Perigenesis der Plastidule.
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Perigenesis der Plastidule
oder die
Wellenzeugung der Lebenstheilchen.
elementaren Entwickelungs-Vorgänge.
Verlag von Georg Reimer.
1876.
Dem
hochverdienten
Curator der Universität Jena
Herrn Geheimen Staatsrath
Dr. MORITZ SEEBECK
widmet diese Schrift am Tage der
fünfundzwanzigjährigen Jubelfeier
seiner erfolgreichen Amtsthätigkeit,
am 9. Mai 1876,
in vorzüglicher Verehrung
der Verfasser.
Seit einem Decennium macht sich in der Naturwissen¬
schaft mit stetig wachsender Kraft, eine, philosophische
Bewegung geltend, deren Wellen immer weitere Kreise
erregen und im Reiche der Philosophie eine entsprechende
naturwissenschaftliche Strömung erzeugt haben. Je gewal¬
tiger einerseits die Masse neuer Entdeckungen anwächst,
welche der emsige Fleiss zahlreicher Beobachter auf allen
Gebietstheilen der Naturwissenschaft zusammenhäuft, desto
stärker empfinden alle denkenden Naturforscher das Be¬
dürfniss, einheitliche philosophische Gesichtspunkte für
deren Verständniss zu gewinnen und von der Kenntniss
der Thatsachen zur Erkenntniss der Ursachen emporzu¬
steigen. Je weniger anderseits die zahlreichen, der Empirie
feindlich gegenüberstehenden Systeme der metaphysischen
Speculation einen bleibenden Erfolg erringen konnten, desto
mehr drängt sich den weiter blickenden Philosophen die
Ueberzeugung auf, dass nur auf der sicheren Basis jener
empirischen Errungenschaften ein dauerhaftes System der
Erkenntniss errichtet werden kann, und dass dabei noth¬
[8] wendig die Kenntniss der Thatsachen der Erkenntniss ihrer
Ursachen vorausgehen muss.
Unter den mancherlei Umständen, welche diese erfreu¬
liche Annäherung der Philosophie und der Naturwissen¬
schaft herbeigeführt und begünstigt haben, ist unstreitig am
wichtigsten die Umgestaltung der Entwickelungslehre,
zu welcher Charles Darwin durch sein epochemachendes
Werk „über die Entstehung der Arten“ den ersten Anstoss
gab. Wenn dieser grosse Naturforscher es auch vorsichtig
vermied, seiner Selections-Theorie und der dadurch refor¬
mirten Descendenz-Theorie das Gewand eines philosophi¬
schen Systems zu geben und die damit verbundenen Con¬
sequenzen zu ziehen, so kann doch kein tiefer Blickender
mehr zweifeln, dass der beispiellose Erfolg von Darwin's
Schriften nicht in dem ungeheuren Reichthum der zusam¬
mengestellten empirischen Thatsachen, sondern in deren
geistvoller Erklärung und Verknüpfung durch das gemein¬
same Band der Entwickelungs-Theorie liegt. Diese ein¬
heitliche Erklärung der verschiedenartigsten Erscheinungen
ist aber eine philosophische That.
Den ersten umfassenden Versuch, die philosophischen
Grundgedanken der neu erstandenen Entwickelungslehre
systematisch auszubilden, und insbesondere die Wissen¬
schaft von den organischen Formen durch die Descendenz-
Theorie mechanisch zu begründen, unternahm ich vor zehn
Jahren in meiner „generellen Morphologie der Organismen“.
Wie verfehlt und übereilt dieser Versuch in vieler Beziehung
auch war, so haben sich doch manche darin niedergelegte
neue Vorstellungen inzwischen als naturgemäss und frucht¬
bar erwiesen. Das scheint mir namentlich von meiner Auf¬
[9] fassung der beiden Hauptzweige der organischen Ent¬
wickelungsgeschichte und des zwischen Beiden bestehenden
ursächlichen Zusammenhanges zu gelten.
Bisher hatte man unter „Entwickelungsgeschichte“
schlechtweg nur diejenige der individuellen organischen
Formen verstanden, die sogenannte „Embryologie“ und
die „Metamorphologie“ (oder embryonale und postembryo¬
nale Entwickelungsgeschichte), die beide unter dem Be¬
griffe der Keimesgeschichte oder Ontogenie zusammen¬
gefasst werden können. Aber diese Ontogenie ist nur
ein Hauptzweig der Biogenie oder der allumfassenden
„Entwickelungsgeschichte der Organismen.“
Als zweiter Hauptzweig steht ihr gegenüber die
paläontologische Entwickelungsgeschichte der organischen
Arten und Stämme, der Formen-Ketten welche im ununter¬
brochenen Zusammenhange ungezählter Generationen von
Anbeginn des organischen Lebens auf unserem Planeten
bis zur Gegenwart sich entwickelt haben. Diese Ent¬
wickelungsgeschichte der Generationsreihen, „Paläontologie
und Genealogie“ umfassend, wird am besten kurz als
Stammesgeschichte oder Phylogenie bezeichnet.
Keimesgeschichte und Stammesgeschichte, Ontogenie
und Phylogenie, sind nach meiner Auffassung zwei Wissen¬
schaften, welche in dem engsten und unmittelbarsten ur¬
sächlichen Zusammenhang stehen. Dass Beide sich in so
verschiedenem Maasse entwickelten, dass die ältere Keimes¬
geschichte früher allein als die „eigentliche Entwickelungs¬
geschichte“ galt, während die jüngere Stammesgeschichte
erst vor zehn Jahren zu selbständiger Geltung kam und
selbst heute noch vielfach nicht anerkannt wird, das liegt
[10] einerseits an der verschiedenartigen empirischen Methode,
andererseits an den ungleichen theoretischen Ansprüchen
beider Disciplinen. Denn die individuelle Entwickelung
der Organismen, ihre Keimesentwickelung oder Ontogenesis,
ist ein rascher Bildungsprocess, welcher in kürzester Zeit
unter unseren Augen verläuft, und dessen äussere Er¬
scheinungsreihe wir unmittelbar von Anfang bis zu Ende
verfolgen können, meist innerhalb weniger Wochen oder
Monate, selten in längerer Zeit. Schritt für Schritt, und
Stufe für Stufe, können wir hier durch zusammenhängende
Beobachtung die veränderliche Formenreihe erkennen,
welche jedes einzelne Thier, jede einzelne Pflanze vom
Ei bis zur Vollendung durchläuft. Hingegen ist die
paläontologische Entwickelung der Organismen, ihre
Stammesentwickelung oder Phylogenesis, ein langsamer
Bildungsprocess, der ungeheuere Zeiträume erfüllt, dessen
einzelne Schritte nach Jahrtausenden, dessen wahrnehm¬
bare Wegstrecken, geologischen Formationen entsprechend,
nach Hunderttausenden und Millionen von Jahren zu be¬
messen sind. Der Unterschied zwischen einer Secunden-
Uhr, deren Zeiger seinen Kreislauf innerhalb einer Minute,
und einer Jahres-Uhr, deren Zeiger den seinigen im Verlauf
von 365 Tagen vollendet, ist nicht so gross, wie die
Differenz zwischen dem athemlosen Geschwindschritt der
Keimesgeschichte und dem kaum wahrnehmbaren Dahin¬
schleichen der Stammesgeschichte. Was aber noch viel
mehr ins Gewicht fällt, das ist die mangelhafte empirische
Basis der letzteren. Die paläontologische „Schöpfungs¬
urkunde“, welche uns unmittelbar in der Reihenfolge der
Versteinerungen die Bilder-Gallerie der ausgestorbenen
[11] Vorfahren unserer heutigen Organismen aufdecken sollte,
ist aus bekannten Gründen im höchsten Maasse unvollständig
und lückenhaft. Sie würde uns selbst in ihren sehr wich¬
tigen Rest-Fragmenten kaum verständlich sein, wenn
wir nicht zu ihrer Ergänzung und Ausfüllung zwei andere,
höchst werthvolle Urkunden besässen: Die vergleichende
Anatomie und Ontogenie. Welche hohe Bedeutung hier
insbesondere der „vergleichenden Anatomie“ zukommt, hat
vor Allen Carl Gegenbaur in seinen mustergültigen Arbeiten
gezeigt. Durch die gründliche Kenntniss, die denkende Ver¬
gleichung und die kritische Benutzung dieser drei wichtigsten
„Schöpfungs-Urkunden“, der vergleichenden Anatomie, On¬
togenie und Paläontologie, wird es uns möglich, die Grund¬
züge der Phylogenie oder Stammesgeschichte zu erkennen.
Von der höchsten Wichtigkeit dafür ist vor Allem der
unmittelbare Causal-Nexus zwischen Ontogenie und Phylo¬
genie. Dieser bedeutungsvolle ursächliche Zusammenhang,
den schon die ältere Naturphilosophie vor einem halben
Jahrhundert ahnte, und den nächst Darwin vor Allen Fritz
Müller betonte, lässt sich in folgendem Satze formuliren:
„Die Formenreihe, welche der individuelle Organismus
während seiner Entwickelung von der Eizelle an bis zu
seinem ausgebildeten Zustande durchläuft, ist eine kurze
gedrängte Wiederholung der langen Formenreihe, welche
die thierischen Vorfahren desselben Organismus, oder die
Stammformen seiner Art von den ältesten Zeiten der so¬
genannten organischen Schöpfung an bis auf die Gegenwart
durchlaufen haben.“ (Vergl. die gen. Morphol., Bd. II.,
S. 295–300. Jenaische Zeitschr. für Naturw. Bd. VIII.,
S. 5; Bd. IX., S. 409; Bd. X., Suppl., S. 77.)
Mit anderen Worten: „Die Keimesentwickelung ist ein
Auszug der Stammesentwickelung; um so vollständiger, je
mehr durch Vererbung die Auszugs-Entwickelung oder
Palingenesis beibehalten wird; um so weniger vollständig,
je mehr durch Anpassung die Fälschungs-Entwickelung
oder Cenogenesis eingeführt wird.“
Wie dieses biogenetische Grundgesetz der wahre
Ariadne-Faden ist, der uns durch das verschlungene La¬
byrinth der Stammesgeschichte leitet, das glaube ich in
meiner Gastraea-Theorie an dem Beispiele der Gastrula für
das ganze Thierreich gezeigt zu haben. In meiner Mo¬
nographie der Kalkschwämme habe ich dasselbe für
sämmtliche stammverwandte Formen dieser kleinen Thier¬
gruppe auf das genaueste im Einzelnen nachgewiesen, und
in meiner Anthropogenie an dem besonderen Beispiele der
Entwickelungsgeschichte des Menschen nachzuweisen ver¬
sucht. Alle Vorgänge in der Keimesgeschichte sind ent¬
weder palingenetischer oder cenogenetischer Natur.
Nachdem nun die Vererbung als die bewirkende Ur¬
sache der Palingenesis, die Anpassung als die „causa
efficiens“ der Cenogenesis und Beide zusammen als die
wesentlichen Factoren der Ontogenesis erwiesen waren,
musste, es als nächste Aufgabe erscheinen, die Vererbung
und Anpassung selbst als physiologische Functionen der
Organismen näher zu ergründen.
In der „generellen Morphologie“ hatte ich die Ver¬
erbung mit der Fortpflanzung, die Anpassung mit der
Ernährung in unmittelbaren physiologischen Zusammenhang
gebracht und damit die Möglichkeit einer mechanischen
Auffassung und einer physikalisch-chemischen Erklärung
[13]
auch für jene beiden wichtigsten „formbildenden Functionen“
der Organismen dargethan. Denn wenn die heutige Phy¬
siologie mit vollem Rechte dem Vitalismus und der Tele¬
ologie ihre Pforte verschliesst, wenn sie jede mystische
und übernatürliche Action nach Art der „Lebenskraft“
verwirft und auf ihrem Gebiete nur physikalisch-chemische
— oder in weiterem Sinne „mechanische“ — Kräfte
wirken lässt, so muss sie auch für die beiden wichtigsten
Lebensthätigkeiten der Formbildung, für die Vererbung
und Anpassung, eine solche mechanische Erklärung suchen.
Und wenn unser grosser kritischer Philosoph Immanuel Kant
mit vollem Rechte an die Naturwissenschaft die Forderung
stellt, überall mechanische Ursachen (causae efficientes) an
die Stelle der zweckthätigen Ursachen (causae finales) zu
setzen; wenn Kant ferner behauptet, dass der Mechanismus
allein eine wirkliche Erklärung der Erscheinungen ein¬
schliesse, und dass es „ohne das Princip des Mechanismus
in der Natur überhaupt keine Naturwissenschaft geben
könne“, so werden wir auch für unsere Entwickelungs¬
geschichte als echte Naturwissenschaft diesen monistischen
Standpunkt als den allein berechtigten anerkennen und für
die physikalischen Thatsachen der organischen Entwickelung
auch nur nach mechanischen Ursachen suchen dürfen.
Nun hat aber die moderne Physiologie, der eigentlich
diese Aufgabe zufällt, bis heute noch nicht den Versuch
gewagt, die Vererbung und Anpassung in diesem Sinne
wirklich in Angriff zu nehmen und die Elementar-Vor¬
gänge in beiden physiologischen Functionen aufzusuchen.
Einen einzigen derartigen Versuch hat bis jetzt nur Charles
Darwin unternommen, als er 1868 seine „provisorische
[14] Hypothese der Pangenesis“ aufstellte. Es geschah
dies im zweiten Bande des werthvollen Werkes über „das
Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Do¬
mestication“ (27. Capitel). In der kürzlich erschienenen
zweiten Auflage dieses Werkes (1875) hat Darwin seine
Pangenesis-Hypothese noch ausführlicher und mit einigen
Modificationen vorgetragen, und ich gebe hier zunächst
ihren Kern mit denselben Worten, mit denen sie ihr Be¬
gründer daselbst zusammenfasst (Vol. II. p. 369). „Es
wird allgemein zugegeben, dass die Zellen oder Einheiten
des Körpers sich durch Selbsttheilung oder Knospung
vermehren, wobei sie dieselbe Natur beibehalten; und dass
sie schliesslich in die verschiedenen Gewebe und Substanzen
des Körpers verwandelt werden. Aber ausser diesen Ver¬
mehrungsweisen nehme ich an, dass die Einheiten (oder
Zellen) kleine Körnchen abgeben, welche durch das ganze
System (des Körpers) zerstreut werden; dass diese, wenn
sie mit gehöriger Nahrung versorgt werden, sich durch
Selbsttheilung vervielfältigen, und schliesslich zu Einheiten
(oder Zellen) entwickelt werden, gleich denen, von denen
sie ursprünglich abgeleitet sind. Diese Körnchen können
„Keimchen“ (oder „Gemmules“) genannt werden. Sie
sammeln sich aus allen Theilen des Körpers, um die Ge¬
schlechtselemente zusammenzusetzen, und ihre Entwickelung
in der nächsten Generation bildet ein neues Wesen; aber
sie sind gleicherweise auch fähig, in einem schlummernden
Zustande an künftige Generationen überliefert und dann
erst entwickelt zu werden. Ihre Entwickelung hängt ab
von ihrer Vereinigung mit anderen, theilweise entwickelten
oder entstehenden Zellen, welche ihnen im regelmässigen
[15] Verlaufe des Wachsthums vorausgehen. Warum ich den
Ausdruck „Vereinigung“ gebrauche, wird sich zeigen,
wenn wir die directe Einwirkung des Pollens auf die Ge¬
webe der Mutterpflanze erörtern. Es wird angenommen,
dass Keimchen von jeder Einheit oder Zelle nicht blos
während ihres erwachsenen Zustandes abgegeben werden,
sondern auch während jedes Entwickelungszustandes eines
jeden Organismus; aber nicht nothwendig während der
fortgesetzten Existenz derselben Zelle. Endlich nehme ich
an, dass die Keimchen in ihrem schlummernden Zustande
eine gegenseitige Verwandtschaft zu einander haben, welche
zu ihrer Anhäufung entweder zu Knospen oder zu Sexual-
Elementen führt. Daher sind es nicht die Geschlechts-
Organe oder die Knospen, welche neue Organismen erzeugen,
sondern die Einheiten oder Zellen, aus denen jedes Indi¬
viduum zusammengesetzt ist.“
Dies ist mit kurzen Worten die „Provisorische Hypothese
der Pangenesis“ von Charles Darwin. Ihre ausführliche
Auseinandersetzung und Begründung, ihre Anwendung auf
die verschiedenen Haupterscheinungen der organischen
Entwickelung und namentlich ihre Benutzung zur Erklärung
der Vererbungs- und Anpassungs-Phänomene ist in dem
Original-Werke selbst nachzusehen; einem Werke, welches
durch die fleissige Zusammenstellung und kritische Sichtung
eines unendlich reichen Beobachtungs-Materials, wie durch
die geniale Auffassung und klare Darlegung desselben uns
den grossen britischen Forscher in seiner ganzen Be¬
deutung zeigt.
