[][][][][][][[I]]
DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

VIERTER BAND.

[[II]][[III]]
DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

NACH AMTLICHEN QUELLEN.
VIERTER BAND.

MIT XXIV ILLUSTRATIONEN UND I KARTE.

[figure]

BERLIN: MDCCCLXXIII.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN GEHEIMEN OBER-HOFBUCHDRUCKEREI
(R. v. DECKER).

[[IV]]
[[V]]

INHALT.


  • REISEBERICHT.
  • Seite
  • XIV. Reise der Arkona von Wu-soṅ nach der Pei-ho-Mündung. Vom
    23. bis 29. April 1861 3
  • XV. Tien-tsin. Vom 29. April bis 30. Juni 1861 8
  • XVI. Tien-tsin. Vom 30. Juni bis 11. September 1861 66
  • XVII. Ausflug nach Pe-kiṅ. Vom 10. September bis 6. October 1861 99
  • XVIII. Abreise von Tien-tsin. Reise der Arkona von der Pei-ho-Mün-
    dung
    nach Naṅgasaki und Hong-kong. Vom 7. October bis
    11. November 1861 164
  • XIX. Hong-kong. Kanton. Macao. Vom 11. November bis 5. De-
    cember 1861 182
  • XX. Reise der Arkona von Macao nach der Rhede von Paknam. Vom
    5. bis 14. December 1861 228
  • XXI. Baṅkok. Vom 23. November 1861 bis 30. Januar 1862 230
  • XXII. Ausflug nach Phrabat. Abreise aus Siam. Reise der Arkona nach
    Singapore. Vom 30. Januar bis 3. März. Schluss 304
  • Anhang I.
  • Der Vertrag mit China351
  • Anhang II.
  • Der Vertrag mit Siam377
  • Anhang III.
  • Die Auswechselung der Ratifications-Urkunden in Shang-hae395
  • Anhang IV.
  • Das Ende der Tae-Piṅ399
  • Litteratur 433
  • Register zum III. und IV. Bande 437

[[VI]][[VII]]

VERZEICHNISS
UND
ERKLARUNG DER ILLUSTRATIONEN.


  • Ta-ku.
  • Das äussere Nord-Fort vom Süd-Ufer des Pei-ho gesehen, 1861 von
    französischen Truppen besetzt. S. Bd. IV. S. 9, 165.
  • Tien-tsin I.
  • Der Zusammenfluss des Pei-ho mit dem Kaisercanal.
  • Tien-tsin II.
  • Tempeleingang am Pei-ho.
  • Tien-tsin III.
  • Schiffbrücke über den Pei-ho und Strasse der östlichen Vorstadt.
  • Tien-tsin IV.
  • Strasse der nördlichen Vorstadt. Lichtzieher- und Schuhmacherläden.
  • Tuṅ-tšau I.
  • Tempel am Canalufer.
  • Tuṅ-tšau II.
  • Eckthurm der Stadtmauer. S. Bd. IV. S. 101.
  • Pe-kiṅ I.
  • Der Glocken- und der Trommelthurm in der nördlichen Stadtmauer.
    S. Bd. IV. S. 107.
  • Pe-kiṅ II.
  • Hata-men. Das östliche Thor in der Südmauer der Tartarenstadt.
    S. Bd. IV. S. 107.
  • Pe-kiṅ III.
  • Kaufläden in der Tartarenstadt. Bei Hata-men.
  • Pe-kiṅ IV.
  • Kaufläden in der Tartarenstadt. Bei Si-tši-men.
  • Bocca Tigris.
  • Der Tigerfelsen und die Werke der Bocca. Fischerdschunken. S. Bd.
    IV. S. 139.
  • Baṅkok I.
  • Ein Theil der Tempelgründe von Wat Po. Ringmauer der Binnenstadt.
    Vom Phrapraṅ von Wat Džeṅ aus gesehen. S. Bd. IV. S. 230.
  • Baṅkok II.
  • Tempel an einem Nebenarm des Menam. Ficus. Bambusfloss.
  • Baṅkok III.
  • Schwimmendes Haus. Südchinesische Dschunke.
  • Baṅkok IV.
  • Nebenarm des Menam bei Wat Džeṅ.
  • Baṅkok V.
  • Wassergasse mit Chinesenhäusern. Areca Catechu. Urania (Ravenala)
  • Baṅkok VI.
  • Nebenarm des Menam.
  • Baṅkok VII.
  • Caryota urens.
  • Baṅkok VIII.
  • Cocos nucifera. Areca? Areca Catechu. Carica Papaya. Artocarpus
    incisa (Brodbaum). Musa paradisiaca (Banane).
  • Baṅkok IX.
  • Bambus. Schnapsladen.
  • Ayutia.
  • Ruinen am Menam. Ficus. Borassus flabelliformis. Musa. Calamus
    Rotang. Areca Catechu. S. Bd. IV. S. 305, 311.
  • Petšaburi I.
  • Kalksteinklippe mit Pratšedi.
  • Petšaburi II.
  • Eingang des Höhlentempels. S. Bd. IV. S. 348.
[[1]]

REISEBERICHT.


IV. 1
[[2]][[3]]

XIV.
REISE DER ARKONA VON WU-SOṄ NACH DER
PEI-HO-MÜNDUNG.

VOM 23. BIS 29. APRIL.


Am Morgen des 23. April lichtete Arkona bei milder Luft die
Anker und dampfte langsam den Fluss hinab. Die Fregatte
Svetlana, welche eben aus Naṅgasaki eingetroffen war, grüssten
wir vorübergleitend mit der russischen Hymne; die an Deck aufgestellte
Mannschaft dankte mit abgenommenen Mützen; vorn stand der Geist-
liche, eine hohe Gestalt mit langem weissem Bart und faltigem Talar.
Der Fluss lag dicht voll Dschunken, grossentheils mit Bambus be-
laden, der ihnen, in dicken Bündeln aussenbords befestigt, grosse
Breite gab. Mühsam wand Arkona sich durch, konnte aber nicht
vermeiden, einem Chinesen den Vordermast wegzuputzen, der
krachend ins Wasser fiel. Bald gelangten wir in den Yaṅ-tse und
nun ging es schneller; die Mündung machen jedoch veränderliche
Sandbänke gefährlich. Gegen drei passirte Arkona das auf der
Barre liegende Leuchtschiff und konnte den chinesischen Lootsen
entlassen; erst Abends gelangte sie in klares Wasser und steuerte
noch eine Weile östlich, dann nördlich. Um acht Uhr wurde
die Schraube ausgehoben; wir segelten bei günstigem Südwest
neun Knoten. Es war empfindlich kalt, so dass man Winterkleidung
anlegen musste.


Am folgenden Morgen starb der Wind fort und wir
dampften wieder. Es war Busstag, der mit Gottesdienst be-
gangen wurde. Das Wetter, Morgens neblig, dann regnerisch,
klärte sich später auf, und der 25. April war schön. Viele
Dschunken belebten das Meer: die Sonne schied, durch Strah-
lenbrechung zu wunderlichem Gebilde verzerrt, in glühender
Pracht.


1*
[4]Strahlenbrechung. XIV.

Am 26. April kam bei Tagesgrauen Cap Šan-tuṅ in Sicht,
das wir, in den Golf von Pe-tši-li einbiegend, gegen fünf Uhr
Morgens umschifften. Die Fahrt ging westlich, die schroffe Fels-
küste entlang. Gegen zwei Uhr Nachmittags gewahrte man nah
dem Lande drei Schiffe: das französische Transportschiff Calvados,
das Shang-hae kurz vor der Arkona verliess, war hier gestrandet,
von zwei Dampfern aber wieder flott gemacht worden, und hielt
mit diesen jetzt gleich uns auf Tši-fu los. Wir hatten wegen
der dunstigen Luft keine sichere Längen-Observation, der Meeres-
horizont zeigte die sonderbarsten Unebenheiten: bald wellenförmig,
bald gradezu bergan laufend brach die Linie plötzlich senkrecht
ab, um tiefer wieder anzusetzen; die Küsten reckten und hoben
sich fratzenhaft in unruhig wechselnder Verschiebung. Das wunder-
lichste Phänomen der Strahlenbrechung gewährten aber jene drei
Schiffe: sie verschwanden plötzlich vor unseren Augen und tauch-
ten wieder auf; dann schob sich der Meereshorizont mit zwei
Schiffen in die Höhe; sie standen wie auf einem Berge, während
das dritte in der Tiefe blieb; dann senkte sich die Meereslinie wie-
der, die Masten blieben in der Luft stehen und der Rumpf der
beiden Schiffe schwoll so ungeheuerlich, dass sie Thürmen glichen,
die allmälig einsanken, während nun die Untermasten wuchsen.
Nach einigen Minuten hatte Alles seine natürliche Gestalt. 1)


Da die Rhede von Ta-ku ein schlechter Ankerplatz für
grössere Kriegsschiffe, auch die Proviantirung unsicher ist, so lief
Capitän SundewallTši-fu an, um die Vortheile dieses Hafens
kennen zu lernen. Der Namen bezeichnet streng genommen nur
das Felsencap, das, am Ende einer flachen Landzunge in schroffen
Wänden aus dem Meere steigend, mit einigen Felsinseln die Bucht
gegen Meeresschwall und nördliche Winde schützt. Die im Halb-
kreis gelagerte Stadt heisst bei den Chinesen Džen-tai; die Frem-
den haben jedoch den Namen Tši-fu auf die ganze Oertlichkeit
übertragen und kennen auch die Stadt nur unter dieser Bezeich-
nung. Von den Kriegen und Aufständen der letzten zwanzig Jahre
unberührt, genoss sie blühenden Wohlstandes; mehrere fremde
Schiffe hatten ihre Ladung mit Vortheil gegen klingendes Silber
verkauft, und der Handel bot so günstige Aussichten, dass die
[5]XIV. Tši-fu.
Fremden Tši-fu dem in der Nähe gelegenen Taṅ-tšau vorzogen,
das in den Verträgen dem Handel freigegeben war. Die Bucht ist
geräumig und sicher, der Ankergrund vortrefflich.


Nachdem Arkona gegen drei Uhr Nachmittags Anker gewor-
fen, fuhren Graf Eulenburg und seine Begleiter an das Land und
erstiegen zunächst eine östlich der Stadt gelegene Höhe. Am Ab-
hang blühten Veilchen und ein fliederartiger Strauch; die Spitze
krönt burgartiges Gemäuer. Man blickte auf die am Strande ge-
lagerte, von grünen Gefilden umgebene Stadt, vor welcher die Ebbe
breite Wasserlachen stehen liess; malerische Dschunken lagen kreuz
und quer auf dem grünen Seetang wie auf einer Wiese gestrandet,
im Hafen eine ganze Flotte von Chinesen und fremde Kriegs- und
Handelsschiffe; dahinter die Klippeninseln, Cap Tši-fu und das
hohe Meer, auf der Landseite ein duftiger Kranz steiler Fels-
gebirge.


Der Stadt, welche seit dem Kriege französische Garnison
hatte, sah man ihren Wohlstand kaum an: breite öde Strassen fast
ohne Kaufläden, die Häuser zwar massiv aus dem anstehenden
Granit, aber so roh und ungeschickt gebaut, wie in China selten
vorkommt. In offenen Buden hielten Krämer ihre Waare feil, unter
der uns auch hier die bunten Wiener Streichholzbüchsen entgegen
lachten. An Victualien sah man Birnen, Wallnüsse, gutes Weizen-
brod, lebende Waldschnepfen und Trappen. Einige Gassen sind
mit Quadern gepflastert; am Hauptplatz steht ein reinlich ge-
haltener Tempel, gegenüber ein Theater, vielmehr eine Bühne mit
geschnörkeltem Dachfirst, denn den Zuschauerraum bildet die
Strasse. Es war grade Vorstellung. Die Musiker begleiteten, im
Grunde der Scene sitzend, das Stück bald mit Becken und Cym-
beln, bald auf einer Art Dudelsack. Die Schauspieler entwickelten
das herrlichste Pathos und illustrirten ihre näselnde Recitation mit
mörderlichen Fratzen und gymnastischer Action, wobei viel Fahnen
und Schwerter geschwenkt wurden. In einer Scene hielten zwei
Männer eine blaue durch weisse Markirung der Steinfugen zur Burg-
mauer gestempelte Leinwand. Dahinter traten die Handelnden auf
Stühle: der schwerbedrängte Burgherr klagte sein Weh in schnei-
denden Trillertönen. Dann erschien vor der Mauer ein aufgeputzter
Held mit Trabanten, der mit dem ganzen Leibe gesticulirte und in
graziöser Wuth seinen Bart strich. Er liess sich einen Bogen rei-
chen und schoss einen Pfeil nach der Burgmauer, worauf einer von
[6]Fahrt nach Ta-ku. XIV.
der Besatzung herunterplumpte. Da warf der Burgherr einen
Stein nach dem feindlichen Heere, das entsetzt von dannen
floh. — Die chinesische Bühnenkunst hat den Vorzug, dass sie
in keiner Richtung Nachahmung der Wirklichkeit, nicht einmal
Wahrscheinlichkeit anstrebt: nicht nur Costüm und Decoration, son-
dern auch Mimik und Sprache, Alles ist Maske und Convenienz.
Gewiss lässt sich auch in diesem gemachten, durchweg übertrie-
benen Ausdruck der Affecte künstlerische Kraft entwickeln; dem
Fremden aber, der die Sprache nicht versteht, muss Alles
lächerlich scheiṅen.


Ein Spaziergang vor der Stadt führte uns durch üppige Ge-
treidefelder; dort standen Kiefern, der Meerpinie ähnlich, und
prächtige Weidenbäume, die eben die jungen Blätter aufrollten. —
Gegen sechs Uhr kehrte der Gesandte an Bord zurück, wo der
Commandeur und einige Officiere der französischen Fregatte Andro-
maque seinen Mittagstisch theilten.


Am Morgen des 27. April salutirte die englische Corvette
Odin den Commodor aus der Ferne mit dreizehn, die Andromaque
den Gesandten mit neunzehn Schüssen. Arkona erwiederte die Grüsse,
lichtete um halb zehn die Anker und dampfte der Pei-ho-Mün-
dung
zu. Die glatte See spiegelte warm den tiefblauen Himmel,
als wir gegen vier Uhr Nachmittags dem Admiral Sir James Hope auf
der englischen Corvette Scout begegneten. Beide Schiffe drehten bei;
Graf Eulenburg sandte dem Admiral seine Post, die er aus
Shang-hae mitgenommen hatte. Arkona salutirte und Scout ant-
wortete; beide Schiffe lagen in dichten Pulverdampf gehüllt, bis sie
weiter fuhren. Auf einem Vorgebirge standen Tausende Chinesen,
die wohl eine Seeschlacht zu sehen glaubten. — Abends wurde es
neblig und sehr dunkel.


Am 28. April Mittags ergaben die Lothungen, dass man sich
der Küste näherte; um zwei Uhr wurde am westlichen Horizont
durch das Fernrohr ein Streifen niedrigen Landes sichtbar, das
eben so wenig wie eine Flotte davor ankernder Dschunken zur
Orientirung dienen konnte. Da tauchten — auf einen Augenblick
— nördlich die Masten europäischer Schiffe auf; im nächsten be-
fanden wir uns in einer dichten Staubwolke. Die Luft färbte sich
dunkelgelb, ins Rothe spielend; die Sonne, eine glänzendblaue,
strahlenlose Scheibe, warf silberne Glitzer auf die spitzen gelb-
grünen Wellen. Es war einer der in dieser Jahreszeit so häufigen
[7]XIV. Staubsturm.
Staubstürme, ein Vorschmack der uns in Tien-tsin winkenden Ge-
nüsse. In wenig Minuten bedeckte sich das Schiff mit einer so
dicken Kruste des feinsten Staubes, als wenn es Tage lang auf
trockener Landstrasse gefahren wäre. In dichte Wolken gehüllt
warf man Anker vor der Pei-ho-Mündung, etwa zwölf Seemeilen
vom Lande. Der Flaggenlieutenant Graf Monts fuhr Nachmittags
mit dem russischen Fähnrich Herrn Markianowitsch nach dem Ka-
nonenboot Rasboynik, welches Commodor Likhatschoff dem Ge-
sandten für die Fahrt auf dem Pei-ho zur Verfügung stellte.


[[8]]

XV.
TIEN-TSIN.

VOM 29. APRIL BIS 30. JUNI.


Das mit Graf Monts und Herrn Markianowitsch nach dem
Rasboynik gesandte Boot der Arkona wurde Abends auf der Rück-
fahrt von heftigem Sturm gepackt und musste zu dem Russen zu-
rückkehren; erst am folgenden Morgen brachte es die Nachricht,
dass der Rasboynik keine Kohlen habe, auch die Barre erst in
vierzehn Tagen mit der nächsten Springfluth passiren könne. Der
Commandant, Capitän-Lieutenant Rosenberg, machte nachher dem
Gesandten seine Aufwartung. — Da nun auch der englische und
der französische Admiral ihre in der Pei-ho-Mündung liegenden
Dampfer zur Verfügung gestellt hatten, so schickte Capitän Sunde-
wall
am 29. April Vormittags ein Boot dahin ab, welches Abends
den Attaché von Brandt an Bord der Arkona brachte. Schon seit
zehn Tagen erwartete Derselbe bei den Ta-ku-Forts die Ankunft
der Gesandtschaft; der Commandant der kaiserlich französischen
Canonière No. 13, Lieutenant de vaisseau Des Varannes, beher-
bergte ihn gastfrei auf seinem Fahrzeug. Der Attaché von Brandt
übergab dem Gesandten ein Schreiben des Prinzen von Kuṅ und
meldete, dass er in Tien-tsin ein Haus gemiethet und eingerich-
tet habe.


Am 30. April früh legte sich Numero treize, ein Kanonen-
boot vom kleinsten Kaliber, neben die Arkona. Erst um zwei Uhr
konnte es mit der Fluth wieder über die Barre, — wo bei Ebbe
nur zwei Fuss Wasser stehen, — und brachte zunächst das grosse
Gepäck, einige Ordonnanzen und die chinesische Dienerschaft nach
den Ta-ku-Forts, von wo sie in der folgenden Nacht auf Maulthier-
karren nach Tien-tsin fuhren. Herr von Brandt machte den Weg
zu Pferde. — Am Morgen des 1. Mai war die Canonière wieder bei
der Arkona und nahm um halb acht den Gesandten, die Attachés
[9]XV. Die Ta-ku-Festen.
Graf zu Eulenburg und von Bunsen, Dr. Lucius, Maler Berg, Herrn
Marques, Dr. Kloekers, und einige Officiere und Cadetten der Ar-
kona an Bord, welche die Ta-ku-Forts besehen wollten; ihr Boot
und ein zweites mit einigen Ordonnanzen und dem kleinen
Gepäck der Gesandtschaft führte Numero treize im Schlepptau.
Arkona salutirte mit neunzehn Schüssen, und das Dampferchen 2)
tanzte, die Nase in der Luft, tapfer prustend auf den zackigen
Wogen, die der widrige Wind ihm entgegenwälzte. Viel Wasser
schlug in die Boote, deren Insassen hoffentlich Sturzbäder liebten.
— Wir begegneten hier wieder den tritonenhaften Fischern, die,
auf einem durch ihr Gewicht unter Wasser gedrückten Floss
sitzend, von Wind und Wogen umhergetrieben werden, bis ein
Boot sie wieder aufnimmt; ein frostiges Gewerbe in dieser Jahres-
zeit; uns fror in trockenen Kleidern. — Nach anderthalbstündiger
Fahrt erreichte Treize die Barre, über welche die Fluth ihr hin-
weghalf, und bald darauf das ruhige Wasser der Pei-ho-
Mündung
.


Zu beiden Seiten der Einfahrt liegen die äusseren Ta-ku-
Forts, der Schauplatz der englischen und französischen Angriffe in
drei aufeinander folgenden Jahren. Die Fluth bespült den Fuss
der Wälle; die Ebbe legt einen breiten von Gräben durchschnitte-
nen schlammigen Uferstreifen bloss, den die Chinesen durch Wolfs-
gruben und eiserne Krähenfüsse noch unwegsamer gemacht hatten.
1858 drangen die Alliirten in den Fluss ein, landeten oberhalb der
hinten offenen Werke und rollten deren Besatzung auf; 1859 konn-
ten die Kanonenboote nicht eindringen, geriethen zum Theil auf
Grund und sanken unter dem wohlgezielten Kreuzfeuer der Festen,
während die auf dem tiefen Uferschlamm unterhalb des Südforts lan-
denden Truppen theils in den Gräben und Wolfsgruben, theils im
Kartätschfeuer der unnahbaren Wälle untergingen. 1860 wurden
die äusseren Forts nur durch einige Kanonenboote auf weiten Ab-
stand beschäftigt, während die Landmacht der Verbündeten, nörd-
lich von Pe-taṅ kommend, zuerst das innere Nordfort stürmte, dann
das äussere ohne Widerstand besetzte, worauf die drei Südforts
geräumt wurden; die Werke waren damals auf allen Seiten ge-
schlossen und sehr fest. — Seit dem Kriege hatten sie nun eng-
[10]Der Pei-ho. XV.
lische und französische Besatzung; mehrere Kanonenboote lagen in
der Flussmündung.


Die Pinasse der Arkona nahm jetzt deren Officiere und Ca-
detten an Bord, welche mit drei Hurras vom Gesandten schieden.
— Der Anblick ist trostlos: Lehmwasser, Lehmbauten, Lehmufer,
so flach wie ein Tisch, bis auf einige Haufen Salz, das hier dem
Meere abgewonnen wird; nahe der Mündung kein Baum, kein
Strauch; Alles ein gelbgrauer Teig, oben fest und trocken, in
klumpige Formen geknetet, unten flüssig, ein trüber hässlicher Brei.
Stiefmütterlicher waltete nirgend die Natur.


Hinter den südlichen Forts liegt der grosse Flecken Ta-ku,
eine Lehmmasse wie alles Uebrige. Weiter hinauf sind die Ufer
grün; da stehen schöne Weiden- und unzählige Pfirsichbäume, die
in festlichem Blüthenschmuck prangten. Die Luft war staubig;
bald wurde es heiss, während wir Morgens in Winterkleidung ge-
froren hatten. Dass wenig Wochen zuvor das Land noch in
dickem Eise lag, merkte man nicht: nur die vielen Ufereinschnitte,
ähnlich denen bei Shang-hae, in welchen die Dschunken geborgen
werden, erinnerten daran, dass hier, fast in der Breite von Lissa-
bon
, die Flüsse im November zufrieren und erst im März wieder
aufgehn. Die Landschaft, — grüne Felder, Bäume und lehmfarbene
Dörfer, — gleicht vielen Stellen im Nilthal.


Die Windungen des Pei-ho verdoppeln den Weg; beim
Scheiden der Sonne waren wir noch weit von Tien-tsin. Je näher
der Stadt, desto dichter lagen im verengten Fluss die Dschunken,
durch die sich selbst unsere zappelnde Treize nur mühsam hin-
durchwand. Lieutenant Des Varannes, der uns den Tag mit leben-
digem Gespräch verkürzt hatte, leitete, vorn beim Geschütz stehend,
den schlängelnden Lauf des Bootes. Nach acht erreichten wir die
Vorstädte von Tien-tsin und fuhren dann noch eine halbe Stunde
durch einen Mastenwald, hinter welchem zu beiden Seiten niedrige
Häuserreihen lagen. An Kaufläden und Kneipen hingen viel bunte
Laternen, und das Gesumme am Ufer verrieth die volkreiche Stadt.
Gegen neun passirte Treize die Schiffbrücke und warf etwa tausend
Schritt oberhalb, bei der Mündung des Kaisercanales Anker. Der
Attaché von Brandt wartete am rechten Flussufer und führte den
Gesandten nach seiner nahe gelegenen Wohnung. Die bestellten
Kulis waren durchgegangen; es dauerte lange, bis andere das
Gepäck heraufgeschafft hatten; erst spät gelangte man zur Ruhe.


[11]XV. Das Gesandtschaftshaus.

Das für die Gesandtschaft gemiethete Haus gehörte einem
chinesischen Kaufmann, den nur energisches Zureden der obersten
Behörde zur Abtretung vermochte. Die Gebäude gruppirten sich
um zwei hintereinanderliegende Höfe: das vordere hatte nach der
Strasse gar keine Fenster und enthielt nur untergeordnete Räume
mit Eingängen vom ersten Hofe, wo der chinesische Thürhüter
und die Ordonnanzen hausten. Ein Seitengebäude mit zwei hüb-
schen Zimmern, welche Herr Marques bezog, verband es mit dem
gegenüberliegenden Hauptgebäude, der Wohnung des Gesandten,
deren Rückseite auf den zweiten Hof blickte. Diesen begrenzten
rechts und links niedrige Gebäude mit Küchen- und Wirthschafts-
räumen; gegenüber stand ein geräumiges Haus, welches die drei
Attachés, Dr. Lucius und Maler Berg bezogen. Die Strassenfront
war in Sandstein, alles Uebrige in feinem Backstein gebaut, mit
Friesen in fein behauenem Sandstein, Blätterschmuck und grotesken
Thiergestalten, und schweren grauen Ziegeldächern. — Die Ein-
gangsthür führte in einen Corridor, dessen Fortsetzung als be-
dachter Gang die vierte Seite des ersten Hofes, der Wohnung des
Herrn Marques gegenüber, bildete, dann rechts um das Mittelgebäude
nach dem zweiten Hofe einbog. Der Estrich aller Wohngebäude
lag einige Stufen erhöht. Zur Wohnung des Gesandten führte vom
ersten Hofe eine Hauptthür; gradeaus gelangte man durch das
Vorgemach in den Salon und weiter in grader Linie nach dem
zweiten Hof; rechts vom Salon lag das Esszimmer, links das Schlaf-
zimmer des Gesandten, deren Fenster auf den zweiten Hof gingen.
Diese Räume waren anständig eingerichtet, die Wände und Decken
hell tapeziert, hier und da mit geschnitztem Laubwerk aus dunkelem
Holze von reicher durchbrochener Arbeit verziert, die Räume des
Hintergebäudes aber nackt und kahl. Ein Theil des Fussbodens
war hier in jedem Zimmer etwa sechs Fuss breit um anderthalb
Fuss erhöht, eine Art Pritsche, die den Chinesen zugleich als Bett
und als Ofen dient, denn es sind Feuerstellen mit Luftzügen darin;
ihre Oberfläche besteht, wie der Estrich, aus festgestampftem und
geglättetem Lehm. Alle Fenster haben ein reiches Rahmenwerk
aus schmalen Leisten, das mit dünnem Papier beklebt ist. — Im
Ganzen war die Wohnung weder so geräumig noch so sauber, als
unsere japanische; als Versammlungsraum musste Abends der
zweite Hof dienen, doch hätten wir uns darüber nicht be-
klagen mögen. Zum Glück ahnte beim Einzug niemand, dass
[12]Die Stadt Tien-tsin. XV.
wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spann-
kraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unver-
stande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. In Yeddo
gaben die gesunde stählende Luft, die herrliche Landschaft und
die durch alle Schichten interessante Bevölkerung einer reichen
Haupt- und Handelsstadt für alle Beschwerden und Täuschungen
Ersatz; Tien-tsin dagegen ist so durch und durch reizlos, als sich
die trockenste Phantasie nur ausmalen kann. In einer unabseh-
baren Ebene gelegen hat es den Winter von Upsala und den Som-
mer von Kairo. Als Hafen der Hauptstadt empfängt es zwar alle
Erzeugnisse des Südens sowohl zur See durch den Pei-ho, als
durch den hier mündenden Kaisercanal, der, von Haṅ-tšau aus-
gehend, den Yaṅ-tse und den Hoaṅ-ho schneidend, durch acht
Breitengrade und vier grosse Provinzen fliesst; es versieht ferner
den grössten Theil des Reiches mit Salz, das, an der niedrigen
Meeresküste gewonnen, in Tien-tsin aufgestapelt und verschifft
wird; man merkt aber den Handel nur an der ungeheuren Zahl
der Dschunken und der die Umladung besorgenden Arbeiter, welche
die Masse der Bevölkerung bilden. Von Reichthum und Lebens-
verfeinerung zeigt sich keine Spur; ansehnliche Kaufläden giebt es
nicht; man sucht vergebens nach den mannigfachen Erzeugnissen
des chinesischen Gewerbfleisses. Einzelne Trödelbuden, welche
allerlei Luxusartikel und Curiositäten, grossentheils aus der Beute
des Sommerpalastes aufwiesen, dankten wohl nur der englischen
Garnison ihr Dasein. In der That ist Tien-tsin, auf salpeter-
haltigem Boden an trüben Wassern gelegen, die allen Abgang von
300,000 Menschen aufnehmen, von der Natur dermaassen beschimpft,
dass es Wunder nehmen müsste, wenn Jemand ohne zwingende
Gründe da wohnte.


Das von Ringmauern umschlossene Viereck der Stadt blickt
genau nach den vier Himmelsgegenden und misst in der Richtung
von Norden nach Süden eine englische Meile, von Osten nach
Westen etwa drei Achtel mehr. Die zinnenbekränzte Mauer ist fast
dreissig Fuss hoch und funfzehn Fuss dick, aussen und innen von
graugelben Luftsteinen gebaut, zwischen diesen Wänden mit Lehm
und Schutt ausgefüllt. In der Mitte jeder Mauerseite liegt ein ge-
wölbtes Thor, über welchem ein breiter Festungsthurm von mehreren
Stockwerken steht. Aehnliche Thürme von quadratischem Grund-
riss erheben sich auf den vier Ecken der Ringmauer. Eine Haupt-
[13]XV. Vorstädte.
strasse führt vom nördlichen zum südlichen, eine zweite vom öst-
lichen zum westlichen Thor; über ihrer Kreuzung steht im Mittel-
puncte der Stadt ein den Stadtthoren gleichendes massives Ge-
bäude mit gewölbten Eingängen von den vier Seiten. Dieser Bau
beherrscht ganz Tien-tsin, kann aber durch seine Lage keinen
möglichen Nutzen bieten und soll wohl nur, der symmetrischen
Anordnung des Gründers zu Liebe, den Mittelpunct der Stadt be-
zeichnen; nicht einmal als Feuerwarte scheint das festungsartige
Gebäude zu dienen, dessen Unterbau genau in der Höhe der Stadt-
mauer massiv aus Luftsteinen gebaut ist. Die oberen Stockwerke
sind, wie bei den Thoren, aus Holz und Luftsteinen aufgeführt,
mit schweren vorspringenden Dächern, die Dachkanten geschwun-
gen und mit grotesken Thiergestalten verziert. Die vier durch die
Hauptstrassen abgetheilten Stadtviertel bilden ein Labyrinth enger
gewundener Gassen; in der Nähe der Mauern liegen weite Strecken
unbebaut, mit Lachen stagnirenden Wassers. Rechts vom Ostthor
steht der Tempel des Confucius, links ein grosses Theater, damals
von den Engländern zur Kaserne eingerichtet; andere Tempel und
Theater liegen in der Stadt zerstreut.


Ein weit grösseres Areal als diesen mauerumschlossenen
Platz bedecken die Vorstädte, die sich zu beiden Seiten des Pei-ho
und des Kaisercanales ausdehnen. Hier wohnt die handeltreibende
Bevölkerung; die Strassen sind breiter und etwas reinlicher, die
Kaufläden besser als in der Stadt, wo es fast nur Schmutz und
Spelunken giebt. Der Kaisercanal läuft aus Westen her etwa fünf-
hundert Schritt von der nördlichen Mauer mit dieser eine Strecke
parallel und macht dann eine Biegung gegen die Nordost-Ecke der
Stadt, wo unter der Mauer nur eine Strassenbreite bleibt. Nicht
weit von da mündet der Canal in den aus Nordwesten kommenden
Pei-ho, der sich hier scharf nach Süden wendet und etwa sechs-
hundert Schritt von der Ostmauer strömt. Die Vorstädte vor dem
Nord- und dem Ost-Thore sind die beste Gegend von Tien-tsin;
weiter den Canal hinauf, flussabwärts und jenseit beider Gewässer
giebt es nur enge winklige Gassen und wenig gute Gebäude. Auf
dem linken Flussufer liegen am östlichen Ende der Vorstadt unge-
heuere Salzmassen in freier Luft aufgestapelt. Südlich vom Ost-
thor führt eine Schiffbrücke über den Pei-ho; eine zweite über
den Kaisercanal stösst auf die vom Nordthor ausgehende Strasse.
Dort liegen mehrere Theater, und jenseit des Canales ein Tempel,
[14]Umgebung von Tien-tsin. XV.
der als Zollamt für den fremden Handel eingerichtet ist. — Nach
Süden und Südwesten hat Tien-tsin keine Vorstädte; dort blickt
die Stadtmauer auf das freie Feld.


Die äussersten Grenzen der Vorstädte bezeichnen fluss-
aufwärts und abwärts zwei verfallene Festungsthürme, vorgescho-
bene Posten aus alter Zeit. Ringsum dehnt sich die unabseh-
bare Ebene aus, im Frühjahr kahl und staubig; Bäume giebt es
wenig und fast nur an den Wasserläufen, wo jenseit der Vorstädte
Nutzgärten liegen. Im mauerumschlossenen Park eines kleinen
Lamaklosters am Kaisercanal stehen schöne Robinien und Weiden,
in deren Schatten wir zuweilen von der furchtbaren Dürre auf-
athmeten. Weiter hinaus säumen das nördliche Ufer des Canales
kleine Tempel und Sommerhäuser mit hübschen Gärten, welche
nur künstliche Berieselung frisch erhält. In geringer Entfernung
von den Rinnsalen war den Mai hindurch noch Alles kahl; die
Staubstürme liessen kein Pflänzchen wachsen.


Der Erdwall und Graben, den der Mongolenfürst Saṅ-ko-
lin-sin
1860 zum Schutz von Tien-tsin aufwerfen liess, umgiebt
die Stadt in weiter Runde; der Umkreis mag fünf deutsche
Meilen betragen. Aus lehmigem Erdreich gebaut, hier und da durch
eingerammte Pfähle befestigt, bildet der Wall ungebrochene Linien
ohne jede Flankirung; den breiten Wallgang schützt eine crenelirte
Brustwehr, die kaum europäischem Gewehrfeuer widerstehen könnte.
Die Linie in ihrer ganzen Ausdehnung zu besetzen, reichten nicht
alle kaiserlichen Heere; Saṅ-ko-lin-sin, heisst es, wollte dazu die
Volkswehr aufbieten, machte aber nach der Niederlage bei Ta-ku
nicht einmal den Versuch, sich bei Tien-tsin zu halten. Wo der
Wall unterhalb der Stadt auf den Pei-ho stösst, vertheidigten den
Zugang zwei starke Bastionen, ähnlich den Ta-ku-Forts; gleich
diesen lagen sie bei unserer Ankunft schon halb zerstört: das zum
Bau verwendete Holz diente im Winter sowohl der Garnison als
den Bewohnern zum Heizen; Niemand hinderte den Raub.


Fast den ganzen Mai durch brausten die Staubwinde. Blaue
Luft sah man nur auf halbe Stunden; gewöhnlich erschien der
Himmel gelbgrau, bei heftigem Sturme gelbroth, die Sonne bläulich
und strahlenlos. Etwa zweimal wöchentlich pflegte der Sturm so
heftig zu wüthen, dass der Tag sich verfinsterte, dass um Mittag
in den Zimmern Licht gebrannt werden musste; die Chinesen unter-
scheiden nach dem Grade der Dunkelheit weisse, gelbe, rothe und
[15]XV. Staubstürme. Sommerklima.
schwarze Stürme. Draussen kaute man die Luft; Nase und Ohren
füllten sich mit feinem Staube, der selbst bei dicht verstopften
Fenstern und Thüren in die Häuser drang. Das Schreiben wurde
unmöglich; die Dinte stockte in der Feder, und auf das Papier
lagerte sich im Nu eine Staubschicht.3) Meist war die Luft furcht-
bar schwül; aus dem Electrometer des englischen Hospitals strömten
bei heftigem Sturm beständig blaue Flammen; die Electricität
wechselte oft zwischen positiver und negativer. Zuweilen kam
dabei ein Wolkenbruch, dass das aufgeweichte Papier in Lappen
von den Fenstern floss und das Wasser fusshoch in den Strassen
stand. Dann regnete es dicken braunen Schmutz, und wen solch
Wetter draussen packte, der kam gepanzert nach Hause. Oft kühlte
die schwüle Luft sich während des Sturmes dermaassen ab, dass
man Winterkleidung brauchte.


Anfang Juni legten sich die Staubwinde; nur zuweilen ver-
finsterte sich die Luft noch auf halbe Stunden. Dafür trat aber,
bei klarem blauem Himmel, arge Hitze ein, die Mitte Juni auf
33° R. stieg; kein Hygrometer zeigte mehr den Wassergehalt der
Luft an, die Haut blieb selbst bei starker Bewegung trocken. In
der zweiten Hälfte des Juni gab es zuweilen erfrischende Regen-
schauer und Gewitter, nach denen das Wetter auf einige Stunden
angenehm wurde. Abends genoss man in diesem Monat noch leid-
licher Kühle unter dem prachtvoll glänzenden Sternhimmel; bei
Tage liess sich die Hitze der Zimmer auch durch grosse Eisblöcke
kaum abkühlen; man fühlte sich unbehaglich, zu keiner Arbeit auf-
gelegt, viel schlimmer als in feuchten tropischen Gegenden, bei
schwächerer Verdunstung. — Im Juli sollte es noch schlimmer
werden.


An gesunden Lebensmitteln mangelte es nicht. Gutes Brod
bereiteten die Bäcker der englischen Garnison; es gab Hammel-,
Rind- und Schweinefleisch, vorzügliche Bohnen, Spinat, Kartoffeln,
Bataten, nachher auch Brinjals, die Früchte der Eierpflanze (So-
lanum Melongena), ferner den ganzen Sommer durch Birnen und
[16]Lebensmittel. XV.
köstliche Weintrauben 4) vom letzten Jahre, die, in Eishäusern auf-
bewahrt, bis zum Herbst so fest und saftig wie frischgeschnittene
bleiben. Das Eis wird im Winter systematisch in viereckige Blöcke
geschnitten und in steilwandigen Gruben aufgeschichtet, die etwa
hundert Fuss lang, funfzig breit und zwanzig Fuss tief sind. Die
Früchte, — Aepfel, Birnen und Weintrauben, — packt man in
Eimer und ausgehöhlte Kürbisse, setzt sie in diese Gruben und
füllt auch die Zwischenräume mit Eis. Ein Mattendach mit einer
dichten Erdschicht darauf bedeckt das Ganze. Der Vorrath ist
unerschöpflich: selbst auf dem Markt liegt jeder Fisch und jedes
Stück Fleisch auf Eis; jede Fischerdschunke geht eisbeladen in
See und bringt ihren Fang eingefroren nach Tien-tsin; so gross
ist der Vorrath.


Wein und Bier brachten wir mit; Sodawasser bereitete ein
Engländer zu mässigem Preise; man trank es eimerweise, denn der
Durst war kaum zu löschen und das Wasser ungesund. Das Brun-
nenwasser des salpeterhaltigen Bodens kann Niemand trinken; so
ist denn Tien-tsin auf den Lehmbrei des Pei-ho und des Canales
angewiesen, welche allen Unrath der Stadt aufnehmen; auch faulende
Thierleichen und anderes Unsägliche schwimmen darin herum.
Nicht einmal kann das Wasser in ruhigem Fluss seine dicken Be-
standtheile ablagern, denn die Fluth staut es jeden Tag mehrere
Stunden zu Berg, und bei Ebbe strömt es gewaltsam durch die leh-
migen Ufer. Man klärt es gewöhnlich durch Umrühren mit einem
Rohr, dessen durchbrochenes Ende mit Alaun gefüllt ist, oder
wirft eine Handvoll davon in die grossen Wasserkrüge. Dadurch
werden aber die organischen Stoffe nicht zerstört. Vielfache unter der
Garnison grassirende Uebel, auch den Bandwurm, für den sich
kaum hinreichende Mengen des specifischen Mittels herbeischaffen
liessen, glaubten die Aerzte auf das Wasser schieben zu müssen.
Der Chinese trinkt instinctiv seinen Thee und bleibt gesund, da
Sieden des Wassers alle organischen Stoffe zerstört, während das
bei den Engländern so beliebte Versetzen mit Branntwein keinen
Schutz gewähren soll.


Unser erstes Bedürfniss in Tien-tsin waren Pferde; die
weite Ebene lockte zu Ausflügen, und in der Stadt watete man bei
[17]XV. Englische Garnison.
Regenwetter bis über die Knie im Schmutz. Dem Gesandten stellte
der Höchstcommandirende der englischen Garnison, General Sta-
veley
, ein Pferd arabischer Race aus dem indischen Regimente
»Fane’s horse« zur Verfügung; seine Begleiter kauften tartarische
Ponys, theils von Officieren, welche sie im Kriege erbeuteten,
theils von chinesischen Händlern. Nützlichere Pferde mag es kaum
geben: der Bau kräftig und edel, vom schönsten Ebenmaass der
Glieder; der Huf unverwüstlich auf härtestem Boden; nur kranke
werden vorn beschlagen. Bei der kärglichsten Nahrung bleiben
diese Thiere frisch und brauchbar; sie traben zwar schlecht, gehen
aber Schritt und Galopp eben so ausgiebig als unverwüstlich. — Für
gute Pflege sorgten chinesische Stallknechte unter Leitung eines
englischen Trainsoldaten, den unsere gütigen Nachbarn vom Haupt-
quartier des »Commissariat department« dem Gesandten zuwiesen.
Diese Herren leisteten uns durch ihre im Laufe des Winters ge-
sammelte Erfahrung und Kenntniss der Hülfsmittel die wesentlichsten
Dienste und halfen über alle Schwierigkeiten des materiellen Lebens
hinweg; nur der freundschaftliche Verkehr mit ihnen und anderen
Officieren der englischen Garnison machte uns den Aufenthalt
in Tien-tsin erträglich, der doch Allen ein gelindes Fege-
feuer schien.


An englischen Truppen standen im Sommer 1860 noch gegen
3800 Mann in Tien-tsin, nämlich das 2. Bataillon des 60. Regi-
ments (Rifle brigade), Abtheilungen des 31. und des 67. Infanterie-Re-
giments, das Reiter-Regiment »Fane’s horse«, zwei Batterieen, eine
Compagnie Ingenieure und eine Abtheilung Train. Sie waren aus-
schliesslich in der Stadt und den Vorstädten des rechten Fluss-
ufers einquartiert, während die französische Garnison, ein Bataillon
Infanterie, zwei Batterieen, eine Compagnie Genietruppen und einige
Gensdarmen das andere Ufer bewohnten. Mit dem französischen
General O’Malley trat der Gesandte in keine Verbindung; dagegen
besuchten General Staveley und die Herren seines Stabes, so wie
die Commandeure und viele Officiere aller englischen Truppentheile
ihn gleich nach seiner Ankunft. Mit ihnen entspann sich, wie ge-
sagt, ein reger geselliger Verkehr, und kaum verging ein Tag, an
welchem nicht englische Officiere bei dem Gesandten, oder Mit-
glieder der Gesandtschaft in einer der Officiersmessen gespeist hät-
ten. Auch an ihrem Sport und anderen Vergnügungen, mit denen sie
tapfer den Missmuth bekämpften, nahmen wir thätigen Antheil.


IV. 2
[18]Fane’s horse. XV.

Besonderes Interesse bot Fane’s indisches Reiter-Regiment.
Der Commandeur hatte dasselbe als junger Officier in Indien an-
geworben und bekleidete damals in der englischen Armee noch
Hauptmannsrang, ist aber nachher schnell avancirt. Die Officiere
waren Engländer, nur ausnahmsweise wurden Asiaten zu Lieute-
nants befördert. Siks, Hindostani, Afghanen und Perser, lauter
Edelleute und Fürsten in ihrer Heimath, bildeten die Mannschaft
der 350 Pferde starken Truppe, die einen riesigen Tross von Leib-
dienern, Stall- und Futterknechten mitführte; denn die vornehmen
Krieger liessen sich bedienen. Die grösste Schwierigkeit machten
dem Commandeur die Eifersucht, der nationale und religiöse Aber-
glauben der verschiedenen Stämme, da Viele nach der heimath-
lichen Sitte ihre Kaste verloren, wenn sie mit Fremden oder Ge-
ringeren assen; er übte jedoch unbedingte Autorität und bezwang
durch die Macht seiner ritterlichen Persönlichkeit jeden Widerstand.
Den Siks verbietet ihr sonderbarer Cultus, sich das Haar zu schnei-
den, Tabak zu rauchen und anderes Fleisch zu essen als von
selbst getödteten Thieren: lebendig mussten ihnen die Hammel zu-
geführt werden, welche sie eigenhändig köpften; Bart und Haar
hingen, wenn sie es auf unsere Bitten einmal aus Turban und Klei-
dung hervorzogen, bis zum Boden herab. Neben ihnen zeichneten
sich die Afghanen durch hohe schlanke Gestalt und edel geschnittene
Züge aus, die meisten von dunkeler, fast schwarzbrauner Hautfarbe
und vornehm kriegerischer Haltung. Die Uniform war einfach und
kleidsam: hohe Stiefel, weite Hosen und Tunica von leichtem dun-
kelblauem Wollenstoff, die um den Leib geschlungene Schärpe und
der faltige Turban scharlach; Patrontasche und Bandolier von
schwarzem Leder mit Silberbeschlägen und den Buchstaben F. H.,
Fane’s Horse; die Waffen krumme Säbel und Bambuslanzen. Das
Zaumzeug ist englisch, mit scharfem Gebiss, der Sattel bequem
gepolstert; vorn wird der zweite Anzug über die Pistolenhalter auf-
geschnallt, hinten ein Kochgeschirr und Steckpfähle. Besonders
malerisch stand den dunkelen Reitern ihre ausserdienstliche Tracht
von schneeweissem Muslin, und der Turban aus demselben Stoff oder
buntem Kashmirshawl, in mächtigen Falten um die braunen Schlä-
fen gewunden, unter denen feurige Augen hervorblitzten.


Zwei Compagnieen des Regimentes hatten südlich von der
Stadt ein Lager bezogen: dort standen vor den Zeltreihen ihre
Pferde, den einen Hinterfuss und den Halfter an Picketpflöcke ge-
[19]XV. Fane’s horse.
fesselt, meist edele Thiere arabischer und australischer Zucht; viele
litten noch an Wunden aus dem Kriege, die schlimmer ge-
wesen wären, wenn die Tartaren scharfe Säbel geführt hätten.
Entsetzliche Narben und Verkrüppelungen zeigten die Gliedmaassen
der mit Herrn Parkes und Lieutenant Anderson gefangenen Reiter,
der wenigen, welche die ruchlosen Misshandlungen der Chinesen
überlebt hatten. Die tief in das Fleisch schneidenden Stricke und
Ketten hinterliessen Höhlungen bis auf den Knochen, die niemals
wieder zuwachsen konnten.


Zahllose indische Knechte trieben sich bei dem Lager herum,
halbnackt oder in geraubten Trachten, von Gold und bunter Seide
strotzend. — Beim Besuch des Gesandten zeigten die Reiter ihre
Meisterschaft in der Lanzenführung. Ein Zeltpflock wird in die
Erde gerammt; der Reiter naht in gestrecktem Galopp und hebt
mit kräftigem Stoss den Pflock aus dem Boden. Die Lanze nur
für den Augenblick senkend, trafen die Behenden doch jedesmal;
dabei lag der Körper fast wagerecht. Dass sie den Sitz behielten,
zeugte sowohl von festem Schluss als von Kraft und Biegsamkeit
des Handgelenkes; denn die Lanze muss im Nu aus dem Boden
gerissen werden, wenn sie nicht brechen oder den Reiter vom
Pferde schleudern soll. Jeder führte die Waffe anders; es war
kein eingelerntes Exercitium.


Grosse Kraft und Gewandtheit bewiesen Fane’s Reiter auch
bei anderen Uebungen, besonders im Schwingen mächtiger Keulen,
womit sie sich im Hofe eines zum Stall umgewandelten Tao-
Tempels oft die Zeit vertrieben. Dort blickte aus der reichen Ar-
chitectur der Haupthalle eine Reihe fratzenhafter Goldgötzen auf
die glatten Rosse nieder, ein sonderbares Bild. Die Engländer
nannten ihn Teufelstempel. — Sie richteten die meisten Tempel
und öffentlichen Gebäude zu Kasernen und Ställen ein, und gaben
damit gar kein Aergerniss. Die Bevölkerung entging so der Ein-
quartierung, wurde überhaupt von den englischen Militärbehör-
den auf das äusserste geschont und zog reichen Gewinn von der
Garnison. Holz- und Wassertragen, das den Franzosen gar nichts
kostete, verursachte den Engländern, die Alles bezahlten, enorme
Ausgaben, ebenso vieles Andere. Am meisten profitirten die ärmeren
Stände. So war denn auch das Verhältniss mit den Chinesen
durchaus freundschaftlich. Die Afghanen und Perser fanden als
Moslems zu ihrem Erstaunen viele Glaubensgenossen in Tien-tsin,
2*
[20]Grosse Parade. XV.
welche sie in der Moschee begrüssten. — Dem bunten Treiben auf
der Gasse verliehen die malerischen Gestalten von Fane’s Reitern
besonderen Reiz. Hier störte nicht, wie in Shang-hae, das
europäische Element; denn selbst die englischen Officiere, welche
ausser Dienst keine Uniform tragen, kleideten sich ohne Rücksicht
auf Convenienz nach Laune und Behagen: Wasserstiefel, Kashmir-
shawls, Jagdröcke, Turbane und bunte Halstücher bildeten die
lustigsten Trachten. — Fane’s Officiere blieben in Tien tsin ihren
indischen Gewohnheiten treu, die durchaus zum Klima passten.
Ueber dem Esstisch ihres Messraumes, — einer Tempelhalle —
hing die unvermeidliche »Punka«;5) mehrere Officiere hatten solche
auch über ihren Betten angebracht; die Schnur, an welcher der
Punka-Junge die Nacht über arbeitete, war dann durch die Wand
geführt, und, damit sie lautlos ging, an dieser Stelle durch ein
seifenbeschmiertes Rohr ersetzt.


Nicht weit von Fane’s Reitern lagerte eine Armstrong-
Batterie, deren Hinterlader, damals neu, die Aufmerksamkeit der
militärischen Attachés erregten. Von ihrer Genauigkeit gewannen
dieselben bei den Schiessübungen keine grosse Meinung; dagegen
war die Bespannung vortrefflich.


Am 24. Mai, dem Geburtstag der Königin Victoria, sahen
wir die ganze englische Garnison. Die grosse Parade wurde auf
dem Exercirplatz unter der südlichen Stadtmauer abgehalten, wo
die Truppen Nachmittags zunächst in Linie aufmarschirten: auf dem
linken Flügel die Artillerie, dann Fane’s horse, die Ingenieure, In-
fanterie, und auf dem rechten Flügel der Train. Nach dem könig-
lichen Salut, dreimal sieben Kanonenschüssen, und dreimaligem
Reihenfeuer der gesammten Infanterie brachte die Mannschaft Ihrer
Majestät ein dreifaches Hurra. Der Gesandte ritt mit General
Staveley und dessen Stabe die Front hinunter und hielt dann bei
der königlichen Standarte, — welche die Officiere funfzehn Fuss
breit aus chinesischer Seide hatten fertigen lassen, — um den Vor-
beimarsch zu sehen. Das erste Mal gingen die Cavallerie und die
Artillerie im Schritt, die Infanterie in Compagniefront vorbei; das
zweite Mal die Reiter und die Batterieen im Galop, die Infanterie, auf
halbe Distancen aufgeschlossen, im Geschwindschritt. Alle Truppen
sahen trotz dem Feldzuge und sechsmonatlichem Aufenthalt in der
[21]XV. Theater. Wettrennen.
Schmutzhölle Tien-tsin vortrefflich aus; vor Allem gefiel uns aber
das malerisch-kriegerische Aussehn von Fane’s brauner Reiter-
schaar. — Die Geschütze nahmen, mit chinesischen Maulthieren
bespannt, im Galop ohne Anstoss einen breiten Graben.


Keine geringe Aufgabe war es für die Officiere, der Mann-
schaft und sich selbst den Aufenthalt in Tien-tsin erträglich zu
machen, wo sie schon den Winter verlebten. Vorzüglich um die
Soldaten in guter Stimmung zu erhalten, richteten sie mit erheb-
lichen Kosten ein Theater ein, wo sie abwechselnd mit denselben
spielten. Tragisches, Melodramatisches, Parodieen, Lustspiele und
Possen kamen auf die Bretter; es fehlte auch nicht an Dichtern,
die Couplets machten voll Anspielungen auf den Krieg und den
Garnison-Klatsch. Den Soldaten zu Liebe spielten auch die Offi-
ciere oft Rührstücke mit zarten Frauenrollen, bei denen sie selbst
wohl Thränen lachten, während Jene Alles sehr ernst nahmen; ihr
eigenes Vergnügen fanden sie an der Komik, und zeigten dazu vor-
zügliche Begabung. Possen gaben sie meisterhaft, auch die Frauen-
rollen, zu denen sich junge Officiere fast verführerisch aufzu-
putzen wussten. — Das Local war ein den Officieren der Garni-
son vom Obercommando als Ressource überwiesenes chinesisches
Theater; sie statteten die Bühne mit selbstgemalten Decorationen
aus und richteten ein Orchester ein. Im Zuschauerraum stan-
den vorn einige Bänke für die Officiere; das weite Parterre
dahinter besetzten die Soldaten. Oft mussten die Vorstellungen
wiederholt werden, um dem Andrang zu genügen. Kostüme und
Requisiten waren glänzend; aus den mässigen Eintrittspreisen
konnten die Kosten kaum bestritten werden, die Unternehmer
schossen wohl namhafte Summen zu, und leisteten wahrhaft Er-
staunliches.


Zur Pflege des Sport hatten die englischen Officiere einen
Club gestiftet, den sie mit indischem Ausdruck Džim-kana nannten.
Graf Eulenburg und seine Begleiter wurden gleich nach ihrer An-
kunft zu Ehrenmitgliedern berufen und wohnten regelmässig den
Wettrennen bei, welche der Club jeden Sonnabend veranstaltete.
Die Rennbahn war südlich von Tien-tsin innerhalb Saṅ-ko-lin-
sin
’s
Umwallung abgesteckt, wo in geräumigem Zelt die Zeichnun-
gen angenommen und alle strengen Regeln des Sport in bester
Form gehandhabt wurden. Oft liefen die Wetten zu bedeutender
Höhe: da gab es Rennen für arabische, englische, australische, tar-
[22]Ackerbau. XV.
tarische Pferde, Hürdenrennen, Handicaps, Steeple chase, doppelten
Sieg u. s. w. Zuweilen wurden Taubenschiessen, Lotterieen und
anderer Zeitvertreib zwischen den Rennen eingeschoben. Wie jeder
Brite nahmen auch hier die Soldaten den lebendigsten Antheil;
fast die ganze Garnison pflegte sich auf dem Rennplatz einzufinden,
ein buntes lustiges Treiben. — Auch Cricket spielten die Engländer
mit grosser Leidenschaft und Gewandtheit.


Des Gesandten Hausstand bildeten in Tien-tsin ausser seinen
deutschen Dienern ein chinesischer von Shang-hae mitgenommener
Koch und fünf eingeborne Hausknechte. Sechs Seesoldaten von
der Arkona dienten als Ordonnanzen. Die drei Attachés, Dr. Lu-
cius
und Maler Berg wohnten beim Gesandten als dessen Gäste;
andere Expeditionsmitglieder, die nur vorübergehend nach Tien-
tsin
kamen, wurden in einem zweiten zu diesem Zweck gemietheten
Hause einquartiert. — Unser Leben passte sich dem Klima an:
Morgens ging Jeder seiner Beschäftigung nach; um elf Uhr war
gemeinschaftliches Frühstück, die Hauptmahlzeit nach sieben, später
sogar erst um halb neun in dem durch Papierlaternen erhellten
Hofe. — Gegen sechs Uhr ritten wir fast täglich mit dem Ge-
sandten aus und kamen erst kurz vor Tisch nach Hause. Nach
allen Richtungen wurde die Umgebung durchstreift.


Dörfer giebt es bei Tien-tsin nur an den Wasserläufen,
doch ist auch in anderen Richtungen das Land gut angebaut, und
es nimmt Wunder, wie die Bestellung oft auf so grosse Ferne ge-
schieht. Ende Mai, als die Staubwinde nachliessen, spross das
Grün in erstaunlicher Fülle. Viele Stellen blieben, mit Salz oder
Salpeter gesättigt, den ganzen Sommer kahl; silbern glänzten dort
die Krystalle an der Oberfläche, so dass der Boden wie bereift
schien. Die meisten Aecker hatten, mit Gerste und Zwiebelgewächsen
bestellt, Einfassungen von Bohnen. Bei der Gersten-Ernte, Ende
Juni, kamen weder Sichel noch Sense in Anwendung; der Land-
mann riss die Halme mit der Wurzel aus und warf sie auf Schieb-
karren. Sieben Wochen vergingen vom Umpflügen bis zur Ernte,
und man schritt dann gleich zu neuer Bestellung, um eine zweite
zu gewinnen. In den Gärten am Wasser gedieh der Pflanzenwuchs
zu tropischer Ueppigkeit; dort rankte der Weinstock an freien
[23]XV. Strassenleben.
Spalieren, wuchsen prächtige Weiden, Sophora japonica, Rhamnus
zizyphus und andere Bäume in gesunder Kraft. Als die Ebene
grünte, fiel ihre Baumlosigkeit doppelt auf; der Salpeter des Bo-
dens soll allen Pfahlwurzeln verderblich sein. Der Horizont gleicht
ringsum der Meereslinie; nur einmal sahen wir, wahrscheinlich durch
Luftspiegelung, im Westen einen Höhenzug, wo sonst die Ferne
ganz eben erschien. — Eine malerische Staffage bilden die zwei-
rädrigen Karren, die man allerwegen trifft: der sorgfältig gefügte
Kasten trägt gewöhnlich ein gewölbtes, mit blauem Stoff bezogenes
Schutzdach; in der Scheere geht ein starkes Maulthier, vor welches
häufig ein zweites gespannt wird. Ein Sonnensegel schützt das
Thier und den Kutscher, der mit baumelnden Beinen auf einem
Schaft der Scheere sitzt. Nur eine Person findet bequem Platz,
aber keinen bequemen Sitz in der Karre; denn man kauert am Bo-
den und empfindet jeden Stoss des federlosen Fahrzeuges weit
heftiger, als auf einer Bank. — Segelnde Schiebkarren, die von
anderen Reisenden beschrieben werden, sind bei Tien-tsin selten;
das etwa drei Fuss breite Segel wird durch Schnüre in der Hand
des Schiebenden gelenkt.


So sehr wir auf den täglichen Ausflügen von Staub und
Hitze litten, so war es doch immer Gewinn, den Wohlgerüchen
der Stadt zu entrinnen. Die englischen Commandeure suchten ver-
gebens die Chinesen zu Reinlichkeit anzuhalten; in den engen
dunkelen Gassen stagnirten die ekelsten Dünste. Auf den Müll-
und Kehrichthaufen vor den Häusern wälzen sich nackte schmutzige
Kinder und kranke Hausthiere; an allen Ecken kauern Bettler, von
Schmutz und Elend strotzend; Krüppel mit jammervoll verzerrten
Gliedmaassen, mit offenen Beulen, Geschwüren und Ausschlag kriechen
winselnd von Lager zu Lager, räudigen Hunden und Schweinen
die aus dem Unrath aufgewühlten Abfälle streitig machend. Im
Stadtgraben stand dicke schwarze Jauche, mephitischen Qualm ath-
mend. Nach Regengüssen unergründlicher Koth, oft fusshohes
Wasser: alle Abzugsgräben waren verstopft, und wenn die Sonne
in den Brei schien, wurde der Gestank unerträglich. Dazu ein
dichtes Gewühl schreiender Krämer und Höker; Büsser, die jäm-
merlich heulend, mit einer Schuhsohle die blosse Brust schlagen,
Lastträger und Wasserkärrner, die sich brüllend Bahn brechen, eng-
lische Soldaten, die auf Eseln im Galop durch das Gewimmel zu
jagen suchen. Man drängt sich mühsam durch und streift viel
[24]Strassenleben. XV.
unsaubere Gestalten. Wehe dem, der einer Sänfte oder einem
Leichenzuge begegnet; er muss umkehren oder sich in die Häuser
drücken. Die Vermögenden werden mit Gepränge bestattet; ein
bunter Haufen schreitet voran, Stangen mit Emblemen, Fahnen,
Flitterkronen und reichgestickte Baldachine tragend; dann folgen
Musikanten mit Becken, kleinen Trommeln und Gongs, Dudelsäcken
und riesigen Hörnern, welchen gedehnte Trauerklänge entlockt
werden; bei aller Dissonanz wird ziemlich rythmisch gespielt. Den
mit Seidenzeugen verhängten Sarg tragen wohl zwanzig Männer
auf einer Bahre; dahinter folgen die Leidtragenden weissgekleidet
in weiss bezogenen Sänften.


Wo ein Plätzchen frei ist auf der Strasse, sitzt ein Höker
mit Leckereien und einem Glücksspiel; denn die Chinesen sind
eingefleischte Spieler. Das Kind, das einen Heller zu vernaschen
hat, wagt unfehlbar den wahrscheinlichen Verlust, in der Hoffnung,
über seinen Werth zu gewinnen. Zuweilen ist es eine Drehscheibe
nach Art des Roulette, gewöhnlich aber ein Becher mit Holzstäben,
ähnlich den Orakelbechern auf den Tempelaltären; am unteren Ende
der Loos-Stäbe steht das Schicksalszeichen. Der Hang zu Glücks-
spielen lebt in allen Volksclassen: zu heissen Tagesstunden findet
man in schattigen Winkeln Haufen zerlumpter Bettler, leidenschaft-
lich in ihre schmutzigen Karten vertieft; oft setzt es da wüthenden
Zank und Schlägereien. — Das furchtbare Elend, das in Tien-tsin
allerwärts zu Tage liegt, veranlasste die englischen Officiere zu
einer Geldsammlung; 900 Dollars kamen zur Vertheilung, bei
welcher mehrere Empfänger erdrückt und zertreten, andere von
leer ausgehenden Bettlern erschlagen wurden. Dem Nothstand ist
nicht zu steuern, und das Uebergewicht des besitz- und obdachlosen
Proletariates ist für China eine Gefahr, die bei der kleinsten Er-
schütterung an das Licht tritt; die Executive wäre nimmer fähig,
diese Massen im Zaum zu halten, wenn sie ihre Kräfte kennten,
bewusste Zwecke und tüchtige Führer hätten. — Es giebt in China
verschiedene Classen von Bettlern. Den vornehmsten Rang behaup-
ten die rüstigen, gesunden, die wohl Kraft aber keine Lust haben
zur Arbeit; sie leben in Banden, stehlen — und morden vielleicht
— wo sie können, und beschliessen oft ihre Tage unter Hen-
kers Hand. Zuweilen sammelt sich solche Schaar vor einem Kauf-
laden, verstopft den Eingang, hämmert mit Steinen und Stöcken
auf den Ladentisch oder stimmt ein klägliches Geheul an, und lässt
[25]XV. Kaufläden.
keine Käufer durch, bis der gefolterte Krämer sie abfindet. — Die
Wittwen mit vaterlosen Waisen, deren Verwandtschaft wohl nicht
immer zu beweisen wäre, bilden eine andere Gattung; ferner
die Alten, Kranken, Blinden, Lahmen und Verwachsenen, die theils
wirklich Mitleid verdienen, theils ihre Schäden künstlich erzeugen
und pflegen. Dann giebt es Erzähler, Sänger und Citherspieler, —
die vielfach blind, durchgängig aber reinlicher und besser gekleidet
sind als die anderen Bettler.


Abends brennen vor Läden und Schenken bunte Laternen;
die Bewohner sitzen schwatzend in den Thüren; das lärmende
Treiben hat aufgehört, und die Gassen machen, in mildes Dämmer-
licht getaucht, den behaglichsten Eindruck. Hier und da versam-
meln sich Gruppen um einen Erzähler, der, hinter beleuchtetem
Tische stehend, seine gemessene Declamation mit emphatisch
graziösen Fächer-Schwenkungen begleitet: man hört ihm an-
dächtig zu.


Die ärmeren Classen bewohnen niedrige Häuser aus Lehm
und Holz, theils mit Ziegeln, theils mit Stroh gedeckt, über wel-
chem eine dicke Lage geglätteten Lehmes liegt; ein Obergeschoss
haben nur wenige. Es giebt auch flache Dächer aus grauem mit
Asphalt gemischtem Mörtel. In den besseren Gassen ist jedes Haus
ein Kaufladen: geschnitzte, vergoldete, gemalte Schilder mit Inschrif-
ten, Ladenzeichen und Emblemen bieten dicht bei einander hängend
den buntesten Anblick; zuweilen stehen hohe Steinpfeiler, das Dach
um das Doppelte überragend, vor den Läden, mit elegant ge-
meisselten Schriftzeichen und einem Zierrath auf der Spitze, der ein
niedliches Häuschen darstellt. — Die besten Kaufläden lagen in der
Hauptstrasse der nordöstlichen Vorstadt; da gab es Kramläden aller
Art, Seiden-, Gold-, Pelz-, Schuh- und Kleiderläden. In letzteren,
wo meist gebrauchte Kleider verkauft wurden, war fast beständig
Auction; eine gaffende Menge pflegte davor zu stehen; der Ausrufer
hatte einen grossen Kleiderhaufen neben sich liegen, hob, mit lau-
ter Stimme den Preis hinausschreiend, ein Stück nach dem andern
in die Höhe und legte es, wenn Niemand bot, auf einen anderen
Haufen. So ging es Tag für Tag, und so kam, obgleich nur Ein-
zelnes gekauft wurde, wohl an jedes Stück einmal die Reihe.
Mehrere dieser Handlungen liegen oft neben einander, und die Aus-
rufer trachten einander zu überschreien. Auch Zopfläden giebt es
in dieser wie in allen belebten Strassen chinesischer Städte; denn
[26]Trödelbuden. XV.
ein schöner bis zu den Knieen herabhangender Zopf, gleichviel ob
falsch oder echt, ist der Stolz jedes Chinesen.


Uns fesselten nur die Trödelbuden, wo Gegenstände von
Bronce, Lack, Porcelan, Glasfluss, Email, Jade und anderem kost-
barem Stein zu Kauf standen. Manchmal fand man werthvolle
Stücke; die Anhäufung von Gegenständen aus den verschiedensten
Blütheperioden war lehrreich für die Kenntniss des chinesischen
Kunsthandwerks. Da standen neben einander Gefässe aus der Zeit
der älteren Dynastieen, der Miṅ und der Tsiṅ, jede Periode mit
deutlich ausgeprägtem Typus der Form, Zeichnung und Malerei.
In grosser Menge waren die früher gebräuchlichen Mandarinen-
Scepter von grünem Jade, Sandelholz oder rothem Lack vorhan-
den, viele von ausgesuchter Arbeit. Theekannen von Thon, Por-
celan, Metall spielten auch hier eine Rolle; die Broncen, meist
fratzenhafte Thiergestalten und Götzen, Rauch- und Kohlengefässe,
kommen an Schönheit weder der Form und Arbeit, noch des Me-
talles den japanischen gleich. Von Jade, dem kostbaren Stein aus
Turkestan, welchen der härteste Stahl nicht ritzt, sahen wir voll-
endete Arbeiten, die jeder Sammlung würdig, aber sehr theuer
waren; der Werth richtet sich in China vorzüglich nach der Farbe,
welche milchig weiss, gelblich, hell- oder dunkelgrün ist; am mei-
sten schätzt man den Farbenton frisch angeschnittenen Speckes.
Aus diesem Stein und aus Porcelan gefertigt standen in jeder Trö-
delbude Hunderte kleiner Fläschchen von der Länge und Dicke eines
Daumens: das sind die chinesischen Schnupftabaksdosen, in denen
grosser Luxus getrieben wird Sie veranlassten in neuerer Zeit
einige Aufregung unter den Aegyptologen, da Alterthumshändler
in Kaïro solche unter dem Vorgeben verkauften, dass sie aus an-
tiken Gräbern stammten. Nun lässt sich aber der viel neuere Ur-
sprung dieser Gefässe durch Vergleichung nachweisen, und es
möchte schwerlich gültiges Zeugniss beizubringen sein, dass deren
wirklich in Gräbern gefunden wurden. Der Verkehr beider Länder
in uralter Zeit, den man daraus folgern wollte, ist gewiss eine Fa-
bel; und wenn solche Fläschchen vor Einführung des Tabaks
in China anderen Zwecken dienten, so mögen deren durch ara-
bische Reisende nach Aegypten gelangt sein, aber nicht früher.


Wir sahen Porcelan, auch Craquelée der verschiedensten Art:
da waren ältere Gefässe von einfacher, fast strenger Form mit
steifer markiger Zeichnung, italienischem Trecento ähnlich; dann
[27]XV. Trödelbuden.
Vasen aus der Miṅ-Zeit, mit schönem Blumen-Ornament auf
dunkelrothem Grunde und figuristischen Darstellungen von reicher
Composition, höchster Anmuth in Ausdruck und Gebehrde, und zar-
tester Ausführung; andere mit tiefglühender unter der Glasur ein-
gebrannter Malerei, deren technisches Geheimniss jetzt auch in
China verloren zu sein scheint. Es giebt jedoch solcher farben-
prächtiger Gefässe noch aus Kien-loṅ’s grosser Zeit, die, ihr eige-
nes Gepräge tragend, sich in Darstellung reichen Blumenschmuckes
auf hellem Grunde gefiel. Besonders merkwürdig sind viele Emails
dieser Periode, die, nach französischen Zeichnungen gefertigt, Land-
schaften mit Schäferscenen im Geschmack von Watteau und Lancret
darstellen; man könnte an ihrem chinesischen Ursprung zweifeln,
wenn kein Fabrikzeichen vorhanden wäre. Von dieser Art glatter
Emaille strotzten alle Trödelbuden in Tien-tsin, ebenso von der-
jenigen, welche nur stellenweise auf Goldbronce angebracht, sich
vorzüglich an Tempelgeräth, Leuchtern und Rauchgefässen findet.
Die seltenste und theuerste ist die »Cloisonné« genannte Gattung,
die, vor 1860 in Europa wahrscheinlich nur durch wenige Stücke
vertreten, selbst vielen Sammlern kaum bekannt war. Erst die
Plünderung von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ förderte Schätze davon zu Tage,
die sich seitdem rasch über Europa verbreiteten. Beim Cloisonné
bilden Linien von Goldbronce die Umrisse der Zeichnung; die
Zwischenräume sind mit Glasfluss von grosser Härte und den herr-
lichsten Farben ausgefüllt; es ist, im Gegensatze zur Malerei des
glatten Email, eine Art Mosaik. In China muss die Technik durch
viele Jahrhunderte geübt worden sein, denn auch in dieser Gattung
lässt sich sowohl in der Form der Gefässe, als in Zeichnung und
Charakter des Ornamentes, Consistenz und Farbe des Glasflusses
das Gepräge weit auseinanderliegender Blütheperioden nachweisen.
Einen solchen Reichthum an Producten des chinesischen Kunst-
fleisses aller Zeiten, wie damals in Folge der Plünderung von Yuaṅ-
miṅ-yuaṅ
die Läden von Tien-tsin und Pe-kiṅ, hatten vielleicht
niemals chinesische Städte aufzuweisen. Man brachte dort, eine
Tasse Thee nach der anderen schlürfend, manche angenehme
Stunde zu, und wiederholte gern den Besuch, neue Erwerbungen
zu sehen. Die Concurrenz der Engländer schraubte die Preise weit
über ihr landesübliches Niveau, doch liessen sich, im Vergleich des
Werthes in Europa, noch vortheilhafte Ankäufe machen. Das Beste
besassen freilich die englischen Officiere, die es theils von franzö-
[28]Tompel. XV.
sischen Soldaten, theils aus der nach der Plünderung im Lager bei
den Lama-Tempeln gehaltenen Auction erstanden, Vieles auch von
Chinesen kauften. Wir sahen bei ihnen auch herrliche Stücke, die
sie in den Tempeln und Pfandleihen verlassener Ortschaften und
selbst in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ erbeuteten; denn als Lord Elgin die Zer-
störung des Sommerpalastes beschlossen hatte, durften englische
Officiere dort vorher eine Nachlese halten, deren Ertrag nicht zur
Versteigerung abgeliefert wurde.


Oeffentliche Gebäude von Bedeutung giebt es kaum in Tien-
tsin
. Die reichste Architectur zeigen die Tempel und ihre Portale,
die meist im Häusergewirr eingeengt liegen; einige haben lange
Avenuen, mit mehreren Pforten aus lackirtem Holz mit Ziegel-
dächern. Oft bilden die Portale ansehnliche Gebäude mit Ober-
geschoss und Altan, mit geschnitzten, gemalten, vergoldeten,
Balustraden, Friesen und Zierrathen; hölzerne Säulen tragen die
schwere geschweifte Ziegel-Bedachung, deren hohe First und herab-
laufende Kanten aus feinem Mörtel gezogen, mit aufgerollten Drachen-
schwänzen und grotesken Thieren geschmückt sind. Andere Pforten
bilden vier in einer Linie stehende durch Querbalken verbundene
Holzsäulen, zwischen welchen unter dem künstlichen Dachstuhl
Rahmen mit durchbrochenem Schnitzwerk und Inschriften eingefügt
sind.6) Solche Portale stehn oft seitlich in der Strasse, von welcher
ein reichverziertes Mäuerchen den Tempelzugang scheidet. Hohe
rothe Masten, an denen bei Festlichkeiten bunte Banner und La-
ternen hängen, sieht man bei jedem grösseren Tempel.


Das Innere der Tempel in Tien-tsin gleicht den früher be-
schriebenen; der merkwürdigste ist der in der Nordwest-Ecke der
Stadt gelegene, von den Engländern »Tempel der Gräuel« benannte.
In mehreren Seitengebäuden des Vorhofes sind dort die Strafen
des Jenseits durch geschnitzte roh angestrichene Holzfiguren
grauenhaft versinnlicht. Da wird ein Mann mitten durchgesägt,
einer Frau die Zunge, einer anderen die Brust ausgerissen u. s. w.
Das Haupt-Idol, eine roh angestrichene Holzpuppe, soll einen be-
rühmten Kaiser darstellen. — An Festtagen kamen viele Büsser,
gelbe oder rothe Papierblätter vor der Stirn, auf denen wahrschein-
lich ihr Sündenregister stand, und Bündel glimmender Rauchkerzen
in den Händen; mit scheinbarer Zerknirschung warfen sie sich, die
[29]XV. Die Stadtmauer.
Glieder verrenkend, vor dem Altar nieder. Andere rutschten auf
den Knieen die mehrere hundert Schritt lange Steinbahn bis zum
Tempel hinan, einen Ziegelstein vor sich umkantend, um dann den
Körper nachzuziehen. — Im innersten Heiligthum tobte das Volk
ohne Scheu und Ehrfurcht, ein roher Haufen voll Schmutz
und Elend.


Einigen Reiz bot bei günstigem Wetter ein Spaziergang auf
der Ringmauer, da man, mit einigem Klettern über eingesunkene
Stellen, um die ganze Stadt wandern konnte. Nach aussen schweift
der Blick über die Vorstädte, den Mastenwald im Pei-ho und die
grenzenlose Ebene; im Innern ragen aus dem Häusermeer nur das
Thorgebäude im Mittelpunct, einige Tempelportale, Flaggenmasten
und viele Mattendächer, welche im Sommer über Höfen und öffent-
lichen Plätzen aufgebaut werden. Das hohe Mastengerüst trägt ein
leichtes Rahmenwerk aus Bambus, auf welchem die Mattenbedachung
liegt; an die Ost- und die Westseite lehnen schiefliegende Gerüste,
deren Mattenwandung nach Bedürfniss durch Schnüre aufgerollt
werden kann. Ohne diese Schutzdächer machte die brennende
Sonne den Aufenthalt im Freien unmöglich. — Man blickt von
der Stadtmauer in viele Höfe, wo unter dem Staube Wein und
Akazien grünen; besonders anziehend war die Aussicht vom Ost-
thor in die belebte nach dem Mittelpunct der Stadt führende
Hauptstrasse.7) In den Thorgebäuden und den Eckthürmen lagen
Massen alter Pickelhauben, Säbel und Uniformstücke, modernde
Klumpen von Rost und bunten Lappen.


Anfangs verleidete der mephitische Hauch des Stadtgra-
bens die Spaziergänge auf der Mauer; General Staveley ersuchte
den Tau-tae vergebens, die Pfütze räumen zu lassen. Im Mai
sollten aber die öffentlichen Prüfungen des Bezirkes in der von den
Engländern zur Kirche eingerichteten Examinationshalle stattfinden,
und die Stadtbehörden baten, das Gebäude nach seiner Bestimmung
benutzen zu dürfen. Das erlaubte General Staveley unter der Be-
dingung, dass sie den Graben räumten. — Die Prüfungen wurden
gehalten; die Namen der Bestbestandenen prangten bald an allen
Strassenecken, und unsere Nasen athmeten freier.


Da die in der Stadt liegenden Truppen zu ihrem Exercir-
platz immer einen langen Weg durch übelriechende Gassen hatten,
[30]Feuersbrünste. XV.
so liess General Staveley ein Stück der südlichen Stadtmauer ein-
reissen; der kürzeste Weg führte durch diese Bresche. Nach eini-
gen Tagen erschien eine Deputation bei dem General: er gebe durch
Niederlegung der Mauer die Stadt der Vernichtung preis; denn die
Genien des Feuers stürmten aus Süden heran und verzehrten Alles,
was auf der graden Linie ihres Weges läge. — In der That haben
alle südlich gewendeten Stadtthore in China keinen directen Zu-
gang von dieser Seite; immer ist ein Hof vorgebaut, in den man
seitlich von Osten oder Westen einbiegt, so dass der Weg eine
Schlangenlinie beschreibt. Nun waren unmittelbar nach Nieder-
legung jenes Mauerstückes sieben Feuersbrünste im Innern der Stadt
ausgebrochen, und, des alten Aberglaubens eingedenk, gerieth die
Bevölkerung in arge Bestürzung. General Staveley wurde gebeten,
wenigstens einen Hof mit seitlichem Eingang vor die Oeffnung bauen
zu lassen, überliess das aber den Chinesen, die sich nach Belieben
schützen möchten.


Feuersbrünste gab es bei der starken Hitze vielfach. So
gingen in der Nacht zum 7. Mai die französischen Artillerie-Ställe
jenseit des Flusses in Flammen auf. Obwohl Hülfe gleich zur
Hand war, verbrannten neunundzwanzig Pferde; andere, die man
loskoppelte, rasten scheu durch die Gassen und rannten viele Chi-
nesen um. Zum Glück war die Munition der beiden Batterieen, bis
dahin in einem Hause neben den Ställen untergebracht, das gleich-
falls abbrannte, den Tag vorher zum Transport nach Ta-ku in
eine Dschunke verladen worden; so entging die Stadt einer grossen
Gefahr. — Am 12. Juni Mittags brach Feuer im Messlocal des
englischen 67. Regimentes aus und wuchs so schnell, dass weder
Tischgeräth noch Vorräthe zu retten waren. Das grosse Matten-
dach über dem Hofe brannte, von der Sonne ausgedörrt, wie Zun-
der lichterloh und strahlte solche Hitze, dass binnen einer halben
Stunde alle umliegenden Gebäude, — die Mess- und Leseräume,
Küchen und Vorrathshäuser — Aschenhaufen wurden. Das Offi-
ciercorps verlor dabei herrliche Tafelaufsätze aus der Beute des
Sommerpalastes. — Die Chinesen, die grosse Passion für Feuers-
brünste haben, erschienen zum Löschen in dichten Haufen und ar-
beiteten tapfer, lärmten aber noch mehr. Es geht dabei sehr lustig
zu: vor jeder von zwei Mann getragenen Feuerspritze tanzen ein
Dutzend Burschen in buntester Tracht, die rasend auf ihre
Gongs schlagen, rothe Fahnen schwenken und brüllend die wil-
[31]XV. Bewegungen der Expeditionsmitglieder.
desten Luftsprünge machen. Einige tragen räthselhafte Embleme.
Das Toben soll wohl die Feuergeister verscheuchen; denn der Chi-
nese ist über die Maassen wundersüchtig und packt alle Dinge von
dieser Seite an. — Reizend ist das Schauspiel Abends: dann er-
hellen tausend Papierlaternen die Gassen, theils einzeln auf Stöcken,
theils als Gehänge an hohen Stangen getragen, oft in schirmförmiger
Anordnung, — wobei an den einzelnen Stäben des Regenschirmes
winzige bunte Lämpchen herabhängen, — und hundert phantastischen
Formen. In solchen Erfindungen ist der Chinese Meister; Feuer- und
Lichtglanz sind seine Wonne.


Bald nach der Ankunft in Tien-tsin brachen der Prediger
Kreiher und Herr Wilhelm Heine aus New-York unter americani-
schem Pass mit einigen Missionaren nach Pe-kiṅ auf, von wo sie
am 15. Mai zurückkehrten. Herr Heine ging am 29. Mai abermals
dahin, um durch Sibirien nach Europa zu reisen, fand aber die
von der chinesischen Regierung bereiteten Hindernisse unüberwindlich
und kehrte am 28. Juni nach Tien-tsin zurück. Er blieb dort nur
bis zum 3. Juli, ging dann von Ta-ku aus auf einer englischen
Brigg nach Naṅgasaki und kam mit der preussischen Expe-
dition in keine weitere Berührung. — Auch der Kaufmann Spiess
machte einen kurzen Besuch in Tien-tsin und Pe-kiṅ, ging dann
nach dem Süden und erwartete das Geschwader in Hong-kong. —
Der Photograph Bismarck arbeitete in Tien-tsin längere Zeit so
angestrengt, dass er erkrankte und Anfang Juli auf die Arkona
übersiedeln musste, die von Tši-fu Ende Juni nach der Pei-ho-
Mündung
zurückkehrte. — Bei den im Mai herrschenden Stürmen
war ihr Aufenthalt auf der Rhede von Ta-ku höchst unbequem
und nutzlos, die Verbindung mit dem Lande oft Tage lang unter-
brochen, noch schwieriger der Verkehr mit Tien-tsin gewesen.
Gingen nicht Kanonenboote, so musste die Strecke zu Lande ge-
macht werden, denn die lange Fahrt auf dem Fluss war für Ruder-
boote des Fluthwechsels wegen selbst stromabwärts mühselig.
Bei heftigem Winde liefen sogar Kanonenboote nur mit Gefahr
über die Untiefen der Rhede. Der englische Dampfer Sphinx, der
Mitte Mai vor Ta-ku erschien, konnte mehrere Tage nicht einmal
die Post landen. Eine reisbeladene Brigg strandete auf der Barre
[32]Arkona und Elbe vor Tši-fu. XV.
und wurde leck; der Reis quoll, das Schiff barst und wurde
von den Wellen zerschlagen. Aehnliches geschah öfter. Da nun
die Arkona vor Ta-ku den Zwecken des Gesandten gar nichts
nützen konnte, so segelte Capitän Sundewall am 15. Mai nach
Tš-fu. Unterwegs begegnete er der Elbe und dirigirte sie eben-
falls dahin. Dort gestaltete sich der Aufenthalt sehr vortheilhaft;
die Schiffe konnten nah dem Lande ankern; frische Lebensmittel
gab es in Fülle; auf einer kleinen Felseninsel vor der Bucht ward
ein Lager aufgeschlagen, wo immer ein Theil der Mannschaft cam-
pirte. Witterung und Oertlichkeit waren auch den Schiessübungen
und anderen Exercitien günstig, so dass der Aufenthalt in Tši-fu,
wo Arkona und Elbe später noch längere Zeit ankerten, nicht nur
die gute Stimmung und die Gesundheit, sondern auch die militä-
rische Ausbildung der Mannschaft wesentlich förderten.


Nachdem Arkona nach der Rhede von Ta-ku zurückgekehrt
war, kamen am 25. Juni Capitän Sundewall, die Lieutenants zur
See Behrend, Graf Monts und von Schleinitz und die Aerzte
Dr. Eitner und Dr. Friedel auf kurze Zeit nach Tien-tsin. Dort
begann die Hitze eben fürchterlich zu werden, und die Aussichten
auf den Vertrag waren sehr trübe.


Das dem Gesandten gleich nach seiner Ankunft überreichte
Schreiben des Prinzen von Kuṅ meldete, dass Derselbe über die
preussischen Anträge an den Kaiser berichtet und die Ernennung
von zwei Commissaren erwirkt habe, welche in Tien-tsin mit ihm
in Verhandlung treten sollten. Als Hauptbevollmächtigter wurde
Tsuṅ-luen, Mandarin des rothen Knopfes ohne Emblem, also
ersten Ranges, Vice-Director der kaiserlichen Speicher, bezeichnet,
einer der vier Staatsräthe, die mit dem Prinzen von Kuṅ das Mi-
nisterium des Auswärtigen bildeten; der zweite war Tsuṅ-hau, In-
tendant des Handels und der Steuern in den drei nördlichen den
Fremden geöffneten Häfen, welcher in Tien-tsin wohnte und die
Beförderung des vom Attaché von Brandt überreichten Schreibens
besorgt hatte. Tsuṅ-hau, ein stattlicher Mann von 36 Jahren, un-
gezwungener Haltung und glatten Manieren, machte dem Gesandten
am Tage nach dessen Ankunft einen Besuch, den er eine Viertel-
stunde vorher durch zwei Mandarinen vierter Classe anmelden liess.
[33]XV. Tsuṅ-hau.
Nach der gewöhnlichen Einleitung über das Wetter, des Gesandten
Reise u. s. w. erklärte er, dessen Gegenwart sofort nach Pe-kiṅ
melden zu wollen. Der erste Commissar werde dann gleich
in Tien-tsin erscheinen. Herr Wade, der Secretär der britischen
Gesandtschaft, hatte ihm von der nahen Verwandtschaft des
preussischen und des englischen Königshauses erzählt; er knüpfte
daran Fragen über die Lage und das Klima von Preussen, die
Grenzbeziehungen zu Russland u. s. w. Auf der Karte von China
war einer seiner Begleiter gut bewandert; Tsuṅ-hau besah, wahr-
scheinlich zum ersten Mal in seinem Leben, mit Staunen die nach
Angaben des Consuls Meadows darauf verzeichneten Züge der
Tae-piṅ, die sich wohl über die Hälfte des eigentlichen China er-
streckten. Er erzählte, dass Saṅ-ko-lin-sin in Šan-tuṅ den
Salz-Dschunken-Rebellen die Spitze biete, vermied aber von deren
bedenklichem Vordringen gegen Pe-kiṅ und der Zusammenziehung
von Truppen zu reden, die in Tien-tsin das Tagesgespräch waren.
Tsuṅ-hau gab sich als Tartaren zu erkennen, sprach jedoch fertig
chinesisch: das müssten selbst alle in der Tartarei angestellten
Mandschu-Beamten. — Graf Eulenburg glaubte damals noch,
Tsuṅ-hau seines Ranges wegen nicht als Bevollmächtigten zu po-
litischen Verhandlungen anerkennen zu dürfen, empfing ihn deshalb
nur wie einen zu seiner Begrüssung erscheinenden Beamten und
vermied jede geschäftliche Discussion; später zeigte sich, dass seine
Stellung als Intendant des fremden Handels ihn allerdings zum Com-
missar qualificirte.


Am 5. Mai erwiederte Graf Eulenburg den Besuch mit dem
Dolmetscher Herrn Marques und dem Attaché du jour. Die von
Herrn Probst besorgte grüne Sänfte und die Kostüme der Träger
leisteten auch in Tien-tsin gute Dienste. Es ging nach der inneren
Stadt durch enge riechende Gassen. Am Eingang des Yamum stand
Tsuṅ-hau’s Capelle, die den Gesandten mit Trompeten, Cymbeln
und Clarinetten anschmetterte; von der Sänfte führte ihn der Wirth
in ein auf den inneren Hof mündendes Gemach, wo der übliche
Imbiss aufgetragen war; an den Wänden hingen gute Thier- und
Blumenstücke; Luxus zeigte sich nur in der Menge der Diener,
deren Anzüge reinlich und anständig waren, wie das ganze Haus.
Die assistirenden Mandarinen dritten und vierten Ranges trugen
lange Röcke von schwerer Seide, auf deren Brust und Rücken ge-
stickte kaiserliche Drachen prangten, eben so Tsuṅ-hau, um dessen
IV. 3
[34]Tsuṅ-luen. XV.
Hals eine lange Kette grosser Email-Perlen hing. Seine Hände
waren weiss und glatt, die Nägel wohl gepflegt, der des kleinen
Fingers fast einen Zoll lang: das sind in China Zeichen des vor-
nehmen Mannes, der seine Hände nicht brauchen darf. Am Dau-
men trug Tsuṅ-hau einen breiten Ring von weissem Jade. Er
unterhielt sich mit dem zu seiner Linken sitzenden Gesandten un-
gezwungen über Landessitten, Natur und Kunst. Die Collation aus
Früchten, Backwerk, Gemüse, Schinken und Süssigkeiten war auf
zierlichen Schüsselchen angerichtet; das Eingemachte und über-
zuckerte Mandeln schmeckten gut, die meisten Gerichte aber recht
fade. — Einige Tage nach diesem Besuch schickte Tsuṅ-hau dem
Gesandten ein gebratenes Spanferkel, zwei gebratene Enten, Kuchen,
Früchte und candirte Nüsse, und erhielt als Gegengabe einen Korb
Champagner.


Am 8. Mai traf der erste Commissar Tsuṅ-luen in Tien-tsin
ein und besuchte am folgenden Tage den Gesandten; ein kleiner
beweglicher Mann von siebzig Jahren, dessen Antecedentien von
schlechter Vorbedeutung für die Verhandlungen waren. Ihn hatte
man schon früher ins Feuer geschickt, wo es sich um Abweisung
von Gesandten handelte; seine Berichte an den Kaiser über die
1854 mit Sir John Bowring gepflogenen Berathungen gaben ange-
nehmen Aufschluss über seine Schätzung der Barbaren; Kaiser
Hien-fuṅ wusste, dass er sich keiner Inconsequenz, keines Wort-
bruches schämte, wo es seinen Vortheil und Ueberlistung der Frem-
den galt. — Beim ersten Besuch sprach er mit grosser Volubilität
von seinen Geschäften: neben den Functionen im Ministerium des
Auswärtigen läge ihm die Versorgung der Hauptstadt mit Getreide
ob; die Unsicherheit der Zufuhren, welche die Rebellen häufig ab-
schnitten, machte ihm viel Sorge; Pe-kiṅ brauche jährlich
4,000,000 Pi-kul Reis. Auf die Frage, warum die Regierung nicht
kräftiger einschreite, antwortete Tsuṅ-luen, dass sie kein Geld
habe, deutete auch an, dass der Himmel selbst sich einmischen
werde. Er that überhaupt sehr fromm, verdrehte bei Erwähnung
der angeordneten Gebete um Regen die Augen und erhob feierlich
die Hände: die furchtbare Dürre lasse schlechte Ernten befürchten.
Die Rede kam auf die grosse Gefahr, in welcher die Stadt beim
Brande der französischen Artillerie-Ställe schwebte: wer ein reines
Gewissen habe, meinte Tsuṅ-luen, dürfe getrost dem Schutze des
Himmels vertrauen. — Eine Sentenz jagte die andere. — Als der
[35]XV. Schreiben der Gesandten.
Gesandte nach den Vollmachten forschte, betheuerte der Commissar,
dass er deren nicht besitze: nach Constituirung eines Ministeriums
der auswärtigen Angelegenheiten, welches mit den fremden Ge-
sandten zu verhandeln habe, sei specielle Ermächtigung einzelner
Mitglieder desselben nicht mehr erforderlich. Graf Eulenburg
suchte ihm darauf den Unterschied in den Attributionen eines
Ministerialrathes und eines zum Abschluss von Verträgen bevoll-
mächtigten Commissars zu erklären: ausdrücklicher Vollmachten
bedürfe es um so mehr, als Tsuṅ-hau gar nicht Mitglied des Mi-
nisteriums sei; Vorbesprechungen möchten ohne Aufschub statt-
finden; der Gesandte müsse aber den Prinzen von Kuṅ um aus-
drückliche und formelle Bevollmächtigung der Commissare ersuchen,
ehe er zu den Verhandlungen schritte. Das fand Tsuṅ-luen durch-
aus billig: es werde auch keine Umstände machen, den Kaiser da-
hin zu vermögen; man wolle gewiss dem Reiche Preussen nicht
versagen, was anderen Mächten gewährt sei. Er wünsche sehn-
lichst und hoffe, die Verhandlungen schnell zu glücklichem Ende
zu führen, da ihn wichtige Geschäfte nach Pe-kiṅ riefen. —
Tsuṅ-luen hatte grosses Gefolge von Mandarinen bei sich, deren
mehrere bei den Attachés im Hintergebäude eintraten. — Als Graf
Eulenburg am 10. Mai den Besuch erwiederte, machte Tsuṅ-luen
den höflichsten Wirth; er wohnte bei Tsuṅ-hau. Musik und Früh-
stück glichen den früheren Leistungen. Der Gesandte fragte viel
über chinesische Verhältnisse, ohne sonderlichen Erfolg. Politisches
kam nicht zur Sprache.


Die Schreiben, welche Graf Eulenburg bei seiner Ankunft in
Tien-tsin von den Gesandten Englands und Frankreichs erhielt,
athmeten gleiche Bedenken wie die früheren. Den Kaiser umgaben
in Džehol lauter Männer der retrograden Parthei, welche seinem
Machtbewusstsein schmeichelten und die Ausführung der Verträge
zu hintertreiben suchten. Der Prinz von Kuṅ und seine Räthe in
Pe-kiṅ trugen den Ereignissen Rechnung und strebten das freund-
schaftliche Verhältniss zu fördern, bedurften aber zu jeder wichtigen
Handlung der kaiserlichen Sanction und mussten jede offene Be-
günstigung der Fremden vermeiden. Den Kaiser zur Rückkehr zu
vermögen, dem Prinzen von Kuṅ die Wege zu ebnen, damit die
Beziehungen zu seinem Bruder nicht getrübt würden, war das
eifrige Streben der Gesandten; sie fürchteten, dass der Prinz seines
Amtes müde würde; an seiner Person hing die Erhaltung des Frie-
3*
[36]Note an den Prinzen von Kuṅ XV.
dens. Deshalb nahmen sie Anstand, ihn zu Begünstigung der
preussischen Anträge zu treiben, welche den Kaiser leicht erbittern
möchte. — Diese Rücksicht hielt auch Graf Eulenburg ab, gleich nach
Pf-kiṅ zu gehen; sein Erscheinen dort hätte den Prinzen in Unge-
legenheiten setzen, den Erfolg vielleicht vereiteln können. An
Ueberreichung der Creditive war nicht zu denken; die diplomatische
Action der Gesandten von England und Frankreich drehte sich
seit lange um diesen Punct. Graf Eulenburg fand auch zweck-
mässig, die Reise nach Pe-kiṅ als letzten Trumpf aufzusparen,
falls die Verhandlungen in Tien-tsin scheitern sollten.


Zugleich mit Tsuṅ-luen kam aus Pe-kiṅ der erste Secretär
der französischen Gesandtschaft, Graf von Kleczkowski nach Tien-
tsin
und bot Graf Eulenburg seine Dienste an: die schnelle Er-
nennung der Commissare sei dem Einfluss des Gesandten Herrn
von Bourboulon zu danken, der auch in Zukunft nach Kräften für
den preussischen Vertrag wirken möchte. Bei Erörterung der
Eventualitäten erklärte Graf Kleczkowski, dass Preussen die Ge-
währung des Gesandtschaftsrechts und anderer Puncte, welche
seine politische Gleichstellung mit den Grossmächten bedingten,
kaum erwarten dürfe. Dieses Ziel behielt der Gesandte aber unbeirrt
im Auge. — Zugleich mit der Note an den Prinzen von Kuṅ we-
gen Ausstellung von Vollmachten beförderte er ein Schreiben an
den englischen Gesandten, in welchem die Vortheile hervorgehoben
wurden, welche nicht nur China, sondern auch den westlichen
Mächten aus einem preussischen Vertrage erwachsen müssten. Die
Deutschen lebten in den geöffneten Häfen unter dem Schutz der
Vertragsmächte, deren Consuln ihnen aus Courtoisie alle möglichen
Vortheile angedeihen liessen, ohne die geringste Macht über sie
zu haben; die Consuln der deutschen Staaten, sämmtlich Kaufleute,
übten auch keine Jurisdiction über ihre Landsleute. Dieses Miss-
verhältniss gab zu ernsten Beschwerden Anlass. Während nun bis
dahin alle Schiffahrt treibenden deutschen Staaten Consuln in den
chinesischen Häfen hatten, verlangte Preussen nur die Zulassung
eines Gesandten in Pe-kiṅ, eines Consul missus in jedem geöffneten
Hafen für den Zollverein und Mecklenburg und eines zweiten für
die Hansestädte, welche die gesonderte consularische Vertretung
zur Bedingung ihrer Theilnahme am Vertrage machten. Die Ernen-
nung von Consuln mit Richterqualität musste ein Vortheil für China
und die Vertragsmächte sein. Hatten doch in Shang-hae die Com-
[37]XV. Vertragsbesprechung. Schriftwechsel.
munalbehörden der englischen Niederlassung, wo Deutsche straflos
die Gesetze höhnten, den Gesandten amtlich darum angegangen.


Die erste Besprechung über den Vertrag erfolgte am 13. Mai.
Die Commissare kamen mit zahlreichem Gefolge, das in den Höfen
blieb; nur die Mandarinen, darunter der Tau-tae von Tien-tsin,
setzten sich neben den Commissaren mit zu Tisch; denn die Sache
wurde durch ein Frühstück eingeleitet. Sie wussten sich mit Messer
und Gabel schlecht zu helfen und griffen mit den Fingern in die
Schüssel, wo sich das Begehrte nicht gleich mit dem Löffel er-
wischen liess. Mässig im Essen und besonders im Trinken, freuten
sie sich mehr am Schäumen als am Geschmack des Champagners.
Graf Eulenburg fragte viel nach ihren häuslichen Einrichtungen
und brachte sie in die heiterste Laune. Nach Tisch suchte er den
Commissaren mit Hülfe einer Karte die Verhältnisse des Zollvereins
zu erklären; sie folgten aufmerksam und schienen leicht zu fassen.
Den Vorschlag, die Karte nach Pe-kiṅ zu schicken, lehnten sie
ab: es genüge, wenn sie selbst instruirt seien. Aus dieser Erklärung
und dem guten Willen, den sie zeigten, schöpfte Graf Eulenburg
die Hoffnung auf schnelle Lösung seiner Aufgabe, sollte sich aber
bitter getäuscht sehen. Er redigirte auf ihren Wunsch eine kurze
Denkschrift über den Zollverein und dessen beanspruchte Vertre-
tung, und sandte ihnen die Uebersetzung am folgenden Tage.


Der Prinz von Kuṅ antwortete dem Gesandten unter dem
13. Mai, dass der Vertrag, wie er in seiner Note verlangte, für den
Zollverein, Mecklenburg und die Hansestädte abgeschlossen werden
möge, Special-Vollmachten jedoch nicht ertheilt würden. Das De-
partement des Auswärtigen sei ein für alle Mal zu Verhandlungen
mit den fremden Gesandten ermächtigt; Graf Eulenburg möge den
beiden Commissaren, welche das besondere Vertrauen des Kaisers
genössen, mit derselben Zuversicht begegnen, als wenn sie ausdrück-
liche Vollmachten hätten. Dabei konnte der Gesandte sich nicht
beruhigen und wiederholte sein Ersuchen unter neuer Motivirung.
— Ein Schreiben des Herrn Bruce beleuchtete abermals die schwie-
rige Stellung der Gesandten in Pe-kiṅ. Nur allmälig könnten die
Vorurtheile der Regierung besserem Einsehn weichen. Zu einem
Handelsvertrage werde sie leicht zu bewegen sein, nicht aber zu
einem politischen mit dem Rechte diplomatischer Vertretung in
Pe-kiṅ. Ganz ähnlich äusserte sich in wiederholten Gesprächen
Graf Kleczkowski: wenn die Gesandtschaften von England und
[38]Bedingungen der Chinesen. XV.
Frankreich vereint darauf beständen, so wäre das Recht der Ver-
tretung für Preussen gewiss zu erlangen; das würde aber den
Sturz des Prinzen von Kuṅ bewirken, dessen Folgen sich nicht ab-
sehen liessen; deshalb dürften sie solche Pression nicht üben,
ohne welche Preussen das Gesandtschaftsrecht unmöglich erlangen
könne. In einigen Monaten hoffe man den Kaiser zur Rückkehr zu
vermögen; dann würde ein politischer Vertrag vielleicht durch-
zusetzen sein. Graf Eulenburg erklärte dagegen, dass er ungesäumt
auf sein Ziel losgehen müsse, und sprach die Hoffnung aus, dass
die französische Gesandtschaft ihm wenigstens nicht entgegentre-
ten werde.


Am 16. Mai schickten die Commissare ein langes Schreiben,
welches zunächst die schwierige Stellung des Prinzen zu den
preussischen Anträgen besprach: der Gesandte trete im Namen
vieler Staaten auf: andere kleinere Reiche würden gleiche For-
derungen stellen; dieses Bedenken sei nur durch den Bericht über
Graf Eulenburg’s Persönlichkeit und die Erklärung der anderen
Gesandten überwunden worden, dass Preussen eine Grossmacht sei.
Die grosse Tsiṅ-Dynastie könne aber keinen politischen, sondern
nur einen Handelsvertrag mit ihm abschliessen, dessen Grund-
lagen in sieben weitschweifigen Artikeln folgenden Inhalts formu-
lirt waren.


Preussen verzichtet auf das Recht, einen diplomatischen Ver-
treter nach Pe-kiṅ zu schicken.


Alle contrahirenden deutschen Staaten werden in Handels-
angelegenheiten nur von den preussischen Consuln vertreten; diese
stehen unter einem General-Consul, welcher mit einem chinesischen
Regierungs-Commissar verhandelt und in wichtigen Fällen durch
diesen an das Ministerium des Auswärtigen in Pe-kiṅ berichtet.


Nur unbescholtene Beamten, nicht Kaufleute, werden zu Con-
suln ernannt, da chinesische Beamte nur solche als gleichberechtigt
ansehen und mit Achtung behandeln können.


Nicht der deutsche, sondern der chinesische Text des Ver-
trages ist maassgebend.


Die Clausel der »meistbegünstigten Nation« bezieht sich nur
auf commercielle, nicht auf politische Vortheile, welche China an-
deren Völkern gewähren wird.


Graf Eulenburg antwortete umgehend, dass vor Allem die
Commissare mit Vollmachten versehen sein müssten; die chinesische
[39]XV. Schriftwechsel.
Regierung dürfe Preussen ferner nicht von vorn herein Alles ver-
sagen, was sie anderen Völkern zugestanden habe. Er könne keine
ihrer Bedingungen annehmen und mache als Vertreter einer Gross-
macht auf dieselben politischen Rechte Anspruch, welche anderen
Mächten gewährt seien; verweigere die kaiserliche Regierung die
Ausstellung von Vollmachten und beginne sie mit Aufzählung der
Puncte, die sie nicht gewähren wolle, so zeige sie dadurch, dass
sie mit Preussen und Deutschland überhaupt nicht in freundschaft-
liche Beziehungen zu treten wünsche.


Eine Note des Prinzen vom 18. Mai erklärte gleichfalls, dass
nur ein Handelsvertrag abgeschlossen werden könne; die Commis-
sare seien durch kaiserlichen Befehl zu den Verhandlungen beauf-
tragt; Tsuṅ-luen habe als Mitglied des Auswärtigen Amtes hin-
reichende Vollmacht, Tsuṅ-hau sei ausdrücklich dazu ermächtigt.
Was sie billig gewähren könnten, werde die Regierung annehmen;
was darüber hinausgehe, könne weder er selbst genehmigen, noch
dem Kaiser vortragen. — Die hier zuerst auftauchende Erklärung
des Prinzen von Kuṅ, dass nur ein Handelsvertrag geschlossen
werden könne, widersprach gradezu seinen früheren Noten, in
welchen die Anträge des Gesandten auf Abschluss eines »Freund-
schafts- und Handels-«, also eines politischen Vertrages, ohne Ein-
spruch hingenommen, und Unterhandlungen auf dieser Basis ver-
heissen wurden. Ebenso hatte Tsuṅ-luen bei seinem ersten Be-
such aus freien Stücken erklärt, dass China keinen Grund habe,
Preussen und Deutschland die anderen Staaten gewährten Rechte
zu versagen. Jetzt sprachen sie anders. Das Zusammentreffen jener
Schreiben mit den Aeusserungen des Herrn Bruce und des Grafen
Kleczkowski erweckte den unwillkürlichen Gedanken, dass frem-
der Einfluss den Umschlag bewirkt habe. Graf Eulenburg
richtete am 23. Mai abermals eine Note an den Prinzen von
Kuṅ, in welcher er sich gegen den Abschluss eines blossen Han-
delsvertrages verwahrt, und, durch undeutliche Uebersetzung der
letzten Note des Prinzen irre geleitet, noch einmal jede Verhand-
lung mit Commissaren ablehnt, die nicht mit Special-Vollmachten
versehen seien. Der Gesandte bespricht in dieser Note eingehend
Preussens europäische Stellung, und die Unmöglichkeit, hinter an-
deren Grossmächten zurückzustehen. Er betont, dass er die Bei-
legung des Zwistes mit den Westmächten abgewartet habe, jetzt
aber nicht einsehe, warum China nicht in Vertragsbeziehungen
[40]Chinesische Vollmachten. XV.
treten wolle, die seine Institutionen und seine politische Ehre nicht
schädigten. Graf Eulenburg schliesst mit der Bitte, sein Schreiben
zur Kenntniss des Kaisers zu bringen, falls der Prinz nicht er-
mächtigt sei, die gestellten Forderungen selbstständig zu gewähren.


Der merkliche Einfluss, welchen die Gesandten von England
und Frankreich übten, bewog Graf Eulenburg, sie vom Inhalt sei-
ner Note an den Prinzen zu unterrichten und um Unterstützung
seiner Anträge zu ersuchen, so weit ihre Interessen darunter nicht
litten. Zugleich bat er sie, dem Prinzen von Kuṅ beiläufig zu
sagen, dass Preussen in den nächsten Jahren wahrscheinlich keinen
Vertreter nach Pe-kiṅ, sondern nur einen General-Consul nach
Shang-hae senden werde, erklärte aber bestimmt, dass er ohne
Gewährung des Gesandtschaftsrechtes überhaupt keinen Vertrag
schliessen werde. Er kündigte den Gesandten ferner an, dass er
nach Pe-kiṅ kommen und den Prinzen persönlich angehen werde,
wenn die Verhandlungen in Tien-tsin erfolglos blieben.


Gleich nach Abgang dieser Schreiben und der Note an den
Prinzen erhielt Graf Eulenburg eine Aufforderung der Commissare,
in der »öffentlichen Halle« von Tien-tsin zu erscheinen und von
kaiserlichen Decreten Kenntniss zu nehmen, welche Tsuṅ-hau zu
den Verhandlungen ausdrücklich ermächtigten, während Tsuṅ-luen
schon durch sein Amt dazu legitimirt sei. — An diesem Tage durch
Unwohlsein verhindert, begab sich der Gesandte erst am 24. Mai
mit Herrn Marques und dem Attaché du jour nach dem zu öffent-
lichen Verhandlungen bestimmten Gebäude, wo ihn die Commissare,
umgeben von vielen Beamten, in einer luftigen Halle empfingen.
Zur Conferenz gingen sie mit wenig Begleitern in ein kleineres Ge-
mach. Graf Eulenburg erklärte nochmals bestimmt, dass er ohne
das Gesandtschaftsrecht keinen Vertrag schliessen werde, wogegen
die Commissare ihre Bedenken äusserten: es müsse die Gesandten
von England und Frankreich verletzen, wenn ChinaPreussen so
schnell gewähre, was jenen Mächten so viel Kämpfe kostete. In
diesem Punct verwies sie Graf Eulenburg an deren Vertreter in Pe-
kiṅ
. — Die in Abschrift vorgelegten kaiserlichen Decrete lauteten:


I.


Am 19. Tage des 2. Monats des 11. Jahres von Hien-fuṅ
(19. März 1861) ist folgendes kaiserliches Decret eingegangen.


Der Prinz von Kuṅ, Yi-sin, und seine Collegen haben eine Ein-
gabe an uns gerichtet, dass Preussen in Tien-tsin erschienen sind

[41]XV. Chinesische Vollmachten.
um ihren Handelsvertrag abzuschliessen, und uns gebeten, hohe Beamte
ernennen zu wollen, welche nach Tien-tsin gehen und dort die An-
gelegenheit regeln möchten. Wir verordnen, dass Tsuṅ-luen und
Tsuṅ-hau ernannt werden sollen, um die Angelegenheiten dieser
Nation zu ordnen.


Achtet darauf.


II.


Am 5. Tage des 4. Monats des 11. Jahres von Hien-fuṅ
(14. Mai 1861) ist folgendes kaiserliches Decret eingegangen.


Der Prinz von Kuṅ, Yi-sin, und seine Collegen haben uns eine
Eingabe eingereicht, — nachdem Graf Eulenburg eine Note an ihn
richtete, auch Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau ein Schreiben an ihn er-
liessen, — in welcher Eingabe gesagt ist, dass Graf Eulenburg aus
dem Reiche Preussen eine Note an ihn, den Prinzen von Kuṅ, gerich-
tet habe, worin er ihn ersucht, uns eine Vorstellung darüber einzu-
reichen, dass Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau noch nicht mit einem Decret
versehen seien, welches ihnen Vollmacht zu gehörigem Verhandeln ertheilt.


Tsuṅ-luen, als hoher mit den Angelegenheiten der fremden
Reiche betrauter Beamter, ist schon ein mit Vollmachten bekleideter
Würdenträger, und in Bezug auf Tsuṅ-hau verordnen wir, dass er
mit Vollmachten zu gehörigem Verhandeln bekleidet sei.


Achtet darauf.


Auf den Wunsch des Gesandten wurde die Abschrift zu
näherer Prüfung in seine Wohnung geschickt. Sein Bedenken
darüber, dass nicht das Original vorgelegt wurde, hob Herr Marques,
nach dessen Erfahrung das niemals geschah. Ueber die Gültigkeit
der Vollmachten beruhigte ihn Herr Parkes, einer der besten Ken-
ner chinesischer Documente, der, von Pe-kiṅ kommend, den
Grafen in jenen Tagen besuchte; er fand sie klarer und bestimmter
gefasst, als alle früheren chinesischen Vollmachten. Graf Eulen-
burg
theilte nun den Commissaren mit, dass ihre Legitimation ge-
nüge und die Verhandlungen beginnen könnten. — Eine Antwort
des Prinzen von Kuṅ auf das Schreiben vom 23. Mai verwies ihn
auf die eben berührten kaiserlichen Decrete; des Gesandtschafts-
rechtes war mit keinem Worte gedacht, und Graf Eulenburg
durfte glauben, dass der Prinz über seine Note an den Kaiser be-
richtete, — dass es keineswegs fest beschlossen sei, Preussen jenen
Punct zu verweigern.


Mit deutschen der Verhältnisse kundigen Kaufleuten in
Shang-hae hatte der Gesandte den in Berlin entworfenen Vertrag
[42]Der übersetzte Vertrag. XV.
besprochen, welcher im Wesentlichen gleich denen der anderen
Mächte lautete, und traf auf ihren Vorschlag einige Aenderungen.
In der neuen Fassung liess er ihn zunächst in das Englische und
Französische, dann durch Herrn Marques in das Chinesische über-
tragen; eine mühselige Arbeit, da bei des Herrn Marques nicht
vollkommener Kenntniss des Französischen immer sorgfältig geprüft
werden musste, ob der Sinn getreu übersetzt sei. Unüberwindliche
Schwierigkeit bereitete der Eingang, wo sämmtliche Staaten des
Zollvereins genannt waren. So viele den deutschen ähnliche Silben
zu finden, die, nicht anstössig oder lächerlich von Bedeutung, dem
chinesischen Ohr leidlich klangen, schien unmöglich. Dazu gerech-
net die Unfähigkeit sowohl des Herrn Marques, als des englischen
Dolmetschers, der in Shang-hae freundlich Hülfe leistete, deutsche
Worte richtig zu hören und auszusprechen, so kann man sich vor-
stellen, wie die falsch gesagte deutsche Silbe erst chinesisch klang.
Der Gesandte arbeitete den Eingang wiederholt mit Herrn Mar-
ques
durch, brachte aber trotz unsäglicher Geduld nichts Gutes
zu Stande.


Nach Erledigung der Vollmachtsfrage sandte Graf Eulenburg
den Commissaren auf ihren Wunsch täglich etwa zehn Artikel des
übersetzten Vertrags-Entwurfes zur Prüfung. Kaum aber war die
Hälfte in ihren Händen, als sie, am 30. Mai, in einem langen
Schreiben erklärten, es sei unnütze Mühe, ihnen Artikel politischen
Inhalts zu schicken; nur über Handelsbestimmungen dürften sie
unterhandeln; ein Gesandter könne nicht zugelassen werden, son-
dern nur ein in Shang-hae residirender General-Consul und Con-
suln in den anderen Häfen; sollten Diese andere Functionen üben,
als die Erlegung der Zölle und Klarirung der Schiffe, so müssten
Beamte, nicht Kaufleute ernannt werden. Der deutsche Text dürfe
nicht maassgebend sein; auf ein Schutzrecht über Christen müsse
Preussen verzichten. — Das Hervorheben letzteren Punctes begrün-
dete wohl der übele Namen, welchen sich protestantische Missio-
nare durch ihre Tae-piṅ-Sympathieen bei der kaiserlichen Regie-
rung gemacht hatten. — Die Unruhen im Reiche und die militäri-
schen Operationen gegen die Rebellen, fahren die Commissare fort,
nähmen die Regierung ganz in Anspruch; sie seien zu Unterhand-
lungen bereit, wenn die Handelsbestimmungen der anderen Verträge
als Grundlage genommen würden; die Umstände erlaubten es nicht
anders; Preussen dürfe, nur weil es ihm Vortheil bringe, nicht Zu-
[43]XV. Unklare Lage.
geständnisse verlangen, die China unbequem seien; nach Herstel-
lung geordneter Zustände könnten sich an die Handelsbestimmun-
gen weitere Verträge knüpfen. — Graf Eulenburg erklärte in seiner
Antwort, nur auf den Grundlagen eines politischen Vertrages unter-
handeln zu können, und ersuchte die Commissare um endgültigen
Bescheid, ob sie dazu bereit seien, damit er seine Schritte danach
einrichten könne. So drehte man sich im Kreise.


Volle Klarheit über die Lage liess sich in jenen Tagen nicht
gewinnen. Herr von Bourboulon schrieb dem Gesandten von einer
Unterredung mit Wen-tsiaṅ, dem klügsten und einflussreichsten
Beigeordneten des Prinzen von Kuṅ: nach dessen Aeusserungen
begriffen der Prinz und er selbst, dass Preussen nicht hinter an-
deren Grossmächten zurückstehen könne, dass ihm über kurz oder
lang gleiche Rechte zu gewähren seien; nur ginge das jetzt
noch nicht; es stürme zu vielerlei auf die Regierung ein, man müsse
ihr Zeit lassen. Herr von Bourboulon fand diese Auffassung ge-
rechtfertigt und bedauerte, den preussischen Gesandten nicht, wie
er dringend wünsche, kräftiger unterstützen zu können. Graf
Kleczkowski, der das Schreiben übergab, wiederholte die oft ge-
hörten Reden: Frankreich und England dürften keinen Casus belli
aus Nichtgewährung der preussischen Forderungen machen u. s. w.
Fast schien die Aeusserung der Commissare, dass die Vertreter
der Westmächte sich durch weitgehende Zugeständnisse an
Preussen verletzt fühlen möchten, nicht so ganz ungegründet: auf
Mittheilung derselben gab Graf Kleczkowski nur die Antwort, dass
solche Gewährung ein unwahrscheinliches Glück wäre, nachdem
Frankreich und England gleiche Rechte in langjährigen Verhand-
lungen und Feldzügen erkämpft hätten. — Vor der bald erfolgen-
den Abreise des [französischen] Secretärs nach Pe-kiṅ erklärte ihm
Graf Eulenburg, dass er, als äusserstes Zugeständniss, in einer
Note an den Prinzen oder in einem geheimen Artikel für die
preussische Regierung die Verpflichtung übernehmen wolle, vor
Ablauf von fünf Jahren keinen Gesandten nach Pe-kiṅ zu schicken,
wenn im Vertrage das Gesandtschaftsrecht bewilligt würde. Dieser
Wendung sprach Graf Kleczkowski nicht jede Aussicht des Erfolges
ab; er erbot sich, darüber mit dem Prinzen von Kuṅ zu reden und
den Gesandten binnen zehn Tagen vom Erfolge zu unterrichten.


Unterdessen hatten die Commissare des Gesandten Ersuchen
um endgültigen Bescheid am 4. Juni dahin beantwortet, dass sie
[44]Schriftwechsel. XV.
bei den Erklärungen ihres Schreibens vom 30. Mai bleiben müssten:
nur Handelsbestimmungen könnten verabredet werden; der chine-
sische Text müsse gelten. Nicht China, sondern Preussen suche
den Vertrag und könne nicht verlangen, dass man sich an ein Do-
cument binde, dessen Sinn man nicht kenne. — Da der Gesandte
nicht sogleich antwortete, so verarbeiteten sie dasselbe Thema in
einem neuen Schreiben am 7., dann abermals am 10. Juni: sein Schwei-
gen sei unerklärlich; die Verhandlungen möchten beginnen, sonst
trage Graf Eulenburg die Schuld am Scheitern seiner Wünsche.
Der Gesandte wollte jedoch den Bescheid aus Pe-kiṅ abwarten.
Ein Schreiben des Herrn Bruce sagte ihm, dass der Kaiser allem
Anschein nach seine Empfindlichkeit über die Anwesenheit fremder
Gesandten in Pe-kiṅ keineswegs verwunden habe, dass die Un-
sicherheit darüber alle Bewegungen der Diplomaten hemme. — Graf
Eulenburg durfte vermuthen, dass zwischen Pe-kiṅ und Džehol
Verhandlungen schwebten, dass Prinz Kuṅ seinen Anträgen im
Grunde nicht abgeneigt sei. Leicht konnte sein Erscheinen in
Pe-kiṅ den Kaiser irritiren, der nach den letzten Nachrichten be-
denklich erkrankt war. Man vermuthete, dass seinem Oheim
Hu-wae, — der Ende Mai von Džehol nach Pe-kiṅ kam, — und
dem Prinzen von Kuṅ die Regentschaft für den minderjährigen
Thronerben zufallen würde, eine Eventualität, die dem Abschluss
unseres Vertrages günstig gewesen wäre. — Ueber die Stellung der
Gesandten von England und Frankreich erhielt Graf Eulenburg
einigen Aufschluss durch den Secretär des General-Gouverneurs
von Ost-Sibirien, Herrn von Bützow, der auf einer Urlaubsreise
nach Pe-kiṅ kam und einen Abstecher nach Tien-tsin machte.
Aeusserungen desselben, welche seine Vermuthungen bestärkten,
und das lange Ausbleiben der Antwort des Grafen Kleczkowski
brachten den Gedanken, bald nach Pe-kiṅ aufzubrechen, zu
grösserer Reife, während doch auch viele Gründe dagegen
sprachen. Es war ein Zustand der peinlichsten Unklarheit, ver-
schlimmert durch die Qualen des Klimas und gezwungene Un-
thätigkeit.


Am 11. Juni antwortete endlich Graf Eulenburg den Com-
missaren, dass er auf dem Rechte der Gesandtschaft fest bestehe,
auch wenn diese Forderung zu Abbruch der Verhandlungen führen
sollte. Nach einigen Tagen kam ein Schreiben in vorwurfsvollem
Ton: England, Frankreich und America ständen seit zwanzig
[45]XV. Besprechung mit den Commissaren.
Jahren in Vertragsbeziehungen zu China, die Freundschaft mit
Russland dauere schon zweihundert Jahre, und jetzt erst sei ihnen
das Recht der Gesandtschaft in Pe-kiṅ gewährt worden. Nun
komme Preussen und verlange dasselbe sofort. Die Commissare
hätten die Vollmachten des Gesandten nochmals geprüft und nichts
darin gefunden, was ihn zu jener Forderung berechtige; allein vom
Abschluss eines Freundschafts- und Handelsvertrages sei die Rede.
— In diesem Schreiben brauchten die Commissare auffallender
Weise wieder das Zeichen für »Freundschaftsvertrag«, das in den
früheren sorgfältig vermieden war: nur von »Handelsbestimmungen«
sprachen sie dort. Da sie um eine Unterredung baten, so empfing
Graf Eulenburg sie am 16. Juni zum Frühstück. Nachdem beide
Theile ihr Bedauern über die lange Unterbrechung des persönlichen
Verkehrs geäussert, kam der Vertrag zur Sprache. Der Gesandte
erklärte wieder, dass er nur auf Grundlage des Gesandtschafts-
rechtes unterhandeln werde, fügte jedoch hinzu, dass auf Gewährung
desselben nicht nothwendig die Absendung eines preussischen Ver-
treters an den Hof von Pe-kiṅ sofort erfolgen müsse. Tsuṅ-luen
hielt darauf lange Reden, deren Gedankengang ebenso naiv als
unlogisch war: man habe von Preussens Existenz gar nichts ge-
wusst; da aber die Gesandten in Pe-kiṅ versicherten, es sei eine
bedeutende Macht, so habe der Kaiser befohlen, einen Handels-
vertrag mit ihm zu schliessen u. s. w.; die Commissare wollten
nicht sämmtliche ihnen vorgelegte Artikel verwerfen, sondern nur
einige Aenderungen treffen. Graf Eulenburg erwiederte, dass der
Vertrag gewiss ein Werk gegenseitiger Uebereinkunft sein müsse;
ohne Einigung über die wesentlichen Grundlagen könnten aber die
Berathungen zu keinem Ziele führen. — Tsuṅ-luen bat, die For-
derung des Gesandtschaftsrechtes fallen zu lassen, dann werde man
in wenig Tagen im Reinen sein. Er tischte die alten Argumente
auf und fügte ganz offen hinzu, England und Frankreich hätten
jenes Zugeständniss nur durch Kriege erzwungen. Nach einigem
Hin- und Herreden entwand ihm Graf Eulenburg die Aeusserung,
dass Preussen mit der Zeit das Gesandtschaftsrecht gewiss erlan-
gen werde, ja, dass es vielleicht jetzt schon zu gewähren sei, wenn
die Ausübung auf einige Zeit verschoben würde. Dann kamen wie-
der Bedenken, dass viele andere Staaten dasselbe verlangen möchten.
Der Gesandte verwies auf Preussens Stellung als Grossmacht und
hatte manche naive Frage über die Zahl, Natur und Bedeutung der
[46]Kaiserlicher Befehl. XV.
europäischen Grossmächte zu bestehen. Wenn nun auch andere
Staaten sich für Grossmächte ausgäben, wie solle man das Gegen-
theil beweisen? Die Commissare müssten neue Befehle einholen
und bäten den Grafen, sie durch eine Denkschrift über die Gross-
mächte und die aufzuschiebende Ausübung des Gesandtschafts-
rechtes ins Klare zu setzen. — Am Schlusse der Unterredung sagte
Tsuṅ-luen: »Wir wussten vor deiner Excellenz Ankunft wenig
von europäischen Angelegenheiten; nun wissen wir Manches und
sehen namentlich, dass der Gesandte ein sehr liebenswürdiger Herr
ist. Was wir sahen und hörten muss aber auch der Prinz von
Kuṅ erfahren, und dann bleibt noch die Schwierigkeit, dass ge-
wisse Forderungen ganz unerfüllbar scheinen. Man kann unsere
Zugeständnisse einer Tasse Thee vergleichen, die wir halb gefüllt
anbieten; der Gesandte wünscht sie voll. Giebt es aber keinen
Thee mehr, so ist die Erfüllung des Wunsches eben unmöglich.«
Graf Eulenburg dankte für die Schmeichelei und bemerkte scherzend
zu dem Gleichniss, in China könne es doch an Thee nicht fehlen.


Hatte nun auch der Gesandte aus dem wirren Hin- und
Herreden dieser Conferenz die Ueberzeugung gewonnen, dass die
Commissare nicht selbstständig handeln konnten und keiner folge-
rechten Schlüsse fähig waren, so erweckten doch ihr Wunsch, den
Prinzen über die Grossmächte zu unterrichten, und ihre sichtliche
Genugthuung über das vorgeschlagene Auskunftsmittel wieder die
Hoffnung, dass trotz aller Hindernisse auf diesem Wege das Ziel
zu erreichen sei. Diese Hoffnung war, wie sich später zeigte, ge-
gründet. Zum Unglück traf aber am 19. Juni ein Schreiben des
Grafen Kleczkowski ein, nach welchem trotz der Befürwortung
jenes Vorschlages durch den Prinzen von Kuṅ am 16. Juni aus
Džehol der gemessene Befehl gekommen war, Preussen nicht mehr
zu gewähren, als das bisher Gebotene. Nach dieser Mittheilung
glaubte Graf Eulenburg annehmen zu müssen, dass auch auf den
Bericht der Commissare und seine Denkschrift über die Grossmächte
ein ablehnender Bescheid erfolgen werde, und beschloss, als letztes
Mittel, nach Pe-kiṅ zu gehen. Er war sich dabei vollkommen be-
wusst, dass dieser Schritt ein gewagter sei, dass er gewärtigen
musste, an den Thoren der Hauptstadt gewaltsam abgewiesen zu
werden. Denn ein Völkerrecht, welches die Gesandten schützt,
kennen die Chinesen nicht; nach ihren Begriffen haben nur die
Vertreter derjenigen Mächte ein Recht zum Aufenthalt in der
[47]XV. Reise nach Pe-kiṅ beschlossen.
Hauptstadt, welchen es ausdrücklich zugestanden ist. Zwar gingen
aus Tien-tsin häufig englische Officiere und andere Unterthanen
der Vertragsmächte als Gäste der Gesandtschaften nach Pe-kiṅ;
aber diesen selbst wurde das Uebermaass solcher Besuche schon
bedenklich, und sie trafen mit der Regierung ein Abkommen, dass
Reisende nur mit Pässen der Consuln, visirt von den chinesischen
Behörden in Tien-tsin, kommen dürften.8) Die Thorwachen waren
angewiesen jeden anderen Fremden anzuhalten, und den Bewohnern
der Hauptstadt wurde untersagt Ausländer in ihre Häuser auf-
zunehmen. Strenge Handhabung dieser Verordnungen durfte man
um so mehr erwarten, als sie damals neu waren. — Das Alles
wusste Graf Eulenburg; nach dem Schreiben des französischen
Secretärs blieb ihm aber keine Aussicht, in Tien-tsin sein Ziel
zu erreichen; nur von persönlicher Einwirkung auf den Prinzen
von Kuṅ liess sich noch Erfolg hoffen; es musste gewagt sein.


Die grösste Schwierigkeit war, ein passendes Unterkommen
zu finden. Weder der englische noch der französische Gesandte
hatten Graf Eulenburg zu sich eingeladen; der kürzlich ernannte
russische Minister-Resident, Oberst von Balluzek, war noch nicht
eingetroffen. Die zarten Rücksichten der Gastfreundschaft hätten
auch jedes freie Handeln gehemmt; Graf Eulenburg musste drin-
gend wünschen, eine eigene Wohnung zu beziehen. Abgesehen von
jenem Verbot waren chinesische Gasthäuser keine angemessene
Stätte für den Gesandten einer Grossmacht; es blieb also nur
der Versuch übrig, ein anständiges Haus zu miethen und ein-
zurichten. Mit diesem Auftrag wurden der Attaché von Brandt
und der Maler Berg angewiesen, am 21. Juni Morgens nach Pe-
kiṅ
aufzubrechen. Sobald ein Haus gemiethet und Meldung dar-
über erstattet wäre, wollte Graf Eulenburg mit den anderen Atta-
chés und dem ganzen Hausstande nachfolgen. Die Gesandten in
Pe-kiṅ um Pässe für sich und seine Begleiter zu ersuchen, fand
er nicht angemessen; auch der Attaché von Brandt und der Maler
Berg mussten ohne solche reisen; sie erhielten nur Schreiben an
[48]Ritt nach Pe-kiṅ. XV.
die Gesandten von England und Frankreich, welche sie als Mit-
glieder der preussischen Legation einführten. — Dem Verfasser
sei erlaubt, die Erlebnisse dieser Reise hier persönlich zu
erzählen.


Am 21. Juni früh brachen wir zu Pferde von Tien-tsin auf.
Drei Maulthierkarren folgten mit dem Gepäck, einer Ordonnanz,
einem chinesischen Stallknecht und des Herrn von Brandt chine-
sischem Diener A-tšoṅ. Klar und duftig schien die erwachende
Sonne auf thauige Felder, wo jetzt Durra, Gerste, Ricinus, Knob-
lauch und vielerlei Gemüse grünten; höher steigend brannte sie
glühend auf dem schattenlosen Wege; denn Bäume giebt es nur
bei den Dörfern. Die Strasse ist gut und führt stellenweise auf
hohem Damme den Pei-ho entlang; Theeschenken, wo der Wan-
derer Erfrischung findet, stehen etwa eine Meile von einander.
Jagdbare Thiere sahen wir nicht, dagegen dichte Schaaren kleiner
Vögel und besonders Elstern, die den Weg anmuthig belebten.
Viele Marktleute zogen nach Tien-tsin. Unsere in kurzem Trabe
fahrenden Karren bald überholend, bald vorauslassend, ritten wir
in einem Zuge etwa vier Meilen bis zum Flecken Yaṅ-tsun, einer
compacten Masse schmutziger Hütten aus Lehm und Holz, die
sich, von winkligen Gassen durchschnitten, am rechten Ufer des
Pei-ho ausstreckt. Dort wurde gefrühstückt und der heisseste
Theil des Tages verschlafen. Der lange Hof der Schenke stand
voll malerischer Karren und Krippen; Schmutz und Ungeziefer
in den bäuerlichen Stuben waren eben erträglich, der Schatten
grosse Erquickung. Wären nicht die Zöpfe gewesen, man hätte sich
kaum in China geglaubt, denn diese Dörfer haben keine Spur von
nationalem Anstrich; Bauart und Einrichtung sind so kunstlos und
einfach, wie das unmittelbare Bedürfniss des Landmannes sie aus
Lehm und Holz nur schaffen kann. Selten ragt ein geschweiftes
Tempeldach aus der grauen Masse. — Wein, Brod und Fleisch
hatten wir bei uns, und fanden Thee, Eier und Apricosen, auch
köstliches Eis zum Kühlen der Getränke.


Um halb vier Nachmittags ritten wir weiter und erreichten
Abends Ho-si-wu, einen von Gärten durchsetzten Flecken unter
herrlichen Bäumen am Pei-ho, beinah fünf Meilen von Yaṅ-tsun.
[49]XV. Ma-tau. Tšaṅ-kia-wan.
Die Truppen der Verbündeten hatten ihn im Herbst 1860 verlassen
gefunden und arg verwüstet; viele Häuser lagen in Trümmern.
— Den grossen Hof unserer Herberge umgaben offene Schuppen,
wo eine Menge Maulthiere standen; mitten darunter schliefen die
Fuhrleute; den Hof füllten ihre Karren. Unser Mahl glich dem in
Yaṅ-sun. Schlaf gab es wenig, denn die Zimmer mündeten in jene
Schuppen; die Thiere schrieen und bissen sich, die Kärrner fluchten
und zankten die ganze Nacht. Auch war Alles recht schmutzig,
und die Matte des Estrichs stark bevölkert.


Bei Tagesgrauen stiegen wir am 22. Juni zu Pferde. Der
Weg wird hübscher und schattiger; hier und da sieht man den
Pei-ho. In der Herberge des Fleckens Ma-tau, der den Anblick
grausiger Verwüstung bot, wurde ein kurzer Halt gemacht. Als im
Herbst 1860 die Alliirten gegen Pe-kiṅ marschirten, wurde in einem
Dorfe der Nachbarschaft auf englische Soldaten geschossen, die auf
eigene Hand plünderten. Sir Hope Grant befahl, das Dorf zu
zerstören; da aber Niemand dasselbe genau zu bezeichnen wusste,
so beschloss der beauftragte Officier, die reichste und beste Ort-
schaft der ganzen Gegend einzuäschern. Das unglückliche Loos
traf Ma-tau, dessen Verbrennung Tausende harmloser Menschen
an den Bettelstab brachte. Englische Officiere nannten nach dem
Bericht ihrer eigenen Kameraden9) die Zerstörung dieses Fleckens
statt des schuldigen, den man nicht finden konnte, einen der besten
Scherze des ganzen Feldzugs, und ein junger Mann von der indi-
schen Cavallerie beschrieb mit Enthusiasmus die innige Wollust,
mit welcher er die wehrlosen Bewohner gespiesst habe. Das ge-
schah vor dem Verrath von Tuṅ-tšau und der Schlacht von
Tšaṅ-kia-wan.


Hinter Ma-tau berührt die Strasse den Fluss zum letzten
Mal und führt dann durch üppige Felder nach dem Städtchen
Tšaṅ-kia-wan, das 1860 nach der Schlacht geplündert wurde.
Von hier läuft nach dem Pei-ho ein schmales Rinnsal, das wohl
zuweilen aus seinen Ufern tritt; auf trockener Wiese steht eine alte
Brücke von schönen Quadern.


Wir frühstückten in Tšaṅ-kia-wan und brachen um halb
zwei wieder auf. An den Feldfrüchten merkt man, dass hier die
Ebene höher liegt; wir sahen Buchweizen und Soya-Bohnen.
IV. 4
[50]Pe-kiṅ. XV.
Immer belebter werden die Wege, die Tempel und Grabmäler
häufiger. Herrliche Ulmen, Weiden und Sophora japonica be-
schatten die zahlreichen Dörfer, in welchen sich das regere auch
bei uns die Nähe der grossen Stadt bekundende Treiben zeigte.
Staub und Hitze waren beträchtlich; die Pferde wateten in tiefem
Sande. In dichte Staubwolken gehüllt, den Wachen völlig unsicht-
bar, ritten wir um halb sechs durch das Ostthor der Chinesenstadt
nach Pe-kiṅ hinein; unangefochten zogen wir weiter. Die Kärrner
sollten uns nach einer chinesischen Herberge bringen. A-tšoṅ, der
seit Singapore mit uns war, begriff leicht das Geheiss, wurde aber
als Südchinese von jenen ebensowenig verstanden als wenn er
deutsch redete. Einen anderen Dolmetscher hatten wir nicht. Nun
führten uns die Kärrner in die Tartaren-Stadt und vor die eng-
lische Legation, in dem Glauben, wir wollten dort bleiben. End-
lich gelang es, sie zu belehren, und dann ging der Weg zurück in
die grosse Hauptstrasse der Chinesenstadt, wo mehrere Männer
uns lebhaft winkten, in ihr Haus einzutreten. Sie trugen emsig
unser Gepäck in das Obergeschoss des Hinterhauses, fragten nach
unseren Wünschen und brachten Thee, Apricosen, Milch und Eis
herbei, lauter wünschenswerthe Sachen, die unsere Vorräthe ange-
nehm ergänzten. Es war auch hier recht schmutzig, doch lagen
wir bald im tiefsten Schlaf. Irrten wir doch nach dem Ritt von
acht Meilen in glühender Sonne noch über eine Stunde im Gewühl
der staubigen Gassen umher.


Am folgenden Morgen regnete es. Wir liessen Droschken,
d. h. Maulthierkarren holen, deren zu diesem Gebrauch an allen
Strassenecken stehen, und fuhren zunächst nach dem im Süden der
Tartarenstadt gelegenen Hauptgebäude der russischen Mission, in
der Hoffnung, dort den Secretär des Gouverneurs von Ost-Sibirien,
Herrn von Bützow zu finden, der uns in Tien-tsin besuchte. Von
den anwesenden Missionaren sprach nur einer, Herr Papow, etwas
französisch, alle übrigen nur russisch und chinesisch. Herr von
Bützow
war in dem andern Missionshause im Norden der Tartaren-
stadt
und im Begriff, nach Kiakta abzureisen; der Attaché von
Brandt
bat ihn brieflich um eine Unterredung. — Auf Befragen
sagte uns Herr Papow, dass ganz in der Nähe ein geräumiges
Grundstück liege, dessen Eigenthümer, ein Mandarin aus der kaiser-
lichen Familie, die Russen täglich mit Bitten bestürme, es zu
kaufen; er fürchtete von der Regierung gezwungen zu werden, es
[51]XV. Ein Haus gemiethet.
der daran grenzenden englischen Gesandtschaft zu niedrigem Zinse
abzutreten. Wir baten Herrn Papow, den Besitzer ausforschen zu
lassen, und begaben uns nach der nahgelegenen französischen Le-
gation. Der Gesandte, Herr von Bourboulon empfing uns höflich,
legte jedoch des Grafen Eulenburg Schreiben uneröffnet bei Seite
und sprach von gleichgültigen Dingen; auch Graf Kleczkowski und
der zweite Secretär Herr de Méritens vermieden, nach dem Zweck
unserer Sendung zu fragen; wir nahmen Theil am gemeinsamen
Frühstück und kehrten dann nach der russischen Mission zurück,
wo unterdess Herr von Bützow eingetroffen war, gestiefelt und ge-
spornt zur Reise in die Tartarei. — Der Besitzer jenes Hauses
hatte eingewilligt, uns dasselbe zu überlassen, aber ohne formelles
Abkommen und bestimmten Miethspreis; unter der Hand erfuhr
man, dass er etwa hundert Dollars monatlich erwarte. Auf den
Rath der Missionare, mit denen Herr von Bützow sich russisch be-
rieth, gingen wir nach dem kaum tausend Schritt entfernten Grund-
stück; offenbar dazu angewiesen, führte uns der Pförtner
durch die um mehrere Höfe gruppirten etwas baufälligen Räume.
Der Eigenthümer, der in einer anderen Gegend wohnte, schien
eben dagewesen zu sein; der Pförtner wusste durchaus Bescheid
und zeigte keine Spur von Ueberraschung, als die Russen ihm er-
klärten, dass wir das Haus gemiethet hätten. Herr von Brandt
blieb gleich dort, während ich nach der Herberge zurückfuhr, den
Wirth zu bezahlen und das Gepäck zu holen. Unsere Installirung
war vollendete Thatsache und konnte nicht mehr hintertrieben wer-
den, als die Behörden sie erfuhren; und darauf kam es an.


Herr von Bützow, der lebhaften Antheil zeigte, nahm in der
neuen Wohnung von uns Abschied und trat seine Reise an. Dann
gingen wir zu unseren Nachbarn in der englischen Legation. Herr
Bruce war sehr überrascht und nicht ohne Bedenken über Graf
Eulenburg’s Plan, versprach aber seine beste Hülfe; er billigte den
Gedanken, sofort das gemiethete Haus einzurichten, und stellte dazu
seinen eigenen Comprador und mehrere Arbeiter zur Verfügung;
im freundschaftlichsten Ton lud er uns für alle Mahlzeiten an seinen
Tisch. Ebenso zuvorkommend empfingen uns die anderen Mitglie-
der der Gesandtschaft. — Nachmittags sandten wir einen Courier
nach Tien-tsin, um Graf Eulenburg unsere Erwerbung zu melden.


Am folgenden Morgen kamen die bestellten Handwerker,
Maurer, Tapezirer, Tischler, Lackirer, etwa vierzig Mann, und gingen
4*
[52]Mandarinen-Besuch. XV.
rüstig an die Arbeit. In wenig Tagen sollte das Haus bewohn-
bar sein; die nöthigen Möbel zu kaufen übernahm der Comprador
des englischen Gesandten. — Gegen zwei Uhr Nachmittags brachte
Herr Papow die Nachricht, dass der Adjutant des Prinzen von
Kuṅ ihn aufgesucht und erklärt habe, das Eindringen der Preussen
in die Hauptstadt sei ungesetzlich; sie hätten sich obendrein mit
Gewalt eines Hauses bemächtigt; verliessen sie Pe-kiṅ nicht sofort,
so werde die Regierung sie dazu zwingen. Herr von Brandt er-
wiederte, dass wir solche Eröffnung einer Mittelsperson ohne amt-
liche Stellung als ungeschehen betrachten und eine directe Mitthei-
lung der kaiserlichen Regierung, entweder schriftlich oder münd-
lich, durch einen Beamten von angemessenem Range erwarten
müssten. Wir baten Herrn Papow, dem Adjutanten das zu sagen
und die Verantwortung vorzustellen, die man durch Anwendung
von Gewalt gegen Mitglieder einer fremden Gesandtschaft auf sich
laden möchte.


Bald darauf fuhr Herr von Brandt zum Grafen Kleczkowski.
Ich war allein in einem der hinteren Höfe und sah den Arbeitern
zu, als der beim Pförtner postirte Seesoldat die Ankunft eines
Mandarinen mit grossem Gefolge meldete. Im Vorderhause fand
ich einen jungen Mann mit glattem rundem Gesicht, in eleganter
Kleidung; zwei Dolmetscher, von der englischen und der franzö-
sischen Gesandtschaft, begleiteten ihn; das Gefolge füllte den
ganzen Hof. Nach höflicher Begrüssung setzten wir uns; ich liess
Champagner und Cigarren bringen und das Gespräch begann im
freundschaftlichsten Ton. Der Chinese nannte sich Tšaṅ und Ad-
jutanten des Prinzen von Kuṅ. Ich überreichte dagegen auf sein
Befragen die chinesische Visitenkarte, auf der Graf Eulenburg mich
als Mitglied der Gesandtschaft legitimirte. Tšaṅ erklärte nun mit
dem heitersten Gesicht, der Vertrag mit Preussen sei noch nicht
geschlossen; das Eindringen von Fremden, denen es nicht durch
Verträge ausdrücklich erlaubt sei, streite gegen das chinesische
Gesetz; dazu hätten wir uns mit Gewalt eines Hauses bemächtigt;
der Prinz von Kuṅ ersuche uns, die Hauptstadt sofort zu verlassen.
Ich erwiederte eben so freundlich, dass wir auf Befehl des Ge-
sandten handelten, dass es uns nicht zustehe, die Gesetzlichkeit
seiner Anordnungen zu erörtern; wir hätten gehört, das Haus sei
zu vermiethen, und dem Besitzer sagen lassen, dass wir jeden Zins
in den Grenzen der Billigkeit zahlen wollten; darauf habe der
[53]XV. Höfliche Ausweisung und Widerstand.
Pförtner uns bereitwillig aufgenommen, unsere Sachen hereingetra-
gen und den angeordneten Arbeiten jeden Vorschub geleistet. Wir
seien angewiesen, bis auf Weiteres in Pe-kiṅ zu bleiben, und müssten
gehorchen. Wünsche die kaiserliche Regierung unsere Abreise, so
möge sie an den Gesandten schreiben; nur auf seinen Befehl dürften
wir die Hauptstadt verlassen. — Tšaṅ berührte darauf die Erstür-
mung des Hauses nicht weiter, — die Anklage musste ihm lächer-
lich scheinen, — behauptete aber, der Prinz könne nicht an den
Gesandten schreiben, da alle Mittheilungen durch die Commissare
in Tien-tsin gehen müssten. Er schlürfte dabei sein Glas mit Be-
hagen und Verständniss, rauchte in vollen Zügen und verlor keinen
Augenblick die gute Laune. — Alsbald kam Herr von Brandt nach
Hause und bekräftigte meine Aeusserungen. Wir erklärten höflich,
dass wir bleiben würden; Tšaṅ meinte lächelnd, wir müssten
reisen. Er fragte, ob Graf Eulenburg selbst nach Pe-kiṅ kommen
wolle, und erhielt die Antwort, dass uns dessen Entschlüsse unbe-
kannt seien. Tšaṅ erzählte ferner, dass der Prinz von Kuṅ allen
Würdenträgern verboten habe, die Preussen oder deren Mitthei-
lungen zu empfangen; er fragte nach dem Zweck unserer Anwesen-
heit und wurde freundlich bedeutet, dass wir Anstand nähmen
ihn darüber zu unterrichten. Auch das verstimmte ihn nicht. Die
Unterhaltung drehte sich lange im Kreise; offenbar wünschte Tšaṅ
uns in Gutem los zu werden und war von seinem Erfolge schlecht
erbaut; er ging aber nicht über die höfliche Aufforderung hinaus
und schied gutmüthig lachend, wie er kam. Die beiden jungen
Dolmetscher der englischen und der französischen Gesandtschaft
förderten bestens den freundschaftlichen Ton der Unterhaltung.


Der Nachmittag verging ohne Zwischenfall. Einige Mit-
glieder der englischen Legation besuchten die tapferen Preussen,
die an der Spitze eines Seesoldaten Pe-kiṅ überrumpelt hatten,
und gaben aus ihrer Erfahrung nützliche Rathschläge für Ein-
richtung des Hauses. Gegen Abend kam noch Herr Papow, um
nach Tšaṅ’s Eröffnungen zu fragen: der russische Archimandrit
habe demselben dringende Vorstellungen über die falsche Auffassung
der chinesischen Regierung und die schlimmen Folgen gemacht,
die jeder Gewaltschritt gegen Mitglieder einer Gesandtschaft
nach sich ziehen müsse. Wir nahmen wieder am späten Diner
des Herrn Bruce Theil und verschwatzten den Abend mit den
Briten auf ihrem schönen Hofe, der, durch ein Mattendach gegen
[54]Bedenklichkeiten. XV.
die Sonnengluth des Tages geschützt, jetzt labende Kühlung bot;
um Luft zu geben, wurden Abends die Matten theilweise aufgerollt,
die Sterne funkelten herrlich durch die Lücken; der Hof glich
einem ungeheueren, von hohen Masten getragenen Zelt.


Folgenden Tages beim Frühstück war Herr Bruce etwas
nachdenklich. Eben von einem Spazierritt zurückgekehrt, er-
zählte er, dass vor den Thoren die Garnison von Pe-kiṅ im Feuer
manövrire, was bisher niemals geschehen sei. Auf seine Frage
nach der Veranlassung hatte man ihm gesagt, es sei auf den
preussischen Gesandten gemünzt, der ohne Erlaubniss nach der
Hauptstadt kommen wolle. — Nachher erzählte Herr Bruce, Prinz
Kuṅ
sei über unsere Ankunft und die Aussicht, dass Graf Eulen-
burg
folgen werde, ganz ausser sich gerathen; er habe dem Minister
Wen-siaṅ, der zugleich Chef der Gensdarmerie war, wegen unseres
Eindringens bittere Vorwürfe gemacht, auch den gemessenen Be-
fehl ertheilt, dem preussischen Gesandten durch Schliessen der
Thore oder andere Schritte, nöthigenfalls mit Gewalt den Eintritt
in die Hauptstadt zu verwehren. Zwar könne man bei Chinesen
niemals wissen, ob sie ihre Drohungen ausführten, es scheine ihm aber
bedenklich, es darauf ankommen zu lassen. Seiner Ansicht nach hätte
Graf Eulenburg besser gethan, von Tien-tsin aus die Erlaubniss
zur Reise nachzusuchen. — Der Attaché von Brandt stellte Herrn
Bruce vor, dass sie Graf Eulenburg’s letztes Mittel sei, dass er sich
deshalb einer ablehnenden Antwort nicht habe aussetzen dürfen
und die ihm nach dem Völkerrecht zustehende Befugniss des Eintrittes
in die Hauptstadt in Anspruch nehme. — Da jedoch eine Collision
unbedingt vermieden werden musste, so beschlossen wir, dass ich
am folgenden Morgen dem Grafen, den wir unterwegs glaubten,
entgegenreiten und die Lage der Dinge mittheilen sollte.


