[]
Sammlung
Critiſcher, Poetiſcher,
und anderer geiſtvollen
Schriften,

Zur Verbeſſerung
des Urtheiles und des Witzes
in den Wercken
der Wohlredenheit und der Poeſie.
Eilfftes Stuͤck.


Zuͤrich: ,

Bey Conrad Orell und Comp.1743.
[][[1]]

Zwey
Schreiben

an die
Deutſche Geſellſchaft
von Greifswalde
verſchiedene Critiſche Streite betreffend,
die zu unſerer Zeit die deutſchen
Kunſtrichter beunruhigen:
Das Erſte
Von Hr. Prof. Gottſcheden
Das Andere
Von Petermann von Langnau.


[[2]][3]

DAmit ich einigen beſorglichen Mißdeu-
tungen vorbiege, welche bey Gelegen-
heit dieſer beyden Schreiben gemachet
werden moͤgten, muß ich einen kurtzen Vor-
bericht vorhergehen laſſen. Das erſte von
denſelben laſſe ich zwar den beruͤhmten Mann
verantworten, unter deſſen Nahmen und Per-
ſon es geſtellt iſt; ich habe dabey nichts wei-
ter gethan, als daß ich ſeine Gedancken und
Empfindungen ins Schweitzeriſche uͤberſetzet,
ſo, wie ich ſie in dem Jnnerſten ſeines Cha-
racters und Gemuͤths geleſen habe, und ich
habe ſie ſo wahrſcheinlich, und ſo glaubwir-
dig gemachet, daß ihnen zur wuͤrcklichen Wahr-
heit weiter nichts fehlet, als das Geſtaͤndniß
des Hr. Gottſcheds. Jn Anſehung des an-
dern Schreibens aber, vor welches ich mei-
nen eigenen Nahmen geſetzet habe, halte ich
vor noͤhtig mich ausdruͤcklich zu erklaͤren, daß
ich, ob ich gleich den Titel meines Schrei-
bens an die gantze Geſellſchaft von Greifswal-
de gerichtet habe, in welcher dieſe Monaths-
ſchrift entſprungen iſt; dennoch wohl erkenne,
daß in derſelben geſchickte Mitglieder ſind,
welche an den Verſehungen, von denen ich re-
A 2de,
[4] de, keinen Antheil haben koͤnnen. Verſchie-
dene verſtaͤndigere und gruͤndlichere Artickel ge-
ben wir genugſam zu erkennen, daß ſie von
Maͤnnern verfertiget worden, welche gruͤnd-
liche Einſichten und aufrichtige Abſichten mit
ſich zu ihrer Arbeit gebracht haben. Und
vermuthlich wird aus Antrieb derſelben die
Bedingung in den Vorbericht eingefloſſen
ſeyn, daß die hier und dar bemerckten Fehler
nicht auf die gemeine Rechnung derer, die an
dieſer Monathsſchrift arbeiten, geſchrieben,
noch weniger der gantzen Geſellſchaft zur Laſt
geleget werden. Sie haben daran vorſichtig
gehandelt, und es iſt billig daß man ihnen
Recht wiederfahren laſſe. Jch mache dem-
nach eine Ausnahme von ihnen, und bin es
gar wohl zufrieden, daß ſie meine Anklage
von ſich und der gantzen Geſellſchaft abwel-
zen, und weiter auf denjenigen einzeln Mann,
oder die wenigen Perſonen ſchieben, welchen
ſie eigentlich zukommen. Jch kenne dieſe nicht,
ſonſt haͤtte ich das Schreiben geradezu an ſie
geſtellt; aber die Geſellſchaft wird ſie ſchon
kennen, und zur Verantwortung derer Feh-
ler, die ſie nicht auf ihre eigene Rechnung
nehmen will, anzuhalten wiſſen. Alſo ſteht
es in der Gewalt der Geſellſchaft zu verhuͤten,
daß die Unſchuldigen mit den Schuldigen nicht
vermiſchet werden.


Jn-
[5]

Jndeſſen habe ich mich dieſes mahl noch hin-
terhalten meine Antungen uͤber einen oder zween
Artickel im V. St. zu machen, weil ich ſehe,
daß man es in denſelben ſo arg gemacht hat,
daß es ſchwer faͤllt, diejenigen von aller Schuld
looszuſagen, welche zwar davon eigentlich nicht
Verfaſſer ſind, jedoch ſich uͤberhaupt zur Auf-
ſicht uͤber das gantze Werck anheiſchig ge-
macht haben. Dieſes hat die gantze Geſell-
ſchaft in dem Vorberichte gethan, und zu we-
nigerm hat man ſich in einem geſellſchaftlichen
Wercke nicht verbindlich machen koͤnnen.


Vielleicht hindert meine Erklaͤrung nicht,
daß diejenigen aus der Geſellſchaft, auf wel-
che meine Beſchuldigungen fallen, mich nicht
zu dem Gelehrten zehlen, von welchem man
in dem Vorberichte ſagt, er glaube, daß man
in critiſchen Schriften aufhoͤren muͤſſe hoͤflich
zu ſeyn. Jch glaube dieſes nicht, aber ich
meyne doch, daß man ohne Verletzung der
Hoͤflichkeit unwiſſende und hochmuͤthige Scri-
benten die ſchwere Hand der critiſchen Straffe
gerechtigkeit empfinden laſſen duͤrfe.


A 3Hrn.
[6]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben

Hrn. Johann Chriſtoph Gottſcheds
Schreiben an die deutſche Geſellſchaft
von Greifswalde.


Werthe Herꝛen und Freunde.

JCh bin eurer Geſellſchaft ſeit euerm Ur-
ſprunge gewogen geweſen, und habe
euer bey Gelegenheiten ſchriftlich und
muͤndlich mit allem Ruhme gedacht, weil
ich mir von euern Bemuͤhungen nicht bloß zum
Aufnehmen der geſunden Critick und der Sprache
uͤberhaupt, ſondern insbeſondere meiner Critick
und Sprache viel gutes verſprochen. Denn Mein
Vertrauen zu euch blieb nicht dabey ſtehen, daß
ihr dem Geſchmack aufzuhelffen befliſſen ſeyn
wuͤrdet, ſondern erfuͤllete mich mit der Hoffnung,
daß ihr meinen Geſchmack als meine Nachfolger
annehmen und ausbreiten wuͤrdet, ſo wie ich ihn
in meiner Dichtkunſt fuͤr die Deutſchen, und
folglich fuͤr euch, in meiner Redekunſt, und meinen
Beytraͤgen nach ſeinem unbeſtimmten und will-
kuͤrlichen, jedoch allemahl unbetruͤglichen Vermoͤ-
gen zur Nachfolge angeprieſen habe. Mir war
deſto mehr daran gelegen daß ihr ohne eigenſinnige
Ausnahmen meinen Meynungen beyfielet, und
euch offentlich zu meinem Anhange ſchluͤget, weil
in hac temporum injuria nur allzu viele freche
Juͤnglinge ſich hier und dar die Freyheit anmaſſen,
von meinen Vorſchrifften abzuweichen, und den
Fein-
[7]an die d. Geſ. von Greifswalde.
Feinden ein mehrers einzurauͤmen, als mit mei-
nem Anſehen beſtehen kan. Allein ich muß ſchier
glauben, daß ich mich ſelbſt in meinem zu ſichern
Zutrauen auf eure Gefaͤlligkeit betrogen habe. Ei-
ne Menge unbedachter und uͤbereilter Reden und
Anmerckungen in eurer Monathsſchrift macht mich
hierinn furchtſam und argwoͤhniſch, ungeachtet ich
mich gegen alle boͤſe Gedancken, die ſie mir erwe-
ken, aus allen Kraͤfften ſperre und ſtraͤube, und
mich zu bereden trachte, daß es vielmehr Unacht-
ſamkeit und Unvorſichtigkeit, als boͤſer Wille
und Eigenſinnigkeit ſey. Da ich euch nun noch
nicht fuͤr Ueberlauͤffer zu meinen Feinden halten
will, ſo gedencke ich euch die Sachen, die mir in
eurer Monathsſchrift ſo bedencklich und nachtheilig
vorkommen, mit aller Freundlichkeit und Geduld
vorzuſtellen, in der Hoffnung, daß ihr ſelber be-
greiffen werdet, wie groſſen Abbruch dergleichen
Verfahren einer ſo beruͤhmten Geſellſchaft, wie
die eurige in kurtzer Zeit werden wird, meinem
Anſehen, meiner Herrſchaft und meinem Ruh-
me nothwendig bey nachſinnenden und freyen Ge-
muͤthern thun muͤſſe.


I. Jhr bekennet zwar, daß die Nachricht und
Abhandlung von meiner Dichtkunſt (wie ihr
ſie ſchlechtweg nennet) in der Abſicht dieſes Buch
unſern Landesleuten erſt noch bekannt zu machen,
gantz unnoͤthig waͤre: Jhr nennet es ein vortreff-
liches,
ein ſchaͤtzbares Werck: Aber, wenn
dieſes Bekaͤnntniß aufrichtig und von Hertzen ge-
meinet iſt, was war es denn noͤthig den Werth
A 4die-
[8]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
dieſes Wercks erſt noch ſo muͤhſam zu beweiſen?
Ein Beweis laͤßt ja allemahl vermuthen, daß die
Sache nicht voͤllig unſtreitig und auſſer Zweifel ſey,
und dergleichen Verdacht iſt zuweilen von groͤſſerer
Kraft, als der Beweis, womit man ihn heben
will. Laſſe man die Leute in ihrem Wahn im-
merhin ungeſtoͤrt, ſonſt duͤrfte man einen eben ſo
ſchlechten Danck davon tragen, als jene beym
Horatz, die ſich alle Muͤhe gegeben, den gluͤckſeli-
gen Wahnwitzigen zu curieren, dafuͤr aber ſtatt
des erwarteten Dancks hoͤren muͤſſen:


‒ ‒ ‒ Pol me oecidiſtis amici,

Non ſervaſtis, ait, cui ſic extorta voluptas,

Et demtus per vim mentis gratiſſimus error!

Das weit ſchlimmere dabey iſt wohl dieſes, daß
die Art euers Beweiſes die Schaͤtzbarkeit meines
Buchs, im Grunde gantz verdaͤchtig und zweifel-
haft machet, in waͤhrender zeit, daß ihr ſelbige
zu verfechten und anzupreiſen vermeinet: Jhr neh-
met euern Erweis her von dem ſtarcken Abgang und
allgemeinen Beyfall, den mein Buch in einer Zeit
von wenig Jahren in gantz Deutſchland gefunden:
Allein ihr gebet ja in dem I. St. eurer Beytraͤge
Bl. 6. ſelbſt mit duͤrren Worten zu verſtehen, daß
der allgemeine Beyfall, den eine Sache erhaͤlt,
die wuͤrckliche Guͤte derſelben nicht unwieder-
ſprechlich ausmache.
Und es kan euch nicht ver-
borgen ſeyn, wie wenig meine tadelſuͤchtigen
Schweitzeriſchen Gegner aus dieſem Grund, auf
den ich ehedem in meinen Vorreden auch ſelbſt ge-
trotzet hatte, gehen laſſen, und wie ſie ſich hier
und
[9]an die d. Geſ. von Greifswalde.
und dar in ihren Spottſchriften etwas rechts darauf
zu gute thun: So daß nicht ohne Grund zu beſor-
gen iſt, ſie werden noch behaupten duͤrffen, es
ſey nicht unmoͤglich, daß ein Buch viel geleſen
werde, und doch noch unbekannt ſey: Nachdem
ſie ſich unterſtanden haben zu behaupten, daß oͤf-
ters das ſchlechteſte Buch von der Welt den ſtaͤrcke-
ſten Abgang und einen allgemeinen Beyfall erhal-
ten koͤnne. Und was werden dann eure ſonſt
freygebige Verſprechungen von dem eben ſo gefaͤl-
ligen Urtheil der kuͤnftigen Zeiten fuͤr ein Anſehen
behalten?


II. Was war es nothwendig die zwo erſten
Auflagen meiner Critiſchen Dichtkunſt, deren Ge-
daͤchtniß ich nur uͤberhaupt und der Zahl nach zu er-
halten ſuche, aus der Vergeſſenheit, in die ich
ſie durch die wichtigen Veraͤnderungen und Ver-
beſſerungen der dritten Herausgabe geſtuͤrtzt zu ha-
ben verhoffete, wieder hervorzuziehen, und ihre
Maͤngel in Vergleichung mit der Vollkommenheit
dieſer letztern aller Welt zu offenbaren. Jch hat-
te mich verſichert, es koͤnnte keinem meiner Schuͤ-
ler und Verehrer verborgen ſeyn, daß ich es mit
meinen Schriften lediglich wollte gehalten wiſſen,
wie mit einem Teſtament, da allezeit das ſpaͤtere
die vorhergehenden aufhebet, und alleine rechts-
guͤltig bleibet. Und was vor Abſichten kan man
wohl demjenigen zutrauen, der ein veraltetes und
an dem Rechten unguͤltiges Teſtament wieder aus
dem Staube hervorziehet, anders, als daß er
mit Fleiß den Neid derjenigen, die ſich durch die
neue teſtamentliche Verordnung verkuͤrtzt zu ſeyn
A 5glau-
[10]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
glauben, habe rege machen und ohne Noth und
Beruff Streit erwecken wollen? So habe ich in
meinen erſten Schriften meine Gnaden und Lob-
ſpruͤche nach meiner freyen Willkuhr ausgetheilet:
Nach eben dieſer Freyheit habe ich in der neuen
Herausgabe meiner Critiſchen Dichtkunſt die Nah-
men und das Andencken einer Neuberin, der
Schweitzeriſchen Mahler, Hrn. Koͤnigs, Hrn.
Bodmers
und anderer, weil ſie ſich meiner vo-
rigen Huld unwuͤrdig gemachet, gaͤntzlich aus-
geloͤſchet, in der Meynung, daß hinfuͤr des in
meinen vorigen Schriften aus allzuguthertziger Ue-
bereilung ihnen verſchwendeten Lobs nicht mehr ſolle
gedacht werden. Dieſe meine Abſicht war auch
fuͤr alle diejenigen, die es mit meinem Ruhm treu-
lich und recht von Hertzen gut meynen, unſchwer
zu errathen. Wenn ich demnach noch am billig-
ſten und gelindeſten von eurem Vorſatz urtheilen
ſoll, nach welchem ihr die drey Ausgaben meiner
Critiſchen Dichtkunſt in eine Vergleichung zu zie-
hen unternommen habet, ſo muß ich es einer nach-
laͤſſigen Unbedachtſamkeit zuſchreiben, daß ihr euch
nicht habet vorſtellen koͤnnen, daß die Ausfuͤhrung
eines ſolchen Vorſatzes nothwendig den Neid und
die Eiferſucht der an ihrem Ruhme gekraͤnckten
Perſonen gegen mich zur Rache aufhetzen werde:
Denn dadurch ſetzet ihr mich in die verdrießliche
Nothwendigkeit, daß ich mich entweder einer ſtrafe
baren Uebereilung in meinen erſtern freygebigen Lo-
beserhebungen, oder eines boßhaften Neides in
Zuruͤckziehung derſelben ſchuldig geben muß: We-
nigſtens machet ihr mein Lob und Tadel einer ver-
haßten
[11]an die d. Geſ. von Greifswalde.
haßten Partheylichkeit bey aller Welt verdaͤchtig,
und raubet meinem Urtheil von andern den erworbe-
nen Schein und Credit der Critiſchen Gerechtigkeit.


III. Wie nachlaͤſſig fuͤhret ihr nicht meine Sa-
che, da ihr ſo kahl daherſaget: „Jhm iſt wie-
„derſprochen worden, und er hat ſich bisweilen
„verantwortet.„
Es weiß ja jedermann, daß
ſich verantworten und ſich rechtfertigen zwey-
erley iſt: Und wird nicht die Einſchraͤnckung durch
das Zeitwoͤrtgen bisweilen den billigen Verdacht
erwecken, als ob es mir an dem Vermoͤgen ge-
fehlet haͤtte, mich uͤberall und in allen Stuͤcken zu
verantworten? Jſt denn ein Schriftverfaſſer, zu-
mahl wenn er ſeine Zeit nuͤtzlicher zu gebrauchen
weiß, eben nothwendig verbunden, ſich gegen alle
wiedrigen Urtheile von ſeinen Schriften zu verthei-
digen, oder, kan man aus der Unterlaſſung deſ-
ſelben untruͤglich ſchlieſſen, daß ſolches aus Unver-
moͤgen geſchehen ſey? Habe ich nicht hier und dar
ausdruͤcklich bezeuget, daß ich weder Luſt noch Zeit
habe, mich mit meinen Tadlern einzulaſſen.


IV. Es iſt freylich an dem, daß ich bey der
letzten Ausgabe meiner Critiſchen Dichtkunſt die
Worte: fuͤr die Deutſchen; auf dem Titelblatt
mit gutem Bedacht ausgeſtrichen habe, um da-
durch den Schweitzern den ſpoͤttiſchen Fuͤrwurff
abzuſchneiden, als ob die meinige nicht eine allge-
meine, ſondern eine nur allein fuͤr die Deutſchen
eingerichtete Dichtkunſt ſey: Was hat euch aber
gedrungen meine geheimen Abſichten bey dieſer Ver-
aͤnderung, die ich mit Fleiß verborgen halten woll-
te, offentlich zu verrathen, und den ſchimpflichen
Fuͤr-
[12]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
Fuͤrwurff der Schweitzer, der meiner Dichtkunſt
zur Verkleinerung gereichet, wiederum aufzuwaͤr-
men und zu erneuern. Jhr moͤget wohl nicht be-
dacht haben, daß ihr dadurch zum Geſpoͤtte neuen
Anlaß gebet, dem ich durch die liſtige Veraͤnde-
rung des Titels voͤllig vorgebogen zu haben ver-
meint hatte. Die Schweitzer werden ſagen: Der
Leipzigiſche Verfaſſer hat den Gebrauch ſeines
Buchs ſelbſt eingeſchraͤncket, da er auf dem Ti-
telblatt der zwo erſten Ausgaben ausdruͤcklich geſe-
zet hat: Verſuch einer Critiſchen Dichtkunſt
fuͤr die Deutſchen.
Nun kan er ja nicht gemeint
haben, daß ſein Buch darum fuͤr die Deutſchen
ſey, weil es in deutſcher Sprache geſchrieben, und
von niemandem, der dieſe Sprache nicht verſte-
het, koͤnne geleſen werden; denn ſo waͤre dieſer
Zuſatz bey ſeinen meiſten uͤbrigen Schriften eben
ſo noͤthig geweſen; da haͤtte er mit gleichem Grund
ſchreiben ſollen, Gottſcheds Redekunſt fuͤr die
Deutſchen, Gottſcheds Weltweißheit fuͤr die
Deutſchen, Baylens Woͤrterbuch fuͤr die Deut-
ſchen ꝛc. ꝛc.
Da ſich nun dieſe Einſchraͤnckung
nicht auf die Sprache, in welcher das Buch ge-
ſchrieben iſt, beziehen kan, ſo muß ſie ſich noth-
wendig auf die Sachen beziehen, die darinnen ab-
gehandelt werden: Es muͤſſen hiemit nach des Ver-
faſſers eigenem Geſtaͤndniß uͤberhaupt ſolche Sa-
chen darinnen abgehandelt werden, die fuͤr die
Deutſchen alleine brauchbar ſind, und die kein an-
derer, wenn ihn gleich die Sprache nicht hinder-
te, brauchen koͤnnte. Jſt nun aber dieſes Buch
in den zwo erſten Ausgaben allein fuͤr die Deut-
ſchen
[13]an die d. Geſ. von Greifswalde.
ſchen gewiedmet und brauchbar geweſen, ſo kan
die neue Ausgabe, die dem Weſen nach und uͤ-
berhaupt von den beyden erſtern nicht unterſchie-
den iſt, in ihrem Gebrauche nicht allgemeiner ſeyn,
wenn gleich die Worte: fuͤr die Deutſchen; auf
dem Titelblatte gaͤntzlich ausgelaſſen worden, denn
die Veraͤnderung des Titels veraͤndert darum das
Weſen der Sache nicht. Sie werden darum auch
das Ausloͤſchen dieſer Einſchraͤnckung auf dem Ti-
telblatt der dritten Ausgabe als eine Rechtfertigung
ihres gefuͤhrten Tadels und als ein Bekenntniß
aufnehmen, daß ich dieſen Zuſatz: fuͤr die Deut-
ſchen;
ehedem ohne Bedacht und Verſtand hin-
geſchrieben, und dieſen Fehler in 14. Jahren nicht
eher erkennt habe, als bis ſie mir ſelbigen vorge-
ruͤcket haben. Durch dieſe und dergleichen Gedan-
ken, die ich durch die ſtille Veraͤnderung gaͤntz-
lich zu unterdruͤcken bedacht geweſen; ihr aber durch
eure unzeitige Antung ohne Noth veranlaſſet, ma-
chet ihr noch ſelbſt die beygefuͤgte pathetiſche Be-
ſtraffung uͤber die ſatyriſchen Spoͤttereyen und un-
reinen Abſichten der Schweitzer gantz unkraͤftig
und abgeſchmackt.


