VOM
NIEDERRHEIN,
VON
BRABANT, FLANDERN, HOLLAND,
ENGLAND UND FRANKREICH,
IM APRIL, MAI UND JUNIUS 1790.
IN DER VOSSISCHEN BUCHHANDLUNG.
ANSICHTEN.
XV.
Niemand soll mir wieder mit dem elenden
Gemeinplatze kommen, den jetzt so mancher
Apostel des Despotismus umherträgt, und
den ich schon zum Ekel von Nachbetern
wiederholen hörte: daſs die Aufklärung
Schuld an politischen Revolutionen sei. Hier
in Brüssel sollen sie mir ihren Satz einmal
anwenden! Ja, wahrlich, vollkommner war
keine Unwissenheit, dicker keine Finsterniſs,
bleierner drückte nie das Joch des Glaubens
die Vernunft in den Staub. Hier hat der
Fanatismus Aufruhr gestiftet; Aberglaube,
A 2[4] Dummheit und erschlaffte Denkkraft sind
seine Werkzeuge gewesen.
Was Revolutionen im Staat hervorbringt,
ist gänzlich unabhängig von dem jedesmali¬
gen Grade der Einsicht des revoltirenden
Volkes. Wenn seine Leidenschaften aufge¬
regt sind, (das geschehe nun durch den un¬
erträglichen Druck der Tyrannei oder durch
die Aufwieglungskünste boshafter und herrsch¬
süchtiger Menschen:) dann ist die Revolu¬
tion zur Reife gediehen; nur mit dem Un¬
terschiede, daſs jene besteht, weil sie einen
wesentlichen Grund, eine materielle Veran¬
lassung hat, diese hingegen wieder in ihr
Nichts zurücksinkt, sobald die Täuschung
aufhört.
Die Kirchen und Klöster in Brüssel sind
zu allen Stunden des Tages mit Betenden
angefüllt — und an den Thoren der Tempel
lauert der Geist der Empörung ihnen auf.
[5] Hier läſst der Congreſs seine Mandate und
Verordnungen anschlagen; hier lesen wir die
täglich herauskommenden Aufforderungen an
das Volk, gegen die so genannten Verräther
des Vaterlandes, nämlich gegen die Demo¬
kraten, mit Feuer und Schwert zu wüthen;
hier lästert die Zunge der Verläumdung den
braven Van der Mersch; hier stöſst man Ver¬
wünschungen aus gegen die Holländischen
Flüchtlinge, denen man die Freiheitsliebe
zum Verbrechen macht; hier erdreistet man
sich sogar, den heftigsten Ausbrüchen der
Wuth, womit die aristokratische Partei die
andere verfolgt, den Anstrich frommer Hand¬
lungen zu geben und die rechtgläubigen Ein¬
wohner im Namen ihrer Religionspflichten
dazu anzuspornen! Unverkennbar ist der
Geist, der in diesen Anschlagszetteln spukt;
es giebt nur Eine Klasse von Menschen, die
auf solche Weise Menschliches und Göttli¬
A 3[6] ches unter einander wirft, um die blöden
Augen der Menge zu blenden und ihre schwa¬
che Vernunft durch kasuistische Cirkelschlüsse
zu hintergehen.
Das Siegel eines weit ärgeren Despotis¬
mus, als derjenige war, dem die Niederländer
entronnen sind, klebt noch an ihrer Stirn,
und ein Jahrhundert wird es nicht abwaschen
können. Mit ihrer neuerlangten Freiheit
wuſsten sie nichts anzufangen; sie war ihnen
lästig: sie können ohne Beherrscher nicht
bestehen. Nous ne voulons pas être libres,
”wir wollen nicht frei seyn,” antworten sie
uns, wenn wir sie um ihrer Freiheit willen
glücklich preisen; ohne doch vermögend zu
seyn, uns nur etwas, das einem Grunde ähnlich
gesehen hätte, zur Rechtfertigung dieses im
Munde der Empörer so paradoxen Satzes vor¬
zubringen. Nous ne voulons pas être libres!
Schon der Klang dieser Worte hat etwas so
[7] Unnatürliches, daſs nur die lange Gewohn¬
heit nicht frei zu seyn, die Möglichkeit er¬
klärt, wie man seinen tückischen Führern
so etwas nachsprechen könne. Nous ne vou¬
lons pas être libres! Arme, betrogene Bra¬
banter! das sagt ihr ohne Bedenken hin; und
indem ihr noch mit Entzücken euren Sieg
über die weltliche Tyrannei erzählt, fühlt ihr
nicht, wessen Sklaven ihr waret und noch
seid? Schon recht! ihr könnt auch nicht
mehr frei seyn; ihr seid geborene Knechte:
Einem Herrn entlauft ihr; aber des andern
Zeichen ist euch eingebrannt, an welchem
es jedem Klügeren spottleicht wird, euch
wieder zu kennen und einzufangen, wähntet
ihr gleich, ihr wäret frei!
Aberglaube heiſst der Faden, der aller¬
dings nur gar zu oft auch vom weltlichen
Despoten ergriffen wird, und an dem er die
gefesselten Nationen lenkt. Ein gefährliches
Unterfangen! denn es darf sich, nur die Hie¬
rarchie an den Faden hängen, so schwingt
sie das Volk und den Herrscher nach ihrer
Willkühr umher.
Brabant ist seines Aberglaubens wegen
berühmt, Dank sei es Philipps grausamer
Politik, die das Schwert in den Eingeweiden
seiner selbstdenkenden Unterthanen wühlen
lieſs und jedem Andersgesinnten den Schei¬
terhaufen zuerkannte. Die Rechtgläubigen,
die allein in dem entvölkerten Lande übrig
blieben, mochten wohl erblassen über ihrer
eigenen Hände Werk. Triefend vom Blut
ihrer Brüder, flohen sie vor dem grellen
Lichte ihrer strafenden Vernunft und den
Qualen einer vergeblichen Reue. Sie eilten,
[9] die Bürde des verwundeten Gewissens im
mütterlichen Schooſse der Kirche abzuwerfen,
und die Zauberin verwandelte den Bruder¬
mord in ein gottgefälliges Opfer. So ziemte
es ihr, Verbrechen zu heiligen, die sie zu¬
erst gebot. Zitternd vor ihr, die damals
das Menschengeschlecht eher vertilgen als
ihrem Herrscherrecht entsagen wollte, hul¬
digten sie der unerforschlichen Weisheit,
womit die Kirche alle Widersprüche verei¬
nigte, und schrieben der lästigen Zweiflerin
Vernunft einen ewigen Scheidebrief.
Das schöne Vorrecht einer Religion des
Friedens, dem Verbrecher im Namen der
versöhnten Gottheit Verzeihung und Gnade
darzubieten, erstreckt sich nicht bis zur Auf¬
hebung der natürlichen Folgen des Übels.
Geistliche Zurechnung mag sie dem Sünder
erlassen; aber weder Reue noch Seligspre¬
chung können ungeschehen machen, was
A 5[10] geschehen ist, können aus der Kette der
Dinge ein einziges Glied reiſsen, das hier
Wirkung war und dort wieder Ursache wird.
In Brabant, wo die vorgeblichen Vertrauten
der Götter nicht bloſs zu verzeihen, sondern
zu billigen, ja zu gebieten wagten, was die
Natur als Verbrechen verabscheuet — wer¬
den hier allein die Verirrungen der wider
sich selbst wüthenden Menschheit ohne Fol¬
gen geblieben seyn? Nimmermehr! Lieber
läugne man allen Zusammenhang und jede
Beziehung in der Natur; man lästre die un¬
verbrüchliche Treue, womit sie an ihren
Gesetzen bekleibt, ehe man zweifelt, ob das
Verzichtthun auf den Gebrauch der Vernunft,
und ob die Betäubung des moralischen Ge¬
fühls eine andere Wirkung haben könne, als
immer zunehmende Entartung!
Seit jener unglücklichen Epoche, da hier
die Philippe und die Albas mordeten, da das
[11] Blut der freien Edlen auf dem Richtplatze
floſs, erwähnt die Geschichte dieser Provin¬
zen nur dann, wenn fremde Kriegesheere sie
zum Kampfplatz wählten, oder wenn sie, als
ein Erbgut, aus einem Fürstenhause in das
andere übertragen wurden. Nie wieder er¬
wachte in ihnen ein eigenthümlicher Geist,
nie erhob sich aus ihrer Mitte ein groſser
Mann! In Unthätigkeit versunken, behaup¬
teten sie nie die Rechte der Menschheit ge¬
gen die übermüthigen Nachbaren, die ih¬
rem Oberherrn das harte Gesetz vorgeschrie¬
ben hatten, die Flüsse seines Landes zu ver¬
schlieſsen, und seinen Städten mit dem Han¬
del auf dem Meere Wohlstand, Volksmenge
und Mittel zur Bildung des Geistes zu rau¬
ben. Bei Josephs Versuche, dieses widerna¬
türliche Joch abzuwerfen, verhielten sich die
Brabanter leidend, und die Flammänder sträub¬
ten sich; jene glaubten, am Speditionshandel
[12] hinlänglichen Ersatz für die gesperrte Schel¬
de zu besitzen, oder hatten sich schon ge¬
wöhnt, in ihren angeerbten Schätzen uner¬
schöpfliche Quellen des eingeschränkten, stil¬
len, müſsigen Genusses zu finden; diese woll¬
ten ihr Ostende dem Flor von Antwerpen
nicht opfern. Der Adel in beiden Provinzen
befürchtete im vermehrten Wohlstande des
Bürgers Verminderung seines Einflusses und
Ansehens; und die Geistlichkeit, die in eini¬
gen Provinzen zum Besitz der Hälfte, und
in Brabant voller zwei Drittheile von dem
ganzen Landeigenthum gelangt war, begnügte
sich an dem sichern Ertrage des fruchtbaren
Bodens.
Eine Zeitlang hatte zwar aus den Schutt¬
haufen der Freiheit die Kunst noch hervor¬
geblühet. Statt des Schwertes, das den Bel¬
giern aus der Hand gesunken war, hatten
sie den Pinsel ergriffen; denn plötzlich er¬
[13] lischt die Energie des menschlichen Geistes
nicht: in ihrem Wirken unterbrochen, wirft
sie sich gern erst in neue Kanäle. Der
Luxus der Hauptstadt, der gehemmte Umlauf
ungeheurer Kapitalien in den Handelsstädten,
die Politik und die Hoffart der Klerisei
und der geistlichen Orden gaben anfänglich
den Künstlern Beschäftigung; allein auch
diese Periode war bald verflossen, und alles
neigte sich unter dem narkotischen Fittig
der Pfaffenerziehung zum langen Geistes¬
schlafe. Um Gestalten hinzaubern zu kön¬
nen als lebten sie, um Menschen handelnd
darstellen, ja in Thaten groſs auch nur ahn¬
den zu können, müssen frühzeitig die Bilder
des Mannichfaltigen den unbefangenen Geist
zur Thätigkeit wecken und die Begierde zu
schaffen in seinem Innern hervorrufen. Das
träge Blut des Belgiers vermochte dies nie
von selbst. Als der Rausch, den ihm die
[14] kriegerischen Zeiten zurückgelassen hatten,
gänzlich verdünstet, als Van Dyk nach Eng¬
land verpflanzt und zu früh gestorben war,
da welkte die Niederländische Kunst, und
jene so genannten Malerakademien, welche
noch jetzt in Mecheln und Antwerpen be¬
stehen, sanken in eine Geringfügigkeit, die
ärger als Vernichtung ist.
Die mechanischen Künste haben sich
länger gehalten, weil die Art des Fleiſses,
welche kein Nachdenken erfordert, sondern
das Werk der Übung und Gewöhnung ist,
phlegmatischen Völkern zur andern Natur
werden kann. Ihre Existenz in dieser, wie
in jeder Rücksicht, ist maschinenmäſsiger,
als die Existenz der lebhafteren, geistreicheren
Menschen, deren unstätes Wesen mehr von
eigenen Antrieben abhängt und daher öfter
die Erscheinung des Müſsigganges bewirkt.
Noch giebt es in allen Belgischen Provinzen
[15] ansehnliche Wollen- und Leinenfabriken, ob¬
wohl die ersteren in Vergleich mit ihrem
Flor im vierzehnten Jahrhundert, als Löwen
und Ipern jedes viertausend, Mecheln über
dreitausend, und Gent vierzigtausend Weber¬
stühle beschäftigen konnten, gleichsam nur
armselige Trümmer der ehemaligen Wirk¬
samkeit verrathen. Lange vor dem Aus¬
bruche des Religionskrieges wanderten aber
schon Tausende von Fabrikanten nach Eng¬
land, und während der Unruhen öffnete Eli¬
sabeth ihre Häfen den fleiſsigen Flüchtlingen,
die um ihres Glaubens willen ihr Vaterland
verlieſsen. Andere Zweige des städtischen
Fleiſses sind durch das Emporkommen aus¬
wärtiger Fabriken in Verfall gerathen, wie
die Seidenmanufakturen in Antwerpen; oder
der Wankelmuth der Mode hat ihren Ab¬
satz vermindert, wie dies mit den Brabanti¬
schen Spitzen und mit den gestickten Tep¬
[16] pichen von Brüssel der Fall ist, an deren
Stelle die Blonden und Papiertapeten gekom¬
men sind.
Der Landmann allein ist geblieben, was
er war: der arbeitsame, geduldige Bauer des
fetten ergiebigen Erdreichs. Seine Saaten
füllen die Scheuren des Adels und der Klö¬
ster; seine Heerden bedecken unübersehbare
Weiden, und seine Gespinnste, das Werk
seiner Nebenstunden, beschäftigen sowohl
die noch übriggebliebenen einheimischen, als
auch die benachbarten auswärtigen Fabrikan¬
ten. Aus diesen Quellen des Reichthums,
so schlecht man sie auch benutzte, flossen
jährlich noch Millionen in die Schatzkam¬
mern des Hauses Östreich. Hätten weise
Führer durch zweckmäſsige Bildung der Ju¬
gend, hätten groſse Regenten durch Erwek¬
kung eines edlen Wetteifers, den Einflüssen
der Sumpfluft und des nordischen Nebels ent¬
gegen¬[17] gegenarbeiten wollen; warum sollte es ihnen
weniger geglückt seyn, als in dem benachbar¬
ten England? Allein die Vervollkommnung
des dritten Standes war jederzeit, bis auf Jo¬
seph den Zweiten, dem stolzen Hofe zu klein,
dem Adel und der Geistlichkeit ein Greuel.
Oft indessen zwecken die unberechneten
Folgen der Leidenschaft mehr als absicht¬
liche Vorkehrungen auf die Hervorbringung
des Guten. Nirgends treibt die Habsucht
mit weniger Zurückhaltung ihr Spiel, nir¬
gends häuft sich die Zahl der Processe so
ins Unendliche, als in Ländern, wo ein
ungebildeter, zahlreicher Adel, und eine
nicht minder rohe, nicht minder zahlreiche
Geistlichkeit den Besitz des Landes unter
sich theilen. In den katholischen Nieder¬
landen, wie in Polen und Ungarn, nehmen
diese Streitigkeiten, bei dem geschwächten
moralischen Gefühl welches unausbleiblich
II. Theil. B[18] die versäumte Entwickelung der Vernunft be¬
gleitet, unter den Begüterten kein Ende.
Daher schwang sich endlich aus dem Bür¬
gerstande die unentbehrlich gewordene Klasse
der Rechtsgelehrten empor, und in diesem,
allerdings nicht erlesenen Haufen, entwickel¬
ten sich gleichwohl die ersten Keime des
Belgischen Patriotismus. Unter der furcht¬
baren Kohorte von drei- bis vierhundert Ad¬
vokaten, die dem Geiste der Unverträglichkeit
in Brüssel das tägliche Opfer bringen, fan¬
den sich einige Männer, deren Studien und
Amtsgeschäfte den glücklichen Erfolg für sie
selbst hatten, ihre Begriffe von Recht und
Pflicht jenseits des todten Buchstabens der
Gesetze zu berichtigen und aufzuhellen. Mit
dem Lichte, das ihnen plötzlich zuströmte,
und das sie freilich weder in den Kreuzgän¬
gen der Jesuitenschulen noch in der finsteren
Universität zu Löwen je erblicken konnten,
prüften sie die Ansprüche des Fürsten, wenn
[19] er, selbst in guter Absicht, aus den Schranken
heiliger Verträge trat, und sich nach seiner
Überzeugung für berechtigt hielt, die Gemüther
der Menschen eigenmächtig zu ihrem wahren
Vortheil zu zwingen. Mit demselben Lichte
erkannten sie das Verhältniſs des Volkes zu
seinen Repräsentanten, und vertheidigten die
Rechte des Bürgers gegen die Eingriffe der Prä¬
laten und Ritter. Der Enthusiasmus, das Kind
des Druckes und der verkannten Wahrheit,
goſs Feuer in ihre Reden und Entwürfe; al¬
lein ihre Beredsamkeit und ihr Beispiel wa¬
ren verschwendet an ein Volk, das sie nicht
fassen konnte und gewohnt war, blindlings
zu folgen. Joseph durfte die Joyeuse entrée
vernichten und den Ständen ihre Vorrechte
schmälern; das Volk hätte sich nicht geregt.
Er nahm dem geweihten Müſsiggänger seine
überflüſsigen Schätze — und das Volk stieſs
ihn vom Thron.
B 2[20]
XVI.
Seitdem das Haus Östreich in engere Ver¬
bindung mit Frankreich getreten war, hatten
die schönen Belgischen Provinzen von den
ehemaligen feindlichen Überzügen ausgeru¬
het, und, eingeschränkt wie ihr Handel
blieb, bloſs durch ihren inneren Reichthum
einen hohen Wohlstand erreicht. Karl von
Lothringen, der eine lange Reihe von Jahren
als Generalgouverneur seinen Hof zu Brüssel
hielt, ward von den Niederländern so en¬
thusiastisch geliebt, wie es fast immer bei
Fürsten der Fall ist, die sich an der Bereit¬
willigkeit der Nation zur Erlegung groſser
Subsidien genügen lassen, ohne sich durch
Neuerung und Reform einen Namen erwer¬
ben zu wollen, ohne durch stetes Miſsbilli¬
gen dessen, was Andere thaten, ihre Ein¬
[21] sicht auf Kosten der Selbstachtung ganzer
Millionen von Menschen geltend zu machen,
ohne Macht und Gewalt blicken zu lassen,
wo die Gesetze allein entscheiden sollten,
oder wo Alles durch Güte auf dem gebahn¬
ten Wege zu erlangen war.
Der Minister Stahremberg theilte mit dem
Prinzen die Zuneigung des Volkes, und
beide wuſsten seine Vorurtheile zu schonen,
seinem Geschmacke zu schmeicheln und sei¬
ne Gutwilligkeit ohne Geräusch zu benutzen.
Der glänzende Hof des Fürsten; seine Lieb¬
habereien; der so leicht und um so geringen
Preis zu erkaufende erhabene Name eines
Beschützers der Wissenschaften und Künste;
die von ihm angefangene Verschönerung der
Stadt, und seine Sorgfalt für die Unterhal¬
tung und die Vergnügungen des Volks: das
waren seine Ansprüche auf eine Liebe, die
ihm Bildsäulen zu Fuſs und zu Pferde, an
B 3[22] öffentlichen Plätzen und auf den Giebeln
öffentlicher Gebäude, erwarb. Die Belgier
zogen ruhig auf der breiten Heerstraſse der
Gewohnheit fort, und verrichteten willig
und mechanisch ihr Tagewerk, ohne sich
um die Verwaltung der öffentlichen Ange¬
legenheiten zu kümmern. Ihr Vertrauen in
die weise Führung der höhern Stände ging
so weit, daſs verschiedene Brabantische Städ¬
te von ihrem Recht, Abgeordnete zur Ver¬
sammlung zu schicken, keinen Gebrauch
machten und der dritte Stand folglich zu¬
letzt wenig mehr als dem Namen nach exi¬
stirte. Die Geistlichkeit hatte beinahe in
allen Provinzen, als erster und zahlreichster
Landstand, ein entschiedenes Übergewicht.
Ihre treue Ergebenheit gegen den Hof beru¬
hete auf einem gemeinschaftlichen Interesse.
Die süſse Herrschaft über die Gemüther, in
deren Besitze man sie nicht störte, war im¬
[23] mer einige dem Landesherrn gezollte Millio¬
nen werth. Man versichert, daſs Maria
Theresia während des siebenjährigen Krieges
an wirklich bewilligten Subsidien und an
negoziirten Darlehen gegen hundert Millio¬
nen Gulden aus den Niederlanden gezogen
habe; und noch kurz vor dem Ausbruche
der Unruhen schätzte man den jährlichen
Ertrag der kaiserlichen Einkünfte aus diesen
Provinzen auf die unglaubliche Summe von
sieben Millionen.
Der Kaiser hatte seine Niederlande selbst
besucht und mit seinem Kennerblicke die tief
eingewurzelten Miſsbräuche ergründet, die
sich dem gröſseren Flor derselben widersetz¬
ten. Er fand das Volk ungebildet, in Aber¬
glauben versunken, träge und ungelehrig im
Gebrauche seiner Geisteskräfte; übrigens aber
mit physischen Vorzügen ausgestattet, stark
und arbeitsam, und geneigt zum frohen,
B 4[24] groben Sinnengenusse. Dem angeborenen
Phlegma war Gutmüthigkeit zugesellt, eine
glückliche Eigenschaft, durch die sich auf
den Charakter noch wirken lieſs; gleichsam
wie ein schwerer Körper Beweglichkeit be¬
kommt, wenn man ihn mit einem leich¬
teren verbindet. Allein die bisherigen Er¬
zieher dieses Volkes bedurften selbst einer
sorgfältigeren Bildung. Mit dem Deutschen
und Französischen Klerus war der Belgische
nicht fortgeschritten; er war um mehr als
ein Jahrhundert zurück, und der Abstich
auffallend zwischen seinen, auf die Blind¬
heit des Volkes berechneten Anmaſsungen
und der Lichtmasse in dem übrigen Europa,
vor welcher kein erkünstelter oder unächter
Heiligenschein bestehen kann.
Hier war indeſs Beides, die hierarchische
und die politische Macht des Staates, in den
Händen der Geistlichkeit. Ihre Häupter
[25] herrschten in den Versammlungen der Stän¬
de; ihre Schlauköpfe wuſsten in Schulen
und Akademien die Dummheit methodisch
fortzupflanzen, und Alle, vom Höchsten bis
zum Geringsten, lenkten das Gewissen der
Einwohner nach ihrer Willkühr. Es for¬
derte Josephs ganze Thatkraft und seinen
Herrschergeist, um hier nicht an Läuterung
zu verzweifeln, sondern sie wirklich anfan¬
gen und durchsetzen zu wollen.
Er fing zuerst mit Ersparnissen an, auf
welche man unter der vorigen allzumilden
Regierung nicht geachtet hatte. Durch sei¬
ne Bündnisse mit Frankreich gesichert, und
durch den Augenschein überzeugt, daſs der
Verfall der Gränzfestungen den Barrieren¬
traktat von 1715 wesentlich schon aufgeho¬
ben habe, vermochte er im Jahr 1781 die
Republik der vereinigten Niederlande dahin,
diesen Traktat auch förmlich aufzuheben und
B 5[26] ihre Besatzungen aus allen darin benannten
Festungen zurückzuziehen. Sobald er die¬
sen Punkt gewonnen hatte, der die General¬
staaten im Grunde nur von einer unnützen
und lästigen Ausgabe befreite, wurden alle
niederländische Festungswerke, ausgenom¬
men die von Luxemburg, geschleift und
die Summen, die ihr angeblicher Unterhalt
dem Staate jährlich gekostet hatte, in Zu¬
kunft für das Ärarium gewonnen. Ähn¬
liche Reformen bedurften und erhielten jetzt
alle Theile der Administration, und selbst
die Gouvernantin der Niederlande, eine
Schwester des Kaisers, wurde nebst ihrem
Gemahl, dem Herzoge von Teschen, in ih¬
ren Einkünften auf eine bestimmte Summe
eingeschränkt.
Von dem Charakter des Volkes lieſsen sich
vortheilhafte Veränderungen hoffen, wenn
man es in neue Thätigkeit versetzte; es war
[27] vielleicht nur eine äuſsere Veranlassung nö¬
thig, um in demselben schlummernde Kräfte
zur Wirksamkeit zu berufen. Schon die
Eröffnung der Schelde allein hätte diesen
Erfolg haben müssen, da die Erscheinungen,
die ihre Verschlieſsung hervorbrachte, für
ganz Europa so wichtig gewesen sind. Aber
die eifersüchtige Politik der Nachbaren ver¬
eitelte diese glänzende Ausſicht um so viel
leichter, da die Belgische Nation nicht einen
Funken der Begeisterung blicken lieſs, wo¬
mit jedes andere Volk, das fähig gewesen
wäre seinen eigenen Vortheil zu erkennen,
bei einer solchen Veranlassung dem Landes¬
herrn alle Kräfte dargeboten hätte.
Diese Fühllosigkeit muſste der Kaiser tief
empfinden; sie muſste ihn auf die Wurzel
des Übels zurückführen und ihn in der ihm
nur allzugegenwärtigen Überzeugung befesti¬
gen, daſs seiner höheren Einsicht das groſse
[28] Werk, seine Unterthanen wieder zu besee¬
len, allein aufbehalten sei. Wenn er wenig
Achtung für die Vernunft des groſsen Hau¬
fens besaſs; wenn er den Beruf in sich fühl¬
te, seine Unterthanen, die ihm unmündige
Kinder schienen, mit der ganzen Authorität
des Vaters zu ihrem Besten anzuführen: wer
findet den Irrthum nach solchen Beispielen
nicht verzeihlich? wer bedauert nicht den
Monarchen, dessen Volk so weit hinter ihm
zurückgeblieben war, daſs er sich zu seinen
Bedürfnissen nicht mehr herablassen konnte?
Die Gleichgültigkeit der Belgier gegen die
Maaſsregeln des Kaisers, die keinen andern
Zweck als den gröſseren Flor ihres Vater¬
landes hatten, und bald hernach die störrige
Widersetzlichkeit, die sie gegen seine vor¬
genommenen Neuerungen äuſserten, erklären
auch ein anderes Phänomen, welches sonst
bei einem Fürsten, der so strenge Begriffe
[29] von Regentenpflicht hatte, befremdend schei¬
nen möchte; ich meine das bekannte Pro¬
jekt von einem Ländertausche, wodurch er
diese so sehr verwahrloseten Menschen ih¬
rem Schicksal überlassen wollte. Wenig¬
stens ist es einleuchtend, daſs einem Mo¬
narchen, der die unüberwindlichen Hinder¬
nisse, welche sich der Ausführung seiner
Vervollkommnungsplane in den Weg legen
würden, jetzt schon anfing zu ahnden, der
Gedanke nahe liegen muſste, diese Bürde
von sich zu werfen, um seine unermüdete
Thätigkeit mit mehrerem Vortheil, und viel¬
leicht mit glücklicherem Erfolge, anderen,
ihm näher liegenden Provinzen zu widmen.
Erst als dieser groſse Plan vereitelt ward,
und der Deutsche Bund sogar in Zukunft
seine Ausführung unwahrscheinlich machte,
gewannen die Reformen des Kaisers in den
Niederlanden ein ernstlicheres Ansehen.
[30]
Wie weit ging denn nun des Kaisers
Befugniſs und Recht, seine Neuerungen
durchzusetzen? Über diese Frage ward be¬
reits lange und wird auch noch gestritten.
Du weiſst, was ich von solchen Fragen hal¬
te, wobei jede Partei gewisse Positionen, als
ausgemacht, zum Grunde legt, und keine bis
auf die letzten Vernunftgründe zurückgeht.
Denkende Männer, nicht bloſs die maschi¬
nenmäſsigen Aktenleser, denkende Männer,
die sich sonst von den Fesseln des Vorur¬
theils frei zu erhalten wissen, können sich
doch in einem solchen Falle, wo das Glück
eines Volkes von den Maaſsregeln eines Für¬
sten abhängt, vor einer kaltblütigen Erörte¬
rung scheuen und wohl gar verlangen, daſs
das Herkommen, die Gewohnheit, das An¬
sehen der Person, und die einmal bestehende
Authorität als unantastbare Heiligthümer gel¬
ten sollen. Das Gefühl, welches sie zu die¬
[31] ser Forderung verleitet, macht ihrem Herzen
Ehre; indeſs freilich nur auf Kosten des
Verstandes. Sie verwechseln nämlich han
deln und denken, und ohne es selbst zu
wollen, begünstigen sie dadurch einen ärge¬
ren Despotismus, als denjenigen, den sie be¬
streiten. Die Folge der kaiserlichen Refor¬
men war Widerstand, Aufruhr, Krieg; das
Blut von Tausenden muſste flieſsen, die Ru¬
he von Millionen ward geopfert — für was?
— für den Einfall eines Monarchen. Rühm¬
lich und gut war seine Absicht; aber bei ei¬
nem zweifelhaften Erfolg, und wenn so vie¬
ler Menschen Wohl auf dem Spiele steht,
darf niemand selbst das Gute nicht durch
gewaltsame Mittel erzwingen, dem Volke
die gewissen oder eingebildeten Vortheile,
die es schon genieſst, nicht eigenmächtig
entreiſsen, so lange es in demjenigen, was
man ihm an ihrer Stelle darbietet, keinen
[32] Gewinn erkennt. Im Gegentheil, man soll
die goldene Regel des frommen Bonafides
befolgen:
Noch mehr: der Thron schützt so wenig
vor Irrthum, daſs er unter gleichen Umstän¬
den oft eine Quelle desselben wird. Der
Kaiser konnte wirklich irren, er konnte
wohl gar in guter Absicht etwas wollen, das
an sich ungerecht und in allen seinen Fol¬
gen schädlich war. Wohlan! jene Maximen
wollen wir einstweilen gutheiſsen, diese
Möglichkeit zugestehen. Allein, wenn gleich
der Kaiser in den Niederlanden nichts hätte
ändern sollen, so durfte er darum doch ein¬
sehen.[33]sehen, was recht und gut, was der Bestim¬
mung des Menschen und seiner ganzen Na¬
tur gemäſs sei oder nicht. Mehr fordern
wir auch nicht für uns; aber dies Wenige
darf man uns nicht verweigern, wenn man
nicht allen Fortschritt der Erkenntniſs hem¬
men und uns dem Rechte des Stärkeren un¬
terwerfen will. Ein anderes ist es, erken¬
nen und öffentlich bekennen, was wahr,
gut und recht genannt zu werden verdient,
die Vernunft dort anwenden, wo sie am un¬
entbehrlichsten ist, zur Prüfung der wich¬
tigsten Verhältnisse des Lebens; ein anderes,
die Welt nach dieser Erkenntniſs, die sich
nur allmälig einimpfen, nur langsam mit¬
theilen und verbreiten läſst, plötzlich um¬
schaffen und mit Gewalt vervollkommnen
wollen.
Überdieſs lieſse sich auch noch Manches
gegen die Allgemeinheit der Regel des guten
II. Theil. C[34] Klosterbruders in Lessings Nathan einwen¬
den. Sie ist an ihrer Stelle in der Sitten¬
lehre des einfachguten, stillen, beschränkten
Menschen, der sich vom Geräusche der Welt
zurückgezogen hat, in ihre Händel sich nicht
mischen mag und den Rest des Lebens
frommen Übungen widmen will. Allein, wer
darf behaupten, daſs diese Regel für alle
Klassen von Menschen, nach der jetzigen
Lage der Sachen, zur Richtschnur tauge?
Andere Kräfte, andere Gaben, andere Er¬
fahrungen und Ausbildungen haben auch ei¬
ne andere Sittenlehre, wie einen ganz ver¬
schiedenen Beruf. Lessing sagt an einem
andern Orte sehr schön, sehr wahr und edel:
was Blut kostet, ist gewiſs kein Blut werth;
allein man würde seinem Geiste unrecht
thun, wenn man ihm die Folgerung andich¬
ten wollte, daſs er alles Blutvergieſsen für
entbehrlich gehalten habe. Sein durchdrin¬
[35] gender Verstand wuſste zu wohl, daſs alles,
was geschehen ist, hat seyn müssen. Für
Meinungen ward ja von jeher Blut vergos¬
sen; und können wir läugnen, daſs ohne
die gewaltsamen Mittel sie fortzupflanzen,
wir vielleicht in unsern Wäldern noch Ei¬
cheln fräſsen und Menschen, wie die Thiere,
jagten? Der sanftmüthige Stifter des Chri¬
stenthums sah voraus, daſs er nicht den
Frieden, sondern das Schwert und die Zwie¬
tracht brächte; und dennoch folgte er sei¬
nem inneren Berufe. Wer wollte auch eines
Luthers Feuereifer nach Bonafides Sanftmuth
richten! Allerdings giebt es Fälle, wo man
den Blick über die etwanigen Nachtheile
hinaus, die im gegenwärtigen Augenblick
aus einer Reform entspringen können, auf
die guten Folgen richten darf, welche die
Zukunft erst reifen und offenbaren wird.
Allerdings darf man säen auf Hoffnung der
C 2[36] zukünftigen Erndte. Die Frage ist nur, wel¬
ches sind die privilegirten Menschen, die es
wagen dürfen, sich über die vorhin erwähn¬
te Einschränkung hinwegzusetzen und ihrem
eigenen Blick in die Zukunft zu trauen?
Wer darf die jetzige Ruhe in Erwartung
der zukünftigen Wohlfahrt stören? Giebt
es Merkmale, an welchen sich diese überle¬
genen Geister im voraus erkennen lassen?
oder bleibt es nicht immer in der Welt bei
der alten Einrichtung, daſs ein jeder nach
seiner Einsicht und seinem Gefühle handeln
müsse, auf seine Gefahr?
Wenn die Speculation einen Grundsatz
aufstellt, so giebt sie ihm eine Allgemein¬
heit, die er in der Anwendung nicht behal¬
ten kann, wo unaufhörlich entgegengesetzte
Tendenzen von Principien, die an sich gleich
richtig, gleich gut und gleich allgemein
sind, den Handelnden wo nicht in Verlegen¬
[37] heit setzen, doch zu Rücksichten nöthigen,
die seine absolute Wirksamkeit einschrän¬
ken. So mag es denn auch mit dem Be¬
griffe von Volksglückseligkeit beschaffen
seyn, den man zuweilen so fest an die Er¬
haltung einer ruhigen Existenz zu knüpfen
pflegt. Kein Bewegungsgrund — so will
man behaupten — soll stark genug seyn,
den Vortheil zu überwiegen, der aus dem
ungestörten Genusse der physischen Befrie¬
digung entspringt. Auf die Gefahr, den
Menschen in seiner einförmigen Lebensweise
zu stören, soll es nicht erlaubt seyn, ihn in
neue Verhältnisse zu versetzen, die er bloſs
der Neuheit wegen haſst. Wie aber, wenn
jemand einsähe, daſs, indem alles jetzt beim
Alten sein Bewenden hätte, das Miſsverhält¬
niſs bald zu einer Höhe steigen müſste, wo¬
durch die Bande des Staats gewaltsam auf¬
gelöset würden? Wie, wenn das ungestörte
C 3[38] Beharren in einem Zustande der unvollkom¬
menen Bildung, die den Menschen der Thier¬
heit näher läſst als jenem Ziele, welches
ihm in der Perfektibilität seiner Geisteskräfte
gesteckt ist; wenn dieses schläfrige, träge
Vegetiren endlich Unfähigkeit zur Vervoll¬
kommnung bewirkte; eine solche Erstar¬
rung der Organe, die zur Vervollkomm¬
nung dienen, zuwege brächte, daſs die sinn¬
liche Maschine keinen sittlichen Werth mehr
erlangen, keiner subjektiven Ausbildung
mehr fähig seyn, sondern bloſs zu thie¬
rischen Funktionen tauglich bleiben könn¬
te? Dann dürfte doch einem Manne, der
groſse Macht in Händen hat, und den Be¬
ruf in sich fühlt, mächtig in die Schicksale
der Menschheit zu wirken, die Pflicht näher
liegen, den Menschen Fähigkeit und Wür¬
digkeit zum Genuſs ihres Daseyns zu ver¬
schaffen, als jene, ihnen einen Genuſs zu
[39] sichern, der ihnen den Weg zum Ziel ihrer
höheren Bestimmung abschneidet. Wer den
Zweck will, muſs auch die Mittel wollen.
Ist die innere, sittliche Freiheit die wahre
Grundlage menschlicher Glückseligkeit; ist
alles Glück unsicher, auſser demjenigen,
welches in dem Bewuſstseyn der moralischen
Unabhängigkeit besteht: so hintergeht man
uns, wenn man in allen Fällen auf die Er¬
haltung des gegenwärtigen Zustandes dringt
und den hohen Genius anfeindet, der vielen
Menschen Veranlassung gab, durch unge¬
hemmte Wirksamkeit der Geisteskräfte sich
zu jenem Bewuſstseyn emporzuschwingen.
Die aristokratische Partei schreiet über
Entweihung ihrer Rechte. Allein, ”in ei¬
nem Staate, wo das Volk nicht wirklich re¬
präsentirt wird,” erwidert die Gegenpartei,
”dort existirt, strenge genommen, keine
rechtmäſsige Gewalt; alles ist Usurpation,
C 4[40] und selbst die freiwillige Ergebung des Vol¬
kes in den höchsten Willen der Aristokra¬
ten setzt eine schon früher an seinem Ver¬
stande verübte Gewaltthätigkeit voraus, ist
ein Beweis von gekränkter Menschenwürde
und verletztem Menschenrecht.‟ Alle so
genannte Souverainitätsrechte, behaupten die
Demokraten ferner, sind ihrer Natur zufolge
allen Menschen unveräuſserlich eigen, und jede
unwiderrufliche Übertragung derselben, wann
und wo sie auch erschlichen ward, ist nur
ein Kennzeichen von menschlicher Ohnmacht
und Unwissenheit. Diese beiden Eigenschaf¬
ten sind allerdings so allgemein durch unsere
Gattung verbreitet, daſs sie gleichsam ihre
charakteristische Bezeichnung ausmachen und
allen Herrschern der Erde, statt des wirkli¬
chen Rechtes, welches sie nimmermehr er¬
weisen können, ein im verjährten Besitz und
in fortdauernder Schwäche der Völker ge¬
[41] gründetes, der Vernunft sogar furchtbar ge¬
wordenes Scheinrecht ertheilen. So lange
die groſse Masse des Menschengeschlechts
in einem Zustande der Unmündigkeit bleibt
— und es hatte noch unlängst den Anschein,
daſs sie es ewig bleiben würde — so lange
kann dieser Unterschied subtil und überflü¬
ſsig scheinen; für denkende Menschen aber
und für Völker, welche anfangen sich zu
fühlen, ist er ohne Zweifel sehr gegründet
und sehr erheblich zugleich. Nach diesen
Vorausſetzungen wäre es demnach offenbar:
wer Josephs Recht, in den Niederlanden
nach seiner Erkenntniſs des Bessern zu herr¬
schen, in Zweifel zieht, und seine Reform
gewaltthätig nennt, der darf ihm wenigstens
nicht das usurpirte, im Stumpfsinn und im
Aberglauben des Volkes geschöpfte Recht der
Stände entgegensetzen.
Doch die Frage von Recht bei Seite, so
C 5[42] läſst sich allerdings noch bezweifeln, ob es
der Klugheit des Regenten gerathen war, im
gegenwärtigen Falle den Despotismus der
Aristokratie entgegen zu stellen und es dar¬
auf ankommen zu lassen, auf wessen Seite
das Volk sich neigen würde. — Das Volk?
Trägt es nicht überall die Fesseln der Ge¬
wohnheit als einen angeerbten Schmuck, den
zu veräuſsern oder gegen eine schönere und
nützlichere Zierde zu vertauschen, es für ein
Verbrechen hält! War es nicht in den Nieder¬
landen insbesondere gleichgültig gegen jede
Neuerung, auch wenn sie ihm, wie die Eröff¬
nung der Schelde, mit keinem Umsturz seiner
Verfassungen drohete, und vielmehr reinen
Gewinn zu bringen versprach? Konnte man
vergessen, daſs es in der Hand seiner Beicht¬
väter ein bloſs leidendes Werkzeug ist?
Vielleicht verachtete der Kaiser die wirklich
auffallende Erschlaffung selbst dieser Theo¬
[43] kraten, die dicke Finsterniſs, in welcher ih¬
re Geisteskräfte schlummern, die Feigheit,
die so oft die Gefährtin eines bösen Gewis¬
sens ist; er glaubte vielleicht, die Sybariten¬
seelen würden zittern vor dem Ernst eines
Mannes. Diese Überzeugung wäre dann ein
neuer Beweis des Scharfblicks, womit Jo¬
seph die Menschen durchschaute. Wirklich
zitterten sie, so oft er ihnen in furchtbarer
Herrschergestalt erschien. Erst nach dem
unglücklichen Feldzuge wider die Türken
im Jahr 1788 wuchs ihr Muth gegen den
sterbenden Kaiser, und selbst dann bedurfte
es genau des ganzen Zusammenflusses von
Begünstigungen des Schicksals, um ihnen
das Zeichen zum Aufruhr zu entlocken.
Die Lieblingsidee des Kaisers, eine völ¬
lige Gleichförmigkeit des Administrationswe¬
sens und der Gesetzgebung in allen seinen
Staaten einzuführen, ist ebenfalls nicht frei
[44] von Tadel geblieben. Es scheint in der
That natürlicher, die Formen nach dem ver¬
schiedenen Genie der Völker abzuändern, als
alle Völker in Eine Form zu zwängen. In
Italien, Deutschland, Böhmen, Ungarn und
Belgien sind die Menschen viel zu weit von
einander verschieden in physischen und mo¬
ralischen Anlagen, in Sitten und Gewohn¬
heiten, um gleichen Handlungen denselben
Werth oder Unwerth beizumessen. Die
Verschiedenheit des Bodens, der Lage, des
Himmelstrichs bestimmt diese Mannichfaltig¬
keit im Menschengeschlechte, wie in der
ganzen organischen Schöpfung, die nur durch
sie desto reicher und schöner unseren Augen
und unserem Verstande entgegenglänzt. Sie
durch irgend einen Mechanismus einschrän¬
ken wollen, scheint beinah eine Versündi¬
gung an der Natur. Allein zur Rechtferti¬
gung des Kaisers muſs man sich erinnern,
[45] daſs er am Rhein und an der Donau, am
Po wie an der Maas und Schelde, eine weit
unbegreiflichere Gleichförmigkeit als die war,
die er einführen wollte, wirklich errungen
sah: eine Gleichförmigkeit des Glaubens an
unsichtbare, die Vernunft und ihre Formen
weit übersteigende Dinge, eine allgemeine,
unbedingte Gleichförmigkeit, die sich bis auf
die individuellsten Bestimmungen erstreckt,
die sich ein Recht der unumschränkten
Herrschaft über alle Gemüther des Erdkrei¬
ses anmaſst und keinen Widerspruch erträgt.
Die Entstehung eines ähnlichen Systems in
politischer Hinsicht, in dem Verstande eines
Monarchen, ist also leicht begreiflich, wenn
man gleich bedauert, daſs er es für so wich¬
tig halten konnte. Ein solches Maschinen¬
werk hätte seinen Stolz beleidigen, es hätte
seinem Geiste zu klein seyn müssen. Der
groſse Mann nimmt die Menschen wie sie
[46] sind, und indem er ihnen den Glauben an
ihre Spontaneität und Selbstbestimmung läſst,
weiſs er sie, unfühlbar wie die Gottheit,
nach seinem Willen und zu seinem Zwecke
zu lenken.
Bereits im Jahre 1785 fing der Kaiser an,
dieses System, welches er in seinen Deut¬
schen Staaten zum Theil schon gegründet
hatte, auch in den Niederlanden einzuführen.
Das Verbot der Einfuhr fremder Fabrikate
und der Ausfuhr der rohen inländischen Pro¬
dukte fiel dem Speditionshandel dieser Pro¬
vinzen sehr zur Last, indem es die Trans¬
portkosten durch die Erhebung starker Tran¬
sitozölle um ein merkliches erhöhte. Die
Eintheilung des Landes in neun Kreise, nach
dem Muster der Östreichischen, die Ernen¬
nung der Intendanten in den Kreishaupt¬
mannschaften, die Einführung des neuen
Gerichtssystems durch den Freiherrn von
[47] Martini, der dieses Geschäft in den Italieni¬
schen Besitzungen des Kaisers bereits glück¬
lich beendigt hatte, und die Abstellung ver¬
schiedener in den Privilegien zwar gegrün¬
deten, aber durch die Länge der Zeit in
Miſsbräuche ausgearteten Einrichtungen, be¬
drohete den Adel und die höheren Stände
überhaupt mit einer groſsen Schmälerung
ihrer bisher genossenen Vorrechte und des
überwiegenden Einflusses, den sie seit un¬
denklichen Zeiten im Lande behauptet hat¬
ten. Es war des Kaisers Absicht, allen sei¬
nen Unterthanen, ohne Ansehen des Ranges,
des Standes und der Person, gleichen Schutz
des Gesetzes angedeihen zu lassen und von
allen einen gleichförmigen Beitrag zu den
Bedürfnissen des Staates zu fordern. Diesen
gerechten und billigen Vorsatz konnte er
aber nicht anders bewerkstelligen, als indem
er den bisherigen Gang der Geschäfte in den
[48] Gerichtshöfen abänderte; wo derselbe zu
verwickelt war und ihm gar zu viele Schwie¬
rigkeiten in den Weg legte, die Tribunale
selbst aufhob, und zur Erhebung der neuen
Steuern andere Beamten, mit anderen Vor¬
schriften und Vollmachten als die vorigen,
einsetzte.
Beinahe noch wichtiger war derjenige
Theil seiner Reform, welcher die Diener der
Religion betraf. In ihrer Person wollte er
dem Volke bessere Erzieher und Führer be¬
reiten, und stiftete zu dem Ende überall in
seinen Landen, mithin auch in den Belgi¬
schen Provinzen, ein Generalseminarium, ein
Erziehungsinstitut für künftige Priester und
Pfarrer, wo sie nach besseren Grundsätzen
als bisher gebildet, und in den Pflichten
nicht bloſs des hierarchischen Systems, son¬
dern auch der Menschheit und des Bürgers,
zweckmäſsig unterrichtet werden sollten.
Löwen,[49] Löwen, diese alte, einst berühmte, durch die
Freigebigkeit ihrer Stifter vor allen andern
begüterte Universität, die jetzt in den Pfuhl
des ultramontanischen Verderbens gesunken
war, erheischte die ganze Aufmerksamkeit
und Sorgfalt des Monarchen und seiner Stu¬
diencommission. Die beinah uneingeschränk¬
ten Gerechtsame dieser hohen Schule hatten
daselbst in den Händen herrschsüchtiger Prie¬
ster ein System von Miſsbräuchen, eine Ver¬
schwörung wider die Menschheit und was
sie adelt, die Denkkraft, erzeugt, dessen
schauderhafte Wirkungen ohne gänzliche Um¬
schmelzung der Universität nicht vertilgt
werden konnten. Es wurden anfänglich
vier Direktoren in den vier Fakultäten er¬
nannt., um die Studien nach einem neuen
Plan daselbst einzurichten; allein diese Vor¬
kehrung, welche bei einem von der Geist¬
lichkeit und dem päbstlichen Nuntius unter
II. Theil. D[50] den Studenten angezettelten Tumult, und
in der Folge bei jeder Veranlassung, den
heftigsten Widerspruch erlitt, ward zuletzt
unzulänglich befunden.
Die Erziehung des Volkes, der Hauptge¬
genstand von Josephs väterlicher Fürsorge,
konnte nicht ohne groſse Kosten auf einen
besseren Fuſs gesetzt werden; die neuen
Besoldungen der Schullehrer und Seelsorger
beliefen sich auf ansehnliche Summen, zu
deren Bestreitung der Fond erst ausgemittelt
werden muſste. Den Kaiser führte sein
Plan hier, wie in Östreich, Ungarn und der
Lombardei, zu den todtliegenden oder ge¬
miſsbrauchten Schätzen der Klöster. Die
frommen Gaben und Stiftungen, womit die
Vorzeit der Heiligkeit des monastischen Le¬
bens fröhnte, zugleich aber sie wahrschein¬
lich auf die Zukunft hin untergrub und in
wollüstigen Müſsiggang verwandelte, sollten
[51] nunmehr ihre bisher verfehlte Bestimmung
erreichen und, in einen allgemeinen Reli¬
gionsfond gesammelt, dem Bedürfnisse des
Volkes, geläuterte, einfache Begriffe von Got¬
tesdienst und Christuslehre zu empfangen,
heilig seyn. Die Klöster erhielten also den
Befehl, den Betrag ihres Vermögens anzuge¬
ben; zugleich bestimmte man die Dörfer,
wo neue Pfarren angelegt werden sollten:
und um den Anfang der Rückkehr zur ur¬
sprünglichen Einfalt und Reinheit des Chri¬
stenthums zu begründen, erschien das Verbot
der Processionen und Wallfahrten, die den
Müſsiggang, den Aberglauben und die Im¬
moralität im Volk unterhielten; die Andäch¬
telei der Brüderschaften verschwand; die
überflüssigen Feiertage wurden abgestellt,
und solchergestalt ward mancher Faden zer¬
schnitten, durch welchen es der Römischen
Seelentyrannei vor Zeiten gelungen war, ihr
D 2[52] weites Reich auch in den Niederlanden zu
begründen. Endlich schritt der Kaiser zur
Aufhebung der entbehrlichsten Klöster, und
lieſs die Güter der erledigten Prälaturen für
Rechnung des Religionsfonds administriren.
Alle diese Neuerungen brachten die Geist¬
lichkeit in den Niederlanden mehr als in
allen übrigen Provinzen seines Reiches wi¬
der ihn auf; und da sich alle Stände und
alle Volksklassen zu gleicher Zeit für ge¬
kränkt und in ihren Rechten angegriffen
hielten, alle nur erst das Unbequeme und
die Last der Reformen empfanden, ohne in
die Zukunft, wo ihnen wahre Vortheile
winkten, hinausblicken zu wollen oder zu
können, so erhob sich hier gleichsam eine
allgemeine Stimme der Miſsbilligung, der
Weigerung und des Unwillens.
Diese Uebereinstimmung gab den Vor¬
stellungen, welche die Stände gegen die Ver¬
[53] ordnungen ihres Landesherrn einschickten,
einen kühnen, zuversichtlichen, trotzigen
Ton. Geduld und Güte waren die Beruhi¬
gungsmittel, deren sich der Kaiser anfänglich
dagegen bediente. Den Nuntius Zondadari,
als den Urheber der Unruhen in Löwen,
hatte man aus dem Lande gejagt; aber den
Kardinal von Frankenberg, der sich dabei
nicht minder thätig bewiesen, behandelte
Joseph, nachdem er ihn vor sich nach Wien
hatte berufen lassen, mit ausgezeichneter
Langmuth, und dem Bischofe von Namur
verzieh er sein noch gröberes Vergehen. Die
neue gerichtliche und politische Verfassung
nahm mit dem ersten Januar 1787 ihren An¬
fang; der Staatsrath, der geheime und der
Finanzrath wurden abgeschafft, und an ihre
Stelle ein einziges Generalgouvernement mit
einem dazu gehörigen Rath eingesetzt, wor¬
in der bevollmächtigte Minister des Kaisers
D 3[54] den Vorsitz führte und über die sämmtli¬
chen politischen und ökonomischen Angele¬
genheiten des Landes entschied. Alle De¬
putationen oder immerwährende Ausſchüsse
der Stände in den Niederlanden hob der
Kaiser mit einem Federstrich auf, und lieſs
dagegen einige Abgeordnete von den Stän¬
den als Beisitzer in den Gouvernementsrath
eintreten. Alle bis dahin subsistirende Ge¬
richtshöfe, den hohen Rath von Brabant mit
einbegriffen, alle Gerichtsbarkeiten der Guts¬
besitzer auf dem platten Lande, alle geist¬
liche Tribunale und nicht minder die Ge¬
richte der Universität Löwen annullirte er
zu gleicher Zeit, um einem souverainen Ju¬
stizhofe (conseil souverain de justice) Platz
zu machen, der in Brüssel residiren, und als
höchste Instanz in erforderlichem Falle die
Revision der ebenfalls zu Brüssel oder zu
Luxemburg, in den dortigen Appellationsge¬
[55] richten entschiedenen Processe übernehmen
sollte. Die Eintheilung der sämmtlichen
Östreichischen Niederlande in neun Kreise
war mit der Aufhebung aller bisherigen
Grands-Baillis, Kastellane und anderer Be¬
amten verbunden, und schien berechnet, um
die vorige Eintheilung nach den Provinzen
gänzlich aufzulösen. Die Gubernialräthe oder
Intendanten und ihre Kommissarien erhiel¬
ten die Oberaufsicht über alle Magistratsper¬
sonen und alle Administratoren der öffent¬
lichen Einkünfte, nebst einer Jurisdiktion,
welche ihnen die summarische Justiz anver¬
traute.
Dieses furchtbare Heer von neuen Ver¬
fügungen drohete den Ständen augenschein¬
lich mit dem Verlust ihrer ganzen Authori¬
tät; einer Authorität, die, so sehr sie mit
dem wahren Interesse des Belgischen Volkes
stritt, ihnen gleichwohl durch langwierigen
D 4[56] Besitz und durch die feierliche eidliche Be¬
kräftigung aller ihrer Privilegien, von jedem
neuen Thronbesteiger, und namentlich auch
von Joseph dem Zweiten im Jahr 1781, zu¬
gesichert worden war. Der Adel, nebst dem
dritten Stande, dessen Zustimmung unter
den jetzigen Umständen leicht gewonnen
ward, verbanden sich mit der Geistlichkeit
zu gegenseitigem Beistande; sie wurden ei¬
nig, zuerst das politische und gerichtliche
System des Kaisers anzugreifen, und sobald
ihnen dieses gelungen seyn würde, mit ver¬
einigten Kräften von neuem auf die Zurück¬
nahme aller Verordnungen zu dringen, wel¬
che die geistliche Reform zum Ziele hatten.
Eine betrügliche Ruhe ging dem Aus¬
bruch dieser verabredeten Bewegungen vor¬
her. Der Kaiser hatte seinen Entschluſs be¬
kannt gemacht, seine erhabene Freundin,
Katharina die Groſse, auf ihrem Zuge nach
[57] Taurien zu besuchen, und die Niederländer
warteten den Zeitpunkt seiner Entfernung
ab, um ihr Vorhaben auszuführen. Am 11ten
April hatte der Kaiser seine Residenz ver¬
lassen; am 17ten versammelten sich die Bra¬
bantischen Stände, und am 26ſten weigerten
sie sich die gewöhnlichen Subsidien zu be¬
willigen, es sei denn, daſs alle neue Einrich¬
tungen, als unverträglich mit ihren Vorrech¬
ten, wieder aufgehoben würden. Das vom
Kaiser abgesetzte Conseil von Brabant er¬
klärte am 8ten Mai die neuen Gerichte
für verfassungswidrig und alle ihre Procedu¬
ren für nichtig. In Flandern, Hennegau,
Tournesis, Mecheln und Geldern folgte man
diesem Beispiele; nur Limburg und Luxem¬
burg blieben ruhig und äuſserten ihre Zu¬
friedenheit mit der neuen Verfassung. Das
Vorrecht der Niederländer, nur in ihrem
Vaterlande gerichtet zu werden, war in der
D 5[58] Person eines Seifensieders, de Hont, verletzt
worden. Er sollte Betrug an einer landes¬
herrlichen Kasse verübt haben; man hatte
ihn in Verhaft genommen und nach Wien
geliefert. Das Volk, gestimmt und gereizt
durch die Widersetzlichkeit der Stände ge¬
gen das Gouvernement, bediente sich dieses
Vorwandes, um mit einem allgemeinen Auf¬
ruhr zu drohen. Schon umringte es das
Rathhaus, und schickte zu den versammelten
Ständen hinauf, um anzufragen, ob es zu
den Waffen greifen solle; schon sah man
Vornehme und Geringe, ohne Unterschied
des Geschlechts, sich unter diesen Pöbel
mischen, um ihn zu Gewalttätigkeiten an¬
zufeuern; schon schleppte man Strohmänner,
mit dem daran befestigten Namen ”Kreis¬
hauptmann” durch die Straſsen, und ver¬
brannte sie auf öffentlichem Markt; man
warf dem Minister, Grafen von Bolgiojoso,
[59] und anderen Kaiserlichen Beamten die Fen¬
ster ein, und bewog dadurch den Präsiden¬
ten des souverainen Justizhofes, von Crum¬
pipen, seinen Posten zu resigniren. Die
Concessionen, wozu sich die Erzherzogin
Christine nebst ihrem Gemahl genöthigt sah,
schienen das Volk und die Stände nur be¬
herzter zu machen. Am 30ſten Mai erfolg¬
te in Brüssel ein neuer Auflauf, der mit
den fürchterlichsten Symptomen ungezügelter
Wuth im Pöbel, und mit einer ungestümen
Forderung von Seiten der Stände an die
Generalgouverneurs begleitet war. Die pe¬
remptorisch verlangte und noch denselben
Abend erfolgte Entschlieſsung, von der man
schwerlich erfahren wird, wie viel davon
erzwungen, und wie viel freiwillig oder ab¬
sichtlich zugestanden war, enthielt die Ver¬
sicherung, die Privilegien, Freiheiten, Her¬
kommen und Gebräuche, wie sie seit zwei
[60] hundert Jahren bestanden hätten, unverän¬
dert aufrecht zu erhalten und alles zu an¬
nulliren, was dawider geschehen sei. Das
Volk ging am andern Morgen von einem
Extrem zum andern über, von aufrühreri¬
scher Wuth zu ausgelassener Freude. Sechs¬
hundert junge Brabanter, aufs prächtigste
gekleidet, zogen die Generalgouverneurs in
ihrem Wagen unter Begleitung der Musik in
die Komödie; die Stadt war erleuchtet, man
lösete die Kanonen und läutete mit allen
Glocken.
Des Kaisers beschleunigte Rückkehr nach
Wien verwandelte die schönen Hoffnungen,
womit man sich schon wiegte, in Trauren
und Zagen. Er berief die Generalgouver¬
neurs und den Minister Belgiojoso zurück,
und forderte von den Ständen eine Deputa¬
tion, die ihm ihre Beschwerden vorlegen
sollte. Die Stände sowohl als auch der Ma¬
[61] gistrat von Brüssel machten Mine, die Erz¬
herzogin und den Herzog zurückzuhalten;
sie weigerten sich sogar die Deputirten ab¬
zuschicken. Der Kaiser erneuerte seinen
Befehl, und man gehorchte. Nach der Ab¬
reise der Generalgouverneurs und des Mini¬
sters vereinigte Graf Murray auf Verfügung
des Kaisers in seiner Person die Befehlsha¬
berstelle über die Truppen mit der Würde
eines Interimsgouverneurs. Er lieſs die Be¬
satzungen der verschiedenen Städte ausmar¬
schiren, Lager im Felde beziehen und sich
mit Munitionen und Artillerie versehen.
Diese Maaſsregeln hielten die Bürgercorps,
die sich hier und dort zu formiren und zu
bewaffnen angefangen hatten, in einiger
Furcht, welche sich auf die gewisse Nach¬
richt, daſs der Kaiser ein beträchtliches Krie¬
gesheer nach den Niederlanden beordert habe,
noch um ein Merkliches vermehrte. Die
[62] von Wien zurückgekommenen Deputirten
bewogen endlich die Stände, sich dem Wil¬
len des Kaisers zu unterwerfen und alles
wieder auf den Fuſs herzustellen, wie es
vor dem ersten April gewesen war. Alle
Provinzen fügten sich einer Verordnung,
welche die beleidigte Monarchenehre als
Genugthuung befolgt wissen wollte, und be¬
willigten endlich die noch immer vorenthal¬
tenen Subsidien. Die Bürgerschaft in Brüs¬
sel allein hatte sich in ihre Uniformen und
Kokarden verliebt, und weigerte sich sie
abzulegen. Murray lieſs am 19ten Septem¬
ber Truppen einmarschiren, und der Schwin¬
del der Einwohner ging wirklich so weit.
daſs sie sich zur Gegenwehr setzten. Die
ganze Stadt war eine Scene des wüthendsten
Aufruhrs. In diesem schrecklichen Augen¬
blick entwarf ein kaiserlicher General den
Plan einer allgemeinen Plünderung und Ver¬
[63] heerung der Stadt. Das Schwert würde
Joseph den Zweiten fürchterlich an den Ein¬
wohnern von Brüssel gerächt haben, fürch¬
terlicher, als sein im Grunde menschli¬
ches Herz es je ertragen hätte, wenn nicht
der Herzog von Ursel, schon damals der ei¬
frigste Gegner despotischer Maaſsregeln, ins
Mittel getreten wäre. Sein Ansehen und
seine Geistesgegenwart retteten die Stadt.
Nachdem der Auflauf zwei Personen das
Leben gekostet hatte, gelang es dem Herzog
am 20ſten, die Bürgerschaft zu ruhiger Fol¬
geleistung zu bereden.
Die Nachgiebigkeit der Generalgouver¬
neurs hatte jedoch den Kaiser zu sehr kom¬
promittirt, als daſs er im Ernst daran hätte
denken können, seinen Reformationsplan
durchsetzen zu wollen. Kaum war also jeder
Widerstand besiegt und der Nacken der
Sträubenden unter das Joch gebeugt, als
[64] bereits am 21ſten September, vermöge einer
zu diesem Behuf schon fertig liegenden De¬
pesche, den Ständen alle ihre Forderungen
zugestanden wurden, und die alte Landesver¬
fassung, bis auf wenige, zu näherer Ver¬
ständigung aufgehobene Punkte, in ihre
ehemaligen Rechte trat. Ohne Zweifel
hatte der zwischen Ruſsland und der Pfor¬
te jetzt ausgebrochene Krieg, woran der
Kaiser thätigen Antheil nehmen muſste, ei¬
nen nicht geringen Einfluſs auf diese Ent¬
schlieſsung. Damit indeſs künftighin die
Güte und Sanftmuth der Generalgouverneurs
vor ähnlichem Miſsbrauch gesichert werden
möchte, schickte der Kaiser den Grafen von
Trautmannsdorf, mit einer erweiterten Voll¬
macht, als seinen Minister nach den Nieder¬
landen; und wie der Erfolg zeigte, so lag
ein Theil dieser Sicherung in der Art des
Verhältnisses, welches der Kaiser zwischen
seiner[65] seiner Schwester, ihrem Gemahl und diesem
Minister festgesetzt hatte. Der General
d'Alton, erhielt zu gleicher Zeit das Kom¬
mando aller in den Niederlanden befindli¬
chen Truppen, an der Stelle des zurückbe¬
rufenen Grafen von Murray. Gegen das
Ende Januars 1788 kehrten der Herzog Albert
und die Erzherzogin Christine in ihr Gene¬
ralgouvernement nach Brüssel zurück.
Die Stände der Belgischen Provinzen hat¬
ten nunmehr in politischer Rücksicht ihren
Endzweck völlig erreicht, und es wäre un¬
gerecht, ihnen so viel Einsicht abzusprechen,
als dazu gehörte, sich an diesen Vortheilen
zu begnügen und die vorbehaltenen Punkte,
nämlich die Einrichtung des Generalsemina¬
riums und die Angelegenheiten der Univer¬
sität Löwen, des Kaisers Willkühr zu über¬
lassen. Unter den edlen Familien in Brabant
und Flandern gab es unstreitig auch einzelne
II. Theil. E[66] gebildete und aufgeklärte Personen, denen
die Reformen des Kaisers im geistlichen
Fache in ihrem wahren, wohlthätigen Licht
erschienen, und die es folglich gern sahen,
daſs das Erziehungswesen eine bessere Ein¬
richtung bekam. Allein die Geistlichkeit
erinnerte jetzt ihre Verbündeten an den vor¬
hin mit ihnen abgeschlossenen Vertrag; sie
forderte von ihnen unbedingte Unterstützung
zur Wiedererlangung aller ihrer Privilegien,
und wuſste es dahin zu bringen, daſs man
sich verpflichtet glaubte, diese treue Bundes¬
genossin, die sich zur Aufwiegelung des
Volkes so geschäftig erwiesen hatte, nicht zu
verlassen.
Auf diesen Beistand trotzten die Bischöfe,
indem sie auf die Erhaltung ihrer Priesterse¬
minarien drangen und sich jeder Neuerung,
die der Kaiser zu Löwen vornehmen wollte,
muthig widersetzten. Bei der Eröffnung sei¬
[67] nes Generalseminariums am 15. Januar 1788
fanden sich keine Zuhörer ein, um die Vor¬
lesungen der neuen Professoren zu hören
Das Gouvernement lieſs hierauf die bischöf¬
lichen Seminarien verschlieſsen und den Leh¬
rern bei Strafe verbieten, daselbst Vorlesun¬
gen zu halten; allein der Kardinal-Erzbischof
von Mecheln wagte es, gegen dieses Verbot
einen förmlichen Proceſs anhängig zu ma¬
chen. Schon einige Zeit vorher hatte auch
der Universitätsmagistrat versucht, sich als
einen unmittelbaren Landstand anerkennen
zu lassen, eine Anmaſsung, welche in den
Privilegien keinen Grund hatte und daher
auch bald durch ernste Maaſsregeln zurück¬
gewiesen ward. Dessen ungeachtet äuſser¬
ten viele der vorigen Universitätsglieder eine
so halsstarrige Widersetzlichkeit, daſs man
sie in Verhaft nehmen muſste; andere ent¬
fernten sich, um diesem Schicksal zu entge¬
E 2[68] hen, und die Studenten zogen haufenweise
fort. Dies bewog den Kaiser, am 17ten Ju¬
lius eine neue Verordnung ergehen zu las¬
sen, vermöge deren er die medicinische, ju¬
ristische und philosophische Fakultäten nach
Brüssel verlegte, die theologische hingegen
sammt dem Generalseminarium zu Löwen
lieſs, und dem Kardinal, der seinen Proceſs
mittlerweile verloren hatte, nebst den ande¬
ren Bischöfen anbefahl, sich dorthin zu be¬
geben und die daselbst vorgetragene Lehre
zu prüfen, um sich von ihrer Orthodoxie zu
überzeugen. Die allgemeine Bewegung, wel¬
che diese Verfügungen in Brabant verursach¬
ten, lieſs sich leicht auf ihre Quelle zurück¬
führen, und die militairische Gewalt dämpf¬
te die Unruhen, welche darüber in Brüssel,
Mecheln und Antwerpen entstanden.
Diese Tumulte waren indeſs nur das Vor¬
spiel zu wichtigeren Auftritten. In Hennegau
[69] und Brabant hatte die Geistlichkeit alle Gemü¬
ther gestimmt, mit dem Adel und den Ständen
alles gekartet. Wenige Monate zuvor hatten
diese letzteren dem Kaiser in den unterwür¬
figsten Ausdrücken ihre gänzliche Rückkehr
zu seiner väterlichen Huld bezeugt, und ihn
angeflehet, die Spur aller vorhergegangenen
Irrungen durch die Wiederkehr seines Zu¬
trauens zu vernichten. Jetzt bewilligten die
beiden höheren Stände die Subsidien, von
denen sie jedoch voraus wuſsten, daſs der
so genannte dritte Stand, der nur aus den
Abgeordneten der drei Städte Brüssel, Me¬
cheln und Antwerpen besteht, der Abrede
gemäſs, die Zahlung verweigern würde. Den
Vorwand zu dieser Verweigerung schämte
man sich nicht von der unterbliebenen Her¬
stellung der Processionen und Brüderschaf¬
ten zu entlehnen; man forderte die Zurück¬
gabe aller aufgehobenen Klöster, und die
E 3[70] unbedingte Zurücknahme aller Neuerungen
im geistlichen Erziehungswesen. Der Kai¬
ser setzte dieser muthwilligen Forderung am
26. Januar 1789 eine sehr ernsthafte Erklä¬
rung entgegen, wodurch er sich von allen
seinen übernommenen Verpflichtungen, we¬
gen der ohne Grund verweigerten Subsidien,
loszusagen drohte. Die Stände von Brabant,
denen es noch nicht Ernst war, den Klerus
bei einer so frivolen Veranlassung in Schutz
zu nehmen, beugten sich von neuem unter
den Zepter, bewilligten die Steuern, und
fleheten um Verzeihung und Gnade. Zu
Mons hingegen im Hennegau, wo die Ent¬
lassung des Herzogs von Aremberg von sei¬
nem Ehrenposten als Grand-Bailli und die
Wiederbesetzung dieser Stelle durch einen
Ausländer, den verhaſsten General von Ar¬
berg, die Erbitterung schon weiter getrieben
hatte, beharrten die Stände auf ihrer Wei¬
[71] gerung, und es blieb kein anderes Mittel
übrig, als die Cassation ihrer Versammlung
und ihrer Privilegien, und die Gefangenneh¬
mung der vornehmsten Miſsvergnügten.