Charles Darwin selbst hat seine „Hypothese der Pan¬
genesis“ von Anfang an als eine provisorische bezeichnet,
[16] als einen ersten Versuch, die Gesammtheit der organischen
Entwickelungsprocesse auf ihre elementaren Ursachen zu¬
rückzuführen und sie so von einem einheitlichen causalen
Gesichtspunkte aus zu erklären. Gleich seiner Selections-
Theorie hat auch diese Pangenesis-Hypothese sofort das
lebhafteste Interesse erweckt und von der einen Seite
ebenso lebhaften Beifall, als von der anderen entschiedenen
Widerspruch erfahren. Ich selbst habe in meinen bis¬
herigen Arbeiten dieselbe nicht berührt und habe so¬
wohl in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte und in
der Anthropogenie, wie in meinen übrigen Beiträgen zur
Entwickelungslehre bis heute die Pangenesis absichtlich
mit Stillschweigen übergangen. Ich brauche wohl nicht
hinzuzufügen, dass weder Mangel an Interesse noch an
Hochachtung vor dem scharfsinnigen Autor mich zu diesem
Stillschweigen veranlasst hat. Vielmehr liegt der wahre
Grund desselben in Folgendem: von Anfang an, und sofort
nachdem ich vor acht Jahren mit der Pangenesis bekannt
geworden, habe ich mich in entschiedenem inneren Wider¬
spruche mit derselben befunden; einem Antagonismus, der
um so stärker und unüberwindlicher wurde, je mehr ich
durch eingehendstes Nachdenken mich mit der Pangenesis
zu befreunden und durch ihre Anwendung auf die ver¬
schiedensten Erscheinungen der Entwickelung ihre Brauch¬
barkeit zu erkennen suchte. Nun war ich aber stets und
bin auch noch heute von viel zu hoher Verehrung für
Charles Darwin, von viel zu aufrichtiger Bewunderung für
seine leitenden Ideen erfüllt, als dass ich einer so um¬
fassenden und grossartig angelegtes Hypothese hätte ent¬
gegentreten und ihre Widerlegung versuchen mögen, ohne
[17] irgend etwas Anderes an ihre Stelle setzen zu können.
Wenn ich nun heute diesen Versuch hier wage, so ge¬
schieht es, weil einige, vor zehn Jahren in der „Gene¬
rellen Morphologie“ niedergelegte Keime sich inzwischen
zu einer eigenen Hypothese entwickelt haben, welche mir
mehr innere Wahrscheinlichkeit als die Pangenesis zu be¬
sitzen scheint und von der ich selbst hoffen zu dürfen
glaube, dass sie sich zum Range einer genetischen Mole¬
cular-Theorie wird ausbilden lassen. Ich bezeichne diese
Hypothese als die „Perigenesis der Plastidule“ oder
um eine möglichst entsprechende deutsche Bezeichnung zu
versuchen, als die „Wellenzeugung der Lebens¬
theilchen.“
Um Missverständnisse zu vermeiden und der irrigen,
gegen die Kohlenstofftheorie und gegen andere meiner
theoretischen Speculationen geltend gemachten Ansicht
vorzubeugen, dass ich ein neues „Dogma“ in die Natur¬
wissenschaft einführen wolle, bemerke ich zum voraus,
dass ich auch diese „Perigenesis der Plastidule“ zunächst
nur als eine „provisorische Hypothese“ betrachte;
wenngleich ich die Hoffnung hege, dass darin die Keime
zu einer umfassenden Theorie liegen, von der aus vielleicht
künftig die Gesammtheit der organischen Entwickelungs-
Phänomene sich streng mechanisch, aus physikalisch-che¬
mischen Elementar-Vorgängen wird erklären lassen. Zu¬
gleich erkläre ich mit Bezug auf Charles Darwin, meinen
hochverehrten Freund und Meister, dass meine Opposition
sich ausschliesslich auf seine „Pangenesis“ bezieht, wäh¬
rend ich seine übrigen theoretischen Anschauungen —
insbesondere sein eigenstes Werk. die Selectionstheorie mit
Haeckel, Perigenesis der Plastidule. 2[18] ihren Consequenzen — nach wie vor vollständig theile
und nach Kräften vertrete. Diese Erklärung ist sicher
überflüssig gegenüber Darwin selbst. Denn der grosse
britische Naturforscher, der eine neue und unendlich frucht¬
bare Epoche der Biologie einleitete, und dem ich selbst
die grösste Anregung für meine Arbeiten verdanke, ist
viel zu fest von meiner aufrichtigen Dankbarkeit und
treuen Hingebung überzeugt, als dass er durch meine Be¬
kämpfung der Pangenesis und die Gegenüberstellung der
Perigenesis irgendwie daran irre gemacht werden könnte.
Dagegen erscheint diese Erklärung wohl geboten durch
die Taktik zahlreicher Gegner der Descendenz-Theorie,
welche jede, im Lager ihrer Anhänger auftretende
Meinungsdifferenz mit Freuden als Zeichen ihrer inneren
Unsicherheit begrüssen. Ich hebe daher nochmals aus¬
drücklich hervor, dass Darwin's Selections-Theorie und die
durch letztere neu begründete Descendenz-Theorie nach
meiner Ueberzeugung unerschütterlich feststehen und durch
die hier folgenden speculativen Erörterungen nicht im
Mindesten bedroht werden. Hier handelt es sich blos um
eine Hypothese zur mechanischen Erklärung der elemen¬
tarsten Entwickelungs-Vorgänge. Mag die Pangenesis oder
mag die Perigenesis richtig sein, oder mögen beide falsch
sein, die Descendenz-Theorie von Lamarck und die Selec¬
tions-Theorie von Darwin werden dadurch nicht im Ge¬
ringsten erschüttert.
Zur Begründung unserer Perigenesis gehen wir von
derjenigen Anschauung der organischen Welt aus, welche
sich unmittelbar auf die Natur ihrer erkennbaren Ele¬
mentartheile stützt und welche in der herrschenden Zellen¬
[19] Theorie ihren umfassendsten Ausdruck findet. Seitdem
die Zellen-Theorie im Jahre 1838 hier in Jena durch
den genialen Botaniker Schleiden für das Pflanzenreich
begründet und im folgenden Jahre von Schwann auf das
Thierreich ausgedehnt wurde, gilt dieselbe in der Botanik
wie in der Zoologie, in der Morphologie wie in der Phy¬
siologie der Organismen mit vollem Rechte als die feste
Basis und als der unerschütterliche Ausgangspunkt für
jede elementare Untersuchung. Wie sehr auch der Be¬
griff der „Zelle“ in den seither verflossenen 38 Jahren
sich veränderte, wie grossartig auch die Zellen-Theorie
im Inneren überall ausgebaut und im Aeusseren erweitert
wurde, ihr Grundgedanke ist unverändert derselbe geblieben
und hat sich zu immer höherer Geltung erhoben. Dieser
Grundgedanke liegt darin, dass wir die mikroskopischen
Zellen als selbstständige Lebewesen, als physiologisch
und morphologisch autonome Organismen anzusehen haben;
Brücke hat sie deshalb passend als Elementar-Organismen
bezeichnet, Virchow als Lebensheerde. Darwin als Lebens¬
einheiten; mit Beziehung auf die übergeordneten Stufen
der organischen Individualität (Organ, Person, Stock)
habe ich sie in der generellen Morphologie als „Indi¬
viduen erster Ordnung“ unten an die Basis der ana¬
tomischen Individualitätslehre gestellt. Vor allen an¬
deren Naturforschern hat Rudolf Virchow das bleibende
Verdienst, in diesem Sinne die Zellenlehre nach allen
Richtungen hin durchgeführt und durch seine „Cellular-
Pathologie“ der neueren Medicin die feste histologische
Basis gegeben zu haben; und wenn ich selbst zum elemen¬
taren Ausbau der Entwickelungslehre Einiges beitragen
2*[20] konnte, so danke Ich es zum grossen Theile den cellular¬
biologischen Anschauungen, mit denen mich der Unter¬
richt Virchow's vor zwanzig Jahren in Würzburg durch¬
drungen hat. Seiner Anschauung folgend betrachte ich
jeden höheren Organismus als eine organisirte sociale
Einheit, als einen Staat, dessen Staatsbürger die einzelnen
Zellen sind. Wie in jedem civilisirten Staate die einzelnen
Staatsbürger zwar bis zu einem gewissen Grade selbst¬
ständig, aber zugleich durch die Arbeitstheilung von ein¬
ander abhängig und den Gesetzen des Ganzen unterworfen
sind, so geniessen auch im Körper jedes höheren Thieres
und jeder höheren Pflanze die zahllosen mikroskopischen
Zellen zwar bis zu einem gewissen Grade ihre individuelle
Selbstständigkeit, sind aber ebenso durch die Arbeits¬
theilung ungleichartig ausgebildet und von einander ab¬
hängig; zugleich werden sie durch die Gesetze des cen¬
tralisirten Ganzen mehr oder minder beherrscht. Dieser
vollkommen zutreffende und oft angewendete politische
Vergleich ist kein entferntes Sinnbild, sondern beansprucht
reale Geltung; die Zellen sind wirkliche Staatsbürger.
Er kann auch noch weiter dahin ausgedehnt werden, dass
wir den straffer centralisirten Thierkörper als eine Zellen-
Monarchie, den weniger centralisirten Pflanzenorganismus
als eine Zellen-Republik betrachten. Wie uns die ver¬
gleichende Staatswissenschaft in den gegenwärtig noch
existirenden Staatenbildungen der Menschheit eine lange
Reihe der aufsteigenden Vervollkommnung von den rohen
Horden der Wilden bis zum höchst entwickelten Cultur¬
staate vorführt, so zeigt uns auch die vergleichende Ana¬
tomie der Thiere und Pflanzen eine lange Stufenleiter
[21] zunehmender Vervollkommnung im Zellen-Staate. Da
treffen wir unten, auf der tiefsten Stufe der Association
und Gemeindebildung der Zellen, die niederen Algen und
Pilze, die Schwämme und Korallen, die mit ihrer geringen
Arbeitstheilung und Centralisation sich nicht über den Rang
roher Wildenhorden erhoben haben. Hingegen finden wir
oben auf der Höhe der Entwickelung die gewaltige Zellen-
Republik des Baumes, die bewunderungswürdige Zellen-
Monarchie des Wirbelthieres, in welchen die mannigfaltige
Ausbildung und Arbeitstheilung der constituirenden Zellen
zur Entstehung der verschiedensten Organe Veranlassung
gegeben hat, und in welchen die Coordination und Sub¬
ordination der Stände, das Zusammenwirken für die
Wohlfahrt des Ganzen, die Centralisation der Regierung,
kurz mit einem Worte die „Organisation“, eine erstaun¬
liche Höhe erreicht hat. Gewöhnlich nimmt man irrthüm¬
lich an, dieser grosse verwickelte Organismus mit seiner
„zweckmässigen Einrichtung“ könne nur durch einen vor¬
bedachten Schöpfungsplan ins Leben gerufen sein. Und
doch hat sich dieser planvoll organisirte Zellenstaat im
Laufe vieler Millionen Jahre ohne vorbedachten „Zweck“
ganz ebenso nothwendig durch das Zusammenwirken und
die historische Ausbildung der constituirenden Zellen ent¬
wickelt, wie sich der menschliche Culturstaat im Laufe
weniger Jahrtausende Schritt für Schritt durch die
Wechselwirkung und die fortschreitende Arbeitstheilung
der Staatsbürger entwickelt hat. Die Culturgeschichte
der Menschheit erklärt uns die Organisationsgeschichte
der vielzelligen Organismen.
Dieser politische Grundgedanke der Zellen-Theorie, von
[22] dem das ganze Verständniss der Biologie abhängt, wird
durch die Entwickelungsgeschichte gerechtfertigt. Jeder
höhere und jeder niedere vielzellige Organismus entwickelt
sich ursprünglich aus einer einzigen Zelle, aus der Eizelle;
und wie wir diesen einzelligen Ursprung an jedem Indivi¬
duum unmittelbar beobachten können, so dürfen wir ihn
für jeden organischen Stamm, für jede Gruppe von stamm¬
verwandten Arten unbedenklich annehmen. Die empirisch
nachgewiesene einzellige Keimform ist nach unserem bio¬
genetischen Grundgesetze die Wiederholung einer ent¬
sprechenden, ausgestorbenen, unbekannten Stammform. Die
Beschaffenheit solcher einzelligen Stammformen wird uns
wieder vortrefflich erläutert durch die zahlreichen, heute
noch lebenden einzelligen Organismen, z.B. die Amoeben,
Flagellaten, Diatomeen u. s. w. Das sind wilde Einsiedler,
die ihr freies, selbstständiges Leben als Einzelzelle beibe¬
halten und sich nicht zur Association und Staatenbildung
entschliessen können.
Festhaltend an diesem cellular-politischen Grundge¬
danken, der den eigentlichen Schwerpunkt für das Ver¬
ständniss der Zellen-Theorie bildet, müssen wir nun die
wichtigsten Wandelungen kurz berühren, welche die letztere
in neuester Zeit erlitten hat. Als folgenschwerster Fort-
schritt ist da zunächst die Protoplasma-Theorie zu er¬
wähnen, welche zuerst von Ferdinand Cohn 1850 aufgestellt.
dann von Max Schultze 1861 weiter ausgebildet wurde und
in England eine ähnliche Formulirung durch Lionel Beale
1862 erfuhr. Ausgehend von der Aehnlichkeit, welche
unter dem Mikroskope die Structur des gewöhnlichen
Pflanzengewebes auf dem Durchschnitte mit einer Bienen¬
[23] wabe zeigt, hatte man die selbstständigen aber dicht an
einander liegenden Elementartheile des ersteren mit den
Honigzellen der letzteren verglichen und danach eben
„Zellen“ genannt. Hier wie dort schien die „Zelle“ ein
geschlossenes, mit Flüssigkeit erfülltes Säckchen oder
Bläschen zu sein. Bald aber zeigte es sich, dass bei sehr
vielen Zellen eine äussere, feste, umschliessende Hülle,
eine eigentliche Zellmembran, ganz fehlt; und dass die Zelle
wesentlich nur aus dem weichen, nicht flüssigen, sondern
festflüssigen „Zelleninhalte“, richtiger der eigentlichen
„Zellsubstanz“ besteht. Diese Zellsubstanz wird bald aus¬
schliesslich, bald zu ihrem wichtigsten Theile aus einem
eiweissartigen Stoffe gebildet, welchen zuerst Hugo v. Mohl
erkannte und als Protoplasma, als „das zuerst Gebildete“
bezeichnete. Das Protoplasma oder die eigentliche „Zell¬
substanz“ im engeren Sinne ist überall eine stickstoffhaltige
Kohlenstoff-Verbindung von sehr verwickelter chemischer
Zusammensetzung: sie befindet sich an der lebenden Zelle
stets in einem weichen, festflüssigen Dichtigkeits- oder
Aggregats-Zustande; was aber das Wichtigste ist, sie
erscheint als der eigentliche Träger der Lebens-Erschei¬
nungen, als der active Factor des Zellenlebens: das Proto¬
plasma vollzieht die Functionen der Ernährung und Fort¬
pflanzung, der Empfindung und Bewegung: das Protoplasma
ist die eigentliche „Lebens-Substanz“, oder wie Huxley
sagt: „die physikalische Basis des Lebens.“
Während so das Protoplasma oder „die lebendige Zell¬
substanz“ in den Vordergrund der Zellen-Theorie trat,
wurden durch diese primäre, active Lebens-Substanz
bald alle anderen, noch im entwickelten Organismus be¬
[24] findlichen Gewebes-Elemente — insbesondere die Zellmem¬
branen und die Intercellular-Substanzen — als secundäre
accessorische Bestandtheile, als passive „Protoplasma-Pro¬
ducte“ in den Hintergrund gedrängt. Nur ein einziger
weiterer Bestandtheil machte davon eine wichtige Aus¬
nahme, der schon von Schleiden und Schwann hervorgehobene
Zellkern (Nucleus oder Cytoblastus): ein kleinerer, vom
Protoplasma umschlossener Körper, welcher diesem in
chemischer und physiologischer Beziehung zwar sehr nahe
verwandt, aber doch wesentlich davon verschieden und
morphologisch gesondert ist. Früher nur für einen un¬
wesentlichen und oft fehlenden Zellbestandtheil gehalten,
stellte sich der Zellkern immer mehr als ein allgemein ver¬
breiteter und höchst wichtiger Zellbestandtheil heraus.
Zuletzt ergab sich, dass jede echte Zelle entweder zeit¬
lebens oder doch wenigstens in ihrer frühesten Jugend
einen echten Zellkern besitzt und dass dieser mindestens
für gewisse Vorgänge des Zellenlebens, insbesondere für
die Zelltheilung, eine ebenso grosse oder grössere Bedeu¬
tung als das Protoplasma besitzt. Insbesondere haben uns
die ausgezeichnet sorgfältigen Untersuchungen der neuesten
Zeit, von Eduard Strasburger, Oscar Hertwig, Leopold Auer¬
bach, Otto Bütschli u. A. darüber die wichtigsten Aufschlüsse
gegeben. Ist auch im Einzelnen die wichtige Rolle des
Zellenkerns noch nicht ganz festgestellt, so bleibt jetzt doch
so viel sicher, dass der Zellenkern mit und neben dem
Protoplasma als wichtigster lebendiger Zellbestandtheil im
Vordergrund des Zellenlebens steht. Es war daher voll¬
kommen gerechtfertigt, wenn ich in der generellen Mor¬
phologie Nucleus und Protoplasma als die beiden wesent¬
[25] lichen, zum Begriff der Zelle unentbehrlichen Bestandtheile
derselben bezeichnete, und sie als active Zellbestandtheile
den passiven „Plasma-Producten“ gegenüberstellte.