V. Was fuͤr ein Geiſt hat euch doch eingegeben,
die fuͤr mein gegenwaͤrtiges Anſehen allzu nieder-
traͤchtige Vorrede, die ſich bey der erſten Ausga-
be meiner Critiſchen Dichtkunſt findet, aus dem
Staube der Vergeſſenheit wieder hervorzuziehen,
und ſo gar ihrem Jnnhalt nach zu wiederholen?
Jhr nennet ſie unter allen dreyen die merckwuͤr-
digſte:
Und ich habe ſie unter allen dreyen allein
fuͤr verwerfflich gehalten, und darum in der letz-
ten
[14]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
ten Ausgabe derſelben allein keinen Platz goͤnnen
wollen, da ich die von der zweyten Ausgabe un-
veraͤndert beybehalten habe. Man muß ſich ſelbſt
bereden koͤnnen, daß ich ohne zureichenden Grund
nur ſo in den Tag hinein wehle und verwerffe, wenn
man nicht mercken kan, daß ich durch die Ver-
werffung dieſer meiner erſten Vorrede zu der Dicht-
kunſt, ſelbige zu einer ewigen Vergeſſenheit ver-
dammt wiſſen wolle. Wenn ſonſt kein anderer
Grund waͤre, der ſie in meinen Augen verwerff-
lich machen koͤnnte, ſo waͤren es die mir ſeit A.
1740. ſo verhaßten Nahmen der Zuͤrichiſchen
Mahler,
Hrn. Prof. Bodmers, und des Hrn.
Geh. Secr. Koͤnigs, die dieſe Vorrede noch ſo
gar als meine Lehrmeiſter und Anfuͤhrer zu Criti-
ſchen Unterſuchungen und zu dem guten Geſchmack
in der Poeſie, ja als ſo viel Wetzſteine meiner
Floͤte
unverſchaͤmter Weiſe angeben darf. Wie
wuͤrde es zuſammenſtimmen, wenn ich dieſe Nah-
men durch eine neue Auflage dieſer Vorrede haͤtte
zu verewigen geſucht, da ich dieſelben aus meinem
gantzen Wercke, als meines fernern Schutzes un-
wuͤrdig, gaͤntzlich ausgetilget habe? Jch wieder-
ruffe demnach hiermit offentlich, was ich zu Gun-
ſten dieſer drey Nahmen jemahls wiſſendlich oder
unwiſſendlich geredt oder geſchrieben habe, oder
was andere aus meinen erſten Schriften, die vor
A. 1740. ans Liecht getreten ſind, zum Ruhme
derſelben jetzt oder ins Kuͤnſtige anfuͤhren moͤchten.


VI. Was die Vertheidigung der Critick in die-
ſer verworffenen Vorrede anſiehet, ſo ſetzet ihr
mich ohne Noth und aus bloſſem Mißverſtande mit
Hrn.
[15]an die d. Geſ. von Greifswalde.
Hrn. Bodmer in einen Widerſpruch. Hrn. Bod-
mers Antung faͤllt nicht ſo faſt auf die bloͤde Art
und Gefaͤlligkeit, womit ich die Benennung mei-
ner Critiſchen Dichtkunſt entſchuldiget habe, als
vielmehr auf diejenigen von meinen deutſchen Le-
ſern, deren falſche Begriffe und wiedrige Vor-
ſtellungen von dem Nahmen der Critick meine Ent-
ſchuldigung noͤthig gemachet haben.


VII. Was ferner den Auszug von meinem
Poetiſchen Lebenslauff anlanget, ſo begleitet ihr
denſelben mit einer ſo zweydeutigen Anmerckung,
die der Schweitzeriſche Spottgeiſt Conrector Er-
lenbach
nicht ſchimpflicher fuͤr mich haͤtte erden-
ken koͤnnen, bey dem unbaͤndigen Vorſatz, den
er hat, mich uͤberall laͤcherlich und verdaͤchtig zu
machen. Jhr ſaget: „Hr. Gottſched hat uns
„das vollkommene Bild eines Kunſtrichters in ſei-
„ner Perſon ſelbſt gegeben; und alſo duͤrffen wir
„nicht zweifeln, daß es ſeinem Urbilde aͤhnlich ſey.„
Giebt denn das Zeugniß von ſeinem eigenen Lob
und Geſchicklichkeit einer Erzehlung einen Anſtrich
der Glaubwuͤrdigkeit? Oder wem hat man jemahls
ſeine Worte anders als eine Spottrede aufgenom-
men, wenn er ſich von einem andern ungefehr alſo
ausgedruͤckt hat: Sēmpronius iſt ein Grundge-
lehrter Mann; es muß wahr ſeyn: Denn er hat
es ſelbs geſagt? Und wohin muß es wohl abgeſe-
hen ſeyn, wenn ihr die ſpoͤttiſche Anmerckung der
Hrn. Schweitzer ohne Antung, ja faſt mit Bey-
fall anfuͤhret, da ſie vorgeben duͤrffen, die groſ-
ſen Kunſtrichter wuͤrden die Gedancken, die ich
ihnen abgeborget, nicht mehr fuͤr die ihrigen er-
ken-
[16]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
kennen, ſo ſehr ſeyn ſie von mir uͤbel gefaſſet und
verderbt worden.


VIII. Wenn ihr in eurem Urtheil von meiner
Ueberſetzung von Horatzens Dichtkunſt mir zuerſt
einen ruͤhmlichen Fleiß, den ich in dreymaliger
Ausbeſſerung derſelben gluͤcklich angewandt habe,
zugeſtehet: Bald hernach aber mich einer ſtrafba-
ren Nachlaͤſſigkeit und die Ueberſetzung ſelbſt hier
und dar matter und undeutlicher Ausdruͤcke, die
Horatzens Sinn nicht erreichen, beſchuldiget, was
heißt dieſes wohl anders, als mir einen groben Un-
verſtand, und bey einem unbedachten Vorſatz und
loͤblichen Fleiſſe ein unuͤberwindliches Unvermoͤgen
Schuld geben? Und verraͤth dieſes nicht eine klei-
ne Tadelſucht, wenn ihr meiner Ueberſetzung ei-
nen einzigen Fehler vorruͤcken koͤnnet, der darzu
nicht viel auf ſich hat; inzwiſchen aber dieſelbe gantz
dreiſte verdaͤchtig machet, als ob ſie hier und dar
von dergleichen wimmle?


IX. Mit was vor Befugniß will man mir einen
Theil der Schuld von dem bey Anlaſſe meiner
unſchuldigen Dichtkunſt entſtandenen und noch im-
mer fortdaurenden ſo feindſeligen Kriege aufbuͤr-
den, da ich bisdahin mich nur gantz leidend verhal-
ten, und die harten Streiche, die die Schweitzer
auf mich gefuͤhret, mit einer ſanftmuͤthigen und ge-
duldigen Großmuth erduldet, und ſo viel moͤglich
geweſen, verachtet habe, auſſer daß ich nur eini-
ge wenige mahl, aber gantz verſtohlner und ver-
kappter Weiſe auf dem Kampfplatz erſchienen bin.
Was darnach das ungemeſſene Lob, welches dem
mir ſo verhaßten Breitingerſchen Nahmen beygele-
get
[17]an die d. Geſ. von Greifswalde.
get wird, und die unbillige Vergleichung meiner
Perſon, Verdienſte, und meines Werckes mit der
Perſon, den Verdienſten, und dem Wercke dieſes
Schweitzers anlanget, ſo erlaubet mir mein Un-
muth nicht mich deutlicher daruͤber zu erklaͤren:
Jch ſage nur ſo viel, daß dieſes alles Wirckun-
gen einer unuͤberlegten Syncretiſterey in gantz wie-
derwertigen Dingen ſeyn.


X. Was that es noth die haͤmiſchen Urtheile
der Schweitzer von meiner Critiſchen Dichtkunſt
ſo weitlaͤuſtig anzufuͤhren, zumahlen da ihr doch
ſelbſt bekennen muͤſſet, daß ſie voller Haß, Bit-
terkeit und Parteylichkeit ſtecken? Allein dieſe
Schweitzerſchen Urtheile ſind noch faſt ertraͤglicher,
als die Vertheidigung ſelbſt, die ihr denſelben ent-
gegen zu ſetzen beliebt, und die ein verſtaͤndiger Le-
ſer kaum anders als fuͤr einen kurtzweilenden Schertz,
zu meinem groͤſten Nachtheil, aufnehmen kan. Jhr
ziehet Folgen aus dieſen Schweitzerſchen Urthei-
len, welche die Schweitzer ſelbſt bey aller ihrer
Grobheit und unbaͤndigen Spottensluſt annoch zu
beſcheiden und bloͤde geweſen ſind, mir zu meiner
Beſchimpfung vorzuwerffen: Jhr ſcheuet euch nicht
zu bekennen, daß wann das Urtheil der Schwei-
zer je Grund haben ſollte, meine Dichtkunſt noth-
wendig das elendeſte und abgeſchmackteſte Ge-
ſchmiere,
und ich einer von den beruͤhmteſten
elenden Scribenten ſeyn muͤßte. Werden nicht
die Schweitzer dieſe Folge willig einraͤumen? Jſt
aber denn dadurch die Ehre meiner Dichtkunſt ge-
rettet, oder die Gruͤndlichkeit ihres Urtheiles von
derſelben wiederleget? Wie wollet ihr erweislich
[Crit. Sam̃l. XI. St.] Bma-
[18]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
machen koͤnnen, daß es einen offenbaren Wider-
ſpruch einſchlieſſe, und alſo ſchlechterdings unmoͤg-
lich ſey, daß ich, oder ein andrer ſonſt ehrlicher,
beruͤhmter und nicht ungeſchickter Mann, ein elen-
des und abgeſchmacktes Buch von der Dichtkunſt
ſchreiben koͤnne? Jhr ſuchet ferner das ſpoͤttiſche
Urtheil der Schweitzer von meiner Dichtkunſt da-
durch verdaͤchtig zu machen, daß ſie zehn Jahre
lang der Verfuͤhrung ſo Vieler ungewarnet zuge-
ſehen, ohne derſelben durch die fruͤhere Eroͤffnung
ihres Urtheiles Einhalt zu thun: Gerade als ob ſie
einen Beruff haͤtten unſere Thorheiten, ſo bald ſie
dieſelben einſehen und erkennen, in oͤffentlichen
Schriften der Welt bekannt zu machen! Oder als
wenn ein langmuͤthiger Aufſchub der Straffe, bis
die Bosheit uͤberhand nimmt, die Verbrechen
der Menſchen gaͤntzlich entſchuldigte und rechtferti-
gete, und den Richter ſeines Straffamts verluſtig
machete! Oder als wenn dieſes Urtheil der Schwei-
zer von meiner Dichtkunſt, da es erſt nach zehn
Jahren bekannt worden, fuͤr meinen Ruhm nicht
noch allzufruͤhe erſchollen waͤre; daſerne man auſ-
ſer Stand ſeyn ſollte, die Begruͤndtniß deſſelben
directe und geradezu zu widerlegen! Auf dieſen
Fuß lieſſe ſich ja der elende Scribent Philippi ge-
gen die ſchwere Zuͤchtigung eines Liſcovs mit eben
ſo gutem Grunde vertheidigen. Wie wenig feh-
let es uͤberdas nicht, daß ihr euch nicht ſelbſt wie-
derſprechet, da ihr das Urtheil der Schweitzer izo
unter dem Scheine der Feindſeligkeit verdaͤchtig zu
machen ſuchet; nachdem ihr oben Bl. 425. nicht
undeutlich zu verſtehen gegeben habet, daß die
Schwei-
[19]an die d. Geſ. von Greifswalde.
Schweitzer aus bloſſer Gefaͤlligkeit gegen mich,
nicht eher als bis ich ſie dazu gereitzt und gleichſam
aufgefodert hatte, ihre aufrichtige Meynung
von der Gottſchediſchen Dichtkunſt frey heraus-
ſagen wollen, welches ſie bisher eben noch
nicht gethan hatten:
Woraus ja zu ſchlieſſen,
daß ſie ſchon, noch ehe ſie von mir aufgebracht
worden, eine gantz widrige Meynung von meinem
Buche gehabt, ſelbige aber offentlich zu entdecken,
alleine durch die Gefaͤlligkeit gegen mich waͤren zu-
ruͤckgehalten worden. Zugeſchweigen, daß es
noch nicht unwiderſprechlich erwieſen iſt, daß ei-
ner von ſeinem Feinde niemahls keine Wahrheit
ſagen koͤnne: Plutarch in ſeiner Abhandlung von
dem Nutzen, den einer von ſeinen Feinden ziehen
kan, hat davon gantz andere Gedancken; und
der Verdacht der Parteylichkeit haftet erſt dann-
zumahlen, wenn man den Grund oder Ungrund
eines Urtheils einzuſehen allerdings unvermoͤgend
iſt. Endlich verrathet ihr eure Neigung, die Par-
tey meiner Feinde nicht voͤllig ungeſchuͤtzt zu laſ-
ſen, wenn ihr mit duͤrren Worten ſaget: Wir
wollen die Dichtkunſt des Hrn. Gottſcheds gar
nicht von allen Fehlern frey ſprechen; wir ken-
nen und verehren auch die Verdienſte der Her-
ren Schweitzer.
Womit ihr ja die Begruͤnd-
niß ihres Urtheils von meiner Critiſchen Dichtkunſt
wenigſtens in vielen Stuͤcken zu billigen ſcheinet.


XI. Die Vertheidigung meiner Gedancken von
dem Geſchmack in dem dritten Capitel meiner Cri-
tiſchen Dichtkunſt gegen die Beſchuldigung der
Schweitzer, leiſtet mir zwar die Gewaͤhr, daß
B 2ihr
[20]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
ihr geſchickt genung ſeyd, meine Worte und Ge-
dancken recht vorſichtig herauszuſuchen und zu mei-
nem Vortheil zu kehren, wo es euch nicht an dem
Willen fehlet. Doch auch dieſe Vertheidigung
muß den Geiſt der Syncretiſterey, und die Nei-
gung einen Theil meines Ruhms der Gefaͤlligkeit
fuͤr die Schweitzer aufzuopfern, verrathen: Oder
was hat ſonſt der folgende Ausſpruch, den ihr Bl.
430. habet einflieſſen laſſen, anders zu bedeuten?
Wo es heißt: Nach der [Vergleichung], die
der Critiſche Hr. Geſchichtſchreiber wuͤrcklich
anſtellet, kan der Hr. Gottſched ohnmoͤglich
von einem Critiſchen Enthuſiasmus freygeſpro-
chen werden:
Sonderlich wenn man bey dem
9ten
§. des angefuͤhrten Capitels ſtehen bleibt.
Jſt dieſes nicht ſo viel als zugeſtanden, daß ich
mir in dem Capitel meiner Dichtkunſt, welches
von dem poetiſchen Geſchmack handelt, ſelbſt wie-
derſpreche, und Weiſſes und Schwartzes unter ein-
ander werffe?


XII. Dieſer Geiſt der Syncretiſterey, und ei-
ne heimliche Luſt mich dem Geſpoͤtte meiner Fein-
de bloß zugeben, offenbaret ſich auch in einigen
folgenden Artickeln eurer Vertheidigung. Z. Ex.
Jn dem Urtheil von Beſſers Gedichte uͤber ſeine
Kuͤhlweinin, wo ihr euch deutlich fuͤr Hrn. Bod-
mer
erklaͤret, und mich einer [Ungeſchicklichkeit]
mein ſonſt begruͤndtes Urtheil zu rechtfertigen oͤffent-
lich beſchuldiget. Jn dem Urtheil uͤber den Cani-
ziſchen Ausdruck ſterbend leben Bl. 440. wo ihr
wiederum meinem Tadler voͤllig Recht gebet. Jn
dem Puncten von der Lehre der Figuren in der
Poeſie
[21]an die d. Geſ. von Greifswalde.
Poeſie Bl. 439. wo ihr euch gaͤntzlich auf die Par-
tey meines Gegners zu ſchlagen ſcheinet. Jn der
Streitfrage, ob und wieferne Schoch das ihm
beygelegte Lob verdiene, wollet ihr euch gar nicht
in eine Eroͤrterung einlaſſen, ſondern eine genaue
Neutralitaͤt beobachten. Am allerdeutlichſten
aber verraͤth ſich die Syncretiſtiſche Gleichguͤltigkeit
in dem Artickel uͤber die Frage: Ob die Critick
gluͤcklicher auf verſtorbene, oder auf lebendige ge-
richtet werde? Wo ihr bald, wie Bl. 444. Bod-
mern
faſt gaͤnzlich Beyfall gebet; bald aber,
wie auf der folgenden Seite, behauptet, es laſſe
ſich nichts gewiſſes beſtimmen; ſondern es
komme auf die Gemuͤths-Beſchaffenheit eines
jeden Kunſtrichters an.
Heißt dieſes nicht auf
beyden Seiten hinken? Man vergleiche darmit
was ihr oben auf der 417ten Seite aus meiner Vor-
rede zu der Dichtkunſt
von dem Amt eines Cri-
tici anfuͤhret.


XIII. Das Urtheil von Milton und von Hrn.
Bodmers Ueberſetzung, welches ich in der dritten
Ausgabe meiner Critiſchen Dichtkunſt auf der 685.
Seite unter dem Scheine einer Erklaͤrung gaͤntzlich
widerruffen habe, begleitet ihr mit einer recht ſpoͤtti-
ſchen Anmerckung, die keine andere Wirckung ha-
ben kan, als daß ſie mich bey jedermann zum Ge-
laͤchter machen muß. Jhr ſaget: Wo die letz-
tern Gedancken allemahl die beſten ſind, ſo
muß dieſes Urtheil,
welches den Milton und die
Bodmeriſche Ueberſetzung zugleich, des Ungeheu-
ren, Rauhen und Widrigen beſchuldiget, noth-
B 3wen-
[22]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
wendig vor jenem gelten. Heißt dieſes nicht
ludere in re ſeria?


XIV. Eure letzte Anmerckung von der wichti-
gen Veraͤnderung, da ich in der letzten Auflage
meiner Dichtkunſt anſtatt meiner eigenen, lauter
Exempel von unſern beſten Dichtern eingeſchoben
habe, giebt mir wiedrum eine Probe, wie gluͤck-
lich ihr ſeyd, wenn ihr nur wollet, eine Sache nach
ihrem beſten Vortheil vorſtellig zu machen. Denn
da ſonſt dieſe vorgenommene Veraͤnderung in der
That eine Wirckung von dem Tadel der Schwei-
zer iſt, und hiemit als ein oͤffentliches Geſtaͤndniß
eines wichtigen Verſehens und der Begruͤndniß
ihres Tadels koͤnnte angeſehen werden; ſo habet
ihr eure Anmerckung ſo geſchickt zu drehen gewußt,
daß kaum jemand, der nicht von dieſem gantzen
Streite vollkommen unterrichtet iſt, die wahre Ur-
ſache dieſer vorgenommenen Veraͤnderungen und
dieſe fuͤr meine Ehre ſo nachtheiligen Folgen mer-
ken wird.


Daferne ihr nun, wie ich nicht zweifeln darf,
aus allen dieſen Vorſtellungen begreiffen werdet,
wie uͤbel mein Anſehen durch dergleichen Ausdruͤ-
ke und eine ſolche zweydeutige Art meinen Wider-
ſachern zu begegnen verſorget iſt, ſo verlaſſe ich
mich darauf, daß ihr euch kuͤnftig in euern Ur-
theilen von mir und meinen Feinden beſſer in Acht
nehmen und eine groͤſſere Vorſichtigkeit brauchen
werdet. Denn ich ſage aufrichtig, daß ich euch
lieber unter den offentlicherklaͤrten Freunden der
Schweitzer ſehen wollte, als daß ihr euch derge-
ſtalt unter ſie und mich vertheilet, wenigſtens eure
Freund-
[23]an die d. Geſ. von Greifswalde.
Freundſchaft gegen mir auf eine ſo wanckelmuͤthi-
ge Art ausdruͤcket. Jch uͤberlaſſe euch ſelbſt die
boͤſen Folgen zu betrachten, die daher fuͤr euch ent-
ſtehen moͤgen, wenn ihr mir nicht ſicherere Proben
von eurer Gefaͤlligkeit gebet. Sinnet nach, ob
dieſes mit eurem Vorhaben meine Freundſchaft zu
verdienen uͤbereinkomme. Das Ungluͤck iſt, daß
man ſolchen Leuten zu viel Gehoͤre giebt, welche
nichts als Unruh und Streit ſuchen. Man ma-
chet ſich von meinem Anſehen einen gantz falſchen
Begriff, und ſchreibet mir dann die Abſicht zu,
daß ich deſſelben gegen heimſche und fremde miß-
brauchen wuͤrde. Jch wollte dennoch nicht gerne
genoͤthiget werden, alle die Vortheile meiner
Macht gegen meine Mißguͤnſtigen oder gegen mei-
ne mißlichen Freunde anzuwenden. Jhr koͤnnet die-
ſes denjenigen unter euch zu verſtehen geben, wel-
che auf die Seite des Gegentheils zu hinken ſchei-
nen; bildet euch aber nicht ein, daß Furcht und
Bloͤdigkeit an dieſen Erinnerungen einigen Antheil
haben. Nichts anders leget mir dieſelben in die
Feder als der Verdruß, den ich haben wuͤrde, wenn
ich euch nicht mehr unter meine Freunde zehlen
duͤrffte. Die Erfahrung hat es gezeiget, daß
meine Freundſchaft ſo vortheilhaft iſt, als meine
Feindſchaft nachtheilig ſeyn kan; ich will nicht ſa-
gen, bey was vor Anlaͤſſen dieſes geſchehen iſt,
die moͤgen es ſagen, die es empfunden haben. Den-
noch bin ich niemahls zu dem aͤuſſerſten Mittel fort-
geſchritten, als wenn die Vermahnungen keinen
Eingang mehr gefunden haben. Jch fuͤrchte dieſes
B 4nicht
[24]Hr. Pr. Gottſcheds Schreiben
nicht von eurer Geſellſchaft, und in dieſer Zu-
verſicht will ich mich gerne unterſchreiben



Euern gewogenen Freund und
Goͤnner.
G.



Peter-
[25]an die d. Geſ. von Greifswalde.

Petermañs von Langnau Schreiben
an die deutſche Geſellſchafft von
Greifswalde.


Meine Herren!

