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Spatziergänge.

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Erſter Theil.


Berlin: 1774.
BeyChriſtian Friedrich Himburg.

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Vorrede.


Von meinen früheſten Jah-
ren an hab’ ich einen groſ-
ſen Theil meiner Zeit mit Spatzie-
rengehen zugebracht. Es iſt mir
nicht unbekannt, daſs ich da-
durch, bey meinen lieben Lands-
leuten, in den unverſchuldeten Ruf
eines groſsen Müſsiggängers ge-
kommen bin. Freylich wohl,
wenn ich nur gegangen wäre und
immer gegangen wäre, um zu ge-
[4] hen, um die Zeit zu tödten, um
die Welt anzugaffen, ſo könnt’
ich leicht an dem Körper meines
kleinen Staats ein unnützer Aus-
wuchs, ein Hünerauge z. E., oder
ſonſt etwas ähnliches geſchimpft
werden, und die richteriſche Schee-
re verdienen. Aber meine lieben
Mitbürger und Mitbürgerinnen,
wie konntet Jhr mich ſo lieblos
verurtheilen? Jhr beſonders, Jhr
ſchönen Seelen, deren es doch un-
ter jedem Tauſend wohl ein Paar
giebt, wie konntet Jhr Euch von
dem Strome fortreiſsen laſsen, oh-
ne einmal einen kleinen, villeicht,
villeicht auch nicht unnützen
Widerſtand zu wagen? Es iſt
[5] nun einmal nicht geſchehen!
Mein guter Name iſt dahin, und
villeicht auf immer dahin: wenn
ich nicht das letzte daran ſetze,
welches in dem gegenwärtigen Fal-
le nichts anders, als meine Selbſt-
vertheydigung ſeyn kann. Wohl-
an denn, die Sache rede ſelbſt!


Mein Leben war, von der Zeit
an, da ich den Händen der Kinder-
muhme entronnen, auf meinen bey-
den Füſsen einhertrat, ein langer,
und wenn ich ihn nach ſeinem gröſ-
ſeren Theile benennen ſoll, ein
vergnügter Spatziergang. Das iſt
die reine Wahrheit. Nun konn-
tet Jhr wenigſtens doch wohl ver-
muthen, daſs ich zuweilen; wo
[6] nicht immer, im Gehen etwas ge-
dacht haben mögte: Und hättet
Jhr das nur ein einziges mal ver-
muthet, ſo würdet Jhr villeicht
angeſtanden haben zu urtheilen,
bis Jhr auf irgend einem Euch be-
liebigen Wege, die Materie und
Form meiner Gedanken herausge-
bracht hättet. Nichts wäre leich-
ter geweſen. Jhr hättet gefragt:
Jch offenherzig und freymüthig
geantwortet. Mir hättet Jhr den
Verdruſs erſpart, den ich immer
empfinde, wenn man ſchlimmer
von mir denkt, als ich es verdient
zu haben glaube: und Euch die
Beſchämung, Euch in Eurem
Richterſpruche übereilt zu haben.


[7]

Was iſt es aber mehr? Wir
ſind gute Freunde: Wir müſsen
zuſammen leben. Jn kurzem ſollt
Jhr mit meinen beſten Spatzier-
gängen ſo bekannt ſeyn, als nöthig
iſt, Euch zu überzeugen, daſs. ich
ſpatzieren muſste, bisweilen um
überhaupt zu denken, bisweilen
nur um grade ſo und nicht anders
zu denken, als ich gedacht habe.


Wie glücklich wär’ ich, wenn
einer und der andre von Euch
noch ſonſt etwas in meinen Ge-
danken gewahr würde, das ihn
vermuthen lieſse, ich könnte damit
wohl gar die ehrliche Abſicht ha-
ben ihn angenehm zu unterhal-
ten! Denn, daſs ich auf einen
[8] ausgebreiteten, höheren Nutzen
denken; hier gute Triebe ſollte
aufwecken, dort ſchlimme ein-
ſchläfern; böſe Gewohnheiten
ausjäten, gute dafür pflanzen
wollen: das dürfte unter allen
Klaſſen meiner Mitbürger in den
erſten Minuten unſerer Bekannt-
ſchaft, villeicht Niemanden ein-
fallen, als mir, dem


Verfaſſer.

[[9]]

Spatziergänge.



Der erſte Spatziergang.


Jhr lieblichen Sänger dieſes einſamen
Thales! ich komme mein Morgenlied
mit dem eurigen zu verbinden. Jhr ſollt
mich nicht vergebens aufgefodert haben.
Erhebe meine Seele den gütigen Herrn der
Natur, den allgemeinen Vater der Freu-
de! Höre Gott meinen innigen Dank, höre
das Gebet meines Herzens vor Dir!


[10]

Durch Dich ſeh’ ich den Tag wieder.
Du entfernteſt die Gefahren der Nacht von
meiner friedlichen Hütte. Daſs ich noch
ihr froher Bewohner bin, daſs kein Räu-
ber mein Gut und Haabe verringerte, daſs
kein feindſeliger Dolch meinen Tagen dro-
hete, daſs keine Flut meine Felder verheer-
te, daſs keine Flamme über mein Dach zu-
ſammenſchlug, daſs ich noch die Freunde
meiner Seele fröhlich begrüſse und ihren
treuherzigen Gruſs wiederempfange, daſs
ich ſelbſt noch lebe, noch athme, daſs ich
meine Gedanken zu Dir erhebe, daſs ich in
frommer Entzückung was ich empfinde Dir
ſtammle: was iſt es anders, als Deine un-
verdiente Liebe und Huld die keine Schran-
ken kennt?


Gott! was bin ich, daſs Du mich mit
Erbarmung und Langmuth trägſt; was bin
ich, daſs Du mich zum Ziel Deiner Güte
[11] machſt? Bin ich beſſer als jene, die Dein
Grimm von der Erde vertilgt, die das
Schwerdt und die Flamme friſst, die das
Meer begräbt, und Hunger und Peſt zu
Tauſenden hinraft? Wenn ich es nicht bin;
wie ich es mir denn zu ſeyn, ohne ſträfli-
chen Stolz nicht einbilden kann wie ſtark,
wie dringend iſt dann nicht die Anfoderung
Deiner Liebe an mich: Ein ſo guter Bür-
ger Deines Reichs zu werden, als ich nur
immer, mit Anſtrengung meiner Kräfte, zu
werden vermag?


Das ſey denn auch an dem heutigen
Morgen mein erneuerter, feſter Entſchluſs,
der allgemeine Brennpunkt, in welchem
alle meine Handlungen zuſammenflieſsen!
Hier in Deinem groſsen Tempel, dem glor-
reichen Werke Deiner Hand, den Deine
Gegenwart füllt; hier bey dieſem heiligen
Hügel, Deinem Altare, gelob’ ich Dir
[12] Heute und immer eine unbeſtechliche
Treue! Erd’ und Himmel mögen wider
mich zeugen, wenn ich ſie muthwillig ver-
letze; oder, dafern ich ſie in dem unglück-
lichen Rauſche meiner Leidenſchaften ver-
letzt, wenn ich nicht eile, mit Thränen ei-
ner unverſtellten Reue Deine verſcherzte
Liebe wiederzugewinnen! Jhr Hügel um-
her, ihr ſtillen Gebüſche ſeyd Zeugen mei-
ner Gelübde! So oft ich mich euch von
nun an nähern werde, ſo oft wird auch
das Gelübde dieſes ſeligen Tages vor mei-
ne Seele treten; ſo oft wird der Richter in
mir erwachen und mich anklagen, oder los-
ſprechen, und nie werd’ ich von meinem
Gange zu euch zurückkehren, ohne an Tu-
gend und Freude; welches nur Eins iſt,
gewonnen zu haben.



[13]

Der zweyte Spatziergang.


Von einem Gaſtmahle des ſchwelgeri-
ſchen Phanors ermüdet, ſchlich ich dem
dunkeln Buchengange zu, der ſich um die
alten Mauern von N** in allmähliger Beu-
gung herumzieht. O, wie viel ſchöner
als jemals fand ich dieſen Schauplatz der
harmoniſchen Natur! Welch ein Auftritt,
mit dem verglichen, dem ich nur erſt ent-
flohen war! Wie ſehr verkennen ſich die
Menſchen, die von den feinern Wollüſten
nichts wiſsen wollen, die ihnen der gütige
Schöpfer, ſo ohne alle Koſten, vorgeſetzt
hat! Täglich kann ich ſie, und ohne den
bittern Ekel genieſsen, der der gewiſse
Gefährte eurer geſchmackloſen Ueberla-
dungen iſt. Meine ganze Seele nimmt an
ihnen Theil. Jch kann in ihrem Genuſse
[14] dem Gedanken an einen Schöpfer Raum ge-
ben, der mich allgegenwärtig umgiebt, der
das Jnnre meiner Seele bemerkt und auf jede
geheime Abſicht meiner Handlungen acht
hat. Was iſt der flüchtige Kitzel, womit je-
ne gekünſtelten Gerichte die Zunge reitzen;
was iſt die wollüſtige Fieberhitze, die jene
köſtlichen Weine meinen Adern einflöſsen,
gegen den reinen Athem der Luſt, die ich
hier eintrinke; gegen die innige Wärme, die
dieſe mäſsige Bewegung in gleichen Theilen
durch meinen ganzen Körper verbreitet?


Phanor, du haſt nichts darum ich dich
beneiden könnte! Dein rauſchendes Kon-
zert betäubt mich: Jch glaube die Kory-
banten zu hören. Dein Feſt iſt ein Bac-
chanal und deine Tänzerinnen gleichen den
Mænaden an Wildheit. Wie viel glück-
licher bin ich, zärtliche Philomele, da ich
deiner einſamen Klage zuhöre! Mein Herz,
[15] von deinen Tönen erweicht, ſchmilzt in
ſüſser Wehmuth. Jezt ſchweigſt du; ich hö-
re das ſanfte Geſchwätz eines nahen Bachs,
der über entblöſte Wurzeln dahinflieſst,
ich höre den liſpelnden Weſt, der ſich auf
ſchlanken Zweigen wiegt. Und iſt es nicht
ein ungemeiner Gewinn, ſo vieles nicht zu
hören: das Getöſe der Spieltiſche nicht,
wo Ausrufungen und Flüche ſich unauf-
hörlich begegnen; das ungeräumte Ge-
wäſch ſo vieler ſchamloſen Zungen nicht,
die ohne Leben und Bewegung ſind, wenn
ſie nicht der mächtige Weingott regiert?


Phanor! ich bin dein Gaſt nie wieder. Jch
entſage deinen Feſten und dir; oder wenn ich
ja komme, ſo iſt es um dir einen deiner
Gäſte zu entführen, der ein beſsres Schick-
ſal verdient, als den nichts würdigen Haufen
vollzählich zu machen, der von dem Schweiſ-
ſe deines rechtſchaffenen Vaters lebt.


(I. Theil.) B
[16]

Der dritte Spatziergang.


Hier iſt alſo, Klariſſa! die geweihete
Erde die meinen Yorick bedeckt? Denn
das war er, ſowohl ſeiner Laune, als ſeiner
angebornen Gutherzigkeit halber, nach dem
Urtheile aller ſeiner Freunde. Alle nann-
ten ihn ſo, alle liebten ihn ſo, da er leb-
te; alle beweinten ihn ſo, da er ſtarb. —


Was iſt dir meine zärtliche Begleite-
rinn, was iſt dir Klariſſa? Du wendeſt dein
Antlitz hinweg; du ſchweigſt; du ſeufzeſt;
eine glänzende Thräne rollt über deine
Wangen herab? — O! ich muſs dich
um dieſer Thräne willen lieben: Gewiſs!
du muſst ein weiches, fühlendes Herz und
eine ſchöne Seele haben, weil du um mei-
nen Yorick weinen kannſt. War es nicht
auch deine freundſchaftliche Hand die die-
[17] ſen Roſenbuſch pflanzte, und dieſen Wald
von düftenden Kräutern? Was hätt’ ich
mehr thun können, der ich ihn ganz kann-
te, der ich ihn von ganzer Seele liebte, der
ich von ihm ſo herzlich wiedergeliebt wur-
de, daſs auch der letzte Kampf ſeines bre-
chenden Herzens meinen Nahmen nicht aus
ſeinem Gedächtniſse zu verdrängen ver-
mochte?


Ruhe ſanft heiliger Yorick! heilig mit
gröſserem Rechte, als jene vergötterte
Menge die der Aberglaube in ſchimmern-
den Bildern verehrt.


Wenn noch die Seelen unſrer Freunde
ihren ehmaligen Wohnplatz, die Erde beſu-
chen; wenn ſie da noch unſre frommen
Empfindungen mit Beyfall bemerken; wenn
dann noch von uns ein Stral der Freude auf
ſie zurückſchlägt: welche Wolluſt muſs es
deinem uns umſchwebenden Schatten nicht
[18] ſeyn, ein harmoniſches Paar zu deinem Gra-
be reiſen zu ſehen, um da dein Andenken
zu feyern, um da eine kleine Hand voll be-
thränter Bluhmen dem verwachſenen Hügel
zu ſchenken, der deine Gebeine bedeckt?


Ruhe ſanft, guter Yorick! unter den
ländlichen Denkmählern derer, die deine
Lehre und dein Beyſpiel auf eine beſsre Zu-
kunft vorbereitete. Wie mancher mag hier
neben dir ſchlummern, der es dir nun erſt
recht dankt, daſs du ſeine Seele ſo oft von
den kleinen Geſchäften der Erde auf wür-
digere Gegenſtände führteſt; daſs du ſein
Herz für andre empfindlicher machteſt;
daſs du ihn die groſse Kunſt zu leben, und
in ihr, die noch gröſsre zu ſterben lehrteſt!
Wie mancher mag hier ſchlummern, den
dein Beyſpiel Gleichgültigkeit gegen die Gü-
ter der Welt, Mäſsigung im Glück und im
Leiden Geduld predigte; wie mancher,
[19] den deine wohlthätige Hand vor Mangel
bewahrte, den du kleideteſt, den du mit
Speiſe, mit tröſtender Rede erquickteſt!


Heil dir, rechtſchaffener Mann, in den
Wohnungen des Friedens, für ſo manche
edle That dadurch du die Menſchheit ehrteſt,
und ein ehrwürdiges Amt auch bey denen
in Anſehn brachteſt, die ſonſt eben nichts
zu achten gewohnt ſind was mit der Reli-
gion in näherem Zuſammenhange ſteht! Du
haſt die Pflichten deines Lebens erfüllt; du
haſt ſeine zweifelhaften Freuden genoſsen,
in ſo weit dein immerſiecher Körper des
angenehmen Eindrucks äuſserer Gegenſtän-
de empfänglich war. Dein für uns zu
zeitiger Tod war eine wahre Wohlthat für
dich aus den Händen der himmliſchen Gü-
te, die dich dieſer beſchwerlichen Bürde
früher entlaſten, und deine Seligkeit durch
einen zeitigern Genuſs vergröſsern wollte.


[20]

Dieſer Gedanke erhebe uns Klariſſa!
Trockne die Thränen von deinen Wangen!
Sie nützen ihm ſo wenig als unſer Lob.
Dieſs ſey ſein Denkmahl in unſern Herzen,
daſs wir uns ermuntern, wie er unſrer Be-
ſtimmung gemäſs zu handeln! Wir wollen
es verdienen ſeine Freunde geweſen zu ſeyn.
Unſer Leben ſey eine redende Lobſchrift
für ihn! Unſre Seele ſterbe den Tod dieſes
Gerechten! Villeicht wallen dann einſt auch
zwey oder drey empfindſame Seelen zu un-
ſerm Hügel, um da einige Thränen fallen
zu laſsen, um da Bluhmen einer frommen
Entſchlieſsung zu brechen.



[21]

Der vierte Spatziergang.


Was macht mich ſo unruhig an dieſem
reizenden Tage, in dieſer Elyſiſchen Flur?
Jch erwartete meine Lalage, und ich habe
ſie vergebens erwartet! Konnt’ ich un-
glücklicher ſeyn? Alle Freuden dieſes Ta-
ges ſind nun für mich dahin! Jch empfinde
nichts, ich denke nichts mehr; oder wenn
ich etwas empfinde, ſo iſt es nagender Un-
muth und böſe Laune, die ich nicht über-
wältigen kann. Wild irr’ ich umher. Mei-
ne Augen wollen dem geliebten Gegen-
ſtande allenthalben begegnen. Von man-
cher entfernten Erſcheinung getäuſcht, von
manchem rauſchenden Zephyr betrogen, geb’
ich alles verloren. Nun flieh’ ich durch un-
bepfadete Felder, durch öde Gebüſche zu-
rück. Lycidas kommt auf mich zu. Sonſt
begegne ich ihm ſo gerne: Jetzt wünſcht’
[22] ich ihm ausweichen zu können, und da ich
es nicht kann, ſo ſchrecke ich ihn mit einer
ungewöhnlichen Kälte zurück; ich ſpiele
die Rolle des Geſchäftigen; ich rede mich
von ihm los; es iſt mir unmöglich bey
ihm auszuhalten. Jede menſchliche Geſtalt
iſt mir verhaſst; jede Rede, die kein Sil-
berton von Lalagens Lippen iſt, klingt
meinen Ohren abſcheulich. Die ſichtba-
re Noth des Dürftigen, die mein Erbarmen
mit lauter Stimme fodert, macht einen
ſchwachen Eindruck auf mich. Mein Herz
iſt gegen alle menſchlichen Empfindniſse,
gegen jedes zärtliche Gefühl, gegen
Freundſchaft und Menſchenliebe verhärtet.
Ich finde mich mürriſch, ungerecht und
grauſam. Und dieſs alles, warum? Um ei-
ner geringen Fehlſchlagung willen, die ich
nicht nennen darf, wenn ich nicht lächer-
lich werden will. O, Schande, Schande
[23] für dich, kleines, verächtliches Herz! Jſt
das nun die Frucht eines vieljährigen Nach-
denkens über das was Recht und Unrecht
iſt, über das was man lieben, haſsen, oder
für gleichgültig halten ſoll? Eine einzige
ſcheinbare Idee, die villeicht nur ein be-
trüglicher Traum einer erhitzten Phantaſie
iſt, bringt dieſe fremde Wirkung hervor.
Dieſe lange, ſo ſorgfältig geknüpfte Kette
moraliſcher Weisheit reiſst in einem fatalen
Augenblicke ab. Schon hatte ich, das
dacht’ ich, die heitre Höhe erreicht, wo
ich die Stürme der Leidenſchaften verach-
ten zu können glaubte: Und ich ſtehe nun,
wie durch den Schlag eines Zauberſtabes,
auf einmal, mit allen übrigen ehrlichen
Bürgern der Erde, auf gleichem, ebenen
Boden, allen menſchlichen Schwachheiten
und Begegniſsen ausgeſezt! Und ſo klein
iſt wohl niemand, als ich mir ſelbſt nach
[24] dieſer unerwarteten Kataſtrophe zu ſeyn
dünke! So aufgeblaſen und ohnmächtig! So
ſicher und hülflos! Jch weiſs was ich thun
will. Wenn mir die himmliſche Güte ihre
helfende Hand beut; wenn ſie mich dieſem
gefährlichen Wege entzeucht; wenn ſie es
hindert, daſs ich nicht ganz falle: O! dann,
dann ſoll die ſchwülſtige Ueberredung mich
nie wieder zu einem blinden Vertrauen auf
meine Stärke verleiten. Jch kenne dieſe
ſchimmernde Rüſtung: ſie bedeckt mich
nicht ganz. Es ſind Lücken übrig wodurch
ich verwundet werden kann. Nur dann hab’
ich die Höhe erreicht, die den Sterblichen
zu erreichen vergönnt iſt, wenn ich that was
ich konnte, und für das Uebrige mich in die
Arme meines allgütigen Vaters warf, der
meine kindiſche Schwachheit mit unendli-
cher Erbarmung überſieht, und von ſeiner
Liebe ſeine züchtigende Hand ſelbſt zu mei-
ner Glückſeligkeit lenken läſst.


[25]

Der fünfte Spatziergang.


So ſeh’ ich dich denn wieder, holdſeliges
Eyland! zwey traurige Jahre ſind es, ſeit
ich mich zum leztenmale im Schatten deiner
Geſträuche verbarg. Seitdem ſtrömte die
wildeſte Flut hoch über deinen grünen Rü-
cken dahin; ſeitdem ſang kein zufriedner Vo-
gel aus dieſen Büſchen hervor. Aber nun
kömmt ein ſegensvolleres Jahr! Deine ab-
hängigen Ufer kleiden ſich ſchon mit düf-
tenden Kräutern und Bluhmen. Wellenlos
und unmerklich rollet der Strom vorüber,
eine glatte, bewegliche Fläche, ſcheinet
hier gerne zu verweilen. Wie iſt hier
alles ſo ruhig, ſo feyerlich ſtille! Bin ich
es nicht ſelbſt ſchon in dieſen glücklichen
Augenblicken geworden? Was meine Ver-
nunft, mit einem ganzen Heere von Schlüſ-
[26] ſen, nicht auszurichten vermochte, das
kann dieſe ſanftahtmende Luft, dieſes lieb-
liche Blau des alles umfaſſenden Himmels,
dieſer unnachahmliche Teppich von Bluh-
men und Muſcheln und farbichten Steinen,
dieſes ſtillflieſsende Gewäſser mit ſeinen Jn-
ſeln und büſchichten Ufern. Wo ſind ſie,
alle dieſe ſtürmenden Leidenſchaften, die
mein Jnnres durchtobten? Mit einem em-
pörten Herzen verlieſs ich meine Woh-
nung; mit einem beruhigten, lenkſamen,
verſöhnten, zu einer jeden Erſetzung bereit-
willigen, kehre ich dahin zurück. Mein
kühleres Blut gleitet mit gleichem Laufe
in ſeinen Ufern fort. Jeder Gegenſtand
erſcheinet mir nun wieder in ſeiner eigent-
lichen, wahren Geſtalt. Dieſs iſt die Stun-
de, die glückliche Stunde eines heilſamen
Bewuſstſeyns meiner ſelbſt. Was war ich?
Wie weit entfernte mich dieſe auflodernde
[27] Fieberhitze von dem ſchmalen Wege einer
weiſen Mäſsigung, auf dem man doch nur
allein zu einer wahren Ruhe gelangt! Frey-
lich war es nicht mein Fehler allein, daſs ich
zu dieſem unwürdigen Betragen herunter-
ſank; aber ich weiſs, daſs ich dazu beytrug,
oder ich müſste mich im mindeſten nicht er-
kennen wollen. That ich wohl alles was ich
konnte, den erſten Funken den ich auffing
zu löſchen, ehe er einen zweyten erregte?
Wandte ich dazu wohl die halbe Behut-
ſamkeit an die ich anzuwenden pflege,
wenn es darauf ankömmt eine geliebte Lei-
denſchaft, einer Menge ſich entgegenſtel-
lender Schwierigkeiten ungeachtet, zu be-
friedigen? Jch weiſs es zu gut, daſs ich es
nicht taht. Jch fühle darüber den gerech-
teſten Verdruſs und das angemeſsenſte Miſs-
fallen an mir ſelbſt.


[28]

Prüfe, o Gott! und erfahre mein Jnn-
res. Deine Güte fand in dieſem Glanze
der verjüngten Schöpfung, in dieſer an-
muthsreichen lachenden Landſchaft ein
glückliches Mittel, meine betrogne Seele
zu einer richtigen Empfindung ihres Zu-
ſtandes zurück zu bringen. Du wirſt Dein
Werk nicht unvollendet laſsen. Zeige mir
den Weg, den ich wandeln ſoll!



[29]

Der ſechſte Spatziergang.


An einem Sonntage, da ich dem öffent-
lichen Gottesdienſte in der Frühſtunde
beygewohnt hatte, reizte mich das blühen-
de Kornfeld und die gemäſsigte Luft, einen
weiten Spatziergang zu unternehmen. Jch
hatte eben eine Predigt gehört. Es war
ganz natürlich, daſs ich mit meinen Ge-
danken darauf zurückkam und gewiſs! es
war eben ſo natürlich, daſs ich mich ſelbſt
befragte:


Jſt denn das was man eine Predigt
nennt, überhaupt wohl die rechte Art des
Unterrichts für eine ſo gemiſchte Menge
von Zuhörern, die ſich an Stand und Fä-
higkeiten ſo ungleich, und von ſo verſchie-
dener moraliſcher Geſundheit und Krank-
heit iſt? Scheint es nicht, daſs eine zu-
[30] ſammenhängende, lange Rede, deren Thei-
le ſich auf irgend einen gemeinſchaftlichen
Hauptſatz beziehen müſsen, eine mehrere
Anſtrengung der Seelenkräfte erfordere,
als man von dem groſsen Haufen erwarten
kann?


So ſcheint es, antwortete ich mir
ſelbſt; und ſo iſt es auch würklich, fuhr
ich fort.


Der Erhohlungsgeſang, mit dem man
die Rede zu theilen gewohnt iſt, iſt ſelten
recht geſchickt dem angemerkten Mangel
abzuhelfen. Der ſogenannte Eingang, der
eine Vorbereitung auf das Folgende ſeyn
ſoll, iſt mehrentheils ſchon eine Rede im
Kleinen, die die Aufmerkſamkeit mancher
Zuhörer ſchon ſo weit erſchöpft, daſs ſie
nachher für ſich nicht viel mehr übrig ſe-
hen, als zu ſchlafen; oder an etwas andres
zu denken. Die Anatomie der Predigt ſoll
[31] dem Gedächtniſe des gemeinen Mannes zu
Hülfe zu kommen und ſeine Aufmerkſam-
keit zu unterhalten dienen. Die Abſicht
iſt gut; aber ſie wird nur zum Theil er-
reicht. Mehrentheils nimmt man das Ske-
lett für den Körper. Man behält den
Text und die darauf gebaueten Sätze, und
denkt nicht einmal daran, ob es ſonſt noch
worauf ankomme. Und was ſoll denn die
Weiſe über einen Text zu predigen? Es
mag immer nützlich ſeyn, den groſsen
Haufen zu gewiſsen Zeiten mit dem wahren
Sinne einer ſchweren bibliſchen Stelle be-
kannt zu machen; es mag immer nothwen-
dig ſeyn, manchen vorzutragenden Satz aus
der Schrift zu erläutern, oder auch zu be-
weiſen, wenn er nicht beſſer bewieſen
werden kann. Wozu aber der Zwang, ei-
nem ſchon bearbeiteten Stoffe eine paſſende
Schriftſtelle vorzuſetzen, oder auch von ihr
(I. Theil.) G
[32] erſt Anlaſs zur Abhandlung herzunehmen?
Der Text iſt mehrentheils nur ein Motto,
und der Werth eines Mottos iſt entſchieden
genug. Jſt es nun gar eine heilige Sitte
über beſtimmte Evangelien und Epiſteln zu
predigen, ſo weiſs man vollends nicht, wie
man den Gebrauch ſo unſchicklicher Mittel
zu einem der wohlthätigſten Endzwecke
rechtfertigen ſoll. Wie viele ungehirnte
Vorträge, wie viele Kinderſpiele des Witzes,
wie viele ſinn- und geſchmackloſe Gedan-
ken ſind dadurch nicht veranlaſst worden!
Tauſend und aber tauſend Ladenhüter, und
noch ſo viel tauſend Makulaturbände in den
Buden der Gewürzkrämer ſind redende Be-
weiſe davon. Nicht zu gedenken, daſs die
Unwiſsenheit ſo mancher Geiſtlichen da-
durch unterhalten wird, die ſich nun um
den übrigen Theil der H. S. nicht ſonder-
lich bekümmern, ſo muſs es doch ſelbſt
[33] auch einem Manne von Genie ein uner-
träglicher Zwang ſeyn, ſein ganzes Leben
hindurch in einem immer wiederkommen-
den Kreiſe herumzugehen. Nicht minder
iſt es ein ſehr nachtheiliger Umſtand, daſs
man bey den vorgeſchriebenen Texten bey
weiten nicht alles ſagen kann, was dem Zu-
hörer zu wiſsen unumgänglich nöthig wä-
re. Freylich hab’ ich Poſtillen geſehen in
denen unter den gewöhnlichen Evangelien
und Epiſteln die ganze Dogmatik und Mo-
ral abgehandelt war. Aber wehe dem der
ſie zu leſen verdammt iſt! Die Sache iſt zu
ernſthaft, als daſs man ſie belachen ſollte:
ſie verdient den frommen Wunſch, daſs
ſich das Licht der geſunden Vernunft und
des geläuterten Geſchmacks auch an ſol-
chen Orten verbreiten möge, wo man noch
ohne alle weitere Prüfung, mit einer Art
von Aberglauben, den Gebräuchen ſeiner
[34] lieben Väter und Groſsväter anhängt. Vil-
leicht aber hält uns der gewöhnliche Jnhalt
unſrer Predigten für einige der angezeigten
Mängel ſchadlos? Gemeiniglich handelt
man Glaubenslehren und Lebenspflichten
ab. Doch iſt das erſte gewöhnlicher als
das letzte. Warum? Weil es leichter iſt.
Man darf nur mit ſeinem Syſteme bekannt
ſeyn und die geſtempelte Terminologie in
ſeiner Gewalt haben; man darf nur eine
bekannte Anzahl von Schriftſtellen gehöri-
gen Ortes anzubringen wiſsen, ſo geht das
Ding von ſelbſt. Kandidaten aus einer ge-
wiſsen Schule ſind in dieſer Art des Vor-
trags beſonders geübt. Sie gehören zu den
theuren Rüſtzeugen einer übelverſtandenen
Orthodoxie, die, wie man zu reden pflegt,
eine Predigt aus dem Aermel ſchütten kön-
nen. Mit dem Vortrage einer geſunden
Moral hat es etwas mehr zu bedeuten.
[35] Dazu gehört Kenntniſs des menſchlichen
Herzens, die freylich nicht Jedermanns
Ding iſt; dazu gehört Wiſſenſchaft und
Erfahrung, die freylich nicht viele Kandi-
daten aus den Kollegien mit nach Hauſe
bringen. Jn ihren mühſam zuſammenge-
ſchriebenen Heften iſt davon ein tiefes
Stillſchweigen. Und wenn denn ja hin
und wieder einmal ein moraliſcher Satz vor-
getragen wird, ſo iſt man der Sache ſo un-
gewohnt, daſs man entweder bey ganz all-
gemeinen Dingen ſtehen bleibt, Tugend
überhaupt lobt, Laſter überhaupt ſtraft,
oder zu einem individuellen Fehler irgend
eines Mitgliedes der Gemeine heruntergeht,
dabey es denn die beſte Gelegenheit giebt
einer perſönlichen Widrigkeit Luft zu ma-
chen. Aus dieſem Mangel von Weltkennt-
niſs rühren denn auch die oftmaligen Aus-
fälle auf Religionsſpötter, Naturaliſten,
[36] Deiſten und Ketzer her, ſelbſt an ſolchen
Orten, wo man dieſe Gattungen von Men-
ſchen kaum dem Namen nach kennt.


