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Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.
Ein Roman.
Zweyter Band.
Frankfurt und Leipzig.
. 1795.
[][[5]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.

Drittes Buch.

[[6]][[7]]

Erſtes Capitel.

Kennſt du das Land? wo die Citronen blühn,

Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,

Ein ſanfter Wind vom blauen Himmel weht.

Die Myrthe ſtill und hoch der Lorbeer ſteht.

Kennſt du es wohl?

Dahin! Dahin!

Mögt ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Kennſt du das Haus? auf Säulen ruht ſein Dach,

Es glänzt der Saal, es ſchimmert das Gemach,

Und Marmorbilder ſtehn und ſehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, gethan?

Kennſt du es wohl?

Dahin! Dahin!

Mögt ich mit dir, o mein Beſchützer, ziehn.
[8]
Kennſt du den Berg und ſeinen Wolkenſteg?

Das Maulthier ſucht im Nebel ſeinen Weg,

In Hölen wohnt der Drachen alte Brut,

Es ſtürzt der Fels und über ihn die Fluth.

Kennſt du ihn wohl?

Dahin! Dahin!

Geht unſer Weg! o Vater, laß uns ziehn!

Als Wilhelm des Morgens ſich nach
Mignon im Hauſe umſah, fand er ſie nicht,
hörte aber, daß ſie früh mit Melina ausge¬
gangen ſey, welcher ſich, um die Garderobe
und die übrigen Theater-Geräthſchaften zu
übernehmen, bey Zeiten aufgemacht hatte.


Nach Verlauf einiger Stunden hörte
Wilhelm Muſik vor ſeiner Thüre. Er glaub¬
te anfänglich, der Harfenſpieler ſey ſchon
wieder zugegen; allein er unterſchied bald
die Töne einer Zitter und die Stimme, wel¬
che zu ſingen anfing, war Mignons Stim¬
[]

[figure]

[][9] me. Wilhelm öfnete die Thüre, das Kind
trat herein und ſang das Lied, das wir ſo
eben aufgezeichnet haben.


Melodie und Ausdruck gefielen unſerm
Freunde beſonders, ob er gleich die Worte
nicht alle verſtehen konnte. Er ließ ſich die
Strophen wiederholen und erklären, ſchrieb
ſie auf und überſetzte ſie ins Deutſche. Aber
die Originalität der Wendungen konnte er
nur von ferne nachahmen. Die kindliche
Unſchuld des Ausdrucks verſchwand, indem
die gebrochene Sprache übereinſtimmend, und
das Unzuſammenhängende verbunden ward.
Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts
verglichen werden.


Sie fing jeden Vers feyerlich und präch¬
tig an, als ob ſie auf etwas ſonderbares
aufmerkſam machen, als ob ſie etwas wich¬
tiges vortragen wollte. Bey der dritten
Zeile ward der Geſang dumpfer und düſte¬
[10] rer, das: kennſt du es wohl? drückte ſie
geheimnißvoll und bedächtig aus, in dem:
dahin! dahin! lag eine unwiderſtehliche
Sehnſucht, und ihr: Laß uns ziehn!
wußte ſie, bey jeder Wiederholung, derge¬
ſtalt zu modifiziren, daß es bald bittend und
dringend, bald treibend und vielverſprechend
war.


Nachdem ſie das Lied zum zweytenmal
geendigt hatte, hielt ſie einen Augenblick
inne, ſah Wilhelmen ſcharf an und fragte:
kennſt du das Land? — Es muß wohl Ita¬
lien gemeynt ſeyn, verſetzte Wilhelm, woher
haſt du das Liedchen? — Italien? ſagte
Mignon bedeutend: gehſt du nach Italien,
ſo nimm mich mit, es friert mich hier. —
Biſt du ſchon dort geweſen, liebe Kleine?
fragte Wilhelm. — Das Kind war ſtill und
nichts weiter aus ihm zu bringen.


Melina, der hereinkam, beſah die Zitter
[11] und freute ſich, daß ſie ſchon ſo hübſch zu¬
recht gemacht ſey. Das Inſtrument war ein
Inventarienſtück der alten Garderobe, Mig¬
non hatte ſich’s dieſen Morgen ausgebeten,
der Harfenſpieler bezog es ſogleich, und das
Kind entwickelte bey dieſer Gelegenheit ein
Talent, das man an ihm bisher noch nicht
kannte.


Melina hatte ſchon die Garderobe mit
allem Zugehör übernommen; einige Glieder
des Stadtraths verſprachen ihm gleich die
Erlaubniß, einige Zeit im Orte zu ſpielen.
Mit frohem Herzen und erheitertem Geſicht
kam er nunmehr wieder zurück. Er ſchien
ein ganz anderer Menſch zu ſeyn. Denn er
war ſanft, höflich gegen jedermann, ja zu¬
vorkommend und einnehmend. Er wünſchte
ſich Glück, daß er nunmehr ſeine Freunde,
die bisher verlegen und müßig geweſen,
werde beſchäftigen und auf eine Zeitlang
[12] engagiren können, wobey er zugleich bedauer¬
te, daß er freylich zum Anfange nicht im
Stande ſey, die vortrefflichen Subjecte, die
das Glück ihm zugeführt, nach ihren Fähig¬
keiten und Talenten zu belohnen, da er ſeine
Schuld einem ſo großmüthigen Freunde, als
Wilhelm ſich gezeigt habe, vor allen Dingen
abtragen müſſe.


Ich kann Ihnen nicht ausdrücken, ſagte
Melina zu ihm, welche Freundſchaft Sie
mir erzeigen, indem Sie mir zur Direction
eines Theaters verhelfen. Denn als ich Sie
antraf, befand ich mich in einer ſehr wun¬
derlichen Lage. Sie erinnern ſich, wie leb¬
haft ich Ihnen bey unſrer erſten Bekannt¬
ſchaft meine Abneigung gegen das Theater
ſehen ließ, und doch mußte ich mich, ſobald
ich verheirathet war, aus Liebe zu meiner
Frau, welche ſich viel Freude und Beyfall
verſprach, nach einem Engagement umſehen.
[13] Ich fand keins, wenigſtens kein beſtändiges,
dagegen aber, glücklicherweiſe, einige Ge¬
ſchäftsmänner, die eben in außerordentlichen
Fällen jemanden brauchen konnten, der mit
der Feder umzugehen wußte, Franzöſiſch ver¬
ſtand, und im Rechnen nicht ganz unerfah¬
ren war. So ging es mir eine Zeitlang
recht gut, ich ward leidlich bezahlt, ſchaffte
mir manches an, und meine Verhältniſſe
machten mir keine Schande. Allein die auſ¬
ſerordentlichen Aufträge meiner Gönner gin¬
gen zu Ende, an eine dauerhafte Verſorgung
war nicht zu denken, und meine Frau ver¬
langte nur deſto eifriger nach dem Theater,
leider zu einer Zeit, wo ihre Umſtände nicht
die vortheilhafteſten ſind, um ſich dem Pu¬
blico mit Ehren darzuſtellen. Nun, hoffe
ich, ſoll die Anſtalt, die ich durch Ihre Hülfe
einrichten werde, für mich und die meinigen
ein guter Anfang ſeyn, und ich verdanke
[14] Ihnen mein künftiges Glück, es werde auch
wie es wolle.


Wilhelm hörte dieſe Äußerungen mit Zu¬
friedenheit an, und die ſämmtlichen Schau¬
ſpieler waren gleichfalls mit den Erklärungen
des neuen Directors ſo ziemlich zufrieden,
freuten ſich heimlich, daß ſich ſo ſchnell ein
Engagement zeige, und waren geneigt, für
den Anfang, mit einer geringen Gage vor¬
lieb zu nehmen, weil die meiſten dasjenige,
was ihnen ſo unvermuthet angeboten wurde,
als einen Zuſchuß anſahen, auf den ſie vor
kurzem noch nicht Rechnung machen konn¬
ten. Melina war im Begriff dieſe Dispoſi¬
tion zu benutzen, ſuchte auf eine geſchickte
Weiſe jeden beſonders zu ſprechen, und hatte
bald den einen auf dieſe, den andern auf
eine andere Weiſe zu bereden gewußt, daß
ſie die Contracte geſchwind abzuſchließen ge¬
neigt waren, über das neue Verhältniß kaum
[15] nachdachten, und ſich ſchon geſichert glaubten,
mit ſechswöchentlicher Aufkündigung wieder
loskommen zu können.


Nun ſollten die Bedingungen in gehörige
Form gebracht werden, und Melina dachte
ſchon an die Stücke, mit denen er zuerſt das
Publicum anlocken wollte, als ein Courier
dem Stallmeiſter die Ankunft der Herrſchaft
verkündigte, und dieſer die untergelegten
Pferde vorzuführen befahl.


Bald darauf fuhr der hochbepackte Wa¬
gen, von deſſen Bocke zwey Bedienten her¬
unterſprangen, vor dem Gaſthauſe vor, und
Philine war nach ihrer Art am erſten bey
der Hand und ſtellte ſich unter die Thüre.


Wer iſt Sie? fragte die Gräfin im Her¬
eintreten.