Herr Bruce hatte keine bestimmte Aeusserung gethan über
die Stellung, die er den kommenden Eventualitäten gegenüber ein-
zunehmen denke; ich bat ihn deshalb um eine Unterredung. Der
Gesandte besprach zunächst die politische Lage. Die den Kaiser
umgebenden Staatsmänner, welche denselben zur Flucht vermocht
hätten, wünschten nur die Vertreibung der Fremden. Einstweilen
komme es darauf an, dass die Gesandten sich einige Jahre in Pe-
kiṅ
hielten und bewiesen, dass sie nicht seegeborene Ungeheuer,
wie die Mehrzahl der Chinesen noch immer glaubten, sondern
Männer von strengem Rechtsgefühl seien, deren Anwesenheit der
[55]XV. Gespräch mit Herrn Bruce.
Regierung Vortheil bringe und den gesetzmässigen Betrieb des
Handels verbürge. Deshalb dürften sie nichts verlangen, was über
die Bestimmungen der Verträge hinausgehe. Auf gemeinsam ge-
übte Pression würde die chinesische Regierung wahrscheinlich den
gewünschten Vertrag schliessen; dann sei aber die Stellung des
Prinzen und des Ministers Wen-siaṅ gefährdet, deren Einfluss
allein eine gedeihliche Entwickelung des Verkehrs erwarten liesse.
Deshalb könnten die Gesandten den Prinzen nur auf Preussens
Stellung als Grossmacht und den Vortheil hinweisen, welchen die
Anwesenheit seines Vertreters der chinesischen Regierung bringen
müsse. Chinesen aber eine neue Idee einzutrichtern, sei hoffnungs-
los, und deshalb die Erfüllung der preussischen Forderungen sehr
zweifelhaft. Hätte Graf Eulenburg von Tien-tsin aus dem Prinzen
geschrieben, dass er mit den Commissaren nicht einig werde und
ihn selbst zu sprechen wünsche, so wäre solches Verlangen, von
den Gesandten unterstützt, gewiss erfüllt worden. Noch immer sei
das Beste, von Tien-tsin aus in diesem Sinne zu handeln. — Ich
erwiederte, dass unter den waltenden Umständen andere Auskunft
gefunden werden müsse; Graf Eulenburg sei gewiss schon auf dem
Wege und werde nicht umkehren. Nun entspann sich ein mehr-
stündiges Gespräch, in welchem Herr Bruce das sichtliche Ver-
langen zeigte uns beizustehen, woran ihn wohl nur seine Instructionen
und das Gefühl der auf ihm lastenden Verantwortung hinderten.
Es handelte sich darum, dass der preussische Gesandte nach Pe-
kiṅ
käme, ohne die Erlaubniss der chinesischen Behörden einzuho-
len; denn die Möglichkeit der Abweisung musste ausgeschlossen
werden. Aber grade hier lag der Haken. — Nach Ablehnung
mannigfacher Vermittelungsvorschläge versprach Herr Bruce mir
endlich Folgendes: wenn Graf Eulenburg unterwegs, — etwa in
Tuṅ-tšau, — einen Tag verweilen und von da dem Prinzen in
höflichem Schreiben seine nahe Ankunft melden wolle, so werde
Herr Bruce demselben die Unziemlichkeit der Weigerung so drin-
gend vorstellen, dass sie unmöglich würde. Auch dafür versprach
er zu sorgen, dass der Träger von Graf Eulenburgs Schreiben in
die Stadt gelassen würde.


Nachmittags machte ich unter freundschaftlicher Führung
des englischen Attaché Herrn Wyndham einen Spazierritt durch
die kaiserliche Stadt. — Unterdessen traf Herr von Brandt in dem
gemietheten Hause weitere Anordnungen; es wurde grade rüstig
[56]Tši-uën. XV.
gearbeitet, als der Eigenthümer erschien, ein ältlicher schmutziger
Herr von kranker Gesichtsfarbe, der als Abkömmling des Herrscher-
hauses das gelbe Gewand, den rothen Knopf ersten Ranges und
die Pfauenfeder trug. Tši-uën war, wie man uns sagte, ein Nach-
komme des Kaisers Kaṅ-gi und Bruder des Prinzen von Liaṅ,
dem der Palast der englischen Gesandtschaft gehörte.10) Er begeg-
nete Herrn von Brandt mit süssester Freundlichkeit, besah und
lobte die neuen Einrichtungen, schlug allerlei Verbesserungen vor,
liess sich den Wein schmecken und steckte beim Abschied unge-
beten alle Cigarren ein, deren er habhaft werden konnte. Von
unserem Hause aber, das wussten wir, fuhr er zum Prinzen von
Kuṅ, uns zu verklagen. Einmal traf ihn dort Graf Kleczkowski,
wie er sich heulend dem Prinzen zu Füssen warf: da hätten ihm
zwei Preussen sein Haus genommen, er verlange sein Recht u. s. w.
Das wiederholte er täglich; denn, so gern er das Geld ein-
strich, so bangte ihm doch um seinen Kopf; die kaiserliche Ver-
wandtschaft hätte ihn nicht gerettet. Nach dem Besuch am Nach-
mittag des 25. Juni reichte er der Regierung sogar eine Beschwerde
ein: von seinem Grundstück werde eine Thür nach dem der eng-
lischen Gesandtschaft gebrochen, was nimmermehr zu dulden sei
u. s. w. Auch das war gelogen. — Herr Bruce, bei welchem der
Prinz über uns Klage führte, wies jede Bezüchtigung derbe zurück und
beleuchtete die Sinnlosigkeit der gegen uns erhobenen Anklagen.11)


[57]XV. Abreise nach Ma-tau.

Die von den Gesandten in Pe-kiṅ damals befolgte Politik
der äussersten Mässigung beschränkte höchst unbequem ihre eigene
Freiheit; sie vermieden sorgfältig den Besuch des Sommer-Palastes
und anderer heiliggehaltenen Orte, sowie jeden Schritt, der die
Empfindlichkeit der Chinesen hätte reizen können, mochte sie auch
noch so abgeschmackt sein. Sie hofften auf diesem Wege die
Rückkehr des Kaisers nach Pe-kiṅ zu bewirken, wo er nach dem
strengen Hofceremoniel im Herbst wichtige Opferhandlungen zu
verrichten hatte. Käme er dann nicht, so wollten sie andere Wege
einschlagen. So äusserte sich der englische Gesandte am Abend
jenes Tages, als wir in seinem Zelthofe der Kühle genossen. Die
politische Lage wurde nochmals erörtert; Herr Bruce machte aus
den reichen Erfahrungen seiner diplomatischen Laufbahn in China
anziehende Mittheilungen und kam zu dem Schluss, dass, wer dort
nicht an der Spitze einer Armee auftrete, mit dem von der Regie-
rung willkürlich Gebotenen oder Verweigerten zufrieden sein müsse;
die Nichtgewährung des Gesandtschaftsrechtes sei weder ein Scha-
den noch eine Demüthigung für Preussen; in einigen Jahren müssten
die Chinesen entweder zu Verstand kommen und die Gesandten
aller Mächte aufnehmen, — oder in ihre alten Vorurtheile zurück-
fallen, dann würden alle Gesandtschaften unmöglich. — Ein Man-
darin des weissen Knopfes, der mir auf Antrag des Herrn Bruce
von der kaiserlichen Regierung zugewiesen war und bei der Rück-
kehr Einlass in die Hauptstadt verschaffen sollte, meldete sich noch
spät und erhielt in meiner Gegenwart seine Instructionen.


Früh um vier Uhr ritt ich am 26. Juni allein aus dem Thore
von Pe-kiṅ und in einem Zuge bis Tšaṅ-kia-wan, wo kurze Rast
gehalten und gefrühstückt wurde, dann weiter nach Ma-tau, wo
mein weissknöpfiger Begleiter und der Karren mit Matratze und
Reisesack mich einholten. Hier wollte ich Graf Eulenburg erwarten,
der nach unserer Berechnung denselben Tag eintreffen mochte. Um
ihn möglichst früh von der Sachlage in Kenntniss zu setzen, schrieb
ich jetzt einen ausführlichen Bericht, und verlangte einen Courier,
der unterwegs überall nach dem Gesandten forschen sollte. Nicht
leicht war es, den Boten zu instruiren; die Zuschauer ergötzten sich
innig an meiner Leistung: zuerst Vorzeigung des Schreibens und
mehrerer Dollars; dann die Gebehrden des Sattelns, Aufsitzens,
einige Galopsprünge: Gnei-lin-pu Ho-si-wu, Ho-si-wu meio
(nicht), Yaṅ-sun; Yaṅ-sun meio, Tien-tsin; dazwischen immer
[58]Verhandlungen in Tien-tsin. XV.
Galopsprünge und suchende Gebehrden. Nach einigen Wieder-
holungen hatte der Mann verstanden; der Brief kam richtig in des
Grafen Hände.


Ich lebte den Tag über von Apricosen und Eiern, denn Anderes
war nicht aufzutreiben, und legte mich früh zur Ruhe. Die Lage
schien günstig; denn nach Tšaṅ’s Besuch waren wir im Besitz des
Hauses nicht gestört worden. Die Zuweisung des Mandarinen be-
wies, dass die Regierung die Verbindung aufrecht halten wolle
und nur noch die Erfüllung von Höflichkeitsformen erwarte; darauf
hätte der Gesandte ungehindert nach Pe-kiṅ gehen und seinen
persönlichen Einfluss geltend machen können, der wohl zu glück-
lichem Ende geführt hätte; doch sollte es anders kommen.


Am Tage nach unserer Abreise aus Tien-tsin — den
22. Juni — richteten die Commissare ein Schreiben an den Ge-
sandten, in welchem sie zunächst auf die »Grossmächte« zurück-
kamen. Früher hätten sie deren nur vier, nämlich England, Frank-
reich
, Russland, America gekannt, dann aber erfahren, dass auch
Preussen dazu gehöre. Nun spreche der Gesandte in seiner Denk-
schrift von dem ihnen gänzlich unbekannten Lande Oestreich; das
sei nun schon die sechste; man könne nicht wissen, wie viel andere
»Grossmächte« noch auftauchen und Gesandte schicken möchten.
Preussen solle sich doch einstweilen mit der consularischen Ver-
tretung begnügen; in einigen Jahren, wenn die Völker sich näher
gekommen und die Rebellen besiegt wären, möge von der kaiser-
lichen Gnade auch das Gesandtschaftsrecht zu erlangen sein. Von
den übersandten 45 Artikeln verwärfen sie nur fünf; die übrigen
könnten mit geringen Aenderungen stehen bleiben. — Zugleich
baten die Commissare den Gesandten wieder um eine Unterredung,
die in der öffentlichen Halle von Tien-tsin am 24. Juni um neun
Uhr Morgens stattfand.


Da die Chinesen um diese Stunde ihre Hauptmahlzeit halten,
wurde ein reichliches Frühstück aufgetragen: zuerst Früchte und
Süssigkeiten, dann Hammel-, Rinder- und Schweinebraten, zuletzt
dünne Fleischbrühe. — Den Commissaren machten die »Gross-
mächte« Sorgen: wenn deren fünf in Europa, eine in America
wäre, wie viele möchten die anderen Welttheile wohl bergen! Nach-
dem Graf Eulenburg sie darüber beruhigt, gaben sie die mögliche
Gewährung des Gesandtschaftsrechtes halb und halb zu, meinten
[59]XV. Das Gesandtschaftsrecht.
aber, es müsse in einem Separatartikel stipulirt und in diesem auch
das Versprechen gegeben werden, es in den ersten Jahren nicht
auszuüben. Von geheimen Artikeln wollten sie nichts wissen, noch
weniger von einer Note, welche jenes Versprechen enthalten sollte.
Graf Eulenburg verlangte dagegen die Aufnahme des Gesandt-
schaftsrechtes in den Text des Vertrages, und wies auch den Vor-
schlag zurück, dass die aufgeschobene Ausübung in demselben
Artikel versprochen würde. Die Commissare fürchteten in dem
geheimen Artikel eine Falle und wollten den Zweck solcher Fassung
nicht begreifen. Es setzte einen langen Kampf mit albernen Ein-
würfen ohne Ende, welche der Gesandte mit himmlischer Geduld
widerlegte. Tsuṅ-luen erklärte endlich die bindende Kraft des
geheimen Artikels begriffen zu haben: die anderen Minister und
der Kaiser würden sie aber nicht begreifen. Er bat, dass Graf
Eulenburg den Artikel nach seiner Idee aufsetze; er selbst wolle
ein Gleiches thun, dann könne man beide Formen in Einklang
bringen. Als der Gesandte abermals betonte, dass Preussen hinter
den anderen Mächten nicht zurückstehen könne, fragte Tsuṅ-hau
ganz unbefangen, warum es dann seine Forderungen nicht zu-
gleich mit England und Frankreich stellte; damals hätte die Ge-
währung keine Schwierigkeit gemacht. Nun erklärte ihm Graf
Eulenburg, dass er im Herbst 1860 eben so gut nach China kommen
konnte, als jetzt, die Verlegenheiten der kaiserlichen Regierung
aber nicht zu Erpressung von Rechten benutzen wollte, welche ihm
sonst verweigert würden. Nur auf gleichem Fusse wünschte er
mit China zu unterhandeln. Bei der Bedrängniss im Innern könne
die enge Verbindung mit auswärtigen Mächten für das Kaiserhaus
nur erspriesslich sein. — Das glaube er auch, sagte Tsuṅ-luen;
der Kaiser aber und seine Räthe meinten, dass grade die Anwesen-
heit der Gesandten in Pe-kiṅ zu Conflicten führen müsse. Er
klagte über den Einfluss jener Männer, welche dem Prinzen von
Kuṅ und seiner Parthei den Zutritt zum Kaiser verschlössen; jeder
Schritt der mit den auswärtigen Angelegenheiten betrauten Minister
werde von Džehol aus scharf getadelt. Diese hätten wiederholt
gebeten, die diplomatischen Geschäfte Männern der anderen Parthei
zu übertragen; die wollten jedoch im Verborgenen, ohne Verant-
wortung ihre Macht üben. Als des Gesandten Ankunft nach Dže-
hol
berichtet wurde, sei die Anwort erfolgt: aus dem Eindringen
dieser »Hunderte Preussen« möge man sich nun überzeugen, wohin
[60]Schreiben der Commissare. XV.
die fremdenfreundliche Politik führe. — Die Commissare versprachen
schliesslich, abermals zu Gunsten der preussischen Forderungen
nach Pe-kiṅ zu berichten, um wo möglich deren Gewährung zu
erwirken.


Die Nachgiebigkeit der Commissare erweckte die Vermuthung,
dass Graf Kleczkowski’s Nachrichten ungenau seien, und machte
den Gesandten bedenklich über unsere Reise nach Pe-kiṅ. Un-
möglich konnten sie so auftreten, wenn, wie der französische Le-
gationssecretär schrieb, aus Džehol die gemessene Weisung ge-
kommen war, Preussen weiter nichts zu gewähren; bei der ge-
wohnten Willenlosigkeit chinesischer Bevollmächtigter musste man
aus ihrer Haltung sogar schliessen, dass sie schon zu Concessionen
ermächtigt seien. Somit erfolgte unsere Sendung unter falschen
Voraussetzungen und konnte übele Folgen haben. Leicht durfte
der Prinz über die Vorbereitungen zu Uebersiedlung des Grafen
ungehalten sein und sich einer den Verhandlungen schädlichen
Verstimmung hingeben; denn sie compromittirten ihn im Augen-
blick der durch ihn herbeigeführten günstigen Wendung. Ein vom
23. Juni — nach unserer Ankunft in Pe-kiṅ — datirtes Schreiben
des französischen Gesandten enthielt nichts Neues über die Lage;
Herr von Bourboulon verwahrt sich darin nur gegen den Gedanken,
dass Graf Eulenburg’s Gegenwart ihm unbequem sein könne, und
bedauert, demselben wegen verzögerten Eintreffens seines Mobiliars
aus Shang-hae nicht die Gastfreundschaft seines Hauses anbieten,
ihn in seinen Forderungen nicht kräftiger als bisher unterstützen
zu können.


Am Abend des 24. Juni erhielt der Gesandte den Bericht
des Attaché von Brandt über unsere Installirung in Pe-kiṅ; in der
Nacht wurde er geweckt: ein Mandarin überreichte folgendes Schrei-
ben der Commissare und die darin erwähnte Note des Prinzen von Kuṅ:


»Wir senden deiner Excellenz eine Mittheilung und zugleich
einen amtlichen Erlass, welchen der Prinz von Kuṅ und seine Colle-
gen vom Amte der auswärtigen Angelegenheiten an uns richteten, und
welchen wir deiner Excellenz durch einen Beamten zur Einsicht über-
senden. Wir erwarten, dass deine Excellenz, nachdem sie davon
Kenntniss genommen, das Schreiben demselben Beamten ausliefern
werden, damit er dasselbe zurückbringe, was erforderlich ist. Für
jetzt wünschen wir dir einen glücklichen Tag. Unsere Namen folgen
hierbei auf Visitenkarten.«


[61]XV. Note des Prinzen von Kuṅ.

Die vom 23. Juni datirte Note des Prinzen lautet:


»Das von seiner kaiserlichen Majestät mit den Angelegenheiten
der fremden Staaten betraute Amt sendet diese Note, damit derselben
Folge gegeben werde.


Den 15. dieses Mondes (22. Juni) erstattete uns die Wache des
Militär-Postens am Stadtthor einen Bericht, in welchem sie sagt, dass
zwei Preussen angekommen sind, welche behaupteten, hohe vom
preussischen Gesandten abgeschickte Beamten zu sein, und dass sie
eigenwillig, ohne Pässe zu haben, die Stadt Pe-kiṅ betraten. Die
Thorwache wollte sie daran hindern, aber sie hörten nicht, sondern
begaben sich nach dem Laden Kiṅ-fuṅ und quartierten sich dort ein.
Als der Herr dieses Ladens sie am Eintritt hindern wollte, haben sie
sich ihres Stockes bedient, ihn geschlagen und mit Gewalt seine Woh-
nung eingenommen. Am folgenden Tage haben sich die genannten
Beamten nach dem Hause eines gewissen Tši-uën neben der eng-
lischen Gesandtschaft begeben und es gewaltsam in Besitz genommen,
nachdem sie den Herrn des Hauses daraus vertrieben hatten.


Dieses Benehmen ist sehr unvernünftig und den Verträgen der
Briten, Franzosen, Russen und Americaner durchaus entgegen. Wenn
diese Beamten sich so schlecht und ungesetzlich betragen, bevor die
Preussische Nation ihren Vertrag geschlossen hat, so geht daraus her-
vor, dass diese Nation kein Vertrauen verdient.


An eure Excellenzen muss daher dieses Schreiben gerichtet
werden, um ihnen zu sagen, dass die Verhandlungen über einen Han-
delsvertrag mit dem Königreich Preussen sofort abzubrechen sind.
Es ist nicht mehr nöthig, dass mit dem Gesandten, Grafen Eulenburg,
weiter unterhandelt werde, und wir erwarten, dass eure Excellenzen
ein Schreiben an ihn richten, worin sie ihm von diesem Umstande
Kenntniss geben, damit er inne wird, dass er die Schuld trägt, und
dass es nicht unsere Regierung ist, die es an gutem Vernehmen mit
ihm fehlen liess. Und in Betreff der beiden Beamten, die nach Pe-
kiṅ
kamen, muss an den Gesandten Grafen Eulenburg geschrieben
werden, dass er sie möglichst schnell nach Tien-tsin zurückrufen soll.
Und wenn er dieser Aufforderung nicht nachkommt, so wird unser
Bureau dieselben durch unsere Leute nach Tien-tsin zurück-
führen lassen. Ferner: wenn eure Excellenzen noch einmal auf
falschem Wege betroffen werden sollten, so wird das Amt ohne die
geringste Nachsicht Anklage gegen dieselben erheben. — Besondere
Mittheilung.


Den 16. Tag des 5. Mondes des 11. Jahres von Hien-fuṅ.
(23. Juni 1861.)«


[62]Mittheilungen der Commissare. XV.

Die ihnen aufgetragenen Mittheilungen an den Gesandten
formulirten die Commissare in einem zweiten Schreiben und schlossen
mit der Bemerkung, sie seien eben bei Abfassung eines Berichtes
an den Prinzen von Kuṅ gewesen, damit derselbe vom kaiserlichen
Thron für Preussen das Gesandtschaftsrecht erflehe; das ungesetz-
liche Betragen der preussischen Beamten in Pe-kiṅ habe jedoch
Aergerniss gegeben, und nun dürften sie nicht zu seinen Gunsten
reden. — Am folgenden Morgen — den 25. Juni — besuchte Graf
Eulenburg die Commissare, erklärte ihnen die Motive seines Ver-
fahrens und wies die gegen seine Attachés erhobene Anklage der
Gewaltsamkeit von vornherein als unbegründet zurück. Den Com-
missaren selbst kam der Erlass sehr überraschend; sie hofften aber
zu Fortsetzung der Verhandlungen ermächtigt zu werden, wenn
Graf Eulenburg sich zu schleuniger Abberufung seiner Beamten
entschlösse. Deren Ankunft in Pe-kiṅ biete der Umgebung des
Kaisers willkommenen Anlass, den Prinzen von Kuṅ zu verderben;
zu seiner Rechtfertigung müsse derselbe unter Androhung von Ge-
walt und Abbruch der Verhandlungen auf ihre Entfernung dringen.
Ohne Pass von den Behörden der Vertragsmächte werde jetzt kein
Fremder in die Hauptstadt gelassen; Graf Eulenburg habe einen
ernsten Conflict zu gewärtigen, wenn er selbst den Versuch wage.


Der Gesandte wäre nun am liebsten auf dem einge-
schlagenen Wege fortgeschritten, mit einer Escorte von der
Arkona nach Pe-kiṅ aufgebrochen. Die persönliche Genugthuung
solchen Auftretens musste aber practischen Rücksichten wei-
chen. Den Eintritt in die Hauptstadt konnte man nicht er-
zwingen; die Zurückweisung wäre eine Beleidigung gewesen,
welcher Graf Eulenburg die preussische Regierung nicht aus-
setzen durfte. Gelang es ihm selbst in die Hauptstadt einzu-
dringen, so konnte der Prinz ihm noch immer die Audienz
verweigern, und, erbittert durch seinen Trotz, den Abbruch
der Verhandlungen aufrecht halten. — War die Mittheilung des
französischen Secretärs genau, so musste auch jetzt noch die
Reise als letztes Mittel gewagt sein; die freundschaftliche Stim-
mung der Commissare bewies aber, dass es um Erfüllung der
preussischen Forderungen durchaus nicht so verzweifelt stand,
wie Graf Kleczkowski schrieb. Und doch beruhte dessen Mitthei-
lung, wie wir später erfuhren, auf einer ausdrücklichen in Gegen-
wart des Herrn de Méritens abgegebenen Erklärung des Prinzen.
[63]XV. Die Reise des Gesandten aufgegeben.
— Wenige Tage darauf fanden die französischen Secretäre den-
selben plötzlich ganz umgestimmt und geneigt, auf die Anträge
einzugehen. Da erfolgte unsere Ankunft in Pe-kiṅ, welche
Alles wieder verdarb. Diese Umstände erklärten auch unseren
kühlen Empfang auf der französischen Gesandtschaft, wo wir ohne
Ansage in dem Augenblick erschienen, als unsere Sache eine gün-
stige Wendung nehmen wollte. Da die Reise aber nicht ungeschehen
zu machen war, so verbarg man uns das dadurch angerichtete Un-
heil. — Durch die mit Herrn Bruce verabredeten Schritte wäre
wohl Alles wieder in’s Gleiche gekommen, und der Gesandte in
Pe-kiṅ etwa leichter zum Ziel gelangt, als in Tien-tsin, — denn
es kostete dort noch harte Kämpfe; — es gab aber keinen Tele-
graphen, ihn davon zu benachrichtigen, und schnelles Handeln war
geboten. So beschloss denn Graf Eulenburg angesichts der ver-
söhnlichen Haltung der Commissare schon am 25. Juni — dem
Tage meiner Verabredungen mit dem englischen Gesandten — die
Reise nach Pe-kiṅ aufzugeben und uns zurückzurufen. In einem
an diesem Tage an die Commissare gerichteten Schreiben besteht
er auf dem unbestreitbaren Recht, die Hauptstadt des Souveräns
zu betreten, bei welchem er als Gesandter beglaubigt ist. In der
Absicht, dem Prinzen von Kuṅ einen Besuch zu machen, habe er
ein Haus in Pe-kiṅ miethen lassen. Preussische Beamten könnten
nur mit preussischen Pässen reisen; damit seien die Attachés ver-
sehen gewesen. Er rufe diese zurück, um die Verhandlungen in
Tien-tsin fortzusetzen, und könne nicht glauben, dass die chine-
sische Regierung dieselben auf unerwiesene Anklagen hin abbrechen
wolle. — In einem zweiten Schreiben vom 27. Juni formulirte Graf
Eulenburg seine in der letzten Conferenz gegebenen Aufschlüsse
über die Grossmächte, seine Gründe, warum das Gesandtschafts-
recht im Text des Vertrages, die aufzuschiebende Ausübung aber
in einem Separat-Artikel versprochen werden müsse, und fügte den
Entwurf eines solchen bei. Bald darauf wurden die Verhandlungen
wieder angeknüpft.


Herr von Brandt erhielt in Pe-kiṅ den Befehl zur Rückkehr
am Nachmittag des 26. Juni; den Tag über war ohne jede Störung in
den Wohnräumen gearbeitet worden. — Herr Bruce beurtheilte das
Verfahren des Gesandten sehr günstig und versprach aus freien
Stücken, dessen unbestreitbares Recht, nach der Hauptstadt zu
kommen, dem Prinzen gegenüber zu behaupten. Er sowohl als
[64]Rückkehr nach Tien-tsin. XV.
Herr von Bourboulon, welchem der Attaché gegen Abend seinen
Abschiedsbesuch machte, kamen wieder auf die zarte Schonung
zurück, mit welcher unter den dermaligen Verhältnissen Prinz Kuṅ
und der Minister Wen-siaṅ zu behandeln seien, und freuten sich,
dass Graf Eulenburgs Schritte deren Stellung nun nicht compro-
mittiren würden. — In das gemiethete Haus zurückkehrend, fand
Herr von Brandt den Eigenthümer, mit welchem er nach der
russischen Mission fuhr. Tši-uën weigerte sich den Miethzins zu
nehmen, da die Preussen ja nur einige Tage in seinem Hause ge-
wohnt und wesentliche Verbesserungen gemacht hätten; er erbot
sich, dasselbe vier Wochen lang in dem Zustande zu lassen, auch
zu verkaufen oder auf längere Zeit zu vermiethen. Offenbar scheute er
sich, in Gegenwart der Russen Geld zu nehmen; deshalb sandte
ihm Herr von Brandt durch den Pförtner eine angemessene Summe.


Um die Reise schneller zu machen, nahm Herr von Brandt
einen chinesischen Karren und verliess Pe-kiṅ am 26. Juni Abends.
In Ma-tau weckte er mich vor Tagesgrauen aus tiefem Schlafe,
theilte mir den Befehl zur Rückkehr mit und fuhr weiter. Ich
entliess in der Frühe den mir beigegebenen Mandarin, bestieg
meinen Tartaren und ritt allein nach Tien-tsin, eine Strecke von
etwa dreizehn Meilen, die der brave Gaul bei 30° R. fast in einem
Zuge machte, ohne zu vermüden. Herr von Brandt, der von Pe-
kiṅ
dreiundzwanzig Stunden brauchte, kam zwei Stunden vor mir
an. Sein Pferd, die Diener und unser Gepäck gelangten mit Herrn
Heine am 28. Juni nach Tien-tsin.


Die mildere Auffassung, welche beim Prinzen von Kuṅ der
ersten Aufwallung folgte, bewies schon ein Schreiben an den Ge-
sandten vom 25. Juni. Vom Abbruch der Verhandlungen ist nicht
mehr die Rede: der Kaiser habe ausdrücklich Tsuṅ-luen und
Tsuṅ-hau mit denselben beauftragt, welche ohne des Prinzen Theil-
nahme handeln sollten; an sie habe der Gesandte sich in allen
Stücken zu wenden. Er möge seine Begleiter aus Pe-kiṅ zurück-
rufen, da der Prinz sie sonst nach den Landesgesetzen zur Abreise
zwingen müsse. Von den Beschuldigungen ist nur die gewaltsame
Besitznahme des Hauses berührt, an die er wirklich glauben mochte;
denn dass wir die Thorwache bezwungen und den Wirth der Her-
berge mit Stockprügeln erweicht hätten, musste bei ruhiger Be-
trachtung lächerlich scheinen. Offenbar deckten die Wachen ihre
Achtlosigkeit, der Wirth seine Habsucht durch solche Lügen.


[65]XV. Antwort an den Prinzen von Kuṅ.

In seiner Antwort an den Prinzen von Kuṅ wies Graf Eulen-
burg
alle in dem Erlass vom 23. Juni an die Commissare enthal-
tenen Anklagen als erfunden, und die Insinuation, dass »die
Preussische Nation kein Vertrauen verdiene«, als Erguss einer mo-
mentanen Wallung zurück: er wolle gewiss auf die Lage der chine-
sischen Regierung und die besondere Stellung des Prinzen scho-
nende Rücksicht nehmen, behalte sich aber vor, das Völkerrecht
gegen jede Maassregel anzurufen, welche ihn verhindern sollte, sich
den an der Spitze der Verwaltung stehenden hohen Personen zu
nähern.


IV. 5
[[66]]

XVI.
TIEN-TSIN.

VOM 30. JUNI BIS 11. SEPTEMBER.


Anfang Juli wurde die Hitze in Tien-tsin unerträglich; selbst
die Nächte boten nicht Kühlung. Vom frühen Morgen zeigte das
Thermometer über 30° R., in der Nacht kaum unter 28°. Zwischen
drei und vier Uhr Morgens pflegten wir uns auf dem Hofe zu ver-
sammeln, die lauere Luft zu athmen. Am nordwestlichen Horizont
lagerten stets dichtgeballte Wolkenmassen; in Pe-kiṅ, selbst in Ho-
si-wu
gab es erfrischende Güsse; selten verirrte sich aber nach
Tien-tsin ein leichtes Wölkchen, das wie spottend einige Tropfen
über uns ausspritzte. Selbst diejenigen Engländer, welche Indiens
heisseste Plätze kannten, fanden es hier viel schlimmer. Denn
dort steht jedes Haus allein und ist mit wirksamen Vorrichtungen
zur Kühlung versehen; Tien-tsin dagegen ist eine compacte Häuser-
masse mit engen Gassen und Höfen; die Sonne brennt durch die
Dächer der einstöckigen Gebäude bis in die Zimmer hinein, die
Backstein- und Lehmwände saugen sich voll Gluth und strahlen
sie bei abgekühlter Luft gleich Oefen wieder; Abends wird man
heiss davon angeblasen. Zuweilen regte sich die Luft; aber der
Hauch wehte sengend, wie aus durchglühter Wüste. Die Hygro-
meter standen auf dem Nullpunct. Man fühlte ein namenloses Un-
behagen; die Esslust schwand, und den brennenden Durst zu löschen
fehlten oft die Mittel; denn das Wasser von Tien-tsin ist, selbst
mit Alaun geklärt, ungesund, filtrirte und kohlensaure Getränke
konnten nicht in genügender Menge beschafft werden. Bier und
Wein erhitzten das Blut, das gewaltsam zum Gehirn strömte und
häufigen Schwindel erzeugte, wogegen man sich durch Auflegen
nasser Schwämme oder Uebergiessen des Kopfes mit eiskaltem
Wasser zu schützen suchte. Diese Vorsicht war geboten, denn die
Hitze wirkte verheerend wie eine Seuche. Von der 3800 Mann
starken englischen Garnison lagen Mitte Juli 360 in den Lazarethen;
[67]XVI. Grosse Hitze. Krankheit.
in den heissesten Tagen starben davon durchschnittlich 8, — vom
18. bis 24. Juli 50 Mann, — ohne dass Epidemieen herrschten, nur
an den Folgen der Hitze. Der Zustand war unheimlich; die Meisten
beschlich das Uebel im Schlafe und führte in einer halben Stunde
zum Tode, ohne dass der Kranke zum Bewusstsein kam. Wer un-
thätig zu Hause blieb, war ebensowenig davor sicher, als wer sich
der Sonne aussetzte und körperlich anstrengte. Die Aerzte wussten
der Krankheit keinen Namen zu geben, und fanden in den seltensten
Fällen Mittel dagegen. Der beginnende Andrang des erhitzten Blutes
nach dem Gehirn machte schläfrig; dann wurden die Wallungen
heftiger und erstickten den Kranken, der unter hohlem Röcheln
verschied. Bei der Section pflegten die Aerzte den Körper in nor-
malem Zustande, nur alle zum Gehirn führenden Gefässe zum Platzen
mit Blut von höchster Temperatur gefüllt zu finden; die Leiche
blieb Stunden lang glühend heiss. Blutergiessungen, wie beim Gehirn-
schlag, wurden niemals beobachtet. Im ersten Stadium des Schwin-
dels nur halfen die kalten Uebergiessungen; nachher blieb jedes Mittel,
auch das Oeffnen der nach dem Gehirn führenden Schlagadern ohne
Wirkung, das die Aerzte in verzweifelten Fällen versuchten.


Graf Eulenburg verlor an diesem Uebel seinen Kammerdiener
Paul, einen braven zuverlässigen Mann, den wir alle schätzten. Er
war an Dyssenterie erkrankt, aber ganz davon hergestellt; wegen der
zurückgebliebenen Schwäche jeder Arbeit enthoben, pflegte er sich
im Hause herumzubewegen und früh zur Ruhe zu gehen. Am
21. Juli besuchte ihn Dr. Lucius noch um sieben Uhr Abends
in seinem Zimmer, fand ihn heiter und behaglich und merkte kein
beunruhigendes Symptom. Nach Tisch plauderten wir im Hofe; der
Attaché Graf Eulenburg wollte gegen zehn aus des Gesandten
Räumen etwas holen und hörte in Pauls daran stossendem Zimmer
ein sonderbares Schnarchen. Dr. Lucius fand ihn röchelnd, mit
gebrochenem Auge. Wir hoben ihn aus dem Bett, brachten ihn in
die Luft und übergossen auf Dr. Lucius Anordnung den Kopf mit
kaltem Wasser. Aus dem nahen englischen Lazareth kamen mehrere
Aerzte herbei, Paul athmete kaum. Es war wenig nach zehn
als alle Zeichen des Lebens schwanden; aber der Körper blieb
glühend heiss bis zum folgenden Morgen. Er wurde unter dem
Geleit der ganzen Gesandtschaft auf dem Friedhof der englischen
Garnison an der südlichen Stadtmauer beigesetzt, wohin sich damals
täglich mehrere Leichenzüge bewegten.


5*
[68]Witterungsverhältnisse. XVI.

Das war der einzige Todesfall bei uns in Tien-tsin; mehr
oder weniger aber griff das Klima Alle an; bei Vielen zeigten sich
die Folgen erst später. Herr Bismarck musste, wie gesagt, Anfang
Juli auf die Arkona gebracht werden und machte eine schwere
Krankheit durch. Der Attaché von Brandt und Dr. Lucius litten
seit Mitte Juli an Fieber, und am 28. Juli hatte der Dolmetscher
Herr Marques einen Schlaganfall, der seine linke Seite lähmte. Die
schnelle Hülfe und sorgsame Pflege des Dr. Lucius thaten gute
Wirkung; schon nach wenigen Tagen kehrte Leben in das linke
Bein zurück; für den Dienst jedoch wurde Herr Marques untaug-
lich, und da der bejahrte Mann nach seiner Familie verlangte, so
schickte der Gesandte ihn am 10. August unter Obhut des Attaché
von Brandt an Bord des englischen Dampfers Feelong, der ihn
nach Shang-hae brachte. Herr von Brandt blieb zu Herstellung
seiner Gesundheit einige Zeit auf der Arkona. — Wie verderblich
das Klima von Tien-tsin wirkte, beweist der Umstand, dass sämmt-
liche als Ordonnanzen zur Gesandtschaft commandirten Seesoldaten
noch vor Rückkehr der preussischen Schiffe nach der Heimath ge-
storben sind.


Ende Juli gab es einige Regenschauer; man fühlte sich bei
26° R. seltsam erfrischt, und fröstelte, als das Quecksilber gar einmal
auf 20° R. herabsank; mit geringen Unterbrechungen aber dauerte
die arge Hitze bis zum 20. August. Dann traten starke Güsse ein;
zuweilen durchweichte ein Wolkenbruch die Ebene dermaassen, dass
wir Tage lang von Spazierritten abstehen mussten; die Temperatur
schwankte zwischen 20° und 26° R. Anfang September war es
bald herbstlich kühl, bald drückend heiss. Das Wetter des Jahres
1861 soll in Nord-China abnorm gewesen sein; die Regenzeit fällt
dort gewöhnlich in die Monate Juni und Juli, während August und
September für trockene Monate gelten.


Es war eine qualvolle Zeit, besonders für den Gesandten,
dessen Geduld die chinesischen Commissare auf das härteste prüften;
Wochen lang schien kein Ende der Verhandlungen abzusehen. Das
trostlose Tien-tsin bot auf die Länge nicht die mindeste Anregung
zu irgend welcher Thätigkeit; die furchtbare Hitze machte jede Ver-
richtung zur körperlichen Qual und raubte alle Kraft zu selbst-
gewählter Arbeit. — Der Besuch von der Arkona, welcher einige
Abwechselung in das häusliche Leben brachte, verliess uns bald
nach dem Erscheinen des herrlichen Kometen, der am Abend des
[69]XVI. Exerciren der englischen Garnison.
1. Juli bei Dunkelwerden wie hingezaubert am Himmel stand. Wir
sassen im Hofe grade bei Tisch und konnten den dem Horizonte
nahen Kern nicht sehen; der Schweif aber reichte weit über den
Zenith hinaus. Am 2. Juli blieb der Kern bis nach elf über dem
Horizont; der Schweif erstreckte sich vom Sternbilde des Luchses
zwischen den Bären durch bis zum Schlangenträger. In den folgen-
den Nächten näherte der Kern sich dem grossen Bären; der Schweif
schrumpfte ein, bald erblasste das glänzende Bild. Wir vermutheten
darin den 1264 und 1556 gesehenen Kometen, der nach chinesischen
Annalen auch im 4., 7. und 10. Jahrhundert erschienen wäre.


Der Verkehr mit den englischen Schicksalsgenossen erhielt
neues Leben durch den Besuch einiger höheren Officiere. Anfang
Juli kamen General-Lieutenant Sir John Michell, der Commandeur
der englischen Truppen in China, und Capitän Lord John Hay,
dessen Corvette Odin den eben geöffneten Hafen Niu-tšwaṅ be-
suchen sollte. Sir John Michell verweilte einige Tage in Pe-kiṅ;
nach seiner Rückkehr fand auf der Ebene südlich von Tien-tsin
ein grosses Exerciren der Garnison im Feuer statt, welchem Graf
Eulenburg und seine Begleiter beiwohnten. Alle Bewegungen wur-
den mit grosser Schnelligkeit und Präcision ausgeführt; sie bewie-
sen, dass die englische Armee durchaus nicht hinter den Anforde-
rungen der verbesserten Feuerwaffen und der dadurch veränderten
Taktik zurückblieb. Sehr malerisch wirkten mehrere Schwärm-
Attaquen von Fane’s Reiter-Regiment, doch gewannen unsere mili-
tärischen Begleiter die Ueberzeugung, dass diese leichte indische
Cavallerie keiner europäischen gewachsen ist. Ihre Attaquen waren
ziemlich ungeordnet, viele Reiter stürzten, ihr Gebrüll mahnte
an den Angriff wilder Horden. — Zu Ehren Sir John Michell’s
fanden auch ergötzliche Aufführungen im Theater der englischen
Officiere statt. Auf unsere Geselligkeit wirkte seine lebendige
Unterhaltung sehr anregend; Sir John machte durchaus seinem
Ruf Ehre, der ihn als abgehärteten Krieger von seltener Jugend-
frische bezeichnete.


Grosse Theilnahme erregte in Tien-tsin der Besuch des
Major Brabazon, dessen Sohn vor der Schlacht von Tšaṅ-kia-wan
mit Herrn Loch in die chinesischen Linien ritt um Consul Parkes
und dessen Gefährten zu suchen, bei Auslieferung der Gefangenen
aber vermisst wurde, während man die Leichen aller zu Tode ge-
marterten Engländer erkannte. Allein das Schicksal des Capitän
[70]Capitän Brabazon und Abbé de Luc. XVI.
Brabazon und des Abbé de Luc blieb geheimnissvoll. Des Ersteren
alter Vater fand die für seinen Tod sprechenden Zeugnisse nicht
beweisend und kam nun selbst gereist, nach dem Verlorenen zu
forschen. In dem Glauben, dass sein Sohn irgendwo festgehalten
würde, bot er 20,000 Pfd. St. für dessen Auslieferung, erlangte da-
durch aber nur Gewissheit von seinem Tode; denn solche Summe
hätte den härtesten Chinesen erweicht. Es war ein schmerzlicher
Anblick, wie der alte Herr seines Sohnes Waffengefährten aus-
fragte und seine sinkende Hoffnung an jeden Strohhalm klammerte.
Niemand zweifelte an Capitän Brabazons Tod; wer mochte das
aber dem Vater sagen? — Noch während die Alliirten in Pe-kiṅ
standen, meldete ein chinesischer Christ von Tšen-pao’s Heer dem
französischen Bischof Anouile, dass am 21. September während der
Schlacht zwei Europäer im Hofe eines Tempels nicht weit von der
Brücke Pa-li-kao hingerichtet worden seien; er habe die hauptlosen
Leichen und an der einen ein Crucifix gesehen, das er — als Christ
— zu kaufen suchte. Darauf sandte General Montauban nach der
bezeichneten Stelle ein Detachement Soldaten, welche die zer-
fleischten Reste zweier Leichen, ein menschliches Haupt, ein Stück
Zeug von der Kleidung eines Geistlichen und ein Stück blaues
Tuch mit rothem Streifen, wahrscheinlich von Capitän Brabazons
Beinkleidern herrührend, ausgruben. An dem besonderen Schnitt
und der Farbe des Haares erkannten die Franzosen das Haupt des
Abbé de Luc; ein zweites wurde nicht gefunden. Jener chinesische
Soldat erzählte ferner, dass bald nach Anfang der Action das Pferd
des commandirenden Feldherrn Tšen-pao durch eine Granate ge-
tödtet wurde; er habe ein anderes bestiegen, sei aber gleich darauf
von einem Granatsplitter herabgeworfen worden, der ihm den Kinn-
backen zerschmetterte. Als man ihn aufhob, habe Tšen-pao den
Rückzug des Heeres und schleunige Hinrichtung der beiden Euro-
päer angeordnet, das Verlangen seiner Untergebenen nach schrift-
lichem Befehl zu letzterer aber unter Hinweisung auf seinen Zu-
stand heftig zurückgewiesen und Gehorsam gefordert: die schrift-
liche Ordre solle nachfolgen, sobald er zu schreiben vermöchte. —
Später meldete sich mit diesem Zeugen noch ein anderer Soldat,
der zugegen war, als die Gefangenen herausgeführt, auf die Knie
geworfen und enthauptet wurden; dabei scheint es unordentlich zu-
gegangen zu sein, weil kein Soldat den Henker spielen, die Verant-
wortung übernehmen mochte, auf mündlichen Befehl zu handeln.
[71]XVI. Weitere Nachforschungen.
— Anfang Mai 1861 besuchten die Herren Wade und Parkes den
Schauplatz der Hinrichtung und fanden, mit feuchter Erde ge-
mischt, das kurze Haar eines Europäers, welches der Farbe nach
dem des Capitän Brabazon glich, ferner ein Stück seidener Litze,
wie sie in Hong-kong für Uniformen englischer Officiere gefertigt
wird. Ein Landmann, den sie dort sprachen, sah die hauptlosen,
sonst aber unversehrten Leichen; nachher hätten Hunde, die, aus
den zerstörten Dörfern vertrieben, heerdenweise verhungernd herum-
irrten, dieselben zerfleischt; die Reste wären in eine Grube ge-
worfen und leicht mit Erde bedeckt worden.


Im Heere der Alliirten zweifelte schon deshalb Niemand am
Tode der beiden Gefangenen, weil sie auf Lord Elgins Drohung,
den Palast von Pe-kiṅ zu verbrennen, nicht herausgegeben wurden.
Wie alle anderen Gefangenen, so hätten die Chinesen sicher auch
diese lebendig oder todt ausgeliefert. Trotzdem stellte Herr Bruce
auf Veranlassung der englischen Regierung abermals Nachforschun-
gen an: der Prinz von Kuṅ befragte schriftlich Saṅ-ko-lin-sin und
Tšen-pao. Ersterer antwortete kurz, dass er alle Gefangenen nach
Pe-kiṅ gesandt habe. Tšen-pao erwiederte ausweichend: wenn
am 21. September europäische Gefangene bei seinem Heere gewesen
seien, so müssten sie in der Verwirrung des Rückzuges entweder
entkommen oder von den Soldaten niedergemacht worden sein;
eine andere Möglichkeit scheine ihm nicht denkbar. — Der Prinz
von Kuṅ liess damals öffentlich Belohnungen, ja den Mandarinen-
knopf bieten, wenn Jemand beweisende Auskunft über das Schicksal
der Vermissten gäbe; aber Niemand meldete sich.


Nachdem Major Brabazon in Pe-kiṅ alle Mittel erschöpft
hatte, die zu Entdeckung seines Sohnes führen konnten, vertiefte
er sich in den Wahn, dass Saṅ-ko-lin-sin ihn bei sich festhalte.
Dieser stand, Rebellen bekämpfend, in Šan-tuṅ. Major Braba-
zon
suchte sich nun die Erlaubniss der chinesischen Regierung zu
persönlichen Nachforschungen im Heere Saṅ-ko-lin-sin’s auszu-
wirken, musste jedoch von diesem Vorhaben abstehen, da der Prinz
und Wen-siaṅ die Schwierigkeiten der Reise in die insurgirte Pro-
vinz für unüberwindlich erklärten.


Fesselnde Schilderungen der Tage von Tšaṅ-kia-wan und
Pa-li-kao gab Herr de Méritens, der zweite dolmetschende Secretär
der französischen Gesandtschaft, der im Auftrag des Baron Gros
mit Herrn Parkes nach Tuṅ-tšau ging, am Morgen der Schlacht
[72]Arkona bei der grossen Mauer. XVI.
von Tšaṅ-kia-wan aber noch glücklich in die Linien der Verbün-
deten gelangte. Er kam am 22. Juli nach Tien-tsin, blieb mehrere
Wochen und wurde auf der preussischen Gesandtschaft ein gern
gesehener Gast. Nach des Herrn Marques Erkrankung stellte er
sich mit Genehmigung seines Vorgesetzten zu Graf Eulenburg’s
Verfügung, und förderte durch seine Gewandtheit und das Vertrauen,
dessen er bei den chinesischen Ministern genoss, wesentlich den
Abschluss des Vertrages.


Das Napoleonsfest beging die französische Garnison mit
feierlichem Tedeum und dreimaligem Salut von 21 Schüssen, welchen
die englischen Batterieen erwiederten. Einem Diner, das der
französische Consul, Herr Trèves, nachträglich aus diesem An-
lass gab, wohnten die Attachés der preussischen Gesandt-
schaft bei.


Von der Arkona, die inzwischen mit dem Transportschiff
Elbe eine Reise nach dem Norden der Bai von Pe-tši-li gemacht
hatte, kamen am 11. August einige Officiere nach Tien-tsin. Die
Schiffe liefen u. a. die Mündung des Lao-tuṅ-Flusses an, wo die
grosse chinesische Mauer das Meer berührt. Ein Theil der Be-
satzung landete und erstieg die Mauer. Die Mandarinen des be-
nachbarten Städtchens empfingen sie mit zurückhaltender Höflich-
keit. Sie berichteten darüber nach Pe-kiṅ, und die Commissare
mussten den Gesandten zur Rede stellen, dass vor Unterzeichnung
des Vertrages preussische Schiffe einen den Fremden nicht ge-
öffneten Hafen besucht hätten. In seiner Antwort bestätigte Graf
Eulenburg einfach die Thatsache und dabei blieb es. — Vom Rande
des Meeres läuft die grosse Mauer, deren Sockel aus Granit be-
steht, über steile Felsgebirge landeinwärts; anderthalb Meilen vom
Strande soll sie schon 2500 Fuss hoch stehen. Viele Steine wan-
derten als Andenken auf die Arkona, welche am 7. August nach
der Pei-ho-Mündung kam, gegen Mitte desselben Monats nach
den Mia-tau-Inseln fuhr, um frischen Proviant einzunehmen, dann
nach der Ta-ku-Rhede zurückkehrte und erst Ende August wieder
nach Tši-fu ging. Die Gesundheit der Mannschaft war vor-
trefflich.


Trotz der argen Hitze boten unsere Spazierritte im Juli und
August einigen Genuss; in der Richtung von Pe-kiṅ prangte jetzt
die Ebene im Schmuck der üppigsten Felder, besonders von Hanf
und Hirse; mächtige Ricinus-Stauden säumten die Wege. Der unter
[73]XVI. Rennpreis der Gesandtschaft.
der Südmauer von Tien-tsin gelegene Theil der Ebene blieb kahl;
hier fanden jeden Sonnabend die Pferderennen der Džim-kana
statt, denen wir regelmässig beiwohnten. In Erwiederung der ge-
nossenen Gastfreundschaft verehrten Graf Eulenburg und seine Be-
gleiter dem Club einen silbernen Humpen, den sie in Tien-tsin
fertigen liessen. Die Vorderseite schmückte der preussische Garde-
Adler, nach dem Modell auf dem Helm des Attaché Grafen zu
Eulenburg
in Silber getrieben, von vorzüglicher Arbeit. Ringsum
waren auf mattem Grunde Lotos und Bambus als glückbringende
Embleme in halb erhabener und gravirter Arbeit, und der vom chine-
sischen Silberschmiede sonderbar gewählte Sinnspruch angebracht:
»Der Hauch des Weisen gleicht dem süssesten Blumenduft.« Den
Henkel bildete ein massiv gearbeiteter Drachen; innen war der
Humpen stark vergoldet. Die Engländer veranstalteten dafür ein
glänzendes Rennen, das am 31. August stattfand: eine englische
Meile, einfacher Sieg. Die besten Pferde waren dafür trainirt;
rege Theilnahme bewies die Höhe der Wetten. Acht Pferde liefen
in lebhafter Gangart vom Pfosten, und der Kampf steigerte sich
bis zuletzt. Moonraker, ein Pferd des Lieutenant Upperton, der
in Capitän Fane’s Abwesenheit dessen Regiment commandirte, blieb
Sieger. Nachdem die Stewards demselben den Preis zugesprochen,
übergab ihm Graf Eulenburg mit herzlichen Worten den Humpen,
der, mit drei Flaschen Champagner gefüllt, die Runde machte.


Nach dem Schreiben des Gesandten vom 27. Juni mit dem
Entwurf des Separat-Artikels wurden die Verhandlungen ohne
weiteres wieder aufgenommen. Die Commissare besuchten ihn am
30. Juni in eleganter Sommerkleidung: Tsuṅ-luen trug einen langen
blauen Rock von durchsichtigem Crêpe, Tsuṅ-hau ein gelbes Gewand,
über weissen Unterkleidern; um den Leib hatten sie Gürtel, vorn
mit Edelsteinen besetzt, auf dem Kopf den kleinen spitzen Stroh-
hut, den im Sommer alle Chinesen tragen. Tsuṅ-luen schien sehr
vergnügt über Erledigung des verfänglichen Zwischenfalles und
sprach begeistert von den Festen, welche die Bevollmächtigten
einander nach Abschluss des Vertrages geben wollten, wurde aber
schwierig, als Geschäfte zur Sprache kamen: Preussen müsse ver-
sprechen, auf zehn Jahre keinen Vertreter nach Pe-kiṅ zu schicken.
[74]Vertragsverhandlungen. XVI.
Da nun nach Graf Eulenburgs Entwurf der Vertrag überhaupt nur
zehn Jahre ohne Aenderung und Revision bestehen sollte, so hätte
die Aufnahme des Gesandtschaftsrechtes bei solchem Zugeständniss
überhaupt keinen Werth gehabt. Auch dieser Schritt der Manda-
rinen stimmte wieder genau zu einem eben eingelaufenen Vorschlag
des Grafen Kleczkowski. Der Gedanken, uns in dieser Weise zu
nützen, war sehr unglücklich; denn bei der beständig urgirten So-
lidarität der Interessen aller civilisirten Völker musste die chinesische
Regierung glauben, dass ein von dem Gesandten einer europäischen
Macht ausgehender Vorschlag von dem Vertreter einer anderen un-
bedenklich anzunehmen sei. Es war gewiss keine Eifersucht darüber,
dass Preussen ohne weiteres erlangen sollte, was England und
Frankreich durch langjährige Unterhandlungen im Kriege erkämpft
hatten; man glaubte eben nicht, dass die preussischen Forderungen
auf friedlichem Wege durchzusetzen wären, und sann deshalb auf
Auswege. Solche konnten nun wohl den Chinesen, nicht aber dem
preussischen Bevollmächtigten zusagen, der gewissermaasen trotz
denselben, nur durch zähe Beharrlichkeit und energisches Auftreten
zu seinem Ziele gelangte und alle wesentlichen Puncte durchsetzte.


Tsuṅ-luen bestand hartnäckig auf der zehnjährigen Frist
und beantwortete alle Argumente des Gesandten mit den schon
zum Ueberdruss wiederholten Bedenken: Pe-kiṅ werde mit Ge-
sandten überschwemmt werden; in Džehol herrsche maassloses
Misstrauen gegen den Prinzen und seine Amtsgenossen, denen es
nicht gelingen werde, den allerdings richtigen Gesichtspuncten des
Grafen beim Kaiser und seinen Räthen Geltung zu verschaffen; die
Unruhen im Inneren verböten weiteres Anknüpfen auswärtiger Be-
ziehungen u. s. w. Da Tsuṅ-luen auf letzteren Punct immer wieder
zurückkam und es keineswegs für ausgemacht hielt, dass die Rebellen
in fünf Jahren besiegt wären, so zeigte ihm Graf Eulenburg die
Kehrseite dieser Auffassung: die kaiserliche Regierung dürfe sich
bei feindlicher Politik gegen die fremden Mächte nicht wundern,
wenn diese sich an eine so starke Gegenparthei hielten; es gebe
Beispiele von Dynastieen, die bei Bekämpfung innerer Unruhen nur
wegen ihrer schlechten Beziehungen zu fremden Mächten unterlegen
seien. — Dies möge nur als Beispiel der Argumente dienen, deren
der Gesandte sich in den alle menschliche Geduld erschöpfenden
Besprechungen oft bedienen musste. — Tsuṅ-luen kam immer wieder
auf die zehnjährige Frist zurück; er könne dann auch ohne Bericht
[75]XVI. Neue Bedingungen.
an den Kaiser den Vertrag zum Abschluss bringen. Da Graf Eulen-
burg
aber fest blieb, so bat Tsuṅ-luen ihn endlich, die eben be-
handelten Fragen zum Gegenstande eines amtlichen Schreibens zu
machen.


Der Gesandte erklärte nun den Commissaren schriftlich auf das
bündigste, die Frist von fünf Jahren nicht um einen Monat verlän-
gern zu wollen, und ersuchte Herrn Marques, ihnen auch mündlich
die Ueberzeugung beizubringen, dass es ernst gemeint sei, dass kein
Vertrag zu Stande kommen werde, wenn sie nicht jene Vorschläge
zur Geltung brächten. Im vertrauten Gespräch mit dem Dolmetscher
äusserten die Commissare, alle Schwierigkeit entspringe nur daraus,
dass man sich über die preussischen Forderungen anfangs nicht
klar gewesen sei. Auf die erste Eröffnung des Grafen hatte Prinz
Kuṅ
die Gesandten von England und Frankreich über Preussens
Stellung befragt, und erfahren, dass es eine Grossmacht, sein Herr-
scher mit der Königin von England verwandt sei; auf die Frage
aber, ob wohl die Errichtung einer Gesandtschaft in Pe-kiṅ be-
ansprucht werde, hätten die Dolmetscher geantwortet: davon sei
keine Rede. In diesem Sinne sei nach Džehol berichtet, und
darauf die Ernennung der Commissare befohlen worden. Nun könne
man schwer dem Kaiser vorstellen, dass des Prinzen Bericht auf
Irrthum beruhe, noch schwerer aber nachträglich die Gewährung
des Gesandtschaftsrechtes erwirken.


Den Tag nach dieser Unterredung — am dritten Juli — lief
ein Schreiben des Grafen Kleczkowski ein, in welchem die Bedin-
gungen des Prinzen für Gewährung des Gesandtschaftsrechtes näher
bezeichnet waren: 1. sollte Preussen sich verpflichten, dieses Recht
zehn Jahre lang nicht auszuüben; 2. sollte diese Verpflichtung nicht
in einem geheimen, sondern in einem Additional-Artikel aus-
gesprochen werden, welcher in China zu publiciren sei; 3. sollte
Preussen nicht auf Accreditirung eines chinesischen Gesandten be-
stehen, wenn ein solcher nach London, Paris und Petersburg ginge;
4. sollten die Ratificationen des Vertrages nach einem Jahre in
Shang-hae durch den preussischen General-Consul und den chine-
sischen Intendanten der geöffneten Häfen ausgetauscht werden;
5. dürften aus der Installirung eines preussischen Gesandten in
Pe-kiṅ der chinesischen Regierung niemals Kosten erwachsen;
6. dürfe der preussische Vertrag keinen Artikel enthalten gleich
denjenigen des englischen und französischen, nach welchen der
[76]Antwort des Gesandten. XVI.
englische und der französische Text allem maassgebend wären;
7. dürfe der König von Preussen nicht mit den die Würde des
chinesischen Kaisers ausdrückenden Schriftzeichen, sondern mit
einem anderen bezeichnet werden, das für Ihre Majestät die Königin
von Grossbritannien gebraucht worden sei. — Endlich verlange der
Prinz von Kuṅ, dass Preussen nur Beamte als Consuln nach China
senden, dass den Consular-Agenten aus dem Handelsstande das
Recht der Ertheilung von Pässen nicht zustehen solle.


Graf Eulenburg antwortete dem französischen Legations-
secretär umgehend, dass er die unter 1. genannte Verpflichtung für
Preussen nicht übernehmen könne, sondern bei dem Anerbieten des
fünfjährigen Aufschubes, — zu rechnen vom Datum der Ratification,
— oder des sechsjährigen, vom Datum der Unterzeichnung an, blei-
ben müsse, wenn etwa letztere Form dem Prinzen angenehmer
wäre; dass er die dritte Bedingung nicht verstehe, da im Entwurf
des Vertrages ein Recht für Preussen, die Absendung eines chine-
sischen Gesandten zu verlangen, durchaus nicht enthalten sei. Ge-
gen den 2., 4., 6. u. 7. Punct habe er nichts zu erinnern; der 5.,
dass die preussische Gesandtschaft der chinesischen Regierung keine
Kosten machen solle, sei schon in seinem Entwurf erledigt. — Den
ferneren Wünschen des Prinzen gegenüber müsse er der preussischen
Regierung und den Hansestädten das Recht wahren, die ihnen ge-
eignet scheinenden Personen zu Consuln zu ernennen.


Zugleich richtete der Gesandte eine Note an den Prinzen von
Kuṅ, die im Ton eines freundschaftlichen Ultimatum seine Bedin-
gungen als unwiderruflich hinstellte: der Prinz möge seine eigene
wohlbegründete Ansicht, dass die Gewährung der preussischen For-
derungen China keinen Nachtheil bringen könne, beim Throne zur
Geltung bringen; der fünfjährige Aufschub für die Ausübung des
Gesandtschaftsrechtes sei eine Gefälligkeit für die chinesische Re-
gierung, welche bis dahin gewiss die Rebellen bewältigen werde.


Schon am 5. Juli schrieb Graf Kleczkowski zurück, dass Prinz
Kuṅ
und der Minister Wen-siaṅ das Gesandtschaftrecht unter Be-
dingung des sechsjährigen Aufschubes vom Tage der Unterzeich-
nung an zu gewähren dächten, dass nun dem Abschluss nichts mehr
im Wege stehe. Am 8. Juli aber kam ein Schreiben der Com-
missare, die zwar jene Mittheilung bestätigten, jedoch mit dem Zu-
satz, dass der ganze Entwurf des Vertrages dem Kaiser vorgelegt
werden müsse und keine Aussicht auf Genehmigung habe, wenn
[77]XVI. Neue Schwierigkeiten.
der Gesandte nicht folgenden Forderungen entsage: 1. dem Rechte
deutscher Unterthanen, im Innern von China zu reisen; 2. dem
Schutze der Christen;12) 3. den neuen Bestimmungen über die
Küstenschiffahrt;13) 4. dem Rechte deutscher Kriegsschiffe, alle
Häfen von China anzulaufen; 5. der Forderung, dass der deutsche
Handel eventuell bei einem Kriege China’s mit einer anderen Macht
keine Unterbrechung leiden solle. Letzteren Artikel verwarfen die
Commissare als unheildrohend. Sie verlangten ferner, dass das
Recht der Hansestädte, eigene Consuln zu ernennen, in den Haupt-
vertrag aufgenommen werde, und fügten einen Gegen-Entwurf des
Separat-Artikels bei, der dessen Sinn durchaus veränderte: nach
fünf Jahren vom Tage der ausgewechselten Ratification an sei zu-
nächst zu entscheiden, ob die militärischen Operationen im Innern
von China ihr Ende erreicht hätten; anderen Falles müsse die
chinesische Regierung zu Verlängerung der Frist berechtigt sein.
— Die Commissare hatten zudem unter dem Schein kleiner Re-
dactions-Aenderungen den Sinn fast aller Artikel umgestaltet und
betonten von neuem, dass sie nur Handelsbestimmungen, keinen
politischen Vertrag vereinbaren wollten.


Nun stand wieder Alles in Frage. — Graf Eulenburg ant-
wortete in derber Sprache, dass er nicht über die schon durch den
Text der anderen Verträge festgestellten Artikel lange Correspon-
denzen führen könne, sondern alle darin gewährten Rechte auch
für Preussen verlange; nur den fünfjährigen Aufschub für Aus-
übung des Gesandtschaftsrechtes und die Gleichstellung des chine-
sischen Textes mit dem deutschen könne er zugestehen. Wären
die Commissare zu Abschluss eines Freundschafts-, Handels- und
Schiffahrtsvertrages nach dem Muster des englischen und des
französischen ermächtigt, so könnten die nöthigen Aenderungen
in wenigen Conferenzen erledigt werden; erklärten sie das Gegen-
theil, so müsse der Gesandte den Prinzen von Kuṅ fragen, ob ihre
Haltung seinen Absichten entspräche.


In Folge dieser deutlichen Sprache sagten die Commissare
sich sofort zur Conferenz an und erschienen am 12. Juli schon um
[78]Conferenz. XVI.
acht Uhr Morgens. Tsuṅ-luen eröffnete das Gespräch mit der Aeusse-
rung, dass man aus des Gesandten letztem Schreiben in Pe-kiṅ die grosse
Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen erkennen werde. Dann
drehte sich das Gespräch wieder eine Weile um die wichtige Frage,
ob »Handelsbestimmungen« oder ein »politischer Vertrag« zu verein-
baren wären; nach langem Sträuben versprach Tsuṅ-luen auf Basis
des letzteren zu unterhandeln und trug auf Erörterung der ein-
zelnen Artikel an: da im übersandten Entwurf viele Bestimmungen
dem englischen und dem französischen Vertrage entnommen seien,
deren Fassung nur der Druck des Krieges rechtfertige, so hätten
die Commissare einen neuen Entwurf ausgearbeitet.


Man schritt zu Berathung der einzelnen Bestimmungen; der Ein-
gang wurde diesmal nur obenhin berührt. Um ein Bild der Verhandlungen
zu geben, möge diese Unterredung hier im Auszuge mitgetheilt werden.


Artikel 1. lautete in des Gesandten Fassung: »Zwischen
den contrahirenden Staaten soll dauernder Frieden und unwandel-
bare Freundschaft bestehen. Die Unterthanen derselben sollen in
den beiderseitigen Staaten vollen Schutz für Person und Eigenthum
geniessen, und es soll dabei für einzelne Personen oder Plätze weder
Unterschied noch Ausnahme gemacht werden.«


Dazu bemerkte Tsuṅ-luen: Die chinesische Regierung kann
den deutschen Unterthanen ihren Schutz nur in den vertragsmässig
geöffneten Handelsplätzen gewähren; daher muss der Zusatz weg-
fallen, dass für einzelne Personen oder Plätze weder Unterschied
noch Ausnahme gemacht werden soll.


Der Gesandte. Das ist ein Irrthum. Schutz muss die
chinesische Regierung deutschen Unterthanen überall angedeihen
lassen. Unter welchen Bedingungen deutsche Unterthanen sich in
das Innere des Landes begeben dürfen, ist im Vertrage besonders
stipulirt, und geniessen sie dort selbstverständlich den Schutz der
Behörden. Der Artikel lautet fast wörtlich wie der betreffende des
französischen Vertrages.


Tsuṅ-luen. Das haben wir nur unter Pression bewilligt.


Der Gesandte. Wollen Sie denn die Deutschen überhaupt
nicht in das Innere lassen, und dieselben in die vertragsmässig
geöffneten Häfen einschliessen?


Tsuṅ-luen. Das grade nicht; aber der von deiner Excellenz
vorgeschlagene Artikel wegen der Reisen in das Innere und der da-
bei erforderlichen Pässe ist unzulässig.


[79]XVI. Conferenz.

Der Gesandte. Das hat ja doch mit dem den Reisenden zu
gewährenden Schutz nichts zu thun. Wird ein Reisender an einem
Orte betroffen, wohin zu gehn er kein Recht hat, so können die
chinesischen Behörden ihn zwar zurückführen, dürfen ihm aber ihren
Schutz nicht entziehen.


Tsuṅ-luen. Lässt sich ein Deutscher an einem unerlaubten
Orte betreffen, so mag er sich selbst schützen; den einzigen Fall
ausgenommen, dass er schiffbrüchig dahin verschlagen wäre.


Der Gesandte. Das wäre ein sonderbarer Freundschafts-
vertrag; Schutz für die beiderseitigen Unterthanen ist ja die erste
und einfachste Bedingung eines solchen.


Tsuṅ-luen. Die Reisenden müssen doch immer Pässe
haben.


Der Gesandte. Allerdings. Es ist aber in allen Verträgen
durch einen besonderen Artikel ausgemacht, dass Reisende, selbst
wenn sie irgendwo ohne Pass getroffen würden, nicht schlecht be-
handelt, sondern höflich zum nächsten Consulat geführt werden,
also auch dann noch Schutz geniessen sollen.


Tsuṅ-luen. Reisen im Innern müssen immer mit einem be-
stimmten Handelszwecke unternommen werden, und dieser muss aus-
drücklich im Passe angegeben sein.


Der Gesandte. Zu dem Artikel über die Pässe kommen wir
später. Hier handelt es sich nur um den Schutz, der jedem Unter-
than einer mit China befreundeten Nation eo ipso und überall zu-
steht. Der russische Vertrag, der doch nicht die Folge einer Pression
ist, enthält diesen Artikel eben so klar.


Tsuṅ-luen. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen
China und Russland sind aber auch uralt.


Der Gesandte. Ich erkläre positiv, dass der Artikel so stehen
bleiben muss, wie ich ihn vorschlug. Wenn Sie fortfahren, mir bei
jedem einzelnen Artikel Zumuthungen zu machen, die sich mit der
Würde meines Landes nicht vertragen, so breche ich überhaupt die
Verhandlungen ab. Mein aus den anderen Verträgen zusammen-
gestellter Entwurf muss die Grundlage der Verhandlungen bleiben,
wenn sie zum Ziele führen sollen. Ihre Art zu verhandeln ist auch
ganz gegen die wohlwollenden Absichten des Prinzen von Kuṅ,
der mir, wovon Sie garnichts zu wissen scheinen, seine Bedenken
gegen meinen Vertrags-Entwurf auf anderem Wege zukommen liess;
sie waren der Art, dass ich fast in allen Puncten nachgeben konnte.


[80]Conferenz. XVI.

Tsuṅ-luen. Wenn wir eine Phrase nicht vernünftig finden,
so müssen wir sie ändern. Die Engländer und Franzosen haben
uns den Vertrag in der von ihnen adoptirten Fassung abgezwungen.


Der Gesandte. Wo es sich um Phrasen handelt, will ich
nach Möglichkeit nachgeben. Etwas sachlich Unvernünftiges steht
aber in keinem Vertrage.


Tsuṅ-luen. Darauf könnte dir Kwei-liaṅ am besten ant-
worten, der jene Verträge gezwungen unterzeichnen musste. Lieber
liesse ich mir den Kopf abschlagen, als ich solchen Vertrag unter-
schriebe.


Der Gesandte. Dann wollen wir die Verhandlungen ab-
brechen.


Tsuṅ-luen. Der Kaiser müsste mich mit Recht fragen,
warum ich Preussen alles Das zugestanden hätte, wozu uns Eng-
land
und Frankreich erst durch mehrere Kriege zwangen.


Der Gesandte. Ich wiederhole einfach, dass ich keinen Ver-
trag auf anderer Basis schliesse, als derjenigen der meistbegünstigten
Nation.


Tsuṅ-luen. So kommt ein Volk nach dem anderen und
sucht einen Druck auf uns zu üben, bis endlich von China garnichts
mehr übrig bleiben wird.


Der Gesandte. China ist ja frei, zu thun und zu lassen was
es will. Wollen Sie keinen Vertrag mit Preussen auf der von mir
gebotenen Basis schliessen, so lassen sie es; aber ich bitte jetzt
um eine ganz bestimmte Aeusserung, ob Sie mir dieselben Rechte
gewähren wollen, welche die anderen Mächte geniessen, oder nicht.


Tsuṅ-luen. Wir können doch nur Vernünftiges gewähren.


Der Gesandte. Das ist eine ganz unpassende Antwort; denn
ich verlange nur Vernünftiges.


Tsuṅ-luen. Du willst uns damit zu etwas zwingen, das
wir nicht als vernünftig ansehen können.


Der Gesandte. Ich begreife Sie wirklich nicht. Bis jetzt
sagten Sie mir immer, Sie fänden meine Forderungen ganz natürlich
und billig; die Schwierigkeiten kämen nur vom Kaiser und dessen
Umgebung. Heut erklären Sie selbst meine Forderungen für un-
gerechtfertigt. Wie hängt das zusammen?


Tsuṅ-luen. Ich muss, nachdem ich den Vertrag geschlossen
habe, Seiner Majestät dem Kaiser eine Denkschrift über jede ein-
zelne Bestimmung einreichen und dieselbe rechtfertigen.


[81]XVI. Conferenz.

Der Gesandte. Das ist Ihre Sache. Ich muss bei meiner
Forderung wegen der Basis des Vertrages durchaus stehen bleiben,
denn ich habe darüber die allerbestimmtesten Befehle.


Tsuṅ-luen. Wenn ich diese Basis auch zugestände, — was
sagten wohl die anderen Mandarinen in Pe-kiṅ?


Der Gesandte. Dafür sind Sie ja Bevollmächtigter und können
jeden einzelnen Artikel definitiv feststellen.


Tsuṅ-luen. Von Pe-kiṅ aus, wohin wir den Vertrags-
entwurf mittheilten, macht man uns aber grosse Schwierigkeit.


Der Gesandte. Wer erhebt denn diese Schwierigkeiten.


Tsuṅ-luen. Die Mandarinen in Pe-kiṅ.


Der Gesandte. Der Prinz von Kuṅ stellte mir nur fünf Be-
dingungen, die ich annahm. Von allen Ihren heut erhobenen Be-
denken erwähnte er auch nicht eines.


Tsuṅ-luen. Der Prinz von Kuṅ ist nicht für den Vertrag
verantwortlich; wir sind die Bevollmächtigten.


Der Gesandte. Nun, dann beantworten Sie meine Frage;
sonst muss ich an den Prinzen von Kuṅ schreiben und mich über
das doppelte Spiel beklagen. — Verhandeln Sie auf der von mir
aufgestellten Basis und schicken Sie das Ergebniss als mein letztes
Wort an den Kaiser.


Tsuṅ-luen. Wir bleiben aber als Bevollmächtigte für das
Ergebniss verantwortlich.


Der Gesandte. Wollen Sie das nicht, so haben wir keinen
Anknüpfungspunct mehr. Wenn Sie mir gleich von Anfang im Ver-
trage das einfachste Menschenrecht streitig machen, so verhandele
ich nicht weiter.


[Tsuṅ-luen]. Das ist ja aber die unüberwindliche Schwierig-
keit, dass deine Excellenz ganz dasselbe haben wollen, wie die
anderen Mächte!


Der Gesandte. Auf keinen Fall bin ich mit weniger zu-
frieden.


Tsuṅ-luen. Das war ja von Anfang an die Schwierigkeit;
sonst hätten wir ja gar keine Einwürfe gegen deinen Vertrags-
entwurf zu machen gehabt, da er nichts anderes enthält, als die
anderen Verträge.


Der Gesandte. O nein! Sie stellten mir bis vor kurzem
immer nur das Gesandtschaftsrecht als unübersteigliches Hinderniss
hin; kaum habe ich nun dasselbe durch ein wichtiges Zugeständniss
IV. 6
[82]Conferenz. XVI.
erkauft, da beginnen Sie gleich beim 1. Artikel ganz dasselbe Spiel.
Das ist nicht loyal.


Tsuṅ-luen. Die Verträge der vier anderen Staaten ent-
halten auch nicht alle Dasselbe.


Der Gesandte. Wörtlich allerdings nicht; aber die Clausel
der meistbegünstigten Nation sichert ihnen den Genuss aller Rechte,
die in den anderen Verträgen stipulirt sind.


Tsuṅ-luen. Solche Clausel haben wir auch in unseren Ver-
tragsentwurf aufgenommen.


Der Gesandte. Das ist unrichtig. Statt einfach meinen Ar-
tikel stehen zu lassen, entwarfen Sie einen solchen, der Preussen
nur in Bezug auf Handelsbestimmungen das Recht der meistbegün-
stigten Nation giebt. Wenn ich Ihr ganzes Betragen während unserer
Verhandlungen nach Berlin berichte, so wird man mir nicht glauben,
dass es möglich ist, sich so zweideutig zu benehmen, wie Sie bisher
thaten.


Tsuṅ-luen. Deine Excellenz sehe unseren Vertragsentwurf
doch noch einmal recht gründlich durch.


Der Gesandte. Das ist ganz unnütz, wenn wir nicht von
derselben Basis ausgehen.


Tsuṅ-luen. In den anderen Verträgen sind auch die Han-
delsbestimmungen gleichlautend. Die politischen Artikel lauten in
jedem Vertrage anders.


Der Gesandte. Allerdings; sie lauten aber auch in meinem Ent-
wurfe anders. Dem Inhalt nach sind sie überall gleich, und alle
diese Bestimmungen verlange ich als mein Recht. Preussen erscheint
hier nicht, um sich einzelne Artikel zu erbetteln, sondern um das,
was anderen Mächten gleichen Ranges gewährt worden ist, als sein
Recht in Anspruch zu nehmen. Gestehen Sie mir das nicht zu, so
muss ich mich an den Prinzen von Kuṅ wenden.


Hier unterbrach die Verhandlungen das Frühstück, zu wel-
chem Graf Eulenburg die Commissare einlud. Auf des Gesandten
Fragen nach seinem Leben und Umgang in Pe-kiṅ äusserte Tsuṅ-
luen
, er könne nur mit Männern von gleichem Range verkehren,
und deren gebe es wenige. In Tien-tsin gehe er garnicht aus und
sehe auch Niemand bei sich; man würde ihn nur auszukundschaften
suchen, um über sein Thun und Treiben nach Pe-kiṅ zu berichten.
Das erwarte die Regierung von den Mandarinen in Tien-tsin, und
ebenso, dass er selbst über Jene berichte. — Vor der Abreise eines
[83]XVI. Conferenz.
vornehmen Beamten schickten ihm die angesehensten Bewohner des
Ortes, wo er sich längere Zeit aufgehalten hätte, ein grosses Diner
als Zeichen ihrer Verehrung; also ein Abschieds-Essen, an welchem
die Gastgeber ihres geringen Ranges wegen nicht Theil nehmen. —
Graf Eulenburg bemühte sich bei jeder Gelegenheit, die Commissare
über chinesische Sitten auszuforschen, brachte aber wenig heraus.


Nach dem Frühstück war Tsuṅ-luen ganz weich gestimmt;
er versprach, gewisse Artikel in der früheren Fassung wieder her-
zustellen, und bat den Gesandten über die fünf von den Commissaren
verworfenen Bestimmungen eine Denkschrift zu verfassen, billigte
auch dessen Vorschlag, dass die Verhandlungen auf der Basis des
politischen Vertrages einstweilen ohne Rücksicht auf jene fünf Ar-
tikel geführt werden sollten. Stiesse man auf weitere Schwierig-
keiten, so sollte an den Prinzen von Kuṅ, eventuell an den Kaiser
berichtet werden. — Die vierstündige Unterredung bei 30° R. hatte
also zum Resultat, dass man sich über den ersten Artikel nicht
einigte. Tsuṅ-luen gerieth jedesmal in lebhafte Erregung bei dem
Gedanken, dass Preussen auf dem Wege der Verhandlungen fordere,
was andere Staaten China nur durch Waffengewalt abzwangen.
Betrachtet man seine Vergangenheit, so ist trotz aller Freundschafts-
betheuerungen und aller scheinbaren Bonhommie kein Zweifel, dass
Tsuṅ-luen ganz und nur auf Täuschung ausging. Die günstigen
Aussichten, die er gleich anfangs und nachher wiederholt den
preussischen Forderungen machte, sollten nur eitele Hoffnungen
erregen, und deren periodische Zerstörung allmälig die Kräfte des Geg-
ners erschöpfen. Des Gesandten Energie sollte sich langsam zu Tode
zappeln; sein Rückzug wäre Tsuṅ-luen’s höchster Triumph ge-
wesen. Graf Eulenburg aber gewann eine Herrschaft über ihn, der
er sich nicht zu entwinden vermochte. Ohne Anstand kann be-
hauptet werden, dass es dessen persönliche Ueberlegenheit über
alle an den Verhandlungen betheiligte Personen, seine eiserne
Zähigkeit und Ruhe waren, welche zuletzt den Widerstand brachen
und die Gegner sittlich überwanden. Leichte Arbeit war es nicht,
auch abgesehen von der Unsicherheit des Erfolges und der grossen
Verantwortung, die auf dem Gesandten lastete. Denn ermüdete die
Art der Discussion, bei welcher von folgerechten Schlüssen und
stufenweisem Fortbauen auf gewonnener Grundlage keine Rede war,
schon an und für sich, so ermüdete sie doppelt durch die Art des
Herrn Marques, der, ein gewissenhafter und fleissiger, aber keines-
6*
[84]Vertragsverhandlungen. XVI.
wegs gewandter Dolmetscher, bei den Unterredungen bald ermattete.
Dann schleppte das Gespräch unerträglich, und Graf Eulenburg,
dem ohnedies schon der Boden beständig unter den Füssen wich
und jede Handhabe wieder aus den Händen glitt, hatte auch noch
diese Qual. Es war das Fass der Danaïden, ein schwerer Karren
in tiefem trockenem Sande.


An den folgenden Tagen, dem 13., 14. und 15. Juli wurden
die meisten Artikel mit den Commissaren durchberathen und fest-
gestellt. Auf diejenigen Bestimmungen, über welche kein Einver-
ständniss zu erzielen war, vermied Graf Eulenburg zurückzukommen;
denn im Wege der Discussion liess sich nichts Endgültiges erreichen.
Die Verhandlungen bestanden wesentlich darin, dass der Gesandte un-
wichtige Redactions-Aenderungen zugestand, welche die Commis-
sare bei jedem auch nur mit einem Worte vom Text der anderen
Verträge abweichenden Artikel verlangten. Sträubten sie sich ge-
gen wichtige Bestimmungen, so setzte er ihnen zwar jedesmal ein-
gehend seine Gründe auseinander, bestand aber nicht auf Erledigung;
denn es half doch nichts. Dem Anschein nach konnten die Com-
missare über gewisse Puncte keine Entscheidung treffen; sie lag
beim Prinzen von Kuṅ oder gar beim Kaiser. Deshalb beschloss
Graf Eulenburg nach Schluss der Berathungen die fraglichen Ar-
tikel zusammenzustellen und mit erläuterndem Schreiben an den
Prinzen zu senden. An Diesen verwiesen ihn die Commissare
jedesmal, wenn sie etwas verweigerten; schlug dagegen der Ge-
sandte einmal vor, die Entscheidung des Prinzen einzuholen, so
sagten sie, derselbe habe garnichts mit der Sache zu thun, sie selbst
seien die kaiserlichen Bevollmächtigten. — Der Prinz schrieb am
13. Juli dem Grafen, dass er das Gesandtschaftsrecht mit dem fünf-
jährigen Aufschub der Ausübung zwar gewähre, aber darauf be-
harren müsse, dass in dem Separat-Artikel die eventuelle Ver-
längerung der Frist für den Fall zugestanden würde, dass die Lage
von China eine solche wünschenswerth machte. Da nun dieser
Punct wie der ganze Vertrag der Genehmigung des Kaisers be-
dürfe, so bitte er den Grafen um Beschleunigung der Verhand-
lungen.


Am 16. Juli erreichte Kaiser Hien-fuṅ sein einunddreissigstes
Lebensjahr. Graf Eulenburg begab sich mit allen seinen Begleitern
in Uniform zu den Commissaren, — ein langer Zug von sieben
Sänften mit sechsundfunfzig Trägern. Der Empfang war nach
[85]XVI. Kaiser Hien-fuṅ’s Geburtstag.
chinesischer Art glänzend: die zahlreichen Mandarinen trugen das
grosse gestickte Staatskleid, Tsuṅ-luen allein den gewöhnlichen
Anzug, weil er sich nicht am Orte seiner Amtsführung befand. Die
Kleiderordnung ist nämlich sehr streng in China und regelt die
Tracht der Beamten für jeden besonderen Umstand. — Die Staats-
kleider bestanden aus durchsichtigen Seidenstoffen von derbem Ge-
webe, mit reicher phantastischer Goldstickerei, deren Hauptdessein
der kaiserliche Drachen in den wunderlichsten Verschlingungen
bildete, mit eingestreuten Emblemen des langen Lebens, der Glück-
seligkeit, und anderen heilbringenden Zeichen. Nach der Gratulation
kam das unvermeidliche Frühstück, bei welchem Tsuṅ-luen dem
Gesandten mit seinen Speisestöckchen die besten Bissen vorlegte,
mit höchsteigenen Nägeln eine Pfirsich schälte, Eis in sein Trink-
glas legte und aus seiner Theetasse kostete. Wir erhielten diesmal
Messer, Gabeln, Servietten und sogar Bier, das aber Zucker und
andere räthselhafte Zuthaten ungeniessbar machten. Auch zum
Thee verging uns die Lust, da die halbgeleerten Tassen immer in
dieselbe Kanne zurückgegossen wurden, aus welcher man ein-
schenkte. Den Appetit macht bei chinesischen Mahlzeiten immer
das Aussehn der Speisen befangen, welches selten die Bestand-
theile verräth, und die augenscheinliche Mitwirkung der Finger beim
Anrichten der niedlichen Schüsselchen. Man reichte zum Schluss
den Chinesen einen nassen Lappen, der einst weiss gewesen war,
zum Abwischen des Gesichtes, erliess den Gästen aber geneigtest
diese Wohlthat.


Die Commissare freuten sich sichtlich der erwiesenen Auf-
merksamkeit und erwiederten den Besuch. Da sie früher für unsere
Speisen wenig Neigung zeigten, so liess Graf Eulenburg ihnen dies-
mal eine chinesische Mahlzeit bereiten, der sie tapfer zusprachen.
Tsuṅ-luen fragte viel nach der Feier des königlichen Geburtstages
in Preussen und war ungewöhnlich mittheilend.


Am 17. Juli wurde die Berathung der einzelnen Artikel zu
Ende geführt. Graf Eulenburg erklärte darauf, dass er auf Grund
der erfolgten Einigung einen neuen Entwurf ausarbeiten und dem-
selben die nicht festgestellten Artikel einfügen werde, deren er
nicht entbehren könne, mit seinen Gründen für deren Annahme.
Eine Note an den Prinzen von Kuṅ solle das an die Commissare
gerichtete Document begleiten; sie möchten dasselbe mit ihrem
eigenen Bericht nach Pe-kiṅ senden. — Am 18. Juli schrieb Herr
[86]Neuer Vertragsentwurf. XVI.
von Bourboulon dem Gesandten, dass er seinen ganzen Einfluss für
Gewährung der preussischen Forderungen aufgeboten habe und den
Erfolg als gesichert ansehe; nur einzelne in anderen Verträgen nicht
enthaltene Bestimmungen machten noch Schwierigkeit, und die Un-
behülflichkeit der chinesischen Sprache, in der sich viele Dinge
dem europäischen Bedürfniss gemäss nicht ausdrücken liessen.


In seinem den neuen Vertragsentwurf begleitenden Schrei-
ben vom 24. Juli bestand nun Graf Eulenburg auf Gewährung der-
jenigen Artikel, welche das Recht deutscher Unterthanen, mit Pässen
im Innern des Landes zu reisen, den Schutz der Christen, das Ein-
laufen und die Proviantirung von Kriegsschiffen in allen chine-
sischen Häfen stipulirten, liess dagegen diejenigen fallen, welche
die Küstenschiffahrt und die eventuelle Fortsetzung des deutschen
Handels während eines Krieges zwischen China und anderen Staaten
betrafen. Letztere ergab sich von selbst aus den Verträgen. Ueber
die den chinesischen Küstenhandel betreffenden neuen Bestimmun-
gen unterhandelte damals auch der englische Gesandte mit den Be-
hörden in Pe-kiṅ; Graf Eulenburg hatte ihm darüber geschrieben,
aber keine genügende Auskunft erhalten. Da nun mittelst der
Clausel der meistbegünstigten Nation alle neu zu gewährenden
Rechte der Krone Preussen von selbst zufallen mussten, so bestand
Graf Eulenburg nicht auf jenem Artikel, der, für andere Nationen
von gleicher Wichtigkeit, durch die Gesandten in Pe-kiṅ viel
leichter durchgesetzt werden konnte.14) Er berührte am Schluss
seines Schreibens noch die gesonderte Consularvertretung der
Hansestädte, welche die Commissare in den Text des Vertrages
aufzunehmen wünschten, der Gesandte aber nach seinen Instructionen
in einem Separat-Artikel stipuliren zu müssen glaubte. — Seine Note
an den Prinzen von Kuṅ behandelte vorzüglich die eventuelle Ver-
längerung des fünfjährigen Aufschubes: er sei überzeugt, dass die
preussische Regierung solche bereitwillig zugestehen werde, wenn
triftige Gründe vorlägen; die Entscheidung darüber, welche von
Zeit und Umständen abhinge, müsse derselben aber vorbehalten
[87]XVI. Neue Wege.
bleiben. Eventualitäten könnten nur durch Berathung und Cor-
respondenz geregelt. nicht aber in Verträge aufgenommen werden,
deren Bestimmungen positiv und bindend sein müssten.


Die Commissare beantworteten den revidirten Vertrags-
entwurf am 29. Juli durch ein langes Schreiben, in welchem sie
nicht nur die Aufnahme der bei den Berathungen angefochtenen
Artikel verweigerten, sondern auch auf viele Bestimmungen zurück-
kamen, deren Redaction sie in den Conferenzen endgültig angenom-
men und zum Zeichen ihrer Einwilligung eigenhändig paraphirt
hatten. Zugleich lief eine Note des Prinzen von Kuṅ ein, welcher
auf Formulirung des Versprechens wegen eventueller Verlängerung
des Aufschubes in einem Separat-Artikel bestand. — Die langen
Berathungen hatten also wieder nichts gefruchtet; noch immer wur-
den die wesentlichsten Puncte bestritten. Da nun auf dem Wege
des persönlichen Verkehrs und des Schriftwechsels mit den Com-
missaren nichts mehr auszurichten war, so schlug der Gesandte einen
anderen ein.


Herrn Marques hatte nach Vollendung der Reinschrift jenes
neuen Entwurfes der Schlag getroffen. Da er dadurch ausser Thä-
tigkeit gesetzt wurde, so ersuchte Graf Eulenburg den kaiserlich
französischen Gesandten in Pe-kiṅ, den zufällig in Tien-tsin an-
wesenden Herrn de Méritens zu Uebernahme der Dolmetscher-Ar-
beiten zu ermächtigen, welche derselbe bereitwillig angeboten hatte.
Als dolmetschender Secretär der französischen Gesandtschaft war
Herr de Méritens den Commissaren persönlich bekannt und genoss
deren Vertrauen. Wohl wissend, dass er in die Verhältnisse ein-
geweiht sei, unterrichteten sie ihn gleich nach seiner Ankunft in
Tien-tsin aus freiem Antrieb in vertraulichster Art von der Lage
der Verhandlungen, und suchten seinen Beistand. Herr de Méritens,
der bei Negotiation des französischen Vertrages mitgewirkt und in
Pe-kiṅ das Räderwerk der chinesischen Staatsmaschine kennen ge-
lernt hatte, wies sie nicht zurück, wusste aber sehr genau, dass
die Commissare nur in ihrem persönlichen Interesse, um vor dem
Kaiser zu glänzen, Einwendungen und Schwierigkeiten erhoben, zu
welchen sie garnicht ermächtigt waren. Graf Eulenburg bat ihn
nun, denselben von seinem Gesuch an Herrn von Bourboulon nichts
zu sagen, sondern einstweilen die Rolle des unpartheiischen Ver-
mittlers zu spielen. Seine Uebung und Gewandtheit in der Behand-
lung chinesischer Würdenträger, die Kenntniss der europäischen
[88]Das Gesandtschaftsrecht zugestanden. XVI.
Verhältnisse, welche Herrn Marques gänzlich fehlte, Herrn de Mé-
ritens
aber befähigte, sich auf den Standpunct der preussischen
Forderungen zu stellen und sie durch plausible Gründe zu unter-
stützen, machten ihn zu diesem Amte sehr geeignet. — Graf Eulen-
burg
liess nun zunächst das Schreiben der Commissare vom 29. Juli
unbeantwortet, was dieselben sehr beunruhigte. Sie schrieben täg-
lich an Herrn de Méritens oder liessen ihn um Unterredungen
bitten, um nach dem Eindruck ihres Schreibens und der wahrschein-
lichen Antwort zu forschen, und liessen sich allmälig einreden, dass
Graf Eulenburg sehr aufgebracht, und an Fortsetzung der Ver-
handlungen garnicht zu denken sei, wenn sie nicht den grössten
Theil ihrer Einwendungen zurückzögen.


Auf des Prinzen Note antwortete der Gesandte unter Wie-
derholung seiner Argumente abermals ablehnend, und erbot sich
nur die rücksichtvolle Erwägung der eventuell für den weiteren
Aufschub geltend zu machenden Gründe seitens der preussischen
Regierung in einem amtlichen Schreiben an den Prinzen zu ver-
sprechen. Dieser fügte sich endlich. In einer langen Note erklärte
er dem Gesandten am 2. August, dass auf die von demselben ge-
nannte Bedingung der Separat-Artikel in dessen Fassung angenom-
men werden solle. Er begründet und entschuldigt gleichsam den
bis dahin geleisteten Widerstand: »der Prinz fühlt das Bedürfniss,
nachdem er sich die Vorstellungen des Grafen zu eigen gemacht,
seiner Excellenz zu erklären, dass er bei dem Verlangen, die er-
wähnten Versicherungen im Separat-Artikel niedergelegt zu sehen,
nur den Gedanken hatte, in definitiver Weise alle Eventualitäten zu
regeln, die zwischen den beiden Regierungen eintreten könnten.«


Somit wurde Preussen das wichtigste Ehrenrecht eingeräumt,
— ohne welches nach den früheren Erfahrungen alle Verträge mit
China illusorisch waren, — trotz den Erklärungen des englischen
und des französischen Gesandten, welche die Gewährung anfangs
unmöglich glaubten. Unzweifelhaft haben Herr von Bourboulon
und besonders Herr Bruce, dessen Unlust zu schreiben ihn ganz
unthätig erscheinen liess, Graf Eulenburg’s Forderungen lebhaft
unterstützt; wahrscheinlich hätte es aber so harten Kampfes gar-
nicht bedurft, wenn nicht die Dolmetscher von vorn herein geäussert
hätten, auf politische Rechte werde Preussen keinen Anspruch
machen. Das Grafen zähe Willenskraft wirkte auch hier entscheidend:
ernstlich redeten die beiden Gesandten erst nach unserem Attentat
[89]XVI. Weitere Verhandlungen
auf die Hauptstadt seinen Forderungen das Wort, und wurden darin
von dem russischen Minister-Residenten, Oberst von Balluzek, wel-
cher in der zweiten Hälfte des Juli nach Pe-kiṅ kam, kräftig unterstützt.


Die Commissare baten Herrn de Méritens schon nach wenigen
Tagen, den Gesandten zu besänftigen: sie wollten die meisten Ein-
wendungen gegen den revidirten Entwurf gänzlich fallen lassen.
Graf Eulenburg beantwortete darauf am 3. August ihre Schreiben,
hielt ihnen ihren Wankelmuth vor, und erklärte sich zu einigen
formellen Aenderungen bereit, sofern der Sinn und Inhalt der Be-
stimmungen darunter nicht litte. Zugleich meldete er den Com-
missaren, dass Herr de Méritens Herrn Marques als Dolmetscher
vertreten werde. — Von da an war der Gesandte der langen un-
fruchtbaren Conferenzen enthoben; er konnte nach gehöriger In-
struirung Herrn de Méritens die mündlichen Verhandlungen mit
Sicherheit überlassen. Auf den 7. August sagten die Commissare
sich zum Frühstück an und thaten dabei sehr freundschaftlich.
Geschäftliches wurde kaum besprochen, denn auch sie zogen die
Vermittelung des französischen Secretärs dem directen Verhandeln
vor. Des Chinesischen vollkommen mächtig einigte sich derselbe
leicht mit ihnen über formelle Aenderungen, welche grossentheils
auf sprachliche Eleganz zielten, und setzte in allen wesentlichen
Puncten die Forderungen des Gesandten fast bedingungslos durch.
Die Qualität der Consuln, die Gültigkeit des deutschen Textes und
das Recht der Deutschen, im Inneren von China zu reisen, boten
dabei die grössten Schwierigkeiten.


Im ersten Punct setzte Graf Eulenburg trotz heftigen Wider-
standes der Chinesen durch, dass eine Verpflichtung der preussischen
Regierung, nur Beamte, nicht Kaufleute zu Consuln zu ernennen,
im Vertrage nicht ausgedrückt würde; er versprach dagegen in
einem amtlichen Schreiben, dem königlichen Minister des Auswär-
tigen die Nothwendigkeit der Ernennung von diplomatischen Con-
suln vorzustellen, welche durchaus in den Verhältnissen begründet
war. — Das Recht der Hansestädte auf gesonderte consularische
Vertretung in einem Separat-Artikel auszudrücken, erlaubten die
Commissare nur unter der Bedingung, dass derselbe im Text des
Vertrages nicht erwähnt werde, und dass seine Ratification in der
des Vertrages mit eingeschlossen sein solle. Sie hielten sich dabei
an die Präcedenz des englischen und des französischen Vertrages,
bei welchen es mit den Separat-Artikeln ebenso gehalten wurde.


[90]Sprachenfrage. Reisen. XVI

In der Frage, welcher Text maassgebend sein solle, erlangte
Graf Eulenburg ein ungehofftes Zugeständniss. Die Bedingung des
englischen und des französischen Vertrages, dass nur der englische
und der französische Text gelten sollten, war eine Härte, ein Er-
gebniss der Gewalt, welche jene Verträge erzwang. Der Prinz und
die Commissare bestanden von Anfang an fest darauf, dass solcher
Artikel nicht in den preussischen Vertrag käme. Der Gesandte gab
nun anfangs zu, dass für die deutschen Staaten der deutsche, für
China der chinesische Text gelten solle, ohne sich die möglichen
Folgen solchen Abkommens zu verhehlen. Die endlose Wortklauberei
der Commissare bei den Verhandlungen aber und der grosse Werth,
den sie auf Anwendung dieses oder jenes Zeichens im chinesischen
Texte legten, überzeugten ihn, dass Conflicte über die Auslegung
des Vertrages unter jener Voraussetzung sogar unvermeidlich sein
würden. Mit grosser Mühe vermochte er nun die Commissare zu
Annahme eines dritten, beiden Theilen verständlichen Textes: den
deutschen und chinesischen Ausfertigungen sollte eine französische
beigefügt werden, auf welche im Falle einer Meinungsverschieden-
heit als auf die für beide Theile entscheidende Fassung zurückzu-
gehen wäre. Dieses Abkommen sicherte die deutschen Staaten
und schädigte auch China nicht, da unter den Schülern der
katholischen Missionen viele des Französischen vollkommen mäch-
tig waren.


Gegen die Reisen im Innern von China und das Einlaufen
von Kriegsschiffen in alle chinesischen Häfen sträubten sich die
Commissare mit grosser Zähigkeit; sie fürchteten, dass den Rebellen
Kriegsbedarf zugeführt, dass Pe-kiṅ von Reisenden überschwemmt
würde. Graf Eulenburg bestand aber unerschütterlich auf diesen
Rechten.


Ueber die eventuelle Verlängerung der fünfjährigen Frist
richtete der Gesandte eine Note an den Prinzen von Kuṅ: die
chinesische Regierung möge, falls nach ihrer Ansicht die politische
Lage nach fünf Jahren dazu Veranlassung gäbe, das preussische
Ministerium des Auswärtigen um längere Vertagung der Accre-
ditirung eines Gesandten ersuchen; solche Vorstellung werde sicher
in ernste Erwägung gezogen und, wo irgend möglich, berück-
sichtigt werden. Gewissenhafte Ausführung aller Bestimmungen des
Vertrages sei das beste Mittel, die preussische Regierung zum Ein-
gehen auf die Wünsche der chinesischen zu vermögen; man werde
[91]XVI. Tod des Kaisers Hien-fuṅ.
sich zu deren Gewährung um so leichter entschliessen, wenn die
Beziehungen sich auch ohne die Anwesenheit eines Vertreters in
Pe-kiṅ günstig gestalteten.


Der Prinz erklärte diese Fassung für genügend. Graf Eulen-
burg
liess nun den definitiven Text des Vertrages redigiren, welchen
die Commissare am 12. August nach Pe-kiṅ zur Beförderung an
den Kaiser sandten. Da der Prinz beständig in Kenntniss des In-
halts gehalten wurde und sich mit allen Bestimmungen einverstanden
erklärt hatte, so war die kaiserliche Genehmigung mit Sicherheit
zu erwarten; wir schritten deshalb zu Anfertigung der deutschen
und französischen Reinschriften in je vier Exemplaren, welche bis
zum 24. August vollendet wurden. Herr de Méritens übergab die-
selben den Commissaren zur Beförderung nach Pe-kiṅ, damit ihnen
das Siegel des Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten bei-
gedruckt würde.


Inzwischen kamen immer schlimmere Nachrichten von der
Krankheit des Kaisers. Man wusste aus guter Quelle, dass er an
heftigem Blutauswurf litt; ein Sarg war schon nach Džehol ge-
schafft worden. Zwar erschien am 11. August in Pe-kiṅ ein amt-
licher Maueranschlag, dass der Kaiser ausser Gefahr und sogar in
der Genesung sei; aber die Hochzeitsaufzüge auf den Strassen
mehrten sich auffallend, ein Zeichen, dass man im Volk nicht daran
glaubte: während der Trauermonate für den Kaiser darf nämlich
in China nicht geheirathet werden.


Herr de Méritens, welcher zur Feier des Napoleonstages
nach Pe-kiṅ ging und am 22. August nach Tien-tsin zurück-
kehrte, glaubte, dass der Kaiser schon todt, der Prinz von Kuṅ
zum Regenten ernannt sei. Letzterer war in Pe-kiṅ zehn Tage
nicht sichtbar und während dieser Zeit vermuthlich in Džehol ge-
wesen; nachher fiel Allen die Sicherheit seines Wesens und die
ernste Befriedigung in seinem Ausdruck auf. Für uns waren es
Tage spannender Erwartung, da Niemand wissen konnte, ob der
Vertrag vom Kaiser noch genehmigt sei, ob er bei Einsetzung einer
fremdenfeindlichen Regentschaft überhaupt genehmigt würde.


Am Abend des 25. August brachte Herr de Méritens die
Nachricht, dass nach amtlichen Aeusserungen der chinesischen Re-
gierung Kaiser Hien-fuṅ am 21. August verschieden sei, am 19.
aber noch den preussischen Vertrag genehmigt habe, ohne eine
Silbe daran zu ändern; das mit dem kaiserlichen Siegel versehene
[92]Unterzeichnung des Vertrages. XVI.
Approbationsdecret sei in Pe-kiṅ eingetroffen. Eine Mittheilung
gleichen Inhalts ging dem Gesandten von den Commissaren zu,
welche zugleich bemerkten, dass während des Trauermonats alle
Staatsgeschäfte ruhten und nur in dringenden Fällen das blaue
Trauersiegel angewendet werde; es scheine deshalb zweckmässig,
die Unterzeichnung des Vertrages einen Monat zu verschieben, da-
mit demselben das rothe Siegel beigedruckt werden könne. Graf
Eulenburg äusserte ihnen dagegen den lebhaften Wunsch, die
Unterzeichnung recht bald vollzogen zu sehen, und die Commissare
versprachen, nach Kräften darauf hinzuwirken.


Die auf dem preussischen Gesandtschaftshause wehende
Flagge wurde der Trauer wegen drei Tage lang auf Halbmast ge-
hisst; die Commissare dankten verbindlich für diese Aufmerksamkeit.
Am 1. September machte Graf Eulenburg ihnen einen Condolenz-
besuch und erhielt die Meldung, dass sämmtliche Exemplare des
Vertrages, mit dem blauen Siegel versehen, und das Approbations-
decret in Abschrift aus Pe-kiṅ eingetroffen seien: der Unterzeich-
nung stehe nichts mehr im Wege. Die Commissare bedauerten,
dass die Trauer jede Ausschmückung eines öffentlichen Gebäudes
und die bei so feierlichem Anlass übliche Kanonade verwehre, und
erboten sich, die Unterzeichnung am folgenden Tage im Hause des
Gesandten zu vollziehen.


Am 2. September Morgens schickten die Bevollmächtigten
dem Gesandten das amtliche Schreiben über die Genehmigung des
Vertrages und erschienen bald darauf selbst mit grossem Gefolge.
Sämmtliche Mandarinen trugen lange Trauerkleider aus grobem
weissem Baumwollenstoff und einfache Strohhüte mit kleinem
schwarzem Knopf auf der Spitze. Die Mitglieder der Gesandtschaft
waren in Uniform. Die Commissare überreichten die in gelbseidenem
Umschlag steckende Abschrift des Approbationsdecretes; nach
kurzem Gespräch schritt man zu Unterzeichnung des in vier deut-
schen, vier chinesischen und vier französischen Exemplaren aus-
gefertigten Vertrages. Tsuṅ-luen äusserte mit verdrehten Augen
den Wunsch, dass der Himmel ihn lange genug leben lasse, um
einen preussischen Gesandten in Pe-kiṅ zu sehen, und versprach
voll Salbung, ein treuer Hüter des Vertrages zu werden. Nach
Unterzeichnung und Auswechselung der Urkunden fand ein Früh-
stück statt. Tsuṅ-luen erschöpfte sich in Wehklagen, dass die
Trauer um den Kaiser ihn an Veranstaltung der vorbereiteten
[93]XVI. Correspondenz mit dem Prinzen von Kuṅ.
glänzenden Festlichkeiten hindere, und lud die Gesandtschaft auf
den folgenden Tag zum Frühstück ein.


So wurde denn der 2. September, an welchem wir ein Jahr
vorher den Taifūn bestanden und den Frauenlob verloren, in
diesem Jahre durch Vollendung des mit schweren Mühen und Lei-
den erkauften wichtigsten Werkes der Expedition zu einem Freuden-
tage. Der preussische Vertrag war der erste von gleicher Bedeu-
tung, welcher in China ohne Anwendung von Gewalt, durch freie
Vereinbarung geschlossen wurde.


Am 3. September lief das Antwortschreiben des Prinzen von
Kuṅ auf eine Note des Grafen ein, in welcher Dieser auf des
Ersteren Wunsch vor Unterzeichnung des Vertrages noch Erklärun-
gen über die künftige Installirung eines preussischen Gesandten in
Pe-kiṅ gab. Die chinesische Regierung wollte nicht gehalten sein,
demselben ein öffentliches Gebäude dauernd als Wohnung zu über-
lassen oder Privatleute zum Vermiethen eines Hauses zu zwingen;
nur zu Unterstützung seiner Bemühungen um passendes Unterkom-
men, schlimmsten Falles zu Anweisung eines Grundstückes, auf
welchem der preussische Gesandte sich ein Haus bauen könne,
wollte sie sich verpflichten.


Nach Aeusserungen der Commissare hätte Lord Elgin nach
dem Friedensschluss in Pe-kiṅ einen der besten Yamums, Eigen-
thum eines Mandschu-Fürsten, als Sitz der britischen Gesandtschaft
unter Zusicherung einer jährlichen Miethe von 1500 Tael in Be-
schlag genommen; ähnlich wären die Franzosen verfahren; die Be-
sitzer bestürmten den Prinzen mit Beschwerden über diese bündige
Expropriation, und Dieser sei viel zu tief von deren Unrechtmässig-
keit durchdrungen, um sie jemals wieder geschehen zu lassen. Die
mit dem betreffenden Artikel des englischen Vertrages gleichlautende
Bestimmung des preussischen verpflichtete keineswegs die chine-
sische Regierung für das Unterkommen der Gesandten zu sorgen;
die gemachten Erfahrungen aber rechtfertigten den Wunsch des
Prinzen. Graf Eulenburg gab ohne Bedenken die verlangte Er-
klärung und nahm nur den Beistand der chinesischen Regierung
für die Installirung in Anspruch, damit der das Gesandtschafts-
recht betreffende Artikel nicht illusorisch würde. Ein dahin
gehendes Versprechen gab jetzt Prinz Kuṅ in deutlicher Fas-
sung und verpflichtete sich sogar im Namen der Regierung,
dem künftigen Gesandten so lange einen Yamum zur Verfügung
[94]Das Approbationsdecret. XVI.
zu stellen, bis er eine angemessene Wohnung gefunden und
eingerichtet hätte.


Auch ein anderer Punct, dessen Aufnahme in den Vertrag
die Commissare aus rein formellen Gründen nicht wünschten, wurde
im Wege des Depeschenwechsels erledigt: die Abtretung von Grund-
stücken in den geöffneten Handelsplätzen an deutsche Kaufleute.
Die darüber mit England, Frankreich und America getroffenen Be-
stimmungen waren in deren Verträgen aus den Jahren 1843 und
1844 enthalten; die Commissare wünschten aber dringend, dass die
Handelsbestimmungen des preussischen Vertrages gleichlautend
wären mit denen der späteren Verträge jener Staaten; deshalb ver-
sprach jetzt die chinesische Regierung die Anweisung von Grund-
stücken und Vermiethung von Häusern an deutsche Unterthanen
unter denselben Modalitäten in einer besonderen Note.


Wie es mit der schnellen Genehmigung des Vertrages, nur
zwei Tage vor dem officiellen Datum von des Kaisers Tode zuging,
erfuhren wir nicht. Den umlaufenden Gerüchten zufolge verschied
Hien-fuṅ einige Tage früher. Die Gültigkeit der Approbation
konnte dadurch nicht angefochten werden, denn allen kaiserlichen
Decreten verleiht das beigedruckte Siegel, keine Unterschrift, ihre
bindende Kraft. — Prinz Kuṅ wurde, offenbar gegen seine Erwar-
tung, nicht zum Regenten ernannt. Das folgende, den letzten Willen
des Kaisers ausdrückende Decret war, wie das Approbationsdecret
des preussischen Vertrages, unter dem 19. August ausgefertigt.


»Unseren ältesten, zum Thronerben ernannten Sohn Tsae-
tšun
sollen Tsae-yuen, Twan-wa, Kiṅ-šan, Su-tšuen, Mu-yin,
Kuan-yuen, Tu-han
und Tsian-yu-yiṅ
15)in allem auf die Staats-
verwaltung bezüglichen Dingen aus allen Kräften unterstützen.


Ein ausserordentliches Decret.«


[95]XVI. Die Regentschaft.

War nun, wie das Gerücht ging, diese letztwillige Verfügung
von den darin genannten Männern nach des Kaisers Tod geschmiedet,
so mussten dieselben Gegner der Fremden auch das Approbations-
decret zum preussischen Vertrage gemacht haben, vielleicht nur,
um der anderen Fälschung einige Haltung zu geben. Bald nach
dem letztwilligen Erlass scheint nun eine Verfügung eingetroffen zu
sein, welche dem Prinzen von Kuṅ die oberste Leitung aller Ge-
schäfte in Pe-kiṅ übertrug, ihn aber ausdrücklich anwies dort zu
bleiben, während der Prinz, wie sich nachträglich erwies, die Kai-
serin Wittwe um Erlaubniss zur Reise nach Džehol gebeten hatte.
Seine Befugnisse, welche sich bis dahin nur auf die auswärtigen
Angelegenheiten erstreckten, wurden durch jene Verfügung erweitert;
man schloss ihn aber vom persönlichen Verkehr mit dem jungen
Kaiser aus und drängte ihn in eine Stellung, die nothwendig zu
seinem Sturz führen musste. Tsae-yuen und Twan-wa gehörten
zu den Anstiftern des an den englischen Parlamentären verübten
Verrathes und wurden neben Su-tšuen laut als Urheber allen Un-
glücks genannt, das China in den letzten Jahren betroffen hatte.
Sie hatten mit Saṅ-ko-lin-sin, — der aus anderen Motiven han-
delte, — den Kaiser zum Kriege und, gegen die offen ausgesprochene
Ansicht aller verständigen Räthe der Krone, gegen die warnende
Mahnung ehrlicher Patrioten zur Flucht nach Džehol vermocht.
Sie waren es, die seinen verderblichen Neigungen Vorschub ge-
leistet, ihn von Ausschweifung zu Ausschweifung getrieben und
geflissentlich im Zustande geistiger Erschlaffung gehalten hatten,
um statt seiner das Scepter zu führen. Um den Thronerben in der
Hand zu haben, liessen sie diesen und seine Mutter, die, nicht mehr
zu den begünstigten Frauen des Harem gehörend, 16) bei des Kai-
sers Flucht in Pe-kiṅ geblieben war, Mitte August unter dem Vor-
wande nach Džehol führen, dass der Sterbende sie noch sehen
wolle. Nach Pe-kiṅ mochten jene Männer aus Furcht vor der Be-
völkerung nicht kommen; auch behielten sie den Prinzen von Kuṅ,
der in jeder wichtigen Sache der kaiserlichen Genehmigung bedurfte,
in ihrer Hand, und hofften ihn wohl bald zu verderben. Zum Glück
aber waren sowohl die Kaiserin Wittwe als der junge Kaiser und
seine Mutter, welche unter Aufsicht des Prinzen von Kuṅ gelebt
[96]Haltung des Prinzen von Kuṅ. XVI.
hatten, demselben sehr zugethan. Er galt in Pe-kiṅ als recht-
schaffener verständiger Mann, der, allen sonst in den höchsten
Schichten der chinesischen Gesellschaft verbreiteten Lastern fremd,
ein glückliches Familienleben führte; die Bevölkerung schätzte und
liebte ihn. Dieses Bewusstsein und die Einsicht, dass es sich nicht
allein um seine Existenz, sondern um die Herrschaft seines Hauses
handele, mögen ihn veranlasst haben, trotz jenem Erlass nach
Džehol zu gehen. — Denn ganz abgesehen von dem persönlichen
Ehrgeiz der Männer im Regentschaftsrath, welcher das Schlimmste
befürchten liess, konnten ihre politischen Tendenzen nur zum Bruch
mit den fremden Mächten, zu neuem Kriege führen, welchen
die Tsiṅ-Dynastie schwerlich überstanden hätte. Gewiss förderte
die moralische Unterstützung der fremden Diplomaten wesentlich
den Entschluss des Prinzen zur Reise nach Džehol, welche den
Grund legte zur späteren günstigen Entwickelung. Er verliess die
Hauptstadt am 1. September und kehrte am 15. dahin zurück. Sein
jüngerer Bruder, der Prinz von Tšun, reiste entweder damals mit
ihm oder etwas später nach Džehol, und blieb, weitere Maassregeln
vorbereitend, bei den Kaiserinnen und dem Thronerben. Deren
Rückkehr nach Pe-kiṅ zu betreiben, welcher sich die Regentschafts-
räthe mächtig widersetzten, erklärte der Prinz von Kuṅ ganz offen
als den Hauptzweck seiner Reise. Eines der ersten Decrete des
jungen Kaisers, wonach derselbe zu den Exequien seines Vaters
nach der Hauptstadt kommen wollte, war gewiss unter dem Ein-
fluss der Kaiserinnen erlassen. Es erschien schon vor des Prinzen
Abreise in der Zeitung von Pe-kiṅ, bot aber nach dessen Aussage
keine Gewähr der Erfüllung. Wie klug derselbe seine Fäden spann,
hat die Folge bewiesen. Sein sicheres Auftreten liess aber schon
damals den Entschluss vermuthen, mit seinen Gegnern abzurechnen.


Das Frühstück, das die chinesischen Commissare dem Ge-
sandten und seinen Begleitern am 3. September gaben, unterschied
sich in der Qualität kaum von den früheren, dauerte aber drei Stun-
den. Zwei jüngere Mandarinen, welche englisch sprachen, brachten
etwas Leben in die Unterhaltung. Der eine war in den Vereinigten
Staaten
, England und Frankreich gereist, und redete davon mit
Bewunderung. Der andere, im Zollamt für den fremden Handel
[97]XVI. Reise nach Pe-kiṅ beschlossen.
beschäftigt, sprach sehr freimüthig über die verschiedene Art der
Steuererhebung, und gab der hergebrachten inländischen weitaus
den Vorzug. Die chinesischen Zollämter für den inländischen
Handel haben nämlich keine Tarife; die Einkünfte sind verpachtet,
und der Beamte erpresst vom Kaufmann, so viel er irgend kann.
Die Zölle für den ausländischen Handel normirt dagegen ein fester,
den Verträgen angehängter Tarif. Das gefiel dem jungen Manne
nicht: »In english customhouse me get wages, me no can squeeze;
Consul lite Mr. Bluce, Mr. Bluce tell Plince Kung, Plince Kung
my cut off button. No cut off head, but cut off button« — nämlich
den Mandarinenknopf, das Zeichen der Würde. »Chinese custom-
house no get wages; pay empelol, squeeze melchant.« Er erzählte
begeistert, dass Tsuṅ-luen als Zollpächter in Tien-tsin jährlich
nur 100,000 Tael bezahlt, aber 320,000 Tael eingenommen habe;
könne der Beamte nicht zahlen, so werde er eingesteckt und sein
Eigenthum confiscirt.


Gern wäre der Gesandte gleich nach Abschluss des Ver-
trages nach dem Süden von China und weiter nach Siam gegangen;
September ist aber einer der gefährlichsten Monate in den chine-
sischen Meeren, wie uns der Verlust des Frauenlob lehrte; auch
ist das Klima von Hong-kong und Bankok selbst im October
noch so verderblich, dass für die Schiffsmannschaft übele Folgen
zu befürchten waren. Graf Eulenburg beschloss deshalb auf die
Einladungen des russischen und des französischen Gesandten, zu-
nächst Pe-kiṅ zu besuchen. Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau waren
darüber sehr bestürzt, strebten aus allen Kräften die Reise zu hin-
tertreiben, und beschworen endlich den Gesandten seinen Besuch
so einzurichten, dass er keinen amtlichen Charakter trüge. — Nach
chinesischer Etiquette musste Tsuṅ-luen bis zu des Grafen defini-
tiver Abreise in Tien-tsin bleiben; auf dessen lebhafte Vorstellungen
entschloss er sich aber schon in den nächsten Tagen nach Pe-kiṅ
zurückzukehren und dem Prinzen von Kuṅ ein Schreiben zu über-
reichen, in welchem der Gesandte seine Genugthuung über das
vollendete Vertragswerk, seinen Dank für das gezeigte Entgegen-
kommen aussprach, und erklärte, dass Tsuṅ-luen, — der solcher
Entschuldigung zu bedürfen glaubte, — nur auf seine dringende
Bitte Tien-tsin vor ihm verliesse. Seinen Besuch in Pe-kiṅ kün-
digte Graf Eulenburg zugleich in kurzen Worten an, und äusserte
IV. 7
[98]Abschied von den Commissaren. XVI.
die Hoffnung, dem Prinzen dort persönlich seine Hochachtung aus-
drücken zu dürfen.


Am 7. September vor Tagesgrauen weckte uns Feuerlärm: das
anstossende Haus stand in hellen Flammen; wir packten eiligst
unsere Sachen. Vom Dach des von uns bewohnten Hintergebäudes
sah man in den brennenden Hof hinab; es war windstill und die
Feuerwehr arbeitete tapfer. Hunderte von Löschenden wogten in
gelben und blauen Röcken mit weissen Schriftzeichen darauf durch-
einander; manche bedienten die kleinen Spritzen, andere trugen
Wasser, die meisten aber schwenkten unter heftigem Toben und
Springen bunte Fahnen und Laternen; vom Dach aus ein reizendes
Schauspiel, die bunteste Maskerade bei sprühendem Feuerwerk.
In einer Stunde war das Gebäude ausgebrannt und wir gingen
wieder zur Ruhe.


An demselben Tage machte Graf Eulenburg den Commissaren
im Hause Tsuṅ-hau’s seinen Abschiedsbesuch. Das Frühstück war
diesmal erträglich und hätte noch besser gemundet, wenn man nicht
immer in irgend einen Wurm oder eine gebratene Heuschrecke zu
beissen gefürchtet hätte. Der Thee wurde in europäischen Tassen,
sogar mit Theelöffeln servirt, als Zuckerschale diente ein Trinkglas.


[[99]]

XVII.
AUSFLUG NACH PE-KIṄ.

VOM 10. SEPTEMBER BIS 6. OCTOBER.


Der Gesandte und die Attachés Graf Eulenburg, von Brandt,
von Bunsen machten die Reise bis Tuṅ-tšau zu Wasser und
sandten ihre Pferde dahin voraus. Dr. Lucius und Maler Berg
ritten den ganzen Weg. Letztere verliessen Tien-tsin am Morgen
des 11. September, schliefen in Ho-si-wu, und bogen am 12. von
Tšan-kia-wan nach Tuṅ-tšau ab, wo sie Nachmittags eintrafen.
Der Anblick des Landes war ganz anders als im Juni; damals stan-
den die Saaten niedrig, jetzt ragten Durra, Hirse und Ricinus 17)
den Reitern hoch über die Köpfe. Im Tempel Ta-waṅ-miao, der,
in der östlichen Vorstadt von Tuṅ-tšau am Ufer des Pei-ho ge-
legen, den Gesandten auf ihren Reisen nach Pe-kiṅ als Nacht-
quartier zu dienen pflegte, hatte ein chinesischer Diener des Herrn
de Méritens Quartier gemacht. Ein Karren mit den Matratzen
blieb im Schmutz stecken und kam erst gegen zwölf Uhr Nachts,
als die Reisenden längst auf harten Brettern schliefen.


Die Reiseboote auf dem Pei-ho sind klein und flach gebaut;
über der Mitte wölbt sich ein Schutzdach, kaum hoch genug für
Erwachsene um aufrecht darunter zu stehen; ein Stuhl, ein Tisch
und zwei Matratzen haben Platz in dem kajütenartigen Raum, der
vorn und hinten geschlossen werden kann. Drei solcher Boote
nahmen den Gesandten und seine Begleiter auf, eines die Diener-
schaft, die theilweise auch auf zwei anderen als Küche und als
Speisezimmer dienenden Booten hauste. Die Reisenden gingen
7*
[100]Reise auf dem Pei-ho. XVII.
schon am 10. September Abends an Bord, da vor Tagesgrauen ab-
gefahren werden sollte; gegen vier Uhr Morgens fingen die Boots-
leute an zu lärmen, hatten dann aber am Lande noch allerlei Ver-
richtungen; erst um sechs ging es fort. Fast vier Stunden lang
fuhr man zwischen den Vorstädten von Tien-tsin und mehreren
Dörfern hin, welche sie in ungebrochener Häuserreihe fortsetzen.
Hunderte von Fahrzeugen lagen theils im Pei-ho geankert, theils
benutzten sie die einsetzende Fluth zur Fahrt flussaufwärts. Die
grosse hier auf dem Wasser und am Lande wohnende Menschen-
menge giebt der problematisch klingenden Angabe einige Haltung, dass
die Bevölkerung der Provinz Tši-li vierzig Millionen betragen soll.


Eine rechte Erlösung war es, den Dünsten von Tien-tsin
zu entfliehen, einmal aus voller Brust reine Luft zu athmen. Die
Sonne schien hell und klar, friedlich lachte die Landschaft, welcher
Weiden-, Apricosen-, Apfel-, Birn- und Pfirsichbäume und grüne
Felder ein fast heimisches Ansehn gaben, wenn auch Mais. Durra,
Ricinus, die Eierpflanze und andere Gewächse bei näherem Anblick
den südlicheren Himmelsstrich bekunden. Wo Dörfer den Fluss
säumen, kam gewöhnlich die Jugend an das Ufer gelaufen; alle
weiblichen Wesen aber flohen scheu in die Häuser, wenn die »frem-
den Teufel« ausstiegen. Streckenweise ist der Blick durch hohe
Uferdämme beschränkt, über die nur die Wipfel der Bäume ragen.


In der Nähe von Tien-tsin förderte die Fluth mehrere
Stunden lang die Reise; auch höher hinauf erleichterte sie periodisch
die Arbeit der Schiffer. Diese zogen, bald auf dem festen Ufer-
damm, bald bis über die Knie im Schlamm, ja bis an die Brust im
Wasser gehend, je zwei ein Boot am Seil hinauf und arbeiteten,
mit kaum zweistündiger Pause, von fünf Uhr Morgens bis zehn
Uhr Abends bei über 20° Wärme. Ihre ganze Nahrung war ein
Schüsselchen Nudeln und ein Stück Teig, den sie aus Mehl und
Wasser mengten und über flackerndem Rohrfeuer rösteten. Als
Lagerstatt diente ihnen das Verdeck der Boote oder ein Raum
darunter, der auf anderthalb Fuss Höhe kaum fünf im Geviert maass
und durch Planken oben verschlossen wurde, so dass man schwer
begriff, wie dort zwei Menschen nicht stickten. Die Schiffer plau-
derten und scherzten den ganzen Tag bei der schwersten Arbeit
und schienen die glücklichsten Menschen unter der Sonne. Junge
Burschen von vierzehn Jahren zeigten die Kraft und Ausdauer des
vollen Mannes, arbeiteten freudig und unverdrossen.


[101]XVII. Tuṅ-tšau.

Am Abend des 11. September gelangten die Boote nach
Yaṅ-sun, am 12. nach Ho-si-wu. Die dritte Nacht wurde bei
Ma-tau gerastet. Das Gebirge hinter Pe-kiṅ, das schon am 13. Sep-
tember im Nordwesten aufdämmerte, rückte am 14. immer näher.
Nachmittags wurde die Pagode von Tuṅ-tšau sichtbar; die Reisen-
den stiegen aus und trafen, am Ufer wandernd, Dr. Lucius, Maler
Berg und Herrn de Méritens, der aus Pe-kiṅ angekommen war. —
Vor Tuṅ-tšau verengt sich der Fluss; mühsam arbeiteten sich die
Boote durch das Dschunken-Gedränge.


Die Stadt ist reinlicher, dem Aussehn der Gassen nach we-
niger volkreich als Tien-tsin, das Mauerviereck nicht so regel-
mässig und in argem Verfall; an vielen Stellen sind die Zinnen zer-
stört, der Mauerweg eingesunken. Jede Front hat ihr Thor; an
die Eckthürme lehnen malerische Häuser. Das merkwürdigste
Bauwerk ist die dreizehnstöckige Pagode in der nordwestlichen
Ecke der Stadt; der achteckige Unterbau aus grossen Quadern
macht den Eindruck hohen Alters; das Erdgeschoss krönt eine
mächtige Lotosblume, ebenfalls von Quadern, aus welcher der drei-
zehnstöckige Thurm fast ohne Verjüngung emporwächst. Die ge-
drückten Stockwerke, eine Reihe aufeinandergestülpter vorspringen-
der Dächer aus Holz und Ziegeln, haben weder Galerieen noch
Thüren oder Fenster. Die Spitze krönt ein Zierrath aus vielen in
einander verschlungenen Metallreifen, einem Astrolabium ähnlich,
vielleicht eine symbolische Darstellung des Himmels. — Man schreibt
der Pagode hohes Alter zu; ihre Bauart unterscheidet sich wesent-
lich von der der süd- und mittelchinesischen, gleicht dagegen der-
jenigen der Pagoden in Pe-kiṅ und scheint typisch zu sein für den
Norden des Reiches.


Die Umgebung von Tuṅ-tšau ist freundlich: prächtige Baum-
gruppen, bunte Tempel und hübsche steinerne Brücken spiegeln
sich in künstlichen Wasserbecken, welche der von Pe-kiṅ herab-
fliessende Canal speist. Leider begann es am Abend des 14. Sep-
tember zu regnen; am folgenden Morgen waren die Wege durch-
weicht. Gegen acht gelang es, die Karren mit dem Gepäck in
Marsch zu setzen; bald darauf empfing der Gesandte die Spitzen
der Behörden, die sich zur Begrüssung einfanden, und brach dann
zu Pferde nach Pe-kiṅ auf. Der Himmel hing voll schwerer Regen-
wolken, die Luft war dick und feucht, doch sprühten nur leichte
Schauer auf uns herab.


[102]Pa-li-kao. XVII.

Erst verfolgten wir die gepflasterte Hauptstrasse und er-
reichten nach halbstündigem Ritt die Brücke von Pa-lik-ao, nach
welcher die Schlacht vom 21. September 1860 benannt wurde, ein
stattliches Bauwerk von weissem Marmor. Die Truppen der Alliir-
ten müssen hier arg gehaust haben: ein armer Landmann erzählte
Herrn de Méritens, französische Soldaten hätten seine ganze Fa-
milie umgebracht. — Wir holten bei der Brücke Tsuṅ-luen ein,
der kurz vor dem Gesandten in Tuṅ-tšau eintraf und die Reise
bis zum Thor der Hauptstadt in seiner Sänfte fortsetzte, dann aber
einen Karren besteigen wollte; denn nur Personen aus der kaiser-
lichen Familie dürften sich in Pe-kiṅ der Sänften bedienen. —
Herr de Méritens führte den Gesandten zu einem abseits der Strasse
gelegenen Familiengrab: eine Brücke von weissem Marmor, die,
wohl symbolisch, bei solchen Anlagen auch wo der Boden ganz
trocken ist niemals fehlt, bildet den Zugang; dann folgen zu beiden
Seiten in regelmässigen Abständen von etwa funfzehn Fuss zuerst
mehrere Säulen, dann riesige Schildkröten mit Löwenköpfen, auf
dem Rücken verzierte Pfeiler mit Inschriften tragend, dann ein
schönes Portal, das Alles aus weissem Marmor. Bäume stehen auf
beiden Seiten dieses Ganges, der zu einem von dichten Wipfeln
beschatteten Rasenplatz führt. Jenseit mündet das Thor des
mauerumschlossenen Hofes, wo unter dunkelen Kiefern fünf backofen-
artige roth gestrichene Gräber schmucklos auf grünem Moosteppich
ruhen. Das Ganze ist gut gehalten, der Eindruck ernst und feier-
lich, nicht trübe. Aehnliche Familiengräber, bei denen oft Widder-,
Pferde-, Löwen- und Menschenbilder den Zugang bewachen, giebt
es bei Pe-kiṅ viele.


Bei der Brücke von Pa-lik-ao verliessen wir die grosse
Strasse und folgten auf Feldwegen dem Südufer des Canales, der
von Pe-kiṅ her starkes Gefälle hat; mehrere Schleusen auf dieser
Strecke waren beim Anmarsch des Barbarenheeres 1860 vermauert
worden, so dass Boote in kurzen Zwischenräumen umgeladen wer-
den mussten. Dörfer und Tempel säumen die gartenartig angebauten
buschigen Ufer. Ein thurmartiger Thorbau tauchte schon auf weite
Entfernung vor uns auf; gegen zwölf ritten wir durch das nord-
östliche Eckthor der Chinesenstadt ein, dann innerhalb unter der
Südmauer der Tartarenstadt hin bis zu deren östlichem Thore
Hata-men, in welches wir einbogen. Gleich links von der dort
mündenden Hauptstrasse liegt an einer Nebengasse der französische
[103]XVII. Die französische Legation.
Yamum Tsiṅ-kuṅ-fu, wo der Gesandte, die Attachés Graf Eulen-
burg
, von Brandt und der Maler Berg abstiegen, während der
Attaché von Bunsen und Dr. Lucius in der wenige hundert Schritt
weiter in derselben Strasse gelegenen russischen Gesandtschaft
gastliche Aufnahme fanden. Der Weg dahin führt über den Korn-
canal, der mit dem unter der Südmauer der Tartarenstadt hinlaufenden
Graben und durch diesen mit dem nach Tuṅ-tšau führenden Canal
verbunden, aber ohne Wasser ist. Eine Strecke weiter nördlich
liegt am Korncanal die englische Legation, fast in gleicher Ent-
fernung von der französischen und der russischen.


Die Hauptgebäude der französischen Legation, welche die
Wohnräume des Gesandten und einige Fremdenzimmer enthielten,
umgeben zwei grosse durch einen Querbau getrennte Höfe. Die
Secretäre und Dolmetscher wohnten in abgesonderten Häuschen
und Pavillons, die in dem weiten Garten zerstreut liegen. Herr
und Frau von Bourboulon hatten sich ganz europäisch eingerichtet;
im Salon erinnerten nur einige seltene Erzeugnisse des Kunstfleisses
an China; die zwanglose anregende Geselligkeit verwischte beson-
ders Abends den Eindruck der Fremde. Am Tage unserer Ankunft
kamen Herr Bruce, Herr Wade, und ein der englischen Gesandt-
schaft attachirter geistvoller Arzt, Dr. Rennie, zum späten Mittags-
mahl; zum Thee erschienen auch der russische Minister-Resident,
Herr von Balluzek und seine Gemahlin; so verfloss schon der erste
Abend im unbefangenen, belebenden Austausch der Gedanken,
welcher, die beste Würze des civilisirten Lebens, in der Fremde so
schwer entbehrt wird. Frau von Bourboulon, eine Schottin aus
dem Hochland, hatte lange in Nordamerica, Mexico und Spanien
gelebt; sie verband seltene gesellige Begabung mit musikalischem
Talent. Oberst von Balluzek und seine Gattin liebten deutsche
Musik, und übten sie mit Geschmack und Fertigkeit. Herr Bruce,
Herr Wade und andere Mitglieder der englischen Gesandtschaft
hatten in China ereignissreiche Jahre verlebt; so sprudelten ringsum
ergiebige Quellen der Unterhaltung.


Morgens um sechs waren wir meist im Sattel und machten,
geführt von Herrn und Frau von Bourboulon, Ausflüge durch die
ungeheure Stadt oder ihre nächste Umgebung, denen sich Mitglieder
der anderen Gesandtschaften anzuschliessen pflegten. Gegen zehn
kehrte man hungrig zurück; nach dem gemeinsamen Frühstück ging
[104]Die russische Legation. XVII.
Jeder an seine Beschäftigung. Der Abend pflegte den grössten
Theil der diplomatischen Gesellschaft im Salon der Frau von Bour-
boulon
zu vereinigen. So wurden die Tage in Pe-kiṅ, begünstigt
von Wetter und Jahreszeit, voll reicher fremdartiger Eindrücke, ge-
würzt durch die angenehmste Geselligkeit, eine rechte Erquickung
nach den Qualen von Tien-tsin.


Herr von Balluzek wohnte, obwohl der Archimandrit und
alle russischen Geistlichen nach dem im Norden der Tartarenstadt
gelegenen Missionshause übergesiedelt waren, in seinen auf mehrere
kleine Gebäude vertheilten Räumen recht beschränkt; ein grösseres
Haus europäischer Bauart sollte im schattigen Garten aufgeführt
werden. Glänzend war dagegen die Einrichtung der englischen
Gesandtschaft. Wie alle chinesischen Anlagen dieser Art zeichnet
sich auch der von Kaiser Kia-kiṅ erbaute Palast des Prinzen von
Liaṅ, welcher ein Staatsamt in der Provinz bekleidete, mehr durch
Breiten- als durch Höhen-Dimensionen aus, denn alle Hauptgebäude
sind einstöckig. Durch Gassen und Gänge geschieden gruppiren
sie sich um mehrere grosse Höfe und bilden mit den Nebengebäu-
den und Dependenzen ein ganzes Stadtviertel. Herr Bruce über-
nahm das »Fu« im Zustande argen Verfalles, voll Schmutz und
faustdickem Staub, unter welchem die reiche Ornamentik sich kaum
ahnen liess, beschränkte sich auf deren sorgfältige Restaurirung
und passte die innere Einrichtung, soweit europäisches Bedürfniss
erlaubt, dem chinesischen Geschmack an. So gab allein der Palast
der englischen Gesandtschaft in Pe-kiṅ einen Begriff von der
Pracht, dem Reichthum und Geschmack einer unlängst vergangenen
Blüthezeit; alle anderen öffentlichen Gebäude, die wir sahen, waren
zu verwittert, beschmutzt und verfallen, um die alte Herrlichkeit
errathen zu lassen, und wirkten nur noch durch imposante Raum-
vertheilung.


Nach der Strasse verräth kein Zeichen den Palast. Durch
die schlichteste Pforte tritt man in einen Vorhof mit Ställen und
Schuppen; die Seite rechts vom Eingang schliesst ein einstöckiges
Gebäude von grossen Verhältnissen ab, zu dessen erhöhtem Estrich
eine Treppe hinanführt. Colossale steinerne Löwenthiere mit grim-
mig verzerrtem Antlitz bewachen den Aufgang. Die Stufen sind
aus Quadern, den Maassen des Hauses gemäss von unbequemer
Höhe und Breite. Das schwere geschwungene Ziegeldach stützen
ringsum roth lackirte Säulen von Holz, eine schattige Veranda
[105]XVII. Die englische Legation.
bildend. Das Innere ist ein einziger weiter Saal mit mächtigen
Flügelthoren in der Mitte der beiden langen Seiten; der kaiserliche
Drachen schmückt hundertfach wiederholt die bunte Täfelung der
Decke. Die Engländer bestimmten diesen Raum zum Ballspiel und
körperlichen Uebungen und liessen ihn in seinem alten Zustande.
Zum zweiten mit Quadern belegten Hof steigt man wieder mehrere
Stufen hinab: rechts und links stehen zweistöckige Gebäude, gegen-
über ein dem ersten ganz ähnliches Haus auf steinernem Sockel.
Das Innere bildet wieder eine mächtige Halle mit gegenüberliegen-
den Flügelthoren; es diente den Mitgliedern der Legation als Lese-
und Billard-Saal; der Raum zwischen den Thüren war frei; rechts
standen bequeme Divans und Sessel, Tische mit Büchern und Zei-
tungen, links das grosse Billard. Der dritte Hof, zu welchem man
von da hinabsteigt, ist viel grösser als die ersten; auf den kürzeren
Seiten rechts und links stehen wieder zweistöckige Häuser, nicht
höher als jene einstöckigen, dem Billardsaal gegenüber das Haupt-
gebäude der ganzen Anlage, zu dessen Breite eine Treppenflucht
aus Quadern hinanführt. Es ist in drei Räume abgetheilt: ein
Empfangzimmer in der Mitte, links das grosse Speisezimmer, rechts
der Salon des Gesandten. Auf vier Fuss Höhe sind hier die
Wände boisirt, darüber bis zur Decke mit gitterartig durchbroche-
nem Schnitzwerk belegt, und zwar im Salon auf hellrother, im Ess-
zimmer auf strohgelber Unterlage. Die einfachen Möbel stören
nicht die Wirkung der chinesischen Decoration; das lebensgrosse
Bildniss der Königin Victoria erscheint fast winzig, so gewaltig ist
die Höhe der schönen Räume. Den Boden decken feine Matten;
der bunte und reich vergoldete Plafond wirkt in der Höhe durch-
aus harmonisch, und der dunkelbraune Ton des Holzwerks giebt
dem Ganzen bei aller echten Pracht und Kostbarkeit einen Anstrich
behaglicher Wärme. Nicht wenig trägt das milde durch reich
vergitterte Papierfenster einströmende Licht zum wohnlichen Ein-
druck bei.


Das früher beschriebene Mattendach gab dem grossen Hofe
das Ansehn eines mächtigen Zeltes; um Licht und Luft einzulassen
konnte man die Matten durch Seile nach Bedürfniss aufrollen; es
war dort immer kühl und dämmerig. Aus dem Boden hatte Herr
Bruce einen Theil der Quadern ausheben und den gewonnenen
Raum mit feinem Rasen belegen lassen, auf welchem blühende
Sträucher grünten. Alle diesen Hof umschliessenden Gebäude waren
[106]Die Tartarenstadt. XVII.
auch äusserlich erneut, die Wände und Säulen mit glänzendem rothen
Gypsstuck überzogen, das reiche Schnitzwerk der Gesimse und
Balkenköpfe in Gold und leuchtenden Farben gemalt, wie sie einst
gewesen. Der Blick vom Eingang des Hauptgebäudes über den
grünen Prachthof, durch die offenstehenden Flügelthore der beiden
Hallen in die vorderen Höfe bot eine imposante Perspective von
malerischer Wirkung. An das Hauptgebäude stossen zwei Flügel
von geringerer Höhe; der zur Rechten enthielt das Schlaf- und das
Arbeitszimmer des Gesandten, der zur Linken die Kanzlei. Der
Secretär und mehrere Attachés bewohnten die Häuser an den
schmalen Seiten des grünen Hofes. — Durch eine enge Gasse von
diesem Complex getrennt liegen dahinter mehrere andere Höfe, in
deren weitläufigen Baulichkeiten Herr Wade mit drei Dolmetschern
und neun »Student interpreters« hauste. Andere junge Leute, die
sich zu Dolmetschern ausbilden wollten, wurden aus England
erwartet.


Die Gesandtschaften liegen im Süden der tartarischen »In-
neren« Stadt, Nei-tšen, einem quadratischen Rechteck, dessen
Ringmauer auf drei Seiten schnurgrade läuft und nur an der west-
lichen Ecke der Nordseite etwas nach innen gekrümmt ist. Hier
dehnt sich der um die ganze Stadt fliessende Graben zu einem
weiteren Becken aus, das mit den Seen von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ in
Verbindung steht und durch eine gewölbte Oeffnung in der Nord-
mauer die Teiche, Seen und Canäle im Inneren der Stadt speist;
diese fliessen nach dem Graben vor der Südmauer der Tartaren-
stadt
ab, welcher, wie gesagt, an deren südöstlicher Ecke in den
nach Tuṅ-tšau führenden Canal geleitet ist. Die Seen von Yuaṅ-
miṅ-yuaṅ
speist das nahe Gebirge; so muss Pe-kiṅ, so lange die
Leitung geregelt war, beständig klares fliessendes Wasser gehabt
haben, das durch jenen Canal in den Pei-ho ablief. Jetzt waren
die Schleusen zerstört, die Rinnen verstopft, Abfluss und Zufluss
fast ganz unterbrochen. Die Stadtgräben und Canäle lagen grossen-
theils trocken; nur an tieferen Stellen ihres Bettes stand etwas
Wasser. Die Teiche und Seen im Norden der Tartarenstadt er-
hielten noch einige Nahrung aus dem Stadtgraben, waren aber
trotzdem versumpft und mit wuchernden Wasserpflanzen fast zu-
gedeckt. Der ganze Zustand der Wasserläufe machte den Eindruck
einer Vernachlässigung, die viele Jahre, nicht erst seit dem Herbst
[107]XVII. Die Chinesenstadt.
1860 gedauert hatte, und stimmte zur Verkommenheit alles Uebrigen.
Wurden jene Canalschleusen zwischen Pe-kiṅ und Tuṅ-tšau wirk-
lich zur Abwehr der Alliirten vermauert, so förderte das vielleicht,
verursachte aber gewiss nicht den Verfall der Leitung.


In der östlichen, nördlichen und westlichen Mauer der Tar-
tarenstadt
liegen je zwei befestigte Thore; durch die Südmauer
führen deren drei in die chinesische »Aeussere« Stadt, Kuei-tšen.
Ein dem Mittelthor der Südfront entsprechendes grosses Doppel-
gebäude in der Nordmauer dient sonderbar genug nur zu Auf-
bewahrung einer grossen Glocke und einer riesigen Trommel. —
Die chinesische Stadt bildet ein Rechteck, dessen nordsüdliche
Ausdehnung über die Hälfte kleiner ist, als die westöstliche; in
letzterer Richtung ist sie gegen 3000 Fuss breiter als die Tartaren-
stadt
. Ihre Mauern laufen streckenweise in leicht gekrümmten
Linien und haben auf der Ost- und der West-Seite je ein, auf der
Südseite drei Thore. Ausserdem liegen in den über die Südfront
der Tartarenstadt auf jeder Seite hinausspringenden Mauerstücken
Thore, welche von deren mächtigen Eckthürmen beherrscht werden.
Die Ringmauer der Tartarenstadt hat je nach den Unebenheiten
des Bodens eine Höhe von 45 bis 60 Fuss; sie besteht aus zwei
gegeneinander geneigten Wänden, zwischen welchen Erde und un-
gelöschter Kalk übereinander geschichtet sind. Ihre Dicke ist ver-
schieden: beim Thore Hatamen misst die Südmauer an ihrer Basis
über 80 Fuss, der Mauergang zwischen dem äusseren Zinnenkranz
und der inneren Brustwehr, 48 Fuss; diese Esplanade ist auf der
Nordmauer 50 bis 60 Fuss, auf der Ostmauer 42, auf der West-
mauer 30 Fuss breit. Nach aussen springen in regelmässigen Inter-
vallen Bastionen vor, die auf der Nordseite die Breite der Espla-
nade stellenweise um 45 Fuss, also auf 105 Fuss, vermehren. —
Der Umfang der Tartarenstadt beträgt etwa 3⅓ deutsche Meilen;
die Mauern, welche die Chinesenstadt nach aussen begrenzen, sind
fast zwei Meilen lang; so umschliessen über fünf deutsche Meilen
Ringmauer die Doppelstadt.


Der Mauergang der Tartarenstadt ist leicht nach dem In-
neren der Stadt geneigt und mit Backstein gepflastert; bei den Eck-
thürmen und den Thoren führen bequeme Rampen hinauf. Die Eck-
thürme sind mächtige Bauten mit einer breiten Façade in jeder
Mauerfront, und gleichen sonst den äusseren Thorgebäuden. Die
Thore sind nämlich doppelt: das innere Gebäude fusst auf der
[108]Stadtthore. XVII.
Ringmauer und überragt dieselbe um drei Stockwerke mit hölzernen
Galerieen unter vorspringenden Dächern. Davor liegt ein halb-
kreisförmiger oder viereckiger mauerumschlossener Hof, in welchen
man durch den äusseren festungsartigen Thorbau gelangt: auf massi-
vem bis zur Höhe der Ringmauer ragendem Unterbau aus Quadern
erheben sich zunächst drei Stockwerke aus Backstein mit je zwölf
Schiessscharten in der Hauptfront und vier auf den die Mauer flan-
kirenden schmalen Seiten. Ueber dem dritten Stockwerk läuft ein
Dach um das Gebäude, und darüber steht eine vierte Etage mit der
gleichen Anzahl Scharten. Der schwere Dachstuhl beider Thor-
gebäude ist mit grünen und gelben glasirten Ziegeln bekleidet; die
Ecken der Hauptfirst schmücken aufgerollte Drachenschwänze, die
herablaufenden Dachkanten groteske Thiergestalten. Die Schiess-
scharten sind durch Bretterläden geschlossen, auf denen gemalte
Kanonenlöcher prangen; für wirkliches Geschütz soll das tragende
Gebälk zu morsch sein. Die äusseren Thorbauten haben Mandschu-
Inschriften und ein neueres Aussehn als die inneren und die von
Yoṅ-lo, dem dritten Kaiser des Miṅ-Hauses 1403 erbauten Ring-
mauern. Dieser verlegte den Sitz der Regierung von Nan-kiṅ
dem südlichen Hof — nach der alten Mongolenresidenz Tšan-
tien
und nannte sie Pe-kiṅ, — den nördlichen Hof. Nur der Sockel
der Mauern besteht aus Quadern, alles Uebrige aus gelbgrauen,
scheinbar nur an der Luft getrockneten Backsteinen, die in den
unteren Schichten mehrere Fuss lang und wenig verwittert sind.
Bei einiger Sorgfalt hielten die Mauern wohl noch Jahrhunderte;
sie dienen aber den Nachbarn als Steinbruch, und die Behörden
hindern kaum die Verschleppung. Zahlreiche dem inneren Sockel
angeklebte Hütten verrathen deutlich diesen Ursprung; die Gelegen-
heit ist zu bequem, um nicht reichlich benutzt zu werden.


Das Mittelthor in der Südmauer der Tartarenstadt heisst
Tien-men, Himmelsthor. Wie bei allen Südthoren dient als ge-
wöhnlicher Eingang eine seitliche Pforte des Vorhofes. Einmal
jährlich aber wird das grosse Flügelthor für den Kaiser geöffnet,
der sich zur feierlichen Verrichtung des Pflügens nach dem in der
chinesischen Stadt gelegenen Tempel des Ackerbaues begiebt. Die
Mauern und Thore dieser »Aeusseren« Stadt sind schlechter und
niedriger als die der tartarischen; sie wurden 1544 erbaut, um die
Tempel des Himmels und des Ackerbaues und die in der Vorstadt
angesiedelten Kaufleute gegen Angriffe räuberischer Horden zu
[109]XVII. Die Gelbe und die Rothe Stadt.
sichern. Die Mauern sind 20 Fuss hoch, auf dem Wallgang
14 Fuss breit.