Nach einmal angenommenen Begriffen,
iſt alſo die Predigt eine Rede. Und dieſe
Rede iſt an den mehreſten Orten bey nahe
nur die einzige Art des öffentlichen allge-
meinen Unterrichts. Was entſteht daraus?
Man erreicht eine jede Abſicht eher, als die
eigentliche Belehrung des gröſsern Haufens,
auf deſsen Erbauung das Amt der Boten
Chriſti doch wohl am meiſten abzwecken
ſollte. Gemeiniglich herrſcht in dieſen Re-
den ein gewiſser Modeton, der ſich bald
weniger, bald mehr von ihrem eigentlichen
Ziele entfernt. Gott! was hat man ſeit
Luthers Zeiten nicht alles ſchon für Pre-
digten, oder wie mann es höchſt ungebühr-
lich zu nennen pflegt, für Dein Wort ver-
kauft! Jch habe groſse Sammlungen von
[37] Predigten geſehen, die von Griechiſchen,
Hebräiſchen und Lateiniſchen Wörtern
ſtrotzten; ich habe Predigten geſehen, die
nach dem Leiſten einer Schul-Chrie ge-
macht waren. Man hat noch in unſern Ta-
gen ganze Kanzelreden, bis aufs Vater unfer
und den Segen, in Verſe gebracht. Zu
einer andern Zeit wurden nur die Haupt-
ſätze mit Reimen verſehen; dann wurde je-
de Lücke, die der Redner nicht auszufüllen
wuſste, mit einem Verſe aus einem Kir-
chenliede beſetzt: ein Stoſsſeufzer machte
den Anfang, und ein gereimter Denkſpruch
wurde dem Zuhörer mit nach Hauſe gege-
ben. Dann wurden wieder einmal die
elendeſten Mährchen für Wahrheit erzählt,
und mit der Geſchichte des zeitigen Evan-
gelii, mit der ſie einige Aehnlichkeit hat-
ten, ſo gut es nur immer angehn wollte,
verbunden. Dann wurde das Allegoriſiren
[38] Mode. Dann predigte man philoſophiſch.
Nicht, daſs man die vorzutragende Wahr-
heiten an die Regel der geſunden Vernunft
gehalten, oder eine kluge Ordnung in den
Vortrag gebracht, oder in einer verſtänd-
lichen Sprache Wahrheiten der geſunden
Menſchenvernunft dem Sinne eines mäſsig
achtſamen Beobachters ſeiner ſelbſt vorge-
legt hätte. Wie ſelten geſchahe das! Selbſt
die ſchätzbaren Männer die dieſen Ton zu-
weilen angegeben, die Saurins und unter
uns die Moſheime, gingen nur gar zu oft
über den Horizont des gemeinen Denkers
hinaus. Deſto öfter definirte man aus ſei-
nen Kompendien; deſto öfter kettete man
lange Schluſsreihen zuſammen, und führte
die ganze metaphyſiſche Terminologie in
Schlachtordnung gegen den armen gähnen-
den Zuhörer an, dem mehrentheils nicht
viel anders zu Muthe war, als wenn ein
[39] Malabar die Kanzel beſtiegen und ihn in
ſeiner Landesſprache angeredet hätte. End-
lich gab ein veränderter Geſchmack und ei-
ne umgegoſsene Sprache auch der Kanzelbe-
redſamkeit eine neue Geſtalt. Es iſt wahr,
es ſind Männer unter uns aufgeſtanden die
mein Misfallen an dem Predigen um ein
vieles gemindert haben würden; aber wie
viel Unkraut iſt nicht um und neben ihnen
aus einem Boden emporgewachſen! Hier
tönt ein erhitzter Jüngling auf Klopſtocks
epiſcher Trompete; die Bruſt voll Olym-
pus donnert er aus den Wolken herab.
Das iſt ein Prediger! Man verſteht ihm
zwar kein Wort; aber es iſt doch alles ſo
ausgeſucht, ſo ſchön, ſo wohlklingend!
Unſre Damen hören ihn ſo gerne; er er-
hält uns in einer ſo angenehmen Betäubung.
Ein andrer ahmet in allen ſeinen Ausſchwei-
fungen den klagenden Young nach. Er
[40] hat es einmal beſchloſsen nichts auf eine ge-
meine Weiſe zu ſagen. Jeder Gedanke wird
ihm ein Bild, jede Erläuterung ein Gleich-
niſs, und alle Kraft des Beweiſes zieht ſich in
einer entſcheidenden Antitheſe zuſammen.
So raſet ein Kranker in der Fieberhitze.


nec pes, nec caput uni

redditur formœ. ‒ ‒ ‒

Alle dieſe angeblichen Redner würden ſich
nicht einen Augenblick bey ihrer Würde
behaupten, wenn wir nicht in einem Zeit-
raume lebten, in welchem alles was neu
iſt für vortrefflich gehalten wird, wo man
über den Glanz nicht bis zu dem innern
Werthe und über den Wohlklang nicht bis
zu dem Sinne der Rede hindurchdringt.


Unter dieſen Gedanken, die ſo unme-
thodiſch, nach dem gemeinen Geſetze der
Einbildungskraft auf einander folgten, war
ich nach einer guten Stunde ſo ganz von
[41] meinem gewöhnlichen Wege abgekommen,
daſs ich, in der Mitte eines ziemlich dich-
ten Gebüſches, nicht eigentlich herausbrin-
gen konnte, wohin ich mich wenden
müſste, wenn ich wieder nach Hauſe zu-
rükkehren wollte. Jn dieſen Umſtänden
iſt der Anblick eines Menſchen die will-
kommenſte Erſcheinung. Jch hörte den
Fuſstritt eines Wandrers, und bald genug
ſtand ein kleines männliches Weſen, in ei-
nem grauen Ueberrocke, von einem Hunde
begleitet, in der Hand einen Dornenſtock,
unter dem Arme eine Bibel, mir zur Seite.
Magiſter Serenus war es, der vom Filiale
kommend, nach ſeinem Pfarrdorfe zurück-
ging, wo er an dieſem Sonntage die zwey-
te Predigt zu halten hatte.


„Sind ſie es Herr Magiſter? —


Das hätte ich ſie fragen ſollen, mein
theuerſter Herr M*! Denn daſs ich es bin,
[42] den ſie hier ſehen, iſt ſo ganz was gewöhn-
liches; aber ſie, ſie müſsen verirrt ſeyn,
oder auf Abenteuer ausgehen, ſonſt —


Allerdings verirrt, auf eine doppelte
Weiſe verirrt! Jch bin froh, daſs ich ſie
habe: ſie werden mich auf den rechten
Weg helfen müſsen.


Mein Weg geht nach Hauſe. Beglei-
ten ſie mich dahin, und wenn ihnen unſer
ländlicher Gottesdienſt nicht zu verächtlich
ſcheint —


Herr Magiſter! ihr Wenn iſt ein wenig
beleidigend. Kein Gottesdienſt, der ein
einiges höchſtes Weſen zum Gegenſtande
hat, iſt mir verächtlich; und wär’ es der
Gottesdienſt des Muhamedaners. Eben
dacht’ ich über einen Theil des chriſtlichen
Gottesdienſtes, der meiner Meynung nach
einer kleinen Verbeſſerung fähig wäre.
Meine Gedanken führten mich dabey ſo
[43] weit, daſs es leicht ſeyn kann, daſs ich von
dem Wege der Wahrheit ſo weit, als von
dem Wege nach U*** abgekommen bin.


So laſsen ſie uns fortgehen! Denn mit
dem Stillſtehn kommen wir dem Ziele um
keinen Schritt näher. —”


Wir gehen fort, und ich theile meinem
guten Begleiter, auf ſein Verlangen, alles
das mit, was meine Leſer ſo eben von mir
gehört haben.


„Wie nun, mein lieber M*, wenn ſie
die Macht ſo wie den Willen hätten; nicht
wahr? ſie würden ein ganzes Heer von Pre-
digern abdanken, und der Magiſter Serenus
könnte immer zuſehen, wie er ſein tägliches
Brod mit Holzhacken verdiente? Doch ſo
böſe meynten ſie es wohl nicht? Hören
ſie nur! Sie haben in manchen Stücken ſo
ganz unrecht eben nicht meine eigene Er-
fahrung ſpricht für ſie. Jch bin nun dreys-
[44] ſig Jahre im Amte und habe die Sache auf
mancherley Weiſe verſucht. Das muſs ich
ihnen aber geſtehen, daſs ich durch einen
vertraulichen Umgang mit den Gliedern
meiner Gemeine hundertmal mehr gutes,
als durch alle meine Predigten und übrigen
gottesdienſtlichen Vorträge geſtiftet habe.
Nächſtdem hab’ ich auch aus meinen Ka-
techiſationen, denen alle Glieder meiner
Gemeine unterworfen ſind, viel nützliches
entſtehen ſehen. Jch erlaube dabey, daſs
man mich über ſchwierige Punkte befragen,
daſs man mir ſeine Zweifel freymüthig vor-
tragen darf. Doch iſt dieſe Freyheit nur
auf die Glieder eingeſchränkt, die über die
geſetzmäſsigen Jahre der Minderjährigkeit
hinaus und zu reifern Seelenkräften gelangt
ſind —


Da haben ſie in der That das rechte
Fleckchen getroffen! Und ſo vortreffliche
[45] Einrichtungen ſind nicht über die Zäune
ihres Dorfs hinausgekommen? Von alle
dem weiſs ich nichts, ungeachtet ich nicht
über eine deutſche Meile von ihnen wohne.


Was hätt’ es ihnen auch helfen ſollen,
wenn ſie es gewuſst hätten?


Was es mir hätte helfen ſollen? Jch
würde laut davon geredet, ich würde es
allenthalben als etwas vortreffliches, als et-
was nachahmenswürdiges angeprieſen, ich
würde hier und da Beyfall gefunden, ich
würde hier und da einigen guten Samen
ausgeſtreut, und villeicht jetzt ſchon die
Früchte davon geärndtet — —


Oder die Welt von einer gewiſsen Sei-
te kennen gelernt haben. Herr M*! ich
habe bey einer Vakanz einmal in ihrer
Kirche gepredigt. Gott weiſs es, daſs ich
auf meinen Text ſtudirt hatte, und daſs ich
die reine, lautre Wahrheit in einem einfäl-
[46] tigen Tone, obwohl mit einer etwas un-
ſichern, ſchwankenden Stimme vortrug!
Was geſchah? Ein Theil meiner Zuhörer
warf einen verächtlichen Blick zu dem klei-
nen Redner hinauf, der nur eben über das
Kanzelbrett hinausragte; ein guter Theil
ſchlief; das vornehme Frauenzimmer plau-
derte und blickte nach den Herren auf dem
vergoldeten Chore; und der gröſste Theil,
der die Pflichten des Wohlſtandes eben
nicht zu beachten gewohnt iſt, hatte die
Kirche ſchon bey der erſten Abtheilung
meiner Predigt verlaſsen. Nun, mein lie-
ber M*! werden ſie doch wohl begreifen,
warum der Magiſter Serenus noch nie et-
was gutes geſtiftet hat, und es auch jemals,
in der Meynung ihrer Mitbürger, zu ſtif-
ten unfähig iſt? Doch dieſs bey Seite ge-
ſetzt: ſo würd’ es gleichwohl unendlich
ſchwer, wo nicht gar unmöglich ſeyn, in ir-
[47] gend einer anſehnlichen Stadtgemeine, eine
Form des äuſserlichen Gottesdienſtes, die
der meinigen an Gemeinnützigkeit gleich
käme, einzurichten.


Ja, ja! ich ſehe hier manche Schwie-
rigkeiten; aber in Abſicht des öffentlichen
Vortrags müſste doch ſchlechterdings eine
Aenderung getroffen, und das Predigen ab-
geſchafft werden.


Abgeſchaft? Herr M*! für einen Ver-
beſſerer übereilen ſie ſich zu ſehr. Man
ſollte nichts gutes abſchaffen, es wäre denn
daſs man etwas beſſeres dafür in die Stelle
zu ſetzen wüſste. Das ſagt ſich alles unge-
mein leicht und geſchwinde hin; aber bey
der Ausführung ſtöſst man allenthalben an.
Und daran ſollte man doch wohl denken,
ehe man das Abſchaffen beſchlöſse. Es
ſind ja nicht alle Prediger ſchlecht. Hin
und wieder wird doch wohl einer der Zu-
(I. Theil.) D
[48] hörer einem zuſammenhängenden Vortrage
zu folgen im Stande ſeyn; hin und wieder
wird doch wohl einer auf einen Gedanken
ſtoſsen, der eigentlich für ihn geſagt zu ſeyn
ſcheint. Das können ſie unmöglich leug-
nen! Freylich wenn ein feinerer Same bey
windichten Wetter geſäet wird, ſo fällt bey
weitem nicht alles auf den Boden, für den
es beſtimmt war; aber wunderlich müſst’
es doch zugehn, wenn nicht hier und da ein
Körnchen hängen bleiben und aufkeimen
ſollte.”


Jch hatte keine Zeit mehr zu antwor-
ten. Wir hatten den Schlagbaum erreicht,
bey welchem die Jugend des Dorfs ihren
Seelſorger im Sonntagsſtaate erwartete.
Geſundheit und Freude war auf allen Ge-
ſichtern. Ein treuherziger Guter Morgen
erſchallte von allen Lippen. Mein lieber
Magiſter dankte mit einer ihm ganz eignen,
[49] einnehmenden Vertraulichkeit, und nahm
von einem wohlgebildeten, ihm entgegen-
hüpfenden Mädchen einen zierlichen Strauſs
von wohlriechenden Kräutern und Wieſen-
bluhmen an. Der ganze Zug folgte uns
unter dem Geläute der Glocken zur Kirche.
Der Kirchweg war rein gefegt und mit
Laub und Bluhmen beſtreut. Vor der
Kirchthüre fanden wir alle männlichen Ein-
wohner des Dorfs, von dem Greiſe an bis
zu dem funfzehnjährigen Knaben, in zwey
Reihen geſtellt die uns mit abgenommenen
Hüten und freundlicher Begrüſsung empfin-
gen. Jch habe ſonſt wohl dem Einzuge
fürſtlicher Perſonen zugeſehen: allein auf
allen den zehntauſend Geſichtern hab’ ich
nie ein ſo deutliches Wohlgefallen an der
Perſon, die man ehren wollte geleſen. Je-
des Auge ſchien mir zu ſagen: Das iſt un-
ſer lieber Magiſter! Die Kirche fand ich
[50] ohne Schmuck; aber ſehr reinlich und hel-
le; den Boden mit Bluhmen beſtreut, und
die Wände mit Meyen verziert. Der Al-
tar war ein Tiſch. Der Gottesdienſt nahm
ſeinen Anfang mit einem Geſange, der von
einer kleinen Orgel regiert wurde. Mei-
ne Verwunderung war nicht geringe wie
ich das Gellertſche Lied. Mein erſt Gefühl
ſey Preis und Dank u. ſ. w. nach der Ba-
chiſchen Melodie anſtimmen hörte. Der
Geſang wurde langſam, feyerlich und mit
einem Anſtande ausgeführt, davon ich noch
kein Beyſpiel geſehen hatte. Gott! dacht’
ich in mir; ſo giebt es doch noch irgend-
wo in einem unbekannten Winkel der Welt,
einen kleinen verachteten Haufen, der Dir
in der Einfalt ſeines Herzens dient und in
Deinem Dienſte ſeine Luſt findet. Wie
viel anders nahen ſich die ſtolzen Bewohner
der Städte Deinem Heiligthume! Welch ein
[51] Geſang! Jch geſtehe, daſs es mir oft ein
Ekel iſt, ihm zuzuhören; geſchweige denn
ſelbſt an ihm theil zu nehmen. Der veral-
teten Lieder nicht zu gedenken, die ein
zweyhundertjähriger Gebrauch geheiliget
hat, ſo werden oft noch dazu die Arbeiten
der elendeſten Reimſchmiede mit Fleiſs zum
ſingen ausgeſucht, an denen ſelten etwas
erträglich iſt, es müſste denn die Melodie
ſeyn. Auſserdem müſsen die vornehmen
Städter in dem falſchen Wahne ſtehn, als
ſchicke es ſich für ſie nicht, ihre Stimme
mit der Stimme des Pöbels zu vermiſchen.
Denn ſie kommen ſelten eher zur Kirche,
als wann das Singen beynahe vorbey iſt,
und da kann es denn nicht fehlen, daſs
nicht ein anſehnlicher Theil der Gemeine,
durch den Glanz ihres Aufzugs in ſeiner
Andacht geſtört werden ſollte. — Nach
Endigung des gedachten Morgenliedes,
[52] kniete der gute Magiſter vor dem Altare
nieder, und ſprach mit allem Affeckte einer
ungeheuchelten Andacht, ein auf die Um-
ſtände ſeiner Gemeine vollkommen paſſen-
des Gebet aus, wodurch ich bis in dem Jn-
nerſten meiner Seele gerührt wurde. Dem
Gebete folgte ein Schlegelſcher Geſang.
Und dann die Predigt, die aus wenigen,
einzelnen, aus der Schrift hergenommenen,
moraliſchen Sätzen beſtand. Sie waren aber
mit vieler Ueberlegung gewählt und paſsten
alle ganz genau auf die Jahrszeit, auf das
gegenwärtige Gewerbe und die übrigen
Verhältniſse der Gemeine. Die Sprache
des Redners näherte ſich der Sprache des
gemeinen Umgangs, ohne jedoch ins Nie-
drige zu verfallen, und konnte ſchlechter-
dings von einem jeden verſtanden werden.
Beyſpiele und Gleichniſse belebten den Vor-
trag. Und hier war es; wo ich die Gaben
[53] meines Magiſters zu bewundern die meiſte
Urſach fand. Jch habe auſser ihm nur den
einzigen Frankfurther Baumgarten gekannt,
der ſeine Beyſpiele und Gleichniſse mit glei-
cher Einſicht zuzubereiten und anzubrin-
gen wuſste. Der Vortrag dauerte eine gu-
te halbe Stunde, und wurde mit einem Ge-
bete, und der ganze dieſsmalige Gottes-
dienſt mit einem kurzen Geſange beſchloſsen.


Jch war von allem, was ich ſo unerwar-
tet geſehn und gehört hatte, ſo ſehr er-
bauet, daſs ich den Reſt des Tages mit
meinem Magiſter zugebracht haben würde,
wenn mich nicht dringende Geſchäffte nach
der Stadt zurückgerufen hätten. Ein Bauer
übernahm es mich auf den rechten Weg zu
bringen. Der Magiſter gab mir ſeinen
herzlichen Segen mit, und wünſchte mich
bald wieder bey ſich zu ſehen. Nun ging
ich meinen guten Schritt, und weil ich Luſt
[54] zu reden hatte, und weil mir mein Beglei-
ter gefiel, ſo erhob ſich unter uns ein klei-
nes Geſpräch folgendes Jnhalts:


„Jhr ſeyd vermuthlich mit eurem Pre-
diger ſehr wohl zufrieden?


Ja Herr! wir wünſchen uns keinen beſ-
ſern. Es iſt als wenn mit ihm der Segen
des Herrn bey uns eingekehrt wäre. Mein
Vater ſeliger hat mir oft erzählt, wie un-
ruhig es unter dem vorigen Herrn Paſtor
zugegangen iſt. Da iſt nichts als Zank und
Streit geweſen. Die Gemeine hat viele
Jahre lang mit dem Hrn. Paſtor in Prozeſs
gelegen, und das über ein halbes Schock
Eyer und einige Würſte mehr oder weni-
ger, welche wir unſerm lieben Magiſter,
aus gutem Willen, doppelt zugeſtanden ha-
ben. Da hat ſich kein Nachbar mit dem
andern vertragen. Alle Sonntage hat es in
der Schenke Prügel geſetzt. Jn einem ein-
[55] zigen Jahre haben ſich drey Eheleute ſchei-
den laſsen, und eben ſo viel Mädchen ſind
zu Huren geworden. Die meiſten Bauern
ſind verarmt, ein dreymaliges Viehſterben
iſt kurz auf einander gefolgt; der Hagel
hat alles zu Grund und Boden geſchlagen;
Feuer vom Himmel hat unſre Hütten ver-
zehrt, und kurz: des Elends iſt kein Ende
geweſen. Darauf iſt endlich der Hr. Paſtor
plötzlich vom Schlage gerührt worden, wie
er eben den Segen ſprechen wollen. Es
war ein ſchlimmer Mann, (Gott hab’ ihn
ſelig!) und man ſagte ihm nach, daſs er
ſich nicht ſelten in Brandtwein betrunken
hätte. Drauf ſchickte uns der König un-
ſern Hrn. Magiſter. Allein die Gemeine
war ganz verwildert, und es ging Jahr und
Tag hin, ehe man Zutrauen zu ihm faſsen
wollte. Wie man ihn aber einmal kannte,
ſo gingen alle Sachen in wenigen Jahren
[56] ganz anders. Da wurden alle Prozeſse ver-
glichen. Unſer Gerichtshalter hat nun
Langeweile und unſern Advokaten haben
wir gar abgedankt. Der Magiſter weiſs
um alle unſre Geſchäffte; er iſt unſer Rich-
ter und Advokat. Wenn uns etwas fehlt,
gehn wir zu ihm. Er leiht uns Geld, wenn
wir es brauchen und er es hat. Er iſt un-
ſer Apotheker und Wundarzt, und für ſei-
ne Arzneyen geben wir ihm einen Groſsen-
dank und ſie helfen doch.


Da ſeyd ihr, in der That, die glück-
lichſten Leute, die nur jemals in einem
Dorfe zuſammengelebt haben!


Ja Herr! das ſind wir, und wir erken-
nen es auch. Jch will die Gemeine ſehen,
die ihren Seelſorger mehr lieben und ehren
ſoll, als wir! Herr! für den Mann, der
ſich mit uns freut, wenn wir fröhlich ſind,
der uns ſeinen letzten Dreyer nicht verſagt,
[57] wenn wir ihn brauchen; dem keine Nacht
zu kalt oder zu finſter iſt, wenn er uns ei-
nen Dienſt erweiſen, wenn er dem Ster-
benden Muth einſprechen, wenn er die Be-
kümmerten tröſten ſoll, für den Mann,
Herr! iſt uns das Beſte nicht zu gut. Wir
quälen uns nur darüber, daſs wir ihm nicht
Gutes genug erweiſen können. Gott mag
ihn dafür belohnen! Keine Heyrath kömmt
zu ſtande: er muſs ſeinen Beyfall dazu ge-
ben. Meine Frau hab’ ich ihm zu danken,
und ſo eine Frau iſt nur Eine in der Welt!
Er erzieht unſre Kinder, und ſie lernen
mehr als andre Bauerkinder, und wer-
den doch gute Bauern! Herr! alle unſre
Nachbarn freyen nach unſern Mädchen;
allein unſre Mädchen ſind keine Narren —
Doch Herr! hier iſt die Gränze! Da ſehn
ſie den groſsen Thurm von U*** vor ſich.
Sie dürfen nun nur auf der Landſtraſse blei-
[58] ben, und es müſste wunderlich zugehn,
wenn ſie anderswohin als nach U*** kom-
men ſollten. Mein armes Weib wird nicht
wiſsen wo ich hingerathen bin. Gott be-
gleite ſie!


Einen Augenblick, Landsmann! Jch
bedanke mich für eure Bemühung. Nehmt
dieſe Kleinigkeit dafür an!


Ey was, Herr! Jn unſerm Dorfe neh-
men wir kein Geld, wenn wir Jemand auf
den rechten Weg helfen. —”


Mit dieſen Worten wandte er ſich ei-
lends um, und überlieſs mich einem ange-
nehmen Erſtaunen. Jch kam, ohne wei-
tern Aufenthalt, nach Hauſe, und bemerk-
te dieſen Tag in meinem Tagebuche mit
dem Zeichen eines gänzlichen Wohl-
gefallens.



[59]

Der ſiebente Spatziergang.


Jch habe gefehlt; ich habe ſehr gefehlt!
Zwar hatte ich Glück oder Klugheit genug,
vor den Augen meiner Bekannten eine
Handlung zu verbergen, die mich in ihrer
guten Meynung heruntergeſetzt, oder wohl
gar zu einem gefährlichen Beyſpiele der
Nachahmung unter dem ſchwächern Thei-
le derſelben gemacht haben würde. Al-
lein wenn auch kein Auge den Schleyer
durchdrang, den ich um mich herum zu
ziehen wuſste, ſo war es doch unmöglich,
daſs ich mich ſelbſt nicht hätte ſehen, daſs
ich mich ſelbſt nicht hätte empfinden ſol-
len. Und wenn ich es ſo gar auch zu der
unſeligen Geſchicklichkeit gebracht hätte,
mein Herz vor einem jeden heilſamen Ge-
danken zu verwahren, Sinn und Verſtand
[60] bis zu einer gänzlichen Fühlloſigkeit herun-
terzubringen, ſo würde mich doch das Au-
ge des Höchſten gefunden, und villeicht
zu ſpäte einmal, ein blitzender Stral von
Jhm die Dunkelheit aufgehellt haben, unter
deren Schatten ich mich ſo ſicher und ſo
zufrieden glaubte. Noch hab’ ich mich
ſelbſt wiedergefunden! Auch das iſt Güte
von Dir, Du Vater und Herr meines Le-
bens! Du ſchufſt den Tag, in deſsen Lich-
te ich einhergehe. Von Dir empfing ich
dieſe beſſere Erkenntniſs meiner ſelbſt; von
Dir das glückliche Vermögen und die zur
gelegenſten Zeit erwachende Neigung ſie
anzuwenden. Wahr iſt es: die Bahn die
wir gehn iſt ſchlüpfrig, ſo ſchlüpfrig, daſs
wir es mit aller Kunſt und Stärke nicht
verhüten können auszugleiten, nicht ver-
hüten können zu fallen. Aber es iſt auch
nicht minder wahr: daſs uns unſer liebrei-
[16[61]] cher Schöpfer nicht ſo ganz an Kräften
verwahrloſet, nicht auf unſerm beſchwer-
lichen Wege ſo ganz aus den Augen gelaſ-
ſen hat, daſs wir uns nicht unter ſeiner
hülfreichen Begünſtigung ſollten wieder er-
heben, und unſern Lauf, je länger, je
glücklicher, ſollten verfolgen können.
Endlich krönt doch der herrlichſte Sieg al-
le unſre Bemühungen! Endlich wirft doch
der entkörperte Geiſt die Laſt ab, die ihn
zur Erde herabzog! Alle ſeine Begierden
ſind dann mäſsig und heilig und alle wer-
den mit der ſüſseſten Empfindung geſät-
tigt. Jch kann und darf die Stunden nicht
beſchleunigen, die mich in den Genuſs
dieſer unausſprechlichen Glückſeligkeit
ſetzen werden: das weiſs ich. Jch bin
auch bereit, unter noch gröſsern Be-
ſchwerden, den Winter dieſes Lebens aus-
zudauren; aber ich weiſs auch, daſs ich
[62] nicht zurückſehen werde, wenn mich Gott
zu einem Frühlinge abruft, der kein Ende
nehmen wird, und zu einer Freyheit, die
allein dieſes Namens werth iſt.



[63]

Der achte Spatziergang.


Räche dich! ſagte der Zorn. Er hat
deine Ehre gekränkt; er hat deinen guten
Namen befleckt; ſeine Laſter hat er auf
dich gebracht: Räche dich! Du haſt Gele-
genheit ihn empfindlich zu kränken; du
kannſt es leicht, du kannſt es ohne Schaden
thun. —


Nein! antwortete die Sanftmuth; Die-
ſer Menſch, war er nicht dein Freund, ſo
war er doch dein Geſellſchafter. Mit ihm
haſt du ſo manches Vergnügen getheilt; ſo
manche Wohlthat empfing er von dir.


Deſto ſchlimmer! Den Undankbaren
wollteſt du ſo hingehen laſsen? Das würde
ihn nur ärger, das würde ihn zu gröſsern
Beleidigungen fähig machen. Laſs die Ge-
legenheit nicht entwiſchen! ſie kömmt ſo
gut nicht wieder.


(I. Theil.) E
[64]

Mag ſie doch entwiſchen; mag ſie
doch nie wiederkommen! Du kannſt ihn
ärger machen, wenn du dich an ihm rächſt:
das iſt möglich; allein du machſt dich ſelbſt
ärger, wenn du dich rächſt: das iſt gewiſs.
Wähle nun unter zweyen Uebeln das klei-
nere: Vergib ihm! Es iſt doch möglich,
daſs du ihn dadurch überwindeſt. Ganz
gewiſs aber erhältſt du dadurch den herr-
lichſten Sieg über dich ſelbſt; ganz gewiſs
aber verſchaffſt du dir dadurch eine ſüſse,
innre Beruhigung und die reinſte Wolluſt,
deren das menſchliche Herz fähig iſt.