Eine Schauſpielerin, Ihro Excellenz zu
dienen, war die Antwort, indem der Schalk
mit einem gar frommen Geſichte und demü¬
[16] thigen Gebährden ſich neigte und der Dame
den Rock küßte.


Der Graf, der noch einige Perſonen um¬
her ſtehen ſah, die ſich gleichfalls für Schau¬
ſpieler ausgaben, erkundigte ſich nach der
Stärke der Geſellſchaft, nach dem letzten
Orte ihres Auffenthalts und ihrem Director.
Wenn es Franzoſen wären, ſagte er zu ſei¬
ner Gemahlin, könnten wir dem Prinzen
eine unerwartete Freude machen, und ihm
bey uns ſeine Lieblingsunterhaltung ver¬
ſchaffen.


Es käme darauf an, verſetzte die Gräfin:
ob wir nicht dieſe Leute, wenn ſie ſchon un¬
glücklicherweiſe nur Deutſche ſind, auf dem
Schloß, ſo lange der Fürſt bey uns bleibt,
ſpielen ließen. Sie haben doch wohl einige
Geſchicklichkeit. Eine große Societät läßt
ſich am beſten durch ein Theater unterhalten,
und der Baron würde ſie ſchon zuſtutzen.


Un¬[17]

Unter dieſen Worten gingen ſie die Trep¬
pe hinauf, und Melina präſentirte ſich oben
als Director. Ruf Er ſeine Leute zuſam¬
men, ſagte der Graf: und ſtell Er ſie mir
vor, damit ich ſehe, was an ihnen iſt. Ich
will auch zugleich die Liſte von den Stük¬
ken ſehen, die ſie allenfalls aufführen
könnten.


Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge
aus dem Zimmer, und kam bald mit den
Schauſpielern zurück. Sie drückten ſich vor
und hinter einander, die einen präſentirten
ſich ſchlecht, aus großer Begierde zu gefallen,
und die andern nicht beſſer, weil ſie ſich
leichtſinnig darſtellten. Philine bezeigte der
Gräfin, die außerordentlich gnädig und
freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf
muſterte indeß die übrigen. Er fragte einen
jeden nach ſeinem Fache, und äußerte gegen
Melina: daß man ſtreng auf Fächer halten
W. Meiſters Lehrj. B[18] müſſe, welchen Ausſpruch dieſer in der grö߬
ten Devotion aufnahm.


Der Graf bemerkte darauf einem jeden,
worauf er beſonders zu ſtudiren, was er an
ſeiner Figur und Stellung zu beſſern habe,
zeigte ihnen einleuchtend, woran es den
Deutſchen immer fehle, und ließ ſo außeror¬
dentliche Kenntniſſe ſehen, daß alle in der
größten Demuth vor ſo einem erleuchteten
Kenner und erlauchten Beſchützer ſtanden,
und kaum Athem zu holen ſich getrauten.


Wer iſt der Menſch dort in der Ecke?
fragte der Graf, indem er nach einem Sub¬
jecte ſah, das ihm noch nicht vorgeſtellt wor¬
den war, und eine hagre Figur nahte ſich
in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen
mit Fleckchen beſetzten, Rocke; eine kümmer¬
liche Perücke bedeckte das Haupt des demü¬
thigen Klienten.


Dieſer Menſch, den wir ſchon aus dem
[19] vorigen Buche als Philinens Liebling ken¬
nen, pflegte gewöhnlich Pedanten, Magiſter
und Poeten zu ſpielen, und meiſtens die
Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schläge
kriegen oder begoſſen werden ſollte. Er hat¬
te ſich gewiſſe kriechende, lächerliche, furchtſa¬
me Bücklinge angewöhnt, und ſeine ſtockende
Sprache, die zu ſeinen Rollen paßte, machte
die Zuſchauer lachen, ſo daß er immer noch
als ein brauchbares Glied der Geſellſchaft
angeſehen wurde, beſonders da er übrigens
ſehr dienſtfertig und gefällig war. Er nahte
ſich auf ſeine Weiſe dem Grafen, neigte ſich
vor demſelben, und beantwortete jede Frage
auf die Art, wie er ſich in ſeinen Rollen auf
dem Theater zu gebährden pflegte. Der
Graf ſah ihn mit gefälliger Aufmerkſamkeit
und mit Überlegung eine Zeitlang an, als¬
dann rief er, indem er ſich zu der Gräfin
wendete: mein Kind, betrachte mir dieſen
B 2[20] Mann genau, ich hafte dafür, das iſt ein
großer Schauſpieler, oder kann es werden.
Der Menſch machte von ganzem Herzen ei¬
nen albernen Bückling, ſo daß der Graf laut
über ihn lachen mußte, und ausrief: Er
macht ſeine Sachen excellent, ich wette, die¬
ſer Menſch kann ſpielen was er will, und es
iſt Schade, daß man ihn bisher zu nichts beſ¬
ſerm gebraucht hat.


Ein ſo außerordentlicher Vorzug war für
die übrigen ſehr kränkend, nur Melina em¬
pfand nichts davon, er gab vielmehr dem
Grafen vollkommen recht, und verſetzte mit
ehrfurchtsvoller Mine: ach ja, es hat wohl
ihm und mehreren von uns nur ein ſolcher
Kenner und eine ſolche Aufmunterung ge¬
fehlt, wie wir ſie gegenwärtig an Ew. Excel¬
lenz gefunden haben.


Iſt das die ſämmtliche Geſellſchaft? ſagte
der Graf.


[21]

Es ſind einige Glieder abweſend, verſetzte
der kluge Melina, und überhaupt könnten
wir, wenn wir nur Unterſtützung fänden,
ſehr bald aus der Nachbarſchaft vollzählig
ſeyn.


Indeſſen ſagte Philine zur Gräfin: es iſt
noch ein recht hübſcher junger Mann oben,
der ſich gewiß bald zum erſten Liebhaber
qualifiziren würde.


Warum läßt er ſich nicht ſehen? verſetzte
die Gräfin.


Ich will ihn holen, rief Philine, und eilte
zur Thüre hinaus.


Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon
beſchäftigt, und beredete ihn mit hinunter zu
gehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen,
doch trieb ihn die Neugier; denn da er von
vornehmen Perſonen hörte, war er voll Ver¬
langen, ſie näher kennen zu lernen. Er trat
ins Zimmer, und ſeine Augen begegneten ſo¬
[22] gleich den Augen der Gräfin, die auf ihn
gerichtet waren Philine zog ihn zu der
Dame, indeß der Graf ſich mit den übrigen
beſchäftigte. Wilhelm neigte ſich, und gab
auf verſchiedene Fragen, welche die reizende
Dame an ihn that, nicht ohne Verwirrung
Antwort. Ihre Schönheit, Jugend, Anmuth,
Zierlichkeit und feines Betragen machten den
angenehmſten Eindruck auf ihn, um ſo mehr,
da ihre Reden und Gebärden mit einer ge¬
wiſſen Schamhaftigkeit, ja man dürfte ſagen,
Verlegenheit, begleitet waren. Auch dem
Grafen ward er vorgeſtellt, der aber wenig
Acht auf ihn hatte, ſondern zu ſeiner Ge¬
mahlin ans Fenſter trat, und ſie um etwas
zu fragen ſchien. Man konnte bemerken,
daß ihre Meinung auf das lebhafteſte mit
der ſeinigen übereinſtimmte, ja daß ſie ihn
eifrig zu bitten und ihn in ſeiner Geſinnung
zu beſtärken ſchien.


[23]

Er kehrte ſich darauf bald zu der Geſell¬
ſchaft, und ſagte: ich kann mich gegenwärtig
nicht aufhalten, aber ich will einen Freund
zu euch ſchicken, und wenn ihr billige Bedin¬
gungen macht, und euch recht viel Mühe
geben wollt, ſo bin ich nicht abgeneigt, euch
auf dem Schloſſe ſpielen zu laſſen.


Alle bezeigten ihre große Freude darüber,
und beſonders küßte Philine mit der größten
Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände.


Sieht Sie Kleine, ſagte die Dame, in¬
dem ſie dem leichtfertigen Mädchen die Bak¬
ken klopfte: ſieht Sie, mein Kind: da kommt
Sie wieder zu mir, ich will ſchon mein Ver¬
ſprechen halten, Sie muß ſich nur beſſer an¬
ziehen. Philine entſchuldigte ſich, daß ſie
wenig auf ihre Garderobe zu verwenden
habe, und ſogleich befahl die Gräfin ihren
Kammerfrauen, einen engliſchen Hut und ein
ſeidnes Halstuch, die leicht auszupacken wa¬
[24] ren, herauf zu geben. Nun putzte die Grä¬
fin ſelbſt Philinen an, die fortfuhr ſich mit
einer ſcheinheiligen, unſchuldigen Miene gar
artig zu gebährden und zu betragen.


Der Graf bot ſeiner Gemahlin die Hand
und führte ſie hinunter. Sie grüßte die
ganze Geſellſchaft im Vorbeygehn freundlich,
und kehrte ſich nochmals gegen Wilhelmen
um, indem ſie mit der huldreichſten Miene
zu ihm ſagte: wir ſehen uns bald wieder.