Bei dem Kreislauf der Kenntnisse, wel¬
cher seinen Einfluſs über alle Gegenden von
Europa erstreckt, bei der Menge von statisti¬
schen Begriffen, welche durch die fortwäh¬
renden Miſsverständnisse von mehreren Jah¬
ren zwischen dem Volk und dem Monarchen
immer genauer entwickelt werden muſsten,
wäre es in der That eine beispiellose, un¬
begreifliche Höhe und Allgemeinheit der
Unvernunft gewesen, wenn unter zwei Mil¬
lionen Menschen die gute Seite der kaiser¬
lichen Reformen keinem eingeleuchtet hätte.
So wenig Nachdenken im Allgemeinen unter
den Niederländern Statt finden mochte, so
tief sie auch gebeugt waren unter das Joch
der Vorurtheile und des Aberglaubens, so
E 4[72] gewiſs muſsten sich dennoch einzelne Men¬
schen finden, die in eigener Thätigkeit des
Geistes zu reinen, unumstöſslichen Resulta¬
ten gelangten, und Andere, die einer besseren
Ueberzeugung, sobald sie sich ihnen darbot,
offen und empfänglich waren. Solche Ein¬
zelne fanden sich wirklich, wie ich schon
erwähnt habe, unter dem zahlreichen Heere
der Niederländischen Rechtsgelehrten. Die
Bürger, wenigstens die wohlhabendsten un¬
ter dieser Klasse, blieben nicht durchge¬
hends ohne Empfänglichkeit für ihren Un¬
terricht. In den Maaſsregeln des Kaisers —
so sehr sie einen despotischen Geist verrie¬
then, und aus der Vorausſetzung zu flieſsen
schienen, daſs der Zweck in des Monarchen
Hand die Mittel heiligen könne — erkannte
man dennoch ein Bestreben, den aristokra¬
tischen sowohl, als den hierarchischen Ein¬
fluſs einzuschränken und dem Volk ein gröſse¬
[73] res Gewicht beizulegen, mithin eine gewisse
Annäherung zu dem Ziele der kleinen An¬
zahl von Patrioten, die eine vollkommnere
Repräsentation für die einzige Grundfeste
der Volksfreiheit hielten. Man hatte sich
geschmeichelt, daſs der Kampf zwischen dem
Kaiser und den Ständen diese vortheilhafte
Wendung nehmen würde; allein durch die
plötzliche Wiederherstellung der alten Ver¬
fassung ging diese Ausſicht verloren und es
blieb nur noch der schwache Schimmer einer
Möglichkeit, jene demokratischen Grundsätze
im Stillen unter dem Volke zu verbreiten.
So entstanden von jener Zeit an die patrio¬
tischen Versammlungen, wo die Advokaten
Vonk, Verlooy und verschiedene andere auf
ihre Mitbürger zu wirken suchten. Es gab
sogar einzelne Personen vom höchsten Adel
aus den ersten und berühmtesten Häusern,
denen die Absichten dieser Demokraten
E 5[74] nicht unbekannt blieben, und die sie unter
der Hand begünstigten; entweder, weil sie
selbst, von einem viel zu richtigen Gefühle
geleitet, den Gedanken verwarfen, Theilneh¬
mer an der aristokratischen Tyrannei zu
werden, oder weil ihr Ehrgeiz bei der De¬
magogenrolle besser seine Nahrung fand.
Das Schicksal arbeitete indessen für diese
Partei noch früher, als sie es erwarten konn¬
te. Die Unterwürfigkeit der Stände bei der
letzten Veranlassung war so weit gegangen,
daſs sie sich sogar zu einiger Abänderung
der Grundverfassung geneigt erklärt hatten.
Dem Kaiser blieb es noch in frischem An¬
denken, daſs die fehlerhafte Constitution des
dritten Standes Schuld an der neulichen Ver¬
weigerung der Subsidien gewesen war. Er
benutzte daher den günstigen Augenblick,
um eine neue Verfassung dieses Standes in
Vorschlag zu bringen, die ihn vor dem über¬
[75] wiegenden Einflusse der beiden andern sicher
stellen und den Stolz der drei bisher allein
repräsentirten Städte herabstimmen sollte.
Einen Vorschlag von dieser Art hatte man nur
erwartet, um das vorige Miſstrauen in seiner
ganzen Starke zu äuſsern und die Larve des
guten Vernehmens mit dem Monarchen wie¬
der abzuwerfen. Da der Kaiser zu gleicher
Zeit die Absicht zu erkennen gab, die Be¬
willigung der Subsidien auf ewige Zeiten,
wie man sie bereits im Jahr 1754 in Flan¬
dern ein- für allemal zugestanden hatte,
auch in Brabant durchzusetzen; und da er
sich für berechtigt hielt, von dem hohen
Rath (Conseil) oder Justizhofe von Brabant
die Promulgation seiner Edikte, wenn sie
nicht mit den beschwornen Privilegien strit¬
ten, unverweigerlich fordern zu können: so
versagten die versammelten Stände ihre Ein¬
willigung zu allen diesen Zumuthungen, und
[76] beharrten auf ihrem Entschlusse, selbst nach¬
dem der Kaiser, zum höchsten Zorn gereizt,
das Conseil von Brabant und die Deputatio¬
nen der Stände kassirt und alle Rechte und
Privilegien der so genannten Joyeuse Entrée
oder des Grundvertrags zwischen ihm und
den Belgiern, förmlich widerrufen und ver¬
nichtet hatte. Hierauf erfolgte noch am
18. Junius (1789) die Aufhebung der Stän¬
de selbst, wie im Hennegau.
Eine so schnelle, so plötzliche Umstim¬
mung der Gemüther konnte nicht bloſs ei¬
nem Anfall von übler Laune beigemessen
werden; vielmehr muſste sie schon von fern¬
her vorbereitet gewesen seyn. In der That
hatte die Priesterschaft seit der Verschlie¬
ſsung der bischöflichen Seminarien das Volk
zur Aufkündigung alles Gehorsams unabläſsig
angefeuert. Überall hörte man jetzt gegen
die Person des Kaisers die gehäſsigsten Be¬
[77] schuldigungen des Unglaubens und der Ketze¬
rei. Der Erzbischof und Kardinal von Me
cheln fuhr fort, das Generalseminarium als
irrgläubig zu verdammen und den Professo¬
ren verfängliche Fragen vorzulegen. Diesem
Trotz folgte endlich die vom Minister dem
Prälaten angedrohete Strafe, ihn von allen
seinen Würden zu entsetzen, und die Zu¬
rückforderung der Ordenszeichen, womit die
verstorbene Kaiserin ihn beschenkt hatte.
Noch ungleich gefährlicher und ahndungs¬
werther muſste dem Generalgouvernement
das Betragen des Bischofs von Antwerpen
erscheinen, indem es diesem sogar Hausar¬
rest ankündigte. Wie kräftig die Ermah¬
nungen dieser Friedensapostel gewesen seyn
müssen, zeigt die fast unmittelbar darauf im
Volk hervorgebrachte Gährung. Der Pöbel
in Tirlemont, Löwen und Diest rottete sich
zusammen, plünderte die Häuser der Kaiser¬
[78] lichgesinnten nebst den landesherrlichen Kas¬
sen, und feuerte, unter Anführung der Mön¬
che, die ihnen das Beispiel gaben, auf die
daselbst in Besatzung liegenden Truppen.
Unstreitig trug die Fortdauer des Krieges
gegen die Türken, die den Kaiser nöthigte,
seine ganze Macht an den östlichen Gränzen
der Monarchie zusammenzuziehen, nicht we¬
nig dazu bei, die Niederländer so beherzt
zu machen. Der unvermuthete Umsturz der
monarchischen Verfassung in Frankreich,
welcher genau in diesen Zeitpunkt traf, ver¬
mehrte ebenfalls den Schwindel dieses miſs¬
geleiteten Volkes. Endlich hatte auch die
Eifersucht gewisser Europäischen Mächte ge¬
gen Joseph und seine groſse Bundesgenossin
sichtbaren Antheil an der Verwegenheit, wo¬
mit die Unterthanen des Kaisers in allen
seinen Staaten sich gegen seine Verordnun¬
gen auflehnten. Der Advokat Heinrich van
[79] der Noot negociirte heimlich im Namen des
Belgischen Volkes, dessen bevollmächtigten
Agenten er sich nannte, an einigen benach¬
barten Höfen, und körnte seine angeblichen
Commitenten mit erdichteten oder auch wirk¬
lich erhaltenen Versprechungen.
Unter allen diesen mitwirkenden Ursa¬
chen, die das Feuer der Empörung heimlich
anfachten, war keine dem Kaiser so wichtig
und so bedenklich, als die unbedingte Macht
der Geistlichkeit über die Meinungen des
Volkes. Er erkannte jetzt zu spät, daſs, die
Zeit allein etwa ausgenommen, nichts ver¬
mögend sei, den nachtheiligen Eindruck aus¬
zulöschen, den der Fanatismus in einem
abergläubischen Volke gegen ihn heraufzau¬
bern konnte. So lange die Reformen nur
die bürgerlichen Verhältnisse des Staats und
seiner Glieder betrafen, hatte man sich zwar
widersetzt, jedoch nicht aufgehört, den Lan¬
[80] desherrn zu ehren und alle Pflichten gegen
ihn zu erfüllen. Hingegen von dem Augen¬
blick an, wo die Priesterschaft seinen Glau¬
ben verdächtig machen und seinen Einrich¬
tungen den Anstrich gotteslästerlicher Ein¬
griffe in die Mysterien der Religion geben
konnte, verwandelte sich die Achtung seiner
Unterthanen in Abscheu und Haſs. Die
furchtbare Beschuldigung der Ketzerei hatte
noch jetzt in den Niederlanden dieselbe
Kraft, wie vor dreihundert Jahren im übri¬
gen Europa; sie lösete alle Bande der Pflicht
und der Menschheit, und raubte dem Be¬
schuldigten alle Rechte. Joseph empfand
also noch am Schlusse des achtzehnten Jahr¬
hunderts die ganze unwiderstehliche Gewalt
der theologischen Zauberformeln, die vor
Alters seine Vorfahren auf dem Kaiserthrone
so tief gedemüthigt hatten. Er empfand
vielleicht noch mehr; vielleicht schmerzte
ihn[81] ihn wirklich, in dem zerrütteten Zustande
worin sich seine ganze Organisation so kurze
Zeit vor ihrer Auflösung befand, die ver¬
lorne Liebe dieses verblendeten Volkes.
Das Glück der Unterthanen hatte ihm bei
allen seinen Reformen am Herzen gelegen;
sie hatten dieses Ziel verfehlt, und er nahm
sie zurück. Am 14ten August erschien
wirklich ein neues Edikt, wodurch die Uni¬
versität zu Löwen in alle ihre Gerechtsame
wieder eingesetzt und die bischöflichen Se¬
minarien von neuem eröffnet wurden. Allein
der Zeitpunkt, worin diese Handlung die
Gemüther hätte besänftigen können, war
verstrichen; das Zutrauen des Volkes war
dem Monarchen entrissen; eine leidenschaft¬
liche Erbitterung hatte sich aller Klassen be¬
mächtigt und sie alle gegen ihn unempfind¬
lich gemacht. Man schrieb der Ohnmacht,
der Furcht, der Verstellung eine Nachgie¬
II. Theil. F[82] bigkeit zu, woran diesesmal die Güte wirk¬
lich Theil gehabt haben konnte; und im
Taumel der Freude über diesen Triumph
fing man an zu glauben, das Volk dürfe nur
wollen, um von seinem Herzog unabhängig
zu seyn.
Die demokratische Partei blieb bei dieser
Lage der Sachen nicht unthätig. Der Ad¬
vokat Vonk entwarf den berühmten Plan
einer Association, die er pro aris et focis
nannte, und wozu er sich nur mit sieben
anderen Verschwornen (Verlooy, Torfs,
Kint, Wenmals, Daubremez, Fisco und Har¬
di) verband. Diese beeidigten jeder anfang¬
lich sieben bis zehn neue Mitglieder, welche
wieder andere aufnahmen, und so ging es
fort ins Unendliche. Jeder Verschworne
gab sich einen Namen, den er auf eine
Karte schrieb; derjenige, der ihn aufgenom¬
men hatte, schrieb den seinigen dazu, und
[83] lieſs die Karte auf diese Art an die ursprüng¬
lichen Häupter des Bundes gelangen. Sol¬
chergestalt übersahen diese auf einen Blick
die Anzahl der Verbündeten, und auſser
ihnen wuſste niemand den ganzen Zusam¬
menhang der Verschwörung. Städte und
Dörfer wurden auf diesem Wege zu einem
gemeinschaftlichen Zwecke vereinigt; man
leitete alles dahin ein, zu gleicher Zeit im
ganzen Lande durch eine gewaltsame und
plötzliche Anstrengung die Macht des Kai¬
sers zu bezwingen, ohne zuvor das geringste
von diesem Vorhaben ahnden zu lassen. So
wurden zu Mecheln dreitausend Menschen
in drei Tagen für die Association gewonnen;
ganz Löwen gehörte in acht Tagen dazu;
in den anderen Städten von Brabant und
Hennegau warb man ebenfalls die Majorität
der Einwohner an.
Fast zu gleicher Zeit beschloſs die patrio¬
F 2[84] tische Versammlung in Brüssel, an den Grän¬
zen der Niederlande ein kleines Heer zu
versammlen. Wer für das Vaterland die
Waffen ergreifen wollte, ward heimlich in
die Gegend von Hasselt im Lütticher Ge¬
biete geschickt und dort aus einer Kasse,
wozu die reichen Klöster und Abteien, die
Kaufleute von Antwerpen und andere Pri¬
vatpersonen groſse Summen gaben, bis zur
gelegenen Zeit unterhalten. In der Hollän¬
dischen Gränzstadt Breda und ihrer Nach¬
barschaft versammelte sich ein zweiter Haufe
von Flüchtlingen, den die patriotische Ver¬
sammlung zu Brüssel in der Folge ebenfalls
in Sold nahm. Van der Noot, dessen Voll¬
macht einige Mitglieder des Prälaten- und
des Bürgerstandes unterzeichnet hatten, fuhr
noch lange fort, sich zu schmeicheln, daſs
eine auswärtige Macht den Niederländern
Hülfstruppen bewilligen würde; doch end¬
[85] lich verschwand sowohl diese Hoffnung, als
die noch weniger gegründete auf Französi¬
schen Beistand.
So kühn und wohl ersonnen diese Maaſs¬
regeln scheinen mögen, so wenig hätten sie
gleichwohl gegen sechzehntausend Mann re¬
gulärer Truppen vermocht, welche d'Alton
in den Niederlanden kommandirte. Allein
zu den Unglücksfällen, welche die letzten
Monate von Josephs Regierung bezeichneten,
gehörte vorzüglich auch dieser, daſs unter
seinen Bevollmächtigten der Geist der Zwie¬
tracht herrschte. Die unumschränkte Macht
des Ministers Trautmannsdorf muſste ihn bei
denen verhaſst machen, die sich durch ihn
von einem wirksamen Antheil an der Re¬
gierung ausgeschlossen fühlten; es konnte
sogar das Interesse einiger Mitglieder des
Gouvernements geworden seyn, den Unter¬
nehmungen der Niederländer den glücklich¬
F 3[86] sten Erfolg zu wünschen, so lange nicht die
gänzliche Unabhängigkeit, sowohl der Sache
als dem Namen nach, der letzte Endzweck
der Insurgenten war. Das Miſsverständniſs
zwischen dem General und dem Minister
hatte den Punkt erreicht, wo man so leicht
die Pflichten gegen den Staat und den Lan¬
desherrn aus den Augen setzt, um den Ein¬
gebungen des Hasses und der Privatrache zu
folgen. Trautmannsdorf erhielt beständig
die freundschaftlichsten Ministerialversiche¬
rungen von dem Gesandten der Generalstaa¬
ten, daſs seine Souveraine keinen Antheil
an den Bewegungen der Niederländer näh¬
men, und affektirte daher, die bedenklichen
Nachrichten, die ihm d’Alton von Zeit zu
Zeit einschickte, für unbedeutend zu halten.
Es war indeſs nicht zu läugnen, daſs die
Belgischen Flüchtlinge zu Breda unter der
Hand allen Vorschub erhielten, der nicht
[87] für einen offenbaren Friedensbruch gelten
konnte. Die Generalstaaten weigerten sich
auch, den Niederländischen Emissar van
der Noot, der sich im Haag aufhielt, auf
Ansuchen des Kaiserlichen Gesandten, aus¬
zuliefern. Allein so lange die ganze Gefahr
eines Angrifs nur von einem so kleinen, so
schlecht gekleideten und bewaffneten, so
gänzlich undisciplinirten Haufen, wie der zu
Breda, herrühren sollte, war der Minister
zu entschuldigen, daſs sie ihm verächtlich
schien. Vielleicht schmeichelte auch seinem
Selbstgefühl der Gedanke, alles noch ohne
Zuthun des Feldherrn beilegen und beruhigen
zu können. So begreift man wenigstens,
warum er den Kaiser von dieser Möglich¬
keit bis auf den letzten Augenblick zu über¬
zeugen und ihn zu gütigen Maaſsregeln zu
stimmen suchte, indeſs er die kritische Lage
der Sachen entweder verhehlte oder selbst
F 4[88] nicht in ihrem ganzen gefahrvollen Umfang
übersah Der Mann, der, im Gefühl seiner
ihm anvertrauten Vollmacht, zu seinen eige¬
nen Kräften leicht ein groſses Zutrauen fas¬
sen mochte, gab auch wohl eine Seite sei¬
nes Charakters Preis, die man benutzen
konnte, um ihn in seiner Täuschung zu er¬
halten. Die doppelte und schwer zu verei¬
nigende Absicht, dem Kaiser seine Provin¬
zen und sich selbst den ganzen Einfluſs sei¬
nes Postens zu sichern, ward unausbleiblich
eine Quelle schwankender, unzusammenhän¬
gender, widersprechender Handlungen, wel¬
che nur dazu dienten, der Nation die Schwä¬
che und innere Zerrüttung des Gouvernements
noch deutlicher zu verrathen.
Die Auswanderungen wurden indessen
immer häufiger, und erregten endlich die
Aufmerksamkeit der Regierung. Am 30ſten
September wurden sie bei Strafe des To¬
[89] des und der Einziehung der Güter verbo¬
ten. Bald darauf marschirte der General
Schröder mit einem ansehnlichen Detasche¬
ment nach Hasselt, um die daselbst ver¬
sammelten Insurgenten zu zerstreuen; allein
bereits am 6. Oktober hatten sich diese nach
den Städten und Dörfern des Holländischen
Brabants gezogen und machten nunmehr mit
dem zwischen Breda und Herzogenbusch ent¬
standenen Haufen ein Heer von vier- bis fünf¬
tausend Mann aus. Um die Geistlichkeit
auſser Stand zu setzen, diese Truppen fer¬
nerhin zu besolden und mit Kriegesmunitio¬
nen zu versehen, erschien am 13. Oktober
ein Edikt, welches die Einkünfte von zwölf
begüterten Abteien, Tongerloo, St. Bernhard,
Affligem, Gembloux, Villers, Vlierbeek, St.
Gertrud, St. Michael, Diligem, Grimbergen,
Everboden und Heylissem, sequestrirte und
einer kaiserlichen Administration unterwarf.
F 5[90]
Von allen Seiten liefen jetzt Denunciationen
gegen viele verdächtige Personen von allen
Ständen bei der Regierung ein. Vonk und
Verlooy entkamen aus Brüssel in dem Au¬
genblick, da man sich ihrer bemächtigen
wollte; einige von ihren Verbündeten waren
nicht so glücklich und geriethen in die Hände
ihrer Verfolger. Allmälig wurden sogar die
ersten Familien im Lande verdächtig gemacht.
Fünf Mitglieder der Staaten von Brabant,
die Grafen von Spangen, Lannoy, Duras,
Coloma und Prudhomme d'Hailly, kamen in
Verhaft; man bewachte die Herzoginnen von
Aremberg und von Ursel in ihren Pallästen,
und warf sowohl den Schriftsteller Linguet,
als den kaiserlichen Fiskal le Coq und den
Schweizer Secretan, Hofmeister der Söhne
des Herzogs von Ursel, ins Gefängniſs. Ganz
Brüssel erbebte von dem Gerüchte einer
Verschwörung, welche in ihren Wirkungen
[91] der Sicilianischen Vesper geglichen hätte;
eine Anzahl Häuser, hieſs es, sollten in die
Luft gesprengt, die Officiere der Besatzung,
die Glieder der Regierung und der Rech¬
nungskammer zu gleicher Zeit ermordet wer¬
den. Wie viel Wahres oder Erdichtetes in
dieser Beschuldigung lag, könnten nur die
Protokolle jener Zeit erweisen; allein was
auch immer die Ursache gewesen seyn mag —
dem Schweizer Secretan ward die Todesstrafe
zuerkannt; man schleppte ihn in das finstere
Behältniſs, wo überwiesene Missethäter die
Vollziehung ihres Urtheils abwarten müssen,
und erst nach einer zweimonatlichen Gefan¬
genschaft rettete ihn endlich die Revolution.
Alle Gefängnisse in Brüssel waren jetzt mit
Personen aus allen Ständen, mit Priestern,
Kaufleuten und Adelichen angefüllt, die man
insgesammt irgend eines Verbrechens wider
den Staat beschuldigte. Alles verkündigte die
[92] allgemeine Gährung, das gänzlich verlorne
gegenseitige Zutrauen und die nahe Ent¬
scheidung.
Die patriotische Armee setzte sich nun den
30. Oktober wirklich in Bewegung. Vonk
hatte ihr in der Person seines Freundes, des
ehemaligen kaiserlichen Obristen van der
Mersch, einen geprüften Führer erworben.
Ihre ersten Unternehmungen waren gegen
Turnhout und die unbesetzten Schanzen Lillo
und Liefkenshoek an der Schelde gerichtet.
Der General Schröder, der ihnen am 27. nach
Turnhout entgegenkam, hatte anfänglich ei¬
nigen Vortheil; als er aber in die Stadt ein¬
rückte, empfing man seine Truppen mit ei¬
nem heftigen Feuer aus den Fenstern und
von den Dächern, welches ihn nach einem
blutigen Gefechte zum Rückzug nöthigte.
Die Insurgenten verlieſsen jedoch freiwillig
alle diese Postirungen wieder, um von einer
[93] andern Seite, jenseits der Schelde, einen Ver¬
such auf Flandern zu wagen. Überall, wo
sie erschienen, verbreiteten sie ein kühnes
Manifest, welches van der Noot entworfen
und unterzeichnet hatte, worin sie den Kaiser
der Herzogswürde verlustig erklärten und
ihm allen Gehorsam förmlich aufkündigten.
Um diese Zeit hatte sich ein Ausſchuſs oder
Comité der Stände von Brabant nach Breda
begeben und dirigirte von dort aus die Ope¬
rationen des Patriotenheers. Hieher hatte
eine streifende Partei auch den Kanzler von
Crumpipen gefangen geführt, den jedoch die
Generalstaaten, auf Ansuchen des kaiserlichen
Chargé d'Affaires, wieder in Freiheit setzen
lieſsen.
Am 13. November ward Gent von den
Insurgenten besetzt, die sich nach einem
fürchterlichen viertägigen Kampfe, wobei ein
Theil der Stadt eingeäschert ward, in dieser
[94] Hauptstadt von Flandern behaupteten. Zu
gleicher Zeit erklärten sich alle Städte dieser
Provinz gegen den Kaiser. Die Wirkungen
der Vonkischen Verbrüderung äuſserten sich
plötzlich in allen Gegenden von Flandern,
Brabant und Hennegau; Bürger und Bauern
griffen zu den Waffen, und vertrieben oder
vertilgten die kaiserlichen Besatzungen. Van
der Mersch rückte jetzt zum zweitenmal an
der Spitze von fünftausend Mann aus den
Holländischen Gränzen bei Hoogstraaten in
Brabant ein. Die Bestürzung über die von
allen Seiten drohende Gefahr war bei den
Anhängern der kaiserlichen Partei in Brüssel
so groſs, daſs die Generalgouverneurs bereits
am 18. November die Stadt verlieſsen und
sich über Namur und Luxemburg nach Ko¬
blenz flüchteten. Verschiedene kaiserliche
Beamte, nebst einigen Personen vom hohen
Adel, folgten diesem Beispiel. Der Minister
[95] lieſs alle Gefängnisse in Brüssel, Antwerpen,
Löwen und Mecheln öffnen, und die Verhaf¬
teten, die sich in die Hunderte beliefen, von
welchem Range und Stande sie auch waren,
ohne alle Bedingung in Freiheit setzen; er
vernichtete am 20. das Generalseminarium
zu Löwen, den Stein des Anstoſses der Nie¬
derländischen Geistlichkeit; er widerrief am
21. im Namen des Kaisers das Edikt vom
18. Junius, stellte am 25. alle Privilegien
von Brabant in ihrem ganzen Umfange wie¬
der her, versprach eine allgemeine Amnestie,
dehnte sie am 26. auf alle Provinzen der
Niederlande aus, und verbürgte sich mit
seiner Ehre, daſs der Kaiser den ganzen In¬
halt aller dieser Deklarationen genehmigen
würde. Allein diese Maaſsregeln brachten
jetzt auch nicht die geringste Wirkung her¬
vor, und änderten nichts in dem entschlosse¬
nen Gange der Gegenpartei. Schon am 23.
[96]
November versammleten sich zu Gent die
Stände von Flandern, und am 25ſten be¬
schlossen sie vor allen übrigen Provinzen,
daſs der Kaiser aller Hoheitsrechte über die
Grafschaft Flandern verlustig sei, und daſs
den sämmtlichen Provinzen der Vorschlag
zu einer Niederländischen Union gethan wer¬
den solle.
Nachdem van der Mersch über Diest
und Tirlemont gegen Löwen vorgerückt war
und den General d’ Alton genöthigt hatte,
daselbst Vertheidigungsanstalten zu treffen,
nahm er am 29ſten seine Stellung bei Leau,
woselbst noch an eben dem Tage der
Oberste de Brou mit Friedensvorschlägen
eintraf. Am 2. December ward auf zehn
Tage ein Waffenstillstand geschlossen, den
van der Mersch auf zwei Monate zu ver¬
längern versprach, wofern die Stände von
Brabant zu Breda diese Verlängerung geneh¬
migen[97] migen würden. Der Minister schmeichelte
sich umsonst, auf diese Art zu neuen Un¬
terhandlungen Zeit zu gewinnen; weder die
Stände von Flandern, noch der Committé
von Breda wollte seine Vorschläge hören.
Der ganze Vortheil des Waffenstillstandes
blieb auf der Seite der Patrioten; sie hatte
man dadurch gleichsam förmlich anerkannt,
man hatte ihnen in dem deshalb aufgesetzten
schriftlichen Vergleiche diesen ehrenvollen
Namen zugestanden, und man lieſs ihnen
Zeit, ihre Armee durch Freiwillige und vor
allem durch die schaarenweise einkommen¬
den Überläufer aus dem kaiserlichen Lager
zu verstärken.
Die Entfernung der Generalgouverneurs,
die Nähe der patriotischen Armee, die Wich¬
tigkeit die man ihr durch einen erbetenen
Waffenstillstand gegeben hatte, endlich die
täglich auf einander folgenden Concessionen
II. Theil. G[98] des Ministers muſsten der Gegenpartei Muth
machen, alles zu unternehmen. Selbst die
Vorkehrungen, welche d'Alton zur Erhal¬
tung der Ruhe in der Stadt getroffen hatte,
dienten den Patrioten zur Erreichung ihres
Endzweckes.
Die Klöster, in denen die Truppen ein¬
quartiert lagen, boten die beste Gelegenheit
dar, sie zum Überlaufen zu gewinnen; man
druckte sogar den Schildwachen Geldstücke
in die Hand, nahm ihnen ihre Waffen ab,
und schaffte sie heimlich zur Stadt hinaus.
Das Miſsverständniſs zwischen ihrem General
und dem Minister ward den Östreichischen
Kriegern ein dringender Bewegungsgrund,
ihre Fahnen zu verlassen, und dahin über¬
zugehen, wo die Freigebigkeit der Patrioten
ihnen auſserordentliche Vortheile, und die
Klugheit der Maaſsregeln gröſsere Sicherheit
für ihr Leben bot. Am 7. December hatte
[99]Trautmannsdorf den Einwohnern die Auſsen¬
werke Preis gegeben, welche d’Alton kurz
zuvor hatte aufwerfen lassen, um die Stadt
vertheidigen und zugleich in Furcht halten
zu können. Von diesem Augenblick an ver¬
wandelte sich die Feigheit des Pöbels in
das entgegengesetzte Extrem des tollkühnen
Muths. Am 10. December ward in der
Hauptkirche zu St. Gudula für das Glück
der patriotischen Waffen eine feierliche
Messe celebrirt. Gegen das Ende des Got¬
tesdienstes steckte jemand die Nationalko¬
karde an seinen Hut, und hob ihn, allen
Anwesenden zum Signal, auf seinem Stock
in die Höhe. In wenigen Minuten trug Al¬
les in der Kirche, in wenigen Stunden Alles
in der Stadt die Kokarde.
In diesem furchtbaren Zeitpunkt der all¬
gemeinen Ungebundenheit konnte nur Ein
Gegenstand die Vorsorge des Gouvernements
G 2[100] erheischen; man muſste Brüssel vor seinem
eigenen Pöbel retten. Dahin war es aber
zwischen d’Alton und dem Minister gekom¬
men, daſs dieser die Stadt in den Händen der
Bürger sicherer glaubte, als unter dem Schutz
eines Militairs, dessen Treue durch wieder¬
holte Desertion von einer Stunde zur andern
verdächtiger, dessen Macht auch aus dem¬
selben Grunde immer unzulänglicher ward.
Am Abend gab daher Trautmannsdorf den
Bürgern ihre Waffen wieder; die Bürger¬
kompagnien zogen noch in derselben Nacht
auf die Wache, und am folgenden Tage ver¬
legte der General, nach einigen unbedeuten¬
den Scharmützeln, alle seine Truppen in die
höhere Gegend der Stadt. Der Waffenstill¬
stand war jetzt verstrichen; der Ausſchuſs
zu Breda hatte sich standhaft geweigert, die
vorgeschlagene Verlängerung zuzugestehen,
und d’Alton muſste befürchten, wenn er
[101] noch länger in Brüssel zögerte, dem General
van der Mersch in die Hände zu fallen.
Ein schneller Abzug rettete ihn vor einem
allgemeinen Aufstand und Angriffe des Vol¬
kes. Er eilte so sehr, daſs seine Krieges¬
kasse und drei Millionen an baarem Gelde
im königlichen Schatze zurückblieben. Die
Flucht des Ministers verrieth dieselben Symp¬
tome der Übereilung; erst als er schon zwei
Meilen von Brüssel entfernt war, erinnerte
er sich seines Versprechens an die auswär¬
tigen Minister, ihnen den Tag seiner Abreise
zu notificiren. Der Abend dieses merkwür¬
digen Tages, des 12. Decembers, ward in
Brüssel mit Freudenfeuern, Erleuchtungen
und andern Feierlichkeiten begangen, und
bereits am folgenden Morgen stellte man den
hohen Justizhof von Brabant wieder her.
An eben diesem Tage räumten die Kaiser¬
lichen die Stadt Mecheln, und am 14ten
G 3[102] zog van der Mersch wie im Triumph zu
Löwen ein. Namur ward von den Patrioten
besetzt und das sehr verminderte Heer des
Kaisers concentrirte sich, nachdem es alle
zerstreute Kommandos und alle Besatzungen
an sich gezogen hatte, in Luxemburg und
der umliegenden Gegend. Die miſslungenen
Versuche der Patrioten, etwas in freiem
Felde gegen diese geübten und disciplinirten
Veteranen auszurichten, bestätigten die Ver¬
muthung, daſs die bisherigen Fortschritte der
Niederländer nicht sowohl ihrer Tapferkeit
als vielmehr der Uneinigkeit unter den kai¬
serlichen Anführern, und ihren widerspre¬
chenden Maaſsregeln zugeschrieben werden
müſsten.
Am 18. December intonirte der Kardinal-
Erzbischof von Mecheln, der wahrend der
letzten Unruhen, indeſs man ihn in Frank¬
reich glaubte, bei einem Krämer in Brüssel
[103] versteckt geblieben war, ein feierliches Te
Deum in der Gudulakirche. Die Stände
von Brabant waren zugegen; der Advokat
van der Noot ward überall, als Befreier des
Vaterlandes, vom Pöbel im Triumph umher
geführt und bald hernach zum Minister der
Brabantischen Stände ernannt. In allen
Städten der abgefallenen Provinzen publicir¬
te man sein Manifest, und der ehrwürdigste
Name, den das achtzehnte Jahrhundert aus¬
gesprochen hat, der Name Franklin,
ward entheiligt, indem man diesen Priester¬
sklaven damit schmückte. Jetzt eilten De¬
putirte aus allen Provinzen nach Brüssel,
um einen allgemeinen Niederländischen
Congreſs zu bilden, welcher sich an die
Stelle des Souverains setzte und das groſse
Werk der Union am 11ten Januar 1790
vollendete. Die Vorschläge, die der Graf
von Cobenzl vom Kaiser mitbrachte, wur¬
G 4[104] den ungehört verworfen, und die neue
Macht der vereinigten Belgischen Staaten
schien einen Augenblick ihre Unabhängig¬
keit vom Habsburgischen Stamme behaupten
zu können.
[105]
XVII.
In Paris, wo das Bedürfniſs mit dem Publi¬
kum zu sprechen so allgemein, und der lei¬
dige Autortrieb so unüberwindlich ist, wird
nach Verhältniſs der Gröſse des Orts kaum
mehr geschrieben, als während der jetzigen
Periode in den Niederlanden. Die Pressen
überschwemmen täglich die Stadt mit einer
Ladung von Pamphlets und fliegenden Blät¬
tern, die man, so lange das Revolutionsfieber
währt, in allen öffentlichen Häusern begierig
verschlingt; und obgleich die herrschende
Partei nur solche Schriften duldet, die ihrer
eigenen Sache das Wort reden, so werden
dennoch unter der Hand von den Colpor¬
teurs auch die Aufsätze der so genannten
Vonkisten verbreitet. Seitdem wir uns in
Brüssel aufhalten, ist kein Tag hingegangen,
G 5[106] der nicht etwas Neues in dieser Art hervor¬
gebracht hätte; allein unter dem ungeheuren
Wuste von neuen politischen Controvers¬
schriften, den wir in den Buchläden an¬
sehen müssen, giebt es auch nicht ein ein¬
ziges Blatt, das den Stempel eines höheren,
über das Gemeine und Alltägliche auch nur
wenig erhabenen Geistes trüge. Plumpheit
im Ausdruck, der gewöhnlich bis zu Schimpf¬
wörtern hinuntersteigt, ein schiefer oder
vollends eingeschränkter Blick, ein mattes,
oberflächliches, einseitiges, abgenutztes Rai¬
sonnement, und auf der aristokratischen
Seite noch zu diesem allem ein blinder Fa¬
natismus, der seine Blöſse schamlos zur
Schau trägt — das ist die gemeinschaftliche
Bezeichnung aller Niederländischen Hefte
des Tages. Der Stil dieser Schriften ist un¬
ter aller Kritik; ein Franzose würde in dem
Schwall von Barbarismen kaum seine Sprache
[107] wiedererkennen. Ich wüſste nicht, was hier
eine Ausnahme verdiente; gewiſs nicht das
Manifest der Stände von Hennegau, das im¬
mer noch vor anderen gerühmt zu werden
verdient; nicht Linguets Vertheidigung der
Aristokratie, die so schal und dürftig ist,
wie der Gegenstand es mit sich bringt; nicht
die unzähligen Addressen an das Volk, und
die Briefe der verschiedenen Demagogen,
endlich auch nicht die Manifeste, Edikte
und Staatsſchriften des Congresses, der Stände
und ihrer Minister.
Unter dem Neuen von dieser Art, das
mir eben in die Hände fällt, ist aber eine
sehr ernsthafte Vorstellung bemerkenswerth,
wodurch man bei dem Congreſs auf die
Wiederherstellung des Jesuiten-Ordens in
den Niederlanden anträgt. (Mémoire à leurs
hautes et souveraines Puissances, Nosseigneurs
les Etats-unis des Pays Bas Catholiques, sur
[108] le rétablissement des Jésuites. 1790. 8. 48 S.)
Ihr Verfasser rügt die Illegalität der Proce¬
duren bei der Aufhebung des Ordens, und
erklärt das päbstliche Breve für nichtig und
null, sowohl was das göttliche, als das na¬
türliche, peinliche und geistliche Recht be¬
trift. Diesen Satz führt er sehr weitläuftig
und bündig aus; denn im Grunde ist wohl
nichts leichter, als der Beweis, daſs Macht
und Gewalt in diesem Falle die Stelle des
Rechts vertreten haben, wie wohlthätig auch
immer die Folgen für die Fortschritte der
Erkenntniſs gewesen sind. Merkwürdig ist
die Stelle, wo der Verfasser diesen Ausſpruch
von Pius VI anführt: ”indem man die Je¬
”suiten zerstörte, hat man alles zerstört;
”diese umgestürzte Säule ist die Hauptstütze
”des heiligen Stuhls gewesen.” (S. 41.)
Wenn diese Äuſserung so gegründet wäre,
als sie auffallend ist, so hat der heilige
[109] Stuhl in der That schon lange sehr unsicher
gestanden; denn dieser Orden, so viel Ver¬
dienst auch einzelne bessere Mitglieder des¬
selben besaſsen, war doch im Grunde, wie
alle übrige Mönchsorden, einzig und allein
auf die Dummheit der Nationen berechnet,
und sein Sturz selbst ist der überzeugendste
Beweis von der Geringfügigkeit der in ihm
vereinigten moralischen Kräfte, von dem
Mangel an Geist und an Ausbildung im
groſsen Haufen seiner Glieder. Nichts kann
daher den traurigen Zustand der Gemüths¬
kräfte in den Niederlanden anschaulicher
und nachdrücklicher schildern, als dieses so
lebhaft und dringend geäuſserte Bedürfniſs
des Jesuitischen Unterrichts. Man möchte
hier wirklich mit einem biblischen Ausdruck
ausrufen: „wenn das Licht, das in euch ist,
finster ist, wie groſs wird denn die Finster¬
niſs seyn!“
[110] Hier habe ich noch einen ähnlichen Fang
gethan. Ein gewisser Abbé Ghesquière hat
eben eine Notion succincte de l’ancienne con¬
stitution des Provinces Belgiques drucken las¬
sen, die ich Dir doch bekannt machen muſs.
Er ist in der That einzig, dieser Abbé; denn
er findet die Vorrechte der Niederländischen
Klerisei ganz klar im Tacitus aufgezeichnet.
Tacitus sagt im siebenten Kapitel seines
Aufsatzes über die Sitten der Deutschen, daſs
ihre Könige nicht unumschränkte Herrscher
waren (nec regibus infinita aut libera potestas.)
Also hatten die Belgier damals einen geist¬
lichen, adelichen und dritten Stand, deren
Repräsentanten die königliche Macht in
Schranken hielten! Wer wollte die Bün¬
digkeit dieses Schlusses antasten? Wer
wollte noch in Zweifel ziehen, was ein ge¬
lehrtes Mitglied der Seeländischen Akademie,
vermöge seiner seltenen Gewandheit in der
[111] Auslegungskunst, ergründet hat? Den Un¬
glauben hat er indeſs vorausgesehen, und
tritt mit einem zweiten Citat auf, hinter
welchem er unüberwindlich ist. Nicht erst
im Tacitus, im Julius Cäsar steht schon der
Beweis, daſs die Staaten von Brabant die
rechtmäſsigen Souverains dieses Landes sind.
Der König der Eburonen, Ambiorix, sagt
der erhabene Überwinder des Pompejus,
hatte nicht mehr Antheil an den öffentlichen
Entschlüssen und Unternehmungen, als die
Menge des Volkes. (Suaque ejusmodi esse
imperia, ut non minus haberet in se juris
multitudo, quam ipse in multitudinem.) Die
Eburonen waren bekanntlich Belgier; die
Belgier haben jetzt Bischöfe und Prälaten;
also hatten die Eburonen einen Klerus, der
zugleich erster Landstand war! Das ist
klar wie die Sonne! Und wer es nicht
glaubt, der sei Anathema zu Löwen und
[112] Douai und überall, wo man Beweise führt,
wie der fromme Bollandus!
Wenn es wahr wäre, daſs die Bataven
und Eburonen bereits vor Christi Geburt so
christliche Zuchtmeister hatten, so müſste
man aufhören sich über ihren treuherzigen
Glauben zu wundern, und vielmehr erstau¬
nen, daſs ihnen doch noch mancher Zug
von Menschlichkeit geblieben ist. In Ernst,
je mehr ich die Brabanter kennen lerne, desto
mehr söhne ich mich auch mit ihrer indo¬
lenten Gutmüthigkeit aus. Was Gutes an
ihnen ist, könnte man mit dem Dichter sa¬
gen, ist ihnen eigen; ihre Fehler und Mängel
fallen ihren Erziehern zur Last. Das Volk
ist bescheiden, gefällig, höflich, und selbst
dann, wenn es gereizt wird, in seinen lei¬
denschaftlichen Ausbrüchen noch menschlich
und schonend. Die Revolution hat diesen
Charakter in vielfältigen Beispielen bewährt.
Als[113]
Als die Generalgouverneurs flohen, der Mi¬
nister und der Feldherr des Kaisers durch
bewaffnete Bürger vertrieben wurden, blie¬
ben ihre Häuser unberührt; niemand ver¬
suchte, niemand drohete, sie zu zerstören,
oder auch nur auszuplündern. So oft man
es auch dahin zu bringen wuſste, daſs die
niedrigsten Volksklassen in der furchtbaren
Gestalt von Aufrührern erschienen und mit
allgemeiner Zerstörung droheten; so selten
sind gleichwohl die Fälle, wo ihrer Wuth
ein Mensch geopfert ward. In dem Aufruhr
vom 16. März dieses Jahres erbrach der Pö¬
bel fünf Häuser von der demokratischen
Partei, und plünderte sie; dies war das ein¬
zige Beispiel von Zügellosigkeit seit dem
Anfange der Belgischen Unruhen. Allein
dies veranstaltete ein geringer Haufe von et¬
wa dreihundert zusammengerafften Menschen
aus den Hefen der Stadt; keinen von ihnen
II. Theil. H[114] trieb ein lebhaftes Gefühl von vermeintli¬
chem Unrecht dazu an, sondern listige An¬
führer hatten sie durch Bestechungen und
Verheiſsungen bewogen, eine Plünderung zu
unternehmen, wobei für sie sehr viel zu ge¬
winnen und wenig oder nichts aufs Spiel
zu setzen war. Dieser verworfene Haufe
hätte dennoch die Wohnung des Kaufmanns
Chapel gänzlich verschont, wenn nicht in
dem Augenblick, da eine beredte Stimme
sich zu seinem Vortheil hören lieſs, an sein
Verdienst um seine Mitbürger erinnerte und
bereits Eindruck zu machen anfing, drei
Franciskanermönche, die sich in der Mitte
des Tumults befanden, die Umstehenden an¬
gefeuert hätten, den Mann, der ihre Partei
nicht hielt, zu bestürmen. Ein Ältester von
einer der neun Gilden, Chapels Nachbar,
fiel jetzt über dessen Vertheidiger her, warf
ihn zu Boden, und lieſs das Volk, nach sei¬
nem Beispiel, ihn zertreten.
[115]
Vor den Schreckbildern des gegenwärti¬
gen Zeitpunkts verfärben sich allerdings die
Sitten; sie bekommen einen Anstrich von
Miſstrauen, Zurückhaltung und Strenge. Die
Unsicherheit der politischen und bürgerlichen
Existenz bringt diese Erscheinungen da her¬
vor, wo sonst die Üppigkeit ihren Wohnsitz
aufgeschlagen zu haben schien. Die Freu¬
den der Tafel sind verschwunden, alle Ar¬
ten von Pracht und Aufwand eingestellt;
genau, als ob man zu wichtigeren Bedürf¬
nissen Mittel aufsparen müſste oder durch
eitles Gepränge die Augen des Volkes jetzt
nicht auf sich ziehen möchte. Nur Ein Ar¬
tikel der hier im Schwange gehenden Aus¬
schweifungen konnte keine Verminderung
leiden, weil die einzige Subsistenz einer all¬
zu zahlreichen Klasse von Unglücklichen
darauf beruhet. Auch die Folgen der gar zu
ungleichen Vertheilung der Güter, Armuth
H 2[116] und Bettelei, muſsten in ihrer ganzen Wi¬
drigkeit sichtbar bleiben; die Zahl der Bett¬
ler steigt, wie die Zahl der Mädchen, die
ihre Reize feil bieten, bis in die Tausende.
Wahrscheinlich auch in Beziehung auf jene
despotischen Naturtriebe, die sich durch eine
politische Revolution nicht so leicht, wie
andere Gattungen des Luxus, bannen lassen,
ist die Zahl der Modehändlerinnen hier so
auſserordentlich groſs; ich erinnere mich
nicht, einen Ort gesehen zu haben, Paris
nicht ausgenommen, wo die zum Verkauf
und zur Verfertigung des Putzes dienenden
Kramläden in allen Straſsen so zahlreich wä¬
ren. Das schöne Geschlecht in Brüssel ver¬
dient vielleicht auch den Vorwurf, daſs es
sich durch öffentliche Unruhen und Calami¬
täten in den wichtigen Angelegenheiten der
Toilette und des Putzes nicht irre machen
Iäſst. Allein ich fange jetzt an, unter der
[117] wohlhabenden Klasse einige hübsche Ge¬
sichtchen zu entdecken, denen man diese
Schwachheit verzeiht; ich sehe einige schlan¬
kere Taillen, einige Blondinen von höherem
Wuchs. Nur vermiſst man den Promethei¬
schen Feuerfunken in ihrem Blick; diese
schönen Automaten können nur sündigen
und beten.
Phlegma und überall Phlegma! Ich be¬
haupte sogar, daſs sich dieses charakteristi¬
sche Phlegma in den Spielen der Kinder auf
den Straſsen wahrnehmen läſst. Wenigstens
ist es merkwürdig, daſs wir bisher in allen
Brabantischen Städten, wo wir gewesen sind,
ohne Ausnahme, die Mädchen von sieben
bis dreizehn Jahren jeden Abend denselben
Zeitvertreib vornehmen sahen; es war das
bekannte Hüpfen über ein Seil, welches
man sich im Kreise über den Kopf und
unter den Füſsen wegschwingt. Bald schwang
H 3[118] jede ihr Seil für sich allein; bald waren es
zwei, die ein längeres Seil um eine dritte
bewegten. Diese lebhafte Bewegung ist ver¬
muthlich eine Wirkung des Instinkts, der
für die Erhaltung eines Körpers wacht, in
welchem sonst die Spontaneität fast gar nicht
bemerklich ist. Eine weit allgemeinere Er¬
fahrung lehrt, daſs gerade die trägsten Kin¬
der, wenn sie einmal in Bewegung sind, am
längsten und heftigsten toben. Ich erinnere
mich nicht, in Brabant einen Knaben bei
diesem Spiele gesehen zu haben, und auch
das ist eine Bestätigung meiner Hypothese.
Bei den Erwachsenen ist diese Langsam¬
keit des Temperaments nicht zweifelhaft;
allein sie äuſsert sich am stärksten in Ab¬
sicht auf den Gebrauch der Vernunft. Oft
haben wir uns über die gleichgültige Ruhe
gewundert, womit die Brabanter in die Zu¬
kunft sehen. Die Möglichkeit eines Östrei¬
[119] chischen Angrifs scheint ihnen verborgen zu
seyn, und fast durchgehends werfen sie jetzt
den Gedanken von der Unentbehrlichkeit ei¬
nes auswärtigen Beistandes sehr weit weg.
Vorgestern, als ein Gerücht sich verbreitete,
daſs Preuſsische Truppen von Lüttich nach
Huy marschirten, in der scheinbaren Absicht,
sich Luxemburg zu nähern, entstand eine
allgemeine Miſsbilligung dieses Schrittes; so
wenig Begrif hatte man von der Wichtigkeit
einer Cooperation dieses mächtigen Nach¬
bars mit ihnen gegen ihren ehemaligen Lan¬
desherrn. Von den politischen Gesprächen
der hiesigen gesellschaftlichen Kreise läſst
sich, nach dem bisher Gesagten, wenig mehr
als Ungereimtheit erwarten. Die Französi¬
sche Dreistigkeit, über solche Gegenstände
ein eignes Urtheil zu fällen, zeugt wenig¬
stens, auch wenn es ungehirnt genug klin¬
gen sollte, von einer gewissen eigenthümli¬
H 4[120] chen Beweglichkeit der Geisteskräfte. Hier
hingegen merkt man es jedem Wort und
jeder Wendung an, daſs diese Kräfte bisher
brach gelegen haben. Könnte man die ver¬
schiedenen Urtheile jedesmal bis an ihre
Quelle verfolgen, so würde sichs ausweisen,
daſs sie alle in drei oder vier Köpfen von
der einen oder der andern Partei, ja, was
noch merkwürdiger ist, zum Theil in frem¬
den Köpfen entstanden sind. Die gewöhn¬
liche Gewandheit in Vertheidigung, selbst
angenommener Meinungen, die von einigem
Nachdenken unzertrennlich ist, vermissen
wir hier in einem kaum glaublichen Grade.
Die Eingebungen sind so kenntlich, daſs
man den Hauch zu bemerken glaubt, mit
dem sie aus einem Kopf in den andern
übergingen. Die Verfechter der Stände, bei
weitem die zahlreichste Partei, führen nur
die alte Verfassung und die Joyeuse Entrée
[121] im Munde; sie sträuben sich heftig gegen
die Freiheit, und kennen kein gröſseres Übel,
als eine Nationalversammlung. Umsonst
versucht man es, ihnen begreiflich zu ma¬
chen, daſs zwischen einer oligarchischen Ty¬
rannei und einer Französischen Demokratie
noch ein drittes, eine verbesserte Repräsen¬
tation des Volkes, möglich sei: sie denken
nichts bei den Ausdrücken, auf welche sie
geschworen haben, und desto gewissenhafter
beharren sie darauf. Allein, man glaube ja
nicht, daſs es der blinden Nachbeter in der
andern Partei wenigere giebt. Neulich hörte
ich einen eifrigen Demokraten sehr ernsthaft
behaupten: die neuen Belgischen Staaten
könnten das aristokratische System nicht be¬
halten, — weil es schon in Holland ange¬
nommen sei. Also hätte sein Vaterland
nach dieser Logik am Ende gar keine Re¬
gierungsform bekommen müssen; denn un¬
H 5[122] ter den angränzenden Staaten giebt es auch
schon Demokratien und Despotien! In dem
heftigen Wortstreit, den man fast täglich an
öffentlichen Orten hören kann, werfen die
Parteien einander, und wie es scheint mit
Recht, gänzlichen Mangel an Grundbegriffen
vor; das heiſst: aus Erfahrung kennen sie
einander genau; doch damit ist dem Übel
nicht abgeholfen. Es ist indeſs unläugbar
ein gewisser Enthusiasmus vorhanden, der
nur darum fremden Impulsionen folgt, weil
er mit einer so ungewöhnlichen Leere der
Phantasie, und einer gänzlichen Unfähigkeit,
sich nach eigener Einsicht zu bestimmen,
verbunden ist.
Dieser Mangel an Spontaneität ist nirgends
offenbarer, als in dem entschiedenen Siege
der Aristokraten über die demokratische
Partei. Van der Noot, der auch in Brabant
den Ruf eines mittelmäſsigen Kopfes hat,
[123] war gleichwohl schlau genug, gleich bei der
Gründung der Belgischen Unabhängigkeit
diese Wendung vorauszusehen. Seine Ta¬
lente machten ihn dort unentbehrlich, wo
sie, wie er wuſste, immer noch ohne Riva¬
lität hervorleuchteten; allein sie hätten ihn
nicht gerettet, wenn er es gewagt hätte, sich
dem alles hinreiſsenden Strome des geist¬
lichen Einflusses zu widersetzen. Um an
der Spitze zu stehen, und alles, wenn nicht
dem Namen nach, doch in der That zu len¬
ken, muſste er also zu dieser Fahne schwö¬
ren. Der Groſspönitenziar von Antwerpen,
der so berüchtigte van Eupen, ein Bonze
vom gemeinsten Schlage, dessen ganze Su¬
periorität in niedriger Verschmitztheit und
heimlichen Ränken besteht, ward sein Ver¬
trauter und Gehülfe. Der schwache Kardi¬
nal war alles was man wollte in jedermanns,
und blieb es folglich auch in ihren Händen.
[124]
Die einzelne Stimme des Bischofs von Ant¬
werpen, eines Prälaten, dem man Einsicht
und Festigkeit des Charakters zuerkennt, ver¬
hallt ungehört im Fauxbourdon einer Majo¬
rität von Mönchen, die im Gefühl ihrer Ta¬
lentlosigkeit Alles der Anordnung ihrer Mi¬
nister überlassen und nur dafür sorgen, daſs
ihr heiliges Interesse auf jedem Votum zu¬
oberst schwimmt.
Bei allen Vortheilen, in deren Besitz die
Partei der Stände sich behauptet hat, bietet
indeſs dieses unglückliche Land, und vorzüg¬
lich die Hauptstadt, dennoch das Schauspiel
der innerlichen Zerrüttung dar. Das man¬
nichfaltig verschiedene Interesse der Einwoh¬
ner; die Verbitterung, die bei den Siegern
vom Widerstand, bei den Besiegten vom Ge¬
fühl des erlittenen Unrechts herrührt; die
Eifersucht, womit ein Nachbar den andern
belauscht; die Hinterlist, wovon die Stände
[125] selbst das Beispiel geben; die Hoffnung end¬
lich, welche den Bedrückten noch immer
neuen Zunder giebt und sie auf eine glück¬
lichere Zukunft vertröstet: — dies Alles
wirkt zusammen, um den Niederländern die
Früchte ihrer Anstrengung zu rauben und
vielleicht in kurzem wieder den Schatten ei¬
ner Unabhängigkeit zu entreiſsen, dessen
Wesen sie noch nicht besitzen. So empö¬
rend auch die Anmaſsung der Brabantischen
Stände scheinen muſste, die sich die gesetz¬
gebende und die ausübende Macht zugleich
zugeeignet haben, so unglücklich scheint der
Zeitpunkt gewählt, die Rechtmäſsigkeit ihrer
Forderungen zu untersuchen oder die Ver¬
fassung neu zu organisiren. Innere Einig¬
keit und festes Zusammenstimmen zum ge¬
meinschaftlichen Zwecke der Erhaltung konn¬
te ganz allein das Zutrauen der auswärtigen
Mächte gewinnen, und die Anerkennung
[126] ihrer Unabhängigkeit beschleunigen. Tren¬
nung und Zwietracht können allein dem
Östreichischen Hofe den Weg zur Wieder¬
eroberung der Niederlande bahnen. Nicht
umsonst bemerkt man hier noch geheime
Emissarien von verschiedenen mächtigen Hö¬
fen, statt der öffentlich akkreditirten Ge¬
sandten, die mit den Generalgouverneuren
fast zu gleicher Zeit verschwunden sind.
Von einigen Mächten gehen sogar mehrere
Personen mit verschiedenen und zum Theil
entgegengesetzten Aufträgen herum; Kanzel¬
listen, Kaufleute, Juden korrespondiren auf
verschiedenen Wegen mit demselben Mi¬
nister, in so fern er hier die aristokratische
Partei, dort die Patrioten, und noch an ei¬
nem dritten Orte eine dritte Klasse von po¬
litischen Sektirern sondiren läſst. Die Ver¬
einbarung der Moral mit der Politik der
Kabinette, deren Möglichkeit ich nicht be¬
[127] zweifeln will, ist wenigstens bis jetzt noch
immer Spekulation geblieben, wenn man
nicht etwa in dem hohen Grade Neuling
ist, die öffentlichen Protestationen von Red¬
lichkeit der Absichten, und die Lobsprüche,
die mancher Hof, mancher Fürst, manches
Departement sich selbst ertheilt, für baare
Münze zu nehmen. Thöricht wäre es also,
glauben zu wollen, daſs irgend ein Europäi¬
sches Kabinet die Ausnahme machen, und
allein in einem Spiele, wo es darauf an¬
kommt nach der Regel zu gewinnen, eine
zwecklose und ihm selbst nachtheilige Groſs¬
muth ausüben werde. Ich erhalte hier
Winke und Aufklärungen, die es auſser al¬
lem Zweifel setzen, daſs sowohl von einem
auswärtigen Erbstatthalter des katholischen
Belgiens, als auch von einem unabhängigen
Belgischen Herzoge, aus der Mitte des Nie¬
derländischen Adels, zu seiner Zeit sehr
[128] ernsthaft die Rede gewesen ist. Allein die
Auftritte vom 15. bis 19. März, zusammen¬
genommen mit dem, was eben jetzt bei der
Armee in Namur vorgeht, müssen, für den
gegenwärtigen Zeitpunkt wenigstens, den
Eifer der Nachbaren, sich, in die Belgischen
Angelegenheiten zu mischen, bis zur Gleich¬
gültigkeit abkühlen.
Auſser den Anhängern der Stände und
der Geistlichkeit, auſser den Freunden der
Demokratie, die aber durch die vorgestern
erfolgte Entwafnung des Generals van der
Mersch den empfindlichsten Stoſs erlitten
haben, giebt es hier noch eine starke kai¬
serliche Partei, wozu besonders die reich¬
sten Banquiers und Handlungshäuser gehö¬
ren. Bisher blieben sie hinter der Larve
der Demokratie versteckt; allein jetzt ist es
gar nicht unwahrscheinlich, daſs selbst die
eifrigsten Freunde der Volksfreiheit lieber
mit[129] mit den Royalisten die Wiederkehr des alten
Systems zu befördern suchen, als unter dem
eisernen Zepter der Stände länger geduldig
leiden werden. Diese Gesinnung ist wenig¬
stens bei allen Freunden der hohen Häuser
Aremberg und Ursel offenbar; sie geben sich
kaum noch die Mühe, sie zu verhehlen.
Diese beiden Häupter des Niederländischen
Adels haben sich jederzeit standhaft gegen
die Usurpation der Stände erklärt und die
Volkspartei mit Enthusiasmus ergriffen; nie
haben sie den Ständen den Huldigungseid,
wozu man sie bereden wollte, abgelegt, und
der flüchtige Gedanke einiger Patrioten, die¬
ser Familie den Belgischen Fürstenhut zu
ertheilen, so fern er auch von der Ausfüh¬
rung war, beruhte wenigstens auf einer wirk¬
lichen Anerkennung ihrer persönlichen so¬
wohl, als ihrer angestammten Vorzüge.
Der Herzog von Ursel diente im kaiser¬
II. Theil. I[130] lichen Heere vor Belgrad und Orsova. Als
die Revolution ausbrach, suchte der Kaiser
ihn durch die schmeichelhafteste Begegnung
zu gewinnen; allein umsonst. Der Herzog
schlug alle Gnadenbezeigungen aus, eilte
nach Brüssel, entsagte allen seinen militä¬
rischen Verhältnissen, und schickte seinen
Kammerherrnschlüssel zurück. Die Stände
übergaben ihm das Kriegsdepartement, indem
sie ihm den Vorsitz darin ertheilten; sobald
er aber merkte, daſs ihre Minister es sich
anmaſsten, auch hier ohne sein Vorwissen
Verfügungen zu treffen und ihn von aller
eigenen Wirksamkeit auszuschlieſsen, (wovon
die Ernennung des Generals von Schönfeld
zum zweiten Befehlshaber der Armee das
auffallendste Beispiel war;) resignirte er so¬
gleich seinen Posten, und erklärte sich bald
hernach, wie sein Schwager der Herzog von
Aremberg, für die demokratische Partei. Am
[131] 8. März, bei der Ablegung des Eides, des¬
sen Abfassung die Parteien heftig erbittert
hatte, bis endlich eine von beiden Seiten
gebilligte Formel angenommen ward, erwähl¬
ten die Freiwilligen von Brüssel den Herzog
von Ursel mit einstimmiger Akklamation zu
ihrem Generalissimus, und zum Zeichen des
Friedens umarmte ihn van der Noot auf öf¬
fentlichem Markte. Allein am 16ten, als
der Herzog in die Versammlung der Stände
ging und Vollmacht forderte, um die Ruhe
in Brüssel wieder herzustellen, erhielt er die
stolze Antwort, es würde schon ohne sein
Zuthun geschehen; und als er vor etlichen
Tagen mit dem Grafen la Marck nach Na¬
mur reisete, um die Armee unter van der
Mersch zu besänftigen, wurden beide in Ver¬
haft genommen, sobald es dem General von
Schönfeld gelungen war, sich Namurs zu
bemeistern. Man ist noch ungewiſs, ob er
I 2[132] sie mit dem General van der Mersch hieher
nach Brüssel schicken werde, oder nicht.
Dies ist ein Beispiel der Eifersucht, die
es den beiden Freunden, van der Noot und
van Eupen, zur wichtigsten Angelegenheit
macht, jeden gröſseren Mann, es koste was
es wolle, vom Ruder entfernt zu halten.
Der Wettstreit mit der demokratischen Par¬
tei, in welchem sie die Oberhand behielten,
giebt hiervon noch einen vollständigeren Be¬
grif, und beweiset zugleich, wie tief das
Volk gesunken seyn muſs, dem bei einer
allgemein bekannten Ruchlosigkeit in der
Wahl der Mittel, die Augen über das Be¬
tragen dieser herrschsüchtigen Menschen
dennoch nicht aufgegangen sind. Die Uni¬
onsakte war kaum unterschrieben, die Un¬
abhängigkeit der Provinzen kaum feierlich
angekündigt worden, als der Ausſchuſs der
Stände schon die Versammlungen der patrio¬
[133] tischen Gesellschaft, der man den glückli¬
chen Erfolg der Revolution fast einzig ver¬
dankte, unter dem Vorwande der Gehäſsigkeit
und Gefahr geheimer Zusammenkünfte ver¬
bieten wollte. Allein damals trotzte die Ge¬
sellschaft auf ihre gute Sache: „Den Tag
und die Stunde,“ lieſs man dem Committé
zur Antwort sagen, „wird öffentliche Sitzung
gehalten; alle ruhige Bürger, alle Freunde
des Vaterlandes dürfen zugegen seyn und
die Berathschlagungen mit anhören, die nur
das allgemeine Wohl zum Ziele haben.“
Der Vorwurf des Geheimnisses traf also
nicht eine Gesellschaft, welche aus den
Banquiers und reichen Kaufleuten, aus dem
ganzen nicht repräsentirten Adel, aus den
Bürgern mehrerer Städte, verschiedenen Mit¬
gliedern des dritten Standes von Brüssel,
und den vornehmsten Advokaten dieser Stadt
bestand.
I 3[134]
Allerdings hatte die Aristokratie wohl
Ursache, gegen diese Gesellschaft die heftig¬
sten Maaſsregeln zu ergreifen, wenn sie sich
in ihrer angemaſsten Oberherrschaft behaup¬
ten wollte. Den Patrioten gnügte es nicht,
den Kaiser vertrieben zu haben; sie wollten
Freiheit in den Niederlanden, nicht die alte
Tyrannei unter einem neuen Namen. In
dieser Absicht entwarfen sie eine Bittschrift
an die Stände, welche bald von zwölfhun¬
dert der angesehensten Männer in der Pro¬
vinz unterzeichnet ward. Sie stellten ihnen
darin die Nothwendigkeit vor, nach dem
Beispiele der Stände von Flandern die Sou¬
verainität des Volkes feierlich anzuerkennen,
die Finanzadministration zu verbessern und
die Lasten des Volkes zu erleichtern, das
Kommerz zu beleben, die Armee zu organi¬
siren, die Preſsfreiheit zu bewilligen, und
alle Stellen und Ämter nur ad interim,
[135] bis zur Versammlung der Nation, zu be¬
setzen.
Nie hatten die Forderungen Josephs des
Zweiten dem Ansehen der Stände furchtba¬
rer gedrohet, als diese Bitten jetzt zu drohen
schienen, denen Vonk in seinen Considéra¬
tions impartiales sur la position actuelle du
Brabant durch unumstöſsliche, mit Beschei¬
denheit und Mäſsigung vorgetragene Gründe,
den gröſsten Nachdruck verlieh. Der erste
und fruchtbarste Gedanke, den van der
Noot und seine Gehülfen diesem patrioti¬
tischen Vorhaben entgegensetzten, war na¬
türlicherweise der, daſs man suchen müſste,
den Eindruck jener billigen und vernünfti¬
gen Vorstellungen durch den Einfluſs der
Geistlichkeit auf die Gemüther zu verwi¬
schen, indem man jede Neuerung unter den
jetzigen Umständen als gefährlich und feind¬
selig gegen das Vaterland schildern lieſse.
I 4[136] Es ward sogleich ein Cirkularschreiben an
alle Pfarrer im ganzen Lande erlassen, worin
man ihnen anbefahl, eine Gegenaddresse an
die Stände, welche auf Bestrafung der Neue¬
rer und Störer der öffentlichen Ruhe drang,
in ihren Kirchspielen unterzeichnen zu las¬
sen. Zwei Brabantische Officiere reiseten
mit dieser Addresse im ganzen Lande um¬
her, und bedienten sich allerlei unerlaubter
Mittel, und sogar der Gewalt, um Unter¬
schriften zu erzwingen. Der Kanonikus du
Vivier, Sekretär des Kardinals, arbeitete mit
einem frommen Eifer zu demselben Zweck;
und solchergestalt brachte man in kurzer Zeit
die Namen von viermal hunderttausend Bra¬
bantern zusammen, welche diese Gegenad¬
dresse unterstützten.
Durch diese Spiegelfechterei lieſs sich in¬
deſs die patriotische Gesellschaft nicht irre
machen; vielmehr setzte sie ihre Versamm¬
[137] lungen fort, und bemühte sich, ihre repu¬
blikanischen Grundsätze in ein helles Licht
zu stellen. Die sechs Kompagnien von Frei¬
willigen, welche zu den fünf so genannten
Sermens oder Bürgerinnungen von Brüssel ge¬
hörten, und keinesweges die Oberherrschaft
der Stände begünstigten, waren vielleicht den
Aristokraten vor allen übrigen Einwohnern
furchtbar, weil sie die Waffen trugen und die
Sicherheit der Stadt ihnen allein anvertrauet
war. Sie durften nur wollen, und die ganze
oligarchische Tyrannei verschwand. Um sich
ihrer zu versichern, ward ihnen am 6. Fe¬
bruar ein Eid deferirt, den sie den Ständen,
als ihrem rechtmäſsigen Landesherrn, leisten
sollten. Eduard von Walkiers, ein reicher
Banquier, der unter der vorigen Regierung
den Titel eines Vicomte erhalten hatte, wi¬
dersetzte sich dieser Zumuthung als Ältester
(doyen) der Innung von St. Sebastian und
I 5[138] Chef der einen zu dieser Innung gehörigen
Compagnie von Freiwilligen. Auch die übri¬
gen Compagnien weigerten sich, diese Ei¬
desformel anzunehmen, die ihre Absicht gar
zu deutlich an der Stirne trug. Van der
Noot sah sich also genöthigt, einen günsti¬
geren Zeitpunkt abzuwarten.