Das ſind Träume! Deine Ehre iſt et-
was reeles. Die Welt wird ſeiner Verlä-
ſterung Glauben geben, wenn du dazu
ſchweigſt. Man wird dich für den Deï-
ſten, für den Wollüſtling, für den Verfüh-
rer der Unſchuld halten, dafür er dich in
allen Geſellſchaften erklärt hat.


[65]

Biſt du gewiſs, daſs man es weniger
thun wird, wenn du dich rächſt? Und
hängt denn deine Ehre von dem Gerichte
der Viſitenſtuben und von dem Urtheile
der Kaffeeſchweſtern ab? Frage dein Ge-
wiſsen! Spricht es dich los: was geht dich
das laute Geſchrey einer ganzen läſternden
Welt an? Du haſt Ehre bey Gott! —


Das heiſst, der Verläumdung Thür und
Thor öffnen; das heiſst, dem ſchändlich-
ſten Laſter Raum geben!


Jch gebe dir die Macht aller Könige
und den Verſtand aller Weiſen auf Erden.
Wehre der Verleumdung, wenn du kannſt!
Du wirſt es vergebens verſuchen! Der bel-
lende Hund verſtummt zuletzt, wenn man
ſeinen Weg ruhig fortgeht.


Jch ſehe du biſt furchtſam. Was geht
es mich an? Magſt du doch für eine
Memme gehalten werden! Nicht genug
[66] daſs du in den Ruf eines Buben gekommen
biſt? Die Welt verſteht deine überſpannte
Moral nicht: ſie wird dich trefflich aus-
lachen.


Der iſt nicht furchtſam, der bey aller
Neigung zum Böſen, bey aller Anreitzung
dazu, bey aller Bequemlichkeit es ungeſtraft
und mit einer Art von Anſtande zu thun,
den Weg der Tugend nicht verläſst. Kann
er es leiden, daſs er darüber für thöricht
und feige gehalten, daſs er öffentlich ver-
lacht wird, ſo hat er ſich zu einer Stärke
des Geiſtes erhoben, die ihn den gerühm-
teſten Helden an die Seite ſetzt.


Die Vernunft ſelbſt —


Welche Vernunft? die nüchterne, die
erleuchtete gewiſs nicht! ſie kann kein La-
ſter gebieten. Und wenn ſie dich unge-
wiſs laſsen ſollte: Denn das iſt alles was ge-
ſchehn kann; ſo iſt hier das Wort Gottes,
[67] der alleinige Orakelſpruch, der nichts un-
entſchieden gelaſsen hat, was Glückſeligkeit
unter Menſchen veranlaſsen und verbreiten
kann. Dieſer füllt die Linien aus, die die
zweifelnde Vernunft nur mit unterbroch-
nen, blaſsen Zügen gezeichnet hat. Liebe
iſt im Himmel und auf Erden die Krone al-
ler Tugenden, die Quelle aller Seligkeit.
Gott iſt die Liebe. Aus Liebe duldet er
dich; aus Liebe verzeiht er dir eine Laſt
von Schulden, die dich zu Boden drückte;
alte, wiederhohlte, aufgehäufte Verſchul-
dungen, alle verzeiht er dir. Und du woll-
teſt mit deinem Bruder zürnen, der dich,
nur einmal oder zweymal, an einer klei-
nen, empfindlichen Stelle berührte? Weg
von dem Angeſichte des Herrn, verächtli-
cher Sterblicher, hinweg! Dir, ſoll man Al-
les, und du, willſt Nichts thun? Bete noch
einmal: Vergib uns unſre Schuld, wie wir
[68] vergeben unſern Schuldigern; und zittre!
Es kömmt ein Tag wo dich der Fluch tref-
fen wird, den du, in einer freventlichen Ge-
dankenloſigkeit, tauſend und aber tauſend-
mal auf dich herabgebetet haſt. Du kannſt
ihm entrinnen: Eile! Rette deine Seele!
Verhöre den leiſen Ruf deines Gewiſsens,
verhöre meine brüderliche Stimme nicht!
Jch bin dein warnender Engel.



[69]

Der neunte Spatziergang.


Was bin ich? Woher bin ich? Und was
wird aus mir werden? Was kann ich auf
dieſe Fragen antworten, die der Nachden-
kende doch immer einmal an ſich thun
wird, und an deren gründlicher Beant-
wortung ihm ſo viel gelegen ſeyn muſs.


Jch empfinde; ich denke: ich bin! Jch
denke mit einiger Deutlichkeit, ich handle
nach Vorſtellungen, deren ich mir genau
bewuſst bin, ich handle nach gewiſsen all-
gemeinen Regeln; ich verbinde Begriffe,
ich ſchlieſse: mein Daſeyn iſt etwas mehr
als das Daſeyn eines bloſsen Thiers. So
unaufgelegt zum Nachdenken ich auch im-
mer ſeyn mag, ſo geringe meine angebor-
nen Fähigkeiten und die mit ihnen erwor-
benen Kenntniſse auch nur immer ſeyn
[70] mögen, ſo weiſs ich doch mit groſser Zu-
verläſsigkeit, daſs ich an dieſen Vorzügen,
allen übrigen Thieren die ich kenne, über-
legen bin.


Jch bin ein Menſch: ein künſtlicher
Leib, mit einer vernünftigen Seele verei-
niget. Die Gränze meiner kindiſchen Jah-
re ha’ ich vorlängſt überſchritten; meine
blühende Jugend iſt dahin; mit geübterem
Verſtande, aber auch mit gewaltigern Lei-
denſchaften nähere ich mich dem reifern
Alter des Mannes. Und ſo eile ich die
wechſelnden Auftritte des Lebens hindurch,
bis , früh oder ſpät, das unvermeidliche
Grab meinem Laufe ſein Ziel ſetzt. Bald
hab’ ich Freude, bald Leid; bald ergreift
mich eine plötzliche ſchmerzhafte Krank-
heit, bald kehrt Geſundheit und Stärke zu-
rück. Mein Leben iſt in ſteter Gefahr;
mein ganzes Glück ruht auf einer wanken-
[71] den Kugel. Was ich zu meiner Selbſter-
haltung thun kann, iſt wenig, iſt nichts.
Weit weniger kann ich alſo von mir ſelbſt
entſtanden ſeyn.


Woher iſt denn der Menſch, wenn er
nicht ſein eigner Schöpfer ſeyn ſoll? Jſt er
wie ein Schwamm aus der Erde hervorge-
wachſen? Woher iſt denn die Erde die ihn
hervorgetrieben hat? Oder iſt er von Ewig-
keit her geweſen? Das kann ich wenig-
ſtens nicht denken. Was veränderlich iſt,
muſs einen Anfang gehabt haben. Der
Erſte Menſch kann nicht die Wirkung ei-
nes andern Menſchen geweſen ſeyn. Er
iſt nicht von ſich ſelbſt, er iſt von kei-
nem andern Menſchen: es muſs alſo auſser
ihm noch ein Weſen vorhanden ſeyn, das
ihn hervorgebracht, mit ſo vieler Weisheit
gebildet, mit ſo vieler Güte beſeliget hat.
Der Menſch iſt von Gott.


[72]

Jch empfinde; ich denke; ich handle;
Das hab’ ich von Jhm. Dieſer Leib iſt
ſein Werk, dieſe Seele kömmt mir von Ihm.
Er hat das Band geknüpft das beyde verbin-
det: Er erhält es. Daſs meine Kenntniſs
wuchs; daſs es in meinem Verſtande täg-
lich heller ward; daſs ich mich meiner kin-
diſchen Vorurtheile nach und nach ſchämen
lernte; daſs ich eine kleine Thorheit nach
der andern verlieſs: das bin ich Jhm, und
Jhm allein ſchuldig.


Und ſo geh’ ich denn, wenn ich es
nicht ſelbſt hindre, meine Lebensjahre hin-
durch, von einer Vollkommenheit, von ei-
nem Guten zu dem andern fort. Und wo-
zu das? Um zu ſterben? Um zu verweſen?
Um nach dieſem Leben nicht mehr zu
ſeyn? Oder, was eben ſo viel iſt: um es
nicht zu wiſsen, daſs man iſt? Um ewig zu
ſchlafen? Wehe mir, wenn das Wahrheit
[73] iſt! Aber was würd’ ich von einem Künſtler
denken, der eine ſchöne Bildſäule aus dem
Groben herausgearbeitet, der ganze Jahre
daran gewandt hätte; und nun, bey aller
ſeiner Fähigkeit ſie zu vollenden, den Ham-
mer ergriffe, und ſie zu Staub zerſchlüge?
Hier iſt mehr denn eine Bildſäule; hier iſt
mehr denn menſchliche Kunſt! Gott liebt
ſein Werk unendlich; Er will die Glückſe-
ligkeit ſeiner Geſchöpfe auf das vollkom-
menſte. Jch darf alles von Jhm hoffen,
was ſich von Seiner Güte hoffen läſt.
Jch werde nie ganz ſterben, und wenn
dieſer Leib hinſinkt, ſo wird der beſſe-
re Theil von mir erſt in ſein eigentliches
Leben übergehen, wo ihn eine von Ewig-
keit zu Ewigkeit wachſende Kenntniſs mit
endloſer Freude ſättigen wird.



[74]

Der zehnte Spatziergang.


Jch begebe mich in eine groſse Geſell-
ſchaft, die ſich hauptſächlich verſammelt
hat, ihren Sinnen angenehme Empfindun-
gen zu verſchaffen; in eine Geſellſchaft, die
die Freuden der Tafel ſchmecken, die den
ſüſsen Saft der Reben genieſsen, die Ohr
und Herz an Geſang und Harmonie ergö-
tzen, ſich an muntern Geſprächen beluſti-
gen, durch witzige Spiele zerſtreuen und
durch die ſtärkere Bewegung eines Tanzes
ihr Blut in eine behägliche Wärme verſetzen
will. Jch ſoll ihre Freuden theilen. Es
iſt doppelte [Freude]: ſröhlich zu ſeyn mit
den Fröhlichen. Und ſie iſt auch erlaubt;
ſie iſt von der Tugend ſelbſt und von der
menſchenfreundlichen Weisheit empfohlen;
ſie iſt auf unſrer beſchwerlichen Wallfarth
ein erquickender Labetrunk, der das über-
[75] ſtandne Leiden verſüſst und zugleich den
ermüdeten Geiſt ſtärkt, ſeinen Weg bis an
ſein endliches Ziel zu verfolgen. Und die-
ſen ſtärkenden Nektar reicht mir mein gü-
tiger Schöpfer. Mit Dank nehme ich ihn
von ſeinen liebreichen Händen an. Ja!
dieſer Tag ſey ein Tag des Wohllebens und
der Freude. Wer weiſs, ob Morgen nicht
ein Wetter meinen Himmel verfinſtert?
Würd’ ich es damit entfernen, wenn ich
es heute ſchon fürchten, wenn ich mit
der ſchwarzen Vorſtellung davon auch
heute ſchon alle Gedanken der Freude
verſcheuchen wollte? Gewiſs nicht! Jch
würde mir, wider die Abſicht des Himmels,
einen trüben Tag mehr machen; ich würde
mir thörichter Weiſe, dieſe Sonne verdun-
keln, die mir heute ſo wohlthätige Stralen
leuchten läſst. Alſo eröffne dich der
einladenden Freude, mein Herz!


[76]

So wahr und ſo annehmlich inzwiſchen
dieſe Lockungen ſind, ſo ſehr verdienet
dabey doch die warnende Stimme der
ſelbſtgelaſsenen Vernunft mein aufmerkſa-
mes Gehör und meine folgſame Beach-
tung.


Da die einfachſten und geſundeſten
Nahrungsmittel ſchon, wenn ſie unmäſsig
gebraucht werden, die Kräfte der menſch-
lichen Maſchine zu ſchwächen, den Lebens-
ſaft zu verderben und nach und nach die
feſteſte Geſundheit ſelbſt zu zerrütten im
Stande ſind: wie viel gröſsere Gefahr wird
nicht von dem Genuſse dieſer zuſammen-
geſetzten, gewürzreichen Speiſen, dieſer
feurigen Getränke zu beſorgen ſeyn? Bin
ich über mich ſelbſt ſchon ſo Herr, daſs
ich mich ihrer ganz, oder doch bis zu ei-
nem beſtimmten Grade enthalten kann?
Kann ich, ohne mein Ohr zu verſchlieſsen,
[77] dem wollüſtigen Eindrucke dieſer zärtli-
chen Töne widerſtehen? Jene flammen-
den Blicke, die den meinigen begegnen,
jene blühenden Wangen, jene Götterge-
ſtalt, jene ſilberne Stimme; kann ich das
alles ſehen und hören, und meine Gedan-
ken und Begierden in meiner Gewalt be-
halten, und nichts denken, und nichts
wünſchen, als was den unveränderlichen
Geſetzen der Weisheit und Tugend ent-
ſpricht? Bin ich gewiſs, daſs ich mich des
allgegenwärtigen Gottes zur guten Stunde
erinnern, und nichts denken und thun wer-
de, wodurch ich mich ſeiner heiligen Auf-
ſicht unwürdig machen, und nichts reden
werde, wodurch ich mich und meine ewi-
ge Beſtimmung entehren könnte? Bin ich
ſo geſetzt, daſs ich meinen gütigen Schö-
pfer, unter allen Umſtänden, auch vor den
Menſchen bekennen; daſs ich mich ſeiner
[78] heiligen Religion, daſs ich mich einer jeden
wichtigen Wahrheit auch bey dem Hohn-
gelächter der artigen Welt nicht ſchämen
werde? Wird mich die Begierde witzig zu
ſeyn, zu keiner Ausſchweifung hinreiſſen?
Werd’ ich ſchlüpfrigen Reden meinen Bey-
fall zu verſagen, werd’ ich den guten Na-
men meines Mittmenſchen zu retten, werd’
ich für die unterdrückte Unſchuld unge-
ſcheut zu reden, Herz haben? Werd’ ich
es ohne Neid ertragen können, wenn man
einem andern einen höhern Grad von Ach-
tung erweiſet als mir? Oder wird mich ein
finſterer Unmuth befallen, wenn man mich
nicht auf das genaueſte mit dem Beyfalle
beehrt, den ich zu verdienen glaube?
Werd’ ich mich auch im Spiele nicht von
jenen kleinen unwürdigen Leidenſchaften
hinreiſsen laſsen, die allem geſellſchaftlichen
Vergnügen ſo ganz zuwider ſind? Werd’
[79] ich auch da noch Nachſicht, Enthaltſamkeit
und Groſsmuth im Kleinen ausüben?
Werd’ ich es verhüten können, daſs Haab-
ſucht und Schadenfreude ſich nicht unver-
merkt in meinen Buſen einſchleichen?


Jch zittre, wenn ich an die Gefahr geden-
ke, in die ich mich ſo freywillig begeben,
mit der ich ein kleines flüchtiges Vergnü-
gen erkaufen will. Und doch iſt dieſs Ver-
gnügen an ſich nichts unerlaubtes; es iſt
vielmehr etwas gutes, eine Frucht, die für
mich erſchaffen, für mich ſo lieblich anzu-
ſehn und ſo ſüſs zu genieſsen gemacht iſt.
Und wenn ich bedenke, daſs es doch nicht
unmöglich iſt, daſs ich bey ihrem Genuſse
Enthaltſamkeit ausüben, und einen geſez-
ten, männlichen Charakter behaupten kann:
ſo finde ich am Ende des Zieles ſo gar;
wenn ich es anders erreiche, einer Art von
Ehrbegierde geſchmeichelt, die in der That
(I. Theil.) F
[80] mit unter die höheren Freuden eines em-
pfindſamen Herzens zu zählen iſt.


So begleite Du mich denn, o allgütiger
Vater! auch auf dem bluhmichten Pfade der
Verſuchung. Beſtärke Du ſelbſt mich in
dem Vorſatze: mit einer warmen, gefälli-
gen Theilnehmung an den Freuden meiner
Mitbrüder, eine kalte, überlegte Achtſam-
keit auf mich ſelbſt zu verbinden! So werd’
ich, Dir wohlgefällig, in den Stralen Deiner
Allgegenwart wandeln; ſo wird dieſe fro-
he Stunde mich zu dem Unfall vorbereiten,
den Deine Weisheit mir zuzuſchicken be-
ſchloſsen hat.



[81]

Der eilfte Spatziergang.


An einem ſchönen Sommerabend miſch-
te ich mich unter die bunte Schaar der
Spatziergänger, die ſich an den Ufern der
Spree, in der erfriſchenden Nacht eines fin-
ſtern Kaſtanienganges, für die beſchwerliche
Hitze eines ſchwülen Tages zu erholen ſuch-
te. Nach einem oftmaligen Auf- und Nie-
dergehen ſah’ ich mich nach einem Ruhe-
platze um. Jch fand bald genug eine un-
beſetzte Bank auf der ich die bequemſte
Stelle in Beſitz nahm. Kaum hatt’ ich mich
niedergeſetzt, als ich zu meinen Füſsen ein
weiſses Weſen liegen ſah, welches ich ſehr
bald für ein zuſammengewickeltes Papier
erkannte. Nun hab’ ich den unwiderſteh-
lichen Trieb, nichts was Papier iſt unauf-
gehoben liegen zu laſsen; es müſste denn
[82] mehr als wahrſcheinlich ſeyn, daſs es die
letzte und gemeinſte Beſtimmung alles un-
nützen Papiers erreicht hätte. Jch darf es
alſo wohl nicht ſagen, daſs ich mich meiner
Beute, mit einer Art von Beſorgniſs, daſs
ſie mir von einem eben ſo neugierigen
Spatziergänger vorweggenommen werden
könnte, auf das geſchwindeſte bemächtigte.
Es war ein ganzer, groſser Bogen, und, ſo
viel die Dunkelheit zu bemerken erlaubte,
war er auf allen Seiten beſchrieben. Eine
neue Freude für mich! Jch entſagte für
dieſsmal allem weitern Spatziergange und
begab mich nach Hauſe. Meine gefundne
Schrift war ein leſerlich geſchriebner Brief,
den ich, verſchiedner Urſachen halber,
meinen Leſern mitzutheilen für gut finde.
Erſtlich kann er beweiſen, daſs ein nach-
drücklicher, ernſter Tadel mit der mütter-
lichen Zärtlichkeit wohl beſtehen könne:
[83] Dann iſt es ein herrlicher Text für junge
Weiber, deren Männer oft zu verreiſen
genöthigt ſind: Endlich und zulezt kann
ihn die Schöne, die ihn für ihr Eigenthum
erkennt und darüber die nöthigen Beweiſe
beyzubringen im Stande iſt, ohne die Fo-
derung irgend einer ſonderlichen Erkennt-
lichkeit beſorgen zu dürfen, nach Belieben
von mir in Empfang nehmen. Jch bin am
ſicherſten bey meinem Verleger zu erfragen.


Der gefundene Brief.


Meine liebe Tochter!

Jch bin Deinetwegen in groſser Be-
kümmerniſs. Eine Perſon, in deren Red-
lickeit ich keinen Verdacht ſetzen kann, hat
mich mit vielen unangenehmen Neuigkei-
ten von Dir bekannt gemacht, die ich lie-
ber nicht gehört hätte; die mir aber jezt,
da ich ſie weiſs, unmöglich gleichgültig
ſeyn können. Du unterhälſt einen ziem-
[84] lich vertrauten Umgang mit verſchiednen
jungen Mannsperſonen; Du giebſt ihnen
Erlaubniſs, Dich vorzüglich und am meiſten
zu der Zeit zu beſuchen, da Dein Mann
durch ſeine Reiſen von Dir entfernt iſt; Du
unterſcheideſt keine Zeit bey dieſen Beſu-
chen, und einer Deiner jungen Herren hat
ſo gar das Vorrecht, Dich bis in die ſpäte
Nacht allein zu unterhalten. Alle dieſe
Dinge werden bemerkt, ſorgfältig bemerkt.
Du ſtehſt in groſser Gefahr, ſelbſt bey
rechtſchaffenen Leuten, Deinen guten Na-
men zu verlieren, und in ihren Gedanken
villeicht ſchon zu jenen verächtlichen Krea-
turen herabgeſetzt zu werden, die die
Schande unſers Geſchlechts ſind.


Meine zärtlich geliebte Tochter! Statt
dieſes übeln Ruſs von Dir, wollte ich lieber
gehört haben, daſs Du krank wäreſt, und
ich wüſste kaum, ob mir Dein Tod viel
[85] empfindlicher ſeyn würde, als der völlige
Verluſt Deines guten Namens unter edel-
geſinnten, tugendhaften Gemüthern.


Meine liebe Tochter! Jch habe eben
nicht Urſach in Deine Tugend ein Miſs-
trauen zu ſetzen; ich glaube vielmehr, daſs
Du von den meiſten Pflichten, die Du Dei-
nem Manne ſchuldig biſt, Kenntniſs, und
den feſten Vorſaz haſt, niemals davon zu
weichen. Noch mehr: ich bin verſichert,
daſs Dir die Untreue das ſchwärzeſte Laſter
ſcheinen, und der bloſse Gedanke daran,
Dir ein Abſcheu ſeyn wird. Du wirſt Dich
für unüberwindlich und wider alle Arten
der Verſuchung hinreichend gewappnet hal-
ten. Und doch iſt Dein Zuſtand um deſto
gefährlicher! Das Bewuſstſeyn unſrer Stär-
ke kann Vermeſsenheit werden, und von
der Vermeſsenheit bis zum Falle, iſt nur ei-
ne einzige Stufe. Wer ſtehet, ſehe wohl
[86] zu, daſs er nicht falle! Die Lieblinge Got-
tes, die Helden in der Tugend, ſind nicht
auſser Gefahr, und der Heilige ſelbſt hat
Urſach der Verſuchung aus dem Wege zu
gehen. Nun bedenke, meine gute Toch-
ter! wie viel näher Du der Gefahr biſt, und
wie viel mehr Vorſicht Dir bey weit gerin-
gerer Tugend obliegt. Es iſt eine ſchreck-
liche Wahrheit: Wer ſich in Gefahr giebt,
kömmt in Gefahr um; aber ſie iſt wahr,
und wehe dem, an dem ſie wahr wird!


Werde nicht unwillig, liebes Kind!
Jch bin Deine Mutter. Meine Zärtlichkeit
fürchtet villeicht zu viel; aber ich bin ſo
eiferſüchtig auf Deine Tugend, als Du es
nur immer auf Deine Schönheit ſeyn magſt.
Der geringſte Flecken würde mich beküm-
mern. Du bleibſt meine innig geliebte
Tochter, wenn Du Dich beſtreben wirſt,
durch eine behutſamere [Aufführung] alle
[87] meine Beſorgniſse zu vereiteln. Kann es
Dir wohl ſchwer werden mir hierin zu ge-
horchen?


Jch kann Dir noch einen Grund an die
Hand geben, der mir ſehr wichtig ſcheint,
und der Dir wohl noch wichtiger ſcheinen
ſollte. Was meynſt Du wohl, wenn es
Deinem Manne irgend einmal einfallen ſoll-
te Deine Freunde aus einem gewiſsen Ge-
ſichtspunkte anzuſehen? — Das iſt un-
möglich! — Nicht ſo unmöglich, meine
gute Tochter! Eiferſucht iſt ein ſchleichen-
des Fieber, wider welches das beſte Herz
und ein ſehr geſunder Verſtand nicht genug
verwahrt ſind. Jch kenne Leute, die in
aller Abſicht vortreffliche Leute ſind, und
die gleichwohl bey noch geringerm Anlaſse
und bey einem langen Kampfe mit ſich
ſelbſt, den Ausbrüchen dieſer verderblichen
Leidenſchaft nicht ganz haben widerſtehen
[88] können. Jch glaube nicht, daſs du die
ſchrecklichen Folgen alle kennſt, die ſie
hervorbringen kann und nur allzuoft ſchon
hervorgebracht hat, und Gott gebe, daſs
Du ſie am wenigſten aus eigner Erfahrung
kennen lernen mögeſt! Erſt tödtet ſie lang-
ſam die Ruhe in dem Buſen desjenigen der
ihr Raum giebt. Widerſteht man ihr dann
in der Geburt nicht; und dieſs iſt ſchon
ſchwer: ſo verbreitet ſie ſich durch die ed-
leren Theile unſers Weſens. Dann ſind
die wirkſamſten Heilungsmittel unkräftig,
dann wühlet ein wütendes Feuer in unſern
Adern; dann äuſsert ſich die Krankheit in
den traurigſten ſichtbaren Wirkungen;
dann wird ſie den Umſtehenden gefährlich.
Dieſer Leidenſchaft iſt nichts heilig; ſie un-
ſcheidet den Freund ſelbſt nicht; ſie zer-
reiſst die ſtärkſten Bande der menſchlichen
Geſellſchaft. Du biſt zu gut, meine Toch-
[89] ter! als daſs Du mir ein Unglück bereiten
ſollteſt, welches den Reſt meines Lebens
verbittern würde. Du biſt es mir, und biſt
es noch mehr Deinem guten Manne ſchul-
dig, auch die erlaubten Handlungen ſchon
zu unterlaſsen, die zu einem ſo ſchädlichen
Verdachte Gelegenheit geben könnten.
Jch zweifle ſehr, ob Du dieſer Regel bisher
ſo genau gefolgt biſt; ich denke aber, Du
wirſt ſie von nun an nie wieder aus den
Augen verlieren. Villeicht iſt es noch
Zeit, einen zärtlichen Theil Deiner weibli-
chen Ehre zu erhalten, und bey dem Na-
men einer gefälligen, auch den noch mehr
bedeutenden Namen einer klugen Frau zu
verdienen. Es iſt um den guten Ruf eines
jeden Menſchen, und beſonders eines
Frauenzimmers, keine ſolche Kleinigkeit,
als es Dir wohl in dem Rauſche Deiner Ver-
gnügungen und bey Deinem groſsen Han-
[90] ge dazu ſcheinen mag. An die höchſte
Ehre, die ein Menſch haben kann: Vor
Gott einen Werth zu haben, gränzt die
zweyte zunächſt: Jn dem Urtheile frommer
und verſtändiger Leute etwas zu gelten.
Wer gegen jene gleichgültig iſt, iſt ein er-
klärter Böſewicht, und wer es gegen dieſe
iſt, hat alle Anlage es zu werden. —


Jch kann nicht wiſsen, ob Du die
Pflicht hinlänglich verſtehſt, die uns alles
Aergerniſs, ſo viel an uns iſt, zu verhüten
gebeut. Wenigſtens ſcheint es nicht ſo.
Auch iſt ſie eine der ſchwerſten und von
ſehr weitem Umfange. Man handelt nicht
für ſich allein, man ſteht in Verbindung,
man hat auch auf andre zu ſehen. Nicht
genug, daſs man ſelbſt gut iſt; man ſey es
auch in Beziehung auf andre! Dieſe, noch
ſo unſchuldige Handlung, iſt nur für mich
und für wenige unſchuldig; andern wäre ſie
[91] der Weg zum Verderben. Jch verliere
kein gemeines Vergnügen, wenn ich ſie
unterlaſse; aber ich kann ſie unterlaſsen und
ich bin es zu thun ſchuldig. So viel koſtet
es, meine geliebte Tochter! ſo viel koſtet es
unſträflich zu wandeln! Jch habe Dich zu ei-
ner traurigen Wahl gebracht. Du wirſt Dein
Auge verlieren müſsen, um Deiner Ehre, um
Deiner Liebe, um Deines Gewiſsens willen,
um der Pflicht willen die Du Deinen ſchwa-
chen Geſpielen ſchuldig biſt. Jch will Dir
damit den Umgang mit den jungen Herren
von Deiner Bekanntſchaft eben nicht ganz
unterſagen. Es ſollen, wie ich höre, mun-
tre, unbeſcholtne, gute Leute ſeyn. Du
kannſt ſie mit der Behutſamkeit ſehen, die
ich Dir wiederhohlentlich empfehle; Du
kannſt von ihnen lernen; Du kannſt Dir
ihre Geſellſchaft nützlich und angenehm
machen. Jch rathe Dir zu dem Ende, ihre
[92] Beſuche niemals ohne mehrere Zeugen, und
am allerwenigſten zu einer Zeit des Tages
anzunehmen, die dem Verdachte mehr als
andre unterworfen iſt. Sind es wircklich
ſo gute Leute als ich zu glauben Urſach ha-
be, ſo werden ſie Dir dieſes behutſame Be-
tragen als eine neue Vollkommenheit an-
rechnen und dich nur deſto höher ſchätzen.
Sollten ſie aber Unzufriedenheit darüber be-
zeigen; ſollten ſie es Dir wohl gar für eine
Schwäche des Geiſtes und für einen Mangel
an Lebensart auslegen: ſo haſt Du eine un-
trügliche Probe, daſs ſie nicht ſo gut waren,
als Du ſie glaubteſt, daſs ihre Abſichten un-
lauter und ſie Deiner fernern Freundſchaft
unwürdig ſind.


Jch müſste mich ſehr irren; oder ich
ſehe meine gute, meine zärtliche Tochter,
mit naſsen Augen und gerührtem Herzen,
den feſten Entſchluſs eines weiſeren Wan-
[93] dels faſsen. Thue es, meine Tochter!
wenn Dir Deine treue Mutter, wenn Dir
Deine zeitliche und ewige Glückſeligkeit
lieb iſt.



[94]

Der zwölfte Spatziergang.


