[][][][][][][[I]]
Spreeland.
Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow.
[[II]][[III]]
Wanderungen durch die Mark Brandenburg.

Vierter Theil.

Spreeland.
Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow.


Berlin.:
Verlag von Wilhelm Hertz.
(Beſſerſche Buchhandlung.)

1882.

[[IV]][[V]]

Vorwort.


Wie ſich Band II und III der Oder und Havel zuwendet, ſo
wendet ſich dieſer IV. Band der Spree zu, dem Laufe des Fluſſes
von Oſt nach Weſten hin folgend.


In dem der Lauſitz angehörigen Spreewalde beginnend,
verweilt Band IV, nach einem kurzen Abſtecher ins Beeskow-
Storkowſche
, zu größrem Theil auf jener nur wenige Meilen
meſſenden Strecke, wo die Spree die Grenze zwiſchen dem Barnim
und dem Teltow zieht und ſchildert hier eine nicht unbeträchtliche
Zahl der im öſtlichen Halbkreis um Berlin herum gelegenen Ort-
ſchaften. Und ſo wird ſich auch in Bezug auf dieſen vierten
Band ſagen laſſen, daß ſich der Inhalt deſſelben in allem Weſent-
lichen ſeinem Titel anſchließt. Als Ausnahme könnte nur der
Schluß-Abſchnitt „An der Nuthe“ gelten, aber auch dieſer mehr
dem Schein als der Wirklichkeit nach, inſoweit die Nuthe vor-
wiegend einen Spreeland’s-Charakter hat, vorwiegend unſern
Spree-Territorien angehört, und erſt im letzten Moment ihren
bis dahin ausſchließlich nordwärts gerichteten Lauf in plötzlich
nordweſtlicher Biegung zu Gunſten der Havel abändert, faſt
als wär ihr die Spree, nachdem dieſe Berlin paſſirt, nicht mehr
anheimelnd genug.


Die Kapitel auch dieſes IV. Bandes entſtanden zu ſehr ver-
ſchiedener Zeit, weshalb einige der älteren und älteſten einer ein-
gehenden Umarbeitung unterzogen wurden, allerdings immer nur
[VI] in dem Falle, daß etwas thatſächlich Neues geboten werden konnte,
wie beiſpielsweiſe bei Saalow, Friedrichsfelde (Gabriel Lucas
Woltersdorf) und Großbeeren. Am meiſten in dem Kapitel Buch,
wo die mittlerweile publicirten Tagebücher der Gräfin Voß, geb.
v. Pannewitz, einen völligen Umguß der alten Form erheiſchten.
Auf Hervorhebung blos baulicher Veränderungen, inſonderheit
wenn ſie das in den betreffenden Kapiteln Erzählte gar nicht
oder nur ſehr nebenſächlich berührten, hab’ ich meiſtens verzichtet
und immer nur angedeutet, daß dieſelben überhaupt ſtattgefunden
hätten. Ein Abweichen von dieſer Regel würde mich gezwungen
haben und auch in alle Zukunft weiter zwingen, immer neue
Control-Reiſen eintreten zu laſſen. Was ſich ſelbſtverſtändlich
verbietet. Es gilt eben auch hier wieder, was ich ſchon im Vorworte
zu Band III über dieſen Punkt geäußert habe. Die Dinge geben
ſich einfach ſo, wie ſie ſich mir zu dieſer oder jener ganz beſtimmten
Zeit darſtellten, weshalb ich denn auch vorhabe, falls eine neue
Auflage mir die Gelegenheit dazu bieten ſollte, jedem Einzelkapitel
ſeine beſondere Jahreszahl zu geben.


In einem Abſchiedswort am Schluſſe dieſes Bandes hab’ ich
noch einen Rückblick und in dieſem Rückblick eine Darlegung deſſen
verſucht, was dieſe „Wanderungen“ wollen und nicht wollen, und
bitt’ ich deshalb diejenigen meiner Leſer, die ſich für einen ſolchen
Rechenſchaftsbericht intereſſiren, auch dieſem Abſchiedswort ihre
Aufmerkſamkeit zuwenden zu wollen.


Berlin, 15. November 1881.


Th. F.


[[VII]]

Inhalt.


  • In den Spreewald.
  • Seite
  • In den Spreewald 3
  • Lübbenau 3
  • Lehde 6
  • „Die Leber iſt von einem Hecht“ 9
  • In Käthner Poſt’s Garten 11
  • Zwiſchen Spreewald und wendiſcher Spree.
  • Eine Oſterfahrt in das Land Beeskow-Storkow 17
  • Rauen und die Markgrafenſteine 18
  • Am Schermützel 25
  • Groß-Rietz 33
  • Bloſſin 43
  • Die wendiſche Spree.
  • An Bord der Sphinx 57
  • Vor Anker in Cöpenick 58
  • Von Cöpenick bis Dolgenbrod 65
  • Der Fiſcher von Kahniswall 68
  • Von Dolgenbrod bis Teupitz 76
  • An der Spree.
  • Schloß Cöpenick 89
  • Die Zeit des Kurprinzen Friedrich von 1682 bis 1688 95
  • Die Zeit Friedrich Wilhelms I.96
  • Seite
  • Die Zeit Henriette Marie’s von 1749 bis 1782 98
  • Die Zeit des Grafen Schmettau von 1804 bis 1806 101
  • Die Müggelsberge 107
  • Der Müggelſee 114
  • Rahnsdorf 118
  • Alexander Anderſſen, Fähnrich im 4. Ulanen-Rgt. 119
  • Friedrichsfelde 130
  • Friedrichsfelde bis 1700 131
  • Friedrichsfelde von 1700 bis 1731 (Markgraf Albrecht) 133
  • Friedrichsfelde von 1731 bis 62 (Markgraf Karl) 134
  • Friedrichsfelde von 1762 bis 85 (Prinz Ferdinand) 136
  • Friedrichsfelde von 1785 bis 99 (Herzogin Dorothea) 139
  • Friedrichsfelde von 1800 bis 10 (Prinzeſſin von Holſtein-Beck) 143
  • Friedrichsfelde von 1812 bis 16 (König von Sachſen) 146
  • Friedrichsfelde ſeit 1816 148
  • Ernſt Gottlieb Woltersdorf 151
  • Gabriel Lucas Woltersdorf 151
  • Ernſt Gottlieb Woltersdorf 154
  • Rechts der Spree.
  • Buch 165
  • Die Roebels 167
  • Julie von Voß 176
  • Falkenberg 187
  • Blumberg 189
  • Philipp Ludwig v. Canſtein 191
  • Johann v. Loeben und Frau v. Burgsdorf 193
  • Freiherr v. Canitz 199
  • Werneuchen 211
  • Schmidt von Werneuchen 219
  • Malchow. Eine Weihnachts-Wanderung 231
  • Paul v. Fuchs 238
  • Kienbaum 242
  • Links der Spree.
  • Eine Pfingſtfahrt in den Teltow 251
  • Königs-Wuſterhauſen 252
  • Teupitz 261
  • Mittenwalde 270
  • Klein-Machenow oder Machenow auf dem Sande 282
  • Groß-Beeren 291
  • Die Schlacht bei Großbeeren 292
  • Geiſt von Beeren 302
  • Berlin in den Tagen der Schlacht von Großbeeren 311
  • Löwenbruch 319
  • Friedrich Wilhelm Ludwig v. d. Kneſebeck 322
  • Seite
  • Schloß Beuthen 329
  • Saalow. Ein Kapitel vom alten Schadow 336
  • Groeben und Siethen.
  • Groeben und Siethen 355
  • Groeben und Siethen unter den alten Schlabrendorfs 356
  • Aus dem Groebener Kirchenbuch 357
  • Aufzeichnungen des Paſtors Joh. Thile I.358
  • Aufzeichnungen der Paſtoren Fr. Zander ꝛc. 360
  • Aufzeichnungen des Paſtors Redde 363
  • Groeben und Siethen unter den neuen Schlabrendorfs 369
  • Graf Heinrich Schlabrendorf 371
  • Graf Leo Schlabrendorf 376
  • Gräfin Emilie Schlabrendorf 380
  • Frau von Scharnhorſt 383
  • Johanna v. Scharnhorſt 386
  • Groeben und Siethen jetzt 396
  • Groeben jetzt 397
  • Siethen jetzt 402
  • Der Scharnhorſt-Begräbnißplatz auf dem Berliner Inv.-Kirchhof 408
  • An der Nuthe.
  • Saarmund und die Nutheburgen 417
  • Blankenſee 423
  • Trebbin 431
  • Wilhelm Henſel 435
  • Schlußwort449

[][[1]]

In den Spreewald.


Fontane, Wanderungen. IV. 1
[[2]][[3]]

In den Spreewald.


Und daß dem Netze dieſer Spree-Kanäle
Nichts von dem Zauber von Venedig fehle,
Durchfurcht das endlos wirre Flußrevier
In ſeinem Boot der Spreewalds-Gondolier.


Eine Nachtpoſt fährt oder fuhr wenigſtens zwiſchen Berlin und
Lübbenau.


Mit Tagesanbruch haben wir Lübben, die letzte Station
erreicht und fahren nunmehr am Rande des hier beginnenden
Spreewaldes hin, der ſich anſcheinend endlos, und nach Art
einer mit Heuſchobern und Erlen beſtandenen Wieſe, zur Linken
unſeres Weges dehnt. Ein vom Frühlicht umglühter Kirchthurm
wird ſichtbar und ſpielt eine Weile Verſteckens mit uns; aber nun
haben wir ihn wirklich und fahren durch einen hochgewölbten
Thorweg in Lübbenau „die Spreewald-Hauptſtadt“ ein.


1.
Lübbenau.


Es iſt Sonntag, und die Stille, die wir vorfinden, verräth
nichts von dem ſonſt hier herrſchenden lebhaften Verkehre. Die
Spreewald-Produkte haben nämlich in Lübbenau ihren vorzüglichſten
Stapelplatz und gehen erſt von hier aus in die Welt. Unter
dieſen Producten ſtehen die Gurken obenan. In einem der Vor-
jahre wurden ſeitens eines einzigen Händlers 800 Schock pro
1*
[4] Woche verkauft. Das würde nichts ſagen in Hamburg oder Liver-
pool, wo man gewohnt iſt nach Laſten und Tonnen zu rechnen,
aber „jede Stelle hat ihre Elle“, was erwogen für dieſe 800 Schock
eine gute Reputation ergiebt. Im Uebrigen verweilt Lübbenau
nicht einſeitig bei dem Verkauf eines Artikels, der ſchließlich doch
vielleicht den Spott herausfordern könnte, Kürbis und Meerrettig*)
ſchließen ſich ebenbürtig an und vor allem die Sellerie, hinſicht-
lich deren Vorzüge die Meinungen nicht leicht auseinandergehen.


Wir halten nun vor dem geräumigen Gaſthofe „Zum brau-
nen Hirſch“, darin das Amt eines Kellners noch ausſchließlich
durch eine Spreewalds-Schönheit verwaltet wird, und nachdem
wir Toilette gemacht und einen Imbiß genommen haben, brechen
wir auf, um keine der ſpärlich zugemeſſenen Stunden zu verlieren.
Ein Leichenzug kommt über den Platz und acht Träger tragen
den Sarg, über den eine ſchwarze, tief herabhängende Sammet-
decke gebreitet iſt, aus dem Kirchenportal aber, daran der Zug
eben vorüberzieht, erklingt Orgel und Geſang, und wir treten ein,
um eine wendiſche Gemeinde, lauter Spreewalds-Leute, ver-
ſammelt zu ſehen.


Es bot ſich uns ein guter Ueberſichtsplatz; Männer und
Frauen ſaßen getrennt, und nur die Frauen, ſo viel ich wahr-
nehmen konnte, trugen noch ihr ſpecielles Spreewald-Coſtüm. In
jedem Einzelpunkte das Spezielle darin nachzuweiſen, iſt eine
Aufgabe, der ich mich nicht gewachſen fühle. Der kurze falten-
reiche Friesrock, das knappe Mieder, das Buſentuch, die Schnallen-
ſchuhe, ſelbſt die bunten ſeidenen Bänder, die, mit großem Luxus
gewählt, über die Bruſt fallen, ſind aller Orten in wenigſtens
ähnlicher Weiſe vorkommende Dinge, wogegen mir der Kopfputz
[5] und die Halskrauſe von dem ſonſt Herkömmlichen abweichend
erſchienen. Die Halskrauſe wird nicht allgemein getragen; wo ſie
ſich findet, erinnert ſie lebhaft an die getollten Ringkragen auf
alten Paſtorenbildern: ſteife Jabots, die dem, der ſie trägt, immer
etwas von dem Anſehen eines kollernden Truthahns geben. All-
gemein aber iſt der ſpreewäldleriſche Kopfputz, und ich verſuche ſeine
Beſchreibung. Eine zugeſchrägte Papier- oder Papphülſe bildet das
Geſtell, darüber legen ſich Tüll und Gaze, Kanten und Bänder,
und ſtellen eine Art Spitzhaube her. Iſt die Trägerin eine Jung-
frau, ſo ſchließt die Kopfbekleidung hiermit ab, iſt ſie dagegen
verheirathet, ſo ſchlingt ſich noch ein Kopftuch um die Haube
herum und verdeckt ſie, je nach Neigung, halb oder ganz. Dieſe
Kopftücher ſind ebenſo von verſchiedenſter Farbe wie von ver-
ſchiedenſtem Werth. Junge, reiche Frauen ſchienen ſchwarze Seide
zu bevorzugen, während ſich ärmere und ältere mit krapprothem
Zitz und ſelbſt mit ockerfarbenem Kattun begnügten.


Die wendiſche Predigt entzieht ſich unſerer Controle, das
Schluchzen aber, das laut wird, iſt wenigſtens ein Beweis für die
gute Praxis des Geiſtlichen. Er ſteht zudem in der Liebe ſeiner
Gemeinde, und wo dieſe Liebe waltet, iſt auch unſchwer das Wort
gefunden, das eine Mutter die den Sohn, oder eine Wittwe die
den Mann begrub, zu den ehrlichſten Thränen hinreißt.


Und nun ſchweigt die Predigt, und eine kurze Pauſe tritt ein,
während welcher der Geiſtliche langſam und ſorglich in ſeinen
Papieren blättert. Endlich hat er beiſammen, was er braucht,
und beginnt nun die Aufgebote, die Geburts- und Todesanzeigen
zu leſen, alles in deutſcher Sprache. Bemerkenswerth genug.
Die Predigt, die mehr dem Ideale dient, durfte noch wendiſch
ſein; aber ſo wie ſich’s um ausſchließlich praktiſche Dinge zu
handeln beginnt, ſowie feſtgeſtellt werden ſoll, was im Spreewalde
lebt und ſtirbt, wer darin heirathet und getauft wird, ſo geht es
mit dem Wendiſchen nicht länger. Der Staat, der blos mit
deutſchem Ohre hört und nicht Zeit hat in aller Eil auch noch
wendiſch zu lernen, tritt mit der nüchternſten Geſchäftsmiene da-
zwiſchen und verlangt deutſches Aufgebot und deutſche Tauf-
ſcheine.


Wer wollt’ ihm das Recht dazu beſtreiten?


[6]

Und nun iſt der Gottesdienſt aus, und ſteif und ſtattlich
gehen die Männer und Frauen an uns vorüber. Ihre Köpfe ſind
charaktervoll, aber nicht hübſch; ihre Haltung voll Würde. Wir
warteten die letzten ab und kehrten dann erſt in unſern Gaſthof
zurück, wo wir uns eine halbe Stunde ſpäter durch Cantor Klinge-
ſtein — eine Spreewalds-Autorität, an die wir von Berlin her
empfohlen waren — begrüßt ſahen.


Er übernahm unſere Führung.


2.
Lehde.


Er übernahm unſere Führung ſagt’ ich, und nach kurzem
Gange durch Stadt und Park erreichten wir den Haupt-Spreearm,
auf dem die für uns beſtimmte Gondel bereits im Schatten eines
Buchenganges lag. Drei Bänke mit Polſter und Rücklehne ver-
ſprachen möglichſte Bequemlichkeit, während ein Flaſchenkorb von
bemerkenswerthem Umfang — aus dem, ſo oft der Wind das
Decktuch ein wenig zur Seite wehte, verſchiedene roth und gelb
geſiegelte Flaſchen hervorlugten — auch noch für mehr als bloße
Bequemlichkeit ſorgen zu wollen ſchien. Am Stern des Bootes,
das lange Ruder in der Hand, ſtand Chriſtian Birkig, ein Funf-
ziger mit hohen Backenknochen und eingedrückten Schläfen, dem
für gewöhnlich die nächtliche Sicherheit Lübbenaus, heut aber der
Ruder- und Steuermannsdienſt in unſerem Spreeboot oblag.


Wir ſtiegen ein und die Fahrt begann. Gleich die erſte
halbe Meile iſt ein landſchaftliches Kabinetſtück und wird in ſo-
weit durch nichts Folgendes übertroffen, als es die Beſonderheit
des Spreewaldes: ſeinen Netz- und Inſel-Charakter, am deut-
lichſten zeigt. Dieſer Netz- und Inſel-Charakter iſt freilich überall
vorhanden, aber er verbirgt ſich vielfach, und nur Derjenige, der
in einem Luftballon über das vieldurchſchnittene Terrain hinweg-
flöge, würde die zu Maſchen geſchlungenen Flußfäden allerorten in
ähnlicher Deutlichkeit wie zwiſchen Lübbenau und Lehde zu ſeinen
Füßen ſehen.


[7]

Der Boden dieſes Inſelgewirrs iſt faſt überall eine Garten-
erde. Der reiche Viehſtand der Dörfer ſchuf hier von Alters her
einen Dünger-Untergrund, auf dem dann die Miſchungen und
Verdünnungen vorgenommen werden konnten, wie ſie dieſes oder
jenes Produkt des Spreewaldes erforderte.


Die Waſſergewächſe, die von beiden Seiten her uns ſtrom-
aufwärts begleiten, bleiben dieſelben; Butomus und Sagittaria
löſen ſich unter einander ab und nur hier und da geſellt ſich,
unter dem überhängenden Rande geborgen, eine wuchernde Vergiß-
meinnicht-Einfaſſung hinzu.


Es iſt Sonntag, die Arbeit ruht und die große Fahrſtraße
zeigt ſich verhältnißmäßig leer; nur ſelten treibt ein mit friſchem Heu
beladener Kahn an uns vorüber und Burſche handhaben das Ruder
mit großem Geſchick. Sie ſitzen weder auf der Ruderbank noch
ſchlagen ſie taktmäßig das Waſſer, vielmehr ſtehen ſie grad’ auf-
recht am Hindertheile des Boots, das ſie nach Art der Gondoliere
vorwärts bewegen. Dies Aufrechtſtehen und mit ihm zugleich ein
beſtändiges Anſpannen all’ ihrer Kräfte, hat dem ganzen Volks-
ſtamm eine Haltung und Straffheit gegeben, die man bei der
Mehrzahl unſerer ſonſtigen Dorfbewohner vermißt. Und zwar in
den armen Gegenden am meiſten. Der Knecht, der vornüber im
Sattel hängt oder auf dem Strohſack ſeines Wagens ſitzend mit
einem ſchläfrigen „Hoi“ das Geſpann antreibt, kommt kaum je
dazu ſeine Bruſt und Schulterblätter zurecht zu rücken oder ſein
halb krummgebogenes Rückgrat wieder gerade zu biegen, der Spree-
wäldler aber, dem weder Pferd noch Wagen ein Sitzen und Aus-
ruhen gönnt, befindet ſich eigentlich immer auf dem Qui vive.
Das Ruder in der Hand ſteht er wie auf Poſten und kennt nicht
Hindämmern und Halb-Arbeit.


Wenn es ſchon ein reizender Anblick iſt, dieſe ſchlanken und
ſtattlichen Leute in ihren Booten vorüberfahren zu ſehn, ſo ſteigert
ſich dieſer Reiz im Winter, wo jeder Bootfahrer ein Schlittſchuh-
läufer wird. Das iſt dann die eigentliche Schauſtellung ihrer
Kraft und Geſchicklichkeit. Dann ſind Fluß und Inſeln eine
gemeinſchaftliche Eisfläche, und ein paar Bretter unter den Füßen,
die halb Schlitten halb Schlittſchuh ſind, dazu eine ſieben Fuß
lange Eisſtange in der Hand, ſchleudert ſich jetzt der Spreewäldler
[8] mit mächtigen Stößen über die blinkende Fläche hin. Dann
tragen ſie auch ihr nationales Koſtüm: kurzen Leinwandrock und
leinene Hoſe, beide mit dickem Fries gefuttert, und Spreewald-
Stiefel, die faſt bis an die Hüfte reichen.


Es iſt Sonntag, ſagt’ ich, und die Arbeit ruht. Aber an
Wochentagen iſt die Straße, die wir jetzt ſtill hinauffahren, von
früh bis ſpät belebt, und alles nur Denkbare, was ſonſt auf
Knüppeldamm oder Landſtraße ſeines Weges zieht, das zieht dann
auf dieſer Waſſerſtraße hinab und hinauf. Selbſt die reichen
Herden dieſer Gegenden wirbeln keinen Staub auf, ſondern werden
ins Boot getrieben und gelangen in ihm von Stall zu Stall
oder von Wieſe zu Wieſe. Der tägliche Verkehr bewegt ſich auf
dieſem endloſen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen,
wenn auf blumengeſchmücktem Kahn, Muſik vorauf, die Braut
zur Kirche fährt, oder wenn ſtill und einſam, von Leidtragenden
in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein ſchwarzverhangenes Boot
ſtromabwärts gleitet.


Einzelne Häuſer werden ſichtbar; wir haben Lehde, das
erſte Spreewalds-Dorf, erreicht. Es iſt die Lagunenſtadt in
Taſchenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren geweſen ſein
mag, als die erſten Fiſcherfamilien auf ſeinen Sumpf-Eilanden
Schutz ſuchten. Man kann nichts Lieblicheres ſehn als dieſes
Lehde, das aus eben ſo vielen Inſeln beſteht, als es Häuſer hat.
Die Spree bildet die große Dorfſtraße, darin ſchmalere Gaſſen
von links und rechts her einmünden. Wo ſonſt Heckenzäune ſich
ziehn, um die Grenzen eines Grundſtückes zu markiren, ziehen ſich
hier vielgeſtaltige Kanäle, die Höfe ſelbſt aber ſind in ihrer Grund-
anlage meiſtens gleich. Dicht an der Spreeſtraße ſteht das Wohn-
haus, ziemlich nahe daran die Stallgebäude, während klafterweis
aufgeſchichtetes Erlenholz als ſchützender Kreis um das Inſelchen
herläuft. Obſtbäume und Düngerhaufen, Blumenbeete und Fiſch-
kaſten theilen ſich im Uebrigen in das Terrain und geben eine
Fülle der reizendſten Bilder. Das Wohnhaus iſt jederzeit ein
Blockhaus mit kleinen Fenſtern und einer tüchtigen Schilfdach-
Kappe; das iſt das Weſentliche; ſeine Schönheit aber beſteht in
ſeiner reichen und maleriſchen Einfaſſung von Blatt und Blüthe:
Kürbis rankt ſich auf, und Geisblatt und Comvolvulus ſchlingen
[9] ſich mit allen Farben hindurch. Endlich zwiſchen Haus und Ufer
breitet ſich ein Grasplatz aus, an den ſich ein Brückchen oder ein
Holzſteg ſchließt und um ihn herum gruppiren ſich die Kähne,
kleiner und größer, immer aber dienſtbereit, ſei es um bei Tag
einen Heuſchober in den Stall zu ſchaffen oder am Abend einem
Liebespaare bei ſeinem Stelldichein behilflich zu ſein.


3.
Die Leber iſt von einem Hecht.“


Die letzten Häuſer von Lehde liegen hinter uns, und wieder
dehnen ſich Wieſen zu beiden Seiten aus, nur hier und da durch
Erlengruppen oder ein paar einzelnſtehende Eichen unterbrochen.
In ſüdöſtlicher Richtung geht es ſtroman, eine Biegung noch und
jetzt eine zweite, bis ſich unſer Flach-Kahn durch allerlei Tang
und Kraut in einen ſchmalen und gradlinigen Kanal einſchiebt,
der die Verbindungsſtraße zwiſchen den zwei Hauptarmen der
Spree bildet.


Dieſer Kanal, eine halbe Meile lang, zählt mit zu den be-
ſonderen Schönheiten des Spreewaldes. Im Allgemeinen wird
ſich ſagen laſſen, daß eine mit dem Lineal gezogene Linie land-
ſchaftlich ohne Reiz ſei, jede Regel aber hat ihre Ausnahme (ge-
wißlich hat ſie ſie hier) und ein Vergleich mag dieſe Waſſerſtraße
beſchreiben. Jeder kennt die langgeſtreckten Laubgänge, die ſich
unter dem Namen der „Poetenſteige“ in allen altfranzöſiſchen Park-
anlagen vorfinden. Ein ſolcher Poetenſteig iſt nun der Kanal, der
eben jetzt in ſeiner ganzen Länge vor uns liegt und ein niedriges
und dicht gewölbtes Laubdach über uns, ſo gleiten wir im Boot
die Straße hinauf, die nach Art einer Tute ſich zuſpitzend an
ihrem äußerſten Ausgang ein phantaſtiſch-verkleinertes und nur
noch halb erkennbares Pflanzengewirre zeigt. Alles in einem
wunderbaren Licht.


Endlich erreichen wir dieſen Ausgang und fahren in aber-
maliger ſcharfer Biegung in einen breiten, aber überall mit
Schlangenkraut überwachſenen Flußarm ein, der uns in weniger
[10] als einer Stunde nach der „Eiche“, einem mitten im Spreewald
gelegenen und von der Frau Schenker in gutem Anſehen erhaltenen
Wirthshauſe führt. Daſſelbe zeigt den echten Spreewaldsſtil und
unterſcheidet ſich in nichts von den wendiſchen Blockhäuſern des
Dorfes Lehde. Nichtsdeſtoweniger ſcheinen ſtatt Sorben oder
Wenden eingewanderte Sachſen von Anfang an an dieſer Stelle
heimiſch geweſen zu ſein, denn nicht nur daß die faſt allzu ger-
maniſch klingenden „Schenkers“ in dritter Generation ſchon in
dieſem Hauſe haushalten, auch ein alter, mühſam zu entziffernder
Spruch über dem Eingange läßt über den deutſchen Urſprung
der ganzen Anlage keine Zweifel aufkommen. Der Spruch aber
lautet:


Wir bauen oftmals feſte

Und ſind nur fremde Gäſte;

Wo wir ſollten ewig ſein

Da bauen wir ja wenig ein.

Frau Schenker iſt eine freundliche Wirthin und eine ſtattliche
Großmutter; ob deutſch oder wendiſch, ſie hängt am Spreewald
und ſchreibt der Spree, neben allem ſonſtigen Guten, auch wirkliche
Heil- und Wunderkräfte zu, worüber wir uns in einen ſcherzhaften
Streit mit ihr verwickeln. Inzwiſchen iſt die Tafel gedeckt worden,
und wir blicken auf eine reizende Scenerie. Der Tiſch mit dem
weißen Linnen ſteht unter einer mächtigen und prächtigen Linde,
zwiſchen uns und dem Fluß aber wölbt ſich eine hohe Laube von
Pfeifenkraut, vor derem Eingange — wie Puck auf ſeinem Pilz —
Frau Schenker’s jüngſte Enkelin auf einem Baumſtumpf ſitzt und
das lachende Geſicht unter dem rothen Kopftuch halb verborgen in
Neugier auf die fremden Gäſte herüberblickt.


Und nun das Mahl ſelber! Das wäre kein ächtes Spree-
walds-Mahl, wenn nicht ein Hecht auf dem Tiſche ſtünde.


Die Leber iſt von einem Hecht und nicht von einem Schleie,

Der Fiſch will trinken, gebt ihm ’was, daß er vor Durſt nicht ſchreie.

Und mit dieſem zeitgemäßen Leberreime ging es an die Ent-
puppung des Korbes, der bereits während der Fahrt mehr als
einen intereſſirten Blick auf ſich gezogen hatte. Das erſte Glas
galt wie billig der Wirthin, andere folgten, bis zuletzt die Mahl-
[11] zeit und die lange Reihe der Toaſte mit dem Jubelhymnus
abſchloß:


Die Leber iſt von einem Hecht und nicht von einem Störe,

Es lebe Lehrer Klingeſtein, der Cantor der Cantöre.

4.
In Käthner Poſt’s Garten.


Es war inzwiſchen Nachmittag geworden und wir ſchickten
uns zur Weiterfahrt an. Noch viel war zu ſehen: Die Dörfer
Burg und Leipe, und in der Nähe des erſteren ein Stück Hügel-
land, darauf das Schloß des letzten Wendenkönigs geſtanden
haben ſoll.


Die Kanäle vor und neben uns wurden immer flacher und
ſeichter, endlich ſaßen wir feſt. „Es geht nicht“, murmelte Boot-
führer Birkig. „Es muß gehn“, erwiderte der Cantor wie Blücher
auf dem Marſche nach Waterloo. Und ſiehe da, es ging.


Aber nicht auf lange, die Richtung war uns verloren ge-
gangen, und wir wären mit unſerem „friſch Waſſer unterm Kiel“
um nichts gebeſſert geweſen, wenn nicht der Cantor — unſer
Columbus jetzt — unerſchütterlich gegen Weſten gezeigt und einer
beinah meuternden Mannſchaft gegenüber auf ſeinem Willen be-
ſtanden hätte. Zwar war es zunächſt ein allerſchlimmſter Platz,
an den wir gelangten, ein Waſſer-Kreuzweg von dem aus Kanälchen
und kleine Flußarme nach den verſchiedenſten Seiten hin abzweigten,
aber dieſer Moment äußerſter Noth und Verwirrung bezeichnete
doch auch zugleich den Moment unſerer Rettung. Juſt an der
Stelle wo zwei Flußarme faſt in ſpitzem Winkel einander be-
rührten, ſtand ein Bauern- oder Käthnerhaus, deſſen weißge-
tünchtes Fachwerk aus Geisblatt und Fiſchernetzen freundlich
hervorblickte, während ſich uns in Front des Hauſes, in einem
halb ans Ufer gezogenen Kahn, ein ſtreng und doch zugleich auch
freundlich ausſehender Mann präſentirte, der, von eben dieſem
Kahn aus, dem Treiben ſeiner im Fluſſe badenden und nach
allen Seiten hin jubelnd umherplätſchernden Kinder zuſah. Es
[12] waren ihrer ſieben, das älteſte elf, das jüngſte kaum vier Jahr alt,
und aus Lachen und Kinder-Unſchuld wob ſich hier ein Bild, das
uns auf Augenblicke glauben machte, wir ſähen in eine feenhafte
Welt. Und daß wir dieſe Welt nicht ſtörten, das war ihr höchſter
Zauber. Ungeängſtigt und von keiner Scham überkommen, ſpielten
die Kinder weiter und tauchten unter und pruſteten das Waſſer
in die Höh’ wie junge Delphine. Das älteſte Mädchen war eine
Schönheit; ihre Augen lachten und das lange, aufgelöſte Haar
ſchwamm wie Sonnenſchein neben ihr her.


Bootführer Birkig recolligirte ſich zuerſt und rief das uns
ſowohl wie das Bild auf einen Schlag entzaubernde Wort über
das Waſſer hin: „ob man uns einen Kaffee kochen wolle?“ Das
bereitwilligſte „Ja“ klang zurück, und einige Minuten ſpäter
ſprangen wir ans Ufer, hinter deſſen Büſchen jetzt die Kinder in
allen Stadien der Toilette ſtanden und lagen, eines, das jüngſte,
noch platt im Sande. Der im Kahne ſtehende Häusler oder
Käthner aber, der ſich uns bald danach als Käthner Poſt vor-
ſtellte, war uns um ein paar Schritt entgegengekommen und bat
uns, in ſeine Wohnung einzutreten. Wir zogen indeß einen Platz
im Freien vor und machten es uns auf einem von Kirſchbäumen
beſchatteten Raſenplatze bequem. Was an Tiſch und Bänken im
Hauſe war, ſtand bald draußen, und zuletzt erſchien auch ein blau-
gemuſtertes Kaffeeſervice, das unverkennbar einer beſſeren Zeit
angehörte. Der Käthner entſtammte nämlich einer alten Spree-
walds-Honoratioren-Familie, daraus ſelbſt Geiſtliche hervorge-
gangen waren, und ein leiſer Unmuth über ein gewiſſes Zurück-
gebliebenſein hinter dieſen hiſtoriſchen Rangverhältniſſen, lag auf
ſeinem Geſicht. Er ſprach dies auch unumwunden aus und verrieth
überhaupt eine Nervoſität, wie man ihr bei Leuten ſeines Standes
nur ſelten begegnet. Ich nahm ihn darauf hin von Anfang an
für einen Conventikler und fand es beſtätigt, als er eine Weile
danach anfrug, ob es uns vielleicht genehm ſein würde, ſeine Kinder
ein mehrſtimmiges Lied ſingen zu hören, auf das ſie leidlich einge-
übt ſeien? Wir bejahten die Frage natürlich und alsbald klang es
mit jener unwiderſtehlichen Innigkeit, wie ſie nur Kinderſtimmen
eigen zu ſein pflegt, durch die ſommerſtille Luft:


[13]
Jeſu geh voran

Auf der Lebensbahn,

Und wir wollen nicht verweilen

Dir getreulich nachzueilen.

Führ’ uns an der Hand

Bis in’s Vaterland.

Eine Pauſe trat ein, und erſt als Käthner Poſt uns gemuſtert
und ſich über unſere Theilnahme vergewiſſert hatte, gab er aufs
Neue das Zeichen und ſang nun ſelber mit:


Solls uns hart ergehn

Laß uns feſte ſtehn,

Und auch in den ſchwerſten Tagen

Niemals über Laſten klagen,

Denn durch Trübſal hier

Geht der Weg zu Dir.

Rühret eigner Schmerz

Irgend unſer Herz,

Kümmert uns ein fremdes Leiden,

O ſo gieb Geduld zu beiden,

Richte unſren Sinn

Auf das Ende hin.

Ordne unſren Gang,

Jeſu, lebenslang;

Führſt Du uns durch rauhe Wege,

Gieb uns auch die nöthge Pflege,

Thu uns nach dem Lauf

Deine Thüre auf.

Das Lied hätte die doppelte Zahl von Strophen haben können,
wir wären willig gefolgt. Es hatte jeden von uns ergriffen, am
meiſten den Neſtor unſeres Kreiſes, der faſt verlegen vor ſich
niederſah und auf unſere wiederholte Frage nach dem „warum“
endlich antwortete: „Sie ſind alle bewegt durch das Lied. Ich
bin es doppelt und muß es ſein. Daß Ihnen dieſes Lied hier
begegnet, iſt zu beſcheidenem Theile mein Verdienſt. Es ſind jetzt
gerade fünf Jahre, daß ich auf einer ähnlichen Reiſe, wie dieſe,
in eine Dorfſchule trat und das ſchöne Zinzendorf’ſche Lied in
jener rythmiſchen Form ſingen hörte, darin Sie’s eben vernommen
haben. In dieſer Form wirkte das längſt Bekannte wie neu auf
mich und riß mich nicht nur fort durch ſeine Kraft und Innig-
[14] keit, ſondern veranlaßte mich auch, es nach meiner Rückkehr in
einem mir zu Gebote ſtehenden Fachblatte zu veröffentlichen. Ich
weiß, daß es ſeitdem vielfach Eingang gefunden hat; hier aber trat
es mir zum erſten Male wieder lebendig entgegen und beſtätigte
mir die Lehre: man ſtreue nur gute Körner aus und ſorge nicht
was aus ihnen wird; irgendwo gehen ſie auf, und wenn es im
ſtillſten Winkel des Spreewalds wäre.“


Die Sonne neigte ſich und mahnte zum Aufbruch. Noch
reizende Partieen kamen, aber der Höhepunkt des Feſtes lag
hinter uns.


In Dorf Leipe, das wir auf unſerem Rückweg paſſirten,
trafen wir hauptſtädtiſche Geſellſchaft, die der wachſende Schön-
heitsruf des Spreewaldes herbeigelockt hatte. Wir ſchloſſen uns
ihnen an, und Boot an Boot ging es nunmehr wieder auf
Lübbenau zu. Wort und Lachen klang herüber und hinüber, und
ein kalter Grog, der als die Sonne nieder war, aus Rum und
Spreewald-Waſſer gebraut wurde, hielt die Kühle des Abends von
uns fern. Aber nicht auf lange; Plaid und Paletot forderten
endlich ihr Recht und lautlos glitten die beiden Boote nebeneinander
her. In die Stille hinein klang nichts mehr als der taktmäßige
Ruck der Ruder und das leiſe Plätſchern des Waſſers.


Es ſchlug zehn von dem am Abendhimmel aufdunkelnden Thurm,
als wir im Schatten der Lynarſchen Parkbäume wieder anlegten.
Der „braune Hirſch“ nahm uns eine Viertelſtunde ſpäter in ſeine
gaſtlichen Betten auf, Bootführer Birkig aber ging ſeinem Dienſte
nach, um mit Horn und Spieß für Lübbenau und ſeine Spree-
wald-Gäſte zu wachen.


[[15]]

Zwischen Spreewald
und
wendiſcher Spree.


[[16]][[17]]

Eine Oſterfahrt in das Land Beeskow-Storkow.


Arm oder reich,
Im Erſten und Letzten iſt es gleich,
Und wo zwei Hütten zuſammenſtehn,
Gab es Lieb und Haß und — iſt ’was geſchehn.

Zwiſchen dem Spreewald und der wendiſchen Spree (der Dahme)
liegt das Land Beeskow-Storkow, ein wenig gekannter Winkel, der
nichtsdeſtoweniger ſeine Schönheit und ſeine Geſchichte hat. Beiden
beſchloß ich nachzugehen und wählte dazu die Woche vor Oſtern,
eine Zeit, in deren greller, oft ſchattenloſer Beleuchtung ich die
märkiſche Landſchaft noch nicht geſehen hatte. Von den alten
Familien dieſes ehemalig lauſitziſchen Landestheiles intereſſirten mich
am meiſten die Löſchebrands, in Betreff deren ich nur wußte, daß
ſie ſeit vielen hundert Jahren um den großen Schermützel-See
herum ihre Sitze hatten. Ihr Name ſchon klang mir prächtig im
Ohr und ich ſah eigentlich alles was Löſchebrand hieß, hoch zu
Roß irgend einen Brand mit geweihter Lanze löſchend. Jeder ein
Ritter Sankt Georg. O das mußte ein himmliſcher Tag werden,
und ich gab mich dieſer Vorſtellung um ſo voller und ſicherer hin,
als ich, ein paar Notizen abgerechnet, keinen „Wiſſenskram“ in
mir beherbergte, der meine Phantaſie hätte zügeln können.


Der Abend vorher ſchon hatte mich nach Fürſtenwalde ge-
führt, von wo die Fahrt in aller Morgenfrühe beginnen ſollte.
Dieſe Morgenfrühe war nun da, der Wagen kam und hielt, und
über das holprige Pflaſter der ehemaligen Biſchofsſtadt hin ging
Fontane, Wanderungen. IV. 2
[18] es in das „romantiſche Land“ hinein. In das romantiſche Land
Beeskow-Storkow.


1.
Rauen und die Markgrafenſteine.


Es ging, weil die Spree hier ſieben Arme hat, über ſieben
Brücken, und als die letzte Brücke hinter uns lag, lag auch ſchon
die weite Landſchaft vor uns, hell und klar und ſonnig, und ſo
trocken, daß der Staub aufwirbelte, wie zur Sommerzeit. Aber
ein Blick auf die Bäume zeigte zur Genüge, daß der Sommer
noch ausſtand, und daß nichts heraus war als ein paar ärmliche
Palmſonntagskätzchen.


Ich hatte gleich anfangs meinen Platz neben dem Kutſcher
genommen, der eigentlich kein Kutſcher war, ſondern ein Fuhrherr,
und durch gute Haltung in jedem Augenblicke den Beweis führte,
daß er bei den Potsdammer Ulanen geſtanden. Er hieß Moll,
entſprach durchaus ſeinem Namen, und gab was auf Bildung,
Bücher und Zeitungen. Aber er hatte ſich ſeinen guten Verſtand
und ſein eigenes Urtheil nicht weggeleſen und hielt vielmehr um-
gekehrt mit einem gewiſſen Eigenſinn an ſeinen einmal gefaßten
Anſichten feſt. Selbſtverſtändlich immer unter Wahrung artiger
Formen. Er war geſprächig und mittheilſam, aber doch zugleich
auch reſervirt und lächelte viel.


Als wir aus der Flußniederung auf die Höhe gekommen
waren, wies ich auf einen Hügelzug, der ſich in geringer Ent-
fernung vor uns ausdehnte: „Was ſind das für Berge?“


„Die Rauenſchen?“


„I, die Rauenſchen. Wo die Braunkohlen herkommen?“


Er ſtimmte zu.


„Das iſt mir lieb, die mal zu ſehen, obwohl ich keine brenne;
ſie ſtauben zu ſehr. Dann iſt wohl auch Rauen ſelbſt hier ganz
in der Nähe?“


„Verſteht ſich. Der dicke Thurm da. Das is es.“


„Na, dann vorwärts. Aber in Rauen müſſen wir einen
Augenblick halten. Ich glaube, da gibt es was.“


[19]

Er war einverſtanden und zeigte nur dann und wann mit
dem Peitſchenſtock auf das eigenthümliche Treiben an dem uns
immer näher kommenden Hügelabhang. Ein einziges Pferd zog
eine lange Reihe von Wagen und ließ mich erkennen, daß dort
ein aus irgend einem Bergſtollen herausführendes Schienengeleiſe
liegen mußte. Von der entgegengeſetzten Seite her kamen leere
Wagen zurück, und in einem dem Höhenzuge vorgelegenen Sumpf-
ſtücke ſtand ein Storch und ſah ſich ernſt und nachdenklich um.
Es war, als ſuch’ er nach einem Wahr- und Erkennungszeichen und
könne nicht einig mit ſich werden, ob es auch die rechte Gegend ſei.


Moll, dem ich meine Bemerkung mittheilte, fand es auch und
verbreitete ſich dann eingehender über Störche, namentlich aber
darüber, daß es doch eigentlich ein merkwürdiger und zugleich auch
höchſt anſpruchsloſer Vogel ſei, der immer wieder ins Beeskow-
Storkowſche komme, während ihm doch die ganze Welt offen ſtehe.


All das ſprach er in ſehr gebildetem Deutſch, mit einem
Dialektanklange, der weder märkiſch noch berliniſch war, obwohl
er von beiden einen Beiſatz hatte. Dies fiel mir natürlich auf
und ich ſagte: „Sie ſprechen ſo anders, Moll; wo ſind Sie
eigentlich her?“


„Ich? Ich bin aus Hinterpommern.“


„Iſt es möglich?“


„Ja, was will man machen.“


„Und von wo denn?“


„Von Cöslin. Das heißt ein bischen ab, ſo nach’m Gollen-
berg zu.“


„Da ſind Sie ja Nachbar von Bismarck.“


„Nei, der liegt mehr rechts weg, ſo zwiſchen Rummelsburg
und Schlawe. Meine Gegend iſt doch noch anders. Und ich
ſag’ Ihnen, eine propre Gegend.“


„Ich dacht immer, es wäre da nicht viel los.“


„Ja, das haben mir ſchon Viele geſagt. Aber es is nicht ſo.
Da is mehr los als hier. Denn was haben Sie denn hier? Eine
Kuſſel und dann wieder ’ne Kuſſel. Und mal ’ne Kräh und wenn’s
hochkommt ’ne Bockmühle.“


„Nu gut. Aber was haben Sie denn? Iſt es denn beſſer
bei Ihnen?


2*
[20]

„Nu, beſſer is es ſchon, denn ſchlechter is nich möglich. Und
das macht alles der Charakter. Der Charakter is immer die
Hauptſache. Sehen Sie, bei uns gibt es lauter orntliche Menſchen.“


„Und alle zehn Schritt ’nen Edelmann.“


„Ach, lieber Herr, ein Edelmann is gar nicht ſo ſchlimm. Ich
bin auch für Freiheit; aber was ſo’n richtiger Edelmann is, na,
viel thut er woll freilich auch nich, aber er thut doch immer was
Und der Bauer is auch janz anders bei uns.“


„Ich hab’ immer gefunden, der Bauer iſt überall derſelbe.
Der Bauer iſt überall hart.“


„Is ſchon richtig. Aber doch alles mit’n Unterſchied. Un
warum is er hier ſo hart, ich meine ſo ſchlimm-hart? Weil er
ſelber nichts hat. Es is ja die reine Hungerleiderei. Sehen Sie
ſich doch dieſen Weg und dieſe Schonung an. Der reine gelbe
Sand. Und wo der reine gelbe Sand is, is auch immer der
reine gelbe Neid. Und gönnt keiner dem andern was. Und von
was geben oder helfen ſteht nu ſchon garnichts drin.“


„Hören Sie, Moll, ich bin zwar ſelber ein Märker, aber ich
glaube wahrhaftig, Sie haben ein bischen Recht.“


„I, freilich hab’ ich Recht. Es is alles pauvre hier und
von’s Pauvre-ſein is noch nie nich was Gutes gekommen.“


Unter ſolchen Geſprächen waren wir bis in Rauen ſelbſt
hineingefahren. Auch dieſes, wie der Hügelabhang draußen, zeigte
den Bergwerkscharakter; alle Häuſer ſahen rußig und ſchmucklos
aus, und nur eine modiſche Petroleumlampe mit blauem Ständer
und weißer Milchglasglocke war überall als einziges Zierſtück in
die Fenſter geſtellt.


In der Kirche, die für das Feſt geputzt und geſäubert wurde,
trafen wir einen Ortsangeſeſſenen, an den ich mich alsbald mit
der Frage wandte: „was die Rauen’ſche Kirche denn wohl habe?“


„Wir haben gar nichts als den alten Grabſtein vorm Altar.
Alles was in Schnörkelbuchſtaben daraufſtand, iſt weggetreten;
aber die Rauener ſagen, es wär ein Biſchof geweſen. Und ich
denke mir, es wird wohl ein Biſchof geweſen ſein.“


„Ein Biſchof? Hören Sie …“


„Ja, warum ſoll es kein Biſchof geweſen ſein? Es waren
ihrer ja ſo viele. Welche liegen in Fürſtenwalde, welche liegen in
[21] Beeskow, und warum ſoll nicht wenigſtens einer in Rauen liegen?
Er kann ja ’ne Vorliebe für Rauen gehabt haben.“


„Glauben Sie?“


Dieſe letzten Worte waren ſchon vor dem vorerwähnten Altar
geſprochen worden, und wir ſchoben jetzt eine längliche Strohdecke
fort, unter der der angebliche Biſchofsſtein gelegen war. Er war
wirklich ganz abgetreten, bis auf eine einzige den Schriftzügen
oder Buchſtaben nach aus der Wende des 15. und 16. Jahr-
hunderts herſtammende Zeile, die durch einen ſchmalen, nur etwa
zwei Zoll breiten Vorſprung der Altarſtufe geſchützt und gerettet
worden war. Dieſe Zeile lautete: „v. Wulffen, Tempelb ....“
Es war alſo ein Tempelberger Wulffen, der hier begraben lag
und kein Biſchof dieſes Namens. Wie denn ſolcher überhaupt
nicht exiſtirt hat, was ſich aus dem vollſtändigen, uns von Wohl-
brück in ſeinem Geſchichtswerke gegebenen Verzeichniſſe der Lebuſer
Biſchöfe mit Sicherheit erſehen läßt.


Aus dem Dorfe Rauen fuhren wir abermals in eine
Schonung ein, zwiſchen deren Krüppelkiefern eine Fahrſtraße ſich
ängſtlich hin und her ſchlängelte, faſt als ob jeder einzelne Baum
zu ſchonen geweſen wäre. Wo ſo wenig iſt, iſt auch eine Kiefer
etwas. Endlich aber paſſirten wir eine halb offne Stelle, die durch
mehrere hier ſich kreuzende Waldwege gebildet wurde.


„Das iſt er,“ ſagte Moll, und hielt ſein Fuhrwerk an.


„Wer?“


„Der große Stein.“


„Der Markgrafenſtein?“


Er nickte blos und überließ mich meinem Staunen, das
weniger an den rechten Flügel der Bewunderung als an den
linken der Enttäuſchung grenzte. Wirklich, ich war enttäuſcht und
würde wenn es Moll vorgezogen hätte ſchlechtweg daran vorüber
zu fahren, im günſtigſten Falle gedacht haben: „ei, ein großer
Stein.“ Und das ſollte nun einer der berühmten Markgrafen-
ſteine ſein, eines der ſieben märkiſchen Weltwunder! Ich hatte
mir dieſe Steine halb memnonsſäulenartig oder doch wenigſtens
als ein paar von der Natur gebildete Rieſen-Obelisken gedacht
und ſah nun etwas Zuſammengekauertes daliegen, das genau den
Eindruck eines todten [Elephanten] auf mich machte. Nun ſind
[22] Elephanten ja unzweifelhaft große Thiere, wenn ihnen aber obliegt,
als Berg- und Felstrümmer landſchaftlich zu functioniren, ſo
kommt die Landſchaft und kommen ſie ſelber zu kurz.


„Iſt er es denn wirklich?“ bracht’ ich endlich heraus. „Es
iſt wohl blos der kleine; es ſollen ja zwei ſein.“


„Ja zwei ſind es, und der andre war auch größer. Aber den
haben ſie ja zerſprengt, und was nu noch davon da is, das is
nich viel, un is blos Scheibenſtänder und Kugelfang, wenn die
Rauener ihr Freiſchießen haben.“


„Aber im Granit kann ſich doch keine Kugel fangen.“


„Is ſchon richtig. Aber das iſt ja gerade das Gute. Sehen
Sie, ſo’n richtiger Kugelfang is eigentlich gar kein Kugelfang. Das
heißt, er is es zu ſehr.“


„Wie denn?“


„Ja, wie ſoll ich es ſagen? Es is damit wie mit dem
Schiffsjungen, dem der ſilberne Theekeſſel ins Meer gefallen war,
und der dann ängſtlich und pfiffig fragte: „Is das verloren,
wovon man weiß, wo’s is?“ Und ſo kann man auch beim richtigen
Kugelfang fragen. In’n Sand ſtecken ſie drin, und jeder weiß
ganz genau, wo ſie ſind. Aber weg ſind ſie doch. Und nun ſehen
Sie ſich die klugen Rauener an! An den Granit ſchlägt die
Kugel und klatſch, da liegt ſie. Und wenn ſie mit Schießen fertig
ſind, ſuchen ſie die platten Kugeln wieder auf. Und liegen alle
da wie die Pflaumenkerne.“


„Hören Sie, Moll, das gefällt mir. Können wir dieſen
Kugelfang nicht ſehen? Ich meine den Stein.“


„O gewiß. Er liegt ja hier gleich nebenan. Und ich brauch’
auch nicht abzuſträngen. In den Sand hier ſtehen die Pferde
wie’ne Mauer.“


Dieſe pruſteten und rieben ſich vergnügt und wie zum Zeichen
des Einverſtändniſſes die Köpfe, Moll und ich aber gingen nach
rechts in das Gehölz hinein, wo wir alsbald auch den andern
Stein fanden, der mal der größere geweſen war. In ſeiner Front
erkannt’ ich leicht die beiden Erdwandungen einer mehr als
hundert Schritt langen Schieß-Allee, während ſich am Stein ſelber
unzählige Kugelſpuren zeigten.


[23]

„Und dies iſt alſo der große Stein. War er viel größer
als der andre?“


„Nein, ich hab’ ihn zwar nicht mehr geſehn, aber die Leute
ſagen es ja.“


„Was?“


„Nu, daß er nich viel größer war .. Und ſo um die 20er
Jahre rum wurd’ er in drei Stücke geſprengt, gerad ſo wie Sie
’ne Birn’ in drei Stücke ſchneiden: links ’ne Backe un rechts ’ne
Backe, und in der Mitte das Mittelſtück. Un aus ’s Mittelſtück
haben ſie ja nu die große Schale gemacht, die jetzt auf’n Berliner
Luſtgarten ſteht, und die linke Backe, das is das Stück, das wir
hier ſehen, un die rechte Backe, die werd’ ich Ihnen nachher
zeigen.“


„Iſt es nöthig, ſie zu ſehen?“


„Ja, die müſſen Sie ſehen. Ich zeig Ihnen alles, wie ſich’s
gehört. Und es heißt auch die „Schöne Ausſicht“.“


Alsbald ſaßen wir wieder in unſrem Wagen und fuhren jetzt
im Zickzack auf eine ſandige Höhe hinauf. An höchſter Stelle
hielten die Pferde wie von ſelbſt und Moll ſagte: „Hier iſt es.
Dies iſt die „Schöne Ausſicht“.“


„Und die Backe?“


„Die liegt hier.“ Und dabei wies er auf ein ſonderbares
Granitmobiliar, das mich, auf den erſten Blick wenigſtens, an
Stonehenge erinnerte, jenen alten Druidenplatz in der Nähe von
Salisbury, den man in Kunſtatlaſſen und illuſtrirten Architektur-
geſchichten abgebildet findet. Im Quadrat ſtanden vier Steinbänke,
dazwiſchen präſentirte ſich ein großer, runder Steintiſch, alles aus
dem Granitſtück gefertigt, das man von dem Stein unten abge-
ſprengt hatte.


Der Wagenplatz, auf dem ich ſaß, war höher als das Stein-
mobiliar und gönnte mir einen freieren Umblick. Alles in der
Welt aber hat ſein Geſetz, und wer auf der „Schönen Ausſicht“
iſt, hat nun mal die Pflicht ſich auf den Steintiſch zu ſtellen, um
von ihm aus und nur von ihm aus die Landſchaft zu muſtern.
Und ſo that ich denn wie mir geboten und genoß auch von dieſem
niedrigeren Standpunkt aus, eines immer noch entzückenden Rund-
blicks, ein weitgeſpanntes Panorama. Die Dürftigkeiten verſchwanden,
[24] alles Hübſche drängte ſich zuſammen und nach Weſten hin traten
die Thürme Berlins aus einem Nebelſchleier hervor.


Aber mehr als die Fernſicht intereſſirte mich, was in ver-
hältnißmäßiger Nähe gelegen war und ich rief Moll, auf daß er
mir die Namen der bunt umhergeſtreuten Ortſchaften nenne.


„Da der Thurm hier hinter dem Rauenſchen,“ hob er cicerone-
haft an, „is der von Markgraf-Piesk, und der hier unten über die
Pieskeſche Haide weg, das iſt der von Schermeuſel-Piesk.“


„Ich glaube, Sie ſpaßen.“


„I, wie werd’ ich denn! Es gibt hier lauter ſolche Namen,
un is einem orntlich ein bischen genirlich.“


„Und hier links der Thurm zwiſchen den zwei Pappeln?“


„Das is Pfaffendorf; na das geht noch. Aber das andere, gleich
dicht daneben, das is Sauen, und hier rechts weg is ’ne Colonie
von des alten Fritzen Zeiten her und heißt Schweinebraten!“


„Aber Moll, iſt es denn möglich?“


„Ach Gott, hier is alles möglich. Und warum heißt es ſo?
Weil ſie keinen haben. Und wollen ſich wenigſtens einen vorſtellen
oder dran erinnern.“


„Aber warum ſich erinnern an das, was man nicht haben
kann. Ich finde, das iſt gegen die Lebensweisheit. Freilich jeder
hat ſo ſeine eigne. Und nun ſagen Sie mir, das große Waſſer
hier vor uns, was iſt das?“


„Das iſt der Schermützel.“


„Ah, das iſt ſchön. Und das daneben, das ſind wohl die
Güter, die die Löſchebrands hier hatten?“


Er bejahte.


„Nun ſehen Sie, da müſſen wir hin. Ich denke mir, daß
ich da vielerlei finden werde: Gräber und Türkenglocken, und
Denkmäler und Inſchriften. Und vielleicht auch einen Pfeiler
mit ein paar eingemauerten Nonnen, oder ’ne Sacriſtei mit ’nem
vergrabenen Schatz.“


Er lachte. „Nei, ſo viel finden Sie nich. Un ’nen ver-
grabenen Schatz erſt recht nich. O, du meine Güte …“


„Nun, wir wollen ſehen, Moll.“


Und damit fuhren wir weiter auf den Schermützel zu.


[25]

2.
Am Schermützel.


Nur von dem höchſten Punkte der „Schönen Ausſicht“ aus
hatten wir den See vor Augen gehabt, als wir nun aber, am
Hügelabhange hin, ihm direkt zufuhren, verſchwand er wieder und
überließ mich auf eine halbe Stunde nicht nur dem mahlenden
Sande, ſondern auch allerhand philoſophiſchen Betrachtungen, in
denen Moll ſo ſtark war. Er ſprach unter anderm eingehend
über das Glücksrad und den Wechſel aller Dinge, wovon auch
der Schermützel, übrigens zu ſeinem und der Anwohner Vortheil,
ein Lied zu ſingen wiſſe. Jetzt bring er zum Beiſpiel 2000
Thaler Pacht und werd’ es bald noch höher bringen, um die
Zeit aber, als die Franzoſen im Lande geweſen ſeien, ſei der
ganze See, der damals dem Fiskus gehört, um die Summe von
2000 Thaler an einen Meiſtbietenden verkauft worden. Und
noch dazu wie? Der Meiſtbietende ſei nämlich ein Herr von
Löſchebrand auf Saarow geweſen (nicht der alte Rittmeiſter, der
jetzt auf dem Reichenwalder Kirchhof liege, ſondern ſein Vater
oder Großvater), ein pfiffiger alter Junker, der ſich denn auch
einen richtigen Junker-Spaß gemacht und die ganzen 2000 Thaler
in lauter ihm ſelber aufgezwungenen Bons und Lieferungsſcheinen
ausgezahlt habe. Natürlich ſeien die Scheine von dem Beamten
unterſucht und nachgezählt worden, und als ſich bei der Gelegen-
heit ergeben, daß es nur 1998 Thaler ſeien, habe der alte
Saarowſche mit einem Geſicht, als ob es ihm nicht drauf an-
komme, noch zwei blanke Thaler zugelegt und dabei herzlich ge-
lacht. Und ſo ſei denn der ganze See damals für zwei Thaler oder
den tauſendſten Theil von dem was er jetzt Pacht bringe, verkauft
worden.


Unter ſolchem Geplauder waren wir, immer noch am Hügel-
abhange, bis an ein halb pavillon- halb tempelartiges und zu-
gleich völlig einſames Gebäude gekommen, das zwiſchen Kiefern
und Laubholz hindurch auf den hier plötzlich wieder ſichtbar wer-
denden See ſah. Ich erfuhr, daß ein Herr von Bonſeri dies
Mauſoleum (denn ein ſolches war es) errichtet habe, war aber
[26] unaufmerkſam auf alles Weitre, weil die Schönheit des Scher-
mützel und ſeiner Dörfer mich ausſchließlich zu feſſeln begann.
Das nach rechts hin gelegene mußte Saarow ſein. Ich er-
kannte deutlich das hohe rothe Herrenhaus-Dach, das über die
Wirthſchaftsgebäude wegragte, während ihm gegenüber, alles Pappel-
geſtrüpps unerachtet, der kleine Pieskower Kirchthurm immer
deutlicher hervortrat.


Beide Dörfer lockten mich, das eine wie das andere, da das
Fuhrwerk aber geſchont werden mußte, ſo berieth ich mit Moll
und proponirte, daß er mit den Pferden unmittelbar auf das
an unſrer eigentlichen Reiſe-Linie gelegene Pieskow fahren ſolle,
während ich meinerſeits erſt nach Saarow marſchiren und von
dort aus in einem kleinen „Seelenverkäufer“ über den See
herüberkommen wolle. Das fand denn auch ſeine Zuſtimmung,
wie jede den Weg kürzende Propoſition, und während er ſofort
auf einem Schlängelwege bergab und auf die linke Schermützel-
Seite zufuhr, hielt ich mich rechts, um auf einem am See hin-
laufenden Wieſenpfade bis an den Fahrdamm und demnächſt auf
die große Saarower Dorfſtraße zu kommen.


Es war ein wundervoller Weg; über dem blauen Waſſer
wölbte ſich der blauere Himmel und zwiſchen den ſpärlichen Binſen,
die das Ufer hier einfaßten, hing ein eben ſo ſpärlicher Schaum,
der in dem ſcharfen Oſtwinde beſtändig hin und her zitterte.
Holz und Borkeſtücke lagen über den Weg hin zerſtreut, andre
dagegen tanzten noch auf dem flimmernden See, der im Uebrigen,
all dieſem Flimmern und Schimmern zum Trotz, einen tiefen
Ernſt und nur Einſamkeit und Stille zeigte. Nirgends ein Fiſcher-
boot, das Netze zog oder Reuſen ſteckte, ja kaum ein Vogel, der
über die Fläche hinflog. Oft hielt ich an, um zu horchen, aber
die Stille blieb und ich hörte nichts als den Windzug in den
Binſen und das leiſe Klatſchen der Wellen.


Und endlich auch die Schläge, die vom Pieskower Thurm
her zu mir herüber klangen. Ich zählte zwölf, es war alſo Mittag,
und ehe der letzte noch ausgeſummt hatte, war ich auch ſchon bis
an die Stelle heran, wo mein Fußweg in die vorerwähnte Saa-
rower Dorfgaſſe mündete.


Dicht am Eingange ſaß ein Mütterchen auf einem Strauch-
[27] und Reiſigbündel, das ſie ſich aus der Heide geholt, und grüßte
mich. Alte Weiber ſollen kein Glück bringen, aber wenn ſie
freundlich ſind und einem einen Guten-Tag bieten, ſo hat es mit
der ganzen Jägerweisheit nicht viel auf ſich. Und ſo blieb ich
denn auch ſtehen und ſagte: „Na Mutterchen, is wohl ein bischen
ſchwer? Und die Sonne ſticht heut ſo. Sie müſſen die Kinder in
den Wald ſchicken. Oder haben Sie keine?“


„Woll, Kinner hebb ick, un Enkelkinner ook. Awers ſe
wulln joa nich. Un ſe künn’ ook nich. Se möten joa all in de
School.“


„Ja, ja. Alles muß in die Schule. Haben Sie denn auch
’ne Kirche in Saarow?“


„Nei. Wi möten nach Reichenwald.“


„Richtig. Ich erinnre mich. Das iſt da, wo ſie den alten
Rittmeiſter begraben haben. Haben Sie den noch gekannt?“


„O wat wihr ick nich? He wihr joa ſo in mine Joahr. Woll
hebb ick em kennt.“


„Und wie war er denn?“


„Na, he wihr joa ſo wiet janz goot. Bloot man en beeten
ſchnaakſch un wunnerlich, un ok woll en beeten to ſihr för de
Fruenslüd. Awers nu is he joa dod.“


„Und hat wohl ein Denkmal? Ich meine ſo was von Stein
oder Eiſen. Eine Figur oder einen Engel mit ’nem Spruch oder
Geſangbuchvers.“


„Ne. För ſo wat wihr he nich.“


„Und is ſonſt noch was in Saarow zu ſehn?“


„Ick glöw nich. Veel is hier nich in Saarow. En nijen
Koh-Stall …“


„Aber drüben in Pieskow?“


„Joa in Pieskow. O woll, verſteiht ſich. In Pieskow da
möt wat ſinn.“


„Na, dann werd’ ich mal ſehn. Ich dank’ auch ſchön,
Mutterchen.“ Und damit ging ich weiter in das Dorf hinein.


Wirklich in Saarow war nicht viel, und als ich mich genug-
ſam davon überzeugt hatte, hielt ich mich auf den See zu, wo
nach meiner Meinung eine Fähre ſein mußte. Nach einigem
Suchen ſah ich ein angeketteltes Boot liegen, und dicht daneben
[28] ein Häuschen, an das drei, vier Ruder angelehnt waren. Alſo
hier war es muthmaßlich. Ich trat denn auch ein und fand eine
Frau, die ſich, auf eine Stuhllehne geſtützt, von hinten her über
ihren etwa zwölfjährigen Jungen bog und ein Exempel mit ihm
rechnete, das dieſem blutſauer zu werden ſchien. Als ich ihr mein
Anliegen vorgetragen hatte, ſagte ſie kurz aber nicht unfreundlich,
„ſie habe nur den Jungen zu Haus, ob ich mit dem fahren
wolle?“


„Gewiß.“


Und ſo ſtieg ich denn ins Boot und ſetzte mich ſo, daß ich
dem Jungen, der rückwärts ſaß, grad’ in die Augen ſah. Als
wir ſchon abſtießen, kam auch noch ſeine jüngere Schweſter, nahm
raſch ein zweites Ruder und ſetzte ſich neben ihn. Ich ſah bald,
daß der Junge ſeiner Sache vollkommen ſicher war und den
Schermützel ohne ſonderliche Mühe bezwingen würde, trotzdem uns
der Wind entgegenwehte.


Dieſer, anſtatt ſtärker zu werden, wurde ſchwächer, aber je
mehr er ſich legte, deſto blendender wurde die Sonne, ſo daß ich
im Sonnenlicht, das überall hinflimmerte, bald nichts weiter ſah,
als das Eingreifen der Ruder und die klugen und energiſchen
Köpfe der beiden Kinder. Es entging ihnen auch nicht, daß ſie
mir gefielen, aber ich ſagte nichts, und wir waren ſchon bis über
die Mitte des See’s, als ich endlich fragte:


„Wie tief iſt denn eigentlich Euer See?“


„Na, wie unſ’ Huus.“


„O, mihr, mihr,“ flüſterte die Schweſter.


„Und könnt’ ihr denn auch ſchwimmen? Oder Du wenigſtens?“


„Nei.“


„Ja, da kannſt Du ja mal ertrinken.“


„O, ick wihr doch nich.“


„Nu nimm mal an, wenn euer Boot umkippt.“


„Unſ’ Boot kippt nich.“


Und dabei ſahen ſie ſich an und kicherten und ruderten weiter.


Eine Weile verging ſo, während der Junge nachzuſinnen
ſchien, was nun er wohl zur Unterhaltung beiſteuern könne. Dann
ſah er mit eins in die Höh’ und ſagte: „Dat ’s ’ne Möw’.“


[29]

„Freilich. Ich kenne Möven. Aber woher kennſt Du ſie?
Sie ſind ja nur ſelten hier.“


„Wi hebben een.“


„Lebendig.“


„Ne, utſtoppt. Und wi hebben ook en Reiger, un is ook ut-
ſtoppt un hatt ’ne Schlang in’t Muul.“


„Aber Vögel ausſtopfen iſt nicht leicht. Wer macht denn
das hier?“


„Mien’ Vader ſien Vader. De künn’ all ſo wat.“


„Iſt er todt?“


Er nickte. Da wir aber bereits in der Nähe des dichten
Schilf-Ufers waren, an dem er den Einfahrtspunkt nicht verfehlen
durfte, ſo ſchwieg er jetzt, und ſah bei jedem Ruderſchlage nach
rückwärts. Und nun war er heran, gab dem Boote geſchickt eine
Wendung und glitt zwiſchen dem kniſternden Schilf hin auf die
Pieskower Landungsſtelle zu.


Das Ufer war nicht hoch und erkletterte ſich leicht. Als ich
oben war, grüßt’ ich noch einmal zurück und ſchlenderte dann
zwiſchen zwei Heckzäunen hin auf einen Grasplatz zu, der allem
Anſcheine nach die Mitte des Dorfes bildete. Häuſer und Ge-
höfte faßten ihn ein, unter denen ich gerade der Kirche gegenüber
auch ein preußiſches Schulhaus in ſeiner eigenthümlichen Miſchung
von Backſtein-Sauberkeit und Stil-Jammer erkannte. Die Nach-
mittagsſonne ſtand prall auf die Scheiben und ſah ſtechend und
inſpektionsmäßig in die langweilig leeren Räume hinein.


Es kam niemand als ich klopfte. „Wohnt hier der Lehrer?“
fragt’ ich endlich eine vorübergehende Frau. „Geihen’s man in’n
Goarden.“ Und richtig, da ſtand er in Front eines Bienenſchobers
und grub ein von ein paar kleinen Kirſchbäumen eingefaßtes
Stück Land um.


Ich fand einen freundlichen Mann, der auch gleich bereit
war, mir das zu zeigen, um was ſich’s einzig und allein für mich
handeln konnte: die Kirche. Dieſe war keine von den alt-ehr-
würdigen aus Feldſtein, die ſtets einen Reiz und eine Schönheit
haben, ſondern ein Neubau, den man hier unter Benutzung der
alten Fundamente vor länger oder kürzer errichtet hatte. Von
rechts her lehnte ſich ein Thurm an, eigentlich nur ein Thürmchen
[30] von der Art, wie man ihnen auf Weinbergen und Wirthſchafts-
höfen als Eingang in Sprit- oder Eiskeller begegnet.


Es war alſo mit nur geringen Erwartungen, daß ich die
Kirche betrat. Aber freilich auch dies Wenige ſollte kaum erfüllt
werden. An der einen Wand hingen ein paar Todtenkronen und
Immortellenkränze, während über dem Altar ein Abendmahlsbild
paradirte, darauf Judas um kein Haar breit ſchlimmer ausſah
als die zwölf andern, Chriſtus mit eingerechnet. Ich überſah
raſch, daß hier wenig zu machen ſei, wollt’ aber das Meine ge-
than haben und ſagte: „Sie wiſſen doch, daß es früher eine
Löſchebrandſche Kirche war und daß viele Löſchebrands hier be-
graben wurden?“


„Ich habe davon gehört, unſer alter Emeritus …“


„Und da wundert es mich, hier nichts als kahle Wände zu
finden. Einer aus der Familie war mit Feldmarſchall Illo ver-
ſchwägert, ein andrer fiel bei Fehrbellin, und ein dritter ſoll ſich
gegen die Türken ausgezeichnet und dem Kuprili die große Pro-
phetenfahne mit eigner Hand entriſſen haben. Ich nenne nur
dieſe drei. Nach meinen Erfahrungen nun auf dieſem Gebiete
geht man in unſren märkiſchen Familien über ſolche Dinge nicht
gleichgültig fort, und wenn auch ſelbſtverſtändlich die großen Ge-
ſchichtsbücher nicht Zeit und Platz haben, ein Aufhebens davon zu
machen, ſo thuen es doch die Kirchen und Krypten überall da, wo
ſolche Schwertmagen und Kriegsgurgeln zu Hauſe waren. Und
da gibt es denn immer allerlei Fahnenfetzen und zerbröckelte Feld-
marſchallsſtäbe, Kettenkugeln und Stulpſtiefel, und unter Um-
ſtänden auch wohl roſtige Degen, mit denen ein Bruder den
andern über den Haufen geſtochen. Iſt denn garnicht ſo was
hier? Es iſt doch eigentlich gênable für eine berühmte alte Fa-
milie, wenn all dergleichen bei Todten und Lebendigen fehlt. Es
darf nicht fehlen. Es muß dergleichen geben.“


„Und es hat auch dergleichen gegeben. Hier in dieſer Kirche.
Wenn ich ſage „dergleichen“, ſo mein’ ich nicht Degen mit Bruder-
mord, denn ich will mir nichts an den Hals reden. Aber Grab-
ſteine mit Inſchriften und Engelsköpfen, und einen kupfernen
Sarg mit einem Kuckfenſter oben, all das und manch andres noch
war da. Darüber iſt kein Zweifel.


[31]

„Und Sie haben das alles ſelber noch geſehn?“


„O, nein. Es war das alles lange vor meiner Zeit, und
das Wenige, was ich davon weiß, weiß ich von unſerm alten
Emeritus und von der Mutter Rentſchen, die noch die frühere
Steinkirche gekannt hat und mal mit unten in der Gruft war,
als ſie die Särge ſchoben und zuſammenrückten, um Platz für den
letzten zu ſchaffen. Denn die Pieskowſchen gingen eher ein als
die Saarowſchen. Und der mit dem Kuckfenſter habe ganz bös
ausgeſehn und den Kopf geſchüttelt, als ob er’s nicht leiden wolle.
Denn er ſei ſchon bei Lebzeiten immer ſehr ſtolz geweſen und
habe ſich nicht gerne bei Seite ſchieben laſſen. Es iſt natürlich
alles Dummheit und ungebildet, aber die Leute machen ſich nun
mal ſolche Geſchichten.“


„Und thuen auch Recht daran. Es liegt doch immer was
drin. Und iſt denn die Gruft nicht mehr da? Den mit dem
Kuckfenſter ſäh’ ich gerne.“


„Nein, die Gruft iſt nicht mehr da, ſie haben ſie zugeſchüttet.
Aber hier rechts neben dem Altar, wenn Sie mit Ihrem Stock
aufklopfen wollen, da können Sie’s noch deutlich hören. Es klingt
alles hohl.“


Ich ließ auf dieſe Weiſung hin meinen Stock auch wirklich
fallen, und als ich mich überzeugt hatte, daß er Recht habe, dankt
ich ihm und verließ die Kirche mit dem Hoch- und Vollgefühle,
die Löſchebrandſche Gruftſtelle nicht blos hypothetiſch ermuthmaßt,
ſondern ſie mit Hülfe des „hohlen Klanges“ über jeden Zweifel
hinaus hiſtoriſch feſtgeſtellt zu haben.


Es war nun Zeit, mich nach unſrem Wagen umzuſehn, und
ich hatt’ auch nicht lange danach zu ſuchen. Er hielt drüben an
der andern Seite des Kirchplatzes, vor einem ſehr niedrigen Hauſe,
von deſſen Dache ſich das Moos mit der Hand wegfegen ließ.
Es war ganz erſichtlich der Krug, auch ein Schild ſchimmerte
herüber, aber die Pferde waren nicht ausgeſpannt und fraßen ein-
fach aus einer Stehkrippe. Neben der Thür bemerkt’ ich Moll,
und als er mich kommen ſah, kam er mir entgegen und lüpfte
melancholiſch den Hut.


„Ich dachte, Sie wollten ausſpannen, Moll.“


„Ich wollt’ auch. Man blos es ging nicht. Is das eine
[32] Gegend! In Saarow is nichts, das kenn’ ich, und hier in Pies-
kow is garnichts.“


„Aber die Leute werden hier doch einen Stall haben?“


„Is ſchon richtig. Aber keinen Pferdeſtall. Alles, was ſie
haben, is ’ne Zieg’ un wenn’s hoch kommt ’ne Kuh. Und wer
ein paar Pferde hat, na, der hat auch ein bischen Acker, und
krügert nich und hat nich Luſt zu dienern und zu katzenbuckeln
und einem groben Knecht einen doppelten Bittern einzuſchenken.“


„Ich verſteh. Aber wiſſen Sie, mich friert hier trotz aller
Sonne. Kommen Sie, Moll, wir wollen es drin verſuchen. Es
wird doch wohl warm ſein.“


Und ſo traten wir in die Krugſtube.


Drinnen war es auch wirklich warm. Aber außer der dicken
Luft rührte ſich nichts, trotzdem ſich drei Menſchen in der Stube
befanden. Auf einer Ofenbank, die Füße weit vorgeſtreckt, ſaß
eine Frau von vierzig oder mehr und hatte beide Hände hoch
unter ihre Schürze gelegt, als verberge ſie was. Es war aber
nur Angewohnheit. Ihr zur Seite räckelte ſich ihre vierzehnjährige
Tochter, ein hübſches, ſchlank aufgeſchoſſenes Ding, und beſchäftigte
ſich damit, einen blauen Wollfaden um ihren Zeigefinger herum
und dann wieder abzuwickeln. Am erfreulichſten war das jüngſte
Mitglied der Familie, das auf einer Hutſche ritt und einem höl-
zernen Pferde das wenige von Haaren auszog, womit des Bild-
ners Hand es an Hals und Hintertheil ausgeſtattet hatte.


Mein „Guten-Tag“ war nicht unfreundlich aber doch gleich-
gültig beantwortet worden, und es ſchien in der That nicht als
ob wir weiter kommen ſollten. Endlich faßt’ ich mir ein Herz
und ſagte: „Die Sonne will auch gar kein Ende nehmen. Ich
glaube Regen wäre gut.“


„J, Sünn is ook goot.“


„Oh gewiß. Aber alles zu ſeiner Zeit. Wir haben die Sonne
nun ſchon vier Wochen, und nichts kommt ’raus und eigentlich
müßte doch alles ſchon in Blüthe ſtehn.“


„Joa. Man blot in Pieskow nich.“


„Aber das klingt ja, liebe Frau, wie wenn hier überhaupt
nichts blühte.“


„Na, binoah is et ook ſo.“


[33]

Moll miſchte ſich hier in’s Geſpräch und entwickelte ſeine
Lieblings-Ideen über den Segen des Kapitals und den Unſegen
der Kapitaliſten. Geld ſei gut, das ſei keine Frage, ja Geld ſei
ſogar ſehr gut. Ohne Geld ging’ es eben nicht. Aber die reichen
Leute, die blos reich wären und kein Herz und kein Gewiſſen
hätten und blos immer reicher werden wollten, die verdürben alles
und plünderten alles, und eh nicht ein richtiger Edelmann hier
wieder in’s Pieskow’ſche käm’ …“


„J wo,“ unterbrach ihn die Frau heftig und zog ihre Hände
von der Schürze weg. „J wo. Wat ſalln wi mit’n Edelmann?
Wat is Edelmann! In olle Tiden, na doa gung dat un doa wihr
dat nicht anners. Awers nu? Du mien Jott, de hebben joa alleen
nix. Un wenn ſe wat hebben, na denn hebben ſe wat, und denn
ſinn ſe groad ſo, as de annern ſinn, de wat hebben.“


Moll wollte repliciren. Aber ſie ließ ihn nicht dazu kommen
und ſagte: „Nei, nei, loaten’s man, wi weeten dat; t’is all dumm
Tüg; un man blot Geld hebben, is nich dumm Tüg. Un wenn
wi ſo wat Adligs herkreegen, wat ook man ümmer upp Moſeſſ’n
paſſen deiht, na dat helpt uns nich. De ſchinn uns blot.
Glöwens man, ick weet dat .. Een von mine Schwiſtern is
dröwen …“


„In Saarow?“


„J wo. Dröwen in Amirika. Doa verſtoahn ſe’t. Un
worümm? Wiehl ſe wat hebben. Un wo ſe wat hebben, doa
künn ſe ook wat. Und ick woll, ick wihr ook all doa. Joa, min
Seel. Un et kümmt ook noch ſo. Man blot, dat man ihrſt
röwer wihr. Nei, nei, mit Pieskow is nich veel.“


Und dabei ſteckte ſie die Hände wieder unter die Schürze.


3.
Groß-Rietz.


Eine halbe Stunde ſpäter verabſchiedeten wir uns und fuhren
aus dem unwirthlichen Pieskow, in dem nicht mal mehr ein Grab-
Fontane, Wanderungen. IV. 3
[34] ſtein von beſſeren Zeiten redete (wenn es beſſere Zeiten waren)
in die ſandig hügelige Feldmark hinaus.


„Hören Sie, Moll,“ hob ich an, „das war ’ne forſche Frau.“


„Woll, forſch war ſie. Man blos zu ſehr, un eigentlich
wüthig; un nahm ja gar keine Raiſon an.“


„Ja hören Sie, das ſagen Sie wohl; Sie ſind ein behäbiger
Mann. Aber ſolch armes Volk, das jeden Tag ſeine Noth fühlt,
das wird eben wüthend und muckſch und ſtarrt vor ſich hin.
Uebrigens laſſen wir’s, und ſagen Sie mir lieber, was iſt das
mit dem alten Emeritus? Der Pieskowſche Lehrer konnte ja
gar nicht von ihm los. Iſt er denn noch bei Wege?“


„Freilich. Und wir kommen ſogar an dem kleinen Hauſe
vorbei, das er ſich aus Feldſtein hat aufmauern laſſen. Und hat
ſelber mitgeholfen. Und wenn ich es ſo liegen ſeh’ in Kapper-
folium und Epheu, muß ich immer an Robinſon und Freitag
denken.“


„Und da wohnt er? Und iſt ſchon ſehr alt?“


„Sehr alt und weiß alles. Er hat noch den Kaiſer Napoleon
geſehn, als er aus Rußland kam, und als Studente war er mit
in Griechenland und iſt auch mal mit in die Luft geflogen. Aber
ſie haben ihn wieder ’rausgefiſcht. Und ich hab’ ihn öfter ſagen
hören: Ein jeder hat ſo ſein Schickſal, und wer Paſtor in Pies-
kow werden ſoll, an den kann kein Türke ’ran. Und Feuer und
Waſſer auch nich.“


„Ei, das muß ja ein reizender alter Herr ſein, und wohl
ſehr aufgeklärt und freiſinnig. Oder vielleicht auch ein bischen
zu ſehr. Iſt es ſo was? He?“


Moll lächelte vor ſich hin und ſchien ausdrücken zu wollen:
auf eine ſo feine Frage laß ich mich nicht ein.


Eine kleine Weile danach erreichten wir einen Wald, über
deſſen ſchmalen Fahrweg von rechts und links her eine Menge
Wurzelwerk gewachſen war. Das gab nun ein entſetzliches Ge-
holper und Geſtolper, und ich flog hin und her, aber ich freute
mich doch, aus Wind und Sonne heraus zu ſein.


Es waren hochſtämmige Kiefern und Tannen geweſen, womit
der Wald begonnen hatte; bald aber kam Laubholz und inmitten
deſſelben eine moorige Lichtung, auf deren höher gelegenen Stellen
[35] allerlei vertrocknete Büſche von Beſen- und Haidekraut ſtanden.
Auch Elſen- und Birkenholz lag hier in Klaftern am Wege hin,
und auf einer dieſer Klaftern, die ſchon bis auf wenige Kloben
abgefahren war, ſaß ein alter Herr mit Käpſel und Staarbrille,
neben ſich ein Kind, eine zehnjährige Kleine, während ein
großer Baſtard-Neufundländer, dem die Schäferſpitzkreuzung noch
ein Erhebliches an Intelligenz und Entſchloſſenheit zugelegt hatte,
zu Füßen beider ſich ausſtreckte. Die Kleine war reizend und
ſchien dem Alten etwas zuzuflüſtern.


Als wir vorüber waren, ſagte Moll mit halblauter Stimme:
„Das war er.“


„Wer?“


„Nu, der Emeritus. Er geht hier öfter …“


Aber eh’ er noch ausſprechen konnte, war ich ſchon vom Sitz
herunter und lief die paar Schritt zurück, um dem Unbekannten
und doch bereits ſo Bekannten unter Entſchuldigungen über meine
Zudringlichkeit einen Platz auf dem Wagen anzubieten, immer
vorausgeſetzt, daß er denſelben Weg mit mir habe.


„Danke,“ ſagte der Alte. „Das Aufſteigen iſt mir zu ſchwer
und zu gefährlich; ich ſehe ſchlecht, und die ſcharfe Brille hilft
auch nicht viel. Aber die Beine ſind noch in Ordnung. Iſt es
Ihnen recht, ſo gehen wir ein Stück zuſammen und plaudern ein
bischen. Ich plaudere gern. Irme ſteigt auf den Bock, das Kind
kennt nichts Lieberes, und wir marſchiren auf dem Fahrdamm
hinterher.“


Er ſchien meine Zuſtimmung als ſelbſtverſtändlich voraus-
zuſetzen, erhob ſich alſo und nahm meinen Arm, und als gleich
danach auch Irme zu dem artig bei Seite rückenden Moll hinauf-
geklettert war, ſetzte ſich unſer Zug in eine langſame Bewegung.
Eine Fühlung zwiſchen dem Emeritus und mir war raſch ge-
wonnen, und ſo nannt’ ich ihm meinen Namen und den Zweck
meiner Fahrt.


„Ah, das freut mich, daß jemand in unſere wenig gekannte
Gegend kommt. Es iſt ein eigen Land, ich kenn es und lieb es,
und möcht’ es für die Tage, die mir noch beſchieden, mit keinem
andern vertauſchen; aber es iſt arm und unfruchtbar in jedem
3*
[36] Betracht und ich fürchte faſt, daß es auch an Hiſtoriſchem Ihnen
nicht viel herausgeben wird.“


„Es iſt leider, wie Sie ſagen. Ich war ein paar Stunden
in Pieskow und dachte da wenigſtens von den Löſchebrands allerlei
zu hören. Aber die Gruft iſt zugeſchüttet und die Grabſteine
ſind fort. Und es muß doch ſeinerzeit eine berühmte Familie ge-
weſen ſein.“


„Gewiß, gewiß, und ich habe ſie ſelber noch in guten Um-
ſtänden gekannt, wenigſtens unſre Pieskowſche Linie, trotzdem es
ſchon auf die Neige ging. Und das alles ſeit Anno 93.“


„Ei, das klingt ja gerad’ als ob wir in Frankreich wären.
In Frankreich, wie Sie wiſſen, datirt alles von Quatre-vingt-treize.
Steht es damit in irgend einem Zuſammenhange?“


Nicht in dem geringſten. Es handelt ſich bei dieſem Anno 93
um nichts mehr und nichts weniger als um die Pieskowſche Glocke,
von der eine alte Prophezeihung ſagte: „ſo lange die klingt, ſo
lange dauert der Löſchebrandten Glück.“ Und die Prophezeihung
hielt auch Wort, und die Löſchebrands waren nicht blos die Herren
hier um den Schermützel herum, ſie waren auch große Herren
überhaupt und galten bei Hof und waren verſippt und verſchwägert
mit allem, was reich und vornehm im Lande war. Ihr Liebſtes
aber war der „Dienſt“, und weil es immer ſchöne, ſtattliche Leute
waren, ſo waren ihnen auch die ſchönſten und ſtattlichſten Regi-
menter immer nur gerade gut genug, und alles, was als Löſche-
brand in der Sarrow-Pieskowſchen Taufliſte ſtand, ſtand zwanzig
Jahre ſpäter in der Rangliſte der Garde du Corps und Gens-
darmes. Es waren ächte Junkers, eigenſinnig und hochmüthig,
und ließen die Leute reden, und trotzdem ſie nach Sitte jener
Zeit über ihre Mittel hinaus lebten und eine wunderliche Wirth-
ſchaft führten, erhielten ſie ſich doch in einem guten und zuletzt
wenigſtens in einem leidlichen Vermögens-Zuſtande, weil ſich in
alten Familien immer wieder was zuſammenerbt.“


„Aber freilich ..“


„.. Der Krug geht ſo lange zu Waſſer bis er bricht, und
als Pfingſten 93 kam und am Abend vorher das Feſt eingeläutet
werden ſollte, da klapperte die Glocke, die beim Volke ſeit lange
nur „der Löſchebrandten Glück“ hieß und ſieben Menſchenalter lang
[37] über den Schermützel hin geklungen hatte. Das gab nun ein
Kopfſchütteln im Dorf und allerlei Sorg’ und Furcht im Schloß,
aber Sorg’ und Furcht konnte den Spuk nicht bannen, und ob-
wohlen der alte Gottlob Ernſt von Löſchebrand, der erſt Anno 19
ſtarb und den ich ſelber noch gekannt habe, die Glocke mit ſechs
Pferden und einer ſchwarzen Decke darüber (als ob es ein Leichen-
zug wäre) nach Berlin fahren und einen frommen Spruch mit-
eingießen ließ — einen frommen Spruch an den er nicht recht
glaubte — ſo war es doch von dem Tag an vorbei mit der
„Löſchebrandten Glück“ und iſt ſeitdem auch nicht mehr aufge-
kommen.“


All die Zeit über war mir der Neufundländer unausgeſetzt
zur Seite geweſen und nur ein paar Mal bis an den Wagen
vorgeſprungen, um nach Irme zu ſehn. Der Emeritus aber
öffnete mir immer mehr das Schatzkäſtlein ſeiner Erinnerungen,
und als er hörte, daß ich zunächſt nach Groß-Rietz wollte, rieth
er mir bei ſeinem alten Freunde dem Cantor vorzuſprechen und
ihm Grüße zu bringen, „der werde mir mit Rath und That be-
hülflich ſein und mir zeigen, was zu zeigen ſei.“


Dabei waren wir aus dem Walde heraus und bis in die
Front eines etwas zurückgelegenen und hinter Epheu halbverſteckten
Steinhäuschens gekommen, über deſſen Heckenzaun fort ein kleiner
Pfirſichbaum blühte.


„Wie ſchön,“ ſagt ich. „Wem gehört dies Idyll an der Heer-
ſtraße?“


Der Alte lächelte vor ſich hin. „Es wird wohl das des alten
Emeritus ſein.“ Und wirklich, es war es.


Eine Minute ſpäter ſchritten Großvater und Enkelin auf
das Häuschen zu. Der Neufundländer folgte, verſtimmt über
die zu raſch abgebrochene Bekanntſchaft. Irme drehte ſich noch
einmal um und nickte; dann verſchwanden alle drei hinter dem
Heckenzaun und Moll und ich waren wieder allein.


„Er iſt auch nur arm,“ ſagte mein Philoſoph in ernſter Be-
trachtung. „Und dabei neunundſiebzig. Es is doch eigentlich eine
traurige Geſchichte.“


„Warum? Er ſah ja nicht traurig aus. Ganz und gar
nicht. Aber Sie ſind ein Mammonsjäger, Moll; Ihr drittes
[38] Wort iſt immer Geld, und da kann ich ſchließlich nicht mehr mit.
Ich hab Ihnen heute früh Recht gegeben, aber ſie gehen ja viel
zu weit und vergeſſen, daß ein Unterſchied iſt zwiſchen Pauvre-
ſein und Arm-ſein. Arm-ſein iſt nicht ſo ſchlimm. Achten Sie
mal darauf, immer die, denen das Leben das Leben ſchwer macht,
das ſind die tüchtigſten und klügſten. War nicht die Pieskowſche
Wirthin eine kluge Frau?“


„Ja, ja.“


„Nun ſehen Sie, ſo viel Schneit iſt immer nur bei der
Armuth. Die Noth lehrt beten, ſagt das Sprüchwort, aber ſie
lehrt auch denken, und wer immer ſatt iſt, der betet nicht viel
und denkt nicht viel.“


„Ich bin aber doch lieber ſatt.“


„Ehrlich geſtanden, ich auch. Darin ſtimmen wir nun wieder
zuſammen. Aber es iſt doch auch was mit der Armuth, oder
wenn man ſo will, ſie hat auch ihre Vorzüge.“


„Man blos nich viele …“


„Nein, viele nicht. Aber doch welche. Sehen Sie, Sie haben
viel geleſen und ſind eigentlich, wenn es nicht grad ihre ſchwache
Stelle trifft (Sie wiſſen ſchon welche) für einen gebildeten Fort-
ſchritt. Und nun frag ich Sie, wo ſäßen wir noch und wo wären
wir noch, wenn es keine Noth in der Welt gäbe. Die Noth iſt
der große Treiber oder der eigentliche „Motor“, wie manche ſagen,
und daß ich hier jetzt mit Ihnen herumkutſchire trotz Oſtwind
und dieſer Stichſonne (fühlen Sie mal wie mir die Haut ſchon
abſchülbert) iſt eigentlich auch blos aus Noth.“


„J nu ja, man kann es auch ſo ſagen. Aber ich bin doch
mehr fürs Amoene. Sehen Sie den hübſchen Thurm da vor
uns? Das iſt Groß-Rietz; da kann man doch wieder ein Glas
Bier kriegen und ein Rührei mit Schinken.“


„Und da finden wir auch was in Schloß oder Kirche. Ja,
Sie lachen Moll und denken, „ach das ſagt er ſchon den ganzen
Tag“; aber Sie ſollen ſehen, hier gibt es was. In Groß-Rietz
nämlich hat der Miniſter Woellner gewohnt, freilich erſt als er
in Ungnade gefallen war und iſt auch bald nachher geſtorben.
Wer in Ungnade fällt, heißt es, der lebt nicht mehr lange. Nu
mir könnt’ es nicht paſſiren; in Ungnade-fallen und Penſionirt-
[39] werden iſt eigentlich immer mein Ideal geweſen. Aber der eine
denkt ſo und der andre ſo … Haben Sie ſchon mal von dem
Miniſter Woellner gehört?“


„Nein. Wer war er denn? Ich habe blos noch von die
Manteuffels gehört. Und einer hieß der kleine Manteuffel. Es
muß alſo wohl ſchon vorher geweſen ſein.“


„O lange vorher. Er war Miniſter bei Friedrich Wilhelm II.,
oder wie die Leute ſagen beim dicken König. Und ſie ſagen auch,
er hätt’ ihm immer Hocuspocus vorgemacht und Geiſter und Ge-
ſpenſter, und alles immer mit Weihrauch und Glasharmonika.
Na, vielleicht war es nicht ſo ſchlimm. Und das können Sie
glauben, Moll, er war geſcheidter als manche, die jetzt über ihn
lachen. Is auch gar nicht zu verwundern. Denn wie ging es
denn? Erſt war er blos Hauslehrer und ſoll auch ein paar Mal
gepredigt haben und noch dazu ganz gut; aber zuletzt dacht’ er
doch wohl „es käme nicht viel dabei heraus“ und heirathete lieber
ein junges Fräulein von Itzenplitz. Auch die Mutter, heißt es,
war ihm nicht unhold. „Nicht unhold“ darf man am Ende ſagen
und iſt ein ſtatthafter Ausdruck. Und als er nun das junge
Fräulein geheirathet hatte (die Mutter nahm es alles in die Hand)
da wurd’ er Miniſter und regierte den preußiſchen Staat. Und
das kann doch ſchließlich nicht all und jeder.“


Ich hatte hierbei Molls unbedingte Zuſtimmung erwartet,
aber dieſe blieb aus, und während er es vorzog hin und her zu
diplomatiſiren, fuhren wir bereits in Groß-Rietz ein und hielten
alsbald vor einem Häuschen, das uns als das des Herrn Cantors
bezeichnet worden war.


Ich ſtieg ein paar Stufen hinauf bis in den Flur und
wollte klopfen, aber ein Choral der eben auf einem kleinen Klavier
geſpielt wurde, hielt mich davon ab. Endlich ſchwieg es drin und
ich trat ein.


Ein alter würdiger Herr empfing mich und hörte wohlwollend
aber verlegen meinem Vortrage zu, was mich ſchließlich ſelber ver-
legen machte. So ſehr, daß ich, wie gewöhnlich in ſolcher Lage,
vom hundertſten aufs tauſendſte kam. In dieſem Momente höchſter
Bedrängniß erſchien die Frau Cantorin und ſah mit dem den
Frauen eigenen Scharfblick auf der Stelle, daß es ſich hier un-
[40] möglich um etwas Bedenkliches handeln könne. Sie lud mich
alſo zum Sitzen ein, was ſeitens ihres Mannes noch nicht ge-
ſchehen war, und ſtellte nun ihre Fragen ſo geſchickt und ſo freund-
lich, daß ich mich raſch wieder zurecht fand. „Ich fürchte nicht,
Ihre Zeit allzu lang in Anſpruch nehmen zu müſſen, eine Stunde
wenns hoch kommt. Ohnehin hängt die Sonne ſchon über den
Dächern drüben und wenn wir auch Mondſchein und ſogar Voll-
mond haben, ſo laſſen ſich doch alte Bilder in ſolcher Beleuchtung
nicht allzu gut ſtudiren, die Fenſter mögen ſo hoch und breit ſein
wie ſie wollen. Oder irr’ ich mich, wenn ich annehme, daß ſich
die beiden Woellner-Portraits in Ihrer Kirche befinden?“


„Eines war in der Kirche, das in rother Uniform. Aber
der Herr v. d. Marwitz hat es, als er das letzte Mal hier
war, ins Schloß bringen laſſen, und da hängen ſie nun alle zu-
ſammen.“


„Ich wußte nur von zweien.“


„Ja, zwei Woellner-Bilder … Ede, Du könnteſt ins
Schloß gehen und um den Saal-Schlüſſel bitten; es wär’ ein
Herr da, der die Bilder ſehen wollte .... Ja, zwei Woellner-
Bilder, eines als Miniſter und eines aus ſeiner Hauslehrer-Zeit,
als er noch in Groß-Behnitz war. Ach du lieber Himmel, Groß-
Behnitz! Wie ſich doch alles ändert im Leben. Das war das
Itzenplitziſche Lieblingsgut, und nun hat es Borſig, und der hat
es auch nicht mehr, und iſt blos noch Sommerſitz und Villa für
ſeine Wittwe. Kennen Sie Groß-Behnitz?“


Ich nickte.


„Das alſo ſind die beiden Woellner-Bilder. Und auf dem
zweiten, in einem Talar oder Roquelaur, ſieht er eigentlich aus,
als ob er ein Beichtvater wär oder ſonſt was Katholiſches. Und
auch ſehr hübſch. Es ſind aber außerdem noch zwei Bilder da,
die mit dazu gehören, zwei Frauen-Bilder, und die Leute ſagen,
das eine ſei die Frau Generalin v. Itzenplitz, die ja ſo große
Stücke von ihm hielt, und das andre ſei das Fräulein v. Itzenplitz
(die Tochter der Gnädigen), die dann der Hauslehrer Woellner,
oder vielleicht war er auch ſchon Domainenrath, geheirathet hat.
Aber da kommt Ede. Bringſt Du die Schlüſſel?“


[41]

„Nein. Aber es ſei ſchon gut. Und der Herr ſolle nur
kommen.“


Auf dieſe Zuſage hin erhoben wir uns, die Frau Cantorin
und ich, und gingen nunmehr auf das Schloß zu, das mir ſeiner
großen Renaiſſance-Treppe nach aus der Zeit König Friedrichs I.
zu ſtammen ſchien. Ein Diener wartete ſchon und ſchloß einen
Hochparterre-Saal auf, aus deſſen Fenſtern ich einen Blick auf
einen von Treibhäuſern eingefaßten Garten hatte. Dieſer Blick
war hübſch, aber der Saal ſelber zeigte nichts als eine Steh-Uhr,
eine Portrait-Büſte Friedrich Wilhelms II. und jene vier Bilder,
über die mir die Frau Cantorin einen vorläufigen kurzen Bericht
gegeben hatte.


Der letzte Gluthſchein der untergehenden Sonne fiel auf
drei Bilder; das vierte (kleinere) hing an einer Schmalwand un-
mittelbar daneben und war das Woellner-Bild aus ſeiner Miniſter-
zeit. Er trägt auf demſelben gepudertes Haar, einen rothen
Uniformrock und einen blauen mit Silber geſtickten Kragen. Eben
ſolche Rabatten und Aufſchläge. Die Naſe dicklich, die Lippen
wulſtig, die Augen groß und hervortretend. Alles in allem ent-
ſchloſſen und charaktervoll, aber ohne Wohlwollen.


Auf dieſem kleineren Portrait iſt er ein mittlerer Fünfziger;
auf dem größeren, im rechten Winkel daneben hängenden aber
erſcheint er als ein jugendlicher und in der That ſchöner abbé-
hafter Mann, wie man ihnen auch heute noch innerhalb der
katholiſchen Geiſtlichkeit in Oeſtreich und Süddeutſchland zu be-
gegnen pflegt. Er zeigt ſich, ſeinen damaligen Studien ent-
ſprechend, mit einem Mikroſkop beſchäftigt, zwiſchen deſſen Gläſer
er eben einen zu beobachtenden Gegenſtand gelegt zu haben ſcheint.
Eine Verwandtſchaft zwiſchen den beiden Bildern iſt unverkennbar:
derſelbe ſinnliche Mund, dazu dieſelben großen Voll-Augen. Und
doch welch ein Unterſchied! Auf dem Miniſter-Portrait alles ab-
ſtoßend, hier alles anziehend bis zum Verführeriſchen. Dazu gut
und ſoweit meine Kenntniß reicht in einzelnen Partien ſogar vor-
trefflich gemalt. Von welcher Hand, würde ſich durch Kunſtver-
ſtändige leicht feſtſtellen laſſen, da, nach Antoine Pesnes Tode,
wohl nur wenige Maler in Berlin exiſtirten, die ſo zu malen im
Stande waren.


[42]

Die beiden Itzenplitziſchen Frauen-Portraits, die dieſelbe Wand
ſchmücken, ſind in Ausdruck und Vortragsweiſe nur Durchſchnitt.
Alles Intereſſe verbleibt alſo ihm, und wer die Geſchichte dieſes
vielfach verkannten und unterſchätzten Mannes dermaleinſt zu
ſchreiben gedenkt, wird an dieſen Groß-Rietzer Bildniſſen nicht
vorübergehen dürfen. Sie lehren uns manches in ſeinem Leben
und Charakter verſtehn.


Inzwiſchen war die Sonne geſunken, und als wir jetzt aus
dem Saal auf die große Freitreppe hinaustraten, ſtand der Voll-
mond bereits in aller Klarheit am Himmel. Ihn als Leuchte
zur Seite, gingen wir auf die nahgelegene Kirche zu, hinter deren
Fenſtern ich ein paar Epithaphien und Trophäen in ihrem
flimmernden Schmucke von Waffen und Goldbuchſtaben erkannte.
Dieſer flimmernde Schmuck aber war nicht das, was meine
Schritte hierher gelenkt hatte, vielmehr hielt ich mich jetzt auf die
Mitte des Kirchhofs zu, wo von einer Gruppe von Ahorn-Platanen
umſtellt, ein großer Granit, ein Doppel-Grabſtein lag, auf dem
einfach die Namen ſtanden: „J. C. v. Woellner und C. A. C.
v. Woellner, geb. von Itzenplitz. Sonſt nichts, weder Spruch,
noch Inſchrift. Um die Stätte her war braunes Laub hoch zu-
ſammengefegt und predigte wie der Stein ſelber von der Ver-
gänglichkeit irdiſcher Dinge.


Moll war uns auf den Kirchhof gefolgt. Er ſchien einen
Augenblick zu Reflexionen in dem eben angedeuteten Sinne ge-
neigt, gab es aber doch auf und begnügte ſich ſchließlich mit einer
einfachen Wetterbetrachtung: „Ich dachte der Wind würd’ uns
einen Regen zuſammenfegen. Aber es is nichts. Sehen Sie ſich
blos den Mond an; er hat nich mal ’nen Hof und ſteht ſo blank
da wie’n Zehnmarkſtück.“


„Es is richtig. Aber Moll, warum ſagen Sie blos Zehn-
markſtück?“


„Jott, ich dachte, vor die Gegend …“


Und damit gingen wir auf das Gaſthaus zu, wo mein
Mammon- und Adelsfreund ſchon ein Zimmer für mich und zwar
„auf der rechten Giebelſeite“ beſtellt hatte.


„Gott, Moll, das iſt ja die Mondſeite.“


[43]

„Na, denn tauſchen wir. Ich hab es gern, wenn er mir ſo
prall aufs Deckbett ſcheint.“


4.
Bloſſin.


In aller Frühe brachen wir auf und machten den Weg vom
Tage vorher wieder zurück, einzig und allein mit dem Unter-
ſchiede, daß wir ſtatt um die Nordſpitze des Schermützel um ſeine
Südſpitze herum fuhren.


Es waren dieſelben Bilder, und Wagen und Geſpräche
mahlten ruhig und unverändert weiter. Aus der Reihe der
letztern war eins über Zahnweh unbedingt das wichtigſte, weil
Moll ein Mittel angab, wie dieſem Urfeinde der Menſchheit bei-
zukommen ſei. Man müſſe ſich nämlich alle Morgen beim
Waſchen erſt die Hände trocknen und dann das Geſicht; das ſei
probat und er wenigſtens habe ſeitdem Ruhe.


Gegen Mittag erreichten wir Storkow, eine der beiden
Hauptſtädte dieſer Gegenden, und fuhren eine Stunde ſpäter um
den großen Wolziger See herum, an deſſen Weſtufer ich in
einiger Entfernung unſer eigentliches Reiſeziel erkannte: Dorf
Bloſſin.


Dieſes, trotzdem es nur klein und bloßes Filial zu Frieders-
dorf iſt, iſt doch nichtsdeſtoweniger als der Punkt im Beeskow-
Storkowſchen anzuſehn, dem der Ruhm einer eminent hiſtoriſchen
Oertlichkeit in erſter Reihe zukommt. Es wohnten hier nämlich
die Queiße, von deren Schloß oder Herrnhaus aus die berühmte
Fehde des Nickel Minckwitz ihren Urſprung nahm, ein Fehde,
die mit der derſelben Epoche zugehörigen des Michel Kohlhaas
eine gewiſſe Verwandtſchaft hat.


Ich ſchildre nunmehr dieſe Minckwitz-Fehde nach den Auf-
zeichnungen Wohlbrücks und Engels.


[44]
Urſach der Fehde. Heinrich Queiß auf Plöſſin (jetzt
Bloſſin) führt Beſchwer über ſeinen Schäfer und erhält
kein Recht
.

Der beinah achtzigjährige Heinrich v. Queiß, Gerichtsherr zu
Plöſſin und Lehnsträger des Biſchofes von Lebus, war aus einem
unbekannt gebliebenen Grunde mit ſeinem Schäfer in Streit ge-
rathen, ſo daß dieſer letztre ſich an ſeines Guts- und Gerichts-
herrn Familie thätlich vergriff. Aber nicht genug damit, er ging
in ſeiner Rache weiter, überfiel — nachdem er vorher die Flucht
ergriffen und in Friedersdorf und Dolgenbrod einen Bauern-
haufen um ſich verſammelt hatte — Dorf und Feldmark Plöſſin
und trieb ſeines Herren Schafe fort. Heinrich von Queiß ver-
klagte nunmehr den Aufrührer bei dem Biſchofe von Lebus, der
denn auch ſeinem zu Storkow anſäſſigen Amtshauptmann Ordre
zugehen ließ, nicht nur die weggetriebenen Schafe wieder herbei-
ſondern auch den Schäfer ſelbſt vor ſeines Grundherrn Gericht
zu ſchaffen. Der Amtshauptmann aber erwies ſich als ſäumig
in ſeiner Pflicht und da mittlerweile von Seiten des rachſüchtigen
Schäfers wiederholentlich verſucht worden war Plöſſin in Feuer
aufgehn zu laſſen, ſo wurde der von Queiß immer dringlicher in
ſeinen Vorſtellungen beim Biſchofe.


Dieſer, ſo wenigſtens ſcheint es, war anfänglich zu helfen
aufrichtig bereit und ſandte Befehl über Befehl an ſeinen Stor-
kower Amtshauptmann; als dieſer letztre jedoch in ſeiner Säumig-
keit beharrte, ſchob es der v. Queiß auf Unaufrichtigkeit und böſen
Willen beim Biſchofe ſelbſt und wandte ſich deshalb an Heinrich
Tunckel, oberſten Münzmeiſter des Königreichs Böhmen und der-
zeitigen Landvogt der Niederlauſitz, der in dieſer ſeiner letztren
Eigenſchaft unſtreitig die nächſte höhere Behörde war.


Und der Landvogt unterzog ſich denn auch ſeiner Pflicht und
erſuchte ſelbigen Tages noch den Biſchof „ſich ſeines Vaſallen, des
v. Queiß, mit größrem Nachdruck annehmen und ihn gegen den
Uebermuth und die Schädigungen des rachſüchtigen Schäfers
ſchützen zu wollen“. Der Brief, in dem dies Erſuchen geſtellt
wurde, war, wie die Chroniſten melden „in ſchicklichſter Weiſe“
geſchrieben, nichtsdeſtoweniger empfand der ſtolze Biſchof einen
[45] Groll darüber und äußerte ſich einmal über das andre „daß er
dem Queiß den gethanen Schritt nicht vergeſſen und ihn ſeiner-
zeit zu züchtigen wiſſen werde“.


„Der ſtolze Biſchof“ nennt ihn die Geſchichte der Biſchöfe
von Lebus, und es mag hier eingeſchaltet werden, wer dieſer ſtolze
Biſchof war.


Georg v. Blumenthal, geb. 1490 auf dem Rittergute
Horſt in der Priegnitz, war nach dem Ableben des Biſchofs
Dietrich v. Waldow ſeitens der Lebuſiſchen Domherrn einſtimmig
zum Nachfolger v. Waldow’s erwählt worden, was als eine durch-
aus gerechtfertigte Wahl gelten konnte. Denn in früher Jugend
ſchon hatte ſich der nunmehr Erwählte durch Klugheit und Charakter
hervorgethan. Er war mit 17 Jahren Secretair im Dienſte
ſeines Vorgängers, mit 23 Jahren Rector an der Univerſität zu
Frankfurt geweſen, und hielt als ſolcher eine Rede, darin er die
Studirenden zu Fleiß und gutem Betragen ermahnte. Bald da-
nach empfing er den Grad eines Doctors beider Rechte.


1520 erwählte man ihn, den erſt Dreißigjährigen, zum
Biſchofe von Havelberg, in welche Wahl jedoch Kurfürſt Joachim,
als Landesherr nicht willigte, trotzdem die Wahl bereits die päpſt-
liche Beſtätigung erfahren hatte. Dies führte zu Weiterungen,
aus denen der Kurfürſt anſcheinend als Sieger, in Wahrheit aber
als Beſiegter hervorging, indem er dem Erwählten und durch die
Curie Beſtätigten zum Ausgleich für einen freiwilligen Verzicht
auf Havelberg nicht blos das alsbald zur Erledigung ſtehende
Bisthum Lebus zuſagte, ſondern ihm nebenher auch noch ſeine
gefliſſentlichſte Verwendung für das mecklenburgiſche Bisthum
Ratzeburg in Ausſicht ſtellte. Der Verzicht geſchah, ebenſo hielt
der Kurfürſt Wort, und wenige Jahre ſpäter war Georg v. Blumen-
thal ein Doppel-Biſchof geworden: ein Biſchof von Lebus und
Ratzeburg.


Heinrich Queiß verbindet ſich mit Nickel Minckwitz und
Otto v. Schlieben und rächt ſich an dem Biſchofe, der ihm
ſein Recht verweigert
.

Aus ſolchen Erfolgen und ſolchem Beſitzſtande konnte ſchon
ein „ſtolzer Biſchof“ geboren werden, und Georg v. Blumenthal
[46] in ſeinem nur zu begreiflichen Unmuth über die Kränkung, die
der Appell an den niederlauſitziſchen Landvogt ihm bereitet hatte,
beſchloß jetzt den kleinen Vaſallen, der ihm dieſen Tort angethan,
ſeine ſtarke Hand fühlen zu laſſen. Bis dahin war alles mehr
oder weniger unverſchuldete Säumniß geweſen, wenigſtens ſo weit
der Biſchof in Perſon mitſpielte, nunmehr aber ſchob auch dieſer
die Rechtsgebung abſichtlich hinaus, behauptete daß den Angaben
des Queiß nicht ohne Weitres Glauben zu ſchenken ſei, und ver-
langte von ihm (dem Queiß), daß er ſich dem Gerichts-Zuge
nach Friedersdorf, allwo der Schäfer einen Unterſchlupf gefunden,
anſchließen ſolle, damit gleich an Ort und Stelle Kläger und
Beklagter einander gegenüber geſtellt und ihre Sache gehört werden
könne. Dieſer Aufforderung aber, weil er dem Biſchof nicht
traute, widerſtrebte der v. Queiß, und verlangte nur immer ein-
dringlicher und hartnäckiger eine Verhaftung des Schäfers.


Eine Folge davon war, daß der Zug ſelbſt unterblieb.


Erbittert über dies Verfahren, entſchloß ſich Queiß „wegen
ihm verweigerten Rechtes“ Rache zu nehmen und wandte ſich an
Otto v. Schlieben auf Baruth und den Ritter Nickel v. Minckwitz
auf Sonnenwalde, mit welchen beiden er übereinkam, den wegen
ſeines Stolzes überall im Lande wenig geliebten Biſchof in ſeiner
Stadt Fürſtenwalde heimzuſuchen und nach Sonnenwalde hin ge-
fangen zu ſetzen.


Alle drei: Minckwitz, Schlieben und Queiß (welcher letztre
von jetzt ab zurücktritt) hatten in Kürze 60 Reiter beiſammen,
mit denen ſie den 7. Juli 1528 aufbrachen. Unterwegs aber
vergrößerte ſich ihr Zug bis auf 400 Berittene, darunter auch
ein Kracht von Lindenberg und die beiden Löſchebrands von
Saarow und Pieskow.


In der Nacht vom 8. auf den 9. Juli hielten ſie vor Fürſten-
walde. Die Thore waren ſelbſtverſtändlich geſchloſſen, und Minck-
witz erſann eine Liſt, um ohne Lärm und Gefahr in die Stadt
hinein zu kommen. Er hatte nämlich erkundſchaftet, daß einige
polniſche Frachtfuhrleute, die zu früher Morgenſtunde weiter öſt-
lich auf Frankfurt und die Oder zu wollten, in einer Vorſtadts-
Ausſpannung Quartier genommen hätten, und ſchickte deshalb den
Herrmann Schnipperling, einen v. Schliebenſchen Diener, in eben
[47] dieſe Vorſtadts-Ausſpannung ab, um ſich daſelbſt den Fuhrleuten
als einer der ihrigen anzuſchließen. Es gelang auch über Er-
warten, und der Schliebenſche, der durch Geld und gute Worte die
Polacken leicht zu gewinnen gewußt hatte, war mit unter den
Erſten, die bei Tagesanbruch in das eben geöffnete Thor einritten.
Unmittelbar hinter dem Thore floß ein breiter und ſumpfiger
Spree-Graben, und als der Schliebenſche des hier ſeines Dienſtes
wartenden Thorwächters anſichtig wurde, ritt er an dieſen heran
und bat ihn, ihm den Sattelgurt etwas feſter zu ſchnallen. Der
Thorwächter war auch bereit, eh er aber den Riemen faſſen und
ſcharf anziehen konnte, ſtieß ihn der böſe Schnipperling ins Waſſer
und ſchoß im ſelben Augenblick ein Piſtol ab. Das war das ver-
abredete Zeichen für die bis dahin in einem Kuſſel-Buſch verſteckt
gehaltenen Reiter, die nun in raſchem Trabe das Thor paſſirten
und über die lange Holzbrücke in die Stadt eindrangen. Anfangs
verſuchten hier die grade bei der Frühſuppe ſitzenden Bürger einen
Widerſtand und ſchlugen ſich tapfer mit dem Reitervolk herum,
als ihnen Minckwitz aber zurief: „es gelte dem Biſchof und nicht
ihnen“ ließen ſie vom Kampf ab und gaben den Weg nach der
biſchöflichen Burg hin frei. Freilich ohne daß man auf Minck-
witziſcher Seite noch irgend einen Vortheil davon gezogen hätte,
denn als die Rotte bald danach in die Burg einſtürmte, fand ſie
nur noch das leere Neſt. Der Biſchof hatte Zeit gefunden ſeine
Flucht zu bewerkſtelligen, und nur wenige Dienſtleute wurden zu
Gefangenen gemacht, darunter Matthias v. Blumenthal, des Bi-
ſchofs Bruder.


Das däuchte nun den Minckwitziſchen zu wenig, und wenn
es ihnen anfänglich unzweifelhaft nur um die Perſon des Bi-
ſchofs zu thun geweſen war, ſo ließ ſie jetzt der Aerger alle guten
Vorſätze vergeſſen, und Minckwitz ſelber ertheilte Befehl oder ge-
ſtattete doch wenigſtens, daß das biſchöfliche Schloß; die Domkirche,
das Rathhaus und das Domherrn-Viertel geplündert werde. Was
ſich denn auch unverzüglich ins Werk ſetzte. Selbſt die kirchlichen
Gefäße, die Patenen und Abendmahlskelche, wurden nicht verſchont
und das Zerſtörungswerk geſchah um ſo gründlicher und rückſichts-
loſer, als ſich unter den Plünderern bereits ſehr viele befanden,
die Gegner und Verächter der katholiſchen Kirche waren. Im
[48] Kreiſe der Anführer aber richtete ſich das Hauptaugenmerk auf
ihre beim Domkapitel aufbewahrten Verſchreibungen und Schuld-
ſcheine, die nun, ſoweit ſie zur Stelle waren, entweder vernichtet
oder mitgenommen wurden. Weniger glücklich war Minckwitz in
Perſon, der den im Dom aufbewahrten Domſchatz in ſeine Gewalt
zu bringen hoffte. Die Sakriſtei, darin er ihn muthmaßte, wurde
bis unter den Fußboden unterſucht, aber ein Fleckchen überſah er:
den durch die geöffnete Sakriſtei-Thür gebildeten Winkel. Und
gerade hier ſtand der Kaſten, der den Domſchatz bewahrte.


Zuletzt richtete ſich die Stimmung, wie man kaum anders
erwarten konnte, gegen die Stadt ſelbſt, und als einer aus der
Rotte bemerkte, „daß die Bürgerſchaft an dem Scheitern ihres
Anſchlages eigentlich Schuld ſei, weil ihr Widerſtand dem Biſchofe
Zeit zur Flucht gegeben habe“ fiel man ohne Weitres über die
Bürger her. Einer, der ſich widerſetzen wollte, verlor ſein Leben,
und nur zwei Häuſer entgingen der allgemeinen Plünderung:
eines dadurch, daß der Brauer, der es bewohnte, die heiße Malz-
brühe den Anſtürmenden auf die Köpfe goß, ein andres dadurch,
daß man von innen her ein langes weißes Laken aushängte,
wie wenn ein Todter im Hauſe ſei. Nach ein paar Stunden
endlich hatte ſich das Unweſen ausgetobt, und der ganze Zug zog
wieder heimwärts und nahm des Biſchofs Bruder gefangen nach
Sonnenwalde mit.


Der Biſchof Georg von Blumenthal ſucht Schutz beim
Kurfürſten und Nickel von Minckwitz wird flüchtig
.

Der geflüchtete Biſchof eilte geraden Weges nach der Grimnitz,
wo ſich Kurfürſt Joachim eben aufhielt. Dieſer, nach empfangenem
Bericht, befahl einem ſeiner Diener, dem Martin Böhme, mit
acht Reitern den Räubern nachzuſetzen, um wenigſtens in Erfahrung
zu bringen, wo ſie den Raub zu bergen gedächten. Dies märkiſche
Detachement aber, das für ſeine Aufgabe viel zu ſchwach war,
wurde zu Dobrilug von den Minckwitziſchen überraſcht, und
Martin Böhme ſelbſt fiel, als er eben ſein Pferd beſteigen wollte,
durch einen Dolchſtoß von Schliebens Hand. Seine Reiter wurden
gefangen genommen und erſt nach Jahresfriſt von Sonnenwalde
wieder entlaſſen.


[49]

All dies machte den größten Lärm, und als Luther in
Wittenberg davon hörte, war er höchſt unzufrieden und ſchrieb an
einen Freund: „Ich habe hier weiter Nichts erfahren, als daß
Nikolaus von Minckwitz mit einer zuſammengebrachten Schaar
die Stadt Fürſtenwalde, den Sitz des lebuſiſchen Biſchofs, über-
fallen hat. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde und zu welchem
Zweck. Es mißfällt mir aber außerordentlich, wenn gleich es heißt,
daß Alles ohne Mord und Brand geſchehen und daß vielmehr nur
geplündert worden ſei. Wenn ich von Mißfallen ſpreche, ſo heg’
ich ein ſolches nicht blos darum, weil ſich das Unternehmen gegen
die ſtaatliche Gewalt richtete, ſondern namentlich deshalb, weil es
das Evangelium mit einer neuen großen Gehäſſigkeit belaſtet. So
zwingt man uns, die Unſchuldigen, für die Frevelthaten anderer
zu büßen. Gäbe doch Chriſtus, daß dem ein Ende ſei, vor allem
aber, daß jener Minckwitz nicht noch Schlimmeres begehe. Was
übrigens den Lebuſer Biſchof betrifft, ſo ſoll er in der ganzen
Mark überall verhaßt ſein.“


In dieſer Annahme „von dem allgemeinen Verhaßtſein des
Biſchofs“ mochte Luther im Großen und Ganzen Recht haben;
andrerſeits aber war es nicht minder gewiß, daß er, der Biſchof,
beim Kurfürſten Joachim in hohen Gnaden ſtand. Ungeſäumt
ließ dieſer letztre denn auch einen Befehl ergehen, in welchem er
das ganze märkiſche Land aufforderte, ſeine Kraft einzuſetzen, um
vor Sonnenwalde zu ziehn und das alte Minckwitzen-Schloß zu
zerſtören. Es fehlte nicht an Geneigtheit, dieſem Befehle nachzu-
kommen, und blos aus der Stadt Wittſtock erſchienen 140 wohl-
bewaffnete Bürger, die der Havelberger Biſchof in Perſon dem
Kurfürſten und ſeinem Heere zuführte, welches letztre ſich bei Berlin
zuſammenzog und nach der Angabe mehrerer in dem ſpätern
Prozeß als Zeugen auftretenden Edelleute, aus 6000 Reitern und
40,000 Mann Fußvolk beſtand. Aber auch Minckwitz war nicht
müßig. Er ſuchte nicht blos ſein Schloß, das ohnehin für faſt
uneinnehmbar galt, in noch beſſeren Vertheidigungszuſtand zu
ſetzen, ſondern ging auch außer Landes, um Truppen anzuwerben,
mit denen er, wenn Joachim vor Sonnenwalde zöge, ſeinerſeits
in die Mark einfallen wollte.


Keinenfalls war Minckwitz gefährdeter als der Kurfürſt, eine
Fontane, Wanderungen. IV. 4
[50] Meinung, die Luther theilte. „Dem Anſcheine nach,“ ſo ſchrieb
er, „befindet ſich der Markgraf in größerer Gefahr, als Minckwitz,
denn dieſer hat ſeine Burg befeſtigt und iſt bereit den Angriff
des Markgrafen auszuhalten. Er ſelbſt ſoll jedoch außer Landes
gereiſt ſein und will vielleicht, während der Markgraf belagert,
allerlei anderes in’s Werk ſetzen. Und wer weiß, ob nicht Gott
damit anfängt, den Markgrafen heimzuſuchen wegen ſeiner ſcham-
loſen Pläne, deren er ſo viele hegt und ſo ohne Ende. Ich bitte
Gott um Frieden, und hätte dem Markgrafen alles andre als den
Krieg gerathen. Alle Leute ſagen, die Burg des Minckwitz ſei
nicht einzunehmen, wenn die Soldaten ſie treu vertheidigen wollen.“


Dieſer Anſicht ſchien ſich ſchließlich der Kurfürſt ſelber zuzu-
neigen, denn anſtatt das erwähnte ſtattliche Heer, deſſen Zuſammen-
ziehung ihm 50,000 Gulden gekoſtet hatte, gegen Sonnenwalde
marſchiren zu laſſen, ließ er es nach 14tägigem Zuſammenſein
wieder auseinandergehn und entſchloß ſich, zu Minckwitzens Be-
ſtrafung, einen andern, ungefährlicheren Weg einzuſchlagen. Er
reichte nämlich Klage gegen ihn als Landfriedensbrecher beim Reichs-
kammergericht zu Wetzlar ein und hatte denn auch die Genugthuung
die Reichsacht über denſelben ausgeſprochen zu ſehn.


Der Verklagte war nun vogelfrei, dem Anſchein und dem
Wortlaute nach ein todter Mann. Aber über bloße Worte kam
es nicht recht hinaus.


Der Biſchof Georg von Blumenthal dringt in den
Kurfürſten Joachim auf energiſches Einſchreiten gegen
Nickel Minckwitz
.

Nickel Minckwitz, während die Reichsacht über ihn verhängt
war, trieb ſich in deutſchen Landen umher und ſuchte bald hier
bald dort Sicherheit vor den Nachſtellungen des Kurfürſten und
des Biſchofs von Lebus. Im Jahre 1532 durchzog er Nieder-
ſachſen und Holſtein. Eine Zeitlang hielt er ſich bei dieſer Ge-
legenheit in Lübeck auf, deſſen Magiſtrat ihn aber auf ein von
Cölln an der Spree her erhaltenes Warnungsſchreiben „einem bekannten
Aechter keinen Aufenthalt geſtatten zu wollen“ zu ſchleuniger Ab-
reiſe veranlaßte. Minckwitz begab ſich nun ins Mecklenburgiſche,
woſelbſt ihn Eggert von Quitzow auf Vogtshagen und die Parken-
[51] thine zu Doſſow in Schutz nahmen. Einſt ſah er ſich hier durch
den biſchöflich Ratzeburgiſchen Hauptmann — der als ſolcher in
direkten Dienſten des Biſchofs Georg ſtand — in der Gegend
von Vogtshagen überraſcht, war aber glücklich genug, uneingeholt
das Schloß erreichen zu können, deſſen Brücke nun hinter ihm
aufgezogen wurde.


So viel Glück dies einerſeits war, ſo war doch andrerſeits
des Minckwitzen Aufenthalt durch eben dieſen Vorfall verrathen
worden, und Biſchof Georg forderte, ſobald er davon gehört hatte,
des Kurfürſten ernſte Verwendung bei den Herzögen Albrecht und
Heinrich von Mecklenburg. Joachim zeigte ſich auch willig und
alsbald wurde der Hauptmann zu Ruppin, Matthias v. Oppen,
ferner der Hauptmann zu Zehdenick, Hans v. Hake, und der kur-
fürſtliche Rath Franz Neumann an den Mecklenburgiſchen Hof
abgeſandt, nicht um Minckwitzens direkte Verhaftung und Aus-
lieferung, ſondern nur um einen Befehl an den Eggert Quitzow
und die Parkenthine „den Geächteten nicht länger bei ſich hauſen
zu laſſen“ auszuwirken. Aber aller angewandten Mühen unge-
achtet, gelang es der Geſandtſchaft nicht, die Herzöge nach Wunſch
umzuſtimmen, die ſich vielmehr einer um den andern aus der
Reſidenz entfernten. Als ſich die kurfürſtlichen Räthe ſchließlich
überzeugen mußten, daß ſie den Zweck ihrer Sendung nicht erreichen
würden, entſchloſſen ſie ſich ebenfalls zur Abreiſe. Joachim benach-
richtigte nunmehr den Georg v. Blumenthal von dieſem entſchiedenen
Mißerfolg, empfing aber nur ein in herben und doch zugleich klug
berechneten Ausdrücken abgefaßtes Antwortſchreiben, worin er
ſeitens des Biſchofs zu ferneren und kräftigeren Maßregeln in
dieſer Angelegenheit aufgefordert wurde. „So nun Herzog Heinrich,“
ſchrieb der Biſchof, „nicht begnügig Antwort gibt, ſo achten wir
dafür, daß ſtatt ſeiner wenigſtens Herzog Albrecht etwas thu, auf
daß Eure churfürſtliche Durchlaucht nicht in Schimpf beſitzen bleib
und bei die Leut verachtet werd, dieweil der eine Parkenthin zu
unſerm Hauptmann geſagt hat: „er acht’ Eure churfürſtliche Durch-
laucht nicht beſſer als ſeine Bauern“.“


4*
[52]
Nickel Minckwitz demüthigt ſich vor dem Kurfürſten und
der Streit wird geſchlichtet
.

Es war dies Schreiben, wie ſchon angedeutet, auf die
Schwächen und Empfindlichkeiten des Kurfürſten ſehr geſchickt be-
rechnet, und wohl möglich, daß es in dem gewünſchten Sinne
gewirkt und energiſchere Schritte veranlaßt hätte, wenn nicht eben
jetzt von andrer Seite her ein Ausgleich gekommen wäre. Die
Zeit war nämlich nun da, wo der ſeit Jahren beim Reichskammer-
gericht ſchwebende Prozeß, über die bereits ſtattgehabte Reichsachts-
Erklärung hinaus, einer endgültigen Entſcheidung entgegenſah,
einer Entſcheidung, von der nicht blos Nickel Minckwitz, ſondern,
was wichtiger war, auch die verſchiedenen Freunde, die ſich für ihn
verbürgt, allerlei zu befürchten hatten. Und dies wurde ſchließlich
Grund, daß man Minckwitz beſtimmte, ſich vor dem Kurfürſten
zu demüthigen. Es geſchah dies ceremoniös, im Stil einer
Staatsaction, und am 22. October 1534 erſchien Beklagter auf
dem Schloſſe zu Cölln an der Spree vor großer und feierlicher
Verſammlung, um zunächſt vor dem Kurfürſten einen Fußfall und
gleich danach vor dem Biſchof und der Geſammtheit der Stände
„demüthiglich Abbitte zu thun“. Und nachdem dies vorüber,
erklärten Minckwitzens in Perſon anweſende Freunde: Graf Mans-
feld, Graf Eberſtein-Naugard, vier Grafen Schlick, Johann Burg-
graf zu Dohna auf Königsbrück, ein Herr von Biberſtein, Jan
von Schönburg zu Hoyerswerda, acht Ritter und fünfundzwanzig
andre angeſehene Edelleute „daß ſie ſich verpflichteten, dem Kur-
fürſten mit zweihundert wohlgerüſteten Pferden auf ihre Koſten
und Gefahr vier Monate lang getreue Kriegsdienſte leiſten zu
wollen, eine Verpflichtung, die durch Minckwitzens Tod nicht
aufgehoben werden ſolle“. Zugleich verbürgten ſie ſich für dieſen
letzteren dahin, daß er (Minckwitz) ſich an Niemanden rächen, auch
alle Orte, wo der Kurfürſt verweile, desgleichen auch die Stadt
Fürſtenwalde für immer meiden ſolle.


Die Handlung ſchloß damit, daß der Kurfürſt und der
Biſchof ihm Verzeihung angedeihen ließen und ihn wieder in
Gnaden annahmen. Ja Joachim, ſo wenigſtens wird erzählt, ſoll
entzückt von der klugen Art, die der Beklagte während all dieſer
[53] Vorgänge gezeigt, ihn ſchließlich zur Tafel gezogen haben. Und
als ſie nun becherten und der Kurfürſt ihn fragte: „was er denn
wohl gethan haben würde, wenn ihm die geplante Gefangennehmung
des Biſchofs geglückt wäre“, ſoll er im Uebermuthe geantwortet
haben: Si pervenisset in meam potestatem testiculos episco-
pales ipsi amputassem,
— eine Antwort, die, nach Sitte der
Zeit, unter allgemeinem Ergötzen, und nicht zum wenigſten des
Kurfürſten ſelbſt, entgegen genommen wurde.


So verlief die Fehde.


Der alte Queiß war längſt vorher hingeſtorben, und längſt
hingeſtorben ſeitdem iſt der Queißen altes Geſchlecht. Auch von
dem Herrenhauſe, darin der Streit entſtand, iſt nichts mehr da;
was jetzt dieſen Namen führt, iſt ein verhältnißmäßig moderner
Bau, wahrſcheinlich aus der Zeit Friedrich Wilhelms I.


Alles, was auch nur entfernt an Mittelalter und Ritterthum
und Auflehnung erinnern könnte, hat die Zeit getilgt und nichts
iſt mehr vorhanden, als ein „Inſtitut“, in Betreff deſſen ich in
einem Nachſchlagebuche das Folgende fand: „Das für weibliche
Erziehung ſtrebſame Fräulein Michelſen hat 1856 in Bloſſin eine
Näh- und Strickſchule errichtet.“


Tempora mutantur.


[[54]][[55]]

Die wendische Spree.


[[56]][[57]]

An Bord der „Sphinx“.


Daß ich des Großen Werdepunkt erſeh’,

Hinauf zur Quelle denn der wendſchen Spree,

Die, räthſelvoll, in Sumpf und Sandes mitten

Im Dunkel ruht, bezweifelt und beſtritten.

Am 6. Juli Vormittags empfing ich folgende vom Tage vorher
datirten Zeilen: „Sehr geehrter Herr. Es würde mich außer-
ordentlich freuen, Sie an einer Bootexpedition theilnehmen zu
ſehen, die Seitens der „Sphinx“ am 7. früh von Cöpenick aus
unternommen und bis Teupitz ausgedehnt werden ſoll. Es handelt
ſich, nach vorgängiger Paſſirung befahrenerer Waſſerſtraßen, um
ein Vordringen bis zu den See- und Quellgebieten der „wendiſchen
Spree“, Gebiete, die ſelbſt Ihnen vielleicht auf ihren märkiſchen
Wanderungen unerſchloſſen geblieben ſind. Einer brieflichen Rück-
äußerung bedarf es nicht; ich und einige Freunde ſehen Ihrem
Eintreffen am 6. Abends mit Beſtimmtheit entgegen. Sie finden
uns an Bord. Ihr Backhuſen.“ — In einer Nachſchrift war hin-
zugefügt, daß die „Sphinx“ bereits im Laufe des Tages an der
Südſpitze der Cöpenicker Schloßinſel vor Anker gehen werde.


Dieſe Zeilen verſetzten mich in eine Aufregung, als ob es ſich
um ein Vordringen bis zu den See- und Quellgebieten des Nils
gehandelt hätte. Und ſo wird es immer ſein. Die Erfüllung
eines Lieblingswunſches, ſei der Wunſch ſelber wie er wolle, be-
rührt uns wie Weihnachtsfreude. Das Herz bleibt ein Kind. Ich
war ſofort entſchloſſen, an der Expedition Theil zu nehmen, breitete
den „Kreis Teltow“ vor mir aus, und ſchwelgte vorweg in den
[58] blauen Seeflächen, die, auf der bunten Rappard’ſchen Karte, den
ganzen Weg zwiſchen Cöpenick und Teupitz ausfüllen. Hand in
Hand mit dem Kartenſtudium ging ein Studium des Berghaus,
Abſchnitt: „Hydrographiſche Beſchaffenheit des Spreefluſſes“.
Was ich dadurch an Orientirung gewann, ſei auch dem Leſer nicht
vorenthalten.


An der Brücke von Cöpenick treffen zwei Flüſſe beinahe recht-
winklig zuſammen: die eigentliche Spree und die wendiſche
Spree, letztere auch „die Dahme“ geheißen. Die wendiſche Spree,
mehr noch als die eigentliche, bildet eine große Anzahl prächtiger
Seeflächen, die durch einen dünnen Waſſerfaden verbunden ſind.
Ein Befahren dieſes Fluſſes bewegt ſich alſo in Gegenſätzen, und
während eben noch haff-artige Breiten paſſirt wurden, auf denen
eine Seeſchlacht geſchlagen werden könnte, drängt ſich das Boot
eine Viertelſtunde ſpäter durch ſo ſchmale Defilés, daß die Ruder-
ſtangen nach rechts und links hin die Ufer berühren. Und wie
die Breite, ſo wechſelt auch die Tiefe. An einer Stelle Erdtrichter
und Krater, wo die Leine des Senkbleis den Dienſt verſagt, und
gleich daneben Pfuhle und Tümpel, wo auch das flachgehendſte
Boot durch den Sumpfgrund fährt. So dieſe Waſſerſtraße. An
ihren Ufern hin, ähnlich wie im Spreewald, hielten ſich, bis in
unſere Tage hinein, die wendiſchen Elemente. Wer die Gegend
kennt, nennt ſie deshalb die „Wendei“. Sie hat wenig Dörfer,
keine Städte; ſelbſt der Eiſenbahnzug geht nur wie eine Erſcheinung
durch ſie hin.


So ungefähr waren die Reſultate, die mir Buch und Karte
bei flüchtigem Studium an die Hand gaben.


Vor Anker in Cöpenick.


(Reiſe-Vorabend.)


Am 6. Abends war ich in Cöpenick. Ich hatte die Wahl,
ob ich von der Land- oder Waſſerſeite her an Bord gehen wollte,
entſchied mich aber für Letzteres. Alle Dinge haben ihr Geſetz.
Wer zu einer Parforcejagd geladen iſt, muß in einem rothen
Frack kommen oder wegbleiben. Alſo zu Waſſer. Ein Boot führte
[59] mich um die Schloßinſel herum bis an die Ankerbucht, in der
die „Sphinx“ ſtill und friedlich unter einem Dach weit vorgeſtreckter
Ulmenzweige lag. Ein leiſer Rauch ſtieg anheimelnd aus ihrem
Küchenſchornſtein auf. Nach kurzem Anruf faßte ich eines der
zwiſchen Maſt und Schiffswandung ſtraff ausgeſpannten Taue
und kletterte die Stufen, bloße angenagelte Brettſtücke, hinauf.
Ich fand die Reiſegeſellſchaft bereits verſammelt. Es waren:
Capitän Backhuſen, Lieutenant Apitz, Supercargo Nettermann.
Zu dieſen drei Herren, die ſich als Mitglieder des Seglerclubs
bereits bei mancher Regatta bewährt hatten, geſellte ſich, als ein-
ziger Nicht-Gentleman an Bord, das Factotum Mudy. Er ver-
einigte in ſich alle niedrigeren Schiffsgrade vom Vollmatroſen bis
zum Cajütenjungen, und führte jeden dieſer Titel nicht nur als
ſcherzhaften nom de guerre, ſondern mit allervollſter Berechtigung.
Mit dem Stoßruder in der Hand hatte er ſein halbes Leben auf
Rüdersdorfer Kalk- und Linumer Torfkähnen zugebracht. Seine
Dienſte, wie immer die der Subalternen, waren unentbehrlich. Er
war auch Koch.


Nach Begrüßung und Vorſtellung durch den Capitän, baten
alle drei Herren, ſich auf eine gute halbe Stunde verabſchieden zu
dürfen, da eine, meine eigenen Intereſſen mitberührende Frage,
die der Verproviantirung, noch zum Abſchluß zu bringen ſei.
Mudy werde mittlerweile die Honneurs machen, wenn ich es nicht
vorzöge, mich im Cöpenicker Schloßpark zu ergehen. Ich entſchied
mich für den Park. Mudy blieb mir immer noch; man hat
nirgends ſo viel Zeit zu Perſonalſtudien, wie an Bord eines
Schiffes. Eine ſchmale Falltreppe führte mich an’s Ufer; dann,
meine Richtung auf das Schloß zu nehmend, erreichte ich ein
großes, von einem Kiesweg eingefaßtes Wieſenrondeel. Um dieſen
Kiesweg herum, in weiter geſpanntem Bogen, wuchſen Buſchwerk
und Unterholz auf, aus deren dichtem Gewirr einzelne alte Bäume,
Eichen und Akazien, emporſtiegen. Die Akazien füllten die Luft
mit Wohlgeruch. Es war ein köſtlicher Abend. In den Niſchen
des Buſchwerkes ſtanden halbzerbrochene Sandſteinfiguren, Urnen
und trauernde Engel, anzeigend, daß hier in halbvergeſſenen
Tagen irgend ein prinzeßlicher Vorleſer, irgend ein Mitglied von
Hofſtaat oder Capelle begraben worden ſei. Nun ſchlugen die
[60] Nachtigallen darüber. Eine dieſer Begräbnißſtätten — nicht aus
Pietät, ſondern aus Gärtnerlaune — war von einem Blumenbeet
umgeben. Alles Grün fehlte; nur Lilien, weiße und rothe, drängten
ſich dicht durcheinander. Dieſe prätentiöſe Pracht wirkte beinah
unheimlich. Ein junges Cöpenicker Paar ging an mir vorüber,
das vielleicht Auskunft geben konnte. „Wer liegt hier?“ fragt’ ich.
„Da liegt der Flötenſpieler,“ lautete die Antwort. Und dabei
kicherten Beide.


Ich ſchlenderte noch den Kiesweg auf und ab, als ich meine
Reiſegefährten von der Schloßbrücke her zurückkommen ſah. Es
folgten ihnen drei paar Träger mit großen Deckelkörben, die den
angekündigten Proviant herantrugen. Die Körbe, über den ſchmalen
Steg hin direct an Bord zu ſchaffen, war unmöglich; ihr Inhalt
mußte alſo vom Ufer aus in Einzelſtücken herübergereicht werden,
etwa wie ſich Bauarbeiter die Steine zureichen. Dies gab mir
Gelegenheit die Verproviantirung der „Sphinx“ im Detail kennen
zu lernen. Der Eindruck, den ich davon empfing, war ein ge-
miſchter, denn alles Tröſtliche, was er mit ſich brachte, wurde
durch ebenſoviel Beängſtigendes balancirt. Durch welche Gegenden
mußten wir kommen, um zu ſolchen Vorſichtsmaßregeln gezwungen
zu ſein! Es wurden eingeſchifft: 120 Flaſchen Tivolibier, 120 Flaſchen
Sodawaſſer, 30 Flaſchen Bordeaux, 3 Filets, 2 Schock Eier,
1 Butterfaß, 1 Zuckerhut, 1 Baumkuchen, 6 Flaſchen Scharlach-
berger und 1 Dutzend Flaſchen Champagner. Mehr noch als
dieſe durch Zahl oder Gewicht bemerkenswerthen Quantitäten im-
ponirte mir die Liſte der „Kleinigkeiten“; ſie füllte einen halben
Bogen und wies über hundert Nummern auf. Ich citire daraus
nur folgendes: eine Muscatnuß, ein kleines Reibeiſen dazu, Salvei-
blätter um Aal und Dilldolden um Schlei zu kochen. Alle dieſe
Dinge, groß oder klein, verſchwanden ohne Schwierigkeit in dem
Rumpf des Schiffes; die Butter, das Fleiſch erhielten ihren Platz
auf [großen] Eisblöcken, und eh eine halbe Stunde um war, war
auch die letzte Flaſche „geſtaut“.


Damit hatten die Vorbereitungen ihr Ende erreicht; Ruhe
trat an die Stelle der Arbeit, und während Mudy im Vorderraum
des Schiffes ſich um den Thee bemühte, ſaßen wir auf der
[61] Rundbank zwiſchen dem Steuer und dem Cajüteneingang und
plauderten.


Es war um die elfte Stunde; in der dunklen breiten Waſſer-
fläche ſpiegelten ſich die Sterne, zugleich auch die Lichter aus
Häuſern und Villen, die, im Grünen halbverſteckt, das Ufer des
Fluſſes einfaſſen.


Ich fragte nach dem Schiff, nach ſeiner Bauart, nach ſeinen
Schickſalen, vor allem auch nach dem Seglerclub, dem die „Sphinx“
als eines der ſchönſten Boote angehört. Capitän Backhuſen, im
Allgemeinen kein Mann der Rede, war plötzlich in ſeinem Element
und nahm gern das Wort.