So glückliche Ausſichten belebten die
ganze Geſellſchaft; jeder ließ nunmehr ſeinen
Hoffnungen, Wünſchen und Einbildungen
freyen Lauf, ſprach von den Rollen, die er
ſpielen, von dem Beyfall, den er erhalten
wollte. Melina überlegte, wie er noch ge¬
ſchwind, durch einige Vorſtellungen, den Ein¬
wohnern des Städtchens etwas Geld abneh¬
[25] men und zugleich die Geſellſchaft in Athem
ſetzen könne, indeß andre in die Küche gin¬
gen, um ein beſſeres Mittagseſſen zu beſtel¬
len, als man ſonſt einzunehmen gewohnt
war.


[26]

Zweytes Capitel.

Nach einigen Tagen kam der Baron, und
Melina empfing ihn nicht ohne Furcht. Der
Graf hatte ihn als einen Kenner angekün¬
digt, und es war zu beſorgen, er werde gar
bald die ſchwache Seite des kleinen Haufens
entdecken, und einſehen, daß er keine formirte
Truppe vor ſich habe, indem ſie kaum Ein
Stück gehörig beſetzen konnten; allein ſo¬
wohl der Director als die ſämmtlichen Glie¬
der waren bald aus aller Sorge, da ſie an
dem Baron einen Mann fanden, der mit
dem größten Enthuſiasmus das vaterländi¬
ſche Theater betrachtete, dem ein jeder Schau¬
ſpieler und jede Geſellſchaft willkommen und
erfreulich war. Er begrüßte ſie alle mit
Feyerlichkeit, prieß ſich glücklich eine deutſche
[27] Bühne ſo unvermuthet anzutreffen, mit ihr
in Verbindung zu kommen, und die vater¬
ländiſchen Muſen in das Schloß ſeines Ver¬
wandten einzuführen. Er brachte bald dar¬
auf ein Heft aus der Taſche, in welchem
Melina die Puncte des Contracts zu erblik¬
ken hofte; allein es war ganz etwas ande¬
res. Der Baron bat ſie, ein Drama, das er
ſelbſt verfertigt, und das er von ihnen ge¬
ſpielt zu ſehen wünſchte, mit Aufmerkſamkeit
anzuhören. Willig ſchloſſen ſie einen Kreis,
und waren erfreut, mit ſo geringen Koſten
ſich in der Gunſt eines ſo nothwendigen
Mannes befeſtigen zu können, obgleich ein
jeder nach der Dicke des Heftes übermäßig
lange Zeit befürchtete. Auch war es wirklich
ſo, das Stück war in fünf Akten geſchrieben,
und von der Art, die gar kein Ende nimmt.


Der Held war ein vornehmer, tugendhaf¬
ter, großmüthiger und dabey verkannter und
[28] verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt
den Sieg über ſeine Feinde davon trug, über
welche ſodann die ſtrengſte poetiſche Gerech¬
tigkeit ausgeübt worden wäre, wenn er ihnen
nicht auf der Stelle verziehen hätte.


Indem dieſes Stück vorgetragen wurde,
hatte jeder Zuhörer Raum genug an ſich
ſelbſt zu denken, und ganz ſachte aus der
Demuth, zu der er ſich noch vor kurzem ge¬
neigt fühlte, zu einer glücklichen Selbſtgefäl¬
ligkeit empor zu ſteigen, und von da aus
die anmuthigſten Ausſichten in die Zukunft
zu überſchauen. Diejenigen, die keine ihnen
angemeſſene Rolle in dem Stück fanden, er¬
klärten es bey ſich für ſchlecht, und hielten
den Baron für einen unglücklichen Autor,
dagegen die andern eine Stelle, bey der ſie
beklatſcht zu werden hoften, mit dem grö߬
ten Lobe zur möglichſten Zufriedenheit des
Verfaſſers verfolgten.


[29]

Mit dem Ökonomiſchen waren ſie ge¬
ſchwind fertig. Melina wußte zu ſeinem
Vortheil mit dem Baron den Contract ab¬
zuſchließen, und ihn vor den übrigen Schau¬
ſpielern geheim zu halten.


Über Wilhelmen ſprach Melina den Ba¬
ron im vorbeygehen, und verſicherte, daß er
ſich ſehr gut zum Theaterdichter qualifizire,
und zum Schauſpieler ſelbſt keine üble An¬
lagen habe. Der Baron machte ſogleich mit
ihm als einen Collegen Bekanntſchaft und
Wilhelm produzirte einige kleine Stücke, die
nebſt wenigen Reliquien an jenem Tage, als
er den größten Theil ſeiner Arbeiten in Feuer
aufgehen ließ, durch einen Zufall gerettet
wurden. Der Baron lobte ſowohl die Stücke
als den Vortrag, nahm als bekannt an, daß
er mit hinüber auf das Schloß kommen wür¬
de, verſprach, bey ſeinem Abſchiede, allen die
beſte Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes
[30] Eſſen, Beyfall und Geſchenke, und Melina
ſetzte noch die Verſicherung eines beſtimmten
Taſchengeldes hinzu.


Man kann denken, in welche gute Stim¬
mung durch dieſen Beſuch die Geſellſchaft
geſetzt war, indem ſie ſtatt eines ängſtlichen
und niedrigen Zuſtandes auf einmal Ehre
und Behagen vor ſich ſah. Sie machten
ſich ſchon zum voraus auf jene Rechnung
luſtig, und jedes hielt vor unſchicklich, nur
noch irgend einen Groſchen Geld in der Ta¬
ſche zu behalten.


Wilhelm ging indeſſen mit ſich zu Rathe,
ob er die Geſellſchaft auf das Schloß beglei¬
ten ſolle? und fand in mehr als einem Sin¬
ne räthlich dahin zu gehen. Melina hofte
bey dieſem vortheilhaften Engagement ſeine
Schuld wenigſtens zum Theil abtragen zu
können, und unſer Freund, der auf Men¬
ſchenkenntniß ausging, wollte die Gelegenheit
[31] nicht verſäumen, die große Welt näher ken¬
nen zu lernen, in der er viele Aufſchlüſſe
über das Leben, über ſich ſelbſt und die
Kunſt zu erlangen hofte. Dabey durfte er
ſich nicht geſtehen, wie ſehr er wünſche, der
ſchönen Gräfin wieder näher zu kommen.
Er ſuchte ſich vielmehr im Allgemeinen zu
überzeugen, welchen großen Vortheil ihm die
nähere Kenntniß der vornehmen und reichen
Welt bringen würde. Er machte ſeine Be¬
trachtungen über den Grafen, die Gräfin,
den Baron, über die Sicherheit, Bequemlich¬
keit und Anmuth ihres Betragens, und rief,
als er allein war, mit Entzücken aus:


Dreymal glücklich ſind diejenigen zu prei¬
ſen, die ihre Geburt ſogleich über die untern
Stufen der Menſchheit hinaus hebt; die
durch jene Verhältniſſe, in welchen ſich man¬
che gute Menſchen die ganze Zeit ihres Le¬
bens abängſtigen, nicht durchzugehen, auch
[32] nicht einmal darin als Gäſte zu verweilen
brauchen. Allgemein und richtig muß ihr
Blick auf dem höheren Standpunkte werden,
leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie
ſind von Geburt an gleichſam in ein Schiff
geſetzt, um bey der Überfahrt, die wir alle
machen müſſen, ſich des günſtigen Windes
zu bedienen, und den widrigen abzuwarten,
anſtatt daß andere nur für ihre Perſon
ſchwimmend ſich abarbeiten, vom günſtigen
Winde wenig Vortheil genießen, und im
Sturme mit bald erſchöpften Kräften unter¬
gehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leich¬
tigkeit giebt ein angebohrnes Vermögen!
und wie ſicher blühet ein Handel, der auf
ein gutes Kapital gegründet iſt, ſo daß nicht
jeder mißlungene Verſuch ſogleich in Unthä¬
tigkeit verſetzt! Wer kann den Werth und
Unwerth irrdiſcher Dinge beſſer kennen, als
der ſie zu genießen von Jugend auf im Falle
war.[33] war, und wer kann ſeinen Geiſt früher auf
das Nothwendige, das Nützliche, das Wahre
leiten, als der ſich von ſo vielen Irrthümern
in einem Alter überzeugen muß, wo es ihm
noch an Kräften nicht gebricht, ein neues Le¬
ben anzufangen.


So rief unſer Freund allen denenjenigen
Glück zu, die ſich in den höheren Regionen
befinden; aber auch denen, die ſich einem
ſolchen Kreiſe nähern, aus dieſen Quellen
ſchöpfen können, und pries ſeinen Genius,
der Anſtalt machte, auch ihn dieſe Stufen
hinan zu führen.