Mit ihrer Erlaubniſs, meine Herren!
Jch werde den Umgang mit unſern Philo-
kurus ununterbrochen fortſetzen. Mögen
ſie doch thun was ihnen beliebt. Es iſt
wahr, das Vergehen des Mannes iſt eins
von den ſchwereren; es ſündigt gegen die
heiligen Rechte der genaueſten und zärt-
lichſten Verbindung, die unter Menſchen
ſeyn kann. Da ſey Gott für, daſs ich es, ich
will nicht ſagen, rechtfertigen; daſs ich es
auch nur mit Einem Worte entſchuldigen,
oder durch ein unzeitiges Stillſchweigen für
unbedeutend erklären ſollte! So gar bin
ich der Meynung, daſs es mit einer ihm an-
gemeſsenen bürgerlichen Strafe belegt zu
werden verdiente, wenn anders eine ſolche
Strafe erfunden werden könnte. Unſre
Geſetze ſagen hierüber nichts. —


[95]

Deſto ſchlimmer! Um ſo viel nöthiger
iſt es, daſs alle rechtſchaffenen Gemüther
ſich dahin vereinigen, einen ſo ſchändlichen
Verbrecher von ihrer Schwelle zu entfer-
nen, und ihm die Höflichkeitspflichten
ſelbſt, bis zu einem gewiſsen Grade, zu ver-
ſagen. Die geſellſchaftliche Klugheit muſs
hier die Lücken ausfüllen, die die bür-
gerlichen Geſetze unausgefüllt gelaſsen
haben


Ganz wohl, meine Herren! Jch bin
ihrer Meynung, wenn ſie auch nur mit ei-
nem einzigen Beyſpiele erweiſen können,
daſs eine ſolche Amputation heilſam gewe-
ſen ſey. Und, von welcher Wirkung glau-
ben ſie wohl, daſs ſie bey unſerm Philo-
kurus ſeyn würde? Jch will es ihnen ſagen.
Philokurus iſt ein Menſch, wie ſie alle wiſ-
ſen, der keinen Tag ohne Geſellſchaft zu-
bringen, der, wenn er nichts zu thun hat;
(I. Theil.) G
[96] und er hat beynahe gar nichts zu thun; kei-
ne Stunde allein ſeyn kann. Verliert er
unſern Umgang, ſo ſucht er einen andern,
und, wahrſcheinlicher Weiſe, einen ſchlech-
tern. Und wenn er ſich dadurch verſchlim-
mert, wie es denn nicht anders ſeyn kann;
meynen ſie nicht daſs ſie Mitſchuldige ſei-
nes Verbrechens ſind?


Sind wir es denn weniger, wenn wir
ihn nach wie vor unſrer Vertraulichkeit
werth halten? Sagen wir damit nicht, daſs
die Sache ſo viel nicht auf ſich habe?


Das würden wir nur ſagen, wenn wir
nichts ſagten. Aber es iſt ja noch ein Drit-
tes übrig. Jch bin nun einmal von der
Geſellſchaft der barmherzigen Brüder. Laſ-
ſen ſie mir immer meine Grille! Was mey-
nen ſie zu einer liebreichen Ermahnung?
Sollte unſer gutmüthiger Philokurus ſchon
ſo tief herabgeſunken ſeyn, daſs ihn die
[97] beſsernde Stimme der Freundſchaft nicht
mehr erreichen könnte? Woraus ſchlieſsen
ſie ſeine gänzliche Verſtockung? Welcher
Arzt fängt ſeine Kur gleich, ohne alle an-
derweitigen Verſuche, bey den verzweifel-
ſten Mitteln an? Oder giebt den Kranken
verloren, eh er ihn noch mit einem Auge
geſehen, eh er ihn noch über ſeine Krank-
heit befragt hat?


Wie nun, wenn die Ermahnung ohne
Wirkung bleibt?


Villeicht hilft ſie wenn ſie wiederhohlt,
wenn ſie oft wiederhohlt, wenn ſie rühren-
der, wenn die Ueberzeugung vollſtändiger,
wenn die Bitte dringender gemacht wird.
Laſsen ſie aber auch alle dieſe Verſuche ein-
mal vergebens ſeyn: ſo iſt ja dieſs bey wei-
tem noch nicht die einzige mögliche Kur-
art. Man zeige ſich in einer ernſtlichern
Geſtalt; man rede nachdrücklicher und
[98] feyerlicher; man nehme die ſtärkſten Mo-
tiven, die die Religion an die Hand giebt
zu Hülfe; man äuſsere Eifer und Unwillen
ſo weit es Menſchenliebe und Klugheit er-
laubt; man ſetze ſeine Verſuche lange und
unermüdet fort! Der Menſch müſste ein
ſehr verruchter Bube, ein ausgelernter, in
Laſtern grau gewordener Böſewicht, ein
Ungeheuer, ein Teufel ſeyn, wenn wir nicht
etwas bey ihm ausrichten, wenn wir nicht
einigen Eindruck auf ihn machen ſollten.
Und damit wären ja doch ſchon einige
Schritte gewonnen. Wir entziehn uns ja
den groſsen Miſsethätern nicht ganz, die
die Gerechtigkeit ihrer bürgerlichen Frey-
heit und Ehre, und wohl gar ihres Lebens
zu berauben, für nöthig erachtet. Jſt es
wohl billig einem kleinern Sünder das zu
verſagen, was man einem ungleich gröſsern
ohne Bedenken zugeſteht?


[99]

Sie ſind alſo der Meynung, daſs Philo-
kurus unter allen Umſtänden, und auch bey
der hartnäckigſten Beharrung in ſeinem La-
ſter, unſer Freund bleiben, unſer volles Zu-
trauen, unſre ganze Zärtlichkeit genieſsen
müſse?


Das nicht, meine Herren! Wenn ich
nicht alle Verbindung aufgehoben haben
will, ſo will ich darum noch nicht die zärt-
lichere beybehalten wiſsen. Das Unmögli-
che verlang’ ich nicht! Es verſteht ſich ja
wohl von ſelbſt, daſs ich einen Unglückli-
chen an den ich meine ganze Zärtlichkeit
umſonſt verſchwendet, den ich durch alle
nur erdenkliche Mittel zu retten verſucht
habe; wenn er ſelbſt alle meine Bemühun-
gen vereitelt, wenn er die Hand nicht er-
greifen will die ich ihm darbiete, wenn er
ſich, ſelbſt gegen Bitten und Thränen ver-
härtet: es verſteht ſich von ſelbſt; ſag’ ich,
[100] daſs ich den Mann nicht fernerhin eines un-
umſchränkten Zutrauens werth halten kann.
Ein herzliches Mitleiden wird alles ſeyn,
was ich für ihn übrig behalten werde.
Aber umgehn werd’ ich mit ihm in dem
Grade von Zurückhaltung, den ſein Zuſtand
nothwendig macht, in der abgemeſsenen
Entfernung, woraus er immer erkennen
kann, wie ich, bey aller meiner Nachſicht
für ihn, ſein Vergehen von ganzem Herzen
verabſcheue.


Aber fällt es ihnen denn gar nicht ein,
was die Welt von einem ſolchen fortgeſetz-
ten Umgange denken wird; die Welt, die
ihr vermindertes Zutrauen, ihre angenom-
mene Zurückhaltung zu bemerken, keine
Gelegenheit hat? Wird man nicht mit dem
gröſsten Scheine urtheilen, daſs die Den-
kungsart des Philokurus auch die Jhrige
ſey? Wird man wenigſtens nicht denken
[101] müſsen, daſs ſie Wahrheit und Tugend ver-
rathen, daſs ſie eines der abſcheulichſten
Laſter in Schutz genommen haben? Wer-
den ſie dadurch nicht ein Aergerniſs geben,
welches, bey ihrer ſonſt bekannten Recht-
ſchaffenheit, von ſchlimmen Folgen ſeyn
kann?


Das wollt’ ich, um alles in der Welt
willen, nicht! Mein ganzes Betragen ſoll da-
gegen reden. Wo ich weiſs und kann, will
ich öffentlich ſo reden und handeln, daſs
jeder meine gänzliche Abneigung gegen
eine jede Art von Untreue, und beſonders
gegen die ſchändlichſte von allen bemer-
ken und gleichſam mit Händen greifen ſoll.
Sollte ich, dem ungeachtet von meinen
richtenden Mitbrüdern verkannt werden,
ſo werd’ ich es ertragen wie ich kann, und
mich mit dem Beyſpiele des beſten unter
allen Menſchen tröſten, der es bey dem hei-
[102] ligſten Wandel, gleichwohl nicht verhüten
konnte, daſs man ihn mit den Zöllnern und
Sündern vermiſchte, die er vom Verder-
ben zu erretten, die er zu beſſern Men-
ſchen zu machen, in die Welt gekommen
war.



[103]

Der dreyzehnte Spatziergang.


Von den Verſöhnungen vor dem Ge-
nuſse des Abendmahls und auf dem Sterbe-
bette, halte ich nicht mehr und nicht we-
niger, als von den Modebekehrungen über-
haupt. An den Früchten ſollt ihr ſie er-
kennen! Der groſse Haufe iſt, leider! ſo ge-
artet, daſs er den übeln Folgen der Unmäſ-
ſigkeit lieber, wenn es die Noth erfodert,
in der Geſchwindigkeit und auf einmal, ver-
mittelſt gewiſser, ſogenannter Univerſalarz-
neyen abhelfen, als ſie auf immer, durch ei-
ne fortgeſetzte Enthaltſamkeit, in der Wur-
zel ſelbſt vertilgen will. Jenes iſt freylich
leichter und oft das Geſchäfft eines Augen-
blicks. Wem iſt aber im Grunde damit
geholfen? Höchſtens dem Quackſalber, der
von den Vorurtheilen der betrogenen Ein-
falt lebt. Der arme Kranke beſchleunigt
[104] dadurch nur ſeinen Untergang und ver-
ſchlieſst ſich nicht ſelten alle Quellen der
Hülfe auf immer. Weg mit den Lebens-
pulvern und Tinkturen, die für alle Krank-
heiten gut ſind! Die Natur thut nichts
durch einen Sprung und die Sittenlehre
thuts nichts wider die Natur. Zur Sache!


Sich überhaupt bekehren, einen beſ-
ſern Wandel beſchlieſsen; ſich inſonderheit
mit ſeinem Bruder verſöhnen, ihm Genug-
thuung geben, wenn er ſie fodern kann,
Genugthuung willfertig von ihm annehmen,
wenn er ſie anbeut: wer kann das tadeln?
Wie aber? wenn man dieſs alles nur zu ge-
wiſsen Zeiten, bey gewiſsen feyerlichen Ge-
legenheiten, oder wohl gar nur Einmal in
ſeinem Leben thut; wenn es nicht der fort-
dauernde Entſchluſs des Menſchen, wenn es
nicht ſeine herrſchende Geſinnung iſt: wer
kann es dann loben? Jſt es nicht eben
[105] ſo gut, als ob es gar nicht geſchehen wäre?
Jſt es nicht noch ſchlimmer? Jſt es nicht
ſo, als faſtete man heute, um ſich Morgen
allem Uebermaaſse deſto ſicherer und mit
deſto gröſserem Geſchmacke überlaſsen zu
können? Oder ſcheint es nicht, als entſag-
te man nur einer Begierde, deren fernere
Befriedigung eine unvermeidliche Noth-
wendigkeit auf immer unmöglich macht?


Verſöhnlichkeit iſt nicht die Tugend
Eines Tages, und noch viel weniger Eines
ſchwachen Augenblicks, den villeicht nur
die Erſchlaffung unſrer Nerven, oder der
langſamere Lauf unſers Blutes befördert
hat. Auch muſs ſie ſchlechterdings nur
aus dem einzigen reinen Quell aller Tugen-
den entſtanden ſeyn, wenn ſie anders den
groſsen Charakter erfüllen will, den ſie von
ſich ſelbſt ankündiget. Keine Tugend iſt
das, was ſie werden kann, auf einmal; ſie
[106] erhebt ſich nach und nach zu der Hoheit
die das Geſetz fodert. Jhr Weg iſt mit
Dornen beſetzt; tauſend Hinderniſse ſtehn
ihr von allen Seiten entgegen. Ohne dieſe
wäre ſie villeicht nur Temperament; ein
bloſses, unverdientes Geſchenk aus den Hän-
den der Mutter Natur. Ferner, iſt ihr
Wirkungskreis unbegränzt. Er umfaſst den
ganzen Bezirk unſrer geſellſchaftlichen Ver-
bindungen. Kein Individuum iſt davon
ausgeſchloſsen: denn ein jedes gehört zu
dem Geſchlechte meiner Brüder. Jch kann
nicht, Dieſem nur vergeben, und Jenen
meiner Rache aufopfern wollen. Auch
iſt eine jede Beleidigung, die gröſste nicht
ausgenommen, ein würdiger Gegenſtand
meiner Verſöhnlichkeit. Jch kann nicht,
Dieſen Fehler verzeihen, und Jenen aus den
andern zu einer endlichen Beahndung her-
ausheben wollen. Die Gröſste der verzie-
[107] henen Beleidigung und des Kampſs, den
die Verzeihung koſtete, beſtimmt erſt die
Gröſse der Tugend von der wir reden und
ſie gedeyet ſelbſt erſt durch eine oftmalige
Wiederhohlung zu einer männlichen Stärke.
An dieſen Stein ſtreiche man unſre Verge-
hungen nach der Mode und aus Noth: und
man wird bald wahrnehmen, wie weit ſie
von der Farbe des reinen Goldes abweichen
und mit wie vielem geringhaltigern Metalle
ſie vermiſcht ſind.


So ſey denn jeder Tag meines Lebens
für mich ein Tag einer willfertigen Verſöh-
nung, ein allgemeines Friedensfeſt! Keine
Beleidingung ſoll meine Tugend ermüden!
Und ſo, bey aller meiner Vorſicht, das
Feuer der Rache in meinem Buſen auflo-
derte, ſo will ich keinen Augenblick an-
ſtehn es bis auf den letzten Funken zu er-
ſticken. Jch weiſs es aus einer ſeligen
[108] Erfahrung: Ein himmliſches Vergnügen be-
gleitet ſchon hier einen jeden Sieg, den ich
über mein Herz erkämpfe, eine jede kleine
Verleugnung, der ich mich unterziehe. Und
ich ſollte einen Augenblick anſtehn, mir
dieſe Freude zu verſchaffen; ich ſollte ſie
bis zu einer gewiſsen Periode meines Le-
bens, bis zu den letzten Minuten deſſelben
hinausſetzen? Nimmermehr! ſo viel an mir
iſt. Die Tugend iſt mir verdächtig, die ich
nur dreymal oder viermal in einem Jahre
zu wiederhohlen geſonnen bin und die iſt in
meinen Augen zu klein, die auf meinem Ster-
bebette erſt ihren Anfang nehmen ſoll. Der
Troſt begleite mich in eine beſſere Welt,
daſs ich keinen beleidigte, dem ich nicht
Genugthuung zu geben bemüht war, und daſs
ich von keinem beleidigt wurde, dem ich
nicht bald, und von ganzem Herzen vergab!



[109]

Der vierzehnte Spatziergang.
1758.


Nein! es iſt nicht möglich: ich bin
nicht zum Verderben geſchaffen; Unglück
iſt nicht mein ewiges Loos. Jch kenne
Jhn, meinen Schöpfer, den Schöpfer der
ſeligen Himmel, den Schöpfer der Freude,
die um mich aus tauſend Gegenſtänden lacht
und in tauſend Stimmen ertönt; ich kenne
Jhn, den Gütigſten, die Quelle aller Er-
barmungen, der ganz Liebe iſt. Wie? al-
les ſollte dieſer Gott um mich her mit Glück
und Segen überſtrömt haben, und ich, die
Zierde aller Erdgeſchaffenen, ich, der Herr
dieſes weiten Reichs, ich allein ſollte das
wahre Vergnügen nicht kennen? Mich al-
lein ſollte die Freude ſliehn und mich nur
unter allen beglückten Geſchöpfen, mich al-
lein ſollte nicht ein Stral ſeiner beſeelenden
[110] Güte anlächeln, ewig nicht anlächeln?
Nein! ſo handelſt Du nicht, mein Schö-
pfer! Deine Geſchaffenen dürfen dem Ta-
ge ihrer Geburt nicht fluchen, noch Dich
anklagen, daſs Du ſie, wider ihren Willen,
zum Seyn aus dem Nichts hervorgerufen.


Allein; was ſag’ ich? Sind nicht rund
um mich die Fuſsſtapfen des Elends und
der Verheerung? Fühl’ ich nicht ſelbſt das
Unglück in tauſend ſchweren Schlägen?
Seufzen nicht meine Mitgeſchöpfe rund um
mich? Hör’ ich nicht ihre Klagen, ſeh’ ich
nicht ihre Thränen, theil’ ich nicht mit ih-
nen die Laſt ihres Schickſals? Triefen
nicht die Fluren von Blut? vom Blute mei-
ner Brüder, vom Blute der erſchlagnen Un-
ſchuld? Dampfen nicht weite Provinzen
vom Donner des Krieges entzündet?
Und werden nicht bald Aſchenhügel und
rauchende Trümmer da ſeyn, wo ſonſt
[111] ruhige Landſitze, wo ſonſt glückliche Städ-
te ſtanden?


Jch verliere mich in einer traurigen
Ausſicht; alles iſt finſter um mich. Leuch-
te du meinem irrenden Geiſte wieder,
himmliſche Weisheit, die du dein Licht
noch nie dem Flehn eines gleitenden Sterb-
lichen verſagt haſt!


Jch bin wieder an der Stelle, von wel-
cher ich ausgieng. Dieſe Welt ſey immer
der Schauplatz des Unglücks, der Schau-
platz blutiger Scenen; die ſterbliche Natur
ſey immer einer dauernden Glückſeligkeit
unempfänglich! Jſt nichr ein Etwas in mir,
ein Etwas das mich über mich ſelbſt erhöht?
Jſt’s nicht das innige Gefühl, der ſtolze Ge-
danke: Jch bin für etwas mehr, als für die
Urnen erſchaffen; iſt ders nicht? Jſts nicht
die heiſse Begierde, der unerſättliche Durſt
nach Vollkommenheit, der mich unüber-
(I. Theil.) H
[112] windlich gewiſs macht, mich erwarte ein
Glück von ewiger Dauer, von einem Um-
fange für den ich das Maaſs vermiſse und
den ich villeicht erſt künftig zu überſehen
fähig ſeyn werde? Dieſer Gedanke beru-
higt mich. Er thut der Güte ein Genüge
die jede denkende Seele an dem Urheber
der Welten preiſt, die ſich durch alle We-
ſen herab, bis auf die unterſten Stufen der
Schöpfung ergieſst.


Ja, gewiſs! ich werde ewig leben; ich
werde ewig glücklich leben; ich werde die-
ſe irrdiſche Schale abwerfen; mein Geiſt
wird frey in das Land der Seligkeit über-
gehen. Jch glaube dieſe Verwandlung ſo
feſt, daſs ich ſie nicht zu fürchten vermag.
Jch kann mich nicht irren! Und geſetzt ich
irrte: ſo lieb’ ich doch dieſen ſchmeicheln-
den Jrrthum ſo ſehr, daſs ich ihn um alle
Güter der Erde nicht weggeben möchte.
[113] Und was wär’ ich ſonder ihn, dieſen ſüſsen,
dieſen beruhigenden Gedanken? Was wäre
mein Leben anders, als die mitternächtliche
Reiſe eines Wandrers in einem unwegſamen
Gebirge? Jhm drohen tauſend Tode; hier
ein reiſsender Waldſtrom, dort die krachen-
de Eiche, die der Winterſturm ſpaltete;
hier ein abhängiger Fels und dort eine Mör-
dergrube. Er wird der Gefahr nicht ent-
gehen, er wird einer Höhe durch einen
Fehltritt entſtürzen und von ſpitzen Felſen
durchbohrt werden. Aber er iſt es, der
göttliche Gedanke, der dieſe Finſterniſse
zerſtreut und ein angenehmes Licht über
meine Tage verbreitet. Er iſt es, der der
tobenden Woge gebietet in ihr Bette zu-
rükzukehren, der den Stürmen winkt, zu
ſchweigen und den Blitzen, zu verſchwin-
den. Nun flieht die Nacht; die Donner
rollen nur noch von ferne; die Wellen brül-
[114] len nicht mehr und gelindere Lüfte ſcher-
zen auf der beruhigten Fläche. Bald werd’
ich den Hafen erreichen. Schon haucht
mir ein glückſeliges Ufer entgegen. Da
werd’ ich die Ruhe finden; da werd’ ich
zürnende Meere den ſichern Strand be-
ſchäumen ſehen.


Es iſt eine künftige Glückſeligkeit!
Dieſe Hoffnung verſüſst alle Bitterkeit mei-
nes Schickſals. Mit ihr ſeh’ ich alle Ge-
genſtände aus einem andern Geſichtspunk-
te an; von ihr empfangen alle Scenen des
Lebens eine veränderte Geſtalt.


Das Glück wirft mir Reichthümer zu.
Dieſe Güter werd’ ich nicht verſchmähen,
ich werde ſie brauchen, ich werde ſie werth
halten; aber ich werde ſie nur als geliehen
betrachten. Das Glück verlangt ſie zurück.
Gleichgültig geb’ ich ſie wieder, gewiſs,
daſs mir beſſre Güter zurückbleiben, die
[115] kein Zufall mir entreiſsen, die die Zeit
nicht verderben, die die Ewigkeit ſelbſt
noch bis ins Unendliche vergröſsern wird.


Jch beſtrebe mich wohlthätig zu ſeyn.
Man belohnt mich mit Undank; für meine
Güte verfolgt man mich. Jch handle nach
Grundſätzen der beſten Religion; ich ſuche
Wahrheit und Tugend auszubreiten. Man
verkennt mich, man beſchuldigt mich nie-
driger Abſichten. Darüber werd’ ich nicht
muthlos. Jch verfolge meinen Weg. Erſt
am Ende der Laufbahn erwart’ ich die
Krone.


Mein Freund ſtirbt. Jch verliere ihn;
aber ich weiſs, daſs ich ihn nur auf wenige
Tage verliere. Dieſem kurzen Verluſte
weih’ ich meine Thränen; aber ich zürne
nicht mit dem Himmel; ich ſtöre die Ru-
he meines Geliebten durch ungeſtüme Kla-
gen nicht. Ruhe ſanft, geweihte Aſche!
[116] Bald werd’ ich ihn wiederſehen, meinen
verklärten Freund, in beſſern Welten die
der Tod nicht erreicht.


Jch ſterbe. Meine Segel entgehen
dem Sturme. Empfang mich giücklicher
Hafen! Empfangt mich, ihr Freunde, die
ihr mich mit offnen Armen erwartet!



[117]

Der funfzehnte Spatziergang.


Jch kann es nicht zugeben, meine Freun-
de! daſs man der Gutherzigkeit, auf Un-
koſten anderer Tugenden, das Wort rede.
Alle ſtehn, meines Erachtens, in einer ſo
genauen Verbindung unter einander, daſs
es unmöglich iſt, daſs eine die andre aufhe-
ben ſollte. Sie machen zuſammen nur Ein
Ganzes aus, und man kann in der That ſa-
gen, daſs es nur Eine Tugend gebe. Jch
weiſs es, man thut ſich ſeit einer gewiſsen
Zeit nicht wenig darauf zu gute, gutherzig
zu ſeyn, oder es vielmehr nur mit einem
vermeynten Anſtande zu ſcheinen. Recht-
ſchaffner Yorick! dein iſt die Schuld nicht;
ſondern deiner tändelnden Nachahmer, die
uns in Kurzem villeicht eine der männlich-
ſten Tugenden in ein elendes Kinderſpiel
[118] verwandeln werden. Nicht viel fehlt dar-
an, ſo werden unſre feurigen Jünglinge als
Don Quixote der Gutherzigkeit, auf ſchöne
Abenteuer mit Mönchen und Nonnen, und
Kammermädchen und Bettlern ausgehn,
und man wird im heiligen Römiſchen
Reiche von wohlthätigen Kreuzzügen hö-
ren und von Begebenheiten, die ihrem in-
nern Gehalte nach dem Märchen von der
Windmühle vollkommen ähnlich ſeyn wer-
den. Jn der That, meine Herren! wenn
ſie ſolche reiſende Gutherzige für wahre
Gutherzige anſehn wollen, ſo beweiſ’ ich
ihnen, daſs der Ritter von der traurigen
Geſtalt unter allen Helden der erſte, und ſein
vortrefflicher Stallmeiſter ein ſo feiner Kopf
war, als jemals einer in dem goldnen Zeit-
alter des Witzes geweſen ſeyn mag. Und
warum läſst man denn eben den Gutherzi-
gen Reiſen? Wo iſt eine Stadt, oder ein
[119] Haus ſo leer an vernünftigen und unver-
nünftigen Bewohnern, daſs man nicht täg-
liche Gelegenheit haben ſollte ſeine wohl-
wollenden Neigungen in Handlung zu ſe-
tzen. Es iſt überhaupt romantiſch, nur Ei-
ne Tugend und nur Dieſe in aller mögli-
chen Gröſse zeigen zu wollen. Das nenn’
ich moraliſche Seiltänzerey, die freylich ei-
nen ſtaunenden Pöbel um ſich herum ver-
ſammlen kann; der aber der geſetzte Mann
im Vorbeygehn kaum einen Seitenblick
gönnen wird. Die Vorſehung hat uns ein-
mal unſern beſtimmten Wirkungskreis an-
gewieſen. Wir haben alle Hände voll zu
thun, wenn wir einen Theil unſrer Beſtim-
mung nur einigermaſsen erfüllen wollen.
Auch die kleinſte Oekonomie will mit ei-
ner Menge von Tugenden in Ordnung er-
halten ſeyn. Und nur ſelten werden wir
in eine ſo gefahrvolle Lage hineingerathen,
[120] aus der wir uns mit Hülfe einer einzigen,
auf das höchſte getriebenen Kraft heraus-
helfen müſsten.


Doch wir wollten ja nur von der Gut-
herzigkeit reden. Sie iſt eine Tugend;
aber ſie iſt es nicht immer und ſie iſt es als-
dann am wenigſten wenn ſie auch nur ei-
ner einzigen wahren Verbindlichkeit entge-
gen ſteht.


Mein thätiges Verlangen den Wohlſtand
meiner Nebengeſchöpfe zu vergröſsern, iſt
Gutherzigkeit. Dadurch unterſcheidet ſie
ſich von einem jeden unwirkſamen Wohl-
wollen, von einer jeden aufwallenden,
weichherzigen Regung und von dem Af-
feckte des Mitleidens, der ſich auf Unglück-
liche allein nur beziehen kann. Das gute
Herz äuſsert ſich gegen Feinde und Freun-
de, gegen Glückliche und Unglückliche,
gegen Hohe und Niedrige. Aus einem
[121] Grunde ſpeiſe ich den Hungrigen, kleide
den Nackenden, warte den Verwundeten
der unter die Mörder gefallen war, rette
den angefochtnen guten Namen meines Be-
leidigers, erhöhe die Freuden des Glückli-
chen, erleichtre dem Sklaven die Kette und
dem Kranken Bekümmerten ſeine Schmer-
zen; aus Einem Grunde erbarm’ ich mich
einer jeden leidenden Kreatur und des Bö-
ſewichts ſelbſt, der nun doch einmal un-
glücklich und mein Bruder iſt. Jede
menſchliche Bruſt enthält den Keim dieſes
wohlthätigen Hanges. Er iſt, wenn ich
mich dieſer Sprache bedienen darf; der edle
Ueberreſt des göttlichen Ebenbildes in uns,
der nicht verloren gegangen iſt. Wir wür-
den ihn ſogar nicht durch eine fortgeſetzte
Reihe menſchenfeindlicher Handlungen auf
immer erſticken können: warum wollen
wir nicht lieber die angelegentlichſte Sorg-
[122] falt auf ſeine Wartung verwenden, die uns
eine untrügliche, reiche Aerndte der ſüſse-
ſten Früchte verſpricht? Nicht zu geden-
ken, daſs die höchſte belohnende Gerech-
tigkeit, unſer kleinſtes Wohlwollen, das un-
vollkommenere fruchtloſe ſelbſt, wenn kein
beſſeres möglich war, wo nicht in dieſer,
doch gewiſs in einer künftigen Welt, ver-
hältniſsmäſsig belohnen wird; ſo wird doch
auch hier ſchon eine jede Handlung dieſer
Art von einer angenehmen innern Empfin-
dung begleitet. Das Bewuſstſeyn einer ed-
len That iſt auch lange nachher noch eine
Quelle des Vergnügens, und die Ausbrüche
der Dankbarkeit, die wir an manchen,
durch unſre Güte gerührten Gemüthern be-
merken, müſsen nothwendig auch das ihri-
ge zu unſrer Zufriedenheit beytragen. Nur
lege man dieſen angenehmen Gefühlen,
nicht ohne genaue Prüfung, einen allzu ho-
[123] hen Werth bey; nur glaube man nicht, daſs
ſie die nothwendige Beylage einer jeden
gutherzigen That ſind; nur leugne man dem
nicht das gute Herz ganz ab, der ſich bey
den Aeuſserungen deſſelben nur ſelten ei-
nes lebhaften Vergnügens bewuſst gewor-
den iſt! Das bloſse Temperament iſt weder
Tugend, noch Laſter; ob es gleich zu einer
und der andern Tugend, zu einem und dem
andern Laſter geneigter machen kann. Sollt’
ich darum beſſer ſeyn als ein anderer, weil
ich von Natur leichter mit andern ſympa-
thiſire; weil ich meines eignen Vergnügens
wegen nicht umhin kann, mich mit dem
Glücklichen zu freuen; weil mir die Lei-
den des Unglücklichen beſchwerlich ſind
und ich es um mein ſelbſt willen nicht laſ-
ſen kann, dieſe Beſchwerde von mir zu ent-
fernen? So wäre der feinere Epikureïſmus
die beſte Philoſophie und der vernünftigſte
[124] Wollüſtling der einzige Weiſe! Wehe dann
dem unabläſsigen ſtrengen Bearbeiter ſeiner
ſelbſt, der mit einer minder empfindlichen
Seele geboren, erſt eine Menge Hinderniſse
in ſich ſelbſt überwinden muſs, eh’ er ſich
beſtimmen kann ſein Herz ſeinem dürftigen
Bruder zu entſchlieſsen; dem jede gröſsere
geſellſchaftliche Tugend erſt einen be-
ſchwerlichen Kampf koſtet! Aber Gott und
die ſehende Vernunft würdigen die Tugend
nach einer vollkommnern Regel. Der
wahre Gutherziege iſt es nicht in dieſem und
jenem Falle; ſondern unter allen Umſtän-
den: nicht aus einem unbeſtändigen ſinn-
lichen Triebe; ſondern aus deutlicher Ue-
berzeugung ſeiner Vernunft: nicht aus Af-
feckt; ſondern oft ſeiner herrſchenden Lei-
denſchaft entgegen: nicht mit Widerſpruch
irgend einer andern Tugend; ſondern in
der genauſten Harmonie mit allen.