„Ich weiß nicht, um welche Zeit der Club in’s Leben trat,
aber ſeit einer Reihe von Jahren iſt er da. Er hat wohl an
hundert Mitglieder oder mehr, und die Zahl ſeiner Boote wird
nicht geringer ſein. Zwiſchen Treptow und dem Eierhäuschen
ankert ſeine Flotille, die eine Muſterkarte ſchöner und lieblicher
Namen aufweiſt: Sturmvogel und Greif, Komet und Blitz, Libelle
und Forelle, Undine und Albatros. Wir haben Corſos und Re-
gatten, Preisrichter und Preisvertheilungen! Chronometer, Flaggen
und Becher. Der große Ehrenbecher muß von Jahr zu Jahr
immer ueu erworben werden; da dies ſelten glückt, ſo wandert er
meiſt von Hand zu Hand. Aber das weckt keinen Neid; es herrſcht
eben ein kameradſchaftlicher Geiſt.“


„Die Folge gemeinſchaftlich überſtandener Gefahren.“


„Was Sie ſcherzhaft ausſprechen, trifft doch ſchließlich im
Ernſte zu. Aller Sport, der ſonſt nur Spiel wäre, hat ſeine Ge-
fahr, aber keiner mehr als der Segelſport. Ob es an uns liegt
oder an der Perfidie unſerer Gewäſſer, laſſ ich dahin geſtellt ſein;
nur ſo viel, es vergeht kaum ein Jahr, wo nicht die Spree hier
herum ihr Opfer fordert. Und immer nimmt ſie uns die Beſten.
Ein ſolcher war auch Heinecke, der auf Neu-Spreeland wohnte,
unſer Segler-Veteran. Dazu aller Menſchen Freund. Er hatte
ein neues Boot bauen laſſen, fuhr hinaus, kenterte und ertrank.
Das machte einen großen Eindruck. „„Wenn das Dem paſſiren
konnte““ ſagte ſich Jeder und ſah einen Augenblick mißtrauiſch
auf die eigene Kraft.“


„Und der Unfall ereignete ſich hier, auf der Spree ſelbſt?“


[62]

„Nein, weiter aufwärts auf der Müggel. Sie iſt das
tückiſchſte unter allen Wäſſern. Gerade ſo tückiſch, wie ſie unſchuldig
ausſieht. Plötzlich ſpringt ein Wind auf, wirft ſich in die Segel
und legt das Boot auf die Seite. Wer ſich dann an Maſt und
Planke hält, der mag gerettet werden; wer es aber durch eigene
Kunſt ertrotzen will, der iſt verloren. Er verfitzt ſich im Kraut und
geht in die Tiefe. Die guten Schwimmer und die guten Segler,
gerade ſie ſind es, die der Müggeltücke verfallen.“


„Aber muß es denn immer die Müggel ſein?“


„Nein. Es iſt freilich die ſchönſte Waſſerfläche weit und breit,
nicht zu ſprechen davon, daß die Gefahr ebenſo anzieht, wie ſie
ſchreckt. Aber dennoch iſt das Anſehen der Müggel im Nieder-
gehen. Sie muß mindeſtens die Herrſchaft theilen. Wir bevor-
zugen jetzt die wendiſche Spree. Dort finden auch unſererſeits
die Regatten ſtatt, deren ich ſchon flüchtig gegen Sie erwähnte.“


„Man hört ſo ſelten davon.“


„Gewiß. Die Berliner haben keinen Sinn dafür. Man
merkt ihnen nicht an, daß ſie von den Fiſcherwenden abſtammen.
Aber was ſie in ihrer Totalität vermiſſen laſſen, das ſuchen die
Einzelnen wieder auszugleichen. Und dieſe Einzelnen ſind wir.
Ich wollte, Sie wären einmal zugegen, wenn der Mai anbricht
und an unſeren Ankerplätzen Alles Leben und Erwartung iſt.
Wir ſind dann in derſelben Erregung, wie wenn Oxford und
Cambridge an der Brücke von Twickenham ihren Wettkampf
führen.“


„Und der Schauplatz dieſer Wettkämpfe iſt jetzt die wendiſche
Spree?“


„Ja, oder doch zumeiſt. Es iſt daſſelbe Terrain, das Sie
morgen kennen lernen werden. Trotz der Müggel eine pompöſe
Waſſerfläche; die Themſe bietet nichts Aehnliches. Bei Café
Lubow, halben Wegs zwiſchen Cöpenick und Grünau, beginnt unſere
Segelbahn, durchſchneidet der Länge nach den Langen See und läuft
dann an der Crampenbaude vorbei auf unſer Flaggenſchiff zu, das,
weithin ſichtbar, im breiten Seddin-See das erſehnte Ziel aller
unſerer Anſtrengungen bildet. Das Ziel und den Drehpunkt.
Jetzt, mit ſeitwärts gedrücktem Steuer, die Biegung um das
Flaggenſchiff herum, und mit verdoppeltem Eifer geht es die Segel-
[63] bahn bis Café Lubow zurück. Eine Strecke von rund drei Meilen.
Ich darf ſagen, es wird dabei mehr Kunſt gezeigt, als mancher
von uns Spreefahrern erwarten möchte.“


„Und wer entſcheidet über Sieg und Preis?“


„Die Schiedsrichter. Und dieſes Schiedsrichteramt iſt nun
freilich das Schwerſte von Allem. Es handelt ſich nämlich immer
wieder darum, durch minutiöſeſte Rechnungen feſtzuſtellen, wie viele
halbe und viertel Secunden Vergütigung jedes Boot im Verhältniß
zu ſeiner Größe zu empfangen oder zu gewähren hat. Nur nach
dem Reſultat dieſer Berechnung werden die Preiſe vertheilt, ſo daß
es vorkommen kann, daß das drittſchnellſte Boot leer ausgeht und
das drittlangſamſte gewinnt.“


„Es würde mich freuen, an einer dieſer Regatten Theil nehmen
zu dürfen.“


„Da lad’ ich Sie auf nächſtes Jahr an Bord der „Sphinx“.
Sie ſollen uns willkommen ſein. Ja, es iſt ein Vergnügen, wie
es kein größeres gibt, ſolche Wettfahrt mit vollen Segeln, zumal
wenn es ſtark windet, und nun allerhand Unberechenbarkeiten hier
zu Havarien führen, dort Boot und Mannſchaft mit Niederlage
bedrohen. So das letzte Mal. Wir muſterten 31 Fahrzeuge, ein
wundervoller Anblick; aber nur 25 erreichten das Ziel. Die anderen
ſechs hatten Schiffbruch gelitten. Der „Elektra“, unſerem ſchönſten
und größten Boot, brach der Maſt glatt über Deck ab und ſtürzte
ſammt der Takelage in den Seddin-See; der „Styx“ rannte feſt;
der „Forelle“ platzte von dem mächtigen Segeldruck die Wanten-
verbolzung und hob ſich aus dem Schiffskörper heraus; der
„Sturmvogel“ zog Waſſer und mußte Gummiplatten auf die Lecks
nageln, um ſich zu halten. Ein nicht geringerer Unfall traf die
„Undine“. Ihr riß der Leitwagen aus, der das Segel hält und
zwar gerad’ in dem kritiſchen Moment des Lavirens. Aber Willy
Krüger, der ſie führte, ſetzte ſich als lebender Ballaſt auf den Leit-
wagen und ließ ſich halb durch die Wellen ſchleppen. So glückte
es ihm, die Regatta wenn nicht ſiegreich, ſo doch ruhmreich mit
auszuſegeln.“


„Das klingt gut. Es würde mich nach dem Allen kaum Wunder
nehmen, Ihren Seglerclub zu einer Vorſchule für unſere Flotte
heranwachſen zu ſehen.“


[64]

„Ich ſage dazu nicht nein. Ein Jeder nach ſeinen Kräften.
Wie Sie wiſſen, haben die Mittel-Grafſchaften Englands ihren
vollen Antheil an dem Flottenruhm der Nation. Lord Nelſon
war ein Predigersſohn. Das Binnenland hat die Sehnſucht nach
der See, und aus dieſer Sehnſucht erwächſt immer das Beſte.
Nicht aus der alltäglichen Routine. Wollen Sie glauben, daß
wir zwiſchen Café Lubow und der Crampenbaude mehr als einen
Chinafahrer ausgebildet haben?“


„Sie ſcherzen.“


„Durchaus nicht. Ich nenne Namen. Einer dieſer China-
fahrer war Victor von Gräfe, der, zu Mehrung des von Vater
und Bruder her ererbten Ruhmes, das Seine getreulich beigetragen
hat. Wenigſtens nach unſerer Vorſtellung.“


„Und zwar als Chinafahrer?“


„Gewiß. Es mögen jetzt zwanzig Jahre ſein, daß er in
Stettin eine Brigg bauen ließ, ſie befrachtete und mit ihr nach
England ging. Er war Schiffsrheder und Capitain zugleich. Mit
ihm war unſer alter Eichmann, ein Freund und Clubgenoſſe, der
die Dienſte eines Steuermanns verſah. In England wurde die
Fracht gewechſelt; dann ging es in großer Tour erſt bis Ceylon,
dann von Ceylon bis Hongkong. In den oſtaſiatiſchen Gewäſſern
verblieben die Freunde längere Zeit, wurden für die Linie
Singapore-Calcutta gechartert, und befuhren dieſelbe eine Reihe
von Malen. Ihre Ladung war abwechſelnd Thee und Reis. Sie
verdienten ein bedeutendes Stück Geld und trafen nach Ablauf von
dritthalb Jahren wohlbehalten an unſerer pommerſchen Küſte wieder
ein. Ihre Studien zu ſolcher Weltumſegelung aber — denn ich
glaube faſt, daß ſie ihren Rückweg um das Cap Horn nahmen —
hatten ſie auf der Müggel und dem Seddin-See gemacht.“


Unter ſolchem Geplauder war Mitternacht herangekommen;
die Lichter am Ufer hin erloſchen, Nichts leuchtete mehr als die
Johanniskäfer im Gebüſch und die Sterne zu unſeren Häupten.
Die Friſche des Abends ſteigerte ſich zu nächtlicher Kühle und ein
Fröſteln überlief uns, trotzdem längſt energiſchere Getränke an die
Stelle des von Mudy präſentirten Thees getreten waren. Capitain
Backhuſen mahnte zum Aufbruch. In der Cajüte drückte noch die
Schwüle des Tages, ſo daß wir übereinkamen, die Thür nicht zu
[65] ſchließen. Zum Schutze gegen Mücken und Motten wurde dicht
am Steuer ein Windlicht aufgeſtellt, das wir unmittelbar darauf
von all den Unholden umſchwärmt ſahen, die ohne dieſe Vorſichts-
maßregel unſere Nachtruhe geſtört haben würden. So aber ſchliefen
wir unbeläſtigt unſerem erſten Reiſetag entgegen.


Von Cöpenick bis Dolgenbrod.


(Erſter Reiſetag.)


Als ich erwachte, war es heller Tag; die ſchon ziemlich hoch-
ſtehende Sonne füllte die Cajüte mit Licht und an dem Lärm auf
Deck, nicht minder an einer leichten Schaukelbewegung, ließ ſich
unſchwer erkennen, daß unſere „Sphinx“ bereits unter vollen Segeln
war. Und ſo war es wirklich. Schloß Cöpenick, ſelbſt das preis-
richternde „Café Lubow“, das am Abend vorher ſo oft genannt
worden war, lagen längſt hinter uns, und die Müggelberge links,
die Spree-Haide rechts, fuhren wir mit ſcharfer Morgenbriſe den
Langen See hinauf.


Der Nordweſt, der blies, ſo ſehr er unſerer Fahrt zu Statten
kam, ließ es doch wünſchenswerth erſcheinen, unſer Frühſtück in der
Cajüte zu nehmen, deren etwa nur zehn Fuß im Quadrat meſſen-
der Raum ſchnell gelüftet war. Mudy trug auf, ein Rieſentablet
vor uns niederſetzend. Wir verfügten noch über all jene Herrlich-
keiten, die auf Seereiſen trotz ihrer Einfachheit die größten Luxus-
artikel bilden: friſches Waſſer, friſche Milch und — friſche Semmeln.
Mit letzteren hatte uns Cöpenick noch in aller Frühe verſorgt.


Eine heitere halbe Stunde leitete den Tag ein, heiter und
ſchönheitsvoll. In den Rahmen der offenſtehenden Cajütenthür
ſtellten ſich camera-obscura-artig die Veduten dieſer Spree- und
Müggel-Gegenden. Ruhig ging die Unterhaltung; wenn ſie ſchwieg,
vernahmen wir deutlich jenen unbeſchreiblichen Gluck- und Murmel-
ton, womit ſich ein ſcharfdurchſchnittener Strom in nur halb ge-
hobenen und unfertig bleibenden Wellen an die Planken eines
Schiffes ſchmiegt.


Unſer Auge richtete ſich zumeiſt auf die wechſelnden und
doch dieſelben bleibenden Landſchaftsbilder, die jetzt in immer heller
Fontane, Wanderungen. IV. 5
[66] werdender Beleuchtung durch unſere Thür hereinſchienen; nur von
Zeit zu Zeit wandte ſich der Blick auch unſerer nächſten Umgebung,
vor Allem der Cajüte ſelber und ihrer compendiöſen Einrichtung
zu. Es fehlte Nichts. Von der in Zapfen hängenden, alle Be-
wegungen des Bootes mitmachenden Lampen-Vorrichtung an bis
zu der kleinen Druckmaſchine herab, die die Cigarrenſpitzen ab-
ſchneidet, war Alles da. Flaſchen, Gläſer und Flacons ſtanden
eingepaßt in ihren Behältern; überall Polſter und Kiſſen, jeder
Gegenſtand des Comforts und der Toilette vertreten. Eß- und
Spieltiſche konnten aufgeklappt oder ausgezogen werden. Das
Ganze beſtändig an jene Carlsbader Etuis erinnernd, die in zwei
zuſammenpaſſenden Nußſchalen eine Scheere, einen Fingerhut, einen
Bindlochſtecher und eine Nadelbüchſe enthalten, während man doch
annehmen ſollte, daß der Fingerhut allein ſchon ausreichen müßte,
das Etui zu füllen.


Nach dem Frühſtück, dem namentlich unſer Supercargo durch
allerhand culinariſche Aperçus eine höhere Weihe zu geben wußte,
ſtiegen wir auf Deck, und hatten nun die Wald- und Waſſer-
Landſchaft, die wir, während der letzten Stunde, nur in Ausſchnitten
kennen gelernt hatten, in ihrer Totalität vor uns. Ein klarer,
lichter Tag; blauer Himmel und Sonne, und doch ein feiner grauer
Nebelſchleier, der, über Waſſer und Landſchaft liegend, Alles
milderte und dämpfte. An den Ufern hin — ein ſeltener An-
blick im norddeutſchen Flachland — ſtanden hochaufgeſchichtete
Holzmeiler, beſtimmt, zu Kohle verbrannt zu werden. Wie mir
verſichert wurde, eine Folge des Raupenfraßes, der nur noch dieſe
Verwendung der geſchädigten Kiefernwaldungen geſtattet, oder ſie
doch als die vortheilhafteſte erſcheinen läßt. Zwiſchen den Holz-
meilern, und auf eine weite Strecke hin mit ihnen abwechſelnd,
erhoben ſich die Koloſſalbauten der Berliner Eiswerke, die, halb
wie Rieſenſchuppen einer Fabrik-Anlage, halb wie die Gradir-
wände einer Saline dreinſchauten. Zu meiner Ueberraſchung erfuhr
ich, daß auch zu Zeiten Feuer in ihnen ausbricht.


Eingeſprenkelt in dieſe Meiler und Eiswerke, die auf weithin
die Ufer beherrſchen und ihnen den Charakter geben, präſentirten
ſich auch Villen-Anlagen, die in allen erdenklichen Spielarten,
namentlich im italieniſchen und engliſchen Caſtell-Stil, zu uns
[67] ſprachen. Dicke und ſchlanke Flachthürme, mit Pfeilern, Sims
und Baluſtrade. Alles in Allem ein wunderbarer Anblick, der,
nach mehr als einer Seite hin, zu denken gibt. Gefliſſentlich an
den unübertroffenen Vorbildern Schinkel’s und ſeiner Schule
vorübergehend, wie ſie die Villenſtraßen des Thiergartens auf-
weiſen, gefällt ſich der Bourgeois unſerer öſtlichen Stadtreviere
darin, ſeinen „Donjon“, und, wenn es ſein kann, ſelbſt ſeinen
„Belfroi“ zu haben. Und dieſer Schiefheit des Gedankens ent-
ſpricht die Ausführung, die er erfährt. Eine geſchäftsbefreundete
„Firma“, die ein Ignoriren nicht wohl geſtattet, empfängt den
Bau in Entrepriſe, und todt und ſteif werden nun die Rund- und
Spitzbögen aus dem Nürnberger Spielkaſten genommen.


Eben wieder lag ein reichgegliederter „Tudorthurm“, deſſen
hochaufgehißtes Banner allem Stolz von York und Lancaſter zu
trotzen ſchien, glücklich hinter uns, als die Waſſerfläche des Langen
See’s ſich verbreiterte, und unſeren Architektur-Unmuth, ſoweit er
überhaupt an Bord unſeres Schiffes getheilt wurde, in dem Im-
poſanten des landſchaftlichen Bildes untergehen ließ. Wir waren
in das eigentliche Regatta-Terrain eingefahren und befanden uns
in Nähe jener haffartigen Stelle, wo ſich, Angeſichts der Schmöck-
witzer Brücke, vier über Kreuz geſtellte Seeflächen: der Lange See,
der Seddin-See, die Crampe und der Zeuthener-See, ein Rendez-
vous geben.


Der Nordweſter wuchs, raſcher ging die Fahrt, feuchter und
erquicklicher wurde die Luft.


Das Bild nahm uns gefangen: wir waren begierig, es von
einer Hochſtellung aus beſſer überblicken zu können. Eine Strick-
leiter war nicht da, die wir hätten erklettern können; ſo feſtigten
wir, rechts und links, ein Klammer- und Hakenbrett an die zwiſchen
Maſt und Wanten ſtraffgeſpannten Schrägtaue, und nahmen auf
dieſen Brettern hüben und drüben unſeren Stand. Capitain
Backhuſen, den Tubus in der Hand, gab nicht nur die Ordres,
ſondern auch die Informationen. „Das iſt die Crampenbaude,
das iſt Philippshütte, das iſt der Schmöckwitzer Thurm; hier in
Front aber, wo ſie die Rohrinſel ſchwimmen ſehen, das iſt „Robins-
Eiland“, wo unſer Flaggenſchiff an den Regatta-Tagen zu liegen
5*
[68] pflegt. Dahinter ſteigt der Müggelsheimer Forſt an, und wo er
ſich wieder ſenkt, das iſt Kahniswall.


„Kahniswall?“ fragte ich einigermaßen überraſcht.


„Gewiß, Kahniswall. Kennen Sie es? Eine Coloniſten-An-
lage; früher ein Fiſcherhaus.“


„Ja, dann kenn’ ich es. Nicht von Anſehn, aber aus einer
Erzählung. Und Robins-Eiland, das dort im Rohrgehege mit
den drei Pappelweiden ſchwimmt, muß dann juſt die Inſel ſein,
wo meine Robinſonade ſpielt.“


Wir ſtiegen wieder auf Deck, und die Aufforderung erging
an mich zu erzählen, wobei es nicht an Zweifeln und ſcherzhaften
Vorwürfen fehlte, ihnen, „den Halb-Autochthonen dieſer Gegenden“,
etwas Neues über die nördliche Wendei verrathen zu wollen.


„Wir wiſſen hier Beſcheid, wie in unſerer eigenen Taſche;
wir könnten Civilſtandsregiſter führen und Chroniken ſchreiben, und
nun kommen Sie, um uns auf unſerem eigenen Terrain eine Nieder-
lage zu bereiten. Kahniswall, eine Robinſonade; was iſt es
damit?“


„Ich habe vor Jahren, als ich Geſchichten aus dem Teltow
ſammelte, durch Güte eines Freundes davon erfahren. Es war
eine briefliche Mittheilung und trug die Ueberſchrift: „der Fiſcher
von Kahniswall“.


„Nun ſo laſſen Sie hören.“


„Gut denn.“


Der Fiſcher von Kahniswall.


„Fiſcher Kahnis hielt eine Fähre, da, wo der Rahnsdorfer
Spreearm in den Seddin-See eintritt. Das Häuschen, das er be-
wohnte, war des ſumpfigen Untergrundes halber von ihm ſelber
auf einem eigens hergerichteten Damm oder Wall aufgeführt worden,
und weil Alles damals noch ohne feſte Bezeichnung war, erhielt
dieſe Wallſtrecke, wo ſein Häuschen ſtand, den Namen Kahniswall.
Die Coloniſten von Goſen und Neu-Zittau, ſeine nächſten Nachbarn,
vergaßen über dieſen Ortsnamen ſehr bald den Namen deſſen, der
Wall und Häuschen erſt geſchaffen hatte, und nannten ihn, nach
[69] ſeiner Schöpfung, den „Fiſcher von Kahniswall“. Dieſe Bezeich-
nung verblieb ihm auch ſein Lebelang, trotzdem er, bei jungen
Jahren ſchon, die nach ihm benannte Heimſtätte verließ. In der
Geſchichte jedoch, die Sie nun hören ſollen, werd’ ich ihn, der
Kürze halber, einfach bei ſeinem Namen nennen.


Kahnis hatte eine junge Frau, eine Koſſäthentochter aus
Schmöckwitz, die ſehr blond und ſehr hübſch war, viel hübſcher als
man nach ihrem Geburtsort hätte ſchließen ſollen. Er war, bei
Beginn unſerer Erzählung, drei Jahre mit ihr verheirathet und
hatte zwei Kinder, Krausköpfe, die er über die Maßen liebte.
Seine Hanne aber liebte er noch viel mehr. Hatte ſie doch, allem
Dreinreden unerachtet, aus bloßer Neigung zu ihm — er war ein
ſtattlicher Spreewende — eine Art Mesalliance geſchloſſen.


So kam der Oktober 1806. Eh’ der Unglücks-Monat zu
Ende war, waren die Schelmen-Franzoſen in Berlin, und drei
Tage ſpäter auch in Cöpenick. Hier ſah ſie nun unſer Kahnis.
Es waren Küraſſiere von der Diviſion Nanſouty. Als er hörte,
daß ein paar Schwadronen auch auf die umliegenden Dörfer ge-
legt werden ſollten, überkam ihn ein eigenthümlich ſchreckhaftes
Gefühl, eine Eiferſuchts-Ahnung, ein Etwas, das er bis dahin
nicht gekannt hatte. Wer wollt’ es ihm verargen? Er war ge-
rade geſcheidt genug, um zu wiſſen, daß die Weiber, in ihrer ewigen
Neugier, das Fremde und Aparte lieben, und ſo ſehr er ſeiner
Hanne unter gewöhnlichen Verhältniſſen traute, ſo wenig glaubte
er ihrer ſicher zu ſein, wenn es ſich um einen Wettſtreit mit den
Nanſouty’ſchen Küraſſieren handelte, die alle ſechs Fuß maßen und
einen drei Fuß langen Roßſchweif am Helme hatten. Ich muß
ſagen, daß er ſich hierin, wie in vielen anderen Stücken, als ein
einfacher, aber ſehr verſtändiger Mann bewies.“


Capitain Backhuſen nickte zuſtimmend.


„Kahnis ſann alſo nach, wie er der Gefahr entgehen könne,
überſchlief es und ſagte dann anderen Tages früh: „Hanne, komm’;
ich mag die Kerls nicht ſehen. Sie haben keinen Herrgott und
ſtehlen Kinder. Hier an der Straße ſind wir nicht ſicher vor
ihnen. Ich weiß aber einen guten Platz, wo ſie uns nicht finden
ſollen. Ewig wird es ja nicht dauern.“ Daß er aus eiferſüchtiger
Furcht ſeinen Vorſchlag machte, davon ſchwieg er. Er verfuhr wie
[70] immer die Ehemänner in ihrer Bedrängniß und that Alles „um
der Kinder willen“. Hanne war eine gute Frau und zärtliche
Mutter; zudem hielt ihre Erkenntniß gerade die Höhe von Schmöck-
witz. Sie gab alſo unſerem Kahnis einen herzhaften Kuß, zum
Zeichen, daß ſie mit Allem einverſtanden ſei. Und das iſt immer
das Beſte was Frauen thun können.“


Capitain Backhuſen nickte abermals zuſtimmend.


„Geſagt, gethan. Viel Zeit war ohnehin nicht zu verlieren.
Unſere Fährleute gingen raſch an’s Werk, und das Einſchiffen
ihrer Habſeligkeiten begann. Das große Fährboot hatte ja Platz
vollauf. Betten und Wiege, die Bibel und die Kuckucksuhr, die
Kinder und die Ziege wurden geladen, und ehe die Sonne unter
war, fuhren alle Inſaſſen von Kahniswall, nichts weiter als die
kahlen Wände zurücklaſſend, nach der Inſel im Seddin-See hin-
über. Da der Seddin-See nur eine Inſel hat, ſo muß es Robins-
Eiland geweſen ſein. Hier bezogen ſie zunächſt ein Camp, in deſſen
Mitte Kahnis aus Balken und Bohlen eine Wohnſtätte zuſammen-
nagelte, die halb Blockhaus, halb Bretterhütte war. Der Winter
ſetzte alsbald hart ein; aber wer wie Kahnis drei Jahre lang von
dem Fährpfennig der Goſener Coloniſten und dem Markt-Ertrage
ſeines Fiſchkaſtens gelebt hatte, der war eben nicht verwöhnt.
Zudem verſtand er ſich darauf, den Unbilden der Witterung zu
begegnen. Schilf, das er in dichten Bündeln auf ſein Block- und
Bretterhaus packte, dazu ein darüber gebreitetes altes Segeltuch,
gaben Schutz gegen Regen und Kälte; eine Feuerſtelle war bald
aufgemauert, und lange bevor die Oſterſonne im Seddin-See ſich
ſpiegelte, fand Kahnis, daß die alte Kuckucks-Wanduhr auf der
Inſel gerade ſo gut ſchlüge, wie daheim auf Kahniswall. Die
Ziege gab Milch; an Fiſchen und Sumpfvögeln war Ueberfluß, und
als die Brutzeit heran kam, lagen die Enten- und Kibitzeier zu
vielen Hunderten rings um die Inſel her. Allſonnabendlich brachte
er ſeine Fiſche nach Cöpenick, kaufte Wochenbrot, und beobachtete
das politiſche Wetterglas, vor Allem die Cöpenicker und ihre Ein-
quartierung. Was er da ſah und hörte, machte ihn nur feſter in
ſeinem Entſchluß, das Kriegswetter erſt vorüber ziehen zu laſſen;
das Franzoſenzeug war gerade ſo, wie er es ſich gedacht hatte,
aber das Weiberzeug war viel ſchlimmer. Er beglückwünſchte ſich
[71] deshalb zu ſeiner Inſel-Einſamkeit, und fuhr jedesmal fröhlich
wieder heim.


Im Spätſommer anno 8 hieß es: „jetzt ziehen ſie ab“.
Kahnis aber ſchüttelte den Kopf und ſagte: „ſie ſind noch da; und
wenn ſie nicht mehr da ſind, ſo kommen ſie wieder; Hanne, wir
wollen bleiben, wo wir ſind“. Und darin war unſer Robinſon
auf Robins-Eiland klüger als mancher Allerklügſte. Denn ſie
kamen wirklich wieder.


Kahnis freilich, als er ſo ſprach, hatte nicht ſeine Klugheit,
ſondern nur ſeine Neigung befragt. Das Wahre von der Sache
war: er wollte nicht mehr fort. Aus dem Schlupfwinkel, den er
zwei Jahre früher als ein Flüchtling betreten und zunächſt nur
wie einen Lagerplatz eingerichtet hatte, war längſt ein anſehnliches
Gehöft mit Stube und Stall, mit Kammer und Keller geworden,
das nicht mehr inmitten einer ſchilfüberwachſenen Inſel, ſondern im
Centrum eines von Garten- und Ackerſtreifen durchzogenen und
von einem Schilfgürtel nur eben noch eingefaßten Wieſen-Rondeeles
lag. Hier gruben und pflanzten Mann und Frau wie die erſten
Menſchen, und als endlich, nach zweimaliger Entſcheidung, nach
Leipzig und Waterloo, wirklich der große Frieden kam, und Kahnis
nun ehrenhalber ſagen mußte: „Hanne, jetzt iſt es Zeit“, da ſenkte
dieſe den Kopf und erklärte, daß ſie bleiben wolle. Das war es
was er zu hören gewünſcht hatte. Nun geſtand er ihr auch, daß
er nicht aus allgemeiner Franzoſenfurcht, ſondern aus ganz beſon-
derer eiferſüchtiger Sorge vor den Nanſouty’ſchen Küraſſieren auf
die Inſel gezogen ſei. Hanne machte kein Aufhebens von dieſem
Geſtändniß. Sie nahm nur das Schmeichelhafte heraus und ent-
ſchlug ſich aller tugendlichen Empfindſamkeit. Viel Nachdenken war
überhaupt nicht ihre Sache.


So gingen die Jahre. Die Kinder wuchſen heran, verließen
Haus und Inſel; endlich ſtarb auch die Frau. Kahnis ſtellte den
Sarg auf ſein beſtes Boot und fuhr quer über den See, um der
Todten auf dem Schmöckwitzer Kirchhof ein chriſtliches Begräbniß
zu geben. Denn in Lutheri Catechismo von Jugend auf feſt,
war er, der ſeit langen Jahren mehr mit Gott als mit den Menſchen
gelebt hatte, in ſeinem Glauben immer lebendiger geworden. Am
Ufer warteten die Träger, Schmöckwitzer Koſſäthen. Als ſie den
[72] Sarg niederließen, da, zum erſten Male, kam ein Schwanken in
ſein Herz, und er erſchrak, wenn er an die Oede von Robins-Eiland
dachte; denn er war nun ganz allein. Aber die Anhänglichkeit
an den Boden, den er ſich errungen hatte, ſiegte auch diesmal,
und gutes Muthes kehrte er in ſeine Einſamkeit zurück. Die Inſel
war ſeine Welt geworden.


Sein Leben blieb daſſelbe: allwöchentlich fuhr er zu Markt
und bot ſeine Fiſche feil, wie er es vierzig Jahre lang gethan
hatte. Er war wohl gelitten in Cöpenick; ſie kannten ihn alle;
und nur zu Zeiten blieb er aus. Dann lebte er mit den Cöpe-
nickern in Fehde. Oft um kleiner Dinge willen, aber auch um
großer. 1848 ließ er ſich ein halbes Jahr lang nicht ſehen und
kam erſt wieder, als „Vater Wrangel“, deſſen Bild er damals mit
einer breiten Goldborte an die Stubenthür klebte, ſeinen ſiegreichen
Einzug gehalten hatte. Die Cöpenicker, als ſie ihn wiederſahen,
vergaßen allen politiſchen Hader und ſagten nur: „alte Leute ſind
wunderlich“.


Meine Geſchichte geht zu Ende. — Es war am erſten Sonn-
abend des Monats October 1850. Kahnis blieb aus. Die
Cöpenicker rechneten nach, worin ſie’s wohl wieder verſehen haben
könnten, konnten aber Nichts finden. Daß Kahnis einmal eines
von ihm und ſeiner Laune ganz unabhängigen Zwiſchenfalles
halber fehlen könne, das fiel Niemanden ein. Darin waren die
Schmöckwitzer klüger. Dieſe, als er Tages darauf in ihrer Kirche
fehlte, wußten, was geſchehen war. Sie fuhren hinüber und fanden
ihn neben der Schwelle ſeiner Thür, auf einem Bündel Schilf
ſitzend, das er ſich ſeit lange, als ſeine Altersbank, zurecht gelegt
hatte. Es war erſichtlich, daß er, die warme Herbſtſonne ſuchend,
an dieſer Stelle eingeſchlafen war, um nicht wieder zu erwachen.
Die Verwandtſchaft der Frau richtete ihm ein groß Begräbniß her;
der Schmöckwitzer Küſter ſchrieb an die beiden Söhne, die mit
ſieben Enkeln und anderthalbhandbreitem Krepp um den Hut, von
Berlin und Rathenow herüber kamen, die ganze Cöpenicker Fiſcher-
zunft aber, die, ſchon zwei Stunden vor Beginn der Feierlichkeit,
bei der Inſel angefahren war, folgte jetzt in dreißig Booten nach
Schmöckwitz hinüber. Der Prediger, der den alten Mann ſehr
geliebt, und ſeiner Gemeinde als das Bild eines ſchlichten und
[73] frommen Chriſten oft empfohlen hatte, ſprach über das Schriftwort
„ei Du frommer und getreuer Knecht, Du biſt über Wenigem
getreu geweſen, ich will Dich über Viel ſetzen; gehe ein zu Deines
Herren Freude.“ Und denſelben Spruch hat auch der Schmöckwitzer
Tiſchler auf das Grabkreuz unſeres Freundes geſchrieben.“


„Dies Grab müſſen wir beſuchen,“ rief jetzt Capitain Back-
huſen mit Emphaſe; „das iſt mein Mann; allein ſein, Nichts von
der Welt wollen!“ Und Lieutenant Apitz und unſer Supercargo,
trotzdem ſie als Typen ausgeſprochenſter Geſellſchafts-Neigung
gelten konnten, ſtimmten begeiſtert bei. Denn mit Nachdruck aus-
geſprochene Sätze ſind ihres Einfluſſes immer ſicher.


Wir waren inzwiſchen bis in unmittelbare Nähe der Schmöck-
witzer Brücke gekommen. Capitain Backhuſen gab ein Zeichen mit
Horn und Sprachrohr, und gleich darauf, während die halbe Dorf-
jugend herzudrängte, hob ſich eine der Brückenklappen und geſtattete
uns, unter Salut und Zoll, die Einfahrt aus dem Seddin-See
in den Zeuthener-See zu machen. Unſere erſte Station war er-
reicht: Schmöckwitz. Die „Sphinx“ legte an; wir ſtiegen an’s
Ufer, um auf eine halbe Stunde wieder terra firma unter den
Füßen zu haben.


Schmöckwitz, eine Art Capitale dieſer Gegenden, wirkt doch
ganz nur wie ein Dünendorf an der Oſtſeeküſte. Oed und ärmlich.
Hinter Sandhügeln verſteckt, in tiefen Löchern und Einſchnitten
liegen einzelne Häuſergruppen, während ſich alte und junge Kiefern,
oft mehr wagerecht als aufrecht ſtehend, an den ſandigen mit
Strandhafer überwachſenen Abhängen entlang ziehen. Inmitten
des Ganzen die Kirche, ein triſter Bau, aus dem Anfang dieſes
oder vielleicht auch des vorigen Jahrhunderts.


So wenig einladend nun das Aeußere derſelben war, ſo
drang ich doch, nach vielfacher auch auf dieſem Gebiete gemachter
Erfahrung, die jedes Vorweg-Urtheil verpönt, auf Beſuch des
Inneren. Denn die trivialſte märkiſche Dorfkirche kann immer
noch das Rührendſte und die häßlichſte immer noch das Schönſte
verbergen. Hier freilich war ein ſolcher Ausnahmefall nicht ge-
geben. An weißgeſtrichenen Wänden hingen die üblichen Gedächt-
nißtafeln; unter der Kanzel ſtand ein beſtaubter Altar, beiden
[74] gegenüber aber, dicht gedrückt unter der Decke hin, blinkten die
dünnen Röhren eines Harmoniums, dieſes verkümmerten Enkel-
kindes der Orgel. In der Mitte der Kirche paradirte ein Kron-
leuchter, zum Andenken an die Jahre 13, 14 und 15 geſtiftet.
Er zeigte die Form einer Koſackenmütze und war mit einem in
Blech geſchnittenen Eiſernen Kreuz geſchmückt. Derſelben Zeit ge-
hörte auch eine Landſturmfahne an, die auf ihrem rothen Flanell-
lappen einen ſchwarzen Adler und die Bezeichnung: „1. Diviſion,
1. Brigade“ trug. Was hier ſo niederdrückend wirkte, war die
melancholiſche Abweſenheit alles Freien und Selbſtändigen; die
Armuth kann poetiſch ſein, die Armſeligkeit nie.


Wir traten auf den Kirchhof hinaus, deſſen Gräber, wie die
Häuſer des Dorfes, gruppenweiſe verſteckt in den Senkungen des
Hügels lagen. Nur hier und dort ein Buſch, ein Blumenbeet.


Um den Eindruck zu bannen, den das Innere der Kirche auf
uns gemacht hatte, forſchten wir nach Kahnis’ Grab, freilich zu-
nächſt umſonſt. Der Küſter, der erſt wenige Monate im Dorfe
war, hatte den Namen nie gehört, zeigte ſich indeſſen befliſſen,
in ſeiner Schulklaſſe zu fragen. Als er wieder zu uns trat, war
er in Begleitung eines halbwachſenen Mädchens, deſſen flachs-
blonde Zöpfe zu einer dichten Krone zuſammengelegt waren. Sie
begrüßte uns unbefangen, ſchritt auf einen abſeits gelegenen, halb-
verwilderten Fliederbuſch zu und ſagte dann, indem ſie die Zweige
auseinander bog: „das iſt Kahnis’ Grab“. Auf einem eingefallenen
Hügel, der mehr mit Moos als mit Gras überwachſen war, lag
ein halbumgeſtürztes Kreuz; die Inſchrift war längſt vom Regen
abgewaſchen. Als wir neugierig fragten, „woher ſie die Stelle ſo
gut kenne“, zeigte ſie, ſtatt jeder anderen Antwort, auf ein Hänf-
lingsneſt, das ſich in dem Gezweig verſteckte. Die beiden Alten
flogen auf, umkreiſten aber die Stätte. Capitain Backhuſen, als
er des geängſtigten Pärchens anſichtig wurde, lüpfte den Hut und
ſagte dann: „das ſind wir dem Andenken Kahnis’ ſchuldig, den
Frieden dieſes glücklichen Haushaltes nicht länger zu ſtören.“
Und damit traten wir unſeren Rückzug an.


Eine Viertelſtunde ſpäter waren wir wieder an Bord der
„Sphinx“ und fuhren nun, unſeren Cours wechſelnd, auf die Süd-
ſpitze des Zeuthener-Sees zu. Auch hier noch iſt der Segelclub
[75] zu Haus, deſſen anweſende Mitglieder nicht ermangelten, mir
„Hankel’s Ablage“, „Hache’s Gruß“, den „Gingang-Berg“ und
ähnlich wunderlich benannte Punkte vorzuſtellen. Aber der Zeu-
thener-See iſt doch ſchon Vorterrain; die Villen hören auf, der
Einfluß der Hauptſtadt ſchwindet und die eigentliche „Wendei
beginnt. Die Ufer, ſtill und einförmig. Nur dann und wann
ein Gehöft, das ſein Strohdach unter Eichen verſteckt; dahinter
ein Birkicht, ein zweites und drittes, couliſſenartig in die Land-
ſchaft geſtellt. Am Horizonte der ſchwarze Strich eines Kiefern-
waldes. Sonſt nichts als Rohr und Wieſe, und ein ſchmaler
Gerſtenſtreifen dazwiſchen; ein Habichtpaar in Lüften, das im
Spiel ſich jagt; von Zeit zu Zeit ein Angler, der von ſeinem
Boot oder einem halbverfallenen Steg aus die Schnur in’s
Waſſer wirft. Wenig Menſchen, noch weniger Geſchichte. Selbſt
der Feind mied dieſe Stelle. Darum fehlen hier auch die Schlacht-
felder auf viele Meilen hin. In einer alten Chronik heißt es:
„Der 30 jährige Krieg kam nicht hieher, weil ihm die Gegend zu
arm und abgelegen war.“ Er wußte wohl, was er that. Wie
ein Feuer ohne Nahrung, wär’ er in dieſem See- und Spree-
gebiet erloſchen.


Der Grundzug der Wendei, wenigſtens an dieſer Stelle, iſt
Trauer und Einſamkeit.


Um Mittag hatten wir die Südſpitze des Zeuthener-Sees
erreicht; von fern her blickte der Königs-Wuſterhauſener Thurm
zu uns herüber. Dann fuhren wir in die Neumühler-Schmalung
ein, die den Zeuthener-See mit dem Krüpel-See verbindet, endlich
aus dieſer Schmalung in den Krüpel-See ſelbſt.


Die Landſchaftsbilder blieben dieſelben und wechſelten erſt,
als wir, bei Dorf Cablow, aus der bis dahin befahrenen Seen-
Kette der wendiſchen Spree in dieſe ſelbſt gelangten. Nicht viel
breiter als ein Torfgraben, zieht ſie hier die Grenze zwiſchen dem
Teltow’ſchen und dem Beeskow-Storkow’ſchen Kreis, bis ſie, nach
einer Wegſtrecke von kaum einer Meile, bei dem Dorfe Guſſow
abermals zu einem See ſich breitet, dem Dolgen-See. Unſere
Fahrt verlangſamte ſich jetzt, da mittlerweile beinahe völlige
Windſtille eingetreten war; erſt eine bei Sonnenuntergang auf-
ſpringende Briſe führte uns glücklich über den See bis Dolgenbrod.


[76]

Es war völlig dunkel geworden, und nur der Schein weniger
Lichter bezeichnete die Stelle, wo, hinter Bäumen und Rohrgehegen,
das Dorf zu ſuchen ſei. Wir ſelber warfen Anker inmitten dreier
Torfkähne, die ſchon vor uns an dieſem Platz ein Unterkommen
geſucht hatten. Zugleich wurde die Sturmlaterne ausgehängt.
Als ich mein Befremden über dieſe Vorſichtsmaßregel ausdrückte,
zeigte Capitän Backhuſen auf eine dunkle ſternloſe Stelle am
Horizont, die ihm Sturm zu bedeuten ſchien, zum zweiten aber
auf die Torfkähne, zwiſchen denen wir allerdings wie eingeklemmt
lagen. „Zieht ein Wetter herauf und dieſe drei „großen Chriſtoph’s“
reißen ſich los, ſo werden wir zerquetſcht wie ein Polarſchiff im
Eismeer. Die Laterne thut nicht Alles, aber viel. Zum Mindeſten
zeigt ſie uns die Stelle, wo wir untergehen.“


Um dieſen Troſt reicher, ſuchten wir unſer Lager. Müde von
des Tages Laſt und Hitze, ſchliefen wir unbekümmert ein.


Von Dolgenbrod bis Teupitz.


(Zweiter Reiſetag.)


Mit dem Früheſten war ich auf, zwiſchen 3 und 4; die
Sonne kündigte ſich erſt durch einzelne Strahlen an, die von Zeit
zu Zeit am Horizonte aufſchoſſen. Aber ſo früh ich war, ſo war
ich doch nicht der Frühſte. Lieutenant Apitz war mir zuvorgekommen
und hatte, da er die Angel-Paſſion mit der Segel-Paſſion glücklich
zu vereinigen wußte, ſeine Schnur ſeit länger als einer halben
Stunde ausgeworfen. Mit ihm Mudy. Ein guter Frühfang
hatte ihre Anſtrengungen belohnt. In einer neben ihnen ſtehenden
Wanne zappelte es bereits von Schlei und Hecht, von Gieſen und
Karauſchen, die für unſer Mittagsmahl einen vorzüglichen zweiten
Gang in Ausſicht ſtellten.


Es war ein erquicklicher Morgen; in dem fallenden Thau
gab ſich die Natur wie gebadet. Ein Flachboot ſtrich hart an uns
vorüber, in dem ein junger Dolgenbroder, mit angehängtem Fiſch-
kaſten, ſtromabwärts fuhr. Er ſah ziemlich ſpöttiſch zu unſerer
Angelruthe auf und grüßte. Lieutenant Apitz aber war nicht der
Mann, ſich verwirren zu laſſen. „Eingeborner Wende, was gelten
[77] die Fiſche?“ Der Angeredete nannte eine beliebige Summe. „Da
laſſe ich ſie billiger und gebe noch eine Bleiflinke zu.“ Damit
griff Apitz in die Wanne und warf ihm die angekündigte Flinke
in’s Boot. In dieſem Augenblicke ſtieg der Gluthball der Sonne
auf und durchleuchtete die dünnen Nebel. Wir ſahen nun erſt, wo
wir waren.


Am Waſſer hin zog ſich eine ſchmale Wieſe, von Huflattig
eingefaßt, der hier und dort in grotesken Blattbildungen kleine
vorſpringende Inſeln ſchuf. Hinter dem Wieſenſtreifen, immer den
Windungen des Fluſſes folgend, ſtand eine Reihe von Häuſern,
jedes einzelne durch ein blühendes Mohnfeld von dem Nachbarhauſe
geſchieden. Die Bewohner ſchliefen noch oder hantirten in Küche
und Kammer; nur ein paar Blondköpfe waren aus dem Bett in
den Garten geſprungen und ſpielten in ihren rothen Friesröcken
unter dem weißen Mohn umher. Im Rücken der Häuſer ſtieg
das Erdreich an, faſt einen Damm bildend, auf deſſen Höhe der
Hanf in dichten Stauden ſtand. Hinter dem Damm aber lief die
Dorfſtraße hin, wenigſtens klang von dort her ein leiſes Läuten
herüber. Ich glaubte die Heerde zu ſehen, trotzdem ſie meinem
Auge verborgen war.


Einſamkeit auch hier. Aber wenn ſie am Tage vorher, an
den Ufern des Zeuthener-Sees, wie ein wendiſches Volkslied elegiſch
geklungen hatte, ſo klang ſie hier wie ein Idyll aus alten Zeiten
und ſchuf dem Herzen ein ſüßes Glück, wo jene nur ein ſüßes
Weh geſchaffen hatte. Ich wurde des ſtillen Lebens, das aus
dieſen Bildern zu mir ſprach, nicht müde. Immer Neues erſchloß
ſich mir, das mein Herz bewegte. In Front jedes Hauſes ſtand
ein uralter Birnbaum, in der einen Hälfte abgeſtorben, aber in
der anderen noch friſch und mit Früchten überdeckt. In dem
hohlen Hauptaſt bauten die Bienen, an dem Stamm lehnte die
Senſe, zwiſchen den Zweigen hing das Netz; und in dieſer Drei-
heit lag erſichtlich das Daſein dieſer einfachen Menſchen beſchloſſen.
Das Sammeln des Honigs, das Mähen der Wieſe, das Fiſchen
im Fluß, in ſo engem Kreislauf vollendete ſich tagtäglich ihre
Welt. Und ſo war es immer an dieſer Stelle.


Wie die Menſchen hier, in Pfahlbauzeiten, im Gezweige ge-
wohnt hatten, ſo wohnten ſie jetzt unter dem Gezweig; aber in
[78] ihm oder unter ihm, ſie blieben wie die Vögel, die Neſter
bauen.


Und in dieſem Berührtwerden von etwas Unwandelbarem, in
der Wahrnehmung von dem ewigen Eingereihtſein des Menſchen
in den Haushalt der Natur, liegt der Zauber dieſer Einſamkeits-
dörfer.


Schon vor 6 Uhr war die „Sphinx“ unter Segel. Aber
der Wind ließ bald nach, ſo daß wir froh waren, inmitten einer
eben zu paſſirenden Schmalung die großen Stoßruder benutzen zu
können. Wir ſchoben uns nur noch von der Stelle. Dies dauerte
Stunden. Erſt bei Prierosbrück machte ſich der Wind wieder auf
und trieb uns nun in die „Schmölte“ hinein, einen buchtenreichen,
durch Schiebungen und Waldcouliſſen ausgezeichneten See, der,
zugleich mit dem ihm anliegenden Duberow-Forſt (gemeinhin
kurz „die Duberow“ geheißen) den inneren Zirkel der Wuſter-
hauſener Herrſchaft
, dieſes großen, an die 13 Quadratmeilen
umfaſſenden, und namentlich während der Regierungszeit Friedrich
Wilhelms I. aus adligen Gütern der Schlieben, Oppen und Schenken
v. Teupitz zuſammengekauften Jagdrevieres bildet.


Mit der Einfahrt in die „Schmölte“ waren wir, um es zu
wiederholen, in den „inneren Zirkel“ dieſes Revieres eingetreten.
Eine ausgeſtellte Schildwacht, wie ſie nicht charakteriſtiſcher ſein
konnte, ließ uns keinen Zweifel darüber. Inmitten des Sees, auf
einer wenig überſpülten Sandbank, ſtand ein großer, ziemlich
fremdartig dreinſchauender Grauvogel, und ſalutirte auf ſeine Weiſe,
durch eingezogenen Hals und Fuß. Wir erwiderten ſeinen Gruß,
das Geringſte, was wir thun konnten; denn wir waren im ſelben
Augenblicke, wo wir ihn in ſeiner Schildwachtſtellung paſſirten,
zu einem fremden Volke gekommen, zu dem Volke der Reiher,
das in der „Schmölte“ ſeinen Fang und in der „Duberow“ ſeine
Neſter hat. Der ganze innere Zirkel der Wuſterhauſener Herrſchaft,
eine große Reiherherrſchaft! Dieſe kennen zu lernen, war ſeit
lange mein Wunſch. In einer Bucht, die von zwei baſtions-
artig vorſpringenden Waldſtücken gebildet wird, gingen wir vor
Anker.


Ein Beſuch des nahegelegenen Reiherhorſtes entſprach unſerem
Programm. Nur der einzuſchlagende Weg, den Lieutenant Apitz
[79] „quer durch“ genommen wiſſen wollte, führte zu einer lebhaften
Debatte.


Während dieſe noch ſchwankt, erzähl’ ich dem Leſer von alten
und neuen Reiherjagden, wie ſie die „Duberow“ ſah.


Die Duberow, von der Natur dazu vorgezeichnet, iſt alter
Reihergrund. Alle Elemente ſind da: Eichen, Sumpf und See.
Schon der Große Kurfürſt jagte hier, aber erſt unter dem „Sol-
datenkönig“, der all ſein Lebtag ſeiner Wuſterhauſener Herrſchaft
die noch aus kronprinzlichen Tagen herſtammende Liebe bewahrte,
erſt unter König Friedrich Wilhelm I. kamen die Duberow-Reiher-
jagden, die damals Reiherbeitzen waren, zu Flor und Anſehen.
Bei einem zeitgenöſſiſchen Schriftſteller, der ſelber dieſe Jagden
mitmachte, finde ich folgende Schilderung: „Im Frühling und im
Herbſt vergnüget ſich der Hof, neben manchem Anderen, auch mit
der Reiherbeitze, an der die Königin nicht ſelten Theil nimmt.
Der Schauplatz dieſer Vergnügungen iſt verſchieden, zumal aber
iſt es Wuſterhauſen und der Duberow-Wald, oder „die Duberow“,
wie die Leute, der Kürze halber, den Wald zu nennen pflegen.
Ich habe ſolchen Reiherbeitzen öfter beigewohnt. Iſt dergleichen
angeſaget, ſo begiebt ſich der König auf eine Höhe, die einen
weiten Umblick geſtattet. Seine Majeſtät reiten gemeiniglich, und
werden auch von vielen Anderen zu Pferde begleitet. Zudem
werden zwei Wurſtwagen angeſpannt, und es ſitzen auf jedem
derſelben 16 bis 20 Perſonen. Auf der Waldhöhe iſt ein Herd
errichtet, auf dem ein gewaltiges Feuer brennt. Dieſer ganze Herd
iſt rings herum umgraben, ſo daß man ſich dabei niederſetzen, und
wer frieret, zur Genüge wärmen kann. Auch iſt der Platz, an
dem ſich Herd und Feuer befinden, mit Maien umſtecket. Unten
in der Ebene halten die Falkoniers mit ihren Falken, und ſind an
unterſchiedene Poſten vertheilt. Wenn ſich nun ein Reiher reget
und in der Luft daher ſpazieret kommt, ſo läſſet man einen, zwei,
auch drei und vier Falken ſteigen. Sobald der Reiher des Falken,
oder ihrer mehr, gewahr wird, fänget er entſetzlich an zu ſchreien,
und ſchwinget ſich ſo hoch, als er nur immer kann. Aber der
Falke machet dennoch, daß er weit über dem Reiher in der Luft
zu ſtehen kommt. Alsdann ſchießet er wie ein Pfeil herab, gibet
dem Reiher den Stoß, bringet ihn auf die Erde und hält den-
[80] ſelben ſo lange, bis die Falkoniere kommen und ihn aufnehmen.
Die Falkoniere aber bringen den Reiher dem Ober- oder Hof-
Jägermeiſter, und dieſer präſentiret ihn dem Könige, von dem er
mit einem Ring gebeitzet und ſodann wieder in die freie Luft ge-
laſſen wird. Manchmal geſchiehet es, daß der Reiher von zwei,
drei und vier Falken in der Luft geſtoßen und angefallen, da-
durch aber die Luſt deſto größer wird. Iſt der Tag glücklich, ſo
werden fünf, ſechs und noch mehr Reiher gefangen und gebeitzet.


So war es in den Tagen Friedrich Wilhelm’s I. An die
Stelle dieſer „Reiherbeitzen“ iſt jetzt ein ebenfalls dem Mittelalter
entſtammendes Reiherſchießen getreten, das weniger eine Jagd als
eine Zielübung iſt, und im Bereiche moderner Erſcheinungen am
beſten mit dem Taubenſchießen auf unſeren Schützenfeſten verglichen
werden kann. Nur mit dem nicht unweſentlichen Unterſchiede, daß
die Taube, wenigſtens heutzutage, von Holz, der Reiher aber
lebendig iſt.


Dieſe Reiherjagden, die, ſtatt mit dem Falken, mit der Büchſe
in der Hand unternommen werden, finden jetzt alljährlich in der
zweiten Hälfte des Juli ſtatt. Dann iſt die junge Brut groß ge-
nug, um einen jagdbaren Vogel von wünſchenswerther Schußfläche
abzugeben und doch wiederum nicht groß, d. h. nicht flügge genug,
um ſich, gleich den Alten, der drohenden Gefahr durch Flucht ent-
ziehen zu können. So ſtehen ſie dann aufrecht in den hohen
Neſtern, kreiſchen und ſchreien, und werden herunter geſchoſſen.
Ein ſonderbarer, dem Gefühle des Nicht-Jägers widerſprechender
Sport, über den indeß andererſeits, wie über manches Aehnliche
aus der Sphäre des high life, ohne Sentimentalitäten hinwegge-
gangen werden muß. Es ſind dies eben Ueberbleibſel aus ver-
gangenen Jahrhunderten her, mit denen, weil ſie einem ganzen
Syſtem von Anſchauungen angehören, nicht ohne Weiteres aufge-
räumt werden kann, Dinge des Herkommens, zum Theil auch der
praktiſchen Bewährung, nicht des perſönlichen Geſchmacks. Tradi-
tion und Repräſentation ſchreiben immer noch, innerhalb des Hof-
lebens, die Geſetze. Uebrigens mag hier eingeſchaltet ſein, daß
unſer Kronprinz, ein paſſionirter Reiherjäger, das bequeme Schießen
aus dem Neſte verſchmäht und es vorzieht, den um die Herbſtzeit
[81] völlig flügge gewordenen Jungvogel aus der Luft herunterzuholen.
Hier, wie in manch’ Anderem, eine Modelung des Ueberlieferten.


Der Streit, welcher Weg uns am beſten zu dem nahegelegenen
Reiherhorſt führen würde, war mittlerweile zu Gunſten von
Lieutenant Apitz entſchieden worden. Alſo „quer durch“. Wir
erkletterten zunächſt das Ufer-Baſtion, in deſſen Schutze wir lagen,
hielten kurze Umſchau und ſchlugen uns dann, immer die Höhe
haltend, waldeinwärts. Nach längerem Suchen und Irren, das
zu den üblichen Bemerkungen über „Richtwege“ führte, hatten wir
endlich die Reiher-Colonie, ihre Wohn- und Brutſtätte vor uns,
und ſchritten ihr zu.


Dieſer Reiherhorſt, wie jeder andere, befindet ſich in den
Wipfeln alter Eichbäume, die, zu mehreren Hunderten, auf der
plattformartigen Kuppe einer abermaligen Anſteigung des Waldes
ſtehen. Eine Anzahl dieſer Eichen, vielleicht die Hälfte, war noch
intact, die andere Hälfte aber zeigte jeden Grad des Verfalls, und
zwar um ſo mehr, je länger ſie des zweifelhaften Vorzuges ge-
noſſen, im Reiherdienſte zu ſtehen, das heißt alſo ein Reiherneſt
in ihren Wipfeln zu tragen. Die Zahl dieſer Neſter wechſelt.
Manche Bäume haben eins, andere drei und vier. Das letztere
iſt das gewöhnlichere. Aber ob eins oder mehrere, über kurz oder
lang trifft ſie daſſelbe Schickſal: ſie ſterben ab, unter dem Einfluß
der Reiher-Wirthſchaft, namentlich der Reiher-Kinderſtube, deren
Details ſich jeder Mittheilungsmöglichkeit entziehen.


Erſt Mitte Juli pflegen die Jungen flügge zu werden. In
dieſem Jahre jedoch mußten ſie kräftiger oder gelehriger geweſen
ſein; jedenfalls fanden wir Alles ausgeflogen und ſahen uns in
der angenehmen Lage, jede einzelne Wohnſtätte auf’s genaueſte
muſtern zu können. Was die Wipfel der Bäume angeht, ſo bleibt
dem Geſagten an dieſer Stelle Nichts hinzuzufügen; aber auch der
Untergrund erzählt noch manche Geſchichte. Hier und dort lag zu
Füßen einer wie geſchält ausſehenden, ihrer Rinde halb entkleideten
Eiche das Federwerk eines Jung-Vogels. Das erklärt ſich ſo.
Fällt ein junger Reiher vor dem Flüggewerden aus dem Neſt, ſo
iſt er verloren. Ein freies, ſelbſtſtändiges Leben zu führen, dazu iſt
er noch zu jung, ihn wieder in das Neſt hinauf zu ſchaffen, dazu
iſt er zu ſchwer. So bleibt er liegen, wo er liegt, und ſtirbt den
Fontane, Wanderungen. IV. 6
[82] allerbitterſten Tod unter den Unbilden ſeiner nächſten Verwandten,
die, ohne ihre Lebens- und Anſtandsformen im Geringſten zu
ändern, erbarmungslos zu ſeinen Häupten ſitzen.


Unter anderen Bäumen lagen herabgeſtürzte Neſter. Sie
gaben uns Veranlaſſung, ein ſolches zu unterſuchen. Es iſt einem
Storchenneſt ähnlich, aber noch gröber im Gefüge, und beſteht aus
angetriebenem Holz der verſchiedenſten Arten: Kiefern-, Elſen- und
Weidenzweige. Dazu viel trockenes Stechapfelkraut, lange Stengel,
mit aufgeſprungenen Kapſeln daran. Ob ſie für dies Kraut um
Gerucheswillen, vielleicht auch als Arznei-Drogue, eine Vorliebe
haben, oder ob es ihnen lediglich als Bindemittel zu feſterer Ver-
ſchlingung der dicken Holzſtäbe dient, muß dahin geſtellt bleiben.
Ueberall aber, wo ein ſolches Neſt lag, ſproßte wuchernd aus
hundert Samenkörnern ein ganzer Giftgarten von weißblühender
Datura auf, der übrigens, jede Ausſchließlichkeit vermeidend, auch
anderem Blumenvolk den Zutritt geſtattete. Nur „von Familie“
mußten die Zugelaſſenen ſein: Wolfsmilch, Bilſenkraut, Nacht-
ſchatten. Das Harmloſeſte, was ſich eingeſchlichen hatte, war
Brenneſſel.


Ein Erinnerungsblatt hier mitzunehmen, verbot ſich; ſo mußten
die umherliegenden Federn aushelfen. Ein paar der ſchönſten an
unſere Mützen ſteckend, kehrten wir, nunmehr des Weges kundig,
in kürzeſter Friſt an Bord unſeres Schiffes zurück.


Hier hatte ſich mittlerweile Mudy nach mehr als einer Seite
hin legitimirt. Der Tiſch war unter einer ausgeſpannten Lein-
wand gedeckt; der weißeſte Damaſt, das blinkendſte Silber lachten
uns entgegen. Selbſt an Tafel-Aufſätzen gebrach es nicht. Neben
dem großen Cöpenicker Baumkuchen paradirten zwei präch-
tige, in hundert Blüthen ſtehende Heidekrautbüſchel, die Mudy,
ſammt dem Erdreich, ausgeſchnitten, und in zwei reliefgeſchmückte
Weinkühler eingeſetzt hatte. Aber Größeres war uns vorbehalten,
was ſich erſt offenbaren ſollte, als die Reihe der vorſchriftsmäßigen
Gänge, unter denen ſich beſonders das Fiſchgericht „Schlei mit
Dill“ auszeichnete, beendet war. Ob aus Nachklang oder In-
ſpiration, aus Erinnerung oder geoffenbarter Weisheit, gleichviel,
in Mudy’s Seele hatte die Vorſtellung gedämmert, daß „das
Deſſert die Krone jedes Mahles ſei.“ Und dieſer Vorſtellung
[83] Ausdruck zu geben, hatte er ſich befliſſen gezeigt. Daß er dabei,
in materiell eng gezogenen Grenzen verbleibend, über einen bloßen
ſymboliſchen Act nicht hinausgekommen war, ſteigerte nur den Effect.
Der Leſer urtheile ſelbſt. In eben demſelben Augenblicke, in dem
der Kreis des Möglichen nach unſer aller Anſicht geſchloſſen ſchien,
und auch in dem begehrlichſten Herzen nur noch Wunſch und Raum
für Cigarette und Kaffee vorhanden war, erſchien Mudy mit einem
auf dem Menu-Zettel ungenannt gebliebenen Ueberraſchungs-Ge-
richt. Geheimnißvoll genug in ſeiner Einkleidung. Eine Glas-
ſchale war mit Kraut und Blüthenzweigen gefüllt; in der Mitte
dieſer Schale aber, wie ein Ei in einem Neſte liegt, lag ein Thee-
ſieb, in dem unſer dienender Bruder, während wir auf der Suche
nach dem Reiher-Horſte waren, aus dem ſpärlichen Vorrath der
nächſten Wald- und Uferſtellen eine halbe Hand voll Erd- und
Blaubeeren mühſam geſammelt hatte. Die Wirkung dieſer Auf-
merkſamkeit war eine enthuſiaſtiſche, und rang nach entſprechendem
Ausdruck. Capitain Backhuſen fand ihn. Einen vor ihm ſtehen-
den Römer bis an den Rand mit Scharlachberger füllend, ſchüttete
er den Inhalt des Schälchens hinein und ſprach dann kurz: „Perle
der Kleopatra, armſelige Renommiſterei; hier, in Erd- und Blau-
beeren, ſpricht beſcheiden eine ſchönere That. Es lebe Mudy.“


Die Luft ſtand. Es war noch zu früh zum Aufbruch; ſo
beſchloſſen wir eine Wald-Sieſta, und unſere Plaids an ſchattiger
Stelle ausbreitend, ſuchte ſich jeder eine Ruheſtätte. Libellen
flogen, Käfer ſummten, und in mir klang es aus einem meiner
Lieblingsdichter:


Hier an der Bergeshalde

Verſtummet ganz der Wind:

Die Zweige hängen nieder,

Die blauen Fliegen ſummen

Und blitzen durch die Luft.

Einmal, zweimal wiederholte ich dieſe Zeilen, die den Klang
eines Nachmittags-Schlummerliedes haben; dann ſchlief ich ein.
Die Genoſſen hatten weniger gezögert.


Es war 6 Uhr und die Sonne ſtreifte ſchon von der Seite
her die Wipfel des Waldes, als uns die Schiffsglocke, raſch an-
ſchlagend, mit zur Eile mahnendem Tone wieder an Bord rief.
6*
[84] Capitain Backhuſen hatte früher als ſeine Gäſte den Nachmittags-
ſchlaf abgeſchüttelt. Ein paar Commandoworte und die „Sphinx“
löſte ſich leicht und gefällig von der Uferſtelle, in deren Schatten
ſie ſechs Stunden geankert hatte. Die Landzungen ſchoben uns
immer neue, von Minute zu Minute prächtiger beleuchtete Cou-
liſſen in den Weg; in Schängellinien umfuhren wir ſie, ein paar
geleitgebende Reiher hoch über uns in Lüften. So kamen wir
aus der Schmölte in den Hölzernen See.


Alles war bis dahin gut gegangen, und zu endgültiger Be-
währung der „Sphinx“ fehlte nur noch ein Zwiſchenfall, ein
„Accident“. Auch dieſer ſollte nicht ausbleiben. Kaum in den
Hölzernen See, nomen et omen, eingefahren, ſo ſaßen wir feſt.
Aber die Führung unſeres Schiffs hätte nicht die ſein müſſen,
die ſie war, wenn ſie ſich in ſolchem Momente hätte rathlos er-
weiſen ſollen. Capitain Backhuſen, mit dem Tubus auslugend,
erkannte hinter Schilf und Werft verſteckt, in nicht allzuweiter
Entfernung ein Brückenwärterhäuschen, an das jetzt Mudy, die
Schiffsjolle herablaſſend, mit der Anfrage deputirt wurde, ob man
bereit ſei, unſeren aus dicken Eiſenplatten beſtehenden Ballaſt, auf
zwei, drei Tage zu beherbergen. In kürzeſter Friſt war die be-
jahende Antwort da, die großen Barren wanderten aus dem
Rumpf in die Jolle und nach dreimaliger Fahrt zwiſchen Schiff
und Zollhaus war unſere Sphinx wieder flott und frei. Unter
dankbarem Hüteſchwenken ging es, eine Viertelſtunde ſpäter, an
dem Brückenzollhaus vorüber. Aber dieſes Hüteſchwenken genügte
uns nicht. Unſerer Freude einen lauteren Ausdruck zu geben,
holten wir aus der Waffenkammer ein paar Vogelflinten herbei,
und auf unendliche Entfernungen hin, zwiſchen Dümpler und
Krick-Enten hineinfeuernd, weckten wir das Echo, das, offenbar
verdrießlich über die Störung, mit nur halber Stimme antwortete.
Wir empfanden es und ſtellten die Flinten an ihren alten Platz.


Es begann zu dunkeln, als wir, zwiſchen Groß- und Klein-
Köris, in ein ſchwieriges, aus mehreren flachen Becken beſtehendes
Seegebiet einfuhren, das in ſeiner Geſammtheit den wenig klang-
vollen aber bezeichnenden Namen der „Modder-See“, führt. Die
Karten unterſcheiden einen großen und kleinen. Das Waſſer in
dieſen Becken ſtand nur etwa fußhoch über einem aus gelbgrünen
[85] Pflanzenſtoffen beſtehenden Untergrund, der ſo weich war, wie ein
mit Hülfe von Reagentien eben gefällter Niederſchlag. Unſer Schiff
durchſchnitt dieſe reizloſen, aber für die Wiſſenſchaft der Torf- und
Moor-Bildungen vielleicht nicht unwichtigen Waſſertümpel, die,
vor uns, unaufgerüttelt, in ſmaragdner Klarheit, hinter uns in
graugelber Trübe, wie ein Quirlbrei von Lehm und Humus lagen


Es wurde ſtill und ſtiller an Bord. Jene Schweigeluſt über-
kam uns, die nach einem ſchönen, an Bildern und Eindrücken
reichen Reiſe-Tage, auch den Heitergeſprächigſten anzuwandeln pflegt
und weder in Ermüdung, noch in Verſtimmung wurzelnd, ihren
Grund in dem plötzlichen Berührtwerden von dem Ausgehen alles
Glückes, von der Endlichkeit aller Dinge hat. Auch wir hatten
dieſen Tribut zu zahlen, ſtärker als bei mancher anderen Gelegen-
heit, da Nichts da war, uns dieſer Stimmung zu entreißen. Die
Dörfer hörten auf; nur in einiger Entfernung lag Sputendorf.
Es klang wie eine Mahnung und wir ließen ſie uns gegeben ſein.
Ein neues Segel bei! Der Wind ſetzte ſich hinein und plötzlich,
wie aufathmend, fuhren wir aus einem Gewirr von Tümpeln und
Schmalungen, die wir während der letzten zwei Stunden zu paſſiren
gehabt hatten, in ein impoſantes und beinah’ haffartig wirkendes
Waſſerbecken ein. Nur in ſehr unbeſtimmten Umriſſen erkannten
wir die Ufer. Nach links hin, in langer Linie, blitzten Lichter und
ſpiegelten ſich in dem dunkelen See. An Bord drängte Alles zu
neuer Thätigkeit. Lieutenant Apitz, mit eigner Hand, feuerte den
landeinwärts gerichteten Böller ab; Mudy, auf Befehl des Capi-
tains, ließ eine Rakete in den Nachthimmel aufſteigen. In weni-
gen Minuten ſahen wir unſeren Zweck erreicht: Geſtalten, hin-
und herlaufend, ſammelten ſich an einer Stelle, die ein Landungs-
platz, eine Anlegebrücke ſein mochte. Stimmen klangen herüber.
Gleich darauf fiel der Anker.


Im Angeſicht von Teupitz, dunkel und räthſelvoll, lag die
„Sphinx“.


[[86]][[87]]

An der Spree.


[[88]][[89]]

Schloß Cöpenick.


„Wo liegt Schloß Cöpenick?“

An der Spree;

Waſſer und Wald in Fern und Näh’,

Die Müggelberge, der Müggelſee.

Schloß Cöpenick iſt eines der vielen hohenzollerſchen Schlöſſer,
die ſich unter den mannigfachſten deutſchen und franzöſiſchen
Namen im Spree- und Havellande vorfinden und von deren
Nochvorhandenſein die wenigſten unter uns eine Kenntniß haben.
Wir entſinnen uns in der Regel von dieſem und jenem Schloß
in dieſem oder jenem Geſchichtsbuch geleſen zu haben und knüpfen
die Vorſtellung oft auch die Hoffnung daran, daß daſſelbe mit all ſeinen
ihm Leben leihenden Perſonen zugleich vom Schauplatz abgetreten
ſei. In der That, die Bemühungen unſerer Phantaſie, wenn wir
von Königlichen Schlöſſern ſprechen oder ſprechen hören, gehen
gemeinhin nicht viel über die Bilder von Sansſouci, Rheinsberg
und Charlottenburg hinaus und einem glücklichen Zufalle bleibt
es vorbehalten, uns durch den Augenſchein zu belehren, daß auch
Schwedt und Küſtrin, und Wuſterhauſen und Oranienburg noch
ihre wirklichen Schlöſſer haben. Zu dieſen ſeitab gelegenen und
verſchollenen Exiſtenzen gehört auch Schloß Cöpenick, in Betreff
deſſen wir ein altes, ein mittleres und ein neues unterſcheiden.


Das alte Schloß Cöpenick ſtand ſchon, als die Deutſchen
unter Albrecht dem Bären ins Land kamen. Jatzko oder Jaſſo,
der letzte Wendenfürſt, an deſſen Bekehrung die ſchöne Schild-
hornſage anknüpft, reſidirte daſelbſt Nach ſeiner Unterwerfung
[90] wurde ſeine Reſidenz, eine Wenden-Veſte, zur markgräflichen Burg,
aber weder Bild noch Beſchreibung ſind auf uns gekommen, aus
denen wir erſehen könnten, wie Schloß Cöpenick zur Zeit der
Askanier oder Baiern oder erſten Hohenzollern war. Es muß uns
genügen, daß wir von ſeiner Exiſtenz wiſſen. Auch ſeine Ge-
ſchichte verſchwimmt in blaſſen, characterloſen Zügen und alles
was mit beſtimmterem Gepräg an uns herantritt iſt das eine,
daß es in dieſem alten Schloſſe zu Cöpenick war, wo der v.
Otterſtedt an die Thüre ſeines kurfürſtlichen Herren ſchrieb:


Jochimken, Jochimken höde Dy,

Wo wi di krigen do hängen wi Dy.

Das alte Schloß ſtand bis 1550. Kurfürſt JoachimII.,
ein leidenſchaftlicher Jäger, deſſen Waidmannsluſt ihn oft in die
dichten Forſten um Cöpenick herum führte, ließ den alten Bau
niederreißen und ein Jagdſchloß an Stelle deſſelben aufführen.


Dies Jagdſchloß Joachim’sII. oder das mittlere Schloß
Cöpenick ſtand wenig über 100 Jahr, aber ſeine Geſchichte ſpricht
ſchon in deutlicheren Zügen und die Merian’ſche Topographie hat
uns ein Bild deſſelben (etwa aus dem Jahre 1640) aufbewahrt.
Nach dieſem Bilde war es ein regelmäßiges Viereck, das zur einen
Hälfte aus zwei rechtwinklig auf einander ſtoßenden Flügeln, zur
andern Hälfte aus zwei niedrigen, eben jenes Viereck herſtellenden
Mauern beſtand; der ganze Bau von fünf Thürmen überragt,
vier an den Außenecken, der fünfte innerhalb des Schloßhofs, in
dem von den beiden Flügeln gebildeten rechten Winkel.


JoachimII. weilte gern in Schloß Cöpenick. Sein Hof-
und Jagdgeſinde war dann um ihn her, auch die Söhne wohl,
die ihm Anna Sydow „die ſchöne Gießerin“, geboren hatte. In
früheren Jahren hatte dieſe ſelbſt bei den jedesmal ſtattfindenden
Luſtbarkeiten nicht gefehlt, bis ein an und für ſich geringfügiger
Vorfall einen tiefen Eindruck auf des Kurfürſten Herz machte.
Die Bauern ſahen Anna Sydow ſammt ihren Kindern neben
dem Kurfürſten ſtehen und fragten ſich unter einander: „iſt das
unſres gnädigſten Herrn unrechte Frau? ſind das die unrechten
Kinder? wie darf er’s thun und wir nicht?“ Der Kurfürſt
[91] hörte alles und flüſterte der Gießerin zu: „Du ſollteſt bei Seite
gehn.“ Seitdem mied ſie die öffentlichen Feſte.


In dieſem Jagdſchloſſe zu Cöpenick ſtarb JoachimII. am
3. Januar 1571. Eine Wolfsjagd ſollte abgehalten werden, trotz
der bittren Kälte die herrſchte, und der fünfundſechzigjährige
Joachim freute ſich noch einmal des edlen Waidwerks, dran zeit-
lebens ſein Herz gehangen hatte. Gegen Abend kehrte er aus den
Müggelſee-Forſten nach Schloß Cöpenick zurück und verſammelte
ſeine Räthe und Diener um ſich her. Diſtelmeier der Kanzler
Mathias von Saldern, Albrecht von Thümen, der General-
Superintendent Musculus, alle waren zugegen. Man ſetzte ſich
zu Tiſch und ſpeiſ’te in chriſtlicher Fröhlichkeit. Der Diskurs ging
bald von geiſtlichen Dingen und der Page wurde beauftragt,
Dr. Lutheri Predigt über die Weiſſagung des alten Simeon
vorzuleſen. Nach der Vorleſung wurde viel von Chriſti Tod und
Auferſtehung geſprochen, von ſeiner großen Liebe und ſeinen bittren
Leiden; dabei zeichnete der Kurfürſt ein Crucifix auf den Tiſch,
betrachtete es andächtiglich und ging dann zu Bett. Als er einige
Stunden geruht, überfiel ihn eine Preſſung auf der Bruſt, mit
einer ſtarken Ohnmacht. Der Kanzler und die Räthe wurden
geweckt, aber das Uebel wuchs raſch und nach einigen Minuten
verſchied der Kurfürſt mit den Worten: „das iſt gewißlich wahr.“*)


[92]

Wir hören danach von dem Joachimiſchen Jagdſchloß erſt
1631 wieder, als König Guſtav Adolph ſein Hauptquartier darin
nahm und an den ſchwankenden Kurfürſten George Wilhelm
die Aufforderung ſchickte, ihm die Feſtungen Cüſtrin und Spandau
ohne Weiteres einzuräumen. Dieſer Brief führte zu jener be-
kannten Zuſammenkunft im Gehölz bei Cöpenick, die von dem
entſchloſſenen, keine Halbheit duldenden Guſtav Adolph mit den
Worten abgebrochen wurde: „Ich rathe Eurer churfürſtlichen
Durchlaucht Ihre Parthei zu ergreifen, denn ich muß Ihnen ſagen,
die Meinige iſt ſchon ergriffen.“


Neun Jahre ſpäter machte der Regierungsantritt des „großen
Kurfürſten“ dem Elend des Landes ein Ende, aber Schloß Cöpe-
nick ſank an Anſehn und Bedeutung. Eine neue Zeit und ein
neuer Geſchmack waren gekommen; die Zeit des franzöſiſchen Ein-
fluſſes begann, und die alten Jagdſchlöſſer mit gothiſchen Thürmen
und Giebeln, mit ſchmalen Treppen und niedrigen Zimmern,
konnten ſich neben der Pracht und Stattlichkeit der Renaiſſance
nicht länger behaupten. 1658 ward ein alchymiſtiſches Labora-
torium, eine Goldmache-Werkſtatt in denſelben Zimmern einge-
richtet, drin Kurfürſt Joachim einſt den ſelbſterlegten Hirſch
auf reichbeſetzter Tafel gehabt hatte, und endlich 1677 fiel das
alte Jagdſchloß gänzlich, um einem Neubau, dem dritten alſo,
Platz zu machen.


Dieſem dritten, noch exiſtirenden Schloß Cöpenick, einer
Schöpfung Rütger’s von Langenfeld, der es um die ange-
gebene Zeit für den Kurprinzen Friedrich erbaute, gilt nunmehr
unſer Beſuch.


Wir benutzen den Omnibus, der zwiſchen Berlin und
Cöpenick fährt, haben ein ſauberes, ſorglich gepflegtes Gehölz zu
beiden Seiten und rollen an einem klaren Herbſttage die Chauſſee
entlang, an Plätzen voll hiſtoriſcher Erinnerung vorüber. Zu-
nächſt an jener Waldwieſe, wo einige Heißſporne vom ſchwer be-
leidigten märkiſchen Adel den jugendlichen Joachim aufzuheben
gedachten, danach aber um jene Begegnungsſtelle herum, wo Guſtav
Adolph
und Kurfürſt George Wilhelm nach kurzer Unter-
[93] redung ſo wenig befriedigt von einander ſchieden. In raſchem
Trabe geht es dahin, die Pferde werfen die Köpfe und zeigen ein
Behagen, als freuten ſie ſich mit uns der Herbſtesfriſche. Die
Eichen und Birken, die eingeſprengt im Tannicht ſtehn, laſſen die
Landſchaft in allen Farben ſchillern und der herbe Duft des
Eichenlaubes dringt bis zu uns in den Wagen hinein. Jetzt
aber trifft uns ein Luftzug mit jener feuchten Kühle, die dem
Reiſenden ein Waſſer ankündigt, und im nächſten Augenblicke
haben wir ein breites Strombett vor uns, an deſſen jenſeitigem
Ufer, aus hohen Pappeln hervor, ein graugelber Schloßbau ragt.
Ueber die Brücke hin rollt der Wagen und hält jetzt auf einem
unregelmäßigen, ziemlich geräumigen Platze, der zwiſchen dem
Schloß und der Stadt Cöpenick liegt. Wir ſteigen aus, werfen
nach links hin einen Blick in eine leiſ’ gebogene Straße, deren
beſchnittene Lindenbäume dem Ganzen ein freundliches Anſehn
leihn und ſchreiten über den Schloßgraben dem Schloßhofe zu, den
von zwei Seiten her die Bäume des Parks überragen.


Das gegenwärtige Schloß Cöpenick hat drei Stockwerke,
ſeine Façaden ſind einfach und ſchmucklos und nur einzelne Theile
zeigen ſich mit Reliefs und Statuen geſchmückt. Um das um mehrere
Fuß zurücktretende Dach iſt eine ſtattliche Baluſtrade gezogen.*)


Und dieſer Stattlichkeit begegnen wir überall, am meiſten
freilich in der inneren Einrichtung, in der Anlage der Zimmer,
Treppen und Corridore, die den Eindruck machen, als habe der
Baumeiſter nichts ſo ängſtlich vermeiden wollen, als die Gedrückt-
heit der Thurm- und Erkerſtuben, die ſonſt hier heimiſch waren.
Nirgends ein Geizen mit dem Raum, aber auch nirgends
ein Geizen mit dem, was erheitert und ſchmückt. Wohin
wir blicken, eine Fülle reizendſter Details, die vielleicht wie
Ueberladung wirken würden, wenn nicht die Dimenſionen ein
ſich Vordrängen des Einzelnen verhinderten. All dieſe Karyatiden
[94] und Pfeiler und Säulen mit reichgegliedertem Capitell treten
dienend in den Hintergrund zurück und die ſchweren Stuck-Orna-
mente verlieren anſcheinend ihre Schwere. Zu dieſen Stuck-
Ornamenten geſellten ſich auch noch allerlei Plafond-Bilder, die
durch die Säle des Schloſſes hin abwechſelnd den Jagdzug der
Diana, ihren Zorn über Aktäon und ihre Liebe zum Endymion
darſtellten, aber nur wenige dieſer Gemälde ſind bis auf unſere
Zeit gekommen und dieſe wenigen verbergen ſich hinter einer ſorg-
lich aufgetragenen Bekleidung von Mörtel und Gips. Sie war-
ten auf die Stunde, wo das alte Schloß, das ſeit 70 Jahren
immer nur der Proſa hat dienen müſſen, die poetiſchen Tage
königlicher Pracht wieder erblicken wird, um dann auch ihrer-
ſeits aus ihrer Hülle heraustreten und den neuen Glanz in altem
Glanze begrüßen zu können. Dies gilt namentlich von dem
im erſten Stockwerk gelegenen „Königsſaal“, der eine Fülle der
ſchönſten Bilder und Plafond-Ornamente hinter einer Ueberklei-
dung verbergen ſoll.


Wir haben in dem Beſtehen Schloß Cöpenick’s drei Perioden
unterſchieden und in Erinnerung an die wechſelnden Bauten,
die hier ſtanden, von einem alten, einem mittleren und einem
neuen Schloß Cöpenick geſprochen. Aber auch dies neue Schloß
Cöpenick theilt ſein 200jähriges Leben wieder in verſchiedene
Stadien, unter denen wir, mit Umgehung gleichgültigerer Jahr-
zehnte, vier Hauptepochen unterſcheiden.


Dieſe vier Hauptepochen des neuen Schloß Cöpenick’s ſind
die folgenden: Erſtens die Zeit des Kurprinzen Friedrich von
1682—1688; zweitens die Zeit Friedrich WilhelmsI., in-
ſonderheit das Jahr 1730; drittens die Zeit Henriette Ma-
ria’s,
gebornen Markgräfin von Brandenburg-Schwedt, von
1749—1782, und viertens die Zeit des Grafen von Schmet-
tau,
von 1804—1806. An eine Beſprechung dieſer vier Haupt-
epochen wird ſich ſchließlich noch eine kurze Darſtellung der Schick-
ſale zu knüpfen haben, die Schloß Cöpenick ſeitdem erfuhr.


[95]

Die Zeit des Kurprinzen Friedrich von 1682 bis 1688.


In welchem Jahre Kurprinz Friedrich ſeinen Einzug in
Schloß Cöpenick hielt, iſt nicht genau mehr feſtzuſtellen, wahr-
ſcheinlich um 1680. Der Schloßbau wurde zwar vor 1681 nicht
beendet, ja, das Sandſteinportal, durch das wir in den Schloß-
hof eintraten, trägt ſogar erſt die Jahreszahl 1682, es iſt indeß
eher wahrſcheinlich als nicht, daß Kurprinz Friedrich die Vollen-
dung des ganzen Bau’s nicht erſt abwartete und ſich bereits zwei
Jahre früher mit dem begnügte, was fertig war. Die Verhält-
niſſe zwangen ihn faſt dazu. Seiner alten Feindſchaft mit ſeiner
Stiefmutter, der holſteiniſchen Dorothea, war im Jahre 1679,
bei Gelegenheit ſeiner Vermählung mit der heſſiſchen Prinzeſſin,
zwar eine Verſöhnungsſcene gefolgt, aber dieſe Verſöhnung hatte
die Abneigung der Mutter und das Mißtrauen des Sohnes um
nichts gebeſſert. Plötzliche Erkrankungen, auch Todesfälle, regten
den alten Verdacht wieder an und nachdem Kurprinz Friedrich
ſelbſt und zwar bei Gelegenheit eines Feſtmahls, das ihm die
Stiefmutter gab, von einem heftigen Kolikanfall heimgeſucht wor-
den war, ſteigerten ſich ſeine Befürchtungen bis zu ſolchem Grade,
daß er ſeinen Vater um die Erlaubniß bat, ſich nach Schloß Cöpe-
nick zurückziehen zu dürfen. Nicht in Freuden zog er in die ſchö-
nen Räume ein, die zum Theil noch ihrer Vollendung entgegen
ſahen; das Schloß war ihm mehr ein rettendes Aſyl als eine Stätte
heitrer Flitterwochen, und in Bangen und Einſamkeit vergingen
ihm die Tage ſelbſtgewählter Verbannung. Sein ſchwacher Körper
verbot ihm die Freuden der Jagd, und die Decken-Gemälde, (die
Jagdzüge Diana’s) die um ihn her entſtanden, erinnerten ihn nur
an das, was ihm gebrach. Gleichförmig öde ſpannen ſich die
Wochen ab und was dieſe Gleichförmigkeit von Zeit zu Zeit unter-
brach, waren meiſt froſtige Feſte, die dem Tode zu Ehren ge-
feiert wurden. Am 7. Juli 1683 ſtarb des Kurprinzen Gemahlin
und immer dunkler und ſchwerer hing es über Schloß Cöpenick.


Da endlich kam Sonnenſchein. Das Trauerjahr war um, der
Flor fiel, Hochzeit gab es wieder und Sophie Charlotte „die
philoſophiſche Königin“ hielt ihren Einzug in die Marken. Zwanzig
[96] Jahre lang ſtand von jenem Tag an die helle Sonne dieſer Frau
über dem dunklen Tannen-Lande und gab ihm eine Heiterkeit, die
es bis dahin nicht gekannt hatte. Aber ihr lachendes Auge, das
über ſo Vielem leuchtete, leuchtete nicht über Schloß Cöpenick.
Waren ihr die Zimmer zu hoch, die Bäume zu dunkel, die Tra-
ditionen zu triſt, — gleichviel, ſie vermied die Stätte, darin die
heſſiſche Prinzeſſin, des Kurprinzen erſte Gemahlin, ihre Tage hin-
weg geängſtigt hatte, und die ſonnenbeſchienenen Abhänge des
Dorfes Lützow entſprachen mehr ihrem heitern Sinn. Schloß
Cöpenick verödete, wurde ſtiller und verlaſſener als es je geweſen,
und Schloß Charlottenburg mit funkelnder Kuppel und goldnen
Figuren wuchs ſtatt ſeiner empor.


Die Zeit Friedrich WilhelmsI.


Schloß Cöpenick war todt, bis es der ſoldatiſche Sohn Sophie
Charlottens zu neuem Leben erweckte. Die Jagdpaſſion kam wieder
zu Ehren, und Tage brachen wieder an, wie ſie Kurfürſt Joachim
nicht wilder und waidmänniſcher gekannt hatte. Jene Dianen-
bilder an Plafonds und Simſen, die dreißig Jahre lang ein Hohn
geweſen waren, ſie kamen jetzt zum erſten Male ſeit Rütger
von Langenfeld
die Säle und Corridore mit ihnen geſchmückt
hatte, zu ihrer Bedeutung und ihrem Recht. Jagd tobte wieder
um Schloß Cöpenick her und Fangeiſen und Hörner waren wieder
in ihm zu Haus.


Dieſe Jagden zeichneten ſich durch Gefahren aus, die mehr
aufzuſuchen als zu vermeiden für guten Ton galt. Züge von
Ritterlichkeit machten ſich geltend, die an den Hof FranzI. er-
innert haben würden, wenn nicht, an Stelle galanten Minne-
dienſtes, jene kurbrandenburgiſche Derbheit vorgeherrſcht hätte, der
zu allen Zeiten ein Kraftwort weit über ein Liebesgedicht oder ein
Wortſpiel ging. Bei dieſen Jagden, wie Schloß Cöpenick ſie da-
mals häufig ſah, wurde faſt jedesmal der eine oder andere ſchwer
verwundet, wenn nicht getödtet. In ein viereckiges Gehege von
600 bis 700 Schritten, das von Leinen eingeſchloſſen war, ließ
man oft zwei- oder dreihundert wilde Schweine von jedem Alter
[97] und jeder Größe ein. Hier erwarteten ſie die Jäger, je zwei und
zwei, um die wild hereinbrechenden auflaufen zu laſſen. Verfehlten
ſie das Thier oder zerbrach das Fangeiſen, ſo wurden ſie oft über
den Haufen geſtoßen und von dem verwundeten Wildſchwein übel
zugerichtet. Zuweilen nöthigte der König auch wohl ſeine Jäger
und Pagen die größten Keiler bei den Ohren zu faſſen und mit
Gefahr ihres Lebens ſo lange feſtzuhalten, bis er ſelbſt herbei kam,
um ſie abzufangen. Wer ſich zu ſolchem Dienſte weigerte, galt
für feige. Der König ſelbſt ward auf einer dieſer Jagdpartieen,
in unmittelbarer Nähe von Cöpenick, ſtark verwundet, und würde
ſein Leben eingebüßt haben, wenn ihm nicht einer ſeiner Jäger
rechtzeitig beigeſprungen wäre. Blutend ſchaffte man ihn nach
Cöpenick. Es war am 15. Januar 1729.


Das nächſte Jahr brachte gewichtigere Tage, Tage, die
den Namen Schloß Cöpenick’s mit einer der intereſſanteſten
Epiſoden unſerer Geſchichte für immer verwoben haben. Am
28. October 1730 trat hier das Kriegsgericht zuſammen, das
über den Lieutenant Katt vom Regiment Gensd’armes, ſo wie
über den „deſertirten Obriſtlieutenant Fritz“ Urtheil ſprechen ſollte.
Dieſe höchſt denkwürdige Sitzung fand in dem ſogenannten Wap-
penſaale
ſtatt. Unter den vielen Sälen des Schloſſes iſt er nicht
nur der hiſtoriſch intereſſanteſte, ſondern auch dadurch vor allen
andern bemerkenswerth, daß er in ſeiner Einrichtung und Aus-
ſchmückung weder bedeutend gelitten hat, noch auch hinter einer
Gips- und Mörtelverkleidung ſeine Vorzüge verborgen hält. Dieſer
Wappenſaal (wegen einer in ihm aufgeſtellten Orgel auch der
„Orgelſaal“ geheißen) iſt zwei Treppen hoch gelegen und blickt
mit ſeinen Fenſtern auf die Spree hinaus. Im Verhältniß zu
ſeiner Tiefe hängt die Decke zu niedrig und würde bei ihrer reichen
Ornamentik noch viel mehr den Eindruck davon machen, wenn nicht
die hellen Farbentöne, weiß und lila, die durch den ganzen Saal
hin vorherrſchen, eine gewiſſe Luftigkeit wieder herſtellten. Die
völlig weiß gehaltene Decke wird von etwa zwanzig Karyatiden
geſtützt, die alle vier Seiten des Saales umſtehen und auf ihrer
Bruſt die Wappenſchilde der verſchiedenen preußiſchen Gebietstheile
jener Epoche tragen. Eine beſtimmte Reihenfolge, nach den Pro-
vinzen, iſt bei Aufſtellung derſelben nicht beobachtet worden und
Fontane, Wanderungen. IV. 7
[98] Caſſuben und Wenden, Jägerndorf und Minden, Ravensberg und
Gützkow, dazu Ruppin, Camin, Mark, Croſſen, Barth, Pommern,
Cleve u. ſ. w. folgen bunt auf einander. An den beiden Längs-
wänden befinden ſich auch ein paar große Kamine, reich verziert mit
allerhand Emblemen und Wappenfiguren; alles weißer Stuck, wie
der ganze Reſt der Ausſchmückung überhaupt. Das Ganze,
weniger ſchön als von entſchieden hiſtoriſchem Gepräge, macht
es einem glaublich, daß hier an langer Tafel das Kriegsgericht
ſaß, das über Tod und Leben eines Prinzen und ſeiner Mitſchul-
digen aburtheilen ſollte.


Der Tag, an dem die Kriegsgerichtsſitzung im „Wappen-
ſaale zu Cöpenick
“ ſtattfand, war, wie bereits erwähnt, der
28. October 1730. In dem Kapitel „Küſtrin“ (Band II.,
Oderland) hab ich ausführlich darüber berichtet. Hier nur noch ein-
mal das: die das Kriegsgericht bildenden 16 Offiziere lehnten einen
Rechtsſpruch über den Kronprinzen einfach ab und verurtheilten
den Lieutenant v. Katte zu lebenslänglichem Feſtungsarreſt. Der
König ſtieß dies Urtheil um. Manche Punkte hinſichtlich
dieſer Vorgänge waren bis in die neueſte Zeit hinein nicht völlig
aufgeklärt, das aber hat immer feſtgeſtanden, daß jene denkwür-
dige Kriegsgerichtsſitzung im großen Wappenſaale zu Cöpenick ſtatt-
fand. Vielleicht wär’ es angebracht, wenn nicht ein hiſtoriſches
Bild, ſo doch wenigſtens eine Gedächtnißtafel aufzurichten, die die
Erinnerung an jenen Tag an eben dieſer Stelle lebendig hält.


Die Zeit Henriette Marie’s von 1749—1782.


Henriette Marie geb. Prinzeſſin von Brandenburg-Schwedt,
hatte ſich mit 14 Jahren bereits an den Herzog von Würtemberg-
Teck vermählt und war mit 29 Jahren Wittwe geworden. Als
ſolche lebte ſie zunächſt in Berlin und erſchien während der letzten
Regierungsjahre Friedrich WilhelmsI. bei allen Hoffeſten.
Auch noch unter dem großen Könige. So gingen die Dinge bis
1749, um welche Zeit ihr Schloß Cöpenick als Wittwenſitz ange-
wieſen wurde. Es hieß damals, „ſie ſei verbannt“, auch ſcheint
ſie von jenem Zeitpunkt ab am Berliner Hofe nicht länger er-
[99] ſchienen zu ſein. Welche Gründe den König zu dieſer Verbannung
veranlaßten, iſt nur zu muthmaßen, nicht nachzuweiſen. Es heißt,
daß FriedrichII. an dem wenig correkten Lebenswandel der
Prinzeſſin Anſtoß genommen habe, doch iſt es nicht unwahrſchein-
lich, daß andere Dinge mit in’s Spiel kamen und den Ausſchlag
gaben. Die Seitenlinie Brandenburg-Schwedt wurde vom
großen Könige mit derſelben Abneigung betrachtet, die ſchon ſein
Vater und namentlich ſein Großvater FriedrichI. gegen dieſelbe
gehegt hatte und — „wie’s in den Wald hinein ſchallt, ſo ſchallt
es auch wieder heraus.“ So bedeutend jene Zeit in vielen Stücken
war, ſo war ſie’s doch keineswegs in allen, und Klatſch, Intrigue
und Chronique ſcandaleuſe hatten ein unglaublich großes Feld. Wir
werden kaum irren, wenn wir annehmen, daß Prinzeſſin Henriette
Marie
ihre Zunge weniger als wünſchenswerth im Zaum gehalten
habe, und daß dieſer Umſtand mit zur unfreiwilligen Muße von
Cöpenick führte. Daß die Prinzeſſin in Folge davon dreißig Jahre lang
die Kunſt des Schweigens geübt habe, haben wir allerdings nicht die
geringſte Urſach anzunehmen, es ſcheint vielmehr, daß man ſich die
Langeweile durch aller pikanteſte Plaudereien nach Möglichkeit ver-
trieben und alle Mesquinerieen eines kleinen Hofes, als beſtes
Mittel die Zeit hinzubringen, mit wahrer Meiſterſchaft cultivirt habe.
Ueber das damalige Leben im Cöpenicker Schloſſe geben einige
Notizen Aufſchluß, denen wir in einer Biographie des Freiherrn
von Krohne, der ſich Königlich Polniſcher wirklicher Geheimerath
nannte, begegnen. Dieſer Abenteurer, der überall im Trüben zu
fiſchen und an kleinen Höfen ſein „Fortune“ zu machen ſuchte,
kam auch an den Hof des Markgrafen Friedrich Wilhelm
von Schwedt,
des regierenden Bruders unſrer Henriette
Marie,
deren Hofſtaat der Markgraf aus den Revenuen ſeines
Schwedter Markgrafenthums zu unterhalten hatte. Prinzeſſin-
Schweſter brauchte mehr als Markgraf-Bruder zu zahlen liebte
und ſo wurde denn Freiherr von Krohne, nachdem er eben ſeine
Dienſte angeboten, an den Cöpenicker Hof geſchickt, angeblich um
der Prinzeſſin als Kammerherr zu Dienſten zu ſein, in Wahrheit
aber um die Ausgaben, zu denen ihre Freigebigkeit oder ihre Ver-
ſchwendung führte, zu controliren. Freiherr von Krohne traf
ein, debütirte mit Geſchick, wußte einen Hofrath, der ihm in
7*
[100] Schwedt als Hauptträger des Verſchwendungs-Syſtems bezeichnet
worden war, glücklich zu entfernen und ſtand bereits auf dem Punkte,
ſich als erſter Miniſter und Plenipotentiaire am Hofe zu Cöpenick
zu etabliren, als die beiden alten Günſtlinge der Prinzeſſin, die bis
dahin auf gegneriſchem Fuße geſtanden und ihre Macht balancirt
hatten, ſich zum Untergange des Eindringlings verſchworen. Kam-
merherr von Wangenheim und Hofprediger St. Aubin*)
ſchloſſen Frieden, entlarvten den immer mächtiger werdenden Frei-
herrn als eine Kreatur des Schwedter Markgrafen und ſtürzten
ihn auf der Stelle. Kammerherr von Wangenheim, von dem
eigenes hervorgehoben wird, daß er ein ſehr ſtarker Mann geweſen,
übernahm zu größerer Sicherheit die Executive ſeiner eigenen Maß-
regeln und ſchaffte den geſtürzten Nebenbuhler bis vor das Portal
des Schloſſes.


So lebte man damals in Schloß Cöpenick. Klein und be
deutungslos vergingen die Tage, die ſelbſt in der überkommenen
Ausſtattung und Einrichtung nicht das Geringſte geändert zu ha-
ben ſcheinen. Wie konnten ſie auch! Der prinzeßliche Hof zu
Cöpenick war ein bloßes Filial des markgräflichen Hofes zu Schwedt,
der doch ſeinerſeits auch nur wieder ein Filial, eine bedeutungs-
loſe Abzweigung des Berlin-Potsdamſchen Hofes war.


[101]

Das dreißigjährige Leben der Prinzeſſin hat keine Spur zu-
rückgelaſſen, aber was ihrem Leben nicht gelang, das gelang ihrem
Tode. Henriette Marie ſtarb in Schloß Cöpenick und iſt in
der Schloßkapelle daſelbſt begraben worden. In der jedem Be-
ſucher zugänglichen Gruft dieſer Kapelle ſteht ein ſchwerer Eichen-
ſarg, der auf ſeinem oberſten Brett ein vergilbtes ſeidenes Kiſſen
und auf dem Kiſſen eine Krone von dünnem, verbogenen Gold-
blech trägt. Hebt man den Deckel vom Sarg, ſo erblickt man
in dieſem die in ihrem achtzigſten Jahre verſtorbene Prinzeſſin als
Mumie. Tüllhaube und Seidenband legen ſich noch um Stirn
und Kinn und das ſchwere gelbe Brokatkleid zeigt noch ſeine Falten
und raſchelt und kniſtert, als wär’ es geſtern gemacht.


Wir ſchließen den Sargdeckel wieder und ſteigen aus der Gruft
in die Kapelle zurück. Eine hohe, reich verzierte Decke wölbt ſich
über uns und macht den Eindruck des Freundlichen ohne den
des Feierlichen vermiſſen zu laſſen, links vom Altar aber, in einen
Fenſterpfeiler eingefügt, gewahren wir eine prächtige Tafel von
polirtem ſchwarzen Marmor, auf der wir in Goldbuchſtaben fol-
gende Worte leſen: „Dieſe Gruft umſchließt die verweslichen Ueber-
reſte der durchlauchtigſten Fürſtin und Frau, Henriette Marie,
geborene Prinzeſſin von Preußen und Brandenburg, vermählte
Erbprinzeſſin und Herzogin von Würtemberg und Teck. Sie war
geboren den 11. März 1702, vermählt den 8. December 1716 mit
dem Erbprinzen Friedrich Ludwig von Würtemberg, ward
Wittwe den 23. November 1731, entſchlief in dem Herrn den
7. Mai 1782. Dieſes Denkmal ſetzet ihr ihre einzige Tochter
Louiſe Friederike, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, geborne
Herzogin von Würtemberg und Teck.“


Die Zeit des Grafen Schmettau von 1804—1806.


Nach dem Tode Henriette Marie’s wurde Schloß Cöpenick
völlig vernachläſſigt und endlich im Jahre 1804 an den Grafen
Friedrich Wilhelm Carl von Schmettau verkauft. Dieſer Graf
Schmettau, ein beſonderer Liebling Friedrich’s II., iſt derſelbe,
[102] der von Seiten des großen Königs zum Adjutanten ſeines jüngſten
Bruders, des Prinzen Ferdinand von Preußen, ernannt ward
und in dieſer intimen Stellung zu einer Fülle pikanter Anekdoten
und on dit’s Veranlaſſung gab, an denen das preußiſche Hofleben
jener Zeit ſo reich war. Zu unterſuchen, wie viel Wahrheit oder
überhaupt ob irgendwelche Wahrheit dieſen anekdotiſchen Ueber-
lieferungen zu Grunde liegt, liegt jenſeits unſerer Aufgabe; wir
begnügen uns damit, das zu conſtatiren, worüber Freunde und
Feinde des Grafen, wenn er Feinde hatte, zu jeder Zeit einig
waren: ſeine Gelehrſamkeit und ſeine weltmänniſche Bildung, ſeine
militäriſchen Kenntniſſe und ſeine Tapferkeit. Als der Krieg mit
Frankreich mehr und mehr unvermeidlich zu werden drohte, gehörte
er zu denen, denen Armee und Volk das meiſte Vertrauen ent-
gegentrugen. Beim Ausbruch der Feindſeligkeiten führte er als
Generallieutenant ſeine Diviſion nach Thüringen und trat unter
den Oberbefehl des Herzogs von Braunſchweig. Beide theilten
wenige Tage ſpäter daſſelbe Schickſal.


Bei unſerem heutigen Beſuch in Schloß Cöpenick indeß
lernen wir den Grafen Schmettau weder als Cavalier und
Weltmann, noch als Soldat und Heerführer kennen; ſinnig, ein
heitrer Philoſoph, ein Freund der Wiſſenſchaften und aller Künſte
des Friedens, ſo tritt er an uns heran. Nur zwei kurze Jahre
waren ihm an dieſer Stelle gegönnt, aber ſie genügten ihm, um
überall eine Spur ſeines Wirkens zurückzulaſſen. Wir übergehen
Urnen und Inſchriften, wie ſie ſich in den ſchattigen Gängen des
Parkes vorfinden und treten im erſten Stock des Schloſſes in ein
nach Süd-Oſten hin gelegenes Eckzimmer, deſſen eines Fenſter auf
den Park, das andere auf die wendiſche Spree herniederblickt. Es
iſt nicht leicht möglich, beim Durchſtöbern alter Schlöſſer einem
überraſchenderen Anblick zu begegnen. Der ganze Raum iſt zelt-
artig mit einem weißen und gelben Gaze-Stoff ausgeſchlagen und
zwar ſo, daß die Decken-Drapirung den Plafond in zwei gleiche
Hälften theilt. An jeder der beiden Stellen nun, wo die Gaze
zu einer Art Betthimmel zuſammengefaltet iſt, befindet ſich ein
Deckengemälde allegoriſchen Inhalts. Auf dem erſten, mehr dem
Fenſter zu gelegenen, bringt Mercur der Minerva eine Pergament-
[103] rolle, auf der der Name Roßbach ſteht; Minerva ihrerſeits hält
einen Lorbeerkranz in der Rechten, bereit ihn gegen die Sieges-
botſchaft auszutauſchen. Das zweite Bild, ungleich beſſer in
Compoſition und Farbe, ſtellt eine Apotheoſe des großen Königs
dar. Auf einer Felſenburg zur Linken ſtehen Krieger und
blicken einer Anzahl davon eilender Genien nach, die das gold-
umrahmte Bildniß Friedrichs in ihrer Mitte tragen und mit dieſer
ihrer Laſt dem Tempel des Ruhmes zuſchweben. Zur Rechten ragt
der Tempel ſelber auf, auf deſſen oberſter Stufe die hohe Göttin
ſteht und ſich anſchickt das Bildniß des Königs mit ihrem Sternen-
Diadem zu krönen. Von Mobiliar keine Spur in dieſem Raume,
der ſeit anno 6 überhaupt unbewohnt geblieben iſt, und deſſen
Durcheinander von Spinnweb und Gaze, von Farbenglanz und
blinden Fenſterſcheiben, von Ruhmesverherrlichung und Staub, eine
Wirkung macht, der ſich wenige Beſucher werden entziehen können.
Alles Mobiliar, ſo ſagt’ ich, fehlt, aber ein eigenthümlicher Zimmer-
ſchmuck iſt dennoch dieſen Mull- und Gazewänden geblieben. Die
ganze hintere Hälfte des Zimmers iſt mit großen Schlacht-
plänen
dekorirt, die wohl ziemlich unzweifelhaft von der Hand
des Grafen ſelbſt herrühren. Derſelbe geſellte nämlich zu ſeinen
übrigen Gaben auch das Talent eines ausgezeichneten Topographen
und Kartenzeichners, und die berühmte General-Karte des preußiſchen
Staats, die bis dieſen Augenblick in dem Kartenſaale des Kriegs-
miniſteriums aufbewahrt wird, bewahrt gleichzeitig den Namen
Schmettau’s in ehrendem Andenken. Die Aufſchrift dieſer
General-Karte, die auch ſchlechtweg die Schmettau’ſche Karte
heißt, lautet wie folgt: „Tableau aller durch den Königlich
Preußiſchen Oberſten Grafen von Schmettau von 1767 bis
1787 aufgenommenen und zuſammengetragenen Länder.“ Die-
ſelbe geſchickte Hand, die dieſes berühmte „Tableau“ zuſammentrug,
hat ſehr wahrſcheinlich auch die ſieben Schlachtpläne gezeichnet,
denen wir in dieſem abgelegenſten und ungekannteſten Zimmer des
Cöpenicker Schloſſes begegnen. Nur die Siegesſchlachten des
großen Königs haben hier Aufnahme gefunden und die Inſchriften
der verſchiedenen Blätter lauten wie folgt: Bataille und Belage-
rung von Prag; Schlacht bei Roßbach; Bataille bei Lowoſitz;
Schlacht bei Zorndorf; Schlacht bei Liegnitz; Schlacht bei Torgau
[104] und Schlacht bei Leuthen. Die einzelnen Tableaux ſind von ver-
ſchiedener Größe, namentlich die Bataille und Belagerung von
Prag ſehr ausgeführt und größer als die übrigen, aber alle ver-
rathen dieſelbe Meiſterhand und tragen ſämmtlich ſtatt der üblichen
Holzeinfaſſung einen künſtlichen Lorbeerkranz als Umrahmung.


Es drängt ſich dem Beſucher Schloß Cöpenicks die Frage auf:
was war die Bedeutung dieſes Zimmers? Die Antwort iſt nicht
ſchwer. Es war die Stätte eines loyalen Cultus, ein Andachts-
platz, an den ſich in Zeitläuften, die jeden anderen Stempel eher
als den des großen Königs trugen, die ſchwärmeriſche Verehrung
für den Hingeſchiedenen zurückzog, um einer großen Zeit zu ge-
denken, die nicht mehr war.


In dieſem Zimmer war es auch wohl, daß Graf Schmettau
die letzten Augenblicke zubrachte, bevor ihn das Jahr 1806 aus
der Stille von Schloß Cöpenick wieder in den Lärm des Krieges
rief. Und was er an dieſer Stelle gelobt hatte, das hielt er. Am
Unglückstage von Auerſtädt, unglücklich nicht durch ſeine Schuld,
erſtürmte er, an der Spitze ſeiner Bataillone, die Höhen von
Haſſenhauſen, die der Feind unter’m Schutz eines herbſtlichen
Morgennebels ſchon vor ihm beſetzt hatte. Zweimal nahm er ſie
und zweimal war er gezwungen, ſie wieder aufzugeben. Als er
ſich zum dritten Angriff anſchickte, um den entſcheidenden Stoß zu
thun und die mehr und mehr in Unordnung gerathenden Fran-
zoſen in das Saalethal hinabzudrängen, traf ihn eine Kartätſchen-
kugel und warf ihn tödtlich verwundet vom Pferde. Vier Tage
nach der Schlacht verſchied er, am 18. Oktober 1806. So ſtarb
Friedrich Wilhelm Karl Graf von Schmettau, nicht an
Glück aber an jeglichen Gaben des Herzens und Verſtandes jenen
Schmettau’s gleich, die unter Eugen und Marlborough zuerſt
die Schlachtfelder Europa’s betraten und unter dem großen Könige
ſiegreich kämpfend, den Ruhm ihrer Familie begründet hatten.


Schloß Cöpenick war wieder verwaiſt. Die Krone kaufte den
Beſitz zurück, aber Zimmer und Treppen blieben öde. Das Laub
an Ulmen und Ahornplatanen kam und ging, ohne daß die Gänge
[105] des Parks ein anderes Leben geſehen hätten, als die laute Heiter-
keit der Cöpenicker Schuljugend, die hier ein prächtiges, von Ge-
ſtrüpp durchwachſenes Terrain fand für „Hirſch und Jäger“ und
„Wanderer und Stadtſoldat.“


Jahrzehnte vergingen ſo. Da zog wieder Leben ein in Schloß
Cöpenick, aber welch ein Leben! Die Fenſter, die nach dem Waſſer
hinaus lagen, wurden mit Holz bekleidet, und nur ein ſchmaler
Streifen blieb offen, der dem Lichtſtrahl von oben her einen Ein-
gang geſtattete. Geſchloſſene Wagen rollten über die Brücke, Alles
war in Dunkel und Geheimniß gehüllt; es ging „ein finſtrer Geiſt
durch dieſes Haus.“ Die hohen Schwarzpappeln, die alten Wäch-
ter am Portal, ſtanden unheimlicher da denn je zuvor und drinnen
und draußen war kein Spielen und Lachen mehr. Hunderte ſaßen
hinter den Gitterfenſtern, die doch keine Fenſter mehr waren, und
nichts unterbrach die finſtre Stille des Orts; wie das Licht, ſo
ſchien auch der Klang von ſeinen Mauern ausgeſchloſſen. Eine
trübe Zeit. Uebermuth hatte gefehlt, und Mangel an Muth hatte
zu Gericht geſeſſen; waghalſige Schwärmerei, mißleitete Begeiſte-
rung büßten hart für den eitlen Irrthum einer Stunde*).


Und wieder andre Zeiten kamen. Wie einen ſchweren Traum
ſchüttelte Schloß Cöpenick ſeine jüngſte Vergangenheit ab. Die
Fenſter blitzten wieder, wenn die Morgenſonne darauf fiel, und
auf dem Platze, der zwiſchen Schloß und Schloßkapelle liegt, ent-
ſtand ein Garten. Blumen blühten wieder und eine heitere
Jugend hielt ihren Einzug. Eine heitere, denn ſie kam nicht, um
für Eitelkeit und Uebermuth über Gebühr zu büßen, ſie kam, um
in Demuth und Beſcheidenheit zu lernen. Und dieſe Jugend weilt
noch darin. Allabendlich um die Dämmerſtunde, wenn die Orgel
zu Geſang und Andacht ruft und Lehrer und Schüler ſich im
alten Wappenſaale des Schloſſes verſammeln, iſt es wohl als
ging’ es wieder um und als huſch’ es in den Corridoren auf und
nieder, aber die leiſen Klageworte des Kurprinzen, der hier Schutz
[106] und Zuflucht ſuchte, das Kriegsgerichtsurtheil, das hier geſprochen
wurde, die Seufzer derer, die hier nach Licht und Freiheit
rangen — Alles verklingt doch als überwundene Diſſonanz in
dem vollen Brauſen des Orgelchors, der eben jetzt das große
Vertrauenslied in die Rathſchlüſſe Gottes anſtimmt: Ein’ feſte
Burg iſt unſer Gott
.


[[107]]

Die Müggelsberge.


Es rührt kein Blatt ſich, alles ſchläft und
träumt,
Nur je zuweilen kniſtert’s in den Föhren,
Die Nadel fällt, — es ruht der Wald.
Scherenberg.

Inmitten des quadratmeilengroßen Wald- und Inſeldreiecks, das
Spree und Dahme kurz vor ihrer Vereinigung bei Schloß Cöpe-
nick
bilden, ſteigen die „Müggelsberge“ beinah unvermittelt aus
dem Flachland auf. Sie liegen da wie der Rumpf eines fabel-
haften Waſſerthieres, das hier in ſumpfiger Tiefe zurückblieb, als
ſich die großen Fluthen der Vorzeit verliefen.


Die Müggelsberge ſind alter hiſtoriſcher Grund und Boden
und waren ſchon das „hohe Schloß“ dieſer Lande, lange bevor die
Wendenfürſten in die Spree-Gegenden kamen und lange bevor
ſich Brennibor an der Havel erhob. In vorſlawiſcher Zeit, in
Zeiten, die noch keine Burgen kannten, waren ſie die naturge-
baute, waſſerumgürtete Veſte die von germaniſchen Häuptlingen
jener Epoche bewohnt wurde — der Sumpf ihr Schutz, der Wald
ihr Haus.


Carl Blechen, „der Vater unſrer märkiſchen Landſchaftsmalerei“,
wie er gelegentlich genannt worden iſt, hat in einem ſeiner bedeu-
tendſten Bilder die Müggelsberge zu malen verſucht. Und ſein
Verſuch iſt glänzend geglückt. In feinem Sinn für das Charakte-
riſtiſche, ging er über das blos Landſchaftliche hinaus und ſchuf
[108] hier, in die Tradition und Sage der Müggelsberge zurückgreifend,
eine hiſtoriſche Landſchaft. Die höchſte Kuppe zeigt ein Sem-
nonen-Lager. Schilde und Speere ſind zuſammengeſtellt, ein Feuer
flackert auf, und unter den hohen Fichtenſtämmen, angeglüht von
dem Dunkelroth der Flamme, lagern die germaniſchen Urbewohner
des Landes mit einem wunderbar gelungenen Miſchausdruck von
Wildheit und Behagen. Wer die Müggelsberge geſehen hat, wird
hierin ein richtiges und geniales Empfinden unſres Malers be-
wundern — er gab dieſer Landſchaft die Staffage, die ihr einzig
gebührt. Ein Reifrock und ein Abbé in die verſchnittenen Gänge
eines Roccoco-Schloſſes, eine Proceſſion in das Portal einer go-
thiſchen Kirche, aber ein Semnonen-Lager in das Waldrevier der
Müggelsberge!


Ihnen gilt jetzt unſer Beſuch.


Wir kommen von Schloß Cöpenick, haben Stadt und Vor-
ſtadt glücklich paſſirt und ſchreiten nunmehr dem Gehölze zu, das
bis über die Müggelsberge hinaus das ganze Terrain bedeckt. Es iſt
ein Forſt und eine Haide wie andere mehr; Moos und Fichten-
nadeln haben dem Weg eine elaſtiſche Weiche gegeben und nur die
Baumwurzeln, die grotesk überall hervorlugen und uns wie bös-
willige Gnomen ein Bein zu ſtellen ſuchen, mahnen zur Vorſicht.
Eine rechte Herbſtesfriſche weht durch den Wald. Der herbe Duft
des Eichenlaubs miſcht ſich mit dem Harzgeruch der Tannen, und
anheimelnd klingt es, wenn die Eichkätzchen von einem Baum
zum andern ſpringen und die Zweige mit leiſem Knick zerbrechen.
Dann und wann hören wir, vom Fahrweg her, den eigenthüm-
lichen Klinker- und Klankerton, an dem ein märkiſcher Bauern-
wagen auf hundert Schritt ſchon erkennbar iſt. Die Halskette
der beiden magern Braunen raſſelt am Deichſelhaken, die Sproſſen
klappern in den Leiterbäumen, die Leiterbäume wieder an den
vier Wagenrungen und gegen die Wagenrungen ſchrammt das
Rad. Dazwiſchen das Hüh! und Hoh! des Kutſchers, und
Schwamm-anpinken und Tabacksqualm — und das Begegnungs-
bild iſt fertig, das die Märkiſche Haide zu bieten pflegt.


Schon mehrere ſolcher Fuhrwerke ſind an uns vorüber-
gekommen und ihre Inſaſſen haben jedesmal unſern Gruß
erwiedert in trägen, unverſtändlichen Lauten, wie einer der
[109] aus dem Schlafe ſpricht. Jetzt aber verlaſſen wir den Fußweg,
der neben der großen Fahrſtraße hinlief, und biegen nach rechts
hin in einen ſchmaleren Pfad ein, der leiſe bergan ſteigend, uns
immer tiefer in die weiten und unmittelbar an den Fuß der
Müggelsberge ſich anlehnenden Waldreviere führt. Bald iſt völlige
Stille um uns her; wir haben in unſeren Gedanken von Men-
ſchen und Menſchenantlitz Abſchied genommen und fahren drum
erſchreckt zuſammen, als wir plötzlich dreier Frauengeſtalten an-
ſichtig werden, die mit halbem Auge von ihrer Arbeit aufblicken
und dann langſam-geſchäftig fortfahren das abgefallene Laub zu-
ſammen zu harken. Die grauen Elſen, unter denen ſie auf- und
abſchreiten, ſehen aus wie die Frauen ſelbſt, und ein banges,
geſpenſtiſches Gefühl überkommt uns, als wäre kein Unterſchied
zwiſchen ihnen und als raſteten die einen nur, um über kurz oder
lang die andern bei ihrer Arbeit abzulöſen. Wir fragen endlich, „ob
dies der Weg nach den Müggelsbergen ſei“, worauf ſie mit
nichts andrem als mit einer gemeinſchaftlichen Handbewegung
antworten. Einen Augenblick ſtutzen wir in Erinnerung an die
wohlbekannten Drei von der Schottiſchen Haide, deren Wink oder
Zuruf immer nur in die Irre führt; aber uns ſchnell vergegen-
wärtigend, daß die Thürme Berlins nur ein paar Meilen in
unſerem Rücken liegen, folgen wir unter Dank und ſcheuem Kopf-
nicken der uns angedeuteten Richtung. Und ſiehe da, noch hundert
Schritt und es lichtet ſich der Wald und vereinzelte Tannen und
Eichen umzirken einen Platz, in deſſen Mittelpunkt ein Teich, ein
See ruht.


Dieſer See heißt der „Teufelsſee“. Er hat den unheimlichen
Charakter aller jener ſtillen Waſſer, die ſich an Bergabhängen ab-
lagern und ein Stück Moorland als Untergrund haben. Die
leuchtend-ſchwarze Oberfläche iſt kaum gekräuſelt und verwaſchenes
Sternmoos überzieht den Sumpfgürtel, der uns den Zugang
zum See zu verwehren ſcheint. Er will ungeſtört ſein und nichts
aufnehmen als das Bild, das die dunkle Bergwand auf ſeinen Spiegel
wirft. Der Teufelsſee hat auch ſeine Sage von einem untergegange-
nen Schloß und einer Prinzeſſin, die während der Johannisnacht
aufſteigt und die gelben Teichroſen des See’s an den Saum ihres
ſchwarzen Kleides ſteckt. Die Kuhjungen aus Müggelsheim, die
[110] hier herum ihre Heerden durch Wald und Sumpf treiben, haben
das Alles mehr denn einmal geſehen und das Kniſtern ihres
Seidenkleides gehört; wir aber, die wir die Johannisnacht ſträflich
verſäumt haben und erſt um die Mitte Oktober in dieſe Gegenden
kommen, müſſen uns begnügen den drei harkenden Frauen be-
gegnet zu ſein, die ſo trefflich zur Herbſtlandſchaft ſtimmten und
ſpukhaft genug waldeinwärts zeigten.


Unmittelbar hinter dem Teufelsſee erheben ſich die Müggels-
berge. Wir verſchmähen den bequemen Weg, der ſich hinaufſchlängelt,
und nehmen den Berg auf geradeſtem Wege wie im Sturm. Oft
zurückgleitend, wo die abgefallenen Kiennadeln am dichteſten liegen,
und im Zurückgleiten einen Birkenſtrauch oder eine junge Tanne
faſſend, ſo dringen wir muthig vor, jede Stelle preiſend, an der
raſchelndes Eichenlaub ſtatt der glatten Nadeln zu unſern Füßen
liegt. Nun aber haben wir’s überwunden, das Erdreich wird
feuchter, Treppeneinſchnitte und Raſenbänke gönnen uns abwech-
ſelnd einen Halt und eine Raſt, und endlich eine dichte Hecke
durchbrechend, die faſt ſchon am Grat des Berges entlang läuft,
haben wir das Ziel unſerer Wanderſchaft erreicht — die Höhe
der Müggelsberge.


Dieſe Müggelsberge repräſentiren ein höchſt eigenthümliches
Stück Natur, abweichend von dem, was wir ſonſt wohl in unſerem
Sand- und Flachlande zu ſehen gewohnt ſind. Unſere Märkiſchen
Berge (wenn man uns dieſe ſtolze Bezeichnung geſtatten will)
ſind entweder einfache Kegel oder Plateau-Abhänge. Nicht ſo die
Müggelsberge. Dieſe machen den Eindruck eines Gebirgs-modells,
etwa als hab’ es die Natur in heiterer Laune verſuchen wollen, ob nicht
auch eine Urgebirgsform aus Märkiſchem Sande herzuſtellen ſei. Alles
en miniature, aber doch nichts vergeſſen. Ein Stock des Gebirges, ein
langgeſtreckter Grat, Ausläufer, Schluchten, Kulme, Kuppen, Alles
iſt nach Art einer Reliefkarte vor die Thore Berlins gelegt, um die
flachländiſche Reſidenzjugend hinausführen und ihr über Gebirgs-
Formationen Einiges ad oculos demonſtriren zu können.


Wir haben den Grat ohngefähr in ſeiner Mitte erreicht, wo
er mehr eine muldenartige Vertiefung als eine Erhöhung zeigt.
Die Kuppen befinden ſich an den vorgeſchobeneren Punkten, ſo daß
der ganze Berg einem ausgedehnten alten Schloßbau gleicht, der
[111] hohe Erker und Altane, vor Allem aber ein paar abgeſtutzte Eck-
thürme an ſeinen zwei Giebelſeiten trägt. Dieſe Weſt- und Oſt-
kuppe der Müggelsberge geſtatten die weiteſte Ausſicht in’s Land
hinein. Beſonders die Weſtkuppe. Ueber den Rücken des Berges
hin ſchreiten wir dieſer letzteren zu.


Der Weg führt durch dichtes Gehölz, das wie ein grüner
Wandſchirm daſteht und nach keiner Seite hin einen Durchblick
geſtattet. Die Bäume ſelbſt ſind noch jung, und nur alle funfzig
Schritte begegnen wir einigen halberſtorbenen Eichen, von denen
es ſchwer zu ſagen iſt, was ſie vor der Axt des Holzſchlägers ge-
rettet haben mag, ihr hohes Alter, ihre maleriſche Schönheit, oder
eine abergläubiſch-pietätsvolle Rückſicht gegen das Geſchlecht der
Spechte, die darin wohnen und auf den Müggelsberg-Kuppen in
ähnlicher Weiſe heimiſch ſind, wie die Raben und Dohlen auf den
Kirchthürmen alter Städte. Sie zimmern ſich mit geſchäftigem
Schnabel ihre ſoliden Neſter in das harte Holz und machen, viel-
leicht aus Geſelligkeitstrieb, jeden einzelnen Stamm zu einer Art
Familienhaus. Oft fünfzig Neſter in einem Baum. Ueberall
huſcht es heraus und hinein, pickt und kreiſcht, und im Vorüber-
gehen grüßen wir ein paar alte Spechte, die aus ihren Löchern
hervorlugen und neugierig ſind zu erfahren, ob Freund oder Feind
im Anzuge ſei.


So erreichen wir nach kurzem Gang unſer Ziel, eine kahle,
kreisrunde Plattform. In der Mitte liegen verkohlte Scheite von
einem Feuer, das erſt geſtern gebrannt zu haben ſcheint; ſonſt
Alles Sand und Kiennadeln und dicht am Abhang eine einzige
Diſtel. Die Kiefern und Fichten, die bis dahin als dichtes Ge-
büſch zu beiden Seiten des Weges ſtanden, hier haben ſie ſich
abwärts gezogen und ragen nur noch mit ihren Gipfeln über das
Plateau hinweg. In einem Rieſenkranze von dunklen Nadeln be-
wegt ſich’s um uns her und nur eine einzige Kiefer, ein ſchlanker,
hellrother Stamm, der ſtolz wie eine Pinie daſteht, ragt noch hoch
auf, als ob es ein Flaggenſtock wär’, nnd ſtreckt ſeine grüne Krone
wie ein Wahrzeichen weit in’s Land hinein.


Wir lehnen uns an den Stamm des ſchönen Baumes und
blicken weſtlich auf die Bilder modernen Lebens und lachender
Gegenwart. Aus der Sand- und Sumpfwüſte früherer Jahr-
[112] hunderte wurde hier längſt ein Park- und Gartenland und Dörfer
und Städte wachſen heiter mit ihren rothen Dächern und Giebeln
aus allen Schattirungen des Grün hervor. Die Thürme der Haupt-
ſtadt, die graugelben Wände des Cöpnicker Schloſſes, beide leuchten
im Schein der untergehenden Sonne. Fabrikſchornſteine begleiten
den Lauf des Fluſſes, und hoch über den weißen Segeln der Kähne,
die geräuſchlos ſtromabwärts ziehen, ſteht bewegungslos die ſchwarze
Wolke der Eſſen und Schlote. Leben überall, kein Fuß breit
Landes, der nicht die Pflege der Menſchenhand verriethe.


Wir haben das heitere Bild in Aug und Seele aufgenommen
und wenden uns jetzt, um, nach der entgegengeſetzten Seite hin, in die
halb im Dämmer liegende öſtliche Landſchaft hinein zu blicken.
Welch Gegenſatz! Die Spree zieht den Müggelſee wie einen breiten
Spiegelkryſtall an ihrem ſchmalen, blauen Bande auf, und die
Dahme buchtet ſich immer weiter und breiter landeinwärts und
ſchafft Inſeln und Halbinſeln, ſo weit unſer Auge reicht. Auf
Quadratmeilen hin nur Waſſer und Wald. Nichts, was an die
Hand der Cultur erinnerte. Nicht Weg, nicht Steg und keine
andere Fahrſtraße ſichtbar, als das verwirrende Flußnetz, das ſich
durch die ſcheinbar endloſen Forſtreviere zieht. Kein Hüttenrauch
ſteigt auf, keine Heerde weidet an den Ufern entlang und nur eine
Fiſchmöve ſchwebt ſatt und langſam über dem Müggelſee. Sand
und Sumpf, und Waſſer und Wald; es iſt hier wie es immer
war, und während jetzt die Abendnebel von den Seeen her auf-
ſteigen und ihre Schleier auch um den Rand der Kuppe legen,
auf der wir ſtehen, iſt es, als ſtiege die alte Zeit mit aus der Tiefe
herauf, und die Müggelsberge ſind wieder wie ſie die künſtleriſche
Phantaſie geſehn. An den knorrigen Aeſten hängen wieder Schilde,
wie Mulden geformt, und lange Speere von Eſchenholz ſtehen
daneben, einzeln und in Gruppen zuſammengeſtellt. Die ver-
kohlten Scheite vor uns ſind nicht länger mehr verkohlt, ſie treiben
wieder Flammen, und um die brennenden Scheite herum lagern,
ihre Leiber mit Fellen leicht geſchürzt, die Geſtalten unſers mär-
kiſchen Malers und Meiſters — die Semnonen.


Wie gebannt hält uns das Bild, bis ein Geräuſch uns
weckt. Ein Vogel, der in dem Zweigwerk der Fichte geſeſſen hatte,
war aufgeſtiegen, und ſein Geſchrei von Zeit zu Zeit wiederholend,
[113] flog er jetzt dem dichteren Gehölz des Berges zu. Es war ein
Pirol, der nordiſche Wundervogel. Sein gelbes Gefieder fing die
letzten Strahlen der Abendſonne auf; dann ſtieg er in das unter
ihm liegende Dunkel der Tannen nieder.


Das Nebelbild war hin, die Ausſicht wieder frei, die Scheite
wieder verkohlt; von den Dörfern her aber klang die Betglocke,
die den Abend einläutete.


Fontane, Wanderungen. IV. 8
[[114]]

Der Müggelſee.


Glatt iſt der See, ſtumm liegt die Fluth
So ſtill als ob ſie ſchliefe,
Der Abend ruht wie dunkles Blut
Rings auf der finſtern Tiefe;
Die Binſen im Kreiſe nur leiſe
Flüſtern verſtohlener Weiſe.
Schnezler.

Die Spree, ſobald ſie ſich angeſichts der Müggelsberge befindet,
bildet oder durchfließt ein weites Waſſerbecken: die Müggel oder
den Müggelſee, der mit zu den größten und ſchönſten unter
den märkiſchen Seen zählt.


Da wo die Spree den Müggelſee betritt und ebenſo da, wo
ſie ihn wieder verläßt — alſo durch die ganze Länge des See’s von
einander getrennt — erheben ſich die beiden einzigen Dörfer dieſer
Gegenden: Rahnsdorf und Friedrichshagen, jenes ein altes
Dorf, das muthmaßlich bis in die Wendenzeit zurückreicht, dies
eine Colonie aus der Zeit des großen Königs, der es ſich zur
Aufgabe ſtellte, die bis dahin unbewohnten Müggelforſten oder
was daſſelbe ſagen will die große Waldinſel zwiſchen der deutſchen
und wendiſchen Spree zu coloniſiren.


Rahnsdorf und Friedrichshagen blicken mit ihren ſchmucken
rothen Dächern auf den See hinaus, aber es ſind nicht eigentliche
See-Dörfer; ſie liegen am Ufer der Spree, nicht am Ufer der
Müggel. Am Müggelſee ſelber, den nichts wie Sandſtreifen und
anſteigende Fichtenwaldungen einfaſſen, erhebt ſich oder erhob ſich
wenigſtens in den 60er Jahren, als ich den See zum erſten Male
[115] ſah, ein einziges Haus: die Müggelbude. Auf einer vor-
ſpringenden Sanddüne gelegen, die ſich vom Weſtufer aus in die
Müggel hinein erſtreckt, iſt ſie oder war ſie der geeignetſte Punkt,
um den See und ſeine Ufer zu überblicken.


Eben dieſe Müggelbude, nach der von Cöpenick aus ein
reizender Spaziergang durch den Wald führt*), iſt Leuchthurm,
Fiſcherwohnung und Fährhaus zugleich, aber vor allem iſt ſie doch
Gaſthaus. Sie iſt es nach jenem überall hervortretenden Geſetze,
welches in unwirthbaren Gegenden ein jedes einzeln ſtehende Haus
zum Gaſthauſe macht. Die oft angerufene und oft gewährte
Hülfe führt ſchließlich dazu die Hülfe zu einem Geſchäft zu machen.
So auch die Müggelbude. Freilich iſt es ein wild-verwogenes
Geſchlecht, das hier anpocht, um Unterkommen oder Hülfe zu finden,
und der Fährmann, der erfahren haben mag, daß uns das Unglück
nicht blos zu ſeltſamen Schlafkameraden führt, ſondern uns auch
umgekehrt ebenſo ſeltſame Schlafkameraden bringt, hat wohlweislich
Vorkehrungen getroffen, um ſein eigentliches Haus vor ihnen ſicher
zu ſtellen. Seine Müggelbude repräſentirt ein „Gaſthaus erſter
Klaſſe“; für die Unbekannten und Schlecht-Legitimirten aber hat
er abwärts auf dem unterſten ſchmalen Uferſtreifen eine Art
Schiffer-Ghetto aufgeführt. Hier auf einem Terrain, das ſich
See und Sand beſtändig ſtreitig machen, erheben ſich flachgewölbte
Holzhütten, die ſich bei näherer Beſichtigung als ausrangirte Schiffs-
kajüten erweiſen. Durch die halb offen ſtehende Thür gewinnt
man Einblick in das Innere derſelben: auf vier hohen Pfoſten
ruht ein roh zuſammengenagelter Kaſten, groß genug für zwei
8*
[116] oder drei Schläfer, und mit nichts ausgeſtattet, als mit etwas
niedergelegenem Stroh. Das iſt Alles, was die Gaſtlichkeit der
„Dependance“ der Müggelbude bietet. Und doch muß es hier ein
wunderbares Schlafen ſein, wenn in Winternächten die glitzernden
Sterne durch die halbhandbreiten Ritzen in dies Schlafgemach
hineinblicken und der See, als woll’ er ſich warm ſchlagen, ſeine
Wellen bis an die hoch aufgezimmerte Bettlade treibt. Schade
nur, die Schifferknechte, die hier einen Unterſchlupf ſuchen und
finden, ſind wohl die letzten ſich dieſes Zaubers zu freun.


Die Müggelbunde ſteht hoch, ihr zu Füßen aber zieht ſich
ein Sandgürtel, der nach vorn hin aufs Neue ſteil abfallend, den
See in ſeiner ganzen Ausdehnung umzirkt. Auf dieſem Sand-
gürtel nehmen wir Platz und eine knorrige Kiefer im Rücken,
deren vorgebeugter Schirm ſchon halb über dem Waſſer ſchwebt,
ſitzen wir jetzt auf einer Art Moos- oder Erdbank und blicken auf
die weite Waſſerfläche hinaus, die, leiſe brandend, ihre Wellchen
bis unter unſre Füße ſchickt. Der See gleicht hier einem Haff
und ſo oft die Wellen zurückrinnen, blinken die weißen Muſcheln,
die das bewegte Waſſer an’s Ufer geworfen.


Es freut das Herz ſo an der Müggel zu ſitzen und die leiſe
Muſik von Wald und Waſſer um ſich her, die Stunden zu ver-
träumen. Die Sonne ſinkt und das Bild, das beim erſten An-
blick, aller eigenthümlichen Schönheit unerachtet, eine gewiſſe Mono-
tonie zeigte, gewinnt mehr und mehr Gewalt über uns und ſpinnt
uns in den alten Müggel-Zauber ein. Die Kähne mit ihrer
weißen Kalkſteinladung, deren aufgeſchichtete Blöcke das Kajüten-
dach in ein kleines Kaſtell verwandeln, ziehen geräuſchlos vorüber,
die Dächer des gegenüberliegenden Rahnsdorf glühen noch einmal
auf und der See ſelber wechſelt von Minute zu Minute ſeine
Stimmung und ſeine Farbe. Aber mit halbem Auge nur ver-
folgen wir das Farbenſpiel; unſer Auge richtet ſich immer wieder
nach rechts hin, wo die Müggelberge ſteil aufſteigen und ihre wach-
ſenden Schatten bis weit in den See hineinwerfen. Ein dünner
Nebel zieht um den Berg und wenn es dann und wann aufblitzt,
fahren wir zuſammen und blicken nach der Prinzeſſin aus, der zweiten
Prinzeſſin dieſer Gegenden, von der es heißt, ſie käm’ allabendlich
mit vier goldfarbenen Pferden von den Müggelbergen herab, um
[117] die Durſtigen im See zu tränken. Sie kommt freilich nicht und
auch der große Heuwagen bleibt aus, der von vier weißen Mäuſen
gezogen der Prinzeſſin entgegenfährt um ihr den Weg zu ſperren,
aber eingewiegt in phantaſtiſches Träumen könnte jetzt eine ganze
Zauberwelt vor uns ausgeſchüttet werden, wir würden ihre Wunder
ohne Verwunderung entgegennehmen. Die Müggel und ihre Ufer
ſind Märchenland.


Noch einmal fährt ein Gluthſtreifen über den See; nun aber
ſchwindet die Sonne, beinah plötzlich bricht die Dämmerung herein
und bleifarben liegt die weite Waſſerfläche da. In ſeiner Mitte
beginnt es wie ein Kreiſen, wie ein Quirlen und Tanzen; ſind es
Nebel, die aufſteigen? oder ſind es die alten Müggelhexen, die
lebendig werden ſobald das Licht aus der Welt iſt.


Der Fährmann von der Müggelbude hat ſich zu mir geſetzt
und ich dringe jetzt in ihn mich über den See zu fahren, aber
ſtatt jeder Antwort zeigt er nur auf eine grauweiße Säule, die
mit wachſender Haſt auf uns zukommt. Wie geängſtigte Schwäne
fahren die Wellen der Müggel vor ihr her und während ich
meinen Arm feſter um die Fichte lege, bricht vom See her ein Wind-
ſtoß in Schlucht und Wald hinein und jagt mit Geklaff und Ge-
pfeif durch die Kronen der Bäume hin. Einen Augenblick nur
und die Ruh’ iſt wieder da, — aber die Bäume zittern noch nach,
und auf dem See, der den Anfall erſt halb überwunden, jagen
und haſchen ſich noch die Wellen.


Die Müggel iſt bös. Es iſt als wohnten noch die alten
Heiden-Götter darin, deren Bilder einſt die Hand der Mönche von
den Müggelbergen herab in den See warf. Die alten Mächte
ſind beſiegt, aber nicht todt, und in der Dämmerſtunde ſteigen ſie
herauf und denken ihre Zeit ſei wieder da.


[[118]]

Rahnsdorf.


Geſtern noch auf ſtolzen Roſſen,

Heute durch die Bruſt geſchoſſen,

Morgen in das kühle Grab.

Rahnsdorf liegt der Müggelbude gegenüber, ziemlich nah jener
maleriſchen Stelle, wo die Spree von Oſten her in die Müggel eintritt.


Die früheſten Nachrichten über dies Dorf giebt das Land-
buch vom Jahre 1375, nach welchem Rahnsdorf an Schloß Cöpe-
nick einen Schoß oder Zins für die Fiſcherei-Gerechtigkeit auf dem
See zu zahlen hatte. So ging es durch Jahrhunderte hin. Erſt
1722 kam es durch Tauſch an den damals alle Territorien an
der Nordoſt-Ecke der Müggel innehabenden Geheimen Ober-Finanz-
rath v. Marſchall, bei deſſen Nachkommen es bis 1832 verblieb.
In letztgenanntem Jahr erwarb es Heinrich v. Treskow auf
Dahlwitz, in deſſen oder ſeiner Familie Beſitz es ſich auch gegen-
wärtig noch befindet.


Rahnsdorf hatte, ſeiner ſchönen Lage halber, immer eine
Anziehungskraft für die Reſidenzler, die hier, in einer zerſtreuten
Villencolonie, die heiße Jahreszeit, inſonderheit auch die Ferien-
wochen ihrer Kinder zuzubringen liebten.


Im Geleite ſolcher Sommergäſte befand ſich in den letzten 50er
Jahren auch ein hübſcher, hoch aufgeſchoſſener Blondkopf, von dem
ich in Nachſtehendem erzählen möchte. Er war ein Wildfang,
eitel und übermüthig, und über den See ſchwimmen oder bei
heraufziehendem Unwetter einen Kahn nehmen und wind-an rudern,
all das zählte ſo recht eigentlich zu ſeinem Ferienglück. Einmal
[119] wollte man’s verbieten, aber einer der’ zufällig anweſenden Freunde
des Hauſes legte ſich in’s Mittel und ſagte: „Wozu verbieten?
Glauben Sie mir, es iſt gleichgültig was wir thun. Es giebt
keine Sicherheiten und eigentlich auch keine Unſicherheiten. Unſer
Schickſal findet uns und faßt uns zu beſtimmter Zeit und an
beſtimmter Stelle.“


Dies ſollte ſich in Leben und Tod Alexander Anderſſens
bewähren.


Alexander Anderſſen.
Fähnrich im 4. Ulanenregiment.


Erſchoſſen zu Thionville am 29. Oktober 1870.


Alexander Anderſſen, der Blondkopf deſſen die vorſtehenden
Zeilen erwähnten, ward am 19. November 1847 zu Berlin ge-
boren. Mit dem zehnten Jahre kam er auf das Werderſche Gym-
naſium. Von früh auf zeigte er den Charakter, dem er bis zu
ſeiner letzten Stunde treu blieb: er war nervös und energiſch,
lebhaft und verſchloſſen zugleich. „Nur nichts verrathen“ bildete
die Deviſe ſeines Lebens und Diskretion war die vornehmſte ſeiner
Tugenden. Gleichgiltig gegen Lob, war ihm der Tadel beinah
erwünſcht, ſicherlich dann, wenn er ihm eingebildet oder wirklich
das Gefühl ſeiner Unſchuld entgegenſetzen konnte. Mit Paſſion
nahm er Dinge auf ſich, die ſeine Commilitonen verſchuldet hat-
ten; kam Strafe, ſo deſto beſſer. Man kann von ihm ſagen, daß
er von Jugend auf die Leidenſchaft des Martyriums beſaß. All’
das kleidete ihm aber, weil es nichts Angeflogenes, ſondern der
Ausdruck ſeiner Natur war. Was vollends verſöhnte, war, daß
er nie feige umkehrte oder vor den Folgen ſeiner Handelsweiſe
erſchrak.


1867 verließ er Berlin, um in Heidelberg Jura zu ſtudiren.
Es waren die erſten Semeſter, und ſie verliefen wie erſte Heidel-
berger Semeſter zu verlaufen pflegen. Pedelle und Nachtwächter
wußten alsbald von ihm zu erzählen, mehr noch die Schauſpiele-
rinnen, inſonderheit die, denen er ſich gemüßigt ſah, ſeine Gunſt
[120] zu entziehn. In einem allerſchlimmſten Falle, der ihn dann
ſchließlich auch bis an die Grenze der Relegation brachte, ging er
ſoweit, ſich auf die Brüſtung des erſten Ranges zu ſchwingen und
höhniſch in den Applaus des enthuſiaſtiſchen Hauſes einſtimmend,
mit ſeinen Füßen Beifall zu klatſchen.


Eine weitere Unterbrechung, die ſeine Studien erlitten, wenn
von Unterbrechung überhaupt die Rede ſein konnte, waren die Duelle,
die gelegentlich in etwas zeitraubender Weiſe vor ſich gingen. So
ward eins derſelben, das zwiſchen Königsberg und Heidelberg con-
trahirt worden war, halben Weges und zwar in Berlin ausge-
fochten. Jeder Partner machte per Schnellzug 80 Meilen; Rendez-
vous: Haſenheide. Man rieb ſich den Schlaf aus den Augen
und ſchoß ſich. Die Kugeln gingen in die Luft. Aber wenn er
ſeinen Gegner auch nicht getroffen hatte, ſo traf er dafür — eine
Stunde ſpäter Unter den Linden — ſeinen Vater, der einiger-
maßen überraſcht war, den im Heidelberger Colleg Vermutheten
an dieſer Stelle zu finden.


Ein anderes Vorkommniß dieſes Studienjahres mag hier noch
erzählt werden, weil es das heitere Gegenſtück zu jenem Unter-
nehmen iſt, das zwei Jahre ſpäter ſeinem Leben ein Ende machte.
Wer ſich der Müh unterziehen will, zwiſchen den beiden Fällen zu
vergleichen, wird ſie bis in die kleinſten Züge hinein gleich finden.
Nur die Zeitläufte waren anders geworden. Und daran ging er
zu Grunde.