Indeſſen mußte Melina, nachdem er lan¬
ge ſich den Kopf zerbrochen, wie er nach
dem Verlangen des Grafen und nach ſeiner
eigenen Überzeugung die Geſellſchaft in Fä¬
cher eintheilen und einem jeden ſeine beſtimm¬
te Mitwirkung übertragen wollte, zuletzt, da
es an die Ausführung kam, ſehr zufrieden
W. Meiſters Lehrj. C[34] ſeyn, wenn er bey einem ſo geringen Perſo¬
nal die Schauſpieler willig fand, ſich nach
Möglichkeit in dieſe oder jene Rollen zu
ſchicken. Doch übernahm gewöhnlich Laertes
die Liebhaber, Philine die Kammermädchen,
die beiden jungen Frauenzimmer theilten ſich
in die naiven und zärtlichen Liebhaberinnen,
der alte Polterer ward am beſten geſpielt,
Melina ſelbſt glaubte als Chevalier auftre¬
ten zu dürfen, Madam Melina mußte, zu
ihrem größten Verdruß, in das Fach der
jungen Frauen, ja ſogar der zärtlichen Müt¬
ter übergehen, und weil in den neuern Stük¬
ken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet,
wenn er auch vorkommen ſollte, lächerlich
gemacht wird; ſo mußte der bekannte Günſt¬
ling des Grafen nunmehr die Präſidenten
und Miniſter ſpielen, weil dieſe gewöhnlich
als Böſewichter vorgeſtellt und im fünften
Akte übel behandelt werden. Eben ſo ſteckte
[35] Melina mit Vergnügen, als Kammerjunker
oder Kammerherr, die Grobheiten ein, welche
ihm von biedern deutſchen Männern herge¬
brachter Maßen in mehreren beliebten Stük¬
ken aufgedrungen wurden, weil er ſich doch
bey dieſer Gelegenheit artig herausputzen
konnte, und das Air eines Hofmannes, das
er vollkommen zu beſitzen glaubte, anzuneh¬
men die Erlaubniß hatte.


Es dauerte nicht lange, ſo kamen von
verſchiedenen Gegenden mehrere Schauſpieler
herbeygefloſſen, welche ohne ſonderliche Prü¬
fung angenommen, aber auch ohne ſonderli¬
che Bedingungen feſtgehalten wurden.


Wilhelm, den Melina vergebens einige¬
mal zu einer Liebhaberrolle zu bereden ſuch¬
te, nahm ſich der Sache mit vielem guten
Willen an, ohne daß unſer neuer Director
ſeine Bemühungen im mindeſten anerkannte,
vielmehr glaubte dieſer mit ſeiner Würde
C 2[36] auch alle nöthige Einſicht überkommen zu
haben; beſonders war das Streichen eine
ſeiner angenehmſten Beſchäftigungen, wodurch
er ein jedes Stück auf das gehörige Zeit¬
maaß herunter zu ſetzen wußte, ohne irgend
eine andere Rückſicht zu nehmen. Er hatte
viel Zuſpruch, das Publikum war ſehr zufrie¬
den, und die geſchmackvollſten Einwohner des
Städtchens behaupteten, daß das Theater in
der Reſidenz keinesweges ſo gut als das ihre
beſtellt ſey.


[37]

Drittes Capitel.

Endlich kam die Zeit herbey, da man ſich
zur Überfahrt ſchicken, die Kutſchen und Wa¬
gen erwarten ſollte, die unſere ganze Truppe
nach dem Schloſſe des Grafen hinüber zu
führen beſtellt waren. Schon zum voraus
fielen große Streitigkeiten vor, wer mit dem
andern fahren? wie man ſitzen ſollte? Die
Ordnung und Eintheilung ward endlich nur
mit Mühe ausgemacht und feſtgeſetzt, doch
leider ohne Wirkung. Zur beſtimmten Stun¬
de kamen weniger Wagen als man erwartet
hatte, und man mußte ſich einrichten. Der
Baron, der zu Pferde nicht lange hinterdrein
folgte, gab zur Urſache an: daß im Schloſſe
alles in großer Bewegung ſey, weil nicht
allein der Fürſt einige Tage früher eintreffen
[38] werde, als man geglaubt, ſondern weil auch
unerwarteter Beſuch ſchon gegenwärtig ange¬
langt ſey; der Platz gehe ſehr zuſammen, ſie
würden auch deswegen nicht ſo gut logiren,
als man es ihnen vorher beſtimmt habe,
welches ihm außerordentlich leid thue.


Man theilte ſich in die Wagen, ſo gut
es gehen wollte, und da leidlich Wetter und
das Schloß nur einige Stunden entfernt
war, machten ſich die Luſtigſten lieber zu
Fuße auf den Weg, als daß ſie die Rückkehr
der Kutſchen hätten abwarten ſollen. Die
Caravane zog mit Freudengeſchrey aus, zum
erſtenmal ohne Sorgen, wie der Wirth zu
bezahlen ſey. Das Schloß des Grafen ſtand
ihnen wie ein Feengebäude vor der Seele,
ſie waren die glücklichſten und fröhlichſten
Menſchen von der Welt, und jeder knüpfte
unterweges an dieſen Tag, nach ſeiner Art
zu denken, eine Reihe von Glück, Ehre und
Wohlſtand.


[39]

Ein ſtarker Regen, der unerwartet einfiel,
konnte ſie nicht aus dieſen angenehmen Em¬
pfindungen reiſſen; da er aber immer anhal¬
tender und ſtärker wurde, ſpürten viele von
ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit. Die
Nacht kam herbey, und erwünſchter konnte
ihnen nichts erſcheinen, als der durch alle
Stockwerke erleuchtete Pallaſt des Grafen,
der ihnen von einem Hügel entgegen glänzte,
ſo daß ſie die Fenſter zählen konnten.


Als ſie näher heran kamen, fanden ſie
auch alle Fenſter der Seitengebäude erhellet.
Ein jeder dachte bey ſich, welches wohl ſein
Zimmer werden möchte? und die meiſten be¬
gnügten ſich beſcheiden mit einer Stube im
Manſarde oder in den Flügeln.


Nun fuhren ſie durch das Dorf und am
Wirthshauſe vorbey. Wilhelm ließ halten,
um dort abzuſteigen; allein der Wirth ver¬
ſicherte, daß er ihm nicht den geringſten
[40] Raum anweiſen könne. Der Herr Graf
habe, weil unvermuthete Gäſte angekommen,
ſogleich das ganze Wirthshaus beſprochen,
an allen Zimmern ſtehe ſchon ſeit geſtern mit
Kreide deutlich angeſchrieben, wer darinne
wohnen ſolle. Wider ſeinen Willen mußte
alſo unſer Freund mit der übrigen Geſell¬
ſchaft zum Schloßhofe hineinfahren.


Um die Küchenfeuer in einem Seitenge¬
bäude ſahen ſie geſchäftige Köche ſich hin
und her bewegen, und waren durch dieſen
Anblick ſchon erquickt; eilig kamen Bediente
mit Lichtern auf die Treppe des Hauptge¬
bäudes geſprungen, und das Herz der guten
Wanderer quoll über dieſen Ausſichten auf.
Wie ſehr verwunderten ſie ſich dagegen, als
ſich dieſer Empfang in ein entſetzliches Flu¬
chen auflöste. Die Bedienten ſchimpften auf
die Fuhrleute, daß ſie hier herein gefahren
ſeyen; ſie ſollten umwenden, rief man, und
[41] wieder hinaus nach dem alten Schloſſe zu,
hier ſey kein Raum für dieſe Gäſte! Einem
ſo unfreundlichen und unerwarteten Beſcheide
fügten ſie noch allerley Spöttereyen hinzu,
und lachten ſich unter einander aus, daß ſie
durch dieſen Irrthum in den Regen geſprengt
worden. Es goß noch immer, keine Sterne
ſtanden am Himmel, und nun wurde die
Geſellſchaft durch einen holprichten Weg zwi¬
ſchen zwey Mauern in das alte hintere
Schloß gezogen, welches unbewohnt da ſtand,
ſeit der Vater des Grafen das vordere ge¬
baut hatte. Theils im Hofe, theils unter
einem langen gewölbten Thorwege hielten
die Wagen ſtill, und die Fuhrleute, Anſpän¬
ner aus dem Dorfe, ſpannten aus und ritten
ihrer Wege.


Da niemand zum Empfange der Geſell¬
ſchaft ſich zeigte, ſtiegen ſie aus, riefen, ſuch¬
ten; vergebens! Alles blieb finſter und ſtille.
[42] Der Wind blies durch das hohe Thor, und
grauerlich waren die alten Thürme und Höfe,
wovon ſie kaum die Geſtalten in der Finſter¬
niß unterſchieden. Sie froren und ſchauer¬
ten, die Frauen fürchteten ſich, die Kinder
fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehr¬
te ſich mit jedem Augenblicke, und ein ſo
ſchneller Glückswechſel, auf den niemand vor¬
bereitet war, brachte ſie alle ganz und gar
aus der Faſſung.


Da ſie jeden Augenblick erwarteten, daß
jemand kommen und ihnen aufſchließen wer¬
de, da bald Regen bald Sturm ſie täuſchte,
und ſie mehr als einmal den Tritt des er¬
wünſchten Schloßvoigts zu hören glaubten,
blieben ſie eine lange Zeit unmuthig und
unthätig, es fiel keinem ein, in das neue
Schloß zu gehen, und dort mitleidige Seelen
um Hülfe anzurufen. Sie konnten nicht be¬
greifen, wo ihr Freund, der Baron, geblie¬
[43] ben ſey, und waren in einer höchſtbeſchwer¬
lichen Lage.