Mittlerweile kehrte der Herzog von Arem¬
berg aus dem südlichen Frankreich in sein
Vaterland zurück, und nahm am 10ten von
den sämmtlichen Freiwilligen, die auf dem
groſsen Platze vor dem Rathhause versam¬
melt waren, den Ehrennamen ihres Élu des
élus (Erwählten der Erwählten) unter lauten
Freudensbezeugungen des Volkes an. Am
folgenden Tage leistete er in dieser Eigen¬
schaft den Bürgerinnungen einen Eid, aber
nicht, wie man auch von ihm gefordert
hatte, den Ständen, deren Rechtmäſsigkeit er
zu gleicher Zeit in Zweifel zog. Ohne der
[139] patriotischen Gesellschaft förmlich beizutre¬
ten, billigte er nebst seinem Bruder, dem
Grafen de la Marck, nicht nur alle ihre
Schritte, sondern äuſserte auch bei mehreren
Gelegenheiten seine ausgezeichnete Hochach¬
tung für verschiedene Mitglieder dieses de¬
mokratischen Bundes und namentlich für den
Advokaten Vonk, den eifrigen Verfechter der
Volksfreiheit.
Von diesem Augenblick an erhob die
demokratische Partei das Haupt, und schien
sich mit groſsen Hofnungen zu schmeicheln.
Die patriotische Gesellschaft wählte Herrn
Vonk zu ihrem Präsidenten, sie wählte ei¬
nen Sekretär, sie führte nach dem Beispiel
ähnlicher Clubs in England und Frankreich
eine gewisse Ordnung ein, nach welcher ih¬
re Versammlungen gehalten wurden, sie ent¬
schied über die vorkommenden wichtigen
politischen Fragen durch Mehrheit der
[140] Stimmen, und lieſs die Generale van der
Mersch, de Rosières und Kleinberg durch ei¬
ne Deputation feierlich zum Beitritt einladen.
Alles schien zu erkennen zu geben, daſs sie
sich für eine Kopie der Französischen Na¬
tionalversammlung und vielleicht sogar für
das Vorbild einer Niederländischen angese¬
hen wissen wollte. Desto unglücklicher war
es für sie, wenn ihre Absichten wirklich
rein und auf das wahre Wohl des Vaterlan¬
des gerichtet waren, daſs ein unreifer Enthu¬
siasmus in einigen Köpfen brauste, und am
25. Februar, an dem Tage nachdem der
General van der Mersch ganz unverhoft in
Brüssel von der Armee eingetroffen war,
einen Auflauf bewirkte, wobei es auf nichts
geringeres als eine Gegenrevolution angese¬
hen schien. Ein dunkles Gerücht verbreitete
sich am Abend des 21ſten durch die ganze
Stadt, daſs man eine neue Kokarde — die
[141]Kokarde der Freiheit wurde sie emphatisch
genannt — in der Kirche zu St. Gudula
aufstecken wolle, und dabei sagte man sich
die Absicht ins Ohr, — die Stände müsse
man vom Ruder des Staats entfernen. Am
folgenden Morgen strömte alles nach St. Gu¬
dula, und Eduard Walkiers versammelte, auf
allen Fall, seine Compagnie. Diesmal zit¬
terten die neuen Minister für ihre politische
Existenz. Die ehrwürdige Stimme des Prie¬
sters war nochmals ihre einzige Zuflucht;
sie schickten dem Pfarrer der Hauptkirche
diese schriftlich abgefaſste Erklärung: ”Wir
”Unterzeichneten versichern, daſs das Mani¬
”fest des Brabantischen Volkes nach allen
”Stücken seines Inhaltes befolgt werden soll;
”daſs alles, was vorgeht, im Namen des
”Volkes geschieht, in welchem die Souve¬
”rainität inwohnend ist, und wogegen die
”Stände sich nie etwas haben anmaſsen wol¬
[142] ”len.” Van der Noot und van Eupen hat¬
ten diesen Aufsatz eigenhändig unterschrie¬
ben, und der Pfarrer las ihn von der Kanzel
ab. Eine so unerwartete Nachgiebigkeit von
Seiten der Stände veränderte plötzlich die
Stimmung des zusammengerotteten Volkes,
und beim Weggehen aus der Messe, anstatt
die Aristokratie zu bestürmen, fielen einige
fanatische Köpfe über einen demokratisch¬
gesinnten Officier her, den Walkiers aber
mit seinen Freiwilligen sogleich aus ihren
Händen riſs. In der Kirche hatte hier und
dort einer versucht, die neue Kokarde auf¬
zustecken, und einige wurden in Verhaft ge¬
nommen, bei denen man sie in der Tasche
fand. Noch jetzt ist es daher gefährlich,
sich mit einer andern, als der ächten Bra¬
bantischen dreifarbigen Kokarde sehen zu
lassen; und es ist uns selbst widerfahren,
daſs ein Freiwilliger uns höflich anredete:
[143] wir wären vermuthlich Fremde und wüſsten
nicht, daſs das weiſse Bändchen an unserer
Kokarde verboten sei.
Niemand in Brüssel wollte etwas um
diesen Auflauf gewuſst haben; man setzte
ihn auf Rechnung der Royalisten, denen
man die Absicht beimaſs, sie hätten dadurch
alles in Verwirrung bringen wollen; als ob
durch diese Verwirrung, zu einer Zeit, wo
keine Östreichische Truppen sie benutzen
konnten, etwas für die Sache des Kaisers
wäre gewonnen worden? Den Ständen und
ihren Ministern schien der Schlag von einer
ganz andern Seite her zu kommen; allein
ohne die deutlichsten Beweise war jetzt eine
öffentliche Beschuldigung von dieser gehäs¬
sigen Art nicht rathsam. Zudem stand ih¬
nen Walkiers mit seinen Freiwilligen und
seinem thätigen, unternehmenden Geist über¬
all im Wege. Gern hätte man ihm diesen
[144] Auftritt vom 25. Februar Schuld gegeben; es
wurden sogar in dieser Absicht Briefe zwi¬
schen dem Kriegesdepartement und ihm ge¬
wechselt; allein diese Korrespondenz schlug
ganz zu seinem Vortheil aus, indem er den
Winken und Anspielungen der Ministerial¬
partei den Ton eines beleidigten Mannes,
der seiner guten Sache gewiſs ist, mit allem
Trotze dieses Bewuſstseyns entgegensetzte.
Die eben bekannt gewordene nachdrucks¬
volle Remonstranz der demokratischen Par¬
tei an die Stände, worin man ihnen noch¬
mals vorhält, daſs die gesetzgebende und die
vollziehende Macht ohne Gefahr für den
Staat nicht länger in einer Hand vereinigt
bleiben dürfen, gestattete jetzt keine andere
als indirekte Maaſsregeln gegen einen so
mächtigen Feind. Man wuſste den Stadt¬
magistrat dahin zu bewegen, daſs er am 28.
Februar die Compagnie von Walkiers auf¬
hob,[145] hob, unter dem Vorwande, daſs jeder Ser¬
ment deren nur Eine haben könne; allein
die Freiwilligen eilten am folgenden Mor¬
gen mit Ungestüm auf das Rathhaus, und
auf ihre Vorstellung nahm der Magistrat
seine Verordnung zurück. Walkiers, an
dem die Reihe war, zog mit den Seinen auf
die Wache, und triumphirte im lauten Bei¬
fall des Volkes.
Es war nunmehr nöthiger als jemals, die
Freiwilligen beeidigen zu lassen. Man be¬
rathschlagte sich über die zu adoptirende
Formel, und van der Noot bot die Hände
zu einem Vergleiche mit der patriotischen So¬
cietät. So wichtig schien diese Ceremonie
in den Augen Aller, daſs man nicht Behut¬
samkeit genug anwenden zu können glaubte,
um keine Zweideutigkeit übrig zu lassen,
hinter welche sich die eine oder die andere
Partei flüchten könnte. Endlich, nachdem
II. Theil. K[146] man mehr als Einen Vorschlag verworfen,
nachdem van der Noot vergebens die ver¬
sammelten Freiwilligen auf dem groſsen
Platze haranguirt hatte, ward eine ganz
kurze Formel in allgemeinen Ausdrücken
adoptirt, die Alles so unbestimmt lieſs, wie
beide Parteien es wünschen konnten, um bei
einer scheinbaren Übereinkunft sich zu über¬
reden, man habe auf keinen Anspruch Ver¬
zicht gethan. Diese Feierlichkeit, wobei
sich, wie ich Dir schon erzählt habe, der
Herzog von Ursel und van der Noot. zum
Zeichen der Versöhnung beider Parteien um¬
armten, ward am 9. März vollzogen, und
gleich darauf wies auch der hohe Rath oder
Justizhof von Brabant die Bitte um Aufhe¬
bung der patriotischen Gesellschaft als un¬
statthaft zurück. Dagegen aber kassirte der
Congreſs, als Souverain der Niederlande, be¬
reits am 13. März ein Regiment von besol¬
[147] deten Truppen, welches den Einfall gehabt
hatte, nach dem Beispiele der Freiwilligen, dem
Volke den Eid der Treue schwören zu wollen.
Walkiers hatte indessen den Ehrgeiz der
Minister und der Stände zu tief beleidigt, und
sein hochfliegender Patriotismus war ihnen zu
furchtbar geworden, als daſs sie nicht vor
allem seinen Sturz hätten beschlieſsen sollen.
Man grif ihn von der einzigen Seite an, wo
er verletzbar blieb, das ist: man wirkte durch
eine Überschwemmung von fliegenden Blät¬
tern, und durch öffentlich ausgestreute Be¬
schuldigungen auf die Leichtgläubigkeit des
unwissenden und immer noch von Priestern
beherrschten Volkes. Es gelang den Emis¬
sarien der Geistlichkeit und der Aristokratie,
den Saamen des Miſstrauens unter die Bür¬
ger von Brüssel und sogar unter die Frei¬
willigen auszustreuen; es gelang ihnen, sie
zu trennen, indem man den Grund einer
K 2[148] verabscheuungswürdigen Verschwörung auf¬
deckte, einer Verschwörung, wodurch eine
geringe Anzahl von Ehrgeizigen, unter dem
Vorwande das Volk in seine Souverainitäts¬
rechte einzusetzen, sich selbst der Regierung
zu bemächtigen gedächten. Walkiers, sagte
man, sei das Haupt des Komplots; die Of¬
ficiere der Freiwilligen wären seine Verbün¬
deten, und eine Nationalversammlung, die
man berufen wolle, würde nur als Werkzeug
ihrer Tyrannei, nach dem Beispiel der Fran¬
zösischen, alle Rechte der Bürger umstoſsen,
die Altäre berauben und die heiligen Diener
der Religion miſshandeln.
Hatte denn, wirst Du fragen, das Volk
von Brüssel in einer so langen Periode von
politischer Gährung noch nicht gelernt, ge¬
gen Verläumdungen auf seiner Hut zu seyn,
und seinen Verdacht aus reineren Quellen
als den Brochüren des Tages zu schöpfen?
[149] hatte es noch nicht Gelegenheit genug ge¬
habt, den Charakter der verschiedenen Häup¬
ter der Parteien zu ergründen, und ein Ur¬
theil über sie zu fällen, welches nicht von
jedem Hauche verändert werden konnte?
Unstreitig muſs sich jedem Unparteiischen
bei einer so plötzlichen Umstimmung der
Gemüther der Gedanke lebhaft vergegenwär¬
tigen, daſs gerade die Wahrscheinlichkeit der
Beschuldigung diese groſse Wirkung hervor¬
gebracht habe. Auch ohne etwas von wirk¬
lich vorhandenen geheimen Absichten, von
einem trüglichen dessous des cartes zu ahn¬
den oder zu glauben, konnte gleichwohl die
Schilderung wahr und treffend seyn, die
man im voraus von einer Niederländischen
Nationalversammlung entwarf. Sie muſste,
wenn sie Gutes bewirken wollte, die bishe¬
rige Verfassung vernichten und die Miſs¬
bräuche ausrotten, welche der moralischen
K 3[150] Freiheit, dieser einzig wahren Quelle der
bürgerlichen, entgegen wirkten; sie wäre folg¬
lich dem Klerus und besonders der Ordens¬
geistlichkeit furchtbar geworden. Nach dem
Zustande der Aufklärung in den Belgischen
Provinzen, und nach der Seltenheit gründli¬
cher Einsichten und groſser Talente zu ur¬
theilen, war endlich auch, ohne dem Patrio¬
tismus der Demokraten zu nahe zu treten,
die Prophezeihung, daſs die Nationalver¬
sammlung nur ein Instrument in den Hän¬
den weniger Demagogen werden könne, die
unverdächtigste Lobrede aus des Feindes
Mund auf das Verdienst und die Fähigkeiten
eines Walkiers, eines Vonk und der übrigen
Häupter der patriotischen Gesellschaft.
Unter den jetzigen Umständen war die
ausgestreute Besorgniſs, daſs die Religion in
Gefahr sei, gleichsam eine Losung für die
Majorität der Bürger von Brüssel, die demo¬
[151] kratische Partei zu verlassen und für die
Erhaltung des einmal bestehenden Regie¬
rungsſystems zu eifern. Kaum war van der
Noot dieser Stimmung gewiſs, so sprang die
Mine, die er seinen Nebenbuhlern bereitet
hatte. Es kam jetzt darauf an; welche Par¬
tei der andern zuvorkommen würde, und er
hatte seine Maaſsregeln so gut berechnet,
daſs er sein Vorhaben ausführte, ehe die
Armee die Bewegungen in Brüssel unter¬
stützen konnte. Am 15. März überreichte
die patriotische Gesellschaft den Ständen ei¬
ne Bittschrift, worin sie zwar sehr beschei¬
den, jedoch mit Ernst, auf eine neue Orga¬
nisation der Verfassung antrug und den Stän¬
den gleichwohl, wegen ihres bekannten Wi¬
derwillens gegen eine Nationalversammlung,
die Art der Zusammenberufung der Volks¬
repräsentanten gänzlich anheimstellte. Diese
Bittschrift war kaum überreicht und gelesen.
K 4[152]
so verbreitete man im Publikum ein Ver¬
zeichniſs der Störer der öffentlichen Ruhe,
deren ganzes Verbrechen in der Unterzeich¬
nung jenes Aufsatzes bestand, welchen man
sich indeſs wohl hütete, durch den Druck
bekannt zu machen. Dagegen aber las man
an den Kirchthüren überall einen Anschlags¬
zettel, worin man das Volk aufforderte, sich
am folgenden Morgen um neun Uhr zu ver¬
sammeln, indem eine Verschwörung wider
den Staat und die Religion im Werke sei.
Ähnliche Zettel verurtheilten die Herzoge
von Aremberg und Ursel, den Grafen la
Marck, Eduard Walkiers, Vonk, Herries
und Godin zum Laternenpfahl. Früh am
16ten erschien der Pöbel und insbesondere
die Bootsknechte, Träger und anderes Ge¬
sindel, welches sich in der Nähe des so ge¬
nannten Hafens aufhält, und unter dem Na¬
men capons du rivage bekannt ist, vor dem
[153] Rathhause, unter Anführung der beiden Eh¬
renmänner, die vor einiger Zeit so viele
Unterschriften für die berüchtigte Gegenad¬
dresse eingetrieben hatten. Die Gildemeister
standen auf den Stufen, und schwenkten dem
Haufen, der den Staaten und van der Noot
ein Vivat über das andere brachte, mit Hü¬
ten und Schnupftüchern Beifall zu. Auf
dieses Signal ging die Plünderung der Häuser
an, welche man zuvor zu dem Ende gezeich¬
net hatte. Der Kaufmann Chapel kam mit
eingeworfenen Fenstern und Thüren davon;
hingegen fünf andere Häuser wurden nicht
nur erbrochen und gänzlich verwüstet, son¬
dern auch in einem der Besitzer tödtlich
verwundet. Walkiers mit seinen Freiwilli¬
gen gab verschiedentlich Feuer auf diese
Banditen; allein die anderen Compagnien,
anstatt ihn zu unterstützen, droheten viel¬
mehr, ihre Waffen gegen ihn zu kehren.
K 5[154]
Am 17ten erkaufte van der Noot die
Ruhe der Stadt von den Plünderern mit ei¬
nem Versprechen von dreitausend Gulden,
die ihnen richtig ausgezahlt wurden; allein
noch nicht zufrieden mit diesem Opfer, und
ihrer Instruktion getreu, forderten sie den
Kopf ihres Widersachers, Walkiers. Man
lud ihn in der Dämmerung vor die versam¬
melten Stände, stellte ihm vor, seine Com¬
pagnie habe den Haſs des Volkes auf sich
gezogen, und bewog ihn durch diese bloſse
Vorstellung, sie abzudanken. Van der Noot
geleitete ihn mitten durch den aufgebrachten
Pöbel nach Hause. In derselben Nacht ver¬
lieſs er Brüssel, und mit seiner Abreise er¬
losch die letzte Hofnung der Demokraten.
Der hohe Rath von Brabant publicirte noch
an demselben Tage das Aufhebungsdekret der
patriotischen Gesellschaft, und ihre Häup¬
ter entflohen theils zur Armee in Namur,
[155] theils nach Lille im Französischen Flan¬
dern. — So gewaltsam dieses Mittel auch
war, wodurch die Stände über die Freunde
der Volksfreiheit den Sieg behielten, so hätte
man es ihnen dennoch in einer solchen Krise
verziehen, wenn nur auch ihre Regierung
von nun an die wohlthätigen Wirkungen
geäuſsert hätte, um derentwillen es sich ver¬
lohnte, dem Kaiser die Oberherrschaft zu
entreiſsen. Allein von einer so übel orga¬
nisirten Versammlung durfte man sich kei¬
nen edlen Gebrauch der Kräfte versprechen.
Sie benutzte den ersten Augenblick, in wel¬
chem sie sich ohne Nebenbuhler fühlte, um
vermittelst tyrannischer Maaſsregeln die Mög¬
lichkeit eines abermaligen republikanischen
Kampfes zu verhüten. Die Preſsfreiheit, das
Palladium freier Völker, ward unverzüglich
abgeschaft; eine strenge Büchercensur wach¬
te für die Erhaltung politischer und geist¬
[156] licher Finsternisse, und das Verbot aller
auswärtigen Zeitungen, welche demokratische
Grundsätze begünstigten, krönte diese des
achtzehnten Jahrhunderts unwürdige Verord¬
nungen. Der Schleier des Geheimnisses
deckt alle Berathschlagungen der gesetzge¬
benden Macht; feindseliger Haſs verfolgt die
Überreste der patriotischen Gesellschaft; aus
Furcht vor strenger Ahndung werden die
Namen Vonk, Walkiers, Ursel und la Marck
an öffentlichen Orten nicht ausgesprochen,
und der Enthusiasmus der noch glühet, und
noch zuweilen ein paar hitzige Disputanten
an einander bringt, wird allmälich erkalten
und in jene todte Gleichgültigkeit gegen das
gemeine Beste ausarten, welche überall herr¬
schen muſs, wo nicht von den Gesetzen, son¬
der von der Willkühr und den Leidenschaften
der Regenten das Leben und das Eigenthum
des Bürgers abhängt.
[157]
XVIII.
Gewöhnlich bedaure ich nicht die unter¬
jochten Völker; ihre Sklaverei sei auf ihrem
eigenen Haupte! Gegen die Löwenkräfte
des freien Menschen, der seine Freiheit über
alles liebt, sind alle Höllenkünste der Ty¬
rannei unwirksam. Der Übermuth der Rö¬
mischen Eroberungsſucht konnte ja nicht ein¬
mal das kleine Saguntum bezwingen. Hel¬
dentod in den Flammen und unter den
Schutthaufen ihrer einstürzenden Gebäude
war der letzte und edelste Sieg dieser ächten
Republikaner!
Heute dauert mich gleichwohl das Schick¬
sal der Brabanter. Unter besseren Führern
wären Menschen aus ihnen geworden; der
Stoff liegt da in ihrem Wesen, roh, vom
Gift einer allzu üppigen Kultur noch nicht
[158] durchdrungen, sondern nur das Opfer des
unüberwindlichen Betrugs. Heute haben
wir sie in einer Aufwallung von republikani¬
schem Geiste gesehen, die gänzlich unvorbe¬
reitet und nur desto rührender war. Wir
kamen von Schooneberg, dem Landhause der
Generalgouverneurs, zurück, und in allen
Straſsen sahen wir ganze Schaaren von Men¬
schen in die Buchläden stürzen, und mit
unbeschreiblicher Ungeduld nach einem Blatte
greifen, das eben jetzt die Presse verlieſs.
Es war ein Brief des Generals van der Mersch
an die Staaten von Flandern, worin er ihnen
seine Ankunft in Brüssel meldet, und auf
die strengste Untersuchung seines Betragens
dringt. Die Neugier des Publikums spannte
um so mehr auf dieses Blatt, da seit einigen
Tagen die wüthendsten anonymischen Af¬
fichen und Handbillets gegen den General
ausgestreuet werden, worin er ein Verräther
[159] des Vaterlandes genannt und absichtlich zum
Gegenstande der allgemeinen Indignation auf¬
gestellt wird. Die lebhafte Theilnahme an
seinem Schicksal, die, so verschieden auch
der Beweggrund seyn mochte, durch alle
Klassen der Einwohner zu gehen schien,
hatte wenigstens mehr als Neugier zum
Grunde, und verrieth einen Funken des Frei¬
heitsgefühls, wovon man sich in Despotien
so gar keine Vorstellung machen kann. Es
war ein erfreulicher Anblick Alles, Alt und
Jung, Männer, Weiber, Kinder, Vornehme
und Geringe hinzu strömen zu sehen, um
die erste Sylbe der Rechtfertigung eines An¬
geklagten zu lesen! Diese Bewegung dauerte
mehrere Stunden; die Druckerei konnte
nicht schnell genug die hinlängliche Anzahl
Exemplare liefern; man riſs einander den
Brief aus der Hand, man stritt sich, wer das
erste von dem neuankommenden Vorrathe be¬
[160] sitzen sollte, man drang den Buchhändlern
das Geld im Voraus auf, man bot doppelte,
zehnfache Zahlung, und wartete, wie dies
unter andern unser eigener Fall war, Stun¬
denlang auf einen Abdruck. So ging es fort
bis spät in die Nacht.
Van der Mersch ist gestern Abend hier
eingetroffen; dies ist der vollendende Schlag,
welcher das Gebäude der Aristokratie in den
Niederlanden befestigt. Die Armee in Na¬
mur war bisher noch immer eine Stütze der
Volkspartei geblieben; mit den Waffen in
der Hand hatte sie die Bittschrift der patrio¬
tischen Gesellschaft gebilligt. Sie war in ih¬
rem Eifer noch weiter gegangen. Eine un¬
begreifliche Gleichgültigkeit der Brabantischen
Stände sowohl, als des mit ihnen einstimmi¬
gen, ebenfalls von van der Noot inspirirten
Congresses, hatte die Armee an allen Bedürf¬
nissen, an Pferden und Geschütz, an Geld,
an[161] an Lebensmitteln und Kleidungsstücken den
äuſsersten Mangel leiden lassen; ein groſser
Theil der in Namur liegenden Truppen hatte
weder Uniformen, noch Schuhe. Vielleicht
empfanden die vereinigten Provinzen schon
jetzt die groſse Schwierigkeit, zu den Ver¬
theidigungsanstalten, die ihre Lage erforderte,
die nöthigen Summen herbeizuschaffen; viel¬
leicht war auch die verdächtige Treue die¬
ses Heeres die Ursache, daſs die Stände
säumten und zögerten, um es nicht wider
sich selbst zu bewaffnen. Wahr ist es in¬
dessen, daſs ein allgemeines Miſsvergnügen
unter den Truppen zu Namur ausgebrochen
war, daſs der Mangel häufige Veranlassung
zu den gröſsten Unordnungen und zur De¬
sertion gab, und daſs van der Mersch, nach¬
dem seine wiederholten Vorstellungen an den
Congreſs nichts gefruchtet, den Entschluſs
gefaſst hatte, seine Befehlshaberstelle nieder¬
II. Theil. L[162] zulegen. Bei diesen Umständen versammel¬
ten sich am 31. März alle Officiere der dor¬
tigen Besatzung, und äuſserten einmüthig das
Verlangen, daſs van der Mersch den Ober¬
befehl der Armee behalten, der Herzog von
Ursel wieder an die Spitze des Kriegesdepar¬
tements gesetzt werden, und der Graf la
Marck zum zweiten Befehlshaber ernannt
werden möchte. Zugleich schrieben sie an
alle Provinzen um ihre Mitwirkung zur Ab¬
schaffung der Miſsbräuche und Wiederher¬
stellung der guten Ordnung. Diese Wünsche
mit der am 1. April von dem General erhal¬
tenen schriftlichen Zustimmung, überschick¬
ten die Officiere dem Congreſs in einem
Briefe, worin sie ohne Umschweif behaupten,
das einzige Rettungsmittel für den kranken
Staat darin gefunden zu haben, daſs sie eini¬
gen Ehrgeizigen ihre über die ganze Nation
usurpirte Macht zu entreiſsen beschlossen.
[163]
hätten. Um zu gleicher Zeit das Schreckbild
einer Nationalversammlung zu entfernen, er¬
schien am folgenden Tage eine Erklärung,
welche die nach Namur geflüchteten Patrio¬
ten Vonk, Verlooy, Daubremez und Wee¬
maels unterzeichnet hatten, worin sie noch¬
mals versicherten, daſs sie in der Bittschrift
vom 15. März auf eine Versammlung dieser
Art keinesweges angetragen hätten, sondern
im Gegentheil auf die Verfassung der drei
Stände fest zu halten gesonnen wären, und
lediglich eine mehr befriedigende Repräsen¬
tation als die jetzige, nach dem Beispiele von
Flandern, verlangten. Dieser Erklärung er¬
theilte die Armee am 3. April ihre Zustim¬
mung. Sie war um so merkwürdiger, da
das Projekt des Congresses, oder, wie er sich
selbst nannte, der Belgischen Generalstaaten,
vom 31. März mit ihr gleichen Inhalt hatte,
den einzigen Umstand ausgenommen, daſs
L 2[164] der Congreſs behauptete: noch sei es zu früh,
an eine verbesserte Repräsentation zu den¬
ken, indem auf die Vertheidigung gegen den
auswärtigen Feind alle Kräfte und alle Sor¬
gen gerichtet werden müſsten; wenn aber
der Zeitpunkt gekommen seyn würde, wolle
man selbst die Nation dazu auffordern, und
mittlerweile wünsche man die Zustimmung
und Garantie aller Provinzen zu diesem Ent¬
wurfe. Die Stände von Flandern säumten
nicht, diesem Vorschlag ihren Beifall zu er¬
theilen, indem sie sich zugleich vorbehiel¬
ten, in ihrer Provinz mit der bereits ange¬
fangenen Verbesserung der Konstitution fort¬
zufahren und sie zu vollenden, ohne die
Aufforderung des Congresses abzuwarten.
Diese Äuſserung war um so schicklicher,
da es mit dem ganzen Vorschlage des Con¬
gresses nur darauf angesehen war, dem Volke
Staub in die Augen zu werfen, und die
[165] Stände von Brabant nicht die geringste
Rücksicht darauf nahmen, sondern fort¬
fuhren, ihre vermeinten Ansprüche auf
die Souverainität dieser Provinz geltend zu
machen.
Die Nachricht von den demokratischen
Gesinnungen der Armee erschütterte nicht
nur die Stände von Brabant, sondern auch
die bisher so eifrigen Freunde des Generals
van der Mersch, die Stände von Flandern.
Sie forderten den Congreſs auf, alle Kräfte
anzustrengen, um die Gefahr abzuwenden,
die von dorther dem Vaterlande drohte,
und sie waren es auch, welche den Vor¬
schlag thaten, den General nach Brüssel
vor den Congreſs fordern zu lassen, da¬
mit er von seiner Aufführung Rechenschaft
gäbe. Im Weigerungsfalle wollten sie ihm
die noch kürzlich bewilligte Zulage von
zweitausend Gulden zu seiner Besoldung ent¬
L 3[166] ziehen *). Von einer andern Seite erboten
sich die beiden patriotischen Freunde, der
Herzog von Ursel und der Graf de la Marck,
in einem Schreiben an den Congreſs, sich
nach Namur zu begeben, und vermittelst
des Vertrauens, welches ihnen die Armee
bezeigt habe, den Ausbruch des Unglücks
zu verhüten. Da sie gleich bei ihrer An¬
kunft das vorhin erwahnte Projekt des Con¬
gresses vom 31. März der Armee bekannt
machten, so gelang es ihnen, eine Erklärung
unter dem 5. April von derselben und von
dem General van der Mersch zu erhalten,
worin sie ihre völlige Zufriedenheit mit dem
Jnhalt dieses Projekts in Absicht auf die
künftige Reform der Verfassung zu erkennen
gaben. Allein van der Noot wuſste ein zu¬
[167] verläſsigeres Mittel, für die Erhaltung seiner
Partei zu sorgen. Er lieſs ein Korps von
fünftausend Mann, welches bisher in Löwen
gestanden hatte und den Ständen von Bra¬
bant ergeben war, unter Anführung des Ge¬
nerals von Schönfeld nach Namur marschi¬
ren. Van der Mersch, der von dieser Maaſs¬
regel keine Nachricht aus Brüssel erhalten
hatte, rückte mit seiner in drittehalbtausend
Mann bestehenden Besatzung dem andern
Korps entgegen. Bald erfuhr er indeſs durch
die an ihn geschickten Adjutanten, daſs
der Congreſs nicht nur diese Truppen be¬
ordert habe, sondern daſs sich auch depu¬
tirte Mitglieder des Congresses an ihrer
Spitze befänden, vor denen er sich stellen
müsse. Er begab sich sogleich zu ihnen,
und da er inne ward, daſs der ganze An¬
schlag hauptsächlich auf seine Person ge¬
münzt war, so beschloſs er auf der Stelle,
L 4[168] vor dem Congreſs in Brüssel zu erscheinen.
So vermied er den Ausbruch eines Bürger¬
krieges, in welchem Brüder gegen Brüder
hätten fechten müssen. Der Herzog von
Ursel und der Graf la Marck haben nur
wenige Stunden lang Arrest gehabt und sind
wieder auf freien Fuſs gestellt. Das ist die
Geschichte jenes merkwürdigen Tages, die
heute die ganze Stadt beschäftiget. Gestern
und vorgestern waren die Nachrichten über
dieses Ereigniſs noch zu unbestimmt und
widersprechend.
Ich kann es der demokratischen Partei
nicht verdenken, daſs sie hier noch einen
Versuch wagte, sich wieder emporzuschwin¬
gen. In dem leidenschaftlichen Zustande,
den der Parteigeist vorausſetzt, den die Treu¬
losigkeit der Gegner unterhält und den die
getäuschte Hofnung so leicht bis zur Wuth
erhöhet, wäre es unbillig, ganz überlegte, mit
[169] kalter Besonnenheit nach dem richtigen Maaſs¬
stabe der Bürgerpflicht abgemessene Hand¬
lungen, selbst von edleren und besseren Men¬
schen zu erwarten. Im Gegentheil, je rei¬
ner und herzerhebender das Bewuſstseyn der
Demokratenhäupter war; je inniger sie ihre
moralische Überlegenheit über einen van der
Noot und einen van Eupen fühlten: desto
flammender muſste ihr Eifer sie begeistern,
das bethörte Volk von Brabant aus den Hän¬
den solcher Anführer zu erretten. Dies vor¬
ausgesetzt, lassen sich auch gewisse Unregel¬
mäſsigkeiten leichter entschuldigen, die bei
dieser Gelegenheit vorfielen, und deren Ver¬
hütung nicht allemal in der Gewalt der Gut¬
meinenden ist, die sich an die Spitze einer
Partei stellen. Unstreitig wagte die Armee
einen dreisten Schritt, als sie einige Mitglie¬
der des Congresses, die mit Depeschen nach
Namur gekommen waren, gefänglich einzog,
L 5[170] ihre Briefe las und sie öffentlich im Druck
erscheinen lieſs, wenn es gleich die Absicht
dieser Emissarien war, ihnen eine Eidesfor¬
mel hinterlistigerweise aufzudringen, welche
die Freiwilligen in Brüssel längst verworfen
hatten. Van der Mersch selbst, im Ver¬
trauen auf den Beistand seiner Truppen,
sprach am 3. April aus einem Tone, der den
Ständen von Brabant feindselig klingen muſs¬
te; und es ist noch die Frage, ob er nicht
am 5ten das Schwert zur Entscheidung ge¬
zogen haben würde, wenn nicht van der
Noots Emissarien den Augenblick seines Aus¬
zuges aus Namur benutzt hätten, um den
Magistrat dieser Stadt umzustimmen, und
den Pöbel mit einer ansehnlichen Summe,
die Einige auf funfzigtausend Gulden ange¬
ben, zu erkaufen. Daher fand der General,
als er wieder in die Stadt ziehen wollte, die
Thore gegen sich und seine Truppen ver¬
[171] schlossen, und dieser Umstand, sagt man,
bewog ihn zum gütlichen Vergleich. Eben
so wenig läſst es sich läugnen, daſs die Reise
des Herzogs von Ursel und seines Freundes,
in einem Zeitpunkte, wo Vonk und seine
Verbündeten sich wirklich schon zu Namur
aufhielten, den Anschein hatte, daſs es ih¬
nen mehr darum zu thun war, die Gährung
der dortigen Armee zu benutzen, als sie stil¬
len zu helfen. Nehmen wir aber an, daſs
sie gegen die Usurpation der Stände die gu¬
te und gerechte Sache zu haben wähnten,
wer könnte sie tadeln, wenn sie sich der
Mittel bedienten, welche das Schicksal ihnen
darbot, um sie geltend zu machen?
Weit schwerer, ich glaube sogar unmög¬
lich, wird es seyn, sie in einer andern Rück¬
sicht zu entschuldigen. Das Vorurtheil des
Volkes muſste ihnen ehrwürdig seyn, wenn
es unheilbar war, wenn sie vorausſehen
[172] konnten, daſs seine Anhänglichkeit an die
Stände sich weder durch Gründe noch durch
Gewalt bezwingen lieſs; in diesem Falle
war folglich ihre Widersetzlichkeit zwecklos
und ungerecht. Hatten sie hingegen die
Möglichkeit in Händen, durch eine groſse
Anstrengung die aristokratische Tyrannei zu
stürzen, so bleibt ihnen ewig die Reue, aus
Kleinmuth die Gelegenheit verfehlt zu ha¬
ben, das Vaterland zum zweitenmal zu be¬
freien. Alle absolute Bestimmungen sind
Werke der Spekulation, und nicht von die¬
ser Welt; hier hängt alles von Verhältnissen
und Umständen ab; das Wahre und Gute
entlehnt, wie Recht und Gerechtigkeit, seine
Farbe von der Zeit und den Dingen. Die
Beistimmung der Welt zu unseren Grund¬
sätzen können wir daher nicht erzwingen;
allein die Schuld ist an uns, wenn sie un¬
serm Charakter keine Hochachtung zollt.
[173] Besser ist es, die Waffen für eine gute
Sache nicht ergreifen, als wenn man sie
einmal ergriffen hat, nicht lieber mit den
Waffen in der Hand zu siegen oder zu
sterben.
Wenn uns da noch Unvollkommenheiten
betrüben, wo gröſsere und edlere Mensch¬
heit uns anzieht, wie werden wir den Blick
mit Widerwillen wegwenden von jenen Un¬
glücklichen, deren sittliche Miſsgestalt kein
Zug von guter Bedeutung mildert? Der
glückliche Erfolg ihrer Unternehmungen
kann aus ihrem Namen die Brandmale nicht
tilgen, womit die Wahl der niedrigsten
Mittel, Doppelzunge, Arglist, Bestechung,
Verrath, Aufwiegelung und Miſsbrauch der
Gottesfurcht des Pöbels, Plünderung und
Mord der Bürger, sie gezeichnet hat. Ge¬
wiſs, die Brabanter sind bedaurenswerth,
daſs Menschen von dieser Gattung ihre
[174] Führer geworden sind und ihr ganzes Ver¬
trauen besitzen! Sie waren es, die dem
Volk einen so tödtlichen Haſs gegen die
ganze Verwandtschaft seines ehemaligen Für¬
sten einflöſsten, daſs Josephs Tod und Leo¬
polds strenge Miſsbilligung aller seiner Neue¬
rungen noch keinen Eindruck auf die Her¬
zen haben machen können, so empfänglich
sonst die unverdorbene Natur des Menschen
für sanftere Empfindungen zu seyn pflegt,
wenn der Tod des Beleidigers Genugthuung
giebt und alle seine Schulden tilgt. Die
groſsen Anerbietungen des Königs von Un¬
garn und Böhmen, haben zwar hier in Brüs¬
sel und noch mehr in Flandern die Partei
der so genannten Royalisten verstärkt; allein
die Masse des Volkes hat von seinen Seel¬
sorgern gelernt, den Namen Leopold mit
Abscheu zu nennen und mit demselben, wie
mit Josephs Namen, den furchtbaren, dunk¬
[175] len Begrif der Irrgläubigkeit zu verbinden.
Diese Schreckbilder mögen hinreichend seyn,
um den Ständen den Gehorsam der Braban¬
ter zuzusichern; werden sie ihnen aber auch
einst Kraft und Muth einflöſsen, Leopolds
Krieger zurückzuschlagen? In der That,
der Anblick der Freiwilligen, die wir hier
täglich aufziehen sehen, und was wir von
dem Zustande der Disciplin und der Taktik
bei der Armee vernehmen können, läſst
diese Vermuthung nicht aufkommen. Die
einzige gegründete Hofnung der Stände von
Brabant und der übrigen Provinzen auf die
Erhaltung ihrer Unabhängigkeit, liegt in der
Eifersucht der Mächte Europens gegen das
Haus Östreich.
Auf eine oder die andre Art ist diesem
zerrütteten Lande die Wiederkehr der Ruhe
zu wünschen. Es ist betrübt zu sehen, wie
verscheucht und verwildert alles in wissen¬
[176] schaftlicher Hinsicht hier ausſieht. Zwar
hatte der fromme Eifer von jeher gesorgt,
daſs des Guten in diesem Fache nicht zu
viel werden möchte; allein unter dem Prin¬
zen Karl hatten wenigstens die Erfahrungs¬
wissenschaften ihre ersten unverdächtigen
Blüthen gezeigt. Man hatte wohl etwas von
wunderbaren Bastarten zwischen Kaninchen
und Hühnern gefabelt; indeſs war doch die
Menagerie vorhanden, wo dieses Monstrum,
das im Grunde nur das bekannte Japanische,
frisirte Huhn war, unter vielen andern Thie¬
ren vorgezeigt ward. Diese Menagerie, das
Naturalienkabinet des Prinzen, seine Gemäl¬
desammlung, sein physikalischer Apparat,
seine Bibliothek; von dem allem ist kaum
noch eine Spur geblieben. Wir besuchten
eine so genannte königliche Bibliothek unter
Aufsicht des Abbé Chevalier, die höchstens
in zwölftausend Bänden besteht. Die Ein¬
thei¬[177] theilung in Theologia, Humaniora, Juris¬
prudentia, Historia, Scientiae et Artes, mag
zur Beurtheilung der Ordnung und selbst
des Inhalts dienen. In demselben Hause
zeigt man auch ein öffentliches Naturalien¬
kabinet, in einem dunklen, einäugigen Zim¬
mer. Es besteht in etlichen Petrefakten und
Krystalldrusen, einigen ausgestopften Schlan¬
gen und Vögeln, einigen Schubkasten voll
Konchylien, Schmetterlingen und Mineralien
ohne Ordnung und Auswahl, einem Schar¬
lachrock mit Gold, den einst ein König ge¬
tragen hat, und einem Grönländischen Ka¬
not. Dies und einige physikalische Instru¬
mente, die wir in des Abbé Manns Behau¬
sung fanden, sind die Reste der groſsen
Sammlung, die Prinz Karl hier angelegt
hatte. Die Akademie der Wissenschaften,
bei welcher derselbe Abbé Mann der Se¬
kretär ist, verhält sich bei den jetzigen Zeit¬
II. Theil. M[178] läuften ganz still, wie es Philosophen ge¬
ziemt; allein sie war immer von friedlieben¬
der Natur und hat wenig Aufsehen in der
Welt machen, am wenigsten durch ein
zu schnell verbreitetes Licht der Vernunft
den Glauben gefährden wollen. Herr Mann
ist ein Mitglied der erloschenen Gesellschaft,
um deren Wiederherstellung man sich in
den Belgischen Staaten schon so viele Mühe
gegeben hat, und auſser seinen physikali¬
schen Arbeiten auch durch die Bekehrung
des Lord Montague berühmt.
Von dem Verfall der hiesigen Manufak¬
turen habe ich schon bei einer andern Ge¬
legenheit etwas erwähnt. Die Englischen
und Französischen Kamelotte haben dem
Absatz der hiesigen, die ehemals so berühmt
waren, so starken Abbruch gethan, daſs es
jetzt keine groſse Unternehmungen in dieser
Gattung von Waaren mehr giebt. Die
[179] Quantität der Kamelotte, die jährlich fabri¬
zirt werden, ist daher nicht mehr so be¬
trächtlich wie ehedem. Von den nicht
minder berühmten Brüsseler gewirkten Ta¬
peten existirten vor wenigen Jahren noch
fünf Fabriken; jetzt ist die des Herrn van
der Borght nur noch allein im Gange, und
es arbeiten nur noch fünf Fabrikanten darin.
Dennoch klagt man über die groſsen Vor¬
räthe, die dem Eigenthümer auf den Händen
bleiben. Die Arbeiter sitzen zwei und zwei
an einem Stuhl, wie es bei der Basse-lisse
gewöhnlich ist. Die Tapeten waren schön
gezeichnet und mit ungemeiner Präcision
ausgeführt. Man zeigte ein vortrefliches
Stück nach Teniers, ein anderes nach le
Brün, u. s. f. Die Elle von solchen Tapeten
kostet zwei Karolin. Von den zwei groſsen
Zuckerraffinerien der Herren Rowis und Dan¬
hot, die in ihrer Art gut eingerichtet sind,
M 2[180] will ich nichts sagen; aber eine in Europa
wahrscheinlich einzige Kutschenfabrik ver¬
dient, daſs ich sie Dir näher beschreibe.
Herr Simon, ihr Eigenthümer, hat gewöhn¬
lich hundert bis hundert und zwanzig Ar¬
beiter, die in weitläuftigen, durch groſse
Fenster schön erleuchteten Sälen sitzen und
einander in die Hand arbeiten. Die Höhe
des Saals erlaubte ihm, eine Galerie oben
rund herum zu führen, auf welcher, so wie
unten, die Arbeiter um ihre Tische sitzen.
Die gegenwärtigen Unruhen haben indessen
die Zahl der Arbeiter bis auf die Hälfte ver¬
mindert. Alles was zu einer Kutsche ge¬
hört, das Eisenwerk, Leder, Holz, der Lak,
die Vergoldung, und Farbe, alles wird hier
innerhalb des Bezirks dieser Einen Fabrik
verfertigt. In den Sälen hangen Tafeln, auf
welchen die Gesetze geschrieben stehen, de¬
nen sich jeder Handwerker, wenn er hier
[181] arbeiten will, unterwerfen muſs. Es wird
darin bestimmt, wenn man sich einfinden,
wie lange man arbeiten soll; auf das Aus¬
bleiben, auf überlautes Plaudern bei der Ar¬
beit, u. s. w. stehen Geldstrafen; aber dem
gesetzmäſsigen Betragen wird dagegen auch
eine Belohnung zu Theil. Der Holzvorrath,
den wir hier sahen, ward allein auf achtzig¬
tausend Gulden geschätzt; er bestand unter
andern in einer groſsen Menge Ahorn aus
der Schweiz, und einer ansehnlichen Quan¬
tität Mahogany, welches Herr Simon schon
deswegen so stark verbraucht, weil er seinen
guten Lak auf kein anderes Holz setzt. Die
Fasern unseres Büchen- und Rüsterholzes
werden unter dem Lak immer wieder sicht¬
bar und machen ihn rissig. Die Schmiede
hatte sechs Essen, wovon jetzt aber nur zwei
noch brannten. Mit diesen Vorkehrungen
verbindet der Eigenthümer die höchste Soli¬
M 3[182] dität und Eleganz, ja, was mehr als alles
mit Bewunderung erfüllt, einen erfinderi¬
schen Scharfsinn, einen mechanischen In¬
stinkt möcht’ ich es nennen, entwickelt
und vervollkommnet durch wirkliches Stu¬
dium der Naturgesetze und der angewandten
Mathematik, wodurch die Vertheilung der
Lasten zu einem hohen Grade der Vollkom¬
menheit getrieben und der enge Raum einer
Kutsche auf eine fast unglaubliche Weise
benutzt wird. Für einen Mann, der öfters
lange Reisen machen muſs, wüſste ich nichts
Unentbehrlicheres als einen Reisewagen, wie
ich ihn hier gesehen habe, worin man Tisch
und Bett und alle ersinnliche Bequemlich¬
keiten vereinigt hat. Wenn der arme Li-
Bu aus den Pelew-Inseln sich schon über
eine Londoner Miethskutsche extasiiren und
sie ein Haus zum Fahren nennen konnte —
was hätte er nicht beim Anblick dieses
[183] Wunderdinges gesagt! Es ist in der That
ein angenehmes Schauspiel, den menschli¬
chen Geist auch auf diese Art glücklich ge¬
gen Schwierigkeiten kämpfen und sie besie¬
gen zu sehen! Herr Simon pflegt zwanzig
bis dreiſsig Wagen vorräthig zu haben, und
alle Europäische Höfe bestellen ihre Galla¬
wagen bei ihm. Sein Name stand auf der
berüchtigten Proskriptionsliste vom 15. März;
denn auch er hatte die Addresse an die Staa¬
ten unterzeichnet und war ein so eifriges
Mitglied der patriotischen Gesellschaft, daſs
er bereits unter des Kaisers Regierung hatte
die Flucht ergreifen müssen. Die Zerstö¬
rung seines Hauses und seiner Fabrik war
ihm zugedacht; allein er machte die ernst¬
lichsten Vertheidigungsanstalten, und lieſs
in der Stadt bekannt werden, er habe Pul¬
verminen gelegt, und wolle, auf den Fall
eines Angrifs, seine Feuerspritzen mit Schei¬
M 4[184] dewasser laden. Diese schreckliche Drohung
war hinreichend, van der Noots Myrmido¬
nen die Lust zum Plündern hier zu vertrei¬
ben. Gleichwohl ist Herr Simon, um seiner
persönlichen Sicherheit willen, vor einigen
Tagen, nach dem Beispiel anderer Demokra¬
ten, aus dem Lande gegangen.
Es kann nicht fehlen, daſs nicht auch
der Handel unter der gegenwärtigen Tyrannei
der Stände und der gewaltsamen Anstren¬
gung, wozu die Selbsterhaltung sie zwingt,
wesentliche Einschränkungen leiden sollte.
Die Entfernung eines Partikuliers wie Eduard
Walkiers, dessen Vermögen man auf dreiſsig
Millionen Gulden schätzt, muſs auf die Ak¬
tivität seiner Handelsgeschäfte, mithin auf
die ganze Cirkulation in den Niederlanden,
einen nachtheiligen Einfluſs haben. Man
rechnet, daſs Walkiers, um die Revolution
in Brüssel am 11. und 12. December vori¬
[185] gen Jahres zu bewirken und d’Altons Trup¬
pen durch Bestechung zu entwafnen, beinahe
eine halbe Million verwendet haben soll.
Nächst ihm sind die Herren Overmann und
Schumaker die reichsten Kaufleute in Brüs¬
sel. Sie bewiesen dem Kaiser, daſs sie ihm
jährlich gegen funfzigtausend Gulden Abga¬
ben zahlten und den inländischen Fuhrleu¬
ten beinahe sechzigtausend Gulden zu ver¬
dienen gäben. Romberg, der den Speditions¬
handel von Brüssel nach Löwen zu verle¬
gen suchte, besteht noch ebenfalls als einer
der vermögendsten Niederländischen Ban¬
quiers. Unser Aufenthalt ist viel zu kurz
gewesen, als daſs er uns gestattet hätte, in
diese merkantilischen Verhältnisse und ihre
Verwickelung mit dem politischen Interesse
einen tieferen und mehr ins Detail dringen¬
den Blick zu thun. Morgen verlassen wir
Brüssel; doch zuvor will ich Dir, so müde
M 5[186] ich auch bin, von unserer heutigen Spatzier¬
fahrt ein paar Worte sagen.
Eine halbe Stunde vor der Stadt, an dem
Kanal von Mecheln, liegt das Lustschloſs
Schooneberg, bei Laken, welches wir heute
in Augenschein nahmen. Vor acht Jahren
erndtete man auf dem Platze, den jetzt ein
Pallast und ein Park mit hohen Bäumen und
geschmackvollen Tempeln zieren, noch den
herrlichsten Waizen. Der Herzog Albert
von Teschen und seine Gemahlin, die Gou¬
vernantin der Niederlande, die Lieblingstoch¬
ter der Kaiserin Maria Theresia, kauften
gleich nach ihrer Ankunft das Landgut, wel¬
ches diesen Platz okkupirt, mit dem alten
darauf befindlichen Schlosse, das ihnen zum
Absteigequartier diente, so oft sie heraus¬
kamen um den Bau zu dirigiren. Die ganze
neue Anlage ist ein Werk des Herzogs, ein
herrliches Denkmal seines Geschmacks, sei¬
[187] nes Kunstgefühls und seines ordnenden
Geistes. Nach seinen eigenen Handzeich¬
nungen ward das Schloſs in allen seinen
Theilen aufgeführt. Es ist ein schön pro¬
portionirtes Gebäude mit einer Kupole in
der Mitte, die über einem prächtigen Peri¬
styl von zwölf Korinthischen Säulen steht.
Dieser schöne Saal ist ganz von weiſsem
Stein erbauet, mit Verzierungen nicht über¬
laden, wohl aber reich geschmückt und von
den entzückendsten Verhältnissen. Der Fuſs¬
boden ist mit vielfarbigem Marmor ausge¬
legt, und die Kamine von Karrarischem
Marmor, mit Basreliefs nach den schönsten
antiken Mustern, meisterhaft verziert. Die
Einrichtung und das Ameublement der übri¬
gen Zimmer ist eben so schön als prächtig
und geschmackvoll; besonders sind die Spie¬
gel aus den Pariser Gobelins von ungeheurer
Gröſse. Was mir am meisten gefiel, war
[188] die edle, elegante Simplicität der kleinen
Privatkapelle; sie ist ein Viereck mit einer
halben Kuppel zur Nische, worin eine mit
sehr viel Geist gearbeitete und sehr sorgfäl¬
tig nach einem Römischen Original vollen¬
dete Muse oder Göttin von Karrarischem
Marmor, mit Krone und Zepter zu ihren
Füſsen, unter dem Namen der heiligen Chri¬
stina, die Hausgottheit vorstellt. Der Bild¬
hauer le Roy in Namur ist der Urheber die¬
ses schönen Kunstwerkes. Über ihrem Haup¬
te ist ein leuchtender Triangel im Plafond
angebracht; und in der Mitte des Zimmers
schwebt eine Taube an der Decke, schön
gearbeitet und den übrigen, reichen Palmy¬
renischen Verzierungen gar nicht heterogen.
Man glaubt wirklich in einem Tempel des
Alterthums zu seyn, und die Illusion wird
noch vollkommener werden, wenn erst statt
des hölzernen, angemalten Sarkophags, der
[189] den Altar vorstellt, einer von Porphyr da
stehen wird. Die Stühle und Schirme
in mehreren Zimmern hat die Erzherzogin
selbst mit reicher Stickerei geschmückt. Nie
sah ich eine glücklichere Anwendung der
Japanischen oder Chinesischen Porzellantöpfe,
die man gewöhnlich in fürstlichen Pallästen
antrift, als hier. Eine groſse Urne war in
herrlich vergoldetes Bronze gefaſst, das sich
in ein antikes dreifüſsiges Untergestell vom
schönsten Geschmack endigte. Über der¬
selben stand ein langes, cylindrisches Porzel¬
langefäſs, mit dem unteren durch die Ein¬
fassung verbunden, welche sodann als ein
prächtiger Leuchter mit vielen Armen empor
stieg und in der Mitte sich in ein Bündel
Thyrsusstäbe endigte.
Der Park hat schöne Partien und gab
uns einen angenehmen Vorschmack des Ver¬
gnügens, welches wir in England, dem Va¬
[190] terlande der wahren Gartenkunst zu ge¬
nieſsen hoffen. Ein gegrabener Kanal, der
mit dem schifbaren Kanal von Vilvoorden
zusammenhängt, hat völlig das täuschende
Ansehen eines sich schlängelnden Flusses.
Die Kaskade, die freilich nur vermittelst
einer Feuermaschine von der neuen Bolton¬
schen Erfindung spielt, ist kühn und wild,
und steht mit einer eben so schönen unter¬
irdischen Felsengrotte in Verbindung. Der
Cylinder der Feuermaschine hat vier und
vierzig Zoll im Durchmesser, und wenn die
Kaskade anderthalb Stunden laufen soll,
werden sechzig Centner Steinkohlen ver¬
brannt. Die botanischen Anlagen zeichnen
sich durch Kostbarkeit, vollkommene Errei¬
chung des Zweckes, und Seltenheit der exo¬
tischen Pflanzen aus. Ein Botaniker würde
davon urtheilen können, wenn ich ihm nur
einige nennte, die ich in den Treibhäusern
[191] sah. *) Die Orangerie, die Blumenbeete,
die Officen, die Menagerie, der Chinesische
Thurm, sind in ihrer Art zweckmäſsig und
schön. Der Thurm hat in elf Etagen zwei¬
[192] hundert ein und dreiſsig Stufen, und ist über
hundert und zwanzig Fuſs hoch. Die Aus¬
sicht auf dem obersten Gipfel ist unermeſs¬
lich: wir sahen den Thurm von St. Romuald
in*)[193] in Mecheln, so trübe auch das Wetter war;
wenn aber der Horizont heiter ist, sieht man
Antwerpen.
Alles in dieser Anlage verräth nicht bloſs
das Kunstgefühl und den Geschmack der er¬
habenen Besitzer, sondern auch ihre beson¬
dere Liebe für dieses Werk ihrer schönsten
Stunden, wo sie ausruheten von der trauri¬
gen Geschäftigkeit eines politischen Verhält¬
nisses, welches sie groſsentheils zu blinden
Werkzeugen eines fremden und von ihren
Herzen wie von ihrer Einsicht nicht immer
gebilligten Willens herabwürdigte. So man¬
che Eigenthümlichkeit in dem Detail der
hiesigen Gärten führt ganz natürlich den Ge¬
danken herbei, daſs je mehrere von ihren
Ideen sich hier realisirten, desto werther
auch dieser ländliche Aufenthalt ihnen wer¬
den muſste, desto vollkommener und inniger
der Genuſs eines von den Fesseln der Eti¬
II. Theil. N[194] quette und der falschen Freundschaft ent¬
bundenen Lebens, das ihrem edleren Sinne
angemessen war. Ich läugne daher nicht,
daſs es mich schmerzte, hier sowohl, als im
Schlosse zu Brüssel, die Dienerschaft der
ehemaligen Generalgouverneurs in voller Ar¬
beit anzutreffen, um alle Mobilien, mit In¬
begrif der Tapeten, einzupacken und zufolge
einer von den Ständen erhaltenen Erlaubniſs
auſser Landes zu schicken. Der Lieblings¬
wissenschaft der Erzherzogin, der Kräuter¬
kunde, der sie hier mit so groſser Freige¬
bigkeit ihre Pflege hatte angedeihen lassen,
sollte nun auch dieser Schutz entzogen wer¬
den; dergestalt, daſs in kurzem keine Spur
von dem schöpferischen Geiste übrig seyn
wird, auf dessen Geheiſs diese Steinmassen
sich im schönsten Ebenmaaſse der Griechi¬
schen Baukunst erhoben, und tausendfaches
Leben aus allen Welttheilen in diesen Gär¬
[195] ten blühte! — Dies ist das Schicksal der
allzuzarten Blume der Geisteskultur; die
Sorgfalt und Mühe von ganzen Menschen¬
altern sie groſs zu ziehen, zerstört ein Hauch
der Unwissenheit! Wie viele Jahrhunderte
würden wohl hingehen müssen, ehe diese
feisten Mönche von Sankt Michel, von Ton¬
gerloo und Everbude, von Gembloux, Grim¬
bergen, Sankt Bernard, Vlierbeck und wie
die dreizehn Abteien heiſsen, den ächten
Menschensinn wieder erlangten, daſs es et¬
was mehr in der Welt zu thun giebt, als
den Leib zu pflegen und das Gebet der Lip¬
pen zu opfern? Ehe sie erkennen lernten,
daſs — ........ Nein! wozu sollt' ich die
Danaidenarbeit fortsetzen und berechnen,
wenn die Unmöglichkeit möglich werden
kann? Wer den Genuſs kennt, wo Gefühl
und Verstand, durch täglichen Kampf und
täglichen Sieg bereichert, einander unauf¬
N 2[196] hörlich berichtigen, der darf nicht rechten
mit dem Schicksal, welches oft die Völker
mitten in ihrer Laufbahn aufhält und ihre
Entwickelung zu höheren Zwecken des Da¬
seyns eigenmächtig verspätet. Die Mensch¬
heit scheint hier nicht reif zu seyn zu die¬
ser Entwickelung. Sie ist nicht unempfäng¬
lich für das Gute; allein ihr Wille wankt,
und ihr Geist ist gebunden. Ganz Brabant
vergötterte den Herzog Albert; es war nur
Eine Stimme über seine Tugend; mitten in
den heftigsten Ausbrüchen des Aufruhrs
blieb die Liebe des Volkes ihm treu und
äuſserte sich im lauten Zuruf: Albert lebe!
Aber nie dachte dieses Volk ohne eigene
Energie den Gedanken, sich den Fürsten,
den es liebte, statt der Tyrannen zu wählen,
die seine Priester ihm gaben.
[197]
XIX.
In ein paar regnichten Tagen sind wir von
Brüssel durch das Hennegau nach dieser
Hauptstadt des Französischen Flanderns ge¬
kommen. Einige unbedeutende, wogichte
Erhöhungen des Erdreichs abgerechnet, läuft
die Heerstraſse überall in einer schönen ebe¬
nen Gegend fort, und ist auch überall so
vortreflich und dauerhaft, wie jenseits Brüs¬
sel gebauet; der Boden hat völlig dasselbe
Ansehen von Ergiebigkeit, und der Anbau
verräth eben den Fleiſs. Mehrentheils sind
die Wege mit hohen Espen bepflanzt; stel¬
lenweise zeigen sich ziemlich groſse Wal¬
dungen und verschönern den Aufputz der
Landschaft. Die kleinen Städte folgen so
nahe auf einander, als wenn sie hingesäet
wären, und wir freueten uns des Anscheins
von Wohlstand, der darin herrschte.
N 3[198]
Wenige Stunden brachten uns nach
Enghien, wo der Herzog von Aremberg sich
jetzt aufhält. Sein Schloſs ist alt und baufäl¬
lig, aber mit weitläuftigen Nebengebäuden ver¬
sehen und mit einem Park von sehr groſsem
Umfang umgeben, der zum Theil im Ge¬
schmack von Le Notre, zum Theil im Eng¬
lischen Geschmack angelegt ist, und einen
schönen Fluſs oder eigentlich einen Kanal
enthält, der zu Lustschiffahrten dient. Auf
einer von diesem Wasser gebildeten Insel
überraschte uns eine Kolonnade mit einer
Menge Bildsäulen und Brustbilder von Mar¬
mor. Die Treibhäuser, wohin uns der Her¬
zog selbst führte, sind ebenfalls von der
neuesten Englischen Einrichtung. Wir wan¬
derten lange Zeit unter schönen Kirschbäu¬
men, die mit ihren reifen Früchten prangten
und neben denen die Erdbeerbeete ihren
Überfluſs zur Schau legten. Ein Englischer
[199] Gärtner, ein Schüler des allgemein berühm¬
ten Browne, war der Zauberer, der hier im
April den Reichthum des Julius hervorzu¬
bringen gewuſst hatte. Fast noch vollkomm¬
ner in ihrer Art sind die Ställe des Herzogs,
wo wir eine Anzahl vorzüglich schöner Reit¬
pferde sahen, die ihr Eigenthümer mit Na¬
men kannte, und deren besondere Plätze er
zu finden wuſste, obgleich ein unglücklicher
Schuſs auf der Jagd ihn vor mehreren Jahren
beider Augen beraubt hat.
Dieses harte Schicksal dünkt einen zehn¬
fach härter, wenn man den liebenswürdigen
Mann persönlich kennt, den es betroffen
hat. Seine Gesichtsbildung gehört zu den
seltneren, wo Zartheit und Harmonie des
Edlen den Ausdruck einer höheren Empfäng¬
lichkeit hervorbringen; er ist noch jetzt ein
schöner Mann. Die Moralität seines Cha¬
rakters entspricht, wie es sich von selbst
N 4[200] versteht, diesen Zügen. Was man schon so
oft an Blinden bemerkte, jene innere Ruhe
und eine Fähigkeit zum frohen Genusse des
Lebens, fand ich in ihm wieder bis zur
Vollkommenheit erhöhet; man möchte sa¬
gen, die Einbildungskraft der Blinden sei
unablässig so geschäftig, wie es die unsrige
nur in den Augenblicken ist, wo wir die
Augen freiwillig schlieſsen, um, von äuſseren
Eindrücken ungestört, die Bildervorräthe des
inneren Sinnes schärfer zu fassen. Dieser
glückliche Blinde hat mich wiederholt ver¬
sichert, daſs ihn keine Langeweile und kein
Unmuth verfolgt; er ist immer von der hei¬
tersten Laune und hat seine übrigen Sinne
gewöhnt, ihm den Verlust des zartesten und
edelsten erträglich zu machen. Ohne ihn
genau anzusehen, wird man in seinen Hand¬
lungen nicht leicht gewahr, daſs er seines
Gesichtes beraubt ist; er spielt alle Karten¬
[201] spiele, er reitet sogar auf die Jagd, und
seine Phantasie scheint ihm Gestalten und
Farben mit ihrem ganzen mannichfachen
Spiel so lebhaft zu malen, daſs er mit Wär¬
me, als von einem gegenwärtigen Genusse,
davon sprechen kann. Ich glaube, man thut
dem Manne unrecht, dessen Geistesauge so
hell sieht und alles mit einem so heitern
Strale beleuchtet, wenn man ihm einen Ehr¬
geiz andichtet, der nur mit einer allzu¬
schlechten oder allzuguten Meinung von den
Menschen bestehen kann. Erst müſste man
ihm seine Augen wiedergeben; dann dürfte
es verzeihlicher scheinen, zu zweifeln, ob er
eine angebotene Krone ausschlagen könne?
Allein die meisten Köpfe finden es unbe¬
greiflich, wie man eine Krone ausſchlägt;
so fern ist man noch in unseren vermeint¬
lich erleuchteten Zeiten von einer richtigen
Schätzung der Dinge. Sollen wir es den
N 5[202] Völkern verdenken, daſs sie sich von der
Fürstenwürde verkehrte Begriffe machen?
Die Geschichte ist Schuld daran. Sie lehrt,
daſs, bis auf wenige seltene Ausnahmen,
Miſsbrauch und Nichtgebrauch der Sinne
das begleitende Kennzeichen gekrönter Häup¬
ter war. Wie unvermeidlich führt nicht
diese Thatsache auf die Folgerung, daſs man
auch ohne Sinne gar wohl eine Krone tra¬
gen könne!
Wir fanden hier den Bruder des Herzogs,
Grafen la Marck, und verschiedene eifrige
Anhänger der demokratischen Partei; insbe¬
sondere den feinen, besonnenen und zugleich
kühnen Secretan, der beinahe das Opfer sei¬
nes Patriotismus geworden wäre. Der feu¬
rige Graf la Marck, der im vorigen Kriege
an der Küste Koromandel gegen die Eng¬
länder gefochten hatte, weckte durch seine
Erzählungen manches ruhende Bild von mei¬
[203] ner Reise mit Cook. In diesem geistvollen
Cirkel, wo jeder so viel galt, als er seinem
innern Gehalte nach werth ist, eilten die
Stunden schnell vorüber; es war Mitter¬
nacht, ehe wir das gastfreie Schloſs ver¬
lieſsen.
Die Einwohner des Hennegaus gefielen
uns auf den ersten Blick, zumal die Männer,
mit ihren gesunden, festen, muskulösen Ge¬
sichtern und der starkgezeichneten Nase und
Mund, die wir im Limburgischen schon ge¬
sehen hatten, die uns aber in Brabant wie¬
der verschwunden waren. Ihr Charakter ist
lebhaft, gutmüthig und fest; so lautete das
einstimmige Zeugniſs des Herzogs und seiner
Gesellschaft. Allein woran mag es liegen,
daſs wir auch in dieser Provinz noch keine
schöne Weiber sahen? Überall herrscht die
vollkommenste Ruhe, und der Landmann,
wie der Städter, läſst sich in der Ausübung
[204] seines gewohnten Fleiſses nicht stören. Das
kleine Städtchen Ath und das noch kleinere
Leuze, durch welche wir kamen, handeln
mit Leinwand und Wollenzeugen von ihrer
eigenen Arbeit. Leinwand ist auch das
Hauptprodukt des Städtchens Enghien, wo
der Herzog von Aremberg, wie er uns selbst
erzählte, von jeder Elle Leinwand, die dort
verkauft wird, eine Abgabe erhebt, die in
einem halben gigot, das ist, dem Sechzehn¬
theil eines sol, besteht. Diese Abgabe ist
für jährliche funfzehnhundert Gulden ver¬
pachtet, wobei der Pächter wahrscheinlich
noch eben so viel wie der Herzog gewinnt.
Nach dieser Berechnung würden aus Enghien
allein 960‚000 Ellen Leinwand verkauft, wel¬
ches wirklich übertrieben zu seyn scheint.
Die Flandrische Leinwand, sowohl die grobe
als die feine (toile au lait) wird wenig oder
gar nicht kalandert; sie ist fester und dich¬
[205] ter als die Schlesiche, und geht hauptsäch¬
lich nach Spanien. Die Wollenzeuge, die
man in Leuze verfertigt, sind meistentheils
Kamlotte; auch werden daselbst viele wol¬
lene Strümpfe gewebt, und in der umliegen¬
den Gegend von dem fleiſsigen Landmanne
in seinen Nebenstunden gestrickt.
Durch die Ruinen der weitläuftigen Fe¬
stungswerke von Tournai, kamen wir um
Mittag in diese groſse, aber wenig bevölkerte
Hauptstadt des Ländchens Tournesis, wel¬
ches eine eigene Belgische Provinz ausmacht.
Die Gegend hier herum schien uns nicht so
sorgfältig angebauet, wie es gewöhnlich in
den Niederlanden der Fall ist; und selbst
die Demolition der Festungswerke trug et¬
was dazu bei, das Bild der Verwüstung
greller zu zeichnen. Wenn man sich freuen
soll, daſs diese unnatürlichen Denkmäler der
zügellosen Leidenschaft unserer barbarischen
[206] Vorältern endlich als unnütz abgeschaft
werden, so muſs wenigstens das schöne
Schauspiel des Fleiſses und der emsigen Be¬
triebsamkeit uns für den angenehmen Ein¬
druck entschädigen, den der Anblick aller
groſsen durch Menschenhände ausgeführten
Werke uns gewährt. Lieber lasse man uns
die alten Bastionen und Gräben, als diese
öden Schutthaufen, welche die Ohnmacht
und das Phlegma der Nation so widrig be¬
zeichnen. Diese Eigenschaften drangen sich
uns indeſs in einer noch ungleich verächtli¬
cheren Gestalt auf, als wir in Erwartung
unseres Mittagsmahls einen Spatziergang in
der Stadt machten und auf dem groſsen
Markte die Freiwilligen exerciren sahen. Es
ist nicht möglich, das Lächerliche dieser gro¬
tesken Gruppe mit Worten zu schildern;
selbst Hogarths Talent hätte verzweifeln
müssen bei dieser trägen, charakterlosen Un¬
[207] ordnung. Was ich sah, war eine übelge¬
wählte, buntscheckige, und zum Theil wirk¬
lich abentheuerlich gekleidete Wachtparade,
aber ohne alle Einheit, ohne diese Anzie¬
hungskraft, diesen Geist des Ganzen, der
die Bestandtheile bindet und zu einem le¬
bendigen Körper beseelt. Man sah augen¬
scheinlich, nicht nur, daſs Soldat und Soldat
nichts gemein hatten, sondern daſs der Mensch,
sein Rock und sein Gewehr heterogene Thei¬
le waren, die bloſs der Zufall zusammenge¬
häuft, nicht das Gesetz der inneren Noth¬
wendigkeit zu einer unzertrennlichen Indi¬
vidualität erhoben hatte. Die Officiere wa¬
ren so unansehnlich wie die Gemeinen, und
trieben ihr Handwerk mit einer Lässigkeit
und Lauigkeit, die uns vom Lachen bis zum
Unmuth brachte. Unter vier bis fünfhun¬
dert Menschen sahen wir nicht Einen von
ansehnlicher Statur; dagegen eine Menge
[208] Knaben von funfzehn Jahren. Der einzige
Mensch, der einen Begrif von seiner Pflicht
zu haben schien, und folglich der einzige, der
diese todte Masse noch ein wenig zu beleben
vermochte, war der Regimentstambour.