WEr den Vorbericht zu dem erſten Bande
eurer Critiſ. Verſuche geleſen hat, der
wird von eurer Unparteylichkeit im
Urtheilen eine ſo guͤtige Meynung vorgefaſſet
haben, daß er ſich nicht entſehen wird, eure
Urtheile und Nachrichten fuͤr ſicher und zuver-
laͤßig anzunehmen: Denn es iſt nichts, das die
Leſer, zumahl ſolche, denen das Nachdencken
ohnedem ein wenig verdrießlich iſt, in dem Ver-
trauen auf die Unbetruͤglichkeit ihres Scriben-
ten ſicherer mache, und ihre eigene Unterſuchung
und Pruͤffung mehr hemme, als dergleichen ſtar-
ke Verſicherungen, daß man ſich an keine Ar-
beit wagen wolle, die ſich uͤber unſere Kraͤfte
erſtrecket;
daß man nichts ohne Grund loben
oder tadeln;
alles aus einem reinen Grund
herleiten
wolle, und was dergleichen mehr in
eurem Vorbericht zu leſen iſt. Nach ſo ſtoltzen
Verſicherungen mag ſich dann ein Schrifft-
verfaſſer noch ſo ſehr erniedrigen, ſeine Fehlbar-
keit bekennen, und ſich die Erinnerungen ſeiner
Leſer ausbitten; Dieſes alles wird die ſeinen
Leſern vorhin beygebrachte gute Meynung und
das erſchlichene Zutrauen eben ſo wenig ver-
B 5min-
[26]Von Langnau Schreiben
mindern, als andere in dem taͤglichen Umgange
gewoͤhnliche Hoͤflichkeiten unſerm Stand, Rang
und Anſehen einigen Abbruch thun; Jm Ge-
gentheil wird eine ſolche Erniedrigung ſeiner
ſelbs ſchon ohne dies ſichere und gemaͤchliche
Leſer in ihrer Sicherheit nur mehr ſtaͤrcken, und
ſie auf die Gedancken fuͤhren, wenn der Ver-
faſſer der Gruͤndlichkeit ſeiner Schrift nicht ge-
nugſam trauen koͤnnte, ſo wuͤrde er nicht ſo
ernſtlich auf eine Unterſuchung dringen.


Bey einer ſolchen Auffuͤhrung eines Schrift-
verfaſſers koͤmmt es demnach lediglich auf die
Unterſuchung an, wie ferne er in der Ausfuͤh-
rung ſeines Vorſatzes die großſprechenden Ver-
ſicherungen erfuͤllet, und denen ſtrengen Geſetzen,
die er ſelbſt zur Richtſchnur einer billigen Pruͤf-
fung ſeiner Schrifften vorgeleget hat, eine Ge-
nuͤge geleiſtet habe? Thut die Ausfuͤhrung ei-
nem ſo ſtrengen Vorſatz keine Genuͤge, ſo iſt die
Gefahr der Verfuͤhrung von einer ſolchen Schrift
gedoppelt, indem ſie die Leſer nicht allein mit
irrigen Meynungen und Urtheilen taͤuſchet, ſon-
dern durch das Blendwerck großſprechender
Verſicherungen annoch die Erkaͤnntniß des Jrr-
thums und Betrugs ſchwer machet, ja gaͤntzlich
hindert.


Wenn ich mir nun die Freyheit heraus neh-
me, auf dieſen Blaͤttern eine Unterſuchung an-
zuſtellen, wieferne diejenigen Artickel des erſten
Bandes eurer Critiſchen Verſuche, in welchen
ihr euch in eine Beurtheilung der Schweitzeri-
ſchen Critiſchen Schriften, und einiger beſon-
derer von denſelben aufgeworffener Streitfra-
gen
[27]an die d. Geſ. von Greifswalde.
gen einlaſſet, die Pruͤffung aushalten, ſo werde
ich in dieſer Unterſuchung die Regeln, die ihr
euch ſelbſt gemachet,
und nach denen ihr auch
wollet beurtheilet werden, zum Grund und Au-
genmerck ſetzen, und euer Verfahren darnach
pruͤffen: Jch werde mich demnach beſtaͤndig er-
innern, daß nach eurer eigenen in dem allgemei-
nen Vorbericht gegebenen Verſicherung, 1.
Keiner ſich an eine Arbeit gewaget, die ſich
uͤber ſeine Kraͤfte erſtrecket; 2. Daß ihr nie-
mals gelobet oder getadelt, ohne den Grund
anzugeben, warum ihr gelober oder getadelt;
3. Daß alle eure Urtheile aus einem reinen
Grund herflieſſen,
und keine unlautere Abſich-
ten mit untergelauffen; 4. Daß eure Aus-
ſpruͤche frey von allem Stoltz mit einer ſo hoͤf-
lichen Beſcheidenheit
ſollen vorgetragen wer-
den, die denjenigen wohl anſtehet, die ſich er-
innern, daß ſie ſelbſt nicht ohnfehlbar ſind.
An
dieſe Regeln werde ich mich ſteiff halten, und
nach denſelben eure Critiſche Gerechtigkeit pruͤf-
fen: Alle Unhoͤflichkeit, die der Wahrheit nach-
theilig iſt, eben ſo behutſam vermeiden; als
ſehr ich diejenige ſo genannte Hoͤflichkeit, die der
Wahrheit im Licht ſtehet, und logicaliſche
Schluͤſſe entkraͤfftet, verabſcheue; Und im
uͤbrigen dann euch uͤberlaſſen, welchem von eu-
ren Geſellſchaftern ihr die Laſt der Vertheidi-
gung auftragen wollet, wo ich etwann in mei-
nen Anmerckungen und Schluͤſſen moͤgte geir-
ret, oder euch zu nahe getreten haben, denn
ich maſſe mir kein Vorrecht der Unfehlbarkeit
an,
und werde meine Meynungen fuͤr keine
un-
[28]Von Langnau Schreiben
unwiderſprechlich erwieſene Wahrheiten aus-
geben.


Es ſind vornemlich drey Artickel in dem er-
ſten Bande eurer Critiſchen Verſuche, wo ihr
euer Urtheil von den Critiſchen Schriften und
Gedancken der Schweitzer offenherzig entdecket:
der VIte des IVten Stuͤcks, und der IIIte und
zum Theil auch der Iſte des Vten Stuͤcks. Wir
wollen ſie nach der Ordnung durchlauffen.


A. Jn dem VIten Artickel des IVten Stuͤ-
kes giebt die Vertheidigung von Hrn. Prof.
Gottſcheds Verſuch einer Critiſchen Dichtkunſt
Anlaß manches Urtheil der Schweitzer auf die
Capelle zu ſetzen, und davon eure Meynung zu
eroͤffnen. Gerade auf der 415. Seiten wird
aus dem Anhange des Ergaͤntzungs-Stuͤckes zu
Hrn. D. Trillers Fabelwercke eine Stelle aus
einer Anmerckung angefuͤhret, welche behaup-
tet, daß die Gottſchediſche Dichtkunſt eine nur
allein fuͤr die Deutſchen eingerichtete Dichtkunſt
ſey. Ueber dieſe Stelle wird der Verfaſſer die-
ſes Artickels ſo empfindlich, daß er in einer
beygefuͤgten ernſthaften Straffpredigt, die mit
einer recht Poſtillenmaͤſſigen Bewegung vorge-
bracht wird, die Abſichten des Schweitzerſchen
Kunſtrichters, als ein anderer Hertzenkuͤndi-
ger, entdecket und mit der groͤſten Gewißheit
beſtimmet; uͤber die Spoͤtter dieſer letzten Zei-
ten eine bittere und gantz aufgeweckte Klage fuͤh-
ret; und endlich dieſelbe mit einem feyerlichen
Glaubensbekaͤnntniß zum Ruhm der Gottſche-
diſchen Dichtkunſt beſchlieſſet. Koͤnnte man
hier nicht mit Recht fragen:


Tan-
[29]an die d. Geſ. von Greifswalde.
Tantæne animis COELESTIBUS iræ?

Allein wir wollen ſehen aus was fuͤr einer rei-
nen Quelle dieſe Strafpredigt moͤgte gefloſſen
ſeyn. Hr. Prof. Gottſched hat in den zwo er-
ſten Ausgaben ſeines Verſuches einer Critiſchen
Dichtkunſt auf dem Titelblatt hingeſetzt: Ver-
ſuch einer Critiſchen Dichtkunſt vor
oder fuͤr
die Deutſchen.
Das Titelblatt eines Buchs
ſoll den Haupt-Jnnhalt, die Abſicht, und den
Gebrauch deſſelben begrifflich beſtimmen.


Auf einem Titelblatt ſollte demnach von rechts-
wegen kein uͤberfluͤſſiges Wort ſtehen, das
nicht einer von dieſen Abſichten befoͤrderlich
ſeyn koͤnnte: Ob nun gleich dem Schweitzer-
ſchen Kunſtrichter die Einſchraͤnckung auf dem
Gottſchediſchen Titelblatte fuͤr die Deutſchen
gantz neu und ſeltſam vorgekommen, weilen
er ſich nicht beſinnen konnte, daß jemahls
ein anderer Schriftverfaſſer vor Hrn. Prof.
Gottſcheden ſich einer ſolchen Einſchraͤnckung
des Gebrauchs ſeines Buchs auf eine beſon-
dere Nation bedienet haͤtte; ſo hat er den-
noch fuͤr feſt angenommen, daß Hr. Prof.
Gottſched, als ein beruͤhmter Lehrer der deut-
ſchen Weltweißheit, auch in dieſem Falle
nichts ohne zureichenden Grund gethan habe,
daß folglich der Zuſatz fuͤr die Deutſchen auf
dem Titelblatte ſeiner Dichtkunſt eine in ver-
nuͤnftigen Abſichten gegruͤndete Nothwendig-
keit haben muͤßte. Auf dieſen aus einem gut-
muͤthigen und recht billigen Hertzen angenom-
menen Grundſatz nahm er ſich fuͤr, diejeni-
gen
[30]Von Langnau Schreiben
gen Abſichten, die dieſen Zuſatz der Einſchraͤn-
kung des Gebrauchs fuͤr die Deutſchen noth-
wendig machten, zu errathen. Es kam ihm
erſtlich in Sinn, ob vielleicht Hr. Gottſched
ſeine Abſicht bey dieſer Einſchraͤnckung auf
die Sprache, in welcher ſein Buch geſchrie-
ben, gerichtet haben moͤgte; denn er erin-
nerte ſich wohl, daß Hr. Gottſcheden nicht un-
bekannt iſt, daß er der erſte geweſen, der ei-
nen Verſuch einer Critiſchen Dichtkunſt in
deutſcher Sprache der Deutſchen Welt gelie-
fert hat. Allein er beſann ſich gleich, eines-
theils daß der Großmeiſter und Befoͤrderer
der deutſchen Sprachgenoſſenſchaft, wenn er
dieſe Abſicht gehabt haͤtte, ſich gantz anders
und viel deutlicher und reiner wuͤrde ausge-
druͤckt, und etwann ſo geſchrieben haben: Der
erſte Verſuch einer deutſchen Critiſchen Dicht-
kunſt, dergleichen in deutſcher Sprache bis-
her nicht geſehen worden.
Und anderntheils
befand er, daß die Einſchraͤnckung des Ge-
brauchs eines ſo nuͤtzlichen Buchs fuͤr die Deut-
ſchen
in Abſicht auf die Sprache gantz uͤberfluͤſ-
ſig und fuͤr einen philoſophiſchen Kunſtrichter,
der nichts ohne zureichenden Grund zu ſchreiben
gewohnt iſt, gantz nicht anſtaͤndig waͤre: Aller-
maſſen es nicht noͤthig iſt, daß man einen, der
der deutſchen Sprache gantz unkundig iſt, war-
ne, daß er kein deutſches Buch leſe. Da nun
aber ein Buch fuͤr die Leſer nicht mehr als in
zweyen Abſichten, nemlich entweder in Anſe-
hung der Sprache, oder in Anſehung der Sa-
chen
[31]an die d. Geſ. von Greifswalde.
chen und Gedancken, brauchbar oder unbrauch-
bar ſeyn kan, mußte der Schweitzer nicht noth-
wendig auf die Vermuthung fallen, wenn die-
ſer Zuſatz anders nicht muͤſſig und ohne Ver-
ſtand ſeyn ſoll, ſo muͤſſe er den Gebrauch dieſes
Buchs in Abſicht auf den Jnnhalt und die Ma-
terie oder die Gedancken einſchraͤncken, und es
fuͤr die Deutſchen allein vor brauchbar erklaͤren?
Jn dieſer Abſicht konnten demnach die Worte
fuͤr die Deutſchen keinen andern Verſtand ha-
ben, als daß die in dieſem Buche abgehandel-
ten Materien, wenn es gleich in eine andere
Sprache uͤberſetzt wuͤrde, dennoch von nieman-
dem als von einem gebohrnen Deutſchen koͤnn-
ten verſtanden und zu Nutze gemachet werden.
Sollte nun aber dieſer Sinn Platz haben, ſo
mußte ferners folgen, daß die abgehandelten
Materien nicht aus der allgemeinen Natur der
Menſchen uͤberhaupt hergeleitet und erwieſen
worden ſeyn, denn ſo koͤnnte das Buch in An-
ſehung ſeines Jnnhalts nicht bloß fuͤr die Deut-
ſchen
verſtaͤndlich und brauchbar ſeyn: Folglich
konnte er nichts anders ſchlieſſen, als daß Hr.
Gottſched ſeine Regeln, daß ſie allein fuͤr die
Deutſchen
brauchbar waͤren, nothwendig aus
der beſondern Natur der deutſchen Nation muͤß-
te hergefuͤhret haben. Es mag wohl ſeyn, daß
der Schweitzerſche Kunſtrichter auch dieſe letzte-
re Erklaͤrung mit ihren Folgen Hrn. Prof. Gott-
ſcheden
nicht im Ernſt zugeſchrieben hat; ſon-
dern dadurch nur ſo viel hat zu verſtehen geben
wollen, daß dieſe Einſchraͤnckung fuͤr die Deut-
ſchen
[32]Von Langnau Schreiben
ſchen keinen geſunden Verſtand leide, und von
Hrn. Gottſched ohne Bedacht ſey hingeſchrie-
ben worden: Denn wenn es wahr ſeyn ſollte,
wie ihr in eurem Glaubensbekaͤnntniß verſichert
zu ſeyn vorgebet, daß die Critiſche Dichtkunſt
des Hrn. Gottſcheds mit Vergnuͤgen und Nu-
zen von den Auslaͤndern, die unſrer Sprache
kundig ſind, ſollte koͤnnen geleſen
und verſtan-
den werden; ſo moͤgte ich gerne vernehmen,
was denn die Einſchraͤnckung fuͤr die Deutſchen
auf dem Titelblatte der Critiſchen Dichtkunſt
eigentlich zu bedeuten habe; und ob der Ver-
ſtand, den dieſer Zuſatz leiden kan, nicht alle-
mahl laͤcherlich herauskomme? Wer will es
aber einem mit Recht verargen koͤnnen, wenn
er uͤber einem laͤcherlichen Ausdrucke das Maul
ein wenig verkruͤmmt? Zugeſchweigen, daß der
Schweitzer an dem Orte, wo er dieſe Critick
anbringet, eben nicht Urſache gehabt hat, gar
zu bloͤde, kaltſinnig und ernſthaft mit Hrn.
Prof. Gottſched zu reden, allermaſſen das un-
geſaltzene Geſpoͤtte, welches dieſer in ſeinen
Beytraͤgen uͤber die neue Schweitzerſche Dicht-
kunſt ausgegoſſen, eine zuͤchtigende und demuͤ-
thigende Abfertigung erforderte, und noch wohl
eher eine ſo bewegliche Straffpredigt verdienet
haͤtte, als diejenige iſt, mit welcher ihr die
Schweitzerſche Anmerckung begleitet. Wir muͤſ-
ſen aber dieſe Critiſche Straffpredigt ſelbſt noch
ein wenig beleuchten. Jhr ſaget: Dieſe Beur-
theilung iſt gewiß nicht aus einem reinen Cri-
tiſchen Eifer gefloſſen. Die Herrn Schweitzer

wuͤr-
[33]an die d. Geſ. von Greifswalde.
wuͤrden ſonſten nicht wieder ihre Gewohnheit,
die letzte Beſchuldigung,
(daß nemlich Hrn.
Gottſcheds Dichtkunſt niemand als ein gebor-
ner Deutſcher brauchen koͤnne, weil ſie ihre Re-
geln aus der beſondern Natur der Deutſchen her-
leite) ſo ſchlechthin ohne Erklaͤrung und Be-
weis ſtehen laſſen.
Jſt denn das eigene Ge-
ſtaͤndniß des Hrn. Prof. Gottſcheds nicht Be-
weiſes genug? Er ſagt ja ſelbſt ſein Buch ſey
nur fuͤr die Deutſchen brauchbar, nicht in An-
ſehung der Sprache, denn darinn hat es fuͤr
alle andern deutſche Buͤcher nichts eigenes vor-
aus; hiemit in Anſehung der Materie oder des
Jnnhalts; wie koͤnnten aber die Regeln dieſer
Dichtkunſt nur fuͤr die Deutſchen brauchbar ſeyn,
wenn ſie aus allgemeinen Grundſaͤtzen, aus
der allgemeinen menſchlichen Natur waͤren her-
geleitet worden? Wenn ihr alſo dieſe Folge und
Erklaͤrung nicht fuͤr guͤltig erklaͤren wollet; ſo
bleibet nichts uͤbrig, als daß ihr bekennet, die-
ſe Worte fuͤr die Deutſchen haben gar keinen
geſunden Verſtand, und ſeyn vom Hrn. Prof.
ohne Bedacht und ohne zureichenden Grund hin-
geſchmiert worden. Was wird aber dieſe Be-
ſchuldigung vor ein ſchlechtes Zutrauen fuͤr die
Gruͤndlichkeit des Werckes ſelbſt gebaͤhren, wenn
dem Verfaſſer nicht einmahl die Faͤhigkeit zuge-
ſtanden wird, ein Titelblatt mit Verſtande zu
ſchreiben?


Dic alium Quintiliane colorem!

Und wie muͤßte wohl die Antung und Beſtraf-
[Crit. Sam̃l. XI. St.] Cfung
[34]Von Langnau Schreiben
fung dieſes Fehlers beſchaffen ſeyn, wenn ſie
von euch das Zeugniß verdienen ſollte, daß ſie
aus einem reinen Critiſchen Eifer gefloſſen?
Vielleicht muͤßte ſie ohngefehr ſo abgefaſſet ſeyn:


„Jch will mich hier unterſtehen, einen kleinen
„Fehler an dem Titelblatte der Gottſchediſchen
„Dichtkunſt auszuſetzen: Die Gemuͤthsbillig-
„keit des Hrn. Profeſſors iſt mir gar zu bekannt,
„als daß ich fuͤrchten ſollte, er werde meine
„Freyheit mißbilligen. Er verlanget nicht,
„daß man auf alle ſeine Meynungen einen Eyd
„ſchwoͤren ſoll. Die Einſchraͤnckungs-Woͤrt-
„gen fuͤr die Deutſchen haben hier nicht mehr
„zu bedeuten, als leere Worte, die keinen ge-
„ſunden Verſtand leiden, man kan ſie ohne
„Abbruch des Verſtandes ausſtreichen. Nie-
„mand aber ſey ſo unhoͤflich und unbeſcheiden,
„daß er von dem Titelblatt auf das Buch ſelbſt
„einen Schluß machen, und ſich durch die ſtraff-
„bare Vermuthung an dem beruͤhmten Manne
„verſuͤndigen wollte, als ob in dem Wercke
„ſelbs eben dergleichen unverſtaͤndige Verſehen
„moͤgten mit untergelauffen ſeyn. Man wen-
„det eben nicht allemahl den groͤſten Fleiß auf
„das Titelblatt, welchem der beruffene Nah-
„me des Verfaſſers das groͤſte Anſehen geben
„muß: Et bonus nonnunquam dormitat Ho-
„merus.„

Eure folgende Klage uͤber den Miß-
brauch der Critick iſt gantz pathetiſch, und ent-
decket durch die doppelte Frage und die beyge-
fuͤgte nachdruͤckliche Apoſtrophe ein gantz beweg-
tes Gemuͤth; Sie lautet:

„Wird man aber
„nicht
[35]an die d. Geſ. von Greifswalde.
„nicht die vortreffliche Critick zu dem gehaͤſſig-
„ſten Dinge von der Welt machen, wo man
„fortfaͤhret, auch die groͤbſten Spoͤttereyen
„darein zu miſchen? Oder iſt der vortrefflich-
„ſte Criticus vielleicht derjenige, der den an-
„dern am laͤcherlichſten machen kan? Man ver-
„huͤte doch, damit unſre Welt nicht anfange,
„Critiſche und Satyriſche Schrifften fuͤr einer-
„ley zu halten!„