Innerhalb der tartarischen bildet die kaiserliche oder »Gelbe«
Stadt
, Huaṅ-tsen, wieder ein mauerumschlossenes nach Norden län-
geres Reckteck. Ihre grössere westliche Hälfte füllen kaiserliche
Gärten aus, ein langgestrecktes Becken, das »Meer der Mitte« ein-
fassend, über welches eine prächtige Marmorbrücke führt. Die
östliche Hälfte enthält zusammenhängende Strassen mit vielen Tem-
peln und öffentlichen Gebäuden. Im Norden liegt, von Parkanlagen
bedeckt, der etwa 240 Fuss hohe »Kohlenhügel«, 18) der höchste
Punct von Pe-kiṅ, genau im Meridian des Himmelsthores Tien-
men,
von welchem eine breite Steinbahn auf das Südthor der Gel-
ben
und weiter auf das Südthor der Rothen, Verbotenen Stadt,
Huaṅ-tšan-ti-koṅ, führt. Letztere bildet, ein längliches Rechteck,
den Kern der Gelben Stadt und erstreckt sich nach Norden fast
bis zum Fuss des Kohlenhügels, von welchem sie der ihre Ring-
mauer bespülende Wassergraben trennt. Sowohl die Gelbe als
die Rothe Stadt haben je ein Thor nach jeder Himmelsrichtung.
Die Rothe»Verbotene« Stadt enthält, in weiten buschigen Gärten
versteckt, den kaiserlichen Palast mit zahlreichen Tempeln und
Hallen. Ihre Grundfläche soll 80, die der Gelben Stadt 606 Hectaren
betragen. — So ist die ganze Anlage der »Inneren Stadt« mit ge-
ringen Anomalieen symmetrisch: in der westlichen Hälfte der Gelben
Stadt
ist die südliche Ecke rechtwinklig ausgeschnitten. Die Rothe
Stadt
liegt innerhalb der Gelben, letztere innerhalb der Tartaren-
stadt
nach Süden gedrängt. Nach dieser Himmelsgegend blickt
gewissermaassen ganz Pe-kiṅ, blicken die Hauptfaçaden der darin
eingeschachtelten Städte und des kaiserlichen Palastes im innersten
Kern. Trotz der verschiedensten Form und Lage der Grundstücke
sind auch die Paläste der englischen und der französischen Gesandt-
schaft sowie sämmtliche Tempel, die wir sahen, und wahrschein-
lich alle Anlagen von Bedeutung in ihrer baulichen Disposition mit
dem Gesicht nach Süden gewendet, was dem Ganzen etwas orga-
nisches giebt.


Durch das mittelste Südthor der Chinesenstadt tritt man
in eine breite Strasse, welche schnurgrade nach Norden laufend
auf das Himmelsthor Tien-men stösst. In der Mitte ist sie zu
[110]Strasse der Chinesenstadt. XVII.
einem breiten, mit Steinplatten belegten Damm erhöht; zu beiden
Seiten der Strasse stehen an ihrer südlichen Hälfte endlose ein-
förmige Mauern, die Tempelgründe des Himmels und des Acker-
baues abgrenzend. Der räumliche Eindruck der langen Linien ist
imposant.19) Die Strasse weiter verfolgend überschreitet man auf
verfallener Marmor-Brücke einen trockenen Graben und gelangt in
den belebtesten Theil der chinesischen Stadt. Der erhöhte Stein-
damm setzt sich, von Budenreihen gesäumt, in der Mitte fort; zu
beiden Seiten läuft ein ungepflasterter Weg, den Buden gegenüber
von Häuserreihen begrenzt. So ist die Strasse dreifach; die seit-
lichen Gassen gleichen, hier und da zeltartig mit Matten verhängt,
einem Bazar, denn jedes Haus ist ein Kaufladen. Durch ein fünf-
faches hölzernes Portal mündet sie auf eine durch Geländer in drei
Bahnen getheilte Marmorbrücke; die beiden äusseren dienen dem
Verkehr, die mittlere breiteste Bahn als Halteplatz für Droschken;
sie fasst bequem zwei Reihen jener schmucken Maulthier-Karren,
die, in munterem Trabe durch das Gewühl klappernd, alle Strassen
von Pe-kiṅ beleben. Bei aller Einfachheit hat dieses Fuhrwerk
eine gewisse grossstädtische Eleganz; das Holzwerk ist sauber ge-
glättet, oft mit blankem Messing beschlagen, das Dach aus leich-
tem Gitterwerk mit blauem Baumwollenstoff bezogen, dessen Rän-
der ausgezackt und schwarz eingefasst sind; über das glatte Maul-
thier breitet sich ein blaues Sonnensegel.


Neben den Droschken beleben auch Packpferde, Esel und
Maulthiere, den Kram der Landleute zu Markte bringend, die
Strassen von Pe-kiṅ; lange Züge zweihöckriger Kameele wanken
in gemessenem Tritt durch das Gewühl. Sie dienen theils zum
Schleppen von Baumaterial und anderen schweren Lasten, theils
kommen sie, geritten von wilden malerischen Gestalten, mit Waaren
aus der Mongolei. Auffallendes Costüm sieht man wenig; die Männer
kleiden sich einfach in blaue oder gebrochene Farben; nur Frauen
und Kinder gehn zuweilen in gestickten Seidengewändern, die Frauen
larvenartig geschminkt. Man sieht deren überhaupt wenige auf den
Strassen; Frauen von Stand verlassen ihr Haus nur in geschlossener
Sänfte. Sehr vortheilhaft stechen die Tartarenfrauen durch un-
verkümmerte Füsse von den Chinesinnen ab, nicht allein im Gang,
sondern in der ganzen Gestalt und den Gesichtszügen, auf deren
[111]XVII. Strassenleben.
Entwickelung jene Unsitte nachtheiligen Einfluss üben muss. Die
Tartarinnen haben einen freien, hübschen Ausdruck, volle, gesunde,
zuweilen schöne Züge und kräftige Gestalten. Die Männer zu unter-
scheiden ist schwieriger; wahrscheinlich haben sich beide Stämme
in Pe-kiṅ stark vermischt; im Costüm ist kein Unterschied, da ja
der Chinese die Tracht der Sieger annehmen musste.


Das Strassenleben ist bunt genug. Hier drängt sich die
Menge um einen verkommenen Literaten, der, in den Prüfungen
durchgefallen, sein Brod durch Vorlesen und Erzählen erntet: mit
prächtigem Pathos trägt er, durch alle Tonarten gurgelnd und
flötend, das Werk eines Classikers vor, und sammelt in den Pausen,
die Grossmuth seiner Zuhörer durch salbungsvolle Sprüche weckend,
milde Gaben ein. Dort schreit ein ambulanter Koch, dessen ganze
Küche mit Feuerstelle, Kesseln und Pfannen auf einem Schiebkarren
eingerichtet ist, mit zuversichtlicher Miene seine wohlfeile Mahlzeit
aus: den wunderbarsten Thee, weisheitgebende Wassermelonen,
muthbringenden Schnaps, Fische und Kuchen in Fett gebacken.
Räudige Hunde und kahle Schweine drängen sich, ihr Theil an der
Mahlzeit heischend, ohne Scheu zwischen die Beine der Schmau-
senden, und erhalten nur bei allzugrosser Frechheit einen Fusstritt,
vor dem sie heulend davon rennen. — Nah dabei hat ein wandern-
der Schmied seinen Herd aufgestellt: mit einem Fusse tritt er den
Blasebalg, die Hände sind mit Hammer und Zange emsig. Hier
kommt ein Barbier durch das Gedränge, ein Tragholz über die
Schulter, an welchem hinten ein Gestell mit Becken, Kessel und
Handtuch, vorn ein Schemel und ein kleines Gong hängen, dessen
Klingklang die Kunden lockt. Im dichten Gewühl geht er an die
Arbeit, packt sein Opfer am Zopf, reibt den Schädel mit heissem
Wasser ein und säbelt mit ungeschlachtem Messer ohne Er-
barmen auf Haupt und Wangen herum. Sehr zart hantirt dagegen
der fussheilende Aesculap, der mit Salben und Pflastern der Leiden-
den harrend im ruhigen Winkel sitzt. Wo der Haufen sich drängt,
findet man entweder einen Geldwechsler hinter Tischen mit
Münze, oder ein Kasperle-Theater, aufs Haar dem unseren gleichend;
da zeigt sich recht deutlich, wie abgesehen von Sprache, Kostüm
und anderen conventionellen Aeusserlichkeiten das tägliche Leben
aller Völker sich gleicht, wie die menschliche Natur überall die-
selben Wege geht, dieselben Schmerzen des beschränkten Daseins
leidet und dieselbe Heilkraft des Humors besitzt. — Auch
[112]Kinderspiele. XVII.
Jongleure und Taschenspieler, deren tolle Geschicklichkeit oft
Grauen und Ekel erregen, zeigen sich auf den Strassen: das Ver-
schlucken von Nähnadeln, die nachher auf einen Faden gereiht
durch die Nase wieder zum Vorschein kommen, soll ein gefähr-
liches Kunststück sein, an welchem Mancher zu Grunde geht; ganz
harmlos ist dagegen das beliebte Köpfen, bei welchem das breite
Schwert im Nacken des Schlachtopfers stecken bleibt und ein
Blutstrom aus der scheinbaren Wunde quillt. — In der Seitengasse
vergnügt sich ein Kreis erwachsener Männer mit dem Federball,
den sie mit den Füssen durch die Luft jagen und mit unfehlbarer
Geschicklichkeit oft Viertelstunden lang fliegend erhalten. Wo es
still ist in Pe-kiṅ hört man vom Himmel herab ein sonderbar har-
monisches sanftes Pfeifen: das sind Schwärme von Tauben, denen
die Pekinger, — vielleicht um Raubvögel abzuschrecken, — kleine
Pfeifen unter den Schwanz binden, welche beim Fluge beständig
tönen.


Zerlumpte blinde Bettler ziehen, einen sehenden an der
Spitze, truppweise im Gänsemarsch durch die Strassen, die eine
Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt, in der anderen
den Stab haltend. Dort kauert ein Schuhflicker mit ambulanter
Werkstatt, hier ein Wahrsager mit kabalistischem Apparat; daneben
räumen schmutzige Kerle den geheimen Inhalt einer besonderen
Art Strohhütte aus, deren Dasein die Nase in allen Strassen ahnt.
In schattigem Winkel lagert ein Haufen Bettler, leidenschaftlich in
die Karten vertieft; ein Trödler hat seinen ganzen Kram von Thee-
kannen, Pfeifen und buntem Allerlei auf der Erde ausgebreitet.
Höker mit Leckereien sitzen an jeder Ecke, ein Glücksspiel vor
sich, auf welches selbst das naschende Kind seinen Heller setzt;
denn der kleine Chinese äfft alle Leidenschaften des grossen nach.
Auch Pfandleihe ist ein Lieblingsspiel: mit mächtiger Brille auf der
Nase entwickelt der kleine Verleiher unglaublichen Aplomb in ge-
ringschätziger Behandlung der von den Spielgefährten gereichten
Pfänder. Im bürgerlichen Leben des Chinesen hat nämlich die
Pfandleihe als einzige Art von Creditanstalt hohe Wichtigkeit: 1860
fanden die englischen Truppen in den Leihämtern grosse Schätze
aufgehäuft; aller Orten sind sie kenntlich an dem vor dem Hause
aufgestellten Pfosten mit einem Drachenkopf auf halber Höhe. —
Ein anderes Lieblingsspiel ist das Köpfen, das viele Kinder aus
eigener Anschauung kennen und sehr geschickt nachzuahmen wissen.
[113]XVII. Märkte.
Die grausame oft in Schadenfreude ausartende Indifferenz des Chi-
nesen gehört zu seinen hässlichsten Zügen. Gewohnheit mag ihr
Mitgefühl abstumpfen, denn Todesstrafen werden beständig auf
den belebtesten Plätzen, oft in grosser Anzahl vollzogen. Aber
beide Thatsachen, das brutale Hinschlachten wie die Gleichgültig-
keit der Zuschauer bekunden doch die Rohheit der chinesischen
Cultur. — Mitglieder der französischen Gesandtschaft kamen eines
Morgens spazierenreitend auf einen Marktplatz der Chinesenstadt
und gewahrten, an hohem Gerüst in Käfigen aufgehängt, über funf-
zig blutige Häupter von Verbrechern, die den Tag zuvor dort hin-
gerichtet waren. Einige Tage später war die Luft ringsum ver-
pestet; viele Käfige hatte der Wind zerbrochen, manche Köpfe hin-
gen an den Zöpfen herunter, andere lagen am Boden: — trotzdem
nahm der Markt seinen ruhigen Fortgang; man feilschte, schalt und
lachte; die grässliche Nähe schien Niemand zu stören.


Auf diesen Märkten, die gewöhnlich an der Kreuzung zweier
Hauptstrassen abgehalten werden, lässt sich die Landbevölkerung
der Umgebung beobachten, stämmige Gestalten mit breitrandigem
Strohhut, deren gebräunte Haut angenehm gegen die fahlen Stadt-
gesichter absticht. Bauern und Bäuerinnen sitzen, ihr Pfeifchen
rauchend, auf Holzschemeln oder Matten, vor sich mannshohe
Haufen von Kohlköpfen, Zwiebeln und anderen Gemüsen, auch
allerlei Fleisch und Wildpret. Alte steife Maulthiere und struppige
Esel, welche die Waaren zu Markte schleppten, treiben sich unge-
fesselt dazwischen herum und suchen ein Maul voll Grünes zu
stehlen.


Der rege Verkehr beschränkt sich in Pe-kiṅ ganz auf die
Hauptstrassen. Die Chinesenstadt hat deren nur drei von Süden
nach Norden laufende und eine dieselben kreuzende, welche das
östliche Thor mit dem westlichen verbindet. Besonders in der
mittelsten auf das Himmelsthor mündenden Strasse drängt sich früh
und spät eine bunte emsige Menge; das ameisengleiche Treiben macht
durchaus den Eindruck grossstädtischen commerciellen Lebens. In
der That soll der Grosshandel von Pe-kiṅ seinen Sitz vorzüglich
in der Chinesenstadt haben, wenn auch deren Kaufläden hinter
vielen der Tartarenstadt an Eleganz weit zurückstehen. Die meisten
Häuser jener dreifachen Strasse sind dunkel, schmutzig und ver-
fallen, der Reichthum liegt hier nicht zu Tage; nur an ihrem nördlichen
Ende sieht man Façaden mit hohen Säulen und goldenem Schnitzwerk.
IV. 8
[114]Hauptstrasse der Chinesenstadt. XVII.
Jenseit der Marmorbrücke theilt sich die Strasse in zwei Arme, die halb-
kreisförmig den Vorhof des Himmelsthores umfassen: eine Buden-
reihe am Sockel der Mauer wetteifert in prachtvoller Ausstattung
mit den gegenüberliegenden Läden; hier wirkt die Fülle des bunten
phantastischen Zierraths fast verwirrend, aber in seiner willkür-
lichen Anordnung höchst malerisch, In dieser Gegend wohnen die
vornehmsten Trödler, bei welchen manches Prachtstück zu finden
war: Schnitzereien in Holz und Bambus, in Jade, Serpentin, Cor-
nalin und Bergkrystall, Arbeiten von Lack, Bronce, Email und Por-
celan. Vieles stammte aus Yuaṅ-miṅ-yuaṅ, wo chinesische Diebe
die reichste Nachlese hielten. Die Preise waren höher als in Tien
tsin
,
besonders für Raritäten; für eine Schüssel aus der Miṅ-Zeit,
etwa anderthalb Fuss im Durchmesser, auf welcher nur ein Baum-
zweig gemalt war, forderte man 120 Dollars. Es giebt eben in
China sammelnde Liebhaber wie bei uns; zudem verlangten die
Händler immer weit höhere Preise als sie nehmen wollten. Die
Engländer von der Gesandtschaft pflegten nur ein Viertel oder ein
Drittel des Geforderten zu bieten und selten die Hälfte zu zahlen.
Sie hatten aber selbst durch diese Art zu feilschen die Händler
zu übermässigem Fordern getrieben, und gestanden, dass in Läden
der Vorstädte, wo man ihre Art nicht kannte, die Ueberforderungen
nicht ungebührlich waren. Feilschen will jeder chinesische Krämer;
erhält er den genannten Preis, so bereut er unfehlbar keinen höheren
verlangt zu haben. Der Geldwerth der bei den Trödlern in Pe-
kiṅ
angehäuften Schätze muss ansehnlich sein; die kostbarsten Ge-
genstände bewahren sie — der Diebesgefahr wegen — in rückwärts
liegenden Gemächern, zu denen man aus dem vorderen Laden über
ein enges Höfchen gelangt; dieses hat eine gitterartige Bedachung
entweder aus starken Latten oder aus Drahtgeflecht, an welchen
Hunderte von Glöckchen — gegen Diebe hängen. — Sonderbar
überrascht es, unter den chinesischen Raritäten zuweilen europäische
Fabricate, alte Fernrohre, Jagdflinten, Degen, Pistolen u. s. w. zu
finden; auch Revolver und Enfieldbüchsen, die von der Niederlage
bei Taku 1859 herrühren, sieht man zuweilen. — Viele der werth-
vollsten Stücke in den Kaufläden waren nicht Eigenthum der
Trödler, sondern von den Besitzern zum Verkauf dort ausgestellt.
In Folge der Invasion der Alliirten und der Flucht des Kaisers ge-
riethen nämlich die vornehmsten Tartaren-Familien, welche ihre
Einkünfte aus den Hofkassen bezogen, in arge Geldnoth, der sie
[115]XVII. Der Tempel des Himmels.
durch Verkauf von Pretiosen zu steuern suchten. Fast täglich wur-
den durch Unterhändler den Mitgliedern der Gesandtschaften die
kostbarsten Arbeiten in Porcelan, Email und Jade angeboten, Fa-
milienstücke, die vielleicht Jahrhunderte lang im Besitz eines vor-
nehmen Hauses waren, unter anderen ein prachtvoller Thron aus
Ebenholz mit Gedichten eines Kaisers auf eingelegten Emailtafeln
und Zierrathen von ciselirtem Golde; nach Aussage der chinesischen
Literaten durfte nur der Himmelssohn auf solchem Stuhle sitzen;
der Unterhändler bot ihn im Auftrag eines kaiserlichen Prinzen
ersten Ranges an, dessen Apanage in Abwesenheit des Hofes unge-
zahlt blieb.


So lebhaft das Gewühl der Hauptstrassen, so still ist es in
den engen gewundenen Gassen der dazwischen liegenden Stadt-
viertel; viele sind ganz ohne Läden, von Arbeitern bewohnt; an-
dere dienen ausschliesslich einem bestimmten Handelszweige, so
giebt es ganze Strassen voll Buchläden. — Die südliche Hälfte der
chinesischen Stadt füllen Gärten, Felder und Tempel aus; hier liegt
der See des schwarzen Drachen, He-luṅ-tšau, mit kleinem ver-
fallenem Tempel, wo in trockenen Jahren Kaiser und Prinzen
den König der Drachen um Regen anflehen. Das Kloster Tao-
yaṅ-tiṅ,
ein früher von Mandarinen begünstigter Vergnügungsort,
steht auf der Spitze eines Hügels mit anmuthiger Aussicht auf die
ländliche Umgebung. Die Tempel des Himmels und des Acker-
baues bedecken mit ihren parkartigen Gärten ein grosses Areal;
sie wurden erst nach unserer Anwesenheit den Diplomaten zugäng-
lich. Nach ihren Schilderungen umgiebt den Tempel des Himmels
ein weiter Park uralter immergrüner Bäume, welchen breite mit
Steinplatten belegte, von Marmorgittern eingefasste Gänge durch-
schneiden. Die dichten Wipfel lassen kaum einen Sonnenstrahl
durch; kein Gräschen gedeiht auf dem mit moderndem Laube fuss-
hoch bedeckten Boden. Kein Geräusch unterbricht die tiefe Stille,
denn ausser den Wächtern und Priestern darf kein Chinese hinein.
Der Umfang des kreisrunden Tempels soll 1500 Fuss betragen; er
hat zwei übereinandergestülpte Dächer, deren Form einem spitzen
chinesischen Strohhut verglichen wird; die blauen glasirten Dach-
ziegel schimmern durch dichte Lagen von schwärzlichem Moos.
Das Wandstück zwischen den Dächern ist mit hellblauen bunt be-
malten Kacheln bekleidet. Vier grosse geschnitzte Schilder von
lackirtem Holz, mit Inschriften und dem kaiserlichen Drachen, be-
8*
[116]Der Tempel des Himmels. XVII.
zeichnen die Himmelsgegenden. Den Rumpf des Gebäudes zieren
roth lackirte Holzrahmen, in welchen Füllungen von dunkelblauem
Email mit goldenen Sternen sitzen; darüber läuft ein Fries von hell-
blauen bunt bemalten Kacheln um das untere Dachgesims. Die
Spitze des Daches krönt ein Zierrath von vergoldeter Bronce in
Form einer Straussenfeder. Vier hohe Flügelthore führen in das
Innere, wo riesige wurmzernagte Götzen stehen; es soll dort wüst
und verfallen aussehen. Das Tempelgebäude ruht auf dreistöckigem
Unterbau aus weissem Marmor, drei übereinander geschichteten Ter-
rassen mit Treppenfluchten auf allen vier Seiten; die oberste Plate-
form ist zwischen dem reichverzierten Geländer und der Aussen-
wand des Tempels funfzig Fuss breit. Oestlich von diesem Bau-
werk liegt eine lange steinerne Terrasse, welche zu einem drei-
stöckigen, dem Sockel des Tempels gleichenden Marmorbau führt:
das ist der grosse Altar, wo der Kaiser dem Himmel opfert. Rings-
um stehen broncene Räuchergefässe und in der Mitte fünf Fuss-
gestelle, auf welche die Gedenktafeln der kaiserlichen Ahnen ge-
setzt werden, während der Himmelssohn sein Gebet verrichtet.
Unter den schattigen Wipfeln ringsum liegen mehrere kleine Tempel
und dahinter ein zum Schlachten der Opferthiere eingerichteter
Hof. — Das Ganze soll den Eindruck stillen erhabenen Ernstes
und heiliger Grösse machen. Man darf den Himmelstempel als den
sinnbildlichen Mittelpunct der chinesischen Cultur ansehn, deren
uralte Grundlage monotheistisch war; nur trat an die Stelle des
persönlichen Šan-ti, den die ältesten Kaiser anbeteten, das unper-
sönliche Princip des Himmels, Tien, der leitenden Weltordnung,
deren Incarnation der Kaiser ist; auf dieser Gemeinschaft beruht
seit urältester Zeit seine unumschränkte Gewalt. Der Kaiser ver-
mittelt die Beziehungen des Volkes zu der weltleitenden ewigen
geistigen Wesenheit; er allein soll am Altar des Himmels beten, der
zu hoch, zu erhaben ist, als dass das Volk zu ihm aufblicken
dürfte. Das Bewusstsein dieser vermittelten Beziehung zum Him-
mel scheint neben allem Aberglauben der Secten in jedem Chinesen
zu leben.


Der Park des Ackerbau-Tempels soll arg vernachlässigt sein;
dort liegen im Dickicht viel umgestürzte Bäume, die, ohne Nach-
wuchs, merkliche Blössen lassen. Der Tempel selbst gleicht dem
des Himmels, ist nur kleiner und hat ein dreifaches Dach; die
Lack-, Porcelan-, Email- und Metallarbeiten sind besser erhalten;
[117]XVII. Der Tempel des Ackerbaues.
doch soll das Ganze den Eindruck höheren Alters machen. Der
Boden ist feucht; dickes Moos und Unkraut bedecken die stein-
belegten graden Gänge im Park, Pilze spriessen klumpenweise aus
allen Ritzen. Bei dem Tempel liegt der Acker, wo der Kaiser all-
jährlich den Boden pflügt. Eine Hauptallee führt zu dem ver-
fallenen Thurm, auf dessen Höhe frühere Kaiser eigenhändig Schafe
zu opfern und mit durchschnittener Kehle auf das Steinpflaster des
Hofes zu stürzen pflegten, damit die Wahrsager aus den rauchen-
den Eingeweiden die Zukunft verkündeten. Seit lange sollen diese
Opfer ruhen; bleiche Gerippe sahen die Besuchenden noch 1861
auf dem Hofe ausgestreut. — Sehr bezeichnend liegt der Tempel
des Ackerbaues dem des Himmels gegenüber an der grossen
Hauptstrasse der kaiserlichen Residenz zwischen dem Palast und dem
nach Süden ausgebreiteten Reiche; denn nur südlich von Pe-kiṅ
liegt das Land der blumigen Mitte; hinter den Gebirgen, die nörd-
lich seine Ebene umkränzen, wohnen Mongolen und Tartaren, lauter
Nomadenstämme, unter denen die höhere südliche Cultur der
ackerbauenden Chinesen nur ein mageres, künstliches Dasein fristet.
Die grosse Mauer, welche China vor diesen Horden schützen sollte,
läuft nur etwa eine Tagereise westlich und nördlich von Pe-kiṅ
durch das Gebirge. — Wie nun der Himmelstempel die Gemein-
schaft des Kaisers mit der leitenden Weltordnung, so versinnlicht
der Ackerbautempel seine Gemeinschaft mit dem Volke. Staunton
schildert in dem Werk über Lord Macartney’s Reise den heiligen
Brauch des Pflügens in folgenden Worten: »Nachdem der Kaiser
etwa eine Stunde lang den Pflug geführt hat, — während eine
Schaar Bauern um ihn her Loblieder auf den Ackerbau singen, —
folgen alle Prinzen und Würdenträger des Hofes seinem Beispiel,
und ziehen, einer nach dem andern, in seiner Gegenwart einige
Furchen. Sie alle sowohl als der Kaiser sind in eine ihrer neuen
Verrichtung angemessene Tracht gekleidet. Der Ertrag des so
gepflügten Ackers wird sorgfältig gesammelt; dann verkündet ein
feierlicher Erlass, dass derselbe an Menge und Güte den Ertrag
jedes anderen Ackerstückes von gleicher Grösse übertrifft. Die
Feier dieses Festes wird im fernsten Dorfe des Reiches bekannt ge-
macht. Es soll den schlichtesten Landmann erfreuen, ihn trösten
bei den durch die Veränderlichkeit der Jahreszeiten ihm oft be-
reiteten Täuschungen, wenn er sich erinnert, dass sein Beruf durch
seinen Fürsten geadelt worden ist, welcher durch dessen Ausübung
[118]Strassenarchitectur. XVII.
der zahlreichsten und nützlichsten Classe seiner Unterthanen einver-
leibt wird und ihre Interessen zu theilen scheint.« Der höhere sym-
bolische Sinn des alten Brauches ist wohl, dass der Sohn des Him-
mels den Boden des Reiches bestellt und der Ernte den Segen
des Himmels sichert; er ist ja verantwortlich für das Wohl der
Menschheit. — Das Grundstück des Ackerbautempels hat von
Norden nach Süden dieselbe Länge, aber geringere Breite als das
des Himmelstempels; sein Umfang beträgt etwa zwei englische
Meilen.


Neï-tšen, die innere oder Tartarenstadt, wird noch immer
als Festung behandelt; Abends schliesst man die Thore, kein Sol-
dat darf die Nacht ausserhalb zubringen. Die erobernden Mand-
schu sollen den ganzen Grund und Boden an stammverwandte
Kriegerfamilien ausgethan haben; jetzt scheinen Kaufleute die
Masse der ansässigen Bevölkerung zu bilden. Sämmtliche Häuser
der Hauptstrassen, — die auch hier schnurgerade entweder von
Nord nach Süden oder von Ost nach Westen laufen, — enthalten
Kaufläden, deren Façaden sehr elegant, oft mit verschwenderischer
Pracht ausgestattet sind. Ihre Bauart gleicht weder der süd- oder
mittelchinesischen, noch, soviel dem Verfasser bekannt, irgend einer
anderen; sie scheint Pe-kiṅ allein eigen und sich hier selbstständig,
wahrscheinlich in der letzten Blütheperiode unter dem Einfluss
begabter Meister entwickelt zu haben. — Das saubere Mauerwerk
der meist einstöckigen Häuser unterscheidet sich kaum von dem
anderer chinesischen Städte, ist aber nur an den Giebelwänden
sichtbar; die Strassenfront bekleidet ein reicher phantastischer
Holzbau. Bei vielen Läden bilden zwei bis vier mastenartige Holz-
säulen von etwa dreissig Fuss Höhe den Rahmen; manche sind
über und über vergoldet, andere roth und schwarz gestrichen, mit
goldenem Zierrath, einige glatt, andere bambusartig abgetheilt; die
Spitze krönt ein birnenförmiger Knopf oder eine Thiergestalt. Ueber
der Thürhöhe verbinden Füllungen von reichem durchbrochenem
Schnitzwerk diese Säulen, bis zum letzten Drittel ihrer Höhe hinan-
reichend; darüber läuft gewöhnlich von Säule zu Säule eine zier-
lich geschwungene Bedachung mit geschnitzten bunt gemalten
Sparren und Stützen. Aus den Säulen treten symmetrisch Drachen-
köpfe hervor, an vergoldeten Ketten eine bunte Reihe sinnbildlicher
Ladenzeichen tragend, die von reich geschnitztem Balken herab-
hangen. Die Ladenschilder sind entweder senkrecht vor den Säulen
[119]XVII. Strassenarchitectur.
befestigt, oder schief in der Mitte der Füllungen zwischen den
Säulen, mit goldener Schrift auf blauem oder Scharlachgrund. Die
ganze Façade lehnt sich als freistehendes Gerüst an die versteckte
Dachkante; rückwärts hinter den Säulen stehen die hölzernen
Pfeiler des Hauses, oben mit geschnitzten Friesen verbunden, die
schreinartig unter den vorderen Füllungen hervorsehen. Die Pfeiler
sowohl als der untere Theil der Säulen sind mit reichen Mustern
in grünem, rothem, gelbem Gold auf dunkelem Grunde bemalt.
Vorhänge von schwerem indigo-blauem oder braunrothem Baum-
wollenstoff mit grossen weissen Schriftzeichen verdecken den Ein-
gang. — Die vergoldete Schnitzarbeit der Füllungen, meist Blätter-
werk mit eingeflochtenen Thiergestalten, zeigt die reichste Erfin-
dung, grosse Schönheit der Zeichnung und vollendete Meisterschaft
der Arbeit. In den Friesen finden sich reizende Linearmotive; die
Drachenköpfe und andere Embleme sind breit und markig ge-
schnitten. Der ausgeprägte Typus des Ganzen ist auch im Ein-
zelnen durchgebildet; es wirkt trotz aller bunten Linien und Farben
durchaus harmonisch. 20)


Die säulenlosen Façaden haben ebenfalls reich verzierte Fül-
lungen, Friese und Dachgesimse; letztere tragen gewöhnlich ein
buntes geschnitztes Geländer. Aus vielen Läden ragen lange Stangen
mit vergoldetem Knauf, an welchem Laternen, Fahnen und andere
Embleme hängen, in schräger Lage über die Strasse. — An den
Kreuzungen stehen prächtige Portale mit fünffachem Thor, Ehren-
pforten gleichend. Viele der älteren Bauten sind aus dem Winkel
gewichen, ihre Farben und Vergoldung verstaubt und verwittert,
das Schnitzwerk zerbrochen; im Ganzen aber zeigen die von Kauf-
leuten bewohnten Viertel bessere Erhaltung, Pflege und Reinlichkeit
als alle öffentlichen Gebäude. Die phantastische Willkür, mit welcher
die einfachen Elemente dieser Architectur in endloser Abwechselung
behandelt sind, verleiht den Strassen von Pe-kiṅ grossen Reiz: es
giebt dort Perspectiven von der reichsten malerischen Wirkung. —
Auch in der Tartarenstadt läuft häufig ein budengesäumter Damm
in der Mitte der Strasse hin; die mächtigen Steinplatten der Pflaste-
rung sind theils fusstief ausgefahren, theils nur in geringen Resten
vorhanden; bei trockenem Wetter watet man in tiefem Sande, der
Staub ist erstickend.


[120]Tempel der Tausend Lamas. XVII.

Die zwischen den Hauptstrassen der Tartarenstadt liegenden
Viertel sind theils von dichtem Häuserlabyrinth, theils von Gärten
und Tempelgründen ausgefüllt. Im Südwesten steht, der Süd-Mauer
der Gelben [Stadt] gegenüber, eine nach der Unterwerfung von Tur-
kestan
unter Kien-loṅ für die nach Pe-kiṅ geführte Turkmanen-
Colonie erbaute Moschee. 21) Die Strassenfaçade ist arabisch, nur
ihr Dachstuhl chinesisch, und, wie die angrenzenden Wohngebäude
der Turkmanen, in baulichem Verfall. Die Nackommen der Einge-
wanderten, welche eine Handwerker-Innung im Dienste des Hofes
bilden sollen, haben chinesische Tracht und Sprache angenommen,
scheinen aber dem Islam treu geblieben zu sein.


Einer der grössten Tempel ist der des »Ewigen Friedens«
im Nordosten der Tartarenstadt, auch Tempel der tausend Lamas
genannt, zu welchem ein reiches Kloster gehört. Man wandelt
durch sieben stattliche Höfe mit colossalen broncenen Löwen und
Rauchgefässen von erlesener Arbeit. Der Tempel ist ein riesiges
altes Bauwerk ohne jeden Schmuck, im Inneren sehr dunkel; an
den mächtigen Pfeilern hängen schwarze Holztafeln mit tibetanischen
Schriftzeichen. In der Mitte steht ein kleines Götzenbild, davor
ein Altar, auf welchem zur Zeit unseres Besuches Kerzen brannten;
— es war eben Gottesdienst. Die Mönche — wohl sechs- bis acht-
hundert — sassen in langen Reihen auf niedrigen Bänkchen, kleine
Tische vor sich, und sangen in einförmig tiefem Ton und gemessenem
Rythmus ihre Litanei, an bestimmten Stellen zwei Kieselsteine zu-
sammenschlagend, welche sie, vielleicht um wach zu bleiben, be-
ständig in den Händen hielten. Alle waren in gelbe Gewänder ge-
kleidet und hatten ihre einem grossen Achilleshelm gleichende Kopf-
bedeckung aus gelbem plüschartigem Wollenstoff vor sich auf den
Tischen liegen; nur die zwischen den Reihen herumwandelnden
Vorsteher trugen ein dunkelrothes Gewand über dem gelben, und
den Wollenhelm auf dem glattgeschorenen Haupte. Sie empfingen uns
sehr freundlich und zeigten das milde ruhige Wesen friedlicher, dem
Leben versöhnter Männer ohne Wünsche und Leidenschaften. Der
ernste feierliche Ton des Gottesdienstes wurde hier nicht, wie in
anderen chinesischen Tempeln, durch profane Eindrücke entweiht. 22)
[121]XVII. Kirchen. Die Sternwarte.
— Die Mönche bekennen sich zum tibetanischen Lama-Dienst, über-
setzen mongolische und tibetanische Schriften in das Mandschurische
und Chinesische, und drucken die Uebersetzungen in ihrem Kloster,
dessen schöne Gärten ein weites Areal bedecken.


Nah dabei steht im nordöstlichen Winkel der Tartarenstadt
dicht unter der Ringmauer die russische Himmelfahrtskirche — einst
ein chinesischer Tempel — mit dem Missionshause an einem kleinen
See. Ein kahler Hügel in der Nähe bietet einen hübschen Blick
über diesen Stadttheil: Pe-kiṅ gleicht von hier einem grossen Garten,
aus dessen Wipfelmeer nur die Stadtthore und die Dächer einzelner
Tempel und Paläste hervorragen. Der Anblick überrascht um so
mehr, als das Gewühl der grossen Strassen durchaus den Eindruck
einer dichtbewohnten Stadt giebt und die hinter den Häuserreihen
versteckten Gärten garnicht ahnen lässt.


Die katholische Cathedrale, eine stattliche Kirche im Jesuiten-
styl, wurde unter Kaiser Kaṅ-gi nah dem Westthor der Südmauer
erbaut, gerieth bei den Christenverfolgungen in Verfall und wurde
erst nach dem Friedensschluss 1860 mit den übrigen Besitzungen
der katholischen Kirche wieder den Franzosen übergeben, welche
das alte portugiesische Wappen von der Façade entfernten und den
Bau restaurirten. Vor gänzlicher Zerstörung soll sie nur die Inter-
vention der russischen Missionare gerettet haben, welche der chine-
sischen Regierung gegenüber Ansprüche auf die Kirche erhoben.
Chinesisch heisst sie Nan-taṅ, die Südkirche, im Gegensatz zu der
Nordkirche, Pe-taṅ, in der Gelben Stadt.


Unter Kaṅ-gi wurde auch die Sternwarte neu eingerichtet
und den Jesuiten übergeben, in deren Händen sie bis zu ihrer Ver-
treibung blieb; sie soll unter den Mongolenkaisern gegründet sein
und liegt im Südosten der Tartarenstadt hart unter der Ringmauer.
Viele alte chinesische Instrumente, welche denen der Jesuiten Platz
machten, werden noch heute dort aufbewahrt. — Von der Strasse
öffnet sich die schwere wurmstichige Thür auf einen feuchten Hof
mit alten Bäumen und verwitterten Gebäuden, wo der Wächter
wohnt; hier stehen zwei Astrolabien und eine äusserst künstliche
Wasseruhr, mit dickem Rost und Grünspan bedeckt. Als Obser-
vatorium diente ein dicker viereckiger Thurm, der, an die Stadt-
mauer gelehnt, dieselbe um zwölf Fuss überragt. Oben stehen auf
drei Seiten der Plateform die astronomischen Instrumente: zwei
Himmelssysteme, ein Azimutal-Horizont, ein Sextant, ein Quadrant
[122]Der Tempel des Confucius. XVII.
und ein grosser Himmelsglobus mit goldenen Sternen. Nach Angaben
des Pater Verbiest 1673 wahrscheinlich von Chinesen gefertigt, sind
sie wahre Meisterwerke künstlerischer Behandlung. Alle Handhaben,
Stützen und Träger der Instrumente bilden Drachen und andere
fabelhafte Thiere in phantastischer Stellung und Verschlingung;
Zeichnung, Guss und Ciselirung sind von vollendeter Schönheit. —
Die Aussicht ist umfassend; auch von hier aus gleicht Pe-kiṅ einem
mauerumschlossenen Park. Ausserhalb blickt man in dürftige Vor-
städte; nach Osten streckt sich die grüne Fläche unabsehbar;
westlich und nördlich begrenzen sie zackige Berge.


Im Südosten der Tartarenstadt liegen ferner die kaiserlichen
Kornspeicher und der Tempel der Gelehrten, wo die öffentlichen
Prüfungen stattfinden; die ausgedehnten Gärten des letzteren ent-
halten lange Reihen von Zellen für die Clausurarbeiten. Zu diesen
Prüfungen sollen jedesmal gegen 40,000 Menschen aus den Provinzen
nach Pe-kiṅ zusammenströmen, da die Candidaten von vielen Ver-
wandten begleitet werden. — Die Gebäude der kaiserlichen Han-
lin
-Academie, des vornehmsten wissenschaftlichen Institutes in
China, stehen im Osten der Tartarenstadt. — Im Nordosten liegt
der grosse Confucius-Tempel, dessen Besuch uns die zarten Rück-
sichten der Diplomaten gegen die chinesische Regierung leider ver-
boten. Ihnen wurde der Tempel bald nach unserem Scheiden zu-
gänglich; die darüber gedruckten Beschreibungen stimmen aber so
wenig überein, dass ein Auszug daraus hier nur unter Vorbehalt
mitgetheilt werden kann. Nach der Schilderung des Dr. Rennie
tritt man von der Westseite in einen Hain, in welchem Reihen von
Marmortafeln mit den Namen ausgezeichneter Gelehrten stehen. Ein
nach Süden gewendetes dreifaches Portal von reicher schöner Arbeit
führt in einen Hof mit drei tempelartigen, von hohen Bäumen be-
schatteten Gebäuden an jeder Seite. In der Mitte steht auf reichem
Marmorsockel der Tempel des »Vollkommenen« im schönsten Zu-
stande der Erhaltung. Die Aussenwände zieren goldene Drachen
auf grünem Grunde; die Holzschnitzarbeit ist durch Netze gegen
Vögel geschützt. Innen ist die hohe luftige Tempelhalle ernst und
einfach gehalten, die Decke getäfelt, mit goldenen Drachen auf
grünem Grund in den Feldern. In einer roth angestrichenen Holz-
nische steht die Gedenktafel des Confucius, ebenfalls von roth an-
gemaltem Holz, mit der goldenen Inschrift: »Sitz des heiligsten
Mannes Confucius«; davor ein Altar mit massiven Broncevasen und
[123]XVII. Der Elephantenhof. Der Kohlenberg.
Leuchtern. An den Seitenwänden der Tempelhalle sind ähnliche
Nischen mit den Gedenktafeln der vier anderen grossen Heiligen
und Altäre davor; daneben stehen, nach dem Eingange zu, die Ta-
feln und Altäre der zwölf chinesischen Weisen, sechs auf jeder
Seite. — In einem angrenzenden Prachthofe sind alle Weisheits-
sprüche des Confucius in Goldschrift auf schwarzen Marmortafeln
zu lesen.


Viele andere Tempel liegen in der Tartarenstadt zerstreut;
hier ragt ein mächtiges blaues Ziegeldach, dort eine vielstöckige
Pagode über die Häuserreihen. Die meisten bieten wenig Merk-
würdiges; man fühlt sich nach Besichtigung einiger Tempel kaum
versucht in andere einzudringen. Der forschende Sinologe möchte
Ausbeute finden für das Studium der chinesischen Cultur: da ist
ein Tempel des Mondes, ein den Herrschern aller Dynastieen ge-
weihter, ein Tempel der aufgehenden Sonne, ein Heiligthum der
Schamanen, wo der Kaiser seinen Ahnen opfert, u. s. w.; der Un-
kundige sieht nur gleichartige Schaustellungen.


Den Elephantenhof im südwestlichen Winkel der Tartaren-
stadt
bewohnte 1861 nur noch ein einziger einäugiger Elephant von
weisslicher Farbe mit abgestumpften Stosszähnen, der nach Aeusse-
rungen der Wärter über hundert Jahr alt war und aus Yun-nan
stammte. Die Miṅ-Kaiser sollen für den Prunk ihrer Feste immer
grosse Heerden dieser Thiere unterhalten haben; auch unter den
Mandschu-Herrschern des 17. und 18. Jahrhunderts muss nach der
Jesuiten Bericht die Hofhaltung noch sehr prächtig gewesen sein;
bei Tau-kwaṅ’s Regierungsantritt sollen die kaiserlichen Ställe noch
38 Elephanten enthalten haben. Beim schnellen Ruin der Finanzen
liess man mit anderem Gepränge auch diesen Luxus eingehn. Jetzt
sind die Ställe ganz verfallen.


Den landschaftlichen Mittelpunct von Pe-kiṅ bildet der
Steinkohlenberg Me-tšaen in der Gelben Stadt; er heisst auch Kiṅ-
tšaen
, Berg der Hauptstadt, und Wan-sui-tšaen, Berg der zehn-
tausend Jahre: Engländer nennen ihn Prospect hill. Lange Be-
lagerung fürchtend, soll ein Kaiser des Miṅ-Hauses hier grosse
Steinkohlenvorräthe aufgehäuft haben; die verwitterten Schichten
an der Oberfläche verwandelten sich bald in eine Humusdecke;
jetzt beschatten dichte Wipfel den ganzen Hügel und seine als
kaiserlicher Lustgarten dienende Umgebung. Im Rechtek von
Mauern umschlossen, mit Thoren nach allen vier Seiten, blickt die
[124]Das Meer der Mitte und der Goldene Hügel. XVII.
Anlage südlich mit einer langen Gebäudefront auf den breiten
Wassergraben der Rothen Stadt, zu deren nördlichem Portal ein
Steindamm hinüberführt. Pavillons mit künstlich verschränkten
Dächern aus gelben Ziegeln stehen, einander gegenüber, auf den
südlichen Ecken des Kohlenberg-Gartens und den Nord-Ecken der
nach der Farbe ihrer Mauern benannten Rothen Stadt. Den Gipfel
des Kohlenhügels und vier Kuppen ringsum an seinen Hängen
krönen Kioske mit bunten Dächern, die voll Götzenbilder stecken.
Uns war der Besuch nicht gestattet. Kleine Häuser, von Bonzen
und Schranzen bewohnt, und Tempelchen mit grotesken Götzen
sollen im Dickicht zerstreut liegen. 23)


Die Marmorbrücke über den See Tai-tši, das Meer der
Mitte, mündet der Nordwestecke der Rothen Stadt gegenüber unter
dem Kohlenhügel; sie bietet reizende Blicke auf die Gartenufer des
weiten Beckens. Nördlich liegt in der Ferne der Tempel Fa-kua,
der abergläubischen Tao-Secte eigen, davor auf Inselchen die 1460
gegründeten fünf Drachenhäuschen. Rechts, nordöstlich, schiebt
sich ein Hügelrücken in den See, der »Goldene Hügel«, der unter
dem Namen »Frühlingsschatten der Marmor-Insel« unter die Wunder
von Pe-kiṅ zählt. Früher scheint er rings umflossen gewesen zu
sein; eine Marmorbrücke führt über den jetzt vertrockneten Arm,
dessen Wasser ihn südlich und östlich bespülte. — Weisse Marmor-
geländer fassen den verwilderten Garten ein, dessen Dickicht kost-
bare Steinblöcke, verfallene Lusthäuser und Tempelchen birgt. Seit
alter Zeit sollen chinesische Kaiser diese Anlage gehegt und ge-
schmückt haben, in welcher der letzte Miṅ-Herrscher sich 1644
beim Eindringen des Rebellenheeres erhängte. Der Baum, der dem
unglücklichen Monarchen seine Zweige lieh, wurde vom ersten
Mandschu-Kaiser in schwere Ketten gelegt, die heut noch seinen
verdorrten Stamm belasten sollen. Auf der Spitze des Hügels liegt
das Lama-Kloster Pei-ta-se mit dem weithin sichtbaren Denkmal,
das die Mandschu 1651 dem Gedächtniss jener Schauerthat wid-
meten; es hat die gewöhnliche Form der Lamagräber: über massi-
gem Unterbau eine oben breitere Steintrommel, auf welcher
eine geringelte Kegelsäule mit hutartiger Endverzierung ruht. 24)
Das »Meer der Mitte«, welches sein Wasser durch einige Teiche
im Norden der Tartarenstadt aus dem mit Seen in Yuaṅ-miṅ-
[125]XVII. Pe-taṅ.
yuaṅ verbundenen Stadtgraben empfängt, hat jetzt nur geringen
Zufluss; seine Oberfläche ist über und über mit Schilf, Lotos und
anderen wuchernden Pflanzen bedeckt und gleicht einer über-
schwemmten üppigen Wiese. Ganz verwahrlost geht das schöne
Becken rascher Verschlammung entgegen.


Jenseit der Brücke liegt am westlichen See-Ufer das katho-
lische Missionshaus Pe-taṅ. Das Grundstück wurde den Jesuiten
mit dem der Cathedrale und zwei anderen von Kaiser Kaṅ-gi ge-
schenkt, der nach ihrem Bericht nur deshalb die Taufe nicht an-
nahm, weil er der Vielweiberei entsagen sollte. Das wollte er erst
auf dem Sterbebett. Um nun die Priester schnell zur Hand zu
haben, schenkte er ihnen das bei der Rothen Stadt gelegene Grund-
stück, wurde aber vom Tode so plötzlich überrascht, dass sie doch
zu spät kamen. — Die Jesuiten hielten sich in Pe-taṅ bis 1823 und
wurden auch dann nicht vertrieben: der einzige damals noch an-
wesende wünschte abzureisen und erbat sich die Erlaubniss vom
Kaiser, welcher ihm obenein 5000 Tael als Ersatz für das von
seinem Vorfahren geschenkte Grundstück zahlen liess. Die Kirche
und die Wohngebäude der Missionare, welche die Chinesen nicht
brauchen konnten, wurden niedergerissen, der Garten scheint in den
Besitz eines Prinzen des kaiserlichen Hauses übergegangen zu sein.
Beim Friedensschluss 1860 verlangten die Franzosen die Heraus-
gabe dieser und aller übrigen alten Besitzungen der Jesuiten. Die
kaiserliche Regierung erklärte, dass sie das Grundstück käuflich er-
worben habe, wogegen die französischen Diplomaten die Kauf-
summe zu erstatten versprachen, wenn die Regierung die zerstörten
Gebäude dort wieder herstellen liesse. Natürlich siegte das Un-
recht des Stärkeren: die schon einmal geschenkte, dann grossmüthig
zurückgekaufte Besitzung wurde ohne Entschädigung herausgegeben.
— Nach dem Friedensschluss verlangten die Lazaristen, welche Pe-
taṅ
bezogen, auch noch die Herausgabe eines Nachbargrundstücks,
wo die Jesuiten für den Himmelssohn Glas fabricirt hatten; die
Regierung verwies sie aber auf die Bestimmung des zerstörten
Gebäudes und verlangte als Bedingung, dass die Lazaristen dort
ebenfalls Glas für den kaiserlichen Palast machen sollten.


Die Capelle, von welcher die Chinesen nur ein Stück Frei-
treppe stehen liessen, war bei unserem Besuch wieder aufgebaut
und ein niedriger Glockenthurm angefügt worden, dessen Fortbau
die Regierung sistirte; die Plateform musste sogar mit übermanns-
[126]Die katholische Mission. XVII.
hoher Brüstung umgeben werden; sie bietet nämlich über den See
hinweg die Aussicht in die kaiserlichen Gärten. Den Himmelssohn
darf aber auch aus der Ferne kein ungeweihtes Auge schauen; bei
seinen Reisen sollen drei ganz gleiche geschlossene Sänften mit-
geführt werden, so dass selbst die Träger nicht wissen, wo der
Kaiser ist. Auch die Frauen des Kaiserhofes bleiben unsichtbar.
Während unserer Anwesenheit wurden die Diplomaten eines Tages
ersucht, die nördlichen Stadttheile zu meiden, weil Hien-fuṅ’s
Mutter, die kaiserliche Wittwe des längst verstorbenen Tau-kwaṅ,
mit ihren Damen in Pe-kiṅ einzöge. Alle Läden auf ihrem Wege
wurden geschlossen, die Strassen abgesperrt, Niemand durfte sich
blicken lassen; selbst die spalierbildenden Truppen mussten dem
Zuge der Kaiserin den Rücken wenden.


Die Lazaristen richteten in Pe-taṅ eine Schule ein und
hatten bei unserem Besuch schon 46 Zöglinge, die in der Anstalt
wohnten. Die einstöckigen Gebäude mit den Schulstuben, Wohn-
und Schlafräumen umgeben mehrere Höfe; die Zöglinge schienen
gesund und heiter. Wie die Jesuiten haben auch die Missionare
in Pe-kiṅ den Zopf und chinesische Tracht angelegt, scheinen aber
nicht allen heimathlichen Gewohnheiten entsagt zu haben: sie be-
wirtheten uns mit köstlichem Kaffee und selbstgemachten Li-
queuren.


Trotz der langen Unterbrechung der Missionsarbeit fanden
die Lazaristen in Pe-kiṅ noch über 5000 Christen, welche unter
einheimischen Seelsorgern dem Ritus der römischen Kirche treu
geblieben waren. In vielen Stücken soll noch heut bei den Katho-
liken in Pe-kiṅ eine Nachwirkung der Concessionen des Vater
Ricci und seiner verständigen Anhänger an die alten in den An-
schauungen der chinesischen Cultur begründeten Bräuche und Vor-
urtheile zu spüren sein: so dürfen Frauen dem kirchlichen Gottes-
dienst nicht beiwohnen, in gesonderten Betsälen wird ihnen Messe
gelesen. Die ersten Franzosen, die 1861 am Stillen Freitag in der
Cathedrale Nan-taṅ eine von chinesischen Geistlichen administrirte
Messe hörten, waren seltsam überrascht, als bei Erhebung der
Hostie ein knallendes Feuerwerk am Altar losging. — Bei zufälligen
Begegnungen der Europäer mit chinesischen Christen pflegen diese
sogleich ein Kreuz zu schlagen, um ihre Gemeinschaft geltend zu
machen. Sonderbarer Weise fühlen sich auch die zahlreichen Mos-
lems in China den Fremden glaubensverwandt und suchen deren
[127]XVII. Die älteren russischen Beziehungen.
Nähe. — Dass in Pe-kiṅ alle Uhrmacher Christen sind, erklärt sich
aus der Berührung ihrer Ahnen mit den geschickten Jesuiten. Ihre
Uhren, Gläser und Instrumente sind schweizer Arbeit, gelten aber,
von Russen eingeführt, als russische.


Die griechisch-katholische Gemeinde unter dem russischen
Archimandriten scheint weniger zahlreich zu sein, als die römische;
die Mission bestand 1860 aus vier Geistlichen und sechs Laien,
welche dem Studium der Sprache, der chinesischen Institutionen
und Wissenschaften lebten. Seit Jahrhunderten strebten die Czaaren
nach Erweiterung der Handelsbeziehungen zum chinesischen Reich,
Vorschiebung ihrer Grenzen nach Süden und Einrichtung einer
stehenden Gesandtschaft in Pe-kiṅ, erlangten aber die Anerkennung
ihrer politischen Gleichberechtigung nicht früher als England und
Frankreich. — Die erste russische Gesandtschaft scheint 1656, also
bald nach dem Sturz der Miṅ nach China gekommen zu sein: »Der
König der Oros«, berichten die chinesischen Annalen, »schickte einige
Grosse seines Hofes nach Pe-kiṅ, um Handelsfreiheit zwischen bei-
den Staaten einzurichten. Der Kaiser befahl sie ehrenvoll zu be-
handeln und liess ihnen ein Haus anweisen, vor welchem Wachen
aufgestellt wurden. Die Soldaten hatten Befehl sie zu begleiten,
so oft sie ausgingen. Der Hof von Pe-kiṅ forderte als Vorbedingung,
dass der russische Monarch China’s Oberhoheit anerkenne und seine
Geschenke als Tribut einsende. Auf diese Bedingung gingen die
Russen nicht ein und kehrten unverrichteter Sache in die Heimath
zurück.« 25) — Die Holländer, welche zu derselben Zeit in Pe-kiṅ
waren, bezeugen, dass die Russen die Verrichtung der Ko-to be-
harrlich verweigerten.


1688 kam eine russische Gesandtschaft an die chinesische
Grenze und meldete ihre Ankunft nach Pe-kiṅ; Kaiser Kaṅ-gi
schickte einige Mandschu-Fürsten nach »Selinga«, welche ein por-
tugiesischer und ein französischer Missionar als Dolmetscher be-
gleiteten. Bei Nip-tšu, dem Nertšinsk der Russen, trafen die Be-
vollmächtigten am 22. August 1688 zusammen; der Gesandte des
Czaaren forderte schon damals, was Russland erst 170 Jahre später
im Vertrage von Tien-tsin erlangte: dass der Sakalien-ula oder
Amur in der ganzen Ausdehnung seines Laufes als Grenze beider
Reiche angesehen werde. Am 8. September 1688 unterzeichnete
[128]Die russischen Beziehungen. XVII.
man einen Vertrag in fünf Artikeln, den ersten, welchen China
überhaupt mit einer europäischen Macht geschlossen hat. Durch
den russischen Dolmetscher und die beiden Missionare lateinisch
redigirt, wurde er dann in das Russische und das Mandschu-Tar-
tarische übersetzt, so dass jede Partei ein lateinisches Exemplar
und eines in ihrer eigenen Sprache erhielt. Die lange Gebirgskette,
in welcher der Kerbetši, ein Nebenfluss des Amur, entspringt,
sollte hinfort die Grenze bilden, so dass alles Land südlich von
seiner Kammhöhe mit allen von da in den Amur fliessenden Wassern
zum chinesischen Reiche gehörte. 26)


Eine dritte russische Gesandtschaft unter Isbrants Ides ge-
langte nach dreijähriger Reise durch Sibirien im November 1693
nach Pe-kiṅ. Der Gesandte gesteht »die gebräuchlichen Ceremonieen«
vollzogen zu haben, verrichtete also wohl das Ko-to, ebenso Leo
Ismailoff
, der 1720 als Gesandter Peter des Grossen mit reichem
Gepränge in Pe-kiṅ einzog. Er verstand sich zu dem von allen
Vasallen geleisteten dreimaligen Niederwerfen und neunmaligen
Kopfstossen unter der Bedingung, dass ein chinesischer Grosser
ersten Ranges dem Schreiben des Czaaren dieselbe Ehrfurcht er-
weise. 27)Ismailoff sollte die seit einiger Zeit aufgelösten Handels-
beziehungen mit China wieder herstellen und das Recht einer
stehenden Gesandtschaft in Pe-kiṅ behaupten, erreichte jedoch keines
von beiden. Bei seiner Abreise im März 1721 blieb der Agent Lange
in der Hauptstadt zurück, »pour travailler à loisir au règlement et
à l’établissement d’une correspondance aisée entre les deux empires.
Et quoique le ministère chinois s’opposât fortement à la résidence
dudit sieur agent en cette cour, sous prétexte qu’elle était contraire
aux constitutions fondamentales de l’empire, néanmoins le dit en-
voyé extraordinaire sut si bien prendre ses mésures, que le Bogda-
khan (l’empereur) y donna les mains malgré toutes les intrigues
contraires des ministères.« — Lange hielt sich, ohne irgend etwas
durchzusetzen, noch über ein Jahr in Pe-kiṅ, wurde aber im Juli
1722 zur Abreise gezwungen. Ein geheimer Handel muss trotz dem
Verbot des Himmelssohnes bestanden haben, denn man trug in
Russland nur chinesische Seide.


[129]XVII. Die russischen Verträge.

Zur Revision des Grenzvertrages von 1688 erschien 1727
Graf Sava Vladislavitsch in der chinesischen Hauptstadt. Der neue
Vertrag wurde im October 1727 unterzeichnet, die Ratification aber
wegen des inzwischen erfolgten Ablebens der Kaiserin Katharina
erst Juni 1728 im Namen Peter II. vollzogen. Die elf Artikel dieses
ursprünglich in der Mandschu-Sprache redigirten, in das Latei-
nische und das Russische übersetzten Freundschaftsvertrages regeln
die Behandlung der Ueberläufer aus beiden Ländern, die Art des
Handelsverkehrs, die Zahl der Kaufleute — bis zweihundert —
welche alle drei Jahre nach Pe-kiṅ kommen durften, die Verhält-
nisse einer dort zu errichtenden kirchlichen Mission und die amt-
lichen Mittheilungen zwischen den beiden Reichen. Eine genauere
durch Karten illustrirte Grenzbestimmung ersetzte die frühere.


Die Mitglieder der damals gegründeten russischen Mission,
vier Geistliche und sechs Laien, sollten alle zehn Jahre abgelöst
werden. »Es soll den Oros erlaubt sein, ihren Gottesdienst mit
allen dazu gehörigen Ceremonieen auszuüben und ihre Gebete zu
sagen. Vier junge Russen, welche die russische und lateinische
Schrift kennen, und zwei ältere, welche der Gesandte in der Haupt-
stadt gelassen hat, damit sie die chinesische Sprache lernen, wer-
den an demselben Orte wohnen. Ihr Unterhalt wird durch die Re-
gierung bestritten, und wenn sie ihre Studien vollendet haben, sollen
sie in ihre Heimath zurückkehren dürfen, sobald man es verlangt.«
— Damals war die Vertreibung der Jesuiten wohl beschlossene
Sache; die chinesische Regierung, der sie als Dolmetscher gedient
hatten, musste auf Ersatz denken und wollte den Russen den ganzen
Besitz der römischen Priester überweisen. So erklärt sich der An-
spruch, den Jene auf deren Cathedrale erheben konnten, um sie
vor Zerstörung zu retten. Kaiser Yuṅ-tšin soll die Jesuiten des-
halb so gehasst haben, weil sie den alten Kaṅ-gi zu seiner Aus-
schliessung vom Throne und Erhebung eines anderen auf den ka-
tholischen Glauben getauften Prinzen zu vermögen strebten. — In
Sachen der Etiquette scheint Graf Vladislavitsch Concessionen er-
langt zu haben, welche zu Reibungen zwischen den Hofbeamten
und dem gleichzeitig in Pe-kiṅ anwesenden portugiesischen Ge-
sandten Dom Metello de Souza-y-Menezes führten.


Der Vertrag von 1727 wurde 1767 in Kiakta einer Revision
durch Bevollmächtigte der beiden Reiche unterworfen; das im
October 1768 unterzeichnete Supplement enthielt Bestimmungen über
IV. 9
[130]Der russische Handel. XVII.
die Behandlung der beiderseitigen Flüchtlinge und übergetretenen
Verbrecher.


Eine neue Gesandtschaft brach 1805 aus Russland auf, hatte
aber an der Grenze schon Schwierigkeiten mit den Mandarinen, die
sich der Grösse des Gefolges widersetzten. In der Mongolei be-
gannen die Verhandlungen über das Ceremoniel des Empfanges;
Graf Golovkin verweigerte unter Berufung auf die Lord Macartney
bewiesene Höflichkeit das Ko-to. Bei einem Feste, das der chine-
sische Vicekönig in des Kaisers Namen am 15. Januar trotz schnei-
denden Frostes im Freien veranstalten wollte, hätte der russische
Gesandte das Kopfstossen gar vor einem Schirm verrichten sollen,
beharrte aber auf seiner Weigerung. Das Fest unterblieb, Graf Go-
lovkin
wurde auf Befehl des Himmelssohnes verabschiedet und
musste heimreisen.


1808 und 1820 kamen abermals russische Gesandte nach
Pe-kiṅ, hatten aber keine Audienzen; ihre Aufträge scheinen sich
auf Inspection und Ergänzung der wissenschaftlichen und geist-
lichen Mission beschränkt zu haben.


Des Versuches zur Anknüpfung des Seehandels, welchen
Russland 1806 durch Krusenstern in Kan-ton machte, ist in der
Einleitung gedacht. Die chinesische Regierung verbot diesen Han-
del: nur über Kiakta sollten zu Lande die Erzeugnisse der bei-
den Reiche ausgetauscht werden. Unter dem Schutz von Mono-
polen blühte dieser Tauschhandel viele Jahre; die russische Re-
gierung begünstigte denselben durch ein unbedingtes Verbot der
Einfuhr chinesischer Producte zur See. — Auch über Kokand
gingen Karawanen nach Orenburg, und östlich von Kiakta wurde
mit den Grenz-Nomaden viel unerlaubter Tauschhandel betrieben,
an welchem europäische Kaufleute indirect betheiligt waren. Der
Handel am Amur beschränkte sich damals auf den geringen Ver-
kehr der Pelzjäger mit den chinesischen Verbannten.


Seit dem Frieden von Nan-kiṅ setzte Russland Todesstrafe
auf Einführung des Opium nach China, während die chinesische
Regierung die Einführung damals thatsächlich freigab. Die Be-
schränkungen des Handels mit Russland wurden seitdem gemildert.
Das bis dahin gegen reiche chinesische Speculanten an den Grenzen
von Turkestan und an der grossen Mauer aufrecht gehaltene Prohi-
bitivsystem hatte zuweilen Aufstände veranlasst, deren Dämpfung
der chinesischen Regierung viel Geld kostete. Zudem wünschte
[131]XVII. Der russische Handel.
dieselbe sich Russland zu verbinden, zugleich auch die Loyalität
und Unterwürfigkeit der Mongolenstämme durch Erschliessung neuer
Erwerbsquellen zu sichern und jede Möglichkeit von Collisionen zu
beseitigen. In Kurzem hob sich der Verkehr bedeutend. Da die
Kaufleute der Provinz Šan-si, welche den russischen Handel be-
herrschen, weit und breit in der Tartarei und in allen Landschaften
nördlich vom Yaṅ-tse-kiaṅ Verbindungen haben. so gewann der
Verbrauch russischer Waaren grosse Ausdehnung. Man kaufte da-
mals in ganz China dickes russisches Tuch zu Preisen, welche die
Fabricationskosten kaum decken konnten. Wenn nun dieser Ar-
tikel in Russland nicht so billig herzustellen ist als in anderen
europäischen Ländern, wenn er einen endlosen Weg durch unwirth-
bare Strecken, und, an der Grenze verkauft, nochmals eine lange
Wüstenreise machen muss, so lässt sich ermessen, dass die Russen
ihn mit Schaden verkauften. Die Czaaren wollten die einheimische
Fabrication dadurch heben und bewirkten durch das Verbot der
Einfuhr chinesischer Producte zur See, dass der Verlust durch den
Preis der eingetauschten Waaren ausgeglichen wurde; denn der
Handel in Kiakta war lediglich Tauschhandel. 1830 wurden
154,552 Ellen russisches Tuch in China eingeführt, 1840 schon
1,328,912 Ellen. In demselben Maasse hob sich die Ausfuhr von
Thee, mit welchem die Chinesen das Tuch bezahlten. Nur zu-
weilen gestattete damals die Regierung des Czaaren als Ausnahme
russischen Schiffen, eine Thee-Ladung nach der Ostsee zu führen,
nachdem die Handelsbeschränkung von chinesischer Seite aufgehoben
war. — Die russischen Tuche scheinen sich aber dermaassen ver-
schlechtert zu haben, dass die Chinesen sie nicht mehr wollten;
darauf versuchten die Russen deren Thee mit Silberwaaren zu be-
zahlen, verwendeten aber bald so schlechtes Metall, dass die Chi-
nesen auch diese zurückwiesen. Die kaiserliche Regierung soll
strenge Untersuchung gegen die privilegirte Handelsgesellschaft in
Moskau angeordnet haben, auf deren Rechnung diese Fälschungen
kamen, und sah sich später veranlasst, das Verbot der Einfuhr zur
See aufzuheben.


Das eifrige Streben der russischen Regierung, ihrer Mission
in Pe-kiṅ politische Bedeutung zu geben, blieb auch nach dem
Frieden von Nan-kiṅ erfolglos, bis Graf Putiatine 1858 den russi-
schen Vertrag von Tien-tsin unterzeichnete. Selbst dieser sicherte
der Regierung des Czaaren nur die Gleichstellung im schriftlichen
9*
[132]Die Rothe Stadt. XVII.
Verkehr mit den höchsten chinesischen Behörden und das Recht,
bei besonderem Anlass einen diplomatischen Agenten nach Pe-kiṅ
zu senden. — Als die Alliirten 1860 gegen die chinesische Haupt-
stadt marschirten, war General Ignatief dort als russischer Ge-
sandter anwesend. Ueber dessen vermittelnde Theilnahme am Frie-
densschluss hat der Verfasser ebensowenig Klarheit gewinnen können,
als über den wirklichen Inhalt des von demselben damals ab-
geschlossenen Vertrages, dessen russischer und chinesischer Text
wesentlich von einander abweichen sollen. Ueber die darin stipu-
lirte wichtige Gebietsabtretung, welche Russland einen im Winter
eisfreien Hafen sichert, äusserte sich der Prinz von Kuṅ sehr bitter
gegen englische Diplomaten.


Ueber das Innere der Rothen Stadt giebt es aus den ver-
gangenen Jahrhunderten Berichte, deren Zuverlässigkeit der Ver-
fasser weder bestätigen noch anfechten kann. Ein lebendiges Bild
lässt sich daraus nicht gewinnen; Vieles ist sicher übertrieben. Bei
der Vorliebe, welche die letzten Kaiser für Yuaṅ-miṅ-yuaṅ zeigten,
lässt sich annehmen, dass der Palast von Pe-kiṅ ähnlich verwahr-
lost ist wie andere öffentliche Gebäude; das bestätigen auch die
Aussagen der Chinesen: nur diejenigen Räume seien leidlich er-
halten, welche der Kaiser jährlich während einiger Wochen be-
wohne. Von der Südmauer der Tartarenstadt sieht man das Portal
und mehrere grosse Gebäude, welche, in der Hauptflucht der ganzen
Anlage stehend, denen des englischen Gesandtschaftspalastes gleichen.
Ihre Dimensionen sind gewaltig; das bedeutendste soll die kaiser-
liche Audienzhalle sein; durch das Fernrohr gesehen, scheinen sie
nicht besonders erhalten. Rechts und links von den breiten Ave-
nuen, welche diese Paläste verbinden, stehen Reihen niedriger Ge-
bäude. Alle übrigen Theile der Rothen Stadt verbergen dichte
Wipfel, aus welchen hier und da ein mächtiges goldgelbes Ziegel-
dach hervorsieht. Nur kaiserliche Gebäude und Lamatempel ge-
niessen das Vorrecht der gelben Bedachtung. — Den breiten schilf-
bewachsenen Wassergraben fasst zu beiden Seiten eine Granit-
wandung ein, auf welcher jenseit die rothe Mauer, richtiger das
um die ganze Verbotene Stadt laufende einstöckige Gebäude fusst.
Auf den Nordecken stehen, wie gesagt, grosse Pavillons mit ver-
schränkten gelben Ziegeldächern, in der Mitte der nördlichen Front
ein mächtiges Portal. Die Ost- und die Westseite bilden endlose
[133]XVII. Die Vorstädte.
Mauerlinien mit je einem Thor nah den südlichen Ecken. Das
dreifache Hauptportal liegt auf der Südseite: die östliche Thür soll
hohen Beamten, die westliche den Prinzen, die Mittelthür nur dem
Kaiser erlaubt sein.


Pe-kiṅ’s Vorstädte bieten wenig Merkwürdiges. Eine der
grössten erstreckt sich vor dem Thore Tšao-yaṅ-men zu beiden
Seiten der Strasse nach Tuṅ-Tšau. Dort steht etwa tausend Schritt
vom Thore der Tempel Tuṅ-yo-miao, dem heiligen Berge im Osten
geweiht. Die chinesischen Kaiser der Vorzeit hatten nämlich auf
fünf heiligen Bergen Opfer zu verrichten; das wurde aber unbe-
quem, und man baute jedem Berg bei der Hauptstadt einen Tempel.
Tuṅ-yo-miao soll 1317, also unter Mongolenherrschaft gegründet
sein; die Gebäude sind gut erhalten. Jede Seite des ersten Hofes
bildet eine Reihe von Zellen, an deren Hinterwänden colossale
Götter sitzen, mit je zehn bis zwölf kleineren Götzen in zwei Reihen
vor sich. In der Mitte jeder Seite liegt ein weiteres Gemach mit
ähnlichem Inventar von grösserem Maassstabe; zusammen enthält
allein dieser Hof über siebzig solcher Zellen. Ein Tempel, mit
Goldgötzen von funfzehn bis zwanzig Fuss Höhe, colossalen Bronce-
Leuchtern, Weihrauchbecken, Fahnen, Pauken, Bogen, Pfeilen
und anderen Waffen geschmückt, umgeben von inscribirten Stein-
platten, füllt die Mitte des Hofraumes. Solcher Höfe mit götzen-
gespickten Zellen und Tempelhallen hat Tuṅ-yo-miao drei; im
dritten liegen die Zellen gar zwei Stockwerke hoch, so dass eine
leidliche Zahl herauskommt. Im Tempel dieses Hofes stehn rechts
und links vom Hauptgötzen ein broncener und ein hölzerner ge-
sattelter Maulesel; ersterer gilt am 1., 2., 15. und 16. jeden Mondes
für wunderthätig: dann reiben Kranke nach Verrichtung vorgeschrie-
bener Gebete mit der Hand die Stelle des broncenen Esels, welche
ihrem eigenen kranken Gliede entspricht, und hoffen dadurch zu
genesen. Den Bonzen bringt der wohlfeile Aberglauben reiche
Beute.


Nordwestlich vor der Tartarenstadt liegt der katholische
Kirchhof, nach der Nationalität der frühesten Missionare gewöhn-
lich der portugiesische genannt. Der letzte Jesuit übergab ihn bei
seinem Scheiden den russischen Missionaren und diese lieferten ihn
nach dem Friedensschluss 1860 den Franzosen aus. — Das Haus
des chinesischen Wächters liegt am Eingang eines Hofes, aus dem
[134]Der portugiesische Friedhof. XVII.
man zunächst in einen hübschen Garten tritt; hier stehen chinesisch
verzierte Denksteine und kleine Löwen von weissem Marmor auf
beiden Seiten des zum Thor des Friedhofes führenden Weinlauben-
ganges. Das schöne Portal ist aus mächtigen Marmorplatten ge-
fügt. Hier betritt man einen graden Weg, an dessen anderem Ende
ein Altar mit grossem Crucifix steht, davor die üblichen Altargeräthe
buddistischer Tempel, zwei Leuchter, zwei Vasen und ein Rauch-
gefäss in der Mitte, beredte Zeugen der von Ricci den chinesischen
Bräuchen gezollten Rücksicht. Alle diese Gegenstände sind, wie
der Altar, das Crucifix und die Grabmale von grobkörnigem weissem
Marmor. Rechts und links vom Eingang stehen innerhalb zwei
Altarmonumente, den Heiligen Maria und Joseph geweiht; zu
beiden Seiten des Weges liegen regelmässig geordnet die Gräber
von achtzig Jesuiten, die in Pe-kiṅ starben, darunter die der Väter
Ricci, Adam Schall, Verbiest und Pereira, niedrige Sarcophage mit
gewölbter Decke, vor welchen Denksteine stehen; je grösser die
Entfernung der Denksteine vom Grabe, desto grösser soll die Ehr-
furcht vor dem Bestatteten sein. Fünf dieser Gräber liegen zu
jeder Seite des Weges in einer Reihe; die der Väter Ricci, Schall,
Verbiest und einiger anderen Jesuiten wurden von Kaisern gestiftet;
die Denksteine davor sind gegen zehn Fuss hoch und ruhen auf
dem Rücken riesiger Schildkröten, dem Emblem der kaiserlichen
Gnade. Alle Inschriften sind lateinisch und chinesisch, die reiche
Bildhauerarbeit des Ornamentes fast durchgängig in chinesischem
Styl, dessen Vermischung mit der Kreuzesform und der lateinischen
Schrift den sonderbarsten Eindruck macht. So ist dieser Fried-
hof ein merkwürdiges Denkmal der einflussreichen Thätigkeit der
Jesuiten und der Achtung, deren auch ihr Andenken genossen haben
muss; denn die vollkommene Erhaltung der Denkmäler beweist,
dass sie auch in den Zeiten grausamer Christenverfolgung unan-
getastet blieben. — Zwischen den Gräbern wuchert üppiges Grün
und rankt sich in dichte Wipfel hinauf, welche sie über und über
beschatten; auch der Altar mit dem Crucifix leuchtet, von spielen-
den Strahlen der Sonne behaucht, aus einem Rahmen dunkelen
Gezweiges hervor. Zauberische Anmuth lagert auf dem stillen
Garten, den man ungern verlässt.


Vor dem Gan-tiṅ-Thore liegt neben dem Exercirplatz der
Garnison der Tempel der Erde, in dessen Ringmauer die englischen
Truppen 1860 Schiessscharten brachen, um die Mauer der Tar-
[135]XVII. Lama-Tempel.
tarenstadt in Bresche zu legen; der Boden zeigt hier Spuren einer
alten Umwallung von Pe-kiṅ. Jenseit des freien Platzes stehn in
schattigem Hain die Lamatempel, wo Sir Hope Grant am 6. October
1860 mit der englischen Infanterie sein Lager aufschlug, während
seine Cavallerie mit der französischen Colonne nach Yuaṅ-miṅ-yuaṅ
zog. Es ist eine ganze Reihe von Gebäuden, die verschiedene Höfe
umschliessen und von mongolischen Mönchen bewohnt werden.
Mongolische Fürsten des 17. Jahrhunderts sollen sie gegründet
haben. In einem nur den Mönchen zugänglichen Saale des Tem-
pels der Fruchtbarkeit waren vor den Altären unzüchtige Gruppen
aufgestellt, welche der fromme Eifer eines englischen Officiers hat
vernichten lassen. — Der von uns besuchte Tempel, ein längliches
Rechteck, zwei Stockwerke hoch aus Backstein gebaut, zeichnet
sich äusserlich durch schöne Holzsculpturen aus, die gegen Zu-
dringlichkeiten der Vögel durch Netze verwahrt sind. Im saal-
artigen Innern, dessen farbenreiche Ornamentirung angenehm har-
monisch wirkt, sitzen mehrere Götzen mit Altären davor. Trotz
einer gewissen Uebereinstimmung wirkt diese Cultusstätte der mon-
golischen Lamas doch typisch ganz anders als andere buddistische
Tempel, etwa wie eine dem griechischen Ritus dienende Kirche
sich von einer römisch-katholischen unterscheidet. In diesem Tempel
verschied 1780 zum Aergerniss aller gläubigen Lamas der unsterb-
liche Oberpriester dieser Secte, welcher auf den Wink des grossen
Kien-loṅ mit prunkendem Gefolge aus Tibet gekommen war, um
den Kaiser zu segnen und sich anbeten zu lassen. Das Lager, auf
welchem er an den Blattern starb, wird in einem Zimmer des Ober-
geschosses gezeigt. Zu seinem Gedächtniss soll auf kaiserlichen
Befehl das grosse Marmor-Denkmal errichtet worden sein, das
hinter dem Tempel in einem Hain dunkelen Nadelholzes steht. Ein
aufgemauerter breiter Gang führt, mit Steinplatten belegt, von der
Hinterfront nach dem Denkmal. Das freistehende dreifache Portal
aus weissem Marmor, dessen oberer Theil den hölzernen chine-
sischen Dachstuhl nachahmt, zeigt in der Bildhauerarbeit die
höchste technische Vollendung. Eine Freitreppe führt auf den
Unterbau, auf welchem von vier zierlichen Thürmen umgeben das
Denkmal steht. Der achteckige Sockel hat ein reiches Profil; die
ringsum laufenden Reliefdarstellungen, wahrscheinlich aus dem Le-
ben des Budda, können in der Behandlung recht wohl mit italieni-
schen Arbeiten des 14. Jahrhunderts verglichen werden und geben
[136]Lamagrabmal. — Ausflug. XVII.
vollgültiges Zeugniss für die Blüthe der chinesischen Kunst unter
Kien-loṅ; der Styl ist ernst und einfach, die Anordnung klar und
in den Linien harmonisch. Ein verziertes Gesims darüber schliesst
den achteckigen Sockel ab. Oben ruht der Körper des Denkmals,
eine oben breitere gedrückte Steintrommel mit Figuren in flachem
Relief, auf stufenförmigem Untersatz. Die geringelte Spitze trägt
eine vergoldete Krönung, welche die hohenpriesterliche Haube des
Grosslama darstellen soll. Zierliche Geländer umgeben den Unter-
bau, vor welchem neben der Freitreppe zwei Löwenthiere sitzen.28)
— Das Ganze ist zu willkürlich erfunden, zu sonderbar gegliedert,
um beschrieben zu werden; der rechtwinklige Grundriss wechselt
in den verschiedenen Stockwerken ohne Grund und Nothwendigkeit
mit dem achteckigen und dem runden; man findet kaum Namen
für die einzelnen Theile. Architectonische Schönheit zeigt das Mo-
nument nur in einzelnen Verhältnissen der Profilirung und im Orna-
ment. Trotzdem wirkt der typische Charakter mächtig. Die Stein-
metzarbeit ist vollendet: in haarscharfer Modellirung hebt sich das
phantastische Ornament vom blauen Himmel ab, der grobkörnige
Marmor glitzert wie frischer Schnee durch den düsteren Hain.


Am 18. September unternahm Frau von Bourboulon einen
Ausflug nach dem nahen Gebirge. Früh um sechs Uhr brach man
auf; der Weg ging durch den westlichen Theil der Tartarenstadt.
Aus dem Thor tritt man fast unmittelbar in die ländliche Flur;
Vorstädte giebt es auf dieser Seite kaum. Der breite sandige Weg
führt, an den Rändern mit Gebüsch und Bäumen — namentlich
Sophora japonica — bestanden, durch Felder von Hirse, Mais, Se-
sam und Hülsenfrüchten. Nördlich liegen die Hügel von Yuaṅ-
miṅ-yuaṅ
, hinter welchen das im Halbkreis gelagerte Gebirge in
die blaue Ferne verschwimmt. — Wohlhabende Dörfer und Tempel
unter schattigem Wipfelgrün säumen vielfach die Strasse. Gegen
zehn erreichten wir, nach gemächlichem Ritt, den Fuss des Ge-
birges, wo die Pferde zurückblieben. Hier liegen nun die sanften
Hänge hinauf Dorf an Dorf und Tempel an Tempel, in grüne
Gärten gebettet. Erst führte der Weg durch lichte Waldung von
Kiefern und Lebensbäumen; dann nahm uns eine Tempelterrasse
[137]XVII. Loṅ-waṅ-taṅ.
auf, von der man auf breiter Freitreppe zu einer zweiten und so
weiter von Tempel zu Tempel stieg. Ihre Mittelgebäude pflegen
den goldenen Holzgötzen und das übliche Opfergeräth zu bergen;
auf den Seiten liegen, um Höfe und Gärten gruppirt, viele unregel-
mässige Gebäude, welche die Bonzen theils bewohnen, theils an
Sommergäste vermiethen. Der Ertrag der freundlichen Gartenhäuser,
wo der wohlhabende Städter die heissen Monate in frischer Luft
und ländlicher Stille verlebt, fliesst in die Taschen der höflichen
Mönche, die ein hübsches Dasein geniessen. Bei einer reizenden
Anlage dieser Art, dem Tempel des Drachenkönigs — Loṅ-waṅ-taṅ
— etwa 600 Fuss über der Sohle des Gebirges, machten wir Halt; die
Priester räumten gefällig ein hübsches reinliches Zimmer ein, wo das
mitgenommene Frühstück verzehrt wurde. Vom umrankten Altan sah
man in ein schattiges Höfchen hinab, wie es in Toscana nicht schöner
zu finden ist; dort sprudelt unter mächtigen Pinien und Lebens-
bäumen ein klarer eisiger Quell in ein Becken mit Goldfischen, ge-
säumt von reizenden Farren; Glycine chinensis und andere Ranken
decken alle Wände, Stämme und Pfosten. Harmonisch und ange-
nehm wirken sogar die bei aller Einfachheit in jedem Zollbreit echt
chinesischen Gebäude. Wo ein Baustyl, allen Schmuckes entkleidet,
dem Bedürfniss einfacher Lebensverhältnisse ohne Mangel und
Ueppigkeit dient, erkennt man erst seinen Werth: alle chinesischen
Bauten dieser Art beweisen aber in den leicht geschwungenen Dach-
linien, der Raumvertheilung an den Wänden, der Profilirung des
Gebälkes, der Pfosten und Einfassungen die harmonische Durch-
bildung der Verhältnisse einer in sich vollendeten Gattung. Mit
der Baukunst höher begabter Völker kann sich diese eben so wenig
messen, als überhaupt die chinesische Cultur mit der europäischen;
sie entspricht aber der gereiften Durchbildung ihrer gesunden Ele-
mente. — So zeigen die ländlichen Wohnungen dieser Priester, die
ein beschauliches, mässiges Leben führen, einen gleich poetischen
Sinn für die Natur, wie ähnliche Anlagen in Italien, wo man deren
lebendigen Elemente der Architectur so reizend einzuordnen und
dienstbar zu machen wusste.


Nach dem Frühstück stiegen wir weiter den Berghang hin-
auf, zunächst über mehrere Tempelterrassen. Die Abwechselung,
welche die Chinesen auch in diese Anlagen zu bringen wissen,
ihre meisterliche Benutzung des Raumes und der Bodengestalt
für landschaftliche Wirkung wecken Bewunderung. Der daraus
[138]Aussicht. XVII.
redende Schönheitssinn steht in grellem Contrast zu ihrem ge-
schmacklosen Cultus: in den Tempeln sitzen die grässlichsten
Fratzen. In einem derselben fanden wir, in vielen Reihen eine
ganze Wand bedeckend, 1200 ganz gleiche bunte Thonpuppen eines
weiblichen Götzen, gegenüber sechs colossale Goldgötter von teuf-
lischer Hässlichkeit. — Weiter hinauf führt der gut gehaltene Weg
durch lichten Laubwald, meist Eichen;29) hier und da steht ein
Holzportal, ähnlich denen in Pe-kiṅ. Die letzte Strecke bis zur
Kammhöhe steigt man über Geröll und Buschwerk. Die Aussicht
ist herrlich: unten zwischen dichten Wipfeln die über einander ge-
schichteten Tempel, der Dörferkranz am Fuss des Gebirges mit
seinen Hainen und Gärten; von da wie eine Landkarte ausgebreitet
die unabsehbare grüne Ebene, aus der nordöstlich die Hügel von
Yuaṅ-miṅ-yuaṅ aufsteigen; in blauer Ferne die Mauern und Thore
von Pe-kiṅ, das sich als eine Reihe dunkeler Linien und Puncte
auf der baumreichen Ebene zeichnet; das ganze Land ein unabseh-
barer Garten. Auf der anderen Seite die Einöde: über kahle
schroffe Hänge blickt man in ein tiefes Thal mit ebener Sohle ohne
jeden Anbau hinab; jenseit steigt in jähen zerklüfteten Massen ein
hohes Felsgebirge auf, dahinter Reihe auf Reihe zackiger Gipfel;
dort geht es nach der Mongolei.


Langsam hinabsteigend fanden wir gegen vier unsere Pferde
wieder und ritten auf anderem Wege nach Pe-kiṅ zurück. Kameele
und Esel bedeckten, Kalk und Kohlen von den Bergen heran-
schleppend, in langen Zügen die Landstrasse. In einem Dorf lag
mitten auf dem Wege ein Bettler, gänzlich entblösst, an den abge-
magerten Gliedern grässliche Schwären voll nagender Würmer, in
den letzten Qualen des Todes röchelnd. Vergebens bat Herr de
Méritens
die Bewohner der nächsten Häuser, ihn aufzunehmen;
Niemand rührte sich; vielleicht hatten sie selbst ihn dort hingelegt.
Das chinesische Gesetz fordert nämlich von Demjenigen, vor dessen
Haus ein Leichnam gefunden wird, Rechenschaft über seine Todes-
art und verpflichtet denselben, für sein Begräbniss zu sorgen, ja
sich der Hinterbliebenen anzunehmen. Der Sinn dieser Vorschrift
mag menschenfreundlich sein, praktisch wirkt sie das Gegentheil;
der Chinese gewöhnt sich von frühester Jugend, seinen Nächsten
auf der Strasse leiden und scheiden zu sehn, ohne ihm beizu-
springen.


[139]XVII. Pi-yun-se.

Auf Befehl des Ministers Wen-siaṅ blieb ein Thor der
Tartarenstadt bis zu unserer Rückkehr offen; gewöhnlich werden
sie bei Sonnenuntergang geschlossen. Es dämmerte schon; in den
Strassen drängten sich grosse Menschenmassen, meist Tagelöhner,
die von der Arbeit zu kommen schienen. Unsere zwanzig Pferde
starke Cavalcade wurde reichlich begafft, die Ordnung aber keinen
Moment gestört; ohne Anstoss ging es durch das dichte Gewühl.


Am 25. September ritten wir abermals nach den Bergen;
Herr Bruce hatte beim Tempel der Weissen Wolke — Pi-yun-se
— ein Frühstück vorbereitet. Vom nördlichen Thor der West-
mauer ging es zunächst nach dem Friedhof, wo die Franzosen im
Feldzug 1860 ihre Todten bestatteten. Der Ort ist reizlos, in einer
dürren Höhlung gelegen; die gepflanzten Bäume fristen ein kümmer-
liches Dasein. Vor den einfachen in einer Reihe liegenden Gräbern
stehen Denksteine mit Inschriften. In elender Hütte wohnt ein
katholischer Priester, der Christenkinder aus den umliegenden
Dörfern unterrichtet.


Der Weg zum Gebirge gleicht dem nach dem westlicher
gelegenen Tempel des Drachenkönigs, führt aber in grösserer Nähe
an den Gärten des Sommerpalastes vorbei. Die Ausläufer des Ge-
birges, dessen Kammhöhe hier 1800 Fuss betragen mag, sind noch
reicher angebaut; zwischen den Dörfern stehn palastartige Villen
und kaiserliche Jagdschlösser; eine Unzahl verfallener Wachtthürme
von feudalem Aussehn mit schrägen Mauern und spitzigen Zinnen
ist über die Hänge ausgestreut. Ein eingefriedigter kaiserlicher
Wildpark reicht von der Sohle bis zum Kamm des Rückens; vom
Wilde sollen die Officiere der alliirten Armee, welche auch das
Jagdschloss auf der Höhe zerstörten, wenig übrig gelassen haben.


Der Tempel der Weissen Wolke liegt romantisch auf einem
Bergsporn zwischen zwei feuchten schattigen Schluchten; ein kühn
gewölbter Bogen führt hinüber. Man tritt in einen von Wohn-
gebäuden umschlossenen Hof, an den sich Gärten mit Tempelhallen
und Capellen reihen. Uralte Kiefern beschatten die breiten in fünf
gewaltigen Stockwerken übereinander geschichteten Terrassen, deren
höchste ein imposantes Denkmal trägt. Die endlose auf seine
Façade stossende Freitreppe bietet, an jeder Terrasse in reiche Por-
tale mündend, eine grossartige Perspective. Das aus weisslichem
Kalkstein erbaute Denkmal gleicht eher einem indischen: auf breitem
vierseitigem Unterbau steht in der Mitte ein prächtiger Tempel mit
[140]Paudämonium. XVII.
pyramidalem Aufsatz, auf jeder Ecke ein runder spitzzulaufender
Thurm, über und über mit Sculpturen geschmückt. Ein Buddabild
sitzt in einer tiefen Nische über dem Eingang. Innen steigt eine
breite Treppe hinan, die sich in zwei Arme getheilt bis zum ersten
Stockwerk fortsetzt; von da führt eine Wendeltreppe bis zu der
mit Geländern umgebenen Plateform, wo der Tempel und die
Thürme stehen. Die Aussicht ist prächtig. Rechts und links senken
sich Bergrücken herab, — wie die Flügel eines riesigen Theaters,
— bedeckt mit Dörfern, Gärten, Schlössern und Warten; im Winkel
der Ebene ein schlängelndes Flüsschen, weiterhin die Seen und
Hügel von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ, in der Ferne die langen Linien von
Pe-kiṅ und am äussersten Horizont die Pagode von Tuṅ-tšau. Vor
dem Monument steht ein reiches Portal, halb indisch, halb chinesisch;
über die Wipfel dieser Terrasse sieht man auf die zahlreichen Tempel
und Portale hinab, die symmetrisch um die zur Höhe führende
Treppe geordnet sind; viele andere bunte Dächer liegen im dichten
Wipfelgrün der Abhänge eingebettet. Der Reichthum der Aussicht
ist unbeschreiblich.30)


In einem der Tempel, die wir besahen, wiederholt sich das
Curiosum der tausend gleichgestalteten Götzengruppen. Ein anderer
bildet ein grosses Pantheon. Der Grundriss ist quadratisch: vier
breite Gänge laufen die Seiten entlang, zwei andere kreuzen sich,
auf diesen senkrecht, im Mittelpunct; zu beiden Seiten der Gänge
stehen in dichter Reihe die colossalen Bildsäulen von 500 Wohl-
thätern des Menschengeschlechtes. Der Ausdruck der Gesichter
ist theils fröhlich, jovial, oft fratzenhaft verzerrt, theils ernst und
beschaulich; sehr lustig wirken neben den schwungvollen phan-
tastischen Gestalten der asiatischen Heroen die steife Haltung und
knappe Tracht der von den Chinesen unwillkürlich carrikirten euro-
päischen Krieger und Weisen.


Die freundlichen Bonzen räumten der frühstückenden Gesell-
schaft einen weiten Saal ein, verschmähten aber alle Theilnahme
an dem lucullischen Mahl. Bald nach drei brachen wir auf und
schlugen einen nördlicher liegenden Weg ein, der uns unter die
Mauern des westlich an Yuaṅ-miṅ-yuaṅ grenzenden Parkes Yu-
kiuan-tšan
führte. Ein hoher Erdwall um die ganze Anlage soll
die Schlossgärten profanen Blicken verbergen; uns diente er als
Standpunct. Vor uns lag der schilfbedeckte See Si-ho mit dem
[141]XVII. Yuaṅ-miṅ-yuaṅ.
Berge Yu-kiuan-tšan am Westufer. Seinen Doppelgipfel zieren
ein Tempel, eine hohe spitze Pagode und das Schloss Tsiṅ-miṅ-
yuaṅ
. Des Berges Namen bedeutet »köstliche Quelle«; eine solche,
deren Wasser die Kaiser trinken, entspringt an seinem Abhang. —
Mitten im See liegt, durch eine Marmorbrücke mit dem Ufer ver-
bunden, ein Insel-Palast; ein anderer im italienischen Styl, den die
Kaiser mit Vorliebe bewohnten, wurde 1860 zerstört; er lag auf
dem Berge des langen Lebens Wuṅ-tšen-tšan am nordöstlichen
Ufer; jetzt steht nur noch der massive Grundbau. — Das eigent-
liche Yuaṅ-miṅ-yuaṅ, der Garten der vollkommenen Klarheit am
Ostufer des Sees lag vor unseren Blicken versteckt; die Gesandten
von England und Frankreich vermieden, wie gesagt, jeden Besuch
dieser Stelle. Die schriftgelehrten Chinesen der englischen Ge-
sandtschaft sprachen noch immer mit grösster Wehmuth von der
Zerstörung der Schätze: hätte man sie wenigstens geraubt, dann
wären sie doch erhalten; das Fortgeschleppte stehe an Menge und
Werth ganz ausser Vergleich zu dem Zerstörten; nicht der Kaiser
allein sei von dem Verlust betroffen, sondern viele Familien der
Hauptstadt, die der grösseren Sicherheit wegen ihre Kostbarkeiten
nach Yuaṅ-miṅ-yuaṅ geflüchtet hätten. — Dass eine Menge der
werthvollsten Sachen in der That unbeachtet blieben, beweist die
Zertrümmerung vieler grösseren Stücke, deren Masse eben der Grösse
wegen für Bronce gehalten wurde; Bruchstücke davon, die Ein-
zelne einsteckten, erwiesen sich als massives Gold. Haṅ-ki schätzte
den Verlust auf acht Millionen Tael. Der Kaiser entführte aus
Yuaṅ-miṅ-yuaṅ nur die Gedenktafeln seiner Ahnen. — Im
ganzen Reich wurde die Zerstörung als ein schweres Verhängniss
betrauert. Die chinesischen Schriftgelehrten leugneten auch hart-
näckig die Theilnahme des Kaisers an der Misshandlung der Ge-
fangenen: »die Engländer hätten die Auslieferung Su-tšuen’s und
seiner Genossen fordern und an diesen grausame Rache üben
sollen.«


Auf dem Rückweg kreuzten wir die von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ
nach dem Thore Si-tši-men der Tartarenstadt führende Strasse
und das Flüsschen Kao-liaṅ-ho, das, aus dem Si-ho-See kom-
mend, die Gräben und Becken in Pe-kiṅ speist. — Es dunkelte
als wir heimkehrten.


[142]Besuch bei Tsuṅ-luen. XVII.

Am 26. September besuchte Graf Eulenburg den alten Tsuṅ-
luen
, welchen ein schleichendes Unwohlsein hinderte, den Gesandten
in dessen Wohnung zu begrüssen. Sein in einer Querstrasse der
Gelben Stadt gelegenes Haus zeichneten weder Eleganz noch
Grösse aus: niedrige Gebäude und enge Höfe, die Zimmer fast ohne
allen Hausrath. In der »Bibliothek«, wo Graf Eulenburg empfan-
gen wurde, spähte man vergebens nach Büchern; nur war eine der
Wände über und über mit Schriftzeichen bedeckt; vielleicht ein
Katalog? — Tsuṅ-luen kam auf zwei Diener gestützt und schien
sehr leidend; er trug den weissen Rock der Halbtrauer mit Kragen
und Aufschlägen von hellblauer Seide; Haupthaar und Bart bleiben
drei Monat ungeschoren. Gleich nach der Begrüssung erschien sein
Sohn, ein wohlgenährter Jüngling von zweiundzwanzig Sommern
mit rundem vergnügtem Vollmondgesicht. Seit zwei Jahren ver-
heirathet wohnte er mit Gattin und Söhnchen bei seinem Vater.


Der Gesandte wurde bald in ein grösseres Gemach geführt
und mit dem üblichen Imbiss bewirthet. Tsuṅ-luen erzählte, dass
es der 79. Geburtstag seines Freundes und Collegen Kwei-liaṅ sei,
der nun dem Staate seit 55 Jahren diente und in allen achtzehn
Provinzen des Reiches Aemter bekleidet hätte; von allen Würden-
trägern habe er allein sich während dieser ganzen Periode in ein-
flussreichen Stellungen zu behaupten gewusst, ohne jemals degradirt
zu werden; — gewiss sehr wunderbar, wenn man die Schicksale
von Lin, Ki-šen, I-li-pu, Ki-yiṅ und anderen Grossen erwägt,
die ihr Unglück theils mit dem Tode, theils mit Verbannung oder
Degradirung büssten. Der Vertrag von Tien-tsin, China’s grösste
Schmach in den Augen aller Patrioten, wurde 1858 von Kwei-
liaṅ
unterzeichnet; Ki-yiṅ, der ihm entgegentrat, musste sich im
Kerker vergiften.


Auf die Frage des Gesandten, ob Tšëu-tšau, Tsuṅ-luen’s
Sprössling noch nicht im Staatsdienst sei, erwiederte der Vater,
er könne sich von seinem einzigen Sohn nicht so leicht trennen,
wünsche ihn auch selbst in die Geschäfte einzuweihen; die erste
wissenschaftliche Prüfung habe derselbe bestanden, die zweite aber
nicht; er bereite sich jetzt zu deren Wiederholung vor. Der be-
häbige Jüngling musste seine Exercitien holen, kurze Sentenzen, in
fusslangen Schriftzeichen auf buntes Papier gemalt. Tsuṅ-luen
schien sehr stolz darauf und schenkte dem Gesandten und seinen
Begleitern solche Schriftrollen zum Andenken.


[143]XVII. Tšen-pao.

Tšëu-tšau erwiederte den Besuch in Vertretung seines kranken
Vaters und redete ganz verständig. Offen und unbefangen beklagte
er die Missbräuche in der Verwaltung und machte kein Hehl aus
den amtlichen Lügen, mit welchen die Behörden das Publicum
täuschten. So feierte damals die Zeitung von Pe-kiṅ den Feld-
herrn Tšen-pao, der die Rebellen in Šan-tuṅ bekämpfte, durch
glänzende Siegesberichte. Tšëu-tšau aber erklärte rund heraus,
er sei nur ein Maulheld. Die Art, in welcher Tšen-pao nach
eigenem Geständniss die Provinz beruhigt hatte, giebt ein grausiges
Bild von der kalten Blutgier asiatischer Grossen; er theilte alle
männlichen Bewohner der zurückgewonnenen Bezirke in zwei Kate-
gorieen, gemeine Rebellen und Anführer; letztere wurden in Stücke
gerissen, erstere nur geköpft, alle Frauen und Kinder nach dem
Amur geschleppt. Beruhigt wurde die Provinz auf diese Weise
gewiss.


Tšen-pao war es, der im September 1860 bei Pa-li-kao
commandirte und wahrscheinlich Capitän Brabazon und den Abbé
de Luc hinrichten liess. Seine zweideutigen Aeusserungen über
deren Schicksal, verglichen mit der Aussage chinesischer Soldaten,
dass er sich der schriftlichen Ertheilung des Befehles geweigert
habe, konnten diese Muthmaassung nur bestärken. — Im Frühjahr
stand Tšen-pao mit seinen Truppen in Pe-kiṅ; häufig wurden die
Diplomaten dort durch nächtliche Gewehrsalven aufgestört und er-
fuhren auf Befragen, dass diese Kraftäusserung das schlechte Ge-
sindel schrecken und die Ehrfurcht des Volkes vor der Executive
erhöhen sollte. Gegen die Fremden zeigten Tšen-pao’s Truppen
kein Uebelwollen; einige Engländer besuchten sogar ihr Lager im
Süden der Chinesenstadt; aus einem Zuge von Pikenreitern, der
ihnen begegnete, grüssten mehrere ganz ehrerbietig, und als einer
der Officiere die Engländer freundlich anredete, machte der ganze
Zug ohne Commando Halt; mehrere verliessen ganz unbefangen die
Glieder, um dem Gespräch zu lauschen.


Anfang Mai wurde Tšen-pao nach Džehol berufen und
vom Kaiser angewiesen, zu Unterstützung Saṅ-ko-lin-sin’s nach
Šan-tuṅ zu rücken. Nach Pe-kiṅ heimkehrend, gehorchte er so
weit, dass er mit seinen Truppen einen Tagemarsch südlich mar-
schirte, dann aber ruhig nach der Hauptstadt zurückkam, wo seine
Gegenwart nothwendiger wäre. Etwas später musste er doch ins
Feld. Saṅ-ko-lin-sin war mit seiner Streitmacht zurückgewichen
[144]Saṅ-ko-lin-sin. XVII.
und stand kaum sechs Meilen von Tien-tsin. Diese Stadt mieden
die Rebellen wegen der fremden Truppen, suchten aber Saṅ-ko-
lin-sin
’s
Stellung zu umgehen, um von Südwesten gegen Pe-kiṅ
vorzudringen. Nach den Zeitungsberichten schien Tšen-pao das
verhindert und weitere Siege erfochten zu haben; er erhielt den
Oberbefehl, und Saṅ-ko-lin-sin fiel auf Su-tšuen’s Einflüsterung
wieder in Ungnade.33) Von dem Mongolenfürsten hörten die Frem-
den in Pe-kiṅ nur Gutes; Saṅ-ko-lin-sin scheint ein schlichter
ehrlicher Krieger, kein Politiker gewesen zu sein. Man rühmte
ihn als Vater seiner Soldaten, unter denen er strenge Zucht hielte
und die Raublust mächtig unterdrückte. Der hoffährtige Trotz,
mit welchem Herr Lay bei den Friedensverhandlungen in Tien-
tsin
1858 den alten Kwei-liaṅ gradezu zertrat, erfüllte den Mon-
golen mit bitterem Hass gegen alle Fremden; er trieb im Verein
mit Su-tšuen und dessen Genossen, welche aus anderen Motiven
handelten, den Kaiser, der persönlich nur Aenderungen am Ver-
trage von Tien-tsin auf friedlichem Wege herbeizuführen wünschte,
zu gewaltsamer Zurückweisung der Gesandten 1859 und zu hart-
näckigem Widerstande. Seine Entrüstung über das hochfahrende
Auftreten der Fremden gegen chinesische Würdenträger drückt
sich deutlich in den wenigen Worten aus, die er vor der Schlacht
von Tšaṅ-kia-wan zu dem gefangenen Parkes sprach. Seine
Niederlage bei Ta-ku hatte Saṅ-ko-lin-sin nicht über die Ohn-
macht seiner Waffen belehrt; er hoffte die Fremden im offenen
Felde zu schlagen und scheint damals durch seine Denkschrift den
ersten Impuls zur Flucht des Kaisers gegeben zu haben. Die
Schlacht von Tšaṅ-kia-wan aber zeigte ihm die Fruchtlosigkeit
des Kampfes; der weitere Verlauf des Feldzuges und das Auf-
treten der Fremden nach dem Friedensschluss scheinen ihm auch
Achtung vor deren Charakter eingeflösst zu haben; er trat nun
politisch auf die Seite des Prinzen von Kuṅ. — Gegen die Rebellen
kämpfend starb er später, im vordersten Treffen mit wenigen Reitern
abgeschnitten, den Tod eines braven Soldaten.


Tšen-pao’s Charakter galt als zweideutig; als Feldherrn
achteten ihn die meisten Chinesen. Vor der europäischen Artillerie
[145]XVII. Garnison von Pe-kiṅ.
gewann er bei Pa-li-kao solchen Respect, dass er jede Erneuung
des Kampfes ganz offen für thöricht erklärte. Aehnlich muss
Saṅ-ko-lin-sin nach dem Tage von Tšaṅ-kia-wan gedacht haben;
beide Feldherren vermieden bekanntlich jedes fernere Treffen. —
Wie sehr die Ansichten der Chinesen seit dem Herbst 1860, — da
die temporäre Besetzung von Tien-tsin noch als unerträglich
schmachvoll und dem Throne gefährlich vor allen Bestimmungen
des Friedensvertrages angefochten wurde, — sich änderten, beweist
der Umstand, dass im Herbst 1861 die kaiserliche Regierung der
Räumung von Tien-tsin und den Ta-ku-Forts mit der äussersten
Besorgniss entgegensah, und dass sie, als ihre Bitten um deren
Hinausschiebung nicht fruchteten, General Staveley um Einexer-
cirung chinesischer Soldaten nach englischem Muster bat. In der
That bedrohten damals die Rebellen von Šan-tuṅ ernstlich die
Hauptstadt.


In die Garnison, welche neben der Miliz aus 10,000 Polizei-
Soldaten und etwa 70,000 Mann »Bannermännern« bestehen sollte,
schienen die Behörden in Pe-kiṅ wenig Vertrauen zu setzen; und
doch bilden letztere den Kern des Heeres, die eigentliche Haus-
macht der Mandschu-Kaiser. Die Krieger dieser Streitmacht sind
theils Mandschu-, theils mongolische Tartaren, theils Han-kiu,
Abkömmlinge solcher Chinesen, welche bei der grossen Umwälzung
im 17. Jahrhundert gegen die Miṅ gestritten haben. Nach Notizen
des Herrn Wade ist jede dieser Nationalitäten unter 8 Banner
geordnet, deren es also im Ganzen 24 giebt. Jedes Banner steht
unter einem Tu-tuṅ oder General-Capitän, der zugleich als bürger-
liche und Militär-Behörde fungirt. Nicht alle Bannerleute sind Sol-
daten; diejenigen aber, welche weder im Civil- noch im Militär-
dienst angestellt sind, beziehen vom Staate kein Gehalt, sie müssten
denn den drei vornehmsten Bannern angehören. Die beiden ersten
— gelb gerandet und ganz gelb, wohnen in Pe-kiṅ nördlich von
der Gelben Stadt, die beiden weissen östlich, die rothen westlich,
die blauen südlich davon. An die 24 Banner scheint der Grund
und Boden der Hauptstadt nach der Einnahme ausgethan worden
zu sein. Ihr Stand ist erblich; sie bilden eine Art Adel, dessen
Mitglieder im Civil- und Militärdienst stark bevorzugt werden. —
Streng gesondert von dieser Hausmacht ist die Armee der »Grünen
Standarte«, in welcher nur Chinesen dienen.


IV. 10
[146]Empfang beim Prinzen von Kuṅ. XVII.

Der Prinz von Kuṅ, welcher am 15. September aus Džehol
zurückkehrte, hatte sich bereit erklärt, Graf Eulenburg zu empfan-
gen, wenn eine passende Form dafür gefunden würde; nach chine-
sischer Auffassung war nämlich der Gesandte vor Ratification des
Vertrages zum Aufenthalt in Pe-kiṅ nicht berechtigt und nur in-
cognito anwesend. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge;
endlich wurde der Besuch auf den 27. September anberaumt. Graf
Eulenburg ritt mit allen seinen Begleitern. dem Grafen Kleczkowski
und Herrn de Méritens gegen zwei Uhr nach dem im Norden der
Gelben Stadt gelegenen provisorischen Amtsgebäude für die Aus-
wärtigen Angelegenheiten, einem verfallenen Kloster mit ärmlichem
Eingang. Das Empfangszimmer fasste kaum die Gesellschaft, die
Papierfenster und Tapeten waren roh geflickt, die Wände beschmutzt,
alle Ecken voll dicker Spinngewebe. In solchem Raum empfing der
nächste Bruder des seligen Himmelssohnes, der factische Regent
eines Reiches von über dreihundert Millionen den Gesandten einer
europäischen Grossmacht! — Von den anderen Mitgliedern des
Auswärtigen Amtes waren Wen-siaṅ und Haṅ-ki anwesend; der
alterschwache Kwei-liaṅ blieb wegen seiner Taubheit, Tsuṅ-luen
als Kranker zu Hause. Des Prinzen Trauertracht unterschied sich
in nichts von der aller anderen, auch der geringsten Mandarinen;
ein bis auf die Füsse reichender Rock aus grobem weissem Baum-
wollenstoff mit hellblauen Aufschlägen und Kragen, Stiefel von
schwarzem Atlas, die schwarze Atlasmütze mit steifem aufgekremptem
Rande ohne jedes Abzeichen.


Der Prinz von Kuṅ mag damals kaum dreissig Jahre gezählt
haben; sein blasses Gesicht ist von echt mongolischem Schnitt, das
Auge aber auffallend gross, ernst blickend und ausdrucksvoll; seine
Züge verrathen Entschlossenheit. Die abrupte Art, wie er anfangs
mit unbeweglicher Miene die Worte ausstiess, hatte etwas kaiserlich
Vornehmes, Unumschränktes; man staunte, als sich die kurz ab-
gebrochenen Laute im Munde des Dolmetschers zu den verbind-
lichsten Reden gestalteten. Im Laufe des Gespräches belebte sich
sein Antlitz zu mildem freundlichem Ausdruck.


Graf Eulenburg dankte zunächst für das Entgegenkommen
der kaiserlichen Regierung und die Stellung, welche der Prinz per-
sönlich zu den Vertragsarbeiten genommen habe; Prinz Kuṅ erwie-
derte Aehnliches und rühmte vor Allem, dass der Gesandte in rück-
sichtsvoller Würdigung der politischen Lage von China in die auf-
[147]XVII. Der Prinz von Kuṅ.
geschobene Ausübung des Gesandtschaftsrechtes gewilligt habe; er
ersuchte ihn, Seine Majestät den König zu versichern, dass
er von hoher persönlicher Achtung für Allerhöchstdenselben be-
seelt sei und dass er sich von der Entwickelung des Verkehrs
zwischen Deutschland und China erspriessliche Folgen für beide
Länder verspreche. — Der Prinz drückte wiederholt sein Bedauern
aus, dass die Hoftrauer ihm verbiete, den Gesandten in Gala zu
empfangen. Als Dieser darauf sagte, dass es ihn besonders freue,
die Person des Prinzen kennen gelernt zu haben, dessen Ruf schon
nach Europa gedrungen sei, unterbrach Dieser den Dolmetscher fast
heftig: sein Ruf könne unmöglich so gross sein. — In der That
rühmten die mit dem Prinzen verkehrenden Diplomaten seine auf-
richtige Bescheidenheit: er sagte ihnen beständig, dass er bis vor
Kurzem den Geschäften ganz fremd und lediglich auf sein Ver-
gnügen bedacht gewesen sei; sie möchten seine einfältigen Fragen
entschuldigen, da er von garnichts wisse. So naiv nun wirklich
seine Fragen oft waren, so gingen sie doch immer auf die Sache
und führten zu Resultaten, welche mit keinem anderen Chinesen
erzielt wurden.


Man trank einige Tassen Thee; die Unterhaltung wurde mit
jeder Minute ungezwungener, wie zwischen Männern zu geschehen
pflegt, die aneinander Gefallen finden. Zuletzt liess der Prinz sich
lachend die beiden Frevler bezeichnen, die im Juni Pe-kiṅ so ruch-
los überfallen hatten. Auch Freund Tšaṅ, der sie damals so höflich
hinauscomplimentiren wollte, begrüsste uns jetzt mit herzlichem
Lachen. — Der Prinz geleitete den Gesandten bis zur Thür; so
steif der Empfang, so herzlich unbefangen war das Scheiden. Ueber
die Persönlichkeit des fürstlichen Herrn hatten wir den Schmutz
der Umgebung ganz vergessen; man that wohl deshalb so wenig
für das Haus, weil das neue Amtsgebäude für die auswärtigen Ge-
schäfte schon vollendet war und nur der Hoftrauer wegen nicht
eingeweiht werden konnte.


Am 28. September erwiederten die Minister Wen-siaṅ und
Haṅ-ki den Besuch des Gesandten. Beide sehen intelligent aus,
besonders der Tartare Wen-siaṅ, dessen Gesichtsbildung fast euro-
päisch ist. Damals 44 Jahre alt hatte er ein offenes, lebendiges,
resolutes Wesen, das Vertrauen weckte. Die Diplomaten in Pe-
kiṅ
hielten ihn für den klügsten und ehrlichsten unter allen chine-
sischen Grossen.


10*
[148]Haltung der Grossen. XVII.

Die dolmetschenden Gesandtschaftssecretäre und vorzüglich
Herr Hart, der seit Kurzem die früher von Mr. Horatio NelsonLay
bekleidete Stellung eines Ober-Intendanten aller Zollämter für den
ausländischen Handel in China hatte und einige Sommermonate in
Pe-kiṅ zubrachte, kamen mit dem Prinzen von Kuṅ und den ihm
beigeordneten Ministern fast täglich in Berührung. Schon nach
wenigen Besuchen trat in diesem Verkehr an die Stelle des steifen
amtlichen der unbefangene Ton freundschaftlicher Unterhaltung.
Namentlich schienen der Prinz und Wen-siaṅ allen Argwohn ab-
gestreift zu haben; sie zeigten den Fremden volles Vertrauen und
suchten deren Rath und Belehrung. Wen-siaṅ arbeitete redlich
und angestrengt, um sich über europäische Verhältnisse zu unter-
richten, mit dem ernsten Willen, daraus Nutzen zu ziehen für poli-
tische und militärische Reformen in seinem Vaterlande, zunächst
aber die Zolleinrichtungen und die Verwaltung der auswärtigen An-
gelegenheiten mit den gerechten Ansprüchen der Fremden in Ein-
klang zu setzen. Bei näherer Bekanntschaft äusserten die Minister
häufig naives Erstaunen darüber, in den Europäern gewissenhafte,
redliche Männer von Geist und Bildung zu finden, deren sittliche
Grundsätze und Rechtsbewusstsein in allem Wesentlichen mit dem
chinesischen »Li«, dem in der göttlichen Weltordnung und altem
Brauch begründeten Gefühl für Recht und Schicklichkeit in vollem
Einklang standen, so sonderbar auch ihre Lebensanschauungen in
Verhältnissen davon abwichen, die nicht in der menschlichen Na-
tur, sondern in Convenienzen wurzeln. Sie bewunderten oft die
der christlichen Cultur eigene Humanität, Selbstlosigkeit und edele
Gesinnung, die sich in den alltäglichen Beziehungen zum Nächsten
ausspricht, und gestanden offen, dass sie bis zu den letzten Kriegen
keine Ahnung gehabt hätten, weder von der Macht und Bedeutung
der fremden Völker, noch von deren Gesittung. Es lag im Interesse
der Behörden in Kan-ton, dem Hof von Pe-kiṅ alle Fremden als
Barbaren darzustellen, dessen Wahn zu hegen, dass sie seegeborne
Ungeheuer mit Schwimmfüssen seien, die, im Wasser heimisch,
sich auf dem Lande nur schwerfällig, etwa wie Seehunde bewegten,
und im Dunkeln am besten sähen. Das glaubten nach eigenem Ge-
ständniss noch Leute aus den besten Classen in Pe-kiṅ, als die
Alliirten 1858 in Tien-tsin standen. — Im Kriege hatten die Chi-
nesen einzelne schlimme Erfahrungen gemacht und diese traten,
wie alle derartigen Ausnahmen, in den Vordergrund gegen das im
[149]XVII. Benehmen der Fremden.
Ganzen anständige Verhalten der alliirten Truppen. Die vandalische
Verwüstung des Sommerpalastes,34) die Plünderung und Zerstörung
von Ortschaften am Pei-ho, wo nach der gedruckten Aussage eng-
lischer Officiere viel unschuldiges Blut geflossen ist, und die rück-
sichtslosen Räubereien in der Umgebung von Pe-kiṅ35) waren noch
in frischem Andenken; auch konnten die Consularbehörden nach dem
Friedensschluss keineswegs allem Unfug steuern, den unverständige
Landsleute in rohem Muthwillen oder frevelhafter Laune begehen
mochten.36) Nur zu häufig mussten die Diplomaten in Pe-kiṅ unter
der unreifen Ueberhebung von Schutzbefohlenen leiden, die ohne
Rücksicht auf das Gemeinwohl die Landesgesetze höhnten,37) An-
stand und Sitte verletzten, in der Demüthigung und Misshandlung
wehrloser Chinesen einen wohlfeilen Ruhm suchten; ihre Haltung
bewies den Ministern aber bald, dass solche Excesse nur Aus-
nahmen seien, dass die christliche Gesittung der chinesischen ihrem
[150]Räubereien der Grossen. XVII.
inneren Gehalt nach mindestens die Waage halte. Die Gesandten
strebten ernst und beharrlich den leitenden Staatsbeamten diese
Ueberzeugung einzuimpfen und haben ihre Aufgabe glücklich ge-
löst: der Prinz von Kuṅ und der Minister Wen-siaṅ gaben ihnen
den Sommer über täglich Beweise, dass sie eifrig bemüht waren,
auch den Kaiser zu ihrer Ansicht zu bekehren und ein richtiges
Verhältniss zu den Fremden anzubahnen.


Den klugen, mit den chinesischen Institutionen innig ver-
trauten Wen-siaṅ betrachteten die Diplomaten in Pe-kiṅ als den
politischen Mentor des Prinzen, der bis dahin, allen Geschäften
fremd und lediglich auf sein Vergnügen bedacht, auch der chine-
sischen Bevölkerung keineswegs für staatsmännisch begabt, wohl
aber als redlicher Charakter galt. Aber trotz dem eisernen Fleiss
des gewiegten und lebendigen Wen-siaṅ und trotz der häufigen
Schläfrigkeit des Prinzen bei politischen Verhandlungen, — deren
Detail ihn offenbar langweilte, — begriff Dieser oft leichter einfache,
der chinesischen Anschauung widerstrebende Ideen; er war eben
ohne vorgefasste Meinungen und unbefangener als der kluge Mi-
nister, der, von Jugend auf im Staatsdienste, das innerste Wesen
der chinesischen Verfassung in sich eingesogen und assimilirt hatte
und nur mit Mühe seine Gedanken in andere Wege zwängte.


Das grösste Hinderniss der von beiden Männern gewünschten
Reformen bot die notorische Unredlichkeit aller Beamten und das
auch an höchster Stelle stillschweigend begünstigte System der
Erpressungen. Der Prinz und Wen-siaṅ erklärten unumwunden
bei jedem Anlass, wo es sich um Besetzung verantwortlicher Stel-
lungen handelte, dass sie keinen unbescholtenen Beamten zu nennen
wüssten; deshalb wurde die oberste Verwaltung der Zollämter für
den fremden Handel, welche jetzt die ergiebigste — vielleicht die
einzige sichere Einnahme-Quelle des kaiserlichen Schatzes waren,
ausschliesslich Europäern anvertraut. Selbst unter ihren Amts-
genossen trauten sie keinem. Der alterschwache Kwei-liaṅ, des
Prinzen Schwiegervater, kam nicht in Frage. Tsuṅ-luen’s Ver-
waltung als Steuerdirector in Tien-tsin und als Vice-Präsident im
Finanz-Ministerium verhüllten dichte Schleier, die Niemand lüften
mochte. Haṅ-ki glänzte durch die Grossartigkeit seiner Räube-
reien. So eingelebt ist das System der Erpressungen, dass der
Hop-po oder Steuerdirector in Kan-ton, der sich nach fünf-
jähriger Verwaltung in Pe-kiṅ zu stellen hat. dem Officier der
[151]XVII. Haṅ-ki.
dortigen Thorwache für jedes Verwaltungsjahr 10,000 Tael zahlen
muss, welche dem General-Capitän der neun Thore zufallen. Jenes
Amt hatte Haṅ-ki bekleidet. Da nun unter seiner Verwaltung
der Handel fast anderthalb Jahre lang stockte, so zahlte er nur
36,000 Tael, um eingelassen zu werden. Dem Kaiser überreichte
er bei jeder der beiden Audienzen nach seiner Rückkehr eine An-
weisung auf 10,000 Tael, welche der hohe Herr eincassiren liess,
und bei dessen Flucht nach Džehol hatte Haṅ-ki abermals 10,000
Tael zu erlegen. Diese Abgaben scheinen ihn kaum gedrückt zu
haben; auf das Begräbniss seiner Mutter verwendete er im Sommer
1861 5000 Tael. Nun beträgt das Jahrgehalt des Hop-po in Kan-
ton
nur 2400 Tael, der gewöhnliche Aufwand seines Ya-mum aber
gegen 8000; einem Beamten in vortheilhafter Stellung pflegt näm-
lich in China seine ganze Sippe zu folgen und auf seine Kosten zu
leben. Trotzdem rechnete man Haṅ-ki’s Beute auf 300,000 Tael.
Ueber die Art der Erpressung erhielt Mr. Hart lustigen Aufschluss
von Haṅ-ki’s erstem Beamten, welcher feierlich behauptete, dass
Alles ehrlich erworben sei: der Schleichhandel auf dem Tšu-kiaṅ
habe damals den Bau und die Ausrüstung vieler Regierungsschiffe
erfordert; diese nothwendige Ausgabe sei pflichtgemäss verrechnet,
das Geld aber nicht verwendet worden; die Regierung habe davon
nur Vortheil, weil die wirkliche Ausrüstung weit mehr gekostet
hätte, als Haṅ-ki aus den Staatskassen erhob. Dieses Raisonne-
ment war ernst gemeint. Am kaiserlichen Hofe scheint man die
Fälschungen zu begünstigen: der Hop-po erhält von da oft Auf-
träge, die Tausende verschlingen, darf aber den Himmelssohn nie
mit der Rechnung belästigen.38)


Die Corruption geht durch alle Classen der Mandarinen.
Zum Verdruss der Gesandten suchten häufig Chinesen unter dem
Vorwand, dass sie ihnen dienten, den Landesgesetzen zu trotzen.
Solches Imperium in imperio hatte die Regierung von Einrichtung
der fremden Gesandtschaften in Pe-kiṅ gefürchtet; selbst Prinz
Kuṅ
und seine Amtsgenossen wachten eifersüchtig über jeden Ein-
griff in die kaiserlichen Hoheitsrechte, und die fremden Gesandt-
schaften verwahrten sich bündig gegen alle Theilnahme daran.
Da sie das Recht hatten, ihr Eigenthum zollfrei in Pe-kiṅ ein-
zuführen, so erklärten häufig Fuhrleute an den Thoren, dass ihre
[152]Kleine Conflicte. XVII.
Karren mit Waaren für diese oder jene Gesandtschaft befrachtet
seien. Diesem Missbrauch zu steuern schlug Herr Bruce dem
Prinzen vor, dass ein Beamter solche Karren jedesmal nach der
betreffenden Legation geleiten solle, damit ihr Inhalt untersucht
würde; der Prinz aber rief halb verzweifelt: Glaubt ihr denn, dass
der Beamte uns nicht bestehlen, nicht ein Geschäft machen würde
aus dem Einschwärzen der Waaren? — Auch von der Gewissen-
losigkeit ihrer eigenen Landsleute, unter welchen, wie in der Blüthe-
zeit des Opium-Schmuggels, die Repräsentanten der angesehensten
Häuser besonders glänzten, hatten die Gesandten in dieser Hinsicht
zu leiden. Ein Vertreter des Hauses Dent in Tien-tsin sandte
mit eherner Stirn eine Menge Kisten unter Adresse des Herrn Bruce
nach Pe-kiṅ, der natürlich den Betrug anzeigte. Solcher Unfug
schädigte wesentlich die Stellung der Fremden; denn die Spione
der feindlichen Parthei berichteten nach Džehol, dass die Diplo-
maten dem Vertrage entgegen in Pe-kiṅ heimlich Handel trieben,
und der Prinz hatte Noth diese Anklage zu entkräften.


Auch in anderen Dingen beriefen sich Chinesen oft mit
frevelhaftem Leichtsinn auf die Fremden. Nach dem Landesgesetz
scheint in Pe-kiṅ Niemand ohne Erlaubniss der Behörden sein Haus
niederreissen und ein neues bauen zu dürfen. Ein Nachbar der Missio-
nare in Pe-taṅ hatte es trotzdem gethan und erklärte, von der Polizei
belangt, die Missionare hätten es ihm erlaubt. Abgesehen von deren
Competenz war die Aussage falsch und wurde am Schuldigen schwer
geahndet. — Dieselben Missionare hatten ein Haus der chinesischen
Stadt auf den Abbruch gekauft, um das Material zu benutzen; die
damit betrauten Arbeiter schleppten aber, auf ihre Autorität fussend,
auch noch die Steine und Balken eines alten Tempels zu eigenem
Gebrauche fort und verwirkten durch diese Schändung die här-
testen Strafen. Die Missionare selbst hatten zum Einreissen jenes
Hauses nicht die Erlaubniss der Behörden eingeholt, und die Sache
machte das peinlichste Aufsehn.


Im Ganzen gestaltete sich das Verhältniss der Fremden zur
Bevölkerung im Sommer 1861 vortrefflich. Pöbel giebt es in jeder
grossen Stadt: der chinesische ist aber nicht schlimmer, als der
civilisirte in Europa. In schlechten Stadtvierteln geschah es wohl,
dass junge Burschen aus dem Volkshaufen, der sich fast überall
um einzelne Reiter schaarte, ihnen Schimpfworte zuriefen, auch mit
Steinen oder, sonderbar genug, mit Kupfermünzen nach ihnen
[153]XVII. Chinesische Litteraten.
warfen; in solchen Fällen legten sich aber meist Leute aus den
besseren Ständen in’s Mittel und verwiesen die Lümmel nachdrück-
lich zur Ruhe. Verletzt wurde Niemand, obgleich die Mitglieder
der Gesandtschaften täglich zu Fuss und zu Pferde die Stadt
durchstreiften. Auf ihren Ausflügen in die Umgegend wurden sie
überall freundlich aufgenommen, mit zuvorkommender Artigkeit be-
wirthet und bedient. In voller Sicherheit reiste ein Einzelner weit
und breit durch das Land.


Einen näheren Einblick in das chinesische Leben gewannen
die Bewohner der Legationen im Umgang mit Männern aus der
Classe der Studirten, die ihnen als Schreiber, Sprachlehrer und
Gehülfen beim Uebersetzen dienten; auf der englischen Gesandt-
schaft war der damit verbundenen Dolmetscherschule wegen eine
beträchtliche Zahl derselben angestellt. Die ärztliche Hülfe, welche
der zur Gesandtschaft commandirte Dr. Rennie gern überall leistete,
führte ihn vielfach in die Häuser dieser Linguisten, ihrer Ver-
wandten und Freunde; er sah dabei ihr glückliches Familienleben
und erhielt den günstigsten Eindruck von der Gesittung der Mittel-
classen, die ja den maassgebenden Kern jeder Bevölkerung bilden.
Nach seinen Schilderungen wären alle guten Regungen des Men-
schen in seinen Beziehungen zum Nächsten bei ihnen auf das zar-
teste entwickelt; er erzählt, — nicht als Ausnahmen, sondern als
tägliche Erfahrung, — Beispiele rührender Krankenpflege, dank-
barer Liebe und Selbstlosigkeit, welche beweisen, dass ihnen die
besten Seiten des menschlichen Daseins aufgegangen sind, dass die
sittlichen Keime ihrer Cultur trotz allem äusseren Verfall und der
Maske sonderbarer Convenienz noch heut die schönsten Blüthen
tragen. An unbegreiflichen Anomalieen, welche deren Lücken auf-
decken, hat unsere eigene Gesittung eine zu reiche Fülle, um mit
der chinesischen rechten zu dürfen.


Der Austausch der Gedanken und Beobachtungen mit den
chinesischen Schriftgelehrten führte oft zu den lustigsten Erörte-
rungen. Sie bekannten täglich offener ihre Ueberraschung, in den
Fremden, an deren Seehunds-Natur sie geständlich noch bis vor
Kurzem glaubten, Männer von Bildung und Zartgefühl zu finden.
Allmälig gewannen sie hohe Achtung vor der europäischen Cultur,
konnten jedoch über gewisse Aeusserlichkeiten nicht hinwegkommen.
So verletzte sie auf’s tiefste, dass Herr Bruce, der einen Wagen
mit nach Pe-kiṅ brachte, eigenhändig die Zügel führte: der erhabene
[154]Einwohnerzahl. XVII.
Gesandte der mächtigen britischen Nation ein Rosselenker! —
Eines Tages kam Charlie, ein grosser Jagdhund des Herrn Bruce,
der Liebling der ganzen Gesandtschaft, in ein Zimmer, wo sich
grade der die Wache commandirende junge Officier mit einem der
Dolmetscher und dessen chinesischem Sprachgelehrten Tšaṅ befand.
Letzterer blickte finster, als der Officier den Hund neckte und konnte
seinen Aerger kaum verbergen, als die Balgerei etwas toller wurde.
Als aber der junge Krieger dem Hunde gar in’s Ohr bellte, hielt
Tšaṅ sich nicht länger; er nahm seine Brille von der Nase, steckte
sie würdevoll ein und schritt voll Entrüstung hinaus. — Folgenden
Tages fragte er den Dolmetscher nach Rang und Stellung des
hundefreundlichen Herrn und äusserte darauf, dass sein Stand
Alles erkläre: auch in China hätten die Mandarinen des Kriegerstan-
des keine Erziehung. Uebrigens habe Charlie selbst gebrummt, als
der Officier ihm in das Ohr bellte, und damit mehr Würde bewiesen
als dieser. — Charlie erwarb sich bei der chinesischen Dienerschaft
bald solche Achtung, dass sie ihn nicht anders nannten als Tša-
ta-lau-ye
, — etwa Charles Esquire.


Im vertrauten Verkehr mit ihren Linguisten, welche den
grössten Theil des Tages in den Legationen zuzubringen pflegten,
erhielten die Diplomaten auch wichtige Aufschlüsse über die Haupt-
stadt und deren Bewohner. Die früheren Angaben über die Ein-
wohnerzahl waren sehr schwankend und sicher übertrieben. Zäh-
lungen wurden auch jetzt nicht veranstaltet; die Schätzungen der
Linguisten beruhten aber auf langjähriger Beobachtung und zuver-
lässiger Rechnung; sie stimmten ziemlich genau dahin überein, dass
die Tartarenstadt in runder Zahl gegen 100,000 Hausstände enthalte.
Da nun verheirathete Söhne in China meist bei den Eltern wohnen,
so rechnete man jeden Hausstand durchschnittlich auf 8 Köpfe.
Die Garnison war über 100,000 Mann stark. Auf die Chinesenstadt
rechnete man 50,000 Hausstände; somit betrüge die Gesammt-
bevölkerung gegen 1,300,000 Seelen. So tief diese Zahl unter
früheren Schätzungen steht, so ist sie doch nach der allge-
meinen Ansicht der Fremden eher zu hoch gegriffen. Die Be-
völkerung von Pe-kiṅ hat sich vielleicht gemindert, aber gewiss
nicht in dem Maasse, wie die früheren Angaben vermuthen lassen;
denn offenbar ist ein grosser Theil, vielleicht über die Hälfte
des von der Ringmauer umschlossenen Gebietes niemals städtisch
bebaut gewesen.


[155]XVII. Su-tšuen.

So ruhig und nüchtern die Bevölkerung der Hauptstadt dem
Fremden scheint, so ist sie doch ein wichtiger Factor in allen
politischen Angelegenheiten. Die öffentliche Meinung in anderen
Städten des Reiches kümmert den kaiserlichen Hof nur wenig; mit
den Bewohnern von Pe-kiṅ sucht er sich stets in Einklang zu setzen.
Die Ursache liegt nah: er ist in ihren Händen, während Unzufrieden-
heit und Aufruhr in anderen Theilen des Reiches ihn nur von ferne
berühren. Die Bannerleute, der wichtigste Theil der Garnison,
wohnen seit mehreren Generationen in Pe-kiṅ und sind mit der
Bevölkerung innig verschmolzen, ja gewissermaassen die Bevölkerung
selbst; denn Familienbande knüpfen sie sicher an alle Stände. Die
Gunst der Bevölkerung war die Stärke des Prinzen von Kuṅ in der
damaligen politischen Conjunctur. Denn abgesehen davon, dass
seine Gegner den Kaiser aus selbstsüchtigen Absichten, zum tiefen
Schmerz aller ehrlichen Patrioten nach Džehol getrieben hatten,
war Su-tšuen, die Seele jener Camarilla, aus anderen Ursachen
dem Volke verhasst, dessen Wünsche sich deutlich in einem damals
umlaufenden Gerüchte spiegelten: die erste Handlung des jungen
Kaisers sei der Befehl zu Su-tšuen’s Hinrichtung gewesen. Man
verabscheute ihn als Urheber der Geldnoth, welche im Som-
mer 1861 ihren Gipfel erreichte und das Volk in grosse Aufregung
versetzte. Seit einigen Jahren hielten nämlich die Tae-piṅ alle
Kupferminen besetzt, welche die kaiserliche Münze zu versorgen
pflegten; deshalb konnte kein Kupfergeld geprägt werden. Solches
bildet aber das einzige Tauschmittel im Handel und Wandel des
Volkes; gemünztes Silber giebt es nicht, nur ungemünztes kommt
in Barren dem Gewicht nach bei grösseren Zahlungen in Anwendung.
Su-tšuen liess nun als Präsident des Finanz-Departements zunächst
eiserne Münzen prägen, welche die Bewohner von Pe-kiṅ entrüstet
zurückwiesen und dem Urheber auf offener Strasse an den Kopf
warfen. Dann liess er Papiergeld ausgeben, das die Kassen zum
vollen Werthe wechselten. Allmälig aber sank der Cours, welchen
vier privilegirte Banken zu normiren hatten, und man erfuhr, dass
der Nominalwerth der ausgegebenen Noten die Zahlungsfähigkeit
der Regierung um ein Vielfaches überstieg. Su-tšuen soll bei dieser
Operation keinen Schaden gelitten haben: kurz vor dem Termin, an
welchem er 1860 als Präsident des Finanz-Departements öffentlich
Rechnung legen musste, gingen dessen Amtsgebäude mit sämmtlichen
auf die Emission der Noten bezüglichen Documenten in Flammen
[156]Geldnoth. XVII.
auf. — Im Sommer 1861 fiel nun das Papiergeld unter den dreissig-
sten Theil seines Nominalwerthes, ja es kam vor, dass im Volks-
gedränge an den Kassen die Notenbesitzer, um nur Münze zu haben,
einander unterboten, dass die Kassirer ruhig das niedrigste Ange-
bot abwarteten, während draussen Tausende harrten und bangten.
In Handel und Wandel wollte Niemand mehr Papiergeld nehmen.
Durch den Krieg und vorzüglich durch die Flucht des Kaisers,
welcher grosse Massen Reis nach Džehol kommen liess, stieg der
Preis dieses nothwendigsten, und in Folge dessen aller übrigen
Lebensmittel auf das Doppelte und darüber, während das coursirende
Tauschmittel werthlos wurde: so entstand denn bei den ärmeren
Classen bittere Noth, als deren Urheber Su-tšuen vom Volke offen
verflucht wurde. Amtlich konnte man ihn nicht belangen; die
Rechnungen waren verbrannt und seine Operationen so complicirt,
dass er sehr wohl die Schuld der übermässigen Ausgabe auf die
damit betrauten Banken schieben konnte, während diese wieder das
Finanz-Departement bezüchtigten. Die Regierung scheint sich
schliesslich damit geholfen zu haben, dass sie den Aemterhandel aus-
dehnte und sich bereit zeigte, einen bestimmten Theil der Kauf-
summe, der früher in Silber erlegt werden musste, jetzt in Papier
zu festem, wenn auch niedrigem Course anzunehmen. Dadurch
wurden die Reichen veranlasst, von den ärmeren Classen die Noten
aufzukaufen, welche die Regierung allmälig einzog. Trotz dem
grossen Schaden, den das Volk noch immer litt, hatte sich die
Aufregung zur Zeit unserer Anwesenheit in Pe-kiṅ gelegt. Uebrigens
coursirten die Noten nur in der Hauptstadt, nicht in der Provinz. —
Anders scheint es im 14. Jahrhundert gewesen zu sein, als die
Mongolenkaiser ihre chinesischen Unterthanen durch übermässige
Ausgabe von Papiergeld betrogen. In der Zwischenzeit kannte man
solches nicht in China.


Die von der Bevölkerung der Hauptstadt geübte politische
Macht ist wohl eben so alt als das System des chinesischen Staates.
Dessen Grundprincip, dass die im Himmelssohne incarnirte sittliche
Weltordnung, kein Zwang die Handlungen der Menschen lenken
soll, ist mit der chinesischen Cultur unzertrennlich verwachsen und
überlebt jede Dynastie. Umwälzungen, welche auf Umsturz oder
Modification dieses Systemes ausgehen, hat kein chinesischer Kaiser
zu fürchten; es giebt dort nur Rebellionen, welche auf Beseitigung
einer nicht mehr als Himmelssohn anerkannten Person und ihres
[157]XVII. Die Zeitung von Pe-kiṅ.
Hauses gemünzt sind. Das halbe Reich mag in Flammen stehen
ohne dass die kaiserliche Autorität darunter litte. Erhebt sich
aber die Hauptstadt gegen den Herrscher, so ist seine Per-
son gefährdet. Nun ging die Hausmacht der Mandschu in der
Bevölkerung von Pe-kiṅ auf und nahm chinesische Cultur an;
aus einem Werkzeug wurde sie ein politischer Factor, mit
welchem der Hof zu rechnen hat. Wo es sich um keinen
Systemwechsel handelt, da entscheidet das persönliche Schick-
sal des Herrschers; so müssen die chinesischen Kaiser eifrig
bedacht sein, sich die Gunst ihrer nächsten Umgebung zu
sichern.


Dass die Himmelssöhne von jeher mit der öffentlichen Mei-
nung ihrer Hauptstadt rechneten, beweist die Zeitung von Pe-kiṅ,
die wahrscheinlich älteren Ursprungs ist als alle europäischen.
Sicher kennt man das Datum ihrer Entstehung nicht; Traditionen
setzen sie in die Zeit der Suṅ-Dynastie, die 1366 erlosch. In
den jüngst vergangenen Jahrhunderten spielte die Zeitung beständig
eine Rolle. Sie ist kein amtliches Organ im eigentlichen Sinne,
wohl aber bestimmt, die öffentliche Meinung zu leiten. Ihre Ver-
bindung mit der Regierung soll darauf hinauslaufen, dass Beamte
den Herausgebern alle amtlichen Documente zur Publication zu-
stellen dürfen, welche ihnen nicht ausdrücklich als vertrauliche be-
zeichnet werden; womit einfach ausgesprochen ist, dass die Behör-
den Stücke auswählen, — oder verfassen, — durch welche sie auf
die öffentliche Meinung wirken möchten. Die Zeitung von Pe-kiṅ
ist die einzige in China, sie wird im ganzen Reiche gelesen. In
der Hauptstadt erscheinen drei Ausgaben: eine in grossem Format
und rothem Umschlag alle zwei Tage publicirte soll nur amtliche
Documente und Bekanntmachungen enthalten; eine tägliche Aus-
gabe in weissem Umschlag verbreitet sich über die in jenen Docu-
menten berührten Ereignisse; eine dritte wohlfeile Ausgabe ist ein
Auszug aus den beiden anderen. — Ausserdem erscheint viertel-
jährlich ein amtliches »Roth-Buch« in sechs Bänden, zwei auf
das Heer und vier auf den Civildienst bezüglichen, in welchen die
Thätigkeit aller Staatsdiener beleuchtet wird. — Bei der vollkom-
menen Freiheit, welche die Presse in ganz China geniesst, muss es
Wunder nehmen, dass nicht oppositionelle Zeitungen erscheinen.
Das Publicum hat die Sache billiger: alle Handlungen auch der
höchsten Staatsbeamten werden in zahllosen öffentlichen Mauer-
[158]Eindruck von Pe-kiṅ. XVII.
anschlägen ohne Schonung blossgestellt, oft scharf gegeisselt und
verhöhnt, ohne dass die Behörden dagegen einschritten. So gross
ist die Macht der Gewohnheit, dass jeder Versuch dieses alte Recht
zu schmälern wahrscheinlich zum Aufruhr führen würde. In vielen
Fällen sucht die Regierung selbst durch Maueranschläge auf die
öffentliche Meinung zu wirken.


Um Pe-kiṅ gründlich zu sehen war unser Aufenthalt zu
kurz; die schonenden Rücksichten gegen die chinesische Regierung
brachten uns auch um den Besuch vieles Sehenswerthen. Der aus-
geprägte Typus des Ganzen machte aber Allen den mächtigsten Ein-
druck, man spürt auf Schritt und Tritt den historisch merkwür-
digen Boden. Die organische Anlage der Stadt mit ihrer grossen
nordsüdlichen Mittelaxe, in welcher die Hauptthore, der kaiserliche
Palast und der ihn schirmende Kohlenberg, das Gesicht nach Sü-
den gewendet, gleichsam das Reich überschauen, die endlosen breiten
Strassen mit dem prächtigen Ornament und dem bunten lebendigen
Treiben, die grossen parkartigen Gärten mit ihren Denkmälern und
Lusthäusern, ihren lotusbewachsenen Seen, Marmorbrücken und
Granitquais, die dunkelen ehrwürdigen Tempel und Klöster, die
mächtigen in schönem Ebenmaass der Verhältnisse erbauten Thor-
gebäude und die gewaltigen Massen der Ringmauer bilden ein Ganzes
von ernster bedeutender Wirkung. Die alte politische Grösse von
China, der gebietende Willen des Himmelssohnes sprechen sich
wohl nirgend so schlagend aus, wie in der Einheit dieser Anlage,
vor Allem in den colossalen einfachen Mauerlinien der Festungs-
werke. Doch ist es der düstere Eindruck vergangener Grösse, be-
grabener, modernder Gewalt, sonderbar erhöht durch eine dicke
Schicht bleichen Staubes, die, fast beständig auf Pe-kiṅ lagernd,
den sinkenden Bauten das gespenstisch greisenhafte Ansehn ver-
flossenen Daseins giebt.


Dr. Lucius machte von Pe-kiṅ aus mit einigen Herren von
der russischen Gesandtschaft einen Ausflug nach der grossen chine-
sischen Mauer. Sie ritten am 28. September Morgens aus dem west-
lichen Nordthor der Tartarenstadt und verfolgten die über hun-
dert Schritt breite, mit alten Bäumen gesäumte Kunststrasse, welche
von da schnurgrade nach Norden läuft. Karawanen schwer bela-
[159]XVII. Dr. Lucius’ Ausflug nach der Grossen Mauer.
dener Kameele und Maulthiere mit mongolischen Treibern, lange
Züge zweirädriger Karren mit Pferden, Ochsen und Eseln bespannt
zeugten vom lebhaften Verkehr der Hauptstadt mit den Gegenden
jenseit der Mauer, mit den nomadischen Stämmen des Nordens, die,
durch die Grundbedingungen ihres Lebens der chinesischen Cultur
fremd, das Reich Jahrtausende hindurch bedrängt, überfluthet und
periodisch unterjocht haben. — Tausende von Arbeitern besserten
damals unter Aufsicht von Mandarinen die Strasse für den Einzug
des jungen Kaisers aus. — Vier Li40) vom Thore passirt man eine
breite, etwa 360 Schritt lange, aus colossalen Quadern gefügte
Brücke, bis zu welcher sich Reihen von Kaufläden, Schenken und
Herbergen erstrecken. Jenseit liegt ein ansehnlicher Flecken; von
da läuft die Strasse durch Durra-, Mais-, Bohnen- und Solanum-Felder,
die auch hier meist mit Ricinus-Stauden gesäumt sind. Die Ernte war
überall im Gange. Etwa 60 Li von Pe-kiṅ führt eine der beschriebenen
ähnliche Brücke in die Stadt Tša-kau, und kurz hinter derselben setzt
eine eben so gewaltige über ein winziges Flüsschen. Da die
Quadern des Pflasters theils auseinandergewichen, theils von fuss-
tiefen Wagenspuren durchfurcht sind, so reitet oder fährt man
lieber durch den Fluss. — Der ebene sandige Weg läuft immer
nördlich auf das Gebirge zu und mündet endlich in eine Thalmulde,
wo Mauerreste und alte Thürme stehen; hier wird die Strasse steinig
und beginnt zu steigen.


Etwa 10 Li weiter und 95 Li von Pe-kiṅ liegt das wenige
Häuser zählende Oertchen Nam-kau, wo die Reisenden schliefen.
Sie fanden dort, wie in chinesischen Herbergen gewöhnlich, gute
Stallung, für sich selbst aber nur die Bequemlichkeit, die sie mit-
brachten. Nach einem Ritt von sieben deutschen Meilen fehlt aber
weder Appetit noch Schlaf; die Reisenden waren obenein mit allem
Nothwendigen und Ueberflüssigen versehen und brachten eine be-
hagliche Nacht zu.


Von Nam-kau aus pflegt man der schlechten Wege halber
Maulthiere zu benutzen, welche den über Kiakta nach Irkutsk
gehenden russischen Courieren in vertragsmässig bestimmten Relais
gestellt werden. Sie bezahlen nach Gutdünken, je nachdem sie zu-
frieden sind. Da aber Dr. Lucius und seine russischen Gefährten
nicht in amtlicher Eigenschaft reisten, so suchten die schlauen Chi-
nesen das Mögliche zu erpressen; sie forderten 5 und nahmen nach
[160]Nam-kau. Tšue-run-kwaṅ. XVII.
langem Sträuben 3 Rubel für jedes Maulthier, eine unverständige
Summe nach chinesischem Maasstab für den etwa 45 Li weiten
Weg nach Tša-tau und zurück.


Der Weg führt von Nam-kau aus zunächst durch ein Thor,
zu dessen Seiten zerfallene mit Thürmen versehene Mauern die
Berge hinansteigen; hier konnte der Pass geschlossen werden.
Das Thal verengt sich nun zur Breite von 400 Schritt; die 1200
bis 1800 Fuss hohen Felsgipfel zu beiden Seiten sind kahl, die
Hänge nur spärlich mit magerem Grase bewachsen. Mächtige
Quadern, die Reste einer alten Kunststrasse, liegen seitwärts vom
steilen Wege wild übereinandergewälzt, wie Felstrümmer im Bett
eines reissenden Bergstromes. Der steinige Pfad war selbst für die
sicheren Maulthiere so schwierig, dass Dr. Lucius die Möglichkeit
ihn mit Wagen zu machen trotz den Versicherungen seiner russi-
schen Gefährten bezweifelte, bis einige von Fels zu Fels herab-
polternde Karren bewiesen, dass chinesischen Fuhrleuten Alles mög-
lich ist. Der Hauptverkehr wird aber durch Lastthiere vermittelt;
Reisende lassen sich oft in Sänften befördern, die von zwei Maul-
thieren getragen werden.


Etwa 15 Li von jenem Thore liegt Tšue-run-kwaṅ, jetzt
eine einzige Häuserreihe, früher, nach den Trümmern längs der
alten Kunststrasse und dem zwei Meilen weiten Umfange der Ring-
mauer zu urtheilen, eine ansehnliche Stadt. Die Mauer läuft in
weitem Kreise durch das Thal und zu beiden Seiten bis auf die
wohl 1800 Fuss hohen Gipfel hinauf, den Pass durch eine doppelte
Vertheidigungslinie schliessend. Nach dem Thal zu fällt sie in
treppenartigen Stufen ab, auf welchen Tausende von Bogenschützen
Platz fanden. — Mitten in der einzigen Strasse steht ein alter stei-
nerner Triumphbogen mit Stuck-Reliefs, welche Götter und Helden
im Kampf und Sieg über feindliche Dämonen darstellen.


Fünf Li von Tšue-run-kwaṅ schneidet der Weg ein kleineres
Fort, dessen Ringmauern, etwa eine Stunde im Umkreis, den Pass
in ähnlicher Weise doppelt sperren; nur wenige bewohnte Häuser
stehen innerhalb. Von da verengt das Thal sich mehr und mehr;
der Weg biegt scharf nach Westen um und tritt in die wildeste
Felsöde. Hier steht ein Budda-Tempel; in der Felswand öffnet
sich etwa 40 Fuss über dem Boden eine Grotte mit hölzernem Ge-
länder, zu welcher in das Gestein gesprengte Stufen hinanführen;
innen steht ein Budda-Bild; ein im Rufe der Heiligkeit lebender
[161]XVII. Die Grosse Mauer.
Einsiedler soll dort gehaust haben. — Von diesem Punct erblickte
man zuerst auf den Bergrücken die mächtigen Windungen der
Grossen Mauer, welche gelb in der Sonne glänzte. Mühsam klim-
men die Thiere den steilen Pfad hinan bis zur Passhöhe.