Tournai hat einige schöne Plätze und
Gebäude, aber nicht über 24,000 Einwohner,
bei einem Umfange, der eine ungleich
gröſsere Volksmenge verspricht. Die vor¬
theilhafte Lage der Stadt an der schifbaren
Schelde hat ihren Handel dennoch nicht
empor bringen können; dagegen gedeihen
hier die Priester, Mönche und Nonnen von
allen Benennungen und Farben, und geben
das bekannte gute Beispiel ihrer nützlichen
Thätigkeit. Auch wimmelte hier alles von
Bettlern, bis Joseph der Zweite ihr einträg¬
liches und dem Staate so vortheilhaftes Ge¬
werbe verbot. Verhältniſsmäſsig ist indeſs
mehr Leben auf den Straſsen von Tournai,
als[209] als in Mecheln und in den Brabantischen
Städten, durch welche wir gekommen sind,
wenn gleich der gröſste Theil der Einwoh¬
ner sich von Fabrikarbeiten nährt. Die hier
verfertigten Kamelotte und Berkane sieht man
überall; die Weiber gehen nie ohne einen
langen Mantel von diesem Zeuge aus, der
bis an die Knöchel hinunter geht, mit ei¬
nem groſsen Capüchon versehen ist und in
Schmutz und Regen so gute Dienste leistet,
wie im Sommer gegen den Staub. Diese
graue Tracht hat zwar nichts Zierliches; sie
ist aber viel erträglicher, als die schwarzen
Kappen, womit man die Weiber in Brüssel
gespensterähnlich umherschleichen sieht. Ich
glaubte mich an die Ufer des Kokytus ver¬
setzt, als ich zum erstenmal diese scheuſsli¬
chen schwarzen Hüllen auf dem Markt er¬
blickte, wo sie in allen Graden der Vortref¬
lichkeit, ganz abgenutzt und zerlumpt oder
II. Theil. O[210] ganz neu, von wollenem oder halbseidenem
Stoffe oder gar vom besten Gros de Tours
neben mir hinzogen. Ein solcher Anblick
läſst wenigstens für den Kunstsinn des Lan¬
des, wo man damit überrascht wird, nicht
viel hoffen.
Zu Pont à Tressan, auf dem halben We¬
ge zwischen Tournai (Doornik) und Lille,
betritt man die Französische Gränze und
vertauscht das Niederländische Phlegma mit
Französischer Leichtigkeit. Unser Postillion
schwatzte unaufhörlich und brachte uns in
Einem Jagen nach der Stadt. Vor drei Ta¬
gen war hier alles in der fürchterlichsten
Unordnung. Die Besatzung in der Citadelle,
die aus den Dragonern von Colonel-Général
und den Chasseurs à cheval de Normandie
besteht, hatte mit den beiden Infanterieregi¬
mentern in der Stadt, Royal Vaisseaux und
la Couronne, einen heftigen Streit angefan¬
[211] gen, wobei es zu offenbaren Feindseligkeiten
gekommen war. Den 8ten und 9ten April
waren wirklich einige Dragoner auf dem
Platze geblieben, und die Infanterie hatte
wegen der engen Gassen augenscheinlich den
Vortheil. Die Reiter zogen sich in die Ci¬
tadelle zurück und lieſsen durch einen An¬
schlagszettel vom 11ten April, der jetzt an
allen Ecken der Straſsen zu lesen ist, den
Bürgern kund thun: sie würden sich ruhig
verhalten, aber ohne Befehl vom König und
der Nation die Citadelle an niemand, am
wenigsten an Truppen von der Miliz, ablie¬
fern. Die Bürgerschaft, die am ganzen Han¬
del keinen Antheil genommen, sondern nur
sorgfältig ihre Kramläden und Thüren ver¬
schlossen hatte, schickt jetzt Deputirte nach
Paris, um Verhaltungsbefehle einzuholen,
und vermuthlich werden die verdächtigen
Dragoner an einen andern Ort verlegt wer¬
O 2[212] den müssen. Die Officiere von Colonel-
Général sind als Feinde der neuen Constitu¬
tion bekannt, und man versichert allgemein,
daſs sie nichts unversucht gelassen hätten,
um ihre Leute zum Streit mit der Infanterie,
die sich entschieden für die Volkspartei er¬
klärt hatte, zu reizen. In allen Vierteln von
Lille waren die Schenken offen, und die
Dragoner konnten darin unentgeldlich ze¬
chen. Ein Infanterist fiel einem Haufen der
Betrunkenen in die Hände, und ward von
ihnen ermordet. Dies brachte die andern
Regimenter auf. Wo sich Dragoner blicken
lieſsen, gab man Feuer auf sie; und da
diese zuletzt mit Wuth gegen die Infan¬
terie anrückten, so entstand ein ordentli¬
ches Scharmützel. Ein Garde national soll
ums Leben gekommen seyn, weil seine Uni¬
form ihn einem Dragoner ähnlich machte.
Nunmehr aber sind zwölftausend Bürger in
[213] den Waffen und auf viele Meilen weit ist
keinem Hahn eine Feder übrig geblieben,
denn man hat die panache mit drei Livres
bezahlt.
Das Gerücht hatte diese Schlägerei so
ungeheuer vergröſsert, daſs niemand in den
Niederlanden uns rathen wollte, die Reise
nach Lille fortzusetzen. Wenn man den
muthvollen Anhängern der Brabantischen
Stände hätte Glauben beimessen wollen, so
war es nichts Geringeres, als die offenbare
Gegenrevolution, die in jener Gränzfestung
zuerst ausgebrochen seyn sollte; man malte
uns ganz Frankreich in Flammen, und Paris
in einen Schutthaufen verwandelt. Wir ver¬
sicherten, es sei uns darum zu thun, das
Schauspiel groſser Begebenheiten mitzuneh¬
men, wo es sich auf unserm Wege fände,
und eine Gegenrevolution sei nun eben un¬
sere Sache. Je näher wir Lille kamen, de¬
O 3[214] sto unbedeutender wurden die Berichte, die
wir von dem Tumult einziehen konnten;
und als wir uns nun hier innerhalb der
Thore befanden, hatte alles das Ansehen der
tiefsten, bürgerlichen Ruhe: alle Läden wa¬
ren offen, alle Straſsen wimmelten, des Re¬
genwetters ungeachtet, von geschäftigen Men¬
schen, und nur das Schauspielhaus blieb
heute noch verschlossen, um nicht zu neuen
Händeln Veranlassung zu geben. Du wirst
also wissen, woran Du Dich zu halten hast,
wenn die Zeitungen, wie gewöhnlich, von
einem schrecklichen Blutbade schreiben, und
die politischen Kannengieſser von Verwir¬
rung und Anarchie sprudeln werden. Es ist
der Mühe nicht werth, die Armseligkeit zu
widerlegen, womit einige verworfene Schrift¬
steller unter uns die wenigen unvermeidli¬
lichen Unglücksfälle, die eine groſse Revolu¬
tion nothwendig mit sich bringen muſste, als
[215] Enormitäten der ersten Gröſse und als Schand¬
flecken der Geschichte darzustellen bemühet
sind, indeſs sie den systematischen Mord
von Tausenden, durch den Ehrgeiz krieg¬
führender Despoten, und die langsame Ver¬
giftung der Freuden von Hunderttausenden,
durch die Erpressung unerschwinglicher Ab¬
gaben für nichts achten, oder wohl gar als
ruhmvolle Thaten mit ihrem feilen Lobe vor
dem Fluch der gegenwärtigen und kommen¬
den Generationen zu sichern hoffen.
Es war schon spät, als wir hier eintra¬
fen; wir haben aber doch noch einen Gang
durch die Stadt gemacht und uns ihres schö¬
nen, wohlhabenden Anblickes erfreuet. Ganze
Straſsen haben ein regelmäſsiges Ansehen, als
wären alle Häuser Theile eines Ganzen. Die
Häuser sind durchgehends drei und mehr
Stockwerke hoch und von massiver Bauart.
Die öffentlichen Gebäude, wie das Hôtel
O 4[216] oder Bureau des Comptes, und selbst das
groſse, ganz isolirte Theater, sind neu und
schön, wenn gleich nicht fehlerfrei. An der
Esplanade zwischen der Stadt und der Cita¬
delle läuft eine sehr schöne, breite Allee längs
der Stadt hin, und bietet den Einwohnern
einen herrlichen Spazierweg dar. Das Ge¬
wühl auf den Straſsen war uns nach dem
todten Brabant ein erfreulicher Anblick; al¬
lein man rechnet auch, daſs Lille hundert¬
tausend Einwohner hat, und es ist bekannt,
daſs es einen starken Handel treibt. Auch
die Vorstadt (Fauxbourg aux malades) ist
weitläuftig und die Gegend ohne Erhöhun¬
gen dennoch bewundernswürdig schön, und
gleichsam einem Garten ähnlich. Auſserhalb
dieser Vorstadt zählten wir gegen hundert
Windmühlen, und vielleicht verbarg uns der
Wald eben so viele andere. Der Rübsamen,
den wir hier und schon durchgehends in
[217] Brabant und Hennegau mit seinen goldgelben
Blüthen groſse Strecken Landes prächtig
schmücken sahen, wird auf diesen Mühlen
gepreſst, und das Öl ist ein wichtiger Han¬
delsartikel für Lille, indem es sowohl zum
Essen, als zum Brennen in Lampen gebraucht
wird. Die frühzeitigen Blüthen dieser Öl¬
pflanze beweisen schon die Anwesenheit ih¬
res innerlichen Wärmestoffs, der sich noch
deutlicher im Öl offenbart. Diese Eigen¬
schaft sichert die Pflanze gegen den Frost.
Auf unserm schnellen Fluge haben wir
nicht Zeit, die hiesigen Kirchen zu besehen,
wo noch manche gute Stücke von Flammän¬
discher Kunst aufbewahrt werden. Eben so
wenig können wir uns aufhalten, die Spie¬
gelfabriken, die Tabaksfabriken, u. s. f. zu
untersuchen, die hier nebst so manchen an¬
dern viele tausend Arbeiter beschäftigen.
Merkwürdig ist es indeſs, daſs in der hiesi¬
O 5[218] gen Gegend fast gar kein Tabak gebauet
wird, so geschickt auch der Boden dazu zu
seyn scheint, und so zahlreich auch die Fa¬
brikorte hier herum, nämlich Lille, Dünkir¬
chen, St. Omer, Tournai, Ath, Leuze u. s. f.
sind, wo man diese Pflanze verarbeitet. —
Morgen eilen wir weiter.
[219]
XX.
Endlich haben wir erfreuliche Sonnenblicke
statt des ewigen Nebels und Regens, der uns
das Vergnügen unserer Küstenfahrt ein we¬
nig schmälerte. Nur in Dünkirchen lächelte
die Sonne einmal zwischen den Wolken
hervor, und diesen heitern Zwischenraum
lieſsen wir nicht unbenutzt. In den fünf
Tagen, die wir auf der Reise von Lille hier¬
her zugebracht haben, sind uns indeſs so
viele Gegenstände von mancherlei Art vor
dem äuſsern und innern Sinne vorübergegan¬
gen, daſs Du Dich auf einen langen Bericht
gefaſst halten muſst. Wir ruhen hier aus,
ehe wir von neuem unsere Augen und un¬
sern Geist zur Beobachtung dieser groſsen
Stadt anstrengen, die ihren Ruhm überlebt
hat. Es giebt vielleicht keine Arbeit, welche
[220] so die Kräfte erschöpft, als dieses unaufhör¬
liche, mit aufmerksamer Spannung verbun¬
dene Sehen und Hören; allein, wenn es
wahr ist, daſs die Dauer unseres Daseyns
nur nach der Zahl der erhaltnen Sensationen
berechnet werden muſs, so haben wir in
diesen wenigen Tagen mehrere Jahre von
Leben gewonnen.
Der Weg von Lille nach Dünkirchen
führte uns über Armentieres, Bailleul, Cassel
und Bergen. Es regnete beinah unablässig
den ganzen Tag; allein ob uns gleich die
Aussicht dadurch benommen ward, bemerk¬
ten wir doch, daſs sie im Durchschnitt de¬
nen im Hennegau ähnlich bleibt. In Armen¬
tieres hielten wir uns nicht auf, so gern wir
auch die dortigen Leinwandbleichen in Au¬
genschein genommen hätten, wo man bereits
die wichtige Erfindung des Französischen
Chemikers Bertholet, mit dephlogisticirter
[221] Salzsäure schnell, sicher und unübertreflich
schön zu bleichen, in Ausübung gebracht
haben soll. Die Preuſsischen Bleichanstalten
im Westphälischen folgen bereits diesem Bei¬
spiel, und selbst in Spanien wird diese Me¬
thode schon angewendet.
In Bailleul hörten wir das Volk auf dem
Markte schon wieder Flämisch sprechen, und
diese Sprache geht bis Dünkirchen fort. Das
Französische in dieser Gegend ist ein er¬
bärmliches patois oder Kauderwelsch; es ist
nicht sowohl ein Provinzialdialekt als eine
Sprache des Pöbels, der nicht seine eigene
Muttersprache, sondern eine erlernte spricht.
Die hiesige Menschenrace ist groſs und wohl¬
gebildet; vielleicht bezieht sich die Franzö¬
sische Redensart, un grand flandrin, auf
diese Gröſse, wiewohl sie auch den Neben¬
begrif des Tölpischen oder Ungeschickten
mit sich führt. In allen diesen Städtchen
[222] tragen die Weiber jene langen Kamelottmän¬
tel, wie im Hennegau; nur daſs wir unter
vielen grauen auch einige scharlachfarbene
sahen.
Wir hielten unsere Mittagsmahlzeit zu
Cassel, (Mont-Cassel) das wegen seiner ro¬
mantischen Lage auf einem Berge so be¬
rühmt, übrigens aber ein unbedeutender klei¬
ner Ort ist. Im Sommer, an einem hellen
Tage, wäre es fast nicht möglich, sich von
diesem Anblick loszureiſsen. Die nächsten
Hügel haben malerische Formen und sind
ganz mit Wald gekrönt. Die unabsehlichen
Gefilde von Flandern, Hennegau und Artois
liegen ausgebreitet da, und verlaufen sich in
die dunkelblaue Ferne, wo nur die hohen
Kirchthürme von Bergen, Dünkirchen, Fürne,
Ipern und anderen Städten wunderbar hin¬
ausragen und ein Gefühl von Sicherheit und
ruhiger Wohnung in dieser schattigen, mit
[223] unendlichem Reichthum abwechselnder For¬
men geschmückten Gegend einflöſsen. O
dies ist das Land der lieblichen, der kühlen
Schatten! Hier begränzen die hochbewipfel¬
ten, schlanken Ulmen, Espen, Pappeln, Lin¬
den, Eichen und Weiden jedes Feld und
jeden Weg, jeden Graben und jeden Kanal;
hier laufen sie meilenweit fort in majestäti¬
schen Alleen, bekleiden die Heerstraſsen, oder
sammeln sich in Gruppen auf den weiten
Ebenen und den Anhöhen, um die zerstreu¬
ten Hütten und um die stillen Dörfer. Die
Anmuth, die Mannigfaltigkeit und Pracht
dieser hohen, schön gestalteten Bäume ver¬
leiht den hiesigen Landschaften einen eigen¬
thümlichen Charakter. Der Teppich der Wie¬
sen ist in diesen nassen Tagen herrlich grün
geworden; die Weizenäcker schimmern mit
einer wahrhaften Smaragdfarbe; die Knospen
der Bäume wollen trotz dem kalten Hauch
[224] der Nordwinde ihren Reichthum nicht länger
verschlieſsen; die Kirsch- und Birn- und
Äpfelbäume in den Gärten, die Pfirsich- und
Aprikosenbäume an den Mauern öffnen mit¬
ten im Regen ihre Blüthen. Bei dieser üp¬
pigen Pracht des Frühlings entbehrten wir
dennoch den Anblick der Dünen und des
Meeres, den uns der Nebel neidisch ver¬
hüllte. Jener unermeſsliche blaue Horizont,
der sich an die Wölbung des azurnen Him¬
mels anschlieſst, muſs der hiesigen Aussicht
eine erhabene Vollkommenheit geben, die
nur in wenigen Punkten unserer Erde er¬
reicht werden kann. — Der Hügel, von wel¬
chem wir diesen Anblick genossen, scheint
ein bloſser Sandhügel zu seyn, deren es hier
mehrere giebt, die weiter durch das Artois
in die Picardie hinein fortsetzen und ver¬
muthlich auf Kalk stehen. Vor Lille und in
der dortigen Gegend findet man sehr weiſsen
Kalk¬[225] Kalkstein, und in der Picardie bekanntlich,
wie in England, Kreide.
Die Schönheit der Landschaft war plötz¬
lich, wie durch einen Zauber, verschwunden,
sobald wir die kleine Festung Bergen (oder
St. Winoxbergen) hinter uns gelassen hatten.
Wir befanden uns auf einer niedrigen, offe¬
nen Fläche, wo, auſser einigen Reihen von
abgekappten Weiden in allerlei Richtungen,
sonst kein Baum und keine Hecke zu sehen
war. Die ganze ungeheure Ebene bestand
aus Wiesen und Viehtriften, und war längs
dem Seeufer von nackten weiſsen Sandhü¬
geln, den so genannten Dünen, umgeben.
An einigen Stellen stach man Lehm zu Zie¬
geln, die sich gelb brennen lassen; übrigens
aber schien uns alles öde und leer, zumal
nach dem Anblick einer solchen Gegend,
wie wir eben verlassen hatten. Der Stein¬
damm, auf welchem wir fuhren, war indeſs
II. Theil. P[226] unverbesserlich, und bald erreichten wir das
kleine geschäftige Dünkirchen, welches, wie
sein Name deutlich zu erkennen giebt, in
den Dünen angelegt worden ist. Durch die
Länge der Zeit und durch den Anbau ist
aber alles dergestalt weggeebnet und abgetra¬
gen worden, daſs man keine Erhöhung mehr
gewahr wird und nur in einiger Entfernung
zu beiden Seiten der Stadt die Hügel fort¬
streichen sieht.
Die unregelmäſsige Gestalt dieser Sand¬
haufen, die sich wie die stürmischen Wellen
des Meeres, das sie bildete, dem Auge dar¬
stellen, höchstens aber vierzig Fuſs in senk¬
rechter Linie über die Wasserfläche hinaus¬
ragen, und mit einigen Pflänzchen spärlich
bewachsen sind, giebt der Gegend etwas Be¬
fremdliches, Verödetes, Abschreckendes. Ihre
Veränderlichkeit verursacht den Einwohnern
dieser Küsten manche Besorgniſs; die Winde
[227] können den Flugsand, woraus die Dünen
bestehen, stellenweis ganz verwehen und
eine Lücke machen, wo das Meer bei auſser¬
ordentlichen Fluthen leicht durchbricht, sich
in die niedrige Fläche ergieſst und den le¬
bendigen Geschöpfen sowohl, als dem Lande
selbst das Daseyn raubt. Wo diese fürchter¬
lichen Katastrophen auch nicht erfolgen, sind
wenigstens die angränzenden Äcker und Wie¬
sen dem Versanden ausgesetzt, welches sie
auf ganze Jahrhunderte hinaus unbrauchbar
macht. Nicht weit von Dünkirchen, auf der
Flandrischen Gränze, zeigte man uns ein
merkwürdiges Beispiel von der Wirkung der
Stürme. Ein Kirchthurm stand im Sande
vergraben und nur seine Spitze ragte noch
hervor. Das Pfarrhaus war gänzlich ver¬
schwunden, und man hatte sich genöthigt
gesehen, weiter östlich von den Dünen das
ganze Dorf neu anzulegen. Auch die Ka¬
P 2[228] ninchen, die in diesen Sandhügeln häufig
graben und wühlen, tragen zur Schwächung
dieser Vormauer gegen die See das ihrige
bei.
Wir hofften vergebens, beim ersten An¬
blick von Dünkirchen, den Gegenstand der
Eifersucht einer groſsen Nation an irgend
einem auffallenden Zuge zu erkennen. Die
Stadt ist nichts weniger als glänzend, ob sie
gleich dreiſsig tausend Einwohner zählt, die
mehrentheils von der Schiffahrt leben. Al¬
lein die Nähe der Englischen Küste begün¬
stigt hier den Schleichhandel, und in Krie¬
geszeiten die Kaperei so sehr, daſs England
mehr als Einmal auf die Vernichtung des
Ortes bedacht gewesen ist, und in seinen
Friedenstraktaten mit Frankreich die Demo¬
lition des Hafens und der Festungswerke be¬
dungen hat. Von Seiten Frankreichs aber
hat man diese Bedingung jederzeit unerfüllt
[229] gelassen; und im Grunde giebt es auch kein
wirksames Mittel gegen den Schleichhandel,
das einzige ausgenommen, dessen sich der
Minister Pitt durch den Commerztraktat be¬
dient hat, die Herabsetzung der Zölle, wo¬
durch der rechtmäſsige Kaufmann einen
reichlicheren Absatz gewinnt, indem das Ri¬
sico des Contrebandiers zu groſs wird.
Dieser Traktat scheint wirklich schon auf
den Wohlstand von Dünkirchen einige nach¬
theilige Wirkungen zu äuſsern, wiewohl die
vielen Fabrikanstalten es noch aufrecht er¬
halten. Es sind hier verschiedene ansehn¬
liche Englische Handlungshäuser etablirt, und
das reichste Comptoir im ganzen Orte gehört
der Irländischen Familie Conolly. Auch
sieht man mehrere Englische Kaffeehäuser,
wo alles nach der in England üblichen Art
eingerichtet ist, und nichts als Englisch ge¬
sprochen wird. Eine der gröſsten Fabriken,
P 3[230] die Gärberei vor der Stadt, ist ebenfalls ei¬
nes Engländers Eigenthum. Gleich daneben
liegt ein groſses Glashaus, welches Flaschen
von grünem Glase liefert.
Einer von den wichtigsten Handelsarti¬
keln in Dünkirchen ist der Wachholder¬
branntwein (genièvre), wovon ansehnliche
Quantitäten nach England gehen, und, weil
noch immer eine sehr schwere Abgabe dar¬
auf haftet, mehrentheils auf verbotenem We¬
ge hineingeführt werden. Dort, wie in den
Niederlanden, hält man dieses Getränk für
eine Panacee in Magenbeschwerden; ein Vor¬
urtheil, das schon manches Leben verkürzt
hat. Vor diesem zog man allen Wachhol¬
derbranntwein aus Holland; jetzt destilliren
ihn die Einwohner von Dünkirchen selbst,
seitdem sie einige Holländer, die sich dar¬
auf verstanden, zu sich herüber gelockt
haben.
[231]
Nicht minder wichtig für Dünkirchen ist
die Raffinerie des Kochsalzes, welche gegen
zwanzig Siedereien beschäftigt. Eine übel¬
verstandene Geheimniſskrämerei scheint je¬
doch bei den Eigenthümern obzuwalten; denn
man wies uns von zweien, sogar mit einiger
Ungefälligkeit, zurück, wiewohl das ganze
hiesige Geheimniſs vermuthlich nur darin be¬
steht, daſs man statt der viereckigen Pfannen
runde braucht. Das Salz wird aus Franzö¬
sischem Steinsalz bereitet und ist verhältniſs¬
mäſsig sehr wohlfeil. Man leitet das See¬
wasser unmittelbar in die Behälter, wo jenes
Salz aufgelöset wird; allein diese Bequem¬
lichkeit der Lage wird durch das Ungemach,
an gutem Trinkwasser Mangel zu leiden,
gar zu theuer erkauft. Keiner von den
Brunnen ist nur erträglich, und die Einwoh¬
ner müssen sich kümmerlich genug mit
Regenwasser behelfen. Im Sommer ist
P 4[232] daher Dünkirchen ein ungesunder Aufent¬
halt.
Das Portal der Pfarrkirche hat mir dort
gefallen. Ein schönes Fronton von richtigen
Verhältnissen ruht auf einer Reihe prächtiger,
korinthischer Säulen; und wäre nicht die
Füllung mit häſslichen, pausbackigen Engels¬
köpfen und steinernen Wolken verunstaltet,
und ständen nicht über den Ecken des Fron¬
tons ein paar verunglückte pastetenähnliche
Thürmchen, so wäre es wirklich, mit dem
einfachen: DEOS. statt aller Aufschrift,
eins der schönsten, die ich gesehen habe.
Die Gemälde von Reyns, Porbus, Elias,
Leys und Claaſsens, die das Innere der Kir¬
che verzieren, kann ich füglich mit Still¬
schweigen übergehen. Daſs aber eine Stadt
mit dreiſsigtausend Einwohnern nur Eine
Pfarrkirche hat, ist ein trauriger Beweis von
dem verkehrten Einfluſs der Mönche, denen
es hier an Klöstern nicht gebricht.
[233]
Seit zwölf Jahren zum erstenmal begrüſste
ich hier wieder das Meer. Ich werde Dir
nicht schildern können, was dabei in mir
vorging. Dem Eindrucke ganz überlassen,
den dieser Anblick auf mich machte, sank
ich gleichsam unwillkührlich in mich selbst
zurück, und das Bild jener drei Jahre, die
ich auf dem Ocean zubrachte, und die mein
ganzes Schicksal bestimmten, stand vor mei¬
ner Seele. Die Unermeſslichkeit des Meeres
ergreift den Schauenden finstrer und tiefer,
als die des gestirnten Himmels. Dort an
der stillen, unbeweglichen Bühne funkeln
ewig unauslöschliche Lichter. Hier hingegen
ist nichts wesentlich getrennt; ein groſses
Ganze, und die Wellen nur vergängliche
Phänomene. Ihr Spiel läſst nicht den Ein¬
druck der Selbstständigkeit des Mannichfal¬
tigen zurück; sie entstehen und thürmen
sich, sie schäumen und verschwinden; das
P 5[234] Unermeſsliche verschlingt sie wieder. Nir¬
gends ist die Natur furchtbarer, als hier in
der unerbittlichen Strenge ihrer Gesetze;
nirgends fühlt man anschaulicher, daſs, ge¬
gen die gesammte Gattung gehalten, das
Einzelne nur die Welle ist, die aus dem
Nichtseyn durch einen Punkt des abgeson¬
derten Daseyns wieder in das Nichtseyn
übergeht, indeſs das Ganze in unwandelbarer
Einheit sich fortwälzt. — —
Der Hafen von Dünkirchen ist klein,
beinahe gänzlich durch Menschenhände ge¬
bildet und so seicht, daſs er nur kleine
Schiffe aufnehmen kann. Innerhalb dessel¬
ben ist ein vortreflich eingerichtetes Bassin,
wo die Schiffe ausgebessert und neue vom
Werft hineingelassen werden. Wir sahen
und bewunderten die mechanischen Kräfte,
wodurch man eine von diesen groſsen Holz¬
massen auf die Seite legte und ihr einen
[235] neuen Boden statt des ganz vermoderten gab.
Die Sandbänke vor dem Eingang des Hafens,
und seine Krümmungen zwischen den Stein¬
dämmen (jetées) zu beiden Seiten, gewähren
den Schiffen vollkommene Sicherheit, so
sehr sie ihnen auch das Ein- und Auslaufen
erschweren. Die Dämme erstrecken sich
weit ins Meer hinaus und bestehen aus ein¬
gerammelten Pfosten, die mit verflochtenem
Strauchwerk oder so genannten Faschinen
verbunden sind und zwischen deren Reihen
man alles mit Granit- und schwarzen Jaspis¬
blöcken ausgefüllt hat. Auf jeder Seite des
Hafens liegt eine kleine Schanze, welche
den Eingang bestreicht. Es war jeizt Ebbe¬
zeit, und auf dem entblöſsten Sande lagen
Seesterne, Meernesseln, Korallinen, Madre¬
poren, Muscheln, Seetang, kleine Krebse,
kurz allerlei, was in den Fluthen Leben hat,
in Menge angeschwemmt. Insbesondere er¬
[236] staunten wir über die vielen viereckigen, ge¬
hörnten kleinen Beutelchen, von einer glat¬
ten, schwarzen, faserigen, lederartigen Sub¬
stanz, die man Seemäuse nennt, ob sie
gleich eigentlich die Hülsen oder Eierschalen
der jungen Rochen sind. Wir beschäftigten
uns einige Zeit mit der Einsammlung dieser
Naturalien. Plötzlich umleuchtete uns die
Sonne. Die düstre graue Farbe des Wassers
verwandelte sich in durchsichtiges, dunkel¬
bläuliches, auf den Untiefen blasseres Grün;
die Brandung an den äuſsersten Sandbänken
schien uns näher gerückt und brauste schäu¬
mend daher wie eine Schneelavine; groſse
Strecken des Meeres glänzten silberähnlich
im zurückgeworfenen Licht, und am fernen
Horizonte blinkten Segel, wie weiſse Punkte.
Eine neue Welt ging uns auf. Wir ahnde¬
ten in Gedanken das gegenüber liegende
Ufer und die entfernten Küsten, die der
[237] Ocean dem kühnen Fleiſse des Menschen
zugänglich macht. Wie heilig ist das Ele¬
ment, das Welttheile verbindet!
Die wiederkehrende Fluth, die allmählig
alle Sandbänke bedeckte, rief uns von unserm
Staunen in den engern Kreis der menschli¬
chen Geschäftigkeit zurück. Wir trockneten
unsere eingesammelten Schätze am Feuer,
und machten uns zur Abfahrt nach Fürnen
(Veurne) fertig. Ehe ich aber mit meiner
Erzählung weiter eile, will ich Dir mit zwei
Worten das Theater beschreiben, das wir
noch am Abend unserer Ankunft in Dünkir¬
chen besuchten. Truppe, Orchester und
Publikum — alles schien uns Karrikatur.
Das Parkett, der Balkon und fast alle Logen
waren mit Officieren angefüllt; denn es lie¬
gen hier zwei Regimenter in Besatzung.
Von der lärmenden Konversation, die uns in
den Ohren gellte, hat man keinen Begrif;
[238] man hätte denken sollen, morgen würde den
Herren ewiges Stillschweigen auferlegt und
hier bedienten sie sich zum letztenmal der
Ungebundenheit ihrer Zunge. Sobald die
Vorstellung anging, ward es noch ärger; der
ganze Schwarm sang oder heulte alle Arien
der Operette nach. Zum Glück waren die
Schauspieler so schlecht, daſs es ziemlich
gleichgültig seyn konnte, wer uns die Zeit
vertriebe. So urtheilte aber das hiesige Pu¬
blikum nicht; vielmehr schien es an dem
Geplärr, den Gestikulationen und dem ziem¬
lich derben Scherz seiner Histrionen groſses
Wohlbehagen zu finden. Ich glaube, dieser
ungebildete Geschmack bezeichnet nicht bloſs
den Unterschied zwischen der Provinz und
der Hauptstadt; die Verschiedenheit der Ab¬
stammung trägt gewiſs auch das ihrige dazu
bei. Die Flämischen Organe sind um einige
Grade gröber als die Französischen, und be¬
[239] kanntlich je roher der Mensch, desto plum¬
per muſs die Erschütterung sein, die seine
Sinne befriedigt. Mozart’s und Paesiello’s
Kunst wird an die Midasohren verschwen¬
det, die nur für Ditters Gassenhauer offen
sind. Eben so unempfänglich bleibt ein
schlaffes, ungebildetes Publikum für das Ta¬
lent des Schauspielers, der die Natur in ih¬
ren zartesten, verborgensten Bewegungen er¬
forscht und ihre Bescheidenheit nie über¬
schreitet; wenn hingegen der Kasperl mit
lautem Beifall Possen reiſst, oder, was noch
ärger ist, ein mittelmäſsiger Akteur die aben¬
theuerlichsten Verzerrungen und die schwül¬
stigsten Deklamationen als ächte dramatische
Begeisterung geltend macht. Irre ich indeſs
nicht, so sind die hiesigen Einwohner von
manchem Französischen Nationalfehler frei,
ob sie gleich in Gesellschaft weniger glän¬
zen; die ungezwungene Artigkeit ihrer süd¬
[240] lichen Nachbarn gattet sich sehr angenehm
zu ihrer eigenen Simplicität und Bonhommie,
und bildet zwischen den Flämingern und
Franzosen eine Zwitterrace, der man leicht
die gute Seite abgewinnt. —
Die Barke nach Fürnen geht täglich um
drei Uhr Nachmittags auf dem Kanal von
hier ab, durch eine ärmliche, wenig bebaute
und fast gar nicht beschattete Fläche, über
welche diesmal ein scharfer, kalter Wind
hinstrich, der uns, trotz unseren Mänteln,
ganz durchdrang. Dazu trug freilich die
Gebrechlichkeit des Fahrzeuges viel bei. Der
innere Raum desselben stand voll Wassers,
und erhielt den Fuſsboden beständig ange¬
feuchtet; auch waren in der Kajüte alle Fen¬
ster zerschlagen und der Wind hatte überall
freies Spiel. Desto mehr bewunderten wir
den Fleiſs unserer Gesellschafterinnen, einer
reichen Kaufmannsfrau aus Dünkirchen und
ihrer[241] ihrer achtzehnjährigen Tochter, die in einem
fort strickten. Bei dem Dorfe Hoyenkerken
befanden wir uns wieder auf Flandrischem
Boden, und wurden von den Zollbedienten
visitirt. Abends gegen neun Uhr traten wir
zu Fürnen im Stadthaus oder vielmehr in der
Conciergerie ab, welche fast durchgehends in
allen Flandrischen Landstädten ein Wirths¬
haus vorstellt. Wir hatten diesmal Ursache,
mit unserer Bewirthung vollkommen zufrie¬
den zu seyn, und bezahlten die Ehre, auf
dem Schlafzimmer unserer Reisegefährtinnen
zu speisen, bloſs mit der geduldigen Auf¬
merksamkeit, die wir ihrer Familienge¬
schichte widmen muſsten.
Das kleine Städtchen hatte am Morgen
ein freundliches Ansehen; die Häuser ver¬
kündigten, ihrer altmodigen Bauart un¬
geachtet, einen gewissen Wohlstand, und
die Straſsen waren so breit und so reinlich
II. Theil. Q[242] gehalten, daſs man es ihnen nicht anmerkte,
welcher Handelszweig die Einwohner berei¬
chert. Fürnen ist der gröſste Viehmarkt in
Flandern, der die angränzenden Provinzen
von Frankreich mit fetten Ochsen versieht,
und die Kastellanei, der dieser Ort seinen
Namen giebt, hat die vortreflichsten Weiden
im ganzen Lande. Die umliegende Gegend
wird von Kanälen nach allen Richtungen
durchschnitten, und auf einem derselben
schiften wir uns wieder nach Nieuport ein.
Unsere Barke war jedoch nicht besser, als
die von Dünkirchen, und selbst der Kanal
hatte ein vernachlässigtes Ansehen, woraus
man ziemlich sicher schlieſsen darf, daſs
diese Reiseroute nur selten besucht wird.
Der ärmliche Anblick von Nieuport führte
uns nicht in die Versuchung, so lange da zu
bleiben, bis die Barke nach Ostende abginge;
wir mietheten lieber ein kleines Fuhrwerk
[243] mit einem Pferde, das unbehülflichste Ding,
in dem ich je gefahren bin, und setzten un¬
sere Reise zu Lande fort. In dem kleinen
Hafen zählten wir nur funfzehn Fahrzeuge
von ganz unbedeutender Gröſse, die jetzt
während der Ebbe insgesammt auf dem
Sande trocken lagen. Der hiesige Handel
ist übrigens so geringfügig, daſs sich mitten
am Tage fast niemand auf der Straſse regte.
Unter den Fischerhütten, aus denen das kleine
Städtchen besteht, bemerkten wir kaum ein
gutes Gebäude. Jetzt fuhren wir also über
eine weite, kahle Ebene, wo die Viehtriften,
die Gräsereien und Wiesen mit einigen
Äckern abwechselten. Die groſse Anzahl der
umherliegenden, mit Gemüs- und Obstgärten
umgebenen Dörfer bezeugte gleichwohl die
starke Bevölkerung dieser Gegend von Flan¬
dern. Allein so nahe an den unfruchtbaren
Dünen waren die Kühe auf der Weide sehr
Q 2[244] mager und klein, die Pferde kurzbeinig und
von plumper Gestalt. Die kümmerliche Nah¬
rung dieses Sandbodens scheint dem genüg¬
samen Esel angemessener zu seyn; auch sa¬
hen wir diese Thiere überall haufenweis am
Wege, und zu mehreren Hunderten auf den
Marktplätzen in Dünkirchen und Ostende, mit
den Erzeugnissen des Landes beladen.
Wir hatten gelacht, als man uns in Brüs¬
sel erzählte, daſs, wenn die Niederländer
ihre Unabhängigkeit nicht mit Würde be¬
haupten könnten, sowohl England, als ein
anderer Nachbar die Gelegenheit wahrneh¬
men dürfte, um ihnen das Schicksal ohn¬
mächtiger und uneiniger Republiken zu be¬
reiten, wovon dieses Jahrhundert schon mehr
als Ein Beispiel sah. Bei unserer Ankunft
in Ostende aber 'schien uns der Anfang zur
Ausführung schon gemacht und dieser Ort
in eine Englische Seestadt verwandelt. Das
[245] dritte oder vierte Haus ist immer von Eng¬
ländern bewohnt, und nicht etwa nur Kauf¬
leute und Mäkler, sondern auch Krämer und
Professionisten von dieser Nation haben sich
hier in groſser Anzahl niedergelassen. Da¬
her bemerkt man auch in den Sitten und
der Lebensart der hiesigen Einwohner eine
sichtbare Übereinstimmung mit denen der
Brittischen Inseln, die sich bis auf den Haus¬
rath, die Zubereitung der Speisen und die
Lebensmittel selbst erstreckt. So wahr ist
es, daſs diese unternehmende Nation, die
bereits den Handel der halben Welt besitzt,
keine Gelegenheit unbenutzt lassen kann,
um sich eines jeden neuen Zweiges, der
etwa hervorsproſst, zu bemächtigen. Wo
ihre Schiffe nicht unter ihrer eigenen Flagge
fahren, müssen fremde Namen sie decken.
Mit ihren Kapitalen und unter ihrem Ein¬
fluſs handelt Schweden nach Indien und
Q 3[246] China, und indeſs Holland durch die Aus¬
wanderung so vieler reichen Familien, durch
die nachtheilige Verbindung mit Frankreich
und eine Reihe von zusammentreffenden Un¬
glücksfällen einen unheilbaren Stoſs erlitten
hat, indeſs Frankreichs Handel wegen seiner
inneren Gährung danieder liegt, indeſs Dän¬
nemark ungeachtet eines funfzigjährigen Frie¬
dens von seinen Administratoren zu Grunde
gerichtet ist, und Spanien und Portugal durch
Piastern und Diamanten, weder reich noch
mächtig werden können, blüht Englands
Handel überall, umfaſst alle Welttheile und
hat seit dem heilsamen Verlust der Kolonien
einen unglaublich groſsen Zuwachs erhalten.
Diese bewundernswürdige Thätigkeit ist so
augenscheinlich das Resultat der bürgerlichen
Freiheit und der durch sie allein errungenen
Entwickelung der Vernunft, daſs selbst die
äuſserste Anstrengung der Regierungen in an¬
[247] deren Ländern, dem Handel aufzuhelfen,
bloſs an den Gebrechen der Verfassungen
hat scheitern müssen. Was ein Monarch
für die Aufnahme des Handels thun kann,
hat Joseph der Zweite hier groſsmüthig ge¬
leistet. Der Hafen von Ostende ist ein Denk¬
mal seiner thätigen Verwendung für die
Wohlfahrt der Niederlande. Doch Vernunft
und vernünftige Bildung konnte die Regen¬
tenallmacht nicht schaffen; das Gefühl von
eigener Kraft und eigenem Werth, das nur
dem freien Menschen werden kann, vermoch¬
te selbst Joseph nicht herauf zu zaubern.
Ostende ist übrigens nur ein schlechter
Ersatz für die geschlossene Schelde. Die
Küste läuft in gerader Richtung, ohne Ein¬
bucht fort, und der Zugang zu dem Hafen
wird durch viele Untiefen erschwert und
unsicher gemacht. Zwischen zwei Dämmen
sieht man die kleine, enge, unbequeme Öff¬
Q 4[248] nung, die nur bei gewissen Winden und nur
mit der Fluth zugänglich ist. Daher steht
am Eingang, auf der Batterie, die ihn be¬
streicht, ein hoher Flaggestock errichtet, wo
man eine Flagge ganz zu oberst wehen läſst,
so lange es hohes Wasser ist; bei halber
Ebbe läſst man sie am halben Stocke herun¬
ter, und sobald das Wasser den niedrigsten
Standpunkt erreicht, wird sie ganz eingezo¬
gen. Alsdann liegen die Schiffe beinahe trok¬
ken im Hafen. Wir zählten in allem nur
vierzig Fahrzeuge, obgleich der Hafen eine
weit gröſsere Anzahl aufnehmen kann. Ei¬
gentlich ist er nur ein tief ausgegrabener Ka¬
nal, mit einem dauerhaften pilotis zu beiden
Seiten, zwischen welchem ein festes Geflecht
von Strauchzäunen in vielen Reihen über
einander fortläuft. Dadurch sucht man zu
verhindern, daſs die Ebbe und Fluth den
Hafen nicht versande, indem sie den Sand
[249] vom Ufer mit sich fortreiſst. Über jeder
jetée stehen Baaken aufgepflanzt, und links
an der Mündung des Hafens dient eine Säule
mit groſsen, klaren Laternen den Schiffenden
des Nachts zum Merkzeichen. In den Ha¬
fen öffnen sich mehrere geräumige Bassins;
allein bei allen diesen kostbaren Einrichtun¬
gen kämpft man vergebens mit den Schwie¬
rigkeiten der Lage, mit der geringen Tiefe,
mit der unvermeidlichen Verschlemmung und
mit der Veränderlichkeit der Sandbänke längs
der Küste.
Ostende hatte nur einen glänzenden Au¬
genblick; den nämlich, als es der einzige
neutrale Hafen an der Küste war, als wäh¬
rend des Amerikanischen Krieges England,
Frankreich und Holland wechselseitig ihren
Handel der feindlichen Kaperei Preis ge¬
ben muſsten und des Kaisers Flagge allein
unangefochten den Ocean beschiffte. Die
Q 5[250] Geschäftigkeit und der Wohlstand jenes Zeit¬
punkts verschwanden aber mit dem Friedens¬
schlusse um so plötzlicher, da sie nicht so¬
wohl Wirkungen der eigenen Belgischen Be¬
triebsamkeit, als vielmehr täuschende Erschei¬
nungen waren, welche fremde Kaufleute hier
zuwege gebracht hatten. Auch die freie
Schiffahrt nach Ostindien, welche Joseph
der Zweite diesem von ihm so sehr begün¬
stigten Hafen trotz der Holländischen Rekla¬
mation zusicherte, blieb so unbedeutend, daſs
sie auf den Flor von Ostende keinen Ein¬
fluſs hatte.
Ist es nicht erlaubt, bei jener widersinni¬
gen Einschränkung des Belgischen Handels,
bei dem Verbot nach Indien zu schiffen,
bei der Verschlieſsung der Schelde, über den
Ton mancher Publicisten zu lächeln, die
das heilige Wort Recht noch auszusprechen
wagen? Diese unnatürliche Forderung der
[251] Holländer an ihre Nachbarn ist der sieg¬
reichste Beweis, daſs die Eifersucht der
Staaten, wo sie sich zur Übermacht gesellen
kann, ohne Bedenken alle, selbst die eviden¬
testen Rechte der Menschheit, verletzt und
alle Gränzen des Völkerrechts willkührlich
überschreitet. Josephs Vorfahren muſsten
sich diese, durch keinen Vorwand zu be¬
schönigende Gewaltthätigkeit gefallen lassen,
weil das Schicksal es so wollte. Und wer
forderte dieses unbillige Opfer? wer verbot
den Brabantern auf ihren eigenen Flüssen in
See zu fahren? Dasselbe Volk, das über
Ungerechtigkeit schrie, als Englands Häfen
ihm nicht offen blieben, das über Cromwells
berühmte Navigationsakte, dieses Bollwerk
des Englischen Seehandels, die Welt mit sei¬
nen Wehklagen erfüllte. Die Geschichte ist
ein Gewebe von ähnlichen Inkonsequenzen
und Widersprüchen; die Verträge der Na¬
[252] tionen unter einander, wie die der Fürsten
mit ihren Untergebenen, sind fast nirgends
auf natürliches Recht, auf Billigkeit, die der
Augenschein und der gerade Verstand zu er¬
kennen geben, gegründet; überall zwingt der
Übermuth des Mächtigeren dem Schwachen
eine Aufopferung ab, die kein Mensch von
dem andern zu fordern berechtigt ist und
die dann auch nicht länger gelten kann, als
die Gewalt fortdauert, welche sie ertrotzte.
Wir wundern oder ärgern uns, daſs jedes
Jahrzehend uns immer wieder dasselbe Schau¬
spiel giebt, welches bereits seit Jahrtausenden
die Völker entzweite; daſs die Gränzstrei¬
tigkeiten, die man längst beigelegt glaubte,
immer von neuem ausbrechen; daſs die Fe¬
dern der Diplomatiker und Staatsmänner un¬
aufhörlich mit Deduktionen beschäftigt sind,
worin man sich auf beschworene Verträge,
auf anerkannte Vergleichspunkte und darin
[253] gegründete Ansprüche beruft; daſs die strei¬
tenden Höfe zu einer subtilen Auslegungs¬
kunst, zu bequemen Reticenzen, zu schwan¬
kenden, vieldeutigen Ausdrücken ihre Zu¬
flucht nehmen und endlich doch den ver¬
worrenen Knoten mit dem Schwerte lösen.
Allein die fruchtbare Quelle ihrer Miſshel¬
ligkeiten strömt unvermindert fort; und wer
begreift nicht, daſs sie nie versiegen kann,
so lange man von Friedenstraktaten, Verfas¬
sungen und Gesetzen ausgeht, die, weil sie
nicht auf dem unerschütterlichen Grunde der
allgemeinen vernünftigen Natur des Menschen
ruhen, sondern Convenienzen des Augen¬
blickes oder Blendwerke politischer Sophis¬
men sind, die Feuerprobe der Wahrheit nicht
bestehen können? Keiner Nation, keiner
Macht, keinem Stande wird tausendjähriger
Besitz ein unveräuſserliches Recht übertra¬
gen; die Ansprüche der Vernunft auf alle
[254] Menschenrechte dauren ewig und werden
durch gewaltthätige Übertäubung eher ver¬
stärkt als verjährt. Nach tausend und zehn¬
tausend Siegen der räuberischen Übermacht,
die nur das Maaſs ihrer Ungerechtigkeit häu¬
fen, kehrt der wahre, dauernde Friede dann
erst zurück, wenn jeder Usurpation gesteuert
worden und jeder Mensch in seine Rechte
getreten ist.
Wir würden den Tyrannen verwünschen
hören, der dem einzelnen Menschen das freie
Verkehr auf offener Heerstraſse, auſser den
Mauern seines Hauses oder den Glänzen sei¬
nes Erbstückes, untersagte; unser Gefühl em¬
pört sich wirklich, wenn wir nur von Verbo¬
ten dieser Art lesen, die ein Asiatischer Herr¬
scher ergehen läſst, so oft es ihm gefällt, sei¬
ne Heerde von Beischläferinnen frische Luft
schöpfen zu lassen. Wer indeſs zugeben
will, daſs eine despotische Gewalt recht¬
[255] mäſsig seyn könne, dem lieſse sich auch
diese willkührliche Anwendung derselben als
gesetzmäſsig erweisen. Die Verordnungen
der Japanischen und Chinesischen Kaiser,
die von ihren Reichen alle Fremden entfer¬
nen, scheinen uns zwar elende Verwahrungs¬
mittel einer feigen, miſstrauischen, kurzsich¬
tigen Politik; allein wir bestreiten nicht das
Recht dieser Despoten, innerhalb der Grän¬
zen ihres Landes jedem Ausländer den Zu¬
tritt zu wehren oder zu gestatten. Hingegen
das ausschlieſsende Eigenthumsrecht irgend
eines Volkes zum Ocean ist eine so lächer¬
liche Absurdität, daſs der Übermuth gewisser
Seemächte, statt einer Anerkennung ihrer
Anmaſsungen, nur den Haſs, den Neid und
Groll der Nebenbuhler hat erregen können.
Wo bleibt also nun der Schatten des Rechts,
kraft dessen die Holländer ihren Nachbarn
die Schelde verschlieſsen und den Handel
[256] auf dem Meere verweigern durften? Der all¬
gemeine Kongreſs des Menschengeschlechtes
müſste allenfalls einstimmig beschlossen ha¬
ben, daſs die Belgier ihre Flüsse von der
Natur umsonst empfangen, daſs der Ocean
vergebens ihre Küsten bespühlt — — doch,
was sage ich? auch dieser Ausspruch würde
noch ungerecht seyn, wenn nicht zugleich
ein Nationalverbrechen erwiesen werden könn¬
te, das jene Ausschlieſsung als Strafe oder
vielmehr als Nothwehr nach sich zöge. Ein
solches Verbrechen aber, einer ganzen Na¬
tion gegen die gesammte Menschengattung —
worin anders könnte es bestehen, als in ei¬
ner gänzlichen Verkennung aller Rechte der
Nachbarn? Das strafbare Volk müſste selbst,
entweder aus eigener Willkühr oder im ge¬
miſsbrauchten Namen der Gottheit, die Welt
unterjochen und ihre Bewohner unumschränkt
beherrschen wollen — es müſste ein Volk
von
[257] von Eroberern oder von Priestern seyn. Wie
man einen Rasenden bindet, um nicht das
Opfer seiner Wuth zu werden, so sind auch
alle Maaſsregeln erlaubt, welche die Selbst¬
erhaltung gegen eine Gesellschaft von sol¬
chen Grundsätzen heischt; sobald sie fremdes
Recht mit Füſsen tritt, ist sie alles eigenen
verlustig.
Gegen die Römer, als sie nach der Allein¬
herrschaft über die bekannte Erde dürsteten,
gegen Philipp den Zweiten, gegen die Hil¬
debrande und die Borgia sollte der allge¬
meine Völkerbund aufgestanden seyn, ihre
Schwerter und Zepter zerbrochen und ihren
Mörderhänden Fesseln angelegt haben. Spa¬
niens Ohnmacht zur Zeit des Münsteri¬
schen Friedens drohte ja den Europäischen
Mächten mit keiner Universalmonarchie; die
schwache Seele Philipps des Vierten durfte
und konnte diesen Riesengedanken nicht
II. Theil. R[258] denken. Allein das Schlimmstevorausge¬
setzt, so hatten doch die Belgier nicht
verdient, statt ihres Herrschers zu büſsen.
Wenn also die unerbittliche Nothwendigkeit
ihnen damals eine stillschweigende Einwilli¬
gung in die Verschlieſsung ihrer Flüsse ab¬
drang — wird heute etwas anderes, als diesel¬
be Furcht vor feindlicher Überlegenheit, ihre
Enkel abhalten können, ihr angebornes, nie
zu veräuſserndes Recht zurückzufordern und
den schimpflichen Vergleich zu zerreiſsen?
Ein zerrissener Vergleich! ein Riſs im West¬
phälischen Frieden! Das sind freilich gräſs¬
liche Worte am Ohr des Aktenlesers, der
über dieses Lesen seine Menschheit verwel¬
ken und verdorren lieſs; allein wie mancher
Schwertstich hat nicht schon das alte Perga¬
ment durchlöchert? Was die Potentaten von
Europa einander garantirten, sollte freilich
ewig dauern müssen; nur Schade, daſs die
[259] Erfahrung hier die Theorie so bündig wider¬
legt, und jedem Fürstenvertrage keine längere
Dauer verspricht, als bis zur nächsten Gele¬
genheit, wo er mit Vortheil gebrochen wer¬
den kann. In der Seele der Politik ist ein
Friedenstraktat vom Augenblick der Unter¬
zeichnung an vernichtet; denn in diesem
Augenblick hatte sie ihren Endzweck durch
ihn erreicht.
Gegen die Theorie selbst möchte der ge¬
sunde Verstand auch wohl erhebliche Ein¬
wendungen machen. Wie? es hätte nur der
Übereinkunft etlicher hohlen oder schiefen
Köpfe bedurft, um einem Volke den Ge¬
brauch eines untheilbaren Elements einzuräu¬
men und ihn dem andern abzusprechen?
Dann könnte es wohl auch einem Friedens¬
kongreſs einfallen, diesem oder jenem Volke
Luft und Feuer zu verbieten, oder ihm vor¬
zuschreiben, wo und wenn es athmen solle?
R 2[260]
Doch es ist unmöglich, die Anmaſsungen
der Politiker hypothetisch weiter zu treiben,
als sie wirklich in der Ausübung getrieben
worden sind. Hat man sich doch, allem,
was der Menschheit heilig ist, zum Hohn,
nicht entblödet, in Friedensschlüssen vorzu¬
schreiben, welche Modifikationen des Den¬
kens und Glaubens erlaubt seyn sollen! Es
mag ein köstliches Ding um das Bündniſs
von 1648 seyn, das doch bekanntlich den
Ausbruch von zehn oder mehr blutigen Krie¬
gen nicht verhindert hat; es mag einer ge¬
wissen Klasse von Menschen bequemer seyn,
den Krüppelbau der Politik auf seinem mor¬
schen Grunde fortzusetzen, als die ewigen
Pfeiler, Natur und Vernunft, zu Stützen ei¬
nes unerschütterlichen Friedenstempels zu
wählen; einträglicher, den Stoff zu neuem
Zwist und Kriege beizubehalten und die Be¬
schlüsse der Unwissenheit und der Despoten¬
[261] arroganz für Quellen des Rechtes und Ge¬
setzes auszuschreien, als jenes unselige Joch
der Autoritäten abzuschütteln: nur hoffe man
nicht, daſs eine Gesetzgebung, der es an in¬
nerer Gerechtigkeit gebricht, aus Überzeu¬
gung befolgt werden könne; nur beschuldige
man die Völker nicht des Mangels an Mo¬
ralität, wenn sie Traktaten verletzen, deren
Erhaltung einzig und allein auf Furcht und
Eifersucht beruhte. Der Ocean ist keines
Menschen Eigenthum; er ist und bleibt al¬
len gemein, die ihn benutzen wollen. Mit
diesem refrain will ich Ostende verlassen.
Wir fuhren zu Lande nach Brügge. Bis
an das Dorf Gessel sieht man immerfort je¬
ne kahle Fläche, die mit wenig Abwechse¬
lung für das Auge von den Dünen bis an
die etwas höher gelegene Ebene von Flan¬
dern reicht. Zwischen Gessel und Jabick
wechseln groſse Strecken Heide mit Eichen¬
R 3[262] und Buchengebüsch, nebst einigen Fichten
und einem reichlichen Vorrath von Pfriemen
(Spartium scoparium); näher hin nach Brügge
verdichtet sich der Eichenwald. Die Stadt
ist von mittlerer Gröſse und nach altflämi¬
scher Art zum Theil sehr gut gebauet. Al¬
lein umsonst bemühten wir uns, in ihr die
Spur des berühmten Handels-Emporiums zu
erblicken, das im vierzehnten Jahrhundert
alle nordischen Nationen mit Waaren des
Luxus versorgte. Wir bestiegen die mit
Recht gepriesene Barke, welche die Staaten
von Flandern für die Fahrt nach Gent un¬
terhalten. Hier vergaſsen wir das Ungemach
der bisherigen Reise; denn bequemer ist
Kleopatra auf dem Cydnus, und Katharina
auf dem Dnepr nicht gefahren. Sowohl im
Hintertheil als im Vordertheil dieses sehr
geräumigen Fahrzeuges findet man eine schön
getäfelte Kajüte mit groſsen Fenstern und
[263] weich gepolsterten Bänken. Die Reinlich¬
keit gränzt hier überall an Pracht und Ele¬
ganz. Eine dritte noch geräumigere Abthei¬
lung in der Mitte diente den Reisenden aus
der geringen Volksklasse zum Aufenthalt;
daneben sind Küchen, Vorrathskammern und
Bequemlichkeiten aller Art zur Verpflegung
der Passagiere angebracht. Das Kaminfeuer
in unserer Kajüte verbreitete eine wohlthä¬
tige Wärme, bei welcher wir in Erwartung
der Mittagsmahlzeit unsere Anzeichnungen
über das am vorigen Tage Gesehene ins
Reine brachten.
Die Tafel wurde sehr gut und um billi¬
gen Preis servirt. Die Gesellschaft, die zu¬
weilen funfzig Personen stark seyn soll, war
diesmal zufälligerweise sehr klein, und be¬
stand aus einem Priester, einem Officier der
Freiwilligen von Brügge, einem Französischen
Nationalgardisten und Kaufmann aus Lille,
R 4[264] und einer Spitzenhändlerin aus Gent. Am
Ton des Flämischen Officiers konnten wir
sogleich abnehmen, daſs er nicht zur aristo¬
kratischen Partei gehörte, die überhaupt in
Flandern weder so viele, noch so eifrige An¬
hänger, als in Brabant, haben soll. Die Un¬
gezogenheit seiner Ausfälle gegen die Geist¬
lichheit, in Gegenwart eines dem Anschein
nach bescheidenen Mannes von diesem Stan¬
de, konnte nur durch die Erbitterungen des
Parteigeistes entschuldigt werden. Der Fran¬
zose hinterbrachte uns die Neuigkeit, daſs
der König von England nach Deutschland
reisen würde, um seine Güter unweit Straſs¬
burg zu besehen. Wir versuchten es ihm
begreiflich zu machen, daſs vom Kurfürsten¬
thum Hannover die Rede sei; allein es war
verlorne Mühe, seine geographischen Kennt¬
nisse berichtigen zu wollen: Hamburg und
Straſsburg galten ihm gleich; genug, beide
[265] lagen jenseits der Allemagne françoise.
Diese Unempfänglichkeit darf man indessen
nicht geradezu Beschränktheit nennen; viel¬
mehr ist sie nur die Folge jenes, Alles vor
sich hinwerfenden Leichtsinnes, dem es so
lächerlich scheint, in der Bestimmtheit ge¬
wisser, für den jetzigen Augenblick nicht in¬
teressirender Begriffe ein Verdienst zu su¬
chen, als wir die Verwirrung finden, die aus
solchen Vernachlässigungen entspringt. Wir
wissen freilich mehr, und thun uns viel dar¬
auf zu gute; allein ist es wohl eine Frage,
wer von beiden an dem, was er hat, durch
schnelle Verarbeitung und mannichfaltige
Verbindung, der reichste ist?
Der Kanal ist sehr breit und wohl unter¬
halten; seine Ausgrabung zwischen den hohen
Ufern muſs groſse Summen gekostet haben.
Anstalten dieser Art, die zuerst die Erhaltung
des trocknen, dem Ocean abgewonnenen Lan¬
R 5[266] des, demnächst den Handel und zuletzt die Be¬
quemlichkeit zur Absicht hatten, können nur
nach und nach zu ihrer jetzigen Vollkom¬
menheit gediehen seyn. Fünf Pferde zogen
uns in den stillen Gewässern dieses Kanals,
ohne daſs wir die leiseste Bewegung spürten.
Der Wind begünstigte uns überdies, so daſs
wir ein groſses Segel führten und in etwas
mehr als sechs Stunden Gent erreichten.
Hier standen schon mehrere Miethskutschen
in Bereitschaft, um die Reisenden in ihr
Quartier zu bringen.
Gent ist eine groſse, schöne, alte Stadt.
Ihre Straſsen sind ziemlich breit; die Häuser
massiv, zum Theil von guter Bauart; die
Kirchen zahlreich und mit groſser Pracht ge¬
schmückt. Alles scheint hier den ehemaligen
Wohlstand der Einwohner, und Spuren von
dem jetzigen zu verrathen; doch ist die
Volksmenge, wie in allen Niederländischen
[267] Städten, nach Verhältniſs des Umfanges zu
gering und es fehlt überall an Betrieb. Der
erste Anblick einer Stadt, wobei man so le¬
bendig in verflossene Jahrhunderte und ihre
Begebenheiten versetzt wird, hat gleichwohl
etwas Einnehmendes, das zuweilen bis zur
Erschütterung gehen kann. Ich wurde recht
lebhaft an den Stolz Karls des Fünften auf
sein blühendes Gent, und zugleich an die Ty¬
rannenleidenschaft erinnert, womit er selbst
dem Wohlstande desselben den tödtlichsten
Streich versetzte, als ich sein Standbild auf
einer hohen Säule am Marktplatz erblickte.
Als Kunstwerk betrachtet, macht es keinen
vortheilhaften Eindruck. Der Kaiser steht
wirklich sehr unsicher auf dieser gefährlichen
Höhe; das Zepter und der Reichsapfel von
ungeheurer Gröſse scheinen ihn völlig aus
dem Gleichgewichte zu bringen; seine Kniee
sind gebogen, und bald möchte ich fürchten,
[268] er sei in Begriff herabzugleiten. Im Glanz
der Abendsonne, welche diesen vergoldeten
Koloſs bestralte, konnte ich mich einer Re¬
miniscenz aus Blumauers travestirter Äneis
nicht erwehren; ich dachte an jenes Back¬
werk, wo der fromme Held zuoberst »ganz
von Butter» stand. Es hat schon etwas Un¬
natürliches, Statuen auf den Dächern unserer
Häuser anzubringen, die nicht, wie im Orient,
zum Aufenthalt der Menschen eingerichtet
sind; allein noch ungleich widersinniger
scheint es, einen Menschen auf den Gipfel
einer Säule zu stellen, den nur ein Verrück¬
ter oder ein Phantast, wie Simeon Stylites,
bewohnen kann. Wenn gleich die Alten uns
das Beispiel solcher Denkmäler gegeben ha¬
ben, so bin ich doch nicht der Meinung,
daſs wir ihrem Muster jederzeit blindlings
folgen sollen. Auch war bereits der gute
Geschmack in Verfall gerathen, als man z. B.
[269]
in Alexandrien auf die schöne Porphyrsäule
die Statue des Kaisers Severus stellte. Die
Aufmerksamkeit, die ein groſser Mann bloſs
durch die Höhe seines Standorts erregen
kann, ist sicherlich seiner nicht werth. Al¬
lerdings giebt es aber auch Fürsten in Menge,
die man nicht hoch genug stellen kann, da¬
mit sich nur jemand ihrer erinnere. Die
Nachwelt vergiſst die Wohlthaten, sie ver¬
giſst aber aber auch die Ungerechtigkeit der
Regenten; wie wäre es sonst möglich, daſs
Kaiser Karl auf dieser Säule noch über den
Köpfen einer so tief beleidigten Gesammtheit
sicher steht? Für den philosophischen Ge¬
schichtsforscher verwandeln sich freilich un
ter solchen Umständen die Ehrensäulen in
Denkmäler der Schande.
Der Brand vom 14. und 15. November
des vorigen Jahres hat in der Gegend des
Schlosses fürchterlich gewüthet. Viele der
[270] schönsten und prächtigsten Gebäude sind ein
Raub der Flammen geworden, womit die
Kaiserlichen damals die Stadt in einen Schutt¬
haufen zu verwandeln drohten und ihren Vor¬
satz auch ausgeführt hätten, wenn das Regen¬
wetter ihnen nicht so ungünstig gewesen wäre.
Wenn es im Kriege erlaubt ist, sich aller
Mittel ohne Unterschied gegen den Feind zu
bedienen;(ein Satz, der doch auch seine
vielfältige Einschränkung leidet) so gehörte
es gleichwohl zu den unglücklichen Verket¬
tungen des Schicksals, welches den verstor¬
benen Kaiser so rastlos verfolgte, daſs sich
unter den Befehlshabern seines Niederländi¬
schen Heeres ein Mann befinden muſste, der
eine entschiedene Neigung äuſserte, die här¬
testen Maaſsregeln zu ergreifen, und dem das
Blut seiner Mitbürger ziemlich feil zu seyn
schien. Jene schauderhafte Vernichtung von
Brüssel, welche der Herzog von Ursel am
[271] zwanzigsten September 1787 so glücklich ver¬
hütet hatte, wollte jetzt der Erfinder dieses
grausamen Anschlags mit Gent wirklich be¬
ginnen. Es war nicht etwa ein zügelloser
Pöbel, wie der Parisische, der sich einen
Augenblick vergaſs und an einzelnen Opfern
die tausendjährige Schuld seiner Unterdrücker
rächte; Deutsche Soldaten, denen die Flam¬
mänder noch vor kurzem die gastfreieste
Pflege hatten angedeihen lassen, wurden hier
von ihren Officieren angeführt zur Plünde¬
rung ihrer Wohlthäter, zur Einäscherung der
Stadt und zum nächtlichen Kindermord. Die
Ereignisse jener zwei schrecklichen Nächte
sind von der gräſslichen Art, daſs sie in die
Geschichte der feudalischen Zerrüttungen,
nicht in das achtzehnte Jahrhundert, zu ge¬
hören scheinen, daſs sie neben den übrigen
Atrocitäten, welche das Ungeheuer der will¬
kührlichen Gewalt ausgebrütet hat, ihre Stelle
[272] verdienen *). Neun und siebzig Kinder und
Erwachsene wurden von den Soldaten theils
getödtet, theils mit ihren Häusern verbrannt.
Die Unmenschlichkeiten, die dabei vorgin¬
gen, mag ich nicht nachschreiben; aber sie
gehören der Geschichte, welche der Nach¬
welt die folgenschwere Wahrheit beurkunden
muſs, daſs, wenn gleich die Aufwallungen der
Ungebundenheit in einem lange gemiſsbrauch¬
ten Volke zuweilen in blutige Rache ausarten
können, sie gleichwohl von der barbarischen
Fühllosigkeit des rohen Söldners weit über¬
troffen[273] troffen werden. Traurig ist die Wahl zwi¬
schen zwei groſsen Übeln; allein es liegt
schon in der Natur der Sache, daſs die Fol¬
gen der Anarchie, wie schwarz die Mieth¬
linge des Despotismus sie auch schildern
mögen, nur Kinderspiele sind gegen die
Schandthaten beleidigter Sklaventreiber. Ihre
Erbitterung wird giftiger durch die vermeinte
Kränkung ihrer Herrscherrechte; ihr Zweck
ist nicht bloſs Unterjochung, sondern zu¬
gleich Rache und Strafe; sie sind immer
Krieger und Henker zugleich; sie zerstören
und verwüsten aus Grundsatz und nach ei¬
nem vorher bedachten Plan.
Ich begreife jetzt, wie der Anblick solcher
Greuel den Muth der Bürger und Freiwilli¬
gen bis zur Tollkühnheit entflammen muſste.
Arberg verfehlte gänzlich seinen Endzweck,
und sah sich genöthigt, unter Begünstigung
der Nacht das Schloſs zu räumen und seinen
II. Theil. S[274] Rückzug anzutreten. Das kleine Patrioten¬
heer, verstärkt durch die junge Mannschaft,
die aus Courtray den Gentern zu Hülfe ge¬
kommen war und die Kaiserlichen von ei¬
nem Thore vertrieben hatte, stürzte am
sechzehnten, nachdem es, unter den Waffen
stehend, dem im Portal der Nikolauskirche
gefeierten Hochamte beigewohnt und sich
durch die allgemeine Absolution zu seinem
Unternehmen gestärkt hatte, mit unwider¬
stehlicher Gewalt auf die Kasernen los, und
erstieg die dort befindlichen Batterien. Bu¬
ben von siebzehn Jahren stachen die Kano¬
niere über den Haufen, die mit brennender
Lunte in der Hand das Geschütz gegen sie
lösen wollten. Schon hatten sie das Thor
erreicht und schleppten Stroh zusammen, um
die Kasernen in Brand zu stecken, als die
Östreichischen Officiere unbewaffnet und mit
entblöſstem Haupt ihnen entgegen gingen
[275] und sich zu Kriegesgefangenen ergaben. Die
Flammänder waren in diesem leidenschaft¬
lichen Augenblick besonnen genug, ihrem
Unwillen, der so hoch gereitzt worden war,
zu gebieten. Sie nahmen ihre Feinde in
Schutz, als hätten diese mit erlaubten Waf¬
fen und nur gegen Männer gefochten.