Ein weiterer Fortschritt in unserer Erkenntniss der
Elementar-Organe wurde durch die Entdeckung der Moneren
herbeigeführt. Im Jahre 1864 beobachtete ich im Mittel¬
meer bei Nizza zum ersten Male einen einfachsten Orga¬
nismus, dessen ganzer Körper nicht blos während seiner
Entwickelung, sondern auch in vollkommen entwickeltem
und frei beweglichem Zustande aus einem homogenen und
structurlosen Stückchen Protoplasma ohne Kern und ohne
alle differenten Formtheile bestand. Dieser „Protogenes
primordialis“ führte also zum ersten Male den Beweis,
dass es noch einfachere Organismen, als die einzelligen
giebt: Lebewesen, deren Körper noch nicht einmal den
Formwerth einer einfachsten Zelle erreicht, sondern in sich
so gleichartig und homogen erscheint, wie ein Krystall.
Schon im folgenden Jahre (1865) wurden zwei ähnliche
Organismen von Cienkowski im Süsswasser entdeckt und
als Vampyrella und Monas (richtiger: Protomonas) be¬
schrieben. Ich fasste darauf in der generellen Morpho¬
logie (Bd. I. S. 133; Bd. II. S. 22) diese niedersten Lebe¬
wesen, bei denen uns der lebendige Organismus „nicht
nur unter der einfachsten wirklich beobachteten Form,
sondern auch unter der einfachsten überhaupt denkbaren
Form entgegentritt,“ unter dem Namen Moneren (oder
„Einfache“) zusammen, und wies auf die hohe Bedeutung
hin, welche denselben gegenüber allen anderen Organismen
zukommt. Alle anderen Lebewesen, alle Thiere und
Pflanzen, und auch alle neutralen Protisten sind aus ver¬
[26] schiedenartigen Bestandtheilen zusammengesetzt; selbst die
einfachsten von ihnen, die einzelligen Formen, bestehen
mindestens aus zwei verschiedenen Theilen, aus dem Pro¬
toplasma und dem davon umschlossenen Zellkern. Einzig
und allein die Moneren entbehren einer solchen Zusammen¬
setzung vollständig; ihr protoplasmatischer Körper, ein
einfachstes lebendiges Schleimkügelchen, hat es noch nicht
einmal zur Bildung eines Nucleus gebracht; sie sind in
Wahrheit „Organismen ohne Organe.“ Alle Functionen
des Lebens, Ernährung und Fortpflanzung, Empfindung
und Bewegung, werden von diesen Moneren ausgeführt,
ohne dass irgend welche verschiedenen Theile für diese
verschiedenen Thätigkeiten gesondert sind. Jedes Theilchen
kann Alles leisten, was das Ganze leistet. Mithin ist hier,
wie beim Krystall, jedes kleinste Theilchen der homogenen
chemischen Verbindung, jedes Molekül in physiologischer
oder physikalisch-chemischer Beziehung gleich dem ganzen
Körper. Daher stehen auch die Moneren auf der Grenze
zwischen organischer und anorganischer, zwischen so¬
genannter „lebendiger und todter Natur.“ Daher können
sie allein uns auch eine Vorstellung davon geben, wie
ursprünglich die erstere aus der letzteren entstanden ist,
sie allein können uns das grosse Problem der Entstehung
des Lebens lösen. Nur Moneren konnten ursprünglich durch
Selbstzeugung oder Autogonie aus anorganischer Materie
entstehen (Gen. Morph. V.Capitel).
Die ausserordentlich hohe morphologische und phy¬
siologische Bedeutung, welche demgemäss den Moneren
zukommt und welche ich schon 1866 in der generellen
Morphologie hervorgehoben hatte, führte ich dann weiter
[27] aus in meiner Monographie der Moneren und den daran
sich anschliessenden Beiträgen zur Plastiden-Theorie (1868).
Besondere Veranlassung dazu gaben mir weitere Beob¬
achtungen über einige neue Moneren, welche ich 1867 an
der Küste der canarischen Insel Lanzerote und an der
Strasse von Gibraltar anzustellen Gelegenheit hatte. Auch
einige Süsswasser-Moneren, welche in der Nähe von Jena
leben, und welche später u. A. von Kleinenberg untersucht
wurden, lieferten weitere Beiträge zur Naturgeschichte
dieser einfachsten Organismen. Als merkwürdigstes und
wichtigstes von Allen trat dann die Moneren-Masse des
Tiefseegrunds hinzu, welche Huxley 1868 unter dem Namen
Bathybius beschrieb und welche neuerdings wieder (1874)
von Bessels auf dem Tiefseegrunde des Nordpolar-Meeres,
an der Küste von Grönland, lebend beobachtet und mit
Bezug auf seine rhizopodenartigen Bewegungen untersucht
wurde. Bei den früher beobachteten Moneren erscheint
die gleichartige und formlose Protoplasma-Substanz des
Körpers meistens in der Weise individualisirt, dass die
einzelnen Klumpen derselben ein bestimmtes Grössenmaass
durch Wachsthum erreichen und erst, wenn dieses über¬
schritten wird, durch Theilung in zwei oder mehrere Stücke
zerfallen. Beim Bathybius hingegen ist noch nicht einmal
dieser erste Anfang der Individuation zu bemerken; sein
weicher formloser Protoplasma-Leib, der in ungeheuren
Massen die tiefsten Abgründe des Meeres bedeckt, erscheint
noch nicht individualisirt; die einzelnen Stücke desselben
scheinen keine bestimmte Grösse zu erreichen und je nach
Umständen sich zu vermehren, d. h. sie zerfallen in be¬
liebige Stücke von ungleicher Grösse, je nachdem das
[28] Wachsthum an dieser oder an jener Anpassungs-Bedingung
eine Grenze gefunden hat.
Schon in der generellen Morphologie hatte ich darauf
hingewiesen, dass die Moneren (und ebenso auch die so¬
genannten „kernlosen Zellen“, die anderweitig vorkommen
und auf die wir gleich zurückkommen werden) in die
Grenzen der bisherigen Zellen-Theorie nicht mehr hinein¬
passen und dass diese nothwendig einer entsprechenden Er¬
weiterung bedürfe. Denn wenn man den Begriff der
„Zelle“ auch noch so sehr beschränken und aller accesso¬
rischen Nebendinge, aller unwesentlichen Accidenzen ent¬
kleiden will, so bleibt doch zuletzt immer noch die Zu¬
sammensetzung aus zweierlei Theilen von verschiedener
morphologischer und physiologischer Bedeutung übrig:
äussere Zellsubstanz und innerer Zellkern. Die Moneren
aber kennen diese Differenz, diese erste Sonderung des
Elementar-Organismus noch nicht. Ihr Körper ist also
eigentlich weder echtes Protoplasma, noch echter Nucleus;
vielmehr ist seine homogene Masse eine eiweissartige Sub¬
stanz, welche Beider Eigenschaften in sich vereinigt, sie
ist gleichzeitig Zellsubstanz und Zellkern: daher wird sie
am zweckmässigsten als Lebensstoff oder Bildungsstoff,
als Plasson oder Bioplasson bezeichnet. Alle sogenannten
„kernlosen Zellen“ aber, alle Elementar-Organismen, deren
activer Körper gleich dem der Moneren blos aus Plasson
besteht, müssen wir von den echten, kernhaltigen Zellen
trennen und diesen als Cytoden gegenübersetzen.
Solche Cytoden kommen auch im Entwicklungskreise
anderer Organismen vor. So hat namentlich Eduard van
Beneden zuerst gezeigt, dass die Keime der einzelligen
[29] Gregarinen in ihrer ersten Jugend ganz einfache Cytoden
sind. Die Keimkügelchen derselben bestehen blos aus
homogenem Plasson und erst nachträglich erfolgt die Son¬
derung oder Differenzirung, durch welche der innere Zell¬
kern sich vom äusseren Zellstoff scheidet. Das „Bildende“
(Plasson) sondert oder differenzirt sich in das „Erstgebilde“
(Protoplasma) und das „Kerngebilde“ (Cytoblastus).
Weit wichtiger und interessanter aber noch ist die be¬
deutungsvolle Thatsache, dass auch jeder höhere Orga¬
nismus im Beginne seiner individuellen Entwicklung vor¬
übergehend auf der Cytoden-Stufe sich befindet. Entweder
schon vor der Befruchtung oder unmittelbar nach derselben
verliert die weibliche Eizelle ihren Kern. Der Befruch¬
tungsact selbst besteht in der Verschmelzung dieser „kern¬
losen Eizelle“ mit der männlichen Spermazelle oder Samen¬
zelle. Auch der Kern der letzteren löst sich in der
Mischung ganz oder doch grösstentheils auf. Das Product
dieser Verschmelzung ist aber zunächst nicht eine echte
Zelle, sondern eine Cytode. Da diese kernlose Cytode,
mit der eigentlich erst der erzeugte Organismus seine
individuelle Existenz beginnt, nach dem biogenetischen
Grundgesetze eine durch Vererbung bedingte Wiederholung
der uralten Moneren-Stammform ist, so habe ich diese
entsprechende Keimform als „Monerula“ bezeichnet.
Erst nachträglich sondert sich das Plasson dieser Mone¬
rula wieder in zwei verschiedene Substanzen: ein Theil der
inneren Moleküle gestaltet sich zum Zellkern (Nucleus)
und sondert sich von der umgebenden Zellsubstanz (Proto¬
plasma); so entsteht aus der ersten Cytode die erste Zelle.
Offenbar sind sowohl die Lebenserscheinungen jener selbst¬
[30] ständigen Moneren als auch diese ersten histologischen
Sonderungs-Vorgänge bei der individuellen Entwickelung
der höheren Organismen von fundamentaler Bedeutung.
Ebenso die Physiologie wie die Morphologie, ebenso die
Phylogenie wie die Ontogenie können daraus die wichtig¬
sten Schlüsse ziehen. Denn sie zeigen uns erstens, wie
das Leben anfänglich mit der Bildung einer homogenen,
form- und structurlosen Masse beginnt, die in sich so
gleichartig ist, wie ein Krystall; sie erläutern uns zweitens,
wie eine solche Cytode trotz des Mangels aller Organe
doch sämmtliche „Lebens-Erscheinungen“: Ernährung und
Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung zu vollziehen
im Stande ist: sie liefern uns damit drittens den klaren
Beweis, dass das „Leben“ auch im engeren Sinne nicht an
einen bestimmt geformten und morphologisch gesonderten
Körper mit verschiedenen Organen, sondern an eine form¬
lose Substanz von bestimmter physikalischer Beschaffenheit
und chemischer Zusammensetzung gebunden ist; und sie
lehren uns viertens, wie eine solche, blos aus Plasson be¬
stehende Cytode sich durch Sonderung von Kern und Pro¬
toplasma in eine echte „Zelle“ verwandeln kann.
Für die Zellen-Theorie ergiebt sich daraus zunächst
der wichtige Folgeschluss, dass die „Zelle“ nicht, wie man
gewöhnlich annahm, der einfachste, älteste und niederste
Elementar-Organismus ist, sondern dass der echten, kern¬
haltigen „Zelle“ die niedere, kernlose „Cytode“ voraus¬
gehen muss. Cytoden und Zellen sind die beiden Haupt¬
formen der „Elementar-Organismen“ oder „Lebenseinheiten.“
Mit der Cytode, blos aus Plasson bestehend, hat das
organische Leben auf unserem Erdball begonnen; indem
[31] sich aus diesem später Protoplasma und Nucleus sonderte,
entstand die Zelle. Die Cytode ist die erste und niedere,
die Zelle die zweite und höhere Form der Lebens-Einheit.
Beide zusammen habe ich in der generellen Morphologie
kurz als Bildnerinnen oder Plastiden bezeichnet; denn
sie allein sind in Wahrheit die plastischen Künstlerinnen,
welche durch ihre Thätigkeit das ganze wundervolle Ge¬
bäude des organischen Lebens errichten. Alle organischen
Formen verdanken allein der bildenden Thätigkeit der
mikroskopischen Plastiden ihre Existenz. So erweitert
sich die Zellen-Theorie zur Plastiden-Theorie. (Ver¬
gleiche meine biologischen „Stadien über Moneren und
andere Protisten“. 1870.)
Wenn demnach jetzt der weitere Begriff der Plastide
an die Stelle des engeren Zellenbegriffes tritt, und wenn
somit das ganze geheimnissvolle Problem des „Lebens“
auf die elementare chemische Thätigkeit des Plasson
zurückgeführt wird, so muss unsere nächste Aufgabe sein,
eine möglichst erschöpfende Kenntniss von der Natur dieses
wichtigsten „Lebensstoffes“, dieser wahren „physikalischen
Lebens-Grundlage“ zu erlangen. Zunächst erscheint hier
die Chemie berufen, uns Aufschlüsse über die quantitative
Zusammensetzung und die qualitativen chemischen Eigen¬
schaften des Plasson zu geben. Leider steht aber unsere
chemische Kenntniss des Plasson in umgekehrtem Verhält¬
niss zu seiner ausserordentlichen Bedeutung. Nicht, dass
es an zahlreichen und emsigen Versuchen gefehlt hätte,
die räthselhaft chemische Constitution der zahlreichen
Modificationen des Plasson, des Protoplasma und des Nu¬
cleus zu entschleiern. Aber die Schwierigkeiten, die sich
[32] diesen Versuchen entgegenstellen, sind ganz ungewöhn¬
liche und zum Theil unüberwindliche. Zunächst ist es
schon unmöglich, irgend ansehnliche Quantitäten von
Plasson in chemisch reinem Zustande zu isoliren und zu
untersuchen, weil sowohl das einfache Plasson der Cyto¬
den, als das Protoplasma und der Nucleus der Zellen
mit anderen, von ihnen gebildeten Substanzen zu innig
gemengt und in einzelnen kleinen Quantitäten überall
zwischen die anderen Gewebstheile (z. B. Zell-Membranen,
Intercellularsubstanzen) eingestreut und verwebt sind.
Sodann sind aber auch die sämmtlichen Plasson-Modifica¬
tionen in noch höherem Maasse, als die nächstverwandten
übrigen Eiweisskörper, zersetzlich und veränderlich. Und
was vor Allem in Betracht zu ziehen ist, die Modificationen
und Varietäten der Plasson-Körper sind zwar unendlich
zahlreich und mannigfaltig, schwanken aber doch innerhalb
Verhältnismässig geringer Breitegrade in Bezug auf die
quantitative Zusammensetzung. Die groben und rohen
Erkenntnissmittel der heutigen Chemie sind der Lösung
einer so feinen und schwierigen Aufgabe nicht entfernt
gewachsen. Jene grenzenlose Variabilität aber, in Ver¬
bindung mit ihrer leichten Zersetzbarkeit und mit der Be¬
weglichkeit der Atome in den Plasson-Molekülen, ist von
der grössten Bedeutung für die Entwickelungslehre. Denn
sie erklärt uns, wie das Plasson durch die unendlich
mannigfaltigen physikalisch-chemischen Einwirkungen der
Aussenwelt, die bei der Ernährung stattfinden, unendlich
mannigfaltige leichte Abänderungen erleiden und dem¬
gemäss die verschiedensten organischen Formen hervor¬
bringen kann.
Vom physiologisch-chemischen Gesichtspunkte aus ist
es daher gestattet, die sämmtlichen Plasson-Körper als
eine einzige grosse Gruppe nächstverwandter Verbindungen
anzusehen und als Plasson-Gruppe zusammenzufassen.
In dieser würden vielleicht zu unterscheiden sein: 1. das
Archiplasson als die älteste, unmittelbar durch Auto¬
gonie ursprünglich entstandene „Lebenssubstanz“; 2. das
Monoplasson als die Körpersubstanz der heute noch
lebenden Cytoden, die wahrscheinlich von jenem Archi¬
plasson mehr oder minder abweicht; 3. das Protoplasma
oder die eigentliche „Zellsubstanz“ und 4. das Nuclein
oder Coccoplasma, die Kernsubstanz, wie man die
gesammte, chemisch differente, stoffliche Grundlage des
Zellenkerns oder Nucleus nennen kann. Obwohl unter
sich nächst verwandt und durch die innigsten Be¬
ziehungen verbunden, erscheinen dennoch Protoplasma und
Coccoplasma wesentlich verschieden und besitzen charak¬
teristische, zum Theil entgegengesetzte Eigenschaften,
welche in dem Archiplasson und Monoplasson noch nicht
gesondert sind.
Alles Wesentliche nun, was wir bisher von der
Plasson-Gruppe wissen, lässt sich in folgenden Sätzen
zusammenfassen. Die Plasson-Gruppe bildet einen Theil
der grösseren Gruppe der Eiweissstoffe (Protein-Körper
oder Albuminate). Gleich den übrigen Eiweiss-Körpern
sind auch die Plasson-Körper durch ausserordentlich ver¬
wickelte atomistische Zusammensetzung ausgezeichnet.
Immer sind wenigstens fünf Elemente in jedem Molekül
vereinigt und zwar durchschnittlich in folgender procen¬
tischer Zusammensetzung: 52—55 Procent Kohlenstoff,
Haeckel, Perigenesis der Plastidule. 3[34] 6 — 7 Procent Wasserstoff. 15 — 17 Procent Stickstoff.
21 — 23 Procent Sauerstoff und 1 — 2 Procent Schwefel.