Endlich kamen wirklich Menſchen an, und
man erkannte an ihren Stimmen jene Fu߬
gänger, die auf dem Wege hinter den Fah¬
renden zurück geblieben waren. Sie erzähl¬
ten, daß der Baron mit dem Pferde geſtürzt
ſey, ſich am Fuße ſtark beſchädigt habe, und
daß man auch ſie, da ſie im Schloſſe nach¬
gefragt, mit Ungeſtüm hieher gewieſen habe.


Die ganze Geſellſchaft war in der grö߬
ten Verlegenheit, man rathſchlagte, was man
thun ſollte, und konnte keinen Entſchluß faſ¬
ſen. Endlich ſah man von weitem eine La¬
terne kommen, und holte friſchen Athem;
allein die Hofnung einer baldigen Erlöſung
verſchwand auch wieder, indem die Erſchei¬
nung näher kam und deutlich ward. Ein
Reitknecht leuchtete dem bekannten Stallmei¬
ſter des Grafen vor, und dieſer erkundigte
[44] ſich, als er näher kam, ſehr eifrig nach Ma¬
demoiſelle Philinen. Sie war kaum aus
dem übrigen Haufen hervorgetreten, als er
ihr ſehr dringend anbot, ſie in das neue
Schloß zu führen, wo ein Plätzchen für ſie
bey den Kammerjungfern der Gräfin berei¬
tet ſey. Sie beſann ſich nicht lange das An¬
erbieten dankbar zu ergreifen, faßte ihn bey
dem Arme und wollte, da ſie den andern
ihren Koffer empfohlen, mit ihm forteilen;
allein man trat ihnen in den Weg, fragte,
bat, beſchwor den Stallmeiſter, daß er end¬
lich, um nur mit ſeiner Schönen los zu kom¬
men, alles verſprach, und verſicherte: in kur¬
zem ſolle das Schloß eröffnet und ſie auf
das Beſte einquartiert werden. Bald dar¬
auf ſahen ſie den Schein ſeiner Laterne ver¬
ſchwinden, und hoften lange vergebens auf
das neue Licht, das ihnen endlich nach vie¬
len Worten, Schelten und Schmähen er¬
[45] ſchien, und ſie mit einigem Troſte und Hof¬
nung belebte.


Ein alter Hausknecht eröfnete die Thüre
des alten Gebäudes, in das ſie mit Gewalt
eindrangen. Ein jeder ſorgte nun für ſeine
Sachen, ſie abzupacken, ſie hereinzuſchaffen.
Das meiſte war, wie die Perſonen ſelbſt,
tüchtig durchweicht. Bey dem Einen Lichte
ging alles ſehr langſam. Im Gebäude ſtieß
man ſich, ſtolperte, fiel. Man bat um mehr
Lichter, man bat um Feuerung. Der einſyl¬
bige Hausknecht ließ mit genauer Noth ſeine
Laterne da, ging, und kam nicht wieder.


Nun fing man an das Haus zu durch¬
ſuchen, die Thüren aller Zimmer waren offen,
große Öfen, gewirkte Tapeten, eingelegte
Fußböden waren von ſeiner vorigen Pracht
noch übrig; von anderm Hausgeräthe aber
nichts zu finden, kein Tiſch, kein Stuhl, kein
Spiegel, kaum einige ungeheuere leere Bett¬
[46] ſtellen, alles Schmuckes und alles Nothwen¬
digen beraubt. Die naſſen Koffer und Man¬
telſäcke wurden zu Sitzen gewählt, ein Theil
der müden Wanderer bequemten ſich auf
dem Fußboden, Wilhelm hatte ſich auf eini¬
ge Stufen geſetzt, Mignon lag auf ſeinen
Knieen; das Kind war unruhig, und auf
ſeine Frage was ihm fehlte? antwortete es:
mich hungert! Er fand nichts bey ſich, um
das Verlangen des Kindes zu ſtillen, die
übrige Geſellſchaft hatte ſich auch aufgezehrt,
und er mußte die arme Kreatur ohne Er¬
quickung laſſen. Er blieb bey dem ganzen
Vorfalle unthätig, ſtill in ſich gekehrt: denn
er war ſehr verdrießlich und grimmig, daß
er nicht auf ſeinem Sinne beſtanden und bey
dem Wirthshauſe abgeſtiegen ſey; wenn er
auch auf dem oberſten Boden hätte ſein La¬
ger nehmen ſollen.


Die übrigen gebährdeten ſich jeder nach
[47] ſeiner Art. Einige hatten einen Haufen al¬
tes Gehölz in einen ungeheuren Kamin des
Saals geſchaft und zündeten, mit großem
Jauchzen, den Scheiterhaufen an. Unglück¬
licherweiſe ward auch dieſe Hoffnung ſich zu
trocknen und zu wärmen auf das ſchrecklich¬
ſte getäuſcht, denn dieſer Kamin ſtand nur
zur Zierde da, und war von oben herein ver¬
mauert, der Dampf trat ſchnell zurück und
erfüllte auf einmal die Zimmer; das dürre
Holz ſchlug raſſelnd in Flammen auf, und
auch die Flamme ward herausgetrieben, der
Zug, der durch die zerbrochenen Fenſterſchei¬
ben drang, gab ihr eine unſtäte Richtung,
man fürchtete das Schloß anzuzünden, mu߬
te das Feuer auseinander ziehen, austreten,
dämpfen, der Rauch vermehrte ſich, der Zu¬
ſtand wurde unerträglicher, man kam der
Verzweiflung nahe.


Wilhelm war vor dem Rauch in ein ent¬
[48] ferntes Zimmer gewichen, wohin ihm bald
Mignon folgte und einen wohlgekleideten
Bedienten, der eine hohe hellbrennende, dop¬
pelt erleuchtete Laterne trug, hereinführte;
dieſer wendete ſich an Wilhelmen, und indem
er ihm auf einem ſchönen porzelanenen Tel¬
ler Konfekt und Früchte überreichte, ſagte er:
dieß ſchickt Ihnen das junge Frauenzimmer
von drüben, mit der Bitte, zur Geſellſchaft
zu kommen, ſie läßt ſagen, ſetzte der Bedien¬
te mit einer leichtfertigen Mine hinzu: es
gehe ihr ſehr wohl, und ſie wünſche ihre
Zufriedenheit mit ihren Freunden zu theilen.

Wilhelm erwartete nichts weniger als
dieſen Antrag, denn er hatte Philinen, ſeit
dem Abentheuer, der ſteinernen Bank, mit
entſchiedener Verachtung begegnet, und war
ſo feſt entſchloſſen, keine Gemeinſchaft mehr
mit ihr zu haben, daß er im Begriff ſtand,
die ſüße Gabe wieder zurück zu ſchicken, als
ein[49] ein bittender Blick Mignons ihn vermogte,
ſie anzunehmen, und im Namen des Kindes
dafür zu danken; die Einladung ſchlug er
ganz aus. Er bat den Bedienten, einige
Sorge für die angekommene Geſellſchaft zu
haben, und erkundigte ſich nach dem Baron.
Dieſer lag zu Bette, hatte aber ſchon, ſoviel
der Bediente zu ſagen wußte, einem Andern
Auftrag gegeben, für die elend Beherbergten
zu ſorgen.


Der Bediente ging und hinterließ Wil¬
helmen eins von ſeinen Lichtern, das dieſer
in Ermanglung eines Leuchters auf das Fen¬
ſtergeſims kleben mußte, und nun wenigſtens
bey ſeinen Betrachtungen die vier Wände
des Zimmers erhellt ſah. Denn es währte
noch lange, ehe die Anſtalten rege wurden,
die unſere Gäſte zur Ruhe bringen ſollten.
Nach und nach kamen Lichter, jedoch ohne
Lichtputzen, dann einige Stühle, eine Stunde
W. Meiſters Lehrj. D[50] darauf Deckbetten, dann Kiſſen, alles wohl
durchnetzt, und es war ſchon weit über Mit¬
ternacht, als endlich Strohſäcke und Ma¬
tratzen herbeygeſchaft wurden, die, wenn man
ſie zuerſt gehabt hätte, höchſtwillkommen ge¬
weſen ſeyn würden.


In der Zwiſchenzeit war auch etwas von
Eſſen und Trinken angelangt, das ohne viele
Kritik genoſſen wurde, ob es gleich einem
ſehr unordentlichen Abhub ähnlich ſah, und
von der Achtung, die man für die Gäſte hat¬
te, kein ſonderliches Zeugniß ablegte.


[51]

Viertes Capitel.