Die gut erhaltene Mauer ist hier etwa 30 Fuss hoch, aus
Quadern aufgebaut, mit Brustwehren aus grossen Ziegeln nach
beiden Seiten. In Zwischenräumen von 300 bis 400 Schritt stehen
viereckige Thürme in der Mauer, mit drei Geschützpforten über
der Mauerhöhe in jeder der vier Seiten. Grosse Haufen alter
eiserner Geschützrohre lagen bei dem Doppelthor des Passes und
in den nächsten Thürmen, zu denen bequeme Treppen hinanführen.
Verschlüsse fanden sich nirgends; Thore und Thüren standen offen.


Bei dem Durchgangsthor stiegen die Reisenden auf die
Mauer, welche hier sieben Schritte breit und mit Steinplatten ge-
deckt ist; wo diese auseinanderwichen, drang der Regen ein und
die Mauer zerfiel; hier gewahrt man, dass nur die äussere Beklei-
dung aus Quadern, der Kern aber aus Schutt und Steingeröll be-
steht. — Dr. Lucius verfolgte den Mauergang bis zum nächsten
Gipfel, fand aber die Steinplatten vom Regen so glatt gewaschen,
dass bei den starken Steigungen und Senkungen der allen Terrain-
Bewegungen folgenden Mauer stellenweise das Gehen sehr beschwer-
lich war. Auf der letzten Strecke zum Gipfel, wo sie einen Hang
von über 45 Grad Neigung hinanklimmt, geht der Mauerweg in steile
hohe Treppenstufen über.


Oben ist eine weite Aussicht. Nach Südosten senkt sich
das Thal, durch welches die Reisenden kamen; nach Ost und West
überblickt man viele Meilen weit die massigen Werke der Mauer,
welche, hier in ein Thal verschwindend, dort über 3000 Fuss hohe
Felskuppen klimmend, der Bodengestaltung zu spotten scheint.
Oft sind launisch die steilsten Linien, die höchsten Gipfel gewählt,
als ob es kein Hinderniss gäbe. Unwillkürlich gemahnt der Bau
an den trotzigen Willen des Despoten, der keine Grenze seiner
Macht erkennt. So erstreckt sich die Mauer viele hundert Meilen
weit und vielfach in doppelter Linie, mit seitlichen Zweigen. Um
214 soll Kaiser Ši-hoaṅ-ti den Bau begonnen haben; spätere Ge-
schlechter setzten ihn fort, und dass noch in neuerer Zeit für die
Erhaltung gesorgt wurde, beweist der Zustand der Mauer an vielen
Stellen. Sie sollte ein Bollwerk der chinesischen Gesittung sein
gegen die Eingriffe nordischer Barbaren, ist aber kaum mehr als
IV. 11
[162]Die Tartaren und die Mongolen. XVII.
ein Symbol der Abwehr und vergegenwärtigt die heutige Krieg-
führung der Chinesen, die mit mächtigen Mauerfronten, Tausenden
unbrauchbarer Geschütze, mit gewaltigem Knallen, Fahnenschwenken,
mit Grimassen und pomphaften Drohungen den Feind in die Flucht
zu schlagen denken. Man möchte bezweifeln, dass die Mauer auch
nur die räuberischen Streifzüge einzelner Horden hemmte; denn
zur Vertheidigung ist sie zu ausgedehnt, unvertheidigt aber bietet
sie kein Hinderniss. Weder die Heere der Mongolen im 13. noch
die der Tartaren im 17. Jahrhundert hielt die Mauer auf. Schwache
chinesische Herrscher haben immer vor diesen nur dem Namen
nach tributpflichtigen Nachbarn gezittert, den Frieden erkauft. Das
regierende Haus der Tsiṅ ist dem Stamm der Mandschu-Tartaren
entsprossen und herrscht über China, weil es sich dessen über-
legene Gesittung aneignete; denn die Masse und die Cultur des
chinesischen Volkes sind zu bedeutend, um nicht immer wieder
eine fremde Gewaltherrschaft abzuschütteln. Die Tsiṅ verbinden
sich ihre Stammgenossen durch Verleihung einflussreicher Aemter,
zu denen sich der Chinese nur durch angestrengtes Arbeiten empor-
schwingen kann, und haben von dieser Seite nichts zu befürchten.
Die Mongolenfürsten aber sucht das Kaiserhaus noch heut bestän-
dig durch Wechselheirathen an sich zu fesseln, und ruft nur im
äussersten Nothfall deren Streitkräfte in das Reich. Unterdessen
dringen Chinesen colonisirend immer weiter nach Norden und
Westen vor und strecken hundert Fühlfäden über die grosse Mauer
hinaus. Wo sie Fuss fassen, überflügelt ihre höhere Gesittung die
rohe Einfalt der Nachbarn; die wüste Hochebene Gobi setzt ihnen
jedoch eine natürliche Grenze, nicht aber den wilden Nomaden,
deren Heimath sie ist. Nur dem Namen nach tributpflichtig, bleiben
diese ein drohendes Wettergewölk am Horizont, dessen Schlägen,
wenn es sich zusammenballt, das chinesische Reich periodisch immer
wieder erliegen muss.


Solche Gedanken musste die Aussicht von jenem Gipfel er-
wecken. Nach Norden breitet sich am Fuss der steil abfallenden
Hänge eine weite grüne Fläche aus, begrenzt durch fernes Ge-
birge: das ist der Abhang des unermesslichen Hochlandes Gobi.
Am Fusse dieser Terrainstufe liegt Kalgan, der berühmte Sammel-
platz der Karawanen aus der Mongolei, aus Tibet und Turkestan.
Eine zweite Linie der grossen Mauer säumt, hart hinter Kalgan
vorbeistreifend, die Wurzeln des steil ansteigenden trockenen Hoch-
[163]XVII. Rückkehr nach Tieṅ-tsin.
landes. Dessen Contrast mit der üppig grünen zwischen den beiden
Armen der Mauer liegenden Ebene an seinem Fusse soll wunderbar sein.


Die Sonne ging den Reisenden in einem Gluthmeer hinter
zackigen Gipfeln unter; sie übernachteten im nahgelegenen Tša-tau
jenseit der Mauer, bestiegen dieselbe nochmals am folgenden Mor-
gen und verfolgten sie eine Strecke in östlicher Richtung. Dann
kehrten sie auf dem beschriebenen Wege nach Pe-kiṅ zurück.


Die Zeit war in Pe-kiṅ allzuschnell verstrichen. Am 3. Oc-
tober Mittags nahmen Graf Eulenburg und seine Begleiter von ihren
gütigen Wirthen Abschied und ritten nach Tuṅ-tšau. Das Gepäck
war vorausgeschickt und schon in die Boote gestaut; es bedurfte
nur noch eines kräftigen Griffes in die Dollars, um welche sich die
Bonzen, welche unsere zurückgelassenen Sachen verwahrten, Karren-
führer, Packträger und dienstfertige Mandarinen mit löblichem
Wetteifer bewarben. Gegen fünf Uhr wurden wir flott; es war ein
köstlicher Herbsttag; die anmuthigen Ufer des Pei-ho glänzten in
mildem Sonnenschein. Gegen Dunkelwerden versammelte man sich
im Speise-Boot; um elf Uhr Abends wurde angelegt und die Nacht
über gerastet. Ebenso die folgenden Tage. Die behagliche Ruhe
der Flussfahrt mundete köstlich nach dem bewegten vollen Leben
in Pe-kiṅ, an dessen Eindrücken wir lange zehrten. Den Fluss
belebten viele grosse Dschunken, die Reis und Getreide nach der
Hauptstadt brachten. Der Anblick des Landes war sehr verändert;
die üppigen Ernten fielen in der Zwischenzeit unter der Sichel des
Schnitters, und der Blick schweifte nun unbeschränkt über die
flachen Ufer. So wurden viele Dörfer, Tempel und ländliche An-
siedlungen sichtbar, welche die funfzehn Fuss hoch wachsende
Durra früher versteckte.


Wir glitten langsam den Fluss hinab und gelangten am
Abend des 4. October nach Ho-si-wu. Den 5. Morgens konnte
man bei günstigem Winde Segel spannen und schoss nun pfeil-
schnell vorwärts. Mittags erreichten die Boote Yaṅ-tsun; Abends
legten sie bei den Vorstädten von Tien-tsin an. Bei Tagesgrauen
benutzten die Schiffer die einsetzende Ebbe zur schnelleren Thal-
fahrt, und bald nach sieben grüssten wir heiter und erfrischt die
Räume, wo besonders der Gesandte so qualvolle Tage verlebte.


11*
[[164]]

XVIII.
ABREISE VON TIEN-TSIN. REISE DER ARKONA VON DER
PEI-HO-MÜNDUNG[NACH]NANGASAKI UND HONG-KONG.

VOM 7. OCTOBER BIS 11. NOVEMBER 1861.


Tien-tsin erschien uns nach den grossartigen Eindrücken von
Pe-kiṅ noch unerträglicher, ein Pfuhl von Schmutz und Elend;
wir rüsteten schnell zur Abfahrt. Der Aufbruch war allgemein:
ein Theil der englischen Garnison segelte schon nach Hong-kong;
Fane’s Reiter schifften sich eben ein; nur ein kleiner Theil der
Truppen sollte den Winter über bleiben. Die Rebellen von Šan-
tuṅ
standen in erschreckender Nähe; man fürchtete das Schlimmste,
wenn Tien-tsin von fremden Truppen ganz entblösst würde.


Seit dem 3. October lag die Arkona wieder vor der Pei-ho-
Mündung
. — Am 11. machten der Gesandte und seine Begleiter
Tsuṅ-hau ihren letzten Besuch, welchen derselbe am folgenden
Tage früh um sechs Uhr erwiederte. Nach herzlichem Abschied
von unseren englischen Nachbarn schifften wir uns dann auf dem
Kanonenboote Clown ein, das Admiral Sir James Hope dem Ge-
sandten zur Verfügung stellte. Der Fluss lag dicht voll Dschunken;
ein Boot war vorausgegangen, um den Weg zu bahnen; so eng sich
aber die Chinesen zusammendrängten, blieb doch nur ein schmaler
Wasserstreifen frei, auf dem der Clown sich wie ein Aal hindurch-
wand. Es war ein frischer heiterer Herbstmorgen; durch leichten
Nebel goss die Sonne röthliche Strahlen über den dichten Masten-
wald mit tausend bunten phantastischen Wimpeln; schläfrig blin-
zelten uns die bezopften Schiffer an, die der Clown so früh aus
der Ruhe störte. — In freies Wasser gelangt sauste er mit der
Ebbe pfeilschnell dahin. Das frohe Bewusstsein, dass wir der Hei-
math zueilten, erhöhte den Genuss der Fahrt; die schwerste Arbeit
war gethan, in Siam erwartete den Gesandten kein ernster Wider-
stand; dem fernsten Ziel der Reise wandten wir den Rücken, jeder
Schritt brachte uns jetzt der Heimath näher.


[165]XVIII. Die Ta-ku-Forts.

Den Pei-ho belebten auf der ganzen Strecke viele Dschunken
von den südlichen Küsten, auch siamesische mit Reisladung. Als
der Clown Nachmittags die Mündung erreichte, verbot der niedrige
Wasserstand die Fahrt über die Barre; erst mit der Fluth am fol-
genden Morgen konnte er hinüber. Graf Eulenburg und seine Be-
gleiter nahmen deshalb die gastfreie Einladung des englischen
Commandanten von Ta-ku, Major Eager und seiner Kameraden
vom 31. Regiment an, die Nacht über ihr Quartier im südlichen
Aussenfort zu theilen. — Am Nachmittag stattete der Gesandte
dem französischen Commandanten Capitän Bourgois einen Be-
such im äusseren Nordfort ab, und wurde bei seiner Rückkehr
in das englische Quartier mit einem Salut von funfzehn Schüs-
sen empfangen, den die über eine Meile entfernte Arkona sofort
erwiederte.


Zur Besichtigung der historisch merkwürdigen Festen gab
es volle Musse. Die Lage ist trostlos eine unabsehbare braune
Wüste mit Salzlachen, das flache sumpfige Ufer bespült von trüben
Wellen. Kaum eine halbe Stunde flussaufwärts von der Mündung
liegt der grosse Flecken Ta-ku, eine lehmgraue Häusermasse. Die
Wälle der beiden äusseren unmittelbar an der Flussmündung liegen-
den Werke werden bei Hochwasser vom Meere genetzt; zur Zeit
der Ebbe bleibt ein breiter Streifen tiefen Schlammes frei, welchen
mehrere den Wällen parallele Gräben und zwei Reihen von Wolfs-
gruben durchfurchen. Zum Ueberfluss hatten die Chinesen über
diesen Strand Tausende eiserner »Krähenfüsse« ausgestreut, welche
in jeder Lage eine Spitze nach oben kehren.


Die Werke selbst sind ganz aus Lehm und Holz; ein dicker
Erdwall mit Zinnen, in welchem gedeckte Kanonenräume liegen,
bildet die Enceinte. Im südlichen Aussenfort, dessen Grundriss
länglich und unregelmässig ist, läuft auf der Landseite noch ein
zweiter etwas höherer Wall, der die Bedienungsmannschaften vor
dem Feuer der Schiffe sichern sollte, innerhalb mit der Enceinte
parallel. Vier Cavaliere überragen letztere in diesem Fort um das
Doppelte; das französische am Nordufer hat deren zwei. Im Innern
der Werke stehen Reihen von Lehmhütten gleich umgestürzten
Backtrögen, wo die chinesische Besatzung wohnte. Wie weit diese
das Vertrauen ihrer Führer genoss beweist das Geständniss eines
höheren Officiers, dass die Ta-ku-Werke, welche 1858 und 1859
auf den Flanken und im Rücken offen waren, nicht zur Abwehr
[166]Einschiffung. XVIII.
des Feindes nachher ringsum geschlossen wurden, sondern um das
Ausreissen der eigenen Truppen zu hindern.


Der englische Commandant Major Eager hauste mit sieben
Officieren und einem Arzt von seinem Regiment nun schon ein Jahr
in diesem trostlosen Winkel. Im November friert der Fluss zu,
aller Verkehr mit der Rhede muss aufhören; meilenweit schiebt
sich der Eisrand in die See hinaus und die Werke liegen in dicke
Eismassen eingebettet. So bleibt es bis zum März. Die englische
Besatzung hatte sich längs der Wälle Kasematten mit dicken Wän-
den gebaut und während des Winters mit den ungeheueren Balken
des Gerippes geheizt, welches den Werken Festigkeit verlieh. Noch
war reichlicher Vorrath da. — Das Speisezimmer der Officiere
prangte mit chinesischen Carricaturen der rothhaarigen Barbaren;
Major Eager und seine Kameraden bewirtheten uns dort sehr
freundschaftlich, und man konnte nur staunen, wie bequem und
angenehm sie sich ihre Verbannung zu machen wussten, wie heiter
sie ihr Schicksal trugen. Der Abend verging im traulichen Ge-
spräch.


Am 13. October Morgens brachte der Clown uns auf die
Rhede hinaus. Das englische Fort salutirte nochmals den Ge-
sandten und Arkona antwortete; deutlich sah man jeden Schuss,
hörte aber des widrigen Windes wegen keinen Laut. Gegen halb
elf warf das Kanonenboot bei der Corvette Anker und setzte nach
unserer Ausschiffung seine Fahrt nach Tši-fu fort. Capitän Sunde-
wall
empfing mit sämmtlichen Officieren, Cadetten und Beamten
den Gesandten an Deck. Das Schiff war neu gemalt und lag recht
stolz im hellen Sonnenschein. Die Mannschaft schien heiter und
gesund. — Nah der Arkona ankerte der englische Dampfer Vulcan
mit Fane’s Reitern an Bord; ihre Pferde wurden in Tien-tsin ver-
kauft. Der Commandeur und einige Officiere sagten dem Gesandten
auf der Arkona Lebewohl, in Naṅgasaki sollten wir sie wieder-
sehen. — Gegen zwei lichtete Arkona die Anker und umkreiste
unter klingendem Spiel den Vulcan; Fane’s dunkele Reiter grüssten
mit gellendem Hurra und unser Schiff wandte sich ostwärts, mit
leichtem günstigem Wind das gekräuselte Wasser durchfurchend.


Das Wetter blieb schön; am 14. October ankerte Arkona um
ein Uhr Nachmittags in der Bucht von Tši-fu neben der Elbe, deren
Commandant Lieutenant z. S. Werner sofort an Bord des Flaggen-
schiffes kam und traurige Dinge berichtete. Die Rebellen waren gegen
[167]XVIII. Rebellen vor Tši-fu.
Džen-tai39) gerückt, dessen Bewohner grossentheils flüchteten, wäh-
rend Tausende ausgeraubter Landleute wehklagend in die Stadt zo-
gen; es soll ein jammervoller Anblick gewesen sein, wie die Frauen
mit verkrüppelten Füssen die steinigen Gebirgspfade herabhink-
ten. Die Verwirrung benutzend rotteten sich die Mannschaften süd-
chinesischer Dschunken zusammen um die Stadt zu plündern, wurden
aber handgemein mit einer anderen Schaar, die wohl dasselbe wollte.
Die französischen Truppen, welche Džen-tai vom Kriege her noch
besetzt hielten, mussten mit dem Bajonet die Gassen säubern und
stiessen viele Chinesen nieder. — Ein englischer und ein america-
nischer Missionar, die früher bei den Tae-piṅ gute Aufnahme fanden,
gingen den auf Džen-tai rückenden Horden im thörichten Wahn ihres
Einflusses entgegen, kehrten aber nicht zurück und wurden sicher
erschlagen. Der Bruder des Americaners, der eben zu Lande von
Tien-tsin kam, hörte bei Džen-tai von Ermordung zweier Frem-
den durch die Banditen, ahnte aber nicht, dass sein Bruder betroffen
sei. Die Frauen der beiden Missionare und andere Ansiedler flüch-
teten auf die fremden Schiffe. — Am 9. October zeigten sich die
Rebellen sämmtlich beritten auf den Džen-tai umschliessenden
Höhen. Eine Bombe vom englischen Kanonenboot Drake, die unter
ihnen platzte, schlug die ganze Horde in die Flucht; sie hielten
jedoch, wie man glaubte, etwa 3000 Mann stark die Stadt in
weitem Kreise umstellt. — Inzwischen war Contre-Admiral Protet
aus Shang-hae eingetroffen und kurz vor unserer Ankunft mit 500
Mann landeinwärts marschirt, um sie zu züchtigen.


Die Bestürzung in Džen-tai hemmte jeden Verkehr; Arkona
konnte sich weder mit Wasser noch mit frischem Proviant versehen.
Da nun deutsche Interessen dort nicht zu vertreten waren, so be-
schlossen der Gesandte und Capitän Sundewall, die Reise noch an
demselben Abend fortzusetzen. An der Elbe hatte sich plötzlich ein
schlimmes Leck gezeigt; Commandant Werner erhielt den Befehl, nach
thunlicher Verstopfung desselben direct nach Hong-kong zu segeln,
wo das Schiff gründlich ausgebessert werden sollte. Arkona nahm
den Cours auf Naṅgasaki.


Die Reise nach Japan wurde aus triftigen Gründen beschlos-
sen. Einmal ist der Aufenthalt in Siam auch im Spätherbst noch
ungesund und den Schiffsmannschaften oft verderblich; dann waren
[168]Abfahrt von Tši-fu. XVIII.
unsere Kräfte durch die Qualen in Tien-tsin so gänzlich erschöpft,
dass dem Aufenthalt im tropischen Baṅkok nothwendig eine Er-
frischung vorausgehen musste. Das Klima von Siam ist erschlaffend,
wir konnten ihm nicht sogleich die nöthige Spannkraft entgegentra-
gen. Zudem hatte der Südwest-Monsun noch nicht umgesetzt;
es war die Zeit der wechselnden Winde, in welche die heftigsten
Wirbelstürme fallen; erst mit dem Nordost-Monsun konnte die
weite Strecke nach Hong-kong schnell und sicher zurückgelegt
werden. Lebensmittel und Wasser hatte die Arkona in Tši-fu
nicht erhalten, wie Capitän Sundewall sicher erwartete; und da
die Elbe ihres Leckes wegen nicht nach Naṅgasaki dirigirt werden
konnte, so musste Arkona dort auch mit den für die ferneren Reisen
erforderlichen Kohlen und mit Holz für den Schiffsbedarf versehen
werden.


Bei hellem Vollmond dampfte Arkona am 14. October in die
spiegelglatte See hinaus. Wir machten die Nacht über schnelle
Fahrt, passirten bei Morgengrauen Cap Šan-tuṅ und genossen den
ganzen Tag des herrlichsten Wetters. Während in Tien-tsin und
Pe-kiṅ die Nächte schon kühl waren wehte hier milder Sommer-
wind. Pfeilschnell furchte das Schiff die dunkelblaue Fluth, und
mit Lust athmete man nach den dicken staubigen Dünsten der chi-
nesischen Städte die reine erquickende Seeluft. — Um sieben Uhr
Abends musste am 15. October die Schraube ausgehoben werden,
weil die Lager zu heiss wurden; nach Ersetzung des geschmolzenen
Antimons wurde sie um halb vier Uhr Morgens wieder in Gang
gebracht; gegen sieben erhob sich frischer Nordostwind, so dass
das Schiff unter Segel Cours halten konnte. In der Nacht zum
17. October passirten wir Alceste-Eiland. Am frühen Morgen
wurde der Wind stärker, starb aber gegen acht Uhr gänzlich fort.
Einer starken Dünung preisgegeben, gegen welche die Schraube
nicht wirken konnte, trieben wir nun unter der grossen Insel Quel-
part
nach Süden, ohne dem Ziele näher zu kommen. Die Kreuzung
der Wellen aus Nordost und Nordwest erzeugte den hässlichsten
Seegang. Am 18. October sprang wieder Nordostwind auf; das
Schiff wurde hart an den Wind gebracht, konnte aber doch nicht
Cours halten und trieb noch weiter südlich; es schaukelte auf den
mächtigen Wogen, dass man kaum stehen konnte. Alles was nicht
niet- und nagelfest war, taumelte in den Kajüten unverständig durch-
einander, und als das Musikcorps zur Feier des doppelt festlichen
[169]XVIII. Irrfahrt.
Tages eine Auswahl vaterländischer Stücke vortrug, wich mancher
Trompetenton krächzend aus der Lage. — Abends halsten wir nach
N. N. W., das Gesicht wieder gegen China wendend; in der Nacht
schlängerte das Schiff unbändig.


Am 19. October wurde es ruhiger. Als gegen Mittag die
Meaksima-Gruppe in Sicht kam, konnte man die Schraube nieder-
lassen und auf die japanische Küste losdampfen. Nach fünf befan-
den wir uns bei jener Inselgruppe, die, von schroffen Klippen um-
geben, aus den Fluthen zu steiler Höhe aufsteigt. Den Abend
beschien ein glänzender Mond; nur spät und ungern suchte man
den Schlaf.


Am Morgen des 20. October lag die japanische Küste in
voller Herrlichkeit vor uns. Die Ortsbestimmungen waren unsicher;
Capitän Sundewall glaubte, das Schiff sei in der Nacht noch süd-
lich getrieben, dann musste der Rechnung nach unser Ziel weiter
nördlich liegen; dahin wurde der Cours gerichtet. Nun fuhren wir
die Küste hinauf, an Klippen, Inseln und Vorgebirgen vorüber, und
sahen lauter Ufergebilde, denen von Naṅgasaki ähnlich, konnten aber
den Eingang der Bucht nicht finden. Ueberall waren die Hänge
angebaut; der aufsteigende Rauch verrieth die Lage vieler Dörfer
in den enggeschlossenen Buchten, aus welchen zahllose Dschunken
hervorschwärmten. Die Küste wurde immer fremder, aber erst die
Mittagsobservation bewies mit Sicherheit, dass wir zu nördlich
und Morgens in der Dämmerung Naṅgasaki vorbeigesteuert waren.
Sofort liess Capitän Sundewall wenden und setzte alle Segel,
unter denen das Schiff bei leichter Brise mit Hülfe der kräftigen
Maschine die Bucht noch beim letzten Tageslicht erreichte. Auch
jetzt erkannte man den Eingang nur mit Hülfe der genauen beim
ersten Besuche gemachten Zeichnung. Arkona war nicht das erste
und wird nicht das letzte Schiff sein, das dieses Schicksal hat.
Capitän Krusenstern kreuzte eine volle Woche, bis er die Einfahrt
fand; ähnlich soll es Vielen ergangen sein. — Morgens als wir vor-
überfuhren signalisirte den Bewohnern von Naṅgasaki ein Kanonen-
schuss des Observationspostens das Nahen eines Kriegsschiffes,
und man war dort befremdet, dass keines einlief.


Die hohen Küsten lagen im Dämmerschein und es wurde
ganz dunkel, während wir die lange Bai hinaufdampften; um halb
sieben ankerte das Schiff in ihrem hintersten Winkel. Der Mond
ging eben zwischen Wolken auf in unbeschreiblicher Pracht. Am
[170]Naṅgasaki. XVIII.
Ufer blinkte Licht an Licht, eine stattliche Lampenreihe bezeichnete
die neue Ansiedlung der Fremden. Vom nahen Felsufer zur Linken
spiegelten sich dunkele Tannen, ringsumher lagen viele Dschunken
von zauberischem Mondlicht übergossen. — Noch am Abend kamen
alte Bekannte aus Desima herübergerudert.


Der Eindruck von Naṅgasaki war nach der langen Mühsal
in China, wo nur der Ausflug nach Pe-kiṅ einen Lichtpunkt bildete,
noch mächtiger als im Februar, da wir nach stürmischer Seefahrt
die frühlingsgrünen Gestade grüssten. Voller und üppiger prangte
jetzt die Pflanzendecke, dichter und dunkeler das Laubdach der
schirmenden Wipfel, nicht versengt, wie sonst in gleichen Breiten,
von Sommersonnengluth, sondern in strotzender Kraft der Entfaltung.
Denn hier regnet es in den heissen Monaten, die Hitze ist feucht
wie in den Tropen.


Der niederländische General-Consul Herr de Witt war kurz
vor unserer Ankunft von Yokuhama zurückgekehrt; seiner gastfreien
Einladung folgend nahmen der Gesandte und der Attaché Graf zu
Eulenburg
in seinem Hause auf Desima Wohnung, während die
anderen Passagiere der Arkona bei ihren alten Bekannten freundliche
Aufnahme fanden. Fast heimathlich lachte uns auch das japanische
Volksleben an; nach den selbstzufriedenen, fertigen, trockenen,
stumpfen Chinesen, nach dem Staub und Schmutz und den fauligen
Dünsten ihrer verfallenen Städte war das kluge, frische, aufgeweckte
Wesen des frohen, thätigen Japaners, war die Erhaltung, Ordnung
und Sauberkeit bis in die innersten Winkel der japanischen Häuser
und Tempel eine rechte Erquickung. Man wandelte mit Lust durch
die Strassen. Die anständige Höflichkeit, die gute Laune und Auf-
merksamkeit, die ausgesuchte Reinlichkeit des Körpers und der
Wohnung auch bei den ärmeren Volksclassen machen den ange-
nehmsten Eindruck. Da sieht man kein zerbrochenes Geräth, keine
beschmutzten Wände oder zerrissenen Fensterscheiben; auch im
ärmlichen Haushalt ist Alles nett und ordentlich, ja ohne Vergleich
besser und reinlicher gehalten als bei uns unter gleichen Verhält-
nissen. Man kann sich der Achtung vor einer Cultur nicht erweh-
ren, die dem Volke solche Tüchtigkeit, solches Pflichtgefühl
eingeimpft hat. Besonders fiel uns nach dem mumienhaft gleich-
artigen Wesen aller Chinesen aus dem Volke die individuelle Ent-
wickelung der Japaner und die höhere lebendige Gesittung auf, die
[171]XVIII. Umgebung.
aus dem häuslichen und bürgerlichen Leben spricht. Die Frauen
und Mädchen jeden Alters bewegen sich in den Häusern, auf
den Strassen bei der grössten Decenz mit unbefangener Frei-
heit; da ist keine Spur von Prüderie und angewöhnter Zurückhal-
tung, die versteckte Rohheit, Gefährdung des Anstandes und der
guten Sitte verriethe. Die Kinder sind lustig, aufgeweckt und wohl-
erzogen, unter liebreicher Obhut ihrer Eltern oder erwachsener Ge-
schwister. Unter den älteren Leuten aus dem Volke fällt die grosse
Anzahl gutartiger, angenehmer Physiognomieen von ausgeprägter
Eigenthümlichkeit, der Ausdruck ernsten Wohlwollens und freund-
licher Herzensgüte auf, der von würdig vollbrachtem Leben und
innerer Befriedigung, oft auch von tief empfundenen individuellen
Schicksalen redet. Trotz allen Auswüchsen muss diese Gesittung
auf den gesunden Grundlagen reiner Menschlichkeit fussen; der
Heroismus der Liebe, Freundschaft, des Ehr- und Pflichtgefühls
ist bei den Japanern bis zur Entartung ausgebildet; selbst ihre
alten politischen Einrichtungen beruhen doch bei aller Verdorben-
heit auf der natürlichsten Basis der menschlichen Gesellschaft,
dem patriarchalischen Leben, dessen Ausartung sich in der ganzen
Welt als Feudalismus documentirt.


Man verzeihe dem Verfasser diese Abschweifung, zu der ihn
die Erinnerung an die frohen Tage in Naṅgasaki hinreisst; man
verzeihe auch, wenn hier nochmals die landschaftliche Schönheit
dieses gesegneten Erdenwinkels gepriesen wird, deren Andenken
ihm seine unter dem Zauber der Gegenwart geschriebenen Briefe
erwecken. Bei der köstlichen Herbstluft war es ein Hochgenuss,
auf den die Stadt umkränzenden Höhen, auf den Friedhöfen her-
umzustreifen, welche die Abhänge überall bedecken, wo neben
riesigen Kiefern, Cryptomerien, Taxus, Podocarpus und Lebens-
bäumen der dunkele dichtbelaubte Kampherbaum, zartgefiederte
Bambus, zierliche Palmen, Cicadeen, Bananen und andere Tropen-
bewohner grünen, wo saftige Moose und Farrenkräuter zwischen
tausenderlei Gesträuch den Boden mit schwellendem Teppich be-
decken und der Epheu voll und üppig in die Wipfel steigt.


Auf breiten Terrassen thronen Tempel von ernstem würdigem
Ansehn. Ihre Färbung ist tief gesättigt, in voller Harmonie mit
der Umgebung, das Holzwerk rothbraun, bis in das Schwarze ver-
tieft, mit Broncebeschlägen von schöner Patina, die Dächer schwärz-
lich grau. Zahllose Grabsteine bedecken die Tempelterrassen und
[172]Friedhöfe. XVIII.
bis hoch auf den Berg die schattigen Hänge. Unter breiten schir-
menden Wipfeln kauern die malerischen Häuschen der Todten-
gräber, mit steinbeschwertem Schindeldach, wie in deutschen Ge-
birgen, und von wucherndem Epheu umklammert. Selbst grössere
Denkmäler überzieht die feuchte Frische dieser Hänge bald mit
üppigem Grün.41) — Da lagerte man im köstlichen Schatten mit
dem Blick auf die Stadt und die herrliche Bai, wo in jedem Winkel
Tempel und Dörfchen aus dunkelen Büschen vorlugen, auf steile
Felsgestade, stille Buchten und ferne bewaldete Kämme; nur die
höchsten Kuppen sind kahl und mit zackigen Klippen bekrönt. —
Wunderschön bauen sich die hochgelegenen Friedhöfe über mäch-
tigen Strebemauern auf, wo ein lichter Wald riesiger Kampherbäume
die bemoosten von Erdbeben übereinandergestürzten Steine schirmt.
Auch hier begegnet man Wanderern; denn der Japaner liebt die
Natur ganz wie wir und ergeht sich an schönen Tagen gern mit
Weib und Kind auf den alten Todtenäckern. Oft begegnete es
dem Verfasser, dass feingekleidete Männer aus dem Bürgerstande
ihn dort freundlich anredeten, bei der Hand fassten und eine Weile
neben ihm hergingen; nur wenige Worte waren ihm verständlich,
aber die innige Freude an der Natur und am Mitgenuss eines Gleich-
gestimmten sprach unzweideutig aus jeder Gebehrde. Die Frau und
Tochter des Lustwandelnden folgten dann etwa in heiterem Ge-
spräch und wurden oft durch einen Scherz in die Unterhaltung ge-
zogen. Ihr Wesen zeugte von innigem Familienglück, dem zartesten
Freundschaftsverhältniss und derjenigen Freude an der landschaft-
lichen Natur, welche überall nur in höherer Gesittung wurzelt.


Die Pietät des Japaners für die Gräber seiner Lieben wird
mit Recht gerühmt, selbst vor alten bemoosten Steinen sieht man
frisches Grün und Blumen. Oft belauschte ich an den einsamsten
Stellen Leute aus dem Volk, die in langem stillem Gebet vor den
Gräbern knieten. Eine hübsche junge Frau stellte niedliches Spiel-
zeug bei der Ruhestätte ihres Kindes auf und schied mit thränen-
schwerem Blick. Das Gewand der Leidtragenden ist weiss wie in
China; die leuchtenden Frauengestalten erscheinen im dunkelen
Schattengrün zwischen den grauen Denksteinen wandelnd oft wun-
dersam gespenstisch.


[173]XVIII. Ausflug.

Zu weiteren Ausflügen bietet die Umgebung von Naṅgasaki
reizende Gelegenheit. So führt am Nordufer der Bai von der
Maschinenfabrik des Fürsten von Fizen ein Pfad über den schma-
len Gebirgskamm, auf welchem in kaum einer Stunde die jenseitige
Bucht zu erreichen ist. Die umkränzenden Felsgestade fallen dort
nördlich zu einer Landzunge ab, auf der ein Städtchen in’s Meer
hinausspringt; dahinter bauen sich schöngeschnittene Massen
auf. — Wo der Pfad das Ufer erreicht, fliesst ein murmelndes Ge-
wässer in die klare Meeresfluth, deren blinkende Wellchen sacht und
heimlich auf dem weissen Sande plätschern. Schwarze Boote liegen
am Strand. Weiterhin steigt das Ufer in steiler Böschung auf,
einzelne Klippen vorschiebend, deren grauweisses Gestein mit dem
Saftgrün der bewachsenen Hänge reizend contrastirt. — Es war
Abend. Leiser Hauch zitterte auf der spiegelnden See; die Sonne
vergoldete die Camelien- und Lorbeergebüsche, die pinienartigen
Kiefern der Höhen. Den Strand mit den dunkelen Booten deckten
schon kalte tiefe Schatten; höher und höher stieg der Abend die
Berge hinan. Herbstliche Kühle lagerte auf dem dunkelen Wald-
weg, der mich erst nach dem letzten Verglimmen des Tages wieder
über das Gebirge führte.


Wir lebten auf Desima herrlich und in Freuden. Nur
der Gesandte hatte Arbeiten zu vollenden, zu welchen in Pe-kiṅ
die Musse fehlte. Wir anderen verbrachten beim herrlichsten
Wetter den Tag meist im Freien und sammelten den löblichsten
Hunger für das opulente Diner unserer gastfreien Wirthe. Bis in die
späte Nacht sass man in traulichem Gespräch auf dem Altan mit
dem Blick auf das Meer, dessen mondbeglänzte Stille zuweilen ein
knarrendes Ruder störte. Silberne Furchen zogen die Boote auf
der glatten die Gestirne spiegelnden Fläche.


Herr de Witt wusste viel Anziehendes von seiner Reise nach
Yeddo zu erzählen, die er von Naṅgasaki aus zu Lande mit dem
englischen Gesandten Herrn Alcock machte. Nur zufälliger Um-
stände wegen blieb er in Yokuhama zurück, während Herr Alcock
direct nach Yeddo reiste und in der folgenden Nacht überfallen
wurde.42) Auch ein Angriff auf Herrn de Witt soll vorbereitet ge-
wesen sein, der deshalb in Yokuhama blieb und erst kurz vor
der Abreise auf dringendes Ersuchen der japanischen Regierung
nach Yeddo kam. Dort wohnte damals in Akabane Herr von
[174]Fane’s Reiter. XVIII.
Siebold, den die Regierung des Taikun als Rathgeber berufen
hatte. Herr von Siebold sollte auch für Japan die Verhandlungen
mit den fremden Gesandten leiten, die sich aber weigerten, denselben
in amtlicher Eigenschaft zu empfangen.


Sehr bezeichnend für die Schlauheit der japanischen Beamten
war folgender Zwischenfall. Auf ihrer Reise nach Yeddo kamen
die beiden Diplomaten an den Ort, wo das Gepäck der nach ihren
Gütern reisenden Daimio’s untersucht wird, die bekanntlich keine
Frauen mitführen dürfen. Hier sollten nach dem Ansinnen der
Yakunine Alle von den Pferden steigen und entblössten Hauptes
einzeln an der Wache vorübergehen; nur die Gesandten dürften
ihres hohen Ranges wegen die Mützen aufbehalten. Die Diplomaten
verwahrten sich dagegen im Voraus und die Yakunine schienen
nachzugeben. Nah bei dem Fluss, an dessen Ufer jene Wache
postirt ist, baten sie nun die Gesandten zu kurzer Rast in ein
Theehaus einzutreten, bis die Boote zur Ueberfahrt bereit gestellt
wären. Herr de Witt sah bald darauf vor die Thür tretend, dass
alle Pferde abgesattelt, die Sättel und Zäume aber verschwunden
waren, und die Yakunine erklärten ganz unschuldig, das sei zu
schnellerer Beförderung geschehen, die kurze Strecke bis zu den
Booten könne man wohl zu Fuss gehn. Natürlich liessen sich die
Herren nicht überlisten und setzten ihren Willen durch; so albern
diese Dinge an und für sich scheinen, so kann doch ohne wesent-
lichen Schaden kein Pünctchen nachgegeben werden; denn es han-
delt sich immer darum, die Fremden in den Augen des Volkes
herabzuwürdigen.


Am 23. October kam unerwartet der Vulcan mit Fane’s Re-
giment; das Schiff hatte einen Sturm bestanden und lief Naṅga-
saki
an um Kohlen zu laden. Die indischen Reiter fanden grosses
Gefallen an Japan und konnten nicht begreifen, dass England es
nicht nähme. — Am folgenden Tage lief auch das englische Kriegs-
schiff Centaur ein, das achtzehn Train-Soldaten mit Pferden und
Ausrüstung zu Bewachung der Gesandtschaft in Yeddo brachte.


Am 25. October besuchten der Gesandte und Capitän Sunde-
wall
mit den Attachés und einigen Officieren der Arkona den neuen
Gouverneur, Takahasi Mimasaka no Kami. Okabe Suruṅga no
Kami
, den wir im Februar kennen lernten, war vor Kurzem
abgelöst worden, verweilte aber zu Ueberleitung der Geschäfte noch
in Naṅgasaki. Takahasi empfing seine Gäste mit der gewohn-
[175]XVIII. Gouverneur Takahasi.
ten Artigkeit vornehmer Japaner; auf der einen Seite des Zimmers
nahmen die Deutschen, auf der anderen der Gouverneur und sein
Gefolge Platz. Die Tische füllten sich mit Theeschalen, Saki-
Gläsern und buntem Zuckerwerk. Takahasi, ein ältlicher Herr
mit gutmüthigem Gesicht, entwickelte eine Kenntniss der Zeit-
geschichte, die wir weder in China noch in Yeddo bei den höchsten
Staatsbeamten fanden: er fragte nach den Rebellen von Šan-tuṅ
und von Nan-kiṅ, nach dem americanischen Krieg, dem Suez-
Canal
, dem Isthmus von Panama, ja nach der Bedeutung eines »in
der Nähe von Australien« geführten Krieges; — er meinte den
neuseeländischen. Die genaue Auskunft, die er auf Befragen des
Gesandten über die an den preussischen Vertragsverhandlungen be-
theiligt gewesenen Bunyo’s ertheilte, bewies die Unwahrheit eines
früheren Gerüchtes, dass sie sämmtlich das Harakiri vollzogen
hätten: Sakai bekleide noch sein früheres Amt, Muragaki den
Gouverneur-Posten in Hakodade. Graf Eulenburg bat Taka-
hasi
, nach Yeddo zu melden, dass er die amtliche Benachrichtigung
der japanischen Regierung über die nach den europäischen Staaten
gehende Gesandtschaft in Tien-tsin empfangen und darüber an
den preussischen Minister des Auswärtigen berichtet habe. — Der
Gouverneur versprach, den Gesandten auf der Arkona zu be-
suchen.


Am 27. October veranstalteten die deutschen und die hollän-
dischen Bewohner von Desima ein Fest auf dem 1200 Fuss hohen
Berge Kompira östlich von Naṅgasaki und luden dazu den Ge-
sandten, seine Begleiter und die Officiercorps der Arkona und
der holländischen Kriegsbrigg Cachelot ein. Gegen zehn Uhr Mor-
gens versammelten wir uns auf Desima und stiegen mit dem
Musikcorps der Arkona zunächst die östlich von der Stadt gele-
genen Friedhöfe hinan, von wo ein gepflasterter Weg durch ter-
rassenförmig angebautes Land bequem weiter hinaufführt. Die
Bucht lag in ihrer ganzen Länge zu unseren Füssen; mit jedem
Schritt wurde der Blick nach Westen herrlicher, Vorgebirge ent-
faltet sich auf Vorgebirge und die Meereslinie steigt immer höher.
In einem Tempel auf dem zweiten Drittel der Höhe war ein Imbiss
bereitet, uns für den steilen Marsch auf den Gipfel zu stärken.
Hier sieht schon die Bai von Mogi mit dem 7000 Fuss hohen
Wuntsen-take über den Bergrücken südlich. — Der Weg wird
beschwerlicher und die Octobersonne brannte noch heftig; aber
[176]Der Kompira. XVIII.
die Aussicht lohnte reichlich alle Mühe. Den Gipfel bilden steile
Klippen; die Abhänge darunter sind namentlich nach Osten mit
dichtem Waldgebüsch bewachsen. Westlich steht unter der Fels-
kuppe ein aus roh behauenen Steinschwellen aufgebautes Tempel-
chen, und rings auf den Klippen thronen Diminutiv-Götzen, welche
unsere ausgelassenen Cadetten sämmtlich umdrehten, damit sie die
Aussicht genössen.


Wir lagerten auf der schmalen Kuppe, angehaucht von
würziger Bergluft. Nur im Steigen drückend schien uns die Sonne
jetzt milde und angenehm. Die neue Aussicht nach Osten erschloss
sich erst auf dem Gipfel überraschend und herrlich: über dicht-
bewaldete Berge und Thäler schweift der Blick nach der fernen
Bucht von Omura. Südwestlich Naṅgasaki mit der vielarmigen
Bai, am westlichen Horizonte schwimmend die lange Reihe der
Gotto-Inseln, im Südosten der Golf von Arima mit der Halbinsel
Simabara. Gesäumt von tausend Inseln und Klippen streckt das
Land überall lange Arme in die See hinaus. Zwischen den Wald-
gebirgen liegen fruchtbare Thäler eingebettet, der Landbau steigt
in zahllosen Terrassen die Hänge hinan; von der glänzenden Meeres-
fläche gleitet der Blick in tiefgeschnittene stille Buchten oder schweift
von Gipfel zu Gipfel in duftige Ferne.


In jenem Tempel, wo wir frühstückten, erwartete die Zurück-
kehrenden eine leckere Mahlzeit. Das Musikcorps der Arkona
spielte im Garten; in zahlreichen Trinksprüchen ergin sich der
Dank der Gäste gegen ihre liebenswürdigen Wirthe, denen sie wie-
der einen heiteren genussreichen Tag schuldeten. Zur Heimkehr
schlugen wir einen anderen, schöneren Weg ein, und der Abend
vereinigte Alle bei dem niederländischen Vice-Consul Herrn Met-
mann
, wo weiter getafelt wurde. Die ausgelassene Lustigkeit be-
mächtigte sich auch unserer Musiker, die womöglich Jeder ein an-
deres Stück in der eigenen Tonart blasen wollten, so dass der
treffliche Kapellmeister, den seine müden Beine kaum noch trugen,
oft ganz zwecklos in der Luft herumtactirte.


Am 29. October wurde der Geburtstag Seiner Königlichen
Hoheit des Prinzen Adalbert durch ein Diner an Bord der Arkona
gefeiert.


Für den 30. October hatte der Commandant des Cachelot,
Capitän van Gogh, eine Bootsfahrt nach der zwischen Papen-Eiland
und dem Festlande gelegenen Ratteninsel veranstaltet. Obwohl es
[177]XVIII. Takahasi.
in der Nacht stark geregnet hatte und noch keineswegs hell wurde,
vertraute sich die eingeladene Gesellschaft doch Morgens den
Booten der beiden Kriegsschiffe an. Graue Wolken verhüllten den
Gipfel. — Auf der Spitze der kleinen Ratteninsel war ein Zelt auf-
geschlagen, aus dem die Gesellschaft alsbald durch heftige Güsse
vertrieben wurde; man setzte nach einem bewohnten Inselchen über
und suchte Schutz im Hause des Ortsvorstehers, wo mit der bei
verregneten Landparthieen üblichen heiteren Laune gefrühstückt
wurde. Unsere Musik lockte das ganze Dörfchen herbei; Einer
nach dem Anderen schlich sich ein, bis das Haus gepfropft voll
Japaner war. Unterdessen goss es sachte weiter, man kehrte schon
früh nach Desima zurück.


Am Vormittag des 31. October machte der Gouverneur
Takahasi mit seinem O-metske, dem Vice-Gouverneur und
grossem Gefolge einen Besuch an Bord der Arkona. Capitän Sunde-
wall
führte ihn nach der Begrüssung im Schiffe herum und liess
die Seesoldaten einige Exercitien machen. Einem jungen Samrai,
welcher begonnen hatte, bei einem deutschen Kaufmann unsere
Sprache zu lernen um sich als Dolmetscher auszubilden, war er-
laubt worden an Bord zu kommen. Er bedurfte zum Eintritt in
den Dolmetscherdienst der Gunst des Gouverneurs, dem er
jetzt am Boden liegend seine Wünsche demüthig vortrug. Taka-
hasi
gab gütigen Bescheid. Beim Frühstück in der Kajüte zeigte
sich derselbe sehr aufgeräumt und sprach ganz männlich dem Cham-
pagner zu; beim Abschied erklärte er lachend, dass er noch etwas
auf Deck herumwandeln müsse um mit Sicherheit die Schiffstreppe
hinabzusteigen.


Nach einem Tempelchen, dessen Lage in dichtbewachsener
Felsschlucht uns beim Vorbeifahren oft gelockt hatte, unternahm
Graf Eulenburg mit einigen Begleitern am Nachmittag des 1. No-
vember eine Bootsfahrt. Gegen zwanzig rothgestrichene Holz-
pförtchen schmücken den kurzen steilen Weg vom Ufer bis zur Ca-
pelle, in der rohe Bildwerke von Füchsen und Pferden stehen.
Im Fuchs, Inari, ist nach dem japanischen Volksglauben ein Dämon
verkörpert, dem alles mögliche Unheil, aber auch wohlthätige Ein-
wirkungen auf die Schicksale der Menschen angedichtet werden.
Der Glauben an seine bezaubernde Kraft ist allgemein auch bei
gebildeten Japanern eingewurzelt. — Von dem Fuchstempel fuhren
wir nach dem südöstlichen Ufer der Bai, wo sich aus der Ab-
IV. 12
[178]Hospital. Fest. XVIII.
wechselung von Ackerland, Wald und Fels die reizendsten Land-
schaften combiniren, und kehrten zu Fuss über die Hügel nach
Desima zurück.


Der holländische Arzt Dr. Pompe van Meerdervort, welchen
die japanische Regierung zu Ausbildung junger Mediciner nach
Naṅgasaki berufen hatte, führte den Gesandten am 2. November
in das von ihm auf Staatskosten eingerichtete Hospital. Erst vor
Kurzem vollendet barg es noch wenige Kranke; die grossen luftigen
Räume, die gesunde Lage und die treffliche Eintheilung machten
den vortheilhaftesten Eindruck. Die Schüler des Dr. Pompe, an
deren Spitze noch immer Matsmoto stand, sollten die ärztliche
Bildung weiter über das Land verbreiten und auch an anderen
Orten ähnliche Anstalten gründen. — Der Abend dieses Tages
vereinigte einen Theil der europäischen Gesellschaft am Tisch des
Gesandten auf der Arkona. Die Batterie wurde mit Hunderten ja-
panischer Laternen erhellt: Graf Eulenburg hatte die Mannschaft
zur Nachfeier des mit China geschlossenen Vertrages auf eine
Punschbowle eingeladen. Die Officiere und einige Freunde aus De-
sima
nahmen Theil an der Lustigkeit der Matrosen, die zu den
Klängen der Musik bis spät in die Nacht hinein tanzten.


Am 3. November lief ein Dampfer des Fürsten Fizen, ganz
von Japanern geleitet, in Naṅgasaki ein. Der Dienst an Bord war
durchaus europäisch organisirt, die Mannschaft gleichförmig blau
gekleidet, mit geflochtenen Helmen als Kopfbedeckung. Auf der
Commandobrücke und an Deck standen Posten, welche ihren Vor-
gesetzten und den fremden Officieren die militärischen Honneurs
machten. Man fand das mit 8 Geschützen armirte Schiff in der
besten Ordnung; der Fürst benutzte dasselbe nur zu Handels-
zwecken.


Die Dampfschiffahrt hat sich seitdem in Japan ganz ein-
gebürgert. Schon damals kauften die Japaner zu den höchsten
Preisen so viel fremde Dampfer als nur aufzutreiben waren, und
machten noch manche bittere Erfahrung. — Auf der Werft von
Naṅgasaki wurde damals an einem Dampfschiff für die Regierung
gearbeitet.


Der Handel lag in Naṅgasaki, nach den Klagen der Kauf-
leute zu urtheilen, ganz danieder; einige wollten sogar nach den
Häfen am Yaṅ-tse-kiaṅ übersiedeln. Unterdessen hatte der Bau
des neuen Fremdenquartiers hübsche Fortschritte gemacht; der
[179]XVIII. Fahrt nach Hong-kong.
Quai und mehrere Häuser waren vollendet, viele andere im Bau
begriffen, die Strassen breit und regelmässig. — Die Consuln be-
wohnten meist reizende in Cameliengebüsch eingebettete Häuschen
und Tempel an den auf die Ansiedlung blickenden Hängen.


Vor dem Abschied von Naṅgasaki lud die Mannschaft der
Arkona die ganze europäische Gesellschaft zu einer theatralischen
Vorstellung. Die Bühne war in der Batterie eingerichtet und mit
Flaggen verhängt. Einzelne Scenen aus Berliner Localpossen wur-
den mit viel Humor aufgeführt; die Couplets waren voll treffender
Anzüglichkeiten. In später Nacht kehrten die Gäste am 4. Novbr.
mit herzlichem Lebewohl an das Land zurück.


Am 5. November früh dampfte Arkona zur Bucht hinaus.
Im offenen Meer wurden Segel gesetzt; der Wind starb aber fort
und wir kamen wenig vorwärts. In der Nacht zum 6. begann es
aus Nordost zu blasen, so stätig, dass wir den Monsun bald merkten.
Die Luft war frisch, das Meer stark bewegt; zuweilen schlug eine
See in die Batterie; bei einer Fahrt von zehn Knoten lässt man
sich gern ein Sturzbad gefallen. So blieb es die folgenden Tage.
Am 9., als wir in die Fu-kian-Strasse liefen, erstarkte der Wind
fast zum Sturme. Unter dichtgerefften Marssegeln schoss Arkona
vor dem unbändig anstürmenden Nordost wie ein Pfeil durch die
Wogen; ächzend und stöhnend wühlte sich ihr Bug in die schäu-
mende schwarzblaue Fluth. Die Luft war trübe und winterlich
rauh, die Küste in dicken Dunst gehüllt, — anders als im August
1860, da die Thetis hier kreuzte. Damals lag das Meer todtenstill
in der blitzenden Sonnengluth, nicht zu bergen wusste man sich
vor sengendem Glanz; die Segel klappten träge an die Masten;
an den Küsten schimmerten hohe Pagoden, es wimmelte von Fischern
und Piraten.


Am 10. November wehte es mässiger, doch immer frisch und
günstig. Wir steuerten mehr westlich und sahen Vormittags den
Eingang der Bucht von Swa-tau, wo das bessere Wetter eben
eine Flotte von Dschunken herauslockte. Bald war der Horizont
mit Segeln wie besät. Dem Lande näher kommend umschifften
wir manches Vorgebirge und nahmen bald einen Lootsen an Bord,
der sehr gut Bescheid wusste, durch seine affenähnliche Gestalt
12*
[180]Die Lyemoon-Passage. XVIII.
aber grosse Heiterkeit erregte. Der Hang zur Lustigkeit war all-
gemein. Hinter uns lagen schwere Zeiten, und eine schnelle
glückliche Seefahrt wirkt immer erfrischend, doppelt aber, wenn
sie heimwärts führt. — Der Gesandte versammelte an seiner
Tafel einige Gäste; grade beim Essen schaukelte das Schiff so
verkehrt, dass sich Flaschen und Gläser eine blutige Schlacht
lieferten.


In der Nacht zum 11. November rannten wir, der Küste
nahend, unter queergebrasstem Grossmarssegel vor dem Winde
her. Die Angaben des Lootsen stimmten genau zur Berechnung;
in dunkeler Nacht fand das gute Schiff seinen Weg in die schmale
gewundene Meerenge, den kürzesten Weg nach Hong-kong hinein.
Gegen vier Uhr Morgens wurde Dampf gemacht, um durch die
»Lyemoon-Passage« zu laufen, die an einer Stelle nur 200 Schritte
breit ist. — Immer näher tauchten die hohen Felsküsten aus der
schwarzen Dämmerung; kahle Riffe und Klippeninseln säumten
den Weg. Bei Morgengrauen quollen kanonengespickte Dschunken
aus den vielen Engen hervor; hier grüsst der Pirat den Piraten.
Oft hört man in Hong-kong den Kanonendonner, wenn sie sich
zwischen den Inseln schlagen. Die Oertlichkeit ist reizend geeignet
zu Hinterhalt, Fallen und Wegelagerung, die auf das Meer ange-
wiesene Bevölkerung der Fischer, denen ihre Felsen kein Hälm-
chen bieten, zu wild und beweglich, als dass sie so bald zu zähmen
wäre. Selbst bei sicherem Erwerbe würde sie das abenteuernde
Fischer- und Räuberhandwerk der fleissigen Arbeit vorziehen. Je-
der Boden erzeugt seine eigenen Gewächse.


Wir bogen um ein Felscap: da lag die Stadt Victoria vor
steilem Felsberg ausgebreitet. Nördlich gegenüber streckt sich die
Halbinsel Kau-luṅ ins Meer; östlich schwimmen vor der Mündung
des Perl-Flusses hohe Inseln, und in duftiger Ferne die Kämme des
Festlandes. 43) — Die weite sichere Rhede könnte die grössten
Flotten bergen. In den seichteren Buchten ankern Dschunken von
allen chinesischen Küsten; schlanke Lorcha’s mit fächerförmigen
Mattensegeln gleiten pfeilschnell über die Fläche: das sind die ein-
zigen auf den Kiel gebauten chinesischen Fahrzeuge. Sie sollen
den portugiesischen Schiffen nachgeahmt sein, welche im 16. Jahr-
hundert zuerst diese Küsten besuchten. — Vor der Stadt liegt ein
abgetakelter Zweidecker, zum Hospital eingerichtet. Unter den
[181]XVIII. Begrüssung.
zahlreichen fremden Schiffen, die auf der Rhede ankerten, waren
viele entmastete mit zerschlagenen Borden, die der letzte Taifun
gezaust hatte; man erzählte von über funfzig, darunter fünf deut-
schen Schiffen, die am 19. October untergegangen wären.


Als der Anker der Arkona fiel, salutirte das englische Flagg-
schiff Pearl den Commodor mit 13 Schüssen; Arkona grüsste die
englische Flagge mit 21 Schüssen, erhielt von den Strandbatterieen
den Gegengruss und antwortete darauf dem Pearl, dessen Commandant
alsbald an Bord erschien. Dann kam Lieutenant z. S. Werner von
der Elbe, die in unserer Nähe ankerte. Ein Adjutant des Gouver-
neurs und der preussische Consular-Agent Herr Overbeck stellten
sich zur amtlichen Begrüssung des Gesandten ein. Auch Capitän
Fane und Lieutenant Upperton kamen an Bord; ein Reiter ihres
Regimentes, der sich bei Abfahrt des Vulcan von Naṅgasaki ver-
spätete, hatte die Reise auf der Arkona gemacht und wurde jetzt
ausgeliefert. — Bald war das Schiff von Taṅ-ka-Booten umringt;
— so heissen die meist von Mädchen geruderten Miethsboote, die
Droschken der Rhede, die in allen Richtungen dienstsuchend zu
Hunderten umherschwärmen.


[[182]]

XIX.
HONG-KONG, KAN-TON, MACAO.

VOM 11. NOVEMBER BIS 5. DECEMBER.


Die Insel Hong-kong ist in ihrer Grundform ein Dreieck, dessen
etwa zwei Meilen lange, nach Norden blickende Basis nach innen
gekrümmt und dem Festland zugekehrt ist. An dieser Seite
wurde, nachdem Ki-šen im Januar 1841 die damals von wenigen
Fischern bewohnte Felseninsel an England abgetreten hatte, die
Stadt Victoria gegründet, von welcher die gegenüberliegende Halb-
insel Kau-luṅ etwa 4000 Schritte entfernt ist. Oestlich und west-
lich nähern sich die Spitzen der Insel dem Festlande; sie besteht
aus nacktem Felsgebirge, dessen Gipfelhöhe 1600 Fuss betragen
soll. Durch den Frieden von 1860 wurde England auch ein Stück
der Halbinsel Kau-luṅ abgetreten, deren Besitz für die Colonie be-
sonders aus sanitätlichen Rücksichten wünschenswerth war: das
steile Gebirge im Rücken der Stadt Victoria fängt nämlich den
während des ganzen Sommers wehenden Südwest-Monsun auf, so
dass sie in der heissen Zeit jeder Erfrischung entbehrt[.] Auf Kau-
luṅ
wurden damals Kasernen gebaut; ein Theil der Garnison cam-
pirte dort in Zelten. — Das Klima ist tropisch und galt, so lange
durch die vielen Neubauten auf Hong-kong der Boden beständig
aufgewühlt wurde, für äusserst ungesund. Später minderte sich die
Sterblichkeit.


Beim Anblick der Stadt, die damals gegen 100,000 Seelen
zählte, möchte man kaum glauben, dass sie so neuen Ursprungs ist.
Im östlichen Theil bewohnen die Fremden stattliche Paläste; in
den westlichen Strassen geniessen viele Tausend betriebsame Chi-
nesen unter englischem Schutz eine sichere Existenz. Zahlreiche
Fabriken, Werfte, reizende Anlagen und öffentliche Spaziergänge,
die prunkvolle Einrichtung der Wohnungen und der Mastenwald
im Hafen zeugen vom Blühen der Colonie. Oestlich von der Stadt
sind die Hänge bewaldet, hier und da wiegen Cocospalmen das
[183]XIX. Besuche.
gefiederte Haupt: immer mehr weicht die Dürre des steinigen Bo-
dens der gestaltenden Cultur. — Abends bietet Hong-kong von
der Rhede gesehen einen reizenden Anblick; aus den terrassen-
förmig den dunkelen Bergrücken hinansteigenden Häuserreihen er-
glänzen tausend Lichter, die sich flimmernd im Meere spiegeln.


Am Lande war es den Tag über drückend heiss, und der
Aufenthalt an Bord so viel angenehmer, der Verkehr mit der Küste
so leicht und bequem, dass der Gesandte vorzog auf der Arkona
zu wohnen. Man führte trotzdem ein bewegtes Leben. Da ein
grosser Theil der Garnison von Tien-tsin sich jetzt, auf der Heim-
reise begriffen, in Hong-kong befand, so fühlten wir uns kaum
fremd; auf Schritt und Tritt begrüsste man alte Bekannte und
lebte fast im gewohnten Kreise.


Als der Gesandte mit dem Commodor und den Attachés am
12. November an das Land fuhr, um den Gouverneur Sir Hercules
Robinson
zu besuchen, grüssten ihn die Geschütze der Strandbatterieen
und eine am Ufer aufgestellte Ehrenwache. Der Gouvernements-
Palast liegt reizend am Bergeshange; eben so schön wohnte der
commandirende General Sir John Mitchell, welchen der Gesandte
an demselben Tage begrüsste. Hohe Camelienbüsche und indische
Ficus umgeben das Haus, dessen luftige Räume auf die Stadt und
die Rhede hinabsehen.


Am Nachmittag des 13. November besuchte der Gesandte
mit dem preussischen Consul für Kan-ton, Herrn von Carlowitz,
und dem Consular-Agenten Herrn Overbeck das von der Berliner
Missionsgesellschaft gegründete Findelhaus, ein stattliches Gebäude
am Bergeshang. Der Hausvater Herr Ladenburg besorgt mit seiner
Gattin, drei Diakonissen und zwei in der Anstalt erzogenen Chinesin-
nen die Pflege und den Unterricht der Kinder. Damals waren
zwanzig Mädchen in der Anstalt, das älteste etwa zwölf Jahre, das
jüngste kaum drei Monate alt; je sechs der kleineren versieht eine
chinesische Wärterin, von der sie zunächst ihre Muttersprache
lernen. Der Unterricht wird chinesisch ertheilt, doch verstehen die
meisten deutsch und einige reden es auch. — Graf Eulenburg besah
die Schul- und Wirthschaftsräume, und wohnte der kurzen Abend-
andacht bei: unter Begleitung eines Harmonium sangen die Kinder
ein geistliches Lied und beteten deutsch das Vaterunser. Es war
ein rührender Anblick und eine Freude, die Kleinen so frisch und
zufrieden zu sehn. Nach der Andacht reichten sie den Gästen eine
[184]Der Kindermord. XIX.
Hand und sagten »Gute Nacht«. — Die Anstalt erfreute sich in
Hong-kong reger Theilnahme; zum Hausbau wurden dort 5000
Dollars gesammelt, und erst kürzlich hatte ein Nachbar ihr sein
Grundstück für den nominellen Jahreszins von einem Dollar über-
wiesen. Der Missionar Lechler fungirte als Geistlicher des Fin-
delhauses.


Bei diesem Anlass muss constatirt werden, dass Gützlaff’s
Berichte über das Aussetzen der Kinder auch bei den Fremden in
China allgemeine Entrüstung erweckt haben und von gewissen-
haften Männern, welche der Sache gründlich nachspürten, als höchst
übertrieben bezeichnet werden. Die Thatsachen beschränken sich
darauf, dass in den allerärmsten übervölkerten Bezirken der süd-
lichen Provinzen, — wahrscheinlich nur in Kuaṅ-tuṅ, zuweilen
neugeborne Mädchen ausgesetzt werden. Den Wahn, dass die Be-
hörden den Kindermord stillschweigend gut heissen, widerlegen
die öffentlichen Warnungen, welche im Laufe der Jahre in der
Provinz Kuaṅ-tuṅ dagegen erlassen worden sind. 44) Das Ge-
setz straft die Tödtung solcher Kinder, die sich nicht durch Un-
gehorsam an den Eltern vergingen, mit Geisselung und Verbannung,
und eine Proclamation des Vicekönigs von Kuaṅ-tuṅ brachte noch
1866 ein vom Kaiser Kien-loṅ 1773 erlassenes Decret in Erinne-
rung, welches stark betont, dass Neugeborne und Kinder in zartem
Alter niemals ungehorsam sein können, dass ein an solchen began-
gener Mord nach der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft werden
soll. — Knaben werden niemals ausgesetzt, Mädchen, wie gesagt,
in den ärmsten Bezirken des Südens zuweilen. Gützlaff’s Erzählun-
gen haben aber bei uns einen Wahn erzeugt, als ob der Kinder-
mord ein durch ganz China verbreitetes, vom Staate gefördertes
Verbrechen wäre. Das ist falsch. Der Chinese liebt seine Kinder
so gut wie der Deutsche, und die Regierung, die sich mehr als jede
andere auf eine sittliche Weltordnung stützt, war zu allen Zeiten
weit entfernt, solches Verbrechen zu fördern. — Gützlaff soll von
Thürmen berichtet haben, welche die Obrigkeit ausdrücklich zum
Aussetzen der Kinder bauen liesse; es ist aber constatirt, dass
solche Behältnisse nur zur Aufnahme von Kinderleichen der ärm-
sten Classe bestimmt sind.


Am 15. November fuhren Graf Eulenburg, Capitän Sunde-
wall
und einige andere Herren mit dem englischen Kanonenboot
[185]XIX. Umgebung.
Slaney nach den an der Südküste gelegenen »Aberdeen docks«.
Nach Süden und Westen liegen hundert kleinere Eilande um die
Insel ausgestreut, lauter trockene Felsen, deren Ritzen kümmerliche
Sträucher nähren. Hongkong selbst stürzt westlich in schroffen
Wänden ab, von denen hier und da ein Bach in jähem Sprung
zum Meere eilt. Die reizende Fahrt dauerte kaum eine Stunde.
Um das schöne Dock, das ein Schotte aus Speculation baute, hat
sich ein chinesisches Dorf angesiedelt; gegenüber liegt jenseit eines
schmalen Meeresarmes ein Inselchen. Der Capitän des englischen
Schiffes Vulcan, das grade dort ausgebessert wurde, führte den
Gesandten über die ganze Werft und bewirthete ihn dann in
seiner Kajüte. — Gegen sechs ankerte Capitän Borlace mit dem
Slaney wieder auf der Rhede von Victoria und erntete den Dank
seiner Gäste für den angenehmen Tag. — Abends speisten der Ge-
sandte und seine Begleiter beim Gouverneur, dessen Verdienste um
die Colonie allgemein gerühmt wurden.


Am folgenden Nachmittag gingen wir nach dem eine halbe
Stunde östlich von der Stadt gelegenen Rennplatz. Elegante Wa-
gen, Reiter und viele von chinesischen Stallknechten geführte edele
Pferde belebten die breite in den Felsen gesprengte Kunststrasse;
abgesehen von den Zöpfen hätte man glauben sollen, bei einem
fashionablen englischen Badeort zu sein. Der Rennplatz liegt in
einem nach dem Meere geöffneten Thalgrund zwischen malerischen
Felsgruppen und üppig bewaldeten Hängen. Im Windschutz stehen
einzelne Cocos-Palmen. — Die Chaussee läuft, den Rennplatz rechts
lassend, an einem bunten zwischen Felsen gebetteten Tempelchen
vorbei, dann weiter östlich, hier und da eine Felsrippe schneidend,
theils am Strande hin, theils in geringer Entfernung davon. Auch
hier sind die Hänge bewaldet; aus kühlen schattigen Schluchten
rieseln klare Gewässer dem Meere zu. Viele Dschunken und Boote
liegen auf dem weissen Ufersand, wo zwischen überhängenden
Klippen arme Fischer hausen. Weiterhinaus haben die Eng-
länder eine seichte Bucht vom Meere abgeschnitten, um ebenen
Boden zu gewinnen. Am Bergeshang jenseits thront auf hoher
Terrasse ein Tempel im dichtesten Grün. Die vielen in dieser Ge-
gend und am Rennplatz erbauten Villen stehen verschlossen, es
soll der ungesundeste Fleck der Insel sein.


Am Abend des 16. November gaben die deutschen Kaufleute
dem Gesandten in den Räumen des englischen Clubhauses ein
[186]Bankett. XIX.
glänzendes Bankett, zu welchem die Officiercorps der preussischen
Schiffe und alle anwesenden Civilmitglieder der Expedition geladen
wurden. Der grosse Speisesaal des Clubhauses war festlich er-
leuchtet; in den übrigen Räumen versammelte sich allmälig fast die
ganze Gesellschaft von Hong-kong, um das im Treppenhause spie-
lende Musikcorps der Arkona zu hören. — Bei Tisch brachte der
preussische Consular-Agent Herr Overbeck zunächst die Gesund-
heit Seiner Majestät des Königs aus. Dann sprach der Consul für
Kan-ton, Herr von Carlowitz. Im Namen aller in China lebenden
Deutschen dankte er dem Gesandten in warmen beredten Worten
für Befestigung ihrer Stellung durch den eben geschlossenen Ver-
trag und entwarf ein lebendiges Bild der Schwierigkeiten und Müh-
sale, welche der Erreichung des Zieles entgegentraten. Der Ge-
sandte dankte für die Gunst, mit welcher seiner persönlichen Thä-
tigkeit eben gedacht worden sei, und erinnerte die Gastgeber, wie
der preussischen Regierung und vor Allem Seiner Majestät dem
Könige der wärmste Dank dafür gebühre, dass Sie inmitten ernster
politischer Verwickelungen trotz manchen Zweifeln und Wider-
sprüchen eine Expedition einzig zu dem Zwecke ausgerüstet hätten,
den Deutschen in Ost-Asien eine feste Basis für ihre Thätigkeit
und wirksamen Rechtsschutz zu gewähren. Nun komme es darauf
an das gewonnene Resultat zu wahrhaft nützlicher Geltung zu
bringen; und wie er hoffe, dass die deutschen Regierungen nicht
anstehen würden die zu Aufrechthaltung der Verträge nothwen-
digen Mittel zu bewilligen, so erwarte er auch, dass die in Ost-
Asien
lebenden Deutschen, die sich schon ohne politische Rechte
eine so geachtete Stellung erworben hätten, durch eigene Tüchtig-
keit das Streben der Regierung fördern wollten. Der Gesandte
trank auf das Wohl der Deutschen in China und sprach so warm
zum Herzen, dass rauschender Jubel seiner Rede folgte. Das Ge-
fühl, dass ein grosses für alle Zeiten wichtiges Werk durch auf-
opfernde Arbeit und zähe Thatkraft vollendet wurde, lebte in Aller
Bewusstsein. Der Vertrag war in der That für die Deutschen in
China ein Ereigniss von höchster Bedeutung. Bis dahin standen
sie rechtlos da; die Thätigkeit der deutschen Consuln beschränkte
sich fast auf die Klarirung von Schiffen und Unterstützung noth-
leidender Landsleute. Die Mandarinen verwahrten sich gegen jeden
Verkehr mit denselben, weil sie Kaufleute, nicht Staatsbeamte seien.
Wollte ein Deutscher Rechte gegen Chinesen verfechten, so musste
[187]XIX. Landparthie.
er des englischen, französischen oder americanischen Consuls Bei-
stand anrufen, der nur aus Courtoisie gewährt wurde. Anspruch
darauf hatte Niemand; der deutsche Ansiedler war auf die persön-
liche Gunst fremder Beamten angewiesen, welche der Wortlaut der
von ihren Regierungen geschlossenen Verträge keineswegs zu Unter-
stützung fremder Staatsangehörigen berechtigte. Die Schwierigkeit,
diesen Schutz zu erlangen, wuchs mit den Fortschritten des deut-
schen Handels. — Dass im preussischen Vertrage für die Hanse-
Städte eine gesonderte consularische Vertretung stipulirt war, be-
dauerten alle Hanseaten in China; denn sie konnten von den hei-
mathlichen Regierungen die Absendung diplomatischer Consuln nicht
erwarten und blieben somit fast in der früheren Lage. Man hatte
in den Hanse-Städten diese Frage nicht verstanden und sogar jede
Theilnahme am preussischen Vertrage abgelehnt, wenn nicht die ge-
sonderte Vertretung zu erwirken wäre.


Dem Trinkspruch des Gesandten folgten viele andere; die
preussische Armee und Marine wurden nicht vergessen. Man trennte
sich erst in später Nacht.


Ein glänzendes Frühstück, zu welchem Herr Overbeck den
Gesandten einlud, vereinigte die deutsche Gesellschaft von Hong-
kong
am 18. November in einem an der Westseite der Insel hoch
am Bergeshang gelegenen Hause, das nur als Zielpunct für Land-
parthieen dahin gebaut ist. Morgens bald nach neun Uhr brachen
wir theils zu Fuss, theils in Tragstühlen auf. Der trefflich gehaltene
Weg steigt gemächlich bergan; immer herrlicher wird die Aussicht.
Nach einer Strecke verliert man den Blick auf die Stadt; dafür
erschliesst sich das inselbesäte Meer nach Süden in grenzenloser
Weite. — Alle Quellen am Wege sind sorgfältig eingefasst und
durch Röhren in eiserne oder gemauerte Behälter geleitet, von wo
das Wasser in die Stadt fliesst.


Nach anderthalb Stunden erreichten wir das Ziel und waren
angenehm überrascht einen schattigen Garten zu finden. So weit
das Auge reicht, fällt die Insel in kahlen schroffen Hängen
hinab. — Nach dem Frühstück wurde ein Tempelchen in der Nähe
besucht, wo der vom Berge herabrauschende Bach sich in eine
Schlucht stürzt. Man verbrachte mehrere Stunden in heiterem Ge-
nuss der Gegenwart und trat gegen vier Uhr den Heimweg an. —
Abends war Subscriptionsball im Clubhause; die festlich beleuchte-
ten Räume und die glänzende Bewirthung liessen nichts zu wünschen
[188]Kaufläden. XIX.
übrig, — die Gesellschaft hatte aber nur achtzehn Damen auf-
zuweisen. Die Zahl der Herren war weit über hundert.


Die Stadt Victoria selbst bietet wenig Fesselndes. In den
europäischen Strassen liegt ein Palast neben dem andern, lauter
massive Steinbauten von grossen Verhältnissen. Das Untergeschoss
enthält Waarenlager und die Dienststuben der chinesischen Buch-
halter, Kassirer und Aufseher; da wird sortirt, gezählt, gepackt und
gehämmert. Oben hausen die Besitzer in bequemen, luftigen Räu-
men. — Kaufläden mit europäischen Erzeugnissen giebt es wenige;
sie sind jedoch glänzend mit allen Luxusartikeln der civilisirten
Welt ausgestattet; da steht die Gänseleberpastete neben Stiefel-
wichse und kostbarem Goldschmuck auf einem allerdings ver-
stimmten Clavier; Aufwand und Preise sind noch toller als in an-
deren Häfen. — Die westliche Hälfte der dem Strande parallelen
Hauptstrasse bewohnen chinesische Krämer; ihre Häuser sind klein
und halb europäisch gebaut. Man findet dort die seit Jahren bei
uns bekannten Erzeugnisse der südchinesischen Industrie: Elfenbein-,
Perlmutter-, Bambus- und Sandelholz-Schnitzereien, Lackarbeiten
und Seidenfabricate. Der Kan-ton-Lack kann sich dem japanischen
nicht vergleichen; die feinen Goldmalereien daran sind mit fabrik-
mässiger Geschicklichkeit geistlos aufgetragen, lauter einförmige
hergebrachte Muster. die sich zum Ueberdruss tausendfach wieder-
holen. Die Elfenbein-Schnitzereien sind einzig in ihrer Art, von
wundersam künstlicher Arbeit, in den Mustern aber eben so ein-
förmig wie die Lacksachen. Man hat jedes Stück schon hundert-
mal gesehen. Dieselbe Sterilität spricht aus allen Arbeiten der
heutigen Chinesen: sie copiren mit der höchsten technischen Vollen-
dung, unendlicher Geduld und Treue, haben aber weder Erfindung
noch eigene Auffassung. Den schlagendsten Beweis dafür bieten
die vielen Malerläden in Hong-kong, wo zum Entzücken der fremden
Seeleute für geringes Geld Bildnisse von Menschen und Schiffen
mit einer buchstäblichen Treue gepinselt werden, welche der giftig-
sten Kritik spottet.


Viele bunte Schilder und Ladenzeichen geben dem chinesi-
schen Theil der breiten Hauptstrasse ein malerisches Aussehn;
daneben steigen enge schattige Gassen, von Arbeitern und Tage-
löhnern bewohnt, die steilen Hänge hinan. Hielte die englische
Polizei nicht auf Reinlichkeit, so röche es dort wohl bald
wie in anderen chinesischen Städten. — Die Colonialregierung
[189]XIX. Fahrt nach Kan-ton.
giebt grosse Summen aus, um die breiten Strassen und Plätze
mit Bäumen zu bepflanzen; ihre chinesischen Unterthanen stehlen
sie aber trotz aller Wachsamkeit der Polizei mit löblicher Ausdauer.


Am 20. November fuhr der Gesandte mit einigen seiner Be-
gleiter auf dem Dampfer »Hankow« nach Kan-ton. Das Schiff ist
in America gebaut, ein Flussdampfer der besten Art, einem schwim-
menden Hause vergleichbar. Ein kühnes Wagstück muss es ge-
wesen sein, das Fahrzeug über den Ocean zu bringen. — Morgens
um acht ging es von Hong-kong ab. Das untere Stockwerk wimmelte
von Chinesen; das obere ist sehr elegant nur für westländische
Reisende eingerichtet und enthält einen Speisesaal, Salon, Rauch-
zimmer u. s. w. Die Maschine liegt grossentheils über dem schmalen
scharfgebauten Rumpf; ihre Hebel ragen hoch über die Radkasten
der ungeheuren Schaufelräder. — Die Fahrt ist reizend. Zuerst
saust das Schiff in fliegender Eile durch dichtgedrängte Dschunken;
jeden Augenblick glaubt man anzurennen; aber vorn an der Spitze
drehen zwei Chinesen, einander so gleich wie ein Ei dem anderen,
mit unbeweglicher Miene das Steuerrad; wie aus einem Guss, von
einem Willen gelenkt sind ihre Bewegungen, man glaubt denselben
Menschen doppelt zu sehen. Der americanische Capitän leitet hinter
ihnen stehend den Gang der Maschine; auf Zollbreite streift der
Coloss an den Dschunken vorbei.


Ein Weilchen geht es darauf über freies Wasser, dann
zwischen die Felseilande hinein. Oft scheint der Ausgang ver-
sperrt; da schlüpft der Dampfer in scharfer Wendung durch einen
engen Canal, den Niemand ahnte. Auch diese Inseln sind kahl:
nur hier und da liegt ein Fischerdorf an heimlicher Bucht zwischen
dichte Wipfel gebettet. — Nochmals öffnet sich die breite Meeres-
fläche, nach Süden unabsehbar. Dann läuft das Schiff in den Perl-
Fluss
, dessen weite Mündung von malerischen Fahrzeugen wimmelt:
da kreuzen Lorchas mit fächerförmigen Mattensegeln, und tausend
Fischerdschunken, denen ihre zum Trocknen über die Raaen ge-
hängten Netze die abenteuerlichste Gestalt geben. Auf überflutheten
Sandbänken waten einsame Fischer, ihre Netze stellend, bis an die
Hüften im Wasser. Noch schwimmen die Ufer in nebliger Ferne.


Von Tšuen-pi und Ti-kok-to gewahrte man wenig; erst
weiter hinauf verengt sich das Becken. Im Westen steigt die
sonderbar geformte Felsengruppe auf, deren Umriss einem lie-
genden Tiger verglichen wird; nach ihr nannten die Portugiesen
[190]Fahrt auf dem Tšu-kiaṅ. XIX.
die Mündung des Tšu-kiaṅBocca Tigris. Davor liegen auf niedri-
gen Felsinseln und am linken steileren Flussufer die Festungs-
werke, welche die Einfahrt vertheidigen sollten und so oft zu-
sammengeschossen wurden, lange kanonengespickte Mauerlinien.
Je weiter hinauf, desto reicher sind die flachen Ufer angebaut,
desto belebter der Fluss. Viele Dörfer, Tempel und Pagoden säu-
men den Strand. — Um halb zwei hielt der Dampfer bei Wam-
poa
, wo die grossen Seeschiffe ankern, und war im Nu von Tan-
ka
-Booten umringt, aus welchen die lustigen Mädchen um die
Wette schrieen und winkten. — Am Ufer liegen schmutzige Häuser-
reihen mit Agenturen, Kneipen und Kramläden für den Schiffs-
bedarf, daneben ausgedehnte Werfte, wo auch Fahrzeuge euro-
päischen Schnittes gebaut werden. Wam-poa scheint schmutzig
und übelriechend, voll Gesindel, wie mancher andere Hafenort.
Die Gegend ist hügelig und hübsch bewachsen, dichte Bananen-
gruppen geben ihr einen tropischen Anstrich.


Oberhalb Wam-poa theilt sich der Strom in zwei Arme;
der Hankow läuft in den nördlichen ein. Die Landschaft wird im-
mer hübscher; auf dem linken Ufer treten die Berge näher an den
Fluss, auf dem rechten stehen zwei schlanke Pagoden. Ein Dorf
reiht sich an das andere, schattige Wäldchen und Bambusge-
büsche grünen zwischen den Reisfeldern. Der Fluss wird enger; das
Gedränge der Dschunken lässt kaum einen Durchgang frei. Eine
Felsrippe durchsetzt das Wasser; rechts und links stehen zwei
kleine Leuchtthürme. Der Dampfer schiesst durch das Thor und
lässt bald darauf seinen Anker fallen, nachdem er 98 Seemeilen in
6 Stunden machte.


Am linken nördlichen Flussufer liegt die Stadt Kan-ton,
eine graue Häusermasse, das rechte bildet die Insel Ho-nan, wo
damals die meisten Fremden wohnten. Noch war ein breiter
Streifen zwischen dem Fluss und der Stadtmauer unbebaut, wo die
verbrannten Factoreien und Vorstädte standen. — Der Fluss ist
ungemein belebt. Am Ufer liegen in langer Reihe die »Flowerboats«,
schwimmende Häuser mit reich geschnitzten, bemalten, vergoldeten
Façaden, lauter Theehäuser und Schenken. Tausend andere von
den ärmeren Volksclassen bewohnte Boote bilden Strassen und
Gassen; die der Aussätzigen liegen gesondert und abgesperrt. Im
Fahrwasser ankern viele Dschunken und Lorchas; dazwischen
schwärmen Boote mit Marktwaaren, Werkstätten, Kramläden herum,
[191]XIX. Die Tan-ka-Boote.
auch Bettler und Krüppel rudern sich Almosen heischend in kleinen
Nachen durch das Gedränge. — Die meisten Passagierboote werden
von Mädchen oder Frauen gerudert, die oft bei ihrer schweren Ar-
beit noch ein Kind auf den Rücken gebunden tragen. Diese
»Tan-ka-Boote« enthalten die ganze Häuslichkeit einer Familie,
sind aber meist nur von Frauen und Kindern bewohnt; vermuth-
lich fischen die Männer oder arbeiten am Lande; denn dass die
Tan-ka-Chinesen, wie man erzählt, keinen festen Boden betreten
dürfen, ist kaum zu glauben, — wie wären sie zu erkennen? —
Ihre Boote sind flach gebaut und haben ein bewegliches Dach von
Mattengeflecht, durch welches nach Bedürfniss Luft und Licht ein-
gelassen werden kann. Im hintersten Winkel steht ein kleiner ver-
goldeter Altarschrein mit künstlichen Blumen und anderen Zierlich-
keiten, vor welchem die Schifferinnen zu gewissen Tageszeiten
Kerzen anzünden und andächtig niederknieen. Sie scheinen bei
aller Armuth meist heiter und zufrieden und halten ihr schwimmen-
des Häuschen sehr reinlich. — Als der Hankow vor Kan-ton
ankerte, umdrängte ihn eine dichte Schaar dieser Boote; wie eine
Gänseheerde schnatterten die Dirnen.


Herr von Carlowitz, der den Gesandten nach Kan-ton be-
gleitete, hatte auf der Fahrt das Unglück, vom unteren Deck zwölf
Fuss tief in den Schiffsraum hinabzustürzen. Aeusserlich nur wenig
verletzt blieb er doch eine Weile besinnungslos, musste mehrere
Tage das Bett hüten und konnte den Gesandten auf seinen Wande-
rungen durch Kan-ton nicht führen. Graf Eulenburg stieg mit
seinen Begleitern bei dem Hamburger Kaufmann Herrn Dreyer ab,
der ihm sein gastfreies Haus zur Verfügung stellte. Frau von Carlo-
witz
machte sehr liebenswürdig die Honneurs des preussischen Con-
sulates. — Die beiden folgenden Tage wurden mit Wanderungen
durch die Stadt und Besuchen in den Kaufläden zugebracht, welche
in Kan-ton glänzender ausgestattet sind, als irgendwo in China.


Kuaṅ-tšu-fu, Kuaṅ-tuṅ oder Saṅ-tšiṅ, — so heisst Kan-
ton
in der Landessprache, soll schon im grauen Alterthum die
wichtigste Stadt des südlichen China gewesen sein. Im 3. Jahr-
hundert v. Chr. wurde sie mit Pallisaden, und 1067 zur Abwehr
der räuberischen Cochin-Chinesen mit einer Ringmauer umgeben.


Den Heeren der Mandschu widerstand sie lange Zeit, fiel
aber 1650 nach schwerer Belagerung durch Verrath und wurde der
Plünderung preisgegeben. Dabei sollen 700,000 Kantonesen um-
[192]Die Stadt Kan-ton. XIX.
gekommen sein, an deren Stelle sich die Tartaren innerhalb der
Ringmauer ansiedelten. Die neuere Chinesenstadt wurde südlich
an jene ältere, jetzt die Tartarenstadt angebaut und ebenfalls mit
einer Mauer umgeben. Der ganze Umkreis soll etwa 1¼ Meilen be-
tragen. Vier Thore, die noch heute zur Nachtzeit geschlossen
werden, führen aus der Chinesen-Stadt in die tartarische. —
Bis zum zweiten englischen Kriege war Kan-ton der blühendste
Stapelplatz des fremden Handels; auf weitem Landwege kamen die
Ausfuhr-Artikel durch das rauhe Mei-liṅ-Gebirge aus den ent-
ferntesten Gegenden. Durch Freigebung der nördlichen Häfen und
der Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse-kiaṅ gelangen jetzt die Erzeug-
nisse der nördlichen Provinzen auf bequemeren und kürzeren We-
gen in die Hände der Fremden; Kan-ton wird sich zur alten Be-
deutung kaum wieder erheben.


Auf dem Uferstreifen südlich von der Stadt waren noch die
Grundmauern der verbrannten Factoreien, die Wege und Rasen-
plätze der davorliegenden Gärten sichtbar. Die Stelle, wo Yi’s
Palast stand, hatten die Franzosen mit einer Mauer umschlossen;
eine Kirche und ein Missionshaus sollten dort gebaut werden. Der
zur neuen Ansiedlung der Fremden bestimmte Platz am Fluss in
der Nähe der alten Factoreien war mit einem Quai eingefasst. Vor
etwa drei Wochen hatten die englischen Truppen Kan-ton ge-
räumt, wo den ganzen Krieg durch, so gut wie in Shang-hae, der
fremde Handel ungestörten Fortgang nahm. Die nähere Berührung
mit den Bewohnern während der langen Occupation trug die heil-
samsten Früchte: ihre alten Vorurtheile schienen überwunden, der
eingewurzelte Fremdenhass völlig ausgerottet. Ueberall begegneten
sie den Fremden mit Höflichkeit und Vertrauen, auch die Haltung
der Behörden liess nichts zu wünschen übrig. Die Deutschen in
Kan-ton, besonders der preussische Consul, wünschten lebhaft,
dass der Gesandte mit dem Vicekönig Lu in Berührung träte; der
Prüfung von 8500 Candidaten wegen hatte sich Dieser jedoch seit
vierzehn Tagen in dem dazu bestimmten Gebäude eingeschlossen
und wollte einige Zeit ungestört bleiben.


Die Bevölkerung von Kan-ton und den Vorstädten soll über
eine Million betragen. Seine Gassen sind düster und winklig, hier
und da so eng, dass man in der Mitte stehend mit beiden Händen
die Häuser berühren kann, für eine chinesische Stadt aber auffallend
reinlich. Nach früheren Schilderungen zu urtheilen, muss die
[193]XIX. Kaufläden.
grössere Sauberkeit eine Folge der Occupation sein; die englische
Polizei soll mit unerbittlicher Strenge darauf gehalten haben.
Die Bewohner sehen schmuck und wohlhabend aus, alle Bettler
und Krüppel scheinen auf den Fluss verbannt. — Den Süden
merkt man in den kühlen schattigen Gassen der Chinesenstadt auf
Schritt und Tritt; ihre Häuser sind von Backstein, ohne anderen
Schmuck als die dichtgedrängten Ladenschilder. Die Kaufläden
empfangen ihr Licht von den Strassen und der Hofseite, der ganze
Waarenvorrath ist darin zur Schau gestellt. Den buntesten An-
blick und eine reichere Auswahl, als irgendwo in China, bieten die
Porcelan-Handlungen, wo Alles dem Bedürfniss der Fremden ange-
passt ist. Wie in Japan stehen hier vollständige Tafelservice zu
Kauf, aber auch schöne Gefässe von landesüblicher Form. Dem
alten kann sich das heutige chinesische Porcelan nicht ent-
fernt vergleichen; das Geheimniss der Farben unter der Glasur
scheint verloren zu sein; die Malerei ist bunt, überladen und con-
ventionell, ohne künstlerischen Werth. Zwar wechselt die Mode
beständig, bringt aber nichts Neues und Eigenthümliches mehr.
Auch die Masse des Porcelans soll sich verschlechtert haben. —
Die Elfenbein-, Schildpatt- und Perlmutterarbeiten gleichen den in
Hong-kong verkauften, nur sind die Lager von Kan-ton viel reich-
haltiger. Von hoher Meisterschaft in der Kunstfertigkeit des
Schnitzens zeugen besonders die Möbel in Kan-ton: die meisten
Stücke sind dem europäischen Gebrauch angepasst, aus chinesi-
schem Ebenholz sehr reich und prächtig gearbeitet, mit vollem und
durchbrochenem Ornament von höchster technischer Vollendung.
— In den Seidenläden findet man schwere geblümte Möbelstoffe
von grosser Schönheit und Crêpe de Chine-Tücher mit prachtvoller
Stickerei.


In der Tartarenstadt sind die Kaufläden seltener, die Strassen
stiller als in der chinesischen, ihr nördliches Ende lehnt sich an
eine Anhöhe. Auf dem höchsten Puncte steht in der Flucht der
Ringmauer die »fünfstöckige Pagode«, ein breites Tempelgebäude
von alterthümlichem Aussehn. Hier warf 1841 der alte Yaṅ-faṅ
dem englischen Commandeur seine goldenen Armspangen hinab und
bot den Frieden. Auf dieser Seite stürmten die Truppen der Ver-
bündeten auch im December 1857.45) Der Hügel beherrscht die
ganze Stadt, die von hier aus einem Meer grauer Dächer gleicht;
IV. 13
[194]Yamums und Tempel. XIX.
nur an wenigen Stellen ragt ein höheres Gebäude aus dem Häuser-
labyrinth. Hinter der Stadt schlängelt sich der Tšu-kiaṅ wie ein
silbernes Band durch die grüne Fläche, die nach Südosten unab-
sehbar, nach Süden und Westen von fernen Kämmen begrenzt ist.
Von Norden tritt der Fuss des steilen Gebirges hart an die Stadt
heran, welche die gegenüberliegenden Höhen völlig beherrschen.
Von da muss 1841 das aufgeregte Landvolk herabgestiegen sein,
das während der Waffenstillstandsverhandlungen den englischen
Truppen in den Rücken fiel. — In der Nähe liegt ein Stadtthor
von der hergebrachten Bauart; die Wache war blau uniformirt, mit
rothem Besatz. Jeder Soldat trug auf der Brust den Namen seines
Regiments und auf dem Rücken in breiten Schriftzügen die Be-
theuerung, dass er sehr tapfer sei.


Unter den öffentlichen Gebäuden zeichneten sich die von
dem englischen und dem französischen Consul bewohnten Yamums
durch Grossartigkeit der Anlage aus. Endlose mit Steinplatten be-
legte Avenuen führen in grader Linie durch mehrere Portale und
Höfe, wo mächtige alte Bäume stehen; dann folgt eine Halle auf
niedrigem steinernem Sockel, von welcher ein breiter bedeckter
Gang nach dem Hauptgebäude läuft. Die ganze Flucht vom ersten
Portal an mag 600 Schritte lang sein. — Die Bauwerke selbst
gleichen denen der Paläste von Pe-kiṅ, sind aber sehr baufällig.


Tempel giebt es in Kan-ton viele; einer der merkwürdigsten
ist das grosse Pandämonium, welches dem von Pi-yun-tse im Ge-
birge bei Pe-kiṅ gleicht. Auch hier stehen überlebensgrosse Portu-
giesen, Engländer und Holländer in komisch knapper Tracht unter
den Wohlthätern der Menschheit; die Menge der Glimmkerzen in
den vor den Götzen aufgestellten Opfergefässen zeugt von der Po-
pularität dieses Cultus. — Ein anderer Tempel liegt in einem hüb-
schen Garten mit vielen Teichen, niedlichen Brücken, Pavillons und
künstlichen Felsen, die geschnörkelte Landschaft darstellend, die
man so häufig auf chinesischen Bildern sieht. Von den nord-
chinesischen Bauten unterscheidet sich die Tempel-Architectur dieser
Landestheile wesentlich; sie ist bunter, phantastischer, lustiger; die
Ornamentik beruht auf Anwendung von Kacheln, Stuck und Bruch-
stein. Pfeiler und Schwellen von sorgfältig behauenem Granit
treten an die Stelle der hölzernen; feine Stuckarbeiten an die Stelle
des Schnitzwerks. Gutes Bauholz scheint selten; die den nord-
chinesischen und japanischen Tempeln eigene Verschwendung des
[195]XIX. Tempelarchitectur.
Holzes im Dachstuhl und tragenden Gebälk sieht man im Süden
nicht, der Dachstuhl ist leichter; überall tritt der Stein in den Vor-
dergrund. Von Erfindung, Grazie und Sinn für schönes Verhältniss
zeugt die reiche Profilirung der Pfeiler, Schwellen und Consolen;
die Technik der Steinmetzarbeit ist vollendet. Die bunt geschnör-
kelten Dächer haben alle dieselbe von der nordchinesischen ganz
verschiedene Grundform der Verzierung. In der Mitte der hohen
aus bunten Kacheln gefügten First ragt auf kelchartigem Untersatz
eine grosse dunkelblaue Kugel in die Luft, an deren Seiten sich
Schlangen oder Drachen durch Wolken ringeln; daneben zwei
bunte Fische, den Kopf nach unten, den Schwanz hoch in die Luft
geschwungen; das Alles mag symbolisch sein. Die brettartige Dach-
first selbst zeigt zwei Reihen Reliefs, die obere gewöhnlich in
Kacheln wie die Krönung, die untere in Stuck gearbeitet, theils
figurenreiche Compositionen auf architectonischem Hintergrund,
theils Blumen, Fruchtstücke, musikalische Instrumente und allerlei
Embleme, das Ganze äusserst bunt. Darunter setzt die Bedachung
aus grauen Ziegeln an, nur die Stirnziegel sind gemustert und bunt.
Die Giebel haben verschiedene willkürliche, zackige, geschwungene,
oft architectonisch widersinnige und unmögliche Formen. Unter
dem Dach läuft gewöhnlich ein ornamentaler Fries von Stuck hin,
der sich in der Krönung der daranstossenden Wände fortsetzt.
Die Zeichnung dieses Mauerschmuckes zeigt oft die sonderbarsten
Verkröpfungen, Verschlingungen, Verschiebungen der Linie; man
staunt über die Extravaganzen der gedankenleeren Willkür; denn
irgend ein Sinn ist in dieser Verzierung nicht zu finden, die sich
weder auf Anschauungen aus der sinnlichen Welt, noch auf Sym-
bolik oder die Ahnung mathematischer Gesetze gründet. — Im
Innern gleichen die kantonesischen Tempel den früher beschrie-
benen, nur sind sie wo möglich noch buntscheckiger. Bei den
meisten ist der Mittelraum oben offen, der Hauptgötze sitzt der
Eingangshalle gegenüber; auf den Altären steht das übliche Ge-
räth, in den Seitenhallen verkaufen die Bonzen ihre Gebetformeln,
Silberpapiere und Glimmkerzen, und bescheinigen den Opfernden
die verrichtete Andacht. Lustig knallen die Schwärmer und dem
Pulverdampf mischen sich die Gerüche der Brand- und Speise-
opfer: — der Reiche bringt ein ganz gebratenes Mastschwein nebst
hundert Schüsseln und bunten Kuchen, schleppt aber wie gesagt
Alles wieder nach Hause, um es selbst zu essen; die abgeschiedene
13*
[196]Tempeldienst. Moschee. XIX.
Seele labte ja der Duft, und der Bonze hat es bescheinigt. — Seine
Cigarre rauchend schaut man ungestört dem Treiben zu, und wenn
sie ausgeht, bringt der Bonze, ein Trinkgeld erwartend, höflich die
vor dem nächsten Götzenbild brennende Glimmkerze.


Etwas ehrwürdiger war der Cultus in dem grossen Kloster-
tempel auf Ho-nan, einer weitläufigen alten Anlage mit labyrinthischen
Höfen und schönen Gärten. Im grossen Hauptgebäude gingen
Hunderte von Bonzen im Gänsemarsch, rythmisch singend, mit ge-
faltenen Händen, in gewundenem Gange vielfach um die Altäre
herum, während einige an hellgestimmte Becken schlugen. Darauf
ordneten sie sich vor den Altären in regelmässige Gruppen und be-
gannen eine Art Litanei, halb singend, halb redend, mit vielfach
wechselndem Rythmus, theils in Solostimmen, theils im Chor, mit
Begleitung des Gongs, das etwa von Minute zu Minute, bei lang-
samen Rythmen seltener angeschlagen wurde. Sehr verschieden-
artig waren die Physiognomieen der Mönche: da gab es ascetische,
phlegmatische, gleichgültige, fanatische, stumpfe und blöde, auch
schlaue und joviale Gesichter; einige trugen den Ausdruck gläubiger
Frömmigkeit.


Wahrscheinlich giebt es in Kan-ton noch andere Formen
des Cultus; der chinesisch-buddistische ist der vorherrschende, der
tibetanisch-buddistische Lama-Dienst scheint in den südlichen
Landschaften nicht verbreitet zu sein. — Die Moschee der Moslems,
deren in Kan-ton 30,000 wohnen sollen, steht in der Tartarenstadt,
ein stattliches Gebäude augenscheinlich von hohem Alter, mit
arabischen Anklängen im Innern, nach Mekka gewendetem Mirab
und verfallenem Minaret; sonst ist das Aeussere chinesisch. Ueber
die Gründung dieser Gemeinde fehlen dem Verfasser die Nach-
richten; wahrscheinlich ist sie auf die arabischen Kaufleute zurück-
zuführen, die vom 9. bis zum 13. Jahrhundert so zahlreich nach
Kan-ton kamen.


Die Umgebung der Stadt ist freundlich. Hier und da schnei-
det ein Hügelkamm die Ebene. Zwischen den Reisfeldern laufen
erhöhte Pfade hin; Dörfer und Tempel liegen in dichtem Bambus-
gebüsch oder schattigen Wäldchen. Eine halbe Stunde flussabwärts
steht auf Ho-nan eine steinerne Pagode von hübschen Verhält-
nissen; im Innern sieht man bis in die Spitze des schlanken Bau-
werks; kein Balken, keine Treppe hindert den Blick. Der Stand-
ort auf einem Hügel bietet die schönste Aussicht nach dem be-
[197]XIX. Rückkehr nach Hong-kong.
lebten Fluss, aus welchem tausend Rinnsale durch die Felder ge-
leitet sind; nordwärts steigt das Gebirge auf, im Osten der Masten-
wald von Wam-poa. — Die eingeborenen Ponies, auf welchen man
diese Ausflüge macht, sind durch die Sicherheit ihres Trittes für
die steinigen Pfade und die schmalen schlüpfrigen Brücken sehr
geeignet.


Die Tage in Kan-ton vergingen sehr angenehm; von den
Wanderungen zurückkehrend pflegte man auf den hübschen Altanen
auszuruhen, die vor den Wohnungen der Fremden auf Ho-nan in
den belebten Fluss hinausgebaut sind. Bei Tage war es oft heiss;
der Abend brachte labende Kühlung. — Am Abend des 22. No-
vember machten der Gesandte und seine Begleiter Herrn und Frau
von Carlowitz den Abschiedsbesuch und nahmen die beruhigende
Ueberzeugung mit, dass der Unfall des Consuls auf dem Dampfer
keine bleibenden Folgen haben würde. — Am 23. November Mor-
gens schifften sie sich auf dem Hankow ein und erreichten nach
angenehmer Fahrt die Rhede von Hong-kong. Am Abend desselben
Tages veranstalteten die Officiere von Fane’s horse ein Tanzfest
in Puk-fa-lum, dem erwähnten Pavillon an der Westküste, wohin
sich die Attachés vom Hankow aus begaben. Ein englisches Ka-
nonenboot führte die Officiere und das Musikcorps der Arkona an
den Strand, von wo ein steiler Pfad nach Puk-fa-lum hinanführt.
Abends wurde das Hinabklettern halsbrechend.


Der Aufenthalt in Hong-kong schloss unter Festlichkeiten,
wie er begann. — Aus dem Norden trafen alte Bekannte ein, Offi-
ciere der Garnison von Tien-tsin, dann Graf Kleczkowski und
Herr de Méritens; Letzterer gab die diplomatische Laufbahn auf
und trat als Zolldirector für Fu-tšau in chinesischen Dienst.
Solche Stellungen locken viele sprachkundige Beamten der frem-
den Missionen, da das damit verknüpfte hohe Gehalt ihnen die
Sicherheit bietet, in kurzer Zeit ein Vermögen zu sammeln. —
Am 28. November veranstaltete Graf Eulenburg auf der Arkona
einen Ball, zu welchem die Gesellschaft von Hong-kong, die Offi-
ciere der Garnison und der auf der Rhede liegenden Kriegsschiffe
eingeladen wurden. — Der Besanbaum und alles Tauwerk wurden
entfernt, das Sonnensegel in grosser Höhe gespannt und das ganze
Deck vom Grossmast bis zum Heck in einen Tanzsaal verwandelt.
Die Wände bildeten bunte Flaggen aller Nationen. Ein Stern aus
Bajoneten zierte den Kreuzmast, zu dessen Seiten königliche
[198]Tanzfest. XIX.
Standarten herabhingen. Die rings um den Bord laufenden Rai-
lings, wo sonst bei Tage die Hangematten weggestaut werden,
waren mit Erde gefüllt und eine dicke Hecke von Camelien und
anderen Blüthensträuchern hineingepflanzt worden. Blumen und
Guirlanden versteckten jeden Fleck, der nicht festlich aussah. Die
blanken Landungsgeschütze und die mit Gewehren decorirte Com-
mandobrücke allein erinnerten an das Kriegsschiff. Rings an den
Borden herum standen Divans, und das Spill trug eine Lichter-
pyramide; auch die Blumenhecken strahlten im hellsten Glanz der
darin ausgestreuten Lichtermassen. In einer verhängten Nische am
Grossmast spielte das Musikcorps. — Den Glanzpunct der Deco-
ration bildete ein etwa zwölf Fuss hoher Wasserstrahl, der zwischen
Bananen und blühenden Büschen aus dem Schraubenbrunnen auf-
sprudelte. Ein dahin geführter Schlauch stand mit der Pumpe im
Zwischendeck in Verbindung. Die Gratings über dem Schrauben-
brunnen waren durch Muscheln, Steine und Moos versteckt; aus
dem Deck schien das Wasser aufzusteigen und verschwand herab-
fallend in den verborgenen Schacht.


Ueber hundert Herren und fünfundzwanzig Damen erschienen
zu dem Feste; der Gouverneur Sir Hercules Robinson, General-
Lieutenant Sir John Mitchell und Mr. Burlingame, der neu er-
nannte americanische Gesandte, befanden sich unter den Gästen.
Das Souper wurde in der durch japanische Laternen erhellten
Batterie verzehrt; bis zum Ende des Festes — gegen drei Uhr
Morgens — herrschte die heiterste Stimmung.


Das längere Ausbleiben des am 25. November fälligen Post-
dampfers aus Singapore verzögerte die Abfahrt der Arkona von
Hong-kong noch um einige Tage. Elbe ging am 30. November nach
Baṅkok unter Segel. Der Photograph Bismarck und der Gärtner
Schottmüller machten die Reise auf diesem Schiff. Dr. Lucius, der
am 29. November von einem Ausflug nach den Philippinen zurück-
kehrte, nahm wieder seinen Platz auf der Arkona ein, die am 3.
December zunächst nach Macao segelte. Nach hübscher Fahrt
durch die Inseln ankerte die Corvette gegen halb fünf Uhr Nach-
mittags etwa vier Seemeilen von der Stadt und grüsste mit 21
Schüssen die portugiesische Flagge. Ein hochgelegenes Fort gab
die Antwort. Am Lande wurden der Gesandte und seine Begleiter
von Herrn von Carlowitz empfangen und nach dessen an der »Praja«
gelegenem Hause geleitet, wo sie Wohnung nahmen.


[199]XIX. Macao.

Die grosse Insel Hiaṅ-šan, deren Südspitze die Halbinsel
Gau-mun oder Macao bildet, liegt südlich vor der Hauptmündung
des Perl-Flusses, besser gesagt, vor dem Labyrinthe kleinerer Rinn-
sale, in welche die Gewässer des Tšu-kiaṅ sich unterhalb Kan-ton
nach Süden verzweigen. Ein schmaler Arm trennt die Insel vom
Festlande. Nach Kan-ton führt von Macao aus durch dieses Netz
eine vielbefahrene Wasserstrasse, die »Innere Passage« im Gegensatz
zur äusseren genannt, unter welcher man den Weg an der Ostküste
der Insel entlang nach der Bocca Tigris versteht.


Die Halbinsel Macao ist durch einen sandigen Isthmus von
kaum hundert Schritt Breite mit der Insel verbunden. Quer über
denselben läuft eine Mauer, bei welcher früher portugiesische und
chinesische Wachtposten zu stehen pflegten. Der ganze Umfang der
Halbinsel mag fast zwei Meilen betragen. — Dicht bei dem Isthmus
erhebt sich ein Felsberg mit Burgtrümmern, von welchem ein be-
waldeter Höhenzug, östlich vom Meere bespült, nach Süden läuft;
schroffe Klippen und losgelöste Blöcke, zwischen welchen sich
malerische Fischerhütten eingenistet haben, sind in die klare stille
Bucht am Isthmus hin ausgestreut. An seinem südlichen Ende bildet
dieser Höhenzug ein hübsches Vorgebirge, wendet sich dann, in
breiten Felsmassen ansteigend, scharf nach Westen und läuft end-
lich die Halbinsel quer durchsetzend in sanfter Abdachung bis
an den ihr nördliches Ufer bespülenden Meeresarm. Auf seinen
Gipfeln thronen die portugiesischen Festen, die nach Süden das
hohe Meer, nach Norden die fruchtbare Ebene bis zum Isthmus
beherrschen. Westlich von jener Abdachung zieht sich die Halb-
insel zu einem schmalen niedrigen Sattel zusammen, auf welchem
die Stadt Macao liegt, und steigt jenseit derselben zu einem schroffen
Felscap mit doppeltem Gipfel auf, welches spitz in die See aus-
läuft. Neben diesem Vorgebirge mündet der schmale versandete
Eingang des »Inneren Hafens«, der sich nordöstlich zu einem tief
in die Insel schneidenden Becken mit grünen Inseln erweitert. Die
Ufer säumen auch jenseit des Isthmus fruchtbare bergumkränzte
Ebenen.


Die vornehmere portugiesische Seite der Stadt blickt südlich
auf das hohe Meer; hier stehen an der »Praja« die stattlichsten
Gebäude. Dahinter führen abschüssige Gassen über den schmalen
Sattel nach dem inneren Hafenbecken, das von chinesischen Fahr-
zeugen jeder Gattung wimmelt; für tiefgehende westländische Schiffe
[200]Die Portugiesen von Macao. XIX.
ist die Einfahrt zu seicht. — Die Strassen sind winklig, die Häuser
hoch und luftig gebaut, mit wenigen Fenstern und freundlichen
Altanen wie im südlichsten Europa. Stattliche Kirchen und Klöster
mit schattigen Gärten liegen in der Stadt zerstreut. Die Strassen
am inneren Hafen sind vorwiegend von Chinesen bewohnt und
sehr belebt; in denen der Portugiesen hört man unheimlich den
eigenen Tritt.


Die Gründung Macao’s und das Verhältniss der Colonie zur
chinesischen Regierung wurde in einem früheren Abschnitt berührt,
ihre Ansprüche auf Oberheit scheinen die Kaiser bis in neuere Zeit
nicht aufgegeben zu haben. Säcke mit portugiesischen Goldstücken,
der Grundzins der Colonisten, der bis 500 Tael jährlich betragen
haben soll, wurden von den Alliirten 1860 in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ gefun-
den. Die portugiesischen Behörden regieren nur ihre eigenen Unter-
thanen; die Chinesen, weitaus die Ueberzahl der Bevölkerung,
stehen unter Jurisdiction der in der Stadt wohnenden, von der
Bezirksregierung der Insel Hiaṅ-šan und dem Vicekönig von Kuaṅ-
tuṅ
delegirten Mandarinen. Dieses Verhältniss führte beständig
zu Conflicten; der Vortheile des Handels wegen aber liessen sich
die Portugiesen die ärgsten Uebergriffe gefallen. Die Opium-Einfuhr
war in Macao ursprünglich erlaubt und blieb auch nach dem Ver-
bot noch lange auf diese Colonie beschränkt, die erst in Verfall
gerieth, seitdem die Eifersucht der Portugiesen die englischen
Schmuggler nach der Insel Lin-tin vor der Mündung des Tšu-kiaṅ
trieb. Seit Gründung von Hong-kong und den neueren Verträgen
beschränkt sich der Handel von Macao auf wenige Einfuhr-Artikel
von den Sunda-Inseln und Indien, welche die Chinesen hier am
besten einschmuggeln können. Träge und hochmüthig sollen die
Portugiesen der Colonie in grosser Armuth leben; viele der jüngeren
Männer sind ihrer Kenntniss des Chinesischen wegen in den grossen
Handlungshäusern von Hong-kong und Kan-ton angestellt, die
übrigen fristen ihr Dasein im süssen Nichtsthun kleiner Bedien-
stungen, an welchen die Colonialregierung reich zu sein scheint.46)
[201]XIX. Tempel.
In wenigen Familien soll sich rein portugiesisches Geblüt erhalten
haben; die Heirathen mit Chinesinnen waren besonders früher an
der Tagesordnung. Im Ganzen sind die Portugiesen von Macao
ein vertrocknetes, unschönes Geschlecht von kleinem schwächlichem
Körperbau und gelber Hautfarbe, dessen Aeusseres wenig Vertrauen
erweckt. — Sonntags und Donnerstags versammelte sich die schöne
Welt auf der Praja, wo gegen Abend die Militärmusik spielte. Die
Garnison bestand aus 150 gut gekleideten Soldaten von der ver-
schiedensten Hautfarbe, meist Mulatten und Schwarzen aus Timur,
von wo auch viele Sclaven nach Macao gebracht wurden.


So einsam und langweilig die Praja, so belebt sind die
chinesischen Gassen am inneren Hafen; in fünf Minuten geht man
hinüber. Am Quai steht dort ein bunter Tempel neuester Gründung,
von der hohen Stufe der Ausbildung zeugend, auf welcher die Bau-
handwerke sich in China bis heute erhalten haben.47) Die Kachel-
und Stuckarbeit der Dachfirst, der Friese und Krönungen ist von
der höchsten technischen Vollendung, ebenso die Steinmetzarbeit
der Pfeiler und Schwellen aus weissem Granit, deren kunstreiche
Kehlungen und Sculpturen wie mit dem Hobel und Schnitzmesser
vollendet sind. Die vergoldeten Inschriften und Embleme stehen
darauf in flachem Relief gemeisselt, das ein schmaler Zinoberrand
scharf vom glänzenden Grunde abhebt. Das Innere bildet ein
Hypäthron, in dessen Mitte mächtiges Himmelslicht einströmt, wäh-
rend die umgebenden Hallen in magische Dämmerung gehüllt sind.
Eine reizende Wirkung macht es, wenn die hochstehende Sonne
in den weissen Pulverdampf der im Mittelraum abgebrannten Feuer-
werke hineinscheint.


Am Eingang des inneren Hafens liegt westlich von der Stadt
eine Tempelanlage zwischen grossen, von dichten Wipfeln beschat-
teten Felsblöcken. Vom Uferquai führen einige Stufen zum Portal
einer breiten mit Tempeln und Capellen umgebenen Terrasse hinan,
welche den anmuthigsten Blick auf den Hafen bietet. Weitere
Treppenfluchten steigen durch wild übereinandergewürfelte Fels-
blöcke zu anderen Tempelchen und daran vorüber nach einem
Stationspfad hinan, der an Schreinen und Götzen vorbei im won-
nigsten Schatten zum Gipfel des Hügels hinanklimmt. An einem
Bambusgebüsch auf der Höhe hängen allerlei Votivgaben gläubiger
Schiffer, welchen der Tempel besonders lieb zu sein scheint; davon
[202]Garten des Camoens. XIX.
zeugt auch die auf einem Felsblock gemalte Dschunke vor der
Terrasse am Uferquai. — Reizend ist der Blick durch dunkele
Wipfel auf die helle lachende Bucht mit den grünen Inseln und
ferne duftige Berge, reizend auch der Blick vom Wasser auf die
bunten Tempelgebäude, deren zackige Schnörkel im tiefsten Schatten
dunkelgrüner Wipfel schwimmen.48) Mehrere dem Hafen zugekehrte
Felsblöcke tragen riesige Inschriften. Die ganze Anlage soll sehr
alt sein; nach unverbürgter Tradition hätten die Portugiesen diesen
»Ma-kok-Tempel« schon im 16. Jahrhundert vorgefunden und ihre
Colonie danach benannt. Dass in dem geschützten Winkel am
schmalen Eingang des fischreichen Binnenmeeres schon in frühen
Zeiten Seefahrer angesiedelt waren, ist mehr als wahrscheinlich;
der Fleck ist wie geschaffen für Piraten und Fischer, und noch
jetzt der Mittelpunkt des chinesischen Schiffsverkehrs. Eine Reihe
der primitivsten Hütten, deren Bedachung oft ein umgekehrtes Boot
bildet, und mattengedeckte Arbeitsschuppen der Schiffszimmerleute
säumen das felsige Ufer. Nach Westen strekt sich jenseit des
Ma-kok-Tempels das Vorgebirge kahl und steinig in die See.


Am entgegengesetzten östlichen Ende der Stadt liegt der
Garten mit der »Grotte« des Camoens. Zu des Dichters Zeit mag
es eine liebliche Einöde gewesen sein; alte Banyanen umklammern
mit gewaltigem Wurzelnetz die wild über einander gestürzten Fels-
blöcke, zwischen welchen Bambusgebüsch. Pisang und Palmen
spriessen; — aber den ebenen Boden darunter decken Gemüsefelder
mit graden Gartenwegen; nur an wenigen Stellen lässt sich der
Eindruck unverkümmert geniessen. Die »Grotte« ist ein dunkeler
Schlupfwinkel unter überhängenden Felsen, mit einer angestrichenen
Büste des Dichters; darüber steht ein geschmackloser Pavillon.
Begeisterte Reisende haben sich in Versen und Denksprüchen ver-
ewigt; ein nüchterner Deutscher schrieb dazu das alte »Narrenhände
beschmieren Tisch’ und Wände«. — Ein Pfad führt zwischen den
Felsen zu einem höher gelegenen Thürmchen mit reizender Aussicht
auf das Hafenbecken und die angebaute Ebene, die sich bis zum
Isthmus erstreckt; hier machte La Peyrouse eine astronomische Ob-
servation ehe er nach den nordchinesischen Meeren segelte; die
darauf bezügliche Inschrift gilt als die letzte Spur seines Daseins.


Die Ebene zwischen der Stadt und dem Isthmus gleicht einem
Garten; die Chinesen haben sie mit Wassergräben durchfurcht, aus
[203]XIX. Einschiffung.
welchen der fleissige Landmann nach Bedürfniss jede einzelne Pflanze
netzt. Hier gedeiht unter sorgsamer Pflege die Kartoffel, welche
die Fremden in Hong-kong und Kan-ton theuer bezahlen. Unter
dichtem Gebüsch kauern chinesische Dörfchen am Bergeshang, und
am Strande liegen malerische Ansiedlungen armer Fischer ausge-
streut, die ihre verbrauchten alten Boote auf Pfähle gesetzt und zu
ländlichen Wohnungen eingerichtet haben.


Der portugiesische Gouverneur von Macao war abwesend;
Graf Eulenburg trat in keine Beziehung zu den Behörden, besuchte
aber Herrn Marques, dessen gutes Befinden völlige Heilung ver-
sprach. — Zum Frühstück versammelte man sich am 4. December bei
Herrn Overbeck, der auf der Arkona von Hong-kong mit herüberge-
kommen war; der Abend vereinigte uns im Hause des Herrn von Carlo-
witz
. — Am Morgen des 5. December begab sich der Gesandte mit
seinen Begleitern an Bord der Arkona, die, vom portugiesischen Fort
mit 19 Schüssen salutirt, gegen Mittag in See ging.


[[204]]

Kurz vor Abfahrt der Arkona traf in Hong-kong die Nachricht
von dem Staatsstreich ein, durch welchen der Prinz von Kuṅ
seine Gegner beseitigte. Man erzählte schon vorher in Pe-kiṅ, die
Kaiserin-Wittwe49) habe den Prinzen bei seinem Eintreffen in Dže-
hol
zur Rede gestellt, weil er nicht früher gekommen wäre; dabei
sei entdeckt worden, dass der Regentschaftsrath ihre bejahende
Antwort auf seine Bitte um Erlaubniss zur Reise in das Gegentheil
umänderte. Das hätte der Kaiserin die Augen geöffnet über die
Absichten ihrer Umgebung. Auf des Prinzen Rath wäre die Ueber-
siedelung nach der Hauptstadt beschlossen worden.


Wie die Fäden weiter gesponnen wurden, ist unklar; die
veröffentlichten Thatsachen beginnen mit dem Einzuge des jungen
Kaisers in Pe-kiṅ am 1. November 1861. Der Prinz von Kuṅ ging
mit starkem Gefolge dem kaiserlichen Zuge entgegen. Die Mit-
glieder des Regentschaftsrathes wollten ihm den Zutritt zu den
Kaiserinnen und dem Thronerben verwehren; er drohte jedoch mit
Gewalt, führte den Zug in die Hauptstadt, versammelte sofort den
Regentschaftsrath und verlas vor demselben folgendes kaiserliche
Decret, das sein jüngerer Bruder, der Prinz von Tšuṅ, in Džehol
mit den Kaiserinnen vorbereitet hatte.


»Den Prinzen, Edelen und Würdenträgern des Reiches wird
hiermit kundgethan, dass die Unruhen an der Seeküste im vorigen
Jahr und die Aufregung in der Hauptstadt durchaus nur veranlasst
wurden durch die lasterhafte Politik der betheiligten Prinzen und Mi-
nister. Tsae-yuen und sein Amtsgenosse Mu-yin waren ganz beson-
ders ungeschickt auf friedliche Rathschläge einzugehen, und konnten,
da sie kein anderes Mittel zur Abwälzung ihrer Verantwortlichkeit
fanden, nur darauf ausgehen, die englischen Unterhändler in ihre Ge-
walt zu locken und gefangen zu nehmen, wodurch an den fremden
Völkern Verrath geübt wurde. Ferner, als Yuaṅ-miṅ-yuaṅ und
Hai-tien geplündert wurden und Seine verstorbene Majestät in Folge
dessen nach Džehol reisten, war das Gemüth des Geheiligten schwer

[205]XIX. Der Staatsstreich in Pe-kin.
ergriffen von solcher Bedrängniss; und nachdem zur rechten Zeit der
Prinz und die Minister, welche mit der allgemeinen Verwaltung der
fremden Angelegenheiten betraut sind, die zu Erledigung kommenden
auswärtigen Fragen gut geordnet hatten und die gewöhnliche Ruhe
der Hauptstadt innerhalb und ausserhalb der Mauern wiederhergestellt
war, verlangten Seine Majestät einmal über das andere von den Prinzen
und Ministern (Tsae-yuen und Genossen) die Ausfertigung eines
Decretes, welches seine Rückkehr ankündigte. Tsae-yuen, Twan-wa
und Su-tšuen aber verbargen ihm, Jeder des Anderen Falschheit för-
dernd, die Thatsachen, welche alle Menschen bezeugten, und erklärten
beständig, dass die Fremden in Gemüth und Handlung immer An-
schläge machten. Seine dahingeschiedene Majestät fanden, geängstet
und abgezehrt, keine Ruhe bei Tag und Nacht. Jenseit der Grenze
war auch die Kälte streng; so verschlimmerte sich das Unwohlsein des
geheiligten Herrn, bis er am 17. Tage des 7. Mondes auf dem Drachen
aufstieg, ein Gast in der Höhe zu sein. An den Boden gestreckt
weinten wir zum Himmel; innen fühlten wir es wie Feuer brennen.
Rückwärts blickend bedachten wir, dass die Schlechtigkeit des Tsae-
yuen
und der Anderen im Verbergen der Wahrheit nicht nur unseren
bitteren Zorn, sondern den bitteren Zorn aller Beamten und Unter-
thanen des Reiches verdienten; und es war bei der Thronbesteigung
unser erster Wunsch, ihre Schuld mit Strenge zu bestrafen. In Be-
trachtung jedoch, dass Seine dahingegangene Majestät sie in seinen
letzten Augenblicken zu Ministern bestellt hatte, verzogen wir eine
Weile, in Erwartung, dass sie das Vergangene gut machen sollten.
Aber nichts dergleichen. Am 11. des 8. Mondes (15. September) be-
riefen wir Tsae-yuen und die anderen Mitglieder des Rathes der Acht
in unsere Gegenwart. Der Censor Tuṅ-yuṅ-tšuan hatte, indem er in
einer Denkschrift respectvoll seine beschränkten Ansichten darlegte,
gebeten, dass die Kaiserin-Wittwe auf einige Jahre als Regentin fun-
giren sollte, und dass uns die Regierung übergeben würde, sobald wir
dazu fähig wären; auch dass ein oder zwei Prinzen vom höchsten
Range gewählt und zu Räthen ernannt würden; auch dass ein oder
zwei Würdenträger des Reiches ausgewählt und zu unseren Lehrern
bestellt würden; und diese drei Vorschläge entsprachen ganz unserer
Neigung. — Zwar giebt es für die Regentschaft einer Kaiserin-Wittwe
in unserer Dynastie kein Beispiel; aber können wir uns fest an be-
stehende Regeln binden, wenn doch von allen uns von der dahin-
gegangenen Majestät überkommenen Pflichten die höchste die ist, dass
wir nur an die richtige Leitung des Staates und die Wohlfahrt des
Volkes denken sollen? Das empfehlen die Worte »Bei Geschäften ist

[206]Der Staatsstreich in Pe-kiṅ. XIX.
die Hauptsache, solche Aenderungen zu treffen, als die Umstände er-
fordern«. Wir gaben deshalb persönlich Tsae-yuen und seinen Amts-
genossen den ausdrücklichen Befehl, ein Decret zu erlassen, das des
Censors Bitte gewährte. Als sie aber erschienen um ihre Antwort zu
geben, vergassen sie so gänzlich ihre Pflichten als unsere Diener, dass
sie in schreiendem Ton Einwürfe erhoben. Zweitens, als sie das
Decret ausfertigten, das in unserem Namen erlassen werden sollte,
sind sie unter dem Schein des Gehorsams uns im Geheimen ungehorsam
gewesen, indem sie sich erkühnten Aenderungen in dem Erlass
vorzunehmen, den sie dann als unsere Willensäusserung publicirten.
Was in aller Welt war ihr Motiv dabei? Wenn noch dazu bei jeder
Gelegenheit Tsae-yuen vorschützte, dass Dieses oder Jenes unthunlich
sei, weil sie sich nicht die höchste Macht anzumaassen wagten, —
was war wohl diese Handlung anderes als eine Anmaassung der höch-
sten Macht?


Wenn auch unsere eigene Jugend und die unvollkommene
Kenntniss der Kaiserin-Wittwe von den Staatsgeschäften es in ihre
Macht gelegt hätten, Betrug und Täuschung zu üben so weit wir be-
theiligt sind, so könnten sie doch nicht das ganze Reich betrügen; und
wollten wir länger Nachsicht üben gegen Diejenigen, welche sich so
undankbar zeigten für die grosse Gunst Seiner dahingegangenen Ma-
jestät, wie sollten wir es, in Ehrfurcht nach oben blickend, vor seinem
Geist, der jetzt im Himmel ist, verantworten oder wie der öffentlichen
Meinung des ganzen Reiches Genüge leisten?


Wir befehlen also, dass Tsae-yuen, Twan-wa und Su-tšuen
aus ihren Stellungen entfernt werden und dass Kiṅ-šan, Mu-yin,
Kwaṅ-yuen, Tu-han, Tsian-yu-yiṅ
aus dem Grossen Staatsrath
scheiden; und wir beauftragen den Prinzen von Kuṅ im Einvernehmen
mit dem Gross-Secretariat, den sechs Ministerien, den neun hohen Ge-
richtshöfen, den Han-lin-yuen, den Šen-tse-fu und den Censoren
unparteiisch zu überlegen und zu berichten über den Grad der Strafe,
dessen sich jeder Einzelne dem Gesetze nach durch seine Verbrechen
schuldig gemacht hat.


In Bezug auf die Form, in welcher Ihre Majestät die Kaiserin-
Wittwe die Regierung leiten soll, befehlen wir denselben Würdenträgern,
Rath zu pflegen und uns zu berichten.


Ein ausserordentliches Decret.«


Nach Verlesung dieses Befehls fragte der Prinz von Kuṅ
die Versammelten ohne ihnen Zeit zu Erörterungen zu lassen, ob
sie gehorchten; auf ihr Ja befahl er ihnen, sich zu entfernen.
Wahrscheinlich waren für den Fall der Widersetzlichkeit alle
[207]XIX. Der Staatsstreich in Pe-kiṅ.
Maassregeln getroffen. Die Regentschaftsräthe sollen sich darauf
in den Palast begeben haben; über das, was sich dort zu-
trug, giebt folgendes Decret einigen Aufschluss, das an demselben
Abend ausgefertigt wurde.


»Da die drei Individuen Tsae-yuen, Twan-wa und Su-tšuen
schon vor unserer Abreise von unserem Hof in Džehol ihre Stellung
als unsere Diener vergessen hatten, so befahlen wir Yi-wan, Prinzen
von Tšuṅ
, für uns ein Decret auszufertigen, welches bestimmte, dass
Tsae-yuen und die beiden anderen aus ihren Stellungen entfernt wür-
den; und wir liessen heute Yi-sin, Prinzen von Kuṅ, in unsere Gegen-
wart berufen, mit dem Befehl, die Gross-Secretäre Kwei-liaṅ und
Tšan-tsu-pei, und Wen-siaṅ, Mitglied des Staatsraths und Vice-Prä-
sidenten des Finanz-Ministeriums mitzubringen. Tsae-yuen aber und
seine Genossen nahmen sich heraus, ihren Eintritt verhindern zu
wollen, indem sie mit frecher Heftigkeit erklärten, es zieme sich nicht,
dass wir äussere Minister (solche, die nicht zum Regentschaftsrath ge-
hörten) vor uns beriefen. Wo würde solche Unverschämtheit enden?
Durch unser früheres Decret wurden sie ihrer Aemter entsetzt; aber
dieser Spruch steht nicht im Verhältniss zu ihrem Vergehen.


Wir befehlen, das Yi-sin, Prinz von Kuṅ, Kwei-liaṅ, Tšan-
tsu-pei
und Wen-siaṅ sofort unseren Willen bekannt machen, dass
Tsae-yuen, Twan-wa und Su-tšuen ihres erblichen Ranges entkleidet
und vor Gericht gestellt werden. Ihre Angelegenheit wird vor den
höchsten Gerichtshof verwiesen, mit welchem die Mitglieder des Gross-
Secretariates, der neun hohen Gerichtshöfe, die Han-lin-yuen, die
Šen-tse-fu und die Censoren eine strenge Strafe für ihre Vergehen
aussprechen werden.«


Gleich darauf erschienen am 2. November noch zwei andere
Decrete: das erste befahl dem Prinzen von Tšuṅ, Su-tšuen zu ver-
haften; das zweite beauftragte die höchsten Staatsbehörden mit
Prüfung zweier Denkschriften, welche die Regentschaft der Kaiserin
befürworteten. Die eine rührte von Kia-tšiṅ, Tšan-tsu-pei und
anderen Civilbeamten, die andere von dem in diesen Blättern schon
genannten Tartaren-General Tšen-pao her.


Der Gross-Secretär Kia-tšiṅ stellt zunächst den Satz auf,
dass die höchste Macht niemals in die Hand eines Unterthanen
kommen dürfe, weil solcher sie sich mit der Zeit aneigne; ferner
dürften die Gesetze der Etiquette auch nicht ein Haarbreit über-
schritten werden, weil sonst Missbräuche entständen. Der Ver-
fasser beweist dann aus dem Wortlaut von Hien-fuṅ’s letztwilliger
[208]Der Staatsstreich in Pe-kiṅ. XIX.
Verfügung, dass der Regentschaftsrath nur den Thronerben unter-
stützen, nicht selbst regieren solle; seine Stellung sei die frühere
des Grossen Staatsraths, der dem Kaiser alle Angelegenheiten vor-
getragen, seinen Willen erfahren und danach die Decrete aus-
gefertigt habe, welche dem Kaiser noch zur Bestätigung vorgelegt
wurden. Was der Erhabene darin missbilligte, habe er mit dem
Zinoberstift geändert. Bei dieser Einrichtung bleibe die höchste
Macht wirklich in Händen des Herrschers; eine Fälschung seines
Willens, eine Vertretung seiner Person sei dadurch ausgeschlos-
sen. Der Regentschaftsrath dagegen beschliesse ganz selbstständig,
zeige dem Kaiser nur einen Augenblick die ausgefertigten De-
crete und versehe sie dann mit dem kaiserlichen Siegel, das ihnen
bindende Kraft verleiht. So übten diese Räthe in Wahrheit die
kaiserliche Macht, was mit der Zeit im ganzen Reiche Besorgniss
und Zweifel erregen müsse. Die einzige angemessene Auskunft
unter den waltenden Umständen wäre die Einsetzung der Kaiserin-
Wittwe zur Regentin; dann hätte die Staatsverwaltung wieder einen
persönlichen Mittelpunct, an den sie berichten, von dem sie Ent-
scheidungen einholen könne. Nur solche Regentschaft wäre eine
effective, keine fingirte. Nun werden Beispiele von Regentinnen
aus der älteren chinesischen Geschichte aufgeführt. — Der junge
Kaiser müsse nothwendig einige Jahre ganz dem Studium der Ge-
schichte und Poesie leben, dann aber selbst das Scepter ergreifen.
— Ob die Formen des Empfanges der Staatsdiener durch die Regentin
dieselben wie unter den Kaisern bleiben oder geändert werden sollten,
darüber müssten die Räthe der Krone ihre Vorschläge machen,


Tšen-pao, der immer ein heftiger Gegner des Su-tšuen ge-
gewesen sein soll, spricht in demselben Sinne noch unumwundener.
Der Regentschaftsrath begehe Handlungen, die nur dem Kaiser
oder der Kaiserin Wittwe ziemten. Die Zurückweisung der Denk-
schrift des Censors Tuṅ-yuen-tšun verrathe seine selbstsüchtigen
Zwecke. Trotz allen Bemühungen des Regentschaftsrathes, seinen
Decreten Ansehn zu geben, habe das Volk doch keine Achtung
davor und betrachte sie nicht als Ausfluss des kaiserlichen Willens.
Allgemein herrsche die Neigung ihnen zu widerstreben u. s. w.
Rebellionen müssten unterdrückt werden, aber grössere Gefahren
drohten im Palaste.


Beide Denkschriften scheinen mehrere Tage vor dem Staats-
streich überreicht worden zu sein. Der Prinz von Tšuṅ, des Prinzen
[209]XIX. Der Staatsstreich in Pe-kiṅ.
Kuṅ jüngerer Bruder, muss in Džehol seine Fäden sehr fein ge-
sponnen haben, um die feindliche Parthei so sicher zu machen.
Tšen-pao hielt sich wahrscheinlich zur Zeit des Staatsstreiches
heimlich in Pe-kiṅ auf: nach des Kaisers Tode war er, offenbar
mit politischen Zwecken, nach Džehol geeilt, vom Regentschafts-
rath aber mit grobem Verweis, dass er ohne Erlaubniss seinen
Posten verlassen habe, fortgeschickt worden, und kam am 1. October
wieder in Pe-kiṅ an. War er am 1. November nicht selbst dort,
so hatte er wohl seine Maassregeln getroffen; denn die Prinzen von
Kuṅ und Tšuṅ handelten mit voller Sicherheit des Erfolges.


Tsae-yuen und Twan-wa wurden am 2. November ohne
Umstände verhaftet. Su-tšuen, welcher die kaiserliche Leiche zu
geleiten hatte, war mit derselben eine Tagereise zurückgeblieben.
Der Prinz von Tsuṅ eilt ihm mit einem Trupp zuverlässiger Reiter
entgegen und trifft ihn wenige Meilen von Pe-kiṅ in einem Ya-
mum
übernachtend; er schreitet durch die Wachen und ruft Su-
tšuen
durch die verschlossene Thür des Schlafgemaches zu, er
solle öffnen und sich verhaften lassen. Su-tšuen höhnt das kaiser-
liche Decret, da nur der Regentschaftsrath zu befehlen habe,
worauf der Prinz die Thür einschlägt und den Würdigen beim
Kragen packt: »Dann verhafte ich dich auf eigene Hand.« Su-
tšuen
, der eine Frau seines Harems bei sich hatte, leistete weiter
keinen Widerstand und wurde nach Pe-kiṅ geschleppt. Der Um-
stand, dass er, die kaiserliche Leiche geleitend, sein Harem mit
sich führte, war in den Augen des Volkes ein Capitalverbrechen.


In Pe-kiṅ herrschte die freudigste Erregung; nun die Frev-
ler verhaftet waren, schwand alle Furcht und Scheu. Das bündige
Verfahren ihrer Gegner entzückte nun gar die Menge, die ja überall
Gefallen findet an der Kraft, und erhöhte die Popularität der
Prinzen von Kuṅ und von Tšuṅ. — Am 5. November begann der Pro-
zess und am 7. Nachmittags wurde der Spruch gefällt, der auf
langsame Hinrichtung aller drei Angeklagten, nach chinesischer
Anschauung die schmachvollste Todesart lautete; er sollte der
Kaiserin-Wittwe Anlass zu einem Gnadenact geben und wurde von
ihr gemildert, für Su-tšuen auf schleunige Enthauptung, für Tsae-
yuen
und Twan-wa auf Selbstentleibung im Kerker. Am Morgen
des 8. November mussten ihnen die Fürsten von Wui und Su,
welche in Džehol zu ihrer Parthei gestanden hatten, das Urtheil mit-
theilen. Tsae-yuen und Twan-wa wurden unmittelbar darauf in
IV. 14
[210]Der Staatsstreich in Pe-kiṅ. XIX.
ein für solche Zwecke eingerichtetes Gemach geführt: der Ver-
urtheilte tritt auf einen Schemel und steckt das Haupt in eine von
der Decke herabhangende Schlinge, worauf der Schemel fortgezogen
wird. — Diese Strafe zieht nicht Confiscirung der Güter nach sich
wie die Enthauptung; der fürstliche Rang der Prinzen von Ei und
Tšiṅ wurde jedoch ihren Neffen mit Uebergehung der eigenen
Söhne zuerkannt.


Su-tšuen wurde am Nachmittag des 8. November auf dem
Richtplatz für gemeine Verbrecher in der Chinesenstadt enthauptet.
Vorher soll man ihn in das Kerkergemach geführt haben, wo die
entseelten Leiber seines Bruders und des Prinzen von Ei hin-
gen. Zur Richtstätte wurde er in unbedecktem Karren gefahren,
vor ihm her zwei Scharfrichter auf ähnlichem Fuhrwerk. In ele-
gantem Ueberwurf von weissem Lammfell soll er mit unbeküm-
merter Miene im Karren gesessen, sich zuweilen vornehm den Staub
abgeschüttelt und dem Kärrner seine Achtlosigkeit verwiesen haben,
wenn er gegen einen Stein fuhr. Ein Vice-Präsident des Straf-
gerichtshofes las ihm auf dem Richtplatz noch einmal sein Urtheil
vor; Su-tšuen aber bestritt bis zum letzten Augenblick die Com-
petenz seiner Richter. »Statt sich niederzuwerfen bei Verlesung
des kaiserlichen Namens,« sagte ein chinesischer Literat der eng-
lischen Gesandtschaft, »und wie ein Ehrenmann zu sterben, stiess
er bis zum letzten Augenblick Laute aus, die nicht ehrfurchtsvoll
waren.« Der Zudrang und die Verwünschungen des Volkes sollen
unbeschreiblich gewesen sein.


Am Tage der Hinrichtung erschien in der Zeitung von Pe-
kiṅ
ein kaiserlicher Erlass, welcher die Angeklagten des Aufruhrs
zeiht und das Urtheil bestätigt. Tsae-yuen, Twan-wa und Su-
tšuen
werden beschuldigt, sich eigenmächtig als Regentschaftsrath
constituirt zu haben; Hien-fuṅ hätte sie in der Todesstunde nur
mündlich angewiesen, seinen Sohn zum Nachfolger einzusetzen; ein
Decret sei weder ausgefertigt, noch der Befehl dazu ertheilt worden.
Auf Grund eines gefälschten Documentes hätten sich die Ange-
klagten die höchste Gewalt angemaasst, den allerhöchsten Willen
aber niemals befragt. Das die Vorschläge des Censors Tuṅ-yuen-
tšun
billigende Rescript hätten sie willkürlich geändert, und, vor
die Kaiserin-Wittwe berufen, in frechem Ton erklärt, sie hätten von
ihr keine Befehle zu empfangen, in Regierungssachen würde die
Kaiserin nicht gefragt. Auch durch andere Handlungen hätten sie
[211]XIX. Der Staatsstreich in Pe-kiṅ.
bewiesen, dass sie keinen Herrn über sich erkennten; sie hätten in
ungebührlicher Weise die dem Throne zunächst stehenden Prinzen
von Geblüt von der Kaiserin-Wittwe zu entfernen gesucht. — Su-
tšuen
wird ausserdem beschuldigt, sich gegen alles geheiligte Her-
kommen auf den kaiserlichen Thron gesetzt zu haben, auf unschick-
liche Weise in den inneren kaiserlichen Gemächern ein- und aus-
gegangen zu sein u. s. w. Ferner wird er des Versuches bezüchtigt,
die beiden Kaiserinnen durch Ohrenbläsereien mit einander zu
verfeinden.


Von den fünf anderen Mitgliedern des Regentschaftsrathes
wurde nur Mu-yin, — Tsae-yuen’s Genosse bei den Verhandlungen
in Tuṅ-tšau — nach den Militärposten in der Mongolei verbannt;
allen übrigen erliess ein Gnadenact die von den Richtern ausge-
sprochene Verbannung; nur ihrer Aemter wurden sie entsetzt.


Der Prinz von Kuṅ erhielt den Titel eines Ei-tšiṅ-waṅ oder
Prinzen-Ministers, den Posten als Präsident und Schatzmeister des
höchsten Gerichtshofes und andere Würden, welche ihm den gröss-
ten Einfluss sicherten. Die ihm angetragene Gnade des erblichen
Fürstentitels für seine Nachkommen schlug er aus, der junge Kaiser
erklärte aber, »geleitet durch die Kaiserin-Wittwe«, in einem amt-
lichen Erlass, dass er nach erlangter Selbstständigkeit seinen Oheim
zu dieser Ehre zwingen werde. Kwei-liaṅ, Wen-siaṅ und der
Prinz von Tšuṅ erhielten hohe einflussreiche Aemter.


Die verwittwete Kaiserin galt als eine Frau von strengem
Rechtsgefühl, deren Charakter für die Zukunft gute Bürgschaft
leistete; mit dem Prinzen von Kuṅ scheint sie die Seele der Bewe-
gung gewesen zu sein. In Pe-kiṅ angelangt erklärte sie sogar
öffentlich das Regentschaftsdecret für eine Fälschung: am Tage
seiner Ausfertigung sei der Kaiser schon sprachlos gewesen, sie
selbst keinen Augenblick von seiner Seite gewichen. —


Der Staatsstreich des Jahres 1861 bezeichnet für China den
Beginn einer neuen Aera. Zum ersten Male griff der Westen ge-
staltend in das Schicksal des Reiches ein, auf das die früheren
Kriege nur zersetzend gewirkt hatten. Der alte Wahn von der
Weltherrschaft des Himmelssohnes wurde durch die Einnahme seiner
Hauptstadt gebrochen; zur Geltung kam die neue Ordnung aber
erst durch den Staatsstreich, welcher deren Bekenner an das Ruder
brachte. Damit wird nicht behauptet, dass der alte Dünkel ausge-
rottet sei; aber die Thatkraft und Würde der europäischen Völker
14*
[212]Der Staatsstreich in Pe-kiṅ. XIX.
haben sich Geltung verschafft, die Chinesen können sich nicht mehr
dem Einfluss einer Gesittung entziehen, deren Ueberlegenheit sie
unwillig anerkennen, deren Vortheile sie aber gern benutzen. Die
schnelle Besiegung der Tae-piṅ mit Hülfe europäischer Waffen, —
ein Gedanke, den Hien-fuṅ noch entrüstet zurückwies — lieferte
in den folgenden Jahren einen schlagenden Beweis für den gewal-
tigen Umschwung in der öffentlichen Meinung.


Unzweifelhaft förderte das Verhalten der fremden Diplomaten
in Pe-kiṅ wesentlich die Katastrophe vom 1. November, welche
gewissermaassen den Schlussact der englischen Kriege bildet. Der
Prinz von Kuṅ überzeugte sich, dass der Frieden mit den Fremden
auf ihre Bedingungen nicht nur möglich, sondern der Wohlfahrt
des Reiches förderlich, ja die einzige Bürgschaft für Besiegung der
Rebellen sei. Blieben die Männer des Regentschaftsrathes am Ruder,
so begann die Arbeit der Fremden von Frischem, ein neuer Krieg
war unvermeidlich und führte muthmaasslich zum Sturze der Dynastie,
wie der vom Prinzen Kuṅ im Vertrauen auf die Redlichkeit und Macht
der Fremden ausgeführte Staatsstreich zu ihrer Befestigung führte.


Wie schwach die Stellung des grossen Tšiṅ-Hauses im Herbst
1860 war, mögen folgende im Sommerpalast erbeutete Denkschriften
zeigen, welche Hien-fuṅ’s Flucht nach Džehol beleuchten. Saṅ-
ko-lin-sin
empfahl dieselbe nach dem Fall von Ta-ku, weil
er die Fremden im offenen Felde zu schlagen hoffte. Ob der
Gedanke von ihm ausging, weiss man nicht; von seiner politischen
Tragweite hatte der Mongolenfürst wohl keinen Begriff. Saṅ-ko-
lin-sin
’s
Stellung zur Kriegsfrage ist niemals ganz aufgeklärt wor-
den. 1859 galt er als Anstifter des Widerstandes; dass er da-
mals sowohl wie 1860 in Ta-ku die Operationen leitete, ist sicher.
Für seine Erbitterung gegen die Fremden zeugt auch unwiderleglich
sein Auftreten gegen Herrn Parkes vor der Schlacht von Tšaṅ-kia-
wan
. An demselben Tage gewann aber Saṅ-ko-lin-sin Achtung
vor den Alliirten, empfahl gleich darauf den Frieden und blieb dieser
Gesinnung auch später treu. Den Wunsch, sich des Thrones zu
bemächtigen, haben die Fremden ihm gewiss mit Unrecht angedichtet.


Saṅ-ko-lin-sin’s Denkschrift.50)


»Dein Knecht Saṅ-ko-lin-sin überreicht knieend eine Denk-
schrift. In der Ueberzeugung, dass der Barbaren veränderliche Ge-

[213]XIX. Denkschrift des Saṅ-ko-lin-sin.
müthsart es unmöglich machen wird eine friedliche Politik zu ver-
folgen, bittet er im Namen der Fürsten und Herzöge der sechs Bünde
Deine Majestät, eine Jagdreise anzutreten, damit die Maassregeln für
den Angriff und die Vernichtung der Barbaren erleichtert werden
mögen. — Dein Knecht hat kürzlich die Stellung von Ta-ku in Folge
des plötzlichen gleichzeitigen Auffliegens der Pulvermagazine in den
beiden nördlichen Festen, nicht durch Lässigkeit in deren Vertheidigung
oder Unzulänglichkeit der Mittel verloren. Er fürchtet, dass es jetzt
schwer sein wird die Barbaren zum Gehorsam zurückzuführen, und
dass doch ihre Forderungen kaum erfüllt werden können. Dein Knecht
hat die nöthigen Anordnungen längs der Strasse von Tien-tsin nach
Tuṅ-tšau getroffen. Sollte bei Tuṅ-tšau gekämpft werden, so ist zu
besorgen, dass die Bewohner von Pe-kiṅ in grosse Aufregung ge-
rathen. Sieg oder Niederlage können von den Umständen eines Augen-
blickes abhängen. Sollte, was ja möglich, ein Unglück geschehen, so
würden die Handelsleute, welche in der Hauptstadt zusammenströmen,
in Massen ausreissen, und, wenn zufällig die Soldaten den Muth ver-
lieren sollten, so möchten die Folgen gewichtig sein. Dein Knecht er-
fuhr von Deiner Majestät die grössten Gunstbezeugungen und hat da-
für garnichts geleistet. Nach sorglicher Erwägung der jetzigen kriti-
schen Lage schien ihm der beste Weg, der sich bot, — und den er
auch eingeschlagen hat, — an die Fürsten und andere (Mitglieder) der
sechs Bünde zu schreiben und sie zu ersuchen, mit ihren auserwähl-
testen Truppen nach der Hauptstadt zu kommen, so dass sie Deine
Majestät unterwegs mit gebührenden Ehren empfangen und sich dann
mit den übrigen Truppen vereinigen könnten. Er bittet Deine Ma-
jestät, den alten Brauch einer Jagdreise im Herbst zu befolgen und
demgemäss die Hauptstadt auf einige Zeit zu verlassen; ferner auch,
dass die zurückbleibenden Prinzen und Würdenträger an der Spitze
der Staatsverwaltung Befehl erhalten, darauf zu achten, dass das Heer
die Stadt in vollkommenem Vertheidigungszustand erhält, bis die Trup-
pen der sechs Bünde zu ihnen stossen. Dann können alle zusammen
den Feind angreifen und vernichten. Wenn zu dieser Zeit Deine Ma-
jestät in der Hauptstadt wäre, so möchte nicht nur die Ausführung
nothwendiger Anschläge behindert sein, sondern leider könnte dann
auch Dein Gemüth unnütz bekümmert werden.


Dein Knecht scheut sich nicht, so im Namen der Fürsten und
Anderer aus den Bünden seine und ihre beschränkten Ansichten aus-
zudrücken, um deren Ausführung er Deine Majestät dringend anzu-
flehen fortfährt. Er hätte dann Freiheit, seine eigene Zeit und Art
des Angriffs zu wählen, und könnte vorwärts oder rückwärts gehen,

[214]Kaiserliches Decret. XIX.
wie die Ereignisse erheischten. Ohne Zweifel würde er die abscheu-
liche Brut vom Angesicht der Erde fortfegen und seine früheren Fehler
gut machen. Er richtet diese geheime Denkschrift an Deine Majestät,
um Deine Entscheidung darüber zu erhalten u. s. w.


Er wagt nicht, dieses durch den gewöhnlichen Boten zu senden,
sondern vertraut es, nachdem er es ehrerbietig gesiegelt, dem Kuo-šui
zu persönlicher Ueberreichung an u. s. w.« (Datirt vom 26. August.)