Die Art und Weise, in welcher die Atome dieser Elemente
in jedem Plasson-Molekül zur Bildung einer chemischen
Einheit zusammentreten, ist offenbar eine höchst ver¬
wickelte und eigenthümliche, und steht in directem Causal-
Zusammenhang mit den Lebenseigenschaften dieser wich¬
tigsten Verbindung. Denn die Summe von physikalischen
und chemischen Processen, welche wir mit einem Worte
„Leben“ nennen, ist offenbar in letzter Instanz durch
die Molecular-Structur des Plasson bedingt, und
diese ist wiederum nach unserer Kohlenstoff-Theorie zurück¬
zuführen auf die einzigen und höchst merkwürdigen Fähig¬
keiten des Kohlenstoffs, mit den anderen genannten Ele¬
menten die verwickeltsten und zersetzlichsten Verbindungen
einzugehen. Mit vollem Rechte hat die neuere Chemie die
gesammte Lehre von den sogenannten „organischen“
Stoffen oder die früher sogenannte „organische Chemie“
prägnant als „die Chemie der Kohlenstoff-Verbindungen“
bezeichnet. Mit demselben Rechte aber betrachte ich die
chemische und physikalische Natur des Kohlenstoffs als
die letzte Ursache der Eigenthümlichkeiten, durch welche
sich die Organismen von den Anorganen unterscheiden,
oder mit einem Worte als den letzten Grund des „Lebens“.
Wenn man diese „Kohlenstoff-Theorie“ als ein willkür¬
liches und phantastisches Dogma verwirft, so leugnet man
damit den Causal-Zusammenhang zwischen der chemischen
Constitution des Plasson und den physikalischen Vor¬
gängen, die wir mit einem Worte als dessen „Lebens¬
thätigkeit“ bezeichnen.
Unter den physikalischen Eigenschaften des Plasson
ist vor allen sein starkes Quellungs-Vermögen oder die
Imbibitionskraft hervorzuheben, die Fähigkeit, Wasser in
wechselnder und oft höchst beträchtlicher Quantität auf¬
zunehmen und gleichmässig zwischen seinen Molekülen zu
vertheilen. Daraus resultirt der eigenthümliche‚ weiche
Dichtigkeitszustand aller lebenden Gewebe, den wir als
den festflüssigen Aggregatzustand bezeichnen. Er
erscheint als eine nothwendige Vorbedingung aller der
verwickelten Molekularbewegungen, als deren Gesammt¬
resultat das „Leben“ sich darstellt. Die Leichtigkeit‚ mit
welcher das Plasson unter verschiedenen äusseren Existenz-
Bedingungen Wasser und wässerige Lösungen aufnimmt
und abgiebt‚ ist dabei von besonderer Bedeutung‚ und
nicht minder die ausserordentliche Neigung der meisten
Plasson-Arten‚ sich mit anderen Kohlenstoffverbindungen
(z. B. mit Fetten) sowie mit Salzen zu vermengen. Offen¬
bar beweisen diese und viele andere Eigenthümlichkeiten
der Plasson-Gruppe‚ dass wir es hier mit Kohlenstoffver¬
bindungen zu thun haben‚ deren Moleküle sich durch eine
ganz ungewöhnliche Beweglichkeit und Unbeständigkeit,
Zersetzbarkeit und vielseitige Wahlverwandtschaft vor allen
anderen auszeichnen. Diese „Plasson-Moleküle“ sind es
ja überhaupt‚ welche sich bei jeder tieferen Untersuchung
jener elementaren Verhältnisse in den Vordergrund
drängen und welche wir auch bei unserer Perigenesis
als die eigentlichen activen Elementar-Factoren auf das
Genaueste in's Auge zu fassen haben.
Die Plasson-Moleküle oder die Plastidule‚ wie
wir sie mit Elsberg kurz bezeichnen wollen‚ besitzen zu¬
3*[36] nächst alle die Eigenschaften, welche die Physik den hy¬
pothetischen Molekülen oder den „zusammengesetzten Ato¬
men“ überhaupt zuschreibt. Mithin ist ein jedes Plastidul
nicht weiter in kleinere Plastidule zerlegbar, sondern kann
nur noch in seine constituirenden Atome zerlegt werden,
und zwar in Atome jener fünf vorher genannten Elemente.
Die Plastidule sind wahrscheinlich stets von Wasserhüllen
umgeben und die grössere oder geringere relative Dicke
dieser Wasserhüllen, die zugleich die benachbarten Plasti¬
dule scheiden und verbinden, bedingt den weicheren oder
festeren Zustand des gequollenen Plasson. Wahrschein¬
lich sind die Plastidule so klein, dass das kleinste Plasson-
Stück, welches wir noch mit Hülfe unserer schärfsten
Mikroskope erkennen können, ungeheure Mengen von
Plastidulen enthält. Was vom ursprünglichen einfachen
Plasson oder „Archiplasson“, das gilt natürlich auch im
Allgemeinen von dem Protoplasma und dem Coccoplasma,
welche durch Sonderung aus ersterem entstanden sind.
Man kann der Kürze halber die Protoplasma-Moleküle als
„Plasmodule“ und die Nucleus-Moleküle als „Coccodule“
bezeichnen. Dieselben physikalischen Eigenschaften und
physiologischen Functionen, welche im homogenen Plasson
der Cytoden die gleichartigen Plastidule zeigen, dieselben
finden wir in den Zellen auf die Plasmodule und die
Coccodule vertheilt. Die Plasmodule und Coccodule sind
ja erst durch Sonderung oder Differenzirung aus den Plasti¬
dulen entstanden.
Ausser den allgemeinen physikalischen Eigenschaften,
welche die heutige Physik und Chemie den Molekülen der
Materie im Allgemeinen zuschreibt, besitzen nun die
[37] Plastidule noch besondere Attribute, welche ihnen aus¬
schliesslich eigenthümlich sind, und das sind, ganz all¬
gemein gesagt, die Lebens-Eigenschaften, durch welche
sich überhaupt das Lebendige vom Todten, das Organische
vom Anorganischen in der hergebrachten Anschauung
unterscheidet. Jede genauere und tiefer gehende Ver¬
gleichung der Organismen und der Anorgane, die sich
auf die breite empirische Basis der neuerdings ermittelten
Thatsachen stützt, vor Allem die unbefangene Vergleichung
der Moneren und der Krystalle, lehrt uns nun aber, dass
die Kluft zwischen diesen beiden Hauptgruppen von
Naturkörpern viel geringer ist, als man gewöhnlich an¬
nimmt. Ich kann in dieser Beziehung auf die ausführliche
Vergleichung der Organismen und Anorgane verweisen,
welche ich im fünften Capitel der generellen Morphologie
gegeben habe (Bd. I., S. 111—166). Viele Eigenschaften,
welche die hergebrachte oberflächliche Naturauffassung
nur den Organismen zuschreibt, kommen eben so gut auch
den Anorganen zu und sind in der That Gemeingut aller
Naturkörper — oder um uns genauer auszudrücken: Ge¬
meingut aller Atome, aller der kleinsten discreten Körper¬
theilchen, welche die neuere Chemie einstimmig als die
letzten Bestandtheile aller Körper betrachtet.
Gleichviel, wie im Einzelnen auch die Ansichten der
Chemiker und Physiker über die Natur der Atome und
des zwischen den Massen-Atomen befindlichen Aethers
auseinander gehen, gewisse elementare Ansichten über
ihre nothwendige Beschaffenheit haben heute allgemeine
Geltung erlangt. Wir müssen darnach annehmen, dass
die Atome kleinste discrete Massen-Theilchen von unver¬
[38] änderlicher Beschaffenheit und durch den hypothetischen
Aether von einander getrennt sind. Jedes Atom besitzt
eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne
„beseelt.“ Ohne die Annahme einer „Atom-Seele“ sind
die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der
Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Ab¬
neigung, Anziehung und Abstossung müssen allen Massen-
Atomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome,
die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen
Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn
wir ihnen Empfindung und Willen beilegen. Worauf
anders beruht denn im Grunde die allgemein angenommene
chemische Lehre von der Wahlverwandtschaft der
Körper, als auf der unbewussten Voraussetzung, dass in
der That die sich anziehenden und abstossenden Atome
von bestimmten Neigungen beseelt sind, und dass sie,
diesen Empfindungen oder Trieben folgend, auch den
Willen und die Fähigkeit besitzen, sich zu einander hin
und von einander fort zu bewegen? Was Goethe in seinen
„Wahlverwandtschaften“ über diese Verhältnisse sagt und
von dem elementaren Seelenleben der Atome auf das
höchst zusammengesetzte Seelenleben des Menschen über¬
trägt, das besitzt volle Wahrheit; und wenn in diesem
classischen Roman die „Wahlverwandtschaft“ als die eigent¬
liche Triebfeder der menschlichen Handlungen und der aus
ihnen zusammengesetzten „Weltgeschichte“ hingestellt
wird, so ist damit von dem grossen Denker und Dichter
in tiefsinnigster Weise die mechanische Natur auch der
verwickeltsten organischen Processe treffend angedeutet.
Wenn der „Wille“ des Menschen und der höheren
[39] Thiere frei erscheint, im Gegensatz zu dem „festen“ Willen
der Atome, so ist das eine Täuschung, hervorgerufen
durch die höchst verwickelte Willensbewegung der erste¬
ren im Gegensatze zu der höchst einfachen Willensbewe¬
gung der letzteren. Die Atome wollen überall und jeder¬
zeit Dasselbe, weil ihre Neigung dem Atom jedes anderen
Elementes gegenüber eine constante und unabänderlich be¬
stimmte ist; jede ihrer Bewegungen ist daher determinirt.
Hingegen erscheint die Neigung und willkürliche Bewegung
der höheren Organismen frei und unabhängig, weil in dem
unaufhörlichen Stoffwechsel derselben die Atome beständig
ihre gegenseitige Lage und Verbindungsweise verändern,
und daher das Gesammtresultat aus den zahllosen Willens¬
bewegungen der constituirenden Atome ein höchst zu¬
sammengesetztes und unaufhörlich wechselndes ist. Daher
sind wir „ein Spiel von jedem Druck der Luft“.
Indem wir so von dem mechanischen Standpunkte des
Monismus aus alle Materie als beseelt, jedes Massen-
Atom mit einer constanten und ewigen Atom-Seele aus¬
gerüstet uns vorstellen, fürchten wir nicht den Vorwurf
des Materialismus auf uns zu laden. Denn dieser unser
monistischer Standpunkt ist ebenso weit von einseitigem
Materialismus, wie von leerem Spiritualismus entfernt.
Ja wir können in ihm allein die Versöhnung der rohen
atomistischen und der inhaltsleeren dynamischen Welt¬
anschauung finden, die sich bisher so heftig bekämpft
haben und die in ihrer Einseitigkeit Beide dualistisch
sind. Wie die Masse des Atoms unzerstörbar und un¬
veränderlich, so ist auch die damit untrennbar verbundene
Atom-Seele ewig und unsterblich. Vergänglich und sterb¬
[40] lich sind nur die zahllosen und ewig wechselnden Ver¬
bindungen der Atome, die unendlich mannigfaltigen
Modalitäten, in denen sich die Atome zur Bildung von
Molekülen, die Moleküle zur Bildung von Krystallen und
Plastiden, die Plastiden zur Bildung von Organismen ver¬
einigen. Diese monistische Auffassung der Atome, allein
ist in Einklang mit den grossen Gesetzen von der „Er¬
haltung der Kraft“ und von der „Erhaltung des Stoffes“,
welche die Naturphilosophie der Gegenwart mit Recht als
ihre unveräusserlichen Fundamente betrachtet.
Wenn wir demnach alle Materie als beseelt, jedes
Atom mit Empfindung und Willen begabt uns vorstellen,
so können wir diese beiden Eigenschaften nicht mehr, wie
es gewöhnlich geschieht, als ausschliessliche Vorzüge der
Organismen betrachten. Wir müssen also nach anderen
Eigenschaften suchen, welche die Organismen von den
Anorganen, die Plastidule von den übrigen Molekülen
unterscheiden und welche das Wesen des „Lebens“ im
engeren Sinne bilden. Als wichtigste dieser Eigenschaften
erscheint uns die Fähigkeit der Reproduction oder des
Gedächtnisses, welche bei jedem Entwickelungs-Vor¬
gang und namentlich bei der Fortpflanzung der Or¬
ganismen wirksam ist. Alle Plastidule besitzen Gedächt¬
niss; diese Fähigkeit fehlt allen anderen Molekülen.
In einer ausgezeichneten, ebenso tief durchdachten als
klar geschriebenen Abhandlung „über das Gedächtniss als
eine allgemeine Function der organisirten Materie“ hat
1870 Ewald Hering dieses wichtige Verhältniss so vor¬
trefflich erörtert, dass wir hier auf eine eingehende Be¬
gründung desselben verzichten und uns einfach auf jene
[41] Abhandlung beziehen können. In der That überzeugt
uns jedes tiefere Nachdenken, dass ohne die Annahme
eines unbewussten Gedächtnisses der lebenden Ma¬
terie die wichtigsten Lebensfunctionen überhaupt unerklär¬
bar sind. Das Vermögen der Vorstellung und Begriff¬
bildung, des Denkens und Bewusstseins, der Uebung und
Gewöhnung, der Ernährung und Fortpflanzung beruht auf
der Function des unbewussten Gedächtnisses, dessen
Thätigkeit unendlich viel bedeutungsvoller ist, als die¬
jenige des bewussten Gedächtnisses. Mit Recht sagt
Hering, „dass es das Gedächtniss ist, dem wir fast Alles
verdanken, was wir sind und haben.“
Nur in einem Punkte müssen wir von der Darstellung
Hering's abweichen oder vielmehr dieselbe schärfer be¬
grenzen. Wir dürfen das Gedächtniss nicht als eine all¬
gemeine Function aller organisirten Materie bezeichnen,
sondern nur der wirklich lebenden, des Plasson. Alle
Plasson-Producte, alle vom Protoplasma und vom Nucleus
gebildeten, selbst aber nicht activ thätigen, organisirten
Theile des Organismus entbehren des Gedächtnisses, eben
so wie alle anorganischen Materien. Genau genommen ist
also, unserer Plastiden-Theorie entsprechend, nur die
Gruppe der Plasson-Körper mit Gedächtniss begabt: nur
die Plastidule sind reproductiv, und dieses unbe¬
wusste Gedächtniss der Plastidule bedingt die charakte¬
ristische Molecularbewegung derselben.
Die Unterschiede, welche das Gedächtniss oder die
Reproductionskraft der Plastidule zwischen Organismen
und Anorganen bedingt, äussern sich zunächst in der ver¬
schiedenen Art ihres Wachsthums und diese ist offenbar
[42] durch ihren differenten Aggregatzustand bedingt. Die
Anorgane wachsen durch Apposition oder durch äussere
Anlagerung der Moleküle, hingegen die Organismen durch
Intussusception oder durch innere Einlagerung der
Moleküle. Die vollkommenste anorganische Individualität,
der Krystall, wächst, indem sich Theilchen an Theilchen
äusserlich an den festen, schon bestehenden Krystallkörper
ansetzt. Die unvollkommenste organische Individualität,
das Moner, wächst, indem Theilchen für Theilchen von
aussen in das Innere hineindringt und von dem festflüssi¬
gen Plassonkörper „assimilirt“ wird. Diese Assimilation
beruht darauf, dass zwischen den vorhandenen Plastidulen
stets neue Plastidule aus den aufgenommenen Nährflüssig¬
keiten gebildet werden. Der festflüssige Aggregat-Zustand
der organischen Materie ist die Vorbedingung dieses
eigenthümlichen Wachsthums, und die Molecular-Structur
der Kohlenstoff-Verbindungen ihre wahre Ursache. Dieses
Wachsthum durch Intussusception, welches allen Organis¬
men zukommt und allen Anorganen fehlt, erklärt auch
zugleich die Ernährung und den Stoffwechsel, durch welches
sich die ersteren von den letzteren unterscheiden. Dieses
Wachsthum durch Intussusception bedingt endlich vor
Allem diejenige „Lebens-Erscheinung“, die als der wich¬
tigste Factor der organischen Entwickelung sich geltend
macht und die wir daher zunächst besonders betrachten
müssen: Die Fortpflanzung und die damit zusammen¬
hängende Vererbung.
Unstreitig ist es die Fortpflanzung, welche vor
allen anderen Functionen die Organismen gegenüber den
Anorganen charakterisirt. Denn durch die Fortpflanzung
[43] allein, durch die Vererbung die wir nur als eine noth¬
wendige und integrirende Theilerscheinung der Fortpflan¬
zung betrachten, wird die Erhaltung der organischen Arten
und Stämme möglich, die in der zusammenhängenden
Kettenreihe der Generationen trotz des beständigen Wech¬
sels der Individuen bestehen bleiben. Indem kein An¬
organ der Fortpflanzung fähig ist, fehlt der anorganischen
Natur überhaupt die Stammesgeschichte, die Phylogenie,
welche die organische Welt charakterisirt. Die Fort¬
pflanzungslehre oder die Gonologie ist daher der noth¬
wendige Ausgangspunkt für das Verständniss der Phy¬
logenie.
