[][][][][][[1]]
Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt
.

[[2]][[3]]
Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.


Vierte Sammlung.

Riga,: 1794.
bei Johann Friedrich Hartknoch.
[[4]]

40.


Neulich lernt' ich in der Geſellſchaft un-
ſrer Unſichtbar-ſichtbaren*) einen
beſondern Mann kennen, der ſich Realis de
Vienna
nannte. Er nahm es als Deut-
ſcher mit allen Auslaͤndern um den Preis
der Wiſſenſchaften, und des Verſtandes auf
A 3
[6] und tadelte mehrere Schriftſteller Deutſch-
lands, daß ſie die Ehre ihres Vaterlandes
zu ſehr verkannt, Fremde zu ſehr gelobt,
ihnen nachgeahmt, geſchmeichelt haben —
— Doch Sie ſollen ſeine Behauptungen
ſelbſt hoͤren:


„Deutſchlands Vorzug beſtehet in dieſen
vier Stuͤcken, daß es nach der langen
Nacht der dicken Unwiſſenheit die erſten,
die meiſten, die hoͤchſten Erfinder gehabt,
und in 900 Jahren mehr Verſtand erwie-
ſen, als die uͤbrigen 4 Meiſtervoͤlker zuſam-
men in 4000 Jahren. Man kann mit
Wahrheit ſagen, Gott habe die Welt durch
zwei Voͤlker klug machen wollen, vor Chriſti
Geburt durch die Griechen, nach Chriſto
durch die Deutſchen. Die Griechiſche
Weisheit kann man das alte Vernunft-
teſtament, die Deutſche das neue nen-
nen.“


[7]

„Durch zwei Stuͤcke wird vornaͤmlich
ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und
Verſtand zuſammen; Tapferkeit und
alles andre, was dazu hilft, muß durch
jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen
kommt Reichthum und Macht, aus allen
mit einander endlich Ruhm, den alle Welt
ſucht. Die Deutſchen ſind aus Mangel
der Großmuͤthigkeit und Landesliebe, die
uͤbrigen Europaͤer, (außer den beruͤhmten
fuͤnf Hauptvoͤlkern,) aus Mangel der Er-
finder und großen Weltweiſen zuruͤckge-
blieben.


„Verachtung kommt aus Feigheit, Nie-
dertracht oder Dummheit; jede allein kann
arm, ohnmaͤchtig und verachtet machen.
Verſtand aber allein, oder Großmuͤthigkeit
allein machen nicht beruͤhmt; ſie muͤſſen
zuſammen ſeyn.“


A 4
[8]

„Aus Wahn von der auslaͤndiſchen
Klugheit fließt die Deutſche Niedertraͤchtig-
keit; oder iſt ſie ſchon in uns, ſo wird ſie
graͤulich vermehrt und verhaͤrtet. Hierauf
folgt die unſinnige Aefferei; hieraus die
Verſtandes-Verfinſterung, Jugend- und
Zeitverluſt, die Schwindelreiſen, die Geld-
verſchleuderung und Deutſche Armuth, frem-
der Nationen Reichthum, ihre Macht,
Stolz, Trotz, ihre Verlaͤumdungen und der
Deutſchen Verachtung, das Maͤhrchen von
der Deutſchen Dummheit, unſre Bettelei,
daß wir der Auslaͤnder Lohnſoldaten hei-
ßen, ſtetiges Kriegen und Blutvergießen,
da wir auf unſre eigne Unkoſten gepeitſchet
werden, Verluſt ſo vieler Laͤnder und
Staͤdte, Verluſt der Deutſchen Vertraulich-
keit, Aufrichtigkeit, Gluͤckſeligkeit, mit Ver-
tauſchung der hochgeachteten fremden Sit-
ten, Luͤderlichkeit und Blindheit. Alles
[9] dies haͤngt an einander am Maͤhrchen von
der auslaͤndiſchen Klugheit und Deutſchen
Einfalt.“


„Dies Maͤhrchen ſcheuet man ſich ins
Licht zu ſetzen wegen der angeerbten ſkla-
viſchen Niedertracht, wegen Mangel der
Wahrheitliebe, Seltenheit des geſunden Ur-
theils, endlich aus Mangel der Geſchicht-
kenntniß. Man begnuͤgt ſich mit Wider-
ſprechen, Wehklagen, Seufzen und Bet-
teln: „die Auslaͤnder moͤchten uns doch
mit in ihre Geſellſchaft nehmen, wir ge-
hoͤrten auch unter die fuͤnf klugen Jung-
fern, u. f.“ Dies beweiſet man, ſtatt Erfin-
der anzufuͤhren, mit Schulmeiſtern, Pfar-
rern, Sprachkuͤnſtlern und geduldig ſchwiz-
zendem Volk, welche Fleiß fuͤr Verſtand
halten; mit Stopplern und Ausziehern,
woraus eben die Auslaͤnder unſre Dumm-
heit beweiſen wollen. Wir haben nicht
A 5
[10] einmal das Herz unſre Erfindungen wider
die Auslaͤnder zu vertheidigen; ſobald ſich
derſelben eine einer zuſchreibt, ſo iſts da-
mit aus, ſie iſt verlohren.“


„Was geht mich ein hochbegabt Volk
oder der tugendhafteſte Menſch der Welt
an, wenn er mich ſchaͤndet? Ich habe die
Briefe von ſeiner Tugend, wenn er mich
verlaͤumdet. Tugend muß man zwar auch
am Feinde loben, wo es der Wahrheit
Ehre fodert; ſonſt aber muß man von ſei-
nes Feindes Tugend ſtillſchweigen, ſonder-
lich wo ſein Lob uns Schaden bringt.
Doch wird ein Tugendhafter hochbegabte
Leute nimmer ſchimpfen.“


„Beſcheidenheit wird nur gegen ehrliche
Leute erfordert; Irrende muß man unter-
richten, nicht ſchimpfen mit harten Wor-
ten; Bosheit aber muß mit Beſchaͤmung
geſtraft werden, Unterricht hat da keine
[11] Statt. Will man vorſetzliche Bosheit ehr-
erbietig unterrichten, den Wolf bitten, die
Schaafe nicht zu freſſen, ſo wird Bosheit
durch die Ehre geſtaͤrkt, und andre zu glei-
cher Bosheit gereizt; bonis nocet, malis
qui parcit.


Wie unzeitige Barmherzigkeit der aͤrgſte
Grimm iſt: ſo ſtiftet unzeitige Ehrerbietung
weit mehr Ungluͤck als unnoͤthiger, allzu-
großer Zorn. Der Paͤbſtler moͤrderiſcher
Eifer hat mit Geißeln, Martern, Brennen
die Welt nicht ſo verderbt, als die heim-
liche Herrſchſucht der beſcheidnen Hoͤflichen,
der heiligen Heuchler tuͤckiſche oder dumme
Sanftmuth. Wie die abgedroſchne Predigt
von der Freiheit eine Eitelkeit iſt: ſo
iſts mit dem Senf der Beſcheidenheit
ein herber Betrug, daran ein Aufrichtiger
ſich nicht kehret. Den Betruͤger einen
Betruͤger zu nennen, gehoͤrt nicht nur zur
[12] Aufrichtigkeit, ſondern auch mit zur Frei-
heit; es iſt eine nothwendige Sache.“


„Unſre Ehrenretter, wenn ſie am eifrig-
ſten ſind, werfen den Franzoſen die laͤcher-
lichſten Kindereien vor, die gar nichts be-
deuten. Alſo, wenn ſie ihnen heftig wehe
thun, und ſie mit Vorhaltung grober Feh-
ler recht demuͤthigen wollen, ſo zaͤhlen ſie
her, wie hie und da ein Franzos Witten-
berg, Altorf, Roſtock nicht gekannt
und dieſe Staͤdte fuͤr Perſonen gehalten.
Nun iſt zwar der Fehler grob genug; im-
mittelſt weil ſolche Unwiſſenheit aus Stolz
und Verachtung unſer herruͤhrt, warum
wollen wir damit ihre Dummheit bewei-
ſen? Ihre Sachen wieder verachten, nicht
bewundern, anbeten, geſchweige fuͤr Millio-
nen kaufen, ihnen Urtheil- und Sinnigkeit-
fehler, Erfindungsmangel und Dieberei vor-
halten, war die rechte Rache; dieſe kann
[13] demuͤthigen. Wie werden wir ſie damit
demuͤthigen, woraus ſie Ehre ſuchen, naͤm-
lich aus Verachtung der Deutſchen Sachen,
woran wir ſelbſt Schuld ſind, weil wir
unſre Sachen ſelbſt verachten.“


„Die Auslaͤnder halten's fuͤr den aͤrg-
ſten Spott uns etwas nachzuthun, das her-
nach an ihnen unſer hieße, vielweniger
werden ſie es mit Pralerei thun und uns
dabei herausſtreichen. Nehmen ſie etwas
von uns an, ſo thun ſie es verſtohlen, ſchaͤ-
men ſich der Annehmung und Nachahmung,
und laͤugnen, daß es unſer ſei mit Zorn
und Gift. Und der Deutſchen Ehre ſoll
die Affenkunſt der Nachahmung ſeyn und
bleiben?


„Lernen iſt eigentlich der Kinder Amt
und Eigenſchaft; daher Kinder der Strafe
unterworfen ſind; ſie muͤſſen gehorchen.
Erwachſnen Leuten iſts gar unanſtaͤndig,
[14] lernen ſollen, was ſie ſelbſt koͤnnen ſollten;
weit unanſtaͤndiger aber iſt einem ganzen
Volk, einem andern Volk zu gehorchen.
Nachahmen gehoͤrt entweder zum Lernen
oder zur Knechtſchaft.


Der Schuͤler iſt allezeit unterm Lehr-
meiſter, der Erfinder hat die Ehre vorm
Nachmacher; Erfindung macht Naturherrn,
Nachahmung Naturknechte.


„Wenn ein ganz Haus mit allen Haus-
genoſſen alt und jung ſich gegen ſeinen
Nachbar ſo anſtellte; der Mann ahmete
dem Nachbar, die Frau der Nachbarin,
Toͤchter, Soͤhne, Knechte, Maͤgde ahmten
den Toͤchtern, Soͤhnen, Knechten, Maͤgden
des Nachbars nach, wuͤrde nicht die ganze
Stadt ſagen: das Haus iſt voll Narren,
die drinn wohnen, ſind alle unſinnig? Und
trieben ſie die Haſerei nur aus Unbedacht-
ſamkeit, wuͤrden nicht alle Kinder auf der
[15] Gaſſe von dieſen tollen Klugen als Nichts-
wuͤrdigen zu reden wiſſen? Was wuͤrde
man aber ſprechen, wenn dieſe Nachahmer
den Erſten noch Geld dazu geben, daß ſie
derſelben Narren ſeyn duͤrften? Von einem
ganzen Lande nun iſt es noch niedri-
ger.“ — —


In dem Ton ſprach Realis de Vi-
enna weiter. Er zeigte, daß die Nachah-
mung zumal der Franzoſen den Deutſchen
ſchaͤdlich und verderblich ſei; durch ſie ver-
ſaure und verroſte der Verſtand, man ver-
ſuche nichts und verzage an eignen Kraͤf-
ten. Mit Nachahmung ſeyn die Welſch-
Franzoͤſiſchen Laſter zu uns gekommen. Wir
haͤtten das Nachahmen nicht noͤthig; ja
man muͤßte den Deutſchen auch in nuͤtzli-
chen Dingen die Aefferei nicht zulaſſen,
weil keine Grenze beſtimmt werden koͤnne,
was? wie viel? wie weit nachzuaͤffen ſei?


[16]

Der Deutſche ſei beim Nachahmen unge-
ſchickt u. f. — Was duͤnkt Ihnen, zu
dieſem Autor?


[17]

41.


Realis de Vienna iſt keine erdichtete
Perſon. Er lebte zu Anfange unſres Jahr-
hunderts, da die Cultur der hoͤheren Wiſ-
ſenſchaften durch Leibnitz auch in Deutſch-
land neuen Platz gewann; zugleich aber
hatte ſie damals mit dem elendeſten Pe-
dantismus der Hof- und Schulhaſen
(wie Realis ſie nennt,) zu ſtreiten. An
Hoͤfen bluͤhete eine franzoͤſiſche Galanterie,
von der wir uns kaum noch einen Begriff
machen koͤnnen; einige Schulpedanten woll-
ten den Hofgecken nachahmen; ſo entſtand
die Talandriſche, die Menantiſche, die Wei-
Vierte Samml. B
[18] ſiſche Schreibart. Der Verdienſtreiche
Chriſtian Thomaſius ſelbſt konnte ſich
dieſem ſinkenden Boden nicht entziehen,
und ward in Manchem ein Hofphilo-
ſoph, allerdings nicht im beſten Geſchmack.
Die Literaturgeſchichte, die damals auch im
Gange war, hinkte dem allgemeinen Ge-
ſchmack nach, ſchmeichelte den Auslaͤndern;
der Schall von Ludwig 14. hatte die
Welt erfuͤllet, und in den Deutſchen Glok-
ken ſauſete er in maſſiverem Ton um ſo
laͤnger nach.


Da erkuͤhnte ſich nun dieſer Realis
de Vienna
den Hof- und Schulfuͤchſen
Deutſcher Nation entgegen zu ſprechen, und
ſchrieb eine
Pruͤfung des Europaͤiſchen
Verſtandes durch die Welt
-
weiſe Geſchichte.

[19] Er ſchrieb ſie; ich zweifle, daß ſie je ge-
druckt worden. Das Manuſcript muß ſon-
derbare Schickſale gehabt haben: denn in
der vorliegenden Schrift: „Nachricht
von Realis de Vienna Pruͤfung

werden ſonderbare Umſtaͤnde lautbar. Die
Handſchrift, (ſo ſagt der Verfaſſer) ſei 21.
Jahre umhergegangen, ſeitdem ſie Prof.
Adam Rechenberg in Leipzig, (Chri-
ſtian Thomaſens Schwager,) dem Buch-
fuͤhrer im Jahr 1693 entfuͤhret. Dieſer
habe ſie unter ſeinen Bekannten herumge-
ſchickt, andre auch von dieſer Sache zu
ſchreiben angereizt, endlich ſie Reimannen
uͤbergeben, der den Kern ſeiner Literatur-
geſchichte Deutſchlandes ganz, aber aͤußerſt
Kraftlos und unvollſtaͤndig aus dieſem
Werk genommen, und nur die elenden kin-
diſchen Schalen dazu gethan habe. U. f.
Auch Kaſimirs Kanonik, glaubt er,
B 2
[20] ſei aus ſeiner ſogenannten Vernunfterſtat-
tung gezogen u. f.


So anmaaſſend dies alles klingt, um
ſo mehr verdiente das Werk und die Be-
hauptung des Verfaſſers Aufmerkſamkeit
und Pruͤfung. Was er uͤber Reimanns
Geſchichte, uͤber Thomaſius Hofphiloſo-
phie, uͤber den Streit zwiſchen Leibnitz
und Newton, uͤber den Urſprung der
Journale, die Sprachenmiſcherei, uͤber die
Nachahmungsſucht und Demuth der Deut-
ſchen geſagt hat, iſt jetzt unſer aller Ur-
theil. Die Zeit hat daruͤber entſchieden,
und dieſer unbekannte Gabriel Wag-
ner*), (ein Magiſter der Philoſophie aus
[21] Quedlinburg, der viele Univerſitaͤten beſucht
hatte und in ſeinem Leben zu nichts kom-
men konnte,) iſt in mehreren Urtheilen ſei-
ner Zeit ſo maͤchtig vorgeſchritten, daß man
es bewundert, wie ſehr die Stimme der
Wahrheit oft aufgehalten werden koͤnne,
und wie langſam die Zeit ſchleiche. Seine
Pruͤfung des Europaͤiſchen Ver-
ſtandes, (der Beſchreibung nach ein aus-
fuͤhrliches Werk,) muß ſeinem Inhalt nach
um ſo merkwuͤrdiger ſeyn, da er nicht etwa
nur die Hof- und Schulfuͤchſereien verach-
tet, ſondern auch den reellen Wiſſenſchaf-
ten, der Mathematik, Philoſophie, den hoͤ-
heren und nuͤtzlichen Erfindungen der Voͤl-
ker ſeine Aufmerkſamkeit geſchenkt zu ha-
ben ſcheinet. Wenn alſo ſeine unterdruͤckte
Handſchrift ſich irgendwo noch auffaͤnde;
(und ich zweifle daran um ſo weniger, da
ſie durch viele Haͤnde gegangen iſt, und
B 3
[22] wahrſcheinlich mehrere Abſchriften veran-
laßt hat:) ſo waͤre, mit Auslaſſung alles
deſſen, was fuͤr uns nicht mehr dienet, eine
gelaͤuterte Bekanntmachung derſelben zu
wuͤnſchen. In der Nachricht, die vor mir
liegt, wurde das Werk bei Froboͤſen in
Greifswalde liegend angezeigt und je-
dermann aufgefodert, es mit Verlag oder
andrer Huͤlfe zu befoͤrdern; die damaligen
Lichter Deutſchlands mochten dieſer Be-
foͤrderung nicht hold ſeyn, und ſo blieb es
begraben. Mir waͤre es kein unangeneh-
mes Poſtpacket, wenn mir eine Fee dies
irgendwo gewiß todtliegende Mſcr. oder
eine Nachricht davon zuſchickte.


Denn außer dieſer Pruͤfung des
Europaͤiſchen Verſtandes
, gedenkt
der Verf. noch einer andern Schrift:
Geheimſtube oder Velleden-
blaͤtter

[23] 1692. in vier Buͤchern entworfen, deren In-
halt in Manchem ſonderbar genug iſt.


A. Die Vernunft-Erſtattung, (die
Europaͤer von der Viehheit, Quackerei und
Aberglauben wieder zur Menſchheit zu brin-
gen und ihnen die fuͤnf Sinne zu erſtat-
ten.) Statt der Kapitel zeichne ich bloß
einige Grundſaͤtze aus.


1. Es giebt Gewißheit; der Menſch
kann viel Wahrheit wiſſen.


2. Alle Gewißheit und Klarheit kommt
aus reinmathematiſchem Grunde.


3. Zur Wahrheitforſchung brauchts
keiner erſten allgemeinen Wahrheitquelle.
(keines principii primi.)


4. Wahrheit iſt heilſamer als Erdich-
tungen. (Dieſe Aufgabe, ſagt Wagner,
mit ihren Beifuͤgungen ziehet ungewoͤhnli-
che neue Saͤtze nach ſich, und iſt der Grund
faſt einer neuen Weltweisheit, die den
B 4
[24]Des-Cartes, Hobbes, Spinoza,
Puffendorf, Leibnitz verbeſſert.)


5. Aus Wahrheit folgt nimmer Un-
wahrheit; aus dieſer nimmer Wahrheit.


6. Alle Unwahrheit kann widerlegt wer-
den, ſie ſei ſo ſubtil ſie wolle.


7. Der Wahrheit Thuͤr, Urſprung und
Boten ſind die Sinne.


8. Es iſt nur Eine Vernunft.


9. Vernunft irrt nimmer. Klugheit
und Wahrheitfindung entſpringen beide aus
der Natur Guͤtigkeit und Uebung; nicht
aus Lehrſaͤtzen und Unterricht. Dieſe ſind
ein aͤußerlich geringer Vortheil und Erleich-
terung dazu, geben aber weder Wahrheit
noch Verſtand. Wenn man ſie fuͤr unent-
behrlich ausgiebt, ſind ſie der Schulfuͤchſerei
Merkmal.


10. Der Menſch iſt nicht vernuͤnftig,
doch nicht ohne Vernunft.


[25]

11. Des Menſchen Vorzug vorm Vieh
iſt allein die Vernunftdaͤmmerung.


12. Der Wille beherrſcht den Menſchen
in Allem; die Vernunftdaͤmmerung in
nichts.


13. Sinne verfuͤhren; Aufrichtigkeit und
Vernunftdaͤmmerung ſind die innern Mit-
tel zur Wahrheit.


14. Die Natur iſt nicht verderbt, nicht
Gottes Feindin. Sie iſt Gottes Buch, der
Vernunftſchein Gottes Licht; nach ihnen
muß man alles erklaͤren.