Die Einwohner haben das Schloſs demo¬
lirt, weil es nicht länger haltbar war; dage¬
gen erfreute uns der Anblick vieler neuen
Häuser, die bereits überall aus den Rui¬
nen hoch emporstiegen und vom Reich¬
thum der hiesigen Bürgerschaft ein gutes
Vorurtheil bei uns erweckten. Ich weiſs
nicht, war es diese zufällige Scene der Ge¬
schäftigkeit, oder lag es vielmehr wirklich
im Charakter der Flammänder, daſs wir uns
gleich auf den ersten Blick einen günstige¬
ren Begriff von ihnen als von ihren Braban¬
tischen Nachbarn abstrahirten. So viel ist
S 2[276] wenigstens gewiſs, daſs diese Provinz, ob sie
gleich weit später als Brabant gegen die Be¬
drückungen der Regierung reklamirte, den¬
noch früher und mit mehr Entschlossenheit
zu entscheidenden Maaſsregeln griff; daſs sie
zuerst sich zu Gunsten des Comité von Bre¬
da und der Unabhängigkeit öffentlich erklär¬
te, bei der Errichtung der freiwilligen Corps
den gröſsten Eifer bewies und an der völli¬
gen Vertreibung der Östreichischen Armee
den stärksten Antheil hatte. Eine Spur von
Seelenadel konnte wirklich den Flammändern
ihre freiere Verfassung aufbewahrt haben.
In der Versammlung ihrer Stände sind der
Geistlichkeit zwei, dem Adel zwei, den
Städten drei, und dem platten Lande eben¬
falls drei Stimmen zugetheilt; dergestalt, daſs
der dritte Stand allemal sicher auf die Mehr¬
heit rechnen kann, sobald es ihm ein Ernst
ist, sich dem aristokratischen Einfluſs zu ent¬
[277] ziehen. Die Wiederherstellung des Adels,
als eines votirenden Standes, in der Staaten¬
versammlung, ist ein Werk der Revolution.
Seit dem Anfange des siebzehnten Jahrhun¬
derts hatte der Flandrische Adel Sitz und
Stimme verloren, weil er eine Zeitlang die
ganze Macht der Stände usurpirt hatte. Da
es ihm nicht gelungen war, unter der Öst¬
reichischen Regierung seine Rechte wieder
zu erlangen, so hatte er sich auf einem an¬
dern Wege zu behaupten und sein Interesse
dadurch zu sichern gesucht, daſs er so viele
seiner Mitglieder als nur möglich war, zu
Deputirten der gröſseren und kleineren Städte
wählen lieſs. Diese Einrichtung dauert noch
fort, und erklärt die eifrige Theilnahme der
Staaten von Flandern an der in Brabant ge¬
gen die demokratische Partei so glücklich
ausgeführten Verfolgung. Das Volk und die
Bürger murren indessen über die Gefangen¬
S 3[278] setzung des Generals van der Mersch, und
fordern laut von ihren Ständen, daſs sie
sich seiner gegen den Kongreſs annehmen
sollen.
Das Raschere, das Entschiednere im Cha¬
rakter dieses Volkes ist auch in den Ge¬
sichtszügen ausgedrückt, und wohlgebildete
Männer sind uns in diesem Theile von Flan¬
dern häufiger als in Brabant vorgekommen;
allein ihre Erziehung ist der Brabantischen
zu ähnlich, um uns hoffen zu lassen, daſs
sie mit ihrem Jahrhundert weiter als jene
Nachbarn vorgerückt seyn könnten. Auch
hier giebt es keinen Namen, den man im
übrigen Europa mit Achtung oder mit Be¬
wunderung nennt. Zwar können ganze Völ¬
ker bei dieser Mittelmäſsigkeit glücklich seyn,
so lange sie ruhig bleiben; doch wehe den
Empörern, an deren Spitze kein gröſserer
Mensch einhergeht!
[279]
Auch unter dem hiesigen Frauenzimmer
habe ich manches hübsche Flämische Ge¬
sicht bemerkt und in einem Buchladen glaub¬
te ich an der Frau vom Hause das Ebenbild
einer von Rubens Frauen zu sehen; nur
Schade, daſs diese schönen und zum Theil
auch feinen Züge, dieses völlige Gesicht mit
den groſsen, offenen braunen Augen, den
starken Augenbrauen, der kleinen, geraden
Nase, den zarten rosenrothen Lippen und
der durchschimmernden Röthe auf dem le¬
bendigen Weiſs des Teints — so stumm und
seelenlos erscheinen und von jener Empfäng¬
lichkeit, die überall das Erbe des Weibes
seyn sollte, nichts verrathen. Ferne sei es,
daſs ich hier die ausgebildeten Reize des
ideenreichen Wesens fordern sollte, die nach
den Umständen unmöglich hier anzutreffen
sind; aber Seele könnte doch das Auge stra¬
len, leise, sanft und innig könnten auch un¬
S 4[280] gebildete Mädchen empfinden. Von diesem
allem zeigt das Äuſsere der Flammänderinnen
keine Spur. Eine Schlaffheit des Geistes,
die sich in Europa kaum abgespannter den¬
ken läſst, scheint sie für jeden Eindruck,
der auſser dem Bezirk des mechanischen
Hausregiments und der eben so mechani¬
schen Religionsübungen liegt, durchaus un¬
empfindlich zu machen. Wenn nicht die
Nähe von England und Frankreich, der Han¬
del von Ostende und die Fabriken, die aus
jener besseren Zeit im Lande noch übrig
geblieben sind, Französische und Englische
Moden einführten, würde man es hier kaum
merken, daſs der Begrif des Putzes auf den
Begrif des Schönen eine Beziehung hat.
Die Beschreibung der öffentlichen Ge¬
bäude und Kirchen, die man aus so vielen
Reisebeschreibungen kennt, wirst Du mir
gern erlassen; ich schweige also von dem
[281] ungeheuren Rathhause, von den dreihundert
Brücken, die alle Theile dieser von Kanälen
durchschnittenen Stadt verbinden, und selbst
von der groſsen Gothischen Masse der Ka¬
thedralkirche zu St. Bavo, mit den daran ge¬
klebten Stücken von Griechischer Architektur,
die den Eindruck ihrer Gröſse stören. Die
Verschwendung von weiſsem und von schwar¬
zem Marmor in dem Innern dieses Tempels
würde mir indeſs aufgefallen seyn, wenn
mich nicht auf eine weit angenehmere Art
die Kunst beschäftigt hätte. Die zahlreichen
Kapellen enthalten einen Schatz von Flämi¬
schen Gemälden der ersten Klasse, von de¬
nen ich Dir wenigstens ein Paar bekannt
machen muſs, die für mich etwas Merkwür¬
diges hatten. Zuerst nenne ich die Auferste¬
hung Lazari, ein Meisterwerk von Otto Ve¬
nius, einem Lehrer des gepriesenen Rubens.
Dieses in Absicht auf die Composition sehr
S 5[282] fehlerhafte Stück, dessen Umrisse zum Theil
verzehrt, dessen Schatten schon ein wenig
schwarz geworden und dessen Farben trocken
sind, hat dennoch einzelne schöne Partien.
Die Hauptfigur, der in der Mitte stehende
Christus, ist wie gewöhnlich verfehlt; er ist
kalt, jüdisch und uninteressant; seine Dra¬
perie ist schwer und ungeschickt geworfen,
seine aufgehobene Hand ruft nicht, winkt
nicht, segnet nicht. Lazarus liegt halb im
Schatten, wirklich schön von Angesicht und
Gestalt; er blickt edel und seelenvoll zu sei¬
nem Retter auf und ist ungleich besser als
alles übrige kolorirt. Seine Schwester Maria
sitzt an seiner Gruft im Vordergrunde. Ihr
Gesicht und die ganze Figur machen mit
dem übrigen Bilde den merkwürdigsten Kon¬
trast; denn ihre Züge, ihre Kleidung und
das ganze Kostume sind gänzlich aus der
Römischen Schule entlehnt. Man glaubt
[283] eine Madonna von Raphael kopirt zu sehen,
so ruhig und doch so edel gerührt ist dieser
schöne Kopf. Martha und Magdalena sind
dagegen hübsche Flammänderinnen im kur¬
zen buntseidenen Korsett. Petrus bückt sich,
um dem Lazarus heraus zu helfen; sein
blaues Gewand über dem breiten Rücken thut
vortrefliche Wirkung. Die übrige Gruppe
von Köpfen ist gar zu gedrängt voll und
geht zu hoch in dem Bilde hinauf; auch
fehlt es ihr an Auswahl.
Du erinnerst Dich des schönen Sebastian
von van Dyk in Düsseldorf. Hier ist einer
von Hondhorst, der viel Verdienst hat. Aus
dem schönen Körper zieht eine schwarz ge¬
kleidete weibliche Figur die Pfeile aus. Sehr
leicht ruht ihre Hand auf dem zarten, ver¬
wundeten Körper; aber ihr Gesicht ist ohne
Ausdruck, und mit eben den Zügen würde
sie Spitzen waschen. Die Alte, ebenfalls ein
[284] gemeines Gesicht, empfiehlt Behutsamkeit
mit Blick, Stellung und Hand. Das leidende
Gesicht Sebastians ist edel und voll unbe¬
schreiblicher Milde; sein Auge ist schön,
sanft redend und voll Vertrauen. Die Farben¬
gebung ist zwar nicht ganz natürlich, aber
weich und von einem harmonischen, mo¬
desten Ton. Doch die Stellung des ange¬
bundenen, aus einander gedehnten Körpers
zieht zuerst den Blick des Zuschauers auf
sich, und man muſs in der That unpar¬
teiisch das Verdienst hervorsuchen wollen,
wenn dieser erste Eindruck nicht wegscheu¬
chen und alle nähere Untersuchung verhin¬
dern soll. Daſs die Künstler es nicht fühlen,
wie diese Marter den Zuschauer leiden läſst,
und wie unmöglich es ist, mit einigem Ge¬
fühl ein solches Kunstwerk lieb zu gewinnen!
Übrigens hat es mir wohl gethan, hier das
Studium Italienischer Meister und Hondhorsts
[285] langen Aufenthalt in Italien zu erkennen; wo
ich nicht irre, habe ich schon etwas von
Michel Angelo gesehen, woran mich die frei
und fest gezeichnete Figur dieses Sebastians
erinnerte.
Der St. Bavo von Rubens hat mir un¬
gleich weniger gefallen; das Stück ist in zwei
Gruppen über einander getheilt, wovon die
unterste aus vielen ziemlich ekelhaft durch ein¬
ander gewundenen Figuren besteht. Links im
Vordergrunde stehen ein Paar plumpe Dirnen
von Fleisch und Blut. Auch der Zeitgenosse
von Rubens, der um den Ruhm eines groſsen
Künstlers mit ihm wetteifernde Crayer, lei¬
stete mir hier kein Genüge. Die Kreuzigung,
die man von ihm in der Bischofskapelle be¬
wundert, ist schön kolorirt; aber der Körper
ist verzeichnet. Sein Hiob ist interessanter:
er blickt auf voll Vertrauen, das sogar an
Extase und Freude gränzt; dagegen hört er
[286] auch nicht, was sein Weib, eine sehr ge¬
meine Hexe, ihm sagt. Von den drei Freun¬
den sitzen zwei mit niedergebücktem Haupte,
und träumen, indeſs der dritte mit den Fin¬
gern spricht. Noch ein gepriesenes Gemälde
dieses Meisters ist hier die Enthauptung des
Täufers Johannes; aber welch ein Anblick!
Eine zerrissene, unzusammenhangende Com¬
position, verwischte Farben, ein scheuſslicher
Rumpf und ein Bologneser Hündchen, wel¬
ches Blut leckt! Solch ein Gegenstand und
solch eine Phantasie schicken sich für ein¬
ander, und um alles zu vollenden, gehört
nur noch der Zuschauer dazu, der mit uns
zugleich vor dem Bilde stand und voll Ent¬
zücken ausrief: ah quelle superbe effusion de
sang!
Unter einer groſsen Anzahl von Gemäl¬
den, wovon die besten von Seghers, van
Cleef, Roose und Porbus gemalt sind, keines
[287] aber hervorstechende Vorzüge besitzt, halte
ich ein uraltes Stück von den Gebrüdern
van Eyk noch für nennenswerth, weil es
vielleicht das erste war, das in den Nieder¬
landen mit Ölfarben gemalt wurde. Der Ge¬
genstand ist aus der Offenbarung Johannis
entlehnt: die Anbetung des Lammes. Der
Composition fehlt es, wie man es sich von
jener Zeit vorstellen kann, sowohl an Ord¬
nung und Klarheit, als an Wirkung und
Gröſse. Bei aller Verschwendung des Fleiſses
bleibt die Zeichnung steif und inkorrekt;
Perspektive und Haltung fehlen ganz und
gar; die Farben sind grell und bunt und
ohne Schatten. So malte man aber auch in
Italien vor Perugino’s Zeiten, und was uns
dieses Gemälde merkwürdig macht, ist daher
nicht der Geist, womit es ersonnen und aus¬
geführt worden ist, sondern die wichtige
Erfindung der Ölmalerei, die damals in den
[288] Niederlanden zuerst an die Stelle des so
lange üblich gewesenen al Fresco trat, wenn
sie auch in Deutschland bereits weit länger
bekannt gewesen seyn mag. Ich bin zwar
weit entfernt, den Koloristen einen Vorzug
vor den richtigen Zeichnern einräumen zu
wollen; allein ich halte es wenigstens im
Angesicht der Meisterwerke des Flämischen
Pinsels für ein gar zu hartes Urtheil, die Er¬
findung, worauf der ganze Ruhm dieser
Schule beruht, mit Lessing um des Miſs¬
brauchs willen, der damit getrieben worden
ist, lieber ganz aus der Welt hinweg zu
wünschen. Der Vorwurf einer üblen An¬
wendung, selbst einer solchen, welche völlig
zweckwidrig ist, trift wohl mehr oder weniger
eine jede menschliche Erfindung; und wenn
es nicht geläugnet werden kann, daſs die
Erlernung der beim Ölmalen erforderlichen
Kunstgriffe manchen wackern Künstler mit¬
ten[289] ten in seiner Laufbahn aufgehalten und in
die Klasse der Mittelmäſsigkeit geworfen oder
gar vom rechten Ziel der Kunst entfernt hat,
so bleibt es doch auch unbestritten, daſs mit
Ölfarben manches unnachahmliche Bild auf
die Leinwand hingezaubert worden ist, des¬
sen Schönheiten bei jeder andern Behandlung
verloren gegangen wären. Am Kolorit, als
solchem, ist freilich so viel nicht gelegen;
aber durch die Verschmelzung der Farben¬
schattirungen, welche nur ihre Vermischung
mit Öl möglich machte, sind feine Nüancen
des Ausdrucks erreicht worden, wodurch die
Kunst selbst an Würde gewonnen hat und
für den Psychologen lehrreich geworden ist.
Der Wunsch, in den übrigen Kirchen,
Klöstern, Prälaturen, auf dem Rathhause und
in den Privatsammlungen zu Gent den Denk¬
mälern der Flämischen Kunstepoche nachzu¬
spüren, muſste für itzt der Nothwendigkeit
II. Theil. T[290] unseres Reiseplans weichen. Mit Tagesan¬
bruch eilten wir durch die reichste Gegend
von Flandern hieher nach Antwerpen. Der
Weg ging über eine herrlich bebaute Ebene.
Triften, Wiesen, Äcker und Heerstraſsen
waren mit hohen Bäumen und Gebüschen
eingefaſst; der Steindamm war den gröſsten
Theil des Weges so gut, wie im übrigen
Brabant und Flandern. Die Vegetation schien
indeſs kaum noch weiter vorgerückt, als wir
sie in unserer milden Mainzer Gegend ver¬
lassen hatten; die Saaten allein prangten mit
ihrem frischen Grün, und des Ölrettigs dichte,
goldgelbe Blüthen bedeckten oft unabsehliche
Strecken. Das Erdreich war an vielen Stel¬
len leicht und mit Sand gemischt, mithin
gewissen Gattungen von Getreide vorzüglich
angemessen. Überall sahen wir den Anbau
zu derjenigen Vollkommenheit getrieben, wo
bereits der Wohlstand der Einwohner durch
[291] ihren Fleiſs hervorschimmert. Wie leicht
müſste nicht hier, bei einer bessern Erzie¬
hung des Landvolkes und gehöriger Anlei¬
tung von Seiten der Gutsbesitzer, die Land¬
wirthschaft mit der Schwedischen und Eng¬
lischen wetteifern können! Allein es ist ja
alles hier gleichsam darauf angelegt, den al¬
ten Vorurtheilen einen Charakter heiliger
Unfehlbarkeit aufzuprägen. Mit Erstaunen
und Freude muſsten wir indeſs einander be¬
kennen, daſs wir solche Flecken und solche
Dörfer, als womit dieser Weg und die
ganze Gegend gleichsam besäet ist, auf dem
festen Lande noch nicht angetroffen hätten.
Lockeren, St. Nikolas, u. a. m. beschämen die
Städte vom dritten und vierten Range, die
man in anderen Ländern über ihres gleichen
rühmt. Sie sind beinahe Viertelmeilen lang,
durchaus von Backsteinen sauber erbaut, mit
breiten Straſsen, gutem Pflaster und Reihen
T 2[292] von Bäumen wohl versehen. Ordnung und
Reinlichkeit, die unverkennbaren Begleiter
des Wohlstandes, herrschten im Innern der
Häuser, und der treuherzige Ton der Bewill¬
kommung, den wir von den Einwohnern
vernahmen, bestätigte uns in der guten Mei¬
nung von ihrer Wohlhabenheit. Wir fanden
alle Hände mit der Verfertigung von grober
Leinwand zu Segeltuch, Gezelten u. d. gl. aus
selbst gezogenem Hanf und Flachs beschäf¬
tigt. Dieser Anbau, nebst den darauf beru¬
henden Manufakturen und dem reichlichen
Ertrage des Getreidebaues, scheint die Haupt¬
quelle des hiesigen Reichthumes zu seyn.
Eine halbe Meile vor Antwerpen ver¬
schwanden die Bäume, Gebüsche und einge¬
zäunten Felder; die Gegend verwandelte sich
in eine weit ausgebreitete Lande, eine kahle
Ebene, wo Viehweiden und Wiesen an ein¬
ander gränzten, und an deren Horizont wir
[293] ringsum beschattete Dörfer, in der Mitte aber
Antwerpen in seiner imposanten Gröſse lie¬
gen sahen. Ein Wald von Thürmen, und
vorzüglich der ungeheure Gothische, wie Fi¬
ligran gearbeitete Spitzthurm der Kathedral¬
kirche, ragte hoch empor; die Citadelle auf
einer kleinen Erhöhung vergröſserte und ver¬
schönerte diesen Anblick, und die Bewegung
auf- und absegelnder Barken auf der Schel¬
de, die wir zwischen ihren Ufern noch nicht
sehen konnten, hatte etwas Zauberähnliches.
Bald erblickten wir ihre gedemüthigten Ge¬
wässer, und seufzten von neuem über Euro¬
päische Politik und Europäisches Völker¬
recht. Der schöne, herrliche Fluſs ist, wie
die Themse, zum Handel gleichsam geschaf¬
fen; die Fluth steigt darin zwanzig Fuſs
hoch vor den Mauern der Stadt, und ver¬
doppelt alsdann seine Tiefe. Hier ist er
nicht so breit, wie der Rhein vor Mainz;
T 3[294] aber er trägt wegen des beträchtlichen Stei¬
gens und Fallens keine Brücke. Etliche
Meilen weiter hinabwärts breitet er sich aus
zu eines Meerbusens Weite. Wir sahen ei¬
nen Hafen, wo zweitausend Schiffe Raum
finden würden, mit einigen kleinen Fahrzeu¬
gen besetzt. In wenigen Minuten führte uns
ein kleiner Nachen von dem so genannten
Haupt (oder der Spitze) von Flandern hin¬
über in die Stadt.
[295]
XXI.
Es kostet eben keine groſse Mühe, in einer
Stadt, die Raum für zweimal hundert tau¬
send Menschen enthält, zwischen den übrig
gebliebenen vierzig tausend Einwohnern sich
hindurch zu drängen; das bloſse Sehen ist
es, was uns am Abend ermüdet auf unser
Zimmer zurück treibt, wo ich Dir heute
noch erzählen will, welche Schätze der Flam¬
mändischen Kunst in diesen Paar Tagen vor
uns die Schau und Musterung haben aushal¬
ten müssen. Was wir gesehen haben, ist
nur ein sehr geringer Theil der in Antwer¬
pen noch vorhandenen Gemälde; alle Kir¬
chen, Abteien und Klöster, deren es hier
mehr als dreiſsig giebt, sind über und über
mit den Meisterwerken Niederländischer Ma¬
ler behängt; das weitläuftige Rathhaus, die
T 3[296] Säle der Bürgerkompagnien, und die Börse,
enthalten manches groſse und von Kennern
gepriesene Werk, und auſserdem zählt man
verschiedene erlesene Privatsammlungen von
kleineren Stücken. Wenn die Menge dieser
Kunstgebilde mit ihrem Werth in einem di¬
rekten Verhältniſs stände, so müſsten sowohl
Maler als Liebhaber der Malerei nach Ant¬
werpen wie nach Rom wallfahrten und Jahre
lang sich an dem Fleiſse, der Geschicklich¬
keit und der Erfindungskraft der Niederlän¬
dischen Meister weiden; doch daſs es wirk¬
lich nur zu selten geschieht, das setzt die
hiesigen Schulen tiefer unter die Italienischen
herab, als meine Lobsprüche sie wieder he¬
ben können.
Die Malerei umfaſst einen so groſsen
Kreis von Fertigkeiten und Kenntnissen, daſs
unter Hunderten, die sich ihr widmen, kaum
Einer zu irgend einer auszeichnenden Stufe
[297] gelangt, und folglich wahre Künstlergröſse
auf diesem Wege so schwer zu erringen ist,
wie in jener von Homer und Pindar betre¬
tenen Laufbahn. Ob ein Marmorblock, oder
zerriebene Farben, oder die Elemente der
Sprache den rohen Stoff ausmachen, den der
Künstler bilden soll: dies kann in so weit
gleichgültig seyn, als nur die Arbeit den
Werth des Kunstwerks bestimmt; und diese
Arbeit nun — nach welchem andern Ver¬
hältnisse läſst sie sich schätzen, als dem ge¬
doppelten, des innern Werthes und Reich¬
thumes der schaffenden Seele, und des Gra¬
des der Vollkommenheit, in welchem sie
sich mit ihrer Schöpfung identificirte? Oder
sollte es hier wirklich nicht auf das erstere,
nicht auf die Humanität des Künstlers an¬
kommen? sollte nur die Gabe darzustellen,
gleichviel was dargestellt würde, den Meister
bezeichnen? Dann freilich giebt es keine
T 5[298] gröſseren Maler als Douw und Miris und
Metsü; dann könnte es sich treffen, daſs ein
Harlekin der gröſste Schauspieler genannt zu
werden verdiente; dann hieſse das Geklin¬
gel und Geklapper der Sylben, und die, wie
Paul Denners Köpfe, bis auf jedes Härchen
mühsam, ekelhaft und geschwätzig nach dem
Leben kopirten Sittengemälde unserer Idyl¬
lenschmiede das non plus ultra der Dicht¬
kunst.
Unstreitig hat die bloſse Nachahmung der
Natur schon ihr groſses Verdienst; sie ist
die unnachläſsliche Bedingung zu weiteren
Fortschritten. Es setzt sogar in allen drei
Künsten, die ich eben erwähnte, ein weit
getriebenes Studium, einen gewissen Umfang
der Kenntnisse, der Erfahrung und Übung
voraus, um nur den Mechanismus, so der
Farbenmischung und Farbengebung, wie der
metrischen Bewegungen und ihrer Anwen¬
[299] dung, oder endlich der Mimik und De¬
klamation, auf die höchste Stufe der Voll¬
kommenheit zu bringen. Vielleicht aber
liegt es schon in der Natur menschlicher An¬
lagen, daſs gemeinhin bei der Concentration
aller Kräfte auf diese mechanischen Vorü¬
bungen, die Fähigkeit zu den höheren Zwek¬
ken der Kunst hinanzusteigen, verloren geht
oder wohl gar von Grund aus schon fehlt.
In der Mechanik der Kunst konnten die Nie¬
derländer selbst einen Raphael übertreffen;
allein wer seine Formen sieht, in seinen Ge¬
mälden Gedanken liest und Gefühle ahndet,
den umfassenden, erschöpfenden wählenden
Sinn darin erkennt, womit der hohe Künst¬
ler den Menschen und sein Treiben durch¬
schaute — wird ihm der nicht die kleinen
Mängel seiner Palette gern erlassen? Ich
möchte fast noch weiter gehen, ich möchte
mich überreden, daſs den gröſsten Meistern
[300] so viel von diesem Machwerk zu Gebote ge¬
standen, als sie gerade zur Vollkommenheit
ihrer Darstellung bedurften, daſs die üppige,
wollüstige Vollendung eines Tizian den Ein¬
druck hätte stören können, den Raphaels
erhabener Ernst hervorbringen sollte. So
viel ist wenigstens gewiſs, daſs die Darstel¬
lung der Griechischen Gottheiten darum be¬
reits auſserhalb der Gränzen der Malerei zu
liegen und ein ausschlieſsendes Eigenthum
der Bildhauerei zu seyn scheint, weil das
irdische Kolorit groſsentheils die Täuschung
vernichtet, welche das idealisirte Ebenmaaſs
allein bewirken kann; die vortreflichsten ge¬
malten Göttinnen und Götter sind weiter
nichts, und machen keinen andern Eindruck,
als schöne Frauen und Männer. Wenn
ich diese Bemerkung auf solche Gegen¬
stände anwende, die der Malerei vorzüg¬
lich angemessen sind und in deren Bearbei¬
[301] tung sie eigentlich ihre höchste Vollkommen¬
heit erreicht, so dünkt es mich auch hier,
daſs der heroischen Natur, der idealischen
Schönheit, der ästhetischen und sittlichen
Gröſse eine gewisse Täuschung, nicht nur
der Formen, sondern auch der Farbengebung,
nothwendig zugestanden werden müsse, wel¬
che mit dieser Einschränkung noch gedenk¬
bar, und gleichwohl über jede gewöhnliche
und bekannte Natur hinwegschwebend, den
Charakter des Erhabenen ausdrückt. Würde
nicht, zum Beispiel, die Wärme, womit es
erlaubt ist eine Danae, eine Leda oder eine
Kleopatra zu malen, dem Bildniſs einer Hei¬
ligen übel anstehen? Oder dürfte sich der
Maler schmeicheln, wenn er die Himmelfahrt
der Jungfrau schildert, die Phantasie des Zu¬
schauers befriedigen und bestechen zu kön¬
nen, wofern er nicht die Vorstellung eines
schweren, materiellen Körpers von Fleisch
[302] und Blut so viel als möglich durch die Illu¬
sion des Kolorits zu entfernen suchte? *)
Den Künstlern kann man es nicht oft ge¬
nug wiederholen, daſs die treue Nachahmung
der Natur keinesweges der Zweck der Kunst,
sondern nur Mittel ist; daſs Wahrscheinlich¬
keit ihr mehr als Wahrheit gilt, weil ihre
Werke nicht zu den Wesen der Natur ge¬
hören, sondern Schöpfungen des menschli¬
chen Verstandes, Dichtungen sind; daſs die
Vollkommenheit dieser Geistesgeburten desto
inniger empfunden wird, je unauflösbarer die
Einheit und je lebendiger die Individualität
ihres Ganzen ist; endlich, daſs Schönheit
ihr vollendendes äuſserliches Gepräge und
zugleich ihre inwohnende Seele bleiben muſs.
[303] Vermittelst dieser Bestimmungen erklärt man
sich leicht, warum in ächten Kunstwerken
die Darstellung zuweilen so treu und wahr
seyn kann, wie in bloſsen Kopien nach der
Natur; da hingegen umgekehrt der genielose
Fleiſs, auch wenn er täuschend genau dar¬
stellt, auf den Namen der Kunst, im höhe¬
ren Verstande, keinen Anspruch machen darf.
So würde es ebenfalls die Scheidung des
Wesentlichen in der Kunst von dem Zufälli¬
gen sehr erleichtern, wenn man erwöge, daſs
sogar die rohesten Völker, die entweder ei¬
nen höchst unvollkommnen oder noch gar
keinen Trieb zu materiellen Kunstgebilden
äuſsern, bereits wahre Poësien besitzen, wel¬
che, verglichen mit den geglätteten und
künstlich in einander gefügten dichterischen
Produkten der verfeinerten Kultur, diesen oft
den Preis der Gedankenfülle, der Stärke und
Wahrheit des Gefühls, der Zartheit und
[304] Schönheit der Bilder abgewinnen. Man be¬
greift, wie diese Eigenschaften das einfache
Hirtenlied, die Klagen und das Frohlocken
der Liebe, den wilden Schlachtgesang, das
Skolion beim Freudenmale und den rauschen¬
den Götterhymnus eines Halbwilden bezeich¬
nen können; denn sie gehen aus der schöp¬
ferischen Energie des Menschen unmittelbar
hervor und sind unabhängig von dem Vehi¬
kel ihrer Mittheilung, der mehr oder minder
gebildeten Sprache. Spröder ist der todte,
körperliche Stoff, welchen der bildende
Künstler auſser sich selbst suchen muſs, um
seine Einbildungskraft daran zu offenbaren.
Statt des conventionellen Zeichens, des leicht
hervorzubringenden Tones, muſs er die Sa¬
che selbst, die er sich denkt, den Sinnen so
darzustellen suchen, wie sie sich im Raum
geberdet, und hiermit werden alle Einschrän¬
kungen seiner Kunst offenbar. Die mecha¬
nischen[305] nischen Vortheile in der Behandlung des ro¬
hen Materials, die aus dem inneren Sinne
zur äuſsern Wirklichkeit zu bringende, rich¬
tige Anschauung der Formen, die Erfahrung,
welche den Künstler lehren muſs, seinen
Tiefblick durch die Veränderungen der äu¬
ſsern Gestalt bis in die Modifikationen der
Empfindung zu senken, und jene sinnlichen
Erscheinungen als Zeichen dieser inneren
nachzubilden — dies alles fordert einen un¬
geheuren Aufwand von Zeit und vorbereiten¬
der Anstrengung, wovon der Dichter, der
sich selbst Organ ist, nichts zu wissen
braucht. Je schwerer also die Darstellung
und je längere Zeit sie erfordert, desto stren¬
ger bindet sie den Künstler an Einfalt und
Einheit; je einfacher aber irgend eine Geburt
des Geistes, desto mächtiger muſs sie durch
die Erhabenheit und Gröſse des Gedankens
auf den Schauenden wirken. Daher ist die
II. Theil. U[306] lebendige Ruhe eines Gottes der erhabenste
Gegenstand des Meiſsels, und ein Augenblick,
wo die Regungen der menschlichen Seele
schön hervorschimmern durch ihre körper¬
liche Hülle, ist vor allen des Pinsels groſser
Meister würdig.
Wenn ich mit diesen Vorbegriffen die
Werke der Niederländischen Schulen be¬
trachte, so hält es, wie mich dünkt, nicht
schwer, das rechte Maaſs ihres Verdienstes
anzugeben. Ich sehe groſse Anlagen, Riesen¬
kräfte, die unter einem glücklichern Himmel,
in einem gröſsern Wirkungskreise, bei einer
andern Erziehung und anderen bestimmenden
Verhältnissen Wunder der Kunst hervorge¬
bracht hätten. Hier verzehren sie sich im
Kampfe mit den Schwierigkeiten des Mecha¬
nismus, und wenn sie diese ganz besiegt ha¬
ben, ist der Gedanke, den sie darstellen
wollen, des Sieges nicht werth. Als Tro¬
[307] phäen können wir indeſs diese Werke nicht
nur gelten lassen, sondern auch mit Dank
und Bewunderung annehmen; Trophäen näm¬
lich, wie der Mensch sie auf seinen Zügen
bis an die äuſserste Gränze seiner Herrschaft
über die sinnliche Welt erbeuten kann. Das
Gesetz der Mannichfaltigkeit scheint eine
Zusammenschmelzung aller Gattungen der
Vollkommenheit in einem Menschen so we¬
nig wie in einem Werke zu gestatten; wo
Licht und Schatten, Haltung, Effekt, wahre
Färbung, treue Nachahmung gegeben werden,
dort müssen wir nicht allein Verzicht thun
auf die hohe ästhetische Begeisterung, die
sich bis zur Darstellung der Harmonien zwi¬
schen dem sinnlichen und dem sittlichen
Schönen emporschwingt, sondern wir müs¬
sen uns auch zufrieden geben, wenn das
sehr löbliche Bemühen Effekt herauszubrin¬
gen, zu dem sehr anstöſsigen Fehler falscher
U 2[308] Umrisse verleitet, der gerade dann am un¬
verzeihlichsten ist, wenn er nicht durch
Schönheiten einer höhern Ordnung vergütet
wird. Die Niederländer haben gezeigt, was
sich mit Farben machen läſst, aber freilich
nur mit Niederländischem Geiste und an
Niederländischer Natur. Ist es nicht Recht¬
fertigung genug für sie, daſs auch unter den
Italienern die Meister in der Farbengebung
weder in der Composition, noch in der
Zeichnung, noch in der Erfindung, und am
wenigsten im Erhabenen Meister waren? Was
können sie dazu, daſs eine reizende Venezia¬
nerin in der Cyprischen Rangordnung so
hoch über einer handfesten Flämischen Dirne
zu stehen kommt? — Jetzt, dünkt mich, wä¬
ren wir in der rechten Stimmung, um Nie¬
derländische Bilderkabinette zu besuchen.
Man führte uns zuerst in die Privatsamm¬
lung des Herrn Huybrechts, der uns aber den
[309] Genuſs seiner vaterländischen Kunst beinahe
verleidet hätte, indem er mit einem Corregio
prunkte. Zwar er selbst ahndete nichts von
der gefährlichen Überlegenheit des Italieners;
denn er besaſs gewiſs eben so theure Stücke
von Niederländischen Meistern! Zum Glück
hatte dieses Gemälde so wenig von der be¬
lobten Anmuth des zarten Allegri, die Yorick
in seiner Laune durch ein patronymisches
Wort, theCorregiescityof Corregio, so
schön individualisirt, daſs die Flammänder
noch mit heiler Haut davon kamen. Wenn
das Stück ein Original ist, wofür ich es doch
nicht halte, so hat es sich vortreflich con¬
servirt. Es stellt eine Mutter vor, mit dem
schlafenden Kinde. Sie scheint nach der Na¬
tur gezeichnet; allein vielleicht eben darum
sind die Züge so plump und haben die zu¬
rückstoſsende Bezeichnung der Dummheit.
Auch dem Maler des seelenvollen Reizes ist
U 3[310] es also nicht immer gelungen, ihn zu ha¬
schen im flüchtigen Augenblick der Beobach¬
tung, oder, daſs ich es wahrer sage, ihn ei¬
nem Körper einzuhauchen, dem die Natur
ihn versagte. Das Kind hingegen ist ein
schlafender Amor, so schön und lächelnd im
Schlafe, mit der Gesundheit Frische auf den
Wangen.
Unter den Niederländischen Gemälden in
dieser Sammlung haben die Seestücke ein
ausgezeichnetes Verdienst. Backhuisen ent¬
warf die segelnden Fahrzeuge mit vieler
Wahrheit, und Bonaventura Pieters war vor
andern glücklich, wenn er die durchsichtigen
Wellen des aufgeregten Elements in ihrer
groſsen Verbindung, gleichsam als belebte
Theile eines unermeſslichen Ganzen, schil¬
derte. Die schöne Aussicht der Stadt Briel
hatte vorzüglich diese Erhabenheit, welche
mit der Idee von Leben und Bewegung in
[311] den Fluthen verbunden ist. Die Darstellung
architektonischer Perspektiven im Innern Go¬
thischer Kirchen ist ebenfalls ein besonderes
Niederländisches Talent, und obwohl die
Gebäude selbst, die hier so zahlreich sind,
nur treu kopirt werden durften, so erhöht es
doch den Werth der Gemälde und gereicht
der künstlerischen Phantasie zum Ruhme,
daſs sie den Gesichtspunkt der Diagonallinie
wählte, um die Einförmigkeit der parallel
laufenden Pfeiler brechen und malerische
Kontraste hineinzaubern zu können. Insbe¬
sondere gefiel mir hier ein kleines Stück in
dieser Gattung, von Flinck, wegen der vor¬
treflichen Vertheilung des Lichtes.
Von dem sorgfältigen Gabriel Metsü zeigte
man uns eine Violinspielerin, an welcher
auſser ihrem Atlasrocke nichts Bewunderns¬
würdiges war; der Rock hatte freilich die
täuschendste Ähnlichkeit mit dem schönsten
U 4[312] ächten Atlas. Wie gefährlich hätte der
Künstler mit diesem Talent zum Nachahmen
seinen berühmtesten Mitbrüdern werden kön¬
nen, wenn er es auf edlere Gegenstände an¬
gewendet hätte! Allein das Schicksal, wel¬
ches ihm diesen beneidenswerthen Pinsel
verlieh, fesselte seine Einbildungskraft an ei¬
nen Kleiderschrank, oder legte den maleri¬
schen Bildungstrieb in die Seele eines Schnei¬
ders. — Die Kenner sagen, daſs die Hol¬
ländische Schule keinen gröſseren Künstler
als Franz Miris, den ältern, hervorgebracht
hat. Ein altes Weib mit einer halb ausge¬
leerten Weinflasche rühmte hier die Kunst¬
erfahrenheit dieses Meisters. Man könnte an
diesem Bilde die Transsubstantiation ad ocu¬
lum demonstriren und im Gesicht der Alten
genau angeben, wohin der fehlende Wein aus
der Flasche gekommen sei. Die gröſste Em¬
pfänglichkeit, verbunden mit dem seltensten
[313] Beobachtungsgeiste und einer groſsen Kraft
im Darstellen, können folglich ohne alle Fein¬
heit des Geschmackes und der Empfindung
bestehen. An diesem ekelhaften Gemälde ist
vorzüglich die sichere Nachahmung der Na¬
tur zu bewundern, wobei sich Miris so ganz
auf sein richtiges Auffassen und festes Zeich¬
nen verläſst, und keinen Effekt, obwohl in
einem so kleinen Stücke, durch Manier hat
erzwingen wollen. Das Gegentheil bemerke
ich hier an einem Bauerngelage von Cuylen¬
burg, das zwar in Teniers Geschmack gemalt
ist, aber weder seine Leichtigkeit noch seine
Wahrheit hat.
Zu den gröſseren Stücken in dieser Samm¬
lung gehört eine nackte, weibliche Figur, von
schöner Farbengebung, von Peter van der
Werff, einem Bruder des Ritters Adrian.
Eine Königin von England und ein kühn
skizzirtes Porträt des Bildhauers Feuherbe
U 5[314] verdienen als Werke van Dyks genannt zu
werden. Auch leuchtete uns hier ein Stral
aus Rembrandts Phantasie, in Gestalt eines
prächtigen Sultans, entgegen. Die Tochter
des Blumenmalers Seghers und eine Nonne
(hospitalière) von Rubens, hatten seine be¬
kannte Kraft im Porträt. Die Frische der
Farben in dem letztern Bildniſs war unüber¬
treflich; man möchte glauben, es käme nur
eben von der Staffelei. Daſs dieser wichtige
Theil der Vorkenntnisse, welche die Malerei
voraussetzt, die Wahl dauerhafter Farben,
heutiges Tages so sehr vernachlässigt wird,
gereicht unsern Künstlern schon jetzt zum
Vorwurf, und bringt sie einst um den Ruhm,
den sie von der Nachwelt ärndten könnten.
Das Kabinet des Herrn van Lancker ent¬
hält einen noch ungleich gröſseren Schatz
von Niederländischen Schildereien. Die
Landschaften von Both, van Goyen, Cuyp,
[315]Berghem, Wynants, Roos und anderen, eine
reicher, niedlicher, vollendeter als die an¬
dere und jede mit dem eigenthümlichen Ver¬
dienst ihrer Urheber bezeichnet, buhlen hier
um den Beifall des Kenners. Unstreitig hat
die Phantasie des Landschaftsmalers ein gro¬
ſses, weites Feld; die allgemeine Lebenskraft
des Welltalls, die regen Elemente des Lich¬
tes, des Äthers, des Wassers und der allge¬
bärenden Erde geben ihr das begeisternde
Schauspiel jenes gröſsten, anbetungswürdig¬
sten Wunders, einer immer jungen, aus ihrer
Zerstörung stets wieder erstehenden Schöp¬
fung. Das Verhältniſs aber zwischen der
Landschaftsmalerei und ihrer älteren Schwe¬
ster, der Menschenbildnerin, scheint mir am
besten dadurch bezeichnet zu werden, daſs
in der einen alles schon deutlicher, umgränz¬
ter Gedanke ist, was in der andern noch
unbestimmbares, zartes, ergreifendes Gefühl
[316] bleiben muſs. In der Landschaft wirken all¬
gemeine Harmonie, durchgeführte Einheit
des Ganzen, groſse Kontraste, zarte Ver¬
schmelzungen, alles aber zu einem unnenn¬
baren Effekt, ohne abgeschnittenen, bleiben¬
den Umriſs. Weder Lichtmassen noch Wol¬
ken, Luft und Gewässer, noch Felsen, Ge¬
birge und Unebenheiten des Bodens haben
beständige, ihnen angeeignete Formen; selbst
Bäume und Pflanzen sind in unendlich hö¬
herem Grad als die Thiere der Veränderlich¬
keit des Wuchses und der Gestalt unterwor¬
fen, und ihre Theile, Blüthen und Laub,
verlieren sich mit ihren bestimmteren Formen
in der Entfernung, aus welcher sie dem Auge
begegnen, und flieſsen zusammen zu Gruppen
und Massen, denen der Künstler kaum auf
dem Vordergrunde die Bestimmtheit der Na¬
tur mittheilen darf. In dämmernder Ferne
hingestellt, kommen die Urbilder schon hie¬
[317] roglyphisch bezeichnet an unsere Sehorgane;
um so viel mehr ist die Bezeichnung, womit
wir sie nachahmen können, in unserer Will¬
kühr, wofern sie nur ihren Zweck, nämlich
den täuschenden Effekt jener schönen Ver¬
wirrung der Umrisse und jenes lieblichen
Licht- und Schattenspiels, hervorbringt. Auch
in dieser Gattung von Kunstgebilden kann
indeſs die Phantasie des Malers ihre Gröſse
und Stärke zeigen; auch sie ist einer edlen,
dichterischen Behandlung fähig, wenn nur
das wesentliche Ziel der Kunst, die Zusam¬
menstellung des Schönen und die Belebung
des gesammelten oder erfundenen Mannich¬
faltigen zur unauflösbaren Einheit, dem Künst¬
ler immerfort vor Augen schwebt. Der Man¬
gel unabänderlicher Formen hat zwar die
Folge, daſs es für die Landschaft kein be¬
stimmtes Ideal geben kann; allein dagegen
ist die Freiheit des Künstlers desto unum¬
[318] schränkter; das weite Reich des Natürlichen
und Wahrscheinlichen liegt vor ihm, und es
hängt von seiner Willkühr ab, gefällige Bil¬
der, sanfte Harmonien, erhabene Phänomene,
mächtige Bewegungen, erschütternde Wirkun¬
gen daraus zu schöpfen. Etwas von diesem
unbestimmten Schönen der Natur findet man
in den Werken aller vorhin genannten Land¬
schaftsmaler; aber wenn es auf die Feuer¬
probe der Kritik ankommt, haben wir nur
Einen Claude.
Diese Sammlung enthält auch einen un¬
vergleichlich schönen Wouwermanns, den
ich aber nicht mit der ekstatischen Bewun¬
derung ansehen kann, die ihm der Kenner
zollen mag. Ist das Getümmel einer Schlacht,
das Gewühl der Kämpfenden durch einander,
der Anblick entseelter Leichname, sind die
unbändigen Rosse, die durch den Dampf des
Geschützes hervorstürzen — sind diese ge¬
[319] waltigen Bilder nicht fähig, die Einbildungs¬
kraft zu spannen und ihr den schauervollen
Gegenstand, der dem Künstler vorschwebte,
zu vergegenwärtigen? Dies alles gebe ich
zu, und dennoch, auf die Gefahr der Ver¬
wöhnung beschuldigt zu werden, verweile
ich mich bei keinem Kunstwerk, das nur
Verwirrung schildert. Was soll ich denn in
diesem Gedränge? Für wen wird hier ge¬
stritten? Wer ist der Sieger und wessen die
fliehende Fahne? Eine Schlacht kann uns
interessiren, wenn wir um ihre Veranlassung
wissen, wenn wir der einen Partei den Sieg
wünschen, oder wenn sich etwas dabei er¬
eignet hat, was mitten in dem unmensch¬
lichsten Geschäft an edlere Empfindungen,
an die bessere Seele im Menschen, erinnert.
Daher wählen alle groſse Meister, wenn sie
eine Schlacht vorstellen sollen, eine histori¬
sche Episode, wodurch sie sich von andern
[320] unterscheiden läſst, und, was noch wichtiger
ist, wodurch sie den Zuschauer in Anspruch
nehmen kann. Ohne diese Charakteristik ist
die Schilderung des wilden Gemetzels so un¬
interessant wie ein Zeitungsartikel, und ich
sehe nicht ein, warum die Künstler mehr
als andere Leute gegen die Conventionen der
guten Gesellschaft sollen verstoſsen dürfen.
Dem wahren, schöpferischen Geiste gnügt es
nicht, alles bilden zu können, was ihm ein¬
fällt; er will darstellen, was Anderen zu
denken giebt und womit sich ihre Phantasie
vorzugsweise beschäftigt. Könnte man doch
auch unseren Dichterlingen so etwas begreif¬
lich machen!
Herr van Lancker besitzt einen sehr schö¬
nen Teniers. Wenn die Malerei die magi¬
sche Kraft hätte, die man ihr wohl eher an¬
gedichtet hat, nicht bloſs ästhetisch, sondern
auch moralisch zu wirken, so möchte man
jedem[321] jedem Fürsten den täglichen Anblick dieses
Gemäldes wünschen; es sollte ihn erinnern
an das Bedürfniſs des Volkes, nach voll¬
brachter Arbeit zu genieſsen und des Lebens
froh zu werden, an den Beruf des Herrschers,
den Sinn für Freude zu erwecken und rege
zu halten, an die groſse Erfahrung, daſs die
Menschen mit leichten Ketten spielen, die
schweren aber zerbrechen oder unter ihrer
Last hinsinken. Auſserdem nähmen sich
freilich die Belustigungen der zahlreichsten
Klasse des Menschengeschlechts im Leben
besser aus als auf der Leinwand, wenn der
Künstler (wie es hier der Fall ist) nur Kar¬
rikaturen einer tölpischen Fröhlichkeit schaf¬
fen kann. — Ostadens Bauern sind noch
plumper, noch grotesker ungeschickt, als die
von Teniers; in einem von seinen Gemälden
zeigte man uns sogar, als etwas Verdienstli¬
ches, eine kleine menschenähnliche Figur im
II. Theil. X[322] Hintergrunde, die, ihrer Unförmlichkeit unge¬
achtet, den Kennern ihren Urheber verräth.
Das vorhin erwähnte Weib mit der Wein¬
flasche soll nicht den zehnten Theil so viel
werth seyn, als hier der eingeschlafene Leier¬
mann von demselben Meister. Er schläft so
fest, so süſs über seinem Instrument, und
alles um ihn und an ihm ist mit ermüden¬
der, ärgerlicher Treue, die nicht des klein¬
sten Striches vergiſst, nicht mit englischer,
sondern was zum Glück etwas anderes be¬
deutet, mit Holländischer Geduld vollendet.
Wer noch mehr von diesem Bilde wissen
wollte, würde mich in Verlegenheit setzen;
denn ich habe Dir in der That alles gesagt:
es ist ein schlafender Leiermann. In allen
Künsten des Schönen bleibt es das unver¬
kennbare Zeichen von Kleinlichkeit des Gei¬
stes, wenn ihr Gebilde so beschaffen ist,
daſs die Phantasie nichts mehr hinzusetzen,
[323] nichts weiter darin suchen und ahnden, ihr
luftiges Spiel damit mehr treiben kann. Ich
beneide den ehrlichen Franz Miris nur um
seine Zeit.
Was mag man wohl zu loben finden an
diesen kleinen nackten Figürchen von Poe¬
lenburg, mit ihren eckigen, breiten Schatten,
ihren bunten Gewändern und der todten
Kälte, womit sie die uninteressantesten Hand¬
lungen begehen, sich baden oder nach dem
Bade sich ankleiden? Ich habe so wenig
mit ihnen zu schaffen, wie mit dieser Mag¬
dalene von Paul Veronese, deren Ächtheit
ich nicht untersuchen will, weil sie der Un¬
tersuchung nicht werth ist. Lieber betrachte
ich daneben das schöne Porträt von van Dyks
vortreflicher Arbeit; Du weiſst, welch ein
Lob dieser Name einem Portät geben kann.
Von Rubens ist in dieser Sammlung eine
Madonna mit dem Kinde, genau dieselbe,
X 2[324] die auch in der Galerie zu Düsseldorf be¬
findlich ist und die mein Freund Hesse so
schön gestochen hat; nur sind im hiesigen
Gemälde noch einige Nebenfiguren und die
Ausführung ist schlecht gerathen. Es waren
noch ein Paar andere Stücke von Rubens im
Zimmer, nicht ohne das ihm eigenthümliche
Verdienst; allein ich hatte nur Augen für
seine kleine, niedliche Skizze von Mariens
Himmelfahrt. Die Stellung der zum christ¬
lichen Olymp hinauffahrenden Göttin ist wirk¬
lich schön; sie hält die rechte Hand empor
und senkt die linke halb, gleichsam bereit
mit Entzücken zu umfangen. Ihr Blick ist
Wonne, ohne die Bescheidenheit der Demuth,
aber auch ohne die Arroganz der Selbstsucht.
Die Gruppe wäre gut gedacht, wenn nur die
Engel fliegen könnten. Daſs doch immer etwas
Unvollkommenes oder Unpassendes die Freude
verderben muſs, die Rubens geben kann!
[325]
Die Ausnahme von dieser Regel fanden
wir bei Herrn van Haveren; die drei unver¬
gleichlichen Porträte von Rubens Hand, die
er besitzt, gewähren in der That den rein¬
sten Genuſs des ganzen Umfanges seiner
Kunst. Zwei davon sind die Frauen, das
dritte, wenn ich recht verstand, die Geliebte
des Künstlers. Unmöglich kann man der
Natur mit mehr Gewandtheit ihre gefäl¬
ligsten Züge ablauschen und wieder geben.
Diese drei wohlbeleibten Flämischen Schönen
lieſsen sich mit dieser durchschimmernden
Sinnlichkeit die Liebkosungen des feurigen
Künstlers gefallen, und ihm gnügten diese
materiellen Reize, wenn er die Spannung
vor der Staffelei durch eine andere ablösen
wollte. Die täuschende Wahrheit der Kunst,
die ganz etwas anderes ist, als die knechti¬
sche Treue eines Denner, eines bloſsen Ab¬
schreibers der Natur, hat Rubens hier zur
[326] höchsten Vollkommenheit gebracht, es sei
im Kolorit oder besonders in dem Farben¬
spiel des Gesichtes, oder in der bestimmten
Gestalt einzelner Züge und ihrer zarten Ver¬
schmelzung. Der wunderschöne Schatten,
den der Strohhut *)auf das schönste von
den drei Gesichtern wirft, und die küssens¬
werthen Hände der beiden anderen Huldin¬
nen des Künstlers haben ihres Gleichen
nicht, und beweisen unwidersprechlich, daſs
er sie mit Liebe malte.
Man brachte uns von hier zu Herrn Lam-
brechts, der nicht bloſs Liebhaber, sondern
zugleich Künstler seyn will, indem er seine
Muſse damit hinbringt, die alten Stücke sei¬
nes Kabinets mit einem glänzenden Firniſs
[327] zu bepinseln, welches oft die schlimmste
Wirkung thut. Er besitzt einige gute Por¬
träte von van Dyk, Rubens, Rembrandt und
Jordaens; von dem Letztern insbesondere
den Kopf einer alten Frau, mit mehr Aus¬
druck und feineren Details, als man ihm zu¬
getraut hätte. Auch sahen wir einen Italie¬
nischen, alten Kopf von Spagnoletto, ein
Paar groſse, köstliche Berghems, einige Poe¬
lenburgs, Ostaden und Teniers; eine Menge
Landschaften von verschiedenen Meistern,
eine Aussicht von Antwerpen und der Schel¬
de, das schönste, was ich von Bonaventura
Pieters noch gesehen habe, und ich weiſs
nicht wie viel Herrlichkeiten mehr, die man
angafft, um sie gleich wieder zu vergessen.
Auf einem groſsen Gemälde hafteten unwill¬
kührlich unsere Blicke; es war nicht nur
den Stücken dieser Sammlung, sondern über¬
haupt allem, was man uns in Antwerpen zei¬
X 4[328] gen konnte, gänzlich fremd. Kein Nieder¬
länder konnte den weiblichen Körper so
denken, denn keine Niederländerin war je
so gebaut; in meinem Leben sah ich nichts
Schöneres als diese unbegreifliche Leda, bei
einer so gewaltigen Figur; so denke ich mir
die Gespielin eines Gottes. Der unselige
Firniſs hätte uns diesmal unwillig machen
können; gern hätten wir uns die etwas
schwärzeren Schatten gefallen lassen, und
der Schnee des Schwans wäre uns weiſs ge¬
nug geblieben, hätte man nur dem elastischen
Leben dieses Wunderwerkes seine ursprüng¬
liche Weiche und den reinen Ton der Ti¬
zianischen Carnationen gelassen. Eine an¬
dere Unvollkommenheit muſste mich über
diese ästhetische Sünde trösten: der häſsliche
Kopf von widriger, zurückstoſsender Gemein¬
heit; derselbe, den wir schon in Brüssel an
Tizians Danae so abscheulich gefunden hat¬
[329] ten. Wie mag es wohl möglich seyn, die
Vorliebe für ein Modell so weit zu treiben?
Wenn die Reize des Körpers blind machen
können gegen die Miſsgestalt des Gesichts,
darf man denn nicht wenigstens vom Künst¬
ler fordern, daſs er den Augenblick seiner
Illusion nicht zum Augenblick der Beurthei¬
lung mache? Doch die wahre Ursache die¬
ses Gebrechens liegt wohl darin, daſs Tizians
Phantasie mit seiner Darstellungsgabe in um¬
gekehrtem Verhältnisse stand.
In der reichen Prämonstratenserabtei St.
Michael, wo wir das Thor zum Zeichen des
Hohns über den verstorbenen Kaiser, der sie
hatte einziehen wollen, mit den drei Braban¬
tischen Revolutionsfarben neu angestrichen
fanden, zeigte man uns eine Menge Gemälde,
die ich Dir nicht alle herzählen mag. In
den Wohnzimmern des Abts hangen die klei¬
neren Stücke; doch hat der Segen Melchise¬
X 5[330] deks, von Rubens, Figuren in Lebensgröſse.
Abraham steht seltsam mit einem Stück Tep¬
pich über dem Kopf verhüllt und gebückt
vor dem Priester zu Salem. Könnte das
Süjet diesem bunten Stück einen Werth ver¬
leihen, so müſste diesmal die Kunst wirklich
bei der Religion darum betteln. Van Dyks
Taufe Christi hat etwas mehr Anziehendes;
Johannes wenigstens ist eine schöne, männ¬
liche Figur und in seine Jüdische Physiogno¬
mie hat der Künstler etwas Feines und Groſses
gelegt. Die Stellung ist graziös, und der
braune Farbenton treflich behandelt, um den
von der Sonne verbrannten Asceten in der
Wüste zu bezeichnen. Für den Maler hat
auch das Mechanische der Ausführung in
diesem Gemälde, die Arbeit des Pinsels, ei¬
nen unschätzbaren Werth. Der Christus
hingegen ist, wie gewöhnlich, verfehlt. Der
Kopf wäre noch schön genug; allein seine
[331] Demuth ist geistlos und ohne Würde; die
Stellung hat etwas kläglich Zusammengekro¬
chenes und der ganze Körper ist platt, ohne
Haltung und Ründung. Die Nebenfiguren
verdienen, wie die Anordnung des Ganzen,
keine Erwähnung. Eine Abnahme vom Kreuz,
ebenfalls, von van Dyk, und die Ehebrecherin
von Tintoret wollen wir übergehen, weil
sich nichts Gutes von ihnen sagen läſst.
Aber ein Paar Blumenstücke muſs ich noch
bewundern, die in ihrer Art vollkommen
sind. Der Meister, der sie verfertigte, Peter
Faes, ist ein jetzt lebender Maler in Antwer¬
pen. Ich sage nicht zu viel, wenn ich be¬
haupte, daſs er sein Muster, den berühmten
van Huysum, vollkommen erreicht, wo nicht
gar noch übertrift.
Das ungeheure Refektorium ist mit fünf
ungeheuer groſsen Schildereien von Erasmus
Quellinus dem Jüngern tapezirt. Diese Stücke
[332] haben in einer gewissen Ferne erstaunlich
viel Effekt; die Figuren springen gleichsam
aus der Wand hervor und scheinen zu le¬
ben. In jedem Stück ist ein Aufwand von
prächtigen Portalen, Hallen, Säulen, Treppen,
und in jedem wird geschmauset, vermuthlich
um den Mönchen ein gutes Beispiel zu ge¬
ben. Warum Quellin den reichen Mann des
Evangeliums als Kardinal geschildert hat,
wird sich wohl aus irgend einem Privathaſs
erklären lassen. Mit diesen gemeinen Figu¬
ren dürfte indeſs wohl nur ein Heiſshungri¬
ger sympathisiren, wenn ihm nicht Lazarus
die Lust zum Essen benimmt, der hier so
ekelhaft erscheint, wie die Parabel ihn be¬
schreibt. In der zur Abtei gehörigen Kirche
hängt noch ein Bild von diesem Meister, in
demselben Geschmack und von gleichem
Verdienst. Es stellt die Heilung des Gicht¬
brüchigen vor; allein die Figuren verlieren
[333] sich in einer prächtigen Masse von Architek¬
tur, denn das Stück ist vierzig Fuſs hoch
und nach Verhältniſs breit. Einem Maler,
der nach diesem Maaſsstabe arbeitet, fehlt es
wenigstens nicht an Feuer und gutem Muth;
von Feinheit und Ausbildung wollen wir
schweigen.
Unser Führer lieſs uns in der Augustiner¬
kirche drei Stücken huldigen, weil sie von
van Dyk, Rubens und Jordaens gemalt wor¬
den sind. Das Gemälde des erstern prangt
mit schönen Engeln und einem heiligen Au¬
gustin, der in seiner Ekstase den Himmel
offen sieht; ich glaube indeſs, ein so kläg¬
licher Christus, wie der über ihm sitzende,
hätte den stolzen Bischof von Hippo bei aller
seiner politischen Demuth auſser Fassung brin¬
gen können. Das groſse Altarblatt von Ru¬
bens sagt mit allen seinen Figuren nichts,
und könnte eine Olla potrida von Heiligen
[334] heiſsen. Jordaens, im Märtyrerthum der hei¬
ligen Apollonia, ist abscheulich, ekelhaft und
verworren. Im Vorbeigehen besuchten wir
noch die Begräbniſskapelle von Rubens in
der St. Jakobskirche; sie ist wegen des Ge¬
mäldes berühmt, wo er sich selbst und seine
Familie als Heilige und Andächtige travestirt
hat. Er selbst ist ein heiliger Georg und
seine beiden Frauen stehen ihm zur Seite.
Die Erfindung mag ihn nicht viel Kopfbre¬
chens gekostet haben; man kann aber nichts
Meisterhafteres von Ausführung sehen.
Ich komme endlich zur Kathedralkirche,
deren Schätze, an Zahl und Werth der Ge¬
mälde, diesseits der Alpen mit nichts vergli¬
chen werden können. Der Kapellen und Al¬
täre in diesem Einen Tempel ist eine unge¬
heuer groſse Anzahl, und alle sind mehr
oder weniger mit Schnitzwerk, Bildhauerei
und Gemälden ausgeschmückt, an denen man
[335] die Geschichte und den Fortgang der Kunst
in den Niederlanden studiren kann. Hier
sieht man die Werke der älteren Maler, ei¬
nes Franz de Vrindt oder Floris und des in
de Vrindts Tochter verliebten Grobschmiedes
Quintin Matsys, den diese Liebe zum Maler
schuf, des ältern und des jüngern Franck,
des Martin de Vos, des Quillins, des Otto
van Veene (Venius), der Rubens Lehrmeister
war, und einer groſsen Menge anderer aus
späteren Zeiten. Das Verdienst der älteren
Stücke ist mehrentheils ihr Alterthum; denn
an Composition, Gruppirung, Haltung, Per¬
spektive, Licht und Schatten, Stellung, Leben,
Schönheit der Formen und Umrisse, Wahl
der Gegenstände u. dgl. ist nicht zu denken.
Bei Martin de Vos fängt indeſs schon eine
gute Periode an; er wuſste von allem diesem
etwas in seine Gemälde zu bringen, ob mir
gleich seine witzige Erfindung, sich selbst
[336] als den Maler und Evangelisten Lukas vor¬
zustellen, wie er die vor ihm sitzende Ma¬
donna mit dem Kinde malt, indeſs sein Ochse
hinter der Staffelei wiederkäuet, eben nicht
gefallen wollte. Coebergers Sebastian hat
schon mehr Interesse; er wird eben erst an¬
gebunden und seine Figur ist nicht übel ge¬
rathen, so fehlerhaft auch das Ganze ist.
Von Rubens Arbeit sieht man hier die
schönsten Stücke sorgfältig hinter Vorhängen
oder auch hinter übermalten Flügelthüren ver¬
wahrt. Wir drängten uns während der Messe
vor den Hochaltar, und knieten mit dem
Haufen andächtiger Antwerper hin, um das
groſse Altarblatt, welches die Himmelfahrt
der Jungfrau vorstellt, mit Muſse anzusehen,
ohne Ärgerniſs zu geben. Ich rathe indeſs
jedem, der seinen Glauben lieb hat, diesen
Vorwitz nicht nachzuahmen, und vielmehr
nach dem Beispiel der frommen Gemeine,
die[337] die uns umgab, sich an die Brust zu schla¬
gen und den Blick auf die Erde zu heften,
als den Gegenstand seiner Andacht verwegen
ins Auge zu fassen. So lange man nicht
weiſs, was man anbetet, kann man sich seine
Gottheit so göttlich träumen wie man will;
ein Blick in dieses Empyräum, und es ist
um alle Täuschung geschehen. Die dicke
Lady Rubens sitzt zum Skandal der Christen¬
heit leibhaftig in den Wolken, so gemächlich
und so fest wie in ihrem Lehnstuhl. Ob sie
sich nicht schämen sollte, eine Göttin vor¬
zustellen — und eine Jungfrau dazu? Es
scheint in der That nicht, als ob etwas ver¬
mögend wäre, sie aus ihrer gleichgültigen,
phlegmatischen Ruhe zu bringen und in
Entzücken oder wenigstens in Erstaunen zu
versetzen; eine Himmelfahrt oder eine Fahrt
auf der Treckschuit, alles ist ihr gleich. Was
könnte denn auch Lady Rubens auf einer
II. Theil. Y[338] solchen Luftreise Merkwürdiges sehen? Nichts
als das blaue Firmament und einige Wolken,
deren nähere Bekanntschaft sie nicht interes¬
siren kann; sodann eine Menge runder Kin¬
derköpfe mit Flügeln und eine groſse Schaar
von kleinen fliegenden Jungen in allerlei Po¬
situren, die am liebsten eine ungeheure, nicht
allzu präsentable partie zum besten geben,
womit die Dame wohl eher in der Kinder¬
stube bekannt wurde, die aber leider zum
Fliegen gar nicht gemacht ist. In Italien,
sagt man, hätten die Weiber Augen zu mehr
als Einem Gebrauch: dort sind es die schö¬
nen Fenster der Natur, hinter denen man
die Seele lieblich oder göttlich hervorstralen
sieht; aber in Antwerpen! hier ist das Auge
ja nur ein oeil de boeuf am Gewölbe des
Schedels, um ein wenig Licht hineinzulassen!
Unter dieser lieben Frau, die allen Ge¬
setzen der Physik spottet, steht eine Gruppe
[339] von bärtigen, ernsthaften Männern, die mit
der äuſsersten Anstrengung ihrer Augen auf
ein weiſses Tuch sehen, das vor ihnen liegt.
Von dem, was über ihnen, in den Lüften
vorgeht, scheinen sie gar keine Ahndung zu
haben; sonst hätte doch wohl einer hinauf¬
geguckt und noch gröſsere Augen gemacht.
Kein Mensch begreift, was sie wollen; hätte
man nur die Legende darunter geschrieben,
so wäre nichts in der Welt so leicht zu ver¬
stehen gewesen. War es etwa ein politischer
Kunstgrif des Malers, die Geschichte nur de¬
nen zu verrathen, die das Geheimniſs schon
wissen?
Dieses prunkende Gemälde wird von al¬
len Kennern bewundert, von allen Künstlern
mit tiefer Ehrfurcht angestaunt, von allen
Reisenden begafft und auf das Wort ihres
Miethslakaien gepriesen. Ich setze noch hin¬
zu: sie haben alle Recht. Nicht nur die
Y 2[340] Ausführung eines Kunstwerkes von solchen
Dimensionen ist etwas werth, sondern man
verkennt auch an diesem Meisterwerke nicht
den Genius des Künstlers. Alles, was hier
vorgestellt wird, findet man einzeln in der
Natur: solche Menschen, solche Kinder,
solche Gestalten und solche Farben. Die
Wahrheit, Leichtigkeit und Zuverlässigkeit,
womit Rubens sie, aus der Natur aufgefaſst,
durch seine Hand verewigen konnte, bilden
eine künstlerische Gröſse, worin er keinen
Nebenbuhler hat. Auf diesem ungeheuren
Altarblatte umschweben nicht etwa nur ein
halbes Dutzend Engel, wie in Guido’s Ge¬
mälde, die Jungfrau; sie bleiben nicht halb
im Schatten, nicht halb hinter ihr verborgen,
um die einfache Gröſse des Eindruckes nicht
zu stören; hier ist sie von einem ganzen
himmlischen Hofstaat umringt; unzählige
Kinderfiguren, immer in anderen Stellungen
[341] und Gruppen, Köpfe mit und ohne Körper,
flattern auf allen Seiten um sie her und ver¬
lieren sich in einem Meer von Glorie. In
der zweiten, irdischen Gruppe sieht man
wieder eine Menge Figuren in Lebensgröſse
zu einem schönen Ganzen verbunden; und
welche Varietät der Stellungen, welche Har¬
monie der Farbenschattirungen, vor allem,
welche Wahrheit und welcher Ausdruck
herrschen auch hier in allen Köpfen! Doch
die gröſste Überlegenheit des Künstlers be¬
steht darin, daſs er zur Verfertigung dieses
groſsen Gemäldes nur sechzehn Tage bedurfte.
Erwägt man den Grad der Thätigkeit und des
Feuers, der zu dieser erstaunlichen Schöpfung
gehört, so fühlt man sich geneigt, ihr alle ih¬
re Gebrechen und Mängel zu verzeihen.
