldt. 1828.
gr. 4. 12½ Sgr.
Diese Abhandlung dürfte aus manchen Gründen Humboldt’s schönste
und tiefste Arbeit genannt werden; auch wirft sie auf viele wichtige
Stellen seines größeren Werkes ein sehr erwünschtes Licht. Die Noth-
wendigkeit solcher Untersuchungen über einzelne grammatische Formen
wird vom Verfasser selbst im Eingange dargestellt. Nach der Ueber-
sicht des räumlichen Umfanges der Sprachstämme, in denen sich die
Dualform findet, wird die Natur derselben zuerst nach der Beobachtung
der Sprachen selbst bestimmt, dann in tiefster Weise aus allgemeinen
Ideen abgeleitet, mit Berücksichtigung der phantasievollen und rein ver-
ständigen Seite der Sprache.
[7]FERD. DÜMMLER’S VERLAGSBUCHHANDLUNG IN BERLIN.
ÜBER DIE VERWANDTSCHAFT DER ORTSAD-
VERBIEN mit dem Pronomen in einigen Sprachen von
Wilhelm von Humboldt. 1830. gr. 4. 10 Sgr.
Eine Darstellung des Pronomens selbst leitet diese Abhandlung ein,
in welcher durch das Beispiel der Pronomina der Sprache der Tonga-
oder Freundschaftsinseln und anderer malayischer Sprachen, ferner der
chinesischen, japanischen und endlich besonders der armenischen Sprache
gezeigt wird, wie die Pronomina aus den Ortsadverbien hergenommen
werden können.
ZWEI SPRACHVERGLEICHENDE ABHANDLUN-
GEN: 1) Ueber die Anordnung und Verwandtschaft
des Semitischen, Indischen, Aethiopischen, Alt-Persi-
schen und Alt-Aegyptischen Alphabets. 2) Ueber den
Ursprung und die Verwandtschaft der Zahlwörter in
der Indogermanischen, Semitischen und Koptischen Spra-
che von Dr. Richard Lepsius. 1837. gr. 8. 1 Thlr.
Der Verfasser führt in der ersten Abhandlung mit Scharfsinn und
Gelehrsamkeit die Sätze durch, daß 1) die Ordnung der Buchstaben im
alten semitischen Alphabete nach einem organischen Principe gemacht
ist, daß diese Anordnung aber 2) genau und vom ersten Buchstaben
an mit der historischen Entwickelung des Sprachorganismus überein-
stimmt, woraus folgt, daß 3) das semitische Alphabet sich nur allmälig
und zugleich mit der Sprache selbst so gebildet habe, wie wir es vor-
finden. Hierdurch wird sein Ursprung in die Anfänge der Geschichte,
und jedenfalls vor die Trennung des semitischen, ägyptischen und indo-
europäischen Stammes gesetzt. Dies führt auf eine Vergleichung des
semitischen Alphabets mit dem indischen und den Hieroglyphen, und
wird der gemeinschaftliche Ursprung dieser drei erhärtet. Dasselbe
doppelte Interesse, die Verwandtschaft jener drei Sprachstämme, wie den
innigen organischen Zusammenhang von Sprache und Schrift nachzuwei-
sen, herrscht auch in der zweiten Abhandlung. Es wird demgemäß außer
der Verwandtschaft der ägyptischen, semitischen und indo-europäischen
Zahlen auch die Uebereinstimmung zwischen der Bildung der Zahlwörter
durch Zusammensetzung mit dem ägyptischen Ziffersysteme von der Zahl
vier an bis zehn dargelegt. Die durchaus einfachen drei ersten Zahlen
aber werden auf die Pronominalstämme zurückgeführt. Der Verfasser
geht hierauf zu den Spuren des Duodecimalsystems und dem Decimal-
system über und schließt nach einer Abschweifung über die Bildung
der Ordinalia das Ganze mit einer Nachweisung der ursprünglichen
Femininformen der Zahlwörter.
[8]VERZEICHNISS SPRACHWISSENSCHAFTLICHER WERKE.
ZEITSCHRIFT FÜR VERGLEICHENDE SPRACH-
FORSCHUNG AUF DEM GEBIETE DES DEUT-
SCHEN, GRIECHISCHEN UND LATEINISCHEN,
herausgegeben von Dr. Theodor Aufrecht, Privatdocen-
ten an der Universität zu Berlin, und Dr. Adalbert Kuhn,
Lehrer am Cölnischen Gymnasium ebendaselbst. I. Bd.