Was ist Fortpflanzung? Um zu einer richtigen
Antwort auf diese wichtige Frage zu gelangen, müssen
wir uns vor Allem der gewöhnlichen Anschauung ent¬
äussern, als ob die Verbindung der beiden Geschlechter
der wichtigste und nothwendigste Vorgang der Fortpflan¬
zung sei. Diese Anschauung, welche sich auf die ge¬
wöhnliche Fortpflanzungsweise der Personen beim Menschen
und bei den höheren Thieren und Pflanzen gründet, er¬
scheint vollkommen verkehrt, sobald wir an die unendlich
häufigeren ungeschlechtlichen Fortpflanzungs-Processe
denken, die überall und jederzeit bei der Vermehrung der
Plastiden stattfinden. Im Grossen und Ganzen betrachtet,
erscheint die geschlechtliche oder amphigone Fortpflanzung
mit ihren sonderbaren Eigenthümlichkeiten nur als ein be¬
sonderer Fall unter der Menge von Vorgängen, welche
wir als Fortpflanzung oder Elternzeugung zusammenfassen
und welche zum bei weitem grössten Theile ungeschlecht¬
lich erfolgen. Alle die zahllosen Milliarden von Zellen,
[44] welche den Körper jedes höheren Thieres, jeder höheren
Pflanze zusammensetzen, entstehen nicht durch geschlecht¬
liche, sondern durch ungeschlechtliche Zeugung, durch
Theilung. Alle oder doch die Meisten von den zahlreichen
einzelligen Wesen, die auf der Grenze von Thierreich und
Pflanzenreich stehen, und die wir als Protisten zusammen¬
fassen, vermehren sich nicht durch geschlechtliche, sondern
durch ungeschlechtliche Zeugung. Aber auch viele höhere
Thiere und Pflanzen, die sich der geschlechtlichen Zeugung
erfreuen, vermehren sich daneben auf ungeschlechtlichem
Wege, durch Theilung, Knospenbildung, Sporenbildung.
Bedenken wir, wie überall und jederzeit Unmassen von
Plastiden zu Grunde gehen und von neuen, durch Theilung
und Knospung entstandenen ersetzt werden, so liegt es auf
der Hand, dass die ungeschlechtliche Fortpflanzung die
allgemeine Regel und die geschlechtliche eine verhältniss¬
mässig seltene Ausnahme bildet. Gewiss werden wir eher
zu Wenig als zu Viel behaupten, wenn wir annehmen,
dass durchschnittlich auf jeden einzelnen geschlechtlichen
Zeugungs-Act in der Natur mehr als Tausend, wahrschein¬
lich mehr als eine Million ungeschlechtliche Zeugungs-Acte
kommen.
Nun sind es aber gerade die einfachsten Formen der
ungeschlechtlichen oder monogonen Fortpflanzung, vor
allen die Theilung, demnächst die Knospenbildung, welche
uns die klarsten Aufschlüsse über das Wesen der Fort¬
pflanzung überhaupt geben und zum Verständniss der viel
schwierigeren und verwickelteren geschlechtlichen Fort¬
pflanzung hinführen. Von jenen einfachsten Formen der
Monogonie ausgehend, finden wir auf unsere Frage die
[45] einfachste Antwort: Fortpflanzung ist Wachsthum
des Individuums über sein individuelles Maass
hinaus. Wenn eine einfachste Plastide, ein homogenes
Moner, bis zu einer gewissen Grösse herangewachsen ist,
so zerfällt der structurlose Plasson-Körper bei fortdauern¬
dem Wachsthum in zwei gleiche Hälften, weil die Cohae¬
sion der Plastidule nicht mehr ausreicht, um die ganze
Masse zusammenzuhalten.
Ebenso beruht jede gewöhnliche Zellentheilung wesent¬
lich auf einem fortgesetzten Wachsthum über das indivi¬
duelle Maass dieser Zelle hinaus. Die merkwürdigen
Einzelheiten des Vorganges, durch den hier aus einer
Mutterzelle zwei gleiche Tochterzellen entstehen, sind
aber erst in neuester Zeit durch Auerbach, Bütschli, Hertwig
und Strasburger gründlicher studirt worden. Dass in
diesen Fällen die beiden unter sich gleichen Tochterzellen
die Natur ihrer gemeinsamen Mutterzelle geerbt haben,
erscheint selbstverständlich; denn sie sind ja gleiche Theil¬
hälften derselben und die Molecular-Bewegung der Plasti¬
dule muss in den ersteren wesentlich dieselbe sein, wie in
der letzteren. Die Vererbung erscheint hier als eine ein¬
fache und nothwendige Folge der Theilung; und zugleich
offenbart sie hier den tiefsten Grund ihres Wesens: die
Vererbung ist Uebertragung der Plastidul-Be¬
wegung, Fortpflanzung der individuellen Molecular-Be¬
wegung der Plastidule von der Mutter-Plastide auf die
Tochter-Plastide.
Nun sind aber die Bedingungen, unter denen die beiden
gleichen Theilhälften ihr individuelles Leben weiterführen,
immer mehr oder weniger verschieden; insbesondere sind
[46] die verwickelten Verhältnisse, welche der Kampf um's
Dasein für die Plastiden ebenso wie für die ganzen viel¬
zelligen Organismen bedingt, fast immer für jedes Indivi¬
duum besondere. Indem diese besonderen Existenz-Bedin¬
gungen auf den elementaren Organismus einwirken, ver¬
ändern sie seine ursprüngliche Ernährung und bewirken
eine theilweise Abänderung der ursprünglichen Plastidul-
Bewegung; diese Abänderung oder Variation nennen wir
mit einem Worte: Anpassung. Die Anpassung ist Ab¬
änderung der Plastidul-Bewegung, in deren Folge
die Plastide neue Eigenschaften erwirbt. Wenn nun später¬
hin die beiden, durch Theilung einer Plastide entstandenen
Tochter-Plastiden wiederum herangewachsen sind und nach
Ueberschreitung ihrer individuellen Wachsthumsgrenze aber¬
mals durch Theilung in je Zwei zerfallen, so werden diese
vier Enkel schon nicht mehr so gleichartig sein, wie ihre
beiden Mutter-Plastiden. Zwar werden sie von diesen
noch den grössten Theil der Eigenschaften geerbt haben,
welche Beide von der Grossmutter überkommen hatten.
Daneben wird sich aber auch schon ein Theil der Eigen¬
thümlichkeiten geltend machen, welche jede der beiden
Mütter während ihres individuellen Lebens erworben hatte,
und endlich wird jede der vier Enkelinnen selbst wieder
neue Eigenheiten im Laufe ihrer individuellen Existenz
erwerben. Wie gering und unbedeutend nun auch diese neuen
Erwerbungen in jedem einzelnen Falle erscheinen mögen,
so ist es doch klar, dass sie schliesslich in der langen
Kette zahlreicher Generationen sich zu sehr beträchtlichen
Abweichungen der Plastidul-Bewegung von derjenigen der
ursprünglichen Stammform anhäufen und summiren können.
Die Vererbung der Abänderungen, auf welcher
die ganze Stammes-Entwickelung beruht, äussert also schon
im Plastiden-Leben ihre volle Wirksamkeit, und erzeugt
eine unendliche Menge von individuell verschiedenen Plasti¬
dul-Bewegungen; und jede spätere Plastidul-Bewegung
oder mit anderen Worten das Leben jeder späteren Plastide,
sei es Cytode oder Zelle — setzt sich demnach zusammen
einerseits aus der überwiegenden Reihe der alten Plastidul-
Bewegungen. welche durch Vererbung getreu von Gene¬
ration zu Generation sich erhalten haben, andererseits aus
einem geringen Antheil von neuen Plastidul-Bewegungen,
welche durch Anpassung erworben wurden. (Vergl. die
angehängte Tafel nebst Erklärung.) Alle diese Abän¬
derungen der Plastidule sind natürlich durch Um¬
lagerungen der Atome in denselben bedingt: und bei
der unendlich verwickelten und mannichfaltigen atomistischen
Zusammensetzung der Plastidule, bei ihrer ausserordent¬
lichen Unbeständigkeit und Neigung zur Zersetzung wird
sich hier der Anpassung ein unbeschränktes Feld zur
Hervorbringung neuer Formen öffnen.
Indem wir so Lamarck's Lehre von der Vererbung
der Abänderungen — dieser wichtigsten Voraussetzung
von Darwin's Selections-Theorie — von den grossen viel¬
zelligen Thieren und Pflanzen, an denen sie uns hand¬
greiflich vor Augen tritt, auf die Plastiden (Cytoden und
Zellen) und von diesen wiederum auf die sie zusammen¬
setzenden Plastidule übertragen, machen wir natürlich auch
für diese letzteren die Consequenzen geltend, welche für die
ersteren sich aus der Selections-Theorie ergeben. Offenbar
herrscht „der Kampf um's Dasein unter den Mole¬
[48] külen“‚ den Pfaundler 1870 zuerst beleuchtete‚ im eigent¬
lichsten Sinne und vor allen unter den activen Plastidulen.
Diejenigen Plastidule, welche den äusseren Existenz-Be¬
dingungen sich am besten anpassen, d. h. welche das von
aussen eindringende flüssige Nahrungsmaterial am leich¬
testen aufnehmen und die dadurch bedingte Umlagerung
ihrer Atome am bereitwilligsten vollziehen, werden natür¬
lich die stärkste Assimilation ausüben und so bei der Fort¬
pflanzung der Plastiden das Uebergewicht erlangen.
Die nächste Folge der natürlichen Züchtung im Kampfe
um's Dasein ist die zunehmende Sonderung oder Differen¬
zirung der Formen, welche Darwin als „Divergenz des
Charakters“ bezeichnet. Ihre bekannteste Form ist die
Arbeitstheilung oder der Polymorphismus der Personen.
Bekanntlich liefert die Arbeitstheilung im Menschenleben
den wichtigsten Maassstab für die erreichte Culturstufe
und dasselbe gilt von den merkwürdigen Culturstaaten der
Ameisen, Bienen, Termiten u. s w. Ferner zeigt uns die
vergleichende Anatomie, wie die physiologische „Voll¬
kommenheit“ oder die Entwickelungshöhe jedes höheren
Thieres und jeder höheren Pflanze durch die Arbeits¬
theilung ihrer Organe bedingt ist. Die verwickelte Ma¬
schinerie, welche z. B. das höhere Wirbelthier mit seinen
Nerven und Sinnesorganen, Muskeln und Knochen, Darm
und Blutgefässen, Drüsen und Geschlechtsorganen bildet,
ist durch die ausserordentlich weit vorgeschrittene, aber im
Kampf um's Dasein stufenweis und langsam erworbene
Arbeitstheilung dieser Organe und ihrer einzelnen Stücke
bestimmt.
Nun beruht aber die Arbeitstheilung der Organe wiederum
[49] auf derjenigen der Plastiden, der Cytoden und Zellen. Die
verschiedenen Gewebe, welche jenen Organen ihre phy¬
siologischen Eigenthümlichkeiten verleihen, sind aus ver¬
schiedenen Zellenarten zusammengesetzt, aus Nervenzellen,
Muskelzellen, Knochenzellen, Drüsenzellen, Darmzellen,
Geschlechtszellen u. s. w. Wie alle diese verschiedenen
Zellen-Species durch Arbeitstheilung aus einer einzigen,
einfachen, ursprünglichen Zellenform phylogenetisch ent¬
standen sind, das zeigt uns noch heute die individuelle
Entwickelung jedes höheren Thier-Eies. Denn die be¬
fruchtete Eizelle zerfällt zunächst durch wiederholte
Theilung in eine grosse Anzahl von ganz einfachen gleich¬
artigen Zellen. Aus diesen „Morula-Zellen“ dann
die beiden primären Keimblätter der Gastrula hervor, und
diese Sonderung in zwei verschiedene Zellenschichten ist
der erste Anfang der histologischen Arbeitsteilung. In¬
dem dann die Zellen des äusseren Keimblattes oder die
Exoderm-Zellen weiterhin in Hautzellen, Nervenzellen,
Muskelzellen u. s. w. sich sondern, und indem aus den
Zellen des inneren Keimblattes oder den Entoderm-Zellen
durch Differenzirung die Darmzellen, Drüsenzellen u. s. w.
entstehen, erfolgt die Gewebebildung oder die histologische
Differenzirung, auf der die Ausbildung der verschiedenen
Organe beruht. Aber die ontogenetische Arbeitstheilung
der Zellen, wie wir sie so an jedem Thier-Ei Schritt für
Schritt unter dem Mikroskop verfolgen können, ist nur die
rasche, nach dem biogenetischen Grundgesetze erfolgende
Wiederholung der langsamen phylogenetischen Gewebe¬
bildung, wie sie durch die active Arbeitstheilung der Zellen
ursprünglich bedingt wurde.
Wie ist nun aber diese Arbeitstheilung der Plastiden
möglich? Offenbar nur durch die bedingende Arbeits¬
theilung der Plastidule. Denn ganz in derselben Weise
und ganz nach denselben Gesetzen, nach denen der Cultur¬
staat durch die Arbeitstheilung der Staatsbürger, die hohe
Organisation des menschlichen Körpers durch diejenige
seiner Organe und diese wieder durch die Arbeitstheilung
der sie zusammensetzenden Zellen bedingt ist, ganz in der¬
selben Weise wird auch diese letztere durch die Arbeits¬
theilung der Plastidule bewirkt und ganz nach denselben
Gesetzen ist auch diese durch die Wechselwirkung von
Vererbung und Anpassung im Kampfe um's Dasein ent¬
standen. Die morphologischen und physiologischen Eigen¬
thümlichkeiten, durch welche jede Nervenzelle, jede Muskel¬
zelle, jede Darmzelle u. s. w. als solche charakterisirt ist,
sind einzig und allein dadurch bedingt, dass ihre consti¬
tuirenden Plastidule sich mehr oder weniger gesondert oder
differenzirt und so verschiedene Plasson-Arten hervorgebracht
haben. Wie verwickelt und wie verschiedenartig aber auch
die Molecular-Structur des Plasson und seine Verbindung
mit verschiedenartigen Plasson-Producten in den genannten
Zellen-Arten sein mag, dennoch stammen sie nachweislich
alle von den gleichartigen Morula-Zellen ab, wie diese
von der befruchteten Eizelle. Die phylogenetische ur¬
sprüngliche Arbeitstheilung der Plastidule wird so nach dem
biogenetischen Grundgesetze noch heute in der ontogene¬
tischen Differenzirung der Plastiden-Moleküle wiederholt.
Eine besondere Form dieser histologischen Arbeits¬
theilung verdient hier unsere nähere Beachtung: das ist
die geschlechtliche Sonderung, die sexuelle Differen¬
[51] zirung. Wie schon vorher bemerkt, besitzt die geschlecht¬
liche Zeugung nicht entfernt die hohe allgemeine Bedeu¬
tung, welche man ihr noch heute in den weitesten Kreisen
zuschreibt; und das ist um so mehr hervorzuheben, als
einerseits dieselbe vorzugsweise gern mit dem mystischen
Schleier eines übernatürlichen oder höchst geheimnissvollen
Vorganges verhüllt wird, und als andererseits sogar viele
hervorragende Naturforscher die Bedeutung dieser Erschei¬
nung für die Entwickelungslehre ganz unverhältnissmässig
überschätzen. Da ist denn zunächst ausdrücklich hervor¬
zuheben, dass erstens eine grosse Menge von niedersten
Organismen, namentlich die bunte Masse der Protisten,
viele Protophyten und Protozoen, die geschlechtliche Zeu¬
gung überhaupt nicht kennen, sondern sich ausschliesslich
auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzen, (vorzugsweise
durch einfache Theilung, ausserdem auch durch Knospen¬
bildung und Sporenbildung). Zweitens ist zu bemerken,
dass eine scharfe Grenze zwischen geschlechtlicher Zeugung
(Amphigonie) und ungeschlechtlicher Zeugung (Monogonie)
nicht besteht, wie schon die unbeständige Conjugation und
Copulation bei vielen jener niedersten Organismen beweist.
Drittens ist sehr lehrreich die zerstreute Verbreitung der
Jungfernzeugung oder Parthenogenesis bei sehr verschie¬
denen Gruppen von höheren Thieren und Pflanzen; offenbar
stammen diese von Vorfahren ab, welche geschlechtlich
differenzirt waren; im Laufe der Zeit ist das männliche
Geschlecht wieder entbehrlich geworden und verloren ge¬
gangen. Nicht minder lehrreich ist viertens die häufige
Verknüpfung der geschlechtlichen und ungeschlechtlichen
Zeugung im Generationswechsel einer und derselben Species.
4*[52] Fünftens endlich verliert der wesentliche Vorgang der ge¬
schlechtlichen Zeugung alles Wunderbare und Räthselhafte,
sobald wir von allen unwesentlichen und secundären Zu¬
thaten absehen, und nur den histologischen Kern des Pro¬
cesses scharf in's Auge fassen. Denn dann ist die ge¬
schlechtliche Zeugung weiter Nichts, als die Ver¬
wachsung zweier Plastiden, welche durch weit¬
gehende Arbeitstheilung ihrer Plastidule sich
sehr verschiedenartig entwickelt haben.
In der That wird so das dunkle Mysterium der ge¬
schlechtlichen Fortpflanzung in der einfachsten Weise auf¬
geklärt, und das „wunderbare Räthsel“ der weltbewegenden
Liebe in der nüchternsten Form gelöst. Natürlich müssen
wir dabei ganz absehen von allen jenen mannichfaltigen
und merkwürdigen Geschlechts-Einrichtungen, welche erst
langsam und allmählich von den höheren Thieren und
Pflanzen theils unter dem allgemeinen Einflusse der natür¬
lichen Züchtung, theils durch die besondere Wirksamkeit
der geschlechtlichen Zuchtwahl erworben wurden. Ur¬
sprünglich finden wir weiter Nichts als zweierlei ver¬
schiedene Zellen: weibliche Eizellen und männliche Sperma¬
zellen. Diese entstehen oft nicht einmal in besonderen
Organen, sondern liegen einzeln zerstreut in anderen Ge¬
weben, die Eizellen zwischen den Epithel-Zellen des Darms,
die Spermazellen zwischen den Epidermiszellen der Haut:
so bei den Gastraeaden, Spongien, vielen Hydroiden u. s. w.