Der Vorschlag, die Mongolen-Fürsten herbeizurufen, war es
wohl vorzüglich, der Saṅ-ko-lin-sin bei den Fremden verdäch-
tigte. Hien-fuṅ scheint sich dazu nicht entschlossen zu haben.
Den Vorsatz der Flucht bekämpften wohl die meisten Räthe des
Kaisers und scheuten sich nicht, deren feige Bemäntelung mit dem
äussersten Freimuth in scharfen Worten zu brandmarken. Der
Entwurf des ersten in den Denkschriften erwähnten »Zinober-
Decretes« wurde in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ erbeutet; vom zweiten bringt
die Eingabe des Tsao-tuṅ-yuṅ den Wortlaut. Sie geben mit den
anderen Documenten ein deutliches Bild jener Tage, beweisen aber
auch, dass wenigstens damals noch, trotz der durch den Abbruch
der Verhandlungen in Tien-tsin und das Vorrücken der Alliirten
auf die Hauptstadt erweckten Bestürzung, neben den Gegnern des
Prinzen von Kuṅ, welche zur Flucht trieben, auch viele andere
Würdenträger zum Kriege drängten, welche die Flucht widerriethen.
Die Macht der Fremden wurde von allen unterschätzt. Gegen
Saṅ-ko-lin-sin’s Person enthalten die Denkschriften kein Wort;
im Gegentheil zeigen alle unbedingtes Vertrauen in seine Tüchtig-
keit und Loyalität. Die »Personen in der Umgebung des Kaisers«,
welche zur Flucht drängen, bezeichnen sicher Su-tšuen und seine
Clique.


Entwurf eines kaiserlichen Decretes in Zinoberschrift, in
Hien-fuṅ’s Zimmern gefunden.


»Wir haben die Eingabe des Kwei-liaṅ und seiner Amts-
genossen gelesen, in welcher sie sich über das Zusammenbrechen der
Barbarenfrage verbreiten, und unsere Entrüstung ist grösser als wir
ausdrücken können. Um die Bevölkerung dieses, des Bezirkes der
Hauptstadt, vor den verderblichen Wirkungen des Giftes (Krieges) zu
bewahren, hatten wir, in unserer Noth gezwungen, dem Versuche eines
Ausgleichs unsere Zustimmung gegeben. Diese Barbaren bestanden
nichtsdestoweniger mit rücksichtsloser Gewalt auf gewissen Zugeständ-
nissen, so dass nichts übrig bleibt, als sie zum Tode zu bekämpfen.


[215]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.

Es ist ferner unmöglich, dass unsere Minister und Diener, Mand-
schu wie Chinesen, welche Generationen hindurch Wohlthaten (unseres
Hauses) empfingen, nicht dieselbe Feindschaft hegen, unseren Hass
nicht theilen, dass sie sich nicht verbinden sollten, ihrem lange ange-
häuften Zorn sein Recht werden zu lassen.


Wir wollen jetzt an der Spitze unseres Heeres sofort nach
Tuṅ-tšau rücken, um dort die Rache zu üben die der Himmel for-
dert, einen Act der Strafe und Unterjochung auszuführen, dessen Folge
weithin empfunden werden soll.


Wir befehlen den Prinzen welche Zutritt haben, den hohen
Officieren der Leibwache, den Mitgliedern des Grossen Rathes und
den Würdenträgern des Hofstaates, mit grösster Eile in Berathung zu
treten.


Wir haben auch die vertrauliche Denkschrift des Saṅ-ko-lin-
sin
gelesen und für die Erwägung derselben sollen auch die Minister,
die nicht den Zutritt haben und die uns heut über dieselbe Frage
eine Denkschrift einreichten, zu einer Conferenz zusammentreten.


Ein Special-Decret.«


Die hier erwähnte Denkschrift ist wohl die nächste vom
9. September datirte, welcher andere in stürmischer Eile folgten.


1. Vom Haupt-Staatssecretär Kia-tšiṅ und fünfundzwanzig
Anderen gezeichnet.


»Der Minister Kia-tšiṅ und Andere überreichen knieend eine
Denkschrift, in welcher sie, dem kaiserlichen Befehl gehorsam, ihre
Ansichten über die gegenwärtige bedenkliche Lage ausdrücken.


Am 24. Tage des 7. Mondes erhielten sie ein Zinober-Decret
und zugleich eine Denkschrift des Saṅ-ko-lin-sin, von welcher sie
Kenntniss nehmen sollten. Aus dem Decret ersehen sie ehrfurchtsvoll,
dass ihr Kaiser sich vornahm, die Heerschaaren des Reiches in Person
zu commandiren und nach Tuṅ-tšau zu gehen, um die gemeine Bar-
baren-Brut auszurotten; und darin erkannten sie die feste Entschlossen-
heit des geheiligten Himmelssohnes, der das Weltall beruhigt und
lenkt. Aber sie bedenken, dass der fragliche Ort nicht Tan-yuen,
und dass in heutiger Zeit kein Kau-tšun entstanden ist.
51)Der Nebel
des Meeres würde durch den himmlischen Zorn zerstreut werden;
aber sie glauben, dass der beabsichtigte Schritt nicht derjenige ist,
welcher die Staats-Interessen am besten fördern würde, und sie meinen,
dass er keinenfalls leichtfertig gethan werden müsse. Saṅ-ko-lin-
sin
’s
Vorschlag einer Jagdreise finden jedoch Deine Minister noch be-

[216]Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX.
denklicher. Wenn die von einer starken ununterbrochenen Linie von
Festungswerken umgebene Hauptstadt nicht sicher ist, welchen Schutz
sollen dann offene, nicht eingehegte Jagdgründe gewähren?


Ferner: die Abreise Deiner Majestät würde im Gemüth der Be-
völkerung die wildeste Aufregung hervorrufen.« (Hier folgen Anspie-
lungen auf eine Episode der chinesischen Geschichte, aus welcher ge-
folgert wird, dass der Kaiser, nachdem er einmal ausserhalb der Grossen
Mauer wäre, leicht nicht zurückkehren möchte) ..... »Da die Bar-
baren fähig waren Tien-tsin zu erreichen: was soll sie hindern, ebenso
nach dem Loaṅ-Fluss »(Džehol)« vorzudringen. Deine Minister er-
tragen nicht, bei den Gedanken zu verweilen, welche diese Erwägungen
in ihrem Geiste erwecken. Ihrer stumpfen Einsicht will bedünken,
dass die Menschen mit Rücksicht auf berechenbare Ereignisse handeln
müssen, während sie in Unterwürfigkeit des Himmels unerforschliche
Rathschlüsse erwarten. Sie können sich nur dem Glauben hingeben,
dass der Himmel die humane und wohlthätige Regierung während der
zweihundertjährigen Herrschaft über das Reich geschützt hat, und sie
möchten sich in der gegenwärtigen Lage zur äussersten Anstrengung
ermannen. Sie schlagen vor, dass Deine Majestät ein Edict erlässt,
um das Volk zu beruhigen und zu muthigen Thaten anzufeuern; dass
Allen, die sich auszeichneten, hohe Belohnungen verheissen würden,
und dass besondere Sorgfalt aufgewendet würde, um das Heer in den
Zustand vollkommener Wirksamkeit zu versetzen. Sie bitten, dass
Deine Majestät den Prinzen und anderen damit Betrauten befehle, die
Maassregeln für den Vertheidigungs- und Vertilgungskrieg zur Reife
und Ausführung zu bringen. Sie bitten demüthig um Deiner Majestät
Entscheidung u. s. w.


7. Mond. 24. Tag« (9. September.)


2. Denkschrift, unterzeichnet von Tsi-nen-kiṅ und vierzig
Anderen.


.... »Deine Minister finden, dass das Unternehmen einer
Jagdreise wahrscheinlich die Stabilität der Regierung getährden
würde, und bitten deshalb, dass Deine Majestät in der Hauptstadt
bleiben möge.


Deine Diener erfuhren mit äusserster Ueberraschung und Be-
stürzung, dass in Folge des fehlgeschlagenen Versuches, die Barbaren
zum Vergleich zu bewegen, Deine Majestät beschlossen hat eine Reise
nach Džehol zu machen, und dass an die verschiedenen Banner-Abthei-
lungen Befehle erlassen wurden, die nothwendigen Anstalten zu treffen.
Da durch solches Verfahren die Sicherheit des Reiches gefährdet wer-
den möchte, so wünschen Deine Minister im tiefen Gefühl ihrer Verant-

[217]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.
wortlichkeit die Gründe im Einzelnen darzulegen, welche, wie sie glau-
ben, gegen seine Anwendung sprechen.


Mehr als zweihundert Jahre sind verflossen seit Aufrichtung
des Reiches durch Šun-tši und der Gründung des Tempels der Ahnen.
Jetzt, da eine Zeit allgemeiner Noth und Bedrängniss eingetreten, ist
es von der äussersten Wichtigkeit, dass die Gemüther des Volkes
ruhig erhalten werden. Wenn aber Deine Majestät eine so ungewöhn-
liche Reise in einem Augenblick unternimmt, da das Anrücken der aus-
wärtigen Barbaren bevorsteht, so ist das eine Sache, welche die
äusserste Bestürzung und Verwirrung erregen muss. Die täglichen
Nachrichten von der gewaltsamen Wegnahme vieler Karren und Wagen
an der Landstrasse hat schon viel Unruhe bei der Bevölkerung er-
weckt; wenn aber Deine Majestät abreisen sollte, so würde eine Reihe
von Unordnungen entstehen. Eine so gewaltige Störung der Ahnen-
und Schutzgeister, wie diese willkürliche Herausforderung der Gefahr,
muss gewiss später bittere aber unfruchtbare Reue im Gemüthe Deiner
Majestät erzeugen. Diese Erwägungen bilden den ersten Grund,
welchen Deine Minister gegen das Unternehmen der Jagdreise an-
führen möchten.


Die herbstliche Jagdreise wurde bis jetzt unternommen, wenn
die Gelegenheit günstig schien, und nur in Perioden der Ruhe; in
dieser Art war es eine Einrichtung unserer erhabenen Dynastie. Jetzt
aber, da die Barbaren Unruhen erregen, da die Rebellen sich über das
Land verbreiten, sieht das ganze Volk sowohl in der Hauptstadt als
in den Provinzen auf Deine Majestät, die am Sitze der Regierung ge-
genwärtig ist, als den Mittelpunct, von dem die Maassregeln der Staats-
leitung und die Aufrechthaltung der Autorität und Ordnung ausgehen
müssen. Diese plötzliche Abreise ohne irgend einen sichtbaren Zweck
wird, obgleich eine Jagdreise genannt, den Anschein einer Flucht haben.
Nicht allein wird sie dahin wirken, die Entschlossenheit der Truppen
und ihrer Officiere in der Nähe der Hauptstadt zu erschüttern, sondern
auch die Commandeure der verschiedenen Armeen in der Ferne werden
mit Zweifel und Bestürzung erfüllt werden. Auch ist unzweifelhaft,
dass die Nachricht davon den Muth der Rebellen sehr erhöhen wird.
So müssen alle grossen Interessen des Reiches, vielleicht über die
Möglichkeit der Rettung hinaus gefährdet werden. Darin liegt der
zweite Grund unserer Bedenken gegen die Reise.


Die kaiserliche Residenz ist sicher bewacht und der ehrwürdige
Sitz der Majestät. Ein Augenblick wie der gegenwärtige, in welchem
es dem Herrscher besonders ziemt darin zu bleiben, ist nicht geeignet
einen Jagdzug vorzuschlagen. Zudem kann man, wenn überall Tumult

[218]Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX.
ist, nicht erwarten, dass die Polizei der Landstrassen in vollkommener
Ordnung sei. Eine Reise nach Džehol wurde seit derjenigen des dahin-
geschiedenen Kaisers Tau-kwaṅ vor vierzig Jahren nicht gemacht; die
grosse Zahl der Wagen und Pferde wird die Bewohner der Gegenden
durch welche sie kommen, sehr überraschen und erschrecken. Es
heisst ferner, dass die Bevölkerung bei Džehol bei weitem nicht mehr
so ordnungsliebend ist, wie früher. Räubereien an den Landstrassen
sind häufig geworden. Die durch den Ausfall in den Bergwerken dem
Elend preisgegebenen Menschen rotten sich zu Zehn und zu Hunderten
zusammen und treiben sich Unruhen erregend herum.


Wenn Deiner Majestät ein plötzliches Unglück zustiesse oder
wenn Spione die Nachricht von Deiner Abwesenheit brächten, so wür-
den die Barbaren zu neuen Unternehmungen ermuthigt werden.


Wenn die Erörterungen über den Austausch der Verträge zu
erfolgreichem Abschluss gebracht werden sollten, so würde es grosse
Missstände verursachen, wenn auf Deiner Majestät Befehle lange ge-
wartet werden müsste.


Das ist der dritte Grund gegen die Reise.


Seit Beginn des Krieges (wörtlich, des Aufruhrs) wurde der
Schatz mehr und mehr belastet, und es ist sehr schwierig die noth-
wendigen Ausgaben in der Hauptstadt zu bestreiten.


Džehol ist der Sammelplatz der Mongolen, welche, wie es heisst,
in den Zeiten des Kien-loṅ und Kia-kiṅ bei jeder Reise mit Ge-
schenken im Belang von mehrmals zehn Millionen bedacht wurden.
Der Zustand der Finanzen würde jetzt nicht erlauben diese Regel zu
befolgen, und es wäre schwierig, die Unzufriedenheit der Tribut-
pflichtigen über den Verlust des Geschenkes Deiner Majestät zu be-
schwichtigen.


Ferner: das erforderliche Geleit an Officieren, Truppen und
Trabanten würde über 10,000 stark sein, von denen Viele, wenn Mangel
an Vorräthen einträte, nicht am Durchgehen verhindert werden könnten.


Endlich: ein grosses Stück Weges liegt längs der Grenze, wo
sich Banditen nach Willkür herumtreiben, durch welche irgend ein
unerwarteter Streich ausgeführt werden könnte.


Diese Betrachtungen bilden den vierten Grund gegen die vor-
geschlagene Reise.


Möge nicht vorausgesetzt werden, dass Deine Minister ge-
wichtige Argumente ohne Rücksicht auf Deiner Majestät Gefahr in einer
bedenklichen Lage geltend machen, noch dass sie irgend etwas gegen
eine gewöhnliche friedliche Reise vorbringen würden, wie sie in früheren
Zeiten üblich war.


[219]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.

Wenn sie die Dinge vom practischen Standpunct betrachten, so
können sie nicht begreifen, dass jetzt irgend eine Nothwendigkeit vor-
liegt zu dem fraglichen Unternehmen. Gesteht man zu, dass die ganze
Streitmacht der Barbaren kaum 10,000 Mann übersteigt und dass Saṅ-
ko-lin-sin
mehr als 30,000 commandirt, so haben sie keinen Zweifel,
dass die Vielen die Wenigen schlagen werden. Aber sie möchten an
die Thatsache erinnern, dass die Barbaren, welche fernher über den
Ocean kamen, bis jetzt gezeigt haben, dass sie nur bedacht sind Han-
del zu treiben. Sie schlichen sich in Kuaṅ-tuṅ, Fu-kian, Shang-hae
und anderen Orten nur ein, um sich der Häfen zu bemächtigen, nicht
um das Land in Besitz zu nehmen; auch haben sie keine Eroberung
in China irgend versucht. Selbst der Punct ihrer Zulassung in Pe-
kiṅ
möchte befriedigend zu erledigen sein. So ist denn in Allem was
vorgeht nichts, das ein grosses Unheil fürchten liesse. Wird aber vor
dem Erscheinen der Barbaren die Flucht ausgeführt, so ist es unmög-
lich zu sagen, welche Umwälzung die unmittelbare Folge sein könnte.
Der Geist sträubt sich, über diesen Gegenstand nachzudenken. Weit
besser wäre geziemende Ueberlegung der Sache, als spätere unfrucht-
bare Reue.


Noch eine Erwägung ist, dass es für Deine Majestät in ihrem
jetzigen glücklichen Wohlbefinden nicht rathsam wäre, sich den Stra-
pazen einer Reise während des noch heissen Herbstwetters aus-
zusetzen.


Das sind die beschränkten Ansichten Deiner Minister u. s. w.


7. Mond. 27. Tag« (12. September).


3. Denkschrift von Tsi-nen-kiṅ, Präsidenten der Civil-Ver-
waltung, gezeichnet von dreiundzwanzig Anderen.


»Dein Minister Tsi-nen-kiṅ und Andere überreichen knieend
eine Denkschrift. Sie sprechen abermals ausführlich ihre Ansicht aus,
um zu zeigen, dass die Abreise Deiner Majestät nach einem nördlich
von Pe-kiṅ gelegenen Orte in der Hauptstadt grosse Aufregung verur-
sachen muss, und dass das beste Mittel, die Ruhe herzustellen und
den Geist der Armee zu stärken, sein würde, wenn Deine Majestät in
Pe-kiṅ bliebe.


In einer Zeit der öffentlichen Trübsal ist der Mann von he-
roischer Gesinnung bereit, auf seinem Posten zu sterben; und in einer
solchen Zeit schickt sich für das Benehmen der Vornehmen und Ge-
ringen nur die vollkommenste Reinheit und Wahrhaftigkeit. Deiner
Majestät Diener haben heute ehrfurchtsvoll das Zinober-Decret gelesen,
welches erklärt, dass die Anstalten für den Jagdzug Deiner Majestät
als Vorbereitungen dazu dienen sollen, persönlich in das Feld zu

[220]Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX.
rücken, und dass, wenn der Feind in der Gegend von Tuṅ-tšau oder
Ma-tau betroffen wird, Deine Majestät mit starker Streitmacht dem
ursprünglichen Beschlusse gemäss sich nach einem Orte nördlich von
Pe-kiṅ verfügen und dort Stellung nehmen will. Sie bewundern die
darin gezeigte schreckenverbreitende Tapferkeit und die wohl er-
dachte Strategie. Aber der gemeine Haufen ist sehr langsam von Be-
griff; er schöpft leicht Verdacht und schätzt nicht leicht die Dinge
richtig; und man wird sagen, dass, da die Barbaren im Südosten der
Hauptstadt stehen, die Veränderung des Unternehmens der Jagdreise
in einen persönlichen Feldzug Deine Majestät bewegen sollte, zu Unter-
stützung Saṅ-ko-lin-sin’s in Tuṅ-tšau zu bleiben; dass das Einnehmen
einer Stellung nördlich von der Hauptstadt ein Abweg vom Kriegs-
schauplatz ist; und dass also, was dem Namen nach ein Feldzug, in
Wahrheit eine Jagdreise sei. Das Gemüth des Volkes würde dadurch
verwirrt, und den Truppen sänke der Muth.


Wenn die Ausdrücke Vertheidigung und Widerstand in der
That Flucht und Zerstreuung bedeuten, so wollen zwar Deine Minister
Deiner Majestät nicht die Betrachtung aufdrängen, dass auf diese Weise
die Tempel Deiner Ahnen und die Altäre der Schutzgeister verlassen
würden (d. h., dass das Reich verloren wäre), aber sie fragen, wo
könnte anders Deiner Majestät persönliche Sicherheit besser verbürgt
sein als in der Hauptstadt? Jenseit des Hu-pi-kau-Passes (in der
Grossen Mauer) ist der Aufenthalt der russischen Barbaren, und diese
strebten beständig, zu Förderung irgend welcher verrätherischen Ab-
sichten Mittheilungen an die Regierung in Pe-kiṅ zu richten. Diese
Gegend wird auch von Banden berittener Räuber heimgesucht, die sich
plötzlich zu Hunderten und Tausenden zusammenschaaren um Kauf-
leute und Beamte anzugreifen, über die jedoch alle Berichte von den
östlichen Mandarinen unterdrückt werden.


Obgleich die Barbaren nahe bei Pe-kiṅ stehen mögen, so ist
doch, da dessen Befestigungen stark, dessen Garnison zahlreich sind,
in ihr keine Gefahr zu fürchten. Warum sollte also Deine Majestät
in die Höhlen von Tigern und Wölfen gehen? Wenn behauptet wird,
dass Deiner Majestät Abreise die Pläne der Barbaren durchkreuzen
und sowohl die Kriegführung als den Friedensschluss erleichtern würde,
je nachdem (das Eine oder das Andere) zweckmässig wäre, so sollte
man auf der anderen Seite nicht vergessen, dass, wenn Unruhen
in der Hauptstadt entstehen, die Urheber unserer Bedrängniss nicht die
Barbaren, sondern wir selbst sein werden.


Es mögen Einige in der Umgebung von Deiner Majestät Person
sein, welche sagen, dass die wiederholten Versuche so vieler Deiner

[221]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.
Minister, Deine Majestät von der Reise abzubringen, aus persönlichen
Motiven und aus dem Wunsche entspringen, ihre eigene Gefahr zu
mindern. Darauf möchten sie erwiedern, dass eine Jagdreise bekannt-
lich niemals der ganzen Körperschaft der Beamten Unbequemlichkeit
verursachte, sondern im Gegentheil, dass, wenn sie ihren eigenen Vor-
theil wünschen, sie das Project begünstigen würden; denn es würde
ihnen selbst die Mittel bieten der Gefahr zu entrinnen.


Diese drei Fragen bieten sich dar: Was geschieht, wenn Deine
Majestät sich an einem ungeschützten Ort befindet? — Was geschieht,
wenn Deiner Majestät Abreise Unruhen in der Hauptstadt hervorruft?
— Was geschieht, wenn Deine Majestät irgendwo anders in ernstere
Gefahren geräth, als in denen Du in Pe-kiṅ bist.


Deine Majestät ist mit der Maxime vertraut, dass der Fürst
verbunden ist sich für sein Land zu opfern. Aber ferne sei es von
Deinen Ministern, in einer Zeit wie die gegenwärtige Deiner Majestät
Gefühle verletzen zu wollen durch Anspielung auf solche Gedanken;
und in der That, die Krisis ist durchaus nicht so ernst, um bei den-
selben verweilen zu müssen. Die grosse Gefahr, die jetzt vermieden
werden soll, ist der Ausbruch innerer Unruhen. Auf jede Gefahr hin
legen Deine Minister die erneute Auseinandersetzung ihrer Ansichten
dar, erwarten Deiner Majestät Befehle u. s. w.


7. Mond. 28. Tag.« (13. September.)


4. Denkschrift des Censor Ai-džin, von vierundsiebzig Ande-
ren gezeichnet.


»Dein Minister Ai-džin und Andere sprechen ehrfurchtsvoll
ihre Ansicht aus, dass die Hauptstadt nicht leichtfertig verlassen wer-
den darf.


Am 24. Tage des gegenwärtigen Mondes empfingen die Prinzen
und die Minister des Inneren Rathes ein Zinober-Decret, dahin lautend,
dass Deine Majestät auf einige Zeit zur Jagd verreisen wolle. Deine
Minister vernahmen das mit der äussersten Unruhe und Bestürzung.
Sie möchten demüthig bemerken, dass, wenn auch die Barbarenschiffe
Tien-tsin erreicht haben mögen, dieser Umstand doch in der Haupt-
stadt nicht viel Furcht erregt hat. Der Thron ist es, in welchem
alle Dinge gipfeln, auf welchen sich die Augen aller Menschen richten.
Ein Schritt von des Kaisers Fuss erschüttert die Erde.


Der fragliche Vorsatz muss also gefasst worden sein ohne ge-
ziemende Erwägung der Gefahren, welche daraus entstehen würden.
Unmöglich können der Hofstaat Deiner Majestät und die Prinzen und
Grossen Deines Gefolges, deren Familien in Pe-kiṅ leben, geneigt
sein einen sicheren Aufenthalt zu verlassen, selbst im Dienst der

[222]Denkschriften gegen das Kaisers Flucht. XIX.
kaiserlichen Person. Die Menge des Gefolges würde, die Reise in
Hast und Verwirrung beginnend, für Alles empfänglich sein, das ihnen
Furcht einflössen könnte; und wenn sie sich auf der Reise zerstreuten,
so möchte man kein Mittel finden, vorwärts oder rückwärts zu gehen.


Seit (1820) dem Jahre, in welchem Seine selige Majestät die
Jagdreise aussetzte, soll, wie man hört, das Land sehr verödet, die
Reise-Paläste sollen verfallen und unbewohnbar sein. Wir wissen
auch nicht gewiss, welche Gesinnung die jetzigen Bewohner hegen;
aber das können wir mit Sicherheit behaupten, dass sie nicht so treu
ergeben sind, als die Bewohner der Hauptstadt, die es seit 200 Jahren
ist. Ferner ist Džehol nicht weit von San-hai-kwan, Niu-tšwaṅ
und anderen den Barbaren zugänglichen Orten entfernt; es liegt auch
in der Nähe der russischen Barbaren. Da nun dem so ist, wer kann
es für sicher halten?


Unsere Truppen sind mehrfach zahlreicher als die der Bar-
baren; verliesse Deine Majestät aber den Hof, so würde Jedem der
Muth sinken, panischer Schrecken würde ausbrechen, die Barbaren
würden die Gelegenheit benutzen die Stadt zu nehmen, und wir würden
schlimmer die Opfer ihrer Listen werden, als da die Männer von Lu
und Tšan-pan-tšan die Regierung einsetzten (um 1127). Von
da an würde die Hauptstadt uns nicht mehr gehören und das Reich
würde ihr Loos theilen.


Was einen aus Prinzen und Ministern zu bildenden Regent-
schaftsrath betrifft, der während Deiner Majestät zeitweiliger Abwesen-
heit mit der Verwaltung beauftragt werden sollte, so möchten wir be-
merken, dass die jetzige Zeit nicht mit derjenigen der Regierung des
Kia-kiṅ zu vergleichen ist. Unmöglich dürfte die ordentliche Ver-
waltung innerer oder auswärtiger Angelegenheiten ihm mit Sicherheit
anzuvertrauen sein. Nach Erfahrungen aus alter Zeit war niemals ge-
wiss, dass das Ende solcher Regentschaft mit ihrem Anfang überein-
stimmte. Obwohl Tai-tsin aus dem Miṅ-Hause (1455) kein unloyaler
Prinz war, so entging Yiṅ-tsiṅ, als er von seiner nördlichen Reise
zu den Samo zurückkehrte, mit genauer Noth dem Schicksal, seine
Tage im Süden des Landes (in Einsamkeit) zubringen zu müssen. Die
Erfahrung aller früheren Regentschaften ist geeignet, in Betreff solcher
Verwaltung die grösste Vorsicht einzuflössen.


Seit der ersten Errichtung unserer Dynastie ist viel Verkehr
gewesen zwischen Einheimischen und Ausländern, und ihr beider-
seitiger Wohlstand hat geblüht; davon hatten wir kein früheres Bei-
spiel. Die Barbaren des heutigen Tages sind an Wildheit nicht zu
vergleichen denen der Zeit des Yuṅ-kia in der Tsiṅ-Dynastie (A. D.

[223]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.
309) oder des Tsiṅ-kaṅ in der Suṅ-Dynastie (1127). — Wenn also
auf loses Geschwätz und auf den Antrieb eines Augenblickes das Reich
der Welt fortgeworfen werden soll wie ein Unkraut, so muss der den
Geistern der Heiligen in der anderen Welt geschuldete Dienst unver-
richtet, die Bestrebung der Regierenden und der Regierten im Weltall
unerwiedert bleiben. Des Kaisers klarer Verstand möge entscheiden,
wie er solchen Gedanken ertragen könnte!


Wir wissen, wie im 18. Jahre des Kia-kiṅ (1813) während
einer Jagdreise Seiner Majestät der Aufruhr von Sin-tsiṅ ausbrach,
die Bestürzung darüber allem Handel ein Ende machte und die Läden
geschlossen wurden, wie des Kaisers Rückkehr allgemeine Wonne ver-
breitete und der Stadt die Ruhe wiedergab. Damals war die Gefahr
sehr drohend, wie garnicht bewiesen zu werden braucht. Ein Hauch
reicht jetzt hin, die Waage, in welcher der Verlust oder die Erhaltung
der Nachfolge Deiner Vorfahren und die Ruhe der Schutzgötter (d. h.
das Schicksal des Reiches) liegen, zum Sinken zu bringen. Wir flehen
demüthig zu Deiner Majestät, aus eigenem Antriebe zu beschliessen,
dass das neulich gefasste Vorhaben aufgegeben und dadurch dem
Reiche Freude bereitet werde.


Deine Minister bitten um noch eine Handlung der Gnade. Da
Deiner Majestät Absicht zu reisen öffentlich verkündet und die Ge-
müther der Menschen so sehr beunruhigt wurden, dass sie schwer zu
beschwichtigen sein werden, so bitten sie, dass Du Deine Absicht,
nach Deinem Palast zurückzukehren, öffentlich bekannt machen mögest,
damit die falschen Gerüchte unterdrückt werden, die Ruhe wieder her-
gestellt und der Verfall des Reiches abgewendet werde, und die Re-
gierung einen neuen Weg des Erfolges beginnen möge.


Da Deine Minister und die Anderen durch ihr Amt verpflichtet
sind, die Aufmerksamkeit auf öffentliche Uebel zu lenken, so haben
sie hier ihre beschränkten Ansichten in aller Demuth ausgedrückt und
erwarten u. s. w.


7. Mond. 27. Tag« (12. September).


5. Denkschrift des Censors Ai-džin, gezeichnet von sechsund-
siebzig Anderen.


»Nachdem Deine Diener gestern eine gemeinsam unterschriebene
Denkschrift eingereicht hatten, empfingen sie in Ehrfurcht ein Zinober-
Decret. Nachdem sie dasselbe gelesen, waren sie tief und dankbar
ergriffen von der Besorgniss, welche seinem Inhalt nach im Geiste Dei-
ner Majestät erregt worden sein muss. Aber dem darin ausgedrückten
Vorhaben konnten sie nicht beistimmen; deshalb wagen sie nicht, sich
einer abermaligen dreisten Aeusserung ihrer Gedanken zu enthalten.


[224]Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX.

Den persönlichen Oberbefehl über das Heer darf der Kaiser
nicht leichtfertig übernehmen. Als im Jahre 1853 die kantonesischen
Rebellen das Land überschwemmten und ungestüm gegen Norden vor-
drangen, war die Bestürzung in der Stadt vielmal heftiger als die jetzt
kundgegebene. Deine Majestät ernannte zum Glück Feldherren, fähig
sich mit dem Feinde zu messen, und der herankriechende Aufruhr
wurde erdrückt. Warum sollten nicht jetzt die Barbaren, kaum 10,000
an Zahl, durch die mehrfach stärkere Armee unter unseren Generalen
leicht besiegt und aus dem Lande gejagt werden können? Wäre nicht
die Uebernahme des Befehles für die kaiserliche Würde unziemlich,
und sollte sie nicht Alle befremden, die davon hörten? Ferner: nach-
dem einmal die Absicht Deiner Majestät, eine Jagdreise anzutreten,
vorher kundgemacht worden war, sollte wohl die Verkündung des ge-
änderten Vorhabens sicher sein allgemeinen Glauben zu finden?
Wiederum: die Ruhe im Gemüthe des Volkes hängt von Deiner Ma-
jestät Gegenwart am Sitze der Regierung ab und würde durch Deine
Abreise von da gestört werden. Und wenn Deine Majestät sich nach
dem Norden begiebt, während der Feind südlich steht, so wäre das
wieder ein Umstand, der viel Zweifel und Unruhe erweckte.


Bei früheren Reisen des Kaisers war es Gebrauch, verschiedene
Prinzen und Würdenträger mit der Verwaltung der Angelegenheiten
während seiner Abwesenheit zu betrauen, während Dinge von grosser
Wichtigkeit immer noch an Seine Majestät berichtet wurden. Aber
diese unruhige Zeit ist garnicht mit friedlichen Zeitläuften zu ver-
gleichen. Es wäre sehr schwierig Männer zu finden, welchen die Ver-
waltung des Staates mit Sicherheit anvertraut werden könnte. Würde
ihnen etwas zu viel Autorität verliehen, so könnten die schwersten
Uebel entstehen. Während ein aus Nachlässigkeit erwachsener Scha-
den leicht geheilt werden möchte, wäre es schwer, den aus Missbrauch
der Gewalt entspringenden zu bewachen, und es ist furchtbar nur daran
zu denken.


Alle diese Puncte haben Deine Diener reiflich erwogen u. s. w.


7. Mond. 28. Tag.« (13. September).


6. Denkschrift von Tsao-taṅ-yuṅ, Ex-Censor der Hu-
kwaṅ
-Provinzen
.


»Dein Minister Tsao-taṅ-yuṅ überreicht knieend eine Denkschrift.


Da die Barbaren nach der Hauptstadt vorrücken und die Pläne
für den Frieden sich als schwer ausführbar erweisen, so bittet er Deine
Majestät dringend, nach Deiner Hauptstadt zurückzukehren, damit die
Wünsche des Volkes erfüllt, die Würde des Thrones gewahrt, die
Seelen Deiner Ahnen und die Schutzgeister besänftigt werden.


[225]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.

Seit dem diebischen Eindringen der rebellischen Barbaren in
den Bezirk Tien-tsin sind, obwohl die kaiserlichen Rathschlüsse in
Geheimniss gehüllt und dem Publicum unbekannt waren, verworrene
Gerüchte jeder Art überall in Umlauf gewesen und haben grosse Be-
stürzung erweckt. Kürzlich berichtete die Zeitung, dass Saṅ-ko-lin-
sin
sich nach Yaṅ-tsun, dann nach Tai-tsun zurückgezogen habe;
dann wieder, dass er seiner Stellung enthoben worden sei; ferner,
dass Seine Majestät Kwei-liaṅ und Haṅ-fu zu kaiserlichen Com-
missaren ernannt habe, um die Angelegenheiten zu ordnen. Dann
kamen unablässig Couriere mit der Schnelligkeit von 600 Li.
52)Ein
Gerücht sagte, dass Frieden um jeden Preis beschlossen sei, ein
anderer, dass 20,000,000 Tael versprochen, die Baarzahlung von
2,000,000 Tael aber noch unentschieden sei; dann, dass mehrere Zehn-
tausend Mongolen-Krieger herbeigerufen seien, dass der Krieg be-
schlossen sei; ferner, dass dem Vorhaben Deiner Majestät, den Krieg
fortzusetzen, von einigen Personen Widerstand bereitet werde. Die
Verwirrung und Bestürzung waren unbeschreiblich; aber nichts be-
fremdete so sehr als das jetzt verbreitete Gerücht, dass Deine Ma-
jestät eine Reise nach Džehol machen wolle. Das hat die schreck-
lichste Bestürzung verursacht; aber Dein Diener glaubt nicht daran.
Und doch, da mehrere Minister Deine Majestät wiederholt angefleht
haben zu Deinem Palast zurückzukehren, ohne eine günstige Antwort
zu erhalten, so kann man sich einer unbeschreiblichen Furcht nicht
entschlagen. Wenn das Gerücht wirklich wahr ist, so wird die Wirkung
sein wie ein gewaltsamer Ausbruch der Natur, und der Schaden muss
unersetzlich sein. In welchem Lichte betrachtet Deine Majestät sein
Volk, in welchem Lichte die Altäre Deiner Vorfahren, den Schrein der
Schutzgötter? Willst Du das Erbe Deiner Ahnen wie einen zer-
rissenen Schuh fortwerfen? Was würde in tausend nachfolgenden Ge-
nerationen die Geschichte von Deiner Majestät sagen? Niemals war
es erhört, dass ein Fürst eine Zeit der Gefahr und des Elendes zu
einer Jagdreise auswählen und glauben sollte, dadurch Unheil ab-
zuwenden. Wenn die Ruhe in der Hauptstadt gestört wird, — was
würde dann verhindern, dass auch in Džehol die Ruhe gestört würde?
Deine Majestät wird angefleht, ohne Verzug in Deinen Palast zurück-
zukehren, damit das Gemüth des Volkes beschwichtigt werde. Die
Hauptstadt ist streng bewacht, der Geist aller ihrer Bewohner auf die
höchste Spannung getrieben; selbst Frauen und Kinder sind ent-
schlossen bis zum Letzten zu kämpfen. Vor Allem steht jetzt Saṅ-ko-
lin-sin
an der Spitze mehrerer Zehntausende mongolischer Truppen,

IV. 15
[226]Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX.
welche ihre Vorräthe mitgebracht haben und nicht den kaiserlichen Schatz
belasten. Ihre Treue und Tapferkeit sind sicher erwiesen. Wären beim ersten
Anlauf der Barbaren Ta-ku und Pe-taṅ ähnlich vertheidigt worden, wären
die Barbaren-Fahrzeuge, wie sie vorrückten, angegriffen worden, so wären
sie ausser Stande gewesen die seichten und engen Rinnsale hinaufzugehen.


Diejenigen, — wer sie auch sein mögen, — welche die Friedens-
politik empfahlen, haben unsere Pläne gehemmt und ihr Fehlschlagen
veranlasst, das zur Occupation von Tien-tsin führte. Und wer sind
die dafür verantwortlichen Personen? Zur Zeit der südlichen Suṅ-
Dynastie, als das Volk von Kin aufstand, empfahl Yo-fei den Krieg;
Tsin-wei widersetzte sich demselben [und] verschuldete das Verderben
des Reiches. Sind nun Leute wie Tsin-wei um Deiner Majestät Per-
son, so wäre billig, dass das Gesetz ihr Verbrechen ereilte. Deine
Majestät könnte ein öffentliches Bėkenntniss Deines Irrthums ablegen
und die Entschlossenheit des Volkes stärken. Ferner könnte die
oberste Leitung des Krieges in die Hände Saṅ-ko-lin-sin’s gelegt
werden. — Als Te-tsuṅ von der Taṅ-Dynastie ein öffentliches Be-
kenntniss seines Irrthums ablegte, wurden die meuterischen Krieger
von Šan-tuṅ bewogen, zur Pflicht zurückzukehren.


Die Einstellung von Freiwilligen im Bezirk von Tien-tsin ist
ein empfehlenswerther Schritt; sie wurden beim Einbruch der kanto-
nesischen Banditen im Jahre 1853 nützlich befunden, und ebenso, als
die rebellischen Barbaren im vorigen Jahre gegen Tien-tsin (Ta-ku)
vordrangen. Deine Majestät wird gebeten, dass dieselben als Hülfs-
truppen bei Saṅ-ko-lin-sin’s regulärer Streitmacht verwendet werden.
Die Zahl der Barbaren übersteigt nicht einige Tausende; ein be-
trächtlicher Theil ihres Heeres besteht aus gedungenen kantonesi-
schen Soldaten; denn Gewinnsucht ist es vor Allem, was diesen
buntscheckigen Haufen treibt. Wenn Geld verständig aufgewendet
und die Vaterlandsliebe dieser Gedungenen angerufen würde, so möchte
dieser ganze Haufen ohne Waffengewalt zerstreut werden können.


Dein Diener kann nicht begreifen, warum das nicht geschah. Sollte
Jemand gegen die Ausgabe reden, so braucht man garnicht an die
20,000,000 Tael zu erinnern, welche zu Ausführung friedlicher Maass-
regeln aufgewendet werden sollen, sondern nur verlangen, dass die
2,000,000 baaren Geldes so verwendet werden. Gediehe die Friedenspolitik
zum Abschluss, so möchten jedes Jahr neue Forderungen gestellt werden,
für welche die rebellischen Barbaren stets einen Vorwand finden würden.


Als in diesem Jahre Su-tšau und Haṅ-tšau fielen, da mehrten
einige Millionen Staatsgelder die Beute der Rebellen, und der Verlust
an Privat-Eigenthum war unermesslich.


[227]XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht.

Deine Majestät wird gebeten, anzuordnen, dass das Geld aus
dem Privatbeutel herausgegeben werde, um nach Herstellung des Frie-
densschlusses zurückerstattet zu werden, wie es zweckmässig scheinen
mag. Sollen die auswärtigen Barbaren nach Gebühr gezügelt werden,
so darf man gewiss keinen Frieden gewähren, bis sie in einer Schlacht
besiegt worden sind. Seine dahingeschiedene Majestät redet in ihrem
Testament mit Reue und Scham von dem Frieden mit den englischen
Barbaren. Möge Deine Majestät das beherzigen.«


(Nun folgt ein Bericht des Verfassers über seine Person, welcher
seine unbefugte Einmischung entschuldigen soll.)


»Nachschrift. Während Deines Dieners Denkschrift aufgesetzt
wurde, las er ehrfurchtsvoll das Zinober-Edict vom heutigen Tage,
welches hier folgt:


In Erwägung, dass das Vorrücken der Barbaren und
die verschiedenen mit der jetzigen Krisis verknüpften Umstände
ein Benehmen von uns fordern, welches berechnet ist die Ent-
schlossenheit unseres Volkes zu stärken, haben wir befohlen, dass
die Anstalten für unsere beabsichtigte Jagdreise als Vorbereitung
dienen sollen zu einem persönlichen Feldzug gegen den Feind.
Wei-tsin-waṅ (des Kaisers Oheim) soll Befehl geben zu zweck-
mässiger Vertheilung der Garnison von Pe-kiṅ. Wird der Feind
zwischen Tuṅ-tšau und Ma-tau betroffen, so werden wir unserer
ersten Absicht gemäss nach dem Norden aufbrechen und mit starker
Macht eine Stellung einnehmen. Der Geist unseres Heeres giebt kei-
nen Grund zu der Besorgniss, dass eine Handvoll Barbaren, weniger
als 10,000 Mann, nicht völlig vernichtet werden sollte. Dieses Decret
soll den Prinzen und anderen Würdenträgern vorgelesen werden.


Danach scheint Deiner Majestät Reise fest beschlossen zu sein. Denkt
denn unser Kaiser gar nicht an sein Volk, an die Tempel seiner Ahnen und
den Schrein der Schutzgötter? Wenn er wirklich zu commandiren denkt,
warum redet er denn davon, nordwärts zu gehen und eine starke Stellung
einzunehmen? Solche Sprache wird keinen Glauben finden beim Volke!


Aber das grosse Heer unter Saṅ-ko-lin-sin ist ganz hin-
reichend den Krieg mit Erfolg zu Ende zu führen; warum sollte
also Deine Majestät sich den Strapazen und Gefahren eines Feldzuges
aussetzen? Die Schwere der Krisis verbietet vieles Reden. Dein
Diener fleht Dich nur an, dem Rath und Verlangen Aller nach-
zugeben und an Deinen Hof zurückzukehren, um die Regierungs-
geschäfte zu überwachen und zweifelhafte Rathschläge zu verwerfen.


Datirt vom 13. September.


15*
[[228]]

XX.
REISE DER ARKONA VON MACAO NACH DER RHEDE
VON PAKNAM.

VOM 5. BIS 14. DECEMBER 1861.


Die Fahrt nach Siam ging langsam; der NO-Monsun hat in
diesen Breiten nicht die Kraft, wie nördlicher. In den ersten
Tagen wehte es bei starker Dünung von Süden noch ziemlich
stätig aus ONO., das Schiff rollte unbehaglich und machte unter
allen Segeln wenig Fahrt. Die Wärme nahm merklich zu, schon am
dritten Tage trugen wir die leichteste Sommerkleidung; Abends
mochte man kaum unter Deck gehen. Unbeschreiblich ist der Zau-
ber einer tropischen Mondnacht. Wie ein riesiges Gespenst schwebt
die segelschwere Bemastung, gewundene Linien am Sternhimmel
zeichnend, jetzt grell beleuchtet, jetzt dunkelschwarz über dem
Wasser. Im ungewissen Dämmerlicht schwankt das Vordertheil des
Schiffes weit entfernt; dort regen sich dunkele Gestalten; der ge-
wöhnlichste Vorgang scheint geheimnissvoll. Die plätschernde Stille
der Nacht, die silberblinkende grenzenlose Einöde, die weiche bal-
samische Luft, die leuchtenden Welten in der Höhe, durch welche
der Blick in unendliche Räume schweift, berauschen mächtig die
Phantasie.


In der Nacht zum 8. December liefen wir zwischen der Mac-
clesfieldsbank
und den Paracels-Inseln, am Morgen des 11. December
zwischen Little Catwick und Pulo Sapata durch. Häufige Regen-
schauer strichen über das Schiff. Man nahte der südlichen Grenze
des Monsun, der uns nur noch leise fortschob. Am 12. December
wurde es ganz still; Nachmittags liess Capitän Sundewall die Kessel
heizen. Am 13. December umschifften wir Cap Kamboǰa und steuer-
ten westnordwestlich. — Nachmittags wurde zur Uebung der Mann-
schaft Feuerlärm geschlagen: in kaum vier Minuten standen alle
Mann mit Eimern auf ihrem Posten und die Spritzen arbeiteten
wacker.


[229]XX. Arkona vor Paknam.

Den 14. December dampften wir in glattem Wasser den Golf
von Siam
hinauf, zwischen Hunderten kleiner Seeschlangen hindurch.
Am Morgen des 15. December kam Land in Sicht; gegen Mittag
passirte Arkona das erste der vielen Inselchen, die in langer Reihe
die östliche Küste säumen. Erst um sechs Uhr Abends erreichte
sie die nördlichste dieser Inseln und konnte dann östlicher auf den
Ankerplatz vor Paknam lossteuern, wo Thetis und Elbe vor Anker
lagen. Zur Orientirung liess Capitän Sundewall von neun Uhr an
Raketen steigen, Blaulichter anzünden und Geschütze abfeuern, er-
hielt aber keine Antwort. Gespannt starrte Alles in den schwarzen
Dunst hinaus; die lothenden Matrosen sangen immer kleinere Zahlen,
immer sachter musste die Schraube arbeiten: da traten die un-
klaren Umrisse schwarzer Masten ganz nah vor uns aus dem Nebel.
Zwei Boote mit einem deutschen Comprador und einem englischen
Post-Agenten kamen gegen elf langseit der Arkona und wiesen ihr
den Ankerplatz der preussischen Schiffe. Eine halbe Stunde später
grüssten wir unsere alten Reisegefährten von der Thetis.


[[230]]

XXI.
BAṄKOK.

VOM 23. NOVEMBER 1861 BIS 30. JANUAR 1862.


Seiner Majestät Fregatte Thetis, welche mit dem Legationssecre-
tär Herrn Pieschel, den Naturforschern Herren von Martens, von
Richthofen
und Wichura und den Kaufleuten Herren Grube und
Jacob an Bord von Shang-hae aus im März 1861 eine Uebungsreise
nach den Philippinen, den Seen von Celebes und Java angetreten
hatte, ging von Singapore kommend nach achtzehntägiger durch
widrige Winde verzögerter Fahrt am 22. November 1861 vor der
Mündung des Menam zu Anker. Da Herr Pieschel das preussische
Kriegsschiff der siamesischen Regierung brieflich angekündigt hatte,
so war in Baṅkok Alles vorbereitet: schon am 23. November erschien
auf der Rhede ein kleiner Dampfer des Prinzen Khroma-Luaṅ Woṅsa
mit dessen Sohn und zwei Vertretern der deutschen Firmen Mark-
wald und Thies-Pickenpack, welche den Officieren und Reisenden
der Thetis die Gastfreundschaft ihrer Häuser anboten. Capitän
Jachmann, mehrere Officiere, die Herren Pieschel, von Martens, von
Richthofen
und Grube nahmen die Einladung dankbar an, gingen
noch an demselben Abend auf dem kleinen Dampfer über die Barre
und weiter den Strom hinauf, und erreichten Baṅkok am frühen
Morgen.


Die Consulate und die Häuser der meisten fremden Kaufleute
liegen unterhalb der eigentlichen Stadt am linken Stromufer. Von
hübschen Gärten, Arbeitsschuppen und Speichern umgeben stehen
sie ziemlich weit von einander; der Verkehr ist schwierig, denn
Strassen giebt es in dieser Vorstadt nicht; die engen morastigen
Pfade sind vom wuchernden Pflanzenwuchs stellenweise fast ver-
sperrt und von brückenlosen Gräben durchschnitten. Diese, die
breiteren Canäle und die Flussarme bilden die eigentlichen Verkehrs-
wege für Handel und Wandel, ein Netz bequemer Wasserstrassen.
Das Boot ersetzt in Baṅkok nicht den Wagen, sondern die Beine;
[231]XXI. Siamesische Grosse.
denn die meisten Reviere dieser Waldstadt, wo es mehr Palmen als
Häuser geben mag, sind auch in der trockenen Jahreszeit nur zu
Wasser zugänglich.


Herr Pieschel besuchte sogleich die Consuln von England
und Frankreich, Sir Robert Schomburgk und Comte de Castelnau,
und liess sich durch Ersteren am 25. November dem Phra-Klaṅ
oder Minister des Auswärtigen,53)Tšau Phya Rawe Moṅs Kosadhi-
puti
vorstellen, der ihn freundschaftlich empfing und im voraus die
Erfüllung aller Wünsche verhiess. Er stellte sofort eine hinreichende
Zahl königlicher Boote zur Verfügung, wollte alle Anordnungen für
die Reisen der Naturforscher treffen und das für die preussische
Gesandtschaft bestimmte Gebäude sofort in Bereitschaft setzen. Dort
wurde schon rüstig gearbeitet. Der Phra-Klaṅ, ein wohlgenährter
Herr mit breitem pockennarbigem Antlitz, zeigte Herrn Pieschel die
Räumlichkeiten und entschuldigte sich wegen deren Unzulänglichkeit:
Siam sei ein armes Land und könne es nicht besser geben. — Er
trug den Saroṅ,54) ein viereckiges Stück gemusterten Baumwollen-
zeuges, das um die Hüften gewunden und mit einem zwischen den
Lenden rückwärts durch den Gürtel gezogenen Zipfel festgehalten
wird, und eine graue Merino-Jacke. Das ist die gewöhnliche Tracht
der Siamesen; Schuh, Strümpfe und Wäsche mögen sie nicht; auch
die Jacke legen zur heissen Tageszeit selbst die Vornehmsten ab,
so dass nur jener Schurz übrig bleibt. Bei Festlichkeiten tragen
die Grossen oft kostbare Gewänder, auch wohl europäische Unifor-
men; im gewöhnlichen Leben unterscheiden sie sich kaum von ihren
Trabanten, die gesenkten Hauptes im Staube kriechen. — Das Haar
wird bei Männern und Frauen rings um den Kopf geschoren; auf
dem Scheitel bleibt etwa handgross ein Schopf stehen, der zolllang
geschnitten, bürstenartig aufrecht steht.


Prinz Khroma-Luaṅ Woṅsa Dirai Snid, ein Halbbruder der
beiden Könige, der schon seinen Sohn auf die Rhede hinausschickte,
erschien mit zwei Töchtern wenige Stunden nach Herrn Pieschel’s
Ankunft zu dessen Begrüssung im Hause des Herrn Markwald.
Bei Erwiederung des Besuches fand ihn der Legationssecretär in
dem schwimmenden Hause vor seinem Palast, das er am liebsten
[232]Siamesische Grosse. XXI.
bewohnte. Es glich der Werkstatt eines Alchymisten; in der That
liebte der alte Herr, — der durch einen Gehirnschlag gelähmt
sich etwas schwerfällig bewegte, — die ärztlichen und Naturwissen-
schaften, und besass allerlei gute Instrumente, die mit Goldgötzen,
chinesischen Vasen, europäischem Porcelan, Krügen und Flaschen
jeder Grösse und räthselhaften Inhalts bunt durcheinander standen.
In der Tracht zeichnete sich der königliche Prinz ebenso wenig vor
seiner Umgebung aus, als der Minister. Prinz Khroma-Luaṅ galt
als trefflicher Charakter und aufrichtiger Gönner der Fremden, mit
welchen er durch starke Betheiligung am Handel in stetem Verkehr
stand. Mit dem ersten Minister oder Phra-Kalahum hatte er 1855
den Widerstand aller anderen Grossen gegen die Freigebung des
Handelsverkehrs gebrochen und fuhr fort, deren Rechte mit Wärme
zu schützen. Herrn Pieschel bat er dringend, alle Wünsche mit
Vertrauen zu äussern; für Erfüllung wolle er sorgen. — Eben so
freundlich empfing denselben der erste Minister oder Phra-Kalahum
Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samant Boṅs Bisude Maha Purus Ra-
tridom Samutra
, der grade von einem Ausflug nach Singapore und
Penang zurückkehrte. Der vornehmsten Familie des Landes ent-
stammt, der Sohn des Ministers, der, bei des letzten Königs Tode
dessen Söhnen entgegentretend, mit kräftiger Hand den rechtmäs-
sigen Erben auf den Thron setzte und jede Verschwörung im Keime
erstickte, war Phra-Kalahum durch Geburt und Tradition zum
Lenker des Staates berufen, den er rasch in die Bahn des Fort-
schrittes zu treiben suchte. Er galt für den einflussreichsten Mann
des Landes und soll eben so eifrig nach Reformen im Inneren, als
nach Erweiterung der auswärtigen Beziehungen gestrebt haben.
Die Beseitigung der im despotischen System begründeten Missbräuche,
unter denen das Volk siechte, mochte unmöglich sein. Von der
Wahrhaftigkeit seiner Wünsche auch nach dieser Richtung erhielten
Sir John Bowring und andere Fremden den günstigsten Eindruck,
während viele ihm wohl den freien Blick und Verstandesbegabung,
nicht aber den redlichen Willen zuschrieben, das Volk zu heben.


Als Herr Pieschel den Kalahum besuchte, wurde in der
Vorhalle von dessen Palast eben Gericht gehalten: der Richter, ein
alter hagerer Mann, thronte auf erhöhtem Sitz, während die Par-
theien, Anwälte und Gerichtsdiener ehrerbietig am Boden kauerten.
Als der Kalahum zum Empfang seines Gastes heraustrat, warf sich
auch der Richter nieder und berührte mit dem Antlitz den Staub.
[233]XXI. Der Erste König.
Die Wohnräume waren mit europäischem Luxus eingerichtet: am
Fussboden kostbare englische Teppiche, an den Wänden grosse
Spiegel, — ein Geschenk der Stadt Hamburg, — auf Tischen und
Consolen prächtige Stutzuhren, Lampen, Candelaber und Vasen. —
Ehe Herr Pieschel aufbrach, führte ihn der Kalahum zu seiner Ge-
mahlin, die im Garten war. In einer Halle lag eine Schaar dienen-
der Mädchen vor dem Ruhebett hingestreckt, von welchem Ihre
Excellenz eben aufstand; neugierig blitzten die grossen kohlschwar-
zen Augen den Fremden entgegen. In der Tracht unterscheiden
die Frauen sich nur dadurch von den Männern, dass sie statt der
Jacke einen Shawl um Brust und Schultern schlagen; selbst die
Haartracht ist dieselbe bis auf zwei kurze Büschel, welche die
Frauen an den Schläfen stehn lassen.


Capitän Jachmann und die Officiere der Thetis hatten am
26. November die Ehre, von Seiner Majestät dem Ersten König
Phra-Bat Somdetš Phra Paramendr Maha Moṅkut Phra Kom Klau
Tšau Yu Hua
in einer Privataudienz empfangen zu werden. Am
9. December kehrten sie auf die Fregatte zurück.


In Baṅkok erregte damals das Auftreten des kaiserlich fran-
zösischen Consuls Comte de Castelnau grosse Unruhe. Dieser hatte —
nach Mittheilungen des Prinzen Khroma-Luaṅ — am 8. November
eine Note an den Phra-Klaṅ gerichtet, welche zu peinlichen Er-
örterungen über die Stellung des Siam tributpflichtigen Reiches
Kamboǰa führte. Die Erfüllung der französischen Forderungen hätte
den König von Siam tief gedemüthigt und seine angestammte Ober-
hoheit über Kamboǰa beeinträchtigt; Prinz Khroma-Luaṅ und die
Minister sprachen darüber mit Bitterkeit und leisteten zähen Wider-
stand. — Anfang December kam nun die Nachricht nach Baṅkok,
dass französische Streitkräfte die an der Küste von Kamboǰa gele-
gene Insel Pulo Kondore besetzt hätten, welche früher der englisch-
ostindischen Compagnie gehörte, nach Vertreibung ihrer schwachen
Garnison durch die Eingebornen von derselben aber aufgegeben war.
Für Frankreich war die Insel, welche den directen Weg von Siam
nach China beherrscht, bei der Hafenlosigkeit der cochinchinesischen
Küste strategisch von grosser Wichtigkeit. — Die Nachricht von
diesem Schritt erregte in Siam doppelt peinliches Aufsehn, weil sie
mit einem Vertragsbruch von französischer Seite zusammentraf: am
9. December erschien nämlich in Baṅkok der von der französischen
Regierung gecharterte und als Kriegsschiff ausgerüstete Dampfer
[234]Auftreten des französischen Consuls. XXI.
Formosa und ging vor den Consulaten zu Anker. Nach allen mit
Siam geschlossenen Verträgen darf aber ein fremdes Kriegsschiff
nur nach der Hauptstadt hinaufgehn, wenn es in Paknam — an der
[Flussmündung] — seine Kanonen ausgeladen oder die Erlaubniss des
Gouverneurs zu Fortsetzung der Reise eingeholt hat. Beides unter-
blieb. Die siamesische Regierung verlangte nun Zahlung der für
solchen Fall vertragsmässig stipulirten Conventionalstrafe von 800
Tikal55) und konnte der beharrlichen Weigerung des französischen
Consuls gegenüber nur erklären, dass sie bei der kaiserlichen Regie-
rung Beschwerde führen werde. Der König beschloss, ein eigenhän-
diges Schreiben darüber an den Kaiser Napoleon durch einen seiner
Grossen in Paris überreichen zu lassen.


Am Tage, da die Formosa vor Baṅkok erschien, soll der
französische Consul vor dem König in derber Sprache die Erfüllung
der Kamboǰa und Cochinchina betreffenden Forderungen, und auf
dessen unbedingte Weigerung als Mindestes die Abtretung eines
Gebietes am Grenzfluss Mekoṅ verlangt haben, welche in jenen
Forderungen enthalten war; der König hätte, des Drängens müde,
die Cession unter gewissen Bedingungen zugesagt. Darauf wäre
Comte de Castelnau zum Kalahum geeilt, der die unbedingte Ab-
tretung des Gebietes, welche Jener auf Grund der königlichen Zu-
sage forderte, verweigert und nach einer heftigen Scene das Gespräch
mit den Worten abgebrochen hätte: Und ich gebe dir das Land
nicht. Der Consul hätte sich schriftlich beim König beschwert,
die Verhandlungen für abgebrochen erklärt und gemeldet, dass er
sich auf der Formosa nach Saigun einschiffen werde. Auf den Rath
des Kalahum hätte man dieses Schreiben unbeantwortet gelassen.


Am 10. December traf nun auf der Rhede von Paknam ein
französisches Kriegsschiff mit der aus Paris kommenden siamesischen
Gesandtschaft ein. Comte de Castelnau blieb in Baṅkok und sagte
Herrn Pieschel, der von ihm Abschied nehmen wollte, dass er die
Formosa nach Singapore sende und erst in vierzehn Tagen nach
[235]XXI. Rückkehr der siamesischen Gesandten.
Saigun gehen werde. — Das Kriegsschiff mit der siamesischen
Gesandtschaft hatte auch französiche Truppen für Cochinchina an
Bord. Die Gesandten brachten ein Schreiben des Kaisers Napoleon,
das Grosskreuz der Ehrenlegion für den Ersten und das Officier-
kreuz für den Zweiten König; das Schreiben wurde in feierlicher
Procession eingeholt und mit den Ordens-Insignien dem Ersten
König von seinen heimkehrenden Grossen überreicht. — Der Capitän
des französischen Kriegsschiffes hatte irrthümlich geglaubt an dieser
Feierlichkeit Theil nehmen zu müssen, und kam mit 17 Officieren
und 50 Soldaten nach Baṅkok; die überraschten Behörden sahen
sich genöthigt, denselben auf des Consuls dringendes Ersuchen das
für die preussische Gesandtschaft bestimmte Haus einzuräumen.
Zum feierlichen Empfang der Franzosen war keine [Veranlassung];
sie hatten keinen Auftrag an den König und besuchten die Stadt
nur zu ihrem Vergnügen; denn das kaiserliche Schreiben und die
Ordens-Insignien wurden den siamesischen Gesandten schon in Paris
eingehändigt. Der Erste König ertheilte den Officieren jedoch eine
Privataudienz und verliess bald darauf Baṅkok, um weiteren Berüh-
rungen auszuweichen.


Die Reibungen mit den französischen Behörden dauerten noch
Jahre; im Palast kam es zu peinlichen Auftritten, der gekränkte
König gab seinem Aerger schriftlich den heftigsten Ausdruck.56)
Zwischen Siam und Frankreich lebt eben ein alter Groll.


Portugiesische Ansiedler sollen schon während der Belage-
rung von Malacca nach Siam gekommen sein, wo sie in verschie-
denen Landestheilen Factoreien gründeten und Kirchen bauten.
Die Landesherren scheinen die Einwanderung begünstigt und selbst
der Bekehrung ihrer Unterthanen zum Christenthum nicht entgegen-
gewirkt zu haben; in der Hauptstadt Ayutia wuchs eine zahlreiche
Gemeinde heran, die sich durch Heirathen mit den Landestöch-
tern stark vermehrte. Portugiesische Feldhauptleute und Söldner
dienten im 16. Jahrhundert vielfach den siamesischen Königen;
der Handel der Portugiesen blühte bis zur Ankunft der Holländer,
welche auch hier von ihnen verschwärzt und angefeindet wurden.
[236]Portugiesen und Holländer in Siam. XXI.
Nachdem 1608 ein siamesischer Gesandter, auf Einladung der Hol-
länder nach Bantam und von da nach den Niederlanden reisend,
sich überzeugt hatte, dass jene wirklich ein eigenes Land besässen
und nicht, wie die Portugiesen sagten, heimathlose Seeräuber seien,
begünstigten die Landesherren ihren Handel. 1613 wurde eine hol-
ländische Factorei in Ayutia gegründet. 1624 caperten die Portu-
giesen ein holländisches Schiff im Menam, mussten es aber, vom
König gezwungen, wieder herausgeben. Eine Reihe von Jahren
befehdeten sich darauf die Siamesen und die Portugiesen vielfach
zur See. 1631 liess der König alle portugiesischen Schiffe in seinen
Häfen besetzen und die Mannschaften festnehmen, deren Freiheit
erst 1633 eine Gesandtschaft erwirkte. Die Feindseligkeiten müssen
damit nicht aufgehört haben; 1634 liehen die Holländer dem König
sechs Schiffe gegen ihre Nebenbuhler, die besonders in Patani auf
der malayischen Halbinsel festen Fuss gefasst hatten. Die portu-
giesischen Colonisten in Ayutia scheinen die ganze Zeit als siame-
sische Unterthanen gegolten zu haben. — Von Verträgen ist in
portugiesischen Berichten, so weit der Verfasser sie kennt, nicht
die Rede, wohl aber von Handelsprivilegien, die ihnen verliehen
wurden.


Der niederländische Handel wurde anfangs mit Verlust be-
trieben und hob sich erst gegen 1627 nach Gewährung einiger Vor-
rechte. Wie die Portugiesen, so setzten auch die Holländer siame-
sische Producte mit gutem Vortheil in Japan ab. Viele japanische
Christen flohen zu Anfang des 17. Jahrhunderts nach Siam, wo alle
Bekenntnisse geduldet wurden. Sprösslinge dieser japanischen Co-
lonie leben heut noch in Siam. — Der niederländische Handel
blühte das ganze 17. Jahrhundert. 1663 beschwerten sich die
Holländer über Verletzung ihrer Privilegien; eine siamesische Ge-
sandtschaft ging darauf nach Batavia, das Unrecht wurde gut ge-
macht und der Verkehr wieder aufgenommen. Damals stand Siam
auf dem Gipfel seiner Macht und Blüthe. Unter dem Schutz des
Ministers Constantin Phaulkon, eines Halbgriechen von den Joni-
schen Inseln
, gewannen die Fremden grossen Einfluss. Die Ein-
nahme von Malacca und die weitere Verbreitung der Holländer
auf der malayischen Halbinsel war wohl die erste Ursache der Be-
günstigung ihrer Erzfeinde, der Franzosen, am siamesischen Hofe.
Der holländische Handel überlebte zwar deren Sturz und blühte
noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts, gerieth aber bei der späteren
[237]XXI. Franzosen in Siam.
Zerrüttung des Reiches in Verfall und erlosch wohl gänzlich nach
der Zerstörung von Ayutia.


Die Geschichte des Constantin Phaulkon, seiner Beziehungen
zu Ludwig XIV. und den französischen Jesuiten ist eine der merk-
würdigsten Episoden im Verkehr des Westens mit indischen
Völkern. Volle Klarheit lässt sich darüber nicht gewinnen; die Be-
richte der Jesuiten sind stark gefärbt, die der Gesandten oberfläch-
lich und ruhmredig. So viel liest man aber, obwohl die Missio-
nare mit verdächtigem Eifer das Gegentheil beschwören, sehr deut-
lich zwischen den Zeilen, dass Phaulkon mit Hülfe der Franzosen
dem König Phra-Narai, der ohne männliche Erben war, zu succe-
diren hoffte. Dabei liegt die Vermuthung nahe, dass Ludwig XIV.
die Früchte seines Beistandes selbst zu ärnten, durch Gründung
eines grossen christlichen Reiches in Hinter-Indien die geträumte
Weltherrschaft zur That zu machen hoffte.


Phra-Narai’s Geschichte giebt einen Begriff von der Erb-
folge am siamesischen Hofe. Sein Vater Phra-Surivoṅ, einer der
Grossen des Reiches, mordete 1627 den König Phra-Tšao-Soṅ-Tam,
der nach Ermordung seines Neffen 1602 den Thron bestiegen hatte.
Phra-Narai mordete 1655 seinen Bruder, den Surivoṅ zum Erben
einsetzte, mit Hülfe seines Oheims, mordete nach einigen Monaten
auch diesen, der den Thron bestiegen hatte, und regierte seit 1656.
Wenige Jahre darauf kam Constantin Phaulkon nach Siam. Nach
den Berichten der Jesuiten hätte er, der Sohn eines venetianischen
Gouverneurs von Kephalonia und einer Griechin, nach dem Tode
seiner Eltern sein Glück auf der See gesucht, hätte auf einem eng-
lischen Schiff auch Siam besucht, dort selbst ein Fahrzeug erwor-
ben und Reisen nach den Nachbarländern gemacht. An der mala-
barischen Küste strandend, hätte er einen aus Persien zurückkehrenden
siamesischen Gesandten getroffen, dessen Schiff in demselben Sturm
scheiterte, hätte mit seinem geretteten Gelde ein Fahrzeug gemiethet
und den Siamesen nach seiner Heimath geführt. Von diesem em-
pfohlen hätte Phaulkon schnell des Königs Vertrauen gewonnen
und sich zur Würde eines Ministers aufgeschwungen. Sonderbar
klingt die Angabe, dass der Sohn eines Venetianers und einer
Griechin sich bis dahin zur anglicanischen Kirche bekannt und
erst als siamesischer Minister den katholischen Glauben angenom-
men habe. Darauf soll er eine japanische Christin geheirathet und
in kurzer Zeit durch Begünstigung des fremden Handels grosse
[238]Französische Missionare. XXI.
Schätze gewonnen haben. — Neben der portugiesischen und hol-
ländischen wird um diese Zeit auch schon eine englische Factorei
in Ayutia genannt.


1662 kam der Bischof von Beyrut Monseigneur de la Mothe
Lambert
mit sechs französischen Geistlichen nach Ayutia. Sie
hatten von den portugiesischen Priestern, deren Haupt, der Erz-
bischof von Goa, sogar dem Papst die Suprematie über die katho-
lischen Seelsorger in Indien bestritten zu haben scheint, starke An-
fechtungen zu leiden; der Bischof flüchtete, gewaltsamer Weg-
schleppung zu entgehen, erst zu den ketzerischen Holländern, dann
in die Colonie der Cochinchinesen, die ihn vor seinen Glaubens-
brüdern wirksam schützten und seine willigen Jünger wurden. Um
den päpstlichen Schutz gegen diese Unbilden anzuflehen, sandte er
1663 einen Geistlichen De Bourges nach Rom. — Trotz den Ränken
der portugiesischen Priester, die seine Bestallung als apostolischen
Gross-Vicar zu verdächtigen suchten, gewann sowohl er selbst als
Monseigneur Palu, Bischof von Heliopolis, der 1664 mit zwei Ge-
hülfen in Ayutia eintraf, die Gunst des Ministers Phaulkon.


Anfang 1665 wurde der Bischof von BeyrutPhra-Narai
vorgestellt, der ihn über sein Vaterland und die katholische Reli-
gion ausfragte und, nach den Berichten der Jesuiten, schon damals
versprach sich taufen zu lassen, wenn die Fürbitte der christlichen
Gemeinde die Heilung seines kranken Bruders bewirkte. Der
Prinz wäre genesen; — der König hätte zwar nicht Wort gehal-
ten, den Missionaren aber ein Grundstück in Ayutia und Ma-
terial zum Bau eines Seminars und einer Kirche geschenkt, die dem
Heiligen Joseph geweiht wurde. Der Zudrang soll stark gewesen
sein, der König selbst, schreiben die Patres, schickte die Söhne
seiner Grossen zur Schule; der Arbeitslast der Seelsorge und Er-
ziehung wären ihre Kräfte weitaus nicht gewachsen. Leider sind
diese Berichte so mit declamirenden Erzählungen von übernatür-
lichen Gnadenwundern gespickt, dass der historische Kern sich
schwer erkennen lässt.


In den folgenden Jahren liess Phra-Narai sich in den christ-
lichen Glaubenslehren unterrichten und erklärte laut, dass er fortan
nur dem Christengott dienen wolle, verschob aber die Taufe unter
dem Vorwande, dass sein offener Uebertritt zu politischen Um-
wälzungen führen möchte. Einige Missionare geben auch zu ver-
stehen, dass seine Neigung zu den Weibern ihn abgehalten habe. Wie
[239]XXI. Französische Missionare.
weit Phaulkon, den sie als hochbegeisteten Glaubenshelden preisen,
ihren Einfluss wirklich oder nur scheinbar förderte, ist unklar;
man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass er nach beiden
Seiten eine Maske trug.


Im Februar 1669 kam De Bourges mit fünf französischen
Missionaren, im Mai 1673 Monseigneur Palu nach Siam zurück, der
1665 von da nach Rom und Paris gereist war. Sie brachten päpst-
liche Bullen mit ausgedehnten Vollmachten und bedeutende Geld-
summen mit. Der Bischof von Beyrut hatte unterdessen eine Reise
nach Cochinchina gemacht und Gemeinden in verschiedenen Lan-
destheilen gestiftet; die Missionen wuchsen und blühten unter dem
mächtigen Schutz des Königs und seines Ministers, deren Gunst
frisch genährt wurde durch Briefe Clemens IX. und Ludwig XIV.,
welche Monseigneur Palu erwirkt hatte. Beide schmeicheln der
persönlichen und nationalen Eitelkeit des Königs, danken für die
den Missionaren erwiesene Grossmuth und bitten um Schutz gegen
deren Feinde. Aufforderungen zur Bekehrung enthalten diese
Schreiben nicht; nur sagt der Papst am Schluss mit feiner Wen-
dung, dass er Gott Tag und Nacht anfleht, den König mit dem
Lichte der Wahrheit zu erleuchten, damit, nachdem er lange auf
Erden regiert habe, »er auch ewig im Himmel regieren möchte«. — Der
Brief des französischen Königs war gegengezeichnet von Colbert. —
Phra-Narai nahm diese Schreiben unter grossen Feierlichkeiten ent-
gegen, äusserte den Wunsch, Gesandte nach Europa zu schicken,
und erschöpfte sich in Gnaden gegen die Missionare. Der Zudrang zu
ihren Schulen wuchs, als der König seinen Unterthanen den Ueber-
tritt zum Christenthum durch öffentliches Decret erlaubte. Der Bischof
von Beyrut, der die Arbeit mit den Seinen nicht zwingen konnte,
sandte damals, um Gehülfen bittend, einen Boten nach den Klöstern
in Manila; auch aus Frankreich kam beständig Zuzug. Eine neue
Gunsterweisung des französischen Hofes scheint bewirkt zu haben,
dass Phra-Narai seinen Unterthanen 1677 sogar den Besuch der
Götzentempel untersagte. — Die Abreise der siamesischen Gesandt-
schaft nach Europa verzögerte der Krieg zwischen Frankreich und
Holland bis 1680; erst auf die Nachricht vom Frieden zu Nymwegen
wagten sich wieder französische Schiffe auf die indischen Meere.


Das Fahrzeug mit den Gesandten und reichen Geschenken
des siamesischen Königs muss damals untergegangen sein; es blieb
seit dem Augenblick seiner Abfahrt verschollen.


[240]Gesandtschaft Ludwig XIV. XXI.

Nach dem 1679 erfolgten Tode des Bischofs von Beyrut
leitete die Mission der in Siam auf päpstliche Ermächtigung von
ihm consecrirte Bischof von Metellopolis, welcher besonderer
Gunst bei Phra-Narai genoss. 1682 kam Monseigneur Palu von
einer zweiten Reise nach Paris zurück und brachte ein neues Schrei-
ben Ludwig XIV., das weitere Gnaden für die Missionare zur Folge
hatte. Da jenes Schiff mit den Gesandten verschollen war, so
schickte der König 1683 abermals zwei Würdenträger mit dem
Père Levachet nach Frankreich, welcher als Haupt der Gesandt-
schaft beglaubigt wurde. Ihn begleiteten ferner sechs junge Sia-
mesen, welche in Paris erzogen werden sollten.


Père Levachet erwirkte von Ludwig XIV. die Absendung
zweier Kriegsschiffe mit einer glänzenden Gesandtschaft und reichen
Geschenken. Den Botschafter, Chevalier de Chaumont, begleiteten
ein zahlreiches Gefolge und sechs französische Jesuiten, gelehrte
Mathematiker, die zu Gehülfen des Pater Verbiest in Pe-kiṅ be-
stimmt waren. Im September 1685 ankerten die Schiffe auf der
Rhede von Paknam. Nach den nöthigen Vorbereitungen ging der
Botschafter nach Ayutia und wurde glänzend empfangen. Er be-
theuert auf jeder Seite seines langen Berichtes, dass niemals Je-
mand in Siam gleiche Ehren genossen habe, und erzählt mit Wohl-
gefallen, wie er selbst »dans un fauteuil«, der Bischof von Me-
tellopolis
ihm gegenüber »sur un petit siège« dagesessen hätten,
während die siamesischen Grossen auf dem Teppich herumkrochen.
Bei der Audienz durchbrach Herr von Chaumont das siamesische
Ceremoniel; Phra-Narai nahm das Schreiben des allerchristlichsten
Herrschers lachend entgegen und hörte geduldig die Rede seines
Botschafters, die ihn gleich dem königlichen Schreiben dringend
ermahnte, sich taufen zu lassen. Er hatte vom Bischof von Me-
tellopolis
eine Uebersetzung des Evangeliums angenommen und in
einem seiner Zimmer ein Crucifix aufgestellt, scheint aber durch
das heftige Drängen in seinem Zaudern bestärkt worden zu sein.
Auch Phaulkon bestürmte ihn nach Chaumont’s Aussage vergebens,
erwirkte dagegen leicht die Sanctionirung eines Vertrages von fünf
Puncten, in welchen den Missionaren voller Schutz für ihre Thätig-
keit, den Siamesen volle Freiheit zu Annahme des Christenthums,
allen Getauften eximirte Gerichtsbarkeit und Befreiung von der
ihren Herren geschuldeten Arbeit an Sonntagen, den Alten und
Kranken Befreiung von jedem Dienst versprochen wurden.


[241]XXI. Französische Truppen in Siam.

An den gelehrten Jesuiten fand Phra-Narai viel Gefallen;
sie stellten in seinem Jagdschloss bei Lophaburi57) zu Beobachtung
einer Mondfinsterniss ihre Instrumente auf. Dahin wurde auch
Chaumont beschieden, dessen wichtigste Verabredungen mit Phaul-
kon
natürlich geheim blieben. Nach Frankreich begleiteten ihn drei
siamesische Würdenträger und Père Tachard, einer der nach Pe-
kiṅ
bestimmten Jesuiten, der jetzt den Auftrag erhielt, von Ludwig
XIV.
und dem Père La Chaize für Phra-Narai zwölf Mathematiker
aus dem französischen Jesuitencollegium zu erbitten. Der aller-
christlichste König gewährte nicht nur diese, sondern auch ein
französisches Truppencorps, das sich unter Maréchal Des Farr-
ges
und Lieutenant-Général Bruant mit den Botschaftern De la
Loubére
und Ceberet, mit Tachard, den zwölf Jesuiten und den
siamesischen Gesandten zu Brest im Februar 1687 einschiffte. —
Nach der darüber geschlossenen Convention sollten die französi-
schen Krieger nicht nur als Instructeure der siamesischen, sondern
auch zum Schutze des siamesischen Königs und Staates dienen; sie
sollten zwei feste Plätze besetzen und dort unter Autorität des
Landesherrn von ihren eigenen Officieren commandirt werden.


Während unterdessen die Jesuiten ihre Hoffnungen auf ein
christliches Königreich Siam nährten, — denn dem Uebertritt des
Königs sollte die Taufe des ganzen Volkes folgen, — zog sich das
Gewölk über ihren Häuptern immer dichter zusammen. Die Be-
günstigung der Christen erbitterte nicht nur die mächtige Classe
der Bonzen, den ganzen einheimischen Adel und Beamtenstand,
sondern auch die zahlreichen malayischen Moslem. Mit ihnen
scheint Phra-Narai ähnlich wie mit den Christen coquettirt, und
einem persischen Gesandten sogar Aussicht auf baldigen Uebertritt
zum Islam gemacht zu haben. Zwei vertriebene Fürsten von Ma-
cassar
, die in Siam lebten, zettelten eine Verschwörung an und
fanden starken Anhang. Das Complott wurde aber vor dem Aus-
bruch verrathen und nach verzweifeltem Kampf unterdrückt. Der
König begnadigte die grössere Zahl der Verschwörer, ohne sie da-
durch zu versöhnen; der Groll brütete weiter und erhielt neue
Nahrung.


Im October 1687 ankerte das französische Geschwader vor
Paknam. Nachdem der König Tachard empfangen und Phaulkon
die nöthigen Anstalten für Ausschiffung der Truppen getroffen hatte,
IV. 16
[242]Neue Gesandtschaft nach Frankreich. XXI.
unterschrieb man eine Convention, deren Inhalt nicht näher be-
zeichnet wird. Die Gesandten und die Truppen landeten, erstere
wurden mit den Jesuiten und vielen Officieren in Ayutia und Lo-
phaburi
eben so ehrenvoll empfangen wie Chaumont und blieben
bis gegen Ende des Jahres. Anfang Januar 1688 schiffte sich auch
Tachard mit Gesandten des Phra-Narai und zwölf jungen Söhnen
siamesischer Grossen wieder ein, die in Paris erzogen werden
sollten; er hatte den Auftrag, von Ludwig XIV. noch die Absen-
dung von 200 Garde du corps zu erwirken. Phra-Narai liess den
Jesuiten Häuser, eine Kirche und ein Observatorium bauen, hatte
auch beständig französische Officiere bei sich in Lophaburi und
erwies allen Fremden die höchste Gunst. Der grössere Theil der
französischen Truppen bezog unter dem Marschall Des Farrges die
Castelle von Baṅkok, — das damals nur ein Dorf war, — der
kleinere unter General Bruant die Feste von Mergui an der Küste
Tenasserim. Jene beherrschen den Zugang zur Hauptstadt von
Süden, diese die westlichen Landschaften; man gab damit die
Schlüssel des Reiches in ihre Hände.


Die folgenden Ereignisse und Phaulkon’s Sturz werden so
verschieden erzählt, dass die Wahrheit nicht herauszuschälen ist.
Die Jesuiten machen ihn zum Märtyrer, Kämpfer und die Siamesen
zum Verbrecher. Bei nüchterner Vergleichung gewinnt man unge-
fähr folgendes Resultat, dessen Genauigkeit doch keineswegs ver-
bürgt werden soll.58)


Im Februar 1688 erkrankte Phra-Narai in Lophaburi be-
denklich; die Frage der Thronfolge trat in den Vordergrund.
Phaulkon widersetzte sich hartnäckig dem Wunsche des Königs,
der seine einzige Tochter einem Adoptivsohn Mompit vermählen
wollte, und verlangte deren Verlobung mit einem der beiden Brüder
des Königs, die Phra-Narai hasste und seit lange in strengem Ge-
wahrsam hielt; ihre Succession scheint unmöglich gewesen zu sein.
[243]XXI. Phaulkons Sturz.
Allen Grossen verwehrte Phaulkon den Zutritt zum Kranken, und
hoffte wohl mit Hülfe der französischen Truppen den Thron für
sich zu gewinnen. — Unterdessen hatte einer der Vornehmsten,
Phra-phet-raxa, längst die Unzufriedenen um sich geschaart und
heimlich seine Anstalten getroffen; die Malayen, die Priester-
schaft und der Adel hassten die Fremden und deren allmächtigen
Beschützer tödtlich. Im günstigen Moment riefen die Grossen
Phra-phet-raxa zum Regenten aus und bemächtigten sich des
Palastes in Lophaburi. Phaulkon wurde gefangen und im Juni 1688
hingerichtet, sein Vermögen eingezogen.59)Phra-phet-raxa regierte
im Namen des gefangenen Königs, der bald darauf starb, liess den
Prinzen Mompit, der anfangs in die Verschwörung verwickelt ge-
wesen sein muss, ermorden, und sicherte sich in wenig Wochen den
unbestrittenen Besitz des Thrones.


Nun galt es die Franzosen aus ihren Castellen zu treiben.
Phra-phet-raxa hatte umsonst versucht, durch erzwungene Briefe
des Phaulkon den Marschall Des Farrges mit seinen Truppen nach
Lophaburi zu locken. Nach der Hinrichtung des Griechen bewog
der Bischof von Metellopolis durch Drohungen geschreckt den
französischen Marschall, allein nach Lophaburi zu kommen. Phra-
Phet-raxa
verlangte peremtorisch die Auslieferung der Castelle; Des
Farges
schrieb gezwungen eine Aufforderung zu Uebergabe der Feste
von Mergui und versprach die Auslieferung von Baṅkok, wenn er da-
hin reisen dürfte, musste aber seine Söhne als Geisseln zurück-
lassen. Sechs französische Officiere, die beim Ausbruch der Ver-
schwörung aus Lophaburi flohen, waren nach langer Verfolgung
ergriffen, schimpflich misshandelt und eingekerkert worden. Die
Theilnahme des Volkes an diesen Grausamkeiten beweist, dass
alle Classen die Franzosen bitter hassten.


General Bruant leistete in Mergui jener Aufforderung nicht
Folge, vertheidigte sein Castell eine Weile gegen die feindlichen
Angriffe, schlug sich dann mit einigem Verlust nach dem Hafen
durch, bemächtigte sich eines englischen und eines siamesischen
Schiffes, die im Hafen lagen, und entkam mit dem grössten Theil
seiner Leute nach Pondichéry. — Des Farrges konnte in Baṅkok
nur das eine Castell halten; das andere besetzten die Siamesen.
16*
[244]Abfahrt der Franzosen. XXI.
Er hatte jedoch Lebensmittel, wies einige Wochen lang alle An-
griffe ab, unterhandelte aber zugleich über die Capitulation: der
König stellte den Franzosen zur Reise nach Pondichéry zwei siame-
sische Schiffe, die mit zwei sie begleitenden Siamesen zurück-
geschickt werden sollten; als Bürgen dafür mussten der Bischof
von Metellopolis und einige andere Missionare bleiben; die mei-
sten schifften sich mit den Truppen ein. Des Farrges lieferte Phaul-
kon’s
Gemahlin aus, die unter seinen Schutz geflüchtet war.
Die Franzosen sollten nach dem Vertrage mit Waffen und Gepäck
abziehen, wurden bei der Einschiffung aber gezwungen ihr Geschütz
zurückzulassen. — Als Vergeltung scheint Des Farrges die siame-
sischen Beamten und Schiffe festgehalten zu haben; dafür wurden
der Bischof von Metellopolis und die anderen Bürgen grausam miss-
handelt und mussten die schwersten Frohndienste leisten.


Im August 1689 erschien Des Farrges, der bittere Rache ge-
schworen hatte, mit fünf Schiffen bei der Insel Šoṅ-silaṅ an der
Westküste der malayischen Halbinsel, segelte jedoch auf ein Schrei-
ben des Bischofs von Metellopolis, der im Kerker mit grimmiger
Härte behandelt wurde, nach Auslieferung der Siamesen ohne Feind-
seligkeiten wieder ab. Ende 1690 schrieb Père Tachard von Mer-
gui
aus dem Minister des Phra-phet-raxa, dass er einen Brief
des französischen Königs bringe und mit Herstellung des Freund-
schaftsbündnisses beauftragt sei. Aus Furcht vor der wachsenden
Macht der Holländer scheint der Usurpator darauf eingegangen zu
sein; im April 1691 gab man dem Bischof von Metellopolis das
Seminar wieder; Phra-phet-raxa schenkte ihm sogar eine Geld-
summe, und die Missionare wurden nicht weiter behelligt.


Der vielgeprüfte Bischof von Metellopolis starb 1697. Seine
Nachfolger im apostolischen Vicariat wurden das 18. Jahrhundert
hindurch vielfach in die Kabalen am siamesischen Hofe verwickelt;
die Mission, welche Frankreich beständig aufrecht hielt, blühte oder
litt je nach den Launen und Neigungen der unfähigen Despoten,
die auf Phra-phet-raxa folgten. Durch äussere und innere
Kriege sank Siam immer tiefer. Um 1760 belagerte der König von
AvaAyutia. 1766 verbrannte der König von Birma die Haupt-
stadt nach zweijähriger Belagerung, verwüstete die ganze siame-
sische Ebene und schleppte die Bevölkerung fort. Unter diesen
Calamitäten litten natürlich sowohl die katholische Mission als der
fremde Handel.


[245]XXI. Siams Wiedergeburt.

Das Reich wurde hergestellt durch Phaya-tak, den Sohn
eines Chinesen und einer Siamesin, der die Birmanen bezwang, in
Baṅkok seine Residenz aufschlug, allmälig das ganze Land unter-
warf, dann aber in Grössenwahn fiel und 1782 von seinem ersten
Minister, Phra-phuti-tšao-luaṅ, dem Gründer der heut regieren-
den Dynastie, gestürzt wurde, unter der das Reich wieder auf-
blühte.


Phra-phuti-tšao-luaṅ meisterte nach langen Kämpfen die
immer wieder eindringenden Birmanen und regierte bis 1811. Sein
Sohn Phendin-klaṅ herrschte in Frieden bis 1825. Bei dessen
Tode zählte der rechtmässige Thronerbe Tšao-fa-moṅkut, der
älteste Sohn der Königin, nur zwanzig Jahre. Sein älterer Halb-
bruder, Phra-tšao-phrasat-thoṅ, der Sohn einer Concubine, war
schon unter dem schwachen Phendin-klaṅ allmächtig gewesen und
wusste jetzt den Thron für sich zu gewinnen; Tšao-fa-moṅkut
ging für sein Leben fürchtend in ein Kloster, stieg zur Würde
eines siamesischen Oberbonzen und lebte sechsundzwanzig Jahre
lang theologischen, philologischen und naturhistorischen Studien,
die sich nicht nur auf asiatische, sondern auch auf die christlichen
Bekenntnisse und europäische Sprachen erstreckten. — König
Phra-tšao-phrasat-toṅ versammelte, bedenklich erkrankt, 1851
die Grossen, um seinem Sohne die Krone zu sichern, erhielt
jedoch zur Antwort, das Reich habe schon seinen Erben, und
starb in bitterem Grimm. An demselben Tage bestieg Tšao-
fa-moṅkut
mit Beistand des ersten Ministers, welcher die Aufleh-
nung des Prätendenten mit mächtiger Hand erdrückte, unter dem
Namen Somdet-phra-paramendr-maha-moṅkut den siamesischen
Königsthron.


Der niederländische Handel blühte noch zu Anfang des 18. Jahr-
hunderts, erlitt jedoch 1706 eine Störung, von der er sich nicht wieder
erholte. Von seinem früheren Glanz sind die Ruinen der hollän-
dischen Factorei bei Paklat wohl die einzigen Spuren. Die portu-
giesische Colonie überlebte dagegen den Fall von Ayutia und mehrte
sich durch Heirathen mit den Landestöchtern. Die meisten sind
Halb-Siamesen, die neben dem Siamesischen wohl die Sprache
ihres Mutterlandes verstehen, aber siamesisch denken und leben;
stehen sie doch seit Jahrhunderten unter dem Landesgesetz. Lange
war die Verbindung mit Portugal, selbst mit Goa und Macao, wohl
[246]Englische Gesandtschaft unter Crawfurd. XXI.
ganz unterbrochen; nur die katholische Mission hielt die Gemeinde
zusammen. Phendin-klaṅ erlaubte der portugiesischen Regierung
einen Consul in Baṅkok zu ernennen, ohne demselben irgend ein
Recht zu gewähren. — Der fremde Handel scheint in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz geruht zu haben; im Anfang des
19. fristete er unter despotischer Bedrückung ein elendes Dasein.
Der König hatte das Vorkaufsrecht; auf seinen Namen erstanden
die Grossen den besten Theil jeder Schiffsladung und machten da-
für die Preise, Niemand anders durfte auf die eingeführten Waaren
bieten. Ihre Ausfuhr mussten die Fremden von denselben Grossen
kaufen, welche die Landesproducte zu den niedrigsten Preisen er-
standen, aber von den Ausländern die höchsten erpressten.


1822 schickte der englische General-Gouverneur von Ost-
Indien
einen Agenten nach Baṅkok, der persönlich ganz glimpflich,
in seiner amtlichen Eigenschaft aber mit gesuchter Grobheit be-
handelt wurde. Der Empfang war elend, die angewiesene Woh-
nung ein Schuppen ohne Licht und Luft, zu dem man von unten
durch eine Fallthür oder durchs Fenster auf Leitern hinanstieg.
Damals regierte noch der schwache Phendin-klaṅ unter Vormund-
schaft seines illegitimen Sohnes, der 1825 als Phra-tšao-phrasat-
thoṅ
den Thron bestieg und erst 1851 das Reich dem recht-
mässigen Erben hinterlassen musste. — Mr. Crawfurd und seine
Begleiter sollten als Gefangene behandelt werden bis zur Audienz.
die man willkürlich verzögerte. Als Dolmetscher und Vermittler
dienten Malayen und andere einflussreiche Moslem, die aus den
Bedrückungen des Handels Gewinn zogen; Mr. Crawfurd’s eigene
Dolmetscher wurden nicht einmal zur Audienz beim Prinzen zu-
gelassen, die Engländer hatten Mühe, sich der Grobheiten jener
Malayen und untergeordneter Beamten zu erwehren. Ueber die
feierliche Audienz wurde lange unterhandelt und jedes Pünctchen
festgestellt; die Siamesen argwöhnten, Mr. Crawfurd wolle den
König dabei brusquiren. Mit Gepränge wurden die Briten grade
nicht zum König geführt; vom Landungsplatz bis zum Thor des
Palastes trug man sie in Netz-Hängematten, an die sie sich krampf-
haft festklammerten; ihre Wache und Dienerschaft blieb ausser-
halb des Thores. Dann nahm man ihnen die Degen ab; ohne
Schuhe mussten sie durch die weiten Höfe wandern. Der schmutzige
Pomp der dort aufgestellten Garden scheint noch toller gewesen
zu sein, als 1862. — Die Audienz glich in der Anordnung den
[247]XXI. Crawfurds Erfolge.
späteren; nur mussten die Engländer auf dem Teppich am Boden
sitzen und dreimal grüssend mit erhobenen Händen die Stirn be-
rühren. Der König that herkömmliche Fragen und schloss mit der
Aeusserung, er freue sich einen Gesandten des General-Gouverneurs
zu sehen; dem Phra-klaṅ möge derselbe seine Anträge machen; Siam
brauche vor Allem Feuerwaffen. — Während der Audienz hatte es
geregnet; nachher wurden die Engländer zwei Stunden lang in den
weitläufigen Strassen und Plätzen der königlichen Stadt, deren
Herrlichkeiten sie bewundern sollten, ohne Schuhe durch Pfützen
und über glühende Steinplatten herumgezerrt.


Crawfurd’s Anträge gingen auf freien Handelsverkehr und
Ermässigung der Zölle. Anfangs wollte man ihm gar keine schrift-
lichen Zusagen geben, sondern den General-Gouverneur nur brief-
lich auf die mündlichen Verabredungen mit seinem Agenten ver-
weisen. Dieser erwirkte endlich ein Schreiben des Zolldirectors,
das bindende Kraft haben sollte: alle englischen Schiffe müssten in
Paknam visitirt werden und ihre Geschütze und Waffen ausliefern;
dann würde der Zolldirector in Baṅkok die Geschäfte der fremden
Kaufleute fördern; die Zölle sollten nicht erhöht werden. In der
portugiesischen Uebersetzung stand von der Vermittelung des Zoll-
directors kein Wort; nach ihr schien der freie Verkehr wirklich
zugestanden. — Mündlich hatte der Phra-klaṅ zwar nicht diesen
Punct, wohl aber die Ermässigung der Einfuhrzölle von 8 auf 6
Procent versprochen, welche zwei Jahre vorher einem portugie-
sischen Agenten gewährt wurde. Seitdem war aber kein portu-
giesisches Schiff erschienen und der Phra-klaṅ steifte sich lange
darauf, dass für englische die Ermässigung nur eintreten solle,
wenn jährlich fünf Schiffe kämen. In jenem Schreiben stand kein
Wort davon. — Practische Folgen hatte die Sendung durchaus
nicht; der Phra-klaṅ, welcher die Verhandlungen leitete, zog
allzugrossen Vortheil aus den herkömmlichen Bedrückungen. Auf
consularische Vertretung zu dringen trug Crawfurd Bedenken we-
gen der Misshelligkeiten, die aus der Behandlung eines Repräsen-
tanten der englischen Regierung erwachsen könnten: ein portugie-
sischer Consul, den die Siamesen nach einem 1820 getroffenen Ab-
kommen als Vorsteher der angesiedelten Gemeinde duldeten, genoss
gar kein Ansehn und musste sich Alles bieten lassen.


Zu einer schriftlichen Erwiederung an den General-Gou-
verneur liess der König sich nicht herab; der Phra-klaṅ wollte
[248]Capitän Burney. Mr. Edmund Roberts. XXI.
demselben antworten, was Mr. Crawfurd als ungehörig ablehnte.
Ein Schreiben des zweiten oder stellvertretenden Phra-klaṅ an
den Secretär des General-Gouverneurs wurde dagegen angenommen.
Es constatirte einfach den Empfang des englischen Briefes und der
dargereichten Geschenke, — »offerings«, sagt die englische Ueber-
setzung, wahrscheinlich steht im Siamesischen »Tribut«; dann er-
wähnt es die von dem Agenten geäusserten Wünsche und Bitten,
über die er mit dem Zolldirector verhandeln solle, und giebt eine
Liste der Gegengeschenke.


Bald nach der Thronbesteigung des Königs Phrasat-thoṅ
kam 1826 Capitän Burney nach Baṅkok. Der Hauptzweck seiner
Sendung war politisch; während der Verwickelungen mit Birma
hatten die Siamesen das Gebiet des den Engländern befreundeten
Königs von Queda besetzt; man wollte ein Bündniss derselben mit
den Birmanen abwenden und sich wo möglich ihren Beistand
sichern. In allen Hauptpuncten abgewiesen schloss Capitän Burney
doch ein Abkommen in vierzehn Artikeln, von denen sieben rein
politischen Inhalts den verbannten König von Queda, die Aus-
lieferung von Flüchtigen, die Stellung malayischer Staaten, Grenz-
bestimmungen und dergleichen betrafen. Die anderen Artikel
verbürgten gegenseitigen Schutz für Schiffbrüchige, sichere Beför-
derung von Briefen und freien Handelsverkehr. Letzteres Zuge-
ständniss wurde illusorisch durch die den Bezirksgouverneuren
anheimgegebene Entscheidung, ob auch Waare genug zum Export
vorhanden wäre. Ferner bestimmte der Vertrag, dass Briten in
Siam unter dem siamesischen Gesetze leben sollten, dass die Lan-
desbehörden sie im Bauen und Miethen von Häusern und Kaufläden
beschränken dürften. Die auch in den angefügten Handelsbestim-
mungen versprochene Befreiung des Verkehrs blieb ein leeres
Wort; die englischen Schiffe wurden zudem noch mit übermässigen
Hafenabgaben gedrückt.


Am 20. März 1833 unterzeichnete Mr. Edmund Roberts in
Baṅkok für die Vereinigten Staaten einen Freundschafts- und Han-
delsvertrag in zehn Artikeln. Danach sollte ewiger Frieden und
Freundschaft herrschen und freier Handelsverkehr zwischen Sia-
mesen und Americanern erlaubt sein, ausser für die Einfuhr von
Opium und Kriegsbedarf und die Ausfuhr von Reis; die Schiff-
brüchigen sollten geschützt werden, ebenso Americaner, die von
Piraten nach Siam geschleppt würden; americanische Schuldner
[249]XXI. Sir James Brooke. Mr. Ballestier.
sollten auch im Falle der Insolvenz losgelassen werden, wenn sie
ihren ganzen Besitz dem Gläubiger cedirten; im Uebrigen sollten
Americaner in Siam unter dem Landesgesetz stehen; sie sollten die-
selben Hafengelder zahlen wie die Briten, aber jede denselben
künftig zu gewährende Begünstigung ebenfalls geniessen, auch einen
Consul ernennen dürfen, wenn irgend ein anderer als der portugie-
sische zugelassen würde. — Dieser Vertrag wurde eben so wenig
gehalten, wie der englische. Wo das Volk jedem willkürlichen
Geheiss des Despoten gehorcht, ist alle Handelsfreiheit illusorisch,
bis die Machthaber selbst ihren Vortheil darin finden: das geheime
Verbot, von einem Schiffe zu kaufen, lieferte jedesmal dessen La-
dung in die Hände der Grossen.60) Zudem drückte König Phrasat-
thoṅ
viele Producte mit schweren Abgaben und verpachtete die
wichtigsten Zweige des Handels an Monopolisten. Man hinderte
die Fremden, siamesische oder chinesische Fahrzeuge zu miethen
und vereitelte jede Bemühung, von siamesischen Schuldnern Geld
einzutreiben.


Als im August 1850 Sir James Brooke als Gesandter der
Königin Victoria mit zwei Kriegsdampfern vor der Mündung des
Menam erschien, war König Phrasat-thoṅ schon krank und für
die Thronfolge zu besorgt, um an Anderes zu denken; der eng-
lische Gesandte wurde von vornherein fast feindselig behandelt und
in allen Puncten abgewiesen. Am 28. September brach er die Ver-
handlungen ab und schied unter dem Eindruck, dass in Siam auf
friedlichem Wege kein Verhältniss anzubahnen sei. — Eben so
grob wurde Mr. Ballestier abgefertigt, der gleich darauf, im Octo-
ber 1850 mit americanischen Kriegsschiffen nach Baṅkok kam.


Der Thronwechsel im April 1851 änderte mit einem Schlage
die Stellung der Fremden in Siam. Der neue König stand im ge-
reiften Mannesalter; in langjähriger Beschäftigung mit europäischen
Sprachen und Wissenschaften und dem vertrauten Umgang der
Missionare hatte er nicht nur die Fremden achten gelernt, sondern
auch zeitig begriffen, welchen Vortheil ihm ihre Gemeinschaft brin-
gen möchte. Sein erster Minister Phra-kalahum theilte zwar nicht
des Königs leidenschaftlichen Hang zu gelehrter Aufklärung, er-
[250]Sir John Bowring. XXI.
kannte aber mit hellem Blick, dass der Handel durch Befreiung
von Monopolen und Sicherung auf fester gesetzlicher Basis zum
Vortheil aller Betheiligten gedeihen und wachsen müsse. Zu-
dem gestaltete sich damals das Verhältniss zum Auslande wesent-
lich anders: England rückte durch seine hinterindischen Erwer-
bungen 1852 und 1853 bis an die Westgrenze des siamesischen
Reiches vor und eignete sich Landstriche an, die einst dazu ge-
hört hatten.


So wurde denn Sir John Bowring, der 1855 als Gesandter
der Königin Victoria nach Baṅkok ging, nicht nur mit allen dem
Botschafter einer Grossmacht gebührenden Ehren, sondern vom
König persönlich mit herzlicher Freundschaft behandelt. Bei der
feierlichen Audienz erregte eine einzige Frage Anstoss: die Briten
sollten trotz der Gala ihre Degen ablegen, da das Waffentragen in
des Königs Gegenwart in Siam ungesetzlich sei. Sir John Bowring
berief sich jedoch auf die Botschafter Ludwigs XIV. und siegte
auch in diesem Punct. — Bei den Vertragsberathungen trat der
energische Kalahum, obgleich vieles Neue und Unerhörte verlangt
wurde, wie es scheint aus Ueberzeugung auf des Gesandten Seite
und brach, unterstützt vom Prinzen Khroma-luaṅ, mit eiserner
Faust den Widerstand der mächtigsten Grossen. Am 18. April 1855
wurde in Baṅkok ein Vertrag unterzeichnet, welcher den Engländern
vollen Schutz und freien Handelsverkehr im ganzen Reiche, die
consularische Vertretung und Gerichtsbarkeit, die Erlaubniss, im
Gebiete von Baṅkok Grundstücke zu kaufen, Häuser und Kirchen
zu bauen, und mit Pässen ihrer Consuln im ganzen Lande zu reisen
gewährte. Die Hafengebühren wurden abgeschafft und ein mässiger
Tarif der Ein- und Ausfuhrsteuern festgestellt. Die Clausel der
meistbegünstigten Nation sicherte den Briten alle künftig in anderen
Verträgen zu gewährenden Rechte. — Mr. Parkes, der im Frühjahr
1856 den ratificirten Vertrag nach Baṅkok brachte, bearbeitete mit
den siamesischen Commissaren noch einige Erklärungen und Zusätze,
welche demselben mit bindender Kraft angefügt wurden.


Nach dem Muster dieses englischen schlossen in den folgen-
den Jahren die Vertreter der anderen Seemächte ohne Schwierigkeit
ihre Verträge. König Maha-moṅkut und sein kluger Minister
suchten die Freundschaft der Fremden und begriffen den Vortheil
vertragsmässiger Beziehungen zu möglichst vielen civilisirten Staaten.
Sass doch Siam nach der Mediatisirung von Birma im Westen und
[251]XXI. Arkona auf der Rhede von Paknam.
der Eroberung von Cochinchina im Osten wie eingekeilt zwischen
den beiden Mächten, die ihren eigenen Erwerbungen immer so
schöne Namen geben.


Als Seiner Majestät Schiff Arkona auf der Rhede von Paknam
ankerte, war das für die preussische Gesandtschaft bestimmte Ge-
bäude noch von französischen Militärs bewohnt. Der englische
Consul Sir Robert Schomburgk stellte dem Gesandten sofort sein
Haus zur Verfügung, falls Derselbe angesichts des Vorgefallenen
das königliche Gebäude nicht annehmen wollte; Graf Eulenburg
zog aber vor zu warten, obwohl die Bewohner nicht sogleich An-
stalt zur Abreise machten und nach ihrer Entfernung einige Tage
zur wohnlichen Herstellung des Hauses erforderlich waren. — Herr
Pieschel, Herr von Richthofen und der Kaufmann Herr Markwald
fuhren auf die Nachricht vom Eintreffen der Arkona mit dem
Regierungsdampfer Blitz sofort auf die Rhede hinaus, begleitet vom
achtzehnjährigen Sohne des Prinzen Khroma-luaṅ und einem Be-
amten der Abtheilung des Auswärtigen. Letzterer überreichte auf
der Arkona in goldener Schale ein Schreiben des Phra-klaṅ, welches
die baldige Rückkehr des Königs ankündete und beschleunigte
Anstalten für den Empfang des Gesandten versprach. Die Ueber-
siedelung wurde auf den 21. December anberaumt. Der Aufenthalt
auf der Rhede war heiss und blendend: ringsum ein endloser Wasser-
spiegel, nur bei klarster Luft dämmerte am nördlichen Horizont ein
Streifchen Land auf. Die glatte Fläche warf brennende Strahlen
zurück, auf das Deck der Arkona lagerte sich die träge Stille des
tropischen Tages. Die Post nach der Heimath und die Sichtung
des Gepäckes gaben vollauf zu thun: Elbe sollte auf dem kürzesten
Wege nach Deutschland zurückkehren und alles Ueberflüssige mit-
nehmen. Am Abend des 19. December brachte eine Lorcha den
jungen Elephanten heraus, den Sir Robert Schomburgk für Ihre
Königliche Hoheit die Frau Kronprinzessin von Preussen bestimmte,
mit ihm einen siamesischen Eber, der in Baṅkok sein Spielgefährte
war. Auf der Elbe fühlte sich der lustige Elephant bald zu Hause
und wurde der Liebling der ganzen Mannschaft.


Die Lorcha, welche das Gepäck der Gesandtschaft nach
Baṅkok führen sollte, trieb schon seit dem Mittag des 20. December
[252]Fahrt auf dem Menam. XXI.
auf der Rhede, ohne Arkona erreichen zu können: kein Lüftchen
regte sich. Am Morgen des 21. kam ein kleiner Flussdampfer des
Königs, Little Eastern, mit einem Halbbruder des Phra-klaṅ und dem
Hafencapitän Mr. Bush, einem Engländer. Ein grösserer, schnellerer
Flussdampfer, der Volant, welchen der Kalahum dem Gesandten
schickte, kam etwas verspätet mit Herrn Pieschel und dem als Dol-
metscher engagirten Baptistenmissionar Herrn Smith an Bord. Auf
dem Volant schifften sich der Gesandte und sein Gefolge ein,
Little Eastern nahm die Seesoldaten, die Dienerschaft und das
Gepäck auf; gegen 12 Uhr Mittags dampfte Volant von der Thetis
salutirt auf die Flussmündung zu. Den Capitän des eleganten Schiffes,
Thomas A-tšua, einen gebornen Cochinchinesen, hatte der Kalahum
in London erziehen lassen; er sprach geläufig englisch und trug
neben den siamesischen Kleidungsstücken Schuhe, Strümpfe und eine
Marinemütze, hatte aber, obwohl erst vor kurzem mit der siame-
sischen Gesandtschaft, die er als Dolmetsch begleitete, aus Europa
heimgekehrt, schon wieder ziegelrothe Lippen vom Betelkauen. —
Des Phra-klaṅ Halbbruder trug einen goldenen Gürtel mit edelstein-
funkelnder Schnalle und juwelenbesetzte Knöpfe an seinen Jacken,
die er während der Fahrt häufig wechselte. Sein zahlreiches Gefolge
kauerte am Boden mit goldenen Theekannen, Schalen und Betel-
büchsen, den Insignien seines Ranges.


Nach halbstündiger Fahrt passirte das Schiff die Barre,
Baṅkok’s natürliches Bollwerk, denn der Fluss ist tief genug für
die grössten Kriegsschiffe. Von der Barre bis zur Mündung des
Menam dauerte es wieder eine halbe Stunde; der Fluss hat eine
stattliche Breite, aber trübes lehmiges Wasser; seine Ufer sind
dicht und üppig bewachsen. — Gegen ein Uhr landete Graf Eulen-
burg
in Paknam, wo der Phra-klaṅ ihn empfing; diesmal strahlte
sein Anzug von Juwelen, aber Waden und Füsse waren nackt.
Als der Volant anlegte, wurde auf einem Flaggenmast am Ufer die
preussische Flagge gehisst; die im Waldesdickicht versteckten Forts
feuerten den Salut von 21 Schüssen. In einer nach allen Seiten offe-
nen Halle war ein opulentes Frühstück nach englischer Weise ange-
richtet: Suppe von Vogelnestern, feine Ragouts, Hühner und Schwei-
nebraten, Kuchen und Früchte, dazu Bier und französischer Rothwein.
Alles Geschirr war europäisch. Der Phra-klaṅ liess nicht ab sich
mit gesuchter Bescheidenheit wegen des unwürdigen Empfanges zu
entschuldigen: Siam sei ein armes Land, das nichts zu bieten vermöge.


[253]XXI. Ankunft in Baṅkok.

Die weitere Fahrt war anmuthig wie jede tropische Fluss-
reise. Zwar spähte man vergebens nach den erwarteten Crocodilen
und Affen; doch belebten Luft und Wasser und das Uferdickicht
dichte Schaaren von Reihern und Raubvögeln; hier und da er-
glänzte das bunte Gefieder eines Eisvogels oder Papageien. — Nah
der Flussmündung steht ein befestigter Tempel mitten im Strom;
das rechte Ufer säumt, im Dickicht versteckt, bis Unter-Paklat
hinauf eine lange Reihe alter Schanzen, die nur theilweise armirt
sind. Oberhalb dieses Fleckens macht das Strombett einen grossen
Umweg, der durch enge Flussarme abgeschnitten wird: durch diese
gelangen Ruderboote in kürzerer Zeit von Unter- nach Ober-
Paklat, als die schnellsten Dampfer auf dem Strom. Hellgrüne
Zuckerpflanzungen und heimliche Dörfchen liegen im Uferdickicht
ausgestreut; meist stehen die Häuser auf hohen Pfählen am Wasser,
zu welchem Leitern hinabführen. Tausend Boote furchen pfeil-
schnell den Strom, Fischerbarken und Dschunken treiben Ebbe und
Fluth benutzend auf- oder abwärts.


Das Abendlicht malte die reichen Pflanzengebilde in schär-
feren Gruppen; mächtige Tempeldächer, schlanke Spitzen und
Thürmchen und gefiederte Palmenwipfel zeichneten in der kurzen
Dämmerung vielversprechend die zierlichsten Silhouetten am hell-
glänzenden Himmel. Leider dunkelte es schon, als der Volant Baṅ-
kok
erreichte. Bunte Laternen und Pechfeuer markirten die langen
Reihen der schwimmenden Häuser; am Ufer standen hohe Stangen
mit Leuchten zu Verscheuchung der bösen Geister. Bald nach
sechs ankerte der Volant vor dem Gesandtschaftshause; an die
Landungsbrücke konnte der Ebbe wegen nicht angelegt werden,
hier war unter Ehrenpforten aus Palmen und Pisang die siame-
sische Dienerschaft mit Fackeln aufgestellt. — Prinz Khroma-luaṅ
holte selbst in seinem Boot den Gesandten vom Dampfer ab. Bald
darauf sassen wir alle an einer reichbesetzten Tafel, die der
Phra-klaṅ im Gesandtschaftshause hatte decken lassen.


Baṅkok, die Stadt der wilden Oelbäume, oder, wie sie in
den königlichen Archiven heisst, des königlichen unüberwindlichen
schönen Erzengels, ist einer der merkwürdigsten Plätze des Erden-
rundes. Man denke sich einen mächtigen, in starken Windungen
[254]Baṅkok. XXI.
strömenden Fluss mit vielen Seitenarmen und Canälen, die Ufer
nur an einigen Stellen wenige Fuss über dem höchsten Wasser-
stande, — besser einen grossen von vielen Rinnsalen durch-
schnittenen Sumpf mit einzelnen trockenen Stellen, wo feste Ge-
bäude stehen; denn der grösste Theil von Baṅkok liegt unter dem
Niveau des Hochwassers und ist zur Regenzeit überschwemmt. Den
von Ringmauern umschlossenen Kern der Stadt mit den Palästen
der beiden Könige umfliesst der Menam im Halbkreis; dort stehen
lauter steinerne Gebäude auf trockenem Boden; der Grund ist wohl
theilweise aufgeschüttet. Südlich davon und am rechten gegen-
überliegenden Stromufer stehen in üppigen Gärten zerstreut ver-
einzelte Paläste und Tempel auf festen Fundamenten, und an den
sumpfigen Ufern der Wasserläufe auf hohe Pfähle gesetzt Reihen
hölzerner Wohnhäuser, die meist nur zur trockenen Zeit von ihren
Gärten zugänglich sind. Im Strom aber und seinen breiteren
Seitenarmen liegen, hier und da in doppelter Reihe, zwanzig Schritt
und weiter vom Ufer die schwimmenden Häuser an Pfähle gebun-
den, dazwischen Tausende malerischer Fahrzeuge, und im Strome
geankert grosse Schiffe, Dschunken und Dampfer. — Die Cholera
soll in Baṅkok erst nachgelassen haben, seit der König befahl, auf
dem Flusse zu bauen; die Zahl der schwimmenden Häuser geben
die Siamesen sicher viel zu hoch auf 200,000 an. Die Einwohner-
zahl ist wahrscheinlich 400,000; davon wären 80,000 Chinesen,
20,000 Birmanen, 15,000 Moslem aus Arabien, Persien und den
indischen Ländern. Christen sollen gegen 4000 in Baṅkok sein;
darunter 1400 cochinchinesische, 1300 portugiesischer Abkunft, 400
chinesische.


Compacte Häusermassen giebt es also fast nur in der Binnen-
stadt; ausserhalb derselben liegen die meisten Gebäude an den
Wasserläufen, zwischen üppigen Gärten, Feldern, im wuchernden
Dickicht. Ausser den Tempeln und Palästen sind alle Gebäude aus
Holz und Bambus, mit Palmblättern gedeckt. Rechte Winkel sieht
man trotz der sorgsamen Fügung selten; denn Ebbe und Fluth
unterwühlen in beständigem Wechsel der Strömung die stützenden
Pfähle, die aus der senkrechten Lage weichend ihre Last oft selt-
sam auseinanderrecken. Diese Hütten mit den vielgestaltigen Booten
im Schattendunkel ihres Pfahlrostes und die mächtigen ausdrucks-
vollen Formen der Pflanzenwelt gruppiren sich überall zu bunten
malerischen Bildern. Schwimmende Häuser giebt es nur im Strom
[255]XXI. Bazar und schwimmende Häuser.
und den breiteren Seitenarmen; hier concentrirt sich alles lebendige
Treiben. Aber wenige Ruderschläge führen das Boot aus dem
dichten Gewühl in die Tiefe des Tropenwaldes, der seine Wipfel
zusammenwölbt über allen schmaleren Rinnsalen. Dann kommt
wieder eine Lichtung, wo bunte Tempel in das Grün gebettet lie-
gen; man blickt vom Boot in die offenen Hallen, wo Bonzen ihre
Zöglinge unterrichten. Goldene Giebel mit geschwungenen Hörnern
und Adlerflügeln, spitze glänzende Thürmchen spiegeln sich in der
leise gleitenden Fluth. — So ist wie gesagt Baṅkok ein dichter Wald-
sumpf; jede Hütte, jeder Palast, jeder Tempel liegt im Grünen. Selbst
in den belebteren Wassergassen drängen sich Bambus, Areca, Cocos,
Borassus, Urania speciosa, Pandanus, Ravenala, Nipa, Musaceen,
Artocarpeen und Ficus in dichten Massen an die Ufer, oder schirmen
die Dächer der malerischen Hütten.


Feste Brücken mit Geländer sind selten; über die kleineren
Rinnsale führt hier und da eine einzelne schmale Planke, nur für
Schwindelfreie gangbar, mit beiden Enden auf hohem Gepfähle
ruhend, zu welchem man mit akrobatischer Gewandtheit über ein
steiles Brett ohne Lehne hinanrennt. Trockenen Fusses kann man
ausserhalb der Ringmauer nur in einer einzigen Strasse eine be-
trächtliche Strecke, fast eine halbe Meile wandern; sie führt aus der
Gegend, wo die Fremden wohnen, nach der Binnenstadt, ist aber
grossentheils so eng, dass kaum zwei Menschen nebeneinander Platz
haben, und, wenn auch stellenweise mit Backsteinen gepflastert,
sehr schmutzig und übelriechend. In ihrer ganzen Länge bildet
diese Gasse einen Bazar; die unreinlichen Hütten sind nach vorn
gleichsam aufgeklappt und entfalten auf der geneigten Fläche des
Ladens eine Fülle von Esswaaren, — Früchte, Gemüse, getrocknete
Fische, — daneben Haufen der Cowrie-Muschel, welche das Klein-
geld der Siamesen bildet. Da giebt es auch Garküchen, wo die
Speisen vor des Gastes Augen nicht sehr appetitlich bereitet wer-
den. Den grössten Glanz entfalten die Branntweinbuden. — In
einigen Läden standen europäische Baumwollenzeuge, Glas- und
Quincaillerie-Waaren zu Verkauf. Dieser Bazar, der einzige auf
trockenem Boden in Baṅkok, gleicht einem elenden Krämerviertel
und müsste vom einheimischen Handel einen geringen Begriff geben,
wenn nicht die schwimmenden Häuser, da aller Transport zu
Wasser geschieht, die bequemsten Tauschplätze für Handel und
Wandel wären. Anziehendes bieten auch diese kaum, denn Siam
[256]Das Leben auf dem Fluss. XXI.
hat wenig Kunstfleiss: in einigen standen Hirschgeweihe, Tiger-,
Leoparden-, Otterfelle, in anderen allerlei chinesische Geräthe,
Schirme, Laternen, Gongs, grosse Opferbecken zum Tempelgebrauch,
englische Baumwollenzeuge, Kurzwaaren, alte Musketen u. s. w.
zum Verkauf.


Die meisten schwimmenden Häuser sind reinlich; der Fluss
führt allen Unrath fort und lockt zur Wäsche. Auf Bambus-
flössen ruhend bieten sie den Vortheil des leichtesten Ortswechsels
ohne Umzug. Pfähle stehen reihenweise im Hauptstrom und den
Seitenarmen; Ebbe und Fluth besorgen die Fortbewegung, ein bug-
sirendes Boot die Steuerung. Die meisten Chinesen und viele reiche
Siamesen wohnen in schwimmenden Häusern. Wenn Morgens die
Läden geöffnet werden, fahren Hunderte kleiner Boote die Reihen
entlang: in der Mitte sitzt vor zwei grossen Gefässen ein kahler
glatter Bonze in faltigem Gewand, ein nackter Bube führt hinter
ihm das Ruder. Er fährt von Haus zu Haus und erhält ohne Bitte
und Dank die reichsten Spenden. 20,000 Bettelmönche sollen in
Baṅkok von solchen Almosen leben.


Ausser den schwimmenden Häusern giebt es in Baṅkok viel
schwimmende Kramläden auf Booten, die Früchte, Gemüse, Schweine-
fleisch, getrocknete Fische und andere Esswaaren, auch fremde und
einheimische Spirituosen führen und die Wassergassen malerisch
beleben; besonders hübsch sind die Obstboote mit ihrer wunder-
baren Fülle von Tropenfrüchten. Mit der Fluth können diese
schwimmenden Krämer fast zu allen Häusern gelangen; im ersten
Viertel des Mondes steigt sie selbst in der trockenen Jahreszeit so
hoch, dass auch die aufgeschütteten mit Backstein gepflasterten
Wege überschwemmt werden. Dann steht das Wasser vierzehn
Fuss höher als bei Ebbe; — danach ermesse man die Gewalt der
Strömung. — Um dem Bedürfniss der Fremden nach körperlicher
Bewegung zu genügen, liess der König damals einen Reitweg von
seinem Palast nach der von ihnen bewohnten Gegend bauen.


Den westlichen Theil der von einer Zinnenmauer umschlosse-
nen Binnenstadt bedecken die Paläste der beiden Könige mit ihren
geräumigen Höfen und Gärten, Harems, prächtigen Tempeln, Hallen,
Theatern, Schatz- und Vorrathshäusern, Kasernen, Elephanten-
ställen und ganzen Stadtvierteln für die königlichen Sclaven, Tra-
banten, Bootsleute, Handwerker. Jede dieser Palaststädte umgiebt
eine Mauer. An die Südseite derjenigen des ersten Königs grenzt
[257]XXI. Das Gesandtschaftshaus.
die grösste Tempelanlage von Baṅkok, Wat-po, deren Gärten nur
die Stadtmauer vom Flusse scheidet. Ihr gegenüber liegt am rechten
Stromufer der Tempel von Wat-džeṅ, dessen hohe im Fluss wieder-
gespiegelte Pyramide mit den gegenüberliegenden Prachtbauten von
Wat-po und dem Königspalast den landschaftlichen Glanzpunct
von Baṅkok bildet. Unterhalb Wat-džeṅ mündet auf der rechten
Seite ein starker Arm in den Menam, welcher nordwestlich den
Garten von Wat Kalaya, einem der vornehmsten Tempel begrenzt;
und unterhalb dieses Grundstückes steht, durch ein schmales Rinn-
sal davon getrennt, das Gebäude, welches die preussische Gesandt-
schaft bezog. Von den viel weiter unterhalb am linken Stromufer
gelegenen Consulaten und Häusern der fremden Kaufleute recht
entfernt, befanden wir uns doch im schönsten und merkwürdigsten
Theile der Stadt und in bequemer Nähe der siamesischen Grossen,
mit welchen der Vertrag berathen wurde.


Das Gesandtschaftshaus bestand aus einem auf den Fluss
sehenden Hauptgebäude, an dessen Rückseite zwei lange Neben-
flügel mit einem niedrigen Querbau einen geräumigen Hof um-
schlossen. Das Erdgeschoss — Keller giebt es in Baṅkok nicht —
war dunkel und feucht, von Schlangen, Scorpionen und ähnlichem
Gethier der Finsterniss bewohnt; es lag voll Holz und zerbrochener
Geräthe, bei hoher Fluth stieg das Wasser hinein. Massiv aus
Stein gebaut bildete es nur den Sockel der bewohnbaren Stock-
werke, deren das Hauptgebäude zwei, die Nebenflügel eines hatten.
Nah dem Fluss begrenzte das Grundstück eine Gartenmauer: vom
Landungsplatz trat man durch die Eingangsthür in ein gartenartiges
Höfchen, von wo eine doppelte Holztreppe auf den vortretenden
Altan des Hauptgebäudes führte. Auf diesen öffnete sich der
Speisesaal, der den grössten Theil dieses Geschosses einnahm;
darüber lagen des Gesandten Schlaf- und Arbeitsräume und Gast-
zimmer für Commodore Sundewall und Capitän Jachmann. Jeder
Nebenflügel enthielt eine lange Reihe von Zimmern mit dem Zu-
gang von einer breiten schattigen Veranda, die auf den Hof sah.
Die Enden der beiden Veranden verband eine Galerie des niedrigen
Quergebäudes, wo die zur Gesandtschaft commandirten Seesoldaten
hausten. Die Matrosen, die nur vorübergehend nach Baṅkok kamen,
pflegten auf der Veranda zu schlafen, der angenehmsten Stätte in
den lauen Nächten. Die darauf mündenden von den Begleitern
des Gesandten bewohnten luftigen Zimmer hatten Fenster mit ver-
IV. 17
[258]Haushaltung. XXI.
schliessbaren Läden, — denn Glasfenster sind in den Tropen unge-
bräuchlich, in den besten Häusern giebt es nur Jalousieen. In
grösserer Höhe waren noch unverschliessbare Luken angebracht,
welche die Luft Tag und Nacht einströmen liessen. Die Decke
bildete der schräge Dachstuhl, in dessen Sparren viel kleine giftige
Schlänglein sehr graziös herumspazierten; sie wohnten in den
Mauerritzen, steckten oft neugierig züngelnd den breiten Kopf daraus
hervor und schienen ihre Stubengenossen wohlgefällig zu be-
trachten. Ihre Nähe wäre bei Nacht nicht grade beruhigend ge-
wesen, wenn nicht dichte Mosquito-Netze ihr Herabfallen auf die
Betten unmöglich machten.


Die siamesische Regierung versah uns nicht nur mit allem
Haus-, Küchen- und Tafelgeräth, mit Silber, Tisch- und Bettwäsche,
sondern wollte auch für die Bewirthung sorgen; die gelieferten
Nahrungsmittel waren aber nur theilweise brauchbar. Ein portu-
giesischer Comprador, den der Gesandte in Dienst nahm, schaffte
alles Uebrige zu mässigen Preisen. Die grösste Schwierigkeit machte,
wie in allen buddistischen Ländern, das Rindfleisch; dagegen gab
es Hirsche, gute Gemüse, Fische und Seethiere, Geflügel, Eier und
herrliche Tropenfrüchte in unbezwingbarer Menge.


Von siamesischen Dienern wimmelte das Haus; die meisten
waren Bootleute, Hörige des Königs zum Dienst der Gesandtschaft
commandirt. Neben vielen anderen lagen drei sogenannte Staats-
boote, lange schmale Fahrzeuge mit einer Kajüte in der Mitte, be-
ständig zur Verfügung am Landungsplatz, zu jedem derselben ge-
hörten ausser den Steuerern zwölf Ruderer; im Ganzen hatten wir
63 Bootleute, sämmtlich mit rothen Kattunjacken, der königlichen
Livrée bekleidet. Ausserdem stellte die Regierung einen Haushof-
meister, zwei Compradors, vier Köche und dreizehn Diener, die
etwas englisch verstanden, als »Interpreters«, so dass wir 83 Siame-
sen im Hause hatten. Die Hauptpersonen darunter waren portugie-
sischer Abkunft, sämmtliche im Hause selbst beschäftigte Diener
Christen, die nicht das Haar siamesisch schoren, sondern über den
ganzen Kopf wachsen liessen.


In Baṅkok waren bis auf Regierungsrath Wichura, der in
Java fieberkrank zurückblieb, und Herrn Jacob, der von Singapore
aus nach der Heimath reiste, alle Civilmitglieder der Expedition
versammelt. Commodore Sundewall, Capitän Jachmann und viele
Officiere der Arkona und Thetis kamen häufig zum Besuch, — die
[259]XXI. Besuche.
Elbe segelte schon am 24. December nach Singapore. Der Boots-
verkehr mit der Rhede war so lebhaft, dass meist gegen funfzig
Matrosen und Seesoldaten auf den breiten Veranden hausten. Dort
wurden unzählige Cocosnüsse mit und ohne Arrac ausgetrunken; die
Seeleute schwelgten leichtsinnig in Tropengenüssen und hatten die
Folgen zu tragen. Chinesische, siamesische Diener oder einen un-
glücklichen Affen neckend, schmausend und Karten spielend pflegten
sie in bunten Gruppen unter dem schattigem Dach vor unseren
Zimmern zu lagern, eine lustige, oft lärmende Brüderschaft.


Am 22. December schickte der Phra-klaṅ früh Morgens einen
seiner vielen Brüder, nach dem Befinden des Gesandten zu fragen,
und erschien gegen Mittag selbst in ähnlicher Tracht wie Tages
zuvor. Er bat Graf Eulenburg, der ihm den Zweck seiner Sendung
schon amtlich angezeigt hatte, seine Ankunft schriftlich den beiden
Königen zu melden, was noch denselben Tag geschah. Nachmittags
kamen vom Ersten Könige, dem Prinzen Khroma-luaṅ und dem
Phra-klan Körbe voll Orangen, Bananen, Cocosnüsse, auch Fleisch-
würste, Süssigkeiten und würzig duftende Blumenkränze, deren der
König nachher dem Gesandten fast täglich schickte. — Seine Absicht,
den Prinzen Khroma-luaṅ und den ersten Minister oder Kalahum
zu besuchen musste Graf Eulenburg für diesen Tag aufgeben, da
der als Dolmetsch fungirende Mr. Smith von den sonntäglichen
Pflichten seines geistlichen Berufes in Anspruch genommen wurde;
der Gesandte entschuldigte sich deshalb schriftlich in englischer
Sprache. Der nahe wohnende Prinz fuhr darauf sofort in seinem
Boote vor und liess um Verzeihung bitten, dass er die Treppen
nicht steigen könne; worauf Graf Eulenburg hinabging und im Boote
ein langes Gespräch mit ihm hatte. Prinz Khroma-luaṅ schien
durch den Schlagfluss an geistigen Fähigkeiten nicht gelitten zu
haben; er sprach sehr lebendig und freundlich, bat den Gesandten
frei über ihn selbst und sein Haus zu verfügen und ja keinen
Wunsch zu verschweigen, äusserte auch die Hoffnung, für den
preussischen Vertrag, wie für alle früher geschlossenen, zum Be-
vollmächtigten ernannt zu werden. Den Attaché Grafen zu Eulen-
burg
entführte der Prinz zu einem Besuch beim Kalahum, dessen
Vorbereitungen zu seiner Geburtstagsfeier er sehn wollte.


Am 23. December fuhr der Gesandte mit dem Legationssecretär
und den Attachés nach des Prinzen schwimmendem Hause. Ueber
einer Thür der Vorhalle prangten die goldenen Initialen H. R. H.
17*
[260]Besuch beim Prinzen Khroma-luaṅ. XXI.
K. W.,61) und darüber ein Doctor-Diplom, das die Universität
Neu-Braunschweig ihm verlieh. Prinz Khroma-luaṅ trug ein roth
und schwarz gestreiftes europäisches Hemd, — ohne Jacke darü-
ber, — einen grün und schwarz gestreiften Saroṅ, goldenen Gürtel,
gelbe Strümpfe und europäische Schuhe. Nach der Begrüssung
führte er den Gesandten über einen gebrechlichen Plankensteg nach
seinem Palast am Ufer. In einer schmucklosen Halle sassen sie auf
einem Holzdivan nieder; am Boden lagen der Sohn des Prinzen und
viele Trabanten auf Knieen und Händen; auch sein dreizehnjähriges
Töchterchen war zugegen, ein niedliches Mädchen in reicher Klei-
dung mit schweren Goldspangen an Armen und Füssen. Sein jüng-
stes zweijähriges Kind, das der Prinz dem Gesandten zeigte, trug
ausser dem Goldschmuck keine Spur von Bekleidung. Der Palast,
ein winkliges halb verfallenes Gebäude mit kleinen Zimmern, stand
vollgepfropft mit europäischen Möbeln, chinesischem Porcelan und
japanischen Lackkästchen, einer Rumpelkammer ähnlicher als einer
fürstlichen Wohnung; sehenswerth war nur eine Sammlung goldener,
theils emaillirter Gefässe siamesischer Arbeit. Während diese be-
wundert wurden kam die Frau Prinzessin, eine unscheinbare ältliche
Dame, weder durch Schönheit noch durch ihre Tracht vor den
Frauen des Volkes ausgezeichnet, auf allen Vieren herein gekrochen
und blieb in dieser Stellung liegen, ohne dass der Gemahl sie be-
achtete. — Aus einer offenen Gartenhalle tönte Musik: da erschie-
nen acht Tänzerinnen mit safrangefärbtem Antlitz in prächtigem
Kostüm. Die beiden vornehmsten trugen reiche, spitz zulaufende
Goldkronen, die anderen phantastische, wie aus Blumen gewirkte
Diademe. Das eng am Halse schliessende Leibchen aus rothem
oder grünem Brocat fiel über die Hüften herab, über dem Armloch
sassen Schulterstücke in Gestalt eines kurzen breiten Hornes; der
eng gefaltete bis an die Knie reichende Saroṅ zeigte deutlich die
Formen der Schenkel, die Arm- und Fussgelenke schmückten gol-
dene Reifen und Spangen. Um die Hüften trugen alle Tänzerinnen
seidene Schärpen, bei einigen fiel von den Schultern ein mantelar-
tiges Tuch herab. — Das Orchester bildeten eine Metallharmonica
aus aufgehängten Glöckchen, eine Holzharmonica mit schwebend
aufgereihten Tasten, eine Kesselpauke, eine Trommel, die mit der
Hand und den Fingern geschlagen wurde, eine Flöte und Becken;
dazu klapperten noch mehrere Frauen zuweilen mit Stöcken. Die
[261]XXI. Besuch beim Kalahum.
Musik war lärmend, aber harmonisch; einige Frauen sangen Strophen
zum Tanze, die ein Vorsänger aus einem Buche vorsagte.


Die pantomimischen Tänze forderten langsam rythmische
Bewegung des Körpers, besonders der Hände und Finger, ohne
heftigen Affect, und waren bis auf gewisse Verrenkungen der
Elbogen und des Handgelenkes, deren Einübung schwierig genug
sein mag, recht hübsch. Die Füsse spielen dabei fast gar nicht
mit: die erste Dame tanzte auf einem Divan sitzend, die zweite
stehend, ohne vom Fleck zu weichen; dann führten ihrer zwei
eine Scene auf, bei welcher auch die Füsse, doch nur beiläufig,
mitwirkten.


Nun wollte Graf Eulenburg gehen, wurde aber dringend zu
einem Glase Wein gebeten. Im Laufe des Gespräches fragte er
den Prinzen, ob die Siamesen europäische Möbel und Geräthe erst
seit der näheren Berührung mit Fremden hätten, ob die Vornehmen
sich ihrer auch beim Essen bedienten; worauf Prinz Khroma-luaṅ
erwiederte, die Divans hätten schon die Moslem eingeführt, Stühle
aber erst die Europäer: die beiden Könige und er selbst sässen auch
beim Essen auf Stühlen, die anderen Grossen, selbst der Kalahum,
hätten das noch nicht gelernt.


Vom Prinzen fuhr Graf Eulenburg zum Kalahum, der ziem-
lich entfernt wohnte; es ging durch enge Rinnsale mit vielen Bretter-
stegen, die theilweise hochgehoben werden mussten um die Boote
durchzulassen. Am Eingang des Ministerhotels standen zwei
Wachtposten mit hölzernen Säbeln; dort empfing der Kalahum mit
zwei Söhnen und vier Enkeln — die sämmtlich ehrfurchtsvoll auf
dem Bauche lagen — den Gesandten, und führte ihn durch eine
Reihe luftiger Zimmer. Für den Geburtstag des Hausherrn waren
dort auf Tischen viele Porcelanvasen und andere Prachtstücke —
europäische und chinesische — aufgestellt, welche die Freunde
nach siamesischer Sitte zur Feier des Tages keineswegs schenkten,
sondern nur liehen. Die elegante Einrichtung war gut gehalten und
sauber. — Der Kalahum, damals 54 Jahre alt, hatte ein kluges
durchdringendes Auge und energische Züge; er trug ein weisses
europäisches Hemde, kurze Beinkleider und einen blauseidenen
Rock, doch weder Strümpfe noch Schuhe. Seine Söhne waren
der eine als Gesandter, der andere als Secretär der siamesichen
Gesandtschaft in Europa gewesen und erst kürzlich zurückgekehrt.
Mit ihren anmuthigen Kindern war auch ein vom Kalahum adop-
[262]Audienz beim Ersten König. XXI.
tirter sechsjähriger Sohn des Ersten Königs da, der lustig seine
grosse Cigarre rauchte. — Den Phra-klaṅ oder Minister des Aus-
wärtigen besuchte der Gesandte an demselben Tage; seine Einrich-
tung war weniger reich und geschmackvoll als die des Kalahum,
aber besser gehalten, als die des Khroma-luaṅ. Er erschöpfte
sich wieder in Freundschaftsbetheuerungen und Entschuldigungen
wegen der ungenügenden Aufnahme.


Vom Ersten König kam ein Schreiben in englischer Sprache:
ob Graf Eulenburg nur Vollmachten zum Abschluss des Vertrages,
oder auch ein Schreiben Seiner Majestät des Königs von Preussen
zu überreichen habe. Der Brief war schwarz gerandet und meldete
am Schluss, dass der König um seine »Royal queen consort«
trauere. — Der Zweite König liess dem Gesandten sagen, dass Un-
wohlsein ihn leider verhindere, denselben schriftlich oder persönlich
willkommen zu heissen. — Dieser diplomatische Schnupfen ist ein
stehendes Attribut der Zweiten Könige, welche dem regierenden
keinen Anlass zu Eifersucht geben dürfen; er währte damals bis
kurz vor des Gesandten Abreise.


Am 24. December Nachmittags fuhr Graf Eulenburg mit dem
Legationssecretär und den Attachés zur Privataudienz beim Ersten
König. Der Phra-klaṅ empfing ihn am Thor des Palastes; in einer
Halle wurde die übliche halbe Stunde gewartet. Unterdessen zogen
drei Compagnieen Soldaten vorbei, mit Percussionsgewehren, schwar-
zen, grünen und blauen Jacken, weissen Beinkleidern und nackten
Füssen; ein französiches Trompetensignal kündigte sie an.


Aus dem Wartesaal wurden der Gesandte und seine Begleiter
in den Hof des europäisch gebauten Wohnpalastes geführt. Auf
einem Seitenflügel steht »Royal Museum«, ferner »Protect this
museum« und »Respect this ordinance«. Zur Wohnung steigt eine
doppelte Freitreppe hinan. Der König empfing seine Gäste an der
Thür, reichte jedem die Hand, führte sie in ein weites Gemach
von hübschen Verhältnissen, liess sie neben sich an einem grossen
Tische Platz nehmen und schenkte aus einer auf vergoldetem Ge-
stell stehenden Flasche Jedem ein Glas Sherry ein. Nachher wurde
guter Caffee gereicht. — Den Boden des Zimmers deckte ein rother
Teppich, Wände und Plafond waren getäfelt; auf Tischen und in
offenen Schränken ringsum standen Planetarien, Globen, astrono-
mische und physikalische Instrumente. In der Vorhalle und hinter
unseren Stühlen krochen und lagen vornehme Beamten, Hofleute
[263]XXI. Die Königskinder.
und Trabanten herum; auf zwei Beinen bewegte sich nur eine
Schaar anmuthiger Kinder von vier bis zehn Jahren, des Königs
Sprossen. Damals waren es sechsundvierzig; mehrere wurden
wärend unserer Anwesenheit geboren. Im sechszehnten Jahre ver-
heirathet hatte der König, ehe er 1825 Priester wurde, zwei
Söhne, die nicht successionsfähig waren; erst 1851, nach der
Thronbesteigung durfte er wieder Frauen nehmen. — Es war eine
reizende lustige Kinderschaar, deren gesundes Aussehn und auf-
gewecktes Wesen von der besten Pflege und Behandlung zeugten.
Sie trugen kurze seidene Höschen, um den nackten Oberkörper,
Arme und Beine schwere goldene Ketten, Spangen und Reifen;
nur die grösseren hatten seidene Jäckchen und malerisch um die
Hüften geschlungen eine seidene Schärpe. Das Haar wird bei
Kindern an den Seiten und am Hinterkopf rasirt, der stehenblei-
benge Schopf in einen Knoten geschlungen und durch eine juwelen-
besetzte Nadel festgehalten; viele trugen ein Kränzchen weisser
duftender Blumen um diesen Schopf.


Der König schien seine Kinder sehr zu lieben; wo es nicht
Staatsactionen galt, begleitete ihn stets die volle Schaar. Maha-
moṅkut
selbst war etwa mittelgross, schlank gewachsen, von ziem-
lich dunkler Gesichtsfarbe, grossen Augen und klugem Ausdruck;
er trug bei dieser Audienz seidene Beinkleider, eine blauseidene
mit Goldborten besetzte Jacke, das Grosskreuz der Ehrenlegion
und einen anderen Ordensstern in Edelsteinen, eine schottische
Mütze und gelbe Schuhe; vom Knie bis zu den Knöcheln waren
die Beine nackt; den Gürtel zierte ein herrlicher Smaragd.


Der früheren Erlebnisse des Königs wurde schon gedacht:
während des sechsundzwanzigjährigen Priesterthumes lernte er
Sanskrit, Pali, die Sprachen der abhängigen Nachbarstaaten, Latei-
nisch, Englisch, beschäftigte sich eifrig mit allen Religionen und
philosophischen Systemen, die ihm jene Sprachen erschlossen, und
erwarb sich Kenntnisse in der Astronomie und Physik. Mit Leiden-
schaft Gelehrter und vielleicht der gelehrteste Buddist seiner Zeit
hatte er doch alle Fehler des vielwissenden Autodidacten; die Ge-
wöhnung der despotischen Macht und die Ueberlegenheit über
seine knechtische Umgebung übten merklichen Einfluss auf seinen
Charakter. Den sittlichen Kern des Buddismus, — dem er ehrlich
anhing, — suchte der König von abergläubischen Lehren zu be-
freien, die ihn zur Unkenntlichkeit entstellen, konnte sich aber
[264]König Maha-moṅkut. XXI.
von abergläubischen Gebräuchen nicht lossagen. — Die america-
nischen Missionare, von welchen Maha-moṅkut Englisch lernte,
hofften bei seinem fleissigen Bibelstudium und eifrigen Forschen
nach den Glaubenslehren ernstlich auf seine Bekehrung, wurden
aber derb zurechtgewiesen, als sie davon sprachen. Das Englische
kannte der König gut und schrieb es, wenn auch fehlerhaft und
ohne logische Satzfolge, ziemlich verständlich; doch konnte sein
zahnloser Mund die fremden Laute nicht deutlich articuliren, die
Worte polterten wie Kiesel heraus. Dazu kaute er beständig Betel.
Bei jener Audienz redete er meist siamesich, Herr Smith übersetzte
schnell und gewandt.


Der König überreichte zunächst jedem Gast in zierlichem
Couvert eine Visitenkarte mit seinem Namen Somdet Phra Para-
mendr Maha Moṅkut
, auf der Rückseite in seiner eigenen Hand-
schrift »on the 3877th day of reign, being the 24th December 1861«.
Er äusserte dann seine Freude über die Ankunft der Gesandtschaft,
die er seit einem Jahr erwartete, fragte nach der Zahl und Grösse
der Kriegsschiffe, dann sogleich, ob Preussen Colonieen besitze oder
zu erwerben denke. Des Gesandten Antwort, dass, sollte es auf
Gründung von Colonieen ausgehen, Preussen sein Auge schwerlich
auf tropische Gegenden richten würde, schien ihn zu trösten: »er
freue sich um so mehr, neue uneigennützige Freunde zu gewinnen,
als die alten eben schwierig würden.« Darauf verbreitete sich der
König über die Geschichte der Colonieen und zeigte dabei, so naiv
manche Aeusserung auch im Munde eines Monarchen klang, sowohl
historische Kenntnisse als eigenes Nachdenken über die künftige
Entwickelung des Weltverkehrs. »Zuerst wurden Schiffe gesendet
zu Erforschung fremder Welttheile, dann folgten andere, um Han-
del zu treiben. Dann liessen sich Kaufleute nieder, die entweder
von den Eingebornen befehdet wurden oder diese zu unterjochen
strebten; kurz, durch Schuld und Missverständniss auf beiden
Seiten entstanden Kriege. Immer weiter breiteten die Fremden
ihre Macht aus, bis ihnen ganze Reiche gehörten; nun ist kaum
noch ein Land übrig zu Gründung von Colonieen, ausser Oceanien,
der Inselwelt in der Südsee. Die asiatischen Staaten waren in
argem Nachtheil, da man das in Europa gültige Völkerrecht nicht
auf sie anwendete; zum Glück beginnt man jetzt dessen Grund-
sätze auch in den Beziehungen zu Asien mehr und mehr zu
beobachten.«


[265]XXI. Weihnachten.

Beim Abschied dankte Graf Eulenburg für den wohlwollen-
den Empfang. — Im Hof präsentirten die Truppen das Gewehr
auf englische Commandoworte, und machten die Griffe mit grosser
Präcision.


Nun kam der Heiligabend heran — Weihnachten bei 30°
Wärme! Aber gefeiert musste er werden. Eine Tanne wie in
Yeddo zu erlangen, war unmöglich, die wuchs nicht auf Hunderte
von Meilen; nun wurde ein Weihnachtsbaum gebaut. Das schmale
Quergebäude des Hofes bekleideten wir mit dicht belaubtem Bam-
bus; davor wurde eine vierzig Fuss hohe Areca-Palme aufgepflanzt
und der Stamm mit Bündeln der Musa umbunden, deren Blattwedel
in mächtigen Garben herabfielen. In den grasartigen Tuffen des
Bambus und unter den durchsichtig zarten Bananenwedeln hingen,
magisches Licht strömend, hunderte Papierlaternen; auch die breiten
Veranden, wo die Schiffsmannschaft hauste, erhellten bunte chi-
nesische Lampen. Das Ganze wirkte sehr hübsch, wenn auch nicht
weihnachtlich.


Um etwas aufzubauen hatten einige Begleiter des Gesandten
von den wenigen europäischen Händlern in Baṅkok alle Süssig-
keiten, darunter eine Menge Pfefferkuchen aufgekauft und daraus
eine Pyramide gebaut, welche Blumen- und Blättergewinde zierten.
Dann wurde Punsch gebraut und trotz der Hitze ausgetrunken.
So verging der Abend in heiterer Erinnerung an die liebe ferne
Heimath, und wurde durch ein siamesisches Feuerwerk beschlossen.


Am 26. December empfing Graf Eulenburg die Besuche des
Kalahum und des Phra-klaṅ, mit welchen die letzten Verabredun-
gen über die für den folgenden Tag anberaumte feierliche Audienz
zu treffen waren. Abends kam der Dampfer Little Eastern, den
der König auf die Rhede hinaussandte, mit den Commandeuren der
Kriegsschiffe, einigen Officieren, dem Musikcorps der Arkona und
vierzig Seesoldaten, so dass das Gesandtschaftshaus an jenem Abend
98 Preussen, mit dem siamesischen Gefolge 150 Personen beherbergte.


Am Morgen des 27. December lagen eine Menge Staatsboote
vor dem Gesandtschaftshause, lange schmale Fahrzeuge mit hoch-
geschwungenem Schnabel und vergoldetem Baldachin in der Mitte;
die Schnäbel waren zum Theil mit rothen goldgestickten Decken
und Büscheln von weissem Yackhaar behangen. Das prächtigste
[266]Feierliche Audienz. XXI.
hatte unter dem Baldachin einen reichen goldenen Schrein, in
welchen die goldene Schüssel mit dem königlichen Schreiben ge-
setzt wurde; wohl achtzig Fuss lang, wurde es von vierzig Rude-
rern, die je zwei neben einander sassen mit kurzen Schaufelrudern
fortbewegt; die anderen hatten je zwanzig bis dreissig Ruderer.
Von weitem erschien der Aufzug prächtig, die passende Staffage
für die bunten Prachtgebäude an beiden Ufern; in der Nähe war
es schmutziger Theaterprunk, das vergoldete Schnitzwerk verstaubt
und abgestossen, die goldgestickten Vorhänge und die rothen Jacken
zerfetzt und verblichen. Beim Landen am Thor der Königsstadt
gab es zuerst ein wildes Durcheinander, dann ordnete sich der
Zug: voran eine siamesische Procession mit Musik und Fahnen,
das königliche Schreiben geleitend, das jetzt mit 21 Schüssen salu-
tirt wurde; dann das Musikcorps der Arkona, 40 Mann preussische
Seesoldaten, der Gesandte in hohem schwankendem Sessel auf
Schultern getragen, die Commandanten und Officiere der Kriegs-
schiffe und die Begleiter des Gesandten theils auf ähnlichen Trag-
stühlen, auf denen sie rittlings sassen, theils auf kleinen struppigen
Pferden mit zerrissenem Sattelzeug. Anfangs drängte sich der
Zug durch dichte Volkshaufen; weiterhin bildeten die königlichen
Garden Spalier, die weder königlich noch kriegerisch aussahen:
bunte, ungleiche, keineswegs saubere Kleidung, angestrichene Blech-
helme, verrostete Spiesse, Hellebarden, Säbel, kein Stück gleich
dem anderen.