15. Aberglaube iſt kein Mittel zur
Wahrheit.


16. Naturkuͤnſte machen aufrichtig;
Schulkuͤnſte ſtolz und grauſam.


17. Man ſoll alles, ſo viel moͤglich,
nach der Natur erklaͤren.


18. Luſt zu Naturſachen iſt ein Merk-
mal der Großmuͤthigkeit.


B 5
[26]

19. Stolz und Dummheit ſind aller
Laſter und alles Ungluͤcks Urſach.


20. Weisheit beſteht nicht in Eigennutz;
ihr Ziel iſt eigentlich allein Wahrheit. (Ob
aber Aufrichtigkeit allein mit Wahrheit
ohne Nutz zufrieden ſeyn ſoll? und ob
Wahrheit ohne allen Nutz ſeyn koͤnne? ſei
eine andre Frage.)


21. Alle Weisheit beruhet auf vier Wiſ-
ſenſchaften; alles andre, was zu ſelbigen
nicht gehoͤrt, gehoͤrt zur Schulfuͤchſerei.


22. Die Deutſchen Handkuͤnſte zeigen
Verſtand; die auslaͤndiſchen Fleiß, Geduld,
Geiz und Stolz.


23. Ein Unchriſt iſt kein Ungoͤtter.
(Atheiſt.)


24. Viele Leute, inſonderheit die Ge-
lehrten merken ihre eigne Bosheit nicht,
vielweniger ihre Dummheit.


[27]

25. Einer ſiehet oft mehr als alle Schu-
len und das ganze Land.


26. Lehre artet den Verſtand; den Wil-
len greift ſie nicht an.


27. Lehren iſt noͤthig, auch beim Stoi-
ſchen Glauben.


28. Der Mathematiſche Lehrweg iſt nicht
der beſte; der Werkkuͤnſtige Lehrweg allein
findet die Wahrheit.


29. Sittenlehrige Abſichten verderben
die Naturkundigung.


30. Die Reiſen in barbariſche Laͤnder
ſind nuͤtzlicher als in die Hafenlaͤnder zu
den freundlichen Moͤrdervoͤlkern.


II.Der Naturglaube.


IIIDer Schulen Papſtthum.


IV.Umbildung der Staatskunſt,
nach folgenden Grundſaͤtzen.


1. Gegen Natur- und Staatskuͤnſte
ſind alle andre Kuͤnſte Kinderpoſſen: die
[28] Naturkundigung iſt aller andern Kuͤnſte
Meer und Kaiſerin.


2. Aeußerliches oder Hofſittenwerk iſt
Wahnwerk, ein frei willkuͤhrlich Werk; was
man fuͤr ſchoͤn und haͤßlich ſetzt, iſt ſchoͤn
und haͤßlich.


3. Das Maͤhrchen von der Auslaͤnder
Klugheit und Deutſchen Dummheit iſt allein
aus der Deutſchen Geduld, und der Aus-
laͤnder Pralerei entſtanden.


4. Man kann faſt ſagen, daß weder
Liebe, Geld noch Stolz ſo ſtark ſei, als der
Deutſchen Geduld und Demuth. Der Ge-
muͤths-Unadel loͤſcht in uns die Menſch-
heit, die allgemeine Empfindniß, Selbſtliebe
und Selbſterhaltung ganz aus.


5. Angenommene Großmuͤthigkeit wuͤrde
das ganze Maͤhrchen in zehn Jahren um-
kehren.


[29]

6. Verſtandes-Ehre geht uͤber alle Eh-
re, iſt aller andern Ehre Grund, alſo nicht
in den Wind zu ſchlagen.


7. Eines Volks Ehre haͤngt großen
Theils an ſeiner Mutterſprache; dieſe iſt
der Landesehre Fuhrwerk. Ueber ſie muß
man ſchaͤrfer halten, uͤber ihre Reinigkeit
mehr eifern, als uͤber der zarteſten Liebſten
Ehre.


8. Mit Landsleuten muß mans, als mit
Verwandten ſeines Geſchlechts, nicht genau
nehmen; gegen Auslaͤnder alles hoch ſpan-
nen. U. f.


Ein Wort noch von der Deutſchen
grandezza, vor welcher der Gegner unſres
Realis ſeine Landsleute warnen wollte.
Realis ſagt dagegen:


„Die Deutſchen, die gutherzigen Zigeu-
ner, die armen Affen, die ewigen Schuͤler,
von der grandezza wollen abhalten, iſt aͤr-
[30] ger als die Schaafe vom Grimm, die Pferde
vom Fleiſchfreſſen abmahnen. Mahne die
Spanier von der grandezza, die Italier
von der Herrſchſucht, die Franzoſen von
der Pralerei ab; mit den Deutſchen darfſt
du dich nicht bemuͤhen. Der Mangel noͤ-
thiger grandezza oder Ehrliebe iſt eben die
vornehmſte Urſach des uͤbeln Deutſchen Na-
mens.“


„In Deutſchland wohnt aller Verſtand
außer Schulen; bei den Auslaͤndern zuwei-
len in Schulen. Bei dieſen ſind oft die
Gelehrten die kluͤgſten; in Deutſchland iſts
umgekehrt. Das Volk iſt ſinnreich, faſt
allein, obwohl nicht allezeit; die Vornehmen
ſind ſchulfuͤchſiſch, prangen mit ſtatu quo,
und ſind ſelten klug.


Ich lege das Buch bei, und bitte, daß
ſie die Jahrzahl nicht unbemerkt laſſen.
Es iſt 1715 gedruckt; mich wundert, daß
[31] da die Schriften, die es ankuͤndigt, zwan-
zig Jahre vorher geſchrieben waren, Leib-
nitz unſers ſonderbaren Autors nirgend
erwaͤhnet.


[32]

42.


Verzeihen Sie, daß ich Ihren Realis
de Vienna
nicht auf einen ſo tragiſchen
Fuß nehme, als er in den Bedraͤngniſſen
ſeines muͤhſeligen Lebens den Ton an-
ſtimmte. Sollten wir umſonſt ein Jahr-
hundert ſpaͤter leben, in welchem ſich man-
ches entwickelt hat, das Er nicht wiſſen
konnte?


Man ſagt gewiſſen Landsleuten nach,
daß ehe ſie ihre Landsmannſchaft nennen,
ſie ein Entſchuldigungscompliment vorbrin-
gen, daß ſie die ſeyn, die ſie ſind. Unſer
Autor wird das fuͤr niedertraͤchtig halten;
wenn es indeß gegen ſtolze Nationalver-
wandte
[33] wandte geſagt wuͤrde, ſo moͤchte hinter die-
ſer Demuth ein Spott liegen, dem ich faſt
beitraͤte. Unter allen Stolzen halte ich den
Nationalſtolzen, ſo wie den Geburts- und
Adelſtolzen fuͤr den groͤßeſten Narren.


Was iſt Nation? Ein großer, ungejaͤ-
teter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer
wollte ſich dieſes Sammelplatzes von Thor-
heiten und Fehlern ſo wie von Vortreflich-
keiten und Tugenden ohne Unterſcheidung
annehmen, und wenn es eine bloße Mei-
nung von Seelenkraͤften oder Verdienſten
gilt, fuͤr dieſe Dulcinea gegen andre Na-
tionen den Speer brechen? Laſſet uns, ſo
viel wir koͤnnen, zur Ehre der Nation bei-
tragen; auch vertheidigen ſollen wir ſie,
wo man ihr Unrecht thut, (in welchem
Falle damals unſer Verfaſſer war;) ſie
aber ex profeſſo preiſen, das halte ich fuͤr
einen Selbſtruhm ohne Wirkung.


Vierte Samml. C
[34]

Wir Deutſchen wollten uns mit den
Griechen vergleichen? Und welches waͤre
der genaubeſtimmte, der unverfaͤlſchbare
Maasſtab? Und wer waͤre der unpartheii-
ſche Richter?


So auch mit andern Nationen. Die
Natur hat ihre Gaben verſchieden ausge-
theilt; auf unterſchiedlichen Staͤmmen, nach
Klima und Pflege wachſen verſchiedne
Fruͤchte. Wer vergliche dieſe unter einan-
der? oder erkennete einem Holzapfel vor
der Traube den Preis zu?


Vielmehr wollen wir uns wie der Sul-
tan Solymann freuen, daß auf der bun-
ten Wieſe des Erdbodens es ſo mancher-
lei Blumen und Voͤlker giebt, daß dieſſeit
und jenſeit der Alpen ſo verſchiedene Bluͤ-
then bluͤhn, ſo mancherlei Fruͤchte reifen!
Wir wollen uns freuen, daß die große
Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt dieſe,
[35] jetzt andre Gaben aus ihrem Fuͤllhorn wirft,
und allmaͤlich die Menſchheit von allen Sei-
ten bearbeitet.


Denn es ſcheint ſo wohl geiſtige als
phyſiſche Nothwendigkeit zu ſeyn, daß aus
der Menſchen-Natur mit der immer veraͤn-
derten Zeitfolge alles hervorgelockt werde,
was ſich aus ihr hervorlocken laͤßt. Mit-
hin muͤſſen mit der Zeit Contrarietaͤten
ans Licht kommen, die ſich endlich doch
auch in Harmonie aufloͤſen.


Offenbar iſts die Anlage der Natur,
daß wie Ein Menſch, ſo auch Ein Geſchlecht,
alſo auch Ein Volk von und mit dem an-
dern lerne, unaufhoͤrlich lerne, bis alle
endlich die ſchwere Lection gefaßt haben:
„kein Volk ſei von Gott einzig auser-
waͤhltes Volk der Erde; die Wahrheit
muͤſſe von allen geſucht, der Garte des
gemeinen Beſtens von allen gebauet wer-
C 2
[36] den. Am großen Schleier der Minerva
ſollen alle Voͤlker, jedes auf ſeiner Stelle,
ohne Beeintraͤchtigung, ohne ſtolze Zwie-
tracht wirken.“


Den Deutſchen iſts alſo keine Schande,
daß ſie von andern Nationen, alten und
neuen, lernen. Das alte Vernunftteſta-
ment, wie der Autor die Weisheit der Grie-
chen nennt, iſt gewiß nicht verjaͤhrt, noch
durch die Weisheit der Neuern unkraͤftig
gemacht worden.


So darf ſich auch kein Volk Europa's
vom andern abſchlieſſen, und thoͤricht ſa-
gen: „bei mir allein, bei mir wohnt
alle Weisheit.“ Der menſchliche Verſtand
iſt wie die große Weltſeele; ſie erfuͤllt alle
Gefaͤße, die ſie aufzunehmen vermoͤgen;
belebend, ja ſelbſt neuorganiſirend dringt
ſie aus allen in alle Koͤrper.


[37]

Haͤtte Realis noͤthig gehabt, den Deut-
ſchen ſo oft unzeitige Geduld, ja Nieder-
traͤchtigkeit Schuld zu geben, wenn die
Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge ma-
chen will, ihr eigenſter Charakter waͤre?
Kann Jahrhunderte lang ein Volk ſeinen
Charakter dergeſtalt verkennen, daß es bei-
nah immer im entgegengeſetzten handelt?
Laſſet uns nicht ſagen; „Hinderniſſe haben
ihn unterdruͤckt.“ Im weiten Inbegriff
der Zeit kennt ein Volk keine unuͤberſteig-
liche Hinderniſſe; es muß zu dem gelangen,
was es ſeyn ſoll.


Kaͤme das Mſcr., wovon wir reden,
in unſre Hand; ſo wuͤrde es dadurch am
meiſten belehrend, was wir nach Ablauf
eines Jahrhunderts in ihm ausſtreichen
oder hinzuſetzen muͤßten. Wir wuͤrden ſe-
hen, wohin ſein Verfaſſer den Kranz fuͤr
Deutſchland geſteckt? und wiefern es waͤh-
C 3
[38] rend deſſen dieſen oder einen beſſern er-
reicht habe?


Das gefaͤllt mir an unſerm Autor, daß
er, wenn auch mit Uebertreibung, die Schul-
wiſſenſchaften von den Lebenswiſſenſchaften,
die Naturkuͤnſte von Wortkuͤnſten, den tuͤch-
tigen Verſtand in Wirklichkeiten vom blo-
ßen Faſſoniren der Begriffe abſondert.
Waͤre dieſer Geſichtspunkt in ſeinem Werk
ſcharf genommen und veſtgehalten; ſo haͤt-
ten wir in ihm Materialien zu einer Ge-
ſchichte des praktiſchen Deutſchen
Verſtandes
, wie wir ſie im ganzen ver-
floſſenen Jahrhunderte nur hie und da
Theilweiſe erhalten haben *).


[39]

43.


Waͤhrend Sie, m. Fr., um den Ruhm
der Nationen wetteiferten, war ich in der
Verſammlung der bluͤhendſten Voͤlker der
Erde. Alle ſtanden friedlich neben einan-
der; jedes Geſchlecht, jede Art, jede Gat-
tung in ihrem eignen Reiz und Charak-
ter. Keine neidete, verfolgte die andre;
unter dem blauen Bogen des weiten Him-
mels genoſſen alle das goldene Licht der
Sonne, die Balſamkraͤfte der erquickenden
Luft, des Thaues und Regens. Als ich
mit ſuͤßem Staunen ſie anſah, ſang eine
Stimme:


C 4
[40]
Flora, dich feiert mein Hymnus, du ſchoͤnſte,

doch ſeltner als Deine

Schweſtern, des hohen Olymps Bewohnerin-

nen, geſungen!

Jauchzend gebar dich die Erde dem alten

chaotiſchen Winter,

Dich, du Erſtling und Stolz und Wonne der

fuͤhlenden Schoͤpfung.

Selig prieſen ſich einſt in deiner Goͤtter-Um-

armung

Jupiter Pluvius ſelbſt und Hyperions heilige

Staͤrke.

Ihnen gebahrſt du Proſerpinens Mutter und

ſpaͤter Pomona,

Beide ſchoͤn; doch ſchoͤner als beide die bluͤ-

hende Mutter.

Und eine andre Stimme antwortete:


Flora, du kleideſt die Erde mit hellem ſma-

ragdnem Gewande,

Schoͤn durchwebet und bunt mit Farben des

himmliſchen Bogens.

[41]
Praͤchtig glaͤnzt in der Nacht der Sterne fun-

kelnder Gurt hin,

Welcher den blauen Talar des alten Coͤlus

umwallet;

Aber noch reizender geht am offenen Tage die

Tellus,

Von dir, Flora, geſchuͤrzt mit leichtem Blu-

mengehaͤnge.

Und es war, als verſammleten ſich die
Genien der verſchiedenen Erdezonen. Eine
Stimme ſprach:


Zahllos iſt die Menge der Blumentragenden

Pflanzen,

Die am ſaugenden Buſen der all' ernaͤhrenden

Mutter

Mit der oberen Flaͤche der vielgebildeten

Blaͤtter

Trinken der Sonne Licht; den naͤchtlichen Thau

mit der untern.

Von den beſchneiten Gebuͤrgen der nordiſchen

langen Polarnacht,

C 5
[42]
Bis zur Erdumguͤrtenden Zone des heiſſen

Aequators

Iſt kein Raum ſo gering' im weiten Gefilde

der Schoͤpfung,

Keine der Alpen ſo ſteil, und keine der Step-

pen ſo ſandig,

Daß ſie nicht naͤhre Geſchlechter der Pflanzen,

der Lage geeignet.

Pflanzen uͤberweben das Bett der Quellen und

Stroͤme;

Andre naͤhret der Rhein, und andre der

Orellana.

Selbſt in den finſtern Tiefen des Erdumguͤr-

tenden Weltmeers,

Wo kein Orkan ſie empoͤrt, wohin kein Blei

je hinabſank,

Scherzen in weiten Fluren, umwallt von ra-

genden Hainen

Seltſam gebildeter Pflanzen, die Heerden der

Amphitrite:

[43]

Eine Schweſterſtimme nahm das Wort
auf:


Sterbliche haben gewaͤhnt zu zaͤhlen die

Kinder der Flora,

Ihre Geſchlechter zu ordnen und ihre Namen

zu nennen;

Zwar wer hat ſie beſucht der Oſtwelt gruͤnende

Wuͤſten?

Wer die Quellen des Ganges und ſiebenar-

migen Nilus?

Wer die geheimeren Fluren der Oceaniden des

Aufgangs?

Ihre Geſtade beſchiffeten Wuchrer; der for-

ſchende Weiſe

Seltner. Und wer ſah ſie, die Kraͤnze der

Nereiden,

Wenn ſie die gruͤnlichen Locken umwinden im

Schooße des Weltmeers.

Wer hat je die Flechten, wer hat die Mooſe

gezaͤhlet,

[44]
Deren Fruͤhling beginnt, wenn Froͤſte den

Herbſt entblaͤttern,

Deren uͤppiger Wuchs die Scheitel aͤtheriſcher

Alpen

Da, wo ſie Flora verlaͤßt, mit tauſend Farben

bekleidet?

Hier unterbrach eine ſichtbare Scene die
Unſichtbaren. Ein Juͤngling trat aus der
Laube hervor, und umwand das Haupt
ſeines Lehrers mit einem Kranz von Blu-
men, die alle ihm geweiht waren, und in
der Geſchichte der Pflanzen ſeinen unſterb-
lichen Namen tragen. Er begleitete ſie mit
Worten der innigſten Herzensverehrung
in den erleſenſten Bildern und zog ſich be-
ſcheiden zuruͤck.


Und von neuem erwachten Geſaͤnge von
der Vermaͤhlung und der nach Jahrszei-
ten geordneten Entwicklung der Blu-
[45] men. Menſchenfreundliche Genien ſangen
alſo:


Flora, wo Deine Hand mit hymenaͤiſchem

Bande

Nicht im Lenz vermaͤhlte der Tellus zahlloſe

Kinder,

Trauret umher die Natur in Nahrung-ent-

behrender Oede.

Wein- und Geſanglos ſchleicht Autumnus; es

darbet Pomona;

Nichtiges Stroh entfaltet der Fackel des Si-

rius Ceres;

Traurig ſtehet der Hain, der chaoniſchen Ei-

cheln entbehrend:

Denn es ergrauete ſchon im April die Hoff-

nung des Jahres.

Gluͤcklich iſt der Hirte, der durch geſicherte

Habe,

Der durch leitende Weisheit und Guͤte des

Staates veredelt,

[46]
Lernte der Aemſigkeit Werth und Zukunft- ah-

nende Vorſicht.

Ihn ergreifen mit eiſernem Arm des darben-

den Jahres

Schrecken nimmer; es ſpendet ihm nicht, wie

dem uͤbrigen Zugvieh,

Schlechte, kaͤrgliche Koſt der unfreigebige

Frohnherr.

Ihn treibt nicht der Hunger aus Thraͤnenloſer

Deſpoten

Laͤndchen, aus Deutſchland hin zu des fernen

Aſtrakans Oeden.

Siehe, der reiche Gewinn von tiefer-geacker-

ten eignen

Saaten und uͤppiger Wieſen ſich ſtets erneu-

ernder Kleewuchs

Blieb ihm von beßeren Jahren. Er theilt den

Ueberfluß willig

Mit dem huͤlfloſen Volk angraͤnzender Skla-

venlaͤnder;

[47]
Aber die Treue des Jahrs, und der wieder-

kehrenden Monden

Milder Geſchenk erſetzet ihm bald den vergeſ-

ſenen Miswachs.