Es wird ſchwer ſeyn, die vor-
treffliche Critick fuͤr die elenden Scribenten oh-
ne Nachtheil der Wahrheit jemahls angenehm
zu machen: Und die hoͤfliche Beſcheidenheit, die
Jhr euch in euren Urtheilen zur Regel geſetzet,
mag euch den Unterſcheid zwiſchen einem feinen
und gruͤndlichen Schertz, und zwiſchen den groͤb-
ſten Spoͤttereyen
verborgen gehalten haben.
Oder muß ein Criticus, der es mit einem ſtol-
zen Verfaſſer aufgenommen hat, der ſich ſelbſt
laͤcherlich machet, weinen, wenn er ſein Be-
finden daruͤber entdecken ſoll? Man wuͤrde ſich
faſt bereden, wenn man dieſe Klage ließt, daß
euch entweder die groſſentheils unbillige und
ſchimpfliche Art der Critick, welche Gottſched
in ſeinen Beytraͤgen ſeit zehn Jahren in Deutſch-
land ohne Einrede auch gegen die groͤſten Maͤn-
ner gefuͤhret hat, gantz unbekannt ſeyn muͤßte,
oder daß ihr ſie heimlich billigter, da ihr ſo emp-
findlich werdet, ſo bald man dieſem ſtoltzen und
eigenmaͤchtigen Richter der deutſchen Welt we-
gen ſolcher Fehler, die keineswegs zu entſchul-
digen ſind, mit einer ſchertzenden Mine die
Wahrheit ſaget, daß ihr euch nicht enthalten
C 2koͤn-
[36]Von Langnau Schreiben
koͤnnet, ſeinen verdienten Hohn durch eine Pa-
ſtormaͤſſige Straffpredigt an den Schweitzern
zu raͤchen. Jch erſuche euch demnach die bey-
den Abſchnitte in Conr. Erlenbachen Echo des
deutſchen Witzes,
welche von der Critiſchen
Hoͤflichkeit,
und der Gerechtigkeit einiger hoch-
deutſcher Kunſtrichter abſonderlich handeln, und
die ihr in dem VIten Stuͤcke der Schweitzerſchen
Critiſchen Sammlungen antreffen koͤnnet, noch
einmahl bedaͤchtlich zu durchleſen, und dann mit
euren Regeln von der Critiſchen Unparteylichkeit
zu Rath zu gehen, ob eure Straffpredigt beſſer
auf Hrn. Gottſched oder auf die Schweitzer
paſſe, und ſo ferner nachzudencken, wie ihr euch
rechtfertigen wollt, daß ihr Gottſchedens un-
billige Critick in das zehnte Jahr in der deut-
ſchen Welt ohne Warnung und Antung frey
habet raſen und ſchwermen laſſen, und noch itzo
nicht wol vertragen koͤnnet, daß die Schweitzer
ſich unterfangen haben, die deutſche Welt von
dieſem eigenſinnigen Critiſchen Tyrannen zu be-
freyen, und ihn rechtſchaffen zu demuͤthigen.
Allein die zu dieſer Klage hinzugefuͤgte ſeufzende
Apoſtrophe verdienet noch eine beſondere Be-
trachtung: Man verhuͤte doch, damit unſre
Welt nicht anfange, critiſche und ſatyriſche
Schrifften fuͤr einerley zu halten.
Worauf
mag denn wohl der ſo unendlich groſſe Unter-
ſcheid Critiſcher und Satyriſcher Schrifften be-
ruhen, daß auch die bloſſe Vorſtellung der
Gefahr von Vermiſchung derſelben, ſo tiefge-
holte Seufzer und gebrochne Stoßgebethgen
aus-
[37]an die d. Geſ. von Greifswalde.
auspreſſen kan? Nach meinem ſchwachen Sin-
ne waltet dieſer Unterſcheid zwiſchen beyden, daß
die Critick zur Abſicht hat zu unterrichten und zu
verbeſſern; die Satyre hingegen zu beſchaͤmen,
zu beſtraffen und zu warnen: Beyde ſuchen die
Verbeſſerung des Nebenmenſchen; die Critick
durch beſcheidenen Unterricht; die Satyre durch
die Beſchaͤmung. Wenn hiemit die Critick ei-
nen heilſamen Eingang zur Verbeſſerung finden
ſoll, ſo muß derjenige, deſſen Verbeſſerung ſie
ſuchet, faͤhig ſeyn einen guten und wohlgemein-
ten Unterricht mit ſtillem Gemuͤthe anzunehmen,
und zu ſeiner Verbeſſerung anzuwenden. Jſt
jemand nicht in dieſer Gemuͤths-Verfaſſung,
ſo iſt er fuͤr die Critick unverbeſſerlich. Folglich
muͤßte man ſolche Menſchen, die doch den weit
groͤſſern Theil ausmachen, ihrem Verderben
voͤllig uͤberlaſſen, wenn nicht noch ein ander Mit-
tel uͤbrig waͤre, wodurch man nicht ohne Hoff-
nung fuͤrfahren koͤnnte, an deren Verbeſſerung
zu arbeiten. Stoltze, eigenſinnige Koͤpfe ſind
ſchwerlich durch bloſſen Unterricht zurecht zu brin-
gen, weil es bey ihnen nicht ſo faſt an der Ver-
ſtandes-Faͤhigkeit als an dem Willen fehlet;
darum muß bey ſolchen die Satyre der Critick
zu Huͤlffe kommen, wo man ihre Verbeſſerung
nicht gaͤntzlich verlohren geben will. Dadurch
muß man ihnen den Stoltz und Eigenſinn zuerſt
brechen, damit ſie wider faͤhig werden den Un-
terricht der Critick zu ihrer Beſſerung anzuneh-
men. Giebt es denn aber ſolche hartnaͤckige
Suͤnder, die alle Mittel zu ihrer Verbeſſerung
C 3muth-
[38]Von Langnau Schreiben
muthwillg von ſich ſtoſſen, die man weder durch
die uͤberzeugenden Warnungen der Critick, noch
durch die gelinde Zuͤchtigung der Satyre zu ei-
nem beſſern Sinne verleiten kan, an denen hie-
mit alle Arbeit als an ſchlechterdings unverbeſ-
ſerlichen gaͤntzlich verloren, ſo kan man ſolche der
Geiſſel einer beiſſenden Satyre zur gerechten
Strafe uͤbergeben, damit wenigſtens andere aus
Furcht vor einem gleichen Gerichte von ihrer
Hartnaͤckigkeit abgeſchreckt, und unſchuldige
Seelen gegen die Verfuͤhrung verwahret wer-
den. Wenn ich nun dieſe Gedancken von dem
wahren Unterſcheid der Critick und der Satyre
mit einem Wunſch und Seufzer beſchlieſſen ſoll-
te, ſo wollte ich wuͤnſchen, daß man verhuͤten
koͤnnte, daß unter den beruͤhmten elenden Scri-
benten der deutſchen Welt keine fuͤr die Critick
unverbeſſerliche Suͤnder mehr moͤgten gefunden
werden, in welchem Falle weder die zuͤchtigende
noch die ſtraffende Satyre mehr noͤthig waͤre.
So lange hergegen ſolche Scribenten noch vor-
handen ſind, die aus ſtolzem Eigenduͤnckel jeder-
mann richten, Lob und Tadel nach ihrer Will-
kuͤhr ausſpenden und widerruffen, den Witz und
Geiſt einer gantzen Nation auf ihren Credit
nehmen; ſo lange wird die Verbindung der Sa-
tyre mit der Critick keine ſo groſſe Gefahr auf
ſich haben, daß es eben noͤthig ſeyn ſollte, durch
oͤffentliche Kirchengebethe die Abwendung derſel-
ben zu erflehen. Was endlich eure letzte Klage
uͤber dieſen Artickel angehet, ſo habe ich daruͤber
auch noch eine Anmerckung zu machen. Jhr ſa-
get:
[39]an die d. Geſ. von Greifswalde.
get: „Wo bleiben die reinen Abſichten der


„Critick, wenn man ſo gar auf eine gantze Na-
„tion ſchimpfet, weil uns dieſer oder jener Ge-
„lehrte aus derſelben boͤſe gemacht hat?„ Da-


fern ihr es vor einen Schimpf fuͤr die gantze deut-
ſche Nation aufnehmet, daß der Schweitzerſche
Kunſtrichter geſagt hat:

„Hr. Gottſched habe
„ſeine Saͤtze und Regeln nicht aus der allge-
„meinen Natur der Menſchen uͤberhaupt, ſon-
„dern aus der Natur der deutſchen Nation ins-
„beſondere hergeleitet;„ ſo muͤſſet ihr die ge-


kraͤnckte Ehre der deutſchen Nation nicht an dem
Schweitzer, ſondern an Hrn. Gottſcheden raͤ-
chen; ſonſt wuͤrde eure Rache uͤber einen un-
ſchuldigen ergehen: Zumalen da ich oben aus-
fuͤhrlich dargethan habe, daß die eigenen Worte
des Hrn. Prof. auf dem Titel ſeiner Dichtkunſt,
wenn ſie anders einen Verſtand haben ſollen,
dieſen nothwendig mit ſich fuͤhren, und in ſich
einſchlieſſen. Wenn ſie aber keinen Verſtand
haben; hat denn der Schweitzer dadurch die
gantze deutſche Nation beſchimpft, daß er ſelbi-
gen einen Verſtand zugetrauet hat? Dazu
koͤmmt, daß der Schweitzer an eben dem Orte,
wo dieſe Stelle zu finden, gerade in den aller-
naͤchſt-folgenden Worten, bewieſen hat, daß
Hr. Gottſched ſeine Urtheile aus der Natur der
deutſchen Nation wircklich herleite: Allein ihr
habet nicht fuͤr gut angeſehen, dieſen Beweis
mit anzufuͤhren, vielleicht auch darum, damit
ihr dem Schweitzer wegen Mangel des Bewei-
ſes deſto kecker einen unreinen Critiſchen Eifer
C 4Schuld
[40]Von Langnau Schreiben
Schuld geben koͤnnet. Endlich iſt noch zu mer-
ken, daß der Schweitzerſche Kunſtrichter hier
durch die deutſche Nation nur allein diejenigen
verſtanden haben will, die Hrn. Gottſched als
den Vormund des deutſchen Witzes glaͤubig er-
kennen und verehren, und in ihrem Hertzen
ſprechen:


Adorons ce grand homme, \& penſons comme
il penſe.

Wer folglich dieſen Schimpf, da man die deut-
ſche und die menſchliche Natur von einander un-
terſcheidet, auf ſich ziehet, der verrath ſich eben
dadurch, daß er vor dem Baal des deutſchen
Witzes die Knie gebogen habe. Es hat ſich aber
der Schweitzer darum der allgemeinen Benen-
nung der deutſchen Nation bedient, ob er gleich
nur einen Theil darunter verſtanden haben will,
weil Hr. Gottſched dieſe allgemeine Benennung
ſo oft gebraucht, als er ſein ſelbſt angemaßtes
vormundſchaftliches Amt ausuͤben will, ohnge-
achtet nur ſehr wenige ſolches erkennen wollen;
wie aus der Vorrede zu dem von Hrn. Heine-
ken
uͤberſetzten griechiſchen Longin zu ſehen iſt:
Womit auch uͤbereinſtimmet, was der Verfaſ-
ſer der Goͤttingiſ. Zeitungen in dem 55. Stuͤcke
dieſes Jahrs auf der 495. Seite von den Leipzi-
giſchen Beluſtigern, als Hrn. Gottſcheds ge-
treuen Unter-Bedienten, ſagt;

„Man kan die
„Verfaſſer der Beluſtigungen nicht durchgaͤn-
„gig vor die Verfechter des deutſchen Witzes
„annehmen.„


B. Auf
[41]an die d. Geſ. von Greifswalde.

B. Auf der 416. Seite dieſes VI.ten Artickels
laßt ihr folgendes Urtheil einflieſſen:

„Der Herr
„Verfaſſer war der erſte, der uns ſowohl dem
„Namen, als der That nach, eine Critiſche
„Dichtkunſt geliefert hat.„

Dieſes Urtheil ſte-
het mit demjenigen, welches ihr auf der 427. Sei-
te aus dem II.ten Stuͤcke der Schweitzerſchen
Sammlungen anfuͤhret, in einem offenbaren Wie-
derſpruch, denn da heißt es:

„Es verdiente auch
„dieſe Dichtkunſt in Abſicht auf den Verfaſſer
„viel ehender hiſtoriſch, als critiſch genennet zu
„werden, es ſey denn, daß man das vortreffliche
„Critiſche Stuͤcke Bl. 181. wo er Sal. Francken
„Abendſegen auf eine ſcharffſinnige Weiſe beur-
„theilet, in eine beſondere Betrachtung ziehen
„wollte.„

Hier mangelt mir nichts als der Er-
weis: Jhr widerſprechet, ihr lobet; aber den
Grund warum ihr widerſprechet und lobet, den
finde ich nirgends, ungeachtet der zweyten Regel,
die ihr euch ſelbſt gemachet habet. Es fraget ſich
nemlich, ob Herrn Gottſcheds Dichtkunſt mit
Recht eine Critiſche Dichtkunſt heiſſen koͤnne? Ei-
ne Dichtkunſt verdienet erſt dannzumahl den Na-
men Critiſch, wenn ſie nicht bloß verſchiedene Ge-
dancken und Meinungen andrer von verſchiedenen
Lehrſaͤtzen anfuͤhret, oder eine Anleitung und Re-
geln giebt, wie ein Gedichte zu Stande zu bringen,
oder auch die Regeln mit einer philoſophiſchen
Gruͤndlichkeit erweiſet; ſondern wenn ſie, nach
Hrn. Gottſcheds eigner Erklaͤrung,

„die Schoͤn-
„heiten und Fehler vorkommender Meiſterſtuͤcke,
„nach gruͤndlich erwieſenen und feſt-geſetzten Re-


C 5„geln
[42]Von Langnau Schreiben

„geln vernuͤnfftig pruͤffet, und richtig beurtheilet.„
Urtheile uͤber Sachen, die wir von andern em-
pfangen und angenommen haben, gehoͤren nicht zu
der critiſchen, ſondern zu der hiſtoriſchen Erkennt-
niß. Dieſem zufolge ſodere ich billig von euch, um
euer Urtheil, und zugleich die Benennung der Gott-
ſchediſchen Dichtkunſt als einer Critiſchen zu recht-
fertigen, daß ihr mir diejenigen Meiſterſtuͤcke anzei-
get, deren Schoͤnheiten und Fehler Herr Gottſched
in ſeiner Dichtkunſt zuerſt nach vernuͤnftigen Regeln
gepruͤfet und richtig beurtheilet hat. Sonſt werde
ich dieſe Dichtkunſt immer nur fuͤr eine ſo-genannte
Critiſche Dichtkunſt anſehen, und behaupten,
daß das Beywort Critiſch auf dem Titel der
Gottſchediſchen Dichtkunſt eben ſo wenig einen zu-
reichenden Grund habe, als der Zuſatz fuͤr die
Deutſchen.
Da hingegen der Schweitzerſchen
Dichtkunſt dieſes Beywort kaum ein deutſcher Poet
ſtreitig machen wird. Siehe das VI.te Stuͤck der
Schweitzeriſch-critiſchen Sammlung Bl. 102. An-
merck. Q.


C. Auf der 424. Seite des VI.ten Artickels
ſtellet ihr die Schweitzerſche und die Gottſchediſche
Dichtkunſt in eine Vergleichung:

„So gleich-
„lautend der Titel auf beyden war, ſo unterſchie-
„den waren ſie gleichwohl ihrem Jnnhalte nach.
„Jn einem jeden Wercke war eine beſondere Ord-
„nung und Einrichtung. Man fand in dem er-
„ſten nothwendige Hauptſtuͤcke, die man in dem
„letzten vergebens ſuchte; und in dem letzten wur-
„den dagegen wiederum vortreffliche Materien
„ausgefuͤhret, die in dem erſtern entweder gar
„nicht,
[43]an die d. Geſ. von Greifswalde.
„nicht, oder nur mit wenigem waren beruͤhret
„worden.„

Jch koͤnnte zwar auch hier den Be-
weis fodern, was fuͤr nothwendige Hauptſtuͤcke in
der Breitingerſchen Dichtkunſt mangeln, die zu
dem allgemeinen Theil gehoͤren, und in der Leipzi-
giſchen zu finden ſind? Allein da dieſes Urtheil von
Herrn Gottſcheds nur in Anſehung des hoͤflichern
und gemilderten Ausdrucks unterſchieden iſt: die-
ſes Gottſchediſche Urtheil aber ſchon von andern zur
Genuͤge beleuchtet worden; ſo will ich mit bloſſem
Widerhohlen niemandem verdrießlich ſeyn, ſon-
dern euch lediglich auf das verweiſen, was daruͤ-
ber in dem dritten Anhange zu dem Ergaͤntzungs-
Stuͤcke der Trilleriſchen Fabeln in dem II.ten
Stuͤcke der critiſchen Sammluugen von Zuͤrich
Bl. 69. u. f. und in den Anmerckungen zu der
neuen Vorrede zur III. Gottſched. Dichtk. in dem
VI.ten Stuͤcke vorbedeuteter Sammlung Bl. 106.
u. f. zu leſen vorkoͤmmt.


D. Auf der 424. Seite des VI.ten Artickels
traget ihr euch mit gantz geheimen Nachrichten
von der erſten und wahren Urſache der entſtande-
nen Feindſchaft zwiſchen Hrn. Gottſched und Hr.
Breitinger. Jhr brauchet aber dieſe Nachrich-
ten auf eine recht argliſtige Weiſe nur um den Ver-
dacht einer bey den Schweitzern gegen Hrn. Gott-
ſcheden
herrſchenden heimlichen Feindſeligkeit, die
an dem hernach erwachſenen offenbaren Streit al-
leine Schuld geweſen ſey, den Leſern unvermerckt
beyzubringen. Wie ferne aber ein ſolches Betra-
gen mit der critiſchen Aufrichtigkeit und Unpartey-
ligkeit, und mit euern großſprechenden Verſiche-
run-
[44]Von Langnau Schreiben
rungen, und denen Regeln, die ihr euch ſelbſt ge-
machet haben wollet, uͤbereinſtimme, das laſſe ich
alle redlichen Deutſchen ſelbſt ermeſſen. Damit
aber die zuverlaͤſſige Glaubwirdigkeit eurer gehei-
men Nachrichten bey der heutigen unglaͤubigen
Welt nicht etwann Noth leiden moͤgte, ſo war die
Behutſamkeit ſolche zu verhehlen ſehr nothwendig;
Und die Worte: Die Geſchichte dieſer Tren-
nung gehoͤret nicht an dieſen Ort;
zeigen, daß
ihr gar wol mercket, wo es euch vortraͤglich iſt,
Geheimnißreich zu thun. Geheime Nachrichten
kan niemand weder billigen noch verwerffen, ſie
koͤnnen wahr ſeyn; ſie koͤnnen aber auch falſch oder
gar erdichtet ſeyn. Nur ſo viel kan ich euch die-
nen, daß Hr. Prof. Breitinger mit Hrn. Prof.
Gottſcheden niemals in einer freundſchaftlichen
Verbindung geſtanden, und alſo die Trennung,
davon euch eure geheime Nachrichten die Urſache
entdecken ſollen, recht unbegreifflich iſt. Jnzwi-
ſchen kan man die wahren Urſachen des erregten
und noch immer fortdaurenden critiſchen Kriegs, in
welchem Hr. Gottſched mit ſeinem Heere nach dem
erſten Angriff ſich in dem Streitfelde nur nicht
mehr darf blicken laſſen, aus der Vorrede zu der
Echo des deutſchen Witzes in dem IV.ten Stuͤcke
der Critiſch. Sammlung von Zuͤrich ſattſam er-
ſehen.


E. Auf der 425. Seiten des VI.ten Artickels
machet ihr eine Erzehlung, die mir einen Mangel
der Gemuͤthsbilligkeit nur zu ſehr verraͤth, und
eure großſprechenden Verſicherungen einer aufrich-
tigen Unparteylichkeit beſchaͤmet; Es heißt:


„Jm
[45]an die d. Geſ. von Greifswalde.

„Jm Jahr 1740. kam die beruͤhmte ſchweitzer-
„ſche Dichtkunſt zum Vorſchein. Des Hrn.
„Gottſcheds und ſeines Wercks ward in derſel-
„ben nur ſehr wenig gedacht; jedoch geſchahe ſol-
„ches allemal in ziemlich ſpoͤttiſchen und gehaͤſſi-
„gen Ausdruͤcken.„

Jch muß hierbey erinnern,
daß Hr. Prof. Breitinger, wenn anders die ge-
heimen Nachrichten von einer fruͤhern Trennung,
und einem gegen Hrn. Gottſched gefaßten Grol-
len Grund haben ſollten, bey dieſem Wercke die
beſte Gelegenheit gehabt haͤtte, ſich an Hr. Gott-
ſched
zu reiben: da haͤtte er zeigen koͤnnen, wie
wenig das Gottſchediſche Werck den Titel einer
critiſchen Dichtkunſt verdienete, und wie nothwen-
dig es demnach waͤre, dasjenige erſt noch auszu-
fuͤhren, was der Titel deſſelben zwar verſprochen
hatte, aber wircklich nicht leiſten koͤnnen. Die
Gottſchediſchen Poeſien, voraus auch diejenigen,
die er ſeinen Lehrſaͤtzen als Muſter beyzufuͤgen ſtolz
genug geweſen, haͤtten ihm Materie zu critiſchen
Unterſuchungen vollauf an die Hand gegeben. Er
haͤtte alle die Fehler, die erſt ſeither von den Schwei-
zern geoffenbaret worden, und noch tauſend andere
in dieſem Buche vorſtellen koͤnnen: und damit ich
mich durch ein Exempel noch naͤher erklaͤre, wo
haͤtte er bequemere Exempel ſchlechter Ueberſetzun-
gen, um das Capitel von der Kunſt zu uͤberſetzen
critiſch zu beleuchten, finden koͤnnen, als an Hrn.
Gottſcheds Ueberſetzung von Horazens Dicht-
kunſt,
oder der deutſchen Jphigenia? Alleindie-
ſes alles hat Hr. Breitinger bedaͤchtlich unterlaſ-
ſen; er wollte ſich weder durch unzeitiges Loben
ver-
[46]Von Langnau Schreiben
verſuͤndigen, noch durch den verhaßten obgleich ge-
rechten Tadel den Vorwurff der Eiſerſucht oder
des Handwercksneides auf den Hals laden. Es
kan einer Hrn. Breitingers critiſche Dichtkunſt
gantz durchleſen; er wird daraus kaum mercken,
daß ein Gottſched in der Welt iſt, der eine criti-
ſche Dichtkunſt geſchrieben haben will: Jhr muͤſ-
ſet ihm ſelbs das Zeugniß geben, daß er des Hrn.
Gottſcheds und ſeines Werckes nur wenig ge-
dacht:
Aber wenn ihr ſogleich hinzu fuͤget: Je-
doch geſchahe ſolches allemahl in ziemlich ſpoͤt-
tiſchen und gehaͤſſigen Ausdruͤcken;
ſo iſt die-
ſes eine critiſche Verlaͤumdung, die ihr mit den
großſprechenden Verſicherungen euers Vorberichts
vergleichen koͤnnet. Jn beyden Theilen der Brei-
tingerſchen Dichtkunſt koͤmmt der Nahme Gott-
ſched
kaum dreymahl zum Vorſcheine: Als nem-
lich in dem II.ten Theile auf der 331. Seite in den
Anmerckungen, wo er nur bloßhin, ohne den we-
nigſten Zuſatz, angefuͤhret wird; und in dem I. ſten
Theile auf der 325. Seite, wo ſeine Beſchreibung
der Sehnſucht nach friedlichen Zeiten, wircklich ge-
lobet wird, und nach dem Regiſter annoch auf der
304. wo ſein Nahme nicht ausgedruckt wird ſon-
dern es nur heiſſet, er buͤrdet Homer in der Be-
ſchreibung des Schildes Achilles ein Verſehen
auf.
Wer haͤtte nun glauben koͤnnen, daß eben
der ernſthafte moraliſche Straf-Prediger, den wir
oben angehoͤrt, und der nichts als Aufrichtigkeit,
Unparteyligkeit, Hoͤflichkeit, Gemuͤthsbilligkeit ꝛc.
und dergleichen in dem Munde fuͤhret, zur Erfin-
dung ſolcher Verlaͤumdungen zum Behuf eines
andern
[47]an die d. Geſ. von Greifswalde.
andern Hertz genug haben ſollte, wenn wir ihm
nicht hier, ſo zu reden, die Hand in dem Sack er-
wiſcht haͤtten? Kan dieſe Verleumdung nicht