Am Palastthor, wo wir abstiegen, standen fünf Elephanten,
im inneren Hofe jene drei Compagnieen Leibgarde, die schon bei
der Privataudienz figurirten, auch königliche Streitrosse und eine
ganze Reihe Elephanten im Prachtgeschirr. In die Halle, wo der
Gesandte vor der Privataudienz wartete, hatte sich ein ziemlich
nacktes siamesisches Publicum gedrängt, machte jedoch Platz, als
ein Büttel aus seinem Ruthenbündel den derben Prügel zog und
tüchtig dreinschlug. Prinz Khroma-luaṅ und der Phra-klaṅ be-
grüssten den Gesandten; ausser Cigarren wurde diesmal auch Betel
servirt. Nach einiger Zeit verkündete Musik, dass der König sich
nach der Audienzhalle begebe; gleich darauf wurde gemeldet, dass
er den Gesandten erwarte. Geführt vom Phra-klaṅ traten Graf
Eulenburg und seine Begleiter in einen zweiten, dann durch ein
Spalier holländisch uniformirter Soldaten und Musikanten in den
dritten Schlosshof, wo eine breite Freitreppe zur Audienzhalle,
[267]XXI. Feierliche Audienz.
einem länglichen Saale hinansteigt, dessen Eingang in der Mitte
einer langen Seite liegt. Den Boden deckt ein weicher Teppich;
zwei Säulenreihen laufen, schmale Nebenschiffe abtheilend, die lan-
gen Wände entlang. Die Säulen sind aus kostbaren Hölzern und
tragen viele Wandleuchten; an der getäfelten Decke hängen zwanzig
Kronen und etwa achtzig Lampen; rings an den Wänden stehen
seidene Baldachine. Licht fällt durch eine doppelte Fensterreihe
in das weite Gemach, dessen architectonische Gliederung angenehm,
dessen Schmuck prächtig ohne Ueberladung, farbenreich aber har-
monisch ist. Dem Eingang gegenüber liegen drei in Spitzbogen
auslaufende von der Rückseite zugängliche Nischen; in der mittel-
sten steht, zwischen den mehrstöckigen nach oben verjüngten Schir-
men, den Insignien der höchsten Würde, golden wie die umgebende
Architectur, auf einer Plateform der altarähnliche Thron, auf welchem
der goldene König sass.


Wir glaubten einen Goldgötzen zu sehen, ein Buddabild, wie
sie in den Tempeln sitzen. Rechts und links lagen am Fuss des
Thrones, durch Geländer halb versteckt, einige Frauen, Kinder
und Waffenträger des Königs in malerischer Gruppirung, unten im
Saale die Prinzen und Grossen, die vornehmsten Siamesen, Chine-
sen, Parsen, Hindu, Birmanen, Peguaner, Malayen. Laos, Kambodjer
und Cochinchinesen, die königlichen Prinzen auf seidene Kissen ge-
stützt, alle anderen auf dem Teppich hingestreckt, mit Kopf und
Händen am Boden, das Gesicht etwas seitwärts, zum Throne auf-
blickend. Der Fussboden war dicht bedeckt mit diesen in die präch-
tigsten Stoffe gehüllten Gestalten; nur in der Mitte, dem Thron gegen-
über, lagen Polster für den Gesandten und seine Begleiter; denn
Stehen in Gegenwart des Königs ist in Siam Majestätsverbrechen;
alle Unterthanen, selbst die tributpflichtigen Fürsten, müssen sich
niederwerfen und auf allen Vieren kriechen; davon ist nur der Zweite
König, aber keiner der Prinzen, Minister und Grossen befreit.


Nach einer Verbeugung, die der König erwiederte, setzten
wir uns auf die Kissen; Legationssecretär Pieschel stellte die Gold-
schale mit dem königlichen Schreiben auf einen vor dem Thron
stehenden Tisch; an diesen herantretend verlas der Gesandte in
englischer Sprache folgende Anrede:


»Königliche Majestät!


Mir wurde die hohe Ehre zu Theil, von Seiner Majestät dem
Könige von Preussen, meinem allergnädigsten Herrn, auserwählt

[268]Feierliche Audienz. XXI.
zu werden, um Eurer Majestät eine Botschaft des Friedens und der
Freundschaft zu bringen. Euer Majestät Herrschertugenden und er-
leuchtete Ansichten über Völkerverkehr sind von Seiner Majestät dem
Könige von Preussen und von den Ihm verbündeten deutschen Fürsten
gekannt und gewürdigt; sie haben bei Seiner Majestät meinem Herrn
und den Ihm verbündeten deutschen Fürsten den lebhaften Wunsch
erweckt, mit Euer Majestät in nähere dauernde und freundschaftliche
Beziehungen zu treten. Ich bin gesandt worden, um Euer Majestät
diesen Wunsch auszudrücken, und, falls Euer Majestät denselben
theilen, einen Vertrag zu unterhandeln, welcher Zeugniss von der
zwischen Euer Majestät und den deutschen Fürsten bestehenden Freund-
schaft ablegen und zugleich geeignet sein soll, dem Verkehr zur festen
Grundlage zu dienen, welcher sich hoffentlich schnell zu gegenseitiger
Befriedigung zwischen den dem Scepter der hohen contrahirenden
Theile untergebenen Völkern entwickeln wird.


Eurer königlichen Majestät habe ich die Ehre, mein Beglaubigungs-
schreiben als Ausserordentlicher Gesandter und Bevollmächtigter Mi-
nister Seiner Majestät des Königs von Preussen ehrfurchtsvoll zu
überreichen. Als Seine Majestät es unterzeichneten, waren Allerhöchst-
dieselben und das ganze Preussenvolk durch den Tod des letzten
Königs, des Bruders Seiner jetzt regierenden Majestät, in tiefe Trauer
versetzt. Ein schmerzliches Familienereigniss hat auch Euer Majestät
Herz mit Kummer erfüllt. Möge der Himmel Euer Majestät Tröstung
senden und eine lange und gesegnete Regierung verleihen.«


Graf Eulenburg nahm darauf das königliche Schreiben aus
der Goldschale und überreichte es, an die Plateform tretend, dem
Könige, der vom Thron herabstieg und dem Gesandten ein Couvert
mit der siamesisch geschriebenen Antwort auf seine Rede einhän-
digte. Dann stieg Maha-moṅkut wieder auf seinen Thron, öffnete
das Beglaubigungsschreiben und fragte, ob Preussens Sprache mit
der englischen oder der französischen verwandt sei. Auf des Ge-
sandten Antwort, sie sei der Englischen verwandt, sagte der König,
er habe das gleich aus den Schriftzügen geschlossen. Nun musste
Graf Eulenburg erwiedern, das Schreiben sei französisch, in der
Sprache des diplomatischen Verkehrs abgefasst; er habe sich die
englische Anrede erlaubt, weil Seine Majestät diese Sprache verstehe.
— Weiter fragte der König, ob Preussen und England nicht eng
verbunden wären, ob sie ihm wohl beistehen würden, wenn sich
zwischen Siam und anderen Mächten Schwierigkeiten erhöben.
Graf Eulenburg antwortete, der König von Preussen werde sicher-
[269]XXI. Feierliche Audienz.
lich die im Vertrage anzugelobende Freundschaft halten und in
solchem Falle seine guten Dienste zu Gunsten Siam’s interponiren.
Die Worte des Königs wurden vom zweiten Phra-klaṅ leise Herrn
Smith wiederholt, der die Antworten des Gesandten auf demselben
Wege zurückgab. — Zum Schluss las der König aus einem grossen
Buch die dem Gesandten übergebene Antwort auf seine Anrede ab.


»Der Gesandtschaft des Königs von Preussen sei kund gethan!


Schon vor einigen Jahren wurde in Siam aus sicherer Quelle
bekannt, dass Seine Majestät der König von Preussen den Wunsch
hegten, mit Uns, dem König von Siam, Freundschaft zu schliessen;
dass Er eine Gesandtschaft mit drei Schiffen geschickt habe, einen
Freundschaftsvertrag mit uns abzuschliessen, um so dem Verkehr zwi-
schen den Unterthanen beider Länder eine Bahn zu öffnen und den-
selben zum Vortheil beider zu fördern, auf dass den vertragschliessenden
Völkern Ruhm daraus erwachse. Nach Empfang dieser Nachricht
haben wir, König von Siam, und unsere Minister schon vor mehr als
einem Jahr mit Vergnügen Vorbereitungen für den Empfang der
preussischen Gesandtschaft getroffen.


Nunmehr sind der Gesandte Graf zu Eulenburg und andere
hohe Beamten in diesem Lande angekommen und in meiner Gegen-
wart erschienen, sowie in Gegenwart der königlichen Prinzen und der
Minister, die sämmtlich in standesgemässem Anzug, versehen mit
allen Abzeichen ihres Ranges und ihrer Würde sich eingefunden haben,
um hier in diesem grossen Audienzsaal das Schreiben und die Ge-
sandtschaft des Königs von Preussen mit Ehren zu empfangen.


Wir, König von Siam, nahmen so eben aus den Händen des
Gesandten ein Schreiben Seiner Majestät des Königs von Preussen in
Empfang, und sind hoch erfreut über die uns durch dasselbe er-
wiesene Ehre. Von dem Wunsche geleitet, die gebotene Freundschaft
anzunehmen, werden wir uns den Inhalt des Briefes zu eigen machen und
wollen gern den von Seiner Majestät dem König von Preussen aus-
gesprochenen Wünschen in Allem willfahren, was zulässig ist. Wir
wollen befähigte Männer ernennen, einen Vertrag zu berathen und
abzuschliessen, ähnlich den mit den Herrschern anderer europäischer
Staaten bereits geschlossenen Verträgen. Diese Personen sollen Voll-
machten erhalten, sich mit dem Gesandten Preussens zu verständigen
und unverzüglich einen Vertrag zu schliessen. — Ferner vernahmen
wir, dass das Betragen der Beamten, welche beauftragt waren, den
Gesandten zu empfangen und das königliche Schreiben mit gebührenden
Ehren bis vor uns zu geleiten, Allen zur Zufriedenheit gereicht hat,
was uns zu besonderem Wohlgefallen gereicht.


[270]Feierliche Audienz. XXI.

Wir, der König von Siam, die Prinzen und Minister ergreifen
mit Freuden die gebotene Hand und werden alle Bedingungen der
Freundschaft erfüllen, welche von nun an zwischen den beiderseitigen
Völkern und zwischen Uns und dem Könige, den königlichen Prinzen
und den Ministern von Preussen bestehen soll. Als Pfand dafür mag
diese meine Rede gelten, gehalten in Gegenwart der Prinzen und der
Minister von Siam, vom Throne Ananta Samakon, im Palaste des
Ersten Königs, am 6. Wochentage des 1. Monats, dem 10. Tage des
abnehmenden Mondes, im Jahre des Hahnes (Raka), dem dritten des
Jahrzehntes, Anno 1223 der siamesischen bürgerlichen Zeitrechnung,
entsprechend dem 27. December 1861, im 11. Jahre und am 3880. Tage
Unserer Regierung.«


Unter dem dem Gesandten übergebenen Original stand quer
über den blauen Stempel von des Königs eigener Hand geschrieben:
S. P. P. Mongkut, Major Rex Siamensium on 3880th day of reign.


Der König entfernte sich, dreimal die Mütze lüftend, durch
eine Thür hinter dem Thron. Seine ganze Kleidung war aus Gold-
stoff; am Gürtel funkelte der grosse Smaragd; um die spitze mit
einem Kranz schöner Diamanten umwundene Sammetmütze wogte
eine weisse Feder. Die Beine waren vom Knie an nackt, die Füsse
mit gelbledernen Schuhen bekleidet.


Während der ganzen Audienz herrschte lautlose Stille; in
den Stellungen der hingestreckten Prinzen, Minister und Höflinge
äusserten sich allerlei Schattirungen des Ranges und der Ehrfurcht;
nur die königlichen Prinzen stützten die Ellenbogen auf Sammet-
kissen. Neben dem Kalahum lag der von ihm adoptirte sechsjährige
Königssohn, ein wunderhübscher Knabe, bald knieend, bald auf
dem Bauche, unaufhörlich eine grosse Cigarre rauchend. Viele
andere rauchten ebenfalls bäuchlings hingestreckt; die meisten kau-
ten Betel. Auch für den Gesandten und seine Begleiter standen
Cigarren und brennende Kerzen neben ihren Kissen.


Der König benahm sich sehr unbefangen, ohne einen Hauch
von angenommener Würde; das Gepränge stand ihm ganz natürlich.
Nach seiner Entfernung erhoben sich die Prinzen und Grossen, um
den Gesandten zu begrüssen. Wir wurden dann in einen Nebensaal
geführt und mit einem opulenten europäischen Frühstück bewirthet.
Der Gesandte brachte auf den Wunsch des Phra-klaṅ ein dreima-
liges Hoch auf Seine Siamesische Majestät aus, welche uns dann
in ihre Privatgemächer rufen liess. Der König hatte seine Staats-
[271]XXI. Besuche.
gewänder abgelegt; er schenkte wieder Jedem ein Gläschen Sherry
ein und trank die Gesundheit Seiner Majestät des Königs von
Preussen, die wir mit dreifachem Hurra begleiteten; dann reichte
er Jedem eine Cigarre und zündete selbst eine an. Die Kinder be-
wegten sich zutraulich unter den Gästen und sorgten, dass keiner
vergessen würde. Das Musikcorps der Arkona durfte im innersten
Hof einige Stücke spielen und wurde vom König inspicirt; zum
Abschied reichte er uns Allen die Hand. Es dunkelte schon, bei
Fackelschein kehrten wir zu den Booten zurück.


Als der Gesandte am folgenden Tag beim schwimmenden
Hause des Khroma-luaṅ vorbeifuhr, theilte ihm Dieser seine Ernen-
nung zum ersten Bevollmächtigten für die Vertragsverhandlungen
mit: der König habe ihn aus diesem Anlass ausdrücklich zur Audienz
entbieten lassen, die er seiner durch den Schlagfluss verursachten
Unbehülflichkeit im Liegen und Kriechen wegen gern vermieden
hätte. — Nachmittags erhielt Graf Eulenburg den Besuch eines
einflussreichen Halb-Siamesen, des 74jährigen Pasquale Ribeiro
de Alvergeria
oder Phya Wizet Soṅ Kram. Der Sohn eines por-
tugiesischen Abkömmlings und einer Siamesin kleidete sich euro-
päisch, hatte den Rang eines siamesischen Generals und wurde
vom König als das Haupt aller katholischen Landesbewohner
behandelt. Don Pasquale Soṅ Kram erschien offenbar im Auftrag
des Königs, redete viel von der Wichtigkeit, welche die Freund-
schaft des neutralen Preussen für Siam gegenüber seinen beiden
Grenznachbarn habe, und erschöpfte sich im Lobe der preussi-
schen Truppen.


Abends war Concert beim Phra-klaṅ, der seine Gäste mit
Liqueuren bewirthete. Das Orchester bildeten etwa zwanzig junge
Mädchen mit ähnlichen Instrumenten wie die früher beschriebenen;
ausser dem Saroṅ trugen sie nur einen Crêpe-Shawl über die eine
Schulter geschlungen. Sie spielten auswendig zwei volle Stunden
lang siamesische, birmanische, cochinchinesische, Laos, Kamboǰa
Stücke und begleiteten sich zuweilen mit Gesang. Zuletzt wurden
auf Geigen auch europäische Melodieen und der Yankeedoodle,
natürlich sehr unvollkommen vorgetragen. Die anderen Productionen
klangen etwas eintönig und gaben ebensowenig einen Begriff von
den nationalen Weisen jener Stämme, als das Spiel des königlichen
und anderer vornehmen Orchester. Echte Musik hörte man nur
bei einem in Ungnade gefallenen Capellmeister, nach dessen schwim-
[272]Siamesische Musik. Neujahr. XXI.
mendem Hause Sir Robert Schomburgk uns führte.62) Mit seinen
Frauen und Töchtern, deren Zusammenspiel wie aus einem Gusse
klang, übte er die Kunst in häuslicher Zurückgezogenheit, und
brachte Stücke von der reichsten eigenthümlichsten Erfindung, tiefer
Leidenschaft und Gedankenfülle zu Gehör, die uns wahrhaft ent-
zückten. Ein kleines Mädchen spielte mit dem Plectrum eine grosse
am Boden liegende Cither mit höchster Meisterschaft. — Vielleicht
bewährt sich auch hier die Erfahrung, dass die Künste an den
Höfen verflachen; denn alle Productionen, die wir bei den Grossen
von Siam hörten, waren, wenn auch nicht übelklingend, doch ohne
jeden tieferen Gehalt. Die Thatsache aber, dass alle Vornehmen
ihre Orchester hatten, beweist die nationale Neigung zur Musik. —
Maha-moṅkut hatte längst gewünscht, ein militärisches Musikcorps
nach europäischem Muster zu besitzen, und liess dazu die besten
Blechinstrumente aus Berlin kommen; aber Niemand konnte sie
spielen. Nun bat er, dass seine Sclaven vom Musikcorps der Ar-
kona unterrichtet würden, was Capitän Sundewall gern erlaubte;
seitdem übten die Siamesen täglich mehrere Stunden mit unseren
Bläsern und fassten so schnell, dass sie trotz der Unkenntniss aller
geschriebenen Noten in wenig Wochen mehrere Märsche lernten.


Die letzten Tage des Jahres vergingen unter kleinen Ausflügen
und Besuchen auf den Consulaten. Am Abend des 30. December
war Concert beim Prinzen Khroma-luaṅ. Den Sylvesterabend brach-
ten der Gesandte und einige seiner Begleiter mit dem grössten Theil
der europäischen Gesellschaft im Hause des englischen Consuls zu.
Der Aufgang war festlich mit Palmen und Blattpflanzen geschmückt,
die breite das Haus umgebende Veranda, wo die Gesellschaft sich
am meisten bewegte, mit Flaggen decorirt. Gegen zehn wurde im Gar-
ten ein hübsches Feuerwerk abgebrannt. Um Mitternacht spielte das
Musikcorps der Arkona »Nun danket Alle Gott« dann wurden die Glück-
wünsche unter den Klängen des Dessauer Marsches ausgetauscht.


Unser Leben gestaltete sich in Baṅkok sehr angenehm. Der
Vertrag machte kaum Sorgen; die Verhandlungen wären sogar in
[273]XXI. Die Binnenstadt.
wenig Tagen zum Abschluss gediehen, wenn Graf Eulenburg nicht
neue für den Handel wichtige Zugeständnisse verlangt hätte. Die
Bevollmächtigten und vor allen Prinz Khroma-luaṅ trugen ihm
aber auch für diese den besten Willen entgegen, und niemals er-
hoben sich ernste Schwierigkeiten. Die materielle Arbeit war nicht
so gross, dass nicht Allen viel Zeit zu Spazierfahrten in der sonder-
baren Wasserstadt geblieben wäre, die eine Fülle des Merkwürdigen
und landschaftlicher Schönheiten bietet. — Um elf Uhr vereinigte
man sich zum Frühstück, um halb sieben zum Mittagsmahl; die Er-
lebnisse des Tages gaben reichen Stoff zur Unterhaltung; um der
Morgenkühle zu geniessen ging man früh zur Ruhe. Die Nächte
waren jedoch keineswegs still; das Heulen der Hunde und Katzen,
das Krächzen der Nachtvögel, das Lärmen der Zechbrüder in be-
nachbarten Kneipen pflegten bis zum Morgen zu dauern.


Für die Binnenstadt, — den einzigen Bezirk, wo es viel
trockenen Boden giebt, — hatte Prinz Khroma-luaṅ ein Dutzend
birmanischer Ponies mit englischen Sätteln zur Verfügung gestellt,
kleine feurige Thiere, die auf dem glatten Backsteinpflaster recht
sicher gingen und häufig von uns benutzt wurden.


Das Thor, welches vom Stromufer in die Stadt des Ersten
Königs führt, ist schmucklos aber in grossen Verhältnissen er-
baut, mit einfachem Giebel als Krönung. Innerhalb stehen zu-
nächst niedrige Häuserreihen und Vorrathsschuppen, dann rechts
der Tempel Maha-phrasat, in welchem die siamesischen Könige
gekrönt und nach ihrem Tode bis zur Verbrennung ein Jahr lang
beigesetzt werden. Früher fanden hier auch die feierlichen
Audienzen statt. Dem Hofgottesdienst im Maha-phrasat wohnen
die Frauen des Harem hinter Vorhängen bei. In Kreuzesform er-
baut, mit vierfach übereinandergeschobenem Giebeldach nach allen
vier Seiten und einer vergoldeten Spitze über dem Kreuzungspunct
ist es äusserlich das prächtigste Gebäude der Königsstadt. Daneben
steht ein reich gearbeiteter schreinartiger Pavillon, auf vielen Pfei-
lern ruhend, unter dem die Könige wahrscheinlich feierlichen Auf-
zügen beiwohnen.


Das zweite Heiligthum der Königsstadt, Wat Phrakeo, der
Tempel der Kleinodien, darf nur mit besonderer Erlaubniss betreten
werden. Die Plateform des Tempelrechtecks ist mehrere Stufen
erhöht und mit Marmorplatten belegt; eine doppelte Reihe mit
Goldmosaik bedeckter nach oben etwas verjüngter Pfeiler mit zier-
IV. 18
[274]Die Stadt des Ersten Königs. XXI.
lichen Blättercapitälen umgiebt die Cella. Das Tempeldach breitet
sich reich verziert und vergoldet über die Plateform aus und lässt
nur wenig Licht in das Innere dringen. Im Hofe ringsum stehen
thönerne Bildsäulen von Männern, Frauen und geflügelten Fabel-
wesen, etwa zwischen Sphinx und Cherub. Die Cellawand ist
äusserlich mit prächtigem Ornament in vergoldetem Stuck und
Glasmosaik bedeckt; etwa drei Fuss über der Sohle läuft ein Fries
von grossen Hähnen mit Menschenköpfen und langen Menschen-
beinen rings herum. Besonders reich ist die Einrahmung der Fen-
ster. — Inwendig sind die Tempelwände mit phantasiereichen Dar-
stellungen aus der buddistischen Sagenwelt bemalt, deren unge-
heuerliche Ausschweifungen sich kaum schildern lassen. Am west-
lichen Ende steht, dem Hochaltar manches katholischen Münsters
vergleichbar, der Aufbau mit dem berühmten Buddabild aus grünem
Jade oder Jaspis63) und anderen kostbaren Götzen in stufenartiger
Verjüngung; zu unterst eine zwei Fuss hohe sitzende Statuette aus
massivem Golde. Das Steinbild ist aus einem Stück geschnitten,
Gewand und Zierrath aus getriebenem Golde; die birmanischen
Laos sollen es einst aus Kamboǰa geraubt, dann im Kriege wieder
an die Siamesen verloren haben. — Vor dem Goldgötzen stehen
sechs Fuss hohe Bäume mit goldenen und mit silbernen Blättern;
zwei geflügelte Figuren sollen die Asche von des Königs Vater und
Grossvater enthalten. Den Fussboden decken rhomboidale Messing-
platten; die von Pallégoix beschriebenen silbernen Matten sahen
wir nicht.


An den Wohnpalast des Königs stossen, um mehrere Höfe
gruppirt, kleinere Gebäude mit den Gemächern der Königin, Sälen
für Privataudienzen, Diners, und die weiten Gelasse des Harems mit
einem grossen Garten.


Nicht weit vom Palast stehen die Ställe der königlichen
Staats- und Reit-Elephanten, mächtiger Thiere mit gewaltigen
Stosszähnen, um welche dicke goldene Ringe gelegt sind. — Der
weisse Elephant, den wir sahen, war kein echter, dazu fehlten ihm
viele Abzeichen; aber auch die echten sind keineswegs weiss, son-
dern hellchocoladenbraun. Mit fest aneinandergeschnürten Vorder-
[275]XXI. Der weisse Elephant.
füssen, den einen Hinterfuss an eine Säule gefesselt, stand das
heilige Thier in der Mitte seines Stalles, an dessen Wänden ein
erhöhter Gang hinläuft; dort knieen fromme Siamesen betend nieder.
Der weisse Elephant wird mit Bananen, Zuckerrohr und frischem
Grase gefüttert; er soll seinen eigenen Hofstaat und Leibarzt haben
und beim Ausgehn mit grossen Sonnenschirmen beschützt werden.
Die Verehrung dieser Albinos beruht wohl auf ihrer Seltenheit:
man glaubt, dass sie von den Seelen grosser Helden und Könige
bewohnt werden, die, gleich der siamesischen Majestät, göttlichen
Rang auf Erden gehabt hätten. Als Seinesgleichen reitet selbst
der König nicht den Weissen Elephanten, was seinen Wärter nicht
hindert, denselben nach Bedürfniss tüchtig zu prügeln.


Ein echter weisser Elephant wurde bald nach unserer Ab-
reise in einer der nördlichen Provinzen entdeckt, starb aber auf
dem Wege nach Baṅkok. Sein Tod versetzte das Land in tiefe
Trauer. Der König, der ihm pflichtgemäss entgegenreiste, beschrieb
ihn mit folgenden Worten: »Seine Augen waren lichtblau, ihre
Einfassung lachsfarben, sein Haar fein, zart und weiss, seine Stoss-
zähne wie Perlen, seine Ohren gleich silbernen Schilden, sein
Rüssel gleich dem Schweif von Kometen, seine Beine gleich den
Füssen der Himmel, sein Tritt wie das Rollen des Donners, seine
Blicke voll tiefer Betrachtung, seine Augen voll Zärtlichkeit, seine
Stimme die Stimme eines mächtigen Kriegers, und seine Haltung
die eines erhabenen Herrschers.« — Wie sehr der weisse Elephant
das Schönheitsideal der Siamesen ist, beweist auch die Schilderung,
welche die aus England zurückkehrenden Gesandten vom Aussehn
Ihrer Majestät der Königin Victoria gaben: »Man kann sich des
Eindrucks nicht erwehren, dass sie reiner Abstammung sein muss
von einem Geschlechte wackerer und kriegerischer Könige und
Herrscher der Erde, da ihre Augen, Hautfarbe und besonders ihre
Haltung die eines schönen und majestätischen weissen Elephanten
sind.« — Seit der Zerstörung von Ayutia 1767 sollen nur fünf echte
entdeckt worden sein.


Viele Magazine, Schatzhäuser und Werkstätten, wo Budda-
bilder, Tempelornamente, die königlichen Tragsessel und andere
Prunkgeräthe angefertigt werden, liegen in der Königsstadt zerstreut.
Es giebt auch ganze von königlichen Handwerkern bewohnte
Strassen, in deren Läden reiche Stoffe und hübsche Arbeiten in
Gold und Silber zu finden sind. In den Zeughäusern stehen unzählige
18*
[276]Märkte. — Wat Borowanivet. XXI.
Geschütze jeder Grösse, von einer neunzölligen achtzehn Fuss
langen Kanone bis zum kleinsten Mörser. Eine der Kasernen be-
wohnt die Amazonengarde von schrecklichem Aussehn.


Oestlich von der Königsstadt liegt ein zu öffentlichen Lust-
barkeiten bestimmter Platz; hier ersetzt die Ringmauer ein langes
Gebäude mit Fenstern und einem Ausbau in der Mitte, wo der Hof
den Volksbelustigungen zuschaut. Ein goldener Thron steht im
mittelsten Fenster. — Zwischen den Palaststädten des Ersten und
des Zweiten Königs liegt ein zu Verbrennung der Leichen aus der
Königsfamilie bestimmter freier Platz, wo damals grade Vorbereitun-
gen für die Verbrennung der jüngst verstorbenen Königin getroffen
wurden. In der Nähe ist ein Acker mit Reis bestellt, nach dessen
Ertrag man die Ernte des ganzen Landes abschätzt. — Die Palast-
stadt des Zweiten Königs ist viel kleiner als die des Ersten, ent-
hält aber ähnliche Tempel, Paläste, Kasernen, Höfe und Gärten.


An der Ringmauer der Binnenstadt, welche östlich von den
beiden Palaststädten ausgedehnte Stadtviertel einschliesst, läuft
innerhalb ein breiter Weg herum; dort giebt es Marktplätze. Grosse
Haufen getrockneter Fische, Gemüse und Früchte liegen da auf-
gestapelt; als Tauschmittel dient die Cowrie-Muschel (Cypraea
Moneta), welche die Marktfrauen auf breiten Bananenblättern auf-
zuschütten pflegen. Nach diesen Blättern, die auch zur Unterlage
von Süssigkeiten dienen, sind die Kühe sehr lüstern, deren sich
viele in dieser Stadtgegend herumtreiben. Oft setzt es da einen
lärmenden Strauss, wenn sie die erhaschten Blätter sammt dem
daran klebenden Kleingeld und Zuckerwerk schlingen wollen. —
6400 Muscheln gehen auf einen Tikal oder Bat, dessen Silberwerth
etwa 26 Silbergroschen beträgt.


Der vornehmste Tempel der Binnenstadt ist Wat Borowa-
nivet
, wo König Maha-moṅkut vor seiner Thronbesteigung als
Bonze lebte; alle Mönche dieses Klosters sollen aus Adelsfamilien
sein. — In der südlichen Ecke der Binnenstadt liegt Wat Po, der
grösste Tempel von Baṅkok, mit seinen Höfen, Gärten, Klöstern
und Kapellen ein ganzes Stadtviertel bildend, das nordwestlich an
die Palaststadt des Ersten Königs grenzt. Die Raumvertheilung ist
unsymmetrisch, eine Folge hallenumgebener Höfe, in welchen die
dem Buddacultus geweihten Bauwerke und riesige Bildsäulen stehen.
Das von einigen Hundert Mönchen bewohnte Kloster bildet mehrere
Strassen. Manche Höfe enthalten Gärten mit künstlichen Felsen,
[277]XXI. Wat Po.
Teichen, Brücken, grotesken Steinbildern und allerlei baulichem
Schnickschnack. Gleich am Eingang liegt ein solcher Hof, in dessen
Teich unter Felsen und üppigen Blattpflanzen ein ausgewachsenes
Crocodil haust; träge und schwerfällig lässt es, am Ufer ausgestreckt,
alle Neckereien über sich ergehen ohne aufzublicken. — Vor den
mit Goldstuck und Glasmosaik geschmückten Tempelportalen stehen
colossale Gestalten der Thürhüter, bald aus Gypsstuck, in reicher
phantastischer Goldrüstung, mit grimmigem Dämonenhaupt und
langen Stosszähnen, oder im faltigen Priestergewande, mit ehr-
würdiger Greisenmiene und wallendem Bart, — bald aus Stein ge-
meisselt, Portugiesen und Holländer in steifen altfränkischen Uni-
formen darstellend. Sowohl gute als böse Geister scheinen als
Thürhüter zu fungiren; man weiss nicht recht, für welche die
Fremden gemeint sind.


Dem Flussthor gegenüber liegt innerhalb Wat Po ein Tem-
pelchen, das über und über, selbst auf den Dachflächen mit reicher
farbiger Stuckzier bedeckt ist. Dann kommt ein Hof mit drei
gleichartigen Pratšedi, so heissen gewisse spitz zulaufende Monu-
mente bei den siamesischen Tempeln; ihr Grundriss ist meistens
vierseitig, mit verkröpften Ecken; der Sockel erhebt sich in reicher
Profilirung bis zum Drittheil der ganzen Höhe; darauf steht ein
Körper von schlankem Glockenprofil, gekrönt von einer spindel-
förmigen Spitze. Bekleidet sind die Pratšedi von Wat Po, — die
schönsten in Baṅkok, — mit bunten Kacheln, die reizende Muster
bilden; die Farbenwirkung ist harmonisch und milde. Eben so
schön und von der zierlichsten Zeichnung ist ein Glockenhäuschen
im nächsten Hofe; die organische Entwickelung aus der Grund-
form bis in die letzten Einzelnheiten des reichen Zierraths, die
schlanken Verhältnisse, in denen es leicht und stolz in die Luft
strebt, zeugen von hoher Meisterschaft des Architecten. Aehnliches
lässt sich von anderen Bauten sagen, wenn auch das wüste Durch-
einander phantastischer Motive, zu welchem asiatische Baumeister,
nach Fülle und Abwechselung strebend, das ganze Thier- und
Pflanzenreich mit den tollen Gebilden ihrer Fabelwelt verarbeiten,
in der Nähe meist verwirrend und bedrückend wirkt.


Wie weit die Baukunst der Siamesen auf dem Landesboden
gewachsen oder den Nachbarländern Birma, Pegu, Laos, Kamboǰa
entlehnt ist, welche so stark auf ihre Geschicke wirkten, liesse sich
nur durch Vergleichung mit deren Werken erkennen. Einen aus-
[278]Siamesische Baukunst. XXI.
geprägten Typus haben alle siamesischen Geräthe, Bild- und Bau-
werke, von der Haarnadel bis zum thurmhohen Phra-praṅ64), von
der Betelbüchse bis zum mächtigen Tempelbau. Das geübte Auge
würde ein nie gesehenes siamesiches Ornament unter hunderten er-
kennen. Wie die Gothik auf dem Spitzbogen, so fusst die siame-
sische Baukunst auf einer bestimmten Spitzwinkligkeit; wenn auch
beide Grundformen der in gewissen Winkeln gegeneinander geneigten
Curven und Graden nur in den gipfelden Linien rein auftreten, so
haben sich doch das constructive System und die Ornamentik aus
demselben entwickelt. Das spitzige Dach des schwimmenden Hauses
und der Bambushütte zeigt in seinen Winkeln die elementare Form
der siamesischen Königskrone und Thurmpyramide; dieselbe Spitz-
winkligkeit ist in der freiesten Ausladung der Zierrathen, in den
phantastisch geschwungenen Linien der siamesischen Blatt-Arabeske
versteckt. — Die wenigen Bauten in Baṅkok, an welchen italienische
Architecten mitgewirkt haben, bleiben hier selbstredend ausser
Betrachtung.


Die Schönheiten des eigentlichen Tempelbaues kommen meist
nur bei kleineren Gebäuden zur Geltung; in Wat Po stehen deren
reizende. Der Grundriss ist ein längliches Rechteck. Den Kern
bildet eine Cella mit glatten Wänden, auf welchen das vortretende
Giebeldach ruht. Die Eingangsthür liegt in der Mitte der Giebel-
wand, deren spitziges Dreieck mit bunten Arabesken auf Goldgrund
in Glasmosaik ausgefüllt ist. Jede Seitenwand der Cella hat eine
Reihe Fenster mit Rahmen von vergoldetem Stuckornament und
hölzernen Läden mit Gold-Arabesken auf schwarzem Grund. Bei
etwas grösseren Tempeln tritt der Giebel von vier Pfeilern getragen
über die Vorderwand heraus, eine Vorhalle bildend. Die Pfeiler
sind vier oder achteckig; letztere verjüngen sich säulenartig und
tragen vergoldete Blattcapitäle; das mittelste dem Eingang ent-
sprechende Intercolumnium ist breiter. Bei diesen Tempeln sind
die Mittelpfeiler, das verkleinerte Giebelfeld tragend, oft kürzer
als die Eckpfeiler, auf welchen die Dachkanten ruhen; dann ver-
bindet schreinartiges oder zackenförmig herabhangendes durchbro-
[279]XXI. Tempelarchitectur.
chenes und vergoldetes Ornament die Pfeiler. Zur Vorhalle führen
einige Stufen hinan. — Bei noch grösseren Tempeln schiebt sich
unter den Giebel ein zweites, oft unter dieses ein drittes Dach, als
wären deren so viele ungleich lange übereinandergestülpt; dann
schliessen sich an die untere Dachkante, meist auch an die Grund-
linie des Giebeldreiecks Vordächer von flacherer Neigung. Bei
diesen Tempeln läuft eine häufig doppelte Pfeilerstellung um die
ganze Cella; die Zahl der Pfeiler ist dann auch in der Giebelfront
den Dimensionen entsprechend grösser, und die Vorhalle mehrere
Pfeiler tief. Ein Geländer verbindet zuweilen die umlaufenden
Pfeiler, die bei den grössten Tempeln meist viereckig, ohne Sockel
und Capitäl sind. Die Cellawand und die Pfeiler sind weiss ge-
tüncht, seltener bunt gemalt.


Fast alle siamesischen Dächer sind an der First um ein Ge-
ringes länger, als an der unteren Kante, so dass die Giebel un-
merklich überhängen; das wirkt bei den grossen übereinander-
gesattelten Tempeldächern ganz sonderbar. Die First ladet an
beiden Enden in hochgeschwungene Hörner aus; von diesen läuft
eine Reihe nach oben gekrümmter vergoldeter Zähne die Giebel-
kanten hinab und endet unten in aufrechtstehende Adlerflügel. Wo
mehrere Dächer übereinander liegen, hat jedes sein Horn an der
Spitze, seine Zahnreihen und Adlerflügel. Unter den Giebelkanten
läuft, das mosaikgefüllte Giebelfeld einrahmend, ein aus Holz ge-
schnitztes durchbrochnes Ornament hin, das die graden steilen
Linien in geschweifte auflöst. — Hier glaubt man auf den ersten
Blick zuweilen gothisirende Motive zu sehen: die gipfelnden Linien
stossen aber, wenn auch nach unten in hakenförmige Ausladungen
geschwungen, oben niemals als Curven, sondern immer als Grade
zusammen. Die Dachflächen sind mit bunten glasirten Ziegeln be-
kleidet, blau, roth, grün oder gelb, mit umlaufenden breiten Rän-
dern von anderer Farbe.


Im Innern der Cella theilt gewöhnlich eine an den langen
Wänden hinlaufende Pfeilerstellung zwei schmalere Seitenschiffe ab.
Die flache Decke ist zwischen dem Gebälk zuweilen getäfelt; warm
und harmonisch wirkt die gesättigte Farbe des Holzes. Die Pfeiler
und Wände sind meist in bunten Mustern oder mit figuristischen
Darstellungen bemalt. Dem Eingang gegenüber sitzen die Götzen.


Der Haupttempel von Wat Po ist ein ungeschlachtes Ge-
bäude von 80 Fuss Breite und 200 Fuss Länge; Cellawand und
[280]Tempel von Wat Po. XXI.
Pfeiler sind aussen mit Marmorplatten bekleidet; in den Giebel-
fronten liegen die kunstreich mit Perlmutter eingelegten Haupt-
thüren. Das ganze gewaltige Mittelschiff füllt ein vergoldetes
liegendes Buddabild von 159 Fuss Länge und 55 Fuss Höhe; den
Eindruck des Ganzen gewinnt man nirgend, der Sockel ist etwa
mannshoch und man kann nur wenige Schritte zurücktreten. Die
Formen scheinen plump, die Gewandung steif, das Gesicht starr
und leblos. Die Sohlen der übereinandergelegten Füsse bilden eine
senkrechte Fläche, auf welchen in mehreren Hundert Feldern von
etwa fünf Zoll im Quadrat die Incarnationen des Budda in Perl-
mutter eingelegt sind: Elephanten, Stiere, Pferde, Schlangen, Cro-
codile, Vögel und allerlei Menschenkinder. Auf den Zehen sind
die zehn göttlichen Attribute dargestellt. Die Zeichnung dieser
Arbeiten ist schön, die Technik vollendet. Das zur Vergoldung
des Colosses verwendete Metall muss ein grosses Capital vertreten.
— Die Wände und Pfeiler der Cella sind mit reichen Mustern auf
rothbraunem Grunde, nur neben den Thüren und Fenstern mit
figuristischen Compositionen bemalt.


Die Gründe von Wat Po enthalten noch mehrere grosse
und viele kleinere Tempel. In die üppigsten Massen tropischer
Vegetation gebettet wirken die gelben, grünen, blauen und rothen
Dächer, die goldglitzernden Hörner, Adlerflügel und Zahnschnitte, die
juwelenartig funkelnde Mosaik der Giebelfelder, die bunten Pratšedi
und die gleissenden Tempelwände besonders in der Abendsonne
ein Bild von unbeschreiblicher Farbenpracht. — Die meisten Bauten
von Wat Po sind gut erhalten, während viele andere Tempel in
Baṅkok, wo vor hundert Jahren kein namhaftes Bauwerk stand,
jetzt schon Ruinen gleichen. Bruchstein wird selten verwendet;
Ziegel und Mörtel scheinen, von geringer Güte, der Feuchtigkeit
schlecht zu widerstehen. Viele Gebäude weichen auf dem sumpfigen
Baugrund bei wachsendem Gewicht vor der Vollendung aus den
Fugen. Die dünnen eisernen Stangen, die überall das Skelett der
feinen Spitzen und Ausladungen bilden, verrosten und verbiegen
sich, die Stuckrinde blättert ab. Der Siamese baut Tempel auf
Tempel und schmückt sie glänzend, baut aber schnell und flüchtig;
er sucht im Tempelbau Ruhm und Verdienst, sorgt aber schlecht
für die Erhaltung.


Der grosse Phrapraṅ von Wat Džeṅ, der Königsstadt und
Wat Po gegenüber am rechten Ufer des Menam, wurde von Phaya-
[281]XXI. Wat Džeṅ.
tak, dem Gründer der Hauptstadt Baṅkok erbaut, der ursprünglich
seine Residenz auf dieser Seite aufschlug. Erst sein Nachfolger,
der Gründer des jetzt regierenden Hauses, verlegte den Königssitz
auf das linke Stromufer. — Den Zugang zu den Tempelgründen bil-
den Pavillons mit chinesischem Dachstuhl; man tritt in einen von
mächtigen Banyanen beschatteten Hof, durch welchen Steinbahnen
nach den Tempeln und Klosterhallen führen. Rechts liegt ein ein-
gezäunter Garten mit künstlichen Felsen, Miniaturcapellen, barocken
Bildsäulen holländischer Soldaten und Fabelthiere, und anderem
Schnickschnack. Die Gebäude stehen unsymmetrisch, wenn auch
im rechten Winkel geordnet, um den weiten Hof herum, dem Fluss-
portal gegenüber ein bunter prächtiger Pavillon mit haushohen
dämonischen Thürhütern; dahinter der Haupttempel in einem von
niedrigen Hallen umgebenen Hof, dessen Ecken und Zugänge bunt
verschränkte Dächer tragen. In den Hallen sitzen rings an den
Wänden fast lebensgrosse gleichgestaltete Goldgötzen, wohl über
hundert. Vor jeder Tempelfaçade stehen zwei broncirte Elephanten;
ein von zierlichen Glockenhäuschen und Pratšedi unterbrochenes
Geländer läuft an dem ganzen Tempel, dessen vorspringendes Dach
von achteckigen Pfeilern mit vergoldeten Capitälen getragen wird.
Inwendig sind die Tempelwände über und über mit gut gezeich-
neten Darstellungen aus der buddistischen Mythologie bedeckt. —
An der Südseite dieses Tempels stehen drei schlanke Pratšedi
von reizender Farbenwirkung; etwa funfzig Schritt weiter erhebt
sich der Unterbau des grossen Phrapraṅ, des prächtigsten Baudenk-
mals in Baṅkok.


An jeder Ecke des quadratischen Unterbaues steht ein
schlanker, dem mittelsten ähnlicher Thurm, in der Mitte jeder
Seite ein längliches schreinartiges Gebäude. Der Phrapraṅ selbst,
nach Pallégoix 300 Fuss hoch,65) steigt in reichem Profil auf acht-
seitigem, an den Ecken verkröpftem Grundriss empor, eine massive
mit weissem Stuck und bunter Kachel- oder vielmehr Scherben-
mosaik bekleidete Backsteinmasse. In einem und zwei Fünfteln der
Höhe laufen enge Galerieen um das Gebäude, zu denen leiterartige
Treppen hinanführen; von der oberen baut der Thurm sich noch
steiler auf und endet in ein achtseitiges cannelirtes Prisma mit rund-
lich zulaufender Spitze. Die reiche künstliche Gliederung und
[282]Der Phrapraṅ von Wat Džeṅ. XXI.
phantastische Ornamentik spotten jeder Beschreibung. Einige
Stockwerke werden von Dämonen getragen; dann folgen phan-
tastische Thiere, Blumen- und Blatt-Zierrathen. Auf den vier
Hauptfaçaden schauen dreiköpfige Elephanten aus fensterartigen
Nischen im obersten Stockwerk herab. — Von nahem besehen ist
die Mosaik sehr roh, die bunten Scherben englischer und chine-
sischer Töpferwaare scheinen wie planlos in den groben Kalk ge-
steckt; doch schon in geringer Entfernung nimmt Alles Gestalt und
Zeichnung an, und dem jenseitigen Stromufer zeigt der Bau sich
ganz herrlich; man würde in Europa weit danach reisen. Die
Verhältnisse sind edel, im Einzelnen zierlich, das Colorit trotz der
Vielfarbigkeit milde und durchaus harmonisch. Vor der dem Strom
zugewendeten Seite stehen zwei Tempel mit bunten Dächern und
ein Portal, dessen Radius auf die Pyramide stösst, daneben riesige
Banyanen. Hellglänzend steigt der Prachtbau in die Lüfte. 66)


Von der oberen Galerie des Phrapraṅ ist die schönste Aus-
sicht auf Baṅkok. Breit und herrlich wälzt sich der Strom in
mächtiger Windung durch die Waldstadt, nah den Ufern gesäumt
von Reihen schimmernder Häuser, malerischen Dschunken und
Barken, gefurcht von tausend behenden Booten. Am jenseitigen
Ufer streckt sich die Binnenstadt mit ihren in wucherndes Grün
gebetteten Goldgiebeln, Thürmen und Spitzen aus, umringt von
zinnengekrönter Mauer. Nur längs dem Strom sind Wohngebäude
sichtbar; alle Nebenarme und engeren Wassergassen liegen tief
unter dem Laubdach versteckt, aus dem hier und da ein Tempel-
dach aufragt. In den fernsten Horizont verschwimmt die grüne
Ebene.


Unserem Wohnhaus zunächst lag unterhalb Wat Džeṅ der
Tempel Wat Kalaya, nach dem Hauptgebäude von Wat Po der
grösste von Baṅkok. Einen colossalen sitzenden Budda bergend,
zeichnet er sich besonders durch grosse Höhe aus. Auf morastigem
Pfade, über morsche Planken konnte man vom Gesandtschaftshause
auch zu Fuss den schattigen Tempelgarten erreichen, in dessen
Kloster neunzig Mönche wohnten. Von einem reichen Chinesen
gebaut, dem der Adel verliehen wurde, soll Wat Kalaya vorzüg-
lich von dessen Landsleuten besucht werden. 67)


[283]XXI. Wat Saket.

An einem der breiteren Wasserarme auf der linken Seite des
Menam liegen die Tempelgründe von Wat Saket, wo die meisten
Todten verbrannt werden. Die Hauptgebäude gleichen den früher
beschriebenen; in dem grössten ziert eine tolle Darstellung des
Fegefeuers die Wände; in der kreuzgangartigen Halle des diesen
Tempel umgebenden Hofes sitzen lauter schwarze Götzen, ähnlich
den goldenen im Hof von Wat Džeṅ. — Ein colossaler vergoldeter
Budda steht wieder in einem anderen Hause. Ueberall sieht man
dasselbe, nur hundertfach verändert. 166 Bonzen sollen zu Wat
Saket
gehören.


Mehrere grosse von Rasthallen umgebene Höfe sind mit
schönen Palmyra-Palmen (Borassus flabelliformis) bepflanzt. Zur
Verbrennung vornehmer Leichen dient ein auf vier Pfeilern ruhender
gemauerter Katafalk, unter welchem ein steinerner Sockel für den
Scheiterhaufen steht. Das Innere ist von Rauch geschwärzt. Auf
der spitzzulaufenden Dachkuppel pflegt regungslos eine Schaar
von Aasgeiern zu sitzen; unter den auf Pfählen erhöhten Rasthallen
in der Nähe lauern Horden wohlgenährter Hunde. Die Kosten der
Verbrennung können nur Reiche bezahlen; Aermere und Solche,
die Zerfleischung vorziehen, werden auf einen an den Verbrennungs-
platz grenzenden Acker geworfen, wo Hunde, Raben und Geier sie
gierig verschlingen. Der üppige Wuchs der kriechenden, klettern-
den Rotang-Palme und grossblättriger Sträucher, die stellenweise
den Platz überwuchern, steht in grellem Contrast zur scheusslichen
Staffage: im Gebüsch liegen angefressene Leichen, blutige Knochen
und halbe Gerippe; hier und da qualmen Haufen von Kleidern und
Geräthen der Verstorbenen. Bei ihrer Mahlzeit gestört fliehen die
Bestien scheu auseinander und setzen sich gierig lauernd in der
Runde. — Nach buddistischer Anschauung liegt in der völligen
Vertilgung des Körpers der grösste Segen; die Zerfleischung hat
für sie nichts Widerwärtiges. Die Asche der Verbrannten wird in
den Fluss geworfen oder in alle Winde zerstreut, bis auf kleine
Andenken für die Hinterbliebenen. Nur die Aermsten werden den
Fischen zur Beute unzerfleischt dem Strom übergeben.


Wir hatten Gelegenheit bei Wat Saket der Verbrennung
einer vornehmen Leiche beizuwohnen. Auf dem steinernen Sockel
unter jenem Gebäude war der Holzstoss aus versilberten Scheiten
aufgebaut; darauf stand der hölzerne vergoldete Sarg, der oben
offen, unten mit eisernen Stäben vergittert ist; ein vergoldeter Bal-
[284]Todtenverbrennung. XXI.
dachin wölbte sich darüber. Arme und Beine der Leiche werden
in den Gelenken gebogen und der Körper zusammengeklappt. Zu-
gleich mit dem Scheiterhaufen wurden lose Holzspähne im Sarge
entzündet; letzterer, dessen Wände die Bonzen fleissig mit Wasser
besprengten, fiel erst nach Verkohlung der Leiche zusammen. Die
Leidtragenden warfen brennende Spähne und Kerzen in die Flam-
men. Ringsum stand eine Schaar Musikanten: eine schrillende
Holzpfeife gab die Melodie, dazu wurden fassartige Pauken,
broncene Kessel und horizontal aufgehängte Metallstäbe mit Häm-
mern geschlagen, ein grässlicher Lärm. Dichte Volkshaufen drängten
sich auf den Höfen; in den Rasthallen sassen die Vornehmeren,
ihren Betel kauend, mit starkem Gefolge. Von gemauerten Bühnen
wurden Silbermünzen unter das Volk geworfen; seitwärts standen
Gerüste mit Feuerwerkskörpern zum Abbrennen bei einbrechender
Dunkelheit.


Unter jenen Steingebäuden werden nur Vornehme verbrannt;
für geringere Leichen stehen in einem angrenzenden Hofe gemauerte
Sockel unter freiem Himmel. — Von der Verbrennung eines Mannes
aus dem Mittelstande wurde von Augenzeugen Folgendes erzählt.
Schaaren von Geiern stürzten sich zunächst auf den Sarg und
mussten mit Prügeln vertrieben werden; dann auf die Leiche, die
herausgenommen und auf den Holzstoss gelegt war. Der Wächter
schnitt Fetzen herunter und warf sie den Hunden zu, denen sie
Geier wieder abjagten; dann wurde der Holzstoss angezündet. —
Zu welchen Gräueln Gewöhnung und Aberglauben den Menschen
führen können, zeigt folgender Vorfall, den Sir Robert Schomburgk
dem Gesandteu mittheilte. Ein Bootsmann in seinem Dienst starb
nach kurzer Krankheit an Entzündung der Eingeweide; seine Ge-
fährten aber schworen, ihm sei heimtückischer Weise ein Stück
Rindfleisch beigebracht worden, dessen Genuss dem Buddisten ver-
boten ist; daran sei er gestorben. Sir Robert gab Geld zu seiner
Verbrennung her. Die Leiche war eben halb gebraten, als plötzlich
die anderen Bootsleute sich darauf stürzten, Fetzen Fleisch herunter-
rissen und auffrassen. Zur Rede gestellt behaupteten sie, das sei
kein Menschenfleisch, sondern das verbotene Rindfleisch, das von
dem Verstorbenen gegessen allmälig wachsend den ganzen Körper
verzehrt habe; der Genuss schütze sicher vor gleichem Schicksal.
— Von solchen Zauberphantasieen strotzt der siamesische Volks-
glauben.


[285]XXI. Tempel.

Nach Sonnenuntergang wird die unheimliche Nachbarschaft
gemieden. Nicht nur Todte, sondern auch Lebende sollen dort zu-
weilen verbrannt, und im vorbeifliessenden Wasser bei nächtlichem
Dunkel die Opfer des heimlichen Gerichtes ertränkt werden. 68)


Neben Wat saket liegt die malerische Ruine einer grossen
Backsteinpyramide, deren Bau zu Anfang dieses Jahrhunderts be-
gonnen aber nicht fortgesetzt wurde, weil die Fundamente sanken.
Acht Stockwerke von 12 Fuss Höhe, auf welchen dichtes Gesträuch
wuchert, lagen stufenförmig übereinander; das oberste ist höher.


Ein anderer grosser Tempel, Wat Sudat, zeichnet sich durch
reiche Wandmalereien und ein geräumiges Kloster aus: die Bonzen
wohnen dort in vierzig Gebäuden von hundertzwanzig Schritt Länge,
die in zehn Reihen je vier hintereinander mit etwa fünf Schritt
Zwischenraum stehen und lauter einzelne Zellen enthalten Für
schattige Gärten ist gesorgt; auf einer Seitenterrasse stehen viele
Pavillons, deren Wände ganz kunstreich mit allerlei Gethier bemalt
sind. — Um die Haupttempel laufen breite Steinterrassen mit den
grotesken Figuren holländischer Schildwachen.


Wat Ko Kwei heisst ein Tempel am Menam, dessen Ufer-
façade eine grosse Dschunke darstellt: der Rumpf aus Mauerwerk
ist nach der Wirklichkeit angemalt; die Masten bilden drei hohe
Pratšedi. Der eigentliche Tempel, von der gewöhnlichen Form,
liegt hinter dieser Steinfaçade.


Landschaftliche Reize bieten die meisten Klöster von Baṅ-
kok
; das Innere zu besehen ermüdet man bei der ewigen Wieder-
holung bald. Es giebt in der äusseren Stadt, an den weit verzweig-
ten Flussarmen wohl Hunderte von Tempeln; dort gestaltet sich
die üppige Pflanzenwelt mit den bunten Gebäuden und Hütten zu
einer endlosen Fülle reizender Landschaftsbilder. Mit Benutzung
von Ebbe und Fluth kann man, ohne die Ruderer zu ermüden, in
kurzen Stunden weite Strecken durchmessen.


Einer der breitesten Nebenarme, Kloṅ-katmei, zweigt sich
oberhalb der Binnenstadt vom Strome ab und bespült eine Strecke
deren östliche Mauer, fliesst dann südlich und mündet erst bei den
Consulaten in den Hauptstrom. Im unteren Theil liegen in der
Nähe der Fremdenhäuser viele Reisboote zusammengedrängt, lange
Kähne mit gewölbter Bedachung aus Flechtwerk. Am Ufer stehen
[286]Nebenarme des Menam. XXI.
dort in offenen mit Palmblättern gedeckten Schuppen eine Menge
Reismühlen, wo die Körner vor der Verladung von der äusseren
Hülse befreit werden. Weiter hinauf liegt ein kleines Fort im
üppigsten Uferdickicht. Dann kreuzen den Kloṅ mehrere belebte in
die Stadt führende Rinnsale; hier und da spiegelt sich ein
schmucker Tempelbau. Nah der Binnenstadt liegen, theils im Ufer-
morast vermodernd, theils in Schuppen verwahrt, Hunderte langer
Kanonenboote, zum Rudern eingerichtet, mit vergoldetem Zierrath
und erhöhtem Vorder- und Hintertheil, wo die Geschütze stehen
sollen.


Je näher der Binnenstadt, desto belebter sind die Wasser-
gassen, besonders an Kreuzungen. Fünfjährige Kinder rudern sich
behende in Nussschalen herum; was uns ein Paar Schuhe, das ist
dem Siamesen sein Boot. Abends bei eintretender Kühlung wim-
melt es in den Canälen; jeden Augenblick glaubt man anzurennen;
da werden noch Lebensmittel, besonders köstliche Früchte aus-
gerufen; aber die Fischboote hauchen unnahbaren Duft. — Dann
kleidet sich der Himmel bis zum Zenith in glühendes Gold; ein
Feuermeer spiegelt die Masten, Pyramiden und fedrige Palmen
wieder. Auf die Wipfel der Tempelgründe senken sich, vom Fisch-
fang heimkehrend, wolkenähnliche Reiherschaaren.


Wie Kloṅ-katmei die östliche, so umfliessen zwei stärkere
Arme, Kloṅ Baṅpraṅ und Kloṅ Baṅkok Noi die westliche
Hälfte der Stadt. In der Nähe des Hauptstroms tragen sie Reihen
schwimmender Häuser; weiter entfernt sind die Ufer ganz ländlich,
nur einzelne Häuser liegen dort in dichten üppigen Gärten. In
allen Wassergassen stehen, auf Pfähle gesetzt, viele winzige Tem-
pelschreine von Holz, die Andächtige mit Goldflittern und Blumen
schmücken. Andere grössere Capellen an den Ufern enthalten
Priapusbilder von drei Fuss Höhe, die meist unter Opferkränzen
und Blumen begraben sind.


Das königliche Lustschloss der Lotosblume liegt an einem
von Osten einströmenden Arm, dessen Ufer vorwiegend von Ma-
layen bewohnt sind; ihre unsauberen Hütten stehen auf Stelzen wie
in den Sumpf gesteckt. Von unglaublicher Ueppigkeit ist hier der
Pflanzenwuchs: die Nipa, — eine gefiederte Pandanee, — und eine
stammlose Sumpfpalme säumen das Wasser mit mächtigen Wedeln;
darüber lehnen allerlei Bambus, Cocos-, Areca-Palmen und die dop-
peltgefiederte Caryota urens zwischen durchsichtigen Casuarinen,
[287]XXI. Besuche.
grossblättrigen Artocarpeen, dichten Ficus und hundert anderen
Laubbäumen. Hier und da streckt eine Urania den breiten regel-
mässigen Fächer in die Luft. — Das »Lustschloss« bilden einige
Backsteinhäuschen und Holzbuden, die, obwohl noch ganz neu,
doch schon baufällig waren, so verderblich wirkt die Feuchtigkeit.
Am Hauptgebäude führt eine Treppe zu einer Loggia hinauf, wo
der König zu thronen pflegt, während die Prinzen und Grossen auf
den Stufen kauern. Daran stösst ein Teich, in dessen Mitte auf
künstlichem Hügel ein verfallener Pavillon steht. Von da über-
sieht man das flache Reisland, das, zur Regenzeit überschwemmt,
beim Blühen des Lotos den reizendsten Anblick gewähren soll.
Jenseit des Teiches liegt ein der heiligen Pflanze geweihtes Tempel-
chen mit unvollendetem Pratšedi.


Der Gesandte tauschte mit den siamesischen Grossen viel-
fach Höflichkeiten aus und besuchte unter Anderen den Bruder des
Kalahum, Phaya Muntri Sri Surivoṅ, der als Chef der Gesandt-
schaft in England und Frankreich gewesen war. Eine Londoner
Photographie stellte ihn im prächtigen Staatskleide dar; zu Hause
trug er ausser der eigenen Haut nur einen achtzehn Zoll langen
Saroṅ. Auch seine wohlbeleibte Gemahlin, zu der Surivoṅ den
Gesandten führte, war nicht übermässig mit Stoffen beschwert.
Seine Wohnung hatte er nach englischem Muster bequem und ge-
schmackvoll eingerichtet; die Wände zierten gute Stiche und Photo-
graphieen. Die siamesischen Kostbarkeiten — ausser den gewöhn-
lichen Betelschalen, Kasten, Dosen und Spucknäpfen von rothem
und gelbem Gold eine schöne Sammlung hinterindischer Dolche
mit reichgearbeiteten Heften und Scheiden — füllten einen grossen
Glasschrank. Unter den Insignien seiner Würde zeigte er besonders
einen ihm vor kurzem als Zeichen des höchsten Ranges vom König
verliehenen goldenen Theetopf. — Vor dem Hause lag ein hübscher
Dampfer, den Surivoṅ dem Gesandten für Ausflüge zur Verfügung
stellte.


Bei einem Diner, das der Kalahum dem Gesandten und den
Commandeuren der Kriegsschiffe gab, trugen die Grossen am Ober-
körper europäische Uniform. Der Wirth erschien in grünem gold-
gesticktem eng anschliessendem Waffenrock; der Saroṅ war diesmal
[288]Das Schwingfest. XXI.
nicht beinkleidartig gefaltet, sondern fiel wie ein Unterrock bis auf
die Knöchel herab. Der corpulente Surivoṅ und der Sohn des
Kalahum, — der zweite Gesandte, — trugen sogar Schuhe und
Strümpfe. Am besten kleidete die Uniform einen vierzehnjährigen
Enkel des Kalahum, der ebenfalls die Gesandtschaft nach Europa
begleitet und in Paris, wie seine Verwandten stolz erzählten, von
der Kaiserin einen Kuss bekommen hatte. Tafelgeräth und Bedie-
nung waren glänzend, die Speisen aber grossentheils kalt; die pein-
liche Erregung des Wirthes, der nicht aufhörte die Dienerschaft
anzuherrschen, zeigte Mangel an Uebung und Sicherheit. Im Hof
spielte das Musikcorps der Arkona, dann ein siamesisches Orchester.
— Die Gemächer des Kalahum sahen nicht so festlich aus wie beim
ersten Besuch; alle kostbaren Geburtstagsdarlehne waren ver-
schwunden.


Am 8. Januar wurde auf dem früher beschriebenen freien
Platz vor der Palaststadt des ersten Königs das Schwingfest gefeiert,
das vorderindischen Ursprungs ist. Die Brahminen, deren Tem-
pel an jenem Platze liegt, sollen zu Leitung aller bürgerlichen
Feste in Siam berufen sein; beim Schwingfest sind sie die Haupt-
personen. Ueber ihre Stellung zum Buddismus konnten wir keine
Klarheit gewinnen; sicher haben sie bei den Hofceremonieen wichtige
Functionen und stehen in directen Beziehungen zum Thron. Die
weltregierende Gottheit, welche im Brahminentempel zu Baṅkok
verehrt wird, scheint in das buddistische Pandämonium aufgenom-
men zu sein.


Auf dem Platz drängte sich eine bunte Volksmenge, als
wir gegen vier Uhr Nachmittags eintrafen. Gegen halb fünf kam
der königliche Zug: voran vier grosse Elephanten mit prächtigen
goldgefassten Stosszähnen; dann eine Schaar Polizeidiener mit
Ruthenbündeln, ähnlich den Fasces der römischen Lictoren, und
auf struppigen Ponies zwei Hofdamen der verstorbenen Königin,
komisch aufgeputzt in zerknitterter pariser Abendtoilette; ganz weiss
geschminkt, mit modernen Chignon-Perrücken, glichen sie auf den
trippelnden Pferdchen aufs Haar verkleideten Clowns aus dem Cir-
cus. Hinter ihnen schritten gravitätisch vier mächtige Elephanten
im reichsten Geschirr, auf den breiten Rücken eine Schaar Königs-
kinder tragend, die uns jubelnd begrüssten; in Festgewänder ge-
kleidet, mit schimmerndem Goldschmuck sahen sie bunt und prächtig
aus. Hinter jedem Elephanten gingen, lustig plaudernd wie andere
[289]XXI. Das Schwingfest.
Kammerzofen, über hundert Dienerinnen in bunten seidenen Saroṅ’s
und Schärpen; diesen Theil des Zuges begleitete zu beiden Seiten
die Amazonengarde, meist alte, hässliche Weiber von schwächlichem
Aussehn in ungeschickten rothen Röcken und blauen Hosen, mit
verrosteten Bajonetflinten bewaffnet.


Nun folgte ein bezopftes Musikcorps mit vielen Gongs, voran
ein baumlanger Kerl als Fahnenträger, dann Possenreisser in Thier-
masken. Der als Phaya Phollateph oder »Herr der Himmlischen
Heerschaaren« fungirende jüngere Bruder der Kalahum, Phaya
Wara Poṅ
, wurde, in die reichsten Gewänder gehüllt, mit könig-
lichem Diadem und prächtigen Spangen geschmückt, auf goldenem
Sessel getragen, voraus viele Officiere und Hofbeamten in glänzender
Tracht, hinterher mehrere Reihen Krieger mit zweihändigen Schwer-
tern, sensenartigen Hellebarden, Lanzen und bunten seidenen Fähn-
chen. Die Soldaten, — etwa tausend, — welche die Procession
auf beiden Seiten escortirten, hatten bunt durcheinander orange-
und rosenfarbene, gelbe, grüne, rothe Röcke an, sahen aber trotz
der bunten Bewaffnung mit Schilden, Spiessen und Säbeln aller
Länder und Zeiten keineswegs martialisch aus; die Kleider waren
diesmal wenigstens neu, nicht abgetragen und zerlumpt, wie bei der
feierlichen Audienz. — Ein zweites chinesisches Musikcorps schloss
den Zug.


Phaya Wara Poṅ nahm seinen Sitz unter einem Zelt, seine
Begleiter, deren Säbel von Juwelen strotzten, kauerten vor ihm zur
Erde; die Truppen stellten sich ringsum. Mitten auf dem Platz
stand ein wohl hundert Fuss hohes Gerüst mit einer Schaukel, auf
deren etwa dreissig Fuss über dem Boden schwebendem Brett vier
Männer mit Galgengesichtern und spitzen weissen Mützen sassen, —
keineswegs der Vorstellung entsprechend, die man sich von Brah-
minen macht. An einer entferntstehenden Bambusstange war in der
Schwingungscurve des Schaukelbrettes ein goldgefülltes Beutelchen
aufgehängt, das die Schaukler mit den Zähnen herabreissen sollten.
Als die Schwingungen gross genug waren, zog man von unten den
Strick fort, der die Schaukel bewegte, und überliess das Uebrige
den Brahminen, die aus allen Kräften arbeitend dieselbe wohl in
Gang hielten, das Beutelchen aber mit dem Munde nicht haschen
konnten und zuletzt mit den Händen abrissen. Es sah halsbrechend
aus; die Länge des Pendels schätzten wir — vielleicht zu hoch —
auf siebzig Fuss, und die Höhe des Aufschwunges war so bedeutend,
IV. 19
[290]Privataudienz beim Ersten König. XXI.
dass die Schaukler fast wagerecht standen. Dreimal wurde das
Spiel wiederholt. Darauf erschienen die zwölf Brahminen mit
grossen Büffelhörnern vor dem Zelt, schritten unter rythmischen
Gebehrden um ein dort aufgestelltes Becken mit Weihwasser, tauch-
ten gleichzeitig die Büffelhörner hinein und bespritzten rückwärts
das zudringende Volk. — Der als Phollateph fungirende Phaya
Wara Poṅ
hatte die ganze Zeit sein rechtes Bein über das linke
Knie gelegt und hielt es mit der Hand; ihn bewachten vier Priester,
die das Recht haben, ihm den kostbaren Schmuck abzunehmen,
wenn sein rechter Fuss während der Ceremonie den Boden berührt.
Nach altem Brauch soll der Phollateph auf dem linken Fuss die
ganze Zeit aufrecht stehen. — Ueber die Bedeutung des Festes
wusste Niemand rechte Auskunft zu geben.


Am Nachmittag des 13. Januar begaben sich der Gesandte
und seine Begleiter zu einer Privataudienz beim Ersten König, der
sie in einem grossen Staatsboot abholen liess. In den inneren Höfen
des Palastes, durch welche diesmal der Weg führte, standen Ge-
schütze von grosser Länge; eine mächtige Volière, wohl tausend
Vögel enthaltend, spannt dort ihr Drahtgitter über mehrere Bäume.
In einer Halle nah dabei wurden eben die preussischen Geschenke
ausgepackt, darunter das Porträt Seiner Majestät des Königs, eine
Buchdruckpresse mit siamesischen Lettern und ein electromagne-
tischer Telegraph. — König Maha-moṅkut kam herbei und verweilte
lange sinnend vor dem Bildniss, liess sich dann den Telegraphen
erklären und äusserte viel Freude über die Geschenke. Graf Eulen-
burg
bat einige Kleinigkeiten unter die königlichen Kinder vertheilen
zu dürfen, was der Vater mit sichtlichem Vergnügen erlaubte; jauch-
zend vor Lust griffen die Kleinen nach den hübschen Bernstein- und
Achatsachen und anderen Spielereien; immer mehr kamen herbei,
zuletzt auch die kleinsten in den Armen der Wärterinnen, darunter
elf aus einem Jahrgang. Der König nahm den heitersten Antheil.
Er führte den Gesandten nachher in das Gebäude, wo die Leiche
der Königin bis zur Verbrennung beigesetzt war: eine nicht ganz
bis zur Decke reichende Wand theilte den grossen Saal in zwei
Hälften, in der einen stand auf einer mit Goldstoff und Teppichen
verhängten, mit Leuchtern und Vasen bedeckten Estrade eine über
fünf Fuss hohe juwelenverzierte goldene Urne, in welcher die Leiche
lag. Auf der untersten Stufe waren drei Thonfiguren aufgestellt,
einen Alten, einen Kranken, einen Todten darstellend; sie sollten ver-
[291]XXI. Einsargung königlicher Leichen.
sinnlichen, dass jeder Mensch dem Alter, der Krankheit und dem
Tode verfallen ist. Daneben hatte der König die Condolenzschrei-
ben seiner europäischen Freunde niedergelegt. Rechts und links
vom Katafalk lagen die Rang-Insignien der Königin; neben der
Thür hing ihr photographisches Porträt nebst einer Tafel, auf der
ihr Geburts- und Todestag, auch das Datum ihrer Erhebung ver-
zeichnet standen. — Gegenüber diesem Raume sassen fünf Priester,
Gebete singend. Der Ernst des Königs und die Andacht der Kinder,
die sich betend vor der Urne niederwarfen, machten den feierlichsten
Eindruck.


Ueber die Einsargung von Mitgliedern des Königshauses, —
die vor der Verbrennung, der König über ein Jahr, alle anderen
über sechs Monate, meist bis zur trockenen Jahreszeit beigesetzt
werden, — hörten wir Folgendes. Die Leiche wird von den Ver-
wandten gewaschen und aus silbernen Gefässen mit kaltem Wasser
gebadet, dann in sitzender Stellung eingehüllt, mit wohlriechenden
Harzen übergossen, mit Weihrauch und Myrrhen bestreut, in Lei-
chentücher gewickelt und in die goldene Urne gesetzt, deren Boden
ein Gitter bildet. Diese Urne stellt man in eine grössere juwelen-
besetzte, unten spitz zulaufende, aus welcher täglich die Flüssig-
keiten abgelassen werden, bis der Körper ausgetrocknet ist; Bonzen
schütten die Abgänge unter Gebeten in den Strom. Später wird
die Urne mit allen Insignien des Verstorbenen nach dem Tempel
Mahaphrasat gebracht und bleibt dort bis zur Verbrennung stehen.
— Der Leichenzug von da zum Scheiterhaufen muss sehr prächtig
sein. Die goldene Urne wird auf altfränkischem Elfenbeinwagen von
vier milchweissen Pferden gezogen; voraus fahren zwei andere
Wagen, der erste mit Priestern, die fromme Sprüche lesen, der
zweite mit den Brüdern des Verstorbenen; ein mehrere Zoll breiter
Streifen Silberbrocat läuft von der Urne über den nächsten Wagen
bis zu dem der Priester und soll symbolisch die Verbindung zwischen
Leben, Tod und Budda darstellen. Hinter der Urne folgt ein Wa-
gen mit Sandelholzscheiten, Wachskerzen und Weihrauch. Gel-
lende Musik mit Pauken und Pfeifen geleitet den Zug. Findet die
Verbrennung bei einem der Tempel am jenseitigen Ufer statt, so
trägt das Leichenboot einen prächtigen Baldachin und wird von
vielen Staatsbooten bugsirt und begleitet.


Solche Procession fuhr eines Abends am Gesandtschafts-
hause vorüber nach Wat Kalaya; alle Boote waren hell erleuchtet,
19*
[292]Todtenverbrennung. XXI
besonders das grosse Staatsboot mit der Leiche, an dessen Balda-
chin viele Laternen hingen. Die Verbrennung geschah am folgen-
den Tage. Zwischen den Bäumen vor dem Tempel stand ein hoher
Katafalk, mit weissem goldbesterntem Stoff behangen; innerhalb
führten mehrere Stufen zu einer Estrade hinan, auf welcher der
Holzstoss aus versilberten Scheiten aufgebaut war; oben darauf
unter einem von vier vergoldeten Stäben getragenen leichten Balda-
chin der sargartige unten vergitterte Kasten in weisse Decken ge-
hüllt; es war die Leiche eines dem Könige nahe stehenden Grossen.
Ein breiter Bandstreifen hing aus dem Sarge und wurde von fünf
am Fuss der Estrade sitzenden Bonzen gehalten, die Gebete sangen
und von Zeit zu Zeit das Band immer weiter herauszogen: das
soll andeuten, dass Gebete die Sünden von dem Verstorbenen
wegnehmen.


Um den Katafalk lagerten vornehme Siamesen, am Ufer
standen Soldaten aufmarschirt. In einer von Amazonen bewachten
Tempelhalle befanden sich Frauen aus dem Harem des Ersten Kö-
nigs, dessen Kinder ihm bei seinem Erscheinen gegen Abend froh
entgegenrannten. Nun kroch Alles am Boden; nur die Spalier bil-
denden Soldaten blieben zweibeinig, folgten aber, als der König auf
den Katafalk zuschritt, präsentirend mit komisch verdrehtem Kör-
per allen seinen Bewegungen. Vor dem Scheiterhaufen verrichtete
er ein Gebet, beschenkte die Priester mit neuen Gewändern und
zündete den Holzstoss an, nachdem er eine Blume in den Sarg ge-
worfen. Dann traten die leidtragenden Frauen, in weisse Gewänder
gehüllt, und die Königskinder heran, um Wachskerzen in das Feuer
zu werfen, während einige Trabanten rothe Beutelchen mit Silber-
geld unter das Volk warfen. Der König hockte eine Weile auf
einem Stein und zog sich bald zurück; dann traten auch die Grossen
heran, warfen Wachskerzen in die Flammen und zerstreuten sich.
Die ganze Feierlichkeit dauerte eine halbe Stunde.


Weit prächtiger war die Verbrennung eines Halbbruders des
Königs bei Wat Džeṅ, die bald darauf stattfand. Der siebzig Fuss
hohe Katafalk ruhte auf einer vier Fuss hohen Estrade, deren
Wände künstliche Felsen darstellten, mit Büschen, Affen und an-
deren Thieren aus Papiermasse. Zwei Treppen führten zum Estrich
hinan, wo auf einer mit reicher Goldzier geschmückten Erhöhung
der vergoldete Sarg mit der Leiche stand; zwei andere Särge zu
seinen Füssen, einen Sohn und eine Tochter des Verstorbenen ber-
[293]XXI. Todtenverbrennung.
gend, die zugleich verbrannt werden sollten, waren mit jenem durch
Streifen von Goldbrocat verbunden. — Von dem mit weissem Zeug
und Goldflittern ausgeschlagenen Katafalk hingen Vorhänge aus
demselben Stoff herab, liessen aber, gardinenartig aufgenommen,
an allen Seiten den Blick auf den Sarg frei; das reichverzierte
vergoldete Dach verjüngte sich in stufenförmigen Absätzen zu einer
schlanken Spitze. Das Innere zierten viele Hängelampen, Vasen
und Kostbarkeiten aus Gold, Glas, Porcelan, Alabaster, künstliche
Blumen, Vögel, Kinder- und Engelgestalten. — Rings um den Kata-
falk standen Altäre mit sonderbarem Geräth, dazwischen die Zeichen
des Königshauses, mehrstöckige Sonnenschirme aus Holz und buntem
Papier, und hohe Stangen mit Feuerwerkskörpern; dieser ganze
Raum war im Viereck mit schweren Vorhängen abgezäunt, inner-
halb deren vor dem Katafalk eine offene Halle lag.


Ausserhalb drängte sich das Volk; wir machten, von einem
Bruder des Königs geleitet, einen Rundgang durch die Schaustel-
lungen; da gab es chinesische Theater, malayisches, siamesisches
Ballet, Puppenspiele, Jongleure, Declamatoren und Seiltänzer. Auf
dem chinesischen Theater wurde mit kerniger Mimik eine Posse
gespielt. Die siamesischen Tänzerinnen trugen phantastische Masken
von Helden und Dämonen, kauten und spieen aber trotzdem ihren
Betel und vollzogen ihre conventionellen Verdrehungen mit grossem
Phlegma; hinter jeder stand eine Person im Alttagscostüm und
sagte laut deren Rolle her. — An einer anderen Stelle wurden mi-
mische Tänze, ebenfalls mit Declamation, von Thiermasken auf-
geführt; das Orchester bestand aus halbwachsenen Kindern mit
gefärbten Gesichtern in buntem Lappenputz. — Die malayischen
Bayaderen waren ziemlich abschreckend, die ältere wohl sechszig-
jährig, die jüngere sehr pockennarbig, ihre Kleidung schmutzig und
zerlumpt. Bühne stand an Bühne; hier verschlang ein Ungeheuer
den Mond, dort der Jongleur einen Stein; wir wurden des Ge-
dränges bald müde.


Nach Sonnenuntergang empfing Prinz Khroma-luaṅ den Ge-
sandten innerhalb der verhängten Einzäunung; dort erschien gleich
darauf der König, voraus die Garden, Spiessträger und Trabanten
mit Revolverbüchsen. Er nahm in der Halle vor dem Katafalk
Platz; etwa dreissig Schritt vor ihm lagen die Prinzen, Minister und
Hofleute in Reihen auf allen Vieren. Auf einige laut gesagte Worte,
die ziemlich barsch klangen, kroch die ganze Schaar in Colonnen
[294]Todtenverbrennung. XXI.
bis zum Fuss des Thrones heran, um Goldgeschenke zu empfangen.
— Die vollständige Ausstattung für etwa vierzig Priester enthielten
ebensoviele innerhalb der Einzäunung aufgestellte Glasschränke:
Ballen gelben Stoffes zu Gewändern, Theeservice, europäische
Schnapsgläschen, Almosentöpfe und vielerlei Hausgeräth; auf jedem
Schrank lag ein mit Gebeten beschriebener Fächer und ein baum-
wollener europäischer Regenschirm, wie ihn bei uns die Bauern
tragen; davor aber stand das nothwendigste Requisit des siame-
sischen Bonzen, ein niedliches Ruderboot.


Während der Hof seine Geschenke erhielt, warfen Trabanten
von einigen Gerüsten Silbermünzen unter das Volk. Unterdessen
verzehrte der Gesandte mit seinen Begleitern eine in einer Neben-
halle für sie aufgetragene Mahlzeit, die leidlich zubereitet, aber
kalt war. — Nachdem darauf ein Bonze unter ohrenzerreissender
Musik vor dem König gepredigt hatte, wurden Schattenspiele auf-
geführt: man bewegte die aus schwarzem Papier geschnittenen Fi-
guren, — phantastische Krieger, Ungeheuer, Dämonen, — vor
grossen von hinten beleuchteten Schirmen; auch dazu lärmten die
Musikanten mörderlich. Dann zündete der König eigenhändig das
Feuerwerk an und nahm mit seinen Kindern auf dem Estrich des
Katafalkes Platz, wohin der Phraklaṅ auch den Gesandten führte.
Im strahlenden Lampenlicht sah der Bau mit der malerischen
Staffage sehr prächtig aus; der König selbst war ganz weiss, in die
Farbe der Leidtragenden gekleidet. Er zeigte dem Gesandten den
Entwurf eines Schreibens an Seine Majestät den König von Preussen
und äusserte selbstgefällig, dass er ihn ganz allein, ohne Hülfe in
englischer Sprache niedergeschrieben habe. — Das Feuerwerk war
prächtig, der Jubel des Volkes laut und lärmend. Gegen halb zehn
zog man sich zurück.


Die Lustbarkeiten dauerten die beiden folgenden Tage; die
Verbrennung geschah am zweiten gegen Abend. Der spitzige Deckel
des Sarges war entfernt, der obere Theil des Katafalkes abgebaut,
der freie Raum zwischen diesem und dem gegenüberliegenden Theil
der Halle dicht verhängt für die Damen des Harem. In ihrer
unverhüllten Hälfte thronte der König mit achtzehn seiner Kinder,
setzte sich aber bald auf die oberste Treppenstufe am Eingang und
rief den Gesandten heran: bei Leichenfeierlichkeiten fordere die
Sitte, dass alle Anwesenden Geschenke erhielten; er wünsche diesen
Brauch auf die Fremden auszudehnen. Darauf händigte er Jedem
[295]XXI. Todtenverbrennung.
ein Pappkästchen mit Glasdeckel ein, in welchem zwischen künst-
lichen grünen Blättern Schmetterlinge und Blumen aus dünnem
Goldblech, goldene Ringe und kleine Gold- und Silbermünzen
lagen, — ausserdem ein Säckchen mit Limonen, die ebenfalls voll
kleiner Münzen steckten. Aehnliche Kästchen erhielt Graf Eulen-
burg
für Ihre Preussischen Majestäten und das kronprinzliche Paar.


Bald darauf erhob sich der König, ging an den in drei
Reihen auf den Stufen knieenden Bonzen vorbei, die hinter Fächern
Gebete murmelten, stieg zum Sarge hinan, goss Weihwasser in den-
selben, kniete dann betend auf der untersten Treppenstufe nieder,
verneigte sich dreimal gegen den Sarg, dreimal gegen die Bonzen,
und vertheilte an letztere Geschenke, meist Ballen gelben Stoffes,
die seine Kinder ihm geschäftig zureichten. — Nun wurde das
breite aus dem Sarge hängende Band entfernt; der König stieg
wieder hinauf, steckte mit einer ihm gereichten Fackel den Holz-
stoss an, trat bis zum Rand der Estrade zurück und setzte mit
einem an langem Stabe befestigten Licht eine dünne Röhre mit
Feuerwerkssatz in Brand, die um den Katafalk lief. Weiss geklei-
dete Herolde mit hohen spitzen Mützen warfen unterdessen wieder
Geld unter das Volk; der König kehrte zu seinem Thron in der
Halle zurück und theilte münzengespickte Limonen an seine Höf-
linge aus, die auf allen Vieren herankrochen. Ein Feuerwerk be-
schloss den Abend.


Am nächsten Morgen fuhr eine Procession prächtig decorir-
ter Staatsboote den Fluss hinab; im grössten befand sich die
Asche des verbrannten Prinzen, welche bis auf einen kleinen zu
Andenken für die Verwandten bestimmten Theil unterhalb der
Stadt in den Fluss geschüttet wurde. Oft wird die Asche in kleine
Götzen aus Silberblech eingeknetet, die man in der Tasche tragen
kann, zuweilen auch unter einem Pratšedi begraben, oder mit
Kalkwasser vermischt zum Anstrich der Tempelwände verbraucht.
Die Knochenreste der allerhöchsten Personen werden in goldener
Urne im Tempel Maha-phrasat beigesetzt.


Bei manchen Verbrennungen sind die Anstalten noch
prächtiger; die Ausstellung unter dem Katafalk und die Lustbarkeiten
dauern oft vierzehn Tage; dann wird die goldene unten vergitterte
Urne auf den Holzstoss gesetzt. Die vier Hauptpfosten des Kata-
falkes müssen frisch gehauene Tekastämme von gradem Wuchs
bilden; man erzählt von 200 Fuss hohen Bäumen und 60 Fuss hohen
[296]Die Missionare. XXI.
vergoldeten Dachspitzen, Himmeln von Goldstoff und dergleichen;
Verschwendung und Phantasie scheinen dabei keine Grenzen zu
kennen. Zum Anstecken des königlichen Scheiterhaufens soll nur
eine am Blitz oder durch Reiben trockenen Holzes entzündete
Flamme gebraucht werden. Alle Siamesen ausser den älteren
Prinzen müssen nach des Königs Tode das Haupt rasiren.


Die Bedeutung der abergläubischen Gebräuche zu ergründen,
an denen Siam so reich ist, wäre bei der bodenlosen Ungereimtheit
des verdorbenen Buddisums eine Danaidenarbeit; vergebens sucht
man nach Anknüpfungspuncten in der Wirklichkeit und der mensch-
lichen Natur. Eine platte Symbolik und gesuchte Allegorieen lassen
sich hier und da wohl erkennen, und dass manche Gebräuche
tieferen Sinn haben, soll gewiss nicht bestritten werden; das Meiste
scheint aber unverfälschter Blödsinn zu sein. — Die Missionare
sammeln eifrig Beiträge zur Kenntniss des Landes und Volkes;
die americanischen namentlich haben in ihrem jährlich gedruckten
Bankok Almanac schon allerlei Aufschlüsse gegeben. Mit den
Presbyterianern und den Baptisten zählte die protestantische Mis-
sion 1862 siebzehn Mitglieder, die in Baṅkok zerstreut wohnten.


Die katholische Mission hat sich nie wieder zur alten Blüthe
erhoben, doch wohnen in Siam und den Grenzländern zerstreut
noch immer Reste der im 17. Jahrhundert gegründeten Gemeinden,
die unter Aufsicht des in Baṅkok residirenden päpstlichen Vicars
von französischen Seelsorgern theils verwaltet, theils bereist werden.
Der Bischof von Mallos, Monseigneur Pallégoix, lebte schon über
dreissig Jahre in Siam und genoss bei Eingebornen und Fremden
der höchsten Achtung; König Maha-moṅkut verkehrte namentlich
in der Zeit seines Klosterlebens mit ihm. Er wohnte mit seinem
Caplan in einfachem siamesichem Hause bei der 1814 gebauten
kleinen Kirche de l’Assomption, wo Graf Eulenburg ihn besuchte.
Kaum sechzig Jahre alt machte der Bischof den Eindruck eines
hinfälligen Greises; er sprach langsam und rang mühsam nach dem
Ausdruck, doch zeugten seine Worte von geistiger Klarheit und
Frische. Entbehrungen und Mühen verzehren im tropischen Klima
schnell die Kräfte des Fremden. Die Missionare bezogen, der
Bischof 1500 Francs, die zehn katholischen Seelsorger seines
Sprengels ein Gehalt von 600 Francs jährlich; sie konnten davon
nur siamesisch leben und hatten doch so manchem Anspruch des
Elends zu genügen. Ihre 1835 neu gegründete Schule in Baṅkok
[297]XXI. Die Missionare.
hatte anfangs so starken Zulauf, dass die Geistlichen der Arbeits-
last nicht gewachsen waren und vielfach erkrankten; auch
das Seminar zu Ausbildung eingeborner Lehrer, das unter Phra
Naraï
’s
Herrschaft so glänzende Erfolge hatte und später mehrfach
wieder ins Leben gerufen wurde, litt damals Geldmangel.


Monseigneur Pallégoix erwiederte des Gesandten Besuch und
wurde bei der Unterhaltung sehr lebendig. Er hatte für die Kennt-
niss des Landes viel gethan und ein umfassendes Werk darüber
herausgegeben, »wollte auch, da sich seitdem neuer Stoff anhäufte,
gern noch mehr über Siam schreiben, wenn er nicht seit sechs
Jahren erblindet wäre«. Er überlebte unsere Anwesenheit nicht
lange. — Nach dem Eindruck, den wir empfingen, ist die Wirk-
samkeit der katholischen Mission heut eine weniger glänzende aber
tiefer greifende, als die der Jesuiten in früheren Jahrhunderten,
die in ihren Schriften mit dem Umfang der Bekehrungen unerlaubt
prahlen und sich besonders der grossen Zahl — in die Tausende
— von Taufen rühmen, die sie jährlich an sterbenden Kindern
vollzogen. — Die Erfolge der protestantischen Missionare entziehen
sich nothwendig der Beobachtung, da ihre ganze Wirksamkeit eine
individuelle, keine disciplinirte ist, weil jede Secte und jede Mis-
sionsgesellschaft ihren eigenen Weg geht, und die Kräfte sich zer-
splittern. Auf einzelne Proselyten mögen protestantische Missionare
tieferen Einfluss üben als die katholischen; die Zahl ihrer Bekeh-
rungen ist aber klein. Ihr grösstes Verdienst besteht wohl in Er-
forschung der siamesischen Sprache und Literatur und in Ueber-
setzung von Bibelabschnitten in das Siamesische.


Unser gütiger Nachbar Prinz Khroma-luaṅ ermüdete nicht
in Freundschaftsbeweisen; eines Tages lud er den Gesandten zu
einem Hahnenkampf ein. Die kreisrunde Arena von etwa zehn Fuss
Durchmesser fasste halbmannshohes Korbgeflecht ein, um das sich
viele Siamesen drängten; der Gesandte und seine Begleiter nahmen
auf einer kleinen Estrade Platz. Es trat eben eine Pause ein, die
nach jedem etwa sechs Minuten dauernden Gange von den Eigen-
thümern benutzt wird, um den Kämpfern Wasser zu geben und die
Wunden zu waschen. — Die Hähne waren so gross wie die cochin-
chinesischen, doch viel schlanker gebaut. Fünf Gänge hatten sie
gemacht, die Spannung der Zuschauer stieg auf das Höchste; sie
begleiteten jeden Schnabelhieb mit Gebrüll und wetteten, wie der
Dolmetsch sagte, zum Belang von 200 Tikal. Erwischte einer der
[298]Hahnenkampf. Musik. XXI.
Kämpen einen tüchtigen Hieb, so lief er dicht an seinen Gegner
heran und steckte seinen Kopf unter dessen Flügel. Nach zwei
weiteren Gängen war die Schlacht entschieden: einer der Hähne
wurde zweimal niedergeworfen, nahm zwar jedesmal muthig den
Kampf wieder auf, drehte aber endlich seinem Gegner den Rücken,
womit nach siamesischem Brauch das Spiel enden musste. Die sieg-
reiche Parthei der Wettenden erhob gellendes Jubelgeschrei, die
Verlierenden blieben sehr ruhig; einige der Betheiligten waren in
die Arena gestiegen und rutschten hockend am Rande hin und her,
um den Hähnen auszuweichen.


Graf Eulenburg hatte das Musikcorps der Arkona mitgenom-
men, für dessen Leistungen die Siamesen lebhaftes Interesse zeigten.
Prinz Khroma-luaṅ meinte, bei uns unterscheide sich die traurige
und fröhliche Musik vorzüglich durch das Zeitmaass; bei jener sei
es langsam, bei dieser schnell. In Siam habe das Tempo andere
Bedeutung: schnelle Stücke spiele man beim Ausmarsch von Truppen,
bei öffentlichen Processionen, überall wo grössere Menschenmassen
in Bewegung wären; langsame und feierliche dagegen beim Auftreten
vornehmer Personen. — Der alte Dirigent der prinzlichen Capelle
folgte auf einer Holzharmonika ganz richtig den Melodieen unserer
Bläser; der Prinz pries dessen musikalisches Gedächtniss, das ihn be-
fähige, jedes Stück nach dreimaligem Hören nachzuspielen. — An
demselben Abend kamen die von Musikmeister Fritze und seinen
Hautboisten seit kaum drei Wochen unterrichteten siamesischen
Musikanten nach dem Gesandtschaftshause, um Graf Eulenburg
etwas vorzuspielen. Sie bliesen zuerst allein, dann mit unserem
Musikcorps den preussischen Präsentirmarsch, den Zapfenstreich
und Heil Dir im Siegerkranz zwar nicht entzückend, aber für die
kurze Zeit ihres Unterrichts doch erstaunlich richtig. Sie hatten
vorher weder eine Ahnung von musikalischen Noten, noch von Be-
handlung der Blasintrumente.


Einige Tage darauf, am 29. Januar, spielten die siamesischen
Bläser zum ersten Mal vor ihrem König, der mit seinen Frauen aus
der Audienzhalle zuhörte. Zugleich fanden Ballspiele und Pferde-
rennen in den Höfen statt. Zum Beschluss bliesen die Siamesen
eine von Musikmeister Fritze componirte »siamesische National-
hymne«, welche der König »Die glückliche Blume« taufte.


An demselben Tage begann die Feier des chinesischen Neu-
jahrsfestes; das Feuerwerk knallte die ganze Nacht. Unsere chine-
[299]XXI. Der Vertrag.
sischen Diener stellten rings im Hause kleine Opfer von Kuchen,
Glimmkerzen und Schnitzeln Silberpapier hin, schmausten, zechten,
brannten uns unter der Nase ihre Schwärmer ab und horchten auf
keinen Befehl.


Gleich nach Ankunft in Baṅkok hatte Graf Eulenburg die
ansässigen deutschen Kaufleute gefragt, ob die früher mit Siam ge-
schlossenen Verträge schädliche Bestimmungen oder Lücken ent-
hielten; der fast gleichlautende Entwurf des preussischen sollte
nach ihren billigen Wünschen modificirt werden. Die Kaufleute
bemängelten zunächst einen Artikel, nach welchem siamesische von
Fremden in Dienst genommene Unterthanen, die einem bestimmten
Herrn gehörten oder Dienst schuldeten und sich ohne dessen Er-
laubniss verdungen hatten, von ihm reclamirt werden konnten.
Nun gehört dem König innerhalb gewisser Grenzen die Zeit und
Arbeitskraft aller Siamesen, auch derjenigen, die nicht seine Hö-
rigen sind; viele stehen aber auch in lösbarer Knechtschaft von
Privatmännern, theils für Schulden, theils weil sie sich verkauft
haben oder von ihren Eltern verkauft worden sind. Zur rechtlichen
Begründung solchen Verhältnisses dient die Ausstellung eines Schei-
nes über die Kaufsumme, den der Herr des Geknechteten erhält.
Häufig verdangen sich solche Siamesen ohne Erlaubniss ihrer Dienst-
herren an Fremde; oft wurde auch die Knechtschaft nur simulirt,
wenn Freien der Dienst bei den Fremden unbequem wurde. Es
kam vor, dass Arbeiter unter dem Schutz jener Bestimmung plötz-
lich massenweise reclamirt wurden, woraus den Kaufleuten grosser
Schaden erwuchs. Deshalb entwarf Graf Eulenburg eine Bestim-
mung folgenden Inhalts: Siamesische Unterthanen, welche einem
bestimmten Herrn gehören oder Dienste schulden, sollen sich zwar
ohne dessen Zustimmung nicht verdingen; haben sie es dennoch
gethan, so gilt das Dienstverhältniss, sofern im Dienstvertrage
nicht eine noch kürzere Frist verabredet ist, oder der deutsche
Unterthan den siamesischen Diener nicht sogleich entlassen will, als
nur auf drei Monate eingegangen; der deutsche Unterthan ist dann
verpflichtet, während der genannten Zeit zwei Drittheile des be-
dungenen Lohnes nicht an den siamesischen Diener, sondern an Den-
jenigen zu zahlen, welchem derselbe angehört oder Dienste schuldet.


[300]Der Vertrag. XXI.

Ein Artikel der früheren Verträge bestimmte, dass in der
Binnenstadt von Baṅkok und bis vier englische Meilen von deren
Mauern nur solche Fremden Grundbesitz erwerben dürften, die seit
zehn Jahren in Siam lebten oder von der siamesischen Regierung
ausdrückliche Erlaubniss erhielten. — Nun war Baṅkok fast der
einzige Ort, wo Fremde mit Vortheil wohnen konnten; die Erwer-
bung von Grundbesitz in Siam überhaupt erforderte also zehnjähri-
gen Aufenthalt. Die neuen Ankömmlinge wurden durch jene Be-
stimmung von den ältern Ansiedlern abhängig, deren Grundstücke
sie um jeden Preis miethen mussten, wenn die Regierung ihnen
nicht die ausdrückliche Erlaubniss zu selbstständiger Landerwerbung
gab. Deshalb liess Graf Eulenburg im neuen Entwurf diese Klausel
fort. Ihre Aufnahme in den englischen Vertrag, der allen anderen
zum Muster diente, war theils durch altes Misstrauen gegen die
Fremden, theils durch das Eigenthumsrecht der siamesischen Könige
am Grund und Boden des ganzen Reiches veranlasst worden. So-
viel wir erfuhren, erwirbt der Siamese Grundbesitz überhaupt nur
als Erbpächter und zahlt dafür einen bestimmten Zins; der König
behält das Recht, jedes von seinen Unterthanen besessene Grund-
stück zu Staatszwecken ohne Entgelt, zu seinen Privatzwecken
gegen Entschädigung einzuziehen. Nun fürchtete wohl die siamesi-
sche Staatsgewalt mit Grund, dass Fremde sich jeder Verfügung
des Königs über ihre als Eigenthum erworbenen Grundstücke
widersetzen würden, und erschwerte deshalb die Erwerbung in
demjenigen Gebiet, wo der König den Boden leicht einmal für
seine Zwecke brauchen konnte, d. h. in der Binnenstadt und inner-
halb eines vier englische Meilen von deren Mauern entfernten Um-
kreises. Letzteren den Fremden bedingungslos zugänglich zu
machen, schien sehr wünschenswerth; die Binnenstadt eignete sich
schlecht zur Niederlassung und musste selbstredend zur freien Ver-
fügung des Königs bleiben,


In demselben Artikel liess Graf Eulenburg die Bestim-
mung fort, nach welcher die siamesische Regierung befugt sein
sollte, ein von Fremden erworbenes Grundstück gegen Erstat-
tung des Kaufpreises zurückzufordern, wenn dasselbe nicht bin-
nen drei Jahren cultivirt und verbessert würde. Diese unge-
schickte Bestimmung konnte bei völliger Unklarheit über die
Ausdrücke »Cultur und Verbesserung« leicht zu Vexationen
führen.


[301]XXI. Der Vertrag.

In einem anderen Artikel des ersten Entwurfes war der
siamesischen Regierung das Recht eingeräumt, unter Umständen die
Ausfuhr von Salz, Reis und getrockneten Fischen zu verbieten, mit
der Beschränkung, dass solches Verbot auf die Erfüllung von Con-
tracten, die in gutem Glauben vor seiner Publication geschlossen
waren, keinen Einfluss üben solle. Reis ist der wichtigste
Artikel des Ausfuhrhandels. Da nun aber die Siamesen Con-
tracte über dessen Lieferung nicht zu machen pflegten, so hatte
jene Beschränkung keinen Werth. Die Fremden kauften den Reis
bei den Müllern, welche ihn von der Hülle befreien; diese aber
steigerten, sobald ein Ausfuhrverbot in fernster Aussicht stand, ihre
Preise unmässig, so dass die Fremden nicht kaufen konnten und
häufig ihre vor Baṅkok der Ladung harrenden Schiffe mit grossem
Verlust in Ballast fortschicken mussten. — Graf Eulenburg ver-
fasste deshalb eine Clausel, nach welcher die siamesische Regierung
gestattete, dass alle Schiffe, die zur Zeit der Publication des Ver-
botes schon in Siam angekommen oder vor dessen Bekanntwerden
aus chinesischen und hinterindischen Häfen dahin ausgelaufen
wären, ohne Rücksicht auf das Ausfuhrverbot noch mit Reis be-
frachtet werden dürften.


Neben diesen Aenderungen erhielten die meisten Artikel des
revidirten Entwurfes eine präcisere Fassung.


Am 6. Januar tauschte der Gesandte beim Prinzen Khroma-
luaṅ
mit den siamesischen Commissaren seine Vollmachten aus;
dazu hatte der König ernannt:


1. den Prinzen Khroma-luaṅ Woṅsa Diraï Snid;


2. den ersten Minister Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samant
Boṅs Bisude Maha Purus Ratridom Samutra Phra-Kalahum
;


3. den Minister des Auswärtigen Tšau Phya Rawe Moṅs
Kosadhiputi Wadi Phra-klaṅ
;


4. den Gouverneur von Baṅkok, Tšau Phya Yommerat
Tšaat Semaṅ Khonzintera Mahintratebodi Witšaya Raat Mahai
Saueri Boserak Pumi Petak Lookanon Tontarittera Na Khonbaan
;


5. Der Bruder des Kalahum, Phaya Muntri Sri Suriwoṅ
Danruṅritrannaat Maatyatibodi Tunlakotšasiha Mutatonsepatau
Piriyapaha Samuha Phra Kalahum Fainie
.


Die siamesische Vollmacht begleitete eine englische Uebersetzung.


Die Verhandlungen, welche der Legationssecretär Pieschel
mit dem Reverend Smith als Dolmetsch im Auftrag des Ge-
[302]Der Vertrag. XXI.
sandten führte, begannen am 9. Januar. In wenig Tagen war
ein Einverständniss mit den Siamesen erzielt, welche bis auf einen
Punct auch alle vom Gesandten vorgeschlagenen Neuerungen wil-
lig zugestanden: nur die geforderten Erleichterungen für Erwer-
bung von Grundbesitz in Baṅkok erklärte Prinz Khroma-luaṅ im
Namen aller anderen Commissare für durchaus unzulässig. Darauf
lud Graf Eulenburg sämmtliche Bevollmächtigten, die sonst nur
einzeln, zu zweien oder dreien zu erscheinen pflegten, auf den 20.
Januar zu einer Conferenz und zeigte ihnen die Gesichtspuncte, von
welchen jene Frage zu betrachten sei. Die Commissare erklärten,
den Sinn und die Berechtigung seiner Aeusserungen wohl begriffen
zu haben; aber der König allein könne über eine Frage entschei-
den, die ihn persönlich so nah berühre. Zur Benutzung bei dem
beabsichtigten Immediatvortrage übergab der Gesandte nun den
Commissaren eine Denkschrift, welche seine Forderung näher be-
leuchtete. Zunächst war darin volle Gegenseitigkeit beansprucht,
— da ja Siamesen in Preussen ohne Beschränkung Ländereien
kaufen könnten. Der Wunsch des Königs, die Niederlassung der
Fremden in der Binnenstadt zu erschweren, wird als berechtigt
anerkannt, die Beschränkung ausserhalb der Mauern aber als ein
Zeichen des Misstrauens gegen die Fremden gedeutet, welches,
nachdem andere Verträge nun schon sechs Jahre gegolten hätten,
endlich der Ueberzeugung weichen sollte, dass die Ansiedlung von
Europäern in Baṅkok das Reich nicht gefährde. Die beste Bürg-
schaft für Erhaltung der Freundschaft zwischen zwei Völkern bestehe
darin, dass jedes im Gebiete des anderen viel Ländereien besitze;
fremde Truppen allein hätten Shang-hae gegen die Rebellen ge-
schützt; kein Fremder komme nach Baṅkok mit der Absicht über
zehn Jahre zu bleiben; könnten sie erst nach dieser Frist Grund-
besitz erwerben, so würden sie fortbleiben; die erleuchtete siame-
sische Regierung beweise aber durch ihr Verhalten, dass sie die
ihr aus der Berührung mit der europäischen Civilisation erwach-
senden Vortheile wohl zu schätzen wisse, und werde den Fremden
gewiss nicht die Rechte versagen, die sie in Japan und China hätten,
obgleich die dermaligen Regierungen jener Reiche keineswegs so
günstig vom Völkerverkehr dächten.


Die Gründe schlugen durch: der König gab die Erwerbung
von Grundbesitz ausserhalb der Binnenstadt und einem kleinen der-
selben am rechten Stromufer gegenüberliegenden Bezirk ohne Be-
[303]XXI. Der Vertrag.
dingung frei. Deutsche durften sich nach der neuen Bestimmung
an jedem Platz ausserhalb der Ringmauern niederlassen, der von da
in vierundzwanzig Stunden zu erreichen wäre; diese Grenze setzten
auch die anderen Verträge den Fremden. Graf Eulenburg verab-
redete statt derselben mit den Commissaren bestimmte Linien, welche
sie noch etwas weiter hinausschoben und jedem Streit darüber vor-
beugten. — Die siamesische Regierung beschränkte überhaupt die
Fremden auf dieses Gebiet nur aus Besorgniss, sie in weiterer Ent-
fernung von Baṅkok nicht schützen zu können. — Der im preussi-
schen Vertrage errungenen Vortheile wurden durch die Clausel der
meistbegünstigten Nation auch die anderen Mächte theilhaft.


In einer am 23. Januar gehaltenen Conferenz stellte Lega-
tionssecretär Pieschel mit den Commissaren die definitive Fassung
sämmtlicher Bestimmungen fest. Da nun für Herstellung der siame-
sischen Reinschriften ein längerer Zeitraum beansprucht wurde, so
beschloss Graf Eulenburg unterdessen einen Ausflug nach Phrabat
zu machen.


[[304]]

XXII.
AUSFLUG NACH PHRABAT. ABREISE AUS SIAM. REISE
DER ARKONA NACH SINGAPORE.

VOM 30. JANUAR BIS 3. MÄRZ.
SCHLUSS.


König Maha Moṅkut hatte der Gesandtschaft seinen Dampfer
Royal Seat, der Bruder des Kalahum, Phaya Muntri Suriwoṅ
einen kleineren, den Arrow, zur Verfügung gestellt; auf letzterem,
der schneller war, schifften sich der Gesandte, die Attachés Graf
Eulenburg und von Bunsen und Maler Berg ein, auf dem Royal
Seat Legationssecretär Pieschel, Attaché von Brandt, Dr. Lucius
und Dr. von Richthofen. Um neun Uhr Abends fuhr Royal Seat
am 30. Januar ab, Arrow zwei Stunden später; die Nacht war
herrlich und hell genug, um mit voller Kraft stromauf zu dampfen.
Der Fluss spiegelte Tausende von Lichtern wieder; in den schwim-
menden Häusern sassen malerische Gruppen bei grellem Lampen-
licht, darunter viel bezopfte Chinesen, in die Karten vertieft. —
Der Royal Seat fuhr auf ein Floss, kam aber bald wieder los.


Als es tagte, lag die Stadt weit hinter uns; beide Ufer waren
mit dichtem Walde bedeckt; hier und da grünte ein Reisfeld. Kurz
vor der alten Hauptstadt Ayutia, wo Arrow um zehn Uhr Mor-
gens ankerte, verengt sich der Strom, ein labyrinthisches Netz mit
vielen Armen bildend. Die Ufer sind stark bevölkert, das Wasser
mit Booten belebt, doch stehen die Häuser zerstreut; aus dem
Uferdickicht ragt altes Gemäuer, und den breitesten Nebenarm füllt
eine schwimmende Strasse; die Lage der altberühmten Königsstadt
würde aber vom Flusse aus Niemand ahnen. Wir besuchten die
Ufer erst auf der Rückfahrt.


Bald nach der Ankunft präsentirte sich an Bord des Arrow
der vom König vorausgesandte Reisemarschall; nach einiger Zeit
erschienen auch Bootsladungen der herrlichsten Früchte und Fische;
die versprochenen Hühner und Enten blieben aber aus, bis unser
[305]XXII. Flussfahrt.
Dolmetsch, Herr Hendrix aus Baṅkok, eine Fahrt durch die schwim-
mende Strasse machte und das Geflügel für Geld erstand. Wir
hörten erst später, dass die Ortsbehörden, die uns auf königliche
Kosten versorgen mussten, den Einwohnern die Lebensmittel
ohne Entgelt fortnahmen und dem König dafür grosse Rechnungen
machten.


Royal Seat, der um zwölf vor Ayutia eintraf, fuhr schon
um halb zwei Uhr weiter, Arrow folgte gegen vier. Der enge
Flussarm, in den sie einbogen, macht scharfe Wendungen; jeden
Augenblick glaubt man anzurennen. Am steilen Lehmufer stehen
malerische Bambushütten unter dichtem schattigem Laubdach; hier
und da lauscht ein buntes Tempelchen im wuchernden Dickicht.
Cocos, Areca, Bananen, Mango, Artocarpus, Ficus, Tamarinden sind
die vorstechenden Formen der Uferflora. In stillen Buchten
planschten bei sinkender Sonne die Wasservögel, Schaaren weiss-
köpfiger Fischweihen schwebten nach Beute spähend über dem
Fluss, bunte Eisvögel und schlanke Reiher staffirten malerisch das
Ufergezweig; im Wasser lagen Heerden grauer Büffel mit mächtigen
Hörnern, nur zuweilen die Nase heraussteckend, träge schnaufend,
im behaglichsten Genuss ihres Büffeldaseins.


Bald nach sechs zwang der niedrige Wasserstand den Royal
Seat, eine Viertelmeile vor seinem Ziel, dem Flecken Tarua, Anker
zu werfen. Um ihn einzuholen hätte Arrow gegen drei von Ayutia
abfahren müssen, verspätete sich aber wegen der Lebensmittel.
Royal Seat war dazu noch zwei Stunden von der Fluth unterstützt,
Arrow musste die ganze Zeit mit der Ebbe kämpfen. Um das Mit-
tagsmahl mit den Reisegefährten zu theilen, dampfte der Gesandte
auf dem Arrow, wo die Küche war, in das Dunkel hinein. Im
Zwielicht schnellte vor dem Schiffsbug ein vier Fuss langer Fisch
so glücklich aus dem Wasser, dass er auf das Deck fiel, dem Koch
willkommene Beute. Fast war es Nacht, als ein dunkeler Gegen-
stand dem Arrow entgegentrieb: ein plötzlicher Krach und Hülfe-
ruf, — wir hatten ein grosses Reisboot übergefahren, dessen Schiffer
schliefen. Das Vordertheil sank sogleich; die Insassen, eine chine-
sische Famile, stürzten sich heulend in die Nachen und wurden ge-
rettet, nur Planken und Spähne trieben noch auf dem Wasser.
Graf Eulenburg liess den Dampfer halten und den Besitzer des
Reisbootes an Bord holen, der Gnade erflehend auf den Knieen
heranrutschte. Als der Gesandte nach seinem Verlust fragte, schrie
IV. 20
[306]Halt vor Tarua. XXII.
der königliche Reisemarschall Luaṅ Senna Pagdi, — der bis dahin
Betel kauend in seinem dem Arrow angehängten Boote lag, — von
Ersatz sei keine Rede; der Chinese möge froh sein, wenn man ihn
für die Frechheit, einem königlichen Dampfer in den Weg zu fahren,
nicht köpfte. Graf Eulenburg machte dem armen Schiffbrüchigen,
der seine ganze Habe verlor, ein namhaftes Geldgeschenk, sagte
Herrn Senna Pagdi auf deutsch einige Artigkeiten und liess ihm
durch den Dolmetsch mit Beschwerden beim König drohen, wenn
er sich unterstände den Chinesen zu strafen. Senna Pagdi schien
den Ton dieser Musik zu verstehen und wurde sehr kleinlaut. —
Um weiterem Unglück vorzubeugen liess der Gesandte jetzt Anker
werfen.


Gegen acht am folgenden Morgen gelangte Arrow an die
Stelle, wo Royal Seat die Nacht über lag. Tarua, ein grosses Dorf
mit vielen Tempeln und Rasthäusern für die Pilger, die Ende Fe-
bruar aus ganz Siam nach Phrabat wallfahrten und von hier aus
zu Lande reisen, konnten beide Dampfer wegen niedrigen Wassers
nicht erreichen; Senna Pagdi fuhr in seinem Boot hinauf, um Pferde
und Elephanten zu holen.


Das rechte Ufer des Flussarmes, wo die Schiffe anlegten,
war mit Buschwerk und Waldstreifen bewachsen. Schlanke Legu-
minosen, zu deren Wipfeln sich der feingefiederte Rotang (Calamus
Rotang) in dicken Bündeln hinaufrankt, breiten dort den tiefsten
Schatten über das spärliche Unterholz, wo es von Vögeln und
weissen Eichhörnchen wimmelte. Wir warteten Stunde auf Stunde.
Prinz Khroma-luaṅ hatte angeordnet, dass in Tarua zwanzig Ele-
phanten zu des Gesandten Verfügung stehen sollten; endlich Nach-
mittags kamen deren sieben und vier Büffelkarren. Graf Eulenburg
wollte nicht aufbrechen, bis alle seine Begleiter beritten wären, und
entschloss sich dazu erst auf ihr dringendes Bitten. Die Karren
und vier Elephanten gingen mit dem Gepäck voraus; gegen drei
folgten der Gesandte auf einem Elephanten, Herr Pieschel und der
Attaché Graf Eulenburg auf dem zweiten, die Herren von Bunsen
und Dr. Lucius auf dem dritten.


Die Zurückbleibenden schickten den Dolmetsch nach Tarua,
der erst gegen fünf mit vier winzigen Gäulen wiederkam; statt der
Sättel hatten sie zerrissene Kissen ohne Steigbügel, als Zaum durch
das Maul gezogene Stricke. Wir klammerten uns fest und jagten
getrieben von Hunger und der sinkenden Sonne drauf los. Zuerst
[307]XXII. Ritt durch den Bambuswald.
ging es über versengte Grasflächen mit Waldstreifen und Busch-
werk; bald überholten wir den Herrn Reisemarschall, der im
Büffelkarren ausgestreckt träge seinen Betel kaute. Wir sagten
ihm einige Schmeicheleien, die der Dolmetsch treulich übersetzte;
denn Senna Pagdi war für die Beförderung verantwortlich, seine
Indolenz oder Spitzbüberei brachte uns in die unbehaglichste Lage.
Nach halbstündigem Galop überholten wir die Büffelkarren mit dem
Gepäck und gelangten in den dichten Bambuswald, der, von aller-
lei schönem Gethier bewohnt, von da ungebrochen die Ebene deckt.
Ein kleiner Tempel und ein Rasthaus für Pilger standen am
Waldsaum.


Nach sechs holten wir den Gesandten ein und mussten eine
Weile Schritt reiten, denn die Elephanten dulden kein Pferd in
ihrer Nähe. Wo der Weg etwas breiter wurde, sprengten wir
vorbei, nur der Dolmetsch blieb beim Gesandten. — Nach kurzem
Zwielicht wurde es auf dem dicht überwölbten Waldweg so dunkel,
dass man den Kopf seines Pferdes nicht sah; aber der Boden schien
eben, wir verliessen uns auf gutes Glück und hielten die Thiere in
vollstem Athem. Plötzlich sperrte etwas den Weg: mehrere Ele-
phanten schnaubten wüthig die Pferde an; wir kamen aber glück-
lich vorbei und bald darauf an ein anderes Hemmniss, das wir nur
am Knarren der Räder für einen Zug Büffelkarren erkannten. Die
Kärrner brüllten siamesisch und wir schalten deutsch; sie wollten
nicht ausweichen, wurden aber bedeutet; die Räder knarrten, die
Siamesen fluchten, unsere Peitschen knallten, wir streiften einander
und sahen doch keine Spur. Dann ging es weiter im gestreckten
Galop eine gute Weile, bis der Weg zu holprig wurde; vor dem
Verirren schützte die dichte Bambuswand auf beiden Seiten. End-
lich lichtete sich der Wald zur Rechten, rother Feuerschein drang
durch das Laub: es war Phrabat, unser Reiseziel. Auf verschie-
denen Höhen der Felsrippe, die hier jäh aus der Ebene aufsteigt,
brannten viele Feuer, die zerstreut liegenden Tempel und Monu-
mente grell beleuchtend.


Die mit der Dienerschaft und einem Theil des Gepäcks vor-
ausgeschickten Elephanten kamen mit uns zugleich an. Wir selbst
waren durch den Ritt auf den scharfen Pferderücken, — denn die
Kissen gingen gleich verloren, — durch Hunger und Durst ganz
erschöpft. — Im Hof des ersten Rasthauses brannte ein grosses
Feuer, umringt von Pilgern, nackten Gestalten und unseren hoch-
20*
[308]XXII.
bepackten Elephanten mit einigen Seesoldaten und dem chinesischen
Koch des Gesandten obenauf. — Nun kam der Ortsvorstand mit
Fackelträgern, machte Zeichen dass er unterrichtet sei, führte uns
nach einem anderen von elenden Baracken umgebenen Hof und in
ein stallartiges Gebäude, dessen Fussboden voll Unrath und Steine
lag. Dieses Quartier wurde zurückgewiesen; wir suchten uns einst-
weilen eine Holzbaracke aus, zu der zerbrochene Leitern hinanführ-
ten; da konnte man sich wenigstens auf den Boden strecken. Zu
essen gab es nicht, wir waren ohne Dolmetscher hülflos.


Gegen neun kam Graf Eulenburg mit den Reisegefährten.
Das schmutzige Nachtquartier und der Mangel jeder Vorbereitung
waren keine angenehme Ueberraschung, nachdem die Grossen in
Baṅkok den glänzendsten Empfang verheissen hatten. Im Hof
kauerte ein Haufen zerlumpter Siamesen um das Feuer, »Leute aus
dem Walde, Holzhauer«, sagte der Ortsvorstand, »die eben wie
der Gesandte hier Aufnahme fänden«. Sie sollten die engen Räume
mit uns theilen. Das Haus des Prinzen Khroma-luaṅ bewohnte
ein Dutzend schmutziger Bonzen: in jener von uns ausgesuchten
Baracke wollte Graf Eulenburg nicht übernachten; unter freiem
Himmel auf Koffern und Kasten sitzend harrten wir geduldig des
Herrn Senna Pagdi, der bald nach elf Uhr ankam. Die Beschwer-
den des Gesandten beantwortete er zuerst mit unverschämtem Lachen,
kroch aber, hart angelassen, ganz demüthig zu Kreuze und begann
sich zu rühren. Rechts und links wurden die Trabanten angeblasen,
der Ortsvorstand gab es seinen Untergebenen weiter, die ganze
Schaar kam in Trab. Zunächst wurden die Bonzen aus des Prinzen
Hause complimentirt, hinterliessen aber solchen Schmutz und Parfüm,
dass wir die Erbschaft nicht antreten mochten. Dann wurde schnell
ein besseres Haus eingerichtet, wo der König bei seiner letzten
Anwesenheit gewohnt hatte: man belegte den Boden mit reinlichen
Matten, hing eine Menge Lampen auf, baute aus Planken und
Kasten Tische und Bänke und zündete aussen ringsum grosse Feuer
an. — Seit elf Uhr Morgens nüchtern hatten wir dem Ortsvorsteher
oder »Governor« wie der Dolmetsch ihn nannte, seine hohe Würde
nicht ahnend, zwei Tikal zum Ankauf von Hühnern gegeben. Bald
erschien er dann auch mit einer gackernden schwarzen Henne und
behielt sie, bald geschäftig herumrennend, bald am Boden hockend
und Befehle gebend, die ganze Zeit fest im Arme geklammert; zwei
Tikal, fast zwei Thaler sollte sie kosten, wofür man in Siam ein
[309]XXII. Phrabat.
volles Dutzend Hühner kauft. Erst gegen ein Uhr Nachts wurde
das Essen fertig; dann waren aber alle Leiden vergessen.


Am nächsten Morgen stürmte es heftig, die Luft war herbst-
lich kühl. Auch der Wald sah herbstlich aus, denn in der trocke-
nen Zeit verlieren viele Bäume ihr Laub wie bei uns im Winter;
fahle Blätter deckten den Boden. Wir verbrachten den Tag mit
Spaziergängen und Besichtigung der Tempel, die sich malerisch
auf schroffen Marmorklippen erheben. Der vornehmste steht über
dem Fusstapfen Buddas, ein kleines quadratisches von einer Pfei-
lerstellung umgebenes Gebäude, dessen vergoldetes Dach in eine
spitze Spindel ausläuft. Die Wände und Pfeiler sind mit Goldstuck
und Glasmosaik bekleidet, das Innere mag kaum funfzehn Fuss
Seite haben; der Fusstapfen, eine fast vier Fuss lange Vertiefung
im Felsboden, deren Umriss ungefähr einer Fussohle gleicht, ist
ganz mit Goldblech ausgekleidet; den Boden decken Matten aus
Silberstreifen, die Thürschwellen sind von massivem Silber, die
Thürflügel mit glänzenden Metallen und Perlmutter eingelegt. Ueber
dem Fusstapfen steht ein Baldachin aus Goldblech mit Edelsteinen
und Flitterzierrath. Bei aller der Pracht ist das Tempelchen
schmutzig und elend gehalten. Als der heilige Fusstapfen 1602
gefunden oder ausgehöhlt wurde, machte man zugleich die merk-
würdige Entdeckung, dass Budda beim Scheiden von der Erde hier
aufgetreten sei, um sich mit dem nächsten Schritt auf den Adamspic,
dann in den Himmel zu schwingen.


Hinter und neben diesem Gebäude liegen andere Tempel über
den Felssporn ausgestreut; jede Klippe trägt ein zierliches Pratšedi.
Am Fusse des Vorgebirges stehen wie in einem Palmengarten die
Klostergebäude, viele Rasthallen für Pilger und die Häuser der
Grossen. Von oben gesehen gruppiren sich die goldenen Tempel-
dächer und schimmernden Pratšedi auf den bläulichen Klippen zu
malerischen Vordergründen; aus den Felsritzen spriessen bunt-
blühende Sträucher und Bambusgestrüpp. Höher hinauf deckt lichtes
Gehölz die Hänge. Unten streckt sich unabsehbar der Bambuswald,
den die Phantasie mit wilden Elephanten, Tigern, Rhinoceros und
Crocodilen bevölkert. Angebaute Landstriche giebt es nur längs der
Wasserläufe.


Ein einsamer Pfad führt am südlichen Fuss des Bergsporns
hin zum höheren Gebirgsstock. Auch hier bildet die Hauptmasse
des Waldes der bündelartig wachsende Bambus, vermischt mit blü-
[310]Elephantenritt. XXII.
henden Sträuchern und grossblättrigen Rankengewächsen. Schlanke
Teca, Leguminosen, Artocarpeen und Ficus ragen vereinzelt aus
dem üppigem Gebüsch der Abhänge empor; im dichten Bambuswald
der Ebene treiben Heerden lärmender Meerkatzen ihr neckisches
Spiel. Mit anderen verglichen sind diese Waldungen arm an Arten
und Formen, dem americanischen Tropenwalde nicht ähnlich.


Luaṅ Senna Pagdi, der »Governor« und ihre Untergebenen
hatten Staatsgewänder angelegt und tummelten sich den ganzen
Tag in unfruchtbarem Diensteifer; wie bei allen despotisch regierten
Asiaten konnte auch hier nur herrische Derbheit die Höflichkeit er-
zwingen; an die roheste Willkür gewöhnt kennen sie für artige
Behandlung kein anderes Motiv als Furcht und Schwäche. — Erfolge
der knechtischen Rührigkeit merkte man kaum; den besten Theil
des Mittagsmahles bildeten ein Dutzend wilder Tauben, die wir selbst
von den Bäumen schossen.


Am 3. Februar gingen die Büffelkarren mit dem Gepäck schon
um drei Uhr Morgens nach dem Flusse ab; wir selbst bestiegen gegen
sieben die Elephanten, deren diesmal vierzehn zur Verfügung stan-
den. Sie trugen Sättel mit leichtem Holzgestell, dessen platten ge-
räumigen Sitz eine Gitterlehne umgiebt. Vorn sitzen die Reiter,
mit den Füssen auf dem Nacken des Thieres, vor ihnen auf dem Kopf
der Kornak, ein nackter Siamese, das eine Bein untergeschlagen,
das andere am Ohr des Elephanten herabhangend, das er als Auf-
munterung häufig damit krabbelt; als Peitsche dient eine spitzige
eiserne Hacke mit kurzem Holzstiel. Mit letzterem giebt es Schläge
auf den Schädel, wenn das Thier nicht weiter will; soll es stehen
bleiben, so wird in der Mitte, soll es rechts oder links gehen, auf
der betreffenden Seite der Stirn die eiserne Spitze fest eingesetzt,
und der Coloss folgt sofort. Zum Aufsteigen krümmt er einen
Vorderfuss als Steigbügel, doch ist es auch dann noch beschwerlich,
deshalb stehn überall kleine Gerüste zu diesem Zweck. Manche
Sättel haben ein Zeltdach zum Schutz gegen die Sonne.


Den Weg nach dem Flusse, über drei deutsche Meilen,
gingen die Elephanten in fünftehalb Stunden ohne zu rasten. Der
Ritt war ergötzlich. Jeder Elephant trug ausser dem Kornak nur
einen Reiter, die riesigen Thiere mochten die Last kaum fühlen.
Wie langsam fahrende Dampfwagen schoben sie in gewaltigen
Schritten unaufhaltsam vorwärts und traten an schwierigen Stellen
sehr vorsichtig; die Bewegung ist sanft und angenehm. Der Rüssel
[311]XXII. Ayutia.
fuchtelt dabei beständig in der Luft herum und reisst, wo immer
möglich, einen Baumzweig oder Grasbüschel ab, um ihn zur Reini-
gung tüchtig gegen die Vorderbeine zu schlagen und dann in
das Maul zu stecken. Sie knackten mit einem Biss die dickste
Cocusnuss, und frassen am liebsten beständig. Hielt der Zug
einen Augenblick, so brachen sie gleich einen starken Laubzweig
ab, um sich den Bauch und die Seiten zu fächeln, oder nah-
men Staub in den Rüssel und bliesen ihn auf ihr Fell. Alles
Ungewöhnliche am Wege erregte ihre Neugier: so betasteten
alle vierzehn Elephanten unseres Zuges mit langgestrecktem Rüs-
sel ein abgegeschnittenes Bambusrohr, ohne den Gang zu unter-
brechen.


Den Weg, den wir zwei Tage vorher im Dunklen machten,
sahen wir erst jetzt, und wunderten uns, dass wir damals zu Pferde
nicht die Hälse brachen; da waren Höcker und tiefe Löcher auf
Schritt und Tritt. Die Elephanten müssen mit den Rüsseln getastet
haben; sie stolperten nicht oder stiessen auch nur an. — Hier und
da war der Bambus mit blaublühenden Ranken bedeckt; in weiten
Zwischenräumen standen baufällige Rasthallen. Wir begegneten
vielen Pilgern; manche trugen Strohhüte in der Form unserer
Cylinder, mit breiten goldenen Bändern geziert.


Die Dampfer lagen bereit; gegen halb eins fuhr Royal Seat,
bald [nachher] auch Arrow ab; gegen fünf erreichten wir Ayutia.
Abends wurden noch die aus dem Ufergebüsch aufragenden Ruinen
untersucht, mehrere verfallene Dagobas, ein Portal und ein Tempel,
von dessen Cella nur die Vorderwand und eine der inneren Pfeiler-
reihen standen; einige Pfeiler der Vorhalle trugen hübsche Capitäle
mit Blattmotiven; das Ganze hatte schöne Verhältnisse. 69) Dicht
berankt und in wuchernden Tropenwald gebettet, zwischen Palmen,
Bambus und dunkelen Laubwipfeln strebt die schlanke Ruine höchst
malerisch in den dunkelblauen Himmel; lange kann sie, aus Luft-
steinen, Holz und Lehm gebaut, dem Klima kaum noch widerstehen.
— Das Portal am Flussufer glich von weitem aufs Haar einem
gothischen Spitzbogen; doch waren auch hier die zusammenstossen-
den Seiten nicht Kreissegmente, sondern grade, nur nach unten
gekrümmte Linien. — Auf den abgebrochenen Spitzen einiger Da-
goba
’s hatten sich stattliche Ficus angesiedelt und mit ihren in alle
Ritzen dringenden Wurzeln den glockenförmigen Körper wie mit
[312]Ayutia. XXII.
einem Netz übersponnen, das Mauerwerk zugleich auseinander-
treibend und zusammenhaltend.


Gewiss liegen im Waldesdickicht noch viele Ruinen zerstreut,
das Gestrüpp ist aber undurchdringlich. Ayutia, das die Fran-
zosen des 17. Jahrhunderts gewöhnlich »Siam« nennen, war seit
seiner Gründung 1350, mit welcher die siamesische Geschichte be-
ginnt, bis zur Zerstörung durch die Birmanen 1767 Hauptstadt des
Reiches und Mittelpunct der Herrschaft in der glänzendsten Pe-
riode seiner Geschichte. Alle seefahrenden Nationen hatten dort
ihre Factoreien; der Handel muss im 17. Jahrhundert geblüht haben,
wie kaum jemals nachher in diesem Lande. La Loubère, der Siam
1687 als Gesandter Ludwig XIV. besuchte, giebt in seinem Werke
den Plan der Stadt, die an einem vom Menam und mehreren Zu-
flüssen gebildeten Wassernetz lag. Die Ufer sind hier höher als in
Baṅkok und werden wohl kaum beim höchsten Wasserstande über-
schwemmt. Die eigentliche Stadt, nach dem Plan zu urtheilen eine
von graden Strassen durchschnittene compacte Häusermasse, war von
zwei Hauptarmen des Menam umflossen und nur durch eine Brücke
mit dem anderen Ufer verbunden. Auf kleineren Inseln und Land-
zungen ringsum sind die Niederlassungen oder »Lager« der Chi-
nesen, Peguaner, Cochinchinesen, Macassaren, Malayen, Japaner,
Portugiesen, die Seminare und Häuser der französischen und portu-
giesischen Missionare verzeichnet. Die Hauptinsel soll anderthalb
deutsche Meilen im Umkreise haben. Die 40,000 Einwohner, die
Ayutia 1862 noch zählen sollte, merkte man nicht; sie müssen
weit zerstrent wohnen. König Maha-moṅkut liess damals einen
Palast und mehrere Tempel dort bauen.


Am 4. Februar holten Luaṅ Senna Pagdi und der zweite
Gouverneur von Ayutia den Gesandten zu Besichtigung einiger
alten Bauten ab. Der Tempel Wat Džoṅ mit funfzig Fuss hohem
vergoldetem Buddabilde war noch gut erhalten; dort opferten
grade einige Chinesen unter schrecklicher Musik Glimmkerzen und
Silberpapier, klebten auch Stückchen Blattgold an die Bildsäule.
Einer nahm ein Paar Holzstäbchen aus dem Wahrsagebecher auf
dem Altar und warf sie mehrmals auf die Erde; sie wollten aber
nicht in der gewünschten Lage niederfallen, sein Gesicht wurde
immer wehmüthiger, und nach kurzem Gebet ging er von dannen.
— Ein anderer gut erhaltener Tempel am Fluss heisst Wat Putaï;
gleich unterhalb desselben bogen die Boote in einen engeren Fluss-
[313]XXII. Rückkehr nach Baṅkok.
arm ein und gelangten nach einer starken Stunde zu dem grossen
Phrapraṅ von Wat-pu-kau-toṅ, dem berühmtesten Wunderwerk
der alten Residenz. Auf 60 Fuss hohem Unterbau steht eine gegen
120 Fuss hohe Pyramide von reichem Profil mit spindelförmiger
vergoldeter Spitze; auf der Plateform des Unterbaues, zu der vier
Freitreppen hinansteigen, führt von jeder Seite ein räumiger Gang
in das Innere, wo unter hoher Wölbung ein colossaler vergoldeter
Budda sitzt. Der ganz aus Marmor gebaute und gut erhaltene
Phrapraṅ wurde 1387 gegründet und heisst gewöhnlich der
Goldberg. 70)


Bald nach eins kehrten die Reisenden zu ihren Dampfern
zurück; Arrow lichtete um halb vier Uhr die Anker und holte
gegen sechs den Royal Seat ein, der vorausgefahren war. Viele
Boote mit Pilgern und Bonzen gingen stromaufwärts; auf einigen
waren auch Frauen und Kinder, anscheinend vornehmen Standes;
ihre Ruderer in bunte seidene Jacken gekleidet, vielfarbige Flaggen
und Wedel von Pfauenfedern gaben den Booten das festlichste
Aussehn. — Wir dampften im Mondschein bis gegen neun Uhr
stromabwärts und warfen dann Anker.


Am folgenden Morgen gingen die Schiffe, da die Fluth ent-
gegentrieb, durch einen schmalen Nebenarm mit hübschen Ufern:
Tempel und Hütten lagen auch hier in dichten Wald gebettet und
gruppirten sich in endlosem Wechsel zu reizenden Bildern; hier
und da wurde ein Blick auf nasse grüne Flächen frei, wo Reiher
und Marabu-Störche wateten. Je näher der Hauptstadt, desto
dichter sind die Ufer bebaut; Tausende von Booten liessen sich von
der Fluth stromaufwärts schieben. Gegen neun Uhr Morgens legten
die Dampfer bei dem Gesandtschaftshause an. Vor dem von einem
chinesischen Grosshändler bewohnten Nebenhause lag dessen
Dampfer Tšau-phya mit der Flagge auf Halbmast: er hatte von
Singapore die Trauerkunde vom Ableben Seiner königlichen Hoheit
des Prinzen Albert, des Gemahls Ihrer Majestät der Königin Victoria
gebracht.


Graf Eulenburg liess dem Prinzen Khroma-luaṅ und dem
Phra-klaṅ seine Rückkehr melden, erfuhr aber von Ersterem, dass
zwar die Abschriften der Verträge fertig, der englische und der siamesi-
[314]Unterzeichnung des Vertrages. XXII.
sche Text aber noch von zwei Missionaren zu collationiren seien;
da nun die Bevollmächtigten zunächst den Leichenfeierlichkeiten
für einen Bruder des Königs beiwohnen müssten, der folgende
Sonnabend auch kein glücklicher Tag wäre, so wünschte der Prinz
die Unterzeichnung noch eine Woche zu verschieben. Der Ge-
sandte erklärte dagegen, seine Zeit sei kurz gemessen, und bat um
Beschleunigung.


Am 6. Februar wohnte der Legationssecretär Pieschel beim
Prinzen Khroma-luaṅ der Collationirung der Vertragsexemplare bei
und musste die beiden für Siam bestimmten Abschriften dort lassen,
da der treffliche Prinz erklärte, dass eine neue Collationirung statt-
finden müsse, wenn er dieselben aus den Händen gäbe. Die Unter-
zeichnung geschah am folgenden Tage. Morgens um neun Uhr
verfügten sich der Legationssecretär und die Attachés in des Prinzen
Palast, um die Vorbereitungen zu treffen; der Prinz erwartete sie
im offenen Pavillon am Flussufer, — aber die anderen Commis-
sare, und noch schlimmer deren Secretäre fehlten, denen nicht nur
das Geschäft des Stempelns, sondern auch das Unterschreiben
zufiel, weil die Herren das so schön nicht konnten. Erst nach
einigen Stunden waren Alle versammelt und die Arbeit kam in
Gang; die grossen hölzernen Stempel wurden mit rother Farbe be-
strichen und die gegenseitige Stellung der Siegel verabredet. Da
aber der Prinz eben noch einen Contract für Salzlieferungen unter-
zeichnen musste, so kehrten die preussischen Diplomaten nach
Hause zurück, um zu frühstücken. — Nachher fuhr mit dem Ge-
sandten auch Herr Bismark zum Prinzen und photographirte zuerst
jeden einzelnen Bevollmächtigten, dann eine Gruppe derselben, zu
der sich auch Graf Eulenburg setzte; des Verzuges müde, schüt-
telte Letzterer ungeduldig mit dem Kopf, und sass auf dem Bilde
ganz unkenntlich zwischen den langathmigen Siamesen.


Die zwölf Vertragsexemplare erhielten je dreimal Unter-
schrift und Siegel jedes Bevollmächtigten, — für den Vertrag, die
Handelsbestimmungen und den Tarif, — also im Ganzen 216 Siegel
und ebenso viele Unterschriften; ausserdem wurde das königliche
Siegel auf die zum Heften gebrauchte Seidenschnur gedrückt. Das
dauerte bis drei Uhr Nachmittags. Unterdessen plauderten, kauten
und spieen die Siamesen, — Herren und Diener, — nach Herzens-
lust. Das letzte Exemplar wurde unter den Klängen des Hohenfried-
berger Marsches und eines königlichen Salutes von der Uferbatterie
[315]XXII. Der Zweite König.
unterzeichnet. Der grosse Phrapraṅ von Wat Džeṅ, Siam’s schön-
stes Bauwerk, ragt kaum hundert Schritte von des Prinzen Palast
in die Lüfte; gegenüber spiegelten sich die goldenen Giebel und
Spitzen von Wat Po und der Palaststadt im prächtigen vielbeleb-
ten Strom. Es war ungewöhnlich kühl; die Siamesen zitterten an
allen Gliedern, wir selbst mussten wollene Kleider anlegen.


Graf Eulenburg theilte den Vertretern der anderen Mächte
die neuen Bestimmungen des preussischen Vertrages mit, deren
Vortheile sie mittelst der Clausel der meistbegünstigten Nation
genossen, und ärntete ihren wärmsten Dank.


Der Zweite König, der bis dahin unzugänglich war, liess
den Gesandten auf den 12. Februar zu einer Privataudienz be-
scheiden: den feierlichen Empfang erlaube seine Gesundheit nicht,
das königliche Schreiben solle jedoch mit denselben Ceremonieen
abgeholt werden, wie das an den Ersten König gerichtete. Zwei
Tage vor der anberaumten Audienz besuchte den Gesandten des
Zweiten Königs ältester Sohn, der neben seinem siamesischen den
Namen Georges Washington führte, ein junger Mann von freimüthi-
gem, doch bescheidenem Auftreten, der etwas englisch sprach.
Er wollte am Abend auf einem Dampfer seines Vaters nach der
Rhede fahren, um die preussischen Kriegsschiffe zu sehen und
Capitän Sundewall zur Theilnahme an der Audienz einzuladen. Graf
Eulenburg ersuchte ihn, den Attaché von Brandt mitzunehmen, der
auf der Thetis mit den Originalen der Verträge nach Singapore,
von da auf dem englischen Postdampfer direct nach der Heimath
reisen sollte. Prinz Georges sagte mit sichtlichem Vergnügen zu
und holte Abends den Attaché ab, mit welchem sich auch
Dr. Maron und der Gärtner Schottmüller auf der Thetis ein-
schifften. Am 12. Februar ging die Fregatte unter Segel. — Der
Prinz brachte am Abend des 11. Februar den Commodore und
zwei Offiziere der Arkona mit zurück; er schien erfreut über den
ihm bereiteten Empfang.


Am Morgen des 12. Februar erschienen die Staatsboote
des Zweiten Königs: das Schreiben Seiner Preussischen Majestät
erhielt auf goldener Schale unter dem prächtigen Baldachin
des Hauptbootes den Ehrenplatz. Vom Landungsplatz wurden
[316]Der Zweite König. XXII.
Graf Eulenburg und seine Begleiter auf Tragstühlen durch
dichte Volkshaufen nach einer grossen Halle gebracht, wo siame-
sische Musikanten eine Fanfare bliesen; unter den zum Empfang
dort versammelten Hofbeamten war ein Franzose, der, früher
Sergeant in der Armee seines Vaterlandes, Herrn de Montigny,
welcher den Vertrag schloss, als Koch und Kammerdiener nach
Siam begleitete. Im siamesischen Kriegsdienst fungirte er als
Instructeur der Recruten des Zweiten Königs, trieb aber, wie die
Consuln erzählten, nebenbei noch immer die edele Kochkunst,
indem er gegen ein Honorar von 50 Dollars die Bereitung jedes
europäischen Diners zu übernehmen pflegte, das die Könige, die
Prinzen oder fremde Kaufleute gaben. Er schien bei Hofe grosses
Ansehn zu geniessen und äusserte sich über seine Stellung sehr
zufrieden, zugleich aber bescheiden und verständig. Die von ihm
instruirten Artilleristen feuerten zu Ehren des königlichen Schrei-
bens sehr präcis einen Salut von 21 Schüssen; ein Product seiner
Kochkunst wurde eben in der Empfangshalle aufgetragen, als Graf
Eulenburg und seine Begleiter — nach längerem Warten — zum
Könige beschieden wurden.


Das Empfangszimmer des im Umbau begriffenen Palastes
war hübsch und behaglich, aber nicht fertig eingerichtet; der Kö-
nig machte darüber viele Entschuldigungen. Er trug einen blauen
Ueberrock mit goldenen Knöpfen, weissseidene Beinkleider und
Pantoffeln von Leder. Das Streben nach europäisch civilisirtem An-
strich zeigte sich besonders auffallend darin, dass der König selbst,
sein Sohn und mehrere seiner Beamten kein Betel kauten. — Auf
reinlich gedeckten Tischchen standen Erfrischungen, Kuchen und
Früchte; auch Cigarren wurden angeboten. Nach Ueberreichung
des königlichen Schreibens stellte Graf Eulenburg seine Begleiter
vor. Der König sprach und verstand viel besser englisch als Maha
Moṅkut
, verbarg aber unter lebhaften Gebehrden und lautem Lachen
ein gewisses Missbehagen; — er soll hypochondrisch und stark
dyspeptisch gewesen sein und wusste genau, wie seit zehn Jahren
sein Puls ging; Dr. Lucius wurde alsbald in einer anstossenden
Veranda consultirt und zu einem Besuch auf den folgenden Tag
eingeladen. Die Rathschläge der europäischen Aerzte, die der Kö-
nig bei jeder Gelegenheit einzuholen pflegte, blieben aber ganz
unwirksam, da doch schliesslich nur die Arzneien der eingebornen
Quacksalber in ungeheurer Dosis geschluckt wurden.


[317]XXII. Der Zweite König.

Zur Unterhaltung zeigte der König dem Gesandten eine
Sammlung europäischer Schiessgewehre, deren Construction er sehr
genau kannte: eine von der Königin Victoria geschenkte Muskete,
eine Büchse vom Kaiser Napoleon, Zündnadel-, Minié- und Lan-
caster-Büchsen, Revolver der verschiedensten Art, Lefaucheux-
Jagdflinten und andere Gewehre mit ungewöhnlichen Einrichtungen,
die er geschickt zu handhaben und zu erklären wusste. Seine
Zündnadelbüchse war eine englische Nachahmung der preussischen
mit geringen Aenderungen; der König wünschte aber dringend, eine
echte preussische zu besitzen, ein Verlangen, dem damals von Seiten
des Gesandten und des Commodore nicht entsprochen werden
konnte. — Unter dem Usurpator, seinem Halbbruder, der bis 1851
regierte, war der zweite König Inspecteur der Artillerie gewesen und
hatte von englischen Ingenieuren, mit denen er die Werke bei
Paknam baute, das Englische erlernt. Er besass eine gute Bibliothek,
las mit Vorliebe Romane von Dickens und galt als thätig, scharf-
sinnig, ritterlich, jedem Fortschritt günstig. Diese Eigenschaften
sollen aber die Eifersucht seines älteren Bruders und Lehnsherrn
erweckt und keinen Wirkungskreis gefunden haben. Später kam
es zu offenem Zwist; der Zweite König versöhnte sich erst auf dem
Sterbebett 1865 mit Maha Moṅkut, der ihn gleich nach der Thron-
besteigung 1851 zu seiner Würde erhoben hatte.


Im Gespräch mit dem Gesandten äusserte der König grosse
Lust, die preussischen Schiffe zu sehen, schützte aber Unwohlsein
vor; in Wahrheit hielt ihn wohl das peinliche Verhältniss zu sei-
nem Bruder zurück. Die Unterhaltung drehte sich lange um die
Reisen des Gesandten, um Baṅkok, Phrabat, Ayutia, und wollte
kein Ende nehmen. Endlich empfahl sich Graf Eulenburg. — Unten
in der Empfangshalle mussten wir zu dem ungeniessbar gewordenen
Gabelfrühstück niedersitzen und machten dann einen Gang durch
die Gebäude. Der grosse Audienzsaal bot nichts Merkwürdiges;
in den Kasernen hingen die geputzten Waffen in guter Ordnung.
Die Soldaten des Zweiten Königs, lauter Christen aus der anami-
tischen Colonie, hatten in ihrer Wachtstube ein Marienbild; die
Uniformirung war holländisch. Prinz Georges zeigte noch einen
sehr geschätzten Elephanten mit schwarzem Maul, — Erdelephanten
nannten ihn die Siamesen, — zwei Paviane und Marder von heller
Farbe und einen gelblichweissen Fisch, lauter vornehme Thiere.
Drei schwarze Vögel von der Art und Grösse der Drosseln ahmten
[318]Königliches Ballet. XXII.
den Ton der menschlichen Stimme nach und sagten sehr deutlich
siamesische Worte. — Das waren die Merkwürdigkeiten des Palastes.


Als wir uns zu Hause recht ermüdet eben zu Tisch setzten,
kam ein Bote des Ersten Königs: der Gesandte möchte bald zur
theatralischen Vorstellung im Palast erscheinen, zu welcher er ein-
geladen sei. Um halb acht stiegen wir also in die Boote und wurden
drüben nach einer grossen von Holzpfeilern getragenen Halle ge-
führt. An der einen Seite war die königliche Loge, ihr gegenüber
das Orchester; an der dritten bildete ein dunkeler Vorhang den
Hintergrund der Bühne; auf der vierten gegenüber stand eine Tri-
büne für den preussischen Gesandten. Bei seinem Eintritt gab der
König das Zeichen zum Beginnen.


Den mythologischen Inhalt der Vorstellung konnten wir trotz
allen Erklärungen nicht fassen. Die Handelnden waren theils himm-
lische Wesen — Celestials sagte der König, — theils Dämonen,
allegorische Masken, Fürsten, Krieger, sämmtlich von Frauen des
Harem gespielt. Einige waren herrlich gewachsen; das eng an-
schliessende Wamms und der zierlich gefaltete Saroṅ zeigten alle
Körperformen. Der Stoff der meisten Anzüge war Gold- oder
Silberbrocat mit farbigem Grunde; Juwelenschmuck und schwere
goldene Spangen erhöhten ihren Werth, der sich auf etwa 5000
Thaler für jedes Kostüm belaufen sollte. Die guten Wesen im
Drama trugen meist spitzzulaufende edelsteinfunkelnde Goldkronen,
die bösen phantastische Thier- und Teufelsmasken. Bis zur halben
Wade herauf waren die Füsse bei allen nackt. An den Händen
trugen die Hauptpersonen sechs Zoll lange Fingerhüte gleich rück-
wärtsgebogenen Krallen, die ihren Gebehrden Emphase gaben. Die
Geschenke der Laos- und Malayen-Fürsten und freiwillige Gaben
vornehmer Siamesen müssen die Kosten des königlichen Theaters
bestreiten, wo nicht nur Stücke aus dem indischen Helden- und
Götterepos, sondern zuweilen auch Parodieen dieser Sagen gespielt
werden sollen.


Die Darstellung bildeten mimische Tänze. Auf der Bühne
kauerten die weiblichen Souffleure mit aufgeschlagenem Buche;
doch bedurften die Tanzenden selten der Leitung. Ein Frauenchor
begleitete ihre Action zuweilen mit der Stimme, meist aber nur mit
rythmischem Zusammenschlagen von Bambusstäben, während ein
zahlreiches Orchester von Holz- und Metall-Harmonikas, Flöten,
Schalmeien, Trommeln, Becken und Pauken argen Lärm machte.
[319]XXII. Königliches Ballet.
Grosse am Boden stehende Wachskerzen und viele Hängelampen
erleuchteten die Bühne.


Ein von bösen Geistern verfolgtes himmlisches Wesen, das
sie durch Talismane auf mancherlei Weise bändigt, schien die
Hauptrolle zu spielen. Glanzpuncte des Abends bildeten ein Ring-
kampf und ein mit männlicher Kraft ausgeführtes Solo einer hoch-
gewachsenen Tänzerin. Manche Gruppirungen waren recht schön.
Für uns wäre trotzdem eine halbe Stunde des unfasslichen Spieles
genug gewesen; doch hielten wir bis elf Uhr aus und verabschie-
deten uns vor Beginn des letzten Actes, des letzten nur für diesen
Abend; denn das Stück sollte den ganzen nächsten Tag dauern.


Als Graf Eulenburg sich auf besondere Einladung dazu ge-
gen elf Uhr Vormittags einstellte, gab der König das Zeichen zum
Anfang. Die ersten zwei Stunden dauerten Umzüge der himmlischen
und der bösen Geister. Teufelsmasken kämpften gegen eine Schaar
Genien mit Affenköpfen. Dann traten — mitten hinein — zwei Da-
men in französischen Abendtoiletten auf, grüssten mit rothseidenen
Taschentüchern und setzten sich in der Mitte der Bühne auf
Stühle. Während dann weiter gespielt wurde, schickte man sich
zum Frühstück an, der König mit den Kindern in seiner Loge,
die Prinzen und Grossen ringsum auf dem Bauche liegend, die
Hauptactricen auf einer aus niedrigen Tischen aufgebauten Estrade,
von wo sie, sich trunken stellend, bald herabstiegen, um die franzö-
sisch gekleideten Damen mit Zutraulichkeiten zu necken. Auch uns
wurde unterdessen ein Frühstück aufgetragen.