Der Sommer 1868 war der Pariſer Ausſtellungs-Sommer.
Ende Juni, an der Table d’hôte eines Heidelberger Hôtels ſitzend,
hörte er, wie der in den Salon tretende Oberkellner mit lauter
Stimme anfragte: „Ein Zwei-Tage-Billet für Paris: Wer der
Herren .....“ „Ich“, klang es von der entgegengeſetzten Seite
der Tafel her und eine Viertelſtunde ſpäter (es war höchſte Zeit)
ſaß unſer Studiosus juris bereits im Coupé und dampfte auf
Paris zu. Wie er ging und ſtand, hatte er die Reiſe angetreten.
Auch ohne Geld. Die paar Gulden, die er bei ſich führte, waren
ſchon verausgabt, eh er noch in den Pariſer Oſtbahnhof einfuhr.
Er liebte es, Alles vom Moment und ſeinem guten Glück ab-
hängen zu laſſen. Und ſiehe da, in Paris ließ es ihn nicht im
Stich. Einer der erſten, denen er auf dem Boulevard des Italiens
[121] begegnete, war ein Heidelberger Freund, Sohn eines reichen In-
duſtriellen, der willfährig mit ſeiner Reiſekaſſe aushalf, muthmaß-
lich auch ſeine Wohnung zur Verfügung ſtellte. Die erborgte
Geldſumme wurde gewiſſenhaft getheilt, und die eine Hälfte in
Wäſche, Hut und Handſchuhen, die andere in Cab-Fahrten und
Soupers bei Very und den Frères Provencaux angelegt. Ob er
die Ausſtellung beſuchte, iſt mindeſtens zweifelhaft. Am zweiten
Tage war er pünktlich am Bahnhof, um die Rückreiſe anzutreten;
plötzlich aber, ganz nach Art eines kühnen Hazardeurs, von der
unbezwinglichen Neigung erfaßt ſein Glück noch einmal zu ver-
ſuchen, trat er an das Schalter, ließ ſein Billet abſtempeln und
blieb. Er mochte — und nicht ganz mit Unrecht — davon aus-
gehen, daß nur von Seiten des Kaſſenmannes eine exakte Prüfung
des Billets zu gewärtigen, von dem im Momente der Abfahrt aber
die Controle führenden Schaffner nicht allzu viel böſes zu befürch-
ten ſei. Auf dieſen Calcül hin, dehnte er ſeinen Pariſer Aufent-
halt um weitere drei Tage, will ſagen bis zur Erſchöpfung der
letzten Reſourcen aus, ſah auch in Bezug auf Conducteur-
Controle ſeine Berechnungen glänzend gerechtfertigt, und ge-
langte glücklich bis Straßburg. Hier erſt von der franzöſiſchen
auf die deutſche Bahn übergehend, wurde die Sache bemerkt und
die Weiterfahrt verweigert. Aber ſo nah am Hafen, wollt’ unſer
Freund ſein Schiff nicht ſcheitern laſſen. Er verließ den Perron,
ſtellte ſich auf die entgegengeſetzte Seite der Wagenreihe, riß im
Moment der Abfahrt eine Coupéthür auf und ſprang hinein. So
kam er nach Karlsruhe, hungrig und keinen Kreuzer in der Taſche.
Gleichviel, bis hierher reichten die Heidelberger Beziehungen und
terra firma war wieder unter ſeinen Füßen.


Noch im ſelben Jahre, Herbſt 1868, ging er, behufs Abſol-
virung ſeines Militärjahres, in die Heimath zurück. Er trat bei
den Fürſtenwalder Ulanen ein. Das kavalleriſtiſche Leben, das
Reiten und Piſtolenſchießen, das Straffe des Dienſtes und da-
neben die kecke, mit der Gefahr ſpielende Ungebundenheit der freien
Stunden, das alles entſprach ſo recht dem Hange ſeiner Natur. Kein
Wunder alſo, daß er am Schluß ſeines Volontairjahres erklärte,
das Rechtsſtudium aufgeben und die Friſche des Daſeins weiter
genießen zu wollen. Er blieb Soldat, trat von den 3. (Fürſten-
[122] walder) zu den 4. (Schneidemühler) Ulanen über, machte ſeine
Avantageur-Zeit durch und war bei Ausbruch des 70er Krieges
Fähnrich im letztgenannten Regiment. Anfänglich bei der Erſatz-
Schwadron verblieben, traf er erſt am 15. September in der
Metzer Cernirungslinie ein, machte Anfang Oktober eins der im
Norden ſtattfindenden Gefechte mit, zeichnete ſich durch Bravour
aus und ſollte am 16. Oktober vor der Front belobt und zum
Offizier ernannt werden, als auf den Anruf des Regiments-Com-
mandeurs: „Fähnrich Anderſſen!“ die Antwort gegeben werden
mußte: „fehlt ſeit geſtern.“ Jener Schritt war geſchehen, der
nicht mehr zurückgethan werden konnte und mit dem Tode endete.
Im Uebrigen ſei dem noch zu Erzählenden voraufgeſchickt, daß er
auch hier wieder auf dem Punkte ſtand, der leichtſinnig heraufbe-
ſchworenen Gefahr, voll echten Spielerglücks, zu entgehen. Eine
Bagatelle entſchied ſchließlich zu ſeinen Ungunſten. Hören wir wie.


Das Regiment lag mit einigen Escadrons in Garſch, zwiſchen
Metz und Thionville. Hier befand ſich auch Anderſſen, der in dem
Hauſe des Maires ein gutes Quartier gefunden hatte. Auch ein
angenehmes, denn er ſtand auf beſtem Fuß mit dem Wirth und
allen Inſaſſen des Hauſes, beſonders mit den Kindern, mit denen
er, gütig und lebhaft wie er war, zu ſpielen und zu ſcherzen liebte.
Am 15. Oktober fuhr Mr. Bauer (Name des Maires) mit einem
leichten Ackerwagen aus ſeinem Gehöft auf die Dorfſtraße, und
unſres Fähnrichs anſichtig werdend, der, rittlings auf einem
Reiſigbündel ſitzend, eben Spielzeug für die Kinder ſchnitzte, rief
er demſelben zu:


Wollen Sie mit?


„Wohin?“


Thionville.


„Gewiß!“


Ehe zwei Minuten um waren, hatte der Angerufene, mit der
ihm eigenen Raſchheit des Entſchluſſes die Kleider gewechſelt und
fuhr nun in blauer Blouſe, neben ſeinem Quartiergeber ſitzend,
plaudernd und rauchend auf Thionville zu. Ohne Aufenthalt
oder Schwierigkeit ging es über die Feſtungsbrücke fort, in das
Thor hinein, bis der Wagen inmitten der Stadt vor dem vielbe-
ſuchten Café Luxembourg hielt. Das Publikum deſſelben, ſo
[123] wenigſtens haben ſpäter eingezogene Erkundigungen ergeben, ſcheint
unſern Anderſſen gleich von Anfang an in ſeiner Verkleidung er-
kannt, an dieſer Entdeckung aber nicht den mindeſten Anſtoß ge-
nommen zu haben. Im Gegentheil. Mit Vorliebe wandte man
ſich ihm zu, eine Mittheilung, die alle diejenigen am wenigſten
überraſchen wird, die perſönlich in der einen oder andern Eigen-
ſchaft auf dem Kriegsſchauplatz anweſend waren. Denn gerade
dieſe werden aus eigener Anſchauung wiſſen, daß Heitres und
friedlich Freundliches beſtändig in den furchtbaren Ernſt des
Krieges hineinwuchs und nur allzu oft in geradezu verführeriſcher
Weiſe den einen oder Andern Theil vergeſſen laſſen konnte: dort
ſteht Dein Feind. Die Vorpoſten beiſpielsweiſe lebten ſich kame-
radſchaftlich mit einander ein, tranken ſich zu, erwieſen ſich kleine
Dienſte, bis dann plötzlich wieder — oft launenhaft und nach dem
Voraufgegangenen durchaus unmotivirt — eine Gewehrſalve da-
zwiſchen fuhr und die Situation auf’s Neue klar legte. So ähnlich
ſcheinen die Dinge an jenem 15. Oktober auch in Thionville verlaufen
zu ſein. Der Nachtheil, der der Stadt aus einem mit ſcharfen Appetit
frühſtückenden und mit der Dame du comtoir lebhaft plaudernden
Pruſſien erwachſen konnte, war gering, der Vortheil aber lag auf der
Hand, denn man hörte doch dies und das und ſah das ewige Einerlei
der Tage durch einen Zwiſchenfall unterbrochen, der in ſeinem keck-
abenteuerlichen Aufſtutz nur um ſo unterhaltender wirkte. Die
Nachrichten hierüber mögen nicht in allen Stücken zuverläſſig ſein,
aber ſo viel wenigſtens wird mit Beſtimmtheit erzählt, daß die
Café-Luxembourg-Gäſte unter ſcherzhaftem Hinweis auf ſeine
Blouſe, unſrem Fähnrich zugerufen hätten: „Paſſen Sie auf“. Er
nahm es aber leicht, und mocht’ es leichtnehmen, denn in der That, das
Glück ſchien gewillt, für ſeinen Liebling noch einmal all und jedes
zu thun. Nichts Störendes intervenirte, der Wagen fuhr wieder
vor, Wirth und Einquartierung nahmen auf dem Vorderſitz ihren
alten Platz und nach dem Café zurückgrüßend, fuhren beide die
Straße hinunter auf das Metzer Thor zu, um noch vor Dunkel-
werden Garſch zu erreichen. Alles ging gut; erſt im letzten Mo-
ment gebar ſich das Unheil. Hart am Thor, da, wo nach rechts
hin die Straße in eine ſchmale, halb von der Stadtmauer ge-
bildete Gaſſe abbiegt, ſtand ein Wirthshaus, aus dem der Lärm
[124] heiterer Gäſte herüberklang. Einige ſtanden an den offenen Fen-
ſtern und grüßten mit den Deckelkrügen. „Noch einen Abſchiedstrunk“,
rief Anderſſen und legte die Hand auf die Leine. Der Maire
war gutmüthig genug nachzugeben, man hielt und im nächſten
Moment waren beide mit unter den Gäſten. Was hier nun ge-
ſchah, iſt unaufgeklärt geblieben; zehn Minuten ſpäter aber ſah
ſich Anderſſen als preußiſcher Spion und Mr. Bauer als ſein
Complice verhaftet. Die Bierhaus-Bevölkerung war eben eine
andere, als die im Café Luxembourg. Im Allgemeinen wird man
ſagen können: Alles wohl etablirt Imperialiſtiſche trug uns im
Stillen Sympathien entgegen. Alles gambettiſtiſch Republikaniſche
ſtand gegen uns.


Unter dem Jubel Hunderter, die mit jedem Schritt anwuch-
ſen, wurden die beiden Gefangenen nach dem Arreſthauſe gebracht.


Am 24. trat ein Kriegsgericht zuſammen, das über den Fall
aburtheilen ſollte. Trotzdem dieſſeitig ein die „excentriſche Natur“
des Angeklagten ebenſo wahrheitsgemäß wie gefliſſentlich hervor-
hebendes Schreiben an den Kommandanten von Thionville, Oberſt
Turnier, gerichtet worden war, ſah ſich das Kriegsgericht dennoch
nicht veranlaßt, eine mildere Beurtheilung des Falles eintreten zu
laſſen. Es konnt’ es nicht, weder nach Lage des Geſetzes noch
der Situation. Am 29. früh, am Tage nach der Capitulation
von Metz, wurde das auf „Tod durch Erſchießung“ lautende Ur-
theil vollſtreckt. Das gleiche Loos traf ſeinen Wirth, Mr. Bauer.
Alles, was noch zu erzählen bleibt, ergiebt ſich am beſten aus
einzelnen Schriftſtücken, die vorliegen: zwei Briefe Anderſſen’s an
ſeinen Vater und ein amtliches Schreiben des Oberſten Turnier
an den Kommandanten des 4. Ulanen-Regiments. Ich gebe dieſe
Schriftſtücke:


„Lieber Papa! Ich ſchreibe Dir und wünſche, daß Du zuerſt
dieſen Brief lieſt, um Mama vorbereiten zu können. Das Kriegs-
gericht hat geſprochen. Ich bin zum Tode verurtheilt. Ich kann
mir Deinen Kummer denken; ich fühle es recht, mein lieber Papa.
Du biſt ſtets ſo gut zu mir geweſen! Ich hab es Dir nie ge-
nügend gedankt. Es ging mir zu gut. Jetzt, wo ich in meiner
Zelle ſitze und dieſen Brief auf den Knieen ſchreibe, fühl’ ich erſt,
was ich an Euch verliere. Jetzt, wo es zu ſpät iſt, erkenn ich,
[125] was Ihr mir geweſen ſeid. Es rührt mich, wenn ich daran denke,
mit welcher Freude Du mir den geringſten Wunſch erfüllt haſt,
und wie Mama für mich geſorgt. Wer hätte das gedacht, lieber
Papa, als wir uns zuletzt auf dem Bahnhof in Berlin ſahen,
daß wir uns nie wiederſehen würden. Das iſt eine ſchreckliche
Strafe für mich! … Ich bin hier allein, ohne einen Menſchen,
der ein Herz für mich hat; welche Sehnſucht hab’ ich, Euch zu
ſehen. Ich hab’ an den Prokurator der Republik geſchrieben, daß
mir das Medaillon und zwei Briefe von Euch, die ich bei mir
hatte, im Gefängniß gelaſſen würden. Man hat ſie mir geſchickt. …
Die Stadt iſt cernirt. … Es iſt mir räthſelhaft, wie ich auf
dieſe Tollkühnheit gekommen bin.


Der Kommiſſar der Republik, ein Offizier der Garde mobile,
beſucht mich alle Tage, und hat mir verſprochen, Briefe, die ich
verſchloſſen abſchicken will (d. h. ohne daß ſie Jemand vorher lieſt),
für mich zu beſorgen. Auch wird er die Sachen, die ich mitge-
bracht habe, Euch zukommen laſſen. Es ſind dies: Uhr, Kette
mit Petſchaft, Medaillon und Compaß, eine Brieftaſche, Notizbuch,
Cigarrentaſche und mein Taſchenmeſſer, der vielgenannte „Rippe-
ſpeer“. Wenn es nicht früher geht, werdet Ihr ſie nach dem
Kriege bekommen. Da das Geld, was ich mitgebracht habe, nicht
reichen wird, ſo werd’ ich eine Beſcheinigung zurücklaſſen, für das,
was man für mich ausgelegt hat. Sei ſo gut, und gieb meinen
kleinen Revolver an Dr. Stich. Er ſoll ihn als Andenken be-
halten, den „Rippeſpeer“ auch. Meine andern Sachen werden
Euch wohl vom Regimente zugeſchickt oder ſpäter gegeben werden.
Meinen letzten Brief hab’ ich am 15. geſchrieben und Dich ge-
beten, mir eine neue Uniform zu ſchicken. Als ich den Brief
ſchrieb, hab’ ich nicht gedacht, daß ich drei Stunden ſpäter in
Thionville ſein würde. Es iſt merkwürdig, wie dieſes Geſchick ſo
plötzlich über mich hereingebrochen iſt. Wenn ich wenigſtens vor-
her mir Zeit genommen hätte, nachzudenken und mich auf die
Folgen gefaßt zu machen. Ich könnte wenigſtens ſagen, es ſei
meine Schuld. Es wär’ aber dann gar nicht paſſirt. Ich wundre
mich ſelbſt, daß ich keinen Menſchen um Rath gefragt habe; man
hätte mir doch entſchieden abgerathen. Es iſt aber auch möglich,
daß ich es trotzdem gethan hätte; dann würd’ ich mir noch mehr
[126] Vorwürfe machen. Ich kann mir nicht klar werden darüber. Das
Ganze iſt nicht weniger ſonderbar, als wenn ich jetzt plötzlich bei
Euch ſein würde. Was man nur bei meinem Regimente davon
denkt! Auf alle Fälle wär’ ich noch vor das preußiſche Kriegs-
gericht gekommen. Es wär’ aber doch beſſer geweſen, ich hätte
Euch wenigſtens wieder geſehen.


Ich bin verurtheilt worden nach dem Artikel 207, der wört-
lich lautet: Est puni de mort tout ennemi, qui s’introduit
déguisé dans une place de guerre etc.
Man hat keine mildernde
Umſtände anerkannt.


Ich nehme jetzt Abſchied von Euch, meine lieben Eltern. Es
iſt mir recht traurig zu Muthe. Ich weiß, daß Ihr mir verzeihen
werdet. Es wäre ſo ſchön, wenn wir uns wiederſähen! Wenn
ich aus dieſer Lage gerettet worden wäre, ich hätte mich bemüht,
mich ſtets dankbar gegen Euch zu bezeugen. Es wird mir ſo
ſchwer um’s Herz, daß ich ſo weit von Euch auf ſo traurige Weiſe
aus dem Leben ſcheiden muß. Dieſer Brief iſt wahrſcheinlich der
letzte, den Ihr von mir empfangt. Grüße alle Bekannte, Stich,
Wilhelm, Wally und Anna. Es iſt mir ſo ſchmerzlich, wenn ich
Eure Bilder in dem Medaillon betrachte!


Ich danke Euch, für alles Gute und alle Liebe, die Ihr mir
bewieſen habt. Tröſtet Euch, meine lieben Eltern. Ich habe noch
2 Briefe von Mama; ich leſe ſie oft; es giebt mir Troſt. Nach
dem Kriege werdet Ihr das Medaillon erhalten. Ich weiß noch,
lieber Papa, als Du es mir gabſt, ſagteſt Du: „Es ſollte mir
ein Talisman ſein.“ Ich habe ſtets eine große Anhänglichkeit
daran gehabt. Mama ſoll es behalten. Lebt wohl, lieber Papa
und Mama, vergebt mir. Tröſtet Euch. Seid gegrüßt von
Eurem Sohn


Alexander Anderſſen.“


Kurz vor ſeinem Tode ſchrieb er noch Folgendes:


„Liebe Eltern! Das Urtheil wird morgen, Sonnabend den
29., vollſtreckt. Es iſt jetzt die Nacht vom 28. zum 29. Ich
habe vor drei Stunden einen Brief an Euch geſchrieben; der
Kommiſſar der Republik hat ihn abgeholt. Ich danke Euch noch-
mals für Eure große Liebe zu mir. Herrn v. S. habe ich gebeten,
[127] dafür zu ſorgen, daß Ihr meine Sachen bekommt. Den kleinen
Ring ſchenke ich Wally. Es iſt der Stein aber verloren.


Nachſchrift: Es iſt Sonnabend, 29. Oktober, Morgens
5½ Uhr. Um 6½ Uhr iſt die Exekution. Ich ſage Euch noch
einmal, eine Stunde vor meinem Tode, Lebewohl und bitte Euch,
Euch bald zu tröſten. Lebt wohl.


Euer Sohn Alexander Anderſſen.“


Ich muß hier den Gang der Erzählung einen Augenblick
unterbrechen. Dieſe Schriftſtücke, in ihrer ſchlichten und tief-inner-
lichen Abfaſſung, berühren mich auch heute wieder, wo ich ſie zum
Druck gebe, als wahre Muſterſtücke ſchönen Menſchenthums. Gleich
ſchön in ihrem Kampf, wie in ihrem Sieg. In dem erſten,
längeren Brief noch ein Ringen, der Schmerz des ſich Losreißen-
Müſſens; in dem zweiten Brief und ſeiner Nachſchrift die ganze
Ruhe deſſen, der überwunden hat. Von Heldenkomödie und
Feigheits-Winſelei gleich fern, gönnen uns dieſe Zeilen einen Ein-
blick in ein nobles und durch Todesbitterkeit geläutertes Herz.


Um 6½ Uhr hielt der Wagen vor dem Maiſon d’Arrêt.
Anderſſen war fertig. Eine Cigarrette anzündend, ein paar andere
zu ſich ſteckend, ſtieg er raſch in den Fiacker hinein. Angeſichts
des Todes hatte er ganz jene elaſtiſche Nervoſität, jene Be-
herrſchungskraft wiedergewonnen, die ihn von Jugend auf ſo ſehr
ausgezeichnet hatte. Die Ausſagen des Gefangenwärters, des
Executions-Kommandos, endlich des Kommandanten ſelbſt, laſſen
darüber keinen Zweifel. In dem Wallgraben angekommen, wo die
Execution ſtattfinden ſollte, lehnte er Niederknien und Augenver-
binden ab. Aufrecht ſtellte er ſich vor die Gewehrläufe. „Gut
ſchießen“, wandt’ er ſich an die Mobilegarden-Section; „hierher“
und dabei legte er die Hand auf die Bruſt. Dann warf er mit
der Linken die Cigarrette in die Luft und rief: „Es lebe der König“.
Von neun Kugeln durchbohrt, brach er zuſammen.


Oberſt Turnier richtete noch am ſelben Tage folgendes
Schreiben an den Kommandeur des 4. Ulanen-Regiments:


„Mein Herr Oberſt! Ich habe die Ehre, Sie wiſſen zu
laſſen, daß Fähnrich Anderſſen vom 4. Ulanen-Regiment durch ein
am 24. d. M. zuſammengetretenes Kriegsgericht, und zwar geſtützt
[128] auf Artikel 207 unſres Code militaire, zum Tode verurtheilt
worden iſt. Mit ihm Mr. Bauer, der den Eintritt des jungen
Offiziers in dieſe unſre Feſtung Thionville begünſtigt hatte. Jede
Vorſchrift unſrer Militair-Gerichtsbarkeit iſt innegehalten und
heute früh das Urtheil vollſtreckt worden.


Wie ich ſchon die Ehre hatte, in einem Schreiben vom 21.
d. M. Ihnen zu melden, iſt Fähnrich Anderſſen durch den Chef-
arzt unſeres Militär-Hoſpitals ſowohl im Gefängniß wie vor dem
Kriegsgericht, dazu auch in den von ihm geſchriebenen Briefen
auf das Aufmerkſamſte unterſucht worden. Das Reſultat dieſer
Unterſuchung hat ergeben, daß der junge Offizier von dem Tag
an wo er ſeinen Fehltritt beging, bis zu dem wo er dafür büßte,
bei völligſter und ruhigſter Ueberlegung geweſen iſt.


Fähnrich Anderſſen hat im Uebrigen all die Zeit hindurch
eine vorzügliche, eben ſo paſſende wie würdige Haltung bewieſen
und iſt geſtorben wie ein ächter Soldat (il est mort en vrai
soldat
).


Ich bedaure, daß meine überaus ſchwierige Lage und die
Macht der Umſtände mir nicht geſtattet haben, den Gang dieſer
furchtbaren Angelegenheit (de cette terrible affaire) aufzuhalten.


Empfangen Sie, mein Herr Oberſt, die Verſicherung meiner
auszeichnendſten Gefühle.


Thionville, am 29. Oktober 70.


Turnier,
Oberſt und erſter Kommandant.“


Ende Februar — der Präliminarfriede war inzwiſchen ge-
ſchloſſen — wurde die Leiche ausgegraben, um nach Berlin über-
geführt zu werden. Thionville hatte um dieſe Zeit bereits eine
preußiſche Beſatzung, vom 30. Regiment wenn ich nicht irre. Die
Erinnerung an den ſo jung und ſo brav Geſtorbenen war noch
in aller Herzen lebendig, und als der Conduct durch die Straßen
der Stadt ging, dem Eiſenbahnhofe zu, ſchloß ſich die ganze männ-
liche Bevölkerung dem Militär-Kommando an, alle Frauen und
Mädchen aber ſtanden an den offenen Fenſtern und folgten theil-
nahmevoll dem langen Zuge. Tugend und Tapferkeit erobern
jedes Herz, auch das des Feindes.


Am 10. März traf der Sarg hier ein und wurd’ in der
[129] Leichenhalle des Jeruſalemer Kirchhofes niedergeſetzt. Am 13.
erfolgte die Beſtattung. Das 2. Garde-Ulanen-Regiment gab das
Ehren- und Geleits-Kommando und über den niedergeſenkten Sarg
hin feuerten die Karabiner. Dann ſchloß ſich das Grab. Jetzt
ſteht es dicht in Epheu und Blumen, Cypreſſen rings umher,
und auf dem ſchräg liegenden, halb überwachſenen Marmorkreuze
leſen wir: „Hier ruhet in Gott unſer geliebter einziger Sohn,
der Portépée-Fähnrich Alexander Anderſſen, geb. den 19. No-
vember 1847, vom Feinde erſchoſſen in Thionville den 29. Ok-
tober 1870.“


Ruh’ aus tapfres Herz.


Fontane, Wanderungen. IV. 9
[[130]]

Friedrichsfelde.


1.


Und nahe hör’ ich, wie ein rauſchend Wehr,
Die Stadt, die völkerwimmelnde, ertoſen.
Braut von Meſſina.

Gegrüßet ſeid mir, edle Herrn,
Gegrüßt ihr, ſchöne Damen!
Göthe.

Wen ein Sommer-Nachmittag ausnahmsweiſe vor die Thore der
öſtlichen Stadttheile, beiſpielsweiſe nach Friedrichsfelde führt, dem
werden ſich daſelbſt in Landſchaft und Genre die gefälligſten
und in ihrer heitern Anmuth vielleicht auch unerwartetſten Bilder
erſchließen. Friedrichsfelde darf als das Charlottenburg des Oſt-
ends gelten und allſonntäglich wandern Hunderte von Reſidenz-
lern hinaus, um ſich „Unter den Eichen“ daſelbſt zu divertiren.
Es ſind meiſt Vorſtadt-Berliner, jener Schicht entſproſſen, wo die
Steifheit aufhört und der Cynismus noch nicht anfängt, ein leicht-
lebiges Völkchen, das alles gelten läßt, nur nicht die Spielver-
derberei, ein wenig eitel, ein wenig kokett, aber immer munter
und harmlos. Wie das lacht und glücklich iſt im Schweiße ſeines
Angeſichts! Jetzt „Bäumchen, Bäumchen verwechſelt euch,“ jetzt
Anſchlag, jetzt Zeck, jetzt Ringelreihn und Gänſedieb, bis endlich
unter den weitſchattigen Parkbäumen ſich Alles lagert und auf
umgeſtülpten Körben und Kobern die Mahlzeit nimmt.


[131]

Die Fahrt nach Friedrichsfelde, wenn man zu den „Weſt-
endern“ zählt, erfordert freilich einen Entſchluß. Es iſt eine Reiſe
und durch die ganze Steinmaſſe des alten und neuen Berlins hin
ſich muthig durchzuſchlagen, um dann ſchließlich in einem fuchs-
rothen Omnibus mit Hauderer-Traditionen die Fahrt zu Ende zu
führen, iſt nicht jedermanns Sache. Wer es aber an einem grauen
Tage wagen will, wo die Sonne nicht ſticht und der Staub nicht
wirbelt, der wird ſeine Mühe reichlich belohnt finden. Er wird
auch überraſcht ſein durch das reiche Stück Geſchichte, das ihm an
dieſem Ort entgegentritt.


Wir erzählen davon.


Friedrichsfelde bis 1700.


Friedrichsfelde war bis zum Jahre 1700 gar kein Friedrichs-
felde, ſondern führte ſtatt deſſen den poetiſchen, an Idyll und
Schäferſpiele mahnenden Namen Roſenfelde. Und doch griff
dieſer Name bis auf Zeiten zurück (erſtes Vorkommen 1288), wo
hierlandes an alles Andere eher gedacht wurde, als an Schäfer-
ſpiele. Kaum Schäfer mocht’ es damals geben.


1319, im letzten Regierungsjahre des Markgrafen Waldemar,
wurden die Rathmannen von Berlin und Cölln die Herren des
ſchon damals anſehnlichen Beſitzes und beinahe drei Jahrhunderte
lang trug es die alte Patrizierfamilie der Rykes von den Rath-
mannen zu Lehn. 1590, ſo ſcheint es, wurde das Gut dann
landesherrlich, wenigſtens zu größrem Theile, bis es unter dem
Großen Kurfürſten in den Beſitz Joachim Ernſt von Grumb-
kow’s
*) und 1695 in den Benjamin Raule’s kam.


9*
[132]

Benjamin Raule — ein Holländer von Geburt, General-
director des Seeweſens, deſſen Name in „Raule’s Hof,“ wo
ſich die Admiralität damals befand, bis auf den [heutigen] Tag
fortlebt — verblieb nur wenige Jahre im Beſitz von Roſenfelde.
So kurz dieſe Zeit war, ſo war ſie doch ausreichend, um dem
herrſchaftlichen Gut im Weſentlichen die Ausdehnung und Anlage
zu geben, die daſſelbe noch heute zeigt. Bis dahin hatte Roſen-
felde ein Jagdſchloß gehabt, wahrſcheinlich aus der Joachimiſchen
Zeit. Dies überließ Raule ſeinem Schickſale, baute ſtatt deſſen
ein Luſthaus, einen Sommer-Pavillon, an derſelben Stelle, wo
jetzt das Schloß ſteht, und ließ durch holländiſche Gartenkünſtler
den jetzigen Park*) anlegen. Raule war ſehr reich. Er bewirthete
*)
[133] verſchiedentlich den Kurfürſten ſammt ſeinem ganzen Hof im Roſen-
felder Luſtſchloß, und der Poet von Canitz konnte damals ſingen:


Der Churfürſt und was fürſtlich heißt,

Haben jüngſt beim Raule geſpeiſt

Mittags zu Roſenfelde.

Aber Glück und Ehre waren von kurzer Dauer. Raule, wie
ſo viele Perſonen aus der Regierungszeit Friedrichs III., wurde
der Unterſchlagung bezichtigt und fiel in Ungnade, während man
ſeinen Beſitz confiscirte.


Roſenfelde war nun landesherrlich. Zwei Jahre ſpäter (1700)
wechſelte es den Namen und wurde Friedrichsfelde.


Friedrichsfelde von 1700—1731.
Markgraf Albrecht.


Friedrichsfelde war nun alſo landesherrlich und blieb es bis
zum 25. November 1717, unter welchem Datum König Friedrich
Wilhelm I. ſeinem Stiefonkel, dem Markgrafen Albrecht von
Schwedt, das Schloßgut zum Geſchenk machte.


Markgraf Albrecht der damalige Herrenmeiſter des Johanniter-
Ordens, ſcheint aber ſchon vorher unter Gutheißung des Königs
ſeinen gelegentlichen Sommeraufenthalt daſelbſt genommen zu
haben; denn die Ordensbücher ſprechen von einem Capitel, das
bereits am 10. September 1717 in Friedrichsfelde abgehalten
wurde.


Der Markgraf ließ ſich die Verſchönerung ſeines Beſitzes an-
gelegen ſein. Schon 1719 wurde durch Böhme ein neues Schloß
an Stelle des alten aufgeführt, deſſen Grundmauern, trotz viel-
facher ſonſtiger Veränderungen, ſeitdem dieſelben geblieben ſind.
Er legte auch die ſogenannte „Prinzen-Allee“ an, die von einer
beſtimmten Stelle der Friedrichsfelder Chauſſee*) abzweigend, auf
einem näheren Wege bis unmittelbar vor das Schloß führt.


[134]

Markgraf Albrecht ſcheint mit Vorliebe in Friedrichsfelde
reſidirt zu haben; vielleicht auch war es ſein einziger Beſitz. Nur
die Hoffeſte und die Inſpectionen riefen ihn ab. Die Kriegs-
Epoche lag vor 1717. Während des ſpaniſchen Erbfolgekrieges
hatte er ſich nicht nur ausgezeichnet, ſondern auch dem Könige,
ſeinem Neffen, ein neues Infanterie-Regiment errichtet, das —
der Markgraf war damals ſchon Herrenmeiſter — auf ſeinen
Fahnen und Trommeln das Johanniterkreuz trug. Ob dies Re-
giment Markgraf Albrecht dieſe Abzeichen beibehielt, als es ſpäter
zu Soldin und Königsberg i. d. Neum. garniſonirte, hab ich nicht
in Erfahrung bringen können.


Markgraf Albrecht ſtarb am 21. Juni 1731 zu Friedrichs-
felde. Er war ſeines edlen Charakters halber in der Hauptſtadt
ſehr geliebt, und ſo weckte ſein Hinſcheiden allgemeine Theilnahme.
Am 25. Juni erſchien der ganze Hof im Trauerhauſe, von dem
aus Tags darauf die markgräfliche Leiche durch 60 Mann vom
Regiment Gensdarmes nach Berlin übergeführt wurde. Da die
Vermögensverhältniſſe des Verſtorbenen nicht glänzend waren und
der König ſich weigerte, die Koſten zu einem ſtandesgemäßen
Leichenbegängniſſe herzugeben, ſo wurde der Sarg in dem alten,
1749 abgebrochenen Dom, ohne jedes Gepränge ſtill beigeſetzt.


In Beckmann’s Geſchichte des Johanniter-Ordens, Frank-
furt a. O., 1726, findet ſich als Titelkupfer ein Bild des Mark-
grafen. Es macht einen guten Eindruck. Er ſieht ſtattlich, wohl-
wollend aus, aber nicht klug; ein des Geiſtigen entkleidetes Großes-
Kurfürſten-Geſicht. (Der große Kurfürſt war ſein Vater.)


Friedrichsfelde von 1731—62.
Markgraf Karl.


Markgraf Albrecht hinterließ drei Söhne, von denen der
älteſte, Markgraf Karl, ſuccedirte. Er erbte Friedrichsfelde, er-
*)
[135] hielt das Regiment des Vaters, nunmehr Regiment Markgraf
Karl, und wurde ſeitens des Johanniter-Ordens zum Herren-
meiſter erwählt. Die beiden jüngeren Brüder fielen in den
Kämpfen der ſchleſiſchen Kriege, der eine 1741 bei Mollwitz, der
andere 1744 vor Prag.


Markgraf Karl lebte viel in Friedrichsfelde und begann das
1719 durch Böhme aufgeführte Schloß, namentlich in ſeinem In-
nern, auszubauen und zu ſchmücken. Dies geſchah zumeiſt 1735.
Die Stuckarbeiten in den Zimmern des erſten Stocks datiren aus
dieſer Zeit; ſie ſind, inſonderheit die Wandreliefs und Frieſe, von
bemerkenswerther Schönheit und zeigen, wie glänzend die Schule
war, die Schlüter herangebildet hatte. Auch mit Bildern be-
gannen die Räume ſich zu füllen und wurden mehr und mehr
zu einer berühmten Collection. Dieſe führte den Namen: Galerie
des Markgrafen Karl. Er ſammelte mit Neigung und Verſtänd-
niß, aber eben ſo ſehr aus gutem Herzen. Daher war nicht
Alles erſten Ranges.


Einen Theil ſeiner Bilder mocht’ er nicht in Friedrichs-
felde, ſondern im Johanniter-Ordenspalais haben, das, in den
letzten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I., nur aus Rückſicht
gegen dieſen und gewiß ganz gegen die Wünſche des Ordens,
am Wilhelmsplatz errichtet worden war. Es war, wie ſo viele
Bauten damals, ein völliger Zwangsbau. Der General-Major
v. Truchſeß hatte die Herſtellung eines anſehnlichen Hauſes be-
gonnen, an deſſen Vollendung ihn der Tod hinderte. Da befahl
der König dem Herrenmeiſter, Markgraf Karl, die Fertigſtellung des
Baus aus Ordensmitteln zu übernehmen. Dies geſchah denn
auch. König Friedrich Wilhelm I. war eben nicht gewohnt auf
Widerſpruch zu ſtoßen.


In dieſem Palais, das Markgraf Karl zeitweilig bewohnte,
befand ſich, wie ſchon angedeutet, aller Wahrſcheinlichkeit nach ein
Theil ſeiner Galerie, vielleicht ſogar der größere Theil. Nach
ſeinem Tode wurde die Sammlung verſteigert und die Bilder zer-
ſtreuten ſich überall hin. Einige, die ſich auf den alten Zieten
beziehen, ſah ich in Wuſtrau. In Friedrichsfelde finden ſich noch
einige Rudera vor, die beim Verkauf lediglich aus Indifferenz
oder Bequemlichkeit zurückgelaſſen wurden, vielleicht erſtand ſie
[136] auch Prinz Ferdinand, der nach dem Markgrafen Karl in
Friedrichsfelde einzog. Es ſind: 2 alte Köpfe, höchſt vorzüglich,
im Stil von Gerard Dow; außerdem ein anderer Niederländer:
Chriſtus als Knabe predigt im Tempel.


Markgraf Karl ſtarb am 22. Juni 1762 zu Breslau. Er
war, wie ſein Vater Markgraf Albrecht, theils um ſeiner Herzensgüte
theils um der Pflege willen, die er der heimiſchen Kunſt bezeigt, eine
in Berlin ſehr beliebte Perſönlichkeit geweſen. Für viele war ſein
Hinſcheiden ein herber Verluſt. Er hinterließ keine männliche
Deſcendenz.


Friedrichsfelde fiel an ſeine Tochter, die Herzogin von An-
halt-Bernburg
, deren Bevollmächtigter ſchon im November
deſſelben Jahres Schloß, Park und Pertinenzien an den Prinzen
Ferdinand von Preußen verkaufte.


Friedrichsfelde von 1762—85.
Prinz Ferdinand.


Prinz Ferdinand, der jüngſte Bruder des großen Königs,
hatte von 1744 an in Ruppin reſidirt, wo das Regiment,
das ſeinen Namen führte, in Garniſon lag; von 1756—63
war er mit den andern Prinzen im Kriegslager geweſen. Der
Hubertsburger Friede und der Erwerb von Friedrichsfelde fielen
faſt zuſammen und mit einer Art von Ausſchließlichkeit ge-
hörte der Prinz von 1763—85 dieſem anmuthigen Luſtſchloß
an, das nun ſchon zweien Herrenmeiſtern des Johanniter-Ordens
als Reſidenz gedient hatte. Er war der dritte. Von 1785 an
wurde Schloß Bellevue (im Berliner Thiergarten) der Aufent-
halt des Prinzen, bis 1802 nach dem Tode ſeines Bruders, des
Prinzen Heinrich, Rheinsberg an die Stelle von Bellevue trat.


Wir haben alſo, von dem 7 jährigen Kriegsinterregnum ab-
geſehen, vier Epochen im Leben des Prinzen Ferdinand zu unter-
ſcheiden: Ruppin, Friedrichsfelde, Bellevue, Rheinsberg, von denen
die Friedrichsfelder Epoche die wichtigſte und die längſte iſt. Sie
umfaßt 22 Jahre und zeigt, nach dem beſcheidenen Maße von
[137] Geiſt und Gaben, das ſpeciell dieſem Prinzen zu Theil geworden
war, wenigſtens Leben und Farbenfriſche, wenn auch nichts von
Eigenart.


An dieſer gebrach es durchaus. Man darf ſagen, daß er in
allem ſeinen Bruder Heinrich copirte; der Friedrichsfelder Hof
war Seitenſtück und Nachahmung des Rheinsberger. Zunächſt
wurde die Hofhaltung im weiteſten Sinne ganz nach dem dor-
tigen Muſter eingerichtet. Cavalierhäuſer, Stall- und Wachtge-
bäude, Tempel und Grotten wurden aufgeführt, alles wie in
Rheinsberg. Wie Prinz Heinrich einige 40 Kammerhuſaren hielt,
die die Rheinsberger Garniſon bildeten und den Wachtdienſt im
Schloſſe hatten, ſo hatte Prinz Ferdinand eine Art Invaliden-
Colonie in Friedrichsfelde, die ihren Zuzug aus ſeinem Ruppiner
Regiment empfing. Dieſe alten Soldaten beſtellten ihr Stück
Garten- und Ackerland und nur immer einige wenige von ihnen mußten
abwechſelnd auf Wache ziehn. Kam dann aber hoher Beſuch, Prinz
Heinrich oder gar der König ſelbſt, ſo mußten ſie ſämmtlich auf-
marſchiren um die militäriſchen Verhältniſſe von Friedrichsfelde in
möglichſt günſtigem Licht erſcheinen zu laſſen. Das Wachtlocal iſt
noch da, und erinnert mit ſeinen Holzſäulchen, die das obere Stock-
werk tragen, an die früheren Wachthäuſer am Halleſchen Thor.


Natürlich war auch das Friedrichsfelder Leben dem Rheins-
berger verwandt, nur blaſſer, inſipider. Wir müſſen hinzu-
ſetzen, zu ſeinem Glück. Es hatte wohl auch ſeine „Chronique,“
ſeine Flüſterungen, ſeine Geheimniſſe, aber es fehlte doch der
eigenthümliche Parfum, der in dem ſtillen, abgelegenen Schloß am
Grineritz-See alle Dinge durchdrang. In Friedrichsfelde gab es
Frauen, das ſagt Alles. Ihre Gegenwart bedingte nicht immer
Tugend, aber doch wenigſtens Natur. Und davon hatte der
Friedrichsfelder Hof ſein volles Maaß. Die durchlauchtigſte
Dame, die demſelben vorſtand, war eine Prinzeſſin von Schwedt,
gehörte mithin einem Frauenzirkel an, von dem man ſagen konnte,
daß er der Natur noch um einen Schritt näher ſtand, als Frauen
ihr gewöhnlich zu ſtehen pflegen. Ihren Bildern und Büſten in
alten Galerien (am beſten in der Schwerder ſelbſt) zu begegnen,
iſt eine wahre Herzensfreude. Welche Fülle von Leben, welche
Geſundheit in Formen und Farben! Ihre Ehen waren nicht
[138] immer normal, nicht immer das, was Ehen ſein ſollen, aber es
waren gute Frauen, und — die Männer waren glücklich.


Ueberraſchend zu ſagen, die Hauptfeſtlichkeiten in Friedrichs-
felde waren Taufen! Namentlich um jene Zeit herum, wo die
geſammte hohenzollernſche Deſcendenz auf zwei Augen ſtand. Am
11. November 1771 wurd’ im Friedrichsfelder Schloß ein Prinz
geboren, bei der damaligen Sachlage durchaus ein „Ereigniß.“ Der
Prinz erhielt die Namen Friedrich Chriſtian Heinrich Ludwig. Der
König, die Königin, Prinz Heinrich, wohnten der Tauffeierlichkeit
bei; von auswärtigen Mitgliedern der Familie war die verwitt-
wete Königin von Schweden, Louiſe Ulrike, geladen. Im Kirchen-
buche finden ſich von der Hand des Paſtors Lindenberg,*) der die
Taufe vollzog, folgende Bemerkungen eingetragen:


„Dieſe glückliche Entbindung war um ſo viel freudiger, weil
der theuerſte Vater ſeit einigen Wochen an einer ſehr gefährlichen
Krankheit darnieder lag, ſo daß man verſchiedene Tage ſein Ab-
leben befürchtete; Umſtände, welche bei der nahen Entbindung die
geliebte Gemahlin äußerſt geängſtigt und elend gemacht hatten, ſo
daß man wegen ihres Lebens beſorget war. … Es war auch, bei
der äußerſten Gefahr des Prinzen, von Seiner Fürſtlichen Ge-
mahlin und zwar vor Ihrer Entbindung dem Prediger aufge-
tragen worden, eine Betſtunde in dero Zimmer zu halten, welches
denn auch in aller Stille, in Gegenwart der Prinzeſſin, der Prin-
zeſſin Philippine und zween Dames geſchah. Es war rührend,
dabei ſo viel Andacht
und Wehmuth an ſo hohen Perſonen
wahrzunehmen.“


Ueber die anderweiten Aufzeichnungen des Kirchenbuches
gehen wir ſchneller hinfort, trotzdem dieſelben an zwei Namen an-
[139] knüpfen, die es in der Geſchichte Preußens, in Glück und Un-
glück, zu hohem Anſehen gebracht haben. Am 18. November 1772
wurde Prinz Louis Ferdinand, der „Saalfelder,“ am 19. Sep-
tember 1779 Prinz Auguſt, der Reorganiſator der preußiſchen
Artillerie, geboren.


Sechs Jahre ſpäter verließ der Ferdinandſche Hof Fried-
richsfelde. Es ſcheint nicht, daß er, trotz langen Aufenthalts da-
ſelbſt, in der Einrichtung des Schloſſes Erhebliches zu ändern
vorfand. Am 21. Juni 1785 wurden Schloß und Park an den
Herzog von Kurland verkauft.


Friedrichsfelde von 1785—99.
Herzogin Dorothea von Kurland.


Am 21. Juni 1785 wurden Schloß und Park von Fried-
richsfelde für den Herzog von Kurland gekauft; er ſelbſt befand
ſich um dieſe Zeit noch in Italien, wohin er das Jahr zuvor eine
Reiſe angetreten hatte. Im Herbſt 1785 aber traf er in Be-
gleitung ſeiner Gemahlin, der vielgefeierten Herzogin Dorothea,
geb. Reichsgräfin von Medem, wieder in Berlin ein und bezog
auch Friedrichsfelde. Daran reihte ſich 1786 ein zweiter,
1791 und 93 ein dritter und vierter Aufenthalt, von denen jedoch
nur der letztere durch eine längere Zeit hin dauerte. Faſt ein
Jahr. Die anderen Anweſenheiten waren bloße Beſuche und zählten
nur nach Wochen.


Wir betonen dies, weil man mannigfach der Anſicht be-
gegnet, Friedrichsfelde ſei während ſeiner „kurländiſchen Epoche“
abermals eine Stätte der Kunſt, ein Sammelplatz ſchöngeiſtigen Lebens
geworden, etwa wie zur Zeit des Markgrafen Karl. Um das zu
werden, dazu fehlte jedoch 1785, 86 und 91 die Zeit und von
1793 bis 94 die Stimmung.


Ein Blick in die damals geſchriebenen Tagebücher und Briefe
zeigt uns in der That genugſam, daß es ſich all die Zeit über um
high life und politiſch-diplomatiſche Actionen und jedenfalls
viel viel weniger um Kunſt und Wiſſenſchaft gehandelt hat. Nicht,
[140] als ob der Sinn dafür gefehlt hätte. Im Gegentheil. Aber die
Zeiten waren durchaus nicht dazu angethan, ſich einer mußevollen
Kunſtbetrachtung hinzugeben. Man ſuchte dem heimiſchen Wirr-
ſal zu entfliehen und entfloh ihm zuletzt wirklich, aber dies Wirrſal
drängte nach und geſtattete keine reine Freude, keinen ungeſtörten
Genuß. Ueberall hin warf es ſeine Schatten. Einige Stellen
aus dem Tiedge’ſchen Buche: „Dorothea, letzte Herzogin von Kur-
land,“ dem ſelbſt wieder jene vorerwähnten Tagebücher und Briefe
zu Grunde liegen, werden am beſten die Beweisführung über-
nehmen. Wir laſſen die Stellen in chronologiſcher Ordnung folgen.


1785. Es waren des großen Friedrich letzte Tage. Die
ſanfte fürſtliche Frau hatte den Beifall des Königs gewonnen; er
ſandte ihr wiederholentlich niedliche Körbchen mit den feinſten und
ſeltenſten Früchten gefüllt, mit den erleſenſten Blumen geſchmückt
und jedesmal von einigen freundlichen Zeilen begleitet. Bei Ge-
legenheit der erſten dieſer Sendungen beklagt er ſich, daß ſeine
Krankheit ihn des Vergnügens beraube, ſie ſelbſt zu bewirthen; er
müſſe es ſeinem Neffen überlaſſen, ihren und ihres Gemahls Auf-
enthalt in Potsdam und Berlin ſo angenehm als möglich zu
machen … Im Herbſt fanden Truppenverſammlungen ſtatt,
Paraden und kriegeriſche Uebungen zu Ehren des Fürſtenpaares …
Auch von den übrigen Höfen der königlichen Familie (Prinz Hein-
rich, Prinz Ferdinand) wurde dem Herzog und ſeiner Gemahlin
ein Empfang zu Theil, der ſich zu einer herzlichen Verbindung
entwickelte. Mit der Prinzeſſin Luiſe, der Tochter des Prinzen
Ferdinand, knüpfte die Herzogin eine Freundſchaft an, die ſich in
einem ununterbrochenen Briefwechſel durch das ganze Leben
fortſetzte.


1786. Im Herbſte, nach beinah halbjähriger Abweſenheit,
trafen der Herzog und ſeine Gemahlin wieder in Friedrichsfelde
ein. Der große König war inzwiſchen geſtorben. Friedrich Wil-
helm II. erwies dem herzoglichen Paare eine beſondere Auszeich-
nung, ſo daß allgemein die Sage ging, es ſeien bereits Verab-
redungen für die künftige Vermählung der Töchter des Herzogs
mit den Prinzen des königlichen Hauſes getroffen. Dieſe Tage
waren kurz, ſchon im December trat die Herzogin ihre Rückreiſe
nach Kurland an.


[141]

1791. Während ihres Aufenthaltes in Warſchau (wohin ſie
ſich im April begeben) erhielt ſie von der preußiſchen Prinzeſſin
Friederike eine ſchmeichelhafte Einladung zur Vermählung eben
dieſer Prinzeſſin mit dem Herzoge von York, wie auch zu der
ihrer Schweſter mit dem älteſten Prinzen des Erbſtatthalters in
Holland, welche beide Vermählungen im September gleichzeitig in
Berlin vollzogen werden ſollten. Sie nahm die Einladung an …
Der Empfang von Seiten der königlichen Familie war ein aus-
zeichnender … Bei der Anordnung der Vermählungsfeierlich-
keiten befahl der König, daß der Herzogin ihr Platz an der Tafel
der königlichen Familie angewieſen werden ſolle. Der Oberkammer-
herr remonſtrirte „die Hausgeſetze würden es nicht zulaſſen, die
Herzogin von Kurland bei einer ſo feierlichen Gelegenheit an die
königliche Familientafel zu ziehen und an dem Fackeltanze Theil
nehmen zu laſſen.“ Friedrich Wilhelm antwortete: „Laſſen wir es
bei der erſten Anordnung; ich hoffe es beim Könige und bei
den Hausgeſetzen verantworten zu können.“ … Bei Gelegenheit
dieſer Feierlichkeiten gab auch die Erbſtatthalterin ihrem lebhaften
Wunſche Ausdruck, ihren zweiten Prinzen mit der älteſten Tochter
der Herzogin, der Prinzeſſin Wilhelmine, die damals 10 Jahre
alt war, dereinſt vermählt zu ſehen. Der König unterſtützte dieſen
Wunſch und bot ſogar ſeine Verwendung an, um, wenn der Herzog
ohne männliche Nachkommen ſterben ſollte, die Erbfolge in Kur-
land und Semgallen für den künftigen Gemahl der Prinzeſſin zu
vermitteln … Dieſer Plan wurde geraume Zeit hindurch feſt-
gehalten … Vierzehn Tage nach Vollziehung der vorerwähnten
Vermählungsfeierlichkeiten verließ die Herzogin Berlin (es iſt
fraglich, ob ſie während dieſer Beſuchstage überhaupt in Fried-
richsfelde war) und kehrte über Warſchau nach Kurland zurück.


1793. Im April dieſes Jahres trat die Herzogin ihre Reiſe
nach Berlin an; die Dinge in Kurland hatten bereits einen ſolchen
Charakter angenommen, daß es gut war, einen Zufluchtsort
zu haben. … In ſtiller Zurückgezogenheit lebte ſie in Fried-
richsfelde
, wo ſie den 21. Auguſt 1793 ihren Gemahl mit einer
Tochter beſchenkte, die den Namen Dorothea erhielt. …*)


[142]

In Kurland rückte inzwiſchen das Ende der herzoglichen Herr-
ſchaft immer näher.


Die Herzogin verblieb in Berlin und Friedrichsfelde bis in
das nächſte Jahr hinein; dann ging ſie nach Leipzig, wo ſie ſich
noch ſtiller einrichtete als in Berlin, 1795 nach Sagan, an
welchem Orte ſie mit ihrem Gemahl zuſammentraf. .. Kurland
war inzwiſchen eine ruſſiſche Provinz geworden; der Herzog hatte
reſignirt.


So etwa die Aufzeichnungen, die wir, wie vorerwähnt, zu
größerem Theile dem Tiedgeſchen Buche, zu kleinerem Theile dem
Werke Cruſes „Kurland unter den Herzögen“ entnommen haben.
Nirgends iſt davon die Rede, daß in Friedrichsfelde ein beſonderes
Kunſtleben ſich aufgethan hätte, ein Schweigen, das um ſo be-
merkenswerther iſt, als der alte Tiedge gerade dieſe Seite in dem
Leben der Herzogin mit beſonderer Vorliebe hervorhebt und jedes-
mal genau verzeichnet, wenn in Königsberg mit Kant, Hamann,
Hippel, in Neapel mit Hackert, in Herrenhut mit dem alten
Spangenberg ꝛc. ein lebhafterer Verkehr angeknüpft wurde. Man
darf füglich daraus den Schluß ziehen, daß das Friedrichsfelder
Leben, während ſeiner kurländiſchen Zeit wenig Hervorragendes
auf dem Gebiete von Kunſt und Wiſſenſchaft geboten haben muß
und daß es ſich, wie wir Eingangs bereits andeuteten, bei den
verſchiedenen Anweſenheiten in Berlin-Friedrichsfelde ſehr wahr-
ſcheinlich immer nur um Prinzen und Prinzeſſinnen, um „Geſell-
ſchaft“ und Politik, um Eheſchließungen und Güterkäufe handelte.
Gewiß ging ein Verkehr mit den literariſchen Größen jener Zeit
(Nicolai, Ramler, Engel, Mendelsſohn werden eigens genannt)
nebenher, aber doch eben nur nebenher.*) Geiſtig hoch beanlagt,
*)
[143] konnte namentlich die Herzogin auf einen Umgang, der ihrer
äſthetiſchen Natur Bedürfniß war, nie ganz verzichten, aber es
ſcheint nach den Citaten, die wir gegeben, feſtzuſtehen, daß der
ohnehin immer nur nach Monaten zählende Friedrichsfelder Auf-
enthalt von dieſer Seite her nicht ſeinen Charakter und ſeine
Signatur empfing.


Friedrichsfelde von 1800—1810.
Prinzeſſin von Holſtein-Beck.


1799 kam Friedrichsfelde an den Geheimen Ober-Hof-Buch-
drucker George Jacob Decker, der es aber ſchon, vor Ablauf
eines Jahres, am 29. März 1800, an die Herzogin Catharina
von Holſtein-Beck wieder verkaufte. Dieſe bewohnte es bis zu
ihrem Tode, der am 20. Dezember 1811 erfolgte.


Prinzeſſin Catharina von Holſtein-Beck ward am 23. Februar
1750 geboren. Ihre Mutter war eine Gräfin oder Fürſtin
Golowin, ihr Vater aber Peter Auguſt, Herzog von Holſtein-
Beck, ruſſiſcher General-Feldmarſchall und Gouverneur von Eſth-
land. Prinzeſſin Catharina vermählte ſich am 8. Januar 1767
zu Reval mit dem Fürſten Iwan Bariatinski, der damals
ruſſiſcher Oberſt war. Ihre Ehe wurde geſchieden, oder man lebte
wenigſtens getrennt. Die Kinder verblieben in Rußland, indeſſen
begegnen wir 1802 einem Fürſten Iwan von Bariatinski als
Taufzeugen in Friedrichsfelde. Es ſcheint alſo, daß der älteſte
Sohn zur Mutter ſtand. Dieſe war 50 Jahr, eine kluge, heitere,
noch hübſche Frau, als ſie in Schloß Friedrichsfelde einzog. Es
lebten bis vor Kurzem noch Perſonen, die ſie gekannt hatten. Den
Mittheilungen dieſer verdanke ich das Nachſtehende.


Die Prinzeſſin von Holſtein-Beck kam 1800 oder vielleicht
auch erſt 1801 zu uns. Was zu einer Trennung vom Fürſten
Bariatinski geführt hatte, war nie in Erfahrung zu bringen. Sie
war aber voll ſo tiefer Abneigung gegen ihn, daß ſie ſeinen Namen
nicht tragen wollte und in Preußen, unter Gutheißung des Königs,
ihren Geburtsnamen Holſtein-Beck wieder angenommen hatte.


Sie lebte ganz auf großem Fuß und unterhielt intime Be-
[144] ziehungen zum preußiſchen Hofe, beſonders nachdem dieſer 1809
von Königsberg und Memel wieder in Berlin eingetroffen war.
Leicht erklärlich. Friedrich Wilhelm III. und Königin Luiſe waren
in Petersburg geweſen und hatten angenehme Bilder und Ein-
drücke von dorther heimgebracht; Kaiſer Alexander ſtand den
Herzen Beider nahe, Freundſchafts-Gelübde waren geleiſtet worden;
alles Heil konnte, der allgemeinen Annahme nach, nur von Ruß-
land
kommen. Unter dieſen Verhältniſſen mochten die Beziehungen
zur Prinzeſſin einen doppelten Werth haben; vielleicht daß ſie ein
Glied in der Kette damaliger politiſcher Verbindungen war.


Gleichviel, der Hof war mannichfach bei der Prinzeſſin in
Friedrichsfelde zu Beſuch, auch ſchon in der voraufgegangenen
Epoche von 1801 bis 6. Königin Luiſe erſchien dann mit Pagen
und Hofdamen, der Militair-Adel ſchloß ſich an und über hundert
Equipagen hielten in langer Reihe vor dem Schloſſe. Mit Fackeln
ging es ſpät Abends wieder heim.


Sie ſelbſt (die Prinzeſſin), wenn ſie nach Berlin fuhr, fuhr
immer mit ſechſen; da ſie aber keinen Marſtall unterhielt, ſo
wurden drei Paar der beſten Bauerpferde genommen und die
Bauern ſelbſt ritten das Leinepferd. Später, aus gleich zu
erzählenden Gründen, wurde das anders. Ihr Vertrauter nämlich,
ein Franzoſe niederen Standes, deſſen Erhebung zum „Chevalier“
ſie durchzuſetzen gewußt hatte, machte Unterſchleife, floh und wurde
verfolgt. Man wurde ſeiner habhaft, bracht’ ihn vor die Gerichte,
und eine ſtrenge Strafe war bereits verhängt, als ein Fußfall der
Prinzeſſin, deren alte Neigung wieder wach geworden war, inter-
venirte. Die Strafe wurde nun niedergeſchlagen und der „Chevalier,“
als wäre nichts vorgefallen, zog wieder in allen Ehren in Friedrichs-
felde ein. Aber eine Sühne blieb doch zu leiſten: die Prinzeſſin
mußte verſprechen, von nun ab ſtatt mit ſechſen nur noch mit
vieren zu fahren. Das geſchah denn auch, und alle Theile hatten
ihren Frieden.


Das Leben in Friedrichsfelde war um dieſe Zeit das heiterſte.
Eine ernſtere Pflege der Kunſt fiel Niemandem ein, aber man
divertirte ſich ſo oft und ſo viel wie möglich. Es gab Schau-
und Schäferſpiele theils in geſchloſſenen Räumen, theils im Freien.
Das „Theater im Grünen,“ ähnlich dem Rheinsberger, iſt noch
[145] deutlich zu erkennen, trotzdem das Strauchwerk jener Jahre mittler-
weile zu ſtattlichen Weißbuchen aufgewachſen iſt. Das Ganze eine
wieder freigewordene, aus Zwang und Feſſeln erlöſte Natur!


Die Dorfbevölkerung nahm theils zuſchauend, theils activ an
dieſen Scenen Theil, was auf den erſten Blick viel Anheimelndes
und Beſtechendes hatte. Sehr bald indeſſen ſtellte ſich’s heraus,
daß Arbeitsluſt und Sitte zurückgingen und daß dem Dorfe kein
Segen daraus erwuchs, als Landſchaft und Staffage für das Ver-
gnügen vornehmer Leute gedient zu haben.


Harmloſer war der alljährlich wiederkehrende „Erntekranz.“
Dann wurd’ ein Jahrmarkt abgehalten, unter den Bäumen des
Parks gegeſſen und getanzt, und an den Buden, natürlich ohne
Einſatz, gewürfelt und gewonnen.


Ein kleines, ſehr hübſches Mädchen aus dem Dorfe war das
Pathchen und der Liebling der Prinzeſſin, die Puppe, mit der ſie
ſpielte. War die Prinzeſſin bei Tafel allein, ſo wurd’ an einem
kleinen Tiſche daneben für das Kind gedeckt und kam Beſuch,
ſo war „Pathchen“ — wie der Kakadu oder der Bologneſer —
der immer beachtete Gegenſtand, an den ſich alle Zärtlichkeiten der
Gäſte richteten.


Die Prinzeſſin galt für ſehr reich; es hieß, daß ſie täglich
1500 Thlr. verausgabe. War dem wirklich ſo, ſo war es Bariatinski-
ſches Vermögen. Außer Friedrichsfelde beſaß ſie, in Berlin ſelbſt,
ein Haus am Pariſer Platz, das jetzige franzöſiſche Geſandtſchafts-
Hotel.


Sie ſtarb, wie ſchon Eingangs hervorgehoben, im Winter 1811
auf 12 und ihre Leiche ſollte nach Rußland, entweder auf die
Bariatinskiſchen oder die Holſtein-Beckſchen Güter geſchafft werden.
Die Friedrichsfelder waren zum Transport um ſo lieber bereit,
als ihnen für die Fahrt bis Memel (dort wartete ruſſiſches Fuhr-
werk) 400 Thlr. geboten wurden. Es zerſchlug ſich aber wieder
und kam ſtatt deſſen zu einem Pakt mit jener moskau-aſtrachani-
ſchen Karawane, die damals alljährlich, in den erſten Winter-
Monaten, Caviar nach Berlin zu bringen pflegte. Dies waren in
der Regel 50 Schlitten, jeder mit einem Pferd und am Hals
jedes Pferdes ein Glöckchen. Auf den vorderſten dieſer Schlitten
wurde, bei der Rückfahrt, der Sarg geſtellt, und die lange Karawane
Fontane, Wanderungen. IV. 10
[146] hinter ſich, ging es nun im Schritt bis an die ruſſiſche Grenze, — die
Winterſtille nur durch den Ton der Glöckchen unterbrochen.


Friedrichsfelde von 1812—16.
König Friedrich Auguſt von Sachſen.


Nach dem Tode der Prinzeſſin v. Holſtein-Beck wurde Friedrichs-
felde durch einen Bevollmächtigten der Bariatinskiſchen Familie
verwaltet. In dieſe Adminiſtrationszeit fällt der Aufenthalt,
bez. die Staatsgefangenſchaft des Königs von Sachſen an
dieſer Stelle.


Wir finden darüber Folgendes:


Der König von Sachſen, nach der Einnahme Leipzigs durch
die Verbündeten, war deren Gefangener. Am 23. October 1813
erfolgte ſeine Abreiſe nach Berlin; am 26., Morgens 4 Uhr, traf
er in der preußiſchen Hauptſtadt ein und wurde daſelbſt mit „vielen
Ehren“ (ſo ſagt das Tagebuch eines ſächſiſchen Cavaliers) empfangen.
Von Leipzig aus hatten 100 Koſaken mit 3 Offizieren den Wagen
des Königs umgeben. Außerdem begleiteten ihn Fürſt Galizin
und Baron Anſtetten.


Der König bezog Wohnung im Berliner Schloß und ver-
blieb daſelbſt bis zum Sommer 1814. Um dieſe Zeit aber wurd’ ihm
die preußiſche Hauptſtadt unbequem, denn das „Berliner Volk“ zeigte
ſich wenig reſpectvoll; die Tage von Großbeeren und Dennewitz
ſtimmten es zum Groll und die altfränkiſche Art des ſächſiſchen
Hofes zum Spott. Beidem wollte der König entgehn. Er ſuchte
daher nach, das dem ruſſiſchen Fürſten Bariatinski zugehörige
Schloß Friedrichsfelde, ſelbſtverſtändlich gegen eine Mieths- oder
Entſchädigungsſumme, beziehen zu dürfen.


Dies wurde gewährt.


Am 26. Juli 1814 erfolgte der Umzug, wobei 1 Unteroffizier
und 10 Mann preußiſcher Garde als Ehrenwache dienten. Dieſe
blieben in Friedrichsfelde und wurden aus der ſächſiſchen Hofküche
beköſtigt. Bis zum 24. März 1814 hatten Berliner Bürger-
gardiſten die Wache beim Könige gehabt.


[147]

In den „Denkwürdigkeiten aus dem kriegeriſchen
und politiſchen Leben eines alten Offiziers
“ wird erzählt,
der König Friedrich Auguſt habe von Friedrichsfelde aus fliehen
wollen, ſei aber eingeholt und zurückgebracht worden. Dieſe Mit-
theilung iſt mindeſtens unwahrſcheinlich. An Ort und Stelle wird
nichts derart berichtet.


Der König, während ſeines Friedrichsfelder Aufenthaltes,
empfing viel Beſuch und Deputationen aus ſeinem Lande, darunter
den jungen Grafen Hohenthal, den Baron von Houwald (Vater
des Dichters) und eine Deputation des Freiberger Bergbaues.


Unter den Perſonen von Rang, die ihn dauernd umgaben,
haben wir in erſter Reihe Generalmajor v. Watzdorf zu nennen;
doch war dieſer oft monatelang auf Special-Miſſionen, z. B. in
London, abweſend. Am 13. Oktober 1814 trat Generallieutenant
Sahrer v. Sahr an Watzdorfs Stelle und blieb beim Könige,
bis dieſer Friedrichsfelde verließ. Es war die Sahrſche Diviſion,
die bei Großbeeren vorzugsweiſe tapfer gefochten hatte.


Der Aufwand, den der König in Friedrichsfelde machte, wurde
theils aus den Geldern ſeiner Chatouille, theils durch eine An-
leihe bei dem Berliner Banquierhauſe Benecke beſtritten.


Am 9. Februar 1815 endlich war in Wien das Protokoll
unterzeichnet worden, das über das Schickſal Sachſens entſchied;
— am 22. Februar verließ der ſächſiſche Hof Friedrichsfelde und
begab ſich, auf Einladung des Kaiſers von Oeſterreich: „doch in
ſeinen Landen Reſidenz nehmen zu wollen,“ durch Schleſien
über Wien nach Preßburg, wo der König den Palaſt des Primas
bezog.


So viel hab ich aus Aufzeichnungen, die damals gemacht
wurden, zn entnehmen vermocht. In Friedrichsfelde ſelbſt wird
noch Folgendes erzählt:


Der König lebte ganz als König. Sehr viel Dienerſchaft,
altfränkiſch gekleidet, blau und gelb, war um ihn her; die Kutſcher
immer in Kanonenſtiefeln. Vormittags zwiſchen 11 und 12 ging
er im Park ſpazieren; Nachmittags wurd’ auf die benachbarten
Dörfer gefahren, namentlich auf ſolche, wo ein Park oder ein
Fluß war, alſo nach Stralau, Lichtenberg, Biesdorf und vorzugs-
weiſe nach Schönhauſen. Er war bei den Friedrichsfeldern ſehr
10*
[148] populär, weil er herablaſſend und wohlwollend war und die Haupt-
ſache nicht zu vergeſſen, ihnen viel zu verdienen gab. Der zahl-
reiche Beſuch, der untergebracht werden mußte, ſchaffte den Bauern
eine gute Einnahme; dazu die Berliner, die Sonntags aus purer
Neugier in Schaaren herbeiſtrömten.


Ihren Hauptvortheil aber zogen die Bauern aus den vielen
Holz-Fuhren, die ſie leiſteten, und aus der Stallung, die ſie ver-
mietheten. Tag um Tag wurd’ ein Haufen Holz im Schloß ver-
brannt, und der königliche Marſtall befand ſich, geſpannweiſe,
auf den einzelnen Bauerhöfen.


Friedrichsfelde ſeit 1816.


Am 22. Februar 1815 verließ der ſächſiſche Hof Friedrichs-
felde; ein Jahr ſpäter gingen Schloß und Gut in den Beſitz von
Carl Sigismund v. Treskow über. Eine ganz neue Zeit brach
jetzt für Friedrichsfelde an: aus dem Luſtſchloß, das es bis dahin
geweſen war, wurd’ ein Gut. Es handelte ſich nicht mehr um ein
dolce far niente, das hier ein Jahrhundert lang ſeine Stätte ge-
habt hatte, ſondern um Arbeit, nicht mehr um Zurückgezogenheit
und Stille, ſondern um Heraustreten, um Verkehr und Concurrenz.
Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, inſonderheit unter dem gegenwär-
tigen Beſitzer (Carl v. Treskow) wuchs die Complicirtheit der Auf-
gabe. Beſtändige Meliorationen, auch Ankäufe, ſteigerten den
Werth, was aber vor allem das Gut auf ſeine jetzige Höhe hob,
das war die Erkenntniß, daß mit Rückſicht einerſeits auf die
Bedürfniſſe der Hauptſtadt, andererſeits auf die Betriebs-
Erleichterungen
, die dieſelbe gewährt, eine ganz aparte Art
der Wirthſchaftsführung eingeleitet werden müſſe. Hier galt
es nicht, Lehrbücher zu befragen und Regeln zu befolgen, ſon-
dern der beſtändig wechſelnden Situation ein neues Syſtem
immer neu anzupaſſen. In irgendwelche Details an dieſer Stelle
einzugehen, würde weit über unſere Aufgabe hinausführen, daher
nur ſo viel, daß Milchwirthſchaft und Gartenculturen mehr
und mehr die frühere Felderbeſtellung zurückdrängten. Der Sieg
des Spargelbeets über das Roggen- und Kartoffelfeld!


So haben Eifer, Wiſſen, Intelligenz, aus dem Sommerhauſe
[149] Raules einen großen und noch mehr einen werthvollen Beſitz ge-
ſchaffen; aus dem Zehrer iſt ein Nährer geworden, aus der Drohne
die Biene.


Aber dieſe Umwandelung hat ſich vollzogen, ohne dem Fried-
richsfelder Schloß, das ſo vieles ſterben und geborenwerden ſah,
das Geringſte von ſeinem hiſtoriſchen Zauber zu nehmen. Die-
ſelbe Sorglichkeit und Pflege, die draußen waltete, zeigte ſich auch
drinnen; auf den Feldern erneuerte ſie praktiſch, im Hauſe con-
ſervirte ſie pietätvoll; nichts iſt verloren gegangen von dem ge-
ſchichtlichen Material, in deſſen Beſitz der gegenwärtige Beſitzer
eintrat. Das eichengeſchnitzte Treppengeländer, der Stuckſaal, den
Markgraf Karl baute, die Büſten und Bilder, von denen beinahe
jeder der Vorbeſitzer ein einzelnes, wie ein Erinnerungsſtück, zurück-
gelaſſen hat, — ſie befinden ſich an altem Platz und nur erweitert
und hinzugefügt wurde vielfach.


Unter dieſen Hinzufügungen nennen wir in erſter Reihe fünf
Arbeiten Schinkels, von denen drei ſeiner allerfrühſten Epoche,
zwei muthmaßlich dem Jahre 1814 angehören. Es ſind die fol-
genden:


  • Schloß Owinsk (Architekturbild in Tuſchfarben ausgeführt),
  • Schloß Owinsk, von der Tiefe aus geſehen,
  • Schloß Owinsk, von der Höhe aus geſehen,
  • Ein See in Tirol, von hohen Bergen umgeben, ein Fiſch-
    zug
    im Vordergrund (Morgenbeleuchtung),
  • Ein See von hohen Gebirgen umgeben, Gondeln im Vorder-
    grund (Abendbeleuchtung).*)

[150]

Das letztgenannte Bild zählt zu Schinkels gelungenſten Ar-
beiten. In der Mitte — wir erweitern die kurze Beſchreibung,
die wir eben gegeben — eine Inſel mit einem weitläufigen Schloß;
eine Bogenbrücke führt zu dem zunächſt liegenden Felſenufer
hinüber. Rechts ein ländliches Feſt. Der See iſt mit Barken
erfüllt, denen Muſikchöre folgen. Eine rothe Abendbeleuchtung
liegt auf dem See.


Ein ſtimmungsreiches Bild! Aber das Bild, das ſich eben
jetzt, von der Gartenthüre des Schloſſes eingerahmt, vor unſeren
Blicken aufthut, thut es ihm gleich. Eine Parkwieſe voll blühender
Linden, zwiſchen den Kronen ein Streifen blauer Himmel und an
dem Himmelsſtreifen ein Volk weißer Tauben, das, die letzten
Sonnenſtrahlen einſaugend, ſich oben in den Lüften wiegt.


Die nahe Hauptſtadt ſammt ihrem Lärm, wir empfinden ſie
wie hundert Meilen weit. Hier iſt Friede!



[[151]]

2.
Ernſt Gottlieb Woltersdorf.


Verfolgt, verlaſſen und verflucht,
Doch von dem Herrn hervorgeſucht;
Ein Narr vor aller klugen Welt,
Bei dem die Weisheit Lager hält;
Verdrängt, verjagt, beſiegt und ausgefegt,
Und doch ein Held, der Palmen trägt.
E. G. Woltersdorf.

Prinz Louis Ferdinand, Prinz Auguſt — ſie waren Friedrichs-
felder Schloß-Kinder; aber auch die Pfarre ſtellte ihren Mann:
am 31. Mai 1725 wurde Ernſt Gottlieb Woltersdorf in ihr ge-
boren. Auch ein Streiter, auch gefallen (wie der Saalfelder
Prinz) auf dem Felde der Ehren. Ein Weltkind der eine, ein
Gotteskind der andre.


Ernſt Gottliebs Vater war Gabriel Lucas Woltersdorf.
Ueber ihn zunächſt ein kurzes Wort.


Gabriel Lucas Woltersdorf.


Gabriel Lucas W., der neunzehn Jahre lang das Frie-
drichsfelder Pfarramt bekleidete, wurde den 10. November 1687 zu
Kyritz geboren, wo ſein Vater als Rektor amtirte. Gleich einem
alten Edelmann konnte Gabriel Lucas Namen und Stand ſeiner
[152] Familie bis ins ſiebente Glied hinauf verfolgen. Es waren
ſämmtlich Priegnitz-Ruppiner. Und zwar:


Anton Woltersdorf (damals noch Woltersdorp), geboren
1430.


Johann Woltersdorf, Potinken- oder Pantinenmacher, ge-
boren 1460.


Joachim Woltersdorf, Goldſchmied in Ruppin, geboren
1496.


Joachim Woltersdorf II., Tuchmacher, Gildemeiſter und
Vorſteher der Kloſterkirche zu Ruppin, geboren 1530.


Gabriel Woltersdorf I., Paſtor und Inſpector zu Ruppin.


Gabriel Woltersdorf II., Paſtor und Inſpector zu Zehdenick.


Gabriel Woltersdorf III., Paſtor und Rector zu Kyritz.


Unſer Gabriel Lucas, des Letztgenannten Sohn, ſtudirte
von 1711 an in Halle, das um jene Zeit „das Herz war, deſſen
Schläge man weit und breit fühlte.“ Auguſt Hermann Francke
ſtand eben damals in der Blüthe ſeines Wirkens, „dieſer Mann
der Demuth und Wahrhaftigkeit, der ſich rühmen durfte, daß von
den 6000 Studenten, die während zweimal zehn Jahren in Halle
ſtudirt hatten, Tauſende von erweckten Predigern ins deutſche
Vaterland ausgegangen ſeien.“ Unter dieſen erweckten Predigern
war auch Gabriel Lucas Woltersdorf. Er blieb bis zuletzt eine
Leuchte für ſeine Kinder und ſeine Gemeinde.


1716 erhielt er durch einen vom Könige gutgeheißenen Macht-
ſpruch des kirchlichgeſinnten Markgrafen Albrecht die Friedrichsfelder
Pfarre, die bis dahin der alte Samuel Donner innegehabt
hatte. Samuel Donner war ſchon 45 Jahr im Amt und wollte
von Adjunktur oder gar Entlaſſung nichts wiſſen. Er remonſtrirte
deshalb und glaubte dies um ſo mehr zu dürfen, als er die Frie-
drichsfelder Pfarre als eine Erb-Pfarre betrachtete. Denn ſchon
ſein Vater und Großvater waren Prediger ebendaſelbſt geweſen.
Er wurd aber durch den Markgrafen energiſch abgewieſen. Der
Entſcheid lautete:


„Da ſich ſo wol bei der Lokal-Viſitation, als auch ſonſten
mehr als zuviel erwieſen hat, wie ſchlecht Supplikant bis dahero
ſeinem Amte vorgeſtanden und wie wenig die ihm anvertraute
Gemeinde durch ihn erbauet worden, ſo ſtehet ihm auch gar
[153] nicht an, eine dergleichen ungegründete Vorſtellung gegen die von
S. K. Majeſtät ſo nöthig gefundene Beſtimmung zu thun. Und
wie er damit gäntzlich abgewieſen, ihm ſein Unfug auch nachdrücklich
hiermit verwieſen wird, ſo hat er es außerdem noch einzig und
allein der Königlichen Gnade zu danken, daß er wegen ſeiner in
der ihm anvertrauten Amt- und Seelen-Sorge bezeigten ſtraf-
baren Nachläſſigkeit nicht noch ſchärfer angeſehen wird.“


Dieſer Beſcheid, wie ſich denken läßt, ging dem armen
Samuel Donner ſehr zu Herzen und er ſtarb wenige Tage ſpäter in
Berlin am Schlagfluß. In ſeine Stelle rückte nunmehr Gabriel
Lucas
Woltersdorf ein.


Das wichtigſte kirchliche Vorkommniß innerhalb ſeiner Frie-
drichsfelder Amtsjahre war die Einführung des ſogenannten
Simultaneums“, alſo der Gleichberechtigung der Reformirten
in Benutzung der lutheriſchen Kirche.


Hiergegen ſcheint ſich nun Gabriel Lucas in Gemeinſchaft mit
ſeinem Berliner Propſte Roloff anfänglich aufgelehnt zu haben, welcher
letztere nicht nur vorſtellig wurde, ſondern auch von „unüberwind-
lichen Schwierigkeiten“ ſprach. Auf dieſe Vorſtellung erhielt er
einen zweifachen Beſcheid, einen amtlichen und einen königlich-
perſönlichen. Der amtliche Beſcheid lautete: „Wohlehrwürdiger,
lieber, Getreuer. Ich habe Eure Vorſtellung vom 8. dieſes, in
der Ihr meint, daß das Simultaneum in der Kirche zu Frie-
drichsfelde
nicht könne introduzirt werden, erhalten, und iſt Euch
darauf in Antwort, daß Ich Euer Einwenden nur vor Poſſen
halte. Ich halte beide Religionen einerlei zu ſein und finde keinen
Unterſchied. Will alſo, daß es bei meiner Ordre verbleiben ſoll.“


Der Erlaß iſt datirt „Wuſterhauſen, den 10. Sept. 1726“
und hinzugefügt war von des Königs eigner Hand: „Der Un-
terſchied zwiſchen unſeren beiden Evangeliſchen Religionen iſt wahr-
lich ein Pfaffengezänk, denn äußerlich iſt wohl ein großer Unter-
ſchied, wenn man es aber examiniret, ſo iſt es derſelbige Glaube
in allen Stücken, ſowohl in der Gnadenwahl, als im heiligen
Abendmahl. Nur auf die Canzel, da machen ſie eine Sauce, eine
ſaurer als die andere. Gott verzeih allen Pfaffen, denn die
werden Rechenſchaft geben am Gericht Gottes, daß ſie Schulratzen
aufwiegeln, um das wahre Werk Gottes in Uneinigkeit zu bringen.
[154] Was aber wahrhaft geiſtliche Prediger ſind, ſolche die ſagen, daß man
ſich ſoll einer den andern dulden und nur Chriſti Ruhm ver-
mehren, die werden gewiß ſelig. Denn es wird nicht heißen: biſt
du lutheriſch oder biſt du reformirt? ſondern es wird heißen: haſt
du meine Gebote gehalten, oder biſt du blos ein braver Disputator
geweſen? Es wird heißen: weg mit die letzten zum Teufel in’s
Feuer, aber die meine Gebote gehalten, kommt zu mir in mein
Reich. Gott geb uns allen ſeine Gnade und geb allen ſeinen
evangeliſchen Kindern, daß ſie mögen ſeine Gebote halten und daß
Gott möge zum Teufel ſchicken alle die, die Uneinigkeit verur-
ſachen. Friedrich Wilhelm.“


Es braucht wohl nicht erſt verſichert zu werden, daß dieſem
Königlichen Erlaß die Einführung des Simultaneums auf dem
Fuße folgte.


Dies war 1726. Im Jahre 1735 erhielt Gabriel Lucas W.
eine Vocation nach Berlin und wurde Prediger an der
St. Georgen Kirche daſelbſt, während der Prediger eben dieſer
St. Georgen Kirche nach Friedrichsfelde hin verſetzt wurde. Natür-
lich empfand letzterer dies als eine Degradation und führte ſich
deshalb mit folgenden Worten in Friedrichsfelde ein:


Gott grüß Euch, Ihr lieben Bauern,

Ich werd hier nicht lange dauern,

Drum ſeht mich nur mit Rechten an —

Ich heiße Daniel Schoenemann.

Er hielt auch Wort und legte im ſelben Jahre noch ſein
Friedrichsfelder Pfarramt nieder.


Ernſt [Gottlieb] Woltersdorf.


Ernſt Gottlieb W. wurde, wie ſchon Eingangs hervorge-
hoben, am 31. Mai 1725 in Friedrichsfelde geboren. Er blieb
daſelbſt bis zur Ueberſiedlung ſeines Vaters nach Berlin, alſo bis
zu ſeinem zehnten Lebensjahre, beſuchte danach das graue Kloſter und
ging mit 17 Jahren zum Studium der Theologie nach Halle. „Es
war dort eben noch — ſo ſchreibt Paſtor Beſſer — das letzte
der ſieben fetten Jahre. Man konnte den Samen reiner Lehre
[155] noch ziemlich reichlich einſammeln. Die Hungerzeit des Rationalis-
mus meldete ſich eben erſt durch ihre vorderſten Poſten.“ Be-
ſonders war es Baumgarten (Kirchengeſchichte), der das Herz
unſeres jungen Theologen mit Liebe und Verehrung füllte; Unter-
richt, den er in den unteren Schulen des Franckeſchen Waiſen-
hauſes ertheilte, ſicherte ihm den Unterhalt. Sein Chriſtenthum,
nach ſeinem eigenen Bekenntniß, blieb indeſſen damals ein rein äußer-
liches. „Ich hatte noch keinen Geſchmack an der Erlöſung durchs
Blut Chriſti; … Gott kam mir aber zu Hilfe und warf mich
in ein ſehr tiefes Gefühl meines unergründlichen Seelenverderbens.
Da ſaß ich an den Waſſern zu Babel und weinete, wenn ich an
Zion gedachte.“


1744 im Frühjahr, erſt neunzehn Jahr alt, hatte er ſeine
Studien beendigt. Er trat — durch viele Arbeit körperlich er-
ſchüttert — eine Reiſe an, ſuchte chriſtliche Prediger und Gottes-
männer auf und zeigte damals eine große Neigung, zu den Her-
renhutern überzutreten. Dies unterblieb jedoch. 1744 im Spät-
herbſt wurd er Vikar in Zerrenthiu bei Prenzlau, wo er
empfinden lernte, „wie ſchwer ſichs predigt, wenn niemand hören
will.“ Zwei Jahre ſpäter (1746) kam er als Hauslehrer des
jungen Grafen von Promnitz nach Drehna in der Niederlauſitz,
wo er nunmehr mit großem Erfolge zu predigen begann. Sein
Prediger-Eifer und die ihm daraus entſpringende Kraft waren ſo
groß, daß er in verhältnißmäßig kurzer Zeit die wendiſche
Sprache
lernte, um den Spreewaldwenden das Evangelium pre-
digen zu können.


1748 erhielt er einen Ruf nach Bunzlau. Es hieß anfänglich:
er ſei zu jung. Am 20. Sonntage nach Trinitatis aber predigte
er über den Text: „Der Herr ſprach zu mir, ſage nicht, ich bin
zu jung
, ſondern Du ſollſt gehen, wohin ich Dich ſende, und pre-
digen, was ich Dir heiße“ mit ſolcher Gewalt, daß er die ganze
Gemeinde mit ſich fort riß. Bald hatte die Kirche nicht Raum
genug für die die kamen und unter freiem Himmel, im Bunz-
lauer Stadtwald, mußt er nunmehr predigen. „Es ſchien, als ob das
Feuer Chriſti die ganze Stadt anzünden wollte.“ Dabei blieb er
voll körperlicher und geiſtiger Friſche. 1749 verlobte er ſich mit
Johanna Sabina, Tochter des Paſtors Zietelmann zu Flieth
[156] bei Prenzlau; im Mai trafen ſich die jungen Brautleute in Berlin,
wo neun Söhne (darunter bereits drei Paſtoren) eine Tochter
und drei Schwiegertöchter des alten Paſtors Woltersdorf ſich zur
Hochzeitsfeier verſammelt hatten. Der Vater ſegnete das Paar
ein, das bald darauf in die Bunzlauer Pfarrwohnung einzog.


Die junge Frau brachte Glück und empfig es. Aber die
Flitterwochen müſſen doch anders geweſen ſein, wie heutzutage
Flitterwochen zu ſein pflegen. Alles junge Glück der Liebe ſchloß
eine immer wachſende geiſtliche und geiſtige Thätigkeit ſo wenig
aus, daß im Jahre 1751 bereits zwei ſtarke Bände „Evangeliſche
Pſalmen“ vorlagen, die Zeugniß ablegten von dem ſchöpferiſchen
Drang des jungen Geiſtlichen. Sie waren, beinah 200 an der
Zahl, mit nur wenig Ausnahmen ein Product der letzten drei
Jahre. Ueber die Art, wie dieſelben entſtanden, laſſen wir ihn
ſelber ſprechen:


„Was den Urſprung dieſer Lieder betrifft, ſo kann ich wohl
mit Wahrheit ſagen: ich habe ſie von dem Herrn empfangen.
Sonſt würd ich auch in meinem Gewiſſen keine Freiheit haben ſie
drucken zu laſſen … Gott hat mir von Natur eine Neigung
zur Poeſie gegeben. Schon in meiner Kindheit fing ich an Verſe
zu machen. Aber erſt als ich des ſeligen Lehr und nach einiger
Zeit auch des ſeligen Lau Leben und letzte Stunden in die Hände
bekam, ging etwas in mir vor. Von dieſer Zeit an iſt der Trieb,
dem Herrn Lieder zu dichten, in mir recht aufgewachet. Ja er iſt
von Zeit zu Zeit immer ſtärker worden, daß er ſich auch beſon-
ders in meinem Amt, in welchem ihn die vielen überhäuften Ge-
ſchäfte ſonſt hätten erſticken müſſen, ſo vermehret hat, daß ich oft
ſelbſt nicht gewußt, wie es zugegangen. Ich kann nichts anders
ſagen, als daß ich’s für eine augenſcheinliche Erhöhung meines
Gebets
anſehen muß.


„Oft hab ich an nichts weniger gedacht, als Verſe zu machen.
Aber es fiel mir plötzlich ins Gemüth, und regte ſich ein Trieb,
daß ich die Feder ergreifen mußte. Ein andermal hatt ich keine
Luſt; aber es war, als müßt ich wider Willen ſchreiben. Zuwei-
len war ich von vieler Arbeit ganz entkräftet, allein es wurde mir
eine Materie ſo lebendig und floß ſo ungezwungen und ohne
Müh in die Feder, daß es ſchien, ich könnte das Schreiben nicht
[157] laſſen. Ja ich muß geſtehen, daß mir’s oft wie ein Brand im
Herzen geweſen, und mehrmalen mußt ich mich mit Gewalt zurück-
ziehen, damit ich mich nicht übernähme oder meine Natur zu ſehr
ſchwächete. Wollt ich zuweilen 3 Verſe ſchreiben, ſo wurden gleich
12, 15 oder gar 30 daraus. Manchesmal konnte die Feder dem
ſchnellen Zufluſſe nicht einmal folgen. Oft mußt ich’s, wenn ich
ſo hintereinander geſchrieben, erſt überleſen, um zu wiſſen, was es
wär, und mich dann ſelbſt wundern, daß das da ſtund, was ich
fand. Und ſo ſind dieſe langen Lieder der erſten Sammlung ent-
ſtanden. Ich nahm mir vor, ein Lied in gewöhnlicher Größe zu
ſchreiben, aber wenn ich hineinkam, ſind oft 40, 50, 100, 200 und
mehr Verſe fertig geworden.“


Er fährt dann fort:


„Was ich in ſo großer Geſchwindigkeit niedergeſchrieben, ich
hab es hinterher vielmal durchgeleſen, einiges oft umgeſchmolzen,
anderes lange liegen laſſen; aber das iſt wahr, daß ich anderes,
das ſo recht aus dem Herzen gequollen, nie geändert habe. Die
Urſach iſt, weil das am erſten und natürlichſten wieder in die
Herzen hineinfließet, was ohne Zwang heraus geſtrömet iſt ....
Fraget nur die Dichter dieſer Welt, ob ſich nicht Aehnliches bei
ihnen findet, wenn ſich ein poetiſches Feuer bei ihnen reget. Und
was ſoll nicht erſt der herrliche Geiſt des lebendigen Gottes thun,
wenn er die natürlichen Triebe zur Dichtkunſt mit ſeinen Kräften
anfeuert!


„Es bleibt mir eine unumſtößliche Wahrheit, daß alle ver-
nünftigen Regeln der Dichtkunſt ſehr gut ſind und von einem
Dichter nach ſeiner Gelegenheit mit großem Nutzen gebraucht wer-
den können, daß aber dennoch das Göttliche in der Dichtkunſt
nicht anders als auf den Knieen gelernt werden kann. Denn
wenn der Geiſt aller Geiſter das Herz des Poeten nicht entflammt,
ſo weiß ich nicht, ob ich die erhabenſte Poeſie überhaupt noch eine
göttliche nennen kann .... Die Heiden haben von ihren todten
Götzen treulich geſungen. Aber ſo viele Dichter unter den Chriſten
wiſſen von ihrem lebendigen Gott, von dem Gott aller Götter, ja
von ihrem menſchgewordenen Gott, der am Kreuz in ſeinem Blute
für ſie geſtorben, nichts zu ſagen. Sie holen lieber vermoderte
Stücke von den verfaulten Götzen der Heiden und ſchmücken ſie
[158] dem Gott Iſraels zum Hohn .... Ein berühmter Günther
will lieber der Venus zu Ehren, als zum Ruhm des Kreuzes
ſingen; aber die Reime Hans Sachſens machen alle Werke Gün-
thers zu Schanden, weil doch ſo manche Seele daran ſeelig glau-
ben kann.“


So weit er ſelbſt. Man muß es ihm laſſen, daß er ſeine
Sache gut zu führen weiß; beſcheiden und bewußt — jedes an
rechter Stelle. Dabei kann einem aufmerkſamen Leſer nicht ent-
gehen, daß er in dieſer Rechenſchaftsablegung alle die Punkte in
den Vordergrund ſtellt, über die die Meinungen auseinander
gehen können. Er war eben ein chriſtlicher „Improviſator,“ ja,
in allen Ehren ſei es geſagt, eine Art von Pſychographendichter
und ließ die Feder laufen. Wir kommen an anderer Stelle darauf
zurück.


Alles, was wir aus ihm citirt haben, iſt einer Vorrede ent-
nommen, die er im Jahre 1750 ſchrieb. Er war damals 25 Jahr
alt, predigte ſeit ſechs Jahren und war im Amte ſeit drei, hatte Frau
und Kind und konnt auf eine literariſche Thätigkeit zurückblicken,
die bereits damals über 200 Lieder umfaßte, mehrere davon über
200 Strophen lang. Eine Productionskraft, die wohl kein an-
derer deutſcher Dichter aufzuweiſen hat, auch nicht die Meiſter-
ſänger, an deren Dichtungsart die didaktiſche Weiſe Woltersdorf’s
am meiſten erinnert.


Seine poetiſche Thätigkeit war übrigens im Großen und
Ganzen mit 1750 abgeſchloſſen. Es waren ihm noch elf Lebens-
jahre beſchieden, aber die Muhen und Sorgen des Amtes wurden
doch ſo übermächtig, daß ſelbſt ſein lebendiger Strom verſiegte.
Er trat 1755 an die Spitze des nach dem Halleſchen Vorbild
errichteten Bunzlauer Waiſenhauſes und wirkte daran noch eine
Zeitlang in Segen, bis ſein ſchwacher Körper unter der Laſt zu-
ſammenbrach. Sein Biograph ſchreibt: „Man darf ſagen, er hatte
ſich im Dienſt des Herrn verzehrt.“


Der 17. December 1761 war ſein letzter Tag. Die Schmer-
zen nahmen zu, ſeine Klagen ab. Als ſeine Frau mit einem ſei-
ner Kinder weinend am Bette ſtand, ſagte er mit Glaubensfreudig-
keit: „Wenn Du keinen anderen Kummer haſt, als dieſen!“ Und
dann lag er ſtill. Abends aber redete er viel, jedoch ſo leiſe, daß
[159] ſich nur einzelne Liedesworte verſtehen ließen. Um die ſechste
Stunde war er todt. Er war ſanft eingeſchlafen.


Das Waiſenhaus verlor viel und der Jammer der eben zum
Confirmanden-Unterricht verſammelten Kinder erfüllte das Pfarr-
haus. In allen Häuſern der Stadt war Wehklagen. Am 22.
December hielt ihm ſein Herzensfreund, David Gottlieb Seidel,
die Leichenpredigt und ſprach „von der gegründeten Hoffnung eines
Lehrers, der einen lautern Sinn beweiſet, wenn er auch über
Macht beſchweret iſt
.“


„Ueber Macht“ war Woltersdorf beſchweret geweſen; nun war
er frei. Für ſeine Wittwe und ſeine ſechs Kinder ſorgte der
Herr, indem er Seelen erweckte, die ſich ihrer Dürftigkeit
annahmen. Es wurde ſeine Zuverſicht erfüllet, die er oft aus-
ſprach, wenn er ſein letztes Stück Brod mit den Armen
theilte
.


So ſtarb Woltersdorf, erſt 36 Jahr alt. Er hatte ein äußer-
lich armes, innerlich deſto reicheres Leben geführt. Wie in vielem,
ſo war er auch in der Anſpruchsloſigkeit und Stille ſeines Lebens-
ganges, in dem Fehlen alles deſſen, was man als romantiſch-
frappant bezeichnen kann, den Herrenhutern verwandt. Er proteſtirt
zwar gegen dieſe Gemeinſchaft und ſagt „allen Dingen, die in
Leben und Lehre dem Worte Gottes zuwider ſind, bin ich von
Herzen feind, weshalb ich den Plan der herrnhutiſchen Gemeine,
wie er jetzt iſt, nimmermehr werde billigen können.“ Aber trotz
dieſes Proteſtes, der gewiß aufrichtig gemeint und wohlbegründet
iſt, iſt doch unverkennbar, daß ſeine Dichtung unter Zinzendorf-
ſchem Einfluß heranwuchs. Er gebraucht wie dieſer die ſtarkſinn-
lichen Reden von Turteltauben und Nachtigallen, von dem ſüßen
Blut des Erlöſers und von der Herrlichkeit ſeiner Blutrubinen.
Er vertheidigt auch dieſe Ausdrucksweiſe: „Die Herzen ſollen durch
die Sinne bewegt werden, und nur das eine iſt zu fordern, daß
kein ſchwulſtiges, unanſtändiges oder gar lächerliches Weſen dabei
zu Tage komme.“ Im Uebrigen ſcheint er ſich ſelber nur eine
Durchſchnitts-Begabung zugeſchrieben zu haben. „Ich habe, ſo
ſchreibt er, nicht eine große Zierlichkeit und Pracht, ſondern eine
fließende und bewegliche Deutlichkeit erwählet, damit mich
Jedermann, auch zur Noth ein Kind, verſtehen möchte. Das macht
[160] zwar kein ſonderliches Anſehen, iſt aber deſto nutzbarer. Wir
ſollen unſerm Erlöſer nicht allein die Gelehrten und Großen zu-
führen, ſondern unter den Geringen und Einfältigen wuchert ſein
Evangelium am meiſten. Allzu hohe Lieder nutzen Niemandem,
oder doch nur wenigen.“


So er ſelbſt. Die Urtheile Neurer über den Werth ſeiner
Dichtungen weichen erheblich von einander ab. Koch ſchreibt:
„Woltersdorf iſt ein lebendiges Zeugniß der dichtenden Kraft des
heiligen Geiſtes in der lutheriſchen Kirche,“ wogegen Hagenbach
nicht nur an der Weitſchweifigkeit ſeiner Lieder, die wegen ihrer
Länge nie geſungen werden können, Anſtoß nimmt, ſondern auch
„Fluß und Guß, mit einem Wort die rechte Rundung und Voll-
endung in ihnen vermißt.“ Selbſt R. Beſſer, in ſeinem „Leben
E. G. Woltersdorfs“ kann nicht umhin auf eine gewiſſe Unſelbſt-
ſtändigkeit Woltersdorfs hinzuweiſen und ſagt in ſeiner anſchau-
lichen Ausdrucksweiſe: „er ſuchte wie eine Hopfenrebe ſtets gern
einen tragenden Halt für ſeine Dichtungen.“


Wir ſelbſt haben die beſten ſeiner Dichtungen mit Freudig-
keit und nicht ohne Erhebung geleſen. Wie ſchön beiſpielsweiſe
ſind folgende Strophen:


Wer iſt der Braut des Lammes gleich?

Wer iſt ſo arm? und wer ſo reich?

Wer iſt ſo häßlich und ſo ſchön?

Wem kanns ſo wohl und übel gehn?

Lamm Gottes, du und deine ſeelge Schaar

Sind Menſch’ und Engeln wunderbar.

Verfolgt, verlaſſen und verflucht,

Doch von dem Herrn hervorgeſucht;

Ein Narr vor aller klugen Welt

Bei dem die Weisheit Lager hält;

Verdrängt, verjagt, beſiegt und ausgefegt,

Und doch ein Held, der Palmen trägt.

Das iſt der Gottheit Wunderwerk

Und ſeines Herzens Augenmerk:

Ein Meiſterſtück aus nichts gemacht,

So weit hat’s Chriſti Blut gebracht;

Hier forſcht und betet an ihr Seraphim,

Bewundert uns und danket ihm.

[161]

Auch in dieſen Strophen mag ſich ein ſtarkes Anlehnen an
einzelne Vorbilder aus dem hallenſiſch-pietiſtiſchen Dichterkreiſe
nachweiſen laſſen, aber der Laie wird dadurch wenig geſtört werden.
Seine Laienſchaft kommt ihm und dem Dichter zu Statten. Das
Maaß unſeres Wiſſens beſtimmt auch das unſrer Anſprüche. Je
lebendiger Jemand die großen Originale, die Kraft- und Kern-
lieder deutſcher Nation gegenwärtig hat, deſto ablehnender wird er
ſich gegen Lieder verhalten, die für ſein geübtes Ohr eben nur
ein Wiederklang ſind. Wer indeſſen weniger bewandert darin iſt,
wird leichter befriedigt ſein. In der weltlichen Dichtung ſehen
wir Aehnliches. Wer den Heine nicht kennt, erfreut ſich auch an
den Nachbildungen [deſſelben], wer ihn kennt, verhält ſich gegenſätzlich
gegen Alles, was heiniſirt.


Gewiß — und damit ſchließen wir — iſt Woltersdorf nicht
den großen Geſtalten unter unſren Kirchenlied-Dichtern zuzuzählen,
dazu war er zu wenig eine Kraftnatur. Im Gegentheil, etwas
Krankhaftes zieht ſich durch ſein Leben und ſpiegelt ſich auch in
ſeiner dichteriſchen Hyperproduction. Aber zweierlei muß ihm
verbleiben, und während er immer als ein Muſterbeiſpiel für
den wunderbaren Einfluß „des geiſtigen Fluidums über die
träge Maſſe“ daſtehen wird, wird er andrerſeits, wenigſtens
provinziell und local, eine hervorragende Bedeutung auf ſeinem
ſpeziellen Gebiete beanſpruchen dürfen. Mark Brandenburg
hat auf dem Gebiete des Kirchenliedes keinen beſſeren aufzuweiſen,
auch wohl keinen, der ſich neben ihm behaupten könnte.


Schloß Friedrichsfelde ſteht noch, wie es 1719 und 1735
aufgeführt wurde, das alte Pfarrhaus aber, abgelöſt durch einen
unmittelbar neben ihm entſtandenen Neubau, iſt längſt hinüber.
Ein Garten füllt jetzt den Platz, wo das alte ſtand, und ein Birn-
baum blüht jeden 31. Mai an derſelben Stelle, wo Woltersdorf
der Dichter geboren wurde.


FontaneIV.
[[162]][[163]]

Rechts der Spree.


11*
[[164]][[165]]

Buch.


Was ſonſt in Ehren ſtünde,
Nun iſt es worden Sünde,
Was fang’ ich an!
Th. Storm.

Zwei Meilen nördlich von Berlin liegt das Dorf Buch, reich
an Landſchaftsbildern aller Art, aber noch reicher an hiſtoriſchen
Erinnerungen. Einer unſerer Luſtgarten-Omnibuſſe führt den
Reiſeluſtigen über Pankow und Schönhauſen bis an die Grenze
von Franzöſiſch-Buchholtz, etwa halber Weg; wir aber, in jenem
ſtolzen Wandergefühl, das ſich nach Strapatzen ſehnt, haben den
Omnibus verſchmäht und treffen erſt mit der untergehenden Sonne
vor Buch ein.


Gleich der Eintritt in’s Dorf iſt maleriſch. Eine Feldſtein-
brücke wölbt ſich über ein Wäſſerchen, das ſchäumend einen Berg-
abhang hernieder kommt, die Häuſer ſteigen in leiſer Schlängel-
linie bergan und nach links hin, als woll’ er das Dorf in ſeinen
Arm nehmen, zieht ſich, waldartig, ein ausgedehnter Park. Anders
nach rechts hin, wo ſich Wieſen und Felder dehnen, deren Stille
nur von Zeit zu Zeit das Raſſeln eines vorüberfahrenden Eiſen-
bahnzuges unterbricht.


Wir haben die Feldſteinbrücke paſſirt und die Mitte des Dorfes
erreicht. Hier begegnen wir endlich einem ſeit einer halben Stunde
herangeſehnten Bilde. Krippen lehnen ſich an die Wand, ein Plan-
wagen ſteht zur Seite, drauf ein Spitz die Wache hält, und von
über der Thür des Hauſes her grüßt uns das Wörtchen „Gaſthaus“.
[166] Einige Stufen führen uns in den Flur und der Flur wieder in
die Küche, drin ein Dutzend Hände geſchäftig iſt und das über-
kochende Waſſer eben in die Herdflamme ziſcht. Unbeſtimmte
Vorſtellungen von einem „hier iſt es gut ſein“ erfüllen unſer Herz;
aber alle Zimmer im Hauſe ſind bereits vergeben (eine Hochzeit
iſt im Dorf) und ſo haben wir uns ſchließlich noch zu beglück-
wünſchen, uns von der freundlichen Frau Wirthin ein Abendbrod
und ein Strohlager ſammt ein paar Decken zugeſtanden zu ſehn


Und nun beurlauben wir uns, um unſern erſten Gang in
den Park zu machen.


Die Zeit des Sonnenuntergangs iſt die geeignetſte dazu —
die grauen Schleier des Abends ſind es, die dieſem Parke kleiden.
Wo Springquellen hoch in die Luft ſteigen und des Lichts bedürfen
um in allen Farben zu ſchillern, wo Blumenvierecks in den Raſen
eingewoben ſind oder Statuen in den grünen Niſchen ſtehen, da
mag es gerathen ſein um Morgen- oder Mittagszeit auf und
ab zu ſchreiten. Aber ein ſolcher Park iſt nicht der, in den
wir eben eingetreten ſind. Nicht Cascaden und Fontainen ſind
hier zu Haus, kein Bach rieſelt und plätſchert über Steine
hinweg, als liefen ſpielende Kinder durch den Garten, ein ſtiller
und breiter Graben nur durchſchneidet ihn und dehnt ſich aus als
wär es ein Teich. Die Buche hängt ihr Gezweige tief in das
Waſſer nieder und die Tanne ſtreut ihre Schuppenäpfel über die
Kiesgänge hin. Alles Bunte fehlt. Die Rüſternalleen, die ſich
wie Kirchenſchiffe wölben, erſcheinen nicht wie Weg und Steg in die
freie Natur hinaus, ſondern wie Gitter und Spaliere gegen die-
el be. Dieſer Park hat zu lachen verlernt. Wenn das Sonnen-
licht auf ihn fällt und ihn erheitern will, iſt es wie eine Wittwe,
die man mit Bändern und Blumen ſchmückt.


Es war neun als wir aus dem Park in das Wirthshaus
zurückkehrten und uns an den gedeckten Tiſch ſetzten, der unſrer
ſchon wartete. Bald danach erſchien auch die Magd, um unſer
Nachtlager herzurichten. Ein paar nach oben gekehrte Stühle
gaben die Schrägung, eine Schütte Stroh ward ausgebreitet
und zwei große rothe Deckbetten, deren jedes mich an eine dicke,
wulſtige Paeonie gemahnte, vollendeten den Hoch- und Tiefbau,
darin wir eine halbe Stunde ſpäter verſanken.


[167]

Müdigkeit ſorgte für Schlaf, und ſtatt unſrer Träume ſei hier
die Geſchichte Buchs und ſeiner vier alten Familien: der Roebel,
Poellnitz, Viereck und Voß erzählt.


Zunächſt ein Wort über die Roebels.


Die Roebels.


Die Roebels kamen etwa gleichzeitig mit den Askaniern in
die Mark und gehörten einem Geſchlecht an, das ſehr wahrſchein-
lich von der am Müritz-See gelegenen Stadt Roebel (im Mecklen-
burgiſchen) ſeinen Namen führte. Schon im Landbuche von 1375
genannt, waren ſie ſpäter im Norden und Nordoſten von Berlin
anſehnlich begütert und beſaßen allda die ſammt und ſonders im
jetzigen [Nieder-Barnimſchen] Kreiſe gelegenen Ortſchaften: Schön-
fließ und Schöneiche, Birkholz und Blankenburg, Wartenberg,
Hohen-Schönhauſen und Buch.


In theilweiſem Beſitze dieſes letztren finden wir ſie ſchon vor
Beginn der hohenzollerſchen Zeit, aber erſt um 1541 kam das
ganze Dorf Buch in ihre Hände.


Das war unter Hans von Roebel. Derſelbe war kur-
brandenburgiſcher Rath und gehörte mit zu den eifrigſten Anhängern
und Beförderern der Reformation.


Eben deſſelben Geiſtes waren ſeine zwei Söhne Joachim
und Zacharias v. Roebel, von denen der erſtere, der mit einer
Hedwig von Krummenſee vermählte Joachim, die freundſchaft-
lichſten Beziehungen zu Philipp Melanchthon unterhielt. Dieſe
Beziehungen waren derart, daß der Reformator (und zwar
allem Anſcheine nach wiederholentlich) auf Beſuch nach Buch
kam und zwei Kinder Joachims v. R. über die Taufe hielt. Er
machte bei dieſer Gelegenheit der Kirche zu Buch ein aus den
Werken Luthers beſtehendes Geſchenk, 10 Bände, in deren zehnten
Band er einen Pauliniſchen Spruch aus dem Brief an die Coloſſer:
„Laſſet das Wort Chriſti unter euch reichlich wohnen in aller
Weisheit, lehret und vermahnet euch ſelbſt mit Pſalmen und Lob-
geſängen und geiſtlichen lieblichen Liedern, und ſinget dem Herrn
in eurem Herzen“ eigenhändig eingetragen hat. Darunter die
[168] Jahreszahl 1559. Dieſes Geſchenk iſt bis dieſen Tag das Werth-
ſtück und die Zierde des Bucher Kirchen-Archivs.*)


Joachim v. Roebel war aber auch ein Kriegsheld und
bracht’ es zu den höchſten militäriſchen Ehren in brandenburgiſchen,
ſächſiſchen und zuletzt auch in kaiſerlichen Dienſten. Er zeichnete ſich
namentlich in der blutigen Schlacht bei Sievershauſen aus, in der
Moritz von Sachſen fiel. Im Jahre 1572 beſuchte er, als kaiſer-
licher Feldmarſchall, ſeinen Bruder Zacharias v. Roebel, der da-
mals in der Feſtung Spandau commandirte. Bei dieſer Anweſen-
heit verſchied er im 57. Jahre ſeines Alters und ward in der Spandauer
Nicolaikirche beigeſetzt. Drei Jahre ſpäter, 1575, ſtarb auch ſein
Bruder. Ein Beiden errichtetes Denkmal bewahrt ihre Namen
in ebengenannter Kirche. Beide ſind gleich gewaffnet, in Platten-
rüſtung mit Schwert und Morgenſtern. Dazu folgende die Kriegs-
thaten Joachims v. Roebel verherrlichenden Reime:


Der edel und viel kühne Held,

Joachim von Röbell, ich dir meld’,

Von Jugend auf mit gutem Rath

Gar manche Schlacht beſuchet hat.

In Holſtein, Fühnen, Koppenhagen,

In Ungarn, Frankreich that er’s wagen,

Der Graf von Oldenburg ſein’ Muth

Geſpürt; der Sachſ’ ihm auch war gut:

Zum Wacht- und Rittmeiſter ihn macht;

Feldmarſchall ihn vor Magd’burg bracht.

Clauß**) er auch half nehmen ein,

[169]
In Ungarn Feldmarſchall ſollt’ ſein.

Feldmarſchall im Braunſchweiger Land

War er, braucht ritterlich ſein’ Hand;

Da Herzog Moritz fiel der Held

Feldmarſchall er war kühn im Feld.

Feldmarſchall er vor Gotha kam

Kurfürſt Auguſt ihn mit ſich nahm.

Ein Sohn dieſes Feldmarſchalls Joachim von R. war
Ehrentreich v. Roebel, der neben Stipendien und anderen zahl-
reichen Stiftungen, auch ein „Roebelſches Erbbegräbniß“ und zwar
in der Marienkirche zu Berlin errichtete. Daſſelbe zeigt die vor
einem Crucifix knieenden lebensgroßen Figuren Ehrentreich’s ſelbſt
und ſeiner Gemahlin Anna von Göllnitz, geſtorbrn 1630. Jener
— ein wohlbeleibter Herr mit ſtattlichem Bart — trägt die
Ritterrüſtung des 17. Jahrhunderts, dieſe, die kleidſame Frauen-
tracht jener Zeit: ein langes Gewand mit weiten, faltigen Aermeln
und eine Flügelhaube.*)


Soviel über die Roebels. Von den andern drei Familien
an andrer Stelle.


Die Sonne weckt uns bei guter Zeit. Das rothe Deckbett
hat uns mit all ſeiner Schwere nicht ſonderlich gedrückt, und auf-
ſpringend eilen wir an’s Fenſter und laſſen den Sommermorgen
ein. Auch das Frühſtück kommt und die Lindenbäume draußen
ſorgen für Duft und Klang. Ein Blick noch auf das Strohlager,
den Schauplatz unſeres ſtillen Muths, und wir treten in die
[170] Dorfgaſſe hinaus, um zunächſt dem Schloſſe drüben unſern Früh-
beſuch zu machen.


Das Schloß zu Buch iſt ein Flügelbau von jener einfachen Art,
wie das vorige Jahrhundert ihrer ſo viele auf unſern märkiſchen
Rittergütern entſtehen ſah. Sie haben einen gemeinſamen Familien-
zug und wenn ſich das vor uns liegende Schloß von ähnlichen
Bauten unterſcheidet, ſo iſt es durch nichts als durch eine noch
größere Einfachheit. Aller Schmuck ſcheint gefliſſentlich vermieden.
Keine Säulen, kein Fries, kein Fenſterſims; nicht Thurm, nicht Erker,
ja ſelbſt die Rampe fehlt, die ſonſt wohl den Eindruck der Statt-
lichkeit ſchafft oder ſteigert. Ein paar Arabesken ſchnörkeln ſich
um die Thür und ein halbes Dutzend Orangenbäume faſſen den
Kiesplatz ein. Alles ſchlicht, und doch hat man das beſtimmte
Gefühl, daß hier Reichthum und Vornehmheit ihre Stätte haben.
Das Haus gleicht einem einfachen Kleid, einfach und altmodiſch,
aber der Park, der es einfaßt, iſt wie ein reicher Mantel, der die
Frage nach dem Schnitt des Kleides verſtummen macht.


Und dieſer Eindruck wiederholt ſich im Innern. Aller bürgerliche
Comfort fehlt, ebenſo die kleinen Niedlichkeiten, in deren Hervor-
bringung die Neuzeit ſo verſchwenderiſch geweſen; aber dieſe Nippes
fehlen nur, weil das Herz des Beſitzers an andern Dingen hing
oder weil er in feinem Sinn empfand, daß das Moderne zu dem
hiſtoriſch Ueberlieferten nicht paſſen würde.


Wir haben unſern Umgang vollendet und treten wieder in
den Park hinaus. Einer der vielen Laubengänge deſſelben führt
uns bis an die nahe gelegene Kirche.


Dieſe Kirche zu Buch iſt ein ziemlich auffälliges Bauwerk.
In einer alten Beſchreibung Berlins und ſeiner Umgegend wird
ſie die „ſchöne Kirche“ genannt, ein Ausſpruch, der wohl nur in
Zeiten möglich war, in denen man aufrichtig glaubte, durch
Laternen- und Butterglocken-Thürme die gothiſchen Formen unſrer
alten Feldſteinkirchen erſetzen oder gar noch verbeſſern zu
können. Alles was dieſer Bucher Kirche zugeſtanden werden darf,
iſt Stattlichkeit und ein gewiſſer maleriſcher Reiz. Ihre Grundform
bildet ein griechiſches Kreuz, aus deſſen Mitte ſich eine merkwürdige
Miſchung von gegliedertem Kuppel- und Etagenthurm erhebt. Ver-
ſuch’ ich eine Beſchreibung. Jeder kennt jene Garten- und Speiſe-
[171] pavillons, die ſich in den Parkanlagen des vorigen Jahrhunderts
ſo vielfach vorfinden und meiſt aus ſechs oder acht ein gewölbtes
Dach tragenden korinthiſchen Säulen beſtehn. Denke man ſich
nun drei ſolcher Pavillons in Verjüngung übereinander geſtellt und
den unterſten Pavillon kreuzartig erweitert, ſo hat man im
Weſentlichen ein Bild der Bucher Kirche. Nur eines kommt noch
hinzu: rothgetünchte Wandflächen füllen den Raum zwiſchen den
weißen Säulen und Pfeilern aus und ſtellen dadurch ein geſtreiftes
Ganze her, das am eheſten vielleicht an die holländiſchen Bauten
aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts erinnert.


Ehe wir in die Kirche ſelbſt eintreten, ſteigen wir einige Treppen-
ſtufen hinab in die Gruft, die ſich unter dem Oſtflügel der Kirche
befindet und in mehr als einer Beziehung ein Intereſſe verdient.
Dieſe Gruft oder doch wenigſtens ein Theil derſelben iſt wahr-
ſcheinlich ein Ueberreſt der alten Kirche, die hier ſtand, eine Vor-
ausſetzung, die ſich darauf ſtützt, daß ein Sarg aus dem Jahr
1679 vorhanden iſt, während die gegenwärtige Kirche nicht vor
1727 beendigt war.


Die Gruft beſteht aus zwei gewölbten Räumen, die durch
eine offene Thür mit einander in Verbindung ſtehen. Der hintere
Raum iſt wahrſcheinlich älter und empfängt ſo wenig Licht, daß
man eine Kerze anzünden muß, um irgend etwas ſehen zu können.
Alles was mehr in Front liegt, iſt hell und geräumig. Beide
Theile haben übrigens das gemeinſam, daß die darin aufgeſtellten
Todten zu Mumien werden. Die hintere Gruftkammer beher-
bergt nur einen einzigen Sarg, in dem vorderen Gewölbe dagegen
befinden ſich einundzwanzig Särge, von denen vierzehn zur Linken
und ſieben zur Rechten ſtehen; dazwiſchen ein Gang. In
den vierzehn Särgen zur Linken ſind Mitglieder der Familie
Viereck (darunter der Miniſter und ſeine beiden Frauen) beige-
ſetzt, die ſieben Särge zur Rechten aber umſchließen Mitglieder der
Familie Voß.


Wodurch die Mumificirung erfolgt, iſt noch nicht aufgeklärt.
Vielleicht iſt es die Trockenheit und mehr noch eine beſtändige leiſe
Bewegung der Luft, was dieſe Erſcheinung hervorruft. Die mumifi-
cirten Körper ſehen weiß aus, ſind verhältnißmäßig wenig eingedörrt
und zeigen noch eine gewiſſe Elaſticität von Haut und Fleiſch.
[172] Der hier zuletzt Beigeſetzte iſt der Staatsminiſter Otto Karl
Friedrich von Voß. In den Sargdeckel iſt eine Metalltafel ein-
gelegt, die einfach die Namen und Daten (geb. den 8. Juni
1755 ꝛc.) giebt. Es iſt dies derſelbe Otto Karl Friedrich von
Voß, der zur Zeit der Hardenbergſchen Verwaltung, inſonderheit
aber in den Jahren die den Befreiungskriegen folgten, aufs ent-
ſchiedenſte die Principien und Intereſſen einer conſervativen Politik
vertrat. Unmittelbar nach dem Tode Hardenbergs wurde Voß
Präſident des Staatsraths und des Staatsminiſteriums. Er
überarbeitete ſich, erkältete ſich während einer Feuersbrunſt, die
gerade damals in Buch ausbrach, und zog ſich einen Rückfall zu,
als er nach längerer Zeit wieder ſeinen erſten Vortrag beim Könige
hielt, zu dem er nicht anders als in Schuhen und Strümpfen
hatte gehen wollen
. Sein Tod war die Folge davon. Er
ſtarb am 30. Januar 1823.


Der ſchwere eichene Sarg, der ſich in dem älteren lichtloſen
Gewölbe befindet, ſteht gemeinhin offen. Der daneben liegende Deckel
iſt mit einer Unmenge von ſchwarzen Nägelchen beſchlagen, die ſich
bei näherer Unterſuchung zugleich als Inſchrift des Sarges erweiſen.
Die Entzifferung iſt aber ſo ſchwierig, daß ich nur für an-
nähernde Richtigkeit bürgen kann. Die Inſchrift lautet: „Der
Hoch-Hochwohlgeborne Herr Herr Gerhard Bernhard Freiherr von
Poellnitz, Erbherr auf Reſchau in Preußen, auf Buch, Caro und
Birkholz in der Mark, churfürſtlich brandenburgiſcher Geheimer
Kriegsrath, General-Wachtmeiſter und Oberſtallmeiſter, Oberſter
im Dragoner-Regiment Moerner, reſidirte in Berlin, Cöln und
Friedrichswerder; geboren 1617, geſtorben den 2. Auguſt 1679.“
Der völlig mumificirte Körper, der am eheſten einem mit einer
elaſtiſchen Ledermaſſe überzogenen Skelette gleicht, iſt völlig unbe-
kleidet und nur mit einem graumelirten Domino zugedeckt, an
dem noch hunderte von aufgenähten Silberſchuppen glitzern. Der
Schädel iſt groß und prächtig geformt, das Geſicht aber klein und
auf feine Formen deutend. Die Stirn zeigt eine Fraktur des Schädel-
knochens, wie es heißt in Folge eines Säbelhiebes, den der Frei-
herr in einer der Schlachten des dreißigjährigen Krieges empfing.
Das Naſenbein iſt lädirt. Das geſchah bei folgender Ge-
legenheit. Die Franzoſen, kurze Zeit nach der Jenaer Schlacht,
[173] kamen auch nach Buch und drangen in die Kirche. Voll Ueber-
muth ſchleppten ſie den Mumienkörper des Freiherrn aus der
Gruft nach oben und begannen allerlei frivole Spiele mit ihm.
Bei der Gelegenheit fiel er um und brach das Naſenbein. *) In
der That, es iſt ein mehr denn fragliches Glück, in dieſer Form
der Nachwelt erhalten zu werden, und wir begreifen völlig die-
jenigen Mitglieder der Voß’ſchen Familie, die ſich ein Begraben-
werden in „ihrer Mumiengruft“ eigens verbaten. Gerhard Bernhard
von Poellnitz iſt übrigens nicht, wie gelegentlich geſchieht, mit dem
Touriſten, Kammerherrn und Memoirenſchreiber Karl Ludwig von
Poellnitz zu verwechſeln, den Friedrich der Große durch die Worte:
„ein infamer Kerl, dem man nicht trauen muß; divertiſſant beim
Eſſen, hernach einſperren,“ zu charakteriſiren verſucht hat und
deſſen Memoiren gegenüber es doch wahr bleibt „daß ſie leichter
zu tadeln als zu entbehren ſind“. Gerhard Bernhard von Poellnitz
war der Großvater des Memoirenſchreibers und, wie es ſich für
einen General und Oberſtallmeiſter geziemt, mehr ausgezeichnet
mit dem Degen als mit der Feder.


Ein Zweifel, den nichts deſto weniger der Freiherr Truchſeß
von Waldburg gegen den Muth und die ſoldatiſche Ehre des
Oberſtallmeiſters erhob, führte zu einem der ſeltſamſten Duelle,
die je gefochten wurden. Die beiden Gegner trafen ſich (1664)
auf dem ſogenannten „Ochſengrieß,“ einer Wieſe in der Nähe von
Wien. Dieſe weite Reiſe war nöthig, weil die vielen Duelle, die
[174] damals am brandenburgiſchen Hofe vorkamen, zu den allerſchärfſten
Erlaſſen gegen den Zweikampf geführt hatten. Das Duell ſollte
zu Pferde ſtattfinden und die Kugeln in möglichſter Nähe a tempo
gewechſelt werden. Der Oberſtallmeiſter ritt an den Freiherrn
Truchſeß heran und fragte ihn, ob er geſagt habe: er habe ihn
(den Poellnitz) coujonirt und keine Satisfaction bekommen können.
Truchſeß antwortete: „Ja, das habe ich geſagt.“ Darauf wurden
die Piſtolen abgefeuert und in Gegenwart der Secundanten friſch
geladen. Poellnitz fragte voll Courtoiſie: „ob man die Pferde
wechſeln wolle,“ was Truchſeß ablehnte. Man ritt nun in leb-
haftem Schritt an einander heran und ſchoß auf nächſte Diſtance.
Die Kugel des Truchſeß ſtreifte den Oberſtallmeiſter über den
Bauch, die Kugel des letzteren aber traf den Truchſeß tödtlich. Er
ſank zur Seite und hielt ſich mühſam im Sattel. Poellnitz fragte
ihn jetzt: „Müſſet Ihr nunmehro nicht zugeſtehen, daß Ihr mir
Unrecht gethan und meine Ehre ohne Grund gekränket habt?“
worauf Truchſeß erwiederte: „Ich hab Euch Unrecht gethan und
bitte, daß Ihr mir vergeben wollt.“ Man nahm den Truchſeß
aus dem Sattel und legte ihn auf den Raſen. Der Oberſtall-
meiſter kniete an ſeiner Seite nieder und ſprach dem Sterbenden
aus Gottes Wort chriſtlichen Troſt zu, bis er verſchied.


Wir verlaſſen nun die Gruft und treten in die Kirche. Sie
zeigt ſich geräumig, lichtvoll und von einer Einfachheit, die nach
der Ueberladenheit der Façaden angenehm überraſcht. Es fehlt aller
vergoldete Zierrath, aber das Eichenſchnitzwerk an Kanzel und
Altar erſetzt ihn mehr als genügend. In der Mitte wölbt ſich
die Kuppel und nur der Bilderſchmuck, den man an dieſer Stelle
wenigſtens verſucht hat, hebt die gute Totalwirkung der inneren
Kirche zum Theil wieder auf. Ein Moſes mit den zwei Sinai-
tafeln auf ſeinen Knien und eine büßende Magdalena, die den
Fuß auf Drachen und Todtenkopf ſetzt, ſind Leiſtungen, die auf
eine wenig ruhmreiche Stufe vaterländiſcher Kunſt zurückweiſen.


Der Oſtflügel bildet einen „hohen Chor“. Altar und Kanzel
trennen ihn von dem Haupttheile der Kirche völlig ab und nur
zwei Treppen zur Rechten und Linken unterhalten die nöthige
[175] Verbindung. Es ſcheint, daß es Abſicht des Baumeiſters
war, hier Raum für ein Campo Santo, für eine marmorne
Gedächtnißhalle zu ſchaffen, eine Vermuthung, die dadurch be-
ſtätigt wird, daß ſich die bereits beſchriebene Gruft gerad’ unter
dieſem Theile der Kirche befindet. Den Intentionen des Bau-
meiſters iſt aber nur einmal entſprochen worden. Ein einziges,
allerdings ſehr reiches und prächtiges Grabmonument erhebt ſich
an dieſer Stelle: das von Glume herrührende Marmordenkmal
des Miniſters von Viereck. Zieht man den Geſchmack jener
Zeit in Erwägung, der in dem Hange nach geiſtreicher Symbolik
vielleicht etwas zu weit ging, ſo muß man zugeſtehen, daß
es eine ganz vortreffliche Arbeit iſt. Die Geſtalten, aus denen
ſich das Ganze zuſammenſetzt, ſind folgende: der Tod mit der
Sichel und ein Engel mit dem Palmzweig, wozu ſich dann, von
der andern Seite her, eine weibliche Figur mit einer weit geöff-
neten Leuchte geſellt, unzweifelhaft um das „Licht der Aufklärung“
anzudeuten, das wenigſtens zu der Zeit, als das Denkmal ange-
fertigt ward — etwa ein Jahrzehnt nach dem Tode v. Vierecks
— als unerläßliches Requiſit eines preußiſchen Cultusminiſters
angeſehen wurde. Die Büſte des Miniſters krönt das Ganze;
darunter ſein und ſeiner beiden Frauen Wappen, und unter dieſen
wiederum eine lateiniſche Inſchrift in Goldbuchſtaben, die, wie ſich
denken läßt, nur bei den Verdienſten des illuſtren Mannes ver-
weilt und keinen Nachklang enthält von jener Reprimande König
Friedrich Wilhelms I., die da lautete: „Geheimer Rath von Viereck
ſoll ſich meritiret machen, nicht zu viel à l’Hombre ſpielen, diligent
und prompt in ſeiner Arbeit ſein, nicht ſo langſam und faul,
wie er bisher geweſen
.“


Der Unterſchied zwiſchen preußiſchen Cabinetsordres und
Grabſchriften war immer groß.


Noch eine Stelle bleibt, an die wir heran zu treteu haben.
Unter der Kuppel, inmitten der Kirche, bemerken wir eine Ver-
tiefung, als ſeien hier die Ziegel, womit der Fußboden gepflaſtert
iſt, zu einem beſtimmten Zweck herausgenommen und ſpäter wieder
eingemauert worden. Es wirkt, als habe die Abſicht beſtanden,
einen Grabſtein in dieſe Vertiefung einzulegen. Und in der That,
[176] wir ſtehen hier an einer Gruft. An eben dieſer Stelle wurde
die ſchöne Julie von Voß, bekannt unter dem Namen der
Gräfin Ingenheim, beigeſetzt.


Eine Darſtellung ihres Lebens oder doch wenigſtens ihrer
Beziehungen zu König Friedrich Wilhelm II. ermöglicht ſich ſeit
1876, ſeit welchem Jahre die Tagebuchblätter vorliegen, die
durch die Gräfin von Voß, Oberhofmeiſterin am preußiſchen Hof
und Tante Juliens, während eines Zeitraums von beinah ſiebzig
Jahren, von 1745 bis 1814 niedergeſchrieben wurden.


Julie von Voß.


Julie v. Voß, Tochter des Geheimen Juſtizraths und ehe-
maligen Geſandten am K. däniſchen Hofe, Friedrich Chriſtoph
Hieronymus v. Voß, Herrn auf Buch, Carow ꝛc., wurde den
24. Juli 1766 zu Buch geboren. *)


Ueber ihre Jugend und Erziehung verlautet nichts und wir
hören erſt von ihr, als ſie 1783 auf den Wunſch der alten
Königin Eliſabeth Chriſtine, Gemahlin Friedrichs des Großen, an
den Schönhauſer Hof eben dieſer alten Königin kam.


Julie v. Voß war eine Schönheit im Genre Tizians, ſchlank
und voll zugleich, von ſchönen Formen und feinen Zügen, blendend,
aber von einer marmorähnlichen Bläſſe, die noch durch ein über-
aus reiches röthlich blondes Haar gehoben wurde. Bei Hofe hatte
ſie den Beinamen Ceres, ſehr wahrſcheinlich um dieſes üppigen
goldnen Haares willen, in deſſen Schmuck auch die Bilder **)
ſie darſtellen, die noch von ihr erhalten ſind.


[177]

Es paßte zu dieſer ihrer Erſcheinung, daß ſie eine Vorliebe
für alles Engliſche und eine Abneigung gegen alles Franzöſiſche
hatte, was ihr denn auch ſeitens der franzöſiſchen Memoiren-
Schriftſteller jener Epoche, Mirabeau an der Spitze, nachgetragen
wurde. Der ihr oft gemachte Vorwurf der „Anglomanie“ traf
ſie jedoch durchaus nicht; ſie vermied es nur nach Möglichkeit ſich
der damals allgemein üblichen franzöſiſchen Sprache zu bedienen.


Der Prinz von Preußen, ſpäter König Friedrich Wilhelm II.,
zeigte ſich allem Anſcheine nach gleich vom erſten Augenblick an
enchantirt, denn ſchon wenige Monate nach dem Erſcheinen Juliens
am Hofe begegnen wir im Tagebuch ihrer Tante den folgenden Auf-
zeichnungen.


1784 und 85.

„Julie gefällt dem Prinzen mehr als mir lieb iſt. Er ſpricht
viel von ihr. Ich fürchte, ſie iſt nicht unempfindlich für ſeine
Bewundrung, und ſie wird ſich durch ein ſolches Gefühl nur
ſelbſt unglücklich machen.“ Einige Wochen ſpäter: „Die Prin-
zeſſin von Preußen iſt eiferſüchtig auf Julie.“ Endlich im
December 84. „Ich hatte eine lange Unterredung mit dem
Prinzen und hielt ihm ſein Unrecht vor, Julie mit ſeiner Leiden-
ſchaft zu verfolgen; ich ſagte ihm, daß er ſie dadurch nur un-
glücklich machen werde, ja, ich ſagte ihm meine ganze Meinung
und die ganze Wahrheit mit allem Ernſt. Er verſprach mir
ſein Benehmen zu ändern und Alles zu thun, was ich wollte.
Er hatte ſpäter noch eine Explikation mit Juli ſelbſt und ich
weiß, daß ſie ihm Vorwürfe gemacht hat und mit Recht, daß
er ihrem Ruf auf eine unverzeihliche Weiſe ſchade. Auch kam
er ſehr traurig und niedergeſchlagen von ihr zurück. Ich ſagte
ihm noch einmal ernſtlich, er müſſe dieſer Sache ein Ende
machen und er gelobte es mir.“



Fontane, Wanderungen. IV. 12
[178]

Eine gewiſſe Zeit ſcheint der Prinz ſein Verſprechen auch wirklich
gehalten zu haben, aber nicht auf lange. Schon im Frühjahr 85
iſt die Oberhofmeiſterin aufs Neue beunruhigt und ſchreibt:


„Der Prinz ſpricht wieder mehr mit Julie; das muß auf-
hören. Im Grunde fürcht’ ich vor Allem, daß ſie ſelbſt ſich
innerlich nicht recht von ihm frei machen kann.“ Und einige
Wochen ſpäter: „Der Prinz kommt ewig zur alten Königin
nach Schönhauſen und ich weiß, das Alles geſchieht doch nur
wegen Julie. Ich beſorge, er giebt ſie noch nicht ganz auf und
ſinnt nur darüber nach, ob es gar keine Hoffnung mehr für ihn
gebe. Wenn nur nicht, trotz all ſeiner Verſprechungen, dieſe
Sache ſich doch noch zum Unheil wendet! Man müßte Julie
durchaus vom Hofe entfernen.“


1786.

Das Jahr 86 war das entſcheidende. Hier ſind auch die
Tagebuch-Aufzeichnungen am zahlreichſten. Es werden wieder-
holentlich von Seiten des Prinzen Rückzugsverſprechungen gemacht,
aber nur um ſie gleich darauf durch die That zu widerlegen.


März 86. Der Prinz thut mir leid; aber trotz ſeiner
Leidenſchaft für Julie macht er ſich doch von der Liaiſon mit
ſeiner ſogenannten Freundin (der Rietz, ſpäteren Lichtenau) nicht
los. — Der Prinz iſt unglaublich zerſtreut; ſeine Neigung nimmt
ſeine Gedanken ganz gefangen. — Der Prinz kam zum Diner
nach Schönhauſen und ſchien nichts zu ſehen als Julie. — Ich
habe das Gefühl, als finge die Sache da wieder an, wo ſie
mit Mühe zum Abſchluß gekommen war.


April 86. Der Prinz kam zu Tiſche, nachher machte er
es möglich mit ihr zu ſprechen. Nach einigen Worten verlor
ſie die Faſſung und brach in Thränen aus. Ich verſtehe das
Alles nicht mehr. — Der Prinz weiß ſich nicht recht zu be-
herrſchen, er iſt eiferſüchtig und aufgeregt, ſobald Julie einmal
nicht da iſt oder ſich ihr Jemand nähert. — Ich habe den
Prinzen an das erinnert, was er ſeit einiger Zeit zu vergeſſen
ſcheint, und er verſprach es von Neuem. Er iſt doch ſehr gut!
Gott gebe, daß es ſo bleibt, wenn er erſt König iſt.


Mai 86. Der arme Prinz, er iſt ſchrecklich unglücklich. Heute
[179] am er wieder und als er Julie ſah, ſchien er ſo glücklich! — Der
Prinz kommt ewig zur Königin; was ſoll man thun? Es wird
immer ſchlimmer mit ihm, und Julie dauert mich furchtbar. —
Mir ſcheint ſeine Leidenſchaft täglich zu ſteigen. Er kommt
jetzt oft für den ganzen Tag nach Schönhauſen und hat nur
das Einzige im Kopf. —


Die Oberhofmeiſterin, davon ausgehend, daß eine Trennung
vielleicht helfen werde, ſetzte nunmehr einen dreimonatlichen Urlaub
für ihre Nichte durch und dieſe verließ Berlin. Aber es führte
zu nichts. Der Prinz und Julie correſpondirten und als der Ur-
laub abgelaufen und Julie wieder zurück war, ſchrieb die Ober-
hofmeiſterin in ihr Tagebuch: „Es iſt alles beim Alten.“


Dieſe Notiz iſt vom 15. Auguſt 1786. Zwei Tage ſpäter
ſtarb Friedrich und der Prinz von Preußen war nun König. Hul-
digungen, Feſte, Geſchäfte dringen auf ihn ein, aber ſeine Ge-
fühle für Julie v. Voß bleiben dieſelben. Schon eine Woche nach
dem Regierungsantritt verkehrt er wieder in Schönhauſen und
ſetzt ſeine Bewerbungen fort.


Auguſt 86. Der König kommt ſo oft er kann zur Königin-
Wittwe nach Schönhauſen und geht dann mit Julie im Garten
ſpazieren. Sie iſt ſtill und zurückhaltend, was mich freut und in etwas
beruhigt. — Die Prinzeſſinnen thun dem König einen ſehr un-
erlaubten Gefallen, indem ſie ihn immer mit Julie zuſammen-
bringen. Sie ſchicken die Königin voraus und beſchäftigen ſie,
nur damit er mit meiner Nichte gehen und mit ihr ſprechen
kann. Das iſt ein ſchlechtes Spiel. — Der König hat der
Prinzeſſin Friederike eine Zulage und ihr außerdem noch die
kleine Viereck zur Hofdame gegeben, einzig und allein um Julien
eine Freude zu machen, deren Freundin ſie iſt.


October 86. Der König kam und wollte mit mir ſprechen,
aber er iſt ſo ganz voll von dem einzigen Gedanken, daß er
nichts weiter hört und ſieht. Ich geſtehe, daß ich jetzt alle
Geduld mit ihm verliere und dieſen Zuſtand unerlaubt und
unverzeihlich finde. — Die Königin will gern in die Stadt
zurück; der König will aber, ſie ſoll noch in Schönhauſen bleiben,
blos wegen ſeiner geliebten Spaziergänge mit Julie. Ich bin

12*
[180]ganz rathlos und unglücklich über dies immer erneute Anknüpfen
einer ganz unmöglichen Sache!


November 86. Alles bemächtigt ſich dieſer unglücklichen
Angelegenheit; ſo möchte man, um nur eins zu nennen, Julie
zum Schein verheirathen. Es iſt ſchrecklich, wie Alles bemüht
iſt, ſie zu ihrem Verderben zu drängen. Sie thut mir furcht-
bar leid. — Ich ſeh’ es jetzt deutlich, ſie liebt den König trotz
all ihres Läugnens; ſie kann nicht mehr von ihm laſſen und iſt,
was auch geſchehen mag, nicht mehr von ihm loszureißen. Es
grämt mich ſchrecklich. — Heute kam er en surprise zum Eſſen.
Er verfolgt ſeinen Zweck ohne Raſt und Ruh. — Ich fürchte
den Einfluß dieſer ewigen Geſpräche des Königs mit ihr, er will
und will ſie beſtricken und immer ſetzt er ſich an ihren Tiſch.
Das mißfällt mir ganz unbeſchreiblich von ihm. — Meine arme
Nichte hat mir ihr Herz ausgeſchüttet; ach, ich fürchte, es iſt
eine unaufhaltſame Sache. — Der König geht heute nach Pots-
dam. Er kam vorher zu uns und war unruhig, weil er Julie
nicht zu ſehen bekam. Er liebt ſie toller und leidenſchaftlicher
als je.


Dezember 86. Nach Tiſch ſprach der König lange mit
meiner Nichte; ach, ich fürchte, es nimmt ein trauriges Ende
für ſie und für die Ehre der Familie. — Ich hab’ es immer
und immer geſagt: man hätte ſie nicht bei Hofe laſſen ſollen. —
Der König compromittirt ſich aufs höchſte. Um ſeiner ſelbſt
willen möcht’ ich, er könnt’ ein Mann ſein und ſich beſinnen.
— Wie immer ſetzt der König ſich beim Thee neben Julie;
könnte dies ewige Zuſammenſein doch abgewendet werden. —
Mit dem König in der Kirche. Die Predigt von Spalding war
ſo ſchön, ſo ganz wie für meine Nichte gemacht. Aber es ſcheint,
ſie will nichts mehr hören, was ſie zur Pflicht zurückruft. Ich
habe keinen Einfluß mehr auf ſie. Die Kannenberg
*)läßt ſie
gewähren, die ihr am Nächſten ſteht, und ich habe leider nicht
das Recht und die Macht einzugreifen. — Julie ſcheint ſehr
[181] traurig; ihr Bruder iſt angekommen und hat wohl noch einen
letzten Verſuch gemacht, ihr in’s Gewiſſen zu reden. — Der
König ſcheint nur glücklich zu ſein, wenn er ſie ſieht. Wo ſie
iſt, ſieht er Niemand als ſie, ſpricht nur mit ihr und hat nichts
Anderes mehr im Kopf als ſeine Leidenſchaft. Ich ſehe die
Sache dem ſchlimmſten Ende mit Gewalt zugehen, muß dabei
ſtehen und kann ſie nicht aufhalten. — Auch die Prinzeſſin
Friederike ſcheint jetzt das nahende Unglück zu ahnen und iſt
ſehr traurig. Sie iſt jetzt 20 Jahr alt und ſteht dem Vater am
nächſten. Sie fühlt ganz wie ſeine und unſre Ehre bedroht iſt. —
Der König klagte mir, meine Nichte behandle ihn ſchlecht; er
ſei faſt mit ihr brouillirt; aber dennoch ſpricht er leider immer-
fort mit ihr. — Er ſaß allein mit ihr im Kabinet der alten
Königin; ſie ſcheint in Wahrheit nicht mehr ſehr grauſam zu
ſein; das empört mich und Gott allein weiß, wie unglücklich und
troſtlos ich über dieſe Sache bin. — Sack predigte heute ſchön,
aber ſchwermüthig. Die Sache mit Julie, und die Wendung,
die ſie nimmt, zehrt an ihm. — Heut war Hofconcert. Der
König verließ das Concert, um zur kranken Prinzeſſin zu gehen,
weil meine Nichte dort war. Dieſe Leidenſchaft läßt ihn alles
Andere vergeſſen und jede Rückſicht verlieren. — Das Benehmen
des Königs iſt unverzeihlich. Immer verfolgt er ſie mit den
Augen und ſpricht nur mit ihr. Es wäre beſſer, ſie verließe
auch jetzt noch den Hof. — Gott weiß, bis zu welchem Grade
es mich bekümmert und grämt, den König auf dem directen Wege
zu einem ſo großen Unrecht zu ſehn, zu einem Unrecht, das
unſere Familie überdem ſo entehrt. — Heute kam nun endlich,
was ich lange gefürchtet hatte: meine Nichte warf ſich in meine
Arme um mir zu ſagen, daß ihr Schickſal entſchieden ſei; ſie
wolle dem König angehören, aus Pflicht für ihn und aus Liebe
zu ihm. Ich geſteh’, ich finde ſie ſo furchtbar zu beklagen, daß
ich kein Wort mehr habe, ſie zu verdammen; ſie wird bald
genug namenlos unglücklich ſein, denn ihr Gewiſſen wird ſie
nie mehr Ruh und Frieden finden laſſen.“


So zogen ſich die Dinge noch eine Weile hin. In den Tage-
buchblättern immer dieſelben Klagen. Eine Zeitlang ſpielte der
König den Gleichgültigen, oder war es wirklich, und ein Eiferſuchts-
[182] gefühl, das dadurch in des Fräuleins Seele geweckt wurde, be-
ſchleunigte den Liebesroman. Sie zeigte ſich von dieſer Zeit an
weniger ablehnend und drang nur noch auf Erfüllung einzelner Be-
dingungen. Dieſe Bedingungen waren: die regierende Königin
giebt ihre ſchriftliche Einwilligung zu der Verbindung; zweitens
Antrauung zur linken Hand, und drittens die Rietz ſammt ihren
Kindern verläßt Berlin für immer. In die beiden erſten Punkte
willigte der König ſofort, aber den dritten Punkt wollt’ er nicht
zugeſtehn. Die Rietz blieb. Am 25. oder 26. Mai 1787 erfolgte
die Trauung zur linken Hand und wurde wahrſcheinlich durch
Johann Friedrich Zöllner, damals Diakonus an St. Marien, in
der Charlottenburger Schloßkapelle vollzogen. *)


1787.

Juni 87. Meine Nichte ſagte mir heute unter Thränen,
ſeit 8 Tagen ſei ſie mit dem Könige heimlich getraut, bat
mich aber es zu verſchweigen. Es betrübt mich tief und ich
kann mich mit dem beſten Willen eines Gefühls von Abſcheu
und Widerwillen gegen eine Sache nicht erwehren, die ſo un-
erlaubt iſt, man mag an Scheingründen dafür angeben, was
man will. Ihr Gewiſſen wird es ihr ſchon genugſam ſagen und
wird nicht wieder ruhig werden. — Sie hat lange widerſtanden,
[183] aber ſie liebt den König leidenſchaftlich, und nachdem ſie ihm
ihr Herz gegeben hatte, ließ ſie ſich vollends von ihm überreden.
Trotz ihres ſchweren Fehltritts bleibt ſie dennoch ein edler, der
Achtung nicht unwerther Charakter, und ich weiß wohl, ſie iſt
zu rechtſchaffen, als daß ſie nach einem ſolchen Fall jemals
wieder glücklich ſein könnte.