Durch die Unart und den Übermuth einiger
leichtfertigen Geſellen, vermehrte ſich die Un¬
ruhe und das Übel der Nacht, indem ſie ſich
einander neckten, aufweckten und ſich wech¬
ſelsweiſe allerley Streiche ſpielten. Der an¬
dere Morgen brach an, unter lauten Klagen
über ihren Freund, den Baron, daß er ſie
ſo getäuſcht und ihnen ein ganz anderes
Bild von der Ordnung und Bequemlichkeit,
in die ſie kommen würden, gemacht habe.
Doch zur Verwunderung und Troſt erſchien
in aller Frühe der Graf ſelbſt mit einigen
Bedienten, und erkundigte ſich nach ihren
Umſtänden. Er war ſehr entrüſtet, als er
hörte, wie übel es ihnen ergangen, und der
Baron, der, geführt, herbey hinkte, verklagte
D 2[52] den Haushofmeiſter, wie befehlswidrig er ſich
bey dieſer Gelegenheit gezeigt, und glaubte
ihm ein rechtes Bad angerichtet zu haben.


Der Graf befahl ſogleich, daß alles in
ſeiner Gegenwart zur möglichſten Bequem¬
lichkeit der Gäſte geordnet werden ſolle.
Darauf kamen einige Offiziere, die von den
Aktrizen ſogleich Kundſchaft nahmen, und
der Graf ließ ſich die ganze Geſellſchaft vor¬
ſtellen, redete einen jeden bey ſeinem Namen
an, und miſchte einige Scherze in die Unter¬
redung, daß alle über einen ſo gnädigen
Herrn ganz entzückt waren. Endlich mußte
Wilhelm auch an die Reihe, an den ſich
Mignon anhing. Wilhelm entſchuldigte ſich
ſo gut er konnte über ſeine Freyheit, der
Graf hingegen ſchien ſeine Gegenwart als
bekannt anzunehmen.


Ein Herr, der neben dem Grafen ſtand,
den man für einen Offizier hielte, ob er
[53] gleich keine Uniform anhatte, ſprach beſon¬
ders mit unſerm Freunde, und zeichnete ſich
vor allen andern aus. Große hellblaue Au¬
gen leuchteten unter einer hohen Stirne her¬
vor, nachläſſig waren ſeine blonden Haare
aufgeſchlagen, und ſeine mittlere Statur
zeigte ein ſehr wackres, feſtes und beſtimm¬
tes Weſen. Seine Fragen waren lebhaft,
und er ſchien ſich auf alles zu verſtehen,
wornach er fragte.


Wilhelm erkundigte ſich nach dieſem Man¬
ne bey dem Baron, der aber nicht viel Gu¬
tes von ihm zu ſagen wußte. Er habe den
Character als Major, ſey eigentlich der
Günſtling des Prinzen, verſehe deſſen ge¬
heimſte Geſchäfte und werde für deſſen rech¬
ten Arm gehalten, ja man habe Urſache zu
glauben, er ſey ſein natürlicher Sohn. In
Frankreich, England, Italien ſey er mit Ge¬
ſandtſchaften geweſen, er werde überall ſehr
[54] diſtinguirt, und das mache ihn einbildiſch, er
wähne, die deutſche Litteratur aus dem
Grunde zu kennen, und erlaube ſich allerley
ſchaale Spöttereyen gegen dieſelbe. Er, der
Baron, vermeide alle Unterredung mit ihm,
und Wilhelm werde wohl thun, ſich auch
von ihm entfernt zu halten, denn am Ende
gebe er jedermann etwas ab. Man nenne
ihn Jarno, wiſſe aber nicht recht, was man
aus dem Namen machen ſolle.


Wilhelm hatte darauf nichts zu ſagen,
denn er empfand gegen den Fremden, ob er
gleich etwas Kaltes und Abſtoßendes hatte,
eine gewiſſe Neigung.


Die Geſellſchaft wurde in dem Schloſſe
eingetheilt, und Melina befahl ſehr ſtrenge,
ſie ſollten ſich nunmehr ordentlich halten, die
Frauen ſollten beſonders wohnen, und jeder
nur auf ſeine Rollen, auf die Kunſt ſein
Augenmerk und ſeine Neigung richten. Er
[55] ſchlug Vorſchriften und Geſetze, die aus vie¬
len Puncten beſtanden, an alle Thüren. Die
Summe der Strafgelder war beſtimmt, die
ein jeder Übertreter in eine gemeine Büchſe
entrichten ſollte.


Dieſe Verordnungen wurden wenig ge¬
achtet. Junge Offiziere gingen aus und ein,
ſpaßten nicht eben auf das feinſte mit den
Aktrizen, hatten die Akteure zum beſten, und
vernichteten die ganze kleine Polizeyordnung,
noch ehe ſie Wurzel faſſen konnte. Man
jagte ſich durch die Zimmer, verkleidete ſich,
verſteckte ſich. Melina, der Anfangs einigen
Ernſt zeigen wollte, ward mit allerley Muth¬
willen auf das äußerſte gebracht, und als
ihn bald darauf der Graf holen ließ, um
den Platz zu ſehen, wo das Theater aufge¬
richtet werden ſollte, ward das Übel nur
immer ärger. Die jungen Herren erſannen
ſich allerley platte Späße, durch Hülfe eini¬
[56] ger Akteure wurden ſie noch plumper, und
es ſchien, als wenn das ganze alte Schloß
vom wüthenden Heere beſeſſen ſey, auch en¬
digte der Unfug nicht eher, als bis man zur
Tafel ging.


Der Graf hatte Melina in einen großen
Saal geführt, der noch zum alten Schloſſe
gehörte, durch eine Gallerie mit dem neuen
verbunden war, und worin ein kleines Thea¬
ter ſehr wohl aufgeſtellt werden konnte. Da¬
ſelbſt zeigte der einſichtsvolle Hausherr, wie
er alles wolle eingerichtet haben.


Nun ward die Arbeit in großer Eile vor¬
genommen, das Theatergerüſte aufgeſchlagen
und ausgeziert; was man von Dekorationen
in dem Gepäcke hatte und brauchen konnte,
angewendet, und das übrige mit Hülfe eini¬
ger geſchickten Leute des Grafen verfertiget.
Wilhelm griff ſelbſt mit an, half die Per¬
ſpektive beſtimmen, die Umriſſe abſchnüren,
[57] und war höchſt beſchäftigt, daß es nicht un¬
ſchicklich werden ſollte. Der Graf, der öfters
dazu kam, war ſehr zufrieden damit, zeigte
wie ſie das, was ſie wirklich thaten, eigent¬
lich machen ſollten, und ließ dabey ungemei¬
ne Kenntniſſe jeder Kunſt ſehen.


Nun fing das Probiren recht ernſtlich an,
wozu ſie auch Raum und Muße genug ge¬
habt hätten, wenn ſie nicht von den vielen
anweſenden Fremden immer geſtört worden
wären. Denn es kamen täglich neue Gäſte
an, und ein jeder wollte die Geſellſchaft in
Augenſchein nehmen.


[58]

Fünftes Capitel.

Der Baron hatte Wilhelmen einige Tage
mit der Hoffnung hingehalten, daß er der
Gräfin noch beſonders vorgeſtellt werden
ſollte. — Ich habe, ſagte er, dieſer vortreff¬
lichen Dame ſo viel von Ihren geiſtreichen
und empfindungsvollen Stücken erzählt, daß
ſie nicht erwarten kann, Sie zu ſprechen und
ſich ein und das andere vorleſen zu laſſen.
Halten Sie ſich ja gefaßt auf den erſten
Wink hinüber zu kommen, denn bey dem
nächſten ruhigen Morgen werden Sie gewiß
gerufen werden. Er bezeichnete ihm darauf
das Nachſpiel, welches er zuerſt vorleſen
ſollte, wodurch er ſich ganz beſonders em¬
pfehlen würde. Die Dame bedaure gar ſehr,
daß er zu einer ſolchen unruhigen Zeit ein¬
[59] getroffen ſey, und ſich mit der übrigen Ge¬
ſellſchaft in dem alten Schloſſe ſchlecht behel¬
fen müſſe. —


Mit großer Sorgfalt nahm darauf Wil¬
helm das Stück vor, womit er ſeinen Ein¬
tritt in die große Welt machen ſollte. Du
haſt, ſagte er, bisher im Stillen für dich
gearbeitet, nur von einzelnen Freunden Bey¬
fall erhalten; du haſt eine Zeit lang ganz
an deinem Talente verzweifelt, und du mußt
immer noch in Sorgen ſeyn, ob du dann
auch auf dem rechten Wege biſt, und ob du
ſo viel Talent als Neigung zum Theater
haſt? Vor den Ohren ſolcher geübten Ken¬
ner, im Kabinette, wo keine Illuſion ſtatt
findet, iſt der Verſuch weit gefährlicher als
anderwärts, und ich möchte doch auch nicht
gerne zurück bleiben, dieſen Genuß an meine
vorigen Freuden knüpfen, und die Hoffnung
auf die Zukunft erweitern.


[60]

Er nahm darauf einige Stücke durch, las
ſie mit der größten Aufmerkſamkeit, korri¬
girte hier und da, rezitirte ſie ſich laut vor,
um auch in Sprache und Ausdruck recht ge¬
wandt zu ſeyn, und ſteckte dasjenige, wel¬
ches er am meiſten geübt, womit er die grö߬
te Ehre einzulegen glaubte, in die Taſche,
als er an einem Morgen hinüber vor die
Gräfin gefordert wurde.