[125]

Der wahre Gutherzige, der es mit Weis-
heit und in der erforderlichen Unterord-
nung ſeiner andern Obliegenheiten iſt, ver-
giſst ſich alſo ſelbſt nicht. Er iſt ſich ſeine
eigne Erhaltung für heute und Morgen
ſchuldig. Mein Leben iſt unter allen
meinen Glücksgütern das gröſste. Es iſt
die Bedingung, vermöge welcher ich die
andern allein nur beſitzen kann. Wer
kann es mir verdenken, wenn ich anſtehe,
es ohne vorhergegangne groſse Ueberlegung
zum Beſten eines andern in Gefahr zu ſe-
tzen? Die Gutherzigkeit kann es nicht wol-
len; oder Gutherzigkeit und Unbeſonnen-
heit müſsten Eins ſeyn. Nur in wenigen
Fällen bin ich ihm mein Leben ſchuldig;
dieſe wenigen Fälle aber erfordern den Zu-
ſammenfluſs weit höherer Tugenden, als
die Gutherzigkeit ſelbſt iſt. Viel öfter
wird dieſe mich verbinden können, meine
[126] Geſundheit einiger Gefahr zu unterwerfen,
einen Theil meines Lebens zum Wohlſeyn
des andern zu verbrauchen, einige meiner
Bedürfniſse für ihn hinzugeben. Daran
iſt kein Zweifel. Aber nichts wichtiges
muſs ohne Ueberlegung geſchehen; keine
groſse Verleugnung, ohne genaue Abwä-
gung des aufzuopfernden Guts. Auch dem
Chriſten ſteht es wohl an das Seine zu Ra-
the zu halten. Es würde lächerliche Ver-
ſchwendung, es würde Thorheit ſeyn, wenn
man ſich ſeines Vermögens berauben woll-
te, um hier und da villeicht einen nichts-
würdigen Müſsiggänger zu ernähren, dem
es ſo freylich beſſer gefällt, als wenn er
ſein tägliches Brod mit Arbeit erwerben
ſollte.


Der wahre Gutherzige kann nur den
Wohlſtand des andern zum Zweck haben.
Sollte er alſo mit Wahrſcheinlichkeit wiſsen
[127] können: ſeine Wohlthaten würden den Zu-
ſtand des andern verſchlimmern, ſo iſt es ihm
einleuchtend, daſs er hierin ſeinem guten
Willen Schranken ſetzen muſs, wenn er
nicht auf das mindeſte ſelbſt Gefahr laufen
will, in eine ſich und andern verderbliche
Thorheit zu verfallen. Die Ausflucht: Jch
thue Gutes: was geht es mich an, wie es
angewandt wird? Meine Abſicht iſt doch,
dem andern zu helfen. Jſt es meine
Schuld, wenn ich ſie nicht erreiche? Jch
gab doch einem der meiner Unterſtützung
bedurfte; war er es übrigens würdig oder
nicht würdig, daſs ich ihm gab: das wuſst’
ich nicht und durft’ es nicht wiſsen, —
kann nur da gelten, wo es entweder nur
auf eine Kleinigkeit ankömmt, oder drin-
gende Umſtände, wenn anders überhaupt
Hülfe geleiſtet werden ſoll; eine ſchleuni-
ge Hülfe erfodern.


(1. Theil) I
[128]

Endlich iſt der wahre Gutherzige noth-
wendig auch gerecht. Seine Wohlthaten
können keinen Dritten beleidigen. Jn der
That, es muſs ſo ſeyn, meine Herren! wenn
anders die ſehende Vernunft eine ſichrere
Führerinn als die blinde Leidenſchaft iſt.
Wie nennen ſie den ſanguiniſchen Richter,
der jetzt noch auf der Seite des Rechts
ſteht; bald aber durch das Geſchrey des
Schuldigen, durch ſeine falſchen Thränen
erweicht, der Unſchuld Sache verräth, den
liſtigen Böſewicht losſpricht und den armen
Unterdrückten verdammt, deſſen jammern-
de Stimme nicht bis zu ſeinen Ohren er-
ſchallte? Gutherzig gewiſs nicht; oder ſie
müſsen ſeinen Kollegen einen Wirth nen-
nen, weil er ſeinen Spruch für das höchſte
Gebot feil hat. Was denken ſie von einem
Patrone, der den Stümper befödert, weil er
ſein Mitleiden zu erregen weiſs und den
[129] verdienten Mann übergeht, der ſich zu kei-
ner niederträchtigen Betteley herablaſsen
kann? Sie denken, daſs er ſchwaches Ko-
pfes und ich denke, daſs er auch ſchwaches
Herzens iſt. Nicht Gutherzigkeit, nicht
wahres Mitleiden; Leichtſinn iſt es, Unge-
rechtigkeit gegen andre, einem erkannten
Böſewichte durch ein falſches Zeugniſs ſei-
nes Wohlverhaltens öffentlichen Kredit zu
geben. Der Vorwand, daſs man ihn bey
Ehren erhalten wolle, iſt durchaus nichtig.
Auch die Bedürfniſse meiner Angehörigen
werden oft meine Wohlthaten gegen andre,
die mit mir in entfernterer Verbindung ſte-
hen, einſchränken müſsen. Die Natur ſelbſt
ſpricht für jene. Wie könnt’ ich ſie ver-
geſsen? Sollt’ ich meinen Kindern das Brod
nehmen, und es einem andern geben, weil
er auf zwey Beinen einhergeht wie ſie?
Das ſey ferne! Weg mit den frommen,
[130] oder daſs ich recht ſage, gottloſen Geſchen-
ken und Vermächtniſsen an bevollmächtigte
Müſsiggänger, Heidenbekehrer und todte
Steinklumpen, wenn ſie ein Raub ſind, den
ich tod oder lebendig an den ſeufzenden
Meinigen begehe!


Doch was unterfang’ ich mich ſie zu
unterweiſen, meine Herren? Sie ſind wohl
nicht um eine Predigt zu hören, mit mir
ausgegangen? Ein Wort giebt das andre,
und ich habe nun ſchon den ſchon den Fehler, daſs
ich mich ganz ausreden muſs, wenn ich ein-
mal zu reden angefangen habe.



[131]

Der ſechszehnte Spatziergang.


Glücklicher Tag, an dem ich zum erſten-
male wieder einen überlegenden Blick auf
mich ſelbſt warf! Glücklicher Tag, an dem
ich aus dem langen Taumel erwachte, in
welchen mich die Sünde geſtürzt hatte!
Wie konnt’ ich mich ſo vergeſsen? Wie
konnt’ ich die Tiefe nicht bemerken, an
deren Rande ich ſpielend einherging, die
ich jetzt nicht hinabſehn kann, ohne Schauer
und Schwindel zu empfinden? Wie? wenn
mich ein Sturm ergriffen; wie? wenn mich
der ſinkende Boden mit ſich hinunterge-
rollt hätte? Dann wär’ ich jetzt ſchon in
den dunkeln Wohnungen des Todes, aus
welchen keiner zurückkehrt; dann hätt’ ich
villeicht ſchon die Stimme des Richters für
immer nnd ewig vernommen. Aber nein!
[132] ich bin mir noch einmal wiedergegeben;
ich darf noch mein Auge voll Thränen ei-
nes heiligen Entzückens zu meinem Wohl-
thäter empor heben. Wann andre ſich in
dem leuchtenden Blitze ſeines ſie ergreifen-
den Zornes erkannten, ſo erhob ſich für
mich eine wohlthätige Sonne, ſo ward ich
von den milden Stralen eines glücklichen
Tages gerührt.


Was bin ich, o Gott! daſs Du meiner
ſo liebreich gedenkeſt? Was bin ich, daſs
Du mich aus dem Haufen der Sünder ſo
deutlich herausnimmſt? Erwarteſt Du eine
vollkommnere Heiligkeit, erwarteſt Du
gröſsere Tugenden von mir: o, ſo erhebe
meine geiſtigen Kräfte, daſs ich Deine Er-
wartungen erfülle! Von heute an müſse
mein beſseres Leben, meine eigentliche Se-
ligkeit beginnen! Dieſer herausgewagte
Wunſch, dieſer erſt entſtehende Entſchluſs
[133] ſelbſt macht mich ſchon ruhiger. Nicht,
daſs ich ihm allein vertrauen; nicht, daſs
ich dabey ſtille ſtehen; nicht, daſs ich die-
ſe jungen Regungen, bey aller ihrer Leb-
haftigkeit, auch ſchon für Tugend halten
ſollte. Eine ſo groſse Veränderung wird
nicht mit einmal gewirkt. Man ſteigt nicht
von der Erde zum Himmel, man habe denn
zuvor den Raum zwiſchen beyden durch-
ſchnitten. Die moraliſche Vollkommenheit
erhebt ſich von Stufe zu Stufe. Es iſt ewig
unmöglich die letzte zu erreichen: ſie ver-
liert ſich ins Unendliche. Wäre dieſs nicht,
ſo möchte man dem Schöpfer vorwerfen,
daſs er unſre Seligkeit nicht gewollt, daſs er
uns, aus unbegreiflichen Urſachen, nicht
auf einmal das habe werden laſsen, was wir
werden konnten. Wozu dieſe beſchwerli-
che Beſserung an uns ſelbſt? Wozu dieſes
mühſame Aufſtehn aus dem Staube, wenn
[134] er uns in einem Momente aufrichten. und
wozu dieſs Aufrichten, wenn er uns gut er-
ſchaffen, wenn er für immer verhüten
konnte, daſs wir nicht fielen? Das konnte
er nicht; oder er muſste die Erde mit Ma-
ſchinen bevölkern, die, von ſeinen Händen
gelenkt, nur dieſe und jene Wirkung, zu
dieſer und der Zeit, und keine von allen aus
eigenthümlicher Kraft hervorbrächten. Man
iſt nicht recht glücklich, ohne vollkommen
frey zu ſeyn. Und wenn es Weſen giebt,
die über alle unſre Begriffe ſelig ſind, ſo
ſind ſie ſchlechterdings auch auf eine ſo vor-
zügliche Weiſe frey, als ſie es nur immer
ſeyn können.


Dieſs feſtgeſetzt; bleibt es doch eben
ſo gewiſs, daſs unſer moraliſches Wohlſeyn
groſsentheils mit von den beſondern Ver-
hältniſsen abhange, darin es der höchſten
Weisheit und Güte uns gerathen zu laſsen
[135] gefallen hat. Sie veranſtaltet dieſe Bege-
benheiten und zu der Zeit, da ſie grade
den und keinen andern Eindruck auf uns
machen müſsen. Sie verbindet mit unſern
guten Handlungen die guten Folgen, die wir
davon erwarteten, und oft nicht einmal er-
warteten. Das ſtärkt uns im Guten. Und
aus unſern böſen Thaten läſst ſie Uebel ent-
ſtehen, die uns an empfindlichen Stellen
verletzen. Das verleidet uns den Weg der
Laſter, das bringt uns zur Tugend zurück.
Wir ſind doch nur Kinder. Wie viel öf-
ter würden wir fallen, wenn uns nicht das
Auge des zärtlichſten Vaters beobachtete!
Oft, wenn er uns ſeine Hand nicht reichte,
würden wir aufzuſtehn, aus Unvermögen,
wo nicht aus träger Muthloſigkeit unterlaſ-
ſen. Oft würden wir in dem ſüſsen Gifte
der Lüſte den Tod eintrinken, wenn er
uns nicht auf eine, von ihm ſelbſt veranſtal-
[136] tete, ſchickliche Weiſe von den beſſern Mit-
teln unſrer Geſundheit unterrichtete.


So will ich ihm denn für ſeine Hülfe
danken, ihm, dem gütigen Vater ſeiner
folgſamen Kinder; ſo will ich ihn denn bit-
ten, und nicht müde werden, daſs er ſein
Auge auf mich richte, daſs er ſeine Hand
nach mir ausſtrecke, daſs er mich erleuchte,
daſs er mich zum Leben unterweiſe! Aber
ich will es dabey nicht vergeſsen, daſs er
auch Fodrungen an mich hat, und daſs ich
nicht alles von ihm erwarten darf.



[137]

Der ſiebenzehnte Spatziergang.


Sie ſind ernſthaft, meine Julie? Ein fin-
ſtres Gewölk überzieht ihre ſonſt ſo hei-
tre Stirne? Ein lange verhaltnes Thrän-
chen entwiſcht ihrem Auge? — Jch ver-
ſtehe ſie; ich verſtehe den deutlichſten
Ausdruck ihrer gereitzten Empfindlichkeit,
ihres innigen Verdruſses. Und ſie wollen
ihren feindſeligen Mitſchweſtern dieſe grau-
ſame Freude, dieſen ſo lange, ſo ſehnlich
gehofften Triumph gönnen? Ermannen ſie
ſich, meine beſte! Nehmen ſie die ruhige
Mine, nehmen ſie das ſanfte Lächeln, den
Ausdruck des beſten Bewuſstſeyns, das un-
terſcheidende Merkmal der Unſchuld von
neuem an, und leuchten ſie glänzender aus
zertheilten Nebeln hervor!


Freylich, man hat eine der ſchwerſten
Beſchuldigungen auf ſie gebracht, man hat
[138] ſie mit allen Farben der Wahrheit ausge-
ſchmückt, man hat ſie mit groſser Unver-
ſchämtheit ſo gut als auf öffentlichen Plätzen
ausgerufen. — Auch Dieſe Tugend war
Schein! auch Dieſe Julie war eine kleine Be-
trügerinn! — Man erzählt eine Geſchich-
te; man ruft Zeugen auf. Die Geſchichte
kann wahr ſeyn: ſie iſt wahr! Und ſie wür-
de einer Julie Ehre machen, wenn ſie mit
ihren wirklichen Bewegungsgründen einem
noch ſo ſtrengen Richter zur Beurtheilung
vorgelegt würde. Aber auch die beſte Fi-
gur wird durch den Anzug verunſtaltet. Die
Geſchichte war zu kurz und zu trocken:
man ſchwellt ſie mit Nebenumſtänden auf;
man hohlt hundert Bewegungsgründe aus
den finſterſten Winkeln hervor; jede Hand
iſt geſchäfftig, und ſiehe! der verächtliche
Schneeball iſt zu der Gröſse eines Berges
angewachſen. Noch würde ihre Ruhe
[139] nicht gelitten haben; ſie, die ſich immer
mehr um ſich ſelbſt, als um das was auſser
ihnen vorgeht bekümmern, hätten den Lerm
nicht bemerkt der ihrentwegen erregt war:
Aber ſo überläſtig iſt die zudringliche Ge-
fälligkeit unſrer ſeynwollenden Freunde,
daſs ſie nichts fehlen laſsen, den Sieg der
Bosheit, ſo viel an ihnen iſt, entſcheidend
zu machen! Sie wiſsen alles; auch die klei-
nern Umſtände hat man ihnen nicht verheh-
len wollen.


Wie? wenn ſie es nun nicht wüſs-
ten? So wären ſie noch das zufriedne Mäd-
chen; ſo wären ſie noch die Glückliche,
die alle für ſo gut hielt, wie ſie ſelbſt von
allen geachtet zu werden wünſchte. Seyn
ſie es noch! Sie wiſsen nichts; ſie ha-
ben nichts gehört; dieſe Geſchichte war
nicht die ihrige. Was hindert es, daſs
man ihren Namen dazu geborgt hat?
[140] Man ſtirbt ja nicht darum, weil man tod
geſagt wird!


Und ſind ſie denn von ihren Richtern
verurtheilt? Wenn ſie das Auge des Allge-
genwärtigen nicht ſcheuen, wenn ſie ſich
vor ihrem eigenen nicht verbergen dürfen:
was iſt dann das einſtimmige Erkenntniſs,
der laute Machtſpruch einer ganzen verur-
theilenden Welt anders, als ein Wetter, das
weit unter ihnen im Thale wütet?


Aber ſo ſehr verkannt zu werden, bey
einem einzigen kleinen Anſcheine, mit den
elendeſten Geſchöpfen der Erde vermiſcht,
für böſe, und was noch ſchlimmer iſt, für
heuchleriſch gehalten zu werden! Eine ei-
ſerne Haut müſste man haben, wenn man
den Schlag nicht empfinden ſollte!


Jch ſage nicht, daſs ſie ſtolz ſind, mei-
ne Julie! Jch ſage nur daſs ſie auf die gute
Meynung der Welt kein ſo ausgemachtes
[141] Recht haben, daſs ſie zürnen könnten,
wenn man es ihnen nicht immer und in ſei-
nem weiteſten Umfange zugeſtehen wollte.
Warum wollen ſie von andern mit ihren
eignen Augen angeſehen werden? Warum
fodern ſie das Unmögliche? Oder denken
ſie, ihre Verdienſte ſeyn ſo groſs, daſs ſie
ohne vorſätzliche Blindheit nicht verkannt
werden könnten? — Andre nach dem
Maaſse unſrer Kräfte, nach den Beziehun-
gen zu beurtheilen, in welchen wir mit ih-
nen ſtehen, oder dereinſt zu kommen ge-
denken: iſt eine Befugniſs, die wir uns
ſelbſt zueignen, und keinem andern ent-
ziehn dürfen. Sein Urtheil iſt Lob, oder
Tadel. Jenes will ich ihm gelten laſsen
und dieſem will ich empfindlich begegnen?
Er kann irren; es iſt wahr: er kann mich
für ſchlimmer halten, als ich bin; allein bin
ich denn ſo unfehlber, bin ich denn wirk-
[142] lich ſo gut, als ich mir es zu ſeyn ſcheine?
Ein kleines Miſstrauen gegen uns ſelbſt, ei-
ne kaltblütige Beleuchtung unſers eignen
Werths, meine Julie! wird noch immer
dem nachtheiligſten Urtheile, das über uns
gefällt wird, etwas von ſeiner Schärfe be-
nehmen. So belohnt es denn doch ſchon
die Mühe, eine kleine Verleumdung über
ſich ergehen zu laſsen, weil man dadurch
zur nichtigen Schätzung ſeiner ſelbſt zu-
rückgebracht und noch vor der feinern Art
von Eitelkeit in Sicherheit geſetzt wird!


Aber davon kann ich ihnen noch deut-
lichere Verſicherungen geben. Man beur-
theilt uns nicht leicht ohne allen Schein.
Mehrentheils haben wir durch unſer Betra-
gen, zu den ſchwerern Verleumdungen
ſelbſt Anlaſs gegeben. War es Mangel an
Klugheit, ſo kömmts uns von nun an zu,
keinen Schritt von der Art mehr, als mit
[143] der abgemeſsenſten Behutſamkeit zu thun.
Nicht genug, daſs wir uns der beſten Ab-
ſichten bewuſst ſind; wir handeln auch für
andre. Das Licht ſoll nicht unter dem
Scheffel brennen. Da iſt ſein Platz, wo es
ſeine wohlthätigen Sralen über die nützlich-
ſten Geſchäffte des Hauſes am vortheilhaf-
teſten verbreiten kann. Und wenn nun
die getadelte Handlung wirklich von zwey-
deutigem Werthe war? — Sie war noch
unſchuldig: es kann ſeyn; aber ſie war die
gerade Straſse zum Verderben. Einen Schritt
weiter, und der Abgrund verſchlang uns!


So war denn dieſe Nachrede eine nach-
drückliche Warnung? Sie war es! Ja! ſie
ſchallte mir lauter ins Ohr als die ſchüchter-
ne Stimme der Freundſchaft. So hab’ ich
denn keinen Feind mehr? O! die ich ſo
nannte, die ich in der Hitze der Leiden-
ſchaft ſo gewiſs dafür hielt, verzeiht es mei-
(I. Theil.) K
[144] ner unbedächtigen Uebereilung! ich hab’
euch verkannt. Jhr habt mich des Stolzes,
ihr habt mich der Ungerechtigkeit; ihr
habt mich der Jrreligion beſchuldiget? Es
iſt wahr: ich gab meinen kleinen Verdien-
ſten, bey dieſer und jener Gelegenheit ein
zu groſses Gewicht. Das ſah’ ich zuvor
nicht; jetzt ſeh’ ich es? Gut! — Es gab
einen Fall, da ich ungerecht wurde, weil
ich mein Recht verfolgte. Das wuſst’ ich
nicht; jetzt weiſs ichs. — Jch ſtritt wi-
der Aberglauben und Heucheley; ich that
es mit den Waffen der Satyre; ich that es
mit einem Eifer, den man verkennen konn-
te. — Der Menſch will es mit allem was
heilig iſt aufnehmen: ſo dachte man, ſo
ſprach man. Gut, daſs ich es weiſs. Jch
konnte mich freylich von der Wahr-
heit verlieren. Man belacht dieſs, man be-
lacht jenes, und zuletzt gewöhnt man ſich,
[145] alles was man ſieht lächerlich zu fin-
den. O ihr meine Kritiker! damit will
ich eure Bemühungen vergelten, daſs ich
mich immer noch weiter von den Jrrgän-
gen entferne, in welchen ihr mich ſchon
verloren zu ſeyn glaubt.


Glauben ſie nicht, meine Julie! daſs ſie
in dieſen Geſinnungen, bey einem noch ſo
lauten und allgemeinen Tadel, die Zufrie-
denheit ihres Herzens würden erhalten kön-
nen? Setzen ſie allenfalls noch hinzu, daſs
es verlorne Mühe ſeyn würde, wenn man
mit Beybringung noch ſo vernünftiger
Gründe, ſo viele geſchäfftige Zungen zum
Stillſchweigen zurükbringen wollte, und
daſs man mit den heftigen Ausbrüchen des
Unwillens immer noch am wenigſten aus-
richtet. Freylich iſt das Konzert der Frö-
ſche nicht eben das angenehmſte. Es iſt
ihnen villeicht auch heute beſchwerlich.
[146] Aber wollten wir darum dieſen ſchönen
Abend ganz nicht genieſsen, wollten wir
darum alle ſeine Reize verkennen? ſchon
locket die Nachtigall. Süſser als jemals
ſchallt ihre melodiſche Stimme. Haben ſie
es nicht ſchon vergeſsen, daſs ſie unwillig
waren? Haben ſie es nicht ſchon vergeſsen,
daſs es Fröſche giebt?



[147]

Der achtzehnte Spatziergang.


Lange genug hab’ ich die trägen Dünſte
meines Zimmers einathmen müſsen; lange
genug hat das wütende Fieber meine Ner-
ven erſchüttert. Oft glaubt’ ich, ich wür-
de den Frühling nicht wiederſehn, als in
einer andern Welt villeicht. Fand ein
Sonnenſtral den Weg zu meinem Lager:
Er iſt der letzte den du ſiehſt; dacht’ ich.
Kam die ſchlummerloſe Nacht, ſo ſah’ ich
die Schatten des Todes in ihr. Dieſe wer-
den dich decken, ehe das Morgenroth wie-
dererſcheint; dacht’ ich, und ſeufzte nach
Ruhe. Aber der Morgen kam wieder und
die wechſelnden Tage führten den heilen-
den Frühling heran. Sein kräftiger Ein-
fluſs belebte die Schöpfung und mich. Bald
konnt’ ich mein Lager verlaſsen und bald
[148] den unterſtützenden Stab entbehren, der
meine wankenden Schritte geſichert hatte.


Nun will ich keinen Augenblick mehr
verlieren, euch wieder zu grüſsen, ihr ver-
jüngten Gefilde die ich das letztemal noch
mit tiefem Schnee bedeckt ſah. Wie hat
ſich alles in euch, aus einem unabſehlichen
Chaos in eine Scene des Wohllauts verän-
dert! Tauſend Empfindungen ſtrömen von
allen Seiten auf mich zu. O! ich will ſie
alle, mit allen Sinnen genieſsen. Sie ſol-
len meine Seele erquicken, wie ein langege-
hoffter Regen die lechzenden Felder er-
quickt. Und in der That iſt es, als ob ich
alles um mich mit geſchärfteren Sinnen, mit
verfeinerten Gefühl empfände. Wie ſanft
erwärmt mich, o Sonne, dein allbelebender
Stral! Jch fühl’ ihn jede meiner ſchwellen-
den Adern durchirren. Wie erfriſchend
umweht mich die geruchreiche Luft! Wie
[149] flieſsen die Bäche dahin, in ihren kleinſten
Beugungen mit dem ſchimmernden Schmel-
ze des jungen Jahres beſäumt! — Welch
ein Konzert! Die ganze Schöpfung ſcheinet
dazu zuſammenzuſtimmen: im Thale, die
murmelnde Flut; am Ufer, der Büſche me-
lodiſches Flüſtern; aus blühenden Hecken,
der Nachtigall zärtliche Stimme; der Lerche
Jubelgeſang, vom heitern Himmel herab.
Jch ſchweige nicht; ich vereinige damit
meine lobſingende Stimme. Die Stimme
des Menſchen, ſie iſt der ächte Ausdruck
der Freude. Und Jch habe vor Tauſenden
zur innigſten Freude Recht! Nicht genug,
daſs ich mir ſelbſt und meinen Freunden
wiedergegeben bin, ſo iſt dieſer Uebergang
vom Tode zum Leben, dieſe Abweſenheit
ſchmerzhafter Empfindungen, dieſer friſche
Eindruck eines lange vermiſsten Vergnü-
gens ſelbſt ſchon eine Wolluſt, die allen
[150] ſſſen und anziehenden Freuden des irrdi-
ſchen Lebens die Wage hält.


So rinnen auch Ströme des Vergnügens
von rauhen Gebirgen herab! ſo hat auch
die Krankheit ihre Vortheile, die aus ihrer
Natur ſelbſt entſpringen! Gott der Geſund-
heit und des Lebens! ich kenne Dich nun
auch von dieſer glänzenden Seite. Jch er-
kenne Deine väterliche Sorgfalt: Du biſt
meine Stärke. Die dunkeln Stellen des
Lebens erhöhen nur die Stralen Deiner
Güte. Das mehrt mein kindliches Vertrauen
auf Deine Hülfe; das erhebt meinen Muth;
das macht mich im Tode getroſt!



[151]

Der neunzehnte Spatziergang.


Muſs ich denn immer dieſem Menſchen
mit der Angelruthe begegnen? Es iſt wahr;
ſeine Figur verſchönert die Landſchaft.
Meinetwegen möcht’ er immer hier ſtehn
und ſeinen trügeriſchen Widerhacken aus-
werfen; aber der Menſch thut nicht was er
thun ſoll; ungewiſs iſt der Erfolg ſeiner
Bemühungen; ſeine armen Kinder hungern
indeſs und er könnte ſein ſichres Brod ver-
dienen, wenn er dem Gewerbe nachginge,
zu welchem er erzogen iſt, —


Der Menſch iſt ein Thor! —


Sachte, ihr Herren! Er iſt von einer
groſsen Famile, er hat unter beyden Ge-
ſchlechtern, unter allen Gattungen von Men-
ſchen, unter ihren ehrwürdigſten Ständen,
unter ihnen ſelbſt, meine Herren! ſeine
Brüder, ſeine Verwandten. —


[152]

Das wäre der Henker! —


Nicht anders! Laſsen ſie uns mehr da-
von reden! Jch beweiſ’ es ihnen, wenn ſie
es leiden wollen.


Ja! aber ihr Beweiſs muſs mit einem
Wege von tauſend Schritten zu Ende
ſeyn.


Je nun! wenn wir zuweilen ſtille
ſtehn. — Von allen Ständen ſprach ich.
Laſsen ſie uns von dem erhabenſten, von
dem geehrteſten von allen, von dem ge-
krönten anfangen! — Fliegen haſchen iſt
ein ganz intereſſantes Geſchäffte für einen
Knaben, der ſein Zuckerbrod oder ſeinen
Honig für ſich behalten will. Wenn aber
der Herrſcher der Welt, der irrdiſche Jupi-
ter, der Bruder des geſchäfftigen Titus der
die Luſt des menſchlichen Geſchlechts war,
wenn der ſich in die entlegenſte Kammer
ſeines Pallaſtes begiebt, und in Einem Feld-
[153] zuge alle geflügelten Bewohner derſelben
zu Grunde richtet —


So ſagen wir: er iſt der Mann mit der
Angelruthe!


