oder
der erfahrne Rathgeber
fuͤr
die unerfahrne Jugend,
fuͤr ſeine geweſenen Pflegeſoͤhne,
und
fuͤr alle erwachsnere junge Leute,
welche Gebrauch davon machen wollen.
Et patriae tremuere manus.’
(Ouidius.)
bei Karl Ernſt Bohn.
[][]
An meine
geweſenen Pflegeſoͤhne.
[][]
Meine lieben Kinder,
Was ich, wie ihr wißt, bei der Abnahme
meiner Geſundheit, ſchon vor einiger
Zeit mit Bekuͤmmerniß in dunkler Ferne ſah, *)
das iſt jezt eingetroffen. Die Vorſehung hat
geſprochen; unſer Loos iſt geworfen; es
heißt — Trennung!
Ich trokne meine Augen, um in eurer
Mitte noch einmahl freudig und liebevol um-
herzublikken; noch einmahl mich zu laben
an den großen herzerhebenden Hofnungen,
die ihr mir einfloͤßtet, und die ich — ach,
ſo gern! unterhielt; noch einmahl meinen
beſten, innigſten, feurigſten Herzensſeegen
uͤber euch alle auszugießen, und dan — zu
* 3haften
[] haften am Boden auf dem Flek, auf welchem
Gott mir ſtil zu ſtehn gebot, und euch nach-
zuſehn, ſo weit mein Auge reichen wird, auf
den Wegen, auf denen Gott euch, ohne mich,
nun weiter fuͤhren wird.
Ihr ſahet, meine guten Kinder, wie lange
ich kaͤmpfte, wie oft ich mich ermante, und
die ſinkende Hand von neuem erhob, um euch
weiter zu leiten auf dem ſchmalen ungebahnten
Pfade zu jeder ſchoͤnen Tugend und zur Gluͤk-
ſeeligkeit: aber ihr ſahet auch, und der Al-
ſehende ſah es zugleich, daß ich unter der
Anſtrengung erlag, und daß ich mich ent-
ſchließen mußte, entweder euch in eurem
Laufe aufzuhalten, oder allein zuruͤkzubleiben.
Ich waͤhlte das Leztere, ohngeachtet ich wohl
wußte, daß der unvernuͤnftigere Theil der
Voruͤbergehenden meine Bewegungsgruͤnde
zu dieſer Wahl nicht faſſen wuͤrde, nicht
faſſen koͤnte, weil zur Beurtheilung und Billi-
gung eines gewiſſenhaften Verfahrens erfodert
wird,
[] wird, daß man ſelbſt gewiſſenhaft zu handeln
ſich gewoͤhnt habe. Und ach! — warum
muß ich dieſe traurige Wahrheit euch ſchon
ſo fruͤh entdekken? — ſo zu handeln, hat
ein groͤſſerer Theil der Menſchen, als man
glauben ſolte, ſich noch nicht gewoͤhnt! —
Aber ehe wir, Wange an Wange gelegt,
unſere Traͤnen zum leztenmahl in einander
fließen laſſen, vernehmt, ihr Lieben, mit
derjenigen freudigen Folgſamkeit, womit ihr
meine treue Liebe zu euch ſo oft belohnt habt,
den lezten Willen eines Vaters, der auch
dan, wan wir getrent ſein werden, zu eurer
Gluͤkſeeligkeit noch ſo gern etwas beitragen
moͤgte! Ihr erwartet vielleicht, indem ich
euch ſo auffodere, daß ich euch noch einmahl
alle die Vorſchriften zu einem rechtſchaffenen,
gemeinnuͤzigen und gluͤklichen Leben, nach
denen wir eure junge Herzen zu bilden uns
beſtrebten, wiederholen, und bei unſerer
Liebe, bei eurer ewigen Wohlfahrt euch be-
* 4ſchwoͤren
[] ſchwoͤren werde, ihnen immer treu zu blei-
ben? Aber nein, Kinder! dis iſt jezt meine
Abſicht nicht. Ich darf hoffen, daß jede
wichtige Lehre, die wir euch gegeben, und
nach der wir euch geuͤbt haben, mit unaus-
loͤſchlicher Schrift in euren Herzen angeſchrie-
ben ſtehe; darf hoffen, daß forthin es kei-
nem unter euch mehr moͤglich ſein werde,
wiſſentlich und vorſezlich dem entgegen zu
handeln, was ihr als ſchoͤn und gut, als
recht und gottgefaͤllig erkant habt: wozu alſo
eine Wiederholung? Wozu eine nochmalige
Ermahnung zu dem, was ihr gern, und im-
mer gerner, immer eifriger aus eigenem An-
triebe thun werdet?
Mein lezter Wille hat alſo einen andern
Gegenſtand. Vernehmt ihn, meine Kinder,
und laßt, um eurer ſelbſt willen, ihn euch
heilig ſein.
Bis hieher war es zu eurer Gluͤkſeelig-
keit genug, daß ihr euch gegen unſere Vor-
ſchriften
[] ſchriften folgſam bewieſet, daß ihr alles er-
kante Gute gern umfaßtet, und vor allem
erkanten Boͤſen mit Abſcheu zuruͤkbebtet.
Dis wird denn auch fernerhin, ſo lange ihr
noch an der Hand eines erfahrnen Fuͤhrers
geht, zu eurem Wohlergehen hinreichend ſein.
Aber, Kinder, die Zeit nahet heran, und
bei einigen von euch iſt ſie ſchon vor der
Thuͤr — da ihr den mislichen Weg des Le-
bens allein betreten ſolt. Da wird es nun
der verfuͤhreriſchen Seitenwege, welche links
und rechts durch einladende Gegenden laufen,
viele geben. Da werdet ihr oft, und ehe
ihr es euch verſeht, euch mitten in einem
undurchdringlichen Dikkicht befinden, wo um
und neben euch keine menſchliche Spur, und
uͤber euch kaum eine Spannebreit vom Him-
mel wird zu ſehen ſein. Da werdet ihr nicht
ſelten ploͤzlich auf tiefe, mit ſtaudichten Blu-
men verwachſene Gruben ſtoßen, und ein ein-
ziger unvorſichtiger Schrit, vorwaͤrts gethan,
* 5kan
[] kan auf immer euch ins Verderben ſtuͤrzen.
Da wird es endlich oft in lachenden Thaͤlern
giftige, in hohem Graſe verſtekte Schlangen
und Ottern geben, welche euren Ferſen auf-
lauren, auch wilde Beſtien im nahen Gehoͤlz,
welche auf euch hervorſchießen werden zu einer
Zeit, da ihr in eurem argloſen leicht betro-
genen Herzen euch voͤllig ſicher waͤhnt.
Kinder! ich bin des Weges gekommen,
und rede nicht von Hoͤrenſagen, ſondern aus
Erfahrung. Glaubt alſo einem glaubwuͤr-
digen Manne und einem fuͤr euch zitternden
Vater: es iſt zum gluͤklichen Antrit und zur
ſichern Vollendung der gefahrvollen Lebens-
reiſe nicht genug, die Himmelsgegend zu
wiſſen, nach der man wandern muß; nicht
genug, mit dem feſten Vorſaze auszugehn,
der rechten Straße immer folgen, nie von
ihr abweichen, und alle gefaͤhrlichen Oerter
ſorgfaͤltig vermeiden zu wollen; nicht genug,
ſich gewoͤhnt zu haben, keinem der Mitwan-
derer
[] derer vorſezlich in den Weg oder auf den
Fuß zu treten — mit andern Worten: es
iſt zu einem ruhigen, zufriedenen und
gluͤklichen Leben hienieden nicht genug,
daß man gut und immer beſſer zu wer-
den ſich beſtrebe; (ohngeachtet dieſes Be-
ſtreben das erſte unentbehrliche Mittel zur
Gluͤkſeeligkeit iſt) man muß auch vorſich-
tig, klug und durch Erfahrung weiſe ge-
worden ſein.
Aber, ach! dieſe Klugheit, dieſe Er-
fahrung hat man gemeiniglich erſt dan er-
worben, wan die Zeit, ſie zu nuzen, ſchon
voruͤber iſt. Ungluͤklicher Juͤngling, dem
die Vorſehung keinen vaͤterlichen Freund ge-
waͤhrte, der aus ſeiner Fuͤlle dieſen Mangel
erſezte, und ihm liehe, was er ſelbſt noch
nicht erwerben konte! Ihr, meine Lieben —
o freuet euch, und danket Gott dafuͤr! —
ſolt zu der Zahl dieſer Ungluͤklichen, die erſt
durch Schaden klug werden muͤſſen, nicht
gehoͤren.
[] gehoͤren. Seht, ich uͤbergeb’ euch hier ein
Buch, worin ich meine beſten, oft theuer er-
kauften Erfahrungen fuͤr euch aufgezeichnet
habe. Dis iſt der Nachlaß meines Herzens
fuͤr euch und fuͤr alle junge Weltbuͤrger,
welche Theil daran nehmen wollen. Hoͤret
nun, was fuͤr einen Gebrauch ihr davon
machen ſolt; dis iſt mein lezter Wille:
„ihr ſolt dis Buͤchelchen bei demjenigen
„aufbewahren, was unter allen euren
„Sachen euch am liebſten iſt. Da ſol es
„liegen, als ein Heiligthum, bis die Zeit
„herannahet, da ihr ohne Fuͤhrer in
„das große menſchliche Leben treten
„werdet. Alsdan ſolt ihr es zur Hand
„nehmen, euch durch die dankbare Er-
„innerung an meine Liebe recht erwaͤr-
„men; ein kurzes bruͤnſtiges Gebet um
„Weisheit, Verſtand und guten Willen
„zu Gott thun, und dan mit der ſtilſten
„und groͤßten Aufmerkſamkeit, deren ihr
„faͤhig
[]„faͤhig ſeid, leſen, was ich fuͤr euch ge-
„ſchrieben habe. Bei jedem Abſaze ſolt
„ihr ſtil ſtehen, um erſt in euch ſelbſt
„und um euch herzublikken, und die Fra-
„gen an euch zu thun: bin ich denn nun
„auch ſchon, was hier mein guter Vater
„wolte, daß ich ſein ſolte? Oder: hab’
„ich auch wohl jezt ſchon Gelegenheit,
„dieſe Lehre in Ausuͤbung zu bringen?
„Dan ſolt ihr alles, was ſchon zu der
„Zeit fuͤr euch anwendbar ſein wird,
„zeichnen, um, nach vollendeter Leſung
„des ganzen Buchs, euch dieſe Stellen
„noch einmahl ganz vorzuͤglich zu mer-
„ken, und darauf ſogleich zur Anwen-
„dung zu ſchreiten. Dis alles ſolt ihr
„am Ende eines jeden halben Jahrs
„an beſtimten Tagen feierlich und ge-
„wiſſenhaft wiederholen, und zwar ſo
„lange, bis ihr, durch eigene Erfahrun-
„gen hinlaͤnglich bereichert, finden wer-
„det,
[]„det, daß die meinigen euch entbehrlich
„geworden ſind.„
Und nun herbei, ihr Lieben, in meine Arme,
ſo viel ſie eurer faſſen koͤnnen, um Herz an
Herz, Wange an Wange gedruͤkt, den laͤngſt
geſchloſſenen Bund der Liebe und der Recht-
ſchaffenheit noch einmahl mit unſern Traͤnen
zu verſiegeln. In einer volkomnern Welt,
wo tugendhafte Verbindungen, hier im Lande
der Unvolkommenheit geſchloſſen, erneuert
und auf ewig feſt geknuͤpfet werden ſollen,
warte ich einſt mit eurer guten Pflegemutter
eurer Ankunft, um uns gemeinſchaftlich in
heiſſer Dankbarkeit vor dem Weſen aller
Weſen hinzuwerfen, deſſen vaͤterliche Hand
euch durch alle Gefahren, welche eurer Tugend
und eurer Gluͤkſeeligkeit drohen, bis dahin
gnaͤdig leiten wird. Sein alles vermoͤgender
Seegen uͤber euch! — und nun getroſt und
muthig hinan den Berg, der meinen Blikken
euch entziehen ſol!
Hamburg den 31 Jenner 1783.
Campe
[[I]]
Vorbericht.
Diejenigen, welche mich kennen, werden von
mir wiſſen, daß ich ſeit geraumer Zeit,
alles, was mir von Faͤhigkeiten, Kraͤften und
etwanigen Kentniſſen beiwohnte, dem [einzigen]
großen Beduͤrfniſſe der Menſchheit, der Erzie-
hung, gewidmet habe. Gern waͤr’ ich auf dieſer,
zwar hoͤchſtmuͤhſamen, aber auch ſehr freudenrei-
chen Laufbahn, bis an das Ende meines Lebens
ununterbrochen fortgegangen: allein nach fuͤnf,
in gluͤklicher Thaͤtigkeit verlebten Jahren, ſah ich
meinen Geſundheitszuſtand, und mit ihm die zu
dieſem Geſchaͤfte ſo ganz unentbehrliche Munterkeit
des Geiſtes, dermaßen in Verfal gerathen, daß
ich mich fuͤr verpflichtet hielt, mein bisheriges,
von der Vorſehung ſo ſehr geſeegnetes Erziehungs-
inſtitut einem Manne von friſcherer Geſundheit
und von ungeſchwaͤchteren Kraͤften *) abzutreten;
um den Reſt meines Lebens zwar noch immer der
Erziehung, aber doch nur in demjenigen Maaße
zu weihen, in welchem die Beſchaffenheit meiner
* *Geſund-
[II]Vorrede.
Geſundheit dieſem ſchwerſten und wichtigſten aller
menſchlichen Geſchaͤfte noch wird gewachſen ſein.
Bei dieſer Gelegenheit ſchien es mir denn eine
meiner lezten Pflichten gegen diejenigen zu ſein,
welche bisher der Gegenſtand meiner vaͤterlichen
Sorgfalt waren, alles, was ich an nuͤzlicher Er-
fahrung, an Welt und Menſchenkentniß in mir
fuͤhlte, ſorgfaͤltig aufzuzeichnen, um es ihnen, als
ein Vermaͤchtniß, auf diejenige Zeit zu hinter-
laſſen, da ſie die misliche Reiſe durchs Leben ohne
Fuͤhrer allein antreten ſollen. So entſtand dieſes
Buch, deſſen erſter Theil, wie man ſieht, aus
zwei Hauptabſchnitten beſteht, wovon der eine
Erfahrungen und Vorſchriften zur gluͤkli-
chen Einrichtung eines geſchaͤftigen Lebens,
der andere diejenigen Klugheitsregeln enthaͤlt,
welche uns in dem Umgange mit Menſchen
leiten muͤſſen.
Der erſtere erſcheint hier, einige Veraͤnderun-
gen und Zuſaͤze ausgenommen, nicht zum erſten
mahl. Ich machte vor etwas mehr als fuͤnf
Jahren die erſte Skize dazu in den hieſigen
Addreßcomtoir-Nachrichten bekant. Dieſe
Blaͤt-
[III]Vorrede.
Blaͤtter wurden binnen vierzehn Tagen gaͤnzlich
vergriffen; und verſchiedene Vaͤter, welche mei-
nen Aufſaz fuͤr gemeinnuͤzig hielten, wuͤnſchten
einen abermaligen Abdruk deſſelben. Ich arbeitete
ihn daher von neuem etwas ſorgfaͤltiger um, und
ließ ihn, in dieſer vermehrten und verbeſſerten
Geſtalt, meiner damahls ans Licht tretenden
Samlung von Erziehungsſchriften einver-
leiben. Hier ward er, ſo viel ich weiß, aber-
mahls mit Zufriedenheit geleſen, und alle, welche
ich daruͤber urtheilen hoͤrte, wuͤnſchten, daß man
ihn, mehrerer Gemeinnuͤzigkeit wegen, von jener
Samlung getrent, auch allein moͤgte kaufen koͤn-
nen. Theils, um dieſem Verlangen, welches
damahls nicht befriedigt werden konte, jezt ein
Genuͤge zu thun, theils um nicht die gegenwaͤrtige
Samlung von Erfahrungen und Klugheitsregeln,
wovon jener Aufſaz einen weſentlichen Theil ent-
hielt, unvolſtaͤndig zu laſſen, oder mit andern,
vielleicht minder eindringlichen Worten, noch ein-
mahl zu ſagen, was ich, nach dem Urtheil des
Publikums, ſchon gut genug geſagt hatte, habe
ich den Verlag jener Samlung von Erzie-
* * 2hungs-
[IV]Vorrede.
hungsſchriften kaͤuflich an mich gebracht, um das
Recht zu haben, dieſen Aufſaz daraus zu entlehnen
und dem gegenwaͤrtigen Werke einzuverleiben.
Damit aber auch das Publikum eine und eben
dieſelbe, nur etwas veraͤnderte Sache nicht zwei-
mahl kaufen duͤrfe: ſo habe ich folgende, dieſer
Unbequemlichkeit, wie mich duͤnkt, voͤllig abhel-
fende Einrichtung getroffen. Erſtlich habe ich den
Preis jener Samlung von Erziehungsſchrif-
ten auf meine Koſten um ſo viel und noch mehr,
als dieſe fuͤnf Bogen in derſelben betragen, herab-
ſezen laſſen, ſo daß die kuͤnftigen Kaͤufer der be-
ſagten Samlung dieſen daraus entlehnten Aufſaz
unentgeldlich bekommen. Zweitens erbiete ich mich
hiermit, allen denen, welche jene Samlung ſchon
gekauft haben, das gegenwaͤrtige Buch, wenn ſie
ſich deshalb an mich ſelbſt wenden wollen, um
ſechs Groſchen weniger, als der Ladenpreis be-
traͤgt, zu uͤberlaſſen; zu welchem Ende man
unten *) meine jezige Addreſſe finden wird.
Der
[V]Vorrede.
Der andere, dreimahl groͤſſere Abſchnit iſt
noch nie gedrukt worden.
Ich habe aber auch noch einen Anhang hin-
zugefuͤgt, welcher den zweiten Theil dieſes Werk-
chens ausmacht. Dieſer enthaͤlt das Weſentlichſte
und Beſte aus einer beſondern Samlung von
Briefen des Grafen von Cheſterfield, welche
der engliſchen Originalausgabe der bekanten Briefe
des Grafen an ſeinen Sohn vom Jahr 1776
als ein Anhang beigelegt, in der deutſchen Ueber-
ſezung aber, ich weiß nicht aus was fuͤr Urſachen,
uͤbergangen war. Sie erſcheint alſo jezt hier
zum erſtenmahl uͤberſezt mit Weglaſſung der Ein-
gaͤnge, Schlußformeln, und minder zwekmaͤßigen
Stellen; und ich bin verſichert, meine Leſer
werden finden, daß ſie eins der leſenswuͤr-
digſten Stuͤkke der Cheſterfieldſchen Werke ſind.
Die Ueberſezung iſt von Hrn. Rudolphi, mei-
nem vieljaͤhrigen treuen und geſchikten Mitarbeiter
in Erziehungsſachen.
Noch habe ich einige ausgeſuchte, und nach
Beſchaffenheit der Umſtaͤnde bald abgekuͤrzte oder
zuſammengezogene, bald getrente, und ihrem In-
* * 3halte
[VI]Vorrede.
halte nach, ſo viel moͤglich geordnete, trefliche
Stellen aus den uͤbrigen Briefen des Grafen an-
gehaͤngt, weil ich mir nicht ſchmeicheln konte, daß
es mir gelingen wuͤrde, die darin enthaltenen
Vorſchriften in ein gefaͤlligeres Kleid zu huͤllen,
als dasjenige war, welches man ihnen ſchon gege-
ben hatte. Deswegen uͤberging ich dieſe Vor-
ſchriften in meinem eigenen Aufſaze, um ſie mei-
nen Leſern lieber mit den Worten eines ſo feinen
Menſchenkenners und eines ſo angenehmen Schrift-
ſtellers, als mit meinen eigenen, zu geben.
Um aber dieſe ausgezogenen Stellen in einige
Verbindung zu bringen, habe ich ſie zum Theil
dem eben erwaͤhnten neuuͤberſezten Stuͤkke derge-
ſtalt einverleibt, daß ich jeden ſolcher eingeſcho-
benen Zuſaͤze mit () einfaßte, und den Ort, wo
jenes uͤberſezte Stuͤk ſich endigte, durch drei * * *
andeutete. Dieſe genaue Bezeichnung glaubte ich
deswegen beobachten zu muͤſſen, damit man das,
was hier zum erſten mahl uͤberſezt erſcheint, nicht
mit demjenigen vermiſchen moͤgte, was ich aus
der deutſchen Ueberſezung der ſaͤmtlichen Wer[k]e
des
[VII]Vorrede.
des Grafen mit einigen Verbeſſerungen der
Schreibart ausgehoben habe.
Man koͤnte aber fragen, warum ich meine
Schuͤler nicht lieber auf das ganze Werk des
Grafen verwieſen haͤtte, als ihnen dieſe Auszuͤge
aus demſelben vorzulegen! Diejenigen, welche
das Buch ſelbſt geleſen haben, und uͤber paͤdago-
giſche Dinge urtheilen koͤnnen, wiſſen meine Ant-
wort ſchon; fuͤr die uͤbrigen muß ich anmerken,
daß der einſeitige Hauptzwek des Verfaſſers nur
die Auſſenſeite ſeines Sohnes abzuglaͤtten, um ſie
ſchimmernd und einnehmend zu machen, einen viel
zu nachtheiligen Einfluß in verſchiedene ſeiner Ur-
theile uͤber moraliſche Gegenſtaͤnde gehabt hat, als
daß ich es wagen moͤgte, einem Juͤnglinge von
noch nicht voͤllig ausgebildetem Karakter das Ganze
in die Haͤnde zu geben. Dazu komt, daß der
Sohn dieſes vornehmen und beguͤterten Weltmans
von ſeiner Wiege an, fuͤr eine Laufbahn beſtimt
war, zu welcher nur wenige junge Leute durch
Geburt und Gluͤksumſtaͤnde faͤhig ſind; und daß
daher auch manche Vorſtellung und Erinnerung,
welche in Ruͤkſicht auf dieſe individuelle Beſtim-
mung
[VIII]Vorrede.
mung zwekmaͤßig war, fuͤr die meiſten andern
jungen Leute voͤllig unnuͤz, manche ſogar in hohem
Grade ſchaͤdlich ſein wuͤrde. Ich getraue mir
daher zu glauben, daß wohl keiner die von mir
uͤbernommene Bemuͤhung, die beſten und gemein-
nuͤzigſten Lebensregeln aus ſo vielen andern, theils
bis zum Ekel widerhohlten, theils zu individuel-
len, theils auf eine zu leichtſinnige Sittenlehre
gebauten Vorſchriften auszuheben und ſie dieſem
meinem Werkchen, um ihm eine groͤſſere Volſtaͤn-
digkeit zu geben, beizufuͤgen, fuͤr uͤberfluͤſſig hal-
ten werde.
Uebrigens bitte ich diejenigen, welche kuͤnftig
einen Ausſpruch des Lords anfuͤhren wollen, ihn
nicht aus dieſen meinen Auszuͤgen, ſondern aus
ſeinen eigenen Werken zu nehmen, weil die Ver-
ſchiedenheit zwiſchen Sr. Herlichkeit moraliſchen
Grundſaͤzen und den meinigen, mich je zuweilen
in die Nothwendigkeit ſezte, ihn grade das Ge-
gentheil von demjenigen ſagen zu laſſen, was er
wirklich geſagt hatte.
[[1]]
I.
Theophrons guter Rath
fuͤr
ſeinen Sohn,
als dieſer im Begrif war
ins geſchaͤftige Leben zu treten.
A
[[2]][[3]]
Nahe bey W*** lebte noch vor einigen
Jahren auf einem kleinen Landſize
der alte — Theophron nenn’ ich
ihn, weil ſein wahrer Nahme nichts zur Sache
thut; ein Man von Verdienſten, der in wich-
tigen Geſchaͤften grau geworden war. Den
Abend ſeines gemeinnuͤzigen Lebens hatt’ er einer
philoſophiſchen Ruhe und dem Wohl ſeiner klei-
nen Familie gewidmet. Er hatte einen einzigen
Sohn, deſſen Wohlergehn ihm ſo ſehr am Herzen
lag! Wir wollen ihn Kleon nennen.
Die Zeit nahete jezt heran, daß dieſer den
Schooß ſeiner Familie verlaſſen, und in oͤffent-
liche Geſchaͤfte treten ſolte. Sein junger Geiſt
A 2war
[4] war mit den noͤthigſten Kentniſſen ausgeſchmuͤkt,
ſein Herz vol der edelſten Geſinnungen: aber
es fehlte ihm noch — woran es jungen Leuten
immer fehlt — an Erfahrung. Sein guter
Vater wolte nun dieſen Mangel — ſo weit
das moͤglich iſt — durch ſeinen Rath erſezen;
und dieſer macht den Inhalt der folgenden
Blaͤtter aus.
Es war an einem ſchoͤnen Sommerabend,
den die Natur recht eigentlich dazu gemacht zu
haben ſchien, die Gemuͤther der Sterblichen zu
ſtillen, heilſamen Betrachtungen einzuladen. Alles
ſchwieg; nur daß in dem nahen Gebuͤſch ein
Paar Nachtigallen das Gluͤck ihres Daſeins und
ihrer Liebe durch ſuͤße Lieder feierten. Die
Sonne hatte ihren Lauf vollendet; ſchenkte ihrer
lieben Erde eben noch die lezten Abſchiedsblikke,
und jezt ſank ſie almaͤhlig hinter das weſtliche
Gebirge hinab.
Da ſezte Theophron ſich mit ſeinem Sohne
auf einer kleinen Anhoͤhe nieder, von welcher ſie
die große herliche Gegend uͤberſehen konten, die
mit
[5] mit der reichſten Mannigfaltigkeit von Gaͤrten,
Waͤldern, Wieſen, Aekkern, Fluͤſſen und Dorf-
ſchaften, vor ihnen ausgebreitet lag. Sie ſchwie-
gen eine gute Weile, indem jeder von ihnen ſich
ſeinen eigenen Empfindungen uͤberließ. Endlich
faßte Theophron die Hand ſeines Sohns, druͤkte
ſie mit Innigkeit, und fuͤhlte auf der ſeinigen
Kleons Lippen mit einem warmen kindlichen
Kuſſe beben.
Mein guter Sohn, ſagt’ er, indem er ſich
die Augen wiſchte, die Zeit iſt nun da, daß wir
uns trennen muͤſſen. Du wirſt die gefahrvolle
Wanderſchaft des Lebens allein antreten, ohne
fernerhin deinen vaͤterlichen Freund zum Gefaͤhrten
und Fuͤhrer zu haben. Aber mein Geiſt ſol mit
Liebe, Rath, und guten Seegenswuͤnſchen beſtaͤn-
dig bei dir ſein, wohin der Weg, den die Vor-
ſehung dir nun anweiſen wird, auch immer fuͤhren
mag. Und wan ich ſelbſt nicht mehr hier bin;
wan unſer gemeinſchaftlicher Vater dieſen meinen
unſterblichen Geiſt nach andern Gegenden ſeines
unermeßlichen Weltals abrufen wird: dan,
mein Sohn, dan iſt Er, unſer guter Schoͤpfer
A 3ſelbſt,
[6] ſelbſt, doch noch immer bei dir mit Rath und Kraft,
wenn du beſtaͤndig auf ſeinen Wegen wandelſt.
Und das wirſt du; dein Herz, welches ich zu
kennen glaube, iſt mir Buͤrge dafuͤr. Umarme
mich, mein Theurer, und laß an meinem vaͤter-
lichen Buſen dein klopfendes Herz dem meinigen
die ſtumme Verſicherung geben, daß es ihn nie
gereuen ſol, dieſe Buͤrgſchaft angenommen zu
haben!
Kleon flog mit Inbrunſt in ſeine Arme, und
lange hielten ſie ſich in wehmuͤthiger, ſprachloſer
Ruͤhrung umſchlungen.
Endlich ermante ſich der Vater, und fuhr fol-
gendermaßen fort.
Mein Sohn, du ſtehſt in Begrif, ein un-
ſicheres Meer zu befahren, wo es der Klippen,
der Sandbaͤnke und der Stuͤrme viele gibt.
Ich habe dieſe Fahrt vor dir gethan; lief oft Ge-
fahr, bin aber endlich, Gott ſei Dank! noch ziem-
lich unverſehrt, und mit mancherlei Erfahrungen
bereichert, in dieſem kleinen ſtillen Hafen gluͤklich
vor Anker gekommen. Da ich ausfuhr, hatte
ich keinen, der mir guten Rath gewaͤhrte; ich
mußte
[7] mußte alle meine Erfahrungen auf eigene Koſten,
oft theuer genug, einkaufen. Aber nun ich ſie
habe, ſollen ſie nicht mit mir ins Grab gelegt
werden; ſie ſollen mein Vermaͤchtnis ſein, wel-
ches ich dir, mein Einziger, hinterlaſſen wil. O
freue dich, du haſt eine reiche Erbſchaft gethan,
wenn du ſie zu nuͤzen weißt!
Hoͤre mir alſo mit Aufmerkſamkeit zu, und
erinnere mich allenfals, wenn ich in den gewoͤhn-
lichen Fehler des Alters fallen, und in geſchwaͤzige
Ausſchweifungen gerathen ſolte. Denn es iſt
mein ernſtlicher Wunſch, dieſen Abend nicht mehr
und nicht weniger zu reden, als was dir zur
gluͤklichen Fuͤhrung deines kuͤnftigen geſchaͤftigen
Lebens zu wiſſen noͤthig iſt.
Vor allen Dingen merke dir dieſes, mein
Kleon! Wer mit gluͤklichem Erfolg, zu ſeiner
und zu anderer Zufriedenheit auſſer ſich wirken
wil, der muß zuvor auf ſich ſelbſt gewirkt haben.
O wie viele kenne ich, die dieſe Wahrheit zu
ſpaͤt lernten, und die unwiederbringliche Zeit,
A 4welche
[8] welche daruͤber verfloſſen iſt, mit ihrem Herzens-
blute zuruͤkkaufen moͤgten!
Archimedes verlangte nur einen feſten Punkt,
um den ganzen Erdbal aus ſeinem Gleiſe zu
ſchieben. Auch in der moraliſchen Welt bedarf
jeder, der große Wirkungen hervorbringen wil,
gleichfals eines ſolchen feſten Punktes. Und der
muß in uns ſelbſt ſein. Wehe dem, der ſeine
Kraft auf den Umkreis richtet, ohne das Centrum
gehoͤrig befeſtiget zu haben!
Ich wil ohne Metapher reden. Wer aͤuſſer-
liche Geſchaͤfte, welche auf das Wohl der menſch-
lichen Geſelſchaft abzielen, uͤbernehmen wil (und
ich ſeze voraus, daß der Man von Ehre und Ge-
wiſſen ſich zu keinem andern wird gebrauchen
laſſen) der fange doch ja damit an, ſich ſelbſt zu
beſſern, ſich ſelbſt in allem, was gut und edel iſt,
auf immer zu befeſtigen, und ſich dadurch ein
Maaß von innerer Zufriedenheit zu erwerben,
welches ſein Herz nicht mehr zu faſſen vermag,
und es daher auf andere Weſen auſſer ſich uͤber-
fließen zu laſſen, ſich gedrungen fuͤhlt. Wer
dieſes verabſaͤumt, und gleichwohl ins Große wir-
ken
[9] ken wil, der gleicht jener pralenden, aber kurzen
Lufterſcheinung, welche den Glanz eines Fixſterns
nachahmt, aber keine bleibende Staͤte hat, und
dahinfahrend in einem Nu! erloſchen iſt!
Mein Kleon! die Hand aufs Herz, und
wohlbedaͤchtig unterſucht, wie es in Anſehung
dieſes Einen, welches ſo ſehr noth iſt, mit dir
beſchaffen ſei! — Biſt du dir bewußt, daß die
Liebe zu allem, was wahr und gut und ſitlich
ſchoͤn iſt, ſchon wirklich tiefe unaustilgbare Wur-
zeln in dir geſchlagen habe; daß du dich beſtrebt
habeſt, und noch taͤglich beſtrebeſt, deine Nei-
gungen alle wohl zu ordnen, und der beſtaͤndigen
Lenkung der Vernunft und des Gewiſſens zu un-
terwerfen; daß das Laſter jeder Art eine ſo haͤß-
liche abſchrekkende Geſtalt in deinen Augen an-
genommen habe, und dein ſitliches Gefuͤhl zu-
gleich ſchon ſo verfeinert und ſo geſchaͤrft ſei, daß
du das, was boͤſe iſt, unter jeder noch ſo reizenden
Larve, durch ein ploͤzliches Gegengefuͤhl erkennen,
und immer verabſcheuen, und immer davor zuruͤk-
ſchaudern wirſt; biſt du dir endlich des redlichen
Vorſazes bewußt, dich in dieſen angefangenen
A 5guten
[10] guten Geſinnungen taͤglich mehr und mehr be-
feſtigen, und ſo von Stufe zu Stufe zu dem
hoͤchſten Gipfel der Volkommenheit, welcher hie-
nieden fuͤr uns erreichbar iſt, hinan klimmen zu
wollen: dan trete mit Gott und gutem Muthe
in die Laufbahn, welche die goͤtliche Vorſehung
dir eroͤfnen wird, und zweifle nicht, daß du den
Lauf vollenden, und ein herliches Ziel erreichen
werdeſt.
Kanſt du aber (und Gott verhuͤte, daß du
hieruͤber noch niemahls mit dir ſelbſt ſolteſt zu
Rathe gegangen, oder wohl gar in einer ſo
wichtigen, alles entſcheidenden Sache der ge-
ringſten Verſtellung faͤhig ſein!) kanſt du, ſage
ich, dir ſelbſt hieruͤber noch keine beruhigende
Antwort geben: o ſo halte dich doch ja noch nicht
fuͤr berufen, irgend ein anderes Geſchaͤfte zu be-
ginnen, als dieſes noͤthigſte unter allen — das
Geſchaͤft deiner eigenen ſitlichen Ausbeſſerung!
Denn, glaube deinem alten Vater, der ja
wahrlich keine Urſache haben kan, dich hinter-
gehen zu wollen, und der es dir bei dieſem ſei-
nen grauen Haupte und bei der Hofnung einer
ſeeligen
[11] ſeeligen Zukunft betheuert, daß weder irgend eine
wahre dauerhafte Gluͤkſeeligkeit fuͤr den ungebeſ-
ſerten Menſchen moͤglich ſei, noch daß derjenige,
der ſich nicht ſelbſt durch das Bewuſtſein ſeiner
Rechtſchaffenheit innerlich gluͤklich fuͤhlt, andere
Menſchen auſſer ſich gluͤklich machen koͤnne. Und
das iſt doch, hoff’ ich, die Abſicht, warum wir
oͤffentliche Geſchaͤfte uͤbernehmen!
Niemand kan etwas geben, was er ſelbſt
nicht hat: das iſt eine ſimple und unlaͤugbare
Wahrheit. Was folgt daraus? Das, was ich
geſagt habe, daß man andern Weisheit, Guͤte
und Gluͤkſeeligkeit wirklich nicht anders mittheilen
koͤnne, als nur in dem Grade, in welchem man
ſelbſt ſchon weiſe, gut und gluͤklich geworden iſt.
Hoͤre, mein Sohn, ich habe dir eine traurige
Wahrheit zu ſagen: auf dieſer ſchoͤnen Erde,
welche fuͤr Weſen, die den Geſezen der Natur —
Gottes Geſezen — beſtaͤndig treu blieben, ein
wirkliches Paradies ſein muͤßte, leben wenig
gluͤckliche Menſchen. Nim dieſe unſeelige
Beobachtung ſo lange auf Treu und Glauben
von mir an, bis du ſie ſelbſt wirſt beſtaͤtiget
gefunden
[12] gefunden haben. Die Quelle dieſes algemeinen
Elendes, welches die Menſchheit ergriffen hat,
iſt nicht in Gott, nicht in der von ihm geſchaffe-
nen Natur; ſie iſt in den Menſchen ſelbſt, in ih-
rem verwoͤhnten, von unreinen Leidenſchaften un-
aufhoͤrlich beunruhigten Herzen. Unter dieſen
Leidenſchaften gibt es vornemlich drei, welche das
in Wahrheit fuͤr die Menſchen ſind, was in der
Fabellehre die drei Hoͤllenfurien fuͤr die Verdamten
waren; ſie heiſſen Ehrſucht, Ueppigkeit und Un-
zucht.
Jede von dieſen Leidenſchaften iſt ein gefraͤßiger
Wurm, der die ſchoͤne Blume, Gluͤkſeeligkeit ge-
nant, wovon der Schoͤpfer den Keim in alle ſeine
Geiſter gelegt hat, unaufhoͤrlich an der Wurzel
benagt. Wehe dem Herzen, in welches der eine
oder der andere von ihnen ſich einmal eingeſchlichen
hat! Und — o Jammer! in viele, vielleicht —
ich zitre, indem ichs ſage — vielleicht in die
meiſten, haben alle drei zugleich den Eingang ge-
funden!
Daher die algemeine Unzufriedenheit unter
den Menſchen! Daher die algemeine Erſchlaffung
aller
[13] aller urſpruͤnglichen Kraͤfte der Menſchheit und
ihre merklich zunehmende Unfaͤhigkeit zu allem,
was edel und groß iſt! Daher — doch dieſe
Klagen wuͤrden mich zu weit fuͤhren. Meine
Abſicht war ja nur, dich auf dieſe Erbfeinde der
menſchlichen Gluͤkſeeligkeit, dieſe maͤchtigſten
Stoͤrer eines zufriedenen und gemeinnuͤzigen Le-
bens aufmerkſam zu machen, damit du den ſtaͤrk-
ſten Harniſch der Vernunft und der Religion wi-
der ſie anlegen, und vor ihren, anfangs unmerk-
lichen Angriffen, beſtaͤndig auf deiner Hut ſein
moͤgeſt.
Haſt du nun ſolchergeſtalt bei dir ſelbſt an-
gefangen; und glaubſt du, mit der Bildung dei-
nes eigenen Herzens in ſo weit zur Richtigkeit
gekommen zu ſein, daß du nicht beſorgen darfſt,
den tauſendfaͤltigen Verſuchungen zum Laſter,
denen du entgegen gehſt, jemahls unterzuliegen:
dan ſei dein naͤchſtes wichtiges Geſchaͤft, deine
eigenen Kraͤfte wohl zu pruͤfen, um ihnen
einen ihrer Groͤße genau angemeſſenen
Wirkungskreis zu beſtimmen. Das haben
gemeinig-
[14] gemeiniglich grade die edelſten Selen verabſaͤumt;
und dieſe Vernachlaͤßigung allein erklaͤrt dem nach-
denkenden Beobachter ſchon zum Theil das ſonſt
unaufloͤslichſcheinende Raͤthſel, warum auch dieſe,
welche in dem Reiche eines alweiſen und alguͤtigen
Weltregenten einer ausgezeichneten Gluͤkſeeligkeit
genießen ſolten, nicht ſelten elend ſind.
Es ſind aber hiebei vornehmlich vier Re-
geln zu beobachten, die ich dir mittheilen wil.
Die erſte und wichtigſte unter allen iſt dieſe:
wolle, indem du auf die Schaubuͤhne des
geſchaͤftigen Lebens tritſt, nicht glaͤnzen,
ſondern nuͤzen und gluͤklich ſein! O eine
goldene Regel, deren Beobachtung Zufriedenheit,
deren Vernachlaͤßigung unausbleibliches Elend
zum Gefolge hat! Und doch, wie ſelten wird ſie
befolgt!
Der junge ruͤſtige Geiſt des Juͤnglings,
durch eine thoͤrichte Erziehung und durch das al-
gemeine Beiſpiel zur Ehrſucht entflamt, fuͤhlt
kaum den erſten duͤrftigen Knospen der fruͤhreifen
Manskraft ſeiner Sele zum Ausbruch anſchwellen:
ſo ſchaut er ſchon gierig umher, und brent, und
lechzt
[15] lechzt nach einer Gelegenheit, wobei er dem, ſei-
ner Meinung nach, erſtaunten Publikum ankuͤn-
digen koͤnne: feht doch, auch ich bin da!
Hat er nun eine ſolche Gelegenheit erhaſcht, und
findet ſich dan irgend ein thoͤrichter Menſchenverder-
ber, der aus Eitelkeit, um ſich das Anſehn eines Be-
ſchuͤzers zu geben, oder aus Schwachheit und
unweiſer Gefaͤlligkeit, auf ſein Seht doch!
achtet, den jungen Gekken ſtreichelt, ihn wohl gar
aus dem Haufen hervor ans helle Tageslicht zieht,
und noch einmahl ſelbſt ſeht doch! ruft: dan gute
Nacht Beſcheidenheit! Gute Nacht gerader, ein-
faͤltiger, reiner Menſchenſin! Gute Nacht Gluͤk-
ſeeligkeit!
Von Stund an iſt das Dichten und Trachten
des jungen Thoren auf nichts anders gerichtet,
als wie er Augen auf ſich ziehen, und von ſich
ſchwazen laſſen moͤge. Die Mittel, dieſen Zwek
zu erreichen, kommen nicht weiter in Betrachtung,
als in ſo fern ſie mehr, oder weniger, geſchwin-
der oder langſamer wirkſam ſind. Ob ſie uͤbri-
gens mit den Grundſaͤzen der wahren Ehre und
der ſtrengen Rechtſchaffenheit beſtehen koͤnnen,
das
[16] das wird nicht mehr bedacht. Es iſt ihm nur
ums Beruͤhmtwerden zu thun; wil’s nicht
als Architekt gehen, der den Tempel baut: flugs
wird das ruhmgierige Maͤnchen ein Heroſtratus,
der ihn verbrent. Hat er ſich doch ſo auch ver-
ewiget!
Nun iſt das Gefuͤhl fuͤr jedes andere natuͤr-
lich gute, edle und große Vergnuͤgen in ſeiner
Bruſt erſtorben. Todt iſt ihm die ganze ſchoͤne
Natur mit allen ihren Freuden; ekelhaft jede
ſtille beſcheidene Familiengluͤkſeeligkeit; trokken
und abgeſchmakt jedes noch ſo nuͤzliche Geſchaͤft,
wobei man nur nicht glaͤnzen kan. Er hat forthin
nur noch Einen Sin, den heilloſen Sin fuͤr Lob
und Ruhm! So lange dieſer gekizelt wird, iſt
ihm die Welt ein Himmel, der Kizelnde ein Engel,
er ſelbſt ein Halbgott! Laͤßt der Kizel nach, wird
er wohl gar an dieſer ſeiner einzigen empfindlichen
Stelle durch Tadel verwundet: in dem Augenblik
iſt ihm die Welt eine Hoͤlle, jeder Menſch ein
Teufel, er ſelbſt ein Maͤrtirer! So hat der Un-
gluͤkliche dem Vergnuͤgen nur ein einziges ſchmales
Pfoͤrtchen zu ſeinem Herzen offen gelaſſen, und dem
Misver-
[17] Misvergnuͤgen tauſend weite Fluͤgelthuͤre auf-
gethan!
O mein Sohn! Haͤtt’ ich Urſache zu beſorgen,
daß du jemahls, durch Beiſpiel angeſtekt, in dieſe
eben ſo thoͤrichte, als gefaͤhrliche Seuche der Ruhm-
ſucht verfallen koͤnteſt: ich wolte Gott auf meinen
Knien bitten, daß er dir jedes Talent, jede Kraft
zu irgend einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit, welche
dir Beifal erwerben koͤnte, verſagen moͤgte;
wolte Tag und Nacht ihn bitten, daß er dir nur
grade ſo viel koͤrperliches und geiſtiges Vermoͤgen
ließe, als der ehrliche Holzhauer bedarf, um ſich
vor Mangel zu ſchuͤzen! Denn, bei Gott dem
Alwiſſenden! du wuͤrdeſt ſo viel gluͤklicher ſein!
“Aber, wirſt du vielleicht denken, die Ehrbe-
gierde iſt doch ein ſo maͤchtiger Sporn zu vielem
Guten, welches, ohne ſie, wohl unerreicht blei-
ben wuͤrde!„ — Ja, wohl ein Sporn — aber
wehe dem traͤgen Roſſe, welches innerer antrei-
benden Kraͤfte beraubt, nicht anders laͤuft, als
wenn es von auſſen geſpornt wird! Es wird frei-
lich des Sporns wegen ſeine Kraͤfte uͤbernehmen;
aber auch bald ermattet und ſteif nur noch
Bzum
[18] zum Karngaul tuͤchtig ſein. Mache ſelbſt die
Anwendung.
Eine zweite Bedenklichkeit, die man mir ent-
gegen ſezen koͤnte, iſt eben ſo ungegruͤndet. Wie
ſol aber, koͤnte einer fragen, ein junger Menſch
ſein Gluͤk machen, wenn er ſich nicht fruͤhzeitig
hervorzuthun, vor andern auszuzeichnen ſucht?
Sein Gluͤk machen? Das ſol vermuthlich ſo
viel heiſſen, als eintraͤgliche Ehrenaͤmter, Titel
und Wuͤrden erlangen? Wenn das der Sin
dieſer Phraſe iſt (wie er es in dem gemeinen
Sprachgebrauche denn wirklich iſt): ſo hatt’ ich
in meinen juͤngern Jahren ſo gut, als einer
meines Standes, mein Gluͤk auch gemacht, und
es ſtand lediglich bei mir, es noch weiter zu
machen. Und doch muß ich, als ein ehrlicher
Man betheuern, daß ich meine wirkliche Gluͤk-
ſeeligkeit erſt von dem Tage an datire, da ich auf
jenes gemachte und noch zu machende Gluͤk frei-
willig Verzicht that, um von der Welt vergeſſen,
in dieſer ſtillen Gegend, mir und meinen Lieben
zu leben, und ohne Geraͤuſch im Kleinen Guts
zu thun.
Zwar
[19]
Zwar dieſes Zuruͤkziehn aus dem Gewuͤhl des
oͤffentlichen Lebens in die ſtille Einſamkeit muͤſſe
von keinem andern fuͤr ein Beiſpiel zur Nachah-
mung gehalten werden, als von dem, der entwe-
der ſich bewußt iſt, der menſchlichen Geſelſchaft
fuͤr ſein Theil ſchon genug gedient zu haben; oder
der aus irgend einer wichtigen Urſache ſich unfaͤ-
hig fuͤhlt, ihr fernerhin ſeine Dienſte angedeien
zu laſſen; oder endlich auch von dem, der da
Mittel und Wege weiß, auch in der Einſam-
keit ein fuͤr ſeine Bruͤder gemeinnuͤziges Leben
zu fuͤhren. Und ich darf ſagen, daß, wo nicht
der erſte Fal, doch wenigſtens der zweite und
dritte derjenige geweſen ſei, worin dein Vater
ſich befand, da er von dem großen Welttheater
abzutreten fuͤr noͤthig erachtete.
Denn Gott hat ſeine ſchoͤne Welt nicht fuͤr
unthaͤtige, blos betrachtende Einſiedler geſchaffen.
Er wil, daß der Menſch geſellig ſei, und daß je-
der das Maaß von Kraͤften, welches ihm ver-
liehen worden, zum gemeinen Beſten verwende.
Dazu ſolſt auch du alſo das deinige brauchen;
ſolſt durch ſo viel edle Thaten, als dir nur immer
B 2moͤglich
[20] moͤglich ſind, dich hervorthun, doch ohne dieſes
Hervorthun zum Zwek deiner Thaten zu machen;
ſolſt dir dadurch den Weg zu Ehren und Wuͤr-
den bahnen, aber nicht, als wenn dieſe Ehren
und Wuͤrden an ſich ſelbſt etwas Wuͤnſchens-
werthes, das Endziel unſerer Beſtrebungen
waͤren; ſondern weil ſie Mittel ſind, wodurch
wir hoͤhere, wirklich wuͤnſchenswerthe Zwekke
erreichen koͤnnen.
Und dazu, glaube mir, mein Sohn, bedarf
es keines aͤngſtlichen Hervordraͤngens, keines ge-
ſuchten Schimmers, der die Augen der Leute auf
ſich zieht. Der Man von Verdienſt hat ſchon
von ſelbſt, wenn ich mich ſo ausdruͤkken darf,
eine gewiſſe Witterung, welche die Kenner
aufmerkſam auf ihn macht, und es iſt ihm bei-
nahe unmoͤglich, in der Laͤnge verborgen oder ver-
kant zu bleiben. Und bliebe er’s auch: nun, ſo
wuͤrde er doch nicht vergebens da geweſen ſein;
es wuͤrde ihm, wie der Sonne, gehn, wenn der
Dunſtkreis mit dikken Wolken angefuͤlt iſt. Als-
dan erleuchtet und erwaͤrmt ſie den Erdkreis, ohne
ſelbſt geſehen zu werden. Aber iſt ſie deswegen
weniger
[21] weniger Sonne? Und wird ſie, wenn die krie-
chende Raupe auf ihrem Kohlblat ſie verkent,
nicht von dem koͤniglichen Adler bemerkt, der
ſich uͤber die Wolken ſchwingt? — Crede
mihi, bene vixit, bene qui latuit!
Die zweite beſondere Regel, welche aus jener
algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich-
fals abfließt, iſt dieſe: laß deinen moraliſchen
Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen
eingeſchraͤnkt ſein, welche dir die naͤchſten
ſind, und ruͤkke die Grenzen deſſelben nur
in dem Maaße almaͤhlig weiter, in welchem
du deine Abſicht bei dieſen ſchon erreicht
haſt, und nun noch Kraͤfte zu ausgedehn-
tern Wirkungen uͤbrig fuͤhlſt. Ich wil mich
umſtaͤndlicher erklaͤren.