In der Kapelle der Schützengilde wird die
berühmte Abnehmung vom Kreuz aufbewahrt,
die so allgemein für das höchste Kunstwerk
Y 3[342] von Rubens anerkannt und um zwölf Jahre
älter als die Himmelfahrt ist. Ich kann mich
auf keine detaillirte Beschreibung dieses so
oft beschriebenen, ohne Einschränkung und
mit so groſsem Rechte gepriesenen Gemäldes
einlassen; doch Du kennst es schon aus dem
schönen Kupferstich. In Absicht auf leben¬
dige Darstellung bleibt es ein Wunder; alles,
was ich je gesehen habe, weicht zurück, um
diesem Ausdruck Ehre zu geben. Die Zeich¬
nung ist korrekter, als Rubens gewöhnlich zu
zeichnen pflegte; die Composition einfach
und groſs; die Gruppe schön, so schön, daſs
man darüber das Kreuz vergiſst, dessen un¬
bezwingbare Steifigkeit sonst aller malerischen
Grazie so nachtheilig zu seyn pflegt. Die
Stellungen, die Gewänder, die Falten, das
Licht, der Farbenton und die Carnationen —
alles ist bis auf Kleinigkeiten meisterhaft er¬
sonnen und ausgeführt. Die Mutter und der
[343] Johannes sind wahrhafte Italienische Studien
oder Reminiscenzen; bei dieser edleren Na¬
tur wird man den Übelstand kaum gewahr,
daſs Petrus, zu oberst auf dem Kreuze, im
Eifer seiner Geschäftigkeit, den Zipfel des
Tuches, worin der Leichnam ruht, in seinen
Zähnen hält. Vielleicht ist die kalte Be¬
wunderung, die der Anblick dieses Bildes
mir abnöthigte, ein gröſseres Lob für den
Künstler, als der Enthusiasmus, der darüber
bei andern durch Nebenideen entstehen kann.
Der Begrif des Erbaulichen darf schlechter
dings bei der Beurtheilung eines Kunstwer¬
kes von keinem Gewichte seyn. Vergiſst
man aber einen Augenblick die Beziehung
des vorgestellten Gegenstandes auf die Reli¬
gion, so wird man mir zugeben müssen, daſs
die Wahl nicht übler hätte getroffen werden
können. Die Hauptfigur ist ein todter Leich¬
nam, und die Verzerrung seiner Glieder, die
Y 4[344] keiner willkührlichen Bewegung mehr fähig
sind, sondern der Behandlung der Umstehen¬
den gehorchen, ist mit dem ersten Augen¬
merk des Malers, der Darstellung des Schö¬
nen, schlechterdings nicht zu reimen. Dop¬
pelt ungünstig ist der Augenblick, wenn der
Leichnam einen gekreuzigten Christus vor¬
stellen soll; denn es ist eben derselbe, wo
alles Göttliche von ihm gewichen seyn und
der entseelte Überrest der menschlichen Na¬
tur in seiner ganzen Dürftigkeit erscheinen
muſs. Es giebt Momente in der Mythologie
des Christenthums, die dem Maler freie Hän¬
de lassen: Scenen, die eines groſsen, erha¬
benen Styls, ohne Verletzung des Schönheits¬
sinnes, fähig sind und zu der zartesten Em¬
pfänglichkeit unseres Herzens reden; allein
wessen mag die Schuld seyn, daſs die Flä¬
mischen Künstler sie nicht wählten? Liegt
sie an ihnen selbst, oder an den Aufbewah¬
[345] rern dieser Mysterien? Haben jene den fei¬
nen Sinn nicht mitgebracht, der zu einer
solchen Behandlung nöthig ist? oder haben
diese den Gegenständen eine so plumpe Ein¬
kleidung gegeben, daſs jedes Bemühen der
Kunst daran scheitern muſs? Bloſs in dieser
einen Kathedralkirche habe ich zweimal die
Visitation der Jungfrau durch einen unver¬
schämten Fingerzeig der alten Elisabeth be¬
zeichnet gesehen, und eins von diesen saube¬
ren Stücken war übrigens ein gutes Bild von
Rubens. O der Niederländischen Feinheit!
Hier breche ich ab. Es giebt noch unzäh¬
lige Gemälde, sowohl in Kirchen als in Pri¬
vatsammlungen, wovon ich nichts gesagt, es
giebt sogar viele, die ich nicht gesehen habe.
Allein von dieser Probe läſst sich ein allge¬
meines Urtheil über den Geist und Geschmack
der Flämischen Schule abstrahiren.
Y 5[346]
XXII.
Wie froh bin ich, daſs unsere Pferde nach
Rotterdam nun endlich auf morgen früh be¬
stellt sind! Ein längerer Aufenthalt unter
diesen Andächtlern könnte wirklich die hei¬
terste Laune vergiften. Noch nie habe ich
die Armuth unserer Sprachen so tief empfun¬
den, als seitdem ich hier von den Menschen
um mich her mit den bekanntesten Wörtern
eine mir ganz fremde Bedeutung verbinden
höre. Man liefe Gefahr gesteinigt zu wer¬
den, wenn man sich merken lieſse, daſs die
Freiheit noch in etwas anderem bestehen
müsse, als van der Noots Bildniſs im Knopf¬
loche zu tragen, daſs Religion etwas mehr
sey, als das gedankenlose Gemurmel der Ro¬
senkranzbeter. Die traurigste Abstumpfung,
die je ein Volk erleiden konnte, ist hier die
[347] Folge des verlornen Handels. Selbst im
Äuſsern zeigt die hiesige Race nichts Em¬
pfehlendes mehr. Am Sonntage sah ich in
den verschiedenen Kirchen über die Hälfte
der Einwohner versammelt, ohne nur ein
Gesicht zu finden, auf dem das Auge mit
Wohlgefallen geruhet hätte. Leere und Cha¬
rakterlosigkeit, die in Brabant überhaupt so
durchgehends herrschen, äuſsern sich hier in
einer noch unschmackhafteren Gestalt als an¬
derwärts, und nicht einmal eine Varietät in
der Kleidertracht zieht die Aufmerksamkeit
von dieser Ausartung der menschlichen Natur
hinweg. Mit dem gehemmten Geldumlauf
muſste die Industrie zugleich ins Stocken ge¬
rathen, und auſser einigen Salz- und Zucker¬
raffinerien, einer Sammetfabrik und ein paar
Baumwollenmanufakturen, enthält diese groſse
Stadt keine hinreichende Anstalt, um die
Hände der geringen Volksklasse zu beschäf¬
[348] tigen. Die schönen breiten Straſsen sind
leer und öde, wie die zum Theil sehr präch¬
tigen, massiven Gebäude; nur an Sonn- und
Festtagen kriecht die träge Menge aus ihren
Schlupfwinkeln hervor, um an den zahlrei¬
chen Altären die Sünde des Müſsigganges
durch einen neuen abzubüſsen. Die Klerisei
beherrscht dieses erschlaffte Volk mit ihren
einschläfernden Zauberformeln; denn nur die
Andacht füllt die vielen müſsigen Stunden
aus, die nach dem Verlust des Handels
ihm übrig blieben. Die Wissenschaften, die
einst in Antwerpen blühten, sind bis auf
die letzte Spur verschwunden. Die Nieder¬
ländischen Künste, deren goldenes Zeitalter
in die Periode der gehemmten merkantili¬
schen Thätigkeit fiel, wurden nur auf kurze
Zeit von dem brachliegenden Reichthum zu
ihrer gröſsten Anstrengung gereizt; es währte
nicht lange, so fand der Kapitalist, der seine
[349] Gelder nicht an auswärtige Spekulationen
wagte, die Fortsetzung eines Aufwandes miſs¬
lich, der zwar, gegen seine Millionen gerech¬
net, mäſsig scheinen konnte, aber gleichwohl
ein todtes Kapital allmälig aufzehrte. Ant¬
werpen also ist nicht bloſs erstorben in Ab¬
sicht des Handels, sondern auch der unge¬
heure Reichthum, den einzelne Familien noch
daselbst besitzen, verursacht nicht einmal die
kleine Cirkulation des Luxus. Der reichste
Mann bringt seine Nachmittage, von Mönchen
und Pfaffen umgeben, bei einer Flasche von
Löwenschem Biere zu, und bleibt jedem an¬
dern Zuge der Geselligkeit verschlossen. Die
Privatsammlungen von Gemälden schmelzen
je länger je mehr zusammen, indem viele
der vorzüglichsten Meisterwerke an auswär¬
tige Besitzer gekommen sind, und selbst der
Überfluſs an Diamanten und anderen Juwee¬
len, weswegen Antwerpen so berühmt ist,
[350] wird in Kurzem nicht mehr bedeutend seyn;
denn man fängt an, auch diese Kostbarkeiten
zu Gelde zu machen.
Was der Eigennutz nicht mehr vermochte,
das hat die Geistlichkeit noch bewirken kön¬
nen; sie hat diesen Klötzen Leben und Be¬
wegung eingehaucht und sie bis zur Wuth
und Tollkühnheit für das Hirngespinst ihrer
Freiheit begeistert. Ein Hirngespinst nenn’
ich es; nicht, daſs ich vergessen könnte, im
Empörer das Gefühl der beleidigten Mensch¬
heit zu ehren, sondern weil Josephs Allein¬
herrschaft menschlicher noch war, als die
Oligarchie der Stände, und weil seit der Re¬
volution die Befreiung des Volkes unmög¬
licher als zuvor geworden ist. Wer die Räth¬
sel des Schicksals lösen mag, der sage mir
nun, warum dieser furchtbare Gährungsstoff
von unübertreflicher Wirksamkeit, warum die
Religion, in den Händen der hiesigen Prie¬
[351] ster das Wohl und die Bestimmung ihrer Brü¬
der immer nur hat vereiteln sollen? Welch
eine wohlthätige Flamme hätte man nicht
durch dieses Zaubermittel anzünden und näh¬
ren können im Busen empfänglicher, lehr¬
begieriger, folgsamer Menschen! Wie rei¬
zend wäre das Schauspiel geworden, wo Bei¬
spiel und Lehre zugleich gewirkt und in
reiner Herzenseinfalt die zarten Keime des
Glaubens gereift hätten zu vollendeten Früch¬
ten menschlicher Sittlichkeit! Daſs der Miſs¬
brauch jener an Stärke alles übertreffenden
Triebfeder, indem er endlich der Humanität
mit gänzlicher Vernichtung droht, die hart¬
näckigste Gegenwehr veranlassen, daſs in
diesem Kampfe die kalte, unbestechliche Ver¬
nunft sich aus ihren Banden freiwickeln,
und den menschlichen Geist auf ihrer Ko¬
metenbahn mit sich fortreiſsen muſs, wo er
nach langem Umherkreisen zuletzt im Be¬
[352] wuſstseyn seiner Beschränktheit, durch neue
Resignation sich seinem Ziele wieder zu nä¬
hern strebt — das rechne man den Priestern
nirgends zum Verdienst. Das Gute, was ih¬
ren Handlungen folgte, das wirkten sie von
jeher als blinde Werkzeuge einer höheren
Ordnung der Dinge; ihre eigenen Absichten,
ihre Plane, alle Äuſserungen ihres freien
Willens waren immer gegen die moralische
Veredlung und Vervollkommnung ihrer Brü¬
der gerichtet. Hier, wo ihr Werk ihnen
über Erwartung gelungen ist, wo der Aber¬
glaube in dem zähen, trägen Belgischen Tem¬
perament so tiefe Wurzel geschlagen und je¬
dem Reis der sittlichen Bildung den Nah¬
rungssaft ausgesogen hat, hier wird man
einst desto kräftiger dem hierarchischen Gei¬
ste fluchen. Je länger sich die Erschütterung
verspätet, um so viel zerrüttender dürfte sie
werden, sobald die Sonne der Wahrheit
auch[353] auch über Brabant aufgeht. Die Hartnäckig¬
keit der Phlegmatiker bezwingt nur ein ge¬
waltsamer Schlag, wo die Beweglichkeit ei¬
nes leichter gemischten Blutes gelinderen Be¬
rührungen schon gehorcht.
Mit geweiheten Hostien, mit Sündener¬
lassungen und Verheiſsungen jenseits des Gra¬
bes, mit der ganzen Übermacht ihres Einflus¬
ses auf die Gewissen, und, um ihrer Sache
sicher zu seyn, auch mit jenem vor Oczakow
erprobten Begeisterungsmittel, mit reichlich
gespendetem Branntwein, haben die Mönche
von Antwerpen ihre Beichtkinder zur Frei¬
heitswuth berauscht. Der Ausschuſs von
Breda ward von hier aus mit groſsen Geld¬
summen unterstützt, wozu theils die Kapita¬
listen und Kaufleute, theils die reichen Prä¬
laten selbst das Ihrige beitrugen. Schon die¬
ser Eifer giebt den Maaſsstab für die Gröſse
des Gegenstandes, den sie sich erkämpfen
II. Theil. Z[354] wollten; einen noch bestimmteren haben wir
an der Summe, die sonst jeder neu ernannte
Prälat bei seinem Antritt dem Kaiser erlegen
muſste: der Abt zu St. Michael, hier in der
Stadt, opferte achtzigtausend, der zu Tonger¬
loo hundert und dreiſsigtausend, und der zu
Everbude hundert und funfzigtausend Gul¬
den. Diesen Tribut hat die neue Regierung
der Stände abgeschafft; dem so eben erwähn¬
ten Abt zu St. Michael ist bereits dieses Er¬
sparniſs zu Gute gekommen, und wie er es
anzuwenden wisse, beweiset die prachtvolle,
wollüstige Meublirung seiner Apartements.
Der königliche Schatz, den man in Brüssel
bei Trautmannsdorfs Flucht erbeutete, und
die Abgaben des Volkes, die seit der Revo¬
lution um nichts erleichtert worden sind,
haben den Prälaten ihre Vorschüsse mit Wu¬
cher ersetzt. Wenn also das Land von der
neuen Staatsveränderung einigen Vortheil ge¬
[355] nieſst, so kann er nur darin bestehen, daſs
die sieben, oder, nach anderen Nachrichten,
gar zwölf Millionen Gulden, die sonst jähr¬
lich nach Wien geschleppt wurden, nun hier
bleiben und wegen der Kriegsrüstungen in
Umlauf kommen müssen. Wie viel indeſs
von diesem Gelde auch noch jetzt auf Schleif¬
wegen ins Ausland geht, wo diejenigen, die
es sich zuzueignen wissen, ihrem Patriotis¬
mus unbeschadet, es sicherer als in Brabant
glauben, wage ich nicht so nachzusprechen,
wie ich es hier erzählen hörte. Schon allein
die Einnahme der Citadelle von Antwerpen
soll ungeheure Summen gekostet haben, die
in Gestalt eines goldenen Regens den Bela¬
gerten zu Theil geworden sind.
Der Macht der Belgischen Klerisei hat
diese Eroberung die Krone aufgesetzt. Die
Festung war mit allen Kriegsbedürfnissen
und mit Lebensmitteln auf Jahre lang reich¬
Z 2[356] lich versehen, und was ihre Mauern nicht
in sich faſsten, hätte sie zu allen Zeiten
durch angedrohte Einäscherung der Stadt er¬
halten können; denn ihre Batterien bestri¬
chen alle Quartiere, und sachkundige Männer
von beiden Parteien kommen darin überein,
daſs sie nicht anders als durch eine regel¬
mäſsige Belagerung bezwungen werden konn¬
te. Bei der allgemeinen Überzeugung von
ihrer Unbezwingbarkeit war die Übergabe ein
Wunder in den Augen des Volkes; Vorneh¬
me sowohl als Geringe glaubten hier deut¬
lich Gottes Finger und seine Begünstigung
der Revolution zu sehen. Ihre Priester hat¬
ten sie zu diesem Glauben vorbereitet und
gestimmt; sie bestärkten ihn jetzt und fach¬
ten ihn an zur lodernden Flamme. Vom
Tage der Capitulation an, bemächtigte sich
ein Schwindel, der zum Theil noch fort¬
dauert, aller Köpfe, und am Tage der Über¬
gabe liefen aus den umliegenden Dörfern
[357] mehr als zehntausend bewaffnete Bauern zu¬
sammen, um Augenzeugen des neuen Wun¬
ders zu seyn. Noch jetzt sehen wir auf al¬
len Straſsen von Antwerpen hohe Mastbäume
stehen, mit den drei Farben der Unabhän¬
gigkeit, roth, gelb und schwarz angestrichen;
von ihrer Spitze wehen Wimpel und Flaggen
mit allerlei geistlichen Devisen und biblischen
Sprüchen, und ganz zu oberst hängt der
groſse, schirmende Freiheitshut. Im Taumel
der Freude über den glücklichen Erfolg der
Belgischen Waffen hatten die Antwerper die¬
se Siegeszeichen errichtet und ausgelassen um
sie herumgetanzt; allein, was halfen ihnen
ihr Wunderglaube und ihr sinnbildernder
Rausch? Statt des edlen Selbstgefühls, statt
des Bewuſstseyns angeborner Rechte, womit
die Herzen freier Menschen hoch empor¬
schlagen müssen, regte sich in ihnen nur
blinde Vergötterung ihrer neuen Regenten;
Z 3[358] wo andere Völker aus eigenem innerem Trie¬
be, kühn, stolz und freudig riefen: »es lebe
die Nation!» da lernten sie erst von Mön¬
chen ihre Losung: »es lebe van der Noot!»
Unsern Wunsch, die Citadelle selbst in
Augenschein zu nehmen, konnte man für
diesesmal nicht befriedigen; ein Verbot der
Stände macht sie jetzt, wegen des dahin ge¬
führten Staatsgefangenen, van der Mersch,
allen Fremden unzugänglich. Zwar versprach
uns ein hiesiger Kaufmann, der zugleich eine
wichtige Demagogenrolle spielte, uns den
Eingang zu gestatten, wenn wir noch einige
Tage länger bleiben wollten, bis er nämlich
die Wache dort hätte; allein die Befriedi¬
gung der bloſsen Neugier war ein so groſses
Opfer nicht werth. Uns hatte vielmehr al¬
les, was wir bisher in den Niederlanden ge¬
sehn und gehört und die Hunderte von po¬
litischen Zeitschriften, die wir hier gelesen
hatten, bereits die feste Überzeugung einge¬
[359] flöſst, daſs in dieser gährenden Masse, statt
aller Belehrung für den Menschenforscher,
nur Ekel und Unmuth zu gewinnen sei, und
wir beneideten diejenigen nicht, die, um
den Kreis ihres Wissens zu erweitern, (mit
einem apokalyptischen Ausdruck) des Satans
Tiefen ergründen mögen. Wenn in irgend
einem Lande der Geist der Zwietracht aus¬
gebrochen ist, dann richtet die Vernunft,
ohne alles Ansehen der Person, nach ihren
ewig unumstöſslichen Gesetzen, auf wessen
Seite Recht, und was die gute Sache sei;
es darf sie dann nicht irre machen, daſs die
erhitzten Parteien gemeiniglich ein verzerrtes
Bild des moralischen Charakters ihrer Geg¬
ner mit ihren Gründen zugleich in ihre
Schale werfen. Auf einem weit gröſseren
Schauplatz, im aufgeklärten Frankreich selbst,
ist dieser schlaue Unterschleif nicht immer
vermeidlich, obwohl auch dort die schein¬
Z 4[360] heilige Verläumdung, der Meuchelmord des
guten Namens, die allgemeine, schwankende
Beschuldigung der Unsittlichkeit und des Un¬
glaubens, die leidenschaftliche Wehklage über
Entweihung der Heiligthümer, Zernichtung der
Vorrechte, Raub des Eigenthums, nur von
der Einen Seite kommen, die jederzeit den
strengen, kaltblütigen Erörterungen der Ver¬
nunft durch diese Wendung ausgewichen ist.
Allein unter den Vorwürfen und Rekrimina¬
tionen der Belgischen Parteien verschwindet
sogar die Frage von Recht. Die augenschein¬
liche Unfähigkeit sowohl der Kaiserlich als
der Ständisch Gesinnten, mit ruhiger Darle¬
gung der Gründe ihre Sache zu führen, er¬
hellt aus ihren gegenseitigen, gröſstentheils
bis zur Evidenz dokumentirten, persönlichen
Invektiven, und zeugt von jenem allgemeinen
Gräuel der Pfaffenerziehung, die hier alle Ge¬
müther tief hinunter in den Pfuhl der Un¬
wissenheit stürzte und in ihnen durch Sün¬
[361] dentaxen alles moralische Gefühl erstickte.
Wo Verbrechen und Laster nur so lange das
Gewissen drücken, bis eine mechanische
Büſsung und das absolvo te es rein gewa¬
schen haben, da scheinen sie nur schwarz,
wenn man sie an der Seele des Nächsten
kleben sieht; wo man durch jene, allen feil
gebotene Mittel die Gottheit leicht versöhnen
kann, da nimmt man auf die beleidigte
Menschheit beim Sündigen keine Rücksicht;
Ehre folglich und Schande hören dort auf,
die Triebfedern des Handelns zu seyn, und
bald verliert sich sogar jede richtige Bestim¬
mung dieser Begriffe. Was diese Menschen
einander seyn können, lasse ich dahingestellt;
aber ohne Geisteskräfte, die man bewundern,
ohne Ausbildung, die man schätzen, ohne
Herzen, die man lieben darf, sind sie dem
Wanderer todt, der traurend eilt aus ihren
Gränzen zu treten.
Z 5[362]
XXIII.
Wir verlieſsen Antwerpen, wie wir hinein¬
gekommen waren, ohne daſs man uns die
gewöhnlichen Fragen im Thore vorgelegt
hätte; auch hatte man uns auf der ganzen
Reise durch Brabant, Hennegau und Flan¬
dern nur Einmal nach unseren Pässen ge¬
fragt. Ich will glauben, daſs diese Sorglo¬
sigkeit unserm unverdächtigen Aufzug Ehre
macht; denn man hat Beispiele genug, daſs
die neuen Souveraine von Belgien gegen den
Charakter der durchreisenden Fremden nicht
gleichgültig geblieben sind.
Kaum waren wir eine Strecke gefahren,
so befanden wir uns schon auf einer trauri¬
gen, weit ausgebreiteten Heide, wo das Auge
nur am Horizont und in sehr groſsen Entfer¬
nungen von einander etliche Kirchthürme
[363] entdeckte. Harte, dürre Gräser, Heidekraut,
einzelne zerstreute Birken und kleine Grup¬
pen von jungen Fichten waren die einzigen
Pflanzenarten dieser öden, sumpfigen, versan¬
deten Ebene, die uns lebhaft an gewisse Ge¬
genden des nördlichen Deutschlands und
Preuſsens erinnerte. In Zeit von sieben
Stunden befanden wir uns auf Holländischem
Gebiet. Die Einwohner eines Dörfchens,
wo man unsere Pferde füttern lieſs, hatten
häſsliche, scharfgeschnittene Physiognomien,
die aber viel Munterkeit und Thätigkeit ver¬
riethen; insbesondere bemerkten wir einige
flinke, rasche Dirnen, die sich des Kutschers
und der Pferde mit gleichem Eifer annahmen
und mit der Brabantischen Schlaffheit sehr
zu ihrem Vortheile kontrastirten.
Der sandige Weg ging auf dem Rücken
eines hohen Dammes bis nach dem kleinen
Städtchen Zevenbergen, welches unweit des
[364] Busens liegt, der hier den Namen Hollands
Diep erhält. Nach allen Seiten hin öffnete
sich uns jetzt eine freundliche Aussicht: an
einer Stelle war der Horizont seewärts unbe¬
gränzt; die Menge der hin und her segeln¬
den kleineren und gröſseren Fahrzeuge, die
Fischerleute in ihren Kähnen, die Seevögel,
die in groſsen Zügen über der Fläche des
Wassers kreuzten, die langen Weidenalleen,
die darüber hinaus ragenden Kirchthurmspit¬
zen und rothen Dächer in der Ferne, mach¬
ten zusammen einen angenehmen Effekt.
Zu Moerdyk, das nur aus wenigen Häusern
besteht, fuhren wir über den Hollands Diep
und erinnerten uns an die furchtbare Über¬
schwemmung im funfzehnten Jahrhundert,
(1421) die hier einen Bezirk von zwei und
siebenzig Dörfern verschlang, ein Meer an
ihrer Stelle zurück lieſs und Dordrecht vom
festen Lande trennte. Auch an den jungen
[365] Prinzen von Oranien, Johann Wilhelm Friso,
erinnerten wir uns, der (1711) im vier und
zwanzigsten Lebensjahr auf eben der Fahrt,
die wir jetzt glücklich zurücklegten, ertrun¬
ken ist.
Jenseits des Busens zerstreute der Anblick
des ersten saubern Holländischen Dorfes diese
trüben Erinnerungen. Reinliche, nette Häu¬
serchen, Straſsen mit Kanälen durchschnitten,
an den Seiten mit Linden bepflanzt und über¬
all mit Klinkern oder kleinen Backsteinen
gleichförmig und niedlich, wie bei uns zu¬
weilen der Boden des Vorsaals, gepflastert,
und was diesem Äuſsern entsprach, gesunde,
gut gekleidete, wohlhabende Einwohner, ga¬
ben uns in Stryen das Zeugniſs, daſs wir
auf dem Boden der wahren, nicht der einge¬
bildeten Freiheit, und im Lande des Fleiſses
angekommen wären. Drei starke, wohlge¬
nährte Pferde waren nöthig, uns auf dem
[366] schweren Wege fortzubringen, der an man¬
chen Stellen so tiefe Geleise hatte, daſs wir
dem Umwerfen nahe waren. Als wir aber
hernach durch das Dorf Haaringsdyk fuhren,
das wenigstens eine halbe Stunde lang und
wie eine Tenne mit Klinkern gepflastert ist,
freueten wir uns wieder des reizenden Wohl¬
standes, der uns auf allen Seiten anlachte,
und des Landes, wo der Mensch seine Be¬
stimmung, des Lebens froh zu werden, er¬
reicht, wo der gemeinste Bauer die Vortheile
einer gesunden und bequemen Wohnung ge¬
nieſst, wo er auf dem beneidenswerthen Mit¬
telpunkte zwischen Noth und Überfluſs steht.
Kann man diese Menschen sehen und fragen,
ob es besser sei, daſs mit dem Blut und
Schweiſse des Landmannes, der in elenden
Hütten sein kümmerliches Leben hinbringt,
die stolzen Palläste der Tyrannen zusammen¬
gekittet werden?
[367]
Nachdem wir über die so genannte alte
Maas, vermuthlich ihr ehemaliges einziges,
jetzt aber zu einem schmalen Arm geschwun¬
denes Bett, gekommen waren, befanden wir
uns gegen zehn Uhr Abends an dem Ufer
der eigentlichen Maas, zu Kattendrecht, wo
wir die Stätte von Rotterdam durch eine
unendliche Reihe von Laternen längs dem
jenseitigen Ufer bezeichnet sahen. Die späte
Stunde bewog uns indeſs, diesseits in einem
kleinen, ländlichen Gasthofe zu bleiben, wo
die einfache aber gesunde Bewirthung unserm
müden, hungrigen und vom Nordostwinde
beinahe vor Kälte starrenden Körper wohl
zu Statten kam. Hier setzten wir uns um
den gemeinschaftlichen Feuerherd, und freue¬
ten uns der altmodigen Simplicität des Haus¬
herrn und seiner Tischgenossen. Man be¬
willkommte uns mit Herzlichkeit, zog uns
die Stiefeln ab und präsentirte jedem ein
[368] Paar Pantoffeln, die wenigstens dreimal
schwerer als die Stiefeln waren. Die treu¬
herzige Güte des Wirthes bewog ihn, mir
die besondere Gefälligkeit zu erweisen, seine
Pantoffeln, weil sie schon ausgewärmt wären,
von den Füſsen zu ziehen, um sie meinem
Gebrauch zu überlassen. Das geringste, was
ich thun konnte, war wohl, mich zu hüten,
daſs ich ihn nicht merken lieſse, seine gut
gemeinte Höflichkeit könne nach den Sat¬
zungen der feinen Welt ihm vielleicht gar
zum Verstoſs ausgelegt werden. Was hatte
ich auch zu befürchten in diesem Wohnort
der Gesundheit und Reinlichkeit? Unsere
eklen Sitten zeugen oft nur von ihrem grän¬
zenlosen Verderben. Die für lecker gehal¬
tenen Kibitzeier, nebst Seefischen und Kartof¬
feln, machten unsere Abendmahlzeit aus, wo¬
zu wir den Wirth seine Flasche Wein, die
übrige Familie aber gutes Bier trinken sahen.
Das[369] Das Schlafzimmer, welches man uns ein¬
räumte, war zugleich das Prunkzimmer die¬
ser Leute. Auf allen Seiten und insbeson¬
dere über dem Kamin, waren eine Menge
zierlich geschnitzter und bemalter Brettchen
über einander befestigt, worauf die irdene
Waare von Delft, sauber und zierlich in
Reihen geordnet, die Stelle der schlechten
Kupferstiche vertrat, womit man bei uns die
Wirthsstuben zu verzieren pflegt.
Daſs ich den ersten schönen, warmen
Frühlingsmorgen nicht vergesse, den wir auf
unserer Reise noch genossen haben, bedarf
keiner Entschuldigung bei den Vertrauten der
heiligen Frühe. Könnte ich nur auch den
Reichthum der Aussicht beschreiben, die wir,
von der Morgensonne beleuchtet, aus unserm
Fenster, über das kleine Gärtchen des Wir¬
thes hinaus, erblickten. Der lebendige Strom,
fast eine Englische Meile breit, floſs sanft
II. Theil. A a[370] vorbei in leichten, versilberten Wellen, und
trug auf seiner Azurfläche das hundertfältige
Leben der Schiffe, der Brigantinen, der
Schnauen, der kleineren Fahrzeuge von aller
Art, die hinauf- und hinabwärts, oder hin¬
über und herüber segelten und ruderten, mit
mannichfaltiger Richtung, Schnitt und Anzahl
ihrer Segel, langsam gegen die Fluth an,
oder pfeilschnell mit Wind und Strom und
Fluth zugleich sich bewegten, oder auch mit
eingezogenen Segeln und schwanken Masten,
malerisch gebrochen durch die Horizontal¬
linie der Raaen und den Wald von Tau¬
werk, in des Flusses Mitte vor Anker lagen.
Jenseits, im Sonnenglanze, hoben sich nah
und deutlich die Gebäude von Rotterdam
über dem Wasser; der groſse, viereckige
Pfarrthurm, die weitläufigen Admiralitätsge¬
bäude, der herrliche, mit hohen Linden auf
eine Stunde Weges besetzte Damm, der das
[371] Ufer begränzt, die Menge zwischen den Häu¬
sern hervor ragender Schiffsmasten, die un¬
zähligen Windmühlen in und neben und jen¬
seits der Stadt, zum Theil auf hohen thurm¬
ähnlichen Untersätzen errichtet, um den
Wind besser zu fangen; endlich, die Vor¬
städte von Landhäusern und Gärten, die
links und rechts in langer Reihe längs dem
Strome sich erstrecken!
Wir eilten, uns über den Fluſs setzen zu
lassen, und brachten den Tag damit zu, die
Stadt kennen zu lernen und sie ganz zu um¬
gehen, welches einer der angenehmsten Spa¬
ziergänge ist, die man sich denken kann.
Der Umfang von Rotterdam ist mittelmäſsig,
und seiner reinlichen Schönheit und Nied¬
lichkeit haben die Reisenden nur Gerechtig¬
keit widerfahren lassen. Wenn man sich
seinen Wohnort wählen könnte, so käme
die Straſse am Hafen und längs der Maas,
A a 2[372] die so breit und mit majestätischen Ulmen
und Linden so köstlich beschattet ist, gewiſs
unter die Zahl der Competenten, die mir die
Wahl erschweren würden. Die Aussicht auf
den Fluſs ist wirklich so anlockend, daſs
man sich kaum daran satt sehen kann. Nach
der Landseite hin bemerkten wir eine Menge
Leinwandbleichen, eine gröſser und schöner
als die andere, und in der Stadt selbst freute
uns das Gewühl am Hafen, auf den Straſsen
und in den Kanälen; abgehende, ankom¬
mende Schiffe, Hunderte von befrachteten
Kähnen, groſse so genannte Prahmen, rei¬
henweis gestellt, um den Schlamm der Ka¬
näle aufzunehmen und sie schiffbar zu er¬
halten; Karren, Schleifen, Schiebkarren, Trä¬
ger, rollende Fässer, Ballen von Waaren, das
Zeichen des Betriebes und der Handelsge¬
schäftigkeit; dann auf der kleinen, netten
Börse und in den Kaffeehäusern umher, die
[373] ein- und ausströmenden Schaaren von Kauf¬
leuten, Mäklern, Schiffskapitainen und Fremd¬
lingen aus allen Welttheilen, ein Bild der
friedlichen Vereinigung des Menschenge¬
schlechtes zu gemeinsamen Zwecken des
frohen, thätigen Lebensgenusses!
Hier war es nicht leicht möglich, an
äuſseren Merkmalen den tiefen, unheilbaren
Verfall des Holländischen Handels zu erken¬
nen, der gleichwohl seit dem Jahre 1779
durch eine in ihrer Art einzige Reihe von
Unglücksfällen beschleunigt worden ist. In
den hundert Jahren, die seit der Ermordung
der beiden groſsen de Wits (1672) verflossen
sind, hatten die wiederholten Kriege mit
Ludwig dem Vierzehnten, und die unter
Wilhelm dem Dritten und seinen Nachfol¬
gern so schnell empor wachsende Handels¬
gröſse von England, die Einschränkung des
Holländischen Handels allmälich bewirkt und
A a 3[374] seinen jetzigen Verfall unmerklich vorberei¬
tet. Die Neutralität der Niederlande wäh¬
rend des siebenjährigen Krieges eröffnete ih¬
nen eine Zeitlang vortheilhaftere Aussichten,
die sich mit noch gröſseren Hoffnungen beim
Ausbruch der Streitigkeiten zwischen Eng¬
land und seinen Kolonien erneuerten. Als
Frankreich und Spanien sich für die Unab¬
hängigkeit von Nordamerika erklärten und
Ruſsland seine bewaffnete Neutralität ersann,
der die Mächte des Europäischen Nordens so
folgsam beitraten, stieg der Handelsflor der
vereinigten Provinzen plötzlich auf eine Höhe,
wo sie das Maaſs ihrer politischen Kräfte
verkennen lernten. Die unvorsichtigen Ver¬
bindungen mit Frankreich reizten die Eng¬
lische Nation zu einem Kriege, wobei für
sie augenscheinlich mehr zu gewinnen als zu
verlieren war. Der Erfolg rechtfertigte die
politische Notwendigkeit dieser Maaſsregeln.
[375] Funfzig Millionen Gulden an Werth, das Ei¬
genthum der Republik, waren in unbewaff¬
neten Kauffahrern auf dem Meere, und die
gröſsere Hälfte dieser reichen Beute ward
den Englischon Kapern und Kriegesschiffen
zu Theil. St. Eustathius, Essequebo und
Demerary fielen in Amerika, so wie Nega¬
patnam in Ostindien, den Engländern in die
Hände, und das Brittische Kabinet hatte
noch überdies einen so entschiedenen Einfluſs
in die Administration der Niederländischen
Affairen, daſs die nach Brest bestimmte Hol¬
ländische Hülfsflotte zum offenbaren Nach¬
theil des Staates nicht auslaufen durfte.
Kaum war der demüthigende Friede mit
England wieder hergestellt, so muſste man
dem Kaiser noch gröſsere Opfer bringen, um
ihm das reklamirte Recht der freien Schelde¬
fahrt von neuem abzukaufen. Die Millionen,
womit man ihn für seine Forderung entschä¬
A a 4[376] digte; die Millionen, welche die Zurüstung
zu einem Landkriege verschlungen hatte; die
lange Gewohnheit der reichen Kapitalisten,
ihr baares Geld auſser Landes zu verleihen,
anstatt es im vaterländischen Kommerz in
Umlauf zu bringen; und mehr als alles noch,
der verderbliche Nothbehelf während des
Krieges mit England, unter fremder Flagge
zu fahren, wodurch ein groſser Theil des
Zwischenhandels in andere Kanäle kam und
auf immer für Holland verloren ging: alles
vereinigte sich, um nicht nur in den Schatz¬
kammern des Staates eine gänzliche Erschöp¬
fung zu verursachen, sondern auch den Still¬
stand der Geschäfte zu bewirken, und in
der allgemeinen Trauer, in der erzwungenen
Ruhe, die Erbitterung der Parteien, die ein¬
ander die Schuld beimaſsen, aufs Höchste
zu spannen. Auf der einen Seite die hart¬
näckige Verblendung der Handelsstädte, wo¬
[377] mit sie auf ihrem Bündniſs mit Frankreich
bestanden, ohne dessen nahen Sturz, durch
die gänzliche Zerrüttung seiner Finanzen, vor¬
her zu sehen; auf der andern die strafbare
Anmaſsung gewisser Staatsbeamten, die Al¬
lianz, die sie nicht mehr verhindern konnten,
durch Ungehorsam gegen ihren Souverain,
Verrath des nun einmal zum Staatsinteresse
angenommenen Systems und widerrechtliche
Versuche gegen die Freiheit der Verfassung
selbst, allmälich zu untergraben: dies waren
die Extreme, deren Wiedervereinigung sich
ohne Blutvergieſsen nicht länger vermitteln
lieſs. Der Ausbruch des Bürgerkrieges und
die bewaffnete Dazwischenkunft des Königes
von Preuſsen füllten das Maaſs der Leiden,
welche über die Republik verhängt zu seyn
schienen, und raubten ihr, was die Versehen
einer kurzsichtigen Staatskunst noch ver¬
schont hatten: den häuslichen Wohlstand
A a 5[378] und den innern Frieden der Familien. Selbst
nach dem Abzuge der Preuſsen verschlang die
Überschwemmung vom Jahre 1788, welche
von den im vorigen Jahre durchstochenen
Dämmen nicht länger abgewehrt werden
konnte, in vielen Gegenden von Holland die
aus den Verwüstungen eines feindlichen Über¬
zuges mit Noth gerettete Habe; zwei andere
Überschwemmungen, die auf jene noch im
Jahre 1789 folgten, verursachten bei Gorkum
und an anderen Orten einen Schaden von
einer halben Million; und endlich forderte
die Zerrüttung der öffentlichen Finanzen eine
auſserordentliche Hülfe, welche durch die
auferlegte Schatzung des fünf und zwanzig¬
sten Pfennigs erzwungen ward und wovon
ein nicht geringer Theil in die Privatkassen
der Partei geflossen ist, welche in diesem
für Hollands Flor so unglücklichen Kampfe
die Oberhand behalten hat. Die unweise
[379] Rache einer unvollkommenen Amnestie und
die darauf erfolgten häufigen Auswanderungen
vieler begüterten Familien vollenden dieses
Gemälde der Zerstörung, dessen Folgen schon
im nahen Untergange der Westindischen und
dem fast eben so hülflosen Zustande der
Ostindischen Kompagnie am Tage liegen *).
Aber dem geduldigen, beharrlichen Fleiſse
voriger Generationen, ihrer Mäſsigkeit und
Sparsamkeit, ihrem freien Sinne, ihrem tap¬
fern Muthe, ihren kühnen Unternehmungen
und ihrer rastlosen Thätigkeit ist es gelun¬
gen, eine solche Masse von Reichthümern in
ihrem selbst geschaffenen Vaterlande zu häu¬
fen und unsern Welttheil so sehr an ihren
[380] Waarentausch zu gewöhnen, daſs noch jetzt,
nachdem man überall mit dem in Holland
erborgten Gelde einen eigenen Aktivhandel
zu begründen versucht hat, jenes bewun¬
dernswürdige Phänomen der Handelsindustrie
nicht aus den gröſseren Städten gewichen
ist. Noch sind die Holländer, wenn gleich
in geringerem Maaſse als sonst, die Mäkler
von ganz Europa, und bestimmen die Ge¬
setze des Geldhandels; noch schreibt Amster¬
dam den handeltreibenden Nationen den
Wechselkurs vor!
Wir verlieſsen Rotterdam den folgenden
Morgen, nachdem wir der Bildsäule des vor¬
treflichen Erasmus unsere Andacht gezollt
hatten. Wenn sie gleich auf künstlerisches
Verdienst keinen Anspruch machen kann,
so freute sie uns doch als ein Beweis der
Dankbarkeit, womit Rotterdam die Gröſse
seines gelehrten Mitbürgers erkannte und
[381] ehrte. Wir fuhren auf dem Kanal nach
Delft, und sahen an demselben eine Bolto¬
nische Feuermaschine erbaut, um das Wasser
aus den niedrigen Wiesen in den Kanal zu
heben. Es sollten zwei solche Maschinen
hier errichtet werden; aber nur Eine ist zu
Stande gekommen, und hat ungefähr hun¬
derttausend Gulden gekostet. Linker Hand
lieſsen wir das Städtchen Schiedam mit sei¬
nen zahlreichen Geneuwer- (oder Wachhol¬
derbranntwein-) Brennereien liegen. Man
wollte uns versichern, daſs gegen zweihun¬
dert Brennereien dort eingerichtet wären,
welche täglich fünfhundert Oxhoft dieses
Getränkes versendeten. So übertrieben diese
Angabe scheint, so gewiſs ist et doch, daſs
die Fabrikation und Consumption dieses Ar¬
tikels sehr beträchtlich bleibt, und den Reich¬
thum von Schiedam, als des einzigen ächten
Brauorts, ausmacht. Das Verhältniſs der
[382] Wachholderbeeren zur übrigen Gahre ist
nicht bekannt; sie geben aber unstreitig
dem Fruchtbranntwein beides Geschmack
und Geist. Der Genuſs dieses Branntweins,
wovon der gemeine Mann in Holland so
groſse Quantitäten verbraucht, muſs auf die
Leibeskonstitution zurückwirken; wie er aber
wirke, können nur einheimische Ärzte nach
einer durch viele Jahre fortgesetzten Beobach¬
tung entscheiden.
In dem netten, freilich aber etwas stillen
und erstorbenen Delft besuchten wir eine
Fayencefabrik, deren die Stadt gegenwärtig
nur acht besitzt, indem das Englische gelbe
Steingut dem schon längst verminderten Ab¬
satz dieser Waare den letzten Stoſs gegeben
hat. Der Thon, sagte man uns, käme aus
Brabant über Brüssel, ob man gleich den Ort
nicht bestimmt anzugeben wuſste. Der Ofen,
als das Wichtigste, weil er dem Porzellan¬
[383] ofen vollkommen ähnlich seyn soll, besteht
aus drei Kammern über einander. In die
mittlere wird das Geschirr in Muffeln ein¬
gesetzt, und in der untersten das Feuer an¬
gemacht. Die Flamme schlägt durch Löcher
zwischen den Muffeln durch, und die oberste
Kammer bleibt für den Rauch. So geschmack¬
los die Mahlerei und selbst die Form an die¬
ser Fayence ist, verdient sie doch manchen so
genannten Porzellanfabriken in Deutschland
vorgezogen zu werden, die oft die elendeste
Waare um theuren Preis verkaufen und ge¬
wöhnlich zum Nachtheil der herrschaftlichen
Kammern bestehen.
Es blieb uns noch so viel Zeit übrig, daſs
wir die beiden Kirchen besehen honnten.
In der einen dienen die Grabmäler der Ad¬
mirale Tromp und Pieter Hein zur Erinne¬
rung an die Heldentugenden dieser wackern
Republikaner. Des Naturforschers Leuwen¬
[384] hoeks Porträt in einem schönen einfachen
Basrelief von Marmor, ihm zum Andenken
von seiner Tochter gesetzt, gefiel mir in Ab¬
sicht auf die Kunst ungleich besser. In der
andern Kirche prunkt das kostbare, aber ge¬
schmacklose Monument des Prinzen Wilhelm
des Ersten von Nassau, unter welchem zu¬
gleich die Gruft der Erbstatthalter befindlich
ist. Schön ist jedoch eine Viktorie von Erz,
die auf einer Fuſsspitze schwebt. Vor weni¬
gen Jahren hat man auch dem edlen Hugo
de Groot (oder Grotius) hier ein Denkmal
errichtet.
Wir kamen zur Mittagszeit im Haag an,
und benutzten das Inkognito, wozu das Aus¬
bleiben unseres Gepäckes uns nöthigte, um
das am Meere gelegene Dorf Scheveningen
nach Tische zu besuchen. Sobald man zum
Thore hinaus ist, — denn der Haag ist eine
Stadt, und hat seine Barrieren, so wie seine
Mu¬[385] Municipalität, wenn gleich die Reisenden
einander beständig nachbeten, es sei das
schönste Dorf in Europa, — also, wenn man
zum Thor hinaus ist, befindet man sich in
einer schönen, schnurgeraden Allee von
groſsen schattigen Linden und Eichen, die
durch ein Wäldchen bis nach Scheveningen
geht, und wo die Kühlung im Sommer köst¬
lich seyn muſs. Der Anblick des Meeres
war diesmal sehr schön; so still, und uner¬
meſslich zugleich! Am Strande suchten wir
jedoch vergebens nach naturhistorischen Sel¬
tenheiten; die Sandhügel waren leer und
öde. Wir konnten uns nicht einmal von
der Behauptung einiger Geologen vergewis¬
sern, der zufolge ein Thonlager unter dem
Sande liegen soll. Das Meer, welches in
Holland überhaupt nichts mehr ansetzt, hat
im Gegentheil hier einen Theil vom Strande
weggenommen, und die Kirche, die sonst
II. Theil. B b[386] mitten im Dorfe lag, liegt itzt auſserhalb
desselben unweit des Meeres. Die vier Rei¬
hen von Dünen, etwa eine halbe Viertel¬
meile weit hinter einander, die man hier
deutlich bemerkt, unterscheiden sich durch
verschiedene Grade der Vegetation, welche
sich in dem Maaſse ihrer Entfernung vom
Meere und des verringerten Einflusses der
Seeluft vermehrt. Auf den vordersten Dünen
wächst fast nichts als Schilf und Rietgras,
nebst einigen Moosen und der gemeinen
Stechpalme; da hingegen die entfernteren
schon Birken, Pfriemen, den Sanddorn (Hip¬
pophae) und mehrere andere, freilich aus
Mangel der Nahrung immer noch zwergar¬
tige Pflanzen hervorbringen. Der Nähe der
Seeluft glaube ich es auch zuschreiben zu
müssen, daſs hier (im Haag) noch alle Bäume
mit völlig verschlossenen Knospen nackt da
standen, indeſs wir sie in Flandern und
selbst in Rotterdam schon im Ausschlagen
[387] begriffen gefunden hatten. Die Argumente
also, welche man von den verschiedenen
Stufen des Pflanzenwachsthumes zu entlehnen
pflegt, um die Entstehung der Dünen aus
dem Meere selbst, das ihnen jetzt zu drohen
scheint, darzuthun, fanden diesmal bei uns
wenig Eingang, und wir fühlten uns geneigt,
die Bildung dieser Sandhaufen so unentschie¬
den zu lassen, wie die Frage, ob ihr Sand
bei Kattwyk, wo sich der Rhein verliert, so
viel Gold enthalte, um die Kosten einer
Wäsche für Rechnung des Staates, wie man
behauptet hat, mit einigem Gewinn zu ver¬
güten? Unter diesen und ähnlichen Betrach¬
tungen wanderten wir zur Stadt zurück, ohne
ein anderes Abentheuer, als den Anblick der
heimkehrenden Fischweiber, die uns begeg¬
neten und die unmöglich irgendwo ver¬
wünschter oder hexenmäſsig häſslicher und
unfläthiger aussehen können.
B b 2[388]
XXIV.
Was man von der anmuthigen Lage dieses
Ortes und den übrigen Vorzügen sagt, die
ihn zum angenehmsten Aufenthalt in den ver¬
einigten Provinzen machen, ist keinesweges
übertrieben. Die Gegend um die Esplanade
und unweit derselben zeichnet sich durch
groſse, bequeme und zum Theil prächtige
Wohnhäuser aus, wovon einige beinahe den
Namen Palläste verdienen. Die Reinlichkeit
und eine gewisse, bis auf die kleinsten Be¬
quemlichkeiten sich erstreckende Vollständig¬
keit der äuſsern und innern Einrichtung,
welche jederzeit den sichersten Beweis von
Wohlhabenheit, verbunden mit einem feinen
Sinn für Eleganz und Genuſs des Lebens
giebt, verschönern selbst die einfacheren Ge¬
bäude. Unter den hochbewipfelten Linden,
[389] die oft in mehreren Reihen neben einan¬
der stehen und der Stadt einen ländlichen
Schmuck verleihen, geht man fast zu allen
Jahrszeiten trocknes Fuſses spazieren, und
die Aussicht von der Straſse nach dem freien
Felde, wo gewöhnlich die hiesige Garnison
ihre kriegerischen Frühlingsübungen hält, er¬
quickt besonders jetzt das Auge durch das
frisch hervorkeimende Grün der fetten Wie¬
sen, die von allen Seiten ein hochstämmiger,
reizender Lustwald umfängt. Rings umher
ist die Natur so schön, wie ein vollkommen
flaches Land sie darbieten kann, und selbst
mit dem verwöhnten Geschmack, den ich
aus unseren Rheinländern mitgebracht habe,
muſs ich bekennen, daſs die hiesige Land¬
schaft einen eigenthümlichen, groſsen, wenn
gleich keinesweges romantischen Charakter
hat.
Die Volksmasse im Haag ist so gemischt,
B b 3[390] daſs man es kaum wagen darf, den Schluſs
von ihrer Lebensweise, ihren Sitten und ih¬
ren Anlagen auf die Holländische Nation zu
machen. Zu meinem groſsen Vergnügen be¬
merkte ich jetzt fast gar keine Bettler auf
den Straſsen, die vor zwölf Jahren so stark
damit besetzt waren, daſs ein Fuſsgänger sich
des Unwillens über ihre Zudringlichkeit kaum
erwehren konnte. Desto auffallender ist ge¬
genwärtig das zahlreiche Militaire; den gan¬
zen Morgen manoeuvriren die verschiedenen
Regimenter unter unsern Fenstern; den gan¬
zen Tag über hat man sie beständig vor Au¬
gen, und man kommt in keine Gesellschaft,
wo man nicht Officiere sieht. Solchergestalt
ist wenigstens die neuerdings befestigte Frei¬
heit sehr gut bewacht! Auch trägt man hier
allgemein ihr Siegeszeichen, die Orangeko¬
karde, oder ein Band von dieser Farbe im
Knopfloch, und der Pöbel duldet keinen
[391] Menschen ohne dieses Symbol der Confor¬
mität auf der Straſse.
In den Sitten und der Lebensweise herrscht,
ungeachtet der Residenz eines Hofes, noch
manche Spur der alten republikanischen Ein¬
falt und Tugend. Die späte Stunde der
Mittagsmahlzeit scheint durch die Verbin¬
dungen und Beziehungen der vornehmeren
Einwohner mit dem Prinzen, den Versamm¬
lungen der Generalstaaten und der höheren
Dikasterien allmählig Sitte geworden zu seyn.
In den meisten Häusern iſst man nicht vor
drei Uhr, in den vornehmeren erst um vier;
die arbeitende Klasse der Bürger macht in¬
deſs hier, wie überall, eine Ausnahme, weil
sie fester am alten Brauche hängt und im
Grunde auch die Zwischenräume ihrer Mahl¬
zeiten nach der Erschöpfung des Körpers ab¬
messen muſs. Die Tafel wird in den besten
Häusern mit wenigen, gut zubereiteten Spei¬
B b 4[392] sen besetzt, und, so viel ich höre, hat das
Beispiel der auswärtigen Gesandten und ein¬
zelner Familien des begüterten Adels den
prassenden Aufwand und die leckere Ge¬
fräſsigkeit unseres Jahrhunderts noch nicht
eingeführt. Das gewöhnliche Getränk bei
Tische ist rother Wein von Bordeaux, des¬
sen man sich doch mit groſser Mäſsigkeit
bedient, theils weil man mehrere Stunden
bei der Mahlzeit zubringt, theils auch, weil
zwischen den Mahlzeiten bei der Pfeife Wein
getrunken wird; denn diese behält durchge¬
hends ihre Rechte und ist kaum noch aus
einigen der ersten Häuser verbannt. Viel¬
leicht wird sie bei der hiesigen feuchten,
nebeligen Seeluft nöthiger und zuträglicher
oder wenigstens unschädlicher als ander¬
wärts, so sehr sie auch die Zähne verdirbt.
Schwarze Zähne sieht man aber auch bei
dem Frauenzimmer; sie werden vielleicht
[393] mit Unrecht auf Rechnung des täglich zwei¬
maligen Theetrinkens gesetzt, da die hiesige
alkalescirende Diät mir weit eher die Schuld
zu tragen scheint.
Nun ich einmal des Frauenzimmers er¬
wähnt habe, erwartest Du wohl ein Wort
zur näheren Bezeichnung desselben; allein
ich beziehe mich auf meine vorige Bemer¬
kung: die gemischte Race im Haag gestattet
mir kein allgemeines Urtheil. Die vielen,
durch die Verbindungen des Hofes hieher
gebrachten fremden Familien, die Französi¬
sche reformirte Kolonie und die Mischungen
der Niederländer selbst aus allen Provinzen
tragen auf eine fast nicht zu berechnende
Art dazu bei, den hiesigen Einwohnern eine
mehrentheils angenehme, wenn auch nicht
charakteristisch nationale Gesichtsbildung zu
geben. Die Französische Mode herrscht übri¬
gens, wie bei uns, mit unumschränkter Ge¬
B b 5[394] walt, und bestimmt die Bestandtheile, die
Form und den Stoff des Anzuges. Bei der
Mittelklasse scheint der Luxus nach Verhält¬
niſs des Ortes und der Umstände sich noch
ziemlich in Schranken zu halten; hier sah
ich die Englischen groſsen Baumwollentücher
oder Shawls in allgemeinem Gebrauch. Die
Weiber aus der geringen Volksklasse und
die Mägde erscheinen dagegen in einem den
Fremden äuſserst miſsfälligen Costume. Ein
kurzes, öfters weiſses Mieder, dessen Schöſse,
wenn es deren hat, nicht zum Vorschein
kommen, bezeichnet ungefähr die Holländi¬
sche, zum Umspannen nicht gemachte Taille;
allein die Anzahl der Röcke und ihre Sub¬
stanz geben diesem Anzug etwas Ungeheures,
so daſs die untere Hälfte des Körpers, von
den Hüften bis an die Waden, in einer Art
von kurzer, dicker Tonne zu stecken scheint.
Auf dem Kopfe eine dicht anschlieſsende
[395] Haube und bei den Landleuten darüber ein
Strohhut, der um Rotterdam hinten gar kei¬
nen Rand, im Haag hingegen rundum ei¬
nen gleich breiten Rand hat, aber jederzeit
mit dunkelfarbigem bunten Kattun gefüttert
ist, vollenden diesen Anzug. Die Tracht der
Mannspersonen ist weniger ausgezeichnet und
fast allgemein von der gröſsten Simplicität.
Das Volk hat eine Vorliebe für die braune
Farbe; fast alle Schifferjacken und Schiffer¬
hosen sind von braunem Tuch oder Boy.
In der Klasse der Handwerker und Krämer
sind groſse Perücken noch sehr gebräuchlich,
und man sieht oftmals einen ehrbaren Bür¬
ger, der mit einem spitzen dreieckigen Hut
auf der groſsen, runden Perücke und in ei¬
ner bloſsen Weste mit Ärmeln gravitätisch
über die Straſse geht.
Es wird uns schwer werden, wieder von
hier wegzukommen; die Stunden gehen uns
[396] schnell wie Minuten hin, theils indem wir
alle Sehenswürdigkeiten der Natur und Kunst
in Augenschein nehmen, theils indem wir
aus einer Gesellschaft in die andere gerathen,
wo zwanglose Gastfreundschaft herrscht und
die Forderungen eines an Geistesgenuſs ge¬
wöhnten Reisenden in vollem Maaſse befrie¬
digt werden. Die Annehmlichkeit und Leich¬
tigkeit der Haager im Umgang verräth den
Einfluſs des Auslandes und des Hofes; allein
der gebildete, lehrreiche Ton des Gespräches
versetzt sie auf eine höhere Stufe sowohl der
Anlagen als der Bildung, und giebt ihren
Zirkeln gleichen Rang mit den gebildetsten
in England und Frankreich. In gewisser
Rücksicht haben sie vielleicht vor beiden
einigen Vorzug; man wird weder durch
Leichtsinn und sprudelnden Witz, noch
durch düstere Zurückhaltung und Taciturni¬
tät in Verlegenheit gesetzt. Ein groſser
[397] Reichthum von Ideen aller Art, hauptsächlich
der statistischen und politischen, doch auch
zugleich der im engern Verstande wissen¬
schaftlichen, ist in beständigem Umlauf; vor¬
züglich sind hier, und überhaupt in Holland,
naturhistorische Kenntnisse nebst klassischer
und humanistischer Gelehrsamkeit allgemei¬
ner als in manchen anderen Ländern ver¬
breitet.
Den Plato, nicht etwa nur der hiesigen
akademischen Schattengänge, sondern unseres
Jahrhunderts, den eleganten und gelehrten
Hemsterhuis, fanden wir sterbend und konn¬
ten ihn nicht mehr besuchen *). Wenn es
noch eines Beweises bedürfte, daſs Feinheit
der Empfindung, Reichthum und Wahl der
Ideen, Politur des Geschmackes, verbunden
mit der Fertigkeit und den subtilen Stacheln
des ächten Witzes, mit der lichtvollen Ord¬
[398] nung einer herzlichen Philosophie und dem
Dichterschmuck einer Alles verjüngenden Ein¬
bildungskraft, nicht an irgend eine Erdscholle
gebunden sind, so würde wenigstens ein
Mann, wie dieser, beweisen, daſs Holland
nicht aus der Zahl der Länder ausgeschlos¬
sen ist, wo die edelsten Kräfte und die zar¬
testen Empfänglichkeiten der menschlichen
Natur den höchsten Punkt ihrer Entwicke¬
lung erlangen und die reifsten Früchte brin¬
gen können. Der Geist, der in diesem
schwachen Körper wohnt, ist so empfindlich
für Harmonien aller Art, und leidet so im
eigentlichen Verstande bei jedem Miſsverhält¬
niſs in der sinnlichen, wie in der sittlichen
Natur, daſs er sich sogar seiner vaterländi¬
schen Mundart nicht zum Vehikel seiner Ge¬
danken bedienen konnte, sondern alle seine
Werke Französisch schrieb und auch diese
Sprache zu seinen Zwecken gleichsam um¬
[399] bildete, indem er ihr seinen eigenen Styl
aufdrang. Seine Schriften sind unter uns
weniger bekannt, als sie es verdienen; allein
man muſs sie in der Ursprache lesen, wenn
man von ihrer Attischen Eleganz, die oft
nur ein unnachahmlicher Lebenshauch ist,
nichts verlieren will.
Petrus Camper, einer der merkwürdigsten
Männer, welche die Niederlande hervorge¬
bracht haben, war durch einen unzeitigen
Tod wenige Wochen vor unserer Ankunft
seinem Freunde Hemsterhuis vorangegangen.
Seine ausnehmenden Verdienste um die Na¬
turgeschichte, die Anatomie und Wundarznei¬
kunst sind allgemein bekannt; die Universa¬
lität seiner Kenntnisse und Fähigkeiten, und
insbesondere sein richtiger Sinn für das
Schöne der Kunst, sind es schon weniger.
Er bossirte, wuſste den Bildhauermeiſsel zu
führen, malte in Ölfarben und zeichnete
[400] auſserordentlich fertig mit der Feder. Er
schrieb in vier Sprachen und arbeitete nicht
nur mit unermüdeter Thätigkeit, sondern
auch mit einem Feuer, dessen nur wahres
Genie fähig ist. An seinem Beispiele konnte
man abnehmen, was sich für die Wissen¬
schaften ausrichten läſst, sobald eifriger
Wille und hinreichende Mittel zusammen¬
treffen. Ihm verdankt man in Holland die
Einführung der Blatternimpfung und der in
jenem Lande nicht minder wichtigen Im¬
pfung der ansteckenden Krankheit, die das
Hornvieh hinwegrafft; sein rastloser Eifer
bestritt und seine Kuren besiegten das thö¬
richte Vorurtheil, welches die Vorsorge für
die Gesundheit für einen Eingrif in die
Rechte der Vorsehung hielt, wie man in der
Türkei vor Zeiten das Löschen bei einem
Brande anzusehen pflegte, bis die Erfahrung
gelehrt hatte, daſs die Vorsehung in allen
diesen[401] diesen Fällen auf die Anwendung der gesun¬
den Vernunft mitgerechnet habe, und eben
sowohl den Menschen, wie die Elemente und
die Krankheitsmiasmen, zu ihren Werkzeugen
gebrauche. Wenn Camper in irgend einer
wichtigen Untersuchung begriffen war, konn¬
te nur die Unmöglichkeit ihn hindern, sie
durchzuführen; weder kleine noch groſse
Hindernisse, wenn sie nicht unübersteiglich
waren, schreckten ihn zurück, und wenn es
ihm darauf ankam, ein Paar Gerippe von
Thieren mit einander zu vergleichen, achtete
er die Entfernung von London und Paris für
nichts. Reisen überhaupt, diese groſse, un¬
vergleichbare Quelle der sichersten Belehrung
durch die eigenen Sinne, suchte er, so weit
es anging, mit seinen Geschäften zu verein¬
baren. Bei der brennenden Begierde das
Gute, oder was er dafür hielt, zu wirken,
war ihm die wissenschaftliche und selbst die
II. Theil. C c[402] praktisch medizinische Laufbahn zu enge.
Er besaſs ein eigenes Vermögen von einer
halben Million, und konnte folglich in die¬
ser Rücksicht den Hof entbehren; allein er
opferte dem Ruhm und der Ehre, mit einem
Geiste, der freilich auch diese Leidenschaft
adeln kann; und sowohl seine Bekanntschaft
mit den inneren Angelegenheiten seines Va¬
terlandes, als seine auswärtigen Verbindun¬
gen, empfahlen ihn zu wichtigen Ämtern im
Staate. In seiner Provinz Friesland hatte er
Sitz und Stimme im Admiralitätskollegio,
und gleich nach der Rückkehr des Erbstatt¬
halters, dessen Rechte er eifrig verfochten
hatte, ward er zum Mitglied des hohen
Staatsrathes (Raad van Staaten) ernannt.
Diese Anhänglichkeit an die Oranische Par¬
tei hätte indeſs für die Wissenschaften eine
sehr nachtheilige Folge haben können. Schon
wollte man in Franeker sein Haus zu Klein
[403] Lankum, wo er die unschätzbarste Präpara¬
ten- und Naturaliensammlung besaſs, mit
Kanonen in den Grund schieſsen. In der
Eile wurden die kostbarsten Stücke in Kisten
gepackt oder vielmehr geworfen und fortge¬
schafft oder auch zum Theil vergraben. Als
die Gefahr vorüber und die Ruhe wieder
hergestellt war, strafte er seine Landsleute
dadurch, daſs er ihnen seine Gegenwart und
sein berühmtes Kabinet entzog.
Diese lehrreiche Sammlung haben wir
hier mehrere Tage nach einander mit Bewil¬
ligung seines jüngsten Sohnes, des jetzigen
würdigen Besitzers, sehr fleiſsig studirt, ob
sie gleich für den Zergliederer, den Arzt,
Wundarzt und Naturforscher Beschäftigung
und Belehrung auf viele Wochen gewähren
kann. Sie ist vorzüglich reich an solchen
seltenen Stücken und Präparaten, welche die
Funktionen der Theile des menschlichen
C c 2[404] Körpers durch die Vergleichung mit ähnli¬
chen, aber anders proportionirten Theilen
verschiedener Thiere erläutern. So manche
Einrichtung in der menschlichen Organisation
muſste unerklärbar bleiben, bis ihr Nutzen
an irgend einem Thiere, welches sie etwa in
einem eminenteren Grade besaſs oder wo
sich deutlicher die übrige Gestalt und Be¬
schaffenheit des Körpers darauf zu beziehen
schien, endlich offenbar ward und somit in
der Behandlung gewisser Krankheiten ein
neues Licht aufging. Zur Geschichte der
Krankheiten, so fern ihre materielle Veran¬
lassung an gewissen Theilen der Eingeweide
sichtbar ist, hatte Camper viele der seltensten
Präparate aufbewahrt, und mit nicht gerin¬
gerem Fleiſs und Glück auch die Abarten
der Menschengattung durch die abweichende
Bildung ihrer Schedel zu erläutern gesucht *),
[405] wiewohl seine Sammlung in diesem Betracht
weder so zahlreich ist, noch so viele Natio¬
nen in sich faſst, wie das Museum der Göt¬
tingischen Universität. Die Aufmerksamkeit
auf den Knochenbau der Thiere, den man
bisher zu sehr vernachlässigt hatte, ist seit
kurzem fruchtbar an Entdeckungen gewesen.
Zum erstenmal bewunderte ich hier die groſse
Verschiedenheit des kleinen Orangutangs von
dem groſsen, dessen Ankunft aus Borneo mir
der selige Camper selbst vor mehreren Jah¬
*)C c 3[406] ren mit Frohlocken gemeldet hatte. Dieses
Thier, das über vier Fuſs hoch wird, kommt
in einigen Stücken dem Menschen noch nä¬
her, als der kleine, gewöhnliche Orang¬
utang; hingegen weicht es in andern wieder
mehr ab und geht in die Paviansgestalt über.
Alles an seinem ungeheuren Schedel zeugt
von Riesenstärke: der aufstehende Rand auf
der Scheitel und über den Augenhöhlen,
woran die Schläfemuskeln gesessen haben,
das furchtbare Gebiſs und die gewaltigen
Kinnbacken, welche zur Vertheidigung gegen
die gröſsten Tiger völlig hinreichend zu seyn
scheinen. Das Schaltbein des Oberkiefers,
(os intermaxillare) welches keinem Thiere
fehlt, war hier so verwachsen, daſs man es
schlechterdings nicht erkennen konnte. Ne¬
ben dieser Asiatischen Seltenheit will ich
nur noch einer Afrikanischen erwähnen,
nämlich eines Affen oder eigentlich einer
[407] Meerkatze mit einer langen Nase; zum Be¬
lage der Behauptung, daſs auch dort, wo die
Analogie und die Bildung des Schedels eine
solche Conformation dieses Theiles höchst
unwahrscheinlich machen, die Natur dennoch
eine Gestalt ausprägen kann, deren Möglich¬
keit wir erst zugleich mit ihrer Wirklichkeit
aus der Erfahrung lernen müssen. Ich über¬
gehe den Unterschied zwischen dem Asiati¬
schen einhörnigen und dem Afrikanischen
zweihörnigen Nashorn, der hier an den bei¬
den Schedeln, unter andern auch darin so
auffallend ist, daſs diesem die Schneidezähne
gänzlich fehlen, die jenes besitzt. Eben so
wenig will ich Dich mit dem so offenbaren
specifischen Unterschiede zwischen dem Asia¬
tischen und Afrikanischen Elephanten, zwi¬
schen den Bären, die wir jetzt kennen, und
jenen wenigstens viermal so groſsen, deren
Gerippe man aus den Höhlen im Bayreuthi¬
C c 4[408] schen aufgegraben hat, zwischen dem furcht¬
baren, unbekannten Thier, das ehemals am
Ohio in Nordamerika existirte, und von des¬
sen Knochen man in diesem Kabinet einige
schöne Stücke antrift, und dem kaum halb
so groſsen Elephanten, länger aufhalten. Der
jüngere Camper hat diesem Kabinet noch
eine prächtige, zum Theil auf seinen eigenen
Reisen zusammengebrachte Mineraliensamm¬
lung einverleibt; auch besitzt er noch den
unschätzbaren Nachlaſs von seines Vaters
Handschriften, Zeichnungen, Kupferplatten
und zum Drucke fertig liegenden Schriften,
die der wahrhaft groſse Mann aus keiner
andern Absicht zurücklegte, als um seiner
Arbeit immer noch gröſsere Vollständigkeit
zu geben. Der jetzige Besitzer des Kabinet¬
tes geht in wenigen Wochen damit nach
Friesland auf sein Landgut zurück, weil ihm
der Aufenthalt im Haag zu kostbar scheint;
[409] ein Umstand, der zugleich den Maaſsstab
der hiesigen Theurung und des hiesigen Auf¬
wandes giebt.