Nein! ſag ich. Wenn Der ein Thor
war, ſo iſt es Dieſer noch zehntauſendmal
mehr, nach einem ſo richtigen Verhältniſse,
als nur jemals eine in der Meſskunſt der
Seelen durch Zahlen ausgedrückt wurde.
Weiter! Es hat Fürſten gegeben, die ihre
Wälder von Wölfen und Bären rein hiel-
ten; ihre bedrückten Unterthanen aber den
Kaprizen ihrer Tränzerinnen und Poſſen-
reiſser Preis gaben. Andre lagen lebens-
lang zu Felde; zogen auf Abenteuer aus
und bereicherten den nichtswürdigen Hau-
fen, der ihren Panieren folgte: indeſs ihr
Erbreich, bey aller ſeiner Macht und Gröſ-
ſe, bey allem ſeinem Ruhme entvölkert und
des Nothwendigen ſelbſt beraubt wurde
[154] Doch man hat Bücher davon geſchrieben,
und ich habe mehr zu beweiſen. — Wer
kennt die Anmaſsungen der Geiſtlichkeit
nicht? Sie ſollte das Volk unterrichten; ſie
ſollte die heilſame Lehre Jeſu ausbreiten.
Dieſs war ihr Geſchäfft. Wahrhaftig! ein
Geſchäfft, das alle ihre Kräſte gefodert, das
alle ihre Zeit ausgefüllt hätte. Was hat ſie
dagegen gethan? — Ein Syſtem erfunden,
das Volk bey ſeiner Unwiſsenheit zu erhal-
ten; alle Kräfte angeſtrenget, die weltliche
Macht zu zernichten, und ſich aus ihren
Trümmern einen Thron zu erbauen. —


Hoffentlith meynen ſie doch die Geiſt-
lichkeit einer gewiſsen andern Kirche?
Denn was die proteſtantiſche betrifft —


Nun dieſe hat freylich zu der Höhe
nicht hinaufklimmen können. Aber wir
wollen uns doch des unglücklichen Func-
cius erinnern. Sie kennen ſeine lehrreiche
[155] Grabſchrift, das herrliche Vermächtniſs, das
er der Nachwelt ſeiner Amtsbrüder zur
ewigen Regel ihres Verhaltens hinterlaſsen
hat. Jch dächte, ſie verdiente noch immer
mit groſsen goldnen Buchſtaben an eine je-
de Pfarrwohnung geſchrieben zu werden.
Funccius hat noch Anhänger. Oder iſt es
etwas anders, ſeine ganze Zeit einer eitlen
Wiſsenſchaft ſchenken, die mit Gott und
göttlichen Dingen nur in ſehr entfernter
Verbindung ſteht? Jſt es etwas anders, die
Gunſt der Reichen und Mächtigen erſchlei-
chen, allenthalben als Gewiſsensrath geach-
tet, und ſelbſt dem gemeinen Manne unent-
behrlich ſeyn zu wollen? Jede Provinz,
meine Herren! jede proteſtantiſche Provinz,
ſag’ ich; wenn ſie nur von einigem Um-
fange iſt, hat ihre Roſstäuſcher und Schwei-
neverkäufer, die die ſorgfältige Bearbeitung
einer Predigt lieber als den Beſuch irgend
[156] eines berühmten Jahrmarkts unterlaſsen
würden. Dieſe Herren treiben ein ſehr
ehrliches Gewerbe. Darauf iſt nichts zu
ſagen. Jch könnte ſie hochſchätzen, wenn
ſie es allein trieben. Aber ſo machen ſie
von ihren edelſten Pflichten die Ausnah-
me; ſo bringen ſie einen wahrhaftig ehr-
würdigen Stand, zum Nachtheile der Wahr-
heit und Tugend ſelbſt, in Verachtung.


Wollen ſie aus andern Ständen Beyſpie-
le? ſo bring’ ich ihnen einen Hausvater
auf die Bühne, der die Beſtellung ſeines
Gartens zu ſeiner Liebhaberey gemacht hat.
Wie es ſeinen Kindern geht; wie dieſe zar-
ten Pflanzen gedeyen; wie ihr Geiſt gebil-
det, wie ihre Sitten gebeſſert werden: da-
für mag das liebe Geſinde, Hofmeiſter und
Franzöſin ſorgen; wenn es nur in ſeinem
Garten gut ſteht; wenn ſeine Bäume fort-
kommen; wenn Wind und Wetter ſeine
[157] Beete verſchonen; wenn er nur dieſe Bluh-
me zur Vollkommenheit, wenn er nur die-
ſe Frucht zur Reife bringt.


Es giebt Leute, die ſich in der Berech-
nung ihrer Kräfte betrügen. Sie haben zu
zehn verſchiedenen Geſchäften Kraft; ſie
übernehmen aber zwanzig, und darüber ge-
ſchieht nichts wie es geſchehen ſollte. Soll
ich den Mann loben, der der Vormund
der halben Stadt iſt, der ſo vielen mit Rath
und Hülfe an die Hand geht, dem man al-
les auftragen kann, der für andre ſpricht
und ſchreibt, geht und reiſet, ſoll ich ihn
loben, wenn er dabey auf den Verfall ſei-
ner eignen Angelegenheiten nicht Acht hat,
wenn eine gänzliche Anarchie ſein Haus-
weſen zu Grunde richtet? Noch giebt es
Leute, denen es, weder an Gelegenheit,
noch an Geſchick fehlt, ſich für andre auf
das nützlichſte zu beſchäftigen; aber es
[158] wird ihnen ſo läſtig, ſie finden dabey ſo we-
nig Vergnügen und ſie wollen ſich doch
einmal nur vergnügen. Was iſt gewiſser
zu vermuthen, als daſs ſie bey ſo gutem
Verſtande, bey ſo feinem Geſchmacke und
bey ſo vieler Lebhaftigkeit des Tempera-
ments, ein Syſtem erfinden werden, ſich
ihre ausgeſuchten Vergnügungen, ſich die
ſchöne Reihe ihrer Ergötzlichkeiten ſelbſt,
zum Geſchäffte zu machen, und alles aus
dem Wege zu ſchaffen was ihnen in dieſer
Bemühung hinderlich ſeyn würde? Dieſe
Leute wenden oft gleich ſo viel Nachden-
ken und geſchäfftigen Eifer auf die Aus-
richtung eines Gaſtmahls, eines Bals, oder
einer andern Luſtbarkeit, als der wohlthä-
tige Menſchenfreund auf die Rettung und
Wiederherſtellung ſeines in verlaſsene Um-
ſtände gerathenen Mitbruders nur immer
verwenden kann.


[159]

Unſre lieben Damen — wie könnt’
ich eine der ſchicklichſten Gelegenheiten,
ihnen recht viel ſchönes zu ſagen, ungenutzt
laſsen? — Unſre Damen, ſag’ ich; ha-
ben eine eigne Weiſe, ihre ſelbſterwählten
Beſchäfftigungen ihrer eigentlichen Pflicht
und Beſtimmung unterzuſchieben. Jch re-
de nicht von den Heldinnen unter ihnen,
die ihren Männern allenthalben vortreten,
und, ſollt’ es auch ſchlechter gethan ſeyn,
alles durch ſich gethan haben wollen. Kön-
nen ſie dafür, daſs ſich die Natur in ihrer
Bildung geirrt hat? Für ſie iſt die weibli-
che Sittſamkeit eine zu kleine Tugend; der
Spinnrocken würde ſie entehren und die Na-
del ein viel zu verächtliches Werkzeug ih-
rer kraftvollen Hände ſeyn. Setzt die Ama-
zone aufs Pferd; ihr braunes Haar walle
unter dem Federhute hin; ihr Jagdgewand
ſtrale von ſeinen goldenen Schleifen die Son-
(I. Theil.) L
[160] ne zurück; ihr Glanz verſammle das Volk;
mit aufgeriſsenen Augen ſtaune ihr die Neu-
gier nach: Sie iſt mehr als ein Weib; ich
bin zu wenig, ſie zu loben, und ſie zu ta-
deln, bin ich zu furchtſam.


Warten ſie meine Herren! hier iſt ei-
ne Seite aus Kalliſtens Tagebuche. Es iſt
ein Geheimniſs; ich begehe eine kleine
Verrätherey, wenn ich es ihnen bekannt
mache: aber doch — die Sache iſt von
keinen Folgen; höchſtens hab’ ich einen
Schlag mit dem Fächel und ein: ſie loſer
Mann! zu erwarten. Kalliſte wird doch
wohl Kalliſte bleiben. — Die Sonne hat,
auch in den kürzeſten Tagen, ſchon einen
anſehnlichen Theil ihrer Laufbahn zurükge-
legt, wann ſich meine ſchöne Freundinn
erſt von ihrem wollüſtigen Lager erhebt.
Aus ihrem erſten Anzuge erkennt man
ſchon die Feinheit ihres Geſchmacks. Al-
[161] les daran iſt, bis auf die gröſsten Kleinig-
keiten, mit Nachdenken gewählt und nach
Regeln der Kunſt zuſammengeordnet. Und
allein in ihrem Gehirne ſind dieſe ſchönen
Jdeen entſtanden, die man mit einem jeden
Morgen, in einer neuen Verbindung und in
einem neuen Lichte erblickt. Aber dieſs
alles iſt nur die Morgenröthe, die den vol-
len Glanz des heiterſten Tages verkündigt:
Alle Seelenkräfte meiner Freundinn, alle
dienſtbaren Geiſter ihres Hauſes ſind zu ih-
rer Ausbildung geſchäfftig. So erſcheint ſie
denn mit Anbruch des Abends in der feſt-
lichen Verſammlung ihrer vornehmen Ge-
ſpielen, und athmet den Weihrauch ein, den
man ihren hervorſtechenden Verdienſten
nicht verſagen kann. Jhr Sieg iſt allgemein
und faſt immer entſchieden. Auch ermü-
det ſie nicht, alle ihre Reize, jeden klei-
nen, glücklichen Zufall ſelbſt, mit einer
[162] Aufmerkſamkeit der nichts entgehn kann,
geltend zu machen. Sie erzwingt eine
durchgängige Huldigung; ihre neidiſchen
Schweſtern werden ſelbſt dazu fortgeriſsen,
und nur hin und wieder ein kaltblütiger
Beobachter bedauert es, daſs ein ſo vorzüg-
licher Verſtand ſo ganz zum Dienſte der Ei-
telkeit verſchwendet wird. Unter ſolchen Be-
ſchäfftigungen verlängert Kalliſte den Tag bis
über die Gränzen der Mitternacht hinaus.


Dieſs, ſind ihre wirklichen Geſchäffte,
und Dieſe, ſollten es ſeyn:


Eine weiſe Einrichtung ihrer häuslichen
Angelegenheiten, würde allein ſchon hin-
reichen, einen Theil des verſchlafenen Mor-
gens auszufüllen. Und Kalliſte hätte hun-
dert Urſachen, ſich zu dem kleineren œko-
nomiſchen Detail herabzulaſsen. So aber
wirft ſie einen flüchtigen Blick aufs Ganze,
und überläſst die weitere Beſorgung dem
[163] Gutbefinden eines betrügeriſchen Geſindes,
welches immer verſchlagen genug iſt, eine
ſo herrliche Gelegenheit nicht ungenutzt
aus den Händen gehn zu laſsen. So ko-
ſtet ihre Haushaltung etlichemal ſo viel, als
ſie unter einer wachſamen Aufſicht koſten
würde; ihr Gemahl wird durch einen Auf-
wand, der ſo leicht zu vermeiden wäre,
wo nicht in Schulden geſtürzt; doch gewiſs
an einem edlerem Gebrauche ſeines Vermö-
gens gehindert. Jch nehme an, daſs er die
Güte, die Nachſicht ſelbſt iſt: wird er es
aber immer ſeyn? Wird er immer gleich-
gültig zuſehen, wenn eine ſo kluge, ſo
reizende Frau ihre Klugheit und ihre Rei-
ze zur Verſchlimmerung ſeiner Glücksum-
ſtände ſo gefliſsentlich anwendet? Kalliſte
hat Kinder, die wild, wie die Bluhmen des
Feldes aufſchieſsen. So laſſen ſie nur eine
geruchloſe, einfarbichte Blüthe hoffen, da
[164] ſie doch bey der zärtlichen Pflege einer ſo
einſichtsvollen Mutter, vor vielen andern
Bluhmen ihrer Art mit einem vorzüglichen
Glanze hervorſtralen würden. Es iſt unbe-
greiflich, wie Kalliſte eine ſo groſse, ſo
rühmliche, mit ſo vielen feinern Vergnü-
gungen verbundene Beſchäfftigung, für
nichts weggeben kann. —


Tauſend Schritte, mein Herr! und noch
eine Zugabe von zwey tauſend! ſie kön-
nen doch niemals das Ende finden. —


Eben wollt’ ich meinem Beweiſe das
letzte Gewicht anhängen, meine Herren!
eben wollt’ ich mich zu ihnen wenden. —


Vortrefflich! wir würden ihnen mit dem
gröſsten Vergnügen zugehört haben; aber
ſie ſehen es ſelbſt: es iſt Mittag; wir haben
den Wind ins Geſicht und dieſer Umſtand
iſt dem Redner noch gefährlicher, als dem
Zuhörer.



[165]

Der zwanzigſte Spatziergang.


Meine reizende Muſe: Klio, Euterpe,
oder wie ſie ſonſt heiſsen! Sie haben heute
redlich bey mir ausgehalten; legen ſie nun die
Flöte von ſich: man wird auch des beſten
Geſchäffts müde. Jch will ihnen ein Vergnü-
gen machen: kommen ſie mit auf die Pro-
menade! Da ſollen ſie Menſchen ſehen! —


Als wenn das ein Vergnügen für mich
wäre? Menſchen zu ſehen! wie lächerlich!
Beym Jupiter! ihr ſeyd auch die Geſchöpfe
die man gerne ſehen möchte.


Thun ſie doch nicht ſo ekel, meine
Schöne! Man ſollte glauben: ſie müſsten
die Königinn Juno ſelbſt, oder aufs wenig-
ſte ihre erſte Kammerjungfer ſeyn. Als
wenn man die Damen des Olympus nicht
beſſer kennte! Sie gehen auf Abenteuer
aus, wie die unſrigen. Haben ſie nie et-
[166] was von dem Prinzen Adonis, oder von
dem ſchönen Jäger Endymion gehört? Den
blonden Lycidas, mit allen ſeinen artigen
Kaprizen, kennen ſie wohl gar nicht? —
Was iſt Jhnen? Sie bekommen Vapeurs. —
Fort! auf die Promenade, Mamſell! —


Da ſind wir nun: Sie, mit dem alles-
überſehenden Fernglaſe ihrer eingebildeten
Weisheit; Jch, mit einer hundertmal gröſ-
ſern Doſe von Neugier, als ſie mir jemals
mögen zugetraut haben, ſo ſehr ich auch in
ihren Augen ein Frauenzimmer bin. Sie
ſollen des Antwortens ſatt werden: das
weiſs ich. — Allons, mein Herr! Kennen
ſie da das niedliche Geſicht nicht, mit den
ſchönen beſcheidnen Augen? So würd’ ich
die Unſchuld mahlen. Welche natürliche
Farbe! welche ebene, reine Haut! —


Natürlich? Ja! die Zitronenfarbe iſt
freylich in der Natur. Eben und rein?
[167] allerdings! die kleine Idee von einem Bar-
te ausgenommen, der die verbleichten Ro-
ſen ihrer Lippen beſchattet. Doch das iſt
eine Kleinigkeit, ein glücklicher Schatten,
der den Glanz der andern Theile er-
höht. —


Pfuy! mit ihrem abſcheulichen Glaſe!
Sie ſind ein ungezogner häſslicher Menſch!
— Aber was iſt das für ein Herr da, im
grünen Kleide mit Treſſen? Eine wichtige-
re Mine hab’ ich noch in meinem Leben
nicht geſehn. Jch ſetze meine jungfräu-
liche Ehre zum Pfande: der Herr iſt Mi-
niſter oder doch der Præſident eines an-
ſehnlichen Kollegiums. —


Wie ſchön ſie rathen können! Geld
hat der Menſch und Eitelkeit mehr als Geld;
und wenn er der Præſident eines Kollegiums
ſeyn ſoll, ſo iſt er es von dem weltberühm-
ten Kollegium der Dummköpfe. Meine
[168] liebe Euterpe! man merkt es ihnen an,
daſs ſie die Muſe der Hirten ſind. Denn
in der That urtheilen ſie, wie eine Land-
prediger Tochter die zum erſtenmale in
die Stadt kömmt. —


Das iſt wahr, mein Herr! ſie verſtehn
den artigen Spott aus dem Grunde. So
was feines lieſet man in dem ganzen Luzian
nicht. Zum Glück weiſs ich mich zu rächen.
Antworten ſie! Wer iſt der hübſche junge
Menſch da, ganz am Ende der Promenade?
Nennen ſie mir die drey Frauenzimmer die
er führt; oder — nennen ſie mir ſie nicht!
Es ſind nichtsbedeutende Figuren. Aber
ihr ſchöner Begleiter fällt ins Auge. Was
für ein Gewächs! Sie haben eine ganz leid-
liche Figur, aber mit Dem Herrn vergli-
chen, ſind ſie eine Zuckerpuppe! —


Freylich wohl, meine göttliche Schö-
ne! Aber laſsen ſie uns etwas näher hinzu
[169] treten! Nicht wahr: ſie ſehen nur ſchlecht
in die Ferne, und urtheilen für eine Muſe
etwas zu übereilt? Bewundern ſie doch
den hübſchen jungen Menſchen! Wahrhaf-
tig! zum Satyr fehlen ihm nur die Füſse.
Hab’ ich jemals einen beſeelten Klotz geſe-
hen ſo iſt es Der! Finden ſie das nicht,
meine Gnädige? Und — wie ſie ſich in
Abſicht der Frauenzimmer geirrt haben!
Der Unverſchämte würde mit dem guten
Willen derſelben nie auf die Promenade ge-
kommen ſeyn, wenn er nicht eine ſo un-
überwindliche Zudringlichkeit beſäſse. Erſt
ſehen ſie die blonde Dorilis an! Jch habe
wider ihren Teint nichts; aber gegen den
Teint dieſes reizenden Mädchens iſt er nichts
mehr, als was die Dämmrung gegen den vol-
len Glanz eines heitern Maitages iſt. Es
thut mir leid, daſs ich es ſagen muſs; allein
es iſt Wahrheit, und ich habe nie ſo wenig
[170] Luſt gehabt ihnen zu ſchmeicheln, als heute.
Und dann ſo ſehen ſie doch, um des Him-
mels willen! meiner kleinen Blondine in die
Augen. Es iſt wahr, meine Göttin! ſie ha-
ben ein feines blaues Auge, wenn man es
allein ſieht; aber mit dieſem verglichen, iſt
es eine elende Wachskerze, die ſich in dem
Schimmer der Mittagsſonne verliert. Ge-
gen dieſen niedlichen Mund, der ſich mit
einem bezaubernden Lächeln nur halb öff-
net, iſt der Jhrige ein kleiner Thorweg,
ob ich gleich geſtehn muſs, daſs es auch
ihm nicht an unbeſchreiblichen Reizen
fehlt. — Wider ihren Wuchs iſt ſchlech-
terdings nichts einzuwenden. Alles an Jh-
nen iſt regelmäſsig und wohl abgemeſsen.
Sie vereinigen die Schönheiten aller himm-
liſchen Mädchen in ihrer einzigen Perſon.
Aber — werden ſie nicht böſe, mein
Kind! — gegen die unausſprechliche Gra-
[171] zie, die über meine Dorilis ausgegoſsen zu
ſeyn ſcheint, iſt das alles nichts. — Wel-
che Taille! Welch ein unnachahmlicher
Gang! Welch ein Fuſs! Den Jhrigen hört
man auf hundert Schritte. Dieſer ſchwebt
über den Boden hinweg. Und dann ha-
ben ſie allerdings einen göttlichen Verſtand
und eine Einſicht, wie ſie ſeyn muſs und
eine Naïveté und einen unerſchöpflichen
Witz; aber —


Nicht ein Wort mehr! Sie ſind ein
garſtiger Menſch, ein unerträglicher Schwä-
tzer, ein Unverſchämter! O ihr Götter!
So was hören zu müſsen und von einem
Menſchen, der mir alles zu danken hat,
der ohne mich nicht drey Worte zuſam-
menſetzen könnte! Aber du ſollſt es erfah-
ren! Mein Beyſtand iſt dir auf immer ver-
ſagt. Zittre vor dem Zorne einer Gottheit,
die ein Frauenzimmer iſt!



[172]

Der einundzwanzigſte
Spatziergang.


Sie werden mein kleines Buch villeicht nie
zu Geſichte bekommen, und wenn es auch
geſchehen ſollte, ſo werden ſie es doch vil-
leicht nie leſen. Es iſt ſo langweilig, ſo
ſehr moraliſch. — Aber es könnte doch
wohl ſeyn, daſs ſie es von ungefähr einmal
auf dem Sopha ihrer Freundinn liegen ſä-
hen; es könnte ſeyn, Chloe! daſs ſie es neu-
gierig öffneten; es könnte ſeyn, daſs ſie
grade Dieſe, Jhnen gewidmete Seite auf-
ſchlügen, daſs ſie ſie läſen, daſs ſie es merk-
ten, ich, ihr verſchämter, blöder Verehrer
ſey es, der ſich mit ihnen zu reden erdrei-
ſte. Auf dieſe unwahrſcheinliche Vorſtel-
lungen hin, die villeicht nie in Erfüllung
gehn werden, wag’ ich es, ſie mit den we-
[173] nigen Gedanken zu unterhalten, die wäh-
rend meines heutigen einſamen Spatziergan-
ges in meiner Seele aufgeſtiegen ſind.


Jch beſuchte jenes reizende Thal, wel-
ches ich an einem glücklichen Tage meines
Lebens einmal an ihrer Seite durchwan-
delte. Der bluhmichte Steig, den ſie betra-
ten; der Lindengang, der ſie mit düftenden
Blüthen beſtreute, der ſtille Teich, darin
ſie ſich wohlgefällig erblickten; alles, bis
auf den himmelblauen Schmetterling, den
ſie in einem Anfalle von Muthwillen er-
haſchten, und bey allem aufwallenden Mit-
leiden, bey meinem Bitten ſelbſt, doch nicht
fliegen lieſsen, alles erinnerte mich an ſie.
Jch glaubte ſie ſelbſt wiederzuſehn, mit al-
len ihren, meiner Ruhe ſo gefährlichen Rei-
zen. Doch aber wirkten ſie ſchwächer auf
mich, als in jenen Stunden der Trunken-
heit und des Nichtbewuſtſeyns. Jch faſste
[174] alſo Muth, ich vergaſs meine ſchüchterne
Rolle, ich lieſs mein Herz reden. Leſen ſie,
was ich ihnen ſagte, und was ſie anzuhören
die unerwartete Gefälligkeit hatten. Jch
glaube nicht, daſs ich jemals vermögend
ſeyn werde, es ihnen auf eine andre Art,
als auf die gegenwärtige zu ſagen. Und
doch wollt’ ich, daſs ſie es wüſsten.


Sie wiſsen es ſelbſt, meine Chloe! wie
reizend ſie ſind. Die gütige Natur hat ih-
nen zu der vortheilhafteſten Bildung eine
dauerhafte Geſundheit beygelegt, die ſo viel
zur Vermehrung ihrer blühenden Reize
beyträgt. Sie haben ein noch gröſseres
Gut von ihr erhalten: einen Verſtand, der
von vielen Dingen richtig zu urtheilen ge-
wöhnt iſt, und einen lebhaften Witz, ver-
möge deſſen ſie, wenn ſie nur wollen, das
Vergnügen einer jeden anſtändigen Geſell-
ſchaft erhöhen können. Kurz: ſie ſind
[175] ein ſchätzbares, liebenswürdiges Mädchen,
und ſie dürfen ſelbſt nur eine kleinigkeit
hinzufügen, ein vortreffliches zu werden,
und die Aufmerkſamkeit der Kenner in
Bewundrung, und hie und da eine aufkei-
mende Zuneigung in die dauerhafteſte Lie-
be zu verwandeln. Schade wenn ein ſol-
ches Meiſterſtück des Schöpfers unvollen-
det bleiben, oder durch einen ſchlimmen
Zufall zu einer geringern Gattung von Gei-
ſtern herabgewürdigt werden ſollte! ihre
Erziehung hat es gehindert, daſs ſie mit kei-
ner eigentlichen Wiſsenſchaft, mit keiner Art
von Gelehrſamkeit bekannt geworden ſind.
Das iſt ſchon recht. Die gelehrten Frauen-
zimmer ſind bey weitem nicht die beſten.
Aber doch ſcheint es mir, als wenn es ih-
nen zuträglich ſeyn würde, wenn ſie von
dem was ſie ſich und andern ſchuldig ſind
einen gründlicheren Unterricht empfangen
(I. Theil.) M
[176] hätten. Dieſe einzige Wiſsenſchaft iſt für al-
le Menſchen gemacht. Ohne ſie iſt das beſte
Wiſsen Thorheit und die weitläufigſte Ge-
lehrſamkeit eitel; mit ihr ſind die meiſten
Menſchen gelehrt und unterwieſen genug.


Was haben ſie für eine Religion,
Chloe? — Eine ſeltſame Frage! —
Ja! aber nur ſeltſam für den, der ſie nach
dem gemeinen Redegebrauche verſteht
und nach ſeinem Katechiſmus beantwortet.
Was ſie für eine Religion haben? Eine
unzulängliche, ſag’ ich; eine Religion, die
nur in ihrem Gedächtniſse Platz genom-
men, ihren Verſtand nie erreicht und ihr
Herz kalt gelaſsen hat. Aus den Hand-
lungen eines Menſchen; nicht aus ſeinem
leeren, mehrentheils nur ſtillſchweigenden
Bekenntniſse, muſs auf ſeine Religion zu-
rückgeſchloſsen werden können. Und
Chloe! nehmen ſie mir es nicht übel: ich
[177] habe nicht leicht etwas von ihnen gehört,
oder geſehen, daraus ich einen zureichen-
den Beweis für die Güte ihrer Gottes-
furcht hätte hernehmen mögen. Einzelne
gute Handlungen, die ich ihnen nicht ableug-
nen will, entſcheiden hier nichts. So un-
wirkſam iſt eine richtige Erkenntniſs von Gott
und göttlichen Dingen nicht, daſs ſie nicht in
den ganzen Charakter des Menſchen einflieſ-
ſen, daſs ſie nicht ſeine wichtigern Handlun-
gen auf eine, auch für andre merkliche Wei-
ſe beſtimmen ſollte. Sie ſind eine Chriſtinn,
ſagen ſie. Jch ſeh’ es ſo oft ſie an unſern
Religionsgebräuchen Theil nehmen. Sonſt
wüſst’ ich aber nicht, daſs ſie etwas gethan
hätten, dabey ſie nicht eben ſowohl für ei-
ne Anhängerinn des Korans hätten gehalten
werden können. Sie verdienen einen beſ-
ſern Unterricht, und es wird nur auf ſie an-
kommen, ob ſie ihn annehmen wollen.


[178]

Weiter, meine liebe Chloe! Sie kennen
ſich ſelbſt nicht. Noch iſt es ihnen nicht
in den Sinn gekommen, daſs ſie, vor ſo
vielen andern Bekanntſchaften, Dieſe zu
machen, ſchuldig geweſen wären. Doch ich
thue ihnen zu viel! Sie ſind ja von dem
Werthe ihrer kleinen Perſon ſo vollkom-
men unterrichtet; ſie wiſsen es ja ſo genau
woran es ihnen fehlt, um die Rolle durch-
zuſpielen, die ſie ſich zu ſpielen vorgenom-
men haben. Wer will ihnen Das ſtreiten?
Wer ſeine Muſche ſo geſchickt aufzutragen
weiſs, der muſs doch den verdrüſslichen Fle-
cken wohl geſehen haben, den er damit zu
verbergen gedenkt. Wo ſind aber die Mu-
ſchen für die groſsen Höcker der Seele, die
aller ſittlichen Harmonie ſo ganz entgegen
ſind? Sie mögen ſich noch ſo vortheilhaft
einhüllen; ſie mögen die ſchlaueſte Kunſt
zu Hülfe rufen; ſie mögen die beſte Seite
[179] noch ſo ungezwungen vorkehren: es giebt
Augenblicke, Chloe! wo man ſich vergiſst;
der Zufall führt ſie herbey, und die Liebe
iſt nicht zu allen Zeiten blind.


Sie ſind äuſserſt leichtſinnig Chloe! Die
wichtigſten Dinge machen auf ſie nur einen
ſchwachen Eindruck. Was neu iſt, ſo un-
bedeutend und klein es auch ſeyn mag;
was ſinnliche Freuden verſpricht; was ih-
ren Augen gefällt; was ihren Ohren
ſchmeichelt: das iſt ein Gegenſtand ihres
Verlangens und auf einige Minuten villeicht
ein Gegenſtand ihrer Achtung. Nur von
Dauer muſs es nicht ſeyn. Eine Welle
muſs die andre fortdrängen; der Strom des
Vergnügens muſs unaufhaltſam vorbeyflieſ-
ſen. Sie ſtehn an einem gefährlichen Ufer,
Chloe! — Jch tadle es nicht, daſs ſie ih-
rem Vergnügen nachgehn; aber es ſind
dauerhafte Freuden, die ich ihnen empfehle.
[180] Sie hängen nicht von den Sinnen allein ab;
ſie vertragen ſich mit dem Ernſte der Weis-
heit, oder vielmehr, ſie beſtehen durch ihn.
Sie mögen ſich putzen Chloe! ſie mögen in
dem Schimmer und mit dem Anſtande ei-
ner Göttin in den Verſammlungen ihrer
Geſpielen erſcheinen; vergeſsen ſie darüber
nur nicht ihren unſterblichen Geiſt zu
ſchmücken; vergeſsen ſie nicht, ſich durch
Sittſamkeit, Herablaſsung und jede andre
geſellſchaftliche Tugend zu empfehlen. Sie
mögen ſich zu den luſtigen Reihen der
Tänzer geſellen; wenn ſie nur bedenken,
daſs auch dieſem Vergnügen ſeine Schran-
ken geſetzt ſind, über die es ohne Verſchul-
dung nicht hinausgehn darf. Einen gewiſ-
ſen ernſten Blick, eine unzufriedne Grimaſ-
ſe, mit der ſie oft das beſcheidne Verdienſt
zurückſchrecken, ſparen ſie für den Kreis
von Anbetern auf, der ſich ihnen dadurch
[181] empfehlen will, daſs er ihnen ihre eiteln
Vorzüge bey jeder Gelegenheit für Voll-
kommenheiten einer höhern Art anrechnet.
Ueberhaupt Chloe! ſuchen ſie davon ge-
wiſs zu werden, daſs man ſich nicht für Ei-
nen Tag allein freut. Der Verſchwender
iſt immer leichtſinnig. Heute ſchwimmt er
in Ueberfluſs und Morgen jammert er, daſs
es ihm an den nothwendigſten Bedürfniſ-
ſen des Lebens fehlt. Die Freude erfodert
eine haushälteriſche Sparſamkeit, wenn ſie
mit dem Leben fortdauern und eine mehr
als menſchliche Klugheit, wenn ſie über
daſſelbe hinausdauern ſoll.