Eben als ich noch wuͤnſchte, daß die Un-
ſichtbaren dieſe Worte in aller Frohnher-
ren Herz ſingen moͤchten, weckte mich ein
ſanfterer Laut. Er ſang die allmaͤlich an-
brechende Zeit des Blumenfruͤhlings:


Sieh! im waͤrmeren Strahle der ruͤckwaͤrts-

kehrenden Sonne

Freut ſich die Blumengoͤttinn bei ihrer Kinder

Entwicklung

Oeffnet die Kelche der Bluͤthen und ſchmuͤckt

die braͤutliche Tellus.

Zwar es entfalten fruͤher die Schattengewaͤchſe

der Haine,

Eh ſie das Laub bedunkelt mit ſeiner kuͤhlen

Umwoͤlbung,

[48]
Ihre zaͤrteren Blumen dem erſten Strahle des

Lenzes.

Blaue Hepatika, Dich und das Herzer-

freuende Veilchen,

Euch erziehn die Dryaden zu ihren fruͤheſten

Kraͤnzen.

Sie durchweben ihr Blau mit dem Golde des

Fruͤhlings-Crokus

Und mit den Silberſternen der Anemone

der Haine;

Fruͤher bluͤht der Helleborus, fruͤh die duf-

tende Daphne,

Und der Aurikeln Geſchlecht, verpflanzte

Toͤchter der Alpen.

Aber die ſpaͤteren Blumen verſchlieſſen die

duftenden Glocken

Noch dem naͤchtlichen Froſte, dem Stoͤrer ih-

rer Befruchtung.

Waͤrmere Luͤft' umathmen den uͤppiger-

ſchwellenden Fruͤhling;

Wenn, von den Horen umtanzt, der Wagen

des Sonnengottes

Steileren
[49]
Steileren Pfades rollt an dem hohen Bogen

des Aethers;

Wenn in dem jungen Laube die Voͤgel ſich

alle begatten,

Wenn in den lauen Baͤchen ſich paarend ver-

folgen die Fiſche,

Oeffnen die Blumen ſich auch der allbefruch-

tenden Liebe.

Braͤutlich pranget im weiß- und roͤthlichen

Kleide der Obſtbaum,

Waͤrmende Augenblicke, ſanftwechſelnde Regen-

ſchauer

Ueberweben mit tieferem Gruͤn, mit dichteren

Blumen

Sonnigte Gipfel und duftende Wieſen, in wel-

chen ſich Zahllos

Wankende Blumen mit Blumen, mit Graͤſern

Graͤſer vermaͤhlen.

Hymen herrſchet im Hain; es neigen ſich liebe-

ſehnend

Weibliche Bluͤthenzweige zu maͤnnlich befruch-

tenden Aeſten.

Vierte Samml. D
[50]
Siehe, der Tannenwald raucht! Es oͤfnet die

feuchte Nymphaͤa

Ueber den Wellen den Schoos der Zeugung-

foͤrdernden Sonne.

Feuerfarbener Mohn und Bluͤthenbeſtaͤubter

Waizen

Taumeln unter einander, verwebt mit blauen

Cyanen;

Honigſuchende Bienen und laue Luͤfte befoͤr-

dern

Ihren geheimeren Bund; doch keine der Arten

verwirrt ſich.

Liebetrunken ſchlug die Nachtigall ein-
zelne Toͤne in dieſe Beſchreibung. Und ſie
fuhr fort, als eine andre Stimme die Ver-
maͤhlung der Blumen von denen Geſchlech-
tern beſang,


— bei denen dieſelbe Korolle


In dem ambroſiſchen Bette voll Honigs und
ſtaͤrkender Duͤfte
Mit den befruchtenden Maͤnnern die weibliche
Zeugungskraft einſchloß,
[51] bis zu jenen getrennten Geſchlechtern, wo
oft


Kaum erreichbar iſt der Liebesbund der Ge-

trennten.

Alſo entfaltet umſonſt die weibliche, unver-

maͤhlte

Palme die Bluͤthentrauben in Schatten-ent-

behrender Wuͤſte.

Aber der Araber holte, der ſchmachtenden Braut

ſich erbarmend,

Oft aus fernen Hainen befruchtende Palmen-

blumen.

Oefter bringt ein behaartes Inſekt, und auf

Goldgefleckten

Federn ein Colibri, gebadet im Blumenſtaube,

Die befruchtende Kraft des Meilenentfernten

Gatten.

Ernſter wurden jetzo die Toͤne; liebreich-
warnend und troͤſtend ſangen die Genien
von ſchaͤdlichen und heilenden Kraͤu-
tern:


D 2
[52]
Weiſe haſt du, Natur, der Pflanzen Erzeu-

gung geordnet,

Guͤtig und weiſe die Kraͤfte der Erde verſchoͤ-

nernden Pflanzen.

Nicht der Schuͤler allein der rettenden Goͤt-

tinn Hygea

Kennt ſie, die heilenden Kraͤfte der aromati-

ſchen Staude,

Fern am Ganges geholt und vom Haupte

der Cordilleras,

(Oft verkannt an Ufern der vaterlaͤndiſchen

Baͤche;)

Sichrer weiß der Wilde die Schmerzenlindernde

Wurzel

Und den geheimeren Stand der Fieberheilen-

den Rinde.

Aber er kennet ſie auch, die toͤdtenden Gifte

der Pflanzen,

Kennt der Euphorbien Kraft und der gifti-

gen Mancinella,

Die den gefluͤgelten Pfeil mit dem ſchnellſten

Tode bewaffnet.

[53]
Friedlicher Huͤtten Bewohner! Die laͤnd-

lichen Gaͤrten umbluͤhn auch

Toͤdtende Kraͤuter zuweilen, vermiſcht mit naͤh-

renden Pflanzen.

Zwar es meidet das Vieh den Schierling,

des Equiſetum,

Und der Cicuta Beruͤhrung; es meidet die

Wieſenranunkel,

Durch den eignen Inſtinkt vorm herben Tode

geſichert.

Aber zu oft verkannte der harmlosſpielende

Knabe

Falbes Stramonium, dich, und die Beere

der Bella-Donna,

Der fruͤhbluͤhenden Daphne, der rankenden

Dulcamara.

Toͤdtet ſorgſam, ihr Hirten, die Pflanzen; des

blauen Napellus

Stauden toͤdtet ſie auch und der vielarmigen

Wolfsmilch.

D 3
[54]

Eben ſo menſchenfreundlich nannte die
Stimme die bekannteſten heilenden Kraͤu-
ter:


Heilend iſt der Holunder an Fruͤchten,

Bluͤthen und Rinde,

Sanft aufloͤſend der Mohn und die Roſen-

farbnen Althaͤen.

Blaue Veronica, Dich und die Kerze des

hohen Verbaſkum,

Des Taraxacon Gold, der wuchernden

Graswurzel Aufguß,

Herber Cichorien Saft, und des Loͤffel-

krauts bittere Blaͤtter

Eure lindernden Kraͤfte verkennt der weiſere

Arzt nicht,

Sorgſam-waͤhlend; es ſind des Beſcheidneren

Heilungsmittel,

Einfach wie die Natur, und Deutſchlands

Himmel erzeugt ſie.

Der Inhalt dieſer Geſaͤnge duͤnkt mir ſo
ſchoͤn, daß ich Sie nicht zu ermuͤden fuͤrchte,
[55] wenn ich Sie noch einmal davon unter-
halte. Auf Wieſen und Auen, in Gaͤrten
und Feldern bluͤhet der Menſchen Geſund-
heit, Nahrung und Gluͤck; da erholet, da
erquickt ſich die Seele. Ihr Realis hat
Recht: „Luſt zu Naturſachen iſt ein Merk-
mal der Großmuͤthigkeit. Naturkuͤnſte ma-
chen aufrichtig; Schulkuͤnſte ſtolz und grau-
ſam.“



[56]

44.


Von den heilenden Kraͤutern Deutſchlands
wandte ſich der Genius des Menſchenge-
ſchlechts zu Pflanzen, die die Natur jeder
Zone, ihr angemeſſen, ſchenkte. Sie gab


— — des Betels Gewaͤchs den Voͤl-

kern am Indus,

Und die Rhabarbar dem Tartar der kalten

Tunguſiſchen Steppe,

Gab die Ginſeng-Wurzel dem feuchten

Sineſiſchen Reisland,

Ließ die Dolde der Squilla Kanopiſchen

Suͤmpfen entbluͤhen,

Und in Balſamthraͤnen zerfließen die Staude

der Myrrha;

[57]
Schenkte dem armen Bewohner des reichen

Potoſi die Coca,

Ihm des Guajacks Gummi, den Fieberhei-

lenden Baum ihm,

Und den Sikuliſchen Hirten die Perlentropfen

der Manna.

Der Genius ſchien eine Biene zu wer-
den, die um ihre ſuͤßeſten Blumen umher-
fliegt:


Aromatiſchen Balſam entathmen die Pflan-

zen der Huͤgel.

Duftende Kalamintha, der blaue Salbey

und der Thymus,

Und die Meliſſe ſind Bienen auf ſonnichten

Bergen ein Labſal,

Wo ſich der Rosmarin vermaͤhlt mit hohem

Lavendel;

Jenen Bluͤthen entwenden ſie Narbonenſiſchen

Honig,

Und den fernher-athmenden Nektar Hymet-

tus und Hybla's.

D 5
[58]

Aus der Laube erſcholl die Stimme:


Aber wer kennt ſie alle, die Kraͤfte der

heilſamen Pflanzen,

Oft vergeſſene Kunde der ſorgſam-forſchenden

Vorzeit,

Oder nach Saͤklen Erfindung der Dioskoriden

der Nachwelt.

Und der Genius antwortete:


Wenn, von alten Syſtemen entfeſſelt, be-

ſcheidner der Forſcher

Einſt von Hirten auch lernt und ergrauenden

Alpenbewohnern;

Auch den Bergmann verſchmaͤhet er nicht und

des Gemſenjaͤgers

Nicht ſtets fabelnde Kunſt und angeerbtes Ge-

heimniß;

Siehe! dann werden Contoure der Anmuth,

mit Farbenverſchwendung

Blumenfreunde nicht feſſeln allein; der Gen-

zianella

[59]
Tiefgeſaͤttigtes Blau, der Lobelia flammende

Roͤthe,

Noch der Purpur und Safran der ſtrahlenden

Poinciana,

Nicht der Aurikel Sammt und die Strah-

len der Ringelblume

(Wenn ſie die goldenen Augen dem thauenden

Morgenroth aufſchleußt)

Feſſeln allein nicht mehr der Flora ſammlenden

Guͤnſtling.

Thaͤtige Weisheit umſtrahlt des Menſchen-

freundlichen Forſchers

Waͤrmere Seele, zu nuͤtzen mit Muth dem

Menſchengeſchlechte.

Jetzt erhob ſich Linneus Urberg der
Schoͤpfung vor mir, auf welchem vom
Gipfel an bis zur niedrigſten Tiefe alle
Gewaͤchſe bluͤhen, deren Fruchtſtaub ſeit-
dem uͤber die ganze Erde verweht iſt:


[60]
Reich ſeyd ihr an Pflanzen von mannich-

faltigen Kraͤften,

Quellentrunkene Thaͤler und ſonnige Huͤgel der

Alpen.

Neben dem Akonit entfalten die Genzia-

nen,

Toͤchter deſſelben Huͤgels die heilenden Safran-

glocken.

Siehe! den Teneriff' und den Flammengipfel

des Aetna,

Caucaſus Felſenhaupt, Dich, hoͤheren Chim-

boraſſo

Decket ewiges Eis, ſeit euch die Fluthen um-

ſtuͤrmten.

Euer beſchneyete Scheitel, dem hundert Quel-

len entſtuͤrzen,

Der das hohe Gewoͤlbe des Himmels zu tra-

gen uns ſcheinet,

Kleidet ſich uͤber den Wolken in reine aͤtheri-

ſche Blaͤue.

Flora's Reich beginnet am Rande des ewigen

Schneereichs;

[61]
Groͤnlands kurzen Sommern entbluͤhn Groͤn-

laͤndiſche Pflanzen.

Malaga's Reben umranken den Fuß der Ge-

birge; die Hoͤhen

Decket der Saxifragen, der Diappenſia

Mooswuchs.

Kurz iſt die Lebensdauer der weißen Pigmaͤen-

geſchlechter,

Welche das Rennthier-Moos umkreucht

und die Alpenbirke,

Tiefer vermaͤhlet der kleine Myrtill und des

Rhododendron

Purpurdolde ſich mit dem Erdwaͤrts-kriechen-

gen Krummholz;

Ihre Schatten verbergen die Alpenmaus und

das Schneehuhn.

Tiefer erhebet der Taxus ſein Haupt und der

dunkle Wachholder,

Fruͤher als dieſe, die Birke, der Laryx,

entblaͤttert im Winter.

Ihren Fuͤßen entſteigt, gedeckt von ihrer Um-

ſchattung,

[62]
Ein unzaͤhliges Heer balſamiſcher Pflanzen der

Alpen.

Heerden irren hier in ſchwelgendem Ueber-

fluſſe

Um die genuͤgſame Sommerhuͤtte der Freige-

bohrnen.

Phoͤbus Strahl entbindet aus tauſend wuͤrzi-

gen Pflanzen

Reinere Lebensluft und Roſenfarbne Geſund-

heit.

Kuͤhlende Luͤft' umwehn Euch, Soͤhne

heiliger Alpen,

Wuͤrziger Pflanzen Duft umſaͤuſelt Euch in

der Kuͤhlung;

Aber betaͤubender iſt der Duft von Auran-

zien-Hainen,

Welche der Wind ins Meer entfuͤhrt von

Portugals Kuͤſten,

Oder von Roſengebuͤſchen des zweimalbluͤhen-

den Paͤſtum;

Selbſt bemooſten Felſen entſteigen dort Veil-

chengeruͤche. —

[63]
Lieblicher ſeyd ihr noch, ihr Bluͤthen hei-

ßerer Zonen,

Tauſendfarbige Toͤchter der ſenkrechtſtehenden

Sonne,

Deren Hauch mit Balſam die ſchwuͤleren Luͤfte

beſchwaͤngert.

Dichter ſangen nur Roſen, nur Gaͤrten der

Heſperiden;

Niemand feierte noch die tropiſchen Bluͤthen

des Aufgangs.

Wer ſang Dich o Nyctanthes, die Zierde

der Ganges-Geſtade,

Wer, Gardenia, Dich, die Koͤniginn der

Gewaͤchſe,

Und ambroſiſcher duftend als beide, den Oel-

baum aus China?

Wer der Barmelia Gold? und die Fruͤchte

der Manguſtana?

Staunend verweilt die Muſe beim Stamm

der keuſchen Mimoſa,

Reizbar wie die Thiere, des Pflanzenreiches

die feinſte.

[64]
Und wer ſang von Euch, ihr Amboiniſchen

Haine,

Welche der Golddurſt mehr, als des Welt-

meers ſtuͤrmende Brandung

Rings umher verſchleußt dem harmloſen Freun-

de der Flora.

Mitten in brennendem Sand' erhebt ſich Euer

Gewoͤlbe,

Neben der hoͤchſten Glut der Sonne die naͤcht-

lichſte Kuͤhlung.

Nicht der Muſkatbaum nur, und die aro-

matiſche Nelke,

Auch des Brotbaums Stamm, und die

Rieſenhoͤhe des Cokos,

Trotzen der Wuth der Orkane —

Feyrliches Dunkel umhuͤllt die romantiſchen

Zauberhaine;

Keine Blumen entſproſſen dem Schooße der

naͤchtlichen Daͤmmrung;

Aber ſeidener Moos und buntgemarmelte

Schwaͤmme

Decken den Armadill und die vielgeringelte

Schlange.

Statt
[65]
Statt der Nachtigal Lied' erſchallet der Pa-

pageyen

Und der Affen Geſchrei aus ferner Gipfel Um-

woͤlbung.

Lauter konnte der Geſang nicht werden.
Ich befand mich auf Amboina mitten im
Paradieſe der Flora, im Dufte der Blu-
men, im Luſtgeſchrei der Affen und Papa-
geyen. Da ſang aus der Laube die mil-
dere Stimme:


Laß mich, holde Natur, den Sohn der kaͤl-

teren Zone,

Deiner Wunder mich immer erfreun im Reiche

der Flora,

Zwiefach ihrer mich freun auf ſchoͤnen Pan-

noniſchen Fluren.

Denn ſchoͤn ſind ſie die Ufer, an welchen ſich

Vindobona

Spiegelt in dem Silber des maͤchtigen Kaiſer-

ſtromes.

Vierte Samml. E
[66]

Und eine andre Stimme:


Aber dann erheben ſie ſich zum reizenden

Urbild'

Wenn von der feinſten Empfindung und von

des reinſten Geſchmackes

Sicherer Hand geleitet, ein Laſcy oder Co-

benzel

Gaͤrten, wie Oberon ſchafft und Paradieſe wie

Milton —

Gruppen, wie hingezaubert von Grotten und

Waſſerfaͤllen,

Ueberwoͤlbende Schatten und duftende Laby-

rinthe

Seltſamgebildeter Baͤum' und Bluͤthen waͤr-

merer Zonen,

Scheinbare Disharmonie, die ſich loͤſ't in den

ſuͤßeſten Wohllaut,

Wo in ihren hoͤchſten Triumphen unſichtbar

die Kunſt wird.

[67]

Stimmen beſangen Kaunitz, Laudons
Gaͤrten, und eine holdere Stimme:


Edle Kinski, du ſammelſt in Gaͤrten, wie

die der Armida

Jene Bluͤthen umſonſt, die der weſtlichen At-

lantide

Milderen Sonnen entbluͤhn und jenen des ro-

ſigen Aufgangs.

Siehe, von allen Blumen, die Deinen Tritten

entſteigen,

Die Dein ſchaffender Wink, genaͤhrt von Hy-

perions Strahlen

Und den Thraͤnen Aurorens, dem Schooß der

Tellus entrufet,

Iſt doch keine ſo ſchoͤn, wie Du.

Eine andre Stimme nannte Gaͤrten,
Wo in Amerika's Buͤſchen die Deutſche
Nachtigal floͤtet;
E 2
[68] Unerwartet brachte endlich die Stimme des
Dichters mich zu mir ſelbſt wieder:


Aber auch Ihr ſeyd ſchoͤn, Ihr meines

nordiſchen Landes

Quellentrunkene Thaͤler und gruͤnende Blu-

mengeſtade;

Flora liebet euch mehr als alle der kaͤlteren

Zone

Fluren; ſie webet in euch ſich ihre ſeltneren

Kraͤnze.

Reizend iſt die Ausſicht, gelagert in dunkler

Umſchattung

Ueberwoͤlbender Buchen und Eichen aus

Odins Zeiten,

Welche das Meer umſtuͤrmt, zu ſehen im Wel-

lengetuͤmmel

Hundert zuͤngelnde Flaggen und Windgeſchwaͤn-

gerte Segel;

Ueber den Wogen die Heldengeſtade des felſi-

gen Schwedens,

[69]
Rauch von ihren Staͤdten und Gipfel von ih-

ren Gebirgen,

In dem roͤthlichen Schimmer des ſinkenden

Sonnenwagens.

Sei mir gegruͤßt, du muͤtterlich Land, im

Feiergeſange,

Wo mich die Blume des Feldes als Knaben

mehr ſchon entzuͤckte,

Als Hyacinthenprunk und eitle Tulpen-Aeſthe-

tik,

Bluͤthen ohne Frucht, des Bataviſchen Kraͤ-

mers Erfindung.