Der ganze Vorgang der sexuellen Verbindung beschränkt
sich hier darauf, dass diese beiderlei Zellen, aus dem Ver¬
bande des vielzelligen Organismus abgelöst und zufällig
im Wasser zusammengekommen, sich an einander legen
[53] und mit einander zu einer einzigen Plastide verschmelzen.
Die innige Neigung, welche durch die chemische „Wahl¬
verwandtschaft“ der beiden liebenden Zellen bedingt ist,
führt beide nothwendig zusammen. Die neu entstandene
Zelle ist das Kind der mütterlichen Eizelle und der väter¬
lichen Spermazelle: sie besteht aus den vereinigten Körpern
Beider. Verfolgen wir diesen höchst wichtigen, aber auch
höchst einfachen Fundamental-Process der Amphigonie noch
weiter, so finden wir, dass dabei eine völlige und innige
Mengung der Plastidule stattfindet, eine vollständige Ver¬
bindung der verschiedenen Molekular-Bewegungen in beiden
Plastiden. Dabei scheint gewöhnlich dem Verschmelzungs¬
process der beiderlei Geschlechtszellen die theilweise oder
vollständige Auflösung ihres Kernes vorauszugehen (— in
anderen Fällen vielleicht erst nachzufolgen —), so dass
also das neuerzeugte Individuum zunächst keine Zelle,
sondern eine Cytode ist, und sich erst durch Neubildung
eines Kernes wieder zur Zelle gestaltet. Wir haben jene
Cytode als „Monerula“, diese erste Zelle als „Cytula“
bezeichnet. Offenbar ist die individuelle Plastidul-Bewe¬
gung, welche dieser ersten Plastide innewohnt, und welche
deren ganze weitere Entwickelung bedingt, die Resultante
aus den beiden verschiedenen Plastidul-Bewegungen der
weiblichen Ei-Plastide und der männlichen Sperma-Plastide.
Wenn wir letztere als die beiden Seiten im Parallelogramm
der Kräfte betrachten, so ist die Plastidul-Bewegung der
Monerula und der daraus hervorgehenden Cytula deren
Diagonale. Daraus erklärt sich auch ganz einfach die
Thatsache der beiderseitigen oder amphigonen Ver¬
erbung, die Thatsache, dass das Kind zahlreiche Eigen¬
[54] schaften von beiden Eltern erbt. Die kindliche Lebens-
Bewegung ist die Diagonale zwischen der mütterlichen
und der väterlichen Lebens-Bewegung.
Rein morphologisch betrachtet, ist jene Vermischung
der beiderlei Geschlechtszellen, welche einzig und allein
das Wesen der geschlechtlichen Zeugung bedingt, durchaus
kein ganz absonderlicher Vorgang; vielmehr fällt er unter
den weiteren Begriff der Verwachsung oder Concrescenz
der Plastiden, einen histologischen Vorgang, den wir auch
sonst in vielen verschiedenen Modificationen sehr verbreitet
antreffen; z. B. bei der Plasmodium-Bildung von Moneren
und Mycomyceten, bei der Bildung netzförmiger Gewebe
(Verschmelzung sternförmiger Muskelzellen, Nervenzellen,
Bindegewebszellen u. s. w.). Besonders lehrreich ist aber
dafür die sogenannte Copulation oder Conjugation
zweier anscheinend gleichartiger Zellen, welche bei vielen
Protisten (Protophyten und Protozoen) der ungeschlecht¬
lichen Vermehrung durch Theilung vorausgeht (Gregarinen,
Infusorien, Diatomeen, Desmidiaceen etc.) Wir dürfen
diese Conjugation von zwei gleichartigen Plastiden als
die erste Einleitung zur sexuellen Differenzirung oder
als den Uebergang von der ungeschlechtlichen zur ge¬
schlechtlichen Zeugung ansehen. Da nach den bekannten
Erfahrungen der Inzucht ein gewisser Grad von Verschieden¬
heit der beiden Geschlechts-Individuen für den Erfolg
ihrer Verbindung und die Fruchtbarkeit ihrer Nachkommen¬
schaft sehr vortheilhaft ist, so wird die natürliche Züchtung
die Ungleichheit der beiden copulirenden Plastiden begün¬
stigen und durch allmähliche Häufung und Verstärkung
ihrer individuellen Eigenthümlichkeiten sie allmählich bis
[55] zu jenem Gegensatze entfernen, der uns in der verschie¬
denen Zusammensetzung der grossen amoeboiden Eizelle
und der kleinen flagellaten Spermazelle bei den meisten
Thieren so auffallend vor Augen liegt. Auch das ist wieder
nur eine besondere und stark ausgebildete Form der Ar¬
beitstheilung.
Wenn wir uns nun wieder daran erinnern, dass ganz
allgemein betrachtet die Fortpflanzung nichts Anderes ist,
als ein „Wachsthum des Individuums über sein individuelles
Maass hinaus“, so werden wir auch jene Verwachsung von
zwei gleichartigen Zellen, welche als Copulation oder Con¬
jugation bezeichnet wird, und welche zuerst den phylo¬
genetischen Anstoss zur sexuellen Differenzirung gegeben
hat, nur als eine besondere, Form des Wachsthums ansehen
dürfen. Während bei dem gewöhnlichen einfachen Vorgang
der ungeschlechtlichen Fortpflanzung das vorausgehende
und bedingende Wachsthum (— ein totales bei der Thei¬
lung, ein partielles bei der Knospung —) langsam und
allmählich erfolgt, geschieht dasselbe hier bei der Conju¬
gation rasch und plötzlich. So lässt sich also auch das
Mysterium der geschlechtlichen Zeugung wieder auf
eine besondere Form des Wachsthums und der Arbeits¬
theilung der Plastiden zurückführen.
Die hier dargestellte Auffassung der geschlechtlichen
Zeugung scheint mir für die niederen und einfacheren
Formen so klar auf der Hand zu liegen, dass sie wohl keiner
eingehenderen Begründung mehr bedarf. Aber auch für
die höheren und verwickelteren Formen, die zunächst da¬
durch nicht, vollständig aufgeklärt erscheinen, liefert sie
uns den Schlüssel des Verständnisses. Dazu ist erforderlich,
[56] dass wir erstens die physiologische Individualität des
Plastiden-Lebens und die active Bedeutung der dasselbe
bedingenden Plastidule anerkennen, und dass wir zweitens
dem Begriffe des Generationswechsels eine viel weitere
Ausdehnung und allgemeinere Geltung geben, als bisher ge¬
schehen ist. Bekanntlich beruht diese „Generatio alternans“
die wir mit Owen kurz als Metagenesis bezeichnen, auf
dem regelmässigen periodischen Wechsel von zwei oder
mehreren verschiedenen Generationen, von denen eine auf
geschlechtlichem, die übrigen auf ungeschlechtlichem Wege
ihre Nachkommen erzeugen. Zugleich ist mit diesem peri¬
odischen Zeugungswechsel eine mehr oder minder weit
gehende Arbeitstheilung der Personen (oder bei den Pflanzen
der Sprosse) verbunden, welche sich oft in einer höchst
auffallenden Verschiedenheit ihrer Gestaltung und Organi¬
sation kund giebt. So sehen wir z. B., dass aus den
Sporen oder Keimzellen der Farnkräuter nicht wieder ein
Farnkraut entsteht, sondern ein Prothallium, eine niedere
Pflanzenform ohne Stengel und Blätter, welche im Wesent¬
lichen einem Lebermose gleicht. Diese wird geschlechts¬
reif; sie bildet Eier und Spermazellen, und aus deren
Vermischung entsteht eine neue Zelle, die Cytula. Indem
die Cytula sich wiederholt theilt, entsteht ein kleines
Pflänzchen, das sich durch Sonderung vom Stengel und
Blättern wieder zum Farnkraut entwickelt; und an der
Unterseite von dessen Blättern entstehen später unge¬
schlechtlich die braunen Häufchen von Keimzellen oder
Sporen. Einem gleichen Generationswechsel begegnen wir
bei sehr vielen niederen Thieren. So entwickelt sich aus
dem befruchteten Ei der meisten Medusen nicht wieder
[57] eine Meduse, sondern ein festsitzender, ganz anders ge¬
formter Hydroid-Polyp, und dieser erzeugt erst wieder
(durch ungeschlechtliche Knospung) die frei schwimmenden
Medusen, die sich geschlechtlich sondern. Die Blattläuse
und viele kleine Krebse (z. B. Daphniden) pflanzen sich
während des Sommers ungeschlechtlich durch Partheno¬
genesis fort, durch unbefruchtete Keimzellen oder Sporen.
Erst im Herbste, kommt eine geschlechtlich differenzirte
Generation mit Männchen und Weibchen, und aus deren
befruchteten Eiern entsteht im Frühjahr wieder die erste
ungeschlechtliche Generation.
Fassen wir nun aber unsere Plastiden als autonome
„Elementar-Organismen“ auf, die ihre morphologische und
physiologische Selbstständigkeit besitzen, und betrachten
wir den individuellen Entwickelungs-Process vom histo¬
logischen Standpunkte der Plastiden-Theorie, so werden
wir durch Vergleichung mit den eben angeführten Vor¬
gängen zu der Anschauung gelangen, dass eigentlich der
Generationswechsel oder die Metagenesis ein sehr all¬
gemein verbreiteter Vorgang ist. Denn bei der indi¬
viduellen Entwickelung jedes vielzelligen Thieres, jeder
vielzelligen Pflanze tritt zunächst eine geschlechtliche
Plastiden-Generation auf, repräsentirt durch die weibliche
Eizelle und die männliche Spermazelle. Aus deren Ver¬
bindung entsteht wieder eine Zelle, die Cytula, und diese
erzeugt auf ungeschlechtlichem Wege, durch wiederholte
Theilung, die Generationen von gleichartigen Zellen, welche
schliesslich die Morula und die daraus entstellende Blastula
zusammensetzen. Jetzt erst tritt zwischen diesen gleich¬
artigen Zellen der Blastula-Generation die erste Arbeits¬
[58] theilung ein, und sie sondern sich in zweierlei Zellenarten,
in die Zellen des inneren vegetativen und des äusseren
animalen Keimblattes. Jede von diesen erzeugt wieder
durch fortgesetzte Theilung zahlreiche Generationen, und
in den letzteren schreitet die Arbeitstheilung der Zellen
um so weiter fort, je vollkommener später die völlig ent¬
wickelte Person organisirt ist. Alle die zahllosen Gene¬
rationen von verschiedenartigen Zellen, welche deren Ge¬
webe und Organe zusammensetzen, vermehren sich unge¬
schlechtlich durch Theilung. Nur zwei von diesen poly¬
morphen Zellen-Generationen sondern sich wieder geschlecht¬
lich, die Eizellen und die Spermazellen. Kommen diese
später im geschlechtlichen Zeugungsacte wieder zur Ver¬
wachsung, so sind wir am Anfange des Zeugungskreises
angelangt, von welchem wir ausgingen. Der Rückschlag
oder Atavismus der Plastiden hat uns wieder bis zur
Cytula zurückgeführt. Es besteht also im Grunde die
individuelle Entwickelung jedes vielzelligen Thieres und
jeder vielzelligen Pflanze, die sich durch Hypogenesis,
d. h. ohne „Generationswechsel“ der Personen, durch
einen geschlechtlichen Zeugungs-Act fortpflanzt, eigentlich
aus einem höchst verwickelten Generationswechsel ihrer
constituirenden Zellen. Der Unterschied liegt nur darin,
dass die letzteren im vielzelligen Organismus eng räumlich
mit einander verbunden bleiben, während die Personen,
als Repräsentanten der verschiedenen Generationen bei der
eigentlichen „Metagenesis“ räumlich von einander getrennt
und frei sind. Um diesen Unterschied auszudrücken, habe ich
die Wechselzeuguug der Plastiden als Generationsfolge
oder Strophogenesis bezeichnet, (Gen. Morph. II, 106).
[59] Der Begriff der Metagenesis bleibt auf die Wechsel¬
zeugung der Personen, als gang selbstständiger und freier
physiologischer Individuen beschränkt. Wie unwesentlich
übrigens dieser Unterschied ist, zeigen die Siphonophoren,
bei denen dieselben, durch Arbeitstheilung vielfach geson¬
derten Personen auf einem Stocke vereinigt bleiben, die
bei anderen Hydromedusen getrennt ihr selbstständiges
Leben führen. Die Arbeitstheilung der Personen, die wir
hier ebenso wie in den Culturstaaten der Ameisen, Bienen,
Termiten und Menschen finden, ist an sich betrachtet nur
im Grossen, was die Arbeitstheilung der Plastiden im
Laufe der Strophogenesis in kleinem Maassstabe darbietet;
und die letztere ist wieder im Grunde kein anderer Pro¬
cess als die im Miniaturbilde uns entgegentretende Ar¬
beitstheilung der Plastidule. Diese ist der Elemen¬
tar-Factor der fortschreitenden organischen Entwickelung,
der stetig zunehmenden Vollkommenheit und Mannichfaltig¬
keit der organischen Formen. Der Mikrokosmos wieder¬
holt auch hier das Bild des Makrokosmos.
Suchen wir nun für die mannichfaltigen und wunder¬
vollen, hier kurz berührten Vorgänge der organischen
Zeugung und Entwickelung einen einheitlichen allgemeinen
Gesichtspunkt auf monistischer Basis zu gewinnen, so ist
dieser jedenfalls nur im Gebiete der Bewegungslehre oder
der Mechanik im engeren Sinne zu suchen. Denn der
ganze uns erkennbare Weltprocess in seiner unbegrenzten
Ausdehnung, die Gesammtentwickelung der Sonnensysteme
und Planeten nach Kant, die anorganische Entwickelung
des Erdballs nach Lyell und die organische Entwickelung
auf demselben nach Darwin sind in gleicher Weise durch
[60] feste und unabänderliche Gesetze der Mechanik mit Noth¬
wendigkeit bedingt. Und wie die gesammte Entwickelung
der organischen Natur auf unserer Erde‚ wie die Stammes¬
geschichte des Pflanzen- und Thierreichs, so ist auch die
Entwickelungsgeschichte der Menschheit und jedes ein¬
zelnen Menschen durch dieselben festen Gesetze der Be¬
wegungslehre geregelt. Der Unterschied ist nur der‚ dass
der Entwickelungs-Process der organischen Natur im
Ganzen‚ wie im Einzelnen unendlich viel verwickelter und
daher schwieriger zu erfassen ist‚ als derjenige der anor¬
ganischen Natur. Aber jener beruht ebenso wie dieser
im Grunde doch nur auf Massen-Bewegungen‚ und diese
Massen-Bewegungen sind sämmtlich auf Anziehungs- und
Abstossungs-Verhältnisse der Moleküle und der sie zu¬
sammensetzenden Atome‚ sowie des die Atome verbinden¬
den Aethers zurückzuführen.
Der biogenetische Process‚ wie wir die Gesammt¬
heit der organischen Entwickelungs-Bewegungen auf un¬
serem Planeten kurz nennen wollen‚ ist im Einzelnen viel
zu verwickelt‚ die Zahl‚ Mannichfaltigkeit und Complication
aller ihn zusammensetzenden Einzel-Vorgänge ist viel zu
gross‚ als dass es möglich wäre‚ jetzt schon‚ bei unserer
mangelhaften und unvollkommenen Kenntniss derselben‚
seinem ehernen mechanischen Gang Schritt für Schritt zu
folgen. Trotzdem können wir behaupten‚ schon jetzt eine
befriedigende monistische Einsicht in sein wahres Wesen
gewonnen zu haben. Die Voraussetzung dieser Einsicht
ist die Anerkennung des biogenetischen Grundgesetzes‚
welches durch den Nachweis des Causalnexus zwischen
Ontogenie und Phylogenie allein fähig scheint‚ den über
[61] allen Zweigen der Biogenie lagernden Nebel zu zerstreuen.
Wie man auch jenen innigen ursächlichen Zusammenhang
zwischen Keimes- und Stammesgeschichte formuliren mag,
bestehen bleibt er für Jeden, der nicht durch Vorurtheile
geblendet, der mit den Thatsachen der organischen Ent¬
wickelung vertraut und der zu einem philosophischen Ur¬
theil über ihre Bedeutung befähigt ist.
Wollen wir aber noch weiter in die Mechanik des
biogenetischen Processes eindringen, so müssen wir noth¬
wendig in die dunkele Tiefe des Plastiden-Lebens hinab¬
steigen und in der Plastidul-Bewegung die wahre
bewirkende Ursache desselben aufsuchen. Es bleibt also
hier schliesslich noch die Frage zu beantworten, ob wir
über die eigentliche Natur dieser molekularen Plastidul-
Bewegung, die unserer unmittelbaren Erkenntniss ver¬
schlossen ist, uns mit Hülfe der Vergleichung von analogen
Bewegungserscheinungen eine vorläufig befriedigende Hy¬
pothese zu bilden im Stande sind. Eine bejahende Ant¬
wort auf diese Frage versucht unsere Hypothese der
Perigenesis.
Wenn wir zunächst vom höchsten und umfassendsten
Gesichtspunkte aus die Gesammtheit der eben betrachteten
organischen Entwickelungsvorgänge überschauen, so ergiebt
sich als allgemeinstes Resultat die Ueberzeugung, dass
der biogenetische Process als eine periodische Bewe¬
gung verläuft. Das anschaulichste Analogon derselben
finden wir im Bilde einer verwickelten Wellenbewegung.