Die endliche Kraft eines ſchwachen Sterblichen
iſt ja nicht almaͤchtig. Sie kan ja nicht, wie
Gottes Kraft, auf alle Weſen auſſer ihr zugleich
wirken; ſie muß alſo ihre jedesmaligen Wirkun-
gen nur auf einzelne Gegenſtaͤnde einſchraͤnken.
Wer kan aber jedesmahl das naͤchſte und groͤßte
B 3Recht
[22] Recht auf unſere nuͤzliche Wirkſamkeit haben,
als diejenigen, welche die Natur, oder die goͤt-
liche Vorſehung, am naͤchſten und innigſten mit
uns verbunden hat? Wuͤrd’ es nicht unaus-
ſprechlich thoͤricht und ungerecht zugleich ſein,
wenn ein Arzt, der ſeiner Kunſt gewiß waͤre,
ſeine Zeit damit verſchwenden wolte, Arzeneimittel
wider moͤgliche Krankheiten der Antipoden zu be-
reiten, indes ſeine Hausgenoſſen und Mitbuͤrger
an einer epidemiſchen Seuche darnieder laͤgen,
und vergebens um Huͤlfe ſchrien? Erſt ſuche er
dieſe zu retten; dan ſeine Landsleute in den naͤch-
ſten Doͤrfern, Flekken und Staͤdten, und ſo im-
mer weiter in dem Maaße, in welchem ihm zu
ausgedehntern Wirkungen Zeit und Kraͤfte von
Gott verliehen werden.
Eben dieſe Pflicht der weiſen Einſchraͤnkung
ſeines Wirkungskreiſes liegt nun auch dem mora-
liſchen Arzte ob. Hat er ein Weib genommen,
ſo ſei dieſe der naͤchſte Gegenſtand, deſſen ſitliche
Vervolkomnung, naͤchſt der ſeinigen, ihm am
meiſten am Herzen liegen muß. Vertraut die
goͤtliche Vorſehung ihm Kinder an; ſo ziehe er
die
[23] die Grenzlinie ſeines ausſchließenden Wirkungs-
kreiſes auch noch um dieſe herum, und ſorge fuͤr
die beſtmoͤgliche Erziehung derſelben. Was ihm
bei dieſem Geſchaͤft an Zeit und Kraͤften uͤbrig
bleibt; das werde ſeinen Hausgenoſſen, ſeinen
naͤchſten Verwandten, ſeinen Freunden, ſeinen
Mitbuͤrgern gewidmet. Und ſo erweitere ſich von
Stufe zu Stufe die Peripherie ſeiner Wirkungen
gerad in dem Maaße, in welchem er ſeine Kraͤfte
wachſen und bei einer eingeſchraͤnkteren Thaͤtig-
keit in einem unangenehmen Gedraͤnge fuͤhlt.
Aber er huͤte ſich hierbei ſorgfaͤltig vor einem,
nur gar zu moͤglichen Selbſtbetruge. Der menſch-
liche Geiſt, welcher ſeiner Natur nach immer ins
Unendliche ſtrebt, und jede Art von Einſchraͤn-
kung aͤuſſerſt ungern ertraͤgt, uͤberredet ſich nur
gar zu leicht, daß die naͤchſte Arbeit, wozu ihn
ſeine Pflicht auffodert, ſchon gethan ſei: daß er
zu etwas Groͤſſerem Beruf habe; daß er Kraͤfte
und Faͤhigkeiten in Ueberfluß beſize, den Pflichten
des Gatten, des Vaters, des Freundes und des
Buͤrgers ein Genuͤge zu thun und demohngeachtet
auch noch aufs Ganze zu wirken. Wehe ihm
B 4und
[24] und ſeiner verwaiſeten Familie, wenn er dieſem
verfuͤhreriſchen Gefuͤhl, ohne lange und ſorgfaͤl-
tige Pruͤfung, traut, und ſeine von wildem auf-
brauſendem Enthuſiasmus angeſchwollene Kraͤfte
nun ſogleich die Daͤmme zerreiſſen laͤßt! Was
wird die Folge ſein? Er wird in kurzer Zeit ſo
ſehr Geſchmak an großen glaͤnzenden Wirkungen
finden, daß die kleinen haͤuslichen Familienſcenen
ihm zum Ekel werden; ſeine ungluͤkliche Gattin,
ſeine beklagenswuͤrdigen Kinder [werden] ihm fremd
werden; er ſelbſt wird mit Herz und Geiſt uͤberal,
nur nicht zu Hauſe ſein.
Glaube mir, mein Sohn, nur ſehr wenige
Menſchen ſind berufen, Lichter der Welt zu
ſein. Aber nach dem Maaße ſeiner Einſichten
ſein Weib, ſeine Hausgenoſſen zu erleuchten, den
Beruf hat jederman, der die Wuͤrde eines Haus-
vaters uͤbernommen hat.
“Ein Man von mehr, als gewoͤhnlicher Faͤ-
higkeit, ſagt ein Schriftſteller von großen Ta-
lenten, *) hat noch genug an ſeiner eigenen Beſ-
ſerung
[25] ſerung und Vervolkomnung zu arbeiten. Er iſt
am geſchikteſten zu dieſer Beſchaͤftigung, nachdem
er durch eine Reihe betraͤchtlicher Erfahrungen
ſich ſelbſt und die Welt kennen zu lernen angefan-
gen hat, und indem er ſolchergeſtalt an ſich ſelbſt
arbeitet, arbeitet er wirklich fuͤr die Welt.
Denn um ſo viel geſchikter wird er, ſeinen Freun-
den, ſeinem Vaterlande und den Menſchen uͤber-
haupt nuͤzlich zu ſein und in einem groͤßern oder
kleinern Kreiſe mit mehr oder weniger Gepraͤnge,
auf eine oͤffentliche oder nicht ſo merkliche Art,
zum algemeinen Beſten des Siſtems mitzu-
wirken.„
Es iſt eine der gefaͤhrlichſten Seuchen, an
der unſer Zeitalter vorzuͤglich krank liegt, daß
jeder unbaͤrtige Knabe, der ſo eben erſt der Ruthe
ſeines Lehrmeiſters entſprungen iſt, ſich nun ſchon
fuͤr faͤhig und fuͤr berufen haͤlt, ein Lehrer des
menſchlichen Geſchlechts zu werden. Hat er
einige Romane und Gedichtchen, einen Wuſt
ſogenanter gelehrten Zeitungen und Bibliotheken
geleſen; hat er ein Paar Duzend ſchoͤnklingender
neumodiſcher Phraſen und affektirter Wendungen
B 5auf-
[26] aufgeſchnapt: huſch! iſt das gelehrte Naͤrchen
am Schreibpult, um ſie dem lieben Publikum,
welches mit dergleichen ſuͤßlichen und faden Zeuge
ſich den Magen ſchon ſo oft uͤberladen hat, viel-
leicht zum taufendſten male aufgewaͤrmt und an-
gewaͤſſert, von neuem wieder aufzutiſchen. Es
wuͤrde ein unausſtehlicher Anblik ſein, wenn ein
Maler eine Verſamlung ehrwuͤrdiger Greiſe
mahlte, und vor ihnen einen Ourang Outang in
geheiligtem Ornat, als Lehrer, auftreten ließe, der
die Geſelſchaft mit Grimaſſen unterhielte: und
dieſen [aͤrgerlichen] Anblik muͤſſen wir gleichwohl
mit jeder neuen Meſſe wohl hundert und mehr-
mahl in Natura ertragen. —
Huͤte dich, mein Sohn, vor dieſer eben ſo
laͤcherlichen als ſchaͤdlichen Autorſeuche. Wiſſe,
daß das fuͤrchterliche Anſchwellen der Buͤcher
und die damit verbundene Leſewuth, welche
taͤglich weiter um ſich greift, eine Folge und zu-
gleich mit eine Urſache der immer groͤſſer wer-
denden Verderbniß unſerer Sitten und der ganzen
Menſchheit iſt. Man ſchreibt und lieſet, nicht
um zu beſſern, nicht um gebeſſert zu werden, ſon-
dern
[27] dern jenes um zu glaͤnzen, um Geld und Ruhm
zu erwerben, ohne etwas Gemeinnuͤziges und
Ruhmwuͤrdiges thun zu duͤrfen, dieſes um die
zerſtreute, von aller nuͤzlichen Thaͤtigkeit abge-
wandte Sele noch mehr zu zerſtreuen, in den
Schlaf der Vergeſſenheit aller haͤuslichen und
buͤrgerlichen Pflichten noch tiefer einzuwiegen.
Man lehrt und ſchreibt, um nicht lernen und
denken zu duͤrfen; man lieſt, um aller Arbeit uͤber-
hoben zu ſein, und doch nicht Langeweile zu haben.
Bis ziemlich weit in die Mitte des gegen-
waͤrtigen Jahrhunderts, war es im Algemeinen
wahr, daß in unſerm deutſchen Vaterlande der
phiſiſche Theil der Menſchheit uͤber den morali-
ſchen, der koͤrperliche uͤber den geiſtigen ein ſchaͤd-
liches Uebergewicht hatte. Dank ſind wir daher
allen denen ſchuldig, die auf eine oder die andere
Weiſe etwas dazu beigetragen haben, die Kraͤfte
der Menſchheit auch auf der vernachlaͤßigten Seite
anzubauen; Talente und Faͤhigkeiten in uns zu
erwekken, deren ſchlummerndes Daſein in uns
wir kaum ſelbſt zu ahnden uns getrauten, und
dadurch den geiſtigen Theil unſerer Natur zu einer
Stufe
[28] Stufe der Kultur zu erheben, die er, ſo alge-
mein wie nun, noch nie erreicht hatte. Der Ge-
ſchmak iſt veredelt, das ſitliche Empfindungsver-
moͤgen verfeinert, die Einbildungskraft befluͤgelt,
der Verſtand und das Gedaͤchtniß mit einer uͤber-
ſchwenglichen Fuͤlle von Kentnißen bereichert, und
zugleich die ganze Auſſenſeite des Menſchen mit
erkuͤnſtelter Anmuth uͤberſirnißt worden. Gluͤk-
lich, wenn das himliſche Roß, nach Plato’s
Allegorie, ſeinen irdiſchen Gefaͤhrten mit ſich hin-
aufgezogen haͤtte auf den Felſengipfel, wohin
man es geſpornt hat, und nun beide ihren Lauf
gemeinſchaftlich fortſezen koͤnten! Aber leider!
iſt dis nicht geſchehen. In eben dem Maaße, in
welchem die Kultur des Geiſtes durch Kuͤnſte und
Wiſſenſchaften betrieben ward, hat man die koͤr-
perlichen Kraͤfte unſerer Natur, hat man zugleich
Luſt und Vermoͤgen zu allen anſtrengenden, die
Phantaſie und die beſchauenden Faͤhigkeiten un-
ſerer Sele weniger beſchaͤftigenden Arbeiten, hat
man die den Deutſchen ſonſt ſo eigene Strebſam-
keit und das unverdroſſene Ausdauern in anhal-
tenden und muͤhſamen Geſchaͤften, hat man end-
lich
[29] lich den nazionalen Muth in Gefahren und den
ruhigen heitern Biderſin bei jeder Abwechſelung
des Schikſals, immer mehr und mehr abnehmen,
kraͤnkeln, hinſinken und abſterben geſehen. Und
bei dieſer Lage der Menſchheit ſolt’ es noch im-
mer fuͤr ein auszeichnendes Verdienſt gehalten
werden, die Werkzeuge jener ungluͤklichen einſei-
tigen Kultur zu vermehren? Ins Unendliche
zu vervielfaͤltigen? Glaube mir, mein Sohn, es
iſt jezt in den meiſten Faͤllen ein viel verdienſtli-
cheres Werk, eine Quadratruthe Moorland urbar
gemacht, oder einen Stein Flachs geſponnen zu
haben, als der Verfaſſer eines Schauſpiels, eines
Romans, oder eines Baͤndchen allerliebſter Ge-
dichtchen zu ſein. *)
Strebe
[30]
Strebe alſo nicht nach der eingebildeten Ehre,
deinen Nahmen in den Meßverzeichniſſen aufge-
fuͤhrt zu ſehn. Schraͤnke vielmehr alle deine
moraliſchen Wirkungen auf dich ſelbſt und auf die
Lieben ein, welche Gott durch Familienbande mit
dir verknuͤpfen wird. Nur dan erſt, wan du,
unter goͤtlichem Beiſtande, dieſe begluͤkt haſt;
wan deine, deiner Gattin und deiner Kinder
Selen durch die reinſte und zaͤrtlichſte Liebe ver-
bunden, gleichſam in einander gewachſen ſind,
und keine Erſchlaffung dieſer heiligen Bande
durch die Zerſtreuungen und Muͤhſeeligkeiten,
welche [die] Wirkſamkeit aufs Ganze unausbleib-
lich mit ſich fuͤhrt, weiter zu beſorgen haben;
und wenn dein Herz dan von eigener Gluͤkſeelig-
keit ſo vol iſt, daß es, ohne von Eitelkeit und
Ruhmſucht dazu angeſpornt zu werden, ſich maͤch-
tig gedrungen fuͤhlt, dieſe eigene Gluͤkſeeligkeit
auf andere, durch die Menſchheit mit ihm ver-
wandte Weſen uͤberfließen zu laßen: dan, mein
Sohn,
*)
[31] Sohn, dan theile mit, was du gemeinnuͤziges
haſt; werde Schriftſteller, werde Sittenverbeſſe-
rer, werde Lehrer der Menſchheit, und laß deine
Sele die heilige Wolluſt, zum Gluͤk fuͤr Tauſende
gelebt zu haben, in vollen Zuͤgen trinken!
Vernim jezt eine dritte Warnung, welche
zur genauern Beſtimmung der obengegebenen al-
gemeinen Regel gleichfals gehoͤrt. Sie iſt dieſe:
Huͤte dich vor jeder Ueberſpannung deiner
Kraͤfte: denn auf Ueberſpannung erfolgt
Erſchlaffung, und der Zuſtand der Erſchlaf-
fung iſt allemahl ein ungluͤklicher Zuſtand.
Auch hierin verſehen es gemeiniglich grade die
edelſten jungen Maͤnner, wenn Liebe zur Sache
und Ehrbegierde ſie entflamt haben. Wuͤthend
fallen ſie uͤber ihre jedesmalige Lieblingsarbeit
her; vergeſſen Speis und Trank, Ruhe und
Erquikkung, und hoͤren gemeiniglich nicht eher
auf, bis ſie ſich durchaus entkraͤftet und zu fer-
nerer Anſtrengung unfaͤhig fuͤhlen. Das iſt auch
unweislich gehandelt! ſehr unweislich!
Denn
[32]
Denn zu geſchweigen, daß alle Kraͤfte, ſo-
wohl die geiſtigen, als auch die koͤrperlichen, ſelbſt
dabei verlieren, und nach und nach zu Grunde
gerichtet werden: ſo wuͤrde dieſer Mißbrauch der-
ſelben ſchon um deswillen gar ſehr zu wider-
rathen ſein, weil ein Menſch, der ſolche Ueber-
ſpannungen oft erfaͤhrt, alle diejenigen, welche
um ihn ſind, vornehmlich ſeine Familie, und
eben dadurch auch ſich ſelbſt, nach und nach un-
fehlbar elend macht.
Denn es iſt in der Natur des Koͤrpers und
der Sele gegruͤndet, daß auf jede Ueberſpannung
unſerer Kraͤfte eine gewiſſe Unbehaͤglichkeit, eine
gewiſſe Geneigtheit zum verdruͤslichen, muͤrri-
ſchen Weſen folgen muß, welches ſich eben ſo
ſehr, als unſere freudigen Empfindungen, zur
Mittheilung in uns drengt. Koͤmt nun der un-
maͤßige Arbeiter mit einer ſolchen Gemuͤthsfaßung
aus ſeinem Kabinette in den Schooß ſeiner Fa-
milie zuruͤk: was iſt natuͤrlicher, als daß er an
den zaͤrtlichen Liebkoſungen ſeiner treuen, nach
ſeiner Gegenwart ſchmachtenden Gattin und an
dem freudigen Gewuͤhl ſeiner Kleinen [um] ihn
her,
[33] her, keinen Gefallen findet; daß er ſie durch
Mienen und Worte von ſich zuruͤkſchrekt; daß er
nichts recht findet, nichts nach ſeinem Kopfe,
und uͤber alles Gloſſen macht! Da muß das
arme leidende Weib ihre maͤchtigſten und ſuͤßeſten
Gefuͤhle der ehelichen Zaͤrtlichkeit dan in ſich ſelbſt
verſchließen; muß ſtum und traurig da ſizen, in-
des ihr Innerſtes von liebevollen Empfindungen
kocht, und ihr treues Herz ſich ſtuͤndlich losreiſſen
moͤgte, um an den Buſen des geliebten Unholds
zu fliegen.
Mein Kleon, ich rede dieſes aus einem innern
wehmuͤthigen Selbſtgefuͤhle. Warum ſolt’ ichs
dir vorheelen? Auch ich bin, waͤhrend meinem
geſchaͤftigen Leben nicht ſelten in dieſen traurigen
Fehler verfallen. Und wolten alle die hochbe-
ruͤhmten Leute, welche zum Theil unter dem praͤch-
tigen Titel Menſchenfreunde! bekant ſind, of-
fenherzig ſein: ſo wuͤrdeſt du das Echo dieſes
meines freiwilligen Geſtaͤndniſſes aus tauſend und
tauſend Studierſtuben wiederhallen hoͤren. Aber
man legt nicht gern eher ein Geſtaͤndnis ſeiner
Fehler ab, bis man ſich davon gebeſſert hat.
CSpiegle
[34]
Spiegle dich an dieſen Beiſpielen, mein Sohn,
und huͤte dich, daß du niemahls in eben denſelben
Fehler falleſt. Denn wiſſe, daß ich nie ungluͤk-
licher war, als damahls, ob ich gleich Ehre,
Gluͤksguͤter und Geſundheit in Ueberfluß beſaß,
und von jederman fuͤr ſehr begluͤkt gehalten wur-
de. Denn, wo keine Liebe iſt, da kan, beim Him-
mel! auch keine Gluͤkſeeligkeit ſein. Und Men-
ſchenliebe, ohne Familienliebe, iſt die luͤgenhaf-
teſte Larve, womit eine menſchliche Sele nur im-
mer pralen kan.
Du ſiehſt, mein Sohn, ich komme immer
auf den einigen großen Punkt zuruͤk, auf den ich
nun ſchon ſo oft hingewieſen habe, auf — Fa-
miliengluͤkſeeligkeit. Dieſe (o moͤgt’ ichs doch
allen Juͤnglingen tief in die Sele rufen koͤnnen!)
dieſe laß in jeder Lage deines kuͤnftigen Lebens
dir immer uͤber alles gelten, und achte alles fuͤr
Schaden, was ihr Eintrag thut, waͤr’s auch noch ſo
ſchimmernd! Suche durch ſanfte Guͤte und zuvor-
kommende Gefaͤlligkeit Gluͤk und Zufriedenheit
uͤber alle deine Lieben, uͤber alle deine Hausgenoſſen,
rund um dich her zu verbreiten: ſo wirſt du dei-
nem
[35] nem erſten und heiligſten Berufe ein Genuͤge
thun; ſo wirſt du dir einen ſichern Hafen bauen,
in welchen du, wenn die Stuͤrme der Widerwaͤr-
tigkeit erwachen, und die Wogen der Truͤbſal
daherrauſchen, dich zuruͤkziehen, und an dem
treuen liebevollen Buſen der Freundin deiner Sele
von allen deinen Sorgen ausruhen, fuͤr allen
deinen Kummer lindernden Balſam finden kanſt!
Endlich, mein Sohn, beobachte ſorgfaͤltig
auch dieſe vierte Regel, welche der obigen gleich-
fals untergeordnet iſt: Bevor du ein Amt
uͤbernimſt, erkundige dich genau nach allen
Geſchaͤften, welche daſſelbe mit ſich bringt,
und nach allen Unannehmlichkeiten, welche
damit verbunden ſein koͤnnen. Mache als-
dan einen Verſuch, ob du jenen auch ge-
wachſen ſeiſt, und pruͤfe deinen Muth, ob
du dieſe auch ertragen koͤnneſt: und nur
dan erſt, wan du zu beiden Kraft und
Staͤrke der Sele in zureichendem Maaße
bei dir wahrnimſt, werd’ es von dir uͤber-
nommen. Die Vernachlaͤßigung dieſer Klug-
C 2heits-
[36] heitsregel iſt eben ſo gewoͤhnlich, als die Folgen
davon traurig zu ſein pflegen.
Ich habe wenig Juͤnglinge geſehn, denen nicht
Zeit und Weile lang geworden waͤre, bevor ſie
zu einem Amte befoͤrdert wurden: aber noch weit
wenigere, die nicht bald darauf ihre Uebereilung
bereueten, und ſich zuruͤk in ihren vorigen Zuſtand
wuͤnſchten. Jeder Standort in der menſchlichen
Geſelſchaft, ſo glaͤnzend er auch immer ſein mag,
hat ſeine großen Unbequemlichkeiten, wovon man
nur den kleinſten Theil von fern erblikken kan.
So oft man alſo ſich in gewiſſe Verhaͤltniſſe und
Verbindungen einlaſſen wil, muß man zum Vor-
aus verſichert ſein, daß man die Annehmlichkeiten
derſelben durch ein [Vergroͤſſerungsglas], die Un-
annehmlichkeiten hingegen durch ein umgekehrtes,
mithin verkleinerndes Fernglas ſehe. Thut man
dieſes nicht; ſtelt man die kuͤnftigen Arbeiten ſei-
nes Berufs ſich zu leicht, und die damit verbun-
denen Vortheile zu lieblich vor: ſo iſt nichts ge-
wiſſer, als daß Mißvergnuͤgen und Reue die un-
ausbleibliche Folge unſerer Entſchließung ſein
werden.
Das
[37]
Das ſchlimſte in ſolchen Faͤllen iſt, daß der
junge unerfahrne Man, aus Mangel an Welt-
kentniß, die Lage eines jeden andern Menſchen
fuͤr gluͤklich, und nur die ſeinige, die ſeinige allein,
fuͤr aͤuſſerſt elend haͤlt. Da geht es denn gemei-
niglich an ein Vergleichen ſeiner Talente, ſeiner
Gemuͤthsbeſchaffenheit, mit den Talenten und
Karakteren anderer Menſchen; und die Eigenliebe
ſorgt dafuͤr, daß ſeine eigene werthe Perſoͤnlichkeit
bei dieſer Vergleichung allemahl gewinnen muß.
Dan kan er nicht begreifen, wie der und jener,
die doch in jeder Betrachtung ſo weit unter ihm
ſtehen, an Gluͤk und Gemaͤchlichkeit ihm ſo weit
vorgeſezt ſind! Dan wird mit dem Himmel ge-
ſchmolt; und der unſchuldige Himmel hat doch
weiter nichts gethan, als daß er den Wunſch des
jungen Thoren erfuͤlte, und ihn dahin ſtelte, wo
er zu ſein ſo ſehnlich gewuͤnſcht hatte. Haͤtt’ er
dieſes nicht gethan, wuͤrde ſein Weltregiment we-
niger getadelt worden ſein?
Beſaͤße der unzufriedene Juͤngling diejenige
Erfahrung ſchon, die er nach zehn oder zwanzig
Jahren haben wird; haͤtt’ er in allen Staͤnden
C 3der
[38] der menſchlichen Geſelſchaft, in allen Faͤchern des
geſchaͤftigen Lebens ſich ſchon jezt umgeſehn, und
dadurch die zwar unangenehme, aber zu wiſſen
hoͤchſtnoͤthige Wahrheit gelernt, daß es, wie
das gemeine Sprichwort ſagt, uͤberal zerbro-
chene Toͤpfe gibt: ſo wuͤrd’ er auch in ſeiner
dermaligen Lage nichts idealiſch volkommenes er-
wartet, und in ſeiner Rechnung ſich nicht ſo ſehr
betrogen gefunden haben.
Sorgfaͤltige Erforſchung ſeiner kuͤnftigen Pflich-
ten, Pruͤfung ſeiner Kraͤfte und Neigungen,
fleiſſige Verſuche und Voruͤbungen in demjenigen,
was man kuͤnftig leiſten ſol, maͤßige Erwartun-
gen und herabgeſtimte Wuͤnſche, volkommene aus
zureichender Weltkentniß geſchoͤpfte Ueberzeugung,
daß dieſe unſere muͤtterliche Erde, zwar kein Jam-
merthal, aber auch kein Arkadien ſei, ein be-
herzter maͤnlicher Vorſaz zur ſtandhaften Ertra-
gung unvermeidlicher Beſchwerlichkeiten des Le-
bens; und dan Vermeidung einer zu großen Zu-
dringlichkeit, und dan eine gaͤnzliche Uebergebung
in den Willen der alles lenkenden Vorſehung: das,
mein Sohn, das ſind die Mittel, die wir an-
wenden
[39] wenden muͤſſen, wenn wir bei der Ueberneh-
mung eines Amts, was es auch fuͤr eins ſein
mag, uns ein zufriedenes und gluͤkliches Leben
mit Sicherheit verſprechen wollen.
Jezt, mein Kleon, laß uns von den alge-
meinen Vorbereitungsregeln, die ich bis jezt
dir gegeben habe, zu einigen beſondern Vor-
ſchriften herabſteigen, welche die wirkliche Ver-
richtung deiner kuͤnftigen Berufsgeſchaͤfte be-
treffen, nachdem du dieſelben, wie ich jezt voraus-
ſeze, mit weiſer Vorſichtigkeit wirſt gewaͤhlt haben.
Und hier, mein Theurer, laß dich zuvoͤrderſt
an dasjenige erinnern, was ich dir ſo oft aus
meiner vieljaͤhrigen Erfahrung geſagt, aus mei-
ner innerſten, gewiſſeſten Ueberzeugung verſichert
habe, und worauf ich dich in dem Fortgange
deines eigenen jungen Lebens ſelbſt aufmerkſam
zu machen, beſtaͤndig befliſſen war; — an die
große Wahrheit, meine ich, daß an Gottes
Seegen alles gelegen ſei. Ich darf hoffen,
C 4daß
[40] daß mein bisheriger Unterricht, und die Sorg-
falt, die ich anwandte, dich zum fleißigen Nach-
denken uͤber dieſe wundervolle Welt, uͤber die ganze
herliche Einrichtung derſelben, uͤber die darin vor-
fallenden Veraͤnderungen in natuͤrlichen und ſit-
lichen Dingen, uͤber dich ſelbſt und uͤber deine ei-
gene Schikſale, zu bewegen, dich voͤllig werden
uͤberzeugt haben, daß alle Weltbegebenheiten, auch
die allerkleinſten, alle Wirkungen der Naturkraͤfte,
ſowohl in den lebendigen als auch in den lebloſen
Geſchoͤpfen, von dem Willen, von dem Einfluſſe
und von der beſtaͤndigen Lenkung eben des maͤch-
tigen, weiſen und guͤtigen Weſens abhangen, dem
das ganze Weltal ſelbſt ſein Daſein zu verdanken
hat. Ich erſpare daher eine jezt unnoͤthige
Wiederholung dieſes Unterrichts, und ſchraͤnke
mich vorjezt blos auf folgenden, daraus abflieſ-
ſenden Rath ein:
Ehe du ein Geſchaͤft unternimſt, verab-
ſaͤume nie, deine ganze Sele zu Gott,
dem Urquel alles Guten, inbruͤnſtig zu er-
heben, und ihn um Beiſtand, und um Staͤr-
kung deiner eigenen ſchwachen Kraͤfte de-
muͤtigſt anzuflehen.
Du
[41]
Du weißt, mein Sohn, daß ich nie damit
umging, deiner Sele einen, zwar oft gut ge-
meinten, aber immer ſchaͤdlichen Aberglauben ein-
zufloͤßen. Nie habe ich blinden Glauben von dir
gefodert; ich habe dich vielmehr ſelbſt unterſu-
chen, und dan aus eigner Ueberzeugung fuͤr wahr
halten gelehrt, was dir als Wahrheit einleuchtete.
Dieſem meinen Grundſaze getreu wil ich dir auch
jezt nicht weiß zu machen ſuchen, daß Gott um
deines Gebeths willen die ewigen Geſeze der Natur
umaͤndern, und deine Geiſtesfaͤhigkeiten auf eine
wunderthaͤtige Weiſe erhoͤhen und ſtaͤrken werde.
Nein, Kleon, das erwarte nicht von ihm: aber
ſei demohngeachtet verſichert, daß dein Gebeth
Erhoͤrung finden werde. Und wie ſol das zu-
gehn? wirſt du fragen. Du haſt Recht; ich
ſcheine mir zu widerſprechen: aber ich wil mich
erklaͤren.
Erſtlich iſt es eine algemeine Erfahrung
aller, die es verſucht und auf ſich ſelbſt geachtet
haben, daß jede ernſtliche Erhebung unſerer Ge-
danken auf große Gegenſtaͤnde, und alſo vornehm-
lich auch auf das groͤßte, herlichſte, erhabenſte
C 5unter
[42] unter allen Weſen — auf Gott, die Sphaͤre
unſerer Vorſtellungen ausnehmend aufklaͤre und
erweitere, und dadurch unſere Denkkraft ſelbſt
auf eine merkliche Weiſe ſtaͤrke und thaͤtiger mache.
Iſts nicht ſo: indem wir jezt, in feierlicher Stille,
dieſer prachtvollen und ruͤhrenden Abendſcene der
Natur zuſehen, fuͤhlen wir da nicht unſer ganzes
geiſtiges Weſen gleichſam anſchwellen, ſich in un-
ſerm Innerſten draͤngen, und zu jedem großen Ge-
danken, zu jeder edlen und muthigen Entſchlieſ-
ſung, weit faͤhiger und weit aufgelegter, als vor-
her? Und wie ſchwilt nicht erſt unſer Herz von
ſeeligen Empfindungen auf, wenn unſer Geiſt
durch dieſen Anblik befluͤgelt, aus der Tiefe
dieſer ſchoͤnen Gegend hinauf zu dem hoͤchſten
Gipfel der Werke Gottes, den unſere Einbildungs-
kraft erreichen kan, und von da zu ihm, dem
großen Urheber des Ganzen ſelbſt, ſich hin ſchwingt,
und in entferntem Anſchauen des Unendlichen ſich
verliert! O das muß man ſelbſt erfahren haben,
um es in der todten Beſchreibung wieder zu
finden!
Hier
[43]
Hier hielt Theophron unvorſezlicher Weiſe
einige Minuten ein, und ſeine von Freude glaͤn-
zenden Augen waren auf den Abendſtern geheftet,
welcher ſo eben anfieng, am weſtlichen Himmel
hervor zu funkeln. Das ſtaͤrkere Heben der ju-
gendlichen Bruſt und ein tieferer Athemzug be-
zeugten, daß Kleons Geiſt dem Geiſte ſeines Va-
ters nachgeflogen war. Der gute Alte fuhr dar-
auf fort:
Das iſt alſo der erſte unmittelbare Vortheil,
den wir durch eine jede inbruͤnſtige Erhebung un-
ſers Herzens zu Gott erlangen, daß unſere Selen-
kraͤfte dadurch geſtaͤrkt und zu allen edlen und
großen Wirkungen unweit faͤhiger werden. Alle
Arbeiten des Geiſtes muͤſſen alsdan weit beſſer
von ſtatten gehen. Und wer den genauen Zu-
ſammenhang der Kraͤfte unſerer Sele und unſers
Leibes kent; wer da weiß, daß zu eben der Zeit,
und in eben dem Maaße, wie jene erhoͤht wer-
den, auch dieſe lebhafter zu wirken beginnen, dem
wird es nicht befremdend klingen, wenn ich hin-
zufuͤge, daß die jedesmalige Anrufung Gottes uns
auch ſogar zu ſolchen Arbeiten tuͤchtiger macht,
welche
[44] welche mehr durch koͤrperliche, als durch geiſtige
Kraͤfte verrichtet werden. Man ſei alſo, wer
man wolle, Gelehrter oder Handarbeiter; ſo wird
ein Gebeth um Staͤrke, um Seegen zu unſern
Berufsgeſchaͤften, nie vergeblich ſein.
Hierzu komt noch dieſes, daß der Gedanke an
Gott und an unſere gaͤnzliche Abhaͤngigkeit von
ihm, wenn er vor dem Anfange irgend eines aus-
zufuͤhrenden Geſchaͤfts recht lebendig in uns ge-
worden iſt, uns gewiß bewahren wird, daß wir
nicht von dem Wege des Rechts und der Tu-
gend weichen. Das ſei der jedesmalige untruͤg-
liche Probierſtein der Rechtmaͤßigkeit deiner Unter-
nehmungen: kanſt du, mit freudiger Einſtimmung
deines Gewiſſens, dir den goͤtlichen Beiſtand dazu
erbitten, ſo ſei verſichert, daß dein Vorhaben gut
und edel iſt; kanſt du dieſes nicht, ſo glaube das
Gegentheil.
Und endlich, mein Sohn, daß doch ja der
Gedanke, daß Gott um unſers Gebeths willen
heutiges Tages keine Wunderwerke mehr verrichtet,
dich nicht kalt und laͤſſig in der Anrufung des
goͤtlichen Beiſtandes mache! Denn warum ſol die
Erhoͤrung
[45] Erhoͤrung unſers Gebeths denn grad ein Wunder
ſein? Warum nicht vorherbeſtimte ordentliche
Wirkung natuͤrlicher Urſachen? Oder ſahe der
alwiſſende Gott nicht etwa ſchon von Ewigkeit
voraus, daß du grad in dieſer oder jener Stunde
ihn um dieſes oder jenes anrufen wuͤrdeſt? Und
glaubſt du, daß das Vorherſehen dieſes Gebeths
auf der Wage der ewigen Weisheit kein Gewicht
gehabt habe, welches ſie beiſtimmen konte, den
natuͤrlichen Lauf der Dinge dergeſtalt einzurichten,
daß dasjenige, warum du bitten wuͤrdeſt, zu eben
der Zeit auch wirklich ſo erfolgen ſolte? — O
der laͤcherlichen Thorheit einiger Afterweiſen, welche
die Nothwendigkeit und den Nuzen des Gebeths
wegraͤſonnirt zu haben waͤhnten, wenn ſie ein
Langes und Breites wider die Moͤglichkeit dekla-
mirt hatten, daß die goͤtliche Weisheit einmahl ge-
gebene Naturgeſeze wieder abaͤndern, oder die
ewige Kette der natuͤrlichen Urſachen und Fol-
gen durch ein unmittelbares Zwiſchenwirken un-
terbrechen koͤnne! — Ich beſorge nicht, daß
deine Vernunft jemahls ſchwach genug ſein werde,
ſich von dem falſchen Lichte dieſe angeblichen Weis-
heit
[46] heit blenden zu laſſen. Ich bin vielmehr verſichert,
daß du meinen vaͤterlichen Rath befolgen, und bei
jedem anzufangenden Geſchaͤfte dir vorher, mit zu-
verſichtlicher Hofnung einer gnaͤdigen Erhoͤrung,
Seegen und Gedeien von dem Gott erbitten wer-
deſt, von welchem alle gute Gaben kommen. Und
glaube mir, mein Sohn, es wird dich nie ge-
reuen, dem treuen Rathe deines Vaters auch hierin
gefolge zu ſein.
Aber das Gebeth wuͤrde auch ſchon um des-
willen zu den treflichſten Vorbereitungsmitteln
zu einer gluͤklichen Geſchaͤftigkeit gehoͤren, weil
unſer Gemuͤth dadurch in diejenige heitere Ruhe
verſezt wird, welche zu einer vorzuͤglichen Wirkung
unſerer Geiſteskraͤfte ſo ganz unentbehrlich iſt.
Denn wiſſe, Juͤngling, daß die ſtuͤrmiſche Hize,
mit welcher man in deinen Jahren, ohne vorher-
gegangene noͤthige Samlung der Gedanken, uͤber
ſeine Lieblingsarbeit herzufallen pflegt, in der That
mehr verwikkelt, als aufloͤſt, mehr hindert, als
foͤdert. Gar zu große Eilfertigkeit in Geſchaͤften
iſt im Grunde wahre Zeitverſchwendung; ſo
wie
[47] wie der taͤgliche Verluſt einiger Stunden, zu
zwekmaͤßigen Vorbereitungen angewandt, wirk-
licher Gewin iſt. Eile mit Weile muͤſſe daher
auch dein Wahlſpruch ſein.
Ehe du alſo an irgend eine Arbeit von
einiger Erheblichkeit gehſt, nim dir Zeit,
dich gehoͤrig zu ſammeln; deine eingeſchlum-
merten, oder auf zu vielfaͤltige Gegenſtaͤnde
vertheilten Selenkraͤfte aufzuwekken, und
einzuengen; deine Leidenſchaften zu be-
ſaͤnftigen, und dein ganzes Gemuͤth durch
das wohlthaͤtige Licht der Zufriedenheit
aufzuheitern. In dieſer Vorbereitungszeit
verrichte zuvoͤrderſt dein Gebeth, als das erſte
und wirkſamſte Mittel zur Erreichung des jezt-
genanten Endzweks. Den noch uͤbrigen Theil
der Zeit wende dazu an, den moͤglichen Nuzen
derjenigen Arbeit zu erwaͤgen, die du jezt
vorzunehmen gedenkeſt. Gleichfals ein be-
waͤhrtes Huͤlfsmittel, unſere Sele zu großen
Wirkungen anzufeuern! Ich ſeze naͤmlich vor-
aus, daß du dich nie einer Beſchaͤftigung widmen
werdeſt, welche nicht auf eine oder die andere
Weiſe
[48] Weiſe das Wohl deiner Nebenmenſchen zugleich mit
dem deinigen befoͤrdern hilft. Nun mag eine ſolche
Arbeit auch noch ſo eingeſchraͤnkt und duͤrftig ſein:
ſo hat ſie dennoch ihre guten Folgen, und dieſe
wiederum die ihrigen, und zwar in immer wach-
ſendem Strome, bis in die Ewigkeit. Denn
alle Weltbegebenheiten, auch die kleinſten, haͤngen
unzertrenlich zuſammen, und waͤlzen ſich, wie die
Waſſertropfen in einem Fluſſe, beſtaͤndig fort ins
Unendliche. Keine derſelben iſt von der andern
abgeſchnitten; keine unfruchtbar an neuen Folgen.
Es hat vielmehr alles ſeine Wirkung, ſo wie alles
ſeine Urſache hat.
Dieſer Gedanke, auch bei der kleinſten guten
Handlung recht ins Auge gefaßt, gibt unſerer
Sele einen Schwung zu denken und zu handeln,
deſſen ſie ſonſt nicht faͤhig waͤre. Wir ſehen uns
naͤmlich in ſolchen ſeeligen Momenten als die Quelle
an, aus welcher nach und nach ein breiter See-
gensſtrom ſich in die Ewigkeit ergießt, und den
unermeßlichen Ozean des Guten, zum Genuß der
Geiſterwelt beſtimt, vergroͤßern hilft. Mags
doch anfangs auch nur ein armſeeliges Baͤchlein
ſein:
[49] ſein: haben die gewaltigſten Landſtroͤme, welche
den Reichthum ganzer Koͤnigreiche auf ihrem
Ruͤkken tragen, wohl einen andern Anfang ge-
nommen, wenn man bis zu ihrer Urquelle zuruͤk-
geht? Aus den kleinſten Urſachen koͤnnen oft die
groͤßten Folgen entſtehen.
Nie muͤſſe daher eine Arbeit, welche
dein Beruf mit ſich bringt, und welche auf
irgend eine Weiſe nuͤzen kan, dir veraͤcht-
lich vorkommen; geſezt auch, daß du in dem
Augenblikke, da du ſie verrichten ſolſt, dich zu etwas
Groͤſſerem faͤhig fuͤhlteſt, welches auſſerhalb dem
Wirkungskreiſe laͤge, den die goͤtliche Vorſehung dir
anzuweiſen nun einmahl fuͤr gut befunden hat!
Jeder von uns hat ſeinen angewieſenen Poſten in
der Welt. Den laßt uns zu behaupten ſuchen,
unbekuͤmmert, was etwa um und neben uns ge-
ſchehen koͤnte. Oder glaubſt du, daß der Feld-
herr dem vorwizigen Soldaten, der ſeinen Poſten
verließe, weil er anderwaͤrts nuͤzlicher ſein zu koͤn-
nen meinte, Dank dafuͤr wiſſen wuͤrde? Er wuͤrd’
ihn vielmehr, als einen Widerſpaͤnſtigen, zur
Strafe ziehen, auch wenn er noch ſo große, aber
Dun-
[50] unbefohlene, Thaten verrichtet haͤtte; und das
mit Recht! Denn was wuͤrde aus dem ganzen
Heere werden, wenn jeder, was ihm gut ſchiene,
thun wolte, keiner was ihm aufgetragen waͤre?
Der Trommelſchlaͤger mag alſo noch ſo viel Ta-
lente zum Feldherrn in ſich fuͤhlen; das gibt
ihm kein Recht, ſeine eigentliche Pflicht zu ver-
nachlaͤſſigen, und ſich zum Anfuͤhrer aufzuwerfen.
Thut er es, ſo iſt er ein ſchlechtes Glied des
Kriegskoͤrpers, und werth, daß er davon ab-
geloͤſet werde.
Ich glaube, dir dieſen Rath nicht zu ſehr ein-
praͤgen zu koͤnnen. Denn es iſt eine gewoͤhnliche
Thorheit der meiſten Menſchen, daß ſie ihre
eigentlichen Berufsgeſchaͤfte, als etwas Gering-
ſchaͤziges, verabſaͤumen, und ſich lieber mit Din-
gen befaſſen, welche gemeiniglich ganz auſſer ihrer
Sphaͤre liegen. Der Landprediger wirft ſeinen
Hirtenſtab dahin, und wuͤhlt, um ſich beruͤhmt
zu machen, in alten Handſchriften herum; der
Richter ſpizt Singedichte zu, indes die unter-
druͤkte Unſchuld ihm vergebens ihre Leiden klagt;
der Kraͤmer macht Romane, ſtat daß er die Welt
von
[51] von denen, die ſchon da ſind, befreien ſolte; der
Arzt jagt Schmetterlingen nach, und laͤßt ſeine
Kranken aͤchzen, ſo viel ſie wollen; der Schuſter
endlich laͤßt die Leute barfuß gehn, und ſeine Kin-
der hungern, um in der Schenke die Zeitungen
zu leſen, Krieg und Frieden zu beſchließen, und
die Koͤnige nach Gefallen ein- und abzuſezen.
Vornehmlich reißt dieſe Thorheit, zum großen
Nachtheil der menſchlichen Geſelſchaft, immer
mehr und mehr unter jungen Leuten ein.
Aus genauer Kentniß einiger Akademien kan ich
verſichern, daß unter zwanzigen, vielleicht unter
mehreren jungen Studierenden heutiges Tages
kaum einer noch gefunden wird, dem die wirk-
liche Vorbereitung zu ſeinem kuͤnftigen Berufe in
der That am Herzen laͤge. Alle Studien, welche
darauf abzielen, ſcheinen ihnen trokken, unfrucht-
bar, veraͤchtlich zu ſein. Thaͤt’ es die Furcht vor
dem kuͤnftigen Examen nicht; ſie wuͤrden ſie gaͤnz-
lich liegen laſſen. Aber mit der ganzen Inbrunſt
eines feurigen Liebhabers fallen ſie uͤber jedes ſuͤß-
liche, empfindelnde, faſelnde Gedichtchen her, ver-
ſchlingen dieſe nahrungsloſe Saft- und Markver-
D 2derbende
[52] derbende Speiſe mit heiſſer Gierigkeit, und laufen
dan von Haus zu Haus, von Nachttiſche zu Nacht-
tiſche, um ſie mit der Bruͤhe einer affektirten De-
klamazion und Geſichtsverzerrung noch widerlicher
und ekelhafter wieder von ſich zu geben. Unter
ſolchen armſeeligen Beſchaͤftigungen ſchleudern ſie
die unwiederbringlichen Jahre fort, in welchen ſie
ſich zu einem zufriedenen und gemeinnuͤzigen Leben
vorbereiten ſolten.
Jezt treten ſie in die große Welt, den Kopf
vol Schoͤngeiſterei, das Herz von Hochmuth auf-
geblaſen; man vertrauet ihnen Aemter an, weil
es entweder an beſſern Subjekten mangelt, oder
weil ſie Mittel fanden, hier die kabalirende
Frau eines vielvermoͤgenden Mannes, dort
das intrigante Kammermaͤdchen einer vielvermoͤ-
genden Dame, bald auf dieſe, bald auf jene
Weiſe zu ihrem Vortheil einzunehmen. Nun ſol
gearbeitet werden; aber kaum haben ſie ihre Be-
rufsgeſchaͤfte mit den Lippen beruͤhrt, ſo ſcheinen
ſie ihnen ſchon unertraͤglich ekelhaft zu ſein. Sie
glauben Faͤhigkeit und Beruf zu etwas Hoͤ-
herem in ſich zu fuͤhlen (und dieſes Hoͤhere iſt ge-
meiniglich
[53] meiniglich Zuſammenflikkung eines poetiſirenden
oder wizelnden Werkchen aus geſtohlnen Schnoͤr-
keln, neologiſchen Wendungen, aufgefangenen,
aber nicht verdauten Gedanken, und Unſin aus
eigener Fabrik) — und die natuͤrliche Folge da-
von iſt, daß ſie ihr Amt, welches ſie verachten,
oder fuͤr eine Galere anſehn, aͤuſſerſt nachlaͤßig
und mismuͤthig verwalten, ſelbſt aͤuſſerſt elend ſind,
und alle, welche von ihnen und ihrer Laune ab-
haͤngen, aͤuſſerſt elend machen. O mein Sohn,
ich prophezeihe unſerm ausgearteten Vaterlande
ſchlimme Zeiten, wenn nicht bald, bald Anſtalten
getroffen werden, unſerer Jugend auf Schulen
und Univerſitaͤten mehr Geſchmak an ernſthaften
ſogenanten trokkenen Beſchaͤftigungen einzufloͤßen,
und ihre Leiber und Selen maͤnlicher, haͤrter, ar-
beitſamer und ausdaurender zu machen! —
Doch ich nahm mir ja vor, nicht in den Fehler
des Alters zu fallen. Alſo keine Klagen; ſondern
zuruͤk an den eigentlichen Faden unſerer dermaligen
Unterhaltung!
D 3Wenn
[54]
Wenn dir der Auftrag gegeben wuͤrde, ein
Buͤndel vereinigter Ruthen zu zerbrechen: ſo
wuͤrdeſt du dir vergebens die Haͤnde zerarbeiten,
ſo lange die einzelnen Reiſer mit einander ver-
bunden waͤren. Aber ein bloßes Spiel wuͤrd-
es fuͤr dich ſein, nach aufgeloͤſtem Bande, jedes
Reischen insbeſondere zu zerknikken.
Eben ſo verlegen iſt der Man von Geſchaͤften,
wenn zu viele und zu mannigfaltige Verrichtungen
ſeiner arbeitenden Sele ſich auf einmahl darſtellen.
Er thue alſo das, was er im erſtern Falle thun
wuͤrde; er trenne ein Geſchaͤfte von dem
andern, nehme jedes insbeſondere vor, und
vergeſſe auf eine Zeitlang, daß die andern
alle in der Welt ſind: ſo wird er allen ge-
wachſen ſein. Eine ſolche Eintheilung unſerer
Arbeiten iſt von großer Wichtigkeit. Denn die
Vorſtellung, daß viele und mannigfaltige Ge-
ſchaͤfte auf uns warten, verſezt uns in eine ge-
wiſſe Aengſtlichkeit, die unſere Selenkraͤfte be-
klemt, und jede freie und große Wirkſamkeit der-
ſelben unmoͤglich macht. Wir moͤgen noch ſo viel
Geiſteskraͤfte beſizen, ſo ſind und bleiben wir doch
immer
[55] immer Menſchen, das heißt, eingeſchraͤnkte Geiſter,
welche ihre Aufmerkſamkeit, wenn ſie in einem ge-
wiſſen Grade wirkſam ſein ſol, jedesmahl nur auf
einen Gegenſtand heften koͤnnen. Je beſtimter
dieſer iſt, je genauer man ihn von andern
Gegenſtaͤnden abgeſondert hat, und je aus-
ſchließender wir unſere Vorſtellungskraft darauf
eingeengt haben; um deſto deutlicher und lebhafter
ſind unſere Ideen, um deſto thaͤtiger, um deſto
maͤchtiger iſt unſere ganze Wirkungskraft. Das
Gleichniß von einem Brenglaſe, welches die zer-
ſtreuten Sonnenſtrale zuſammenfaßt, um damit
zu zuͤnden, iſt eben ſo bekant, als paſſend.