Auguſt 87. Der König iſt nach Schleſien abgereiſt und
Julie ſagt mir, ſie wolle morgen nach Berlin, um zu communi-
ciren, dann zu ihren Verwandten auf das Land gehen, von
dort aus aber um ihre Entlaſſung bitten und nicht wieder kommen.
Sie könne es nicht länger aushalten, auf dieſe Art weiter zu
leben. Eben daſſelbe hat ſie dem Könige geſchrieben. — Julie
reiſte heut ab, was mich ſehr ergriff. — Sie ſchreibt, daß ſie ſich
eine Stiftsſtelle kaufen wolle, und bittet um 14 Tage Nach-
urlaub. Die alte Königin weiß nicht, was ſie davon denken
ſoll. Trotz allem Vorgefallenen ahnt ſie nichts. — Ich ſah heute
Julie in Berlin; ſie hatte Antwort vom König, der ſehr zu-
frieden damit iſt, daß ſie den Hof verlaſſen will. Aber das
Ganze bleibt doch ſchrecklich traurig und das arme Kind jammert
mich ſehr. — Ich fürchte, die Enke (Rietz-Lichtenau) wird Julie
noch viel Kummer bereiten. Julie iſt heute mit ihren Ver-
wandten aufs Land abgereiſt. Am Hof ahnt man nicht, daß
ſie nicht wieder kommt.


September 87. Ein heut eingetroffner Brief meiner armen
Nichte an die Königin-Wittwe bittet um ihren Abſchied und ſagt:
„ſie habe eine Stelle im Stift Wolmirſtädt gekauft.“ Die Königin
gewährte die Entlaſſung ſogleich und nahm es ſehr gut auf.
Julie hat auch an die Kannenberg geſchrieben. Gräfin Kannen-
berg las mir den Brief meiner Nichte vor, in welchem ſie zu ver-
ſtehen giebt, warum ſie geht. Die Kannenberg iſt ihre Tante
und jammert nun ſehr. Aber ich wiederhole nur das Eine:
man hätte ſie retten können, wenn man es zur rechten Zeit
gewollt hätte. All mein Reden damals war aber umſonſt. —
Meine Nichte ſchreibt mir aus Brandenburg: ſie gehe den 9.
nach Potsdam und bäte Gott ihr beizuſtehn in dem neuen Leben,
das ſie erwarte. Gott wolle ſich ihrer annehmen; es iſt ein
[184] ſchwerer Schritt, den ſie jetzt thun muß, die Sache vor der Welt
zu braviren.


November 87. Julie hat den Namen einer Gräfin In-
genheim
bekommen.


Sie war nun Gräfin Ingenheim. Aber es war dadurch
wenig für ſie gewonnen, trotzdem man ſie, dem Könige zu Liebe,
mit Auszeichnungen überſchüttete. Bitterkeiten gingen nebenher.
„Die Arme ſchreibt mir: ſie fühle ſich ſehr unglücklich. Die Enke
thut ihr tauſend Herzleid an und hat denſelben Einfluß wie früher
auf den König.“


December 87. Julie iſt unwohl und kann das Bett nicht
verlaſſen, die Prinzeſſin Friederike und die Prinzeſſin von Braun-
ſchweig haben mit dem König in ihrem Zimmer an ihrem Bett
gegeſſen. Das iſt doch ſtark! —


1788.

Januar 88. Ball beim König, wo der Kronprinz Julie
zum erſten Mal als Gräfin Ingenheim ſah, was für Beide ein
ſehr unangenehmer Augenblick war. Die Unglückliche, welche
peinliche Stellung für ſie. — Alle Höfe (es gaben deren, außer
dem eigentlichen, wenigſtens noch vier: den der alten Königin,
der regierenden Königin, des Prinzen Heinrich, des Prinzen
Ferdinand) ſehen ſie. Sie iſt überall. Ich begreife das nicht.


Februar 88. Die alte Königin hatte großes Diner und
frug den König, ob ſie die Ingenheim einladen ſolle? Natürlich
ſagte er ja, und ſo kam ſie zum Diner. Ich find es höchſt un-
recht von der Königin, ſie einzuladen, blos um dem Könige
damit zu ſchmeicheln. Abends aber ſpielte ſie doch nicht Lotto
mit den Herrſchaften, ſondern mit dem Hofſtaat im vorderen
Zimmer. Bei Tafel wurde ſie dem König gegenübergeſetzt. —
Die alte Königin lud wieder die Ingenheim ein. Ich finde,
ſie benimmt ſich in dieſer Sache ſo unwürdig und ſchwach wie
nur möglich.


In den letzten Tagen des Jahres (am 21. December 88) heißt
es: „Die Ingenheim bat mich ſehr, ihr in der nun nahen Stunde
beizuſtehn. Auch der König bat mich den folgenden Tag darum,
und ich brachte es nicht übers Herz nein zu ſagen.“


[185]
1789.

Am 2. Januar 1789 genas die Ingenheim eines Sohnes.
Der König war ſehr erfreut. Unterm 4. Januar heißt es im Tage-
buch: „Das Kind wurde heute getauft. Der König hielt es ſelbſt
über die Taufe und es empfing die Namen Guſtav Adolf
Wilhelm
. Juliens Bruder (der ſpätere Miniſter), der Miniſter
v. Biſchofswerder und ich waren die Pathen. Der König ſelbſt
war faſt den ganzen Tag bei der Kranken. Es iſt wahr, er iſt
wirklich der beſte Prinz, den man auf der ganzen Welt finden
kann. Leider nur, daß er ſo willensſchwach, ſo ohne Energie und
zuweilen ſo heftig iſt.“


Im Anfang ging alles gut mit der jungen Wöchnerin; aber ſie
ſchonte ſich nicht genug, verließ das Bett zu früh und erkältete ſich
aufs heftigſte. Dabei war der Einfluß der Rietz ihre beſtändige
Sorge, trotzdem es nicht an Aufmerkſamkeiten und Geſchenken von
Seiten des Königs fehlte. So ſandte er ihr ein kleines Etui mit
50,000 Thalern und ſein mit den ſchönſten Brillanten beſetztes
Portrait. Zum 5. Februar war eine große Cour angeſagt und
Julie wollte dabei nicht fehlen. „Ich fürchte, daß ſie ſich ſchadet“
ſchreibt die Oberhofmeiſterin am ſelben Tage. Am 24. Februar
heißt es dann: „Julie hat Fieber und Huſten“ und ſchon am
5. März: „Ich kann nicht ſagen, wie weh es mir thut. Man
fürchtet die galopirende Schwindſucht. Der König iſt außer ſich.“
Am 25. ſtarb ſie. „Welch ein Tag des Unglücks! Um 8 Uhr
Abend verſchied die arme Julie. Kein Menſch ahnte die nahe
Gefahr. Ich ging erſt am Abend zu ihr, aber die Prinzeſſin
Friederike, die bei ihr war, redete mir ab, „ſie ſei zu angegriffen.“
Und ſo hab ich ſie nicht mehr geſehn. Ich beweine ſie recht von
Herzen und alle beweinen ſie mit mir. Es iſt furchtbar raſch ge-
gangen. Sie ſtarb im Schloß, in demſelben Zimmer, in dem ihr
Kind geboren wurde.“


Der König war in Verzweiflung und konnte ſich nicht tröſten
und beruhigen. Auch gebrach es nicht an allgemeiner Theilnahme,
ja das Volk wollte ſichs nicht ausreden laſſen, daß ſie durch ein
Glas Limonade vergiftet worden ſei, weshalb der König, als er
von dieſem Verdachte hörte, die Obduction befahl. Dieſe bewies
[186] die Grundloſigkeit des Gerüchtes; ihre Lunge war krank und daran
war ſie geſtorben.


Am 1. April erfolgte die Ueberführung der Leiche nach Buch.
Ihr letzter Wunſch war geweſen „nicht in der Mumien-Gruft
der Familie beigeſetzt zu werden“ und ſo bereitete man ihr das
Grab unter der Kirchenkuppel, in der Nähe des Altars.


Ueberall in Buch begegnet man den Spuren der ſchönen
Gräfin, aber nirgends ihrem Namen. Wie in Familien,
wo das Lieblingskind ſtarb, Eltern und Geſchwiſter übereinkommen,
den Namen deſſelben nie mehr auszuſprechen, ſo auch hier. Eine
Gruft iſt da, aber es fehlt der Stein; aus reichem goldenen
Rahmen heraus blickt ein Frauenbild, aber die Kaſtellanin nennt
den Namen nicht und nur das Wappen zu Füßen des Bildes
giebt einen wenigſtens andeutungsweiſen Aufſchluß.


Und nun treten wir von dem Bilde hinweg und noch ein-
mal in den Park hinaus.


Eine ſeiner dunkeln Alleen führt an einen abgeſchiedenen
Platz, auf dem Edeltannen ein Oval bilden. Inmitten deſſelben
erhebt ſich ein Monument mit einem Reliefbild in Front: der
Engel des Todes hüllt eine Sterbende in ſein Gewand und ihr
Antlitz lächelt, während ein Kranz von Roſen ihrer Hand entſinkt.


„Soror optima, amica patriae,“ ſo lautet die Inſchrift.
Aber der Name der geliebten Schweſter fehlt.


[[187]]

Falkenberg.


In der Kirche zu Falkenberg, anderthalb Meile von Berlin,
ſtehen die Särge des Majors George v. Humboldt und der Frau
Majorin v. Humboldt, verwittweten v. Hollwede, geb. v. Colomb,
— der Eltern des Bruderpaares Wilhelm und Alexander v.
Humboldt
.


Frau v. Humboldt, geb. v. Colomb, ließ im Jahre 1795, wo
ſie Falkenberg beſaß, an Stelle des hölzernen Kirchthurms daſelbſt
einen maſſiven Thurm aufführen und ſetzte feſt, daß der untere
Theil deſſelben als Leichenhalle hergerichtet werde, worin die ſterb-
lichen Ueberreſte der Mitglieder ihrer Familie beigeſetzt werden
könnten. Dies geſchah, und ſtehen nunmehr in der Thurmhalle
zu Falkenberg folgende vier Todte:


  • 1) Frau Majorin v. Humboldt, verwittwete v. Hollwede,
    geb. v. Colomb.
  • 2) Hauptmann v. Hollwede, Gemahl erſter Ehe der ge-
    bornen v. Colomb.
  • 3) Eine Tochter aus dieſer erſten Ehe. (Kinderſarg.)
  • 4) Major v. Humboldt, Gemahl in zweiter Ehe.

Die drei Hauptſärge (1. 2. und 4.) haben Inſchriften. Dieſe
lauten:


Zu 1.


„Marie Eliſabeth Colomb; zuerſt vermählte v. Hollwede,
nachher vermählte v. Humboldt. Geboren den 8. Dezember 1741,
geſtorben den 4. November 1796. „Es iſt in einem höhren Leben,
für große Tugend großer Lohn.“


[188]

Zu 2.


„Allhier ruhet in Gott der weiland Hochwohlgeborne Herr,
Herr Friedrich Ernſt von Hollwede, Baron, Erb- und Gerichts-
herr auf Ringenwalde, Crummecavel und Schloß Tegel, Canonicus
des St. Sebaſtian Stifts zu Magdeburg, geboren den 12. März
1723. Trat in Kriegsdienſte 1743 unter das Hochlöbliche König-
liche Prinz Ferdinandſche Infanterie Regiment, wo er bis zum
Capitain avanciret, nahm 1756 ſeine Demiſſion und verheirathete
ſich anno 1760 mit der jetzt hinterlaſſenen Frau Wittwe Frau
Marie Eliſabeth, geb. Colomb, aus welcher Ehe zwei Kinder, ein
Sohn und eine Tochter gezeuget. Starb den 26. Januar 1765, ſeines
Alters 41 Jahr 10 Monat 14 Tage.“


Zu 4.


„George v. Humboldt, Königlich Preußiſcher Kammerherr
und Major von der Cavallerie, Erb- und Gerichtsherr auf Ringen-
walde, Crummecavel und Schloß Tegel. Er ward im Jahre 1720
den 27. September zu Zames in Pommern geboren, und nach-
dem er verſchiedenen Feldzügen mit aller Diſtinction beigewohnt,
wurd’ er wegen ſeiner kränklichen Umſtände genöthigt, ſeinen Ab-
ſchied zu nehmen. Er vermählte ſich hernach mit Marie Eliſabeth
geb. Colomb, verwittwete Freifrau v. Hollwede, im Jahre 1766
den 27. October und hinterläßt aus dieſer Ehe zwei Söhne,
Wilhelm und Alexander. Er ſtarb, nachdem er ſein Leben
durch die rühmlichſten Handlungen bezeichnet, von allen Recht-
chaffenen bedauert, im Jahre 1779 den 6. Januar zu Berlin,
wo er Allen unvergeßlich ſein wird. Horaz, Ode 24.“


[[189]]

Blumberg.


Die alten Namen, die alten Herrn,

Sind all’ hinüber, ſind alle fern.

Die Loeben, die Burgsdorf wurden ſtumm

Aber Frühling iſt wieder und jubelt ringsum.

Zu Blumberg iſt mein Sitz, wo nach der
alten Weiſe,

Mit dem, was Gott beſcheert, ich mich geſegnet
preiſe.

Canitz an Euſebius von Brand (1692.)

Ein Frühlingstag führt uns nach Blumberg hinaus, einem
Arnimſchen Gut in der Nähe von Berlin, und nach raſcher Fahrt,
an lachenden Dörfern vorbei, biegen wir aus der ſtaubigen Pappel-
Allee in die windgeſchützte, ſtille Dorfgaſſe ein. Es iſt Mittags-
ſtunde, der Sonnenſchein liegt blendend auf den neugedeckten,
rothen Dächern, die Bäume ſtehen im erſten Grün und neben dem
hohen Schornſtein des Herrenhauſes, aus deſſen Seitenöffnungen
der weiße Rauch phantaſtiſch emporwirbelt, erhebt ſich eben ein
Storchenpaar in ſeinem Neſt und unterbricht die Mittagsſtille
durch ſein eifriges Geklapper. Es klingt als würd’ eine Senſe
gewetzt, oder als ging’ eine Mühle unten im Garten.


Blumberg iſt ein freundliches Dorf, faſt ſo freundlich wie
ſein Name und gerade groß genug, um uns die Verſicherung alter
Urkunden glauben zu machen „daß Blumberg vordem ein Städtchen,
ein oppidum geweſen ſei.“ Ein großes Dorf war es gewiß und
vor allem auch wohl reich genug, um das in ſolchen Dingen immer
[190] ſcharf blickende Auge der Kirche auf ſich zu ziehen. So geſchah
denn, was ſich erwarten ließ und nachdem ſich die Nachfolger Albrecht
des Bären zu Herren im Teltow und Barnim gemacht hatten,
wurde Blumberg Kirchengut und zwar Beſitzthum der reichen
Biſchöfe zu Brandenburg.


Blumberg blieb biſchöflich bis zur Reformationszeit, bis zu
jenen Tagen, wo Joachim II. den Kampf in ſeinem Herzen aus-
gekämpft und ſein chriſtlich Gewiſſen über das Verſprechen geſetzt
hatte, das er ſeinem Vater auf dem Todbette hatte leiſten müſſen.
Manches wurde nun anders im Lande; die Einziehung der Kirche
ngüter drohte von Tag zu Tag und die klugen Herren zu Branden-
burg, die nicht Luſt hatten, ſich überraſchen zu laſſen, veräußerten
rechtzeitig allerlei Beſitzthum, das über kurz oder lang doch [zer-
rinnen]
mußte. Viele Güter wurden verkauft, darunter auch
Blumberg.


Der Käufer war Hans von Krummenſee. Die Krum-
menſees waren damals eine der reichſten Familien und beſaßen
unter anderm die Stadt Alt-Landsberg, die ziemlich in der Mitte
des Geſammt-Areales lag, das ſie durch Kauf und Erbſchaft im
Laufe von Jahrhunderten an ſich gebracht hatten. Jetzt, durch
Erwerb von Blumberg, dehnten ſie ihren Beſitz bis an die
Bernauer Feldmark und bis an die Grenze jenes andern großen
Güterkomplexes aus, der — ebenfalls nordöſtlich von Berlin —
ſich in den Händen der Familie von Roebel*) befand. Aber mit
dieſer Erwerbung von Blumberg war plötzlich dem wachſenden
Reichthume der Krummenſee ein Ziel geſteckt, raſch ging es rück-
wärts und der 30jährige Krieg that das Seine. Gut auf Gut
ging verloren, 1701 das letzte — Schöneiche. Ihrem reichen
Beſitz iſt ſeitdem das Geſchlecht ſelbſt gefolgt. Der letzte war
Carl Aegidius Ludwig von Krummenſee, geſtorben 1827 als
Canonikus zu St. Nicolai in Magdeburg.


Blumberg beſaßen die Krummenſee nur etwa 80 Jahre.
Eine Sandſteinplatte vor dem Altar der alten Blumberger Kirche
[191] bewahrt ihren Namen. Die Inſchrift des Steines lautet in der
ſchlichten, herzhaften Sprache jener Zeit: „Im 58ten Jahre und
3 Wochen iſt meine liebe Hausfrau Katarina Moerner allhier
begraben und iſt mein, Hans Krummenſee’s allerliebſt
Gemahl geweſt
. 1596.“


1602 verkaufte Hans von Krummen ſee ſein Gut Blumberg
ſo wie die Güter Dahlwitz, Eiche und Helmsdorf an den kurfürſt-
lichen Kanzler Hans von Loeben, bei deſſen Nachkommen Blum-
berg ein volles Jahrhundert blieb. Die Kirche, darin wir eben
eingetreten, und an deren Wänden wir eine beträchtliche An-
zahl alter Bildwerke erblicken, giebt uns die beſte Gelegenheit die
zum Theil hiſtoriſchen Geſtalten jenes Jahrhunderts in raſcher
Reihenfolge vorüberziehen zu laſſen.


Unſer erſter Blick aber gehört der Kirche ſelbſt.


Es iſt ein alter Bau, an dem auch das Auge des Laien
zwei verſchiedene Zeitläufte leicht unterſcheiden kann: einen
älteren Theil mit Pfeilern und Kreuzgewölben aus der Branden-
burger Biſchofszeit und einen Anbau mit Altar und Kanzel aus
der Zeit etwa des erſten Königs. Die ſich vorfindenden Bilder
und Denkmäler ſind im Einklange damit gruppirt: alles was älter
iſt als der Anbau, befindet ſich auch in dem alten Theile der
Kirche, was ſpäter hinzugekommen ſchmückt die Wände des Anbaus.


Der Anbau der Kirche. Philipp Ludwig von Canſtein
und ſeine „hochbetrübteſte Wittwe.“


Dieſe Bildwerke des Anbaues, theils Grabdenkmäler, theils
Oelbilder und Reliefs, ſind nicht eigentlich das, was uns nach
Blumberg geführt hat; dennoch verweilen wir einen Augenblick bei
denſelben, wenigſtens bei den hervorragendſten.


Da haben wir zunächſt das Denkmal des Oberſten Philipp
Ludwig von Canſtein, eines jüngeren Bruders Carl Hilde-
brandt’s von Canſtein, jenes frommen Mitarbeiters am Werke
Francke’s und Spener’s, deſſen Wirken und Name vor allem in
der Canſtein’ſchen Bibelanſtalt zu Halle fortlebt. Der Oberſt
von Canſtein ererbte Blumberg bei jungen Jahren, aber der Be-
[192] ſitz des ſchönen Gutes war ihm nur kurze Zeit gegönnt. Der
ſpaniſche Erbfolgekrieg, der in Italien und den Niederlanden auch
brandenburgiſcherſeits ſo ſchwere Opfer heiſchte, nahm ihn hinweg.
Das Denkmal aber, das ihm von Seiten ſeiner Wittwe noch im Jahre
ſeines Todes errichtet ward, iſt ganz im Geſchmack jener Zeit
ausgeführt und erweiſt ſich auf ſeinen Kunſtwerth geprüft als
eine mit Munificenz hergeſtellte Dutzendarbeit. Auf dem Stein-
ſarkophage ſteht wie immer die Büſte des Hingeſchiedenen und Kriegs-
trophäen und Wappenſchilde gruppiren ſich drum herum; ein
Genius preßt den Lorbeerkranz auf die Allongenperrücke, während die
vergoldete Front des Marmorſarges in Schnörkelſchrift die herkömm-
lich ſtiliſirte Inſchrift trägt. Dieſe Inſchrift wiederzugeben, iſt hier
nöthig, weil ſie eine irrthümliche Angabe über den Todestag des
tapferen Oberſten beſeitigt. Er fiel nämlich nicht bei Mal-
plaquet, wie immer gedruckt wird, ſondern ein Jahr früher bei
Oudenarde. Die Inſchrift lautet:


Dem Hochwohlgebornen Herrn, Herrn Philipp Ludwig Frei-
herrn von Canſtein, Herrn der Herrſchaft Canſtein, Schönberg,
Neukirch, Blumberg, Eiche und Helmsdorf, Seiner Königlichen
Majeſtät in Preußen Obriſten zu Roß der Gensdarmes, welcher
geboren A. D. 1669 den 11. April durch Geſchlecht und Tugend,
durch Gottesfurcht und Tapferkeit Ehr’ und Lob verdienet und
erworben, und im Treffen bei Oudenarde wider die Franzoſen
im Lauf des glücklich erfolgten Sieges durch einen tödtlichen
Schuß rühmlich und auf dem Bette der Ehren verſtorben im
Jahre des Heils 1708 den 11. Juli des Alters 39 Jahr und drei
Monat, — hat dieſes Denkmal zum Zeichen beſtändiger Liebe
und Treue ſetzen laſſen deſſen hochbetrübteſte Wittwe Ehren-
gard Maria Freifrau von Canſtein, geborne v. d. Schulen-
burg, 1708.


Die „hochbetrübteſte Wittwe“ indeß war ein Kind ihrer Zeit,
d. h. ſie verheirathete ſich wieder und zwar in kürzeſter Friſt. Sie
wurde dann abermals eine Wittwe, aber nur um ſich bald darauf
zum dritte Male zu vermählen. Das war damals Landesbrauch
in den Marken, und wir werden noch im Laufe dieſes Aufſatzes
die Bekanntſchaft eines hervorragenden Mannes jener Epoche
machen, der außer ſeinem Vater und Schwiegervater zwei Stief-
[193] väter und zwei Stiefſchwiegerväter hatte, alſo ſechs Väter im
Ganzen. Es war, als ob Alles was lebte, ſich einen Zuſtand der
Eheloſigkeit nicht wohl denken konnte. Man hielt das Trauerjahr
und war in aller Aufrichtigkeit ein tief betrübter Wittwer oder
eine „hochbetrübteſte Wittwe.“ Aber ſobald die Trauerkleider fielen,
gehörte man wieder dem Leben; das Blut, das voll zum Herzen
drang, forderte ſein Recht. Das ſinnliche Leben überwog noch das
geiſtige, und die Welt feinen Empfindens war noch wenig er-
ſchloſſen. Aber freilich auch die Irrwege nicht, zu denen die Fein-
heit der Empfindung ſo leicht verführt.


Wie von unſerem tapferen Obriſten ſelbſt, ſo findet ſich auch
von ſeiner betrübten Gattin ein Bildwerk im Anbau der Kirche
vor, aber kein Grabdenkmal, nichts von Senſenmann und Sarko-
phag, ſondern ihr Oelporträt in ganzer Figur, friſch, blühend,
voll. Es iſt ein durchaus intereſſantes Bild, einmal als künſtleriſche
Leiſtung überhaupt, ungleich mehr aber durch die ingeniöſe Art,
wie der Maler es verſtanden hat, die drei Ehemänner der noch
ſtattlichen Frau halb huldigend halb decorativ zu verwenden. Wie
Macbeth in der bekannten Hexenkeſſel-Scene die Könige Schottlands
an ſich vorüber ziehen ſieht und zwar ſo, daß die der Zeit nach
am weiteſten von ihm entfernten immer kleiner und blaſſer wer-
den, ſo hier die drei Ehemänner. Den noch lebenden hält ſie als
Medaillonporträt mit dem Ausdruck ruhigen Beſitzes feſt in ihrer
Rechten; der zweite, noch klar erkennbar, zieht ſich bereits in den
Hintergrund des Bildes zurück; unſer Freund der Oberſt aber,
deſſen ganze Schuld darin beſtand, einige 20 Jahre vor Entſtehung
dieſes Bildes den Heldentod geſtorben zu ſein, verliert ſich völlig
in nebelhafter Ferne und wirkt nur noch mit um das Enſemble
und die ſymmetriſche Anordnung des Ganzen nicht zu ſtören.
Möglich, daß ſolche Bilder öfter ſich vorfinden, mir war es das
erſte der Art.


Der alte Theil der Kirche. Johann v. Loeben und Frau
v. Burgsdorf
.


Der Anbau weiſt noch manches andere von Bildwerken und
Denkmälern auf, wir treten aber von dem Bildniß der ſtattlichen
Fontane, Wanderungen. IV. 13
[194] Frau hinweg in den alten Theil der Kirche zurück, darin wir, genau
an der Stelle wo des Anbaus halber die alte Giebelwand durch-
brochen ward und zwar an ein paar pfeilerartig ſtehen gebliebenen
Mauerreſten einigen Bildniſſen aus dem Anfang und Schluß des
17. Jahrhunderts begegnen, Porträts, die, wenn man den An-
druck geſtatten will, der eigentlichen Zeit Blumbergs ange-
hören. Dieſe Bilder geleiten uns durch drei oder vier Gene-
rationen einer und derſelben Familie, doch iſt es weibliche
Deſcendenz und ſo wechſeln die Namen: Loeben, Burgsdorf,
Canitz
.


[Johann von Loeben.] Da haben wir zunächſt, halb ver-
ſteckt unter einem Behang von Spinnweb, die Bildniſſe Johann
von Loebens
und ſeines Ehegemahls. Er iſt ein alter Herr
und die ſpaniſche Tracht von ſchwarzem Sammt, dazu die goldne
Kanzlerkette, würden keinen Zweifel über die Vornehmheit des
Mannes laſſen, wenn auch die Züge weniger Entſchloſſenheit und
die großen hellen Augen weniger Leutſeligkeit und Würde ver-
riethen. Die Umſchrift des Bildes lautet: „Johann von Loeben,
Kurfürſtlich Brandenburgiſcher Geheimer Rath und Kanzler hat
1602 die Güter Blumberg, Eiche, Dalwitz und Helmsdorf erkauft,
chriſtlich und weislich ſolchen vorgeſtanden und regieret 34 Jahr,
und iſt geweſen ein weiſer und vortrefflicher Mann von ſeinem
Geſchlecht.“ Unmittelbar vor dem Bilde hängt das alte Banner
der Familie von der Decke herab, das in goldner Schrift die An-
gaben des Bildes theils beſtätigt, theils erweitert: „Der hochedle,
geſtrenge und hochbenannte Herr Johann von Loeben, Ihrer Chur-
fürſtlichen Durchlaucht zu Brandenburg, Joachim Friedrich, hoch-
löbſeligſten Gedächtniſſes, vornehmer Geheimer Rath und Kanzler,
Herr auf Blumberg, Dalwitz, Eiche und Falkenberg, iſt allhier zu
Blumberg ſelig im Herrn entſchlafen, den 26. Juli anno 1636,
ſeines Alters 75 Jahr.“ Ueber dieſer Inſchrift, ſtark nachgedunkelt
aber immer noch deutlich erkennbar, zeigt ſich das alte Loeben’ſche
Wappen: ein Schachbrett mit der Prinzeſſin aus Mohrenland. Schon
723 war ein Loeben in die üble Lage gekommen, mit einer Prinzeſſin
aus Mohrenland auf Tod und Leben Schach ſpielen zu müſſen. Glück-
licherweiſe gewann er, und Schachbrett und Prinzeſſin kamen ſeit-
dem in’s Loeben’ſche Wappen. Ob die edle Kunſt des Schachſpiels
[195] ſeitdem in der Familie gehegt und gepflegt wurde, mag dahingeſtellt
bleiben, unſer alter Kanzler aber war jedenfalls in ſo weit ſeines
Ur-Ahnen werth, als er manchen guten Zug auf dem diplomatiſchen
Schachbrett zu thun wußte. Dabei liebte er ehrlich Spiel, keine Finten
und Hinterhalte. Der Kurfürſt ſetzte ein unbegrenztes Vertrauen in
ſeine Klugheit und Redlichkeit, und als die Gründung eines per-
manenten
„Geheimen Rathes“*) für nöthig erachtet wurde —
die nächſte Veranlaſſung dazu gab eine längere Anweſenheit des
Kurfürſten im Herzogthume Preußen — war es ſelbſtverſtändlich,
daß Johann von Loeben als erſter Rath in dieſen Regentſchafts-
Körper berufen wurde. Aus dieſem damals gegründeten „Gehei-
men Rath“ ging ſpäter der „Staats-Rath“ hervor. Johann von
Loeben wurde Kanzler bei jungen Jahren und ſtieg ſo hoch
wie ein Diener ſteigen mag im Dienſt und in der Liebe ſeines
Herrn; aber Leid und Bitterkeit des Lebens erreichten auch ihn.
Als er die höchſte fürſtliche Gnade kennen gelernt hatte, kam Un-
gnade über ihn, wie der Dieb in der Nacht. Faſt unmittelbar
nach Joachim Friedrichs Tode (1609) ſchied er aus dem Staats-
dienſt, um „procul negotiis“ in Blumberg und ſeiner Umgebung
die Freuden und Leiden glänzenderer Tage zu vergeſſen. 1629
inmitten der Wirren des 30jährigen Krieges, wurd’ er noch ein-
mal auf den Schauplatz berufen, um der ſchwachen und haltloſen
Politik George Wilhelms Halt und Richtung zu geben, aber wo
keine Kraft der Ausführung war, da wogen der Rath des Weiſen
und das Wort des Thoren gleich ſchwer und nach kurzem Ver-
weilen am kurfürſtliche Hofe zog er ſich zum zweiten Mal in die
Stille ſeines Landguts zurück. Nur als Beobachter folgte er noch
den Begebenheiten, und die letzten Jahre ſeines Lebens, im
Uebrigen verbittert durch ſo manche Erfahrung, brachten ihm
wenigſtens das Eine noch, daß es ihm vergönnt war den Stern
13*
[196] ſeines Schwiegerſohns Conrads von Burgsdorf glänzend auf-
gehen zu ſehn.


[Frau von Burgsdorf.] Die Bildniſſe des alten Kanz-
lers und ſeines Ehegemahls blicken, dem Anbau und der Kanzel
abgewandt, in das alte Kirchenſchiff hinein; an der Innen-Seite
der beiden Pfeiler aber, ſo daß ſie ſich einander in’s Auge blickten,
hingen bis vor Kurzem zwei andre intereſſante Bildniſſe:
das der alten Frau von Burgsdorf, einer Tochter Johanns von
Loeben, und das ihres Enkels des Poeten Canitz. Dieſes tête à tête
zwiſchen Großmutter und Enkel iſt neuerdings geſtört worden;
die Kirchenvorſtände haben das Bildniß des Poeten, ich weiß nicht
aus welchem Grunde, für eine kaum nennenswerthe Summe ver-
kauft. Es iſt dies um ſo beklagenswerther, als die Kirche jedes
andere Bild eher entbehrt haben könnte als dieſes eine. Denn
nicht nur die Glanzzeit Blumbergs fällt in die Tage, wo Canitz
hier heitre Gaſtfreundſchaft übte, nein, das Daſein des Dorfs
überhaupt würde kaum jemals über ſeine nächſte Umgebung hinaus
bekannt geworden ſein, wenn ihm nicht die Alexandriner des
märkiſchen Poeten (Canitz) zu einem Plätzchen in der Literatur-
Geſchichte und zu einem ähnlich guten Klange wie Wandsbeck
oder Gohlis oder Alten-Gleichen verholfen hätten.


Das Bildniß der alten Frau von Burgsdorf, dem wir uns
jetzt zuwenden, iſt wohl erhalten und trägt folgende Inſchrift:
„Die Verwittwete Frau Oberkammerherrin von Burgsdorf, geborne
von Loeben, bekommt nach Abſterben ihrer Frau Mutter alle
Güter, ſo ihr Herr Vater, der Herr Kanzler von Loeben in Beſitz
gehabt; ſtehet ſolchen mit beſondrem Ruhm und Leutſeligkeit vor;
aus Liebe für die Blumberg’ſchen und Eichiſchen Unterthanen
legirt ſie in ihrem Teſtament den Armen von beiden Gütern ein
Capital von 500 Thalern. Sie ſetzet annoch bei ihrem Leben den
klugen Staatsminiſter Freiherrn von Canitz als ihren einzigen
Enkel, zum Erben ihrer Güter ein. Erlanget von dem Höchſten
die Verheißung langen Lebens und bringet ſolches auf 77 Jahr.“


Der lebensvolle Kopf, der aus dem ſchlichten Holzrahmen
heraus uns anblickt, iſt aber nicht der Kopf einer 77jährigen
Greiſin, ſondern der Kopf einer Frau in den beſten Jahren, deren
[197] Embonpoint ſie ſiegreich ſchützte gegen die verrätheriſche Furchen-
ſchrift einer beginnenden Funfzigerin und deren lang herabhängende
dunkle Locken noch den Vorſatz der Trägerin ausſprechen, nicht alt
ſein zu wollen.


Ihr Koſtüm erinnert vielfach an unſre heutige Mode.
Das Kleid iſt weit ausgeſchnitten, aber ein reiches Kantenhemd
umſchließt den Nacken bis hoch herauf, und allerhand Borten
und Schnüre ziehen ſich decent über den geſtickten Bruſtlatz hin.
Die Aermel ſind kurz und weit und überdecken kaum zur Hälfte
den reichen Unterärmel von Brüſſeler Spitzen. Der Geſichtsaus-
druck entſpricht dem einer ſelbſtbewußten, herrſchgewohnten Frau,
deren natürliche Gutmüthigkeit ſich gegen die Regungen des Stolzes
eben ſo ſehr wie gegen die harten Schläge des Schickſals behauptet
hat. An dieſen war kein Mangel geweſen. Wenn das Leben
ihres Vaters Gegenſätze geboten hatte, ſo bot das ihre deren
mehr. Sie hatte Tage ſeltenen Glückes geſehen, aber auch Tage
tiefen Falls. Ihr Ehgemahl, eine genialiſche Natur, halb Held,
halb Libertin, hatte ſich nicht begnügt, wie ihr Vater, der
Kanzler, als erſter Diener neben dem Thron ſeines Fürſten zu
ſtehn, er war, eine Zeitlang wenigſtens, ſeines Herren Herr ge-
weſen, und daß er es unausgeſetzt hatte bleiben wollen, das hatte
ihn geſtürzt. Was Kurfürſt Friedrich Wilhelm ertragen konnte, als
er, faſt ein Knabe noch, in’s Land kam, in ein Land, das ihm der
ſchlaue Muth Konrad von Burgsdorfs erſt ſchrittweis erſchließen
mußte, das mußte nothwendig zur Verſtimmung und endlich zum
Bruche führen, als der jugendliche Fürſt „der große Kurfürſt“ zu
werden begann. Der kluge Günſtling, der ſo Vieles ſah, ſah dieſen
Wechſel nicht, wollt ihn nicht ſehen, und an dieſem Irrthum oder
Eigenſinn ging er zu Grunde. Seine Gegner hatten leichtes Spiel.
Die Wüſtheit ſeines Lebens kam ihnen zu Hülfe, und die Ver-
bannung vom Hofe ward ausgeſprochen. Er ging nach Blum-
berg
. Aber der Haß ſeiner Feinde ſchwieg auch jetzt noch nicht.
Man bangte vor ſeiner Rückkehr, und hundert geſchäftige Zungen
erinnerten immer wieder daran „daß der eben geſtürzte Günſtling
18 Maß Wein tagtäglich bei Tafel getrunken habe, zugleich auch ein
gewaltiger Courmacher und Serenadenbringer geweſen ſei.“ Man
wußte wohl, was man that, daß man gerad’ an dieſe Dinge
[198] beſtändig erinnerte; Kurfürſtin Henriette Louiſe war eine fromme
Frau, der alles Laſterleben ein Greuel war, und nachdem Unzucht
und Völlerei ſo lang ihr wüſtes Haupt auf den Tiſch gelegt hatten,
wurd’ eben damals die Sitte wieder erſtes Gebot. Konrad von
Burgsdorf ſtarb bald, nachdem er in Ungnade gefallen war.
Es heißt, daß er ſinn- und troſtlos geendet habe; ſein ehlich Ge-
mahl aber, deren Bild jetzt eben von der Pfeilerwand auf uns
niederblickt, überlebte den Sturz ihres Mannes um faſt volle dreißig
Jahre. Blumberg, der Ort ihrer Kindheit, wo vordem ihr Vater
und dann ihr Gatte vor der ſchneidend kalten Hofluft Zu-
flucht geſucht hatten, blieb ihr lieb, weil die Geſchichte ihres Lebens
mit ihm verwachſen und die Stille ſeiner Felder ihr mehr und
mehr ein Bedürfniß geworden war. Aber freilich der Frieden des
Gemüths, nach dem ſie rang, blieb ihr verſagt, wie er ihr ſchon
in ihrer Jugend verſagt geweſen war. Neue Kränkungen geſellten
ſich zu alter Bitterkeit, Kränkungen, die dadurch nicht geringer
wurden, daß ſie unbeabſichtigt waren. Den Kummer ihres Alters
ſchuf ihr ihre eigene Tochter. Dieſe ſchien ganz ihres Vaters
Kind zu ſein, der, wie wir eben citirt haben „ein ge-
waltiger Courmacher und Serenadenbringer“ geweſen war. Drei-
mal verheirathete ſich dieſe Tochter. Ihr erſter Mann, ein Frei-
herr von Canitz, ſtarb, — das war ein Unglück; von ihrem zweiten
Gemahl, einem General v. d. Goltz, ließ ſie ſich ſcheiden — das
war erträglich; daß ſie ſich aber zum dritten Male nicht blos ver-
verheirathete, ſondern dieſen dritten Mann, den ſie nie geſehen,
von Paris her ſich ſchicken ließ, das war mehr, als die
Oberkammerherrin von Burgsdorf, die funfzig Jahre lang erſt als
die Tochter und dann als die Gattin des vornehmſten Mannes
in Kurmark Brandenburg gelebt hatte, ruhig ertragen konnte.
Dieſe Heirath zehrte an ihrem Herzen und vergällte ihr das letzte
Jahrzehnt ihres Lebens.


Die Ehe ſelbſt aber, die zu dieſer Verbitterung Anlaß gab, bildet
einen zu charakteriſtiſchen Zug für die Sittengeſchichte jener Zeit,
als daß ich es mir verſagen könnte, den Hergang ausführlicher
zu erzählen.


Frau von der Goltz (geborene von Burgsdorf, verwittwete von
Canitz) war kaum von ihrem zweiten Manne, dem General von
[199] der Goltz getrennt, als ſie den Vorſatz faßte, ſich zum dritten Male
zu vermählen, und zwar coûte que coûte mit einem Franzoſen.
Bei ihrer Schwärmerei für alles Franzöſiſche, kam es ihr auf eine
Wahl im Beſonderen nicht an. Sie ſchrieb deshalb ihrem Pariſer
Commiſſionär, der ſich bis dahin durch ſeinen feinen und guten Ge-
ſchmack in der Ueberſendung von Coiffüren und Modeartikeln be-
währt hatte, ihr einen Mann zum Heirathen zu ſchicken, der rüſtig,
fein und geiſtvoll und ſelbſtverſtändlich auch von Adel ſei. Der
Auftrag wurde prompt ausgeführt. Nach etwa vier Wochen traf in
Berlin ein Franzoſe von über fünfzig Jahren ein und meldete ſich bei
Frau von der Goltz als derjenige, den ſie gewünſcht habe. Sein
Name war Peter von Larrey, Baron von Brunbosc, aus einer
alten Familie in der Normandie. Die Ehe kam wirklich zu Stande,
und war glücklich. Frau von Burgsdorf indeß konnte die
Kränkung, die ihr dieſer abenteuerliche Vorgang bereitet hatte,
nicht verwinden. Die Partie mit dem normanniſchen Baron, der
vielleicht keiner war, zehrte an ihrem Leben und ſie ſtarb nachdem
ſie längſt vorher mit Umgehung ihrer Tochter, den Sohn dieſer
Tochter aus erſter Ehe, den Freiherrn von Canitz, zum Erben
all ihrer Güter, das ſchöne Blumberg mit eingeſchloſſen, einge-
ſetzt hatte.


Freiherr von Canitz.


Und dieſem Freiherrn von Canitz wenden wir uns nunmehr
ausführlicher zu. Sein Bildniß fehlt zwar an dem breiten
Mauerpfeiler, an dem es früher hing, und Großmutter und Enkel,
das Lächeln des einen und der herbe Geſichtsausdruck der andern,
begegnen ſich nicht länger mehr an dieſer Stelle; das Totalbild des
„Poeten“ aber, ſeinen Charakter wie ſeine Erſcheinung, hat uns eine
zeitgenöſſiſche Feder aufbewahrt und mit Hülfe dieſer Aufzeichnungen
erneuern wir auf Momente das Bild und führen es an des Leſers
Auge vorüber.


„Canitz, der Poet, war von mittlerer, wohlgewachſener Ge-
ſtalt, in den ſpäteren Jahren etwas unterſetzt und ſtark; ſein Ge-
ſicht voll, offen, wohlgebildet, ſeine blauen Augen lebhaft, ſein
Anſehn männlich. Bei einer weißen Haut und freien Stirn hatte
er einen freundlichen Mund, der ſich nur manchmal eines ſpötti-
[200] ſchen Lächelns nicht erwehren und ſeine angeborene
Neigung zur Satire
nicht ganz verbergen konnte.“


So ſchildert ihn ſein Biograph, und dem entſprechende Züge mocht
auch das Bildniß zeigen, das einſt hier hing. Aber an jenem Sonntage
des Monats Juni 1699, als er zum letzten Mal in dieſen Chor-
ſtuhl uns unmittelbar zur Rechten eintrat, um andächtiglich der
Rede des Geiſtlichen zu folgen, zuckte kein ſpöttiſches Lächeln mehr
um ſeinen Mund und die „angeborene Neigung zur Satire“ hatte
längſt einem Beſſeren Platz gemacht. Er wußte, daß ein anderes
Leben ſeiner harre, und von Todesgewißheit erfüllt, hatte er in
tiefer Rührung zu Spener die Worte geſprochen: „wenn Gott mich
wieder aufrichtet, ſo will ich dem eitlen Weſen dieſer Welt mich
ganz entziehn und mich dem widmen, was das allein Nothwendige
iſt.“ Canitz wußte, daß er nur noch Wochen zu leben habe (die
Aerzte hatten es ihm geſagt, weil er es zu wiſſen verlangt hatte),
und die Textesworte, die eben jetzt geleſen wurden, trafen ſein
Herz. „Es wird geſäet verweslich und wird auferſtehen unverwes-
lich; es wird geſäet in Unehre und wird auferſtehen in Herrlich-
keit.“ Dieſe Worte, ſagt’ ich, trafen ſein Herz; aber die Bilder des
Todes, die vor ihn hintraten, erſchreckten ihn nicht. Ruhig folgte
er dem Gange der Predigt.


Und nun iſt die Predigt vorüber und an der Sakriſteithüre
dem Geiſtlichen freundlich und zuſtimmend die Hand drückend,
ſchreitet er über die Gräber hinweg und durch das hollunderüber-
wachſene Kirchhofsthor dem Herrenhauſe zu. Der Junimorgen, ſo friſch
und ſo warm zugleich, läßt ihn aufathmen wie in alter Luſt und
Fülle des Lebens, und ſtatt in die Kühle des Hauſes einzutreten,
tritt er in den lachenden Park. Wir ſchreiten ihm leiſe nach.
An dem Birkenwäldchen vorbei, den erhöhten Kiesweg entlang,
der bald die Windungen des Baches begleitet, bald ſie kreuzt und
überbrückt, hat er endlich die hochgelegene Lieblingsbank am
Rande des Parks erreicht, die von Buchenzweigen weit überſchattet
nach vorn hin einen Blick gönnt auf Felder und wogendes Korn.
Er läßt ſich nieder hier und Figuren in den Sand zeichnend,
ziehen die wechſelnden Bilder ſeines Lebens an ihm vorüber.


Das ſind die ſonnigen Tage ſeiner Jugend. Die krainiſchen
Alpen liegen hinter ihm, eine kurze Meerfahrt iſt überſtanden und
[201] um die Spitze des Lido herum, biegt er ein in die Lagunenſtadt.
Welche Welt thut ſich vor ihm auf; die Kuppeln und die Thürme
blinken im Sonnenlicht, und als zöge man hinaus, um feſtlich einen
Fürſten einzuholen, ſo ſchwimmt ihm die Meeres-Königin auf hundert
Barken entgegen. Aber was wie Wunder und Märchen erſcheint,
iſt nur ein glückliches Ohngefähr; die heiteren Reiſegötter führen
ihn in die Lagunenſtadt juſt am Tage der Meervermählung, wo
der Doge ſammt ſeinen Senatoren im Bucentauro hinausgleitet,
um den Ring, das Zeugniß und die Beſieglung des Bundes, in
das Meer zu ſenken.


Die Bilder Venedigs ſchwinden, aber der Kahn des Traumes
führt ihn weiter, jetzt zurück auf die hohe See, jetzt an dem
Küſtenbogen entlang, der zwiſchen Sorrent und Neapel ſich ſpannt,
und jetzt den Rhein hinunter und jetzt die Themſe hinauf, hinauf
bis an die Londonbrücke, wo die Barken den Strom ſperren und
die hundert Maſten der Schiffe ſeinen Blick bezaubern und
verwirren. Die Treppe ſteigt er hinan, die halb ausge-
waſchen zum Quai hinaufführt, und das Geräuſch der City nimmt
ihn auf. Immer wachſenderes Gedränge umwogt ihn hier, und
endlich Stand nehmend auf der Hügelkuppe von Ludgate Hill, wo
eben die Quaderſteine geſchnitten werden, aus denen dereinſt die
neue Paulskirche ſich aufrichten ſoll, ſieht er jetzt, von einem der
hohen Steinblöcke aus, die Lordmayors-Prozeſſion in alterthüm-
lichem Pomp an ſich vorüberziehen. Die Themſeſchiffer in rothen
Röcken eröffnen den Zug, dann ſchmettern Pauken und Trom-
peten, bis endlich aller andre Lärm in dem Jubelgeſchrei des
Volkes erſtickt, denn ſchwerfällig, aus Eichenholz geſchnitzt, ſchwankt
eben die vergoldete Kutſche heran und der erwählte Cityherrſcher grüßt
mit gravitätiſchem Kopfnicken nach rechts und links.


Vereinzelte Kuckuksrufe klingen jetzt leis und wie aus weiter
Ferne her herüber und ſiehe da, der kranke Poet unterbricht ſich in
ſeinem Figurenzeichen und horcht auf. Aber wie die Seele gern
wieder anknüpft an das, was ihr lieb geworden, ſo fällt er alsbald
auch in altes Sinnen und Träumen zurück.


Immer lachendere Bilder ziehen herauf. Es iſt wieder ein
Feſtzug, eine Prozeſſion, aber diesmal auf heimiſchem Grund und
[202] Boden und der Gefeierte iſt er ſelbſt. Ein Junitag iſt’s wie
heute, nur um ſo viel heiterer und ſchöner, als die Augen damals
heller in den Tag hineinſahen: denn neben ihm auf dem breiten
Sitze des Wagens auf dem er eben einfährt in die feſtgeſchmückte,
mit Laubgewinden überſpannte Dorfgaſſe, ſitzt ſeine heißgeliebte
Braut, ſeit geſtern ſein Gemahl. Sie zählt nicht zu den leuch-
tenden Schönheiten, aber ſie hat jenen blendenden Teint, der
der Schönheit nahe kommt. Ihre blühenden Wangen wurden
roſiger von der Fahrt und das rothblonde Scheitelhaar flattert
halb aufgelöſt im Winde. Bauern zu Pferd und mit bebän-
dertem Hute folgen dem Zuge, Frauen im Sonntagsſtaat ſtehn
in den Thüren oder am Heck und heben die Kinder in die Höh,
die Störche klappern auf allen Dächern, als hätten ſie mit zu
reden bei ſolchem Einzug, und die Feldlerchen begleiten von
draußen her den Zug und erzählen ſich hoch oben von dem Glück,
das ſie drunten geſehn.


Und ein volles Glück war es, das ſie ſahn, nicht ſpärlich zu-
gemeſſen wie ſonſt wohl. Denn nicht über kurze Tage hin
dehnte ſich die Zeit der Flitterwochen, und Blumberg, wie
es der tägliche Zeuge vollkommener Eintracht und innigſten
Zuſammenlebens wurde, wurd’ auch ein gefeierter Sitz edler
Gaſtfreundſchaft, ein Mittelpunkt geiſtigen Lebens, dichteriſchen
Schaffens
, wie damals kein zweiter in Mark Brandenburg zu
finden war. Johann von Beſſer, Euſebius von Brand waren
oft und gern geſehene Gäſte und von hier aus ergingen an den
vielbewährten Jugendfreund und Studiengenoſſen unſres Poeten,
an den Kirchenrath Zapfe in Zeitz, oft wiederholte Einladungen,
„das Harfenſpiel aufs Neu von der Wand zu nehmen und das
Hoflager in Blumberg zu beziehen.“ Briefe wurden mit einer ge-
wiſſen Regelmäßigkeit gewechſelt, und als die Schilderungen ehe-
lichen Glücks die Canitz regelmäßig mit einem „nun gehe hin und
thue desgleichen“ zu ſchließen pflegte, endlich ihren Einfluß geübt
und den ehrbaren Magiſter und Kirchenrath auch an den Altar
geführt hatten, da ging von Blumberg ein Gratulationsbrief fol-
genden Inhalts nach Zeitz: „Deine Heirath und die Art derſelben
gefällt mir ſehr wohl; weil Du mir aber Dein Sach’ ohne ſonder-
[203] liche Umſtände ſchlechthin berichtet haſt, ſo will auch ich Dir in Kürze
nur, aber doch immer von Herzen, Glück und Vergnügen wünſchen
und daß Deine Liebſte, wo nicht ein fruchtbarer Weinſtock, ſo doch
ein immergrüner Tannenbaum ſei, dem es an Zapfen niemals
fehlen möge.“


So gingen die Tage. Ein volles Glück war es, ein Glück
über Jahre hin und doch zu kurz für das beneidete Paar, das
in ſeltnem Gleichklang zuſammenſtimmte. Der alte Neider Tod
trat zwiſchen ſie, mittleidslos und unerbittlich, und in Erinnerung
an jene Tage ſchwindet ihm jetzt der heitre Traum und trübe
Bilder ziehen in ſeiner Seele herauf. An dem Lager einer
Sterbenden kniet er. „O daß Du bleiben könnteſt!“ klingt es
bittend von ſeinen Lippen; ſie aber ſchüttelt den Kopf und
ſpricht: „Du biſt ſo oft von mir gegangen, nun geh ich von
Dir; ſieh, ich ſchlafe ſchon.“ Und danach entſchlief ſie wirklich,
ohne Zucken und ohne Schmerz.


Das einförmige Rufen des Kuckuks klang lauter und näher
jetzt und Canitz richtete ſich auf, als woll’ er die Rufe zählen.
Da ſchwieg der Kuckuk. Ein wehmüthiges Lächeln umſpielte
ſeine Lippe; dann ſchritt er durch die Gänge des Parks in das
Herrenhaus und ſeine Stille zurück.


Das war am letzten Juniſonntage 1699. Am 11. Auguſt
deſſelben Jahres begegnen wir ihm noch einmal. Seine Kräfte
waren ſchwächer geworden, und das heitere Poetenherz, das einſt
mit tauſend Wünſchen an das Leben gekettet war, es hatte
nur noch einen Wunſch: zu ſterben, wie die theure Heimge-
gangene vor ihm geſtorben war. Und dieſer letzte Wunſch ward
ihm erfüllt. Am frühen Morgen des genannten Tages ſtand er
auf, ließ ſich völlig ankleiden und trat an das Fenſter, das er
öffnete, um friſche Luft zu ſchöpfen. Die Sonne ging eben auf,
und mit freudigem Staunen genoß er ihrer Pracht. Als er
eine Weile hineingeblickt, rief er mit erhobener Stimme: „Wie
ſchön iſt heut’ der Himmel“ und ſank von einem Schlagfluß ge-
troffen todt zur Erde.


So ſtarb „Canitz, der Poet.“ Schon am Tage darauf wurd’
er in der Marienkirche beigeſetzt. Eine Woche ſpäter hielt ihm
[204] Spener in der Nikolaikirche die Gedächtnißpredigt; den Inhalt
ſeines Lebens aber ſtellen wir zu folgender Grabſchrift zuſammen:


„Friedrich Rudolf von Canitz, Sr. churfürſtlichen Durchlaucht
zu Brandenburg wohlbeſtallter Geheime-Rath und Staats-
miniſter, geb. zu Berlin (nach anderen zu Lindenberg bei
Berlin) den 27. November 1654, geſt. den 11. Auguſt 1699, im
45. Jahre ſeines Alters. Was das Leben erhöht und verſchönt,
das übte und pflegte er. Er liebte die Kunſt und die Menſchen;
die Freundſchaft hielt er hoch, die Treue am höchſten. Er war
klug ohne Arg; ein männlicher Sinn, ein kindliches Herz. Er
liebte die Welt, aber er empfand ihre Eitelkeit; Glaube und
Sehnſucht wuchſen in ſeinem Herzen und trugen ihn aufwärts.“
*)


Ich hab in Vorſtehendem den Menſchen Canitz als eine lie-
benswürdige, fein und innerlich angelegte Natur zu ſchildern ver-
ſucht; es bleibt noch die Frage übrig nach ſeiner politiſchen
Bedeutung und nach ſeinem poetiſchen Werth. War er ein
Staatsmann? war er ein Poet? Das Erſtere gewiß, das Zweite
kaum minder.


Die Natur ſchien ihn für die diplomatiſche Laufbahn im
Voraus geſchaffen zu haben, und die complicirten Verwandtſchafts-
grade darin er ſtand (auch die Mutter ſeiner Frau war drei-
mal verheirathet geweſen) hatten von Jugend auf dahin ge-
wirkt, dieſe ſeine natürliche Beanlagung auszubilden. Eine
uns aufbewahrte Charakteriſtik ſeines Weſens zeigt am beſten,
wie außerordentlich er ſich für ſeine Laufbahn eignete, darin da-
[205] mals ungleich mehr noch als jetzt, alles an dem Erkennen und
der richtigen Benutzung von Perſönlichkeiten gelegen war. „Er
war geſprächig, höflich, frei von Eigenſinn und Wider-
ſpruchsgeiſt
, für Jedermann gefällig und aufmerkſam, Fähig-
keiten und Neigungen leicht durchſchauend, jedem Gegenſtande wie
jedem Verhältniſſe ſich leicht bequemend — ein vollkommener
Mann von Welt
. Seine Rechtſchaffenheit, ſein Haß gegen
Lüge und Zweideutigkeit unterſtützten ihn eher, als daß ſie ſein
Auftreten gehemmt, ſeine Erfolge behindert hätten. Bei großer
Leichtigkeit war er von vorſichtiger Haltung; er wußte Ernſt und
Sanftmuth zu vereinen, um zu überreden und zu gewinnen.
Im Friedenſtiften, Vermitteln und Verſöhnen beſaß er ein
einziges Talent
.“ Die Inſchrift unter dem Bildniß der alten
Frau von Burgsdorf hatte alſo völlig Recht, von ihm als von
dem „klugen Staatsminiſter von Canitz“ zu ſprechen; aber er
ſuchte, wie ſchon angedeutet, dieſe Klugheit nicht in jener Kunſt
der Täuſchung, am wenigſten in jenem Intriguenſpiel, das da-
mals an den Höfen blühte. Er kannte dies Spiel und war ihm
gewachſen, aber ſein redlicher und reiner Sinn lehnte ſich gegen
dieſe Kampfesweiſe auf. Deshalb zog es ihn immer wieder in
die Stille und Unabhängigkeit des Landlebens und in einfach
natürliche Verhältniſſe zurück. „Der Hof — ſo ſchrieb er bald
nach dem Tode des großen Kurfürſten — hat wenig Reiz für
mich, und ich betrachte die Würden und Aemter, die Andere ſo
eifrig ſuchen, nur als eben ſo viele Feſſeln, die mich am Genuſſe
meiner Freiheit hindern, der Freiheit, die über alle Schätze der
Erde geht und deren echten Werth zu würdigen, den gemeinen
Seelen verſagt iſt.“ Er kannte dieſen „echten Werth der Freiheit“
wohl, aber die Verhältniſſe geſtatteten ihm nicht, ſich dieſer Frei-
heit ſo völlig zu freuen, wie es ſeinen Wünſchen entſprochen hätte.
Es geſchah, was ſo oft geſchieht, man ſuchte die Dienſte des-
jenigen, der, im Gefühl ſeines Werths, dieſe Dienſte anzubieten
verſchmähte, und wie oft er auch, um ſeinen eigenen Ausdruck
zu gebrauchen, die Erfahrung gemacht haben mochte, „daß Andere
die goldenen Aepfel auflaſen, während er beim heißen
Lauf ſich abmühte
,“ ſo war doch Gehorſam und Nachgiebigkeit
in allen jenen Fällen geboten, wo Weigerung den Vorwurf des
[206] Undanks oder doch der Gleichgültigkeit gegen die allgemeinen In-
tereſſen auf ſich geladen hätte. Canitz drängte ſich nicht zu Dienſten,
aber ſo oft er ſie übernahm, zeigte er ſich ihnen gewachſen. Leicht
und gewiſſenhaft zugleich ging er an die Löſung empfangener
Aufgaben und die graziöſe Hand, mit der er die Fragen be-
rührte, pflegte zugleich eine glückliche Hand zu ſein. Faſt an allen
deutſchen Höfen war er eine wohlgekannte und wohlgelittene Per-
ſönlichkeit und Kaiſer Leopold bezeugte ihm vielfach ſeine Gnade
und ſein beſonderes Wohlwollen.


Canitzen’s letztes und vielleicht bedeutendſtes diplomatiſches
Auftreten war im Haag, wo damals die Minen gelegt wurden,
um den Ryßwicker Friedensſchluß, der ſo viele Intereſſen verletzte
und ſo viele Gefahren heraufbeſchwor, wieder zu ſprengen. Canitz
zeichnete ſich auch hier durch jene Klugheit und feine Beſonnenheit
aus, die, weil ſie gefliſſentlich leiſe die Fäden zu ſchürzen oder
zu entwirren ſucht, gemeinhin auf den Beifall zu verzichten hat,
der ſo leicht in all jenen Fällen ſich einſtellt, wo ein Diplomat
ſo undiplomatiſch wie möglich den Knoten zerhaut. Das heraus-
fordernde Wort eines Rückſichtsloſen, deſſen Punktum bereits ein
erſter Kanonenſchuß iſt, wird jubelnd aufbewahrt, während die
kluge Haltung Deſſen, der eine heranziehende Gefahr beſchwört,
gemeinhin unbeachtet bleibt. Alles, was ſich vor aller Welt Augen
zu einem beſtimmten Bilde abrundet, iſt immer im Vortheil über
das Unplaſtiſche, das ſich in vertraulichem Rath oder gar
in einer bloßen Aktenſtückszeile vollzieht, und jener Erich Chriſtoph
v. Plotho, der zu Regensburg mit jenem berühmt gewordenen:
„was! inſinuiren??“ den kaiſerlichen Notar, Dr. April, die Treppe
hinunterwarf, hat ein ganzes Dutzend Diplomaten in Schatten
geſtellt.*) Ueberall da, wo das Wort Friedrichs des Großen gilt:
[207] „Mach’ Er nur, ich ſtehe mit 200,000 Mann hinter Ihm!“ iſt
es nicht ſchwer, dem guten Rufe der Kraft auch den der Klug-
heit
hinzuzufügen, und das Achſelzucken, das unſere preußiſchen
Diplomaten in vorbismarckſchen Tagen oft hinnehmen mußten, hat
in ganz anderen Dingen ſeinen Grund, als in Mangel an Ein-
ſicht und ſtaatsmänniſcher Bildung.


Canitz Verdienſte als Diplomat ſind unbeſtritten, ſeine Ver-
dienſte als Poet, ſo ſagt’ ich ſchon, ſind kaum geringer. Wer auf
gut Glück hin und ohne den Vorſatz liebevolleren Eingehens, den
Band ſeiner Dichtungen aufſchlägt und in einem, übrigens an
Schönheiten keineswegs armen Gedichte folgende Anfangsſtrophe
findet:


Laß, mein beklemmtes Herz, der Regung nur den Zügel,

Begeuß mit einer Fluth von Thränen dieſen Hügel,

Weil ihn mein treuſter Freund mit ſeinem Blut benetzt,

Auf dieſer Stelle ſank der tapfre Dohna nieder,

Hier war ſein Kampf und Fall, hier ſtarrten ſeine Glieder,

Als ein verfluchtes Blei die theure Stirn verletzt,

Das, eh’ der Sonne Rad den andern Morgen brachte,

Ihn leider, ach zu bald zu einer Leiche machte*)


[208]

wer, ſag’ ich, ſolche und ähnliche Strophen findet, wird freilich
zunächſt den Kopf ſchütteln und ſeine Ungläubigkeit ausdrücken,
daß es mit ſo zopfigen Alexandrinern irgend etwas auf ſich habe.
Und in gewiſſem Sinne mit Recht. Wir dürfen dieſe Dinge
aber nicht mit einem Maßſtabe meſſen, den wir dem gegenwärtigen
Stande unſerer Literatur entnehmen, ſondern müſſen uns viel-
mehr die Frage vorlegen: was waren dieſe Gedichte in und zu
ihrer Zeit? Und zu ihrer Zeit waren ſie ſehr viel. Wenn ihnen
jetzt, wie das gelegentlich geſchieht, mit herablaſſender Miene zu-
geſtanden wird, daß ſie das Verdienſt der gewählten Sprache,
der Reinheit und Eleganz hätten, ſo genügt dieſe Anerkennung
keineswegs; denn es iſt das ein Zugeſtändniß, das ſo ziemlich
allen modernen Dichtern gemacht werden kann, während unter
dieſen doch nur wenige ſind, die für ihre Zeit das Maß von
Bedeutung beanſpruchen dürfen, das Canitz für die ſeinige beſitzt.
Er war einer von denen, denen die Aufgabe zufiel, uns erſt eine
Sprache und innerhalb derſelben ein Geſetz zu geben. Dies Ge-
ſchenk, dieſe Hinterlaſſenſchaft iſt nicht hoch genug zu ſchätzen.
Wir ſtehen auf den Schultern derer, die damals thätig waren,
und wenn Canitz auch nicht in die Reihe der epochemachenden,
literariſchen Reformatoren jener Zeit gehört, die ſich, wie nament-
lich Opitz, für die Geſammtentwicklung deutſcher Sprache und
Dichtung von nachhaltiger Bedeutung erwieſen haben, ſo war er
doch wenigſtens für unſre Mark das, was andre für weiter ge-
zogene Kreiſe waren. Er zeigte zuerſt, daß die Mark und die
Muſen nicht völlige Gegenſätze ſeien.


Aber die Verdienſte Canitz’ ſind keineswegs nur ſprach-
licher
Natur; ſeine Gedichte haben auch ihren dichteriſchen
Werth. Es iſt wahr, daß er das Dichten zum Theil wie andre
angenehme Unterhaltung trieb und er ſelber nannt’ es in ſeinen
Briefen „die Kurzweil des Reimens,“ aber wir würden ihm doch
ſehr Unrecht thun, wenn wir nach jenen zahlreichen Reime-
reien, wie ſie bei Feſtſpielen, den ſogenannten „Wirthſchaften“ da-
*)
[209] mals Mode waren, den Werth ſeiner Dichtung überhaupt ab-
ſchätzen wollten. Gewiß, er trieb das Dichten wie Tagewerk, aber
er trieb es auch, und zwar im beſten Sinne, wie man ein poetiſches
Tagebuch führt, darin er Allem zu einem dichteriſchen Ausdruck
verhalf, was der Lauf des Tages brachte. Der Tag brachte Vieles,
Großes und Kleines, Abſonderliches und Alltägliches, und dieſen
Wechſel zeigen auch ſeine Dichtungen, aber ſie ſind einig in dem
einen, daß ſie, ob groß ob klein, ein Erlebtes wiederſpiegeln; ſie
ſind nicht Fiktion, ſie ſind wirklich, ſie haben einen realen In-
halt; dieſer Inhalt iſt nicht immer poetiſch, weder in ſich, noch
in der Art, wie er ſich giebt, aber es fehlt auch überall die Ge-
fahr, ſich in’s Nichts zu verflüchtigen. Der alte Bodmer ſagte
von dieſen Gedichten: „Canitz legete nichts Fremdes in dieſelben,
was nicht zuvor in ſeinem Sinn und Herzen geweſen wäre.“ Das
iſt ſehr richtig und der Stempel des Aechten, Wahrhaftigen, an
ſich ſelbſt Erfahrenen, auch da noch wo es ſich um bloße Re-
flexionen handelt, hält ſchadlos für den fehlenden Hochflug, auch
für einen gewiſſen Mangel an Kraft, Originalität und Tiefe,
den wir nicht in Abrede ſtellen wollen.


Ein einziges Gedicht rührt von ihm her, das an Sprache,
Form und namentlich auch an Innerlichkeit Alles weit zurück-
läßt, was er außerdem geſchrieben hat, und nicht nur einen rela-
tiven, ſondern einen vollen und unbedingten poetiſchen Werth
beanſpruchen darf. Es iſt dies das Gedicht: „An Doris,“ oder:
„Ueber den Tod ſeiner erſten Gemahlin“, wie es in einer älteren
Ausgabe genannt wird. Es gilt von dieſem Gedicht etwas Aehn-
liches, wie Schlegel von Bürger’s „Leonore“ geſagt hat: „daß es
allein ſchon ausreichen würde, den Namen des Dichters der Nach-
welt zu überliefern.“ Die Zeiten ändern ſich freilich und es wird
Manchem jetzt pedantiſch erſcheinen, 27 Trauerſtrophen, noch dazu
die Arbeit von Jahren, auf den Tod einer hingeſchiedenen, ge-
liebten Frau gedichtet zu ſehn. Aber das Lächeln über die alt-
fränkiſche Mode iſt unberechtigt. Es iſt mit einem ſolchen Ge-
dicht, wie mit einem Bildhauer, der ſeine Frau verliert und ihr
ein Monument errichten will. Er hat ſie ſelbſt am beſten ge-
kannt, trägt ihr Bild am treuſten im Herzen und geht freudig
und gutes Muthes an die Arbeit. Die Arbeit iſt mühe-
Fontane, Wanderungen. IV. 14
[210] voll und koſtet ihm Zeit, aber endlich hat er’s erreicht, und Nie-
mand tritt jetzt heran und wundert ſich, daß er Jahre gebraucht
hat zu einer Schöpfung der Pietät und Liebe. So muß man auch
eine ſolche „Trauer-Ode“ auffaſſen, die damals gemeißelt wurde
wie in Stein. Wir geſtatten jetzt nur noch eine hingeworfene Skizze,
einen lyriſchen Ausruf als Ausdruck des Gefühls. Aber Beides
kann neben einander beſtehen, jedes iſt eine berechtigte Art und
es iſt einfach falſch zu ſagen, die alten Poeten von damals, weil
ſie weder in Deſperation noch in Melancholie dichteten, hätten
überhaupt nichts empfunden. Man leſe die Dinge ohne Vorur-
theil, und man wird an der Wirkung auf das eigene Herz wahr-
nehmen, daß ein Herz in dieſen zopfigen Strophen ſchlägt.


[[211]]

Werneuchen.


Wenn vor des Pfarrhofs kleinen Zellen
Nun bald die Lindenknospen ſchwellen,
Wenn Vögel in den Ahorn-Hecken
Die weißen Eierchen verſtecken,
Dann kommſt Du, unſres Glückes froh
Im Hute von geflochtnem Stroh,
Zu athmen hier voll Veilchenduft
Werneuchen’s reine Frühlingsluft.
Schmidt von Werneuchen.

Inmitten des Barnim, halben Wegs zwiſchen Berlin und Ebers-
walde, liegt das Städtchen Werneuchen. Ich ſage Städtchen, um
dem Local-Patriotismus einzelner ſeiner Bewohner nicht zu nahe
zu treten, die das Beiwort „Stadt“ für ironiſche Uebertreibung
und die Bezeichnung „Flecken“ als Mangel an Reſpect anſehen
möchten. Ich hüte mich weislich vor jeder Partei-Ergreifung und
verweigere nicht minder an dem über die Herſtammung des Wortes
„Werneuchen“ ausgebrochenen Kampfe Theil zu nehmen. Alles
was an Erbitterung auf dem Felde der vergleichenden Sprach-
forſchung nur jemals zu Tage getreten iſt, iſt auch hier wieder
ſichtbar geworden, und die Partei „Bernau“, wiewohl mehrmals
geſchlagen, ſteht der Partei „Warnow“ immer noch voll unge-
brochenen Muthes gegenüber. Werneuchen iſt Klein-Bernau ſagen
die Einen und deduciren etwa wie folgt: Klein-Bernau = Ber-
näuchen und Bernäuchen = Werneuchen. Mit nichten, erwidern
die Andern; Werneuchen iſt Klein-Warnow, Klein-Warnow =
Warnowichen und Warnowichen = Werneuchen.


14*
[212]

Werneuchen gehörte wie Zoſſen, Trebbin, Baruth u. a. m.
zu jenen bevorzugten Oertern, die ſich ohne beſonderes Verdienſt,
in jener kurzen Epoche die zwiſchen dem Sandweg und dem
Schienenweg lag und die man das Chauſſee-Interregnum nennen
könnte, zu einer gewiſſen Reputation emporarbeiteten. Und viel-
leicht wurde dies Grund und Urſach, daß man, als das eherne
Zeitalter der Eiſenbahnen wirklich anbrach, den Ruin Werneuchens
für gekommen hielt und vor ſeiner Zukunft (denn die Bahn nahm
eine andere Richtung) erzitterte. Man hatte ſich daran gewöhnt,
Werneuchen und Paſſagierſtube für identiſch anzuſehen; nun be-
ſeitigte man dieſe mit einem Federſtrich und die Frage trat bang
an jedes Herz: „was bleibt noch übrig? was wird?“ Aber die
Dinge kamen anders, als man gedacht hatte; die Furcht war, wie
immer, ſchlimmer geweſen als die Sache ſelbſt, und Werneuchen
blieb im Weſentlichen was es vorher geweſen war. Die Frucht-
barkeit der Aecker und der Fleiß der Bewohner deckten alsbald
das Deficit, wenn überhaupt ein ſolches entſtand, und der freund-
lichen Häuschen mit Ziegeldach und grünen Jalouſieen wurden
nicht weniger, ſondern mehr.


In der That, Werneuchen gewährt den Anblick eines ſauberen
und an Wohlhabenheit immer wachſenden Städtchens. Aber es
iſt doch nicht das heutige Klein-Warnow oder Klein-Bernau,
wohin ich den Leſer zu führen gedenke, vielmehr gehen wir um
70 Jahr in ſeiner Geſchichte zurück und rüſten uns zu einem Be-
ſuch in dem alten Werneuchen, wie es zu Anfang dieſes
Jahrhunderts war.


Auch damals war es ein freundlicher Ort, aber die Chauſſee,
die noch gar nicht vorhanden oder doch erſt im Bau begriffen
war, hatte noch nicht Zeit gehabt, die Fenſterladen mit dem
rothen Anſtrich und den eingeſchnittenen Herzen zu verdrängen, und
die Strohdächer mit ihrem Storchenneſt und ihren ſchief ſtehenden
Schornſteinen überhoben den Beſucher — trotz der zwei Bürgermeiſter
die Werneuchen damals hatte — der jetzt ſo heikel gewordenen Frage
von „Dorf oder Stadt.“ Keine Schützengilde paradirte zu jener Zeit
mit Sang und Klang durch die Straßen, und wenn draußen in
Wald oder Feld ein Schuß fiel, ſo wußte man, daß es die Büchſe
des Förſters ſei, der am Gamen-Grunde, hart an der Stelle wo
[213] der Weg nach Freienwalde hin abzweigt, ſein unter Tannen
geborgenes Häuschen hatte.


Keine Schützengilde gab es, auch keinen Veteranen-Verein, aber
etwas Anderes, eine Curioſität, ein Reſtchen Mittelalter und
Vehmgericht, das ſich aus unvordenklicher Zeit, allen Einflüſſen
des nivellirenden 18. Jahrhunderts zum Trotz, an dieſem ſtillen
Ort erhalten hatte. Dies Vehmgericht im Kleinen war die ſoge-
nannte „Wröh.“ Zu feſtgeſetzten Zeiten, aber immer nur im
Sommer, verſammelten ſich die Bürger-Bauern auf einem von
alten Linden überſchatteten Platze, der ziemlich in der Mitte
zwiſchen dem Pfarrhaus und der Kirchhofsmauer gelegen war.
Unter den Bäumen dieſes Platzes, nach der Kirchhofs-Seite hin,
lagen vier abgeplattete Feldſteine, die man durch aufgelegte Bretter
in eben ſo viele Bänke verwandelte, wenn eine „Wröh“ abgehalten
werden ſollte. Was in alten Zeiten in dieſen Geſchwornen-Ge-
richten beſprochen und beſtimmt ward, ob jemals ein Werneuchener
Bürger-Bauer das bekannte Meſſer in den Baum am Kreuzweg
gebohrt oder nicht, wird wohl nie mehr zur Kunde der Nachwelt
gelangen, unſere Kenntniß über die Sitzungen der Werneuchener
„Wröh“ datirt erſt aus den unromantiſchen Zeiten des Allge-
meinen Landrechts, wo ganz Werneuchen und natürlich auch die
„Wröh“ unter die ſtille Superintendenz eines Magiſtrats und der
ſchon vorerwähnten Doppel-Bürgermeiſterei gekommen war. Die
Gerichtsbarkeit der „Wröh“ war eine durchaus enge geworden und
beſchränkte ſich darauf, in wöchentlichen oder monatlichen Sitzungen
den Schadenerſatz feſtzuſtellen, den das Vieh des einen Bürgers
oder Bauern den Feldern oder ſonſtigem Beſitzthum des andern
zugefügt hatte. Stimmenmehrheit entſchied und ohne Streit
oder weiteren Appell wurden die Dinge geregelt. Die letzten
dreißig Jahre haben uns in den „Schiedsgerichten“ etwas Aehn-
liches wiedergebracht, aber was dieſer trefflichen Neuſchöpfung im
Vergleich zu jener alten fehlt, iſt die fremd und myſtiſch klingende
Bezeichnung und wir begreifen vollkommen den Stolz eines Wer-
neucheners, der von den Zeiten der „Wröh“ ſpricht, wie ein
Lübecker von der Hanſa und ihrer Oſtſee-Herrſchaft.


Im Sommer 1809 hatte Werneuchen noch ſeinen Lindenplatz
zwiſchen Pfarrhaus und Kirchhof und was mehr ſagen will auch
[214] noch die vier Feldſteine und ſeine „Wröh“. Wir kommen aber nicht in
heißer Juniſchwüle von Berlin, um einer Sitzung des letzten Aus-
läufers der Vehme voll Schweigen und Ehrerbietung beizuwohnen,
— wir haben ein andres Ziel vor Augen: einen Beſuch in der
Pfarre.


Dorf Blumberg liegt längſt hinter uns und nun auch Seefeld
und Löhme, zwei Zwillingsdörfer, die von hüben und drüben ihre
völlig gleichen Kirchthurmſpitzen im Waſſer des Lohme-See’s ſpiegeln.
Aber der Werneuchner Kirchthurm neckt uns noch immer und ermüdet
vom langen Marſche halten wir inne, ſtützen uns nach hinten
übergebogen auf unſeren Stock und lüften mit der Linken den
Hut, um uns die Stirne vom Winde kühlen zu laſſen. Da plötz-
lich iſt es, als hörten wir etwas wie Peitſchenknall und Pferde-
ſchnaufen, und zurückblickend bemerken wir einen offenen Wagen,
der den Sand des Weges aufwirbelnd, in raſchem Trab uns
folgt. Und im nächſten Augenblicke ſchon iſt er ſo nahe, daß
wir ſeine Inſaſſen bequemlichſt zählen können. Es ſind ihrer fünf.
Vorne der Kutſcher mit zwei blondköpfigen Jungen und dahinter
auf dem eigentlichen Sitze des Wagens — der in vier Lederriemen
hängt und bei jeder Bewegung hin- und herſchaukelt — ein wohl-
genährtes Ehepaar, allem Anſcheine nach zwiſchen dreißig und
vierzig. Die Frau hält einen aufgeſpannten Regenſchirm, den ſie
mit vielem Geſchick à deux mains zu gebrauchen weiß, indem ſie
das rothe Dach als Schutz gegen die Sonne, den Griff aber als
Krückſtock benutzt, um die beiden Jungen in Ordnung zu halteu,
die des engzugemeſſenen Raumes halber in beſtändiger Fehde ſind
und aller Controle zum Trotz ihren ſtill erbitterten Kampf mit
den Ellenbogen fortſetzen. Zwiſchen der Sitzbank und dem
ſchrägen Hintertheile des Wagenkorbs iſt noch ein leerer Raum
und unſere Kenntniß ähnlicher Fuhrwerke läßt uns errathen,
daß hier ein Häckſel- oder Futterſack verborgen ſein müſſe, der
ſchließlich nichts dagegen haben würde, wenn wir uns entſchlöſſen,
die letzte Viertelmeile des Wegs auf ſeinem Polſter zurückzu-
legen. Und wirklich wir ſchwingen uns hinein, und unſere Tarn-
kappe hervorziehend, unſer ſelbſtverſtändliches und aller wichtigſtes
Reiſe-Neceſſaire, ſitzen wir jetzt unbemerkt auf dem Häckſelſack
[215] und werden zu glücklichen Zeugen all der kleinen Erziehungs- und
Unterhaltungs-Scenen, die ſich mehr und mehr zu einer gemüth-
lichen Familien-Komödie geſtalten.


Unmittelbar vor uns, auf einer für unſere Füße frei ge-
bliebenen Stelle, liegt ein Spielzeug, jenes mit Glöckchen und
Schellen behängte Blech-Inſtrument, das unter dem Namen der
„Janitſchar“ das Entzücken aller Kinderherzen bildet. Der Raum
iſt ſo eng, daß wir’s trotz äußerſter Vorſicht nicht vermeiden
können die Glöckchen gelegentlich zu berühren, und jedesmal wenn
es klingelt und tingelt drehen ſich alle fünf Köpfe nach uns um,
in leiſer Ahnung, daß es auf dem Häckſelſacke nicht ganz richtig
ſei. Dieſe Kopfwendungen, die der ſtarken Frau jedesmal äußerſt
ſchwer werden, geben uns eine gute Gelegenheit unſere bis dahin
nur von Rücken und Seite her geſehene Reiſegeſellſchaft auch en
face
kennen zu lernen und uns über den Ausdruck des Behagens
als eines charakteriſtiſchen Familienzuges zu vergewiſſern. Die
beiden Jungen ſind unzweifelhaft Zwillinge; der Mutter, einer
hübſchen blonden Frau, rollen die Schweißtropfen wie Freuden-
thränen von der Stirn und ihr Ehegemahl zur Rechten zeigt uns jenes
wohlbekannte, aus Würdigkeit und Sonnenbrand zuſammengeſetzte
Geſicht, das alle ländliche Beamte zu haben pflegen, denen der
Dienſt in der Amts- und Gerichtsſtube die Zeit zu Schnepfen-
und Entenjagd nicht allzu ſehr verkürzt. Und ſo fehlt denn nichts
mehr als die namentliche Vorſtellung: Amts-Actuarius Bernhard
aus Löhme, nebſt Frau und Familie, die ſich gleich nach Tiſch
auf den Weg gemacht haben, um dem befreundeten Pfarrhauſe
zu Werneuchen, wo heute Geburtstag iſt, einen Beſuch abzuſtatten.


Die beiden Braunen traben tüchtig weiter, der kleine Streit
zwiſchen dem Ehepaar, ob „Päth Ulrich“ heute 9 oder erſt 8 Jahre
geworden ſei, iſt endlich ſelbſtverſtändlich zu Gunſten der Frauen-
anſicht entſchieden, und der ſeit einer Viertelſtunde ſeine Peitſche
„Gewehr bei Fuß“ habende Kutſcher nimmt ſie jetzt wieder in
die Hand, um angethan mit allen Abzeichen ſeiner Würde in
Werneuchen einzufahren. Schon holpert und ſtolpert der Wagen
auf dem tiefausgefahrenen Steinpflaſter, der Kutſcher knallt oder
ſtreicht mit bemerkenswerther Eleganz die Stechfliegen von dem
Hals der Pferde, das rothe Dach des Regenſchirms wird einge-
[216] zogen und nur einmal noch fährt die Schirmkrücke mit einem
energiſchen „ſitz gerade,“ in den Rücken des linken Jungen. In
demſelben Augenblick aber wo der Getroffene zuſammenfährt, hält
auch der Wagen ſchon vor der Werneuchener Pfarre.


Von unſerm Verſteck her haben wir Zeit das Haus zu
muſtern. Es iſt ein Fachwerkbau mit gelbem Anſtrich und kleinen
Fenſtern, ſein einziger Schmuck der geräumige Vordergiebel und
ein paar alte Kaſtanienbäume, deren hohe Kronen das ganze Haus
in Schutz zu nehmen ſcheinen. Die Hausthüre ſteht offen und gönnt
einen Blick auf den kühlen flieſengedeckten Flur; aber Niemand
erſcheint auf ihm um die Gäſte willkommen zu heißen. Die beiden
Jungen haben endlich das Terrain recognoscirt und kommen mit
einer barfüßigen alten Frau zurück, die ſie hinten im Garten mit
Unkrautjäten beſchäftigt fanden. In ziemlich dienſtlichem Tone
poltert der Amtsactuarius ein paar ſeiner Fragen heraus; aber
bald ergiebt ſich’s, daß die Jätefrau taub iſt und es am ge-
rathenſten ſein dürfte, die Geſammtkoſten der Unterhaltung ihr
zuzuſchieben. „Alles ausgeflogen .. Alles in’n Wald .. Ulekens
Geburtstag.“ Dieſe Worte genügen völlig. Unſer Amtsactuarius iſt
lange genug in dem Werneuchener Pfarrhaus aus- und einge-
gangen, um zu wiſſen wo der Pfarrer ſeine Lieblingsplätze hat
und der Alten zum Zeichen völligen Eingeweihtſeins einen kurzen
Gruß zunickend, läßt er im nächſten Augenblicke weiter traben.
Als der Wagen etwas heftig anrückt, fall’ ich nach hinten über
und ſtoße ſo ſtark an die Janitſchar, daß ſämmtliche Glocken
zu klingen anfangen. Aber Alles iſt bereits in ſolcher Aufregung,
daß Niemand mehr darauf achtet, welcher Mittagsſpuk da hinten
ſein Weſen treibt.


Bis zum Gamen-Grund iſt eine halbe Stunde. Wir ſind
eben in den Fahrweg eingebogen, der nach Freienwalde hin ab-
zweigt, und halten alsbald an einem Waldpfade, den wir in ſeinen
Windungen durch das Gehölz hin deutlich verfolgen können. Quellen
ſickern im Moos. Elſen und anderes Laubholz miſcht ſich unter
die Tannen und erfriſchende Kühle weht uns an.


„O, da ſingen ſie ſchon. Wußt’ ich doch, daß wir ſie finden
würden“ — mit dieſen Worten, die faſt wie Selbſtgratulation
[217] klingen, eilt der Amts-Actuar von rechts her auf die linke
Seite hinüber, um bei der bevorſtehenden Landung ſeiner Ehe-
hälfte nach Kräften behülflich zu ſein. Im Vertrauen auf die
Gutgeartetheit der Pferde wird ſtatt des directen Weges über
das linke Vorderrad der Umweg über den Deichſeltritt gewählt;
wir aber, als wir dieſe Vorkehrungen glücklich getroffen ſehn,
ſchwingen uns, die linke Hand auf dem Wagenkorbe, mit raſchem
Ruck in den Fahrweg hinein und eilen der Actuar-Familie voraus
in die Waldestiefe hinein.


Da haben wir ſie. Mitten auf einem Rain, den hochſtämmige
Tannen einſchließen, ſcheinen die Elfen an hellem Nachmittag ihre
Spiele zu treiben. Ein Dutzend Kinder, groß und klein, und mit
allerhand Kränzen im Haar tanzen den Ringelreihen, während
inmitten ihres Kreiſes ein Blondkopf ſteht und mit ſeiner
Weidenruthe hierhin und dorthin zeigt, als wär’ es ein Zauber-
ſtab. Abwärts davon, in einer Vertiefung unter den Bäumen,
qualmt und kniſtert ein Feuer, an deſſen Rande, neben anderem
Topfwerk, eine jener weitbauchigen braunen Kannen ſteht, die
den Namen ihrer ſchleſiſchen Vaterſtadt ruhmreich über die Welt
getragen haben; dahinter aber, auf einer natürlichen Bank, ſitzt
pastor loci, kenntlich durch Haltung und Sammetkäpſel, und
reicht ſeiner neben ihm ſtehenden jungen Frau die Hand. „Es
iſt gut ſo,“ ſcheint ſeine freundliche Miene zu ſagen, und die
Glückliche, glücklich in ſeinem Beſitze, neigt ſich und küßt
ihm die Stirn, auf einen kurzen Augenblick unbekümmert um
Kannen und Kinder und um das brodelnde Waſſer, das eben
ziſchend in die Flamme fährt. Wir ſtehen noch im Bann dieſer
reizenden Scene, da knickt es dicht neben uns im Unterholz,
und das raſche, laut-ängſtliche Athmen einer Aſthmatiſchen läßt
keinen Zweifel darüber, wer im Anzuge ſei. Wirklich, ihre Zwillinge
vorauf, den Ehgemahl mit der Janitſchar unmittelbar hinter
ſich, iſt die Frau Amtsactuar auf die Waldwieſe getreten. Und
vor ihrer Erſcheinung iſt der Zauber entflohen. Der Ringel-
reihen ſchweigt, die Werneuchner Dorfjugend hat ihr Elfenthum
abgeſtreift und das geſammte junge Volk ſtürzt mit Jubelgeſchrei
den Ankommenden entgegen.


[218]

Wir ſind nicht Zeugen der Begrüßungsſcene, die nun
folgt, ſehen nicht, wie der reizende Blondkopf, der noch eben
auf einem Elſenſtumpfe ſtand, das bewunderte Geſchenk aus den
Händen ſeines Pathen entgegennimmt und betheiligen uns noch
weniger an „Hirſch und Jäger“ oder gar an dem Wettkampfe der
abſchließend zwiſchen den Horatiern und Curiatiern von Werneuchen
und Loehme zur Aufführung kommt — wir gönnen den Alten
am Feuer ihr Geplauder und den Kindern im Wald ihre Luſt
und geſellen uns ihnen erſt wieder, als ſie gegen Abend, uner-
müdet vom Singen und Springen, ihren Heimmarſch antreten.
Halben Weges zwiſchen dem Gamen-Grund und Werneuchen be-
gegnen wir ihnen und laſſen den phantaſtiſchen Zug an uns
vorüberziehn. Voran Klein-Ulrich, der Held des Tages. Un-
mittelbar hinter ihm die Zwillinge, von denen einer auf einem
Kaffeetrichter bläſt. Und nun der Fahnenträger, einen Birken-
buſch vor ſich. Andre folgen mit zinnernen Bechern und blechernen
Löffeln — alles in allem ein Bacchuszug aus jenen Regionen,
wo das Beſingkraut an die Stelle des Weinlaubs tritt.


Neben dem Zuge her mahlt der Loehmer Amtswagen. Unſere
ſtattliche Freundin, die ſeit dem Abendgange durchs Korn, auf
dem ſie ſich verlobte, nie mehr einen Spazierngang wagte, thront
mit dem Ausdruck wachſenden Behagens auf ihrem Wagenſitz, und
gelegentliche Zurufe, die ſich auch jetzt noch auf nicht abzu-
reichende Diſtance der Erziehung ihrer Zwillinge widmen, geben
ihr mehr Befriedigung als Verdruß. Eine kurze Strecke hinter
dem Zuge folgen die Männer in lebhaftem Geſpräch und der
Amts-Actuar, der die Berliner Zeitung hält, rectificirt die rechte
Flügel-Aufſtellung bei Wagram, „ein Fehler, den er dem Erzherzog
Karl nie zugetraut hätte“. Neben ihnen her aber, gleich unan-
gefochten durch die Fehler bei Wagram, wie durch die Correkturen
des Amts-Actuars, trottet Boncoeur, aller Liebling und Vertraute,
mit einem ſo ehrlichen Pudelgeſicht, als hab er’s jedem Einzelnen
verſprochen, für verlorene Tücher und Schuhbänder mit ſeiner
Perſon aufkommen zu wollen.


Dämmerung liegt auf der Dorfſtraße. Die Spielgefährten
ſchlüpfen rechts und links in Hof und Thüre, während unſere
Freunde vor der Pfarre halten.


[219]

Die Sterne ziehen herauf und es wird ſtill in Dorf
und Haus.


So ſah es im Sommer 1809 in Werneuchen aus, allwo
der vielgenannte „Paſtor Schmidt von Werneuchen“ damals
im Amte war. Ich glaubte den Mann, dem dieſe Darſtellung
gilt, nicht beſſer einführen zu können, als durch ein Bild, das ihn
uns in Wald und Feld und im Kreiſe der Seinen zeigt. Eine
kindliche Natur, hing ſein Herz an dem Stillleben der Familie.


Bevor ich ſeine Charakteriſtik verſuche, ſchick’ ich eine Zu-
ſammenſtellung des biographiſchen Materials vorauf, das ich über
den äußerlichen Gang ſeines Lebens erhalten konnte.


Friedrich Wilhelm Auguſt Schmidt, genannt Schmidt von
Werneuchen, wurde den 23. März (nicht Mai) 1764 in dem
reizend gelegenen Dorfe Fahrland*) bei Potsdam geboren. Sein
Vater war Pfarrer daſelbſt. Von den glücklichen Tagen ſeiner
Kindheit erzählt uns eine ſeiner gelungenſten Idyllen: „An das
Dorf Fahrland
“:


Ach, ich kenne dich noch, als hätt’ ich dich geſtern verlaſſen;

Kenne das hangende Pfarrhaus noch mit verwittertem Rohrdach,

Wo die treu’ſte der Mütter die erſte Nahrung mir ſchenkte.

Es ſcheint, daß er den Vater frühzeitig verlor, denn er kam
ſchon um 1775 auf das Schindler’ſche Waiſenhaus nach Berlin,
wo der ſpätere, gleichfalls als Dichter ausgezeichnete Staatsrath
Friedrich Auguſt v. Staegemann, eines Uckermärkiſchen Predigers
Sohn, ſein Mitſchüler war. Ob er, wie dieſer, auf dem „grauen
Kloſter“ oder aber auf einer anderen Schule ſeine Gymnaſial-
Bildung vollendete, konnt’ ich nicht erſehen. Etwa um 1785 ging er
nach Halle, daſelbſt Theologie zu ſtudiren. Seine Lage muß um
jene Zeit eine ziemlich bedrängte geweſen ſein, wie die Anfangs-
[220] zeilen einer poetiſchen Epiſtel an ſeinen Freund Chriſtian Heinrich
Schultze, Prediger in Döbritz, vermuthen laſſen. Dieſe lauten:


Du mir theuer, ſeit bei magrer Krume

Und beim Waſſerglas der Freundſchaft Band

Uns umſchlungen an der Saale Strand ꝛc.

Anfang der 90er Jahre ſcheint er die Stellung als Prediger
am Berliner Invalidenhauſe erhalten zu haben. In dieſe Zeit
fällt auch ſeine Verlobung mit ſeiner geliebten, in vielen Liedern
gefeierten Henriette, mit der er dann 1795 die glücklichſte Ehe
ſchloß. 1796 erhielt er die Werneuchner Pfarre. Die Jahre vor
und kurz nach ſeiner Verheirathung bilden auch die Epoche ſeines
friſcheſten poetiſchen Schaffens. Die Lieder an „Henriette“ ge-
hören ſelbſtverſtändlich dieſer Zeit an, aber auch ſeine Vorliebe für
das Beſchreibende zeigte ſich ſchon damals, vor allem der ihn
charakteriſirende Hang für das Abmalen jener Natur, die ihm vor
der Thür lag, die er ſtündlich um ihre Eigenart befragen konnte.
Den Wunſch, ſeine Werneuchner Pfarre mit einer anderen zu
vertauſchen, ſcheint er nie gehabt zu haben. Sein Weſen war
Genügſamkeit, Zufriedenheit mit dem Looſe, das ihm gefallen.
Eine Reihe von Kindern ward ihm geboren; ſie waren der Son-
nenſchein des Hauſes. Den jüngſten Knaben, Ulrich, verlor er
frühzeitig; kurz vorher oder nachher ſtarb auch die Mutter. Mit
ihr begrub er die Freudigkeit ſeines Herzens. Eine Reihe von
Liedern verräth uns, wie tief er ihren Tod beklagte. Später ver-
mählte er ſich zum zweiten Male. Seine zweite Gattin überlebte
ihn und errichtete ihm das Denkmal, ein gußeiſernes Kreuz, auf
dem Werneuchner Kirchhof, das, von einem ſchlichten Holzgitter
eingefaßt, folgende Inſchrift trägt: „F. W. A. Schmidt, Prediger
zu Werneuchen und Freudenberg, geb. den 23. März 1764, geſt.
den 26. April 1838. Rückſeite: „Ich will euch wiederſehen und
euer Herz ſoll ſich freuen und eure Freude ſoll Niemand von euch
nehmen.“ Ihm zur Seite ruhen, unter überwachſenen Epheuhügeln,
ſeine erſte Gattin (Henriette) und ſein Lieblingsſohn Ulrich.


Dieſen kurzen biographiſchen Notizen laß ich eine Reihe mir
zugegangener kleiner Mittheilungen folgen, ohne weitere Zuthat von
meiner Seite.


[221]

Den Pfarracker hatte er verpachtet, weil er, wie er ſagte,
nicht „verbauern“ wollte. Aber wenn er auch ſeine Ehre und ſeine
Aufgabe darin ſetzte, nicht ſelbſt ein Bauer zu werden, ſo liebte
er doch die Landleute ſehr und ſprach gern und eingehend mit
ihnen. Die Landwirthſchaft, als ein Großes und Ganzes, hatte
er bei Seit’ gethan, aber ſein Garten war ſeine beſtändige Freude.
Er hätte ohne dieſe tägliche Berührung mit dem Leben der Natur
nicht ſein können.


Der Garten lag unmittelbar hinter dem Hauſe, rechts von
der Kirchhofsmauer über die die Grabkreuze hinwegragten, links
von Nachbarsgärten eingefaßt; nach hinten zu ging der Blick in’s
Feld. Schneeball- und Hollunder-Bosquets empfingen den Be-
ſucher, der aus der geräumigen Küche mit ihren blank geſcheuerten
Keſſeln in den unmittelbar dahinter gelegenen Garten eintrat. Die
beſondere Sehenswürdigkeit darin war ein alter Birnbaum, der
noch jetzt exiſtirt und ſchon damals als einer der älteſten
in den Brandenburgiſchen Marken galt; der größte Schmuck
des Gartens aber waren ſeine vier Lauben. Drei davon,
die dem Hauſe zunächſt lagen, waren Fliederlauben in denen
je nach der Tageszeit und dem Stand der Sonne, der Beſuch
empfangen und der Kaffee getrunken wurde, die vierte dagegen,
die mehr eine hohe, kreisrunde Blühdornhecke, als eine eigentliche
Laube war, erhob ſich auf einer kleinen Anhöhe am äußerſten Ende
des Gartens und führte den Namen „Sieh dich um.“ In dieſe
Hecke waren kleine Fenſteröffnungen eingeſchnitten, die nun, je
nachdem man ſeine Wahl traf, die reizendſten Ausſichten auf Kirch-
hof, Gärten oder blühende Felder geſtatteten. Rothe und weiße
Roſen faßten überall die Steige ein, eine der Lauben aber, und
zwar die, die ſich an die Kirchhofsmauer lehnte, führte deutungs-
reich den Namen „Henrietten’s Ruh.“


In dieſem Garten arbeiten war unſeres Freundes Luſt. Mit
einer Art von Befriedigung pflegte er ſich aufrichten und ſeinem
Sohne zurufen: „Heut thut mir der Rücken weh vom Bücken.“
Hühner und Sperlinge vom Garten abzuhalten, war die ſtets
gern erfüllte Pflicht der Kinder.


Der Sommer war ſchön, aber der ſchönſte Monat des Jah-
res war doch der December. „Das Weihnachtsgefühl, die hohe
[222] Vorfreude des Feſtes in uns zu wecken“ ſo ſchrieb mir der Sohn
„verſtand er vortrefflich. Er that es in lockender, die Einbil-
dungskraft anregender Weiſe, theils durch Töne von Kinderinſtru-
menten, theils durch Proben von Weihnachtsgebäck, welches von
bepelzter Hand durch die knapp geöffnete und im Hui wieder ge-
ſchloſſene Thür in die Kinderſtube geworfen wurde. Ließ einmal
Knecht Ruprecht gar nichts von ſich hören und ſehen, ſo baten
wir ſingend an der hoffnungsreichen Pforte um ſein Erſcheinen
und ſeine Gaben. Waren wir artig geweſen, ſo gewährte er; an-
dernfalls praſſelten Nußſchalen oder faule Aepfel durch die
Thüröffnung herein.“ Den Jubel am heiligen Abend hat er in
einem ſeiner populärſten Gedichte ſelbſt beſchrieben:


Nußknacker ſteh’n mit dickem Kopf

Bei Jud’ und Schornſteinfeger;

Hier hängt ein Schrank mit Kell’ und Topf,

Dort hetzt den Hirſch der Jäger.

Hier ruft ein Kuckuck, horch!

Und dort ſpaziert ein Storch,

Mit Aepfeln prangt der Taxusbaum

Und blinkt von Gold und Silberſchaum.

Zu Pferde paradirt von Blei

Ein Regiment Soldaten;

Ein Sansfaçon ſitzt frank und frei

Gekrümmt und münzt Ducaten.

Und Alles ſchmauſt und knarrt,

Trompet’ und Fiedel ſchnarrt;

Fern ſteh’n die Alten ſtill erfreut

Und denken an die alte Zeit.

Das Leben auf der Pfarre war ein ziemlich bewegtes. Mit
einigen Predigern in der Umgegend war er von früher her be-
kannt und dieſe beſuchte er, wenn er auf geiſtige Anknüpfungs-
punkte rechnen konnte; ſonſt ſchwerlich. Unter den befreundeten
Amtsbrüdern befand ſich auch der Probſt Gloerfeld in dem be-
nachbarten Bernau. Dieſer würdige und allgemein hochgeachtete
Geiſtliche hatte einen ſchönen Tod. Er war ein großer Garten-
freund, wie die meiſten Geiſtlichen in jener geldarmen Zeit, und
empfing dann und wann Beſuche von Perſonen, die ſeinen ſchönen
Garten ſehen wollten. Einmal erſchien auch eine junge, durch-
[223] reiſende Dame und als er ſich bücken wollte, um ihr eine Roſe zu
pflücken, ſank er todt zwiſchen die Blumenbeete nieder.


Schmidt’s Gedichte geben über den Kreis ſeiner Bekanntſchaft
die beſte Auskunft. Es lag in der Natur ſeiner Muſe, die einen
durchaus häuslichen Charakter hatte und das Leben mehr erheitern
als auf ſeine Höhen treiben wollte, daß er Dinge, die ſich in
Proſa eben ſo gut hätten ſagen laſſen, in Verſen abmachte. Bei-
ſpielsweis Einladungen und Gratulationen. So lernen wir denn
beim Leſen ſeiner Dichtungen auch ſeine Freunde und Bekannte
kennen und zwar aus Näh’ und Ferne: Paſtor Schultz aus Dö-
britz im Havelland, Amtsactuarius Bernhard aus Loehme (unſer
alter Freund aus dem Gamen-Grund her), Prediger Dapp in
Klein-Schöneberg, Rudolf Agrikola, Frau Oberſt von Valentini,
Maler Heuſinger und Andere mehr, meiſt Perſonen, die mit mehr
oder minder Dringlichkeit aufgefordert werden, der Werneuchner
Pfarre „die im Grunde genommen viel hübſcher ſei als die Ber-
liner Paläſte“ ihren Beſuch zu machen. Beſonders nah ſtand ihm
der Paſtor Ahrendts in dem nur eine Meile entfernten Beyers-
dorf. Mit dieſem hatte er zuſammen ſtudirt, beide waren in un-
mittelbarer Aufeinanderfolge Prediger im Berliner Invalidenhauſe
geweſen, beide hatten zu Ende des vorigen Jahrhunderts ihre
benachbarten Landpfarren erhalten und verblieben darauf bis zu
ihrem Tode, nachdem beide kurz vorher ihr 50jähriges Jubiläum
gefeiert hatten, Schmidt 1837, Ahrendts 1838.


Unter den gelegentlich Einſprechenden waren auch einzelne
Berliner Geiſtliche von der ſtrengeren Richtung, wie Held und
Hennefuß. Er theilte die Anſichten dieſer Herren nicht und hatte
deſſen kein Hehl, war aber in der Art, wie er ernſte Geſpräche führte,
von ſo feinen und anziehenden Formen, daß die Beſuche weit öfter
wiederholt wurden, als man hätte muthmaßen ſollen. All dieſer
Zuſpruch, weil er ihm geiſtige Nahrung und Anregung bot, er-
freute ihn lebhaft, aber höchſt unbequem waren ihm die affectirten
Leute aus der großen Stadt, die ſich aus Neugier oder aus Senti-
mentalität bei ihm blicken ließen, um hinterher von den „hohen
Vorzügen des Landlebens“ ſchwärmen zu können, und eines ſeiner
[224] humoriſtiſchen Gedichte, nachdem er dieſe Zudringlichen zuvor be-
ſchrieben, ſchließt denn auch mit dem Anruf an Fortuna:


Send’, o Göttin, naht ein ſolcher Schwall,

Uns zum Schutze Regen her in Bächen!

Thürm’ ein Wetter auf mit Blitz und Knall,

Oder laß ein Wagenrad zerbrechen.

Es [erinnert] dies an ähnliche Niedlichkeiten Mörike’s, deſſen
Humor freilich um vieles mächtiger war.


Unter den claſſiſchen Dichtern war ihm neben Homer, Virgil
der liebſte; ſeine Bukolika ſtanden ihm außerordentlich hoch und
mögen ſein eigenes Dichten beeinflußt haben. Als der größte
Dichter aller Zeiten aber erſchien ihm Shakeſpeare, den er mit
Paſſion las und deſſen kühne und erhabene Bilder ihn immer
wieder begeiſterten.


Die Angriffe, die ſein eigenes Dichten erfuhr, machten gar
keinen Eindruck auf ihn, ergötzten ihn vielmehr. Es lag wohl
darin, daß er eine durch und durch beſcheidene Natur und niemals
von dem eitlen Vermeſſen erfüllt war, neben den Heroen jener
Zeit auch nur annähernd als ebenbürtig daſtehen zu wollen. Er
wollte wenig ſein, aber daß er dies Wenige auch wirklich
war, davon war er feſt überzeugt
; er hielt den Beweis
davon, wenn er auf die Natur hinausblickte, gleichſam in
Händen, und dieſe Ueberzeugung, die nebenher wiſſen mochte,
daß ein kleines Blättchen vom Lorbeerkranz ihm früher oder
ſpäter nothwendig zufallen müſſe, nahm ſeinem Auftreten
jede Empfindlichkeit. Das bekannte gegen ihn gerichtete Goethe-
ſche Spottgedicht:

O wie freut es mich, mein Liebchen,

Daß du ſo natürlich biſt,

Unſre Mädchen, unſre Bübchen

Spielen künftig auf dem Miſt,


las er ſeinen Kindern vor und ſcherzte darüber mit ihnen. Seine
Hochſchätzung Goethe’s wurde durch dieſen Angriff in nichts ge-
mindert, und ſeine Kinder mußten um dieſelbe Zeit, als jenes
[225] Spottgedicht erſchienen war, Goethe’ſche Lieder und Balladen aus-
wendig lernen.


Bis hierher hat uns, auch da noch wo wir aus ihm citirten,
der Menſch beſchäftigt; wir wenden uns nun dem Dichter zu.
War er ein ſolcher überhaupt? Gewiß, und trotz einer ſtarken
proſaiſchen Beimiſchung, weit mehr als gemeinhin geglaubt wird.
Der Ton, in dem man ihn anerkannte, pflegte dem zu gleichen,
in dem in Vor-Claus-Grothſchen Tagen von unſeren plattdeutſchen
Dichtern, zumal auch von unſerem Altmärkiſchen Landsmann
Bornemann geſprochen wurde. In den Dichtungen des Einen
wie des Anderen vermißte man Idealität und ließ um eben
deshalb beide nur als Dichter-Abarten gelten, als heitere, derbe,
humoriſtiſche Erzählertalente, die zufällig in Reim ſtatt in Proſa
erzählten.


Es liegt darin, auch namentlich in dem Zuſammenwerfen
Schmidt’s von Werneuchen mit den plattdeutſchen Dichtern der
alten Schule, viel Wahres und Richtiges; viel Wahres, in das
ſich nur inſoweit eine gewiſſe Unbilligkeit gegen unſeren Wer-
neuchener Deſkriptiv-Poeten mit einmiſcht, als er anderer Klänge
wie die ſind, die zumeiſt aus ihm citirt werden, ſehr wohl fähig
war. Die unbeſtreitbare Popularität der Zeilen:

Die Tafel iſt gedeckt,

Wo nun der Schüſſeln Duft die Lebensgeiſter weckt;

Schweinbraten, ach, nach dir, nach euch, geback’ne Pflaumen,

Sehnt ſich die Braut ſchon längſt! ihr glänzen beide Daumen —


ich ſage, die Popularität dieſer und ähnlicher Zeilen hat unſer
Dichter mit dem beſſeren Theil ſeines Ruhmes bezahlen müſſen.
Dieſer Aufſatz ſoll kein literar-hiſtoriſcher ſein, er würde ſich ſonſt
die Aufgabe ſtellen, eine gewiſſe Verwandtſchaft Schmidt’s von
Werneuchen mit der ſpäteren Platen’ſchen und namentlich Freili-
grath’ſchen Schule nachzuweiſen.


Schmidt von Werneuchen handhabte Vers und Reim mit
großer Leichtigkeit und zählte zu den productivſten Lyrikern jener
Epoche. Man muß freilich hinzuſetzen, er that des Guten zu viel.
Fontane, Wanderungen. IV. 15
[226] In dem kurzen Zeitraume von ſechs Jahren erſchien er mit fünf
Bänden „Gedichte“ vor dem Publicum, Gedichte, die ſich unter
einander zum Theil ſo ähnlich ſehen, daß es ſchwer hält, ſie in
der Vorſtellung von einander zu trennen. Sie erſchienen in fol-
gender Reihenfolge: „Kalender der Muſen und Grazien,“
1796; „Gedichte,“ erſter Band, bei Haude und Spener, 1797;
,Gedichte,“ zweiter Band, bei Oehmigke jun., 1798; „Roman-
tiſch-ländliche Gedichte
,“ bei Oehmigke jun., 1798; „Alma-
nach der Muſen und Grazien
“ (Fortſetzung des „Kalenders
der Muſen und Grazien“), bei Oehmigke jun., 1802. Dies iſt
Alles, was ich aus der Epoche von 1796 bis 1802 von ſeinen
Veröffentlichungen in Händen gehabt habe; doch möcht ich faſt
bezweifeln, daß die gegebene Aufzählung die Geſammtheit ſeiner
damaligen Production umfaßt. Die Kluft zwiſchen 1798 und 1802
iſt zu weit. Nach dem Jahre 1802 ſcheint er ſein Harfenſpiel an
die Wand gehängt zu haben; nur aus dem Jahre 1815 begegnen
wir noch ſchließlich einem ſchmalen Büchelchen, das den Titel
Neueſte Gedichte“ führt und in zwei Sonettenkränzen,
eine Form, in der er ſich auch früher ſchon verſuchte, den Tod
ſeiner erſten Gattin Henriette und das frühe Hinſcheiden ſeines
Lieblingsſohnes Ulrich beklagt. Ich erwähnte dieſer Lieder ſchon
weiter oben.


Sehen wir von dem Jahrgange des Erſcheinens ab und be-
trachten wir ſeine Dichtung als ein Ganzes, das wir nicht äußer-
lich nach Namen und Datum, ſondern nach ſeinem inneren Ge-
halt zu theilen und zu trennen haben, ſo ergeben ſich drei Haupt-
gruppen: Sonette, Balladen und Naturbeſchreibungen, letztre vom
kurzen Lied an bis zum ausgeführten Idyll.


Ueber die erſte und zweite Gruppe (Sonette und Balladen)
gehen wir ſo ſchnell wie möglich hinweg. Er hatte weder von
dem Einen noch von dem Andern auch nur eine Ahnung, und
während ihm im Sonett, all ſeiner Reimgewandtheit unerachtet,
alle Grazie der Form und des Gedankens fehlte, ſuchte er —
die ſchwächeren und ſchwächſten Sachen Bürger’s zum Vorbild
nehmend — das Weſen der Ballade theils im Mordhaft-ſchauer-
lichen, theils in einem Geſpenſter-Apparate, der ſchon deshalb
Niemanden in Schrecken ſetzen konnte, weil er ſelber keinen
[227] Augenblick an das wirkliche Lebendigſein dieſer ſeiner Figuren
glaubte. So kam es, daß er in dieſer Dichtungsart beſtändig den
bekannten einen Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen that
und uns ſtatt erſchütternder Geſtalten bloße Karrikaturen vorführte.
Um wenigſtens eine Belagsſtelle für dies mein Urtheil zu citiren,
laß ich hier die erſte Strophe der Spuk-Ballade „Graf Königs-
mark und ſein Verwalter“ folgen:

Graf Königsmark hatt’ irgendwo

In [Sachſen] an der Saale

Ein Gut, wohin er gern entfloh

Der höfiſchen Kabale.

Die Wirthſchaft dort beſorgt ein treuer

Verſtändiger und frommer Meier.


Dies genüge. Dieſelbe Ballade weiſt übrigens viel ſchlimmere
Strophen auf. Keine Dichtungsart vielleicht kann die Verwechs-
lung von Einfach-natürlichem mit Hausbacken-pro-
ſaiſchem
ſo wenig ertragen wie die Ballade.


Schmidt von Werneuchen war kein Sonettiſt und noch weni-
ger ein Minſtrel, der es verſtanden hätte, bei den Feſtmahlen
alter Häuptlinge die heroiſchen Sagen des Clan’s zu ſingen, aber
er war ein Naturbeobachter und Naturbeſchreiber trotz einem.
Nicht die Geßner’ſche Idylle war ſeine Stärke, bei den Niederländern
ſchien er in die Schule gegangen zu ſein, und wenn Friedrich
Wilhelm I. einmal ausrufen durfte: „ich hab’ ein treu-Holländiſch
Herz,“ ſo durfte Schmidt von Werneuchen ſagen: „ich hab ein
gut-Hollländiſch Aug’.“ Und wirklich, jetzt, wo man es liebt, die
Künſtler dadurch zu charakteriſiren, daß man ſie mit hervorragenden
Erſcheinungen einer verwandten Kunſt vergleicht, möcht’ es geſtattet
ſein, Schmidt von Werneuchen einen märkiſchen Adrian von Oſtade
zu nennen. Beide haben in „Bauernhochzeiten“ excellirt.


Aber dieſe „Bauernhochzeiten“ unſers märkiſchen Poeten waren
doch, der Geſammtheit ſeines Schaffens gegenüber, nur die Staf-
fage
; er konnte ein Genremaler ſein, wenn ihm der Sinn danach
ſtand, vor Allem indeß war er ein Landſchafter, oft freilich nur
ein grober Realiſt der die Natur rein äußerlich abſchrieb, oft aber
auch ein feinfühliger Künſtler, der ſich auf die leiſeſten land-
ſchaftlichen Stimmungen, auf den Ton und alle ſeine Nüancen ver-
15*
[228] ſtand. Er war nicht immer der gereimte Proſaiker, der mit Freud’
und Behagen niederſchreiben konnte:

Die Küchlein ziepen;

Neſtvögel piepen

Im Fliedergrün,

Und Frauen zieh’n

Mit Milch in Kiepen

Barfüßig hin

Zur Städterin —


er konnte ſich auch ſehr weſentlich über dieſe Spielereien, über dies
rein äußerlich Beſchreibende erheben, und trotz eines leiſen An-
klangs an Bürger’s „Pfarrerstochter zu Taubenhayn“ zähl’ ich
doch beiſpielsweiſe folgende Strophe zu den gelungenſten Schilderungen
einer herbſtlichen Landſchafts-Stimmung:


Es ſauſte der Herbſtwind durch Felder und Buſch,

Der Regen die Blätter vom Schlehdorn wuſch,

Es flohen die Schwalben von dannen,

Es zogen die Störche weit über das Meer,

Da ward es im Lande öd und leer

Und die traurigen Tage begannen.

Am vorzüglichſten war er da, wo er in claſſiſcher Einfach-
heit und in nie zu bekrittelnder Aechtheit die märkiſche Natur
beſchrieb und den Ton ſchlichter Gemüthlichkeit traf ohne in
Trivialität oder Sentimentalität zu verfallen
. Unter
ſeinen früheren Sachen finden ſich nicht wenige, die dieſen
Charakter tragen, und wer ſich der Arbeit unterziehen wollte, die
Spreu vom Weizen zu ſondern, der würd’ im Stande ſein, dem
Publicum ein Büchelchen zu bieten, das die gäng und geben An-
ſichten über den Dorfpoeten von Werneuchen ſehr weſentlich modi-
ficiren würde. Ich gebe nur eine ſolche Stelle und zwar aus dem
ſchon früher erwähnten Gedichte: „An das Dorf Fahrland,“ jenes
Dorf in dem er geboren war.


Ach, ich kenne dich noch, als hätt’ ich dich geſtern verlaſſen,

Kenne das hangende Pfarrhaus noch mit verwittertem Rohrdach,

Kenne die Balken des Giebels, wo längſt der Regen den Kalk ſchon

Losgewaſchen, die Thür mit großen Nägeln beſchlagen,

[229]
Kenne das Gärtchen vorn mit dem ſpitzen Stacket, und die Laube

Schräg mit Latten benagelt, und rings vom Samen der dicken

Ulme des Nachbars umſtreut, den gierig die Hühner ſich pickten.

Und weiter dann:


O, wie warſt du ſo ſchön, wenn die Fliegen der Stub’ im September

Starben, und roth die Ebreſchen am Hauſe des Jägers ſich färbten;

Wenn die Reiher zur Flucht, im einſam ſchwirrenden See-Rohr,

Ahnend den Sturm, ſich verſammelten, — wenn er am Gitter der Pfarre

Heulend die braunen Kaſtanien aus platzenden Schalen zur Erde

Warf und die ſchüchternen Krammetsvögel vom Felde zu Buſch trieb;

Froher alsdann als der Sperling im Dach, dem von hinten die Federn

Ueber’s Köpfchen der Sturmwind blies, unterhielt ich ſo gerne

In dem rothen Kamine die Gluth mit kniſternden Spähnen.

Dies genüge. Wer den Sinn für Naturbeſchreibung hat
wird in dieſen wenigen Zeilen Züge von ganz ungewöhnlicher
Feinheit finden (z. B. die Schilderung des Sperlings in der zweit-
und drittletzten Zeile) und nicht länger Luſt haben, den Schmidt
von Werneuchen zu den bloßen Reimſchmieden zu werfen.


Uebrigens muß er zu ſeiner Zeit, trotz aller Gegnerſchaft,
auch zahlreiche Freunde und Verehrer gehabt haben; ſelbſt die
Goethe’ſchen Spottverſe, die wohl nicht geſchrieben worden wären,
wenn nicht der Dichter, gegen den ſie ſich richteten, einer gewiſſen
Popularität genoſſen hätte, deuten durch ihr bloßes Vorhandenſein
darauf hin. Deutlicher ſpricht dafür die äußere Ausſtattung, in
der ſeine Gedichte damals vor das Publicum traten: beneidenswerth
ſchöner Druck und die beiden erſten Sammlungen von der Hand
Chodowiecki’s und ſeiner beſten Schüler illuſtrirt. Solche koſtſpie-
lige Ausſtattung wagten die Verleger wohl nur, wo das Anſehen
des Poeten, oder wenigſtens ſeine locale Popularität, einen ſichern
Abſatz in Ausſicht ſtellte.


Dieſe locale Popularität hatte er zweifellos, und wer das
Weſen der Märker, inſonderheit auch der Berliner, näher kennt,
wird ſich darüber nicht wundern. Die Märker lieben es, hinter
ironiſchen Neckereien ihre Liebe zu verſtecken, und während ſie
nicht müde werden über die eigene Heimath, über die „Streuſand-
büchſe“ und die kahlen Plateau’s die „nichts als Gegend“ ſind die
ſpöttiſchſten und übertriebenſten Bemerkungen zu machen, horchen
[230] ſie doch mit innerlicher Befriedigung auf, wenn Jemand den Muth
hat für „Sumpf und Sand“ und für die Schönheit des Mär-
kiſchen Föhrenwalds in die Schranken zu treten. Und dies hat
Schmidt von Werneuchen ehrlich gethan. Er that es zuerſt und
that es immer wieder. Sein ganzes Dichten, Kleines und
Großes, Gelungenes und Mißlungenes, einigt ſich in dem einen
Punkte, daß es überall die Liebe zur Heimath athmet und dieſe
Liebe wecken will.


Und deshalb ein Hoch auf den alten Schmidt von Werneuchen!


[[231]]

Malchow.
Eine Weihnachtswanderung.


Staub wird zu Staub

Und Ruhm und Name der Zeiten Raub.

Der Deutſche lügt, wenn er höflich iſt.

Der Herbſt färbte ſchon die Blätter, und die Störche mochten
ſich eben auf die Lehmhütten der Fellahs niedergelaſſen haben, als
mir ein gelbes Buch zu Händen kam, das auf ſeinem Umſchlag,
außer dem zum Licht emporſtrebenden Adler der Firma Duncker
u. Humblot, auch noch den Titel führte: „Paul von Fuchs, ein
brandenburgiſch-preußiſcher Staatsmann vor zweihundert Jahren.
Biographiſcher Eſſay von F. v. Salpius.“ Und am Schluſſe
dieſes Buches hieß es nicht dem Wortlaute, wohl aber dem weſent-
lichen Inhalte nach, wie folgt:


„Am 7. Auguſt 1704 verſchied Paul von Fuchs, Geheimrath
und Etatsminiſter, auf ſeinem Gute Malchow bei Berlin, das
er ſchon 1684 durch Tauſch an ſich gebracht und allwo er ein
„artiges Haus“ für ſich und ſeine Familie hergerichtet hatte. Der
König pflegte ihn von dem nahe gelegenen Nieder-Schönhauſen aus
häufiger auf dieſem ſeinem Landſitze zu beſuchen. Auch an jenem
7. Auguſt war ein ſolcher Beſuch beabſichtigt, aber unterwegs
ſchon erfuhren Ihre Majeſtät den Tod Ihres treuen Dieners.
Paul v. Fuchs war in ſeinem 64. Jahre verſtorben. Johann
[232] Porſt, dazumalen Pfarrer zu Malchow — ſpäter Domprobſt und
Beichtvater der Königin, bekannt als Herausgeber des Porſt’ſchen
Geſangbuches — hielt eine Predigt zum Gedächtniß des Heimge-
gangenen, darinnen es hieß, daß er „ſeine dauerhaften Kräfte und
beſtändige Geſundheit zum Heil des Landes und Wohlſein der
Kirche aufgeopfert habe.“ Bald darauf wurde der Sarg in der
Gruft zu Malchow beigeſetzt und ſteht ebendaſelbſt zwiſchen den
Särgen ſeiner vor ihm geſtorbenen Schwiegertochter und ſeiner
zweiten Frau „née de Friedeborn“. Das Fuchs’ſche Wappen aber
befand ſich noch bis 1874 am herrſchaftlichen Stuhl der Kirche.“


Wer ſich auf Urnen und Todtentöpfe verſteht und überhaupt
nur ein Aederchen von einem Sammler oder Alterthümler in ſich
hat, begreift daß dieſe Notiz eine gewiſſe Malchow-Sehnſucht in
mir wecken und eine „Wanderung“ dahin zu einer bloßen Frage
der Zeit machen mußte. Mit dem erſten Maienſchein, an grünen
Saaten vorbei, hofft’ ich den Ausflug unternehmen und nach
„manch verborgenem Schatz“ ausſchauen zu können. Aber es war
anders beſchloſſen und aus einer Wanderung bei Finkenſchlag und
Apfelblüthe wurd’ eine Wanderung bei Nordweſt und Schneege-
ſtöber: eine Weihnachtswanderung.


Eine Wanderung nach Malchow, ſo kurz ſie iſt, gliedert ſich
nichtsdeſtoweniger in drei ſtreng geſchiedene Theile: Omnibusfahrt
bis auf den Alexanderplatz, Pferdebahn bis Weißenſee, und per
pedes apostolorum
bis nach Malchow ſelbſt. Und ſo vollzog es
ſich auch. Auf dem Alexanderplatz regierten bereits die fliegenden
Söhlkes mit dem „Schäfchen“ und dem „Schaukelmann,“ deſſen
Birnen ſich noch gerade ſo gelb und roth geſprenkelt zeigten wie
vor funfzig Jahren in den Tagen meiner eigenen Kindheit; in
dem Pferdebahnwagen aber in den ich einſtieg, war es als wäre
der Weihnachtsmann mit oder vor mir eingeſtiegen und gedenke ſeinen
Einzug in Weißenſee zu halten. Alle Plätze voller Kinder mit ihren
Schulmappen auf dem Rücken, und hinten und vorn im Wagen,
und vor allem obenauf, ganze Büſche von Weihnachtsbäumen.
[233] Das war das Vergnügen an der Fahrt, viel vergnüglicher als
die Vergnügungslokale, die mit ihren grasgrünen Staketenzäunen
halbverſchneit am Wege lagen.


Endlich hielten wir am Ende des Dorfes und der Um-
ſpannungs-Moment war nun für mich da: Schuſters Rappen mußt’
aus dem Stall. Er war’s auch zufrieden, und willig und guter
Dinge zog ich „fürbaß,“ unangefochten von der Oede der Land-
ſchaft. Aus den Schneemaſſen, die die Felder zu beiden Seiten
deckten, wuchſen nur ein paar vertrocknete Grashalme auf und
zitterten im Winde, während die Chauſſee-Pappeln wie nach oben
gekehrte Rieſenbeſen daſtanden. Aber ſo triſt und öde die Land-
ſchaft war, ſo voller Leben war die große Straße darauf ich
ging, denn in langer Reihe folgten ſich die Geſpanne, die
von den benachbarten Seeen her hochaufgethürmte Eismaſſen zur
Stadt fuhren.


„Nach Malchow?“ fragt’ ich, um mich des Weges zu ver-
gewiſſern.


„Joa; ’t nächſte Dörp.“


Und in der That, nicht lange ſo wurd auch der kurze Laternen-
thurm zwiſchen den Pappelweiden ſichtbar und unter einem Schlag-
baume fort, der hier noch aus den Tagen der Hebeſtellen her ſein
Daſein friſtete, hielt ich meinen Einzug.


„Wo wohnt der Lehrer?“


Ein junges Frauenzimmer, an das ich die Frage gerichtet
hatte, trat mit einer für märkiſche Verhältniſſe bemerkenswerthen
Raſchheit von der Hausſchwelle her auf den Damm und ſagte:
„Da; das rothe Haus.“


„„Gegenüber der Kirche?““


„Ja.“


Und damit ſchloß unſer Geſpräch. Ich dankte für gütigen
Beſcheid und ſchritt auf das rothe Haus zu, freudig gehoben in
meinem Gemüth und wie Ibykus „des Gottes voll.“ Nicht ge-
rade von Liedern, aber doch von Hoffnungen und Bildern. Ich
ſah ſchon die verfallene Grufttreppe ſammt den drei Särgen vor
mir und las dem alten Miniſter ſeine mit ins Grab genommenen
Geheimniſſe von der Stirn herunter. Entdeckungen ſchoſſen auf
wie die Knospen nach einem Frühlingsregen.


[234]

Und ſo ſtand ich vor maison rouge.


„Kann ich den Herrn Cantor ſprechen?“


Ich griff abſichtlich nach dieſer höheren Titulatur.


Ein Hin- und Herlaufen entſtand in Folge meiner Frage,
zuletzt aber erſchien ein kleiner Herr mit intelligenten Augen und
milzfarbenem Teint, um nach meinem Begehr zu fragen.


„Es handelt ſich für mich“ hob ich, den Hut ziehend, mit
aller mir zuſtändigen Artigkeit an „um den Staatsminiſter von
Fuchs. In der Gruft Ihrer Kirche …“


„Iſt zugeſchüttet.“


Ich war einen Augenblick decontenancirt, mehr noch durch
den Ton als durch den Inhalt dieſer zwei Donnerworte. Wer
aber weiß, daß das Menſchenherz nicht gerne von Lieblingsvor-
ſtellungen läßt und nach dem Hinſchwinden von Dingen und Er-
eigniſſen ſich ſchließlich auch mit Betrachtung ihres bloßen Schau-
platzes
zufrieden giebt, der wird es begreiflich finden, daß ich
nicht ohne Weiteres das Feld zu räumen Luſt hatte. Konnt’ ich
nicht die Gruft haben, ſo wollt’ ich wenigſtens die Gruft-Stelle
haben, und ſo recolligirt’ ich mich und ſagte: „Wie Schade. Dann
bitt’ ich Sie, mir wenigſtens die Kirche zeigen zu wollen.“


„Ich kann nur wiederholen,“ klang es jetzt unter immer ſicht-
barer werdenden Zeichen von Ungeduld „daß die Gruft zugeſchüttet
iſt. In der Kirche ſelbſt befindet ſich nichts. Ein Beſuch würde
mithin ohne Reſultat für Sie verlaufen. Auch hab’ ich Schule.“


„Sie mißverſtehen mich. Es liegt mir fern, Sie perſönlich
incommodiren zu wollen. Aber ich komme bei Wind und Wetter
von Berlin und bitte Sie deshalb mir durch irgend Jemand die
Kirchenthür aufſchließen zu laſſen.“


„Durch wen?“


„Vielleicht durch ein Kind oder eine Magd.“


„Hab ich nicht.“


Und nach dieſer Schlußbemerkung zog er ſich intelligenter und
milzfarbener als vorher in ſeine Schulſtube zurück.


Mein Erſtes war ein heißes Dankgefühl dafür, zu keiner
Zeit, am wenigſten aber in der jetzigen, auf der Malchower Schul-
bank geſeſſen zu haben; mein Zweites: Haß und Rache. Die
ganze Reihe der Schulmeiſter durchgehend, deren Bekanntſchaft ich
[235] in Leben oder Dichtung je gemacht hatte, konnt’ ich doch keinen
finden, der mir — mit alleiniger Ausnahme des maître d’école
in den „Geheimniſſen von Paris“ — gleich verabſcheuungswürdig
erſchienen wäre. Ja, meine Neigung zu generaliſiren und vom
Einzelfall auf’s Ganze zu gehen, ließ mich augenblicks wieder die
Frage ſtellen, ob ein ſolches, aus bloßem verſchrobenen Dünkel
hervorgegangenes Benehmen unter andern Völkern überhaupt
möglich ſei? „Nein,“ ſagt’ ich mir, „unter den Romanen gewiß
nicht.“ Aber inmitten all meiner Verwünſchungen mußt’ ich
doch plötzlich der Auslaſſungen eines alle Wechſelfälle des
Lebens unter die ſtatiſtiſch-philoſophiſche Loupe nehmenden Freundes
gedenken, der mir einmal geſagt hatte: „Sehen Sie, Freund, auch
in den Zufällen und Unglücksfällen waltet ein Geſetz. So ver-
folg’ ich beiſpielsweiſe die Theaterbrände. Alle funfzehn Jahre
brennt ein großes Theater ab. Nicht öfter, aber auch nicht weniger
oft.“ Und nun entſann ich mich des wenigſtens für mich kaum
minder intereſſanten und kaum minder wichtigen Punktes, gerade
funfzehn Jahre lang immer nur an freundliche Schulhäuſer an-
geklopft zu haben. Was war es denn alſo groß? Der Aus-
nahmefall war in ſein geheimnißvolles Recht getreten; das Geſetz
vollzog ſich. Die funfzehn Jahre waren um, und mein „Theater-
brand“ war da. Das gab mir die gute Laune wieder, und ich
beſchloß „in Sachen der Gruft“ einfach an die höhere Inſtanz des
Pfarrhauſes zu appelliren.


Wenige Schritte führten mich auf den Hof deſſelben. Ein
kleiner braunhaariger, übrigens ebenfalls intelligent ausſehender
Spitz, der um meine Stiefelſchäfte herumbiß, ließ mich anfänglich
in erzitterndem Herzen eine Wiederholung der Schulhaus-Scene
fürchten, aber kaum daß ich an dem kleinen, ſeiner dienſtlichen
Pflicht etwas zu ſtreng obliegenden Wachtpoſten vorüber war, als
mich auch ſchon das ſelten täuſchende Gefühl durchdrang, in einen
guten und ſichern Hafen eingelaufen zu ſein. Der Pfarrflur, des
nahen Feſtes halber, war in eine große Plättkammer umgewandelt
worden, in der eben die Bügeleiſen über breite Gardinenflächen
geſchäftig hin und her gingen und den Raum mit einem warmen
Wraſen füllten. Alles wirthſchaftlich und wohlthuend, vor allem
auch die Temperatur. Ich fragte nach dem Pfarrer und ſchickte
[236] meine Karte hinein. Sehr bald kam Antwort, daß er beim Con-
firmanden-Unterricht ſei, mich aber bitten laſſe, derweilen in ſein
Zimmer einzutreten. Und hier war ich denn nun und wartete.


Unter Umſtänden nichts angenehmer als ſolche Warte-Viertel-
ſtunden, in denen man die Geſchichte des Hauſes oder den Cha-
rakter ſeiner Bewohner von den Wänden lieſt. Denn nichts ſpricht
deutlicher als Zimmer-Einrichtungen und ſelbſt die nichtsſagenden
und modiſch-indifferenten machen keine Ausnahme. Sie weiſen
dann eben auf nichtsſagende und modiſch-indifferente Leute hin.
In der Studirſtube zu Malchow aber war nichts indifferent, und
die Grec-Borte der Gardinen, der gothiſch geſchnitzte Schlüſſelkaſten
mit Bild und Spruch, dazu der über dem Sopha thronende Thor-
waldſenſche Chriſtus inmitten der abgeſtuften Schaar ſeiner Jünger,
alles ſtimmte zu den hohen Bücher-Realen, auf denen die theolo-
giſchen und die Fritz Reuterſchen Schriften in aller Friedlichkeit
beiſammenſtanden. Und dazu die Kreuzzeitung auf dem Tiſch, und
ein Luftton, in welchem die Morgen-Cigarre nachdämmerte. Das
märkiſche Pfarrhaus in ſeiner anſpruchsloſen und doch zugleich von
Kunſt und Schönheit leiſe berührten Behaglichkeit hatte nie lebendiger
zu mir geſprochen.


Und ſo ſollt’ ich’s beſtätigt finden. Eine halbe Stunde ſpäter
und der freundliche Pfarrer und ſeine noch freundlichere Frau ſaßen
mit mir um den Kaffeetiſch, und wieder noch ein Weilchen und jener
bekannte Begegnungspunkt war gefunden, wo plötzlich von ſieben
Seiten her alle Wege zuſammenlaufen und man nur noch ver-
wundert iſt, ſich nicht vorher ſchon getroffen und die Hände ge-
ſchüttelt zu haben. Und dazu die tiefere Lebensbetrachtung: „Wie
klein iſt doch die Welt.“


Ich glaube faſt, ich war es ſelbſt, der ſich bis zu dieſem
Satze verſtieg, und wer weiß, welche weiteren Stufen der Er-
kenntniß und Weisheit ich noch erklommen hätte, wenn nicht der
Pfarrer eben jetzt auf die hinter den kahlen Kirchbäumen nieder-
gehende Sonne gedeutet und mich dadurch an den Kirchgang und
die v. Fuchs’ſche Familiengruft erinnert hätte. So verabſchiedeten
wir uns denn bei der Frau Pfarrin und ſchlugen einen Richtweg
ein, der uns erſt über Gartenbeete, dann über verſchneite Gräber
fort bis an einen Seiteneingang der Kirche führte. Und nun
[237] öffnete ſich die Thür und der Zugwind trieb über unſre Köpfe
weg einen breiten Schneeſtreifen in die Kirche hinein. Ein fahles
Roth ſtand noch in den Scheiben, gerade hell genug, um uns alles
rundum erkennen zu laſſen. Die Wände zeigten ſich friſch ge-
tüncht, Orgel und Altar blank, und die Pfeiler mit vielen Bibel-
ſprüchen bedeckt, aber das erſte Gefühl, das ich angeſichts dieſer
Herrlichkeit hatte, war doch das einer gewiſſen Beſchämung und einer
halben Ausſöhnung mit dem maître d’école drüben. „Ihr Be-
ſuch würde reſultatlos verlaufen,“ waren ſeine gebildeten Worte
geweſen, und er ſchien Recht behalten zu ſollen.


Es mochte ſich etwas von Enttäuſchung in meinem Geſichte
ſpiegeln, weshalb der Prediger, als wir den Mittelgang halb
hinauf waren, in freundlichſtem Tone zu mir ſagte: „hier war die
Gruft.“


Ich meinerſeits hielt es für angezeigt dieſer Freundlichkeit
durch eine gleiche zu begegnen und erwiederte: „Ja, hier muß es
geweſen ſein. Man kann noch deutlich die neuen Flieſen von den
alten unterſcheiden.“ Eigentlich aber war es nicht der Fall.


„Und“ fuhr der Prediger fort, „hier war auch das Fuchs’ſche
Wappen.“ Und dabei wies er mit dem Zeigefinger auf einen
Punkt in der Luft, etwa vier Fuß hoch über der Brüſtung eines
niedrigen Chorſtuhls. Es hatte durchaus etwas Geſpenſtiſch-
Viſionäres, wie wenn Macbeth den Dolch ſieht, und das be-
ſtimmt ausgeſprochene „hier“ ließ mich auf eine Sekunde ganz
ernſthaft nach der Erſcheinung ſuchen. Aber es blieb alles un-
ſichtbar und ich fröſtelte nur noch die Frage heraus: „Dies iſt
alſo alles?“


„Ich fürchte, ja. Wenn Sie ſich nicht vielleicht für einen
Spruch intereſſiren, den des alten Johann Porſt’s Nachfolger an
die Sakriſteithür geſchrieben hat.“


„O, ich intereſſire mich ſehr für Sprüche …“ Und ſo
las ich denn:


Printz Markgraff Ludewig

Stiff’t hier zu Gottes Ehren

Kirch’fenſter, Sakriſtei

Nebſt zweien neuen Chören.

Gott ſei ſein Schild, ſein Lohn,

[238]
Sein Schutz, ſein Eigenthum,

Er laß es feſte ſtehn

Zu ſeinem ewgen Ruhm.

Das Feuer, das aus dieſem Spruch auflohte, ſchien mir un-
ausreichend die Kirchentemperatur zu verbeſſern, und ſo ſchlug ich
einen raſchen Rückzug an die Herdplätze menſchlicher Wohnungen
vor. Der Pfarrer ſchien von demſelben Verlangen erfüllt, und
ehe fünf Minuten um waren, waren wir wieder daheim und
ſtampften auf der Strohmatte ſeines Flurs den Schnee von unſeren
Füßen.


Drinnen brannte jetzt Licht, aus der Nebenſtube klangen
Kinderſtimmen und vom Flur her hörten wir das Klappern der
Plätteiſen, wenn neue Bolzen eingeſchüttet wurden. An Wand
und Decke hin aber huſchten die Schatten der draußen an unſerem
Fenſter Vorbeipaſſirenden. Der Thorwaldſenſche Chriſtus über
dem Sopha ſchien in dem Widerſpiel von Licht und Schatten zu
wachſen und während die Geſtalten ſeiner Jünger mehr und mehr
zurücktraten, war es als ſtünd’ er freundlich ſegnend uns zu
Häupten, der gute Hirt einer allerkleinſten Gemeinde. Die Kreuz-
Zeitung war inzwiſchen ſorgfältig zuſammengefaltet worden und
ſtatt ihrer lag das Malchower Kirchenbuch auf dem Tiſch. Es
waren Blätter von 1698 bis 1704 die wir nun überflogen, um
vielleicht an der Hand des alten Porſt, damaligen Predigers zu
Malchow, einen Blick in die von Fuchs’ſche Herrſchaft jener
Epoche thun zu können. Aus allem ging hervor, daß es der alte
Geſangbuchmann mit Predigt und Seelſorge ſehr ernſt genommen
haben mußte, was aber die Fuchſiana betraf, ſo ſchien uns
leider auch dieſe Quelle verſagen zu wollen. Ich beſchloß deshalb
auch vor dem Letzten nicht zurückzuſchrecken und die Taufregiſter
auf Namen und Titel hin gewiſſenhaft durchzuleſen. Und ſiehe
da, der Moſesſtab, der den Quell aus dem Stein weckt, war auf
der Stelle gefunden. Es tröpfelte zwar nur, aber die Kühle
friſchen Waſſers labte doch meine Zunge. Sieben Jahre lang
hatte Johannes Porſt an eben dieſer Stelle fungirt und in jedem
dieſer ſieben Jahre ſiebenmal getauft; — auch darin alſo vollzog
ſich ein Geſetz. Und als ich nun mit allen 49 Taufen glücklich
durch war, kannt’ ich Malchow in ſeinem damaligen Beſitz- und
[239] Perſonalbeſtande ſo genau, wie wenn ich ein Kataſter-Beamter
unter König Friedrich I. oder wohl gar der Dorfſchulmeiſter von
Anno 1704 geweſen wäre. Denn die Malchower, kluge Leute
ſchon damals, hatten ſich in den ſeltenſten Fällen bei der Auswahl
ihrer Pathen auf ſich und ihresgleichen beſchränkt, ſondern waren
immer beſtrebt geweſen in den chriſtlichen Schutz des Herrenhauſes,
am liebſten und häufigſten in den des Beamten- und Dienſtper-
ſonals zu treten. Aus der Reihe der betreffenden Perſonen aber
mögen hier, unter Anlehnung an die Taufregiſter, folgende Namen
und Titulaturen ſtehn: Herr Schlichting „Luſtgärtner“; Mon-
ſieur Ernſt, Lakai bei des Freiherrn von Fuchs Excellenz; Mon-
ſieur Abraham Luckold, Koch bei Sr. Excellenz; Monſieur Peter
Schultze
, Kammerdiener bei Sr. Excellenz; Mademoiſelle Jo-
hanna Zollikoferin
, Kammermädchen bei Madame la Baronne
de Fuchs; Jungfer Anna Dorothea Philitzin, Mädchen bei der
Freifrau v. Fuchs; Jungfer Anna Maria Löſchin, Mädchen bei
der Frau Baronin. Alle dieſe Perſonen finden ſich wiederholentlich.
Der eigentlich große Taufakt jener Epoche ſcheint aber der im
Hauſe des Dorf-Krügers geweſen zu ſein. Hier begegnen wir
allen möglichen „großen Namen“ aus der Zeit von 1698 bis
1704. Und zwar: Paul Freiherr von Fuchs, Geheimer Etats-
und Kriegsrath; Baron von Hertefeld, Oberforſtmeiſter in Cleve;
Johann Paul Freiherr v. Fuchs, Hof- und Ravensbergiſcher
Appellationsgerichtsrath; Madame Louiſe de Fuchs, née de Friede-
born; Madame la Baronne de Hertefeld, née de Bozelar;
Madame de Fuchs née Bozelar. Nehmen wir noch die ſich an
andrer Stelle findenden Namen der Frau von Barfus aus dem
benachbarten Blankenburg, der Frau Apotheker Zornin aus
Berlin und des Chriſtoph Hammer, Leibkutſchers bei Seiner
Durchlaucht dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg hinzu,
ſo wird es uns unſchwer gelingen ein Bild des Malchower Lebens
aus ſeinen hiſtoriſchen ſieben Jahren aufzubauen. Es waren eben
Umgangs- und Geſellſchafts-Formen, auf die genau die Schil-
derung paßt, die F. v. Salpius in ſeiner Eingangs erwähnten
Paul v. Fuchs’ſchen Monographie von dem Leben der damaligen
regierenden Klaſſen entworfen hat.


„Man kann“ ſo ſchreibt er „von den brandenburgiſchen Landen
[240] jener Epoche behaupten, daß die Regierenden zu den Beſitzenden gehörten
und daß die Beſitzenden wiederum in der Regierung ſaßen. Die Mit-
glieder des geheimen Rathes ſcheinen durchgängig im Wohlſtande
geweſen zu ſein. Der Wege zu ſolchem gab es, abgeſehen von
Geburt und Heirath, verſchiedene: Ausſtattung mit heimgefallenen
Lehngütern ſeitens des Kurfürſten, ſogenannte Dotationen; in
andern Fällen bedeutender Kriegsgewinn (wie denn beiſpielsweiſe
dem General v. Schöning eine auf 40,000 Thaler Löſegeld zu
veranſchlagende Anzahl gefangener Juden zufiel) und endlich Ver-
einigung mehrerer Aemter in einer Perſon. So bezog Fuchs,
als Oberpoſtdirektor, eine jährliche Zulage zu ſeinem anderweitigen
Gehalt und außerdem den zwanzigſten Theil aller in Berlin auf-
kommenden Poſtgelder. Aus eben dieſen Erträgen war es, daß er
in den Beſitz von Malchow gelangte.“


So F. v. Salpius. Und noch eingehender dann an anderer
Stelle: „Der höhere Staatsdienſt, und zwar aus den vorange-
führten Gründen, war ein mehr lohnender Beruf als jetzt, und
die Geheimräthe vergaßen über den ſtaatlichen Intereſſen nicht die
ihrigen. Dazu gewährte der Fürſten- und Staatsdienſt ein größeres
Anſehen als heutzutage, wo der Ehrgeiz auch anderweitig ſein Feld
der Bethätigung findet. Aber mit der Wahrnehmung des eigenen
Vortheils ging doch immer zugleich auch die ſtrengſte Pflichter-
füllung Hand in Hand. Sie lebten, wie der Große Churfürſt
ſelbſt, der Ueberzeugung, daß ſie vor allem zur Erhaltung der
Machtſtellung des Staates das Ihrige beizutragen hätten. Neben
dieſem Zuge ſpringt vor allem ihre Vielſeitigkeit und Findigkeit
ins Auge. Dieſelbe beruhte zum Theil auf der verhältnißmäßigen
Einfachheit der damaligen Zuſtände, nicht minder aber auf ihrer
perſönlichen Vorbildung, Spannkraft und Beweglichkeit. Die
Mitglieder des geheimen Raths hatten ſchon als Jünglinge auf
Reiſen mannigfache Kenntniſſe geſammelt; im Staatsdienſte tum-
melten ſie ſich bald hier bald dort, arbeiteten ſich bald in dieſes,
bald in jenes Fach ein. Das bewahrte ſie vor jeder geiſtigen
Verkümmerung, ſie blieben ſtets friſch und erfreuten ſich faſt
immer eines guten Humors
. Hierfür ſprechen ihre lebens-
vollen, mit anſchaulichen Bildern durchwobenen amtlichen Berichte
und Reden, welche den Charakter der Urſprünglichkeit, oft den der
[241] Naivität tragen. Ihren Gemeinſinn bewieſen ſie nicht nur durch
treue Arbeit, ſondern auch als fröhliche Geber. In ihrer
Heimath, in der Gemeinde ihres Wohnorts oder Gutes, verwandten
ſie beträchtliche Summen für gemeinnützige Zwecke. Der Feld-
marſchall von Sparr baute Kirchen und Thürme, ſchenkte Glas-
malereien und Glocken, Derfflinger ließ eine ſtattliche Dorf-
kirche aufführen, der ältere Schwerin that ein gleiches. Joachim
Ernſt v. Grumbkow gründete ein Kloſter für zwölf Jungfrauen,
der jüngere Jena beſtimmte 60,000 Thaler für ein Fräuleinſtift
und ein Hospital. Aehnlich verfuhr auch unſer Paul v. Fuchs.
Er ließ in Malchow ein Predigerwittwen-, ſowie ein Armen- und
Waiſenhaus herſtellen.“


Ob dieſe Stiftungen noch exiſtiren, hab’ ich an Ort und
Stelle nicht in Erfahrung gebracht.