So loͤſete ſich der Zauber. Ich kenne den
Dichter nicht; koͤnnte ich aber eine Geſtalt
an mich nehmen, ſo wuͤrde ich in Vir-
gils oder Kleiſts freundlicher Geſtalt
vor ihn treten und ſagen: „Mann oder
Juͤngling, du biſt werth, unſer Genoſſe zu
ſeyn, ja eine neue Stuffe zu betreten, auf
der die Wiſſenſchaft der Natur ſich mit
E 3
[70] der Kunſt des Geſanges verbindet. Denn
Dich umwehet der Geiſt der Schoͤpfung;
du weißt nicht nur Namen ihrer Kinder,
ſondern fuͤhleſt dich auch in ſie, und haſt
ein Herz fuͤr die Freuden und Leiden der
Menſchheit. Die Sprache ſtehet dir zu
Gebot; die Wechſelſcenen der Natur wer-
den Dich immer mehr zu wechſelnden Toͤ-
nen begeiſtern. Auf! und erweitre das
Feld Deines Hymnus. Die Kraͤnze, da-
mit Du Deinen Lehrer ſchmuͤckteſt, erwar-
ten auch dich:


Sieh', es windet Dir Flora, die Liebende dem

Geliebtern,

Duftende Diademe von Bluͤthen aus jeglichem

Welttheil.

So wuͤrde ich zu ihm reden, uͤberzeugt,
daß durch das Studium und durch den
[71] Geſang der Natur, der menſchliche Geiſt er-
weitert, das menſchliche Herz unſchuldiger,
ruhiger, wohlthaͤtiger werde.



[72]

45.


Unbezweifelt iſts, das durch das Studium
und durch den Geſang der Natur das
menſchliche Gemuͤth milder werde. Wer
uns eine Botaniſche Philoſophie in
einem ſchoͤnen Lehrgedicht gaͤbe, welchen
Reichthum haͤtte er vor ſich! Ihm ſtuͤnde
die geſammte Mythologie, die Aeſopiſche
Fabel, die Idyllen der Alten, und von
den Neuern Reiſebeſchreibungen, Geſchich-
te, Philoſophie, endlich die Naturwiſſenſchaft
ſelbſt zur Seite.


Was haben die Alten in ihren Georgi-
cis
geſucht, als unter mancherlei Einklei-
dungen den Menſchen menſchlich zu ma-
[73] chen, und ihn allmaͤlich zu Beobachtung
der Natur, zur Ordnung, zum Fleiß und
Wohlſeyn zu erheben? Auch dem Vir-
gil in ſeinen Georgicis koͤnnen wir dieſen
wenigſtens mittelbaren Zweck nicht abſpre-
chen. Er, der außer dem Kriegsgluͤck der
Roͤmer gewiß noch ein ander Gluͤck der
Landbeſitzer und Landbewohner kannte,
wollte durch ſein ſchoͤnes, in vielen Stellen
ſo menſchliches Gedicht eben auch Dies be-
foͤrdern.


Die Aeſopiſche Fabel fuͤhret uns ganz
aufs Land. Hier ſprechen Baͤume, Thiere,
Menſchen; Naturwahrheit iſts, was ſie ſa-
gen. Und wenn Leßing die Thiere wegen
ihrer Charakter-Beſtandheit als eigentliche
Fabelactoren gerechtfertigt hat; wem bliebe
mehr Beſtandheit als dem Baum, der
Pflanze, der Blume, der ganzen Natur-
ordnung in ihrem unermeßlich-langſamen
E 5
[74] Fortſchritt? Hier alſo iſt, recht gebraucht,
Weisheit und Klugheit der Natur zu ler-
nen; hier oder nirgend. Immer werden
uns die ſchoͤnen Pflanzen- und Baumfa-
beln, inſonderheit des Orients reizen, wo
ſie in ihrer ſtummen Sprache uns ewige
ſuͤße Naturwahrheit ſagen.


Die Mythologie iſt eine belebte Welt.
Nur mit Entzuͤcken kann ich daran denken,
wie viel Geiſt, Sinn und Gemuͤth man in
fluͤchtige Erſcheinungen, in wandelbare Ge-
ſtalten der Natur gelegt hat, allen Men-
ſchen zur Anſicht, und dem menſchlichern
Menſchen zur Bildung und Lehre. Wer
irgend eine ſchoͤne Dichtung der alten My-
thologie und Naturlehre uns neu ins Ge-
muͤth zu rufen weiß, hat eine Blume vom
Kranz der Mutter der Goͤtter ge-
pfluͤckt und in unſre Gaͤrten verpflanzet.


[75]

Das Idyll der Alten, (ein unbeſtimm-
ter Name,) hat mit dem Verfolg der Zei-
ten ſich gleichſam willkuͤhrlich zu Land-
Schaͤfer-Hirten-Fiſchergedichten, kurz in
Geſellſchaften zuruͤckgezogen, in denen ohne
politiſche Kunſt die unſchuldige Natur re-
gieret. Manche von Bions, Moſchus,
Theokrits Geſaͤngen gehoͤren dahin; und
die neuere Poeſie, wenn ſie der politiſchen
Welt und der wohlluͤſtigen Kreiſe ſatt war,
hat ihr Daſeyn dahin verleget. Virgil,
deſſen meiſte Eclogen bloße Nachbildungen
ſind, entbrach ſich nicht, in ſeinem Tity-
rus, Pollio, Silen dieſe reizende
Dichtung als eine Einfaſſung hoͤherer Vor-
ſtellungen zu gebrauchen.


Daher als in den mittleren Zeiten die
Poeſie wieder auflebte, erinnerte ſie ſich
bald ihres ehemaligen wahren Geburts-
landes unter Pflanzen und Blumen. Die
[76] Provenzal- und Romantiſchen Dichter lieb-
ten dergleichen Beſchreibungen; bei Spen-
ſer z. B. ſind es noch immer anmuthige
Stanzen, die uns ſchoͤne Wuͤſteneien ſamt
ihren Gewaͤchſen und Blumen ſchildern.
Mit außerordentlicher Liebe und einem Ue-
berfluß der Phantaſie ſind Cowley's
ſechs Buͤcher von Pflanzen, Kraͤutern und
Baͤumen geſchrieben; ein neuerer Britte,
der den Botaniſchen Garten*) nach
Linneus Geſchlechter-Syſtem, in ihm alſo
vorzuͤglich die Liebe der Pflanzen beſang,
ſcheint, nach Proben zu urtheilen, auch viel
Artiges gereimt zu haben. Unter Deut-
ſchen Dichtern hat von unſerm alten
Brockes Geßner mit Recht geſagt: „er
[77] hat die Natur in ihren mannichfaltigen
Schoͤnheiten bis auf das kleinſte Detail
genau beobachtet: ſein zartes Gefuͤhl wuͤrde
durch die kleinſten Umſtaͤnde geruͤhrt; ein
Graͤschen mit Thautropfen an der Sonne
hat ihn begeiſtert; ſeine Gemaͤlde ſind oft
zu weitſchweifig, oft zu erkuͤnſtelt; aber
ſeine Gedichte ſind doch ein Magazin von
Gemaͤlden und Bildern, die gerade aus
der Natur genommen ſind. Sie erinnern
uns an Schoͤnheiten, an Umſtaͤnde, die wir
oft ſelbſt bemerkt haben und jetzt wieder
ganz lebhaft denken.“ Hallers Alpen,
Kleiſts, Geßners Gedichte, Thom-
ſons Jahrszeiten ſprechen fuͤr ſich ſelbſt.


Einer der Genannten hatte, als er ſein
Gedicht uͤber Pflanzen und Baͤume ſchrieb,
ſich aufs Land zuruͤckgezogen, und ſetzte
ſich daſelbſt als einem Lebenden folgende
Grabſchrift:


[78]

Grabſchrift eines Lebenden.


Hier ruht, o Wandrer, unter dem niedern

Dach

Der Dichter Cowlei, ſelig-entronnen

ſchon

Der ach wie leeren und wie eitlen

Und ſo entbehrlichen Menſchen-

muͤhe!

In Armuth glaͤnzt er; aber unruͤhmlich nicht:

An traͤger Muße will er kein Edler

ſeyn.

Reichthuͤmer, die der Poͤbel liebet,

Haßte er ſtets mit der kuͤhnſten

Feindſchaft.

Gib ihm, o Wandrer, gib dem Geſchiede-

nen,

Den hier ein kleiner Winkel der Erde

birgt,

Und ihm genuͤget, Deinen Segen:

„Leicht ſei die Erde dir! Sorg'-

entladner!“

[79]
Und ſtreu' ihm Blumen, Roſen, die bald

verbluͤhn!

(Ein Abgeſchiedner freuet der Blumen

ſich!)

Und mit dem duftendſten der Kraͤnze

Kroͤne die Aſche des gluͤhnden

Dichters.

Ein ſanfterer Naturdichter wuͤrde lebend
und ſterbend ſagen: et ego in Arcadia!


[80]

46.


In einer freundſchaftlichen Verſammlung
hoͤrte ich neulich eine Vorleſung uͤber
Wahn und Wahnſinn der Men
-
ſchen, deren Abſchrift ich mir erbat und
Ihnen jetzt ſtatt meines Briefes mit-
theile.


Ueber
Wahn und Wahnſinn der Menſchen.


Eine Vorleſung.


Ohne Zweifel haben Sie, m. H., bei
der Zergliederung menſchlicher Koͤrper die
vielen, unendlichfeinen Striche bemerkt,
die
[81] die im Gehirn dergeſtalt durch einander
laufen, daß ſie das Meſſer des Zergliede-
rers nicht mehr verfolgen kann. Eben ſo
fein und vielleicht noch feiner laufen in der
menſchlichen Seele die Linien des Wah-
nes und der Wahrheit durch einander,
daß man nach der ſorgfaͤltigſten Pruͤfung
kaum an ſich ſelbſt weiß, wo Eins ſich vom
Andern ſcheide.


Wenn alles das Wahn iſt, was wir
ohne deutliche Gruͤnde auf guten Glauben
annehmen: ſo iſt der groͤßeſte Theil unſrer
Erfahrungen, unſre fruͤhgelernte Kenntniſſe,
unſre fruͤherworbne Gewohnheiten, und
Neigungen auf Wahn gegruͤndet. Sie be-
ruhen entweder auf dem Zeugniß unſrer
Sinne, oder anderer Menſchen, denen wir
glauben, die wir unvermerkt, uns ſelbſt un-
bewußt, nachahmen, endlich am meiſten auf
unſrer eignen Bequemlichkeit und Diſpoſi-
Vierte Samml. F
[82] tion, lieber ſo als anders zu handeln. So
beveſtigt ſich in uns allmaͤlich eine Ge-
denk- eine Handlungsweiſe, deren
Urſprung in einzelnen Faͤllen wir ſelten er-
forſchen moͤgen. Nur wenigen ſehr hellen
und reinen Seelen iſts gegeben, uͤber die
wichtigſten Striche ihrer Denkart ſich un-
partheiiſch zu pruͤfen, Wahrheit und Irr-
thum, Vorurtheil und Gewißheit in ihnen
ſtrenge zu unterſcheiden, und ſodann dem
unſchuldigen oder gar nothwendigen Wahn
zwar ſein Gebiet zu laſſen, mit nichten ihn
aber zum Geſetzgeber jeder menſchlichen
Wahrheit, mit nichten ihn zum Richter je-
der fremden Denk- und Sinnesart zu er-
heben.


Dieſe ſeltnen, vom Himmel privilegir-
ten Seelen ſind diejenigen, die man allein
tolerant nennen kann; ſie ſchonen den
Wahn des andern auch in Faͤllen, in denen
[83] er ihrem eignen liebſten Wahn entgegen-
ſtehet. Sie ſind die duldſamſten Freunde,
die lehrreichſten Geſellſchafter: denn auch
uͤber die verwickelſten Aufgaben der Men-
ſchengeſchichte laͤßt ſich mit ihnen ohne
Haß und Zorn diſputiren. Der gemeine
Haufe der Menſchen iſt nur ſolange Freund
gegen einander, als ſein Lieblingswahn ge-
foͤrdert oder wenigſtens nicht beleidigt
wird.


Und wie ſonderbar, wie abentheuerlich
dieſer Lieblingswahn ſeyn koͤnne, lernt man
zuweilen mit der groͤßeſten Verwunderung
eben da einſehen, wo man dergleichen bei
ſonſt ſo richtigen Begriffen und Grundſaͤz-
zen je kaum vermuthet haͤtte. Der Glaube
an Geſpenſter und an andre Dinge dieſer
Art iſt wohl der verzeihlichſte in ſolchem
geheimen Wahnregiſter, da ſich in ihm oft
wunderlichere Artikel finden. Gemeiniglich
F 2
[84] haͤlt ihr Beſitzer dieſe, als ſein eigenſtes
Eigenthum theuer und werth; unvermerkt
entwiſchen ſie ihm nur, wenn nicht etwa
gewaltige Leidenſchaften, außerordentliche
Zeitumſtaͤnde und Situationen ſie mit Ge-
walt erpreſſen und herausfordern. Dann
ſtreitet er aber auch fuͤr ſie, eben weil ſie
Schwaͤchen ſeiner Natur, Gebilde ſeiner
Phantaſie ſind, als fuͤr ſeine liebſten Kin-
der. Wer um die wichtigſte Wahrheit mit
ihm ficht, wird nie ſo ſehr ſein Gegner
ſeyn, als wer gegen eine Lieblingsmeinung,
die wie ein Polypus in ſein Herz gewach-
ſen iſt, einige Befremdung aͤußert. Gehen
Sie, m. H., in Ihren Gedanken die Zahl
Derer durch, die Sie in Anſehung ihres
Innern am naͤchſten gekannt haben; Sie
werden ſich ſonderbarer Wahngeſtalten
erinnern.


[85]

Das Gebiet des Wahnes erſtreckt ſich
inſonderheit auf Dinge, die den Menſchen
zunaͤchſt angehen, auf ſeine Perſon und
Geſtalt, auf ſeinen Stand, ſeine Nation,
ſeinen Zweck und Charakter. Wie es z. B.
Perſonen giebt, die im Innern ein ganz
anderes Bild von ſich umhertragen, als
die ſie ſind; ſie erſchrecken vor ihrer aͤu-
ßern Geſtalt im Spiegel als vor der Ge-
ſtalt eines fremden Weſens; ſo giebt es
deren noch weit mehrere, die in Anſehung
ihres Innern ein fremdes Bild mit ſich
tragen. Ein beruͤhmter Koͤnig unſres Jahr-
hunderts war in ſeiner Phantaſie immer
nur Oberſter eines Regiments, und wars
mit Luſt; alle koͤnigliche Pflichten erfuͤllte
er als eine fremde Perſon, als ein ſtren-
ger Amtmann. Unzaͤhliche Wunderlichkei-
ten floſſen daher, die ohne dies Bild einer
fremden, ihm einwohnenden Wahngeſtalt
F 3
[86] unerklaͤrlich blieben, durch ſie aber ſich alle
erklaͤren. Was uns die Berichte der Aerzte
von Krankheiten der Einbildungskraft er-
zaͤhlen, da jener ſich ſeine Fuͤße als Stroh-
halme, dieſer ſein Geſaͤß glaͤſern dachte,
ein dritter die Welt zu uͤberſchwemmen
fuͤrchtete, ſobald er ſein Waſſer ließe, alle
dieſe Geſchichten oder Maͤhrchen ſagen im
Grunde weniger, als die Erfahrungen
manches Wahns, den man bei den ver-
nuͤnftigſten Menſchen zuweilen wahrnimmt.
Einige Gattungen deſſelben pflanzen ſich in
Familien fort, und miſchen ſich als ein
Erbtheil von Vater und Mutter auf die
ſonderbarſte Weiſe. Andre haften an Staͤn-
den, Aemtern, Lebensarten, Zuͤnften, und
bekommen den Ehrennamen eſprit de corps,
Gefuͤhl ſeines Standes, Familien-
ehre. Die feinſten aber hangen von in-
dividuellen Umſtaͤnden und Erfahrungen ab;
[87] ſie ſind Abdruͤcke von der eigenſten Beſchaf-
fenheit des Koͤrpers und der Seele des
Waͤhnenden, ſamt den Situationen, die
vorzuͤglich auf ihn wirkten, kurz, beve-
ſtigte Luftgebilde ſeiner fruͤhen
Jugend
. Daher ſind ſie theoretiſch oder
praktiſch; ſelten aber eins ohne das an-
dre. Denn der Menſch iſt nie ſo vergnuͤgt,
als wenn er nach Wahn handeln kann,
zumal nach einem von andern verdammten,
von ihm ſelbſt geformten, Lieblingswahne.
Da lebt er recht in ſeinem Element und
iſt ſeiner Kunſt Meiſter.


Sie merken leicht, m. H., in welchen
Staͤnden dieſe Wahnbilder am ſichtbarſten
ſeyn muͤſſen; in ſolchen naͤmlich, die ſich
am freieſten aͤußern duͤrfen. Wer vor an-
dern Scheu haben, wer aus Beruf und
Noth auf dem gebahnten Wege angenom-
mener Meinungen oder richtiger Begriffe
F 4
[88] bleiben muß; der giebt ſich Muͤhe, ſonder-
bare Eigenheiten ſeines Kopfs und Her-
zens zu unterdruͤcken, wenigſtens verſchließt
er ſie in der innerſten Kammer, und reitet
auf ſeinem Steckenpferde nicht eben an
hellem lichten Tage, nicht auf dem Markte.
Wer ſich dagegen alles erlaubt und dabei
ſein Perſonale aͤußerſt hoch haͤlt, der kann
mit dieſen Originalpoeſieen ſeines Weſens
oft nicht laut genug hervortreten; er er-
findet deren eine Reihe, mit der Zeit aus
bloßer Willkuͤhr und glaubt ſich gar dazu
in die Welt gepflanzt, andere damit zu
vergnuͤgen. Die ſogenannten ſtarken
Charaktere
, große Geiſter, ex pro-
feſſo
vornehme Leute u. f. liefern in
ihrer Geſchichte davon wunderbare Bei-
ſpiele. Die alten Roͤmiſchen Caͤſars, eine
Reihe Regenten, Helden, Religionsſtifter,
Schwaͤrmer, Dichter, Philoſophen hatten
[89] ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie
gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und
damit oft zum Ziele kamen.


Denn leider iſt bekannt, daß es faſt
nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn
und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß
man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen;
den Wahn nimmt man durch Nachahmung,
oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das
bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden,
durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu-
ten Geſinnungen, auf guten Glauben an.
Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh-
nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim-
mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite
der andern harmoniſch antwortet. Kommt
nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen-
den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei-
ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen,
und er weiß ſich dabei recht zu nehmen;
F 5
[90] wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht
gern zuerſt unſchuldig mitwaͤhnen, bald
maͤchtig glauben und auf andre mit eben
der Beſtrebſamkeit ſeinen Glauben fort-
pflanzen? Durch guten Glauben haͤngt
das Menſchen-Geſchlecht an einander;
durch ihn haben wir wo nicht alles ſo doch
das Nuͤtzlichſte und Meiſte gelernt; und ein
Waͤhnender, ſagt man, iſt deßhalb ja noch
kein Betruͤger. Der Wahn, eben weil er
Wahn iſt, gefaͤllt ſich ſogern in Geſellſchaft;
in ihr erquicket er ſich, da er fuͤr ſich ſelbſt
ohne Grund und Gewißheit waͤre; zu die-
ſem Zweck iſt ihm auch die ſchlechteſte Ge-
ſellſchaft die beſte.


Nationalwahn iſt ein furchtbarer
Name. Was in einer Nation einmal Wur-
zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet
und hochhaͤlt; wie ſollte das nicht Wahr-
heit ſeyn? wer wuͤrde daran nur zweifeln?
[91] Sprache, Geſetze, Erziehung, taͤgliche Le-
bensweiſe — alle beveſtigen es, alle weiſen
darauf hin; wer nicht mitwaͤhnet, iſt ein
Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremd-
ling. Gereicht uͤberdem, wie es gewoͤhn-
lich iſt, der Wahn zur Bequemlichkeit eini-
ger, der geehrteſten, oder wohl gar, dem
Wahn nach, zum Nutzen aller Staͤnde;
haben ihn die Dichter beſungen, die Phi-
loſophen demonſtrirt, iſt er vom Munde
des Geruͤchts als Ruhm der Nation aus-
poſaunt worden; wer wird ihm widerſpre-
chen wollen? wer nicht lieber aus Hoͤflich-
keit mitwaͤhnen? Selbſt durch loſe Zwei-
fel des Gegenwahnes wird ein angenom-
mener Wahn nur beveſtigt. Die Charak-
tere verſchiedener Voͤlker, Sekten, Staͤnde
und Menſchen ſtoßen gegen einander; eben
deſtomehr ſetzt jeder ſich auf ſeinem Mit-
telpunkt veſt. Der Wahn wird ein Natio-
[92] nalſchild, ein Standeswappen, eine Ge-
werksfahne.