„zum Beweiſe dienen, wie ſehr die Beurtheilungs-
„Kraft eines Kunſtrichters koͤnne verdorben wer-
„den, wenn er ſich von Haß und Partheylichkeit
„einnehmen laͤßt?„

Wenn Gottſched ſelbſt,
da er geſehen, daß er mit der Wahrheit nicht mehr
auskommen, noch den Verdacht des erſten An-
griffs von ſich ablehnen koͤnnte, auf eine ſolche Er-
findung gefallen waͤre, ſo haͤtte man es ihm noch
wohl uͤberſehen koͤnnen; aber daß ein dritter, den
es eigentlich nichts angehet, ob Gottſched die
Schweitzer gereitzt, und zum Kampf aufgefodert
habe, oder nicht, und der die ſcheinheilige Larve ei-
ner unparteyiſchen Beſcheidenheit uͤberall annimmt,
ſich ſolcher Erfindungen bedienet, um demje-
nigen Luft zu machen, und ein wenig aus der Noth
zu helffen, den man auch der Wahrheit zu Leide
gern beſchuͤtzen moͤchte, das iſt ein Beweiß eines
gantz verderbten Willens, und ein ſolcher hat wol
Urſache zu ſeufzen, daß die Critick nicht mit der
Satyre vermenget werden moͤgte. Mithin, un-
geachtet dieſes eine offenbar falſche Zulage iſt, daß
Hrn. Gottſcheds und ſeines Wercks allemal in
ziemlich ſpoͤttiſchen und gehaͤſſigen Ausdruͤcken ge-
dacht worden ſey, ſo oft deſſelben in der Breitin-
gerſchen Dichtkunſt gedacht worden iſt; ſo iſt hinge-
gen die wahre Urſache dieſes Aergerniſſes, welches
dieſe Leute ſo weit verleiten koͤnnen, daß ſie endlich
bey der Verlaͤumdung Schutz geſucht haben, kei-
ne andere, als daß Herr Prof. Breitinger den
be-
[48]Von Langnau Schreiben
beruͤhmten Gottſchediſchen Nahmen nur ſo ſpar-
ſam in ſeine Schrift gemiſchet, und deſſelben nur
ſo wenig gedacht hat: Dieſe ſtoltzen Leute neh-
men es vor eine groͤſſere Beſchimpfung auf, wenn
man ihrer gar nicht gedencket, als wenn man ſie
wircklich tadelt. Nach eben dieſer betruͤglichen
Argliſtigkeit, wodurch ihr die Leſer zum Vortheil
euers Helden einnehmen wollet, ſchmecket auch der
Verfolg eurer Erzehlung, wenn ihr Hrn. Gott-
ſcheds
Enthaltſamkeit von dieſem Wercke des
Schweitzerſchen Kunſtrichters eine vollſtaͤndige Be-
urtheilung zu geben, als eine Wirckung ſeines
philoſophiſchen und gleichguͤltigen Gemuͤths anmer-
ket, da ſie doch ſeinem Drohen zuſolge nicht aus-
geblieben waͤre, wenn er ſich darzu gewachſen ge-
funden haͤtte; wenn ihr uͤberdas verhehlet, daß
Hr. Gottſched in dem XXIV. Stuͤck der Critiſ.
Beytr. in dem ſaubern IV.ten Artickel Bl. 666.
ein haͤmiſches Urtheil von dieſer Breitingerſchen
Dichtkunſt gefaͤllet, da er die armſelige Muthmaſ-
ſung, nach ſeinen prophetiſchen Einſichten in das
kuͤnftige Geſchicke der Buͤcher, anfuͤhret, vielleicht
wird dieſe neue Dichtkunſt noch ein Buch be-
doͤrffen, welches ſie anpreiſe und beliebt ma-
che.
Wenn aber anders wahr ſeyn ſoll, was ihr
oben zu Anfange der 424. Seite gemeldet habet,
ſo verurtheilet ihr dieſen euern Helden ſelbs als ei-
nen falſchen Propheten. Wie kan nun wiederum
hiermit und mit der Wahrheit beſtehen, wenn ihr
vorgebet, Hr. Gottſched habe nur auf einer Stel-
le, und zwar nur gantz kurtz und ziemlich beſchei-
den von der neuen Dichtkunſt ſein Urtheil gegeben,
und
[49]an die d. Geſ. von Greifswalde.
und dieſe kurtze Beurtheilung habe die Schwei-
zer zu den bitterſten Gegenbeſchuldigungen auf-
gebracht? Wer wuͤrde doch aus einem ſolchen
Betragen vermuthen koͤnnen, daß euch ſo ſchwe-
re Regeln, als euer Vorbericht ſagt, in eurer
Erzehlung geleitet haben ſollten, da dieſelbe
gegen alle dieſe Regeln ſchnurſtracks verſtoͤſſet?
Und wer wird ins kuͤnftige euren Ausſpruͤchen
und Nachrichten mehr Glauben zuſtellen, oder
ſich eurer Beurtheilung unterwerffen, wenn er
nicht zum voraus eurer Gewogenheit verſichert
iſt? Jm uͤbrigen moͤget ihr aus den Urtheilen,
welche die Schweitzer von Hrn. Gottſcheds
Dichtkunſt gefaͤllt haben, noch ſo verhaßte Fol-
gen ziehen, ſo werdet ihr darmit nichts mehrers
erhalten, ſo lange dieſe Urtheile noch feſt ſtehen,
als daß man das Hertz faſſen wird, euren Fol-
gen, ſo fern ſie ſchlieſſen, Platz zu geben, ſo pa-
radox und widerſinnig ſelbige etwann vor der
Zeit moͤchten geſchienen haben. Bey dem al-
lem wird euch dennoch allezeit frey ſtehen, Hrn.
Prof. Gottſcheden als einen groſſen Weltwei-
ſen, Ueberſetzer, Kunſtrichter und Poeten, als
den deutſchen Bayle, Racine und Fontenelle
zu loben und zu verehren. Die Hrn. Schwei-
zer haben euch ja nirgends zugemuthet, dieſem
verdienten Manne eure Hochachtung zu verſa-
gen, daß ihr deßwegen von ihnen die Erlaub-
niß auszubitten gemuͤſſiget ſeyn ſolltet, denjeni-
gen zu loben, den ihr unmoͤglich tadeln koͤnnet:
Und ſie vor ſich halten mehr auf Redlichkeit, als
[Crit. Sam̃l. XI. St.[ Dauf
[50]Von Langnau Schreiben
auf Schmeicheleyen, und verlangen kein Lob,
wenn ſie es nicht verdienen.


F. Auf der 429. Seite des VIten Artickels
kommet ihr auf die Vertheidigung der Gott-
ſchediſchen Erklaͤrung von dem Geſchmacke. Wer
die Gottſchediſche Sprache, die er in ſeinen Ma-
giſterzeiten noch nicht geredet, ſondern erſt ſeit
wenig Jahren ſich angewoͤhnet hat, nicht ver-
ſtehet, der wuͤrde glauben, daß der Briefwech-
ſel von der Natur des poetiſchen Geſchmacks,

ſo im Jahr 1729. gefuͤhrt worden, ſeine Ge-
dancken, Erklaͤrungen und Saͤtze aus dem 3ten
Capitel der Gottſchediſchen Dichtkunſt hergelei-
tet, und nur weitlaͤuftiger ausgefuͤhret haͤtte;
allein da die Gottſchediſche Dichtkunſt allererſt
1730. hiemit ein Jahr ſpaͤter herausgegeben
worden, ſo leidet die Zeitrechnung dieſen Ver-
ſtand nicht, und Hrn. Gottſcheds Sprache
will auch in der That gantz was anders ſagen,
eben wie, wenn er ſagt, der groſſe Leibnitz iſt
hier vollkommen meiner Meinung,
ſolches
nicht ein mehrers zu bedeuten hat, als, ich bin
hierinn des groſſen Leibnitzen Meinung, ich
gebe derſelben voͤlligen Beyfall:
Nicht aber
umgekehrt, als ob der groſſe Leibnitz des Gott-
ſcheds
Meinung Beyfall gegeben haͤtte, denn
auch hier leidet die Zeitrechnung dieſen Ver-
ſtand nicht. Damit man aber ſolches nicht
mißdeutete, als ob man zu verſtehen geben wol-
le, Hr. Gottſched habe ſeine Abhandlung vom
Geſchmack im dritten Capitel der Dichtkunſt
aus dem Briefwechſel ausgeſchrieben, ſo war
erfor-
[51]an die d. Geſ. von Greifswalde.
erforderlich dieſer Mißdeutung vorzubiegen, und
ihn gegen dieſen Argwohn zu vertheidigen: Es
hat auch der Schweitzerſche Verfaſſer der Nach-
richten von dem Urſprung der Critick bey den
Deutſchen ihn von dieſer Beſchuldigung eben ſo
geſchickt, als von der Anklage des Ausſchrei-
bens uͤberhaupt loßgeſprochen und ſeine Unſchuld
vertheidiget. Und ihr koͤnnet nichts buͤndigers
wieder dieſe Vertheidigung einwenden, als
daß Hr. Gottſched in ſeinem 3ten Capitel von
dem Geſchmack doch auch etwas weniges geſagt
habe, welches mit dem Critiſchen Briefwechſel
meiſtentheils uͤbereinſtimme. Allein iſt darmit
erwieſen, was eigentlich ſollte erwieſen werden,
daß nemlich einer den andern koͤnnte ausgeſchrie-
ben haben? Kan es wohl anderſt ſeyn, wenn
zwey oder mehrere eine ausfuͤhrliche Erklaͤrung
von dem Geſchmack geben ſollen, als daß ſie
einander in einigen wenigen Saͤtzen auch treffen
muͤſſen? Jch haͤtte vielmehr gewuͤnſcht, daß
ihr Hrn. Gottſcheds Abhandlung von dem Ge-
ſchmack gegen die Anklage der Verwirrung und
Dunckelheit, worinnen der Schweitzer den
Hauptunterſcheid zwiſchen derſelben und dem
Critiſchen Briefwechſel ſetzet, zu vertheidigen
unternommen haben wuͤrdet, ſo haͤtte ich An-
laß gehabt meine weitern Gedancken von dieſem
3ten Capitel der Gottſchediſchen Dichtkunſt an
den Tag zu legen, und euch eine Probe von ei-
nem catechetiſchen Gottſched zur Beurtheilung
vorzulegen.


D 2G. Auf
[52]Von Langnau Schreiben

G. Auf der 434. Seite des VIten Artickels
beruͤhret ihr den Streit wegen des Schildes des
Achilles beym Homer. Jch gebe euch aber den
wohlgemeinten Rath, daß ihr euch zufolge der
erſten Regel, die euch vorgeſchrieben iſt, nicht
zuweit in dieſen Streit einlaſſet, bevor ihr Hrn.
Gottſcheds Entſcheid uͤber dieſelbe in ſeinen An-
merckungen zu des Ariſtoteles Dichtkunſt, die
ſchon lange im Manuſcript fertig liegen, wo er
den Dacier mit einer deutſchen Großmuth ab-
fertiget, werdet geleſen haben. Denn der klei-
ne Verſuch einer Vertheidigung des Gottſche-
diſchen Urtheils iſt ſo ſchwach gerathen, daß zu
fuͤrchten ſtehet, der Hr. Gottſched ſelbſt werde
euch wenig Danck dafuͤr wiſſen. Jhr ſaget erſt-
lich, nachdem ihr die angegebene Regel, nach
welcher Hr. Breitinger meinet, daß das Wahr-
ſcheinliche in den Beſchreibungen von Gemaͤhl-
den und andern dergleichen Kunſtwercken muͤſſe
beurtheilet werden, fuͤr guͤltig erklaͤret, Homer
wird nach dieſer Regel ſchlecht koͤnnen ver-
theidiget werden:
Das iſt wohl geſagt, aber
wo bleibt der Beweis? Dacier hat ihn wircklich
nach dieſer Regel vertheidiget, und ihr habt
ihn noch nicht widerlegt; und doch zweifelt ihr
noch an der Moͤglichkeit einer guten Vertheidi-
gung. So werdet ihr ſo gut ſeyn und in eurer
Logick das Axioma, ab eſle ad poſſe valet conſe-
quentia,
ausſtreichen. Nicht beſſer iſt das fol-
gende:

„Der Herr Breitinger ſelbſt hat wider
„den Homer geſchrieben, wenn er in der Ab-
„handlung von der Aeſopiſchen Fabel lehret,
„wie
[53]an die d. Geſ. von Greifswalde.
„wie behutſem ein Dichter ſeyn muͤſſe, den
„Wercken der Kunſt Verſtand und Rede bey-
„zulegen.„

Jch traue euch mehr Verſtand zu,
als daß ich noͤthig haben ſollte, euch weitlaͤuftig
zu erklaͤren, was fuͤr ein Unterſchied zwiſchen der
bloſſen Beſchreibung eines Gemaͤhldes, und
zwiſchen einer Fabel, obwalte; Die Beſchrei-
bung darf zum Lob der feinen Kunſt des Mah-
lers oder Gieſſers ohne Abbruch der Wahr-
ſcheinlichkeit, dem Gemaͤhlde ſelbſt zuſchreiben,
was immer ein aufmerckſamer Beſchauer dar-
aus lernen kan, denn ſo iſt nicht mehr in effec-
tu
als in cauſa: Aber die Fabel iſt eine Geſchich-
te, ſie will, daß man ſich die Sachen einbilde,
als ob ſie wircklich geſchehen waͤren; wenn man
nun dichtet, daß ein Kuͤnſtler ſeinem Wercke
wircklich Verſtand und Leben mitgetheilet, wer
will ſich ſolches als wircklich geſchehen einbilden
koͤnnen? Zugeſchweigen, daß die an angezoge-
nem Orte von Hrn. Breitingern eingeraͤumte
Freyheit allen denjenigen Kunſtwercken, die als
Emblemata angeſehen werden, und aufmerckſa-
men Beſchauern einen heilſamen Unterricht ge-
ben koͤnnen, Verſtand und Rede beyzulegen,
eben dienet, den Homer vollkommen zu rechtfer-
tigen. Was endlich den Beyfall Virgils, auf
den ihr euch beruffet, angehet, ſo beruhet der-
ſelbe auf einem ſo ſeichten Grunde, daß ich mich
dabey aufzuhalten, und meine Zeit darmit zu
verderben, mich recht von Hertzen ſchaͤmen
wuͤrde.


D 3H. Auf
[54]Von Langnau Schreiben

H. Auf der 434. Seite des VI.ten Artickels
gerathet ihr auf den Milton: Jhr ſaget;

„Der-
„ſelbe habe noch nach ſeinem Tode groſſe Unra-
„he, Zwiſtigkeit und oͤffentliche Feindſchaft un-
„ter unſern deutſchen Kunſtrichtern geſtiftet.„


Milton iſt bald 70. Jahre todt; Acht Jahre
nach ſeinem Tode gab der von Berge der deut-
ſchen Welt eine Reim-freye Ueberſetzung von die-
ſes Engellaͤnders Gedichte: allein da dieſer Ue-
berſetzer eine den deutſchen Ohren gantz unge-
wohnte Versart folgte, und die Ueberſetzung
neben dem ſehr hart, gezwungen, und unverſtaͤnd-
lich war, ſo ward dadurch das Miltoniſche Ge-
dicht bey den Deutſchen nicht bekannt, und die-
ſe Ueberſetzung hat nur ein dunckles Andencken
von einem verwegenen Vorſatz bis auf unſere
Zeiten fortbringen koͤnnen. Von dem Jahre
1682. bis auf das Jahr 1732. hiemit 50. gan-
zer Jahre blieb Milton bey der deutſchen Welt
gantz unbekannt, wenigſtens hat kein deutſcher
Kunſtrichter deſſelben irgendswo gedacht; Bis
endlich Hr. Gottſched in gedachtem 1732.ſten
Jahre in ſeinen Beytraͤgen eine Nachricht von
des von Berge Ueberſetzung gegeben, wo er den
ſchlechten Beyfall, den dieſe Ueberſetzung gefun-
den, ſelbſt der dadurch allzuſehr veraͤnderten
Geſtalt Miltons zuſchreibet, im uͤbrigen von
dem Gedichte ſelbs urtheilet,

„daß es die Eh-
„re verdiene, ſo wol als das befreyte Jeruſa-
„lem des Taſſo, einer Jlias und Aeneis an die
„Seite geſetzt zu werden.„

Daß er aber die-
ſes Urtheil hernach voͤllig zuruͤck genommen, iſt
ſich
[55]an die d. Geſ. von Greifswalde.
ſich nicht zu verwundern, wenn man bedencket,
was die mittlerzeit mit ihm vorgegangene groſſe
Veraͤnderung von ſeinen Magiſter-bis zu den
Hoch-Edelgebohrnen Magnificentz-Zeiten noth-
wendig vor eine wichtige Veraͤnderung in ſeinem
Kopf habe nach ſich ziehen muͤſſen. Seine Ur-
theile richten ſich immer nach ſeinem Willen,
und dieſer nach ſeinen aͤuſſerlichen Umſtaͤnden;
dahero ſie eben ſo unbeſtaͤndig ſeyn muͤſſen.
Wenn ihr demnach von Unruhe, Zwiſtigkeit
und oͤffentlicher Feindſchaft, die der Milton un-
ter unſern deutſchen Kunſtrichtern
geſtifftet,
gantz unbeſtimmt redet, ſo iſt dieſes nur von
Hrn. Gottſched und ſeiner Schule zu verſtehen,
die gantze uͤbrige deutſche Welt iſt dieſes Streits
halben eben ſo ruhig, als ſie vorhin geweſen iſt,
ehe es Hrn. Gottſched beliebt hat, ſein fuͤr Mil-
ton allzuguͤtiges Urtheil zuruͤckzunehmen, wel-
ches in das Jahr 1741. einfaͤllt. Jm uͤbrigen
muß man uͤber die Entſcheidung der Frage:


„Ob es wahr ſey, daß die Deutſchen an Mil-
„tons Gedichte keinen Geſchmack finden,„ zu


Rath ziehen, was davon in der Fortſezung der
Echo des deutſchen Wizes Artick.IX. in dem
VI.ten Stuͤcke der Crit. Samml. von Bl. 54.
bis 75. weitlaͤuftig ausgefuͤhrt worden iſt.