Nach der Stärkung bekam das Spiel neues Leben; die Mi-
men geriethen zuweilen in solchen Affect, dass sie ihren Gebehrden
durch heftig ausgestossene Worte Nachdruck gaben. Der König
erklärte, dass das bei einem von so vornehmen Damen gespielten
Stück nur »incidenter« (incidentally) vorkommen dürfe; nur auf
Volksbühnen werde gesprochen und declamirt. Er gab dem Ge-
sandten, den er nach seiner Loge beschied, noch allerlei Erklärun-
gen, welche die Aussprache seines zahnlosen Mundes unverständ-
lich liess, erlaubte ihm auch die Kostüme der Tänzerinnen von
nahem zu sehn, wozu eine alte Duenna sehr grimmig blickte. Unter
den umherliegenden Fürsten war auch ein König der Laos mit
seinem Gefolge: »We give him the title of king,« sagte Maha
Moṅkut
, »but we institute him.« Ununterbrochen spann das Stück
sich weiter; auch Pferde kamen auf die Bühne, europäische Kinder-
[320]Abschiedsaudienzen. XXII.
wagen ziehend, in welchen die Hauptpersonen eines prächtigen
Aufzuges sassen. Für uns blieb es kauderwelsch und wurde mit
der Zeit recht langweilig; waren auch einzelne Tänzerinnen ge-
wandt, so kehrten doch die eingeschulten Gebehrden immer wie-
der; die höchste Leistung scheint in der Kunst zu bestehen, den
Unterarm aus dem Elbogen auszurenken und die Finger unnatür-
lich gegen das Handgelenk zurückzubiegen.


Graf Eulenburg benutzte die Zeit, um dem König eine Münz-
sammlung aus allen deutschen Staaten zu überreichen, welche
grossen Beifall fand. Der König nannte jetzt auch die Gegen-
geschenke, die er für Seine Majestät den König von Preussen be-
stimmte. Dem Gesandten verehrte er zum Abschied einen voll-
ständigen Apparat, wie er den siamesischen Grossen nachgetragen
wird: eine Theekanne, Betelbüchse, grosse Schale und Cigarren-
tasche, aus Silber getrieben mit aufgelegten Goldblumen. — Wir
schieden mit ermüdeten Sinnen.


In den folgenden Tagen erhielt Graf Eulenburg die Ab-
schiedsbesuche des Kalahum, der eine Reise in die Provinzen an-
trat, und anderer siamesischen Grossen. Der König schickte auch
seinen Waffenbewahrer mit sechs kostbaren, überreich mit Juwelen
besetzten Schwertern von schöner Arbeit, die zur Industrie-Aus-
stellung nach London gehn sollten. — Das Verlangen des Zweiten
Königs, preussische Schiesswaffen wenigstens zu sehen, war so
gross, dass er einen Dampfer danach auf die Rhede hinaussandte.
Nach dessen Rückkehr wurde Capitän Sundewall mit seinem Schwa-
ger Baron Bennett sofort zur Audienz eingeladen; der Commodore
zeigte und erklärte dem König den Mechanismus des preussischen
Zündnadelgewehrs und machte demselben eine ähnlich construirte
Büchse zum Geschenk.


Am Abend des 14. Februar kam der jüngste Bruder der
Könige, um dem Gesandten die für Seine Majestät den König von
Preussen bestimmten Geschenke zu zeigen und sich deren englische
Namen aufzuschreiben: zwei Jagdspiesse, ein reich gearbeitetes
Schwert und ein Visitenkarten-Futteral aus Gold, mit Juwelen be-
setzt. — Da Graf Eulenburg leidend war, so mussten die Abschieds-
audienzen bis zum 17. Februar verschoben werden. Der Zweite
König, welcher den Gesandten Morgens empfing, war diesmal viel
unbefangener und zeigte mit sichtlichem Vergnügen einige an der
geschenkten Zündnadelbüchse von ihm selbst gemachte Verbesse-
[321]XXII. Abschiedsaudienzen.
rungen. Er übergab seine für des Königs von Preussen Majestät
bestimmten Gaben dem Gesandten und überreichte demselben als
Andenken einen getriebenen silbernen mit Gold eingelegten Cigar-
renkasten. Den Commodore versprach der Zweite König in den
nächsten Tagen auf der Rhede zu besuchen.


Nachmittags fuhr Graf Eulenburg zum Ersten König, welcher
ihm an der Thür der grossen Audienzhalle entgegenkam, ein dort auf
goldener Schale liegendes schwarz gesiegeltes und in schwarzen
Stoff gehülltes Schreiben zeigte und in seiner Gegenwart eigen-
händig die Adresse darauf schrieb: To His Majesty the King of
Prussia. Seiner Majestät Bildniss war in der Audienzhalle auf-
gehängt. Der König führte uns dann über viele Treppen und
Corridore nach einem im modernsten französischen Geschmack ein-
gerichteten Zimmer mit grossen Spiegeln und Möbelbezügen von
geblümter Seide, schenkte den üblichen Sherry ein, während die
Kinder Cigarren vertheilten, verehrte dem Gesandten ein nach
seiner Angabe gearbeitetes goldenes Dintenfass und sprach den
dringenden Wunsch aus, dass diese seine Erfindung in Europa all-
gemein bekannt werde. — In die Audienzhalle zurückgekehrt, zeigte
der König noch den Mechanismus eines fast drei Fuss langen, in
einer der Thüren aufgestellten englischen Hinterladegeschützes und
feuerte mit eigener Hand mehrere Platzpatronen daraus ab.


Unterdessen hatte sich im Hofraum eine prächtige Procession
mit Musik und Fahnen aufgestellt. Der siamesische Despot stieg
auf einen Altan und setzte die Goldschale mit seinem Brief auf
einen Thronsessel, auf dem sie, von einem weissgekleideten Herold
gehalten, durch viele Träger in feierlichem Zuge nach dem Lan-
dungsplatz gebracht wurde. — Graf Eulenburg verabschiedete sich
mit dem Ausdruck des wärmsten Dankes für die ihm bereitete gast-
liche Aufnahme.


Wir waren etwa eine halbe Stunde zu Hause, als die Boots-
processionen mit den Schreiben der beiden Könige eintrafen,
welche der Gesandte auf dem Altan seiner Wohnung entgegennahm.


Nach kaum zweimonatlichem Aufenthalt in Siam über dessen
Einrichtungen und Zustände abzusprechen wäre vermessen; selbst
bei längerem Verweilen und Kenntniss der Landessprache muss
IV. 21
[322]Politische Einrichtungen. XXII.
Klarheit darüber schwer zu gewinnen sein. Alles bis jetzt
Publicirte ist nur Stückwerk voll Widersprüche, die vielleicht mehr
in den Einrichtungen selbst, als in den Berichten darüber liegen,
denn offenbar beruhen die lose geordneten Verhältnisse auf
wandelbarem Herkommen, das der Willkür starker Charaktere
weicht. Nicht einmal von der Sonderung der Stände und der
Stellung der Fürsten zum Volke gewannen wir deutliche Begriffe.
Graf Eulenburg fragte bei jeder Gelegenheit den König und die
Grossen aus und erhielt ausführliche Antworten; auch von den
ansässigen Consuln, Missionaren und Kauflenten erfuhren wir Man-
cherlei; aber zu klarer Erkenntniss des Organismus gestalteten sich
diese Mittheilungen nicht. Sie mögen trotzdem, wie wir sie empfin-
gen und ohne eigene Gewähr, als Beitrag zur Kenntniss des
Landes hier wiedergegeben werden. Die Berichte anderer Reisen-
den beseitigen keineswegs die Widersprüche, ebensowenig das
Werk des Bischofs Pallégoix, aus welchem die meisten geschöpft
haben, und das trotz manchen Lücken immer noch als die beste
Beschreibung von Siam gelten muss. Die reichhaltigen französischen
Werke aus dem 17. Jahrhundert passen nur theilweise auf die
heutigen Einrichtungen; die Blütheperiode, welche sie behandeln,
erreichte ihr Ende mit der Zerstörung von Ayutia, und das neue
siamesische Reich, das Phaya-tak in Baṅkok gründete, ist von
jenem älteren wesentlich verschieden.


König Maha-moṅkut pflegte in komischen Zorn zu gerathen
über geographische Bücher, welche die Verfassung von Siam als
absolut monarchisch bezeichnen 71); und doch war er soweit abso-
luter Herr, als nicht die öffentliche Meinung, altes Herkommen,
der Einfluss der Bonzen und die materielle Macht der Grossen ihn
beschränkten. Ueber der letzteren Stellung findet sich nirgend ge-
nügende Auskunft; es scheint ein landbesitzender Adel zu sein, in
dessen Familien alle hohen Staatsämter unter königlicher Bestäti-
gung erblich sind. Die würdentragenden Häupter dieser Familien
bilden wahrscheinlich den grossen Staatsrath oder Senabodi, der
vorzüglich bei jedem Thronwechsel mitspricht. König Maha-
moṅkut
erklärte dem Gesandten in deutlichen Worten, dass thron-
[323]XXII. Senabodi. Der Zweite König.
berechtigt nur solche Agnaten des Herrscherhauses seien, die auch
mütterlicherseits aus königlichem Blute stammten, d. h. die Söhne
einer zur Königin-Gemahlin erhobenen Prinzessin des regierenden
Hauses; dass aus diesen der Senabodi den König erwähle. Pallé-
goix
sagt, dass die Primogenitur zwar keinen Anspruch auf den
Thron begründe, dass der König aber — nach chinesischer Art —
durch Testament einen seiner Söhne zum Nachfolger einsetze.
Dazu stimmen aber die Thatsachen der neueren siamesischen Ge-
schichte noch weniger als zu des Königs Aussagen; Phra Tšao
Prasat Toṅ
, der von 1825 bis 1851 regierte, stammte mütter-
licherseits nicht aus dem Königshause, wurde auch weder von
seinem Vater zum Nachfolger eingesetzt, noch vom Senabodi
erwählt, konnte aber gegen dessen Willen seinen Sohn nicht
auf den Thron bringen. Daraus wäre zu schliessen, dass ein
Usurpator eben so sicher herrscht, wie der legitime Erbe, wenn
er die Grossen bezwingt oder zu Freunden hat, und dass der
legitime Erbe eben so gut deren Zustimmung braucht, wie der
Usurpator.


Ueber des Zweiten Königs Stellung weiss man eben so wenig
Genaues, als über das Alter und die Bedeutung dieser Würde.
Pallégoix behauptet, dass er gewöhnlich den Oberbefehl über die
Kriegsheere führt, dass er in Abwesenheit des Ersten Königs von
der Hauptstadt regiert, dass dieser ihn in allen wichtigen An-
gelegenheiten befragt. Das Alles ist unwahrscheinlich. Die Insti-
tution des zweiten Königthums mag bestimmt sein, die despotische
Alleinherrschaft zu beschränken, sie bietet den Unzufriedenen stets
ein Banner, um das sie sich schaaren können; aber grade deshalb
wird der Zweite König nimmer Einfluss neben dem Ersten ge-
winnen, und sich hüten müssen, dessen Argwohn zu wecken. Er
ist das Schwert des Damokles, das stille droht, doch niemals drein-
schlägt. Das war die Lage des Zweiten Königs, den wir sahen,
des rechten jüngeren Bruders des Maha-moṅkut, welcher ihn gleich
nach seiner Thronbesteigung mit Zustimmung des Senabodi zu
dieser Würde erhob. Sein Vorrecht vor allen anderen Unterthanen
ist, dass er sich vor dem Herrscher nicht niederwirft, sondern zum
Gruss nur die Hände erhebt; er leistet ihm aber, wie alle anderen
Grossen, jährlich zweimal den Eid der Treue. Er hat seine Sol-
daten und seinen Hof, und bezieht seine Einkünfte aus dem Schatz
des Ersten Königs unter dessen Genehmigung.


21*
[324]Beamten. Unterthanen. XXII.

Aus dem Königsschatz, in den die gesammten Einkünfte des
Landes fliessen, beziehen auch die königlichen Prinzen und deren
Nachkommen bis zu bestimmten Graden der Verwandtschaft ihr
Einkommen; die entfernteren Sprossen treten in den Privatstand
und sind auf sich selbst angewiesen. — Sämmtliche Beamten haben
vom König ein festes Jahrgehalt, das aber den kleinsten Theil
ihres Einkommens ausmacht; die unbemittelten stehlen und die be-
mittelten auch; Bestechlichkeit gilt kaum für schimpflich. Eine
Hauptquelle des Einkommens ist der Raxakan oder königliche Dienst,
dem das ganze Volk unterworfen ist, ausgenommen eingewanderte
Chinesen, deren in Siam geborene Kinder dagegen als siamesische
Unterthanen gelten.


Das ganze Volk scheint in Freie, Clienten und Knechte zu
zerfallen. Die Freien schulden dem Könige jährlich drei Monate
Frohndienst, wovon sie sich oft durch Bestechung loskaufen. In
den entfernteren Landestheilen sind sie statt der Arbeit — neben
den anderen Steuern — zu bestimmten Naturallieferungen je nach
den Erzeugnissen ihrer Gegend verbunden. Die Clienten zahlen
dem König oder den Grossen, in deren Schutz sie stehen, eine
bestimmte Geldsteuer und werden nur gelegentlich zu Dienst-
leistungen einberufen. Die Prinzen und Grossen verfügen über
zehn bis fünfhundert Clientenfamilen, welche nebenbei eine Geld-
steuer an den königlichen Schatz zahlen; können sie diese nicht
erschwingen, so zahlt ihr Herr bis zu einer bestimmten Summe,
für welche sie dann seine Sclaven werden. Ihre Arbeit gilt für die
Zinsen der Schuld.


Diese Angaben sind eben so lückenhaft, wie die anderen
Nachrichten über die Knechtschaft. Sclaven sind zunächst alle
Kriegsgefangenen; einen Theil behält der König nach jedem Feldzug
im eigenen Dienst, die anderen verschenkt er an die Grossen.
Selbst diese Sclaven sollen, mit ihrem Herrn unzufrieden, in den
Dienst eines anderen zu treten befugt sein, der einen gesetzlich
festgestellten Preis für sie erlegt, gegen ihren Willen aber nicht
verkauft werden dürfen. Ueber ihre Kinder sollen sie frei ver-
fügen, auch dieselben, wie alle anderen Siamesen, verkaufen dürfen.
Die Knechtschaft der verkauften Kinder, meist Mädchen, ist un-
lösbar; der Verkäufer kann aber nicht zur Rechenschaft gezogen
werden, wenn sie entfliehen. — Die meisten Sclaven sind Schuld-
sclaven. Für jedes Alter ist ein Preis bestimmt, um den ein
[325]XXII. Königsknechte.
Siamese der Knechtschaft verfällt; seine Arbeit gilt für die Zinsen
der geschuldeten Summe; der Herr muss ihn nähren, darf ihn
gegen seinen Willen nicht verkaufen, muss ihn dagegen freilassen
oder auf seinen Antrag einem Anderen abtreten, wenn die ge-
schuldete Summe erlegt wird. Die Knechtschaft soll in Siam nicht
hart sein, oft hört man rührende Züge der Aufopferung treuer
Sclaven für ihre bedrängten Herren. Die einzige Strafe, die vom
Herrn über Knechte verhängt werden kann, ist Fesselung; unver-
besserliche Uebelthäter überantwortet er den königlichen Gerichten,
welche sie mit Zwangsarbeit und schwerem Kerker strafen.


Die königlichen Knechte, meist kriegsgefangene Malayen, Co-
chinchinesen, Peguaner, Laos, Birmanen, sehen mit grossem Dünkel auf
alle anderen herab. Viele dienen als Bootsleute, andere, besonders
Cochinchinesen, Peguaner und Laos als Soldaten; das sind die
Garden der Könige. Ausser diesen wenigen Truppen — Pallégoix
schätzt ihre Zahl wohl zu hoch auf etwa zehntausend — giebt es
kein stehendes Heer. Bricht ein Krieg aus, so müssen die Pro-
vinzialbeamten ihre Contingente stellen, die aus allen Ständen der
Bevölkerung ausgehoben werden. Für Nahrung sorgen die Sol-
daten: Sold erhalten sie nicht; ihre Ausrüstung, die in den
Zeughäusern von Baṅkok bereit liegt, soll bunt genug sein.
Die Armee bewegt sich meist zu Wasser; auf den Landmärschen
begleiten sie viele, man sagt bis tausend Elephanten, welche die
Geschütze, Munition und Vorräthe tragen und mit wüthiger Tapfer-
keit die feindliche Schlachtordnung, ja Pallisaden und Stadtthore
einrennen. Die Officiere treiben ihre Truppen meist mit blanker
Waffe in den Kampf, für den kein Siamese besondere Neigung
haben soll. — Abergläubische Gebräuche begleiten alle Handlungen
des Heeres und seiner Führer; z. B. muss der Obergeneral jeden
Tag der Woche einen Rock von anderer Farbe tragen. Die Offi-
ciere nehmen auch furchterregende Namen an, wie Löwe, Tiger,
Drachen. — Die Flotte besteht vorzüglich aus Kanonenbooten —
man nennt 500 bis 1000 — verschiedener Grösse, aus etwa 20
europäisch getakelten Kriegsschiffen und einer Anzahl Dampfern.


Die in den Schatz des Königs fliessenden Staatseinkünfte
bestehen neben den Einfuhr-, Ausfuhr- und Binnenzöllen aus dem
Tribut abhängiger Fürsten, den Grund- und Landbau-Steuern,
Geldstrafen und den erwähnten Abgaben der Clienten und Freien.
— Die malayischen Sultane haben meist nur alle drei Jahre goldene
[326]Steuern. XXII.
und silberne Bäume und gewisse Mengen Goldstaub zu liefern; die
anderen Fürsten zahlen einen jährlichen Tribut in Elfenbein, Teka-
Holz, Benzoin, Gummigutti, Kardamom und anderen werthvollen
Stoffen. — Der gleichmässig für das ganze Reich geltende Satz der
Grundsteuer ist an sich nicht hoch; sie trifft aber den Landmann
deshalb hart, weil die Beamten sie zur Erntezeit in Reis erheben,
und ihn zu ihrem Vortheil weit unter dem Werth taxiren. Ausser-
dem zahlt jeder Frucht- und Nutzbaum im Lande eine bedeutende
Abgabe; bei jedem Thronwechsel wird eine Zählung davon veran-
staltet, die bis zum nächsten als Norm dient; der Landmann kann
bis dahin ohne weitere Belastung so viel neue Bäume pflanzen als
er will, muss dagegen auch für die eingehenden zahlen. — Die
Geldstrafen aus Prozessen sollen dem König namhafte Summen brin-
gen; eine Hauptquelle seines Reichthums ist aber der Handel. An
Tribut abhängiger Fürsten und Abgaben der keinen Frohndienst
leistenden Unterthanen fliessen jährlich in des Königs Magazin
grosse Mengen der kostbarsten Landeserzeugnisse, mit denen er
seine Schiffe befrachtet; ausserdem treiben sowohl die Könige als
die Grossen einen ausgedehnten Reishandel, der bei günstigen Con-
juncturen, besonders bei Misswachs in China reichen Gewinn
bringt. — König Maha-moṅkut soll Schätze auf Schätze gehäuft
haben und galt für einen der reichsten Erdenbewohner.


Aus den in Einzelnem sehr von einander abweichenden Auf-
schlüssen, die wir in Baṅkok erhielten, und den Berichten anderer
Reisenden über die Rechtspflege ergiebt sich ungefähr Folgendes.
Siam besitzt ein ausführliches Gesetzbuch von altem Ursprung, das
mit dem Volke herangewachsen, aber nicht mehr in seinen Händen
ist. Pallégoix nennt die Gesetze vortrefflich, dem natürlichen Recht
wie dem Volkscharakter entsprechend; sie sollen aus den indischen
des Manu abgeleitet sein. — Von den dreierlei Gerichtshöfen der
Beamten, der Prinzen und des Königs behandeln die beiden ersteren
nur unbedeutende Sachen; jeder wichtige Fall kommt vor des Kö-
nigs Tribunal. Es giebt einen Justizminister oder Oberrichter, der
von allen wichtigen Fällen Kenntniss nimmt, den Verhandlungen
aber nicht beiwohnt. Gewöhnlich fällen Einzelrichter den Spruch.
Darin stimmen alle Berichte überein, dass die ganze Justiz vom
Schergen und Kerkermeister bis zum Grossrichter käuflich ist, dass
trotz dem Gesetz, nach welchem jeder Rechtsstreit binnen drei
Tagen entschieden sein muss, die Prozesse in die Länge gezogen
[327]XXII. Justiz.
werden, bis beide Parteien kein Geld zur Bestechung mehr haben,
dass schwere zu lebenslänglicher Kerkerhaft und Zwangsarbeit ver-
urtheilte Verbrecher oft nach kurzer Zeit gegen Bezahlung der
Schliesser entlassen werden, während minder gravirte endlos
schmachten. Die Kerker sollen furchtbar sein; eng aneinander
geschlossen liegen die Gefangenen dort die Nacht durch in Schmutz
und Unrath; bei Tage arbeiten sie ebenfalls gefesselt, oft fünf an
einer Kette, an öffentlichen Bauten. Schwere Verbrecher tragen
dabei eine furchtbare Kettenlast und das Kaṅgo. — Todesstrafe
scheint jetzt nur auf wenige Verbrechen, vorzüglich auf Majestäts-
beleidigung und Rebellion zu stehen; die dazu Verurtheilten werden
enthauptet oder gespiesst, ausser den Sprossen des Königshauses,
die in Säcke genäht und zu Tode geprügelt werden, da das könig-
liche Blut nicht vergossen werden darf. — Man erzählt von einer
Art heimlichem Gericht, das zweimal wöchentlich in des Königs
Gegenwart nächtliche Sitzungen hielte, ohne Verhör und Zeugen
seine Opfer foltern und bei nächtlichem Dunkel ertränken liesse;
doch ist diese Nachricht keineswegs sicher verbürgt.


Schwere Verbrechen sollen in Siam selten sein; man zählte
in Baṅkok bei 400,000 Einwohnern jährlich drei bis vier meist von
Chinesen verübte Morde. Kleine Diebereien sind häufig; wir hatten
oft darunter zu leiden, konnten aber meist durch Drohungen das
Gestohlene den Dieben wieder abdringen, welche die Sache sehr
leicht nahmen. Der Charakter des Siamesen ist eben leichtfertig,
unbedacht, furchtsam, geduldig, sanft und heiter, träge und ver-
gnügungssüchtig, allen heftigen Leidenschaften fremd. Sie be-
schenken einander gern und geben dem Armen mit vollen Händen.
Sie sollen aufgeweckt und zu kunstreichen Arbeiten geschickt sein;
da aber der König und die Grossen jeden geschickten Mann sofort
in ihre Dienste pressen, so faulenzen diese lieber oder arbeiten nur
heimlich. — Jeder Siamese hat nur eine rechtmässige Frau; die
Ehe und die Reinheit seiner Töchter ist ihm heilig, strenge Gesetze
ahnden selbst jede unberufene Liebkosung. Die Scheidung von
Ehegatten soll leicht sein: der Mann oder die Frau geht in ein
Kloster. — Die barmherzige Milde der Siamesen, auch gegen Thiere,
mag in den buddistischen Lehren wurzeln; sie erschlagen kaum die
Mücke, die ihr Blut saugt.72) Ihre Gastfreundschaft, Achtung vor
[328]Betel. XXII.
dem Gesetz, der Obrigkeit, dem Alter, und ihre Kindesliebe werden all-
gemein gerühmt; Ihresgleichen sollen sie selten belügen, desto häufiger
ihre Herren und Vorgesetzten aus Furcht vor Strafe oder Misshandlung.


Von den Gebräuchen und Sitten ihres häuslichen Lebens,
wie die Siamesen wohnen und schlafen, essen und trinken, giebt
Pallégoix anziehende Schilderungen, die nacherzählt jeden Reiz
verlören. Eine Gewohnheit, die sicher auf den Volkscharakter
wirkt und sich nur in rein buddistischen Ländern findet, ist das
Betelkauen. Jeder Siamese führt beständig ein Bündel frischer
Blätter des Betel-Pfeffers (Chavica Betel), einige Nüsse der Areca-
Palme (Areca Catechu) und ein Döschen mit Kalkbrei bei sich, der
aus geriebenen Muscheln bereitet und mit Curcuma roth gefärbt
wird. Eine Erbse gross von letzterem streicht der Siamese auf ein
Betel-Blatt, rollt es wie eine Cigarre zusammen, beisst davon ab
und kaut es mit einem Stück Areca-Nuss. Die Folgen sind schwarze
Zähne, aufgeschwollene ziegelrothe Lippen und übermässige Abson-
derung ziegelrothen Speichels, den der Kauende beständig um sich
wirft. Sie kauen aber den ganzen Tag und sollen in Stumpfheit
versinken, wenn sie es unterlassen; daraus dürfte man schliessen,
dass die beständige Reizung erschlaffend wirkt. In der That ge-
hören wohl die betelkauenden Inder und Singalesen zu den weich-
lichsten Völkern, was nicht allein der Enthaltung vom Fleischgenuss
und dem Klima zuzuschreiben ist: denn der Japaner isst ebensowenig
Fleisch, und anderen Vegetarianern in den Tropen fehlt es keines-
wegs an Thatkraft. Aerzte haben behauptet, dass Betel, Areca-
Nuss und Kalk dem Organismus die nothwendigen Stoffe zuführen,
die wir aus der Fleischnahrung ziehen; aber der Japaner lebt doch
auch, wie der Siamese, fast lediglich von Fischen und Reis, und
bedarf keines Betels. Wahrscheinlich ist das Bedürfniss des Kör-
pers nach Reizung im erschlaffenden Tropenklima grösser, als in
gemässigten Zonen; das zeigt sich auch im stärkeren Gebrauche
des Tabaks. In Siam rauchen die Knaben vom fünften Jahre an
Cigarren von einheimischem Tabak, deren Decke ein Stück Bana-
nenblatt bildet. Nach fremdem und dem stärksten Tabak waren
unsere Bootsleute so lüstern, dass sie sich gierig auf jeden weg-
geworfenen Cigarrenstummel stürzten, nicht aus Bedürftigkeit, denn
der einheimische Tabak ist für Jeden erschwinglich, sondern aus
Leckerei. — Frauen und Mädchen rauchen meist nicht, aber kauen
desto fleissiger Tabak.


[329]XXII. Gebräuche.

Die meisten Siamesen trinken nur Thee, den die Chinesen
importiren, und meiden alle geistigen Getränke; der Genuss des
landesüblichen aus Reis gebrannten Arrac soll jedoch Fortschritte
machen. Der Opium-Einfuhr wehrte die Regierung lange Zeit ver-
gebens und übertrug dann das Monopol einem Chinesen. Nur Chi-
nesen ist der Gebrauch erlaubt; trotz der darauf gesetzten Todes-
strafe soll er aber auch bei reichen Siamesen einreissen.


Alle Familienereignisse sind von abergläubischen Gebräuchen
begleitet. Neben jeder gebärenden Frau wird ein Feuer angezündet
und mehrere Wochen lang unterhalten; die dadurch erzeugte Hitze
muss im tropischen Klima unerträglich sein, oft verbrennen auch
Mutter und Kind, und Haus und Hof dazu. Die Mutter nährt ihre
Kinder bis zum dritten und vierten Jahre, giebt ihnen aber auch
Reis und Bananen; in diesem Alter können die meisten schon
schwimmen. Bis zum fünften Jahr wird das ganze Haupthaar
rasirt; nachher bleibt auf der Scheitel ein langer Schopf stehen,
der in einen festen Knoten geschlungen und mit einer Nadel zu-
sammengehalten wird. Bei eintretender Pubertät wird den Knaben
wie den Mädchen der Schopf unter grossen Festlichkeiten kurz ge-
schnitten; die Bonzen singen dazu ihre Litaneien und waschen dem
geschmückten Festkinde den Kopf mit Weihwasser; alle Ver-
wandten bringen reiche Gaben; man schmaust, zecht, raucht, kaut
Betel, spielt Karten und Würfel den ganzen Tag. — Bei den
Grossen dauern die Festlichkeiten mehrere Tage; die Haarbeschnei-
dung der Königskinder ist mit feierlichen Processionen, allegorischen
Spielen, theatralischen Aufführungen und vielerlei Hocuspocus der
Bonzen und Brahminen verbunden.


Nach der Haarbeschneidung werden die meisten Knaben
einige Jahre in die Klöster geschickt, wo sie den prassenden
Bonzen als Ruderer und Aufwärter dienen und dafür im Lesen,
Schreiben und den Glaubenslehren unterrichtet werden sollen, aber
nur Müssiggang, Schleckerei und Unsitte lernen. »Es ist That-
sache, dass von hundert Knaben, die zehn bis zwölf Jahre im
Tempel zubrachten, nicht zwanzig lesen und etwa zehn schreiben
können, wenn sie diese Teufelsklöster verlassen. Die empfangene
Erziehung besteht vorzüglich darin, dass sie Trägheit, Sittenver-
derbniss und tausend abgeschmackte Mährchen gelernt haben.
Nicht genug, dass sie Diener der Bonzen gewesen sind; die bud-
distische Religion fordert auch, dass diese Knaben wenigstens auf
[330]Die Bonzen. XXII.
einige Zeit selbst als Bonzen eingekleidet werden, um, wie man
sagt, ihren Eltern die Schuld der Dankbarkeit abzutragen. Sie
schätzen das Verdienst solcher Einkleidung für mächtig genug, um
ihre Eltern aus der Hölle zu ziehen, wenn sie dahin gerathen.«73)
Selbst die Königssöhne gehen für einige Zeit in das Kloster; der
Austritt steht Jedem frei. Pallégoix’s Entrüstung ist sicher gerecht.
Selbst uns drängte sich die Ansicht auf, dass bei diesem unver-
schämten Gesindel prassender Tagediebe grobe lüsterne Sinnlich-
keit und alle schlimmen Leidenschaften wuchern. Viele bleiben
nur Bonzen aus Hang zum Müssiggang und um sich den Dienst-
leistungen der Hörigkeit zu entziehen; andere wissen sich aus den
Opfergaben und dem Ertrage ihrer Andachtsübungen ein kleines
Vermögen zusammenzuscharren, treten dann in das bürgerliche Le-
ben zurück und heirathen.


Die Regel der Bonzen ist in 227 Artikeln niedergelegt, die
dem Budda Gotama74) zugeschrieben werden; Pallégoix giebt
einen Auszug davon. Folgende Hauptvorschriften gelten auch für
die Schüler der Bonzen: von Mittag bis zum folgenden Morgen zu
fasten, nicht Blumen bei sich zu haben noch daran zu riechen,
nicht auf Polstern zu sitzen, oder auf Stühlen, die höher sind als
zwölf Zoll. Geboten sind ferner das tägliche Almosensammeln,
das Wohnen im Kloster, das Tragen gelber Gewänder, das Cölibat,
Enthaltung von Lüge, Diebstahl und Tödtung von Thieren.
Letztere sieben Gebote werden nach Pallégoix dem Bonzen bei
seiner Einkleidung vorgelesen. Seine und Dr. Bastian’s Schilde-
rungen vom Klosterleben in Baṅkok sind nicht erbaulich. Bei
Tagesanbruch erheben sich die Bonzen, läuten die Glocken, nehmen
ein Bad und recitiren im Tempel gemeinschaftlich ein Gebet. Dann
macht jeder von seinem Schüler gerudert die vorgeschriebene
Bettelfahrt. Sie kehren mit gefüllten Töpfen zurück, wählen sich
die besten Bissen und geben das Uebrige den Knaben. Dann
wird geraucht und geschwatzt; den ganzen Vormittag kommen An-
dächtige mit Leckerbissen, besonders für die beliebten Prediger.
Um elf Uhr ist die zweite Mahlzeit, die kurz vor Mittag beendet
sein muss; dann folgt die lange Siesta. Bis zum Morgen darf wohl
Thee, Cocosmilch und dergleichen, aber nichts Festes genossen
werden. Oft werden Bonzen in die Häuser der Reichen und Vor-
[331]XXII. Die Bonzen.
nehmen zum Predigen eingeladen, erwarten dafür aber reiche Ge-
schenke; selbst die Grossen bedienen sie in ihren Häusern sehr
ehrerbietig.


Zur Regenzeit versammeln sich die Bonzen jede Nacht in
ihrem Tempel und singen Litaneien zum Lobe des Budda. Eine
Zeit lang, etwa drei Wochen jedes Jahr, müssen sie in selbst-
gebauten Hütten auf dem Lande zur Busse ihrer Süden nächt-
liche Andachten halten, verschlafen dafür aber den Tag in ihrer
Klosterzelle. Nur drei Monate im Jahre muss der Bonze in sei-
nem Kloster wohnen; die übrige Zeit darf er sich nach Gefallen
herumtreiben. Viele reisen von Kloster zu Kloster bis in die
fernsten Wälder, theils zum Vergnügen, theils um Pflanzen und
Minerale für ihre Elixire und alchymistischen Zaubereien zu suchen.


Man unterscheidet königliche Klöster und solche die von
Privatleuten gestiftet sind; jedes hat seinen Vorsteher oder Abt.
Viele Wittwen und andere Frauen, die kein Unterkommen haben,
widmen sich dem Klosterdienst; für gröbere Arbeit haben die
königlichen Klöster auch Sclaven. Der König ernennt den Ober-
bonzen, der über sämmtliche Aebte gesetzt ist, und verleiht einem
königlichen Prinzen die Jurisdiction über alle Klöster des Landes;
nur Dieser darf durch eigene Häscher die Bonzen verhaften lassen,
des gelben Gewandes berauben und nach des Gesetzes Strenge be-
strafen. Vor seinem Tode legt der Bonze das Priesterkleid ab,
darin zu sterben gilt für ein grobes Verbrechen.


Viele Klöster in Baṅkok haben kostbare Bibliotheken; auch
soll es gelehrte und fromme Mönche geben, die theologische, histo-
rische, sprachliche Studien treiben und ein sittliches Leben führen,
— doch nicht allzuviele.


Die Mädchen lernen nur kochen, selbst Nähen wäre bei der
üblichen Landestracht eine brodlose Kunst. Ein grosser Theil der
Feld- und Gartenarbeit fällt den Weibern schon dadurch zu, dass
die Männer oft Monate lang Frohndienste leisten. In der ärmeren
Classe werden die Mädchen meist ihren Bewerbern für eine Geld-
summe verkauft, können aber trotzdem deren rechtmässige Gattinnen
werden; doch hat der Mann das Recht, auch diese, wenn sie
Schulden macht, zu verkaufen. Nur solche Frauen, die eine Mit-
gift brachten, dürfen nicht verkauft werden. Die väterliche Gewalt
ist fast unumschränkt; Eltern können ihre Kinder in Fesseln legen
und nach Gefallen in unlösbare Knechtschaft verkaufen.


[332]Heirathen. Sterbegebräuche. XXII.

Die meisten Mädchen werden im Alter von funfzehn Jahren
verheirathet; warten die Eltern auf bessere Preise hoffend länger,
so geht die Tochter gewöhnlich durch, kommt nach einigen Wochen
mit ihrem Liebsten wieder und bittet unter dem Beistande von
Verwandten in vorgeschriebener Form um Verzeihung, worauf die
Eltern sich mit dem Schwiegersohn abfinden und die Hochzeit be-
reiten. Erfolgt die Einigung nicht, so segnet die Behörde den Ehe-
bund. — Bei der Hochzeit, die bei den Reicheren mit feierlichen
Bootsprocessionen, dramatischen Aufführungen, Musik und allerlei
Spielen gefeiert wird, scheinen die Bonzen keine anderen Verrich-
tungen zu haben, als den Gesang von Litaneien und die Einsegnung
des Ehebettes.75) Die Zahlung des Kaufpreises — oder der Mitgift
— scheint der die Ehe begründende Act zu sein. Die Grossen haben
viele Nebenweiber, aber nur die Kinder der ersten rechtmässigen
Frau sind erbberechtigt. — Bei Scheidungen, zu denen das Gericht
den Ehegatten auf der Frau Verlangen zwingen kann, wird die
Mitgift zurückgegeben. Das älteste, dritte und alle Kinder un-
grader Zahl folgen der Mutter, die anderen dem Vater. — Die
meisten Ehen sollen glücklich sein; die Frau wird mit Achtung be-
handelt, hat gebührenden Einfluss auf alle häuslichen Angelegen-
heiten und bewegt sich auch ausserhalb des Hauses mit voller
Freiheit.


Wenn es zum Sterben geht, lässt der Siamese die Bonzen
kommen, die ihn unter Gebeten mit Weihwasser besprengen und
im letzten Augenblick dem Sterbenden beständig das Wort Arahaṅ
— Sei frei von Begehrlichkeit — in die Ohren rufen; das soll der
scheidenden Seele Glück auf die Reise bringen. Dann bricht die
ganze Familie in Wehklagen aus. Die Leiche wird gewaschen, in
ein weisses Tuch gehüllt und in den mit Goldpapier beklebten Sarg
gelegt, über den man wo möglich einen Baldachin mit Papierspitzen,
Blumenguirlanden und Goldflitter baut. Nicht durch die Thür,
sondern durch ein in die Wand gebrochenes Loch wird die Leiche,
die Füsse voran, heraus und dann dreimal in schnellem Lauf um
das Haus getragen, damit sie den Eingang vergesse und keinen
Spuk treibe. — Nach Pallégoix würde nur das Fleisch Derjenigen,
die es ausdrücklich verlangen, den Geiern vorgeworfen.


[333]XXII. Aberglauben. Wahrsagen.

Viele Siamesen sollen ein hohes Alter erreichen. Bei Krank-
heiten, die meist Dämonen zur Last gelegt werden, kommen mehr
Zauberformeln in Anwendung als Arzneimittel; oft sieht man auf
dem Menam niedlich aufgeputzte mit Leckereien und Blumen ge-
füllte Kästchen heruntertreiben, in welche die Angehörigen eines
Kranken den Kobold unter allerlei höflichen Beschwörungen com-
plimentirt haben, in der Hoffnung, er werde den Rückweg ver-
gessen. — Die Ueberfülle des Aberglaubens in Siam ist wohl theils
im Volkscharakter, theils im Zusammenfluss so vieler verschiedener
Stämme begründet. Die indischen Brahminen, die Malayen, Chine-
sen und die Nachbarvölker der hinterindischen Halbinsel haben
jedes ihre eigenen Mährchen mitgebracht, die in der Phantasiewelt
des entarteten Buddismus üppig fortwuchern und von den Bonzen
schlau benutzt werden. Die Hofastrologen und königlichen Wahr-
sager scheinen jene Brahminen zu sein, die beim Palaste des Ersten
Königs ihren Tempel haben; sie fungiren bei der Krönung und
anderen wichtigen Ceremonieen und werden in jeder wichtigen An-
gelegenheit befragt, sollen aber zuweilen auch Schläge bekommen,
wenn sie falsch gerathen haben. — Das Volk befragt die Bonzen
und Zauberer bei Krankheiten, Diebstählen und anderen Verlusten,
beim Glücksspiel und jeder Gelegenheit; für Hochzeit, Haarbeschnei-
dung und Reisen müssen sie die glücklichen Tage, beim Hausbau die
beste Richtung für Thür und Fenster erforschen. Die Zahl der Zim-
mer, Oeffnungen und Treppenstufen muss immer ungrade sein; Teka-
Stämme, das beste Bauholz, dürfen nicht zu Pfosten verwendet wer-
den. Man glaubt an Zaubermittel, die ganze Familien in Erstarrung
bannen und den Dieben leichtes Spiel geben, an Liebestränke, Mittel zu
Unverwundbarkeit und jeden erdenklichen Unsinn. Bei Ueberschwem-
mungen werden grosse Processionen auf dem Flusse veranstaltet, den
die Bonzen unter heftigen Beschwörungen zu bannen suchen; die Cho-
lera mussten einst Bonzen auf Befehl des Königs den Fluss hinab in das
Meer hinausjagen, was die meisten mit dem Leben gebüsst haben sollen.


Nach altem Brauch wurden beim Bau von Stadt- und
Festungsthoren Sclaven geopfert76), ebenso beim Vergraben von
[334]Schatzgraben. Spiele. XXII.
Schätzen, damit sie als Schutzgeister darüber wachten. Noch heut
wird in Siam viel nach Schätzen gegraben, besonders in Ayutia
mit vielem Erfolge. Der Schatzgräber opfert Abends auf dem Fleck,
wo er graben will, dem Schutzgeist Blumen, Kerzen und Reis und
legt sich dort schlafen; dann erscheint ihm der Schutzgeist im
Traum und verlangt einen Schweinskopf und einige Flaschen Arrac
für Hebung des Schatzes, oder jagt ihn mit geschwungener Keule
fort. — Mit Aufzählung ähnlicher Gebräuche liessen sich Bände
füllen; sie spielen auch bei den jährlichen Festen der Siamesen,
die von Pallégoix und Dr. Bastian beschrieben werden, die grösste
Rolle. Die dabei üblichen Spiele sind Ringen und Boxen — auch
von Weibern. — Discuswerfen, Wettläufe zu Fuss, zu Pferde und
zu Wagen. Das Federballspiel, wobei, wie in China, der Ball mit
den Füssen geschlagen wird, ist eine Lieblingsbelustigung der
Siamesen. Ein Ballspiel der Vornehmen zu Pferde, bei welchem
auf abgegrenztem Raume die Partheien ihre Bälle mit Hämmern in
bestimmte Löcher treiben und die der Gegner abwehren, gleicht
demjenigen, das wir in Japan sahen. Der Zweite König soll darin
Meister gewesen sein. — Auch Drachenfliegen ist in Siam, wie in
Japan, ein Lieblingsspiel der Erwachsenen, besonders zur Zeit des
Südwindes. Sie haben ferner das chinesische Schach-, Trictrac-
und Kartenspiele, und würfeln mit Leidenschaft. Reiche Chinesen
haben vom König das Monopol einer Geldlotterie erkauft, an der
sich viele Siamesen zu Grunde richten sollen.


Die Chinesen, die jährlich zu Tausenden einwandern, saugen
offenbar am Mark des Landes; wie jene Lotterie, so haben sie auch
das Opiumrauchen und andere Missbräuche eingeführt. In der
Periode, welche der Freigebung des Handels vorausging, hatten sie
Monopole auf alle wichtigen Artikel gepachtet, die der englische
Vertrag 1855 beseitigte; aber auch jetzt noch ist der grösste Theil
des siamesischen Handels in Händen der Chinesen. Tausende
schleppen ein Vermögen nach der Heimath; andere, vorzüglich
Pflanzer, bleiben im Lande und heirathen Siamesinnen. Nach Pallé-
goix
wüchse Siam’s Bevölkerung nur durch Zuzug von Chinesen;
die Knechtschaft hindere zu viele Siamesen am Heirathen, als dass
das Volk sich mehren könnte. — Im Gegensatz zu den Chinesen
bilden die Siamesen die arbeitende, landbauende Bevölkerung und
erwerben keine Schätze; Dürftigkeit ist dagegen selten, wie in allen
Tropenländern, wo die Natur so verschwenderisch waltet.


[335]XXII. Verhältniss zu China.

Ihre Kinder erziehen und kleiden selbst die angesiedelten
Söhne der blumigen Mitte chinesisch; sie haben auch ihre eigenen
Tempel und bauen sich vielfach chinesische Häuser. Chinesische
Ladenschilde tragen ganze Reihen schwimmender Häuser. Fast im
ganzen Reiche sind die bezopften Eindringlinge verbreitet, zu Zeiten
erhoben sie sich schon gegen die Staatsgewalt; so 1847, als die
Kessel ihrer Zuckerraffinerieen besteuert werden sollten. Der Auf-
stand wurde gewaltsam unterdrückt; doch könnte ihr Reichthum,
festes Zusammenhalten und Gemeinsinn leicht einmal den siame-
sischen Thron gefährden. Einzelnen reichen Chinesen haben die
Könige schon Adelstitel verliehen.


Ueber Siam’s früheres Verhältniss zu China giebt Sir John
Bowring
historische Notizen aus chinesischen Quellen; danach wäre
es im vierten Jahrhundert n. Chr. zuerst in den Annalen erwähnt.
Das heutige siamesische Reich wurde erst 1350, fast gleichzeitig
mit der chinesischen Miṅ-Dynastie gegründet, die häufig, seit 1376
jährlich Tributgesandtschaften aus Ayutia empfing. 1382 erhielten
die siamesischen Gesandten vom Himmelssohn einen Staatspass, der
1492 erneut wurde, »weil die Würmer den alten frassen«. Chine-
sische Maasse und Gewichte erbat sich der König von Siam schon
gegen Ende des 14. Jahrhunderts. Das Verhältniss blieb ein freund-
schaftlich schützendes des mächtigen gegen den kleineren Fürsten;
die siamesischen Herrscher suchten beständig des Himmelssohnes
Gunst und ahmten dessen Hofsitten nach, erhielten auch von den
Miṅ-Herrschern zuweilen Gegengeschenke für ihre kostbaren Sen-
dungen. — Während der Wirren, welche dem Sturze der Miṅ
vorangingen, und bis zum zehnten Jahre des Šun-tši kam keine
siamesische Gesandtschaft nach China; dann aber, und besonders
seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der Verkehr recht lebhaft.
1722 durfte zum ersten Mal siamesischer Reis zollfrei nach China
eingeführt werden, um dieselbe Zeit begann die chinesische Ein-
wanderung nach Siam; 1744 erlaubte ein kaiserliches Decret aus-
drücklich den Chinesen, in Siam Schiffe zu bauen. Den grossen
Kien-loṅ sollen die siamesischen Könige viele Jahre lang verge-
bens mit Anliegen um den Verkauf von Kupfer, Ginseng, Yaks, um
chinesische Staatskleider und der Hofceremonieen kundige Eunuchen
bestürmt haben; nur einmal wurde Kupfer, einmal Ginseng ge-
schickt. Die von Bowring gegebenen Nachrichten von der Investi-
tur eines siamesischen Königs durch den Hof von Pe-kiṅ 1786
[336]Der Königshof. XXII.
sind dunkel und mit sicheren Daten der siamesischen Geschichte
kaum vereinbar. — Zu Anfang dieses Jahrhunderts scheinen die
regelmässigen Gesandtschaften aufgehört zu haben; gelegentlich
gehn noch jetzt siamesische Königsboten mit reichen Gaben nach
Pe-kiṅ und müssen natürlich vor dem Kaiser das Ko-to vollziehen;
ein Verhältniss wirklicher Abhängigkeit scheint trotzdem niemals
bestanden zu haben, sondern nur die Unterthänigkeit des geringeren
Mannes gegen den vornehmeren.


Eine Engländerin, Mrs. Leonowens, die gleich nach unserer
Abreise als Gouvernante der Königskinder in den Dienst des alten
Maha-moṅkut trat und trotz aller Schwierigkeiten mehrere Jahre
darin ausharrte, ist tiefer in die Geheimnisse des Palastes gedrun-
gen, als irgend ein Fremder. Ihre Mittheilungen tragen ungeachtet
mancher Schwankungen des Urtheils durchaus den Stempel der
Treue, und ergänzen die Anschauungen, die sich uns aufdrängten,
zu einem so deutlichen Bilde, dass sie kaum davon zu trennen sind.
So möge denn hier unter Benutzung dieser ergiebigen Quelle über
den siamesichen Königshof Einiges nachgetragen werden, das im
Bericht unserer Erlebnisse keinen Platz fand.


Der Gelehrsamkeit und des reformatorischen Strebens des Kö-
nigs wurde schon früher gedacht; er erwarb sich während seiner
Priesterschaft die eingehendste Kenntniss der in Sanskrit und Pali
geschriebenen heiligen Bücher der Brahminen und Buddisten, com-
pilirte aus letzteren eine Liturgie für den Tempeldienst und schrieb
eine Abhandlung, die auf den Beweis ausgehen soll, dass Befreiung
von allen selbstsüchtigen und fleischlichen Leidenschaften das hohe
Ziel des Buddismus sei. Er gründete eine neue Theologenschule,
die den Buddismus von allen Zuthaten des Aberglaubens zu befreien
und auf seinen ethischen Grundlagen eine keineswegs atheistische
Glaubenslehre aufzubauen strebte. Der König glaubte an das Ge-
setz der Vergeltung, Seelenwanderung, ein endliches Niphan oder
Nirwana, mit dem er den Begriff der Seligkeit verband, wider-
strebte, wie er sich ausdrückt, »nur dem Begriff von Gott als ewig
wirkendem Schöpfer, nicht demjenigen einer Göttlichkeit als erstem
Urquell, aus deren Gedanken und Willen alle Formen des Bestehen-
den flossen«, und kämpfte vor Allem gegen den Glauben an wunder-
[337]XXII. König Maha-moṅkut.
thätige Einwirkung auf die Gesetze der Natur. Ueber die Klarheit
und Berechtigung dieser Anschauungen soll hier nicht abgesprochen
werden; sie zeugen wenigstens von selbstständigem Denken und
Streben nach Wahrheit. — Maha-moṅkut schätzte die ethischen
Grundlagen des Christenthumes, verlachte aber die historischen,
und erwiederte einst in komischem Eifer einem americanischen
Missionar, der ihn bekehren wollte: »I hate the bible mostly.« —
Einem anderen sagte er: »Ihr dürft nicht glauben, dass Einer von
uns jemals Christ wird, denn wir können keine Religion annehmen,
die wir für albern halten.« Die göttliche Natur Christi, das gött-
liche Wunder der Empfängniss, durch welches das alle Formen
des animalischen und vegetabilischen Lebens durchdringende Ge-
setz der Zeugung als unheilig gebrandmarkt werde, waren ihm
Gräuel. Viel grösser als der christliche Gott-Heiland schien
ihm Budda, weil er aus menschlicher Kraft im eigenen Her-
zen nach der reinsten Menschlichkeit strebte, die nur eine Form
der Göttlichkeit sei; weil er durch fromme Betrachtung die
menschlichen Leidenschaften überwunden und göttliche Weisheit
erlangt habe.


Auf des Königs Charakter scheinen seine Ueberzeugungen
wenig Einfluss geübt zu haben; Mrs. Leonowens schildert ihn als
launischen, selbstsüchtigen Tyrannen, der an reine Gesinnung nicht
glaubte, jeden Menschen für käuflich hielt und seine Zwecke auf
jede Weise zu erreichen suchte. Tugend und Ehrlichkeit seien
Chimären, die Richtschnur des reinen Bewusstseins verfolge kein
Mensch, Geld sei das einzige Streben; das waren die ausgesproche-
nen Ansichten des von kriechenden Sclaven umgebenen Despoten,
auf dessen Schätze Tausende speculirten. Mrs. Leonowens gesteht
aber, dass er gegen Leute, die ihm Achtung einflössten, redlicher
war als seine Grundsätze, dass er oft in wichtigen Fällen die Tiefe
des Verstandes, Klarheit des Urtheils und den echten Edelmuth
practisch bewies, die seine ethischen Theorieen bedingten. Seine
Kinder, — Mrs. Leonowens, die, wie gesagt, kurz nach unserer
Abreise kam, fand schon siebenundsechzig vor, — behandelte der
König beständig mit der äussersten Zärtlichkeit, und spielte mit
ihnen, als ob er selbst eines wäre. Die älteste legitime Prinzessin,
ein auffallend schönes Mädchen mit sanften träumerischen Augen
war sein auserwählter Liebling; als sie im Mai 1863 wenig über
acht Jahre alt an der Cholera starb, schrieb der König an Graf
IV. 22
[338]König Maha-moṅkut. XXII.
Eulenburg, der sie besonders lieb gewonnen hatte, einen rührenden
Brief über ihren kurzen Lebenslauf.


Leidenschaftlicher Jähzorn scheint nur allzuoft die besseren
Gefühle des Königs übermannt zu haben; die Frauen seines Harem
mussten vorzüglich darunter leiden. Ihre Zahl belief sich auf
mehrere Hunderte. Jede, auch die vornehmste Familie des Landes
und der abhängigen Nachbarstämme rechnet es sich zur höchsten
Ehre, ihre Töchter in des Königs Harem aufgenommen zu sehen;
Maha-moṅkut hatte ausserdem Heiraths-Agenten in verschiedenen
Städten von China und Bengalen, die ihn reichlich versahen; sein
sehnlichster Wunsch war aber, eine Engländerin von guter Familie
zu besitzen; er soll dafür grosse Schätze geboten haben, erhielt
auch von seinen Agenten viele Photographieen und wurde um nam-
hafte Summen geprellt; die Originale trafen aber niemals ein. Da-
gegen wünschten, nach Aeusserungen der englischen Gouvernante,
die ihre Briefe und Photographieen sah, etwa zwanzig Französinnen
in das Harem einzutreten, wurden aber abgewiesen, da der König
gallosiamesische Erben fürchtete.


Das tägliche Leben der Harem-Damen und ihrer zahlreichen
Dienerinnen soll ganz vergnüglich sein; sie haben schöne Gärten, wo
sie mit ihren Kindern lustwandeln, Blumen pflücken, Kränze
winden, die Vögel in den Volièren füttern, musiciren, tanzen und
baden; sie lassen sich von Sclavinnen vorlesen, spielen Schach,
Trictrac, Würfel und Karten, oft, wie es scheint, um hohe Summen.
Die Kinder haben, wie bei uns, das mannigfaltigste Spielzeug, und
vollziehen z. B. an ihren Puppen mit grossem Ernst die Ceremonie
der Haarbeschneidung.


Der Fluch des Harem war des Königs despotische Laune,
vor deren vernichtendem Wink man beständig zitterte. Mrs. Leo-
nowens
erlebte, dass er die Tochter eines peguanischen Fürsten
und andere Frauen aus geringem Anlass in Gegenwart ihrer Kinder
von den Amazonen peitschen, dann in finstere Kerker werfen liess.
Solche Wuthausbrüche wurden nicht etwa durch den Verdacht der
Untreue, sondern durch Vergehen wie hohes Spiel, oft auch durch
unschuldige Bitten hervorgerufen, die des Königs Laune verletzten. —
Unter sich und mit ihren älteren Aufseherinnen und Ehrendamen
sollen die Frauen in schwesterlicher Eintracht gelebt haben.


Nicht nur von den königlichen Frauen, sondern auch von
deren Dienerinnen wird die strengste Keuschheit verlangt; auf jeden
[339]XXII. König Maha-moṅkut.
Fehltritt steht selbst bei letzteren der Tod. Sir Robert Schomburgk
äusserte sich einst bei einem Aufzuge gegen einen vornehmen
Siamesen beifällig über die Art, wie eine junge Hofdame zu Pferde
sass. Wenige Wochen darauf erhielt er eine Zuschrift von unbe-
kannter Hand: er möge beim König für jenes Mädchen interce-
diren, um ihr Leben zu retten. Sie hatte, in eine Hofintrigue ver-
wickelt, wiederholt mit einem verheiratheten Manne geheime Be-
sprechungen; eines Tages wurde ein Zettel bei ihr gefunden, in
welchem Jener sie zu einer Zusammenkunft bestellte. Das zum
Tode verurtheilte Mädchen begnadigte der König zwar zu einer
Gefängnissstrafe; ihr Mitschuldiger aber und sogar dessen Frau
wurden enthauptet.


Der Beifall der Fremden war dem König Bedürfniss; er las
jede in Singapore erscheinende Zeitung, schrieb, wenn er darin ge-
tadelt wurde, geharnischte Antworten und liess sie sofort im Pa-
laste drucken. Sein heissester Wunsch war Beherrschung des
Englischen; er lernte den ganzen Webster auswendig, ohne doch
den Geist der Sprache zu erfassen. Oft liess er mitten in der Nacht
den englischen Consul oder einen der Missionare wecken und in
höchster Eile zu sich bescheiden, um über diesen und jenen eng-
lischen Ausdruck zu fragen, welcher vorzuziehen wäre; entschied
sich der Gefragte für den einfacheren oder tadelte den geschraubten,
so entliess ihn der König mit verächtlichem Mitleid. Der Ruhm
der Gelehrsamkeit und geistigen Verfeinerung ging ihm über Alles;
in seiner eigenen Sprache, dem Pali, Sanskrit und ihrer Literatur
soll er umfassende Kenntnisse gehabt haben; die englische Ortho-
graphie asiatischer Namen reizte ihn zum höchsten Zorn. — In
anderen Disciplinen scheint er eine Art Vielwisser gewesen zu sein.


Früh um fünf Uhr pflegte der König aufzustehn und ein
leichtes Frühstück zu nehmen, das die Damen der Nachtwache ihm
auftrugen. Dann stieg er mit seinen Schwestern und älteren Kin-
dern in eine Halle hinab, von wo ein langer mattenbelegter Gang
bis zu einem der Palastthore führte. Am Ende der Matte setzte
sich der König; zunächst zu seiner Linken sassen die älteren Kin-
der, dann die Schwestern des Königs, die Frauen des Harem, deren
Hofdamen und Dienerinnen, jede mit einer silbernen Schüssel voll
gekochtem Reis, Früchten, Kuchen, auch frischen Betelblättern und
Cigarren vor sich. Nun öffnete sich das »Thor des Verdienstes«,
die Amazonengarde marschirte herein und bildete Spalier, durch
22*
[340]König Maha-moṅkut. XXII.
das in langem Zuge 199 Bonzen, escortirt von keulentragenden
Eunuchen des Harem nahten. Die Bonzen sangen: »Nimm dein
Mahl, doch sieh, es ist Staub. Iss um zu leben, dich kennen zu
lernen, was du hier unten bist. Und sprich stets zu dir selbst:
Erde ist, was ich esse, damit ich der Erde neues Leben gebe.«
Dann traten sie alle der Reihe nach vor den König, seine Kinder,
Schwestern und Frauen, und empfingen deren Gaben in ein eisernes
Becken, das jeder Bonze an einer Schnur um den Hals hängend
unter dem Gewande tragen muss. Nachdem sie durch das »Thor
der Erde« abgezogen, verfügte der König sich mit der Familie in
den »zum Gedächtniss der Mutter« von ihm gebauten Privattempel,
stieg allein die Altarstufen hinan, läutete die Glocke, zündete die
Kerzen an, opferte weissen Lotus und Rosen, und brachte eine
Stunde mit Gebeten und Vorlesen aus den heiligen Büchern zu.
Dann legte er sich wieder zur Ruhe, bewacht von einer neuen
Schaar Frauen; diejenigen der letzten Nachtwache kamen erst nach
vierzehn Tagen wieder an die Reihe, wenn sie nicht vorher aus-
drücklich befohlen wurden. Auf die Morgensiesta folgten einige
Stunden Arbeit, besonders Abfassung englischer Briefe, darauf ge-
gen zwölf das Frühstück: der König sass dabei an einem langen
Tisch, neben dem zwölf Frauen des Harem, jede mit einer silbernen
Schüssel standen, welche sie nach einander der ersten in der Reihe
hinreichten. Diese nahm den silbernen Deckel ab, kostete und prä-
sentirte, auf den Knieen heranrutschend, dem König die verschie-
denen Suppen, Fleischsorten, Geflügel, Wild, Fische, Kuchen, Ge-
lées, Früchte; Thee und Reis sind die obligaten Zuthaten jeder
siamesischen Mahlzeit. — Um zwei Uhr badete und salbte sich der
König mit Hülfe seiner Frauen; nachher pflegte er eine Weile mit
seinen Kindern und Lieblingsfrauen zu scherzen, dann in der
Audienzhalle die Grossen zu empfangen und Staatsgeschäfte zu er-
ledigen. Nachmittags folgte die Hauptmahlzeit und Abends ein
leichtes Souper; um neun zog der König sich in seine Gemächer
zurück. Dass er aus Besorgniss vor mörderischen Anschlägen jede
Nacht in einem andern Zimmer geschlafen habe, ist wohl eine Er-
findung; Mrs. Leonowens, die es gewiss erzählen würde, scheint
nichts davon zu wissen.


In seinen letzten Jahren soll Maha-moṅkut immer arg-
wöhnischer und besonders auf den Zweiten König sehr eifersüchtig
geworden sein; es kam zu offenem Bruch zwischen den Brüdern,
[341]XXII. König Maha-moṅkut.
als der ältere eine Anweisung des jüngeren auf den Schatz zurück-
weisen liess. Seitdem zog sich der Zweite König zu dem in Ksieṅ-
mai
residirenden Laos-Fürsten zurück, den Maha-moṅkut bitter
hasste, heirathete dessen Tochter und baute sich dort ein Schloss.
1865 wurde er sterbend nach Baṅkok zurückgebracht und versöhnte
sich mit seinem Bruder. Man glaubte allgemein, dass eine Frau
des Harem ihn vergiftete; Maha-moṅkut selbst scheint dieses Ge-
rücht genährt zu haben; er liess die Concubine und ihren vermeint-
lichen Helfershelfer foltern, in ein offenes Boot setzen und in den
Golf hinausfahren, wo sie ohne Ruder dem Element überlassen
wurden. Aus den umfangreichen Aufsätzen über seinen Bruder, die
der König nach dessen Tode herausgab, spricht deutlich das Stre-
ben, sich vor der Welt und besonders vor den Fremden von jedem
Hauch des Verdachtes zu reinigen; — er hatte notorisch schon vor
längerer Zeit dem Bruder einen Arzt aufgedrängt, dessen Quack-
salbereien denselben fast zur Verzweiflung trieben; — doch scheint
Niemand solchen Verdacht gehegt zu haben


Maha-moṅkut überlebte seinen Bruder etwa zwei Jahre und
starb mit grosser Seelenruhe. Seine Regierung hat dem Lande
manchen Segen gebracht, vor Allem eine gerechtere Besteuerung,
Abschaffung der Monopole und den Abschluss der Verträge, die
dem Volke nur Vortheil bringen können. Sein ältester legitimer
Sohn wurde vom Senabodi ohne Anstoss auf den Thron erhoben,
und Prinz George Washington zum Nachfolger seines Vaters, des
Zweiten Königs, erwählt. — Vom jungen Herrscher, der unter Auf-
sicht einer alten trefflichen Grosstante sorgfältig erzogen wurde,
berichten Alle, die ihn als Thronfolger kannten, nur Gutes.


Welche Zukunft die europäische Cultur in Siam hat, lässt
sich schwer ermessen; damals waren nur die beiden Könige und
wenige ihrer Grossen leise davon angehaucht. In den physikalischen
Wissenschaften, der Chemie und Mechanik hatte der allen Fremden
in Baṅkok bekannte Kon-mut gute Kenntnisse, ein siamesischer
Grosser, dem der König jenen Titel des »Allwissenden« beilegte.
Seine Leistungen im Gebiete der Galvanoplastik und Photographie,
seine genaue Bekanntschaft mit den neuesten Problemen weckten
um so grösseres Staunen, als er Alles dem eigenen Fleiss verdankte.
[342]Hülfsquellen von Siam. XXII.
Damals war Kon-mut mit Aufstellung einer Münze beschäftigt, die
der König aus England bezog. Dass sein Streben aus edeler Ge-
sinnung quoll, bewies am deutlichsten folgende Thatsache: Kon-
mut
druckte einst in seinem Hause das siamesische Gesetzbuch, in
der Hoffnung, dessen Verbreitung im Lande zu bewirken; der König
soll jedoch so heftig darüber gezürnt haben, dass er ihn zum Tode
verurtheilte und nur widerstrebend begnadigte. Die gedruckten
Exemplare mussten verbrannt werden.


Reife Früchte könnte unsere Gesittung den Siamesen wohl
nur tragen, wenn sie darin erzogen würden. Damals hatten sie
sich bloss angeeignet, was mit Geld zu bezahlen ist: Uniformen,
Silberzeug, Bier und Champagner, Maschinen und Dampfer. Letztere,
etwa dreissig, welche die Könige und die Grossen besassen, waren
meist in kläglichem Zustande. Tüchtige europäische Maschinisten
sind den Siamesen zu theuer: die untergeordneten Leute, welche
sie in Dienst nahmen, ergaben sich, da die Schiffe selten benutzt
wurden, aus Mangel an Beschäftigung meist dem Trunke. Die ein-
heimischen Maschinisten hatten wohl dunkele Begriffe vom Wasser-
kochen und lernten die Hähne drehen; lockerte sich jedoch eine
Schraube, so standen die Räder bis auf ferne Zeiten still. Den
Schiffsbau haben die Siamesen gelernt; sie sind treffliche Zimmer-
leute und besitzen im kieselhaltigen Holz der Tectona grandis wohl
das beste Material der Erde. Die grossen Teka-Waldungen gehören
meist dem König und müssten, gut verwaltet, unerschöpfliche
Quellen des Reichthums sein. In ihnen und dem Reisbau liegt die
Zukunft des Landes; denn Siam ist die grosse Kornkammer von
Hinter-Asien, besonders von China, dessen Bevölkerung grössten-
theils von Reisnahrung lebt. Während nur die südlichsten Striche
des grossen Reiches in die Tropen hineinreichen und die Ernten
dort häufig missrathen, ist in dem gleichmässigen Klima von Siam
Misswachs viel seltener; die weiten Ebenen erzeugen, obgleich nur
zum kleinsten Theil angebaut, weit über das Bedürfniss der Be-
wohner und könnten halb Asien versorgen. Dazu müsste freilich
auch die Bevölkerung wachsen, wozu bei der jetzigen Verfassung
wenig Aussicht ist. Vielleicht wird einmal durch Einwanderung
geholfen. Für Europäer ist das Klima ungeeignet; nicht nur würden
ihre Nachkommen degeneriren, sondern auch die eingewanderten
Arbeiter verlören in der weichen erschlaffenden Luft, beim geringen
Wechsel der Jahreszeiten alle Spannkraft. Müssen doch selbst
[343]XXII. Chinesische Einwanderung. — Natur.
europäische Kaufleute nach einer Reihe von Jahren immer wieder
Erfrischung in der Heimath suchen. Von der jetzt schon beträcht-
lichen Einwanderung der Chinesen aus Fu-kian, Kuaṅ-tuṅ und
Kuaṅ-si, die arbeitsam, zäh, genügsam und an feuchte Hitze ge-
wöhnt sind, ist in Zukunft ausgedehntere Bebauung der grossen
hinterindischen Ebenen zu erwarten, die überschwellende Bevöl-
kerung jener Provinzen strömt am natürlichsten nach Siam ab.
Die einwandernden Chinesen scheinen auch die siamesische Sprache
leicht zu lernen, die ihrer eigenen, wenn auch nicht stammverwandt,
doch als monosyllabische, singende Sprache an Charakter ähnlich
ist; alle mehrsilbigen Worte darin sollen fremden Ursprungs, das
buchstabenreiche Alphabet aus dem Devanagari abgeleitet sein.
Alle heiligen Bücher sind in Pali-Sprache geschrieben, doch besitzt
auch die Sprache der Thai oder Freien, wie die heutigen Siamesen
— besser Sayamesen — sich euphemistisch nennen, eine lyrische
und dramatische Literatur, die das Volk versteht und weiterbildet.


Des landschaftlichen Eindrucks der siamesischen Pflanzen-
welt wurde in diesen Blättern mehrfach gedacht. Von wildem Ge-
thier gewahrte man wenig. Ausser dem trägen Scheusal von Wat-
po
sah der Verfasser auch ausserhalb der Hauptstadt nicht ein ein-
ziges Crocodil, von denen doch der Menam wimmelt. In Baṅkok
baden die Eingeborenen ohne Scheu: »der König hat den Croco-
dilen dort das Beissen verboten«. Von Rhinoceros, Bären, Tigern
und anderen grossen Katzen sollen die nahen Wälder bevölkert
sein, doch lebt man in Baṅkok vollkommen sicher. Als unerhörtes
Ereigniss galt es, dass einst in der Nacht sämmtliche Affen des
französischen Consulates erwürgt wurden; vielleicht war das Un-
thier zweibeinig. Schlangen giebt es viele; selbst der Riesen-Python
kommt in Baṅkok so häufig vor, dass für einen Tikal das schönste
Exemplar zu kaufen ist. Niemand scheint ihn zu fürchten; oft sitzt
eine Schaar halbwachsener Knaben um solches Ungeheuer herum,
das sie vom Baume gezerrt haben und unbarmherzig necken. Bei
aller ungeheuren Muskelkraft ist die Riesenschlange zu unbeholfen,
als dass man ihrem Angriff nicht ausweichen sollte; sie greift aber
den Menschen nicht an, und wie sie ein behendes Thier umschlin-
gen sollte ist gar unbegreiflich. Giftzähne hat sie nicht; die kleinen
[344]Thierwelt. XXII.
nadelfeinen Hakenzähne können kaum beissen und höchstens kleine
Vierfüssler festhalten, die sie unversehens packt.


Eines Tages kaufte Dr. Friedel von Seiner Majestät Schiff
Arkona, der in Baṅkok eifrig Naturalien sammelte und schon
mehrere Pythons in Spiritus eingemacht hatte, eine elf Fuss lange
Riesenschlange, die er lebend mitnehmen wollte. Der Deckel ihres
Behältnisses war aus starken Latten gefügt, die etwa einen Zoll
auseinanderstanden. Bei Tage lag sie träge zusammengeringelt und
verschmähte sogar ein zu ihr eingesperrtes lebendes Huhn. Während
der Nacht stand der Kasten auf unserer Veranda. Vor Tages-
grauen wurden die dort schlafenden Matrosen durch etwas Kaltes,
Schuppiges geweckt, das sich über ihre Gesichter wälzte. Herr
Python, dessen Taille im gewöhnlichen Zustande reichlich fünf Zoll
im Durchmesser stark war, hatte sich durch die Latten gezwängt
und wollte ausrücken, wurde von den Matrosen und dem vom
Lärm geweckten Besitzer am Schwanze gepackt, als der Vorder-
körper schon in den Hof hinabhing, klammerte sich aber mit den
Bauchschuppen so fest an das Geländer, dass alles Zerren umsonst
war. Nicht kaltblütig genug, um den Flüchtling auf andere Art
dingfest zu machen, sprangen einige Matrosen in den Hof hinab
und schlugen ihn mit Knüppeln todt.


Kämpfe von Elephanten gegen einander und gegen Büffel
oder Tiger, deren die Franzosen des 17. Jahrhunderts an den Höfen
von Lophaburi und Ayutia so häufig erwähnen, scheinen jetzt selten
zu sein. Der Kraal bei Ayutia, in welchem die Elephanten gefan-
gen werden, wird noch heute benutzt, eine Verzäunung von starken
Tekastämmen und einer sechs Fuss dicken Mauer, in welche die
wilden Bestien durch zahme Weibchen, die man in die Wälder
schickt, halb gelockt, halb getrieben werden. Die Zähmung ge-
schieht durch Hunger und gutes Futter, namentlich Zuckerrohr,
das die Elephanten sehr lieben.


Am 18. Februar nahm Graf Eulenburg Abschied von Sir
Robert Schomburgk, dem Prinzen Khroma-luaṅ und dem Phra-klaṅ.
Den letzten Abend in Baṅkok gab uns noch ein bei Wat Po aus-
brechendes Feuer, das alle die bunten Tempel und den grossen
Phra-praṅ von Wat Džeṅ glühend erhellte, ein wunderbares Schau-
[345]XXII. Abreise von Baṅkok.
spiel; noch feuriger als die Gebäude selbst am düsteren Nacht-
himmel erglänzte ihr Spiegel, vom Schattenriss vorübereilender
Boote durchfurcht, in den Fluthen des Menam.


Das Musikcorps der Arkona, die Seesoldaten und das schwere
Gepäck brachte ein königlicher Dampfer auf die Rhede hinaus. Dem
Gesandten stellte die Regierung fünf grosse Reiseboote mit je sechs-
zehn bis zwanzig Ruderern zur Fahrt nach Petšaburi, einem süd-
westlich von Baṅkok gelegenen Städtchen zur Verfügung, wo der
König ein Lustschloss hat. Die Boote hatten in der Mitte geräumige
Kajüten, wo man bequem zu zweien wohnte. Der Legationssecre-
tär Pieschel, die Attachés von Bunsen und Graf zu Eulenburg,
Dr. Lucius, Maler Berg, der Photograph Herr Bismark und der
Rev. Mr. Smith begleiteten den Gesandten. Herr von Richthofen
hatte zu unserem Bedauern einige Tage zuvor die Reise durch die
siamesischen Waldwüsten nach Martaban und Raṅgun angetreten,
um von da nach Calcutta, dann quer durch das Punjab nach Tur-
kestan
und durch den Nordwesten von China nach Pe-kiṅ zu gehn.
An Ausführung dieses schwierigen Unternehmens hinderten ihn end-
lose Verzögerungen auf der Reise nach Raṅgun; die Jahreszeit war
bei seiner Ankunft in Calcutta zur Reise nach Turkestan zu weit
vorgeschritten. — Die anderen Civilmitglieder der Expedition hatten
grösstentheils Petšaburi schon früher besucht und gingen von Baṅ-
kok
direct auf die Kriegsschiffe.


Am 19. Februar Vormittags bestiegen wir die Boote vor dem
Gesandtschaftshause und bogen in den gleich oberhalb mündenden
Flussarm ein; die Fluth schob uns vorwärts, doch wanden die Boote
sich mühsam durch Hunderte beladener Fahrzeuge, die mehrere
Stunden weit die Strasse sperrten. Die Ufer sind einförmig, theil-
weise sogar baumlos. Gegen Abend fanden wir bei dem Flecken
Mahatšaï den Tisch gedeckt; ein königlicher Haushofmeister war
vorausgeeilt, die im Küchenboot bereiteten Speisen konnten gleich
aufgetragen werden. Die Ortsbewohner brachten den Bootsleuten
ein reichliches Mahl auf vielen kleinen Schüsselchen. Gegen acht
Uhr Abends ging es weiter eine Strecke den Fluss Ta-tšiṅ hinauf,
in den hier die Boote einbogen, dann in ein enges Rinnsal, durch
das wir am Morgen in den Me-kloṅ gelangten. Die Stadt gleichen
Namens, der Geburtsort der Zwillinge, liegt ganz in der Nähe am
rechten Ufer. Sanfter Duft lagerte auf dem schönen Strom; man
schlürfte mit Lust den erfrischten Athem des thauigen Morgens.
[346]Petšaburi. XXII.
Nach kurzer Rast trieben die Schiffer, die doch in der Nacht kaum
zwei Stunden ruhten, schon gegen acht zum Aufbruch. Die Fahrt
ging den Me-kloṅ hinab, dessen Mündung wir in einer Stunde
erreichten, von da über einen breiten Meerbusen von geringer Tiefe.
Kein Lüftchen regte sich. Die Ufer sind flach und bewaldet. Gegen
Mittag liefen wir in die Mündung des Flüsschens von Petšaburi ein
und suchten den Schatten eines dort gelegenen Tempels; die Sonne
schoss glühende Strahlen. Mit der Fluth ging es um vier Uhr
weiter; die Ufer des Flüsschens sind hübsch bewachsen, doch ist
die Pflanzenwelt hier weder gross noch mannigfaltig; hier und da
steht unter schirmenden Wipfeln eine Hütte. Nach Crocodilen
spähte man wieder vergebens; nur einige Ottern plumpten vor den
Booten ins klare Wasser, und im Ufergebüsch spielten Hunderte
lärmender Affen.


Gegen Abend fuhren die Boote sich fest und wurden erst
in der Nacht bei Hochwasser wieder flott. Die Schiffer hatten aber
auch dann noch schwere Arbeit und mussten oft, im Flusse watend,
die Boote schiebend und hebend über die Untiefen drücken. Am
frühsten Morgen lagen wir vor Petšaburi. — Alsbald erschien der
zweite Gouverneur Phra-petša-pisaï Sirisawat mit Gefolge, um
den Gesandten in das ihm bestimmte Haus des Kalahum zu geleiten.
Ganz neu und in Backstein erbaut bot die kleine Villa doch wenige
bewohnbare Räume; über dem Eingang standen die Worte: The
country house of His Excellency the Prime-Minister of Siam. A. D.
1861. Nur einige teppichbelegte Zimmer im Obergeschoss waren
luftig und gut möblirt. In wenig Augenblicken hatten wir uns ein-
gerichtet. — Bald machte auch der erste Gouverneur, ein alter
freundlicher Herr, dem Gesandten seine Aufwartung und stellte den
Marstall des Königs zur Verfügung. Nur der zweite Gouverneur,
der mit der Gesandtschaft in London gewesen und ein grosser Be-
wunderer alles Europäischen war, sprach etwas englisch.


Petšaburi, die »Stadt der Juwelen«, streckt sich weitläufig
gebaut wohl eine halbe Stunde an beiden Ufern des Flusses hin.
Von Stein sind nur die Häuser der Prinzen und Grossen und eine
lange Reihe Markthallen, welche der König nach dem Muster der-
jenigen in Singapore bauen liess. Dort lagen Haufen der herrlichsten
Früchte, — Bananen, Tamarinden, Papaya, Orangen, Pompelmusen,
Melonen, Granaten, Mango, Jack und Durian. Hauptartikel des
Handels ist der von der Palmyra-Palme (Borassus flabelliformis)
[347]XXII. Petšaburi.
gewonnene Zucker. Die Blüthe wird vor völliger Entwickelung ab-
geschnitten, der aus dem Stengel fliessende zuckerhaltige Saft in
angehängten Bambusbechern gesammelt und eingedickt.


Mitten in der Stadt spannt sich eine Brücke über den schmalen
Fluss, der zur Regenzeit oft die Ufer arg verwüstet. An der rechten
Seite stehn alte Tempeltrümmer aus behauenen Blöcken und grosse
steinerne Buddabilder. Ein grosser Phra-praṅ war zur Feier eines
Festes an den oberen Stockwerken ganz in Stücke des gelben Stoffes
gehüllt, aus welchem die Bonzengewänder bestehen.


Die Ebene um Petšaburi ist hier und da mit Reis bestellt,
grösstentheils aber mit magerem Grase bewachsen und mit Tau-
senden der schönen Palmyra-Palme besäet. Schroffe Kalksteinklippen
steigen an vielen Stellen aus dem Boden; um sie her und aus den
Klüften des verwitterten Gesteins spriessen Bambus, Tamarinden,
blattlose Euphorbien mit duftenden Blüthen und mancherlei üppig
Gesträuch; auf den Spitzen der Felsen stehn schlanke Dagoben.
Der bewaldete Berg mit dem Lustschloss des Königs, der hier die
nasse Jahreszeit zu verleben pflegt, erhebt sich inselartig etwa vier-
hundert Fuss über die Ebene. Der zweite Gouverneur von Petša-
buri
, der das Schloss baute, rühmte sich darin Windsor castle
copirt zu haben; doch ist nur die Lage ähnlich. Das Hauptgebäude
krönt, auf breiter Terrasse fussend, mit den Hauptfronten nach
Süden und Norden gerichtet, den höchsten Gipfel; dahinter steht
ein viereckiger Thurm. Eine Menge Pavillons, Rasthäuser, Tempel,
runde thurmartige Bastionen und andere Dependenzen liegen theils
um das Schloss gruppirt, theils, durch aufgemauerte Wege damit
verbunden, auf Nebengipfeln und vorspringenden Felsrippen. Eine
bequeme mit Backstein gepflasterte Strasse führt in Windungen
zum Gipfel hinan. Die europäischen Muster sind in den weissge-
tünchten Gebäuden ziemlich plump und geschmacklos nachgemacht.


Von oben schweift der Blick, nur nach Westen von fernem
Gebirge beschränkt, über die weite Ebene. Die inselartigen in
üppigen Wald gebetteten Höhen, mit welchen sie bestreut ist, sind
die Sam-roi-yot oder Dreihundert Gipfel; der ferne Rücken soll
die Wasserscheide zwischen dem Busen von Siam und dem Golf
von Bengalen
, zugleich die Grenze gegen Tenasserim bilden. Unter
den dichten Wipfeln am Fuss des Schlossberges kauern nördlich
die malerischen Hütten der Laos, königlicher Knechte, die sich
hier ansiedeln mussten, um den Bau auszuführen. Von den siame-
[348]Petšaburi. XXII.
sischen unterscheiden sich ihre Häuser durch ein gewölbtes Palm-
dach, unter dem ein Altan vorspringt; aus Holz und Bambus gefügt
stehen sie auf hohen Pfählen, zwischen denen zur heissen Tages-
zeit Schaaren nackter Kinder in trauter Gemeinschaft ihrer grun-
zenden Hausthiere zu lagern pflegten. Die Gestalt der Laos ist
untersetzter als die der Siamesen, ihr Antlitz runder und voller.
Das glänzende schwarze Haar wallt bei den Männern in dichten
Massen über die Schultern; die Frauen schlingen es auf der Scheitel
in einen Knoten; ihr Ausdruck ist milde und träumerisch, die Züge
oft angenehm. Wir besuchten mehrfach diese Ansiedlung und
durchstreiften auf den königlichen Rossen, — kleinen feurigen
Hengsten, — die Ebene nach allen Richtungen. Zum Schlossberg
führte eine gerade gepflasterte Strasse; auch anderwärts durch-
schneiden aufgeschüttete Wege das umliegende Gebiet.


Unter Führung des zweiten Gouverneurs ritt Graf Eulenburg
in den kühlen Morgenstunden des 22. Februar nach einer etwa eine
Meile entfernten Kalksteinhöhle. — Die vielfach gewundene Felsen-
treppe führt in eine tiefe Kluft hinab, die sich oben zusammen-
wölbt; da fällt plötzlich der Blick durch mächtige Tropfsteinbogen
in einen zauberhaft erhellten Felsensaal. Die Stufen werden
schlüpfrig und breiter; das Wasser tropft von colossalen Stalaktiten
herab, und am Boden erheben sich, gleich weissen verschleierten
Bildsäulen, wachsende Stalagmiten; von oben und unten schreitet
der Pfeilerbau langsam vorwärts, bis die Spitzen zusammenwachsen;
dann setzt der Kalksinter sich an den Seiten ab und verstärkt die
Dicke. Einige Stützen von beträchtlichem Umfang sind fertig, und
das Wasser baut fleissig weiter. — Aus der Tageshelle herabstei-
gend, muss man das Auge erst an das ungewisse Halbdunkel ge-
wöhnen, das sich rückwärts in schwarze Finsterniss vertieft. Unter
einem Tropfsteingewölbe am Eingang ist ein Sarcophag aus dem
Felsen gehauen; daneben hängt an metallener Kette eine Glocke.
Am ebenen Boden der Höhle, aus den Spalten und Nischen der
überhangenden Wände schimmern Goldgötzen, Glocken und weiss-
getünchte Thürmchen, theils grell beleuchtet vom einströmenden
Himmelslicht, theils in gespenstischen Duft gehüllt; die Wirkung
ist um so schlagender, als man sich, tief in den Felsen versenkt,
den Glanz nicht erklären kann. Nur auf einem kleinen Raum ist
der Himmel durch die thurmhohen überhangenden Wände sichtbar;
doch werfen die zerklüfteten Massen das Licht mit tausend Flächen
[349]XXII. Petšaburi.
zurück. Herrlich ist der Blick aus der schwarzen Finsterniss im
hintersten Winkel der Höhle, wo die vom tropfenden Gestein mit
phantastischen einsturzdrohenden Riesengebilden behängte Decke
den Himmel verbirgt und die Goldgötzen wie von innerem Licht-
glanz durchströmt erscheinen. — Kaum lässt sich eine Oertlichkeit
denken, die mächtiger auf die Phantasie wirkte. Bei Anwesen-
heit des Königs strömen Tausende von Pilgern nach Petšaburi,
und bringen unter Lustbarkeiten mehrere Tage im Höhlentempel zu.
— Von aussen sind die Felsen, die hier nur wenig aus der Ebene
ragen, mit Gebüsch bewachsen, in dem es von Affen wimmelt.


An demselben Tage traf Capitän Sundewall mit mehreren
Officieren der Arkona in Petšaburi ein; die Corvette lag vor der
Mündung des Flüsschens. — Der Gesandte besuchte die beiden
Gouverneure und lud sie an seinen Mittagstisch. Beim ersten Gou-
verneur waren im Vorhause auf einem Brettergerüst zum Empfang
des Gesandten Tische und Stühle aufgestellt; sonst war die Ein-
richtung ganz auf Hocken und Liegen berechnet, denn der Siamese
setzt sich von Natur auf seine eigenen Hacken. Beim zweiten
Gouverneur sah es civilisirter aus; er zeigte dem Gesandten seinen
siebenjährigen Knaben, den er Friedrich Wilhelm nannte, und
ein Töchterchen in weissem Federhut und europäischem Kleide,
das sie hoffentlich bald wieder ablegen durfte. Auch uns war
jeder Rock zu viel.


Am 23. Februar besuchte Graf Eulenburg mit den Gästen
von der Arkona eine andere Tropfsteinhöhle, die sich mit mehreren
Gängen sehr tief in den Felsen erstreckt, aber ganz dunkel ist.
Der Rückweg führte an einem schmucklosen Tempel vorbei, auf des-
sen colossalem liegendem Budda eben Wäsche getrocknet wurde.
Gegen Mittag fuhr Commodore Sundewall in seiner Gig nach der Ar-
kona zurück; Abends speisten wieder die Gouverneure beim Gesand-
ten und wurden mit Wein, Spieldosen und anderen Gaben überrascht.


Am 24. Februar fuhren unsere Boote schon bei Tagesanbruch
stromabwärts. Wir selbst ritten gegen halb 8 Uhr fort und stiegen
unterhalb der Untiefen ein. Von der Flussmündung brachte uns
gegen Mittag des Königs Dampfer Little Eastern zu der über fünf
Seemeilen vom Ufer liegenden Corvette. Die Seefahrt auf den
Flussbooten ist gefährlich; noch vor Kurzem war ein solches auf
der Ueberfahrt nach der Mekloṅ-Mündung umgeschlagen. — Um
ein Uhr gelangten wir an Bord der Arkona und nahmen Abschied
[350]Rückkehr nach Singapore. Schluss. XXII.
von Herrn Smith, dessen liebenswürdiger Charakter Allen in bester
Erinnerung blieb.


Auf der Fahrt nach Singapore hemmten den Lauf der Arkona
Tausende von Muscheln, die sich auf der Rhede von Paknam an
ihren Rumpf setzten. In den ersten Tagen hatten wir häufig Ge-
genwind; später machte das Schiff sieben bis acht Knoten. Von
der Mannschaft lagen schon damals viele krank; zwei Todte wurden
auf dieser Fahrt in das Meer versenkt. — Am 2. März ging Arkona
um drei Uhr Morgens auf der Rhede von Singapore neben der
Thetis zu Anker, die am 17. Februar dort eingetroffen war.


Der Gesandte fand den Befehl zur Rückkehr in die Heimath
vor. Von der königlichen Admiralität war die Weisung eingetroffen,
dass alle für Civilmitglieder bestimmten Kajüten abgebaut werden
sollten. Nur dem Gärtner Schottmüller wurde ein leerstehendes
Gelass auf der Thetis angewiesen; alle anderen kehrten auf dem
Ueberlandwege nach Europa zurück.


Wir versammelten uns diesmal in Singapore weder so zahl-
reich, noch so gesund und heiter wie anderthalb Jahre zuvor; über
Viele hatten sich die Wellen geschlossen, Andere barg die fernste
fremdeste Erde. Regierungsrath Wichura lag in Java fieberkrank.
Manche, die sich noch aufrecht hielten, brachen auf der Rückreise
zusammen; ermüdet waren Alle. Von der Mannschaft der Schiffe
erlagen noch Viele, ohne die Heimath wiederzusehen; Andere star-
ben bald nach der Rückkehr. Weit mehr Opfer, als irgend Jemand
befürchtete, forderten nachträglich die klimatischen Strapazen und —
vielleicht — mangelhafte Ventilation auf den Kriegsschiffen; man fand
bei der trefflichen Verpflegung mit frischen Nahrungsmitteln für den
auf der Rückreise ausbrechenden Scorbut keine andere Erklärung.


Herr von Martens blieb zu Fortsetzung seiner Studien noch in
Singapore zurück; andere Expeditionsmitglieder waren schon früher
auf dem Ueberlandwege vorausgegangen. Mit dem Gesandten schifften
sich der Legationssecretär Herr Pieschel, die Attachés von Bunsen
und Graf Eulenburg, Dr. Lucius, Maler Berg und der Photograph
Bismark auf dem englischen Postdampfer zunächst nach Ceylon ein.


[[351]]

ANHANG I.
DER VERTRAG MIT CHINA.


[[352]][[353]]

FREUNDSCHAFTS-, HANDELS- UND SCHIFFAHRTS-VERTRAG ZWI-
SCHEN DEN STAATEN DES DEUTSCHEN ZOLL- UND HANDELSVEREINS,
DEN GROSSHERZOGTHÜMERN MECKLENBURG-SCHWERIN UND MECK-
LENBURG-STRELITZ
, SOWIE DEN HANSESTÄDTEN LÜBECK, BREMEN
UND HAMBURG EINERSEITS, UND CHINA ANDERERSEITS.


Seine Majestät der König von Preussen,
sowohl für Sich, als auch im Namen der übrigen Mit-
glieder des deutschen Zoll- und Handelsvereins,
nämlich:
der Krone Bayern, der Krone Sachsen, der Krone Hannover,
der Krone Württemberg, des Grossherzogthums Baden,
des Kurfürstenthums Hessen, des Grossherzogthums
Hessen, des Herzogthums Braunschweig, des Grossherzog-
thums Oldenburg, des Grossherzogthums Luxemburg, des
Grossherzogthums Sachsen, der Herzogthümer Sachsen-
Meiningen
, Sachsen-Altenburg und Sachsen-Coburg und
Gotha, des Herzogthums Nassau, der Fürstenthümer Wal-
deck und Pyrmont
, der Herzogthümer Anhalt-Dessau-
Cöthen und Anhalt-Bernburg
, des Fürstenthums Lippe,
der Fürstenthümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarz-
burg-Sondershausen
, Reuss älterer und Reuss jüngerer
Linie
, der freien Stadt Frankfurt, des Landgräflich hessi-
schen Oberamts Meisenheim und Amtes Homburg,
sowie:
die Grossherzogthümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklen-
burg-Strelitz
, und die Senate der Hansestädte Lübeck,
Bremen und Hamburg
einerseits, und
Seine Majestät der Kaiser von China
andererseits,

IV. 23
[354]Der Vertrag mit China. Anh. I.
von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, freundschaftliche Beziehun-
gen zwischen den vorgedachten Staaten und China zu begründen,
haben beschlossen, solche durch einen gegenseitig vortheilhaften
und den Unterthanen der Hohen vertragenden Mächte nützlichen
Freundschafts- und Handelsvertrag zu befestigen. Zu dem Ende
haben zu Ihren Bevollmächtigten ernannt:
Seine Majestät der König von Preussen:
den Kammerherrn Friedrich Albrecht Grafen zu Eulen-
burg
, Allerhöchstihren ausserordentlichen Gesandten
und bevollmächtigten Minister, Ritter des Rothen
Adler-Ordens dritter Klasse mit der Schleife, Ritter
des Johanniter-Ordens u. s. w.,
und
Seine Majestät der Kaiser von China:
Tsuṅ-luen, assistirendes Mitglied des Ministeriums der
auswärtigen Angelegenheiten in Pe-kiṅ, General-Di-
rector der öffentlichen Vorräthe, und Kaiserlichen
Commissarius,
Tsuṅ-hau, Ehren-Unter-Staats-Secretär, Oberaufseher
der drei Häfen des Nordens und beigeordneten Kaiser-
lichen Commissarius,

welche, nachdem sie ihre Vollmachten sich mitgetheilt, und solche
in guter und gehöriger Form befunden haben, über nachstehende
Artikel übereingekommen sind:


Artikel 1.


Zwischen den contrahirenden Staaten soll dauernder Friede
und unwandelbare Freundschaft bestehen. Die Unterthanen der-
selben sollen in den beiderseitigen Staaten vollen Schutz für Person
und Eigenthum geniessen.


Artikel 2.


Seine Majestät der König von Preussen kann, wenn er es
für gut befindet, einen diplomatischen Agenten bei dem Hofe von
Pe-kiṅ accreditiren, und Seine Majestät der Kaiser von China kann
in gleicher Weise, wenn er es für gut befindet, einen diplomatischen
Agenten für den Hof von Berlin ernennen.


Dem von Seiner Majestät dem Könige von Preussen er-
nannten diplomatischen Agenten soll gestattet sein, auch die Ver-
tretung der anderen contrahirenden deutschen Staaten zu über-
[355]Anh. I. Der Vertrag mit China.
nehmen, welchen vertragsmässig das Recht, sich durch eigene diplo-
matische Agenten beim Hofe von Pe-kiṅ vertreten zu lassen, nicht
zusteht.


Seine Majestät der Kaiser von China willigt ein, dass der
von Seiner Majestät dem Könige von Preussen ernannte diploma-
tische Agent, mit seiner Familie und seinem Haushalt, dauernd in
der Hauptstadt wohnen, oder dieselbe gelegentlich besuchen darf,
je nach der Wahl der preussischen Regierung.


Artikel 3.


Die diplomatischen Agenten Preussens und Chinas sollen
gegenseitig am Orte ihres Aufenthalts die Vorrechte und Frei-
heiten geniessen, welche das Völkerrecht ihnen gewährt. Ihre
Person, ihre Familie, ihr Haus und ihre Correspondenz sollen
unverletzlich sein. Sie sollen in der Wahl und Anstellung ihrer
Beamten, Couriere, Dolmetscher, Diener u. s. w. nicht beschränkt
werden.


Alle Arten von Kosten, welche die diplomatischen Missionen
verursachen, werden von ihren respectiven Regierungen getragen
werden.


Die chinesischen Behörden werden Alles thun, um dem
preussischen diplomatischen Agenten, wenn er nach der Hauptstadt
kommt, um daselbst seinen Wohnsitz aufzuschlagen, beim Miethen
eines passenden Hauses und sonstiger Räumlichkeiten behülflich
zu sein.


Artikel 4.


Die contrahirenden deutschen Staaten sollen das Recht haben,
einen General-Consul und für jeden offenen Hafen oder jede der-
gleichen Stadt in China, für welche ihre Handelsinteressen es er-
heischen, einen Consul, Vice-Consul oder Consular-Agenten zu
ernennen.


Diese Beamten sollen mit der gebührenden Achtung von den
chinesischen Behörden behandelt werden und dieselben Privilegien
und Vorrechte geniessen, wie die Consular-Beamten der meist-
begünstigten Nation.


Im Falle der Abwesenheit eines deutschen Consular-Beamten
sollen die Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten die
Befugniss haben, sich an den Consul einer befreundeten Macht,
oder im Nothfalle auch an den Zolldirector zu wenden, welcher es
23*
[356]Der Vertrag mit China. Anh. I.
sich angelegen lassen sein soll, denselben die Vortheile dieses Ver-
trages zu sichern.


Artikel 5.


Alle dienstlichen, von dem diplomatischen Agenten Seiner
Majestät des Königs von Preussen oder von den Consular-Beamten
der contrahirenden deutschen Staaten an die chinesischen Behörden
gerichteten Mittheilungen sollen deutsch geschrieben werden. Bis
auf Weiteres sollen sie von einer chinesischen Uebersetzung be-
gleitet sein, aber unter der gegenseitigen Uebereinkunft, dass im
Falle eine Verschiedenheit in der Bedeutung des deutschen und
chinesischen Textes vorkommen sollte, die deutschen Regierungen
den im deutschen Text ausgedrückten Sinn als den richtigen an-
sehen werden.


Desgleichen sollen die amtlichen Mittheilungen chinesischer
Behörden an den Gesandten Preussens oder die Consuln der con-
trahirenden deutschen Staaten chinesisch geschrieben werden, und
wird dieser Text für die chinesischen Behörden als der richtige
gelten. Man ist übereingekommen, dass die Uebersetzungen niemals
als beweisend angesehen werden sollen.


Was den gegenwärtigen Vertrag anbetrifft, so wird derselbe,
um jede spätere Discussion zu vermeiden, und mit Rücksicht darauf,
dass die französische Sprache unter allen Diplomaten Europas be-
kannt ist, in deutscher, chinesischer und französischer Sprache aus-
gefertigt werden. Alle diese Ausfertigungen haben denselben Sinn
und dieselbe Bedeutung, aber der französische Text wird als der
Urtext des Vertrages angesehen werden, dergestalt, dass wenn eine
verschiedene Auslegung des deutschen und chinesischen Vertrages
irgendwo stattfinden sollte, die französische Ausfertigung entschei-
dend sein soll.


Artikel 6.


In den Häfen und Städten: Kan-ton, Swa-tau (Tšau-tšau),
Amoi, Fu-tšau, Niṅ-po, Shang-hae, Tung-tšau, Tien-tsin, Niu-
tšwaṅ
, Tšin-kiaṅ, Kiu-kiaṅ, Haṅ-kau
, ferner Kioṅ-tšau auf der
Insel Hai-nan und Tai-wan und Tam-sui auf der Insel Formosa
— ist es den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten
erlaubt, sich mit ihren Familien niederzulassen, frei zu bewegen,
und Handel oder Industrie zu treiben. Sie können zwischen den-
selben nach Belieben mit ihren Fahrzeugen und Waaren hin- und
herfahren, daselbst Häuser kaufen, miethen oder vermiethen, Land
[357]Anh. I. Der Vertrag mit China.
pachten oder verpachten, und Kirchen, Kirchhöfe und Hospitäler
anlegen.


Artikel 7.


Handelsschiffe eines der contrahirenden deutschen Staaten
sind nicht berechtigt, nach anderen Häfen zu fahren, als solchen,
die in diesem Vertrage für offen erklärt worden sind. Sie sollen
nicht gesetzwidrig andere Häfen anlaufen, oder heimlichen Handel
längs der Küste treiben. Schiffe, welche in Zuwiderhandlung gegen
diese Bestimmung betroffen werden, sollen mit ihrer Ladung der
Confiscation durch die chinesische Regierung unterliegen.


Artikel 8.


Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten können
auf eine Entfernung von hundert (100) Li und auf einen Zeitraum
von nicht mehr als fünf (5) Tagen in die Nachbarschaft der dem
Handel offenen Häfen Ausflüge machen.


Diejenigen, welche sich in das Innere des Landes zu bege-
ben wünschen, müssen mit Pässen versehen sein, die von den
diplomatischen oder Consular-Behörden ausgestellt und von der
chinesischen Localbehörde visirt sind. Diese Pässe müssen auf Ver-
langen vorgezeigt werden.


Wenn Reisende oder Kaufleute, welche einem der contrahi-
renden deutschen Staaten angehören, ihre Pässe verlieren sollten,
so soll es den chinesischen Behörden freistehen, dieselben zurück-
zuhalten, bis sie sich neue Pässe haben verschaffen können, oder
sie auf das nächste Consulat führen zu lassen, ohne sie jedoch
schlecht zu behandeln oder zu gestatten, dass sie schlecht behan-
delt werden.


Dabei ist wohl verstanden, dass nach denjenigen Orten, welche
von den Rebellen besetzt sind, nicht eher Pässe ausgestellt werden
sollen, als bis in denselben der Friede wieder hergestellt ist.


Artikel 9.


Es soll den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten
gestattet sein, Compradors, Dolmetscher, Schreiber, Arbeiter, Schiffs-
leute und Diener aus allen Theilen Chinas gegen eine entsprechende,
durch Uebereinkunft beider Theile festzustellende Vergütigung in
Dienst zu nehmen, und ebenso Boote zum Personen- oder Waaren-
transport zu miethen. Desgleichen soll es ihnen erlaubt sein, von
[358]Der Vertrag mit China. Anh. I.
Chinesen die Sprache oder Dialecte des Landes zu lernen, oder
sie in fremden Sprachen zu unterrichten. Dem Verkaufe von deut-
schen und dem Ankaufe von chinesischen Büchern soll kein Hinderniss
in den Weg gelegt werden.


Artikel 10.


Die Bekenner und Lehrer der christlichen Religion sollen
in China volle Sicherheit für ihre Personen, ihr Eigenthum und die
Ausübung ihrer Religionsgebräuche geniessen.


Artikel 11.


Wenn ein Schiff eines der deutschen contrahirenden Staaten
in den Gewässern eines dem Handel eröffneten Hafens anlangt, soll
es ihm freistehen, einen Lootsen nach seiner Wahl anzunehmen,
um sich in den Hafen führen zu lassen. Ebenso soll es, wenn es
alle gesetzlichen Gebühren und Abgaben entrichtet hat und zur Ab-
reise fertig ist, sich einen Lootsen wählen können, um es aus dem
Hafen hinauszuführen.


Artikel 12.


Sobald ein Kauffahrteischiff, welches einem der deutschen
contrahirenden Staaten angehört, in einen Hafen eingelaufen ist, soll
der Zollinspector, wenn er es für gut befindet, einen oder mehrere
Zollbeamte abordnen, um das Schiff zu überwachen und darauf zu
sehen, dass keine Waaren geschmuggelt werden. Diese Beamten
können nach ihrem Belieben in ihrem eigenen Boote bleiben, oder
sich an Bord des Schiffes aufhalten.


Die Kosten ihrer Besoldung, ihrer Nahrung und ihres Unter-
haltes fallen der chinesischen Zollbehörde zur Last, und sie dürfen
keine Entschädigung oder Belohnung irgend einer Art, weder von
den Schiffscapitäns, noch von den Consignatären verlangen. Jede
Zuwiderhandlung gegen diese Vorschrift soll eine dem Betrage der
Erpressung angemessene Strafe nach sich ziehen, und dieser Betrag
soll vollständig zurückerstattet werden.


Artikel 13.


Innerhalb vierundzwanzig (24) Stunden nach der Ankunft
des Schiffes soll der Capitän, wenn er nicht gesetzliche Hinde-
rungsursachen hat, oder statt seiner der Supercargo oder der Con-
signatär sich auf das Consulat begeben und daselbst seine Schiffs-
papiere und eine Abschrift des Manifestes niederlegen.


[359]Anh. I. Der Vertrag mit China.

Innerhalb der folgenden vierundzwanzig (24) Stunden wird
der Consul dem Zollinspector eine Note übersenden, aus welcher
der Name des Schiffes, die Bemannung, der Tonnengehalt und die
Beschaffenheit der Ladung desselben hervorgeht.


Wenn durch Schuld des Capitäns dieser Vorschrift binnen
achtundvierzig (48) Stunden nicht nachgekommen ist, so soll der-
selbe einer Strafe von fünfzig (50) Piastern für jeden Tag Verzöge-
rung unterliegen; der Totalbetrag der Strafe soll jedoch zwei-
hundert (200) Piaster nicht übersteigen.


Gleich nach Empfang der erwähnten Note wird der Zollinspec-
tor einen Erlaubnissschein zum Oeffnen des Schiffsraumes ertheilen.


Sollte der Capitän zu dieser Oeffnung schreiten und mit dem
Ausladen beginnen, bevor er die Erlaubniss dazu erhalten hat, so
soll er zu einer Geldstrafe bis zum Betrage von fünfhundert (500) Pia-
ster verurtheilt werden können, und die ausgeladenen Waaren sollen
confiscirt werden können.


Artikel 14.


So oft ein Kaufmann, welcher einem der contrahirenden deut-
schen Staaten angehört, Waaren zu landen oder zu verschiffen hat,
soll er die Erlaubniss dazu bei dem Zollinspector nachsuchen. Waaren,
welche ohne eine solche Erlaubniss gelandet oder verschifft werden,
unterliegen der Confiscation.


Artikel 15.


Die Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten sollen
von allen Waaren, welche sie in die dem fremden Handel geöffneten
Häfen ein- oder aus denselben ausführen, diejenigen Zölle bezahlen,
welche in dem dem gegenwärtigen Vertrage beigefügten Tarife ver-
zeichnet sind; aber in keinem Falle soll man von ihnen mehr oder
andere Abgaben verlangen, als jetzt oder in Zukunft von den Unter-
thanen der meistbegünstigten Nation verlangt werden.


Die dem gegenwärtigen Vertrage beigefügten Handelsbestim-
mungen sollen als integrirender Theil dieses Vertrages und deshalb
als bindend für die Hohen contrahirenden Theile angesehen werden.


Artikel 16.


Was die Artikel anbetrifft, welche nach dem Tarife einer
Abgabe ad valorem unterliegen, so soll, wenn der deutsche Kauf-
mann mit dem chinesischen Beamten sich über den Werth nicht
einigen kann, jede Parthei zwei oder drei Kaufleute zuziehen, welche
[360]Der Vertrag mit China. Anh. I.
die Waaren untersuchen sollen. Der höchste Preis, zu welchem
einer dieser Kaufleute sie zu kaufen Willens wäre, soll als der
Werth derselben angenommen werden.


Artikel 17.


Die Zölle werden nach dem Nettogewicht erhoben werden,
es wird also die Tara in Abzug kommen. Wenn der deutsche
Kaufmann sich mit dem chinesischen Beamten über die Bestim-
mung der Tara nicht einigen kann, so soll jede Parthei eine ge-
wisse Anzahl von Kisten und Ballen unter den Colli, welche
Gegenstand des Streites sind, wählen. Diese werden erst im
Ganzen gewogen, und dann wird die Tara festgestellt. Die Durch-
schnitts-Tara der so gewogenen Colli soll als Tara für alle übri-
gen gelten.


Artikel 18.


Wenn sich im Laufe der Verification über andere Puncte
ein Streit erhebt, der nicht sofort geschlichtet werden kann, so
soll der deutsche Kaufmann die Vermittelung des Consularbeamten
in Anspruch nehmen können. Dieser wird den Gegenstand der
Meinungsverschiedenheit sofort zur Kenntniss des Zollinspectors
bringen, und beide werden sich bemühen, eine Ausgleichung herbei-
zuführen. Das Ansuchen an den Consul muss aber binnen vierund-
zwanzig (24) Stunden geschehen, sonst wird demselben keine wei-
tere Folge gegeben werden.


So lange der Streit nicht entschieden ist, wird der Zoll-
inspector den Gegenstand desselben nicht buchen, um auf diese
Weise der gründlichen Untersuchung und Schlichtung der Angelegen-
heit nicht vorzugreifen.


Artikel 19.


Für alle eingeführten Waaren, welche eine Beschädigung
erlitten haben sollten, wird eine der Beschädigung angemessene
Zollermässigung eintreten. Diese Ermässigung wird der Billigkeit
gemäss normirt werden; erheben sich aber Streitigkeiten, so sollen
dieselben auf dieselbe Weise zum Ende geführt werden, als solches
in Artikel 16. für die mit einer ad valorem-Abgabe belasteten Waa-
ren vorgeschrieben ist.


Artikel 20.


Jedes in einem chinesischen Hafen eingelaufene Schiff eines
der contrahirenden deutschen Staaten kann, wenn der Schiffsraum
[361]Anh. I. Der Vertrag mit China.
noch nicht geöffnet ist, binnen achtundvierzig (48) Stunden nach
seiner Ankunft denselben verlassen und sich in einen anderen Hafen
begeben, ohne Tonnengelder oder Zölle zu bezahlen, oder der Ent-
richtung irgend einer anderen Abgabe zu unterliegen. Nach Ablauf
der achtundvierzig (48) Stunden müssen die Tonnengelder ent-
richtet werden.


Artikel 21.


Die Eingangszölle sind beim Landen der Güter und die Aus-
gangszölle beim Verschiffen derselben fällig. Wenn die Tonnen-
gelder und Zölle, welche vom Schiffe und der Ladung zu zahlen
sind, vollständig berichtigt sind, soll der Zollinspector eine General-
quittung darüber ausstellen, auf deren Vorzeigung der Consularbeamte
dem Capitän seine Schiffspapiere zurückgeben und ihm erlauben wird,
unter Segel zu gehen.


Artikel 22.


Der Zollinspector wird ein oder mehrere Bankierhäuser
namhaft machen, welche ermächtigt sein sollen, die zu zahlenden
Abgaben für Rechnung des Staates in Empfang zu nehmen. Die
von diesen Bankierhäusern ausgestellten Quittungen sollen so ange-
sehen werden, als seien sie von der chinesischen Regierung selbst
ausgestellt. Die Zahlungen können in Barren oder in fremden Mün-
zen geleistet werden, deren Verhältniss zum Ssaissie-Silber nach den
jedesmaligen Umständen durch Vereinbarung zwischen den deutschen
Consularbeamten und dem Zollinspector festgestellt werden soll.


Artikel 23.


Kauffahrteischiffe der contrahirenden deutschen Staaten von
mehr als hundertfünfzig (150) Tonnen sollen vier (4) Mehss pro
Tonne, und Schiffe von hundertfünfzig (150) Tonnen oder weniger,
ein (1) Mehss pro Tonne des aus dem Messbriefe ersichtlichen Ton-
nengehaltes als Tonnengelder zahlen.


Ueber die erfolgte Zahlung der Tonnengelder soll der Zoll-
inspector dem Capitän oder Consignatär eine Bescheinigung ertheilen,
auf deren Vorzeigung bei den Zollbehörden anderer chinesischen Hä-
fen, in welche der Capitän einzulaufen für gut befinden sollte, binnen
vier (4) Monaten vom Datum der in Artikel 21. erwähnten General-
quittung keine abermaligen Tonnengelder mehr verlangt werden sollen.


Keine Tonnengelder sollen zu entrichten sein von Fahrzeugen,
welche Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten zum
[362]Der Vertrag mit China. Anh. I.
Transport von Passagieren, Gepäck, Briefen, Lebensmitteln oder sol-
chen Artikeln verwenden, welche keinem Zolle unterliegen. Führen
solche Eahrzeuge gleichzeitig auch zollpflichtige Waaren mit sich, so
sollen sie in die Kategorie der Schiffe unter hundertfünfzig (150) Ton-
nen Gehalt gerechnet werden und ein Tonnengeld von ein (1) Mehss
pro Tonne entrichten.


Artikel 24.


Solche Waaren, von denen in einem chinesischen Hafen die
tarifmässigen Zölle entrichtet worden sind, sollen in das Innere des
Landes transportirt werden können, ohne irgend einer anderen Ab-
gabe, als der Transitabgabe zu unterliegen. Diese soll nach den
gegenwärtig geltenden Sätzen erhoben und in Zukunft nicht erhöht
werden. Dasselbe gilt von Waaren, die aus dem Innern des Landes
nach einem Hafen transportirt werden.


Von Erzeugnissen, welche aus dem Inlande nach einem
Hafen, oder von Einfuhren, welche aus einem Hafen nach dem
Inlande geführt werden, können sämmtliche darauf haftende Tran-
sitabgaben auf einmal entrichtet werden.


Wenn chinesische Beamte, dem Inhalte dieses Artikels zu-
wider, ungesetzliche oder höhere, als die gesetzlichen Abgaben
erheben sollten, so sollen sie nach den chinesischen Gesetzen be-
straft werden.


Artikel 25.


Wenn der Capitän eines Schiffes, welches einem der con-
trahirenden deutschen Staaten angehört, und welches in einem
chinesischen Hafen eingelaufen ist, daselbst nur einen Theil der
Ladung zu löschen wünscht, so soll er auch nur für diesen Theil
zur Zollentrichtung verbunden sein. Den Rest der Ladung kann
er nach einem anderen Hafen führen, und daselbst verzollen und
verkaufen.


Artikel 26.


Wenn Handeltreibende eines der contrahirenden deutschen
Staaten Waaren, welche sie in einen chinesischen Hafen eingeführt
und daselbst verzollt haben, wieder ausführen wollen, so sollen sie
sich dieserhalb an den Zollinspector wenden, damit derselbe sich
von der Identität der Waaren und davon Ueberzeugung verschafft,
dass die Colli unverletzt sind.


Sollen die Waaren nach einem anderen chinesischen Hafen
wieder ausgeführt werden, so wird der Zollinspector den Kauf-
[363]Anh. I. Der Vertrag mit China.
leuten, welche die Waaren wieder auszuführen wünschen, ein
Attest darüber ausstellen, dass die auf denselben lastenden Zölle
entrichtet sind.


Auf Grund dieses Attestes soll der Zollinspector desjenigen
chinesischen Hafens, nach welchem die Waaren geführt wer-
den, einen Erlaubnissschein zum zollfreien Löschen derselben
ertheilen, ohne dass dafür Gebühren oder Zollzuschläge verlangt
werden könnten. Wenn sich bei Vergleichung der Waaren mit
dem Atteste herausstellt, dass eine Zolldefraudation stattgefunden
hat, so unterliegen die eingeschwärzten Waaren der Confiscation.


Sollen die Waaren aber nach einem nicht-chinesischen Hafen
wieder ausgeführt werden, so wird der Zollinspector desjenigen
Hafens, aus welchem die Wiederausfuhr geschieht, ein Certificat
ausfertigen, welches bescheinigt, dass der Kaufmann, der die
Waaren wieder ausführt, eine Forderung an das Zollamt hat,
welche dem Betrage der auf die Waaren bereits gezahlten Zölle
gleichkommt. Dieses Certificat soll vom Zollamte bei jeder Ent-
richtung von Einfuhr- oder Ausfuhrzöllen gleich baarem Gelde zum
vollen Werthe in Zahlung angenommen werden.


Artikel 27.


Keine Umladung aus einem Schiffe in ein anderes kann ohne
besondere Erlaubniss des Zollinspectors stattfinden. Ausgenommen
den Fall, wo Gefahr im Verzuge gewesen ist, sollen Güter, welche
ohne Erlaubniss von einem Schiffe auf ein anderes umgeladen sind,
confiscirt werden.


Artikel 28.


In jedem der Häfen, welche dem fremden Handel geöffnet
sind, soll der Zollinspector beim Consularbeamten eine Sammlung
der beim Zollamte in Canton gebräuchlichen Maasse und Gewichte,
sowie gesetzliche Waagen zum Abwiegen der Waaren und des
Geldes niederlegen. Diese Normalmaasse, Normalgewichte und
Waagen sollen die Grundlage aller Zolleinforderungen und Zahlun-
gen bilden, und im Falle von Streitigkeiten soll auf ihre Ergebnisse
zurückgegangen werden.


Artikel 29.


Alle Geldstrafen und Confiscationen für Zuwiderhandlungen
gegen diesen Vertrag oder gegen die beigefügten Handelsbestim-
mungen sollen der chinesischen Regierung zufallen.


[364]Der Vertrag mit China. Anh. I.

Artikel 30.


Kriegsschiffen der contrahirenden deutschen Staaten, welche
zum Schutze des Handels kreuzen, oder mit Verfolgung von See-
räubern beschäftigt sind, soll es freistehen, alle chinesischen Häfen
ohne Unterschied zu besuchen.


Beim Ankaufe von Vorräthen, Einnehmen von Wasser und
bei Ausbesserungen, wenn solche nöthig werden, soll ihnen jede
Erleichterung zu Theil und keine Art von Hinderniss in den Weg
gelegt werden. Die Befehlshaber solcher Schiffe sollen mit den
chinesischen Behörden als Gleichgestellte und auf höflichem Fusse
verkehren. Abgaben irgend welcher Art sollen von solchen Schiffen
nicht erhoben werden.


Artikel 31.


Sollte ein Kauffahrteischiff, welches einem der contrahiren-
den deutschen Staaten angehört, in Folge von Havarieen oder aus
anderen Gründen gezwungen sein, einen Hafen zu suchen, so soll
es in jeden chinesischen Hafen ohne Unterschied einlaufen können,
ohne zur Entrichtung von Tonnengeldern verbunden zu sein. Auch
brauchen von den Waaren, welche es geladen hat, keine Zölle ent-
richtet zu werden, falls dieselben nur behufs der Ausbesserung des
Schiffes abgeladen werden und unter Aufsicht des Zollinspectors
bleiben. Sollte ein solches Schiff scheitern oder stranden, so sollen
die chinesischen Behörden sofort Maassregeln zur Rettung der
Mannschaft und Sicherung des Schiffes und der Ladung treffen.
Die gerettete Mannschaft soll gut behandelt und, wenn es nöthig
ist, mit den Mitteln zur Weiterfahrt nach der nächsten Consular-
station versehen werden.


Artikel 32.


Wenn Matrosen oder andere Individuen von Kriegs- und
Handelsschiffen eines der contrahirenden deutschen Staaten deser-
tiren, so soll die chinesische Behörde, auf Requisition des Consular-
beamten, oder, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, des Capitäns,
die erforderlichen Schritte thun, um den Deserteur oder Flüchtling
zu entdecken und in die Hände des Consularbeamten oder Capitäns
zurückzuliefern.


Gleichermaassen kann, wenn chinesische Deserteure oder
wegen eines Verbrechens Verfolgte sich in die Häuser oder auf die
Schiffe deutscher Unterthanen flüchten sollten, die Ortsbehörde
[365]Anh. I. Der Vertrag mit China.
sich an den deutschen Consularbeamten wenden, welcher die nöthi-
gen Maassregeln ergreifen soll, um die Auslieferung derselben zu
bewerkstelligen.


Artikel 33.


Sollten Schiffe, welche einem der contrahirenden deutschen
Staaten angehören, in chinesischen Gewässern von Seeräubern ge-
plündert werden, so soll es Pflicht der chinesischen Behörden sein,
alle Mittel zur Habhaftwerdung und Bestrafung der Räuber auf-
zubieten. Die geraubten Waaren sollen, wo und in welchem Zu-
stande sie sich auch befinden mögen, in die Hände des betreffenden
Consularbeamten abgeliefert werden, welcher sie an die Berech-
tigten gelangen lassen wird. Kann man weder der Räuber hab-
haft werden, noch sämmtliche geraubte Gegenstände wieder erlan-
gen, so sollen die chinesischen Behörden den chinesischen Gesetzen
gemäss bestraft werden, ohne zum Ersatz der geraubten Gegen-
stände verpflichtet zu sein.


Artikel 34.


Will sich ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen
Staaten an eine chinesische Behörde wenden, so muss er seine Vor-
stellung dem Consularbeamten einhändigen, welcher sie, je nach-
dem er sie in der Sache begründet und in der Form passend findet,
weiter befördert, oder zur Abänderung zurückgiebt.


Will ein Chinese sich an ein Consulat wenden, so muss er
denselben Weg bei der chinesischen Behörde einschlagen, welche
in derselben Art verfahren wird.


Artikel 35.


Wenn ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen
Staaten Ursache zur Beschwerde über einen Chinesen hat, so soll
er sich zuvörderst zu dem Consularbeamten begeben und ihm den
Gegenstand seiner Beschwerde auseinandersetzen. Der Consular-
beamte, nachdem er die Angelegenheit untersucht hat, wird sich
Mühe geben, dieselbe gütlich auszugleichen. Ebenso wird der Con-
sularbeamte, wenn ein Chinese sich über einen Unterthan eines der
contrahirenden deutschen Staaten zu beschweren hat, ersterem
williges Gehör schenken und eine gütliche Einigung herbeizuführen
suchen. Sollte eine solche aber in dem einen oder anderen Falle
nicht gelingen, so wird der Consularbeamte die Mitwirkung des be-
treffenden chinesischen Beamten in Anspruch nehmen, und beide
[366]Der Vertrag mit China. Anh. I.
vereint werden die Angelegenheit nach den Grundsätzen der Billig-
keit entscheiden.


Artikel 36.


Die chinesischen Behörden sollen der Person und dem Eigen-
thum deutscher Unterthanen zu jeder Zeit den vollsten Schutz an-
gedeihen lassen, namentlich wenn denselben Beleidigung oder Ge-
walt widerfahren sollte. In allen Fällen von Brandstiftung, Raub
oder Zerstörung soll die Ortsbehörde sofort die bewaffnete Macht
absenden, um die Zusammenrottung zu zerstreuen, die Schuldigen
zu ergreifen und sie der Strenge der Gesetze zu überliefern. Es
bleibt den Beschädigten ausserdem überlassen, den Ersatz des ihnen
verursachten Schadens von denjenigen zu verlangen, von welchen
die Beschädigung ausgegangen ist.


Artikel 37.


Wenn ein Chinesischer Unterthan, welcher Schuldner eines
Unterthanen eines der contrahirenden deutschen Staaten ist, es
unterlässt, seine Schuld zu bezahlen, oder in betrügerischer Absicht
sich entfernt, so soll die chinesische Behörde, auf Anrufen des
Gläubigers, jedes ihr zu Gebote stehende Mittel anwenden, um den
Flüchtigen zu verhaften und den Schuldner zur Bezahlung seiner
Schuld zu zwingen.


Ebenso sollen die deutschen Behörden ihr Möglichstes thun,
um deutsche Unterthanen, welche ihre Schulden an chinesische
Unterthanen nicht bezahlen, dazu zu zwingen, und wenn sie in be-
trügerischer Absicht sich entfernt haben, vor Gericht zu ziehen.
In keinem Falle aber sollen weder die chinesische Regierung, noch
die Regierungen der deutschen contrahirenden Staaten für die Schul-
den ihrer Unterthanen aufzukommen verpflichtet sein.


Artikel 38.


Chinesische Unterthanen, welche sich einer verbrecheri-
schen Handlung gegen einen Unterthanen eines der contrahiren-
den deutschen Staaten schuldig machen, sollen von den chinesi-
schen Behörden verhaftet und nach chinesischen Gesetzen bestraft
werden.


Unterthanen eines der contrahirenden deutschen Staaten,
wenn sie sich einer verbrecherischen Handlung gegen einen chine-
sischen Unterthanen schuldig machen, sollen vom Consularbeamten
[367]Anh. I. Der Vertrag mit China.
verhaftet und nach den Gesetzen des Staates, welchem sie ange-
hören, bestraft werden.


Artikel 39.


Alle Fragen in Bezug auf Rechte des Vermögens oder der
Person, welche sich zwischen Unterthanen der contrahirenden
deutschen Staaten erheben, sollen der Jurisdiction der Behörden
dieser Staaten unterworfen sein. Desgleichen werden sich die chi-
nesischen Behörden in keine Streitigkeiten mischen, welche zwischen
Unterthanen eines der contrahirenden deutschen Staaten und Frem-
den etwa entstehen sollten.


Artikel 40.


Die contrahirenden Theile kommen überein, dass den deut-
schen Staaten und ihren Unterthanen volle und gleiche Theilnahme
an allen Privilegien, Freiheiten und Vortheilen zustehen soll, welche
von Seiner Majestät dem Kaiser von China der Regierung oder den
Unterthanen irgend einer anderen Nation gewährt sind, oder noch
gewährt werden mögen. Namentlich sollen alle Veränderungen im
Tarif oder in den Bestimmungen über Zölle, Tonnen- und Hafen-
gelder, Einfuhr, Ausfuhr und Transit, welche zu Gunsten irgend
einer anderen Nation getroffen werden, sobald sie in Ausführung
kommen, unmittelbar und ohne besonderen neuen Vertrag auch auf
den Handel aus und nach den contrahirenden deutschen Staaten
und auf die ihnen zugehörigen Kaufleute, Rheder und Schiffer an-
wendbar sein.


Artikel 41.


Wenn die contrahirenden deutschen Staaten künftig die Ab-
änderung einiger Bestimmungen dieses Vertrages für zweckmässig
erachten sollten, so soll es ihnen freistehen, nach Ablauf von zehn
(10) Jahren, vom Tage der Auswechselung der Ratifications-Urkun-
den an gerechnet, Unterhandlungen zu diesem Behufe zu eröffnen.
Sie müssen aber sechs (6) Monate vor Ablauf der zehn (10) Jahre
der chinesischen Regierung amtlich anzeigen, dass sie Abänderungen
des Vertrages wünschen, und worin dieselben bestehen sollen. Er-
folgt eine solche Anzeige nicht, so bleibt der Vertrag weitere zehn
(10) Jahre unverändert in Kraft.


Artikel 42.


Der gegenwärtige Vertrag soll ratificirt, und sollen die Rati-
ficationen innerhalb eines Jahres vom Tage der Unterzeichnung
[368]Der Vertrag mit China. Anh. I.
desselben in Shang-hae oder in Tien-tsin, je nach Wahl der
preussischen Regierung, ausgewechselt werden. Sobald die Aus-
wechselung stattgefunden hat, soll der Vertrag zur Kenntniss aller
Oberbehörden Chinas, in der Hauptstadt und in den Provinzen, ge-
bracht werden, damit sie sich danach richten.


Zu Urkund desselben haben die respectiven Bevollmächtigten
der Hohen vertragenden Theile den gegenwärtigen Vertrag unter-
zeichnet und demselben ihre Siegel beigedrückt.


So geschehen in vier Ausfertigungen zu Tien-tsin den
Zweiten September im Jahre unseres Herrn Eintausend Achthundert
einundsechszig, entsprechend dem chinesischen Datum vom Acht-
undzwanzigsten Tage des Siebenten Monats des Elften Jahres von
Hien-fuṅ.


(L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg.
Tsuṅ-luen.
Tsuṅ-hau
.


[369]Anh. I. Der Vertrag mit China.

HANDELS-BESTIMMUNGEN.


Erste Bestimmung.
Nicht aufgeführte Waaren
.


Artikel, welche in dem Ausfuhrtarif nicht angeführt sind,
sich aber in dem Einfuhrtarif aufgezählt finden, sollen, wenn sie
ausgeführt werden, dieselben Zölle zahlen, welche ihnen durch
den Einfuhrtarif auferlegt sind.


In gleicher Weise sollen die im Einfuhrtarif nicht aufgezählten
Artikel, welche sich im Ausfuhrtarif verzeichnet finden, wenn sie
importirt werden, dieselben Zölle zahlen, die in dem Ausfuhrtarif
ihnen auferlegt sind.


Artikel, welche sich weder in dem einen noch in dem an-
deren dieser beiden Tarife verzeichnet finden, und auch unter den
zollfreien Waaren nicht aufgeführt sind, sollen einen Zoll von fünf
(5) Procent ad valorem zahlen, wobei der Marktpreis zum Grunde
gelegt werden soll.


Zweite Bestimmung.
Zollfreie Waaren
.


  • Gold und Silber in Barren.
  • Fremde Münzen.
  • Mehl, Maismehl, Sago, Biscuit.
  • Präservirtes Fleisch, präservirte Gemüse.
  • Käse, Butter, Zuckerwaaren.
  • Fremde Kleidungsstücke.
  • Gold- und Juwelierwaaren.
  • Silber- und plattirte Waaren.
  • Parfümerieen.
  • Seife aller Art.
  • Holzkohlen.
  • Brennholz.
  • Fremde Kerzen.
  • Fremder Tabak.
  • Fremde Cigarren.
  • Wein, Bier und Spirituosen.
  • Hausgeräth.
  • Haus- und Schiffsvorräthe.
  • Gepäck zum persönlichen Gebrauche.
  • Papier und Scheibmaterialien.
  • Tapisseriewaaren,
  • Messerschmiedewaaren.
  • Fremde Medicamente.
  • Glas- und Krystallwaaren.

Die hier aufgeführten Artikel sollen weder Einfuhr- noch
Ausfuhrzoll zahlen. Mit Ausnahme von Gepäck zum persönlichen
Gebrauch, Gold und Silber in Barren und fremden Münzen sollen
sie aber, wenn sie nach dem Innern von China geführt werden,
einem Transitzoll von zwei und einem halben (2½) Procent ad valo-
rem unterliegen.


Ein Fahrzeug, welches ganz oder theilweise mit zollfreien
Artikeln (Gepäck zum persönlichen Gebrauch, Gold und Silber in
Barren und fremde Geldmünzen ausgenommen) befrachtet ist, soll
zur Entrichtung von Tonnengeldern verbunden sein, selbst wenn
es keine andere Ladung an Bord haben sollte.


Dritte Bestimmung.
Verbotene Waaren
.


Die Einfuhr sowohl als die Ausfuhr folgender Gegenstände
ist verboten:


  • Schiesspulver.
  • Kugeln.
  • Kanonen, gross und klein.
  • Gewehre von jedem Kaliber.
  • Waffen, Munition und Kriegsgeräthschaften aller Art.
  • Salz.

Vierte Bestimmung.
Maasse und Gewichte
.


Den Tarifberechnungen liegt die Annahme zum Grunde, dass
das Gewicht eines (1) Pikul von hundert (100) Katti gleich ist
hundertzwanzig (120) Zollpfund siebenundzwanzig (27) Loth ein (1)
Quent acht (8) Cents, oder sechszig (60) Kilogramm vierhundert-
dreiundfunfzig (453) Gramm; und dass die Länge eines (1) Tšaṅ
von zehn (10) chinesischen Fuss gleich ist elf (11) Fuss drei (3)
[371]Anh. I. Der Vertrag mit China.
Zoll neun (9) Linien preussisch oder drei (3) Meter fünfundfunfzig
(55) Centimeter. Ein chinesischer Tši wird angenommen gleich
dreizehn (13) Zoll sieben (7) Linien oder dreihundertfünfundfunfzig
(355) Millimeter.


Fünfte Bestimmung.
Artikel, die früher verboten waren
.


Die Beschränkung des Handels mit Opium, Kupfermünze,
Cerealien, Hülsenfrüchten, Schwefel, Salpeter und der unter der
englischen Benennung Spelter bekannten Zinkart, sind unter fol-
genden Bedingungen aufgehoben:


1) Opium soll von jetzt an dreissig (30) Taels Eingangszoll
für das Pikul zahlen. Der Importeur soll es nur im
Hafen verkaufen können, und in das Innere Chinas soll
der Artikel nur von Chinesen und als chinesisches Eigen-
thum verführt werden dürfen. Dem deutschen Kaufmann
soll nicht erlaubt sein, ihn zu begleiten. Der achte (8.)
Artikel des Vertrages darf also auf diesen Fall nicht
ausgedehnt werden. Ebenso finden die Bestimmungen
über Transitgebühren auf Opium keine Anwendung, son-
dern die chinesische Regierung darf diese Waare nach
Gutdünken mit Transitzöllen belegen.


2) Kupfermünze:


Die Ausfuhr chinesischer Kupfermünze nach einem
fremden Hafen ist verboten, aber die Unterthanen der
deutschen contrahirenden Staaten können dieselben unter
folgenden Bedingungen aus einem der offenen Häfen
Chinas nach einem anderen verführen:


Der Verschiffer muss den Betrag der Kupfermünze,
welche er einzuschiffen beabsichtigt, und den Hafen, nach
welchem dieselbe bestimmt ist, angeben. Er muss zwei
(2) zahlungsfähige Personen als Bürgen, oder irgend eine
andere vom Zollinspector genügend erachtete Caution
dafür stellen, dass er innerhalb sechs (6) Monaten, vom
Zeitpunkte der Klarirung ab, dem Zolleinnehmer im Hafen
der Verschiffung das von demselben ausgestellte Certifi-
cat zurückgeben will, und zwar mit einer darauf ent-
haltenen, unter Siegel ausgefertigten Bescheinigung des
Zolleinnehmers im Hafen der Bestimmung, dass die
Kupfermünze daselbst angekommen ist. Bringt der Ver-

24*
[372]Der Vertrag mit China. Anh. I.
schiffer dies Certificat nicht bei, so verfällt er in eine
dem Betrage der verschifften Kupfermünze gleiche Geld-
strafe. Die Kupfermünze soll keinen Zoll zahlen, aber
eine vollständige oder theilweise Ladung dieser Münze
soll das Fahrzeug, auf dem sie sich befindet, zur Zahlung
von Tonnengeldern verpflichten, selbst wenn es keine
andere Frachten an Bord hätte.


3) Die Ausfuhr nach einem fremden Hafen von Reis und
allen anderen einheimischen oder fremden Cerealien, wo
sie auch erzeugt, oder von wo sie eingeführt sein mögen,
ist verboten. Aber diese Producte dürfen von deutschen
Kaufleuten aus einem offenen Hafen Chinas nach dem
anderen geführt werden, unter denselben Bürgschafts-
Bedingungen, wie bei Kupfermünze, und gegen Zahlung
der im Tarif bezeichneten Zölle im Hafen der Ein-
schiffung.


Kein Einfuhrzoll soll von Reis und Cerealien erhoben
werden, aber eine ganze oder theilweise Ladung von
Reis und Cerealien soll, wenn sich auch keine andere
Ladung an Bord befindet, das Fahrzeug, das damit
befrachtet ist, der Zahlung der Tonnengelder unter-
werfen.


4) Hülsenfrüchte und Bohnenkuchen können aus den Häfen
von Tuṅ-tšau und Niu-tšwaṅ unter der Flagge eines
der contrahirenden deutschen Staaten nicht exportirt
werden, doch soll diese Ausfuhr aus den anderen offenen
Häfen gegen Zahlung der im Tarif verzeichneten Zölle
erlaubt sein, möge die Ausfuhr nach anderen Häfen von
China oder nach fremden Ländern stattfinden.


5) Salpeter, Schwefel und die unter dem Namen Spelter
bekannte Zinkart werden als Kriegsmunition angesehen
und dürfen durch deutsche Kaufleute nicht eingeführt
werden, es sei denn auf Verlangen der chinesischen
Regierung oder zum Verkauf an chinesische Unter-
thanen, die vorschriftsmässig autorisirt sind, solche zu
kaufen. Kein Erlaubnissschein zum Landen solcher Ge-
genstände wird ertheilt werden, ehe das Zollamt sich
versichert hat, dass der Käufer die nöthige Autorisation
erhalten hat. Es soll deutschen Unterthanen nicht er-

[373]Anh. I. Der Vertrag mit China.
laubt sein, diese Artikel den Yaṅ-tse-kiaṅ hinauf oder
in andere als die an der Seeküste Chinas eröffneten Häfen
einzuführen; auch dürfen sie dieselben nicht für Rech-
nung von Chinesen in das Innere des Landes begleiten.


Diese Artikel sollen nur in den Häfen verkauft wer-
den, und an allen anderen Orten sollen sie als chinesi-
sches Eigenthum angesehen werden.


Jede Zuwiderhandlung gegen die hier festgesetzten Bedin-
gungen, unter denen der Handel mit Opium, Kupfermünze, Cerea-
lien, Hülsenfrüchten, Salpeter, Schwefel und dem unter dem
Namen Spelter bekannten Zink erlaubt ist, soll mit Confiscation
aller in Rede stehenden Artikel bestraft werden.


Sechste Bestimmung.
Formalitäten, welche von den Schiffen bei ihrer Ankunft im Hafen
zu beobachten sind
.


Um jedes Missverständniss zu verhüten, ist man überein-
gekommen, dass der Zeitraum von vierundzwanzig (24) Stunden,
binnen dessen jeder Capitän laut Artikel 13. des Vertrages seine
Papiere dem Consul übergeben muss, von dem Augenblick zu
laufen anfangen soll, wo das Schiff innerhalb der Hafengrenzen
angekommen ist.


Ebenso soll die Frist von achtundvierzig (48) Stunden ge-
rechnet werden, welche der Artikel 20. dieses Vertrages deutschen
Schiffen im Hafen zu bleiben erlaubt, ohne Tonnengelder zu
bezahlen.


Die Hafengrenzen sollen von den Zollbehörden den Bedürf-
nissen des Handelsstandes gemäss bestimmt werden, soweit diesel-
ben mit gebührender Wahrung der Zolleinkünfte vereinbar sind.


Auf dieselbe Weise sollen die Orte bestimmt werden, wo es
in jedem Hafen gestattet sein wird, Güter ein- und auszuladen,
und diese Orte sollen den Consuln bekannt gemacht werden, damit
sie dem Publicum davon Kenntniss geben.


Siebente Bestimmung.
Durchfuhrzölle
.


Man ist übereingekommen, dass die Transit-Abgabe, von
welcher im Artikel 24. des Vertrages die Rede ist, die Hälfte der
im Tarife festgesetzten Zölle betragen soll, ausgenommen für die
[374]Der Vertrag mit China. Anh. I.
in der zweiten Handelsbestimmung erwähnten zollfreien Waaren.
die eine Transit-Abgabe von zwei und einem halben (2½) Procent
ad valorem zahlen sollen. Kaufmannsgüter haben die Transitzölle
berichtigt, wenn sie folgende Bedingungen erfüllt haben:


Bei der Einfuhr: Dem Vorstande des Zollamtes in dem
Hafen, von welchem aus die Waaren nach dem Innern versendet
werden, soll von der Art und Anzahl dieser Waaren, von dem
Namen des Schiffes, welches dieselben ausgeladen hat, und von
den Namen der Orte, wohin sie bestimmt sind, Anzeige gemacht
werden. Der Vorstand des Zollamtes wird, nachdem er sich von der
Wahrheit dieser Angaben überzeugt und den Betrag der Transit-
Abgaben empfangen hat, dem Importeur der Waaren ein Transit-
Abgaben-Certificat aushändigen, welches bei allen Hebestellen vor-
gezeigt und visirt werden muss. Keine andere Abgabe irgend einer
Art kann, nach welchem Theile des Reichs diese Waaren auch
gebracht werden mögen, davon erhoben werden.


Für die Ausfuhr: Die im Innern von China von einem
Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten gekauften Er-
zeugnisse sollen an der ersten Hebestelle, welche sie auf ihrem
Wege nach dem Einschiffungshafen passiren, untersucht und notirt
werden. Die Person oder die Personen, welche den Transport be-
sorgen, sollen eine von ihnen unterzeichnete Erklärung über die
Quantität der Erzeugnisse und den Hafen, in welchem sie einge-
schifft werden sollen, übergeben. Sie werden dann ein Certificat
erhalten, das bei jeder Hebestelle auf dem Wege nach dem Ein-
schiffungshafen vorgezeigt und visirt werden muss. Bei Ankunft
der Waare an der dem Hafen zunächst gelegenen Hebestelle wird
dem Zollamt dieses Hafens davon Anzeige gemacht werden, und
die Waaren können, nachdem der darauf lastende Durchfuhrzoll
entrichtet ist, passiren. Bei der Ausfuhr sollen die durch den Tarif
festgesetzten Zölle bezahlt werden.


Jeder Versuch, ein- oder auszuführende Waaren, den
obigen Bestimmungen entgegen, durchzuschmuggeln, soll zur Folge
haben, dass diese Waaren der Confiscation unterliegen.


Waaren, welche auf die angegebene Weise als Transit-
Waaren nach einem Hafen declarirt worden sind, dürfen confiscirt
werden, wenn sie ohne Erlaubniss während des Transits verkauft
werden.


[375]Anh. I. Der Vertrag mit China.

Jeder Versuch, mehr Waaren durchzuführen, als in dem
Certificate angegeben sind, lässt alle in dem Certificat aufgeführten
Waaren derselben Benennung der Confiscation anheimfallen.


Der Vorstand des Zollamtes soll das Recht haben, die Ein-
schiffung von Waaren zu verhindern, von denen die Zahlung der
darauf haftenden Transit-Abgabe nicht nachgewiesen werden kann,
und das so lange, bis diese Abgaben entrichtet sind.


Achte Bestimmung.
Fremder Handel im Innern, auf Grund von Pässen
.


Man ist übereingekommen, dass der Artikel 8. des Vertrages
nicht so verstanden werden soll, als erlaube er Unterthanen der
deutschen contrahirenden Staaten nach der Hauptstadt von China
zu kommen, um dort Handel zu treiben.


Neunte Bestimmung.
Aufhebung der Abgaben, die für die Umprägung der Münzen
erhoben wurden
.


Man ist übereingekommen, dass die Unterthanen der deut-
schen contrahirenden Staaten zur Entrichtung von einem (1) Tael
und zwei (2) Mehss, welche früher von der chinesischen Regierung
ausser den gewöhnlichen Zöllen gefordert wurden, um die Kosten
der Einschmelzung und Umprägung zu decken, nicht verbunden
sein sollen.


Zehnte Bestimmung.
Entrichtung der Zölle in den Häfen
.


Der von der kaiserlichen Regierung zum Ober-Aufseher des
fremden Handels bestellte chinesische Beamte wird von Zeit zu
Zeit entweder selbst die verschiedenen dem Handel geöffneten Hä-
fen besichtigen, oder einen Delegirten dahin senden. Diesem
Beamten soll freistehen, sich Unterthanen der deutschen contrahi-
renden Staaten, welche er dazu geeignet hält, auszuwählen, um
ihm bei Verwaltung der Zolleinnahmen zu helfen, den Schmuggel-
handel zu verhindern, die Hafengrenzen zu bestimmen, die Func-
tionen eines Hafen-Capitäns zu versehen und Leuchtthürme, Boyen
u. s. w. aufzustellen, zu deren Unterhaltung ihm die Tonnengelder
die Mittel liefern werden.


[376]Der Vertrag mit China. Anh. I.

Zusatz-Bestimmung.
Revision des Tarifes
.


Die Hohen contrahirenden Theile sind dahin übereingekom-
men, dass der gegenwärtige Tarif von zehn (10) zu zehn (10)
Jahren einer Revision soll unterworfen werden können, um mit den
durch die Zeit herbeigeführten Werthveränderungen der Boden-
und Industrie-Erzeugnisse der beiden Reiche in Einklang gebracht
zu werden.


(L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg.
Tsuṅ-luen.
Tsuṅ-hau.


[[377]]

ANHANG II.
DER VERTRAG MIT SIAM.


[[378]][[379]]

FREUNDSCHAFTS-, HANDELS- UND SCHIFFAHRTS-VERTRAG ZWI-
SCHEN DEN STAATEN DES ZOLLVEREINS UND DEN GROSSHERZOG-
THÜMERN MECKLENBURG-SCHWERIN UND MECKLENBURG-STRELITZ
EINERSEITS, UND DEM KÖNIGREICH SIAM ANDERERSEITS.


Seine Majestät der König von Preussen,
sowohl für Sich und in Vertretung der Ihrem Zoll- und
Steuersystem angeschlossenen souveränen Länder und
Landestheile,
nämlich:
Luxemburgs, Anhalt-Dessau-Cöthens, Anhalt-Bernburgs, Wal-
decks und Pyrmonts
, Lippe’s und Meisenheims,
als auch im Namen der übrigen Staaten des Zollvereins,
nämlich:
Bayerns, Sachsens, Hannovers, Württembergs, Badens, des
Kurfürstenthums Hessen, des Grossherzogthums Hessen
(einschliesslich des Amtes Homburg), der Staaten des
Thüringischen Zoll- und Handelsvereins, nämlich: Sachsen-
Weimar-Eisenachs
, Sachsen-Meiningens, Sachsen-Alten-
burgs
, Sachsen-Coburg-Gothas, Schwarzburg-Rudolstadts,
Schwarzburg-Sondershausens, Reuss älterer Linie und
Reuss jüngerer Linie, Braunschweigs, Oldenburgs, Nassaus
und der freien Stadt Frankfurt,
sowie
die Grossherzogthümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklen-
burg-Strelitz

einerseits, und
Ihre Mäjestäten Phra Bat Somdetš Phra Paramendr Maha-
moṅkut, Phra Kom Klau, Tšau Yu Hua
, der Erste
König von Siam,

[380]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
Phra Bard Somdetsch Phra Pawarendr Ramesr Mahiswa-
resr, Phra Pin Klau Tšau Yu Hua
, der Zweite König
von Siam,
andererseits,

von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, freundschaftliche Beziehun-
gen zwischen den vorgedachten Staaten und Siam zu begründen,
haben beschlossen, solche durch einen gegenseitig vortheilhaften
und den Unterthanen der Hohen vertragenden Mächte nützlichen
Freundschafts- und Handelsvertrag zu befestigen.


Zu dem Ende haben zu Ihren Bevollmächtigten ernannt:
Seine Majestät der König von Preussen:
den Kammerherrn Friedrich Albrecht Grafen zu Eulen-
burg
, Allerhöchstihren ausserordentlichen Gesandten
und bevollmächtigten Minister, Ritter des Rothen
Adler-Ordens dritter Klasse mit der Schleife, Ritter
des Johanniter-Ordens u. s. w.
und
Ihre Majestäten der Erste und Zweite König von Siam:
Seine Königliche Hoheit den Prinzen Khroma Luaṅ Woṅsa
Dirai Snid
,
Seine Excellenz Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samutra Phra
Kalahum
, Oberbefehlshaber der Truppen und General-
Gouverneur der südwestlichen Provinzen,
Seine Excellenz Tšau Phya Rawe Moṅs Maha Kosadhiputi,
Minister der auswärtigen Angelegenheiten und Ge-
neral-Gouverneur der Ostküste des Golfs von Siam,
Seine Excellenz Tšau Phya Yommerat, Gouverneur der
Stadt Baṅkok und ihrer Umgebungen,
Seine Excellenz Phaya Muntri Phra Kalahum Fainie,
General-Gouverneur der nördlichen Provinzen,

welche, nachdem sie ihre Vollmachten sich mitgetheilt, und solche
in guter und gehöriger Form befunden haben, über nachstehende Arti-
kel übereingekommen sind:


Artikel 1.


Zwischen den contrahirenden deutschen Staaten einerseits
und Ihren Majestäten dem Ersten und Zweiten Könige von Siam,
Ihren Erben und Nachfolgern andererseits, sowie desgleichen
zwischen den beiderseitigen Staatsangehörigen soll dauernder Friede
und unwandelbare Freundschaft bestehen.


[381]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.

Die beiderseitigen Unterthanen sollen in den Gebieten des
anderen Theils vollständigen Schutz für Person und Eigenthum
geniessen.


Es soll den Unterthanen und Schiffen der Hohen vertrag-
schliessenden Mächte vollkommene Freiheit des Handels und der
Schiffahrt in jedem Theile ihrer beiderseitigen Gebiete zustehen,
wo immer Handel oder Schiffahrt den Angehörigen oder Schiffen
der am meisten begünstigten Nation gegenwärtig gestattet ist, oder
künftig gestattet werden möchte.


Artikel 2.


Die Hohen vertragschliessenden Theile erkennen Sich gegen-
seitig das Recht zu, in den Häfen und Städten Ihrer respectiven
Staaten Generalconsuln, Consuln, Viceconsuln und Consular-Agenten
zu bestellen, und sollen die erwähnten Beamten dieselben Vorrechte,
Freiheiten, Befugnisse und Befreiungen geniessen, deren sich die
betreffenden Beamten der meist begünstigten Nation jetzt oder
künftig erfreuen möchten. Indessen sollen gedachte Consular-
beamte ihre Functionen nicht eher antreten dürfen, als bis sie das
Exequatur der Landesregierung erhalten haben. Die deutschen
contrahirenden Staaten werden für jeden Hafen oder jede Stadt
nicht mehr als einen Consularbeamten ernennen. Für diejenigen
Orte aber, an welchen sie einen Generalconsul oder Consul be-
stellen, sollen sie berechtigt sein, ausserdem noch einen Viceconsul
oder Consular-Agenten zur Vertretung des Generalconsuls oder Con-
suls in Abwesenheit oder Behinderungsfällen zu ernennen. Vice-
consuln oder Consular-Agenten können auch von den ihnen vor-
gesetzten Generalconsuln oder Consuln ernannt werden.


Der deutsche Consularbeamte soll die Interessen der in Siam
ansässigen oder daselbst ankommenden Unterthanen der contrahi-
renden deutschen Staaten unter seinem Schutze, seiner Aufsicht
und seiner Controle haben. Er soll sowohl sich selbst allen Be-
stimmungen dieses Vertrages gemäss verhalten, als die Beobachtung
derselben von Seiten deutscher Unterthanen erwirken. Desgleichen
soll er alle Verordnungen und Vorschriften bekannt machen und
gehörig zum Vollzuge bringen, welche zur Nachachtung deutscher
Staatsangehörigen für die Art und Weise ihres Geschäftsbetriebes
und für die gehörige Befolgung der Landesgesetze bereits erlassen
sind, oder noch erlassen werden möchten.


[382]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.

In Fällen der Abwesenheit eines Consularbeamten der deut-
schen contrahirenden Staaten können Siam besuchende oder daselbst
sich aufhaltende Unterthanen dieser Staaten die Vermittelung des
Consuls einer befreundeten Nation in Anspruch nehmen, oder auch
sich direct an die Landesbehörden wenden, die dann die nöthigen
Vorkehrungen treffen sollen, um den betreffenden Deutschen An-
gehörigen alle Vortheile des gegenwärtigen Vertrages zu sichern.


Artikel 3.


Den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten,
welche Siam besuchen oder dort ihren Wohnsitz nehmen, soll die
freie Ausübung ihrer Religion gestattet, und sie sollen befugt sein,
an solchen geeigneten Orten, wo ihnen hierzu von den siamesischen
Behörden die Erlaubniss gegeben wird, Kirchen zu erbauen. Eine
solche Erlaubniss soll nicht versagt werden dürfen, ohne dass hin-
reichende Gründe dafür angeführt werden.


Artikel 4.


Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten, die im
Königreiche Siam sich aufzuhalten wünschen, müssen sich auf dem
deutschen Consulate einzeichnen lassen, von welcher Einzeichnung
den siamesischen Behörden Abschrift mitzutheilen ist. So oft ein
Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten sich in einer
Sache an die siamesischen Behörden wenden will, hat er sein Ge-
such oder seine Reclamation vorab dem deutschen Consularbeamten
vorzulegen, und soll dieser die Eingabe, wenn er sie begründet und
anständig abgefasst findet, befördern, anderenfalls aber den Inhalt
entsprechend abändern.