Theile alſo ſo ſehr es nur immer thunlich iſt,
deine jedesmaligen Arbeiten ein, und nim eine
nach der andern vor. Um dieſe Bemuͤhung zu
erleichtern, mache es dir zur Gewohnheit,
an jedem Abend, ſo weit es moͤglich iſt,
einen ordentlichen Plan zu den Geſchaͤften
des folgenden Tages zu entwerfen, in wel-
chem die Folge derſelben und die Stun-
den, in denen ſie vorgenommen werden
ſollen, beſtmoͤglich beſtimt ſind. O es iſt
D 4eine
[56] eine ſchoͤne Sache um Ordnung, vornehmlich in
Geſchaͤften! Sie erleichtert unſer Beſtreben auf
eine ausnehmende Weiſe, und ſezt uns in den
Stand, mit weit geringerem Verluſt an Zeit und
Kraͤften, ſowohl mehr Arbeiten zu vollenden, als
auch dasjenige, was wir verrichten, beſſer zu
machen, als wir, ohne eine ſtrenge Beobachtung
derſelben, im Stande ſein wuͤrden. Mit dem tu-
multuariſchen Eifer iſt in verwikkelten Geſchaͤften
wenig ausgerichtet. Man arbeitet ſich [kraftlos]
und verdruͤslich, und verfehlt dennoch groͤßten-
theils ſeiner Abſicht, oder erreicht ſie nur halb,
indes ein an Ordnung gewoͤhnter Man bei glei-
chen Faͤhigkeiten, mit groͤſſerer Leichtigkeit und
Zufriedenheit und mit weit minderem Zeitverluſte
ſich ruhig ſeinem Ziele naͤhert. Die Zeit, welche
auf eine ſolche Abtheilung unſerer Arbeiten ver-
wandt wird, iſt daher mit nichten fuͤr verloren
zu halten; ſie wird vielmehr bei der Arbeit ſelbſt
mit reichem Wucher eingebracht. Glaube mir,
mein Sohn, daß ich auch dieſes aus Erfahrung
rede.
Aber
[57]
Aber da wir nicht immer Herren unſer ſelbſt
ſind, welche Zeit und Arbeit nach eigenem Be-
lieben waͤhlen und abmeſſen koͤnnen: da wir viel-
mehr oft in Lagen und Verhaͤltniſſe gerathen, in
welchen unſere jedesmaligen Beſchaͤftigungen mehr
von andern, oder vom Zufal, als von uns ſelbſt
abhaͤngen: ſo iſt es noͤthig, daß wir uns fruͤh-
zeitig gewoͤhnen, von einem Geſchaͤfte zum
andern, auch wenn ſie von ganz entgegen-
geſezter Beſchaffenheit waͤren, mit einer
gewiſſen Leichtigkeit uͤber zu gehen; un-
ſere Gedanken ſchnel und ganz von dem
vorhergehenden Gegenſtande abzuziehen,
und ſie auf den zu heften, welcher jezt eben
gegenwaͤrtig iſt, ohne dabei in Unruhe und
Verwirrung zu gerathen. Die Erwerbung
einer ſolchen Geſchiklichkeit iſt, wie die Erwerbung
aller andern Fertigkeiten, lediglich eine Frucht
fleißiger Uebung, und zwar der Uebung in jungen
Jahren. Denn, wenn man ſie bis auf ein ge-
wiſſes Alter verabſaͤumt hat, und die Sele nun
einmahl an einfoͤrmige, ſtetige Beſchaͤftigungen
gewoͤhnt iſt: ſo martert man ſich gemeiniglich
D 5umſonſt,
[58] umſonſt, ſie wieder zu derjenigen Biegſamkeit zu
erweichen, welche erfodert wird, wenn ſie bei oͤf-
tern Unterbrechungen und Abwechſelungen ſich
jedem vorkommenden Geſchaͤfte ſogleich in ihrer
ganzen Thaͤtigkeit anſchmiegen ſol. Ich kenne
Schriftſteller, die ganze Alphabete gelehrter Arbei-
ten, verbrennen muͤſſen, ſo oft ſie ungluͤklicher Weiſe,
vor der gaͤnzlichen Vollendung derſelben, durch ir-
gend ein zwiſchenſpringendes Geſchaͤft genoͤthiget
werden, den Faden ihrer Gedanken abzubrechen.
Ihn wieder anzuſchuͤrzen, iſt ihnen durchaus un-
moͤglich. Was wuͤrd’ es nicht dieſen Maͤnnern
werth ſein, wenn ſie noch jezt ihre Sele an eine, im
thaͤtigen Leben nicht zu vermeidende Mannigfal-
tigkeit von Geſchaͤften gewoͤhnen, und ſie dadurch
in ihren jedesmaligen Wirkungen vom Zufal we-
niger abhaͤngig machen koͤnten! Aber nun iſts
zu ſpaͤt.
Zur Erwerbung dieſer nothwendigen Fertig-
keit iſt es gut, daß wir in jungen Jahren
unſere Geiſtesarbeiten oft recht gefliſſentlich
an ſolchen Oertern vornehmen, wo wir ſo
wohl dem Geraͤuſch des thaͤtigen Lebens,
als
[59]als auch wirklichen Stoͤrungen und Unter-
brechungen zum oͤftern ausgeſezt ſind.
Zwar iſt es wahr, daß die Muſen die Stille
lieben, und daß Werke des Geiſtes jeder Art nir-
gends beſſer, als in der Einſamkeit, volbracht
werden. Aber ſteht es bei uns, die Welt um
uns her in einen ſtillen Muſenhain, und alle
Mitbewohner derſelben in ruhige und einſame
Hirten zu verwandeln? Kan der Hausvater,
ohn’ ein Tiran zu ſein, jedes Geraͤuſch ſeiner ge-
ſchaͤftigen Hausgenoſſen, jedes laute Gewimmel
ſeiner froͤlichen Kinder um und neben ihm, zu
allen Zeiten unterdruͤkken? Kan der Kaufman
auf ſeiner Schreibſtube, der Rechtsgelehrte in
ſeinem Kabinette, die Magiſtratsperſon auf ihrem
Richterſtule, dem lermenden Gewuͤhl der Straße
und dem Geraͤuſche derer wehren, welche Geſchaͤfts
halber bei ihnen aus- und eingehen? Und wenn
ſie das nicht koͤnnen, was wuͤrde aus ihnen wer-
den, wenn ſie nicht anders, als in der Stille zu
arbeiten ſich gewoͤhnt haͤtten?
Aber
[60]
Aber ſo noͤthig es nun auch aus dem ange-
zeigten Grunde iſt, ſich fruͤhzeitig eine Fertigkeit
in abwechſelnden und mannigfaltigen Geſchaͤften
zu erwerben: ſo ſehr muͤſſen wir auch auf
der andern Seite auf unſerer Hut ſein, daß
wir nicht in den entgegengeſezten Fehler
der Unſtaͤtigkeit und des kindiſchen Ueber-
druſſes bei einfoͤrmigen Arbeiten verfallen.
Geſchaͤfte von einiger Erheblichkeit wollen nicht
rukweiſe verrichtet ſein; ſie erfodern vielmehr eine
anhaltende Strebſamkeit, welche, wo nicht bis
ans Ende, doch wenigſtens bis auf einen beque-
men Abſaz, ausdauren kan. Schlim genug fuͤr
den Man (wenn er anders Man genant zu wer-
den noch verdient) deſſen Sele durch eine fehler-
hafte Erziehung, oder durch nachherige eigene
Verwoͤhnung, ſchon ſo erſchlaft iſt, daß ihre
Schnelkraft nur noch augenblikliche, alſobald
wieder nachlaſſende Spannungen ertragen kan!
Eine Folge der beliebten Verfeinerung — rich-
tiger, der weibiſchen Verzaͤrtelung unſerer Selen-
und Leibeskraͤfte, welche, ſo Gott wil! zu den
Vorzuͤgen unſerer Zeiten gehoͤren ſol! Vornehm-
lich
[61] lich eine Folge des taͤglichen Genuſſes ſtarkge-
wuͤrzter litterariſcher Lekkerbiſſen, von empfindſa-
men Modegarkoͤchen *) bereitet, wodurch der
geiſtige Gaum unſrer Juͤnglinge (wenn ich mich
ſo ausdruͤkken darf) nach und nach ſo ſehr ver-
woͤhnt wird, daß jede einfache ungekuͤnſtelte Haus-
manskoſt beim erſten Biſſen ihnen Widerwillen
und Ekel verurſachet! Das iſt nicht die Speiſe,
welche unſern Selenfaͤhigkeiten Wachsthum und
Gedeihen gibt; das daher auch nicht die Leute,
von denen ſich der Staat, es ſei in welchem Fach
es wolle, irgend einen erheblichen Dienſt ver-
ſprechen
[62] ſprechen kan, zu welchem Aemſigkeit und anhal-
tende Anſtrengung erfodert werden. Man ſolte
ſie, fern von oͤffentlichen Staatsgeſchaͤften, in die
Weiberſtuben verweiſen, wo der Schade eben
nicht groß ſein wuͤrde, wenn ſie in einer Viertel-
ſtunde vom Strikzeuge zum Spinrokken, vom
Spinrokken zur Nezarbeit, und von dieſer zu
den Stikkereien ſchritten. Aber ich beſorge, daß
man die Weiberſtuben bald zu enge finden wuͤrde;
ſo ſehr hat die Zahl ſolcher verzaͤrtelten Halb-
maͤnner in unſern Tagen zugenommen! Was
aus dem naͤchſten Menſchenalter, wenn das ſo
fortgeht, werden ſol — doch das moͤgen die aus-
machen, welche die Vorſehung zu Vormuͤndern
fuͤr die Nachkommenſchaft beſtelt hat. Mir, dem
in dieſem Alter nur noch die vaͤterliche Fuͤrſorge
fuͤr dich, mein Kleon, aufgetragen ward, muß
es genug ſein, wenn ich nur deine Sele vor dieſer
leidigen Verzaͤrtelung ſichern, und, mit Gottes
Huͤlfe! ſie in der ganzen Fuͤlle ungeſchwaͤchter
Menſchenkraft ſtark und maͤnlich, thaͤtig und aus-
daurend zum Dienſte unſerer Mitmenſchen freu-
dig darſtellen kan.
Um
[63]
Um dieſen Triumph meines vaͤterlichen Her-
zens — das einzige Gluͤk, welches hienieden mir
noch zu Theil werden kan — mir immer mehr
zu verſichern, uͤbe dich kuͤnftig ſelbſt, mein Sohn,
ſo wie du bisher unter meiner Anfuͤhrung gethan
haſt, in maͤnlicher Standhaftigkeit zur Vollendung
ſolcher Arbeiten, welche anhaltenden Fleiß und un-
ermuͤdete Geduld erfodern. Die trokkenſten und
muͤhſamſten Geſchaͤfte ſind zu dieſer Abſicht gerade
die nuͤzlichſten. Frage nicht, wozu dasjenige, was
du zu einer ſolchen Uebung vornimſt, dir oder an-
dern dienen ſolle? Es hat dir und andern genug
gedient, wenn dein junger Geiſt dadurch zur
Geduld und Stetigkeit auch in ſolchen Geſchaͤften
gewoͤhnt wird, welche deiner Neigung zuwider
und mit einiger Beſchwerlichkeit verbunden ſind.
Denn wiſſe, o Juͤngling — und glaub’ es einem
Manne, den die Vorſehung auf mehr als einen
Poſten zu ſtellen fuͤr gut befand, daß du ſolchen
Arbeiten doch nie entgehen werdeſt, in welches Fach
von Geſchaͤften du dich auch immer werfen magſt.
Und wehe dir, wenn deine Schultern ſie, ohne vor-
hergegangene Uebung, uͤbernehmen muͤßten!
Die
[64]
Die Vorſchriften und das Beiſpiel einiger
unſerer neueſten Sittenlehrer *) ſind dieſem mei-
nem Rathe freilich grad entgegengeſezt; und das
darf ich dir nicht verſchweigen, damit du, wenn
du einſt in ihre Sphaͤre kommen ſolteſt, dich
durch dieſen Widerſpruch nicht irre machen laſſeſt.
“Thue, werden dir dieſe ſagen, wenn deine Selbſt-
ſtaͤndigkeit dir lieb iſt, zu jeder Zeit nur grade
das, wobei dir wohl iſt, wozu du jedesmahl
einen innern unwiderſtehlichen Drang des Herzens
bei dir verſpuͤrſt. Iſt dieſer Antrieb befriedigt
und wil’s dich weiter nicht behagen, in demſelben
Geſchaͤfte fortzufahren: ſo laß es liegen, und
bringe deine Zeit lieber mit Nichtsthun, oder mit
Schlafen hin, als daß du, ohne einen innern
Beruf dazu zu haben, und wider deine Neigung
arbeiten ſolteſt!„ — — In der That, eine gar
bequeme Sittenlehre fuͤr den Guͤnſtling des Gluͤks,
der
[65] der unabhaͤngig, ſo wohl von eigentlichen Berufs-
pflichten, als auch von dem Willen anderer Men-
ſchen, groͤßtentheils nur ſich ſelber leben wil und
kan: aber auch fuͤr jeden andern? Auch fuͤr den
Man in oͤffentlichen Geſchaͤften, der eben ſo wenig
von ſeinem Amte, als das Amt von ihm ent-
behrt werden kan?
Die Herrn haben Recht, ſobald von Werken
des Geſchmaks oder der Laune die Rede iſt. Dieſe
laſſen ſich freilich nicht erzwingen; denn die Glokke
des Genies ſchlaͤgt nicht zu allen Stunden.
Aber kan auch etwas uͤbereilteres erdacht werden,
als die Vorſchriften der Schoͤnſchreiberei, die Sit-
tenlehre des regelloſen Genies, auf das Verhalten
des geſchaͤftigen Mannes im gemeinen Leben an-
wenden zu wollen? Und doch wie oft ſieht man
unſere heutigen jungen Feuerkoͤpfe ſich dieſer Ue-
bereilung ſchuldig machen?
Warte alſo mit ſolchen Arbeiten, welche dein
Beruf dir auflegt, und welche regelmaͤßig ver-
richtet ſein wollen, nicht erſt auf Stunden der
Begeiſterung, welche vielleicht ausbleiben duͤrften,
Eſondern
[66] ſondern verrichte ſie, ſobald die Zeit dazu gekom-
men iſt. Vornehmlich huͤte dich, ohne Noth,
irgend ein Geſchaͤft in die lezte Stunde zu
verſchieben; und bemuͤhe dich vielmehr, deine
jedesmalige Arbeiten, wenn’s immer thunlich
iſt, noch vor der dazu beſtimten Zeit zu Stande
zu bringen. Der Grund dieſer Vorſchrift iſt von
ſelbſt klar genug. Je naͤher die Stunde heran
ruͤkt, in welcher irgend ein aufgeſchobenes Ge-
ſchaͤft vollendet ſein muß, um deſto groͤſſer wird
unſere Unruhe, um deſto ſtoͤrender die Beſorg-
niß, daß man zu der beſtimten Zeit vielleicht da-
mit nicht werde fertig werden; um deſto weniger
gelingt es uns, zu unſerer eigenen und anderer
Zufriedenheit damit zu Stande zu kommen.
Man arbeitet alsdan mit einer gewiſſen Aengſt-
lichkeit, welche unſere Selenkraͤfte feſſelt; man
uͤbereilt ſich, man begeht Fehler, man legt den
Grund zu mancher Verdrieslichkeit, die wohl
haͤtte koͤnnen vermieden werden, und hadert als-
dan vergebens mit ſich, mit andern, und mit
ſeinem Schikſale. —
Hierzu
[67]
Hierzu komt noch dieſes, daß wir niemahls
— wir moͤgen ſein, wer wir wollen, unumſchraͤnkte
Herrn uͤber uns ſelbſt, uͤber unſere Geſundheit,
uͤber die jedesmalige Anwendung unſerer Zeit und
unſerer Kraͤfte ſind. Ach! ein ſchwaches Luͤftchen
kan ja den Wohlſtand dieſer unſerer zerbrechlichen
Huͤlle, und mit ihm die Moͤglichkeit des Ge-
brauchs der ſie belebenden Kraͤfte, ploͤzlich ver-
wehen, und tauſend unvorhergeſehene Hinder-
niſſe koͤnnen hervorſpringen, uns in unſerm kuͤhn-
ſten Laufe Einhalt thun, und die Vollendung
einer aufgeſchobenen Arbeit unmoͤglich machen.
Und dan ſehen wir uns oft in großer Verle-
genheit.
Um dieſe zu vermeiden, verrichte alles, was
einmahl geſchehen muß, ſo fruͤhzeitig, als du nur
immer kanſt, und mache es dir zur unverbruͤch-
lichen Regel, kein Geſchaͤft, welches du in der
gegenwaͤrtigen Stunde verrichten kanſt, ohne ir-
gend einen wichtigen Bewegungsgrund dazu zu
haben, jemahls bis zur folgenden aufzuſchieben.
Dan wird deine Arbeit dir gelingen, und die Ruhe
nach derſelben um ſo viel ſuͤßer ſein.
E 2Denn
[68]
Denn auch der Ruhe und der Erholung
ſol, nach vollendeter Arbeit, ein Theil deiner
Tageszeit gewidmet ſein! Unſere Kraͤfte ſind ja
zu endlich, als daß ſie einer endloſen Anſtrengung
faͤhig waͤren. Sie beduͤrfen von Zeit zu Zeit
einer verhaͤltnißmaͤßigen Nachlaſſung, wenn ſie
durch uͤbertriebene Spannung nicht ploͤzlich bre-
chen, oder nach und nach gaͤnzlich erſchlaffen ſollen.
Seze dir daher, wenn deine Arbeit nicht
in auſſerordentlichen Faͤllen durchaus un-
aufſchieblich iſt, von Zeit zu Zeit einige
Ruhepunkte, und wende dieſe wohlthaͤtigen
Pauſen zu deiner Ermunterung an, ent-
weder durch einen Blik in die ſchoͤne of-
fene Natur, und durch ein dankbares Auf-
ſehen zu dem alguͤtigen Vater derſelben,
oder durch einen ſtaͤrkenden Zwiſchengenuß
der albeſeeligenden Liebe in dem Schooße
deiner Familie, oder an der Seite irgend
eines gepruͤften mit dir gleichgeſtimten
Freundes. Das iſt das Gewuͤrz eines geſchaͤf-
tigen Lebens, welches unſern abgeſpanten Geiſt
erfriſcht und ſtaͤrkt, ihm Kraft und Luſt zu neuen
Anſtren-
[69] Anſtrengungen gewaͤhrt. Und das iſt eben mit
eine der Urſachen, warum ich dir gleich anfangs
die Begluͤkkung deiner kuͤnftigen Familie, als den
erſten und vornehmſten goͤtlichen Beruf, empfahl,
und warum ich dir jezt die taͤgliche Uebung deines
Geſchmaks an ſchoͤner Natur, als eine eben ſo
nothwendige Vorbereitung zu einem zufriedenen
und gemeinnuͤzigen Leben, gleichfals auf das nach-
druͤklichſte empfehlen muß. O der bejammerns-
wuͤrdigen Sele, fuͤr welche dieſe beiden Quellen
des reinſten, des ſeeligſten Vergnuͤgens und der
ſuͤßeſten Erquikkung nach vollendeter Arbeit, un-
widerbringlich verſtopft ſind!
Und es gibt deren, mein Sohn; gibt ihrer
ſogar unter denen, welche den Gruͤnden des Ver-
gnuͤgens und des Misvergnuͤgens, den Urſachen
und Hinderniſſen eines gluͤkſeeligen Lebens, mehr
als andere nachgeſpuͤrt, aber waͤhrend dieſes
aͤmſigen Nachſpuͤrens ungluͤklicher Weiſe verab-
ſaͤumt hatten, aus den Quellen der Gluͤkſeelig-
keit, die ſie fuͤr andere ſuchten, fuͤr andere auf-
gruben, auch fuͤr ſich ſelbſt zu ſchoͤpfen. Du
kanſt dir von dem unſeeligen Zuſtande ſolcher
E 3Schlacht-
[70] Schlachtopfer — entweder einer zu weit getrie-
benen Begierde nach wirklicher Gemeinnuͤzigkeit,
oder einer uͤberſpanten Ruhmſucht — Gottlob!
noch keinen Begrif machen; und o moͤgte die
Vorſtellung davon dir doch nie durch eigene Er-
fahrung anſchaulich werden! Aber glaube mir,
daß es ein gar erbaͤrmlicher Zuſtand ſei, und
zittere vor der bloßen Moͤglichkeit, einmahl ſelbſt
darein zu gerathen!
Denn was kan klaͤglicher ſein, als die Lage
eines Mannes, deſſen Empfindungsvermoͤgen
gegen Familien- Freundſchafts- und Naturgenuß
nun einmahl ſtumpf geworden iſt, wenn er von
ſchweren Arbeiten erſchoͤpft, oder von Sorgen
und Bekuͤmmerniſſen gebeugt, nach einem Troͤpf-
chen ſtaͤrkender Freude lechzt, und ihn nirgends
findet, nirgends, weder in dem ſtillen Schooß
ſeiner Familie, die ihm fremd, oder gar verhaßt
geworden iſt, noch in der ganzen, weiten, herlichen
Natur, fuͤr deren mannigfaltige Freuden er laͤngſt
den Sin verlohr! Wenn er nun da ſteht, wie
der ermattete Pilger in einer oͤden, duͤrren, un-
abſehbaren Sandwuͤſte, ſo ganz allein, ſo ganz
verwaiſet
[71] verwaiſet und huͤlflos, und nirgends einen Ruhe-
plaz, nirgends eine Erquikkung fuͤr ſeine abge-
ſpante ſchmachtende Sele, nirgends ein mitem-
pfindendes Weſen erblikt, an deſſen Buſen er aus-
ruhen, aus deſſen oſnem Herzen er Troſt und
Linderung und Erquikkung ſchoͤpfen moͤgte! Und
er ſich nun gezwungen ſieht zu dem einzigen, ihm
noch uͤbrigen Mittel zu der Betaͤubung durch
rauſchende wilde Vergnuͤgungen, oder durch un-
maͤßigen Genuß ſtarker Getraͤnke, ſeine lezte ver-
zweiflungsvolle Zuflucht zu nehmen; gleich dem
Kranken, der, aller Hofnung einer moͤglichen Ge-
neſung beraubt, nach Opiaten greift, um wenig-
ſtens dem Gefuͤhl wuͤthender Schmerzen durch
unempfindlichen Todesſchlaf zu entfliehen! —
O mein theurer Sohn, der alguͤtige Gott laſſe
dein Loos nie auf das Schikſal ſolcher ungluͤk-
lichen lebendig todten Opfer einer unmaͤßigen
Wirkungsbegierde fallen! Noch jezt koͤmt mir
Grauſen und Entſezen an, wenn ich an die nahe
Gefahr zuruͤkdenke, in der auch ich mich einſt be-
fand, dem Haufen ſolcher Bejammernswuͤrdigen
zugeſelt zu werden.
E 4Um
[72]
Um dieſes Ungluͤk — das groͤßte, welches
einen Menſchen hienieden treffen kan, weil es
ihn zu jeder Art von wahrer Gluͤkſeeligkeit durch-
aus unfaͤhig macht! — zu vermeiden, laß meinen
Rath mit gluͤhenden Buchſtaben deinem Gedaͤcht-
niſſe eingeſchrieben ſein: Begluͤkke die Lieben,
welche Gott mit dir verbinden wird, ſo ſehr du
immer kanſt; erwirb dir dadurch einen Schaz von
haͤuslicher Gluͤkſeeligkeit, zu dem du jedesmahl
deine Zuflucht nehmen koͤnneſt, ſo oft du einer
Ermunterung bedarfſt; dieſen Schaz dir zu er-
halten und zu vergroͤßern, laß allewege deine an-
gelegentlichſte Sorge ſein; geneuß daneben in
vollen Zuͤgen, ſo oft du immer kanſt, der un-
ſchuldigen, wohlthaͤtigen Freuden der Natur,
die ſie ſo muͤtterlich darbietet allen ihren Kin-
dern, welche davon genießen wollen; uͤbe deine
Sele taͤglich, das Schoͤne, das Große, das Un-
ausſprechliche, welches ihr Anblik gewaͤhrt, im-
mer lebendiger und inniger zu empfinden; laß
in dieſer Abſicht keine der unzaͤhligen ſchoͤnen
Verwandlungen dieſer immer regen, immer
ſchoͤpferiſchen Natur, welche taͤglich neu in ihren
Dekora-
[73] Dekorazionen iſt, ungenoſſen voruͤbergehen, es
ſei in welcher Jahrszeit es wolle — denn jede
derſelben iſt reich an unbeſchreiblichen Schoͤnhei-
heiten, reich an tauſendfaͤltigem Seegen! — es
ſei des Morgens, wenn das große Auge der
Welt, die Sonne, ſich aufthut, oder des Abends,
wenn es ſich wieder ſchließt; huͤte dich da-
neben vor jeder Ueberſpannung deiner Kraͤfte;
mache Abſaͤze in deinen Anſtrengungen, und laß
Ruhe und Arbeit in zwekmaͤßiger Ordnung be-
ſtaͤndig mit einander abwechſeln! Vergiß nie,
daß du ein endliches und ein zuſammenge-
ſeztes Weſen ſeiſt; jenes, um deinen Beſtrebun-
gen ein angemeſſenes Ziel zu ſezen, dieſes, um
nicht etwa blos einen einzigen Theil deiner ſelbſt,
mit Vernachlaͤßigung und auf Unkoſten der an-
dern, ausbilden und vervolkomnen zu wollen.
Du biſt nicht Sele allein, du haſt auch einen
Koͤrper; und deine Sele iſt nicht blos Verſtand,
ſie iſt auch Herz, nicht blos Erkentnißkraft,
ſondern auch Empfindungsvermoͤgen. Dis
bedenke, mein Sohn, und wiſſe, daß die Summe
deiner Volkommenheiten — und alſo auch die
E 5Summe
[74] Summe deiner Gluͤkſeligkeit, in eben dem Maaße
verringert wird, in welchem die Uebung deiner
Kraͤfte einſeitig iſt, in welchem du den einen
Theil von dir, mit Vernachlaͤßigung der uͤbrigen,
zu verbeſſern und zu ſtaͤrken ſuchſt. So feſt und
innig der Zuſammenhang, welcher alle mit ein-
ander verknuͤpft!
Haſt du alſo eine Zeitlang blos den
Verſtand gebraucht, ſo eile, auch deinem
Herzen eine ausbildende Unterhaltung
durch edle Empfindungen zu verſchaffen;
und haſt du eine Zeitlang blos deine gei-
ſtigen Kraͤfte arbeiten laſſen, ſo eile, auch
dein koͤrperliches Vermoͤgen durch Bewe-
gung und Handarbeit zu uͤben. So wer-
den alle deine Faͤhigkeiten in gleichem Maaße
entwikkelt werden; ſo wird ein gluͤkliches Gleich-
gewicht unter allen deinen Kraͤften herſchen; ſo
wird endlich deine ganze Individualitaͤt den hoͤch-
ſten Grad von Volkommenheit erreichen, welchen
die Guͤte und Weisheit des Schoͤpfers in der ge-
genwaͤrtigen Periode deines Daſeins fuͤr dich be-
ſtimt haben.
Aber
[75]
Aber nicht blos in dem Schooße der lebloſen
Natur, ſondern auch in dem Umgange mit
Menſchen ſolſt du, nach vollendeter Arbeit,
deine Erholung ſuchen. Denn auch dieſer, da-
fern er zwekmaͤßig gewaͤhlt und eingerichtet wird,
iſt eine ergibige Quelle heilſamer Vergnuͤgungen,
welche unſerm ermuͤdeten Geiſte ſtaͤrkende Nah-
rung gewaͤhren. Sei alſo geſellig, mein Sohn,
ſo ſehr es, ohne Vernachlaͤßigung deiner
Berufspflichten, nur immer geſchehen kan.
Aber, um des Vergnuͤgens der Mittheilung
und Theilnehmung im geſelſchaftlichen Umgange
in vollem Maaße zu genießen, mußt du in den
Jahren, worin du jezund biſt, nicht verabſaͤumen,
das urſpruͤngliche Menſchengefuͤhl, welches zu
den weſentlichen Beſtandtheilen unſerer Natur
gehoͤrt, durch fleißige Uebungen in dir zu ſtaͤrken
und zu veredeln. Denn auch dieſes kan, wie jede
andere Anlage unſerer Natur, durch Gebrauch
geſchaͤrft, durch Nichtgebrauch ſtumpf gemacht
werden. So wie es Menſchen gibt, welche fuͤr
die mannigfaltigen Schoͤnheiten der Natur nach
und nach den innern Sin verloren haben;
welche
[76] welche den Auf- oder Untergang der Sonne, den
holdſeeligen Mond, den ſternbeſaͤten Himmel,
das herlichſte Gemiſch einer ſchoͤnen und großen
Gegend mit eben dem fluͤchtigen Kaltſin betrachten
koͤnnen, mit welchem der geſezte Man einem
elenden Schattenſpiele zuzuſehen pflegt: ſo gibt
es auch andere, welche, ganz in ſich ſelbſt zuruͤk-
gezogen, weder das Vergnuͤgen der Mittheilung
eigener Empfindungen, noch das Wonnegefuͤhl
der Theilnehmung an den Freuden und Leiden
anderer Menſchen zu empfinden faͤhig ſind; Un-
gluͤkliche, welche mit niemandem ſimpathiſiren
koͤnnen, welche in Geſelſchaft froͤhlicher Menſchen
mismuͤthig und muͤrriſch, beim Anblik leidender
Bruͤder hingegen kalt und ohne mitleidige Ruͤh-
rung bleiben; und welche daher fuͤr die gute
Geſelſchaft, welche mit ihrer Gegenwart heimge-
ſucht wird, eben das ſind, was im Konzert ein
verſtimtes Inſtrument fuͤr unſere Ohren iſt.
Und wie kam ihnen dieſe unſeelige Fertigkeit, ihr
Herz zu iſoliren, es gegen alles Vergnuͤgen der
Mittheilung und der Theilnehmung abzuhaͤrten?
Woher ſonſt, als durch eine ungluͤkliche Vernach-
laͤßigung
[77] laͤßigung der geſelligen Triebe, welche unſerm
Herzen eingepflanzt ſind; es ſei nun, daß Bloͤ-
digkeit und falſche Schaam — die unzerſtoͤrbaren
Folgen einer ſklaviſchen Erziehung! — oder eine
gar zu unmaͤßige Befriedigung der Liebe zu den
Studien und zu Geſchaͤften, die junge Sele in
ſich ſelbſt zuruͤkgejagt, und an der Entwikkelung
des urſpruͤnglichen Menſchengefuͤhls verhindert
hatten.
Abermahls ein trauriger Zuſtand, wovor der
Himmel dich bewahren wolle! Um ihn zu ver-
meiden, laß den Terenzianiſchen Ausſpruch: Ho-
mo ſum, nihil humani a me alienum eſſe
puto, deinen beſtaͤndigen Wahlſpruch ſein. Ent-
reiſſe dich von Zeit zu Zeit deinen Geſchaͤften, und
der Geſelſchaft von Verſtorbenen, den Buͤchern,
um in dem Umgange mit Lebenden dein Herz
durch Menſchengenuß zu laben, und die Triebe
der Geſelligkeit in dir zu ſtaͤrken. Ergreife, ſuche
auf jede Gelegenheit, dich durch Mitleid oder
Mitfreude zu erwaͤrmen, und freue dich, als eines
neuerworbenen Schazes, jeder Traͤne, welche
alsdan aus deinem Auge quilt. Schaͤme dich
ihrer
[78] ihrer nicht; ſuche ſie nicht in die volle Bruſt zu-
ruͤkzudraͤngen: ſondern laß ihr freien Lauf, und
wiſſe, daß ſie deinem moraliſchen Werthe und alſo
auch deiner wahren Gluͤkſeeligkeit ſein wird, was
der balſamiſche Morgenthau nach einer ſchwuͤlen
Sommernacht den lechzenden Saaten iſt.
Glaube mir, mein Sohn, in weſſen Herz
Natur- und Menſchengefuͤhl erſtorben iſt, der
kan auch an Gott keine Freude haben. Denn
unſer Herz bedarf eben ſo, wie unſer Verſtand,
der Stufenleiter ſeiner Werke um zu ihm zu ge-
langen; dieſer um ihn zu erkennen, jenes um ihn
zu lieben, und durch die lebendige Empfindung
ſeiner Gegenliebe beſeeliget zu werden. Sind
wir alſo ſo ungluͤklich geweſen, den innern Sin
fuͤr ſchoͤne Natur und fuͤr Menſchengenuß zu
verlieren, ſo moͤgen wir uͤbrigens noch ſo große
Weltweiſen ſein, — wahre Gottesverehrer ſind
wir nicht, koͤnnen es nicht ſein, weil ſo wohl un-
ſere Erkentniß von ihm, als auch unſere Liebe
zu ihm, in dieſem Fal blos ſimboliſch bleiben,
niemahls anſchauend, niemahls lebendig wer-
den koͤnnen.
Das
[79]
Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren,
der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem
wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe
des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur
Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die
reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre
Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men-
ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln
ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of-
nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin-
dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ-
nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre
ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre,
daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude
athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden
— auf Gott ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde
allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer
Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir?
Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen
den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen,
bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme
ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden
unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein-
mahl
[80] mahl uns, ihre Eltern, recht kennen gelernt haben;
laſſen ſie Gebethe ſtammeln, ehe ſie die Worte
verſtehen, die ſie ausſprechen muͤſſen; lehren ſie,
daß Gott der Schoͤpfer des Weltals ſei, wenn
ſie kaum erſt einige Spannen breit vom Weltal
geſehen haben, und fodern von ihnen, daß ſie
Gott lieben ſollen, ehe ſie jemahls ſchon gefuͤhlt
haben, was das Wort lieben fuͤr eine Bedeutung
habe. Und die Folge von dem allen? — Iſt
dieſe, daß die Welt von Betern und Religions-
ſchwaͤzern wimmelt, indes die wahren Gottes-
verehrer, welche in der Betrachtung, und in dem
Gehorſam gegen ſeine ewigen Geſeze, ihre groͤßte
Seeligkeit finden, beinahe ſo ſelten, als der Phoͤnix
in der Fabel, ſind.
Aber dieſe traurige Bemerkung wuͤrde mich
fuͤr unſere gegenwaͤrtige Abſicht zu weit fuͤhren.
Ich wil ſie daher nicht weiter verfolgen; ſondern
kehre zu dem Rathe zuruͤk, von dem ich ausging,
und den ich dir nicht genug einſchaͤrfen zu koͤnnen
glaube, zu dem wichtigen Rathe, ſage ich, daß
du doch ja in dem Laufe deines geſchaͤftigen Le-
bens, die Triebe der Geſelligkeit, welche ſo we-
ſentlich
[81] weſentlich zu dem Adel unſerer Natur und zu
unſerer Gluͤkſeeligkeit gehoͤren, nicht vernachlaͤßi-
gen, ſondern vielmehr auf alle Weiſe zu uͤben, zu
entwikkeln und zu ſtaͤrken ſuchen moͤgeſt. Un-
gluͤkliche Beiſpiele von ſolchen, welche das Gegen-
theil thaten, und dadurch elend wurden, ob wohl
ihre anderweitigen Tugenden ein beſſeres Schikſal
verdient haͤtten, werden dir kuͤnftig, beſonders
unter dem feinern und gelehrten Theile der menſch-
lichen Geſelſchaft, in Menge vorkommen, und dich
uͤberzeugen, wie gut und annehmungswuͤrdig
auch dieſer Rath geweſen ſei.
Sei alſo geſellig: aber huͤte dich, den ab-
geſchmakten, gezierten, auf Schrauben ge-
ſtelten Modeumgang der ſogenanten feinern
Welt, bei welchem nur die Eitelkeit, oder
noch ſchlimmere Leidenſchaften, ihre Rech-
nung finden, aber kein einziges natuͤr-
liches Beduͤrfniß unſers Herzens befriedigt
wird, oder die Zuſammenkuͤnfte uͤppiger
Schwelger, welche, aus Mangel einer ver-
nuͤnftigen Unterhaltung, wofuͤr ſie weder
FKopf
[82]Kopf noch Herz haben, ſich genoͤthiget ſehen,
ihr langweiliges Leben durch Spiel und
uͤbermaͤßigen Genuß erkuͤnſtelter Speiſen
und betaͤubender Getraͤnke fortzuſchleu-
dern, fuͤr Uebungen der Geſelligkeitstriebe
zu halten. Nein, mein Sohn! dieſe beiden
Arten von Geſelſchaft laſſen in unſerm Gemuͤthe
gerade das Gegentheil von dem zuruͤk, was eine
vernuͤnftige Geſelligkeit, ein ofner, herzlicher,
lehrreicher Umgang mit gleichgeſtimten und weiſen
Freunden in uns bewirken kan. Jene ſchwaͤchen,
dieſer ſtaͤrkt unſere Leibes- und Selenkraͤfte; jene
erſtikken, dieſer entwikkelt in uns den wahren
Menſchenſin; jene ſcheuchen durch Betaͤubung
uns aus uns ſelbſt heraus, ohne unſere Empfin-
dungskraft auf irgend einen guten und edlen Ge-
genſtand auſſer uns zu richten, dieſer erweitert
unſer Herz durch die wohlthaͤtigſten Natur- und
Freundſchaftsgefuͤhle, und verhuͤtet auf der einen
Seite, daß unſere Empfindungen nicht ſtumpf,
und auf der andern, daß ſie nicht ſelbſtſuͤchtig wer-
den; jene endlich entnerven unſern Trieb zu nuͤz-
licher Geſchaͤftigkeit, und machen uns unluſtig und
traͤge
[83] traͤge zu jeder Art von gemeinnuͤziger Anſtrengung,
dieſer hingegen floͤßt uns Luſt, Muth und Kraft
zu neuer Thaͤtigkeit ein, und laͤßt uns, ſobald
wir uns wieder fuͤhlen, in dem kleinen Zirkel aus-
erwaͤhlter Buſenfreunde die ſuͤßeſte und heilſamſte
Erholung finden.
Um dieſer mannigfaltigen Vortheile einer
ſolchen Geſelligkeit zu genießen, entziehe dich, ſo
ſehr du immer kanſt, dem tollen Gewuͤhl des ſo-
genannten großen Lebens, und ſchraͤnke deinen
Umgang auf den kleinen Kreis gleichdenkender
und bewaͤhrter Freunde ein. Haſt du deren ge-
funden, haſt du ſorgfaͤltig ſie gepruͤft, und bei jeder
Pruͤfung ihren Edelmuth und ihre Treue immer
bewaͤhrt gefunden: o ſo halte ſie theuer und
ſuche ihre Liebe ſorgfaͤltiger, als deinen Aug-
apfel, zu bewahren! Schuͤtte dein ganzes Herz
in ihren treuen Buſen aus, und laß hinwieder-
um den deinigen den allezeit ofnen und immer
ſichern Verwahrungsort ihrer eigenen geheimſten
Empfindungen ſein. Theile dich ihnen ganz mit,
zeige dich ihnen immer, wie du biſt, ohne alle
Zuruͤkhaltung, ohne alle Verſtellung, und laß
F 2deine
[84] deine warme, herzliche Theilnehmung ſie zu einer
gleich offenherzigen Mittheilung reizen. Ein und
eben derſelbe Geiſt der Ordnung, der Maͤßigkeit,
der Einfalt, der ungekuͤnſtelten reinen Sitten,
und der Zufriedenheit muͤſſe euch und euer Haus-
weſen beleben. Fort mit den heilloſen Kuͤnſten
der Ueppigkeit aus euren Kuͤchen und Kellern!
Fort aus euren Gemaͤchern und Kleiderbehaͤltniſſen
mit dem ganzen armſeeligen Prunk der Eitelkeit,
welche den Mangel wirklicher Verdienſte durch
thoͤrichten Flitterſtaat in Kleidung und Hausge-
raͤth zu erſezen ſucht! Zwar ſolſt du kein Son-
derling ſein, keine Verachtung deſſen, was alge-
mein uͤblich iſt, keine uͤbertriebene Natuͤrlichkeit
in gleichguͤltigen Dingen affektiren: aber kan
man dieſer Maske, wohinter die Eitelkeit ſich zu
verſtekken ſucht, nicht entbehren, ohne ſich blind-
lings in den Weltſtrom der Ueppigkeit und der
franzoͤſirenden Galanterie zu ſtuͤrzen? Kan man
ſich nicht der ſchlichten Ordnung und der edlen
Einfalt befleißigen, ohne dem rohen Sohne der
Natur nachzuaͤffen, und ihn in einer abgeſchmakten
Karrikatur darzuſtellen? —
Ordnung
[85]
Ordnung und Simplizitaͤt! — O daß
dieſe beiden — wie ſol ich ſie nennen? Tugen-
den? Nicht genug; — dieſe beiden Muͤtter
und Pflegerinnen ſo vieler Tugenden, dieſe beiden
Beſchuͤzerinnen vor ſo vielen Laſtern und vor ſo
vielen Unannehmlichkeiten des Lebens — o daß
ſie doch, gleich einem ehrenvollen Familienwappen,
gepraͤgt waͤren auf alles, was dein iſt, auf deine
Handlungen, wie auf deine Denkungsart, auf dein
Hausweſen, wie auf deine Sitten! Wie ſehr da-
durch die Geſundheit unſers Leibes und unſers
Geiſtes befoͤrdert, unſere Wirkſamkeit vergroͤßert
und erleichtert, unſere haͤusliche Gluͤkſeeligkeit be-
feſtiget und unſere ganze Lebensbahn grade und
eben gemacht wird, das kan ich dir nicht beſchrei-
ben, mein Sohn! Das magſt du vorjezt aus
dem Beiſpiele deiner Eltern, und kuͤnftig, will’s
Gott! aus deiner eigenen angenehmen Erfahrung
lernen!
Damit aber dieſer Geiſt der Ordnung und der
Einfalt in unſerer ganzen Denkungsart und in un-
ſern Handlungen herſchend werde, muͤſſen wir,
auch in Kleinigkeiten, auch in ganz gleichguͤltigen
F 3Dingen,
[86] Dingen, uns von ihm leiten laſſen. Ziehe daher
das Natuͤrliche dem Kuͤnſtlichen, das Regelmaͤßige
dem Unregelmaͤßigen auch in ſolchen Dingen vor,
wo ſowohl die Koſtbarkeit und Seltenheit, als
auch die Schoͤnheit oder Nuͤzlichkeit keinen Unter-
ſchied machen. Binde dich auch, ſo weit es moͤg-
lich iſt, an beſtimte Plaͤze zur Aufbewahrung und
Hinſtellung deiner Sachen; an beſtimte Zeiten zum
Eſſen, zum Schlafengehn, zum Aufſtehn, zum
Ankleiden, zum Arbeiten und zur Erholung; doch
mache, beſonders in dieſen deinen Juͤnglingsjahren,
je zuweilen mit Vorſaz eine Ausnahme davon, da-
mit es dir nicht beſchwerlich falle, von der ge-
woͤhnten Ordnung, wenn es ſein muß, einmahl
abzuweichen.
Wilſt du den Schluͤſſel zu dem Raͤthſel wiſ-
ſen, welches ganz Europa in Erſtaunen geſezt
hat, zu dem Raͤthſel, wie der einzige Geiſt eines
noch jeztlebenden großen Koͤniges alle Regierungs-
geſchaͤfte ſeiner, mehr durch ihre innere Staͤrke,
als durch ihren Umfang furchtbaren Staaten, und
das Staatsverhaͤltniß des halben Erdkreiſes bis
auf
[87] auf das kleinſte Detail, allein umfaſſen koͤnne?
Er heißt — Ordnung!
Endlich, mein Kleon — denn der Anblik
jener glaͤnzenden Sterne, welche immer dichter
und dichter hervorſchimmern, erinnert mich, daß
es Zeit ſei, zur Ruhe zu eilen — laß mich mit
einer Warnung ſchließen, welche man vielen
Menſchen nicht zu geben braucht, welche aber
fuͤr diejenigen, denen ſie noth thut, nicht zu
wichtig gemacht werden kan. Und mein vaͤter-
liches Herz beſorgt nicht zu irren, wenn es dich
zu dieſer Klaſſe rechnet.
Auch das gute Herz, mein Sohn, wenn es
nicht durch Weisheit geleitet wird, kan den Man
von wichtigen und weitlaͤuftigen Geſchaͤften oft in
große Verlegenheit bringen, wenn er aus unbe-
graͤnzter Dienſtfertigkeit und Gefaͤlligkeit mehr
uͤbernimt, als ſeine Kraͤfte tragen koͤnnen. Auch
davor ſei auf deiner Hut, und ſeze deiner Dienſt-
begierde die nothwendigen Schranken. Denn
wiſſe, mein Sohn, wer allen dienen wil, dient
keinem recht, und aͤrntet fuͤr alle ſeine Muͤhe am
F 4Ende
[88] Ende Undank ein. Zu rechter Zeit, und aus dem
rechten Bewegungsgrunde ein wenig hart zu ſchei-
nen, und dadurch auf den Augenblik etwas miß-
faͤllig zu werden, iſt auch Weisheit, iſt oft mehr
Wirkung eines guten und edlen Herzens, als eine
gar zu ausgedehnte und zuvorkommende Gefaͤllig-
keit, welche ſich alle Menſchen verbinden wil, und
daruͤber keinem ſonderliche Dienſte leiſten kan. —
Dis mag denn fuͤr heute genug ſein. Ich
habe mich dismahl blos auf ſolche Vorſchriften
eingeſchraͤnkt, welche die kluge und gluͤkliche Ver-
waltung deiner kuͤnftigen Geſchaͤfte betreffen:
ein andermahl wil ich dir auch diejenigen Lebens-
regeln mittheilen (ſo viel ich ihrer gleichfals aus
meiner eigenen Erfahrung abgezogen habe) welche
dich in deinem Verhalten gegen die Menſchen
lenken ſollen, damit du in Fried’ und Freundſchaft
unter ihnen leben, und gemeinſchaftlich mit ihnen
handeln koͤnneſt, ohne von den Guten verkant,
und von den Boͤſen niedergedruͤkt zu werden.
Mit dieſen Worten ſtand er auf, und ging,
von ſeinem Sohne gefuͤhrt, unter ruͤhrenden Em-
pfindungen beim Anſchauen des geſtirnten Him-
mels, zuruͤk zu ſeiner laͤndlichen Wohnung.
II.
[[89]]
II.
Theophrons guter Rath,
ſeines Sohnes
kuͤnftigen Umgang mit Menſchen
betreffend.
F 5
[[90]][[91]]
Sobald die Morgenroͤthe den wiederkehrenden
Tag verkuͤndigte, ſprang Kleon neugeſtaͤrkt
von ſeinem Lager auf, und erheiterte ſeine Sele
durch einen Blik in die erwachende Natur, aus
welcher Opferdampf gen Himmel walte. Des
Juͤnglings Herz walte mit empor; ſchwebte auf
Fluͤgeln des feurigſten Danks vor dem Trone des
Alvaters, und flehte um Weisheit und Verſtand
zur zweckmaͤßigſten Anwendung des neugeſchenkten
Tages.
Jezt quol in feierlicher Stille die albelebende
Gluth der Sonne uͤber den Wald hervor. Und
Kleon eilte, ſeiner Gewohnheit nach, zum vaͤter-
lichen Schlafgemach, des geliebten Greiſes Hand
zu kuͤſſen und ſeinen Seegen zu empfangen. Er
fand ihn gleichfals ſchon im Genuß der ſchoͤnen
Morgenſcene; und auf ſeinem ehrwuͤrdigen Antliz
ſchwebte das ſtille ruhige Laͤcheln eines ſpaͤten Som-
mertages, wenn die Stauden ſchon zu welken,
die Blaͤtter ſchon zu fallen beginnen.
“Es iſt ein großer und ruͤhrender Anblik,
ſagte Theophron, den die aufgehende Sonne uns
gewaͤhrt;
[92] gewaͤhrt; aber ich kenne einen andern, der noch
groͤſſer und noch ruͤhrender iſt, als dieſer.„
Welchen, mein Vater? fragte Kleon.
“Den, antwortete der Greis, einen Juͤng-
ling zu ſehn, der mit dem goͤtlichen Feuer der
Weisheit und Tugend im Herzen, mit geſunden
und im Ebenmaaß ausgebildeten Kraͤften des Lei-
bes und des Geiſtes, jezt zum erſtenmale am
Horizont der buͤrgerlichen Welt als ein neues
wohlthaͤtiges Geſtirn erſcheint, um Licht und
Waͤrme, Erkentniß und Wohlſein in ſeinem
Wirkungskreiſe auszugießen.„
Des Juͤnglings Wangen faͤrbten ſich mit be-
ſcheidener Roͤthe; ſein Blik ſenkte ſich zur Erde.
Kom her, mein Sohn, fuhr Theophron mit
naſſen Augen fort, indem er ihm die Hand reichte.
Noch einen Huͤgel, auf dem du freier um dich
blikken und noch mehr Irwege des Lebens uͤber-
ſehen wirſt, muß ich dich ſelbſt hinanfuͤhren:
dan ſolſt du mit Gott und gutem Muthe allein
hervortreten. — Aber erſt oͤfne mir jene Fenſter,
damit die mildernden Stralen der Sonne unge-
brochen und die reine balſamiſche Morgenluft in
ihrer
[93] ihrer ganzen erheiternden Kraft auf meine Nerven
fließe: denn, was ich nun dir noch zu ſagen habe,
betrift die Menſchen, mit denen du kuͤnftig leben
wirſt; und ach, mein Sohn! es iſt ſo ſchwer, von
ihnen zu reden, ohne bitter zu werden! Der Man
von gutem Herzen, der ſie kent, ſolte nie anders,
als in freier Luft, bei ofnen Fenſtern wenigſtens,
ſie zu ſchildern wagen.
Kleon oͤfnete die Fenſter, und Theophron
fuhr mit heiterer Miene fort:
Von Natur, mein Sohn, ſind die Men-
ſchen fuͤrwahr! ein gutartiges Geſchlecht.