Der Baron hatte ihn verſichert, ſie wür¬
de allein mit einer guten Freundin ſeyn.
Als er in das Zimmer trat, kam die Baro¬
neſſe von C** ihm mit vieler Freundlichkeit
entgegen, freute ſich ſeine Bekanntſchaft zu
machen, und präſentirte ihn der Gräfin, die
ſich eben friſiren ließ, und ihn mit freundli¬
chen Worten und Blicken empfing; neben
deren Stuhl er aber leider Philinen knieen
und allerley Thorheiten machen ſah. — Das
ſchöne Kind, ſagte die Baroneſſe, hat uns
[61] verſchiedenes vorgeſungen. Endige Sie doch
das angefangene Liedchen, damit wir nichts
davon verlieren. —


Wilhelm hörte das Stückchen mit großer
Geduld an, indem er die Entfernung des
Friſeurs wünſchte, ehe er ſeine Vorleſung an¬
fangen wollte. Man bot ihm eine Taſſe
Chokolade an, wozu ihm die Baroneſſe
ſelbſt den Zwieback reichte. Demohngeachtet
ſchmeckte ihm das Frühſtück nicht, denn er
wünſchte zu lebhaft der ſchönen Gräfin ir¬
gend etwas vorzutragen, was ſie intereſſiren,
wodurch er ihr gefallen könnte. Auch Phi¬
line war ihm nur zu ſehr im Wege, die ihm
als Zuhörerin oft ſchon unbequem geweſen
war. Er ſah mit Schmerzen dem Friſeur
auf die Hände, und hoffte in jedem Augen¬
blicke mehr auf die Vollendung des Baues.


Indeſſen war der Graf hereingetreten,
und erzählte von den heut zu erwartenden
[62] Gäſten, von der Eintheilung des Tages, und
was ſonſt etwa Häusliches vorkommen möch¬
te. Da er hinaus ging, ließen einige Offi¬
ziere bey der Gräfin um die Erlaubniß, ihr,
weil ſie noch vor Tafel wegreiten müßten,
aufwarten zu dürfen. Der Kammerdiener
war indeſſen fertig geworden, und ſie ließ
die Herren hereinkommen.


Die Baroneſſe gab ſich inzwiſchen Mühe
unſern Freund zu unterhalten, und ihm viele
Achtung zu bezeigen, die er mit Ehrfurcht,
obgleich etwas zerſtreut, aufnahm. Er fühl¬
te manchmal nach dem Manuſcripte in der
Taſche, hoffte auf jeden Augenblick, und faſt
wollte ſeine Geduld reiſſen, als ein Galante¬
riehändler hereingelaſſen wurde, der ſeine
Pappen, Kaſten, Schachteln unbarmherzig
eine nach der andern eröfnete, und jede Sor¬
te ſeiner Waaren mit einer dieſem Geſchlechte
eigenen Zudringlichkeit vorwies.


[63]

Die Geſellſchaft vermehrte ſich. Die Ba¬
roneſſe ſah Wilhelmen an, und ſprach leiſe
mit der Gräfin; er bemerkte es ohne die
Abſicht zu verſtehen, die ihm endlich zu
Hauſe klar wurde, als er ſich nach einer
ängſtlich und vergebens durchharrten Stunde
wegbegab. Er fand ein ſchönes engliſches
Portefeuille in der Taſche. Die Baroneſſe
hatte es ihm heimlich beyzuſtecken gewußt,
und gleich darauf folgte der Gräfin kleiner
Mohr, der ihm eine artig geſtickte Weſte
überbrachte, ohne recht deutlich zu ſagen,
woher ſie komme.


[64]

Sechstes Capitel.

Das Gemiſch der Empfindungen von Ver¬
druß und Dankbarkeit verdarb ihm den gan¬
zen Reſt des Tages, bis er gegen Abend
wieder Beſchäftigung fand, indem Melina
ihm eröfnete, der Graf habe von einem Vor¬
ſpiele geſprochen, das dem Prinzen zu Ehren,
den Tag ſeiner Ankunft, aufgeführt werden
ſollte. Er wolle darin die Eigenſchaften die¬
ſes großen Helden und Menſchenfreundes
perſonifiziret haben. Dieſe Tugenden ſollten
mit einander auftreten, ſein Lob verkündigen
und zuletzt ſeine Büſte mit Blumen– und
Lorbeerkränzen umwinden, wobey ſein verzo¬
gener Name mit dem Fürſtenhute durchſchei¬
nend glänzen ſollte. Der Graf habe ihm
aufgegeben, für die Verſifikation und übrige
Ein¬[65] Einrichtung dieſes Stückes zu ſorgen, und er
hoffe, daß ihm Wilhelm, dem es etwas leich¬
tes ſey, hierin gerne beyſtehen werde.


Wie! rief dieſer verdrießlich aus, haben
wir nichts als Porträte, verzogene Namen
und allegoriſche Figuren, um einen Fürſten
zu ehren, der nach meiner Meinung ein ganz
anderes Lob verdient? Wie kann es einem
vernünftigen Manne ſchmeicheln, ſich in Ef¬
figie aufgeſtellt und ſeinen Namen auf ge¬
öhltem Papiere ſchimmern zu ſehen! Ich
fürchte ſehr, die Allegorien würden, beſonders
bey unſerer Garderobe, zu manchen Zwey¬
deutigkeiten und Späßen Anlaß geben. Wol¬
len Sie das Stück machen oder machen laſ¬
ſen, ſo kann ich nichts dawider haben, nur
bitte ich, daß ich damit verſchont bleibe.


Melina entſchuldigte ſich, es ſey nur die
ohngefähre Angabe des Herrn Grafen, der
ihnen übrigens ganz überlaſſe, wie ſie das
W. Meiſters Lehrj. E[66] Stück arrangiren wollten. Herzlich gerne,
verſetzte Wilhelm, trage ich etwas zum Ver¬
gnügen dieſer vortrefflichen Herrſchaft bey,
und meine Muſe hat noch kein ſo angeneh¬
mes Geſchäfte gehabt, als zum Lob eines
Fürſten, der ſo viel Verehrung verdient, auch
nur ſtammelnd ſich hören zu laſſen. Ich
will der Sache nachdenken, vielleicht gelingt
es mir, unſere kleine Truppe ſo zu ſtellen,
daß wir doch wenigſtens einigen Effekt
machen.


Von dieſem Augenblicke an ſann Wil¬
helm eifrig dem Auftrage nach. Ehe er ein¬
ſchlief, hatte er alles ſchon ziemlich geordnet,
und den andern Morgen, bey früher Zeit,
war der Plan fertig, die Scenen entworfen,
ja ſchon einige der vornehmſten Stellen und
Geſänge in Verſe und zu Papiere gebracht.

Wilhelm eilte morgens gleich den Baron
wegen gewiſſer Umſtände zu ſprechen, und
[67] legte ihm ſeinen Plan vor. Dieſem gefiel er
ſehr wohl, doch bezeigte er einige Verwun¬
derung. Denn er hatte den Grafen geſtern
Abend von einem ganz andern Stücke ſpre¬
chen hören, welches nach ſeiner Angabe in
Verſe gebracht werden ſollte.


Es iſt mir nicht wahrſcheinlich, verſetzte
Wilhelm, daß es die Abſicht des Herrn Gra¬
fen geweſen ſey, gerade das Stück, ſo wie
er es Melinen angegeben, fertigen zu laſſen;
wenn ich nicht irre, ſo wollte er uns blos
durch einen Fingerzeig auf den rechten Weg
weiſen. Der Liebhaber und Kenner zeigt
dem Künſtler an, was er wünſcht, und über¬
läßt ihm alsdann die Sorge das Werk her¬
vorzubringen.


Mitnichten, verſetzte der Baron, der Herr
Graf verläßt ſich darauf, daß das Stück ſo
und nicht anders, wie er es angegeben, auf¬
geführt werde. Das Ihrige hat freylich eine
E 2[68] entfernte Ähnlichkeit mit ſeiner Idee, und
wenn wir es durchſetzen und ihn von ſeinen
erſten Gedanken abbringen wollen, ſo müſſen
wir es durch die Damen bewirken. Vorzüg¬
lich weiß die Baroneſſe dergleichen Operatio¬
nen meiſterlich anzulegen, es wird die Frage
ſeyn, ob ihr der Plan ſo gefällt, daß ſie ſich
der Sache annehmen mag, und dann wird
es gewiß gehen.


Wir brauchen ohnedieß die Hülfe der
Damen, ſagte Wilhelm, denn es möchte un¬
ſer Perſonale und unſere Garderobe zu der
Ausführung nicht hinreichen. Ich habe auf
einige hübſche Kinder gerechnet, die im Hauſe
hin und wieder laufen, und die dem Kammer¬
diener und dem Haushofmeiſter zugehören.