Der Abend war mittlerweile hereingebrochen und mein freund-
licher Wirth begleitete mich eine gute Strecke, bis die Lichter von
Weißenſee hell auf meinen Weg fielen. Dann ſchieden wir,
hoffentlich nicht für immer, und abermals anderthalb Stunden
ſpäter lagen die Schneefelder und die grünen Staketenzäune, la
maison rouge
und der maître d’école, das warme Pfarrhaus
und die kalte Kirche, die Grec-Borten und das geſpenſtiſche
Wappen derer v. Fuchs — alles traumhaft hinter mir.


Ein entzückender Tag. Die Gruft hatte nichts herausgegeben,
aber das Leben hatte bunt und vielgeſtaltig zu mir geſprochen.


Und das bedeutet das Beſte.


Fontane, Wanderungen. IV. 16
[[242]]

Kienbaum.


Ich hatt als Kind eine Tanne lieb,

Die groß und einſam übrig blieb

An flachem Wieſenſaume.

Laufkäfer haſten durchs Geſträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelhaide Glöckchen;
Die Kräuter blühn; der Haideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.
Th. Storm.

Am Ausgange der Liebenberger Haide, zur Linken des Flüßchens
Loecknitz, das hier die Grenze zwiſchen dem Lande Lebus und dem
Nieder-Barnim zieht, liegt das Dorf Kienbaum.


Seinen Namen hat es, allgemeiner Annahme nach, von einem
Kienbaum, der ehedem inmitten des Dorfes ſtand und bis in
die früheſte Zeit deutſcher Coloniſirung zurückreichte. Man ließ
ihn damals bei der Ausrodung der Waldſtelle ſtehn und während
der Baum ſelber immer neue Jahresringe anlegte, legten ſich neue
Häuſer und Hütten um den urſprünglichen Anſiedlungs-Kern
herum. Jahrhunderte lang hielt man ihn als Pathen, der dem
Dorfe den Namen gegeben, in beſonderen Ehren und kaum 40
Jahre mögen vergangen ſein, daß er umgehauen wurde. Das
ganze Dorf ſträubte ſich dagegen, aber die ſelbſtſüchtige Beharr-
lichkeit des Hofbeſitzers, auf deſſen Grundſtück die „Kiehne“ ſtand,
blieb doch Sieger und ſo fiel denn ſchließlich das Wahrzeichen des
[243] Dorfes. Einige von den Alten haben mir den Baum noch
beſchrieben und empfinden es als eine Schuld, daß er nicht
mehr exiſtirt. Es war eine alte knorrige Kiefer, eben noch aus der
Zeit her, wo man die Bäume nicht ſchwächlich-ſchlank heranzog,
ſondern es lieber hatte, ſie ſich knorrig-original entwickeln zu laſſen.
Der Stamm war nur wenig über mannshoch, aber von mehr als
drei Ellen Umfang; dabei lag er ſchräg und ſein flaches, ineinan-
der geflochtenes Gezweige ſchuf einen korbartigen grünen Schirm.
Im Innern war er hohl, nur die Kienſtellen hatten ſich gehalten
und als man ihn endlich der Länge nach durchſägte, bildete jede
Hälfte eine Art Trog oder Mulde.


Dorf Kienbaum hat ſein Wahrzeigen verloren, aber es iſt doch
immer noch ein intereſſantes Dorf. Es bewahrt jenes anheimelnde
Stück Romantik, das in Abgeſchiedenheit und Oede, vor allem
aber in einem gewiſſen Hospiz-Charakter begründet liegt. All
dieſe Haidedörfer ſind wie Bergungsplätze, wie Stationen in der
Wildniß und jeder, den ſein Weg irgend einmal an einem naß-
kalten Spätherbſt-Nachmittag über Wald und Haide geführt hat,
wird dieſen Zauber an ſich ſelbſt empfunden haben.


Es iſt im November, der Nebel ſprüht und die Haide, ſo
dünkt Dir’s, nimmt kein Ende. Kuſſeln und Kiefern und dann
wieder Kuſſeln. Ein jedes Streifen an Baum oder Buſch ſchüttet
ein Schauerbad über Dich aus und das naſſe, vergilbte Haidekraut,
durch das Du hindurch mußt, ſpottet der feſteſten Sohlen und
macht Dich frieren bis auf’s Mark. Nichts begegnet Dir außer
einem ſchiefſtehenden Wegweiſer, der ſeine müden Arme ſchlaff zu
Boden hängen läßt oder eine Krähe, die den Kopf in das naſſe
Gefieder einzieht und ſich trübſelig matt beſinnt, ob ſie auffliegen
ſoll oder nicht. So geht es ſtundenlang. Endlich lichtet ſich’s
und Du trittſt auf eine offne Stelle hinaus, die freilich wenig
mehr als hundert Schritt mißt und hinter der Du die dunkle
Kiefernwand auf’s Neue anſteigen ſiehſt. Aber auf dem freien
Stückchen Feld, unter Ebreſchenbäumen an denen noch die letzten
rothen Büſchel hängen, ſteht doch ein Dutzend Lehm- und
Fachwerkhäuſer, um die herum ſich ein Sandweg mit tief ausgefah-
renem Geleiſe zieht. Und das erſte Haus iſt eine Schmiede.
Dein fröſtelnd Herz ſieht wie mit hundert Augen in die ſprühende
16*
[244] Gluth hinein und das durch die nebelfeuchte Luft gedämpfte Picken
und Hämmern klingt märchenhaft-leiſe zu Dir herüber. Ein
Gefühl beſchleicht Dich, als wär’ alles ein Wunderland oder als
läge die Inſel der Glücklichen vor Dir.


Das iſt der Zauber eines „Dorfes in der Haide.“


Und ſolch ein Dorf iſt auch Kienbaum. Grund genug, ihm
einen kurzen Beſuch zu machen. Was uns aber heut und noch um
die Sommerzeit dieſem Haidedorfe zuführt, das iſt nicht die Poeſie
ſeiner ſtillen Häuschen, das iſt einfach die Thatſache, daß Dorf
Kienbaum vor hundert Jahren oder noch weiter zurück ein Con-
greßort
war, wo die märkiſchen Bienenzüchter oder doch
jedenfalls die Bienenwirthe von Lebus und Barnim zu Berathung
ihrer Angelegenheiten zuſammenkamen.


Was dieſem kleinen Dörflein ſolche Ehre einbrachte, iſt nicht
mehr mit Beſtimmtheit zu ſagen. Wahrſcheinlich wirkte Ver-
ſchiednes zuſammen, unter anderm auch wohl ſeine günſtige Lage
ziemlich inmitten der Provinz. Gleichviel indeß was es war, all-
jährlich im Monat Auguſt oder September kamen hier die „Beut-
ner und Zeidler“ zuſammen und alle Höfe, beſonders aber der
Schulzenhof (der durch Jahrhunderte hin ein Hauptbienenhof
war) öffneten dann gaſtlich ihre Thore. Darüber, was auf
dieſem Convent verhandelt wurde, hört man an Ort und Stelle
nur wenig noch und was man hört, widerſpricht ſich unter ein-
ander. „Ja wenn die alte Kettlitzen noch lebte“ heißt es im
Tone halb des Bedauerns und halb der Entſchuldigung. Aber
die „Kettlitzen“ iſt bei ſolchen Anfragen allemal todt.


Stell’ ich nachſtehend zuſammen, was ich mündlich erfahren
oder aus Büchern erſehen konnte, ſo find’ ich, daß der Charakter
dieſes Bienenconvents im Laufe der Jahrhunderte wechſelte. Wäh-
rend es ſich in alten Zeiten, allem Anſcheine nach, um ausſchließlich
geſchäftliche Regulirungen handelte, war dieſer Convent unter
König Friedrich Wilhelm I. eine halbwiſſenchaftliche Fachmänner-
Verſammlung geworden, auf der man ſich Producte zeigte, Reſul-
tate mittheilte und über Verbeſſerungen in der Bienenzucht nach
inzwiſchen gemachten Erfahrungen berieth.


Dieſer totale Wechſel hatte wohl darin ſeinen Grund, daß
[245] zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der Honigbau ein freies,
nach Wunſch der Regierung von jedem Bauer und Koſſäthen zu
betreibendes Gewerbe geworden war, während er bis dahin als
ein Special-Recht an einem beſtimmten Grund und Boden gehaftet
und alle Honigbautreibenden Pächter in ein eigenthümliches und
oft ziemlich complicirtes Abhängigkeits-Verhältniß von dem be-
treffenden Grundherrn gebracht hatte.


Beſprechung und Regelung dieſer Zins- und Pacht-Verhält-
niſſe war es ſehr wahrſcheinlich, was, wie ſchon angedeutet, in
früheren Jahrhunderten, in denen man nur die Waldbienenzucht
kannte, die märkiſchen Intereſſenten in dieſem Grenzdorfe zwiſchen
Lebus und Barnim zuſammenführte. Neben dem Allgemeinen
aber waren es auch wohl die beſonderen und allerlokalſten Ver-
hältniſſe Kienbaums, die zur Sprache kamen, und mit dieſen
beſchäftigen wir uns hier ausſchließlich.


Kienbaum gehörte in alten Zeiten zu Kloſter Zinna, ſpäter,
nach der Säkulariſation, zu Amt Rüdersdorf. Amt Rüdersdorf
war alſo Grundherr. Dieſer Grundherr nun, der in andern
Dörfern allerlei Viehweide verpachtete, verpachtete dem Bienen-
dorfe Kienbaum allerlei Bienenweide, d. h. einen Wald, auf
dem die Bienen der Kienbaumſchen kleinen Leute weiden konnten.
Selbſtverſtändlich ſchloß ſich daran auch das Recht, das Reſultat
dieſer Weide, den Honig, auf hergebrachte Weiſe zu „beuten.“
Dieſe Beutner nun ſtellten ſich, allem Anſcheine nach, an einem
beſtimmten Tage bei dem Lehnſchulzen ein, der als ein Beauf-
tragter des „Amts“ mit ihnen handelte. Sie kündigten oder er-
neuten ihre Pacht, äußerten ihre Beſchwerden (oder nahmen ſolche
entgegen) und bezahlten ihrerſeits ihren Zins in Geld und Honig,
wogegen das Amt ſeinerſeits die Pflicht hatte, ſie mit einem Hammel,
einer Tonne Bier und einem Scheffel Brod zu verpflegen. Später
wurde der Pachtzins ausſchließlich in Geld geleiſtet, von welcher Zeit
an wir von einer auf dem Schulzenhofe befindlichen Kaſſe ſprechen
hören. Dieſe glich einer kleinen oder Filial-Rentamtskaſſe,
deren Erträge von Zeit zu Zeit an das Amt ſelber abgeführt wurden.
Daneben aber ſcheint ſie zngleich auch und vielleicht kaum minder
eine Darlehns- und Prämien-Kaſſe geweſen zu ſein. Wer den
beſten Honig vorzeigen konnte, der wurde prämiirt, und wer die
[246] nöthigen Garantien bot, der erhielt ein Darlehn, um irgend etwas
Neues, von dem man ſich Reſultate verſprach, in’s Werk zu ſetzen.


Das iſt alles, was ich aus Mund und Schrift über den Kien-
baumer Bienenconvent in Erfahrung bringen konnte. So wenig
es iſt, ſo ſpricht ſich doch Leben, Eifer und ein gewiſſes Organi-
ſationstalent darin aus.


Die Bienenzucht in Kienbaum, darüber ſcheint kein Zweifel,
war von beſonderer Vorzüglichkeit und dieſe Vorzüglichkeit hin-
wiederum war das natürliche Reſultat einer vorzüglichen Bienen-
Lokalität, d. h. einer andauernden, nie erſchöpften Bienenweide.
Solche Lokalitäten, wenn man die höchſten Anforderungen ſtellt,
ſind nicht eben allzuhäufig, da ſich’s darum handelt, den Bienen eine
blühende Pflanzenwelt zu bieten, aus der ſie faſt ſechs Monate lang
unausgeſetzt ihren Bedarf einſammeln können. Wo der Raps blüht
da iſt freilich für den Mai und Juni und wo die Linden blühn,
für den Juli geſorgt; aber erſt aus dem Vorhandenſein mannig-
fachſter
Pflanzen und Bäume, die ſich im Blühn unter einan-
der ablöſen
und vom April bis in den September hinein eine
immer wechſelnde Bienennahrung bieten, erſt aus dem Vorhandenſein
einer derartigen Vegetation ergiebt ſich das eigentliche Bienen und
Honig-Terrain. Ein ſolches Terrain nun war Kienbaum. Ein
quadratmeilen-großer Forſt ſchloß es ein und durch eben dieſen
Forſt hin ſchlängelte ſich die zu beiden Seiten von üppigen breiten
Wieſenſtreifen eingefaßte Löcknitz*). Unmittelbar das Flüßchen ent-
[247] lang zogen ſich Werft und Haſelbüſche, die den Bienen im
April ſchon eine bevorzugte Nahrung boten; im Mai dann
begannen ſommerlang die Wieſen zu blühn, bis endlich, von Monat
Auguſt an, die weiten Haidekrautſtrecken — gelegentlicher weißer
Kleefelder ganz zu geſchweigen — eine faſt nicht auszunutzende
Bezugs- und Nahrungsquelle ſchufen.


Und wirklich, die daraus reſultirenden Erträge waren zu Zeiten
ſehr bedeutend, und das Dorf, das faſt aus lauter Zeidlern und
Beutnern beſtand, erfreute ſich, trotz ſeiner Ackerarmuth, einer
gewiſſen Wohlhabenheit. Der Schulzenhof hatte 99 Stöcke und
ſo im Verhältniß bis zum Büdner und Tagelöhner herab. Ein
Stock entſprach in guten Jahren einem Eimer Honig und den
Eimer zu 10 Quart gerechnet, hätte der Schulzenhof in guten
Jahren 990 Quart Honig gewonnen.


Von dieſer Höhe nun iſt Kienbaum freilich längſt herabge-
ſtiegen. Der Bienenconvent tagt nicht mehr inmitten des Dorfs
und der Schulzenhof, der es ſonſt bis auf 99 Körbe brachte, be-
gnügt ſich jetzt mit 9. Der gewonnene Honig hat längſt aufge-
hört ein Handelsartikel zu ſein und ſpielt nur noch die Rolle
des Surrogats. Er vertritt die Butter, die (beinah mehr noch
als der Zucker) in einem armen Sand- und Haidedorfe, das ſeinen
Viehſtand ſchwer über eine Schafheerde hinaus bringt, begreiflicher-
weiſe zu den Luxusartikeln zählt.


Das alte Wahrzeichen Kienbaum’s iſt hin und ſeine Bienen-
herrlichkeit nicht minder, aber an die letztre erinnert noch man-
cherlei. Die Lokalität iſt eben im Weſentlichen dieſelbe geblieben.
Noch ſteht der Wald, noch blüht das Haidekraut roth über die
Haide hin und noch ſchlängelt ſich die Löcknitz durch üppige Wieſen,
deren größte und bunteſte bis dieſen Tag den Namen der Zei-
delwieſe
führt. Vielleicht, daß auch dies bald anders wird.
Aber wenn auch Nam’ und Sache ganz hinſchwinden ſollte, das
*)
[248] Dorf in der Haide, das abſeits liegt und in ſeiner Armuth nie-
manden auffordert es in den großen Verkehr hineinzuziehn, es
wird noch auf langhin ein Plätzchen bleiben, deſſen ſtill aufſteigen-
der Rauch den über die Haide Wandernden anheimeln und deſſen
erſtes Mütterchen am Zaun ihn freudig und dankbar empfinden
laſſen wird:


Wie wohl thut Menſchenangeſicht

Mit ſeiner ſtillen Wärme.

[[249]]

Links der Spree.


[[250]][[251]]

Eine Pfingſtfahrt in den Teltow.


Es reiſt ſich ſchön an einem Pfingſtſonnabend in die Welt hinein,
es ſei wohin es ſei. Die Natur lacht und die Menſchen auch;
die Sonne geht in Strahlen unter, die Rapsfelder blühn und
ſelbſt die Windmühlenflügel ſchwenken einen grünen Maienbuſch in
die Luft.


Rixdorf rüſtete ſich zum Feſt. Die Mägde, kurzärmlig
und aufgeſchürzt, ſtanden auf den Höfen und wuſchen und ſcheuer-
ten, die kupfernen Keſſel blinkten wie Gold und ein paar Kinder,
die gerad’ aus dem Tümpelbade kamen, liefen nackt über den Weg
und wirbelten den Staub auf. Der Tümpel blieb ja für ein
zweites Bad.


In Rudow ſchnitten die Jungen Kalmus; über Waltersdorf
ſpannten die Linden ihren Schirm; Kiekebuſch aber, als ſchäm’ es
ſich ſeines Namens, kuckte nicht mehr aus Buſch und Haide ſon-
dern aus hohen Roggenfeldern hervor.


Und nun Haidereviere; dann wieder freies Feld, bis plötzlich
die Höhe, darauf wir fahren, ſteil abfällt und ein von Waldungen
eingefaßtes Keſſelthal vor uns liegt in das wir hinunterrollen.
Die Poſtillone blaſen (wir haben drei Beichaiſen) einzelne Häuſer
ſchimmern hinter Bäumen und Sträuchern hervor, jetzt werden
ihrer mehr, die Leute vor den Thüren richten ſich auf und die Straßen-
jugend wirft ihre Mützen in die Luft und ſchreit Hurrah. Es iſt
ein Lärm, der einer Reſidenz zur Ehre gereichen würde, und doch iſt
[252] es nur Wuſterhauſen in das wir einfahren. Freilich Wuſter-
hauſen zu Pfingſten.


1.
Königs-Wuſterhauſen.


Finſtrer Ort und finſtrer Sinn,

Nun blühen die Roſen drüber hin.

Wir halten vor einem Gaſthofe, darin alles reich und großſtädtiſch
iſt und während mir zwei Lichter auf den Tiſch geſetzt werden,
richt’ ich unwillkürlich die Frage an mich: iſt dies daſſelbe
Wuſterhauſen, von dem wir jene klaſſiſche, wenn auch wenig ſchmei-
chelhafte Beſchreibung haben, die eine der beſten Seiten in den
Memoiren der Markgräfin von Baireuth, der Lieblingsſchweſter
Friedrichs des Großen füllt? Laß doch ſehen, was die Markgräfin
in ihrem berühmten Buche, dem ſo zu ſagen „älteſten Frem-
denführer von Wuſterhauſen“ erzählt. Und ich las wie folgt:


„Mit unſäglicher Mühe hatte der König an dieſem Ort einen
Hügel aufführen laſſen, der die Ausſicht ſo gut begrenzte, daß man
das verzauberte Schloß nicht eher ſah, als bis man herabgeſtiegen
war. Dieſes ſogenannte Palais beſtand aus einem ſehr kleinen
Hauptgebäude, deſſen Schönheit durch einen alten Thurm erhöht
wurde, zu dem hinauf eine hölzerne Wendeltreppe führte. Der
Thurm ſelber war ein ehemaliger Diebswinkel, von einer Bande
Räuber erbaut, denen dies Schloß früher gehört hatte. Das Ge-
bäude war von einem Erdwall und einem Graben umgeben, deſſen
ſchwarzes und fauliges Waſſer dem Styxe glich. Drei Brücken
verbanden es mit dem Hof in Front des Schloſſes, mit dem
Garten zur Seite deſſelben und mit einer gegenüberliegenden
Mühle. Der nach vornhin gelegene Hof war durch zwei Flügel
flankirt, in denen die Herren von des Königs Gefolge wohnten.
Am Eingang in den Schloßhof hielten zwei Bären Wacht, ſehr
böſe Thiere, die auf ihren Hintertatzen umherſpazierten, weil man
ihnen die vorderen abgeſchnitten hatte. Mitten im Hofe befand
[253] ſich ein kleiner Born, aus dem man mit vieler Kunſt einen Spring-
brunnen gemacht hatte. Er war mit einem eiſernen Geländer um-
geben, einige Stufen führten hinauf, und dies war der Platz, den
ſich der König Abends zum Tabackrauchen auszuwählen pflegte.
Meine Schweſter Charlotte (ſpäter Herzogin von Braunſchweig)
und ich, hatten für uns und unſer ganzes Gefolge nur zwei Zimmer
oder vielmehr zwei Dachſtübchen. Wie auch das Wetter ſein mochte,
wir aßen zu Mittag immer im Freien unter einem Zelte, das
unter einer großen Linde aufgeſchlagen war. Bei ſtarkem Regen
ſaßen wir bis an die Waden im Waſſer, da der Platz vertieft
war. Wir waren immer 24 Perſonen zu Tiſch, von denen drei
Viertel jederzeit faſteten, denn es wurden nie mehr als ſechs
Schüſſeln aufgetragen und dieſe waren ſo ſchmal zugeſchnitten, daß
ein nur halbwegs hungriger Menſch ſie mit vieler Bequemlichkeit
allein aufzehren konnte*) .... In Berlin hatte ich das Feg-
feuer, in Wuſterhauſen aber die Hölle zu erdulden.“


So die Markgräfin, die frühere Prinzeſſin Wilhelmine. Ich
ſchlug das Buch zu und trat an das offene Fenſter, durch das
der heitere Lärm ſchwatzender Menſchen zu mir herauf drang.
Das Zimmer lag im erſten Stock und die Kronen der abgeſtutzten
Lindenbäume ragten bis zur Fenſterbrüſtung auf, ſo daß ich
meinen Kopf in ihrem Blattwerk verſtecken konnte. Drüben, an
der andern Seite der Straße, zog ſich einer der Cavalierflügel des
[254] Schloſſes entlang. Er war ganz in weiß und rothen Roſen ge-
borgen und ſeine Oberfenſter geöffnet; Licht und Muſik drangen
hell und einladend zu mir herüber. In ſchräger Richtung dahinter
ſtanden Pappeln und hohe Baumgruppen und zwiſchen ihrem Laubwerk
wurd’ ich des alten Schloßthurms anſichtig, „des Diebswinkels,
von einer Räuberbande erbaut.“ War es wirklich ſo arg mit
ihm? Er ſtand da, mondbeſchienen, mit der friedlichſten Miene
von der Welt, eher an Idyll und goldene Zeit als an Fegfeuer
und Hölle gemahnend.


Es war noch nicht ſpät und der Weg nicht zwei Minuten
weit. So beſchloß ich noch einen Abendbeſuch zu machen und die
jetzt freilich von holdem Dämmer umwobene Wirklichkeit des
Schloſſes mit der Beſchreibung ſeiner ehemaligen Bewohnerin zu
vergleichen. Ich trat in den weiten Vorhof ein. Da lagen die
Flügel rechts und links, vor mir Brück’ und Graben, und dahinter,
großentheils verſteckt, das Schloß ſelbſt. Die Bären fehlten, der
Springbrunnen auch. Keine Stufen zeigten ſich mehr, auf denen
irgend wer ſeine Abendpfeife hätte rauchen können; nur ein weiße
Pumpe ſtand inmitten eines Fliederbosquets und nahm ſich beſſer
aus, als Pumpen ſonſt wohl pflegen.


Ich näherte mich der Brücke, von der aus ich die Funda-
mente des Schloſſes in dunklen Umriſſen, die Giebel aber, auf die
das Mondlicht fiel, in ſcharfen Linien erkennen konnte. Was zwiſchen
Giebel und Grundmauer lag, blieb hinter Bäumen verſteckt. Der
„Styx“ exiſtirte nicht mehr; halb zugeſchüttet war aus dem Graben
ein breiter Streifen Wieſenland geworden. Allerlei blühende Kräuter
würzten die Luft und im Rücken des Schloſſes, wo die Notte fließt,
hört’ ich deutlich wie das Waſſer des Flüßchens über ein Wehr fiel.


Ich kehrte nun in die Straße zurück und ſetzte mich unter
die Linden des Gaſthauſes. Das war keine „Hölle,“ was ich ge-
ſehn, oder aber die Beleuchtung hatte Wunder gethan.


Der Wirth ſetzte ſich zu mir, und angeſichts des Schloſſes
deſſen Thurmdach uns argwöhniſch zu belauſchen ſchien, plauderten
wir von Wuſterhauſen.


In alten wendiſchen Zeiten ſtand hier ein Dorf Namens
„Wuſtrow“, eine hierlandes ſich häufig findende Lokalbezeichnung.
[255] Als die Deutſchen ins Land kamen, gründeten ſie das noch
exiſtirende Deutſch-Wuſtrow zum Unterſchiede von Wendiſch-
Wuſtrow, ſchließlich aber wurden beide Worte durch ein ange-
hängtes „hauſen“ germaniſirt und Deutſch- und Wendiſch-Wuſter-
hauſen waren fertig.


Wendiſch-Wuſterhauſen, nur mit dieſem haben wir es zu
thun, wurd’ eine märkgräfliche Burg. Sie vertheidigte — wie
„Schloß Mittenwalde“ von dem wir in einem der nächſten
Kapitel ſprechen werden — den Notte-Uebergang und war eine der
vielen Grenzburgen zwiſchen der Mark und der Lauſitz.


Wendiſch-Wuſterhauſen blieb markgräfliche Burg bis gegen
1370 und es iſt eher wahrſcheinlich als nicht, daß der alte, von
der Prinzeſſin als „Diebswinkel“ bezeichnete Thurm bis in jene
markgräfliche Zeit zurückdatirt. Etwa 1375 kamen die Schlieben
in den betreffenden Beſitz, eine Familie, die damals in der
Umgegend reich begütert war. Sie beſaßen es ein Jahrhundert
lang, auch während der Quitzow-Zeit, ohne daß beſondere
„Räuberthaten“ aus dieſer ihrer Beſitz-Epoche bekannt geworden
wären. 1475 kauften es die Schenken von Landsberg, da-
malige Beſitzer der Herrſchaft Teupitz, aus deren Händen es,
kleiner Mittelglieder zu geſchweigen, 1683 an den Kurprinzen
Friedrich, den ſpäteren König Friedrich I. kam. Dieſer aber
überließ es 1698 ſeinem damals erſt zehn Jahr alten Sohne, dem
ſpäteren König Friedrich WilhelmI.


Friedrich Wilhelm I. nahm Wendiſch-Wuſterhauſen von
Anfang an in ſeine beſondere Affection und hielt bei dieſer Be-
vorzugung aus bis zu ſeinem Tode. Was es jetzt iſt, verdankt
es ihm, dem „Soldatenkönig;“ Straßen- und Park-Anlagen
entſtanden und mit Recht wechſelte der Flecken ſeinen Namen und
erhob ſich aus einem Wendiſch-Wuſterhauſen zu einem Königs-
Wuſterhauſen.


Königs-Wuſterhauſen iſt vieleicht mehr als irgend ein anderer
Ort, nur Potsdam ausgeſchloſſen, mit der Lebens- und Regierungs-
Geſchichte König Friedrich Wilhelms I. verwachſen. Hier ließ er
als Knabe ſeine „Kadetten“ und einige Jahre ſpäter ſeine „Leib-
Compagnie“ exerciren. Hier übte und ſtählte er ſeinen Körper,
[256] um ſich wehr- und mannhaft zu machen und hier, nach erfolgtem
Regierungsantritte, fanden jene waidmänniſchen Feſtlichkeiten ſtatt,
die Wuſterhauſen recht eigentlich zum Jagdſchloß par excellence
erhoben.


Hier auf dem Schloßhof, den jetzt die friedliche Pumpe ziert,
war es wo jedesmal nach abgehaltener Jagd den Hunden ihr
„Jagdrecht“ wurde. Das war die Nachfeier zum eigentlichen Feſt.
Der zerlegte Hirſch ward wieder mit ſeiner Haut bedeckt, an
der ſich noch der Kopf ſammt dem Geweih befinden mußte. So
lag der Hirſch auf dem Hof, während hundert und mehr Parforce-
Hunde, die durch ein Gatter von ihrer Beute getrennt waren,
laut heulten und winſelten und nur durch Karbatſchen in Ordnung
gehalten wurden. Endlich erſchien der König, der Jägerburſche
zog die Haut des Hirſches fort, das Gatter öffnete ſich und die
Meute fiel über ihr „Jagdrecht“ her, während die Piqueurs im
Kreiſe ſtanden und auf ihren Hörnern blieſen.


Wenigſtens zwei Monat alljährlich wohnte König Friedrich
Wilhelm I. in Wuſterhauſen. Späteſtens am 24. Auguſt traf er
ein und früheſtens am 4. oder 5. November brach er auf. Die
erſten 8 Tage gehörten der Rebhuhnjagd, vorzüglich auf der Groß-
Machenower Feldmark; ſpäter dann folgten die Jagden auf Roth-
und Schwarzwild. Zwei Feſtlichkeiten im größeren Stil gab
es herkömmlich während der Wuſterhauſener Saiſon: die Jahres-
feier der Schlacht bei Malplaquet am 11. September und das
Hubertusfeſt am 3. November. Bei Malplaquet war der König,
damals noch Kronprinz, zum erſten Mal im Feuer geweſen; das
erheiſchte, wie billig, ein Erinnerungsfeſt. Das Hubertusfeſt war
zugleich das Abſchiedsfeſt von Wuſterhauſen. Nur einmal fiel es
aus, am 3. November 1730. Am 28. Oktober, ſechs Tage
vor dem Hubertustag, hatte das Kriegsgericht in Schloß
Cöpenick geſeſſen, das über Kronprinz Friedrich und Katte
befinden ſollte.


Hier in Wuſterhauſen ſpielten ſpäter die Hof- und Heiraths-
Intriguen und hier ſchwankte die Wage bis zuletzt, ob der Erbprinz
von Baireuth oder der Prinz von Wales (wie ſo ſehr gewünſcht
wurde) die Braut heimführen würde; hier endlich, nachdem die
Ungewitter ſich verzogen und ruhigeren Tagen Platz gemacht hatten,
[257] theilte der früh alternde König, wenn Gicht und Podagra das
Jagen verboten, ſeine Zeit zwiſchen Thonpfeife und Palette,
zwiſchen Rauchen und Malen.


Der andere Morgen war Pfingſtſonntag. Ich brach früh
auf, um das „verzauberte Schloß“, das damals (1862) noch keine
Reſtaurirung erfahren hatte, bei hellem Tageslichte zu ſehn. Ich
fragte nach dem Kaſtellan, — todt; nach der Kaſtellanin — auch
todt; endlich erſchien ein Mann mit einem großen alten Schlüſſel,
der mir als der Herr „Exekutor“ vorgeſtellt wurde. Dies ängſtigte
mich ein wenig. Es war ein ziemlich mürriſcher Alter, der von
nichts wußte, vielleicht auch nichts wiſſen wollte.


Wir traten durch eine Seitenthür auf den Schloßhof. Es
war ſchon heiß, trotz der frühen Stunde; die Sonne ſchien blendend
hell und die Bosquets ſammt der weißen Pumpe waren nicht
ganz mehr, was ſie den Abend vorher geweſen waren.


Wir umſchritten zunächſt das Schloß, dann nahm ich einen
guten Stand, um mir die Architectur deſſelben einzuprägen. Es
iſt gewiß ein ziemlich häßliches Gebäude, aber doch noch
mehr originell als häßlich, und in ſeiner Apartheit nicht ohne
Intereſſe. Der ganze Bau, bis zu beträchtlicher Höhe, iſt aus
Feldſtein aufgeführt, woraus ich den Schluß ziehe, daß der König
die dem 14. oder 15. Jahrhundert angehörige Grundform des
Schloſſes: ein Viereck mit vorſpringendem Rundthurm, einfach bei-
behielt und nur die Gliederung und Einrichtung völlig veränderte.
Der Rundthurm wurde Treppenthurm. Von dieſem aus zog er
eine Mauerlinie mitten durch das Feldſtein-Viereck hindurch und
theilte dadurch den Bau in zwei gleiche Hälften. Jede Hälfte er-
hielt ein Giebeldach, ſo daß wer ſich dem Schloſſe jetzt nähert, zwei
Häuſer zu ſehen glaubt, die mit ihren Giebeln auf die Straße blicken.
In Front beider Giebel und an beide ſich lehnend, ſteht der Thurm.


Dieſer Thurm iſt ſehr alt; König Friedrich Wilhelm I. aber
hat ihm einen modernen Eingang gegeben, ein Portal in Manns-
höhe, deſſen Giebelfeld etwa ein Dutzend in Holz geſchnittene
Amoretten zeigt. Einige ſind wurmſtichig geworden, andere haben
ſonſtigen Schaden genommen.


Beim Eintreten erblickt man zuerſt ein paar verließartige Keller-
Fontane, Wanderungen. IV. 17
[258] räume, darin etwas Stroh liegt, als wären es eben verlaſſene Lager-
ſtätten. Von hier aus führt eine Treppe von zehn oder zwölf
Stufen in’s Hochparterre, danach eine zweite höhere Treppe bis in’s
erſte Stockwerk. Wir verweilen hier einen Augenblick. Ein
ſchmaler Gang ſcheidet zwei Reihen Zimmer von einander, deren
Thüren, etwa in Mittelhöhe (muthmaßlich des beſſeren Luftzugs
halber) kleine Gitterfenſter haben, in Folge deſſen die Zimmer aus-
ſehen wie Gefängnißzellen. Es ſind dies erſichtlich dieſelben Räume,
darin die Prinzeſſinnen ſchlafen mußten, wenn ſie nicht in den
kleinen Giebelſtuben untergebracht wurden. Die Gitterfenſter
gönnen überall einen Einblick. In einem der Zimmer lagen Akten-
bündel ausgebreitet, weiße, grüne, blaue, wohl 80 oder 100 an
der Zahl. Muthmaßlich eine alte Regiſtratur der Herrſchaft
Königs-Wuſterhauſen.


Wir ſtiegen nun in’s Hochparterre zurück. Hier befindet ſich
die ganze Herrlichkeit des Schloſſes auf engſtem Raum zuſammen.
Man tritt zuerſt in eine mit Hirſchgeweihen ausgeſchmückte Jagd-
halle, die, wie der Flurgang oben, zwiſchen zwei Reihen Zimmern
hinläuft. Die frühere große Sehenswürdigkeit darin iſt derſelben ver-
loren gegangen. Es war dies das 532 Pfund ſchwere Geweih
eines Rieſenhirſches, der 1636, alſo zur Regierungszeit George
Wilhelms, in der Köpnicker Forſt, 4 Meilen von Fürſtenwalde,
erlegt worden war. Ueber dies Geweih iſt auch in neuerer Zeit
noch viel geſtritten und obige Gewichtsangabe wie billig belächelt
worden. Nichtsdeſtoweniger muß das Geweih etwas ganz Enormes
geweſen ſein, da Friedrich Auguſt II. von Sachſen dem Könige
Friedrich Wilhelm I.eine ganze Compagnie langer Gre-
nadiere
zum Tauſch dafür anbot, ein Anerbieten, das natürlich
angenommen wurde. Das Geweih exiſtirt noch und ſoll ſich auf
dem Jagdſchloß Moritzburg bei Dresden befinden.


Rechts von der Halle ſind zwei Thüren. An der einen, zu-
nächſt der Treppe, ſtanden mit Kreide die Worte: „Wachtſtube der
Artillerie.“ Bei Manövern, Mobilmachungen ꝛc. muß nämlich
das Wuſterhauſener Schloß wohl oder übel mit aushelfen und er-
hält vorübergehend eine kleine Garniſon. Auch ſtehen in der That
die meiſten dieſer Räume, wenigſtens in der Geſtalt in der ich
ſie noch ſah, auf der Stufe von Kaſernenſtuben.


[259]

Das erſte Zimmer hinter der mit Kreide beſchriebenen Thür
war ehedem das Schlafzimmer Friedrich Wilhelms I. Es befindet
ſich in demſelben das große Waſchbecken des Königs, etwas höchſt
Primitives, eine Art feſtgemauertes Waſchfaß. Aus Gips gefertigt,
gleicht es den Abgußſteinen, die man in unſeren Küchen findet,
und hat in der That eine Oeffnung zum Abfluß des Waſſers, in
der ein ſteinerner Stöpſel ſteckt, halb ſo lang wie ein Arm und
halb ſo dick. Beim Anblick dieſes Waſchfaſſes glaubt man ohne
weitere Zweifel was vom Soldatenkönig berichtet wird, daß er
einer der reinlichſten Menſchen war und „ſich wohl zwanzigmal
des Tages wuſch.“


Die andere Thür, ebenfalls zur Rechten der Halle, führt in
den Speiſeſaal. Er mißt 15 Schritt im Quadrat. In der
Mitte deſſelben iſt ein hölzerner Pfeiler angebracht, der vielleicht
mehr ſchmücken als ſtützen ſoll. Ein großer Kamin, neben deſſen
einem Vorſprung einſt eine Treppe direkt in die Küche führte, voll-
endet die Herrichtung. Es iſt dies derſelbe Saal, in dem, wie
ſchon hervorgehoben, an jedem 11. September der Tag von Mal-
plaquet und an jedem 3. November das Hubertusfeſt gefeiert ward.
Es ging dann viel heitrer hier her, als man jetzt wohl beim An-
blick dieſer weißgetünchten Oede glauben möchte. Frauen waren
ausgeſchloſſen. Es war ein Männerfeſt. Zwanzig bis dreißig
Offiziers, meiſt alte Generale, die unter Eugen und Marlborough
mitgefochten hatten, ſaßen dann um den Tiſch herum und Rhein-
wein und Ungar wurden nicht geſpart. Der „ſtarke Mann“
mußte kommen und ſeine Kunſtſtücke machen; zuletzt, während
die Lichter flackerten und qualmten und die Piqueurs auf ihren
Jagdhörnern blieſen, packte der König den alten General-
lieutenant von Pannewitz, der von Malplaquet her eine breite
Schmarre im Geſicht hatte, und begann mit ihm den Tanz.
Dazwiſchen Taback, Brettſpiel und Puppentheater, bis das Ver-
gnügen an ſich ſelbſt erſtarb.


Wir treten nun aus dieſem Eßſaal wieder in die Halle zurück.
Zur Linken derſelben befinden ſich ebenfalls zwei Zimmer, die
Zimmer der Königin. Sie ſind verhältnißmäßig noch wohl er-
halten und geben einem ein deutliches Bild von der „Elegance“
17*
[260] jener Tage. Beide Zimmer ſind durch eine Thür von Eichenholz mit
einander verbunden, wie denn auch niedrige Eichenholz-Paneele die
Wände bekleiden, während in den vier Ecken oben vier Lyras
angebracht ſind, die ſo genirt dreinſehen, als befänden ſie ſich lieber
wo anders. Und doch haben ſie wenigſtens Geſellſchaft: zwei Bas-
reliefs (in jedem Zimmer eins) die ſich als Wandſchmuck zwiſchen
Kamin und Decke ſchieben. Das eine ſtellt eine „Toilette der
Venus,“ das andere eine „Venusfeier“ dar. Auf jenem erblicken
wir nichts als die herkömmlichen Amoretten, ſchnäbelnde Tauben,
Roſen-Guirlanden ꝛc., das zweite dagegen thut ein Uebriges und
nackte Geſtalten von ganz unglaublichen Formen umtanzen eine
Venusſtatue, während ein Satyr von hinten her eine Bacchantin
umklammert und die Widerſtrebende zum Tanze zwingt. An
anderem Orte würde dieſer luſtige Heidenſpuk wenig bedeuten, hier
im Schloſſe zu Wuſterhauſen aber nimmt er ſich wunderlich genug
aus und paßt ſeltſam zu dem Waſchbecken drüben mit dem dicken
ſteinernen Stöpſel.


Das erſte dieſer Zimmer, das ſich mit der „Toilette der
Venus“ begnügt, führt durch eine Seitenthür auf eine Art Rampe,
die ziemlich ſteil nach dem Park hin abfällt. Dieſen Weg machte
wahrſcheinlich der König, wenn er in ſeinem Gichtſtuhl in den
Garten hinein und wieder zurückgerollt wurde. Bekanntlich war
Treppenſteigen nicht ſeine Sache.


Wir aber treten jetzt ebenfalls in’s Freie hinaus und athmen
auf im Sonnenlicht und in dem Wieſendufte, den eine Luftwelle
herüber trägt. Eine mächtige alte Linde, hart zu Füßen der Rampe,
ladet uns ein unter ihrem Zweigwerk Platz zu nehmen und wir
ſitzen nun muthmaßlich unter demſelben Blätterdach „unter dem
die Damen, wenns regnete, bis an die Waden im Waſſer ſaßen“.
Die Parkwieſe liegt vor uns, Hummel und Käfer ſummen darüber
hin und das Mühlenfließ uns zur Rechten fällt leis über das
Wehr. Träume nehmen den Geiſt gefangen und führen ihn weit
weit fort in ſüdliche Lande, zu Tempeltrümmern und Götterbil-
dern. Aber ein Satyr lauſcht plötzlich daraus hervor. Es iſt
derſelbe, der der tanzenden Bacchantin da drinnen im Nacken ſitzt
und ſiehe, die Proſa-Bilder von Schloß Wuſterhauſen ſchieben ſich
plötzlich wieder vor die Bilder klaſſiſcher Schönheit.


[261]

Hatte die Memoirenſchreiberin doch Recht? Ja und Nein.
Ein prächtiger Platz für einen Waidmann und eine ſtarke Natur,
aber freilich ein ſchlimmer Platz für äſthetiſchen Sinn und einen
weiblichen esprit fort.


2.
Teupitz.


Winde hauchen hier ſo leiſe
Räthſelſtimmen tiefer Trauer.
Lenau.

Teupitz verlohnt eine Nachtreiſe, wiewohl dieſe Hauptſtadt
des „Schenkenländchens“ nicht das mehr iſt, als was ſie mir
geſchildert worden war.


All dieſe Schilderungen galten ſeiner Armuth. „Die Poeſie
des Verfalls
liegt über dieſer Stadt“, ſo hieß es voll dichte-
riſchen Ausdrucks, und die pittoresken Armuthsbilder, die mein
Freund und Gewährsmann vor mir entrollte, wurden mir zu
einem viel größeren Reiſeantrieb, als die gleichzeitig wiederholten
Verſicherungen: „aber Teupitz iſt ſchön.“ Dieſen Refrain über-
hört’ ich oder vergaß ihn, während ich die Worte nicht wieder
loswerden konnte: „das Plateau um Teupitz herum heißt „der
Brand“, und das Wirthshaus darauf führt den Namen „der todte
Mann“.


Ich hörte noch allerhand Anderes. Ein früherer Geiſtlicher
in Teupitz ſollte blos deshalb unverheiratyet geblieben ſein, „weil
die Stelle einen Hausſtand nicht tragen könne“, und ein Gutsbe-
ſitzer, ſo hieß es weiter, habe Jedem erzählt: „ein Teupitzer Bettel-
kind, wenn es ein Stück Brod kriegt, ißt nur die Hälfte davon;
die andere Hälfte nimmt es mit nach Haus. So rar iſt Brod
in Teupitz“. All dieſe Geſchichten hatten einen Eindruck auf mich
gemacht. Zu gleicher Zeit erfuhr ich, König Friedrich Wilhelm IV.
habe gelegentlich halb in Scherz und halb in Theilnahme geſagt: „die
Teupitzer ſind doch meine Treuſten; wären ſie’s nicht, ſo wären
ſie längſt ausgewandert“.


[262]

Dies und noch manches der Art rief eine Sehnſucht in mir
wach, Teupitz zu ſehen, das Ideal der Armuth, von dem ich in
Büchern nur fand, daß es vor hundert Jahren 258 und vor
fünfzig Jahren 372 Einwohner gehabt habe, daß das Perſonal
der Geſundheitspflege (wörtlich) „auf eine Hebamme beſchränkt
ſei“, und daß der Ertrag ſeiner Aecker 1¼ Sgr. pro Morgen
betrage. Angedeutet hab’ ich übrigens ſchon, und es ſei hier eigens
noch wiederholt, daß ich die Dinge doch anders fand, als ich nach
dieſen Schilderungen erwarten mußte. Wie es Familien giebt, die,
trotzdem ſie längſt leidlich wohlhabend geworden ſind, den guten
und ihnen bequemen Ruf der Armuth durch eine gewiſſe
Paſſivität geſchickt aufrecht zu erhalten wiſſen, ſo auch die Teu-
pitzer. Solche vielbedauerten „kleinen Leute“ leben glücklich-ange-
nehme Tage, und unbedrückt von den Mühſalen der Gaſtlichkeit
oder der Repräſentation, lächeln ſie ſtill und vergnügt in ſich
hinein, wenn ſie dem lieben, alten Satze begegnen, daß „geben ſeliger
ſei denn nehmen“.


Um 12 Uhr Nachts geht oder ging wenigſtens die Poſt, die
die Verbindung zwiſchen Teupitz und Zoſſen und dadurch mit der
Welt überhaupt unterhielt. Zoſſen iſt der Paß für Teupitz: „es
führt kein andrer Weg nach Küßnacht hin“.


Während der erſten anderthalb Meilen haben wir noch Chauſſee,
deren Pappeln, ſoviel die Mitternacht eine Muſterung geſtattet,
nicht anders ausſehen als andern Orts, und erſt bei Morgengrauen
biegen wir nach links hin in die tiefen Sandgeleiſe der recht eigent-
lichen Teupitzer Gegend ein. Es iſt ein ausgeſprochenes Haideland,
mehr oder weniger unſern Wedding-Parthien verwandt, wie ſie
vor hundert oder auch noch vor fünfzig Jahren waren. Selbſt die
Namen klingen ähnlich: „Sandkrug, Spiesberg“ und „der hungrige
Wolf“. Immer dieſelben alten und wohlbekannten Elemente: See
und Sand und Kiefer und Kuſſel; aber ſo gleichartig die Dinge
ſelber ſind, ſo apart iſt doch ihre Gruppirung in dieſer Teupitzer Ge-
gend. Die Kiefer, groß und klein, tritt nirgends in geſchloſſenen
Maſſen auf, nicht en colonne ſteht ſie da, ſondern aufgelöſt in
Schützenlinien. Und die Dämmerung unterſtützt dieſe Vorſtellung
eines Heerlagers. Auf der Kuppe drüben ſtehen drei Vedetten
und lugen aus, am Abhang lagert eine Feldwacht und eine lange
[263] Poſtenkette von Kuſſeln zieht ſich am See hin und reicht einem
andern Lagertrupp die Hand. Dazwiſchen Sand und Moos und
dann und wann ein Aehrenfeld, dünn und kümmerlich, ein bloßer
Verſuch, eine Anfrage bei der Natur.


Inzwiſchen iſt es am Horizont immer heller geworden. Das
Grau wurde weiß, das Weiß iſabell- und dann roſenfarben, und nun
ſchießt es wie Feuerlilien auf. Der Sand verſchwindet, Waſſer-
und Morgenkühle wehen uns an, und während der Sonnenball
hinter einem alten Schloßthurm aufſteigt, fahren wir in die noch
ſtille Straße von Teupitz ein.


Der Wagen hält vor dem „goldnen Stern“, an deſſen Lauben-
vorbau der Wirth ſich lehnt, ſeines Zeichens ein Bäcker. Ich
nehm’ es als eine gute Vorbedeutung, denn unter allen Gewerks-
meiſtern ſteht doch der Bäcker unſerm innern Menſchen am nächſten.
Er weiſt mich auch freundlich zurecht; ein Lager iſt leicht gefunden
und dem Müden noch leichter gebettet. Durch das Gazefenſter
zieht die Luft, die Akazie draußen bewegt ſich hin und her, und
die Tauben auf dem eingerahmten Geburtstagswunſch am Bett-
ende werden immer größer. Und nun fliegen ſie fort und —
meine Träume fliegen ihnen nach.


Aber nicht auf lange. Das Picken des Nagelſchmieds von
der Ecke gegenüber weckt mich, und während die Frühſtücksſtunde
kommt und die braunen Semmeln neben die noch braunere Kanne
geſtellt werden, ſetzt ſich die Sternen-Wirthin zu mir und unterhält
mich von Teupitz und dem Teupitzer See.


„Ja“, ſo ſagt ſie, „was wäre Teupitz ohne den See. Wir
wären längſt ein Dorf, wenn wir das Waſſer nicht hätten. Frei-
lich wir dürfen nicht mehr drin fiſchen, die Fiſchereigerechtigkeit
iſt verpachtet, aber das Waſſer iſt uns mehr als alles was drin
ſchwimmt. Mit gutem Winde fahren wir in ſechs Stunden nach
Berlin und alles was wir kaufen und verkaufen, es kommt und geht
auf dem See. Wir bringen keine Fiſche mehr zu Markte, denn
wir haben keine mehr, aber Garten- und Feldfrüchte, Weintrauben und
Obſt, und Holz und Torf. Das giebt ſo was wie Handel und
Wandel, mehr als Mancher denkt und mehr als wir ſelber ge-
dacht haben. Große Spreekähne kommen und gehen jetzt täglich,
das machen die neuen Ziegeleien. Ueberall hier herum liegt fetter
[264] Thon unterm Sand, und wenn Sie Nachts über Groß-Köris hin-
aus bis an den Motzner See fahren, da glüht es und qualmt
es rechts und links, als brennten die Dörfer. Oefen und Schorn-
ſteine wohin Sie ſehen. Meiner Mutter Bruder iſt auch dabei.
Er wird reich, und Alles geht nach Berlin. Viele hunderttauſend
Steine. Immer liegt ein Kahn an dem Ladeplatz, aber er kann
nicht genug ſchaffen, ſo viel wie gebraucht wird. Ich weiß es
ganz beſtimmt, daß er reich wird, und Andere werden’s auch.
Aber daß ſie’s werden können, das macht der See“.


Die Sternwirthin verrieth hier eine bemerkenswerthe Nei-
gung, ſich über die Vermögensverhältniſſe von „ihrer Mutter
Bruder“ ausführlicher auszulaſſen, weshalb ich, ohne jede Neugier
nach dieſer Seite hin, die Frage zwiſchenwarf: wem denn
eigentlich der See gehöre, was er Pacht trage und wer ihn ge-
pachtet habe?


„Der See gehört zum Gut. Zum Gut gehören überhaupt
32 Seen, aber der Teupitz-See iſt der größte. Der Fiſchgroß-
händler in Berlin, der ihn vom Gut gepachtet hat, zahlt 800 Thaler
und die Teupitzer Fiſcher, die hier fiſchen und die Fiſche zu Markte
bringen, ſind nicht vielmehr als die Tagelöhner und Dienſtleute
des reichen Händlers. Meiner Mutter Bruder ....“


„Achthundert Thaler“ unterbrach ich „iſt eine große Summe.
Ich kenne Seen, die nur vier Thaler Pacht bezahlen. Iſt der
Teupitz-See ſo reich an Fiſchen?“


„Ob er’s iſt! Die Stadt führt nicht umſonſt einen Karpfen
im Wappen. Unſer See hat viel Fiſche und ſchöne Fiſche; freilich
wenn der Zander-Zug fehlſchlägt —“


„Der Zander-Zug?


„Ja. Er iſt nur einmal im Jahr und von ſeinem Ausfall
hängt Alles ab. In der Regel bringt er 600 oft 1500 Thaler,
mitunter freilich auch gar nichts. Dann muß das nächſte Jahr
den Schaden decken. Aber weil es unſicher iſt, was der Zan-
derzug bringen wird, deshalb können unſere Fiſcher den See nicht
pachten.“


„Wann iſt der Zug?“


„Im Januar und Februar. Immer im Winter, denn die
[265] Netze werden unterm Eis geſpannt und gezogen. Es iſt jedesmal
ein Feſttag für Teupitz.“


Die Sternwirthin begann nun mit vieler Lebhaftigkeit mir
die verſchiedenen Phaſen des Zander-Zuges zu beſchreiben, dabei mehr
ermuthigt als geſtört durch meine Fragen, die ganz ernſthaft darauf
aus waren, das Verfahren nach Möglichkeit kennen zu lernen.
Die Handgriffe beim Spannen und Ziehen der Netze blieben mir
aber unklar und nur ſo viel ſah ich, daß es die größte Aehnlichkeit
mit einer Treibjagd und zwar mit einem Keſſeltreiben haben müſſe.
Die Fiſcher, wohl vertraut mit dem See, fegen mittelſt weit-
geſpannter Netze den Zander in ihnen bekannte Keſſelvertiefungen
hinein, umſtellen ihn hier und ſchöpfen ihn dann, wie man Gold-
fiſchchen aus einem Baſſin ſchöpft, aus der fiſchgefüllten Tiefe
heraus.


Inzwiſchen erfuhr ich, daß das Boot bereit läge, das mich
laut Verabredung auf den See fahren ſollte. Gleich vom gold-
nen Stern aus, läuft ein ſchmaler Gang auf die Anlegeſtelle zu.
Rechts und links ſtanden Hof- und Gartenzäune, ſämmtlich in
jenen ſeltſamen Biegungen und Wellenlinien, die bemooſtes Zaun-
werk im Lauf der Jahre zu zeigen pflegt. Ueber die Zäune
hinweg wuchſen die Kronen der Bäume von hüben und drüben
zuſammen, was ſich namentlich in Nähe des Waſſers überaus
maleriſch ausnahm, wo zugleich der See bis zwiſchen das Planken-
werk vordrang und mal höher mal tiefer mit ſeinem gelblichen
Schaum eine Grenzmarke zog.


An dieſer Stelle lag auch das Boot. Ein Fiſchermädchen
vom andern Ufer ſtand in der Mitte deſſelben und während ihr
weißes Kopftuch im Winde flatterte, ſtießen wir ab.


Der Teupitz-See iſt faſt eine Meile lang und eine Viertel-
meile breit, an einigen Stellen, wo er ſich buchtet, auch breiter.
Sein Waſſer iſt hellgrün, friſch und leichtflüſſig; Hügel mit Fel-
dern und Hecken faſſen ihn ein, und außer der ſchmalen Halb-
inſel, die das „Schloß“ trägt und ſich bis tief in den See hinein
erſtreckt, ſchwimmen große und kleine Inſeln auf der ſchönen
Waſſerfläche umher. Die kleinen Inſeln ſind mit Rohr beſtanden,
die größeren aber, auch Werder geheißen, ſind bebaut und tragen
die Namen der beiden Seedörfer, Egsdorf und Schwerin, denen
[266] ſie zunächſt gelegen ſind. Alſo der Egsdorfer und der Schweriner
Werder.


Wir fuhren von Inſel zu Inſel, von Ufer zu Ufer; abwech-
ſelnd mit Ruder und Segel ging es auf und ab, planlos, ziellos.
Die Teupitzer Kirche, der alte Schloßthurm hinter Pappeln, die
rothen Dächer der Stadt, das Schilf, die Hügel — alles ſpiegelte
ſich in dem klaren Waſſer, aber, ſo ſchön es war, ich hatte doch
ein Gefühl all dies ſchon einmal geſehn zu haben, nur ſchöner,
märchenhafter, und dieſe Märchenbilder ſucht’ ich nun in Näh und
Ferne. Lächelnd geſtand ich mir endlich, daß ich ſie nicht finden
würde. Noch einmal umfuhr der Kahn die Halbinſel, auf der
die Ueberreſte des alten Teupitz-Schloſſes gelegen ſind; dann trieben
wir, durch den Schilfgürtel hindurch, den Kahn wieder an’s Land.


Die Stelle, wo wir landeten, lag in dem Winkel, den Ufer
und Landzunge bilden, und das alte Teupitz-Schloß oder mit ſeinem
vollen Namen „das alte Schloß der Schenken von Landsberg und
Teupitz“ ſtieg faſt unmittelbar vor uns auf. Ich ſchritt ihm zu.


Das alte Teupitz-Schloß, das in frühe Jahrhunderte zurück-
reicht, galt ehedem für ſehr feſt. Es lag an der Grenze zwiſchen
Mark und Lauſitz und ſcheint abwechſelnd eine märkiſche oder
ſächſiſche Grenzfeſtung geweſen zu ſein, je nachdem die Waffen
oder die Verträge zu Gunſten des einen oder andern Theils
entſchieden hatten. Im 13. ſowie in der erſten Hälfte des 14.
Jahrhunderts waren die Plötzke’s Herren von Teupitz, um 1350
aber kam die Herrſchaft Tupitz oder Tuptz, wie ſie damals genannt
ward, in Beſitz der Schenken von Landsberg und nahm ſeitdem
den Namen des „Schenkenländchens“ an. Dies Ländchen umfaßte
4 Qu.-Meilen; in ſeiner Mitte lag Teupitz die Stadt, mit See
und Burg. Die Lehnsverhältniſſe des „Schenkenländchens“ blieben
noch geraume Zeit hindurch verwickelter und ſchwankender Natur,
bis endlich der Einfall der Huſſiten in die Mark den Ausſchlag
gab und die Schenken von Landsberg und Teupitz veranlaßte, ſich
in den Schutz des Brandenburgiſchen Kurfürſten (Friedrich I.) zu
begeben. Zwar geſchah dies zunächſt noch mit der Bemerkung:
„unbeſchadet unſerer Unterthänigkeitsverpflichtung gegen den Kaiſer
und den Herzog von Sachſen“, dieſe Hinzufügung indeß ſcheint
nicht allzu ernſthaft gemeint geweſen zu ſein, da Schenk Heinrich
[267] von Landsberg ſchon wenige Jahre ſpäter erklärte, „daß, ſintemalen
der Kurfürſt, ſein gnädiger Herr, mit den Herzögen von Sachſen
in Fehde ſtehe, auch er (Schenk Heinrich) mit ſeinen Helfern und
Knechten ihnen, den Herzögen, den Krieg erklären müſſe.“


Die Schenken von Landsberg und Teupitz blieben nah an
400 Jahr im Beſitz der Herrſchaft. Nachdem aber Schloß und
Land in Folge des 30jährigen Krieges ſehr vernachläſſigt, die Wein-
berge verwildert, die Haiden verwüſtet waren, ging das ganze
Schenkenländchen im Jahre 1718 durch Kauf an König Friedrich
Wilhelm I. über. Er bezahlte dafür die geringe Summe von
54,000 Thaler, kaufte verloren gegangene Güter zurück, machte das
Schloß zu einem „Amt“ und ſtellte das geſammte Schenkenländchen,
als Außenwerk der Herrſchaft Königs-Wuſterhauſen, unter die Ver-
waltung einer Amtskammer. Seit einer Reihe von Jahren iſt
Schloß Teupitz in die Hände von Privaten übergegangen. Der
vorige Beſitzer war Herr von Treskow, der gegenwärtige iſt Herr
von Pappart.


Es giebt kein Schloß Teupitz mehr, nur noch ein Amt
gleiches Namens.


Zu dieſem Amt, ſehr maleriſch an der Stelle des alten
Schloſſes gelegen, gehört auch ſelbſtverſtändlich alles was noch von
Reſten einer frühren Zeit vorhanden iſt. Es iſt dies mehr, als
auf den erſten Blick erſcheint. Alle Wirthſchaftsgebäude der linken
Hofſeite ruhen auf alten hochaufgemauerten Fundamenten, in denen
ſich mächtige Kellergewölbe bis dieſe Stunde vorfinden, während
der Eingang in den Amtshof durch einen viereckigen Thurm, einen
ſogenannten Donjon, in mittelalterlicher Weiſe flankirt wird. Dieſer
Backſteinthurm hat noch eine beträchtliche Höhe, was ſeinem An-
blick aber einen ganz beſonderen Zauber leiht, iſt, daß ſeine Plat-
form zu einem völligen Garten geworden. In das Erdreich, das
der Regen im Laufe der Jahrhunderte hier niedergeſchlagen hat,
haben theils die höheren Baumkronen ihre Keime niederfallen laſſen,
theils haben Wind und Staubwirbel aus dem zu Füßen gelegenen
Garten die Samenkörner bis zur Höhe des Thurmes emporgetragen.
Ein Ebreſchenbaum ſtand in der Mitte deſſelben und zwiſchen den
Roſenſträuchern wuchs „Unſerer lieben Frauen Bettſtroh“ in großen
gelben Büſcheln über die Mauerkrone fort. Das alte Schloß,
[268] erzählen einige, habe früher auf einer völligen Inſel geſtanden,
und erſt die Anſchwemmungen hätten im Lauf der Zeit aus der
Inſel eine Halbinſel gemacht. Es iſt dies möglich, aber nicht wahr-
ſcheinlich. Man ſieht nirgends eine Bodenbeſchaffenheit oder über-
haupt Terrain-Eigenthümlichkeiten, die darauf hindeuteten, und
alles läßt vielmehr umgekehrt annehmen, daß es ſtets eine Halb-
inſel war, die freilich abſichtlich und zwar mittelſt eines durch die
Landenge geſtochenen Grabens, zu einer Inſel gemacht wurde.


Außer Thurm und Fundamenten iſt an dieſer Schloßſtelle
nichts mehr vorhanden, was an die alten Schenken von Teupitz
erinnerte. Noch weniger faſt bietet die Kirche, die zwiſchen dem
Schloß und der Stadt, am Nordrande der letzteren gelegen iſt.


Vor fünfzig Jahren hätte die Forſchung noch manches hier
gefunden, jetzt aber, nach ſtattgehabter Reſtaurirung. iſt alles hin,
oder doch ſo gut wie Alles. Die Grundform der Kirche hat zwar
wenig unter dieſen Neuerungen gelitten, alle Details im Innern
aber, alle jene Bilder, Gedächtnißtafeln und Ornamente, die
vielleicht im Stande geweſen wären, der ziemlich grau in grau
gemalten Geſchichte der Schenken von Teupitz etwas Licht und
Farbe zu leihen, ſie ſind zerſtört oder verloren gegangen. Bei
Oeffnung der jetzt zugeſchütteten Gruft unter der Sakriſtei der
Kirche, fand man eine bedeutende Anzahl Särge, viele mit Meſſing-
täfelchen, auf denen neben den üblichen Namen- und Zahlen-An-
gaben auch einzelne hiſtoriſche Daten verzeichnet waren. Dieſe
Täfelchen, in die Pfarre gebracht, ſind ſpäter in dem Wirr-
warr von Umzug und Neubau verloren gegangen. Der gegen-
wärtige Geiſtliche hat nur mit Mühe noch eine kleine Glasmalerei
gerettet, die, dem Anſcheine nach, einen von der Kanzel predigenden
Mönch darſtellt. Sonſt iſt der Kirche aus der „Schenken-Zeit“ her
nichts geblieben, als ein einziger Backſtein am Hintergiebel, der
die eingebrannte Inſchrift trägt: nobil. v. Otto Schenk v. Landsb.
(nobilis vir Otto Schenk von Landsberg.)
Wahrſcheinlich war
er es, unter dem eine frühere Reſtauration der Kirche (1566)
ſtattfand.


Wir haben den See befahren, das Schloß und die Kirche
beſucht, es bleibt uns nur noch der Jeeſenberg, ein Hügel am
[269] Südrande der Stadt gelegen, von dem aus man das geſammte
Schenkenländchen überblickt. Wir erreichen ſeinen höchſten Punkt
und haben in weitgeſpanntem Bogen eine Keſſellandſchaft vor und
unter uns. Wohin wir blicken, vom Horizonte her dieſelbe Reihen-
folge von Hügel, See und Haideland und in der Mitte des Bildes
wir ſelbſt und der Berg, auf dem wir ſtehen.


Das Panorama iſt ſchön; ſchöner aber wird das Bild, wenn
wir auf den Rundblick verzichten und uns damit begnügen, in die
nach Oſten hin ſich dehnende Hälfte der Landſchaft hineinzublicken.
Es iſt dies die Hälfte, wo Teupitz und ſein See gelegen ſind. Der
Wind weht ſcharf vom Waſſer her, aber eine wilde Pflaumbaum-
Hecke giebt uns Schutz, während Einſchnitte, wie Schießſcharten,
uns einen Blick in Näh und Ferne geſtatten. Ein Kornfeld läuft
vor uns am Abhang nieder, am Fuße des Hügels zieht ſich ein
Feldweg hin und dahinter breiten ſich Gärten und Wieſen; hinter
den Wieſen aber ſteigt die Stadt auf und hinter dieſer der See
mit ſeinen Inſeln und ſeinen Hügeln am andern Ufer. Und
auch Leben hat das Bild. Wie losgelöſte Schollen treiben die In-
ſeln den See entlang (oder ſcheinen doch zu treiben), ein ſatter
Fiſchreiher fliegt landeinwärts und die Tücher der Mägde, die
beim Heuen beſchäftigt ſind, flattern luſtig im Winde. Vom
nächſten Dorf her kommen Kinder des Wegs und verkürzen ſich
die Zeit mit Spiel und Neckereien. In Büſcheln reißen die
Jungen den rothen Mohn aus dem Kornfeld und immer wenn
ſie die Mädchen zu haſchen und mit den Büſcheln zu treffen
ſuchen, ſtäuben die rothen Blätter nach allen Seiten hin durch
die Luft.


So liegen und träumen wir hinter der Pflaumbaumhecke,
ducken uns vor dem Wind, wenn er zu ſcharf bergan fährt, und
lugen wieder aus, wenn er pauſirt und zu neuem Angriff ſich
rüſtet.


In dieſem Augenblick aber trägt er die Klänge der Mittags-
glocke laut und vernehmbar herüber und mahnt uns zur Rückkehr in
die Stadt. Im goldenen Stern erwartet uns ein gedeckter Tiſch; ich
eile damit und ſpring’ in’s Boot, um noch einmal über den See zu
fahren. Und diesmal allein. Die kurzen Wellen tanzen um mich
[270] her, das Waſſer zeigt eine leichte Trübe, der Himmel iſt grau. Ein
Gefühl beſchleicht mich wieder, ſtärker noch als zuvor, als ruhe
hier etwas, das ſprechen wolle, — ein Geheimniß, eine Geſchichte.
Ich ziehe die Ruder ein und horche. Die Wellen klatſchen an den
Kiel und der Wind biegt das Rohr kniſternd nieder. Sonſt alles
ſtumm. Die Wolken ſinken immer tiefer; nun öffnen ſie ſich
und hinter der grauen Wand, die der niederfallende Regen nach
allen Seiten hin aufrichtet, verſchwindet die Landſchaft, Stadt
und Schloß.


So ſah ich den Teupitz-See zuletzt und ich habe Sehnſucht
ihn wieder zu ſehn. Iſt es ſeine Schönheit allein, oder zieht mich
der Zauber, den das Schweigen hat? Jenes Schweigen, das
etwas verſchweigt.


3.
Mittenwalde.


„Befiehl Du Deine Wege
Und was das Herze kränkt
Der allertreuſten Pflege
Deß, der den Himmel lenkt“ ....
Und kaum das Lied vernommen,
Iſt über ſie gekommen
Der Friede Gottes aus der Höh’.
Schmidt von Lübeck.

Teupitz war der äußerſte Punkt unſerer Pfingſtfahrt; auf
dem Rückwege laſſen wir es uns angelegen ſein, an Mittenwalde
nicht ohne Anſprache vorüber zu gehn.


Im Allgemeinen darf man fragen: wer reiſt nach Mitten-
walde? Niemand. Und doch iſt es ein ſehenswerther Ort, der
Anſpruch hat auf einen Beſuch in ſeinen Mauern. Nicht als ob
es eine ſchöne Stadt wäre, nein; aber ſchön oder nicht, es iſt
ſehenswerth, weil es alt genug iſt um eine Geſchichte zu haben.


Es hat ſogar eine Vorgeſchichte: Sagen und Traditionen
von einem Alt-Mittenwalde, das, in unmittelbarer Nähe der
[271]jetzigen Stadt, auf der weſtlichen Feldmark derſelben gelegen war.
Und in der That, unter Wieſen- und Ackerland finden ſich an
dieſer Stelle noch allerlei Steinfundamente vor, und während das
Auge des Fremden über Felder und Schläge zu blicken glaubt,
ſprechen die Mittenwalder vom „Vogelſang“, vom „Pennigsberg“,
vom „Burgwall“ ꝛc., als ob all dieſe Dinge noch ſichtbarlich
vor ihnen ſtünden.


Daß hier früher und zwar in einem enggezogenen Halbkreis
um die jetzige Stadt her ein anderes Mittenwalde ſtand, ſcheint
unzweifelhaft. Es finden ſich beiſpielsweis allerlei Münzen am
„Pfennigsberg,“ und als Ende der 50er Jahre Canalbauten und
Erdarbeiten am „Burgwall“ zur Ausführung kamen, ſtieß man auf
Eichenbohlen, die wohl drei Fuß hoch mit Feldſteinen überſchüttet
waren. Erſichtlich ein Damm, der früher — mitten durch den
Sumpf hindurch — erſt nach dem Burg-wall und von dieſem
aus nach der inmitten deſſelben gelegenen Burg führte.


So die Traditionen, und ſo das Thatſächliche, das jene
Traditionen unterſtützt. Aber ſo gewiß dadurch der Beweis ge-
führt iſt, daß auf der weſtlichen Feldmark ein anderer längſt
untergegangener Ort exiſtirte, ſo wenig iſt dadurch bewieſen,
welcher Art der Ort war und in welchem Verhältniß er
zu der Burg und dem Pennigsberge ſtand. Wie verhielt es
ſich damit? War die Burg ein Schutz der Stadt oder umgekehrt
ein Trutz derſelben? Waren Stadt und Burg wendiſch oder
waren ſie deutſch? Befehdeten ſie einen gemeinſchaftlichen Feind,
oder befehdeten ſie ſich untereinander? Alle dieſe Fragen drängen
ſich auf, ohne daß eine Löſung bisher gefunden wäre. Die Tra-
dition ſcheint geneigt, einen alten Wendenort anzunehmen, der in-
mitten des „Burgwalls“ ſeine Burg und auf dem „Pennigsberg“
ſeine Begräbnißſtätte hatte. Bevor Beſſeres geboten iſt, iſt
es vielleicht am beſten, dabei zu verharren. Ausgrabungen auf
dem weſtlichen Stadtfelde würden gewiß zu wirklichen Aufſchlüſſen
führen, aber dieſe Ausgrabungen werden in unbegreiflicher Weiſe
vernachläſſigt. Die Communen entbehren in der Regel des nöthigen
Intereſſes und unſere Vereine der nöthigen Mittel.


Indeſſen laſſen wir das vorgeſchichtliche Mittenwalde und wenden
wir uns lieber dem mittelalterlichen zu, das, aller Verheerungen unge-
[272] achtet, in einzelnen Baulichkeiten immer noch exiſtirt. Da haben
wir die Mauer mit ihren Thorthürmen, da haben wir die Propſtei-
kirche und da haben wir vor allem auch den „Hausgrabenberg“,
von deſſen Höhe herab, nach allgemeiner Annahme „Schloß
Mittenwald“ in die Mark und die Lauſitz hineinblickte. Die Lage
dieſes „Hausgrabenberges“ im Norden des zu vertheidigenden
Notte-Flüßchens, dazu das Fortifikatoriſche der an andere Hügel-
befeſtigungen jener Zeit erinnernden Anlage, würden es wie
zur Gewißheit erheben, daß das Schloß an dieſem Punkt
und nur an dieſem geſtanden haben müſſe, wenn nicht der
eine Umſtand, daß, ſo viel ich weiß, keine Spur von Stein-
fundamenten innerhalb des Berges gefunden worden iſt, das Ur-
theil wieder ſchwankend machte.


Gleichviel indeß was auf ſeiner Höhe geſtanden haben mag,
jetzt ſteht ein Häuschen auf demſelben, das ſich in Weinlaub
verſteckt und über deſſen Dach hin, als ob es doppelt geſchützt
werden ſolle, ſich die Wipfel alter Birnbäume wölben. Im Spät-
ſommer, wenn die blauen Trauben an allen Wänden hängen
und die goldgelben Birnen entweder vom Wind oder der eigenen
Schwere gelöſt polternd über das Dach hin rollen, muß es ſchön
ſein an dieſer Stelle.


Der „Hausgrabenberg“ hat ein reizendes Haus. Aber
ein baulich größeres Intereſſe bietet doch der alte Thorthurm
der Stadt, dem wir uns jetzt zuwenden. Er liegt nach Norden
hin, auf dem Wege nach Cöpnick und Berlin, und führt deshalb
den Namen: das Cöpnicker oder Berliner Thor. In alter Zeit,
als Mittenwalde noch „feſt“ war, war dieſer Thorbau von
ziemlich zuſammengeſetzter Natur und beſtand aus einem quer
durch den Stadtgraben führenden Steindamm, deſſen Mauer-
lehnen hüben und drüben in einen Außen- und Innen-Thurm aus-
liefen. Von jenem, dem Außen-Thor, ſteht noch die Front,
ein maleriſch gothiſches Ueberbleibſel, das in ſeiner Stattlichkeit
und reichen Gliederung mehr noch an die berühmten Thorbauten
altmärkiſcher Städte (beiſpielsweiſe Salzwedels und Tanger-
mündes) als an verwandte Bauten der Mittelmark erinnert. Es
ſcheint, daß es ein geräumiges und beinah würfelförmiges Viereck
[273] war, das an jedem Eck einen Rundthurm und zwiſchen dieſen vier
Rundthürmen — und zugleich über ſie hinauswachſend — ebenſo
viele mit den zierlichſten Roſetten geſchmückte Giebel trug.


Aus dem 13. Jahrhundert ſtammt die Mittenwalder Probſtei-
oder St. Moritz-Kirche. Die Kreuzgewölbe ſind ſpäter. Man ſieht
deutlich, wie die mächtigen alten Pfeiler in beſtimmter Höhe weg-
gebrochen und die alten Tonnengewölbe durch neue, von eleganterer
Conſtruktion erſetzt wurden. Um vieles moderner iſt der Thurm,
dem übrigens mit Rückſicht auf das Jahr ſeiner Entſtehung (1781)
alles mögliche Lob geſpendet werden muß. Er paßt nicht zur
Kirche, nimmt ſich aber nichtsdeſtoweniger gut genug aus. Aehn-
lich wie die ſchweren alten Steinpfeiler, die jetzt die Kreuzgewölbe
tragen, unverändert dieſelben geblieben ſind, hat auch der Bau-
meiſter von 1781 die früheren Thurmwände bis zu beſtimmter
Höhe hin als Unterbau fortbeſtehen laſſen. Dadurch iſt etwas
ziemlich Stilloſes, aber nichtsdeſtoweniger etwas Anziehendes und
Maleriſches entſtanden. Die ſich verjüngenden Etagen erheben ſich
auf dem mächtigen alten Feldſteinfundamente nach Art einer Statue
auf ihrem Piedeſtal, und die Hageroſen und Hollunderbüſche, die
zu Füßen dieſes aufgeſetzten Thurmes auf der Plattform des Unter-
baues blühn, erfreuen und feſſeln den Blick.


Und nun treten wir in das Innere der Kirche, die reich iſt
an Bildern und Grabſteinen und noch reicher an Erinnerungen.
An den Wänden ziehen ſich, chorſtuhlartig, 45 Kirchenſtühle der
alten Gewerks- und Innungsmeiſter hin, jeder einzelne Stuhl an
ſeiner Rückenlehne mit den Gewerks-Emblemen geſchmückt. Vor
dem Altare liegen die Grabſteine von Burgemeiſter und Rath, der
Altar ſelbſt aber, ein Schnitzwerk aus katholiſcher Zeit und mit
Bildern auf der Kehrſeite ſeiner Thüren, iſt muthmaßlich ein Ge-
ſchenk, das von Kurfürſt Joachim I. der Mittenwalder Kirche ge-
macht wurde. Zwiſchen Altarwand und Altartiſch, auf ſchmalem
Raume, begegnen wir noch einem Chriſtuskopf auf dem Schweiß-
tuche der heiligen Veronica, die Theilnahme jedoch die wir dieſem
Bilde zuwenden, erliſcht vor dem größeren Intereſſe mit dem
wir eines Portraits anſichtig werden, das vom Seitenſchiffe her
Fontane, Wanderungen. IV. 18
[274] und zwiſchen den Pfeilern hindurch in Lebensgröße herüberblickt.
Es iſt nicht das Bild als ſolches, das uns feſſelt, es iſt der,
den es darſtellt: neben der ſchmalen Sakriſteithür, in ſchlichter
Umrahmung, hängt das Bildniß Paul Gerhardt’s.


Paul Gerhardt war Probſt zu Mittenwalde von
1651 bis 1657.


Vor etwa 50 Jahren wurde dieſes Bildniß Paul Gerhardt’s
nach einem in der Kirche zu Lübben befindlichen Original ange-
fertigt und der Mittenwalder Kirche, zur Erinnerung an die Zeit
ſeines Wirkens allhier, zum Geſchenk gemacht. Es iſt ein gutes
Bild; die Züge verrathen viel Milde, doch nichts Weichliches, und
die Unterſchrift, ebenfalls dem Lübbener Original entnommen,
lautet wie folgt:


Paulus Gerhardus Theologus in Cribro Satanae tentatus
et devotus postea, obiit Lubbenae anno 1676, aetate
70.


Rechts daneben befinden ſich folgende Diſtichen:


Sculpta quidem Pauli viva est ut imago Gerhardi,

Cujus in ore fides, spes, amor usque fuit,

Hie docuit nostris Assaph redivivus in oris

Et cecinit laudes Christe benigne tuas:

Spiritus aethereis veniet tibi sedibus hospes,

Haec ubi saepe canes carmina sacra Deo.

Alſo etwa:


Ganz wie er lebte ſind hier Paul Gerhard’s Züge zu ſchauen,

Draus nur Glaube allein, Hoffnung und Liebe geſtrahlt;

Ja, er lehrte bei uns, ein wiedererſtandener Aſſaph,

Und er erhob im Geſang, güt’ger Erlöſer, Dein Lob.

Hoch von den himmliſchen Höh’n ſteigt nieder der heilige Geiſt uns,

Singen die Lieder wir oft, die er geſungen dem Herrn.*)

[275]

Paul Gerhardt, wie ſchon hervorgehoben, war ſechs Jahre
lang Probſt an der Mittenwalder Kirche und es iſt höchſt wahr-
ſcheinlich, daß einige der ſchönſten Lieder, die wir dieſem volks-
thümlichſten unſrer geiſtlichen Liederdichter verdanken, während
ſeines Mittenwalder Aufenthaltes, in Leid und Freud’ des Hauſes
und des Amtes gedichtet wurden.


Begleiten wir ihn auf ſeinem Ein- und Ausgang.


Paul Gerhardt kam ſpät in’s Amt. Er war bereits 46 Jahr
alt, als die Kirchenvorſtände von Mittenwalde, wo der Propſt
Goede eben geſtorben war, ſich an das Miniſterium der St. Nicolai-
kirche zu Berlin wandten mit dem Erſuchen, einen geeigneten Mann
für die Mittenwalder Probſtei-Kirche in Vorſchlag zu bringen.
Die Kirchenbehörden von St. Nicolai waren ſchnell entſchieden;
ſie kannten Paul Gerhardt, der ſeit einer Reihe von Jahren als
Lehrer und Erzieher im Hauſe des Kammergerichts-Advokaten
Andreas Berthold thätig war und durch Lieder und Vorträge längſt
die Aufmerkſamkeit aller Kirchlichen auf ſich gezogen hatte. Dieſen
empfahlen ſie. Nach zwanzigjährigem Harren ſah ſich Paul Ger-
hardt am Ziele ſeiner innigſten Sehnſucht und mit dem Dankes-
lied: „Auf den Nebel folgt die Sonn’, Auf das Trauern Freud’
und Wonn’,“ empfing er die Vocation und trat mit dem neuen
Kirchenjahr 1651 in’s Amt.


Freudig begann er es und voll guten Muths all der Gegner-
ſchaften und Widerwärtigkeiten Herr zu werden, an denen es von
Anfang an nicht ermangelte. Neid, verletztes Intereſſe, gekränkte
Eigenliebe — der ſeit Jahren an der Mittenwalder Kirche predigende
Diaconus Allborn hatte darauf gerechnet Propſt zu werden —
erſchwerten ihm Amt und Leben, aber wenn er dann Abends
an dem offenen Hinterfenſter ſeiner Arbeitsſtube ſaß und über
die Stadtmauer hinweg in die dunkler werdenden Felder blickte,
während von der Probſtei-Kirche her der Abend eingeläutet und
eine alte Volksweiſe vom Thurm geblaſen wurde, dann ward ihm
das Herz weit, und den Athem Gottes lebendiger fühlend, kam
ihm ſelber ein Lied und mit dem Liede Glück und Erhebung. Es
war die Volksweiſe: „Innsbruck, ich muß Dich laſſen,“ die vom
Thurm herab allabendlich erklang, dieſelbe alte Weiſe, von der
Sebaſtian Bach ſpäter zu ſagen pflegte: „er gäb’ all ſeine Werke
18*
[276] darum hin“, und der fromme P. Gerhardt, der wohl wiſſen
mochte, wie ſeine Gemeinde daran hing, trachtete jetzt danach,
der ſchönen alten Melodie tiefere Textesworte zu Grunde zu legen.
So entſtand das „Abendlied“:

Nun ruhen alle Wälder,

Vieh, Menſchen, Städt’ und Felder,

Es ſchläft die [ganze] Welt —


jenes Muſterſtück einfachen Ausdrucks und lyriſcher Stimmung, das
durch einzelne daran anknüpfende Spöttereien (z. B. die ganze
Welt könne nie ſchlafen, weil die Antipoden Tag hätten, wenn
wir zur Ruhe gingen) an Volksthümlichkeit nur noch gewonnen hat.


Glaub’ und Liebe richteten ihn wohl auf, wenn die Kümmer-
niſſe des Lebens ihn niederdrücken wollten, aber ein Gefühl der
Einſamkeit blieb ihm, und ſein Herz ſehnte ſich nach Genoſſenſchaft,
nach einem Herd. Im vierten Jahre ſeines Amts bewarb er ſich
um die Hand Maria Bertholds, der älteſten Tochter jenes from-
men Hauſes, in dem er ſo viele Jahre glücklich geweſen war, und
Probſt Vehr von St. Nicolai, der beide ſeit lange gekannt und
geliebt hatte, legte beider Hände ineinander. Um die Mitte
Februar 1655 zog Maria Berthold in die Mittenwalder Probſtei-
wohnung ein.


Innige Liebe hatte das Band geſchloſſen und Paul Gerhardt
glaubte nun den Segen um ſich zu haben, der alle böſen Geiſter
von ſeiner Schwelle fernhalten würde. Neu gekräftigt in ſeinem
Glauben und neu geſtimmt zur Dankbarkeit, war es um dieſe
Zeit wohl, daß er den hohen Freudenſang anſtimmte:


Warum ſollt’ ich mich denn grämen?

Hab’ ich doch

Chriſtum noch,

Wer will mir den nehmen?

Wer will mir den Himmel rauben,

Den mir ſchon

Gottes Sohn

Beigelegt im Glauben?

Aber es war anders beſtimmt. Die Freudigkeit des Gemüths
ſollt’ ihm nicht zufallen, er ſollte ſie ſich erringen in immer
ſchwerer werdenden Kämpfen. Ein Töchterlein, das ihm geboren
[277] wurde, ſtarb bald, und die Kränkungen, die das Auftreten Allborns
im Geleite hatte, zehrten immer mehr an Geſundheit und Leben
ſeiner nur zart gearteten Frau. Nicht frohe Tage waren dieſe
Mittenwalder Tage, ſelbſt äußere Noth geſellte ſich, und als der
auch jetzt noch in ſeinem Glauben und Hoffen unerſchüttert Blei-
bende jenes Vertrauenslied anſtimmte, das von Strophe zu Strophe
die Worte wiederholt: „Alles Ding währt ſeine Zeit, Gottes Lieb’
in Ewigkeit“ da war das Herz der ſonſt frommen Frau bereits klein
und ängſtlich genug geworden, um ſich mißgeſtimmt und bitter faſt
von einer Glaubenskraft abzuwenden, die weit über die Kraft ihres
eigenen ſchwachen Herzens hinausging. Tiefe Schwermuth ergriff
ſie. Paul Gerhardt ſelbſt aber, in jener Freudigkeit der Seele,
wie ſie das Vorgefühl eines nahen Sieges und endlicher Erhö-
rung leiht, ſchlug ſeine Bibel auf und las die Worte des Pſal-
miſten: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn: er
wird’s wohl machen“. Und einem Funken gleich fiel das Wort
in ſeine Bruſt. Er mußte freier aufathmen, die Stube ward ihm
zu eng, und auf- und abſchreitend in den Gängen des alten Probſtei-
gartens, entquollen ihm die erſten Strophen zu jenem großen
Troſtes- und Vertrauensliede: „Befiehl Du Deine Wege“.


Bewegt aber auch erhoben ging er in das Haus zurück, em-
pfand er ſich doch als Träger einer Botſchaft, der kein Herz wider-
ſtehen könne. Und ſiehe da, an der ſchwermüthigen Stimmung
ſeiner Frau erprobte das Lied zum erſten Male ſeine wunderbare
Kraft. Alles Leid floß hin in Thränen, alle Trübſal wurde Licht,
und eh’ noch der Rauſch gehobenſter Empfindung vorüber war,
war auch ſchon die Hülfe da — ein Abgeſandter, ein Brief, der
den Mittenwalder Probſt als Diaconus an die Berliner Nicolai-
kirche berief. Er reichte ſeiner Hausfrau das Schreiben und ſagte
ruhig: „Siehe wie Gott ſorget. Befiehl dem Herrn Deine
Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen
.“


Paul Gerhardt verließ Mittenwalde im Juli 1657. Dem
weitern Gange ſeines Lebens folgen wir an dieſer Stelle nicht,
aber die Frage drängt ſich auf: was iſt der Stadt, in der einige
ſeiner ſchönſten Lieder entſtanden, aus der Zeit ſeines Lebens und
Wirkens erhalten geblieben? ſind noch Plätze da, die von ihm er-
zählen, und welche ſind es?


[278]

Die Stadt bietet nichts. Das Probſteigebäude, das noch vor
einigen fünfzig Jahren bewohnt war, iſt ſeitdem abgebrochen und ſelbſt
der Garten, in deſſen Gängen er muthmaßlich das „Befiehl Du
Deine Wege“ dichtete, liegt, wüſt geworden, ohne Zaun und Ein-
faſſung zwiſchen zwei Nachbargärten.


Die Stadt bietet nichts mehr, wohl aber die Kirche. Dicht
unter ſeinem Bildniß, deſſen ich bereits ausführlicher erwähnte,
ſehen wir eine Steintafel in die Wand des Seitenſchiffes einge-
laſſen, die folgende Inſchrift trägt: Maria Eliſabeth — Pauli
Gerhardt’s, damaligen Probſtes allhier zu Mittenwalde und Anna
Maria Bertholds erſtgebohrnes, herzliebes Töchterlein, ſo zur
Welt kommen d. 19. Mai Anno 1656 und wieder abgeſchieden
d. 14. Januar Anno 1657 — hat allhier ihr Ruhebettlein und
dieſes Täfflein von ihren lieben Eltern. Geneſis 47. V. 9. „Wenig
und böſe iſt die Zeit meines Lebens.“ Ein grüner Kranz faßt
die Inſchrift ein und Engelsköpfe ſchmücken die vier Ecken.


Neben Bildniß und Stein iſt die Sakriſteithür. In der
Sakriſtei ſelbſt finden wir das alte Mittenwalder Kirchenbuch,
ein großes, nach Art der Bilderbibeln in Leder gebundenes Buch,
etwa dreihundert Jahr alt. Die Regiſtrirungen in dieſem Buch
aus der Zeit von 1651 bis Neujahr 1657 rühren alle von Paul
Gerhardt ſelber her. Seine Handſchrift iſt feſt, dabei voll
Schwung und Schönheit. Seine Aufzeichnungen ſchließen mit dem
28. December 1656.


Bild und Stein und Buch, ſie mahnen an ſein Wandeln
und Wirken an dieſer Stätte; fehlten aber auch dieſe Dinge, die
ſeinen Namen oder die Züge ſeiner Hand tragen, die Kirche ſelber
— im Großen und Ganzen dieſelbe geblieben — ſie würde da-
ſtehn zu ſeinem ehrenden Gedächtniß, der proteſtantiſchen Welt
mehr eine Paul Gerhardts- als eine Sankt Moritz-Kirche. Wenig
Modernes hat ſich ſeit zweihundert Jahren hinzugeſellt und wohin
das Auge ſich wenden mag, ſein Auge hat darauf geruht.


Veränderungen ſollen vorgenommen werden; mögen ſie mit
Pietät geſchehen.


[279]

Paul Gerhardt iſt unbeſtritten der Glanzpunkt in der Ge-
ſchichte Mittenwalde’s, aber es hat der hiſtoriſchen Erinnerungen
auch [noch] andre.


Den 31. Auguſt 1730 traf Kronprinz Friedrich unter ſtarker
Bedeckung, von Weſel aus, über Treuenbrietzen (wo er die Nacht
vorher geweſen war) in Mittenwalde ein, um daſelbſt, vor ſeiner
Abführung nach Küſtrin, ein erſtes Verhör zu beſtehen. Das
Truppenkommando, das ihn bis Mittenwalde geführt hatte, ſtand
unter Befehl des Generalmajors von Buddenbrock, deſſelben
tapferen Ofſiziers, der zwei Monate ſpäter dem mit der Todes-
ſtrafe drohenden König mit den Worten entgegentrat: „Wenn
Ew. Majeſtät Blut verlangen, ſo nehmen Sie meines; jenes be-
kommen Sie nicht, ſo lang ich noch ſprechen darf.“*)


Kronprinz Friedrich blieb zwei Tage in Mittenwalde, vom
31. Auguſt bis 2. September. Das Verhör fand muthmaßlich
am 1. ſtatt. Er beſtand es vor Generallieutenant von Grumbkow,
Generalmajor von Glaſenapp, Oberſt von Sydow und den Geh.
Räthen Mylius und Gerbett und behauptete während deſſelben
eine „kecke und beleidigende Zürückhaltung“. Als Grumbkow ihm
ſeine Verwunderung darüber bezeugte, antwortete er: „Ich bin auf
alles gefaßt, was kommen kann, und hoffe, mein Muth wird grö-
ßer ſein, als mein Unglück.“ —


Garniſon ſtand damals noch nicht in Mittenwalde; die Stadt
war überhaupt noch klein und zählte (1730) nur 952 Einwohner.
In welchem Hauſe der Prinz bewacht wurde, hab ich nicht mehr
ermitteln können; das „Schloß“ exiſtirte längſt nicht mehr. Das
Verhör fand muthmaßlich auf dem Rathhauſe ſtatt.


Das war im September 1730.


Faſt ſiebenzig Jahre ſpäter, am Sylveſterabend 1799, tritt
[280] noch einmal eine hiſtoriſche Figur auf die beſcheidene Mittenwalder
Bühne, um ihr ſechs Jahre lang in Leid und Freud’ anzugehören.
Sechs Jahre lang, wie Paul Gerhardt. Ein Kämpfer wie dieſer,
nicht mit mächtigeren, aber mit derberen Waffen. Es genügt
ſeinen Namen zu nennen: Major von York, der ſpätere „alte
York.“


Unterm 6. November hatte der König an den damals in
Johannisburg ſtehenden Major von York geſchrieben: „Mein
lieber Major von York. Da die jetzt verfügte Verſetzung des
Major von Uttenhoven vom Regiment Fußjäger als Commandeur
zum dritten Bataillon des Regiments von Zenge es nothwendig
macht, dem Jägerregiment (in Mittenwalde) einen ganz capablen
Commandeur zu geben und Ich Mich überzeuge, daß Ihr die zu
dieſem wichtigen Poſten erforderlichen Eigenſchaften in Euch ver-
bindet, ſo will ich Euch hierdurch zum Commandeur des Jäger-
regiments ernennen ꝛc.“


Am Sylveſterabend 1799, an der Neige des Jahrhunderts,
traf Major von York in ſeiner neuen Garniſon ein und über-
raſchte ſeine Herren Offiziers auf dem Sylveſterball. Die erſte
Begegnung war gemüthlich genug, der dienſtliche Ernſt kam nach.
Das ſeit 1780 in Mittenwalde ſtehende Jägerregiment war ver-
wahrloſt; er gab ihm einen neuen Geiſt, und dieſer Geiſt war
es, der ſich ſieben Jahre ſpäter erfolgreich in jenen kleinen Kämpfen
bewährte, die dem Tage von Jena folgten. Bei Altenzaun am
26. Oktober, dreiviertel Meile ſüdlich der Sandauer Fähre, waren
es die Mittenwalder Jäger, die den Elbübergang des Blücher’ſchen
Corps zu decken hatten. Sie thaten es mit Ruhm und Geſchick.
Die Jäger kehrten nicht nach Mittenwalde zurück. York ſelbſt
nur auf wenige Tage, Januar 1807.*) Dann rief ihn die Noth
des Vaterlandes dorthin, wo damals allein noch Preußen war, —
nach Königsberg. Die Mittenwalder aber waren ſtolz auf ihren
York, und als nach ſchweren Jahren der Erniedrigung alles Volk
in Preußenland zu Gewehr und Lanze griff und „Landwehr“
[281] wurde, da griffen die Mittenwalder zur Büchſe und wurden —
Jäger. Wenigſtens deutet darauf die Gedächtnißtafel in der
Kirche hin, wo die Namen der Gefallenen faſt ausnahmelos die
Bezeichnung J., F.-J. und G.-J., d. h. alſo Jäger, Freiwilliger
Jäger und Garde-Jäger tragen.


Das Haus, das Major von York bewohnte, exiſtirt noch.
Es iſt jetzt ein Gaſthaus, in der Hauptſtraße der Stadt gelegen,
und führt wie billig den Namen „Hotel York.“ Ueber der
Hausthür erblicken wir eine Niſche und an derſelben Stelle, wo
ſonſt wohl ein „Mohr“ oder ein „Engel“ zu ſtehen pflegt, ſteht
hier eine Büſte des alten York. Auch in den Zimmern findet
ſich ſein Bild. Die Lokalität iſt im Großen und Ganzen noch
dieſelbe, wie ſie vor 70 Jahren war: hinter dem Hauſe der Hof
und hinter dem Hof ein Garten, beide von Stall- und Wirth-
ſchaftsgebäuden umſtellt, an deren Außenwänden ſich allerlei Treppen
und Stiegen im Zickzack entlang ziehen. Im Innern des Hauſes
hat ſich natürlich viel verändert und nur das Zimmer, das er
ſelbſt zu bewohnen pflegte, zeigt noch ein paar der alten, übrigens
höchſt einfachen Stuckverzierungen. Ueber dem Sopha hängt der
Kaulbach-Muhr’ſche Jeremias und von der Decke herab eine Kam-
phinlampe. — Beides Kinder einer andern Zeit.


Wer reiſt nach Mittenwalde?


Tauſende wallfahrten nach Gohlis, um das Haus zu ſehen,
darin Schiller das Lied „an die Freude“ dichtete. Mittenwalde
beſucht niemand, und doch war es in ſeinem Probſtei-Garten,
daß ein anderes, größeres Lied an die Freude gedichtet wurde, das
große deutſche Tröſtelied:


„Befiehl Du Deine Wege“.


[[282]]

Klein-Machenow
oder
Machenow auf dem Sande.


Bei Warſchau, bei Wien,

Bei Fehrbellin,

Ob Friedrich Wilhelm, ob alter Fritz,

Ob Leuthen, Lützen, Dennewitz,

Ein alter märkiſcher Edelmann

Iſt immer dabei, iſt immer voran.

Klein-Machenow iſt ein reizend gelegenes Dorf, das ſich an
einem vom Teltefließ gebildeten See hinzieht. Die Häuſer ſind
ärmlich, aber ſchöne Kaſtanienalleen, wie ſie während des vorigen
Jahrhunderts faſt überall in den Nachbardörfern Berlins ent-
ſtanden, geben dem Ganzen ein ſehr maleriſches Anſehn.


Das Dorf iſt alter Beſitz der v. Hakes. Dieſe Familie, die
3 Gemshörner (Haken) im Wappen führt, war früher wie im
Havellande ſo auch im Teltow reich begütert, beſitzt aber in
letztrem Kreiſe, nach Einbuße von Genshagen und Heinersdorf,
nur noch Klein-Machenow und das Patronat über das angren-
zende Stahnsdorf. Am Nordufer des ſchon genannten See’s er-
hebt ſich der Seeberg, von deſſen weſtlichem Abhang aus man
einen prächtigen Blick ins Land hat, die Thürme von Potsdam
am Horizont.


Bevor wir uns im Dorfe ſelbſt und zumal in ſeiner alten
Kirche umſehn, ſei noch ein orientirendes Vorwort geſtattet über
[283] die Hake’s und Hacke’s. Hinſichtlich dieſer beiden Familien
herrſcht nämlich, was die Rechtſchreibung ihrer Namen angeht, eine
große Verwirrung, die ſchließlich zu Verwechſelungen aller Art ge-
führt hat. Erſt neuerdings ſcheint man ſich dahin geeinigt zu
haben, nicht abwechſelnd und nach Laune Hake, Haake, Haacke,
Hacke ꝛc. zu ſchreiben, ſondern im Einklange damit, daß es zwei
beſtimmt geſchiedene Familien giebt, auch zwei beſtimmt geſchiedene
Namen anzunehmen: die Hake’s und die Hacke’s.


Die Hacke’s ſind aller Wahrſcheinlichkeit nach aus Franken
und zwar in verhältnißmäßig ſpäter Zeit in die Mark gekommen.
Ihnen gehört vor allem Hans Chriſtoph Friedrich v. Hacke, ge-
nannt der „lange Hacke“, der bekannte Liebling Friedrich Wil-
helms I. an. Er war Oberſt und Generaladjutant des Königs
und derſelbe, an den ſich der bereits ſterbende Monarch, als er
die Stallbedienten unten im Hof auf einem groben Fehler
ertappte, mit der bekannten Aufforderung wandte: „Gehen Sie
doch hinunter Hacke*) und prügeln Sie die Schurken.“


[284]

In gar keiner Beziehung zu dieſen Hacke’s ſtehen die Hake’s.*)
Sie haben ſeit 500 Jahren immer als einfache Edelleute in der
Mark gelebt und ſeit dreihundert Jahren das Erbſchenken-Amt der
Kurmark Brandenburg bekleidet. In allen Kriegen, die wir ſeit
den Tagen des großen Kurfürſten geführt haben, haben zahlreiche
Mitglieder dieſer Familie auf unſern Schlachtfeldern gekämpft und
geblutet, beſonders zahlreich zur Zeit der Türkenkriege und des
ſpaniſchen Erbfolgekrieges. Ein General der Infanterie und zwei
General-Lieutenants gingen aus ihr hervor. Von den General-
Lieutenants machte Ernſt Ludwig v. Hake, geboren 1651 zu
Klein-Machenow, den ſpaniſchen Erbfolgekrieg als Oberſt bei
der Leibgarde mit; Levin Friedrich v. Hake, geb. zu Genshagen,
focht in den ſchleſiſchen und im 7jährigen Kriege; endlich Albrecht
George Ernſt Carl v. Hake, geb. am 8. Auguſt 1769 zu Flatow,
zeichnete ſich während der Befreiungskriege aus, wurde 1819
Kriegsminiſter und 1825 General der Infanterie. Er ſtarb 1835
zu Caſtelamare. Dieſe drei Hake’s repräſentiren, wie die drei
großen Kriegsepochen unſerer Geſchichte, ſo auch drei verſchiedene
Zweige ihres eignen Geſchlechts und zwar die Häuſer: Klein-
Machenow, Genshagen, Flatow. Alle drei waren unverheirathet
oder kinderlos und zwei von ihnen Ritter des ſchwarzen Adler-
Ordens.


Sie alle aber, brav und ruhmreich wie ſie waren, werden
muthmaßlich von einem ihrer erſten Vorfahren, von Hans v.
Hake
, gemeinhin Hake von Stülpe genannt, überlebt werden.
[285] Dieſer Hake von Stülpe war es, der auf der Golm-Haide zwiſchen
Jüterbogk und Trebbin den Ablaßkrämer Tetzel überfiel und ihm,
unter der höhniſchen Vorhaltung „den Ablaßzettel für erſt noch zu
begehende Sünden geſtern von ihm gekauft zu haben“ die ganze
Barſchaft abnahm und den Kaſten bergab in den Schnee rollte.
Dieſer Kaſten befindet ſich bis auf den heutigen Tag in der Kirche
zu Jüterbogk, Hake von Stülpe ſelbſt aber (auch Willibald Alexis
hat ihm in ſeinem Roman der „Wärwolf“ einen Abſchnitt ge-
widmet) wird als eine jener Figuren wie ſie das Volk gern hat,
in unſrer Landesgeſchichte fortleben. Der gute Humor, der Ueber-
muth und der Streich der dem ganzen Ablaßkram dadurch geſpielt
wurde, haben von jeher dafür geſorgt, daß man die That mehr
auf ihre humoriſtiſche Derbheit als auf ihren ſittlichen Gehalt ge-
prüft hat.


Wir kehren nach dieſen Vorbemerkungen in unſer Dorf zurück
und ſchreiten, immer den laubholzumſtandenen, ſtillen See zu unſrer
Rechten, die blühende Kaſtanien-Allee hinauf. An Bemerkens-
werthem finden wir das Herrenhaus, das alte Schloß, die
Waſſermühle
und die Kirche.


Das Herrenhaus iſt ein moderner Bau aus den letzten
Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nach der Gartenſeite hin hat
es einen halbkreisförmigen, von hohen ioniſchen Säulen getragenen
Vorbau, der dem Ganzen etwas Stattliches leiht. Die Auffahrt
auf den ſehr geräumigen Hof erfolgt durch ein altes Sandſtein-
portal, das nach außen hin einen Meduſenkopf und auf dieſem
eine Minerva zeigt. Die Dorfleute betrachten den Meduſenkopf
als das Portrait eines hartherzigen Vorbeſitzers, der ſchließlich von
den Schlangen verzehrt worden ſei.*)


[286]

Das alte Schloß, in unmittelbarer Nähe des jetzigen
Herrenhauſes, iſt eins der wenigen alten Schloßgebäude, die ſich
bis auf dieſen Tag in unſerer Mark erhalten haben. Es beſteht
aus einem ſchmuckloſen Viereck, an deſſen Nordſeite ſich ein ſechs-
eckiger Treppenthurm lehnt. Dieſer Thurm überragt das Haupt-
gebäude nur um wenige Fuß und trägt ein Dach von eigenthüm-
licher und ſchwer zu beſchreibender Form; in der Mitte des eigent-
lichen Schloßbaus aber und zwar in ſeinem Erdgeſchoſſe befindet ſich
ein ſtarker ſechs- oder achteckiger Pfeiler, der das Obergeſchoß zu
tragen ſcheint. Welcher Zeit dieſer Pfeiler angehört, mag dahin-
geſtellt bleiben. Bei der Seltenheit derartiger baulicher Ueber-
bleibſel in unſrer Mark iſt es vielleicht gerechtfertigt, die Aufmerk-
ſamkeit unſerer Archäologen darauf hinzulenken. Von hiſtoriſchen
Erinnerungen knüpft ſich nichts an dieſen Bau. Gemeinhin hat
hierlandes die Orts-Geſchichte den Ort ſelbſt überdauert; wir wiſſen
von der Exiſtenz dieſer oder jener Burg, von dieſem oder jenem
was drin geſchah, und nur die Burg ſelbſt iſt hin; in Klein-
Machenow iſt es umgekehrt, die Burg exiſtirt, aber die Geſchichte
fehlt. Dies hat zum Theil wohl ſeinen Grund darin, daß Klein-
Machenow nach dem Ausſterben der Machenow’ſchen Hakes, etwa
*)
[287] um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Beſitz einer Neben-
linie kam: der Hake’s von Flatow im Havellande, wodurch die
lebendige Tradition unterbrochen wurde.


Die Waſſermühle. Ein ſchöner, maſſiver Bau, durch die
Gebrüder von Hake im Jahre 1856 neu aufgeführt. Eine In-
ſchriftstafel der alten Mühle hat man in die Frontwand des Neu-
baues wieder eingefügt. Die alte Inſchrift lautet: „Anno 1695
hat Herr Ernſt Ludwig v. Hake, Seiner churfürſtlichen Durch-
laucht zu Brandenburg Friderici III Oberſter bei der Garde zu
Fuß, dieſe adlige Freymühle hinwiederumb ganz neue aus dem
Grunde erbauet, weilen die alte gantz zerfallen.“ Dieſer Mache-
now’ſchen oder Hake’ſchen Waſſermühle wird in alten Urkunden oft
erwähnt, doch iſt ſie nicht mit der noch älteren Waſſermühle bei
Potsdam, kurz vor’m Einfluß der Nuthe in die Havel zu ver-
wechſeln, die eigens den Namen Hakemühle (früher Hackenmohle)
führt. Sie iſt viel älter als die Hake’s und wird ſchon 993 ge-
nannt, in welchem Jahre König Otto III. ſeiner Tante, der Aeb-
tiſſin Mathilde von Quedlinburg, den Ort Potsdam ſchenkte.


Die alte Kirche. Gegenüber der Einfahrt mit dem Medu-
ſenkopf liegt die Kirche. Eh wir ſie erreichen, paſſiren wir ein
Steinkreuz, hart an der Straße, zum Andenken eines Schlabern-
dorf errichtet, der hier in einem Duell mit einem v. Hake auf
offener Dorfſtraße getödtet wurde. Sporen und Degen des Ge-
fallenen ſind in der Kirche aufgehängt. Nicht immer übrigens waren die
Hake’s Sieger bei ſolchen Vorfällen. Auf einem anderen Familien-
Gute kam es zu einem Duell zwiſchen einem Hake und einem
v. Bornſtaedt. Man ſchoß ſich in der großen Halle des Hauſes
und Hake fiel. Urſach war ein Stückchen niedergetretenes Erbſen-
feld. Man war damals raſch bei der Hand.


Wir ſind nun an die Kirche herangetreten. Es iſt ein über-
raſchend gefälliger, beinah feinſtiliſirter Backſteinbau aus dem
16. Jahrhundert (vielleicht auch ſchon aus bem 15.) reizend zwiſchen
Bäumen und Epheugräbern gelegen und von einer Steinmauer
eingefaßt. Die eine Kirchenwand trägt zwar deutlich die Inſchrift:
„Casparus Jacke, Maurermeiſter zu Potsdam 1597“, doch hat
er die Kirche ſehr wahrſcheinlich nur reſtaurirt. Der Unterbau,
bis zum Beginn der Fenſter, iſt jedenfalls viel älter und die be-
[288] ſtimmt zu Tage tretende Verſchiedenheit der Steine hat denn auch zu
der Sage geführt, daß zwei Schweſtern die Kirche gebaut und
helle und dunkle Ziegel genommen hätten, um ihren Antheil
unterſcheiden zu können.


Unter den verſchiedenen Grabſteinen und Denkmälern, die die
Kirche beſitzt, iſt vorzugsweis einer Gedenktafel zu erwähnen,
die Ernſt Ludwig von Hake, obengenannter Oberſter in Frie-
drichs III. Leibgarde zu Fuß, im Jahre 1696 zu ehrendem Ge-
dächtniß ſeiner Eltern und Geſchwiſter hat errichten laſſen.


Dieſe Gedenktafel giebt zuvörderſt die Namen ſeiner Eltern
— Otto von Hake † 1682 und Anna Maria von Pfuhlin
† 1682 — und demnächſt die ſeiner 14 Geſchwiſter: 9 Brüder
und 5 Schweſtern. Aus der langen Reihe von Namen und Daten
mögen hier folgende ſtehn:


Gürge Bertram von Hake. Geb. 1641; Leutnant im
K. K. hochlöblichen ſpaniſchen Regiment zu Fuß; gefallen am
20. Juni 1662 bei Erſtürmung von Serimvar durch die Türken.


Otto Sigismund v. H. Geboren 1643; Kaiſerlicher Ca-
pitain-Leutnant im Götzſchen Dragoner-Regiment, gefallen 1664
im Paſſe Kirment in Ungarn.


Heino Friedrich v. H. Geboren 1644; geſtorben im Zipſer
Land 1667, war Leutnant im ſpaniſchen Regiment zu Fuß.


Adolph Heinrich v. H. Geboren 1652; Leutnant im
Terzky’ſchen Regiment zu Fuß, geſtorben zu Zwoll in Holland.


Chriſtoph Ehrenreich v. H. Geboren 1656; Capitain im
brandenburgiſchen Leibregiment Dragoner, gefallen 1686 bei Be-
ſtürmung und Eroberung der Feſtung Ofen.


Die einfachen Angaben dieſer Gedenktafel zeigen deutlich den
Geiſt, der damals in der Familie lebendig war. Die Mark ge-
hörte noch zum „Reich“ und die Kämpfe Habsburgs waren noch
die Kämpfe Brandenburgs. Vier der Otto v. Hakeſchen Söhne
dienten in öſtreichiſchen Regimentern, zwei fielen im Türkenkrieg,
zwei erlagen der Krankheit. Der fünfte und jüngſte war Capitain
in einem brandenburgiſchen Regiment, focht aber, in dem
vom General v. Schöning kommandirten Contingent, für dieſelbe
Sache und fiel im Kampfe gegen den Erbfeind.


Der mehrerwähnte Ernſt Ludwig v. Hake ſcheint übrigens
[289] gleichzeitig zu ehrendem Gedächtniß ſeiner vor ihm heimgegangenen
Brüder die Kirche zu Machenow mit zehn Fahnen ausgeſchmückt
zu haben, von denen jede einen Banner- oder Sinnſpruch trug,
deſſen Anfangsbuchſtaben dem Tauf- und Familien-Namen
des zu Feiernden entſprachen. Drei von dieſen Fahnen exiſtiren
noch, die andern ſieben ſind zerfetzt und zeigen wenig mehr als
die Stöcke. Die Sinnſprüche der noch vorhandenen 3 Fahnen ſind
die folgenden:


Ornat Virtus Heroem (Otto Von Hake).


Coelum Est Vera Habitatio (Chriſtoph Ehrenreich Von Hake).


Abimus Hinc Veluti Hospites (Adolph Heinrich Von Hake).


Außerdem befindet ſich noch ein Denkmal des 1704 bei Höch-
ſtädt auf den Tod verwundeten und zu Nördlingen begrabenen
Ehrenreich von Hake, ſo wie ferner ein elftes Banner in der
Kirche, das Hedwig Margarethe v. Hake, eine Schweſter der oben
angeführten kaiſerlichen und churbrandenburgiſchen Offiziere, zu
Ehren ihres bei Fehrbellin gefallenen Bräutigams aufrichten ließ.
Dies Banner führt folgende Inſchrift: „Dem Herrn Ernſt von
Schlabrendorf
, Obriſt-Wachtmeiſter in des Obriſtleutnants von
Grumkow Esquadron-Dragoner, gefallen 1675 bei Fehrbellin und
in der Dalim’ſchen Kirche beigeſetzt.“


Die Forſten von Klein-Machenow grenzen an den Grunewald
und das Potsdamer Jagdrevier. Es war deshalb den jagdlieben-
den Hohenzollern von jeher daran gelegen, die Jagdgerechtigkeit auf
dem Machenow’ſchen Territorium zu haben und die Hakes beſitzen
denn auch aus dem Ende des 17. und dem Anfange des 18. Jahr-
hunderts eine ziemliche Anzahl von Verpachtungs-Urkunden, in
denen das Verhältniß zwiſchen den eigentlichen Beſitzern und dem
fürſtlichen Jagdpächter geregelt wird. In einer dieſer Urkunden
heißt es: „Seine Kurfürſtliche Durchlaucht (Friedrich III.) wollen
Ihnen, Denen von Hake und ihren Successoribus, bei vorfallen-
den „Ausrichtungen“, als Hochzeiten, Kindtaufen und Begräb-
niſſen, etwas an rothem Wildbret auf ihr unterthänigſtes Anſuchen
ohne Entgelt reichen laſſen.“ Der Wortlaut dieſer Urkunde —
die 150 Jahre lang unbeachtet im Familien-Archiv gelegen haben
mochte — ward 1848 von dem Aſſeſſor v. Hake zu einer Eingabe
an die Potsdamer Regierung benutzt und zwar unter Hinweis darauf,
Fontane, Wanderungen. IV 19
[290] daß der vorgeſehene Fall eingetreten und ihm ein Töchterchen
geboren ſei. Die Regierung beeilte ſich auch wirklich dem wohlbe-
gründeten Geſuch nachzukommen und ein tüchtiger Hirſch wurde
zur Taufe des kleinen Fräulein v. Hake in die gutsherrliche Küche
geliefert. „Leider — ſo erzählte mir Herr v. Hake — hat es bei
dieſem einen Hirſch ſein Bewenden gehabt; noch andre Kinder
ſind mir ſeitdem geboren worden, aber in Folge der Aufhebung
des Jagdrechts iſt mittlerweile meine alte Wildbrets-Urkunde zu
einem todten Stück Papier geworden.“


Machenow auf dem Sande iſt nur eine gute halbe Stunde
vom Wann- und Schlachten-See und all jenen andern im
Grunewald gelegenen Wald- und Waſſer-Parthieen entfernt,
die, wenn längſt gehegte Wünſche ſich erfüllen (erfüllten ſich ſeit-
dem) über kurz oder lang vor die Thore Berlins gerückt ſein
werden. Dann wenn die ſteil abfallende Hügelreihe, die das weite
Becken des Wannſee von Oſten her umfaßt, zu einem Quai für
heitre, von wildem Wein umlaubte Villen geworden ſein und
Forſt und Fluß nach allen Seiten hin durchſtreift werden wird,
dann wird auch das hübſche Dorf am Telte-Fließ ſeine Beſucher
und ſeine Verehrer gefunden haben.


Mögen dieſe dann an der alten, epheuverſteckten Kirche und an
dem Steinkreuz des gefallenen Schlabrendorf nicht vorübergehn.


[[291]]

Groß-Beeren.


„Unſre Gebeine ſollen dieſſeits
Berlin bleichen, nicht jenſeits.“
General v. Bülow.

Zwei Meilen ſüdlich von Berlin liegen die berühmten Felder
von Groß-Beeren. Wer häufiger die Eiſenbahn benutzt, die
daran vorüber in’s Anhaltiſche und Sächſiſche führt, wird es nicht
ſelten erlebt haben, daß Fremde, die bis dahin leſend oder plaudernd
in der Ecke ſaßen, plötzlich ſich aufrichten und mit dem Finger
auf die weite Ebene deutend halb zuverſichtlich halb frageweiſe
die Worte ſprechen: Ah c’est le champ de betaille de Gross-
Beeren
!


Und wie die Fremden davon wiſſen, ſo natürlich vor allem
auch die Berliner, die den „Tag von Großbeeren“ an jedem
23. Auguſt in pflichtſchuldiger Dankbarkeit feiern. Aber ſie feiern
ihn, ohne ſich zu vergegenwärtigen, wie der Sieg errungen wurde.
Niemand weiß mehr von den Einzelnheiten oder gar von dem Ge-
ſammtgange der Schlacht zu berichten und was von den Berlinern
gilt, gilt auch von den Bewohnern des Dorfes ſelbſt. Ich trieb
mühevoll einen Tagelöhner auf, der den Schlachttag noch mit
erlebt und aus ſeinem Verſteck heraus ein paar Czakos oder
Bajonettſpitzen geſehen hatte. Das war Alles. Ueber die gleich-
gültigſten Details hinaus war ſeinem Gedächtniß nichts ver-
blieben. Vollends verloren aber iſt der oder war es wenigſtens
früher, der von den beiden in Nähe der Kirche ſtationirten
19*
[292] Invaliden irgend welchen Aufſchluß erwartete. Sie wußten abſolut
nichts von jenem Schlachtfelde, das jahraus jahrein zu ihren
Füßen lag und deſſen beſtellte Wächter ſie waren, und nichts von
jenem Kirchhof, um deſſen Beſitz einſt ſo heiß geſtritten ward.


Und ſo mag ſich denn im Nachſtehenden ein Ueberblick über
die damalige politiſch-militairiſche Situation und daran anſchließend
eine kurze Beſchreibung der „Bataille“ geziemen.


Die Schlacht bei Großbeeren.
am 23. Auguſt 1813.


Napoleon, als der Waffenſtillſtand abgelaufen und Oeſterreich
dem Bündniſſe Rußlands und Preußens beigetreten war, richtete
ſein Hauptaugenmerk auf Berlin. Er beſchloß, ſich deſſelben zu
bemächtigen und ordnete zu dieſem Zwecke die Bildung einer aus
dem 4., 7. und 12. Corps beſtehenden Armee an, an deren Spitze
er den Marſchall Oudinot ſtellte. „Sie werden mit einer ſolchen
Armee“, hieß es in einer dem Marſchall um die Mitte des Auguſt
zugehenden General-Ordre „den Feind raſch zurückdrängen, Berlin
einnehmen, die Einwohner entwaffnen, die Landwehr auflöſen und
die Haufen ſchlechter Truppen zerſtreuen.“ In Folge dieſer Ordre
betrat Oudinot’s Armee, deren Sammelplatz Luckau geweſen war,
am 19. die Mark, rückte gegen Baruth, und ſtand am 22. Abends
in dreimeiliger Entfernung von Berlin: das 4. Corps Bertrand
bei Jühnsdorf, das 7. Corps Reynier bei Wietſtock, das 12. Corps
Oudinot zwiſchen Trebbin und Thyrow. Oudinot nämlich, wie
gleich hier hervorgehoben werden mag, hatte nicht blos den Ober-
befehl über das Ganze, ſondern auch noch den Specialbefehl über
das letztgenannte 12. Corps.


Am andern Tage ſollte der Vormarſch gegen Berlin fort-
geſetzt werden, zu deſſen Schutze die vom Kronprinzen von Schweden
(Bernadotte) kommandirte Nordarmee zwiſchen Ruhlsdorf, Hei-
nersdorf und Blankenfelde Stellung genommen hatte. Der nächſte
Tag mußte vorausſichtlich einen ernſten, vielleicht ſogar den ent-
ſcheidenden Zuſammenſtoß bringen.


Und dieſer Zuſammenſtoß fand auch wirklich ſtatt. Eh’ ich
[293] jedoch eine Darſtellung deſſelben gebe, verſuch ich eine Schilderung
der ſich gegenüberſtehenden Streitkräfte.


Die Oudinot’ſche Armee, 70,000 Mann ſtark, beſtand aus
neun Diviſionen, von denen fünf fremden Nationalitäten ange-
hörten: zwei waren ſächſiſch, eine bayeriſch, eine württembergiſch
und eine italieniſch. Aber auch die verbleibenden vier franzöſiſchen
Diviſionen ließen an Zuverläſſigkeit allerlei vermiſſen, da man
bei der letzten Aushebung auf das erſatzpflichtige Alter keine Rück-
ſicht genommen, vielmehr blutjunge Leute, die faſt noch im Knaben-
alter ſtanden, mit herangezogen hatte. Beſonders unzuverläſſig
war die zum 7. Corps Reynier gehörige Diviſion Durutte, die
zum größten Theil aus Refractairs, d. h. aus ſolchen, die ſich der
Aushebung bis dahin zu entziehen gewußt hatten, aus Deſerteurs
und Verbrechern gebildet war. Von den Befehlshabern kamen
nur Oudinot und Reynier in Betracht, aber auch hinſichtlich ihrer
blieb manches zu wünſchen. Oudinot machte den Oberbefehl nicht
genügend geltend, ja vermied ſogar die perſönliche Berührung mit
ſeinen Unter-Generalen, während Reynier unluſtig und erbit-
tert über die Zurückſetzung war, die Napoleon ihn beſtändig erfah-
ren ließ.


Die dieſſeitige Nordarmee war viel ſtärker und umfaßte
bis gegen 100,000 Mann. Aber auch die dieſer zugehörigen
Truppentheile waren von gemiſchter Nationalität und unterſtanden,
was der Hauptübelſtand war, einem Oberbefehlshaber, der, ohne
jedes Herz für die Sache, nur ſeinem perſönlichen Intereſſe nach-
hing*) — ein Uebelſtand, der noch ſchwerer ins Gewicht gefallen
wäre, wenn nicht der Geiſt der beiden preußiſchen Heerführer
Bülow und Tauentzin, und kaum minder der in ihren Land-
wehren aller mangelhaften Ausbildung und Bewaffnung unerachtet
anzutreffende preußiſche Kampfesmuth, eine Balance geſchaffen
[294] hätte. Jedenfalls ſtanden wir hinter der Oudinotſchen Armee
nicht zurück und hatten keinen Anſpruch darauf, von Napoleon
als „ſchlechte Truppe“ und ſogar als „Geſindel“ bezeichnet zu
werden. Der nächſte Tag ſollte denn auch zeigen, daß er die
Rechnung ohne den Wirth gemacht und „l’Enfanterie prussienne“
ſehr unterſchätzt hatte.


Beginn der Schlacht.

Der rechte franzöſiſche Flügel, das 4. Corps Bertrand, diri-
girte ſich am 23. in aller Frühe ſchon von Jühnsdorf gegen
Blankenfelde, das bereits am voraufgegangenen Tage durch das
dieſſeitige IV. Corps unter General Tauentzin beſetzt worden war. Es
entſpann ſich alsbald ein leichtes Gefecht, das bis gegen die Mittags-
ſtunde fortgeführt wurde. Zu dieſer Zeit wandte ſich Bertrand
an den links neben ihm ſtehenden Reynier und ließ ihn wiſſen,
„daß er auf hartnäckigen Widerſtand geſtoßen ſei, weshalb er
Blankenfelde nur dann nehmen könne, wenn im Centrum ener-
giſcher
vorgegangen und er (Bertrand) dadurch degagirt würde.“
Da ſich Reynier zu ſolchem „energiſchen Vorgehn“ nicht bereit er-
klärte, ja mit Rückſicht auf das noch weit zurück befindliche Linke-
flügel-Corps Oudinot auch kaum erklären konnte, ſo ſchlief das
Gefecht am rechten Flügel (Blankenfelde) ein und ward auch im
ganzen Laufe des Tages nicht wieder aufgenommen.


Bertrand’s Forderung „im Centrum energiſcher vorzugehn“
war unerfüllt geblieben, aber ein Vorgehen überhaupt hatte nichts
deſtoweniger ſtattgefunden und zur Wegnahme des durch drei
dieſſeitige Bataillone beſetzten Dorfes Grooß-Beeren geführt.


In Folge davon war das Centrum der vorgeſchobenſte
Punkt der franzöſiſchen Angriffs-Linie geworden; der rechte Flügel
bei Jühnsdorf ſtand um eine Meile, der linke, zwiſchen Trebbin
und Thyrow, um anderthalb Meilen zurück. An eben dieſem lin-
ken Flügel befand ſich auch das Obercommando.


Die Stellung bei Freund und Feind war um 5 Uhr die
folgende:


[295]
[figure]
Die Entſcheidung.
Von 5 bis 7.

General Reynier, als ihm gemeldet wurde, daß die preußiſche
Vorhut auf Heinersdorf zurückgezogen ſei, ließ ſeine Truppen auf
einem Hügelzuge, der ſich in Front Groß-Beerens von der Kirche
bis zur Windmühle und von dieſer wieder bis nach dem Vor-
werke Neu-Beeren zieht, ins Bivouak rücken. Er gewärtigte
keines Angriffs mehr, der ihm ebenſo ſehr der vorgerückten Stunde
wie des in Strömen fallenden Regens halber unwahrſcheinlich,
ja beinah unmöglich erſchien und antwortete dem ſächſiſchen Divi-
ſions-General, der ihn vor der Liſt und Entſchloſſenheit der Preußen
warnte: „Sie kommen nicht.“


Aber ſie kamen doch.


Um dieſelbe Stunde nämlich, als unſere dreibataillonsſtarke
Vorhut aus Großbeeren abmarſchirt und zum Ueberfluß auch noch
Ordre von Ruhlsdorf her eingetroffen war, „bis in die Verſchan-
zungen vor Berlin und demnächſt bis über die Spree zurückzu-
gehen
“, entſchloß ſich General Bülow, den ihm gegenüberſtehenden
[296] Reynier anzugreifen und das verloren gegangene Großbeeren zurück-
zuerobern. Er rief ſeine Brigade-Generale zuſammen, um ihnen
den von ihm gefaßten Entſchluß mitzutheilen. Er habe ſich ſchon
am Tage vorher von der Aktionsunluſt des Oberkommandirenden
überzeugen können, der ſeinen Mangel an Eifer mit ſeinem Miß-
trauen in den Werth der ihm unterſtellten „neuen Truppen“ zu
begründen verſucht habe. Dieſe „neuen Truppen“ aber ſeien, was
ihnen in dieſem und jenem auch fehlen möge, vom beſten Geiſte
beſeelt und bedürften nur einer entſchloſſenen Führung, um ſich
aufs Neue zu bewähren, wie ſie ſich ſchon vor dem Waffenſtill-
ſtand und neuerdings wieder bei Luckau bewährt hätten. Jeden-
falls ſei es ſein Wille, nicht ohne ein vorgängiges ernſtes Gefecht
das Feld zu räumen. „Unſere Gebeine“, ſo ſchloß er, „ſollen
dieſſeits Berlin bleichen, nicht jenſeits.“ Alle Generale ſtimmten
ihm zu, wonach er ohne Weiteres nach Ruhlsdorf hin melden ließ:
„er werde mit dem III. Corps avanciren und Groß-Beeren inner-
halb einer Stunde wiedernehmen.“


Als die Truppen von dieſem Entſchluſſe hörten, erfüllte ſie
plötzlich ein Geiſt der Zuverſicht, und wiewohl ſie durch 24 Stunden
hin nicht Holz und nicht Stroh, kaum Kommisbrot und Brannt-
wein und eigentlich nichts als Regen und wieder Regen gehabt
hatten, verlangte doch jeder nach Kampf und brach in hellen Jubel
aus, als es hieß: an die Gewehre!


Die Dispoſitionen zum Angriff waren ſchnell getroffen und
lauteten:


Die Brigade Krafft, gefolgt von der Brigade Thümen,
avancirt gegen die Hügelpoſition zwiſchen Kirche und Windmühle.


Die Brigade Prinz von Heſſen-Homburg avancirt gegen
die Poſition zwiſchen der Windmühle und dem Vorwerk Neu-
Beeren.


Die Brigade von Borſtell endlich führt eine Seitenbewe-
gung aus und ſucht den Front-Angriff auf Groß-Beeren aus der
dieſſeitigen linken Flanke zu ſouteniren.


Es war 6 Uhr, als ſich die genannten Brigaden in drei
Linien von Heinersdorf her in Bewegung ſetzten.


Mit Erſtaunen hörte Reynier die Meldung, daß das ge-
[297] ſammte Bülow’ſche Corps gegen Groß-Beeren heranrücke. Raſch
indeſſen fand er ſich zurecht und bevor noch unſere Colonnen auf
halbem Wege heran waren, hatten die Truppentheile ſeines Corps
folgende gutgewählte Stellungen inne:


Sächſiſche Diviſion v. Sahr:


Grenadier-Bataillon v. Sperl in Groß-Beeren ſelbſt;


Brigade v. Boſe (mit dem Regiment v. Low in Front)
zwiſchen Kirche und Windmühle;


Brigade v. Ryſſel zwiſchen Windmühle und Neu-Beeren.


Sächſiſche Diviſion v. Lecocq:


im Rücken von Groß-Beeren zwiſchen dieſem und der Gens-
hagenſchen Haide.


Franzöſiſche Diviſion Durutte:


rechts neben der Diviſion Lecocq, alſo zwiſchen dieſer Diviſion
und der nach Genshagen führenden Straße.


[figure]

Sämmtliche Geſchütze des Reynier’ſchen Corps, 60 an der
Zahl, waren in die Front gezogen worden und erwiderten ſofort
das Feuer, das Oberſt von Holtzendorff aus 64 preußiſch-
ruſſiſchen Sechs- und Zwölfpfündern auf eine Diſtance von 1800
[298] Schritt eröffnet hatte. Zunächſt ſchien das feinliche Feuer im
Vortheil bleiben zu ſollen: mehrere preußiſche Geſchütze waren
demontirt und eine zerſchoſſene Batterie mußte zurückgenommen
werden; als aber um eben dieſe Zeit die ſchwediſche reitende Bat-
terie von Cardell in die dieſſeitige Geſchützfront einrückte, gab
Oberſt von Holtzendorff Befehl bis auf 1200 Schritt zu avan-
ciren. Alle Batterien jagten vor und im ſelben Augenblicke faſt,
wo ſich die Wirkung dieſes Vorgehens erkennen ließ, ließ General
v. Bülow die bis dahin in Deckung zurückgehaltenen Brigaden
Krafft und Thümen im Sturmſchritte gegen Dorf und Kirche
vorbrechen.


Ein erbitterter Kamf entſpann ſich. Das 1. Bataillon Kol-
berg griff Großbeeren in der Front an, während rechts daneben
Major v. Gagern an der Spitze des 5. Reſerve-Regiments auf
die den Kirchhofshügel vertheidigenden Sachſen eindrang und das
hier ſtehende Regiment v. Low zerſprengte.*) Neue Bataillone,
die Reynier aus der hinter dem Dorfe haltenden Diviſion Lecocq
in die Front zog, ſtellten das Gefecht zwar wieder her, und ein
Vorbrechen ſächſiſcher Ulanen parirte ſogar ſiegreich einen dies-
ſeitigen Reiterangriff. Aber dies war auch der letzte glückliche
Moment auf gegneriſcher Seite. Denn in demſelben Augenblicke
faſt, wo ſich die ſächſiſche Kavallerie dieſes Erfolges rühmen durfte,
wurde die geſammte feindliche Poſition von zwei Seiten her um-
faßt, indem die gerade jetzt den Lilobach paſſirende Vorhut der
Borſtell’ſchen Brigade Großbeeren von Oſten her, die Brigade
Prinz von Heſſen-Homburg aber die mehr nach Weſten hin
gelegene Hügelpoſition zwiſchen der Windmühle und dem Vorwerk
Neu-Beeren erſtürmte. Durch dieſe Bewegung von links und
rechts her, war die ganze in Front ſtehende Diviſion Sahr abge-
ſchnitten und hatte nur noch für ihren Rückzug zu kämpfen.
[299] Dieſen bewerkſtelligte ſie geſchickt und ging in guter Haltung,
wenn auch unter erheblichen Verluſten, auf die Genshagenſche
Haide zurück.


Hiermit war die Wiedereroberung Groß-Beerens ausgeführt.
Allerdings, da von den neun Diviſionen der Oudinot’ſchen Armee
nur drei wirklich engagirt geweſen waren, lag es in der Möglich-
keit unſern Erfolg wieder beſtritten zu ſehen, und in der That
wurde der Verſuch dazu gemacht, als bei Dunkelwerden die Spitze
des noch vollkommen intakten 12. Corps in verhältnißmäßiger
Nähe des Schlachtfeldes erſchien. Aber auch dieſer Verſuch, an
dem ſich namentlich Kavallerie betheiligte, ſchlug fehl, und um
9 Uhr ſchwieg das Gefecht.*) Unbehelligt gingen alle drei Divi-
ſionen vom Corps Reynier auf Löwenbruch und Wietſtock, die
Corps Bertrand und Oudinot aber auf Saalow und Trebbin
zurück.


Der erſte Verſuch Napoleon’s, ſich Berlins zu bemächtigen,
— der zweite führte zur Schlacht bei Dennewitz, — war geſcheitert
und hatte dem Corps Reynier, inſonderheit den beiden ſächſiſchen
Diviſionen, einen ſtarken Verluſt bereitet. Allein dieſe letztge-
nannten verloren 28 Offiziere und 2096 Mann an Todten, Ver-
wundeten und Gefangenen. 14 Kanonen und 52 Munitions-
[300] wagen waren außerdem eingebüßt worden. Unſer Verluſt bezifferte
ſich auf nicht mehr als 1100 Mann, alle vom Bülow’ſchen Corps.
Auf Seite der Schweden war nur ein Offizier verwundet worden.


Berlin jubelte und bethätigte ſeinen Jubel. Elf Wagenreihen
mit Brod und Tabak, mit Bier und Branntwein beladen, ſetzten
ſich nach dem Bivouac von Heinersdorf hin in Bewegung. Auch von
Eberswalde, Charlottenburg und Oranienburg erſchienen Transporte.


Der Kronprinz von Schweden erließ anderen Tages aus dem
Lager von Ruhlsdorf ein Bulletin, in welchem er mit nicht allzu-
großer hiſtoriſcher Treue die Begebenheiten der letzten Tage be-
kannt machte. Hinſichtlich des Generals von Bülow und ſeines
Corps hieß es wörtlich: „General v. Bülow erhielt Befehl,
den Feind anzugreifen
. Er führte dieſen Befehl mit der-
jenigen Entſchloſſenheit aus, die den geſchickten General bekundet.
Seine Truppen marſchirten mit eben jener Ruhe, die während
des ſiebenjährigen Krieges die Soldaten des großen Friedrich aus-
zeichnete.“ General von Bülow ſelbſt enthielt ſich begreiflicher-
weiſe jedes Hinweiſes auf die „Soldaten des großen Friedrich“,
unterließ aber nicht, das Thatſächliche richtig zu ſtellen. „Ich
faßte“, ſo heißt es in ſeinem Bericht an den König, „den Ent-
ſchluß, den Feind anzugreifen und wurde dazu durch einen nach-
träglichen
Befehl des Kronprinzen autoriſirt. Unter Einſchluß
der mir zugetheilten ruſſiſchen Batterien, ſowie der Koſaken, haben
die Truppen Ew. Majeſtät allein gefochten.“


Im Uebrigen war es keine große Schlacht geweſen. Einem
energiſchen, aber wie gewöhnlich erfolgloſen Artilleriekampfe war
eine Dorf-Erſtürmung gefolgt, welcher es, aller Tapferkeit uner-
achtet, doch inſoweit an allem Heldiſchen gebrach, als wir den
Schlüſſel der Poſition: die Kirchhofs-Stellung, in erheblicher
Ueberzahl angriffen. Es bleiben aber ſolche vor den Thoren einer
Hauptſtadt geſchlagenen Schlachten immer ganz beſonders im Ge-
dächtniſſe der Menſchheit, einfach deshalb, weil die Zahl der durch
ſolche Kämpfe zu direkter Dankbarkeit Verpflichteten um Vieles
größer iſt als bei Provinzial- oder gar Auslands-Schlachten. Und
ſo kommt es denn auch, daß Groß-Beeren — beiſpielsweiſe weit
über das im Uebrigen ſehr verwandte Dennewitz hinaus — ein
[301] Lieblingstag in unſerer berliniſch-brandenburgiſchen Geſchichte ge-
blieben iſt, faſt ſo beliebt und gefeiert wie Fehrbellin.


Als ein gefälliges Spiel des Zufalls mag dabei noch hervor-
gehoben werden, daß es, wie bei Fehrbellin ſo auch bei Großbeeren
ein Prinz von Heſſen-Homburg war, der durch einen im ent-
ſcheidenden Moment geſchickt ausgeführten Angriff zum Siege
mitwirkte.


[[302]]

Geiſt von Beeren.


Von allen Geiſtern die verneinen

Iſt mir der Schalk am wenigſten verhaßt.

Der Groß-Beerener Kirche ſchräg gegenüber, an der anderen
Seite der Dorfgaſſe, werden wir, über eine Feldſteinmauer hin-
weg, eines ſauberen und gut erhaltenen Wohnhauſes ſichtbar, in dem
zur Zeit der Groß-Beerener Schlacht, oder doch noch kurz vorher,
der „Geiſt von Beeren“ hauſte. Das klingt geſpenſtiſch und darf
ſo klingen, wenn zwiſchen Geſpenſtern und Kobolden irgend welche
Verwandtſchaft iſt. „Geiſt von Beeren“ war ein Kobold, nebenher
auch Beſitzer von Groß- und Klein-Beeren und der Letzte aus
jenem alten Geſchlecht der Beeren oder Berne, das vier Jahr-
hunderte lang die genannten beiden Güter inne hatte.


Von dieſem Hans Heinrich Arnold v. Beeren will ich
erzählen.


Um’s Jahr 1785 hatte er beim Könige die Erlaubniß nach-
geſucht, ſeinem alten Namen „v. Beeren“ den Namen „Geiſt
hinzufügen zu dürfen. Die Erlaubniß war auch ertheilt worden
und ſeitdem hieß er der „Geiſt v. Beeren“ oder kürzer „der tolle
Geiſt.“ Er war ein kleiner, ſchmächtiger, lebhafter Mann, witzig,
ſarkaſtiſch, hämiſch. Zwietracht anſtiften, zanken, ſtreiten und
opponiren war ſeine Luſt. Von ſeinen unzähligen Schnurren, In-
jurien und Proceſſen lebt noch Einzelnes in der Erinnerung des
Volkes und ich erzähle, was ich davon erfahren konnte. Die
[303] meiſten dieſer Geſchichten ſetzen ſich freilich blos aus Albernheit,
Uebermuth und Chicane zuſammen, manches indeß iſt wirklich gut
und treffend, und jedenfalls entſprach all und jedes dem nicht ſehr
verfeinerten Bedürfniß ſeiner Zeit und ſeiner Umgebung.


Zwei Gruppen von Perſonen waren es beſonders, mit denen
der ſtreitluſtige Geiſt eine unausgeſetzte Fehde unterhielt: ſeine
Gutsnachbarn und die Regierungsbeamten. Unter den Erſteren
hatte er ſich beſonders den Herrn v. Hake auf Genshagen zum
Gegenſtand nicht enden wollender Anzüglichkeiten und Verhöhnungen
auserſehen.


Die Correſpondenz, die er mit dieſem ſeinem Nachbar in
einem Zeitraum von 25 Jahren geführt hat, ſoll ein wahrer
Anekdotenſchatz und für die Freunde des Hake’ſchen Hauſes ſeiner-
zeit eine unerſchöpfliche Quelle der Erheiterung geweſen ſein. Leider
iſt dieſe Correſpondenz verbrannt. Zwei Geſchichten indeß aus der
langen Reihe dieſer gutsnachbarlichen Rancünen und Streitig-
keiten exiſtiren noch. Geiſt, im Uebrigen kein Freund der Jagd,
ließ ſich eine Jagd- und Schießhütte bauen, wenig Schritte von
dem Punkt entfernt, wo ſeine eigene Feldmark mit der Gens-
hagener Forſt zuſammenſtieß. Die Front der Hütte ging auf
feindliches Gebiet hinaus, und die Abſicht lag klar zu Tage. Hier
ſaß er halbe Nächte lang und ſchoß von ſeinem Territorium aus
dem Herrn v. Hake die Rehe todt — ein Wilddieb aus purer
Malice. Als Hake Beſchwerde führte und auf Abbrechen der
Hütte antrug, antwortete Geiſt: Die Hütte habe keinen offenſiven
Charakter; er (Geiſt) habe von Jugend auf immer rückwärts
geſchoſſen und müſſe es ablehnen, in ſeinen alten Tagen nach
einem neuen Princip auf Jagd zu gehen.


Bei anderer Gelegenheit beſchwerte ſich Herr v. Hake, daß
er bei Paſſirung einer Brücke, für deren Inſtandhaltung Geiſt
Sorge tragen mußte, mit ſeinem Juſtitiarius Buchholz eingebrochen
ſei. Geiſt replicirte: „über die Brücke würden täglich 26 ſeiner
ſchwerſten Ochſen getrieben, und niemals hab er gehört, daß einer
derſelben irgendwie Schaden genommen; es ſei mindeſtens eine
auffallende Erſcheinung, daß gerade Herr v. Hake mit ſeinem Ju-
ſtitiarius durchgebrochen ſei.“ Herr v. Hake hatte nicht Luſt, den
[304] Streit ruhen zu laſſen und ging an die Gerichte. Als Geiſt eine
Vorladung empfing, ließ er den Brückenſteg ohne Weiteres ab-
tragen und auf einen Holzwagen ſetzen und erſchien nun damit vorm
Kammergericht in Berlin, die Räthe deſſelben allergehorſamſt er-
ſuchend, ſich durch Ocular-Inſpection von der Richtigkeit ſeiner
Ausſagen und der Haltbarkeit des Brückenſtegs überzeugen zu
wollen.


Einen viel lebhafteren Groll unterhielt er gegen Alles, was
ſich „Regierung“ oder „Behörde“ nannte und mit der Miene der
Autorität gegen ihn auftreten wollte. Die alte Regiſtratur des
Kammergerichts, das er in ſeinen Eingaben gelegentlich „hoch-
preisliches Jammergericht“ anzureden liebte, ſoll davon zu erzählen
wiſſen. Seine Fehden mit dem Pupillen-Collegium, deſſen
Namen er nicht müde ward in der wunderlichſten Weiſe zu kürzen
oder zu verunſtalten, ſind theils allgemeiner bekannt geworden,
theis liegen ſie jenſeit aller Mittheilungsmöglichkeit — wiewohl
man dem humoriſtiſchen Uebermuth gegenüber, der ſich in allen
ſeinen Schnurren ausſpricht, eigentlich jedes Anſtandsbedenken auf-
geben und der derben Laune ſich freuen ſollte.


Neben dem Pupillen-Collegium hatte Niemand mehr als die
Potsdamer Regierung unter ſeinen Sarkasmen zu leiden. Jede
Schwäche, jedes Verſehen fand einen unerbittlichen Kritiker in ihm.
Bei Abſchätzung des Gutes waren Werth und Ertragsfähigkeit
deſſelben zu hoch oder zu niedrig taxirt worden und die Regierung,
den Streit endlich zu ſchlichten, ſchickte eine Unterſuchungs- und
Begutachtungs-Commiſſion. Die Zeit, Mitte December, war
allerdings nicht allzu günſtig gewählt, und Geiſt faßte nunmehr
in ſeinem nächſten Schreiben an die Regierung alles was er zu
ſagen hatte in folgendem Reim zuſammen:


Gerechter Gott des Himmels und der Erden,

Was ſoll aus Deiner heiligen Juſtitia werden?