Artikel 5.


Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten, die in
Siam ihren Wohnsitz aufschlagen wollen, dürfen dieses vorerst nur
in der Stadt Baṅkok oder innerhalb eines Bezirkes thun, dessen
Grenzen, übereinstimmend mit den Festsetzungen der übrigen
zwischen Siam und den fremden Mächten geschlossenen Verträge,
folgende sind:


Im Norden: der Baṅputsa-Canal, von seiner Mündung in
den Tšauphya-Fluss bis an die alten Mauern der Stadt Lophaburi, und
eine gerade Linie von dort bis zum Landungsplatze Pragnam am
Fluss Passak in der Nähe der Stadt Saraburi.


[383]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.

Im Osten: Eine gerade Linie vom Landungsplatze Pragnam
bis nach dem Zusammenflusse des Kloṅkut-Canals mit dem Flusse
Baṅpakoṅ, und dieser Fluss bis zu seiner Mündung. Auf dem
Küstenstrich zwischen dem Baṅpakoṅ und der Insel Simaharadtšah
soll es deutschen Unterthanen freistehen, sich an allen Orten nie-
derzulassen, die nicht mehr als vierundzwanzig Stunden von Baṅ-
kok
entfernt sind.


Im Süden: die Insel Simaharadtšah, die Sitšaṅ-Inseln und
die Mauern von Petšaburi.


Auf der Westseite des Golfs sollen sich deutsche Unter-
thanen in Petšaburi, und von dort bis zum Mekloṅ-Flusse überall
innerhalb einer Entfernung von vierunzwanzig Stunden von Baṅkok
niederlassen dürfen. Von der Mündung des Mekloṅ an soll dieser
die Grenze bilden bis zur Stadt Raatpuri, dann eine gerade Linie
von Raatpuri nach Saphanburi, und von dort nach der Mündung
des Baṅputsa-Canals in den Tšauphya-Fluss.


Indessen dürfen deutsche Angehörige auch ausserhalb dieser
Grenzen ihren Wohnsitz nehmen, sobald sie hierzu die Erlaubniss
der siamesischen Behörden erhalten.


Allen Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten
steht es frei, im ganzen Königreich Siam zu reisen, Handel zu trei-
ben und Waaren, die nicht verboten sind, zu kaufen oder zu ver-
kaufen, von wem und an wen sie wollen. Sie sind nicht ver-
pflichtet, von Beamten, oder solchen, die im Besitze eines Mono-
pols sind, zu kaufen, oder an dieselben zu verkaufen, und es ist
Niemandem gestattet, sie in ihren Handelsgeschäften zu behindern
oder zu stören.


Artikel 6.


Die siamesische Regierung wird deutschen Staatsangehörigen
keinerlei Hindernisse in den Weg legen, siamesische Unterthanen,
in welcher Eigenschaft es auch sei, in Dienst zu nehmen. Wenn je-
doch ein siamesischer Unterthan irgend einem besonderen Herrn
angehört oder Dienste schuldet, so darf er sich bei einem deutschen
Angehörigen ohne die Zustimmung seines Herrn nicht verdingen.
Hat er es dennoch gethan, so ist das Dienstverhältniss, wenn in
dem Dienstvertrage nicht eine noch kürzere Frist verabredet wor-
den ist, oder der deutsche Angehörige den siamesischen Diener
nicht sogleich entlassen will, als nur auf drei Monate eingegangen
anzusehen, und ist der deutsche Angehörige verpflichtet, während
[384]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
dieser Zeit zwei Drittheile des bedungenen Lohnes nicht an den
siamesischen Diener, sondern an denjenigen zu zahlen, welchem
letzterer angehört oder Dienste schuldet.


Wenn Siamesen, die im Dienste eines deutschen Unter-
thanen stehen, die siamesischen Gesetze übertreten, oder wenn
siamesische Verbrecher oder Flüchtlinge bei einem deutschen Unter-
thanen in Siam ihre Zuflucht suchen, so soll, auf erfolgten Nach-
weis ihrer Schuld oder ihres Fluchtversuches, der deutsche Con-
sularbeamte die nöthigen Maassregeln ergreifen, um die Auslieferung
derselben an die siamesischen Behörden zu bewerkstelligen.


Artikel 7.


Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten sollen
nicht wider ihren Willen im Königreiche Siam zurückgehalten wer-
den dürfen, es sei denn, die siamesischen Behörden könnten dem
deutschen Consularbeamten darthun, dass rechtmässige Gründe für
ein solches Verfahren vorliegen.


Innerhalb der durch Artikel 5. dieses Vertrages festgestellten
Grenzen steht es den Unterthanen der deutschen contrahirenden
Staaten frei, ohne Hinderung oder Aufenthalt irgend welcher Art
zu reisen, vorausgesetzt, dass sie im Besitze eines vom Consular-
beamten unterzeichneten Passes sind, der in siamesischer Sprache
Namen, Gewerbe und Personalbeschreibung des Reisenden enthält
und von der zuständigen siamesischen Behörde gegengezeichnet ist.


Sollten sie über die besagten Grenzen hinauszugehen und im
Innern des Königreichs Siam zu reisen wünschen, so müssen sie
sich einen auf Ansuchen des Consularbeamten ihnen zu ertheilenden
Pass der siamesischen Behörden verschaffen, und darf solcher Pass
niemals verweigert werden, es sei denn mit Zustimmung des Con-
sularbeamten der deutschen contrahirenden Staaten.


Artikel 8.


Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten dürfen
innerhalb der im Artikel 5. bezeichneten Grenzen Ländereien oder
Pflanzungen kaufen und verkaufen, pachten oder verpachten, auch
Häuser bauen, miethen, kaufen oder vermiethen und verkaufen.
Jedoch steht die Befugniss
1) auf dem linken Flussufer innerhalb der eigentlichen Stadt
Baṅkok und auf dem Terrain, welches zwischen den Stadt-

[385]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.
mauern und dem Canal Kloṅ-paduṅ-kruṅ-krasem gelegen
ist, und
2) auf dem rechten Flussufer zwischen den Puncten, welche
der Abzweigung des Canals Kloṅ-paduṅ-kruṅ-krasem vom
Fluss und der Wiedereinmündung desselben in den Fluss
gegenüberliegen, bis auf eine Entfernung von zwei englischen
Meilen vom Flusse,

Grundbesitz zu erwerben, nur denjenigen zu, welche eine besondere
Erlaubniss dazu von der siamesischen Regierung erhalten haben,
oder bereits zehn Jahre in Siam wohnen. Um in den Besitz solchen
Grundeigenthums zu gelangen, können die deutschen Staatsangehöri-
gen durch den Consularbeamten ein Ansuchen an die siamesische
Regierung richten, worauf diese einen Beamten ernennen wird, der
gemeinschaftlich mit dem Consularbeamten den Betrag der Kauf-
summe der Billigkeit gemäss bestimmen und festsetzen, und die
Grenzen des Grundstücks ziehen und fixiren soll. Die siamesische
Regierung wird dann das Eigenthum an den deutschen Käufer über-
tragen. Alles Grundeigenthum deutscher Unterthanen wird unter
dem Schutze des Distriktsgouverneurs und der betreffenden Local-
behörden stehen, der Eigenthümer aber hat sich in gewöhnlichen
Angelegenheiten allen ihm durch dieselben zugehenden ordentlichen
Anweisungen zu fügen und ist den nämlichen Steuern unterworfen,
als die Unterthanen oder Bürger der meistbegünstigten Nation.


Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten sollen
ferner überall in Siam nach Minen zu schürfen und solche zu er-
öffnen die Befugniss haben, und sobald die gehörigen Nachweise
geliefert werden, soll der Consularbeamte in Verbindung mit den
siamesischen Behörden die geeigneten Bedingungen und Bestimmungen
festsetzen, damit die Minen bearbeitet werden können. Ebenso
sollen, nachdem in gleicher billiger Weise die desfallsigen Bedingun-
gen und Bestimmungen zwischen dem Consularbeamten und den
siamesischen Behörden verabredet worden sind, deutsche Unter-
thanen auch jede Art von Fabrikgeschäft anlegen und betreiben
dürfen, welches den Gesetzen nicht zuwiderläuft.


Artikel 9.


Wenn ein im Königreiche Siam dauernd oder vorübergehend
sich aufhaltender Unterthan eines der contrahirenden deutschen
Staaten gegen einen Siamesen Grund zu klagen oder irgend einen
IV. 25
[386]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
Anspruch zu machen hat, so soll er seine Beschwerde zunächst
dem deutschen Consularbeamten vorlegen, und dieser, nach ge-
schehener Prüfung der Sache, dieselbe gütlich auszugleichen suchen.
Ebenso soll der Consularbeamte, wenn ein Siamese eine Klage gegen
einen deutschen Angehörigen hat, dieselbe anhören und ein gütliches
Abkommen zu treffen bemüht sein; sollte in solchen Fällen eine
gütliche Einigung aber nicht herbeizuführen sein, soll der Consular-
beamte sich an den competenten siamesischen Beamten wenden,
und Beide sollen dann, nach gemeinschaftlicher Prüfung der Sache,
der Billigkeit gemäss entscheiden.


Artikel 10.


In Siam verübte Verbrechen oder Vergehen sollen, wenn
der Thäter ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten
ist, durch den Consularbeamten den beteffenden deutschen Gesetzen
gemäss bestraft, oder der Schuldige soll zur Bestrafung nach Deutsch-
land
geschickt werden. Ist der Thäter ein Siamese, so soll er nach
den Gesetzen seines Landes von den siamesischen Behörden be-
straft werden.


Artikel 11.


Wenn gegen Schiffe eines der contrahirenden deutschen
Staaten an der Küste oder in der Nähe des Königreichs Siam ein
Akt der Seeräuberei begangen werden sollte, so sollen, auf die
Nachricht davon, die Behörden des nächstgelegenen Platzes alle
Mittel zur Gefangennahme der Seeräuber und Wiedererlangung des
geraubten Gutes aufbieten, und soll sodann das Letztere an den
Consularbeamten Behufs Rückerstattung an die Eigenthümer abge-
liefert werden. Dasselbe Verfahren soll von den siamesischen
Behörden in allen Fällen von Plünderung und Räuberei, die auf
dem Lande gegen das Eigenthum deutscher Unterthanen begangen
werden möchte, eingehalten werden. Die siamesische Regierung
soll nicht verantwortlich gehalten werden für gestohlenes Eigen-
thum deutscher Angehörigen, sobald bewiesen ist, dass sie
alle in ihrer Macht stehenden Mittel angewandt hat, es wieder-
zuerlangen, und derselbe Grundsatz soll auf siamesische Unter-
thanen, die sich unter dem Schutze eines der contrahirenden
deutschen Staaten befinden, und auf deren Eigenthum zur An-
wendung kommen.


[387]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.

Artikel 12.


Die siamesischen Behörden sollen dem deutschen Consular-
beamten, auf desfallsiges schriftliches Ansuchen, alle Hülfe und
Unterstützung gewähren zur Auffindung und Verhaftung deutscher
Matrosen oder sonstiger Unterthanen, sowie von Personen, die unter
dem Schutze einer deutschen Flagge stehen. Desgleichen soll der
deutsche Consularbeamte, auf Requisition, von den siamesischen
Behörden jeden erforderlichen Beistand und genügende Mannschaft
erhalten, um seiner Autorität über deutsche Unterthanen gebührende
Geltung zu verschaffen und die Disciplin unter der deutschen Marine
in Siam aufrecht zu erhalten. In gleicher Weise haben, wenn ein
der Desertion oder eines anderen Verbrechens schuldiger Siamese
sich in das Haus eines Unterthanen eines der contrahirenden deut-
schen Staaten oder an Bord eines Schiffes derselben flüchten sollte,
die Localbehörden sich an den deutschen Consularbeamten zu wenden,
und dieser wird, auf erfolgten Nachweis der Strafbarkeit des An-
geklagten, sofort dessen Verhaftung genehmigen. Jede Hehlerei
oder Connivenz soll beiderseits auf das Sorgfältigste vermieden
werden.


Artikel 13.


Sollte ein Unterthan eines der deutschen contrahirenden
Staaten, der im Königreich Siam ein Geschäft treibt, insolvent
werden, so hat der deutsche Consularbeamte sein sämmtliches Ver-
mögen in Beschlag zu nehmen, um dasselbe pro rata unter die
Gläubiger vertheilen zu können. Von Seiten der siamesischen Be-
hörden soll dem Consularbeamten zu dem Ende alle Unterstützung
zu Theil werden. Letzterer soll kein Mittel unversucht lassen, um
auch solches Vermögen zum Besten der Gläubiger einzuziehen,
welches der Fallit in anderen Ländern besitzen möchte. In gleicher
Weise sollen in Siam die Behörden des Königreichs das Vermögen
derjenigen siamesischen Unterthanen adjudiciren und vertheilen,
welche ihren Geschäftsverbindlichkeiten gegen Unterthanen der
contrahirenden deutschen Staaten nicht sollten nachkommen können.


Artikel 14.


Sollte ein siamesischer Unterthan einem deutschen Staats-
angehörigen die Zahlung einer Schuld verweigern oder ihr auszu-
weichen suchen, so sollen die siamesischen Behörden dem Gläubi-
ger jede Hülfe und Erleichterung gewähren, damit er zu dem Seinigen
25*
[388]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
komme. In gleicher Weise soll der deutsche Consularbeamte siame-
sischen Unterthanen allen Beistand leisten, um in den Besitz ihrer
etwaigen Forderungen gegen Unterthanen der contrahirenden deut-
schen Staaten zu gelangen.


Artikel 15.


Im Falle des Ablebens eines ihrer respectiven Unterthanen
in dem Gebiete des einen oder des anderen der Hohen vertragenden
Theile, soll sein Nachlass dem Vollstrecker seines letzten Willens,
oder in dessen Ermangelung der Familie oder den Geschäftstheil-
habern des Verstorbenen übergeben werden. Hat der Verstorbene
auch keine Verwandte oder Geschäftstheilhaber, so soll sein Nach-
lass in den Staaten der Hohen vertragenden Theile, soweit die
Gesetze des Landes es gestatten, dem Gewahrsam der respectiven
Consularbeamten übergeben werden, auf dass diese in üblicher
Weise nach den Gesetzen und Gewohnheiten ihres Landes damit
verfahren.


Artikel 16.


Kriegsschiffe eines der contrahirenden deutschen Staaten
dürfen in den Fluss einlaufen und bei Paknam Anker werfen; wollen
sie aber nach Baṅkok hinaufgehen, so müssen sie zuvor die siame-
sischen Behörden davon benachrichtigen und sich mit denselben
über den Ankerplatz verständigen.


Artikel 17.


Sollte ein deutsches Schiff einen siamesischen Hafen in Noth
anlaufen, so sollen die Ortsbehörden demselben bei Vornahme der
nöthigen Ausbesserungen und Einnahme von frischem Proviant jede
Erleichterung gewähren, damit es im Stande ist, die Reise fortzu-
setzen. Sollte ein deutsches Schiff an der Küste des Königreichs
Siam scheitern, so sollen die siamesischen Behörden des nächstge-
legenen Platzes auf die Nachricht davon sofort der Mannschaft allen
möglichen Beistand leisten, ihrem Mangel abhelfen und alle Maass-
regeln ergreifen, die zur Rettung und Sicherung des Schiffes und
der Ladung nothwendig sind. Sie sollen sodann den deutschen
Consularbeamten von dem, was ihrerseits geschehen, benachrichtigen,
damit dieser in Gemeinschaft mit der competenten siamesischen Be-
hörde die nöthigen Schritte thun kann, um die Mannschaft nach
Hause zu senden, und wegen Wrack und Ladung die nöthigen Ver-
fügungen zu treffen.


[389]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.

Artikel 18.


Gegen Zahlung der weiter unten bemerkten Ein- und Aus-
fuhrzölle sollen die einem der contrahirenden deutschen Staaten
angehörenden Schiffe und deren Ladungen in den siamesischen
Häfen, sowohl beim Eingehen wie beim Ausgehen, von allen Ton-
nen-, Lootsen- und Ankergeldern oder sonstigen Abgaben irgend
welcher Art frei sein. Solche Schiffe sollen alle Privilegien und
Freiheiten geniessen, welche, sei es den Dschunken und eigenen
Fahrzeugen von Siam, sei es den Schiffen der meistbegünstigten
Nation, jetzt eingeräumt sind oder künftig eingeräumt werden
möchten.


Artikel 19.


Der Zoll auf Waaren, welche in Schiffen, die einem der
contrahirenden deutschen Staaten angehören, in das Königreich
Siam eingeführt werden, soll drei Procent vom Werthe nicht über-
steigen. Derselbe soll nach Wahl des Importeurs entweder in natura
oder in Geld bezahlt werden können. Wenn der Importeur sich
mit den siamesischen Zollbeamten über den Werth einer bestimmten
eingeführten Waare nicht einigen kann, so soll eine Berufung an
den Consularbeamten und die zuständige siamesische Behörde statt-
finden, welche, nachdem sie erforderlichen Falls jeder einen oder
zwei Kaufleute als beiräthige Sachverständige zugezogen haben, die
Sache der Gerechtigkeit gemäss entscheiden sollen.


Nach Entrichtung des genannten Einfuhrzolls von drei Pro-
cent kann die Waare, frei von jeder weiteren Abgabe und Belastung,
en gros oder en détail verkauft werden. Sollten Waaren gelandet,
aber nicht verkauft und dann wieder zum Export verschifft wer-
den, so ist der gesammte darauf bezahlte Zoll zurückzuzah-
len. Ueberhaupt soll kein Zoll von nicht verkauften Ladungen
erhoben werden. Auf die einmal eingeführten Waaren aber sol-
len keine weiteren Zölle, Steuern oder Auflagen gelegt oder von
ihnen erhoben werden, sobald dieselben in die Hände siamesi-
scher Käufer übergegangen sind.


Artikel 20.


Der von siamesischen Erzeugnissen vor oder bei der Ver-
schiffung zu zahlende Zoll soll nach dem, dem gegenwärtigen Ver-
trage beigefügten Tarife erhoben werden. Jeder nach diesem Tarife
[390]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
einem Ausfuhrzoll unterliegende Artikel soll im ganzen Königreiche
Siam von allen Durchgangs- oder sonstigen Abgaben frei sein, und
ebenso sollen alle diejenigen siamesischen Erzeugnisse, welche bereits
einer Durchgangs- oder sonstigen Besteuerung unterlegen haben,
vor oder bei der Verschiffung überall nicht weiter, weder nach
Maassgabe des angeschlossenen Tarifs, noch in irgend sonstiger
Weise besteuert werden dürfen.


Artikel 21.


Gegen Zahlung der oben genannten Zölle, welche künftig
nicht erhöht werden dürfen, soll es den Unterthanen der deutschen
contrahirenden Staaten freistehen, von deutschen und fremden
Häfen, in das Königreich Siam einzuführen und ebenso, wohin sie
wollen, auszuführen alle und jede Waare, welche nicht am Tage
der Unterzeichnung des gegenwärtigen Vertrages der Gegenstand
eines förmlichen Verbots oder eines besonderen Monopols ist. In-
dessen behält die siamesische Regierung sich das Recht vor, die
Ausfuhr von Reis zu verbieten, wenn ihrer Meinung nach Grund
vorliegt, einen Mangel im Lande zu befürchten. Doch soll ein
solches Verbot, welches einen Monat, bevor es in Kraft tritt, zu
publiciren ist, auf die Erfüllung von Contracten, welche in gutem
Glauben vor der Publication desselben abgeschlossen sind, keinen
Einfluss üben, und sollen deutsche Kaufleute die siamesischen Be-
hörden von jedem Contract in Kenntniss setzen, den sie vor dem
Verbote abgeschlossen haben. Auch soll es erlaubt sein, dass
Schiffe, welche zur Zeit der Ankündigung des Ausfuhrverbotes be-
reits in Siam angekommen, oder welche von China und Singapore
aus nach Siam unterwegs sind, und die dortigen Häfen eher ver-
lassen haben, als das Ausfuhrverbot daselbst bekannt sein konnte,
mit Reis behufs Ausfuhr desselben beladen werden. Sollte die
siamesische Regierung demnächst den Zoll auf irgend welche, in
siamesischen oder anderen Schiffen ein- oder ausgeführte Waaren
herabsetzen, so sollen die Vortheile solcher Herabsetzung sofort
auch den gleichen Erzeugnissen zu Gute kommen, welche in Schiffen
der deutschen contrahirenden Staaten ein- oder ausgeführt werden.


Artikel 22.


Die Consularbeamten der contrahirenden deutschen Staaten
haben darauf zu sehen, dass die deutschen Kaufleute und Schiffer
[391]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.
sich den Vorschriften gemäss verhalten, welche dem gegenwärtigen
Vertrage beigefügt sind, und die siamesischen Behörden sollen sie
zu diesem Ende unterstützen. Alle durch Uebertretungen des gegen-
wärtigen Vertrages verwirkten Geldstrafen sollen der siamesischen
Regierung zufallen.


Artikel 23.


Den contrahirenden deutschen Staaten und ihren Untertha-
nen wird die freie und gleiche Theilnahme an allen Privilegien zu-
gestanden, welche der Regierung, den Bürgern oder Unterthanen
irgend einer anderen Nation Seitens der siamesischen Regierung,
bisher bewilligt worden sind oder noch bewilligt werden möchten.


Artikel 24.


Nach Ablauf von zwölf Jahren, vom Tage der Ratification
dieses Vertrages an gerechnet, können die contrahirenden Staaten
eine Revision des gegenwärtigen Vertrages, sowie der unten ange-
hängten Handelsbestimmungen und des Tarifs beantragen, um die-
jenigen Abänderungen, Zusätze und Verbesserungen daran vorzu-
nehmen, welche die Erfahrung als wünschenswerth dargethan
haben sollte. Ein solcher Antrag muss jedoch mindestens ein Jahr
zuvor angekündigt werden.


Artikel 25.


Der gegenwärtige Vertrag ist in deutscher, siamesischer und
englischer Sprache vierfach ausgefertigt worden. Alle diese Aus-
fertigungen haben denselben Sinn und dieselbe Bedeutung, aber
der englische Text wird als der Urtext des Vertrages angesehen
werden, dergestalt, dass, wenn eine verschiedene Auslegung des
deutschen und siamesischen Textes irgendwo stattfinden sollte, die
englische Ausfertigung entscheidend sein soll.


Der Vertrag soll sofort in Kraft treten, und die Ratificatio-
nen desselben sollen binnen achtzehn Monaten, vom heutigen Tage
an gerechnet, zu Baṅkok ausgetauscht werden.


Dessen zu Urkunde haben die Eingangs genannten Bevoll-
mächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und unter-
siegelt zu Baṅkok am siebenten Tage des Monats Februar im Jahre
des Herrn Eintausend Achthundert und Zwei und Sechszig, ent-
sprechend dem siamesischen Datum vom achten Tage des dritten
[392]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
Mondes im Jahre des Hahns, dem dritten des Jahrzehends und
dem elften der gegenwärtigen Regierung, im Jahre Eintausend
Zweihundert und Drei und Zwanzig der siamesischen bürgerlichen
Zeitrechnung.


(L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg.
Khroma Luaṅ Woṅsa Dirai Snid.
Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samutra Phra Kalahum.
Tšau Phya Rawe Moṅs Maha Kosadhiputi.
Tšau Phya Yommerat.
Phaya Muntri Phra Kalahum Fainie.


[393]Anh. II. Der Vertrag mit Siam.

HANDELS-BESTIMMUNGEN.


1.


Der Capitän eines jeden in Handelszwecken nach Baṅkok
kommenden Schiffes eines der contrahirenden deutschen Staaten
muss, je nachdem ihm das Eine oder das Andere passender er-
scheint, entweder vor oder nach dem Einlaufen in den Fluss die
Ankunft seines Schiffes bei dem Zollhause zu Paknam melden und
zugleich die Zahl seiner Mannschaft, der mitgeführten Kanonen,
sowie den Hafen, woher er kommt, angeben. Sobald sein Schiff
zu Paknam Anker geworfen, hat er alle seine Kanonen und Mu-
nition den Zollhausbeamten in Verwahrung zu geben, und ein Zoll-
hausbeamter wird dann dem Schiffe beigegeben werden und mit
demselben nach Baṅkok gehen.


2.


Jedes Handelsschiff, welches an Paknam vorbeigefahren ist,
wird nach Paknam zurückgeschickt werden, um jener Vorschrift
nachzukommen, und hat ausserdem eine Geldstrafe bis zu acht-
hundert Tikals verwirkt. Nach Ablieferung seiner Kanonen und
Munition wird demselben die Rückkehr nach Baṅkok gestattet
werden.


3.


Sobald ein deutsches Schiff zu Baṅkok Anker geworfen, hat
der Capitän desselben, wofern nicht ein Festtag dazwischen fällt,
sich innerhalb vierundzwanzig Stunden nach Ankunft auf das
deutsche Consulat zu begeben und daselbst die Schiffspapiere,
Connossemente u. s. w. zugleich mit einem richtigen Manifeste über
seine Ladung abzugeben, und, nachdem der Consularbeamte diese
Einzelnheiten dem Zollhause mitgetheilt hat, wird von diesem
sofort die Erlaubniss zum Löschen ertheilt werden. Sollte die
Zollbehörde mit Ertheilung dieser Erlaubniss länger als vierund-
zwanzig Stunden zögern, so wird letztere mit gleicher Wirkung,
als ob sie von der Zollbehörde ausgegangen wäre, vom Consular-
beamten ertheilt werden.


Unterlässt der Capitän, seine Ankunft zu melden, oder zeigt
derselbe ein falsches Manifest vor, so unterliegt er einer Strafe bis
[394]Der Vertrag mit Siam. Anh. II.
zu vierhundert Tikals; es soll ihm jedoch gestattet sein, etwaige
Irrthümer in seinem Manifeste innerhalb vierundzwanzig Stunden
nach Ablieferung desselben an den Consularbeamten noch nach-
träglich zu berichtigen, ohne Strafe dafür gewärtigen zu müssen.


4.


Ein deutsches Schiff, welches zu löschen und auszuladen an-
fängt, ehe es dazu die Erlaubniss erhalten hat, oder welches schmug-
gelt, sei es im Flusse oder ausserhalb der Barre, hat eine Geldstrafe
bis zu achthundert Tikals und Confiscation des geschmuggelten oder
ausgeladenen Gutes zu gewärtigen.


5.


Sobald ein deutsches Schiff seine Ladung gelöscht und seine
neue Fracht wieder eingenommen, alle Abgaben bezahlt und ein rich-
tiges Manifest seiner Ausfuhrladung dem deutschen Consularbeamten
übergeben hat, soll dem Schiffer ein siamesischer Clarirungsschein er-
theilt werden, und der Consularbeamte wird dann, wenn nicht sonstige
gesetzliche Hindernisse der Abreise des Schiffes entgegenstehen, dem
Capitän die Schiffspapiere wieder zustellen und dem Schiffe die Ab-
fahrt gestatten. Ein Zollhausbeamter wird das Schiff nach Paknam
begleiten; dort wird es von den Zollhausbeamten dieser Station in-
spicirt werden und wird die bei der Ankunft zur Verwahrung [abge-
lieferten]
Kanonen und Munition zurückerhalten.


6.


Alle Zollhausbeamten sollen ein Abzeichen tragen, woran sie
als solche erkannt werden können, wenn sie in Ausübung ihres
Amtes begriffen sind, und es sollen immer nur zwei Zollhausbeamte
auf einmal an Bord eines deutschen Schiffes kommen dürfen, es
sei denn, dass eine grössere Zahl erforderlich wäre, um Schmug-
gelgut in Beschlag zu nehmen.


(L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg.
Khroma Luaṅ Woṅsa Dirai Snid.
Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samutra Phra Kalahum
.
Tšau Phya Rawe Moṅs Maha Kosadhiputi.
Tšau Phya Yommerat.
Phaya Muntri Phra Kalahum Fainie
.


[[395]]

ANHANG III.
DIE AUSWECHSELUNG DER RATIFICATIONS-
URKUNDEN IN SHANG-HAE.


[[396]][[397]]

Der königlich preussische General-Consul Herr von Rehfues,
welcher am 18. August 1862 in Shang-hae eintraf, ersuchte von
da aus den Prinzen von Kuṅ um Ernennung von Bevollmächtigten,
mit welchen die Auswechselung der Ratifications-Urkunden des
zwischen Preussen und China geschlossenen Vertrages vollzogen
werden könnte. Erst Anfang November erhielt Derselbe von den
Behörden in Shang-hae die Mittheilung, dass die betreffenden Be-
fehle aus Pe-kiṅ eingegangen seien. Der zum kaiserlichen Com-
missar ernannte General-Gouverneur Siuë beauftragte den Gross-
richter von Kiaṅ-su, Lëu, sich über die Formen der Auswechselung
mit Herrn von Rehfues zu verständigen. Die Chinesen sehen näm-
lich alle Consuln ohne Unterschied für Beamten zweiten Ranges
an und lassen selbst die diplomatische Eigenschaft der General-
Consuln nicht gelten. Auf diesen Grundsatz gestützt weigerte sich
Siuë als Mandarin des rothen Knopfes ohne Abzeichen, — also
ersten Ranges, — mit Herrn von Rehfues persönlich zu verhan-
deln. Der Grossrichter Lëu, vom blauen Knopfe, traf nach einigen
Schwierigkeiten wegen der Zahl der auszutauschenden ratificirten
Exemplare mit dem Legationssecretär Herrn von Radowitz die
nöthigen Verabredungen. Im Vertrage war einfach gesagt, dass
derselbe durch Seine Majestät den König von Preussen und durch
den Kaiser von China ratificirt werden solle. Herr von Rehfues
hatte dagegen den Auftrag, die von sämmtlichen contrahirenden
deutschen Staaten einzeln ratificirten 23 Exemplare wo möglich ge-
gen ebensoviele vom Kaiser von China ratificirte auszutauschen.
Da aber die chinesische Form der Ratification die Auswechselung
von Original-Exemplaren fordert, so war dieser Zwiespalt nicht
vollständig zu lösen.


Am 14. Januar 1863 wurde der feierliche Act im Yamum des
höchsten Gerichtshofes zu Shang-hae vollzogen. Von chinesischer
Seite war ausser dem Grossrichter und stellvertretenden Schatz-
meister Lëu der Tau-tae gegenwärtig. Der erste Dolmetscher des
kaiserlich französischen Consulates, Herr Lemaire, hatte die Güte,
[398]Die Ratification des Vertrages mit China. Anh. III.
Herrn von Rehfues mit seiner Sprachkenntniss zu unterstützen.
Nach genauer Prüfung der ausgetauschten Original-Exemplare wurde
ein Protocoll verlesen und unterzeichnet, welches erklärte, dass
durch die vollzogene Auswechselung der Vertrag für alle contra-
hirenden deutschen Staaten in Kraft trete. Zu Erwähnung der
anderen 22 Urkunden waren die chinesischen Commissare nicht zu
bewegen, da sie darüber keine Instruction aus Pe-kiṅ hatten. —
Das dem General-Consul übergebene deutsch-französisch-chinesische
Original-Exemplar war mit dem Waṅ-ti-tši-pau, dem fünften der
fünfundzwanzig kaiserlichen Reichssiegel versehen. Diese Form der
Ratificirung wurde auch von allen anderen Mächten als gültig acceptirt.


Am 29. April 1863 zeigte Lëu Herrn von Rehfues an, dass der
Vertrag gedruckt und in allen Theilen des Reiches publicirt worden sei.


Gegen die 22 Ratifications-Urkunden der anderen deutschen
Staaten wurden nachträglich auf Befehl des Prinzen von Kuṅ am
29. Juli 1863 eben so viele gedruckte chinesische Exemplare des
Vertrages ausgeliefert, welche auf der ersten Seite das Siegel des
Grossrichters Lëu trugen.


Der dem General-Consulat attachirte königlich preussische
Lieutenant Prinz Friedrich zu Sayn-Wittgenstein, welcher im Auf-
trage des Herrn von Rehfues nach Pe-kiṅ ging, um die Publi-
cation des Vertrages und den Austausch der 22 Genehmigungs-
Urkunden zu betreiben, wurde vom Prinzen von Kuṅ und dem Mi-
nister Wen-siaṅ sehr freundlich empfangen. Gleichsam entschul-
digend äusserten sich Dieselben über den die Ausübung des Ge-
sandtschaftsrechtes hinausschiebenden Separat-Artikel, der noch
unter dem Einfluss des hingerichteten Su-tšuen entstanden sei,
fügten aber hinzu, der Artikel stehe nun einmal im Vertrage, und
Preussen scheine die Einrichtung einer Gesandtschaft jetzt garnicht
zu wünschen, da nur ein General-Consul ernannt sei. Auf die Vor-
theile hingewiesen, welche der chinesischen Regierung aus der An-
wesenheit eines Vertreters der deutschen Staaten erwachsen
müssten, erhoben die Minister nur Schwierigkeiten untergeordneter
Art, die im Laufe der an diese Unterredung geknüpften Verhand-
lungen leicht beseitigt wurden. Die preussische Regierung kaufte
später in Pe-kiṅ ein Haus, in welches Herr von Rehfues als erster
deutscher Gesandter eingezogen ist.


[[399]]

ANHANG IV.
DAS ENDE DER TAE-PIṄ.


[[400]][[401]]

Der Yiṅ-waṅ, der, im Frühjahr 1861 mit den drei anderen
gegen Han-kau marschirenden Heerkörpern zusammenstossen sollte,
besetzte am 18. März Waṅ-tšau, blieb aber ohne Unterstützung
und konnte den Entsatz von Gan-kiṅ nicht bewirken. Er litt, da
die kaiserliche Flotte den Strom beherrschte, bald Mangel an Le-
bensmitteln, wurde dann geschlagen und bis Nan-kiṅ gedrängt.
Alle auf diesem Heerzuge genommenen Städte gingen den Tae-
piṅ
in wenig Wochen wieder verloren. — Die Besatzung von Gan-
kiṅ
hielt, in den letzten Wochen nur noch vom Fleisch der Ver-
hungerten lebend, den ganzen Sommer durch aus, ergab sich end-
lich am 5. September und wurde niedergemetzelt. An den im Fluss
geankerten englischen Schiffen trieben Tausende abgezehrter Leichen
vorüber.


Mit dem Fall von Gan-kiṅ war die Herrschaft der Tae-
piṅ
über den Yaṅ-tse und das Land westlich von Nan-kiṅ ge-
brochen. Der Ei-Waṅ Ši-ta-kae stand noch, auf eigene Hand
operirend, mit einem Heerhaufen in Se-tšuen, scheint aber keine
Verbindung mit Nan-kiṅ gesucht zu haben. Im ganzen Strom-
gebiet kehrten die vertriebenen Bewohner zum heimathlichen Herd
zurück; Handel und Gewerbe blühten wieder auf. Die Streifzüge der
Tae-piṅ erstreckten sich kaum zehn Meilen westlich von Nan-kiṅ.


Bei Shang-hae warb der Americaner Ward, dessen in einem
früheren Abschnitt gedacht wurde, im Frühjahr 1861 wieder Trup-
pen gegen die Tae-piṅ; damals waren die Fremden aber noch sehr
besorgt um Erhaltung der guten Beziehungen zu denselben. Ward
wurde auf Veranlassung des americanischen Consuls verhaftet und
entging der Bestrafung für ungesetzliche Betheiligung an kriege-
rischen Operationen nur dadurch, dass er seinem americanischen
Bürgerrecht entsagte und chinesische Nationalität in Anspruch
nahm. Er musste sich verbinden, einstweilen keine Europäer und
Americaner anzuwerben.


IV. 26
[402]Niṅ-po und Haṅ-tšau genommen. Anh. IV.

Auf Ersuchen des Admiral Sir James Hope lieferte der Tien-
waṅ
eine Anzahl desertirter englischer Seeleute aus, die bei den
Tae-piṅ dienten und zwar keinen Sold, aber sehr viel Branntwein
und die Befugniss erhielten, nach Herzenslust zu plündern. — Die
Fremden strebten und hofften noch immer, strenge Neutralität zu
bewahren.


Vor Haṅ-tšau, der Hauptstadt von Tše-kiaṅ, wurden die
Tae-piṅ im Sommer 1861 zurückgewiesen; sie nahmen aber das
nahgelegene wichtige Tša-pu und erschlugen dessen Tartaren-
Garnison. Im Laufe des Spätsommers besetzten der Tšun-waṅ
und der Ši-waṅ alle übrigen Städte dieses Gebietes und drangen
gegen Ende November östlich bis in die Nähe von Niṅ-po vor.


Eine Bedrohung dieses Hafens war in den Abmachungen
des Admiral Hope mit den Tae-piṅ nicht vorgesehen; die fremden
Consuln sandten deshalb auf gemeinsamen Beschluss eine Deputa-
tion an die beiden Führer der gegen Niṅ-po detachirten Horden.
Zum Rückzug liessen dieselben sich nicht bereden, versprachen
aber mündlich und schriftlich die Erfüllung aller von den Consuln
geäusserten Wünsche, Respectirung der Missionen und aller Besitz-
thümer der Fremden, Vermeidung unnützen Blutvergiessens und
strenge Mannszucht. Die Consuln mussten für strenge Neutralität
ihrer Landsleute bürgen, erwirkten aber für den Angriff einen Auf-
schub von acht Tagen.


Nach Ablauf dieser Frist besetzten die Insurgenten Niṅ-po
fast ohne Widerstand; die Garnison schien völlig gelähmt. Alle
bemittelten Einwohner waren geflohen. Den Fremden hielten die
Tae-piṅ-Führer ihr Versprechen: einige Krieger, die aus Wohnun-
gen der Missionare Kleinigkeiten stahlen, wurden schleunig ge-
köpft. Die Bevölkerung wurde durch Maueranschlag unter dem
Versprechen voller Sicherheit zur Rückkehr aufgefordert, der Han-
delsverkehr aber nur in den Vorstädten erlaubt, der Mauerumkreis
stark befestigt.


Der Tšun-waṅ hatte im Laufe des Spätsommers Haṅ-tšau
mehrmals vergebens berannt und endlich beschlossen, die volk-
reiche Stadt auszuhungern: am 29. December 1861 öffneten die Be-
wohner ihre Thore; gegen 500,000 Rebellen sollen sich in die Stadt
gestürzt, des Mordens kein Ende gefunden haben. Ein Theil der
Mandschu-Garnison sprengte sich in die Luft; die Stadtgräben füllten
Zehntausende von Leichen.


[403]Anh. IV. Lage von Shang-hae und Niṅ-po.

Nun widerstand in dem reichen Küstenlande südlich der
Yaṅ-tse-Mündungen einzig das Gebiet von Shang-hae den Waffen
der Tae-piṅ. Wie sehr sie danach gelüstete, bewiesen die Demon-
strationen im Frühjahr 1861. Ihre Lage war trotz den Eroberun-
gen im Süden misslich, denn sie konnten weder Nan-kiṅ entsetzen
noch ihre alten Stellungen im Yaṅ-tse-Thal wiedergewinnen.


Nahmen sie Shang-hae, so hörte dort alle Beaufsichtigung
der Fremden durch die Consular-Behörden auf; die Tae-piṅ konnten
Dampfer und Waffen kaufen, mit denen gewissenlose Speculanten
sie nur zu gern betrogen, und fremde Abenteurer in Menge an sich
ziehen, unter deren Leitung sie die Kaiserlichen geschlagen hätten.
Dass diese Shang-hae ohne Unterstützung der Fremden nicht
halten konnten, lag am Tage; seit dem Staatsstreich in Pe-kiṅ hatte
sich aber deren Stellung zur kaiserlichen Regierung wesentlich ge-
ändert; man hatte die beste Aussicht auf ihre dauernde Freund-
schaft und gewissenhafte Ausführung der Verträge, und Vertrauen
gewonnen zu ihrer Lebenskraft den Tae-piṅ gegenüber, an deren
Zukunft Niemand mehr glauben konnte. Das einzige Moment ge-
gen thätige Partheinahme für die kaiserliche Regierung war die
Betrachtung, dass die Rebellen viele Wege nach den Thee- und
den Seidenbezirken beherrschten und dem Handel von Shang-hae
starken Abbruch thun konnten. Dagegen stellte sich den fremden
Vertretern die wichtigere Frage, ob die Tae-piṅ, wenn Shang-hae
ihnen überlassen würde, nicht ihren überall bewiesenen gewalt-
thätigen Despotismus auch gegen die Fremden kehren und deren
gesetzlichen Handel unterdrücken würden.


Nun bot Niṅ-po ein warnendes Beispiel, wo nach dem Ein-
rücken der Rebellen ausser dem ungesetzlichen Verkauf von Waffen
aller Handel stillstand. Die Stadt blieb ein grosses Kriegslager;
und nachdem der Waffenvorrath erschöpft war, bauten die Tae-
piṅ
Festungswerke, welche die fremden Consulate und Wohngebäude
bedrohten. Die Consuln sahen dem eine Weile zu und gewannen
bald die Ueberzeugung, dass das Rebellenheer eine jeder Organi-
sation unfähige Räuberbande und die Gemeinde der Fremden in
ernster Gefahr sei.


Bald nach dem Fall von Haṅ-tšau sandte der Rebellen-
General Ho ein drohendes Schreiben an den Commandeur der bri-
tischen Truppen in Shang-hae. »Da wir nun,« heisst es darin, »mit
dem Süden fertig sind, so hat der Tšun-waṅ fünf Heere entsandt,
26*
[404]Shang-hae bedroht. Anh. IV.
um Shang-hae zu nehmen. — Shang-hae ist ein kleiner Ort, von
dem wir nichts zu fürchten haben; da wir nun die ganzen Bezirke
von Su-tšau und Tše-kiaṅ besitzen, so müssen wir Shang-hae
nehmen, unser Gebiet zu vervollständigen. Es ist so; es ist keine
Prahlerei. — Die Seeküste wird des Handels wegen von Fremden
besucht; und wenn Truppen gesandt werden, das Volk auszurotten,
so fürchten wir, dass die freundschaftlichen Beziehungen zwischen
uns leiden müssen. — Aus diesem Grunde senden wir euch diese
Warnung, euch nicht einzumischen an Orten, die den Kobolden ge-
hören; auf diese Art werden die fremden Kaufleute vor Schaden
gewahrt. Seid ihr aber närrisch und denket nur auf Gewinn, so
wird nicht nur Shang-hae, sondern die ganze Welt unter unsere
Botmässigkeit kommen. — Höret ihr dagegen nicht auf die Kobolde,
sondern zeiget Reue und unterwerfet euch, so werdet ihr nicht nur
Handel treiben können, sondern auch Thee und Seide in Menge
erhalten, und Alle werden davon Vortheil ernten. Das bedenket.«


Sir James Hope fuhr Ende December 1861 nochmals nach
Nan-kiṅ hinauf und warnte den Tien-waṅ vor Feindseligkeiten
gegen Shang-hae, erhielt jedoch die bündige Antwort, diese Stadt
solle genommen werden, sobald die gewährte Frist verstrichen sei.
— Am 11. Januar 1862 kam der Tšun-waṅ nach Su-tšau und
rückte bald darauf das Land verwüstend gegen Shang-hae. Tage
lang war der Horizont von Rauchwolken verdunkelt; viele Tausend
Flüchtlinge ergossen sich, bei strenger Winterkälte in das schlimmste
Elend gestürzt, über die Niederlassung der Fremden, die im Wett-
eifer mit reichen Chinesen die Noth zu mildern strebten. Die An-
siedler verbanden sich zu einem Freicorps. — Die Rebellen besetzten
jetzt südlich von Shang-hae die Halbinsel Pu-tuṅ, deren Bewohner
die Consuln um Schutz anflehten.


General Staveley, welcher nach der Heimkehr des General-
Lieutenant Sir John Mitchell das Obercommando über die eng-
lischen Truppen in China führte, hatte sich kurz vorher in Pe-kiṅ
mit dem Gesandten Herrn Bruce und dem Prinzen von Kuṅ über
die Lage verständigt: Shang-hae durfte nicht preisgegeben werden.
So gern die kaiserliche Regierung schon damals die Vertreter von
England und Frankreich zum Vertilgungskrieg gegen die Tae-piṅ
vermocht hätte, so konnten diese doch nur die Sicherheit ihrer
Schutzbefohlenen im Auge haben. Die Commandeure der englischen
und französischen Streitmacht beschlossen deshalb die Kaiser-
[405]Anh. IV. Organisation der Vertheidigung.
lichen so weit zu unterstützen, als die Säuberung der Umgegend
von Shang-hae im Radius von 30 englischen Meilen erforderte,
unter der von Herrn Bruce sanctionirten Bedingung, dass die von
den Alliirten genommenen Plätze von kaiserlichen Truppen besetzt
und gehalten würden. General Staveley und die Admiräle ver-
banden sich zu gemeinsamen Operationen mit dem Americaner
Ward, der unterdessen mit dem Gelde einheimischer Kaufleute über
1000 Chinesen geworben, europäisch uniformirt und eingeübt hatte.
In den nächsten Monaten verstärkte sich dieses Corps bedeutend.
Die Bewaffnung war gut; tausend alte preussische Percussions-
büchsen thaten die besten Dienste. Mit einer einzigen Ausnahme
waren alle Officiere Fremde; die höheren Chargen erhielten 70, die
Lieutenants 30 Pf. St. monatlich. Alle Unterofficiere und Gemeinen
waren Chinesen; letztere erhielten einen täglichen Sold von 1½ Shil-
ling und die Verpflegung im Felde. — Ward war ein entschlosse-
ner Mann von treibender Thatkraft, Zähigkeit und militärischer
Begabung, der sich in seiner kurzen Laufbahn allgemeine Achtung
erwarb.


Die ganze Streitmacht bestand aus Abtheilungen des 31., des
67. und des 99. königlich englischen Infanterie-Regimentes, dem
5. Bombay Native-Infantery-Regiment, einer englischen Batterie,
300 englischen und 800 französischen Seeleuten und Ward’s disci-
plinirten Chinesen. Das von tausend Rinnsalen durchschnittene
Terrain begünstigte die schnelle Beförderung dieser Truppen auf
kleinen Dampfern und Kanonenbooten. — Am 21. Februar 1862 be-
gannen die Operationen mit der Wegnahme von Ka-džau, dem
Hauptquartier der Insurgenten im Süden der Halbinsel Pu-tuṅ.
Darauf folgte in den nächsten Monaten eine Reihe von Berennun-
gen und Gefechten, bei denen die Alliirten mit Ward zwar im
Ganzen siegreich waren, aber doch auch häufig den Kürzeren zogen
und starke Verluste litten. Dank den Waffenspeculanten und Aben-
teurern in Shang-hae, welche in geheimer Verbindung mit den
Rebellen standen und ehrlos ihre Landsleute verriethen, waren die
Tae-piṅ jetzt gut mit Kriegsbedarf versehen: etwa ein Drittheil
führte ausländische Schusswaffen. Eine Anzahl fester Städte und
verschanzter Lager wurden genommen, aber keineswegs immer ge-
halten, obgleich die Vertheidigung den Kaiserlichen nicht über-
lassen blieb. Diese betheiligten sich an den Operationen; die Ein-
mischung des Fu-tae Siue scheint aber keinesweges günstig auf den
[406]Operationen bei Shang-hae Anh. IV.
Gang der Ereignisse gewirkt zu haben. — Bei Woṅ-ka-dza erhielt
Sir James Hope eine Kugel in den Schenkel; bei Erstürmung von
Na-dšau starb am 6. Mai Admiral Protet den Soldatentod. Am
15. und 16. Mai schlug der Tšun-waṅ mit grosser Uebermacht bei
Tai-tsan die Alliirten dermaassen, dass von 7000 Mann kaum 2000
zurückkehrten. Die Tae-piṅ streiften bis unter die Mauern von
Shang-hae. Der Tšun-waṅ schritt nun zur Belagerung der für
Shang-hae’s Sicherheit sehr wichtigen von Ward besetzten Städte
Siṅ-pu und Suṅ-kiaṅ. Siṅ-pu fiel, nachdem am 10. Juni Ward
mit Unterstützung der Engländer seine Truppen unter grossem Ver-
lust aus der Stadt gezogen hatte.76)


Nun war Shang-hae in grosser Gefahr und hätte nach dem
Zeugniss englischer Officiere gegen des Tšun-waṅ Uebermacht
kaum gehalten werden können: da wurde dieser plötzlich vom
Tien-waṅ abberufen. Der Yiṅ-waṅ hatte vergebens Nan-kiṅ zu
entsetzen gesucht und war dann durch Verrath gefallen. Der
kaiserliche Feldherr Tseṅ-kwo-tsun rückte mit 40,000 Mann vor
die Rebellenhauptstadt und setzte sich unter den Mauern fest. Nun
sollte der Tšun-waṅ helfen, der auf Befehl des Tien-waṅ mit seinen
besten Truppen schleunig nach Nan-kiṅ rückte, die Kaiserlichen verge-
bens aus ihren festen Stellungen zu werfen suchte und degradirt wurde.


Bei Shang-hae hielten englische Truppen nur Na-džau,
Ward’s Chinesen Suṅ-kiaṅ den Sommer über besetzt. Ward brachte
sein Corps allmälig auf 5000 Mann und verstärkte seine Artillerie.
Im August erstürmte er abermals Siṅ-pu. Bald darauf zogen neue
Horden das Landvolk vor sich hertreibend von Su-tšau herauf;
Shang-hae füllte sich wieder mit Flüchtigen. Die Alliirten umgaben
die Stadt mit Verschanzungen und organisirten aus den Ansiedlern
ein berittenes Freicorps, das vielfach gegen die Tae-piṅ plänkelte.
Zu ernsten Gefechten kam es den ganzen Sommer nicht. — Ward
ging bald nach Erstürmung von Siṅ-pu in das Gebiet von Niṅ-po,
wo sich seit dem Frühjahr viel ereignet hatte.


[407]Anh. IV. Capitän Roderick Dew vor Niṅ-po.

Die Tae-piṅ hatten in Niṅ-po nur, wie gesagt, so lange ein
gutes Gesicht gezeigt, als noch Waffen zu verkaufen waren. Nach-
her merkte man deutlich, wie gern sie die fremde Ansiedlung ge-
plündert, die gezahlten Silbermassen wieder fortgeschleppt hätten.
Von den Wällen aus machten sie oft die den Fremden dienenden
Chinesen und selbst das auf Pistolenschussweite vor dem englischen
Consulat geankerte Kriegsschiff Ringdove zum Ziele ihrer Schiess-
übungen und liessen alle Beschwerden darüber unbeachtet. Darauf
sandte Admiral Hope Capitän Roderick Dew auf der Corvette En-
counter nach Niṅ-po, mit der Weisung, den Ausschreitungen der
Tae-piṅ ein Ende zu machen. Am 24. April 1862 ankerte der
Encounter vor der Stadt.


Capitän Dew’s Warnungen blieben unbeachtet; die Spannung
steigerte sich. Anfang Mai erschien in der Flussmündung ein
kaiserliches Geschwader, dessen Führer die Commandeure der eng-
lischen und französischen Kriegsschiffe ersuchte, mit ihm gemeinsam
die Stadt anzugreifen. Capitän Dew wies dieses Ansinnen zurück,
erklärte, dass, wenn Schüsse der Kaiserlichen oder der Rebellen
die fremde Ansiedlung träfen, das Feuer erwiedert werden solle,
und ersuchte den die Dschunkenflotte commandirenden früheren Tau-
tae
von Niṅ-po, Tšaṅ, seinen Angriff 48 Stunden zu verschieben,
damit vorher mit den Tae-piṅ unterhandelt werden könne. — Eine
neue mächtige Granit-Batterie derselben bestrich mit ihren 68pfün-
dern den Fluss und das Fremdenquartier; diesem gegenüber waren
auch in den Scharten der Stadtmauer viele Geschütze mit losen
Steinen maskirt. Capitän Dew verlangte die Entfernung aller jener
Geschütze von der Stadtmauer und der Batterie und verbürgte sich
dafür, dass dann kein Angriff von der Flussseite erfolgen solle. —
Da keine Antwort kam, so drohte Capitän Dew am 8. Mai zugleich
im Namen der französischen Flottenofficiere, die Stadt zu bombar-
diren, wenn die Fremden durch Schüsse der Tae-piṅ gefährdet
würden. — Der Encounter mit 14, Ringdore mit 4 Geschützen und
zwei Kanonenboote bildeten das englische Geschwader; das fran-
zösiche Kriegsschiff Étoile hatte 1, der Confucius 3 Kanonen.


Am Morgen des 10. Mai kam die Dschunkenflotte den Fluss
herauf: die Granit-Batterie gab Feuer; zugleich wurde eine Ge-
wehrsalve auf den Encounter abgeschossen. Darauf bombardirten
die englischen und französischen Schiffe die Werke am Ufer. Beim
ersten Schuss der Batterie hatten die Kaiserlichen — noch ausser
[408]Niṅ-po genommen. Anh. IV.
Schussweite — Anker geworfen, und schauten dem Geschützkampfe
zu. Als darauf Ebbe eintrat, sandte Capitän Dew ein Kanonenboot
hinab, sie heraufzuschleppen; Tšaṅ betheuerte aber kein Pulver zu
haben und blieb standhaft auf seinem Ankerplatz. — Capitän Dew
hatte gegen die 20,000 bis 30,000 Tae-piṅ über kaum 300 Mann
zu verfügen, beschloss aber, in chinesischer Kriegführung erfahren,
die Stadt zu stürmen. Der erste Anlauf scheiterte; die Besatzung
der Mauer warf Stinkkugeln, Feuertöpfe und Steine, und stiess mit
langen Spiessen die Sturmleitern um. Am zweiten Versuch be-
theiligten sich 20 französische Seeleute unter Lieutenant de
vaisseau Kenney, der, der erste auf der Mauer, durch die Lunge
geschossen wurde. Der vorderste Engländer fiel gleichfalls, durch
den Kopf geschossen. Capitän Dew fasste zuerst festen Fuss:
wenige Minuten darauf säuberte eine oben aufgepflanzte Haubitze
die nächsten Strassen. Einen weiteren Kampf auf der Stadtmauer
hemmte eine Granate des Encounter, welche die Esplanade vor
dem anstürmenden Feinde verschüttete. — Unterdessen hatte eine
andere Abtheilung englischer und französischer Seeleute das Nord-
thor genommen, ein Kanonenboot die Schiffbrücke gesprengt, welche
das Vordringen der Kriegsschiffe hemmte. Nun landete auch Tšaṅ.
Wie gierige Wölfe stürzten seine Leute durch das Nordthor in die
Stadt, während die Tae-piṅ durch das Westthor flohen; Hunderte
der letzteren wurden erdrückt oder von den Spiessen ihrer Came-
raden durchrannt. Erst bei Yu-yao, sechs Meilen von Niṅ-po,
machten die Flüchtigen Halt.


Die englischen und französischen Officiere zogen ihre Leute
aus der Stadt zurück; Capitän Dew übernahm jedoch auf dringen-
des Bitten des Tau-tae Tšaṅ den Befehl über die Garnison, die
durch 400 Mann von Ward’s Corps verstärkt wurde. Auf eine in
der Umgegend verbreitete Proclamation, in welcher die Alliirten die
Stadt zu schützen versprachen, kehrten die Bewohner zu Zehn-
tausenden heim, und der Handel blühte auf.77) Eine Bande frem-
[409]Anh. IV. Operationen bei Niṅ-po.
der Spitzbuben liess Capitän Dew aufheben und den Consuln in
Shang-hae ausliefern. Dem Schleichhandel mit Waffen setzte der-
selbe in Niṅ-po energisch ein Ziel und organisirte ein anglo-chine-
sisches Corps von 1000 Mann nach dem Muster des Ward’schen,
welches durch Unterofficiere von den Kriegsschiffen eingeübt wurde.
Ein franco-chinesisches erhielt seine Instructeure aus Shang-hae.
Auch für Artillerie wurde gesorgt; in Kurzem befand sich Niṅ-po
im besten Zustande der Abwehr. Die Kanonenboote fuhren häufig
die beiden Flussarme hinauf und hatten Gefechte mit den Tae-piṅ,
die von Yu-yao aus einen Angriff zu rüsten schienen. Sie begin-
gen furchtbare Gräuel gegen das Landvolk, schleppten junge
Burschen und Mädchen fort und pflegten älteren Personen, die sich
nicht auslösen konnten, die Ohren abzuschneiden. — Capitän Dew
erhielt die Weisung, die Umgegend von Niṅ-po im Dreissigmeilen-
radius von Rebellen zu säubern.


Der Krieg dauerte den ganzen Herbst und Winter hindurch.
Noch im August nahm Capitän DewYu-yao und jagte den Feind
landeinwärts. Im September rückten die Tae-piṅ in zwei starken
Colonnen gegen Niṅ-po, nahmen zunächst die Stadt Tse-ki, und
überschwemmten plündernd die Ebene; es war besonders auf die
Reis-Ernte gemünzt. Am 18. September kam Ward nach Niṅ-po,
rückte am 20. unterstützt von Capitän Dew gegen Tse-ki aus und
nahm die Stadt am folgenden Tage, fiel aber, tödtlich getroffen.78)
— Die zweite Tae-piṅ-Colonne hatte die Stadt Fuṅ-wa südlich
von Niṅ-po genommen und wurde nach hartnäckigem Kampfe erst
am 10. October von da vertrieben.


Es wurde nothwendig, die von europäischen Officieren com-
mandirten Chinesen-Corps zu verstärken; die Ortsbehörden steuerten
die Geldmittel. Die überall in Masse erbeutete Munition erleichterte
die wirksame Fortsetzung des Krieges. Der französische Flotten-
Lieutenant Le Brethon de Coligny übernahm das Commando des
franco-chinesischen Corps. Capitän Dew und die in Niṅ-po com-
77)
[410]Tše-kiaṅ von Rebellen gesäubert. Anh. IV.
mandirenden französischen Officiere mussten aus strategischen Grün-
den ihre Operationen weiter ausdehnen, als ihnen befohlen war.
Lieutenant Le Brethon rückte Anfang November gegen Šung-yu,
das die Rebellen räumten, und unternahm gemeinschaftlich mit Dew
Ende December eine Recognoscirung gegen die grosse Stadt Šau-
šiṅ
, die als Schlüssel der Provinz Tše-kiaṅ gilt. Von zahlreichen
Horden angegriffen, schlugen und zerstreuten sie dieselben; die
fliehenden Tae-piṅ, welche viele eben angezündete Dörfer und ge-
schwollene Flüsse zu passiren hatten, fielen meist unter dem Messer
des wüthenden Landvolks oder ertranken.


Ende Januar 1863 rückte Le Brethon mit 1200 Mann Franco-
Chinesen und geringer Artillerie vor Šau-šiṅ, in der Hoffnung, die
Stadt durch Handstreich zu nehmen. Mit Verlust zurückgewiesen
begann er die Belagerung. Ein platzendes Geschütz riss ihn in
Stücke. Sein Nachfolger im Commando zog die Truppen nach
Šuṅ-yu zurück. Dew sandte Unterstützung und liess schweres Ge-
schütz aus Shang-hae kommen. Die Tae-piṅ hatten 40,000 Mann
und reichlichen Schiessbedarf in Šau-šiṅ; die von Dew geleitete
Belagerung kostete schwere Opfer an englischen und französischen
Officieren. Am 18. März 1863 räumten die Insurgenten die Stadt
und zogen sich auf Haṅ-tšau zurück. Damit war der grösste
Theil der Provinz Tše-kiaṅ von den Rebellen gesäubert, das An-
sehn der kaiserlichen Regierung hergestellt, der fruchtbarste Land-
strich des Reiches von einer schweren Geissel befreit. — Die ein-
gehende Beschreibung dieses und der nächsten abenteuerlichen
Feldzüge, welche sich dem Rahmen dieser Darstellung entzieht,
möchte selbst in ungeschminkter Behandlung einen spannenden Ro-
man bilden.


Ward’s »Siegreiche Heerschaar«79) war für Shang-hae unent-
behrlich. Nach seinem Tode ersuchten die Mandarinen den Zweit-
commandirenden »Colonel« Forrester vergebens, den Oberbefehl zu
übernehmen. Der dritte im Commando war ein junger Americaner
Burgevine, gleich Ward ein Seefahrer, der sich in allen Welttheilen
herumgetrieben, aber ein selbstsüchtiger Phantast ohne ernste Ge-
sinnung; seit seiner Kindheit nährte er den Traum von einem grossen
[411]Anh. IV. Burgevine und die Siegreiche Heerschaar.
Reich im Osten, zu dessen Gründung er berufen sei. Auch Ward
soll im Stillen gehofft haben, auf den Trümmern der Mandschu-
und der Tae-piṅ-Herrschaft für sich selbst einen Thron zu grün-
den; er wusste aber das Vertrauen der Mandarinen zu gewinnen
und erwarb sich durch seine Leistungen die allgemeine Achtung.
Burgevine übertrug der neue Gouverneur Li-huṅ-tšaṅ, Siue’s Nach-
folger, das Commando mit Widerwillen, — er hatte keine Wahl;
— das prahlerische Wesen des aufgeblasenen Phantasten ekelte die
nüchternen Chinesen. Die Ueberhebung und Zügellosigkeit des
Führers theilte sich seinen Leuten mit, die mit Verachtung auf die
kaiserlichen Soldaten herabsahen und jetzt auf den Feldzügen ruch-
los das Landvolk plünderten. Die chinesischen Handelsherren hatten
kein Vertrauen zu seinen Fähigkeiten und sträubten sich die enor-
men Summen zu zahlen, welche die Siegreiche Heerschaar unter
Burgevine verschlang.80)


Im November 1862 rückten die Tae-piṅ von Su-tšau wieder
in zahlreichen Horden gegen Shang-hae, wurden jedoch von Li
und Burgevine geschlagen. Jeder der Führer wollte allein der Sie-
ger sein, und die Spannung steigerte sich. Li verdross Burgevine’s
Einmischung in die eigensten Angelegenheiten der chinesischen Re-
gierung; er bat General Staveley Anfang December, denselben vom
Commando zu entfernen. Die Siegreiche Heerschaar und ihre Führer
standen jedoch, obgleich nur in contractlichem Verhältniss,
im Dienst der chinesischen Regierung; General Staveley musste
deshalb seine Einmischung versagen, hielt aber selbst für wünschens-
werth, dass die Siegreiche Schaar fester organisirt und von eng-
lischen Linienofficieren commandirt würde, und berichtete schon
damals in diesem Sinne an die heimathliche Regierung. Die meisten
Officiere im Wardschen Corps waren verwegene Abenteurer ohne
Gesinnung, die dem persönlichen Vortheil jede Rücksicht opferten
und eben so willig gegen als für die chinesische Regierung kämpften.


Burgevine blieb den December über noch im Commando.
Als der Fu-tae Li ihm darauf Befehl ertheilte, mit 6000 Mann gegen
Nan-kiṅ zu marschiren, versagte das Corps den Gehorsam, bis der
seit zwei Monaten rückständige Sold gezahlt wäre. Burgevine begab
sich mit seinen Leibtrabanten zu dem chinesischen Kaufmann Ta-ki,
welcher die Zahlungen zu vermitteln hatte, schlug ihn bei der
[412]Brevet-Major Gordon. Anh. IV.
Unterredung ins Gesicht und schleppte mit Gewalt eine grosse
Summe fort, die grade in Ta-ki’s Hause bereit lag. Der Fu-tae
wünschte Burgevine mit Hülfe englischer Truppen verhaften zu
lassen; General Staveley theilte demselben einfach mit, dass er
entlassen sei, worauf er das Commando niederlegte. Einer Meuterei
der Siegreichen beugte der Fu-tae durch schleunige Auszahlung
des rückständigen Soldes vor.


Da »Colonel« Forrester den Oberfehl beharrlich ausschlug,
so erlaubte General Staveley dem Capitän Holland von den Royal
marines, das Commando provisorisch zu übernehmen. Im Februar
1863 berannte derselbe die Städte Tae-tsau und Fu-šan, wurde
aber an beiden Orten mit Verlust zurückgewiesen.


Unterdessen war General Staveley ermächtigt worden, eng-
lische Linienofficiere zur Dienstleistung bei der chinesischen Armee
zu beurlauben; er bot darauf das Commando der Siegreichen dem
Brevet-Major Gordon an, der in der Krim mit Auszeichnung diente,
vor Sebastopol verwundet wurde, bei der Grenzregulirung zwischen
Russland und der Türkei mitwirkte, dann den Krieg in China durch-
machte und nachher von Pe-kiṅ aus die westlichen Provinzen
China’s bereiste. Es war eine glückliche Wahl: Gordon kannte die
Chinesen und wusste sie zu behandeln; er scheint eine glänzende
militärische Begabung mit grossem Lebensernst und vorzüglichen
Eigenschaften des Charakters verbunden zu haben, und war durch
seine genaue Kenntniss des Gebietes von Shang-hae, dessen topo-
graphische Aufnahme er eben beendete, ganz besonders für das
Commando befähigt. Ihn selbst trieb vorzüglich die Hoffnung,
durch festere Organisirung des Wardschen Corps den Kern einer
künftigen chinesischen Streitmacht zu bilden, welche ihren Aufgaben
besser gewachsen wäre, als das damalige kaiserliche Kuli-Heer.


Die Gemeinen und Unterofficiere der Siegreichen Heerschaar
stammten damals meist aus den Provinzen Kiaṅ-su und Tše-kiaṅ,
deren Bewohner schlechtere Soldaten sind als die Kantonesen und
die Nord-Chinesen. Später recrutirte sich das Corps meist aus
übergetretenen Tae-piṅ, die im Rebellenheer nur schwere Arbeit
und keinen Sold gehabt hatten, ihre Lage unter Gordon paradiesisch
fanden und niemals Umstände machten, gegen ihre alten Kameraden
zu kämpfen. — Die grösste Schwierigkeit bestand in Behandlung
der Officiere, die aus allen Lebenskreisen zusammengewürfelt, gröss-
tentheils aber Seefahrer und alte englische Soldaten waren, die sich
[413]Anh. IV. Organisation der Siegreichen Heerschaar.
losgekauft hatten. Fast alle sollen fündig, tapfer, im Feuer zuver-
lässig und kaltblütig, aber eifersüchtig, unlenksam und händelsüchtig
in der Garnison gewesen sein. Gewöhnlich lebte die eine Hälfte
des Officiercorps in der heftigsten Spannung mit der anderen, und
der Reibungen war kein Ende. — Die Stärke des Corps wechselte
zwischen 3000 und 5000 Mann, die in fünf bis sechs Regimenter
vertheilt waren. Die Artillerie bestand in vier Belagerungs- und
zwei Feldbatterieen. Vier kleine eiserne Raddampfer, — etwa 90
Fuss lang und 24 breit, 3 bis 4 Fuss tief gehend, mit je einem
32pfündigen Pivot-Geschütz vorn und einer 12pfündigen Haubitze
am Heck, leisteten die besten Dienste; ihre starken 6 Fuss hohen
Brustwehren waren mit Schiessscharten versehen, der Kessel und
Maschinenraum durch starke Bohlenlagen gesichert. Ausserdem
verfügte Gordon über 50 flachgehende chinesische Kanonenboote,
die überall unter den Ufern hinschleichen und die Rebellen-
lager, die Vorposten niemals ausstellten und vom Landvolk
verrathen wurden, überraschen konnten. — Auf weite Strecken
wurden alle Geschütze zu Wasser befördert; zum Transport
über die Felder führte jede Batterie eine Anzahl Bohlen mit,
denn die dazwischen hinlaufenden Pfade sind zu schmal für eine
Geschützspur.


Die Besoldungsverhältnisse in der Siegreichen Schaar blieben
unter Gordon die früheren. Die Ausbildung der Mannschaft geschah
nach englischem Muster; alle Commandos wurden englisch gegeben.
Kriegsartikel hatte und brauchte man nicht; die Führung der Mann-
schaft war im Ganzen vortrefflich; nur liess sich nach Erstürmung
einer Stadt die Beutelust schwer zügeln. Als Strafwerkzeug diente
der Bambus, kam aber selten in Anwendung. Für die Officiere gab
es keine andere Strafe als Entlassung; denn ihr Verhältniss zur
Regierung war rein contractlich. Die ganze Autorität lag in den
Händen des Commandirenden.


Li’s Streitmacht, welche mit Gordon operirte, bestand im
Gegensatz zu anderen chinesischen Heeren aus starken, gut geklei-
deten und disciplinirten Soldaten; nur die Bewaffnung war schlecht.
Die Subaltern-Officiere standen an Bildung kaum über den Gemeinen.
Ein Mandarin des blauen Knopfes befehligte gewöhnlich ein Lager
von 500 Mann. — Die chinesischen Krieger verstanden sich vor-
züglich auf Schanzarbeit und bivouakirten kaum eine Nacht ohne
Erdwälle um sich aufzuwerfen; ihre Schildwachen pflegten die ganze
[414]Kin-san genommen. Anh. IV.
Nacht durch zu lärmen; auf das Schlafen eines Postens stand im
kaiserlichen Heere der Tod.


Major Gordon übernahm den Befehl am 24. März 1863 mit
einem Stabe von fünf englischen Linienofficieren; ein einflussreicher
Mandarin wurde ihm für die Beziehungen zu den chinesischen Be-
hörden beigeordnet, Li A-doṅ, der durch seine Landeskenntniss
und durch Einziehung von Kundschaft Gordon sehr nützlich wurde.
Das erste Unternehmen galt der Piratenstadt Fu-šan am Yaṅ-tse,
von wo Major Gordon zunächst gegen Tae-tsan marschirte. Die
dortigen Rebellenführer hatten dem Fu-tae Li vorgespiegelt, dass
sie übergehen wollten. Kaiserliche Truppen rückten durch das
geöffnete Thor ein; plötzlich wurden die Flügel zugeschlagen, und
1500 Mann sassen mit der ganzen Ausrüstung in der Falle; 300
wurden sofort geköpft. — Die Garnison war 10,000 Mann stark;
viele Geschütze wurden von Americanern und Franzosen bedient.
Gordon’s Truppen, — 2800 Mann, — fanden kräftigen Widerstand.
Als sie endlich die Mauer erstiegen, flohen die Tae-piṅ nach allen
Richtungen und fielen in die Hände des rachedürstenden Landvolks;
die bei der Vertheidigung thätigen Americaner, Franzosen und
desertirten Sepoys wurden ohne Gnade niedergestossen. — Am
30. Mai nahm die »Siegreiche« die wichtige Stadt Kin-san und
gewann damit eine sichere Operationsbasis gegen Su-tšau. Dort
richtete Major Gordon sein Hauptquartier ein.


Gordon machten damals schon die Behandlung seiner Officiere
und die Eifersucht der kaiserlichen Feldhauptleute, die mit ihm
operirten, das Leben schwer. Die meisten Officiere verlangten nach
dem lustigen Leben unter Burgevine, der sie nur an seine Person
zu fesseln suchte und für ihren materiellen Vortheil sorgte. Nach
seiner Entlassung im Februar 1863 ging derselbe nach Pe-kiṅ und
wusste den englischen und den americanischen Gesandten zu gewin-
nen: Sir Frederick Bruce schrieb dem Prinzen von Kuṅ, er habe
von Burgevine’s Fähigkeiten eine hohe Meinung; Herr Burlingame
redete gar von hundert Schlachten, in welchen er für China ge-
kämpft habe, — die sich in Wahrheit auf fünf Gefechte reducirten.
Der Prinz von Kuṅ legte Burgevine’s Restitution in die Hände des
Fu-tae Li und gab ihm einen kaiserlichen Commissar mit nach
Shang-hae; Li hatte aber in Gordon grosses Vertrauen und weigerte
sich, Burgevine das Commando der Siegreichen Herrschaar wieder-
zugeben. Dabei blieb es.


[415]Anh. IV. Operationen bei Su-tšau.

Nun trat Burgevine in geheime Verbindung mit den Tae-
piṅ
in Su-tšau und warb eine Menge fremder Abenteurer an, mit
welchen er zu ihnen stossen wollte. Die chinesischen Behörden in
Shang-hae wurden argwöhnisch. Burgevine aber schrieb an Gor-
don
in Kin-san, mit welchem er auf gutem Fusse stand, am 21. Juli
1863 folgende Zeilen:


»Sie mögen viele Gerüchte über mich hören, aber glauben Sie
nicht daran. Ich werde hinaufkommen und ein langes Gespräch mit
Ihnen haben. Bis dahin Adieu!«


Daraufhin verbürgte Gordon sich schriftlich beim Fu-tae,
dass Burgevine nichts zum Vortheil der Rebellen unternehmen
werde.


Unter Gordon’s Officieren verursachten die Gerüchte über
Burgevine grosse Erregung; die goldenen Zeiten seines Commandos,
da sie ein ungebundenes Leben geführt und nach Herzenslust ge-
plündert hatten, waren noch in frischem Andenken. Die nächsten
Bewegungen der »Siegreichen« sollten Su-tšau gelten, welches
Gordon zunächst von der Verbindung mit Haṅ-tšau und den an-
deren Tae-piṅ-Stellungen im Süden abzuschneiden wünschte; zu
dem Zweck musste die Stadt Wo-koṅ angegriffen werden. Am
26. Juli sollten die Truppen aus Kin-san ausrücken; die Artillerie-
officiere widersetzten sich aber, weil Major Gordon ihnen einen
englischen Linienofficier zum Commandeur gegeben hatte. Zum
Glück waren die Geschütze schon eingeschifft; die Mannschaft be-
wog Gordon’s persönlicher Einfluss zum Ausrücken; am Abend
baten ihn auch die Officiere brieflich um Verzeihung und wurden
wieder angenommen, da nicht gleich Ersatz zu finden war.


Gordon’s Streitmacht bestand aus 2200 Mann — Infanterie
und Artillerie — und den armirten Dampfern Firefly und Cricket.
Letztere nahmen am 27. Juli die Stadt Ka-pu am Grossen Canal,
welcher dort in Verbindung steht mit dem westlich von Su-tšau
gelegenen Tai-ho-See. Am 28. Juli nahm Gordon mehrere Aussen-
werke von Wo-koṅ, deren 4000 Mann starke Garnison nach ver-
geblichen Versuchen sich durchzuschlagen die Waffen streckte.
Gleich darauf erschien der kaiserliche Feldhauptmann Tšiṅ, dessen
Uebergriffe Gordon eben noch derb zurückgewiesen hatte, und
wünschte die Gefangenen zu haben; Gordon überliess ihm 1500
Mann, die bei den Kaiserlichen Dienste nehmen wollten, unter der
Bedingung, dass sie gut behandelt würden, hörte aber gleich
[416]Shang-hae in Gefahr. Anh. IV.
darauf, dass Tšiṅ mehrere habe köpfen lassen. Dieser Wortbruch
und die Weigerung des Fu-tae, gewisse nothwendige Ausgaben für
sein Corps zu bestreiten, bewogen Gordon zu dem Entschluss, sein
Commando niederzulegen.


Am Abend des 8. August gelangte er zu Pferde nach Shang-
hae
, erfuhr dort sogleich, dass Burgevine mit seiner Schaar frem-
der Abenteurer nach Su-tšau aufgebrochen sei, um zu den Tae-
piṅ
zu stossen, änderte sofort seinen Entschluss und ritt noch in
derselben Nacht die weite Strecke nach Kin-san zurück. Er hielt
sich durch die geleistete Bürgschaft verbunden und wollte nicht
die Mandarinen in so kritischem Moment im Stiche lassen, noch die
Fremden in Shang-hae einer so grossen Gefahr aussetzen, als
durch Burgevine’s Einfluss auf die »Siegreichen« entstehen konnte.
Ein unter den Eindrücken des Augenblickes geschriebener Brief
des Colonel Hough an General-Major Brown, der seit General Sta-
veley’s
Abreise die englischen Truppen in China commandirte, zeich-
net die Lage sehr treffend.


»Burgevine ist mit der hier gesammelten Schaar Europäer zu
den Rebellen übergegangen; die Zahl wird durch verschieden lautende
Berichte auf 100 bis 1000 angegeben; aber 300 wird der Wahrheit
näher kommen. Nach den durch Capitän Strode eingezogenen Nach-
richten lauten Burgevine’s Verträge mit den Europäern auf einen Mo-
nat Dienst gegen baare Erlegung des Soldes; Andere berichten auf
unbeschränkte Freiheit jede Stadt zu plündern, die sie nehmen, selbst
Shang-hae. Letzteres wäre eine leere Drohung, selbst bei der jetzigen
Schwäche der Garnison, wenn nicht Major Gordon’s Truppen in so
beunruhigender Verfassung wären: sie sollen alle die verrätherische
Neigung haben, auf Burgevine’s Seite zu treten. Major Gordon’s beste
Officiere bei den Landtruppen und die Commandanten der Dampfer
werden offen als Verräther bezeichnet. Ist das richtig, so wäre damit
unser Belagerungstrain, der jetzt bei Major Gordon ist, in die Hände
der Rebellen gegeben, und wir hätten, wie Capitän Murray mir meldet,
demselben kein Geschütz von gleicher Stärke entgegenzustellen. Der
Fu-tae sagte gestern Abend Herrn Markman, dass Burgevine mit 65
Europäern sich unter den Mauern von Suṅ-kiaṅ des kleinen Dampfers
Kitow bemächtigt und denselben nach Su-tšau gebracht hätte, wofür
er zum Waṅ zweiter Classe und Obercommandeur aller Rebellentrup-
pen ernannt worden sei. Auch sagte der Fu-tae, dass ihm berichtet
sei, Kin-san, Major Gordon’s Hauptquartier, habe von der Garnison
den Rebellen übergeben werden müssen. Wäre das wahr, so müsste

[417]Anh. IV. Pa-ta-kiao genommen.
man auf das Schlimmste gefasst sein: Major Gordon gefangen, der Be-
lagerungstrain verloren, und das schleunige Erscheinen der Rebellen
vor diesem Ort; denn es ist müssig zu glauben, dass sie den Dreissig-
meilen-Radius respectiren würden, wenn sie ausserhalb desselben keine
Stadt hätten, reich genug, um ihre Pöbelhorden zu ernähren, welche
übertriebene Gerüchte auf 800,000 Mann schätzen, von denen 20,000
durch Franzosen und andere seit lange in Su-tšau ansässige Euro-
päer disciplinirt wären. Bei der jetzigen unvollkommenen Kenntniss
des Standes der Dinge würden wir, wenn wir ausrückten, vielleicht
Shang-hae den Rebellen überlassen, die sich ihren Weg wählen
könnten, und deren Vormarsch man immer nur durch die Flucht des
Landvolkes vor ihnen her und durch den Rauch der brennenden Städte
erfahren würde.«


Gordon war nicht gefangen, aber Burgevine führte 150 Aben-
teurer nach Su-tšau, — ein verzweifeltes Beginnen, da man die
schlechte Behandlung kannte, die alle Fremden bei den Tae-piṅ
erfuhren. Burgevine rechnete sicher auf den Uebertritt der »Sieg-
reichen«, mit denen er eine Streitmacht disciplinirter Chinesen unter
fremden Officieren organisiren, den Tae-piṅ wie den Kaiserlichen
die Spitze bieten und nach Pe-kiṅ marschiren wollte. — Uebrigens
erzählten seine Freunde, dass er sich dem Trunk ergeben und sein
Gehirn zerrüttet habe; anders lassen sich seine ferneren Handlungen
in der That kaum erklären.


Gordon fand in Kin-san Alles beim Alten, gewahrte aber
in den nächsten Tagen, dass Burgevine mit seinen Leuten in Ver-
bindung stehe, fürchtete Verrath und sandte das Belagerungs-
geschütz nach Shang-hae. In der ersten Hälfte des August führten
die den Tae-piṅ dienenden Fremden mit etwa 40,000 Mann mehrere
Stösse auf Ka-pu, die vorgerückteste Stellung gegen Su-tšau aus,
wurden aber von den Kaiserlichen unter General Tšiṅ zurück-
gewiesen.


Zu Gordon stiessen um diese Zeit ein franco-chinesisches
Corps und 200 Belooches von der ostindischen Armee, welche Ge-
neral Brown zur Bedeckung des den Engländern gehörenden Ar-
tillerieparks nach Kin-san schickte. Er blieb noch mehrere
Wochen in der Defensive, und nahm dann am 29. September 1863
das dicht bei Su-tšau am Ufer eines aus dem grossen Canal in
den Tai-ho-See fliessenden Wassers gelegene Pa-ta-kiao. Das
andere Ufer hielt der Feind besetzt. Auf einer Brücke, die zu
IV. 27
[418]Burgevine. Anh. IV.
neutralem Boden erklärt wurde, hatten nun Gordon’s Officiere
häufig Unterredungen mit den bei den Tae-piṅ dienenden Fremden,
die grossentheils ihre Freunde und früheren Kameraden, und von
ihrer dermaligen Lage keineswegs entzückt waren. Gordon selbst
trat gleich nach Einnahme von Pa-ta-kiao mit ihnen in Verbin-
dung und hatte Besprechungen mit Burgevine, welcher sich bereit
erklärte, gegen sicheres Geleit mit allen seinen Anhängern überzu-
treten; ein anderes Mal schlug derselbe Gordon vor, mit ihm zu-
sammen ein Corps von 20,000 Mann zu organisiren, sich von beiden
Partheien loszusagen und nach Pe-kiṅ zu marschiren; Su-tšau allein
berge Silber genug zu Ausführung dieses Planes. — Gordon über-
nahm die Bürgschaft für die Sicherheit von Burgevine’s Leuten und
bot so Vielen Dienste in seinem Corps, als er anstellen konnte,
war aber keineswegs sicher, dass das Ganze nicht eine Kriegslist
sei, um ihn selbst aufzuheben,81) und handelte vorsichtig.


Mitte October meldeten Burgevine und die Seinen Major
Gordon, dass sie einen Scheinausfall machen und in seinen Schutz
flüchten wollten. Der armirte Dampfer Hyson wurde an das feind-
liche Ufer gelegt; die fremden Abenteurer schienen ihn zu über-
fallen und wurden aufgenommen, die zu ihrem Beistand folgenden
Tae-piṅ mit Kartätschen zurückgewiesen, während der Hyson
abstiess und die Ueberläufer nach Gordon’s Lager brachte. Es
fand sich aber, dass Burgevine und einige Europäer nicht darunter
waren: man hatte sie aus Argwohn zurückbehalten. Major Gordon
sandte, um ihr Leben besorgt, dem in Su-tšau commandirenden
Mo-waṅ ein Geschenk nebst den sämmtlichen Enfield-Büchsen der
Ueberläufer, wogegen Jene wirklich ausgeliefert wurden. — So
blieben die Tae-piṅ denn wieder ohne wesentlichen Beistand von
Ausländern.


Burgevine wurde dem americanischen Consul in Shang-hae
ausgeliefert, der auf Gordon’s Verwendung die Untersuchung nieder-
[419]Anh. IV. Su-tšau belagert.
schlug. Er musste versprechen China zu verlassen und ging nach
Yokuhama, kehrte jedoch Anfang 1865 nach Shang-hae zurück, und
ging dann nach A-moi, wo er nochmals mit den Tae-piṅ in Ver-
bindung zu treten suchte und in der Folge ein geheimnissvolles
Ende fand.


Die Siegreiche Schaar war vor Su-tšau 2100 Mann stark;
ausserdem verfügte Gordon über 400 Franco-Chinesen. An kaiser-
lichen Truppen standen 10,000 Mann vor der Stadt, und um Fu-
šan
concentrirt ein Corps von 25,000 Mann. Zu völliger Cernirung
von Su-tšau war diese Streitmacht zu schwach; Gordon nahm aber
eine feste Stellung nach der anderen und liess sie von den Kaiser-
lichen besetzen. Die Tae-piṅ hatten in Su-tšau 40,000 Mann, und
20,000 in Wu-sie, nordwestlich davon; zwischen beiden Städten
stand der Tšun-waṅ, der, in seine Würden restituirt, mit 18,000
Mann dem bedrängten Su-tšau zu Hülfe zog, aber ausserhalb der
Stadt blieb und bald von aller Verbindung mit derselben abge-
schnitten wurde; denn die Belagerer beherrschten auch den Taiho-
See
und die anderen Wasserstrassen. Aufgefangene Briefe des Tšun-
waṅ
bewiesen die verzweifelte Lage der Tae-piṅ, die auch in
Nan-kiṅ hart bedrängt wurden und viele wichtige Positionen verloren.


Mitte November hatte Major Gordon den kleinen Dampfer
Firefly nach Shang-hae gesandt. Sein Commandant war angewiesen,
nur zwei Stunden dort zu verweilen und dann zurückzukehren;
General Brown aber wollte den Dampfer zu einem Besuch bei
Gordon benutzen und behielt wegen schlechten Wetters den Com-
mandanten die Nacht über bei sich, während der Dampfer im Fluss
vor Anker lag. An Bord befanden sich vier Europäer, darunter
ein Officier der englischen Artillerie. Um Mitternacht stieg eine
Rotte fremder Abenteurer auf das Schiff, schloss die Zugänge der
Kajüte, hob die Anker und entführte den Dampfer, dessen Kessel
geheizt waren, im Dunkel der Nacht. Der Tšun-waṅ soll 20,000
Pfd. St. dafür gezahlt haben.82) — Die grässlich verstümmelten
27*
[420]Su-tšau übergeben. Anh. IV.
Leichen der gefangenen Europäer wurden später bei Wu-sie
gefunden.


Auf die Nachricht von diesem Handstreich beschleunigte
Major Gordon seine Operationen gegen Su-tšau, welche die Firefly
unter kundiger Leitung wohl stören konnte. In der Nacht zum
27. November suchte er das Ostthor zu stürmen, wurde aber mit
schwerem Verlust geworfen; am 29. November nahm er ein Aussen-
werk dieses Thores. — Unterdessen verhandelten sowohl General
Tšiṅ als Gordon insgeheim mit Rebellenführern in der Stadt, die,
wie es scheint, jeder den anderen und alle zusammen das gemein-
same Haupt, den Mo-waṅ, zu verrathen strebten, der wahr-
scheinlich selbst Su-tšau übergeben und allein den Lohn ernten
wollte.83) Der Gang der Ereignisse ist dunkel; auch kommt bei
dem Abgrund von Falschheit und Niederträchtigkeit unter die-
sem Gesindel wenig darauf an, wer der grösste Schurke war. Der
Mo-waṅ fiel unter den Dolchen der anderen Waṅ’s, die ihren
Verrath entdeckt sahen und das Prävenire spielten. — Nur um
einen Begriff zu geben von der Lage, in welche ehrenhafte Euro-
päer im Dienst der chinesischen Regierung gerathen können, möge
hier eine Skizze der mit der Uebergabe von Su-tšau verknüpften
Ereignisse folgen.84)


An wen die Stadt ausgeliefert wurde, — ob an Major Gordon,
General Tšiṅ oder den Fu-tae Li, — scheint ungewiss; übergeben
wurde sie gleich nach des Mo-waṅ Ermordung. Kaiserliche Truppen
besetzten am 5. December 1863 das Nord- und das Ostthor.
Gordon zog seine Truppen zurück, damit sie nicht plünderten,
forderte aber, da sie fast alle Kämpfe um Su-tšau ausgefochten
hatten, und um sie zum schleunigen Marsch auf Wu-sie zu ver-
mögen, vom Fu-tae Li als besondere Gratification einen zwei-
monatlichen Sold für seine Schaar. Li sträubte sich; Gordon gab
ihm Bedenkzeit bis drei Uhr Nachmittags; dann würde er sein
Commando niederlegen. Unterdessen ging er in die Stadt und nach
des Na-waṅ Hause, mit welchem er während der Belagerung in
[421]Anh. IV. Major Gordon in Su-tšau.
geheimer Verbindung stand; — dort waren die anderen Waṅ ver-
sammelt, heiter und guter Dinge; die Bedingungen der Capitulation
würden streng gehalten, der Fu-tae habe sie alle begnadigt. —
Gordon begab sich dann nach dem Hause des ermordeten Mo-waṅ,
um ihn beerdigen zu lassen; doch wollte Niemand die Leiche be-
rühren. Auf dem Rückweg nach seinem Quartier erfuhr er von
General Tšiṅ, dass der Fu-tae zu Auszahlung eines einmonat-
lichen Soldes für die »Siegreichen« bereit sei, welche sich auf
diese Nachricht schleunigst formirten, um gegen den Fu-tae aus-
zurücken. Um Gewaltthaten vorzubeugen, behielt nun Gordon
sein Commando, und hatte Macht genug über seine Leute, um sie
zu beruhigen.


Am Vormittag des 6. December ging Major Gordon wieder
in die Stadt und nach dem Hause des Na-waṅ, wo Alles in der
besten Ordnung schien. Die Waṅ wollten eben zum Fu-tae hin-
aus; die ganze Stadt sollte übergeben werden. Nach dem Ost-
thore gehend, trifft Gordon kaiserliche Truppen, die brüllend und
ihre Gewehre abfeuernd einziehen. General Tšiṅ, der eben durch
das Thor kommt, entfärbt sich beim Anblick seines Alliirten und
stammelt auf dessen Fragen nach den Waṅ unverständliche Worte,
welche Gordon Schlimmes vermuthen lassen. Dieser kehrt, unbe-
waffnet, wie er immer ging und nur von seinem Dolmetscher be-
gleitet, nach des Na-waṅ Hause zurück, um dessen Familie zu
schützen und der Plünderung vorzubeugen; das Haus ist aber schon
ausgeräumt, die Familie zerstreut bis auf die Frauen, welche Gor-
don
auf ihr Flehen nach dem Hause eines Oheims des Na-waṅ
bringt; dort umringen ihn Hunderte bewaffneter Tae-piṅ, welche
aus dem Betragen der gegen die Bedingungen der Capitulation
plündernden und mordenden kaiserlichen Soldaten einen Schluss
auf das Schicksal ihrer Führer ziehn mochten. Bis zum Morgen
des 7. December bleibt Gordon dort eingeschlossen; gegen zwei
Uhr Nachts erlaubt man ihm, seinen Dolmetscher mit einem Schrei-
ben hinauszuschicken, in welchem er den Seinen befiehlt, den Fu-
tae
aufzuheben und nicht eher loszulassen, bis er die Waṅ heraus-
gäbe, — von deren Hinrichtung Gordon noch nicht wusste. Der Weg-
weiser des Dolmetschers kommt mit der Nachricht zurück, dass
kaiserliche Soldaten denselben misshandelt, den Brief zerrissen
haben. Nun lassen die Tae-piṅGordon selbst hinaus; am Südthor
[422]Major Gordon und Fu-tae Li. Anh. IV.
halten ihn kaiserliche Soldaten fest; auch von diesen macht er sich
los und erreicht bei Tagesanbruch das Ostthor, wo er seine Leib-
wache findet, die sofort nach dem Hause von des Na-waṅ Oheim
marschiren muss. — Am Ostthor harrt Gordon seiner Dampfer,
schickt Capitän Bonnefoi mit den Franco-Chinesen in die Stadt,
um dem Morden Einhalt zu thun, und wehrt dem ferneren Ein-
dringen kaiserlicher Truppen. Ein Officier seines Stabes holt aus
seinem Zelt den Sohn des Na-waṅ, der ihm die Enthauptung
sämmtlicher Tae-piṅ-Führer berichtet.


Gordon hatte den Waṅ keineswegs ihre Sicherheit verbürgt,
aber unter der Voraussetzung, dass Li ehrenhaft und menschlich
handeln werde, zur Uebergabe zugeredet. Seine Entrüstung kannte
keine Grenzen; mehrere Tage suchte er den Fu-tae vergebens; er
wollte ihn hinrichten lassen und hatte sogar schon seinen Truppen
befohlen, ihn zu greifen, kam aber noch zur Besinnung. Li war
gewarnt und hielt sich verborgen. Gordon brandmarkte dessen
Schandthat in einem Befehl an die »Siegreichen« auf das schärfste
und erklärte, als englischer Officier der chinesischen Regierung
nicht mehr dienen zu können, wenn der Fu-tae nicht exemplarisch
bestraft würde. Um das Corps nicht sogleich aufzulösen, wollte er
es dem General Brown zur Verfügung stellen.


Prinz Kuṅ und alle Chinesen vertheidigten Li. Die Waṅ,
hiess es, hätten sich auf die Bedingung ergeben, dass ihr Leben
geschont würde, seien aber doch Unterthanen des Reiches und
dessen Gesetzen unterworfen geblieben. Als sie zum Fu-tae
hinauskamen, hatten sie ihr Haar nicht geschoren, die Waffen nicht
abgelegt; ihr Benehmen »zeigte die äusserste Wildheit«. Sie be-
standen darauf, dass Su-tšau unter ihrem Schutze, alle Tae-piṅ-
Soldaten unter ihrem Befehle bleiben müssten, und erklärten, nur
unter dieser Bedingung zur Lehnspflicht zurückkehren zu wollen.
Sie weigerten sich ihr Gefolge zu entlassen, wollten drei Stadt-
thore besetzt halten und verlangten Sold für ihre Truppen. Man
musste die Verhandlungen abbrechen und konnte die Waṅ nicht
nach der Stadt zurückkehren lassen, wo bei der Stärke der Tae-
piṅ
eine furchtbare Katastrophe entstanden wäre. Also, argumen-
tirt der Chinese, mussten sie enthauptet werden. Hatten die
Waṅ sich auch mit dem Blute ihres Führers besudelt, so blieb
das Verfahren, auch wenn alle jene Angaben richtig wären, doch
[423]Anh. IV. Die Lage nach dem Fall von Su-tšau.
eben so nichtswürdig, wie der Bruch aller anderen Bestimmungen
der Capitulation. Li, der bis dahin allen übergetretenen Tae-
piṅ
-Führern Wort gehalten hatte und diese Leute sehr gut
brauchen konnte, wurde wahrscheinlich gereizt und gab den Be-
fehl im Zorn.


Nach dem Fall von Su-tšau räumten die Tae-piṅ alle Stel-
lungen in dessen unmittelbarer Nähe und behielten in Kiaṅ-su nur
wenige Städte. 85) Während die kaiserlichen Generale glücklich
weiter operirten und die Rebellen südlich nach Ka-šiṅ-fu in Tše-
kiaṅ
warfen, lag Gordon mit den »Siegreichen« unthätig in Kin-
san
. Ein kaiserliches Geschenk von 10,000 Tael wies derselbe in
einem würdigen Schreiben unter Hinweisung auf die Unthat von
Su-tšau[zurück]. Er wünschte die Siegreiche Heerschaar aufzulösen;
das wäre aber eine Grausamkeit gegen die Bevölkerung von Kiaṅ-
su
gewesen, welche nur im Vertrauen auf deren Schutz zu ihren
Wohnstätten zurückgekehrt war. Ein grosser Theil der »Sieg-
reichen« hätte sicher bei den Tae-piṅ Dienste genommen, mit
welchen sich jetzt wieder viele europäische Banditen durch grau-
sames Morden dem Landvolk furchtbar machten. Ohne feste Or-
ganisation und Kriegsartikel waren die »Siegreichen« nur im Felde
zu brauchen, aber nicht zum Garnisondienst; des trägen Lebens in
Kin-san müde sollen damals viele gewünscht haben, zu den Re-
bellen überzutreten. Mit Gordon’s Hülfe konnten diese in zwei
Monaten gänzlich aus Kiaṅ-su vertrieben werden; ohne ihn hätte
der Kampf wohl noch ein Jahr gedauert; dem Handel von Shang-
hae
musste solche Verzögerung grossen Schaden bringen. Li war
nun zwar nicht entlassen oder bestraft, von Pe-kiṅ aus aber ange-
wiesen worden, in allen Dingen Major Gordon zu Rathe zu ziehn,
den die chinesische Regierung mit Auszeichnung behandelte und
durch Verleihung der höchsten Ehren zu versöhnen strebte. So
beschloss denn Gordon nach zweimonatlicher Unthätigkeit, sein
Commando noch einige Zeit zu behalten und wieder in das Feld
zu rücken. Sir Frederick Bruce drückte ihm schriftlich seine Be-
friedigung darüber aus und erklärte, dass die englische Regierung
in China durchaus keine Gefühlspolitik treibe, die schnelle Unter-
[424]Feldzug der Siegreichen 1864. Anh. IV.
drückung der Rebellion aber im Interesse des Handels dringend
wünschen müsse. 86) Es war den Consularbehörden ganz besonders
darum zu thun, fremde Abenteurer und americanische Flibustier
von der Verbindung mit den Tae-piṅ abzuschrecken; man fürch-
tete ernstlich, eines schönen Tages Burgevine oder Seinesglei-
chen auf irgend einem Caperschiff der Südstaaten in chinesi-
schen Fremdenhäfen erscheinen zu sehn, wo sie reiche Beute
gefunden hätten.


Anfang 1864 hielten die Tae-piṅ noch zwei grosse Gebiete
besetzt: das eine südlich vom Tai-ho-See mit Haṅ-tšau, Ka-
šiṅ-fu
und anderen Städten; das andere im Nord-Westen mit
Nan-kiṅ, Ta-yen, Kin-Taṅ und Tšu-yiṅ. Dazwischen liegt ein
etwa zehn Meilen breiter Landstrich, durch welchen die von den
Tae-piṅ besetzten Städte Ye-siṅ und Li-yaṅ die Verbindung der
beiden Gebiete vermittelten. Gordon wollte nun durch Besetzung
dieses Landstriches die Verbindung aufheben. Er musste be-
deutende Vorräthe mitführen, denn das Land lag verwüstet; die
Aecker waren nicht angebaut, die Bevölkerung fast ausgestorben,
alle Wege mit den Leichen verhungerter Landleute bestreut. Die
in einigen Dörfern noch übrig gebliebenen lebten nur von Menschen-
fleisch und harrten oft gierig des Todes eines Genossen.


Ye-siṅ wurde von den Tae-piṅ nach schwachem Wider-
stande geräumt, ebenso Li-Yaṅ, dessen Besatzung zum Theil in
Gordon’s Dienste trat. Nun wendete er sich dem Gebiete von Nan-
kiṅ
zu, erhielt aber vor Kin-taṅ schlimme Nachrichten vom Fu-
tae Li
. Englische Banditen hatten sich vor Shang-hae des
Dampfers Tsatlee bemächtigt, für welchen der Tšun-waṅ 20,000
Pfd. St. bot 87); — die Tae-piṅ hatten ein kaiserliches Heer ge-
[425]Anh. IV. Wai-su genommen.
schlagen, Fu-šan genommen, bedrohten Wu-sie und belagerten
das kaum 6 Meilen von Kin-san gelegene Tšan-tšu, das sie
bald darauf nahmen. Gordon hob deshalb die Belagerung von
Kin-taṅ auf, concentrirte am 24. März seine Truppen um Li-yaṅ,
— wo dieselben unter Li A-doṅ einstweilen stehen blieben, — und
eilte, obwohl verwundet, mit der leichten Artillerie und etwa 1000
Mann dem Fu-tae zu Hülfe. Schon am 26. März stiess er auf Re-
bellenhorden, welche das Land verwüsteten und die Dörfer an-
steckten. Um ihr Vordringen in unberührte Gebiete zu hemmen,
griff er bei Wai-su mit der Artillerie ihr Centrum an; das Fuss-
volk litt aber durch Fehler seines Führers eine schwere Niederlage
und wurde so eingeschüchtert, dass Gordon die Truppen nach
Siaṅ-tšau, etwa 3 Meilen nördlich von Wu-sie zurückzog und
Verstärkung abwartete. — Am 3. April führte Fu-tae Li 6000 Mann
von Su-tšau herauf, die sich eine halbe Meile von Wai-su mit
den Siegreichen vereinigten. Die Tae-piṅ wurden jetzt dort
enger eingeschlossen: den Yaṅ-tse in ihrem Rücken beherrschten
kaiserliche Dschunken, südwestlich stand Gordon, östlich, südlich
und westlich rückten kaiserliche Truppen heran. — Der Krieg im
Süden war um diese Zeit fast beendet. General Tšiṅ, — der dort
seine Todeswunde erhielt — hatte am 20. März Ka-šiṅ-fu, Ge-
neral Tso mit Hülfe der Franco-Chinesen am 21. März Haṅ-
tšau
genommen. Darauf räumten die Tae-piṅ auch Hu-haṅ, und
rückten theils nach Wu-tšu-fu am Süd-West-Ende des Tai-
ho
-Sees
, theils zerstreuten sie sich, in kleine Schaaren aufgelöst
in die unbewohnten Grenzgebirge der Provinzen Tše-kiaṅ und
Gan-wui.


Der vorgeschobene Posten der Tae-piṅ in Wai-su war,
wie gesagt, eng umstellt; die Strasse nach Tan-yan, ihre einzige
Rückzugslinie, blieb unbesetzt; hier hatten aber die Kaiserli-
chen jenseit der Stadt Koṅ-yin, welche sie nahmen, alle Brücken
abgebrochen. Von seiner Wunde fast geheilt, nahm Gordon
am 6. April die Operationen wieder auf; die Tae-piṅ räumten
Wai-su nach kurzem Widerstande, wurden auf der Strasse
nach Tan-yan von den Kaiserlichen verfolgt und fielen meist
in die Hände des zornigen Landvolks, dessen Dörfer sie vor
Kurzem verbrannt hatten. Kaum 1000 sollen Tan-yan und Tšan-
tšu
erreicht haben.


[426]Auflösung der Siegreichen Schaar. Anh. IV.

Tšan-tšu-fu wurde nun von Li und Gordon eingeschlossen,
leistete aber tapferen Widerstand, bis der Fu-tae allen Ueber-
läufern — ausser dem in der Festung commandirenden Hu-waṅ
vollen Pardon versprach. Da kamen Deserteure zu Tausenden.
Am 11. Mai wurde die Stadt erstürmt. Von der Garnison — noch
20,000 Mann — liess der Fu-tae 1500 Mann aus Kuaṅ-tuṅ und
Kuaṅ-si, die als Räuber und Marodeure galten, mit dem Hu-waṅ
hinrichten.


Um diese Zeit gelangte eine Note der englischen Regierung
nach Shang-hae, in welcher die Beurlaubung von Linienofficieren
zum Dienst gegen die Tae-piṅ verboten wurde; ihre Aufgabe war
aber gelöst. Kin-taṅ und Han-yan ergaben sich gleich nach dem
Fall von Tšan-tšu; Kiaṅ-nan war fast ganz von Rebellen ge-
säubert und Shang-hae vollkommen gesichert. Nan-kiṅ musste,
vom Generalissimus Tseṅ-kwo-tsun belagert, in Kurzem fallen;
der Bewältigung von Wu-tšu, am Süd-Ufer des Tai-ho-Sees,
war Li mit 39,000 europäischen Gewehren, schwerem Geschütz
und reichlicher Munition vollkommen gewachsen. Das waren die
einzigen noch von den Tae-piṅ besetzten Plätze. Unter diesen
Umständen musste auch die chinesische Regierung die Auflösung
der Siegreichen Heerschaar wünschen, welche Gordon Ende Mai
1864 in Kin-san bewirkte. Die hohe Achtung der kaiserlichen Be-
hörden bewies die ungesäumte Gewährung der grossen Summen,
welche er zu Belohnung seiner Officiere und Soldaten forderte;
letztere wurden in ihre Heimath, die Officiere nach Shang-hae
entlassen, bis auf einige, welche in der kaiserlichen Artillerie
Dienste nahmen. — Die Siegreiche Schaar unter einem unbewährten
Commandeur fortbestehen zu lassen, schien sowohl den Fremden
als den Chinesen bedenklich, da man immer noch fürchten musste,
dieselbe zu den Tae-piṅ übertreten zu sehen, was zu neuen Schwie-
rigkeiten geführt hätte.


Major Gordon, dessen Uneigennützigkeit sich bewährte, er-
hielt von der chinesischen Regierung mit einem sehr schmeichel-
haften Schreiben den höchsten militärischen Rang eines Ti-tu,
den ihm zu Ehren creirten Orden des Sternes, ein Banner und die
gelbseidene Jacke, als Zeichen der höchsten kaiserlichen Gunst.


[427]Anh. IV. Der Tšun-waṅ in Nan-kiṅ.

Ueber die letzten Tage des Tae-piṅ-Reiches geben die Auf-
zeichnungen des Tšun-waṅ oder Treuen Königs, der an Gesinnung
weit über allen seinen Genossen stand, denkwürdige Aufschlüsse.
Der Stempel der Wahrhaftigkeit ist ihnen aufgeprägt; das brave,
bis zum Tode treue Gemüth redet aus jeder Zeile.


Der Tšun-waṅ commandirte den Feldzug, welcher im März
1864 die Tae-piṅ bis Wai-su führte, zog sich, als Tšan-tšu un-
haltbar schien, auf Nan-kiṅ zurück, das die Kaiserlichen unter
Tseṅ-kwo-tsun eng eingeschlossen hatten, und gelangte glücklich
in die Stadt. Dort fehlte es schon am Nöthigsten. Der Tien-waṅ,
welchen der Treue König zur Flucht zu bereden suchte, erwiederte
alle Berichte über die Operationen des Feindes mit erhabenen Sen-
tenzen über Himmel und Erde. »Ich habe die Befehle des Šan-ti
und Jesus erhalten, auf die Erde herabzusteigen und das Reich
zu lenken. Ich bin der alleinige Herr von zehntausend Völkern;
was sollte ich fürchten? Du wirst durchaus nicht um Rath ge-
fragt und die Regierung bedarf deiner Aufsicht nicht. Thue was
dir beliebt, ob du gehen oder bleiben magst in der Hauptstadt.
Mit eiserner Hand halte ich das Reich, die Berge und Ströme, und
wenn du mir nicht beistehst, so werden es andere. Du sagst, es
seien keine Soldaten da; aber meine Truppen sind zahlreicher als
die Ströme. Wie sollte ich den Teufel Tseṅ fürchten? Fürchtest
du den Tod, so wirst du sterben.« — Der Tien-waṅ begrub sich,
nur auf Ceremonien bedacht, in die Tiefen des Harem. Mit der
Gefahr wuchs seine despotische Grausamkeit: wer in amtlichen
Documenten nicht reichlich den Ausdruck »himmlisch« brauchte,
sollte von Pferden in Stücke gerissen werden; wer mit dem Feinde
verkehrte, lebendig geschunden und zu Tode gestampft werden.
Viele Tae-piṅ entkamen durch die feindlichen Linien; der Tšun-
waṅ
aber blieb seinem Namen treu, obgleich der Tien-waṅ ihn
ganz bei Seite schob und Alles Huṅ-džin, dem Kan-waṅ oder
Schildkönig überliess, der eben so feige und grausam war wie er
selbst, der seine Person im Felde niemals exponirt hatte, in Nan-
kiṅ
aber mit wildem Blutdurst zu wüthen pflegte.


Die Noth wuchs mit jedem Tage. Da der Tien-waṅ streng
verboten hatte, die hungernden Bewohner aus der Stadt zu lassen,
so bewirkte der Tšun-waṅ insgeheim die Entfernung von 3000
Frauen und Kindern, welche Tseṅ-kwo-tsun versorgte. Männer
[428]Nan-kiṅ genommen. Anh. IV.
und Weiber flehten in den Strassen kläglich um Nahrung; unter-
dess raubten und mordeten des Kan-waṅ kantonesische Trabanten
nach Gefallen. »Diebe und Räuber,« sagt der Tšun-waṅ, »standen
in der Stadt auf. Die nächtliche Ruhe störte beständiges Schiessen
im Innern der Stadt und ganze Familien wurden ausgeplündert.
Das waren Zeichen von übeler Vorbedeutung und Vorboten der
Vernichtung.«


Der Tod des Tien-waṅ ist in Dunkel gehüllt. Nach des
Tšun-waṅ Bericht hätte das furchtbare Getöse der platzenden
Minen seine Sinne verdüstert: er hätte sich am 30. Juni ver-
giftet. Im Garten des Palastes fanden die Kaiserlichen den
Leichnam eingescharrt, in gelbe Seide gehüllt, mit grauem
Schnurrbart. — Der »Junge Herr«, Huṅ-fu-tien, bestieg wirk-
lich den Thron.


Am 8. Juli versuchte der Tšun-waṅ einen Ausfall, wurde
aber nach hartem Kampfe zurückgetrieben. Er wünschte dem Elend
ein Ende zu machen, die anderen Waṅ widersetzten sich jedoch
der Uebergabe. Am 19. Juli sprengten die Kaiserlichen eine ge-
waltige Mine, die ein grosses Stück der Stadtmauer niederlegte,
und stürmten die Bresche. Der Tšun-waṅ schützte mit seinen
Leuten bis Mitternacht des Tien-waṅ heulende Frauen in dessen
Palast, steckte diesen endlich in Brand und rückte nach dem Süd-
west-Thor, wo er Huṅ-fu-tien, dem »Jungen Herrn«, sein eigenes
Streitross gab für einen elenden Klepper, der ihn kaum trug.
»Obgleich,« schreibt er, »des Tien-waṅ Tage erfüllt, das Volk
durch Andere, die seine Mühe vereitelten und ihn täuschten, ge-
schädigt, und der Staat verloren waren, so konnte doch ich, der
seine Gunst genossen hatte, nicht anders, als meine Treue beweisen
durch das Streben, seinen Sohn zu retten.«


Der Tšun-waṅ, der Kan-waṅ und Huṅ-fu-tien entkamen
im Wirrwarr glücklich mit etwa tausend Mann, wurden aber von
Tseṅ-kwo-tsun’s Reiterei verfolgt und auseinandergesprengt. Der
Tšun-waṅ, den sein schwacher Klepper nicht tragen konnte, ver-
barg sich in einem Tempel, wo Landleute ihn erkannten und knieend
unter Thränen anflehten, sein Haupt zu scheeren. Von Anderen
erkannt, wurde er bald darauf festgehalten und ausgeliefert.


Huṅ-džin, der Kan-waṅ, wurde ebenfalls gefangen. Huṅ-
fu-tien
, der »Junge Herr«, irrte, von mitleidigen Landleuten er-
[429]Anh. IV. Ende der Tae-Piṅ-Führer.
halten, eine Weile umher, fiel aber endlich den Truppen des Ge-
neral Tšen-pao in die Hände, der ihn schleunigst köpfen liess. Er
betheuerte bei seiner Verhaftung bei allen Himmeln, dass er dem
Thron entsage, und bat nur flehentlich, sich auf die Staatsprüfungen
vorbereiten zu dürfen.


Ueber den Tsun-waṅ und den Kan-waṅ berichtete Tseṅ-
kwo-tsun
nach Pe-kiṅ, liess aber noch vor der Bescheidung Beide
enthaupten; der Richterspruch vom Kaiserhofe lautete auf »lang-
same, schimpfliche Hinrichtung«. Der Tšun-waṅ schrieb in den
acht Tagen der Kerkerschaft seine Lebensgeschichte, die, nach den
übersetzten Auszügen zu urtheilen, ein Meisterwerk klarer lebendiger
Darstellung ist. Er soll gehofft haben, durch die Apologie sein
Leben zu retten. — Seinem Charakter wird von allen Seiten das
glänzendste Zeugniss gegeben; ein Freund des Landvolkes linderte
er aus eigenen Mitteln die Noth der von anderen Heerführern ver-
wüsteten Gebiete und förderte überall den Wohlstand durch
geregelte Verwaltung. Die Bewohner von Su-tšau setzten ihm
aus Dankbarkeit ein schönes Marmor-Denkmal, das sie nach
dem Fall der Stadt auf Befehl der Mandarinen wieder einreis-
sen mussten.


In Nan-kiṅ wüthete die vom Tšun-waṅ entzündete Feuers-
brunst drei Tage lang und verwandelte den besten Stadttheil in
Trümmerhaufen, aus welchen vereinzelte Reste von Steinportalen
mit buntem phantastischem Ornament emporragten. Die entfernteren
Strassen müssen Jahre lang unbewohnt gewesen sein; vier Fuss
hohes Gesträuch machte sie unzugänglich. Von den gehofften
Schätzen, der Beute so vieler Raubzüge, fand man keine Spur; nur
die Plünderung einzelner Tae-piṅ-Soldaten lohnte reichlich. Des
Kan-waṅ Banditen scheinen gut aufgeräumt und sich grossen-
theils bei Zeiten aus dem Staube gemacht zu haben, was bei
der Weite des Mauerumkreises ein Leichtes war; ihre Schätze
bahnten die Wege. Bei der Einnahme soll die Besatzung von
Nan-kiṅ kaum 20,000 Mann gezählt haben, von welchen 7000
hingerichtet wurden.


[430]Die Reste der Tae-piṅ. Anh. IV.

In dem festen Wu-tšu-fu am Tai-ho See hielten sich die
Tae-piṅ noch lange gegen die starke von 1800 Franco-Chinesen
und einem neuen anglo-chinesischen Freicorps unterstützte Streit-
macht des Fu-tae Li, deren Artillerie von Engländern commandirt
wurde. Erst gegen Ende August räumte der Tao-waṅ die Stadt
und suchte, nach Kiaṅ-si ziehend, in Verbindung mit dem Si-waṅ
zu treten, der aus Nan-kiṅ kurz vor dem Falle entkommen war.
In des Tao-waṅ Horden dienten, meist gezwungen, noch etwa ein
Dutzend Ausländer, welche die Tae-piṅ hier und dort aufgegriffen
hatten. Einer derselben, der später entkam, giebt furchtbare
Schilderungen ihrer Barbarei: »Für alle Vergehen gab es nur
eine Strafe, den Tod. Ich sah 160 Mann enthaupten, weil sie
bei der Musterung gefehlt hatten. Zwei Knaben wurden ge-
köpft, weil sie geraucht hatten; alle Gefangenen wurden geköpft,
Spione oder der Spionage Verdächtigte mit den Händen auf dem
Rücken an einen Pfahl gebunden und mit Strauchwerk langsam
verbrannt.«


Der Tao-waṅ zog am Fuss der Gebirge von Tše-kiaṅ hin
nach Kiaṅ-si, wandte sich dann nach Fu-kian und nahm vereint
mit dem Si-waṅ die Stadt Tšaṅ-tšau bei A-moi. Im Januar 1865
erliessen sie von da ein Manifest an die Vertreter der westlichen
Völker: sie möchten, »vertrauend auf die Allmacht des Himm-
lischen Vaters und Jesus, und nach den Vorschriften des Christen-
thumes handelnd«, mit ihnen gemeinschaftlich die Mandschu ver-
tilgen. Die Tae-piṅ wollten zu Lande, die Fremden sollten zur
See angreifen, und dann das Reich ehrlich theilen. Eine Anzahl
Ausländer in verzweifelten Umständen, darunter mehrere von Gor-
don’s
ehemaligen Officieren, liessen sich auch jetzt noch zu den
Tae-piṅ locken und wurden grossentheils ermordet; andere flüchte-
ten, entsetzt über die blutigen Gräuel dieser Horden, welche jetzt
alle gefangenen Mandarinen lebendig brieten und einmal 1600 kaiser-
liche Soldaten, die sich auf das Versprechen ihres Lebens ergaben,
mit kaltem Blute schlachteten.


Um diese Zeit erschien auch Burgevine in A-moi, traf
mehrere seiner alten Spiessgesellen und soll im Trunke geschworen
haben, dass er den Tae-piṅ helfen wolle. Bis an die Zähne be-
waffnet wurde er, bei Nacht durch die Vorposten schleichend, von
den Kaiserlichen festgenommen. Die Mandarinen schickten ihn
[431]Anh. IV. Mohamedanische Rebellen und Nien-fei.
trotz allen Einwendungen der americanischen Consuln in A-moi
und Fu-tšau gefangen zu Lande nach Shang-hae. Beim Ueber-
gang eines Flusses, hiess es nachher, sei durch eine plötzliche
Hochfluth die Fähre umgeschlagen, der Abenteurer mit zehn
Chinesen ertrunken. Der americanische Gesandte in Pe-kiṅ drang
auf Untersuchung, und die Leiche wurde ausgegraben, zeigte
aber keine Spur von Gewalt. Das Ereigniss der Wasserfluth
wurde constatirt, das zufällige Ertrinken aber auch dadurch
nicht bewiesen.


Die Miliz von Fu-kian war der Bewältigung von Tšaṅ-tšau
nicht gewachsen; als aber 8000 Mann regulärer Truppen erschie-
nen, räumten die Tae-piṅ in der Nacht des 16. April 1865 die
Stadt und zerstreuten sich hart bedrängt in die Gebirge. Unter
einem »Kan-waṅ«, der sich, obgleich viel jünger, für den echten
Huṅ-džiṅ ausgab, zog eine starke Schaar nach Kuaṅ-tuṅ, wurde
aber bald auseinandergesprengt. Politische Bedeutung hatte nach
dem Fall von Nan-kiṅ keine dieser Horden; sie plünderten aber,
aus den Gebirgen hervorbrechend, noch Jahre lang häufig das
platte Land.


Des Tien-waṅ älterer Bruder Ši-ta-kae, der in Se-tšuen
auf eigene Hand operirte, wurde schon 1863 gefangen und hin-
gerichtet. Ein Theil seiner Truppen soll sich nach der Provinz
Kan-su zu den mohamedanischen Rebellen durchgeschlagen haben.
Die periodischen Aufstände in dieser und der vorwiegend von
Moslem bewohnten Provinz Šen-si, deren schwankende Grenzen
über die Grosse Mauer hinausreichen, nehmen oft bedeutende Aus-
dehnung an, ohne den Thron zu bedrohen. 1866 scheinen die
kaiserlichen Heere jene Rebellen über die Reichsgrenze in das von
Moslem bewohnte Land I-li gedrängt zu haben.


Die mit dem Namen Nien-fei bezeichneten Rebellenhorden
kommen meist aus dem Flussthal des Hoaṅ-ho. Der Gelbe Strom,
China’s Geissel, bricht häufig die Dämme seines über dem Spiegel
der Ebene liegenden Bettes und verwüstet weite Strecken; dann
überfluthen Zehntausende heimathloser Armen raubend und stehlend
die Nachbargebiete. Den Beraubten bleibt keine Wahl als sich
anzuschliessen; so wachsen die Horden lawinenartig und bezwingen
leicht die Miliz der Provinzen. Die Ebbe im chinesischen Staats-
schatz seit dem Opiumkrieg, welche die für die Deichbauten am
[432]Die Nien-fei. Anh. IV.
Hoaṅ-ho jährlich erforderlichen Ausgaben verbot, war Ursache der
grossen Verbreitung der Nien-fei in den letzten Jahrzehnten. Das
durch den Feldzug der Tae-piṅ gegen Pe-kiṅ 1853 hervorgerufene
Elend verstärkte ihre Horden; in den nächsten Jahren operirten sie
sogar häufig im Einklang mit Jenen. Als die Alliirten 1860 Pe-kiṅ
besetzten, stand ein Heer der Nien-fei in der Nähe. 1861 be-
drohten sie Tien-tsin und dessen Verbindung mit der Hauptstadt
und schlugen Saṅ-ko-lin-sin, der später in diesem Kampf den Tod
fand. Erst nach dem Fall von Nan-kiṅ konnten die Kaiserlichen mit
Nachdruck gegen sie vorgehen. 1865 wurden die Nien-fei von
Tseṅ-kwo-fan und Saṅ-ko-lin-sin’s Sohn, der von Norden mon-
golische Truppen heranführte, in die Provinz Šan-si gedrückt
und zerstreut. Einzelne Banden sind seitdem in verschiedenen
Theilen von Mittel-China wieder aufgetaucht; in Kuaṅ-tuṅ und
Kuaṅ-si unternahmen die Hak-ka und Miao-tse zahlreiche Raub-
züge, und man sagt mit Recht, dass bei den Chinesen die Rebellion
in Permanenz ist.


[[433]]

LITTERATUR.



[[434]][[435]]

Appendix A LITTERATUR.


VERZEICHNISS DER BESCHREIBENDEN UND HISTORISCHEN WERKE ÜBER CHINA
UND SIAM, WELCHE DEM VERFASSER DIESER BLÄTTER ZUGÄNGLICH WAREN.


Appendix A.1 CHINA.


Breitenbach. Lebensgeschichte des Kaisers Kienlong.
Gützlaff. Geschichte des chinesischen Reiches, herausgegeb. von K. F. Neumann.
Hyacinth. Beschreibung von Peking.
Kreiher. Die preussische Expedition nach Ost-Asien in den Jahren
1859 — 1862.
Maron. Japan und China. Reiseskizzen.
Neumann. Ostasiatische Geschichte.
Plath. Geschichte des östlichen Asien.
Plath. China nach 4000 Jahren.
Timkowski. Reise nach China durch die Mongolei 1820 — 1821.
Werner. Die preussische Expedition nach China, Japan und Siam 1860, 1861, 1862.
Anderson. A narrative of the British ambassy to China in the years 1792,
1793 and 1794.
Blakiston. Five month on the Yangs-Tsze.
Davis. The Chinese: a general description of China and its inhabitants.
Davis. Chinese Miscellanies.
Davis. China during the war and since the peace.
Doolittle. Social life with the Chinese.
Fortune. A journey to the tea-countries of China.
Fortune. Three years wanderings in the northern provinces of China.
Fortune. Yedo and Peking.
Granville Loch. The closing events of the campaign in China.
Gützlaff. The life of Taou-kwang.
Gützlaff. China opened.
Lindesay Briue. The Taeping rebellion in China.
Lin-le. Ti-ping-tien-kwoh. The history of the Tiping rebellion.
Loch. Personal narrative of occurrences during Lord Elgins second am-
bassy to China 1860.
Meadows. The Chinese and their rebellions.
Medhurst. China, its state and prospects.
Milne. Life in China.
Murray. Doings in China from recapture of Chusan to peace of Nanking 1842.
Oliphant. Narrative of the Earl of Elgins mission to China.
Rennie. Peking and the Pekingese.
28*
[436]Litteratur.
Staunton. An authentic account of an embassy from the king of Great Bri-
tain
to the emperor of China.
Swinhoe. Narrative of the North-China-campaign.
Wells Williams. The middle kingdom.
Wilson. The ever victorious army.
Wolseley. Narrative of the war with China in 1860.
Accounts and papers printed for the houses of parliament.
The Chinese repository.
The Chinese and Japanese repository.
Notes and queries on China and Japan.
Bazancourt. L’expédition de Chine et de Cochinchine.
Courcy. L’empire du milieu.
Du Halde. Déscription géographique etc. de l’empire Chinois.
Girard. France et Chine.
Huc. L’empire Chinois.
Huc. Souvenirs d’un voyage dans la Tartarie, le Thibet et la Chine.
Negroni. Souvenirs de l’expédition de Chine.
Pallu. Relation de l’expédition de Chine d’après les documents officiels.
Pauthier. Chine moderne. (Univers.)
Pauthier. Histoire des relations de la Chine avec les puissances occidentales.
Poussielgue. Voyage en Chine et en Mongolie de Mons. de Bourboulon,
Ministre de France, et de Mad. de Bourboulon. 1860 — 1861.

Appendix A.2 SIAM.


Bastian. Die Völker des östlichen Asiens.
Kämpfer. Geschichte und Beschreibung von Japan.
Bowring. The kingdom and people of Siam.
Finlayson. The mission to Siam and Hué the capital of Cochinchina in
the years 1821 — 1822.
Leonowens. The english governess at the Siamese court.
Neale. Narrative of a residence in Siam.
Chaumont. Rélation de l’ambassade de Monsieur de Chaumont à la cour de Siam.
Choisy. Journal ou suite du voyage de Siam en forme de lettres.
La Loubère. Monsieur de, Envoyé extraordinaire du Roi auprès du Roi
de Siamen 1687, 1688.
Mouhot. Voyage dans les royaume de Siam, de Cambodje etc.
Orléans, Père d’, Histoire de Monsieur Constance, premier ministre du Roi
de Siam, et de la dernière revolution de cet état.
Pallégoix. Déscription du royaume Tai ou Siam.
Tachard. Voyage de Siam des pères jesuites envoyés par le Roi aux Indes
et à la Chine.
Tachard. Second voyage de Siam.

[[437]]

Appendix B REGISTER ZUM III. UND IV. BANDE.


[[438]]
[...]
[439]
[...]
[440]
[...]
[441]
[...]
[442]
[...]
[443]
[...]
[444]
[...]
[445]
[...]
[446]
[...]
[447]
[...]
[448]
[...]
[]
TAKU.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
TIENTSIN. I.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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TIENTSIN. II.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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TIENTSIN. III.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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TIENTSIN. IV.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
TUNGTSAU. II.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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PEKING. I.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
PEKING. II.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
PEKING. III.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
PEKING. IV.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BOCCA TIGRIS.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BANKOK. I.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BANKOK. II.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BANKOK. III.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BANKOK. IV.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BANKOK. IX.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
AYUTIA.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
PETSABURI. I.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
PETSABURI. II.

[Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.]


[][]
[figure]

[][]
BANKOK. V.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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BANKOK. VI.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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BANKOK. VII.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


[][]
BANKOK. VIII.

Photolith. Inst. v. W.Korn \& Co in Berlin.


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Notes
1).
Der Verfasser hat das sonderbare Phänomen auf dem Fleck beschrieben und
von Minute zu Minute die Veränderungen gezeichnet.
2).
Diese eisernen Kanonenboote wurden, in mehrere Stücke zerlegt, auf Trans-
portschiffen über den Ocean geführt und erst in China zusammengesetzt.
3).
Von der Menge des von diesen Stürmen mitgeführten Sandes giebt folgende
verbürgte Thatsache einen Begriff. Am 26. März 1862 wurde ein den Pei-ho mit
dem Pe-taṅ-Fluss verbindender schiffbarer Canal meilenweit in wenigen Stunden
dermaassen zugeschüttet, dass sich auf lange Strecken kaum noch die Richtung er-
kennen liess. Viele kornbeladene Fahrzeuge standen auf dem Trockenen neben dem
verschütteten Bett des Canales; der Sturm hatte sie auf dem darunter angehäuften
Sande allmälig bei Seite geschoben.
4).
Diese Trauben reifen in unmittelbarer Nähe von Tien-tsin; damit die
Weinstöcke den langen harten Winter überdauern, legt man sie im Herbst an den
Boden und bedeckt sie mehrere Fuss hoch mit Erde.
5).
S. Bd. I. S. 196.
6).
Mehrere Blätter des VI. Heftes der »Ansichten aus Japan, China und Siam«
bringen Darstellungen dieser Architectur.
7).
S. das VI. Heft der »Ansichten aus Japan, China und Siam
8).
Die Herren Kreyher, Spiess, Heine und Kloekers gingen mit americanischen
Pässen nach Pe-kiṅ. Herr Kloekers hatte beschlossen, um jeden Preis der erste
protestantische Missionar zu sein, der in Pe-kiṅ öffentlich predigte. Er wurde in
Folge dessen von den Behörden ausgewiesen. Der englische Gesandte fand keine
Veranlassung und war auch durch den Vertrag nicht berechtigt, Herrn Kloekers
nach dessen Wünschen gegen die chinesische Regierung in Schutz zu nehmen.
9).
S. Rennie, Peking and the Pekingese I. 15.
10).
Ob die Schreibart Tši-uëngenau dem Klang des chinesischen Namens
entspricht, kann der Verfasser in diesem Falle eben so wenig verbürgen, als bei
vielen anderen Namen. Sie entspricht dem Laut, den wir dem Ohr nach in unseren
Notizen niederschrieben, und unterscheidet sich von der Schreibart des Dr. Rennie
»Yih-kwan« nicht mehr, als die englische Schreibart vieler anderen chinesischen
Namen von dem Laut, den wir selbst heraushörten. — Als Tši-uën oder Yih-kwan
sein Grundstück im Herbst 1861 an eine englische Missionsgesellschaft verkaufte, —
welche daselbst ein Hospital einrichten liess, — bezeichnete er sich im Kaufact als
»von der kaiserlichen Familie, Mandschu des weiss-gerandeten Banners, durch
(kaiserliche) Gnade Edler vom Rang eines Tu-kuo-tšiaṅ-tšun.« — Ueber die
Adelsverhältnisse unter den Tartaren konnte der Verfasser keine Klarheit gewinnen.
Die Chinesen haben überhaupt keinen Adel, wohl aber die Mongolen und die Tar-
taren. Unter letzteren soll es nur acht Familien geben, in denen der fürstliche
Rang erblich bliebe, während in allen anderen der Adel allmälig erlösche; die Ahnen
jener Familien hätten dem Kaiserhause bei der Thronerwerbung im 17. Jahrhundert
wesentliche Dienste geleistet.
11).
Herr Bruce hatte auch seinen chinesischen Comprador vor den kaiserlichen Be-
hörden zu schützen, welche denselben wegen des durch Zuweisung der Handwerker und
den Ankauf von Hausrath uns geleisteten Beistandes belangen wollten. Dem Aermsten
bangte einige Tage um seinen Hals; der Gesandte legte sich aber wirksam ins Mittel.
12).
Nach Aufhebung aller Verbote, schrieben die Commissare, genössen alle
Christen des Schutzes der chinesischen Gesetze. — Man fürchtete offenbar Unter-
stützung der Tae-piṅ.
13).
Dieser Artikel betraf die zollfreie Einführung chinesischer Waaren in chine-
sische Häfen, welche in den anderen Verträgen nicht stipulirt war.
14).
Es handelte sich um Ermässigung der Zölle für den Küstenhandel. Ein
fremdes Schiff, das chinesische Waare aus einem chinesischen Hafen nach dem
anderen führte, zahlte dafür die vollen Ausfuhrzölle in dem Ausfuhr-Hafen und die
vollen Einfuhrzölle in dem Hafen, nach welchem es die Waaren einführte. Nach
den vom preussischen Gesandten entworfenen neuen Bestimmungen sollten die Ein-
fuhrzölle fortfallen, nachdem die Ausfuhrzölle entrichtet waren.
15).
Tsae-yuen, Prinz von Ei, stammte aus dem Kaiserhause; er verhandelte
1860 in Tuṅ-tšau mit den englischen Parlamentären.
Twan-wa, Prinz von Tšiṅ, ein Tartarenfürst, Oberstcommandirender von Pe-
kiṅ
, General-Capitän der Neun Thore, war der ältere Bruder des Gross-Secretärs
Su-tšuen.
Kiṅ-šan war der Gemahl einer Tante des Thronerben.
Mu-yin war Amtsgenosse des Tsae-yuen bei den Verhandlungen in Tuṅ-
tšau
.
Die drei anderen Mitglieder des Regentschaftsrathes bekleideten hohe Aemter im
Civildienst.
16).
Sie erhielt den Titel einer Kaiserin erst nach Hien-fuṅ’s Tode und stand
im Range unter dessen rechtmässiger Gemahlin, der Kaiserin Wittwe.
17).
Der pflanzenkundige Fortune macht die richtige Bemerkung, dass in der Um-
gebung von Tien-tsin und Pe-kiṅ fast alle Producte des Pflanzenreiches zu riesiger
Grösse gedeihen. Die hier gebaute Hirse wächst 15 Fuss hoch und darüber. Sesa-
mum orientale soll im Norden von China doppelt so gross und ergiebig sein als im
Süden. Sonnenblumen, die Eierpflanze, Kürbisse und andere Vegetabilien haben
ebenfalls ungewöhnliche Dimensionen.
18).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam. VII.
19).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam. VII.
20).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam VIII.
21).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam. VII.
22).
Die Engländer fanden bei späteren Besuchen in diesem Tempel noch zwei grosse
Hallen, die wir nicht sahen. In der einen sitzt ein 72 Fuss hoher weiblicher Budda, in
der anderen der Kriegsgott Kwaṅ-ti, welchem bei jedem von chinesischen Truppen er-
fochtenen Siege der Dank der Regierung in der Zeitung von Pe-kiṅ ausgesprochen wird.
23).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam VIII.
24).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam VIII.
25).
S. Pauthier, Histoire des rélations de la Chine avec les puissances occi-
dentales.
26).
Das Juljur-Gebirge der Karten.
27).
S. Mailla, Geschichte des Chinesischen Reiches. Der Arzt Bell und der
Agent Lange berichten, der Kaiser habe der Gesandtschaft das Koto erlassen, der
Ceremonienmeister aber dieselbe bei der Audienz dazu gezwungen.
28).
S. Ansichten aus JapanChina und Siam VIII.
29).
Quercus sinensis.
30).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam VIII.
33).
Erst nach Hien-fuṅ’s Tod — im October 1861 — wurde Saṅ-ko-lin-sin
in Folge eines gegen die Rebellen erkämpften Sieges in alle Ehren wieder ein-
gesetzt, deren er durch seine zweimalige Degradirung nach dem Fall von Ta-ku
und der Niederlage bei Tšaṅ-kia-wan verlustig gegangen war.
34).
Bei der Plünderung des Sommerpalastes ahnten die Alliirten noch nicht
das furchtbare Schicksal ihrer gefangenen Parlamentäre; seine Verbrennung be-
schloss Lord Elgin als einen Act der Vergeltung.
35).
Nach den gedruckten Angaben des englischen Stabsarztes Dr. Rennie hätten
englische Officiere im Herbst 1860 in der Umgebung von Pe-kiṅ über 300 Karren
mit der Bespannung zum Transport ihrer Beute nach Tien-tsin ohne Entschädigung
weggenommen und dort als »gute Beute« verkauft. Die Besitzer verloren dadurch
ihr einziges Mittel zum Broderwerb.
36).
Hier möge eines gleichfalls von Dr. Rennie berichteten Falles gedacht sein.
Zwei englische Kaufleute fanden Ergötzen daran, in einem Dorfe am Pei-ho alle
Haushunde und deren Junge todtzuschiessen. Nun liebt und hegt der Chinese seinen
Haushund zärtlich und die Jungen sind die Freude der Kinder. Die friedlichen
Landleute wussten sich gegen diese Rohheit nicht zu schützen; erst auf Anzeige
eines anderen Engländers schritt der Consul ein. — Dass Fremde in Tien-tsin
wehrlose Chinesen, ja alte Lasten tragende Männer, welche nicht schnell genug aus-
weichen konnten, niederritten oder zu Boden schlugen, kam nur zu häufig vor.
37).
Im Jahre 1861 geschah es, dass der Repräsentant des Hauses Jardine Mathe-
son in Kan-ton die Ladung eines bei Wam-poa ankernden Schiffes statt dem Ge-
setze gemäss in das Zollhaus, ohne Weiteres unverzollt in seine Magazine schaffen
liess. Das Haus widersetzte sich sogar der Verzollung im Magazin, bis der Consul
dieselbe auf Beschwerde des chinesischen Steuer-Amtes verfügte. Obgleich nun die
einheimischen Behörden, welche nach den Bestimmungen des Vertrages ansehnliche
Summen als Strafzahlung fordern konnten, sich dabei beruhigten, so remonstrirte
das Haus Jardine beim Gesandten in Pe-kiṅ gegen die Entscheidung des Consuls,
wurde aber abgewiesen. — Der gewöhnliche Hergang bei solchen Conflicten ist,
dass die Europäer das erste Unrecht begehen; sie wissen, dass bei weiterer Ent-
wickelung des Rechtsstreites die Chinesen, den europäischen Anschauungen fremd.
Fehler machen werden, welche die Consularbehörden zwingen, auf die Seite ihrer
Schutzbefohlenen zu treten. So ziehen fremde Kaufleute meist auch aus denjenigen
Händeln Gewinn, in welchen sie Unrecht haben.
38).
Von Džehol aus soll sich Kaiser Hien-fuṅ bei dem Hop-po von Kan-ton
für etwa 3000 Pfd. St. Spiegelglas bestellt haben.
40).
14 Li = 1 deutsche Meile.
39).
Džen-tai heisst die Stadt an der Bucht von Tši-fu. Die Fremden bezeichnen
mit letzterem Namen gewöhnlich auch die Stadt.
41).
Schwache Versuche der Darstellung dieser Landschaften finden sich im II. Bande
dieses Werkes und im V. Heft der Ansichten aus Japan, China und Siam.
42).
S. Bd. II., 253.
43).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam VIII.
44).
S. Notes and queries on China and Japan. Dec. 1867. S. 4.
45).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam VIII.
46).
Die Garnison kostete 1830 nach Gützlaff 29,622 Tael, die Civilverwaltung
24,470 Tael; Kirchen und Klöster kosteten 8730 Tael, die ausserordentlichen Aus-
gaben betrugen 46,629 Tael, die Ausgabe im Ganzen also 109,451 Tael gegen eine
Einnahme von 69,183 Tael. — Die Bevölkerung betrug damals 1202 »Weisse« Männer,
2149 »Weisse« Frauen, keineswegs lauter reinblütige Kaukasier, 350 männliche, 779
weibliche Sclaven; 30 Männer und 118 Frauen verschiedener Abstammung. Die
chinesische Bevölkerung wurde damals auf 30,000 Köpfe geschätzt.
47).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam IX.
48).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam IX.
49).
Hien-fuṅ’s kinderlose Wittwe. Die Mutter des Thronerben war eine Frau
aus dem Harem, die erst nach Hien-fuṅ’s Tode zur »Kaiserin« erhoben wurde. An
Rang scheint die Kaiserin-Wittwe über der Kaiserin-Mutter gestanden zu haben;
nur von Jener ist die Rede, wo es sich um die Regentschaft handelt.
50).
Rein formelle Phrasen sind in diesem und den folgenden Documenten unter-
drückt. Die Jahreszahlen sind in die christliche Zeitrechnung übersetzt.
51).
Anspielung auf den Feldzug eines chinesischen Kaisers etwa um 1000 n. Chr.,
welcher die das Reich überfallenden Mongolen schlug.
52).
Der gewöhnliche Ausdruck für die schnellste Art der Courier-Beförderung.
53).
Phra-Klaṅ heisst Grossschatzmeister; Siam’s Beziehungen zu fremden Völkern
scheinen zu allen Zeiten durch Träger dieser Würde vermittelt worden zu sein.
54).
So nennen gewöhnlich die Fremden dieses Kleidungsstück, dessen siamesischer
Namen nach PallégoixLanguti lautet.
55).
Tikal ist der den Fremden geläufige Ausdruck für die grösste coursirende
Silbermünze, welche siamesisch Bat heisst. Doppelte Bat sind nicht im Cours,
werden aber oft vom König verschenkt. Der Tikal oder Bat ist fast kugelrund,
auf einer Seite eingekerbt, mit zwei königlichen Stempeln versehen, und hat 26 Sgr.
5 Pf. Silberwerth. Halbe Bat oder Soṅ-Saluṅ sind wenige im Umlauf, sehr häufig
dagegen der Viertel-Bat oder Saluṅ und der Achtel-Bat oder Fuaṅ; diese Münzen
unterscheiden sich nur durch ihre Grösse vom Tikal. Als Kleingeld dient die Kauri-
Muschel, deren je nach dem Course unter oder über 1200 auf den Fuaṅ gehen.
56).
Das Buch der Mrs. Leonowens, The English governess at the Siamese court,
London 1870, giebt darüber weiteren Aufschluss.
57).
Die französischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts nennen es Louvo.
58).
Es würde zu weit führen, hier die verschiedenen Versionen wiederzugeben;
nur so viel sei gesagt, dass man noch heut nicht weiss, ob Phaulkon mit oder ohne
des Königs Wissen die französischen Truppen herbeirief, ob Phra-Narai ihn er-
morden liess oder Phra-phet-raxa, ob Mompit des Königs Schwiegersohn, Stief-
sohn, Pflegesohn oder natürlicher Sohn war, ob derselbe mit Phaulkon oder mit
Phet-raxa gegen den König conspirirte, ob Phaulkon’s Gemahlin ihm nach seinem
Sturz ins Gesicht spie — oder selbst als Wittwe die rührendste Treue bewahrte.
Für alle diese und ähnlich einander widersprechende Angaben giebt es Autoritäten
von gleichem Werth.
59).
Pallégoix sah in Lophaburi seinen Palast und seine Kirche, auf deren Altar
ein Budda stand, während auf dem Baldachin darüber noch die Worte Jesus homi-
num salvator zu lesen waren.
60).
Die Denkweise siamesischer Grossen beleuchtet eine Aeusserung des Phra-
klaṅ
der auf das Gesuch des Herrn Roberts, ihm den geschlossenen Vertrag in
doppeltem Exemplar zu unterzeichnen, einfach antwortete, das ginge nicht, weil der
Americaner das zweite einem anderen Volke verkaufen möchte.
61).
His Royal Highness Khroma-Luang Wongsa.
62).
Eine schöne siamesische Weise ist mitgetheilt in dem zu Ende des 17. Jahr-
hunderts zu Paris gedruckten Buche des Mons. de La Loubère, Envoyé extraordi-
naire du Roi auprès du Roi de Siam en 1687.
63).
Mrs. Leonowens, Pallégoix und Andere nennen es wohl mit Unrecht Sma-
ragd, denn der Stein ist 12 Zoll hoch, 8 Zoll breit. In das goldene Haar und Hals-
band sind Topase, Sapphire, Rubinen, Amethysten, Onyxe und Diamanten ein-
geschmolzen.
64).
Phra-praṅ heissen die pyramidenartigen Thürme, welche bei vielen
Tempeln zu Ehren des Budda errichtet werden. Ueber den Unterschied zwischen
Phra-praṅ, Phratšedi und Phra-satub giebt Dr. Bastian’s Buch über Siam
(S. 80) Belehrung. Danach scheint Phra-satub der siamesische Ausdruck für die
glockenförmigen Monumente zu sein, die auf Ceylon Dagoba heissen.
65).
Diese und die meisten Schätzungen von Pallégoix sind wahrscheinlich
zu hoch.
66).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam Bl. 60.
67).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam Bl. 59.
68).
So erzählt Mrs. Leonowens in ihrem Buche The English governess at
the Siamese court.
69).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam. Bl. 52.
70).
Pallégoix schätzt die ganze Höhe, wohl zu stark, auf 400 Fuss.
71).
»I have no power, I am not absolute. If I point the end of my walking-
stick at a man, whom, being my enemy, I wish to die, he does not die, but lives
on, in spite of my »absolute« will to the contrary. What does Geographies mean?
How can I be an absolute monarchy.« S. Mrs. Leonowens.
72).
Pallégoix’s Gärtner wollte lieber seinen Dienst verlassen, als das Gewürm
tödten, das er aus dem Boden grub.
73).
Pallégoix. Déscription du Royaume Thai on Siam. I. 126.
74).
Der indische Prinz Gotama stiftete die buddistische Lehre.
75).
Die Bonzen besprengen das Ehebett mit Weihwasser und umwinden es
77 Mal mit Fäden ungesponnener Baumwolle, deren Enden sie bei Recitirung der
Segensformeln in den Händen halten.
76).
Pallégoix hat davon in Briefen der Jesuiten und in den siamesischen Annalen
gelesen, will aber die Wahrheit nicht verbürgen. — Mrs. Leonowens erzählt, dass
König Maha-moṅkut beim Bau eines Thores drei Männer habe aufgreifen und ent-
haupten lassen, nachdem er sie bei glänzendem Gastmahl ermahnt hätte, als Schutz-
engel das Thor treulich zu hüten und jede drohende Gefahr zu melden. — Man
darf trotzdem daran zweifeln, dass dieser blutige Gebrauch noch heut im Schwange ist.
76).
»Colonel« Forrester, der Zweitcommandirende in Ward’s Corps, wurde
gefangen. An Händen und Füssen gefesselt blieb er bis zum folgenden Morgen
ohne Nahrung und sollte dann auf Befehl des Commandirenden gemartert und ent-
hauptet werden, als ein junger Tae-piṅ-Führer sich ins Mittel legte. Nach einigen
Wochen Kerkerhaft bei der dürftigsten Nahrung wurde er bis auf die Haut ausge-
zogen, wie ein Packthier beladen, und musste in der heissen Juli-Sonne bis Tša-pu
marschiren. Dort wurde er besser gehalten und endlich gegen eine Quantität Schiess-
pulver ausgeliefert.
77).
Ueber den Zustand der Stadt schreibt Capitän Dew: »Ich hatte Niṅ-po in
seinen glänzenden Tagen gekannt, als es sich rühmte, eine der ersten Handelsstädte
des Reiches zu sein. Aber jetzt, an diesem 11. Mai, möchte man glauben, dass ein
Engel der Vernichtung in der Stadt und den Vorstädten gehaust hat. Letztere mit
ihren reichen Kaufhäusern und Tausenden von Wohngebäuden waren der Erde
gleich gemacht; in der Stadt selbst, einst der Heimath einer halben Million, war
keine Spur von einem Bewohner zu sehen. Es war eine Todtenstadt. Die reichen
schönen Meublements der Häuser waren als Brennstoff verbraucht oder zum Ge-
78).
Ward verfügte in Niṅ-po bei klarem Bewusstsein über sein im Kriege er-
worbenes Vermögen, 15,000 Pfd. St.; er glaubte 60,000 zu besitzen. In Shang-hae
wurden bei Ankunft seiner Leiche alle Läden geschlossen; die Bewohner erwiesen
ihr durch Beisetzung im Confucius-Tempel die höchste Ehre.
77).
brauch der Soldaten auf die Stadtmauern geschleppt. Die Canäle waren mit Leichen
und stinkendem Unrath gefüllt. … Ich hatte das Glück, nachher noch manche
andere Stadt den Tae-piṅ entwinden zu helfen, und in allen fand sich, dass die-
selben teuflischen Hände gehaust hatten wie in Niṅ-po
79).
Das war der officielle chinesische Namen der Freischaar.
80).
Unter Ward kostete das Corps in einem Jahr 36,000 Pfd. St.; unter Burge-
vine
soll es in drei Monaten 18,000 gekostet haben.
81).
Es kam nachher heraus, dass Burgevine seinem Adjutanten Jones wirk-
lich diesen Vorschlag machte. — Welche Art Mensch er war, beweist folgender
durch die Beweisaufnahme des englischen Vice-Consuls in Shang-hae constatirter
Vorfall. Burgevine lag betrunken in einem Boot, und Jones, sein vertrautester
Freund, redete ihm zu, an das Land zu kommen, weil die Leute spöttische Reden
führten. Auf Burgevine’s Fragen weigerte sich Jones, die Spötter zu nennen; da
schoss ihm Burgevine auf kaum einen Fuss Entfernung seine Pistole in das
Gesicht. Die Kugel ging zur linken Backe hinein und blieb in der Rachenhöhle
stecken. Jones rief: »Du hast auf deinen besten Freund geschossen«. »Das weiss
ich«, antwortete Jener, »und ich wollte, ich hätte dich todtgeschossen«.
82).
Der Rädelsführer war ein Engländer, der unter dem Namen Lin-lee,
wahrscheinlich Lindley, ein abenteuerliches Buch über den Tae-piṅ-Krieg publicirt
hat. Er entkam mit seinem Raube nach England, nachdem er beim Zank über die
Theilung einen seiner Spiessgesellen erschossen hatte. Ein anderer bei der Caperei
betheiligter Engländer, White, wurde nachher in Shang-hae festgenommen und mit
zweijährigem Gefängniss bestraft.
83).
Ein Franzose, der des Mo-waṅ Ermordung beiwohnte, behaup-
tete nachher, von demselben zu Unterhandlungen mit Gordon ermächtigt gewesen
zu sein.
84).
Der Verfasser folgt in diesem ganzen Abschnitt meist dem Buche von
Wilson »The ever victorious army«.
85).
Bei Wu-sie fand man die Firefly wieder. — In Kiaṅ-su nahmen die
Kaiserlichen Wu-sie und Piṅ-waṅ, in Tše-kiaṅPiṅ-hu, Hae-yuen, Kan-
šu
, Hae-niṅ
.
86).
Die für die Lage sehr interessanten Briefe von Sir Frederick Bruce und
Mr. Hart sind in dem Buch von Wilson, The ever victorious army, S. 212 ff.
zu finden.
87).
Des Gebietes unkundig, fuhren die Räuber mitten in die Linien des
General Tšiṅ bei Ka-šiṅ-fu hinein, wurden angehalten und in Shang-hae verurtheilt.
Der Rädelsführer Morris, der auch bei Caperung der Firefly mitwirkte, büsste mit
zehn Jahren Strafarbeit.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bj21.0