Schrecklich iſts, wie veſt der Wahn
an Worten haftet
, ſobald er ihnen
einmal mit Macht eingepraͤgt wird. Ein
gelehrter Juriſt hat bemerkt, was an dem
Wort Blut, Blutſchande, Blutsfreunde,
Blutgericht fuͤr eine Reihe ſchaͤdlicher Wahn-
bilder hange; mit dem Wort Erb, Ei-
genthum, Beſitzthum u. f. iſts oft
nicht anders. Zu unſern Zeiten haben
wirs erlebt, was die Wortſchaͤlle Rechte,
Menſchheit, Freiheit, Gleichheit
bei einem lebhaften Volk fuͤr einen Tau-
mel erregt; was in und außer ſeinen
Grenzen die Sylben Ariſtokrat, De-
mokrat fuͤr Zank und Verdacht, fuͤr Haß
und Zwietracht angerichtet haben. Zu an-
dern Zeiten war es das Wort Religion,
Vernunft, Offenbarung, ſeligma-
[93]chender Glaube, Gewiſſen, Cove-
nant, the Cauſes ſake
u. f. Unſchuldige
Farben, die Gruͤnen und Blauen, die
Schwarzen und Weißen; Loſungs-
worte, mit denen man keinen Begriff
verband, Zeichen, die gar nichts ſagten,
haben, ſobald es Partheien galt, im Wahn-
ſinn Gemuͤther verwirrt, Freundſchaften
und Familien zerriſſen, Menſchen gemor-
det, Laͤnder verheeret. Die Geſchichte iſt
voll ſolcher Abadonniſcher Namen, ſo daß
man ein Woͤrterbuch des Wahnes
und Wahnſinnes der Menſchen

aus ihr ziehen, und dabei oft die ſchnell-
ſten Abwechſelungen, die groͤbſten Gegen-
ſaͤtze bemerken wuͤrde.


Wahn und Wahnſinn ſind uͤberhaupt
nicht ſo weit von einander, als man glaubt.
So lange der Wahn ſich in einem Winkel
der Seele aufhaͤlt, und nur wenige Ideen
[94] angreift, behaͤlt er dieſen Namen; verbrei-
tet er ſeine Herrſchaft weiter und macht
ſich durch lebhaftere Handlungen ſichtbar;
ſo nennt man ihn Wahnſinn. Wer kann
nun jeder Zeit das Mehr und Weniger
beſtimmen? zumal ſowohl bei einzelnen
Menſchen als bei ganzen Voͤlkern nach
Umſtaͤnden und Perioden nichts als Con-
vention die Waage in der Hand hat
und Namen vertheilet. Die groͤßeſten
Veraͤnderungen der Welt ſind von Halb-
wahnſinnigen bewirkt worden, und zu
mancher ruͤhmlichen Handlung, zu man-
chem ſcharf verfolgten Geſchaͤfte des Le-
bens gehoͤrte wirklich eine Art bleibenden
Wahnſinns.


„Bewahre uns Gott, werden Sie ſagen,
m. H., vor ſolcher Anſicht der menſchli-
chen Dinge! Unſre Erde wuͤrde ja damit
ein Irrenhaus, und unſre Geſchichte ein
[95] Krankenregiſter.“ — Sollte ſie in ganzen
Perioden anders zu betrachten ſeyn? und iſt
es nicht nuͤtzlich, daß man ſie alſo betrachtet?


Denn nun wird man zuerſt, wenn
auch in dem Zeitraum, in dem wir leben,
Namen aufkommen, uͤber welche Menſchen
einander haſſen und morden, eben durch
die Geſchichte voriger Zeiten aufmerkſam
gemacht, zu pruͤfen, was hinter den Namen
ſei? Man wird ſie weder Gedankenlos
nachbeten, noch fuͤrchtend ſo anſtaunen, als
ob mit ihnen das Ende der Welt gekom-
men ſei; am wenigſten wird man im blin-
den Taumel mit Einer der ſtreitenden Par-
theien haſſen, zuͤrnen, verlaͤumden, verfol-
gen. Die Geſchichte belehrt uns, daß der-
gleichen Zufaͤlle des menſchlichen Geiſtes
tauſend- und tauſendmale bereits, nur un-
ter andern Namen und Zeitumſtaͤnden, ihr
Spiel und Ende gehabt haben; man wird
[96] alſo auf ſeiner Hut ſeyn, unſchaͤdlichen
Wahn dulden, ſchaͤdlichen Wahn auswei-
chen; mit nichten aber weder dieſen noch
jenen erbittern und reizen. Denn eben
durch dies Erbittern und Reizen, (dies
zeigt die Geſchichte) wird der Wahn Wahn-
ſinn. Dadurch aber habe ich weder dem
Kranken, noch mir geholfen: es ſei denn,
daß ich ihn wirklich toll machen
wollte
.


Eben auch die Geſchichte lehrt zwei-
tens, daß weder Gewalt noch Ueberredung,
am wenigſten mit Ueberredung verſchleierte
Gewalt und mit Gewalt unterſtuͤtzte Ueberre-
dung den Wahn der Menſchen auszutilgen
oder zurecht zu bringen vermoͤge. Durch
Waffen werden Irrthuͤmer weder beſtritten,
noch ausgerottet; der ſchlechteſte Wahn
hingegen duͤnkt ſich eine Martyrer-Wahr-
heit, ſobald er mit Blute gefaͤrbt daſtehet.
Eben
[97] Eben durch dergleichen gewaltſame Schleich-
mittel ſind Irrthuͤmer, die ſich ſelbſt bald
uͤberlebt haͤtten, Meinungen, von denen die
Betrogenen in kurzem zuruͤckgekommen waͤ-
ren, ſchaͤdlich verewiget worden. Nie hat
die reine Wahrheit mit ſchlauer Politik
etwas zu ſchaffen gehabt, ſo wenig die
Politik es je zum Zweck gehabt hat, reine
Wahrheit zu befoͤrdern. Jede geht ihren
Gang, und nur Kinder laſſen ſich von po-
litiſchen Wahrheitphraſen dieſer oder jener
Parthei, oder wie die Griechen ſagen, von
der Svada mit der Geißel in der
Hand
taͤuſchen.


Drittens. Das einzige Mittel, wie
man dem Wahn beikommen kann, iſt, daß
man ihm nicht beizukommen ſcheine. Man
ſchuͤtze ſich vor ihm und laſſe ihn ſeines We-
ges wandern; oder man zerſtreue ihn und
bringe ihn ohne gewaltſame Ueberredung
Vierte Samml. G
[98] unvermerkt auf andre Gedanken. Die Zeit
allein kann ihn heilen. Man hat mehrere
Beiſpiele, daß mitleidige Krankenwaͤrter
von der Krankheit ſelbſt angeſteckt wurden;
nichts aber theilet ſich leichter mit, als
Krankheiten der Seele. Wer geſund iſt,
ſuche geſund zu bleiben; alle Anſteckungen
werden nur dadurch eingeſchraͤnkt, daß man
ſie iſoliret.


Viertens. Freie Unterſuchung der
Wahrheit von allen Seiten iſt das einzige
Gegenmittel gegen Wahn und Irrthum,
von welcher Art ſie ſeyn moͤgen. Laſſet
den Waͤhnenden ſeinen Wahn, den anders
Meinenden ſeine Meinung vertheidigen;
das iſt, ihre Sache. Wuͤrden beide auch
nicht gebeſſert, ſo entſpringt fuͤr den Unbe-
fangenen aus jedem beſtrittenem Irrthum
gewiß ein neuer Grund, eine neue Anſicht
der Wahrheit. Daß man doch ja nicht
[99] glaube, Wahrheit koͤnne je durch bewaffne-
ten Wahn gefangen, oder gar ewig im
Gefaͤngniß veſtgehalten werden! Sie iſt
ein Geiſt und theilt ſich Geiſtern mit, faſt
ohne Koͤrper. Oft darf ihr Ton an Einem
Weltende geregt werden, und er erklingt in
entlegenen Laͤndern; immer aber laͤutert ſich
der Strom des menſchlichen Erkenntniſſes
durch Gegenſaͤtze, durch ſtarke Contraſte.
Hier reißt er ab, dort ſetzt er an; und zu-
letzt gilt ein lange und vielgelaͤuterter Wahn
den Menſchen fuͤr Wahrheit.



[100]

47.


Seneka ſandte ſeinem Freunde Lucil faſt
in jedem ſeiner Briefe einen Denkſpruch
zum Geſchenk; was ſoll ich Ihnen fuͤr die
mitgetheilte Vorleſung ſenden? Soll ich
Sie nach Arioſt *) in jenes Mond-Thal
fuͤhren, wo Aſtolf ſo viele Reſultate des
menſchlichen Wahnes und Wahnſinnes er-
blickte?


Le lacrime e le ſoſpiri degli amanti,

L'inutil tempo, che ſi perde a gioco,

E l'ozio lungo d'uomini ignoranti,

Vani diſegni, che non han mai loco;

[101]
J vani deſideri ſono tanti

Che la più parte ingombran di quel loco,

Ció che in ſomma qua giù perdeſti mai,

La ſù ſalendo ritrovar potrai.

Lieber bleiben wir auf der Erde, und
wollen, auch mitten unter gefaͤrbten Ne-
beln des Wahnes und Wahnſinns die Burg
der Wahrheit ſuchen.


Nicht alles iſt Wahn und Traum im
Gebiet der Menſchheit; es giebt fuͤr uns
inſonderheit im Praktiſchen, im Moraliſchen
eine gewiſſe, ſichere Wahrheit. Ihre
Stimme ſpricht auch mitten im politiſchen
Geraͤuſch; ſie ſpricht fuͤr jeden, der ſie hoͤren
will, in ſeinem innerſten Herzen und ſtraft
jede Syrenenſtimme gefaͤlliger Meinungen
Luͤge. Auch in den dunkelſten Zeiten ſchien
ihr Licht in reinere Seelen; auch in der
groͤßeſten Verwirrung der Welthaͤndel war
G 3
[102] ſie dem Unbefangenen ein ſicheres Richt-
maas.


Koͤnnen Sie ſich z. B. verworrenere
Zeiten als die Zeiten der Ligue und der
Religionsgaͤhrungen in Frankreich
denken? Und ſiehe, nebſt vielen andern
hellen und aufrichtigen Geiſtern erſchien
und ſchrieb in ihnen der Praͤſident de Thou
ſeine Geſchichte. Wollen Sie bei dem lan-
gen Werk in einem kuͤrzern Inbegriff be-
merken, wie hoch er ſich uͤber Wahn und
Vorurtheile ſeines Standes, ſeiner Geburt,
ſeines Landes, ſeiner Secte, ſeiner Zeit
hinwegſchwang: ſo leſen Sie nur die Stel-
len, die von der Spaniſchen Inquiſition
weggeſtrichen wurden, die Laͤſterſchriften,
die Scioppius und Machault gegen
ihn ſchrieben, und ſeine linde Antwort da-
gegen im Gedicht an die Nachwelt,
[103]Poſteritati*). Er, der den groͤßeren Sieg
erkaͤmpft hatte, vom Wahne frei zu ſeyn,
erhielt auch den viel leichteren, den Ver-
laͤumdungen, den Verfolgungen des Wahns
ſich klug zu entziehen oder beherzt entgegen
zu treten. Davon ſind ſeine Briefe, davon
die von ihm ſelbſt uͤber ſein Leben gege-
bene Rechenſchaft Zeuge. Hoͤren Sie die
wahre Dedication ſeiner Geſchichte, ſein
Gebet an die Wahrheit.


G 4
[104]

Der Wahrheit.


Des Himmels Tochter, freundliche Wahrheit

Du,

Der Erde Schreckbild, ſtrafende Wahrheit

Du,

Wo biſt du hingeflohn, o Goͤttinn?

Du der Unſchuldigen letzte Zuflucht!

Wohin ich wende meinen erſpaͤhnden Blick,

Wohin ich richte meinen verirrten Tritt,

Dich find' ich nirgend. Blindes Dunkel,

Truͤgender Wahn hat die Welt um-

fangen.

Doch wenn du von uns, von dem unſeligen

Verfolgerlande zuͤrnend die Fluͤgel ſchwangſt,

Und Dich mein Zutritt nicht erreichet,

Hoͤreſt Du mich in der Fern' auch

guͤtig.

[105]
Du der Gemuͤther leuchtende Fuͤhrerinn

O Du, der Nebel holde Zerſtreuerinn,

Die, wann der Tritt uns faſt erſinket,

Maͤchtigen, hebenden Arm uns reichet.

Daß nie von banger, nichtiger Furcht betaͤubt,

Daß nie von leerem blendenden Glanz verlockt,

Die Seele ſich und Den verliere,

Der auch in Irre der Menſchen Weg

lenkt.

Du, die nicht Scheu, nicht truͤgliche Hoffnung

kennt,

Du, die nicht Haß erſchuͤttert, noch eitle

Gunſt,

Die der Verlaͤumdung Bubenpfeile

Frei von des Redlichen Bruſt zuruͤckwirft;

Den Ruhmeswehrten giebſt du Unſterblichkeit,

Begrabnen Frevel ziehſt du ans Licht hervor

Und Recht und Unrecht bringet Deine

Maͤchtige Stimm' in das Ohr der

Nachwelt,

G 5
[106]
Unwiderrufbar! Keine der webenden

Drei Schickſalsſchweſtern loͤſ't, was die an-

dre ſpann;

Und was der Wahrheit heiliger Recht-

ſpruch

Goͤttlich entſchieden, das bleibt gerichtet.

Wer Dich, o hohe Goͤttinn, wer Dich verehrt,

Der betet Gott an! Immer ein Herr ſein

ſelbſt

Spricht er der Wahrheit Recht, und uͤbet

Jede der Pflichten fuͤr Menſchen menſch-

lich.

Nicht nach der Willkuͤhr ſtolzer Trimalcions

Wird Er entſcheiden, luͤſtend nach ihrem

Mahl;

Wird nie ihr juckend Ohr mit ſuͤßem

Menſchenverderblichem Murmeln kitzeln.

Fuͤr Freunde leben, leben fuͤrs Vaterland,

Den Frevel ſcheuen mehr als den bittern Tod,

O Wahrheit, dies iſt ſeine Ehre,

Dies ſein Beruf und ſein innrer Lohn

dies.

[107]
Herab vom Himmel ſenke dich, Koͤniginn,

Und mit dir komme ſtrenge Gerechtigkeit,

Und Schaam und Treu' der Erde wieder

Und die ſo lang' uns entflohne Einfalt.

Wir warten Deiner. Waffen und Nerv' und

Arm

Erwarten alle, Goͤttinn, von Dir allein! —

Der Zeiten letzte nahn; es altert

Bloͤde die Welt und ertraͤumet Wahn-

ſinn.

Schau her, wie hebt dort, Flammen und

Schwertern ſelbſt

Unuͤberwindbar, trotzend die Hyder ſich;

Zehn Haͤupter fallen und aus jedem

Blutenden ſteigen der Haͤupter tauſend.

Des Wahnes Weltmeer waͤlzet der Meinungen

Auf Wellen Wellen; Religion erſeufzt

Im Schiffbruch, und der Liebe Bande

Loͤſen ſich auf und der Boden ſinket.

[108]
Herab vom Himmel ſenke Dich, Koͤniginn,

Mit Deiner Rechte ſtuͤrzend des Unthiers

Brut,

Die ſuͤßes Gift den traͤgen Fuͤrſten

Taͤuſchend in goldener Schaale reichet.

O Du im Schiffbruch helfende Retterinn,

Dem tollen Aufruhr frevelnder Meinungen,

Der Luͤſternheit und Frechheit ſteure,

Steure der heuchelnden Luͤg', o Wahrheit.

[109]

48.


Gewiß, eine Fabel muß im Kreiſe der
Geſellſchaft erfunden werden. So er-
fand Aeſop die Seinen; ſie flogen ihm
gleichſam, wie der Hauch lebendiger Ge-
genſtaͤnde, aus Veranlaſſungen zu; darum
iſt der Geiſt in ihnen auch jetzo noch le-
bendig. So ſind des la Fontaine,
Gleims, und aller guten Fabeldichter
Erzaͤhlungen entſtanden; ſelbſt wenn ſie
alte Erfindungen aufnahmen, verjuͤngten
ſie dieſe, und erzaͤhlten ſie jetzt fuͤr ihre
Geſellſchaft. Wer ſich hinſetzt und eine
trockene Lehre, einen duͤrren Sittenſpruch
[110] in eine Schale naͤhet, dem iſt die wahre
Fabelmuſe nie erſchienen.


Als neulich in einer Geſellſchaft von
den unverſtandenen Namen Ariſtokrat,
Demokrat u. f. geſprochen und diſputirt
war, trat wie ein freundlicher Genius Ei-
ner aus der Geſellſchaft zur Koͤnigin des
Feſtes, ruͤhrte ihre Scherpe an, und ſagte
dieſe



Fabel.
Laß Dir ein Maͤhrchen erzaͤhlen an Deinem

heutigen Tage,

Das vielleicht, wenn der Sinn dir beliebt,

Vergnuͤgen Dir bringet.

Seh' ich nicht hier ein Band, von Gold

und Seide gewirket,

Von der weicheren Huͤfte herab zur Ferſe dir

fließen?

Davon nahmen die Faͤden das Wort, und

redeten alſo:

[111]
Der Goldfaden.
„Nein! ich kann es nicht dulden, mit die-

ſen ſeidenen Faͤden

Laͤnger hier in Gemeinſchaft zu leben. Sie

ſind ſo gering'rer

Herkunft als ich. Ich ſtamme vom Scepter

Jupiters ſelber.

Gold iſt der Dreizack Neptuns, und golden die

Krone des Pluto.“


Der Seidenfaden.
„Mir gebuͤhret die Ehre! Ich bin nicht

gegrabenes Gold nur,

Aus der Faͤule der Erd' und rohen Felſen

geſcharret;

Ein lebendig Geſchoͤpf ernaͤhrte zu feinerem

Saft mich,

Zog mich aus ſeinem Buſen und ſpann mit

Kunſt und Geſchick mich.

[112]
Jetzo tragen die Koͤnige mich und die Herren

an Feſten;

Weit gefaͤlliger bin ich, als Dein beſchwerlicher

Reichthum.“


Der Leinfaden.
„Was erzaͤhlt Ihr euch hier? und ſprecht

von euren Verdienſten?

Bin nicht Ich der Erde, des Waſſers holdeſter

Zoͤgling?

Mich erzeugte die thauende Nacht; der ſtrah-

lende Himmel

Siehet mit Wohlgefallen auf mich. Die golde-

nen Faͤden

Unterſtuͤtz' ich allein; ſonſt wuͤrd' ihr nichtiger

Schimmer

Bald verſchwinden. Ich halt' und trag' empor

ſie zum Glanze;

Und verbarg mich beſcheiden, verlange nicht

ſelber zu ſchimmern.“

Alſo
[113]
Alſo ſprachen die Drei. Und was geſchahe?

Sie trennten

Zuͤrnend ſich von einander, und riſſen, und

wollten nicht weiter —

Nun lag ohne Zierde das Band, und ohne

Geſtalt da;

Das in ſtolzer Schoͤne vorhin die Huͤfte ge-

guͤrtet,

Hatte nicht Form noch Werth; verachtet fiel

es zur Erde.