1851. II. Bd. 1852. 53. III. Bd. 1854. cart. à 3⅓ Thlr.
IV. Bd. Heft 1—3. Der Band von 6 Heften 3 Thlr.
Diese Zeitschrift will durch eine kritische Ergründung der genann-
ten drei Sprachen, besonders aber des etymologischen Theils derselben,
deren ursprüngliche Form wiederaufbauen und indem sie auf die frühe-
sten Perioden derselben zurückgeht und dem Gange der Sprache folgt,
also genetisch, die Bedeutung der ausgebildeten Formen erforschen. —
Zu diesem Zweck wendet sich die Untersuchung bald einer der drei
Sprachen unter Berücksichtigung ihrer Dialekte mehr oder weniger aus-
schließlich zu, bald vergleicht sie zwei derselben oder alle drei unter
einander, indem sie, wo es erforderlich ist, das Sanskrit als die älteste
Schwester dieser drei zu Rathe zieht. Hierdurch fällt nicht selten Licht
auf die älteste Geschichte der europäischen Volksstämme und namentlich
auf den Zusammenhang derselben in der Periode ihrer Sprachbildung.
Durch die Beschränkung auf eine kleinere Zahl von Sprachen wird
der Vortheil erreicht, die einzelnen Sprachen schärfer zu erfassen, als es
bei der Ausdehnung über ein größeres Gebiet möglich wäre; für die
gewählten Sprachen aber entschied man sich, weil sie unter den indo-
europäischen zu der reichsten Entwickelung gelangt sind und ferner weil
die Werke, die in denselben niedergelegt, für unsere Bildung so bedeut-
sam sind, daß ihre Grammatik der gründlichen Erforschung wohl vor-
züglich würdig ist. Durch Besonnenheit der Methode, sowie durch Klar-
heit und Bündigkeit der Darstellung wird sich die Zeitschrift jedem Phi-
lologen empfehlen.
So eben erschienen:
ÜBER DIE NAMEN DES DONNERS, von Jacob
Grimm. Eine academische Abhandlung vorgelesen am
12. Mai 1853. gr. 4. geh. 12 Sgr.
Unter der Presse befindet sich:
DE L’ACCENTUATION LATINE par Henri Weil et
Louis Benloew. Paris. ca. 20 Bog. gr. 8. Preis ca. 2 Thlr.
Dies Werk wird eine Theorie und Geschichte des lateinischen Ac-
cents liefern.
[][][]
Auflage. Für den ersten Band haben wir im Laufe unseres Buches immer
die dritte Auflage benutzt.
erregen, sollte ihn bedünken, meine Verehrung Humboldts habe doch einen gar
zu religiösen Charakter und sei eine Art Buddhismus, indem ich jetzt schon
bis zur Sutra-Zählung gekommen sei und bald eine vollständige Masora geben
werde: so frage ich: Zählen nicht andere Gelehrte die Wörter der Vedas?
oder des Homer? — Nicht darauf aber kommt es an, was man zählt, son-
dern wie und zu welchem Zwecke man zählt.
ersten Seiten dargelegt habe, in Uebereinstimmung mit Böckh.
„rein logisch zu definiren sei.“
führte: wenn es schönes Wetter ist, so steht das Quecksilber hoch, wofür auch
gesagt wird: wenn das Quecksilber hoch steht, so ist schönes Wetter. Ante-
cedens und consequens werden also verdreht.
Besonderm, würde also zur logischen Form gehören. Doch diese Einwendung
will wenig sagen; ist doch sogar Sein und Thätigkeit, worauf die gramma-
tische Form beruhen soll, von Besonderm und Allgemeinem nicht verschieden.
werden, und daß sie daher den letztern in gewissem Sinne vorangehen“,
konnte einem Psychologen wie Herbart nicht entgehen (vergl. sein Lehrbuch
zur Psychologie 2. Ausg. §. 78. 79. 180. ff.)