Jch könnte ſie der Eitelkeit beſchuldi-
gen, Chloe! Allein das wäre ihnen ge-
ſchmeichelt. Jch ſag’ es ihnen gerade hin:
ſie ſind nicht bloſs eitel; ſie ſind ſtolz, bis
zur Beleidigung andrer, vor welchen ſie
Vorzüge zu haben vermeynen. Man darf
[182] ihnen nur an Geburt und Stande nicht gleich
kommen, ſo iſt es ſchon genug, ein kaltes
Kompliment, ein Achſelzucken, einen ver-
ächtlichen Seitenblick zu erhalten. Füh-
len ſie das Unanſtändige in dieſem Betragen
nicht, Chloe! ſo ſuchen ſie wenigſtens das
Häſsliche davon zu Geſichte zu bekommen.
Jhr Spiegel kann es ihnen ſagen, wie ſehr
ſie der Ausdruck dieſer menſchenfeindli-
chen Leidenſchaft verſtellt. Sie ſehen ſich
in dieſen Augenblicken nicht mehr ähn-
lich; alle Grazien ſind von ihrem, ſonſt ſo
reizenden Angeſichte entflohen; ihre gan-
ze ſchöne Geſtalt iſt verändert; ſie ſind
ihren Freunden ſelbſt fürchterlich. Wer ſie
ſo zum erſtenmale ſieht, zittert und danket
ſeinem Glücke villeicht, daſs er mit ihnen
noch keine genauere Verbindung eingegan-
gen iſt. Chloe! ſie ſind ja ſonſt gegen ih-
re Figur eben nicht gleichgültig. Sie ken-
[183] nen die Macht der Schönheit. Wiſsen ſie,
daſs nicht leicht etwas mehr zu ihrer Vol-
lendung, zu ihrer Fortdauer beyträgt, als
jene Heiterkeit des Geiſtes, als jene Güte
des Herzens, die mit allen ungeſelligen Ge-
müthsbewegungen ſo gar nichts gemein hat.
Lernen ſie dieſes von Themiren! An wel-
chen Vorzügen iſt ihnen dieſs himmliſche
Mädchen nicht überlegen? So lieb ſie mir
ſind, meine Chloe! ſo weit ich ſie den mei-
ſten Schönheiten ihrer Zeit vorziehe, ſo iſt
doch keine jungfräuliche Vollkommenheit,
in Abſicht welcher ſie nicht durchaus von
Themiren verdunkelt würden. Jhre Ge-
burt, ihr Stand, iſt über dem Jhrigen. Und
nie hab’ ich ſo viel Verſtand, nie eine ſo
tiefe Wiſsenſchaft, nie eine ſo geübte Klug-
heit, mit ſo vieler Schönheit vereinigt ge-
ſehen. Und gleichwohl, wie herablaſsend
gegen einen jeden, wie unnachahmlich ge-
[184] fällig iſt Themire! Dafür, wie allgemein
geliebt, wie angebetet bey nahe! Das könn-
ten ſie auch ſeyn, Chloe! wenn ſie wollten.
Jch habe ſie gefällig, ich habe ſie herablaſ-
ſend geſehn. Es ſtand ihnen ſo wohl an;
es erhöhte ſo ſehr ihre Schönheit; es zeug-
te ſo ſehr von ihrem edlen Herzen und von
ihrem feinen Verſtande; ſie machten da-
durch ſo geſchwinde und ausgebreitete Er-
oberungen. — Chloe! warum ſtanden ſie
auf einem ſo ſchönen Wege ſtille; warum
verſicherten ſie ſich ihre erworbenen Vor-
theile nicht? O! ihre Laune bringt ſie um
alles. Sie entſagen den Vorzügen eines
Engels um nur nicht ihrem widerſpänſtigen
Herzen eine kleine Gewalt anthun zu dür-
fen. Noch vermiſse ich bey ihnen die hö-
heren Grade des Wohlwollens, die zärtliche
Menſchenliebe, das innige, thätige Mitlei-
den und überhaupt die gütige Theilneh-
[185] mung an den Empfindungen andrer. Su-
chen ſie doch dieſen edleren Eigenſchaften
ihres Geſchlechts den Geſchmack abzuge-
winnen. Mit ſolchen verſichre ich ſie ei-
nen unerſchöpflichen Reichthum von Ver-
gnügungen, die eben darum weil ſie ihnen
neu ſind, deſto anziehender für ſie ſeyn
werden. Jch will nur noch der Freund-
ſchaft gedenken. Sie haben Bekannte ge-
nug unter beyden Geſchlechtern, in deren
Umgange ſie manche müſsige Stunde er-
träglich genug hinbringen können. Aber
unter allen ihren Bekannten iſt ihnen Nie-
mand von ganzem Herzen, und für alle
Zeiten ergeben. Eine geringe Verände-
rung des Glücks würde dieſen Haufen zer-
ſtreuen, der den gemeinſchaftlichen Vor-
ſatz mit ihnen hatte, den Bedürfniſsen der
Langenweile abzuhelfen. Es giebt Leute,
Chloe! von denen man einen beſſeren Ge-
[186] brauch machen kann. Sie ſind leicht zu
kennen. Mit dieſen verbinden ſie ſich auf
das innigſte. Da ſie nur in geringer An-
zahl zu finden ſind, ſo erleichtert dieſs die
vollkommenſte Verbindung mit ihnen. Sie
werden es bald erfahren, daſs es ein unge-
meines Glück ſey, auf dem Wege zur Tu-
gend eine ſichre Begleitung gefunden zu
haben. Denn darauf muſs alle Freund-
ſchaft abzwecken, die dieſes göttlichen Na-
mens werth ſeyn ſoll. Laſsen ſie dann ei-
nen unerwarteten Unfall hereinbrechen!
ihre kleine Geſellſchaft wird ſich darum
nicht von ihnen verlieren; man wird ihnen
hülfreiche Hände bieten, man wird ihr
Herz zu beruhigen, man wird ſie mit Troſt
zu erfüllen, man wird ihnen Muth einzu-
flöſsen ſuchen, und wenn man nichts kann,
ſo wird man einen treuherzigen guten Wil-
len zeigen, der ihnen ſo werth, als die That
[187] ſelbſt ſeyn wird. Jch ſage nichts von den
täglichen Freuden eines wahrhaftig freund-
ſchaftlichen Umgangs. Meine Beſchrei-
bungen würden immer nur ſehr unvollkom-
men ſeyn. Freundſchaft iſt der Himmel
auf Erden, iſt der Vorſchmack von dem
Glücke einer beſſern Welt. Suchen ſie je-
nen zu finden und dieſen zu verdienen!


Jch ſchone ihrer Geduld, Chloe! Für
eine Dame haben ſie mir lange genug zu-
gehört.



[188]

Der zweyundzwanzigſte
Spatziergang.


So oft ich auch von meinen Beobachtun-
gen über den Menſchen mit Vergnügen zu-
rückkomme, ſo find’ ich ihn doch auch
nicht ſelten in ſo ſchlimmen Situationen,
daſs ich kein Mittel weiſs, wie ich dem Un-
willen Einhalt thun ſoll, den ich darüber
empfinde. Jch ſehe dann ein allgemeines
Verderben durch alle Stände verbreitet, die
Gerechtigkeit von der Erde verbannt und
einen durchgängigen böſen Willen, ſich al-
lein wohl zu wollen. Alles iſt in einer
verborgenen Gärung, von der man die
ſchlimmſten Folgen zu beſorgen haben
würde, wenn nicht eine höhere Hand im
Spiele wäre, wenn nicht eine unſichtbare
Weisheit dieſe Maſchine im Gange erhielte,
[189] wenn ſie nicht aus dem Uebel ſelbſt etwas
Gutes herauszubringen wüſste. Es iſt in
der That ſo, als wenn ein jeder für ſich zu
arbeiten beſchloſsen hätte und als wenn ihn
die äuſserſte Nothdurft allein nur beſtimm-
te, ſich zuweilen auch für einen andern zu
verwenden. Alle glaubt man für ſich, und
ſich für Keinen geſchaffen. Daher das in
der Theorie nicht bezeugte, ungeſchriebe-
ne; in der Ausübung aber nur allzudeut-
lich befolgte Geſetz: Gebrauche deinen
Bruder, ſo viel du kannſt; oder mit andern
Worten: Nöthige ihn mit und wider ſeinen
Willen, wie es die Umſtände nur immer
verſtatten mögen, ſo viel zu deinem Beſten
zu thun, oder geſchehen zu laſsen, als dir
dazu zu verlangen oder geſchehen zu laſsen
beliebt. Die Fürſten und ihre Diener wird
man wohl am wenigſten beſchuldigen, daſs
ſie dieſer Regel nicht in ihrem ganzen Um-
[190] fange nachgekommen ſeyn ſollten. Wer
will aber ſagen, daſs er, unter gleichen Um-
ſtänden, nicht eben ſo viel und noch mehr,
für ſich gethan haben würde? Bey aller
Verbindlichkeit, die wir den Göttern der
Erde ſchuldig ſind, bey dem fühlbaren
Zwange dadurch ſie uns in unſerm Gleiſe
zu erhalten wiſsen, bey der oft ſo unver-
meidlichen Gefahr, in Abſicht auf Gut und
Ehre, wenn wir ihren Foderungen nicht ge-
nügen wollen, wiſsen wir es doch ſo ein-
zuleiten, daſs wir, mit unverwandter Rück-
ſicht auf unſern Privatnutzen, nur diejeni-
gen ihrer Befehle erfüllen, die wir zu erfül-
len nicht umhin können. Unſre Verwe-
genheit geht dabey oft ſo weit, daſs wir,
nicht wie in einem Lotto, eine Kleinigkeit
einlegen, um ſechzigtauſendmal ſo viel zu
erhalten; ſondern daſs wir alles aufs Spiel
ſetzen, um eine Nuſsſchale zu gewinnen,
[191] von der man noch nicht ſagen kann, ob ſie
hohl oder voll ſeyn werde. Man ſage
nicht: Die Fürſten verlangen zu viel. Erſt-
lich ſind wir die Leute nicht, die das ent-
ſcheiden können, und dann ſo mögen ſie
viel oder wenig fodern: der Haabſucht iſt
auch das Wenige zu viel. Das ſanfteſte
Joch, denkt man, iſt doch ein Joch. —
Dieſs Bedürfniſs wird mit einem kupfernen
Dreyer verſteuert. Es iſt doch immer ein
Dreyer! Wie? wenn ich ihn behielte, und
doch mein Bedürfniſs befriedigte? Jch kann
es ſicher: Wohlan! — Dieſen Zoll kann
ich verfahren. Laſs ſehen! Jch gewinne
den dritten Theil eines Thalers, wenn ich
es thue. Eine Kleinigkeit, in der That!
um die ich den Fürſten lieber nicht betrü-
gen wollte; allein man wird aufgehalten,
und das iſt verdrieſslich! — Aber der
Zollverwalter iſt ein Argus und Briareus
(I. Theil.) N
[192] für den Vortheil ſeines Herrn. — Deſto
beſſer! Es iſt ſchon ein Vergnügen mehr,
ſo vielen Augen und Händen entkommen
zu ſeyn. So denkt man, ſo handelt man,
von dem ſchwülſtigen Kaufmanne an, der
ſich bis zu dem Vermögen eines Fürſten
hinaufgewuchert hat, bis zu dem Bewohner
der leimernen Hütte, der Eyer und Hühner
zu Markte bringt! Und man läſst es ſich
nicht träumen, daſs damit ein Diebſtahl be-
gangen, daſs dadurch das klare, wohlge-
gründete Recht eines Dritten gekränkt ſeyn
könne. Jch habe ſelbſt Männer die ſich
für ſehr ehrlich und muſtermäſsig fromm
hielten, und auch von andern dafür gehal-
ten wurden, mehr als einmal für ein ſo in-
tereſſantes Herkommen die ſtärkſten Gründe
anführen hören, die einen jeden, nur mich
allein nicht zu überzeugen hinreichten. —
Aber warum nehmt ihr es denn ſo ſehr
[193] übel, wenn ihr einen eurer Bedienten über
einen kleinen Betrug ertappt; warum wollt
ihr es ihm nicht vergeben, wenn er, mit ei-
nem unendlich kleinen Theile eures Ueber-
fluſses, ſeiner dringendſten Bedürfniſse eins
zu befriedigen geſucht hat? Die Verbind-
lichkeit dieſes Unglücklichen gegen euch iſt
bey weitem ſo ſtark nicht, als es die eurige
gegen den Fürſten iſt. Jhr ſeyd dem Für-
ſten mehr ſchuldig und Er hat mehr Gewalt
euch zur Bezahlung anzuhalten.


Dieſe ungerechte Raubſucht nun hat
ſich, wie eine Peſt, durch alle Stände und
Ordnungen der Menſchen verbreitet. So
handelt man gegen ſeine Obern, ſo handelt
man gegen ſeine Untergebene, ſo handelt
man gegen ſeines Gleichen! Der gröſste
Theil des Gewerbes und Handels kann nur
auf Die Weiſe vollzogen werden. Der
Kaufmà nn ehret ſeinen Merkur. Der hat
[194] ihn handeln und — ſt ** gelehrt! —
Wer à lle Künſte des groben und feinen Be-
trugs an den Tag bringen wollte, der wür-
de eine Herkuliſche Arbeit unternommen,
und zuletzt doch nur den kleinſten Theil
ſeines Unternehmens vollführt haben. Kein
Handwerk, oder es führt ſeinen Betrug mit
ſich, zu dem die Lehrlinge, als zu einem
unentbehrlichem Stücke deſſelben auf das
ſorgfältigſte vorbereitet werden. Einige
Jnnungen haben es darin zu einer ſo be-
kannten Vollkommenheit und Stärke ge-
bracht, daſs man ihre Namen nicht mehr
nennen kann, ohne damit zugleich auch den
Begriff der Dieberey verbinden zu müſsen.
Jch weiſs mich, wie geſagt; aus dieſer allge-
meinen Verwirrung nicht anders herauszu-
finden, als wenn ich annehme, daſs die
Menſchen einen ſtillſchweigenden Vertrag
unter einander gemacht haben, vermöge
[195] deſſen es einem jeden vergönnt ſeyn ſoll,
dem andern ſo viel von dem Seinigen zu ent-
ziehen, als entweder ohne Wiſsen, oder we-
nigſtens ohne lauten Widerſpruch deſſelben
geſchehen kann. Dergleichen Beraubungen
werden dann für unendlich klein, und ganz
und gar nicht für Gegenſtände des Gewiſ-
ſens geachtet. Man würde ſich einem lauten
Gelächter ausſetzen, man würde für unwiſ-
ſend in den täglichen Vorfällen des Lebens
gehalten werden, wenn man ernſthaft da-
von reden; man würde für unbeſonnen, ei-
genſinnig, geitzig und, wer weiſs für was
mehr? gehalten werden, wenn man davon
viel Aufhebens machen, und in allen dieſen
Dingen auf ſein ſtrenges Recht beſtehen woll-
te. Nun kann ich es auch wohl über mich
erhalten, mich ohne Widerrede hintergehen
zu laſsen; aber die Sache luſtig zu finden,
wie ich das könnte? das weiſs ich nicht!



[196]

Der dreyundzwanzigſte
Spatziergang.


Jſt Die Foderung beſſer: Gebt uns Viel
Bürger? Oder iſt Die beſſer: Gebt uns
Gute Bürger? — Eine ſeltſame Frage!
Man verweiſe den, der ſie aufwerfen darf,
unter die Träumer! Als wenn es nicht
längſt ausgemacht, nicht erwieſen, nicht be-
fohlen wäre: Seyd fruchtbar und mehret
euch! Das Geſetz von der Bevölkerung iſt
in allen wohleingerichteten Staaten das er-
ſte, das gröſste, das weiſeſte Grundgeſetz,
dem alle übrigen untergeordnet ſind und
von dem keine Ausnahme verſtattet werden
kann. Gebt uns Viel Bürger! Gute oder
Böſe? Daran liegt nichts: gebt uns nur
Viele! Das iſt der Ton eines ganzen Jahr-
hunderts; das befehlen die Fürſten, das er-
[197] weiſen die Politiker; das Jſt wahr, das Soll
wahr ſeyn! — Jch bin wohl ſehr einfäl-
tig, daſs ich das nicht begreifen, und ſehr
eigenſinnig, daſs ich es nicht für wahr hal-
ten kann! Genug ich kann’s nicht! Und
wie könnt’ ich es auch? Meinen einſamen,
nächtlichen Fusſteig erhellet nur Ein Stral,
unter welchem ich ſehn kann was ich ſehe;
an eurem Himmel aber, ihr Weiſen Dieſer
Erde! laufen tauſend Sonnen herum, die
euch leuchten, die euch wärmen, in deren
Glanze ihr ſehen müſst was ihr ſeht. Aber
was ich doch ſehe, das ſeh’ ich und was hin-
dert mich, daſs ich es nicht auch ſage?


Noch hab’ ich, ſo lange ich hören
und ſehen kann, von keinem klugen
Feldherrn geleſen oder gehört, der einen
groſsen, gemiſchten, zuſammengerafften
Haufen lieber angeführt hätte, als ein
kleines, wohlgeübtes, ausgeſuchtes Heer
[198] abgehärteter Krieger. Wie oft iſt die
Menge nicht untergelegen? Hat man denn
nie von Marathon, von Alexanders Siegen,
von Narva, von Roſsbach gehört? Der
Kopf Eines Mannes galt da ſo viel, als
zehntauſend Aerme.


Jhr, die ihr mit den Schickſalen des
menſchlichen Geſchlechts, von ſeiner Kind-
heit an vertraut zu ſeyn vorgebt; wenn ihr
es wiſst und wenn ihr es wollt, ſo ſagt es:
Welche Geſellſchaften waren die glücklich-
ſten von je her? Die gröſsten? War es die
Welt vor der Sündfluth; oder war es die
Familie Noah im Kaſten? War es Rom, die
Königinn der Erde; oder Rom unter ei-
nem friedfertigen, kleinen Beherrſcher, der
Tugend und gute Sitten durch Geſetz und
Beyſpiel verbreitete? Rom in ſeiner Dürf-
tigkeit; Rom das ſeine wenigen Bürger in
enge Mauern einſchloſs; oder Rom mit
[199] dem Raube der Völker bereichert, Rom
unter allen Zonen gefürchtet, Rom in ſei-
nen Mauern eine weite Provinz? War es
Frankreich unter ſeinem Heinrich; oder
unter dem vierzehnten Ludwig, der die
Welt erſchütterte, der die alten Gränzſtei-
ne ſeines Reichs weit in die Felder ſeiner
Nachbarn hineintrug? —


Je mehr, je beſſer! — Dieſs Sprüch-
wort wende man hier nicht an!


Je beſſer, je mehr! — Darin liegt die
Wahrheit. Gut ſey die Grundlage, und
kann man des Guten viel haben: da greife
man zu, da iſt die weiſe Begierde zu ha-
ben erlaubt.


Gebt uns gute Bürger, und könnt ihr
uns deren Viele geben, ſo gebt uns Vie-
le! Dieſs ihr Fürſten ſey euer Problem!
Dazu laſst eure Miniſter die Auflöſung
finden! —


[200]

Das war eine Promenade im Finſtern,
bey dem ſchwachen Schimmer eines erlö-
ſchenden Lichts! Wohl mir! ich grüſse
meine kleine Hütte wieder. Und noch
bin ich wider keine Wand gelaufen und
noch geh’ ich auf unverletzten Beinen
einher!



[201]

Der vierundzwanzigſte
Spatziergang.


Das möchte noch hingehn, daſs man die
guten und böſen Handlungen des andern oh-
ne Unterſchied erzählt; allein, daſs man ſie
aus ſchlimmen Abſichten entweder ſelbſt
herleitet, oder doch dem Dritten Gelegen-
heit giebt, ſie daraus herleiten zu müſsen,
das verräth ſo viel Stolz und Bosheit, daſs
es nicht zu ſagen iſt. Unſre Einſichten
hierin ſind ſo eingeſchränkt, und die Ge-
fahr zu irren iſt ſo groſs, daſs wir, wenn
wir uns ja des Urtheilens nicht enthalten
könnten; lieber auf eine gute Abſicht, ſo
gar auch bey einem ziemlichen Grade der
Wahrſcheinlichkeit fürs Gegentheil, ſchlieſ-
ſen ſollten. Der Erfolg lehrt es, daſs man-
che, dem Anſcheine nach, recht ſchlimme
[202] Handlung, in der beſten Meynung unter-
nommen worden ſey: Und wir ſind ſo
verwegen, daſs wir auch da Flecken ſehen
wollen, wo alles Licht zu ſeyn ſcheint? Und
wir ſind ſo bösartig, daſs wir oft alle Kräf-
te unſers Verſtandes dazu aufbieten? Jn der
That! wenn es deutliche Kennzeichen eines
verderbten Herzens giebt, ſo müſsen es Die-
ſe ſeyn. Was will man dagegen ſagen? —
Es iſt ſo böſe nicht gemeynt? — Jch will
es zugeben; man ſucht ſein Kränzchen zu
beluſtigen; man ſchmückt ſeine kleine Ge-
ſchichte mit ſeinen witzigen Anmerkungen
aus; man hat nur angenehm unterhalten,
nur ein unſchädliches Lachen erregen wol-
len: Darin iſt nichts Böſes; gewiſs aber
auch nicht viel Gutes! Anfänglich thut man
das aus Leichtſinn; bald gewöhnt man ſich
ſo zu handeln, und zuletzt flieſsen Leicht-
ſinn und Bosheit ſo ineinander, daſs man die
[203] Gränze, wo dieſe anfängt und jener auf-
hört, nicht mehr zu bemerken im Stande iſt.
Und ſollte man ſich nicht ſchämen, den gu-
ten Namen ſeines Mitmenſchen, auch nur ein-
mal, auch nur in einer Kleinigkeit, auf eine
leichtſinnige Weiſe zu behandeln? Wer ſagt
uns gut für den Eindruck den unſre Einfälle
machen werden? Sie ſollten nur dieſe be-
ſtimmte Geſellſchaft beluſtigen, nur dieſen Zir-
kel von Freunden zur Unterhaltung dienen.
Wird es aber dabey bleiben? — Jch zweifle
ſehr. Dieſe aufgeputzte Geſchichte iſt Morgen
das Mährchen der Stadt. Und ſie hat ſo viel
neue Zuſätze erhalten, daſs ſie nur an einigen
weſentlichen Theilen noch zu erkennen iſt.


Kleanth legt in einem gewiſsen Hauſe,
wo junge Mädchen ſind, öftere Beſuche ab.
Dieſs iſt das eigentliche Faktum, das trocke-
ne Skelett der Geſchichte. Kleanth muſs
Abſichten haben. — Freylich wohl! Die
[204] Mädchen ſind nicht häſslich; Er iſt ein
feuriger Jüngling: es müſste mit dem Hen-
ker zugehn, wenn er ſich nicht verlieben
ſollte. Wie leicht iſt der Sprung von der
Wahrſcheinlichkeit zur Gewisheit! Nichts
iſt ſicherer: Kleanth iſt verliebt. Er hat
heute mit Chloen am Fenſter geſtanden;
ſie haben ſich angeſehn; ſie haben mit ein-
ander geſprochen: Kleanth iſt in Chloen
verliebt. Kleanth ſchickt einen Boten nach
Chloens Behauſung. An wen mag er ihn
ſchicken? — Was ſich liebt, das ſucht
ſich. Er ſchickt ihn an Chloen. Der Bote
kann hundert Dinge zu beſtellen haben,
und in der That ſoll er einer von Chloens
Tanten die Gellertſchen Vorleſungen über-
bringen. Aber nein! er bringt einen Lie-
besbrief. Kleanth und Chloe treffen ſich
von ohngefähr auf einer Promenade: ſie
haben ſich beſtellt. So heiſst es Heute.
[205] Morgen weiſs man zuverläſsig: ſie kennen
ſich etwas genauer als man meynt; ſie ſe-
hen ſich zuweilen ohne Zeugen; man hat
ſie zuſammen getroffen; Chloe ſoll gar —
— man trägt Bedenken es zu ſagen; aber
alle Umſtände treffen zu, der Augenſchein
lehrt es. — Bey dem allen iſt Kleanth
der ehrlichſte Mann von der Welt, und
Chloe, ſo unſchuldig, wie die Sonne am
Himmel.


Ein Beyſpiel für hundert! Unſre amü-
ſirenden Geſchichtchen nehmen alle den
Gang. Eine herrliche Ausbeute unſers er-
finderiſchen Witzes! Ein theurer Zeitver-
treib in der That, den ein Dutzend beſſe-
rer Menſchen als wir ſind, mit ſeinem gu-
ten Namen bezahlen muſs! O ihr galan-
ten Herren! o ihr einſichtsvollen Spreche-
rinnen unſrer geſellſchaftlichen Zirkel! eh
ich euch um ein Talent von ſolchem Ge-
[206] halte beneiden, eh ich eurem weitverbrei-
teten Ruhme nacheifern wollte: eher wollt’
ich mich zu einer ewigen Einſamkeit ſelbſt
verdammen; oder in euren Geſellſchaften
daſitzen, wie ein hölzernes Bild, mit offe-
nem Munde und kreuzweis übereinander
geſchlagenen Beinen, und für einen Klotz-
kopf gehalten werden! Gehört das zu einer
feinen Lebensart, gehört das zu dem arti-
gen Umgange einer erleuchteten Welt, ſo
will ich mir von einer frommen Groſsmut-
ter lieber von Hexen und Geſpenſtern, von
Diebesbanden und Hinrichtungen erzählen
laſsen; oder mit einem ehrlichen Nachbar
mich hinſetzen und um Pfeffernüſse in der
Karte ſpielen!



[207]

Der fünfundzwanzigſte
Spatziergang.


Man kann ſich gegen ſeine Nachwelt,
man kann ſich aber auch gegen ſeine Vor-
welt verſündigen. Jn den letzten Fehler
kann der Geſchichtſchreiber fallen, der für
etwas mehr als für einen bloſsen Erzähler
gehalten werden, der das Anſehn eines den-
kenden Kopfes, eines unterhaltenden Schrift-
ſtellers erwerben will. Fehlt es ihm an
dem nöthigen Grade der Menſchenliebe,
verbindet er mit einer lebhaften Einbil-
dungskraft und mit einem geſchäfftigen
Witze ein böſes Herz, ſo kann man ſicher
erwarten, daſs er ſeinen Begebenheiten oft
ſchlimme, und wenn gleich noch ſo wahr-
ſcheinlich gemachte; doch groſsentheils un-
zuverläſsige Bewegungsgründe unterlegen,
(I. Theil.) O
[208] man kann erwarten, daſs er die Begeben-
heiten ſelbſt, ſeinen angenommenen Bewe-
gunsgründen gemäſs, unvermerkt verän-
dern, daſs er Situationen erträumen, daſs er
bon-môts erfinden werde. Den reinſten
Charakter wird er mit ſeinem Gifte be-
ſpritzen: in dem weiſen Geſetzgeber wird
er den politiſchen Betrüger, in dem Helden
den haabſüchtigen Eroberer, in dem fried-
fertigen Fürſten den ſchwachen, den trägen,
den Wollüſtling erblicken. Selten wird er
ſich einen Helden erwählen; oder er müſs-
te mit ſeinem Lobe irgend eine vorgeſetzte
Abſicht zu erreichen, irgend einen Vor-
theil für ſein angenommenes Syſtem zu ge-
winnen hoffen. Ueberhaupt ſetzt er den
Charakter ſeiner handelnden Perſonen im
Voraus, und nach einer vollſtändigen
Kenntniſs der Sachen feſte. Dieſer iſt ſei-
ne Form darin das übrige paſſen muſs. Was
[209] ſich nicht hinein zwingen läſst wird ver-
dächtig gemacht, wird für überflüſsig ge-
halten, wird weggeſchnitten. Wenn die
groſsen Männer der Vorwelt aufſtehn, wenn
ſie ihre Geſchichtſchreiber leſen ſollten,
würden ſie es oft auch nur vermuthen kön-
nen, daſs von ihnen die Rede ſey; würden
ſie nicht oft bey Erblickung ihres Namens
erſtaunen und die Unverſchämtheit eines
Menſchen bewundern, der ganze Jahrhun-
derte nach ihnen in ihren Herzen leſen will,
was ihre vertrauteſten Freunde nicht darin
leſen ſollten und was oft in der That auch
nicht darin befindlich war? Es iſt wahr,
würden ſie ſagen; man hätte den Leſer
nicht beſſer unterhalten, man hätte nicht
reizender erzählen, man hätte uns nicht
angenehmer belügen können. Mit dem
allen aber iſt die Welt doch betrogen und
wir würden uns einer löblichen Polizey
[210] verbunden erkennen, wenn man dieſen
Herren, bey Verluſt ihrer Handthierung,
unterſagte: Gebrauch von unſern Namen
zu machen; oder irgend etwas anders als
einen Roman wider die Langeweile zu
ſchreiben.



[211]

Der ſechsundzwanzigſte
Spatziergang.