I. Auf der 436. Seite des VI.ten Artickels
nehmet ihr die Vertheidigung Hrn. Gottſcheds
wegen einer von ihm verworffenen und von den
Schweitzern verfochtenen metaphoriſchen Redens-
Art uͤber euch, ſaget aber nichts neues, als was
ihr in Gottſcheds Biedermanne, und ſonſt bey
D 4andern
[56]Von Langnau Schreiben
andern geleſen habet, und welches ſchon vielfaͤltig
wiederlegt worden. Jhr gebet zu, daß die ſtreiti-
ge Redens-Art, die Augen uͤber einen Gegen-
ſtand hinſpazieren laſſen,
von den Schweitzern
als eine Metapher aus der Analogie gruͤndlich ge-
ſchuͤtzt und gerechtfertiget worden: Allein ſie kom-
me euch dennoch noch ziemlich verdaͤchtig fuͤr, da-
rum weil ſie gantz neu und ungewohut ſey; und
Hr. Breitinger ſelbs die Regel gegeben habe:
Man muͤſſe keine metaphoriſche Redensart fuͤr guͤl-
tig annehmen, die mit dem allgemein einge-
fuͤhrten Gebrauche, und mit der guten Mundart
ſtreite. Jhr behauptet hiemit einerſeits, daß es
freylich erlaubt und gut, und zuweilen nothwendig
ſey, neue Metaphern in eine Sprache einzufuͤh-
ren, denn dieſes hat euch Hr. Breitinger ſo
gruͤndlich und uͤberzeugend gelehret, daß ihr ihm
euren Beyfall nicht verſagen koͤnnet. Aber auf der
andern Seite glaubet ihr auch, daß es nicht er-
laubt und gut ſey, neue und bisher in dem Deut-
ſchen ungebraͤuchliche Metaphern einzufuͤhren, denn
ihr wollet, daß man eine metaphoriſche Redens-
art, ſie mag an ihr ſelbs noch ſo richtig ſeyn, nur
darum verwerffe, weil ſie neu und bisher nicht ge-
braͤuchlich geweſen: und dieſes ſind eure alten tief-
eingeſeſſene Gedancken, die euch Hr. Gottſched
gelehret, und die zu verlaͤugnen, wenn man gleich
was beſſers erkennet, ſehr ſchwer faͤllt. Jhr glau-
bet hiemit widerſprechende Saͤtze, daß eben daſſel-
be Ding zugleich erlaubt und nicht erlaubt ſey.
Laß mir den einen Kunſtrichter ſeyn, der ſich zur
erſten Regel gemacht hat:

„Jch ſoll mich an kei-
„ne
[57]an die d. Geſ. von Greifswalde.
„ne Arbeit wagen, die ſich uͤber meine Kraͤfte
„erſtreckt!„

Und was ſoll euch die aus Hrn. Brei-
tinger
auſſer ihrem Zuſammenhang angefuͤhrte
Einſchraͤnckung helffen? Wahrlich nichts anders,
als daß ſie euern gantz verblendeten Sinn noch
mehr offenbaret: Sind denn, mit dem allge-
mein eingefuͤhrten Sprachgebrauche ſtreiten,

und neu und bisher noch ganz ungebraͤuchlich
ſeyn,
gleichguͤltige Ausdruͤcke? Oder muͤſſen alle
bisher unter den Deutſchen noch ungewohnte Me-
taphern, eben darum mit dem allgemeinen Sprach-
gebrauche ſtreiten? Zudem hat nicht Hr. Breit.
der von euch aus dem II.ten Theile ſeiner Dicht-
kunſt Bl. 339. angefuͤhrten Stelle, die er an die-
ſem Orte nicht einmal als eine Regel angiebt, ſo-
gleich folgendes beygeſetzet, welches eben dienet,
dem ihm angedichteten Unverſtand vorzubiegen,
und euch zu rechte zu weiſen:

„Dieſe abſonderli-
„che Erfahrung ſtoͤßt den oben durch die Erfah-
„rung feſtgeſezten Grundſatz von der Freyheit neuer
„Metaphern nicht uͤber einen Hauffen, ſondern
„ſetzet ihn nur in gewiſſe Schrancken, und ma-
„chet von der allgemeinen Regel eine Ausnahme.
„Und dieſe Schrancken werden wir leicht beſtim-
„men koͤnnen, wenn wir einmal die Urſachen,
„welche uns die Einfuͤhrung neuer Metaphern
„ſchwer, und oͤfters unmoͤglich machen, genug-
„ſam einſehen.„

Es werden auch hernach von
Bl. 339. bis 348. dieſe Urſachen entdecket, und
die Schrancken deutlich beſtimmet; Woraus er
denn Bl. 351. den Schluß machet:

„Jch ſchlieſſe
„alſo dahin, daß man neue Metaphern aus frem-
D 5„den
[58]Von Langnau Schreiben
„den Sprachen, wenn ſie mit dem eingefuͤhr-
„ten Gebrauch der Woͤrter nicht ſtreiten,

„noch wider die Analogie, noch gegen die Natur
„und Regeln einer guten Metapher verſtoſſen,
„ſondern neben der Wahrſcheinlichkeit noch eine
„Nothwendigkeit zum Grund haben, darum nicht
„verwerffen koͤnne, weil ſie bisher ganz unge-
„wohnt geweſen. ꝛc.„

Jm uͤbrigen, wenn die
Deutſchen das Wort ſpazieren durch einen Natio-
nal-Schluß ſeines deutſchen Buͤrgerrechts entſezen
und in die Acht erklaͤren wollen, ſo moͤgen ſie es
meinethalben thun: wenn ſie nur die Gnade haben,
das durch dieſes Wort bezeichnete Ergetzen nicht
zu verbieten. So liegt mir auch wenig daran, ob
ſie mehr Ergetzen bey dem gehen, als bey dem ſpa-
zieren
finden: Aber das muß ich ſie doch erinnern,
daß wenn ſie das Wort ſpazieren in die Acht er-
klaͤren, und kuͤnftig das gehen darfuͤr gebrauchen
wollen, ſie damit das Ergetzen verlieren, welches
man bisdahin durch ſpazieren fahren, ſpazieren
reiten
ausgedruͤcket hat; oder wo ſie es dennoch
beybehalten wollen, ſo werden ſie es in Zukunft
durch gehen reiten, gehen fahren bezeichnen muͤſ-
ſen. Was endlich das vorgeſchlagene tanzen und
ſpringen der Augen angehet, ſo verweiſe ich euch
auf das III. Stuͤck der Critiſchen Sammlungen
Bl. 28. und auf die Fortſetzung der Critiſchen
Dichkunſt Bl. 347. wo dieſer ausſchweiffende
Vorſchlag ſeine Abfertigung finden wird.


K. So wenig, als ihr auf der 441. Seite
des VI.ten Artickels, will ich die ſpitzige Frage an
dieſem Orte eroͤrtern: Ob Schoch in der Verfer-
tigung
[59]an die d. Geſ. von Greifswalde.
tigung ſeiner Hirtenlieder Ehre eingelegt habe oder
nicht? Jn dem Tempel des guten Geſchmacks
fuͤr die Deutſchen
Bl. 26. leſe ich folgendes:


„Man ſagt, daß Schoch einsmal in dieſen Tem-
„pel hinein gehen wollen, und ſich auf dieſe Verſe
„aus der Critick uͤber die deutſchen Dichter ſehr
„getroſt beruffen habe:


Hingegen preißte Schoch, in Leipzigs kuͤhlen Luͤften,

Als deutſcher Theocrit, die Heerden und die Triften.

„Doch die Critick hatte zu ſeinem Ungluͤcke ei-
„nige Blaͤtter aus ſeine Friedensſchaͤferey ge-
„leſen, drum verſagte ſie ihm den Eingang, und
„ließ hingegen den anmuthigen Hagedorn hinein,
„der in ſeinen Schaͤfererzehlungen ſo ungekuͤnſtelt,
„zaͤrtlich und natuͤrlich iſt.„


L. Auf der 444. Seite des VI.ten Artickels hoh-
let ihr eine Streitfrage nach, daruͤber ihr euer Ur-
theil bisdahin ausgeſtellt habet. Sie iſt dieſe:
„Ob die Critick gluͤcklicher auf verſtorbene, oder
„auf lebende gerichtet werde?„ Und euer Ent-
ſcheid uͤber dieſe Frage iſt wiederum ſo ungewiß,
daß man faſt vermuthen ſollte, die Frage waͤre
euch entweder zu hoch geweſen, ſo daß ihr euch
nicht wohl habet zu recht finden koͤnnen; oder es
haben euch beyde Meynungen beynahe gleich be-
gruͤndet angeſchienen, ſo daß ihr keiner euern Bey-
fall geradezu habet verſagen wollen. Jhr beken-
net erſtlich:

„Es iſt wahr, daß die Gruͤnde, die
„der Herr Bodmer anfuͤhret, ein ſtarckes Ge-
„wicht haben, und wir glauben ſelbſt, daß es ge-
„wiſſermaſſen beſſer ſey, die Critick gegen noch
„leben-
[60]Von Langnau Schreiben
„lebende, als gegen bereits verſtorbene zu gebrau-
„chen.„ Bald aber, nachdem ihr ein wenig


uͤberlegt, wie heilſam es fuͤr die allgemeine Si-
cherheit einiger heutigen Schriftverfaſſer ſeyn wuͤr-
de, wenn man die noch lebenden mit Criticken und
Tadel verſchonen wollte; ſo erklaͤret ihr euch, „man


„koͤnne uͤber dieſe Frage nichts gewiſſes beſtim-
„men; ſondern es komme auf die Gemuͤths-Be-
„ſchaffenheit eines jeden Kunſtrichters an.„ Es


koͤmmt aber aller Unterſchied in Abſicht auf die Ge-
muͤthsbeſchaffenheit eines Kunſtrichters darauf an;
daß er in ſeinen Urtheilen von dem Schoͤnen und
Tadelhaften einer Schrift entweder gerecht und
beſcheiden; oder ungerecht und ſtoͤrriſch iſt: Jſt er
gerecht und beſcheiden, warum ſollte er nicht ſo
wohl berechtiget ſeyn, die Lebenden, als die Todten
fuͤr ſein Gericht zu fodern? Die Haupt-Abſicht
eines Schriftenrichters gehet voͤrderſt auf die Ver-
beſſerung desjenigen, der gefehlet hat; wo kan
man aber von einem Todten einige Beſſerung hof-
fen? Folglich kan die voͤrderſte Haupt-Abſicht
der Critick bey den Todten unmoͤglich erzielet wer-
den. Jſt im Gegentheil ein Kunſtrichter in ſei-
nen Urtheilen ungerecht und ſtoͤrriſch, wer will ihm
denn die Todten Preis geben? Jſt es nicht eine
doppelte Ungerechtigkeit, mortuo inſultare leoni,
einen Todten verleumden; der ſich nicht mehr ver-
antworten kan? Darum wird auch in foro civili
keine Actio gegen einen Todten verſtattet. Jch
moͤchte demnach wol ſehen, wie ihr aus der Ge-
muͤthsbeſchaffenheit eines Schriftenrichters jemals
die Nothwendigkeit und den Vorzug der Critick
uͤber
[61]an die d. Geſ. von Greifswalde.
uͤber die Todten vor der Critick uͤber die Lebenden
wolltet beſtimmen, oder die Gottſchediſche Regel
rechtfertigen koͤnnen, welche will, daß man die
Critick nur allein auf die Todten richten ſoll.

Das laͤßt ſich aus der Gemuͤths-Beſchaffenheit
derjenigen, die dieſe Gottſchediſche Regel willig an-
nehmen, und ſie gerne verfechten moͤchten, wenn
ſie nur koͤnnten, beſtimmen, was ihnen ſelbige ſo
beliebt mache, nemlich das boͤſe Gewiſſen elender
Scribenten, und das gerechte Mißtrauen in ihre
eigene Schriften. Das hat der elende Verfaſſer
der Anmerckungen uͤber das Ergaͤntzungs-Stuͤck
in den Leipzigiſchen Beluſtigungen des Witzes in
der XVI.ten Anmerckung ſelbſt aufrichtig geſtanden,
da er ſagt:

„Einjeder muß billig an dem Hrn.
„Prof. Gottſched als eine wuͤrckliche Klugheit lo-
„ben, daß er ſich nicht auf eine ſtrenge Beur-
„theilung der Herren Jetztlebenden eingelaſſen.
Was ſollte er ſich Feinde machen, da er es
„erſparen konnte?

Hr. Prof. Gottſched
ſchreibt ſelbſt in ſeiner erſten Vorrede zu der Dicht-
kunſt, wie ihr Bl. 417. aus ihm anfuͤhret:

„Man
„hat keine Urſache vor einer vernuͤnftigen Critick
„einen Abſcheu zu bezeugen, wenn man nur vor
„ſich ſicher iſt, und nicht fuͤrchten darf, ſelbſt in
„ihre Unterſuchung zu gerathen. Wer ein gu-
„tes Gewiſſen hat, daß nemlich ſeine Sachen
„nach den wahren Kunſtregeln ausgearbeitet wor-
„den, der wird keine Feindſchaft gegen die Cri-
„ticos blicken laſſen.„

Welche Worte ja eben
ſo viel ſagen, als: Derjenige, der eine gute und
gerechte Critick uͤbel nehme und den Criticum des-
wegen
[62]Von Laugnau Schreiben
wegen anfeinde, der ſey ein elender Scribent,
und thue es aus keiner andern Urſache als weil ihm
ſein boͤſes Gewiſſen Furcht einjage. Folglich be-
ſtehet die Klugheit, die Gottſched durch die
Regel, daß man die Lebenden nicht tadeln ſoll,
an den Tag legen wollen, und die der Belu-
ſtiger
ſo ſehr anpreiſet, in der Behutſamkeit die
elenden Scribenten nicht zu beunruhigen, oder durch
einen gerechten Tadel zu beleidigen. Er wird aber
nicht alle Jtztlebenden fuͤr ſolche elende Scribenten
halten, die ſich uͤber eine gerechte Critick ſo gleich
erzoͤrnen, da er ſich die Regel gemacht, daß er kei-
nen Jtztlebenden tadeln wolle.


M. Auf der 455. Seite des VI.ten Artickels
wollet ihr den Hrn. Prof. Gottſcheden gemach-
ten Fuͤrwurf, daß er die Exempel zu ſeinen Lehr-
ſaͤtzen nur allein aus ſeinen eigenen Schriften ge-
nommen, damit abheben, daß ihr ſaget:

„Doch
„dieſer Fuͤrwurff trift nur die beiden erſten Aus-
„gaben ſeines Wercks; denn bey der letzten Auf-
„lage ſind anſtatt ſeiner eigenen Arbeit lauter
„Meiſterſtuͤcke von unſern beſten Dichtern der
„vorigen Zeit eingeſchaltet worden.„

Jhr
ſcheinet mit dieſen Worten zu bekennen, daß der
Fuͤrwurf die fuͤnfzehn Jahre, ſo lange nemlich die
zwo erſten Ausgaben der Gottſchediſchen Dicht-
kunſt in den deutſchen Schulen gebraucht worden,
gerecht und begruͤndt geweſen ſey. Und es iſt in
der That ein Stoltz ohne Exempel, daß ein Lehrer
der Dichtkunſt in allen Gattungen von Gedichten
ſeine eigenen Hirngeburten als Muſter darlege, da
es ſchon laͤngſten zu einer Regel geworden: Op-
tima
[63]an die d. Geſ. von Greifswalde.
tima quæque ad imitandum eſſe proponenda. Und
da Hr. Gottſched unter dieſen Muſtern von ſeiner
Arbeit auch Knittelverſe andern zur Nachahmung
geſchrieben, und ſelbige als Ehren- und Lob-Ge-
dichte aufgeſtellet hat, ſo iſt die von Hrn. Sie-
brand
hieruͤber gemachte ſcherzhafte Antung wahr-
haftig nicht ohne Grund geweſen, und hat nicht
verdienet, daß er daruͤber in der feinen Gottſched-
critiſchen Sprache von euch ſo veraͤchtlich gehalten
wuͤrde: wie es Bl. 442. geſchieht, wenn ihr ſa-
get:

„Der Herr Siebrand hat ſich von uns kei-
„ner weitern Widerlegung zu befuͤrchten; Ei-
„nem ſolchen Kunſtrichter muß billig in Knittel-
„verſen geantwortet werden.„

Das heißt ziem-
lich groß und unbeſcheiden thun, und ich bin ſicher,
daß ihr auf dieſen Fuͤrwurff nichts antworten koͤnnet
als Knittelverſe. Mithin iſt der ruhmraͤthige Stoltz,
ſich ſelbſt der deutſchen Welt zum Muſter der Nach-
ahmung aufzuſtellen, der dritten und letzten Aus-
gabe niemahls vorgeworffen worden, wie ihr heim-
tuͤckiſcher Weiſe ſcheinet zu verſtehen zu geben. Und
der gekuͤnſtelte Schwung, den ihr eurer Rede ge-
bet, da ihr ſaget: Doch dieſer Fuͤrwurff trifft
nur die beyden erſten Ausgaben ſeines Wercks,

zeiget mir, daß ihr eben ſo wenig Redlichkeit ha-
bet, als Hr. Gottſched, Fehler, die keines An-
ſtrichs faͤhig ſind, und derer ihr euch heimlich ſchaͤ-
met, zu bekennen. Und da Hr. Prof. Gottſched
in der letzten Auflage, auf das mit Ernſt und
Schertz vermengte Zureden der Schweitzer, dieſe
laͤcherliche Hoffartsſuͤnde abgeleget, und zu einer
ſo wichtigen Veraͤnderung geſchritten, ſo iſt dieſes
ein
[64]Von Langnau Schreiben
ein Zeugniß theils, daß der Herr Profeſſor fuͤr
eine um etwas lebhafte Critick nicht gantz unver-
beſſerlich ſey, und theils von der heilſamen Wir-
kung der Schweitzerſchen Critick auf denſelben,
ohne welche dieſe fuͤr die Gottſchediſche Dichtkunſt
ſo ruͤhmliche und fuͤr die deutſchen Schulen ſo nuͤtz-
liche Hauptveraͤnderung ſeines Werckes niemahls
erfolget waͤre, vielweniger aber wenn die Schwei-
zer, nach eurem Rath, ſich mit der Critick an
Verſtorbene gewaget haͤtten,
d. i. wenn ſie mit
ihrer Critick dem noch lebenden Gottſched geſcho-
net haͤtten. Ob inzwiſchen die anſtatt ſeiner eige-
nen Arbeit neu eingeſchalteten Stuͤcke aus unſern
beſten Dichtern eben lauter Meiſterſtuͤcke ſeyen,
wie ihr Hrn. Gottſcheden glaͤubig nachgebethet,
das will ich hier eben ſo genau nicht ausmachen;
ſondern nur uͤberhaupt ſo viel ſagen, daß ich man-
ches darunter, ſonderlich von Menantes und Neu-
kirchen
verfertigtes Stuͤcke davor nicht erkenne,
auch bereit bin, meine rationes dubitandi auf Ver-
langen deutlich anzugeben: So daß ich ſorge,
auch dieſe getroffene Wahl moͤgte den Geſchmack
Hrn. Prof. Gottſcheds zuweilen beſchimpfen, und
es werde ihm eben nicht ruͤhmlich ſeyn, daß er
Menantes und Neukirch unter unſre beſten Dich-
ter mitrechnet. Endlich laſſe ich hier uneroͤrtert,
ob die Einſchaltung ſo vieler fremder Exempel oh-
ne Critiſche Pruͤffung aus gedruͤckten und nicht un-
bekannten Buͤchern in der neuen Ausgabe der Gott-
ſchediſchen Dichtkunſt einen andern Grund ihrer
Nothwendigkeit habe, als das Buch um mehr als
einen dritten Theil zu vergroͤſſern? und ob dieſer
Grund der Nothwendigkeit zureichend ſey?


[65]an die d. Geſ. von Greifswalde.

N. Auf der 456. Seite des VI.ten Artickels,
kommt noch eine feine und recht ſpitzfuͤndige Ge-
genbeſchuldigung unter einem fremden Nahmen
zum Vorſchein, womit ihr eure Critiſchen Be-
trachtungen uͤber Hrn. Gottſcheds neue Dicht-
kunſt auf eine ſinnreiche Art beſchlieſſet. Jhr
ſtellet euch an, als ob ihr gegen einem Freunde
die Partey des Schweitzers genommen habet,
um demſelben eine feine Stachelrede zu lehnen,
die euch als einem Vertheidiger des Schweitzers
eben nicht zum beſten angeſtanden: Allein


Non his auxiliis, nec defenſoribus iſtis
Tempus eget!

Und welches iſt denn dieſe ſo gar feine Stachel-
rede?

„Endlich ward er boͤſe und ſprach: Jſt
„denn der Herr Gottſched deßwegen zu tadeln
„geweſen, ſo hat er es gleichwohl noch nicht
„ſo arg gemacht, daß er eines ſeiner Gedichte
„gantz und gar zergliedert, und uns ſorgfaͤl-
„tig alle Schoͤnheiten deſſelben angezeiget ha-
„ben ſollte, aus Furcht, es moͤchten dieſelben
„von andern nicht wahrgenommen werden.„


Unſtreitig waͤre es arg genug fuͤr Hrn. Prof.
Gottſcheden, wenn man ſeine Gedichte, die
er der Welt ſelbſt als Muſter anpreiſet, eines
nach dem andern gantz und gar zergliederte, und
ſorgfaͤltig ausſetzte, was ſeine blinden Verehrer
bisher daran nicht wahrgenommen haben. Zwar
ſollte Hr. Gottſched dieſe Critiſche Operation
ſelbſt vorgenommen haben, wie dieſer Unbe-
kannte, den ihr redend einfuͤhret, zu wuͤnſchen
ſcheinet, ſo glaube ich auch, daß es fuͤr ihn
[Crit. Saml. XI. St.] Eeben
[66]Von Langnau Schreiben
eben nicht ſo arg herausgekommen waͤre, er
wuͤrde gewiß ſolche Schoͤnheiten darinn gefun-
den und angezeigt haben, die von keinem an-
dern Menſchen weder zuvor noch darnach wuͤrden
wahrgenommen worden ſeyn. Wie ſollte es
aber moͤglich ſeyn, daß Hr. Gottſched ſelbſt mit
ſeinen eigenen Gedichten dergleichen Critiſche
und regelmaͤſſige Operation ſollte vornehmen
koͤnnen, da dieſelben mehr durch einen gluͤckli-
chen Zufall, als nach einem uͤberlegten Ent-
wurff, wie zerfloſſenes Bley in einen Klumpen,
zuſammen geronnen ſind? Was nach Regeln
ſoll unterſucht, zergliedert und beurtheilt wer-
den, das muß nach einem vernuͤnftigen Plan
und gantz regelmaͤſſig eingerichtet ſeyn. Ein re-
gelmaͤſſiger und vernuͤnftiger Verfaſſer muß von
allem Rechenſchaft geben und zeigen koͤnnen,
in was vor Abſichten er jeden Satz und Theil
ſeiner Schrift an dieſem Orte, in dieſem Gra-
de, in dieſem Licht, in dieſer Verbindung an-
gebracht, wie eines in dem andern, und alles
zuſammen genommen in eben derſelben Haupt-
Abſicht gegruͤndet ſey. Und es wuͤrde uͤberaus
nuͤtzlich ſeyn, wenn die Kunſtrichter nicht nur
andern Schriftverfaſſern auf die Spurgiengen,
ſondern auch jeder Verfaſſer, der nach Abſich-
ten und Regeln handelt, uns dieſelben in ſeinen
eignen Wercken verkundſchaften und offenbah-
ren wuͤrde, damit wir andere urtheilen koͤnnten,
wiefern er ſeine Abſichten gluͤcklich erreicht, und
ſeinen Regeln eine Genuͤge geleiſtet habe. Die-
ſes kan ohne alle Prahlerey und Ruhmraͤthig-
keit
[67]an die d. Geſ. von Greifswalde.
keit geſchehen, weil man nicht mehr ſagt, als
daß man nach Abſichten gehandelt, und nach
welchen man an jedem Orte gehandelt habe, das
Urtheil aber von denen Abſichten und Regeln,
und wie fern man es getroffen, jedermann frey
laͤßt. Womit aber in keine Vergleichung kan
gezogen werden, wenn man ſeine eigenen Ge-
dichte, ohne einige Anzeige warum, einer gan-
zen Nation als Muſter zur Nachahmung anprei-
ſet, zumahl wenn ſie hernach bey einer genauern
Pruͤfung meiſtens ſo elend und abgeſchmackt be-
funden werden.