Lyonnets vortrefliches Conchylienkabinet
hatte ich schon vor zwölf Jahren gesehen;
jetzt hatte es seinen gröſsten Werth für uns
verloren, denn der Sammler selbst, der un¬
nachahmliche Zergliederer der Weidenraupe,
der ihre drittehalbtausend Muskeln zählte
und das Werk vieler Jahre, die vollständige,
bis an die äuſsersten Gränzen sowohl der
menschlichen Sehkraft als des geduldigen
Fleiſses getriebene Untersuchung dieses In¬
sekts, mit eigener Hand in Kupfer ätzte, der
berühmte Lyonnet, ist nicht mehr. Seine be¬
wundernswürdigen Arbeiten waren nur die
Frucht seiner Nebenstunden; den General¬
staaten diente er als geheimer Sekretair und
Déchiffreur. Allein man respektirt in repu¬
blikanischen Verfasssungen den individuellen
C c 5[410] Charakter der Menschen und ihr freies Be¬
ginnen, anstatt mit dem Despotismus von
dem falschen Grundsatz auszugehen, daſs die
Menschen nur für den Staat geschaffen und
als Räder in der Maschine anzusehen sind,
die ein Einziger bewegt. Daher ist dort
dem Staate selbst die Muſse der Beamten
heilig, während man in Despotien so viele
traurige Beispiele sieht, daſs sie ohne Rast,
und mit Aufopferung ihrer Individualität,
ihrer Nachtruhe und ihrer Gesundheit das
schwere Joch der Staatsgeschäfte tragen und
als bloſse Werkzeuge ihren Verstand, ihr
Herz und ihren Willen verläugnen müssen.
Wenn die wissenschaftliche Aufklärung
hier groſse Fortschritte gemacht hat und ei¬
nige wissenschaftliche Begriffe mehr als an¬
derwärts in Umlauf gekommen sind, so darf
man nicht vergessen, wie viel das Beispiel
einzelner Männer dazu beitragen kann, wenn
[411] entweder ihr Charakter Achtung einflöſst
oder ihr Standpunkt die Augen Aller auf sie
richtet. Auſser dem Einfluſs, welchen Hem¬
sterhuis, Camper und Lyonnet auf ihre Lands¬
leute behaupteten, hat der Eifer, womit der
ehemalige Russische Gesandte, Fürst Dimitri
Gallizin, sich mehrere Jahre lang in allen
Zweigen der Physik und neuerdings in der
Mineralogie die gründlichsten Kenntnisse er¬
warb, unstreitig viel gewirkt, um sowohl die¬
sen Wissenschaften selbst, als denen, die sich
ihnen widmeten, in den Augen des hiesigen
Publikums einen günstigen Anstrich zu ge¬
ben. Das Mineralienkabinet des Fürsten ent¬
hält die Sammlung eines Kenners, der haupt¬
sächlich dasjenige aufbewahrt, was in seiner
Art selten und seiner Beziehungen wegen
lehrreich ist. Wir bewunderten darin ein
anderthalb Fuſs langes Stück von dem seit
kurzem erst wieder bekannt gewordenen
[412] beugsamen Sandstein des Peiresk, der aus
Brasilien gebracht wird, und wurden durch
die Experimente des Fürsten überzeugt, daſs
die decomponirten Granitarten des Sieben¬
gebirges bei Bonn, noch stärker als Basalte
vom Magnet gezogen werden. In der Mine¬
raliensammlung der Herren Voet, Vater und
Sohn, überraschte uns nicht nur die Schön¬
heit und Auswahl der Stufen, sondern auch
die hier ganz unerwartete Vollständigkeit.
Ich nenne zuletzt ein Museum, welches
in jeder Rücksicht die oberste Stelle ver¬
dient, und in der Welt kaum zwei oder drei
Nebenbuhler hat, die man ihm mit einigem
Recht an die Seite setzen kann: das wahr¬
haft fürstliche Naturalienkabinet des Prinzen
von Oranien. Wenn man bedenkt, wie weit
die Anlegung einer Sammlung von dieser Art
die Kräfte des reichsten Privatmannes über¬
steigt, wie leicht hingegen ein Fürst, auch
[413] nur mit mäſsigen Einkünften, sich statt eines
andern Vergnügens dieses Verdienst um die
Wissenschaften erwerben kann, und endlich,
wie unentbehrlich diese Anhäufungen aller
bekannten Erzeugnisse des Erdbodens, zur
allgemeinen Übersicht, zur zweckmäſsigen
Anordnung, zur speciellen Geschichte der
einzelnen Naturkörper und folglich zur Ver¬
vollkommnung der ersten, unentbehrlichsten
unserer Kenntnisse sind; so erstaunt man,
wie es möglich ist, daſs so viele Privatper¬
sonen den Versuch gewagt haben, sich ein
Naturalienkabinet zu sammeln, und daſs im
Ganzen genommen die Potentaten gegen die¬
sen wichtigen Zweig ihrer Pflichten so gleich¬
gültig haben bleiben können. Freilich mag
die widersinnige, oder, daſs ich richtiger
schreibe, die negative Erziehung, die man
den meisten Fürsten giebt, wohl Schuld dar¬
an seyn, daſs ihre Begriffe von der Wich¬
[414] tigkeit, dem Nutzen und der Nothwendigkeit
der Dinge sehr oft mit denen, die andere
vernünftige Menschen darüber hegen, in of¬
fenbarem Gegensatz stehen. Wie dem auch
sei, so trift der Vorwurf jener Sorglosigkeit
keinesweges den hiesigen Hof. Die Pracht,
die Seltenheit, die Auswahl, der Aufputz und
die sorgfältige Unterhaltung der Naturalien
des Erbstatthalterischen Kabinets fallen nicht
nur beim ersten Anblick auf, sondern die
Bewunderung steigt, je länger und genauer
man es untersucht. Die Geschenke, welche
der Prinz zuweilen von den Gouverneuren
der verschiedenen Holländischen Besitzungen
in Indien erhält, so ansehnlich sie auch sind,
verschwinden in der Menge und Mannigfal¬
tigkeit dessen, was für seine Rechnung aus
allen Welttheilen hinzugekauft worden ist.
Das mühsame Geschäft, ein so berühmt ge¬
wordenes Museum an einem von Reisenden
[415] so frequentirten Orte täglich vorzuzeigen,
würde bald, da es ganz auf Einem Manne
ruht, dem überdies die Sorge für die Erhal¬
tung und Vermehrung des Ganzen übertra¬
gen ist, die Kräfte dieses Einen erschöpfen,
wenn man nicht zwischen dem groſsen gaf¬
fenden Haufen und dem Naturforscher von
Profession einen Unterschied machte. Die
gewöhnlichen Neugierigen eilen hier, wie im
Brittischen Museum zu London, in Zeit von
zwei Stunden durch die ganze Enſilade von
Zimmern. Gelehrte hingegen haben freien
Zutritt, so oft und so lange sie wollen: eine
Erlaubniſs, die man zuweilen mit Unbeschei¬
denheit gemiſsbraucht hat, der wir aber auch
schon die wichtigsten Aufschlüsse, zumal im
Fache der Thiergeschichte, verdanken. Hier
war es, wo Pallas zuerst den Grund zu sei¬
nem nachmaligen Ruhm als Naturforscher
legte. Herr Vosmaer führte uns freundschaft¬
[416] lich zu verschiedenenmalen in diesem rei¬
chen Tempel der Naturwissenschaft umher,
und zeigte uns auch die neu hinzu gekom¬
menen Stücke, die noch nicht an ihrem be¬
stimmten Orte aufgestellt waren, wie z. B.
das Skelet eines der gröſsten Krokodile aus
dem Nil, und auf dem Boden das Gerippe
des Camelopardalis der Alten oder der Gi¬
raffe der Neuern, dieses seltsamen Thieres,
das mehr einem Traum der Einbildungskraft,
als einem Glied in der Naturkette ähnlich
sieht, und von dessen Trab, wie man sagt,
der Springer im Schachspiel seinen Gang
entlehnt. Sein ungeheuer langer Hals, der
vorzüglich dazu beiträgt, ihm eine Höhe von
achtzehn Fuſs zu geben, besteht doch nur,
wie bei allen vierfüſsigen, säugenden Thie¬
ren, aus sieben Wirbeln; so streng beobach¬
tet die Natur selbst in ihren excentrischen
Gestalten das Gesetz der Analogie. Von
dem[417] dem groſsen Orangutang, wovon Camper bloſs
den Schedel besitzt, enthält das fürstliche
Museum das vollständige Gerippe mit unge¬
heuer langen Armen, wie der bekanntere
langarmige Affe, (Gibbon, Golok oder Lar.)
Es wäre thöricht, in Ernst das Merkwür¬
digste aus einem Kabinet ausheben zu wol¬
len, wo dem Naturforscher alles merkwürdig
ist, und wo man dem Nichtkenner mit leich¬
ter Mühe jedes einzelne Naturprodukt von
einer wichtigen und interessanten Seite dar¬
stellen kann; es wäre unmöglich und ermü¬
dend zugleich, das lange Verzeichniſs des
ganzen Vorraths abzuschreiben. Genug, das
Kabinet, wo man mit Vergnügen die Nas¬
hörner und Fluſspferde neben dem kleinsten
Spitzmäuschen und Kolibritchen bemerkt,
und wo, des groſsen, schon vorhandenen
Reichthums ungeachtet, noch immer für
neue Vermehrungen gesorgt wird, verdient in
II. Theil. D d[418] jeder Rücksicht die Aufmerksamkeit des Di¬
lettanten und des Kenners. Die Menagerie des
Prinzen im Loo hat den Fehler einer unge¬
sunden Lage, und dient daher zu wenig mehr,
als zur Pflanzschule für das Naturalienkabinet.
Ich könnte Dir jetzt noch etwas von den
Versammlungszimmern der Generalstaaten und
der hohen Dikasterien, im alten Schloſs, im
Oraniensaal, u. a. O. sagen, wenn ich nicht
Vorkehrungen zu unserer Abreise treffen müſs¬
te, die noch diese Nacht vor sich gehen soll.
Ein wahrer Deus ex machina ist herabge¬
fahren, um die Bande zu lösen, die uns an
den Haag gefesselt hielten. Morgen um zwölf
Uhr stehen wir auf dem Admiralitätswerft in
Amsterdam, und sehen den neuen Triton vom
Stapel laufen; kaum bleibt uns so viel Zeit,
daſs wir von jedermann Abschied nehmen
und uns über den Schmerz der allzu frühen
Trennung beklagen können.
[419]
XXV.
In einer Nacht hat sich unser Schauplatz so
sehr verändert, daſs nichts gegenwärtig Vor¬
handenes eine Spur des gestrigen in unserm
Gedächtniſs weckt. Wir leben in einer an¬
dern Welt, mit Menschen einer andern Art.
Wir haben zwei Schauspiele gesehen, die ich
Dir zu schildern wünschte, um Deiner Ein¬
bildungskraft den Stoff zu einigen Vorstel¬
lungen von Amsterdam zu liefern. So spät
es ist, will ich es noch diesen Abend versu¬
chen; die Gespenster des Gesehenen sind
noch wach in meinem Kopf, und gönnen
mir keine Ruhe.
Wir standen auf dem Werft der Admira¬
lität; uns zur Seite stand das prächtige Ar¬
senal, ein Quadrat von mehr als zweihundert
Fuſs, auf achtzehntausend Pfählen ruhend,
D d 2[420] und ganz mit Wasser umflossen. Schon wa¬
ren wir durch seine drei Stockwerke gestie¬
gen und hatten die aufgespeicherten Vorräthe
für ganze Flotten gesehen. In bewunderns¬
würdiger Ordnung lagen hier, mit den Zei¬
chen jedes besondern Kriegesschiffs, in vie¬
len Kammern die Ankertaue und kleineren
Seile, die Schiffblöcke und Segel, das grobe
Geschütz mit seinen Munitionen, die Flinten,
Pistolen und kurzen Waffen, die Laternen,
Kompasse, Flaggen, mit Einem Worte alles,
bis auf die geringsten Bedürfnisse der Aus¬
rüstung *). Vor uns breitete sich die uner¬
meſsliche Wasserfläche des Hafens aus, und
in dämmernder Ferne blinkte der Sand des
flachen, jenseitigen Ufers. Weit hinabwärts
zur Linken hob sich der Wald von vielen
[421] tausend Mastbäumen der Kauffahrer; die
Sonnenstralen spielten auf ihrem glänzenden
Firniſs. Am Ufer und nah und fern auf der
Rhede lagen theils abgetakelt und ohne Ma¬
sten, theils im stolzesten Aufputz mit der
Flagge, die im Winde flatterte, und dem
langen, schmalen Wimpel am obersten Gip¬
fel der Stengen, die gröſseren und kleineren
Schiffe der Holländischen Seemacht. Wir
ehrten das Bewuſstseyn, womit uns der Ha¬
fenmeister die schwimmenden Schlösser zeig¬
te und mit Namen nannte, deren Donner
noch zuletzt so rühmlich für Holland auf
Doggersbank erscholl. Mit ihm bestiegen
wir den Moritz von vier und siebenzig Ka¬
nonen, ein neues Schiff, das schon im Was¬
ser lag, und staunend durchsuchten wir alle
Räume, wandelten umher auf den Verdecken,
und betrachteten den Wunderbau dieser un¬
geheuren Maschine. Zur Rechten lagen die
D d 3[422] Schiffe der Ostindischen Kompagnie bis nach
der Insel Osterburg, wo ihre Werfte sind.
Die ankommenden und auslaufenden Fahr¬
zeuge, sammt den kleinen rudernden Booten
belebten die Scene. Um uns her auf dem
geräumigen Werfte feierten die Tausende
von Kattenburgern *) von ihrer Arbeit; in
mehreren groſsen und kleinen Gruppen ging
und stand die zehntausendköpfige Menge von
Zuschauern; ein buntes Gewühl von See-
und Landofficieren in ihren Uniformen, von
Zimmerleuten in ihrem schmutzigen Schiffer¬
kostume, von müſsigen, umhertobenden Kna¬
ben, von ehrsamen Amsterdammer Bürgern
und Frauen, von Fremden endlich, die aus
allen Ländern hier zusammen treffen und
einander oft so sehr überraschen, wie uns
[423] hier eben jetzt die Erscheinung unseres R.
aus Göttingen.
Endlich naht der entscheidende Augenblick
heran. Man stellt uns vorn an den Kiel der
neuen Fregatte, so nah daran, daſs der ge¬
theerte Bauch über unseren Köpfen schwebt.
Völlig sicher stehen wir da und bewundern
diese Kunst der Menschen, die jeden Gedan¬
ken von Gefahr entfernt. Könnte das Schif
umwerfen, statt abzulaufen, so lägen hier
Hunderte von uns zerschellt. Jetzt werden
die Blöcke weggeschlagen, worauf es noch
ruht; jetzt treibt man hinten einen Keil un¬
ter, um es dort höher zu heben; man kappt
das Tau, woran es noch befestigt war —
und nun, als fühlte der ungeheure Körper
ein eigenes Leben, nun fängt er an, erst
langsam und unmerklich, bald aber schneller
sich zu bewegen; schon krachen unter ihm
die kleinen, untergelegten Bretter, und sieh!
D d 4[424] jetzt gleitet er mit immer zunehmender Ge¬
schwindigkeit ins Meer! Tief taucht sich
der Schnabel ein, bis das Wasser die ganze
Masse trägt; eben so tief versinkt jetzt wie¬
der das Hintertheil; die Fluthen laufen hoch
am Ufer hinauf, und die umliegenden Schif¬
fe schwanken hin und her. Es jauchzt und
frohlockt die Menge der Waghälse, die auf
dem neuen Triton über unseren Köpfen weg¬
fahren; sie schwenken ihre Hüte und ein
lauteres Jubelgeschrei vom Lande übertönt
ihre Stimmen. So hebt sich himmelan das
Herz von stolzer Freude über das Wollen
und Vollbringen des menschlichen Geistes!
Ich weile noch einen Augenblick auf die¬
sem Schauplatz der umfassendsten Geschäf¬
tigkeit; denn sie ist es, der die Stadt und
selbst die Republik ihr Daseyn und ihre
Gröſse verdanken, und in der Betrachtung
dieses Phänomens werden zugleich die Haupt¬
[425] züge des Nationalcharakters offenbar. Wel¬
ches andere Volk in Europa hätte den aus¬
dauernden Muth gehabt, mit Philipp dem
Tyrannen, dem mächtigen Beherrscher beider
Indien und seinen Nachfolgern den achtzig¬
jährigen Krieg zu führen? Welches Volk
hätte nicht in dem unglücklichen Jahr 1672,
als Ludwig der Vierzehnte schon bis Muiden
vorgedrungen war, ich will nicht sagen, sich
ergeben, sondern zu zahlen aufgehört? Nur
mit ihren durch den Handel erworbenen und
concentrirten Kräften, mit ihren vorsichtig
aufgehäuften Materialien zum Schiffbau und
zur Ausrüstung ihrer ungeheuren Flotten,
konnten die Niederländer so lange der verei¬
nigten Seemacht von Frankreich und England
die Spitze bieten; allein ohne die freiwillige
Einschränkung auf die ersten Bedürfnisse des
Lebens, diese hohe Republikanertugend, die
hier wenigstens in eben dem Maaſse raison¬
D d 5[426] nirt als klimatisch und körperlich war, hät¬
ten sie zu einem solchen langwierigen Wett¬
streit weder physische Kräfte noch Stärke
der Seele gehabt. Wahrlich, die Besonnen¬
heit, die mit unermüdetem Fleiſse, mit dem
redlichen Bestreben nach einem Vermögen,
welches der Erwerb ihrer eigenen Hände sei,
mit Geschicklichkeit in den mechanischen
Künsten und Talent zu ihrer Vervollkomm¬
nung, mit Kühnheit auf dem Meere, mit
Tapferkeit im Kampfe, mit Standhaftigkeit
in Gefahr, mit Beharren in Widerwärtigkeit,
mit Enthaltsamkeit im Überfluſs, und, was
über dieses alles geht, mit unauslöschlicher
Freiheits- und Vaterlandsliebe verbunden ist —
die darf man wohl etwas mehr als bloſses
Phlegma nennen!
Also, nicht dem Auge allein, sondern
auch dem Verstand erscheint Amsterdam von
der Wasserseite in seinem höchsten Glanze.
[427]
Ich stelle mich in Gedanken in die Mitte
des Hafens, und betrachte links und rechts
die Gruppen von vielen hundert Schiffen aus
allen Gegenden von Europa; ich folge mit
einem flüchtigen Blick den Küsten, die sich
nach Alkmaar und Enkhuisen erstrecken und
auf der andern Seite hin, den Busen des
Texels bilden. Die Stadt mit ihren Werften,
Docken, Lagerhäusern und Fabrikgebäuden;
das Gewühl des fleiſsigen Bienenschwarmes
längs dem unabsehlichen Ufer, auf den Stra¬
ſsen und den Kanälen; die zauberähnliche
Bewegung so vieler segelnden Schiffe und
Boote auf dem Südersee, und der rastlose
Umschwung der Tausende von Windmühlen
um mich her — welch ein unbeschreibliches
Leben, welche Gränzenlosigkeit in diesem
Anblick! Handel und Schiffahrt umfassen
und benutzen zu ihren Zwecken so manche
Wissenschaft; aber dankbar bieten sie ihr
[428] auch wieder Hülfe zu ihrer Vervollkomm¬
nung. Der Eifer der Gewinnsucht schuf die
Anfangsgründe der Mathematik, Mechanik,
Physik, Astronomie und Geographie; die Ver¬
nunft bezahlte mit Wucher die Mühe, die
man sich um ihre Ausbildung gab; sie
knüpfte ferne Welttheile an einander, führte
Nationen zusammen, häufte die Produkte al¬
ler verschiedenen Zonen — und immerfort
vermehrte sich dabei ihr Reichthum von Be¬
griffen; immer schneller ward ihr Umlauf,
immer schärfer ihre Läuterung. Was von
neuen Ideen allenfalls nicht hier zur Stelle
verarbeitet ward, kam doch als roher Stoff
in die benachbarten Länder; dort verwebte
man es in die Masse der bereits vorhandenen
und angewandten Kenntnisse, und früher
oder später kommt das neue Fabrikat der
Vernunft an die Ufer der Amstel zurück. —
Dies ist mir der Totaleindruck aller dieser
[429] unendlich mannigfaltigen, zu Einem Ganzen
vereinigten Gegenstände, die vereinzelt und
zergliedert so klein und unbedeutend erschei¬
nen. Das Ganze freilich bildet und wirkt
sich ins Daseyn aus, ohne daſs die Weise¬
sten und Geschäftigsten es sich träumen lie¬
ſsen; sie sind nur kleine Triebfedern in der
Maschine und nur Stückwerk ist ihre Arbeit.
Das Ganze ist nur da für die Phantasie, die
es aus einer gewissen Entfernung unbefangen
beobachtet und die gröſseren Resultate mit
künstlerischer Einheit begabt; die allzu groſse
Nähe des besonderen Gegenstandes, worauf
die Seele jedes Einzelnen, als auf ihren
Zweck, sich concentrirt, verbirgt ihr auch des
Ganzen Zusammenhang und Gestalt. —
Nachmittags machten wir nach unserer
Gewohnheit einen Spaziergang durch die
Stadt. Die Aussicht von der Amstelbrücke
hält den Vergleich mit der Maas bei Rotter¬
[430] dam nicht aus; dagegen sind die Hauptstra¬
ſsen an den groſsen Kanälen (Heerengraft,
Printzengraft, Keyzersgraft u. a. m.) weit län¬
ger und breiter als selbst der schöne Boom¬
paes, und ihre Häuser sind groſsentheils Pal¬
läste. In einer kleinen Stadt fällt das Ge¬
wühl mehr auf, als hier, wo man Raum hat,
einander auszuweichen; allein es giebt auch
in Amsterdam Gegenden, wo man sich nur
mit Mühe durch das Gewimmel in den en¬
gen Gassen durchdrängen kann. Den ganzen
Tag herrscht überall ein unaufhörliches Ge¬
töse; die unzähligen Equipagen der Bürger¬
meister und Rathsherren, Staatsbeamten, Di¬
rektoren der Ostindischen Kompagnie, Ärzte
und üppig gewordenen Reichen, der unun¬
terbrochene Waarentransport und die deshalb
so oft aufgezogenen Zugbrücken sperren den
Weg und verursachen ein beständiges Ru¬
fen und Gerassel; vom frühen Morgen an
[431] schreien Männer und Weiber auf allen Stra¬
ſsen mancherlei Sachen zu verkaufen aus;
die Kirchthürme haben Glockenspiele, und
des Abends wandern Leiermänner und sin¬
gende Weiber umher.
Im Rathhause, diesem groſsen, prächtigen,
mit architektonischen Zierrathen und Fehlern
überhäuften Gebäude, welches gleichwohl ei¬
nige sehr schöne Säle und Zimmer enthält,
sahen wir unter vielen Gemälden eins von
Rembrandt, und eins von van Dyk, die als
Porträtsammlungen einen hohen Rang be¬
haupten. Es ist auffallend, wie die besten
Stücke von Bakker, Flinck, van der Helst,
Sandraert und andern guten Malern wegfal¬
len, wenn man den van Dyk gesehen hat.
Composition ist indeſs in keinem; denn es
sind lauter an einander gedrängte Bildnisse
von bekannten Männern, manchmal vierzig,
funfzig und noch mehr auf Einem Ge¬
[432] mälde. Die allegorischen Schildereien und
Bildsäulen, sowohl im Gerichtssaal als im
groſsen Bürgersaal und in der Bürgermeister¬
kammer, sind leider! keine Ausnahmen von
der allgemeinen Regel, die der modernen Al¬
legorie eben nicht zum Ruhm gereicht.
Den Beschluſs unseres heutigen Tagewer¬
kes machte die Holländische Komödie. Man
gab Merciers Zoë, ein Drama, (Toneelspel)
in gereimte Verse übersetzt. — Wie ich
den ganzen Tag auf die physische Bildung
und die Gesichtszüge des Volkes aufmerksam
gewesen war, so lieſs ich mir auch auf die¬
sem Sammelplatz der Amsterdammer Bürger¬
welt die Fortsetzung meiner Beobachtungen
angelegen seyn. In der That hält es schwer,
die charakteristischen Umrisse bestimmt an¬
zugeben, worin das Unterscheidende der Hol¬
ländischen Nationalgestalt liegt. Der ganze
Körper ist gewöhnlich sehr robust, und man
wird[433] wird selten eine Figur von feinen, eleganten
Proportionen und zartem Knochenbau gewahr.
Das Überfütterte aber, das Schlaffe, Abge¬
spannte, wodurch die Brabanter uns so zu¬
wider wurden, habe ich hier nur als seltene
Ausnahme bemerkt; gewöhnlich ist hier alles
feste Faser und derbes Fleisch. Der blonde
Teint hat die starke Kirschenröthe der blut¬
reichsten Gesundheit, wobei die Haut nur
selten so zart zu seyn pflegt, wie unsere
Weichlinge sie verlangen und unsere Mäd¬
chen, diesem Geschmacke zu gefallen, sie sich
wünschen und durch tausend fruchtlose Kün¬
ste zu schaffen suchen. Das blaue oder
graue Auge hat unter den dichten Augen¬
brauen einen festen, kalten Blick. Lange
Nasen und gerade Profile sind nicht unge¬
wöhnlich, und die Mundwinkel laufen selten
scharf zu, sondern bleiben gutmüthig breit,
womit zuweilen ein Ausdruck von Beschränkt¬
II. Theil. E e[434] heit verbunden ist. Wie verschieden aber
auch der Schnitt der Lippen sei, (denn es
giebt deren, die allerdings sonderbar geschnit¬
ten sind und zumal unter dem Pöbel etwas
Keckes, oft auch etwas Hartes verrathen,) so
scheint mir doch um den Mund und an dem
Halse das allgemeine physiognostische Wahr¬
zeichen, welches die Holländer kenntlich
machen kann, am deutlichsten ausgeprägt.
Ohne Scherz, ich glaube, daſs die Theile,
welche die Sprache bilden, wieder von ihr
und für sie gebildet werden, und die hiesige
ganz eigene vokalenreiche Mundart, mit ih¬
ren vielen breiten Doppellauten, ihren Gur¬
geltönen und ihrem weichen Gezisch, er¬
theilt der Kehle, der Zunge, den Mundmus¬
keln, Halsmuskeln und Wangen die eigen¬
thümliche Bewegung, die mit der Zeit auf
die Gestalt dieser Theile wirkt. Man hat,
wenn ich mich recht erinnere, die Bemer¬
[435] kung schon eher gemacht, daſs die republika¬
nische Verfassung den Sitten und zugleich
dem Ausdruck der Gesichtszüge etwas Ein¬
förmiges giebt; ich finde hier das Phänomen
bestätigt, was es auch für eine Bewandniſs
mit der Ursache haben mag. Indeſs herrscht
doch in den hiesigen Physiognomien ein be¬
stimmter Charakter, der mit der Erziehung
und Lebensweise, mit der Denkungsart und
der Ausbildung im engsten Verhältnisse steht.
Man sage nicht, weil überall nur eine kleine
Anzahl von Begriffen unter den geringeren
Volksklassen in Umlauf kommt, daſs es
gleichviel sei, worin diese bestehen und von
welcher Art sie seyn mögen. Die überwie¬
gende Stärke, womit hier gewisse moralische
Grundsätze auf die Handlungen des groſsen
Haufens einflieſsen, die ebenfalls in Gefühl
übergegangenen Ideen von Freiheit, die da¬
von unzertrennliche Selbstachtung und die
E e 2[436] gefürchtete Gerechtigkeit der öffentlichen Mei¬
nung oder der allgemeinen Stimme des Pu¬
blikums, wirken, nebst vielen anderen Ursa¬
chen, um diese Menschen auf eine Stufe der
Humanität zu heben, welche vielleicht von
anderen Völkern mit glänzenderen Eigenschaf¬
ten nicht immer erreicht wird und über den
Standpunkt der faden Racen unendlich erha¬
ben ist, die, gegen den Sporn der Ehre und
der Schande unempfindlich, ihre Leere und
moralische Nullität nur mit dem Firniſs der
Nachahmung und eines aberwitzigen Leicht¬
sinnes übertünchen. Es ist wahr, man ver¬
miſst hier ziemlich allgemein jene leichte,
spielende Flamme des Geistes, die aus dem
Sterne der Augen leuchtet, im Aufschlag der
Wimper proteusähnlich sich verändert, in
den feinen Fältchen der Stirne lauscht und
des Mundes gedankenreiche Stille umgaukelt;
jenen leisen Lebensathem, der alles durch¬
[437] haucht, jene Empfindung, die nur empfunden
werden kann, jenen Blitz, der in einem Au¬
genblick zehn entfernte Ideen zündet und in
die Feuerkette des Gedankens knüpft! Hier
ist der Geist in der Masse gebunden und
mit ihr verkörpert; roh, schwerfällig und
einseitig ist der Volkssinn, aber nicht ohne
Originalität und Energie. Das Vertrauen in
eigene Kräfte, die selbstzufriedene Behaglich¬
keit, gewinnt oft das Ansehen von kalter
Unempfindlichkeit; die langsame bedächtige
Gleichmüthigkeit kann zuweilen in Trägheit
und Amphibienzähigkeit ausarten; das ent¬
schiedene Wollen geht über in Starrsinn, und
die nüchterne Sparsamkeit in Habsucht und
Geiz. Solche Karrikaturen dringen sich durch
ihre eckigen Züge dem Gedächtniſs am leich¬
testen auf, und darüber vergiſst nicht selten
der Beobachter die Tugenden anzumerken,
aus denen sie entspringen.
E e 3[438]
Diese unvollkommenen Entwürfe sind von
den geringeren und mittleren Volksklassen
entlehnt, aus denen im Holländischen Thea¬
ter der gröſste Theil der Zuschauer besteht.
Was reich ist und vornehm thut, besucht
die Französische oder auch die Deutsche
Truppe. Eine so unpatriotische Lauigkeit
gegen die vaterländische Bühne hat die na¬
türlichen Folgen der Vernachlässigung gehabt
und dieses Schauspiel zu einer plumpen
Volksbelustigung herab gewürdigt. Die ein¬
zige Entschuldigung, die man vorbringen
könnte, liegt in dem Dilemma: ob es besser
sei, dem Volke auf die Gefahr seiner Sitt¬
lichkeit, etwas mehr ästhetisches Gefühl ein¬
zuflöſsen, oder ihm mit seiner Unmanierlich¬
keit seinen fest ausgesprochenen Charakter
zu lassen? Die ungebildete Sinnlichkeit be¬
darf jederzeit eines kräftigen Stachels, womit
sie aufgeregt und gekitzelt werden muſs; es ge¬
[439] hören in der That nicht nur gesunde, sondern
auch dicke Nerven dazu, um das Gebrüll
und Geheul der hiesigen Schauspieler zu er¬
tragen und so fürchterlich zu beklatschen.
In meinem Leben habe ich nichts Entsetzli¬
cheres als ihre Deklamation gehört. Dekla¬
mation war es vom Anfang bis zum Ende
des Stückes, ohne einen Moment von wah¬
rem Ausdruck der Empfindung, ohne einen
Zug von Natur — und dennoch war augen¬
scheinlich dieses Geplärr ein Kunstwerk,
dessen Erlernung den Schauspielern unglaub¬
liche Anstrengung gekostet haben muſs, ehe
sie ihre brutale Vollkommenheit darin er¬
langten. In der Sprache liegt wenigstens
Eine Veranlassung, wiewohl gewiſs keine
Rechtfertigung, dieser beleidigenden Art des
dramatischen Vortrages; die häufigen, stets
wiederkehrenden Vokale und Doppellaute (a,
aa, ae, ai, o, au, oo, ou, ow u. s. f.) verur¬
E e 4[440] sachen eine Monotonie, welcher man nicht
anders abzuhelfen wuſste, als vermittelst ei¬
ner Modulation, die in lauter Dissonanzen
forthüpft; ein Ohr, das Harmonie gewohnt
ist, hat dabei völlig die Empfindung, wie
wenn mit der gröſsten Wuth ein Contrebaſs
unaufhörlich gestimmt wird. Die Mimik
entsprach genau dieser Deklamation. Wären
die Holländischen Schauspieler so ehrlich,
wie die Kamtschadalen, die ohne Hehl die
Bären für ihre Tanzmeister erkennen, so
würden sie gestehen, daſs sie von den Wind¬
mühlen gestikuliren gelernt haben. Ihre Ar¬
me waren unaufhörlich in der Luft, und die
Hände flatterten mit einem krampfhaften Zit¬
tern und ausgespreizten Fingern in einer Dia¬
gonallinie vor dem Körper vorbei. Die Stel¬
lung der Herren lieſs mich oft besorgen, daſs
ein heftiges Bauchgrimmen sie plagte; so bog
sich mit eingekniffenem Unterleib der ganze
[441] obere Theil des Körpers vorwärts, indeſs die
Arme senkrecht, den Schenkeln parallel, her¬
abhingen. Geriethen sie aber in Affekt,
so warfen sie sich auf den ersten besten,
der ihnen nahe stand, gleichviel von wel¬
chem Geschlecht; und hatten sie etwas zu
bitten, so wälzten sie sich im Staube, um¬
faſsten — nicht die Kniee — sondern die
Waden und Knöchel und berührten fast mit
der Stirne die Erde. Die Heldin des Stückes
stieg auch wieder einmal eben so mit dem
Kopf und den Händen, in bestimmten tempi,
an den Beinen und Schenkeln ihres Vaters
hinan, bis bald in seine Umarmung; unglück¬
licher Weise konnten sie damals noch nicht
einig werden, und er stieſs sie endlich mit
beiden Händen zur Erde, daſs sie wie ein
Sack liegen blieb. Diese Schauspielerin be¬
saſs gleichwohl noch die meiste Kunst und,
wenn ich das Wort nicht entweihe, sogar ei¬
E e 5[442] nigen Sinn für die Kunst; allein sie blieb
doch mit den andern auf Einen Ton ge¬
stimmt. Sie hatte eine hübsche Figur und
wuſste sie vortheilhaft zu zeigen; ihre Stim¬
me, wie ich fast durchgehends an den Hol¬
länderinnen bemerke, war ein tiefer Tenor.
Die Mannspersonen hatten, nach Holländi¬
scher Sitte, den Hut beständig auf dem Kopf,
welches jedoch im Parterre weit unerträgli¬
cher als auf der Bühne war. Von der Fein¬
heit des Betragens im Parterre lieſse sich ein
artiger Nachtrag zum Grobianus schreiben;
ein unaufhörliches Plaudern war das gering¬
ste, worüber ein Fremder hier in Erstau¬
nen gerathen konnte. Die unbequeme Ein¬
richtung der Sitze veranlaſst manchen Auf¬
tritt, der anderwärts genau wie eine Inde¬
cenz aussehen würde; denn an Gefälligkeit
und Achtung, die ohne persönliche Rück¬
sicht ihrem Geschlecht erzeigt werden müſs¬
[443] te, dürfen die hiesigen Frauenzimmer nicht
denken.
Ich habe über diese Erinnerungen an die
mannigfaltigen Auftritte, die wir heute mit
angesehen, nicht daran gedacht, Dir zu er¬
zählen, wie wir hergekommen sind; Du wirst
es nicht mehr so wunderbar finden, daſs ich
hier schon in die dritte Stunde schreibe, wenn
Du erfährst, daſs wir die vorige Nacht ganz
ruhig geschlafen haben, während der Genius
dieses wasserreichen Landes, in Gestalt eines
wackern Schiffers, uns sanft vom Haag nach
Harlem führte. Der Graf B. von R. hatte
uns die prächtige Jacht verschafft, die den
Bürgermeistern vom Haag gehört. Wir fan¬
den beim Einsteigen zwei saubere Betten,
mit allem versehen, was die verwöhntesten
Sinne von Eleganz und Bequemlichkeit ver¬
langen können. Kaum hatten wir uns aus¬
gekleidet, (es war gleich nach Mitternacht)
[444] so ertönte überall in den Gebüschen längs
dem Kanal das Lied der Nachtigallen, und
sang uns in den Schlaf. Am folgenden Mor¬
gen erwachten wir eben, indem die Barke
bei Hartekamp vorbeifuhr, jenem Garten des
reichen Clifford, wo der groſse Linné sich
so manche botanische Kenntnisse erwarb. Es
kostete einen Wink, so lieſs unser Palinurus
die Betten verschwinden. Wir blickten auf
die umliegende Gegend durch zehn Fenster,
deren jedes in einer überaus groſsen Scheibe
von prächtigem geschliffenem Spiegelglase be¬
stand, und fast schien sie uns dadurch einen
besondern Grad von Anmuth zu erhalten.
Der Morgen hatte Thränen im Auge; doch
kamen auch Sonnenblicke und beleuchteten
die Wiesen und Triften, die Dünen, die
Meierhöfe und die Lustgärten, zwischen de¬
nen wir mit unmerklicher Bewegung hin¬
schlüpften. An den Ufern bald auf dieser,
[445] bald auf jener Seite lagen ruhig wiederkäuend
die schönen Niederländischen Kühe. Schon
zeigten sich die Thürme von Harlem, als
der Capitain auf einem zierlichen Bord von
Mahagoni das silberne Theegeschirr der Her¬
ren Bürgermeister hereinbrachte; nie hat man
wollüstiger auf weich gepolsterten Sitzen im
Angesicht einer lachenden Landschaft gefrüh¬
stückt. Vor den Thoren von Harlem stand,
unsrer harrend, ein schönes Kabriolet, mit ein
Paar unvergleichlichen Harttrabern bespannt;
denn B — wollte nichts zur Hälfte gethan ha¬
ben. Wir verlieſsen also unsern lieblichen Kä¬
fig und fuhren oder flogen zwei Stunden lang
auf einem vortreflichen Wege. Von Zeit zu
Zeit sahen wir Leute mit Schaufeln stehen,
womit sie die fast unmerklichen Fahrgeleise
zuwarfen; andere schöpften Wasser aus dem
Kanal und bespritzten den Weg, damit der
wenige Staub sich legte. So eilten wir längs
[446] dem Harlemer Meer bis an den Punkt, wo
nichts als der Straſsendamm es von dem
gröſseren Y scheidet. Auf dieser Stelle hat
die Aussicht eine erhabene Gröſse; beide
Gewässer sind von so weitem Umfange, daſs
man ihre entfernten Gränzen am Horizont
nicht erkennen kann; man glaubt auf einem
kleinen Eiland im unermeſslichen Meere zu¬
stehen. Indeſs näherten wir uns dem ge¬
schäftigen, volk- und geldreichen Amsterdam;
eine Menge Windmühlen zeichneten uns am
Horizont seinen Umfang vor; in einer katho¬
lischen Stadt von dieser Gröſse hätten hun¬
dert Kirchen mit ihren stolzen Thürmen den
Anblick aus der Ferne verschönert. — Aus
der Ferne! —
[447]
XXVI.
In dem entnervenden Klima von Indien ge¬
wöhnen sich die Europäischen Eroberer nur
gar zu leicht an Asiatische, weichliche Üp¬
pigkeit und Pracht. Treibt sie hernach das
unruhige Gefühl, womit sie dort vergebens
Glück und Zufriedenheit suchten, mit ihrem
Golde wieder nach Europa zurück, so ver¬
pflanzen sie die Orientalischen Sitten in ihr
Vaterland. Man sträubt sich zwar in Repu¬
bliken eine Zeitlang gegen die Einführung
des Luxus; allein der übermäſsige Reichthum
bringt ihn unfehlbar in seinem Gefolge.
Wenn gleich nüchterne Enthaltsamkeit meh¬
rere Generationen hindurch die Ersparnisse
des Fleiſses vervielfältigte, so kommt doch
zuletzt das aufgehäufte Kapital an einen la¬
chenden Erben, der über die Besorgniſs hin¬
[448] aus, es nur vermindern zu können, die For¬
derungen der Gewinnsucht mit der Befriedi¬
gung seiner Sinne reimen lernt. Unglückli¬
cherweise pflegt dieser Aufwand selten anders
als barbarisch und geschmacklos zu seyn, da
der Sinn des Schönen, wodurch der Luxus al¬
lein erträglich wird, eine frühzeitige Bildung
voraussetzt, die dem Sohn eines kargen Rei¬
chen nicht zu Theil werden kann. Von die¬
ser Seite hat die Ämsigkeit, wovon man hier
so viele Beispiele sieht, der das Sammeln,
statt bloſses Mittel zu bleiben, alleiniger eng¬
herziger Zweck geworden ist, etwas Empö¬
rendes; man erkennt an ihr zu deutlich den
Übergang einer vereinzelten tugendhaften Ge¬
wohnheit durch ihr Extrem in das verwand¬
te Laster, die Metamorphose der schönen,
edlen Sparsamkeit in niedrigen, verächtlichen
Geiz. In dieser traurigen Abgestorbenheit,
die alle Verhältnisse des Menschen, bis auf
das[449] das Eine mit seinem Mammon, gänzlich ver¬
nichtet, geht nicht nur die Möglichkeit der
individuellen Ausbildung verloren, sondern
auch die Erziehung des künftigen Besitzers
wird so sehr vernachlässigt oder verschroben,
daſs, wenn Temperament und Beispiel ihn
in der Folge zum Prasser machen, sein Miſs¬
brauch der ererbten Schätze genau so unmo¬
ralisch bleibt, wie es des Vaters Nichtge¬
brauch derselben war.
Ich mache diese Betrachtung, indem ich
erwäge, welche unzählige Verbindungen von
nie vorherzusehenden Ursachen zur Entste¬
hung eines Volkscharakters mitwirken kön¬
nen, und wie sehr man Unrecht hat, den
späten Enkeln eine Schuld beizumessen oder
auch ein Lob zu ertheilen, wovon der Grund
vor Jahrhunderten in einer nothwendigen
Verkettung der Umstände gelegt worden ist.
Die Widerwärtigkeiten, womit die Holländer
II. Theil. F f[450] in früheren Zeiten zu kämpfen hatten, stärk¬
ten in ihnen den hartnäckigen Geist der Un¬
abhängigkeit. Ihre Freiheitsliebe führte sie
zu groſsen Aufopferungen; ihre Enthaltsam¬
keit ward ihnen zur andern Natur. Indeſs
alle Nationen Europens bereits einer Üppig¬
keit fröhnten, die, gleich einer ansteckenden
Seuche, weder Geschlecht, noch Alter, noch
Stand verschonte, blieben sie allein unange¬
fochten von ihrem verführerischen Reiz, in
rauher, unzierlicher, republikanischer Einfalt.
Aber ihr Muth, der ihnen das reiche Batavia
schenkte, ihr Handelsfleiſs, dem alles Gold
von Asien und Europa in der Hand zurück¬
blieb, ihre Sparsamkeit selbst, die ihnen
wehrte, die gesammelten Schätze wieder zu
zerstreuen, bereiteten die jetzige Anwendung
derselben vor. Jetzt befinden sich die Hol¬
länder in der Lage aller spät reifenden Völ¬
ker; indem sie aus jenem vegetirenden Le¬
[451] ben erwachen, sehen sie ihre Vorgänger in
der Laufbahn des Genusses als Muster an,
denen sie mit verdoppelten Schritten, oder
vielmehr mit einem Sprunge, nacheilen wol¬
len, und diese unglückliche Nachahmung
stört sie in dem ruhigen Gange der ihnen
angeeigneten Entwicklung.
Dem physischen und klimatischen Naturell
der Holländer, wie ihrem besonnenen Ge¬
müthscharakter, ziemte die äuſserste Simpli¬
cität; ihre Kultur durfte sich nie von dieser
Grundlage entfernen; sie muſste lediglich dar¬
auf gerichtet seyn, dem Einfachen Eleganz
und Gröſse beizugesellen. Der bunte, klein¬
liche Luxus der Mode, der glatte Firniſs
herzloser Sitten, die wortreiche Leere der
Ideen des Tages, stehen ihnen wie erborgte
Kleider. Witz, Laune und Geist können
unsere Aufmerksamkeit von diesen Miſsver¬
hältnissen des Welttons abziehen; ihr mun¬
F f 2[452] teres Spiel kann wenigstens auf einige Au¬
genblicke ergötzen, wenn schon nicht ent¬
schädigen für den Mangel an Schönheit und
Harmonie; Französische Leichtigkeit endlich,
scheint zu diesem Flitterstaate zu passen, wie
Schmetterlingsflügel zum Schmelz der bren¬
nendsten Farbenkontraste. Bei anderen Na¬
tionen können zwar diese flüchtigen Blüthen
des Französischen Charakters als einzelne
Erscheinungen hervorsprossen; sie gehören
aber nie zu dem specifischen Gepräge, wo¬
mit die Natur und das Schiksal sie von ein¬
ander ausgezeichnet haben. Allen Deutschen
und Nordischen Völkern (fast möchte ich
auch die Engländer mit einschlieſsen) macht
daher ihre Organisation und ihre ganze Gei¬
stesanlage einen edleren Ernst und eine über¬
legte Einheit des Betragens zur natürlichen
Pflicht; jede Abweichung von dieser Norm
bestraft sich selbst durch die davon unzer¬
[453] trennliche Lächerlichkeit, die niemanden so
komisch auffällt, wie dem leichtsinnigen
Volke, dessen Tracht und Manieren man un¬
geschickt nachahmen will. Selten wird ein
Franzose sich die Zeit nehmen, den eigen¬
tümlichen Werth des Deutschen, Holländi¬
schen und Englischen Nationalcharakters aus¬
zuforschen und anzuerkennen; kein Wunder
also, wenn ihm auf den ersten Blick die mei¬
sten fremden Gesellschaften eine Ähnlichkeit
mit einem Abderitischen Maskenball zu verra¬
then scheinen, wo niemand Talent und Ver¬
satilität genug besitzt, um dem gewählten
Charakter gemäſs seine Rolle zu spielen, son¬
dern jeder treuherzig den ganzen Scherz darin
sucht, hinter einer bedeutenden Larve ein
Schafsgesicht zu verstecken.
Es ist nicht etwa eine neue Ketzerei, die
ich da predige; von allem unserm Beginnen
gilt die Regel, daſs eigene Empfindung sich
F f 3[454] damit gleichsam identificiren muſs, um es
mit einer gewissen Würde zu stempeln. Die
Religion selbst ist eben darum so tief herab¬
gesunken, weil sie bei den meisten Menschen
als ein bloſs überkommenes Erbstück im Ge¬
dächtniſs haftet und nicht bis ins Herz und
aus dem Herzen wieder, als eine schöne
Blume der individuellen Menschheit, an das
Licht gedrungen ist. Die Wissenschaften wer¬
den verächtlich im Munde des Lehrers, der
sie mechanisch erlernte, um sie mechanisch
herzuleiern. Die Formeln des gesitteten Um¬
ganges ekeln uns an, wenn kein Gefühl des
Schicklichen, keine wahre Achtung für die ei¬
gene und die fremde Moralität sie länger würzt,
ob sie gleich ursprünglich daraus entstanden.
Der nachgeahmte Luxus, der nicht mit ori¬
ginellem Kunstsinn bezeichnet ist, kann eben
so wenig einen angenehmen Eindruck ma¬
chen, wie jene Papageien- und Pudelkünste;
[455] er erscheint nie an seiner rechten Stelle,
und bleibt dort immer fremd, wo man ihn
nicht erfand. Ich trete nur an den Putztisch
des Frauenzimmers, um mir noch einen Be¬
lag zu dieser Wahrheit zu holen. Unsere
Kleidermoden entlehnen wir von Frankreich;
allein wer dieses Land je betreten hat, wird
mir bekennen müssen, daſs ihre Extravaganz
und Unnatürlichkeit dort lange nicht so un¬
erträglich scheinen, wie auſserhalb seiner
Gränzen. Wie wenig Sinn für das ächte,
Einfachschöne der Natur man immer den
Französinnen, zugestehen mag — einen Sinn
für das Passende und Gefällige des Anzuges
wird man ihnen schwerlich abstreiten kön¬
nen. Sie sind gleichsam Eins mit ihrem
Putz, und die Erfindung des Tages erhält
unter ihren Händen das richtige Verhältniſs
zu ihren persönlichen Reizen. Wenn hinge¬
gen eine fremde Tracht zu ihren Nachbarin¬
F f 4[456] nen herüberkommt, bringt sie fast immer
das empörende Schauspiel einer unbedingten
Nachahmung zuwege; im Theater, in den
Assembleen, in den Concert- und Tanzsälen
sieht man nur lebendige Puppen, die ohne
die mindeste Rücksicht auf ihren verschie¬
denen Körperbau und ihre Gesichtszüge, mit
völlig gleichförmigem Putz behangen sind.
Dieser Kontrast zwischen der erborgten
Kleidung und der Gestalt so wie dem Cha¬
rakter des Frauenzimmers, scheint mir hier
noch auffallender als bei uns zu seyn und
zuweilen an Karrikatur zu gränzen. Wir
haben die schöne Welt von Amsterdam im
Französischen Theater versammelt gesehen,
welches hier auf Subskription von einigen
der vornehmsten Häuser unterhalten wird,
und wo niemand Zutritt haben kann, der
nicht von den Theilnehmern Billets be¬
kommt. Der Unterschied der Sitten zwi¬
[457] schen diesem Publikum und jenem in dem
Holländischen Schauspielhause zeigte schon,
daſs hier die erlesenste Gesellschaft versam¬
melt war. Alle Mannspersonen waren sau¬
ber gekleidet, zum Theil reich geputzt, und
niemand lieſs es sich einfallen, den Hut auf¬
zusetzen. Unter den Damen zeigte sich
manches hübsche Gesicht, dem nur etwas
von jener allgemeineren Belebung fehlte, die
eine zarte, rege Empfänglichkeit verräth. In
Amsterdam mag wohl nicht der Geist auf
den Wassern schweben; er schwebte nicht
einmal in dem Walde von Strauſs- und Hah¬
nenfedern, nicht in den Bändern, nicht in
den Halstüchern, worin sich diese schöne
Nixen, wie in Wolken, hüllten. Ihre Schuld
ist es indeſs auch nicht, wenn sich überall
der Ixion findet, der die Wolke für Juno
selbst ansieht.
Zum Abstich laſs Dir eine Erscheinung
F f 5[458] einer andern Art beschreiben: ein Mädchen,
jung und schön, mit einem Teint von Lilien
und Rosen, Lippen von Korall, gesunden
schönen Zähnen und feinen, regelmäſsigen
Zügen des kleinen Mediceischen Kopfes;
kurz, ein Geschöpf, als hätt’ es Prometheus
geschaffen — und seinen gestohlenen Feuer¬
funken mocht’ es auch schon empfinden.
Ihr Haar verbarg sie unter einer dicht anlie¬
genden Kappe von feiner Gaze. Drei läng¬
liche, gebogene, goldene Spangen von getrie¬
bener Arbeit, die sich durch ihre Elasticität
fest anschlossen, schienen diese Kappe am
Gesicht fest zu halten; die eine ging über
die Stirn hin und drückte sich nicht weit
vom linken Schlaf ein; die beiden anderen
lagen über den Ohren und knippen die vol¬
len Wangen. In den Ohrläppchen bingen
kleine viereckige Zierathen von Metall, wie
kleine Vorhängeschlösser, und über beiden
[459] Schläfen, an den Augen hinab, spielten feine,
spiralförmig gewundene Schlängelchen von
Silberdrath. Um den Hals ging eine dicke
Schnur von rothen Korallen, vorn mit einem
goldenen Schlosse. Eine unförmliche Juppe
von Kattun mit langen abstehenden Schöſsen
und an den Ärmeln einem kleinen zusam¬
men genähten Flügel; sodann die häſslichen,
bauschigen Unterröcke und ein Paar Pantof¬
feln ohne Hackenstücke dazu, vollendeten
den ganzen Anzug. Nicht wahr? man muſs
auſserordentlich schön seyn, um es in die¬
sem Wildenschmuck noch zu bleiben? Wäre
diese Dirne einem Reisenden in Ost- oder
Westindien begegnet, so hätte er ihren bar¬
barischen Kopfputz einer Abbildung werth
geachtet und über das Ungeheure und Aben¬
theuerliche im Geschmack der ungebildeten
Völker lang und breit disserirt; denn wir
bedenken nie, wie ähnlich wir den Wilden
[460] sind, und geben diesen Namen sehr unei¬
gentlich allem, was in einem anderen Welt¬
theile nicht Parisisch gekleidet ist. In Alk¬
maar und Enkhuisen, und überhaupt in Nord¬
holland, ist die Tracht dieses Mädchens all¬
gemein üblich. Wir sahen sie in dem durch
Peter den Groſsen so berühmt gewordenen
Sardam, wo sonst die Weiber über die ge¬
wöhnliche Holländische Kleidung mit schwarz
seidenen Nonnenkappen erscheinen, die hin¬
ten und vorn den Hals und die Schultern be¬
decken und wunderhäſslich aussehen.
Sardam oder Zaandam, wie es sonst ei¬
gentlich heiſst, verdienet so wenig wie der
Haag ein Dorf genannt zu werden; es ist
ein groſser Flecken, der allmälig zur Gröſse
einer Stadt herangewachsen ist und seine ei¬
gene Regierung hat. Die Einwohner sind
auch nichts weniger als Bauern, wofür man
sie gewöhnlich auszugeben pflegt, sondern
[461] reiche Kapitalisten, Schiffbaumeister, Hand¬
werker aller Art und Arbeiter in den unzäh¬
ligen Fabriken, Werften und Mühlen. Der
Ort ist überaus niedlich und reinlich; fast
ein jedes Haus mit seinem Gärtchen ist eine
Insel und wird von einem Kanal umflossen.
Da indeſs das Wasser in diesen Kanälen je¬
derzeit mehr oder weniger stockt, so halte
ich die Luft hier keinesweges für gesund.
Die Straſsen sind äuſserst sauber und regel¬
mäſsig mit kleinen Backsteinen gepflastert;
es ist aber dessen ungeachtet von der über¬
triebenen Reinlichkeit keine Spur, worin, wie
man uns versichert hatte, Sardam mit dem
schönen Dorfe Broek übereinkommen soll.
Broek wird von reichen Kaufleuten aus Am¬
sterdam bewohnt, die dort der ländlichen
Ruhe genieſsen und nur — noch täglich auf
der Börse erscheinen. So ein Holländischer
Alfius hat also, wie Du siehst, noch über
[462] den Römischen zu raffiniren gewuſst und
verbindet das Landleben mit dem Aktienhan¬
del, da Horaz dem seinigen nur die Wahl
läſst:
jamjam futurus rusticus,
omnem relegit Idibus pecuniam;
quaerit Calendis ponere.
Dort soll man wirklich die Schuhe ausziehen
müssen, ehe man durch die Hinterthür in
den Tempel der Holländischen Reinlichkeit
eingelassen wird; dort sind die Häuser und
die Bäume mit bunten Farben bemalt; die
Eigenthümer selbst genieſsen die altmodigen
Herrlichkeiten nicht, die sie dort angehäuft
haben, und — sonderbar genug! — sie wis¬
sen nicht einmal von jenem Genusse der
Ostentation, die so gern mit ihren Schätzen
prunkt; das Bewuſstseyn, sich einen solchen
Raritätenkasten erbaut zu haben, genügt ih¬
nen so vollkommen, daſs ein Fremder selten
[463] Erlaubniſs erhalten kann, seine Neugier darin
zu befriedigen. Um sie her herrscht eine
Todtenstille; kein lebendiges Geschöpf darf
sich dem Dorfe nähern, aus Furcht es zu
verunreinigen; alle Thüren sind verschlossen,
die kostbaren Vorhänge tief herab gesenkt,
und nichts regt sich, auſser dem Wucherer,
der im verborgensten Kämmerchen in seinem
Golde scharrt.
Wir nehmen diese Beschreibung auf Treu’
und Glauben; denn es bleibt uns keine Zeit
übrig, uns durch eigene Erfahrung von ihrer
Richtigkeit zu überzeugen. In Sardam, wie
gesagt, geht es mit Menschen und Thieren
so natürlich zu, wie in der übrigen Welt.
Die Häuser sind nach Maaſsgabe der Bewoh¬
ner sehr verschieden; ich habe sehr ärmli¬
che, hölzerne Hütten und groſse steinerne
Häuser gesehen; breite Straſsen und enge
Gäſschen; einfache und mit Farben angestri¬
[464] chene Bäume, und einen Wald, oder, mit
dem Ritter von la Mancha zu reden, eine
Armee von beinahe zweitausend Windmühlen,
worin alles, was nur durch diese Vorrichtung
bereitet werden kann, bis zur Übersättigung
der Wiſsbegierde fabricirt wird. Der Schiff¬
bau ist noch jetzt ein wichtiger Zweig der
hiesigen Betriebsamkeit, wiewohl er seit ei¬
niger Zeit sehr abgenommen hat. Die Ein¬
wohner, oder eigentlich der Pöbel von Sar¬
dam, besteht groſsentheils aus so genannten
Patrioten, die sich während der letzten Un¬
ruhen geweigert haben, für die Prinzlichge¬
sinnten zu arbeiten und jetzt, zur Strafe, von
diesen keine Arbeit bekommen. Das Häus¬
chen, wo der Schöpfer der Russischen Des¬
potie gewohnt hat, ist winzig klein und mit
einem ärmlichen Hausrath versehen. Seine
Schlafstelle ist in der Wand angebracht, und
ich glaube nicht, daſs seine lange Figur darin
hat[465] hat ausgestreckt liegen können. Man zeigt den
Fremden sein éloge historique, Französisch
gedruckt, sein Bildniſs in Kupferstich, das
jemand aus Paris hieher geschenkt hat, und
eine kleine goldene Denkmünze, etwa funf¬
zehn Dukaten schwer, ein Geschenk der
jetzigen Russischen Kaiserin. Es ist merk¬
würdig genug, daſs dieser auſserordentliche
Mann gerade das aus seinem Staate gemacht
hat, was er hat machen können und wollen.
Eine andere Frage ist wohl, ob es nicht zu
wünschen wäre, er hätte etwas anderes ge¬
wollt und gekonnt? Ruſsland hat nun eine
Marine — aber hat es auch Sitten? Damals
war vielleicht so etwas zu versuchen; jetzt
dürfte selbst Peters groſse Nachfolgerin die
Aufgabe nicht mehr ausführbar finden; denn
die feine Verderbniſs der neuesten Kultur
auf den rohen Stamm der Barbarei geimpft,
ist nur ein Hinderniſs mehr. —
II. Theil. G g[466]
Wenn auf der einen Seite die Vermin¬
derung des Holländischen Handels, die Stok¬
kung des Geldumlaufes, die Einführung des
Luxus und die Erschlaffung der vaterländi¬
schen Sitten ein trauriges Bild der Vergäng¬
lichkeit menschlicher Einrichtungen und des
unausbleiblichen Verfalles der Reiche im Ge¬
müth des Beobachters zurücklassen; so giebt
es doch auch Gegenstände in Amsterdam,
die zu erfreulicheren Betrachtungen Anlaſs
geben und den Zeitpunkt der gänzlichen Auf¬
lösung so weit in die dunkle Zukunft hinaus¬
zurücken scheinen, daſs die Einbildungskraft
wieder Feld gewinnt, sich noch ein blühen¬
des Zeitalter der Republik, wenn auch nicht
in politischer Hinsicht, so doch mit Bezie¬
hung auf die Privatglückseligkeit der Ein¬
wohner, als Resultat einer höheren Kultur
und eines geläuterten Geschmackes, mit fri¬
schen Farben auszumalen. An Mitteln zur
[467] Erreichung dieses Endzweckes wird es nicht
fehlen, wenn auch der Handel noch ungleich
gröſsere Einschränkungen leiden sollte; die
Zinsen der bereits angelegten Kapitalien sind
fast allein hinreichend, die Einwohner zu
ernähren. Im Jahr 1781 hatten sie nicht we¬
niger als achthundert Millionen Gulden in
Europa ausgeliehen. Die ungleich gröſseren
Summen, die im Waarenhandel oder in den
kostbaren Anlagen unzähliger Fabriken sich
verinteressiren, die Fonds, womit die Wall¬
fisch- und Heringsfischereien betrieben wer¬
den, die der Ost- und Westindischen Com¬
pagnien, die eigenen Staatsschulden der ver¬
einigten Niederlande, endlich der Ertrag des
Erdreiches, wovon ich nur beispielsweise an¬
führen will, daſs Nordholland allein auf den
drei Märkten von Alkmaar, Hoorn und Pur¬
merend, in einem Durchschnitt von sieben
Jahren, jährlich an Käse vierzehn Millionen
G g 2[468] Pfunde verkauft hat, — machen zusammen
eine Masse von Reichthum aus, wobei es
den Niederländern, und sollte sich ihre An¬
zahl auch auf drittehalb Millionen belaufen,
um ihre Existenz nicht bange werden kann.
Es fällt aber auch in die Augen, daſs
seit einigen Jahren die Wissenschaften und
Künste in Holland und insbesondere in Am¬
sterdam merkliche Fortschritte gemacht und
von den reichen Kaufleuten auſserordentliche
Unterstützung genossen haben. Die öffent¬
liche Lehranstalt, das so genannte Athenäum,
welches seit anderthalb Jahrhunderten mit
verdienstvollen Männern besetzt gewesen ist
und dem Staate manchen vortreflichen Kopf
gezogen hat, zeichnet sich noch gegenwärtig
sowohl durch seine nützlichen Institute, als
durch geschickte Lehrer in allen Fächern
aus. Das schöne anatomische Kabinet, wel¬
ches Hovius sammelte, steht jetzt unter der
[469] Aufsicht des gelehrten Professors Bonn. Der
botanische Garten, wo ehedem Commelin die
Wissenschaft so sehr bereicherte, ist gegen¬
wärtig dem nicht minder berühmten Bur¬
mann anvertraut, der sein thätiges Leben
gänzlich der Erhaltung seiner Mitbürger
weiht und vom frühen Morgen an, bis in
die Nacht, die einzige Stunde des Mittags¬
essens ausgenommen, seine Kranken besucht.
Dies ist das Loos aller hiesigen Ärzte von
einigem Ruf und insbesondere des als Physi¬
ker so allgemein geschätzten Dr. Deiman,
dem man die neuerlichen pneumatisch-elek¬
trischen Experimente verdankt. Die unge¬
sunde Lage von Amsterdam und die starke
Bevölkerung kommen zusammen, um die Zahl
der Kranken, zumal in den Sommermonaten,
hier so stark heranwachsen zu lassen, daſs
ein Arzt, der sehr en vogue ist, mehrmal im
Tage Pferde wechseln muſs. Unter den Ge¬
G g 3[470] lehrten, die wir hier kennen lernten, nenne
ich mit wahrer Achtung einen Wyttenbach,
dessen philologische Verdienste man auch
bei uns und in England zu schätzen weiſs,
einen Nieuwland, dessen Bescheidenheit noch
gröſser ist, als das auszeichnende Genie, wo¬
mit er sich selbst zum Mathematiker und
Sternkundigen gebildet hat, endlich den wür¬
digen Cras, der mit der Jurisprudenz eine so
ausgebreitete als gründliche Belesenheit in
vielen anderen Zweigen der Litteratur, eine
allgemeine humane Theilnahme an allem,
was unserer Gattung frommen kann mit dem
gebildetsten Ton, und wahre Gastfreundschaft
mit dem Wohlstand, der sie möglich macht,
ohne Anmaſsung verbindet. Ich könnte Dir
noch den wackern Hieronymus de Bos rüh¬
men, dem die ernsthaften Beschäftigungen
eines Geheimschreibers (Clerk) der sechs und
dreiſsig Rathsherren den feinen Sinn für Rö¬
[471] mische Dichtkunst nicht benommen haben;
ich könnte lange bei dem wunderschönen
Kabinet des Schatzmeisters der Ostindischen
Compagnie, Herrn Temminck, verweilen und
Dir die unnachahmliche, anderwärts noch nie
erreichte Vollkommenheit in der Kunst die
Vögel auszustopfen, anschaulich zu machen
suchen; ich könnte Dir die Menge und
Schönheit der neuen Gattungen von Vögeln
rühmen, womit der edle Sonderling, le Vail¬
lant, diese Sammlung seines ersten Wohlthä¬
ters und Beschützers bereichert hat; allein es
ist Zeit, daſs ich noch mit einigen Zeilen eines
Instituts erwähne, welches vielleicht nur in
Amsterdam so schnell entstehen und zur Reife
gedeihen konnte, — ich meine das pracht¬
volle Felix meritis*).
G g 4[472]
Vor ein paar Jahren hatten einige der
reichsten Einwohner von Amsterdam den Ge¬
danken, für die wissenschaftliche Bildung und
die Erweckung des Kunstsinnes unter ihren
Mitbürgern zu sorgen. Jene Leere, welche
dem Kaufmann, nach vollbrachter Arbeit, in
seinen Nebenstunden bleibt, sollte nun aus¬
gefüllt und sein Kopf mit Ideen bereichert
werden, die zum Glück des Lebens so viel
mehr als todte Schätze beitragen können und
um deren Erwerb die vorige Generation sich
gleichwohl so wenig bekümmert hatte, daſs
auch die jetzige ihren Mangel noch nicht hin¬
länglich fühlte. Die Beschaffenheit des Unter¬
richtes sollte zu gleicher Zeit für das Bedürf¬
niſs des schönen Geschlechtes berechnet seyn,
und indem man dieser empfänglicheren Hälfte
*)[473] unserer Gattung die Quellen der Erkenntniſs
eröffnete, glaubte man mit Recht auf eine
dreifache Art für die Männer zu sorgen, theils
durch Erweckung eines edlen Wetteifers zwi¬
schen beiden Geschlechtern, theils weil man
ihrem häuslichen Glück durch die Vervoll¬
kommnung ihrer Gattinnen und Töchter zu
vernünftigen und wohlunterrichteten Gesell¬
schafterinnen einen wesentlichen Zuwachs
verschaffte, theils aber auch, indem man die
ersten Erzieherinnen der künftigen Genera¬
tion mit zweckmäſsigen Kenntnissen ausrü¬
stete und ihre Urtheilskraft schärfte und übte.
Man umfaſste die ganze Masse der Belehrung,
deren man zu bedürfen glaubte, in den fünf
Klassen der Philosophie, der Mathematik,
der schönen Wissenschaften, der Tonkunst
und der Zeichenkunst. Zur Philosophie rech¬
nete man Naturkunde, Physik und Chemie,
so wie zur Mathematik noch die Sternkunde.
G g 5[474] Die Ausführung dieses Planes war dem Um¬
fange und der Bestimmung desselben, so wie
der Stadt und des Publikums würdig. Eine
Million Gulden — ich sage noch einmal:
eine Million Gulden! — wurden zusammen¬
geschossen, und an der Heerengraſt, der vor¬
nehmsten Straſse in der Stadt, erhob sich ein
prächtiger Bau, durchaus zu diesem Endzweck
eingerichtet, an dessen Fronton der Sinnspruch
der Gesellschaft: Felix meritis, in groſsen
goldenen Buchstaben prangt. Jede Klasse hat
hier ihre eigenen Säle und Zimmer, ihre In¬
strumente und anderweitigen Erfordernisse.
Der Concertsaal ist eine schöne Rotunde, die
beinahe neunhundert Menschen enthalten kann
und wo das Orchestra nebst den Öfen und
Luftzügen dem Baumeister vorzüglich Ehre
macht. Der Saal, wo man nach lebendigen
Modellen zeichnet, hat ebenfalls eine zweck¬
mäſsige Einrichtung und Beleuchtung. Das
[475] physikalische Kabinet und die Sternwarte im
obersten Stock waren noch nicht fertig; über¬
all aber herrschte Vollständigkeit, Eleganz
und reiner Geschmack. Die gelehrten Mit¬
glieder bezeigen ihren Eifer durch die Vorle¬
sungen, die sie zur Belehrung der anderen
halten. Einen schöneren Bund der Menschen
als diesen kann man sich nicht denken, wo
jeder in die gemeinschaftliche Masse bringt,
was er auf seinem Wege fand, es sei nun
Gold oder Wissenschaft. Die Anzahl der
Interessenten soll sich gegenwärtig beinahe
auf eintausend belaufen.