Kaum war das Maͤhrchen geendiget,
als Die, an welche es gerichtet war, auf-
ſtand und mit Genehmigung Aller die weiſſe
Scherpe, als ein Zeichen des Friedens im
Saale der Geſellſchaft aufhing. Mit gu-
ter Wirkung: denn wenn im Taumel der
Worte nachher die genannten Friedensſtoͤ-
rer jemanden nur auf die Lippe traten;
Vierte Samml. H
[114] ſogleich ward auf die Scherpe gewieſen.
Die drei Faͤden ſprachen ihre ſtumme Lehre
und der Ton der guten Geſellſchaft ſtellte
ſich wieder her.


[115]

49.


Der die Schickungen lenkt, laͤßt oft den

froͤmmſten Wunſch,

mancher Seligkeit goldnes Bild

Unvollendet, und webt da Labyrinthe hin,

wo ein Sterblicher gehen will —

Gilt dies vom Schickſal einzelner Men-
ſchen, wie viel mehr vom Schickſal der
Voͤlker und Reiche!


Eben habe ich die Geſchichte des
Herzogs von Bourgogne
, Enkels
H 2
[116] Ludwigs 14., Vaters Ludwigs 15. mit ſon-
derbaren Empfindungen geleſen *).


Sie wiſſen, daß dieſer Prinz ein Zoͤg-
ling Fenelons war; die Unarten, die
das koͤnigliche Kind an ſich hatte, als Fe-
nelon zu ihm kam, werden auch in dieſer
Geſchichte nicht verſchwiegen. Leſen Sie
nun, wie Fenelon ſich dabei benahm, und
was fuͤr einen vortreflichen, nicht nur
Hoffnungs- ſondern wirklich Fruchtreichen
Charakter er aus dem Prinzen gebildet;
und ein ſuͤßes Erſtaunen wird Sie ergrei-
fen. Sie ſehen hier den Prinzen unge-
ſchmeichelt, in ſeinem ganzen Leben und
Weſen, bei Hofe, im Felde, im Cabinett,
[117] zu Hauſe, gegen den Koͤnig, gegen ſeine
Gemahlin, gegen Hofleute, Erzieher, Leh-
rer, Hausgenoſſen handeln. Handeln;
nicht nur ſprechen oder denken. Und allent-
halben iſt er ſich gleich; allenthalben bleibt
er die edle, ſtandhafte, in groͤßeſter Stille
wirkende Seele. Es iſt, als ob Fenelons
Geiſt ihn nicht umſchwebe, ſondern erfuͤllt
habe; Fenelons Denkart iſt in die ſeinige
verwebet.


Sage nun jemand, daß Erziehung,
wenn ſie rechter Art iſt, nichts fruchte!
Der Menſch iſt ja alles durch Erziehung;
oder vielmehr er wirds, bis ans Ende ſei-
nes Lebens. Nur kommt es darauf an,
wie er erzogen werde? Bildung der Denk-
art, der Geſinnungen und Sitten iſt die
einzige Erziehung, die dieſen Namen
verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.
Und wohl dem Prinzen, dem ein Fenelon
H 3
[118] zum Erzieher ward! Wohl jedem Erzie-
her, dem Fenelon zum Muſter dienet!


Sage jemand, daß bei Prinzen keine
Erziehung moͤglich ſei. Am Hofe Lud-
wigs 14., des eigenſinnigſten Koͤnigs, mit-
ten unter Schmeicheleien, Verderbniſſen
und Verfuͤhrungen der Zeit, an einem
Kinde von auffahrendem, gebieteriſchen,
Geburtsſtolzen, launiſchen Charakter war
ſie moͤglich, und erprobte ſich in den ver-
worrenſten Verhaͤltniſſen, in den ſchwerſten
Scenen.


Sage jemand endlich, daß Prinzen kei-
ner Dankbarkeit, keiner Freundſchaft faͤhig
ſind. Auch unter dem aͤußerſten Haß
Ludwigs 14. gegen Fenelon blieb der Her-
zog und Dauphin ſeinem Freunde treu bis
ans Ende ſeines Lebens.


Und dieſer ſchonte ihn auf keine Weiſe.
Sie finden einige Briefe Fenelons in dieſer
[119] Sammlung; die uͤbrigen (unerſetzlicher Ver-
luſt!) verbrannte Ludwig mit eigner Hand
nach ſeines Enkels Tode; vermuthlich, weil
er ſich ſelbſt bei ſeinem Haß gegen dieſen
wuͤrdigen Mann ſo ſehr im Unrecht fand,
und mit den Briefen ſein eignes Unrecht
zu vertilgen glaubte. Denn nie verſoͤhnte
ſich Ludwig mit Fenelon, auch nicht auf
den Brief, den dieſer ihm ſterbend ſchrieb.
Der Monarch wollte den Erzbiſchof nicht
unrechtmaͤßiger Weiſe gehaßt haben.


Gut, daß der Monarch die Papiere
des Prinzen mit jenen Briefen, (deren
keine Zeile Er ſchreiben konnte,) nicht auch
verbrannte. Sie ſind in langen Stellen
hier gedruckt; Fenelons Geiſt athmet in
jedem Grundſatz, ſo wie in der ganzen,
ſehr reinen und edeln Schreibart. Nur
ſiehet man auch, daß ein Prinz dieſe Grund-
ſaͤtze gedacht habe; ſie ſind, wenn ich ſo
H 4
[120] ſagen darf, gedruͤckter, beſchraͤnkter, als ſie
in Fenelons Seele bluͤhten; aber Ehren-
voll, ſchoͤn, koͤniglich, fuͤrſtlich.


Ausziehen will ich nichts aus dieſen
Maximen. Dem Geiſt des Zeitalters und
der Denkart Fenelons gemaͤß ehren ſie die
Staͤnde ungemein, machen die Religion
zur Baſis der Reichsverfaſſung, und ſind
dem Proteſtantismus nicht guͤnſtig. Da-
gegen enthalten ſie von den unerlaßbaren
Pflichten aller Staͤnde und des Regenten
ſelbſt alle die Grundſaͤtze, die wir in Fe-
nelons vortreflichen Rathſchlaͤgen
an einen Koͤnig
finden. Wenn dieſe
viel eigentlicher das livre d'or ſind, als
was gewoͤhnlich den Namen fuͤhret: ſo
kann man die Aufſaͤtze des Dauphins ohne
Schmeichelei dem Buch des Marc-Aurels
an die Seite ſetzen, nicht als das Werk
eines Mannes, ſondern als die Voruͤbung
[121] eines Juͤnglings; nicht als Syſtem, ſon-
dern nach Zweck und Abſicht.


Und wie er ſchrieb, ſo handelte der
koͤnigliche Juͤngling. Sobald er, welches
ihm ſehr ſchwer ward, das Zutrauen Lud-
wigs gewann, veranlaſſete er Berichte
aus allen Provinzen des Landes

nach Punkten, die er ſelbſt aufgeſetzt hatte,
die allenthalben ins Einzelne gingen und
zeigten, daß der Kronerbe alle Bedruͤckniſſe
des Reichs in allen Staͤnden Claſſenweiſe
kannte. Als Feldherr hatte er im Kriege
ſie kennen gelernt, und er beſaß gerade
den eiſernen Fleiß, die unerſchuͤtterliche Ste-
tigkeit des Willens, dieſen Uebeln auf den
Grund zu kommen und ihnen einmal, we-
nigſtens Theilweiſe, abzuhelfen.


Die Berichte liefen ein, zwei und
vierzig Baͤnde
in Folio; und die Be-
ſchwerden, die Maͤngel und Mißbraͤuche
H 5
[122] uͤberſtiegen den Begriff des Redacteurs,
des bekannten Grafen Boulainvilliers
ſo weit, daß er ſie ſich dem Prinzen nicht
vorzulegen getraute. Dieſer aber las doch,
las dabei die eingeſchickten einzelnen Kla-
gen, Beſchwerden und Verbeſſerungsvor-
ſchlaͤge, mit dem großen Grundſatz: „daß
„wenn in einem ganzen Bande chimaͤriſcher
„Speculationen ſich auch nur Eine nuͤtz-
„liche Beobachtung faͤnde, man die Zeit
„nicht bedauern muͤſſe, die man aufs Le-
„ſen verwandt hat.“ Die Mittel, dieſen
Verderbniſſen abzuhelfen reiften in der
ſtillen Seele des Prinzen — —


Und nun? Trauren Sie, meine Freunde;
die muntre Gemahlin des Prinzen, die er
zaͤrtlich liebte, ſtirbt, von den Aerzten hin-
gerichtet; innerhalb ſechs Tagen ſtirbt der
Prinz ihr nach, im dreiſſigſten Jahr ſeines
bluͤhenden Lebens. Leſen Sie die Geſchichte
[123] ſeiner Krankheit, den Eigenſinn Ludwigs
dabei, das Ende des Prinzen; unwiſſend
Ihrer wird eine Thraͤne in Ihr Auge treten,
und was wird dabei Ihr Wort ſeyn?
Fenelon ſagte, als er die traurige Nach-
richt vernahm: „Meine Bande ſind geloͤ-
ſet; nichts haͤlt mich mehr an der Erde.“
Ludwig dagegen ſagte „ich preiſe Gott fuͤr
die Gnade, die er ihm geſchenkt hat, ſo
heilig zu ſterben, als er lebte.“ Der Koͤ-
nig ertrug, (ſo ſagt ein Geſchichtſchreiber,)
alles als Chriſt, glaubte daß Gott das
Reich um der Suͤnden willen ſeines Koͤni-
ges ſtrafe, betete ſeinen Richter an, und
keine Klage entfuhr ihm —


Wir, die wir keine Koͤnige ſind, duͤrfen
keine ſo erhabne Gleichguͤltigkeit aͤußern.
Wir koͤnnen aufrichtig und herzlich bedau-
ern, daß die Vorſehung dem zu Grunde
gerichteten Reich einen ſo gepruͤften, ſo
[124] veſten, ſo thaͤtigen Koͤnig, auch nur auf
funfzehn oder zwanzig Jahre zu ſchenken
nicht genehmigte. Haͤtte er in dieſen nur
den hundertſten Theil ſeiner reifgewordenen
Entſchluͤſſe ausgefuͤhrt, und nur den tau-
ſendſten Theil der Uebel, deren er ſich
erbarmte, gehoben; wie anders waͤre der
Zuſtand und die Geſchichte Frankreichs ſeit
einem Jahrhunderte geworden! — Nun
aber kam nach wenigen Jammervollen
Jahren ſtatt unſres Bourgogne der
Held aller Ausſchweifungen Orleans,
und ſtatt des Staatsklugen Fenelons
der ruchloſeſte der Menſchen, Du Bois
ans Ruder. Die ewige Unmuͤndigkeit
Ludwig des Vielgeliebten folgte, und
wie es ſeitdem in Frankreich beſchaffen ge-
weſen, iſt Welt- und Staatskundig. Die
Memoirs von St. Simon, Du Clos,
Richelieu, du Terray u. f. fuͤhren uns
[125] in einen ſo tiefen Abgrund von ungebun-
dener Luͤderlichkeit, und frevelhafter Unord-
nung, daß Jude, Chriſt, Heide und Tuͤrk
uͤber das Reſultat aͤußerſt beſorgt und zu-
gleich ſehr einig ſeyn mußten — —


Was iſt hierauf zu ſagen? Gegen die
Vorſehung zu murren, waͤre albern: denn
wenn wir ſie auch zur eigenthuͤmlichen
Schutzgoͤttinn Frankreichs und der Bour-
bons perſonificirten, ja ihr dabei die Waage
des Jupiters auf Ida ſelbſt in die Hand
gaͤben; in die Eine Schaale legt ſie die
Graͤuel der alten veſtgewurzelten Reichs-
verwaltung, einen ungeheuren Berg; in die
andre Schaale den jungen, von ihr gelieb-
ten Kronerben. „Was kann Er zu dieſem
Gebirge thun? wird er nach wenigen Jah-
ren es vielleicht noch thun wollen? Er
entſchlafe alſo, den Tod eines Heiligen,
eines von Gott geliebten, und es gehe der
[126]Ordnung der Dinge nach, nach welcher
der fortgerollte Schneeball waͤchſt, bis er
ſchmilzt, die Graͤuel ſich thuͤrmen, bis ſie
das Gleichgewicht verlieren.


Wir ſind alſo auch des Glaubens vom
großen Ludwig, „qui ſouffrit tout en Chre-
„tien, il crut, que Dieu puniſſoit le Ro-
„yaume des faults de ſon Roi: il adora ſon
„Juge; nulle plainte ne lui echappa;

erinnern uns dabei aber jenes alten Ju-
dengottes, der mit unkoͤniglichem Bedau-
ren ſprach: Dich jammert des Kuͤrbis;
und mich ſollte nicht jammern u. f.
Leſen Sie die Worte ſelbſt im unruhigen
emigrirten Propheten. Jonas 4, 10-12.


[127]

Ueber die Vergaͤnglichkeit.


Eine Ode von Sarbievius.


Menſchlichem Elend waͤr' es eine Lindrung,

Saͤnken die Dinge wieder wie ſie ſtiegen,

Langſam; doch oft begraͤbt ein ſchneller Umſturz

Hohe Gebaͤude.

Lange begluͤckt ſtand nichts. Der Staͤdt' und

Menſchen

Schickungen fliegen immer auf und nieder.

Jahre bedarf ein Koͤnigreich zu ſteigen,

Stunden zu fallen.

Du, der du ſelbſt des Todes Opfer ſeyn wirſt,

Nenne darum nicht, weil die Zeit im Stillen

Menſchen und Menſchenwohnungen zerſtoͤret,

Grauſam die Goͤtter.

[128]
Die dich zum Leben rufte, jene Stunde

Rufte zum Tode dich. Der lebte lange,

Wer an Verdienſt und Tugend ſich ein ewig

Leben erworben.

[129]

50.


Die Griechiſche Philomele iſt noch nicht
verſtummt; auch hat ſie ihren Schmerz noch
nicht vergeſſen. Sie klagt das Unrecht,
das ihr von Menſchen geſchah und erweicht
mit ihrem Geſange das Herz, ſich von
gleichem Unrecht zu enthalten.


Flet Philomela nefas; neque adhuc de

pectore caedis

Effluxere notae, ſignataque ſanguine, pluma

eſt.

Als ihre Schweſter, die Schwalbe, ſie
aus der Einſamkeit des Waldes in die Ge-
ſellſchaft, in die Haͤuſer der Menſchen
ſchmeichelnd einlud:


Vierte Samml. I
[130]
Komm' in das Feld, komm' in die Woh-

nungen

Der Menſchen. Mit mir ſollſt du da ver-

gnuͤgt,

Geliebt von ihnen wohnen, wo du nicht

Den Thieren mehr, wo du dem Landmann

ſingſt.

Ach, ſprach ſie, laß mich hier in meiner Ein-

ſamkeit;

Der Menſchen Umgang bringt mir nur das

Unrecht,

Den Schmerz zuruͤck, den ich von ihnen litt.

Am liebſten nimmt dieſe alte Philomele
an den ſtummen Klagen der Menſchen
Theil, die ſich ihrer Einſamkeit nahen.
Sie bemerkt die Minen ihres verſchwiege-
nen Grams, den ſie ſelbſt einſt ihrer Schwe-
ſter nur in ſtummen Bildern entdecken
konnte; ſeit ihr die Goͤtter ihre Stimme
wiedergaben, gebraucht ſie dieſelbe alſo am
[131] liebſten zum Troſt des Sprachloſen
Kummers der Menſchheit.


Einen ihrer Geſaͤnge belauſchte ich neu-
lich zu einer Zeit, da Nachtigallen ſonſt
ſchweigen, und theile Ihnen ſolchen, wie
ihn ein Freund aufſchrieb, mit:


Philomele in T.


Haſt du die Klagen gehoͤrt, die juͤngſt vom

einſamen Aſte

An den Ufern der Ilm Philomela toͤnte?

Mir kamen

Einige Laute davon; vernimm von ihnen den

Nachhall.

„Wie ſo Blaͤtterlos iſt der Hain! Wie

leer das Geſtraͤuche!

Keine Stimme ertoͤnt, als nur der Raben und

Elſtern

I 2
[132]
Heiſres Geſchrei. Es klettert und pfei[ft] die die-

biſche Meiſe

An den Orten, die ſonſt nur meine Lieder

erfuͤllten.

Ach, wohin iſt der Geiſt der Liebe geflohen?

wo iſt er,

Und wo ſoll ich ihn finden? Wer wird ihn

wieder erwecken?

Wann wir umher im Kreiſe der ſchattigen

Ulmen, der Pappeln,

Saßen, und uns erweckten zu zaͤrtlichen Lie-

dern: ein Ton ſucht

Lockend den andern; es ſchlaͤgt von der Bruſt

des antwortenden Saͤngers

Lauter die Liebe zuruͤck ans Herz des rufenden:

wechſelnd

Streitet im bruͤnſtigen Zwiſt der Geſang. Es

ſchallet vom Felſen,

Schallt aus dem Haine wieder; es hebt der

glaͤnzende Bach ſich

[133]
Liebeſchwellend empor; von athmenden Bluͤthen

und Zweigen

Haucht balſamiſcher Duft umher durch die

Luͤfte, und leiſe

Regt ſich die ſchweigende Nacht mit Thaube-

feuchteten Schwingen.

Aber der Menſchen holdes Geſchlecht; wie

ſeh' ich ſie traurig

Jene Gefilde durchwandeln! Wie fremd' am

Blick und von Anſehn!

Wohin wendt ſich ihr truͤberes Aug'? Ach,

hin zu den Scenen

Voll des Mordes und Bluts! O ruft die

Sinnen zuruͤcke!

Warum ſie tauchen in Graͤul und Elend der

Menſchen? Wer wird euch

Kuͤnftig erwecken die Bruſt zu ſanftern, hol-

dern Gefuͤhlen?

Wird dann das beſte Gluͤck des Lebens, die

Freiheit, ſo theuer,

I 3
[134]
So mit Stroͤmen des Blutes erkauft? Wer

wird ſie erkennen,

Wer die ſchmalere Grenze, wo Recht ſich ſchei-

det vom Unrecht?

Blicke des Argwohns begegnen dem Freund'

aus dem Auge des Freundes.

Jedes feſtere Band des Lebens knuͤpfet und

loͤſ't ſich

Nur durch Unwill und Wuth. Ich ſehe den

ſtilleren Weiſen

Einſam wandeln; ſein Haupt deckt truͤber

Tiefſinn; es haͤnget

Zitternd uͤber demſelben das Schwert der Ent-

ſcheidung; ihm toͤnen

Nicht mehr die Lieder ins Ohr der zarten

Liebe, der Freundſchaft,

Der erweckten Natur, des ſuͤßen traulichen

Umgangs.

Und o das bluͤhende Maͤdchen! Ihr Hauch

belebte die Wuͤſte,

Wann die Wuͤſte beleben ſich koͤnnte. Von

ihrem Geſange

[135]
Ueberſteigen die Stralen die meinigen. Waͤre

zur Blume

Sie des Haines geſchaffen, kein Bluͤmchen

glich ihr an Reize,

Keines an himmliſchem Glanz noch Duft. Sie

ſenket ihr Auge

Nieder vom nackten Gipfel der hocherhabenen

Ulme

Auf das veroͤdete Land, und in ſich erſterben

die Stralen.“

Alſo ſang vom ſchwankenden Aſt weißagend

der Vogel,

Und der Nordwind verſtummte; es nahten ſich

lindernde Weſte.

Aber es ſchwebt' in der Hoͤh' mit ausgeſprei-

teten Rudern,

Und mit gierigem Aug' ein Geyer, duͤrſtend

nach Blute.

Dieſer erſah den lieblichen Saͤnger, und ſtuͤrzt

von der Hoͤhe,

I 4
[136]
Faßt und druͤckt ihn gewaltig mit krummge-

ſpitzeter Klaue,

Reißt ihm die blutende Bruſt auf, und hackte

begierig ſein Leben.

Nicht ein leiſer wimmernder Laut ward

weiter gehoͤret,

Es entfloh die Seele mit ſtiller Wehmuth von

dannen.