Jch hatte mir zu Anfang dieſes Schreibens
vorgenommen, mit meinen Unterſuchungen wei-
ter fortzugehen, allein da ich izo vorherſehe,
daß der 3te Art. des V.ten St. mir zum wenig-
ſten ſo viel Materie zu verarbeiten an die Hand
geben wuͤrde, als ich in dem VI.ten Art. des
IV.ten St. gefunden habe, ſo will ich dieſes
Schreiben ſchlieſſen, und das uͤbrige kuͤnftig in
einem neuen Schreiben nachbringen, damit ſo-
wohl mir als meinen Gegnern die Buͤrde der
Anklage und der Verantwortung, wenn ſie ſo
getheilet wird, einigermaſſen erleichtert werde.
Jch werde deſtoweniger damit eilen, wenn ich
vernehmen werde, daß meine gegenwaͤrtige Er-
innerungen und Beſtraffungen bey denjenigen,
welche ſie angehen, einigen Eingang gefunden,
und einiges Nachſinnen erwecket haben; denn
es wird mir nichts angenehmer ſeyn, als daß
ſie ſich ohne meine Bemuͤhung begreiffen, und
die Betrachtungen bey und unter ſich ſelber an-
E 2ſtellen,
[68]Von Langnau Schreiben.
ſtellen, welche ein jeder zum Nachſinnen gewoͤhn-
ter Kopf bey einem wohlgearteten Gemuͤthe oh-
ne groſſe Kunſt und mit wenigerm Verdruſſe fuͤr
ſich ſelbſt wird anſtellen koͤnnen. Die Beſtraf-
fung iſt nicht mein Endzweck, ſondern ich ſuche
durch die Beſtraffung die Erbauung, und wenn
dieſe ohne die erſtere zu erhalten iſt, ſo koſtet es
mich keine Muͤhe die Feder nieder zulegen. Jch
hoffe dadurch die Freundſchaft der Geſellſchaft
uͤberhaupt, aber hauptſaͤchlich derer beſonderen
Perſonen, welche ſich von meinen Beſchuldigun-
gen getroffen ſehen, vielmehr verdienet als ver-
wuͤrcket zu haben. Was mich anlanget, ſo
bin ich derſelben, und der gantzen Geſellſchaft



ergebener und gehorſamer
Diener
Petermann von Langnau.



[[69]]

Arion,
Eine
Poetiſche
Erzehlung.


[[70]][71]Arion, eine poet. Erzehlung.

Arion
Eine poetiſche Erzehlung.


DJe Schiffer empfiengen den Wind mit
froͤhlichem Gejauchze, die aufgeſchwelleten
Segel trugen das Schiff pfeilgeſchwin-
de durch die flache See weg, der ſtarcke Maſt bog
ſich, laͤngſt hatte ſich der gellende Klang verlohren,
der abwechſelend kam, verſchwand, und bald et-
was ſchwaͤcher unſre Fahrenden erreichte, und der
ihnen von tauſend Zungen nachgeſchickt ward, die
mit unverſtaͤndlichem Gemiſche Gluͤck und Arion
erthoͤnen lieſſen, die verſengten Spitzen des Aetna
wurden gantz blau, und vermiſchten ſich mit den
Wolcken: Als Arion, der zwar uͤber den innigen
Abſchied ſeiner Freunde einige Bitterkeit im Her-
zen fuͤhlte, ſich aber mit dem nahen Anblicke ſei-
nes Corinthens allen Unmuth vertrieb, auf das
Oberdach des Schiffes hinauf ſtieg. Er ſatzte ſich
ohnweit von dem Orte, wo das goldene Geraͤthe
lag, welches ihm der bezaubernde Ton ſeiner
Leyer durch das fruchtbare Jtalien, und das ange-
nehme Sicilien erworben hatte. Hier ſtaͤmmete
er ſich auf ſeinen Arm, und betrachtete ein Stuͤ-
ke nach dem andern; Ringe, darinn Rubinen brann-
ten, Saphire, die das klare Gruͤne des Meeres
nachmahleten, wenn uͤberher der blaue Himmel
laͤchelt, oder den Schmuck, den Flora der jun-
gen Erde umſchuͤrzet, wo der fette Klee, und die
E 4braune
[72]Arion
braune Viol mit einander in die Wette ſpielen;
theure Teppiche, Becher, darauf die Kunſt, und
die Reinigkeit des Goldes, einander die Wage
hielten. Er betrachtete ſonderlich einen von dieſen,
ein Werck des beruͤhmten Alcons, dem Pallas
ſelbſt die Schlaͤge des Hammers gefuͤhret. Or-
pheus ſtuhnd hier an der Schwelle des Avernus,
der vor den bittern Blicken Plutons erzittert, er
ſtuhnd da, wo das ſchwarze, Schrecken des dun-
keln Gehoͤltzes an den ſchleichenden Schlamm des
Cocytus ſtoͤßt, der ſich durch wuͤſten Schilf neun-
mahl um das erſchreckende Reich herumziehet. Die
leichten Schatten flatterten um ihn herum. Man
ſah Verzweiflung auf ſeinem Geſichte ſitzen, als
er mit ſeiner Hand die Saiten ruͤhrte, welche den
Tartarus bezwangen, und die Lieder erklingen
ließ, welche Hertzen, die von Erbarmen nichts wiſ-
ſen, bewegeten, Lieder die das Gebelle des drey-
koͤpfigten Cerberus zum Stillſchweigen noͤthigten,
das Raſſeln der Peinraͤder und der geſchleppeten
Ketten unterbrochen, bis in die innerſten Kluͤfte
des Erebus ergelleten, und das Felſen-Hertz des
Hoͤllen-Gottes erweicheten. Arion erinnerte ſich,
bey Anſchauung dieſer Reichthuͤmer, derer, die
ſie ihm geſchencket hatten. Habet Danck, ſagte
er, Meine Freunde, Meine Goͤnner. Doch
auch ohne dieſe Zeichen wuͤrde ſich euer Andencken
bey mir niemahls verliehren. Jch werde ſtuͤndlich
euer Gedaͤchtniß verehren. Jch weiß auch gewiß,
Arion wird bey euch nicht vergeſſen werden, wenig-
ſtens wird ſein Bild euch vorſchweben, wann ihr
bey dem Ton einer Laute eure gewohnte Reyhen
for-
[73]eine poetiſche Erzehlung.
formieret, oder wann ihr an einen redlichen Freund
ſinnen wollet. Mit was vor Schmertzen mangle
ich die Luſt, die mir eure Liebe ſtuͤndlich zu machen
bemuͤhet war. Jch wuͤrde ungerecht ſeyn, Mei-
ne Freunde, wenn ich ohne Urſache unſern Um-
gang getrennet haͤtte. Jch ſchien nicht ſtandhaft
zu ſeyn; aber ich mußte doch einmahl ſcheiden; be-
dencket, daß wir nicht immer einander umfangen
konnten. Allein ich habe vergebliche Furcht. Jhr
habet ſelbſt, obgleich ungerne, die Nothwendig-
keit meines Scheidens erkennt. Jhr werdet mich
eben ſowohl abweſend lieben, als anweſend. Jhr
habet ja ſelbſt meine Abreiſe beſorget, ſelbſt das
Schiff angeordnet, ſelbſt eure getreueſten und er-
fahrenſten Knechte mir mitgegeben, die euch den
baldigen Bericht bringen ſollten, daß Arion ver-
gnuͤgt bey ſeinem Periander ſey. Ach Periander,
Mein Koͤnig, Mein Freund, darf ich hoffen,
daß mein Anblick dein groſſes Hertz ſo ruͤhren wer-
de, als mein Abſcheid es gethan hat? Hoffen,
daß meine Laute noch faͤhig ſey dich zu ermuntern,
dein ſorgenvolles Gemuͤthe zu erheitern, und zu-
gleich die Schaar deiner Diener freudig zu ma-
chen? Die Ehrfurcht gegen dir allein machet, daß
ich meine neue Geliebte habe verlaſſen koͤnnen. Jch
weiß, wie freundlich dein Begruͤſſen ſeyn wird,
wie ſorgfaͤltig dein Fragen nach meinen Zufaͤllen,
ſeit dem du mich ſo ungerne aus deinen Armen weg-
gelaſſen. Kuͤnftig widme ich mich gantz dir allein.
Er iſt der Anfang meines Gluͤckes. ‒ ‒ ‒


Dieſes ſagte Arion, das aufrichtige Hertz, als
ein Geſchrey von vermiſchten Stimmen, ein na-
E 5hes
[74]Arion
hes Gepolter von Fußſchlaͤgen, die Gefahr drohe-
ten, ihm ein ploͤtzliches Schrecken verurſachten,
es betauͤbte ihn ein Getoͤne von Degen, das dem
glich, welches erhitzte Soldaten machen, die
durch innerlichen Zorn und die Anrede eines klugen
Fuͤhrers angeſpornet, Wuth und Feuer von ſich
ſchnauben, wenn ſie aus Unmuth uͤber den Ver-
zug des Treffens knirrſchen, und die ſchweren
Spieſſe auf ihren ehrenen Schilden anſchlagen.
Er erſtaunete, da er die Knechte, welche ſeine Freun-
ihm zur Aufwart auserleſen hatten, tobend auf
ſich eindringen ſah. Jhre Haͤnde waren mit Mord-
Gewehren bewaffnet, deren jedes ihm den nahen
Tod drohete. Der allerſchaͤndlichſte Geitz hatte ſie
verblendet, und ihr Hertz vergiftet. Jhr Vor-
haben zwang ihnen eine finſtere Roͤthe aus, ihre
Geſichter ſchienen verwirret, da ſie deſſen anſich-
tig wurden, den ſie ermorden wollten. Aber es
war zu ſpaͤth, den Anſchlag ohne Gefahr liegen
zu laſſen. Das vor Augen liegende Gold reitzte ihre
Boßheit noch mehr. Jzo hieng uͤber ſeiner Scheitel
der zitternde Stahl, der ſein roͤthlichtes Haupt
von dem Marmor-Halſe wegreiſſen ſollte; als
Arion mit einem lauten Schrey ruͤckwaͤrts ſprang,
dem toͤdlichen Schlag auswich, und alle ſein Ver-
moͤgen nur fuͤr ſein Leben anboth. Einmahl uͤber
das andre rufte er ſeine Freunde, ihre Herren,
ihre Gutthaͤter, ihre Ernaͤhrer. Sie ſahen ein-
ander an, ſchloſſen ſich in einen Kreiß, zweifel-
haftige Seitenblicke fielen aus ihren Augen gegen
Arion. Jhr Hertz ſchlug ihnen in dem Buſen,
da zwey widerwaͤrtige Begierden, Geitz und Furcht
ein-
[75]eine poetiſche Erzehlung.
einander beſtuͤrmeten. Der Schluß war dieſer:
Arion ſollte ſich von der Hoͤhe des Schiffes hinun-
ter in das Meer ſtuͤrtzen. Was ſollte er thun?
Scharfe Mordeiſen, die vor und hinter ihm blinke-
ten, verſchloſſen weitern Bitten den Weg, und
noͤthigten ihn das Todes-Urtheil, das die Schiff-
Knechte gefaͤllet hatten, ungeſaͤumt an ſich zu voll-
ziehen. Er ergriff ſeine Harfe, ſeine beſtaͤndige
Begleiterinn, die Troͤſterinn in ſeinem Ungluͤcke,
kuͤſſend. Komm, ſagte er, komm du Stiffterinn
meiner vormahligen Freuden. Thue noch eines,
komm, und hilff deinem Freunde auch den Tod
verſuͤſſen. Und indem er ſelbige zwiſchen ſeinen
Armen haͤlt, tritt er den lezten Weg betruͤbet und
langſam an, und ſtieg auf den Voͤrderſchnabel
am Schiffe. Hier ſah er ſich aͤngſtlich nach der
Gegend um, von welcher er gekommen, nach
dem ſichern Geſtade, das er in einer ungluͤckſeligen
Stunde verlaſſen, und ſich dem gefaͤhrlichen Kiele
anvertrauet, der ihn dem unverſehenen Tode zu-
fuͤhrete. Aber vergebens. Auf allen Seiten iſt
nichts als trauriges Schwartzes von Wolcken,
die der Wind hinter dem Meere, das eine oͤde und
unermeßliche Ebne ſchien, herfuͤr jagte. Es grauete
ihm vor den ungeheuren Geſtalten, mit denen das
Waſſer auf der Flaͤche und in der Tiefe beſetzet
war. Entweder wuͤrde ihn der Meerwolf mit
ſcharfgeſpitzten Zaͤhnen, zwiſchen welchen die rothen
Ueberbleibſel von dem letzten Raube noch ſtecketen,
mitten entzwey ſagen; oder eine graͤuliche Schlan-
ge, die in rothe, gruͤne, und gelbe Schuppen
verpantzert iſt, deren Augen mit Blut und Gift
unter-
[76]Arion
unterſchoſſen ſind, die ihren Schwantz durch das
flache Meer als einen langen Stamm nachziehet,
wuͤrde ihn in ihrem beinernen und mit Gift ange-
feuchteten Rachen zerquetſchen. An ſeinem Ruͤ-
ken jagten ihm graͤuliche und verraͤtheriſche Geſich-
ter einen kalten Schweiß aus. Bis izo hatte er
noch immer gehoffet, etwann ein Schiff von ferne
zu erblicken, in welches er ſich mit Schwimmen
retten koͤnnte; aber die Augen ſchoſſen vergebens
hin und her; er ſah nichts als den nahen Tod.
Wie ein zartes Rehe, welches das erſte mahl von
ſeiner ſorgfaͤltigen Mutter, die ihm beſtaͤndig zur
Seite laͤufft, auf die Weide gefuͤhret wird, und
durch ein ploͤtzliches Rauſchen der Diſteln, die den
Nachſehenden den Weg hindern, das einsmahli-
ge Geſchrey der auf den Raub erpichten Jaͤger,
das Bellen der Hunde, das lermende Getoͤne des
Jagdhorns ſchuͤchtern wird, und ſich verirret; wenn
es ſich gantz allein und umzingelt ſiehet, und mer-
ket, daß es dem Verfolger ſelbſt in die Haͤnde ge-
lauffen, ungewiß hin und her ſchieſſet, bloͤket,
ſich wundert, daß ſeine Mutter ſo lange ausbleibet ihm
zu helffen: Da indeſſen der gewiſſe Pfeil von einer
ſtarcken Hand ihm nach dem Hertzen eilet, und
ſein zartes Blut auf die Erde verſchuͤttet. So ver-
laſſen ſtuhnd Arion auf dem hohen Voͤrderſchnabel
des Schiffes, mitten unter erboßten Moͤrdern.
Kurtz zuvor bluͤhete noch die Jugend auf ſeinen
Wangen, und die ſpiegelglatte Stirne, wo ſich
noch keine ſorgenvolle Falte aufgeleget hatte, zeig-
te den Lentzen des Lebens an; aber izo ſaß die blaſ-
ſe Farbe des Todes auf ſeinem Geſichte. Die
wei-
[77]eine poetiſche Erzehlung.
weiche Lufft ſtrich bey ihm vorbey, und beluſtigte
ſich das lezte mahl mit ſeinen Haaren, legte ſie
ihm bald auf die Bruſt, bald ſtreuete ſie ſelbige
auf die Schultern, bald ſtreckte ſie dieſelbigen in
die Laͤnge, und gerade hernach machte ſie darinn
eine wallende Bewegung, wie wenn ohngefehr ein
Stein in die platte See faͤllt, augenblicklich um
ihn herum cirkelfoͤrmige Wellen ſich erheben, nie-
derſincken, etwas entfehrnter ſich wieder erhoͤhen,
wieder verliehren, und bald in mehrerer Weite
wieder da ſind. Ein Guͤrtel hielt den Reſt von
ſeinem fliegenden Kleide feſt, welches bis an die
Schultern hinter ſich geſtreifet die Arme faſt na-
kend ließ. Die Harfe ſtuͤtzete er feſt an ſeine
Bruſt, und fuhr muͤhſam mit einer ſchweren Hand
uͤber die ſcharfgezogenen Saiten, und ordnete die
Toͤne an. Jene gehorſameten ſeinen Griffen.


Darauf hub er mit einem tiefen Seufzer ſeine
Augen nach dem Himmel; und damahls fiengen
die goldenen Draͤte an ſich zu beſeelen, ſie ant-
worteten ſeufzend einander, hertzruͤhrende Klag-
toͤne ſchwelleten von ihnen auf. Er miſchte ſeine
klingende Stimme unter die Muſick, die auf der
zitternden Harfe herumſchweifete, und rufte den
Vater der Goͤtter und der Menſchen weheklagend
an, daß er die ſchwartze Greuelthat mit ſeinem
allesſehenden Auge betrachten, und einen gerech-
ten Urtheilſpruch abfaſſen ſollte. Er rufte den Apol-
lo an, deſſen Saiten ſelbſt die Goͤtter zu Dienſte
ſtehen muͤſſen, und dem er manch rauchendes
Opfer auf ſeinen Altar geleget hatte. Und dich
ruffete er an, Gerechte Nemeſis, die verhuͤtet, daß
die
[78]Arion
die Boßheit nicht ſchon Himmel und Erden in das
vorige Chaos zuruͤckgeſtuͤrtzet hat. Erſchuͤttre dein
ſchwartzes Gefieder, O Freundin der Unterdruͤck-
ten, O Schrecken der Gottloſen! Fliege hernie-
der, und beſichtige eine Laſterthat, dergleichen die
Vorwelt nur ſelten geſehen hat; ſie iſt werth,
daß deine Hand ſich zur Straffe ausſtrecke, werth,
daß dein Schwerdt ſich zur Rache wetze. Jch
ſterbe, verlaſſen, huͤlfloß, von denen, die mich
ſo gerne retten wuͤrden, weggeriſſen, die Hand
niedriger Sclaven toͤdet mich, und verſencket mich
in ein ewiges Vergeſſen. O Unbeſtand! Nur
einige Augenblicke aͤndern meine Scene ſo erſchreck-
lich! Nur wenige Minuten zuruͤck; da floß noch
volles Wohlſeyn um mich her! Jzo bin ich in der
traurigen Nothwendigkeit mir meinen Lebensfa-
den durch meine eigene Hand zu zerreiſſen. O
fluͤchtiges Gluͤck! Hubeſt du mich darum ſo hoch,
damit du mich deſto tiefer faͤlleteſt? Goͤnneteſt du
mir darum ſo groſſe Freude, damit mein Tod mir
deſto bitterer ſchmeckete? So hohe Goͤnner, da-
mit verruchte Sclaven uͤber mich den Stab braͤ-
chen? Wie uͤbel, Meine Freunde, O wie uͤbel
ſchlaͤgt mir eure Guͤtigkeit aus! Jhr wolltet mir
Diener geben, und ihr gabet mir Hencker; Be-
gleiter, die mich beſorgeten, aber was vor giftige
Natern ſind daraus erwachſen! Niemand iſt auf
Erde, der ein Zeuge dieſer Frevelthat ſey, der ſie
den kuͤnftigen Menſchen zum Abſcheue uͤbergebe.
Dich ruffe ich zum Zeugniſſe, O Sonne, ob du
dich gleich izo mit dicken Wolcken umhuͤlleſt, und
meinen Untergang nicht beſchauen willſt. Kuͤnftig
wer-
[79]eine poetiſche Erzehlung.
werde ich dein Licht nicht mehr genieſſen. Kuͤnf-
tig giebſt du nicht mir die Freude, die du den Men-
ſchen in ihr Hertz ſenckeſt. Mich wird bald eine
ewige Dunckelheit begraben: Und du ſey ein Zeu-
ge, O Mond, der du im fehrnen Weſten blaß
ſteheſt. Euer Wagen fahre niemahls dieſen Ort
vorbey, O Goͤttliche Geſtirne, daß ſich nicht das
Andencken meines Unterganges bey euch erneuere.
Meine Moͤrder ſehen euch niemahls an, daß ſie
nicht ein Schauer ankomme, und ſie nicht ihres
verborgenen Laſters wegen gepeinigt werden. Und
du, O Meer, deſſen Wogen mich bald in den
Abgrund verſchlingen werden; Und ihr Thiere der
See, denen ich als ein unſchuldiges Opfer vorge-
worffen werde, hoͤret niemahls auf, ſie mit gehei-
men Biſſen zu quaͤlen, ſo oft ſie ſich euch naͤhern
werden. Erzehlet ihr den Menſchen einen Greuel
der ſonſt auf immer wird verſchwiegen bleiben.
Gehabe dich wohl, elender Vatter, der mich in
einer ungluͤckſeligen Stunde gebohren hat! Du
wirſt deinen Sohn nicht mehr ſehen, deinen Troſt,
der ſich aus deinen zitternden Armen mit Gewalt
weggeriſſen. Wie wird dein graues Haupt ſich
aͤngſtigen, wenn du hoͤren muſt, daß er ein Op-
fer ſchwartzer Verraͤtherey, ein Raub graͤulicher
Thiere geworden! Wurdeſt du darum grau, O
Ungluͤckſeliger, damit dein Elend recht groß wuͤr-
de? O traͤfe ich dich jetzo ſchon in den finſtern Gaͤn-
gen an, die ich bald betreten werde, damit ein
ſchreckender Trauerbothe dich nicht mit Graͤmen und
Verzweifeln ins Grab druͤckete! Lebe wohl, Groſ-
ſer Goͤnner, die Goͤtter laſſen deinen Namen
in
[80]Arion
in Corinth lange leben! Lebet wohl, O Freunde,
die mir der Himmel gegoͤnnet hat! Jch verlaſſe euch;
aber wie bitter wird mir das Scheiden! Nimmer-
mehr wird mir vergoͤnnet werden, eure Freude
mit zugenieſſen. Nimmermehr mit euch zu
ſchertzen, mich bey euch zu entladen. Wuͤrde mir
nur noch einmahl erlaubet euch zu ſehen, euch
anzureden, nur noch ein einziges mahl euch mei-
nen Kummer zu klagen: Jch wuͤrde alsdann gerne
wieder zuruͤcke kehren; alsdann wuͤrde ich mich
freudiger dem Tod uͤbergeben. Aber eine uner-
meßliche Kluft ſcheidet mich von euch. Gebet doch
Achtung, O Freunde, wenn dieſe Uebelthaͤter
zu euch kommen; alles an ihnen wird euch von
Arion reden; ihre Haͤnde, Augen, Blicke, al-
les wird euch ihre Mordthat verrathen. Gehabe
dich wohl! Schoͤnes Corinth! Gehabet euch wohl
ihr geheimen Sommergaͤnge, die ihr mich ſo oft
einſam gehoͤret, wenn mein Mund Ehrfurchtsvoll
einen Gott oder eine Goͤttin beſungen hat. Jhr
kuͤhlen Gruͤnde, ihr ſtillen Waͤlder, ihr Triften,
wo mich die aufgehende Sonne ſtets gefunden,
und da ſie mir taͤglich den letzten Blick gegeben
hat, und da ich ſo oft ihren Untergang mit meiner
Stimme begleitet habe! Jch werde nimmermehr
die warmen Luͤfte fuͤhlen, die euch durchhauchen.
Jhr werdet mich nimmermehr ſehen, ausgenom-
men wenn mein Schatten bey euch herum irren
wird, mit aͤngſtlichen Seufzern die Menſchen zu
erſchrecken, und die Goͤtter zur Rache zu zwin-
gen. Mir iſt ſchon, ich ſehe das untere Reich,
da eine ſtete Daͤmmerung herrſchet, woſelbſt der
Mit-
[81]eine poetiſche Erzehlung.
Mittag die Dunckelheit nicht einmahl vertrei-
ben kan. Jch ſehe ſchon die ſchwartzen Kluͤfte,
die ein immerwaͤhrendes Schrecken und Ver-
zweiflen anfuͤllet; den Schwarm unſeliger Gei-
ſter, die ſich aͤchzend um das Geſtade herum
draͤngen, und denen ein hartes Schickſal den
Durchgang in das ſelige Reich verſperret. Jch
rieche ſchon den ſchweflichten Duft des Cocytus;
Jch hoͤre ſchon von fehrnen das hoͤlliſche Getuͤm-
mel. Ein Brauſen faͤllt mir fuͤr die Ohren; ein
ploͤtzlicher Nebel drehet alles vor mir um; ein
Schauer durchfaͤhrt mich; die Glieder fangen
an zu beben; und das Blut wird mir in den A-
dern kalt.