Waͤren ſie das nicht, und haͤtten diejenigen, welche
uns die Menſchheit, ſo wie ſie noch jezt aus den
Haͤnden ihres Schoͤpfers komt, mit ſo traurigen
und gehaͤſſigen Farben ſchildern, recht geſehn: wie
waͤr’ es doch moͤglich, daß bei ſo vielen geſelſchaft-
lichen Einrichtungen, welche gradezu darauf ab-
zielen, uns zu verſchlimmern, von guten Menſchen
noch gehoͤrt wuͤrde, halbgute Menſchen wirklich ſo
[haͤufig] noch zu finden waͤren? Dis allein, daß
die Menſchen noch nicht alle Teufel ſind, welche
leiden und Leiden machen, da in kultivierten Staa-
ten
[94] ten doch ſo vieles darauf abzwekt, ſolche verwor-
fene Weſen aus ihnen zu machen, iſt ein ſicherer
Beweis, daß der Stof, aus dem wir geformt
ſind, ausnehmend gut, und einer gaͤnzlichen Ver-
derbniß ſo leicht nicht ausgeſezt ſein muͤſſe. Damit
ſtimt denn auch die philoſophiſche Zergliederung
unſerer urſpruͤnglichen Eigenſchaften, ſogar die
Aufloͤſung unſerer Laſter in ihre lezten Beſtand-
theile, volkommen uͤberein. Die Aeuſſerungen
unſerer Kraͤfte und Neigungen moͤgen in ihrem
Ausfluſſe noch ſo truͤbe ſein: man gehe bis zur
Quelle zuruͤk, und man wird ſie rein und lauter
finden.
Ich habe geglaubt, dieſe Anmerkung, deren
Wahrheit ſowohl durch Vernunftſchluͤſſe, als auch
durch Beobachtung, auſſer allen Zweifel geſezt
werden kan, voranſchikken zu muͤſſen, damit du
durch dasjenige, was ich von der dermaligen al-
gemeinen Verunſtaltung der menſchlichen Natur
hinzuzufuͤgen habe, dich nicht dergeſtalt erſchrek-
ken laſſeſt, daß du an dir ſelbſt und an der
Menſchheit uͤberhaupt verzweifelſt. Was in ſeiner
Quelle lauter iſt, das kan, wenn’s durch Zufal
truͤbe
[95] truͤbe ward, auf eine oder die andere Weiſe auch
wieder gelaͤutert werden.
Noch eine vorlaͤufige Bemerkung, welche dem
Menſchenkenner gleichfals zu einiger Beruhigung
gereichen kan: die Menſchen ſind das, was
ſie ſind — gut oder boͤſe — hoͤchſtſelten
aus Grundſaͤzen, hoͤchſtſelten aus eigener
freier Wahl, ſondern meiſtentheils aus un-
wilkuͤhrlicher Gewoͤhnung, meiſtentheils
auch aus Noth und dringendem Beduͤrfniß.
Dieſe Beobachtung gilt von ihren Tugenden wie
von ihren Laſtern, vorzuͤglich aber von den leztern.
Seitdem die Menſchen ſich zu Tauſenden und die
Tauſende zu Millionen in einen einzigen Staats-
koͤrper zuſammengefuͤgt haben; ſeitdem die Fuͤrſten,
um dieſen ungeheuern Koͤrper nach ihrem Wohlge-
fallen zu lenken, das algewaltige Mittel der Ent-
nervung, die ſchoͤnen Kuͤnſte mit ihrer beſtaͤndigen
Gefaͤhrtin, der Ueppigkeit, in Gang zu bringen
wußten, und ſeitdem hierauf durch uͤbertriebene
Verfeinerung die wenigen urſpruͤnglichen Triebe
der Menſchheit zu unzaͤhlbaren einſt unbekanten
Begierden gleichſam geſpalten wurden: haben die
menſch-
[96] menſchlichen Beduͤrfniſſe, und mit ihnen die Ge-
legenheiten zu oͤftern Kolliſionen, die Veranlaſ-
ſungen und Verſuchungen zu gegenſeitigen Un-
gerechtigkeiten und Ueberliſtungen, bis ins Unend-
liche ſich vervielfaͤltiget. Einer drengt nunmehr den
andern, wie bei einem Zuſammenlauf des Volks auf
enger Straße; einer ſucht den andern von ſich ab-
zuhalten, um ſich ſelber Luft zu ſchaffen; einer trit
dem andern auf die Fuͤße, nicht weil er treten wil,
ſondern weil er ſelbſt getreten wird, und ſich dadurch
genoͤthiget ſieht, ſeinen Fuß zuruͤkzuziehen, und ihn
auf den Fuß ſeines Nebenmannes zu ſezen. Nur
ſehr wenigen feſten Selen von herkuliſchen Kraͤf-
ten und von ausdauernder Rechtſchaffenheit iſt es
gegeben, ſich gegen den algemeinen Drang zu ſtem-
men, unbeweglich dazuſtehn, und lieber den Fuß-
trit der Eindringenden zu dulden, als ſelbſt auf
andre einzudringen oder loszutreten.
Aus dieſer Beobachtung, fuͤr deren Richtig-
keit jeder Weltkenner dir die Gewaͤhr leiſten wird,
ſtießen drei wichtige Folgen ab; die eine fuͤr dich,
mein Sohn, und fuͤr jeden Juͤngling, der, wie
du, im Begriffe ſteht, in das Gedraͤnge der menſch-
lichen
[97] lichen Geſelſchaft einzutreten, die andere fuͤr den
Beurtheiler der Menſchen, und die dritte fuͤr die
Gewaltigen dieſer Erde, in deren Haͤnde die Vor-
ſehung das Wohl und Weh der Voͤlker legte. Ich
wil die lezte zuerſt aufdekken.
Wenn es wahr iſt, — und das iſt es, bei
allem was heilig heißt! — daß die Vermehrung
der Beduͤrfniſſe eine unlaͤugbare Haupturſache der
Verſchlimmerung der Menſchheit, ein unlaͤugba-
res Haupthinderniß unſerer Gluͤkſeeligkeit iſt: was
muͤßten die Vormuͤnder der Menſchheit, wenn es
ihnen nicht ſowohl um Vergroͤſſerung ihrer Finan-
zen, als vielmehr um Verminderung des algemei-
nen Elendes, um Befoͤrderung jeder ſchoͤnen Tu-
gend, und um Begluͤkkung ihres Volks zu thun
waͤre, zu ihrer erſten und wichtigſten Sorge ma-
chen? Dieſes, was ſo leicht kein Finanzminiſter
ſeinem Fuͤrſten rathen wird — durch eine kraͤftige
Einſchraͤnkung des Luxus, und durch Veranſtaltung
einer natuͤrlichern und einfachern Erziehung, der
Beduͤrfniſſe weniger zu machen, und den ausge-
tretenen Strom der menſchlichen Begierden wieder
in ſein urſpruͤngliches Bet zuͤruͤkzufuͤhren. — Ob
Gvon
[98] von unſern heutigen Antoninen ſich ein einziger
dieſes Verdienſt um die Menſchheit erwerben wer-
de? Hoffe, mein Sohn, ſo viel du kanſt, und
vernim jezt die zweite Folge unſerer Beobachtung,
welche fuͤr den Beurtheiler der Menſchen gehoͤrt:
Sind Verwoͤhnung, Noth und Beduͤrfniß
wirklich die gewoͤhnlichſten Triebfedern menſchlicher
Handlungen; und iſt es wirklich eine ſo ſeltne Er-
ſcheinung, daß jemand aus freier Wahl und nach
eigenen Grundſaͤzen handle: o ſo laßt uns doch
nicht auf Rechnung der ſchuldloſen menſchlichen Na-
tur ſezen, was die dermalige Lage der Menſch-
heit bei der gegenwaͤrtigen Weltverfaſſung allein
verſchuldet! Wenn der Bach, der vorher ſtil und
klar zwiſchen bebluͤmten Ufern in ſeinem reinen
Standbette dahinfloß, durch Abdaͤmmung [gezwun-
gen]wird, ſich in eine weite, leimigte, allen Winden
offenſtehende Flaͤche zu ergießen, um etwa hier
einen See zu Luſtfahrten fuͤr den Herrn der Ge-
gend zu bilden, dort die feſte Burg eines Tiran-
nen unzugaͤnglich zu machen: iſt es ſeine Schuld,
wenn er hier einen Garten, die Freude ſeines Be-
ſizers, dort ein Saatfeld, die Hofnung des Land-
mans,
[99] mans, uͤberſchwemt, und wenn ſein ausgetre-
tenes Waſſer, von gewaltigen Winden geſchau-
kelt, die Farbe des Bodens gewint, uͤber den er
ſich verbreiten mußte?
Die dritte Folge, und zwar fuͤr dich, mein
Lieber! Ich habe Sorge getragen, daß deine Er-
ziehung ſo einfach und natuͤrlich waͤre, als der Ein-
fluß vieler Dinge, welche nicht in meiner Gewalt
ſtanden, es nur immer erlauben wolte. Du haſt
gelernt, vieler Sachen ohne Misvergnuͤgen zu ent-
behren, welche andere Menſchen zu den Nothwen-
digkeiten des Lebens rechnen, und manches kleine
Ungemach ohne Murren zu ertragen, worunter
andere Menſchen ſich in hohem Grade elend fuͤh-
len wuͤrden. Gern waͤr’ ich hierin noch ſtrenger,
oder richtiger geſagt — noch guͤtiger gegen dich ge-
weſen; haͤtte gern dein ganzes koͤrperliches und
geiſtiges Weſen zu noch einfachern Beduͤrfniſſen
herabgeſtimt: allein ich hab’ es nicht gekont, weil
ich kein Mittel fand, mein Haus zu einer Inſel
zu machen, dich ſelbſt vor jedem ſchaͤdlichen Ein-
fluſſe von auſſen her ſatſam zu verwahren. Aber,
wenn du dich ſelbſt liebſt; wenn du leichter, ſor-
G 2gen-
[100] genfreier, geſunder und froher, als andere, durch
dis Leben einherzugehen wuͤnſcheſt; wenn du vor
der traurigen Nothwendigkeit, vielvermoͤgenden
Thoren zu ſchmeicheln, und vor maͤchtigen Schur-
ken zu kriechen, dich auf immer verwahren wilſt;
wenn du die Pflicht, niemandem zu nahe zu tre-
ten, dir erleichtern, die Gelegenheiten zu verdries-
lichen Kolliſionen mit andern vermindern, und
dich ſelbſt in den Stand ſezen wilſt, bei allen dei-
nen Unternehmungen auf grader Straße, und mit
feſten zuverſichtlichen Tritten ruhig einherzugehn:
o ſo laß es doch ja dein vorzuͤglichſtes Geſchaͤft
ſein, deine ganze Lebensart, alle deine Triebe und
Beduͤrfniſſe noch mehr zu vereinfachen, immer
mehrerer Dinge zu deiner Gluͤkſeeligkeit entbehren
zu lernen, und dich immer mehr und mehr an
dem zu halten, was der unverderbten menſchli-
chen Natur genuͤget, und was jeder geſunde und
arbeitſame Menſch ſich in jedem Stande leicht
erwerben kan. Dan, mein Sohn, wirſt du we-
niger empfaͤnglich gegen Beleidigungen und Kraͤn-
kungen ſein; dan wirſt du auf die Thorheiten der
Menſchen und auf die kleinen endloſen Kriege
ihrer
[101] ihrer Leidenſchaften ruhiger herablaͤcheln koͤnnen;
dan wirſt du, weil du wenig zu wagen haſt, was
dir wirklich ſchaͤzbar iſt, bei aller Eingeſchraͤnktheit
deines Standes und deines Einfluſſes, das Herz
haben, dem reichen und maͤchtigen Unhold, der
ſeine eigenſinnigen Launen dir oder andern zum
Geſez machen, dich oder andere in rechtmaͤßigen
und gemeinnuͤzigen Unternehmungen ſtoͤren, dich
oder andere unterdruͤkken moͤgte, dreiſt die Spize
zu bieten, und daneben oft der Frende genießen
koͤnnen, dem Schwachen ein Beſchuͤzer, dem
Unterdruͤkten ein unentgeldlicher Sachwalt zu ſein.
Denn, glaube mir, ein braver Man von wenigen
Beduͤrfniſſen iſt ein Fels im Meer, an dem die
maͤchtigſten Wogen zerſchellen und vergebens
ſchaͤumend zuruͤkprallen muͤſſen.
Jezt laß uns wieder zuruͤktreten zu dem,
wovon ich vorher ausgegangen bin. Das Re-
ſultat jener vorlaͤufigen Bemerkungen war, daß
die Menſchen das, was ſie jezt ſind, nicht
von Natur, ſondern durch Erziehung, durch
Verwoͤhnung zu unzaͤhlbaren Beduͤrfniſſen,
G 3und
[102]und durch den algemeinen fortreiſſenden
Drang nach Befriedigung derſelben, ge-
worden ſind. Und was ſind ſie denn nun da-
durch geworden? Sohn! mit Zittern ergreif’ ich
den Pinſel, um dir ein Gemaͤhlde von meinen und
deinen Bruͤdern zu entwerfen, wovor deine junge
argloſe Sele ſchaudernd zuruͤkbeben wird. Ich
habe die Zuͤge dazu theils von mir ſelbſt, theils
von den Tauſenden meiner Zeitgenoſſen entlehnt,
die ich in den verſchiedenen Lagen meines Lebens
etwas genauer, als gewoͤhnlich, kennen zu lernen
Gelegenheit und Veranlaſſung hatte: urtheile nun,
nach dieſem Geſtaͤndniß, welches ich laut vor aller
Welt ablegen moͤgte, weil ich mir zugleich einer
aufrichtigen Reue uͤber meine eigenen Verwoͤh-
nungen und des moͤglichſten Beſtrebens, mich
taͤglich mehr und mehr davon frei zu machen, be-
wußt bin — urtheile, ſag’ ich, ſelbſt, ob ich
Urſache haben koͤnne, die Farben ſtaͤrker aufzu-
tragen, als ich ſie in der Natur gefunden zu ha-
ben glaube? Aber vernim erſt, was ich, zur
Steuer der Wahrheit, und um nicht mißverſtan-
den zu werden, vorausſagen muß.
Erſtlich
[103]
Erſtlich mußt du wiſſen, daß ich das Bild,
welches ich jezt darſtellen wil, nicht nach Origina-
len aus der niedrigen, das heißt, der beſſern
Klaſſe der Menſchen, ſondern nach ſolchen machen
werde, welche zu den geſitteten, das heißt, ver-
feinerten und zugleich verderbteren Staͤnden
gehoͤren. Huͤte dich alſo, daß du nicht auf den
ganzen Stam und auf alle Aeſte deuteſt, was nur
von einigen durch Kunſt verwahrloſeten Zweigen
geſagt werden ſol!
Zweitens: ich ſelbſt habe, Gott ſei Dank!
mehr, als einen guten Menſchen, auch in dieſen
verderbteren Staͤnden, gekant und geliebt, deſſen
moraliſche Phiſiognomie von den meiſten Zuͤgen
meines Bildes eine liebenswuͤrdige Ausnahme
machte. Huͤte dich alſo, daß du nicht an der
Moͤglichkeit verzweifelſt, auch unter denen, mit
welchen die goͤtliche Vorſehung dich in Verbindung
bringen wird, je zuweilen eine aͤhnliche Ausnahme
zu finden!
Drittens: ohngeachtet bei weitem die mei-
ſten Menſchen aus dieſen ſogenanten geſitteten
Staͤnden die meiſten Zuͤge meines Bildes an ſich
G 4tragen:
[104] tragen: ſo zeichnen ſie ſich doch durch eine ſtaͤrkere
oder ſchwaͤchere Schattirung, durch eine groͤbere
oder feinere Auftragung der Farben merklich von
einander aus. Bei einigen ſchimmern dieſe
Grundſtriche, entweder weil ſie wirklich feiner
gezogen ſind, oder weil man ſie geſchikter zu uͤber-
tuſchen wußte, nur ſo ſchwach hervor, daß das
geuͤbte Auge eines Menſchenkenners erfodert wird,
um ſie wahrzunehmen. Huͤte dich alſo, daß du
nicht alle Menſchen fuͤr gleich verderbt halteſt, aber
huͤte dich auch, daß du nicht gleich bei dem erſten
Anſcheine einer Abweichung von der Regel eine
von jenen ſeltenen Ausnahmen gefunden zu haben
glaubeſt. Oſt iſt ein Schaden um deſto groͤßer
und unheilbarer befunden worden, je verſtekter
er war!
Endlich muß ich auch noch dieſes erinnern,
daß meine Schilderung mit Fleiß einſeitig wer-
den, mit Fleiß nur diejenigen Beobachtungen
darlegen wird, die du ſelbſt zu machen bisher noch
keine Gelegenheit hatteſt, die dir auch von andern,
ſo viel ich weiß, noch niemahls mitgetheilt wur-
den; deren Mittheilung aber nunmehr nothwen-
dig
[105] dig wird, damit du den Grund der Klugheitsregeln
einſehen lerneſt, die ich daraus fuͤr dich herleiten
werde. Waͤhne alſo nicht, wenn du das Bild
anſehen wirſt, welches ich jezt in Begrif bin
aufzuſtellen, daß du den ganzen Menſchen vor
dir ſeheſt: was du ſiehſt, iſt nur die haͤßliche,
durch moraliſche Seuchen verzerte und verſtelte
Seite deſſelben. Seine beſſere Seite hab’ ich dir
von Jugend auf zu oft gezeigt, als daß du jezt
erſt aufmerkſam darauf gemacht zu werden noͤthig
haͤtteſt.
Dis alſo zur Warnung; und nun zur Sache!
Alle Menſchen, mein Sohn, welche das
Ungluͤk hatten, einer feinen Erziehung zu
genießen, und zu den eiteln Kuͤnſten, wie
zu den armſeeligen Freuden der ſogenanten
großen Lebensart eingeweiht zu werden,
ſind mehr oder weniger entnervt an Leib
und Sele. Wie koͤnt’ es anders ſein, da bei
jener Erziehung und bei dieſer Lebensart faſt alles
auf ein unnatuͤrliches Verdrehen, Spannen und
Hinaufſchrauben unſerer koͤrperlichen und geiſtigen
G 5Kraͤfte
[106] Kraͤfte, faſt alles auf einen unnatuͤrlichen Kizel
unſerer Nerven und auf ein unablaͤßiges Reiben
an unſerm ganzen Weſen, um ihm Politur und
Glanz zu geben, angeſehen iſt? Das meiſte von
dem, was er taͤglich ſieht, hoͤrt, fuͤhlt und thut,
das allermeiſte von dem, was ſeine Ergoͤzlichkei-
ten ausmacht, nagt wie ein Wurm an der Wurzel
ſeiner Kraͤfte, macht ſie ſchlaf durch Ueberſpan-
nung, und laͤhmt ſie durch uͤbertriebenes Ge-
ſchmeidigmachen.
“Wenn ich, ſagt irgendwo ein Menſchenbe-
obachter, die unſeeligen Folgen dieſer Verfeinerung
erwaͤge; wenn ich die Menſchen, ſo wie ſie jezt
ſind, (mich ſelbſt nicht ausgeſchloſſen) mit den rau-
hern aber auch kraftvollern, aber auch edlern und
ſelbſtaͤndigern Menſchen der Vorwelt vergleiche:
ſo komt es mir immer vor, als wenn es der Kunſt
gelungen waͤre, ein Geſchlecht von Loͤwen in ein
Geſchlecht von Fuͤchſen zu verwandeln, und daß
ſie nun gar damit umginge, die lezte Hand daran
zu legen, um eine Familie ſchwacher und poſſier-
licher Eichhoͤruchen daraus zu machen.„ Dieſe
Ver-
[107] Vergleichung iſt beleidigend; aber ſie iſt zum Un-
gluͤk noch mehr, ſie iſt auch — treffend!
Wo es mit dieſer Verfeinerung und Schwaͤ-
chung der Menſchheit am Ende hin wil? Frage
in Griechenland und in Italien nach, und laß
mich vorizt in meiner traurigen Schilderung fort-
fahren.
Alle Menſchen, welche eigener Muth-
wille oder unvermeidliche Nothwendigkeit
in den Strudel des großen Weltlebens ge-
ſtuͤrzt hat, wo ſie in wirbelnden Kreiſen
erkuͤnſtelter Vergnuͤgungen und einer nichts-
wuͤrdigen Geſchaͤftigkeit ohn’ Unterlaß her-
umgetrieben werden, fuͤhlen ſich mehr oder
weniger, je nachdem ihr Kopf von Natur
ſchwaͤcher oder ſtaͤrker war, von einem mo-
raliſchen Schwindel, von einem leichtſin-
nigen Taumel ergriffen, der ſie zu einer
richtigen Beurtheilung ſitlicher Gegen-
ſtaͤnde und zu einer herzlichen Theilneh-
mung an Dingen, welche ihren eigenen
Vortheil oder Nachtheil nicht unmittelbar
betref-
[108]betreffen, unfaͤhig macht. Die Selen dieſer
Leute gleichen einem unreinen wirbelnden Waſſer,
in welchem auch die naͤchſten und helſten Gegen-
ſtaͤnde ſich nur auf eine dunkle Weiſe und mit ver-
zerten Zuͤgen ſpiegeln. Und, frag’ ich abermahls,
wie koͤnt’ es anders ſein? Jeder Stand in der ge-
ſitteten Welt, jedes nur einigermaßen betraͤcht-
liche Amt iſt, bei der immer zunehmenden Ver-
wikkelung und Verwirrung der menſchlichen Ver-
haͤltniſſe, ſchon an ſich mit ſo vielen und mannig-
faltigen und fremdartigen Geſchaͤften und Ruͤkſich-
ten verbunden, daß eine Art von Algegenwart un-
ſerer Vorſtellungskraft dazu gehoͤrte, wenn man
ſie alle mit gleicher Aufmerkſamkeit umſpannen
wolte. Und dazu kommen nun noch die zahlloſen
Bedenklichkeiten, Unterbrechungen und Zerſtreu-
ungen, welche das Weltleben mit ſich fuͤhrt! Da-
zu komt die Beſchaffenheit dieſer Zerſtreuungen,
welche nicht etwa darauf abzwekken, dem von Ge-
ſchaͤften ermuͤdeten Geiſte eine heilſame Erholung
zu gewaͤhren, ſondern vielmehr durch eine unun-
terbrochene Aufmerkſamkeit auf tauſend nichtswuͤr-
dige Kleinigkeiten ihn noch ſtaͤrker zu ſpannen, und
zugleich
[109] zugleich ſeinen irdiſchen Gefaͤhrten, den Koͤrper,
durch mannigfaltigen unnatuͤrlichen Zwang und
durch den Genuß ſtarkreizender Speiſen und
Getraͤnke voͤllig auszumergeln. Und eine ſo ge-
theilte, ſo nach allen Seiten hin unablaͤſſig ge-
zerte Sele ſolte am Ende nicht einen großen Theil
ihrer Federkraft verlieren? Solte bei dem unend-
lichen Wirwar von Ideen, die ſich in ihr durch-
kreuzen, noch im Stande ſein, die eine von der
andern gehoͤrig zu unterſcheiden, jede nach Maaß-
gabe ihrer Wichtigkeit gehoͤrig zu beherzigen? Solte
einer ernſten, anhaltenden und gruͤndlichen Ueber-
legung faͤhig ſein? Solte an dem, was mich und
dich betrift, dafern wir nicht etwa Stof zum Ta-
del oder Lachen gewaͤhren, einen wahren herzlichen
Antheil nehmen koͤnnen? Solte endlich noch faͤhig
bleiben, uͤber moraliſche Gegenſtaͤnde, welche ſo
weit auſſer ihrer Sphaͤre liegen, ein geſundes und
richtiges Urtheil zu faͤllen? Ach, mein Sohn! ich
habe das Gegentheil hiervon in meinem Leben ſo
oft erfahren muͤſſen! Habe ſo oft, wenn ich Sa-
chen, die nach ihrer moraliſchen Seite betrachtet
fein wolten, in das helſte Sonnenlicht geſtelt zu
haben
[110] haben glaubte, das Misvergnuͤgen gehabt, zu be-
merken, daß ich mit Leuten redete, die fuͤr ſo etwas
ſchon lange keinen Sin mehr hatten! Habe ſo oft,
ſelbſt bei wahren Freunden aus dieſer Klaſſe von
Menſchen, ſo wenig herzliche Theilnehmung an
Vorfaͤllen wahrgenommen, bei denen mir vor
Freude oder Schmerz das Herz zerſpringen wolte!
Eine fluͤchtige augenblikliche Aufmerkſamkeit, eine
eben ſo fluͤchtige augenblikliche Theilnehmung ohne
Folgen, war in ſolchen Faͤllen gemeiniglich der ganze
armſeelige Tribut, den der Schwindelgeiſt unſerer
Zeit der Freundſchaft zu entrichten noch geſtattete.
Ich eroͤfne dir, indem ich dir dieſe und aͤhn-
liche Erfahrungen mittheile, freilich keine ange-
nehme Ausſicht ins Leben: aber es iſt Zeit, daß
du die Welt, in die du treten ſolſt, ſeheſt wie ſie
iſt; nicht wie die ſogenanten Menſchenfreunde ſie
ſich erſchwaͤrmen, oder wie Romanſchreiber ohne
Menſchenkentniß ſie uns vorzugaukeln pflegen.
Ich fahre alſo fort:
Alle dieſe Menſchen, und bei weitem
die meiſten aus jedem Stande, urtheilen
nicht
[111]nicht nach wirklichen Gruͤnden der Wahr-
heit, ſondern nach Vorurtheilen; nicht nach
den innern und weſentlichen Kenzeichen des
Guten und des Boͤſen, ſondern lediglich nach
dem aͤuſſerlichen Schein, nach der in die
Augen fallenden Oberflaͤche der Dinge.
Der den Menſchen uͤberhaupt eigene Hang zur
Bequemlichkeit, und die den Weltleuten beſonders
zur Gewohnheit gewordene leichte und fluͤchtige
Art zu denken, verbunden mit den endloſen Zer-
ſtreuungen ihrer Lebensart, machen es ihnen un-
moͤglich mit ihrer Urtheilskraft in die Natur der
Dinge einzudringen, und die Wahrheit bei ihrem
eigenthuͤmlichen Lichte zu erkennen. Sie begnuͤ-
gen ſich daher in den meiſten Faͤllen, dasjenige,
woruͤber ſie urtheilen wollen, nur nach dem aͤuſ-
ſerlichen Anſehn ins Auge zu faſſen, und es dan an
den Probierſtein ſolcher angeblichen Grundſaͤze zu
halten, welche gemeiniglich entweder nur halb
wahr, oder ganz falſch, in beiden Faͤllen aber ſicher
nur angenommen, nicht erkant, nicht ergruͤn-
det ſind.
Hierzu
[112]
Hierzu komt noch dieſes: da die ganze Kunſt
der feinen Lebensart darin beſteht, den innern
Menſchen mit allen ſeinen Unarten, Leidenſchaf-
ten und Maͤngeln zu verbergen, und dagegen Em-
pfindungen, Geſinnungen und Volkommenheiten
zu luͤgen, welche man ſelbſt nicht in ſich fuͤhlt:
ſo hat man durch ein unablaͤſſiges Studium die-
ſer Kunſt von fruͤher Jugend an ſich gewoͤhnt, ſeine
ganze Aufmerkſamkeit bei ſich und andern blos auf
das Aeuſſerliche zu richten, und bei allem, was man
redet und thut, nur auf den Eindruk zu ſehen,
den die jedesmaligen Worte und Handlungen auf
andere machen koͤnnen. Sol man uͤber etwas
ſein Urtheil faͤllen: ſo iſt die Frage nicht, ob das,
was man bejahen, oder verneinen wil, wahr oder
unwahr ſei: ſondern lediglich, ob die Bejahung
oder Verneinung deſſelben die vortheilhafteſte Mei-
nung von uns erwekken werde? Sol man ſich ent-
ſchließen, etwas zu thun oder nicht zu thun: ſo
bekuͤmmert man ſich um das, was Pflicht und
Gewiſſen von uns fodern, in der That am we-
nigſten; die einzige große Angelegenheit iſt zu er-
waͤgen, was die Leute in dem einen oder dem an-
dern
[113] dern Falle von uns denken und ſprechen wuͤrden?
Auch die Worte und Handlungen anderer Men-
ſchen werden auf eben dieſe falſche Wage gelegt,
und nicht nach ihrem innern Gehalte, ſondern
lediglich nach ihrem aͤuſſerlichen Scheine, und nach
dem, was man davon ſagen wird, gewuͤrdiget.
Klug und weiſe iſt — nicht wer einen aufgeklaͤr-
ten Verſtand und ein wohlwollendes Herz beſizt —
ſondern wer ſeine Geſelſchaft am beſten zu unter-
halten und ſeine Worte und Handlungen jedesmahl
ſo zu ſtellen weiß, daß ſie den herſchenden Mei-
nungen und Vorurtheilen entſprechen. Brav und
bieder heißt — nicht wer bei allem, was er thut,
die Grundſaͤze einer ſtrengen Rechtſchaffenheit vor
Augen hat — ſondern wer den Leuten Sand in
die Augen zu ſtreuen, ſeine ſelbſtſuͤchtigen Abſich-
ten am geſchikteſten zu bemaͤnteln, durch glatte
Worte und Schmeicheleien ſich jederman zu ver-
binden, und auf Gelegenheiten zu lauern weiß,
mit ſolchen Handlungen Parade zu machen, welche
fuͤr edel gehalten werden, ohngeachtet ſie oft
nicht einmahl gut, oder pflichtmaͤßig ſind.
HDas
[114]
Das Schlimſte hierbei iſt, daß ein jeder von
dieſen Leuten ſeine eigene Art zu denken und zu
handeln mit der groͤßten Zuverſicht auch bei allen
andern vorausſezt. Weil nun jeder von ihnen ſich
bewußt iſt, daß er bei allen ſeinen Reden und [Hand-
lungen], nicht die ehemahls erlernten, aber bald
darauf wieder in den Wind geſchlagenen Grund-
ſaͤze der Religion und Sittenlehre, ſondern ledig-
lich die Behauptung des aͤuſſerlichen Scheins eines
edlen rechtſchaffenen Weſens bei einer wirklich ge-
wiſſenloſen und niedertraͤchtigen Geſinnung, beſtaͤn-
dig vor Augen habe: ſo traͤgt er nicht das mindeſte
Bedenken, von ſich auf andere zu ſchließen, und ſeine
eigne Denkungsart fuͤr die algemeine zu halten.
Daher komt es denn, daß alle dieſe an Geiſt
und Herz verwahrloſete Menſchen fuͤr eine
wahre und ſtrenge Rechtſchaffenheit, welche
nicht auf das: was wird man davon
ſagen? ſondern lediglich auf das, was recht
und unrecht iſt, ihr Auge heftet, mehr
oder weniger den Glauben und den Sin
verloren haben. Eine harte, aber allen
meinen Erfahrungen nach, leider! nur zu ge-
gruͤn-
[115] gruͤndete Beſchuldigung! Moͤgteſt du ſie doch
nie beſtaͤtiget finden! Mir ging es nun einmahl
nicht anders; ſo oft ich in irgend einer Sache
aus reiner Gewiſſenhaftigkeit und ohne Ruͤkſicht
auf meinen eigenen Vortheil oder auf das Urtheil
der Menſchen, handelte, mußte ich jedesmahl
erfahren, daß mein Betragen mit Bitterkeit ge-
tadelt ward, daß man meine Bewegungsgruͤnde
verkante, oder, wenn ich ſie ſelbſt darlegte, ſie
nicht glaubte, ſie fuͤr eine Maske hielt, und mir
andere unterſchob, welche mir nie in die Sele
gekommen waren. Ich erinnere mich hierbei
eines wahren und großen Worts, welches ein
guter Fuͤrſt, der die nemliche Erfahrung gemacht
hatte, mir einmahl uͤber dieſen Unglauben der
Menſchen ſagte: “heutiges Tages iſt in gewiſſen
Faͤllen die beſte Politik, gar keine Politik zu
brauchen, ſondern mit der Wahrheit ehrlich her-
auszugehn. Denn da kein Menſch an Wahr-
haftigkeit und Rechtſchaffenheit mehr glaubt, ſo
werden wir unſere jedesmaligen guten Abſichten,
grade durch eine offenherzige Bekantmachung der-
ſelben, mehr verbergen, als wir es durch die feinſten
H 2Kuͤnſte
[116] Kuͤnſte der Verſtellung zu thun im Stande
waͤren.„
Wie weit muß es doch mit Menſchen gekom-
men ſein, bei denen man, um verſtekt und raͤthſel-
haft zu handeln, nur offenherzig und ehrlich zu
Werke zu gehen braucht! Dis fuͤhrt mich zu
einer fuͤnften Bemerkung, welche eben ſo nieder-
ſchlagend iſt:
Alle Menſchen aus derjenigen Klaſſe,
von der ich jezt rede, ſind mehr oder we-
niger unwahr, ſind mehr oder weniger
eine bloße luftige Erſcheinung, welche von
dem Wirklichen, was dabei zum Grunde
liegt, oft mehr verſchieden iſt, als die Ge-
ſtalt, die wir im Spiegel erblikken, von
dem Spiegel ſelbſt. Du ſtaunſt, mein
Sohn? Ich erſtaunte auch, da ich zum erſten-
mahl aus dem ſuͤßen Traume der Kindheit er-
wachte, und nun auf einmahl zu meinem Schrek-
ken ſahe, daß alle die feinen, artigen, gefaͤlligen,
ſanften, gutherzigen, theilnehmenden, aufrichti-
gen
[117] gen und redlichen Leute, mit allen ihren erkuͤn-
ſtelten Mienen der reinſten Guͤte und des waͤrm-
ſten Wohlwollens, mit allen ihren geſchliffenen
verbindlichen Worten, und mit allen ihren Ver-
ſicherungen von Freundſchaft, von Hochachtung
und Bewunderung, nichts mehr und nichts we-
niger, als kalte fuͤhlloſe Marionetten waͤren,
welche durch den Draht des Welttons in Bewe-
gung geſezt werden, und bei den lebhafteſten
Aeuſſerungen von Guͤte und Gefaͤlligkeit nicht
mehr empfinden, als die hoͤlzerne Puppe bei den
Worten, die der Man hinter der Schirmwand
ihr in den Mund zu legen weiß.
Aber laß uns gerecht ſein, mein Sohn, und
nicht jede Unwahrheit, welche wir in dem Ka-
rakter, in den Reden und Handlungen der Men-
ſchen wahrnehmen, ſogleich fuͤr Falſchheit und
Betrug erklaͤren. Es gibt mehr, als eine Art
derſelben, welche dieſe harte Benennung nicht
verdient, welche ſogar der wirklich brave und
rechtſchaffene Man ſich zu erlauben kein Beden-
ken tragen darf. Ich wil dir dieſe verſchiedenen
Arten von Unwahrheit kuͤrzlich aus einander ſezen.
H 3Die
[118]
Die erſte und verzeihlichſte unter allen iſt die
bloße Verheimligung der Wahrheit in allen
denjenigen Faͤllen, in welchen keine einzige unſrer
Pflichten uns zur Bekantmachung derſelben auf-
fodert. Wo keine Verbindlichkeit ſtat findet, da
findet auch kein Unrecht ſtat. Zu ſchweigen alſo,
wenn keine unſerer natuͤrlichen oder geſelſchaft-
lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie-
mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil
oft gut und weiſe und pflichtmaͤßig ſein. Es
gibt der Wahrheiten viele, deren unvorſichtige
Bekantmachung fuͤr Selen von gewoͤhnlichem
Schlage eben ſo verderblich ſein wuͤrde, als die
ploͤzliche Einlaſſung des hellen Tageslichts fuͤr
diejenigen zu ſein pflegt, welche lange Zeit im
Finſtern lebten, oder denen man ſo eben erſt
den Staar geſtochen hat. Auch in der phiſiſchen
Welt laͤßt Gott nie auf einmahl Tag werden;
erſt Nacht, dan ſchwache Daͤmmerung, dan
Morgenroth, und dan erſt Tag! So ſol es in
dem Reiche der Wahrheit auch ſein. Wer hier
auf einmahl Tag machen wolte, der wuͤrde vielen
menſchlichen Selen das bischen Sehkraft, das
ihnen
[119] ihnen etwa noch zu Gebote ſteht, auf einmahl
ganz zernichten; und wozu ſol ihnen dan das
Tageslicht, wan ſie keine Augen mehr, es aufzu-
nehmen, haben?
Alſo von dieſer Art von Verſtellung, welche
in einer weiſen Zuruͤkbehaltung gewiſſer Wahr-
heiten, oder in einer ſparſamen Ausſpendung der-
ſelben beſteht, kan hier nicht die Rede ſein.
Auch nicht von einer zweiten Art von Un-
wahrheit, welche eben ſo unſchaͤdlich iſt, und deren
keiner, der nicht allen Zuſammenhang mit der
menſchlichen Geſelſchaft abbrechen, und mit Dio-
genes in eine Tonne kriechen wil, ſich erwehren
kan. Es gibt nemlich unzaͤhlbare Arten zu reden,
unzaͤhlbare Hoͤflichkeitsbezeugungen und Ge-
braͤuche, bei denen keiner, der nicht ſeit geſtern
aus dem Monde herabgefallen iſt, ſich jemahls
einfallen laͤßt, dasjenige zu denken, was die
Worte eigentlich beſagen, oder was die aͤuſſer-
lichen Zeichen, deren man ſich dabei bedient, ihrer
Natur nach anzudeuten ſcheinen; ſondern welche
bloße, durch algemeines Einverſtaͤndniß feſtge-
ſezte Zeichen ſind, wodurch einer dem andern zu
H 4erkennen
[120] erkennen gibt, daß er ſeinen Stand und den da-
mit verbundenen Grad von Ehre wiſſe, und
daß er wider beide nichts erhebliches einzuwen-
den habe. Ich kan dir dieſe Art von unſchaͤd-
licher und alſo auch erlaubter Unwahrheit nicht
beſſer, als mit den Worten eines mir unbekanten
Weltkenners beſchreiben, die ich geſtern in einem
fliegenden Blatte las:
“Was die aͤuſſere Achtung, dasjenige, was
man Etikette, Welt, Hoͤflichkeit nent, betrift,
ſo kan man die auch denen bezeigen, die man
nicht achtet, ohne desfals einer Falſchheit oder
Verſtellung bezuͤchtiget werden zu koͤnnen. In
dem Woͤrterbuche des gemeinen Lebens gibt es
eine Menge Ausdruͤkke, die ganz und gar die
Bedeutung nicht mehr haben, die ihnen von den
Erfindern der Sprache beigelegt worden. Es
ſind gleichſam heruntergeſezte Muͤnzen, deren
Devalvazion jeder weiß, und womit alſo niemand
betrogen wird. Derjenige, der dergleichen Aeuſ-
ſerungen thut, derjenige, dem ſie geſchehen, und
alle, die ſie hoͤren, ſind gleich gewiß uͤberzeugt,
daß ſie falſch ſind. Sie geſchehen auch gar nicht
in
[121] in der Abſicht, um geglaubt zu werden. Sagt
einer zu dem andern: ich bin erfreut, Sie
wohl zu ſehen, ſo heißt das weiter nichts, als:
es iſt mir gleichguͤltig, ob Sie wohl ſind,
oder nicht. Ein Gluͤk, wenn es nicht gar
heißt: wolte Gott, daß ſie nicht wohl waͤren!
Sagt er: ich empfehle mich Ihnen, ſo heißt
das nichts mehr und nichts weniger, als: ich
wil nun nach Hauſe gehen. Da nun alle
uͤber den Werth ſolcher Ausdruͤkke eins ſind; ſo
kan gar kein Misverſtaͤndniß entſtehen, und wer
ſie nach der Devalvazionstabelle in Kurs bringt,
handelt weder falſch noch unredlich. Wer ein
abgeſeztes, zu 18 Pf. heruntergewuͤrdigtes 3 gGr.
Stuͤk zu 18 Pf. in Umlauf bringt, vervortheilt
niemand. Nur der wuͤrde mich betruͤgen, der es
zu 3 gGr. mir aufhaͤngen wolte.„
“Ohnſtreitig iſt hierin Konvenzion der
zuverlaͤßige Maaßſtab, zumahl der Werth aller
Dinge, die Tugend allein ausgenommen, kon-
venzional iſt. Alle Menſchen koͤnnen alſo ohne
Zweifel durch einen algemeinen Vertrag eben
ſo gut ausmachen, daß kuͤnftig: Ihr Diener,
H 5bedeuten
[122] bedeuten ſolle: Ganz und gar nicht Ihr
Diener, als es allen Großen der Erde frei ſtehen
wuͤrde, durch eine algemeine unter einander kon-
zertierte Verordnung zu beſtimmen, daß ein hol-
laͤndiſcher Dukaten kuͤnftig nicht mehr, als einen
Gulden gelten ſolle. Dan wuͤrde nur der be-
truͤgen, der ihn noch immer zu einem Dukaten
ausgeben wolte. Und das wuͤrde auch der thun,
der Komplimentenſprache fuͤr Herzensſprache uns
verkaufen wolte.„
Alſo auch von dieſer Art von Unwahrheit,
welche in der geſitteten menſchlichen Geſelſchaft
nun einmahl unvermeidlich iſt, kan hier nicht die
Rede ſein. Und von welcher denn? Von der,
mein Sohn, welche mit gefliſſentlicher Falſchheit,
welche mit dem Bewuſtſein der Abſicht, andere
zu ſeinem Vortheile zu blenden, zu hintergehen,
verbunden iſt; von der, die da macht, daß der
verfeinerte Weltmenſch vom Scheitel bis zur
Fußſole in allen ſeinen Mienen, Gebehrden,
Worten und Handlungen eine einzige luͤgenhafte
Larve iſt, welche Freundlichkeit, Wohlwollen,
Sanftmuth, Beſcheidenheit, Enthaltſamkeit und
eine
[123] eine uneigennuͤzige Rechtſchaffenheit aushaͤngt,
indes das Herz, welches unter ihr verborgen
liegt, von heimlichem Grol, von giftigem Neide,
von verbiſſener Wuth, von verſtektem Hochmuthe,
von wolluͤſtigen Begierden, und von der eigen-
nuͤzigſten Selbſtſuͤchtigkeit bis zum Ueberfließen
vol iſt. Hier iſt alles uͤbertuͤncht, alles auf Taͤu-
ſchung angelegt. Man hat ſeine Blikke, ſeine
Mienen, jede Bewegung ſeiner Geſichtsmuskeln,
jede Stellung des Koͤrpers, ſogar den Ton ſeiner
Stimme, unter die Herſchaft der Verſtellungs-
kunſt gebracht. Alle Leidenſchaften und Laſter
ſind in das Gewand der ihnen entgegengeſezten
Tugenden gehuͤlt. Der Zorn aͤuſſert ſich nicht
mehr durch Schreien, Poltern und Knirſchen,
ſondern, wie ſanfte Taubenguͤte, durch Girren
und Laͤcheln; der Neid iſt nicht mehr jene hagere,
blasgelbe, hohlaͤugigte Geſtalt, unter der die Alten
ihn uns ſchildern; er traͤgt jezt ganz die Roſen-
farbe und die gefaͤlligen Simbolen des freudigſten
Mitgefuͤhls, der herzlichſten Theilnehmung an
unſerm Wohlergehn: die Eitelkeit ſchlaͤgt die
Augen nieder; erroͤthet, gleich der demuͤthigſten
Beſcheiden-
[124] Beſcheidenheit, bei jeder Bemerkung ihrer Vor-
zuͤge; wil es durchaus nicht an ſich kommen
laſſen, daß ſie Vorzuͤge beſize; ſpricht hiperbo-
liſch von ihren Unvolkommenheiten und Schwach-
heiten, um eben ſo hiperboliſche Lobpreiſungen
ihrer Volkommenheiten und Tugenden heraus-
zulokken: der haͤusliche Tiran ſeines Weibes,
ſeiner Kinder, ſeiner Hausgenoſſen, ſcheint
auf der Buͤhne der Geſelſchaften der zaͤrtlichſte
Gatte, der liebreichſte Vater, der guͤtigſte
und nachſichtsvolſte Hausherr unter der Sonne
zu ſein; und die haͤusliche Quaͤlerin ihres
Gatten, die eingefleiſchte Furie in der Kuͤche und
im Schlafgemach, trit mit der ſanften nachge-
benden Miene einer frommen Dulderin und mit
der uͤberſchwenglichen ehelichen Zaͤrtlichkeit einer
zweiten Penelope auf.
So, mein Sohn, hat jezt alles ſeine natuͤr-
liche Farbe veraͤndert; ſo haben Leidenſchaften
und Laſter ſich hinter die Larve ihres Gegentheils
zu verſtekken gewußt. Jederman wil jezt nur
ſcheinen; um das Sein iſt es keinem mehr zu
thun. Mit vielen Menſchen iſt es gar ſchon ſo
weit
[125] weit gekommen, daß ſie, im Bewußtſein ihres
tiefen moraliſchen Verfals, an der Moͤglichkeit,
fuͤr gut gehalten zu werden, verzweifeln, und
daher ihren ganzen Ehrgeiz blos darauf einſchraͤn-
ken, zu verlangen, daß man nur aͤuſſerlich ſich
ſtellen ſol, als hielte man ſie fuͤr beſſer, als ſie
ſind. Die Ungluͤklichen!
Moͤgte mein trauriger Umriß hiemit vollendet
ſein! Aber das iſt er leider! noch nicht; ich muß
alſo fortfahren:
Alle dieſe Menſchen, vorzuͤglich aber
diejenigen unter ihnen, welche bei jeder
Gelegenheit das Schild der Uneigennuͤzig-
keit, der Dienſtbefliſſenheit, und der Groß-
muth aushaͤngen, ſind nun auch in hohem
Grade ſelbſtſuͤchtig und eigennuͤzig. Zwar
gibt man ſich alle erſinliche Muͤhe, dieſe Trieb-
feder ſeiner Handlungen auf das ſorgfaͤltigſte zu
verbergen, und den Schein eines edlen, uneigen-
nuͤzigen und abſichtloſen Karakters zu behaupten:
aber umſonſt! Das Auge des aufmerkſamen
Beobachters dringt durch dieſen Nimbus von
Edelmuth
[126] Edelmuth und großmuͤthiger Aufopferung eigener
Vortheile mit leichter Muͤhe hindurch, und ent-
kleidet die kleine ſelbſtſuͤchtige Sele von allen den
praͤchtigen Bewegungsgruͤnden, womit ſie ſich und
ihr Betragen, zur Bewunderung aller Neulinge,
ſo ausnehmend zu ſchmuͤkken wußte. Da ſieht
er denn, — und er ſieht es ſo oft, daß es ihn nicht
weiter befremden kan — daß der Grund, aus dem
die glaͤnzendſten Handlungen hervorwachſen, ein
Gemiſch von Ehrbegierde, Eitelkeit, Habſucht,
liſtiger Spekulazion, ſinlicher Wolluſt und von
jeder andern unedlen Leidenſchaft ſei, indes der
Handelnde nichts als Menſchenliebe, Patrio-
tismus, Froͤmmigkeit, Tugendeifer und die ſtrengſte
uneigennuͤzigſte Rechtſchaffenheit zu athmen ſcheint.
Mit einem Worte, er ſieht, daß dasjenige,
was ein großer Weltman, den ich kuͤnftig oft fuͤr
mich werde reden laſſen, *) von den Hoͤfen ſagt,
jezt mit gleicher Wahrheit von der ganzen ſoge-
nanten großen Welt geſagt werden koͤnne: “Hier
umarmen ſich die Leute, ohne daß ſie ſich einander
kennen; einer dient dem andern, ohne Freund-
ſchaft;
[127] ſchaft; einer beleidiget den andern, ohne Haß.
Eigennuz, nicht Gefuͤhl, iſt das Gewaͤchs dieſes
Bodens.„
Das ſonderbarſte hierbei iſt, daß alle dieſe
uneigennuͤzigen, edlen und großmuͤthigen Leute
einer dem andern bis in die verborgenſte Falte
ihres verſtekten Herzens ſehen, und daß gleich-
wohl jeder insbeſondere ſich mit der Hofnung
ſchmeichelt, daß es ihm, ihm allein gelingen
werde, ſeine Maske ſo kuͤnſtlich anzulegen, daß
kein menſchliches Auge den Betrug zu entdekken
vermoͤge. Das mag denn auch wohl zum Theil
die Urſache ſein, warum der eine beim Aublik des
andern, wie der Haruſper Cicero beim Anblik
eines andern Gauklers aus der nemlichen ehr-
wuͤrdigen Klaſſe, ſich des Laͤchelns nicht enthalten
kan, weil jeder aus dem Bewußtſein ſeiner eigenen
Verſtellung ſchließt, was er von der Prachtlarve
einer uneigennuͤzigen Rechtſchaffenheit, womit der
andere, ſo gut als er, Parade macht, zu halten
habe. Einer erkent in dem andern den Schau-
ſpieler, der die auswendig gelernte Rolle des Bi-
dermans macht; aber ohngeachtet er ſelbſt in
gleicher
[128] gleicher Abſicht neben ihm auf einer und eben-
derſelben Buͤhne ſteht: ſo hat er doch das Herz zu
hoffen, daß der andere ihn fuͤr einen bloßen Zu-
ſchauer in natuͤrlichem Karakter nehmen werde,
und der andere hat nicht weniger den Muth, ein
Gleiches wiederum von ihm zu erwarten. So
taͤuſcht man ſich ſelbſt, indem man andere zu
taͤuſchen ſucht, und in der Einbildung ſteht, daß
man der einzige ſei, der ungetaͤuſcht davon
komme! —
Ich ſeze meinen ſchwermuͤthigen Pinſel von
neuem an, um einen Zug der durch Verfeinerung
verderbten Menſchheit hinzuzufuͤgen, der unter
allen vielleicht der algemeinſte iſt. Ich meine:
Die Eitelkeit. Ein gewiſſer Grad derſelben
mag nun wohl freilich unmittelbar aus dem erſten
Haupttriebe unſerer Sele, aus der Selbſtliebe,
abfließen. Denn man darf wohl kuͤhnlich be-
haupten, daß alle Menſchen, vom rohen Feuer-
laͤnder, der ſeinen von Froſt erſtarten nakten Leib
mit
[129] mit Roͤthel bemahlt *), bis zum Hofkammer-
junker des großen Moguls, in ihrem Herzen
wuͤnſchen, daß man irgend etwas Schoͤnes, ir-
gend etwas Gefaͤlliges, etwas Lobenswuͤrdiges
an ihnen wahrnehmen, und ſie durch Aufmerk-
ſamkeit und Achtung dafuͤr auszeichnen moͤge.