Die Erde iſt bedeckt mit Eis und Schnee,

Da unterſuchen ſie die Bonité!

O weh, o weh, o weh! —

Unter den Perſonen, gegen die ſeine Spöttereien ſich richteten,
war unter andern auch der Reformator unſerer Landwirthſchaft,
[305] der berühmte Thaer. Die Prinzipien, die dieſer einzuführen
trachtete, hatten nicht die Zuſtimmung unſeres Geiſt von Beeren,
vielmehr machte letztrer ſeinem Unmuth in einer kleinen Brochüre
Luft, die den Titel führte: „die preußiſche Landwirthſchaft ohne
Theer.“ Alles lachte. Der kleine Tückebold hatte ſich aber
diesmal verrechnet und es erſchien eine Gegenſchrift unter dem
Titel: „die preußiſche Landwirthſchaft ohne Geiſt.“ Solchem
Reparti war er nicht gewachſen und er gab die Fortſetzung des
Kampfes auf.


Sein beſter weil treffendſter Streich, war vielleicht der fol-
gende. Wir hatten ein Kienraupenjahr und die Forſthaiden der
Mark befanden ſich in einem allertraurigſten Zuſtande. Die Pots-
damer Regierung ſah ſich deshalb veranlaßt eine Verfügung zu
treffen, in der ſie mittheilte wie den Raupen am beſten beizu-
kommen und weiterer Schaden zu vermeiden ſei. Die Verfügung
ſchmeckte freilich etwas nach „grünem Tiſch“ und war unpraktiſch.
Geiſt antwortete wenige Tage ſpäter: „Probatum est! Ich bin
in den Wald gegangen, habe den Kienraupen das Reſcript einer
Königl. Regierung vorgeleſen und ſiehe da, die Raupen haben ſich
ſämmtlich todt gelacht.“


Solche Repliken gingen alsbald von Mund zu Mund und
machten ihn beim Landvolk, auch wohl bei manchem Gutsbeſitzer
beliebt, die, um ſolcher Abfertigungen und Verhöhnungen willen,
gern vergaßen, was ſonſt wohl gegen den „tollen Geiſt“ zu ſagen
war. Denn der Landmann unterhält eine natürliche Feindſchaft
gegen den Städter, deſſen überhebliches Weſen ihn verdrießt und
deſſen Erlaſſen und Geſetzen er mißtraut. „Der Städter weiß
nichts vom Land,“ das iſt ein Satz, der ſich von Vater auf Sohn
vererbt.


Bis in ſein hohes Mannesalter blieb Geiſt v. Beeren un-
verheirathet und führte ein wüſtes, ſittenloſes Leben. Er hielt
einen völligen Harem um ſich her. Von ſeiner „Favoritin“ hatte
er einen Sohn, der des Vaters würdig war und zwei Mal das
ganze Gehöft anzündete und in Aſche legte. Geiſt v. Beeren indeß
nahm keinen Anſtoß daran, vielleicht weil er ſein Abbild darin
ſah, und ging damit um dieſen Sohn zu adoptiren. Dazu ge-
Fontane, Wanderungen. IV. 20
[306] hörte jedoch die Einwilligung ſeines (des alten Geiſt) einzigen Bruders,
der als General in preußiſchen Dienſten ſtand und in Erſcheinung
und Sinnesart das volle Gegentheil unſeres Helden und Kobolds
war. Er kommandirte die ſpätern brandenburger Küraſſiere, die
nach ihm damals die „von Beeren-Küraſſiere“ hießen. Der Ge-
neral verweigerte die Zuſtimmung. Geiſt von Beeren ſeinerſeits
war natürlich nicht der Mann, dergleichen ruhig hinzunehmen und
beſchloß ſich zu verheirathen, lediglich ſeinem Bruder zum Tort.
Der Harem wurde mit großen Koſten von ihm aufgelöſt und gleich
danach erfolgte ſeine Vermählung mit einem Fräulein v. Eyſſenhardt.
Es währte jedoch nur kurze Zeit. Er ſtarb 1812 und hinterließ eine
einzige Tochter. Auch dieſe ſchied jung aus dem Leben. Das plötzliche
Erlöſchen der Familie, wie aller Unſegen überhaupt, der theils vor
theils nach dem Tode des alten Geiſt die Zugehörigen des Hauſes
traf, wird mit der Familienſage vom „Allerhühnchen“ in Ver-
bindung gebracht. Es iſt dies die folgende.


Vor mehreren Hundert Jahren war eine Frau von Beeren
eines Kindleins glücklich geneſen. In einem großen Himmelbett,
deſſen Gardinen halb geöffnet waren, lag die junge Frau, neben
ſich die Wiege mit dem Kind, und verfolgte in träumeriſchem
Spiel die Schatten, die in dem ſpärlich erleuchteten Zimmer an
Wand und Decke auf und ab tanzten. Plötzlich bemerkte ſie, daß
es unter dem Kachelofen, der auf vier ſchweren Holzfüßen ſtand,
hell wurde, und als ſie ſich aufrichtete, ſah ſie deutlich, daß ein
Theil der Diele wie eine kleine Kellerthür aufgehoben war. Aus
der Oeffnung ſtiegen alsbald allerhand zwergenhafte Geſtalten,
von denen die vorderſten kleine Lichtchen trugen, während andere
die Honneurs machten und die nach ihnen Kommenden willkommen
hießen. Alle waren geputzt. Ehe ſich die Wöchnerin von ihrem
Staunen erholen konnte, ordneten ſich die Kleinen zu einem Zuge
und marſchirten zu zwei und zwei vor das Bett der jungen Frau.
Die zwei Vorderſten baten um die Erlaubniß, ein Familienfeſt
feiern zu dürfen, zu dem ſie ſich unter dem Ofen verſammelt
hätten. Frau v. Beeren war eine liebenswürdige Natur, ihr guter
Humor gewann die Oberhand und ſie nickte bejahend mit dem
Kopf. Alsbald kehrten die Kleinen unter den Ofen zurück und
begannen ihr Feſt. Aus der Kelleröffnung wurden Tiſchchen herauf-
[307] gebracht, andere deckten weiße Tücher darüber, Lichterchen wurden
aufgeſtellt, und ehe viele Minuten um waren, ſaßen die Kleinen
an ihren Tiſchen und ließen ſich’s ſchmecken. Frau von Beeren
konnte die Züge der Einzelnen nicht unterſcheiden, aber ſie ſah
die lebhaften Bewegungen und erkannte deutlich, daß alle ſehr
heiter waren. Nach dem Eſſen wurde getanzt. Eine leiſe Muſik,
wie wenn Violinen im Traum geſpielt würden, klang durch das
ganze Zimmer. Als der Tanz vorüber war, ordneten ſich alle
wieder zu einem Zuge und erſchienen abermals vor dem Bett
der Wöchnerin und dankten für freundliche Aufnahme. Zu-
gleich legten ſie ein Angebinde nieder und baten die Mutter,
des Geſchenkes wohl Acht zu haben: die Familie werde blühen,
ſo lange man das Geſchenk in Ehren halte, werd’ aber vergehen
und verderben, ſobald man es mißachte. Dann kehrten ſie unter
den Ofen zurück, die Lichterchen erloſchen und alles war wieder
dunkel und ſtill.


Als Frau v. Beeren, unſicher ob ſie gewacht oder geträumt
habe, nach dem Angebinde ſich umſah, lag es in aller Wirklichkeit
auf der Wiege des Kindes. Es war eine kleine Bernſteinpuppe
mit menſchenähnlichem Kopf, etwa zwei Zoll lang und der untere
Theil in einen Fiſchſchwanz auslaufend. Dieſes Püppchen, das
Leute, die zu Anfang dieſes Jahrhunderts lebten, noch geſehen
haben wollen, führte den Namen „Allerhühnchen“ (Alräunchen)
und galt als Talisman der Familie. Es vererbte ſich von Vater
auf Sohn und wurde ängſtlich bewahrt und gehütet. Geiſt von
Beeren indeſſen kümmerte ſich wenig um das wunderliche Fami-
lien-Erbſtück; war er doch kein Freund von Sagen und Geſchichten,
von Tand und Märchenſchnack, und was ſeiner Seele ſo ziem-
lich am meiſten fehlte, war Pietät und der Sinn für das Ge-
heimnißvolle.


Allerhühnchen hatte lang im Schrank gelegen, ohne daß ſeiner
erwähnt worden wäre. Da führte das Weihnachtsfeſt eine luſtige
Geſellſchaft bei Geiſt v. Beeren zuſammen und der Zufall wollte,
daß einer der Gäſte vom „Allerhühnchen“ ſprach. „Was iſt es
damit?“ hieß es von allen Seiten, und kaum daß die Frage ge-
ſtellt worden war, ſo wurd’ auch ſchon die Geſchichte zum Beſten
gegeben und das Allerhühnchen herbeigeholt. Geiſt von Beeren
20*
[308] ließ es rundum gehen, witzelte und ſpöttelte und — warf es dann
in’s Feuer.


Von dem Augenblick an brach das Unheil herein und jene
Schläge kamen, deren ich theilweis ſchon erwähnte. Zweimal brach
Feuer aus, Krieg und Mißwachs zerſtörten die Ernten und raſche
Todesfälle rafften die Glieder der Familie fort. Der General
ſtarb plötzlich, bald darauf die beiden Söhne deſſelben, endlich
Geiſt v. Beeren ſelbſt. Die junge Wittwe, welche Geiſt hinter-
ließ, verlobte ſich zwei Jahre ſpäter mit dem Hauptmann Willmer*),
einem liebenswürdigen Mann, und die Hochzeit ſtand nahe bevor.
Da gerieth Willmer in Streit mit einem Kameraden, einem
Herrn v. Dolfs von den Garde-Küraſſieren, und in der Haide
von Wulkow kam es zum Duell. Willmer ward erſchoſſen. Sein
Grab befindet ſich auf dem Kirchhofe von Groß-Beeren. Neben
ihm ruht die Tochter des „tollen Geiſt,“ die ebenfalls auf räthſel-
hafte Weiſe ſtarb. Sie war in Berlin im Penſionat und fuhr
nach Groß-Beeren hinaus, um ihre Mutter zu beſuchen. Als der
Wagen vor dem Hauſe hielt, ſchien das Fräulein feſt und ruhig
zu ſchlafen — ſie war todt. Frau v. Geiſt verkaufte ſchließlich
die Beſitzung, aber der Unſegen dauerte fort. Nichts gedieh,
nichts wollte vorwärts. Der nächſte Beſitzer verlor ſein Ver-
mögen, der ihm folgende führte ein wüſtes, unſtätes Leben und
verſcholl, der dritte hielt ſich, aber Streit und Hader verbitterten
ihm die Tage.


Der Unſegen blieb; aber es blieb auch ein Geiſt’ſches
Element an dieſer Stelle lebendig, ein halb räthſelhaftes Verlan-
gen es ihm an Tollheiten nachzuthun. Man kann hieran Studien
machen über die Macht und die nachwirkende Kraft eines Origi-
[309] nals. Alle Nachfolger des „tollen Geiſt“ hatten einen Zug von
ihm, der letzte Beſitzer, ein Rittmeiſter Brieſen, am meiſten.
Sein größter Verehrer aber und ebenſo ſein begeiſtertſter Nach-
ahmer in allen Dingen, die ſich nachahmen ließen, war ein Herr
von Beier, der Groß-Beeren von 1827 bis 1837 beſaß. Als
eines Abglanzes ehemaliger Geiſt’ſcher Herrlichkeit ſei ſeiner am
Schluß dieſer Skizze gedacht. Es lag ihm daran, dem Herren-
hauſe zu Groß-Beeren den Ruf von etwas Apartem zu erhalten,
und kaum daß er von der Exiſtenz eines in Zoſſen lebenden alten
Mannes gehört hatte, der zur Zeit des „tollen Geiſt“ eine Art
Kammerdiener bei dieſem geweſen, ſo ließ er ſich’s angelegen
ſein, denſelben zu engagiren. Der alte Mann kam auch und wurd
ausgefragt, wie ſein Gehalt, ſeine Beſchäftigung und vor Allem
ſeine Kleidung geweſen ſei. Kniehoſen, Puderperrücke, Silberborten
und Schuhſchnallen, Alles wurde genau beſchafft, wie’s in alten Zeiten
geweſen war, und wenn Beſuch kam, präſentirte man den Diener
des tollen Geiſt, als ob es dieſer ſelbſt geweſen wäre. Herr von
Beier war verheirathet; ſeine Ehe zeigte ſich jedoch nicht glücklich und
wurde getrennt. Bald nach der Trennung verließ er Groß-Beeren,
beſtellte vorläufig einen Verwalter und ging nach Oeſterreich.
Hier trat er als Lieutenant bei Walmoden-Küraſſieren ein. Das
Regiment garniſonirte damals in Ungarn und Beier verliebte ſich
ſofort in eine vornehme ungariſche Dame. Da der Vater der-
ſelben die Partie nicht wünſchte, ſo ſah ſich der Liebhaber
veranlaßt, die liebeskrank werdende Dame in der Rolle eines
berühmten Arztes zu beſuchen. Und ihr Leiden wurd auch wirklich ge-
hoben, aber doch ſo, daß des Vaters „ja“ ſchließlich nicht wohl aus-
bleiben konnte. Nun nahm v. Beier ſeinen Abſchied und führte
die junge Frau im Triumph nach Groß-Beeren. Wenn bis dahin
Alles im Stil des „tollen Geiſt“ geweſen war, ſo wurde nun
Alles ungariſch eingerichtet und nicht nur Pferde, Tabak und
Wein, auch Diener, Koch und Kammermädchen kamen aus Ungarn.
Die Dorfleute ſagten, ihr Herr ſei ein Türke geworden. Alles
ging ungriſch und die Wirthſchaft polniſch dazu. 1837 verkaufte
er das Gut und ging in die Welt. Seitdem iſt er verſchollen.


In der Erinnerung der Dörfler hat er nur ſchwache Spuren
zurückgelaſſen, aber das Bild des alten „Neck- und Feuerteufels“,
[310] der vor ihm da war, lebt fort von Geſchlecht zu Geſchlecht. Auch
das Volk hat künſtleriſche Inſtincte und unterſcheidet Copie und
Original. Und wenn Jung und Alt Abends beim Biere ſitzen
und von alten Zeiten plaudern, verweilen ſie gern bei dem kleinen
Kobold, „der keine Furcht kannte,“ und erzählen ſich mit immer
gleichem Behagen die Schnurren und Schabernack-Streiche vom
tollen „Geiſt von Beeren.“


[[311]]

Berlin
in den Tagen der Schlacht von Großbeeren.


Es war am 19. Auguſt 1813 — ſo entnehm’ ich alten, durch
Friedrich Tietz*) veröffentlichten Aufzeichnungen — als an den
[312] Straßenecken Berlins und zugleich auch in der Voſſiſchen und
Spenerſchen Zeitung folgende Bekanntmachung erſchien:


„Wir eilen, die treuen Unterthanen Sr. Maj. des Königs
hierdurch zu unterrichten, daß in der Nacht vom 10. zum 11.
d. M. die Kriegserklärung Oeſterreichs gegen Frankreich erfolgt
und der Waffenſtillſtand ebenſo kaiſerlich ruſſiſcher wie unſrer-
ſeits gekündigt worden iſt. Die Zeit der Waffenruhe iſt mit-
hin überſtanden und der gerechteſte Krieg, der jemals geführt
worden, hat wieder begonnen.


Berlin, 18. Auguſt 1813.


Allerhöchſtverordnetes Militair-Gouvernement für das Land
zwiſchen der Elbe und Oder.
v. L’Eſtocq. — Sack.“



[313]

Schaarenweiſe ſtanden die Berliner an den Ecken, um dieſe
Bekanntmachung zu leſen. Enthuſiaſtiſch und mit Hurrah wurde
ſie begrüßt, aber es muß doch auch zugeſtanden werden, daß es
nicht an Vorſichtigen, um nicht zu ſagen an Aengſtlichen fehlte.
So wurden beiſpielsweiſe viele Frauen und Kinder, die man nach
Pommern und Mecklenburg hin in Sicherheit bringen wollte, von
den zurückbleibenden Hausvätern zum Frankfurter- und Oranien-
burger Thor hinausbegleitet.


Andre waren geſchäftig, ihre ſilbernen Löffel im Garten ein-
zugraben oder ein paar alte noch von irgend einem Pathen her-
ſtammende Schaumünzen unter der Zimmerdiele zu verſtecken.


Unterdeſſen hatten wir ſeltſame Hilfe gegen den Feind erhalten.
Wallenſtein’s eben damals oft von Mattauſch auf der könig-
lichen Bühne gehörte Worte: „Wir werden mit den Schweden
uns verbinden, gar wackre Leute ſind’s und gute Freunde“, hatten
ſich als Prophezeihung erwieſen. In der Nähe von Charlotten-
burg ſtanden die blonden Nordlandsſöhne im Lager, zu denen alle
Welt hinausging und ihnen bundesfreundlich die Hand ſchüttelte.
Nur zu ihrem Führer, dem neuen Kronprinzen von Schweden, wollte
bei den Berlinern ein rechtes Vertrauen nicht Wurzel faſſen, weil
man ſich ſeiner noch zu gut als Bernadotte erinnerte, der früher
kein Preußenfreund geweſen war. Außer den Schweden waren
auch die Ruſſen bei der Hand, von denen wir aber meiſtens nur
das langſpießige Volk der Koſacken zu ſehen bekamen.


Am 21. Auguſt gab man im königlichen Schauſpielhauſe Kapell-
meiſter Himmel’s „Fanchon.“ Das Haus war voll, wie man
ſich denn überhaupt an allen öffentlichen Orten zuſammendrängte, blos
um Neuigkeiten zu hören. Der korpulente Kapellmeiſter ſtand
dirigirend an ſeinem Pult, und als Gern (der Vater) in der
Rolle des Abbé das Lied „Auf alle Namenstag’ im Jahr“ anzu-
ſtimmen begann und zuletzt auch zu dem auf die verewigte Königin
Louiſe bezüglichen Couplet kam, erſcholl ein donnernder Jubel im
ganzen Hauſe. Himmel’s rothes Angeſicht glühte vor Erregung.
„Tuſch, Tuſch!“ rief er dem Orcheſter zu, die Trompeten ſchmetterten
und die Vivats wollten kein Ende nehmen.


Als ich das Theater verließ, begegnete ich draußen einer ähn-
[314] lichen Exaltation: Truppen marſchirten dem Halliſchen Thore zu,
von Bürgern unter fortwährendem Hurrahrufe begleitet.


Am folgenden Tage wurd’ uns das unmittelbare Bevorſtehn
einer Schlacht ſo gut wie zur Gewißheit: die Truppenmärſche
ſteigerten ſich und im ſchwediſchen Lager ſah man die Vorbereitungen
zum Aufbruch. Am Abend war ich, wie herkömmlich, wieder im
Theater, aber ich konnte nicht recht in Stimmung kommen und
noch weniger lachen, trotzdem Wurm, unſer erſter Komiker damals,
den Rochus Pumpernickel ſpielte. Iffland hatte klüglich immer
nur luſtige Stücke aufs Repertoir geſetzt „um die Stimmung zu
paralyſiren.“


Recht gut erinnere ich mich noch, daß ich in der Nacht „die
der Großbeerener Aktion vorherging“ nur ſehr wenig und ſehr
ſchlecht geſchlafen habe.


Schon in aller Morgenfrühe des 23. ſtand ich auf; aber ein
grauer Regenwolkenhimmel war nicht geeignet, eine heitere Stim-
mung in mir hervorzurufen.


Um 9 wurde mir’s endlich „zu eng im Schloß“ und ich ging
die Leipziger Straße hinunter auf den Thiergarten und die Bellevue-
ſtraße zu, wo Gubitz in einer Giebelſtube des Georgeſchen Kaffee-
gartens oder „bei George’s“ wie die Berliner kurzweg ſagten, eine kleine
Wohnung hatte. Glücklicherweiſe traf ich ihn noch zu Haus und
wir machten nunmehr einen langen, langen Spaziergang, der uns
auf einem Umweg endlich bis Unter die Linden führte. In dem
Hauſe No. 46, jetzt Victoria-Hotel, wohnte Freund Himmel
eine Treppe hoch, zwei Treppen hoch der Kammermuſikus Seidler
(der ſpätere Gatte der berühmten Sängerin) und in der dritten
der dünne Labes, der Komiker vom Hoftheater. Einigermaßen
müde, wie wir waren, beſchloſſen wir bei Himmel vorzuſprechen
und fanden ihn denn auch mit Seidler und Labes beim Rheinwein, den
der lebensluſtige Kapellmeiſter außerordentlich liebte. Himmel war
wie gewöhnlich in exaltirter Stimmung, zu der der Wein das
Seinige beitrug. Auch hier bildete natürlich die bevorſtehende
Schlacht das Thema der Unterhaltung und ehe wir’s uns verſahen,
ſtürzte der berühmte Fanchon-Componiſt ins Nebenzimmer und
kehrte mit zwei Piſtolen zurück. „Dieſe für den erſten Franzoſen,
der mir heut ins Zimmer tritt, und dieſe — für mich.“ Beide
[315] waren wahrſcheinlich nicht geladen, die zweite gewiß nicht. Gleichviel
indeß, Gubitz verſicherte mit Emphaſe: „wir würden ſiegen, ja
ſein Glaube daran ſei ſo feſt, daß er gleich eine kleine Feſt-
Cantate niederſchreiben wolle; Himmel ſolle ſie componiren — ſie
könne dann am andern Tage ſchon im Theater geſungen werden.
Und geſagt, gethan. Gubitz ſetzte ſich ſofort an den Schreibtiſch und
in einer halben Stunde war die kleine Dichtung fertig. Aber
freilich der, der ſie componiren ſollte, war nicht mehr unter den
Lebenden oder doch nicht mehr unter den Zurechnungs- und
Leiſtungsfähigen. Er ſchlief in einem mit einer Tüllgardine ver-
hängten Alkoven ſeinen Rauſch aus und zwang uns dadurch aus
der „Himmliſchen Wohnung“, wie ſeine kleine chambre garnie
damals allgemein hieß, in die triviale Wirklichkeit der Straß zurück-
zukehren.


Es mochte jetzt Mittag ſein oder doch nicht viel mehr, und der
Weg, den ich einſchlug, führte mich am Schauſpielhauſe vorüber. Ange-
klebte Zettel kündigten an: „Heute zum erſten Male wiederholt:
Die deutſche Hausfrau, Drama in 3 Akten von Herrn v.
Kotzebue. Hierauf: Das Geheimniß, Operette in 1 Akt von
Solié.“ Einer der Büreaubeamten ſtand in der Thüre. „Wird
denn heute geſpielt?“ fragt’ ich. „Ei, natürlich, der Herr General-
director Iffland haben’s eigens befohlen.“ Ein dumpfer Knall, dem
ein zweiter und gleich darauf noch ein paar andre folgten, bezeugte
daß draußen ein blutiges Drama beginne. Vorübergehende ſtanden
wie gebannt und der Theaterbeamte zeigte mir ein blaſſes Geſicht;
aber doch muthmaßlich nicht blaſſer als das meinige war.


Von dieſem Augenblick an kamen wir eigentlich nicht mehr
zur Beſinnung. Auf den Straßen lief Alles durcheinander und
zu den Fenſtern hinaus fragte man ſich wie’s ſtünde? Viele ließen
ſich nicht abhalten und gingen trotz des ſtrömenden Regens bis
nach Tempelhof oder doch wenigſtens bis auf den Tempelhofer Berg
hinaus, um dem Aktionsfeld um eine halbe Stunde näher zu ſein.


Um 7 macht’ ich mich auf ins Theater. Es waren mehr Leute darin,
als man hätte vermuthen ſollen. Nur Damen fehlten. Eigentlich
hatte man ſich im Parterre blos zuſammengefunden, um ſich gegen
einander auszuſprechen und doch wurde jede patriotiſche Beziehung,
die in der „Deutſchen Hausfrau“ vorkam, lebhaft beklatſcht. Die
[316]Bethmann, die die Hauptrolle gab, wußte die Pointen und
Schlagwörter geſchickt hervorzuheben. Auch den andern Mit-
ſpielenden: Beſchort und Maurer und der anmuthigen Demoiſelle
Fleck (nachmaligen Frau Profeſſor Gubitz) vor allem aber der Demoi-
ſelle Doebelin, welche eine böſe Alte ſpielte, ſah man es nicht an,
daß Berlin einſchließlich des Schauſpielhauſes ſo zu ſagen auf
einem Pulverfaſſe ſtand. Am Schluſſe des 2. Akts eilt’ ich auf
eine gute halbe Stunde hinaus, um zu ſehn ob man etwas Neues
wiſſe. Der Kriegsjammer zeigte ſich ſchon. Bauerwagen mit
Verwundeten kamen langſam vom Halleſchen Thore her. Man
fuhr ſie nach den Lazarethen; alle leichter Bleſſirten aber nahmen
die Bürger mit Herzlichkeit in ihren Häuſern auf.


Ich hielt mich wieder auf die Linden zu, denn ich war
hungerig und gedachte mich in der Habelſchen Weinſtube zu
reſtauriren. In dem Lokale ſelbſt war ein beſtändiges Kommen
und Gehn. Am letzten Fenſter links ſaßen einige meiner Bekannte:
Herklots der Theaterdichter, der Kunſtkenner Hofrath Hirt
— damals einer der ſchönſten Männer Berlins — und der
Maler Hummel, ein unzertrennliches Habelſches Trifolium. In
der Mitte des Zimmers aber hatte man einen Huſaren umringt, der
einen Transport Verwundeter eingebracht und ſelbſt einen tüchtigen
Hieb über das Geſicht bekommen hatte. Von ihm erfuhren wir
einiges Nähere, vor allem, daß die Franzoſen ſich auf Trebbin
zurückzögen und daß unſer Sieg ſo gut wie gewiß ſei.


„Noch kann das Theater nicht aus ſein“ enthuſiasmirte ſich
Herklots „ich muß die Nachricht dorthin bringen.“ Und im ſelben
Augenblick ergriff er ſeinen großen rothſeidenen Regenſchirm und
war’s auch zufrieden, daß ich ihn begleitete. Wir langten auf
der Bühne kurz vor dem Schluſſe des Singſpiels: „Das Ge-
heimniß
“ an und theilten Unzelmann der den Bedienten
Thomas ſpielte, die Siegesbotſchaft mit. Er ergriff ſofort den
dreieckigen Bedientenhut und trat auf die Bühne hinaus, obgleich
ſeine Scene nicht an der Reihe war. Die Schauſpielerin, welche
die Hofräthin gab, ſah ihn befremdet an, er aber extempo-
rirte ſofort im Tone ſeiner Rolle: „Wollte der Frau Hof-
räthin und den Herrſchaften da unten (aufs Publikum zeigend)
nur melden, daß wir heute keine franzöſiſche Einquar-
[317] tierung mehr bekommen.“ Und nun muß ich hier zu beſſerem
Verſtändniß des folgenden einſchalten, daß Unzelmann eine ganz
frappante Aehnlichkeit mit dem im Winter 1812 auf 13 in
Berlin commandirenden franzöſiſchen General Augereau hatte.
Dieſe Aehnlichkeit glücklich benutzend, ſtülpte der gefeierte Komiker,
als er die vorſtehende Meldung gemacht hatte, ſeinen dreieckigen
Hut in derſelben ſchiefen Richtung auf den Kopf, wie ihn die
franzöſiſchen Generale zu tragen pflegten und fügte, Augereau
kopirend, hinzu: „Wir begeben uns rückwärts nach Trebbin!“
Dabei machte er Kehrt; im Publikum aber brach ein Freudenhalloh
aus, daß die Couliſſen ins Zittern kamen. Die Vorſtellung war
aus und Alles ſtürmte nach Hauſe.


Draußen war ein Leben und Gedränge wie bei hellem Tage,
denn fortwährend brachte man Verwundete und Gefangene zur
Stadt. Wagen aller Art, bepackt mit Lebensmitteln, Decken, Mänteln
und allem was den ermüdeten hungrigen Kriegern nur irgendwie
zu Gute kommen konnte, rollten zum Thore hinaus, dem Schlacht-
felde zu. Wir, denen Wagen und Pferde nicht zu Gebote ſtanden,
thaten an den in die Stadt gebrachten Verwundeten, was in
unſern Kräften ſtand. Von zu Bette gehen war natürlich nicht
die Rede.


Gegen Morgen traf ich mit einem Offizier in der „Sonne“
oder bei Jagor’s (wo jetzt die Paſſage iſt) zuſammen, der im
Begriff war zu ſeinem Regimente zurückzukehren und ſich nur
noch mit einer Taſſe Kaffe ſtärkte. Der ergänzte die bruchſtück-
weiſen Nachrichten, die wir bis dahin von der Schlacht erhalten
hatten.


Auf der Straße traf ich bald danach einen mir von alter
Zeit her bekannten und damals zu den populärſten Figuren Berlins
gehörenden Hofſchlächtermeiſter, der mich einlud auf ſeinem mit
Wurſt, Schinken und Brod beladenen Wägelchen Platz zu nehmen
und mit ihm hinaus zu fahren. Und ich ließ mir das nicht zwei-
mal ſagen.


Aber freilich den Anblick des Schlachtfelds werd’ ich all mein Lebtag
nicht vergeſſen. Unfern der Mühle lag ein blutjunger franzöſiſcher
Offizier, die Bruſt von einer Kartätſchenkugel zerſchmettert. Aus
der zerriſſenen Uniform blickte vorne zwiſchen den Knöpfen ein
[318] rothes Portefeuille hervor. Wir öffneten es und fanden unter
mehreren Briefen einen, der noch nicht geſiegelt aber bereits mit
einer Aufſchrift in franzöſiſcher Sprache verſehen war: „An Herrn
Capuzzo, Mitglied des Criminalgerichts zu Genua.“ Der ſollte,
wie aus dem Briefe hervorging, der Schwiegervater des Todten
werden, und beigelegt war ein verſchloſſenes Briefchen an die
Braut: Es ſchloß mit den Worten: „Ich hoffe, dieſen Brief
heut Abend auf die Poſt in Berlin zu geben.“


Nun thaten wir es.


Abends am 24. aber ſang man im Theater die Sieges-
Cantate, die Gubitz am Tage vorher gedichtet und Himmel,
als er ſeinen Rauſch ausgeſchlafen, in eine vortreffliche Muſik ge-
ſetzt hatte.


[[319]]

Löwenbruch.


„Wie heißt Er?“

Kneſebeck.

„Was iſt ſein Vater geweſen?“

Lieutnant in Ew. Majeſtät Garde.

„Ah, der Kneſebeck.“

Eine Meile hinter Großbeeren, ſeine hochgelegenen fruchtbaren
Aecker an einem Stücke Bruchland entlang ziehend, liegt das Dorf
Löwenbruch. Wir finden hier, durch die Jahrhunderte hindurch,
eine Reihenfolge guter Namen: die von Thümen, von Otterſtedt,
von Boytin, von Alvensleben, von Gröben und v. d. Kneſebeck.


Die Boytin’s (ein ausgeſtorbenes Geſchlecht) haben auf
dem Kirchhofe noch ein paar große Grabſteine mit allerhand
Figuren und Inſchriften, die freilich unter der Kruſte von Moos
und Flechten kaum noch zu entziffern ſind. Eins dieſer Gräber
iſt leer geblieben. Mit Schaudern erzählte mir der Küſter des
Dorfes, wie er, eines Abends über die Grabſteine hinſchreitend,
den einen Stein unter ſeinen Füßen nachgeben und ſich ſelber in
die leere Gruft verſinken fühlte. Er kam indeſſen mit dem bloßen
Schrecken davon.


Von den Alvenslebens, die ihren Gutsantheil im Jahre
1749 an die Gröbens verkauften, findet ſich noch dies und das.
Es exiſtirt unter Anderm das jetzt wirthſchaftlichen Zwecken dienende
Haus, das ſie bewohnten, ein ſchlichter Fachwerkbau, der am beſten
zeigt, wie gering, wenigſtens nach dieſer Seite hin, die Anſprüche
waren, die der märkiſche Adel vor hundert Jahren noch erhob.
[320] Jeder wohlhabende Bauer wohnt jetzt beſſer. Es ſcheint, man
legte damals Gewicht auf andres, auch auf andere Aeußerlich-
keiten
, und ein höchſt intereſſantes Sopha, das ſich in den
Damenzimmern des jetzigen Herrenhauſes vorfindet, übernimmt
den Beweis dafür. Als vor einem Vierteljahrhundert das Alvens-
lebenſche Fachwerkhaus ausgebeſſert werden ſollte, fand man auf
einem der ſpinnwebverhangenen Böden einen alten Deckelkaſten,
der ſich alsbald als eine Truhe zu erkennen gab. Dieſer Fund
erſchien Anfangs gleichgültig genug; nachdem man indeß den Kaſten
an’s Licht gebracht und von der Verſtaubung eines Jahrhunderts
geſäubert hatte, gewahrte man ein wahres Prachtſtück, das es mit
den aller modernſten Weißzeugſpinden unſerer Möbelmagazine kühn-
lich aufnehmen dürfe. Die Vorderſeite des Kaſtens war in vier
Felder getheilt und jedes Feld beſtand aus allerhand buntem, reich
vergoldetem Schnitzwerk, in deſſen Mitte ſich ein ſorglich gemaltes
Wappenbild zeigte. Es waren die vier Wappen der Alvensleben,
Redern, Bredow und Hake. Der gegenwärtige Beſitzer Löwen-
bruchs wußte dieſen Fund aufs glücklichſte zu benutzen. Er ließ
von geſchickter Hand, die das Schnitzwerk der Truhe zum Muſter
nahm, eine Rückenlehne anfertigen, ſchmückte dieſe Lehne mit
ſeinem eigenen Wappen und erzielte dadurch ein Sopha, das
nach Erſcheinung und Entſtehungs-Geſchichte nicht leicht ein Seiten-
ſtück finden wird. Und was iſt der Schluß, den ich daraus ziehe?
Die Alvenslebens hatten ein ſchlichtes Haus, aber eine reiche,
adlige Truhe, und der Inhalt derſelben blieb muthmaßlich hinter
dem vergoldeten Schnitzwerk nicht zurück. Ihren Reichthum be-
kundet auch die ſchöngeſchnitzte Kanzel, die Achatz v. Alvensleben
der Löwenbrucher Kirche zum Geſchenk machte.


Die Gröbens führen uns bis in dies Jahrhundert hinein.
Die letzten dieſer Familie, die Löwenbruch beſaßen, waren zwei
Brüder, die ohne männliche Descendenz verſtarben. Der jüngere
von beiden, der unter Friedrich dem Großen Rittmeiſter im Re-
giment Gensdarmes geweſen war, war der eigentliche Beſitzer. Er
that viel zur Hebung des Guts, baute das jetzige Herrenhaus,
ſtarb aber früher als ſein älterer Bruder, dem nun, da keine
Kinder da waren, die ſchöne Beſitzung zufiel. Dieſer Bruder war
ein Original, geſcheidt, tapfer, nüchtern und phantaſtiſch zugleich.
[321] Er war Major bei den „gelben Reitern“ geweſen, die damals in Zehde-
nick ſtanden, hatte jedoch den Dienſt quittirt, theils ſeiner ſchweren
Bleſſuren, inſonderheit aber ſeiner Studien halber, denen er ſich
ruhiger und ausſchließlicher widmen wollte. Er ſtudirte Kant und
correſpondirte mit ihm. 1800 übernahm er Löwenbruch. Er war
die abſolute Bedürfnißloſigkeit, eine völlig auf das Geiſtige ge-
ſtellte Natur, und unſere Tage des Materialismus würden ihm
ſchwerlich gefallen haben. Er trug jahraus jahrein einen Lein-
wand-Anzug (auch der alte Zieten in Wuſtrau war ſo gekleidet),
den er nur ablegte, wenn er ſich auf Beſuch nach Berlin begab.
Dies geſchah alle Jahr ein Mal und zwar auf vier Wochen.
Er ſtieg dann in Krauſe’s Kaffeehaus ab, dem jetzigen Hotel de
Brandebourg, und verbrachte die ganze Zeit mit Converſation und
Schachſpiel. Nach dieſer Berührung mit der Welt, zu der er ſich
eigentlich immer nur entſchloß, um ſein großes Geſchick im Schach-
ſpiel nicht einroſten zu laſſen, begab er ſich wieder in ſeine Ein-
ſamkeit zurück, um ſich an Büchern und — Waſſer auf’s Neue
zu ſtählen. Er war ein Vorläufer der Hydropathie. Perſonen,
die ihn noch gekannt haben, ſagen aus, daß er ſich in Waſſer,
incredibile dictu, berauſcht habe. Vielleicht nahm man gewiſſe
Excentricitäten für Rauſch. Er hatte eine trunkene Seele. Auch
eine Miſchung von Donquichoterie und Eulenſpiegelei ließ ſich an
ihm wahrnehmen. Als er vom Ausbruch des Krieges hörte, be-
fahl er den Thurm abzutragen, damit das Dorf von vorüberzie-
henden Kriegsſchaaren nicht bemerkt werden möge. Mit leiden-
ſchaftlichem Eifer verfolgte er die Napoleoniſchen Kriegs- und
Siegeszüge. Als der Krieg von 1805 begann, der mit dem Tage
von Auſterlitz endigte, ſagte er den Ausgang des Kampfes vorher,
auch den herannahenden Sturz der preußiſchen Monarchie. Dieſer
eine Gedanke beſchäftigte ihn Tag und Nacht und quälte ihn zu-
letzt bis zum Unerträglichen. Er wollte das Unwetter ſich nicht
entladen ſehen und — erſchoß ſich in bloßer Vorahnung deſſen,
was kommen würde, nachdem er zuvor die Angelegenheiten ſeines
Hauſes mit philoſophiſcher Ruhe geordnet hatte.


Fontane, Wanderungen. IV. 21
[322]

Von den Gröbens kam das Gut an die Kneſebecks. Dieſe
beſitzen es noch. Der erſte von ihnen, der ſich hier heimiſch ein-
richtete, war Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Kneſebeck,
Halbbruder des Feldmarſchalls. Von dieſem Friedrich Wilhelm
Ludwig von dem Kneſebeck gedenk’ ich zu erzählen. Sein Leben
erſcheint zwar als eine bloße Skizze neben dem farbenreichen Bilde
ſeines berühmten Bruders, es bedarf indeſſen keines langen Suchens
und Forſchens, um wahrzunehmen, daß beide Brüder Zweige des-
ſelben Stammes waren. Sie wirkten in verſchiedenen Kreiſen:
der eine in der beſchränkten Sphäre einer kleinen Stadt, der andere
in dem weitgezogenen Kreiſe des ſtaatlichen Lebens; aber der Pulsſchlag
beider war derſelbe, und wie verſchieden auch ihr Leben ſich geſtaltete,
an Mannesmuth und adliger Geſinnung, an Vaterlandsliebe, Ge-
meinſinn und Opferfreudigkeit ſtanden ſich Beide gleich. Beide —
märkiſche Edelleute von Kopf bis zu Fuß. Nur geſellte der ältere
Bruder zu dem ihnen im Charakter Gemeinſamen auch noch
hohe Gaben des Geiſtes und das ſchuf einen Unterſchied. Der
kühne Kopf, der den Gedanken gebären konnte: den unbeſiegbaren
Imperator durch die bloße Macht des Raumes, d. h. durch Ruß-
land zu vernichten, ſtand ſo hoch, daß er die Nebenbuhlerſchaft
eines andern Geiſtes nicht leicht zu fürchten hatte. Die Talente
waren verſchieden.


Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Kneſebeck wurde den
29. März 1775 zu Carwe geboren. Er trat als Lieutenant in
das zu Ruppin garniſonirende Regiment Prinz Ferdinand ein und
machte als ſolcher die Rhein-Campagne mit. Ein Duell und eine
Verwundung, die er empfing, veranlaßten ihn im Jahre 1800
ſeinen Abſchied zu nehmen. Ruppin war ihm lieb geworden und er
verblieb als Bürger in einem ſtädtiſchen Kreiſe, darin er als Offizier
eine Reihe glücklicher Jahre verlebt hatte. So kamen die Tage
von Jena und Auerſtädt; unſere Truppen, ſo viel oder ſo wenig
ihrer noch waren, retteten ſich über die Oder und das Land lag
offen und widerſtandslos vor dem nachrückenden Feinde da. Am
Tage Aller Heiligen traf in Ruppin die Nachricht ein, daß die
Franzoſen im Anzuge ſeien. Was thun? Wer hatte den Muth
und die Fähigkeit, die Stadt zu vertreten? Eine Wahl war bald
getroffen, wo nur Einer gewählt werden konnte. Alle Stimmen
[323] vereinigten ſich auf Kneſebeck; man gab ihm eine Art dictatoriſcher
Gewalt und vertraute das Wohl der Stadt ſeiner Geſchicklichkeit
und dem Glück ſeiner Hand.


Der Abend dämmerte und Piſtolenſchüſſe verkündeten die
Nähe franzöſiſcher Chaſſeurs. Kneſebeck ging ihnen entgegen.
„Qui vive?“ „Un citoyen du bourg“, antwortete Kneſebeck und
verlangte den commandirenden Offizier zu ſprechen. Dies war
ein Marquis de Cuſtine. Kneſebeck eröffnete ihm, daß die Stadt
offen, ohne Beſatzung und arm, trotz ihrer Armuth aber zu einem
„douceur“ bereit ſei. Das wirkte. „Ah, Monsieur sait bien com-
ment traiter avec les soldats“,
erwiederte der Marquis lächelnd
mit befriedigtem Geſicht und man einigte ſich alsbald über 100
Louisd’or. Die Franzoſen zogen ein und die Summe wurde
gezahlt.


War auf dieſe Weiſe Plünderung und Gewaltthat glücklich
abgewandt, ſo ſicherte Kneſebeck’s Geiſtesgegenwart wenige Wochen
ſpäter die Stadt vor einer noch drohenderen Gefahr. Das Ge-
rücht hatte ſich verbreitet: „die Franzoſen ſeien geſchlagen worden“
und ſiehe da, den guten Ruppinern begann der Kamm zu ſchwellen.
Detachements franzöſiſcher Truppen, darunter auch Perſonen von
Rang, paſſirten gelegentlich die Stadt; warum ſollte man ſie ruhig
und ungehindert ziehen laſſen? waren es nicht Feinde? So be-
ſchloß man denn den „kleinen Krieg“ zu organiſireu und wegzufangen
was wegzufangen ſei. Die Sache war gut gemeint, aber ſie hatte
mehr Herz als Verſtand und kaum daß ſolche Pläne in den Köpfen
der Menge ſpukten, als ſich auch ſchon Gelegenheit bot, ſie aus-
zuführen. Bei leiſem Schneegeſtöber kam Anfang December ein
Schlitten durch’s Thor, deſſen Inſaſſe ſich — trotz des weiten
Mantels, der ihn verhüllte — leicht als ein höherer franzöſiſcher
Offizier erkennen ließ. Da hatte man wen im Garn! Und
mit Geſchrei drang ein Dutzend Bürger, von allerlei Volk unter-
ſtützt, auf den Unbekannten ein, zunächſt um ihn zu inſultiren,
vielleicht auch um ihn niederzuſchlagen, wenn er Widerſtand ver-
ſuchen ſollte. Kneſebeck eilte herzu, ſtellte den Angreifenden das
Unedle, ja das Gefährliche ihrer Handlungsweiſe vor und trieb
den Haufen aus einander. Der Offizier aber ſetzte ſeine Reiſe fort.
Alles ſchien vergeſſen, als etwa drei oder vier Tage ſpäter Kneſebeck
21*
[324] in den Gaſthof zur Krone gerufen wurde. Ein eben von Berlin
her eingetroffener franzöſiſcher Gendarmerie-Oberſt — ein Abge-
ſandter Savary’s, in deſſen Händen damals die oberſte Polizei-
leitung war — trat ihm in brüsker Weiſe entgegen und machte
ihn verantwortlich für die Inſulten, die ſich die Stadt gegen einen
franzöſiſchen Offizier erlaubt habe. „Ich werde Sie füſiliren
laſſen.“ Kneſebeck erwiederte kalt: „contre la force il n’y a point
de résistance.“
Der Oberſt*), durch die Ruhe dieſer Entgegnung
einigermaßen decontenancirt, fuhr eben mit neuen und immer
heftiger werdenden Schmähungen heraus, als eine dritte Geſtalt,
die bis dahin halbverborgen in der Fenſterniſche geſtanden hatte,
zu den Streitenden herantrat und dem lärmenden Offizier zurief:
„Taisez vous! cet homme a agi comme chevalier; il n’y a
rien à lui reprocher.“
Kneſebeck erkannte jetzt in dem Sprecher
denſelben franzöſiſchen Offizier, den er der Volkswuth entriſſen
hatte. Es war Napoleon’s Oberſtallmeiſter, Caulaincourt, Herzog
von Vicenza. Caulaincourt hatte keine Ahnung davon gehabt, daß
dieſelbe Stadt-Autorität, der er an dem Vorfalle Schuld gab und
deren Verfolgung er in Berlin (bei Savary) beantragt hatte,
genau derſelbe Mann war, deſſen rechtzeitigem Einſchreiten er ſeine
Rettung verdankte. Die Sache wurde beigelegt, auf Beſtrafung
der Schuldigen nicht weiter gedrungen und Kneſebeck mit den ver-
bindlichſten Worten entlaſſen.


Einquartierungen und Truppen-Durchmärſche dauerten fort.
Endlich kam Frieden, aber er entſprach nirgends im Lande den
daran geknüpften Hoffnungen, und die Franzoſen, anſtatt die
Mark zu verlaſſen, wurden nur innerhalb derſelben dislocirt. Um
dieſe Dislocirungen für die Grafſchaft Ruppin einzuleiten, wurde
Kneſebeck im Auguſt 1807 nach Liebenwalde geſchickt, wo ſich da-
mals die Diviſion Vilatte befand. Nachdem er die nöthigen
[325] Notizen über Zahl und Gattung der unterzubringenden Truppen
erhalten und dem franzöſiſchen General die vollſtändigſte Auskunft
über die vorzunehmende Dislocation ertheilt hatte, forderte Vilatte
ihn auf, die Vorbereitungen zu dem nahe bevorſtehenden Napoleons-
tage (15. Auguſt) zu treffen. Kneſebeck that wie befohlen. Als
er andern Tages meldete, daß Alles angeordnet ſei, lud ihn der
General ein in Liebenwalde zu bleiben und an der Feier theilzu-
nehmen. „General“ erwiederte Kneſebeck „Sie haben zu befehlen;
wenn ich bleiben muß, ſo werd ich bleiben; aber kein preußiſcher
Offizier wird ſich aus freien Stücken dazu entſchließen, bei ſolchem
Feſte zugegen zu ſein.“ Ein prüfender Blick traf den Sprecher.
Dann trat Vilatte an ihn heran und ſchüttelte ihm herzlich die
Hand.


Später, als das Generalcommando von Liebenwalde nach
Ruppin hin verlegt worden war, entſpann ſich ein immer freund-
licheres Verhältniß zwiſchen Kneſebeck und dem franzöſiſchen Ge-
neral. Vilatte war ein Ehrenmann, ein Soldat von ritterlichem
Sinn. Daſſelbe galt von ſeinem Adjutanten, dem Hauptmann
Denoyer, einem Kreolen von Martinique, der im Hauſe Kneſe-
beck’s eine Wohnung bezog und in liebenswürdiger Weiſe die Be-
ziehungen zwiſchen dieſem und dem General zu fördern wußte.
Die Mußeſtunden, die der Dienſt gönnte, wurden verplaudert;
man verweilte gern bei früheren Aktionen und fühlte ſich doppelt
zu einander hingezogen, als ſich bei dieſen Geſprächen herausſtellte,
daß man ſich während der Rhein-Campagne gegenüber geſtanden
und auf der Mainzer Schanze Kugeln mit einander gewechſelt
hatte.


Mittlerweile wüthete der Krieg in Spanien fort, wo im Juli
1808 die Capitulation von Baylen eingetreten war. Kneſebeck wußte
davon, nicht aber Vilatte, der vielmehr umgekehrt von neuen Siegen
und einem nahen Frieden träumte, mit Vorliebe von dem baldigen
Abmarſch der franzöſiſchen Truppen ſprach und daran eine Ein-
ladung an Kneſebeck knüpfte, ihn auf ſeinem „chateau“ in der Um-
gegend von Nancy zu beſuchen.


Kneſebeck erwiederte: „General, Sie werden uns bald ver-
laſſen, aber nicht um in die Heimath zu ziehen. Der Frieden iſt
ferner denn je.“


[326]

„Sie irren, Kneſebeck; unſere Affairen in Spanien ſtehen
gut; der Krieg geht auf die Neige.“


„Ich bezweifle es, General. Darf ich mich offen zu Ihnen
ausſprechen?“


„Eh bien, parlez!“


„General, man hintergeht Sie. Die Bulletins Ihres Kaiſers
ſind Täuſchungen; es geht nicht gut; General Dupont hat bei
Baylen capitulirt, 17,000 Franzoſen ſind kriegsgefangen.“


„Sind Sie deſſen ſo ſicher?“


„Ganz ſicher.“


„Eh bien, nous verrons. In acht Tagen ſprechen wir weiter
davon.“


Die acht Tage verſtrichen und brachten die einfache Beſtätigung
der Capitulation. Vilatte gerieth in die höchſte Aufregung, ließ
Kneſebeck zu ſich entbieten, ſchüttete ihm ſein Herz aus über die
endloſen Kriege, wiederholte aber dennoch ſeine Einladung. Beide
Männer waren bewegt. Kneſebeck antwortete endlich: „Ich nehme
Ihre Einladung an, General; ich werde kommen. Aber wenn
wir uns wiederſehn, wird es in großer Geſellſchaft ſein
.“


Das war 1808. Die franzöſiſchen Truppen marſchirten ab
aber nicht in die Heimath, vielmehr — nach Spanien.


Fünf Jahre ſpäter, als auch für Preußen der Tag der Er-
löſung anbrach, jubelte Kneſebeck. Er hoffte den großen Kampf
mitkämpfen zu können, aber eine Cabinetsordre berief ihn als
ſtändiſchen Commiſſar nach Potsdam, wo ihm die Aufgabe zufiel,
bei der Organiſation der kurmärkiſchen Landwehr thätig zu ſein.
So blieb es ihm verſagt, mit in’s Feld zu rücken und an
den Ehren jener großen Zeit unmittelbar Theil zu nehmen, bis
endlich, im Jahre darauf, die Rückkehr Napoleon’s und das
raſche Vorrücken der Preußen um dem drohenden Stoße ſo früh
wie möglich zu begegnen, ihm auch dieſen Wunſch erfüllte. Er
erhielt eine Compagnie im 6. kurmärkiſchen Landwehrregiment,
marſchirte mit nach Flandern und focht bei Ligny, Sombref und
Wavre.


So kam er auch nach Paris. Sein erſter Gang war zu
Vilatte, damals Chef der Gendarmerie der Hauptſtadt. „Bon
jour, Général!
da bin ich; erkennen Sie mich wieder?“ — „Mon
[327] Dieu, Knesebeck, c’est vous“,
— und die alten Gegner und
Freunde ſchüttelten ſich die Hand. Kneſebeck hatte ſein Wort ge-
löſt; er war gekommen, aber „in großer Geſellſchaft“ wie er pro-
phezeit hatte.


Weihnachten 1815 kehrte er heim, ererbte bald danach Löwenbruch
und zog ſich 1829 nach dem benachbarten Jühnsdorf zurück. Unter
allen Tagen ſeines Lebens blieb ihm der Sylveſtertag 1807 der
theuerſte, wo die Stadt Ruppin ihm in feſtlicher Verſammlung
die Bürgerkrone überreicht hatte. Und in der That, mit freudigem
Stolze mocht er ſich der Worte erinnern, die damals, in noch friſcher
Dankbarkeit, an ihn gerichtet worden waren:


Als in den Tagen des Grams die blöden Gemüther erſtarrten

Und dem nahenden Sturm jegliche Seele erlag,

Trateſt Du kühnlich hervor, geſetzt und weiſ’ und beſonnen,

Zu beſchwören den Sturm, der uns Verderben gedroht.

Er hatte wohl Anſpruch auf dieſe Huldigung. Der Kreis,
in dem ihm zu wirken vergönnt war, war nur ein kleiner und
begrenzter, aber innerhalb deſſelben hatte er ſich bewährt. Den
größern Kreis ſich zu ſchaffen, lag außerhalb ſeiner Macht, indeſſen
wo immer er ſtand, ſtand er da — ein ganzer Mann. Er
ſtarb hochbetagt am 11. Juli 1860.


Wir ſitzen im Herrenhauſe zu Löwenbruch.


Die Thüre des Gartenſaals ſteht offen und Duft und Friſche
dringen ein. Die Sonne ſcheidet eben und nur ein rother Streifen liegt
noch über dem Schwarzgrün der Edeltannen. Alles iſt ſabbathſtill und
geräuſchlos zieht ein Schwarm Tauben durch die Luft. Erdbeer-
ſchalen ſchmücken den Tiſch und lachen uns an, heiter und behaglich
fließt das Geſpräch. Aber auch das, was uns umgiebt, führt ſeine
Sprache. Jegliches was ſeit Jahrhunderten hier war und wuchs,
es iſt nicht todt, es lebt, und ſchafft und wirkt ein geheimniß-
volles Band zwiſchen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen.
Auf dem Tiſche vor uns ſteht ein Serpentin-Krug, der das
Wappen der Otterſtedts auf ſeinem Silberdeckel trägt; durch
die zurückgeſchlagene Sammt-Portière gewahren wir im Neben-
[328] zimmer die nun als Sopha dienende v. Alvensleben’ſche Truhe,
vor uns der Hollunderbaum, der über die Gartenmauer ragt,
mahnt uns an den alten v. Gröben, der im Leinwandkittel
unter dieſem Blätterdache ſaß und phantaſtiſche Schlachten auf
ſeinem Schachbrett ſchlug, und neben uns an der Wand tickt die
Pendeluhr, die Kneſebeck dem Feldmarſchall über ſeinem Ar-
beitstiſche die Stunden ſchlug, als der Friedens-Congreß die Fürſten
Europa’s in der heitern alten Kaiſerſtadt verſammelt hatte. Wie
viele Denkſchriften, Gutachten und Entwürfe entſtanden bei dem Tick-
tack dieſer gedrungenen Ebenholz-Pendule, die ſo diskret und in ſich
zurückgezogen daſteht, als wiſſe ſie was einem Zeugen ſchickt, der
ernſte Dinge gehört und geſehn.


Der letzte rothe Streifen über den Tannen iſt hin und das
leiſe Singen des Keſſels im Nebenzimmer kündet uns die Thee-
ſtunde. Niemand ſpricht mehr, aber es iſt als flüſterten die Stim-
men derer, die nicht mehr ſind.


[[329]]

Schloß Beuthen.


Kühnlich darf mein Haupt ich legen
Jedem Unterthan in Schooß.
Kerner.

An der Nuthe, die die Grenze zieht zwiſchen dem Teltow und
der Zauche, ſtand in alten Zeiten Schloß Beuthen und beherrſchte
den Fluß-Uebergang.*) Rings von Waſſer umfloſſen und aus
grauem Feldſtein zuſammengefugt, erhob ſich die Burg wie ein
Felseck und blickte ſteil und trotzig in die Niederung hinein.


Ja, Schloß Beuthen war trotzig. Die Quitzow’s hielten es
und gedachten es zu behaupten gegen den Nürnberger Burggrafen,
der wie ein Herr in’s Land kam und den man doch nicht gelten
laſſen mochte. Man mocht’ eben denken, „die Herren wechſeln raſch
in der Mark; ſie finden ſich ein, wie Kaiſerliche Noth oder Kaiſer-
liche Laune ſie ſchickt; es giebt aber nur einen bleibenden Herrn
in der Mark und das ſind wir.“ Und ſie hatten ſo unrecht nicht.


Sie hatten nicht Unrecht in der Sache; deſto mehr aber ver-
kannten ſie die Perſon, die’s jetzt mit ihnen und der Mark ver-
ſuchen wollte. Das war kein Herr wie die andern, die nur ge-
kommen waren um wieder zu gehn; dieſer kam um zu bleiben
und nahm Platz mit dem Behagen und dem Nachdruck eines, der
ſich auf lange hin einzurichten gedenkt. Die Quitzow’s hatten kein
Auge dafür; ſie trotzten und traten kühnlich mit ihrem Trotz heraus.


[330]

Da galt es denn dieſen Trotz zu brechen und unterſchiedliche
Heerhaufen zogen vor die Schlöſſer der Quitzow’s und Rochow’s.
Und zwar drei vor Plaue, Frieſack und Golzow. Der vierte Heer-
haufen aber, der aus Bürgern von Jüterbogk und Treuenbrietzen
und aus Lehnsleuten der Klöſter Lehnin und Zinna beſtand, rückte
vor Schloß Beuthen. Ein kurfürſtlicher Vogt, Hans von Tor-
gau mit Namen, führte dieſen Heerhaufen an und forderte die
Beuthenſche Beſatzung auf, ſich zu ergeben. Goswin von Breder-
low aber, der die Burg für die Quitzow’s hielt, antwortete guten
Muths: „er wolle ſich die Sache noch ein paar Jahr überlegen.“
Das war am 14. Februar 1414. Hans von Torgau meldete den
Beſcheid an ſeinen gnädigſten Herrn Kurfürſten und die Bürger
von Jüterbogk und Treuenbrietzen bezogen ein Lager an der Nuthe
hin und warteten auf den zugeſagten Bundesgenoſſen, von deſſen
Kriegsruhm die Marken damals voll waren. Und ſiehe da, ſie
warteten nicht lang. Erſt am 24. Februar war Schloß Plaue
gefallen und ſchon am 25. erſchien die „faule Grete,“ von ſechs und
dreißig Pferden gezogen vor Burg Beuthen. Andern Morgens
mit dem Früheſten ſchlug eine 30 Pfund ſchwere Steinkugel an den-
ſelben Thurm, hinter dem Goswin von Brederlow eben beim
Frühſtück ſaß, und gab der alten Burg einen ſolchen Ruck, daß es
ſchwer zu ſagen war was mehr zitterte, die Mauern oder die Herzen
der Beſatzung. Und auch Goswin von Brederlow fing jetzt
an mit ſich handeln zu laſſen. Es ſchien, er hatte Tage gemeint,
nicht Jahre und am 26. Abends ſchon war Schloß Beuthen
eine hohenzollerſche Burg.


Und Gut-Hohenzollerſch iſt ſie geblieben, ſo lange ſie von
jenem Tag’ an noch geſtanden hat. Das Meiſte von ihr ver-
ſchwand kurz vor der Schlacht von Großbeeren, als preußiſche
Artillerie, welche den Uebergang über die Nuthe decken ſollte, die Feld-
ſteinmauern großentheils einriß und ſtatt ihrer einen Erdwall auf-
führte. Nur die von Gräben oder Flußwindungen eingefaßte
Stelle, wo Burg Beuthen ſtand, iſt noch deutlich erkennbar, ein
Stück Inſelland, auf dem ſich ebenſo Mittelthurm und Außenwall
immer noch erſichtlich markiren. Ein paar Weiden und Akazien
überſchatten jetzt den Raſen, der ein Stück märkiſcher Ge-
ſchichte deckt und einzelne Fiſchernetze ſpannen ſich zwiſchen den
[331] Baumſtämmen aus. Im Uebrigen iſt alles hinüber und ein Kahn,
ohne Bank und Steuer, der halb verborgen im Schilfe liegt, unter-
hält die Verbindung zwiſchen dem Inſelchen und der Welt.


Es war im Februar 1414, daß die Quitzow-Burgen fielen.
Damals waren die Hohenzollern fremd im märkiſchen Land
und beinah feindlich betraten ſie daſſelbe. Das iſt anders geworden
ſeitdem. Dieſelben Familien, die damals am feſteſten widerſtanden,
haben ſich inzwiſchen als die treueſten bewährt und die alten
Ritterſitze, vor denen die „faule Grete“ das letzte Wort ſprechen
mußte, ſind längſt zu Stätten unwandelbarer Loyalität geworden.
Auch Schloß Beuthen. Die Burg iſt hin, aber zu Füßen der-
ſelben ſind Dörfer entſtanden, die den alten Namen tragen
(Groß- und Klein-Beuthen) und die Goertzke’s, die dieſe
Dörfer an die dreihundert Jahre nun ihr eigen nennen, ſind
Alles, nur keine Goswin von Brederlows mehr, die ſich’s erſt
„überlegen wollen,“ wenn ein Hohenzoller Einlaß begehrt.


Und es ſind nun einige zwanzig Jahre, daß ein Hohenzoller
wieder ’mal darum anſprach und gleich danach ſeinen Einzug hielt
in Groß-Beuthen.


Verſuch’ ich, dieſen Tag zu beſchreiben.


Die Auguſtſonne fällt auf das am Dorfausgange gelegene
Herrenhaus. Der alte Thorweg, der von der Straße her auf
den Hof führt, iſt eine Blumenpforte geworden und auf den
Steinpfeilern rechts und links wehen die preußiſchen Fahnen. Ebenſo
hat ſich das an ſich einfache Herrenhaus verändert und iſt kaum
noch das alte. Seine weißgetünchten Wände blicken nur hier und
da noch aus der Umrahmung von Feſtons und Guirlanden her-
vor und die Vorbau-Treppe verbirgt ihr ſchlichtes Geländer
hinter einem Walde von hohem Schilf. Aus der weit offen
ſtehenden Thüre lugt von Zeit zu Zeit ein Mädchenkopf hervor
und fragt mit jedem Blick über den Hof hin „ob ſie kommen?“
Auf dem Corridor aber ſchreiten befrackte Herren auf und ab
und vergleichen mechaniſch die Taſchenuhr mit der Wanduhr, dem
einzigen Schlagwerk im Hauſe, das in unbeirrter Ruhe ſeinen
Gang fortſetzt, während alle Herzen raſcher und höher ſchlagen.
Die Tauben ſitzen den Dachfirſt entlang, als warteten ſie mit,
[332] und der Hahn, der ſonſt wohl im Schatten unter dem Vordach
um dieſe Stunde zu meditiren pflegt, heut ſchüttelt er ſeine Federn
und ſcheint ſich in den Honneurs zu üben, ſo oft er auf einem
Fuße ſteht. Jetzt aber meldet ſein lauter Schrei, daß Freund oder
Feind im Anzuge, die Tauben flattern auf und die Mädchen auf
dem Hausflur rufen was Jeder weiß: Sie kommen! Im Nu
ſprengen jetzt Vorreiter auf den Hof, der erſte Wagen hält
und die Pferde ſchnaufen und werfen den Schaum von den
Nüſtern; eine lange Reihe von Equipagen folgt; aber ehe ſie
heran ſind, öffnet ein Jäger den Schlag und den Tritt hinab,
der ſich beim Oeffnen der Wagenthür wie von ſelber ausbreitet,
ſteigen König und Königin.


Sie haben ſich anmelden laſſen in Groß-Beuthen, haben um
Quartier gebeten für die Tage des Manövers, das die Garden
auf dem Sandplateau des Teltow eben heute begonnen haben, und
da ſind ſie nun, um ihren Einzug zu halten. Liebe empfängt ſie
und Ehre geben ſie. Die Schilftreppe hinauf ſchreitet das hohe
Paar, und nach Worten herzlicher Begrüßung treten König und
Königin in die für ſie bereit gehaltenen Zimmer.


Und nun eine Stunde ſpäter.


Im Freien iſt das Mahl angerichtet unter ein paar
mächtigen Kaſtanien, die das weiße Linnen des Tiſches überſchatten.
Und was alles hat der Wunſch, ein Schönſtes und Beſtes zu
thun, aus dieſem ſchlichten Platze gemacht! Der Staketenzaun,
deſſen Holzwerk längſt die Zeichen gereifter Jahre trägt, hat ſeine
Moos- und Flechten-Patina hinter Pyramiden von Rieſenmais
verſteckt und was im Garten noch Duft und Farbe hatte, ſcheint
jetzt hier verſammelt zu ſein. Die Treibhäuſer haben ihre Blumen-
töpfe bis auf den letzten Mann geſtellt und ſelbſt der Landſturm
der Aſtern iſt aufgeboten worden. Terraſſenförmig ſtehen ſie rechts
und links und blicken einander über die Köpfe fort, als wären
ſie nicht nur erſchienen, um geſehen zu werden, ſondern auch
um ſelber zu ſehn.


Die trotzigen Tage liegen weit zurück — König und Königin
ſind zu Gaſt in Groß-Beuthen. Die vollen Blätterſchirme geben
Schatten und doch liegt ein Sonnenſchein über der Tafel und
das Singen der Vögel klingt als wollten ſie denen draußen er-
[333] zählen von dem Feſte, das hier gefeiert wird. Das Auge der
Königin hängt an dem reizenden Bilde, der König aber, der
den Zauber mehr fühlt als ſieht, ſtrömt über von jener gemüth-
und geiſtgebornen Heiterkeit, die ſo viele Herzen eroberte, ſelbſt
abgeneigtere als die Herzen derer, die hier unterm Kaſtaniendache
verſammelt ſind.


Das Mahl iſt vorüber und unter den Bäumen wird es ſchwül;
aber der offene, luftige Garten liegt ausgebreitet vor ihnen und
ſeine breiten Steige laden zu einem Spaziergang ein. Die Obſt-
baum-Allee hinauf, an der Akazienlaube vorüber, am Weinſpalier
zurück, ſo ſchreitet der König in raſchem Geplauder auf und ab und
unterbricht ſich nur, wenn aus Näh’ oder Ferne die Glocken her-
überklingen, die den Abend einläuten.


Die Dämmerſtunde kommt und der Thee wird auf der
Gartentreppe ſervirt. In der Luft iſt kaum ein Zittern. Zwei
das Haus ſchützende hohe Platanen breiten ihr Gezweig über die
Gruppe hin und ein paar Schwarzpappeln die weitab am Aus-
gange des Gartens ſtehn, ſtehen jetzt wie Schatten vor dem letzten
Streifen der Abendröthe. Stiller wird’s und nur ein Hauch, der
ſich eben regt, zieht über die Levkojen-Beete hin und trägt ihren
Duft bis zu der Gartentreppe hinauf. „Wie ſchön es bei Ihnen
iſt“ wendet ſich der König an die Dame des Hauſes und athmet
höher und voller, als bad’ er ſich in der duftigen Friſche des
Abends.


Aber dieſe Friſche wird allmählich zur Kühle; Jung und Alt
beginnen zu fröſteln, und der Schutz und Wärme bietende Garten-
ſaal empfängt die hohen Gäſte. „Was leſen wir?“ fragt der
König. „Ehre, dem Ehre gebührt; ich dächte, wir hörten ein Kapitel
heut aus der Geſchichte der Goertzke’s.“


Und der Vorleſer verbeugt ſich und rückt an den Tiſch. Be-
ſchämt und gehoben zugleich ſitzen die Goertzke’s umher und
horchen auf jedes Wort. Sie kennen Alles, aber das Bekannteſte
ſelbſt klingt ihnen heute neu, wo der König dem Berichte lauſcht.


Von ihrem Eltervater wird geleſen, von Joachim Ernſt
v. Goertzke
, dem „alten Goertzke“ par excellence. Nichts wird
vergeſſen: wie er als Page Marie Eleonoren’s in ſchwediſche
Dienſte kam; wie er unter dem Schwedenkönig bei Leipzig focht;
[334] wie ihn die Kaiſerlichen bei Lützen zum Hinkefuß und Krüppel
ſchoſſen und wie ihm das alte märkiſche Herz endlich wieder lebendig
ward und er zurücktrat in den kurbrandenburgiſchen Dienſt. Und
weiter dann: wie er ein großer Feldoberſt wurde, der bei Rathenow
und Fehrbellin dem alten Feldmarſchall Wrangel, dem „Guſtav
Wrangel“ zeigte, daß aus dem Schüler ein Meiſter geworden. All
das und wie der Kurfürſt ihn ſeinen „Paladin“ genannt, es wurde
geleſen heut und noch viel mehr. Und auch wie ſeine letzten Tage
waren. In Friedersdorf, das er gekauft und aus Trümmern und
Aſche wieder aufgebaut hatte, ſaß der Alte vor ſeinem Schloß und
freute ſich der Sonne, die herniederſchien und des Wohlſtands und
Segens um ihn her. Und von Zeit zu Zeit kam auch Beſuch: ein
alter Weißbart, gefolgt von Töchtern und Enkeln, als wär es der
Winter und brächte den Frühling mit. Das war Guſower Be-
ſuch und der alte Weißbart der kam, war der alte Derff-
linger
. Unter einer weitzweigigen Rothbuche ſetzte man ſich [dann]
und die beiden alten Kämpen, die jederzeit Nachbarn geweſen waren,
auf ihren Schlachtfeldern ſonſt und mit ihren Ackerfeldern jetzt,
ſie gedachten der alten Zeit und der alten Namen. Und auch am
30. März 1682 hielt der Guſower Wagen auf der Rampe von
Friedersdorf. Aber nicht zu frohem Beſuche; Glocken klangen und
Kanonen wurden gelöſt und der Achtzigjährige war nur gekommen,
um den Siebzigjährigen in die Gruft zu ſenken. In der Frieders-
dorfer Kirche ruht die leibliche Hülle des „Paladin“; neben dem
Altar aber ſteht hochaufgerichtet ſein ſteinern Bild und ſchaut
fromm und muthig drein, wie’s einem brandenburgiſchen Kriegs-
manne geziemt. —


Der Vorleſer ſchwieg. „Ich weiß, daß die Goertzke’s noch
immer die alten ſind“ ſagte der König. „Der Erfolg ſteht bei
Gott; aber Muth und Treue ſtehen bei uns.“


Im Gartenſaale wurd es ſtill und bald auch im Hauſe. Der
König ſchlief inmitten ſeiner Treuen wie jener „reichſte Fürſt,“
den die Dichter beſungen, und wenn Segenswünſche Macht haben
über die Träume, ſo war ſein Traum wie der Sommer der zieht
oder wie Geſang der Abends vom See her an’s Ufer klingt.


[335]

Ein klarer Octoberhimmel lacht, in die Platanenblätter miſcht
ſich das erſte Gelb und die Birnbäume, die hoch über das Wein-
ſpalier wegragen, ſtehen in voller Frucht. Im Gartenſaal aber
iſt es, als wäre ſchon December, jene ſchönſte Zeit im Jahr, wo’s
auf Flur und Treppe nach Tannenbaum und Wachsſtock duftet und
wo die Geſchenke kommen von nah und fern. Und wirklich an
der ganzen Länge des Tiſches hin ſtehen die Groß-Beuthenſchen
Hausinſaſſen und blicken auf allerlei wohlverpackte Kiſten, als
wären es Zauber-Commoden, aus deren Fächern in jedem Augen-
blick ein Wundervogel auffliegen könne. Mit einer Feierlichkeit,
die Niemand merkt, weil Jeder ſie theilt, werden endlich die Deckel
geöffnet und der ſonſt ſo wenig anmuthige knarrende Ton mit
dem die Nägel ſich langſam aus dem Holze ziehn — er hat
ſeinen Reiz heut in dieſer erwartungsvollen Stunde. Die See-
gras-Hülle fällt und nun blinkt es und blitzt es hell herauf!
Es ſind Geſchenke von Sansſouci: Gold und Porzellan, und
Bilder und Gemmen, alles werthvolle Dinge wie ſie die Hand
eines Königs und ſinnige Dinge wie ſie nur die Hand eines
ſolchen Königs ſchenkt. Ein jeder blickt auf die Zeichen über-
großer Huld und während das Haupt der Familie mit bewegter
Stimme die Königlichen Worte lieſt, die dieſe reichen Gaben be-
gleiten, fallen die Thränen allertreuſter Menſchen zwiſchen die
Gemmen und Edelſteine nieder, als gehörten ſie dorthin.


Schloß Beuthen iſt längſt keine Veſte mehr, die Goswin von
Brederlow gegen die Hohenzollern hält. Thür und Thor ſtehen
ihnen weit offen und die Herzen der Goertzke’s dazu.


[[336]]

Saalow.
Ein Kapitel vom alten Schadow.


Ihr wolltet lebend nicht einander weichen,
Im Tode hat nun jeder ſeine Krone;
Verbrüdert mögt ihr euch die Hände reichen.

(Platen.)

Auf dem Plateau des Teltow, ziemlich halben Weges zwiſchen
Trebbin und Zoſſen, liegt das Dörfchen Saalow. Elsbruch,
Kiefernwald und ſandige Höhen faſſen es ein, und die letzteren,
die den grotesken Namen der „Höllenberge“ führen, bilden neben
einem benachbarten See, der „Sprotter Lache“, ſo ziemlich die
ganze Poeſie des Orts.


Wir kommen von Großbeeren her, haben eben das Dorf
Schünow paſſirt, und zwiſchen Wald und Bruchland unſern Weg
verfolgend, erreichen wir zuletzt eine kurze Maulbeerbaum-Allee,
die bis an den Eingang des [Dörfchens] führt, dem unſre heutige
Wanderung gilt. Eben Saalow. Eine Kirche fehlt, ein Her-
renhaus auch, und ein paar Dutzend Häuſer und Gehöfte,
ſauber gehalten und meiſt mit Ziegeln gedeckt, bilden die Dorf-
ſtraße, die ſich alsbald platzartig erweitert. In der Mitte dieſes
Platzes dehnt ſich der übliche Waſſertümpel, ohne den geringſten An-
ſpruch auf die ſinnige Bezeichnung „Auge der Landſchaft.“ Die
Schwalben unter’m Sims und das Storchneſt auf dem Dache
ſorgen für die nöthige Dorf-Gemüthlichkeit, die Hähne krähen,
[337] der Balken am Ziehbrunnen ſteigt auf und ab, und über den
Pfuhl hin ſchnattert und ſegelt das Entenvolk in komiſcher Gravität.


So iſt Dorf Saalow jetzt, ſchlicht und einfach genug;
aber doch ein Platz voll einladender Heiterkeit, verglichen mit
dem, was es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war, wo
der, der es zufällig paſſirte, nur Strohdächer ſah, alte Stroh-
dächer, die längſt zu Moosdächern geworden waren. Unter einem
derſelben wohnte der Dorfſchneider, Hans Schadow mit Namen,
der trotzdem er ſchon in die Jahre ging und viel Anhang und
Vetterſchaft im Dorfe hatte, doch noch immer ledigen Standes
war. Als ihm aber endlich das Allein-ſein nicht länger mehr ge-
fallen wollte, gefiel ihm auch Saalow ſelbſt nicht mehr und er
gab es auf, um zunächſt nach dem benachbarten Zoſſen und dann
von Zoſſen aus nach Berlin zu ziehn. Da fand er, was er
ſuchte, verheirathete ſich gerad’ in demſelben Winter 63 wo der
Krieg auf die Neige ging, und nahm eine kleine Wohnung in der
Lindenſtraße, nicht weit vom Halleſchen Thore.


Sieben Jahre ſind ſeitdem vergangen und wir treten heut in
die Werkſtatt des ehemalig Saalowſchen und nunmehro Ber-
liniſchen Schneidermeiſters ein. An dem Zuſchneidetiſche, deſſen
weit vorſpringende Holzplatte bis in die Mitte des Zimmers
reicht, ſteht ein knochiger und breitſchultriger Mann, deſſen Figur
eher an Hammer und Ambos, als an Nadel und Scheere ge-
mahnt und blickt auf das vor ihm ausgerollte Stück Tuch. Er
hält zugleich auch ein Stück Kreide zwiſchen Daumen und Zeige-
finger, und wie ein Baumeiſter, der ſeinen Plan entwirft und
die Diſtancen abſteckt, tupft er bald hierhin bald dorthin auf das
ausgerollte Tuchſtück, muſtert die weißen Tüpfelchen und zieht
dann, zwiſchen eben dieſen Punkten, die geraden und die geſchweiften
Linien, je nachdem es Schooß oder Rückenſtück erfordert. Rings-
um völlige Stille; der Zeiſig im Bauer ſingt weder, noch ſpringt
er auf den Sproſſen auf und ab, ſelbſt die Fliegen gönnen ſich
Ruh und nur aus dem halbdunklen Ofenwinkel hervor klingt es
Fontane, Wanderungen. IV. 22
[338] und ſchrammt es leiſe, wie wenn Jemand geſchäftig mit einem
Griffel über die Schiefertafel fährt. Und dem iſt auch ſo. Auf der
niedrigen Ofenbank hockt ein ſechsjähriger Blondkopf, und die
beiden Beinchen wie ein ſchräges Pult vor ſich, tupft er, ganz
nach Art des Vaters, allerhand Tüpfelchen auf die Tafel und zieht
dann, zwiſchen den Punkten, die geraden und die geſchweiften
Linien. Aber dieſe Linien und Punkte beziehen ſich nicht auf
Schooß und nicht auf Rückenſtück, ſondern auf das Geſicht des
Vaters, deſſen markirtes Profil er in aller Deutlichkeit vor ſich
hat. Den vorſpringenden Stirnbuckel, die römiſch geſchwungene
Naſe, den tiefen Mundwinkel, Alles hat er getroffen — und einen
Augenblick haftet der freudig erregte Blick des Knaben an dem
von ihm geſchaffenen Bilde. Plötzlich aber klingt es „Gottfried
vom Arbeitstiſche her, das Klappern eines Deckelkruges be-
gleitet den ſtrengen Ruf des Vaters, und im ſelben Moment,
als fühl’ er ſich auf einem Unrecht ertappt, fährt die Hand des
Knaben raſch über Tafel und Zeichnung hin. Und nun erſt ſpringt
er auf und nimmt den Krug, den ihm der Vater entgegen hält.


Das war im Sommer 1770.


Und ſiehe da, raſch wechſeln Zeit und Ort: ſtatt der 70er
Jahre des vorigen, liegen die 40er Jahre dieſes Jahrhunderts
vor uns und ſtatt in die kleine Schneiderſtube blicken wir in den
großen Actſaal der Berliner Akademie. Die Schüler ſind bereits
verſammelt und jedes Einzelnen Ernſt und Aufmerkſamkeit iſt eine ge-
ſteigerte, denn der „Alte“ iſt eben eingetreten, um nach dem Rechten zu
ſehen. Dieſer „Alte“, ein Achtziger ſchon, aber immer noch ein Mann
aus dem Vollen, ſchreitet langſam von Platz zu Platz und nur dann
und wann bleibt er ſtehen und blickt muſternd über die Schulter
der Zeichnenden. „Det is jut“, ſagt er dem Einen und klopft ihm,
als Zoll der Anerkennung, mit ſeiner mächtigen Hand auf
den Kopf. „Det is niſcht“, ſagt er zu dem Andern und geht
weiter. Ein Dritter müht ſich eben den Umriß einer menſch-
lichen Figur auf dem Papiere feſtzuhalten, aber die Linien ſind
nicht ſicher gezogen und die Proportionen ſind falſch. Der Alte
heißt ihn aufſtehen, nimmt ſeinerſeits Platz auf dem leer gewor-
[339] denen Stuhl und ſagt dann lakoniſch: „Nu paſſ’ uff. Ich mach’
det ſo.“ Dabei nimmt er des Schülers Kreideſtift, tupft Punkte
mit feſter Hand auf das graue, grobkörnige Zeichenpapier, und
während er dieſe Punkte mittelſt ſicher gezogener Linien unter
einander verbindet, brummt er vor ſich hin: „Det hab’ ich von
meinen Vater. Der war’n Schneider.“


Gottfried Schadow der Schneidersſohn, iſt Gottfried
Schadow der Akademie-Director geworden, ein berühmter Mann,
ein Name, der Klang hat von einem Ende Europa’s bis zum
andern. Derſelbe Gottfried, der dienſtfertig aufſprang, wenn der
ſtrenge Vater mit dem Deckelkruge klappte, derſelbe Gottfried iſt
jetzt ſeinerſeits ein ſtrenger Hausherr geworden, vielleicht nicht
ſtrenger als der Vater, aber mächtiger und gefürchteter. Sein
Haus iſt die Akademie, darin waltet er als König und Herr und
hat ſeine Macht längſt als einen unerſchütterlichen rocher de
bronze
ſtabilirt. Die Zeiten, wo er Beiſpiele ſtatuiren mußte,
liegen hinter ihm und nach Art eines alt und milde gewordenen
Autokraten ſpielt er nur noch mit dem Zügel ſeiner Herrſchaft. Aller
Abzeichen ſeiner Würde, jedes repräſentativen Flitters, hat er ſich
längſt entkleidet; er regiert durch ſich ſelbſt, kraft ſeiner Kraft.
Ob das Sacktuch, das er aus ſeinem taſchenreichen Rocke zieht,
von Kattun iſt oder von Seide; ob er rieſige Filzſchuhe trägt,
oder kalblederne Stiefel (in die, der Ballen und Zehen halber,
immer große Löcher geſchnitten ſind) ob er hochdeutſch ſpricht, oder
in einem Berliner Platt — es kümmert ihn nicht und kümmert
Andre nicht, denn weder er noch Andre vergeſſen es, daß er
„der alte Schadow“ iſt. Herrſchergewohnheit und das Bewußtſein
völliger Ueberlegenheit haben ſeinem Auftreten längſt jede Spur
von Scheu genommen, und was er denkt und fühlt, das ſpricht
er aus. Sein Wille iſt Geſetz; ſeine Laune nicht minder. Eine
kleine Scene mag ſchildern, wie er das Scepter führt.


Es iſt eine Abendſitzung. Der akademiſche Senat hat ſich
verſammelt: berühmte Maler und Bildhauer; keiner fehlt. Der Saal
iſt hell erleuchtet und das Licht fällt auf die ſchönen Blechen’ſchen
Zeichnungen, die ringsum an den Ständern und Wandſchirmen
befeſtigt ſind. Am obern Ende des Ovaltiſches aber, deſſen grüne
Decke mit vielen hundert Goldnägelchen an der Tiſchplatte befeſtigt
22*
[340] iſt, ſitzt der alte Schadow, die Arme bequem auf die Seitenpolſter
eines Lehnſtuhls gelegt, während ſeine Füße in hohen Pelzſtiefeln
ſtecken und ein mächtiger grüner Augenſchirm uns die obere Hälfte
ſeines Geſichtes verbirgt. Es iſt heut ein wichtiger Tag: Annahme
neuer Schüler, und am entgegengeſetzten Saal-ende ſteht Profeſſor
Stabfuß und controlirt alle ſich zur Aufnahme meldenden. Weſſen
Zeugniſſe nicht in Ordnung ſind, wer zu jung iſt oder zu alt, wird
unerbittlich zurückgewieſen und heitre und verblüffte Geſichter
wechſeln untereinander ab. Da tritt ein junges Bürſchchen ein,
ein ächtes Berliner Kind, deſſen kraus aufrecht ſtehendes
Haar gegen alle Aengſtlichkeit in der Welt zu proteſtiren ſcheint.
Am beſten, ich ſtell’ ihn vor: Richard Lucae, ſpäter ſelber ein
Direktor (der Bau-Akademie).


Die Sicherheit ſeines Auftretens, auf daß nichts verſchwiegen
werde, hat freilich noch ſeine beſonderen Gründe: der alte Schadow
iſt Hausfreund bei des blonden Krauskopfs Eltern und kein
Geburtstag iſt ſeit funfzehn Jahren vergangen, wo nicht die Mutter
des eben Eingetretenen, eine heitre thüringiſche Frau, dem
„Herrn Nachbar und Gevatter“ einen Quarkfladen als Geburts-
tagsgeſchenk übermittelt hätte. Das Berliner Kind kennt natürlich
die Welt; die Macht der Connexion iſt ihm kein Geheimniß mehr
und auf Profeſſor Stabfuß’s wiederholte Frage nach Zeugniſſen
und allerhand andern Papieren, erklärt er mit äußerſter Unbe-
fangenheit, daß er weder Zeugniſſe noch andere Papiere habe.
Die Ruhe, mit der dieſe Erklärung abgegeben wird, hat etwas
Provokatoriſches und Stabfuß beginnt ſeinem Aerger Luft zu
machen. Richard Lucae replicirt ebenſo, der Lärm wird immer größer
nnd der alte Schadow, deſſen ſchläfrig ſcheinender Aufmerkſamkeit
in Wahrheit nichts entgangen iſt, ruft endlich über den Tiſch hin:
„Wat is denn los?“


Statt aber eine directe Antwort zu geben, tritt der Profeſſor
vom andern Saal-ende her an den Alten heran, zeigt auf das
Jüngelchen, das ihm gefolgt iſt, und ſagt in gereizteſtem Tone „Herr
Director, hier iſt einer von den Lucaes nebenan; er will in
die Gipsklaſſe; aber nichts iſt in Ordnung.“


„So, ſo“ brummelt der Alte, hebt den Augenſchirm halb in
[341] die Höh, muſtert den jungen Aspiranten der Gipsklaſſe und ſagt
dann: „J det is ja Richard.“


Der Angeredete verbeugt ſich zuſtimmend.


„Höre Richard, ſage doch Muttern, der letzte Kuchen war
wieder ſehr jut. Aber vergiß’t nich.*)


Die Profeſſoren, längſt an Intermezzos dieſer und ähnlicher
Art gewöhnt, lächeln behaglich vor ſich hin, wie wenn ſie ſagen
wollten „ganz im Stil des Alten“ und nur Stabfuß beißt ſich auf
die Lippen, denn er ahnt, daß ſeinem Anſehn eine neue große
Niederlage bevorſtehe.


„Na Richard“ fährt der Alte fort. „Du wiſt alſo in de
Gipsklaſſe?“


„Ja, Herr Direktor.“


„Haſte denn ooch Luſt?“


„Ja, Herr Direktor.“


„Haſt’ ooch ſchon gezeechnet?“


„Ja, Herr Direktor.“


„Na, denn zeechne mal’n Ohr; aber aus’n Kopp. Stab-
fuß, jeben ſe mal Papier her un’n Bleiſtift.“


[342]

Der Angeredete gehorcht mit ſüßſaurem Geſicht.


„So. Na nu ſetzt’de Dir hier an’n Diſch un zeechenſt.“


Unſer junger Aspirant thut wie befohlen, zeichnet ein Ohr
und überreicht es dem neben ihm ſtehenden Stabfuß. Dieſer, in
begreiflicherweiſe höchſt kritiſcher Laune, beginnt zu mäkeln, aber
ſeine Geſchicke vollziehen ſich unabwendlich.


„Geben Se mal her“ unterbricht ihn der Alte, klappt den
grünen Schirm abermals in die Höh, befühlt und bekuckt das Papier
von allen vier Seiten und ſagt dann: „Stabfuß, bedenken Se —
aus’n Kopp. Det Ohr is jut. Schreiben Se’n man in.“


Und ſo kam Richard Lucae in die Gipsklaſſe.


Und ſo war der alte Schadow, ſetzen wir hinzu. Ein Zwie-
ſpalt ging durch ſein Leben: Griechenthum und Märkerthum hielten
ſich das Gleichgewicht oder verbanden ſich zu einem wunderbar
humoriſtiſchen Gemiſch. Wenn er in den Saal tapſte oder das
Taſchentuch zog (was viel öfter geſchah, als ſchön war), war er
ganz der Sohn ſeines Vaters aus Dorf Saalow, wenn er den
Stift in die Hand nahm, war er das Kind einer glücklicheren
Zone. Mark Brandenburg und Athen erſchienen abwechſelnd als
ſeine Heimath. Sein Körper und ſeine Seele lebten mit einander
wie Venus und Vulkan. Dieſe Zwieſpältigkeit wurde zuletzt ſein
Stolz, und er machte das Beſte draus, was ſich draus machen
ließ, ein Original. Und wirklich, immer nur ſolche Derbheits-
Geſtalten ſind bei unſerm Volke populär geworden: der alte
Deſſauer, Friedrich der Große, Blücher. Auch unſer großer
Kanzler gehört hierher. Alles Patente wird beargwohnt, oder iſt
einfach lächerlich.


Das ganze Auftreten Schadow’s erinnerte vielfach an die
Meiſter des 15. und 16. Jahrhunderts. Er war ein Peter Viſcher
in’s märkiſch-Berliniſche überſetzt und hielt noch auf’s Hand-
werk
, immer davon ausgehend, daß es beſſer ſei, das Handwerk
zur Kunſt, als die Kunſt zum Handwerk zu machen. Von Bürger-
ſinn und Bürgertrotz war ihm ein gerüttelt und geſchüttelt Maß
[343] geworden und gegenüber modernen Künſtlerprätenſionen, hielt
er’s ganz mit der alten Schule, die ſich mehr um’s Sein als
um’s Scheinen kümmerte. Das Schwierige des bloßen, äußer-
lichen Machen-könnens betonte er gern, und in ähnlicher Weiſe
wie Ludwig Tieck zu ſagen pflegte: „es iſt immerhin eine Arbeit,
einen dreibändigen Roman zu ſchreiben, gleichviel ob er gut oder
ſchlecht iſt“, ſo ſagte auch Schadow, wenn Skizzen über Gebühr
und auf Koſten ausgeführter Arbeiten gelobt wurden: „Papier is
weech, aber Steen is hart.“


In einem gewiſſen Zuſammenhange mit dieſem Betonen des
Handwerklichen in der Kunſt war es auch, daß er mit Vorliebe
citirte: „Der Arbeiter iſt ſeines Lohnes werth“, und ſich jedesmal
ärgerte, wenn einem Künſtler zugemuthet wurde, vom himmliſchen
Lichte leben zu ſollen. Er forderte für den Maler und Bild-
hauer, wie für jeden andern Menſchen, das tägliche Brot und
bekannte ſich ſogar zu dem in der Kunſt vielleicht anfechtbaren
Satze, daß ſich Art und Werth der Arbeit nach dem Lohn zu
beſtimmen habe. Sein gemünztes Wort in ſolchem Falle war:
„kuppern bezahlt, kuppern gemalt.“


Er hatte, wie alle volksthümlichen Figuren unſeres Landes,
eine Vorliebe für den Dialekt,*) wiewohl er ihn eben ſo leicht
[244[344]] bei Seite thun und namentlich in Aufſätzen und Abhandlungen
— deren höchſt vortreffliche von ihm exiſtireu — eine durchaus
muſtergültige Sprache führen konnte. Lakoniſch war er immer,
wie faſt alle Leute hevorragenden Könnens. Er trieb dieſe Kürze
des Ausdrucks gelegentlich bis zur Unverſtändlichkeit, und nur Ein-
geweihte konnten ihm in ſolchem Falle folgen. Ein Jugenderleb-
niß, von dem er gerne ſprach und das ihm ſo recht deutlich gezeigt
hatte, mit wie wenig Worten ſich durchkommen laſſe, ſchien eine
Nachwirkung auf ſein ganzes Leben ausgeübt zu haben. Als er
1791 über Schweden nach Petersburg reiſte, fand er an der
ruſſiſchen Grenzſtation Kymen einen ehemaligen ruſſiſchen Cor-
poral als Poſthalter vor. Schadow fror bitterlich und hatte
Hunger und Durſt. Er wußte kein Wort ruſſiſch und um ſich
ſo gut wie möglich zu introduciren, ſagte er bloß: Tottleben,
Tſchernitſcheff, Zarewna. Der Corporal antwortete: Belling,
Zieten, Fridericus Rex. So wurde mit Hülfe des ſiebenjährigen
Krieges Freundſchaft geſchloſſen. Man fand ſich und ſchüttelte
ſich die Hände. Der Ruſſe ſchaffte Speiſen und Thee herbei und
trat dann unſerm Schadow ſein Bett ab, das das einzige in der
ganzen Gegend war. Er hatte hier practiſch erfahren, daß es nur
darauf ankomme, das rechte Wort zu treffen! —


Voller Selbſtbewußtſein, war er doch frei von jeder klein-
lichen Eitelkeit. Ja, er erwies ſich nach dieſer Seite hin als eine
echte und große Künſtlernatur. Die Autobiographie, die er hinter-
laſſen hat, zeigt uns in erhebender Weiſe die Beiſpiele davon.
*)
[345] Nirgends ein Verkleinern Anderer, nirgends ein Vordrängen des
eigenen Ich, nirgends ein Verkennen oder wohl gar ein Grollen
über die Fortſchritte, die Zeit und Kunſt um ihn her gemacht
hatten. Selten mag ein Künſtler mit größerer Unbefangenheit
über ſeine Werke zu Gericht geſeſſen haben. „Es kann dies Denk-
mal Tauentziens — ſo ſchreibt er ſelbſt — nicht zu den Kunſt-
werken gezählt werden, die als Vorbilder dienen dürfen“,
und über die Statue Friedrich’s II. in Stettin, die von vielen
Seiten ſeinen beſten Arbeiten zugezählt und über das Rauch’ſche
Koloſſal-Werk geſtellt worden iſt, läßt er ſich ſelber in abwehrender
Weiſe vernehmen: „Ich zähl auch dieſe Arbeit nicht zu den ge-
lungenen; die Drapirung des Mantels war ein mühſeliges Unter-
nehmen.“ Von den Reliefs am Berliner Münzgebäude ſagt er in
heiterer Anſpruchsloſigkeit: „Wer dieſe Arbeiten als meine beſten
geprieſen hat, mag es vor ſich und vor der Welt verantworten.“


Solcher Ausſprüche finden ſich viele. Eine ungeheure Pro-
ductionskraft und eine bis in’s ſpäte Alter hinein dem entſprechende
Leichtigkeit des Schaffens machten ihn gleichgültig dagegen, ob
das ein’ oder andre ſeiner Werke verloren ging oder nicht.
Immer das Ganze vor Augen, war er nicht ängſtlich bei
jedem Einzelnen auf Ruhm und Unſterblichkeit bedacht, auch
wenn das Einzelne wirklichen Werth beſaß. Eine kleine
Anekdote mag das zeigen. Unter den vielen Statuetten, die
in ſeinem Zimmer auf Conſolen und Simſen umherſtanden, be-
fanden ſich auch die Modell-Figuren zweier Grazien, die er in
grüner Wachsmaſſe ausgeführt hatte. Es waren Arbeiten aus
ſeiner beſten Zeit, kleine Meiſterwerke, die mehr als einmal die
Bewunderung eintretender Künſtler und Kenner erregt hatten.
Durch eine Unvorſichtigkeit indeß waren während des Winters 1840
beide Figuren in die Nähe des Ofens geſtellt worden und hatten,
weil das Wachs an der Oberfläche ſchmolz, eine wie mit Pickeln
überſäte Haut bekommen. Ein Tauſendkünſtler aus der Scha-
dow’ſchen Bekanntſchaft erbot ſich, mit Hülfe von Naphta oder
Aether, die alte normale Schönheit wiederherzuſtellen. „Na, na,“
hatte der Alte kopfſchüttelnd abgewehrt, ſich aber ſchließlich doch
beſtimmen laſſen. Leider ſehr zur Unzeit, und in einem Zuſtande
merkwürdiger Schlankheit kehrten nach kaum acht Tagen die Aether-
[346] gebadeten in das Schadow’ſche Haus zurück. Der Alte ging
einen Augenblick muſternd und ſchmunzelnd um ſeine Lieblingsge-
ſtalten herum und ſagte dann ruhig zu dem erwartungsvoll Da-
ſtehenden: „Ja, de Pickeln ſind weg, aber de Pelle ooch.“ Wenige
hätten gleich ihm die Beherrſchung gehabt, mit einer humoriſtiſchen
Bemerkung von einer ſo werthvollen und allgemein als muſter-
giltig angeſehenen Arbeit Abſchied zu nehmen.


Ein ſolches, von einem leichten Humor getragenes Abſchied-
nehmen war nun freilich nicht immer ſeine Sache. Mußt’ es
ſein, wie in dem vorerzählten Falle, ſo fand er ſich darin; aber
freiwillig — nein. Auch hierfür ein Beiſpiel.


Einer ſeiner Schüler, der ſpätere Profeſſor F., hatte ſich durch
Ausführung einer ihm im Intereſſe Schadow’s übertragenen Ar-
beit die ganz beſondere Zufriedenheit des Alten erworben, ſo daß
dieſer in guter Laune ſagte: „Nu höre, F., nu könnteſt Du Dir
woll eijentlich ſo zu ſagen ne Gnade bei mir ausbitten. Na, ſage
mal, was möchtſt Du denn woll.“


„Ja, Herr Direktor …“


„Na, genire Dir nich. Sage man janz dreiſte ..“


„Ja, Herr Direktor, wenn Sie denn wirklich ſo viel Güte
für mich haben wollen, dann möcht ich Sie wohl um die beiden
kleinen Modellfiguren bitten die da oben ſtehen.“


„Um welche denn?“


„Um den alten Deſſauer und den alten Zieten.“


„J ſüh!. Höre F., Du biſt nich dumm. Aber ich werde
Dir doch lieber fünfundzwanzig Dhaler geben.“


Und ſo geſchah es.


Er war auch ein Repräſentant der berliner Ironie, der troſt-
loſeſten aller Blüthen, die der Geiſt dieſer Landestheile je ge-
trieben hat. Aber er war ein Repräſentant derſelben auf ſeine Weiſe.
Man hat, wenn ſolche Abſchweifung an dieſer Stelle geſtattet iſt,
dies ironiſche Weſen auf den märkiſchen Sand, auf die Dürre des
Bodens, auf den Voltairianismus König Friedrich’s II. oder auch
auf die eigenthümliche Miſchung der urſprünglichen berliner Be-
völkerung mit franzöſiſchen und jüdiſchen Elementen zurückführen
wollen, — aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Alles das mag eine
beſtimmte Form geſchaffen haben, nicht die Sache ſelbſt. Die Sache
[347] ſelbſt war Nothwehr, eine natürliche Folge davon, daß einer An-
ſammlung bedeutender geiſtiger Kräfte die großen Schauplätze des
öffentlichen Lebens über Gebühr verſchloſſen blieben. Das freie
Wort iſt endlich der Tod der Ironie geworden und wird es täglich
mehr. Zu Schadow’s Zeiten aber blühte ſie noch, und da es für
den Einzelnen immer mehr oder weniger unmöglich ſein wird,
ſich gegen einen die Geſellſchaft beherrſchenden Ton abzuſchließen,
ſo adoptirte denn auch Schadow dieſe Sprechweiſe, freilich erſt, nach-
dem er ſich dieſelbe nach ſeinen eigenen Bedürfniſſen zurecht gemacht
hatte. Er verſetzte ſie nämlich mit einem Element, von dem ſie
in der Regel wenig zu haben pflegt: mit humoriſtiſcher Derbheit,
und erzielte dadurch ein ganz eigenartiges Endreſultat.


Ein paar illuſtrirende Beiſpiele, herausgenommen aus einer
großen Zahl ähnlicher Anekdoten und Ueberlieferungen, mögen hier
Platz finden. Vom Profeſſor Stabfuß, der freilich alles Andre
eher war als ein Maler, pflegte der Alte lächelnd zu ſagen: „Ja,
der Stabfuß, der hat ſich det Malen angewöhnt,“ und einer Depu-
tation von Bildhauern, deren Geſammtheit ihm am Abend vorher
einen Fackelzug gebracht hatte, bemerkte er, ohne ſich groß auf
Dankesworte einzulaſſen: „Na, det hat euch woll viel Spaß ge-
macht.“ Verhaßt waren ihm alle diejenigen, die durch Unter-
würfigkeit und ſchöne Redensarten ausgleichen wollten, was ihnen
an Kraft und Können abging, und auf einſchmeichleriſche Geſuche
wie etwa: „der Herr Director könnten das ja mit Leichtigkeit
thun,“ pflegte er regelmäßig zu antworten: „Ja, dhun könnt’
ich et; aber ich dhu et lieber nich.“ Anmaßung und Dünkel ließ
er nicht aufkommen, auch da nicht, wo ein entſchiedenes Talent die
Aeußerungen der Eitelkeit allenfalls verzeihlich gemacht hätte.
Nahm er dergleichen wahr, ſo entſtanden Geſpräche wie das fol-
gende: Schadow: Haſte det alleene gemacht? Schüler: Ja
wohl, Herr Director. Schadow: Janz alleene? Schüler (faſt
beleidigt): Ja wohl, Herr Director. Schadow: Na, denn kannſt
Du Töpper werden. — Er hatte von ſolchen Ausdrücken und
Vergleichen eine ganze Scala zur Verfügung. Am niedrigſten
ſtand ihm der Zinngießer.


Nicht beſſer ging es denen, die als „Amateurs“ in Reih
und Glied eintreten und die Kunſt nebenbei erlernen wollten.
[348] Einem jungen Offizier, der talentirt war und aus „Liebhaberei
zu malen vorhatte, antwortete er trocken: „Ne, ne, Herr Leutnant.
Bleiben Se man lieber bei Ihr Mächen.“


Intereſſant war ſein Verhältniß zu Rauch. Es wurd ihm
nach dieſer Seite hin das Möglichſte zugemuthet, und ſelbſt die
bitterſten Gegner des alten Herrn — er hatte deren zur Genüge
— werden ihm das Zeugniß nicht verſagen können, daß er mit
einer ſelten anzutreffenden Charakterhoheit dem Aufgang eines
Geſtirns folgte, das beſtimmt war, die Sonne ſeines eigenen
Ruhmes, wenigſtens auf Decennien hin, mehr oder weniger zu
verdunkeln. Aeußerungen, die ich bereits im Allgemeinen gethan,
hab ich an dieſer Stelle noch im Beſonderen zu wiederholen. Kein
bitteres Wort, kein abſchmeckiges Urtheil kam über ſeine Lippe,
ſelbſt dann nicht, als die jugendlichere Kraft des Rivalen mit
Ausführung jenes Friedrichs-Denkmals betraut wurde, das einſt
ſein Tag- und Nachtgedanke und wie nichts andres in ſeinem Le-
ben der Gegenſtand ſeines Ehrgeizes und ſeiner höchſten künſtleriſchen
Begeiſterung geweſen war. Ueberall, wo wir dem Namen Rauch’s
in ſeiner (Schadow’s) Autobiographie begegnen, geſchieht es in
einem Tone unbedingter Huldigung. „Die Figur der Königin
zu Charlottenburg war ſein erſtes glänzendes Werk, ſo glänzend,
daß es merkwürdig bleibt, wie ſeine folgenden Werke jenes noch
übertreffen konnten.“ In ähnlicher Weiſe klingt es ſtets. Zum
Theil mochte das, was als neidloſe Beſcheidenheit erſchien, ein
Reſultat klugen Abwarten- und Schweigenkönnens ſein. Er wußte,
daß ſeine Zeit wiederkehren würde; ſprachen doch inzwiſchen ſeine
Werke für ihn. Wenig mehr als ein Menſchenalter iſt ſeitdem
verfloſſen und die Wandlung der Gemüther hat ſich vollzogen,
raſcher als er ſelbſt erwartet haben mochte. Die Zeit iſt wieder
da, wo das Grabmonument des jungen Grafen von der Mark in
der Dorotheenſtädtiſchen Kirche ruhmvoll und ebenbürtig neben
jenem ſchönen Frauenbildniß im Mauſoleum zu Charlottenburg
genannt wird, und der Marmorſtatuen Scharnhorſt’s und Bülow’s
kann nicht Erwähnung geſchehen, ohne daß gleichzeitig und mit
immer wachſender Pietät auf die Standbilder Zieten’s und Leo-
pold’s von Deſſau hingewieſen würde, die wir dem erfinderiſchen
Kopf und der muthigen Hand des Alten verdanken. Die Fach-
[349] leute zweifeln kaum noch, vor wem ſie ſich als vor dem größeren
zu beugen haben: Rauch hatte die geſchicktere Hand, aber Scha-
dow’s Genius war bedeutender, ſelbſtſtändiger. Er ſchritt voran
und brach die Bahn, auf der die Geſtalt des Andern, groß und
leuchtend und mit dem fliegenden Haar des Olympiers ihm folgte.


Es iſt nicht Abſicht dieſer Zeilen, den Charakter Schadow’s
nach allen Seiten hin zu zeichnen; aber ein Zug darf ſchließlich
nicht vergeſſen ſein, der entſchieden in das Bild des Alten gehört:
ſeine Loyalität, ſein Herz für Preußen und die Mark. Er lebte
durch ein volles halbes Jahrhundert hin als ein bevorzugter Liebling
des Hofes, aber es waren nicht dieſe Bevorzugungen und Aus-
zeichnungen, die ſeine Loyalität erſt ſchufen, vielmehr wurd er ein
Liebling, weil er ſich in ſchwerer Zeit als ein Mann von Herz
und Hand bewährt hatte. Er gehörte zu denen, denen gegenüber
das allgemein patriarchaliſche Verhältniß in dem die Hohenzollern
zu ihren Unterthanen ſtehen, den intimeren Charakter einer alten
Bekanntſchaft annimmt und zu einem Tone führt, in dem das
Element der Scheu von der einen und der Hoheit von der andern
Seite her in dem des Vertrauens völlig untergeht. Es giebt
vielleicht keine zweite Fürſtenfamilie, die ſolche beinah freundſchaftlichen
Verhältniſſe kennt, ſicherlich nicht in gleicher Zahl. An den
meiſten Höfen fehlt das Vertrauen, bei anderen laſſen Steifheit
und Formenweſen das Menſchliche nicht zu voller Geltung kommen.
Nur die Hohenzollern kennen jene wirkliche Humanität, die wie
der Zug ihres Herzens ſo das Glück ihres Volkes iſt.


Der alte Schadow war einer von denen, die wie langbewährte
Diener „mit zur Familie“ gezählt wurden, einer von denen, die
das ſüße Gefühl nicht ſtörten „wir ſind unter uns.“ Als er
Ende der dreißiger Jahre in’s Schloß ging, um bei Prinz
Waldemar, dem jüngeren Sohne des Prinzen Wilhelm, Unter-
richt zu geben, trat er gerad in das Zimmer als ſich zwei junge
Prinzeſſinnen lachend über den türkiſchen Teppich rollten; die Ge-
ſichter glühten und die Haarflechten hingen lang herab. Entſetzt
ſprangen ſie auf, warfen ſich aber ſofort wieder hin und tollten
lachend mit den Worten weiter: „’s iſt ja der alte Schadow.“


Als die Friedensklaſſe des pour le mérite geſtiftet wurde,
war es ſelbſtverſtändlich daß Schadow den Orden erhielt. Der
[350] König ſelbſt begab ſich in die Wohnung des Alten in der jetzigen
Schadow-Straße.


„Lieber Schadow, ich bring Ihnen hier den pour le mérite.


„Ach Majeſtät, was ſoll ich alter Mann mit’n Orden?“


„Aber lieber Schadow ..“


„Jut, jut, ich nehm ihn. Aber eine Bedingung, Majeſtät:
wenn ich dod bin, muß ihn mein Wilhelm kriegen.“


Der König willigte lachend ein und verzeichnete in dem
Ordensſtatut eigenhändig die Bemerkung, daß, nach des Alten
Tode, der Orden auf Wilhelm Schadow, den berühmten Director
der Düſſeldorfer Akademie, überzugehen habe. Wunſch des Vaters
und Verdienſt des Sohnes fielen hier zuſammen.


Die letzte Begegnung, die der Alte mit König Fr. W. IV.
hatte, war wohl im Herbſt 1848, wo der nunmehr Vierundachtzig-
jährige der Deputation angehörte, die von Berlin aus nach Potsdam
ging, um dem Königspaare zur ſilbernen Hochzeit zu gratuliren.
Als ihn der König ſah, ſchob er ihm einen Stuhl hin. „Setzen
Sie ſich, Papa.“ Der ganze Vorgang an die bekannte Scene
zwiſchen Friedrich dem Großen und dem alten Zieten erinnernd.


Durch das ganze Schaffen des Alten ging, wie ſchon angedeutet,
ein vaterländiſcher, ein preußiſch-brandenburgiſcher Zug.*) Dinge,
die ſich jetzt von ſelbſt zu verſtehen ſcheinen, hat er das Verdienſt,
völlig abweichend vom Hergebrachten, zuerſt gewagt und durch
charakteriſtiſch ſiegreiche Behandlung in die moderne Kunſt einge-
führt zu haben. Gegen die ausſchließliche oder auch nur vorzugs-
weiſe künſtleriſche Berechtigung des Vaterländiſchen, des alten-
fritzig Zopfigen, ſcheint er freilich allezeit ſtarke Bedenken unter-
halten zu haben, viel ſtärkere, als man geneigt ſein könnte bei
einem Manne anzunehmen, dem es vorbehalten war eben nach
[351] dieſer Seite hin epochemachend aufzutreten. Aber eben ſo wenig
wie er den Realismus ausſchließlich wollte, eben ſo wenig ver-
kannte er ſein Recht. Die alten, hergebrachten Formen reichten
für ein immer reicher und ſelbſtändiger ſich geſtaltendes Leben
nicht mehr aus. Er empfand das tiefer als Andere. Im Ein-
klang mit ſeiner ganzen Natur erſchien ihm die Kunſt nicht als
ein allein daſtehendes, einfach dem Schönheits-Ideal nachſtrebendes
Ding, vielmehr ſollte ſie dem wirklichen Leben in der Vielheit
ſeiner Erſcheinungen und Anſprüche dienen, um es hinterher zu
beherrſchen. Das Loslöſen der Kunſt vom lebendigen Bedürfniß
war ihm gleichbedeutend mit Tod der Kunſt. So entſtanden jene
Arbeiten, die unſer Stolz und unſere Freude ſind. Die Ausführung
deſſen, woran ſeine Seele zumeiſt gehangen hatte, des Friedrichs-
Monuments, blieb ihm freilich verſagt, als Beweis aber wie be-
ſcheiden und patriotiſch zugleich er ſeine Thätigkeit auffaßte, ſtehe
hier zum Schluß, was er ſelber bei Gelegenheit ſeines Zieten-
Standbildes ſchrieb: „Ein zwar weniger koſtbares, aber deshalb
nicht minder beachtenswerthes Zieten-Denkmal als das meinige, iſt
die Lebensbeſchreibung des alten Helden, die Frau v. Blumenthal
herausgegeben hat. Sie giebt in dieſem Buche das ausgeführte
Bild eines frommen und tapfern Soldaten, ſchildert den Geiſt
ſeiner Zeit und flößt, bei angenehmer Unterhaltung, die Liebe ein
zu König und Vaterland.“


So ſchrieb der Alte und ſo war er.


[[352]][[353]]

Groeben und Siethen.


Fontane, Wanderungen. IV. 23
[[354]][[355]]

Groeben und Siethen.


Ob klein, ob groß —

Allüberall daſſelbe Loos,

Und was das Leben hält und hat,

Hat aller Orten ſeine Statt.

Eines der wichtigſten Defilés aus dem Wittenbergiſchen in’s
Märkiſche war von alter Zeit her das Nuthethal, und von alter
Zeit her exiſtirten auch feſte Punkte, dieſes Defilé zu vertheidigen
beziehungsweiſe zu ſchließen. Unter dieſen feſten Punkten war das
am Mittellaufe des Flüßchens gelegene Schloß Beuthen von be-
ſondrer Wichtigkeit, daſſelbe Schloß Beuthen, das die Quitzow-
Anhänger gegen den Nürnberger Burggrafen hielten und an deſſen
Unterwerfung ſich der Sieg der Hohenzollerſchen Sache knüpfte.


Von dieſem ſeiner Zeit vielgenannten Schloß aus nehmen wir
heute, dem Flußlaufe folgend, unſeren Ausgang und erreichen ſchon
nach halbſtündigem Marſch eine mäßige Hügelhöhe, von der aus
wir zwei Seeflächen und zwei Dörfer überblicken: Groeben und
Siethen. Ein märkiſches Idyll. Aber auch ein Stück märkiſche
Geſchichte.


Beide Dörfer entſtanden ſehr wahrſcheinlich zu gleicher wendi-
ſcher Zeit, im Uebrigen jedoch erfreut ſich Groeben des Vorzugs,
um einige Jahre früher als Siethen und zwar bereits im Jahre
1352 in einer „im Lager vor Groeben“ ausgeſtellten Urkunde
Markgraf Ludwigs des Römers genannt zu werden. Es gehörte
damals der über den ganzen Teltow hin ausgebreiteten und be-
güterten Familie Groeben, die, nach der Sitte der Zeit, von
23*
[356] dieſem ihrem älteſten Beſitz her ihren Namen „von Groeben“
angenommen hatte. Nach 1352 aber in die Kämpfe des Deutſchen
Ordens mit verwickelt, entäußerte ſich die Groeben-Familie (von
der 20 Mitglieder in der Deutſch-Ritter-Schlacht bei Tannenberg
gefallen ſein ſollen) ihres märkiſchen Beſitzes und innerhalb dieſes
Beſitzes auch ihres Stammhauſes Groeben. Ihre Güter lagen von
dem genannten Zeitpunkt an öſtlich der Weichſel, und aus der
märkiſchen Familie dieſes Namens war eine preußiſche geworden,
die bei dem Orden zu Lehn ging.


I.
Groeben und Siethen unter den alten Schlabrendorfs.
Von 1416—1786.


Um 1416 gab es in Groeben und Siethen keine Groebens
mehr; an ihre Stelle waren die lauſitziſchen Schlabrendorfs getreten,
die ſich nach dem bei Luckau gelegenen Dorfe „Schlabrendorf“ nannten,
gerade ſo wie ſich die Groebens in voraufgegangener Zeit nach
dem im Teltow gelegenen Dorfe Groeben ihren Namen gegeben
hatten.


Aus den erſten zwei Jahrhunderten der Anweſenheit der
Schlabrendorfs in Groeben und Siethen wiſſen wir wenig von
ihnen. Es ſcheint nicht, daß ſie ſich hervorthaten, einen ausge-
nommen, Johann von Schlabrendorf, der in die geiſtliche Laufbahn
eintrat und in dem Jahrzehnte, das dem Auftreten Luthers un-
mittelbar voranging, zum Biſchof von Havelberg aufrückte. Wegen
ſeiner Vorliebe für die Prämonſtratenſer, behielt er die Tracht
derſelben bis an ſein Lebensende bei. „Es wird ihm nachgerühmt“,
ſo ſchreibt Lentz in ſeiner Stifts-Hiſtorie von Havelberg, „daß er
ein rechter Geiſtlicher geweſen, der fleißig in der Bibel geleſen und
ſeine horas canonicas ſelber abgewartet, auch mit ſeinen Canonicis
einen Vers um den andern dabei gebetet habe. Daneben hab’ er
auch auf ſeiner Burg zu Wittſtock als ein rechter Herr und Fürſt
[357] zu leben und einen convenablen Hofſtaat mit einem zahlreichen
Gefolge von Rittern und Edelknaben zu halten gewußt. Ebenſo
Koppeln und Meuten und einen wohlbeſetzten Marſtall. Ingleichen
auch hab’ er der Armen nicht vergeſſen und ſie mit Bier und Brot
allezeit reichlich verſorgt.“


So Lentz in ſeiner Stifts-Hiſtorie. Daß dieſer Biſchof aber
ſpeciell dem Hauſe zu Groeben entſproſſen geweſen, dafür ſpricht
mit großer Wahrſcheinlichkeit ein noch jetzt in der Groebener Kirche
befindliches Glasfenſter, das in ſeinem Obertheile die Biſchofs-
mütze ſammt zwei gekreuzten Biſchofsſtäben, darunter aber das
Schlabrendorf’ſche Wappen zeigt.


Aus dem Groebener Kirchenbuch.

Auf dieſes Vorerzählte beſchränkt ſich Alles, was wir durch zwei
Jahrhunderte hin einerſeits von den Schlabrendorfs ſelbſt, andrer-
ſeits von den ihren Hauptbeſitz bildenden Schweſterdörfern Groeben
und Siethen wiſſen, und erſt von 1604 ab, wo Paſtor Johannes
Thile I. in’s Groeben-Siethener Pfarramt eintrat und das ſeit
1575 beſtehende Kirchenbuch eifriger als ſeine Vorgänger zur Hand
nahm, um Aufzeichnungen darin zu machen, erſt von dieſem
Jahre 1604 an erfahren wir Eingehenderes aus dem Leben der
beiden Dörfer.


Um eben dieſer Aufzeichnungen willen, die — mit Ausnahme
der Schluß-Epoche des 30jährigen Krieges — durch alle Nachfolger
Johannes Thiles I. getreulich fortgeſetzt wurden, iſt denn auch das
Groeben-Siethener Kirchenbuch ein wahrer hiſtoriſcher Schatz und
für die Cultur- und Sittengeſchichte der Mark von um ſo größerem
Werth, als es im Ganzen genommen in unſrem Lande doch nur
wenige Kirchenbücher giebt, die bis 1604 zurückgehen. Es iſt ein
vollkommner Mikrokosmus, dem wir in dieſem alten, wurmſtichigen
und ſelbſtverſtändlich in Schweinsleder gebundenen Bande begegnen,
und alles was das Leben, und nicht blos das Leben einer kleinen
Dorfgemeinde, zu bringen vermag, das bringt es auch: Krieg und
Peſt und Waſſer- und Feuersnoth und Mißwachs und Mißgeburten.
Und daneben Unglück über Unglück, heut auf dem Groebener und
[358] morgen auf dem Siethener See. Fiſcher ertrinken, Brautzüge
werden vom Sturm überraſcht und in Winterdämmerung Verirrte
brechen ein in die kaum überfrorenen Lunen oder erſtarren in dem
zuſammengewehten Schnee. Dazu Mord und Brand, und Stäupung
und Enthauptung, und auf jedem dritten Blatte das alte Lied von
Ehebruch und „Illegitimitäten“ aller Art, an die ſich dann regel-
mäßig und wie das Amen in der Kirche die paſtoralen und meiſt
invectivenreichſten Verurtheilungen knüpfen. Aber immer im
Lapidarſtil.


Und nun möge das Kirchenbuch ſprechen:


Aufzeichnungen des Paſtors Johannes ThileI.*).

In dieſem Jahre 1609 iſt Herr Ernſt von Schlabrendorf,
Erbherr auf Groeben und Siethen, aus dieſer Zeitlichkeit ge-
ſchieden. Er war vermählt mit Urſula von Thümen, aus welcher
Ehe demſelben zwei Söhne geboren wurden: Joachim von
Schlabrendorf und Melchior Ernſt von Schlabrendorf. An
Melchior Ernſt kam Groeben und an Joachim kam Siethen, ſo
[359] daß wir von dieſem Jahre 1609 an zwei Schlabrendorf’ſche
Linien haben: eine Groeben’ſche und eine Siethen’ſche
.


1620 am 18. October hat der an der Nuthe wohnende Vogt
Hans Blume ſeinen Stiefvater Hans Möller mit einer Büchſe
erſchoſſen. Nachſchrift aus dem Jahre 1622. Selbiger Hans
Blume wurde von den Obrigkeiten zu keiner Strafe gezogen, viel-
mehr heimlich über die Grenze geſchafft. Er ging nun in den
Krieg nach Böhmen. Eh er aber nach Prag kam, ward er, nach
gerechter göttlicher Wiedervergeltung, auch erſchoſſen. Hat alſo in
ſeinen Sünden hinſterben müſſen. Ach, weh der armen Seele.


1621 am 28. October iſt in unſrer Nachbarſchaft (auf Schloß
Beuthen) ein Sohn geboren worden. Dieſes Kind hat, salva
venia,
keinen podicem gehabt, ſo daß es ſeiner natürlichen
Functionen unfähig geweſen iſt. Wonach Meiſter Hans Meißner,
Bader zu Trebbin, mit dem Meſſer den podicem hat öffnen
müſſen. Und iſt durch Gottes Segen gut geworden und hat
einen podicem gehabt. Wie wunderbar handelt Gott mit uns
Menſchen!“


1629 hat Ihre Churfürſtliche Hoheit Dero Küchenmeiſter in
Königsberg in Preußen aufhenken laſſen.


1631 ſtarben in Groeben und Siethen 126 Menſchen an
der Peſt.


1632. Bis zu dieſem Jahre bin ich, Johannes Thile, 300
Mal zu Gevatter gebeten worden.


1633 wurde das 1598 geſtiftete Uhrwerk reparirt.


1634 den 25. März ſind Wiprecht Erdmanns Tochter Urſula,
Martin Schmidts Tochter Urſula und Hans Bethekes Stieftochter
Urſula in einem Kahn ſpazieren gefahren und als der Wind kam,
auf den See getrieben worden. Wobei die zwei erſten ertrunken
und zu Groeben Beide in ein Grab gelegt worden ſind.


Nach dieſem Jahre (1634) hören die Mittheilungen, wie ſchon
angedeutet, auf ganze Jahrzehnte hin auf und werden erſt in den
ſiebziger Jahren wieder aufgenommen.


[360]
Aufzeichnungen der Paſtoren Friedrich Zander,
Felician Clar (auch Clarus) und Heinrich
Wilhelm Voß
.

1673 den 5. November iſt Anna Muliſch, die ſchon mehrere
Kinder außer der Ehe gehabt, von mir getraut worden. Und
dieſer „Schandſack“ hat ſich in einem Kranze zur Kirche führen laſſen.


1674 am 18. December iſt Urſula Lehmann enthauptet
worden, weil ſie das mit ihrem Schwager erzeugte Kind in’s
Waſſer geworfen.


1675 am 3. Auguſt iſt Andreas Fritze, Weinmeiſter hierſelbſt,
begraben worden, der ein heftiges Gewächs gehabt hat, eines
Viertels vom Scheffel groß, ſo ihm hinten am Halſe gehangen.
Iſt aber doch 84 Jahr alt geworden.


1679 am 27. März ſind auf unſerer Feldmark zwei Soldaten
begraben worden, welche den Tag vorher mit ihrer Compagnie
hier einquartirt geweſen. Sie konnten keine Särrker (Särge) be-
kommen, weil ihnen ihre Kameraden nichts gelaſſen hatten als
alte Lumpen, welche denn auch ihr Sterbekleid bleiben mußten.


1697. In dieſem Jahr iſt der Moskowitiſche Czar Peter
bei Sr. Churf. Durchlaucht geweſen.


1717. Hoc anno celebratum est jubilaeum evangelico-
Lutheranum. Math.
22, 5.


1726 wurde wieder eine Kindesmörderin hingerichtet.


1727 ſtarb Felician Clar, der 40 Jahr in Groeben Paſtor geweſen.


1729 wurde Botho Müller wegen Gottesläſterung durch den
Henker ausgepeitſcht und nach Spandau condemnirt.


1738 am 15. April iſt Marie Eliſabeth — Chriſtoph Penſelins,
geweſenen Caſtellans zu Rheinsberg, Wittwe — hier angekommen
und hat einen Sohn zur Welt gebracht. Vater ſoll ſein Georg
Ludwig Schreiber, Gärtnergeſell in Rheinsberg.


1738 am 21. November wurde dem Andreas Fauſten ein
Söhnlein geboren. Das Kind hatte an ſeiner Naſenſpitze ein
Gewächs und von der Oberlippe war faſt nichts zu ſehen. In-
gleichen hatte es an jedem kleinen Finger einen Zipfel. Nota
bene.
Der Mann hatte ſeine Frau mit dem Knecht beſchuldigt,
worauf dieſe geſaget: „wenn das wahr iſt, ſo gebe Gott ein
[361] Zeichen an dem Kinde“. Drei Stunden nach der Geburt iſt es
verſtorben.


1741 am 10. April hat Herr Johann Chriſtian v. Schlabren-
dorf
, K. preuß. Lieutenant, in der an dieſem Tag um 1 Uhr
Nachmittags zwiſchen Brieg und dem Dorfe Mollwitz vorgefallenen
ſcharfen Aktion, durch einen Musketen-Schuß, ſo ihn durch den
Kopf getroffen, das Ende ſeines Lebens gefunden, nachdem er ſein
Alter gebracht auf 29 Jahr nnd 4 Monat.


1743 am 12. November hat ſich Guſtav Albrecht von
Schlabrendorf, Erb- und Gerichtsherr auf Groeben und K. preuß.
Hauptmann im Dragoner-Regiment des Herrn Generalmajors
v. Roëll zu Tilſit in Preußen vermählt und zwar mit Fräulein
Chriſtiane Amalie Erneſtine v. Roëll, Tochter obengenannten
General-Majors.


Auf den nächſten Blättern erfolgt nun die Regiſtrirung der
Kinder, die dem Hauptmann Guſtav Albrecht v. Schlabrendorf
aus dieſer ſeiner Ehe geboren wurden. Alle dieſe Geburten und
Taufen fanden in Tilſit und Inſterburg ſtatt, wo das Roëll’ſche
Dragoner-Regiment in Garniſon lag, aber das Groebener Kirchen-
buch ermangelte nicht auch ſeinerſeits darüber zu berichten und
ſogar die jedesmaligen Pathen aufzuführen: den König, Prinz
Heinrich, Prinz Ferdinand, Prinz Ferdinand v. Braunſchweig u. ſ. w.
Aus eben dieſen Aufzeichnungen erfahren wir auch von dem je-
weiligen Avancement Guſtav Albrechts v. Schlabrendorf. Im Be-
ginn des ſiebenjährigen Krieges war er Obriſtlieutenant, ritt mit
in der berühmten Attacke bei Zorndorf und empfing überhaupt
23 Wunden. Er ſtarb ſpäter als General in Breslau. Bei
Gelegenheit ſeines Todes komme ich auf ihn zurück.


1751 am 31. März iſt Eva Pipers uneheliches Kind getauft
worden. Der Vater iſt Martin Meene, ein lauſiger junger
Flegel.


1752 am 25. Julius iſt die Chriſtiane Mirtzen, ein Schand-
ſack, mit Zwillingen [niedergekommen]. Der Vater iſt der Schäfer-
knecht Michel Pohlmann, ein Erz-Ehebrecher. Gleich zu gleich ge-
ſellt ſich gern.


1754. In dieſem Jahre, d. h. in der Zeit vom 23. Sonn-
tage nach Trinitatis 1753 bis Oſtern 1754, hat die Viehſeuche
[362] hier ſo gewüthet, daß alles Vieh, jung und alt, hingefallen und
keiner was behalten, ausgenommen der Prediger 3 Stück und
der Küſter 5 Kühe. In der ganzen Zeit iſt dieſer Ort einge-
ſperrt worden.


1755. In dieſem Jahre hat allhier, wegen des überhand
genommenen großen Waſſers, kein Heu können gemäht werden,
und ſind aus eben dieſer Urſach auch beide Erndten gar ſchlecht
ausgefallen.


1755 am 21. Juni war ein entſetzliches Unwetter mit Feuer-
ſchaden, und nur das große Wohnhaus des adligen Hofes iſt
gerettet worden.


1757 am 29. December iſt der Weinmeiſterknecht Martin
Hintze mit der Dorothea Harnack getrauet worden. Erzbube mit
Erzdirne.


1760 am 11., 12. und 13. Oktober iſt Groeben von einigen
herumſchweifenden Oeſtreichern, nebſt etlichen von der Reichsarmee,
heimgeſuchet worden. Bei welcher Gelegenheit dieſer Ort nicht
allein an 700 Thlr. Brandſchatzung hat geben müſſen, ſondern
ſind auch noch die Einwohner geplündert und ihnen ihre Pferde
weggenommen worden. Desgleichen iſt auch die Kirche und das
Pfarrhaus nicht verſchont geblieben. In erſterer iſt der Kirchkaſten
aufgebrochen und das darin von etwa 4 Jahren her befindliche
Klingebeutelgeld geraubt worden. In dem Pfarrhauſe haben ſie
Jegliches unten und oben umgewühlt wodurch dem Prediger über
250 Thlr. Schaden verurſacht worden. Gott behüt’ uns vor
fernerem Einfall und Räuberhaufen.


An anderer Stelle: „Dieſe grauſamen Menſchen haben mir
und den andern Einwohnern dieſes Orts nichts als das Hemd
auf dem Leibe gelaſſen und haben auch aus dem Gotteskaſten das
vorhandene Kirchgeld mit weg geraubt. O tempora, o mores.


1761 am 7. Oktober hat ſich der Koſſäthe Chriſtian Krüger,
zwiſchen 3 und 4 Uhr Morgens, aus eingewurzelter Melancholie
und Gemüthsſchwachheit in ſeinem Garten an einem Birnbaum
mit einem Strick erwürget. Er iſt in der Stille, aber auf eine
ehrliche Art begraben worden. Gott bewahre jeden vor ſolchem
desperaten Weg aus der Zeit in die Ewigkeit.


[363]

1762 vom 7. bis 10. Mai hat es ſo ſtark gefroren, daß alle
Weinberge hier herum erfroren ſind.


1765 den 26. Oktober, in der Nacht gegen 12 Uhr, iſt in
Breslau der weiland hochwohlgeborene Herr Guſtav Albrecht
v. Schlabrendorf
, Sr. K. M. in Preußen wohlbeſtallter General-
major von der Cavallerie und Chef eines Regiments Cüraſſier,
Erb- und Gerichtsherr zu Groeben, Jütchendorf und Waßmanns-
dorf, nachdem er dem hohen K. Hauſe 41 Jahr und 11 Monate
rühmlichſt gedient und ſein Alter auf 61 Jahre 10 Monate und
4 Tage gebracht hat, ſelig in dem Herrn entſchlafen, und darauf
den 10. December c. a. von Breslau nach Groeben gebracht und
in dem hochadlichen Erbbegräbniß hierſelbſt beigeſetzt worden. Der
Verluſt dieſes würdigen Mannes und wahren Menſchenfreundes,
wird von dem ganzen löblichen Regiment und von allen Denen,
welche den Wohlſeligen und deſſen rühmliche Eigenſchaften und
hohen Charakter gekannt haben, aufrichtig bedauert.


Mit dem Tode Guſtav Albrechts von Schlabrendorf, der,
wiewohlen er erſt in Preußen und dann in Schleſien in Garniſon
ſtand, auch aus der Ferne her ein gut Regiment geführt zu haben
ſcheint, gerieth alles in einen raſchen Verfall. Das der Neben-
linie gehörige Siethen ging darin freilich voran, aber auch Groeben
folgte bald. Auf den nächſten Blättern des Kirchenbuchs werden
wir ausgiebig darüber unterrichtet und zwar durch Aufzeichnungen
des Paſtors Redde, der 1769 in’s Amt kam und ſich’s angelegen
ſein ließ, ſeine verurtheilenden Sentenzen ohne Menſchenfurcht in
ſeine Todten-, Tauf- und Trau-Regiſter einzutragen. Nur für
die Nicht-Schlabrendorfs hat er noch gelegentliche Worte der
Huldigung, ſo daß Anerkennung und Verurtheilung in ſeinen
Aufzeichnungen wechſeln.


Aufzeichnungen des Paſtors Redde.

1771 am 3. Januar iſt hier zu Groeben der Hochwohlge-
borene Herr Charles Guichard, genannt Quintus Icilius,
im Kriege geweſener Chef eines Freibataillons Sr. K. Majeſtät
in Preußen, jetzo K. Obriſtlieutenant bei ſeiner Suite, mit dem
[364] Hochwohlgeborenen Fräulein Henriette Helene Albertine v. Schlab-
rendorf
, des weiland Herrn Guſtav Albrecht v. Schlabrendorf,
königlichen Generalmajors nachgelaſſener Tochter, getraut worden.
Alter 43 und 24.


1774. Eliſabeth Habedank ſtarb an Würmern.


1774 am 17. November iſt ein ſechs Monat altes Kind
außer der Ehe todtgeboren und danach obduciret worden. Ich
bewahre das Herz desſelben in Spiritus und überlaß es meinem
Nachfolger, daraus die Reſultate zu ſeiner Pflicht zu ziehn.


1775 am 13. Mai ſtarb in Potsdam der Hochwohlgeborene
Herr Charles Guichard, genannt Quintus Icilius, Sr. Königl.
Majeſtät Wohlbeſtallter Oberſter von der Infanterie und Adjutant
bei Dero Suite, nach einem zweitägigen Krankenlager an einer
Kolik und Inflamation, nachdem er mit ſeiner Gemahlin, der
Hochwohlgeborenen Frau Henriette Helene Albertine geb. v. Schlab-
rendorf, aus dem Hauſe Groeben, beinah 4½ Jahr in der Ehe
gelebt und mit derſelben eine Tochter und einen Sohn, mit Namen
Friedrich Quintus Icilius gezeuget.


Er war ein Herr, der in dieſem Jahrhundert ſeines Gleichen
nicht gehabt, noch haben wird, und ein Jeder, der ſeine Geburt,
Wiſſenſchaften und Ehren bedenket, muß ſagen: Er hat große
Dinge an ihm gethan, der da mächtig iſt, und Deß Name heilig
iſt. Seine Eltern waren bürgerlichen Standes zu Magdeburg,
woſelbſt ſein Vater das Amt eines Syndicus bei der franzöſiſchen
Colonie bekleidete. In ſeiner Jugend widmete er ſich der Gelehr-
ſamkeit und ſtudirte zu Halle Theologie, danach auch auf einigen
holländiſchen Univerſitäten und predigte mehrere Mal zu Marburg
und Heilbronn. Zu gleicher Zeit erwarb er ſich Kenntniß in den
Antiquitäten und nützte dieſe zur Explication des Kriegs-Weſens
der Alten, ſonderlich der Griechen und Römer. Wie viel er darin
vermocht, bezeugen unter anderm ſeine Schriften über die Taktik
der Alten und ſein Commentar über den Julius Caeſar. Eine
natürliche Folge ſeines Geſchmacks am Militair und ſeiner Kenntniß
deſſelben, war es, daß er ſich dieſem Stande widmete. Zuerſt
trat er in holländiſche Dienſte. Bei Beginn des letzten Krieges
aber ward er von Sr. Majeſtät in Preußen, ſo ſeine Bücher über
Taktik geleſen, ins Lager und zur Armee berufen. Hier war er,
[365] ſoweit es der Krieg geſtattete, beſtändig um und an der Seite des
Königs, der an ihm einen Mann zu ſeinem Umgang und Ver-
gnügen fand, einen Mann, den er als Soldaten und Philoſophen
und zugleich auch in politicis jederzeit gebrauchen konnte. Kurz
er war der Favorit unſeres großen Monarchen, und kein Tag
verging, an dem er nicht um ihn geweſen wäre. So weit man
Friedrichs Namen kannte, ſo weit kannte man auch den des
Quintus Icilius, mit welchem Namen ihn der König ſelbſt be-
ehret hatte.*)


Wer Alexander ehrte, der ſah auch freundlich auf Hephäſtion,
und als Quintus Icilius ſeinen Commentar zum Julius Caeſar
an Kaiſer Joſeph überreicht hatte, ward ihm ein Gegengeſchenk:
ein rothes Etui mit 22 goldnen Medaillen, auf deren jeder das
Bildniß eines Mitgliedes der kaiſerlichen Familie befindlich war.
Alles in einem Geſammtwerth von mehr als 1000 Thaler.


Sein Körper ward auf Befehl des Königs, der den Sitz der
[366] Krankheit und die Todesurſach erfahren wollte, geöffnet und danach
erſt hierher nach Groeben gebracht, allwo der Sarg unter dem
Kirchenſtuhle, darin die Predigers Frau ihren Sitz hat, beigeſetzt
wurde.


Charles Guichard war am 27. September 1724 geboren
und 18 Jahre lang in Königs Dienſten geweſen. Sein Alter
hat er folglich gebracht auf fünfzig und ein halbes Jahr. Sein
moraliſcher Charakter war gutthätig und freundlich gegen ſeine
Nächſten, ohne Hochmuth und Geiz, übrigens aber von deiſtiſchem
Glauben.


1778 am 14. April ſtarb zu Berlin Joachim Ernſt
v. Schlabrendorf auf Siethen Lehns- und Gerichtsherr. Nachdem
derſelbe ſein Gut über den doppelten Werth hinaus verſchuldet
und ſelbiges endlich ſeinen Creditoribus zur Adminiſtration und
Sequeſtration überlaſſen, auch ſeine Mobilien an die Meiſtbietenden
öffentlich verkauft hatte, hatte ſich derſelbe vor etwa anderthalb
Jahren mit Frau und Tochter nach Berlin begeben. Und eben
daſelbſt iſt er denn auch, der ſich von jeher bis an ſein Ende mit
nichts als Intriguen und Liſten zu ſeinem großen Schaden be-
ſchäftigt hatte, 63 Jahre alt an der Lungenentzündung geſtorben.
Er war auf dem ehemalig Schlabrendorfſchen Gute Blankenſee ge-
boren, klein von Statur und hageren Leibes, und hat in ſeiner
Jugend einige Zeit auf Schulen und Univerſitäten zugebracht.
Alles was er von daher profitiret, wandte er an, um Anderen
Uebles zu thun, aber freilich immer zu ſeinem eigenen Verderben.
Vor den Augen und inſonderheit vor Leuten, die ſeine Schliche
noch nicht kannten, erſchien er als ein Biedermann in Worten
und Mienen, und war kein chriſtlicherer und ehrlicherer und treu-
herzigerer Mann als er in der ganzen Welt zu finden. Er zeigte
ſich dann immer ohne Stolz des Adels, dienſtfertig gegen alle
Menſchen, frei, munter und offenherzig, und inſonderheit milde gegen
alle Bedürftigen. Aber dies Alles nur um zu blenden und Ver-
trauensſelige zu finden, deren Vertrauen ihm dann eine gute Ge-
legenheit bot, das Vermögen von Kirchen, von Wittwen und armen
Leuten an ſich zu reißen. Alle diejenigen jedoch, die ſich nicht
blenden und zu ſeinem Dienſte nicht wollten gebrauchen laſſen,
die wußt’ er mit allen Mitteln zu verfolgen und ihnen zu ſchaden
[367] überall. Und ſo konnt’ es denn freilich nicht ausbleiben, daß ihm
der Haß aller rechtſchaffenen Leute zu Theil wurde, wozu ſich als-
bald der Niedergang in ſeiner Wirthſchaft und Haushaltung und
zuletzt der vollkommenſte Bankrutt geſellte, ſo daß er Siethen
unter den kümmerlichſten Umſtänden aufgeben mußte. Zurück läßt
er eine ſeit Jahren kranke Frau, ſammt einer Tochter, ſo ihrem
Vater ähnlich iſt. Vor einigen Jahren zeugete er mit einigen
Mägden in ſeinem Hauſe noch einige Kinder, und ergab ſich endlich
dem Trunke zur Stärkung und Erfriſchung ſeines Leibes und
Gemüths-Charakters.*)


[368]

1779 am 23. Januar ſtarb in Siethen, wohin ſie zurückge-
kehrt war, Frau Sophie Margaretha, verwittwete v. Schlabren-
dorf, des Vorgenannten Ehefrau, 56 Jahre alt, an einer viel-
jährigen Schwindſucht und in der armſeligſten Verfaſſung. Sie
war eine Tochter des Herrn Chriſtian Julius v. Bülow aus dem
Hauſe Lüchfeld in der Grafſchaft Ruppin.


Nachſchrift. Einige Jahre nach ihr ſtarb auch, und zwar
ebenfalls zu Siethen, der Letzteren Bruder, Karl Chriſtoph
Friedrich v. Bülow aus dem Hauſe Lüchfeld. Er war in früheren
Jahren, als bei ſeinem Schwager und ſeiner Schweſter noch
Wohlleben war, ein Nimrod, ein gewaltiger Jäger vor dem
Herrn geweſen. Und es beweiſet ſolches noch der Siethenſche
Thurmknopf, den er mit der Kugelbüchſe vielmals durchſchoſſen
hat und an dem die Löcher noch ſichtbar ſind. Er war geboren
den 23. Nov. 1711, beſaß einen dauerhaften Körper, wurde vor
einigen Jahren blind, und wohnte zuletzt arm und elend in einem
Tagelöhnerhauſe. Starb an Entkräftung.


1783 am 1. Mai ſtarb zu Potsdam die Hochwohlgeborene
Frau und Wittwe Henriette Helene Albertine v. Schlabrendorf
aus dem Hauſe Groeben, verwittwete Quintus Icilius an einem
Frieſel und 12tägigem Lager, und ward am 3. ſelbigen Monats
in der Gruft ihres ſeligen Gemahls, unter dem Kirchenſtuhle der
Predigersfrau früh um 4 Uhr beigeſetzt. Aetate 36 Jahr.


1784 am 21. Januar ſtarb in Siethen die Wittwe Maria
Catharina Schumann geb. Ebel aus Blankenſee, geboren den
10. Januar 1681. Brachte dergeſtalt ihr Leben auf 103 Jahr.


1785 am 11. Dezember ſtarb die verwittwete Maria Eliſabeth
Spiegel. Sie war vordem das Sünden-Inſtrument des verſtor-
benen von Schlabrendorf zu Siethen, der im Alter noch Chriſtum
verwarf. Starb elend.


1786 iſt wieder der Groebner See mit ſeinem Eis nicht
ſicher geweſen; aber der Siethner iſt über und über unſicher, weil
er voll warmer Quellen iſt. Seit meinem 19jährigem Hierſein
ſind nunmehr 10 Perſonen im Waſſer verunglückt.


1786 am 28. April wurde des Hirten Frau zu Siethen,
Maria Dorothea Ebel, glücklich entbunden. Die Mutter der
[369] Frau rief aber: „Was haſt Du für ein Kind zur Welt gebracht!“
Auf welchen Zuruf die junge Mutter ſofort vom Schlag gerührt
wurde. Das Kind ſelbſt war geſund und wohlgebildet.


II.
Groeben und Siethen unter den neuen Schlabrendorfs.


Die vorſtehenden Auszüge ſchließen mit dem Jahre 1786.


In eben dieſem Jahre war auch Groeben — wie Siethen
ſchon acht Jahre früher — der alten Schlabrendorfſchen Linie
verloren gegangen, aber nur um im Gegenſatze zu Siethen, das
auf Jahrzehnte hin der Familie verloren blieb, unmittelbar auf
eine andere, jüngere Linie der Schlabrendorfs überzugehen.


Eine Klarſtellung dieſer Punkte fordert einen kleinen genealo-
giſchen Excurs.


Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die Groebenſchen
Schlabrendorfs
, die bis dahin, den Biſchof abgerechnet, in
unſrer Landesgeſchichte von nicht ſonderlicher Bedeutung geweſen
waren, einen Aufſchwung genommen und zwar in dem Brüder-
paare: Guſtav Albrecht v. Schlabrendorf und Ernſt Wilhelm
v. Schlabrendorf.


Des erſteren (Guſtav Albrecht) iſt in Vorſtehendem bereits
ausführlich Erwähnung geſchehen. Er war, um in Kürze zu
recapituliren, einer der Helden des ſiebenjährigen Krieges, com-
mandirte bei Zorndorf das Alt-Platenſche Dragoner-Regiment und
wurde ſpäter Generalmajor und Chef der zu Breslau garniſoniren-
den Cüraſſiere. Nach ſeinem 1765 erfolgtem Ableben ward er
nach Groeben übergeführt und in der Kirche daſelbſt in unmittel-
barer Nähe des Altars beigeſetzt. Es würde nun dem einen oder
andern ſeiner überlebenden drei Söhne zugeſtanden haben, auf
dem alten Familiengute ſich niederzulaſſen, alle drei jedoch zogen
den Dienſt und ihre ſtädtiſchen Garniſonen einem Groebner Auf-
enthalte vor und einigten ſich unſchwer dahin, ein ihnen aus mehr
als einem Grunde wenig begehrenswerth erſcheinendes Beſitzthum
Fontane, Wanderungen. IV. 24
[370] an einen ſchleſiſchen Vetter, einen Sohn des vorgenannten Ernſt
Wilhelm
v. Schlabrendorf abzutreten.