Halten wir uns dabei zunächst nur an die unmittelbar zu
erkennenden und unumstösslichen Thatsachen, so können
wir von unserer eigenen Vorfahren-Kette ausgehen; gleich¬
[62] viel ob wir diese auf die sogenannte „historische Zeit“
beschränken, in welcher Mensch auf Mensch nachweislich
gefolgt ist; oder ob wir unsere Ahnenreihe, der Anthro¬
pogenie folgend, noch weiter hinab durch den Stamm der
Wirbelthiere bis zum Amphioxus, und durch die Gruppe
der Wirbellosen hindurch bis zur Gastraea, schliesslich
bis zur Amoebe und zum Moner verfolgen. Auf jeden
Fall lässt sich die Entwickelungsbewegung unserer Ahnen¬
reihe unter dem einfachsten Bilde einer Wellenlinie
vorstellen, in welcher das individuelle Leben jeder einzel¬
nen Person einer einzelnen Welle entspricht.
Beschränken wir nun aber unseren Blick nicht auf die
Reihe unserer directen Vorfahren, sondern erweitern wir
ihn und fassen wir die Gesammtheit unserer Blutsverwandten
zusammen, so können wir bekanntlich deren Zusammenhang
in der einfachen Form eines Stammbaumes klar ausdrücken.
Mit Rücksicht auf die Wellenbewegung der zusammen¬
hängenden Entwickelung können wir auch in diesem
Stammbaum die Entwickelungs-Bewegung jeder einzelnen
Person durch eine Welle andeuten. Der ganze Stamm¬
baum erhält so das Bild einer verzweigten Wellen¬
bewegung, einer ramificirten Undulation. (Vergl. die
angehängte Tafel.) Welche Vorfahren-Form wir auch
als Stammform für die ganze stammverwandte Gruppe des
Stammbaumes oder für einen Theil derselben wählen
mögen, immer wird sie als der Ausgangspunkt einer zu¬
sammenhängenden Wellenbewegung erscheinen, welche sich,
den Aesten und Zweigen des Stammbaumes entsprechend‚
vielfach ramificirt.
Dasselbe Bild einer verzweigten Wellenbewegung,
[63] welches uns so die Entwickelungsgeschichte jeder mensch¬
lichen Familie, die Genealogie jeder Dynastie im Kleinen
darbietet, dasselbe finden wir im Grossen wieder, wenn
wir das natürliche System der Organismen im Lichte der
Descendenz-Theorie betrachten. Denn wie in jeder mensch¬
lichen Familie, so sind auch in jeder grösseren Gruppe
von blutsverwandten Thieren oder Pflanzen „alle Gestal¬
ten ähnlich; doch keine gleichet der anderen“. Das „ge¬
heime Gesetz“, das „heilige Räthsel“, auf welches dieser
Gestalten-Chor nach Goethe deutet, ist die übertragene
Entwickelungs-Bewegung, auf der die „Blutsverwandt¬
schaft“ beruht. Daher ist das „natürliche System“ nichts
Anderes als der wahre Stammbaum der blutsverwandten
Arten, und jeder einzelne Ast und Zweig desselben ent¬
spricht einer grösseren oder kleineren Gruppe von Des¬
cendenten einer gemeinsamen Stammform. Diese Einheit
der Abstammung vereinigt alle Formen einer Klasse,
Ordnung u. s. w. Indem sich jede Klasse in verschiedene
Ordnungen, jede Ordnung in mehrere Familien, jede Fa¬
milie wieder in verschiedene Gattungen, jede Gattung in
mehrere Arten und Varietäten spaltet, verzweigt sich die
Wellenbewegung, welche von der gemeinsamen Stamm¬
form auf die ganze Nachkommen-Gruppe übertragen wurde;
und jeder Wellenzweig pflanzt seine individuelle Bewegung
wieder in eigenthümlicher Form auf seine verschiedenen
Descendenten fort.
Nun lehrt uns das biogenetische Grundgesetz, dass
sich dieser grossartige Entwickelungsgang der Stammes¬
geschichte im Kleinen wiederspiegelt in der Keimes¬
geschichte jedes einzelnen Individuums. Hier sind es die
[64] Lebensläufe der constituirenden Plastiden (Cytoden und
Zellen) welche den einzelnen Wellen entsprechen. Die
Cytula oder die aus dem befruchteten Ei hervorgegangene
„erste Furchungszelle“, aus welcher sich der vielzellige
Organismus entwickelt, verhält sich zu den verschiedenen
Zellen-Generationen, welche aus ihr durch Theilung ent¬
stehen und welche später durch Arbeitstheilung die ver¬
schiedenen Gewebe bilden, ganz genau so, wie die Stamm¬
form einer Klasse oder Ordnung zu den mannichfaltigen
Familien, Gattungen und Arten, welche von ihr abstammen
und sich durch Anpassung an verschiedene Existenz-Be¬
dingungen verschiedenartig entwickelt haben. Der ontoge¬
netische „Zellen-Stammbaum“ der ersteren hat ganz dieselbe
Form, wie der phylogenetische „Arten-Stammbaum“ der
letzteren. Die übertragene Entwickelungs-Bewegung,
welche hier von der Stammform der ganzen Arten-Gruppe,
dort von der Stammzelle der ganzen Zellen-Gruppe aus¬
geht, nimmt in beiden Fällen die gleiche Form der ver¬
zweigten Wellenbewegung an. Jeder, der das biogenetische
Grundgesetz anerkennt, wird es nur natürlich finden, dass
der Mikrokosmos des ontogenetischen Zellen-Stammbaumes
das verkleinerte und theilweise verzogene Abbild von dem
Makrokosmos des phylogenetischen Arten-Stammbaumes
darstellt. (Vergl. die angehängte Tafel.)
Da wir uns jede zusammengesetzte und verwickelte
Erscheinung nur durch Auflösung in ihre einzelnen Be¬
standtheile und genaueste analytische Untersuchung dieser
letzteren zum Verständniss bringen und erklären können,
so müssen wir nothwendig auch in der mechanischen Ent¬
wickelungs-Theorie bis in die letzten Elementar-Vorgänge
[65] eindringen. Nun ist der ganze biogenetische Process das
höchst zusammengesetzte Resultat aus den Entwickelungs-
Vorgängen sämmtlicher organischen Arten. Diese setzen
sich wieder aus den Entwickelungs-Processen der Personen,
wie die letzteren aus denjenigen der constituirenden Plastiden
zusammen. Die Entwickelung jeder einzelnen Plastide ist
aber wieder nur das Product aus den activen Bewegungen
ihrer constituirenden Plastidule. Nun haben wir gesehen,
dass die Entwickelungs-Bewegung der Stämme und Klassen,
der Ordnungen und Familien, der Gattungen und Arten,
der Personen und Plastiden immer und überall die charak¬
teristische Grundform der verzweigten Wellenbewegung
hat. Demnach kann auch die molekulare Plastidul-Bewe¬
gung, welche allen jenen Vorgängen zu Grunde liegt, in
Wirklichkeit keine andere Form besitzen. Wir müssen
schliessen, dass auch diese Elementar-Ursache des Lebens¬
Processes, dass auch die unsichtbare Plastidul-Bewe¬
gung eine verzweigte Wellenbewegung ist. Diese
wahre und letzte „Causa efficiens“ des biogenetischen Pro¬
cesses nennen wir mit einem Worte Perigenesis, die
periodische Wellenzeugung der Lebenstheilchen oder Plasti¬
dule. In der That ist diese Hypothese die einzige, welche
uns jenen Process wirklich zu erklären vermag. Nehmen
wir als einfaches Beispiel zur Erläuterung der Perigenesis
den Entwickelungsgang eines monoplastiden Protisten
(z. B. eines monocytoden Moneres, oder einer einzelligen
Amoebe), das sich durch einfache Theilung fortpflanzt, und
verfolgen wir diesen auf der angehängten Tafel bis zur
fünften Generation. Auf dieser Tafel ist jede entwickelte
einfache Zelle durch eine einfache rothe Kugel und die
Haeckel, Perigenesis der Plastidule. 5[66] beiden Tochterzellen, welche bei deren Fortpflanzung durch
Theilung entstehen, durch zwei kleinere, unmittelbar darüber
befindliche rothe Kugeln angedeutet. Die rothen Wellen¬
linien bedeuten den individuellen Entwickelungsgang jeder
einzelnen Zelle mit der ihr eigenthümlichen Plastidul-
Bewegung, deren Richtung durch einen rothen Pfeil an¬
gedeutet wird. Die kleinen schwarzen Körper von ver¬
schiedener Form bedeuten die Summe der äusseren Existenz-
Bedingungen, welche die Ernährung jeder Zelle beeinflussen
und durch Anpassung deren ursprüngliche Plastidul-Bewe¬
gung abändern. Die Richtung dieser Anpassungs-Bewe¬
gung ist durch die schwarzen Pfeile angedeutet. Indem
nun in jeder einzelnen Zelle die ursprüngliche, von der
Mutterzelle durch Vererbung übertragene Plastidul-Be¬
wegung mit der neuen, durch Anpassung erworbenen
Plastidul-Bewegung zusammentrifft, entsteht als Diagonale
in diesem Parallelogramm der Kräfte eine neue Form der
Plastidul-Bewegung, die dieser Zelle individuell zukommt;
und da die Existenz-Bedingungen aller Individuen mehr
oder minder verschieden sind, müssen auch diese Diagonal-
Bewegungen mehr oder minder abweichen. Daraus folgt
die Divergenz des Charakters, welche sich bei den
Descendenten jeder Generation ausspricht und bei jeder
folgenden Generation wächst. Der ganze Entwickelungs-
Process stellt sich also als eine zusammengesetzte rami¬
ficirte Undulation der Plastidule dar, bei welcher die
einzelnen Wellen mehr und mehr ungleich werden. Ganz
dieselbe Erscheinung zeigt uns der sogenannte Fur¬
chungs-Process der Thier-Eier. Auch hier zerfällt die
Zelle durch wiederholte Theilung in 2, 4, 8, 16, 32 Zellen u.s.w.
[67] Zwar erscheinen diese äusserlich häufig gleich; allein
ihre (ererbte) Plastidul-Bewegung ist dennoch individuell
verschieden, wie aus ihrer späteren ungleichen Entwicke¬
lung hervorgeht. Die potentielle Ungleichheit, welche hier
durch Vererbung übertragen oder angeboren erscheint,
ist in Wahrheit ursprünglich durch Anpassung von den
ältesten Vorfahren des vielzelligen Organismus erworben
worden.
Indem wir dergestalt eine ununterbrochene verzweigte
Wellenbewegung der Plastidule als die bewirkende
Ursache des biogenetischen Processes annehmen,
sehen wir die Möglichkeit ein, den unendlich verwickelten
Gang des letzteren auf mechanische Bewegung der Massen-
Atome zurückzuführen; nnd diese sind hier ebenso durch
chemisch-physikalische Gesetze bedingt, wie in sämmtlichen
Erscheinungen der anorganischen Natur. Wenn wir diese
verzweigte Wellenbewegung der Plastidule mit einem Worte
als „Perigenesis oder Wellenzeugung“ bezeichnen, so wollen
wir damit die characteristische Eigenthümlichkeit aus¬
drücken, welche dieselbe als verzweigte Bewegung von
anderen ähnlichen periodischen Processen unterscheidet.
Diese Eigenthümlichkeit beruht auf der Reproductionskraft
der Plastidule und diese ist wieder durch deren eigen¬
thümliche atomistische Zusammensetzung bedingt. Jene
Reproductionskraft, die allein die Fortpflanzung der Pla¬
stiden ermöglicht, ist aber gleichbedeutend mit dem Ge¬
dächtniss der Plastidule. Und hier kommen wir wieder
auf die vorher adoptirte, von Ewald Hering so vortrefflich
begründete Anschauung zurück, dass das unbewusste Ge¬
dächtniss die wichtigste Character-Eigenschaft der „orga¬
5 *[68] nisirten Materie“, oder richtiger der organisirenden Pla¬
stidule ist. Das Gedächtniss ist ein Hauptfactor des bio¬
genetischen Processes. Durch das Gedächtniss der Plastidule
wird das Plasson befähigt, in fortdauernder periodischer
Bewegung seine characteristischen Eigenschaften von Ge¬
neration zu Generation durch Vererbung zu übertragen,
und diesen die neuen Erfahrungen einzufügen, welche die
Plastidule durch Anpassung im Laufe der Entwickelung
erworben halten.
Wie ich schon in der generellen Morphologie ausführ¬
lich begründete, sind die Abänderungen der organischen
Formen, welche wir unter dem Begriff der Anpassung
im weitesten Sinne zusammenfassen, bedingt, durch verän¬
derte Verhältnisse in der Ernährung der Plastiden.
Diese letzteren aber sind zurückzuführen auf chemische
Veränderungen in der atomistischen Zusammensetzung und
demgemäss in der Molekular-Bewegung der Plastidule,
welche bei der außerordentlichen Beweglichkeit und ver¬
wickelten Lagerung der constituirenden Atome unmittelbar
durch die veränderten Einflüsse der umgebenden Aussen¬
welt oder der äusseren „Existenz-Bedingungen“ herbei¬
geführt werden. Diese Erfahrungen vergessen die Plasti¬
dule nicht. Sie übertragen vielmehr dieselben als Modi¬
fication der ursprünglichen Plastidul-Bewegung auf die
Nachkommen. So erklärt sich die Vererbung wesentlich
als die Uebertragung der individuellen Plastidul-Bewegung,
welche mit jedem Processe der Fortpflanzung noth¬
wendig verknüpft ist.
In der generellen Morphologie (Bd. I., S. 154, Bd. II.,
S. 297) und in der natürlichen Schöpfungsgeschichte
[69] (VI. Aufl., S. 226, 300) hatte ich jede einzelne organische
Form als das nothwendige Product aus zwei mechanischen
Factoren abgeleitet, die man im Sinne der älteren Biologie
als „Bildungskräfte“ oder „Bildungstriebe“ bezeichnen
kann. Der innere Bildungstrieb oder die innere Gestal¬
tungskraft (von Goethe als der centripetale oder Specifi¬
cationstrieb bezeichnet) ist die Erblichkeit oder Here¬
ditaet. Der äussere Bildungstrieb oder die äussere Ge¬
staltungskraft (von Goethe der centrifugale oder Meta¬
morphosen-Trieb genannt) ist die Anpassungsfähigkeit oder
Variabilität. Letztere, bedingt das, was Baer als „Grad
der Ausbildung“, erstere das, was Baer als „Typus der
Bildung“ gegenüberstellt. Mit Rücksicht auf die Perige¬
nesis können wir jetzt den Gegensatz zwischen diesen
beiden fundamentalen formgestaltenden Kräften der Orga¬
nismen schärfer dahin präcisiren, dass wir sagen: Die
Erblichkeit ist das Gedächtniss der Plastidule,
die Variabilität ist die Fassungskraft der Plasti¬
dule. Jene bewirkt die Beständigkeit, diese die Mannich¬
faltigkeit der organischen Formen. In sehr einfachen und
sehr constanten Formen haben die Plastidule, cum grano
salis verstanden, „Nichts gelernt und Nichts vergessen.“
In sehr vollkommenen und variablen organischen Formen
haben die Plastidule „Viel gelernt und Viel vergessen.“
Als Beispiel für ersteres führe ich die Keimesgeschichte
des Amphioxus, als Beispiel für letzteres hingegen die¬
jenige des Menschen an (vergl. meine Anthropogonie, VIII.
und XIV. Vortrag).
Die Unterschiede, welche meine Hypothese der Peri¬
genesis von Darwin's Hypothese der Pangenesis trennen,
[70] liegen auf der Hand. So wesentlich verschieden, wie
Darwin's „Gemmulae oder Lebenskeimchen“ von unseren
„Plastidulen oder Lebensmolekülen“, so grundverschieden
sind auch die molekularen Bewegungen, welche unsere
beiden Hypothesen in Anspruch nehmen. Die „Gemmulae“
der Pangenesis sind Molekül-Gruppen, welche „wachsen,
sich ernähren und durch Theilung vervielfältigen können,
gleich den Zellen selbst.“ Die „Plastidule“ der Perigenesis
hingegen sind Einzel-Moleküle, welche als solche alle
diese Eigenschaften nicht besitzen. Sie können blos ihre
individuelle Plastidul auf die benachbarten
Plastidule übertragen und durch Assimilation in ihrer
unmittelbaren Umgebung neue Plastidule von derselben
Beschaffenheit bilden, wie ein wachsender Krystall in der
Mutterlauge; sie können ferner ihre atomistische Zusammen¬
setzung in Folge äusserer Einflüsse sehr leicht ändern
und damit auch ihre Plastidul-Bewegung. Darwin nimmt
an, dass jede Zelle Theilchen an alle Theile des Körpers
abgiebt und dass alle Reproductions sowohl die
Eizellen und Spermazellen, welche die geschlechtliche
Zeugung, als auch die indifferenten Zellen, welche die un¬
geschlechtliche Zeugung vermitteln, abgegebene Gemmulae
von sämmtlichen Zellen des Organismus enthalten; und
nicht allein dieses Organismus, sondern auch aller seiner
Vorfahren. Wie diese in den Reproductions-Zellen sich
ordnen und den neuen Organismus bilden sollen, vermag
ich nicht einzusehen. Ja, mir scheint eine Entwickelungs¬
lehre auf dieser Basis mit der Zellen-Theorie, mit der
Plastiden-Theorie, mit unseren Erfahrungen über die succes¬
sive Differenzirung und Arbeitstheilung der Zellen im
[71] Laufe der Ontogenese überhaupt unvereinbar. Die Ar¬
beitstheilung und Generationsfolge der Zellen, auf welche
ich das Hauptgewicht lege, und die regelmässige Periodi¬
cität der Plastidulbewegung, welche diesen erworbenen
Process der Arbeitstheilung von Zeit zu Zeit wiederholt
und durch neue Erwerbungen complicirt, haben in der
Theorie der Pangenesis keinen Platz.