Aber auf dieſen erſten Keim der Eitelkeit, den
alle, auch die weiſeſten und beſten Menſchen, in
ſich fuͤhlen, wil ich dich jezt nicht aufmerkſam
machen; ſondern auf den großen aſtreichen Stam,
der in dem Herzen unſerer ſchoͤnen und galanten
Weltmaͤnner und Weltfrauen zu einer ſolchen Hoͤhe
daraus hervorgewachſen iſt, daß er uͤber alle an-
dere Triebe hervorragt:
Quantum lenta ſolent inter viburna cupreſſi!
Alle Leidenſchaften und Begierden — ſogar
die Habſucht, ſogar der Hunger und Durſt nach
ſinlichen Vergnuͤgungen, ja ſogar die Liebe zum
Leben
J
[130] Leben ſelbſt — pflegen dieſer alwirkſamen Trieb-
feder menſchlicher Handlungen untergeordnet zu
ſein. Denn wo iſt das Opfer, es ſei ſo groß
und ſo beſchwerlich, als es nur immer wolle, wel-
ches man dieſem Goͤzen zu bringen noch wohl
Bedenken truͤge? Geld und Gut? Man ſei auch
noch ſo begierig darnach, ſo bald die Eitelkeit es
heiſcht, wird ſich keiner weigern, es mit vollen
Haͤnden auszuwerfen. Gemaͤchlichkeit und Wohl-
behagen? Eine Mode, welche fuͤr ſchoͤn gehal-
ten wird, ſei auch noch ſo beſchwerlich, ſei auch
noch ſo peinigend; die Eitelkeit verlangt Unter-
werfung, und man unterwirft ſich ohne Murren.
Geſundheit und Leben? Sie ſind uns theuer;
aber zehnmahl theurer noch iſt uns die angaffende
Bewunderung der Menſchen, und wir ſind daher
bereit, auch von dieſen, alles andere uͤberwie-
genden Guͤtern, ſo viel zu verſchwenden, als die
Eitelkeit durch ihr jedesmaliges despotiſches Mo-
degeſez von uns verlanget. Dis iſt der Heroismus
unſerer Zeiten! Was der Spartaner und Roͤmer
ihrem Vaterlande, was die Weiſen des Alterthums
ihrer Jugend aufopferten, das legen wir, mit
eben
[131] eben ſo großer Selbſtverlaͤugnung und mit eben
ſo großer Freudigkeit auf den Altar der Eitelkeit.
Ich ſage zu wenig; wir legen noch mehr darauf:
denn ſelbſt unſere Tugend, unſere Rechtſchaffen-
heit und Froͤmmigkeit ſind uns nicht ſo ſehr ans
Herz gewachſen, daß wir uns nicht von ihnen
trennen koͤnten, ſo bald die Eitelkeit es uns be-
fielt. Selbſt die ewigen Freuden des Himmels
moͤgten wohl, wenn ſie mit dem Vergnuͤgen,
welches uns aus der Befriedigung dieſer Lieblings-
leidenſchaft erwaͤchſt, auf die Wage gelegt wuͤr-
den, in den meiſten Faͤllen zu leicht befunden
werden.
Die Art, wie die Eitelkeit der Leute ſich zu
aͤuſſern pflegt, iſt ſehr verſchieden. Einige ver-
rathen ſie durch geſuchten Puz, andere durch an-
ſcheinende, aber doch zugleich auf die vortheilhaf-
teſte Art genuzte Nachlaͤſſigkeit im Anzuge; einige
dadurch, daß ſie uns alle ihre innern und aͤuſſer-
lichen Vorzuͤge gleichſam aufdringen, ohne uns
Zeit zu laſſen, ſie ſelbſt auszuſpaͤhen, andere
dadurch, daß ſie gar kein Verdienſt, gar nichts
Vorzuͤgliches wollen an ſich kommen laſſen, und
J 2bei
[132] bei jeder Gelegenheit ſich blos darum ſo tief herab
ſezen, damit man ihnen wiederſprechen, und ſie
deſto mehr erheben ſol. “Einige von jenen reden
grade zu, ohne gereizt zu ſein, auf eine anpreiſende
Weiſe von ſich ſelbſt; und dieſe ſind unverſchaͤmt.
Andere gehen, wie ſie ſich einbilden, liſtiger zu
Werke; ſie erdichten Beſchuldigungen wieder ſich
ſelbſt, beſchweren ſich uͤber nie gehoͤrte Verlaͤum-
dungen, um nur, zu ihrer Rechtfertigung, ein
Verzeichniß ihrer vielen Tugenden zu liefern. Sie
erkenten zwar, ſprechen ſie, daß es ſeltſam her-
auskommen wuͤrde, auf ſolche Art von ſich ſelbſt
zu reden; ihr Geſchmak waͤr’ es auch nicht, und
ſie wuͤrden es nimmermehr gethan haben; keine
Martern ſolten es ihnen abgenoͤthigt haben, wenn
ſie nicht ſo ungerechter und abſcheulicher Weiſe
waͤren beſchuldigt worden. In ſolchem Falle aber
muͤßte man ſicher ſich und andern Recht verſchaf-
fen, und wenn unſer guter Name angegriffen
wuͤrde, koͤnte man zu ſeiner Vertheidigung alles
ſagen, was man ſonſt niemahls geſagt haͤtte.
Dieſer duͤnne, vor die Eitelkeit gezogene, Schleier
der Beſcheidenheit iſt viel zu durchſichtig, als daß
er
[133] er ſie ſelbſt einer mittelmaͤßigen Urtheilskraft ver-
bergen koͤnte.„
“Andre greifen es beſcheidener, und noch
ſchlauer, wie ſie denken, an, wie wohl, meines
Erachtens, noch viel laͤcherlicher. Sie geſtehen
an ſich ſelbſt, nicht ohne einige Schaam und
Verlegenheit, alle Haupttugenden, indem ſie ſie
erſt zu Schwachheiten erniedrigen, und darauf
bekennen, es waͤre einmahl ihr Ungluͤk, ſolche
Schwachheiten an ſich zu haben. “Sie koͤnten,
ſagen ſie, niemanden leiden ſehen, ohne es
zugleich mit zu empfinden, und ihm zu helfen zu
ſuchen. Sie koͤnten niemanden in Mangel
ſehen, ohne ihm Erleichterung zu verſchaffen, ob-
ſchon in Wahrheit ihre eigene Umſtaͤnde es nicht
wohl litten. Sie koͤnten ſich nicht enthalten,
die Wahrheit zu reden, wiewohl ſie wuͤßten, wie
unvorſichtig das waͤre. Kurz, ſie wuͤßten wohl,
daß ſie, bei allen dieſen Schwachheiten, untuͤch-
tig waͤren, in der Welt zu leben, weit weniger,
darin empor zu kommen. Aber ſie waͤren nun
einmahl zu alt, als daß ſie ſich aͤndern koͤnten,
und muͤßten ſich nun hinhelfen, ſo gut es ginge.„
J 3Das
[134]
Das klingt faſt laͤcherlich und uͤbertrieben
fuͤr die Schaubuͤhne. Und doch, das glaube mir
auf mein Wort, wirſt du dergleichen auf dem
Schauplaze der Welt haͤufig antreffen. Dieſer
Trieb der Eitelkeit und des Stolzes iſt in
der menſchlichen Natur ſo ſtark, daß er ſich
bis zu den niedrigſten Dingen herablaͤßt. Man
ſieht oft Leute in Dingen nach Lobe trachten,
wo ſich bei der Vorausſezung, daß alles, was ſie
ſagen, wahr waͤre, was es jedoch, im Vorbeigehn
geſagt, ſelten iſt, gar kein rechtmaͤßiges Lob er-
halten laͤßt. Der eine behauptet, er waͤre in
ſechs Stunden hundert engliſche Meilen geritten.
Vermuthlich iſt es eine Luͤge. Geſezt aber, es
waͤre wahr, was folgte denn daraus? Daß er
einen guten Poſtknecht abgeben wuͤrde; das iſt
alles. Ein andrer behauptet, vermuthlich nicht
ohne Schwuͤre, er haͤtte ſechs bis acht Kannen
Wein getrunken. Aus kriſtlicher Liebe wil ich
ihn als einen Luͤgner anſehen. Wo nicht, ſo
muß ich ihn fuͤr ein Vieh halten. *)
Ich
[135]
Ich fuͤge zu dieſen Bemerkungen nur noch
dieſes hinzu, daß viele Menſchen nicht blos eitel,
ſondern auch eingebildet zugleich ſind. Derje-
nige, welcher blos das erſtere iſt, kent ſeinen
Mangel an Vorzuͤgen, weiß, daß ihm, nach
abgewaſchener Schminke, weder aͤußerliche
noch innerliche Schoͤnheit und Treflichkeit bei-
wohnen, und ſeine ganze Sorge geht daher nur
dahin, zu verhuͤten, daß man ihn nicht im
Nachtkleide ſehe, nicht gewahr werde, was fuͤr
phiſiſche und moraliſche Haͤßlichkeit hinter dem
Flitterſtate, womit er ſein Inneres [und] Aeuſſe-
res zu verſchoͤnern weiß, verborgen liege. Der
Eingebildete hingegen glaubt wirklich ſelbſt, in
ſeiner Geſtalt, in ſeinem Weſen, in ſeinen Ta-
lenten und Geſchiklichkeiten unterſcheidende Vor-
zuͤge zu beſizen, die er doch nicht beſizt; und er
begnuͤgt ſich daher nicht, wie jener, unſere Be-
wunderung zu erſchleichen, ſondern er fodert ſie,
als einen ſchuldigen Tribut, als eine Huldigung,
welche ſeinen ſeltenen Verdienſten von rechtswe-
gen gebuͤhrt. Eine ſchwer zu befriedigende, und
zu einer dauerhaften Freundſchaft gaͤnzlich unfaͤ-
J 4hige
[136] hige Art von Menſchen! Beuge ihnen aus, wenn
du kanſt; und wenn du dieſes nicht kanſt, ſo
ſorge wenigſtens dafuͤr, daß die Beruͤhrung zwi-
ſchen dir und ihnen ſo leicht und behutſam, als
moͤglich, geſchehe!
Nur noch ein einziger Pinſelſtrich, und der
duͤſtere Hintergrund meines Gemaͤhldes wird
vollendet ſein!
Hang zu zerſtreuenden Vergnuͤgungen!
— Aber, verſtehe mich recht, mein Sohn! Ich
bin weit davon entfernt, dir Moͤnchsmoral pre-
digen zu wollen; weit entfernt, alle Arten von
Vergnuͤgungen der feinern Welt an ſich ſelbſt
fuͤr ſchaͤdlich, oder, welches einerlei iſt, fuͤr ſuͤnd-
lich zu halten. Viele derſelben ſind vielmehr
von der Art, daß auch ein wohlgebildetes tugend-
haftes Gemuͤth, der Reinigkeit ſeiner Geſinnun-
gen unbeſchadet, Antheil daran nehmen darf.
Aber der ſo haͤufige Mißbrauch dieſer Ergoͤz-
lichkeiten, das dabei ſo gewoͤhnliche Hinuͤber-
ſchweifen uͤber die Grenzen der Maͤßigkeit, der
Ordnung, der Sitſamkeit, und vornehmlich der
viel
[137] viel zu haͤufige, viel zu unmaͤßige Genuß der-
ſelben, die, die ſind es, welche auch die unſchul-
digſten unter ihnen in Gift verwandeln; welche
alle Haͤuslichkeit aufheben, allen Geſchmak an
Naturfreuden und Familiengluͤkſeeligkeit zernich-
ten, alle Nerven des Geiſtes und des Leibes er-
ſchlaffen, und alle Luſt und Faͤhigkeit zu einer ſte-
tigen ausdauernden Geſchaͤftigkeit in uns er-
ſtikken; und in der wuͤſten Sele nichts als Ekel
an unſern Berufspflichten und ein ſtuͤndliches
Sehnen nach neuen berauſchenden Zerſtreuungen
zuruͤklaſſen. Man faͤngt an, ſich ſelbſt zur Laſt
zu fallen, ſobald man allein oder in Geſelſchaft
ſeiner gewoͤhnlichen Hausgenoſſen iſt; die an
ſtaͤrkere Spannungen nun einmahl gewoͤhnte Sele
fuͤhlt ſich wie vernichtet, ſobald dieſe Spannun-
gen aufhoͤren; es koͤmt ihr alles ſo oͤde, ſo ein-
foͤrmig, ſo ſchal vor! Sie fuͤhlt Beduͤrfniſſe,
und weiß nicht, welche; greift bald zu dieſer, bald
zu jener haͤuslichen Unterhaltung, und wird durch
keine befriediget. Endlich ſchlaͤgt die frohe Stunde
der Aſſemblee, der Komoͤdie, des Larventanzes
oder einer aͤhnlichen Zuſammenkunft der ſchoͤnen
J 5Welt:
[138] Welt: und ſie erwacht aus dem Zuſtande der
Vernichtung; ihre Elaſtizitaͤt iſt ploͤzlich wieder
hergeſtelt, und freudig walt ſie dahin, wie ein
Fiſch, der eine Zeitlang auf dem [Troknen] lag,
und durch einen gluͤklichen Sprung ſich nun auf
einmahl wieder in ſein Element verſezet ſieht.
Dieſer Hang zu Zerſtreuungen, und dieſer
Ekel an allem was ſimpel, einfoͤrmig, natuͤrlich
und haͤuslich iſt, iſt eine ſo unausbleibliche Folge
des feinen und großen Lebens, daß wir volkom-
men berechtiget ſind, ihn, ſo wie ich jezt ge-
than habe, unter die Hauptkarakterzuͤge der ver-
feinerten Menſchheit zu rechnen.
Und nun, mein Sohn, laß mich erſt wieder
zu Athem kommen. — Es hat mir weh ge-
than, daß ich dir an einem großen Theile deiner
Mitmenſchen Seiten zeigen mußte, die ich dei-
nem Herzen, waͤr’ es moͤglich geweſen, lieber auf
immer verheimlichet haͤtte. Aber was wuͤrde
mir das geholfen haben? Fruͤh oder ſpaͤt waͤren
dir die Augen doch einmahl von ſelbſt aufgegan-
gen, und wer weiß, wie theuer dieſe eigene Er-
fahrung
[139] fahrung dir dan wuͤrde zu ſtehen gekommen
ſein!
Aber damit du nicht zu aͤngſtlich in dein
kuͤnftiges Leben blikken, nicht etwa beklagen
moͤgeſt, daß du in einem kultivierten Lande
und unter verfeinerten Menſchen geboren biſt;
ſo vernim, mein Lieber, die heilige Verſicherung
eines Mannes, der einen großen Theil ſeiner
Tage unter Menſchen grad’ aus derjenigen Klaſſe,
deren moraliſche Gebrechen er dir jezt ſchilderte,
hingebracht, und ſich oft ein angelegentliches Ge-
ſchaͤft daraus gemacht hat, die ganze Lage der
Menſchheit zu verſchiedenen Zeiten und unter
verſchiedenen Umſtaͤnden aufmerkſam zu beobach-
ten und zu vergleichen; die Verſicherung:
daß, dafern mein abgelaufener Le-
bensfaden noch einmahl aufgerolt wer-
den ſolte, ich dennoch zu keiner an-
dern Zeit und in keinem andern Lande,
als grade jezt, und grade in unſerm
deutſchen Vaterlande, mein Erdenle-
ben noch einmahl beginnen moͤgte.
Denn noch nie, nie ſind die Menſchen, im
Ganzen
[140] Ganzen genommen — gleichviel aus was fuͤr
Urſachen — ihrem gegenſeitigen Betragen nach,
menſchlicher geweſen, als jezt; noch nie hat man
fuͤr ſeine Ruhe, fuͤr ſein Eigenthum und fuͤr ſein
Leben ſelbſt, von Ungerechtigkeit und zuͤgelloſer
Gewaltthaͤtigkeit weniger zu beſorgen gehabt; nie
iſt der Umgang der Menſchen unter einander ſanf-
ter, ſtiller und friedlicher geweſen; nie iſt der ge-
ſittete Menſch dem Muthwillen und der Grobheit
eines rohen ungeſitteten Poͤbels weniger ausgeſezt
geweſen, als bei uns; nie hat man der unter-
druͤkten Vernunft und dem gefeſſelten Gewiſſen
von den ihnen geraubten natuͤrlichen Rechten mehr
wieder einzuraͤumen ſich bequemt; nie ſind die
Hierarchie, der Aberglauben und der mit beiden
unzertrenlich verbundene Verfolgungsgeiſt, im
Ganzen genommen, eingeſchraͤnkter, ſchwaͤcher
und alſo auch unſchaͤdlicher geweſen; nie hat die
Welt einer groͤſſern und ausgebreitetern Duldung
genoſſen; nie iſt es dem Weiſen und Patrioten
vergoͤnt geweſen, ſeine Stimme gegen oͤffentliche
Misbraͤuche, gegen ſchaͤdliche Vorurtheile, ja
ſogar gegen die Eingriffe der maͤchtigſten Despoten
mitten
[141] mitten in ihrem eigenen Lande, freier, lauter
und nachdruͤklicher zu erheben; nie hat die Frei-
heit der Preſſe, und das damit verbundene Recht,
an die ganze jeztlebende Menſchheit und an die
Nachwelt zu appelliren, die Gewaltigen der Erde
in der Anmaßung einer unbefugten Macht, im
Ganzen genommen, behutſamer und vorſichtiger
gemacht; nie iſt der menſchliche Geiſt auf dem
Wege der Erfahrung, der Beobachtung und des
auf beide gegruͤndeten Raiſonnements in der Er-
findung, Befeſtigung und Anwendung gemein-
nuͤziger Wahrheiten und Kuͤnſte weiter gekom-
men; nie hat man der eitlen und pedantiſchen
Schulgelehrſamkeit ihr erſchlichenes buntſchaͤkkiges
und ſteifes Ehrenkleid, zu ſichtbarer Befoͤrderung
einer wahren Erleuchtung des Volks, dreiſter
abgeriſſen; nie hat der Pruͤfungs- und Unter-
ſuchungsgeiſt ſo weit um ſich gegriffen, nie die
Vernunft in dem Kampfe mit Aberglauben,
Schwaͤrmerei und Fanatismus ſo viel Land ge-
nommen; nie ſind Philoſophie, Mathematik und
alle andere Wiſſenſchaften aͤmſiger und mit beſſe-
rem Erfolge auf das Leben und auf die Vermeh-
rung
[142] rung der oͤffentlichen Gluͤkſeeligkeit angewandt
worden; nie hat man die Theologie von ſcholaſti-
ſchem Unrath, nie die Religion von der Spreu
menſchlicher Zuſaͤze kuͤhner und ſorgfaͤltiger ge-
ſichtet, und beide den ewigen Wahrheiten der Ver-
nunft und den ſitlichen Beduͤrfniſſen der Men-
ſchen fleiſſiger und aufmerkſamer anzupaſſen ge-
ſucht; nie iſt man an die Erziehung der Jugend
mit ſo viel Kentniß der menſchlichen Sele, mit
ſo viel Ruͤkſicht auf die dermalige Lage der Menſch-
heit, mit ſo viel Aufopferung an eigener Gemaͤch-
lichkeit, mit ſo viel Trozbieten gegen verjaͤhrte
Mißbraͤuche, mit ſo viel eigener [Befreiung] von
herſchenden Vorurtheilen und mit ſo viel aͤuſſerlicher
Freiheit gegangen, als jezt; nie ſind die Kraͤfte und
Faͤhigkeiten des menſchlichen Geiſtes in einem ſolchen
Grade und von ſo vielen Seiten zugleich geuͤbt
worden; mit einem Worte: nie und nirgends
iſt man der wahren Beſtimmung der Menſchen —
der gleichzeitigen und proporzionierten Ausbildung,
Staͤrkung und Veredelung aller unſerer geiſtigen
und koͤrperlichen Naturkraͤfte — im Ganzen ge-
nommen naͤher gekommen, als grade jezt, und
grade hier in unſerm deutſchen Vaterlande.
Habe
[143]
Habe Dank, du alguͤtige Vorſehung, daß
du meine Tage in dieſe Morgenroͤthe einer groͤſſern
oͤffentlichen Gluͤckſeeligkeit der Menſchen fallen
ließeſt! Dank, Dank, daß das Leben meines
Sohns in dieſer Morgenroͤthe began, und
nun — o der freudigen Hofnung! — dem hellen
Tageslichte entgegen reift!
Nunmehr, mein Sohn, wirſt du im Stande
ſein, die Gruͤnde derjenigen Klugheitsregel einzu-
ſehen, die ich dir jezt bekant machen wil, und
um derentwillen ich jene Beobachtungen voraus-
ſchikken mußte. Ich werde nun nicht noͤthig
haben, dich auf dieſe Gruͤnde jedesmahl insbeſon-
dere zuruͤkzufuͤhren, weil ſie ſich dir von ſelbſt
darbieten werden. Folge mir denn ferner mit
deiner ganzen Aufmerkſamkeit, und ſchreibe dir
jeden guten Rath, den ich dir jezt aus dem Vor-
rathe meiner Erfahrungen mittheilen wil, mit
unausloͤſchlichen Buchſtaben ins Gedaͤchtniß ein.
Zur Sache!
Bei deinem Eintrit in die große menſch-
liche Geſelſchaft huͤte dich, mein Kleon, mehr
von
[144]von den Menſchen zu erwarten, als mit
ihrer Gemaͤchlichkeit, mit ihrem Vergnuͤ-
gen und mit ihrem eigenen Vortheile be-
ſtehen kan. Um Gottes willen ertraͤume dir
keine Schaͤferwelt, keine Idillenmenſchen mit
zuvorkommender Engelsguͤte! Du wuͤrdeſt das
Urbild dieſes Traumgeſichtes nirgends finden;
wuͤrdeſt bald mit Schrekken daraus erwachen,
und je hoͤher deine Erwartungen geſpant geweſen
waͤren, deſto ſchmerzhafter wuͤrde dir die Ent-
dekkung deines Irthums ſein.
Stelle dir vielmehr vor, du waͤreſt ein Wan-
derer, der in eine Herberge vol ſingender, tan-
zender und ſchmauſender Gaͤſte kaͤme. Je nach-
dem deine Miene, dein Anzug, und die Art, wie
du dich einfuͤhrſt, den guten Geſelſchafter verra-
then, wird man mit mehr oder weniger Hoͤflich-
keitserweiſungen dir entgegen kommen. Der eine
wird dir eine Prieſe, der andere ein Glas bieten,
eine dritte dich zum Tanz einladen, ein vierter
vielleicht, dem der Kopf eben nicht recht ſteht,
mit dir zanken wollen. Du wuͤrdeſt auf gleiche
Weiſe Unrecht haben, wenn du den Erſtern wahre
bleibende
[145] bleibende Freundſchaft, dem Leztern uͤberdachte
Feindſchaft gegen dich zutrauen wolteſt. Morgen
werden jene dich nicht mehr kennen, dieſer freund-
lich gruͤßend bei dir voruͤbergehn.
Dieſe Herberge iſt die große Welt; jene ſin-
genden, tanzenden und ſchmauſenden Gaͤſte ſind
unſere feinen Herren und Damen, die da groͤß-
tentheils keinen hoͤhern Endzwek ihres Daſeins
kennen, als zu amuͤſiren, und amuͤſirt zu werden.
Finden dieſe nun dich zu ihrem Zwekke brauchbar,
ſo biſt du, ſo lange dieſe Brauchbarkeit waͤhrt,
ihr Man; wonicht ſo kehren ſie dir den Ruͤkken
zu, und ihr ſeid geſchiedene Leute.
Du aber, ſei nuͤchtern unter den Trun-
kenen, aufmerkſam unter den Zerſtreuten,
beobachtend unter den Leichtſinnigen, da-
mit du die eigene Gemuͤthsbeſchaffenheit,
die herſchenden Leidenſchaften, Schwach-
heiten und Tugenden deiner Leute ſo fruͤh
und ſo genau als moͤglich kennen lerneſt.
Freilich laͤßt ein Herz, das in der Verſtellungskunſt
geuͤbt iſt, ſich nicht gleich beim erſten Blik er-
Ktappen,
[146] tappen, am wenigſten, wenn es merkt, daß der
Spaͤher ſich in Poſitur ſtelt, um es durchzuſchauen:
aber laß dich dadurch nicht abſchrekken. Gegen
eine fortgeſezte Aufmerkſamkeit auf Blikke, Mie-
nen, Gebehrden, Gang, Stellung, Kleidung,
Stimme, Reden und Handlungen, vornehmlich
aber gegen eine ſorgfaͤltige Vergleichung aller dieſer
Karakteraͤuſſerungen unter einander, und zwar zu
verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Um-
ſtaͤnden, haͤlt auch die kuͤnſtlichſte Maske nicht lange
Stich; ſie faͤlt, ehe man es ſich verſieht, und
die entlarvte Sele ſteht in ihrer Bloͤße. Denn
gluͤklicher Weiſe hat die Natur dafuͤr geſorgt, daß
jeder herſchende Karakterzug in alle die aͤuſſerlichen
Dinge, die ich jezt nante, kentliche Spuren ſeines
Daſeins eindruͤkken muß, welche zwar uͤberklei-
ſtert, aber nie ganz vertilgt werden koͤnnen. Uebe
dich fruͤhzeitig, dieſe Naturſchrift leſen zu lernen;
aber ſei nicht eher ſicher, den rechten Sin heraus-
gebracht zu haben, bis dir der Beobachtete ſelbſt
die Unterſcheidungszeichen — ſeine Handlungen
mein’ ich — hinzugeſezt hat. Ein einziges Komma
mehr oder weniger, hier oder dorthin geſezt, macht
die
[147] die phiſiognomiſche wie die Buͤcherſchrift nicht
ſelten doppelſinnig.
Achte aber nicht ſowohl auf die großen
und oͤffentlichen Handlungen der Menſchen,
als vielmehr auf die kleinen, auf die haͤus-
lichen, auf diejenigen, welche man gleich-
ſam im Vorbeigehen verrichtet, ohne eine
uͤberdachte Abſicht dabei zu haben. Dieſe,
nicht jene, ſind die aͤchten Probierſteine des Karak-
ters; denn bei jenen zeigt man ſich, wie man ſich
zeigen wil, bei dieſen wie man iſt; bei jenen iſt
die Sele in Galla, bei dieſen in Schlafrok und
Pantoffeln. Begleite alſo den glaͤnzenden Schau-
ſpieler, wenn du den Menſchen in ihm kennen
lernen wilſt, bis hinter die Kuliſſen; habe acht,
wie er hier ſeine Mienen, ſeine Blikke, ſeine
Sprache, ſein ganzes Weſen veraͤndert; ſiehe
ihm ins Geſicht, wenn er die Schminke abgewa-
ſchen, die gemahlten Augbraunen ausgerieben,
die ſchimmernde Theaterkleidung ausgezogen hat;
laß kein Wort von dem, was er nunmehr als
Menſch, nicht mehr als Schauſpieler, zu ſeinen
gleichfals abgetretenen Mitſpielern, zu den thea-
K 2traliſchen
[148] traliſchen Handlangern, zum Lichtpuzer, ſpricht,
auf die Erde fallen; hoͤre ihn hier uͤber ſeine
Rolle, uͤber das Parterre, und uͤber die Logen
Gloſſen machen, und komt von ohngefaͤhr ſein
Hund oder ſeine Kaze dazu, ſo acht’ es nicht zu
geringe, mit aller Aufmerkſamkeit, deren du faͤhig
biſt, auch ſein Benehmen gegen Hund und Kaze
zu beobachten. So oder niemahls wirſt du deinen
Zwek erreichen, den Man vom Schauſpieler ge-
hoͤrig unterſcheiden zu lernen.
Aber vielleicht merkt er deine Abſicht; viel-
leicht iſt ihm daran gelegen, auch noch hinter der
Buͤhne fuͤr eben den von dir angeſehen zu wer-
den, der er auf derſelben war; und in dieſem Fal
wird er ſeiner Theaterwuͤrde ſich noch nicht entaͤuſ-
ſern, ſondern vielmehr fortfahren, auch hinter den
Schirmwaͤnden, auch in der Kleiderkammer, dir
ſeine hohe pathetiſche Rolle vorzuſpielen; und
wie denn da? Vernim fuͤr dieſen Fal folgende vier
Regeln, deren Beobachtung dich ſelten im Stiche
laſſen wird.
Die erſte: erfinde oder veranſtalte irgend
ein Geſchaͤft, in welches ſein und dein In-
tereſſe
[149]tereſſe auf gleiche Weiſe verflochten iſt, und
welches alſo gemeinſchaftlich betrieben ſein
wil; berathſchlage dich mit ihm uͤber die
Art, wie ihr es betreiben wolt; bringe
verſchiedene Mittel zur Erreichung eurer
Abſicht, wovon das eine edler, als das
andere iſt, wovon das eine dieſer, das an-
dere jener Leidenſchaft vor den Kopf ſtoͤßt,
in Vorſchlag; und ſiehe dan zu, wohin
ſeine Sele ſich neigt, und bei welchem ſie
zuruͤkfaͤhrt. Dis wird dir auf einmahl den
Schluͤſſel zu ſeinem Karakter geben. Denn jezt,
da eure beiderſeitigen Vortheile in einander ge-
ſchlungen ſind, und es nun darauf ankomt, ge-
meinſchaftliche Sache zu machen, wird er auf
einen Augenblik vergeſſen, daß ihr zwei verſchie-
dene Perſonen ſeid, und in dieſem kritiſchen Au-
genblikke wird er reden und handeln, als wenn
er allein waͤre. Das iſt aber der Augenblik, in
welchem man Augen und Ohren brauchen muß,
ſeinen Man ſchnel durchzuſehen, und durchzuhoͤ-
ren: denn eine Minute darnach wird ſeine Sele
vielleicht ſchon wieder Schildwache ſtehen, und die
K 3Thuͤr
[150] Thuͤr ſeines Herzens auf lange Zeit von neuem
verſchloſſen ſein.
Die zweite: harre auf Gelegenheit, einen
ſolchen Menſchen in irgend einer heftigen
Leidenſchaft zu ſehen. Feuer und Kaͤlte,
Sturm und Ruhe, Leidenſchaft und Verſtellung
koͤnnen nicht wohl beiſammen ſein; und ſteht ein
Haus in Flammen, ſo ſpringt auch der heraus,
der am meiſten Urſache hatte, ſich darin ver-
borgen zu halten. So die verſtekte Sele, wenn
ihr Wohnhaus, der Koͤrper, in leidenſchaftlichem
Brande ſteht! Sie ſpringt unangekleidet, unge-
ſchminkt und unverlarvt hervor, und du ſiehſt ſie,
wie ſie iſt, nicht wie ſie ſonſt in erborgten Prunk-
geſinnungen ſich oͤffentlich zu zeigen pflegte. Das iſt
abermahls ein Augenblik, den ungenuzt der ver-
ſtaͤndige Beobachter nicht verfliegen laͤßt.
Die dritte: wilſt du die wahren Geſin-
nungen eines ſolchen Menſchen gegen dich
und die Art, wie er abweſend uͤber dich zu
urtheilen pflege, mit großer Zuverlaͤſſigkeit
erfahren, gib acht, wie er es mit andern
treibt, die in eben dem Verhaͤltniß mit ihm
ſtehen,
[151]ſtehen, wie du, und denen er, ſo lange ſie ge-
genwaͤrtig ſind, eben ſo viel Achtung, Freund-
ſchaft und Vertrauen, als dir, erweiſet. Sind
dieſe fruͤher, als du, aus ſeiner Geſelſchaft gegangen,
(und ich rathe dir, es gefliſſentlich darauf anzulegen,
daß dieſes geſchehen mag) und erkenſt du nun
aus ſeinem Hohnlaͤcheln, aus ſeinem Achſelzukken,
aus ſeinem beiſſenden Urtheil uͤber ſie, wie alle
die vorhergehenden Aeußerungen einer herzlichen
Zuneigung und einer uͤberſchwenglichen Hochach-
tung gemeint waren: ſo weißt du zugleich, wenn
du dich nicht ſelber taͤuſchen wilſt, was du von
ſeiner angeblichen Achtung und Ergebenheit auch
gegen dich zu halten habeſt. Es iſt unglaublich,
wie weit die Unvorſichtigkeit der feinſten Weltleute
in dieſem Stuͤk zu gehen pflegt. Sie laſſen ge-
meiniglich ohne Bedenken eine Maske nach der
andern fallen, ſo wie diejenigen abtreten, um
derentwillen ſie dieſelben vorgeſtekt hatten, nur
diejenige nicht, welche auf uns, die wir noch zu-
gegen ſind, gemuͤnzet war. Die armſeeligen
Gaukler! Ob ſie uns etwa gar kein Vermoͤgen,
von anderer Schikſal auf das unſrige zu ſchließen,
K 4oder
[152] oder einen ſo hohen Grad von eitler Selbſtgefaͤl-
ligkeit zutrauen, daß wir uns allein fuͤr ſchußfeſt
halten ſolten, indes die Pfeile der Falſchheit und
der Afterrede den guten Leumund aller unſerer
Nebenmaͤnner, ohne Ausnahme und ohne Scho-
nung, links und rechts vor unſern Augen zu
Boden werfen?
Endlich die vierte: iſt dis alles noch nicht
hinreichend geweſen, uͤber die wahren Geſinnungen
eines ſolchen Menſchen gegen dich das noͤthige
Licht zu verbreiten, ſo warte auf irgend eine
erhebliche Veraͤnderung in deinen oder ſei-
nen eigenen Gluͤksumſtaͤnden, wodurch
das bisherige Verhaͤltniß zwiſchen ſeinem
und deinem Stande, zwiſchen ſeinem und
deinem Vermoͤgen, zwiſchen ſeinem und
deinem Einfluſſe auf andere, auf eine merk-
liche Weiſe verruͤkt wird. Findeſt du dan,
daß ſeine Achtung und Freundſchaft gegen dich,
gleich Akzien ſteigen oder fallen, je nachdem der
Thermometer des Gluͤks hoͤher oder niedriger
ſteht: ſo weißt du ja, woran du biſt, und kanſt
nicht weiter hintergangen werden. Wie viel an-
gebliche
[153] gebliche Freundſchaften ſah ich, waͤhrend meines
Lebens, an dieſem Probierſtein zerſchellen! Und
die als Ruinen nicht mehr zu verkennende Beſtand-
theile derſelben? — Waren Eigennuz!
Aber wozu, mein Kleon, ermahne ich dich
zu einer ſo aͤmſigen Erforſchung der wahren Ge-
ſinnungen, Leidenſchaften und Schwachheiten
deiner Nebenmenſchen? Etwa um Betrug durch
Betrug, Liſt durch Liſt zu beſiegen? Oder damit
du deiner eigenen groͤßern Rechtſchaffenheit dich
erheben, und auf deine ſchwaͤchern Mitmen-
ſchen mit ſtolzer Verachtung herabſehen moͤgeſt?
Das wolle Gott nicht! Und wozu denn alſo?
Dazu, daß du von keinem mehr erwarteſt, als
er wahrſcheinlicher Weiſe leiſten wird; dazu, daß
du vom Scheine dich nicht blenden laſſeſt, den
Wolf nicht fuͤr ein Lam, den Geier nicht fuͤr eine
Taube halteſt; dazu alſo, daß du vorſichtig wan-
deln moͤgeſt unter den Menſchen, und deine
Wohlfahrt nicht in Haͤnde legeſt, die ſich ein Ver-
gnuͤgen daraus machen koͤnten, ſie zu zerknikken.
K 5Damit
[154]
Damit aber deine Menſchenkentniß auch nicht
einſeitig werden moͤge: ſo gewoͤhne dich, mein
Sohn, den Tugenden deiner Mitmenſchen
noch viel eifriger, als ihren Thorheiten und
Laſtern nachzuſpuͤren. Freue dich jeder aͤchten
Handlung der Gerechtigkeit, der Billigkeit, der
Großmuth, der Menſchlichkeit, die du im Ver-
borgenen entdekſt, als eines Zuwachſes an Fa-
milienglanz, als einer Vergroͤßerung der Total-
ſumme menſchlicher Gluͤkſeeligkeit, wovon auch
dir, wie jedem andern einzelnen Gliede der Ge-
ſelſchaft, ein verhaͤltnißmaͤßiger Antheil unaus-
bleiblich zufließen wird. Denn alle Handlungen
und Schikſale der Menſchen, auch derer, welche
der Zeit nach durch Jahrtauſende, dem Raume
nach durch Erdguͤrtel getrent ſind, haͤngen, wie
die Tropfen des Weltmeers, wie die Glieder
einer einzigen unermeßlichen Kette, unzertrennlich
zuſammen, und die Folge einer jeglichen guten
oder boͤſen That, welche auf der Erde geſchieht,
laͤuft, wie elektriſches Feuer, durch die ganze Kette
vom erſten bis zum lezten Gliede derſelben.
Bemuͤhe
[155]
Bemuͤhe dich aber nicht blos, gute, rechtſchaf-
fene und edle Thaten aus ihrer Dunkelheit her-
vorzuziehn; ſondern mache es dir auch zu einem
angelegentlichen Geſchaͤft, an jedem verwahr-
loſeten menſchlichen Karakter die ihm noch
uͤbrige gute Seite, bei jeder ſchlechten That,
die dir zu Ohren komt, diejenigen Umſtaͤnde
aufzuſuchen, welche dem Fehlenden zu ei-
niger Entſchuldigung gereichen koͤnnen.
Denn keines Menſchen Sele iſt ſo durchaus ver-
derbt, daß von ihrer urſpruͤnglich reinen und
guten Natur nicht wenigſtens noch einige Ruinen
zu entdekken waͤren; und keine Handlung iſt ſo
ſchlecht, daß man in der ganzen Lage des Han-
delnden nicht noch einen oder den andern ent-
ſchuldigenden Umſtand finden ſolte, der unſern
Tadel mildern muß. Beſtrebe dich, jene [Rui-
nen] auszugraben, dieſer entſchuldigenden Umſtaͤnde
ſo viele zu entdekken, als es dir nur immer moͤg-
lich ſein wird: und du wirſt dir einen Schaz
von aͤchter Menſchenkentniß und von guten Ge-
ſinnungen erwerben, den du gegen alle Alterthuͤ-
mer Italiens nicht wirſt vertauſchen wollen.
Ich
[156]
Ich kehre zuruͤk zu deinem erſten Eintritte in
die Geſelſchaft, und zu den Klugheitsregeln, die
dich dabei leiten muͤſſen.
Der erſte Eindruk, den man auf die Ge-
muͤther der Menſchen macht, entſcheidet insge-
mein, wo nicht auf immer, doch wenigſtens auf
lange Zeit, ihre Meinung uͤber uns. Man wil
ſeinen Verſtand nicht zweimahl in Unkoſten ſezen,
um uͤber uns zu urtheilen, und laͤßt es daher, ſo
lange man immer kan, bei der erſten Sentenz,
die er fuͤr oder wider uns gefaͤlt hat, ſein Bewen-
den haben. Wehe uns, wenn dieſe zu unſerm
Nachtheil ausgefallen iſt!
Um dis zu vermeiden, nim in dieſer kritiſchen
Stunde deine ganze Beſonnenheit zuſammen, und
brauche jegliches Mittel, dich gefaͤllig zu machen,
welches mit den Grundſaͤzen der wahren Ehre
und der Rechtſchaffenheit beſtehen kan. Und wel-
ches ſind dieſe Mittel? Etwa dieſes, deine Ta-
lente und Volkommenheiten gefliſſentlich zu ent-
falten, um den Zuſchauern gleich anfangs einen
hohen Begrif von deinen Verdienſten einzufloͤßen?
Um
[157] Um alles in der Welt nicht, mein Sohn! Je-
mehr dir dis gelaͤnge, deſto weniger wuͤrde man
es dir verzeihen, daß du Beifal und Achtung,
die man nur als ein freiwilliges Geſchenk gern
zu geben pflegt, gleich einem ſchuldigen Tribut,
erzwungen habeſt. Indes der Verſtand deines
Auditoriums nicht umhin koͤnte, dir Gerechtig-
keit wiederfahren zu laſſen, wuͤrde die gekraͤnkte
Eitelkeit eines jeden ſich maͤchtig gegen dich em-
poͤren, und nicht eher ruhen noch raſten koͤnnen,
bis das Falkenauge der Verkleinerungsſucht an
deinen Verdienſten irgend einen Auswuchs gewahr
wuͤrde, bei dem man ſie ergreifen und von ihrer
Hoͤhe wieder herabziehen koͤnte. Es thut ſo
wohl, ſich zum Beſchuͤzer beſcheidener und verkan-
ter Vorzuͤge aufzuwerfen! Es thut ſo weh, ſich
durch auffallende Vorzuͤge, die keines Beſchuͤzers
beduͤrfen, gedemuͤthiget zu ſehen! Jemehr du
alſo ſolcher Vorzuͤge in Beziehung auf deine je-
desmalige Geſelſchaft in dir fuͤhlen wirſt, deſto
ſorgfaͤltiger ſuche ſie zu verbergen, damit ihr
Daſein nur geahndet, niemand aber gezwungen
werde, ſie wider ſeinen Willen anzuerkennen.
Wahre
[158]
Wahre Verdienſte mit wahrer Beſchei-
denheit zu verbinden — ſiehe da, mein Sohn,
den kurzen Inbegrif der ganzen Kunſt, ſich ge-
faͤllig und beliebt zu machen! Das eine dieſer
beiden Mittel ohne das andere iſt nichts; verei-
nigt ſind ſie alles. Verdienſte ohne Beſcheiden-
heit koͤnnen kalte Bewunderung, Beſcheidenheit
ohne Verdienſte kan mitleidige Guͤte, aber wohl-
wollende Achtung koͤnnen nur beide in Verbin-
dung wirken.
Die erſte Seite alſo, von der du dich
als Neuling ankuͤndigen wirſt, ſei Beſchei-
denheit; Beſcheidenheit im Anzuge, im
Gange, in der Stellung, in Mienen, Blik-
ken, Worten und Handlungen, vornemlich
aber — und das iſt die Hauptſache — in dem
Innerſten deines Herzens. Denn iſt ſie da,
ſo wird ſie ſich von ſelbſt und ohne Zwang auch
uͤber dein ganzes Aeuſſerliches ergießen; wo nicht,
ſo werden Eitelkeit und Duͤnkel hinter allen dei-
nen Grimaſſen von Demuth wider deinen Willen
hervorgukken, und dem Menſchenkenner nicht
verborgen bleiben. Sie wird aber zuverlaͤſſig da
ſein,
[159] ſein, und unaustilgbarer Grundſtrich deines Ka-
rakters werden, wenn der vernuͤnftige und red-
liche Vorſaz dich belebt, kein glaͤnzendes, ſondern
ein recht gemeinnuͤziges Leben fuͤhren zu wollen;
wenn du bei allen deinen Beſtrebungen, ſie
moͤgen ſein von welcher Art ſie wollen, deine
Augen auf wahrhaftig große und wuͤrdige Zwekke
hefteſt, wenn du dich fruͤhzeitig gewoͤhnſt, oft
und mit anhaltender Aufmerkſamkeit in deinen
eigenen Buſen zu greifen, deinen eigenen Unvol-
kommenheiten und Fehlern recht ins Auge zu
ſehen, und den jedesmaligen weiten Abſtand zwi-
ſchen dem, was du biſt, und dem, was du ſein
ſolteſt, gehoͤrig zu Herzen zu nehmen; und end-
lich, wenn du an jedem Orte deines Aufenthalts
den vertrauten Umgang mit ſolchen Maͤnnern
ſuchſt, die an Verdienſten, beſonders an ſolchen,
die du ſelbſt zu haben glaubſt, dir merklich uͤber-
legen ſind. Ein ſolches taͤgliches Meſſen —
oder richtiger, ein ſolches [Hinaufſehen] zu der
Hoͤhe des Verdienſtes, welches andre in unſerm
Fache ſchon errungen haben, hat fuͤr edle junge
Selen, welche Muth und Luſt zur Nacheiferung
oder
[160] oder wohl gar zum Uebertreffen in ſich fuͤhlen,
nichts Abſchrekkendes oder Niederſchlagendes;
aber es bewahrt ſie vor dem Schwindel der
Selbſtvermeſſenheit, welcher bei einem oͤftern
Zuruͤkſehen auf diejenigen, welche noch unter ihnen
klimmen, nur gar zu leicht ſich ihrer zu bemaͤch-
tigen pflegt.
Allein, indem ich dir die liebenswuͤrdigſte
Eigenſchaft eines jungen Menſchen, die Beſchei-
denheit, empfehle, muß ich dich zugleich vor
demjenigen Uebermaaße derſelben warnen,
welches in eine einfaͤltige Bloͤdigkeit, in eine
ſtupide Menſchenfurcht ausartet, und die
Folge einer ſklaviſchen Erziehung oder auch eines
gar zu eingezogenen Lebens in der Jugend iſt.
Ein ſolches furchtſames, aͤngſtliches und beſchaͤm-
tes Weſen ſchadet uns in der Meinung der
Menſchen eben ſo ſehr, als Eigenduͤnkel und
Unverſchaͤmtheit, nur auf eine andere Weiſe.
Jenes macht, daß man uns gering ſchaͤzt, weil
man uns fuͤr einfaͤltig haͤlt; dieſe, daß man uns
nicht ausſtehen kan; beide, daß man uns nicht
wohl wil, nicht geneigt iſt, uns zu dienen.
Suche
[161] Suche du die rechte Mittelſtraße zwiſchen beiden
zu treffen: ſo wirſt du Liebe und Hochachtung
zugleich erwerben.
Und damit du dieſes koͤnneſt, ſo beſtrebe
dich, durch vertrauten Umgang mit wohl-
erzogenen Menſchen, auch wohl zuweilen
durch Beſuchung ſolcher Oerter, wo die
ſogenante ſchoͤne Welt zu gemeinſchaftlichen
Vergnuͤgungen ſich verſammelt, diejenige
aͤuſſerliche Artigkeit und jenes ungezwun-
gene, edle und gefaͤllige Weſen anzuneh-
men, welche den Man von guter Erziehung
und von Welt bezeichnen. Wahre Artigkeit
und eine wirklich feine Lebensart ſind, wie ein
Man verſichert, der ſie ſelbſt in hohem Grade
beſaß, *) ein Kleid, welches eben ſo viele Thor-
heiten,
L
[162] heiten, als die Liebe Suͤnden, dekt. Aber ſie
ſind noch mehr; ſie ſind auch zugleich ein Schild,
der uns in den meiſten Faͤllen gegen die muth-
willigen Beleidigungen und Grobheiten der Un-
geſitteten ſchuͤzt; *) ſie ſind auch eine an allen
Orten und unter allen kultivierten Nazionen ver-
ſtaͤndliche Addreſſe an Unbekante, die in ihrer
Gunſt uns gemeiniglich weiter fuͤhrt, als alle ge-
ſchriebene Empfehlungsbriefe zu thun vermoͤgen.
— Nur daß du die albernen Grimaſſen und das
ganze nachaͤffende Weſen unſerer deutſchfranzoͤſi-
ſchen Gekken, welche Weltton affektiren, ohne
den Zeug dazu zu haben, nicht fuͤr Artigkeit und
feine Lebensart halteſt! Nur daß du bei der
Bemuͤhung, den Zwang und die Unbiegſamkeit
eines ſteifen Pedanten zu vermeiden, nicht in den
entgegengeſezten Fehler eines windigen Weſens
und der franzoͤſirenden Unverſchaͤmtheit falleſt!
Nur
[163] Nur daß du die Feinheit deiner Manieren und
Sitten nie ſo weit treibeſt, daß du daruͤber ver-
geſſeſt, daß du ein Man und ein Deutſcher ſeiſt!
Aber vor allen Dingen, mein Sohn, ſuche
dir ein recht großes Maaß von Heiterkeit
und guter Laune zu erwerben, damit du
nicht blos bei deinem Eintrit in die Welt,
ſondern auch nachher, bei jeder geſelligen
Zuſammenkunft als ein freundlicher, leicht-
zubefriedigender und aufgewekter Geſel-
ſchafter erſcheineſt. Gute Laune iſt uͤberal
wilkommen, boͤſe nirgends; jene oͤfnet uns die
Herzen der Menſchen, daß wir Eingang bei
ihnen finden, dieſe ſchließt ſie vor uns zu; jene
macht, daß man unſere Fehler, dieſe, daß man
unſere Tugenden uͤberſieht; jene iſt das ſicherſte
Mittel, Misverſtaͤndniſſen und [Feindſchaften] vor-
zubeugen, oder, wenn ſie einmahl entſtanden ſind,
ſie geſchwind wieder zu vertilgen, dieſe ein im-
mer offenliegender Zunder, welcher bei den unbe-
deutendeſten Kleinigkeiten Feuer faͤngt und Funken
ſpruͤhet, bis die Herzen aller gegen uns und
L 2das
[164] das unſrige gegen alle in lichten Flammen
ſtehn.