Dieſer Ernſt Wilhelm von Schlabrendorf nun, ein jüngerer
Bruder Guſtav Albrechts, hatte ſich, während dieſer in der Armee
von Stufe zu Stufe ſtieg, im Staatsdienſte zu der hohen Stel-
lung eines dirigirenden Miniſters von Schleſien emporgeſchwungen
und blieb in dieſer bis zu ſeinem 1770 erfolgenden Tode. Von
ſeinen fünf Söhnen*) ſtellten ſich die vier älteſten um nichts
günſtiger zu der Beſitzergreifungs-Frage von Groeben als ihre
drei Guſtav Albrechtſchen Vettern und nur der jüngſte, dem, wie
wir in der Folge ſehen werden, ein gewiſſer romantiſcher Zug
innewohnte, zeigte ſofort eine Neigung, das alt-ſchlabrendorfſche
Familien-Gut auch bei den Schlabrendorfs erhalten zu ſehn. Und
ſo bracht’ er es käuflich an ſich.


[371]
Heinrich Graf Schlabrendorf.

Dieſer jüngſte Sohn Ernſt Wilhelms, des dirigirenden
Miniſters von Schleſien, war Heinrich von Schlabrendorf, der
in demſelben Jahre 1786, in dem er Groeben käuflich an ſich ge-
bracht, auch den Grafentitel erhalten hatte. Seine Mutter war
ein Fräulein von Otterſtedt, während ſeine drei älteſten Brüder,
und unter ihnen Graf Guſtav „der Pariſer Graf“, aus der erſten
Ehe ſeines Vaters mit einem Fräulein von Blumenthal geboren
waren.


Graf Heinrich trat früh in das Regiment Czettritz-Huſaren,
die jetzigen braunen oder Ohlau’ſchen Huſaren, und machte als
junger Officier die Bekanntſchaft eines durch Schönheit, Geiſt
und Wiſſen ausgezeichneten Fräuleins von Mütſchephal, deren
Vater in demſelben Huſaren-Regiment ein oberes Commando be-
kleidete. Dieſe Bekanntſchaft führte bald zu Verlobung und Ver-
mählung; um welche Zeit indeß, iſt nicht mit Beſtimmtheit er-
ſichtlich. Erſt um 1792, alſo ſechs Jahre nach Ankauf von Groeben,
wurde das älteſte Kind geboren, und abermals zwei Jahre ſpäter
(1794) ein Sohn: Graf Leopold von Schlabrendorf.


Es war wohl keine Neigungsheirath geweſen, wenigſtens nicht
von Seiten des Fräuleins, und ſo wurden aus Geſchmacks- und
Meinungs-Verſchiedenheiten alsbald Zerwürfniſſe. Man mied ſich,
und wenn der Graf in Groeben war, war die Gräfin in Berlin
und umgekehrt. Aber auch in dieſem ſich Meiden empfanden beide
Theile noch immer einen Zwang und ihre Wünſche ſahen ſich erſt
erfüllt, als gegen Ende des Jahrhunderts aus der blos örtlichen
Trennung auch eine geſetzliche geworden war. Der Sohn verblieb
dem Vater, die Tochter folgte der Mutter, welche letztere, noch
eine ſchöne Frau, bald danach einem thüringiſchen Herrn von
Schwendler ihre Hand reichte. Doch auch Graf Heinrich ver-
mählte ſich bald wieder und zwar mit einem Fräulein von Meklen-
burg, aus welcher Ehe demſelben abermals eine Tochter: Gräfin
Johanna von Schlabrendorf, geboren wurde.


24*
[372]

Dies war 1803, am 22. April, nachdem bereits einige Zeit
vorher das nur etwa 15 Jahre lang in erneutem Schlabrendorf-
ſchen Beſitz geweſene Groeben in nunmehr völlig fremde Hände,
die des Ober-Rechnungsrathes Schmidt übergegangen war. Es
blieb freilich auch dieſem nicht, kehrte vielmehr, wie gleich hier be-
merkt werden mag, nach Ablauf einer beſtimmten Friſt (und dann
einige Jahre ſpäter auch Siethen) ein drittes Mal in den Be-
ſitzſtand der Schlabrendorf’ſchen Familie zurück, eh ich jedoch die
zu dieſer dritten und letzten Schlabrendorf’ſchen Guts-Uebernahme
führenden Verhältniſſe ſchildere — Verhältniſſe, daran Graf
Heinrich, trotzdem er damals noch lebte, nicht mehr betheiligt
war — verſuch’ ich es zuvor dem Lebensgange des Grafen einzig
und allein im Hinblick auf ſeine Perſon einen Abſchluß zu geben.


Unmittelbar nach dem Verkauf des Gutes, war er nach
Berlin überſiedelt, um daſelbſt ſeinen oft wechſelnden, im Uebrigen
aber immer harmloſen Paſſionen leben zu können. Von Erfüllung
eigentlicher ihm nahe liegender Pflichten, beiſpielsweis auf dem
Gebiete der Erziehung, war dabei wenig die Rede, ſolche Pflicht-
Erfüllungen fanden nur ſtatt, wenn die Paſſionen, was gelegentlich
vorkam, damit zuſammenfielen.


Ueber die Dauer ſeines Berliner Aufenthalts ſind nur Muth-
maßungen geſtattet; er fand nicht, was er ſuchte, langweilte ſich
inmitten aller Zerſtreuungen, oder erkannte ſie wenigſtens nicht
als angethan, ihn alle damit verbundenen Unbequemlichkeiten ver-
geſſen zu laſſen. Und ſo wandt’ er ſich denn einer neuen Paſſion
zu, der Reiſe-Paſſion, und beſtändiger Ortswechſel wurd’ ihm
Lebensbedürfniß. Aber auch hierin verfuhr er abweichend von
Andern und anſtatt ſich auf Alpen-Touren oder Weltfahrten ein-
zulaſſen, wozu wenigſtens Anfangs die Mittel vorhanden geweſen
wären, gefiel er ſich darin, Entdeckungsreiſen zwiſchen Oder und
Elbe zu machen und in praxi märkiſche Heimathskunde zu treiben.


Aber freilich auch dieſe Reiſe-Periode ſchloß ab, und wahr-
nehmend, daß er die gewünſchte Raſt in der Unraſt nie finden
werde, beſchloß er probeweiſe den umgekehrten Weg einzuſchlagen
und die Ruhe ganz einfach in der Ruhe zu ſuchen. Er fing des-
halb an auf Hausſtand und ſelbſtſtändige Wirthſchaftsführung zu
verzichten und ſich ſtatt deſſen bei kleinen Familien auf dem Lande,
[373] denen ſein Rang und ſein Vermögen imponiren mochte, für länger
oder kürzer in eine halb freundſchaftliche halb patroniſirende Penſion
zu geben. In der Neumark, in Pommern, in Mecklenburg, über
all wiederholten ſich dieſe Verſuche, bis er endlich in dem ihm
ebenbürtigen und aus alter Zeit her befreundeten General von
Thümen’ſchen Hauſe zu Caput ein Ideal und die Verwirklichung
aller ſeiner Wünſche fand. Es kam dies daher, daß der alte
General v. Thümen, auch ein Original, ihn ruhig gewähren ließ
und immer nur befliſſen war, „ihm ſeine Kreiſe nicht zu ſtören“
Beide lebten denn auch ein ebenſo kameradſchaftliches wie zwang-
loſes Leben, in dem jeder ſeiner Luſt und Laune nachhing und
kein andres Haus- oder Tages-Geſetz anerkannte, wie rechtzeitiges
Erſcheinen am Mittags- und Abends am Boſton-Tiſch.


In Caput war es denn auch, daß Graf Heinrich ſeine Tage
beſchloß: eh ich aber von dieſem ſeinem Ausgang erzähle, verſuch
ich vorher noch eine Charakter-Skizze.


Graf Heinrich hatte den Schlabrendorf’ſchen Familienzug,
oder doch das was damals als ſchlabrendorfiſch galt, im Extrem.
Er übertraf darin noch ſeinen Sonderlings-Bruder in Paris. Im
Grunde gut und hochherzig, dazu nicht ohne Wiſſen und Ver-
ſtandesſchärfe, geſtaltete ſich ſein Leben nichts deſtoweniger weder
zum Glücke für ihn noch für andere, weil er jenes Regulators
entbehrte, der allen Dingen erſt das richtige Maaß und das
richtige Tempo giebt. Er ging immer ſprungweiſe vor, war
launenhaft und eigenſinnig, und bewegte ſich ſein Lebenlang in
Widerſprüchen. Er liebte, wie das Sprüchwort ſagt, die Menſchen
und Dinge „bis zum Todtdrücken“ und bedauerte hinterher „es
nicht gethan zu haben“. Am meiſten zeigte ſich dies in ſeinen
jüngeren Jahren, wo das ſehr bedeutende Vermögen, über das er
damals noch Verfügung hatte, das Erkennen eines von ihm
mit Vorliebe gepflegten Gegenſatzes zwiſchen einem extremen
Luxus- und einem extremen Einſiedler-Leben außerordentlich er-
leichterte.


In Groeben erzählt man davon bis dieſen Tag. Entſann
er ſich beiſpielsweiſe, daß es mal wieder an der Zeit ſei, gräflich
Schlabrendorf’ſcher Repräſentation halber nach Berlin zu fahren,
ſo wurde der alte Staatswagen aus der Remiſe geholt und der
[374] berühmte Trakehner-Zug, vier Iſabellen, mit aller Feierlichkeit ein-
geſpannt; ein Jäger ſaß auf dem Bock, zwei Haiducken ſtanden
rechts und links auf dem Tritt und ein dritter lief als Läufer
der Cavalcade vorauf. Alles in Gala. So mahlte man durch
den Sand, und die Dorfleute ſahen dem Zuge nach. War man
aber wieder daheim, ſo warf er dieſe Repräſentationslaſt als un-
bequem von ſich, und las und las oder lud Leydener Flaſchen an
einer halbmannshohen Elektriſirmaſchine, bis er ſich eines Tages
wieder all ſeiner Vornehmheit und Vornehmheits-Verpflichtungen
entſann und nun auf’s Neue Boten über Boten ſchickte, die die
Nachbarſchaft zu großer Tafel „invitiren“ mußten. Indeſſen das
waren Ausnahmen oder Anfälle, die Regel war und blieb, es
gehen zu laſſen, wie’s eben ging. Er hatte mindeſtens ſieben
Diener im Haus, aber nicht für einen gab es zu thun, ſo daß
das Umherliegen die Leute ſchlecht und übermüthig machte. Das
Ganze, ſeinem Zuſchnitt und Weſen nach, mehr polniſch als
preußiſch. Zerſchlug das Hagelwetter in den leerſtehenden Ober-
zimmern ein Dutzend Fenſter, ſo wurden Lappen eingeſtopft, weil
es ſich nicht verlohnte, den Glaſer kommen zu laſſen; allabendlich
aber, als ob es ſich um die Zeit der Burgverließe gehandelt
hätte, rückte, Punkt zehn Uhr, die ganze Dienerſchaft in die
Front, um die Parterre-Fenſter zu verbolzen und den Eingang
überhaupt zu verrammeln. Ein zu dieſem Behuf immer bereit
ſtehender Palliſadenpfahl wurde dann, von innen her, ſchräg gegen
die Thür geſtemmt, und in dieſer primitiven Weiſe, ſelbſtver-
ſtändlich unter ungeheurem Gelärme, die Schließung und nächtliche
Sicherſtellung des Hauſes vollzogen.


Anſcheinend ohne Grund, denn es war nichts da, was auf
den erſten Blick hin zu Diebſtahl und Einbruch hätte reizen
können. Aber hierin irrte nun freilich dieſer „erſte Blick“, da
ſich vielmehr umgekehrt in den auf Flurgängen und Bodenräumen
maſſenhaft umherſtehenden Schränken und Truhen eine ganze
Welt aller werthvollſter Dinge barg: Spitzen und Staatsröcke,
koſtbare Schuhſchnallen und ſeidene Strümpfe, des reichen Tafel-
geſchirrs zu geſchweigen, das in Kiſten und Kaſten verpackt war
und fleckig wurde, weil’s Niemand putzte.


Welcher Art ſeine Beziehungen zu ſeinem berühmten Pariſer
[375] Bruder waren, darüber verlautet nichts; ſehr wahrſcheinlich ähnelten
ſie ſich zu ſehr, um Gefallen an einander zu finden. Ihre Sonder-
barkeiten waren nicht gleich, aber in der Art, in der ſie ſich gaben,
zeigte ſich doch die Verwandtſchaft.


Unter Graf Heinrichs vielen und ſich immer ablöſenden
Paſſionen war eine Zeit lang auch die landwirthſchaftliche, der er
ſich hingab, ohne nach Wiſſen und Erfahrung oder auch nur nach
wirklicher Neigung ein Landwirth zu ſein. Immer wollt’ er kaufen
und [melioriren], am liebſten aber Wunder thun, und verfiel dabei
regelmäßig in bloße Scurrilitäten, auch wenn er ausnahmsweiſe
leidlich verſtändig begonnen hatte. Nur ein Beiſpiel. Unter den
ihm verbliebenen Beſitzungen war auch ein Gut in der Neumark,
auf dem er — wohl in Folge von Anregungen, wie ſie gerade
damals durch Thaer und Koppe gegeben wurden — eine Förderung
der Schafzucht und vor allem die Beſeitigung der ſogenannten
Drehkrankheit erſtrebte. Dieſe wegzuſchaffen, war er nicht blos
ernſt und feſt entſchloſſen, ſondern lebte zuletzt auch des Glaubens,
ein wirkliches Präſervativ gegen dieſelbe gefunden zu haben. Er
gab zu dieſem Behufe, ſo heißt es, allen Schafen täglich drei
Hoffmannstropfen auf Zucker und ließ ihnen rothe Leibchen und
eben ſolche Mützen machen, um ſie gegen Erkältung und namentlich
gegen „Kopfkolik“ zu ſchützen.


Er war in allem apart, und apart wie ſein Leben geweſen
war, war denn endlich auch ſein zu Caput, bei General v. Thümen
erfolgender Tod. Im Gefolge ſeiner vielen Paſſionen befand ſich
auch die Bade-Paſſion, die bei Jemandem, der von Jugend auf
über einen zu heißen Kopf geklagt und als Knabe ſchon nichts
Schöneres gekannt hatte, als „unter die Tülle geſtellt zu werden“,
nicht groß überraſchen konnte. Von Mai bis October, ob die
Sonne ſtach oder nicht, ſchwamm er, der inzwiſchen ein hoher
Sechsziger geworden war, in der Havel umher, und freute ſich
der ihn erlabenden Kühle. Mal aber gerieth er in’s Binſenge-
ſtrüpp, und als er über Mittag nicht kam und man zuletzt mit
Fackeln nach ihm ſuchte, fand man ihn, in faſt geſpenſtiſcher
Weiſe, den Körper im Moor und nur Kinn und Kopf über dem
ſeichten Waſſer.


Er wurde den dritten Tag danach auf dem Kirchhofe zu Caput
[376] begraben und ſein Tod hatte noch einmal eine Theilnahme geweckt,
die ſeinem Leben ſeit lange gefehlt hatte.


Graf Leo Schlabrendorf.

Das war 1829.


Schon ſieben Jahre vorher (1822) war das zu Beginn des
Jahrhunderts veräußerte Groeben abermals an einen Schlabren-
dorf übergegangen und zwar an Graf Heinrichs einzigen Sohn:
den Grafen Leopold v. Schlabrendorf.


Graf Leopold, oder „Graf Leo“ wie man ihn in Groeben
in üblicher Abkürzung nannte, war um das Jahr 1794 ge-
boren worden, und zwar unter Vorgängen, die nicht blos charak-
teriſtiſch an ſich, ſondern auch in gewiſſem Sinne maßgebend für
den Gang ſeines ganzen Lebens waren. Er, Graf Leo, wies oft
auf dieſe Vorgänge hin, und der von ihm allezeit mit Vorliebe
wiederholte Satz: „Ich bin für Groeben beſtimmt“ ſchrieb ſich von
dieſem ſeinem Geburtstage her. Es hatte damit folgende Be-
wandtniß.


Als nämlich die Zeit herangekommen war, daß die Gräfin
eines Knäbleins geneſen ſollte (denn auf einen Stammhalter wurde
mit Sicherheit gerechnet) und ſogar das Dorforakel, die „Treutſchen“,
in aller Beſtimmtheit erklärt hatte: „es daure keine Woche mehr,“
befahl Graf Heinrich das Erſcheinen der Staatskutſche, nicht ganz
unrichtig davon ausgehend, daß ein junger Graf Schlabrendorf
unmöglich anders als unter Aſſiſtenz des Leibmedicus und be-
rühmten alten Entbindungsdoctors Dr. Ribke geboren werden
könne. Die Gräfin war es zufrieden und ſchon zwei Stunden
ſpäter erſchien die Kutſche ganz in dem früher beſchriebenen Auf-
zuge: zwei Haiducken auf dem Wagentritt und ein Läufer in Gala
vorauf. Und ſo ging es auf Groß-Beeren zu. Bevor aber dieſes
Dorf, das erſt ein Drittel des Weges war, erreicht werden
konnte, verſicherte die Gräfin ſchon: „es gehe nicht weiter,“ auf
welche nur allzu glaubhafte Verſicherung hin der Wagen gewandt
und der Läufer unter Zuſicherung eines doppelten Wochenlohnes
angewieſen wurde „Citiſſime nach Groeben zurückzukehren, um da-
[377] ſelbſt die nunmehr wohl oder übel an die Stelle des alten Dr. Ribke
tretende „Treutſchen“ ins Herrenhaus zu befehlen.“ Und wirklich
das heimiſche Dorf wurde noch gerad’ ohne Zwiſchenfall erreicht;
aber kaum daß die Haiducken abgeſprungen und die Teppiche vom
Wagen aus bis zum Portale gelegt worden waren, ſo war auch
ſchon die Stunde gekommen und in dem dicht am Eingange ge-
legenen Wohn- und Arbeitszimmer des Grafen, in das man die
Gräfin nur eben noch hatte ſchaffen können, genas ſie wirklich
eines Knäbleins, des Grafen Leo, des erwarteten Schlabrendorf-
ſchen Stammhalters. Es hatte nicht in Berlin ſein ſollen; „er
war für Groeben beſtimmt
“.


Ueber ſeine Kindheit verlautet nichts, auch nicht über ſeine
Knaben- und Jünglingsjahre; ſehr wahrſcheinlich, daß er vor-
wiegend unter Zuthun ſeiner Mutter — die trotz ihrer zweiten
Ehe, den Kindern aus der erſten eine große Zärtlichkeit und
Treue bewies — in Penſion kam und nach abſolvirter Schulzeit
in juriſtiſch-cameraliſtiſche Studien eintrat. Aber eh er dieſe voll-
enden konnte, kam der Krieg und bot ihm Veranlaſſung als
Volontair bei den Towarczis einzutreten, einem Ulanen-Regiment,
das vielleicht noch aus den Tagen der „alten Armee“ her dieſen
etwas obſoleten und nur in den neunziger Jahren unter General
Günther (der der „Vater der Towarczis“ hieß) vielgenannten
Namen führte.


Nach dem Kriege begegnen wir ihm alsbald als Regierungs-
Aſſeſſor in Trier, wo das durch Gaſtlichkeit und Feinheit der
Sitte ſich hervorthuende Haus des Generals v. Ryſſel*) ihn
anzog, am meiſten aber des Generals Tochter, Fräulein Emilie
v. Ryſſel, mit der er ſich denn auch, nach kurzem Brautſtand, im
[378] Sommer 1820 vermählte. Zwei Jahre noch verblieb er in Trier,
im ſchwiegerelterlichen Hauſe, bis er 1822 unter freudiger Zu-
ſtimmung ſeiner jungen Frau, die die landwirthſchaftliche Paſſion
mit ihm theilte, nach Groeben hin überſiedelte, das wieder an die
Schlabrendorfs zu bringen — ein von Jugend auf von ihm ge-
hegter Wunſch — ihm um eben dieſe Zeit gelungen war.


Die Verhältniſſe waren ihm bei dieſem Wieder-Ankauf eben
ſo günſtig geweſen, als ſie ſich für den Vorbeſitzer und ſeine
Nachkommen einundzwanzig Jahre lang eminent ungünſtig erwieſen
hatten. Alle Leiden und Nachwehen einer langen Kriegs- und
Invaſions-Epoche waren zu tragen geweſen und hatten zu ſolcher
Verſchuldung des Gutes geführt, daß der nunmehrige Kaufpreis
deſſelben in nichts Weiterem beſtand, als in Uebernahme der
darauf eingetragenen Hypotheken, die ſich freilich, wie geſagt
werden muß, hoch genug beliefen.


Es gab nun alſo wieder eine wirkliche Groebener Gutsherr-
ſchaft und zwar eine, wie man ſie lange nicht im Dorfe gekannt
hatte, richtiger noch wie ſie nie dageweſen war. Ordnung und
Sitte waren mit dem jungen Paare gekommen, auch Beiſtand in
Rath und That, und ſo weit es in Menſchenhände gegeben iſt dem
Unglück und dem Unrecht zu wehren, ſo weit wurd’ ihm gewehrt.


Aber nicht nur die Dorfgemeinde durfte ſich der neuen Guts-
herrſchaft freuen, die neue Gutsherrſchaft wußte mit der Erfüllung
ihrer nächſtliegenden Pflichten auch Schönheitsſinn und Sinn für
das Allgemeine zu verbinden und erreichte dadurch, daß das
Groebener Herrenhaus auf drei Jahrzehnte hin ein Sammel- und
Mittelpunkt geiſtiger Intereſſen wurde. Von dem Leben der
großen Welt hielt man ſich gefliſſentlich fern, aber was ſich darin
hervorthat, inſonderheit als ein „erſt Werdendes“ hervorthat, das
empfing entweder aufmunternde Zuſtimmung oder wohl auch
Pflege, ſo lang es ſolcher Pflege bedurfte. Junge Kräfte wurden
unterſtützt, Bilder und Büſten in Auftrag gegeben, Reiſe-Stipen-
dien erwirkt oder perſönlich bewilligt, und wie die Thüren allezeit
offen ſtanden, ſo ſtanden auch die Herzen auf in dem immer ſon-
nigen und immer gaſtlichen Hauſe. Dieſe Gaſtlichkeit enthielt ſich
jedes Luxus, ja, verſchmähte denſelben, aber ſo ſchlicht ſie ſich
gab, ſo grenzenlos gab ſie ſich auch. Und lag ſchon hierin ein
[379] Zauber, ſo lag er viel viel mehr noch in der einfach diſtinguirten
Lebensauffaſſung, die hier ſtill und ungeſucht um die Herzen warb,
und in dem Ton, der der Ausdruck dieſer Lebensauffaſſung war.
Es war ganz der gute Ton jener Zeit (einer über- aber freilich
auch unterſchätzten Epoche), ein Ton, der das heutzutage ſo ſehr
hervortretende ſpecialiſtiſch Einſeitige vermied und umgekehrt in
dem Gelten-laſſen andrer Beſchäftigungen und Richtungen die
Pflicht und Aufgabe der Geſellſchaft erkannte. Nichts war ausge-
ſchloſſen, und Scherz und Anekdote — ſelbſt wenn ſich etwas von
dem Uebermuthe der damaligen Witzweiſe darin ſpiegelte — hatten
ſo gut ein Haus- und Tiſch-Recht, wie die Fragen über Kunſt
und Wiſſenſchaft oder die ſpeciell auch in dem Groebener Kreiſe
mit Vorliebe gepflegten altpreußiſchen Thematas von Armee und
Verwaltung, von Staat und Kirche.


Sogar Landwirthſchaftliches intereſſirte lebhaft, am meiſten
freilich den Grafen ſelbſt, der, im Gegenſatz zu ſeinem dilettantiſch
und ſkurril herum experimentirenden Vater, eine große theoretiſche
Kenntniß und alsbald auch ein reiches Erfahrungs-Wiſſen inne
hatte, das ihn zu den mannigfachſten Reformen, Einrichtungen
und Ankäufen gleichmäßig befähigte.


Bei dieſer großen Tüchtigkeit und Umſicht in praktiſchen
Dingen konnt’ es nicht ausbleiben, daß ihm mehr als einmal, und
zwar jedesmal aus Regierungskreiſen her, der Antrag gemacht
wurde, ſich ſeiner Groebener Einſamkeit begeben und in die
große Welt, in der er in ſeiner Jugend gelebt und mit der er die
Fühlung nie verloren hatte, wieder eintreten zu wollen. Aber er
lehnte jedes dahin zielende Wort mit der Erklärung ab: „Ich bin
für Groeben beſtimmt
.“


Auch das Jahr 1848, das verdoppelt die Forderung einer
Rückkehr in das ſtaatliche Leben an ihn ſtellte, riß ihn nicht
heraus; im Gegentheil, er ſchloß ſich inniger an die Seinen an,
die ſeiner Treue mit Treue lohnten, und während das ganze
Preußen erſchüttert hin und her ſchwankte, wurde Groeben von
keinem anderen Sturm getroffen als von einem wirklichen
Orkan, der denn auch die mehrhundertjährige, vor dem Herren-
hauſe wachehaltende Linde niederwarf. Er ſah ſie den Morgen
darauf entwurzelt am Boden liegen und ordnete an, daß ſie zu
[380] Brettern geſchnitten und ein Theil derſelben für ſeinen Sarg bei
Seite gelegt werde. Lächelnd gab er dieſe Weiſung und er durft
es wie Wenige, denn er ſah auf das Ende der Dinge mit jener
Ruhe, die nur das gute Gewiſſen giebt. Und wie von ſeltner
Integrität des Charakters, ſo war er auch von ſeltner Reinheit
der Sitten und von noch ſeltnerem Edelmuth. Ein Beiſpiel für
viele. Bei Kauf und Uebernahme von Groeben war ein armes
Fräulein, das der Vorbeſitzer als Erbin eingeſetzt hatte, leer aus-
gegangen. Es waren eben, wie hervorgehoben, nur Schulden da.
Den Grafen rührte das harte Loos der Armen, und er gab ihr
aus freien Stücken 6000 Thaler als ein Geſchenk, was in jener
geldarmen Zeit als eine große Summe gelten konnte.


Dazu war er heiter und humoriſtiſch. Als die Brennerei,
zu der man ſich um beſſerer Gutserträge willen endlich hatte be-
quemen müſſen, unter Dach und Fach war, erhielt ſie die Ber-
liner Bibliothek-Inſchrift: Nutrimentum Spiritus.


Und dieſe gute Laune zeigte ſich ganz beſonders auch, als er
in ſeine letzte Krankheit eintrat. Es fehlte ſelbſtverſtändlich nicht
an Aufforderungen, es, ärztlicher Behandlung halber, mit einem
Berliner Aufenthalte verſuchen zu wollen, aber er antwortete blos:
„Ihr wißt ja, ich bin für Groeben beſtimmt; ich war es im
Leben und will es auch im Tode ſein“.


Und er hatte Recht geſprochen. Eine Woche ſpäter und
Meiſter Schreiner hobelte ſchon die Lindenbretter, wie’s Graf Leo
gewollt, und am 27. Juli 1851 ſtand ſein Sarg an derſelben
Stelle, wo damals, als die große Kutſche von Groß-Beeren her
zurückgeſchwankt war, ſeine Wiege geſtanden hatte.


Viele Freunde kamen, und ſie begruben ihn auf dem Groe-
bener Kirchhof und gaben dem Platz ein Gitter. Eine Stelle da-
neben aber ließen ſie leer: eine Ruheſtätte für ſeine Wittwe.


Gräfin Emilie v. Schlabrendorf geb. v. Ryſſel.

Dieſe Wittwe war Gräfin Emilie v. Schlabrendorf geb.
v. Ryſſel. An ſie ging jetzt Groeben über, in dem ihr noch, durch
volle ſieben Jahre hin, ein ſegensreiches Wirken geſtattet war.


[381]

In brieflichen Mittheilungen über ſie find’ ich das Folgende:
„Die Gräfin, wie ſie kurzweg genannt wurde, war eine Dame von
ſeltener Begabung und Bildung. Was Groeben durch drei Jahr-
zehnte hin war, war es, ohne den mitwirkenden Verdienſten An-
derer zu nahe treten zu wollen, in erſter Reihe durch ſie. Sie
gab den Ton an, ſie bildete den geiſtigen Mittelpunkt, und war
— übrigens ohne ſchön zu ſein — mit jener anmuthenden Vor-
nehmheit ausgeſtattet, wie wir uns etwa die Goethe’ſche Leonore
denken.


„Ihr Intereſſe wandte ſich allen Gebieten des Wiſſens zu,
was ihr aber, meines Erachtens, eine noch höhere Stellung an-
wies, das war ihre muſtergiltige Hausfrauenſchaft und ihr unbe-
grenzter, auf Näh und Ferne gerichteter Wohlthätigkeitsſinn.
Immer bereit zu helfen, war doch die gleichzeitig von ihr gewährte
geiſtige Hilfe faſt noch troſt- und beiſtandsreicher als die materielle,
ſo reichlich ſie dieſe bot. Es konnte dies geſchehen, weil ihr die
ſeltene Gabe geworden war, den ihr aus der Fülle der Erfahrung
beinahe mehr noch als aus der Fülle des Glaubens zu Gebote
ſtehenden Rath immer nur in einer allerſchonendſten Weiſe zu
ſpenden. In Grundſätzen ſtreng, war ſie mild in ihrer Anwendung
und überall richtete ſie die Herzen auf, wo ihre vertrauenerweckende
Stimme gehört wurde.


„Selbſtverſtändlich eigneten einer ſolchen Natur auch er-
zieheriſche Gaben, und da ihre Ehe kinderlos geblieben war, ſo
war nichts natürlicher, als daß ſie — wie zur Erprobung ihrer
pädagogiſchen Talente — Kinder, namentlich junge Mädchen, in’s
Haus nahm. Es waren dies Töchter aus achtbaren aber einfach
bürgerlichen Häuſern, und ihr Erziehungstalent erwies ſich in
nichts ſo ſehr, als in der Art und Weiſe, wie ſie dieſe jungen
Mädchen an allem was das Haus geſellſchaftlich gewährte, theil-
nehmen ließ und ſie doch zugleich für die Lebensſtellungen erzog,
in die ſie, früher oder ſpäter, wieder zurücktreten mußten. Es
gelang ihr, ihren Pfleglingen eine Sicherheit im Auftreten und
in den Formen zu geben, ohne daß in Folge davon der gefähr-
liche, weil ſo ſelten zu Vortheil und Segen führende Wunſch in
ihnen aufgekeimt wäre, die beſcheidenere Geburtsſtellung mit einer
anſpruchsvolleren zu vertauſchen. All das, ohne jemals durch
[382] Hervorkehrung deſſen, was man Standes-Vorurtheile nennt, auch
nur einen Augenblick verletzt zu haben. Es war ihr eben einfach
die Gabe geworden, in Liebe den Glauben zu wecken: „in Allem
lebt Gottes Wille, und wie es iſt, iſt es am beſten.“


So die Mittheilungen ſolcher, die die Gräfin noch perſönlich
gekannt haben. Aber Eines vermiſſ’ ich darin: ein Hervorheben
deſſen, was ihr, ich will nicht ſagen ausſchließlich oder auch nur
vorzugsweis, aber doch jedenfalls mitwirkend ihren Einfluß
ſicherte. Dies war ihr Katholicismus. Zunächſt ihr Katho-
licismus als einfache Thatſache.


Wer ein Auge für dieſe Dinge hat, dem kann es nicht ent-
gehen, daß der Katholicismus, all ſeiner vielleicht berechtigten
Klagen und Anklagen unerachtet, eine nach mehr als einer Seite
hin bevorzugte Stellung unter uns einnimmt, und zwar am ent-
ſchiedenſten in dem Geſellſchafts-Bruchtheile, der ſich die „Geſell-
ſchaft“ nennt. Es geht dies ſo weit, daß Leute, die ſonſt nichts
bedeuten, einfach dadurch ein gewiſſes Anſehen gewinnen, daß ſie
Katholiken ſind. Wie gering ihre ſonſtige Stellung ſein mag, ſie
werden einer Art Religions-Ariſtokratie zugerechnet, einer Ge-
noſſenſchaft, die Vorrechte hat und von der es nicht blos feſt-
ſteht, daß ſie gewiſſe Dinge beſſer kennt und weiß als wir, ſondern
der es, in Folge dieſes Beſſerwiſſens, auch zukommt, in eben
dieſen Dingen den Ton anzugeben. Alſo zu herrſchen.


Unſerer Gräfin Herrſchaft aber verdoppelte ſich und wurd’
erſt recht eigentlich was ſie war, aus der weit über die bloße
Thatſächlichkeit ihres Katholicismus hinausgehenden ſchönen und
klugen Bethätigung deſſelben. Sie war eine ſtrenge Katholikin
für ſich, in der Berührung mit der Außenwelt jedoch, inſonderheit
mit der ihr in gewiſſem Sinne wenigſtens unterſtellten Gemeinde
betonte ſie ſtets nur das, was beiden Confeſſionen das Gemein-
ſchaftliche war, und übte die hohe Kunſt einer Religionsäußerung,
die der eignen Ueberzeugung nichts vergab und die der andern
nicht kränkte. Sie hatte dies am ſächſiſchen Hofe gelernt und
zeigte ſich befliſſen, dieſem Vorbilde ſchöner Toleranz in allen
Stücken nachzuahmen. Es geſchah dies in einer ganzen Reihe von
Gutthaten und kleinen Stiftungen, am erkennbarſten in dem einem
Neubau gleichkommenden Umbau der Lutheriſchen Groebener Kirche,
[383] den ſie, von der Vorahnung erfüllt, daß ſie das Ende deſſelben
nicht mehr erleben würde, durch Capitals-Deponirungen ſicher
ſtellte.


Den 2. September 1858 ſtarb ſie, ſechzig Jahr alt, nnd
wurde, den dritten Tag danach, ihrem ausdrücklichen Willen ge-
mäß, auf dem proteſtantiſchen Kirchhofe der Gemeinde beigeſetzt.


Groeben ſelbſt aber fiel an die Schwägerin der Gräfin,
an die noch lebende Schweſter des bereits 1851 verſtorbenen
Grafen Leo.


Frau Johanna v. Scharnhorſt, geb. Gräfin v. Schlabrendorf.

Dieſe noch lebende Schweſter des Grafen Leo war Frau
Johanna von Scharnhorſt, geb. Gräfin v. Schlabrendorf. Sie
trat ihr Erbe (Gut Groeben) an und da ſie, wie weiterhin erzählt
werden wird, einige Jahrzehnte vorher auch in den Beſitz von
Siethen gekommen war, ſo waren jetzt beide altſchlabrendorfſchen
Güter wieder in Händen einer geborenen Schlabrendorf ver-
einigt. Freilich nur auf kurze Zeit. Ein Jahr nur von 1858
bis 59. Eh ich aber von dieſem Wiederaufgeben des Geſammt-
Beſitzes ſpreche, ſprech’ ich, zurückgreifend, über den Lebensgang
der Frau von Scharnhorſt bis zu jenem Zeitpunkte (1858) wo
Groeben ihr zufiel.


Comteſſe Johanna wurde, wie ſchon hervorgehoben, am 22.
April 1803 aus der zweiten Ehe des Grafen Heinrich v. Schlabren-
dorf, die derſelbe mit einem Fräulein v. Meklenburg geſchloſſen
hatte, geboren. Es ſcheint, die Mutter ſtarb früh und überließ
Erziehung und Fürſorge dem excentriſchen Vater, der ſich dieſer
Aufgabe denn auch auf ſeine Weiſe, d. h. widerſpruchsvoll unter-
zog. Er liebte die Kleine ſchwärmeriſch und duldete beiſpielsweiſe
nicht, daß ſie von jemand anderem als von ihm oder einer ihr
beigegebenen Bonne berührt wurde. Sollte ſie ſpatzierenfahren,
ſo ſtand er bereit, um ihr cavaliermäßig die Hand zu reichen, oder
ſie, ſo lange ſie noch klein war, in den Wagen hinein zu heben.
Aber dieſe Galanterien erfuhren doch auch wieder Ausnahmen und
waren jedenfalls von nicht allzu langer Dauer. Als die Reiſe-
[384] paſſion über ihn kam, ſchwand ihm die Luſt, ſich um das Com-
teßchen noch weiter zu kümmern, und er begnügte ſich von nun an
damit, ſie nach hierhin und dorthin in allerlei Penſionen zu geben,
am liebſten in ländliche Pfarrhäuſer, in denen oft die wunder-
lichſten Zuſtände herrſchten und Albernheiten und Unpaſſendheiten
um den Vorrang ſtritten. Aber all dies berührte ſie wenig, und
glücklichere Tage kamen, als der alte Graf mehr und mehr zurück-
trat, und die mütterliche Verwandtſchaft der immer reizender
werdenden Comteſſe ſich dieſer anzunehmen begann. In Sommer-
zeit war ſie mit in den Oſtſeebädern, am häufigſten in Dobberan,
und in einer Vierſchimmel-Equipage ging es dann über die Felder
hin oder auch wohl bis an den Heiligen-Damm, wo zweierlei
gleich Wichtiges und gleich Großes zu ſehen war: der Hof und
das Meer.


Aber dies Alles liegt unbeſtimmt zurück und klarere Bilder
treten uns aus dem Jugendleben der Gräfin erſt von dem Tag
an entgegen, wo ſich die geſammte Familie, Geſchwiſter und Vetter-
ſchaft, in Trier zuſammenfand, um im Hauſe des alten General
v. Ryſſel die Vermählung zwiſchen Emilie v. Ryſſel und Graf
Leo von Schlabrendorf zu feiern. Unter den Schlabrendorfs, die
mit erſchienen waren, war auch Comteſſe Johanna, damals erſt
17 Jahr alt, und der alte Spruch ſollte ſich bei dieſer Gelegenheit
aufs Neue bewahrheiten „auf jeder Hochzeit eine neue Verlobung“.
Ihr Tiſchnachbar war Auguſt v. Scharnhorſt, Rittmeiſter in
dem damals zu Trier in Garniſon ſtehenden 8. Ulanen-Regiment,
und ungefähr um dieſelbe Zeit, in der Graf Leo das ſchwieger-
elterliche Haus in Trier aufgab, um das kurz zuvor erſtandene
Groeben zu beziehen, erfolgte die Verlobung und bald danach
auch die Verheirathung des tiſchnachbarlichen Paares: des Ritt-
meiſters Auguſt von Scharnhorſt und der Comteſſe Johanna v.
Schlabrendorf.


Aber auch die Tage dieſes Paares waren in Trier gezählt.
Wie Groeben ſo gerieth auch Siethen, das ſeine Beſitzer innerhalb
der letzten dreißig Jahre mehrfach gewechſelt hatte, ’mal wieder zu
Verkauf und Graf Leopold, als er davon hörte, fragte ſofort bei
Schweſter und Schwager an, „ob ſie vielleicht geneigt ſeien, das
plötzlich wieder frei gewordene Siethen käuflich an ſich zu bringen?“
[385] Unter gewöhnlichen Verhältniſſen würde die Frage wahrſcheinlich
mit einem „nein“ beantwortet oder noch viel wahrſcheinlicher gar
nicht geſtellt worden ſein, in Trier aber lagen die Dinge bereits
außerhalb des Gewöhnlichen, indem Auguſt von Scharnhorſt durch
einen Sturz vom Pferde ſich ſehr erheblich und zwar bis zur
Dienſt-Unfähigkeit verletzt, auch in Folge davon ſein Entlaſſungs-
geſuch bereits eingereicht hatte. So wurde denn freudig zugeſtimmt
und 1825 der Ankauf von Siethen bewerkſtelligt, das nun — ſo
wenigſtens ging der Plan — für das junge Scharnhorſtſche Paar
eine gleich glückliche Heimſtätte werden ſollte, wie das Schweſter-
dorf Groeben es für das Schlabrendorfſche bereits war. Aber
dieſer Plan ſcheiterte. Des um dieſe Zeit bereits als Major aus
dem Dienſte geſchiedenen Rittmeiſters von Scharnhorſt geſundheit-
liche Störungen waren größer als geglaubt, er kränkelte viel, und
ſchon ein halbes Jahr nach Uebernahme des Gutes, ſtarb er in
Berlin (Oktober 1826) wohin er ſich in ärztliche Behandlung
begeben, und ließ in Siethen ein kaum einjähriges Töchterchen
und eine 23jährige Wittwe zurück.


Ein hartes Loos war dieſer gefallen. Und doch hatte ſie
dreierlei, was ihr das Leben allmälig wieder lebenswerth machte:
das Kind, die Schwägerin drüben in Groeben und als Drittes
den Wetteifer mit dieſer in allen guten Werken. Im Beglücken
Anderer erhob ſie ſich zu neuer Kraft und als die Tochter (auch
eine Johanna) zu Jedermanns Freude heranwuchs und immer
mehr das Licht ihres Lebens wurde, da kam ihr auch ein Gefühl
des Glückes wieder und in und mit ihm die Hoffnung, die
mehr iſt als das Glück.


Aber dieſe Hoffnung erblaßte vor der Zeit und ſchwand endlich
hin für immer. Die Tochter erkrankte von einem hitzigen Fieber
befallen, und ſtarb im ſchwäbiſchen Wildbad, wohin ſie ſich in
Begleitung ihrer damals noch lebenden Groebener Tante be-
geben hatte.


Das war im Herbſt 1857. Untröſtlich war die Mutter, die
nun in Einſamkeit den Reſt ihres Lebens durchlebte.


Eh’ ich aber dieſen Lebensausgang ſchildere, verſuch’ ich zuvor
ein Bild der zu früh heimgegangenen Tochter zu geben.


Fontane, Wanderungen. IV. 25
[386]
Johanna von Scharnhorſt.

(Nach Aufzeichnungen einer Kaiſerswerther Diakoniſſin.)


Johanna von Scharnhorſt war eine Marien-Natur. Ihre
Erſcheinung ſchon gewann die Herzen und war der Ausdruck
ſelbſtſuchtsloſer Güte. Mutter und Tochter glichen ſich in dieſem
Punkte vollkommen, und leben, um dieſer ſelbſtſuchtsloſen Güte willen,
in der Erinnerung der Groeben-Siethener Gemeinde fort.


Im Oktober 1854 kam Fräulein Johanna nach Kaiſerswerth,
um Diakoniſſin zu werden. Was ſie dazu beſtimmte, waren zu-
nächſt wohl unerfüllt gebliebene Hoffnungen, Enttäuſchungen, über
die ſie ſich nur einmal, in Andeutungen wenigſtens, zu mir aus-
ſprach; aber weit über eine ſolche nächſte Veranlaſſung hinaus,
ruhte der eigentliche Grund zu dieſem Schritt in ihrer ganz auf
Barmherzigkeit und Liebe geſtellten Natur. Sie war, wie wenige,
zum Diakoniſſendienſte beſtimmt.


In ihrer erſten Jugend ſchon, ſo hört’ ich ſpäter, nahm ſie
ſich der Armen und Verlaſſenen an, und wenn ſie durch das Dorf
ging und die Kinder mit ſtumpfem Geſichtsausdruck in der Haus-
thür ſitzen ſah, ſagte ſie: „Die Kinder ſehen aus, als ob ſie keine
Seele hätten. Wie helf ich ihnen?“


Es war wohl ein Erinnern daran, was ſie jetzt, nach einem
ſchmerzlichen Erlebniß, unſrer Kaiſerswerther Anſtalt, deren Ein-
richtung und Dienſt ſie kennen lernen wollte, zuführte. Noch ent-
ſinn’ ich mich des Tages als ſie kam. Ich empfing gleich den
Eindruck von ihr, etwas ſo Lieblichem noch nie begegnet zu ſein,
und wurde nicht müde ſie anzuſehen. Auch weiß ich noch, daß ich
in allen Briefen an die Meinigen immer nur von ihr erzählte,
trotzdem ſie noch kein einzig Wort zu mir geſprochen hatte. Sie
trat als Penſionairin ein, beſchränkte ſich jedoch nicht, wie dieſe
ſonſt zu thun pflegen, auf Krankenpflege, ſondern griff überall ein;
ſie nahm Theil an den Stunden der Seminariſtinnen, war in der
Kleinkinder-Schule thätig und wirkte mit im Aſyl. Ihre Haupt-
arbeit freilich gehörte den Kranken, und hier ſtand ſie bald einzig
da. Sie war unermüdlich, daneben freundlich und fröhlich, und
ſchon ihre bloße Nähe beglückte.


[387]

Nach Ablauf eines Jahres kehrte ſie von Kaiſerswerth nach
Siethen zurück, um daſelbſt ein Kinder-Aſyl in’s Leben zu rufen.
Ein in dem reizenden Uetz bei Potsdam befindliches Haus,
darin ſchon zwei Kaiſerswerther Diakoniſſinnen in Thätigkeit waren,
ſollte zum unmittelbaren Vorbilde genommen werden. Und dies
geſchah auch. Es war aber ein [ſchweres] Beginnen, am ſchwerſten
in Folge von allerlei Kritik, die das Unternehmen gerade von be-
freundeter oder doch halb befreundeter Seite her zu erfahren hatte.
„Das ſolle Hülfe ſein,“ hieß es, „aber es ſei keine. Für die Tage-
löhner ſei nun mal das Beſte, wenn ihre Kinder auch wieder auf-
wüchſen wie ſie ſelber aufgewachſen ſeien. Und was die Mütter
angehe, ſo taug’ es nichts, ihnen die Sorge für ihre Kinder ab-
nehmen zu wollen.“ All dies traf um ſo tiefer, als ihm ein
Theil Alltags-Wahrheit zur Seite ſtand, aber ſie kämpfte treu
gegen alle laut werdenden Zweifel an, beſonders auch gegen die
eigenen, und rang ſich immer wieder zu dem ſchönen Glauben
durch, daß ſich ihr Wunſch mit dem Willen Gottes vereinige.


Ich hatte das Glück gehabt, ihr in den letzten Monaten ihres
Kaiſerswerther Aufenthaltes näher zu treten, und ſo kam es, daß
ſie mich bei ſich zu ſehen wünſchte. Sie ſchrieb in dieſem Sinne
von Siethen aus an Paſtor Fliedner und ich ſelbſt erhielt einen
Brief, aus dem ich hier folgende Stelle gebe: „Nichts iſt ſchwerer,
als in Einfalt des Herzens bleiben; es muß vor allem erbeten
werden, und das wollen wir treulich für einander thun.“


In dieſen wenigen Zeilen ſpricht ſich ihr allereigenſtes Weſen
aus; ſie hatte von dieſer Herzenseinfalt mehr denn irgendwer,
den ich kennen gelernt, aber freilich zugleich auch die vollkommenſte
Demuth und ſah in ſich nichts von all’ dem Schönen und Bevor-
zugten, das ihr durch Gottes Gnade ſo reichlich zu Theil geworden
war. Es war ihr eben Bedürfniß, andre Menſchen höher zu
ſtellen als ſich ſelbſt, und nichts lag ihr ferner als die Vorſtellung,
daß ſie ſelber ein Vorbild ſei.


Ich durfte der an mich ergangenen Aufforderung folgen und
traf noch zur Einweihung der Anſtalt in Siethen ein. Es war
zur Begründung derſelben ein Müllerhaus angekauft worden,
deſſen Beſitzer, ein ſtreng kirchlicher Mann, einige Jahre vorher
nach Amerika ausgewandert war. Alles gedieh in dieſem ſeinem
25*
[388] ehemaligen Heim, und als er nach einiger Zeit davon hörte, ſchrieb
er zurück: „Wie freut es mein altes Herz, daß meine vier Wände
nun die Heimſtätte für ſo viel Gutes geworden ſind.“ Und er
rief den ferneren Segen Gottes dafür an.


Ich ſagte, daß ich noch zur Einweihung eintraf. Dieſe fand
im Auguſt ſtatt. Es war ein ſchöner Tag und der Geiſtliche
ſprach über die Wichtigkeit unſres Berufes, und daß dieſer „Beruf
des Erziehens zu Gott“ ein Glück und eine Ehre für uns ſei. Von
der Gemeinde fehlte niemand und unter den erſchienenen Gäſten
war auch Agnes v. Scharnhorſt (eine Couſine Johanna’s) und
der Verlobte derſelben, Baron von Münchhauſen. Als Schlußge-
ſang war Johanna’s Lieblingslied gewählt worden, und während
die Kinderſtimmen es intonirten, wurde ſie, der es galt, tief be-
wegt und ſie weinte lang und ſchmerzlich. Gedachte ſie doch, wie
ſie mir ſpäter in vertraulichem Geſpräche mittheilte, nunmehr
zurückliegender Tage, deren Schmerz ſich ihr in dieſem Augenblick
erneuerte. Sie nahm eben Abſchied von Manchem, was ihr lieb
geweſen, und erbat ſich Kraft und Muth und Ausdauer zu dem
Wege der nun dunkel vor ihr lag.


Aber er hellte ſich auf, dieſer Weg, und es kamen auf eine
gute Weile, wenn auch freilich nicht auf lange genug, jene glück-
lichen und geſegneten Tage, die der alte Müller für uns erbeten
hatte. Mutter und Tochter wetteiferten alsbald und halfen überall.
Es war ein friſches, fröhliches Arbeiten und ich konnte nach Haus
und nach Kaiſerswerth hin ſchreiben, „daß mir ein lieblich Loos
gefallen ſei“. Wir hatten vorſorglich und ängſtlich faſt mit einer
Kleinkinder- und Sonntagsſchule begonnen, aber der Feuereifer
beider Scharnhorſtſchen Damen konnte ſich kein Genüge thun, und
ehe noch viel Zeit in’s Land gegangen war, war aus jenen erſten
Anfängen auch ſchon ein Krankenhaus und bald danach auch ein
Waiſenhaus geworden.


Unter den vielen Gaben, die Johanna für ihren Beruf mit-
brachte, war auch die des Erzählens. Sie wußte Geſchichten aller
Art mit einer ihr eigenthümlichen, zu Herzen gehenden Einfachheit
vorzutragen und dabei jeden Ton zu treffen, am glücklichſten
vielleicht den humoriſtiſchen. Es war eine Luſt, ihr zuzuhören,
[389] wenn ſie Grimmſche Märchen oder Glaubrechts hübſche Geſchichte
von Küppels Michel erzählte.


Dieſer heitre Zug, in den ſich ſelbſt ein Anflug von Ironie miſchen
konnte, ſprach ſich auch ſonſt noch in ihrem Weſen aus. Einmal
hatt’ ich Urlaub in meine weſtphäliſche Heimath genommen, ſchrieb
von dort her und erhielt alsbald einige Zeilen, in denen es hieß:
„Es freut mich, daß Sie ſo treulich an unſer kleines und einſames
Siethen denken, von dem ich Sie nur noch bitte, den lieben Ihrigen
kein allzu ſibiriſches Bild entwerfen zu wollen.“ Sie kannte
die komiſch-falſchen Vorſtellungen, die man wenigſtens damals noch
in Süd- und Weſtdeutſchland von der Mark Brandenburg unter-
hielt, und widerſtand dem Anreize nicht, dieſe Vorſtellungen zu
perſifliren.


Ja, ſie hatte dieſen humoriſtiſchen Zug, aber er ſtreute doch
nur ein Weniges von Frohſinn und Heiterkeit über ihr Leben aus,
und was ſie, wenn wir über Feld gingen, am liebſten ſah: ein
weißes Mohnfeld mit ein paar rothen Mohnblumen dazwiſchen —
das war recht eigentlich ſie ſelbſt. Der Grundton ihrer Seele
war elegiſch und blieb es auch in ihrer glücklichſten Zeit.


In dieſer ſtanden wir jetzt, in jenen Wochen und Monaten,
die der Gründung der Anſtalt unmittelbar folgten, und wie Jeg-
liches um uns her gedieh, ſo gedieh auch Fräulein Johanna ſelbſt.
Es erſchien uns oft, als ob ihr unter immer neuer Arbeit auch
neue Kräfte kämen. Sie ſah friſch aus, friſcher als ſonſt, und
als nach einjähriger Thätigkeit ihr Geburtstag unter Theilnahme
vieler lieber Gäſte gefeiert wurde, flüſterte mir eine Nachbarin zu:
„Wie blühend Johanna ausſieht.“ Und es war ſo. Freilich
täuſchten dieſe bühenden Farben und bargen recht eigentlich die
Gefahr, aber noch waren wir ahnungslos und der Tag ſelbſt ver-
lief uns in ungeſtörter Freude. Die Kinder ſangen ihre Lieder
und weil Johanna ſelber nicht ſingen konnte, ſagte ſie ſcherzend:
„ich könnte böſe ſein, keine Stimme zu haben.“ „Ach, Du willſt
zu viel,“ antwortete ihr ihr ehemaliger Lehrer und Erzieher in
liebevollem Vorwurfe. „Man muß auch nicht Alles haben wollen.“
So vergingen die Stunden in ſchöner und gehobener Heiterkeit,
was ihr aber im Laufe des Tages die größte Freude gemacht
hatte, das waren ein paar Spät-Roſen geweſen, die man ihr, für
[390] den Geburtstagstiſch, von den ſchon überſchneiten Stämmen ge-
ſchnitten hatte. Denn es war der 16. November.


Und der Winter verging und der Frühling kam. Und als
der Sommer da war, da war ſie matt, ſo matt, daß ſie, was
ſie ſonſt nicht kannte, zu klagen begann. Auch von ihrem Tode
ſprach ſie häufiger und beſtimmte welches Lied an ihrem Grabe
geſungen werden ſolle. So ging es durch Wochen und durch
Monate hin. Aber freilich auch hoffnungsreichere Stunden kamen
wieder und als im Juli die Tante Schlabrendorf in Groeben
auf ärztlichen Rath in’s Wildbad reiſte, gehorchte Johanna gern
dem Wunſche der alten Gräfin und ſchloß ſich ihr als Be-
gleiterin an.


Anfangs erhielten wir nur gute Nachrichten, ſehr gute ſogar,
und mit einer großen und beinah kindlichen Freudigkeit ſprachen
ihre Briefe von ihren Erlebniſſen, auch von den Auszeichnungen
und Ermuthigungen, die man ihr hatte zu Theil werden laſſen.
„Und ſo ſehen Sie denn, wie viel Liebes mir begegnet iſt.“
„Aber“, ſo hieß es eine Woche ſpäter, „es ſind auch ſchwere
Tage für mich angebrochen; ich habe ſehen müſſen, wie leicht es
iſt, mich aus der Sammlung heraus und in die Zerſtreuung
hinein zu bringen, und wie lieb ich noch die Welt habe. Die
dunklen Tiefen unſeres Herzens können uns ordentlich erſchrecken,
und iſt kein anderer Troſt als der einzig eine, daß Er, der dieſe
Dunkeltiefen in aller Deutlichkeit erkennt, auch ſo viel Geduld und
Liebe hat.“ Und daran reihten ſich dann Worte der Sehnſucht
nach Siethen und dem ihr lieb gewordenen Wirkungskreiſe.


Das war Anfang September. Aber ſchon am 6. hörten wir
allerlei Beunruhigendes über ihr Befinden, und am 9. eilte Frau
von Scharnhorſt an das Krankenbett ihrer Tochter. Sie fand ſie
beſſer, als zu hoffen geweſen war, und ich empfing gleich danach
einen Brief, der dies beſtätigte: „Johanna iſt noch recht ſchwach,
aber alles Fiebers unerachtet ruhig. Meine Pflege beſteht eigentlich
in nichts andrem, als ſie vor Allem Störenden zu hüten. Ich
ſitze neben ihr und wehre die Fliegen und richte dann und wann
ein beruhigendes Wort an ſie. Bitten Sie Gott, daß er uns
gnädig iſt und ſeinen Willen thut nach ſeinem Rath und nicht
nach unſerem verkehrten Denken.“


[391]

Und dieſer Rath und Wille war, daß ſie von uns genommen
werden ſollte. Wenige Tage, nachdem dieſer Brief geſchrieben,
ſtellten ſich heftige Fieberphantaſien ein, in denen die Kranke
wunderbare Geſichte hatte; ſie ſah Gott und Chriſtum und ſprach
mit ihnen, und nach einer dieſer Erſcheinungen ſagte ſie feſt und
freudig: „Und wenn Du gefragt wirſt, ob die Herrlichkeit des
Herren wirklich ſo groß ſei, dann ſage getroſt und getreulich: ja.“


Wir aber waren daheim mit unſeren Gedanken unausgeſetzt
um ſie, getheilt zwiſchen Furcht und Hoffnung. Und auch am
13. October Abends verſammelten wir uns Alt und Jung wieder
in der erleuchteten Kirche zu Siethen und beteten unter vielen
Thränen um Erhaltung ihres theuren Lebens. Aber um eben dieſe
Stunde ging ihre Seele in die ewige Heimath ein.


Ihre Hülle wurde nach Siethen übergeführt und im Beiſein
vieler Hunderte von nah und fern begraben. Auch das alte
Fräulein von Goertzke kam von Groß-Beuthen her herüber und
ſagte bewegt: „Es war doch ein reich geſegneter Tag, an dem ſie
auf dieſe Erde kam.“


Alles, was der Mutter noch an Lebensfreude geblieben war,
war nun dahin, und das einfache Haus, das ſeitens der Tochter
vor wenig Jahren erſt zum Troſte Verwaiſter gegründet worden
war, es war jetzt wie mitgegründet für ſie. Denn ſie war auch
verwaiſt, eine verwaiſte Mutter, und der Tochter zu folgen der einzige
Wunſch noch, der ihr Herz erfüllte. Sie ſehnte ſich nach Wieder-
vereinigung mit ihr und als der Todes-Jahrestag gefeiert werden ſollte,
ſagte ſie: „Mir iſt, als ob wir heut ihren Geburtstag feierten.
Ich fühle mich fremd und allein hier und möchte ſie doch nicht
wiederſehn auf dieſer armen Erde.“


Von Aufgaben war ihr nur noch eine geblieben: Ausführung
alles deſſen, was der Tochter einſt ein Wunſch geweſen. Und ſie
begann damit. Aber eh ein Jahr um war, unterbrach ein neuer
Todesfall das eben erſt Begonnene: die verwittwete Gräfin Schlab-
rendorf ſtarb und hinterließ ihr, der Schwägerin, das Groebener
Erbe. Dies hätte nun unter Umſtänden eine Freude ſein können,
aber es entſprach wenig den Frau v. Scharnhorſt’ſchen Anſprüchen
[392] und Neigungen, und von dem Augenblick an faſt, wo ſie das
Erbe hatte, beſchäftigte ſie der Wunſch es wieder los zu ſein. Sie
fühlte ſich durch daſſelbe nicht gefördert und gehoben, ſondern nur
beengt und gebunden in dem, was ihr einzig und allein noch in
der Seele lag, und ſo kam ſie zu dem Entſchluſſe, beide Güter
zu verkaufen. Aber an wen? „Nur an einen Wohlhabenden,“ ſo
ſchrieb ſie, „der meinen braven Leuten, wenn ſie des Beiſtandes
bedürftig ſind, dieſen Beiſtand auch leiſten kann und leiſten
will — nur an einen wohlhabenden Mann von ehrenwerther
und frommer Geſinnung will ich die Güter verkaufen, ohne Rück-
ſicht auf einen höheren oder geringeren Preis.“ Einen ſolchen
Käufer glaubte ſie ſchließlich in Herrn v. Jagow-Rühſtaedt, Erb-
jägermeiſter der Kurmark Brandenburg, gefunden zu haben, der
denn auch, nach längeren Unterhandlungen, die beiden Güter für
die Summe von 120,000 Thalern an ſich brachte. Sie ſelbſt er-
hob nur noch den Anſpruch: in Groeben das Herrenhaus beziehen
und es auf Lebenszeit als ihren Wittwenſitz anſehen zu dürfen.
Dieſe Bedingung wurde gern erfüllt, und im Frühjahr 1860 er-
folgte Frau v. Scharnhorſts Ueberſiedlung aus dem Herrenhauſe
zu Siethen in das zu Groeben. Es wurd’ ihr ſehr ſchwer, dieſer
Umzug und Ortswechſel, und ich finde darüber in einem mir vor-
liegenden Schweſtern-Briefe das folgende. „Frau v. S. ließ mich
rufen, und wir waren nun das letzte Mal in dem traulichen
Siethner Herrenhauſe zuſammen, in dem ſie 34 Jahre lang in
Segen gewirkt hatte. Sie war ſehr ernſt, las mit mir das
42. Hauptſtück aus Thomas a Kempis Nachfolge Chriſti und rief
dann ihre Leute herein, um ſich von ihnen zu verabſchieden. Alles
weinte. Danach erhob ſie ſich, ſah ſich noch einmal in den alten
Räumen um und ging endlich, meine Hand ergreifend, mit mir
nach dem Aſyl-Hauſe hinüber. Da legte ſie ſich nieder und erſt
als ſie wieder Faſſung gewonnen hatte, fuhr ſie nach Groeben,
das nun, wider ihren Willen, ihr neues Heim geworden war.“


In dieſem lebte ſie noch ſieben Jahr, all jenen Aufgaben hinge-
geben, die die ſchöne Hinterlaſſenſchaft ihrer Tochter Johanna bildeten.
An die Stelle des alten Fachwerkhauſes in Siethen, das fünf Jahre
lang nnd länger als Zufluchts- und Pflegeſtätte gedient hatte,
trat ein maſſiver Neubau, der den Namen „Tabea-Haus“ er-
[393] hielt, auf dem Kirchhof ebendaſelbſt entſtand eine Grabcapelle
nebſt einer daran anſchließenden geräumigen Leichenhalle, vor
allem aber wurd’ ein Capital angeſammelt und deponirt, aus
dem, nach Ablauf einer beſtimmten Friſt, ein Pfarrhaus und eine
ſelbſtſtändige Siethner Pfarre gegründet werden ſollte. Die Durch-
führung all dieſer Pläne bot ihr das, was ihr ein immer ein-
ſamer werdendes Leben überhaupt noch bieten konnte: den Troſt
und die Freude der Arbeit. Ebenſo wuchs ihre Liebe zu den
Kindern, deren Heiterkeit ſie ſuchte, wie der Fröſtelnde die
Sonne ſucht.


Endlich aber war die Stunde da, nach der ſie ſich ſeit lange
geſehnt. „Als ich von Siethen herüber kam und ihre Hand faßte,
kannte ſie mich nicht mehr; ſie war ohne Bewußtſein. Der Geiſt-
liche las ihr, wie ſie’s in geſunden Tagen eigens gewollt hatte,
Bibelſprüche vor, von denen ſie den ſchönen Glauben unterhielt,
daß dieſelben auch ihren umnachteten Geiſt [durchdringen], ihr Herz
erheben und Troſt und Heil ihr ſpenden müßten. Und unter dieſen
ſchönſten und ſchlichteſten Litaneien ſchlief ſie hinüber.“


„An geiſtiger Bedeutung,“ ſo darf ich brieflichen Mittheilungen
entnehmen, „ſtand Frau v. Scharnhorſt der Gräfin Leo Schlab-
rendorf nach, aber ſie war dieſer an Gemüth und Zartheit über-
legen. Und dieſer Zartheit unerachtet auch an Originalität.
Es war dies der Schlabrendorfſche Zug in ihr, etwas Geniales,
Sprunghaftes und Blitzendes, das, ſo gemildert es auftrat, doch
gelegentlich an den excentriſchen Vater erinnerte.


Ihrer Liebenswürdigkeit vermochte nicht leicht wer zu wider-
ſtehn, und Perſonen gegenüber, zu denen ſie ſich hingezogen fühlte,
bezeigte ſie ſich von einer Anmuth, von der ſchwer zu ſagen war,
ob ſie mehr aus ihrer Gefühls- oder ihrer Denkart entſproß.
Sie hatte den ganzen Zauber der Wahrhaftigkeit und einer chriſtlich
edlen Geſinnung.


Am ausgeſprochenſten aber erwies ſich ihr Weſen in ihrer
Pflichterfüllung und Hingebung, die vielfach den Charakter abſoluter
Selbſtverleugnung an ſich trug. Es war ihr Bedürfniß, ihr eignes
Glück dem andrer zum Opfer zu bringen. Vielleicht (wenn dies
je möglich iſt) ging ſie hierin um einen Schritt zu weit.“


[394]

Ein andrer Zug ihres Charakters war ihre Gleichgültigkeit
gegen irdiſchen Beſitz, ja faſt ihre Verachtung deſſelben, und noch
ihre letzten Lebensjahre gaben einen glänzenden Beweis davon. In
derſelben Stunde faſt, in der ſeitens des Herrn v. Jagow die
Kaufſumme für Groeben und Siethen an ſie gezahlt worden war,
erſchien ein Anverwandter vor ihr, um ihr ſeine Verlegenheiten
zu ſchildern. Verlegenheiten, die nicht klein waren und un-
gefähr wenigſtens an die Höhe der eben empfangenen großen
Summe heranreichten. Einen Augenblick zögerte ſie, weil die
Plötzlichkeit und Berechnetheit des Ueberfalls ihr eine nur zu be-
greifliche Mißſtimmung bereitete, dann aber holte ſie mit nervöſer
Haſt alle die kaum erſt in ihren Taſchen untergebrachten Päckchen
aus eben dieſen Taſchen wieder hervor und ſchob ſie haſtig und
ſtoßweiſe dem faſt eben ſo verdutzt wie glückſelig und verhimmelnd
Daſtehenden zu, der aus jeder dieſer Bewegungen entnehmen
mußte, daß ſie das Geld aber freilich auch den Empfänger ſo bald
wie möglich los zu ſein wünſche.


Hieran knüpf’ ich noch, was ich den Aufzeichnungen einer
ſchon an anderer Stelle citirten Kaiſerswerther Schweſter ent-
nehmen konnte: „Mit Frau von Scharnhorſt zu verkehren oder ſie
zu kennen, ohne ſie zu lieben, wäre für jeden Menſchen unmöglich
geweſen. Wenn eins unſerer Kinder erkrankte, beſtand ſie darauf,
die Nachtwachen mit uns zu theilen. Ein andermal, als Fräulein
Johanna noch ſpät am Abend nach einem eine Stunde Wegs ent-
fernten Dorfe gerufen wurde, wollte ſie die Tochter bei ſo ſpäter
Stunde den einſamen Weg nicht machen laſſen, und als dieſe
hinwiederum nicht abließ, auf die Hilfe hinzuweiſen, die zu bringen
ihre Pflicht ſei, ging die Mutter ſelbſt, aller Tagesmüdigkeit un-
erachtet.


„Unter dem vielen, was ihr oblag, war auch das Oekono-
miſche, die geſammte Wirthſchaftsführung, und es zählte mitunter
zu den allerſchwierigſten Aufgaben, alle Kranken und ſonſtigen
Hausinſaſſen aus ihrer, der Frau v. Scharnhorſt Küche, mit zu
verſorgen. Als ich dann ſpäter ſelbſt das Wirthſchaftliche lernte,
ſchien es mir mitunter, als verführe ſie zu peinlich und accurat und
mache mir die Lehrzeit ſchwerer als nöthig. Aber ſpäter hab’ ich
[395] einſehen gelernt, wie dankbar ich ihr gerade für dieſe ſtrenge
Schule zu ſein hatte.


„Schön war auch das an ihr, daß ſie durch Enttäuſchungen
und Fälle von Vertrauensbruch — immer vorausgeſetzt daß es
ein Sachliches war und nicht allerunmittelbarſt ihre Perſon traf
— in ihrem Allgemein-Vertrauen nicht erſchüttert wurde. Sie
beklagte dann wohl das einzelne Vorkommniß, aber ließ es keinen
Einfluß auf ihre nur auf Troſt und Hilfe gerichteten Entſchlüſſe
gewinnen.“


Selbſtverſtändlich miſchten ſich auch menſchliche Schwächen in
ihr Thun, und das Nachſtehende, das mir von andrer Seite
her zugeht und ihrem Bildniß ein paar Schattentöne giebt, wird
daſſelbe nur um ſo ſprechender und anziehender machen.


„Unzweifelhaft, Frau v. S. war eine durchaus vornehme
Natur und ausgerüſtet mit allen Tugenden eines edlen und groß-
müthigen Herzens. Aber Eines fehlte ihr: die rechte Freudigkeit
der Seele, was ich doch mehr als einmal als einen wirklichen
Mangel empfunden habe. Sie ſtand nicht nur in der Melancholie,
nein, ſie pflegte ſie direct, und das alte Fräulein v. Görtzke traf
es durchaus, als ſie mal in ihrer humoriſtiſch-treuherzigen Weiſe
ſagte: „Frau Johanna fühlt ſich nur wohl, wenn ſie neben ihrer
alltäglichen Sorge noch ein ganz beſonderes Unglück in der Taſche
hat.“ In der That, es war ihr von Jugendtagen an viel aufer-
legt worden, indeſſen doch nicht ſo viel, daß nicht ein glücklicheres
Naturell es hätte bemeiſtern können. Sie wollt’ es aber nicht
und ſuchte nur umgekehrt nach allem Bittren des Daſeins, das
für ſie längſt das Süße geworden war. In ihrem feinen Nerven-
leben auf jedes Kleinſte reagirend, leicht empfindlich und verletzt,
und als echte Schlabrendorf auch Stimmungen und ſelbſt Launen
unterworfen, gelang es ihr nicht zu jenem ſchönen Frieden der
Seele durchzudringen, nach dem ſie ſich beſtändig ſehnte. Sie
verzieh Kränkungen völlig, aber ſie vergaß ſie nicht, und ſo blieb
ihr beſtändig ein Stachel im Gemüthe, der ſein Weſen dadurch
nicht einbüßte, daß er ſich zumeiſt und in erſter Reihe gegen ſie
ſelber richtete. So wurde ſie denn, alles Kämpfens und Strebens
unerachtet, von Jahr zu Jahr immer bitterer, und viele kleine
Züge legen Zeugniß davon ab. Einer, als beſonders charakteriſtiſch,
[396] mag hier eine Stelle finden. Es exiſtirten zwei Bilder von ihr,
die der Düſſeldorfer Profeſſor Hildebrandt in den Tagen ſeiner
und ihrer Jugend gemalt hatte. Das eine dieſer Bilder beſaß ſie
ſelbſt, das andere war eine Copie, die ſich ihr Bruder, Graf Leo,
bei demſelben Maler beſtellt hatte. Auch dies zweite Bild kam
in ihren Beſitz, als ſie, nach dem Tod ihrer Schwägerin, der
Gräfin Emilie von Schlabrendorf, die Groebner Erbſchaft ange-
treten. Aber davon ausgehend, daß ihr Andenken und Gedächtniß
in keinem Herzen, ihre Siethner Gemeinde vielleicht ausgenommen,
liebevoll fortleben werde, war es ihr widerwärtig, ihre Bilder in
die Hände fremder und gleichgültiger Menſchen übergehen zu
ſehen. Und ſo ließ ſie denn im Sommer 66, in demſelben Som-
mer der ihrem Tode vorausging, beide Bilder wohlverpackt in eine
Gondel bringen, ſtieg ſelbſt hinein, fuhr mitten auf den Groebner
See hinauf und verſenkte ſie daſelbſt. Mit den Bildern zugleich
allerhand Briefſchaften und Erinnerungen aus ihrer Jugendzeit.“


Auf dem Siethner Kirchhofe ruht ſie neben der ihr voraufge-
gangenen Tochter, und die Schöpfungen beider umſtehen ihr Grab.
An den Schluß ihrer Lebensſchilderung aber ſtell’ ich folgende
Worte: „Zu dem ſeltenen Glück einer harmoniſchen Ueberein-
ſtimmung in Lebensauffaſſung, häuslichem Verkehr und Freundes-
umgang geſellte ſich hier als ſeltenſte der Gnaden eine jeden Tag
neu geſegnete Thätigkeit, eine Wirkungsſphäre, wie ſie ſich
einer ſtillen und hingebenden Liebe zwar nicht ohne Müh und
Arbeit, aber doch ihrer ganzen Natur nach faſt wie von ſelber
erſchloß.“


III.
Groeben und Siethen jetzt.


Herr Carl v. Jagow, Erbjägermeiſter der Kurmark, hatte,
wie hervorgehoben, Groeben und Siethen im Herbſt 1859 er-
worben. Er blieb aber perſönlich auf ſeiner vätertichen Beſitzung
Rühſtaedt bei Wilsnack in der Priegnitz und übertrug die Ver-
waltung der beiden Teltow-Güter einem ausgezeichneten Land-
wirthe, der denn auch ohne Verzug allerlei Verbeſſerungen ein-
[397] leitete. Dieſe waren in der That nöthig geworden, da, ſeit dem
Tode Graf Leo’s alles zurückgegangen oder doch ins Stocken ge-
rathen war. Das Intereſſe der Frauen drehte ſich eben um an-
dere Fragen als landwirthſchaftliche. Mit Wieſen-Culturen und
Bruch-Entwäſſerungen, an die ſich bald auch eine lohnendere Be-
handlung der Forſtreviere ſchloß, wurde begonnen und in raſcher
Reihenfolge folgten Wirthſchaftsgebäude, Tagelöhner-Häuſer und
Etabliſſements aller Art. Auch eine neue Brennerei ward als
unerläßlich hergerichtet, da das, was ſich aus alter Zeit her noch
ſo nannte, kaum noch dieſen Namen verdiente.


Zugleich aber war der Wunſch des Herrn v. Jagow, eines Be-
ſitzes wieder los und ledig zu ſein, der viel Anforderungen und wenig
Erträge mit ſich brachte, von Jahr zu Jahr gewachſen, und er
verkaufte deshalb beide Güter im Jahre 79 für die Summe von
180,000 Thalern an den Engros-Kaufmann Badewitz in Berlin.
Seitens dieſes Letzteren iſt, der kurzen Spanne Zeit unerachtet,
bereits viel geſchehen und (um nur eines zu nennen) ein geſchmack-
volles und modernen Anſprüchen mehr entſprechendes Herrenhaus
in Siethen errichtet worden.


Groeben jetzt.

Groeben gilt bei ſeinen Bewohnern und faſt mehr noch bei
ſeinen Sommerbeſuchern als ein ſehr hübſches Dorf. Ich
kann aber dieſer Auffaſſung, wenn es ſich um mehr als ſeine
bloße Lage handelt, nur bedingungsweiſe zuſtimmen. Groeben
hat ein märkiſches Durchſchnitts-Anſehen, iſt ein Dorf wie andre
mehr, und alles was als bemerkenswerth hübſch in ſeiner Erſchei-
nung gelten kann, iſt ſeine von einem hohen Fliedergebüſch, darin
die Nachtigallen ſchlagen, umzirkte Kirche.


Dieſe Kirche wurde gegen Schluß des 13. Jahrhunderts er-
baut, und zwar aus Feldſtein, wie die meiſten unſerer Dorfkirchen
aus jener Epoche. Wie viele Wandlungen dieſelbe während einer
vielhundertjährigen Zeit erfahren hat, iſt ſchwer feſtzuſtellen, und
ich beſchränke mich auf Hervorhebung der zuletzt erfolgten. Es
war dies ein vollſtändiger Um- und Neubau, der in den fünf-
[398] ziger Jahren auf Veranlaſſung der Gräfin Schlabrendorf geb.
v. Ryſſel durch den damaligen Baumeiſter, jetzigen Geheimen
Baurath Adler begonnen und 1860, zwei Jahre nach dem Tode
der Gräfin, beendigt wurde. Baumeiſter Adler, bekanntlich auch
Archäolog, hatte ſich ſeiner Aufgabe pietätvoll unterzogen und nicht
nur das alte Feldſteinmauerwerk aus dem 13. Jahrhundert beibe-
halten, ſondern auch alles Neu-herzuſtellende, wie Kanzel*), Altar,
Taufe, dem frühgothiſchen Stile jener Epoche nachzubilden gewußt.
In eben dieſem Stile wurde zuletzt auch eine jetzt rechts neben
dem Altar hängende, vom Generallieutenant Grafen zu Dohna her-
rührende Tafel geſtiftet, auf der wir folgender Inſchrift in
Goldbuchſtaben auf dunklem Grunde begegnen: „Frau Gräfin
Emilie v. Schlabrendorf, geb. v. Ryſſel, ſtiftete durch Teſtaments-
Legat den Neubau der Kirche. Frau Johanna v. Scharnhorſt,
geb. Gräfin v. Schlabrendorf ließ den Bau der Kirche ausführen
und 1860 vollenden.“


Von ſo bemerkenswerther Schönheit alle dieſe Details ſind,
ſo werden ſie doch an Intereſſe von dem übertroffen, was Sei-
tens des Baumeiſters aus der alten Kirche mit in die neue hin-
über genommen wurde: Grabſteine, Glasfenſter, Schildereien.


An Grabſteinen war, als es an ein Abtragen und Nieder-
reißen ging, eine Fülle vorhanden, die nur noch durch die Fülle
von Särgen übertroffen wurde, die, dicht nebeneinander, in einer
unterm Altar in Kreuzesform angelegten Gewölbe-Reihe ſtanden.
[399] Alle dieſe Gewölbe, weil ſie mit Einſturz drohten, mußten zuge-
ſchüttet werden und ſo kam es, daß uns verſchiedene mit mehr
oder weniger intereſſanten Inſchriften und Emblemen verſehene
Särge verloren gingen. Von den Grabſteinen dagegen ſind uns
an zehn oder zwölf erhalten geblieben, die, der Mehrzahl nach, in
den Chor-Umgang eingemauert, eine maleriſche Niſchenwand hinter
dem Altar bilden. Alle ſind vorzüglich erhalten und wenigſtens
eines derſelben mag hier eingehender gedacht werden. Es iſt dies
der Grabſtein eines jungen, ſchon in den Kirchenbuch-Auszügen
erwähnten Schlabrendorfs, der bei Mollwitz fiel. Die In-
ſchrift lautet: „Steh Sterblicher und betrachte die unvergängliche
Kron’, welche erlanget hat der Hochwohlgeborene Ritter und Herr,
Herr Johann Chriſtian Siegmund v. Schlabrendarf, Sr. K.
Majeſtät in Preußen bei Dero Infanterie unter dem hochlöblichen
Regiment Sr. Excellenz des Herrn Generallieutenants v. d. Mar-
witz hochverdienter Lieutenant, Herr der Güter Groeben, Beuthen,
Jütchendorf und Waßmannsdorf, welcher den 20. Dezember 1711
auf dem Hauſe Groeben geboren und den 10. April 1741 in der
zwiſchen der Preußiſchen und der Oeſterreichiſchen Armee bei
Mollwitz in Schleſien vorgefallenen ſcharfen Aktion, in der auf
Seiten der Preußiſchen der Sieg geblieben, durch einen Musqueten-
ſchuß, ſo ihn durch den Kopf getroffen, für Gottes, des Königs
und des Vaterlandes Ehr’ und Rechte, ſeinen Heldengeiſt auf-
gegeben, nachdem er ſein Alter gebracht auf 29 Jahr und 4
Monat.“


Ein andrer Schlabrendorf, der 55 Jahre früher vor Ofen
fiel und auch ebendaſelbſt begraben wurde, hat ſelbſtverſtändlich
keinen Grabſtein in Groeben, ſondern nur eine Gedächtnißtafel,
mit einer Malerei darüber. Man ſieht einen Fluß (die Donau),
an deſſen Ufer hüben und drüben zwei baſtionsartige Feſtungs-
werke: Peſt und Ofen, liegen. Ueber dem einen Feſtungswerke
ſteht eine große, rauchumhüllte Feuerkugel, die muthmaßlich als
eine platzende Bombe gelten ſoll. Eine naive ſymboliſche Dar-
ſtellung eines durch Bombardement erlittenen Todes. Darunter
ſteht: Der hochedelgeborene Herr, Herr Guſtavus Albertus v. Schla-
brendorf, iſt geboren Anno 1665 den 21. Juni, ſein Leben aber
[400] hat er beſchloſſen am 15. Juli Anno 1686 als Fähnrich und
tapfrer Soldat in Sr. Churfürſtlichen Durchlaucht von Branden-
burg Armee vor der Feſtung Ofen in Ungarn.


So griff der tapfre Held zugleich den Erbfeind an,

Sein unerſchrockner Muth ließ ſeine Kraft nicht fallen,

Es war ihm nur zur Luſt Carthaunen hören knallen,

Und rühmet jedermann, was dieſer Held gethan.

Wohl, ſeine Tapferkeit nun auch ſein Leben zeigt,

Das er für’s Vaterland beherzt hat hingegeben,

Es ſoll ſein Nam’ und Ehr bei Mit- und Nachwelt leben,

Unſterblich Der deß Ruhm bis an die Wolken ſteigt.

So viel über die Schildereien und Grabſteine. Wichtiger iſt
das ſchon erwähnte Glasfenſter mit dem Schlabrendorf’ſchen
Wappen und der Biſchofsmütze darüber, das mit großer Wahr-
ſcheinlichkeit als ein Geſchenk des Havelberger Biſchofs, Johann
v. Schlabrendorf, anzuſehen iſt. Außer ſeinem hiſtoriſchen In-
tereſſe hat es auch ein kunſthiſtoriſches, inſoweit es uns ein Bei-
ſpiel (deren es wohl nicht allzu viele mehr geben dürfte) von der
Art und Weiſe der zu Beginn des 16. Jahrhunderts in unſrer
Mark in Uebung geweſenen Glasmalerei giebt.


Aus der Kirche ſchreiten wir nunmehr dem Dorfausgange
zu, wohin der Kirchhof um’s Jahr 1811 verlegt wurde. Schon
das Jahr darauf empfing der neue Begräbnißplatz ein Sandſtein-
monument, deſſen auffallende Stattlichkeit ſich bei der in den
Kriegsjahren überall herrſchenden Armuth einzig und allein aus
der Aufregung erklären läßt, die damals in Veranlaſſung eines
beſonderen Unglücks- und Todes-Falles in der Groebener Ge-
meinde hervorgerufen wurde. Noch jetzt lebt die Geſchichte fort
und wird mit muthmaßlichen Ausſchmückungen wie folgt erzählt.


Es war die Zeit, wo wieder, wie alljährlich, das zu drei,
vier Stämmen zuſammengebolzte Floßholz in langer langer Linie die
Nuthe herunterkam, um erſt bei Potsdam in die Havel und dann
bei Havelberg in die Elbe zu gehn. Und wie gewöhnlich hatte
man auch diesmal wieder allerlei Mannſchaften an Bord com-
mandirt, die, mit Rudern und Stangen in der Hand, durch be-
ſtändiges Abſtoßen vom Ufer das Auf- und Feſtfahren des Floß-
holzes hindern mußten. Es waren ihrer elf, lauter junge Burſche
[401] von Trebbin und Thyrow her, darunter auch des Groebener
Kiezer-Schulzen älteſter Sohn. Denn Groeben, totzdem es nur
ein kleines Dorf iſt, hat doch ein wendiſches Anhängſel, einen
„Kiez“, auf dem die Fiſcher wohnen bis dieſen Tag. Und auf
dem Floſſe war gute Zeit, und immer die, die nicht Dienſt hatten,
hatten ſich’s bequem gemacht und lagen auf Strohbündeln in
einer großen Bretterhütte. Da vergnügten ſie ſich und trieben
allerlei Kurzweil und trieben es arg. Es war aber Sonntag und
um die neunte Stunde zog ein Wetter herauf, wie noch keines
hier geweſen, und war ein Blitzen als ob feurige Laken am Himmel
hingen. Und Einer, dem es bang um’s Herz wurde, war vor
die Hüttenthür getreten und betete zu Gott, daß er ſich ihrer er-
barmen und ein Ende machen und ihnen den erlöſenden Regen
ſchicken möge. Denn es war ein Trockengewitter und noch kein
Tropfen gefallen. Des Kiezer-Schulzen Sohn aber und ein Koſ-
ſäthenſohn aus Thyrow, die verſpotteten ihn und luden ihn wieder
hinein (hell genug ſei’s ja), da wollten ſie knöcheln. Und ſie
fingen auch an, und der Thyrower warf dreizehn, weil ihm der
eine Würfel zerſprang. Aber in ſelbem Augenblicke fuhr es auch
nieder und war Blitz und Schlag und alles entſetzte ſich und ſtob
auseinander — alles was in der Hütte gelegen hatte. Nur die bei-
den Spötter nicht, die lagen todt auf dem Floß und lagen da
bis an den andern Morgen, wo man ſie zu holen kam. Auch
von Thyrow kamen welche. Des Kiezer-Schulzen Sohn aber kam
auf den Groebener Kirchhof und war der erſte, den ſie da begru-
ben, und kriegte den Stein und die Inſchrift darauf. —


Faſt unmittelbar neben dieſem Stein iſt die Grabſtätte Graf
Leo Schlabrendorfs und ſeiner Gemahlin. Es iſt ein umgitterter
Platz und der Sockel eines in Sandſtein ausgeführten Crucifixes,
das zu Häupten beider Gräber ſteht, trägt folgende Doppel-In-
ſchrift. Links: Ernſt Leopold Graf v. Schlabrendorf zu Groeben,
geb. 13. Mai 1794, geſt. 27. Juli 1851. Rechts: Caroline
Chriſtiane Emilie Gräfin v. Schlabrendorf, geb. v. Ryſſel, geb.
4. Oktober 1797, geſt. 2. September 1858.


Das Crucifix iſt einer ſüddeutſchen Arbeit nachgebildet und
zeichnet ſich durch Stil und Schönheit aus. Seine vergoldeten
Nägelknöpfe fielen ein paar vorüberziehenden Strolchen zum Raube,
Fontane, Wanderungen. IV. 26
[402] die hier mit frecher Hand eine Verſtümmlung übten; aber die Ver-
ſtümmlung hat dem Heilandsbild in nichts geſchadet, und nur
ernſter und ergreifender ſprechen ſeitdem ſeine dunklen Male.


Siethen jetzt.

Auch Siethen hat nur ein märkiſches Durchſchnitts-Anſehen,
verfügt aber, ebenſo wie Groeben, über Denkmäler, alte und
neue, von einem gewiſſen hiſtoriſchen Intereſſe. Dahin gehören
die Kirche, der Kirchhof und vor allem auch die Stiftungen, die
die beiden Scharnhorſtſchen Frauen, Mutter und Tochter, hier in’s
Leben riefen.


Unter dieſen Stiftungen ſteht das 1855 interimiſtiſch, in
ſeiner gegenwärtigen Geſtalt aber erſt 1860 als Erziehungs- und
Waiſenhaus gegründete Tabea-Haus obenan. Es iſt ein
ſchlichtes, einſtöckiges Gebäude, das baulich wenig auffällt. In einem
Vorgarten ſpielen Kinder und überraſchen ebenſo ſehr durch den
freundlichen Ausdruck ihrer Augen, wie durch die Sauberkeit und
Gleichförmigkeit ihrer Tracht. Ueber das Walten in dieſem
Hauſe, desgleichen über die Beſtimmung, Einrichtung und Aus-
ſchmückung ſeiner Räume, geh ich hinweg und begnüge mich eines
Bildes Erwähnung zu thun, das in dem in Front gelegenen Em-
pfangszimmer hängt. Es iſt ein von dem Maler Profeſſor Remy
herrührendes Bildniß Fräulein Johanna’s in Diakoniſſen-Tracht,
aus dem all das ſpricht, was ihr Weſen ausmachte: Güte, De-
muth, frommer Sinn und eine dem Irdiſchen bereits abgewandte
Freudigkeit. Auch jene blühenden Farben fehlen nicht, die, mehr
als damals geahnt, auf eine nur kurze Pilgerſchaft hindeuteten.


Gegenüber dem Tabea-Hauſe liegt die (wie die Groeben’ſche)
wohl auch dem dreizehnten Jahrhundert entſtammende Feldſtein-
kirche. Während aber die Groebner in den fünfziger Jahren
einen Neubau erfuhr, erfuhr die Siethner eine bloße Renovirung.
Dieſe richtete ſich unter anderm auch auf Wiederherſtellung der
ſehr maleriſchen aber zum Theil verblaßten und unſcheinbar ge-
wordenen Wappenſchilde, die die Wandung der Emporen um-
[403] kleideten und ungefähr einer Namens-Aufzählung aller Familien, mit
denen die Schlabrendorfs einſt verſippt und verſchwägert waren,
entſprachen. Aus der Reihe dieſer Familien nenn’ ich nur fol-
gende: Pfuel, Hake, Katte, Waldenfels, Wuthenow, Schlieben,
Putlitz, Krummenſee, Burgsdorff, Schulenburg, Thümen, Blumen-
thal, Schöning, Arnim, Wedel, Bellin. Ueber minder gekannte
geh’ ich hin und hebe nur noch hervor, daß es die beiden Couſinen:
Johanna v. Scharnhorſt und Agnes v. Scharnhorſt waren, die
ſich dieſer mühevollen und Jahr und Tag in Anſpruch nehmenden
Arbeit unterzogen.


Aus der Kirche treten wir auf den ſchönen im Schutze präch-
tiger Bäume gelegenen Kirchhof hinaus und werden an ſeiner
nordweſtlichen Einfaſſungsmauer eines anſehnlichen, in romani-
ſchem Stile gehaltenen Baues anſichtig, der unſere Neugier weckt.
Auf unſre Frage hören wir, daß es die ſchon erwähnte Grab-
capelle ſammt Leichenhalle ſei, die Frau von Scharnhorſt — auch
darin einem von der Tochter geäußerten Wunſche willfahrend —
um das Jahr 60 und zwar unter Aufwand ziemlich bedeutender
Mittel errichtet habe. Zu Nutz und Frommen der Siethner,
aber — nur in Abſicht und Vorſtellung. In Wirklichkeit iſt
noch kein Todter aus Siethen in dieſe Halle geſtellt und noch kein
Todten-Gebet über ihn hin in der unmittelbar anſtoßenden Capelle
geſprochen worden.


Und hier iſt nunmehr die Stelle gegeben, wo Kritik geübt
werden muß, ich weiß nicht ob mehr an den Siethnern oder an
den zwei frommen Frauen.


Dieſer Letzteren Thun und Wirken war unzweifelhaft in hohem
Maße ſegensvoll und förderte nicht blos, wie ſich ſtatiſtiſch nach-
weiſen ließe, jegliches Gute, ſondern ſtimmte die Dorfbevölke-
rung auch zu ganz aufrichtigem und in mehr als einem Falle zu
geradezu bewunderndem Dank. An dieſer erfreulichen Hauptſache
wird nichts geändert. Aber andrerſeits gingen beide Damen in
ihrem Hochfluge gelegentlich zu weit, und wie Kaiſer Joſeph einſt
dem öſterreichiſchen Volke mehr Aufklärung gab, als es haben
wollte, ſo gaben hier die Scharnhorſtſchen Damen ihren Siethnern
ein Maß von Fortſchritt, Wohlthat und Hilfe, das über das Ver-
26*
[404] ſtändniß und jedenfalls über Wunſch und Bedürfniß all derer
hinausging, die dadurch beglückt werden ſollten. Beide Damen
verkannten die bäuerliche Natur, unterließen es, die Macht der
Gewohnheit und Sitte gebührend in Rechnung zu ſtellen und
ſcheiterten deshalb in allem, was über die directe perſönliche
Hilfe hinauslag und im beſten Sinne reformatoriſch gemeint, auf’s
Allgemeine hin angeſehen ſein wollte.


Dies zeigte ſich bei jeder ihrer Stiftungen: bei Grabcapelle,
Leichenhalle, Tabea-Haus, und zwar in immer gleicher oder doch
verwandter Weiſe.


Die Grabcapelle ſammt Leichenhalle war darauf berechnet,
namentlich bei Typhus-Epidemien, vor den Gefahren der An-
ſteckung zu ſchützen. Aber das war lediglich im Sinne der Huma-
nität und keineswegs im Sinne der Siethner gedacht. In Siethen
verſtieß es gegen das Herkommen, und jeder Tagelöhner und
Büdner ſagte: „Gefahr hin, Gefahr her. Es paßt ſich nicht und
iſt ſchlecht und feige, ſolcher Gefahr aus dem Wege gehen zu wol-
len. Unſer Vater oder Kind iſt nun todt, iſt uns genommen nach
Gottes Willen, und ob wir’s bequem haben oder nicht, dieſer
Todte, ſo lang er über der Erde, gehört in unſer Haus und uns
liegt es ob an ſeinem Sarge zu wachen, unbekümmert darum ob
er uns nachzieht oder nicht.“ Es mag dies vor dem Verſtande
ſchlecht beſtehen, vor dem Herzen deſto beſſer, und ich habe nicht
den Muth einer Gemeinde zu grollen, die lieber ihre Leichenhalle
zerfallen ſehn als ihre Todten vor dem Begräbniß aus dem Auge
laſſen will.


Ein Aehnliches iſt es mit dem Tabea-Haus. Es kommt
— darin ſeine Beſtimmung erfüllend — allerdings Armen- und
Waiſenkindern zu gut, aber immer nur Waiſenkindern aus dieſer
oder jener oft ſehr entfernten Stadtgemeinde, während noch kein
Siethner Kind als Pflegling in das Haus aufgenommen werden
konnte, ſelbſt dann nicht, wenn beide Eltern weggeſtorben waren.
Es iſt eben in ſolchem Falle der nächſten Anverwandten Amt und
Ehrenſache für die Verwaiſten einzutreten, und ſie würden ſich mit
einem nicht zu tilgenden Makel behaften, wenn ſie ſich dieſer
Pflicht entſchlagen wollten.


[405]

Und ablehnend wie gegen Tabea-Haus und Leichenhalle verhalten
ſich die Siethner auch gegen die Wohlthat einer ſelbſtändigen Pfarre,
trotzdem ihnen, wie ſchon hervorgehoben, ein ſehr bedeutendes und
vollkommen ausreichendes Capital zu dieſem Zwecke zugeſichert
wurde. Hier ſpricht nun freilich außer Gewohnheit und Pietät
auch noch ein drittes und viertes mit: Argwohn und unendliche
Schlauheit. Aus Tradition und eigner Erfahrung weiß der Bauer,
daß ſich an jedes Geſchenk über kurz oder lang eine Pflicht zu
knüpfen pflegt, und dieſer aus dem Wege zu gehn, iſt er unter
allen Umſtänden entſchloſſen. Ein Pfarrhaus iſt bewilligt worden,
gut; aber es kann doch eine Zeit kommen, ja, ſie muß kommen
dieſe Zeit, wo die Fenſter im Pfarrhauſe ſchlecht, die Staketen-
zäune morſch und die Dachziegel bröcklig werden. Und wer tritt
dann ein? von wem erwartet man dann die Hilfe? Natürlich
von der neuen Kirchengemeinde, der der neucreirte Herr
Pfarrer nunmehr vielleicht ſeit lange ſchon, ſeit einem Menſchen-
alter und länger in Ehren und Würden vorgeſtanden hat.
Und das will der Bauer nicht. Er weiß nichts von timeo
Danaos,
aber er hat alle darin verborgene Weisheit und Vorſicht
in ſeinem Gemüthe und jederzeit abgeneigt den Beutel zu ziehen,
auch wenn es ſich erſt um weit, weit ausſtehende Dinge handelt,
bleibt er lieber Filial, als daß er ſich der Auszeichnung eines
eignen Pfarrſitzes*) erfreuen ſollte.


Der Kirchhof, auf den wir jetzt zurücktreten, iſt reich an
Steinen und Kreuzen, auf denen einzelne klangvolle Namen zu
leſen ſind. „Ernſt Carl Leopold v. Uslar-Gleichen“ und an andrer
Stelle: „Hier ruht Frau Clara v. Chaumontet, geb. Gräfin zu
Dohna“. Beide waren Scharnhorſt’ſche Verwandte, die hier vom
[406] Tod überraſcht oder doch zu früher Lebensſtunde von ihm
gebannt und feſtgehalten wurden.


Aber auch ſolche ruhen hier, die der Tod an dieſe Stelle
nicht unerbittlich bannte, ſondern die ſich’s umgekehrt als einen
letzten Wunſch ausbaten, hier ruhen zu dürfen. „Ihrem
Wunſche gemäß
ruht hier Sophie Eliſabeth Luiſe Honig, ge-
boren zu Berlin den 17. März 1790, geſtorben ebendaſelbſt den
21. November 1843.“ Ihr Vater hatte Siethen bis Ende des
Jahrhunderts beſeſſen, und in Kindertagen hatte ſie hier geſpielt.
Hier zwiſchen den Gräbern. Es war ihr in Erinnerung geblieben,
und nun verlangte ſie’s nach dieſer Stelle, der einzigen vielleicht,
an der ſie glücklich geweſen war.


Eine größre, von einem Eiſengitter eingefaßte Grabſtätte liegt
in der Mitte des Kirchhofs, faſt dem Tabeahauſe gegenüber. Es
iſt die Stätte, wo beide Johanna v. Scharnhorſts, Mutter und
Tochter ruhn. Ein Stein-Crucifix, wie das Groeben’ſche, ſteht zu
Beider Häupten und nur zu Füßen des Gekreuzigten erhebt ſich
an dieſer Stelle noch eine zweite Figur: eine betende Maria.
Blumen und Epheu wachſen über die Gräber hin und Trauer-
Eſchen umſtehen das Gitter. In den Sockel des Crucifixes aber
ſind folgende Namen und Daten eingetragen: „Johanna v. Scharn-
horſt, geborne Gräfin v. Schlabrendorf, geboren am 22. April
1803, geſtorben am 6. Januar 1867.“ Und links daneben:
„Johanna v. Scharnhorſt, den 16. November 1825 zu Trier geboren,
den 13. October 1857 zu Wildbad dem Herrn entſchlafen“.


Und nun nehmen wir Abſchied und ſchreiten ohne weitre
Säumniß aus dem Dorf auf die ſchmale Damm-Stelle zu, die,
genau halbenwegs zwiſchen den Schweſterdörfern, eine mit wenig
Bäumen beſtandene Landenge bildet und nach rechts hin einen
Blick auf den Siethner und nach links hin auf den Groebener
See geſtattet.


In gleicher Schönheit breiten ſich beide vor uns aus, aber
während der mehr flachufrige Groebener See ſich endlos auszu-
dehnen und erſt am Horizont inmitten einer im blauen Dämmer
daliegenden Hügelkette ſeinen Abſchluß zu finden ſcheint, iſt der
[407] Siethner enger und dichter umſtellt und die Parkbäume neigen
ſich über ihn und ſpiegeln ſich darin. Auf beiden aber ruht der-
ſelbe Frieden und dieſelbe Schwermuth. Und dieſe Schwermuth
iſt ihr Zauber. Ein matter Luftzug geht und nur matter noch
geht und klappert die Mühle. Die Waſſerente taucht, und aus
der Tannenſchonung ſteigt ein Habicht auf, um die letzten Son-
nenſtrahlen einzuſaugen, — jetzt aber verflimmert es roth und
golden im Gewölk und im ſelben Augenblicke ſchießt er wieder in’s
Dunkel ſeiner Jungtannen nieder.


Auch die Mühle ſchweigt und der Wind. Und Alles iſt ſtill.


[[408]]

Der Scharnhorſt-Begräbnißplatz
auf dem Berliner Invalidenkirchhof.


„Grüß euch Gott, ihr theuren Helden!
Kann euch frohe Zeitung melden:
Unſer Volk iſt aufgewacht.
Deutſchland hat ſein Recht gefunden,
Schaut, ich trage Sühnungswunden
Aus der heilgen Opferſchlacht.“
Max v. Schenkendorf.

Johanna von Scharnhorſt ruht auf dem Dorfkirchhofe zu
Siethen, alle anderen v. Scharnhorſts aber, Kinder wie Enkel,
ruhen auf dem Invalidenkirchhofe zu Berlin und zwar in einem
Halbkreis um das ihrem berühmten Vater, beziehungsweiſe Groß-
vater ebendaſelbſt errichtete Grabdenkmal her.


Dies Grabdenkmal entſtand in den zwanziger Jahren, einer
Gegenſtrömung unerachtet, an der es damals nicht fehlte und
auch viel früher ſchon nicht gefehlt hatte. Die Anfänge davon
zeigten ſich bereits unmittelbar nach dem Tode Scharnhorſts im
Hochſommer 1813, als ſich’s um Veröffentlichung eines bloßen
Nachrufs handelte, den Clauſewitz und Gneiſenau gemeinſchaftlich
abgefaßt hatten. Es mag geſtattet ſein, bei dieſem Vor-Ereigniß
einen Augenblick zu verweilen. Der Nachruf lautete:


„Am 28. Juni ſtarb zu Prag an den Folgen der bei Groß-
Görſchen erhaltenen Wunde der K. preußiſche Generallieutenant
von Scharnhorſt. Er war einer der ausgezeichnetſten Männer
unſerer Zeit. Das raſtloſe, ſtetige, planvolle Wirken nach einem
[409] Ziele, die Klarheit und Feſtigkeit des Verſtandes, die umfaſſende
Größe der Einſichten, die Freiheit von Vorurtheilen des Her-
kommens, die ſtolze Gleichgiltigkeit gegen äußere Auszeichnungen,
der Muth in den unſcheinbarſten Verhältniſſen mit den ſchlichteſten
Mitteln durch bloße Stärke des Geiſtes den größten Zwecken nach-
zuſtreben, jugendlicher Unternehmungsgeiſt, die höchſte Beſonnen-
heit, Muth und Ausdauer in der Gefahr, endlich die umfaſſendſte
Kenntniß des Kriegsweſens machen ihn zu einem der merkwürdigſten
Staatsmänner und Soldaten, auf welche Deutſchland je ſtolz
ſein durfte.


„Billig und gerecht im Urtheil, ſanft und ruhig in allen
Verhältniſſen mit Anderen, freundlich, herzlich im ganzen Lebens-
umgange, war er einer der liebenswürdigſten Menſchen, die den
Kreis des geſelligen Lebens zieren.


„Was er dem Staate geweſen iſt und dem Volke und der
ganzen deutſchen Nation, mögen Viele oder Wenige er-
kennen, aber es wäre unwürdig, wenn Einer davon
gleichgiltig bliebe bei dem traurigen Todesfall
.


„Es müßte keine Wahrheit und Tiefe mehr in der menſch-
lichen Natur ſein, wenn dieſer Mann je von denen vergeſſen
werden könnte, die ihm nahe geſtanden, ihn verehrt und geliebt
haben.“


So der Nachruf, deſſen ſtaatlich-officielle Veröffentlichung
von Seiten ſeiner Verfaſſer (Gneiſenau und Clauſewitz) im Har-
denberg’ſchen Cabinete gefordert wurde. Dort aber ſtieß dieſe
Forderung auf Widerſtand, weniger bei dem Staatskanzler ſelbſt
als bei ſeinen Räthen J. und v. B., und weil man nicht direct
ablehnen wollte, bemängelte man Einzelnes und hob in einem an
Gneiſenau gerichteten Antwortſchreiben hervor, „daß das zweitletzte,
vorſtehend geſperrt gedruckte Alinea dunkel und eine Aenderung
deſſelben wünſchenswerth ſei; Scharnhorſts Verdienſte ſeien allge-
mein gefühlt und anerkannt.“


Gneiſenau jedoch war nicht umzuſtimmen und ſchrieb unterm
4. Juli von Patſchkau aus: „In eine Abänderung der als ‚dunkel‘
bezeichneten Stelle kann ich nicht willigen. Allgemein gefühlt und
anerkannt iſt Scharnhorſts Verdienſt keineswegs. Und wenn es
[410]nicht allgemein anerkannt iſt, warum dies nicht ſagen? Jeder
große Mann hat ſeine Freunde und ſeine Verunglimpfer, und ge-
rade darin, daß er es nicht darauf anlegte, Jedermann zu gefallen,
liegt ſeine Größe. So etwas muß daher bei einem ſolchen Tode
geſagt werden. Und wenn die bezweifelte Stelle, ungeachtet deſſen,
was ich zu ihrer Rechtfertigung anführe, nicht gedruckt werden
ſoll, ſo bitte ich den ganzen Aufſatz zu unterdrücken. v. Gneiſenau.“


Man mag ſich zu dieſer Controverſe*) ſtellen wie man will,
Eines erhellt daraus: ein Vorhandenſein von Antagonismen und
Gereiztheiten, über deren Urſachen ich mich an dieſer Stelle nicht
weiter verbreiten mag. Es war eben eine „Gegenſtrömung“ da,
das war unzweifelhaft, und dieſe dauerte fort, als einige Jahre
ſpäter von Seiten der Scharnhorſt-Freunde der Plan angeregt
wurde, ſeine irdiſchen Ueberreſte von Prag her nach Berlin zu
ſchaffen und ihm daſelbſt ein Denkmal zu ſetzen. „Anfangs,“ ſo
ſchreibt Minutoli, „floſſen die Beiträge reichlich; aber die Wahr-
heit erfordert, einzugeſtehen, daß ſich beim Einſammeln auch Theil-
nahmloſigkeit, Engherzigkeit, ja ſogar Mißgunſt zu erkennen gab.“


Im Sommer 1819 hatten dieſe Sammlungen begonnen, in-
deſſen erſt fünfzehn Jahre ſpäter, am 2. Mai 1834, wurde das
[411] Grabmonument, an deſſen Herſtellung unſere beſten künſtleriſchen
Kräfte mitgewirkt hatten, beendigt. Von Schinkel war der Ent-
wurf, inſonderheit auch der architektoniſche Aufbau des Ganzen;
Rauch hatte den berühmten ſchlafenden Löwen und Friedrich
Tieck
die den Sarkophag umziehenden Reliefbilder ausgeführt.
Dieſe Reliefs ſind die folgenden:


  • a) Graf v. d. Lippe entlätzt den Zögling. 1777.
  • b) Feſtung Menin (Scharnhorſt ſchlägt ſich mit der han-
    noverſchen Beſatzung durch die franzöſiſche Belagerungs-
    Truppe durch) den 30. April 1794.
  • c) Preußens Heer empfängt ihn den 1. Mai 1801.
  • d) Preußiſch-Eylau den 8. Februar 1807.
  • e) Bewaffnung zum Kampfe von 1813.
  • f) Groß-Görſchen den 2. Mai 1813.

Dazu geſellen ſich, in den Deckſtein des Sarkophags einge-
ſchnitten, folgende Daten:


Linke Breitſeite. Gerhard David v. Scharnhorſt, K.
preußiſcher General-Lieutenant. — Seine Ueberreſte wurden im
Jahre 1826 von Prag hierhergeführt, um unter dieſem, ſeinem
Andenken geſtifteten Denkmale zu ruhn.


Hintere Schmalſeite. Geboren den 12. November 1756
zu Haemelſee*) in Hannover.


Vordere Schmalſeite. Bei Groß-Görſchen verwundet.
An dieſer Wunde geſtorben zu Prag den 28. Junius 1813.


Rechte Breitſeite. (Widmung) „Scharnhorst’ die Waffen-
gefährten von 1813.“


[412]

Um dies berühmte Denkmal her ruhen, wie ſchon Eingangs
hervorgehoben, die Kinder und Enkel des Generals, auch Graf
Friedrich Dohna, ſein Schwiegerſohn, jeder unter einer mächtigen
Platte von polirtem Granit, auf welche, neben dem Namen und
den Daten von Geburt und Tod, einfach ein Kreuz und ein
Bibelſpruch eingegraben iſt.


Zur Linken des Denkmals.


Juliane v. Scharnhorſt.
Geb. den 28. Juli 1788; vermählt mit Graf Friedrich zu Dohna
den 10. Nov. 1809; dem Herrn entſchlafen den 20. Febr. 1827.
„So iſt nun die Liebe des Geſetzes Erfüllung.“ Epiſtel Pauli
an die Römer Cap. 13, Vers 10.


Zur Rechten des Denkmals.


Auguſt v. Scharnhorſt.
Geb. den 20. April 1795; dem Herrn entſchlafen den 11. October
1826. „Ich will Euch wiederſehen und Euer Herz ſoll ſich freuen
und Eure Freude ſoll Niemand von Euch nehmen. Ev. Jo-
hannes 16, Vers 22.


Alſo je ein Stein zur Linken und Rechten des Denkmals.


In Front deſſelben aber ruhen vier Todte.


Friedrich Graf zu Dohna.
Generalfeldmarſchall und Oberſtkämmerer Sr. M. des Königs; geb.
den 4. März 1784, geſt. 21. Feb. 1859. „Sei getreu bis in den
Tod, ſo will ich Dir die Krone des Lebens geben.“


Wilhelm v. Scharnhorſt*).
Geb. d. 16. Februar 1786, geſt. am 13. Juni 1854. „Das kein
[413] Auge geſehen und kein Ohr gehöret hat, und in keines Menſchen
Herz gekommen iſt, das Gott bereitet hat Denen, die ihn lieben.“
1. Corinther 2, Vers 9.


Gerhard v. Scharnhorſt.
K. Preuß. Premierlieutenant im 3. Huſaren Regiment; geb. 18. Sept.
1819, geſt. den 9. Februar 1858. „Barmherzig und gnädig iſt
der Herr.“ Pſalm 103, Vers 8.


Auguſt v. Scharnhorſt.
Platzmajor von Pillau, geb. 6. April 1821, geſt. 11. Nov. 1875.
„Das Alte iſt vergangen; ſiehe, es iſt alles neu geworden.“
2. Cor. 5, Vers 17.


Die beiden zuletzt Genannten (Enkel des 1813 gefallenen
Generals) haben einen gemeinſchaftlichen Grabſtein. Der enge
Raum innerhalb des nur 12 Schritt breiten und 15 Schritt
langen Eiſengitters gebot dies. In den vier Ecken ſtehen Trauer-
Eſchen; aller weitere Schmuck iſt vermieden, ſelbſt Blumen fehlen.


Mit dieſen beiden 1858 und 1875 kinderlos verſtorbenen
und im Laufe dieſes Jahres (1881) nach Berlin hin übergeführten
Enkeln des Generals:
dem Premierlieutenant Gerhard v. Scharnhorſt, und
dem Platzmajor Auguſt v. Scharnhorſt,

erloſch, nach genau 120jährigem Beſtehen — vom 12. November
1755 bis 11. November 1875 — das erſt 1802 geadelte Haus
von Scharnhorſt.


Von Allen, die dieſen berühmten Namen einſt führten, lebt
nur noch der ebengenannten Brüder, Gerhard und Auguſt,
jüngere Schweſter: Agnes v. Scharnhorſt (Couſine Johanna
*)
[414] von Scharnhorſts) ſeit 1855 vermählt mit Baron Karl von
Münchhauſen, Oberſt z. D. und Schloßhauptmann in Erd-
mannsdorf.


Ihrer vor keiner Mühe zurückſchreckenden Anregung iſt es
zu danken, daß, ſeit dem Ablaufe dieſes Sommers, ihr Ahnherr
Gerhard David v. Scharnhorſt alle die Seinen an ſeiner Grab-
ſtatt um ſich verſammelt ſieht.


[[415]]

An der Nuthe.


[[416]][[417]]

Saarmund
und die Nutheburgen.


Noch einmal hob er ſeinen Btick, dann ſagt
er dumpf: „die Spiegelung!
Ein Blendwerk, ärger als der Smum, bös-
artiger Geiſter Zeitvertreib;“
Er ſchwieg, das Meteor verſchwand.
Freiligrath (Mirage).

Saarmund, ein Zauche-Städtchen, iſt an dem Wiedervereinigungs-
punkte zweier Nuthe-Arme gelegen, von denen der kleinere, nur auf
eine kurze Strecke hin abgezweigte, den Namen der Saare führt.
Daher denn alſo Saarmund.


Die Nuthe ſelbſt entſpringt auf dem hohen Vläming bei
Jüterbog in Nähe des hiſtoriſchen Dorfes Dennewitz, wendet ſich
nordwärts und fließt endlich bei Potsdam, unter Sumpf und
Wieſen verſteckt, in die Havel. Wer tagelang an Rhin oder
Finow, an Stobber oder Löcknitz, an Nieplitz oder Notte herum-
gewandert iſt, der blickt, wenn er eines Fluſſes, wie die Havel,
wieder anſichtig wird, auf ihre blauen und ſeenreichen Flächen,
als zöge die Wolga an ihm vorüber. Der Maßſtab iſt eben
Alles.


Und zu dieſen Kleinſten, denen die beſcheidne Aufgabe zu-
fällt, andre Kleine zu heben oder groß zu machen, gehört denn
auch die Nuthe, die nur das Eine vor ihres Gleichen voraus hat,
ſchon in weit zurückliegender Zeit (ja damals mehr denn ſpäter)
ein Grenzfluß, eine Trennungslinie geweſen zu ſein.


Fontane, Wanderungen. IV. 27
[418]

Alles was die Nuthe trennte, hieß zwar nur Teltow und
Zauche, wird mithin in den großen Büchern nicht verzeichnet
ſtehn; aber es traf ſich nichts deſtoweniger, daß, auf ein
ganzes Jahrhundert hin, dieſe zwei Namen zwei Welten bedeuteten
und ſchieden. Die Zauche, durch Albrecht den Bären unter-
worfen, war chriſtlich und deutſch, der Teltow, den alten Göttern
treu verblieben, ſtak noch in Heiden- und Wendenthum. Das
war die Zeit, als die Nuthe ihre großen hiſtoriſchen Tage zählte;
das war das Jahrhundert der „Nutheburgen.“ Ob dieſe letzteren
Aggreſſiv- oder Defenſiv-Punkte waren, ob ſie die Deutſchen
bauten, um von der Zauche her den Teltow zu erobern, oder ob
ſie die Wenden bauten, um der vordringenden Eroberung einen
Damm entgegenzuſetzen, — dieſe Fragen werden nie mehr gelöſt
werden; alle Aufzeichnungen fehlen und die Schlüſſe, die man aus
dieſem und jenem gezogen hat, bleiben einfach Hypotheſe. Die
Nutheburgen jener erſten chriſtlichen Epoche ſind todt, hinge-
ſchwunden für immer. Aber um eben deshalb vielleicht zählen ſie
zu den Lieblingen märkiſch archäologiſcher Forſchung. Es iſt wenig
mehr als ihre Namen, was man kennt. An den Flügeln lagen: Pots-
dam und Trebbin, im Centrum: Beuthen und Saarmund.


Saarmund, unter dieſen vier Nuthe-Burgen vielleicht die
verſchollenſte, genoß dafür des Vorzugs eines poetiſchen Namens.
Daß er an dieſem Punkt überhaupt entſtehen konnte, war
das Reſultat einer Nuthe-Großthat. Arm aber edel, und viel-
leicht auch all das Herrliche vorahnend, das hier einſtens erblühen
werde, zweigte die Nuthe ſelbſtſuchtslos einen Waſſerarm von ſich
ab und wohl zugleich auch aus eigner ſchmerzlicher Erfahrung wiſſend,
was eines Namens Wohlklang bedeute, gab ſie dieſem abgezweigten
Arme den Namen Saare mit auf den Lebensweg. Und ſiehe da,
die Vorahnung hatte nicht getrogen. An eben der Stelle, wo (wie
ſchon erzählt) ins alte Nuthe-bett die kaum geborene Saare wieder
einmündet, erwuchs Saarmund. Im Rücken der Stadt aber,
an den Südhängen der Zauche-Hügel, entſtanden Weinberge über
Weinberge, ſo daß Deutſchland ein paar Jahrhunderte lang der Aus-
zeichnung genoß, einen doppelten Saarwein zu produciren: einen
[419] Kur-Trierſchen bei Saarbrück und einen Kurmärkiſchen bei Saar-
mund. Unbeſtrittner an Ruhm waren freilich die Saare-
Krebſe, die die Chroniſten nicht müde werden zu preiſen „inſonder-
heit auch die großen Alande, die noch angenehmer ſind als Zander.“


Um Saarmund und ſeine Saare, ſo viel muß zugegeben
werden, ſchwebt ein gefällig-romantiſcher Klang, aber die tiefere
Poeſie dieſer Gegenden iſt doch alte Nuthen-Poeſie. Die Nuthe
herrſcht hier, die Nuthe giebt den Charakter und breitet ihren Ein-
ſamkeits-Zauber über die ſie begleitenden, endloſen Wieſengründe,
gleichviel nun ob ſie der Roth-Ampher ſommerlang überblüht oder ob
im November die Krähen mit naßſchwerem Flügel drüberhin ſchweben.
Hier, in den Kolken am Fluſſe hin, war bis vor Kurzem noch
der Biber zu Haus und der Fiſchadler that reichen Fang. Sagen-
hafte Geſtalten, groß und hager, und an Jahren weit über das
Gedächtniß der älteſten Leute hinausragend, zogen mit ihrem
Springſtock über die tiefen Moore; wie Schatten ſchritten ſie im
Nebel, der Regenvogel pfiff in langen Pauſen und das dumpfe
Gurgeln der Rohrdommel klang vom Fluſſe her.


So war das Nuthe-Thal und ſo iſt es bis dieſen Tag.


Zwei, drei Brücken haben wir noch auf der Saarmunder
Straße zu paſſiren. Von der erſten aus, deren hochgewölbte Balken
uns einen Blick nach rechts und links hin geſtatten, ſchweift unſer
Auge das Thal hinauf und hinunter. Tiefe Stille; nur Waſſer und
Wieſe; kein Floß, kein Kahn; nichts Lebendes, nichts als das weiße Ge-
wölk, das, langſam ziehend, dem langſamen Zuge des Waſſers folgt.


Nichts Lebendes. Und woher auch Leben? Wenn es
wahr iſt, daß man eine Großſtadt auf Meilen hin in beinah
räthſelvoller Weiſe vorausfühlt, ſo muß die Wirkung, die Saar-
mund in die Ferne hin übt, eben die der Abgeſtorbenheit ſein.
Denn man kann nur mittheilen, was man hat. Und nichts Ab-
geſtorbneres und Stilleres als Saarmund. Ueber eine letzte
Brücke hin raſſelt unſer Gefährt in die Stadt hinein: beſchnittne
Linden vor den Thüren, über die Hof- und Gartenzäune ſtrecken
Hollunderbäume die weißen Dolden und wenn dann und wann
eine Hausthür ſich öffnet und der eigenthümliche Klapperton einer
ſchadhaften Klingel über die Straße klingt, ſo horcht die ganze
Stadt.


27*
[420]

Unſer Wagen war ein Ereigniß. Einer ſtürzte halbraſirt
ans Fenſter und der rückwärts gewandte Gruß, den ich ihm zuſchickte,
traf noch ſeine ſeifenſchaumene Hälfte. Weiter. Endlich mündeten
wir auf einen lindenumſtellten Platz, der die „Freiheit“ hieß.
Wir nahmen es als ſelbſtverſtändlich hin. Warum ſollte hier
nicht Freiheit ſein?


Der Eindruck des Oeden, den die ganze Stadt macht, an
dieſer Stelle ſteigert er ſich, denn hier war einmal Leben. Unter
den Fenſtern des erſten Stockes hin, ziehen ſich lange Wirthshaus-
ſchilder „Stadt Halle,“ „Stadt Leipzig“, die ſich faſt wie Grab-
ſchriften leſen über einer Zeit, die nicht mehr iſt. Hier führte vor
fünfzig oder hundert Jahren die große Straße von Sachſen vor-
über, hier war ein Hauptzollamt, und Saarmund hatte damals
eine Bedeutung, etwa wie Wittenberge heut oder irgend ſonſt ein
Platz, an dem der Koffer unterſucht und die Sprache des deutſchen
Biedermannes in der Mauth- und Zoll-Nüance geſprochen wird.
Das iſt nun alles dahin. Die geſchloſſenen Fenſter zeigen nichts mehr
als lange Rouleaux, deren in der Schräge ſchwebende Landſchaften
auf ein völlig geſtörtes Roll- und Räderwerk deuten; alle Krippen
ſtehen leer, und müde vom Warten haben ſie ſich an die Wand
gelehnt. Die Hühner picken drum herum. Wo ſie’s hernehmen,
Gott weiß.


Ein eignes Geſchick iſt um gewiſſe Städte, wie um gewiſſe
Menſchen her. Sie ſind anmuthig, alles ſcheint für ſie zu ſprechen
und ſie können es nichtsdeſtoweniger zu nichts bringen. So Saar-
mund. Einer der vielen Orte, die nicht leben und nicht ſterben können
und nur dazu da ſind, im Herzen eines Vorüberfahrenden ein ſenti-
mentales Gefühl zu wecken.


An einem der Prellſteine von „Stadt Leipzig,“ wo der Weg
nach rechts hin abbiegt, ſtand ein Mann in mittleren Jahren, mit
einem guten, zuverläſſigen Geſicht. Seine Kappe hatte den Schnitt
einer alten Landwehrmütze, ſein Rock aber einen Stehkragen von
dunkler Farbe. Eine Art Nachtwächterblau. Mir lagen immer
noch die „Nutheburgen“ im Kopf, nach denen ich meine Suche
nicht ohne Weiteres aufgeben wollte. Das iſt dein Mann, dacht’
ich, und ließ halten.


„Sind Sie von hier?“


[421]

„Ja.“


„Das iſt ſchön. Da kennen Sie gewiß die Nutheburgen?“


Der Ausdruck ſeines Geſichts ließ keinen Zweifel darüber,
daß dieſes Wort mit dem balladesken Doppel-U zum erſten Male
ſein Ohr traf. In ſeiner Antwort gerieth er vom Hundertſten ins
Tauſendſte, ſtolperte zwiſchen allerhand Local-Bezeichnungen wie
Burgwall und Nuthebrücke hin und her und erzählte mir Dinge,
die, wie gewöhnlich, auf alles Mögliche Rückſicht nahmen, nur
nicht auf den Gegenſtand meiner Sehnſucht. Ich ſah bald, daß
der älteren märkiſch-wendiſchen Heimathskunde hier keine Quelle
floß und war denn auch raſch entſchloſſen durch eine Diverſion
jeder weiteren Verwirrung vorzubeugen.


„Iſt ſonſt nichts da, das ſich verlohnte?“


„Nichts als der Galgenberg .... Da haben Sie die beſte
Ausſicht: das ganze Nuthethal. Links Potsdam und rechts Trebbin.
Es ſoll auch ein Schatz …“


„Gut, gut.“ Ich grüßte, gab dem Kutſcher einen leiſen Schlag,
und im nächſten Momente ging es vom Straßendamm hinunter
in den mahlenden Sand hinein.


Eine kurze Strecke Weges, da ſtieg der Berg mit dem
ominöſen Namen vor uns auf. Es war ein heißer Tag und
Mittagsſtunde; wir hielten deshalb und ſtiegen aus. Die Sonne
fiel glüh auf den Abhang, den wir hinanf mußten. Vor uns
weideten ein paar magere Schafe, die ſich ihrer Magerkeit an
dieſer Stelle nicht zu ſchämen hatten; nur halbverbranntes, moos-
artig kurzes Gras zog ſich über den Sand hin und nichts grünte
als die Wolfsmich. Endlich oben.


Es lohnte ſich ſchon. Wie um dem Miſſethäter das Scheiden
doppelt ſchwer zu machen, ſtellte das Mittelalter ſeinen Dreibaum
immer auf die höchſten und ſchönſten Punkte.


Und wieder ſtand ein Dreibaum dort oben vor uns, aber
freilich das Kind einer anderen Zeit: ein Vermeſſungsinſtrument
ſpreizte ſeine drei mageren Beine.


Das helle Licht hinderte den Blick; nur mitunter kam eine leiſe
Trübung und das Auge konnt alsdann die Landſchaft umfaſſen.
Zu Füßen Saarmund mit ſeinen rothen Dächern und rothem Thurm;
[422] dahinter die Wieſen und die Nuthe; jenſeits aber die ſtillen Dörfer
des Teltow und dieſſeits die ſtilleren Berge der Zauche.


Wer nach uns an dieſe Stelle tritt, der freue ſich des Bildes
und der allgemeinen Vorſtellung: an dieſem Waſſerlauf ent-
lang lagen alſo die Nutheburgen! Und er nehme dies Bild
und dieſe Vorſtellung in Dankbarkeit mit heim. Aber er hüte
ſich auf weitere Forſchungen und Entdeckungen ausziehen zu wollen.
Die Nutheburgen necken ihn nur und ſind wie die Fatamorgana
dieſer Zauche-Wüſte. Wenn er ſie zu haben glaubt, ſo hört er den
Mittagsgeiſt lachen, das Bild zerrinnt und — die Nutheburgen
ſind ihm ferner denn zuvor.


[[423]]

Blankenſee.


Da ſagte die Mark: Eh bien, wohlan,

Ich kann daſſelbe wie Canaan,

Und will ſich’s ſeiner Sarah berühmen,

So hab’ ich meine Frau von Thümen.

Eine halbe Stunde ſüdlich von Saarmund, immer am Ufer der
Nuthe hin, fahren wir in einen ſchmalen, ſpitz auslaufenden
Landestheil ein, den wir am beſten als den „Thümenſchen Winkel“
bezeichnen. Dieſer Thümenſche Winkel, in Zeiten, die nicht allzu-
fern zurückliegen, hatte eine gewiſſe politiſche Bedeutung, denn er
war ſächſiſches Land, das ſich an dieſer Stelle weit ins Branden-
burgiſche hineinſchob, ſo weit, daß die Entfernung bis Potsdam
nicht voll zwei Meilen betrug. Das war denn, wie ſich denken
läßt, in den Tagen Friedrich Wilhelms I. eine Sache von „Im-
portance,“ jeder Deſerteur wußte davon, und ſo unbequem der
Thümenſche Winkel für den König lag, ſo bequem lag er für den
Flüchtling.


Von dieſer „Importance“ iſt dem Thümenſchen Winkel
begreiflicherweiſe nichts geblieben und er muß ſich jetzt wieder mit
dem begnügen, was er ſonſt noch aufzuweiſen hat, meiſt Dinge,
die viel weiter in unſere Geſchichte zurückgehen, als die „großen
Blauen“ von Potsdam.


Die Reſidenz dieſes Fleckchens Erde heißt Blankenſee.
Hier haben die Thümens ihr Herrenhaus, hier ihre Kirche, ihre
Gruft. Auch an Sagen fehlt es nicht, in denen irgend ein Vor-
[424] beſitzer, aber immer ein Thümen, ſeine halb ſpukhafte Rolle ſpielt.
Wir werden in der Folge noch davon zu erzählen haben.


Es war Mittagsſtunde, als wir vor dem Gaſthauſe hielten.
Der Wagen fuhr in den breiten Schatten einer Linde, während
wir uns rüſteten und mit den Augen überallhin umherfragten.
Unſer Erſtes war ein Gang durch das Dorf. Am ſchönſten
gelegen iſt das Herrenhaus. In Front ein Elſenbruch, an den
Flügeln zwei breite Seeſpiegel, und zwiſchen Schloß und Park ein
Waſſerlauf, der dieſe beiden Seeflächen verbindet, — das iſt in
großen Zügen die Scenerie. Das Geſträuch des Parkes wuchs
weit über das Wäſſerchen hin und ſchuf einen Laubengang, unter
dem die Enten auf und ab fuhren und ſich’s wohl ſein ließen.


Inzwiſchen brannte die Sonne mehr und mehr und die Schatten
des Parkes luden uns zum Verweilen ein. Aber es war doch ſchließ-
lich ein anderes, was uns hierher geführt hatte, weshalb wir denn
auch Park und Schloß aufgaben, um uns zunächſt eines ſagen- und
landeskundigen Blankenſeeers zu verſichern.


Der Zufall wollt’ uns wohl und am Dorfrande wurden wir
alsbald eines Mannes anſichtig, der, in einem offenen Thorwege
ſtehend, unſerm unſichren Umherſuchen ſchon ſeit einiger Zeit
gefolgt zu ſein ſchien. Als er uns auf ſich zukommen ſah, kam
er uns ſeinerſeits unter artigem Gruß entgegen. Es war ein
großer, ſchöner Mann von militäriſcher Haltung, dabei zugleich
von jener ruhigen Sicherheit, wie ſie die bibelfeſten Leute zu haben
pflegen. Es entſpann ſich folgendes Geſpräch.


„Wir wollen auf den Kapellenberg. Können Sie uns
den Weg zeigen?“


„Ich kenn ihn nicht. Aber nach dem was ich geſtern gehört,
iſt er nicht zu fehlen.“


„So ſind Sie nicht von Blankenſee?“


„Nein. Ich bin erſt ſeit acht Tagen hier.“


„In der Schäferei?“


„Ja.“


„Der Schafmeiſter?“


[425]

„Nein. Ich bin ſein Knecht.“


Mein Begleiter und ich ſahen einander an und eine kleine
Pauſe trat ein. Der unumwundenen Erklärung „ich bin dieſes
oder jenes Mannes Knecht“ begegnet man in Städten niemals
und auf dem Lande nicht allzuhäufig. Man ſucht ſich ausweichend
zu helfen, ſo gut es geht. „Ick bin bi Schulz’ Borchardten ſine
Peerd,“ ſo oder ähnlich wird das Wort umgangen. Was uns
aber in dem vorliegenden Falle noch ganz beſonders frappirte,
war das correcte Deutſch und der männliche und zugleich be-
ſcheidene Freimuth, in dem die Antwort gegeben wurde. Dieſe ſo
ſeltene Demuth und Wahrheitsliebe verfehlte nicht eines Eindrucks
auf uns und wir freuten uns als unſer neuer Bekannte darum
bat, uns begleiten zu dürfen. Er war, wie ſich bald ergab, aus
der Provinz Sachſen, hatte in der Garde gedient und war dann
ſechs oder ſieben Jahre lang der Diener in einem altlutheriſchen
Hauſe und der Pfleger eines einzigen gichtbrüchigen Sohnes geweſen.
So war denn vieles erklärt. Was ihn aus der großen Stadt in
dies abgelegene Dorf geführt, erfuhren wir nicht.


Erſt über ein breites Brachfeld hin und bald danach einen Wald-
weg hinauf, erreichten wir die Kuppe des unſer nächſtes Ziel
bildenden Kapellenberges und betraten den alten Bau, der
ſeinerzeit dieſem Berge den Namen gegeben. Zwei Wände ſind
eingeſtürzt, zwei ſtehen noch, ſo daß es auch für den Laien
ein Leichtes iſt, ſich alles wieder in Vollſtändigkeit vorzuſtellen.
Es war eine gothiſche Kapelle, zehn Schritt im Quadrat, nach
allen vier Seiten hin offen, genau nach Art jener Baldachine,
denen man in alten Domen ſo oft über dem Altar begegnet.


Ob dieſer Bau vordem ein Wallfahrtsort war, iſt ſchwerlich
noch mit Sicherheit feſtzuſtellen, aber das ſcheint mir gewiß, daß
er kirchlichen Zwecken und nur ſolchen diente. Die Conſol-
Niſche, darauf das Muttergottesbild ſtand, iſt noch wohl erhalten
und ſo muß es denn einigermaßen überraſchen, in ſelbſt guten Büchern
auf folgende Verſicherungen zu ſtoßen: „Es verräth nichts hier,
daß das Gebäude jemals kirchlichen Zwecken gedient haben
könne. Der Zweck deſſelben war ein militäriſcher; es war eine
Burgwarte. Das Gemäuer zeugt von hohem Alterthum, und
[426] es iſt mindeſtens möglich, daß es, wenn nicht aus der Slaven-
zeit, ſo doch aus der Zeit der deutſchen Eroberung ſtammt.
Es diente wohl als Zwiſchenſtation für die Burgen Trebbin und
Saarmund.“ So viele Zeilen, ſo viele Fehler.*) Der ganze Bau
war niemals etwas anderes, als eine rechtwinkelige Zuſammen-
ſtellung von vier offenſtehenden Portalen, genau das Gegentheil
von Feſtung, Warte, Burg. Es iſt ein Kapellchen aus dem 14.
oder vielleicht auch erſt aus dem 15. Jahrhundert, ſo daß hier
muthmaßlich ein Rechenfehler von dreihundert Jahren zu ver-
zeichnen bleibt.


An dieſen Kapellenberg knüpfen ſich zahlreiche Sagen, die,
wie verſchieden auch in ihrer Einkleidung, doch ſämmtlich auf das
alte, namentlich in unſerer Mark beliebte Thema hinauslaufen
„daß daſelbſt ein Schatz vergraben ſei.“ Noch in dieſem Jahr-
hundert kam ein Herr v. Thümen ventre à terre von Berlin ge-
ritten, ließ Bauern und Tagelöhner wecken, und zog in langer
Colonne den Berg hinauf, um unter dem alten „Bocksdornſtrauch,“
der die linke Kapellenecke mit ſeinem Gezweige füllt, bohren und
graben zu laſſen. Denn unter dem Bocksdornſtrauche liegt der
Schatz. Aber der Schatz kam nicht und der tolle Herr v. Thümen mußt’
es ſchließlich doch wieder aufgeben, gerade ſo wie es 100 Jahre
früher (noch in der ſächſiſchen Zeit) auch ſein Ahnherr, der alte
Kreisdirector v. Thümen, hatte aufgeben müſſen „obwohlen der
[427] ſchon ganz nahe daran geweſen.“ Die Sage von dieſem alten
Kreisdirector aber, die noch von Mund zu Munde geht, iſt die
folgende: Es war wohl ſchon den dritten Tag und ſie gruben immer
noch. Da kamen ſie bis an eine eiſerne Thüre mit einem Schlüſſel-
loch, und durch das Schlüſſelloch konnten ſie hineinkucken und eine
mit Geld aufgehäufte Braupfanne ſehen. Und auf dem Gelde
ſaß der Böſe. Der alte Kreisdirector aber hat trotz alledem nicht
ablaſſen wollen und hat angefangen zu parlamentiren und an den
Böſen zu ſchreiben. Vorerſt hat ſich keiner finden wollen, um die
Briefe zu beſtellen, zuletzt aber hat ſich doch Einer gefunden, der
Ebel hieß, und hat alle Nacht einen Brief vom alten Kreisdirector
auf den Kapellenberg getragen. Und immer wenn er an die rechte
Stelle gekommen, um den Brief hinzulegen, hat ſchon ein Brief
vom Böſen dagelegen und ein Münzgroſchen dabei als Botenlohn.
So haben ſie ſich geſchrieben hin und her, der Böſe und der Herr
Kreisdirector, und immer um die zwölfte Stunde war Ebel auf
dem Kapellenberg. Und der Böſe ſchrieb zuletzt: „Der Herr
Kreisdirector ſolle wahr und wahrhaftig Alles haben; aber den
Briefträger müſſ’ er ihm geben und den Arm vom See, der die
„Lanke“ heißt, auch.“ Das hat aber der Kreisdirector nicht ge-
wollt, weil es Ebeln ſein Leben und wohl auch noch andere
Menſchenleben gekoſtet hätt’. Denn wenn der Böſe erſt den
See-Arm gehabt hätt’, ſo wäre Mancher mit’m Kahn verun-
glückt oder im Winter auf’m Eis und hätt’ ertrinken müſſen.
Alle Jahr hätte wenigſtens Einer ’ran gemußt. Und ſo iſt
denn die Braupfanne voll Geld nicht gehoben worden und liegt
heute noch.


So die Sage.


Wir unſrerſeits aber, als wir uns an dem Bocksdornſtrauche
zu ſchaffen gemacht, erblickten unter ſeinem Gezweige nichts als
einen Haufen allerfleißigſter Ameiſen. Ein Avis an alle müßigen
Schatzgräber den Schatz da zu ſuchen, wo er liegt.


Als wir noch plauderten und nach einem Ausſichtspunkte
ſuchten, zogen einige von Blankenſee kommende Kirchgänger über
den Berg, ihrem Nachbardorfe zu. Der Gottesdienſt war alſo
aus und wir gingen nunmehro zurück, um auch unſrerſeits unſern Be-
[428] ſuch in der Kirche zu machen. Unſer freundlicher Begleiter ver-
abſchiedete ſich am Eingange, muthmaßlich um uns nicht länger
zu behindern, vielleicht auch aus ſektireriſchem Geiſt.


Im Innern bot ſich uns anfänglich nichts, was ſich über
den Durchſchnitts-Inhalt alter Dorfkirchen erhoben hätte; bei nährer
Betrachtung aber zeigte ſich doch mancherlei: Grabſteine, Bilder
und Schildereien. Ein Epitaphium galt einem alten Kreishaupt-
mann im ſächſiſchen Kurkreiſe, Herrn Chriſtian Wilhelm v. Thü-
men
, deſſen Portrait von zwei Engeln gehalten wurde. Weiter
unterwärts erblickten wir eine ſich in den Schwanz beißende Schlange,
mit dem inſchriftlichen Zuſatze, „daß ſeine Ehe mit Sabine Hedwig
v. Schlieben durch achtzehn Kinder geſegnet worden ſei.


Wenn uns nun hier ein an Erzvater Jacob erinnernder Segen
entgegentrat, ſo gemahnten dafür andre ſich vorfindende Denkmäler:
ein Grabſtein und eine Schilderei, mehr an Abraham und Sarah.
Auf dem Grabſteine laſen wir freilich nur die Worte: „daß Anna
v. Schlabrendorf, Kuno v. Thümens ehelich Gemahl in Kindesge-
burt gottſelig entſchlafen ſei“ das Bildniß aber vervollſtändigte dieſe
kurze Mittheilung in einem ihm angefügten Reimſpruche:


Hier liegt begraben ohne Qual

Kuno v. Thümens ehlich Gemahl,

Die tugendſame Frau Anna gut

v. Schlabrendorff das edle Blut,

Welche gegeben war von Gott

Dem Kuno v. Thümen bis an den Tod.

Als ihm eine Tochter ſie gebar,

Zählte ſie ſiebenundſechzig Jahr.

Am erſten Jännertag es war.

Sei ihr gnädig Herr und Gott

Und helf auch uns aus aller Noth.

So wenig befriedigend dieſe Reime ſein mögen, ſo trefflich
iſt das Bild, unter dem ſie ſtehen. Es iſt gute Lucas Cranach’ſche
Schule. Nach Sitte der Zeit Sündenfall, Geſetzgebung, eherne
Schlange, Kreuzigung und Auferſtehung, alles dicht neben einander
ſtellend, giebt es auf engem Raume den Hauptinhalt der chriſtlichen
Heilslehre.


[429]

Dies Bild, zum Gedächtniß Anna v. Schlabrendorfs gemalt,
iſt, wie das künſtleriſch beſte, ſo auch das intereſſanteſte was die
Kirche bietet. Keineswegs aber iſt die Reihe der Sehenswürdig-
keiten und Erinnerungsſtücke damit abgeſchloſſen. In einer Ecke,
beinah unmittelbar über dem vorerwähnten Grabſtein, hängen
Schwert und Sporen*) eines längſt heimgegangenen v. Thümen,
und in der Höhe des neuerbauten Thurmes befinden ſich die
durch den ganzen Thümenſchen Winkel hin bei Jung und Alt be-
kannten „Glocken von Blankenſee“, daran allerlei Sagen anknüpfen
wie an den Kapellenberg.


Es war um die vierte Stunde faſt, als wir aus dem Kirch-
hofsthor wieder in die Dorfgaſſe hinaustraten. Hier hatte ſich
inzwiſchen das Bild verändert: die Stille des Sonntag-Vormit-
tags war hin und die Heiterkeit des Nachmittags hatte begonnen.
Um die Dorflinde drehte ſich das junge Volk im Ringelreihen
und die Dirnen — wie immer tanzluſtiger als das männliche
Element — deckten jedes Deficit durch Anleihen bei ſich ſelbſt.
Wir ſahen auf das fröhliche Treiben und hätt’ uns Jemand die
Ehre angethan, wir hätten’s wohl auf jede Gefahr hin ſelber noch
[430] gewagt. Aber die Verſuchung blieb aus und unſer Wagen
fuhr vor.


Und nun mahlten wir wieder durch den Sand. Eine Weile
noch, wenn wir uns umſahen, ſahen wir die ſpringende Bewegung
und die rothen Tücher. Dann aber kam eine Biegung des Weges,
alles was Bild geweſen, war hin und nur die Poſaunen mar-
kirten noch den Takt und erzählten uns von dem luſtigen Volk in
Blankenſee „der Reſidenz des Thümenſchen Winkels.“


[[431]]

Trebbin.


Und ein Haus mit Giebelſpitzen
Hat uns gaſtlich aufgenommen,
Läßt uns freundlich niederſitzen
Auf der Bank, der blanken, alten,
Die, mitſammt dem ſchmalen Tiſche,
Dem Jahrhundert Stand gehalten
Hier in dieſer Fenſterniſche.
G. Heſekiel.

Ein junger Juriſt, ein ſogenannter Garde-Aſſeſſor, war nach
Trebbin verſchlagen worden. Was ihn hierher geführt, ob Schuld,
ob Liebe, wer ſagt es? Wahrſcheinlich war es einfach die lockende
Nähe der Hauptſtadt, ein Fehler (un crime vaut mieux qu’une
faute
) für den er nun zu büßen hatte. Tag um Tag ſaß er an
der „Table d’hôte“ des damals einen und einzigen Gaſthauſes.
So vergingen Monde. Die Zeit ſchien endlos.


Einmal, an einem ſtillen Sommer-Sonntage, ſetzte man ſich
wieder zu Tiſch. Die Fenſter ſtanden auf und man hörte nichts
als den Staarmatz, der in ſeinem Käfig auf- und abſprang und
das Zuſammenſchlagen der Bälle vom dritten Zimmer her, wo
zwei Trebbiner Commis ſich im Billard und im Franzöſiſchen übten.
Es gab Kalbsbraten und Salat. Dem Aſſeſſor gegenüber ſaß die
Wirthin, eine blaſſe Dame von 33, mit Korkzieherlocken, eine jener
Hagern und Hochaufgeſchoſſenen, die von alter Zeit her das Vorrecht
haben ſich „unverſtanden“ zu fühlen. Und was das Schlimmſte
war, auch der Aſſeſſor hatte das Verſtändniß nicht finden können.
[432] Er ſchob eben eine Gartenſchnecke, die ſich beim Salat-nehmen
durch Klappern auf dem Teller bemerkbar gemacht hatte, leiſe-
verlegen auf den Tellerrand, ſah ſich um, und ſtellte zu beſſerer
Cachirung (und vielleicht auch eine Vorahuung im Gemüthe)
die große Waſſerkaraffe zwiſchen ſich und die Wirthin. Aber was
er vermeiden wollte, beſchwor er nur herauf: die Waſſerkaraffe
begann als Vergrößerungsglas zu wirken und die Schnecke nahm
wahre Rieſen-Dimenſionen an. Es war „Abſicht“, der Affront
erwieſen. So wenigſtens ſchien es. Alle 33 Locken (ſie gingen
mit der Alterszahl) begannen zu zittern und über den Tiſch hin
klang es in einem hohen und allerhöchſten Tone: „Herr Aſſeſſor,
wenn es Ihnen bei mir nicht ſchmeckt, ſo muß ich Sie bitten,
anderswo zu eſſen.“


Man muß an Ort und Stelle geweſen ſein, um die ganze
Tragweite dieſes „anderswo“ zu begreifen.


Dieſer kleine Hergang iſt mir immer als Signatur von Alt-
Trebbin erſchienen. Aber auch heute noch erinnert der Ort an
jene Wirthin und ihre Rache, trotz Zug-Geraſſel und Lokomo-
tiven-Pfiff.