Hingegen gründet sich meine Hypothese von der Pe¬
rigenesis der Plastidule auf das mechanische Princip
der übertragenen Bewegung, welches bereits Aristoteles
als die wichtigste Ursache der individuellen Entwickelung
betrachtete. Dieser grosse Naturphilosoph lässt bei der
geschlechtlichen Fortpflanzung den Anstoss und den Be¬
ginn oder die Erregung der Entwickelungsbewegung vom
männlichen Samen ausgehen und von diesem auf den weib¬
lichen Zeugungsstoff übertragen. Auch bekämpft er aus¬
drücklich die in der Pangenesis enthaltene Vorstellung,
dass der Same von allen Theilen des Körpers herkomme.
Unsere Plastidule sind die constituirenden Moleküle des
Plasson, welche die Plastiden-Theorie, die erweiterte
„Protoplasma-Theorie“, als die einzigen activen Factoren
des Plastiden-Lebens anerkennt, während sie den übrigen
Gewebs-Molekülen dabei nur eine passive Rolle zutheilt.
Indem die schwingende Molekular-Bewegung dieser Pla¬
stidule, oder die Plastidul-Bewegung, sich bei der Ver¬
mehrung der Plastiden als „Vererbung“ die neuge¬
bildeten Plastiden überträgt, gestaltet, sie sich zu einer
verzweigten Wellenbewegung, und indem bei den ver¬
schiedenen Descendenten die mannichfaltigen Existenzbe¬
dingungen einen unmittelbaren Einfluss auf die verschiedenen
[72] Zweige ausüben, entstehen durch „Anpassung“ neue
Formen. Durch Vererbung dieser Anpassungen auf die
späteren Descendenten entsteht die divergente Arbeits¬
theilung der Plastiden, welche wir als die wichtigste
Ursache der weiteren Entwickelung ansehen. So werden
die Wellenkreise der ramificirten Undulation immer zahl¬
reicher, mannichfaltiger und verwickelter, je weiter wir
die fortschreitende Perigenesis der Plastidule verfolgen.
Alle die mannichfaltigen, verwickelten und merkwür¬
digen Erscheinungen, des biogenetischen Processes scheinen
mir im Lichte dieser Perigenesis einer einfachen mecha¬
nischen Erklärung von einem einheitlichen Gesichtspunkte
aus zugänglich zu werden. Hingegen habe ich mich ver¬
geblich bemüht, eine solche einfache mechanische Erklärung
mit Hülfe der Pangenesis zu erreichen, welche Darwin
selbst als eine höchst complicirte Hypothese bezeichnet.
Auch alle die einzelnen Haupt-Erscheinungen der Ent¬
wickelung, welche derselbe an der Hand der Pangenesis-
Hypothese zu erklären sucht: Fortpflanzung und Ver¬
erbung, Ernährung und Anpassung, Rückschlag und
Generationswechsel, Hybridismus und Regeneration schei¬
nen wir durch die Pangenesis der Gemmulae keine mecha¬
nische und mit den Thatsachen des Zellenlebens und der
Keimesentwickelung vereinbare Erklärung zu finden.
Hingegen wird eine solche durch die Perigenesis der
Plastidule gegeben. Darwin sagt ausdrücklich, dass „alle
Formen der Reproduction abhängen von der Aggregation
von Gemmulae, welche von allen Theilen des Körpers
abgeleitet sind.“ Wir sagen hingegen: „Alle Formen
der Fortpflanzung hängen ab von der Uebertragung
[73] der Plastidul-Bewegung, welche bloss von dem zeu¬
genden Theile des Körpers auf die erzeugten Plastiden
direct übertragen wird, aber weiterhin vermöge des Ge¬
dächtnisses und der Arbeitstheilung der Plastidule die
Wellenbewegung der Vorfahren in den Nachkommen ganz
oder theilweise reproduciren kann.
Was ich hier gegen die geistreiche Pangenesis-Theorie,
Darwin's einwende, das gilt zum Theil auch von der
scharfsinnigen Entwickelungs-Theorie, welche 1874 Elsberg
in New-York als die Theorie von der „Regeneration oder
Präservation der organischen Moleküle“ veröffentlicht hat.
(Proceed. of the American Association, Hartford 1874.)
Jedoch treten hier an die Stelle der „Gemmules“ in
Uebereinstimmung mit unserer Plastiden-Theorie die
Plastidule. In der Auffassung der Plastidule als wirk¬
licher activer Plasson-Moleküle und in Bezug auf die fun¬
damentale Bedeutung des Plasson selbst, stimmt Elsberg
wesentlich mit unserer Auffassung überein. Dagegen
nimmt er den Grundgedanken der Pangenesis in seine
Regenerations-Theorie auf. Er formulirt sie selbst in
folgenden Worten: „Der Keim jedes erzeugten lebenden
Wesens enthält Plastidule seiner ganzen Vorfahren-Reihe.
Ich nenne sie die Regenerations-Hypothese, weil ihr zu¬
folge die Vorfahren bis zu einem gewissen Grade körper¬
lich, und also auch in jeder anderen Beziehung, in ihrer
Nachkommenschaft wiedergeboren werden; oder die Hypo¬
these der Präservation der organischen Moleküle, weil sie
annimmt, dass gewisse Plastidule, wenn auch nicht für
immer, doch für lange Zeit, aufbewahrt und von Genera¬
tion zu Generation übertragen werden; oder ich könnte
[74] sie die Hypothese der Erhaltung der organischen Kräfte
nennen, was nach der eben gegebenen Deutung dasselbe
ausdrücken würde.“
Wie hieraus und aus den weiteren Ausführungen von
Elsberg klar hervorgeht, stimmt er im Wesentlichsten mit
der Pangenesis-Hypothese Darwin's überein, insofern hier
wie dort die materielle Uebertragung wirklicher Moleküle
durch die ganze Reihe der blutsverwandten Generationen
und somit die materielle Zusammensetzung jedes Keimes
aus körperlichen Theilchen seiner sämmtlichen Vorfahren
behauptet wird. Gerade diesem Grundgedanken aber tritt
unsere Perigenesis-Hypothese entgegen. Denn wir nehmen
eine unmittelbare Uebertragung der körperlichen Moleküle
nur vom zeugenden Individuum auf das Erzeugte an, aber
nicht auch von der älteren Vorfahren-Reihe her. Von
dieser wird nur die besondere Form der periodischen
Bewegung übertragen oder „vererbt“, und nur diese
fortdauernde „Wellenbewegung der Plastidule“ ist es.
welche vermöge des Gedächtnisses derselben auch die
Eigenschaften der älteren Vorfahren an den späteren
Nachkommen wieder in die Erscheinung treten lässt. Das
ist, ja gerade das Charakteristische der fortschreitenden
Wellenbewegung, dass die Wellenformen sich vom
Ausgangspunkte der Bewegung oder vom „Erregungs¬
centrum“ aus über weite Strecken und zahllose Theile der
bewegten Masse fortpflanzen können, trotzdem die beweg¬
ten Moleküle nur innerhalb sehr enger Grenzen, nur
innerhalb einer Wellenlänge sich hin und her bewegen,
und die Wellen selbst an Ort und Stelle bleiben; in sehr
sinnreicher und bezeichnender Weise nennen wir deshalb
[75] auch die Wellenbewegung eine Fortpflanzung der
Wellen. Diesen Sprachgebrauch umkehrend, kann man
auch die Fortpflanzung der Organismen als eine eigen¬
thümliche „Wellenbewegung“ auffassen.
Abgesehen von dieser Differenz scheint mir Elsberg
auch darin zu weit zu gehen, dass er die Zellen-Theorie
durch die histologischen Anschauungen von Beale und
Heitzmann für überwunden erklärt und die netzförmige An¬
ordnung der Plastidulreihen im Plasson oder der „formen¬
den Substanz“ für eine allgemeine und wesentliche Eigen¬
schaft aller Plastiden hält. Ich fasse dagegen diese netz¬
förmige Anordnung der Plastidul-Reihen in der „Inter¬
plastidul-Substanz“ als ein secundäres Phänomen auf und
nehme an, dass ursprünglich (z. B. in den einfachsten
Moneren) die Plastidule allein, dicht an einander gelagert,
den ganzen Plastiden-Körper bilden. Erst in Folge ihrer
weiteren bildenden Thätigkeit treten sie aus einander, lagern
„Interplastidul-Massen“ zwischen sich ab und können die
netzförmige Anordnung annehmen, welche wir so weit ver¬
breitet (wenngleich keineswegs allgemein) in den Cytoden
und Zellen wahrnehmen. Jedenfalls bleibt aber Elsberg
im Rechte‚ wenn er die hohe Bedeutung der Plastidule
betont und sie als die eigentlichen activen Factoren des
Lebens-Processes ansieht.
Die grossen Gruppen von Thatsachen, auf welche wir
unsere Perigenesis-Hypothese stützen, sind als empirische
Grundlagen der Entwickelungs-Lehre zum grössten Theile
längst anerkannt, und die darauf gegründeten Theorien,
die wir durch die Idee der Perigenesis zu einem Ganzen
verbunden haben, von den meisten Biologen gegenwärtig
[76] angenommen. Ueber die Begründung der Zellen-Theorie‚
von der wir ausgegangen sind, brauchen wir kein Wort
zu verlieren. Dass die active formbildende Lebenssubstanz
der Zellen, oder die materielle Basis der Lebens-Thätig¬
keiten, im Protoplasma und der nahverwandten Nucleus-
Substanz zu suchen ist‚ und dass alle anderen Theile der
Gewebe passive, von jenen gebildete Bestandtheile dar¬
stellen, ist neuerdings ebenso zur Anerkennung gelangt.
Die Moneren (und die ontogenetische Keimform der Mone¬
rula) zeigen uns‚ dass Protoplasma und Nucleus erst durch
Sonderung aus dem einfachen Plasson entstanden sind.
Hierauf gestützt glauben wir in unserer Plastiden-Theorie
gezeigt zu haben, dass alle die zahllosen Arten des Pro¬
toplasma und des Nucleus nur Modificationen einer ein¬
zigen fundamentalen Bildungssubstanz, des Plasson dar¬
stellen, und dass demnach als die eigentlichen, molekularen
Factoren des biogenetischen Processes die Plasson-Moleküle
oder die Plastidule zu betrachten sind. Diesen müssen wir
nothwendig eine eigenthümliche, durch ihre atomistische
Constitution bedingte Molecular-Bewegung zuschreiben.
Dass der biogenetische Process im Grossen und Ganzen
ebensowohl wie in allen einzelnen Theilen eine verzweigte
Wellenbewegung darstellt, wird wohl allgemein zugegeben
werden. Da wir nun aber die bewirkende Ursache dieser
höchst zusammengesetzten Wellenbewegung nur in der
molekularen Plastidul-Bewegung finden können, so müssen
wir auch letztere als eine Undulation auffassen.
Wollten wir von streng mechanischem Standpunkt aus
für unsere Perigenesis-Hypothese den Werth einer Theorie
der Entwickelung in Anspruch nehmen, so würden wir
[77] vor Allem den Charakter der periodischen Massen-
Bewegung, der verzweigten Wellen-Bewegung betonen,
den der biogenetische Process unstreitig besitzt. Als
hypothetisches Element bleibt dann in der Theorie eigent¬
lich nur noch die Summe von Eigenschaften übrig, welche
wir den Plastidulen oder den Plasson Molekülen zuschreiben.
Wir betrachten diese „Lebenstheilchen“ als die wahren
activen Factoren des Lebens-Processes und schreiben ihnen
ausser den Eigenschaften, die allen aus Atomen zusammen¬
gesetzten Massentheilchen oder Molekülen zukommen, eine
besondere Eigenschaft zu, welche sie als vitale Moleküle
vor den anderen auszeichnet. Diese Eigenschaft, die recht
eigentlich den lebendigen Organismus von dem nicht leben¬
digen Anorgane unterscheidet, ist die Fähigkeit des Ge¬
dächtnisses oder der Reproduction. Ohne diese Hypothese
scheinen uns die mannichfaltigen Phänomene der Zeugung
und Entwickelung überhaupt nicht verständlich zu sein.
Wie befriedigend sich die Annahme eines solchen unbe¬
wussten Plastidul-Gedächtnisses begründen lässt, das hat
Ewald Hering in der mehrfach hervorgehobenen Schrift
einleuchtend gezeigt. Hingegen ist es mir bei eingehendem
Nachdenken nicht möglich gewesen, irgend einen haltbaren
Grund gegen diese Hypothese aufzufinden. Demnach be¬
trachte ich das Gedächtniss oder die Reproductionskraft
der Plastiden als eine Function des Plasson, welche un¬
mittelbar durch die atomistische Zusammensetzung der
Plastidule bedingt ist.
Von diesem Gesichtspunkte aus dürfen wir vielleicht
die Perigenesis als eine „mechanische Theorie“ im weiteren
Sinne bezeichnen, oder wenigstens als eine Hypothese,
[78] welche den Keim zu einer solchen in sich trägt. Was
noch besonders zu ihren Gunsten sprechen dürfte, ist ihre
grosse Einfachheit, in der Regel das Zeichen einer natur¬
gemässen Theorie. Wie einfach sind die Grundgedanken
der Gravitations-Theorie von Newton, der Undulations-
Theorie von Hüyghens, der Wärme-Theorie von Mayer, der
Zellen-Theorie von Schleiden, der Descendenz-Theorie von
Lamarck und der Selections-Theorie von Darwin! Und
doch werden durch diese einfachen Grundgedanken die
grössten und umfassendsten Massen verschiedenartiger That¬
sachen zu einem einheitlichen Ganzen verbunden und durch
eine gemeinsame Ursache erklärt. Ebenso einfach ist auch
der Grundgedanke einer verzweigten Wellenbewegung der
Plastidule, die wir als bewirkende mechanische Ursache
des biogenetischen Processes betrachten.
Wenn die monistische Naturwissenschaft der Gegen¬
wart an uns mit Recht die Anforderung stellt, alle Natur-
Erscheinungen mechanisch zu erklären und mit Ausschluss
jeder Teleologie auf „bewirkende Ursachen“, auf „causae
efficientes“ zurückzuführen, so wird dieser ersten Anfor¬
derung durch unsere Perigenesis-Theorie genügt. Denn
rein mechanisch sind die Principien von der übertragenen
Massenbewegung und von der Erhaltung der Kraft, welche
derselben zu Grunde liegen. Rein mechanisch ist auch
das Princip der Autogonie, welches den ersten Anstoss zu
dieser übertragenen Bewegung aus jenen Atom-Bewegungen
herleitet, die bei der Bildung der ersten Plastidule statt¬
finden und deren eigenthümliche Plastidul-Bewegung be¬
wirken. Auf die Uebertragung dieser Plastidul-Bewe¬
gung konnten wir die Vererbung, auf die Abänderung
[79] derselben die Anpassung zurückführen, die beiden Haupt-
Factoren der organischen Formbildung. So fügt sich der
biogenetische Process, als eine besondere und höchst ver¬
wickelte Form der periodischen Massen-Bewegung, ohne
Zwang in den gesetzmässigen Gang des gesammten Welt¬
processes ein, und die bewirkende Ursache desselben ist
die Perigenesis der Plastidule.
[]
Appendix A Erklärung der Tafel.
Das Schema der Perigenesis, das diese Tafel darstellt, soll in ein¬
fachster Form die verwickelten Beziehungen versinnlichen, welche bei
jedem organischen Entwickelungs-Process zwischen den Descendenten
einer gemeinsamen Stammform durch die Wechselwirkung der Vererbung
und Anpassung bedingt werden. Die übertragene Bewegung der Plasti¬
dule, welche die Vererbung bewirkte, ist durch rothe Wellenlinien
angedeutet; hingegen der Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen,
welcher durch Abänderung der übertragenen Plastidul-Bewegung die
Anpassung bewirkt, durch schwarze Wellenlinien. Die Verschieden¬
heit der äusseren Existenz-Bedingungen, denen jedes organische Indivi¬
duum sich anpassen muss, ist durch die verschiedene Form der schwarzen
Körper angedeutet, hingegen die dadurch bewirkte Verschiedenheit der
inneren Plastidul-Bewegung durch die verschiedene schwarze Schraffirung
der rothen Kugeln. Je zwei kleine Kugeln sind durch Theilung der
darunter befindlichen grossen Kugel entstanden. Dieses Verhältniss ist
der Einfachheit halber angenommen und bis zur fünften Generation
fortgeführt. Das Schema passt ebenso wohl auf die Furchungszellen,
welche sich bei der regelmässigen totalen Ei-Furchung durch fortgesetzte
Zweitheilung vermehren, wie auf die entsprechende Stammesgeschichte
einer einzelligen Stammform. Aber auch in dem Stammbaum jedes
höheren, vielzelligen Organismus erscheint ebenso die individuelle Plasti¬
dul-Bewegung jedes einzelnen Individuums als das Product aus der
durch Vererbung übertragenen und der durch Anpassung abgeänderten
Wellenzeugung der Lebenstheilchen.
Appendix B
Druck von A. Haack in Berlin.
[]
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhz0.0