O mein Sohn, wie ruhig wolt’ ich dich mit-
ten in das Gedraͤnge der Menſchen eintreten ſehen,
koͤnt’ ich verſichert ſein, daß du in jede kuͤnftige
Lage deines Lebens ein leichtes froͤhliches Herz und
eine nie verſiegende Quelle guter Laune bringen
wuͤrdeſt! Wie ſicher wolt’ ich wegen der Auf-
nahme, die du uͤberal finden wuͤrdeſt, wie beru-
higet uͤber deine ganze kuͤnftige Wohlfahrt ſein!
Freilich iſt dieſe heitere und froͤhliche Ge-
muͤthsverfaſſung eine Gottesgabe, die koſtbarſte
und wuͤnſchenswuͤrdigſte unter allen, die einem
Menſchen hienieden zu Theil werden koͤnnen:
aber muͤſſen wir, weil ſie das iſt, die Haͤnde in
den Schooß legen, und unthaͤtig erwarten, daß
ſie ohne alles unſer Zuthun und gleichſam im
Schlaf uns werde verliehen werden? Sind Ge-
ſundheit, Talente und Gluͤksguͤter nicht gleichfals
Ausfluͤſſe der goͤtlichen Milde: aber wer ſagt, daß
unſer Beſtreben darnach und unſere Bemuͤhung,
ſie zu erhalten, und zu vermehren, um deswillen
uͤberfluͤſſig waͤren? Die Vorſehung theilt ihre
Gaben
[165] Gaben nicht durchs Gluͤksrad aus; ſie wil, daß
wir uns darum bewerben ſollen, weil ſie weiß,
daß zugeworfene Guͤter uns nicht frommen koͤn-
nen, weder im Leiblichen, noch im Geiſtlichen.
Wilſt du aber wiſſen, wie man, beſonders in
deinem Alter (denn weiter hin iſts zu ſpaͤt!) es
anzufangen habe, um unſre ganze Art zu denken
und zu [empfinden], in das roſenfarbene Gewand
einer guten und froͤhlichen Laune zu kleiden?
Hoͤre einen Rath, den du zuverlaͤßig bewaͤhrt
finden wirſt:
Sorge, daß du durch Maͤßigkeit, durch
eine natuͤrliche Lebensart, durch Vermei-
dung heftiger Leidenſchaften, und durch
koͤrperliche Geſchaͤftigkeit deine Geſundheit
erhalteſt; wache unablaͤßig uͤber dein Herz
und uͤber dein Gewiſſen, daß kein Laſter
ſie beflekke, keine ſchaͤndliche Begierde die
zarten Wurzeln der Selbſtzufriedenheit
benage; rotte alle eitle und ehrſuͤchtige Ab-
ſichten mit Stumpf und Stiele bei dir aus,
und pflanze an ihre Stelle das edlere Ge-
waͤchs eines eifrigen und thaͤtigen Vor-
L 3ſazes,
[166]ſazes, Zufriedenheit und Freude fuͤr dich und
andere rund um dich her verbreiten zu wol-
len; huͤte dich daneben vor uͤbertriebenen
Anſtrengungen des Geiſtes, und laß auf
jegliche Arbeit eine verhaͤltnißmaͤßige Ruhe,
auf jegliche Ruhe eine verhaͤltnißmaͤßige
Leibesbewegung folgen; endlich, mein
Sohn, widerſtehe mit aller Kraft, welche
dir beiwohnt, den erſten Verſuchen, die
der Daͤmon der Mißmuͤthigkeit und der
boͤſen Laune macht, ſich deines Herzens zu
bemaͤchtigen, feſt uͤberzeugt, daß auch von
ihm gelte, was irgendwo geſchrieben ſteht:
“laß den boͤſen Geiſt dich nur erſt bei einem
Haar ergreifen, und du biſt ſein auf ewig.„
Doch auch die heiterſte Sele hat ihre Stun-
den der Verfinſterung, und es wuͤrde umſonſt
ſein, wenn ich dich ermahnte, deren keine zu ha-
ben. Es gibt der Stuͤrme, welche den reinen
Bach unſerer Gedanken und Empfindungen truͤ-
ben koͤnnen, ſo viele im menſchlichen Leben; und
wer darf ſagen, daß ihn deren keiner uͤberraſchen
werde? Beſſer alſo iſts, ich empfehle dir auf
dieſen
[167] dieſen Fal die Regel: daß du, ſo oft der Un-
muth deine Sele umwoͤlkt hat, wenn’s im-
mer moͤglich iſt, dich enthalten moͤgeſt, ir-
gend einer Geſelſchaft beizuwohnen, die
des Vergnuͤgens wegen zuſammen gekom-
men iſt. Man wird dir eher verzeihen, wenn
du zu einem Piknik koͤmſt, ohne deine Schuͤſſel
beſorgt zu haben, als wenn du in einer ſolchen
Geſelſchaft erſcheinſt, ohne dein Kontingent an
Wiz und guter Laune mitzubringen. Denn ein
ſtumpfer mismuͤthiger und grisgrammender Ge-
ſelſchafter traͤgt nicht blos nichts zur Vergroͤße-
rung des gemeinſchaftlichen Vergnuͤgens bei, ſon-
dern er vermindert auch daſſelbe durch den un-
fehlbaren Einfluß, den ſeine boͤſe Laune auf andere
hat. Und du wirſt finden, daß die Menſchen
jede andere Beeintraͤchtigung viel geduldiger, als
die Schmaͤhlerung ihres Vergnuͤgens, ertragen.
Ich kehre immer von neuem zu deinem je-
desmaligen erſten Eintrit in eine Geſelſchaft zuruͤk;
denn iſt dir dieſe erſt gelungen, ſo hats mit allem
uͤbrigen ſo leicht nicht Noth. Laß mich alſo fort-
L 4fahren,
[168] fahren, dir meinen beſten Rath hieruͤber zu er-
theilen.
Beim Anfang einer neuen Bekantſchaft
an einem fremden Orte, deſſen Verfaſſung,
Menſchen, Sitten und herſchende Vorurtheile
dir alſo noch nicht bekant ſein koͤnnen, ſei zuruͤk-
haltend und beobachtend, doch ohne beides
merken zu laſſen. Urtheile ſelbſt ſo wenig als
moͤglich, aber ſuche das Geſpraͤch ſo zu leiten,
daß diejenigen, welche du kennen zu lernen wuͤn-
ſcheſt, ihr eigenes Urtheil uͤber viele Dinge aͤuſ-
ſern moͤgen. Dadurch wirſt du in kurzer Zeit
ihre Denkungsart, ihre Grundſaͤze und den Grad
ihrer Aufklaͤrung erfahren. Kanſt du in einer
ſolchen Geſelſchaft dir ſelbſt Gelegenheit zu kur-
zen, (merke wohl!) zu kurzen ergoͤzenden Erzaͤh-
lungen verſchaffen, und gelingt es dir, ſo zu
erzaͤhlen, daß die Geſelſchaft wirklich dadurch
ergoͤzt wird, ſo haſt du ſicher einen guͤnſtigen
Eindruk gemacht, und dir den Weg zum Wohl-
wollen und zur Freundſchaft nicht allein dieſer,
ſondern auch zugleich vieler andern Menſchen ge-
bahnt. Denn nun wird das Urtheil: “du
ſeiſt
[169] ſeiſt ein wuͤrdiger, ein allerliebſter d. i. ein amuͤ-
ſanter Man!„ von Haus zu Hauſe fliegen,
und in jeder folgenden Geſelſchaft bedarf es nur
noch der Haͤlfte des Aufwandes an Wiz und
Laune, um dem guten Vorurtheile, welches man
einmahl fuͤr dich gefaßt hat, das Siegel aufzu-
druͤkken.
Gib aber, ſo oft du andere reizeſt, ſtat
deiner zu urtheilen, einem jeden, ſoviel du
kanſt, Gelegenheit von dem zu reden, worin
er — ſei’s wirklich, oder auch nur ſeiner
Einbildung nach — ganz vorzuͤglich zu
Hauſe iſt, geſezt auch, daß du ſelbſt ein
voͤlliger Fremdling darin waͤreſt. Die
Gruͤnde dieſes Raths? liegen am Tage. Denn
erſtlich wirſt du vielleicht den Nuzen davon ha-
ben, daß du von deinem Manne, indem er uͤber
Dinge ſpricht, die innerhalb ſeiner Sphaͤre liegen,
wirklich etwas lernen koͤnneſt; und zweitens
wirſt du zuverlaͤſſig ihn dir dadurch verbindlich
machen. Denn in eben dem Maaße, in welchem
du ſeiner Eitelkeit Gelegenheit gibſt, Verſtand
und Kentniſſe auszulegen, wird er von deinem
L 5eigenen
[170] eigenen Verſtande und von deinen eigenen Kentniſ-
ſen, die du ihm nicht ausgelegt haſt, mit Bewunde-
rung reden. Du wirſt abermahls “ein wuͤrdiger,
ein allerliebſter Man!„ heiſſen; aber du wirſt
dich dan auch ſchon von ſelbſt zu beſcheiden wiſſen,
daß der dismalige Sin dieſes Ausrufs kein an-
derer ſei, als der: “er iſt ein Menſch, der mir
Gelegenheit gegeben hat, zu zeigen, daß ich ſelbſt
ein wuͤrdiger Man ſei!„
Ueberhaupt, mein Sohn, kanſt du auf die
Eitelkeit der Menſchen ſchwerlich zu viel rechnen,
und du darfſt daher die Regel: daß man bei
jeder muͤndlichen und ſchriftlichen Unter-
haltung es mehr darauf anlegen muͤſſe,
daß der Andere ſeinen eigenen Werth, als
darauf, daß er den unſrigen fuͤhle, ohne
Gefahr zu fehlen, fuͤr einen der algemeinſten
Grundſaͤze der Kunſt zu gefallen halten. Aber
verkenne mich nicht ſo ſehr, daß du beſorgeſt, ich
wolle, indem ich dir dieſen Grundſaz empfehle,
dich in der ſchaͤndlichen Kunſt zu ſchmeicheln unter-
weiſen. Meine Sele hat gar keinen Begrif da-
von,
[171] von, wie ein Menſch ſich ſelbſt ſo ſehr herabwuͤr-
digen koͤnne, vor irgend einem andern Menſchen —
und waͤr’ er auch ein Koͤnig! — als Schmeichler
zu kriechen. Sie verabſcheuet und verwuͤnſcht die
niedertraͤchtige Gefaͤlligkeit oder Falſchheit, das
Schwarze weiß, das Krumme grade zu nennen,
und Irthum, Thorheit und Laſter als Wahrheit,
Weisheit und Tugend zu bewundern! Das wolle
alſo Gott nicht, daß ich zu einer ſo ſchaͤndlichen
Verſtellung dich ermuntern ſolte.
Aber was wil denn eigentlich, wirſt du fra-
gen, jener Grundſaz, der dem erſten Laute nach
der Schmeichelei das Wort zu reden ſchien?
Dieſes, mein Sohn, daß du die Menſchen neh-
meſt, wie ſie ſind, weil es doch nun einmahl nicht
von dir abhaͤngt, aus ihnen zu machen, was ſie
ſein ſolten; dieſes alſo, daß du deine eigene Eitel-
keit der Eitelkeit anderer zu deinem großen Vor-
theile aufopfern lerneſt; daß du dich nie bemuͤheſt,
deine eigene Vorzuͤge ins Licht zu ſtellen, ſondern
vielmehr gern das Deinige dazu beitrageſt, daß
andere die ihrigen auf die vortheilhafteſte Weiſe
an den Tag zu bringen Gelegenheit erhalten; daß
du
[172] du in Geſelſchaft nie mit deiner eigenen Perſon,
nie mit deinen eigenen Kentniſſen und Verdienſten
beſchaͤftiget ſeiſt, um der Perſon, den Kentniſſen
und Verdienſten anderer Menſchen eine deſto groͤſ-
ſere Aufmerkſamkeit zu erweiſen; dieſes alſo end-
lich, daß du, dafern keine beſondere Pflicht dich
dazu auffodert, dich nicht fuͤr berufen halteſt, an-
dere in der guten Meinung zu ſtoͤren, die ſie von ſich
ſelbſt, von ihren Einſichten und von allen ihren wirk-
lichen oder eingebildeten Treflichkeiten, ohne dein
Zuthun, nun einmahl gefaßt haben, und um deinet-
willen wieder aufzugeben nicht geſonnen ſind.
Dem zufolge huͤte dich vor dem Geiſte
des Widerſpruchs, und ſuche nie deine
eigenen Meinungen und Behauptungen
hartnaͤkkig durchzuſezen, es ſei denn, daß
Pflicht und Gewiſſen dich dazu antreiben.
Denn in dieſem Falle muß uns, wenn wir recht-
ſchaffene und brave Maͤnner ſind, nichts ſo theuer
ſein, als die von uns erkante Wahrheit, und wir
muͤſſen den Muth haben, ſie mit Aufopferung
jeglichen Vortheils, ſelbſt unſerer Ehre, ſelbſt un-
ſers
[173] ſers Lebens, ſelbſt unſerer Freiheit, geltend zu
machen. Alsdan muß das große Beiſpiel des
Themiſtokles uns vor Augen ſtehen, der, wie
du weißt, durch nichts, ſogar nicht durch den
aufgehobenen Stok des ſpartaniſchen Feldherrn,
ſich abſchrekken ließ, dasjenige zu behaupten, wo-
von er wußte, daß es ſeinem Vaterlande nuͤzlich
ſein wuͤrde. Schlag zu, ſagt’ er, aber ſprich,
daß ich Recht habe!
Eben ſo kuͤhn und entſchloſſen rede und handle
auch du, mein Sohn, ſo oft es darauf ankomt,
etwas durchzuſezen, was das gemeine Beſte er-
fodert, oder wozu Pflicht und Gewiſſen dich ein-
mahl aufgerufen haben. In allen andern Faͤllen
aber, welche nicht auf Thaten, ſondern auf bloße
Rechthaberei hinauslaufen, ſei du jedesmahl der
nachgebende Theil, und erlaube dir nie einen
Widerſpruch, welcher Unwillen und Erbitterung
verurſachen kan, geſezt, daß du deiner Sache auch
noch ſo gewiß waͤreſt. Denn jeder Widerſpruch
verurſachet eine Stokkung in dem Ideenablaufe
desjenigen, den er trift, und es iſt der Natur der
menſchlichen Sele angemeſſen, daß ſie jede Hem-
mung
[174] mung ihrer Thaͤtigkeit mit Mißvergnuͤgen bemerkt.
Dazu komt die Liebe zur Gemaͤchlichkeit, welche
allen Menſchen gleichfals ſo natuͤrlich iſt, und die
da macht, daß man ungern durch andrer Wider-
ſpruch ſich gezwungen ſieht, eine Sache, uͤber die
man ſchon entſchieden hatte, noch einmahl und
zwar von mehreren Seiten in Erwaͤgung zu ziehn.
Dazu komt denn endlich auch die empfindliche Ei-
telkeit der Menſchen, welche jeden Widerſpruch
als einen verwegenen Zweifel betrachtet, den man
der Richtigkeit ihres Verſtandes und ihrer Einſich-
ten entgegenſezt. Wie ſolt’ es alſo nicht unan-
genehm ſein, ſich widerſprochen zu ſehen, da ſo
viel reizbare Seiten des menſchlichen Herzens da-
durch zugleich verlezt werden?
So oft du nun aber in die Nothwendigkeit
geraͤthſt, jemanden von einem Vorſaze, von einem
Urtheile, oder von einer Meinung ablenken zu
muͤſſen: ſo fange jedesmahl damit an, das
Gute und Vernuͤnftige, was ſich etwa darin
denken laͤßt, zu entwikkeln und zu loben,
und nur dan erſt, wan die Eitelkeit des
Andern den ſuͤßen Geruch dieſes Opfers
ein-
[175]eingeſogen hat, laß almaͤhlich deine Ge-
gengruͤnde, wiewohl noch immer in das
beſcheidene Gewand ſchuͤchterner Zweifel
gehuͤlt, hervortreten. Dieſer Weg zum Herzen
iſt freilich etwas um; aber oft ſind Umwege, wie
du weißt, ſicherer, und fuͤhren in kuͤrzerer Zeit
zum Ziele, als die gradere Straße. Ich habe
einen ſehr rechtſchaffenen, ſehr verſtaͤndigen und
ſehr beliebten Man gekant, der niemandem grade zu
widerſprach, und doch kein Schmeichler, und
doch ein unterhaltender Geſelſchafter war. Er
leitete nemlich ſeinen Widerſpruch jedesmahl mit
folgenden oder aͤhnlichen Worten ein: “Sie ſchei-
nen volkommen Recht zu haben; allein u. ſ. w.„
Ahme dieſem Beiſpiele nach; ſo wirſt du deine
jedesmalige Abſicht erreichen, und dein Wider-
ſpruch wird unbeleidigend ſein.
Vor allen Dingen aber huͤte dich, ſolche
Irthuͤmer oder Fehler des Urtheils aufzu-
dekken und zu berichtigen, welche eine groͤſ-
ſere Unwiſſenheit vorausſezen, als der Feh-
lende gern moͤgte an ſich kommen laſſen,
oder welche ihrer Ungereimtheit wegen ins
Laͤcher-
[176]Laͤcherliche fallen. Denn der wird nie dein
Freund ſein, welcher einmahl weiß, daß du irgend
etwas Ungereimtes oder Laͤcherliches an ihm be-
merkt habeſt; er wird vorausſezen oder beſorgen,
daß du gegen andere daruͤber reden werdeſt, und
um dein Urtheil uͤber ihn, wo moͤglich, zu ent-
kraͤften, wird er jede Gelegenheit ergreifen, deinen
guten Leumund zu ſchmaͤlern und in der Meinung
anderer Menſchen dich herabzuſezen. Das Beſte
alſo iſt, in Faͤllen dieſer Art, und dafern der
Fehlende ſeinen Irthum entweder ſelbſt bemerkt,
oder von andern aufmerkſam darauf gemacht wird,
daß man die Miene und Sprache eines Zerſtreuten
annehme, um ihm den ſuͤßen Wahn zu laſſen,
daß das Laͤcherliche davon uns gluͤklicher Weiſe
entgangen ſei; oder, dafern dis nicht wohl moͤg-
lich waͤre, daß man, ſtat zu lachen, irgend einen
entſchuldigenden Umſtand aufſuche, der das Un-
gereimte des begangenen Fehlers, wo nicht ganz
heben, doch etwas mildern, und den Beſchaͤm-
ten mit ſeinem eigenen Verſtande wieder aus-
ſoͤhnen kann.
Und
[177]
Und hier kan ich nicht umhin, dich noch
ganz beſonders vor dem Misbrauche dei-
ner etwanigen Ueberlegenheit an Wiz und
Verſtande zu warnen. Man misbraucht aber
beide, wenn man ſie dazu anwendet, Schwaͤchere
in Verlegenheit zu ſezen, ſie laͤcherlich oder wohl
gar veraͤchtlich zu machen. Davor huͤte dich,
mein Sohn, auf das allerſorgfaͤltigſte, feſt uͤber-
zeugt, daß Wiz, Scharfſin und Verſtand, wenn
ſie nicht von beſtaͤndiger Gutmuͤthigkeit begleitet
werden, uns weder Liebe noch wahre Achtung er-
werben koͤnnen. Sie ſind ein Meſſer, welches
uns gegeben ward, den Armen am Geiſt unſer
Brod zu ſchneiden, nicht ihnen damit ins
Herz zu ſtoßen. Wehe dem unfreundlichen
Beſizer derſelben, der ſie dazu misbrauchen kan!
Die Wolluſt edler Selen — ſich geliebt zu
ſehen — wird ihm nie zu Theil werden. Und
wuͤrden ſeine wizigen Einfaͤlle auch noch ſo laut
belacht und beklatſcht: ſo wird er doch nie mehr
davon haben, als der Pavian, deſſen haͤmiſche
Affenſtreiche auch wohl belacht werden, aber
Mbei
[178] bei deſſen Annaͤherung doch jederman zuruͤk-
weicht. — *)
Wie viel ſeeliger iſts, durch Gutmuͤthigkeit,
durch beſcheidene und ſanfte Aeuſſerungen unſerer
Geiſtesgaben, und durch ein verbindliches einla-
dendes Weſen allen, die uns kennen lernen, den
Wunſch nach einem naͤhern Umgange und nach
einer groͤſſern Vertraulichkeit mit uns einzufloͤſ-
ſen. — Aber nicht alle, welche ſich dan an uns
drengen, ſind dazu gemacht, unſere Freunde im
engern Verſtande zu ſein; und waͤren ſie es auch,
ſo wuͤrde doch die Klugheit uns rathen, und eine
nothwendige Zeiterſparung uns gebieten, das
Band der wahren Freundſchaft nur um einige
wenige auserwaͤhlte Selen zu ſchlingen, welche
mit
[179] mit der unſrigen an Grundſaͤzen, Empfindungs-
art und Ausbildung die meiſte Uebereinſtimmung
haben. Und hier bin ich auf einen Flek gekom-
men, der zu ſchluͤpfrig iſt, als daß ich mich be-
gnuͤgen koͤnte, dich nur im Vorbeigehn aufmerk-
ſam darauf gemacht zu haben. Die Wahl unſerer
Buſenfreunde — ſiehe da, mein Sohn, die
wichtigſte und zugleich die mislichſte Angelegenheit
eines neuen Weltbuͤrgers, bei der mein auf Er-
fahrung gegruͤndeter Rath dich nicht verlaſſen
darf.
Das erſte, wovor ich dich hierbei zu warnen
habe, iſt der allen gutmuͤthigen jungen Selen ſo
gewoͤhnliche Fehler der Uebereilung. Der un-
erfahrne Juͤngling komt an einen fremden Ort;
Empfehlungsbriefe oder Zufal fuͤhren ihn zu Leu-
ten, welche entweder aus Gewohnheit, oder aus
eigennuͤzigen Abſichten, ihm mit Hoͤflichkeiten ent-
gegen kommen; dieſe hoͤflichen Leute verſichern
ihn ihrer unbegrenzten Hochachtung, ihrer herz-
lichen Ergebenheit, und ihres innigen Verlangens,
ihm auf eine oder die andere Weiſe nuͤzlich zu
werden: und der junge Menſch, der das alles
M 2fuͤr
[180] fuͤr baare Muͤnze nimt, iſt vor Freuden außer
ſich; glaubt unter Engel gerathen zu ſein. Seine
naͤchſten Briefe an abweſende Verwandte und
Freunde ſind vol von Ausrufungen uͤber alle die
vortreflichen, edlen, herlichen Selen, mit denen
ſein gutes Geſchik ihn in Verbindung gebracht
hat; er kan das Uebermaaß ſeiner Gluͤkſeeligkeit
nicht faſſen, und wenn ihm ja noch irgend etwas
Misvergnuͤgen macht, ſo iſt es dieſes, daß von
ſeiner ganzen Familie er der einzige war, den der
Himmel in dieſes milde Selenklima verſezte, in
welchem Freundſchaft und Liebe, wie die Fruͤchte
des goldenen Zeitalters, ohne alle Kultur ſo ganz
von ſelbſt hervorwachſen, und ihren reichen See-
gen jedem Wanderer zur unentgeldlichen Labung
bieten.
Armer, betrogener Juͤngling! Wie wird dir
zu Muthe ſein, wenn nach einigen Monaten —
vielleicht ſchon fruͤher, vielleicht auch ſpaͤter —
die Bezauberung aufhoͤren und deine Sele aus der
hohen idealiſchen Himmelsgegend, wie Ikarus,
mit geſchmolzenen Fluͤgeln herabſinken und in den
abkuͤhlenden Ozean der Wirklichkeit fallen wird! —
Um
[181]
Um dieſe Kataſtrophe, die traurigſte, welche
einem jungen empfindſamen Gemuͤthe widerfahren
kan, deinem Herzen zu erſparen, erinnere dich,
ſo oft du merkſt, daß deine Sele bei einer neuen
Bekantſchaft uͤber die gewoͤhnliche Atmosphaͤre
der Menſchheit hinaus wil, an den Zuruf des
Daͤdalus:
Das heißt: halte die Menſchen, die du ken-
nen lernſt, bevor du ſie aus Thatſachen
beurtheilen kanſt, weder fuͤr auſſerordent-
lich boͤſe, noch fuͤr auſſerordentlich gut,
ſondern, bis auf weiter, fuͤr das, was
zwiſchen dieſen beiden Endſeiten in der
Mitte liegt; ſo wird dein vorlaͤufiges Urtheil
in den meiſten Faͤllen der Wahrheit zuverlaͤſſig
am naͤchſten gekommen ſein.
Noch einmahl alſo: uͤbereile dich nicht bei
der Wahl deiner Freunde im engern Ver-
ſtande; ſuche vielmehr bei jeder neuen Bekant-
M 3ſchaft
[182] ſchaft eine ſolche Stellung zu nehmen, daß du,
dafern es ſein muß, wieder zuruͤktreten koͤnneſt,
ohne daß du irgend einen, aus Unvorſichtigkeit
geſchuͤrzten Knoten, auf eine gewaltſame und alſo
ſchmerzhafte Weiſe wieder zu zerreiſſen noͤthig
habeſt. Eine, mit Waͤrme angefangene Freund-
ſchaft, zu einem kaͤltern Grade herabſtimmen zu
wollen, iſt allemahl beleidigend: ſei du daher nicht
eher warm, bis du zuverlaͤſſig weißt, daß du es
immer werdeſt bleiben koͤnnen.
Allein bei dieſer algemeinen Regel darf ichs
nicht bewenden laſſen, wenn ich dich nicht der
Gefahr ausſezen wil, auch bei der genaueſten Be-
folgung derſelben, dennoch oͤfters fehlzugreifen.
Denn du wirſt mit Leuten zuſammentreffen, deren
Perſon, Karakter und Sitten nicht blos anfangs,
ſondern auch noch bei fortdauernder Bekantſchaft
ungemein viel Einnehmendes und Anlokkendes an
ſich haben; ja deren Rechtſchaffenheit und unei-
gennuͤziges Weſen eine ziemliche Zeitlang ſogar die
Thatenprobe auszuhalten ſcheinen, und mit denen
gleichwohl in genauere Freundſchaft zu treten ganz
und gar nicht rathſam ſein wuͤrde. Dieſe muß
ich
[183] ich dir alſo etwas umſtaͤndlich beſchreiben und,
damit du ſie deſto beſſer uͤberſehen koͤnneſt, wil ich
ſie in gewiſſe Klaſſen ordnen.
Zuerſt, mein Sohn, ſei vor allen denen
auf deiner Hut, an welchen du eine uͤber-
triebene Freundlichkeit wahrnimſt, und
welche, ohne begreifliche Urſache, dir gleich
bei der erſten Bekantſchaft eine ungemeine
Liebe beweiſen. Shakeſpear ſagt: “man
kan laͤcheln, und immer laͤcheln, und doch ein
Schurke ſein;„ eine Bemerkung, welche aus
der Fuͤlle einer richtigen Menſchenkentniß ge-
ſchoͤpft iſt. Uebermaͤßige und alſo affektierte
Freundlichkeit zeugt wenigſtens allemahl entwe-
der von einem ſehr einfaͤltigen Verſtande, oder von
einem Herzen, das ſeine Urſachen hat, ſich nicht
zu zeigen, wie es iſt; und bei einem ſolchen hat
jeder geſcheide Man ſeine Urſachen, ſich in Acht
zu nehmen. Ungemeine Liebe aber, die man
ohne vorhergegangene Bekantſchaft uns erweist,
iſt in den meiſten Faͤllen Regen ohne Wolke,
Sonnenſchein um Mitternacht, moraliſche Ta-
M 4ſchen-
[184] ſchenſpielerei, welche nur ein unerfahrner Knabe
oder Einfaltspinſel fuͤr etwas Wirkliches halten
kan. *)
Es iſt uͤberhaupt rathſam, gegen alles das,
was ſprungweiſe zu geſchehen, oder auch uͤber die
Grenzen der gewoͤhnlichen Natur hinauszuſchwei-
fen ſcheint, bis zu weiterer Aufklaͤrung, mis-
trauiſch zu ſein. Nun iſt es aber nicht in der
Natur, daß einer ohne Unterlaß bei gleichguͤlti-
gen oder gar verdruͤßlichen Dingen laͤchelt, den
einzigen Fal einer großen Stupiditaͤt ausgenom-
men; nicht in der Natur, wenigſtens in der ge-
woͤhnlichen nicht, daß man enthuſiaſtiſch von je-
mandem eingenommen ſei, mit dem man nur ſo
eben erſt in Bekantſchaft geraͤth: die Klugheit
erfodert
[185] erfodert daher in beiden Faͤllen, daß man ſein
Urtheil uͤber Leute, an denen man das Eine oder
das Andere bemerkt, — wenigſtens aufſchiebe.
Was insbeſondere diejenigen Freundſchaften be-
trift, welche, ohne zureichende gegenſeitige Be-
kantſchaft, mit ſchwaͤrmeriſcher Hize beginnen:
ſo kan ich verſichern, daß ich deren keine erlebt
habe, die nicht eben ſo ploͤzlich ſich wieder abge-
kuͤhlt, ſich nicht bald in Gleichguͤltigkeit oder wohl
gar in die bitterſte Feindſchaft aufgeloͤst haͤtte.
“Leute deines Alters haben insgemein eine
unbehutſame Offenherzigkeit und Leichtglaͤubigkeit
an ſich, die ſie zum leichten Raube und Spiel-
werk der Liſtigen und Erfahrnen macht. Jeden
Betruͤger, oder Thoren, der ihnen ſagt, er ſei
ihr Freund, halten ſie wirklich dafuͤr, und er-
wiedern die Betheurung verſtelter Freundſchaft
mit einem unbeſonnenen, unumſchraͤnkten Ver-
trauen, allezeit zu ihrem Schaden, oft gar zu
ihrem Verderben. — Huͤte dich vor dieſen an-
gebotenen Freundſchaften! Nim ſie zwar mit
großer Hoͤflichkeit, aber auch mit großer Unglaͤu-
bigkeit auf, und erwiedere ſie blos mit Artigkei-
M 5ten,
[186] ten, nicht aber mit Vertrauen. Laß nicht deine
Eitelkeit und Selbſtliebe dir die Einbildung bei-
bringen, daß die Leute auf den erſten Anblik
oder bei geringer Bekantſchaft deine Freunde
wuͤrden! Wahre Freundſchaft waͤchst langſamer,
und komt niemahls fort, wenn ſie nicht auf
einen Vorrath bekanter gegenſeitiger Verdienſte
gepfropft wird.„ *)
Die zweite hierhergehoͤrige Klaſſe von Men-
ſchen, welche fuͤr den gefuͤhlvollen Juͤngling
gleichfals ungemein viel Anziehendes haben, ohne
daß ſie zu einer wahren und dauerhaften Freund-
ſchaft geſchikt ſind, iſt die Klaſſe der Empfind-
ſamen. So nent man eine Art ungluͤklicher
und fuͤr die Welt unbrauchbarer Menſchen, deren
koͤrperliches und geiſtiges Empfindungsvermoͤgen
durch eine weichliche Erziehung und durch Leſung
faſelnder Modebuͤcher, zum Schaden ihrer Ver-
nunft und ihrer ganzen phiſiſchen Natur, uͤber
die Gebuͤhr verfeinert und reizbar geworden iſt;
welche daneben hoͤchſt irrige Begriffe von unſerer
Beſtim-
[187] Beſtimmung hienieden, von der wahren Wuͤrde
der menſchlichen Natur, von unſern Pflichten
und von dem, was gut und edel genant zu wer-
den verdient, eingeſogen haben; und welche end-
lich, durch uͤberſpante Hofnungen und Erwar-
tungen ohn’ Unterlaß getaͤuſcht, die Welt fuͤr ein
Jammerthal halten, in der man nichts beſſers
thun koͤnne, als girren, ſeufzen, weinen und
jammern. Leute dieſer Art gehen in ihren Em-
pfindungen, in ihrem Urtheile, in ihren Aus-
druͤkken und Handlungen nie die Mittelſtraße;
alles was auf ihre empfindlichen Nerven einen
Eindruk macht, iſt ihnen entweder herlich, him-
liſch, goͤtlich, oder uͤber allen Ausdruk abſcheulich
und entſezlich; ſelbſt die Menſchen, je nachdem
ſie mit ihren hohen uͤberirdiſchen Gefuͤhlen ent-
weder ſimpathiſiren oder antipatiſiren, ſind in
ihren Augen entweder Engel oder Ungeheuer.
Dabei ſind ſie in hohem Grade mitleidig gegen
Bedrengte und Nothleidende, es ſei Menſch
oder Thier, Koͤnig oder Betler, Elephant oder
Ungeziefer; nur Schade, daß ihr Mitgefuͤhl
nicht ſelten unthaͤtig bleibt, weil das Uebermaaß
ihrer
[188] ihrer gewaltigen Empfindungen ihnen oft die
Kraft benimt, ſich huͤlfreich zu beweiſen! Nur
Schade, daß gemeiniglich ſo wenig Uebereinſtim-
mung in ihren Empfindungen und Handlungen
herſcht, und daß z. E. eben die ſanfte Sele,
die bei dem Unfalle, der eine Muͤkke trift, ein
ſchmerzhaftes Zukken durch alle ihre Nerven
fuͤhlt, oft mit kaltem Blute ihren Gatten quaͤlen,
ihr Hausgeſinde tiranniſiren, oder nothleidenden
Handwerksleuten ihren verdienten Lohn vorent-
halten kan! Indes ſind viele ihrer Handlungen
in der That ſo edel, ihr ſanftes, Leiden und Guͤte
verkuͤndigendes Weſen wirklich ſo ungemein einneh-
mend, und ihre Sprache, auch uͤber die gemein-
ſten Gegenſtaͤnde, ſo begeiſtert, ſo vol von hohen
engelreinen Geſinnungen, daß jeder gutartige
Menſch, beſonders wenn er ſelbſt noch jung,
gefuͤhlvol und unerfahren iſt, ſich maͤchtig von
ihnen angezogen fuͤhlt. “Allein der Schluß,
ſagt ein Schriftſteller von ausgebreiteter und
tiefer Menſchenkentniß, *) den man oft von der
Erhabenheit der Begriffe und Empfindungen
einer
[189] einer Perſon, oder von der Fertigkeit, eine ge-
wiſſe Sprache der Begeiſterung zu reden, welche
allen Dingen andere Nahmen gibt, ohne, daß
die Dinge ſelbſt darum etwas anders, als unter
ihren gewoͤhnlichen Nahmen ſind — der Schluß,
den man hiervon auf eine auſſerordentliche Vor-
treflichkeit des Karakters einer ſolchen Perſon zu
machen pflegt, iſt eben ſo falſch, als das Vorur-
theil, welches viele gegen eine gelaſſene und be-
ſcheidene Tugend gefaßt haben, eine Tugend,
welche (ohne ſich durch feierliches Gepraͤnge, hoch-
fliegende Ideen, anmaßliche Befreiung von den
Gebrechen der menſchlichen Natur, und unerbit-
liche Strenge gegen dieſelbe anzukuͤndigen) nur
darum wenig zu verſprechen ſcheint, um im Werk
deſto mehr zu leiſten.„
Es mag indes der Grund des Karakters
dieſer Leute auch noch ſo gut und edel ſein: ſo
muß ich dir dennoch rathen, dich in keine enge
Vertraulichkeit mit ihnen einzulaſſen, weil ich mit
mehr, als bloßer Wahrſcheinlichkeit, vorausſehe,
daß eure Verbindung entweder nicht dauerhaft
ſein, oder zu deinem Schaden ausſchlagen wuͤrde;
jenes
[190] jenes, wenn deine Sele uͤber kurz oder lang zu
ſchwerfaͤllig befunden wuͤrde, es der ihrigen zu
jeder Zeit an hoher Schwungkraft gleich zu
thun; dieſes, wenn der Verſuch, ihnen daran
aͤhnlich zu werden, dir wirklich von ſtatten ginge,
und du endlich anfingeſt, an uͤberſpanten Em-
pfindungen und Vorſtellungsarten ſelbſt Geſchmak
zu finden. Und glaube mir, mein Sohn, es
fehlt nicht an haͤufigen Beiſpielen, welche bewei-
ſen, daß dieſe Selenſeuche anſtekkender, als irgend
eine andere, ſei.
Hierzu komt, daß Leute dieſes Schlages zu
den gewoͤhnlichen Geſchaͤften des Lebens, be-
ſonders wenn ſie eine etwas anhaltende Streb-
ſamkeit erfordern, und von der Art ſind, daß ſie
auf der Buͤhne oder in einem Romane nicht
gut figuriren koͤnnen, durchaus unfaͤhig und un-
willig befunden werden; und daß alſo auch jede
Verbindung mit ihnen zu gemeinſchaftlicher Be-
treibung ſolcher Geſchaͤfte unmoͤglich dauerhaft
oder von guten Folgen ſein kan. So oft du
daher etwas unternimſt, wozu du der
Mit-
[191]Mithuͤlfe anderer Menſchen bedarfſt, laß
es ja eine deiner vorzuͤglichſten Sorgen
ſein, daß du zu deinem Mitarbeiter keinen
waͤhleſt, der mit dieſem Selenfieber behaf-
tet iſt, und waͤr’ er uͤbrigens auch noch ſo ge-
ſchikt, auch noch ſo talentenreich! Denn wie
bald wuͤrdeſt du erleben, daß er jede etwas an-
haltende Anſtrengung zu beſchwerlich, eure ge-
meinſchaftlichen Berufsgeſchaͤfte zu ſimpel, zu
einfoͤrmig, zu wenig nahrhaft fuͤr Geiſt und
Herz faͤnde, und daß er entweder den ihm zu-
gefallenen Theil derſelben gewiſſenlos vernach-
laͤſſigte, oder das Band, welches euch verknuͤpfte,
ploͤzlich und gewaltſam wieder zerriſſe! Ruk-
weiſe wird der Empfindſame ſo gut als einer,
vielleicht noch beſſer wirken; aber dan auch ploͤz-
lich die Haͤnde wieder ſinken laſſen, ſtil ſtehen,
oder zur Seite ſpringen, und euer gemeinſchaft-
liches Werk mehr aufhalten als foͤdern. Und
die meiſten Geſchaͤfte des thaͤtigen Lebens ſind
ein Weg, auf dem wir eines Gefaͤhrten beduͤrfen,
der keine Luftſpruͤnge macht, ſondern Hand in
Hand und Schrit vor Schrit fein ruhig und be-
daͤchtig
[192] daͤchtig einherzugehen weiß. — Genug von
dieſen!
Ich komme zu einer dritten mit der vorher-
gehenden ſehr nahe verwandten Art von Men-
ſchen, vor der ich dich gleichfals warnen muß;
ich meine die Klaſſe der Schwaͤrmer und
Enthuſiaſten. Aber vernim erſt, was fuͤr
Leute unter dieſen Nahmen eigentlich begriffen
werden.
Du weißt, mein Sohn, daß der guͤtige
Schoͤpfer die Natur des Menſchen mit einer
unbeſtimbaren Menge von Anlagen, Faͤhigkeiten
und Kraͤften ausgeſtattet hat, deren jede bis zu
einem bewundernswuͤrdigen Grade ausgebildet,
erhoͤht und geſtaͤrkt werden kan. So wie nun
die proporzionierte Ausbildung aller dieſer An-
lagen unſere Beſtimmung, und das dadurch be-
wirkte Ebenmaaß aller unſerer koͤrperlichen und
geiſtigen Kraͤfte unſere moͤglichſte Volkommen-
heit ausmacht: ſo kan auch jede einſeitige Uebung
und Staͤrkung einzelner Faͤhigkeiten und das da-
durch entſtehende Uebergewicht der einen uͤber
die
[193] die andern nicht anders, als nachtheilig fuͤr die
Vervolkomnung des ganzen Menſchen ſein. Dis
iſt nun der Fal bei denen, welche man Enthu-
ſiaſten und Schwaͤrmer nent, und deren Haupt-
karakter in einem ſchaͤdlichen Uebergewichte der
Einbildungskraft, der Fantaſie und des Em-
pfindungsvermoͤgens uͤber Vernunft und Beur-
theilungskraft beſteht. Aber hoͤre nun auch,
wie dieſes Uebergewicht ſich zu aͤuſſern pflegt.
Der Schwaͤrmer ſieht an allen Gegenſtaͤnden
ſeiner Vorſtellungen gemeiniglich nur eine Seite,
und zwar diejenige, welche ihm grade zugewandt,
ihm grade die naͤchſte iſt. Auf dieſe heftet ſich
ſein ganzer Selenblik; fuͤr alle andere Seiten eben
deſſelben Gegenſtandes hat er von Stund an
weder Auge noch Ohr. Dieſe Einengung ſeiner
Vorſtellungen auf einen einzigen Flek iſt der Funke,
der auf den Zunder ſeiner Einbildungskraft faͤlt.
Augenbliklich ſteht dieſelbe in hellen Flammen,
welche ein magiſches Licht uͤber den ganzen Ge-
genſtand verbreiten. Und nun iſt er ein Seher,
ein Fantaſt, ein aus allen natuͤrlichen und wirk-
lichen Verhaͤltniſſen Entruͤkter, der Dinge hoͤrt
Nund
[194] und ſieht, oder vielmehr zu hoͤren und zu ſehen
waͤhnt, welche kein Auge geſehn, kein Ohr gehoͤrt
hat, und welche in keines andern Menſchen Herz
gekommen ſind. Wunderbare Bilder, Schimaͤren
und Frazen flattern in daͤmmerndem Lichte vor
dem Spiegel ſeiner Vorſtellungskraft; er glaubt
mit leiblichen Augen ſie zu ſehn, mit Haͤnden
ſie zu greifen und zu halten, und iſt von ſeinem
eigenen Daſein nicht feſter, nicht inniger uͤber-
zeugt, als von dem ihrigen. Sein Blut geraͤth
dabei in Wallung, ſeine Stimme erhebt ſich,
ſeine Sprache iſt die Sprache eines Begeiſterten,
eben ſo dunkel, eben ſo verdreht, eben ſo hoch-
fliegend und voltoͤnend! Mitleidig oder verach-
tend ſieht er auf alle die ſchwachen, kalten und
waͤſſerichten Selen herab, welche ſeine Orakel-
ſpruͤche nicht zu faſſen, ſeine Geſichte nicht zu
ſehen, dem hohen Sternenfluge ſeiner Einbil-
dungskraft und Fantaſie nicht nachzukommen
vermoͤgen, ſondern mit bleiernen Fuͤßen noch
immer an der Erde haften, indes es ſelbſt ſchon
laͤngſt den hoͤchſten Fixſtern zuruͤkgelegt hat, und
welche ſich wohl gar erkuͤhnen, den Gegenſtand
ſeiner
[195] ſeiner begeiſterten Vorſtellungen umzuwenden,
um auch die andern Seiten deſſelben in Augen-
ſchein zu nehmen. —
Gemeiniglich iſt jeder Schwaͤrmer auch zu-
gleich ein Fanatiker, das heißt, ein Schwaͤrmer
in religioͤſen Dingen. Und das iſt ſehr natuͤr-
lich: denn nirgends findet ſeine wilde Fantaſie
ein weiteres Feld, als grade hier, ſobald ſie nur
erſt uͤber die engen Grenzen einer vernuͤnftigen
und aufgeklaͤrten Religion in den unendlichen
Raum des Aberglaubens hinuͤbergeſprungen iſt.
Da iſt das eigentliche Klima der Schwaͤrmerei;
da wachſen Schimaͤren und Hirngeſpinſte, wie
Schwaͤmme an ſumpfichten Orten, mit einer
Leichtigkeit und Geſchwindigkeit hervor! Da
gibt es in orientaliſchen Metaphern, Gleichniß-
reden, dunkeln oder verſtuͤmmelten Schrift-
ſtellen, der Veranlaſſungen zu Traͤumereien,
der Scheinbeweiſe zur Unterſtuͤzung auch der
allerwiderſinnigſten Grillen ſo viele! Wie ſolte
alſo der, welcher nun einmahl Luſt und Hang
zu ſchwaͤrmen hat, nicht lieber hier, wo ihm
das Unendliche offen ſteht, als innerhalb der
N 2Grenzen
[196] Grenzen natuͤrlicher Dinge raſen wollen, wo
Vernunft und Erfahrung unbeſcheidener Weiſe ihm
bald hie bald da den Schlagbaum vorſchieben?
Vernunft und Erfahrung — ſiehe da, mein
Sohn, die beiden Erbfeinde der Schwaͤrmerei
uͤberhaupt, und des Fanatismus inſonderheit!
Siehe da einen untruͤglichen Probierſtein, woran
du dieſe leztern beiden ganz unfehlbar wirſt er-
kennen koͤnnen! So oft du nemlich noch zwei-
felhaft biſt, ob jemand deiner Bekantſchaft von
dieſer gefaͤhrlichen Selenkrankheit wirklich ange-
ſtekt ſei oder nicht, laß nur, wie aus Nachlaͤßig-
keit, das Wort Vernunft fallen, und faſſe dei-
nen Man ins Auge. Siehſt du, daß er darnach
trit, indem ſeine Blikke ſich roͤthen, ſeine Lippen
ſich zuſammenpreſſen: ſo hoͤre auf zu zweifeln,
und beſorge laͤnger nicht, daß du ihm zu viel
thun moͤgteſt. Denn es iſt unmoͤglich, daß der-
jenige, der ein Veraͤchter der Vernunft iſt, nicht
auch Fantaſt und Schwaͤrmer ſein ſolte, es
muͤßte denn ſein, daß er ein Dumkopf und von
gar zu ſtumpfer Einbildungskraft waͤre.
Enthuſiaſten
[197]
Enthuſiaſten und Schwaͤrmer ſind ein Wald-
ſtrom, vol brauſender und ſchaͤumender Waſſer-
faͤlle, nicht ohne allen Nuzen in der Natur, auch
nicht unwerth, des Beobachters Aufmerkſamkeit
zu beſchaͤftigen; aber unſicher fuͤr den, der an ſeinen
Ufern wohnen, gefaͤhrlich fuͤr den, der den Nachen
ſeiner Wohlfahrt den rauſchenden Fluthen deſſel-
ben anvertrauen wil. Du, mein Sohn, halte
dich ſo fern von ihnen, als du kanſt, feſt uͤber-
zeugt, daß jede enge Verbindung mit ihnen uͤber
kurz oder lang ganz unfehlbar ſich zu deinem
Misvergnuͤgen endigen wuͤrde.
Ich habe um ſo mehr fuͤr noͤthig erachtet,
dich vor dieſer unzuverlaͤſſigen, und in mancher
Betrachtung wirklich gefaͤhrlichen Art von Men-
ſchen zu warnen, weil ich wahrzunehmen glaube,
daß in unſerm erleuchteten Zeitalter die Zahl
derſelben in eben dem Maaße waͤchſt, in welchem
das Licht der Vernunft und der Erfahrung taͤglich
weiter um ſich greift. Dis koͤnte befremdend
ſcheinen, wenn wir nicht gewohnt waͤren, alle
Jahre etwas aͤhnliches in der phiſiſchen Welt zu
ſehen, wo der helſte und waͤrmſte Sonnenſchein
N 3nicht
[198] nicht blos Fruͤchte und Saaten reifen macht, ſon-
dern auch die meiſten Inſekten erwekt. Die
Menſchen lieben nun einmahl nicht, auf grader
Mittelſtraße einherzugehen, und ſpringen gemei-
niglich, indem ſie das Aeuſſerſte auf der einen
Seite vermeiden wollen, zu dem Aeuſſerſten auf
der ander Seite hinuͤber. Daher hat man Un-
glauben und Aberglauben, Philoſophie und
Schwaͤrmerei, wie Licht und Schatten im Ge-
maͤhlde, ſich immer wechſelſeitig heben und befoͤr-
dern geſehn. — Aber es iſt Zeit, daß ich dieſe
verlaſſe, um dich mit Andern bekant zu machen,
vor denen du dich gleichfals huͤten mußt.
Es gibt nemlich viertens eine beſondere Art
theils wirklicher, theils ſcheinbarer mo-
raliſcher Schwaͤrmer, die du ebenfals
nicht zu deinen Buſenfreunden waͤhlen, ſondern
in derjenigen Entfernung von dir halten ſolſt, in
der das wirkliche oder gemahlte Feuer ihrer ein-
ſeitigen Temperamentstugend, oder ihrer Phari-
ſaͤerrechtſchaffenheit dich nicht brennen oder blen-
den kan. Laß mich ſie erſt ein wenig deutlicher
beſchreiben.