Hegel den Vorwurf aussprechen, daß Trendelenburgs Substanz nicht die des
Spinoza, sondern das Hegelsche Object; die Substanz Spinozas aber der un-
vollkommen erkannte Begriff Hegels sei. Daß aber Hegel so sprechen würde,
weiß Trendelenburg.
in so weit sie nämlich bei so großer Verschiedenheit noch möglich ist.
gen, wenn sie gemacht sind, sehr einfach finden und mit ihrem Neide und
ihrer Verkleinerungssucht große Männer, bedeutende Verdienste am wenigsten
schonen. Ihnen erzähle man das Anekdötchen von den auf die Spitze zu stel-
lenden Eiern. Was wir im Obigen wollen, das ist, um es kurz auszudrücken:
dem Allgemeinen die Ehre, ohne die Person zu beeinträchtigen, die eben das
Allgemeine darstellt.
sere Ausicht, wenn man das Gesagte auch auf Frankreich ausdehnen wollte.
Abhandlung über den Tastsinn vervollständigt wird.
lich daß ein Nerv durch den Muskel, in welchem er verläuft, gereizt wird,
weil dieser von einem andern Nerven, der ebenfalls auf ihn wirkt, zur Be-
wegung gebracht ist, habe ich zwar nichts gelesen; sollte sie aber unmög-
lich sein?
deutung, wie sie auch der Etymologie nahe steht oder vielleicht ganz gleich-
kommt. Im Hebräischen und Chinesischen bedeutet sehen überhaupt sinnlich
wahrnehmen. Man sollte die Anschauung in dieser niedrigen Bedeutung las-
sen. Man spricht wohl auch von der allgemeinen Anschauung der Natur, des
griechischen Lebens, u. s. w. Dafür aber sollte man das Wort Idee verwenden,
und diese nicht, nach französischer und englischer Weise, von ihrer Höhe zur
gemeinen Vorstellung herabziehen. Auch die Unterscheidung der Idee von Be-
griff ist nicht schwer. Dieser drückt das allgemeine, noch abstracte, Princip
aus. Ihm wohnt allerdings die schöpferische Kraft inne, die Wirklichkeit zu
schaffen; aber erst die Erkenntniß des verwirklichten, nach allen Seiten in
vielen einzelnen Schöpfungen entwickelten Begriffs liefert die Idee. Der Be-
griff des Rechts z. B. ist der Ausgangspunkt sowohl der Schöpfung aller Rechts-
bestimmungen und Gerechtigkeitsanstalten eines Volkes oder Gesetzgebers, als
der Forschung und Darstellung des Rechtsgelehrten; die Idee des Rechts ist
das in der Breite seiner Entwicklung begriffene Recht, das Gesammtergebniß
der Rechtswissenschaft. Der Begriff ist abstract, die Idee ist dessen Verwirk-
Anschauung. Er definirt (Lehrbuch zur Psychologie §. 204. Psychologie II,
§. 147.): „Anschauen heißt, ein Object, gegenüber dem Subjecte, als ein sol-
ches und kein anderes auffassen.“ Dies verlangt freilich schon ein sehr ent-
wickeltes Selbstbewußtsein; es ist aber vielmehr Beobachtung, welche die
Qualitäten des Objects aufsucht, „indem wir mit Besonnenheit etwas besehen
und betrachten.“ Wie sehr hier die Bedeutung des Wortes Anschauung er-
höht ist, geht aus der widerspruchsvollen Bemerkung Herbarts hervor: „Daß
in der Anschauung, als Grundbestandtheil derselben, Empfindung liege: ver-
steht sich zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr
wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Subjects, als auf
die der andern, davon zu unterscheidenden Objecte. Das heißt: die An-
schauung wird verlieren an dem, was an ihr charakteristisch ist.“
Darum aber, meinen wir. vernichtet sich hier die Anschauung und wird Beob-
achtung.
der Dichter des Barbier von Sevilla, Figaros Hochzeit und der schuldvollen
Mutter, einer der Vorbereiter der französischen Revolution, hatte einen Hund,
auf dessen Halsband er die Inschrift eingraben liefs: Beaumarchais m’appar-
tient. Diese hündische Niederträchtigkeit, die sich mit vieler Logik zum Hund
eines Hundes erklärt, ist Rameaus Neffen würdig, eine bezeichnende Aeuße-
rung der Gesellschaft, welcher Beaumarchais und Rameaus Neffe angehören.