Jlicet (heu miſeram!) tua Daulias exſpirauit!

Jane, graui moeſtum tacta dolore jecur.

Quid miſeram dixi? Fatumne beatius vllum

eſt,

Talia cantantem quam potuiſſe mori?

[137]

51.


Waͤren Kraͤnze der Belohnung in meiner
Hand: ſo ſollten mir außer den Einrich-
tungen, die das Beduͤrfniß fodert, beſon-
ders auch die Bemuͤhungen werth ſeyn, die
den gehaͤſſigen Wahn der Menſchen un-
vermerkt zerſtreuen, und geſellige Humani-
taͤt befoͤrdern. Nichts iſt dem Wohlſeyn
der lebendigen Schoͤpfung ſo ſehr entgegen,
als das Stocken ihrer Saͤfte; nichts bringt
den Menſchen tiefer hinab, als ein trauri-
ger Stillſtand ſeiner Gedanken, ſeiner Be-
ſtrebungen, Hoffnungen und Wuͤnſche.


Alſo auch die Schriftſteller, die uns von
der Stelle bringen, die das plus ultra auf
I 5
[138] leichte und ſchwerere Weiſe ausuͤben, geſetzt,
daß ſie auch keine neuen großen Reſultate
erjagten, waͤren mir ſehr gefaͤllig. Ein
Menſch, der ſich um Wahrheit bemuͤhet,
iſt immer Achtenswerth, wer bei unſchuldi-
gen Beſtrebungen nur Zwecke hat, iſt nie
veraͤchtlich, geſetzt, daß dieſe auch bei wei-
tem nicht Endzwecke waͤren. Denn was
iſt Endzweck in der Welt? wo liegt das
Ende? Jedes gute Beſtreben aber hat
ſeinen Zweck in ſich.


Moͤgen die Philoſophen alter und neuer
Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht
haben, (welches doch ohne Wortſpiel nicht
behauptet werden kann) gnug, ſie beſtreb-
ten ſich um Wahrheit. Sie erweckten den
menſchlichen Verſtand, hielten ihn im Gange,
fuͤhrten ihn weiter; alles, was er auf die-
ſem Gange erfunden und geuͤbt hat, haben
wir alſo der Philoſophie zu danken, wenn
[139] ſie gleich ſelbſt nichts haͤtte erfinden koͤnnen
und moͤgen. Der philoſophiſche Geiſt
iſt ſchaͤtzbar; die ausgemachte Meiſter-und
Zunftphiloſophie bei weitem nicht ſo ſehr,
ja ſie iſt dem Fortdringen oft ſchaͤdlich.


Inſonderheit iſt der philoſophiſch-
moraliſche Geiſt, der die Sitten der
Menſchen betrachtet, ihre Farben ſcheidet,
und wenn ich ſo ſagen darf, ihr Inneres
auswaͤrts kehrt, eine wahre Gabe des Him-
mels, ein unſerm Geſchlecht unentbehrliches
Gut. Stimme man nicht das alte Lied
an: „Menſchen ſind Menſchen! ſie ſind,
„was ſie waren, und werden bleiben was
„ſie ſind. Hat alle Moralphiloſophie ſie
„gebeſſert?“ Denn dieſem faulen truͤbſin-
nigen Wahn ſtehet mit nichten die Wahr-
heit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum
Ziel gelangten, muͤſſen wir deßhalb nicht
in die Rennbahn? Ja wenn das Ziel der
[140] Vollkommenheit auch nicht zu erreichen
waͤre, und je naͤher wir ihm zu kommen
ſcheinen, immer weiter von uns ruͤckte,
haben wir deßhalb nicht Schritte gethan?
haben wir uns nicht beweget? Was waͤre
das Menſchengeſchlecht, wenn keine Ver-
nunft, keine Moralphiloſophie von ihm
geuͤbt waͤre?


Vor andern ſcheinen mir die Morali-
ſten Wuͤnſchenswerth, die uns mit uns
ſelbſt in ernſte Unterhandlung zu bringen
vermoͤgen, und uns auf eine ſcherzende
Weiſe durchgreifende Wahrheit ſagen. Ich
laſſe der Akademie und Stoa ihren heiligen
Werth; Plato und Mark-Aurel nebſt
ihren Genoſſen werden dem Menſchen, dem
ſeine Bildung Ernſt iſt, immer und immer
Schutzgeiſter, Fuͤhrer, warnende Freunde
bleiben; wenn aber z. B. Horaz auf eine
ernſthaftſcherzende Weiſe ſich ſelbſt zum
[141] Gegenſtande der Moral macht, wenn er an
ſich und an ſeine Freunde im Ton der
Vertraulichkeit mit leichter Hand das ſchaͤrf-
ſte Richtmaas leget, und die Heuchelei, den
Aberglauben, den Sittenſtolz, den Wahn
und Duͤnkel von uns lieber fortlaͤchelt als
fortgeiſſelt, wenn er an ſich und andern
zeigt, daß man nicht im Aether hoher
Maximen ſchweben, ſondern auf der Erde
bleiben und taͤglich in Kleinigkeiten auf
ſeiner Hut ſeyn muͤſſe, um nicht mit der
Zeit ein Unmenſch zu werden; wer kann
dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er,
damit ſeine zarten Sittengemaͤlde der Nach-
welt werth wuͤrden, auf ſie als auf wirk-
liche Kunſtwerke gewandt hat? Dieſe Kunſt-
werke ſind nicht nur lebendig, ſondern
auch belebend; ihr moraliſcher Geiſt geht
in uns uͤber; wir lernen an ihnen nicht
dichten, ſondern denken und handeln.


[142]

Jedem, der ſich mit Horaz fuͤr andre
wuͤrdig beſchaͤftigen konnte, moͤchte ich, wenn
Verdienſt ſich beneiden ließe, ſein Verdienſt
beneiden. Auch unſer Deutſche Ueberſetzer
der Briefe und Satyren dieſes Dichters,
Wieland, hat vorzuͤglich durch den Com-
mentar derſelben, jedem feineren Menſchen
eine belehrende Schule der Urbanitaͤt eroͤf-
net. Was Shaftesburi in ſeinen
Schriften fuͤr den Roͤmiſchen Dichter uͤber-
haupt iſt, deſſen moraliſche Kritik ſich bei
ihm allenthalben aͤußert; das iſt unſer
Ueberſetzer im ſchwereren Einzelnen, fuͤr
Juͤnglinge ſowohl als fuͤr Maͤnner.


Nach der langen Nacht der Barbarei
brach endlich auch unter den Europaͤiſchen
Voͤlkern fuͤr die feinere Moral eine Mor-
genroͤthe an. Die Provenzalen und Ro-
mandichter der mittleren Zeiten waren ihre
Vorboten; Weiber und Maͤnner aus allen,
[143] auch den vornehmſten Staͤnden, ſuchten die
Philoſophie des Lebens wieder in die Welt
einzufuͤhren, und ſtreueten ihr wenigſtens
Blumen. Sie erſchien endlich, dieſe Phi-
loſophie, unter mehreren Nationen; und
jeder Tritt ſoll uns heilig ſeyn, wo ſie ge-
wandelt. Sollte das boͤſe Schickſal es
wollen, daß ganze Laͤnder Europa's, (ver-
huͤte es der gute Genius der Menſchheit!)
wieder in die Barbarei verſaͤnken: ſo wol-
len wir, die an den Graͤnzen des Abgrun-
des ſtehen, die Namen und Schriften De-
rer, die einſt der Humanitaͤt dienten, um
ſo heiliger bewahren. Sie ſind uns als-
dann Reſte einer verſunkenen Welt, Reli-
quien zerſtoͤrter Heiligthuͤmer.


Du guter Montaigne, ihr Dichter
und Schriftſteller voriger ruhiger oder ſtuͤr-
miſcher Zeiten Frankreichs, und ihr, die
ihr guter Genius bei Zeiten hinweg rief,
[144]Rouſſeau, Buffon, D'Alembert,
Diderot, Mably, Du-Clos; was
ihr und eure Genoſſen der Menſchheit Gu-
tes erwieſen, iſt ein Gewinn fuͤr alle
Voͤlker.


Die Britten haben durch das was ſie
humour nennen, die Fehler des humour's
ſelbſt dargeſtellt, und dadurch die Unregel-
maͤßigkeiten, das Ausſchweifende und Ueber-
triebne in menſchlichen Charakteren dem
Gelaͤchter Preisgeben, dem moraliſchen Ur-
theil ins Licht ſetzen wollen. Da uns
Deutſchen dieſer humour, (leider oder Gott-
lob?) fehlet, indem unſre Thoren meiſtens
nur abgeſchmackte Thoren ſind: ſo iſts fuͤr
uns, in dieſen fremden Spiegel zu ſehen,
gewiß keine unnuͤtze Beſchaͤftigung. Der
Fluͤgelmann exercir[t] vorſpringend, damit
der Soldat im Gliede, und der ſteife Re-
krut exerciren lerne.


Aeußerſt
[145]

Aeußerſt Deutſch waͤre es aber, wenn
wir dieſe Uebertreibungen fuͤr Schoͤnheit
nehmen und Shakſper's, Addiſon's,
Swift's, Fielding's, Smollet's
Sterne's humoriſtiſche Figuren als Vor-
bilder des moraliſchguten Geſchmacks an-
ſehen wollten. Dichter und Ueberſetzer
waͤren an dieſem Stumpfſinn wenigſtens
ſehr unſchuldig.


Dank alſo auch jedem guten Ueber-
ſetzer guter brittiſchen Humoriſten. Und
wir wiſſen alle, wem wir in Deutſchland
vorzuͤglich hiebei Dank zu ſagen haben,
dem Ueberſetzer Yoriks, Sterne, Fiel-
ding's, Smollets, Goldſmith's,
Cumberlands, u. f. Die Bode'ſchen
Ueberſetzungen der empfindſamen Rei-
ſen, des Triſtram-Shandy, Tho-
mas Jones, Humphrey Klinkers,
des Landprieſters von Wackefield,
Vierte Samml. K
[146] des Weſtindiers ſind in Aller Haͤn-
den.


Fuͤr unſer Nordiſches, angeſtrengtes
und bedruͤcktes Leben ſind uͤberhaupt alle
Schriften wohlthaͤtig, in denen unſer Geiſt
abgeſpannt, erweitert und milde gemacht
wird. Immerdar ſich zu ſpornen, andre
zu treiben und von ihnen ſich bedraͤngt zu
fuͤhlen, iſt der Zuſtand eines Tageloͤhners,
geſetzt daß wir ihn auch mit dem Titel
eines Strebens nach hoͤchſter Vollkom-
menheit in unablaͤßigem Eifer aus-
ſchmuͤcken wollten. Die menſchliche Natur
erliegt unter einer raſtloſen Anſtrengung;
waͤhrend der Ruhe, waͤhrend des Spiels
Zwangloſer Uebungen gewinnt ſie Mun-
terkeit und Kraͤfte. Selten geht der un-
ablaͤßige Eifer anders wohin aus, als auf
Schwaͤrmerei und Uebertreibung, die durch
nichts zurecht gebracht werden kann, als
[147] durch eine Darſtellung deſſen was ſie iſt,
durch eine leichte froͤliche Nachahmung ih-
rer eignen Charaktere. Da lacht der Thor,
falls er noch lachen kann, uͤber ſich ſelbſt;
und im leichteſten Spiel findet man, wie
Leibnitz meint, die ernſteſte Wahrheit.


K 2
[148]

Nachſchrift
des Herausgebers
.


Statt einer langen Anmerkung erlaube
der Leſer mir hier eine Stelle mitten unter
fremden Briefen.


Der Mann, an den zu Ende des vor-
ſtehenden Briefes mit dem verdienten Lobe
gedacht war, war mein Freund, und er iſt
nicht mehr. Eben da ich dieſen Brief zum
Druck uͤberſehe, wird ſeine Leiche begraben;
aber ein Theil ſeines Geiſtes, und ſeine
redliche Muͤhe wird, hoffe ich, in unſrer
Sprache noch fortleben, ſo wie ſein An-
denken im Herzen ſeiner Freunde.


[149]

Bode war mehr als Ueberſetzer; er
war ein ſelbſtdenkender, ein im Urtheil ge-
pruͤfter Mann, ein redlicher Freund, im
Umgange ein geiſtiger, froher Geſellſchaf-
ter. Und doch war ſein Charakter noch
ſchaͤtzbarer, als ſein Geiſt; ſeine biedern
Grundſaͤtze waren mir immer noch werther,
als die ſinnreichſten Einfaͤlle ſeines mun-
tern Umganges. Er hatte viel erlebt, viel
erfahren; in ſeinen mannichfaltigen Ver-
bindungen hatte er Menſchen aus allen
Staͤnden von Seiten kennen gelernt, von
denen wenige andre ſie kennen lernen, und
wußte ſie zu ſchaͤtzen und zu ordnen.


Die Schwaͤrmerei haſſete er in jeder
Maske, und war ein Freund ſo wie der
gemeinen Wohlfahrt, ſo auch des wahren
Menſchenverſtandes. Der betruͤgenden Heu-
chelei entgegenzutreten war ihm keine Muͤhe
verdrießlich; gern opferte er dieſem Ge-
K 3
[150] ſchaͤfte Zeit, Koſten und Seelenkraͤfte auf,
die er ſonſt abwechſelnder, vielleicht auch
eintraͤglicher haͤtte anwenden moͤgen. Viele
ſeiner Freunde in mehreren Provinzen
Deutſchlands kennen ihn von dieſer Seite;
und wer einer ſtandhaften Muͤhe in redli-
cher Abſicht Gerechtigkeit wiederfahren laͤßt,
wird das Verdienſt eines Mannes ehren,
der in ſeinem ſehr verbreiteten Kreiſe vie-
lem Boͤſen widerſtand, und in ſeiner Art,
(nicht politiſch!) ein Franklin war, der
durch die Mittel, die in ſeiner Hand la-
gen, der Menſchheit nichts als Gutes
ſchaffen wollte, und gewiß viel Gutes ge-
ſchafft hat. Großmuth war der Grund
ſeines Charakters, den er in einzelnen
Faͤllen mehrmals erwieſen; nach ſolchem
nahm er ſich inſonderheit der Verlaſſenen,
junger Leute, vergeſſener Armen, der Ge-
kraͤnkten, der Irrenden an, und war, faſt
[151] uͤber ſeine Kraͤfte, ein ſtiller Wohlthaͤter der
Menſchheit.


Auch ſeine Ueberſetzungen hatten dieſen
Zweck, und ſein Fleiß dabei war unermuͤ-
det. Er bewarb ſich bei ihnen ſowohl um
die Eigenthuͤmlichkeit des Gedankens, als
des Ausdrucks; mithin arbeitete er in bei-
den Sprachen. Er, Leßings Freund und
bei einer Schrift ſein Mituͤberſetzer, wollte
nie ein Sprachverderber, wohl aber mit
Urtheil und Pruͤfung ein Erweiterer der
Sprache werden. Die falſchen Nachah-
mungen in ſeiner Manier haſſete er eben
ſowohl als die Nachaͤffungen der Charak-
tere, die er dem Deutſchen Publikum ver-
ſtaͤndlich machte; er uͤberſah und uͤberſetzte
ſein Buch als ein Mann von geſundem
Verſtande.


Ein ſchaͤtzbares Geſchenk, das er uns
haͤtte geben koͤnnen, waͤre die Beſchrei-
K 4
[152]bung ſeines eignen Lebens geweſen.
Schonend und bieder ſagte er aber: „Von
meiner Seite wuͤrde es anmaaſſend ſchei-
nen; andre wuͤrde es compromittiren. Ich
will in Friede ſchlafen.“


Und ſo ſchlafe er denn in Friede! Sein
Ende kam, wie ſeine Freunde es wuͤnſch-
ten, ohne langwierige Krankheit; faſt bis
an ſeinen Tod hin war er unverdroſſen ge-
ſchaͤftig. Viele Gute halten ihn werth.
Unweit dem Kuͤnſtler Kranach liegt er
begraben.


[153]

52.


Als ich in Ihren Briefen die Fragmente
uͤber die Humanitaͤt Homers in
der Iliade
las, fiel mir ein Schriftſtel-
ler ein, der vor Jahren nicht recht nach
meinem Sinne geweſen war, Thomas
Gordon uͤber den Tacitus
*). In
K 5
[154] der Jugend muß man keine politiſche Be-
trachtungen, weder Gordon noch Taci-
tus leſen; ſie machen uns eine zu ernſte,
zu ſaure Mine. Man ſiehet die Welt
alsdann noch gern von der froͤhlichen
Seite an und haſſet den gruͤbelnden Tadel.


Ueber den Tacitus aͤnderte ſich mein
Urtheil, als ich ihn in reifern Jahren las.
Ich kam davon zuruͤck, daß er ein Sauer-
topf ſei, der uͤble Geruͤchte und politiſche
Gruͤbeleien zuſammengemiſcht haͤtte, (ein
gemeines, aber aͤußerſt falſches Urtheil;)
wie ſehr wuͤnſchte ich, Ihnen auch den
Areopagiten Gordon, frei von ſeinen
Schlacken, (Brittiſchen Vergleichungen und
Epanorthoſen) bloß als einen lichten und
leichten Verſuch uͤber die Humanitaͤt
des Tacitus
zuſenden zu koͤnnen! Nicht
leicht hat ein Schriftſteller ſo viele Gemuͤ-
ther tiefer an ſich gezogen, als dieſer Roͤ-
[155] mer; wer ihn ſtudirte, ward mit Geiſt und
Sinn der Seine. Daher ſo viele Com-
mentatoren des Tacitus; je redlicher es je-
mand meinte, je mehr er die politiſche
Welt aus eigner Erfahrung kennen gelernt
hatte, deſto mehr liebte er den alten Ge-
ſchichtſchreiber und ward gar ſelbſt ſein
Commentator.


Was Gordon uͤber des Tacitus Cha-
rakter, uͤber ſeine Denkart, ſeine Beſchrei-
bungen, ſeine Grundſaͤtze, ſeine Moral,
endlich uͤber ſeine Schreibart behauptet,
ſagt eher zu wenig, als zu viel; ſo man-
ches auch die lateiniſchen Styliſten, ſelbſt
der gute Lord Monboddo dagegen ein-
zuwenden haben moͤchten *) Nach allen
[156] Voruͤbungen, die wir im Deutſchen als
Verſuche ſeiner Ueberſetzung gemacht haben,
wuͤnſche ich eine wahre Ueberſetzung
deſſelben; mich duͤnkt, unſre Sprache ſei
dazu vor allen andern faͤhig.