Ich
[199]
Ich habe Leute gekant, welche von der aller-
waͤrmſten und thaͤtigſten Mildthaͤtigkeit, Men-
ſchenliebe und Dienſtfertigkeit beſeelt zu ſein das
Anſehn hatten. Sie ſchienen gar keinen andern
Beruf zu haben, als Ungluͤkliche und Nothlei-
dende aufzuſuchen, um ihnen mit Rath, Troſt
und Huͤlfe beizuſpringen. Jedem Armen ſtand
ihr Beutel offen, jedem Verungluͤkten ihr Haus,
jedem Bekuͤmmerten ihr Herz. Sie weinten mit
den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer-
zen ſchien peinlicher fuͤr ſie zu ſein, als wenn ſie
ſelbſt der Leidende geweſen waͤren. Ihre from-
men Liebeswerke gaben taͤglich neuen Stof zum
Geſpraͤch und zur Bewunderung. Bald hatten
ſie ein Kind aus dem Waſſer, einen Kranken oder
Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter
dem ausdruͤklichen Verbote, ihren Nahmen zu
nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine
Koſtbarkeit zur Zierde deſſelben geſchenkt; bald
hatten ſie zum Bau einer Schule oder eines Ar-
menhauſes mit einer Milde beigetragen, welche
alle andere ihres Standes und ihres Vermoͤgens
weit hinter ſich ließ. Mit einem Worte, ſie
N 4ſchienen
[200] ſchienen nichts als Menſchenliebe, Mitleid, Wohl-
thaͤtigkeit und Gemeingeiſt zu athmen.
Nicht wahr, mein Sohn, das muͤſſen lie-
benswuͤrdige Menſchen ſein? — So ſcheint es
wenigſtens. Indes, da Mitleid gegen Ungluͤk-
liche, Wohlthaͤtigkeit gegen Nothleidende, Frei-
gebigkeit gegen oͤffentliche Anſtalten, nicht die
einzigen Tugenden ſind, welche den Karakter
des rechtſchaffenen Mannes beſtimmen: ſo laß
uns nun auch das Betragen dieſer angeblichen
Menſchenfreunde in Anſehung aller uͤbrigen
Pflichten des Menſchen und des Buͤrgers in Er-
waͤgung ziehen.
Eben dieſe Leute — kauſt du es glauben?
— erlaubten ſich oft die groͤbſten Ungerechtig-
keiten und Uebervortheilungen im Handel und
Wandel; machten ſich oft kein Gewiſſen daraus,
den ſauern Schweiß des darbenden Handwerkers
zu verſchwenden, oder dem, der ihnen geliehen
hatte, ſein rechtmaͤßiges Eigenthum vorzuent-
halten; waren unordentlich in ihren Geſchaͤften,
nachlaͤſſig in der Erfuͤllung ihrer eigentlichen Be-
rufspflichten; ließen ihr eigenes Hausweſen in
Verwir-
[201] Verwirrung und Verfal gerathen; vernaͤchlaͤſſig-
ten die Erziehung ihrer Kinder; waren die zank-
ſuͤchtigſten Plagegeiſter ihrer Weiber, die unbillig-
ſten Tirannen ihrer Dienſtboten und aller, welche
das Ungluͤk hatten, von ihnen abzuhaͤngen. Mit
einem Worte, dieſe feurigen, thaͤtigen, raſtloſen
Menſchenfreunde, welche auf jede Gelegenheit zu
pralenden Werken der Mildthaͤtigkeit und Barm-
herzigkeit Jagd machten, waren nicht ſelten die
Geiſſel der ganzen uͤbrigen Geſelſchaft, indes ſie
die Schuzengel der Huͤlfsbeduͤrftigen zu ſein
ſchienen.
Du ſtaunſt, mein Sohn? Kanſt nicht be-
greifen, wie ſo viel Schoͤnes und Haͤßliches, ſo
viel Sanftes und Rauhes, ſo viel Tugend und
Laſter in einer und eben derſelben Sele zuſammen
ſein koͤnnen? Siehe hier den Schluͤſſel zu dieſem
Raͤthſel.
Alle Menſchen dieſer Art, ſo viel ich ihrer
jemahls kennen lernte, laſſen ſich fuͤglich in zwei
Klaſſen ordnen. Die Einen nemlich ſind das,
was ſie ſcheinen, wirklich aus innerem Antriebe
eines weichen und mitleidigen Herzens; die An-
N 5dern
[202] dern aus ſtaatskluger Liſt und Verſchlagenheit.
Jene fehlen dabei aus Irthum des Verſtandes,
indem ſie ſich thoͤrigter Weiſe uͤberreden, daß die
ganze Tugend des Menſchen nur in ſolchen Aeuſ-
ſerungen des Mitleids und der Wohlthaͤtigkeit
gegen Elende und Huͤlfsbeduͤrftige beſtehe, und
daß man alſo allen ſeinen Pflichten, als Menſch,
als Buͤrger und Kriſt, ein volkommenes Genuͤge
thue, wenn man nur recht viel glaͤnzende Werke
der Barmherzigkeit verrichtet; dieſe brauchen der-
gleichen Werke zu Angelhaken, um gutmuͤthige,
aber ſchwache und einfaͤltige Herzen zu fangen,
um uͤberal Einfluß zu bekommen, ſich uͤberal un-
entbehrlich zu machen, uͤberal ſich geprieſen und
bewundert zu ſehen. Beide koͤnnen alſo ja, bei
allem ihren wirklichen oder angenommenen Mit-
leid gegen Arme, Kranke, Nothleidende und
Huͤlfsbeduͤrftige, noch immer ſehr unbillig, ſehr
pflichtvergeſſend und ungerecht gegen andere ſein,
welche nicht zu den Gegenſtaͤnden ihrer angeb-
lichen Menſchenliebe gehoͤren, weil ſie weder arm,
noch krank, noch huͤlfsbeduͤrftig ſind. Auch koͤn-
nen die glaͤnzendſten Ergießungen ihrer Wohlthaͤ-
tigkeit,
[203] tigkeit, um derentwillen der kurzſichtigere Theil
der Menſchen ſie bewundert und vergoͤttert, in
der That ſehr tadelnswuͤrdige und ſtrafbare Hand-
lungen ſein, wenn ſie nemlich mit Vernachlaͤſſi-
gung irgend einer hoͤhern oder dringendern Pflicht
geſchehn. *) Hoͤre alſo auf, dich uͤber das Wi-
derſprechende in dem Karakter dieſer Leute zu
wundern, und vernim nun, wie du es anzu-
fangen habeſt, um von ihrer einſeitigen oder gar
heuchleriſchen Tugend dich nicht blenden oder
hintergehen zu laſſen.
So oft dir jemand aufſtoͤßt, der von Men-
ſchenliebe und von Begierde nach Werken der
Mildthaͤtigkeit zu gluͤhen ſcheint: ſo ſuche, bevor
du uͤber ihn urtheileſt, erſt uͤber folgende Fragen
zur voͤlligen Gewißheit zu gelangen: hat der
Man,
[204] Man, der ſo mildthaͤtig iſt, auch ſein eigenes
Haus verſorgt? Iſt unter ſeinen Verwandten,
Hausgenoſſen und Freunden keiner, dem das ent-
zogen wird, was ſeine Freigebigkeit auf Fremde
verwendet? Iſt er niemandem etwas ſchuldig,
und enthaͤlt er dem Arbeiter nie ſeinen verdien-
ten Lohn vor? Iſt er nicht blos wohlthaͤtig,
ſondern auch gerecht gegen jederman; nicht blos
mitleidig, ſondern auch fleiſſig, ordentlich und
treu in ſeinen Berufsgeſchaͤften; nicht blos guͤtig
gegen Elende und Bedrengte, ſondern auch billig
gegen ſeine Hausgenoſſen, mild und freundlich
gegen alle, welche von ihm abhaͤngen, oder in
Verbindung mit ihm ſtehen? Verrichtet er das
Gute, welches er thut, im Stillen, ohne phari-
ſaͤiſches Gepraͤnge, ohne Anſpruͤche auf Lob und
Bewunderung zu machen, ohne ſich dadurch zur
Eitelkeit und zum Hochmuht verleiten zu laſſen?
Verſaͤumt er auch, indem er ſich dienſtfertig be-
zeigt, keine von denjenigen Pflichten, welche zu
ſeinem eigentlichen Beruf gehoͤren, und zu deren
Erfuͤllung er ſich einmahl anheiſchig gemacht hat?
Mit einem Worte, verrichtet er nie eine wirk-
liche
[205] liche oder ſcheinbare Handlung der Gutherzigkeit
mit Hintanſezung der Gerechtigkeit gegen andere,
und erlaubt er ſich alſo nie, gewiſſenlos zu ſein,
um wohlthaͤtig und großmuͤthig zu ſcheinen?
Koͤnnen alle dieſe Fragen mit Beſtand der
Wahrheit zu ſeinem Lobe beantwortet werden:
ſo ziehe den Hut ab, mein Sohn, ſo oft du
ſeinen Nahmen nennen hoͤrſt; denn es iſt der
Nahme des edelſten Sterblichen, eines vollen-
deten Rechtſchaffenen! Kan dis aber nicht ge-
ſchehen, und iſt es klar, daß Mitleid und
Wohlthaͤtigkeit die einzige iſolirte Tugend ſeines
Karakters ſind: ſo hoͤre auf, ihn zu bewundern;
weiche ſeinen Zudringlichkeiten aus, und habe ſo
wenig Gemeinſchaft mit ihm, als du kanſt.
Denn ſicher iſt er in dieſem Fal, entweder ein
uͤber ſeine Pflichten ſchlecht unterrichteter und ſehr
ſchwacher Menſch, oder — ein abſichtsvoller
Heuchler!
Ich komme zu einer fuͤnften Klaſſe von Men-
ſchen, mit der ich zu deiner Warnung dich gleich-
fals etwas naͤher bekant machen muß. Das ſind
dieje-
[206]diejenigen, welche eine beſondere Froͤm-
migkeit affektiren, und in allen ihren Re-
den, auch uͤber die nichtswuͤrdigſten Klei-
nigkeiten, ſich ohn’ Unterlaß auf Gott
und Kriſtus, auf Religion und Gewiſſen-
haftigkeit berufen. Merke dir hieruͤber, was
der große Kenner des menſchlichen Herzens,
Shakeſpear, ſagt: “es ereignet ſich nur gar zu
oft, daß man mit der andaͤchtigſten Miene, und
mit der froͤmſten Gebehrde, den Teufel im Her-
zen hat.„ Sehr wahr bemerkt, und ganz uͤber-
einſtimmend mit der gemeinſten Erfahrung! Ein
Gefaͤß, das klingt, iſt zuverlaͤſſig leer; und ein
Menſch, der Gott und Rechtſchaffenheit ohn’
Unterlaß im Munde fuͤhrt, hat beide zuverlaͤſſig
nicht im Herzen. Denn, wem Religion und
Gewiſſenhaftigkeit wirklich eigen ſind,
tacito gaudet ille ſinu,
der freut ſich ſeines Schazes im Stillen, unbe-
kuͤmmert, ob andere ihn bemerken, oder nicht;
ſo wie gemeiniglich, nicht der wirklich Wohlha-
bende, ſondern nur derjenige, der fuͤr reich ge-
halten zu werden wuͤnſcht, ohne es zu ſein, mit
erwor-
[207] erworbenen Schaͤzen prahlt. Ich habe Leute
gekant, welche mit einem Herzen vol Wohlwollen
und Rechtſchaffenheit die rauhſten Fluchworte aus-
ſtoßen konten; Fluͤche, von denen Sterne ſagt,
“daß der einregiſtrirende Engel in der Himmels-
kanzelei eine Traͤne darauf fallen laſſe, um ſie
wieder auszuloͤſchen„: aber nie nie hab’ ich An-
daͤchtler, Leute, welche in ihren Blikken, Mienen,
Gebehrden und Worten eine auſſerordentliche
Froͤmmigkeit an den Tag zu legen ſuchten, ge-
ſehn, von denen es ſich nicht bald gezeigt haͤtte,
daß ſie Heuchler waren, die ihre ganze Recht-
ſchaffenheit in die beſtaͤndige Einmiſchung from-
klingender Worte, in die oͤftere Anfuͤhrung bibli-
ſcher Stellen, und in die puͤnktlichſte Beobachtung
gottesdienſtlicher Gebraͤuche ſezten, ohne dabei die
algemeinſten Pflichten der Ehrlichkeit und Ge-
rechtigkeit zu erfuͤllen. Das ſind gefaͤhrliche Men-
ſchen, mein Sohn, vor denen man nicht genug
auf ſeiner Hut ſein kan: denn was laͤßt ſich nicht
alles von dem erwarten, der das, was den
Menſchen das Heiligſte und Ehrwuͤrdigſte iſt,
zum Dekmantel ſeiner Buͤbereien macht; der die
Bibel,
[208] Bibel, wie der Teufel in der Verſuchungsgeſchichte,
zitiert, um hinterliſtige Falſchheit und Betruͤgereien
zu beſchoͤnigen, und dabei den gottlaͤſternden Wahn
hegt, daß eine Religion, welche blos in Worten,
blos im Beten und Singen und in einer aͤngſtli-
chen Beobachtung aller fuͤr heilig gehaltenen Zere-
monien beſteht, ein volguͤltiges Loͤſegeld fuͤr jede
auch noch ſo große Verſchuldung und eine buͤndige
Freiſprechung von allen natuͤrlichen und buͤrger-
lichen Pflichten ſei! Fliehe dieſe kriſtlichen Phari-
ſaͤer; und kehre, ſo oft du die Wahl haſt, viel
lieber bei Zoͤlnern und Suͤndern ein, feſt uͤber-
zeugt, daß offenbare Ruchloſigkeit nicht ſo gefaͤhr-
lich ſei, als verſtelte Froͤmmigkeit.
Ich verlaſſe dieſe verabſcheuungswuͤrdige Klaſſe
von Menſchen, um dich mit einer andern bekant
zu machen, welche das Produkt der leztverfloſ-
ſenen zwoͤlf Jahre, und hoffentlich nur eine
voruͤbergehende Erſcheinung war, die kuͤnftig blos
in der Geſchichte unſerer Litteratur und unſerer
Sitten exiſtiren wird. Es traten nemlich ploͤzlich
einige junge Maͤnner von gluͤhender Einbildungs-
kraft,
[209] kraft, von lebendigen und ſtarken Dichtergefuͤhlen
auf, welche unſere bisherige Sprache fuͤr ihre
Empfindungen, unſere bisherigen Regeln der
Kunſt fuͤr ihre Fantaſien, die Welt ſelbſt fuͤr
die elaſtiſche Kraft ihres, keine Einſchraͤnkung dul-
denden Geiſtes, zu enge fanden. Was thaten ſie
alſo? Sie brachen, wie ein reiſſender Bergſtrom,
durch jede Verzeunung, welche Sprachgebrauch,
Regel und Konvenienz dem Drange ihrer alge-
waltigen Empfindungen entgegenſtelten; ſchufen
ſich eine neue Sprache, ſezten ihr jedesmaliges
Gefuͤhl an die Stelle der Regeln, zauberten ſich
eine Welt ohne Ordnung, ohne Geſeze und Ein-
ſchraͤnkungen, und bevoͤlkerten ſie mit Menſchen,
wie ſie ſich dazu ſchikten. Dieſe neue Schoͤpfung
ward durch Werke angekuͤndiget, welche in der
That mit dem Stempel ungemeiner Talente be-
zeichnet waren, welche daher auch ein algemeines
Aufſehn, und eine algemeine Gaͤhrung unſerer Lit-
teratur verurſachten. Allein bis dahin war noch
alles ziemlich gut. Denn haͤtten wir dieſe Er-
ſcheinung gleich anfangs gehoͤrig zu benuzen, die
darin befindliche reine Natur von den truͤben
OHaͤfen
[210] Haͤfen des brauſenden Enthuſiasmus, das wirk-
lich Gute, Starke und Erhabene von dem Ueber-
ſpanten, Sonderbaren und Grotesken vorſichtig
genug abzuſondern gewußt: ſo wuͤrden Sprache
und Litteratur, Herz und Geiſt nichts als reinen
Gewin, ohne allen Schaden, davon gehabt
haben.
Aber nun veraͤnderte ſich auf einmahl die
Scene: die Kometen bekamen einen Schweif,
der von des Himmels Scheitelpunkt, wo ſie
ſtanden, bis an den Horizont reichte; ein waͤſ-
ſerigtes dunſtiges Weſen, das, ohne ſelbſt ein
Geſtirn zu ſein, mit Sternenglanze prahlte, und
alle wirklichen Lichter des Himmels im Hui! aus-
zuloͤſchen drohte. Die Menge erſtaunte; der
Schwaͤchere ſank auf ſeine Knie, um anzubeten;
der Kluͤgere laͤchelte, und ging in ſein Kaͤmmer-
lein, um mit der Widerkehr des gewoͤhnlichen
Tageslichts das Ende dieſer luftigen Prunkerſchei-
nung ruhig abzuwarten.
Mit andern Worten: das ungewoͤhnliche
Feuer jener Geiſter verbrante vielen jungen Leuten
das Gehirn, daß ſie in eine Art von Wuth ge-
riethen,
[211] riethen, in welcher ſie ſich, wie Verruͤkte zu thun
pflegen, uͤber alle andere Sterbliche weit hinweg-
ſezten; ſich fuͤr außerordentliche Weſen hielten,
denen uͤbermenſchliche Gefuͤhle und eine unerhoͤrte
Wirkungskraft beiwohnte; alle Feſſeln des Wohl-
ſtandes und der guten Sitten, nicht blos in ihren
Buͤchern, ſondern auch im Umgange mit andern
zerbrachen; eine rohe, plumpe, ungeſittete Na-
tuͤrlichkeit affektierten; von nichts als hohen Ge-
fuͤhlen, Kraft, Genie und innerem Drange re-
deten; alle Wiſſenſchaften, welche nicht, wie
die Dichtergabe, angebohren werden, ſondern
mit Fleiß und Anſtrengung erlernet ſein wollen,
als die elendeſte und unnuͤzeſte Beſchaͤftigung
ſchwacher Selen, von ganzem Herzen verachteten,
und auf unſere verdienſtvolſten Maͤnner in der
Gelehrtenrepublik und im buͤrgerlichen Staate
mit einer Selbſtgefaͤlligkeit und Geringſchaͤzung
herabſahen, welche eben ſo laͤcherlich als aͤrgerlich
war. Das Uebel grif um ſich; Knaben und
Maͤnner, Jungfrauen und Weiber wurden da-
von angeſtekt; man ſuchte ſogar die Großen mit
ins Spiel zu ziehen, und es entſtand in kurzer
O 2Zeit
[212] Zeit eine ordentliche Sekte, eine Art von Mau-
rerei daraus, die ihre geheimen Simbolen und
Unterſcheidungszeichen hatte. Man nante ſie
die Sekte der Genies; und von der Zeit an
iſt dieſes Wort, welches vormahls die faͤhigſten
und groͤßten Sterblichen bezeichnete, zu einem
Ekelnamen worden.
Das ging nun gar zu weit. Geſchmak,
Sprache, Litteratur und Sitten neigten ſich ſchon
zu einer algemeinen verderblichen Umwaͤlzung,
als gluͤklicher Weiſe mehrere muthige und patrio-
tiſche Maͤnner mit der Geiſſel der Satire in der
Hand ſich großmuͤthig vor den Riß ſtelten, den
anfaͤnglichen Kothwurf nicht achteten, und auf
den Ruͤkken der genieſuͤchtigen Thoren ſo anhal-
tend und ſo nachdruͤklich lospeitſchten, bis ſie be-
ſchaͤmt oder verzweifelnd ſich davon ſchlichen,
und fortan nicht mehr geſehen wurden.
Ob nun die Seuche dadurch voͤllig gedaͤmpft
ſei, oder ob ſie noch jezt hie und da im Verbor-
genen ſchleiche, getraue ich mir in der That nicht
zu entſcheiden. Da indes der lezte Fal, wo
nicht mehr, doch eben ſo viel Wahrſcheinlichkeit
als
[213] als der erſte fuͤr ſich hat: ſo kont’ ich es nicht fuͤr
uͤberfluͤſſig halten, dich vor Leuten dieſer Art,
fals du jemahls dergleichen auf deinem Wege an-
treffen ſolteſt, ernſtlich zu warnen. Denn, daß
ſie weder zu einer vernuͤnftigen und dauerhaften
Freundſchaft, noch zu irgend einer anhaltenden
gemeinſchaftlichen Wirkſamkeit tuͤchtig ſind, wohl
aber auf der andern Seite in allen ihren Ge-
ſchaͤften und Verbindungen nichts als Verwir-
rung, Unordnung und Zwieſpalt erregen muͤſſen,
wirſt du aus der Beſchreibung, die ich dir von
ihnen gemacht habe, ſchon von ſelbſt abnehmen.
Ueberhaupt, mein Sohn, drenge dich nie
zu einem engern Verhaͤltniß mit Virtuoſen,
Sehern, ſchoͤnen Geiſtern und Dichtern, bevor
du nicht aus langer Beobachtung, und aus
vielen uͤbereinſtimmenden Thatſachen zuverlaͤſſig
weißt, daß ſie zu den ſeltnen Ausnahmen gehoͤren,
deren Kopf uͤber dem Rauchfaſſe des Lobes, wel-
ches ihnen thoͤrichter Weiſe ſo nahe unter die Naſe
gehalten wird, nicht ſchwindlicht, und deren Herz
durch die Einbildung, daß ſie eine eigene, uͤber alle
andere weit erhabene Klaſſe von Geiſtern ausma-
O 3chen,
[214] chen, nicht verdreht worden iſt. Mache dich
aber auch ſelbſt, durch eine vernuͤnftige Schaͤzung
jeglichen Verdienſts nach dem Maaßſtabe ſeines
Nuzens, von dem albernen Vorurtheile los,
welches Talenten dieſer Art auf der Stuffenleiter
des Ruhmwuͤrdigen die hoͤchſte Staffel anweiſet,
ohngeachtet die Zeiten, in denen ſie wirklich fuͤr
etwas vorzuͤglich Verdienſtliches gehalten wer-
den konten, ſchon laͤngſt voruͤber ſind. Das ſind
nemlich die Zeiten, da eine Nazion eben erſt
anfaͤngt, ſich aus der Nacht der Barbarei zu der
Morgenroͤthe der Aufklaͤrung empor zu arbeiten.
Da iſt es wirkliches Verdienſt, das ihr aufzu-
ſtekkende Licht der Philoſophie, deſſen reinen un-
verhuͤlten Schein ſie noch nicht ertragen kan, mit
dem Laternenglaſe der ſchoͤnen Kuͤnſte und der
Poeſie zu umgeben, damit es in gemildertem
Glanze den Leuten in die Augen falle, und durch
das Wehen naͤchtlicher Stuͤrme nicht erloͤſchen
moͤge. Aber iſt es nicht laͤcherlich, vor dem
Laternenpfale deswegen, weil er zur Nachtzeit
nuͤzlich war, am hellen Mittage das Haupt zu
entbloͤßen, und der hohen Sonne nicht zu achten,
deren
[215] deren uͤberwaͤltigender Lichtſtrom den ſchwachen
Schein deſſelben ſchon laͤngſt verſchlukt hat?
Hier kan ich nicht umhin, dir ein Geheimniß
zu verrathen, welches einen Orden betrift, zu
dem ich ſelbſt einmahl gehoͤrt habe — den Orden
der Schriftſteller! Das Geheimniß ſelbſt iſt dieſes:
die meiſten Leute ſind gemeiniglich ganz
anders in der Natur, als ſie in ihren
Schriften erſcheinen. Aber die Hand auf
den Mund, mein lieber Kleon; damit wir nicht
in ein Wespenneſt ſtechen! Fuͤr die Wahrheit
dieſer Nachricht koͤnte ich dir uͤbrigens mit mei-
ner ganzen beobachtenden Erfahrung ſtehen, wenn
nicht ein Zeuge von groͤſſerem Gewicht, den ich
dir aufſtellen kan, mein eigenes Zeugniß uͤber-
fluͤſſig machte. Hoͤre ſeine Worte: “es hat zu
allen Zeiten Leute gegeben, welche nirgends,
als in ihren Schriften, tugendhaft ſind; Leute;
welche die Verdorbenheit ihres Herzens durch die
Affektazion der ſtrengſten Grundſaͤze in der Sit-
tenlehre bedekken wollen; kurz, Leute, welche
jederman verachten wuͤrde, wenn nicht der groͤßte
O 4Haufe
[216] Haufe dazu verurtheilt waͤre, ſich durch Masken,
Mienen, Gebehrden, Inflexionen der Stimme,
verdrehte Augen und weiſſe Schnupftuͤcher be-
truͤgen zu laſſen.„ *)
Du, mein Sohn, ſei weiſer, als der große
Haufe, und laß durch alle dieſe Dinge dich nicht
betruͤgen. Stimme nie in die gewoͤhnlichen
enthuſiaſtiſchen Ausrufungen uͤber alle die wuͤr-
digen und herlichen Maͤnner ein, die man noch
nicht anders, als nur aus ihren Schriften kent;
ſondern warte mit deinem Lobe, bis du den
Menſchen eben ſo gut, als den Schriftſteller, in
ihnen kennen zu lernen, Gelegenheit erhalten haft.
Dan wird die anfaͤngliche Hize der Bewunderung
ſich vermuthlich um ein großes abgekuͤhlt haben;
und ein halbes Duzend ſolcher Beobachtungen,
die du kuͤnftig bei Hunderten machen wirſt, wer-
den hinreichen, dich von der Moͤglichkeit zu uͤber-
zeugen, daß man beſcheiden, friedfertig, ent-
haltſam, menſchenfreundlich, from und recht-
ſchaffen auf dem Papier, und zu gleicher Zeit
ausnehmend eitel, hochmuͤthig, zaͤnkiſch, aus-
ſchwei-
[217] ſchweifend, ſelbſtſuͤchtig, gewiſſenlos und ſchurkiſch
im Leben ſein koͤnne.
Auch von den Großen dieſer Erde —
wie guͤtig und zuvorkommend ſie ſich auch zu dir
herablaſſen moͤgen — erwarte keine wahre
Freundſchaft, keine fortdauernde Zuneigung,
keine bleibende Erkentlichkeit fuͤr das, was
du an deinem Vermoͤgen, an deiner Ruhe
und an deiner Geſundheit fuͤr ſie aufopferſt.
Es waͤre ein Wunder aller Wunder, wenn dieſe
Leute, die von fruͤher Kindheit an gewoͤhnt wer-
den, ſich ſelbſt fuͤr den Mittelpunct der Schoͤp-
fung, fuͤr die algemeine Sonne zu halten, um
welche alle andere Weſen, als Planeten oder
Trabanten, im gehoͤrigen Abſtande ſich herum-
drehen muͤſſen, um Licht, Glanz und Waͤrme von
ihnen zu empfangen, wenn dieſe Leute, ſag’
ich, jemanden im Ernſt fuͤr ein Weſen ihres
Geſchlechts anſehen, ihn in der That mehr, als
ihr Windſpiel, ihren Affen, ihr Favoritpferd
lieben, ihm fuͤr das, was er fuͤr ſie thut oder
leidet, ſich wirklich zur Dankbarkeit verbunden
O 5glauben
[218] glauben, und ihm von Herzen dafuͤr ergeben ſein
koͤnten. Kanſt du daher deinem Vaterlande, oder
deinen Mitmenſchen nuͤzlich werden, ohne dabei
in den unmittelbaren Dienſt der Goͤtter dieſer
Erde zu treten: o ſo freue dich deines Gluͤks,
und laß dich ja durch keine auch noch ſo glaͤn-
zende Erbietungen bewegen, ihnen das bischen Frei-
heit, was der Menſchheit etwan noch uͤbrig gelaſſen
iſt, voͤllig abzutreten! Denn Ketten ſind Ketten,
und wenn ſie auch von Gold geſchmiedet und mit
Diamanten beſezt waͤren. Auch ſind die Dienſte
der Großen, wie Leſſing und die Erfahrung
ſagen, in mehr als einer Betrachtung, mislich
und gefaͤhrlich, und lohnen dabei der Muͤhe,
des Zwanges und der Erniedrigung nicht, die ſie
koſten.
Vermeide ſie alſo, wenn du kanſt. Kanſt
du das aber nicht, ſo merke dir wenigſtens
folgende Regeln der Vorſichtigkeit, um ſie nie aus
der Acht zu laſſen:
1. Je mehr die Großen ſich zu Liebkoſungen
und Vertraulichkeiten gegen dich herablaſſen, deſto
ehrerbietiger ſei dein eigenes Betragen gegen ſie,
und
[219] und deſto ſorgfaͤltiger huͤte dich, in den von
ihnen angegebenen Ton der Vertraulichkeit einzu-
ſtimmen.
2. Bemuͤhe dich, ihnen ſo viel Achtung gegen
dich einzufloͤßen, daß ſie nie auf den fuͤr dich
ungluͤklichen Einfal gerathen, dich zu ihrem be-
ſondern Lieblinge zu waͤhlen. Denn widerfuͤhre
dir dis, ſo waͤr’ es entweder um deine Ruhe,
oder um deine Sicherheit, oder um deine Tugend
gethan; und das ſind Dinge, die dir wichtiger
ſein muͤſſen, als alle Gunſtbezeugungen.
3. Kanſt du es aber nicht vermeiden, daß der
Große eine Art von Zuneigung gegen dich ge-
winne, und wirſt du gleichſam von ihm gezwun-
gen, dir, wenn du mit ihm allein biſt, Vertrau-
lichkeiten gegen ihn zu erlauben: ſo trit wenigſtens,
[ſobald] ein dritter dazu komt, augenbliklich in die
Schranken der Ehrfurcht zuruͤk, und verbirg den
beguͤnſtigten Freund unter dem demuͤthigen An-
ſtande eines unterthaͤnigen Dieners. Mancher,
der unter vier Augen dich zaͤrtlich umarmt, dich
vertraulich bei ſich nieder ſezen und ſchwazen heißt,
wuͤrd’ es dir nie vergeben, wenn du am Kurtage
dich
[220] dich um einige Linien weniger tief vor ihm neig-
teſt, als die Etikette es erfodert.
4. Laß dich von keinem Großen fuͤr keinen
Preis zum Befoͤrderer unſitlicher Vergnuͤgungen
brauchen, und ſolte deine Weigerung dir auch
ſeine ganze Ungnade zuziehen. Denn zu ge-
ſchweigen, daß man Gott mehr gehorchen muß,
als den Menſchen, ſo iſt es beſſer, einmahl wie
ein braver Man gefallen, als tagtaͤglich wie ein
Schurke kriechen zu muͤſſen, und ſich mit Fuͤßen
treten zu laſſen. Das wuͤrde aber uͤber kurz
oder lang zuverlaͤſſig die Folge ſein, wenn du dich
dazu hergaͤbeſt, der Vertraute und der Befoͤrderer
ſeiner Luͤſte zu ſein. Denn auch der aͤrgſte Wol-
luͤſtling unter den Großen verachtet in ſeinem
Herzen jeden, der ihm zur Befriedigung ſeiner
Leidenſchaften die Hand reicht, und er ſucht des
Niedertraͤchtigen los zu werden, ſobald er ihn
entbehren kan.
5. Fuͤgt es ſich, daß du kluͤger, einſichtsvoller
und edler, als der Große, biſt, und dazu gehoͤrt
zuweilen ſo viel nun eben nicht: huͤte dich, es
ihn merken zu laſſen, ſo lange dir an ſeiner
Gunſt
[221] Gunſt noch etwas gelegen iſt. Suche vielmehr
alles Gute, was du ſagſt oder thuſt, ſo zu ſagen,
oder ſo zu thun, daß es das Anſehn gewinne,
als wenn er ſelbſt, wonicht es geſagt oder gethan,
doch wenigſtens es gedacht und gewolt habe.
Und, ſei verſichert, es wird dir gar nicht ſchwer
fallen, ihn dieſes in ganzem Ernſte glauben zu
machen.
6. Wil er etwas, was an ſich thunlich,
auch deiner nicht unwuͤrdig, aber ſchwer iſt, durch
dich ausgefuͤhrt wiſſen: ſo halte dich nicht dabei
auf, ihm die Schwierigkeiten der Unternehmung
vorzuzaͤhlen, ſondern laß ihn eine augenblikliche
Entſchloſſenheit ſehen, und eile zur Ausfuͤhrung.
Denn keiner faͤlt den Großen mehr zur Laſt, als
wer ihnen Schwierigkeiten zeigt, die ihrem Willen
im Wege liegen, und ſie dadurch in die ihnen
beſchwerliche Nothwendigkeit des Nachdenkens
ſezt. Gar zu bedenkliche, umſtaͤndliche und
ſchwierige Leute ſind auch jedem andern unter
uns zur Laſt; ſo wie auf der andern Seite der ent-
ſchloſſene, hurtige und thaͤtige Man bei allen wohl
gelitten iſt.
Dis
[222]
Dis ſind freilich nur ſehr wenige und unvol-
ſtaͤndige Vorſchriften, den kuͤnftigen Hofman zu
bilden; aber da ich das Vertrauen zu der Vor-
ſehung habe, daß ſie [dir] einen beſſern und gluͤkli-
chern Wirkungskreis anweiſen werde: ſo ſcheint
es mir uͤberfluͤſſig, uns laͤnger dabei aufzuhalten.
Laß uns alſo wieder zu dem vermiſchten Haufen
der groͤſſeren Geſelſchaft zuruͤktreten.
Auch die einfaͤltigen und dummen Men-
ſchen verdienen unſere Aufmerkſamkeit.
Bei dieſen aber mußt du zweierlei Unterarten
wohl von einander unterſcheiden. Die einen
nemlich ſind das, was ſie ſind, aus natuͤrlicher
Verſtandesſchwaͤche, die andern hingegen aus
Mangel an einer ihrem Stande gemaͤßen Aus-
bildung und an Unterricht. Jene laß uns Ein-
faͤltige oder Simple, dieſe Dumme nennen.
Der Einfaͤltige iſt gemeiniglich ein guter, oft ein
liebenswuͤrdiger Schlag von Menſchen — be-
ſcheiden, ſanftmuͤthig, nachgebend, duldſam, dienſt-
fertig und gutherzig; der Dumme hingegen faſt
immer eigenſinnig, zaͤnkiſch, tuͤkkiſch, hochmuͤthig
und
[223] und boshaft. Fliehe dieſe, aber laß dich gern
zu jenen herab, und verſchmaͤhe ihre Liebe nicht;
denn ſie ſind es wehrt, daß man ihnen Freude
zu machen ſuche, und unſere Herablaſſung macht
ſie ihnen in hohem Grade; aber auch um dein
ſelbſtwillen nicht: denn wenn du irgend etwas
Gutes wirken wilſt, wozu koͤrperliche Muͤhe,
Aufmerkſamkeit auf Kleinigkeiten und große Ge-
duld, nur nicht vorzuͤgliche Geiſtesfaͤhigkeiten, er-
fodert werden: ſo wiſſe, daß dieſe ſimpeln Leute
grade die brauchbarſten und bereitwilligſten Werk-
zeuge ſein werden, deren du dich bedienen kanſt.
Ich kan mit Wahrheit ſagen, daß ich Leuten dieſer
Art ſowohl in Anſehung ſolcher Dienſte, die
mein eigenes Wohlergehn betrafen, als auch in
Anſehung des guten Fortgangs meiner Wirkſam-
keit auf andere, mehr zu verdanken habe, als den
meiſten wizigen und klugen Koͤpfen, welche mich
ihrer Freundſchaft wuͤrdigten.
Jene dienen uns gern, und von ganzem Her-
zen, und ohne Ruͤkſicht auf ſich ſelbſt zu nehmen:
dieſe hingegen haben insgemein erſt ſo manche
Bedenklichkeit! Muͤſſen erſt ſo manchen Blik auf
ſich
[224] ſich ſelbſt und auf andere thun, um zu ſehn, ob
nicht ihr eigener Vortheil dabei leide, ob nicht
irgend eines Menſchen gute Meinung von ihnen da-
durch geſchwaͤcht werden koͤnne, ob nicht irgend
eine Ungemaͤchlichkeit fuͤr ſie ſelbſt damit verbun-
den ſei! Jene ſind ſo weit davon entfernt, uns
ihre Dienſte uͤber Werth anzurechnen, und eine
ausnehmende Erkentlichkeit von uns zu verlangen,
daß ſie vielmehr fuͤr unſer Vertrauen zu ihnen,
und fuͤr die Gelegenheit, die wir ihnen gaben,
uns nuͤzlich zu werden, ſich ſelbſt fuͤr unſre Schuld-
ner halten: dieſe hingegen wollen jede kleine Ge-
faͤlligkeit, die ſie uns erweiſen, auf Wucher an-
legen, und verlangen in kurzer Zeit das Kapital
mit mehr als juͤdiſchen Zinſen wieder. — Noch
einmahl alſo: verſchmaͤhe die Liebe der Simpeln
nicht, und baue — dafern nicht etwa die Erfah-
rung dich dazu berechtiget — auf die Freund-
ſchaft derer, welche kluͤger und wiziger ſind, keine
zu große Hofnungen. Beides koͤnte dich ge-
reuen.
Mancher,
[225]
Mancher, wenn er unſerer gegenwaͤrtigen
Unterhaltung beiwohnte, wuͤrde ſich wundern,
daß ich bisher noch mit keinem Worte dich vor
der Vertraulichkeit mit ſolchen Leuten gewarnt
habe, welche offenbar ausſchweifend, liederlich,
laſterhaft und ſchaͤndlich ſind; da es doch auch
unter dieſem Auswurf der Menſchheit in der
That nicht wenige gibt, die mit einem Herzen
vol Leichtſin, Unzucht und Gewiſſenloſigkeit, ſo
viel aͤuſſerliche Annehmlichkeiten und ein ſo ge-
faͤlliges Weſen verbinden, daß ein unerfahrner
gutmuͤthiger Juͤngling leicht von ihnen eingenom-
men werden kan. Allein, dafern nicht alles,
was bisher durch Untericht, Anfuͤhrung und
Beiſpiel an dir geſchehen iſt, verlorne Arbeit
war, — und wie koͤnt’ ich das beſorgen? —
ſo darf ich glauben, daß ich durch eine Warnung
dieſer Art deinem Verſtande und deinem Her-
zen zugleich zu nahe treten wuͤrde. Jener wird
den Trunkenbold, den Spieler und den Lieder-
lichen, auch unter der einnehmendſten Geſtalt,
zuverlaͤſſig zu erkennen wiſſen, und dieſes wird
gewiß, ganz gewiß mit Abſcheu davor zuruͤk-
Pſchaudern.
[226] ſchaudern. Nimmer, nimmer wirſt du dir er-
lauben, die geringſte Gemeinſchaft mit ihnen zu
haben, feſt uͤberzeugt, daß die Peſt ſelbſt nicht
anſtekkender und nicht verderblicher fuͤr den Leib
ſei, als der vertraute Umgang mit ſolchen Leuten
fuͤr die empfaͤngliche Sele eines jungen Menſchen
iſt. Du wirſt dich zehnmahl lieber ihrem Unwil-
len, ihrem Spot und ihrer Feindſchaft ausſezen,
als aus thoͤrigter Gefaͤlligkeit, oder aus ſchaͤndlicher
Furchtſamkeit, an ihren viehiſchen Ausſchweifun-
gen Theil nehmen wollen. — Nicht wahr, mein
Kleon, ich irre mich nicht, wenn ich dieſe Hof-
nung von dir hege, und wenn ich feſt uͤberzeugt
bin, daß du ſie niemahls taͤuſchen werdeſt?
Kleon warf ſich ihm in die Arme, und ſagte:
er habe das Vertrauen zu Gott, daß er ihm das
Geſchenk des Lebens lieber jezt in ſeines Vaters
Armen wieder abfodern, als es ihm laͤnger friſten
wuͤrde, wenn ſeine Alwiſſenheit vorherſaͤhe, daß
er es jemahls durch wiſſentliche Untugenden und
Laſter beflekken koͤnte.
Wohl denn! antwortete der geruͤhrte Vater;
ich vermeide alſo alle uͤberfluͤſſige Erinnerungen,
und
[227] und kehre wieder zu ſolchen Vorſchriften zuruͤk,
welche auch einer gutgebildeten und tugendlieben-
den jungen Sele nuͤzlich werden koͤnnen.
Nicht genug, mein Lieber, daß du
deine eigentlichen Freunde mit Vorſicht
waͤhlſt; auch die Wahl deiner bloßen Ge-
ſelſchaft muß mit gleicher Behutſamkeit ge-
ſchehen. Denn nichts iſt gewiſſer, als, daß ein
junger Menſch uͤber kurz oder lang mehr oder
weniger die Denkungsart, die Sitten und Ma-
nieren derer annimt, mit denen er oͤftern Umgang
hat, und daß alſo jede gute Geſelſchaft ihn un-
fehlbar beſſer, jede ſchlechte unausbleiblich ſchlim-
mer macht. Aber dis iſt nicht die einzige Folge,
welche die Wahl unſerer Geſelſchafter fuͤr uns hat.
Auch der Begrif, den die Leute ſich von unſerm
Karakter und von unſern Talenten machen, richtet
ſich genau nach der Meinung, die ſie von denen
haben, mit welchen wir umgehn. “Sage mir,
mit wem du umgehſt, und ich wil dir ſagen, wer
du biſt;„ das iſt ein eben ſo bekantes, als wahres
Wort, wornach ſich alle Menſchen in ihrem Ur-
P 2theile
[228] theile uͤber uns zu richten pflegen. Sind unſere
gewoͤhnlichen Geſelſchafter gute, brave, rechtſchaf-
fene Leute: ſo haͤlt man auch uns, ohne weiteres
Zeugniß, fuͤr eben ſolche Menſchen. Sind ſie
das Gegentheil, ſo werden wir abermahls in
eine Klaſſe mit ihnen geſezt, wir moͤgen es ver-
dienen oder nicht. Wieviel komt alſo nicht dar-
auf an, daß man auch den bloßen Umgang gut
zu waͤhlen wiſſe!
Damit iſt nun nicht geſagt, daß du alle die-
jenigen, welche deiner Freundſchaft oder auch
deines naͤhern Umganges unwerth ſind, gradezu
vor den Kopf ſtoßen ſolſt, um ſie dir ein vor alle-
mahl von Halſe zu ſchaffen. Das wuͤrde aber-
mahls ſehr unweiſe ſein. Denn wer nicht faͤhig
iſt, dir als Freund zu nuͤzen, wird um ſoviel faͤ-
higer und geneigt ſein, dir als Feind zu ſchaden.
Auch hieruͤber wil ich dir einen Ausſpruch des
großen Menſchenkenners empfehlen, den ich dir
nun ſchon ſo oft genant habe. Er ſagt: “der
Thoren und Schurken ſind gar zu viel; und ich
wolte eine ſichere Neutralitaͤt lieber haben, als
Buͤndniß, oder Krieg mit ihnen. Du kanſt ein
abgeſagter
[229] abgeſagter Feind ihrer Laſter und Thorheiten
ſein, ohne daß ſie einen perſoͤnlichen an dir ge-
wahr werden duͤrfen. Zunaͤchſt nach ihrer
Freundſchaft iſt ihre Feindſchaft die gefaͤhrlichſte
Sache. Habe wahre Zuruͤkhaltung gegen ſie,
aber niemahls eine anſcheinende. Denn es iſt
ſehr unangenehm, zuruͤkhaltend zu ſcheinen, aber
ſehr gefaͤhrlich, es nicht zu ſein. Wenige Leute
finden die wahre Mittelſtraße. Viele ſind auf
eine laͤcherliche Art in Kleinigkeiten geheimnißvol,
und viele unvorſichtiger Weiſe offenherzig gegen
jederman.„*)
Wilſt du aber wiſſen, wie man es anzufangen
habe, daß die guten Leute an allen Orten uns
gern unter ſich leiden, uns mit ihrer Freundſchaft
ſogar entgegen kommen moͤgen? Ich kan dir
ein untriegliches Mittel in vier Worten ſagen;
es heißt: Verdienſte, Beſcheidenheit, aͤuſſer-
liche Annehmlichkeiten und ein guter Ruf,
der von einem Orte zum andern vor uns her
laͤuft, und uns die Staͤte bereitet. Wer dieſe
vier Stuͤkke beſizt, der kan ſicher ſein, daß es
P 3ihm
[230] ihm an Freunden und Geſelſchaftern unter den
edelſten und wuͤrdigſten Menſchen an jedem Orte
niemahls fehlen werde. Achte beſonders auf das
lezte unter den genanten Stuͤkken; und wiſſe,
daß die gute oder ſchlimme Meinung, die wir
den Leuten ſchon als Knaben von uns einfloͤßen,
uns gemeiniglich durchs ganze Leben an jeden neuen
Ort unſers Aufenthalts zu begleiten pflegt. Hat
man daher ſeinen guten Nahmen nur erſt an
einem Orte feſtgeſtelt, ſo darf man um die Gruͤn-
dung deſſelben an jedem andern unbekuͤmmert ſein.
Das nimmer ruhende Geruͤcht hat es ſchon uͤber
ſich genommen, die beſten und kraͤftigſten Em-
pfehlungsbriefe fuͤr uns herumzutragen, noch ehe
wir angekommen waren. Und wohl dem, der
mit ſolchen Addreſſen verſehen iſt! Aber dieſer
Punkt bedarf noch einer beſondern Erwaͤgung.
Wenn ich ein Freund von paradoxer Stellung
ſimpler Gedanken waͤre, ſo wuͤrd’ ich ſagen: das
Urtheil der Menſchen uͤber uns und unſre Hand-
lungen ſei die wichtigſte und zugleich die aller
nichtswuͤrdigſte Sache von der Welt; es haͤnge
lediglich
[231] lediglich von uns ab, und es haͤnge auch ganz
und gar nicht von uns ab; es ſei unſerer ſorgfaͤl-
tigſten Aufmerkſamkeit werth, und es verdiene
ganz und gar nicht, daß wir im geringſten uns
darum bekuͤmmern. Allein da ich mehr Zeit und
Worte brauchen wuͤrde, dieſe ſinreichen Wieder-
ſpruͤche aufzuloͤſen, als die ganze Sache in ihrer
natuͤrlichen und ſchlichten Geſtalt zu zeigen, ſo
ſchlage ich lieber dieſen leztern Weg ein.
Allerdings iſt der Menſchen Urtheil uͤber uns
eine Sache von großer Wichtigkeit, weil unſer
gutes Fortkommen in der Welt und unſere ganze
aͤuſſerliche Gluͤkſeeligkeit davon abhaͤngt. Aller-
dings verdient es daher unſere große Aufmerkſam-
keit, und es iſt klug und weiſe gehandelt, daß
wir uns beſtreben, nichts zu reden oder zu thun,
was mit Recht getadelt werden kan. Allerdings
haͤngt endlich auch unſer guter Nahme in ſo fern
von uns ab, daß wir es durch ein kluges und
rechtſchaffenes Betragen dahin bringen koͤnnen,
daß wenigſtens die Weiſeſten und Rechtſchaffen-
ſten unter unſern Mitbuͤrgern nicht umhin koͤn-
nen, eine gute Meinung von uns zu haben. Dis
P 4alles
[232] alles iſt von ſelbſt einleuchtend, und bedarf alſo
keines Beweiſes. Aber nun laß uns auch die an-
dere Seite betrachten.
Iſt es recht, auf das Urtheil der Menſchen
Ruͤkſicht zu nehmen, wenn Pflicht und Gewiſſen
nach deutlich erkanten Gruͤnden einmahl ſchon
entſchieden haben? Haͤngt es in jedem Falle
von uns ab, auch die Leichtſinnigen, auch die
Thoren, auch die neidiſchen und verlaͤumderiſchen
Menſchen durch unſer Verhalten zu befriedigen?
Und iſt es daher weiſe, den Tadel ſolcher Leute
zu Herzen zu nehmen, ſich daruͤber zu haͤrmen,
ſich wohl gar in rechtmaͤßigen und lobenswuͤrdigen
Handlungen dadurch ſtoͤren zu laſſen? Es er-
gibt ſich abermahls von ſelbſt, daß alle dieſe
Fragen mit nein! zu beantworten ſind. Laß uns
nun, nach dieſer Auseinanderſezung, diejenigen
Verhaltungsregeln merken, welche daraus herge-
leitet werden koͤnnen.
Die erſte: ſorge ja dafuͤr, daß dein je-
desmaliges Betragen den Beifal der Weiſen
und Guten habe. Dahin wirſt du aber es
in den meiſten Faͤllen ſicher bringen koͤnnen, wenn
dein
[233] dein jedesmaliges Betragen rechtmaͤßig und ge-
wiſſenhaft iſt. Ich ſage in den meiſten Faͤllen;
denn zuweilen geraͤth man freilich wohl in Lagen,
welche keine menſchliche Sele, auſſer der unſrigen,
ſo ganz nach allen ihren Seiten zu uͤberſehen ver-
mag, und welche eine Art zu handeln erfodern,
die von allen Menſchen, ſelbſt von den guten und
weiſen, getadelt werden muß, weil die geſamten
Gruͤnde unſers Verfahrens nur uns ſelbſt und
dem Alwiſſenden allein bekant ſind. Aber in
Faͤllen dieſer Art ſei unbekuͤmmert, mein Sohn!
Denn wenn nur unſer Gewiſſen rein geblieben
iſt: ſo duͤrfen wir verſichert ſein, daß die Recht-
maͤßigkeit unſers Betragens fruͤh oder ſpaͤt in
einem hellern Lichte erſcheinen, und die kleinen
Flekke, welche der unverdiente Tadel auf unſern
guten Nahmen ſpruͤzte, voͤllig wieder auswiſchen
werde.
Die zweite: in allen ſolchen Faͤllen aber,
in denen der aͤuſſerliche Anſchein wider dich
iſt, weil die wahren Bewegungsgruͤnde
deiner Handlungen nur Gott und dir be-
kant ſind, ſei nicht ſo ſtolz auf deine Tu-
P 5gend,
[234]gend, daß du den Tadel der beſſern Men-
ſchen fuͤr gar nichts achteſt. Belehre viel-
mehr, wenn’s immer moͤglich iſt, wenig-
ſtens einige derſelben, uͤber die wahren
Urſachen, welche dich bewogen haben, ſo
und nicht anders zu handeln, und ſoͤhne
dadurch ihren Verſtand und ihr Herz mit
den deinigen wieder aus.