Und nun, muß man nicht an die Wunder Hegelscher Dialektik glauben, an
das Umspringen der Gegensätze, wenn man bald darauf in derselben Gesell-
schaft von einer Verkündigung der Menschenrechte hört? Und wenn man an
solche Wunder nicht glaubt, wenn man nach der Logik der exacten Physik
in jeder Folge nur die ihr angemessene Ursache erkennt, wird man sich ent-
halten können, in der Proclamation der Menschenrechte etwas anderes als eine
Lüge zu sehen, würdig der Gesellschaft, der sie entsprang? So müßte man
schließen aus den Prämissen, selbst wenn die Consequenzen, der weitere Ver-
lauf der Revolution unter Marat, dem Terrorismus, Napoleon nicht noch deut-
licher sprächen. Und bis heute hat sich nichts geändert. Und solche Revo-
lutionen weiß man in Deutschland immer noch als große Schöpfungen der
Weltgeschichte zu rühmen! Viel Logik möge man in ihnen sehen — nur nicht
die Logik des weltgeschichtlichen Geistes; furchtbare Ausbrüche der Lüge,
nicht der Wahrheit. — Aber wann wird Deutschland aufhören, die wider-
spruchsvolle Erscheinung darzubieten des geistig größten und dennoch un-
selbständigsten Volkes! Nachdem man oben, an den Höfen zuerst, angefangen
hatte, französische Hofsitte einzuführen, hat man auch unten begonnen, fran-
zösische Volksmanier anzunehmen — Logik und Nemesis! Andere blicken
nach England, wo dicke Finsterniß des Mittelalters an hellem lichtem Tage
herrscht, wo es unter den Protestanten Mönche giebt. Man weiß es vielleicht
in Deutschland nicht, daß z. B. die Lehrer der Colleges der Universität Oxford
sich nicht verheirathen dürfen. Wie arm müssen die reichen Deutschen sein,
die sich zu jenen bettel-mönchischen Protestantisten gesellen! Da bin ich nun
freilich aus einem Excurs von neuem excurrirt. Ich bitte um Entschuldigung.
Taubstummen. Der oben erwähnte Brief, der uns nach Abfassung dieses Auf-
satzes zu Gesicht gekommen ist, war ein lithographirtes Facsimile.
ihnen dieselben nicht in die Hand arbeiten? Wenn sie es thun — wir müs-
sen verstummen.
daß die Pronomina von Verbalwurzeln abgeleitet sind?
finitivs erschöpfend zu behandeln, noch weniger die Untersuchungen darüber
definitiv abzuschließen — eine thörichte Anmaßung, die mir überall fern
bleibt. Ich beabsichtige, sobald ich in eine freiere Lage komme, dem Infini-
tiv eine Monographie zu widmen, in welcher ich seine Verhältnisse vollstän-
diger darzustellen, durch möglichst viele Sprachen zu verfolgen gedenke, und
ihn in seinem Wesen dann auch tiefer zu erfassen hoffe.
„die Classification der Sprachen, dargestellt als die Entwickelung der Sprach-
idee“ auch Böhtlingk über diesen Punkt sich geäußert hat, jedoch in einer
wenig befriedigenden Weise. (Böhtlingk, Ueber die Yakutische Sprache). Ich
kann nur bedauern, daß ein so verdienstvoller Mann sich auf ein Gebiet ein-
lassen konnte, wo er nicht einheimisch ist, auf Probleme eingehen konnte, de-
ren Wesen er nicht begriffen hat. Ich würde aus Achtung vor seinen vor-
trefflichen Leistungen auf dem historischen Sprachboden dies gern ignorirt
haben, wäre ich nicht öffentlich (durch Pott) aufgefordert worden, zu sagen,
was ich über seine Ansicht und seine Bekämpfung der meinigen denke. Ueber
letztere muß ich hier schweigen, da es besser ist, nichts zu sagen, als ein Weni-
ges statt des Vielen, was zu sagen wäre, hier aber nicht gesagt werden kann.
In einem Seitenstücke zum vorliegenden Buche, in einer Arbeit über die Me-
thode der Grammatik, werde ich Gelegenheit haben, auf alles hier in dem
Abschnitte über die Verschiedenheit der Sprache nur Angedeutete ausführlich
zurückzukommen. Was aber Hrn. Böhtlingks sogenannte eigene Ansicht be-
trifft, die keineswegs neu ist, sondern schon im Mithridates, wenn nicht Ade-
lungs, wenigstens Vaters, vorliegt: so genügt dagegen eine Verweisung auf
Humboldts Einleitung in die Kawi-Sprache S. CCLXVIII oder 252.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Grammatik, Logik und Psychologie. Grammatik, Logik und Psychologie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmps.0