Als Proben von der edlen Denkart des
Tacitus fuͤhrt Gordon ſchoͤne Stellen an,
z. B. wie Hermanns Gemahlin, durch Ver-
rath gefangen, unter andern edeln Frauen
vor Germanikus gefuͤhrt wird: „Segeſts
„Tochter, doch gleichgeſinnter dem Gemahl
„als dem Vater. Auch uͤberwunden kannte
„ſie keine Thraͤnen, kein flehendes Wort;
„ſie hatte die Haͤnde uͤber ihren ſchwan-
„gern Leib zuſammengeſchlagen und ſah
„auf ihn nieder.“ Wie Germanikus dem
Teutoburger Walde nahend, in welchem
die Gebeine des Varus und ſeiner Legio-
nen noch unbegraben lagen, nun herzlich
verlangt, dem erſchlagenen Heerfuͤhrer und
[157] ſeinem Heer der Menſchheit letzte Pflicht
zu leiſten. „Da jammern alle, die mitwa-
ren, uͤber Verwandte, Freunde, uͤber Kriegs-
unfaͤlle, uͤber der Menſchen Schickſal. Sie
kommen an den traurigen Ort; ſie ſehen
Varus Lager, die Ueberbleibſel derer, die
zuruͤckgedraͤngt Rettung hatten ſuchen wol-
len, endlich das Feld voll weißer Gebeine,
wie ſie geflohen und geſtanden, aus einan-
dergeſprengt und an einander gedraͤngt
geweſen waren; neben an lagen zerbrochene
Spieße, und Pferdeglieder; an Baumſtaͤm-
men waren angenagelte Koͤpfe; nahan im
Walde ſtanden die barbariſchen Altaͤre,
auf welchen Tribunen und Centurionen ge-
blutet hatten. Und die dieſer Schlacht,
die der Gefangenſchaft entkommen waren,
erzaͤhlten: „Hier fielen die Anfuͤhrer der
„Legionen, dort wurden die Adler erbeu-
„tet; hier bekam Varus ſeine erſte Wunde;
[158] „dort gab er ſich mit ungluͤcklicher Rechte
„ſelbſt den Tod. Auf dieſer Hoͤhe ſtand
„Hermann und ſprach den Seinigen Muth
„zu; hier die Galgen, woran er die Ge-
„fangenen knuͤpfen, dort wo er die Adler
„und Feldzeichen verhoͤnen ließ.“ Nach
ſechs Jahren alſo begrub eine Roͤmiſche
Armee ihre drei Legionen, und keiner
kannte, wen er begrub, ob ſeinen Ver-
wandten, ob einen Fremden? Jeder ward
als Blutsfreund, als Verbuͤndeter beſtattet,
mit deſto groͤßerem Zorn gegen den Feind,
aufgebracht und traurig.“


So fuͤhrt Gordon die ſchoͤne Stelle
uͤber Tiberius an: „Seine Unthaten und
Laſter wurden ihm ſelbſt zur Marterſtrafe:
denn vergebens habe der weiſeſte Alte nicht
geſagt, daß wenn man ſolcher Unmenſchen
Inneres aufſchlieſſen koͤnnte, und Striemen
und Wunden der Seele auch ſichtbar waͤ-
[159] ren, wie Wunden des Koͤrpers, man ihr
Gemuͤth nicht anders, als von Grauſam-
keit, Wohlluſt, und uͤbeln Rathgebern zer-
fleiſcht erblicken koͤnnte.“


Dergleichen Stellen fuͤhrt Gordon meh-
rere an. Aber was ſind ſie außer dem
Zuſammenhange der Geſchichte, die ihnen
eigentlich Urkunde und Beleg iſt? Die
letzte Stelle z. B. beziehet ſich auf des Ti-
berius meiſterhaften, kurzen Brief an den
Roͤmiſchen Rath: „was ich Euch ſchreiben
ſoll, meine Herren, oder wie ich ſchreiben
oder was ich Euch jetzt nicht ſchreiben
ſoll; alle Teufel moͤgen mich holen, (die
mich taͤglich und ſtuͤndlich plagen,) wenn
ich das weiß!“ Da konnte Tacitus hin-
zuſetzen: „weder Gluͤck, noch Einſamkeit
konnten den Tiberius ſchuͤtzen, daß er die
Quaal ſeiner Bruſt, und die Strafe, die er
an ſich ſelbſt litt, nicht ſelbſt bekennte.“


[160]

Soll ich Ihnen von Gordon mehr erzaͤh-
len? Nur ſeine Capitel will ich herſchrei-
ben. „Von Caͤſars unrechtmaͤßigem
Beſitz der Herrſchaft
, und warum
deſſen Name weniger als des Ca
-
tilina Name gehaͤſſig iſt? Von Oc-
tavius-Auguſtus Raͤnken, ſeinem
rachſuͤchtigen Gemuͤth
, ſeinem Mein-
eide, Grauſamkeiten, und den Be-
gebenheiten, die zu ſeinem großen
Namen beitrugen
. Von der Liebe
des Volks und Rathes
, die er ſich
zu erwerben ſuchte
. Von der Ehre,
mit welcher ihm die Dichter ge-
ſchmeichelt. Von dem falſchen
Glanz
, den ſeine Nachfolger ihm
verſchafft haben
. Vom Kaiſerregi-
ment. Vom Majeſtaͤtsgeſetz. Von
Anklagen und Angebern
. Von der
allgemeinen Entehrung der Gemuͤ
-
ther,
[161]ther, und von der Schmeichelei, die
eine unumſchraͤnkte Regierung be
-
gleiten. Vom Geiſt der Hoͤfe. Ueber
Armeen und Eroberungen
. Ueber
die Kaiſer
, deren Geſchichte Taci-
tus beſchreibt, uͤber ihre Miniſter,
ihre Ungluͤcksfaͤlle, und die Urſa-
chen ihres Sturzes. Ueber die Be-
ſtechung der Miniſter. Von Finan-
zen, Volk, Adel, dem Aberglau-
ben der Regenten u. f. —


Ein ganzes Staatsſyſtem mit zahlrei-
chen Beiſpielen und Spruͤchen aus Tacitus
belegt; zwar nicht im ſcharfſinnigen Welt-
geſchmack des Machiavells, deſto mehr
aber, und bis zum Uebermaaße, mit aller
Waͤrme eines ehrlichen, das Beſte
wollenden Mannes
gezeichnet. Dide-
rot rechnete Gordon unter ſeine liebſten
Schriftſteller; ſchaden wenigſtens wird er
Vierte Samml. L
[162] Niemanden, und muntert ſehr zum eignen,
verſtaͤndigen Leſen des Tacitus an. Haͤtte
er damit nicht ſeinen Zweck erreichet?


O daß wir den Tacitus ganz haͤtten!
Warum muͤſſen ſeine Jahrbuͤcher gerade mit
dem Tode des edlen Thraſea, ſeine Ge-
ſchichtbuͤcher eben vor Veſpaſian aufhoͤren?
Seiner Germania wegen iſt Deutſchland
ihm beſondern Dank ſchuldig; und vielleicht
hat keine Europaͤiſche Nation mehr Urſache
als ſie, in Tacitus Manier ihre Geſchichte
nach der vortreflichen Grundlage, die er von
Deutſchland ſelbſt gemacht, fortzuſchreiben.
Schenkte uns indeſſen nur ein zweites Klo-
ſter Corvei den ganzen Tacitus und in Ab-
ſicht Deutſchlandes ſeinen Geſellen, den
Plinius wieder!


[163]

53.


Wie? wenn ich Ihnen fuͤr Ihren Schot-
tiſchen Gordon einen Deutſchen Commen-
tator des Tacitus nennte, der Jenem an
der Seite zu ſtehen wohl werth, aber deſto
unbekannter, deſto ungeſchaͤtzter iſt? Die
bloßen Grammatiker haben von ſeinen An-
merkungen uͤber dieſen Roͤmer ſehr zuruͤck-
ſetzend geſprochen; ſie ſind aber voll Kennt-
niß der Geſchichte, voll Lebens- und Ge-
ſchaͤftserfahrung, dabei mit ſo Deutſcher
Treue und Biederkeit, vor mehr als hun-
dert Jahren geſchrieben, daß ſie fuͤr uns
endlich doch ein lehrreiches Buch werden
koͤnnten. Es ſind die ſogenannten politiſchen
L 2
[164]Anmerkungen uͤber Tacitus vom
Moͤmpelgardſchen Geheimenrath Forſt-
ner*).


Moſer hat ſich um dieſen Mann ver-
dient gemacht, daß er ſeine Lebensgeſchich-
te, ſo gut er ſie haben konnte, in ſein pa-
triotiſches Archiv aufnahm. Eine Reihe
Briefe deſſelben kennen Sie aus einer an-
dern nuͤtzlichen Sammlung **). Wie?
wenn Jemand, jedoch mit Auswahl und
Zuſammenſtellung, Forſtners Gedanken
uͤber Tacitus uͤberſetzte, und Friedrich
Carl Moſer
ſie auch nur mit Wenigem
commentirte; ſo kaͤme dieſer Reichthum
beſcheidener, gepruͤfter Gedanken doch ei-
nigermaaßen in Umlauf.


[165]

Ueberhaupt warum liegen die Betrach-
tungen verdienter Deutſcher Staatsmaͤnner
voriger Zeiten bei uns ſo tief im Dunkel?
Englaͤnder, Franzoſen und Italiaͤner haben
die Ihrigen ſchoͤn aufgeputzt; Wir ſtehen
hierinn faſt hinter Polen und Ungarn.
Und doch iſt das Geſchaͤft- und Gedanken-
reich verdienter, Sachkundiger Maͤnner
einer Nation gleichſam der Stamm, ohne
welchen ſie kaum eine Nation, geſchweige
ein durchdachter, durch empfundener Staats-
koͤrper genannt zu werden verdienet. Die
geographiſchen Graͤnzen allein machen das
Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichs-
tag der Fuͤrſten, eine gemeinſchaftliche
Sprache der Voͤlker bewirken es auch
nicht allein; ja letztere iſt in Deutſchland
den Provinzen nach ſo verſchieden; (große
Striche ſprechen ganz und gar eine fremde
Sprache, ganze Claſſen der Menſchen neh-
L 3
[166] men an Gedanken gar keinen Theil,) daß,
wenn man dies alles zuſammenhaͤlt, man
es den Magiſtern nicht uͤbel nehmen kann,
wenn ſie pro gradu noch bis jetzt uͤber das
Thema diſputiren: „welche Regimentsver-
faſſung Deutſchland habe? oder ob die
Deutſchen eine Nation ſeyn?“ Die ſpot-
tenden Urtheile der Auslaͤnder hieruͤber,
auch wenn ſie unſerm Fleiß, unſrer Treue,
unſrem Biederſinn Gerechtigkeit wiederfah-
ren laſſen, ſind bekannt. Sollte es alſo
nicht der geringſte Dank ſeyn, den man
dem verſtorbenen Diener erweiſet, daß
man mit ſeinen Dienſtleiſtungen auch
die Gedanken, deren er ſich dabei erkuͤhn-
te, der Nachwelt nicht entziehe? Wenig-
ſtens bilden ſodann doch die treuen Die-
ner eine Kette, die Jahrhunderte durch-
reicht, und an die ſich neue treue Die-
ner anſchließen moͤgen. Das Jahrhun-
[167] dert der Reformation erlaubte ſich noch,
auch uͤber vaterlaͤndiſche Sachen laut zu
denken; ſeitdem ward Alles Rang, Form
und Stand, oder ging, ſobald es ein eig-
ner Gedanke ſchien, in die Archivgraͤ-
ber.


Daher dann, daß uns eine Geſchichte
Deutſchlandes ſo lange gefehlt hat, und
in manchen Theilen noch lange fehlen wird.
Daher, daß unſer Sleidan keine Aus-
gabe wie der Franzoͤſiſche Thuan erlebt
hat, und unſre Mevii, Verſtandreich wie
ſie ſind, den Montesquieu's, Claren-
don's, Sarpi's andrer Nationen an
Ruhm, Glanz, allgemeiner Bekanntſchaft
und Schaͤtzung wohl nachſtehen muͤſſen.
Daher, daß die Mozambano's, die
a Lapide unter beſonderm Schutz, immer
alſo halbpartheiiſch ſchreiben, wohl gar in
fremde Laͤnder gehn, oder Fremde ſeyn
L 4
[168] mußten. Daher endlich, daß die beſten
Schriften dieſes Faches in Deutſchland
Vergleichungsweiſe wenig oder keine Wir-
kung thun: dem oft iſt mit jeder dritten
Meile das politiſche Intereſſe der Deut-
ſchen Provinzen geaͤndert.


Weit entfernt bin ich, hiemit eine
Staatskluͤgelei nach Deutſchland zu wuͤn-
ſchen, die Gottlob unſer Charakter nicht
iſt, und die jedem Volk verderblich gewe-
ſen. Raiſonnirte Geſchichte aber,
raiſonnirte Erfahrungen des Le-
bens aus allen Staͤnden, in allen Ver-
haͤltniſſen und Aemtern muß Jedermann
wuͤnſchen. Durch die Vernunft lebt der
Menſch, ob er gleich vom Brote lebet; die
oft theuer erworbene Summe von Gedan-
ken und Erfahrungen unſres Lebens iſt
auch ein Beſitz, und jedes Glied des
Staats gehoͤrt dem Ganzen nicht nur durch
[169] das, was es mechaniſch that, ſondern auch
durch das, was es bei dieſem mechaniſchen
Thun dachte. Schweigen verſtaͤndige Leute,
ſo redet der Thor; der ſpricht ſodann deſto
unbeſonnener und lauter.


Mich duͤnkt, in Deutſchland war zu
neueren Zeiten Moſer der Erſte, der in
dieſer Art freimuͤthiger und beſcheidner
Biederkeit ein Beiſpiel gab. Stellet man
ihn mit aͤltern Deutſchen ſogenannten
Staatsmaͤnnern, Kulpis, Reinkingk,
Veit Seckendorf zuſammen, welch ein
Unterſchied! gewiß nicht zu ſeinem Nach-
theil. Sein Herr und Diener, ſeine
Beherzigungen
, Reliquien, pa-
triotiſche Briefe, ſein Schutt zur
Wegebeſſerung
und was fuͤr Einklei-
dungen er ſonſt gewaͤhlet, ſind einestheils
mit einer ſo treffenden Wahrheit, andern-
theils mit einer Herzlichkeit geſchrieben, als
L 5
[170] ob der Verfaſſer einmal Luthers Freund
und Amanuenſis geweſen waͤre. Zuͤge der
Beredſamkeit ſind in ihm, deren ſich
mancher brittiſche Parlamentsredner nicht
ſchaͤmen duͤrfte; und Alles huͤllet ſich end-
lich in den Mantel der Deutſchen Beſchei-
denheit und Demuth. Sein patrioti-
ſches Archiv enthaͤlt treffliche Sachen;
ſo wie durchaus keiner ſeiner Aufſaͤtze von
Geiſt und Herz leer iſt. Die meiſten der-
ſelben, weil ſie Deutſche Dinge betreffen,
leſen ſich, als ob ſie heute geſchrieben waͤren.


Schon am Ende des vorigen Jahrhun-
derts entſtanden periodiſche Schrif-
ten, mancherlei Inhalts; im jetzigen
mehrten ſich dieſe nicht nur im Ganzen,
ſie vervielfachten ſich auch in einzelnen
Provinzen bis zu woͤchentlichen Blaͤt-
tern und Beitraͤgen, die in Deutſch-
land ein ſehr guter Saame geworden ſind.
[171]Moͤſers patriotiſche Phantaſieen
ſind aus Beitraͤgen zum Osnabruͤckiſchen
Wochenblatt entſtanden; und was andre
Zeitſchriften hier, dort, und da, in den
germaniſchen Waͤldern fuͤr Nutzen geſtiftet
haben, iſt weniger Landkundig, als wahr
und ruͤhmlich. Laß es hie und da auch
Mißbraͤuche dieſes Vehikuls gegeben ha-
ben und geben; Mißbrauch hebt die gute
Sache nicht auf. Viele unſrer Deutſchen
Journale ſind ein Fundbuch trefflicher
Materialien; ja in Deutſchland faſt das
einzige Mittel, wodurch Provinzen und
Staͤnde einander kennen lernen. Mancher
boͤſe Pflichttraͤger, der ſich gleich Jenem im
Evangelium weder vor Gott noch Menſchen
fuͤrchtet, ſcheuet ſich wenigſtens vor der
Schande eines Journals —


Ungleich hoͤher und weit voran alle die-
ſem ſtuͤnde die Geſchichte, wenn ſie jeder
[172] Provinz unſres Landes mit Geſchmack,
Verſtand und Patriotismus bereits einhei-
miſch geworden waͤre. Wollten wir uns
von einigen derſelben nach und nach nicht
ausfuͤhrlicher unterhalten? Wenn irgend
eine Wiſſenſchaft, ſo iſt ja die Geſchichte
ein Studium der Humanitaͤt, ein Werkzeug
des aͤchteſten Vaterlandsgeiſtes.

[]

Appendix A Inhalt
der vierten Sammlung
.


  • Br. 40. Realis de Vienna vom
    Werth der Nationen und vom ver-
    kannten Werthe der Deutſchen. S. 1
  • — 41. Grundſaͤtze ſeiner Pruͤfung des
    Europaͤiſchen Verſtandes und ſei-
    ner Velledenblaͤtter. pS. 17
  • — 42. Eine Meinung uͤber die vorige
    Meinung. _ S. 32
    — 43. Flora. pS. 39
  • — 44. Fortſetzung. pS. 56
  • — 45. Ueber Natur- und Pflanzenge-
    dichte. Grabſchrift eines Leben-
    den. pS. 72
  • — 46. Ueber Wahn und Wahnſinn der
    Menſchen und Voͤlker, eine Vor-
    leſung. pS. 80
  • Br. 47. Andenken an den Praͤſidenten de
    Thou
    . Deſſen Ode an die
    Wahrheit. pS. 100
  • — 48. Die dreierlei Faͤden. Eine Fa-
    bel. pS. 109
  • — 49. Leben des Herzogs Bourgogne,
    Vater Ludwigs 15. Andenken an
    Fenelon. Die Vergaͤnglichkeit,
    eine Ode. pS. 115
  • — 50. Philomele in T. pS. 129
  • — 51. Philoſophie des Lebens. Nach-
    ſchrift des Herausgebers, ein
    Denkmal. pS. 137
  • — 52. Thomas Gordon uͤber den
    Tacitus. S. 153
    — 53. Forſtners Anmerkungen zu Taci-
    tus. Von Moſers und andrer
    Schriften. Deutſche Geſchichte. pS. 163

[][][][][]
Notes
*)
Daß dieſes keine Schwedenborgſche
Geiſterverſammlung oder eine andre geheime
Geſellſchaft ſei, iſt aus dem letzten Briefe des
zweiten Theils dieſer Sammlung klar. Die
Sichtbar unſichtbaren, und Unſicht-
bar-ſichtbaren ſind nichts mehr und min-
der als gedruckte Schriften.
A. d. H.
*)
Dies war Realis wahrer Name. In Joͤ-
chers Lexicon findet man ihn; die Anzeige
der Unternehmungen des Mannes aber iſt
kaum beruͤhret. A. d. H.
*)
Die Materie iſt hiemit nicht geendet; ſie hat
noch einige Briefe erhalten, die ſpaͤterhin
werden mitgetheilt werden. A. d. H.
*)
The Botanic Garden containing the Lo-
ves of the Plants, with Philoſophical No-
tes, Lond. 1788.
*)
Orlando furioſo, Cant. XXIV. Str.75.
77. 79. 81.
A. d. H.
*)
Alles dies findet man im 7ten Theil der
Londner Ausgabe von Thuans Geſchichte
beiſammen. Auch die commentarios de vita
ſua,
in denen nebſt andern das Gedicht Poſte-
ritati
vorkommt. Die hier frei uͤberſetzte
Ode Veritati ſteht Tom. I. voran ſeiner
Geſchichte. In Grutersdeliciis Poëtar.
Gallor.
fehlen Thuans beſte Stuͤcke gaͤnzlich.
A. d. H.
*)
Vie du Dauphin, Pere de Louis XV.
ecrites ſur les memoires de la Cour, en-
richés des ecrits du même Prince, p.
l'Abbè Proyart, Lion 1782.
*)
Das Engliſche Original kenne ich nicht. Die
Franzoͤſiſche Ueberſetzung heißt: Discours
hiſtoriques, critiques et politiques ſur Ta-
cite p. Gordon. Amſt. 1742.
Die Deutſche
hat den unfoͤrmlichen Titel: Die Ehre der
Freiheit der Roͤmer und Britten nach Gor-
dons Staatsklugen Betrachtungen uͤber den
Tacitus. Nuͤrnberg, 1764. A. d. H.
*)
Vor der Zweibruͤcker Ausgabe des Tacitus
iſt Crollius lange Vorrede uͤber dieſe
Materie ſehr ſchaͤtzbar. A. d. H.
*)
Chriſtoph. Forſtneri notae politicae ad
C. Tacitum. Argent. 1650.
**)
le Brets Magazin zur Geſchichte.
A. d. H.

Lizenz
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bk0b.0