So will ich denn der Verſuchung wider-
ſtehen, das durchſchauen zu wollen, was
ſich die Allwiſsenheit allein zu ſehen vorbe-
halten hat. Der kurzſichtige Sterbliche
ſieht die Begebenheit ſelbſt nur in einer ge-
wiſsen Entfernung, nur ihre gröbern Thei-
le; die feinern entfliehn ihm. Der Menſch
ſieht das nicht einmal, was vor Augen iſt;
Gott aber ſiehet das Herz an. Die geheim-
ſten Triebfedern unſrer Handlungen, die
wir vor dem ſcharfſichtigſten Beobachter ſo
glücklich zu verbergen wiſsen, die wir uns
ſelbſt gern verhehlen möchten; die Hand-
lung ſelbſt in ihrer ganzen Beziehung; je-
den kleinen, die Schuld verringernden, oder
vergröſsernden Umſtand; dann die Folgen
[212] der That bis ins Unendliche; das alles ſieht
Gott, das alles iſt ihm auf das innigſte ge-
genwärtig. — Der Gedanke rührt mich.
Jch Vermeſsner! ich ſollte in mich ſelbſt
hineingehn: das würde mich unendlich
mehr intereſſiren; das würde mir gelingen,
wenn ich es ernſtlich wollte; das würde
mir ſo viel zu thun geben, daſs ich es gerne
vergeſsen würde, ein allzugenaues Augen-
merk auf andre zu nehmen. Jede meiner
wichtigern Handlungen ſollte mich vorzüg-
lich zu einer genauern Prüfung veranlaſsen.
Warum that ich Das?
Der Abſicht Niedrigkeit, erniedrigt
groſse Thaten.

Wenn ich einen Theil meiner Kräfte und
meis Vermögens anwandte, dieſe gemein-
nützige Anſtalt zu befödern; wenn ich es
mir ſauer darum werden lieſs; wenn ich
deshalb ging, reiſete, dachte, ſchrieb: ſo
[213] ſcheint in dieſem allen ungemein viel Ver-
dienſtliches zu ſeyn. Die Sache obenhin
betrachtet werd’ ich es ſelbſt ſo finden müſ-
ſen. Aber ich will mich einmal nicht an
einer flüchtigen Betrachtung genügen, ich
will meinem Gewiſsen freye Ausſicht laſ-
ſen; ich will es mir ſelbſt ſagen, was ich
villeicht nicht annehmen, was ich für eine
Beleidigung halten würde, wenn es mir an-
dre ſagten. Nun alſo, dieſe ſo rühmliche
Anſtalt — war ein Werk meines Ehrgei-
zes. Der Gedanke: Deine Zeitgenoſsen
werden dich bewundern, du wirſt unter
den Sonnen des Vaterlandes glänzen, dein
Name wird mit deinem Denkmahle auf die
ſpäteſte Nachwelt herunterkommen; dieſer
Gedanke, deutlich oder verworren gedacht,
erzeugte den Entwurf, begleitete ſeine Aus-
führung; Wohlwollen und Menſchenliebe
hatten wenig Antheil daran. — Woher
[214] die groſsmüthige Unterſtützung dieſer ver-
laſsenen Waiſen, deren Vater mir ſo ſchlim-
me Dienſte gethan hat, daſs ich die Folgen
davon bis jetzt noch empfinde? Keine Aus-
flüchte! Waren es Bewegungsgründe der
Religion, die mich ſo zu handeln beſtimm-
ten, die mir meinen Haſs und Zorn unter-
würfig machten? oder war es nicht eine
andre mächtigere Leidenſchaft vielmehr, die
die ſchwächere beſiegte? War es die Macht
der Tugend, oder der Schönheit, und wür-
de ich ſo und nicht anders gehandelt haben,
wenn nicht ein reizendes Geſicht, wenn
kein ſchmachtendes Auge, wenn nicht
die leidende Schönheit mich für ſich
eingenommen hätte? — Jch ſeh’ es nun
allzuwohl, daſs ich meine Schuldigkeit nur
ſchlecht erfülle, daſs ich bey meinen rühm-
lichſten Handlungen doch nur auf mich
ſehe, und daſs ich wenig genug thun und
[215] wenig genug aufopfern würde, wenn ich
nicht irgend ein heftiges Verlangen meines
unruhigen Herzens dadurch zu ſtillen ge-
dächte. Meine reinſten Abſichten ſelbſt
ſchmecken noch nach der unlautern Quelle,
aus welcher ſie herflieſsen. —


Vater der Geiſter! welch ein verächtli-
ches, kleines Geſchöpf bin ich in der glän-
zenden Reihe der Weſen, denen Du Leben
und Bewuſstſeyn gegeben haſt! Du allein
kannſt mich einer vollkommneren Natur
theilhaftig machen; Du allein kannſt mich
zu einer höhern Stufe moraliſcher Würde
erheben; Du kannſt das Maaſs meiner ge-
ringen Kräfte bis zu ihrer Zulänglichkeit
erfüllen. Erleuchte mich denn in Abſicht
meiner Zwecke; mache Du mich wahrhaf-
tig weiſe!



[216]

Der ſiebenundzwanzigſte
Spatziergang.


Jſt denn die ganze Maſſe meiner morali-
ſchen Lebensgeiſter verderbt? Findet ſich
in meinen Abſichten nichts Gutes; oder
wenn es ſich darin findet, iſt es villeicht ſo
wenig, daſs es gar nicht in Rechnung ge-
bracht werden darf? Soll ich mich im Ernſt
für ſo überwiegend böſe halten? — ſo
wär’ ich ein Ungeheuer, ſo ſetzt’ ich mich
eigenwillig zur unterſten Stufe des Elends
herab, ſo gäb’ ich allen Troſt auf, ſo entſagt’
ich einem jeden Schimmer von Hoffnung.
Der Teufel ſelbſt kann ſo böſe, ſo elend nicht
gedacht werden! — Nein! ich bin nicht
zu allem Guten verwahrloſet, und wenn
ich nicht immer nach den beſten Motiven
handle, ſo handle ich doch auch nicht nach
[217] den ſchlimmſten. Meine reinſten Abſich-
ten ſind villeicht nicht ohne Zuſatz; aber
auch meine ſchlimmeren ſind nicht ohne
Güte. Jch bin ein endliches Weſen von
einer unteren Gattung, es iſt wahr; aber
ich bin doch immer ein Werk eines unend-
lich gütigen Schöpfers; eine Jdee ſeines
unendlichen Verſtandes, ein Ausfluſs ſeiner
unendlichen Kraft. So würd’ ich ihn ja ent-
ehren, wenn ich mich ſelbſt verkennte! —


Jch habe mich oft geprüft. Hier iſt
das Reſultat meiner Prüfungen!


Jch handelte ſchon oft nach überwie-
gend guten Bewegungsgründen: davon
überzeugt mich die genaueſte Beobachtung
meiner ſelbſt. Jch bin gewiſs, daſs ich
auch fürs künftige meiner groſsen Beſtim-
mung noch oftmals Genüge leiſten werde:
davon giebt mir mein innigſter Entſchluſs
Gewiſsheit.


[218]

Könnt’ ich dieſs nicht von mir ſagen,
würd’ ich dann die finſtern Wolken wohl
zertheilen können, die das Schickſal über
meinen Scheitel verſammelt? Würd’ ich
dann wohl mein Haupt erheben, würd’ ich
dem andringenden Unglücke begegnen
können?


So ſind es denn ſo manche Widerwär-
tigkeiten des Lebens weniger, die den Frie-
den meiner Seele zu ſtören vermögen! Es
beunruhiget mich wenig mehr, wenn hier
und da eine kleine Unternehmung wider
mein Erwarten ausfiel. Jch bin meiner
redlichen Abſichten gewiſs; ich bin gewiſs,
daſs ich nur ſo viel überſehen konnte; al-
les übrige war über meinen Geſichtskreis
hinaus. Jch wollte es ſo; eine verborgne
Weisheit wollte es anders. Selbſt dieſer
gröſsere Unfall, ſelbſt dieſe ſchmerzlichere
Empfindung, dieſer nagende Kummer ſelbſt
[219] ſcheinet mir nun unendlich leichter zu tra-
gen. Wuſst’ ich es, daſs ich mir dieſe Lei-
den zuziehen; wuſst’ ich es, daſs ich ſie
auch auf andre ableiten würde? Wuſst’ ich
es? Sollt’ ich es und konnt’ ich es wiſsen?
Freylich wird ein ſo trauriger Ausgang ei-
nes wohlgemeynten Unternehmens ein nie-
derdrückendes Gewicht für mich in der
Schale meiner unangenehmen Empfindun-
gen ſeyn; aber ich werde noch den Muth
nicht verlieren dürfen, ich habe mir ein
Gegengewicht für dieſen Zufall aufgeſpart:
den unüberwindlichen Troſt eines redlichen
Herzens.


Wenn nun auch die Bosheit der Men-
ſchen ſich bemühen ſollte, mein Elend voll-
kommen zu machen, wenn ſie nun auch
die Folgen meiner Handlungen mit meinen
Abſichten vermiſchen, wenn ſie mich für
den unſeligen Urheber dieſer Uebel, die mir
[220] und andern begegnen erklären ſollte: ſo
wird dieſer unverdiente Vorwurf meinem
zärtlichen Herzen zwar eine Menge unan-
genehmer Empfindungen verurſachen; je-
doch


Zu meinem Schutze flammt

Der Unſchuld feurig Schild! ich werd’

umſonſt verdammt:

Die Tugend hat mich losgeſprochen,

Da Schmähſucht, die vom Neide

ſtammt,

Mir tückiſchflüſternd nachgekrochen.

Wenn ich nur das Auge des Allſehenden
nicht ſcheuen darf! Villeicht kann ich es
von ihm noch erwarten, daſs er mich vor
meinen unfreundlich geſinneten Richtern
rechtfertigen, daſs er meine verſchriene
Unternehmung in ein vortheilhaftes Licht
ſetzen wird. — Jch kann es Villeicht er-
warten? — Jch erwarte es Gewiſs!


[221]

Und wenn noch eine feindſelige Zunge
ihre grauſamen Angriffe über mein Leben
hinaus erſtrecken, und eine frevelnde Hand
mein Denkmahl mit ſchmähenden Zügen
beſudeln ſollte: Jch werde darum nicht un-
ruhiger ſchlafen, ich werde darum nicht
minder zu einem groſsen Gerichtstage er-
wachen, die über alle Moralität für immer
und ewig entſcheiden, und ein jedes Ge-
ſchäfft des menſchlichen Geiſtes bis auf den
Keim zergliedern wird.



[222]

Der achtundzwanzigſte
Spatziergang.


Es iſt in der That ein Vergnügen, am
Ende eines verlaufenen Tages ausrufen zu
können: Dieſen Tag hab’ ich gelebt! Und
das kann ich heute! Warum ſollt’ ich es
mir verhehlen, warum ſollt’ ich Dir nicht,
der Du mich hier allein ſieheſt und höreſt,
o Allgütiger! warum ſollt’ ich Dir nicht
mit aller Wärme der innigſten Dankbarkeit
geſtehen: Dieſen Tag hab’ ich gelebt?
Wenn ich dabey nur die demüthige Ueber-
zeugung in mir lebendig erhalte, daſs ich
jede gute Gabe von Deinen Händen em-
pfing, und daſs mich Deine Vorſehung
ſelbſt in die glücklichen Umſtände verſetz-
te, da ich alles um mich mit Zufriedenheit
und Freude zu erfüllen im Stande war. Jch
[223] bin mir ſelbſt, ſo gut wie andern, Gerech-
tigkeit ſchuldig. Es kann meine Pflicht
nie ſeyn, mich für ſträflicher zu erkennen
als ich bin. Nur eine ſchwermüthige,
ſchwärmeriſche Sittenlehre kann das verlan-
gen. Hätt’ ich Dich, meinen unbegreif-
lich groſsen Wohlthäter beleidigt, hätt’ ich
irgend eine meiner wichtigern Verpflicht-
ungen gegen meinen Nächſten verletzt: mit
bekümmerter Seele würd’ ich es vor Dir
bekennen, mit Thränen würd’ ich Deine
verlorne Gnade wiederſuchen. Nun aber
gehorcht’ ich Deinen Geboten; ich diente
Dir in Einfalt des Herzens, ich beföderte
das Wohl meiner Brüder und mein eignes,
ſo weit ich es nach meiner geringen Ein-
ſicht und nach meinem wenigen Vermögen
konnte. So wär’ ich ja meiner eignen
Ruhe Feind, wenn ich mir das alles gefliſ-
ſentlich ſelbſt verbergen; ſo wär’ ich ja Dein
(I. Theil.) P
[224] gutgeartetes Kind nicht, wenn ich Dir für
die Seligkeit des heutigen Tages nicht mit
Freudigkeit danken wollte. Stolze Sterb-
liche mögen es villeicht verlangen, daſs man
in Betracht ihrer, ſeinen wahren Werth ver-
leugnen, ſein Gutes nicht merken laſsen und
ſeine Mängel vergröſsern ſoll. Aber ſo biſt
Du nicht, Du groſser Urheber aller Wahr-
heit und alles Rechts! Wer dürfte Dir
ſchmeicheln; wer dürfte Dir eine armſelige
Höflichkeit, eine ſo übelverſtandne Ehre
erweiſen wollen?


O ſo lob’ ihn denn meine Seele, mit
allen Wallungen einer heiligen Freude!
Durch Jhn lebteſt du heute. Dieſe mo-
raliſche Geſundheit, dieſs heitre Bewuſst-
ſeyn deiner ſelbſt haſt du von Jhm. Wie
ruhig kannſt du nun den erquickenden
Schlummer erwarten! Die Nacht hat keine
Schrecken für dich. Der Allgegenwärti-
[225] ge iſt bey dir und der Allmächtige ſchützt
dich. Durch Jhn wirſt du wiederer-
wachen.


O Herr! die Stunde meines Todes ſey
der gegenwärtigen ähnlich! Laſs mich auch
da, mit dem beſten Gewiſsen und mit der
gelaſsenſten Ergebung in Deinen Willen
ausrufen, oder doch bey mir ſelbſt denken
können: Jch habe gelebt!



[226]

Einzelne Gedanken.


Die Leidenſchaften ſind die Flügel einer
Windmühle. Sie bewegen den Stein zum
Mahlen und ſchleudern den unvorſichtigen
Don Quixote in die Wolken.


Seinen Wahrheitsprediger beſchenkte
der König von Babel, den Gott auf der
Wage zu leicht fand. Wie leicht werden
die Könige ſeyn, die ihre Wahrheitspredi-
ger zur Feſtung verdammen!


Wer weiſs ob oft nicht, uns unbemerkt,
eine höhere Ordnung von Geiſtern ſich be-
ſchäftigt, Erfahrungen und Beobachtungen
mit uns anzuſtellen, wie wir es mit den
Thieren thun?


Jch habe eine innigliche Freude ſo oft
ich einem Manne begegne, der andere für
ſo ehrlich hält als er ſelbſt iſt.


[227]

Uns ſelbſt verzeihen wir leicht Verge-
hungen und Laſter. Unſre Schulden ver-
geſsen wir ohne Mühe. Alte Verbrechen
werden durch neue verdrängt. Darauf
achtet Niemand. Aber dem Bruder von
uns ſey der Himmel gnädig, der ein Haar
breit vom rechten Wege abweicht. Ein
Verſtoſs gegen das Herkommen der Mode
iſt ein Verbrechen, und ein verrücktes
Wort eine unverzeihliche Jgnoranz.


Man hat immer ſo viel Offenherzig-
keit zu viel, als man Klugheit zu wenig
hat.


Spiele nicht mit der Liebe! Kein Spiel
iſt angenehmer und keins iſt gefährlicher.
Es müſsen ſchon ſehr geſetzte Leute ſeyn,
die nicht dabey verlieren wollen.


Die Mädchen müſsen immer etwas zu
ſpielen haben: Puppen und Bilder, Karten,
Hunde, Katzen und zuletzt — Männer.


[228]

Ehrlichkeit, Rechtſchaffenheit, gutes
Gewiſsen — ſind vortreffliche Worte und
noch vortrefflichere Sachen. Wer ſie aber
immer im Munde hat, ſetzt ſich in den ge-
gründeten Verdacht, daſs er ſie nicht im
Herzen habe.


Jch ſtelle mir die Wiſsenſchaften als
eine groſse Feldmark vor. Hier grünt ein
lieblicher Buſch von friſchen Quellen ge-
wäſſert, eine Wohnung unzähliger Vögel;
dort breitet ſich ein goldnes Waitzenfeld
aus, nutzbarer, obgleich minder ſchön fürs
Auge; Dort kriechen Erbſen und Wicken
am Boden; dort gränzt eine aufkeimende
Sommerſaat mit der Farbe des Graſes an die
falben Roggenhufen, die dem fleiſsigen
Landmann eine nahe Aerndte geloben.
Hier liegt unbebaueter Sumpf. Viele ha-
ben ihn urbar zu machen vergebens ver-
ſucht. Sie erlagen unter der Schwierig-
[229] keit des Verſuchs. Er ſcheint nun eine
glücklichere Hand zu erwarten. Dort
breitet ein Eichenwald ſeinen graunvollen
Schatten gewaltig umher. Seine Geburts-
ſtunde verliert ſich in ein früheres Weltal-
ter. Er grünte villeicht ſchon, ehe noch
dieſe ganze Gegend einem beſtimmten Be-
ſitzer zu theil wurde.


Kein Menſch iſt ſo böſe, daſs er nicht
etwas Gutes an ſich haben ſollte. Dieſe
Wahrheit, die es ſo gewiſs iſt, als es ſonſt
eine Erfahrung in der moraliſchen Welt
ſeyn mag, verdient, zu mehrerer Ausbrei-
tung einer allgemeinen Menſchenliebe, über-
all geſagt, überall mit lauter Stimme ver-
kündigt zu werden. Liebe deine Feinde!
Dieſs eigentliche Gebot einer erleuchteten
Philoſophie iſt hierauf gegründet. Der
Verſtand deſſelben kann auch wohl kein
anderer ſeyn als dieſer: Verdunkle dir die
[230] Fehler deines Feindes, und ſtelle dir ſein
Gutes klar vor! Gewiſs! du wirſt ihn um
des Guten willen lieben, du wirſt ſein Glück
wollen, du wirſt es befödern. Jch kom-
me zu meiner Erfahrung zurück. Jeder
Menſch hat ſeine gute Seite. Der Teufel
ſelbſt iſt nicht durchaus böſe. Man be-
trüge ſich nur ſelbſt nicht; man ſehe ohne
Leidenſchaft, man richte ohne Vorurtheile,
und ſo ſehe man einem Böſewicht jeder
Art ins Geſicht. Es ſind noch Züge ſeiner
angebornen Güte vorhanden, ſo verſteckt
ſie auch nur immer ſeyn mögen. Jch kann
mich auf einen jeden guten Geſchichtſchrei-
ber berufen, der ohne Parteylichkeit gelobt
und getadelt hat. Der beſte Fürſt hatte
ſeine Fehler und die Nerone ſelbſt waren
nicht allezeit, nicht ganz Ungeheuer.


Wer ſpricht nicht von Freundſchaft?
Wer glaubt ſie nicht zu empfinden? Wer
[231] iſt ſo unglücklich, daſs er ſich nicht über-
reden ſollte Einige, oder wenigſtens Einen
Freund zu haben? Wie viel hat man nicht
über eine ſo allgemein bekannte Sache ge-
dacht und geſchrieben? Welcher Sittenleh-
rer hat ſich darüber nicht erſchöpft? Man
hat die Freundſchaft in gebundner und un-
gebundner Rede beſchrieben, und es iſt
wohl kein akademiſcher Hörſaal und keine
finſtre Klaſſe irgend einer Trivialſchule, wo
man nicht zehnmal und hundertmal ihr Lob
mit aufgeblaſenen Backen verkündiget hät-
te. Und gleichwohl wenn ich von einem
Pole zum andern reiſe, ſo find’ ich unter
Tauſend kaum Einen, der einen Begriff hat,
der der Würde der Sache angemeſsen iſt,
und unter ganzen Myriaden kaum Einen,
der ſich dieſem erhabnen Begriffe gemäſs
zu handeln beſtrebt. — Und was iſt denn
alſo die Freundſchaft, mein Herr Diogenes?
[232] Denn ſie thun ſo weiſe als trügen ſie ſeine
Laterne. — Es iſt leichter zu ſagen, was
ſie nicht ſey, als was ſie ſey, und ſie iſt das
nicht, was ſie in den Gedanken der meiſten
Menſchen iſt. Es iſt ihr wie gewiſsen Reli-
quien gegangen, die der Aberglaube ſo ſehr
vervielfältiget hat, daſs man von den meh-
reſten gradehin ſagen kann: Sie ſind das
nicht, was ſie zu ſeyn geglaubt werden.
Gleichwohl kann es ſeyn, daſs hin und wie-
der ein Läppchen von dem wahren Rocke
der heiligen Jungfrau aufbehalten wird.


Sterbt für das Vaterland! — Dieſs
war ehemals die Stimme eines guten Bür-
gers, der es nun in einer beſſern Welt
iſt. Sie war zu ihrer Zeit nützlich und er-
hitzte den Kopf manches empfindſamen
Jünglings und bewegte ſein Herz, daſs er
that was ſeine Pflicht war. — Eine viel
beſſre Ermahnung aber für alle Zeiten, Län-
[233] der und Stände iſt es: Lebt für das Vater-
land! Lebt für euer Haus, für die Eurigen;
lebt für die Stadt, die ihr bewohnt; lebt
für den Boden, der euch nährt, für den
Staat, der euch ſchützt! Und ſo ihr könnt, ſo
eure Seele dazu groſs genug, dazu fähig ge-
nug geboren iſt — Lebt für die Welt! —


Sterbt für das Vaterland! — Dieſs
Wort ſey nicht dem Krieger allein geſagt!
Jhr, die ihr dem Staate ſonſt noch auf eine
nähere Weiſe zu dienen berufen ſeyd, auch
euch gilt dieſs Wort. Sterbt für das Va-
terland! Verzehrt euch ſelbſt, verbraucht
eure Kräfte, euer Vermögen, euer Leben
zum Dienſte eures Fürſten, zum Wohlſeyn
eurer Mitbürger! Dieſer Tod möchte vil-
leicht ein gröſseres Verdienſt ſeyn, als je-
ner; weil er mit mehrerer Ueberlegung,
mit gröſserer Sorge, mit anhaltenderen
Kummer beſchloſsen und ausgehalten wer-
[234] den muſs. Sterbt für das Vaterland! Die
ſtrenge Pflicht fodert euch auf, euren Schlaf
zu unterbrechen, ganze Nächte in ſchwerer
Arbeit zu durchwachen, damit andre ru-
hig ſchlafen können. Opfert eure Ruhe
auf; damit andre derſelben genieſsen! Ent-
ſagt euren liebſten Vergnügungen, verzehrt
euch durch Denken; damit ganze Millio-
nen euch ihr Vergnügen, ihren Wohlſtand,
ihre ganze Glückſeligkeit verdanken! Sterbt
in dieſem Sinne für die Stadt, die ihr be-
wohnt, ſterbt für den Staat dem ihr dient!
Und ſo ihr noch mehr könnt, ſo eure Seele
dazu Gelegenheit und Stärke genug hat: —
Sterbt für die Welt! —




Aus der Königlichen Hofbuchdruckerey.

[[235]]

Appendix A Errata.


  • S. 14, Z. 10. lies trinke für eintrinke.
  • S. 15, Z. 10. — ungereimte.
  • S. 25, Z. 13. — Fläche, und ſcheinet.
  • S. 64, Z. 3. — Wenn du dich nicht an ihm \&c.
  • e. d, Z. 15. — reelles.
  • S. 83, Z. 1. — Dann iſt er \&c.
  • S. 107, Z. 6.7. — Vergebungen.
  • S. 139, Z. 1. — ſie die ſie ſich \&c.
  • S. 142, Z. 10. — richtigen Schätzung.
  • S. 153, Z. 8. — jemals eins.


[[236]]

Appendix B Verzeichniſs derjenigen Bücher,
welche von Chriſtian Friedrich
Himburg in Berlin, auf ſeine
eigne Koſten gedruckt worden.



  • Blochs, D. M E. Mediciniſche Bemerkungen,
    nebſt einer Abhandlung vom Pirmonter Augen-
    brunnen, 8. 774. 10 gr.
  • Blum, J. C. Vermiſchte Gedichte, 8. 771. 4 gr.
  • Deſselben Zwey Gedichte, die Hügel bey Rate-
    nau und Roſalia, 8. 771. 3 gr.
  • Deſselben Lyriſche Gedichte, dritte um die Hälfte
    vermehrte Auflage, 8. 771. 8 gr,
  • Deſselben Idyllen, gr. 12 773. 8 gr.
  • Brocklesby, D. Richard, œkonomiſche und me-
    diciniſche Beobachungen zur Verbeſserung der
    Kriegslazarethe und der Heilart der Feldkrank-
    heiten, in zwey Theilen. Aus dem Engliſchen
    überſezt und mit Anmerkungen begleitet von
    D. Chr. G Selle, gr. 8 772. 14 gr.
  • Burmann, G. W. Fabeln und Erzählungen in vier
    Büchern, 8. 773. 12 gr.
  • Cugnot, Herrn, Befeſtigungskunſt im Felde, aus
    einem neuen Geſichtspunkte betrachtet und aus
    den Urquellen der Kriegskenntniſse hergelei-
    tet, mit 12 Kupfertafeln, 8. 773. auf Schreib-
    papier 1 Rth. 4 gr.
  • Daſselbe auf Druckpapier 20 gr.
  • Deſtouches, Herrn, Sämmtliche theatraliſche We[i]-
    ſie; fünfter Theil, enthält: 1. der Erzlügner,
    ein Luſtſpiel. 2. der vertraute Ehemann, ein
    [[237]] Luſtſpiel. 3. der vergrabne Schatz, ein Luſt-
    ſpiel, 4. der niedergelegte Schatz, ein Luſtſpiel,
    8. Berlin 772. 16 gr.
  • Einladungsſchreiben an den Herrn von Voltaire
    die theologiſche Doctorwürde in Deutſchland
    anzunehmen, 8. 773. 3 gr.
  • Elemens de Geometrie; ou les ſix premiers Livres
    d’Euclides, avec le onzieme \& douzieme. Tra-
    duction nouvelle par Mr. de Caſtillon, 8.
    774. 1 Rthl. 16 gr.
  • l’Enlevement de Proſerpine, poëme de Claudien
    traduit en proſe françaiſe, avec un Diſcours ſur
    ce poëte \& des remarques, par Mr. Merian, 8.
    774. 18 gr.
  • Eſſai d’une Traduction nouvelle des Oeuvres mo-
    rales de Plutarque, 8. 774. 6 gr.
  • Ferbers, Jo, Jac. Beſchreibung des K. K. Queck-
    ſilber-Bergwerks zu Idria in Mittelcrayn, mit
    Kupf. gr. 8. 774. 18 gr.
  • Deſselben Beyträge zur Mineralgeſchichte von
    Böhmen, mit Kupf. gr. 8. 774 1 Rthl.
  • Garſault, Herrn, Unterricht für Liebhaber der
    Pferde und Reiter, aus dem franzöſiſcen über-
    ſetzt von D. J. G. Krünitz. Mit Kupf. 8.
    770. 8 gr.
  • Gerhard, D. C. Ab. Materia. medica, oder Lehre
    von rohen Arzneymitteln, zweite vermehrte
    Auflage, 8. 771. 1 Rthl.
  • Deſselben, Beyträge zur Chimie und Geſchichte des
    Mineralreichs I ter Band, m. K. gr. 8. 773. 1 Rt.
  • — ater Band, unter der Preſſe, gr. 8.
  • — phiſikaliſche Beſchreibung des Schleſiſchen
    Rieſengebierges. gr. 8. 774.
  • die Holzhauer, oder die drey Wünſche, eine ko-
    [[238]]miſehe Oper, in einer freyen Ueberſetzung, 8.
    772. 4 gr.
  • Jacobi, Jo. G. Winterreiſe, 8. 769. 6 gr.
  • Idyllen des Bion und Moſchus Aus dem Grie-
    chiſchen überſezt, 12. 774. 14 gr.
  • Jeruſalems, Joh. Fr. W. Entwurf von dem Cha-
    rakter und den vornehmſten Lebensumſtänden
    des Höchſtſeeligen Prinzen Wilhelm Adolph
    von Braunſchweig. Mit der Franzöſiſchen
    Verſion, und des Prinzen Bildniſse von Berger
    geſtochen, gr. 4. 771. 1 Rthl.
  • v. Juſti, J. H. G. Geſchichte des Erdkörpers, nach
    ſeinen äuſserlichen und unterirdiſchen Beſchaf-
    fenheiten hergeleitet und erwieſen, gr. 8.
    771. 1 Rthlr.
  • les Jeux de la petite Thalie, ou nouveaux petits
    Drames dialogués ſur des Proverbes propres à 
    former les mœurs des Enfans \& des jeunes
    Gens depuis cinq ans juſqu’à  vingt. Nouvelle
    Edition corrigée, 8. 773. 16 gr.
  • Marx, M. T. Obſervata quaedam medica, c. fig.
    8 maj. 773. 8 gr.
  • Möhſen, Sr. C. W. Verzeichniſs einer Sammlung
    von Bildniſsen gröſtentheils berühmter Aerzte.
    Dieſem ſind verſchiedene Nachrichten vorge-
    ſetzt, die ſowohl zur Geſehichte der Arzney-
    gelahrheit, als vornehmlich zur Geſchichte der
    Künſte gehören. Mit vielen Vignetten, 4.
    771. 3 Rthlr.
  • Oeuvres drammatiques de Mr. de Moiſſy, 3 Vo-
    lumes, 8. 773. 2 Rthlr.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Spatziergänge. Spatziergänge. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bk25.0