Er ſagte dieſes und die Rede erſtarb in ſeinem
Munde. Er ſah ſich noch einmahl erblaſſet um,
und hieng mit dem Leibe uͤber dem ſchwartzen
Abgrund, wo graͤßliche Thiere ſchon gegen ihn
die Zaͤhne bloͤketen, ſchluͤpfte mit den Fuͤſſen
aus, und eilete mit ſchnellem Falle dem Tode zu.
Dreymahl wiederholte ſeine Laute den lezten
Schlag noch in dem Falle mit Seufzen; da der
erſte Ton ſich ſchon laͤngſt in die Luft verlohren
hatte. Die Meervoͤgel unterbrachen ihren Flug;
andere kamen vom fernen Lande her; und da
ſie das Ende ſeines Geſanges ausgewartet hat-
ten, eilten ſie mit klagendem Geſchrey weg, da-
mit ſie ſeinen Untergang nicht anſehen muͤßten.
Philomela wurde ihrer Wunde wiederum inne,
die ſie damahls ſchmertzte, als die harte Fauſt
des Weidmanns ihr die nackete Zucht wegge-
raubet; da ſie bey dicker Nacht auf einſamen
[Crit. Sam̃l. XI. St.] FZwei-
[82]Arion
Zweigen ſitzend erbaͤrmliche Seufzerherfuͤr gluch-
ſete, mit Graͤmen ſich abkraͤnckete, und den
finſtern Wald mit Klagen erfuͤllete. Ja es iſt
ein Geruͤchte, daß ſelbſt einigen von den Uebel-
thaͤtern das Hertz bey Arions Klagen gewancket
habe; aber Morfus, den ein unſinniger Geitz
mehr als Felſenhart gemachet, und der alle
Spuren der Menſchheit in ſich ertoͤdet hatte, fiel
mit thieriſchem Gebruͤlle auf ihn ein, und hub
das Eiſen zu einem ſchnellen Schlage empor,
und damahls ſtuͤrtzte ſich Arion mit ſchwerem
Falle in den Tod.


Kaum hatte das oberſte Waſſer ihn beruͤhret,
als etwas ſich unter ihm regete, ihn empor hub,
und ſchnell durch die See wegfuͤhrete. Arion
ermunterte ſich, und raffete ſeine Kraͤfte zuſam-
men, da er ſich auf dem breiten Ruͤcken eines
ſchuppichten Delphins erblickete, der ihn allbe-
reits aus dem Geſichte ſeiner Verraͤther wegge-
tragen hatte. Sein Klagelied fuͤhrete dieſes edle
Thier aus der Tiefe hervor, es ſchwamm naͤchſt
an dem voͤrdern Theile des Schiffes, bald de-
kete es ſich mit leichten Wellen, bald ragete ſein
hoher Leib gantz empor; es war unmuthig, daß
Arion ſich ſo lange graͤmete, und erwartete den
Fall, damit es ihn aus der Hand der Moͤrder
davon truͤge. Jetzund legte es ſeinen runden
Kopf fuͤr ſich auf die Wellen, und ſtieß ſie rau-
ſchend von einander, ſeine Floßfedern ſchlugen
auf beyden Seiten mit Macht in die See, ſein
maͤchtiger Leib ſtieß ſich fort, mit dem breiten
Schweife regierte es den geſchwinden Lauf nach
dem
[83]eine poetiſche Erzehlung.
dem Lande, und ließ hinter ſich einen langen
Strich in der See; indem es ſtets die klaren Au-
genwirbel nach der Seite trieb, und um ſeine theu-
re Buͤrde bekuͤmmert war.


Arion ſchmiegte ſich feſt an deſſen ſchluͤpfrigen
Ruͤcken, das Finſtere, welches ſein Geſicht ver-
unzieret hatte, verzog ſich, ſeine Haare rollten
ſich nach der Naͤſſe wieder in Circkel, er wurde
neu belebet, und fuhr munter auf dem hohen
Delphin daher; von welchem er rund um ſich
her die glaͤſerne See beſah, die ſich als einen
Spiegel flaͤchte, und das blaue Himmelsgewoͤl-
be, den gehoͤrnten Mond, die thauenden Abend-
wolcken mit wiederſchlagendem Lichte ſpielend
darlegte. Die murmlenden Saiten ſchienen
mißvergnuͤgt, daß er ſo lange verzog ſeine Er-
loͤſung zu beſingen. Er gehorſamete ihrem Ver-
mahnen, und legete ſich mit Ernſt auf ſeine Har-
fe, und beſang nochmahlen mit gedaͤmpften Toͤ-
nen das ſchaͤndliche Vornehmen ſeiner Verraͤ-
ther. Die ſchwirrenden Saiten bezeugeten ei-
nen Abſcheu, und die Toͤne, die ſich klagend in
die Hoͤhe zwangen, blieben ſchwebend liegen, da
er ſeine lezten Wuͤnſche wiederholete. Bald
faͤhrt er mit leichtem Weben uͤber die Saiten,
wie Winde welche uͤber das wallende Gras hin-
ſchluͤpfen; bald eilen beyde Haͤnde beſchaͤftiget
hin und her, und ſchlagen oben und unten an
die geſpanneten Daͤrme, geſchwinder als ihnen
das Auge nachfolgen konnte:


Die Toͤne laufen auf, und fallen ploͤtzlich nieder,

Und kraͤuſeln ſich im Lauf, und ſtrecken ſich dann wieder,

Und werden raſch, und geil, und ſchnellen, ſpringen, jauchzen;

F 3da
[84]Arion

da er ſein neues Leben begruͤßte, und den un-
tern Delphin prieß, der ihn von den Hoͤllenpfor-
ten zuruͤck getragen hatte. Dieſer hoͤrete es,
und gab nach ſeiner Art ein groſſes Vergnuͤgen
zu erkennen. Die Augen flogen ihm unbeſtaͤndig
herum, ſein groſſes Haupt hub ſich hoch empor,
ſo daß das Waſſer nur den weiſſen Hals be-
ruͤhrte, und dann neben hinunter glitſchte. Der
ſtarcke Schweif rollte ſich, und das Waſſer,
welches aus beyden Naſeloͤchern herfuͤr ſprudelte,
trieb ſeine Bogen noch einmahl ſo hoch.


Arions Stimme trug ſich uͤber die ebene See
weg, drang ſelbſt die Wellen durch, und mach-
te die Geſchoͤpfe rege, welche in fremdem Mee-
re wohneten, Delphinen, Meerpferde, Thie-
re die keinen Nahmen haben, welche die Son-
ne ſelten vorhin geſehen hatte. Ein blauer
Schwarm ſtieg nach dem andern aus der Tiefe
herfuͤr, ſie ſchoſſen gleich geſchwinde heran, ſie
ſchienen von Ferne wie wohl ausgeruͤſtete Schif-
fe, die in gerade Linien hingeſtellet das Treffen
erwarten. Sie flogen wie der Wind, ſie wa-
ren ſchon da; ein Hauffen der kaum zu uͤberſe-
hen war, und dennoch war nichts zu hoͤren, als
ein ſanftes Geraͤuſche von der See, welche ſie
mit ihren Leibern zerſchnitten. Sie athmeten
kaum, damit ihnen nicht ein Ton von der Goͤtt-
lichen Harmonie entgienge. Man wuͤrde geſagt
haben, da die Wallfiſche aller Orten aus ihren
Gruͤften hervorkamen, Neptum jagete etwa
mit ſeinem Muſchelwagen, der wenn er von
den Vogelſchnellen Pferden gezogen wird, mit
den
[85]eine poetiſche Erzehlung.
den ehrenen Achſen nicht einmahl das Waſſer be-
ruͤhret, durch die Flaͤche hin, und die Meerthiere
waͤren da, ihrem Herren den Gehorſam zu be-
zeigen.


Der wallende Ton arbeitete ſich durch bis zu
den glaͤſernen Zimmern, in welchen die Meer-
goͤtter ihre feuchten Wohnungen haben; dieſe
erſtauneten einsmahls, recketen ihre Ohren nach
dem Klange hin, indem ſie eine Muſick bewun-
derten, die ſelbſt reitzender war, als der muth-
willigen Najaden, wenn dieſe bey kuͤhlem Abend
einander ſingend in der Fluth herum jagen, und
den Triton, den Glaucus, und die uͤbrigen
muntern Meergoͤtter, die in dem nahen Schilf
auf ſie lauren, heranlocken. Unter dieſen ſtrecke-
ten einige ihre Haͤupter uͤber die hoͤchſten Wel-
len hervor; ſie erblicketen den reitenden Arion,
und ſtrichen geſchwind ihr troͤpflend Haar fuͤr den
Ohren weg. Alsbald ſind Neſaͤe, Spio, Ly-
corias, ſamt der uͤbrigen Schaar ihrer Freund-
innen auch da. Sie laͤchelten, und wurden
roth da ſie ſich uͤbertroffen ſahen. Sie ſchwam-
men in einem Circkel um Arion herum. Mit
einer reitzenden Unachtſamkeit flatterten ihre guͤl-
dene Locken auf der nacketen Bruſt her, die man
zwiſchen denſelben mit einer hohen Roſenfarbe
friſch aufſteigen ſah. Die gantze Geſellſchaft be-
gleitete den Arion, ſonderlich die neue Farth zu
betrachten, dergleichen ihr Reich niemahls ge-
ſehen hatte. Nicht anderſt als ehemahls das
unwiſſende Volck einem hitzigen Theſſalier ſtarr
nachſah; wenn er mit ſcharfen Spornen den
F 4ſchaͤu-
[86]Arion
ſchaͤumenden Gaul ritzte, der den Peneus mit
Rennen uͤberholt, mit klappenden Huffen den
ſchwindenden Grund erſchuͤttert, und ſchnell
dem Aug entweicht.


Die Goͤtter, welche auf den leichten Wol-
ken herum ſchweben, und mit ſtets wachendem
Auge die Thaten der Menſchen beſchauen, ſe-
hen ſonſt mit Vergnuͤgen von den ewigen Mau-
ren des Himmels herunter, wenn Zephyr mit
heiſchholem Odem die Wellen kraͤuſelt, wie et-
wann hier ſich eine regelmaͤſſige Stadt an das
Meer gepflantzet hat, dort ein hoher Port die
ungeheure See einzudaͤmmen ſuchet, und ſeinen
wuͤtenden Wogen zu trotzen ſcheinet, oder wie
ein kuͤhner Maſt von einem Welttheile in den
andern hineilet. Jzo hatten ſie den treuloſen
Anſchlag der Schiffer gehoͤret. Arions Klagen
hatten ſie geruͤhret. Sie wollten nicht, daß er
der Boßheit aufgeopfert wuͤrde. Sie wollten
ihn unverſehrt nach Corinth bringen, und dem
Koͤnig ſeinem Freunde in die Arme liefern, be-
vor die Schiffsleute ſeine Verraͤther daſelbſt an
Bord kaͤmen; damit dieſe Laſterhafte mit pein-
lichen Strafen gezuͤchtiget wuͤrden.


Nunmehr fuhr Arion ſchnell dem Lande zu.
Er empfand ſchon die gewohnte Luft, er ſah
ſchon von weitem die ſpitzen Thuͤrme, die uͤber
Corinth herfuͤr rageten, wie etwann eine ſchwan-
ke Aehre aus dem gelben Haufen ihr Haupt noch
einmahl hoͤher als die andern empor recket, das
hohe Schloß, die abgetheilten Aecker, die brau-
nen Waͤlder, die der Berge Ruͤcken umhuͤlle-
ten,
[87]eine poetiſche Erzehlung.
ten, Fluͤſſe welche die vollen Feld[e]r umfaßten,
und bald gerade, bald geſchlancke, vorſich,
hinderſich, izo breit, dann ſchmal, unordentlich-
lieblich ſich umherziehen, als wie eine blaue Ader
durch rothen und gelben Marmel ungewiß her-
umirret. Er entdeckte die ihm geheimen Bu-
chen, praͤchtige Landhaͤuſer, das Geſtade, wo
er mit Sorgen entlaſſen worden. Echo fieng
ſchon an, ihm klingend aus dem nahen Felſen zu
antworten, Echo die er ſo oft ermuͤdet hatte,
wenn er das krumme Thal mit dem Namen
ſeiner friſchen Licoris erfuͤllet hatte.




[88]Neue Fabeln.

Neue Fabeln.



I.Der ruhmſuͤchtige Baͤr.
EJn auf den Ruhm erpichter Baͤr

Kam bey ſich ſelbſt auf die Gedancken,

Die Nachwelt wuͤrd es ihm verdancken,

Vernaͤhme ſie, wie groß er einſt geweſen waͤr.

Er ſprach daruͤber ſeine Jungen,

Jch ſehe, ſagt er, mich gezwungen,

Daß ich den groſſen Coͤrper meſſe,

Damit ich deſſen ſeltne Groͤſſe

Der Nachwelt ſo vor Augen lege,

Daß ſie es deutlich faſſen moͤge.

Jhm fielen gleich die Jungen bey

Und ſchwuren: Ja, bey unſrer Treu,

Wir ſahen auch ſchon viele Baͤren;

Jedoch, es wird noch lange waͤhren,

Eh daß in unſerm Koͤnigreiche

Sich einer dir an Groͤſſe gleiche.

Darum ſo ſey darauf befliſſen,

Daß es die ſpaͤten Enckel wiſſen.

Der
[89]Neue Fabeln.
Der Alte dacht jetzt allgemach

Dem edlen Unternehmen nach,

Und rief, als ers zuletzt erfunden,

Jndem die Kinder um ihn ſtuhnden:

Fuͤrwahr es haben Kunſt und Witz

Jn meinem Coͤrper ihren Sitz!

Gleich leget er ſich in den Schnee,

Er ſtreckt die Pfoten in die Hoͤh,

Und heißt die Kleinen auf ihn tretten;

Dann ſagt er: Jzo will ich wetten,

So ſieht man Haut, ſo ſieht man Haar,

Zuſammt der Groͤſſe ſonnenklar.

Kein Fuͤrſt hat noch in ſeinem Schild

Von einem Baͤr ein ſchoͤner Bild.

Ein jeder von den Jungen preiſt

Des alten Baͤren ſcharfen Geiſt,

Jndem ſie Bild und Gegenbild betrachten,

Und es des Urbilds wuͤrdig achten.

Ein jeder ſprach: Es iſt gerathen,

Fuͤrwahr der Alte hats errathen.

Sie dachten nicht (ein Baͤr denckt nicht ſo weit,)

Daß dieſes Meiſterſtuͤck trotz ſeiner Wuͤrde,

Trotz aller ſeiner Aehnlichkeit,

Jm naͤchſten Schnee verſincken wuͤrde.

Es ſchneyte nicht ſobald, als es verſchwand;

Witz, Kunſt und Arbeit war vergebens angewandt.

[90]Neue Fabeln.
II.Die Wachteln.
EJn unzehlbares Wachtelnheer

Befand ſich allbereit am Strande,

Und zielte ſtuͤndlich uͤber Meer

Nach jenem weitentlegnen Lande.

Eh ſie die Reiſe unternahmen

Verſchluͤckten ſie den Bilſenſamen,

Wenn ſie die Artzeney genommen,

Von ihrer Fettigkeit zu kommen;

Dieweil des Fettes ſchwere Buͤrde

Sie ſonſt am Streichen hindern wuͤrde.

Doch hoͤrte man die Jungen zancken,

Die einen ſagten: Wir erkrancken,

Wenn wir ſo viele Tage faſten.

Die andern ſprachen: Auszuraſten,

Jſt auf dem unbegraͤntzten Meer

Kein Aufenthalt fuͤr unſer Heer.

Zudem iſt unſer ſchwacher Flug

Vom Untergange Vorboths gnug.

Die Alten ſprachen: Sorget nicht,

Es dienet euch zum Unterricht,

Daß wir nicht eh von Lande gehen,

Biß daß die guten Winde wehen.

Auch finden wir bey Sturm und Wetter

Jm Meer an allen Orten Blaͤtter,

Auf welche ſich die Muͤden ſetzen,

Und dieſes ſonder ſich zu netzen.

Es iſt uns noch ihr lieben Jungen,

Auf allen Reiſen wohl gelungen.

Die kluge Rede fand Gehoͤr,

Sie machten ſich gefaßt zur Reiſe

Und thaten nach der Aeltern Weiſe.

Jzt gieng der Zug hoch uͤber Meer,

Und ſie erfuhren gleich den Alten

Daß Jupiter die gantze Schaar

Vor augenſcheinlicher Gefahr

Durch ſeinen weiſen Schutz erhalten.

III.
[91]Neue Fabeln.
III.
Die Meiſe und der Sperling.
ES hatte die behertzte Meiſe

Das warme Jahr durch ihre Speiſe

Nach eignem Wuͤnſchen und Verlangen

Vollauf und ohne Muͤh empfangen.

Bald fieng der Nordwind an zu raſen,

Es wurde durch ſein kaltes Blaſen

Des Berges Gipfel ſilberweiß,

Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß,

Das Feld als Stein, und durch die Kaͤlte

Sah man in vielen Baͤumen Spaͤlte.

Ey Vogel, nimmſt du ſo verlieb

Mit der mit Eiß gewuͤrtzten Speiſe?

So ſprach der kleine Saatedieb,

Der Sperling, zu der muntern Meiſe.

Jch fuͤrchte ſehr, du muͤſſeſt ſterben,

Und durch der Kaͤlte Grimm verderben.

Was hilft dich izt dein ſtetes Springen,

Dein Huͤpfen, Fliegen, und dein Singen,

Dein Zizipa, dein Zizipa?

Sing eh: O weh! mein End iſt nah!

Sieh doch, wie hab ich es ſo gut,

Jch zeuge taͤglich friſches Blut;

Von Ueberfluß an Speltz und Gerſten

Moͤgt ich, du ſiehſt es ſelbſt, zerberſten.

Die aufgeweckte Meiſe ſpricht:

Der Meiſen Stamm vergehet nicht,

So lang im Boden Wuͤrmer leben,

Und Muͤcken in den Luͤften ſchweben.

Mein Freund, es waͤr ein gleiches Wunder,

Gieng ein Geſchlecht, mein oder deines, unter.

Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt,

Der lebt vergnuͤgt, und unverzagt.

Der holde Lentz mit ſeinen Schaͤtzen

Wird meinen Mangel ſchon erſetzen.

Jch ſinge ſchon, als waͤr er da,

Mein Zizipa, mein Zizipa.

IV.
[92]Neue Fabeln.
IV.
Die Lerche und der Storch.
NAchdem die Lerch der Berge Spitze

Mit ihrer holden Stimm erfuͤllt,

Erſieht ſie ſich zu ihrem Sitze

Ein Feld, wo Thau auf Blumen quillt.

Sie ſencket ſich der Erden zu,

Doch einsmahls ſtoͤret ihre Ruh

Ein Storch, der dort ſpatzieren gieng,

Und Froſchen oder Bienen fieng.

Biſt du es, ſprach der Storch zur Lerche.

Ein Hertz gefaßt! du weiſt die Stoͤrche

Verſchlingen kein gefiedert Thier,

Drum traue mir, und bleibe hier.

Fuͤr dich ſind Stoͤrche keine Fremden;

Dich ſoll denn meine Gegenwart

O liebſte Lerche, nicht befremden.

Was Federn hat, iſt einer Art.

So recht, erwiederte die Lerche

Mein Leib iſt viel zu klein fuͤr Stoͤrche,

Doch ſind die Froſchen faſt ſo klein,

Und ſchlingſt du ſie ſo ſchnell hinein.

Was mehr iſt, friſſeſt du ja Bienen,

Die Meiſen ſonſt zur Speiſe dienen.

Nein, nein, dein blutgefaͤrbter Schnabel

Lehrt mich es ſeye keine Fabel,

Daß du der Schlangen Meiſter ſeyſt.

Ey vivant, ruft ſie, meine Fluͤgel!

Und fliegt auf einen fernen Huͤgel.

ENDE.

[]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Bodmer, Johann Jakob. Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj58.0