Wie ungeduldig oder wie spöttisch würde
man bei dieser Erzählung in vielen Gesell¬
schaften fragen, ob denn dieses Institut gar
keine Mängel habe? Es ist so leicht, indem
man tadelt, einige Kenntnisse geltend zu ma¬
chen, daſs man gewöhnlich zuerst an allen
Dingen das Fehlerhafte hervorsucht und dar¬
[476] über oft ihre wesentlichen Vorzüge vergiſst;
recensiren und tadeln sind daher im Wörter¬
buche manches jungen Gelehrten vollkommene
Synonymen. Ich gebe zu, daſs eine strenge
Prüfung auch hier verschiedene Gebrechen
entdecken würde; allein ich kann mir jetzt
den Genuſs nicht schmälern lassen, den ein
so lebhafter Enthusiasmus für das Gute ge¬
währt. Man nannte uns einige demokratisch
gesinnte Kaufleute als die Hauptstützen die¬
ses Unternehmens. Die heitere Aussicht in
die Zukunft, welche diese Anwendung ihrer
Kapitalien ihnen eröffnet, sollte ihnen das
traurige Andenken an ihre miſslungenen po¬
litischen Plane aus dem Sinne schlagen hel¬
fen. Es kann nun gleichgelten, welche Par¬
tei das Recht auf ihrer Seite hatte: das erste
Bedürfniſs des Staates ist Aufhellung der Be¬
griffe und Läuterung des Geschmackes; denn
nur auf diesem Wege wird ein richtiges Ur¬
[477] theil über das wahre Interesse des Bürgers
möglich. Unwissenheit ist der groſse allge¬
meine Unterdrücker aller gesellschaftlichen
Verträge, und diesen zu stürzen durch sanfte,
wohlthätige Verbreitung des Lichtes der Ver¬
nunft, ist fürwahr die edelste Rache.
Reine Vaterlandsliebe kann überall nur
das Eigenthum einer geringen Anzahl von
Auserwählten seyn und in unseren Zeiten,
wo auf der einen Seite blinde Anhänglichkeit
an altes Herkommen, auf der andern tiefes
Sittenverderbniſs und vermessene Neuerungs¬
sucht herrschen, wäre es kein Wunder, wenn
diese erhabene Tugend beinahe gänzlich aus¬
gestorben schiene. Der Kampf des unver¬
nünftigen Vorurtheils mit aufgeblasenem Halb¬
wissen bringt überall der wahren Bildung der
Nationen mehr Schaden als Gewinn, und
hält die Menschheit vom Ziele ihrer Vervoll¬
kommnung entfernt. Ohne die zarteste Reiz¬
[478] barkeit des moralischen Gefühls kann die
Entwickelung der übrigen Geisteskräfte genau
so gefährlich werden, als ihre Vernachlässi¬
gung es bis dahin gewesen ist; die Ertödtung
aber jenes Gefühls, diese unverzeihliche Sün¬
de des religiösen und politischen Despotis¬
mus, der die Menschheit in den Ketten der
mechanischen Gewöhnung gefangen hält, be¬
reitet jene furchtbaren Zerrüttungen vor, die
von der jetzigen Art der Fortschritte im Den¬
ken unzertrennlich sind. In Holland hält
die Orthodoxie gebunden, was die freiere
Staatsverfassung vor weltlicher Übermacht be¬
schützte. Natürlicherweise ging daher das
Bestreben der wenigen redlich gesinnten Pa¬
trioten auf die Befreiung des Volkes vom
schweren Joche der Meinungen; sie wünsch¬
ten den Einfluſs der orthodoxen Geistlichkeit
zu vermindern und den Zeloten unter ihnen
Schranken zu setzen. Allein diesen uneigen¬
[479] nützigen Charakter konnte die Partei nicht
beibehalten, sobald sie das Süſse der Herr¬
scherrolle gekostet hatte; um die Oberhand,
um das Ruder im Staate, galt der Kampf,
und eine Aristokratie wollte die andere ver¬
treiben. Im Taumel des Sieges hätte man
die Stimme der Mäſsigung nicht gehört und
manchen willkührlichen Schritt gethan, die
Herrschaft der Vernunft zu erweitern, die
gleichwohl nur über freiwillige Untergebene
gebieten kann. Der Hof kannte die Macht
der Geistlichkeit über die Majorität der Ge¬
müther; er wuſste sich diese Stütze zu si¬
chern und gab dadurch einen Beweis von
Regentenklugheit, den man nur deshalb we¬
niger achtet, weil er nicht ungewöhnlich ist.
Thörichter kann in der That kaum eine For¬
derung seyn, als diese, die man jetzt so oft
machen hört, daſs in einem Zeitpunkt, wo
Eigennutz und Privatinteresse mehr als je¬
[480] mals die Götter des Erdenrundes geworden
sind, gerade die Fürsten der Lieblingsneigung
des menschlichen Herzens, der Herrschsucht,
und den Mitteln, wodurch sie ihrer Befriedi¬
gung sicher bleiben, freiwillig entsagen sollen.
Die Vernunft der Wenigen, die ein Herz
sie zu wärmen hatten, ist auch hier zu der
edlen Reife gediehen, die sich selbst genügt,
still und ruhig wirkt, auf Hoffnung säet und
mit Vertrauen harrt. In schwächeren Köpfen
gährt und braust der Reichthum neuer und
heller Begriffe mit den ungezähmten Leiden¬
schaften, und gebiert riesenhafte Entwürfe,
wilde Schwärmerei, ungeduldigen Eifer. Das
Volk ist nirgends, mithin auch hier nicht,
reif zu einer dauerhaften Revolution, weder
der kirchlichen noch der politischen Verfas¬
sung; überall fehlt das Organ, wodurch der
Geist der Gährung in dasselbe übergehen,
sich mit ihm verbinden und eine gemein¬
schaft¬[481] schaftliche, vorbereitende Stimmung bewirken
soll; überall scheitern die Versuche, sowohl
der namenlosen Ehrgeizigen, als der gröſsten
Menschen, eine neue Ordnung der Dinge ein¬
zuführen. In Holland herrscht noch die in¬
tolerante Synode von Dordrecht, und ein Hof¬
stede darf ungestraft verfolgen, verurtheilen
und verfluchen. Selbst in England wagt es
die gesetzgebende Macht nicht mehr, seit
Gordons Aufruhr zu Gunsten der bedrückten
Religionsparteien etwas zu unternehmen. Was
Friedrich der Groſse und Joseph der Zweite
in ihren Staaten der Vernunft einräumen
wollten, wird entweder von ihren Nachfol¬
gern vorsichtig zurückgenommen oder von
ihren Unterthanen ungestüm vernichtet. Hier
müssen allmälig Religionsedikte und Kate¬
chismusvorschriften erscheinen; dort (in Bra¬
bant) wiegelt der Clerus das Volk zur Em¬
pörung auf und usurpirt die Rechte des Re¬
II. Theil. H h[482] genten. In Italien versinkt die Synode von
Pistoja in ihr voriges Nichts; am Rhein
wird an Josephs Sterbetage die Emser Punk¬
tation zerrissen. Spanien und Portugal schla¬
fen noch den Todesschlaf der betäubten Ver¬
nunft; und ob in Frankreich die Heiligkeit
der Hierarchie versinken wird vor der grö¬
ſsern Heiligkeit des Staatskredits, liegt noch
vom Schleier der Zukunft tief verhüllt. Diese
allgemeine Übereinstimmung ist nicht das
Werk des Zufalls: eine allgemeine Ursache
bringt sie hervor; und warum wollten wir
der Politik den Sinn absprechen, die Zeichen
der Zeit zu erkennen? Warum wollten wir
von der Weisheit der Kabinette verlangen,
daſs sie eher das unmündige Menschenge¬
schlecht sich selbst überlassen sollte, als
jene unverkennbare Majestät der Wahrheit
hervorleuchtet, gegen welche die Willkühr
ohnmächtig und ihr Widerstand eitel ist?
[483]
Eine ganz andere Frage ist es aber, ob
die herrschende Partei in allen Ländern und
von allen Sekten weise handelt, ihre Über¬
macht noch jetzt in ihrem äuſsersten Umfange
geltend zu machen, oder ob es nicht räthli¬
cher wäre, zu einer Zeit, wo sie noch mit
guter Art Concessionen machen kann, dem
Genius der Vernunft ein Opfer zu bringen?
Es sei die Bewegung, die einmal entstanden
ist, auch noch so schwach, so ist sie doch
durch keine Macht mehr vertilgbar. Vom
Druck erhalten Parteien und Sekten ihre
Spannkraft; der Widerstand erhärtet ihren
Sinn, die Absonderung giebt ihnen Einseitig¬
keit und Strenge; Miſshandlung macht sie
ehrwürdig; ihre Standhaftigkeit im Leiden
flöſst Enthusiasmus für sie ein; ihre Kräfte,
extensiver Wirksamkeit beraubt, wirken in
ihnen selbst subjektive, romantische Tugend.
Alsdann bricht plötzlich ihr Feuer unaufhalt¬
H h 2[484] sam hervor und verzehrt alles, was sich ihm
widersetzt. Die Revolutionen, welche ge¬
waltsamer Druck veranlaſst, sind heftige,
schnelle, von Grund aus umwälzende Kräm¬
pfe, wie in der äuſsern Natur, so im Men¬
schen. Es ist unmöglich, dem Zeitpunkt ei¬
ner solchen Veränderung zu entgehen; allein
ihn weit hinaus zu rücken, bleibt das Werk
menschlicher Klugheit, welche die Gemüther
durch Nachgiebigkeit besänftigt und, wo sie
nicht überreden kann, wenigstens den Zwist
vermeidet, der die unausbleibliche Folge ei¬
ner unbilligen Behandlung der Andersgesinn¬
ten ist.
Die in Holland wieder hergestellte Ruhe
hat unläugbare, wohlthätige Folgen für seine
innere und äuſsere Betriebsamkeit hervorge¬
bracht; man hat einem zerrüttenden Bürger¬
kriege vorgebeugt, dessen Ausgang ungewiſs
war, der aber in dem jetzigen Zeitpunkt, wo
[485] England ohnehin schon allen Aktivhandel an
sich reiſst, unheilbare Wunden geschlagen
hätte. Wie sehr ist es nicht bei dieser gu¬
ten Wendung der Sache zu bedauern, daſs
die siegende Partei keine Schonung kannte,
sondern sich vielmehr für berechtigt hielt,
die beleidigte zu spielen und die Hälfte der
Nation für ihre — Meinungen zu bestrafen!
Meinungen, in so gleichen Schalen gewogen,
daſs eine Nation sich ihrentwegen in zwei
beinahe gleich starke Hälften theilt, können
ohne Ungerechtigkeit keiner von beiden zum
Verbrechen gedeutet werden. Man hatte nun
einmal auf beiden Seiten das Schwert gezo¬
gen für etwas — wie chimärisch es immer
sei — was man für Freiheit hielt. Besiegt
zu werden und den Irrthum eingestehen zu
müssen, ist unter solchen Umständen schon
Strafe genug; hier eine desto empfindlichere
Strafe, je gewisser die besiegte Partei durch
H h 3[486] ihre entschiedene Mehrheit ihren Endzweck
zu erreichen hoffen durfte, wenn eine fremde
Dazwischenkunft nicht der Schale gegen sie
den Ausschlag gegeben hätte. Allein die
Rachsucht der Sieger hat in Holland drei¬
hundert der angesehensten Familien zu einer
freiwilligen Verbannung aus ihrem Vaterlande
gezwungen; fünfhundert andere hat die Ent¬
setzung von den Ämtern, die sie bisher be¬
kleideten, zu Grunde gerichtet. In Friesland
geht die Verbitterung noch ungleich weiter
und die häufigen Confiscationen, wären sie
auch nur Wiedervergeltungen für den von
den Patrioten zuvor verübten Miſsbrauch ih¬
rer Übermacht, erhalten doch dadurch, daſs
sie nach geschlossenem Frieden, gleichsam
mit kaltem Blute vorgenommen werden, ei¬
nen gehässigeren Anstrich. Auch ist das
Feuer, das vorhin aufloderte, noch keines¬
weges gedämpft; es glimmt überall unter der
[487] Asche und wird durch jede neue Miſshand¬
lung der Patrioten genährt. Das Andenken
an empfangene Beleidigungen ist im Busen
des Niederländers beinahe unvertilgbar; der
tiefe, mit ihm alternde Groll ist von seinem
Charakter unzertrennlich und, wie schon an¬
dere mit Recht erinnert haben, in seiner gan¬
zen Organisation gegründet. So tief wird
schwerlich ein anderer Europäer gekränkt,
wie man einen Holländer kränken kann.
Diese Kränkungen sind die unzerstörbaren
Keime einer neuen Revolution, die nach ei¬
nem Jahrhundert vielleicht erst reifen wird;
allein auch alsdann noch wird die Rache den
Kindern der Unterdrückten zurufen: »man
schonte eurer Väter nicht!«
H h 4[488]
XXVII.
In wenigen Stunden gehen wir zu Schiffe;
aus dem Fenster, wo ich schreibe, kann ich
unser Packetboot liegen und sich durch sei¬
nen schlankeren Bau von den kleinen Hollän¬
dischen Fahrzeugen auszeichnen sehn. Wäh¬
rend daſs die Reisegesellschaft sich hier ver¬
sammelt, will ich unsere Abschiedsbemerkun¬
gen über Holland, auf der Fahrt von Amster¬
dam hierher, so im Flug' aufzeichnen, wie
wir sie im Fluge angestellt haben.
In Amsterdam, wie im Haag, nahte die
Abschiedsstunde zu früh für unsere Wünsche
heran. Kaum hatten wir die Hälfte der
Merkwürdigkeiten besehen, welche man in
dieser groſsen Stadt den Fremden zu zeigen
pflegt, kaum fingen wir an, eine Menge der
interessantesten Bekanntschaften zu machen,
[489] so erwachte der Maimorgen, auf den unsere
Abreise unwiderruflich festgesetzt war. Von
allen Regeln, deren Beobachtung dem Rei¬
senden oft unmöglich wird, ist keine so
leicht übertreten, als diese gewissenhafte Ein¬
theilung der Zeit, und keine, wobei die
Standhaftigkeit der Entschlüsse sich selbst
besser belohnt. Wir fuhren um fünf Uhr
Morgens mit der Barke nach Harlem. Hier
war unser erster Gang zum Landhause des
in allen Welttheilen bekannten Herrn Henry
Hope, der uns in Amsterdam den Erlaubniſs¬
schein dazu gegeben hatte, einen Talisman,
ohne welchen man in Holland selten ein
Privathaus besehen darf. Ein angenehmer
Spaziergang durch ein Gehölz führte uns
bis an das Gebäude, dessen Äuſseres weniger
verspricht, als man im Innern findet. Die
winkelige Form verräth noch den seltsamen
Geschmack des ehemaligen Besitzers, und
H h 5[490] das feuchte Klima löset unaufhörlich den
Gipsüberzug ab, womit die Mauern beworfen
sind. Inwendig fällt sogleich eine prächtige
Treppe vom schönsten, weiſsen Marmor ins
Auge, die in der That alle Forderungen der
Kunst befriedigt. Die Zimmer sind sehr
reich meublirt und mit Zierathen fast über¬
laden. Ein Parquet von kostbaren Ost- und
Westindischen Hölzern, und Kamine von gel¬
bem, Parischem Marmor verriethen uns den
königlichen Reichthum des Besitzers. Auf
einigen groſsen Tischen ahmte der feinste
Lackfirniſs den Parischen Marmor so voll¬
kommen nach, daſs wir mit den Augen al¬
lein den Unterschied nicht entdeckt hätten.
Drei prächtige Säle, die gröſstentheils von
obenher erleuchtet werden, bilden eine Ge¬
mäldegalerie, die wir eigentlich, zu sehen,
hergekommen waren, und die uns dennoch
sehr überraschte. Die Stücke sind nicht nur
[491] zahlreich und erlesen, sondern auch groſsen¬
theils aus der Italienischen Schule. Zwar
kann nicht alles in einer so groſsen Samm¬
lung von gleicher Vortreflichkeit seyn; Man¬
nichfaltigkeit gehört zu einer Galerie, und
um einen Künstlernamen mehr darin nennen
zu können, räumt man oft einem Bilde ei¬
nen Platz ein, das die Forderungen des Ken¬
ners und des Malers befriedigt, wenn es auch
den Kunstliebhaber gleichgültig läſst. In¬
dessen bleibt immer so viel zu bewundern,
daſs Du bei den folgenden Anzeichnungen
wohl inne werden wirst, welch ein Fest der
Augen und des innern Sinnes ich in einem
Lande genoſs, wo ich seit langer Zeit nur
Flämische und Holländische Kunstwerke ge¬
sehen hatte.
Im ersten Zimmer ruhte ich vor allem auf
drei groſsen Landschaften des groſsen Pous¬
sin, den schönsten, die ich noch von ihm
[492] gesehen hatte. Sein so gänzlich von dem
sanften Claude verschiedener Styl, das Rie¬
senhafte, Einfache und Erhabene seiner Phan¬
tasie, war dunkel genug, um sich mit ihr zu
vertiefen, und doch klar und göttlich genug,
um sich nie ganz zu verlieren! Das Blau
des Ultramarins, welches in dem einen Stück
zu sehr hervorsticht, giebt ihm jetzt eine
Härte und etwas Trocknes, womit es sicher¬
lich nicht aus der Hand des Meisters kam.
Von einem ganz verschiedenen Werth,
doch in ihrer Art auch treflich behandelt, ist
Backhuisens Aussicht von Rotterdam und
der Maas, mit herrlichen Wellen und Schif¬
fen und einem meisterhaften Effekt des zwi¬
schen trüben Wolken hervorbrechenden Lich¬
tes. In einem Paar von Rubens skizzirten
Landschaften herrscht sein wildes Feuer; die
Menschen und Thiere darin sind übrigens
unförmlich, und von der Ausführung läſst
[493] sich gar nicht sprechen. Seine Ehebrecherin
im Tempel, ein groſses Kniestück, hat das
Verdienst, welches man seinen guten Wer¬
ken nicht absprechen kann, Ausdruck und
Wahrheit in den Köpfen, aber ein livides
Kolorit und viel häſsliche Natur.
Im zweiten Zimmer fand ich eine Susanna
von — oder nach — Dominichino, sehr
frisch und wohlbehalten, von jener in Düs¬
seldorf ganz verschieden, aber nichts edler
gedacht; eine fleischige, Rubensische Dirne,
ohne alle Jungfräulichkeit. Es ist wahr,
diese Masse von Fleisch und Blut scheint zu
leben, und die Maler glauben oft, man dürfe
weiter nichts an sie fordern. Ist es denn
gleichviel, ob Gibbon und Schiller eine Ge¬
schichte erzählen oder der Zeitungsschreiber?
Ariost und Wieland oder Grecour?
Wie reich ist dagegen für die Empfindung
und den Verstand diese schöne, einzelne Fi¬
[494] gur, die stehend oder wankend, ihren rech¬
ten Arm auf einem Kissen ruhen und das
göttliche Haupt voll Leiden und Liebe zu¬
rücksinken läſst! Ihr Auge bricht von einem
brennendern Schmerz, als dem des Schlan¬
genbisses an ihrer Brust. Sie steht da in
vollendetem Ebenmaaſs, in unverbesserlichen
Umrissen, ein Wesen höherer Art. Eine an¬
dere Stellung konnte sie nicht wählen; diese
reine, zwanglose Grazie, diese einfach wahre
Natur ist edel und schön zugleich. Sie ist
ganz unverhüllt, ein wenig marmorn von
Substanz und Farbe; doch was ist Farbe ge¬
gen Form, und was ist Bekleidung gegen
Blöſse, wenn diese Form sie heiligt? Malen
für den denkenden Geist und malen für den
thierischen Sinn, Zampieri’s Susanna und
Guido’s Kleopatra schaffen — wem das ei¬
nerlei seyn kann, wer wohl lieber dort zu¬
greifen, als hier von Seele zu Seele empfin¬
[495] den mag, — den wollen wir doch freundlich
bitten, an dieser heiligen Magdalena unseres
Guido schnell vorüber zu gehen. Es ist eine
ganze, sitzende Figur in Lebensgröſse, mit ei¬
nem Kopf, der schöner wird, je länger man
ihn ansieht. Im Kolorit ist der Künstler hier
ungewöhnlich glücklich gewesen; der ganze,
milde Farbenton des Stückes ist gut gewählt.
Diese Gestalt muſste drappirt werden, denn
sie hat sinnlichen Reiz; der zart unterschei¬
dende Meister empfand dieses Gesetz der hö¬
heren Kunst; nur ist das Gewand nicht
glücklich geworfen. Im Gesicht ist alles aus¬
gedruckt, was man von einer reuevollen
Magdalena erwartet; doch wird es nicht
durch Leidenschaft entstellt, wodurch die
Stümper in der Malerei gewöhnlich den Af¬
fekt bezeichnen müssen. Für die Menge
der Beobachter geht der zartere Ausdruck
des Seelenzustandes gänzlich verloren; sie
[496] merken nicht, daſs man traurig ist, wenn
man nicht heult und schluchzt oder sich
wüthend zur Erde niederwirft; sie kennen
keine Freude, ohne das Grinzen des Satyrs,
und so geht es durch alle Modificationen des
Gemüthes. — Mit Vergnügen betrachtete ich
hier noch einen schönen Engelskopf von
Guido, und damit ich alle seine Bilder zu¬
sammenstelle, im dritten Zimmer einen ko¬
lossalischen Christuskopf, mit einem Adel
angethan, den nur das Studium der Antike
geben konnte, und ein wunderschönes, schla¬
fendes Kind im Arm der Mutter, die so ganz
liebende Mutter ist.
Der Eid des Brutus bei Lukreziens ent¬
seeltem Körper, von Hamilton, hat richtige
Zeichnung und schöne Farbengebung; das
weiche Fleisch des eben erst durchbohrten
Leichnams ist gut gehalten; das Ganze, wie
solche Geschichten, wenn nicht der höhere
Ge¬[497] Genius der Malerei hinzukommt, immer be¬
handelt zu werden pflegen, eine kalte Dekla¬
mation. Carlo Maratti’s schlafende Venus
verdiente wohl ein gutes Wort. Es ist nicht
möglich, einen schönern weiblichen Kopf zu
bilden, und schön ist auch die ganze Gestalt,
so daſs der Adonis gänzlich vor ihr verschwin¬
det. Männliche Schönheit glückt überhaupt
den Künstlern seltner, vielleicht weil sie
wirklich seltner ist. Winkelmann würde sa¬
gen, die vollkommenste Form muſs auch die
seltenste seyn. Das Kolorit dieses Stückes
hat übrigens etwas gelitten; ein Unfall, der
auch einer Venus mit dem Amor, von Ti¬
zian, widerfahren ist. Schöner ist von die¬
sem Meister die Tochter Cymons erhalten,
die ihren alten Vater im Gefängniſs aus ih¬
ren Brüsten tränkt; leider ist diese Geschich¬
te kein schicklicher Gegenstand für die Ma¬
lerei. In der Nähe hängt ein kleines Brust¬
II. Theil. I i[498] bild einer Lukrezie, die sich ersticht; sie ist
nicht schön, sie ist nicht edel, mit Einem
Worte: es ist die wahre Lukrezie nicht; aber
sie lebt und ersticht sich. An dem Busen
dieses Weibes sollten sich die Maler blind
studiren, bis sie von Tizian lernten, wo Na¬
tur und Wahrheit sich scheiden von Manier.
Der sterbende Gladiator mit einem Anti¬
nouskopf, der wild aufblickt, mit offenem
Munde, und den linken Arm hinter sich aus¬
streckt, ist eine schöne, riesenhafte Figur,
deren Härte übrigens trotz dem dunkelbrau¬
nen Kolorit ihr marmornes Urbild verräth.
Ich hätte es nicht errathen, daſs dieses aus
Antiken zusammengesetzte Bild einen Johan¬
nes in der Wüste vorstellen soll, und möch¬
te den groſsen Caracci gern gefragt haben,
was nun ein solches Machwerk zum Johan¬
nes charakterisirt? Bei einem andern gro¬
ſsen, gräſslichen Gemälde, das den Herkules
[499] und Kakus vorstellen soll, müſste ich eine
ähnliche Frage an den Künstler thun. Vom
Kakus sieht man den blutenden Hinterkopf,
nicht das Gesicht; woher soll man erfahren,
ob er ein Bösewicht ist, der sein Schicksal
verdient? Kein Zug auf Herkules Gesicht be¬
zeichnet den Rächer der beleidigten Mensch¬
heit. Was unterscheidet hier den Halbgott
von einem Banditen? Ich sehe nur einen
wilden Kerl, der mit beiden Händen eine
Keule über dem Kopfe schwingt, um einem
Unglücklichen, dem er den Fuſs in den
Nacken setzt, den letzten Streich zu geben.
Wahrlich, wenn ich Heldenthaten verrichtet
hätte, ich würde mir Meister Annibal’s Bio¬
graphie verbitten.
Der alte Perin del Vaga gefällt mir bes¬
ser in seiner santa famiglia; das schönste
Kind küſst eine holde, gute, sanft duldende
Mutter; Elisabeth ist alt, aber nicht widrig,
I i 2[500] und der kleine Johannes von untergeordneter
Schönheit. Welch ein Abstich dieses Bildes
aus der ältesten Italienischen Kunstepoche,
gegen die geschmacklosen, hölzernen Grup¬
pen der ersten Niederländischen Künstler! —
Hier ist übrigens noch eine Madonna mit
dem Kinde, angeblich von Raphael.
Zwei Landschaften von Claude le Lorrain,
vereinigen mit Ägyptischen und Orientali¬
schen Gebäuden seine Wärme, seinen Reich¬
thum, seine Klarheit und sein Vermögen für
die Phantasie des Zuschauers zu malen. Das
eine Stück, wo Pharao’s Tochter den kleinen
Moses findet, ist köstlich; das andere aber
noch viel vortreflicher. Die Palläste sind
wahre Feenpalläste.
Ein kolossalischer Mannskopf, von Mengs,
mit einem Ausdruck von heftigem Schmerz
im offenen Munde, ist brav gemalt, aber kalt.
Ich eile weg von ein paar groſsen Bildern,
[501] welche die Venus bei dem erschlagenen Ado¬
nis vorstellen sollen. Was nur die Venus
des Trevisano an ihrem getödteten Freunde
so ängstlich zu untersuchen haben kann?
Die von Paul Veronese scheint aus einem
Amsterdammer Müsiko entlaufen zu seyn.
Zum Beschlusse noch ein erotisches Ge¬
dicht. Amor spielt mit einer reizenden Nym¬
phe, die ihr Gesicht zur Hälfte mit der Hand
verbirgt, aber den lieben, schalkhaften Blick
des schönen Glanzauges so hervorstralen
läſst, wie Sonnenstralen hinter dem Wolken¬
saum. Hingegossen ist die ganze Figur, Gra¬
zie ihre Stellung und all’ ihr Regen. Das
Gewand, woran Amor zupft, ist nymphen¬
haft, phantastisch und von den Charitinnen
angelegt. Ein Kolorit, so frisch, wie von
der Staffelei! Das lose Mädchen erröthet
nicht bloſs auf der Wange. Im Grase vor
ihr, hebt ein buntes Schlängelchen den Kopf
Ii 3[502] in die Höhe: latet anguis in herba! Eine
feine Allegorie und desto unnachahmlicher,
weil der Zuschauer schon sie denkt, eh’ er
noch den Wink des Künstlers gewahr wird.
Dieses Gemälde ist modern; aber seines Plat¬
zes unter den Werken des Italienischen Pinsels
würdig. Es ist von Sir Joſhua Reynolds.
Wir spazierten hierauf in die Gegend, wo
die berühmten Harlemer Blumengärten liegen.
Wohl mag es wahr seyn, daſs der Wind
ganze Tagereisen weit die würzhaften Wohl¬
gerüche des glücklichen Arabiens den Schif¬
fenden im Ocean zuführt, da wir in diesem
nördlichen Klima schon von fern den Duft
der Hyacinthen und Aurikeln verspürten. Es
war ein warmer Vormittag; die Sonne schien
am heitern Himmel, und in ihrem Lichte be¬
wunderten wir die Farben der Natur, deren
Pracht und Glanz alle Nachahmung und al¬
len Ausdruck, so weit übersteigen. Wir über¬
[503] sahen die ganze Fläche eines groſsen Blumen¬
gartens, wo Tulpen von verschiedenen Farben
in langen Beeten mit einander abwechselten
und ein streifiges Band von Feuerfarb, Citro¬
nengelb, Schneeweiſs, Karminroth und vielen
andern Schattirungen darstellten. Die minder
glänzende Hyacinthenflor befriedigte das Auge
fast noch mehr bei einer näheren Untersuchung
der Gröſse, Zahl und Gestalt ihrer Glocken,
und ihrer mannichfaltigen Farbenstufung. Wie
man sonst einen zu groſsen Werth auf die¬
sen Zweig der Gartenkunst legte, so wird er
jetzt beinahe zu sehr verachtet. Es ist doch
keine Kleinigkeit, daſs der Mensch die We¬
sen der Natur modificiren kann, ohne sie
bloſs zu verunstalten! Das ehemalige Aktien¬
spiel, wozu die seltenen Tulpenzwiebeln nur
die eingebildete Veranlassung oder eigentlich
nur die Form und Einkleidung hergaben, hat
gänzlich aufgehört.
I i 4[504]
Jetzt wollten wir noch die typographischen
Instrumente in Augenschein nehmen, womit
man hier vor der Erfindung der beweglichen
Lettern druckte; allein der jetzige Eigenthü¬
mer des Kosterschen Apparats, Herr Ensche¬
de, war entweder nicht zu Hause, oder lieſs
sich verläugnen. Nach Tische besuchten
wir das so genannte Teylerische Institut. Pe¬
ter Teyler van der Hulst, ein reicher Kauf¬
mann, der in seinem Leben keine besondere
Neigung für die Wissenschaften geäuſsert
hatte, vermachte sein ganzes Vermögen den
Armen und der Physik. Zu diesem doppel¬
ten Endzweck haben die Curatoren des Ver¬
mächtnisses beinahe hunderttausend Gulden
jährlicher Einkünfte zu verwenden. Wir sa¬
hen die Bibliothek, eine Kupferstichsammlung,
einen unvergleichlichen Apparat von physika¬
lischen Instrumenten und ein bereits sehr an¬
sehnliches und prächtiges Naturalienkabinet.
[505] Die groſse Elektrisirmaschine, die in ihrer
Art einzig ist, kennt man aus dem treflichen
Bericht des D. van Marum, der über das
Kabinet die Aufsicht führt. Sie steht in ei¬
nem groſsen, mit Geschmack dekorirten Saal,
und ihre Scheiben haben gegen sechs Fuſs
im Durchmesser. Mit solchen Werkzeugen
lassen sich Erscheinungen hervorrufen, die
bei jedem schwächern Apparat unmöglich
sind. Die Anwendung der Elektricität auf
die Schmelzung und Verkalchung der Me¬
talle und auf die Scheidung der Luftarten
liefert hiervon mehr als Einen Beweis, und
mit der Zeit, wenn wir dem Himmel seine
Geheimnisse nicht ablernen, wozu es freilich
nicht viel Anschein hat, werden unsere Wis¬
senschaften doch überall den Punkt genauer
treffen, wo das Sinnliche in das Übersinn¬
liche, das Materielle in das Immaterielle,
Effekt in Ursach und Kraft übergeht. Die
I i 5[506] neuesten Versuche, die Herr van Marum
hier angestellt hat, liefern den Beweis, daſs
eine gänzliche Beraubung der Reizbarkeit mit
der Tödtung der Thiere durch den Blitz al¬
lemal verbunden ist. Der Aal, zum Beispiel,
dessen abgesonderte Stücke, wenn man ihn
zerschnitten hat, sich nach langer Zeit noch
krümmen und bewegen, blieb steif und an
allen den Theilen unregsam, durch welche
der tödtende Stral seinen Weg genommen
hatte.
Die Administratoren dieses Vermächtnisses
könnten ohne Zweifel, wenn wahrer Eifer
um die Wissenschaft sie beseelte, noch weit
gröſsere Ausgaben in dem Geiste des Stifters
bestreiten, ohne Besorgniſs, sich von Mitteln
entblöſst zu sehen, oder auch nur die jährli¬
chen Zinsen des ungeheuren Kapitals zu er¬
schöpfen. Allein die Versuchung bei einer sol¬
chen Geldmasse ist zu groſs zum Vermehren
[507] und Anhäufen, als daſs man ihr widerstehen
könnte; wenn aber einmal ein Fond zu einer dis¬
proportionirten Gröſse herangewachsen ist, wer
sichert ihn dann vor jener räuberischen Staats¬
nothwendigkeit, der in einem Augenblick des
öffentlichen Miſskredits alle Bedenklichkeiten
weichen müssen? Hatte nicht die Universität
Leiden bereits eine halbe Million erspart,
womit sie während der neulichen Unruhen
den Entschluſs faſste, ein neues akademisches
Gebäude zu errichten? Würde der Groſs¬
pensionar van Bleiswyk diesen der Univer¬
sität so unentbehrlich gewordenen Bau nicht
durchgesetzt haben, wenn er aus dem Schiff¬
bruche seines Einflusses bei dem Siege der
Oranischen Partei mehr als den bloſsen Eh¬
rentitel eines Curators gerettet hätte? Jene
ungeheure Contribution von achtzig Millionen
verschlang die kleinen Ersparnisse der Wis¬
senschaften, und keine Stimme klagt in Eu¬
[508] ropa über diesen — mehr als Kirchenraub.
Wie darf man es wagen, nach einer solchen
That noch von den eingezogenen Gütern
müſsiger Prälaten und Mönche in Frankreich
zu sprechen?
Zuletzt führte uns Herr van Marum, der
uns sehr freundschaftlich aufnahm, auch in
das Naturalienkabinet der Harlemer Societät
der Wissenschaften, welches zwar minder
glänzend, aber durch seine zweckmäſsige
Einrichtung und die genau befolgte Linnäi¬
sche Methode vorzüglich lehrreich ist. Der
zoologische Theil enthält besonders viele sel¬
tene Stücke und ist in den Klassen der Säug¬
thiere, der Vögel und der Zoophyten ziem¬
lich vollständig. So verstrich uns die Zeit
bis zum Abend, da wir ein leichtes Fuhrwerk
bestiegen, das uns in drei Stunden unter be¬
ständigem Wetterleuchten und Blitzen nach
Leiden brachte. Wir eilten so schnell da¬
[509] von, daſs uns der heftige Patriotismus der
Harlemer während der letzten Unruhen kaum
eingefallen wäre, wenn uns nicht das Symbol
desselben, die Menge der Spitzhunde (Hol¬
ländisch: Keeſsen) auf allen Straſsen daran
erinnert hätte. In allen Volksbewegungen
scheint es gefährlich zu seyn, gegen die Par¬
tei, die der Pöbel begünstigt, zu viel Verach¬
tung blicken zu lassen. Die Spottnamen,
womit man sie zu erniedrigen meint, ver¬
wandeln sich leicht in ehrenvolle Benennun¬
gen, wodurch das Band der Vereinigung nur
noch fester wird. Die Mehrheit behauptet
unwiderlegbar das Recht, den Sprachgebrauch
zu bestimmen. Als die von Philipp dem
Zweiten unterdrückte Partei freiwillig den
Namen Geusen (gueux, Bettler) adoptirte,
ward sie dem Tyrannen furchtbar; als die
Neuengländer nach den Gefechten bei Lexing¬
ton und auf Bunkershill mit ihrem und mit
[510] Brittischem Blute den Vorwurf der Feigheit
abgewaschen hatten, der auf dem Namen
Yankies haftete, setzten sie ihren Stolz darin,
sich ihre Feinde von Yankies besiegt und durch
diesen Namen noch tiefer gedemüthigt zu
denken. So kannten auch bald die Hollän¬
dischen Patrioten kein Wort, das sie stärker
begeistern konnte, als das Anfangs gehässige
Kees; als eine Anspielung darauf, trugen die
Weiber ein goldenes oder porzellanenes Hünd¬
chen an ihrem Halsgeschmeide; die Männer
trugen es als Brelocque an der Uhrkette, und
so ward es ein Abzeichen, woran man sich
einander zu erkennen gab.
Mit der Besichtigung der Sehenswürdig¬
keiten in Leiden und im Umgange mit den
dortigen Gelehrten haben wir ein paar ver¬
gnügte Tage zugebracht. Wer mit allen Vor¬
urtheilen gegen die Niederländer, die man
zumal in Deutschland bis zum Überdruſs wie¬
[511] derholt, plötzlich hieher verschlagen würde,
dem könnte wohl ein Zweifel aufsteigen, ob
er sich auch auf Holländischem Boden be¬
fände; so vereinigen sich hier die gründlich¬
sten Kenntnisse mit ächter Urbanität und
milden Sitten, vor allem aber mit der Be¬
scheidenheit und der aufmerksamen Achtung
gegen Fremde, die sich auf ein Gefühl vom
eigenen Werthe gründen und nie zur klein¬
lichen Eitelkeit des Pedanten herabsinken.
Der gute Ton unter den hiesigen Professoren
ist eine natürliche Folge dieser Selbstachtung,
verbunden mit der willigen Anerkennung ih¬
rer gegenseitigen Verdienste. Vielleicht trägt
auch der Umstand, daſs die meisten eigenes
Vermögen besitzen und einige zu den wohl¬
habendsten Einwohnern des Ortes gezählt
werden, etwas dazu bei, den kleinlichen Neid
und die Scheelsucht zu verbannen, die bei
einer gröſseren Ungleichheit sowohl der Ta¬
[512] lente als der Glücksgüter beinahe unvermeid¬
lich sind. Die Universität ist wirklich noch
mit Männern besetzt, die ihrem alten Ruhm
Ehre machen. Pestel, Ruhnken, Schultens,
Luzac, sind Namen, die unter Gelehrten kei¬
ner Empfehlung bedürfen; sie würden sich
in jeder Gesellschaft Aufmerksamkeit und
Achtung erwerben, und wir ehrten in ihnen
allen noch mehr den Menschen als den Pro¬
fessor. Es freute mich besonders, meinen
alten Bekannten, den am Vorgebirge der gu¬
ten Hofnung geborenen D. Voltelen, einen
geschickten Chemiker, als Rektor der Univer¬
sität wiederzusehen; dagegen muſsten wir
auf die Bekanntschaft des treflichen Natur¬
forschers Brugmans, der eben nach dem Haag
gereiset war, für itzt Verzicht thun. Sandi¬
fort, der thätige Nachfolger des groſsen Al¬
binus, zeigte uns freundschaftlich seines Vor¬
gängers und seine eigenen anatomischen
Schätze,[513] Schätze, seine reiche Bibliothek und sein
groſses osteologisches Werk, wozu er bereits
eine beträchtliche Anzahl Kupfertafeln fertig
liegen hat. Den feinen Genuſs, den die
höchste Ausbildung des Geistes und die zar¬
teste Empfänglichkeit des Gefühls gewährt,
durften wir uns vom Zufall und einem Auf¬
enthalt von wenigen Stunden nicht verspre¬
chen; desto schöner war die Überraschung,
die uns in Herrn M—s Wohnung erwartete.
Ich wage es nicht, die Empfindung zu be¬
schreiben, womit wir gewisse Saiten berühren
und erbeben fühlten, die während unserer
ganzen Reise kaum aus ihrer Ruhe gekom¬
men waren. Unserm Vergnügen fehlte dies¬
mal nichts; wir gingen berauscht von unserm
Glücke davon, das uns mit einem so wohl¬
thätigen Eindruck von der in diesem Hause
herrschenden Harmonie, aus Holland entlieſs.
Wir hatten nun in diesem Lande an der
II. Theil. K k[514] Seite eines mit Kenntnissen reichlich ausge¬
rüsteten, an Kopf und Herz gleich schätzba¬
ren Mannes, auch das gefunden, was in allen
Ländern so selten ist: eine Gefährtin von Ge¬
fühl und Verstand, von gebildetem Urtheil,
ohne Anmaſsung, mit sanfter Weiblichkeit
und jener glücklichen, mit sich selbst einigen
Ruhe der besseren Menschheit!
Einen frohen, geselligen Abend brachten
wir bei Herrn van G —, einem jungen Man¬
ne von vortreflichem Charakter zu, der hier
der Mennonitischen Gemeine als Prediger
vorsteht. Diese Mennoniten sind nicht mehr
die alten fanatischen Wiedertäufer; es giebt
in den Niederlanden keine aufgeklärtere und
vernünftigere Menschen. Überhaupt macht
man in freien Staaten oft die Bemerkung,
daſs die schwärmerischsten Sekten, indem
man ihnen Zeit zum Gähren läſst, sich end¬
lich in stille, weise, nützliche Bürger ver¬
[515] wandeln. Die Wohlfahrt des Staates hat
keine herzlicheren Freunde, die Freiheit der
Verfassung und der Vernunft keine eifrigeren
Verfechter, die Wissenschaft keine thätigeren
Beförderer als diese, jetzt in ihrer Kleidung
von den anderen Einwohnern nicht mehr zu
unterscheidenden Mennoniten. Sie zählen vie¬
le der reichsten Familien in Holland zu ihrer
Gemeinschaft, deren jetziges religiöses Band
wohl eher in einem bescheidenen und schüch¬
ternen Gebrauche der Vernunft bei allen unauf¬
lösbaren Zweifeln des Übernatürlichen, als in
dem ehemaligen Mysticismus besteht.
Des starken Regens ungeachtet, der gleich
nach unserer Ankunft fiel, war doch am fol¬
genden Morgen das Pflaster so rein, wie es
nur in Holland und in einer Stadt möglich ist,
wo die Reinlichkeit und die stille Handthie¬
rung der Einwohner zusammentreffen. Wirk¬
lich ist in Leiden wenig Bewegung auf den
K k 2[516] Straſsen; die vielen Fabriken beschäftigen die
für ihren Umfang ziemlich beträchtliche Volks¬
menge, und die Zahl der Studirenden ist ver¬
hältniſsmäſsig nur gering. Wir konnten also
gleich unsere Gänge durch die schönen, mit
Bäumen bepflanzten und mit Kanälen durch¬
schnittenen Straſsen vornehmen. Wir besahen
das alte, baufällige akademische Gebäude, die
Universitätsbibliothek, den botanischen Garten
und das Naturalienkabinet; lauter Institute, die
einer kräftigen Unterstützung bedürfen, ehe
sie einigermaſsen ihrem Endzwecke werden
entsprechen können.
An einem schönen Abend machten wir
endlich nach unserer Gewohnheit einen Spa¬
ziergang rund um die Stadt. Die Sorgfalt, wo¬
mit der breite Weg, bloſs für Fuſsgänger, wie
eine Gartenallee unterhalten wird; die überall
willkommene, nirgends ängstlich erkünstelte
Reinlichkeit; die heiligen Schatten ehrwürdi¬
[517] ger Linden und Ulmen, unter denen wir wan
delten; die Pracht der Blüthen in den Obstgär¬
ten rund umher; die balsamische, mit Wohl¬
gerüchen erfüllte Luft, in welcher kein Blätt¬
chen sich bewegte und kaum die Nachtigal¬
len zu flöten wagten; die gut und einfach ge¬
kleideten Bürger, die uns einzeln oder paar¬
weis begegneten und uns zuletzt in der Däm¬
merung ganz allein lieſsen; der unverhoffte
Anblick des Rheins, der hier ein stiller, kaum
merklich flieſsender Kanal von unansehnlicher
Breite geworden ist; das Heer der Gedanken,
das sich bei diesem Genuſs in uns regte; die
Heiterkeit des traulichen, einsamen Gesprä¬
ches, der kühne Flügelschlag der Phantasie,
von dieser zauberischen Gegenwart hinüber
in die Gefilde der Erinnerung, und nun, heili¬
ge, beglückende Schauer der sanftesten Schwer¬
muth — wer vermag das Bewuſstseyn zu be¬
schreiben, das so ergriffen wird?
K k 3[518]
Um sechs Uhr Morgens verlieſsen wir
Leiden. Von allen Seiten um uns her er¬
tönte ununterbrochener Gesang der erwachen¬
den Vögel. Die Sonne vergoldete die Thürme
hinter uns. Unsere Barke umflatterten die
Kibitze, die Brachvögel, die Schnepfen, die
Meerschwalben, und alles jauchzte und ju¬
belte in der Luft und auf den Wiesen. Das
bunte Vieh, in hundert kleinen, zerstreuten
Heerden bedeckte die unermeſsliche Ebene,
die mit frischem smaragdfarbenem Grün dem
reinen blauen Himmel entgegen lachte; ein
leichtes Lüftchen liebkosete die spiegelglatte
Fläche des Kanals, worauf wir hinglitten,
und ein Spiegel in der Kajüte malte uns
immer wieder zum zweitenmal die Aussich¬
ten, die in entgegengesetzter Richtung vor
unserm Auge vorüberflogen. Sogar die wort¬
kargen Schiffer fühlten den Einfluſs des be¬
lebenden Frühlings und glückwünschten ein¬
[519] ander naiv und energisch zum köstlichen
Wetter.
Diese Schiffer auf den Kanälen, die ich
sorgfältig von den Schiffenden zur See unter¬
scheide, dürften leicht die langsamsten, phleg¬
matischsten unter allen Einwohnern von Hol¬
land seyn, und weil die meisten Reisenden
sie beständig vor Augen, vielleicht auch von
ihrer Indolenz am meisten zu dulden haben,
ist vermuthlich auch von ihnen der so allge¬
mein bekannte Nationalcharakter abstrahirt,
der keinesweges so genau auf die übrigen
Volksklassen paſst. Ihnen begegnet nie et¬
was Ungewöhnliches auf ihren Fahrten; ruhig
sitzen sie da, lassen sich und ihren Nachen
vom Pferde ziehen, und fühlen kaum, daſs
sich das Fahrzeug unter ihnen bewegt. Alle
Gegenstände sind ihnen unterweges bekannt,
alle kehren zur gesetzten Minute wieder vor
ihr Auge zurück; sie sehen auf dem Hin¬
K k 4[520] und Herwege von einer Stadt zur andern
nichts Neues, die Passagiere ausgenommen,
die ihnen so gleichgültig sind, wie die Bäu¬
me am Rain der Kanäle. Ihr ganzes Ge¬
schäft heischt nicht die mindeste Anstren¬
gung; der eine führt das Ruder, der andere
vorn giebt Acht auf das Seil, löset es ab,
wenn die Barke unter einer Brücke hinzieht,
und greift es, sobald sie hindurch ist, auf
der andern Seite wieder auf. Einige Augen¬
blicke vor der Ankunft sammelt der Steuer¬
mann die Bezahlung von den Passagieren ein.
So treibt er es den ganzen Tag und am fol¬
genden Morgen geht es wieder so fort. Hier¬
aus entspringt jene Gemessenheit und Lang¬
samkeit in allen Bewegungen, die einen leb¬
haften Menschen oft in Verzweiflung brin¬
gen möchte. Alles geschieht zu seiner Mi¬
nute, aber gewiſs auch keine Sekunde früher.
Kein Muskel verzieht sich in dem festen,
[521] dicken, ruhigen, rothen Gesicht, wenn auch
auf der Wange des Fremden die Farbe zehn¬
mal geht und kommt. Eine bei uns ganz
ungewöhnliche Höflichkeit, ohne die minde¬
ste Affektation oder Ziererei, kann man in¬
deſs diesen Menschen so wenig, wie ihren
Landsleuten überhaupt, absprechen. Sie grü¬
ſsen die Vorübergehenden ſehr herzlich und
freundlich, ziehen vor dem Geringsten den
Hut ab, antworten mit Gefälligkeit und Be¬
reitwilligkeit auf alle Fragen, weisen einen
gern zurecht und äuſsern also in ihrem Be¬
tragen, wie in ihrer Kleidung und in allen
anderen Verhältnissen, die Art von Rechtlich¬
keit, die nur wohlhabenden Nationen eigen
ist. Die Politik ist ihr liebstes Gespräch,
ihre einzige Lektüre die Zeitungen, ihr Zeit¬
vertreib die Tabakspfeife, und ihr Labsal ein
Glas Wachholderbranntwein. Auf ihre Ehr¬
lichkeit kann man sich vollkommen verlassen;
K k 5[522] mit der gröſsten Aufmerksamkeit sorgen sie,
daſs man alles aus dem Schiffe mitnimmt
und nichts vergiſst. —
Ohne in Delft anzuhalten, gingen wir zu
Fuſs um die Stadt, und setzten uns auf der
andern Seite in die Barke, die nach Maas-
Sluis abgeht, woselbst wir zu Mittag eintra¬
fen. Dort waren wir von Helvoet noch drei
Stunden Weges entfernt; weil aber die hie¬
sige Bewirthung nicht die beste und billigste
ist und das Packetboot erst heute abgehen
sollte, entschlossen wir uns, daselbst in ei¬
nem sehr bequemen Gasthofe zu übernachten.
Maas-Sluis ist ein niedlicher kleiner Flecken,
dessen Hafen mit Fischerfahrzeugen angefüllt
war, indem von hier aus und dem benach¬
barten Vlaardingen der Kabeliau- und He¬
ringsfang betrieben wird. Nichts giebt einen
so klaren Begrif von Holländischer Reinlich¬
keit als der Umstand, daſs man sie auch in
[523] einem Fischerstädtchen, ungeachtet der von
den Beschäftigungen der Einwohner fast un¬
zertrennlichen Unsauberkeit, in einem hohen
Grade noch antrift. Das Schauspiel der Ar¬
beitsamkeit unterhielt uns eine geraume Zeit,
indem wir hier umhergingen. Wir bemerk¬
ten unter andern, was man uns bereits in
dem Admiralitätswerfte zu Amsterdam gelehrt
hatte, daſs der Theer, der aus Steinkohlen
geschwehlt wird, allmälig an der Stelle des
aus dem Tannenharz bereiteten in Gebrauch
kommt, indem er vor diesem letztern wesent¬
liche Vorzüge hat. Von zwei Kriegesschif¬
fen, die man nach Ostindien geschickt hatte,
kam das mit Holztheer bestrichene von Wür
mern ganz zerfressen nach Holland zurück,
da hingegen das andere, welches man mit
Steinkohlentheer überzogen hatte, fast gar
nicht angegriffen war. England bereitet
gegenwärtig noch allein diesen Theer, und
[524] von dort aus wird er nach Holland aus¬
geführt.
Nach dem Essen machten wir einen lan¬
gen Spaziergang durch die Wiesen und Vieh¬
weiden an der Maas, und lagerten uns auf
dem üppig hervorgrünenden Klee an einem
Damme, um die Sonne im Strom sich spie¬
geln zu sehen. Seine ganze Oberfläche war
wie der Sternhimmel, nur unendlich dichter,
mit funkelnden und flimmernden Punkten be¬
säet, indem der leichte Wind die Oberfläche
des Wassers kräuselte und in jedem Ränd¬
chen, das sich erhob, ein Stral zurückgewor¬
fen ward. Dichter und dichter gesäet, ver¬
schränkten sich in Reihen und Glieder die
Funken, bis sie senkrecht unter der Sonne
zusammenflossen in ein Silbermeer von Licht,
das blendend vor uns lag. Die zarten Blü¬
then unseres Rasenbettes hielten wir über
uns in das Licht, gegen den Azur des Him¬
[525] mels; da schien uns ihr Rosenroth in das
unermeſsliche Blau hineingehaucht; von der
Sonne durchschimmert, schien ihr Wesen
von ätherischer Substanz; so rein und zart
sind die Farben und die Gewebe der Tau¬
sendkünstlerin Natur!
Auf diesen schönen Abend folgte ein trü¬
ber, neblichter Morgen. Wir lieſsen uns
über die Maas setzen, und fuhren in einem
offenen Wagen über die Insel Rosenburg an
den südlicheren Arm desselben Flusses, wo
wir nochmals übersetzen muſsten, um unsern
Einzug in die nette kleine Festung Briel zu
halten, den ersten festen Platz, den die Nie¬
derländer den Spaniern entrissen. Ein an¬
muthiger Weg von wenig mehr als zwei
Stunden, durch frische Saaten, fette Wiesen
und unabsehliche Felder von Ölrettig, führte
uns endlich hierher nach Helvoetsluis, wo
wir eine Anzahl der schönsten Holländischen
[526] Kriegesschiffe theils im Hafen vor Anker,
theils im Werfte abgetakelt liegen sahen.
Die niedrige Gewinnsucht, die sich hier den
Zeitpunkt zu Nutze macht, wo die Reisen¬
den, indem sie den guten Wind oder die
Abfertigung des Packetbootes abwarten müs¬
sen, ohne Rettung in ihren Krallen liegen,
scheint in der That das moralische Gefühl
der hiesigen Einwohner fast ganz erstickt zu
haben; indeſs sind es nicht die Einheimi¬
schen allein, sondern auch Ausländer, die
jene verächtliche Rolle spielen und ihre klei¬
ne Tyrannei ungeahndet an den Vorüberzie¬
henden ausüben. Wir sind von dem allge¬
meinen Loose der Reisenden an diesem Orte
nicht verschont geblieben; aber keine Miſs¬
handlung, die uns noch begegnen kann, wird
den guten Eindruck schwächen, den unsere
Reise durch Holland in unserm Gedächtnisse
zurückläſst. Das Bild einer freien und ar¬
[527] beitsamen, gesunden und wohlgekleideten,
genügsamen und reinlichen, gutgearteten und
durch Erziehung zu einer auf Grundsatz ru¬
henden Tugend gebildeten Nation — sei auch
mit ihrer Ruhe Gleichgültigkeit und Kälte,
mit ihrer Einfalt Einseitigkeit und Beschränkt¬
heit, mit ihrer Ämsigkeit kleinliche Liebe des
todten Eigenthumes zuweilen unvermeidlich
verbunden — bleibt uns dennoch ein erfreuli¬
ches, versöhnendes Exemplar der Menscheit,
das uns zumal für jenen scheuſslichen Anblick
belohnt, den die erschlaffte, zur herz- und
geisttödtenden Sklaverei unter dem Joche der
papistischen Hierarchie so tief herabgesun¬
kene menschliche Natur in Brabant, bei so
viel mehr versprechenden Anlagen, uns ge¬
währte.
Ende des zweiten Bandes.
[528]
Inhalt des zweiten Bandes.
XV.
Brüssel.
- Revolution aus Unwissenheit. Fanatismus. Nous ne
voulons pas être libres. Wirkungen des Verfol¬
gungsgeistes auf die Anlagen im Menschen. Kein
groſser Mann in Brabant. — Gleichgültigkeit und
dummer Widerstand der Niederländer gegen Jo¬
sephs Wiedereröffnung der Schelde. Vergängliches
Phänomen des Kunstsinnes. Phlegma. Mechani¬
sche Künste und Ackerbau. Prozeſssucht. Erwa¬
chen des Begrifs von den Rechten der Menschheit
bei den Rechtsgelehrten. Einfluſs der hierarchi¬
schen Seelentyrannei. S. 3
XVI.
Brüssel.
- Zustand der Belgier unter Pr. Karl von Lothringen.
Staatseinkünfte aus den Niederlanden. Josephs Er¬
sparnisse. Aufhebung des Barrierentraktats. Schelde-
und Tausch-Projekte. Über die Rechtmäſsigkeit
von Josephs Maaſsregeln. Wer auf Hofnung säen
dürfe. Miſsbrauch des Princips, das von Erhaltung
der Ruhe ausgeht. Usurpation des Adels und des
Klerus. Chimären der Gleichförmigkeit in Verfas¬
sung und Gesetzgebung, wie in der Religion. Ein¬
füh¬[529] führung des neuen politischen Systems und des
Generalseminariums. Kampf mit dem Aberglauben.
Ausbruch der Widersetzlichkeit während des Kaisers
Aufenthalt in Cherson. Nachgiebigkeit der Gene¬
ralgouverneurs. Widerrufung aller Neuerungen.
Rebellion der Geistlichkeit. Weigerung der Subsi¬
dien. Aufhebung der Joyeuse Entrée. Mönche
schieſsen auf die Truppen in Tirlemont. Vonks
patriotische Verbrüderung Emigranten in Hasselt
und Breda. Uneinigkeit zwischen d’Alton und
Trautmannsdorf. Einnahme von Gent. Waffen¬
stillstand von Leau. Unruhen in Brüssel. Die
vergebliche Milde des Ministers. Räumung der
Hauptstadt und Flucht der Kaiserlichen. Van der
Noots Triumph. Unabhängigkeitsakte der vereinig¬
ten Belgischen Staaten. S. 20
XVII.
Brüssel.
- Brabantische Broschüren. Vorgeschlagene Wiederein¬
setzung der Jesuiten. Der Abbé Ghesquière. Cha¬
rakterzüge der Brabanter. Einfluſs der Revolution
auf die Sitten. Phlegmatisches Temperament. Po¬
litik der Nachbarn. Kaiserliche Partei. Die Pa¬
triotische Gesellschaft und ihre Bittschrift an die
Stände. Erzwungene Gegenaddresse. Walkiers.
Mordbrennerei in Brüssel von den Söldnern der
Stände. Ihr Sieg über Walkiers. Aufhebung der
patriotischen Gesellschaft. S. 105
L l[530]
XVIII.
Brüssel.
- Bedaurenswerthe Lage des Brabantischen Volkes. Auf¬
wallung über den Brief des Generals van der
Mersch. Geschichte seiner Entwafnung. Schwan¬
kendes Betragen der Volkspartei. Aristokratische
Verblendung gegen Leopolds Anerbietungen. Zu¬
stand der Wissenschaften in Brüssel. Königliche
Bibliothek. Verfall der Manufakturen und des
Handels. Simons Wagenfabrik. Beschreibung des
Lustschlosses Schooneberg. Allgemeine Liebe des
Volkes für den Herzog Albert. S. 157
XIX.
Lille.
- Reise nach Enghien. Aufenthalt daselbst bei dem
Herzog von Aremberg. Ansicht des Hennegaus.
Demolition der Festungswerke von Tournai. Ver¬
ächtliche Miliz daselbst. Kamelottmäntel und
schwarze Kappen. Pont à Tressan; Französische
Gränze. Tumult in Lille. Die Stadt und umlie¬
gende Gegenden. S. 197
XX.
Antwerpen.
- Lebensdauer. Bleichen in Armentieres. Grands Flandrins.
Aussicht von Mont-Cassel. Dünkirchen. Dünen.
Schleichhandel. Wachholderbranntwein- und Salzsie¬
dereien. Portal der Pfarrkirche. Ansicht des Hafens
und des Meeres. Karrikatur eines Theaters. Fahrt
[531] auf der Barke nach Fürnen, Nieuport und Ostende.
Digression über das Völkerrecht und die geschlossene
Schelde. Brügge. Die Barke von Gent. Geographi¬
sche Kenntnisse eines Franzosen. Gent. Standbild
Karls des Fünften. Der Brand und Kindermord vom
14. und 15. November 1789. Verfassung der Provinz
Flandern. Charakter der Flamänder und Flamände¬
rinnen. Gemälde zu St. Bavo. Reise durch Locke¬
ren und St. Niklaas nach Antwerpen. Erste Erblik¬
kung dieser Stadt. S. 219
XXI.
Antwerpen.
- Schätze der Niederländischen Kunst. Über die Mechanik
der Malerei. Gränzen der Koloristen. Sammlungen der
Herren Huybrechts und van Lancker. Angeblicher
Correggio. Seestücke. Architekturstücke. Metsü
und Miris. Landschaftmalerei. Bataillenstücke. Bau¬
rengelage. Le chapeau de paille und zwei andere
Porträte von Rubens, bey Herrn van Haveren. Samm¬
lung des Herrn Lambrechts. Leda von Tizian. Prä¬
monstratenserabtei. Van Dyks Taufe Christi. Peter
Faes, jetztlebender Blumenmaler. ungeheu¬
re Gemälde. Augustiner- und St. Jakobskirche. Ka¬
thedralkirche. Himmelfahrt Mariä von Rubens, und
dessen Abnahme vom Kreuz. S. 295
XXII.
Antwerpen.
- Andächtelei und Stumpfsinn. Frugalität aus Geiz. Prie¬
L l 2[532] sterintriguen und Priestereigennutz. Einnahme der
Citadelle von Antwerpen. Allgemeines Sittenverderb¬
niſs in Brabant. Abschied von den Östreichischen
Niederlanden. S. 346
XXIII.
Haag.
- Abfahrt von Antwerpen. Ankunft im Holländischen Ge¬
biete. Moerdyk. Hollands Diep. Johann Wilhelm
Friso. Das Dorf Stryen. Holländische Sauberkeit.
Kattendrecht. Hospitalität und Sitteneinfalt. Ein
Frühlingsmorgen an der Maas. Aussicht von Rotter¬
dam. Verfall des Holländischen Handels. Schiedam
und sein Wachholderbranntwein. Fayencefabrik und
Denkmäler in Delft. Ankunft im Haag. Spazier¬
gang nach Scheveningen S. 362
XXIV.
Haag.
- Schöne Lage des Ortes. Gemischte Einwohner. Zahl¬
reiches Militair. Späte Essensstunde. Mäſsigkeit.
Tabakspfeife. Kleidungsanzeichnungen. Guter Ton
im Haag. Hemsterhuis, Camper und Lyonnet. Cam¬
pers, Lyonnets, Gallizius, Voets und des Erbstatt¬
halters Naturalienkabinette S[.] 388
XXV.
Amsterdam.
- Werfte der Admiralität. Die Fregatte Triton läuft vom
Stapel. Holländischer Nationalcharkter. Wirkung
und Gegenwirkung des Handels und der Schiffahrt
[533] und der darauf angewendeten Geisteskräfte. Spa¬
ziergang in der Stadt. Das Rathhaus. Die Hollän¬
dische Bühne. Physiognostisches Urtheil über die
Holländer. Etwas von der hiesigen dramatischen
Kunst. Sitten im Parterre. — Reise auf der Bürger¬
meistersjacht vom Haag nach Harlem, und von da
nach Amsterdam S. 419
XXVI.
Amsterdam.
- Wanderung der klimatischen Üppigkeit aus Indien nach
Europa. Entstehung des Luxus in Freistaaten. Ver¬
schiedenheit des nordischen und des Französischen
Charakters. Ungelenkigkeit der Holländer bei Fran¬
zösischen Sitten und Moden. Französische Bühne in
Amsterdam. Porträt einer Nordholländerin. Sardam
und Broek. Peter der Groſse. Aufklärung und
Läuterung des Geschmackes in Amsterdam. Das
Athenäum und dessen jetzige Lehrer. Mühsame Be¬
schäftigung der Ärzte. Felix meritis. Patrioten.
Holländische Orthodoxie. Symptome der Unreifheit
für Aufklärung im Volke, durch ganz Europa. Re¬
gentenklugheit. Unausbleibliche Gährung. Pflicht
der menschenfreundlichen Regenten. Rachsucht der
in Holland obsiegenden Partei. Charakteristische
Empfindlichkeit S. 447
XXVII.
Helvoetsluis.
- Abreise von Amsterdam. Regel für Reisende. Henry
Hope’s Landsitz und Gemäldegalerie bei Harlem. —
[534] Landschaften von Poussin und von Rubens. Susan¬
na von Dominichino. Guido’s Kleopatra und seine
Magdalena. Venus von Carlo Maratti. Lukrezie
von Tizian. Caracci’s Johannes; dessen Herkules
und Kakus. Perin del Vagas heilige Familie. Claude
le Lorrain. Venus und Adonis, von Trevisano und
von Paul Veronese. Latet an guis in herba,
von Sir Joſhua Reynolds. — Harlemer Blumenflor.
Kosters Druckproben. Teylers Institut. Willkühr¬
liche Anwendung des Fonds der Universität Leiden.
Naturalienkabinet der Harlemer Societät der Wissen¬
schaften. Keessen. Sehenswürdigkeiten in Lei¬
den. Professoren. Herr und Madame M—. Men¬
noniten. Metamorphose des Fanatismus. Reinlich¬
keit der Stadt Leiden. Verfall der Universitätsge¬
bäude und öffentlichen Institute. Spaziergang um
die Stadt. Abreise von Leiden. Schöner Morgen.
Skizze zum Porträt eines Holländischen Schiffers.
Maassluis. Theer von Steinkohlen. Naturschönheit.
Reise über Briel nach Helvoet. Gewinnsucht der
Einwohner von Helvoet. Erinnerung an Holland und
Bild seiner Bewohner. S. 488
Appendix A
Gedruckt bei Johann Friedrich Unger.
funfzehntausend Gulden nebst zehntausend Gulden
Tafelgeldern zugestanden.
circinalis, Yucca filamentosa, Dracaena Draco, Phyllis
Nobla, Gardenia Thunbergia, Gerbera Manghas, Au¬
cuba japonica, Myrtus pimentosa et Pimenta (latifolia),
Taxus elongata, Ficus racemosa, Mesembryanthemum
Aitonis, Plumbago undulata, Illicium anisatum, Elate
sylvestris, Chamaerops humilis, Tamari [...]dus indica, Fi¬
cus benghalensis, Melia Azedarach, Cassia occidentalis,
Jatropha urens et Manihot, Sterculia platanifolia, Ale¬
tris uvaria et hyacinthoides, Camellia japonica, Ilex
asiatica, Achras Sapota, Arum pictum, Columnea
ſcandens, Agave foetida, Crescentia Cujete, Carica Pa¬
paya, Polypodium aureum et lusitanicum. — Im heiſse¬
sten Treibhause: Mimosa nilotica, glauca, farnesiana,
Hura crepitans, Bixa orellana, Ficus indica, maxima,
religiosa, lucida, pumila et malabarica, Passiflora mali¬
formis, quadrangularis, et suberosa, Erythrina Corallo¬
dendron, Cassia Fistula, Annona muricata et squamosa,
Hibiscus Rosa sinensis, Dracaena terminalis, ferrea et
Störkia, Costus arabicus, Phyllanthus Epiphyllanthus,
cifolium, Tradescantia discolor, Guaiacum officinale,
Cestrum nocturnum et vespertinum, Plumeria alba,
Ehretia tinifolia, Bignonia scandens, Nyctanthes Sam¬
bac, Juglans baccata, Duranta Ellisia, Heliocarpus
americana, Portlandia hexandra, Plumbago rosea, Trol¬
lius asiaticus, Malpighia glabra, Spigelia marilandica,
Psidium pyriferum, Callicarpa americana, Grewia ame¬
ricana, Laurus Borbonia, Murraya exotica, Petiveria
alliacea, Vinca rosea, Justicia hyssopifolia, Asclepias
nivea et fruticosa, Calophyllum Calaba, Thea viridis
et Bohea, Alströmeria peregrina, Geranium laevigatum,
Senecio populifolios, Iberis gibraltaria, Arum segui¬
num, Olea fragrans, Atragene indica, Lycium japo¬
nicum, Crinum americanum et zeylanicum, Pancra¬
tium amboinense et caribaeum, Amaryllis Belladonna,
aurea, radicans, regina, crispa et vittata, Lychnis coc¬
cinea, Abrus precatorius, Smilax Sarsaparilla, Colum¬
nea humilis, Nerium gardenifolium.
Ich habe vor mir das Bulletin officiel van
wege het Comité-Generael aengesteld
binnen de stad Gant, unterzeichnet G. B. Schel¬
lekens, Greffier van het Comité-Generael
der Nederlanden, d. 25. November 1789. 15
S. in Oktav, welches über die verschiedenen Vorgänge
bei der Einnahme von Gent und der Vertreibung der
Kaise lichen einen umständlichen Bericht abstattet.
Anhang zu Laokoon S. 380 aufwirft, vorläufig be¬
antwortet und Richardsons Hofnung, daſs Ra¬
phael übertroffen werden könne, vereitelt.
Kunstliebhaber kennen den chapeau de paille
von Rubens; es bedarf aber kaum des Erinnerns,
daſs auf dergleichen zunftgerechte Benennungen hier
weiter keine Rücksicht genommen wird.
Hierzu kam noch seit 1790 die Überschwemmung bei
Rotterdam, und der Brand der Admiralitätsmagazine
zu Amsterdam, imgleichen die Gefahr der Ostindischen
Kompagnie und die Ernennung zweier fürstlichen
Kommissarien nach Batavia.
Er ist kurz nach unserer Abreise gestorben.
türlichen Unterschied der Gesichtszüge in
Menschen verschiedener Gegenden und
verschiedenen Alters; über das Schöne
antiker Bildsäulen und geschnittener Stei¬
ne; nebst Darstellung einer neuen Art,
allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit
zu zeichnen. Nach des Verfassers Tode
herausgegeben von seinem Sohne, Adrian
Gilles Camper. Übersetzet von S. Th. Söm¬
merring. Mit zehn Kupfertafeln. 4. Ber¬
lin, 1792.
brannte im Jahr 1791 ab, wodurch dem Staat ein Ver¬
lust von etlichen Millionen verursacht worden ist.
Die Einwohner der Insel Kattenburg, worauf die Ad¬
miralitätswerfte liegen, sind mehrentheils Arbeiter in
denselben.
nehmens vereinigte und womit sie auf das Glück an¬
ren, ist zugleich der Name des Instituts geworden.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790. Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjb4.0