Ich paſſirte die Straßen und überall bot ſich daſſelbe Bild:
die Kirche ſo triſt wie die Stadt und die Stadt ſo triſt wie die
Kirche. Hier und dort ſpreizte ſich eine Toilette, das einzige, wo-
ran ſich die Nähe der Hauptſtadt erkennen ließ; aber dieſer Flitter
ließ die Stadt nur um ſo farbloſer und die farbloſe Stadt hin-
wiederum den Flitter nur um ſo prahleriſcher erſcheinen.


Menſchen, Häuſer, Kirche, ſie gaben nichts heraus!


Und doch eine Stelle hat auch der ſtillſte, der verſchwiegenſte
Ort, wo er zu dem Fremden ſprechen muß, und erſt wenn auch
hier Alles ſchweigt, darf man mit einiger Gewißheit vom Tode
der Lebendigen ſprechen.


Ich ging alſo hinaus. Links vor’m Thore dehnt ſich der
Friedhof, ein ummauertes Feld. Es war ein Begräbnißplatz vor
50 Jahren und länger; dann gab man ihn auf, ließ die Stätte
brach liegen und die Hügel verfallen. Endlich, als Alles ein Gras-
platz geworden, zog ein neues Geſchlecht hier wieder ein. So
iſt der Friedhof ein ganz alter und ein ganz neuer. Der Interims-
Friedhof liegt an anderer Stelle.


[433]

Nachmittags-Sonnenſchein flimmerte um die Gräber. Auf
den friſch aufgeſchütteten Hügeln lagen halbverwelkte Kränze, die
Blumen, die vorherrſchten, waren Schwertlilien, und Akazienduft
von umherſtehenden Bäumen zog drüber hin. Das war an-
heimelnd genug. Aber nüchtern lagen die Steine, deutungslos
ſtanden die Kreuze; Nam’ an Name, Spruch an Spruch, nichts
was zu Herzen ging oder die Phantaſie bewegte. Todt die Gräber
wie drinnen die Häuſer.


Und ſo wandt’ ich mich denn unwirſch in die Stadt zurück, um
es drinnen unter den Menſchen noch einmal zu verſuchen.


Aber wohin? Man wies mir einen Metzgerladen „dort geb’ es
den beſten Kaffe.“ Wohlan; ich acceptirte. Wenn man gar nichts
mehr anzufangen weiß, iſt das Klappern mit der Taſſe noch immer
das Gerathenſte.


Des erſten Eindrucks wurd’ ich nicht froh. An der Laden-
thüre links und rechts blitzten die herkömmlichen zwei Meſſing-
haken und an einem dieſer Haken hing ein Hammel. Ich ſetzte mich
auf eine nebenſtehende Bank und beſtellte, was mir als „Speciali-
tät“ gerühmt worden war. Unter einer ſchattengebenden Pappel
ſtand all die Zeit über der wohlwollend und diſtinguirt drein-
ſchauende Beſitzer von Haus und Hof, in dem ſich mehr und
mehr ein gewiſſes Unterhaltungsbedürfniß zu regen ſchien. Auch
in mir. Aber ich konnte nicht über die Frage weg, ob ich ihn Wirth
oder Meiſter anreden ſolle. Zu meinem Glücke wußt’ ich damals
noch nichts von ſeiner „Major’s-ſchaft“, ich wäre ſonſt in der
Etiquettenfrage ſtecken geblieben. Endlich entſchied ich mich für Wirth.


„Eine ſchöne reine Luft, Herr Wirth.“


Dies war nun eigentlich nicht der Fall, denn der Hammel hing
viel zu nah, als daß ich wahrheitsgemäß eine ſolche Verſicherung ab-
geben durfte. Der Angeredete jedoch ſchien es aufrichtig zu nehmen
und konnt’ es auch vom unverwöhnten Standpunkte ſeines Metiers
aus. Er erwiederte mir deshalb freundlich:


„Eine ſchöne, reine Luft. Trebbin hat ein gute Luft.“


Dieſer Lokalpatriotismus, was ſich auch gegen das Thatſäch-
liche ſagen laſſen mochte, that mir wohl und zwar um ſo wohler, als
ich in Betreff der wenigſtens damals noch auf meinem Programme
ſtehenden „Nutheburgen“ allerlei Hoffnung an einen ſo lokal-
Fontane Wanderungen. IV. 28
[434] patriotiſchen Ausſpruch knüpfte. „Das iſt Dein Mann“, dacht’
ich. Und wirklich, was in Saarmund mißglückt war, hier konnt
es gelingen. Ich fuhr alſo fort:


„Sie haben ja wohl eine alte Burg hier? Burg Trebbin.
Die vierte der Nutheburgen.“


„Nicht daß ich wüßte. Das muß vor meiner Zeit ge-
weſen ſein.“


„Gewiß. 700 Jahre .. Und kein Burgwall? kein unterirdiſcher
Gang? Keine Stelle, die hohl klingt?“


„Nicht daß ich wüßte. Mit Ausnahme der Schützengilde von
1577 ....“


„Und kein Denkmal? keine Mumie?“


„Nicht daß ich wüßte. Mit Ausnahme der ..“


Es wurde mir immer klarer, auf was er mit endlich doch
ſiegreicher Beharrlichkeit hinaus wollte. Ich ließ alſo den Strom
ſeiner Rede fließen und warf erſt ganz zuletzt und anſcheinend
ohne Zuſammenhang die Frage dazwiſchen „ob er jemals von dem
Maler Wilhelm Henſel oder doch von deſſen Vater dem alten
Paſtor Henſel gehört habe?“


Ein Kopfſchütteln war die Antwort und nur mit Mühe
wurde feſtgeſtellt, daß der alte Paſtor Henſel höchſt wahrſcheinlich
ſchon vor ſeiner, des Wirths und Meiſters Geburt verzogen ſein
müſſe, eine Sache, betreffs deren ich nie den geringſten Zweifel
unterhalten hatte.


Das Vorfahren des Wagens und der Peitſchenknips des
Kutſchers ſchnitten weitere Nachforſchungen ab, wobei michs tröſten
mußte, ſchwerlich etwas anderes als die chronologiſche Reihenfolge
der Trebbiner Schützenkönige eingebüßt zu haben. Noch ein Hut-
lüpfen unſererſeits, noch eine gegengrüßende militäriſche Handbe-
wegung des „Majors“ — und unſer Jagdwagen klapperte über das
Pflaſter hin.


Die Kirchhofsthüre ſtand noch offen und die Schwertlilien
blühten noch.


Ueber „Burg Trebbin“ bin ich auch nachträglich ohne Mit-
theilung geblieben, aber von Wilhelm Henſel will ich erzählen.


[435]

Wilhelm Henſel.


Wenn zwei Looſe vor uns legt ein Beſchluß der Zeit,

Schwer iſt’s, wirklichem Ruf folgen und falſchen fliehn! …

Sieh, dich lockten indeß heimiſche Triebe bald
Fernhin (wo in des Nords Winter ein edler Fürſt
Ausſät ein Athen des Geiſtes)
An die ſcythiſche, kalte Spree.
Platen.

Wilhelm Henſel wurde den 6. Juli 1794 zu Trebbin ge-
boren, wo ſein Vater an der dortigen Marien-Kirche Geiſtlicher
war. Schon einige Monate ſpäter überſiedelte man von Trebbin
nach Linum, in deſſen Pfarrhauſe wir denn auch unſern Wilhelm
Henſel während ſeiner Knabenjahre zu ſuchen haben. Allen
erforderlichen Unterricht gab ihm der Vater und bracht’ ihn, gut
vorbereitet, auf die Bergakademie. Das war 1809. Dem ſchon
damals geäußerten Wunſche des Sohnes, ſich der Kunſt widmen
zu dürfen, hatte der Vater nicht nachgeben wollen.


Das Talent W. Henſels war aber zu ausgeſprochen, als daß
die Laufbahn, auf die ſeine Natur ihn anwies, ihm dauernd hätte
verſchloſſen bleiben können. Seine eigenen Vorgeſetzten ermunterten
ihn, in ſeiner Beſchäftigung mit den Künſten auszuharren und
als er bei beſtimmter Gelegenheit ein Blatt in Waſſerfarben aus-
führte, das innerhalb weniger Stunden eine ganze tropiſche Land-
ſchaft vor aller Augen hinzauberte, drang der Direktor des Inſtituts
in ihn, das Bergfach aufzugeben und Maler zu werden.*)


28*
[436]

Den Widerſtand des Vaters, der auch jetzt noch fortdanerte,
brach endlich der Tod. Paſtor Henſel ſtarb 1811 und unſer
Wilhelm Henſel war nun Maler. Er ſtudirte Anatomie und
Perſpektive, zeichnete nach der Antike und dem lebenden Modell
und bewährte ſich als ſo tüchtig, daß er ſchon 1812 die Kunſt-
ausſtellung (die erſte, die in Berlin überhaupt ſtattfand) beſchicken
konnte.


Der Frühling 1813 unterbrach die kaum begonnene Laufbahn.
Von Jugend auf voll patriotiſchen Eifers, folgte er dem „Aufruf“
und trat in das eben damals errichtete Garde-Koſaken-Regiment
ein. Ein kleines Gouachebild, im Beſitz der Familie, ſtellt ihn
blondlockig unter einem ſchwarzen Barett in dieſer phantaſtiſchen
Uniform dar. Er machte in dem genannten Truppentheile, der
ſehr bald in Namen und Erſcheinung ſich boruſſificirte, die Schlachten
bei Lützen und Bautzen mit, trat dann zu den freiwilligen Jägern
über, nahm Theil an den Kämpfen des York’ſchen Corps und war
unter denen, die zwei Mal in Paris einzogen. 1815 als Offizier.
Hier war es auch, wo er in den Bilderſälen des Louvre die Be-
kanntſchaft des Grafen Blankenſee machte und den Grund zu einem
Freundſchaftsverhältniß legte, das bis zum Tode fortbeſtand.


Nach dem Friedensſchluſſe kehrte W. Henſel zu ſeiner Kunſt
zurück, freilich auch zu ſeinen Bedrängniſſen. Seit dem Tode des
Vaters war es ihm eine Ehrenpflicht geweſen, für Mutter und
Geſchwiſter zu ſchaffen und zu ſorgen; in dieſe Pflicht trat er jetzt
wieder ein. Er malte Bildniſſe, radirte Blätter, fertigte Zeich-
nungen für Almanache und Kalender, und ſah ſich durch Arbeiten
dieſer und ähnlicher Art in ſeinem Studium allerdings gehemmt;
ſein Fleiß indeß und ſein Vertrauen halfen über alles hinweg.


So vergingen Jahre, bis der Winter 1821 plötzlich Wandel
ſchaffte.


Um die genannte Zeit (Januar 1821) war das ruſſiſche
Thronfolgerpaar, der ſpätere Kaiſer Nicolaus und ſeine Gemahlin,
zum Beſuch in Berlin eingetroffen. Ein großes Feſt ſollte die Gegen-
wart Beider feiern und man beſchloß den eigentlichen Feſtes-Inhalt
dem eben damals erſchienenen und von aller Welt bewunderten
Gedichte Thomas Moore’s: „Lallah Rukh“ zu entnehmen. Es
war eine gute Wahl: der Gegenſtand neu, die Situationen feſſelnd,
[437] die Coſtüme voll orientaliſcher Pracht. Und ſo ſchritt man ſofort
zur Ausführung.


Bei dem großen Intereſſe, das der Gegenſtand damals erregte,
mag es geſtattet ſein, bei dieſer Lallah-Rukh-Feier rückblickend einen
Augenblick zu verweilen.


Was zunächſt die Dichtung ſelber angeht, die bereits wieder
vom Schauplatz abgetreten iſt (jede Zeit hat ihre Lieblinge) ſo iſt
der Rahmen derſelben der folgende.


Abdallah, König der kleinen Bucharei, kommt auf einer
Pilgerreiſe, die er nach dem Grabe des Propheten unternimmt,
auch nach Delhi in Indien. Hier nimmt ihn Aurengzeb,
Beherrſcher von Delhi, mit großer Gaſtfreundſchaft auf. Die
Vermählung ihrer älteſten Kinder: des buchariſchen Prinzen Aliris
und der indiſchen Prinzeſſin Lallah Rukh wird beſchloſſen, und ſoll
demnächſt in Kaſchmir, wo Prinz Aliris zurückgeblieben iſt, voll-
zogen werden. Lallah Rukh verläßt deshalb Delhi und begiebt ſich
mit großem Gefolge nach Kaſchmir. Unterwegs wird ſie durch die
poetiſchen Erzählungen eines jungen Dichters Namens Feramors
unterhalten, der ſich unter den Perſonen befindet, die Prinz Aliris,
von Kaſchmir aus, zu ihrem Empfang ihr entgegengeſandt hat.
Vier Erzählungen ſind es nun, die ganz beſonders die Theilnahme
der Prinzeſſin wecken: „Der verſchleierte Prophet von Khoraſan;“
„Paradies und Peri;“ die Geſchichte „von den Ghebern“ und
„Nurmahal und Dſchehangir.“ Zuletzt fällt die Maske und
Feramors erweiſt ſich als Prinz Aliris ſelbſt.


So der Rahmen. Es iſt bekannt, daß die vier poetiſchen
Erzählungen, die wir eben nannten, den eigentlichen Inhalt der
Dichtung bilden. Es wurde nun beſchloſſen die Aufführung dahin
zu regeln, daß das Erſcheinen Abdallahs am Hofe Aurengzebs
durch einen großen, aus Bucharen und Indern beſtehenden Feſt-
zug
, der Inhalt der vier Erzählungen aber durch lebende Bilder,
unter Vortrag eines angepaßten muſikaliſchen Textes dargeſtellt
werden ſolle. Und ſo geſchah es.


Unter den Klängen eines eigens für dieſe Feier komponirten
Marſches ſetzte ſich der aus 168 Perſonen beſtehende Feſtzug in
Bewegung, durchſchritt die bekannten Paradekammern des Schloſſes,
trat in den weißen Saal ein und nahm hier vor der errichteten
[438] Bühne Platz. Nun ging der Vorhang auf und in raſcher Reihen-
folge folgte Bild auf Bild, im Ganzen zwölf. Der Erfolg war
der glänzendſte, wie bei den Kräften, die mitgewirkt hatten, nicht
anders zu erwarten ſtand. Die Dekorationen waren das Werk
Schinkel’s, die Muſikſtücke waren von Spontini componirt;
bei Feſtſtellung der Coſtüme waren die großen Werke von Forbes
und Elphinſtone benutzt worden. Alles was Berlin an glänzenden
Namen und bekannten Perſönlichkeiten aufzuweiſen hatte, war ge-
laden. Viertauſend Gäſte nahmen am Feſte Theil.*)


[439]

Wir kehren nun zu unſerem W. Henſel zurück. Ihm war
die Aufgabe zugefallen, die lebenden Bilder zu ſtellen, und das
Geſchick, das er dabei an den Tag legte, die Virtuoſität vor Allem,
mit der er jeden Hauptmoment, über die Dauer des Feſtes hinaus,
in Aquarellbildern feſtzuhalten wußte, verſchafften ihm ſo viel
Huld und Wohlwollen, daß man, von jenem Lallah-Rukh-Feſte
an, einen Wendepunkt in ſeinem äußern Leben datiren muß. Der
König, in Bethätigung ſeines Dankes, gab ihm die Möglichkeit
eine mehrjährige Reiſe nach Italien unternehmen zu können; was
aber mehr als alles Andere bedeutſam und entſcheidend für ihn
wurde, war, daß Fanny Mendelsſohn im Kreiſe der Ihrigen
der Aufführung des Feſtes beigewohnt und dadurch unſerem Henſel
Gelegenheit zu näherer Bekanntſchaft mit dem Mendelsſohn’ſchen
Hauſe geboten hatte. Henſel, alsbald eingeführt und mit dem
Bruder (Felix) befreundet, glaubte ſchon im Sommer 1822 um
die Hand Fanny M.’s anhalten zu dürfen; die Familie jedoch,
mit Rückſicht auf die bereits feſtſtehende Reiſe Henſel’s nach Italien,
hielt es für beſſer beide Theile vorläufig nicht zu binden und ver-
tagte die Entſcheidung. Die Neigung des Paares überdauerte die
Trennung. 1828 kehrte Henſel nach fünfjähriger Abweſenheit
zurück und das Jahr darauf vermählte er ſich mit ſeiner von ihm
gefeierten Fanny.



[440]

Die nun folgenden achtzehn Jahre ſeiner Ehe, einſchließlich
der ihnen voraufgegangenen fünf Jahre in Rom, wie es die Tage
ſeines Glückes waren, ſo auch die ſeiner künſtleriſchen Production.
Alles Vorhergehende war Vorbereitung, alles Folgende Nachklang,
halb virtuoſes, halb geſelliges Spiel. Alle ſeine größeren Ar-
beiten gehören der eben erwähnten Epoche ſeines Lebens an. Es
ſind die folgenden:


Transfiguration. Copie nach Raphael. In Rom 1824—28
gemalt. Befindet ſich im Raphaelſaal in Sansſouci.


Chriſtus und die Samariterin. Rom, 1827. Ehemals im
Beſitze Fr. W.’s IV. Wahrſcheinlich in Schloß Bellevue.


Vittoria von Albano. Berlin, 1829—30.


Die Genzaneſerin. Berlin, 1829—30.


Chriſtus vor Pilatus. Berlin, 1832—38. Altarbild in der
Berliner Garniſonkirche.


Mirjam. Berlin, 1836. Im Beſitz der Königin Victoria
von England.


Chriſtus in der Wüſte. Berlin, 1837—38. Im Beſitze
König Fr. W.’s IV.


Der Herzog von Braunſchweig auf dem Balle in Brüſſel
(vor dem Treffen bei Quatrebras). Berlin. Im Beſitze des
Lord Egerton.


Hirtin im Lande Goſen, Motiv einer Figur aus der Mirjam.
Berlin, 1839. Im Beſitze der Herzogin von Sutherland.


Lebensgroßes Portrait des Prinzen von Wales. 1843. Zwei-
mal gemalt. Das eine im Beſitze König Fr. W.’s IV., das
andere im Beſitze der Königin Victoria.


König Wenzel. Berlin, 1844. Befindet ſich im Kaiſerſaale
des Römer, Frankfurt a. M.


Römiſche Frauen am Brunnen. Rom, 1845. Für den
Berliner Kunſtverein gemalt.


Betende Römerinnen. Rom, 1845. Im Beſitze von Paul
Mendelsſohn-Bartholdy.


Felix Mendelsſohn. Berlin, 1845. Lebensgroßes Knieſtück.
Im Beſitze von Sebaſtian Henſel. Oefter copirt.


Bivouac des Herzogs von Braunſchweig auf ſeinem berühmten
Zuge nach der Nordſee, vor dem von den Franzoſen beſetzten
[441] Braunſchweig. Die Bürger huldigen ihm. — Koloſſalbild, für
den Thronſaal in Braunſchweig beſtimmt geweſen. Unvollendet.


Des Näheren auf dieſe Bilder einzugehen, müſſen wir uns
verſagen. Nur wenige Worte. „Chriſtus vor Pilatus“ pflegt als
ſeine beſte Arbeit angeſehen zu werden und wird in der That, in
Stil und Compoſition, von keinem andern ſeiner Bilder über-
troffen; wir dürften indeſſen kaum fehlgreifen, wenn wir, unter voller
Würdigung eines großen, ihm gewordenen Aneignungstalentes,
(dies Wort im beſten Sinne genommen), dennoch der Anſicht ſind,
daß ſeine vorzüglichſte Begabung nach einer andern Seite hin lag.
In eine ſpätere Zeit geſtellt, die, wenigſtens in vielen ihrer beſten
Schöpfungen, idealiſirend an das reale Leben herantrat, würd
er ein geeigneteres Feld für ſeine Thätigkeit gefunden haben. Wir
kommen weiterhin auf dieſen Punkt zurück.


Den 14. Mai 1847 ſtarb ihm die geliebte Frau, an der er,
vom erſten Tag ihrer Bekanntſchaft an, in ſchwärmeriſcher, immer
wachſender Neigung gehangen hatte. Hiermit war ein neuer
Wendepunkt in ſeinem Leben gegeben. Er nahm Abſchied von
jenem heiteren Reiche der Kunſt in das die Lallah-Rukh-Tage
ihn eingeführt, in welchem die römiſchen Tage ihn befeſtigt und die
30er Jahre ihn zu Ruhm und Anſehn erhoben hatten; er nahm
Abſchied von dieſem heiteren Reiche, ſag’ ich, wobei nur einzufügen
bleibt, daß dieſes Scheiden ein allmälig vorbereitetes Ereigniß war.
Cornelius’ Erſcheinen in Berlin, die gewaltige Thätigkeit deſſelben
und vor allem die großartigen Entwürfe zum Campo Santo, die
gerade damals entſtanden, hatten ihn bereits um die Mitte der
vierziger Jahre fühlen laſſen, daß es vergeblich ſei, neben dieſem
Rieſen zu ringen. Ein andres Gebiet ſich unterthan zu machen,
dazu war es zu ſpät. Den Zeichenſtift behielt er in der Hand,
aber die Palette that er bei Seite.


Die bald eintretenden 48er Vorgänge, ſchmerzlich wie ſie für
ſein loyales, ganz an dem alten Preußen hängendes Herz waren,
erleichterten ihm andrerſeits in der Aufregung die ſie ſchufen, den
Uebergang aus einem Lebensabſchnitt in den andern: aus ſeinem
künſtleriſchen Schaffen in ein künſtleriſches far niente. Die März-
tage ſahen ihn in Waffen, der alte Jäger-Offizier lebte wieder auf,
[442] und als Kommandirender ſtand er an der Spitze des „Berliner
Künſtler-Corps.“


Keiner war dazu berufener als er. Royaliſt und alter Mili-
tair auf der einen Seite, kannt’ er doch andererſeits auch die
Künſtlernatur genau genug, um mit dieſem Faktor zu rechnen.
So gelang es ihm, dem ganzen Corps, das ſich aus disparaten
und zum Theil auch wohl aus desperaten Elementen zuſammen-
ſetzte, einen preußiſch-loyalen Charakter zu geben, und eine Truppe
heran zu bilden, die wenigſtens ſo zuverläſſig war, wie’s ein ſolches
Freicorps überhaupt zu ſein vermag.


Die politiſche Erregung Henſel’s überdauerte den Sommer 48,
ja ſie ſteigerte ſich während des Reactionsfiebers und ſchwand erſt,
als auch dieſes geſchwunden war. Es kehrten ihm nun ruhigere
Tage zurück und an dieſelbe Wand, an der die Büchſe des frei-
willigen Jägers und die Palette des Malers bereits hingen, hing
er nun auch das Rüſtzeug des Parteikämpfers: die politiſche
Brochüre, den Aufruf und das Wahlprogramm. Er war jetzt über
60 und die Zeit war da, wo man nicht mehr vorwärts und
kaum noch um ſich, ſondern nur noch rückwärts blickt.


Nur in einem blieb er ganz und gar der Alte: in ſeinen
geſelligen Beziehungen. Nicht mehr die Kämpfe der großen Stadt,
auch nicht eigentlich ihre Beſtrebungen bewegten ihn, aber dem
Leben und Geplauder der mannigfachſten ihm befreundeten Kreiſe
blieb er mit Vorliebe zugewandt. Er war nun ganz das gewor-
den, was man eine „Figur“ nennt. Jeder kannt’ ihn, Jeder
wußte Dies und Das von ihm zu erzählen: Gutthaten und
Schwänke, Bonmots und Impromptus. Er war in gewiſſem
Grade „der alte Wrangel in Civil.“ Dies Gefühl der Zugehörig-
keit zu Berlin, in dem er ein volles halbes Jahrhundert gelebt
hatte, überkam ihn mit immer ſteigender Gewalt und nahm ſchließ-
lich faſt die Form einer Krankheit an. Der Aufenthalt bei den
liebſten Perſonen, wenn dieſe nicht dem hauptſtädtiſchen Verbande
zugehörten, begann ihm nach wenig Tagen ſchon ängſtlich und be-
drücklich zu werden, und durch all ſeine Heiterkeit hindurch er-
kannte man dann eine Unruhe, die nichts Anderes war als Heimweh.
Ein Gefühl, das Manchem ein Lächeln abnöthigen wird. Aber
es war ſo. Der Gedanke von einem Provinzial-Arzt behandelt
[443] oder wohl gar auf einem oſtpreußiſchen Dorfkirchhofe begraben zu
werden, barg etwas Troſtloſes für ihn und ſein alter, unerkünſtelter
Frohſinn kam ihm erſt wieder, wenn er die beiden Gensd’armen-
Thürme und die Schloßkuppel am Horizont auftauchen ſah.


So erſchien der Spätherbſt 1861. Henſel ſollt’ ihn nicht
überdauern. Schön, wie er gelebt, ſo ſtarb er. Eine menſchen-
freundliche Handlung wurde die mittelbare Urſache ſeines Todes.
Ein Kind aufraffend, das in Gefahr war von einem Omnibus
überfahren zu werden; verletzte er ſich ſelbſt am Knie. Von da ab
lag er darnieder. Am 26. November ſchloß ſich ſein Auge. Sein
Tod weckte Trauer bei Vielen, Theilnahme bei Allen.


So viel über den Gang ſeines Lebens. Wir werfen noch
einen Blick auf ſeinen Charakter, ſeine Begabung, ſeine Arbeiten,
immer nur bei dem Bemerkenswertheſten verweilend.


Wilhelm Henſel gehörte ganz zu jener Gruppe märkiſcher
Männer, an deren Spitze, als ausgeprägteſte Type, der alte
Schadow ſtand. Naturen, die man als doppellebig, als eine Ver-
quickung von Derbheit und Schönheit, von Gamaſchenthum und
Faltenwurf, von preußiſchem Militarismus und klaſſiſchem Idealis-
mus anſehen kann. Die Seele griechiſch, der Geiſt altenfritzig,
der Charakter märkiſch. Dem Charakter entſprach dann meiſt
auch die äußere Erſcheinung. Das Eigenthümliche dieſer mehr
und mehr ausſterbenden Schadow-Typen war, daß ſich die Züge
und Gegenſätze ihres Charakters nebeneinander in Gleichkraft
erhielten, während beiſpielsweiſe bei Schinkel und Winkelmann
das Griechiſche über das Märkiſche beinah vollſtändig ſiegte. Bei
Henſel blieb alles in Balance; keines dieſer heterogenen Elemente
drückte oder beherrſchte das andre und die Neu-Uniformirung eines
Garde-Regiments oder ein Witzwort des Profeſſor Gans intereſ-
ſirten ihn ebenſo lebhaft wie der Ankauf eines Raphael.


Seine Begabung, wie ſchon hervorgehoben, war eine eminent
geſellſchaftliche. Das bewies ſein Leben bis zuletzt. Er
excellirte am Feſttiſch, war ein immer gerngeſehener Gaſt, heiter,
geſprächig, jedem Scherze zugeneigt, und zugleich doch voll jenes
[444] feinen Ehrgefühls, das, während es ſelber die Grenzlinie wahrt, die
Linie des Schicklichen ſtillſchweigend auch von anderen gewahrt
zu wiſſen verlangt. So ſchrieb er, als er bei beſtimmter Gelegen-
heit ſich verletzt glaubte, folgendes an Graf B.:


„Geſellſchaftliche Demüthigungen ſind das verletzendſte, was
es giebt! Du weißt, daß ich Standes-Unterſchiede ehre und liebe,
ihnen auch gern die äußere Anerkennung zolle; allein der Höhere,
der mich durch Annäherung ehrt, muß auch die Ueberzeugung
fühlen, daß ich meine eigene unantaſtbare Ehre habe. Nur dieſem
feſten Gange meines Lebens, nie andringend aber auch nie ſchmieg-
ſam zurückweichend, hab ich wohl das reiche Maß von Huld und
Güte zu danken, welches mir bisher geworden iſt. Und wie ich
war, werd’ ich bleiben.“


Er war heiter und geſprächig, ſo ſagt’ ich. Die Anekdote, der
Toaſt, der Verſebrief, das Gelegenheitsgedicht, — alles war ihm
unterthan. Seine eigentlichſte Meiſterſchaft aber, zugleich ſeine
vollſte Eigenart, zeigte er auf dem Gebiete des Impromptu.
Hier feierte er ſeine größten und entſchiedenſten Triumphe. „Bin
Onkel Bonbonkel …“ „Da kommt Abeken im Trabeken,“ —
in ſolchen plötzlich aufſchießenden Reimen war er groß und das
geſchickte Operiren mit einem epigrammatiſch zugeſpitzten Calem-
bourg verſtand er beſſer als einer. Er war kein Dichter, aber
man hätt ihn „Wilhelm den Reimer“ nennen können. Eine
Sammlung dieſer „geflügelten Worte,“ wenn es möglich wär’
eine ſolche noch nachträglich zu veranſtalten, würd’ ein Witz- und
Anekdotenbuch und zugleich eine Perſonen- und Charakterſchilderung
aus dem zweiten Viertel dieſes Jahrhunderts ſein.


Von geſellſchaftlicher Bedeutung war auch ſeine Kunſt-
weiſe, zumal wenn wir von der Zeit abſehen, wo er noch unmittelbar
unter dem Einfluß Italiens und der großen Meiſter ſtand. Was
er in der Geſellſchaft und für die Geſellſchaft ſchuf, das wird
unter allem, was er künſtleriſch geleiſtet, das Dauerndſte ſein. Es ſind
dies ſeine, während eines Zeitraums von 40 Jahren entſtandenen
Portraits, die ſo weit meine Kenntniß reicht, eine in ihrer Art
einzig daſtehende Sammlung bilden.


Dieſe Sammlung, in Händen ſeines Sohnes Sebaſtian H.
befindlich, beſteht aus ſiebenundvierzig Jahres-Mappen, die in
[445] einem alten Schildpat- oder Boule-Schranke aufbewahrt werden
und die ganze obere Hälfte deſſelben füllen. Schon die bloßen
Mappen-Deckel bilden eine Sehenswürdigkeit. Bekanntlich gab es
in früheren Jahrhunderten auch eine Buchbinde-Kunſt, und einer
ſolchen halbuntergegangenen Kunſt-Epoche ſcheinen dieſe Mappen
anzugehören. Sie ſind alle verſchieden in Farbe wie Stoff;
Sammt, Seide, Maroquin wechſeln ab; das Vergilbte und Ver-
ſchoſſene kleidet ihnen gut; die Goldverzierungen ſind ſchön erhal-
ten; einzelne tragen auf dem oberen Deckel ein Moſaikbild oder eine
Gemme. Darunter ein geſchnittener Onyx von der Größe einer
Damenuhr, die Entführung der Europa darſtellend. Ebenſo ſchön
wie werthvoll.


Dieſe ſiebenundvierzig Mappen nun, die von 1815 bis 1861
reichen und je nach der Jahresausbeute dünn oder voluminös
ſind, enthalten nicht weniger als 1027 Portraitköpfe. Man darf
ſagen, alles oder doch faſt alles, was in dieſem langen Zeitabſchnitt
in ganz Mittel-Europa zu Ruhm und Anſehen gelangte, das giebt
ſich hier ein Rendezvous. Gruppiren wir den Geſammtinhalt
nach den Nationalitäten, ſo finden wir, außer ungezählten
Deutſchen, 52 Engländer, 43 Italiener, 31 Franzoſen, 17 Ruſſen
und Polen, und in Einzel-Exemplaren geſellen ſich ihnen zu:
Griechen, Fanarioten, Rumänier, Montenegriner, ſelbſt ein indiſcher
Fürſt und ein Mexikaner. Laſſen wir die Scheidung nach Natio-
nalitäten fallen und gruppiren ſtatt deſſen nach Beruf und Lebens-
ſtellung
, ſo geben die Mappen, unter Ausſchluß der Fürſtlichkeiten,
die das ſtärkſte Contingent ſtellen, folgendes an Ausbeute: Dich-
ter, Gelehrte, Schriftſteller 89; Architekten, Maler, Bildhauer,
Componiſten 62; Staatsmänner und Generale 51; Schauſpieler
und Sänger 21.


Aus der Gruppe der Dichter, Gelehrten und Schriftſteller
ſtehe hier etwa die Hälfte der Namen. Es ſind: Bettina v. Ar-
nim; Maxe, Armgard, Giſela v. Arnim; Boeckh; Clemens Bren-
tano; Geh. Rath Bunſen; Michel Beer; Dr. Carl Blum; Prof.
Droyſen; Ehrenberg; La Motte Fouqué; Prof. Gans; Goethe;
Jaacob Grimm; Paul Heyſe; Henriette Hertz; J. T. A. Hoffmann;
Alexander v. Humboldt; Klingemann; Th. Körner; Adam Müller;
Wilhelm Müller; Müllner; Frau v. Paalzow; Fürſt Pückler;
[446] Leopold v. Ranke; Oskar v. Redwitz; Ernſt Schulze (Dichter der
bezauberten Roſe); Steffens; Tieck; Tiedge; Varnhagen und die
Rahel. Wer unſer Berliner Leben ſeit 50 Jahren verfolgt hat,
wird hier ſo ziemlich jeden Namen wiederfinden, der, auf ſchön-
wiſſenſchaftlichem Gebiet, auf längere oder kürzere Zeit in den
Vordergrund getreten iſt. Man beachte: Fouqué, Müllner, Hoff-
mann, Pückler, Dr. Carl Blum, Frau von Paalzow, Redwitz,
Paul Heyſe.*)


Noch einige kurze Bemerkungen. Henſel hatte keine Feinde,
aber er hatte, gerade was dieſe Portraits anging, Zweifler. Dieſe
haben durch Schelmereien und übermüthige Witzworte (der alte
Humboldt ſei für den ſchönen Karlowa gehalten worden) die Be-
deutung dieſer Sammlung hinwegſpötteln wollen. Aber ſehr mit
Unrecht. Alle dieſe Portraitköpfe ſind nicht Phantaſieſchöpfungen,
laufen auch nicht auf ein bequemes „corriger la nature“ hinaus;
ſie verrathen vielmehr, abgeſehen von einer meiſterhaften, unſerem
Henſel ganz eigenthümlichen Technik, vor Allem auch eine eminente
Begabung für das Charakteriſtiſche. Sonderbarerweiſe haben wir
uns neuerdings daran gewöhnt, das Charakteriſtiſche vorwiegend
im Häßlichen zu ſuchen, anſtatt uns zuzugeſtehen, daß das Ueber-
treiben nach der einen Seite hin, alſo das Carrikiren und
Transponiren en laid, doch mindeſtens ebenſo verwerflich iſt,
als ein Zuviel en beau. Richtig geübt iſt dies eben nichts
anderes als der ideale Zug in der Kunſt, der doch immer der
ſiegreiche bleiben wird.


Die neueſte Kunſt- und Weltepoche, die „lichtbildneriſche,“ iſt
dem Ruhme der Henſelſchen ſiebenundvierzig Mappen allerdings
nicht allzu günſtig geworden. Aber wie immer dem ſein möge,
der größte Theil dieſer Sammlung giebt doch Aufſchluß über eine
[447]vor- lichtbildliche Zeit und wird über kurz oder lang einen Werth
repräſentiren, ähnlich den Initialenbüchern des Mittelalters, aus
denen oft Städte, Stände, Perſönlichkeiten allein noch zu uns ſprechen.
Die Mappen Wilhelm Henſel’s werden dann ein Bibliothekenſchatz
ſein trotz einem, eine Quelle voll hiſtoriſcher Bedeutung, und der Name
des Predigerſohns aus Trebbin wird zu neuen Ehren erblühen.


Am 26. November 1861 war W. Henſel geſtorben und am
30. trugen ihn ſeine Freunde hinaus. Auf dem alten Drei-
faltigkeits-Kirchhof, unmittelbar links vom Halleſchen Thore, be-
reitete man ihm an der Seite Fanny Mendelsſohn’s, deren An-
denken er faſt einen Kultus gewidmet hatte, die letzte Ruheſtätte.


Sein Grab zu beſuchen, zugleich auch über die Daten ſeiner
Geburt und ſeines Todes volle Gewißheit zu erlangen, bog ich,
in dieſen letzten Maitagen, in den dunklen, kaſtanienüberſchatteten
Gang ein, der bis an das Thor des alten Kirchhofes führt.


„Iſt hier der Mendelsſohn’ſche Begräbnißplatz?“ fragt’ ich.


Ein 12jähriges, klug ausſehendes Kind, an das ich die Frage
gerichtet, nickte mir freundlich zu, ſetzte dann, als ob ſichs von
ſelbſt verſtünde, das ihrer Huth anvertraute Schweſterchen ins
Gras nieder und ſagte: „Kommen Sie nur. Es iſt ſchwer zu
finden.“ Dabei lief ſie vor mir her, ein Gewirr von Gängen
und Steigen paſſirend, und nur von Zeit zu Zeit ſich umſehend,
ob ich auch folge. Wirklich es war ſchwer zu finden, ſchwerer
noch als ich gedacht hatte, denn drei, vier Kirchhöfe ſchoben ſich hier
mit ihren auslaufenden Spitzen ſo dicht und eng ineinander ein,
wie die Finger zweier gefalteten Hände.


Schließlich hielten wir vor einer umgitterten Stelle von
mäßiger Größe.


„Hier das Mittelgrab iſt das Grab von Felix Mendelsſohn-
Bartholdy.“ Sie gab ihm ſeinen vollen Namen. Daß ich
Wilhelm Henſel’s wegen gekommen ſein könne, dieſer Ge-
danke lag ihr fern. Und danach knixend und meinem Danke ſich
entziehend, lief ſie wieder im Zickzack bis zu der Stelle zurück, wo
ich ſie gefunden hatte.


Die Mendelsſohn’ſche Begräbnißſtätte bildet einen Staat im
[448] Staat, einen Kirchhof auf dem Kirchhof. Es ſind fünf Gräber,
alle gleichmäßig von Epheu überwachſen. Darunter ruhen, neben
andern Mitgliedern der Familie, Felix Mendelsſohn, Fanny
Mendelsſohn (die Gattin Wilhelm Henſel’s) und endlich Wilhelm
Henſel ſelbſt. Dem Hauſe, dem er im Leben anhing, iſt er auch
im Tode treu geblieben.


Alle Arten von Immergrün faſſen das Gitter ein: Epheu,
Buchsbaum, Taxus, Lebensbaum und eine hohe Cypreſſe überragt
das Ganze. Die Gräber haben Marmorkreuze; nur zu Häupten
Fanny Henſel’s ſteht ein zugeſchrägter, ſchön polirter Granit, der,
außer Namen und Datum, die Worte trägt:


Gedanken gehn und Lieder

Fort bis ins Himmelreich,

Fort bis ins Himmelreich.

Auch die Noten der Liedeskompoſition ſind in Goldſchrift
beigefügt, was einen ſehr eingenthümlichen Eindruck macht. Worin
übrigens kein Tadel liegen ſoll. Im Gegentheil. Ich ſehe nicht ein, wes-
halb nur Fahnen und Kanonen das Vorrecht genießen ſollen, als
Denkmal- oder Grabſtein-berechtigt zu gelten. Je häufiger und
conſequenter dieſe langweilige Tradition durchbrochen wird, deſto
beſſer.


W. H.’s Grabſchrift lautet: Wilhelm Henſel, Profeſſor
und Hofmaler; geb. zu Linum den 6. Juli 1794, geſt. zu Berlin
den 26. November 1861.


Geboren zu Linum. Alſo doch! Und ſo bat ich denn
meinem Trebbiner Schützen-Major ab, über den großen Sohn
ſeiner Stadt, der ſich nun ſchließlich als ein Linumer Kind
herausſtellte, ſo ſchlecht unterrichtet geweſen zu ſein.


Aber auch dieſe reumüthige Stimmung hatte keine Dauer
und konnte ſie nicht haben. Er war eben doch ein Trebbiner.
Eine ſich entſpinnende Zeitungs-Controverſe ließ mir, nach Aus-
tauſch einiger Pro’s und Contra’s, endlich keine Zweifel darüber,
daß ſich auch dieſer Grabſtein, in Geltendmachtung traditioneller
Vorrechte, geirrt habe.


Noch einmal alſo: W. Henſel geb. zu Trebbin!


[[449]]

Schlußwort.


Mit dieſem IV. Bande nehm’ ich — wenigſtens in meiner
Wanderer-Eigenſchaft — Abſchied vom Leſer, nicht weil der Stoff
erſchöpft wäre, wohl aber vielleicht die Geduld. Und ein Band
zuviel iſt wie ein Tag zuviel, der den guten Beſuchs-Eindruck
wieder in Frage ſtellt.


Ueber zwanzig Jahre ſind vergangen, ſeit ich im Sommer
59 mit dieſen Wanderungen begann. Was den Anſtoß dazu gab,
darüber hab’ ich mich in dem Vorworte zu Band I. ausführlicher
ausgeſprochen, und wiederhole hier nur in aller Kürze, daß es auf
einer Tour in Schottland, angeſichts eines im Leven-See ſich er-
hebenden alten Douglas-Schloſſes war, wo mir zuerſt der Gedanke
kam „je nun, ſo viel hat Mark Brandenburg auch. Geh’ hin
und zeig’ es.“


Auf einer „Tour“ ſagt ich, war mir dieſer erſte Gedanke
zu den Wanderungen gekommen und ausſchließlich als „Touriſt“
gedacht’ ich daheim ihn auszuführen. Jede wiſſenſchaftliche Prä-
tenſion lag mir fern. Es drängte mich nur, das eingewurzelte
Vorurtheil von einer hierlandes auf alle Dinge ſich erſtreckenden
Armuth und Elendigkeit zu bekämpfen und durch Hinweis auf
dieſen oder jenen Schönheits- beziehungsweiſe Berühmtheitspunkt
unſrem ſo gern in die Ferne ſchweifenden Märker zu Gemüth zu
führen: „Sieh, das Gute liegt ſo nah.“


Und ſo fuhr ich denn in meine ſpecielle Heimath, ins
Fontane, Wanderungen. IV. 29
[450]Ruppin’ſche hinein und begann in ſeinen Luch- und Bruch-
Dörfern umherzuwandern, den Rhin und die Doſſe hinauf und
hinunter, und gleich das erſte Kapitel, das ich ſchrieb, ergiebt denn
auch bis dieſe Stunde, wie lediglich touriſtenhaft ich meine Sache
damals auffaßte.


Dies erſte Kapitel behandelte „Wuſtrau“ das am Ruppiner
See gelegene Herrenhaus des alten Zieten. Es fiel mir nicht
ein, unter dieſer Ueberſchrift irgend etwas auf hiſtoriſchem Gebiete
Neues über den berühmten alten Huſarenvater erzählen zu wollen,
vielmehr lief in meinem Vorhaben alles auf etwa folgende Be-
trachtung und Anſprache hinaus: „Ihr kennt alle den alten Zieten,
den Zieten aus dem Buſch, der auf dem Wilhemsplatze ſteht und
zu dem der alte Fritze ſagte: „Zieten ſetz er ſich.“ Und iſt auch
derſelbe, der den Zietenritt ausführte, den unſer Scherenberg in
wahren Steeple-Chaſe-Verſen beſungen hat, und iſt endlich auch
der, der bei Torgau nicht locker ließ und die Schlacht gewann,
die der König ſchon verloren glaubte … Nun ſeht, dieſer alte
Zieten iſt nicht ſo blos ſpurlos aus dieſer Zeitlichkeit geſchwunden,
und ſitzt auch nicht ſo blos, wie’s uns unſer Chodowiecki glaub’ ich
gezeichnet hat, oben im Himmel und regiert da mit Gott und dem
alten Fritzen um die Wette, nein, nein, er iſt auch noch dieſſeits
zu finden und wenn ihr nur an den rechten Fleck Erde kommt,
ſo wird ſich euch noch allerhand aufthun, Kleines und Großes, das
an ihn erinnert. Und dieſer Fleck Erde liegt am Ruppiner See.
Da geht nur hin, und wenn ihr erſt da ſeid, ſo werdet ihr da-
ſelbſt nicht blos das Herrenhaus ſehen das er gebaut und den
Park den er angelegt hat, ſondern zugleich auch ſeinen Grabſtein
an der äußeren Kirchenwand und ſein ſtattliches Grabdenkmal
im Innern der Kirche. Ja, wenn ihr Glück habt und es trefft,
daß die Herrſchaften oben ausgefahren oder wohl gar verreiſt ſind,
ſo könnt’ ihr am End’ auch den Säbel ſehen, den der Alte nie zog
(ein einzig Mal abgerechnet, wo’s ihm an’s Leben ging) und könnt’
auch vielleicht in den Huſaren-Ahnenſaal eintreten, in dem all die
rothröckigen und ſchnauzbärtigen Zieten’ſchen Officiere hängen, die
den 7jährigen Krieg mit durchgefochten haben. All’ das könnt ihr
da ſehen und nebenher auch noch dies und jenes hören, allerlei
Schnurren und Anekdoten, die von Mund zu Munde gehn. Und
[451] wenn ihr dann weiterfahrt, dann werdet ihr ungefähr daſſelbe
denken, was ich ſeinerzeit gedacht habe: „Weit hinaus über alles
Erwartete!“


Ja, vorfahren vor dem Krug und über die Kirchhofsmauer
klettern, ein Storchenneſt bewundern oder einen Hagebuttenſtrauch,
einen Grabſtein leſen oder ſich einen Spinnſtubengruſel erzählen
laſſen — ſo war die Sache geplant und ſo wurde ſie begonnen.
Und ſehr wahrſcheinlich auch, daß es dabei geblieben wäre, wenn
es dabei hätte bleiben können. Allein dies verbot ſich. Ein
Vorgehen, wie das eben geſchilderte, hatte doch immer ein be-
ſtimmtes Maaß von Kenntniß und Intereſſe zur Vorausſetzung
und mußte von dem Augenblick an hinfällig werden, wo die
Vorausſetzung ſelbſt es ward und mich im Stiche ließ. In dem
Wuſtrau-Kapitel lagen die Dinge bequem, Wuſtrau war ein
Idealſtoff, aber ſolcher Stoffe gab es in ganz Mark Brandenburg
eigentlich nur noch drei: Rheinsberg, Küſtrin und Fehrbellin.
Ueber dieſen Kreis hinaus verſagte ſofort das Vorweg-Intereſſe,
weil das Wiſſen zu verſagen anfing, und ſchon bei Tamſel und
Alt-Moeglin, bei Friedersdorf und Friedland ergaben ſich arge
Verlegenheiten. In ihnen waren einerſeits die Schöning’s und Bar-
fuß’ und andrerſeits die Marwitz’ und die Leſtwitz’ zu Hauſe.
Wer aber waren die Schöning und die Barfuß’? Und wer waren
die Marwitz’ und die Leſtwitz’? Und das Recht zu dieſer Frage nur
einen Augenblick zugeſtanden, war auch die Pflicht zugeſtanden, ſie
zu beantworten.


Eine Folge davon war, daß ich aus dem urſprünglichen
Plauderton des Touriſten in eine hiſtoriſche Vortragsweiſe hineinge-
rieth, und Band II. (Oderland) iſt denn auch mehr oder weniger
ein Zeugniß und Beweis dafür geworden, indem er aus einer An-
ſchauungs- und Arbeits-Epoche ſtammt, in der mir dieſe verän-
derte Vortragsweiſe, will ſagen das Vorherrſchen des Hiſtoriſchen,
als unerläßlich erſchien.


Aber nicht lange, ſo bemerkt ich den Irr- und Gefahrsweg
auf den ich gerathen war und beſtrebte mich, mich in die frühere
Weiſe zurückzufinden, ein Beſtreben, das in den beiden Schluß-
bäuden, ſo hoff’ ich, deutlich erkennbar zu Tage tritt. Auch ſie
noch weiſen genug des Hiſtoriſchen auf, aber es verbirgt ſich oder
29*
[452] ſucht ſich wenigſtens zu verbergen, und ſo haben denn Band III.
und IV. auf dem Wege der Kritik und Reflexion etwa wieder
die Form und Geſtalt empfangen, die mir bei Niederſchreibung
der erſten Kapitel aus dem bekannten „dunklen Drange heraus“,
als die richtigſte, jedenfalls als die wünſchenswertheſte vorſchwebte.


Der Hinweis auf dieſe Dinge ſchien mir geboten und zwar
in Abwehr gegen Bemängelungen, denen dieſe Reiſe-Feuilletons,
(ſo vielleicht darf ich ſie nennen) ausgeſetzt geweſen ſind. Irgend-
wo hieß es einmal: „Die nach mehr als einer Seite hin über-
ſchätzten „Wanderungen“ ſind Arbeiten, an denen der Mann
von Fach, alſo der Berufs-Hiſtoriker, achſelzuckend oder doch
mindeſtens als an etwas für ihn gleichgültigem vorübergeht.“ Es
mag in dieſem Satze ſehr viel Richtiges enthalten ſein, aber inſoweit
irrt er und benachtheiligt er mich, als er mir Abſichten und Stre-
bungen unterſtellt, die mir, ein paar der von mir ſelber ange-
deuteten Ausnahmefälle zugegeben, abſolut fern gelegen haben. Er
ſtellt mich rein willkürlich, ohne meinen Wunſch und ohne mein
Zuthun, in die Prachfront der großen Grenadiere, blos um hinter-
her auf eine bequemſte Weiſe meine Füſilierſchaft, meine Zuge-
hörigkeit zur letzten Rotte der 12. Compagnie vor aller Welt
Augen beweiſen zu können. Ich hab’ aber nie mehr beanſprucht
als 5 Fuß 5 Strich altes Maaß. Wer ſein Buch einfach „Wan-
derungen“ nennt und es zu größerer Hälfte mit landſchaftlichen
Beſchreibungen und Genreſcenen füllt, in denen abwechſelnd Kut-
ſcher und Koſſäthen und dann wieder Krüger und Küſter das
große Wort führen, der hat wohl genugſam angedeutet, daß er
freiwillig darauf verzichtet, unter die Würdenträger und Groß-
Cordons hiſtoriſcher Wiſſenſchaft eingereiht zu werden. Ich habe
„mein Stolz und Ehr’“ und zwar mit vollem Bewußtſein auf
etwas anderes geſetzt, auf’s bloße Plaudern-können, und erkläre
mich auch heute noch für vollkommen zufriedengeſtellt, wenn mir
dies als ein Erreichtes und Gelungenes zugeſtanden werden ſollte.
Freilich bleibt daneben beſtehen, daß in eben dieſen Kapiteln, und
zwar unter Zuthun und Hülfe meiner über die halbe Provinz
hin zerſtreuten Mitarbeiter, auch ein beſtimmtes Quantum
hiſtoriſchen Stoffes niedergelegt worden iſt, das eben nur hier
[453] exiſtirt*) und an dem mißachtend vorübergehen zu wollen, ein
Fehler wäre, den, ſo mein’ ich, niemand aus freien Stücken be-
gehen wird, niemand, dem neben dem exakten Contour auch das
Colorit in der Kunſt etwas bedeutet.


Ich erwähnte meiner Mitarbeiter und möchte der haupt-
ſächlichſten derſelben etwas eingehender gedenken dürfen.


Da ſind vorerſt die märkiſchen alten Familien: der Land-
und Landes-Adel aus den Tagen der Putlitz, Quitzow und
Rochow her. Die Gefühle für ſie ſind im Laufe von vierhundert
Jahren ziemlich unverändert geblieben, ziemlich unverändert wie
ſie ſelbſt. Und aus gleicher Urſach die gleiche Wirkung. Wirklich,
es lebt in unſerm Adel nach wie vor ein naives Ueberzeugtſein
von ſeiner Herrſcherfähigkeit und Herrſcherberechtigung fort, ein
Ueberzeugtſein das zum Schaden ebenſowohl des Ganzen wie der
einzelnen Theile, noch auf lange hin das Zuſtandekommen einer
auf Prinzipien und nicht blos auf Vorurtheil und Intereſſe baſir-
ten Tory-Partei verhindern muß. Eine ſolche bedarf eben durch-
aus
des dritten Standes. Es wird aber nur wenige bürgerliche
„Honoratiores“ geben, die nicht — auch bei conſervativſter Schu-
lung und Naturanlage — durch den Pſeudo-Conſervatismus
unſres Adels, der ſchließlich nichts will als ſich ſelbſt und das
was ihm dient, in peinlichſte Verlegenheit und hellſte Verzweiflung
gebracht worden wären. Immer wieder bricht es durch, erweiſt
eben noch gehegte Hoffnungen als eben ſo viele Täuſchungen und
macht ein herzliches Zuſammengehn auf die Dauer unmöglich.


[454]

Indeſſen es gilt politiſches und geſellſchaftliches Auftreten zu
ſcheiden, und was ſeinerzeit vom Engländer galt und eigentlich immer
noch gilt: „in der Fremde bedrückend, aber zu Haus entzückend“
eben daſſelbe geflügelte Wort iſt auch anwendbar auf unſren Adel.
Und weshalb? Einfach deshalb, weil er ſich daheim, an ſeinem
eignen Herd, in ſein volles Gegentheil zu verkehren und aus der
Starrheit ſeines non possumus in ein alle Welt ſympatiſch be-
rührendes laisser passer überzulenken weiß. Er iſt eben über
Nacht ein andrer geworden. Nicht mehr in die Defenſive geſtellt,
nicht mehr ein kreis- oder reichstäglich Belagerter, der ſich, in
ſtrikter Befolgung alter Taktik, am beſten durch Ausfälle zu ſchützen
glaubt, entäußert er ſich einer ihm ſchließlich ſelbſt unbequem wer-
denden Stachel-Rüſtung und kleidet ſich in das Selbſtgeſpinnſt
ſeiner vorvorderlichen Tugenden. Und dieſe Tugenden heißen:
ein gut Theil Gutmüthigkeit, ein noch größeres von geſundem
Menſchenverſtand und ein allergrößtes von Kritik. Und dieſe
Kritik iſt das Beſte. Mit einem ſeiner Zuhörerſchaft ſich alsbald
mittheilenden Behagen beginnt er plötzlich alles unter die Loupe
ſeiner ihm angebornen Skepſis zu nehmen und dabei Radikalismen
laut werden zu laſſen, Urtheile von einer Fortgeſchrittenheit, als
flöſſe nicht die Niplitz oder die Notte, ſondern mindeſtens der
Hudſon oder Potomac an ſeinem alten Feldſteinthurm vorüber.
All das freilich nur als jeu d’esprit, ohne die geringſte Neigung
ſich andern Tags in allernüchternſter Morgenfrühe daran erinnern
oder wohl gar beim Worte nehmen zu laſſen, aber auch als bloßes
Spiel ſchon erweiſt es ſich als bemerkenswerth und verräth uns
zur Genüge, daß etwas Helles und Gewitztes, etwas esprit fort-
haftes in ihm ſteckt, und daß die Wurzel jener Selbſtſucht, die
ſo vorzugsweis an ihm mißfällt, in allem Möglichen, nur nicht
in der Enge ſeines Geiſtes zu ſuchen iſt. Er iſt vielmehr umge-
kehrt von einem ſcharfen und eindringenden, ja, ſo weit lediglich
praktiſche Dinge mitſprechen, von einem umfaſſenden Blick, und
führt ſeinen Exiſtenzkampf nicht deshalb ſo hart und erbittert,
weil er des Gegners Recht verkennte, ſondern gerade deshalb weil
er es erkennt. Er vermag nur nicht den einen letzten Schritt zu
thun, den vom erkennen bis zum anerkennen.


Alles in Allem: ſie ſind doch anders als ihr Ruf, dieſe ſo
[455] viel verklagten „Junker“, anders und beſſer, und es iſt nur Pflicht
und Wahrheit wenn ich an dieſer Stelle verſichere, daß ich einer langen
Geſprächsreihe mit ihnen eine Zahl aller glücklichſter Stunden
verdanke, Stunden voller Anregung und Belehrung, in Betreff
deren es gleich war, ob das Geſpräch in Haus oder Haide, vor’m
Kamin oder auf dem Pirſchwagen geführt wurde. Zu welchem
allem ich auch das noch hinzufügen möchte, daß ſich mir dieſe
liebenswürdige Verkehrsſeite, dieſe Welt anſprechender nnd ge-
fälliger Formen unter theilweis ſehr erſchwerenden Umſtänden
erſchloß und zwar zu Zeiten, als ich mich noch als ein abſolut
Fremder unter unſren ruppiniſch-havelländiſchen und barnim-
lebuſiſchen Familien bewegte. Mit einer Dankbarkeit, in die ſich
etwas von Bewundrung miſcht, muß ich jener erſten 60er Jahre
gedenken, wo meine Beſuche vollkommen überfall-artig ſtattfanden
und ich, mal auf mal, auf gut Glück hin die herrſchaftliche Rampe
hinauffuhr, in der That um kein Haarbreit introducirter oder
empfohlener, als irgend ein Feuer- oder Hagel-Aſſekuranz-Agent.
Oft ſchlug mir das Herz, und mit nur zu gutem Grund, aber nie-
mals bin ich einer Unfreundlichkeit oder Verſpottung begegnet, zu
der die Situation eigentlich ausnahmelos herausforderte.


Vor Koeckeritz und Lüderitz,

Vor Krachten und vor Itzenplitz,

Bewahr uns lieber Herre Gott —

das mag politiſch auch noch ſo weiterklingen; geſellſchaftlich und
perſönlich aber haben es die „Raubritter“ von ehedem an nichts
wirklich Ritterlichem jemals fehlen laſſen*) und alles Gegenſatzes
[456] gegen den Inhalt des vorigen Jahrhunderts unerachtet, die
Form und den Ton eben dieſes Jahrhunderts (dem des unſrigen
ſo ſehr überlegen) immer zu wahren und immer zu treffen
gewußt.


Und nun ihr meine Geliebteſten, ihr meine Landpaſtoren
und Vicars of Wakefield! Ach, auch euch lacht nicht eigentlich
die Sonne der Volksgunſt, und wirklich, wer euch ſo zur Synode
ziehen ſieht, angethan mit jenem Frack und jenem Blick, die zu
zeitigen unſrem norddeutſchen Proteſtantismus innerhalb ſeiner
andren Aufgaben vorbehalten war, und wer euch dann ſprechen
hört über den Zeitgeiſt, den ihr ändern möchtet und nicht ändern
könnt, und über die Juden, die bekehrt werden ſollen und doch
am Ende nicht wollen — der betet auch wohl wieder „bewahr uns
lieber Herre Gott.“


Aber mit wie großem Unrechte! Der in die Reſidenz ver-
ſchlagene Landpaſtor iſt eben ein ſich ſelbſt Entfremdeter, der
morgens vor ſeinem Spiegelbild erſchrickt, und erſt von dem
Augenblick an wo die Wichtigkeit und die weiße Binde wieder von
ihm abfällt und das ſchwarzſammtne Hauskäpſelchen in ſein Recht
tritt, erſt von dieſem Augenblick an iſt er wieder er ſelbſt und
kehrt zurück in den Urſtand aller ihm eignenden guten Dinge.
Der ex cathedra ſprechende Paſtor und der Lehn- und Sorgenſtuhl-
Paſtor ſind ſo grundverſchieden wie roi Henri wenn er in die
Schlacht zieht und roi Henri wenn der Dauphin auf ihm reitet.
Der eine ganz Schwert und Rüſtung, der andre ganz Idyll. Und nur
den letztren hab’ ich kennen gelernt. Kennen und lieben, was ein
und daſſelbe bedeutete. Denn auch hier wieder nahm ich das Gegen-
*)
[457] theil von dem wahr, was ſich l’opinion publique als das Kriterium
eines Landgeiſtlichen herausgeklügelt hat, und wenn ich weiter oben
ſagen durfte, daß ich bei dem Adel auf dem Lande nie der ihm
vorgeworfenen Enge der Anſchauungen begegnet ſei, ſo bei dem
Paſtor auf dem Lande nie der ihm vorgeworfenen Unduldſamkeit.
Es wird Einzel-Fälle davon gegeben haben und noch geben, aber
ſie zu beobachten blieb mir erſpart. Ich habe weder die Rationa-
liſten über die Strenggläubigen, noch die Strenggläubigen über
die Rationaliſten in wirklich gehäſſigen Worten aburtheilen hören,
auch nicht in Zeiten brennendſter Gegnerſchaft, offenſter Fehde,
gleichviel nun ob Aera Mühler oder Aera Falk auf der Tages-
ordnung ſtand. Ueberall vielmehr bekundete ſich ein beſtimmter
guter Wille den Gegner auch in dem, was ihn zum Gegner
machte, gelten zu laſſen, und was abwich von dieſer Regel, erwies
ſich ſchließlich immer nur als Schein, als ein Ausnahmefall, der
lediglich im Temperament und nicht in der Geſinnung ſeine
Wurzel hatte. Der Sanguiniker hielt nicht jederzeit mit ſei-
nem Witzwort und der Choleriker nicht jederzeit mit ſeinem
Kraft- und Kernwort zurück, aber all das ſchuf nur Ausdrucks-
und Disputationsformen, die hinter einer hervorblitzenden Kampfes-
luſt eine letzte Friedensgeneigtheit nie vermiſſen ließen. Ein Zug
allgemeinen Wohlwollens, entſproſſen aus der richtigen Würdigung
einer auf Verſöhnung und Liebe geſtellten Berufs- und Lebensauf-
gabe, bekundete ſich in allem, in Großem und Kleinem, und rief
mir die ganze Landpaſtoren-Schwärmerei meiner jungen Jahre
wieder ins Leben zurück. Und aus ihren Reihen war es denn
auch, daß mir meine recht eigentlichſten Mitarbeiter erwuchſen,
ſolche, die ſich’s nicht blos angelegen ſein ließen mir den Stoff,
ſondern eben dieſen Stoff auch in der ihm zuſtändigen Form zu
geben.


Und dabei welch erſtaunliches Wiſſen im Detail. Immer
neue Seiten in Hiſtorie, Natur- und Volksleben erſchloſſen ſich
mir und vergewiſſerten mich in der übrigens längſtgehegten Ueber-
zeugung, daß der Glückliche, dem es dermaleinſt beſchieden ſein
ſollte, die Geſammtheit dieſes in hundert Einzelforſchungen
eruirten und extrahirten Materials in ſich zu vereinigen, der
Sanspareil ſein wird auf dem Gebiete märkiſcher Spezial-Geſchichte.


[458]

So viel über unſere Landpaſtoren.


Und nun ahnt der Leſer bereits, vor wem ich mich, als vor
dem Dritten im Bunde, zu verneigen haben werde, natürlich vor
dem Lehrer, der ſich mir, unbekümmert darum ob ich ihn bei
ſeinen Schulſtunden oder bei ſeinen Bienen- und Roſenſtöcken
ſtörte, von einem immer gleichen Entgegenkommen erwies. Einen
einzigen Ausnahmefall abgerechnet, über den ich in dem Kapitel
Malchow des Weiteren berichtet habe, hieß es allezeit und alle-
wege: „Klopfet an, ſo wird euch aufgethan,“ und ſelbſt auf brief-
lich geſtellte Fragen, aus denen ſich mehr als einmal eine voll-
ſtändige Correspondenz entwickelte, bin ich zu keiner Zeit ohne den
gewünſchten und oft ſehr eingängigen Beſcheid geblieben.


Und mit dieſen Lehrern auf dem Lande wetteiferten die
Lehrer in der Stadt, aus deren Reihen ich wenigſtens Eines
hier unter Nennung ſeines Namens gedenken möchte: Garniſon-
ſchullehrer Wagener in Potsdam.


Unter ſeinem im Anfange ſowohl ihm wie mir unbewußt
bleibendem Einfluſſe war es, daß ich mich aus der hiſtoriſchen
Vortragsweiſe, wie ſchon Eingangs hervorgehoben, in die genre-
hafte zurückfand und den urſprünglichen Plauderton in ſein ihm
zuſtändiges Recht wieder einſetzte. Die ganze Gruppe der Kapitel
aus der Umgegend von Potsdam, alſo Bornſtedt, Sakrow, Fahr-
land, Falkenrehde, Marquardt, Uetz und Paretz am Nordufer der
Havel und ebenſo Werder, Glindow, Petzow, Caput ꝛc. am Süd-
rande hin, entſtanden unter ſeiner Führung, und was von
ernſten und heitren Geſchichten unter all’ dieſen Kapitelüberſchriften
enthalten iſt, entnahm ich zu ſehr weſentlichem Theile ſeinem
immer friſchen und anſchaulichen, weil überall aus der Erlebniß-
fülle ſchöpfenden Unterwegs-Geſpräche. Mit einer wahren Her-
zensfreude denk’ ich an jene Sommer-Nachmittage zurück, wo wir
von den Dörfern und Ziegelöfen am Schwilow-See heimkehrend,
auf einer vor ein paar ausgebauten Häuſern von Alt-Geltow
liegenden Graswalze zu raſten und unſer ſehr verſpätetes Vesper-
brot aus freier Hand einzunehmen pflegten, ohne daß der Rede-
ſtrom auch nur einen Augenblick geſtockt hätte. Da vergaßen wir
denn der Flüchtigkeit der Stunde, bis die Mondſichel über den kleinen
Giebelhäuſern ſtand und uns erinnerte, daß es höchſte Zeit ſei,
[459] wenn wir, oder doch wenigſtens ich, den Zug noch erpaſſen
wollten. Und immer raſcher und geängſtigter ging es vorwärts,
jetzt über die Gewehrfabrik und jetzt über den öden und ſommer-
ſtaubigen Exercirplatz hin, und nun hörten wir das erſte
Läuten. O wie das ins Ohr gellte, denn die vollgeſtopfte
Brücke lag noch zwiſchen uns und unſrem Ziel. Alſo Trab,
Trab! Und ein ewiges und verzweifeltes „Pardon“ auf der
Lippe, das uns freilich vor dem üblen Nachruf aller Carambolir-
ten nicht ſchützen konnte, ging es endlich zwiſchen den pickenden
Sperlingen hin, entlang den Droſchkenſtand, entlang den Perron
und nun hinauf die Treppe, bis ich keuchend und athemlos und
mit eingebüßtem Taſchentuch in das nächſtoffenſtehende Coupé
hinein ſtürzte. „Gute Nacht“. Und fort raſſelte der Zug.


Es war wie Dauerlauf und Turnerfahrt aus alten Schul-
und Ferientagen her, und gab einem auf Augenblicke das Gefühl
einer ach auch damals ſchon auf lange hin zurückliegenden Jugend
wieder. Und ſchon das war ein Glück.


Und von manch’ ähnlichem Tage könnt’ ich noch berichten!
Aber die „Wanderungen“ ſelbſt erzählen davon, und ſo brech’ ich
denn ab und ſchließe mit dem Wunſche, den ich ſchon einmal und
zwar bei Beginn des Werkes ausſprechen durfte „daß das Leſen
dieſer Dinge dem Leſer wenigſtens einen Theil der Freude bereiten
möge, den mir das Einſammeln ſeiner Zeit gewährte“.


Berlin, 14. November 1881.


Th. F.


[]

Appendix A

Druck von Fr. Aug. Eupel in Sondershauſen.


[]
[][][]
Notes
*)
Ueber Meerrettig-Produktion und Meerrettig-Verkauf ſtehe hier
noch das folgende. Der Herbſt iſt die Zeit der Lübbenauer Meerrettigmärkte.
Jeden Sonnabend, ſo lange das Waſſer eisfrei bleibt, bringen die Spree-
wäldler, namentlich die von Burg, ihre Waare zu Markt, und es bedecken
dann 2 bis 300 mit Meerrettig beladene Kähne den Ausladeplatz an
der Spree. Groß- und Kleinhändler aus vielen Städten und Ländern
erſcheinen um dieſe Zeit, um ihren Einkauf zu machen. In der Regel werden
in Lübbenau 20,000 Centner verkauft, was einer Einnahme von 600,000 Mark
gleichkommt. Ich gebe dieſe Zahlen ohne Gewähr, wie ich ſie finde.
*)
Nicht im Schloſſe zu Cöpenick, aber freilich nur eine halbe Meile da-
von entfernt, in unmittelbarer Nähe des reizend gelegenen Dörfchens Grünau,
ſtarb am 18. Juli 1608 der Enkel Joachims II., Kurfürſt Joachim Friedrich,
derſelbe, dem die Marken die Gründung des Joachimsthal’ſchen Gymnaſiums
verdanken. Er kam von Storkow und war auf dem Wege nach Berlin, als
ihn der Tod im Wagen überraſchte. An der Stelle, wo er muthmaßlich ge-
ſtorben iſt, hat man jetzt ein einfaches, aber eigenthümliches Denkmal errichtet.
Es iſt ein Steinbau, eine Art offner Grabkapelle, deren auf vier Pfeilern
ruhendes Dach ſich über einem Grabſtein wölbt. Zu Häupten dieſes Steins,
in der einen Schmalwand der Kapelle (die beiden Breitſeiten ſind offen und
haben nur ein Gitter) befindet ſich ein gußeiſernes Kreuz, das einen Kurhut
und darunter die wenigen Worte trägt: „Hier ſtarb den 18. Juli 1608
Joachim Friedrich, Kurfürſt von Brandenburg.“ Der Anblick des Denkmals,
namentlich um die Sommerzeit, wenn man durch den offenen Rundbogen
hindurch die jungen Eichen grünen ſieht, die das Kapellchen umſtehn, iſt über-
aus reizend und maleriſch.
*)
Im Schloſſe heißt es, daß der mit Bohlen gedeckte, zwiſchen Dach
und Baluſtrade hinlaufende Gang im vorigen Jahrhundert als Kegelbahn
gedient habe. Trifft dies zu, ſo darf man kühnlich behaupten, daß, wenigſtens
in den Marken, an keiner ſchöneren Stelle jemals Kegel geſpielt worden iſt.
Der einen Kreis von faſt vier Meilen umfaſſende Blick iſt entzückend: Wald
und Waſſer ſoweit das Auge reicht und mitten im Bilde die Müggelsberge.
*)
Hofprediger St. Aubin erhielt von der Prinzeſſin die kleine reizende,
dicht bei Cöpenick gelegene Beſitzung als Geſchenk, die den Namen „Bellevue“
führt. Dies Bellevue iſt ein Garten mitten im märkiſchen Sand, eine Oaſe
in mehr als einer Beziehung. Mr. St. Aubin erbaute ſich daſelbſt ein
Herrenhaus, ein „Schlößchen“ mit Speiſehalle und Gartenſaal, mit Bibliothek
und Empfangszimmern. Es wechſelte oft die Beſitzer. Um 1850 beſaß es
Bernhard von Lepel, der hier, in poetiſcher Zurückgezogenheit, einige ſeiner
beſten Sachen dichtete, z. B. „die Zauberin Kirke“. 1852 war „Bellevue“ der
Sommeraufenthalt Franz Kuglers und Paul Heyſe’s. Einige Jahre
ſpäter ging es in den Beſitz des Paſtor Pabſt über, der, früher Geſandt-
ſchaftsprediger in Rom, zu dem Bonmot Veranlaſſung gab „in Rom ſeien jetzt
zwei Päbſte“. Comfort, Kunſt und Dichtung waren immer an dieſer Stelle
zu Haus und niemand gewann Hausrecht hier, der nicht zuvor in Rom ge-
weſen war. Ich ſelbſt habe die Zimmer des Schlößchens nie anders geſehen
als im Schmuck italieniſcher Bilder, und oft lagen mehr Pinienäpfel auf den
Schränken und Kommoden des Gartenſaals umher, als Tannäpfel in den
Steigen des Gartens draußen.
*)
In Schloß Cöpenick befanden ſich damals die „Demagogen“ in Unter-
ſuchungshaft. — Jetzt iſt es Seminar.
*)
Parallel mit dieſem Wege, der ſich durch die Haide zieht, läuft die
Spree, hinter Bäumen verborgen. An einigen Stellen des Weges, und
zwar in der Richtung auf den Fluß zu, hat man den Wald gelichtet und nur
gerade noch Bäume genug am Ufer hin ſtehen laſſen, um als grüner
Schirm für die Spree zu dienen. Dieſe ſtehen gebliebenen Bäume ſind ziem-
lich hoch, aber die Maſten der Spreekähne ſind doch noch höher und ſo wachſen
denn die Oberſeegel der vorüberkommenden Schiffe weit über die grünen Kronen
hinaus. Was dieſen Anblick doppelt ſchön macht, iſt, daß die Kiefern am
jenſeitigen Ufer etwas höher ſtehn und nun wiederum ihrerſeits einen dunklen
Hintergrund für die Segel bilden. Wer im Zwielicht hier des Weges kommt,
glaubt weiße Rieſenvögel langſam und geräuſchlos über und an den Wipfeln
hinſchweben zu ſehn.
*)
Joachim Ernſt v. Grumbkow ſtarb in der Nähe von Weſel (im
Reiſewagen) auf einer Reiſe des Hofes nach Cleve, am zweiten Weihnachts-
feiertage 1690. Der Hofpoet Beſſer ſprach in ſeinem an die Wittwe gerich-
teten Trauergedicht „von dem zwar nicht ſeligen, aber doch ſanften Tod“
des Hingeſchiedenen. Grumbkow hatte nämlich am Abend vorher zu viel ge-
trunken. Pöllnitz in ſeinen Memoiren ſagt von ihm: „Er liebte die großen
Unternehmungen und war kühn in ihrer Ausführung. Man würde ſeinen
Charakter großartig haben nennen können, wenn ihm die Beförderung ſeiner
Familie weniger am Herzen gelegen hätte, für die er große Schätze mit Leich-
*)
In ſeinen Anfängen ſoll derſelbe ſchon 15 Jahre früher vorhanden ge-
weſen ſein. — 1672, was hier eine Stelle finden mag, gab es nur elf Parks
in der Mark Brandenburg, die nach Beiſpiel und Vorbild des großen Kur-
fürſten und vielleicht auch auf Wunſch deſſelben angelegt waren. Es waren
die folgenden: 1) der Sparr’ſche zu Prenden, 2) der Dohna’ſche zu Schön-
hauſen, 3) der Otto v. Schwerin’ſche zu Alt-Landsberg, 4) der Löben’ſche zu
Schenkendorf, 5) der Raban v. Canſtein’ſche zu Lindenberg, 6) der B. v.
Pöllnitz’ſche zu Buch, 7) der Caspar v. Blumenthal’ſche zu Stavenow (Priegnitz),
8) der v. Götz’ſche zu Roſenthal, 9) der v. Börſtell’ſche zu Hohen-Finow,
10) der Heydekamp’ſche zu Rudow und 11) der Franz v. Meinders’ſche zu
Berlin, vor dem (damaligen) Stralauer Thore.
*)
tigkeit zuſammenhäufte. Man fand ihn eines Tages todt in ſeinem Wagen,
als er von einem Feſt in der Nähe von Weſel zurückkehrte, wo der Wein
nicht geſpart worden war.“ — Wohin man ſeine Leiche ſchaffte, oder ob er in
Weſel ſelbſt beigeſetzt wurde, hab ich nicht erfahren können. In dem inten-
dirten
Erbbegräbniß der Grumbkow’s zu Blankenfelde, anderthalb
Meilen von Berlin, ſteht er nicht. In der Kirche letztgenannten Dorfes, die,
wie eine lateiniſche Inſchrift über der Kirchthür angiebt, von v. Grumbkow
erbaut wurde, befindet ſich eine ſchon bei Lebzeiten deſſelben ausgemauerte
Gruft und ein großer Grabſtein darüber. Die Inſchrift dieſes Grabſteines
lautet: Erbbegräbniß des Wohlgebornen H. H. Joachim Ernſt’s v. Grumb-
kow
, Sr. churfürſtlichen Durchlaucht zu Brandenburg höchſt anſehnlichen,
wirklichen Geheimen Etats- und Kriegs-Raths, Oberhof-Marſchalls, General-
Kriegscommiſſarii und Schloßhauptmann, Erbherr auf Grumbkow, Runo,
Cuno, Darlin, Nieder-Schönhauſen, Blankenfelde und Charo.“ Hiermit ſchließt
die Inſchrift. Der freigelaſſene Raum zeigt, daß die Daten von Geburt und
Tod hier angegeben werden ſollten. Dies geſchah aber nicht, weil der Be-
wohner ausblieb.
*)
„Dieſe Prinzen-Allee“ iſt nicht mit der großen gradlinigen Allee zu
verwechſeln, die als Hauptverkehrs-Straße von Berlin nach Friedrichsfelde
führt. Dieſe letztere iſt erheblich älter und ſoll als eine Pön, die dem Schlächter-
gewerk auferlegt wurde, von dieſem gebaut und bepflanzt worden ſein. Die
*)
Veraulaſſung iſt nicht bekannt. Die Allee beſtand urſprünglich aus ſechs
Reihen Lindenbäume. Bei Anlegung der Chauſſee, vor etwa 70 Jahren,
wurde der Mittelweg verbreitert und die betreffenden zwei Reihen Linden
fielen und wurden durch Pappeln erſetzt.
*)
Dieſer Paſtor Lindenberg ſtarb 1774 an den Folgen eines Schrecks,
dem ihn eine Spuk-Erſcheinung verurſacht hatte. Als er nämlich, kurz vor
ſeinem Tode, von einem Beſuch im Schloß in ſeine Pfarre zurückwollte, ſah
er eine weibliche Geſtalt, die vor ihm herging und auf ſein Anrufen keine
Antwort gab. Als ſie bis dicht vor der Kirche waren, wies ſie mit der
Hand auf eine Stelle neben einem Eckpfeiler und verſchwand dann. Der
Paſtor kam in äußerſter Erregung in ſeiner Wohnung an, erzählte was er ge-
ſehen und ſtarb den dritten Tag danach. Er wurde neben dem Eckpfeiler
an eben der Stelle begraben, auf die die Geſtalt gezeigt hatte.
*)
Dieſe zu Friedrichsfelde geborene Tochter Dorothea war die nachmalige
Herzogin von Sagau, vermählt mit Edmund Talleyrand von Perigord,
*)
Unter dieſen Beſuchern werden natürlich auch Maler geweſen ſein
und das eine oder andere Bild, ganz abgeſehen von den Kunſtſchätzen, die
man aus Italien mitbrachte, wird damals ſeine Stätte in Friedrichsfelde ge-
funden haben. Eins, aus jener Zeit her, iſt dem Schloſſe verblieben, ein
Aquarellbild „Vue de Friedrichsfelde“ mit den Widmungsworten: Dedié à
Son Altesse Serenissime Madame la Duchesse de Curlande et de Semigalles.

Das Bild iſt aus dem Jahre 1787 (Schwarz feeit) und zeigt das Schloß in
ſeiner damaligen, von der gegenwärtigen nur wenig verſchiedenen Geſtalt.
*)
Herzog von Talleyrand und von Dino, durch welche Vermählung ſie die
Nichte des berühmten Talleyrand wurde. Sie ſtarb am 19. September 1862.
*)
Von keinem dieſer fünf Bilder, mit Ausnahme des Architekturbildes,
läßt ſich behaupten, daß es nachweisbar von Schinkel herrühre; doch iſt es
von allen in hohem Maße wahrſcheinlich. Schinkel war bei Aufführung des
Schloſſes Owinsk, Provinz Poſen, als Bauführer thätig. Es war dies 1801.
Die Vereinigung von Architekt und Landſchaftsmaler, die ſonſt in hundert
Fällen kaum einmal vorkommt, war eben bei Schinkel charakteriſtiſch und es
iſt nicht anzunehmen, daß ſich damals — und noch dazu in Owinsk —
ein anderer Architekt an ſeiner Seite befunden habe, der dies alles auch ver-
mocht hätte. — Was die beiden andern Bilder (Gebirgsſeen, Morgen- und
Abendbeleuchtung, Pendants) angeht, ſo ſtellen ſie genau daſſelbe dar, wie die
*)
betreffenden beiden Bilder auf der Wagnerſchen Galerie, die die Bezeichnung
tragen: nach Schinkelſchen Originalen von Ahlborn 1823 copirt
Die Frage entſteht, ſind nun dieſe beiden Friedrichsfelder die Originale?
Wolzogen in ſeinem „Leben Schinkels“ ſchreibt: Der Beſitzer des einen Bildes
(Abendbeleuchtung) iſt Banquier Broſe, der Beſitzer des andern (Morgenbe-
leuchtung) unbekannt. Das eine Bild ſcheint alſo die Annahme zu rechtfer-
tigen, das andere ſie zu verbieten. Eine Entſcheidung in dieſer Frage, die
ohne exacte techniſche Kenntniß nicht zu geben iſt, liegt außerhalb unſerer Kraft;
wir geben deshalb einfach die Thatſache, daß ſich zwei ſolche Bilder in Frie-
drichsfelde befinden und überlaſſen andern den Beweis der Aechtheit, oder —
des Gegentheils.
*)
Allerdings ſcheinen nicht alle Mitglieder der damaligen Roebelſchen
Familie von gleich ausgeſprochener Kirchlichkeit geweſen zu ſein. Einige waren
Lebemänner, inſonderheit Andreas von Roebel, ein am Hofe zu Cölln a. d.
Spree hochangeſehener Gaſt. Und zwar hochangeſehen wegen ſeines „adligen
Zechens“. Erſt um 1577, als er zur Bekleidung eines geiſtlichen Ehrenamtes
an den Havelberger Dom berufen wurde, ſchien es nöthig, ihn einen Enthalt-
ſamkeits-Revers unterzeichnen zu laſſen. In dieſem hieß es: „.. Und ſo will
ich denn bei jeder Mahlzeit mit zwei ziemlichen Bechern Biers und Weins zu-
frieden ſein. Sollt’ ich das aber übertreten und einmal trunken befunden
werden, ſo will ich mich in der Küche einſtellen und mir vierzig Streiche
weniger eins (wie dem heiligen Apoſtel Paulus geſchehen iſt) von denen ſo
Ihro Kurf. Gnaden dazu verordnen werden, mit der Ruthe geben laſſen.
Andreas von Roebel.“
**)
Die „Klaus“ in Tirol, um deren Beſitz ſich auf Kurfürſt Moritz Zuge
nach Innsbruck ein heftiger Kampf entſpann.
*)
Auch eines andern Roebel noch, der ſich im 17. Jahrhundert aus-
zeichnete, möcht’ ich hier flüchtig und in einer Anmerkung wenigſtens erwähnen
dürfen. Es war dies der Oberſt Dietrich von Roebel auf Hohen-Schön-
hauſen
, der „durch den ſächſiſchen Kurfürſten Johann Georg III. mit Führung
eines Regiments zu Fuß begnadigt, an der Spitze dieſes Regiments mit vor
Wien und Ofen war und unterſchiedenen Kampagnen und Battalgen beiwohnte.“
Des Krieges endlich müde, zog er ſich um 1690 oder doch nicht viel ſpäter auf
ſein väterliches Gut (Hohen-Schönhauſen) zurück und begann daſelbſt die kleine
Steinkirche zu ſchmücken. Zu Helm und Schild einer muthmaßlich längſt zurück-
liegenden Epoche, hing er die Fahnen und Feldzeichen ſeines ſächſiſchen Regiments
und bekleidete die Wandung der Empore mit den Wappenſchildern aller ihm
durch Heirath verwandt gewordenen Familien: der Sparrs und Flanß, der
Pfuels und Arnims und inſonderheit der jetzt ausgeſtorbenen, aber im 17. Jahr-
hundert über den ganzen Barnim hin reich begüterten Krummenſee’s.
*)
In einem andern märkiſchen Dorfe (Campehl, in der Grafſchaft Rup-
pin) kam eine ähnliche Geſchichte vor. Uebermüthige Franzoſen ſchafften die
Mumie des Herrn von Kalbutz aus der Gruft in die Kirche und begannen,
in hölliſcher Blasphemie, ihn als Gekreuzigten auf den Altar zu ſtellen. Einem
der Uebelthäter indeß mochte das Herz dabei ſchlagen. Als er beſchäftigt war,
die linke Hand feſtzunageln, fiel der erhobene Mumienarm zurück und gab dem
unten ſtehenden Franzoſen einen Backenſtreich. Dieſer fiel leblos um; Schreck
und Gewiſſen hatten ihn getödtet. (Ich bin ſeitdem in der Campehler Kirche
geweſen und kann dieſe Geſchichte leider nicht beſtätigen. Herr v. Kalbutz liegt
mit gefalteten Händen da, die Finger beider Hände wie in eins zuſammenge-
wachſen. Im Uebrigen erzählte mir der Küſter von der großen Popularität
dieſer Mumie; Handwerksburſchen aus aller Herren Länder, die durch Campehl
zögen, ermangelten nicht, ſich den Herrn v. Kalbutz anzuſehn, den ſie alle als
ein Curioſum der Mark Brandenburg kennen.)
*)
Nach dem Kirchenbuche zu Buch. In eben dieſem Kirchenbuche wird
ſie jedoch nicht Julie v. Voß, ſondern Eliſabeth Amalie v. Voß genannt.
Dieſe Namen finden ſich zwei-mal vor, bei Gelegenheit ihrer Geburt (1766)
und ihres Todes (1789). Woher es kommt, daß ſie trotzdem als Julie
v. Voß fortlebt, iſt bis zur Zeit nicht aufgeklärt. Ich würde, geſtützt auf das
Kirchenbuch, im Texte den Namen Amalie wieder hergeſtellt haben, wenn
ſich nicht in den Tagebuchblättern ihrer Tante, der Oberhofmeiſterin, der Name
Julie beſtändig wiederholte.
**)
Eins dieſer Bilder befindet ſich im Schloß zu Buch, ein anderes im
Ingenheimſchen Schloſſe zu Seeburg, im Mansfelder Seekreiſe. Ein
**)
drittes Bild, in Paſtell ausgeführt, beſaß eine vor Kurzem in dem hohen
Alter von über 90 Jahren verſtorbene Frau v. Häſeler. Im Hauſe derſelben hab
ich es oft geſehen. Die Gräfin trug auf demſelben ein Morgenkoſtüm, eine
Art Tüllſpenſer mit vielen krausgetollten Kragen. Durch die Fülle blonden
Haares zog ſich ein ſchwarzes Sammtband. Augen und Teint ſehr ſchön.
Dies Portrait rührte von Frau v. Sydow, einer Freundin der Ingenheim, her.
*)
Gräfin Kannenberg war die fungirende Oberhofmeiſterin, während
Frau v. Voß, zu dieſer Zeit wenigſtens, nur in ihrer Eigenſchaft als Ge-
mahlin des Oberhofmeiſters par courtoisie dieſen Titel führte.
*)
In der Regel wird bei dieſer Gelegenheit verſichert, „dieſe Trauung ſei
ſeitens des Berliner Conſiſtoriums und zwar unter Berufung auf die
von Melanchthon erlaubte Doppelehe Philipps des Großmüthigen von Heſſen
für zuläſſig erklärt worden.“ Die ſtete Wiederkehr dieſer Verſicherung hat den
Conſiſtorial-Präſidenten Hegel veranlaßt, unterm 27. April 1876 eine Erklärung
abzugeben, in der ausgeſprochen wird, „daß weder die gründlichſten Recherchen
in der Regiſtratur des Königlichen Conſiſtoriums, im Geheimen Staats-Archiv,
im Geheimen Miniſterial-Archiv und Königlichen Haus-Archiv, noch auch ander-
weite Forſchungen und Erkundigungen irgend etwas zur Begründung
obiger Anſicht
(Gutheißung der Trauung durch das Conſiſtorium) ergeben
haben.“ Es läßt ſich in der That annehmen, daß Leopold v. Ranke das Richtige ge-
troffen hat, als er in ſeinem Werke: „Die deutſchen Mächte und der Fürſtenbund.
Deutſche Geſchichte von 1780 bis 1790“ wörtlich ſagte: „In neueren Zeiten
iſt die Behauptung aufgetaucht, das Conſiſtorium habe in aller Form ſeine
Einwilligung zu dieſer Verbindung ausgeſprochen; vergeblich hat man nach
einem Actenſtück dieſer Art geſucht; wahrſcheinlich iſt dabei der Kreis
privater Beſprechung nicht überſchritten worden
.’
*)
Im 17. Jahrhundert war die große Mehrzahl (17) aller im zwei-
meiligen Umkreis nördlich von Berlin gelegenen Güter in Händen von nur
drei Familien: Roebel, Krummenſee, Loeben. Vgl. das Kapitel Buch.
*)
Dieſer „Geheime Rath“ beſtand aus 8 Mitgliedern, darunter 3 Dok-
toren der Rechte, die, meiſt auch ſpäter noch, aus bürgerlichem Stande ge-
nommen wurden. Die 8 Mitglieder waren: Hironymus Graf v. Schlick,
Präſident; Johann v. Loeben, Kanzler; von Benkendorf, Vice-Kanzler; Chriſtoph
Friedrich von Wallenfels; Hironymus von Dieskau; Friedrich Pruckmann;
Simon Ulrich Piſtorius; Johann Hübner.
*)
Canitz und ſeine erſte Gemahlin Doris v. Arnim, deren Grabmäler
ich in der obengenannten Marienkirche zu Berlin lange vergeblich ſuchte, ſind
nichtsdeſtoweniger in derſelben wirklich beigeſetzt worden, aber in dem Roebel-
ſchen Erbbegräbniß, deſſen ich in dem Kapitel Buch bereits eingehender
erwähnt habe. Da dies Erbbegräbniß, in dem, laut Stadtrath Klein’s
Geſchichte der Marienkirche, die Todten dreier Familien: der Roebels,
Canſtein und Canitz beigeſetzt wurden, ſeit etwa 40 Jahren zugemauert iſt,
ſo iſt es nicht mehr möglich, die Särge um ihre Inſchriften zu befragen.
Möglich, daß dieſelben, z. B. über den Geburtsort Canitz’s, einen beſtimmten
Aufſchluß geben würden.
*)
Ich hätte hier ſtatt des v. Plothoſchen auch ein anderes Beiſpiel citiren
können, ein Beiſpiel aus der Canitz’ſchen Zeit und noch dazu ein Vor-
kommniß, in dem der Spezialfreund unſeres Poeten, der ſchon an anderer
Stelle genannte Johann von Beſſer, die Hauptrolle ſpielt. Beſſer war
1686 kurbrandenburgiſcher Geſandter in London, und es handelte ſich, nach
erfolgtem Tode Karl’s II. für das ganze diplomatiſche Corps darum, dem nun-
mehrigen Könige Jacob II. die Glückwünſche ihrer reſp. Höfe zu überreichen. Der
alte venetianiſche Geſandte Vignola verlangte den Vortritt vor Beſſer; Beſſer aber
*)
Der Titel des Gedichtes lautet: „Elegie; letzte Pflicht der Freund-
ſchaft, dem ſel. Grafen von Dohna auf derjenigen Stelle abgeſtattet, wo
derſelbe, wenig Wochen zuvor, den tödtlichen Schuß empfangen hatte.“ (Es
*)
verweigerte dies. Man einigte ſich endlich dahin, daß der den Vortritt haben
ſolle, der zuerſt auf dem Platz erſcheinen würde. Der alte Italiener kam früh,
aber Beſſer kam früher; er hatte ſich nämlich die Nacht über in eins der
königlichen Vorzimmer einſchließen laſſen, und ſtand nun bereits da, als Vignola
eintrat. Dieſer war unklug genug, nach wie vor auf den Vortritt zu beſtehen.
Beſſer warnte ihn. Als der Ceremonienmeiſter die Thür öffnete, ſprang
Vignola vor, Beſſer aber, der von großer Körperkraft war, packte im ſelben
Augenblicke den alten Schelm hinten am Hoſenbund und ſchnellte ihn mit ge-
übter Ringerkunſt mehrere Schritte hinter ſich. Ohne eine Miene zu verziehen,
trat er darauf, völlig feſt und geſammelt, an die Stufen des Thrones und
hielt ſeine Anſprache. Alles war entzückt, der König nichts weniger als be-
leidigt und der ſpaniſche Geſandte ſagte ruhig zum alten Vignola: „Caro
vecchio, avete fatto una grande cacata.“
Der Vorfall machte in ganz Europa
Senſation und wurde wie ein neuer Sieg Brandenburgs gefeiert, nicht viel
geringer, als ſei eine zweite Schlacht von Fehrbellin geſchlagen und gewonnen
worden.
*)
geſchah dies bei dem berühmten Sturm auf Ofen 1686; die Brandenburger,
von den Türken die „Feuermänner“ geheißen, wurden von General v. Schö-
ning
geführt.)
*)
Vergl. „Fahrland“ und „die Fahrlander Chronik“ in Band III der
„Wanderungen“. Dieſe Fahrland-Kapitel wurden ſpäter geſchrieben als das
vorſtehende Werneuchner und enthalten allerlei Details über die Schmidt von
Werneuchenſchen Eltern.
*)
Die Löcknitz iſt eines jener vielen Wäſſerchen in unſrer Mark, die plötz-
lich aus einem Luch oder See tretend, auf eine kurze Strecke hin einen Park-
ſtreifen durch unſer Sand- und Haideland ziehn. Keines unter all dieſen
Wäſſerchen aber iſt vielleicht reizvoller und unbekannter zugleich als die Löck-
nitz, die, aus dem rothen Luche kommend, in einem der Seen zwiſchen „Erk-
ner“ und den Rüdersdorfer Kalkbergen verſchwindet. Immer dieſelben Requi-
ſiten, gewiß; und doch, wer an dieſer Stelle Spätnachmittags an der
Grenzlinie zwiſchen Wald und Wieſe hinfährt, dem eröffnet ſich eine Reihe
der anmuthigſten Landſchaftsbilder. Hier dringt der Wald von beiden Seiten
vor und ſchafft eine Schmälung, dort tritt er zurück und der ſchmale Wieſen-
ſtreifen wird entweder ein Feld oder das Flüßchen ſelber ein Teich, auf dem
im Schimmer der untergehenden Sonne die ſtillen Nymphaeen ſchwim-
men. Dann und wann ein rauſchendes Wehr, eine Sägemühle, dazwiſchen
*)
Brücken, die den bequemen Wald- und Wieſenweg vom rechten auf’s linke
und dann wieder vom linken auf’s rechte Ufer führen. Selbſt die Namen
werden poetiſch: Alt-Buchhorſt und Liebenberg, Klein-Wall und Gottesbrück
und der Werl- und Mölln-See dazwiſchen. Unmittelbar dahinter aber beginnt
wieder die Proſa und ſchon die nächſte große Waſſerfläche heißt „der Dämeritz“.
*)
Prinzeſſin Wilhelmine (die Markgräfin) erzählt an einer andern Stelle
ihrer Memoiren: „ich war all die Zeit über ſo leidend, daß ich verſichern darf,
zwei Jahre lang von nichts anderem als Waſſer und trocken Brot gelebt zu
haben.“ Aehnliche Klagen wiederholen ſich. Es iſt aber aller Sparſamkeit
oder meinetwegen auch alles Geizes des Königs unerachtet, nicht ſehr wahr-
ſcheinlich, daß es ſo knapp in Wuſterhauſen hergegangen ſein ſollte. Der
König war ein ſehr ſtarker Eſſer, und alle Perſonen von gutem Appetit
haben die Maxime: „leben und leben laſſen.“ Außerdem liegen glaubhafte
Berichte vor, aus denen ſich ganz genau erſehen läßt, was an Königs Tiſch
geſpeiſt wurde. Es gab: Suppe, geſtovtes Fleiſch, Schinken, eine Gans, Fiſch,
dann Paſtete. Dazu ſehr guten Rheinwein und Ungar. In Wuſterhauſen
kamen noch, weil es die Jahreszeit mit ſich brachte, Krammetsvögel, Leipziger
Lerchen und Rebhühner hinzu, beſonders auch Früchte zum Deſſert, darunter
die ſchönſten Weintrauben. Das klingt ſchon einladender, als die Beſchreibung
der Prinzeſſin.
*)
Probſt Straube (1841 †), ein Amtsnachfolger Paul Gerhardt’s an
der Mittenwalder Kirche, hat die lateiniſchen Diſtichen in folgenden Alexan-
drinern wiederzugeben verſucht:
Wie lebend ſiehſt Du hier Paul Gerhardt’s theures Bild,

Der ganz von Glaube, Lieb und Hoffnung war erfüllt.
In Tönen voller Kraft, gleich Aſſaphs Harfenklängen,

Erhob er Chriſti Lob in himmliſchen Geſängen.

Sing’ ſeine Lieder oft, o Chriſt, in ſeliger Luſt,

So dringet Gottes Geiſt durch ſie in Deine Bruſt.
*)
Aehnliche Worte hatte Generalmajor von Moſel am 14. Auguſt in
Weſel geſprochen. Als der König mit dem Degen auf den Kronprinzen ein-
drang, warf ſich M. dazwiſchen und rief: „Sire, durchboren Sie mich, aber
ſchonen Sie Ihres Sohnes“. Ueberhaupt zeigen die Vorgänge jener Zeit, daß
hoher Muth an gefährlicher Stelle am beſten gedeiht.
*)
Droyſen erzählt: „Als York in das Zimmer trat, ward er von ſeiner
Frau und ſeinen Kindern nicht wieder erkannt. Aber das Vögelchen im Käfig
flatterte wie vor Freuden hoch auf und ſank dann todt hin.“
*)
Ueber ihn, dieſen Oberſten v. H., ein paar biographiſche Notizen, wie
ſie mir von befreundeter Hand zugehen. „Hans Chriſtoph v. Hacke
wurde 1699 zu Staßfurt geboren. Er war ein beſonderer Günſtling König
Friedrich Wilhelms I., der ihn, ſeiner Größe wegen, 1715 bei den Grenadiereu
in Potsdam anſtellte. So war der Anfang. Er erhob ihn dann 1728 zum
Droſten von Speremberg, 1732 zum Hofjägermeiſter, 1734 zum General-
adjutanten und vermählte ihn mit der Erbtochter des Miniſters v. Creutz,
Sophie Albertine, die ihn in Pommern große Beſitzungen zubrachte, darunter
namentlich Pencun und Amt Radewitz. v. Hacke blieb bis zuletzt in der
Gunſt und Umgebung des Königs, der ihm in ſeiner Sterbeſtunde noch Auf-
träge für ſeinen Sohn, den Kronprinzen ertheilte. Der Regierungswechſel
änderte wenig in ſeiner intimen Stellung bei Hofe. Friedrich II. erhob ihn
ſchon im Juli 1740 in den Grafenſtand; ebenſo war er unter den erſten, die
den neugeſtifteten Orden pour le mérite aus der Hand des jungen Königs
empfingen. In der Schlacht bei Mollwitz (1741) wurd’ er verwundet und
ſtieg nun raſch von Stufe zu Stufe: 1743 Generalmajor, 1747 General-
lieutenant, 1748 Ritter des ſchwarzen Adlerordens, 1749 Commandant von
Berlin. Von 1750 an dirigirte er den Bau der „Spandauer Vorſtadt“ und
gründete den nach ihm genannten Haackſchen eigentlich Hackeſchen Markt.
Er ſtarb am 17. Auguſt 1754.“ Dieſer gräflich v. Hackeſchen Familie gehören
an: Edwin Graf v. H. auf Alt-Ranft im Oderbruch, Editha Gräfin
v. H. ehmals Hofdame der Königin Eliſabeth, Adelaide Gräfin v. H. Palaſt-
dame J. M. der Kaiſerin Auguſta, Virginie Gräfin v. H. Hofdame.
*)
Die Hake’s ſind die einzige Familie, die wir, ſeit länger als 400
Jahren, ununterbrochen im Teltow ſehn. Ihnen folgen die ſeit etwa
250 Jahren ebendaſelbſt angeſeſſenen Goertzke’s. Die wenigen adligen
Familien (darunter die v. Kneſebeck und v. Haeſeler) die ſich außerdem noch
im Teltow vorfinden, gehören dieſem Landestheil erſt ſeit Kurzem an, während
die alten Teltow-Familien: von Beeren, v. d. Liepe, v. Britzke (in Britz),
v. Wilmersdorf, v. Otterſtedt, v. Boytin, v. Groeben, v. Flanß, v. Thümen,
v. Schlabrendorf theils ausgeſtorben, theils in andern Landestheilen ſeßhaft ge-
worden ſind. In keinem Theile der Mark hat der Güterbeſitz ſo oft gewechſelt
als in Teltow und Barnim. Der Einfluß der Hauptſtadt iſt dabei unverkennbar.
*)
Nichts ſcheint das Volk in ſeinem poetiſchen Hange ſo ſchöpferiſch zu
ſtimmen als der Anblick von Kunſtwerken, die es nicht verſteht. Es ruht
nicht eher, als bis es eine Deutung gefunden hat, wobei es zugleich eine
Neigung und ein Geſchick zeigt, ſchon vorhandene Sagen oder Geſchichten dem
gegebenen, räthſelhaften Etwas anzupaſſen. Es gilt dies beiſpielsweis auch
von der „Adonis-Statue mit dem Eberkopf“ im Schloßparke zu Coepenick.
*)
Die Sage, die ſich daran knüpft, iſt die folgende: Einem Jäger Joachims II.
träumt, er werde bei der nächſten Jagd von einem Eber getödtet werden. Er
erzählt ſeinen Traum am andren Morgen und man läßt ihn im Schloß zurück.
Die andren kehren mit reicher Jagdbeute heim und der zurückgebliebene Jäger
packt nun einen todten Eber um ihn in die Küche zu ziehn, fällt aber dabei
und reißt ſich an einem der Hauer den Schenkel auf. Daran ſtirbt er andren
Tags. Dieſe Geſchichte mag ſich einmal ereignet haben, irgendwo vielleicht,
aber ſchwerlich in Coepenick, und ſie würd über das alte Spree-Schloß immer
hinweggezogen ſein, wenn nicht beim Neubau des Schloſſes die Errichtung der
Adonis-Statue mit dem Eberkopf die Sage plötzlich fixirt und ihr Anlehnung
und eine neue Heimath geboten hätte. So kommt es, daß man an den ver-
ſchiedenſten Orten denſelben Geſchichten begegnet; die meiſten dieſer Orte ſind
gleichſam nur Filial und der Mutter-Sagenort iſt oft ſchwer zu beſtimmen. —
Der Meduſenkopf am Portal alter Schlöſſer hat gewiß ſchon oft als ſchlangen-
umwundnes Porträt hartherziger Schloßherrn gelten müſſen, und der alte Herr
von Hake hat unzweifelhaft Kameraden in allen Ländern. Der Satz, den ich
aufſtellen möchte, iſt der: das Volk hat eine Neigung Allgemeines oder wenigſtens
an vielen Orten ſich Findendes zu lokaliſiren, ſobald gewiſſe Bedingungen
erfüllt, gewiſſe äußerliche Anhaltepunkte für dieſe Lokaliſirung gegeben ſind.
*)
„Bernadotte“, ſo ſchreibt ein Offizier aus dem Jahre 13, „entwarf
beſtändig Pläne, die durch Kühnheit in Erſtaunen ſetzten, und gedachte bei-
ſpielsweiſe Magdeburg und Stettin mit Sturmleitern zu erſteigen, kam aber
der Entſcheidungsmoment heran, ſo nahm er rückwärts Stellungen. Er
wurd’ in Allem nur durch eine Rückſicht beſtimmt: ſich und ſeine ſchwediſche
Hilfstruppe keiner Niederlage auszuſetzen.“
*)
Bei dieſem Kampfe ging die alte Kirche von Groß-Beeren in Flammen
auf und wurd’ erſt in den 20er Jahren durch eine neue, nach einem Schin-
kelſchen Plan erbaute, erſetzt. In Nähe derſelben erhebt ſich auch das guß-
eiſerne Monument, das zu direkter Erinnerung an den 23. Auguſt 1813
errichtet wurde. Es trägt die Inſchrift: „Die gefallenen Helden ehrt dankbar
König und Vaterland.“
*)
Ueber dies abendliche Kavalleriegefecht find’ ich das Folgende: „Der
Marſchall Oudinot, als er mit dem 12. Corps von Trebbin her in Ahrens-
dorf eingetroffen war, ſchickte die leichte Kavallerie-Diviſion Fournier vor, um
Reynier, von deſſen Rückzug er noch keine Kenntniß hatte, zu ſouteniren.
Dieſe Diviſion Fournier ſtieß in der Dunkelheit auf das bei Neu-Beeren
ſtehende Leibhuſaren-Regiment, das ſich nunmehr ſeinerſeits ohne Weiteres auf
die Vorhut ebengenannter Diviſion ſtürzte. Dieſe, völlig überraſcht und
unkundig des Weges, wurde von den Huſaren immer am Waldrande hin, auf
Groß-Beeren zu getrieben. Aber den Huſaren folgte wieder das Gros der
franzöſiſchen Kavallerie-Diviſion, und ſo ging es in wilder Jagd in den bunten
Haufen der am Windmühlenberge ſtehenden Bataillone hinein. An dieſer
Stelle ſchloß ſich ein dieſſeitiges Ulanen-Regiment und den Ulanen wiederum
eine Huſaren-Abtheilung an, die ſammt und ſonders die Hetze mitmachten,
ohne zu wiſſen, wem es galt und wohin es ging. Oberſtlieutenant v. Zaſtrow
und Major v. Reckow wurden umgeritten, und als letzterer am Boden lag,
ſchrie nachſtürmende Landwehr-Kavallerie: „ſchlagt ihn todt“. Er war für
einen Fronzoſen gehalten worden, und nur die Dazwiſchenkunft des Majors
Friccius entriß ihn der Gefahr und rettete ſein Leben.“
*)
Nach einer andern Lesart war ihr Verlobter ein franzöſiſcher Of-
fizier, der, in der Schlacht bei Groß-Beeren verwundet, in’s Herrenhaus ge-
ſchafft und von Frau v. Beeren gepflegt wurde. Dieſe Pflege ſchloß dann,
wie gewöhnlich, mit einer Verlobung. Dieſe Verſion läßt ſich übrigens mit
der im Text erzählten in Einklang bringen. Capitain Willmer, wie ſein
Name ergiebt, war ein Deutſcher; da aber bei Großbeeren zwei ſächſiſche
Diviſionen auf franzöſiſcher Seite fochten, ſo iſt es wohl möglich, daß er
als verwundeter ſächſiſcher Offizier die Bekanntſchaft der Frau v. Beeren
machte.
*)
Friedrich Tietz, ein halbes Jahrhundert lang Berliner Publiciſt und
Mitarbeiter an einer großen Zahl unſrer Blätter (Voſſiſche, Fremden-Blatt, Kreuz-
Zeitung) wurde den 24. Sept. 1803 zu Königsberg i. Pr. geboren und ſtarb
am 6. Juli 1879 zu Berlin. Alles Beſte was er geſchrieben, ſind Theater-
und Lebens-Erinnerungen. Mitunter gelang ihm auch ein Gelegenheits-
gedicht ꝛc. Eins derſelben — bei Gelegenheit der Geburt des Prinzen Wil-
helm
(27. Januar 1859) gedichtet — iſt ſo gut, daß es in glücklichem Ein-
fall und graziöſem Humor der Ausführung als Muſterſtück gelten kann. Ich
ſetz es hier her und bin der Meinung, daß der Verfaſſer deſſelben in nichts
Beſſerem fortleben kann.
Preußiſcher Frühling im Januar 1859.
Noch iſt es lang hin bis zum Frühlingsgrün,

Bis zu Blüthenduft und Blumenblüh’n,

Bis zum Jubel der kleinen Waldvögelein,

Bis zum Fluge der Schwalben im Sonnenſchein.

Und dennoch aus fernem, aus warmem Land,

Wohin der Winter den Flücht’gen verbannt,

Iſt heimgekehrt ein verfrühter Gaſt,

Ein allbekannter zu erneuter Raſt.

Er ſucht ſich die höchſten Giebel wohl aus

Und baut dort ſein Neſt auf der Menſchen Haus,

Und wo er es thut, tönt’s ihm entgegen:

„Willkommen! Du bringſt dem Hauſe Segen!“

Wer mag noch fragen zu dieſer Stund’,

Welchen Gaſt wir meinen? Des Volkes Mund
*)
Ruft jubelnd aus: „Nun iſt er da!

Der Storch iſt gekommen! Victoria!“

Und Alle ſchau’n herzfreudigen Blicks

Hinauf zur erwählten Stätte des Glücks,

Zum Königspalaſt, deß’ höchſte Spitze

Der ſchwarzweiße Vogel erwählt zum Sitze.

Der Adler daneben dehnt majeſtätiſch

Die Fittiche aus und ſpricht gravitätiſch:

„Weil Du, mein beflügelter Herr Kumpan,

Am Preußenland ſo was Braves gethan,

So will ich Dich ehren fortan als Freund,

Und hoff’, wir ſeh’n uns hier oft noch vereint!“

Der Storch beugt ſein langbeſchnäbeltes Haupt

Und ſpricht: „Wenn’s gnädigſt mir iſt erlaubt,

So bring’ ich alljährlich, was heut’ ich gebracht.“

Da hat der preußiſche Adler gelacht:

„Herr Vogel-Bruder, ich halt’ Dich beim Wort!

Vermehre Du fleißig der Preußen Hort;

Der Storch bringt den Segen, ihn hütet der Aaar

Und Gott ſchützt das Haus jetzt und immerdar!“

So haben die beiden Luftſegler da oben

Es abgeſprochen, — wir können’s nur loben.

Und drinnen im Haus ſingt in’s Land hinein

Sein erſtes Lied unſer Prinzlein klein. —

„Gott laß Dich wachſen, Du kleiner Mann,

Bis Du reichſt zum Großen Fritze hinan!“
*)
Meine Quelle giebt an, dieſer Oberſt ſei Savary ſelbſt geweſen, was
aber aus vielen Gründen unmöglich iſt. Savary war ſeit 1804 Diviſions-
general und wurde bereits 1807, alſo wenige Monate nach den hier ge-
ſchilderten Vorgängen, zum Herzog von Rovigo ernannt. Ein ſo hoch-
geſtellter Offizier konnte durch Caulaincourt, der an Rang kaum über ihm ſtand,
nicht gut perſönlich zu einer Unterſuchungsreiſe nach Ruppin veranlaßt, am
allerwenigſten aber mit einem „taisez vous“ zur Ruhe verwieſen werden.
*)
Vgl. die Kapitel „Groeben und Siethen“ und „Saarmund und
die Nutheburgen
.“
*)
In der Regel wurde dieſer Dank brieflich abgeſtattet und ein paar
dieſer Dankesbriefe liegen mir vor: „Berlin, 17. April 1843. Meine vor-
treffliche Frau Gevatterin. Ihr wahrſcheinlich mit eigenen Händen gebackener
Oſterfladen hat mich um ſo unerwarteter angenehm überraſcht, als ich an-
nehmen konnte, daß Sie mich altes Exemplar vergeſſen hätten. Ich kann
weite Wege nicht mehr mit Annehmlichkeit machen und Beſuche werden mir
ſchwer, weil ich immer eine läſtige Begleitung dabei nöthig habe; ſonſt käm ich,
Ihnen perſönlich meinen Dank zu bringen. Von dem Kuchen habe ich
nichts abgegeben
und ſo eben das letzte Stück zum zweiten Frühſtück ge-
noſſen. Grüßen Sie von mir alles um ſich herum. Ihnen einen Reſt vergnügter
Feiertage wünſchend, verbleibe Ihr alter Getreuer Gevatter J. G. Schadow,
Direktor.“ Und zwei Jahre ſpäter: „Berlin, 29. Mai 1845. Meine Frau
Nachbarin, Gevatterin und Freundin hat meiner wieder gedacht und nach alter
Sitte mir um dieſe Jahreszeit wieder einen Quarkfladen gebacken. War dies-
mal vorzüglich! Auch hab’ ich Anderen wenig davon abgegeben, geſtern Abend
das letzte davon verzehrt und bin heute mit dem gebührenden Dankgefühl er-
wacht. Hierbei iſt mir wieder lebhaft in Erinnerung gekommen Ihre Mutter,
die auch eine ſo angenehme Erſcheinung war. Das häusliche Glück ſei ſtets
mit und bei Ihnen! Zu fernerem Wohlwollen empfiehlt ſich Ihnen Ihr alter
ergebner Freund J. G. Schadow, Direktor.“
*)
Von berufener Seite her iſt mir hiergegen eingwandt worden: „es ſei
dies nicht richtig; der alte Schadow habe nicht im Dialekt geſprochen.“ Auf
dieſen Einwand hin hielt ich es für angezeigt, mich mit einer ganzen Anzahl
der aus der Schadow-Zeit her noch lebenden Maler und Bildhauer in brief-
liche Verbindung zu ſetzen. Ich erhielt auf meine Briefe funfzehn Antwort-
ſchreiben, die ſich in drei Gruppen theilen: ſechs erklären rund und nett „er ſprach
berliniſch“, zwei beſtreiten es, und ſieben halten einen Mittelkurs. Die letzteren
werden wohl Recht haben und aus der Reihe dieſer citir’ ich deshalb folgende
Stellen: „Er ſprach berliniſch wenn er ſich gehen ließ, aber nicht das ſpecifiſche
Berliniſch, ſondern ein Berliniſch, das durch das märkiſche Platt ſtark beein-
flußt war. Profeſſor C. G. P.“ — „Er ſprach nicht ſpeciell berliniſch, aber
höchſt originell, ich möchte ſagen ſchadow’ſch, und ſtreifte dabei ſtark das
Plattdeutſche. Was ja auch ganz erklärlich. Profeſſor A. H.“ — „Er ſprach
nicht eigentlich berliniſch, aber hatte doch eine Redeweiſe, die ſtark daran er-
innerte, wie z. B. „Na, denn haſte Recht“ oder „Na, des is ooch nich die
richtige Intention. Profeſſor A. E.“ — „Er ſprach, wie Ihnen Profeſſor H.
ſehr richtig geſchrieben hat, vor allem ſchadow’ſch. Außerdem aber liebte
er es ganz beſonders franzöſiſche Wörter und Floskeln einzuflechten: chef
*)
d’oeuvre, Carnation, Attitude, Traktation des Marmors etc. Profeſſor G.
L.“ — „Ich entſinne mich nicht, daß er regelmäßig berliniſch geſprochen hätte,
dagegen weiß ich ganz beſtimmt, daß er mir bei gewiſſen Anläſſen im Berliner
Dialekt antwortete. Mal fragt’ ich ihn, wie man’s wohl einzurichten habe,
um beim Modelliren nach dem lebenden Akt am ſchnellſten und ſicherſten zum
Ziele zu gelangen. „Ich fang’ beim kleeneu Zehen an, un das is meine
Manier, un das is de beſte.“ Ein ander Mal fragt’ ich ihn, ob man bei
Statuen, die hoch geſtellt würden und ſich gegen die Luft abhöben, die natür-
lichen Proportionen ändern müſſe. Er antwortete: „Wat richtig is, muß ooch
richtig ausſehen. Profeſſor A. W.“ — Und nun zum Schluß. Einer aus
der Gruppe der „Entſchiedenen“ ſchrieb mir: „Alle drei Direktoren meiner
Lebenszeit ſprachen prononcirt berliniſch. Die Reihenfolge würde ſein: Herbig,
Werner, Schadow. Herbig „am dollſten.“
*)
Dies zeigte ſich nicht blos auf dem Gebiete der Hiſtorie, ſondern auch
auf dem der Landſchaft. Er freute ſich jedesmal, wenn es einem oder dem
andern geglückt war, etwas Hübſches aus den Gegenden der Havel und Spree
darzuſtellen und eiferte dann halb ſcherzhaft halb ernſthaft gegen das „ewige
Italien-malen.“ „Ich bin nich ſo ſehr vor Italien“ hieß es dann wohl „un
die Bööme gefallen mir nu ſchon jar nich. Immer dieſe Pinien un dieſe Pappeln.
Un was is es denn am Ende damit? De eenen ſehn aus wie uffgeklappte
Regenſchirme un die andern wie zugeklappte.“
*)
Johannes Thile I. kam 1604 ins Amt und ſtand demſelben bis zu
ſeinem 1639 erfolgten Tode vor. Ihm folgte ſein Sohn Johannes Thile II.,
von dem aber alle Kirchenbuch-Aufzeichnungen fehlen, da die Führung ſeines
Amts in das letzte Jahrzehnt des 30jährigen Krieges und die daran an-
ſchließende Noth- und Trauerzeit fällt, in der alles wüſt lag und an Ordnung
und Buchführung nicht zu denken war. Johannes Thile II. ſtarb 1669, und
von der Hand eines ſeiner Nachfolger findet ſich auf der entſprechenden Kirchen-
buch-Seite die Notiz, „daß ein Sohn dieſes jüngeren Johannes Thile (alſo
des 1669 verſtorbenen Johannes Thile II.) den Kriegs- und Soldatenſtand
erwählet, von der Pike auf gedient und 1722 als Oberſt ein Infanterie-
Regiment befehligt habe. In dieſer ſeiner Eigenſchaft ſei derſelbe durch Se.
K. Majeſtät in Preußen, Friedrich Wilhelm I. in den adligen Stand erhoben
und dieſelbe „Dignität“ alsbald auch ſeinem Herrn Bruder, dem Geheim-Rath
Thile verliehen worden.“ — Es ſind das Angaben, die mit denen in Zedlitz’
Adels-Lexikon im Weſentlichen übereinſtimmen, und an die nur noch die
weitere Mittheilung zu knüpfen bleibt, daß die beiden gegenwärtig in unſrer
Armee ſtehenden Generale von Thile dieſer dem Groebener Pfarrhaus ent-
ſtammten Familie zugehören.
*)
An Königs Tafel im Lager zu Landshut, Mai 1759, wurde hin und
her geſtritten, welchen Namen einer der Centurios in der 10. Legion geführt
habe. Der König behauptete Quintus Caecilius, Guichard aber verſicherte:
Quintus Icilius, und da ſich Letzteres als das Richtige herausſtellte, ſo
ſagte der König: „Gut. Aber Er ſoll nun auch zeitlebens Quintus Icilius
heißen.“ Und ſo geſchah es. Auch bei ſpäteren Gelegenheiten erwies ſich der
König ſtets als ſehr gnädig gegen Guichard und ließ ſich Dinge von ihm
ſagen, die kein audrer wagen durfte. Nur ein Beiſpiel. Nach Plünderung
des dem Grafen Brühl zugehörigen Schloſſes Pförten in der Lauſitz, die durch
Guichard, auf ausdrücklichen Befehl des Königs, ausgeführt worden war,
fragte dieſer über Tiſch: „Und wie viel hat Er denn eigentlich mitgenommen?“
Das müſſen Ew. Majeſtät am beſten wiſſen, denn wir haben ja
getheilt
.“ Ein ander Mal kam es freilich zu wenigſtens momentaner Un-
gnade. Das war 1770. Als Guichard in eben dieſem Jahr die Zuſtimmung
zu ſeiner Verheirathung mit Fräulein v. Schlabrendorf auf Groeben nach-
ſuchte, verweigerte der König den Conſens und zwar „weil er von zu ſchlechter
Herkunft ſei; ſein Großvater ſei blos Töpfer geweſen.“ Auch dieſen Hieb
ſuchte Guichard zu pariren und erwiderte: „Seine Majeſtät ſeien auch Töpfer.
Die ganze Differenz beſtehe darin, daß ſein Großvater Fayence gebrannt
habe, während der König Porzellan brenne.“ Letzterer blieb aber bei ſeinem
ungnädigen Widerſpruch und Guichard nahm den Abſchied. Indeß nicht auf
lange. Kein Jahr, ſo ließ ihn der König wieder rufen und war gnädiger als
zuvor.
*)
Es iſt die Frage geſtellt worden, „ob ſolche Kritik in einem Kirchen-
buche zuläſſig ſei“, was ich auf das beſtimmteſte bejahen möchte. So gewiß
es einem Geiſtlichen zuſteht, von der Kanzel her, oder ſelbſt am Grabe, die
beſondere Verruchtheit eines Ehrloſen zu brandmarken, der — wie vielleicht
erſt die Stunde ſeines Todes aufdeckte — [Wittwen] und Waiſen um das Ihrige
betrog, ſo gewiß muß es ihm auch zuſtehen, im Kirchenbuche Dinge niederzu-
ſchreiben, die ſolcher öffentlichen Anklage gleich kommen. Ich bin ſogar der
Anſicht, daß dies häufiger geſchehen und ein derartiges Vorgehen unter die
ſtändigen Kirchenzuchts-Mittel aufgenommen werden ſollte. Denn es giebt in
der That Naturen, die vor ſolchem auf Jahrhunderte hin unerbittlich über-
liefertem Wort mehr Reſpect haben, ja mehr in Furcht ſind, als vor einem
lebzeitigen Skandal. Ein Amts-Mißbrauch iſt aber um ſo weniger zu be-
fürchten, als ein Appell von Seiten der in gewiſſem Sinne mitbetroffenen
Verwandtſchaft an die vorgeſetzte kirchliche Behörde ja jederzeit offen ſtehn und
ſelbſtverſtändlich, im Falle ſich ein Uebergriff [herausſtellen] ſollte, zur Entfer-
nung des Geiſtlichen aus ſeinem Amt eventuell auch zu weiterer Beſtrafung
führen würde. — Was übrigens ſpeciell unſeren Paſtor Redde betrifft, ſo muß
ihm dieſer „letzte Schlabrendorf auf Siethen“ ein ganz beſondrer Dorn im
Auge geweſen ſein, da wir in anderweiten, einige Jahre ſpäter gemachten
Kirchenbuch-Aufzeichnungen eben dieſen Redde nicht nur als einen durchaus un-
zelotiſchen, ſondern ſogar als einen höchſt complaiſanten und beinah höfiſchen
alten Herrn kennen lernen. Es bezieht ſich dies namentlich auf ein franzöſiſch
abgefaßtes und an eine damals etwa 7 Jahr alte Comteſſe Brandenburg
(Tochter Friedrich Wilhelms II.) gerichtetes Sinngedicht, das nach Ueberſchrift
und Inhalt folgendermaßen lautet: A l’anniversaire de la naissance de Mlle.
Julie, Comtesse de Brandebourg, celebré le 4 Janvier à Siethen par le curé
Redde. „Vos fleurs de la jeunesse — S’augementent dès ce jour — Les fruits
de la sagesse — En viennent à leur tour. — O gardez tout bouton afin qu’il
bien fleurisse, — Afin que toute fleur en fruit pour vous mêurisse.“
*)
Einer dieſer Söhne (der dritte) Guſtav Graf Schlabrendorf, geboren
1750, preußiſcher Kammerherr und Stiftsherr zu Magdeburg, iſt der durch
ſeine Schriften, inſonderheit auch durch ſeine Pariſer Schickſale während der
Revolutionszeit berühmt gewordene Graf Schlabrendorf. Er war ein Anhänger
der Girondiſten, weshalb er ſich, in den Schreckenstagen, auf Antrag Robes-
pierre’s eingekerkert ſah. An dem Tage wo der Karren vorfuhr, um ihn und
andere Verurtheilte zum Schaffot abzuholen, fehlten ihm ſeine Stiefel, worauf
hin er erklärte: „man könne doch am Ende verlangen in Stiefeln guillotinirt
zu werden.“ Es hatte das ſeine Wirkung, und der Scherge, der in Folge
dieſer Bemerkung in eine gute Laune gekommen war, antwortete: „eh bien;
demain matin.“
Am andern Morgen aber, wo des Grafen Name nicht mehr
auf der Liſte ſtand, wurd’ er vergeſſen und bald danach, nach dem inzwiſchen
erfolgten Sturze Robespierre’s, in Freiheit geſetzt. Unter Napoleon, obwohl
dieſer von Schlabrendorfs ſcharfer Kritik über ihn hörte, blieb er „als Son-
derling“ unangefochten. Er war Philoſoph und Philanthrop und verwendete
ſeine nicht unbedeutenden Einkünfte zu wohlthätigen Zwecken, beſonders für
ſeine Landsleute. Nach den Befreiungskriegen (er blieb immer in Paris) em-
pfing er das eiſerne Kreuz. Er ſtarb daſelbſt am 22. Auguſt 1824. In
Groeben befand ſich ein Portrait von ihm, Knieſtück, das um ſeiner ſtorren
Friſur und ſeiner Glotzaugen willen das Entſetzen aller Kinder war, die des
Bildes daſelbſt anſichtig wurden. Es kam ſpäter fort und befindet ſich jetzt
auf dem Kalkreuthſchen bei Landsberg a. W. gelegenen Schloß Hohenwalde.
*)
Es gab damals zwei Generäle von Ryſſel in der preußiſchen Armee,
beide katholiſcher Confeſſion und beide Diviſionaire, von denen der eine zuletzt
in Neiſſe, der andre (der im Text erwähnte) in Trier ſtand. Beide waren
früher in ſächſiſchen Dienſten geweſen und einer derſelben hatte noch bei Groß-
Beeren eine ſächſiſche Brigade gegen uns commandirt. Der Trier’ſche nahm
Anfang der zwanziger Jahre ſeinen Abſchied und ſtarb in Giebichenſtein bei
Halle. Der Berliner Witz gefiel ſich übrigens damals, unter Ausnutzung des
Namens „Ryſſel“, in folgendem etwas gewagtem Wortſpiele: „Welcher Unter-
ſchied iſt zwiſchen einem Elephanten und Friedrich Wilhelm III.?“ „„Der
Elephant hat einen Rüſſel und Friedrich Wilhelm hat zwei““.
*)
An dieſer in Portlandcement ausgeführten Kanzel befinden ſich die
Statuetten von Luther, Melanchthon und Calvin, was, unmittelbar vor
Einweihung der Kirche, eine Controverſe herbeiführte. Da Groeben, von den
Tagen der Reformation an, immer lutheriſch geweſen war, ſo proteſtirte der
Geiſtliche, trotz ſeiner intimen Stellung zur Patronin, auf’s Entſchiedenſte
gegen die Zulaſſung Calvins. Aber Frau v. Scharnhorſt beſtand darauf und
drang mit ihrem Willen durch. Es ſcheint mir indeſſen unzweifelhaft, daß
der Geiſtliche (Paſtor Henſchke, Freund und Erzieher Fräulein Johanna’s)
im Rechte war. Es würde doch beiſpielsweiſe ſehr auffallen und dem ent-
ſchiedenſten Widerſpruch aller reformirten Geiſtlichen begegnen, wenn ſeitens
einer zufälligen Majorität unſerer „Colonie“ plötzlich der Beſchluß gefaßt
werden ſollte, die Statue Luthers an den Kanzeln unſerer franzöſiſch-refor-
mirten Kirchen anzubringen.
*)
Während der Verhandlungen, die bereits vielfach über die Pfarrgrün-
dungsfrage ſtattgefunden haben, iſt es bis jetzt ganz unmöglich geweſen, den
Bauer aus dem Sattel zu heben. Auf die Bemerkung: „Und Ihr werdet
dann auch nicht länger nöthig haben, Eure Kinder bei Winterwetter eine halbe
Meile weit zum Confirmationsunterricht zu ſchicken“ antwortete man ein-
müthig: „Ei, auf dieſe zwei Tage freuen ſich ja die Kinder die ganze Woche;
da haben ſie Schlitterbahn und ſchneeballen ſich und kommen immer friſch
und munter nach Hauſe.“
*)
In dem Punkte, daß man im Cabinet eine gewiſſe Beſtrittenheit
der Scharnhorſtſchen Verdienſte wegleugnen wollte, hatte man gewiß Unrecht,
aber darin andererſeits gewiß Recht, daß es mindeſtens „unopportun“ war,
in ſolcher Zeit auf ſolche Meinungsverſchiedenheiten oder auch Schlimmeres
hinzuweiſen. — (Einen eigenthümlichen Eindruck macht es außerdem, aus dem
Briefwechſel zwiſchen den ſtreitenden Parteien zu erſehen, daß die beiden Räthe
J. und v. B. auch ſtiliſtiſche Vedenken hatten und damit nicht hinter dem
Berge hielten. So wollte man das geſperrt gedruckte Wort „ſtetig“, weil es
nicht deutſch ſei, gern weg haben und proponirte ſtatt ſeiner das Wort „an-
haltend.“ Aber Gneiſenau wollte auch von einer derartigen, blos ſprachlichen
Aenderung nichts wiſſen und antwortete: „Stetig“ will mehr ſagen als „an-
haltend“; jenes bezeichnet das Bewußtſein des Wollens und des Zweckes. Es
iſt das engliſche „steady“ und iſt abſichtlich gewählt“. Zuletzt wurde die
Sache Hardenberg ſelbſt zur Entſcheidung vorgelegt und dieſer ſchrieb ſehr fein
an den Rand: „Das Wort „ſtetig“ kann als eine neue Creation wohl gut
ſein. Ich kenn’ es aber noch nicht als deutſch.“)
*)
Zeit und Ort iſt an dieſer Stelle nicht richtig angegeben. Er wurde
nicht 1756, ſondern 1755 und nicht in Haemelſee, ſondern in Bordenau ge-
boren. Ein ſolcher Fehler an ſolcher Stelle wird Manchen überraſchen; wer
ſich aber von Metier wegen viel um Biographiſches gekümmert hat, weiß,
daß nichts häufiger iſt, als derartig irrthümliche Angaben. Ein Befragen
der Kirchenbücher unterbleibt, und auf Mittheilungen einzelner Familien-
glieder hin, „die’s von Jugend auf ſo und nicht anders gehört haben,“
entſtehen die Fehler. Erſt in neuerer Zeit iſt man vorſichtiger in dieſem
Punkte geworden.
*)
Wilhelm v. Scharnhorſt, General der Infanterie, geſt. am 13.
Juni 1854 zu Ems. Er beſuchte das Gymnaſium zum grauen Kloſter und
trat in das preußiſche 3. Huſaren-Regiment ein, ging aber bald danach (wahr-
ſcheinlich 1809) auf Wunſch ſeines Vaters nach England. In der deutſch-
engliſchen Legion focht er unter Wellington in Spanien. 1813 kam er nach
Preußen zurück. 1818 vermählte er ſich mit der Tochter des ſpäteren Feld-
marſchalls, Grafen Gneiſenau, kam in den Generalſtab und wurde militäriſcher
Zwecke halber 1827—28 nach Griechenland, ſpäter nach Holland hin ab-
commandirt. Anfang der vierziger Jahre war er Inſpecteur der Artillerie
von Pommern und Preußen, danach in der Rheinprovinz. 1849 nahm er
*)
an dem badiſchen Feldzuge Theil und wurde zuletzt zum Gouverneur von
Raſtatt ernannt. Bald darauf erbat er ſeinen Abſchied und überſiedelte nach
Berlin, um nur noch den Wiſſenſchaften zu leben. Namentlich war er als
Geograph bedeutend und mit Ritter ſehr befreundet. Eine von ihm angelegte,
viele Seltenheiten enthaltende Landkarten-Collection wurde nach ſeinem Tode
vom Staat angekauft und der königl. Bibliothek unter dem Namen der
„Scharnhorſt-Sammlung“ überwieſen. — Ueber den jüngeren Bruder, Auguſt
v. Scharnhorſt († 1826) hab’ ich in dem Capitel „Groeben und Siethen“
ausführlicher berichtet.
*)
Solche Urtheile datiren noch aus einer Zeit her, wo die Kenntniß
über künſtleriſche, ſpeciell über architektoniſche Dinge gleich Null war. Kugler,
Schnaaſe, Lübke haben eine völlig „neue Aera“ geſchaffen. Während jetzt Jeder
aus Rund- oder Spitzbogen, aus Tonnen- oder Kreuzgewölbe, den Stil und
das Jahrhundert einer Kirche leidlich genau zu beſtimmen weiß, ſtand
man früher vor dieſen Dingen wie vor einem Räthſel und unterſchied das
Alter zweier Gebäude oft rein nach dem Grade äußerlichen Verfalls,
dabei zur Architektur eine kaum wiſſenſchaftlichere Stellung einnehmend, wie
die Kinder zur Pflanzenkunde, wenn ſie die Blumen in blaue, rothe und gelbe
theilen. Dies muß man immer gegenwärtig haben. In jenen Zeiten abſo-
luter baugeſchichtlicher Unkenntniß ſind durch im Uebrigen grundgeſcheidte
Leute grundfalſche Dinge zu Papier gebracht worden, die nun, ausgerüſtet
mit der Autorität eines Namens, von Buch zu Buch unſterblich weiter
wandern.
*)
Schwert und Sporen hingen früher dem herrſchaftlichen Chore
gegenüber
, zu dem eine Treppe von außen hinaufführt. Dieſe beiden
Zufälligkeiten waren genug, um folgende Sage heranwachſen zu laſſen. „Da
war mal ein Edelmann, der kümmerte ſich nicht um Gott und Menſchen. Er
dacht’, er ſei Herr über Alles und in ſeinem Uebermuth ritt er in die Kirche,
gleich die Treppe hinauf, die zu dem Chore führt. Hier aber bäumte das
Pferd und überſchlug ſich, ſo daß beide in das Schiff der Kirche ſtürzten und Hals
und Beine brachen. Zum Zeichen deß und zugleich zur Warnung ſind Degen,
Schwert und Sporen dem Chore gegenüber aufgehängt worden.“ — So die
Sage. Schon bei früheren Gelegenheiten hab’ ich ausgeführt, wie die „mythen-
bildende Kraft“ des Volkes mit Vorliebe, ja vielleicht immer, an ſolche rein
äußerlich gegebenen Dinge anknüpft, vorausgeſetzt, daß dieſe Dinge zugleich
unklar und räthſelvoll genug ſind, um die Phantaſie in Bewegung zu ſetzen
und die freieſte und ſelbſt willkürlichſte Auslegung zuzulaſſen. Aber ſo will-
kürlich die Auslegung ſein mag, ſie ſchwebt nie ganz in der Luft und haftet
immer an etwas Gegebenem. Die ganze Gruppe von Sagen, um die ſich’s
hier handelt, könnte man als poetiſche Mißverſtändniſſe, noch richtiger als
poetiſche Mißdeutungen bezeichnen. Mißdeutung im Sinne von irrthümlicher
Deutung.
*)
Dies Blatt befindet ſich noch in den zahlreichen Mappen, die Sebaſtian
Henſel aus dem reichen Nachlaſſe ſeines Vaters aufbewahrt. Ich komme
weiterhin auf dieſen Nachlaß zurück. Was ſpeciell dies aquarellirte Blatt an-
geht, ſo ſtellt es eine Felſenpartie dar, und Palmen und Bautrümmer faſſen
ein Gewäſſer ein, in dem Mädchen baden. Es nimmt ſich aus wie eine
Farbenſkizze zu einem großen Tapetenbilde. Als Arbeit eines in künſtleriſchen
Dingen ohne jede Schule aufgewachſenen jungen Mannes, mußte dieſelbe
damals überraſchen. Heutzutage, wo jeder zeichnen und ſeinen Baumſchlag
machen kann, würde man dergleichen freilich ruhiger hinnehmen.
*)
An dem aus Bucharen und Indern beſtehenden Feſtzuge wirkten
folgende Perſonen mit:
Bucharen. Aliris, Prinz der Bucharei: Großfürſt Nicolaus von Ruß-
land; Abdallah, Vater des Aliris: Herzog von Cumberland; Abdallahs Ge-
mahlin: Prinzeſſin Luiſe Radziwill; Buchariſche Prinzen: Prinz Karl, Prinz
Auguſt. — Herren im buchariſchen Koſtüm: Fürſt Putbus. Graf Harden-
berg. v. Adlerberg. v. Knobloch. v. Knobelsdorff. v. Maſſow. v. Bock.
v. Geuſau. Graf Noſtitz. Graf Meerfeldt. v. Poten. v. Stapleton. Graf
Pückler. Graf Wartensleben. Graf Lynar. Graf Blumenthal. Damen im
buchariſchen Koſtüm
: Gräfin Schuwaloff. Miß Roſe I. Frl. v. Jagow.
Frl. v. Brockhauſen I. Gräfin Moltke. Miß Roſe II. Frl. v. Brockhauſen II.
Frl. v. Kamptz. Fürſtin Lynar. [Frau] v. Hedemann. Frau v. Aſſeburg.
Fr. v. Bülow. Fr. v. Witzleben. Gräfin Schlieffen. Frau v. Clauſewitz.
Fr. v. Fouqué. Frau v. Buddenbrock. Gräf. Haack. Fräulein v. Maſſow.
Herren aus Kaſchmir: Graf Brandenburg. v. Germann. v. Perowsky.
v. Prittwitz. v. Bülow. Graf Gröben. v. Fouqué. v. Buddenbrock. Grf.
Gneiſenau. Grf. Poninsky. — Damen aus Kaſchmir: Frau v. Buch. Frau
v. Rochow. Frau v. Ompteda. Frl. v. Viereck. Gräfin Hardenberg. Gräfin
Gröben. Grf. Pappenheim. Fr. v. Tronchin. Gräfin Neale. Fräul. v.
Schuckmann. Gräfin Haeſeler.
Inder. Aurengzeb, Großmogul: Prinz Wilhelm (Bruder Fr. W. III.).
Lallah Rukh: die Großfürſtin von Rußland (früher Prinzeſſin Charlotte von
Preußen). Dſchehanara, Roſchinara, Suria Banu, indiſche Prinzeſſinnen: die
Herzogin von Cumberland, die Prinzeſſin Wilhelm, die Prinzeſſin Alexandrine.
Bahadur Schah, Dſchehander Schah, Dara, Kinder Aurengzebs: der Kronprinz
(Fr. W. IV.), Prinz Wilhelm (der jetzige Kaiſer) und die Prinzeſſin Luiſe. —
Herren in indiſchen Koſtüm: Fürſt Lynar. Grf. Modène. v. Witzleben.
v. Röder. v. Tümpling. v. Tronchin. v. L’Eſtocq. v. Thun. Grf. Arnim.
v. Lucadou. v. Kahlden. v. Rochow. v. Hopfgarten. v. Thilau. Grf.
Hompeſch. v. Studnitz. v. Möllendorf. Graf Schlieffen. Graf Moltke.
v. Alvensleben. v. Heiſter. v. Jordan. v. Kaphengſt. v. Thümen. v. Pour-
tales. v. Meuron. Prinz v. Rudolſtadt. Prinz Solms. v. Rauch-
*)
haupt. Graf Walderſee. Graf Blücher I. Graf Blücher II. Graf Bethuſy.
v. Schöler. Grf. Lynar. v. Maſſow. v. Oſtau. v. Heiſter. — Damen
im indiſchen Koſtüm
: Fürſtin Putbus. Lady Roſe. Fürſtin Carolath.
Frau v. Senden. Gräfin Brandenburg. Frl. v. Zeuner. Frau v. Tümp-
ling. Gräfin Voß. Gräfin Schlippenbach. Frl. v. Arnſtedt I. Frl. v. Bergh.
Fräul. v. Kleiſt. Gräf. Haack. Frl. v. Knobelsdoff. Frl. v. Hünerbein.
Gräf. v. Lottum. Frl. v. Stegemann. Frl. v. Boguslawsky. Frl. v. Schuck-
mann II. Frl. v. Röder. Frl. v. Fouqué. Fräul. v. Arnſtedt II. Fräul.
v. Heiſter I. Gräfin Kalkreuth. Frl. v. Wiedenbruch. Fr. v. Martens.
Fr. v. Miaskowska. Gräf. Hardenberg I. Frl. v. Maltzahn I. Gräfin Har-
denberg II. Fräulein v. Senden. Frl. v. Maltzahn II. Frl. v. Adeleps.
In den im Text erwähnten vier lebenden Bildern waren die Haupt-
rollen wie folgt vertheilt. Der Prophet von Khoraſan: Graf Gröben; die Peri:
Prinzeſſin Eliſe Radziwill; der Engel des Lichts: Gräfin Mathilde Voß; de
Emir: Fürſt Radziwill; Nurmahal: Frau v. Perponcher, und Dſchehangir
Herzog Karl von Mecklenburg.
*)
Künſtler, Schauſpieler und Sänger finden ſich folgende: Bendemann,
de Biefve, Cornelius, David d’Angers, Genelli, Ingres, Kaulbach, de Keyſer,
Kiß, Kopiſch, F. Mendelsſohn-Bartholdy, Fr. Tieck, Horac. Vernet, Beethoven,
Profeſſor Wach, Carl Maria v. Weber, Zelter, Franz Lißzt, Löwe, Magnus,
Moſcheles, Paganini, Chr. Rauch, der alte Schadow, Wilhelm Schadow.
Schinkel (3 mal), Schnorr, Jul. Schrader, Schwind, Thorwaldſen, Eduard
Devrient, Viardot Garcia, Griſi, Lablache, Lind-Goldſchmidt, Milder, Clara
Novello, Paſta, Rachel, Rebenſtein, Pius Alex. Wolff, Schröder-Devrient,
Seydelmann, Wilh. u. Aug. Stich (Crelinger.)
*)
Es liegt mir begreiflicherweiſe daran, einen ſo difficilen Punkt nach
Möglichkeit klargeſtellt zu ſehen, weshalb ich mich auch noch in dieſe Anmer-
kung flüchte. Was an Hiſtoriſchem in dieſen Wanderungen enthalten iſt,
gruppirt ſich: in allgemein Gekanntes, in wenig Gekanntes und in gar
nicht
Gekanntes. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Mann von Fach an der
erſten, räumlich ſehr überwiegenden Gruppe vorübergehen muß und an der
zweiten (in der ſich übrigens einige Raritäten vorfinden) vorübergehen kann.
Aber die dritte Gruppe, der beiſpielsweis alle Kirchenbuch-Aufzeichnungen
angehören, hat Anſpruch auf Beachtung auch von Seiten des Berufshiſtorikers.
Dies im Hinblick auf Einzelheiten ausſprechen, iſt etwas ſehr andres, als
mit dem Ganzen hiſtoriſche Prätenſionen erheben.
*)
Wie gut es mir auf den alten Herrenſitzen ergangen iſt, davon legen
die vier Bände Zeugniß ab. Auf Eines aber möcht’ ich eigens noch hin-
weiſen dürfen und zwar auf den für mich ſehr wichtigen Umſtand, daß ich
bei den Mittheilungen die mir zu Theil wurden, niemals durch Aengſtlich-
keiten
gequält worden bin. Es kam nie vor, daß die linke Hand wieder zu
nehmen trachtete, was mir die rechte Hand eben gegeben hatte. Jene ſo
häufigen Cautelen und Einengungen, die bekanntlich viel grauſamer ſind als
Vorenthaltung, blieben mir ſämmtlich erſpart. Ich empfing alles „auf Dis-
kretion“, ohne daß mir dieſe Diskretion jemals zur Bedingung gemacht
worden wäre. Ja, was noch mehr überraſchen wird, ich bin auch nach-
träglich
niemals eines Vertrauensbruchs oder eines faux pas oder einer Un-
*)
geſchicklichkeit bezichtigt worden. Was alles ich nicht dankbar genug aner-
kennen kann. Aber freilich, wenn es mir einerſeits glückte, mich vor einem
direkten in Ungnade-fallen zu ſchützen, ſo hat es mir doch andrerſeits (einen
einzigen Fall abgerechnet) auch nie gelingen wollen, in eine direkte Gnade zu
kommen. Es war eben immer nur „a hair-breadth’s escape“. So wenigſtens
glaub ich aus einem gewiſſen elegiſchen Ton ſchließen zu dürfen, in dem
dieſe Dinge, wenn das Kapitel ſchließlich vorlag, behandelt zu werden pflegten.
Es kann aber auch kaum anders ſein, und berühmte Hiſtoriker, wie mir ver-
ſichert worden iſt, haben Schlimmeres erfahren müſſen.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjbm.0