Die dritte: ſolt’ es ſich aber gleichwohl
ereignen, daß Vernunft und Gewiſſen et-
was von dir verlangten, wovon du vor-
ausſaͤheſt, daß das Urtheil der ganzen
Welt ſich dagegen empoͤren, und daß es
dir unmoͤglich ſein wuͤrde, auch nur einen
einzigen von der Rechtmaͤßigkeit deines
Verfahrens zu uͤberzeugen: ſo verſchmaͤhe
großmuͤthig und ſtandhaft das Urtheil der
ganzen Welt, und thue herzhaft was Ver-
nunft und Gewiſſen von dir verlangen.
Denn keines Menſchen gute Meinung von dir
muß dir theurer ſein, als das Bewuſtſein, vor
Gott und deinem Gewiſſen recht gethan zu haben;
und ſolte deine ganze irdiſche Gluͤkſeeligkeit daruͤber
in
[235] in Truͤmmern zerfallen. Das Gefuͤhl, als ein
rechtſchaffener Man gehandelt zu haben, wird
dir ein hinlaͤnglicher Erſaz ſein.
Die vierte: Verachte uͤbrigens von gan-
zem Herzen das Geklatſche der Verlaͤum-
dung, als eine Sache, welche keiner, als
etwa der unbedeutende und unthaͤtige
Menſch, vermeiden kan, welche deinem
eigentlichen guten Nahmen auch gar nicht
ſchadet, und welche daher nicht werth iſt,
daß ein Man von Verſtande und Menſchen-
kentniß ſich darum bekuͤmmere. Denn
je mehr du hervorſtechen wirſt, je groͤſſer die Tu-
genden, je glaͤnzender die Verdienſte ſein werden,
welche dich von andern auszeichnen: deſto weniger
wird man dich und deine Handlungen faſſen koͤn-
nen, deſto weniger wird man es dir verzeihen,
daß du nicht biſt, wie andere Menſchenkinder,
deſto eifriger wird man ſich bemuͤhen, dich aus
deiner hoͤhern Sphaͤre in ſeine eigene hinabzu-
ziehen. *)
Und
[236]
Und das werden grade diejenigen am meiſten
thun, die dir ins Angeſicht die meiſten Kompli-
mente ſagen! Auch dieſes mußt du wiſſen, damit
du nicht unerfahrner Weiſe Rechenpfennige fuͤr
Dukaten
*)
[237] Dukaten halteſt, und dich nicht auf einen Reich-
thum verlaſſeſt, von dem es ſich, wenn’s zum
Umſaz komt, gar bald zu zeigen pflegt, daß er
aus lauter falſchen Muͤnzen beſtehe. Mit andern
Worten: wenn man dich lobt, rechne ja
nicht darauf, daß man dich wirklich ſchaͤze,
wirklich liebe oder bewundere! Man lobt,
um wieder gelobt zu werden, oder weil
man deiner grade noͤthig hat, oder um
ſeinen eigenen Kentniſſen, ſeinem eigenen
Geſchmak, ſeiner eigenen Beurtheilungs-
kraft ein Kompliment zu machen, oder
aus Ironie, oder weil man ſonſt eben nichts
zu ſagen weiß. Selten, hoͤchſtſelten iſt das
Herz die Quelle des Lobes!
Ueberhaupt aber mußt du wiſſen, daß die
Menſchen, um Recht und Unrecht, edles und
unedles Betragen zu meſſen, einen doppelten
Maaßſtab haben, den einen fuͤr ſich und ihre
Freunde, den andern fuͤr uns. Daher der auf-
fallende Widerſpruch in ihrem Lobe und Tadel bei
Handlungen von einerlei Natur und Beſchaffen-
heit, nur von verſchiedenen Perſonen verrichtet!
Was
[238] Was das eine mahl gut, ſchoͤn und edel war, das
iſt das andre mahl ſicher ſchlecht, haͤßlich und un-
edel. Warum? Weil der Handelnde im erſten
Fal unſer eigenes Ich, oder ein Freund deſſelben,
im andern ein Fremder oder ein Beneideter war.
Und was folgt nun aus dem allen? Dieſes,
was ich dir nicht beſſer und nachdruͤklicher, als
mit den Worten eben des treflichen Schriftſtellers
ſagen kan, den ich ſchon mehrmahls angefuͤhrt
habe:
“Gluͤklich iſt der Man, der, mehr be-
muͤht, den Beifal der Menſchen zu ver-
dienen, als ihn zu erhalten, ſeine Pflichten
gegen ſie erfuͤlt, ohne ſeine Zufriedenheit
von ihrer Zufriedenheit, von ihrer Gerech-
tigkeit oder Dankbarkeit abhaͤngig zu ma-
chen! Getreu ſeiner eigenen Ueberzeugung!
gebilliget von ſeinem eigenen Herzen, be-
ſtaͤtiget in beiden durch den pruͤfenden
Beifal der weiſeſten und beſten ſeiner Zeit-
genoſſen, gebeſſert durch ihren Tadel und
durch eine immerwaͤhrende Bearbeitung
ſeiner ſelbſt, geht er ſeinen eigenen Weg,
unbe-
[239]unbekuͤmmert, was alles das Geſumſe,
Geziſch und Gequaͤke bedeuten koͤnne, das
in der Naͤhe und in der Ferne um ſeine
Ohren ſauſt.„*)
Die Hoͤhe der Sonne erinnert mich, daß es
Zeit ſei, mein langes Geplauder zu endigen, wenn
ich deiner Aufmerkſamkeit nicht zuviel zumuthen
wil. Ich faſſe daher das Wichtigſte von dem,
was ich dir noch zu rathen habe, ſo kurz als moͤg-
lich zuſammen, und theil’ es dir, ohne alle Ver-
bindung, ſazweiſe mit.
Huͤte dich, ſo oft dir der Kopf von ir-
gend einer Leidenſchaft gluͤht, etwas zu
beſchließen oder zu thun, was nicht ganz
auſſerordentlich dringend iſt; ſondern warte,
bis dein Blut ſich abgekuͤhlt hat, und die Ver-
nunft wieder am Ruder ſizt. Jeder leidenſchaft-
liche Zuſtand iſt eine Art von Wahnſin: durch
welchen Zufal koͤnte das, was wir zur Zeit deſ-
ſelben beſchließen, vernuͤnftig und wirklich rath-
ſam ſein?
Lerne
[240]
Lerne Beleidigungen verſchmerzen, ohne
ſie zu ahnden; Unrecht uͤber dich ergehen
zu laſſen, ohne Genugthuung zu fodern.
Denn ſo ſuͤß auch die Befriedigung der Rachbe-
gierde iſt, ſo ſchadet ſie doch insgemein uns ſelbſt
am meiſten. Oft iſt es nuͤzlich, gar nicht ein-
mahl merken zu laſſen, daß man ſich fuͤr beleidigt
halte. — Ein alter Weiſer gibt uͤber die Art,
wie man Unrecht ertragen muͤſſe, folgende goldne
Vorſchrift: “Jede Sache hat zwei Seiten; eine,
an der ſie ſich tragen laͤßt, und die andere, an
der ſie ſich nicht tragen laͤßt. Wenn dein Bruder
ungerecht gegen dich handelt, ſo laß nicht dieſe
Ungerechtigkeit die Seite ſein, auf der du ſeine
Handlung nimſt: denn das wuͤrde grade diejenige
Seite ſein, auf der du ihre Laſt nicht tragen
koͤnteſt. Laß vielmehr das Brudergefuͤhl, und
den Gedanken, mit ihm erzogen zu ſein, lebhaft
in dir werden, und du wirſt die rechte Seite er-
greifen, von der du die Laſt ſeines zugefuͤgten
Unrechts auf dich nehmen kanſt.„
Mißverſtaͤnd-
[241]
Misverſtaͤndniſſe und ſchiefes Hinſehn
auf die unrechte Seite der Dinge ſind ohne
Zweifel die Urſache der meiſten Feindſchaf-
ten und Verdrießlichkeiten unter den Men-
ſchen. Verſtaͤndige dich mit denen, welche deine
Worte oder deine Handlungen misverſtanden ha-
ben, in aller Freundlichkeit; ruͤkke ihnen den Ge-
genſtand ihres Unwillens liebreich vors Auge,
und zeige ihnen den wahren Geſichtspunkt, aus
dem ſie ihn betrachten muͤſſen. War dan die
ganze Sache wirklich nur ein Misverſtaͤndniß,
ſo wird es unter hundert Faͤllen kaum einen
geben, da es dir nicht gelingen ſolte, ihren Un-
willen im Keime zu erſtikken, und das Verneh-
men zwiſchen dir und ihnen wieder auf den alten
Fuß zu ſtellen.
Aber huͤte dich, dergleichen Aufklaͤrun-
gen entſtandener Misverſtaͤndniſſe ſchrift-
lich zu geben. Ich ſage dir voraus, daß du
auf dieſem Wege deine Abſicht in hundert Faͤllen
neun und neunzig mahl verfehlen werdeſt. Denn
hat der Andere erſt einmahl Feuer gefangen, ſo
Qmagſt
[242] magſt du ihm noch ſo liebreich ſchreiben, magſt
die Sache noch ſo deutlich auseinanderſezen: er
wird demohngeachtet in den unſchuldigſten Aus-
druͤkken neue Reizungen zum Unwillen, in den
faßlichſten Gruͤnden neue Urſache finden, dich der
Ungerechtigkeit gegen ihn zu zeihen: es ſei nun,
daß ſeine Einbildungskraft deinem Geſichte eine
andere Miene, oder deiner Stimme einen andern
Ton, oder deinen Worten eine andere Bedeu-
tung, einen groͤſſern Nachdruk, oder vielleicht
gar nur den unrechten Akzent leihet. Alle dieſe
Irrungen ſind bei geſchriebenen Auseinander-
ſezungen misverſtandener Dinge unvermeidlich,
fallen aber weg, ſo bald man ſich muͤndlich
daruͤber beſpricht.
Traue nie einſeitigen Berichten, ſie moͤ-
gen ſich herſchreiben, von wem ſie wollen.
Fielding ſagt: “ein Menſch ſei noch ſo ehrlich,
ſo wird doch ſein eigener Bericht von ſeiner Auf-
fuͤhrung, ſelbſt wider ſeinen Willen, ſo vortheil-
haft klingen, daß die Laſter gleichſam gereiniget
von ſeinen Lippen fließen, und gleich einem un-
reinen
[243] reinen Waſſer, wenn es recht durchgeſeigt wird,
alles Unſaubere zuruͤklaſſen. Wenn gleich ſeine
Thaten ſelbſt zum Vorſchein kommen, ſo werden
doch die Bewegungsgruͤnde, Umſtaͤnde und Fol-
gen, wenn ein Menſch ſeine eigene Geſchichte er-
zaͤhlt, und wenn ſein Feind es thut, ſo verſchieden
ſein, daß man kaum erkennen kan, es ſei eine
und eben dieſelbe Sache.„ Vergiß daher nie-
mahls, bevor du daruͤber urtheilſt, das: audia-
tur et altera pars!
Wilſt du jemanden uͤberzeugen, oder
zu etwas bewegen, wovon er abgeneigt iſt:
wende dich nie grade zu an ſeinen Ver-
ſtand, ſondern achte der kleinen Muͤhe
nicht, den zwar etwas laͤngern, aber da-
fuͤr auch deſto ſicherern Umweg einzuſchla-
gen, der durchs Herz und die Leidenſchaften
der Menſchen ohnfehlbar zu ihrem Ver-
ſtande fuͤhrt; das heißt, ſtelle die jedesmalige
Sache deinem Manne von denjenigen Seiten
vor, von welchen ſie auf ſeine Lieblingsneigungen
oder Schwachheiten den vortheilhafteſten Eindruk
Q 2macht.
[244] macht. Der Verſtand iſt der gemaͤchliche Haus-
vater im Lehnſtuhl, Leidenſchaften und Schwach-
heiten ſind Weib und Kinder: wie bald iſt jener
uͤberzeugt oder uͤberſchrien, wenn nur dieſe erſt
gewonnen ſind! Es verſteht ſich, hoffe ich, zwi-
ſchen dir und mir von ſelbſt, daß ich hierbei eine
Sache vorausſeze, welche recht und billig iſt, und
die alſo keines Weges auf Uebervortheilung, Be-
trug oder Ueberliſtung hinauslaufen kan.
Das Urtheil des Mannes uͤber uns
wird gemeiniglich durch das Urtheil der
Frau, dieſes durch das Urtheil der Bedien-
ten und Maͤgde geſtimt. Steige daher, ſo
oft du das Wohlwollen eines Hauſes zu
erwerben wuͤnſcheſt, mit deiner Hoͤflichkeit,
Freundlichkeit, und, wenn du kanſt, mit
deiner Freigebigkeit, bis zu dem Niedrig-
ſten herab; das wird dich ſicher bis zum
Wohlwollen der Oberſten erheben. Der
Kardinal von Retz, deſſen Memoiren auch von
demjenigen, der kein Staatsman werden wil, ge-
leſen zu werden verdienen, ſagt: “Zu den Ge-
ringſten
[245] ringſten herabzuſteigen, iſt das ſicherſte Mittel,
ſich zu den Großen hinaufzuſchwingen.„
Bei jeder Unternehmung von einigem
Umfange, rechne ja nicht darauf, daß deine
Operazionen eben ſo in grader Linie fort-
ſchreiten werden, wie du ſie in deinem
Kopfe oder auf dem Papiere entworfen
haſt. Die meiſten Schwierigkeiten und Hinder-
niſſe pflegen ſich erſt waͤhrend der Ausfuͤhrung zu
zeigen. Unſere zuſammengeſezten Handlungen
gleichen einer Waſſerfahrt, bei der man nie ganz
in grader Linie faͤhrt, ſondern oft von Wind und
Wogen gezwungen, zur Seite lenken, oder auf die
langweiligſte Weiſe laviren, oder wohl gar eine
Zeitlang vor Anker liegen muß. Es iſt aber dem
jungen Steuerman gut, daß er dis zum voraus
wiſſe, um darauf gefaßt zu ſein.
Wilſt du irgend etwas unternehmen,
wozu du der Unterſtuͤzung und Mitwir-
kung mehrerer Menſchen bedarfſt, ſo rechne
nichts auf die Bewegungsgruͤnde, die du
Q 3von
[246]von Seiten der Religion oder von Seiten
der Pflicht zur Menſchenliebe, der Pflicht,
etwas fuͤr das Ganze zu thun, hernehmen
koͤnteſt; ſuche vielmehr deinen Plan ſo an-
zulegen, daß diejenigen, die ihm beitreten
ſollen, ihren eigenen perſoͤnlichen Vortheil
darin wahrnehmen moͤgen. Haſt du es be-
ſonders mit Koͤnigen und Fuͤrſten zu thun, ſo ſei
nicht ſo albern, ihnen irgend einen andern Be-
wegungsgrund vorzuhalten, als den, welcher
von der Vergroͤſſerung ihrer Finanzen und ihrer
Macht hergenommen iſt. Denn bei dieſen iſt
insgemein ſogar die Eitelkeit der Vergroͤſſerungs-
begierde untergeordnet. Was aber diejenigen
Zeiten betriſt, in welchen man gemeinnuͤzige Sa-
chen aus religioͤſen Bewegungsgruͤnden unter-
nahm oder befoͤrderte: ſo mußt du wiſſen, daß
ſie laͤngſt voruͤber ſind, und daß man heutiges
Tages demjenigen, der den Leuten von dieſer
Seite etwas Mildthaͤtiges abgewinnen wil, ins
Angeſicht zu lachen pflegt. Das Zeitalter, worin
wir jezt leben, hat einen ganz andern Karakter;
denn ob es gleich nicht das goldene iſt, ſo darf
man
[247] man doch kuͤhnlich behaupten, daß es das
Zeitalter des Goldes ſei.
Suche daher durch Sparſamkeit und
Fleiß deine aͤuſſerlichen Umſtaͤnde ſo bluͤ-
hend, als moͤglich, zu machen. Denn erſt-
lich iſt es leider! nur alzuwahr, daß man in der
meiſten Menſchen Augen nur grade ſo viel iſt, als
man beſizt. *) Nun kan es uns zwar in vielen,
aber doch bei weitem nicht in allen Faͤllen, gleich-
guͤltig ſein, was die Narren von uns denken;
es iſt vielmehr zuweilen gut, auch bei ihnen von
einigem Gewicht zu ſein, und dieſes Gewicht gibt
uns das Geld. Aber es iſt auch gut, von keinen
Nahrungsſorgen gequaͤlt zu werden! Es iſt auch
Q 4gut,
[248] gut, einen Nothpfennig fuͤr unvorhergeſehene,
gewiß nicht ausbleibende Nothfaͤlle zu haben!
Es iſt endlich auch gut, Ueberfluß zu beſizen, um
den Hungrigen ſpeiſen, den Nakten kleiden, dem
Sinkenden unter die Arme greifen, dem empor-
ſtrebenden Anfaͤnger die Hand bieten, und hundert
gute gemeinnuͤzige Sachen unternehmen zu koͤn-
nen, zu deren Ausfuͤhrung Geld erfodert wird.
Sei alſo ſparſam und haushaͤlteriſch, aber ohne
Knikkerei; erwerbſam und ſpekulativ, aber ohne
gierige Habſucht, Kniffe und Ungerechtigkeit,
freigebig ohne Verſchwendung, großmuͤthig ohne
Pralerei!
Nichts ſei dir wichtiger, als deinen
Kredit in Geldſachen zu erhalten: denn es
komt die Zeit, da du ſeiner bedarfſt; und kaͤme
ſie auch nie, ſo iſt doch dein moraliſcher Kredit ſo
genau damit verbunden, daß er allemahl mit
jenem ſteigt und faͤlt. Fuͤr den groͤßten Haufen
der Menſchen iſt man ſchon ein braver Man,
wenn man nur ein richtiger Zahler iſt, und alle
andere Tugenden, verbunden mit allen moͤglichen
Talenten,
[249] Talenten, koͤnnen uns nicht vor der Verachtung
ſchuͤzen, wenn wir es in dieſem einzigen Stuͤkke
an Zuverlaͤſſigkeit und an einer puͤnktlichen Ge-
nauigkeit fehlen laſſen. Ich fuͤr mein Theil habe
mir daher von Jugend auf zur Regel gemacht,
alles, was ich zu bezahlen hatte, wo moͤglich,
noch vor dem Zahlungstermin zu entrichten; nie
etwas zu kaufen, ohne erſt ſorgfaͤltig zu erwaͤgen,
ob meine Kaſſe auch nicht zu kurz kommen wuͤrde;
und lieber einen ſich darbietenden großen Vortheil
fahren zu laſſen, als mich der Gefahr auszuſezen,
an einem Zahlungstage nicht bei Gelde zu ſein.
Und, glaube mir, mein Sohn, ich habe mich bei
der Beobachtung dieſer Regel immer wohl be-
funden.
Wird dir fremdes Eigenthum, oder gar
eine Kaſſe anvertraut: betrachte ſie als
ein Heiligthum, welches eigenmaͤchtig
anzugreifen dir unter keinerlei Umſtaͤnden
jemahls erlaubt iſt, wenn du dich nicht der
groͤßten Gefahr ausſezen wilſt, deinen ehr-
lichen Nahmen, oft auch deine Freiheit
Q 5und
[250]und deine ganze irdiſche Gluͤkſeeligkeit zu
verſcherzen. Denke nicht: ich werde an dem
oder dem Tage ſo oder ſo viel einzunehmen haben,
und kan daher meiner Kaſſe das daraus Ent-
lehnte vor der Ablieferungszeit wieder erſezen.
Denn auch die allerſicherſten Geldzufluͤſſe gerathen
oft durch einen ſonderbaren und ganz unerwar-
teten Zufal ins Stokken, und ſelbſt die ehrlichſten
und reichſten Leute laſſen uns zuweilen, entweder
aus Vergeſſenheit, oder aus Unvermoͤgen, wider
alle unſere Erwartung ploͤzlich im Stiche. Wehe
dem, der dieſe Erfahrung erſt dan macht, wan
er ſie mit dem Verluſte ſeines ehrlichen Nah-
mens und ſeiner Gluͤkſeeligkeit erkaufen muß!
Frage auf den Feſtungen und in den Gefaͤngniſſen
nach, und man wird dir uͤberal lebendige Beiſpiele
ſolcher Ungluͤklichen zeigen, welche ihren Unver-
ſtand zu ſpaͤt beſeufzen.
Alle deine Vertraͤge, Zuſagen und Ver-
bindungen mache ſo beſtimt und plan als
moͤglich, und, wenn es immer geſchehen
kan,
[251]kan, ſchriftlich. Ueberdenke dabei mit aller
Aufmerkſamkeit und Ueberſicht, deren du nur
faͤhig biſt, jeden moͤglichen Fal, wobei ſich Mis-
verſtaͤndniſſe und Irrungen ereignen koͤnten, um
ihnen vorzubauen. Die Menſchen ſind ſo geneigt,
Vertraͤge jeder Art hintennach zu ihrem Vortheile
auszulegen, und entweder mehr zu fodern, als
wir ihnen, oder weniger zu leiſten, als ſie uns
verſprochen haben, daß man die Behutſamkeit
hierin nicht leicht zu weit treiben kan. Auch vergiß
nicht, dir bei jeder Auszahlung die gehoͤrigen
Quitungen ausfertigen zu laſſen. Dieſe verwahre
ſorgfaͤltig, um am Ende eines jeden Jahrs ein
beſondres Buͤndel daraus zu machen, und ſie als-
dan — nicht zu verbrennen, ſondern in einem
dazu beſtimten Archive fuͤr immer aufzuheben.
Dieſe Vorſicht hat mich mehr, als einmahl, vor
betraͤchtlichem Schaden geſchuͤzt.
Haſt du die Wahl, dir einen Standort
in der menſchlichen Geſelſchaft auszuſuchen:
ſo waͤhle, rathe ich, den, auf dem du zu
einer
[252]einer nuͤzlichen Geſchaͤftigkeit der Mitwir-
kung anderer Menſchen am fuͤglichſten ent-
behren kanſt. Je einfacher deine Verhaͤltniſſe
ſein werden, und je weniger du in deiner Wirk-
ſamkeit mit andern Menſchen zuſammentreffen
wirſt: deſto ruhiger wird auch deine Lage ſein,
und deſto ſicherer wirſt du fuͤr den Erfolg deiner
Arbeiten ſtehen koͤnnen.
Ueberhaupt, mein Sohn, ſuche ſo un-
abhaͤngig zu werden, als es bei der der-
maligen Lage der Menſchheit moͤglich iſt.
Dazu aber wird vornehmlich erfodert, daß du
deine Beduͤrfniſſe auf alle Weiſe zu vermindern,
und dir Talente zu erwerben ſucheſt, welche dir
deinen Unterhalt — von der Menſchen Gunſt
und Ungunſt unabhaͤngig — erwerben koͤnnen.
Dan darfſt du dein Haupt frei empor richten,
brauchſt vor niemand zu kriechen, und niemand
wird es auch von dir verlangen. Unabhaͤngig-
keit! O wuͤßteſt du ſchon jezt, welch mannig-
faltiges Gluͤk durch dieſes einzige Wort, welch
mannig-
[253] mannigfaltiges Elend durch das Gegentheil deſ-
ſelben ausgedruͤkt wird, du wuͤrdeſt nicht eher
ruhen noch raſten, bis du dir recht große aus-
gebreitete Verdienſte erworben, und deine Be-
duͤrfniſſe bis auf die wirklichen Nothwendigkeiten
der Natur vereinfacht und eingeſchraͤnkt haͤtteſt!
Endlich, mein Kleon, laß mich noch zulezt
einen Punkt beruͤhren, der die Klippe iſt, an
welcher die Wohlfahrt der meiſten jungen Leute
zu ſcheitern pflegt. Ich meine den Umgang
mit dem Frauenzimmer.
Das ſicherſte fuͤr einen jungen Menſchen ohne
Erfahrung, ohne Weltkentniß und ohne tief ein-
gewurzelte Grundſaͤze der Ehre und der Tugend,
waͤre freilich, ſich dieſem, ſeiner Unſchuld und ſei-
nem Wachsthum an Volkommenheit gefaͤhrlichen
Geſchlechte, bis auf die Zeit, da er die Freundin
und Gefaͤhrtin ſeines Lebens waͤhlen ſol, ganz
und gar zu entziehen. Aber zum Ungluͤk iſt kein
ander Mittel vorhanden, Erfahrung, Welt- und
Menſchenkentniß zu erlangen, als grade dieſes
einzige,
[254] einzige, ſich in die Schule dieſer gefaͤhrlichen Lehr-
meiſterinnen zu begeben. Denn ſie ſind es, und
nur ſie allein, welche das Hoͤkkerichte in unſern
aͤuſſerlichen Sitten abzuhobeln, das Rauhe zu
glaͤtten, und unſerm ganzen Weſen denjenigen
[Weltfirniß] anzuſtreichen wiſſen, ohne welchen die
liebenswuͤrdigſten Tugenden verkant, die groͤßten
Verdienſte vernachlaͤſſiget werden. Sie ſind es,
durch welche wir mit unſerm eigenen Geſchlechte,
faſt moͤgt’ ich ſagen, mit uns ſelbſt, erſt recht be-
kant werden, weil ſie ſowohl mehr Intereſſe da-
bei haben, ſich in die verſchloſſenen Maͤnnerherzen
einzuſchleichen, als auch mehr Gelegenheit und
mehr natuͤrliche Geſchiklichkeit dazu. Sie ſind
es endlich, welche ſich das Monopolium des Lobes
und des Tadels, des guten und boͤſen Rufes in
der Geſelſchaft angemaßt haben, und es dergeſtalt
auszuuͤben wiſſen, daß unſer guter Nahme mit
dem Grade ihres Beifals allezeit im genaueſten
Verhaͤltniß ſteht. Man kan alſo ihrer nun ein-
mahl nicht entbehren, muß nun einmahl ihnen
zu gefallen ſuchen; und die Frage iſt alſo blos:
wie man es anzufangen habe, um aus ihrer Ge-
ſelſchaft
[255] ſelſchaft Vortheil zu ziehen, ohne dabei Gefahr
zu laufen, ſein Wachsthum an Volkommenheit,
ſeine Tugend, ſeine Geſundheit, und die Zufrie-
denheit ſeines ganzen Lebens aufzuopfern? Ver-
nim denn auch hieruͤber meinen beſten Rath,
und laß ihn dir, wenn du deine eigene Wohlfahrt
liebſt, ja immer heilig bleiben!
Erſtlich muͤſſe es deine vorzuͤglichſte
Sorge ſein, mit keinem andern Frauen-
zimmer jemahls in geſelſchaftliche Verbin-
dung zu gerathen, als mit ſolchen, welche
im ſtrengſten Verſtande ehrliebend, ſitſam
und durchaus von unbeſcholtenem Rufe
ſind. Achte aber vornemlich auf das Leztere;
denn die erſten beiden Eigenſchaften koͤnnen oft-
mahls Blendwerk ſein, die leztere unweit ſeltener,
hoͤchſtens nur in ſo fern, daß auch die Ausſchwei-
fende, wenn ſie dabei liſtig genug iſt, ihren guten
Nahmen eine Zeitlang vielleicht noch zu erhalten
weiß, ſchwerlich aber in ſo fern, daß auch dieje-
nige, deren Sitſamkeit oͤffentlich bezweifelt wird,
jemahls ganz ſchuldlos ſein ſolte. Nim viel-
mehr, bis zu eigener Erfahrung, als eine zuver-
laͤſſige
[256] laͤſſige Beobachtung an: daß ein Frauenzimmer,
deren Ruf einmahl beflekt worden iſt, ſelten ganz
unſchuldig war, und wenn auch alles, was
das Geruͤcht ihr nachſagt, durchaus erlogen waͤre.
Einem wirklich ſitſamen und tugendhaften Weibe
blikt die Reinigkeit des Herzens auf eine ſo un-
verkenbare Weiſe aus Augen, Mienen, Gebehr-
den, Kleidung und Anſtand hervor, daß auch
die entſchloſſenſte Verlaͤumderin nicht das Herz
hat, einen Schatten von Verdacht gegen ſie zu
erregen. Oder haſt du je gehoͤrt, daß man gegen
die Sitſamkeit der C. in W., oder der R. in H.
ſich nur den leiſeſten Zweifel zugefluͤſtert haͤtte?
Niemahls! Und doch ſind beide nichts weniger,
als Pruͤden; und doch haben beide wohl eine
eben ſo glatte und durchſichtige Haut, wohl eben
ſo viel Annehmlichkeiten des Geiſtes, als andere!
Aber warum erlaubt man ſich ſolche Zweifel gegen
die Tugend der X. Y. Z.? Etwa, weil man
etwas Unanſtaͤndiges von ihnen geſehn oder in
Erfahrung
[257] Erfahrung gebracht hat? Keinesweges! Man
ſchließt nur: ein Frauenzimmer, das da weiß,
daß man von dieſer oder jener an ſich ſelbſt un-
ſchuldigen Freiheit Anlaß zum Verdachte nehmen
werde, und ſich dieſe Freiheit dennoch erlaubt,
muß ſich wahrſcheinlicher Weiſe in einem leiden-
ſchaftlichen Zuſtande befinden. Und ich wil be-
haupten, daß dieſer Schluß in den meiſten Faͤllen
richtig ſei. Denn zu ſagen, daß ein ſolches
Frauenzimmer, vielleicht aus einer beſondern
Staͤrke der Sele, ſich uͤber den aͤuſſerlichen Kling-
klang der Ehrbarkeit und uͤber das Gerede der
Leute wegzuſezen wage, oder aus gaͤnzlicher Rei-
nigkeit des Herzens ſich ganz und gar nicht ein,
kommen laſſe, daß ſie in Verdacht gerathen
koͤnne, heißt, die zarte Empfindlichkeit dieſes Ge-
ſchlechts gegen Lob und Tadel, heißt den eigenen
immer regen Argwohn deſſelben in Dingen dieſer
Art, ſchlecht kennen. Nein, mein Sohn, ein
RFrauen-
[258] Frauenzimmer kan gegen ihren guten Ruf nie
gleichguͤltig werden, bis ſie weiß, daß er nun doch
einmahl unwiederbringlich verloren ſei; und die
engelreinſte weibliche Unſchuld kan nie ſo ſorglos
werden, daß ſie aus bloßer Unbedachtſamkeit ein
Betragen annaͤhme, welches ihr Daſein zweifel-
haft machen koͤnte. Diejenige alſo, welche Ver-
dacht erwekte, hat in den meiſten Faͤllen ihn auch
verdient, in einem gewiſſen Grade wenigſtens ihn
verdient; und ſie gehoͤre daher auch nicht zu denen,
welchen du eine vorzuͤgliche Achtung und Aufmerk-
ſamkeit erweiſen mußt.
Zweitens: erfuͤlle dein Herz mit einem
tiefen lebendigen Abſcheu gegen alle die
ſchamloſen, frechen und unverſchaͤmten
Dirnen und Weiber, welche in ihren
Blikken, Mienen, Anzuge, Reden und
Handlungen das Schild der Unzucht aus-
haͤngen, und wohl gar ſo weit gehen, es
recht
[259]recht gefliſſentlich darauf anzulegen, der
Unſchuld tauſend verfuͤhreriſche Falſtrikke
zu legen, um ſie ins Verderben zu ziehen.
Ein ſolcher tief eingepraͤgter Abſcheu kan allein
dich retten, wan deine Vernunft erliegen wuͤrde;
dieſer wird ſich aber deiner jungen Sele zuver-
laͤßig einpraͤgen, wenn du jezt auf meine Ver-
ſicherung glaubſt, was du kuͤnftig an tauſend un-
gluͤklichen jungen Schlachtopfern der Wolluſt mit
Augen ſehen wirſt, daß die laſterhafte Vertrau-
lichkeit mit ſolchen Schandflekken der Menſch-
heit fuͤr die Geſundheit des Leibes und der Sele
gleich zerſtoͤrend iſt, indem das ganze Nerven-
ſiſtem dadurch geſchwaͤcht und zerruͤttet, ein in
ſeinen Wirkungen ſchrekliches, und uͤber kurz oder
lang in die ſchaͤndlichſten und verderblichſten
Seuchen ausbrechendes Gift dem ganzen Koͤrper
mitgetheilt, jede aufbluͤhende Kraft des Juͤng-
lings in ihrer Wurzel angefreſſen, ſein Verſtand
R 2und
[260] und ſein Gedaͤchtniß zuſehends geſchwaͤcht, ſeine
Einbildungskraft verunreiniget, ſein Muth ge-
laͤhmt, ſeine ganze Sele entmant, und die Zufrie-
denheit ſeines ganzen Lebens auf immer zernichtet
wird. Das ſind ſchrekliche Folgen, mein Sohn!
Wer kan davon benachrichtiget ſein, ohne davor
zuruͤkzuſchaudern?
Und doch — vergib, du Theurer, wenn dein
Herz durch meine vielleicht zu weit getriebene Be-
ſorgniß ſich beleidiget fuͤhlt! Und doch, wenn ich
alle die Reizungen und Verſuchungen zur Unzucht,
denen du entgegen gehſt, wenn ich die Macht des
algemeinen Beiſpiels, die Zuͤgelloſigkeit der heutigen
Sitten, den unbegreiflichen Leichtſin, mit welchem
man uͤber Schandthaten dieſer Art ſelbſt in der
beſſern Geſelſchaft zu ſcherzen pflegt, wenn ich
die Wirkungen reizender Speiſen und Getraͤnke,
die Ueberraſchungen unvorhergeſehener ſtarker
Verſuchungen, und alle die teufliſchen Verſuͤh-
rungs-
[261] rungskuͤnſte ausgelernter Buhlerinnen erwaͤge:
o ſo bebt mir das Herz vor aͤngſtlicher Beſorgniß,
und ich moͤgte aufſpringen, dich ergreifen und feſt
halten, damit du mit keinem Fuße eine Welt be-
traͤteſt, wo das Laſter, wie eine Schlange, unter
Blumen liegt, und das Verderben, unter der
Larve der Freude tanzend, dem unvorſichtigen
Juͤngling auflauert, um ihn in den tiefſten Ab-
grund hinabzuſtoßen! Aber meine Arme ſinken;
bald werden ſie im Grabe liegen: was wuͤrd’ es
denn helfen, dich bis dahin feſt zu halten? Ein-
mahl muͤßteſt du der Gefahr, welche deiner wartet,
doch entgegen gehn. Geh alſo, mein Einziger,
aber bewafne dich vorher mit allem, was Ver-
nunft und Religion uns zum Schuze darbieten;
geh, aber vergiß nicht, daß der erſte Schrit zum
Laſter der lezte auf der Bahn der Tugend und der
wahren Gluͤkſeeligkeit iſt!
R 3Aber
[262]
Aber bei dieſer Warnung vor dem Abſchaum
der Menſchheit und vor groben thieriſchen Aus-
ſchweifungen darf ich es nicht bewenden laſſen,
wenn ich dir nicht die Haͤlfte der Gefahr, welche
deiner Gluͤkſeeligkeit droht, verhelen wil. Wiſſe
alſo, daß auch der Umgang mit wirklich tugend-
haften Frauenzimmern fuͤr deine Unſchuld und fuͤr
dein Wohlergehn gefaͤhrlich werden kan, ſobald
du die Schranken der Hochachtung oder einer ehr-
erbietigen Freundſchaft uͤberſchreiteſt, und ſolchen
Empfindungen Raum gibſt, welche allein das
Band der Ehe heiligen und fuͤr unſern Wachs-
thum an Volkommenheit und Gluͤkſeeligkeit wohl-
thaͤtig machen kan. Glaube die Verſicherung
eines Mannes, der einen anſehnlichen Theil
ſeines Lebens dazu angewandt hat, die Natur
des Menſchen zu beobachten und zu merken,
was ihr nuͤzlich und was ihr ſchaͤdlich werden
kan; die Verſicherung: daß auch die reinſte
und
[263]und unſchuldigſte Liebe fuͤr die Sele eines
Juͤnglings, dem Alter und Gluͤksumſtaͤnde
noch nicht vergoͤnnen, die ehelige Gefaͤhr-
tin ſeines Lebens zu waͤhlen, ein verderb-
liches Gift ſei, welches ſie entnervt, wel-
ches jeden Keim des Guten in ihr erſtikt,
ſie unluſtig und unfaͤhig zu jeder edlen
Anſtrengung und zur Erwerbung ruͤhmli-
cher Verdienſte macht. Oder meinſt du etwa,
daß mein Alter und meine Grundſaͤze mich zu einer
ungebuͤhrlichen Strenge in der Sittenlehre ver-
leiten: ſo hoͤre das Zeugniß eines Mannes, von
dem wohl keiner eine Uebertreibung in Urtheilen
dieſer Art erwarten wird. “Sogar die unſchul-
digſte Liebe, diejenige, welche in jungen enthu-
ſiaſtiſchen Selen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſam-
men zu ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes
Gift bei ſich, deſſen Wirkungen um deſto gefaͤhr-
licher ſind, weil es langſam und durch unmerk-
R 4liche
[264]liche Grade wirkt.„ So ſagt Wieland, einer
der ſcharfſinnigſten Kenner des menſchlichen Her-
zens, und mit ihm die Erfahrung.
Wilſt du nun der Vortheile genieſſen, die ein
ehrbarer Umgang mit geſitteten Frauenzimmern
gewaͤhren kan, ohne dabei Gefahr zu laufen, an
Herz und Geiſt verdorben zu werden: ſo wiſſe,
daß du dieſe Abſicht nicht anders, als durch eine
puͤnktliche Beobachtung folgender Regeln, er-
reichen werdeſt:
1. Bleibe ſtets in den Schranken einer
ehrerbietigen Achtung gegen ſie, auch dan
noch, wan deine Bekantſchaft mit ihnen
ſchon zu einer Art von Freundſchaft gedien
waͤre; und vermeide in deinen Reden und
Handlungen mit der groͤßten Sorgfalt
alles, was zu einer unanſtaͤndigen Ver-
traulichkeit Anlaß geben koͤnte.
2. Huͤte
[265]
2. Huͤte dich, jemahls muͤndlich oder
ſchriftlich den Ton einer empfindſamen
Zaͤrtlichkeit mit ihnen anzuſtimmen; feſt
uͤberzeugt, daß die geiſtige Selenliebe zwi-
ſchen jungen Perſonen von verſchiedenem
Geſchlechte uͤber kurz oder lang ſich in die
groͤbſte und ſchaͤndlichſte Sinlichkeit aufzu-
loͤſen pflegt.
3. Wirſt du aber dennoch einen beſon-
dern Hang zu einer Perſon weiblichen
Geſchlechts bei dir gewahr: ſo vermeide
doch ja jede Gelegenheit, mit ihr allein zu
ſein, vornehmlich aber jede Gelegenheit zu
irgend einer Beruͤhrung ihres Koͤrpers,
weil das Feuer der Wolluſt in dieſem Stuͤk
dem elektriſchen Feuer gleicht, welches hervor-
praſſelt, ſo bald der elektriſierte Koͤrper ange-
ruͤhrt wird.
R 54. Huͤte
[266]
4. Huͤte dich vor dem gewoͤhnlichen Ir-
thume vieler gutartigen jungen Leute,
welche mit dem feſten Vorſaze, der Tu-
gend immer treu zu bleiben, ſich die erſten
voͤllig unſchuldig ſcheinenden Grade einer
leidenſchaftlichen Zaͤrtlichkeit zu erlauben
kein Bedenken tragen, weil ſie in dem
irrigen Wahne ſtehn, daß es ja nur von
ihnen abhaͤnge, es dabei bewenden zu
laſſen, und nie weiter darin zu gehn, als
Tugend und Ehrbarkeit es geſtatten. Das
heißt, die Natur des menſchlichen Herzens, das
heißt, den unaufhaltbaren Fortſchreitungstrieb einer
Leidenſchaft ſchlecht kennen; das heißt, ſich von
einer jaͤhen Anhoͤhe herabſtuͤrzen, weil man es
in ſeiner Gewalt zu haben glaubte, nicht tiefer zu
fallen, als man fallen wolte. Betrogener Juͤng-
ling! Woher kaͤme dir die Kraft, dich ſchwe-
bend in freier Luft zu erhalten? Glaube mir,
dieſe
[267] dieſe Leidenſchaft wil, wie jede andere, in der
Geburt erſtikt ſein, wenn ſie nicht in kurzer Zeit
uns uͤber den Kopf wachſen und mit unſerm Ver-
ſtande davon laufen ſol. Principiis obſta!
5. Arbeitſamkeit, Maͤßigkeit und Nuͤch-
ternheit ſind das einzige ſichere Verwah-
rungsmittel dagegen, ſo wie Muͤſſiggang,
Unmaͤßigkeit und hizige Getraͤnke ganz
unfehlbar zu den ſchaͤndlichſten Ausſchwei-
fungen fuͤhren. Siehe da, mein Sohn, Ar-
zenei auf der einen, und Gift auf der andern
Seite: kan es dir zweifelhaft ſein, wornach du
greifen muͤſſeſt?
6. Unzuͤchtige Bilder und Buͤcher, wo-
von die Haͤuſer der Reichen und die Buͤcher-
ſaͤle der Wolluͤſtlinge wimmeln, ſind Werk-
zeuge der Hoͤlle, verfertiget von teufliſchen
Menſchen,
[268]Menſchen, um die Einbildungskraft junger
Selen zu beflekken, und ihnen ihr koſtbar-
ſtes, durch nichts zu erſezendes Kleinod,
die Unſchuld, zu rauben. Bewafne dich
dagegen mit einem tiefen herzlichen Abſcheu, da-
mit deine Augen nie dabei verweilen, damit deine
Sele nie dadurch beſudelt werden moͤge!
7. Endlich, mein Sohn, laß dir nicht
blos deine eigene, ſondern auch die Un-
ſchuld anderer Menſchen, beſtaͤndig heilig
ſein. Bedenke, was es auf ſich habe, eine
Quelle zu truͤben, die, einmahl verunreiniget,
in ihrem Ablauf immer unrein bleiben, und un-
rein ſich ins Meer der Ewigkeit ergießen wird!
Wehe dem Ungeheuer, welches recht gefliſſentlich
es darauf anzulegen, aber wehe auch dem Leicht-
ſinnigen, welcher durch verfuͤhreriſche Worte,
Blikke, Gebehrden und Handlungen nur etwas
dazu
[269] dazu beizutragen ſich erlaubt! Es waͤre beiden
beſſer, nie gebohren zu ſein.
Und nun, mein Guter — fuhr hierauf
Theophron fort, indem er aufſtand, und ſeinem
Sohne die Hand reichte — glaub’ ich, dir den
Weg, den du wandeln mußt, mit den meiſten
ſeiner Abwege und ſchluͤpfrigen Stellen, deutlich
genug bezeichnet zu haben. Denn was dir ſonſt
noch etwa zu wiſſen noͤthig iſt, hab’ ich dir aus
einem Buche abgeſchrieben, wo es zu zerſtreut
und mit zu vielen andern minder zwekmaͤßigen
Vorſtellungen vermiſcht lag, als daß ich dich
darauf haͤtte verweiſen koͤnnen. Laß uns nun-
mehr beide, geſtaͤrkt durch die freudige Hofnung
des Wiederſehns in einem Lande, wo ewiger
Friede und volkomnere Gluͤkſeeligkeit unſer red-
liches Beſtreben nach Tugend und Rechtſchaffen-
heit lohnen werden, unſern Weg antreten; du,
mein
[270] mein Theurer, den durchs Leben; und ich — o
wuͤnſche mir Gluͤk zur Vollendung meiner Wan-
derſchaft! — den Weg zum Grabe.
Kleon lag bei dieſen Worten in ſeinen Armen,
und ſchluchſte laut; indes der Greis in ſtiller
Wehmuth ſeine Augen gen Himmel richtete, und
den Liebling ſeines Herzens, von dem er ſich nun
trennen ſolte, der alwaltenden goͤtlichen Vor-
ſehung uͤbergab.
Erziehungskunſt auf der Univerſitaͤt Halle.
Abzugeben auf dem
koͤnigl. ſchwediſchen Poſtkomtoir zu
in Hamburg. Trittow.
thaten aufzaͤhlt, welche der Himmel ihm waͤh-
rend ſeines Lebens erwieſen, rechnet er vor-
nehmlich auch dieſes hinzu, daß er ihn be-
wahrt habe, — ein ſchoͤner Geiſt zu werden.
“Den Goͤttern habe ich es zu verdanken,
ſagt er, daß ich in der Rhetorik, der Poeſie,
und in andern aͤhnlichen Studien keine
groͤſſere
Kuͤnſte wuͤrden mich, waͤre ich gluͤklicher
darin geweſen, gar ſehr verſtrikt haben.„
Cicero nur den Dichtern macht, recht eigentlich
mit gebuͤhrt: Videsne, poetae quid mali afferant?
Lamentantes inducunt fortiſſimos viros; molliunt
animos noſtros; ita ſunt deinde dulces, ut non
legantur modo, ſed etiam ediſcantur. Sic ad
malam domeſticam diſciplinam, vitamque um-
bratilem et delicatam quum acceſſerunt etiam
poetae, nervos omnis virtutis elidunt. Recte igitur
a Platone educuntur ex ea civitate, quam finxit
ille, quum mores optimos et optimum rei pu-
blicae ſtatum exquireret. Tuſc. quaeſt. Lib. 2.
welche damahls, da dieſer Aufſaz zum erſten-
mahl gedrukt ward, ſo großes Geraͤuſch machte,
hat ihre kurze Rolle ſeitdem ſchon ausgeſpielt
und iſt wieder abgetreten.
Gebrauch der Wilden mehr eine lebhafte Be-
gierde ſich zu verſchoͤnern, als ein phiſiſches
Beduͤrfniß zum Grunde hahe.
er: Tugend und Gelehrſamkeit haben, gleich
dem Golde, ihren innern Werth. Werden
ſie aber nicht abgepuzt, ſo verlieren ſie gewiß
ein Großes von ihrem Glanze, und ſelbſt
abgeſchliffenes Erz wird mehr Liebhaber fin-
den, als rohes Gold.
die auch der Muthwilligſte ehrt. Ungeſit-
tetes ladet auch die Schuͤchternſten ein, und
berechtiget ſie, ſich mauſig zu machen.
Cheſterfield.
“Haſt du Wiz, ſo bediene dich deſſen, um
zu gefallen, nicht aber um zu ſchaden! Du
darfſt wohl hervorſchimmern, aber wie die
Sonne in den gemaͤßigten Zonen, ohne zu
verſengen. Dort iſt ſie erwuͤnſcht; unter
der Linie fuͤrchtet man ſich vor ihr.„
Cheſterfield.
Selen ſich gleich beim erſten Blik erkennen,
und durch eine gegenſeitige Simpathie un-
widerſtehlich zu einander hingezogen werden,
ſind eine ſo ſeltne Ausnahme, daß ſie der
Algemeinheit der Regel wenig Eintrag thun;
und da, wo ſie wirklich ſtat finden, weiß das
Herz von ſelbſt, wie es ſich zu nehmen hat,
und bedarf weiter keines Unterrichts.
Schulden zu bezahlen hat, und es daher
ſeinem Vorgaͤnger an Mildthaͤtigkeit nicht
gleich thun kan, ſagte neulich hieruͤber fol-
gende, ſeinem Verſtande und Herzen Ehre
machende Worte: “ehe ich wohlthaͤtig
ſein darf, muß ich erſt die Pflichten eines
ehrlichen Mannes erfuͤllen.„
“Je groͤſſer die Rolle iſt, die wir ſpielen,
je mehr wir durch das Verhaͤltniß, welches
uns
uns Stand, Beruf und Talente gegen die
Geſelſchaft geben, dem oͤffentlichen Auge
ausgeſezt ſind, deſto gewiſſer duͤrfen wir dar-
auf rechnen, daß wir von der groͤſſern Zahl
weder Gerechtigkeit noch Nachſicht zu er-
warten haben. Tauſend Augen ſind in kei-
ner andern Abſicht auf uns geheftet, als um
Fehler an uns zu finden, und wehe dem,
der nicht die Klugheit hat, wie Alcibiades,
zuweilen eine Thorheit zu ſagen oder zu thun,
um den Genius der Verlaͤumdung durch ein
freiwilliges Opfer zu beſaͤnſtigen! Wehe
dem, der ihn durch die ſorgfaͤltigſte Bemuͤ-
hung, gar nicht zu fehlen, zu beſaͤnftigen
hoft! Der weiſeſte, der tugendhafteſte, der
tadelfreiſte Man, ſagt Plato, waͤre grade
derjenige, gegen den ſich endlich die ganze
Welt zuſammen verſchwoͤren wuͤrde — und
niemahls, goͤtlicher Plato, haſt du eine groͤſ-
ſere Wahrheit geſagt!„
Wieland.
er einen Unbekanten nennen hoͤrte, ſogleich die
Frage aufzuwerfen pflegte: wie viel hat er?
und wenn die Antwort diſſeits hundert tauſend
Thaler fiel, niemahls ermangelte hinzuzu-
ſezen: der Kerl iſt ein Hundsfot! Was
dieſer Unhold ſprach, das denken andere,
nur vielleicht nicht ganz ſo grob. Tanti mihi
es, quantum poſſides.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjrq.0