Darauf erſuchte er den Baron, die Da¬
men mit ſeinem Plane bekannt zu machen.
Dieſer kam bald zurück und brachte die
Nachricht, ſie wollten ihn ſelbſt ſprechen.
[69] Heute Abend, wenn die Herren ſich zum
Spiele ſetzten, das ohnedieß wegen der An¬
kunft eines gewiſſen Generals ernſthafter
werden würde, als gewöhnlich, wollten ſie
ſich unter dem Vorwande einer Unpäßlichkeit
in ihr Zimmer zurück ziehen, er ſollte durch
die geheime Treppe eingeführt werden, und
könne alsdann ſeine Sache auf das beſte
vortragen. Dieſe Art von Geheimniß gebe
der Angelegenheit nunmehr einen doppelten
Reiz, und die Baroneſſe beſonders freue ſich
wie ein Kind auf dieſen Rendesvous, und
noch mehr darauf, daß es heimlich und ge¬
ſchickt gegen den Willen des Grafen unter¬
nommen werden ſollte.


Gegen Abend, um die beſtimmte Zeit,
ward Wilhelm abgeholt und mit Vorſicht
hinauf geführt. Die Art, mit der ihm die
Baroneſſe in einem kleinen Kabinette entge¬
gen kam, erinnerte ihn einen Augenblick an
[70] vorige glückliche Zeiten. Sie brachte ihn in
das Zimmer der Gräfin, und nun ging es
an ein Fragen, an ein Unterſuchen. Er legte
ſeinen Plan mit der möglichſten Wärme und
Lebhaftigkeit vor, ſo daß die Damen dafür
ganz eingenommen wurden, und unſere Leſer
werden erlauben, daß wir ſie auch in der
Kürze damit bekannt machen.


In einer ländlichen Scene ſollten Kinder
das Stück mit einem Tanze eröfnen, der je¬
nes Spiel vorſtellte, wo eins herum gehen
und dem andern einen Platz abgewinnen
muß. Darauf ſollten ſie mit andern Scher¬
zen abwechſeln und zuletzt zu einem immer
wiederkehrenden Reihentanze ein fröhliches
Lied ſingen. Darauf ſollte der Harfner mit
Mignon herbeykommen, Neugierde erregen
und mehrere Landleute herbeylocken, der Alte
ſollte verſchiedene Lieder zum Lobe des Frie¬
dens, der Ruhe, der Freude ſingen, und
Mignon darauf den Eyertanz tanzen.


[71]

In dieſer unſchuldigen Freude werden ſie
durch eine kriegeriſche Muſik geſtört, und die
Geſellſchaft von einem Trupp Soldaten über¬
fallen. Die Mannsperſonen ſetzen ſich zur
Wehre und werden überwunden, die Mäd¬
chen fliehen und werden eingeholt. Es
ſcheint alles im Getümmel zu Grunde zu
gehen, als eine Perſon, über deren Be¬
ſtimmung der Dichter noch ungewiß war,
herbey kommt und durch die Nachricht,
daß der Heerführer nicht weit ſey, die Ruhe
wieder herſtellt. Hier wird der Charakter
des Helden mit den ſchönſten Zügen geſchil¬
dert, mitten unter den Waffen Sicherheit
verſprochen, dem Übermuth und der Gewalt¬
thätigkeit Schranken geſetzt. Es wird ein
allgemeines Feſt zu Ehren des großmüthigen
Heerführers begangen.


Die Damen waren mit dem Plane ſehr
zufrieden, nur behaupteten ſie, es müſſe noth¬
[72] wendig etwas Allegoriſches in dem Stücke
ſeyn, um es dem Herrn Grafen angenehm
zu machen. Der Baron that den Vorſchlag,
den Anführer der Soldaten als den Genius
der Zwietracht und der Gewaltthätigkeit zu
bezeichnen; zuletzt aber müſſe Minerva her¬
bey kommen, ihm Feſſeln anzulegen, Nach¬
richt von der Ankunft des Helden zu geben
und deſſen Lob zu preiſen. Die Baroneſſe
übernahm das Geſchäft, den Grafen zu über¬
zeugen, daß der von ihm angegebene Plan,
nur mit einiger Veränderung, ausgeführt
worden ſey; dabey verlangte ſie ausdrück¬
lich: daß am Ende des Stücks nothwendig
die Büſte, der verzogene Namen und der
Fürſtenhut erſcheinen müßten, weil ſonſt alle
Unterhandlung vergeblich ſeyn würde.


Wilhelm, der ſich ſchon im Geiſte vorge¬
ſtellt hatte, wie fein er ſeinen Helden aus
dem Munde der Minerva preiſen wollte,
[73] gab nur nach langem Widerſtande in dieſem
Punkte nach, allein er fühlte ſich auf eine
ſehr angenehme Weiſe gezwungen. Die
ſchönen Augen der Gräfin, und ihr liebens¬
würdiges Betragen hätten ihn gar leicht be¬
wogen, auch auf die ſchönſte und angenehm¬
ſte Erfindung, auf die ſo erwünſchte Einheit
einer Compoſition und auf alle ſchickliche
Details Verzicht zu thun, und gegen ſein
poetiſches Gewiſſen zu handeln. Eben ſo
ſtand auch ſeinem bürgerlichen Gewiſſen ein
harter Kampf bevor, indem, bey beſtimmte¬
rer Austheilung der Rollen, die Damen aus¬
drücklich darauf beſtanden, daß er mitſpielen
müſſe.


Laertes hatte zu ſeinem Theil jenen ge¬
waltthätigen Kriegsgott erhalten, Wilhelm
ſollte den Anführer der Landleute vorſtellen,
der einige ſehr artige und gefühlvolle Verſe
zu ſagen hatte. Nachdem er ſich eine Zeit¬
[74] lang geſträubt, mußte er ſich endlich doch
ergeben, beſonders fand er keine Entſchuldi¬
gung, da die Baroneſſe ihm vorſtellte, die
Schaubühne hier auf dem Schloſſe ſey ohne¬
dem nur als ein Geſellſchaftstheater anzuſe¬
hen, auf dem ſie gern, wenn man nur eine
ſchickliche Einleitung machen könnte, mitzu¬
ſpielen wünſchte. Darauf entließen die Da¬
men unſern Freund mit vieler Freundlichkeit.
Die Baroneſſe verſicherte ihn, daß er ein
unvergleichlicher Menſch ſey, und begleitete
ihn bis an die kleine Treppe, wo ſie ihm
mit einem Händedruck gute Nacht gab.


[75]

Siebentes Capitel.

Befeuert durch den aufrichtigen Antheil, den
die Frauenzimmer an der Sache nahmen,
ward der Plan, der ihm durch die Erzäh¬
lung gegenwärtiger geworden war, ganz le¬
bendig. Er brachte den größten Theil der
Nacht und den andern Morgen mit der ſorg¬
fältigſten Verſification des Dialogs und der
Lieder zu.


Er war ſo ziemlich fertig, als er in das
neue Schloß gerufen wurde, wo er hörte,
daß die Herrſchaft, die eben frühſtückte, ihn
ſprechen wollte. Er trat in den Saal, die
Baroneſſe kam ihm wieder zuerſt entgegen,
und unter dem Vorwande, als wenn ſie ihm
einen guten Morgen bieten wollte, liſpelte
ſie heimlich zu ihm: Sagen Sie nichts von
[76] Ihrem Stücke, als was Sie gefragt wer¬
den.


Ich höre, rief ihm der Graf zu, Sie ſind
recht fleißig und arbeiten an meinem Vor¬
ſpiele, das ich zu Ehren des Prinzen geben
will. Ich billige, daß Sie eine Minerva
darin anbringen wollen, und ich denke bey
Zeiten darauf, wie die Göttin zu kleiden iſt,
damit man nicht gegen das Koſtüme ver¬
ſtößt. Ich laſſe deswegen aus meiner Bi¬
bliothek alle Bücher herbeybringen, worin
ſich das Bild derſelben befindet.


In eben dem Augenblicke traten einige
Bediente mit großen Körben voll Büchern
allerley Formats in den Saal.


Montfaucon, die Sammlungen antiker
Statüen, Gemmen und Münzen, alle Arten
mythologiſcher Schriften wurden aufgeſchla¬
gen und die Figuren verglichen. Aber auch
daran war es noch nicht genug! Des Gra¬
[77] fen vortreffliches Gedächtniß ſtellte ihm alle
Minerven vor, die etwa noch auf Titel¬
kupfern, Vignetten, oder ſonſt vorkommen
mochten. Es mußte deßhalb ein Buch nach
dem andern aus der Bibliothek herbeyge¬
ſchafft werden, ſo daß der Graf zuletzt in
einem Haufen von Büchern ſaß. Endlich,
da ihm keine Minerva mehr einfiel, rief er
mit Lachen aus: Ich wollte wetten, daß nun
keine Minerva mehr in der ganzen Biblio¬
thek ſey, und es möchte wohl das erſtemal
vorkommen, daß eine Bücherſammlung ſo
ganz und gar des Bildes ihrer Schutzgöttin
entbehren muß.


Die ganze Geſellſchaft freute ſich über
den Einfall, und beſonders Jarno, der den
Grafen immer mehr Bücher herbeyzuſchaffen
gereizt hatte, lachte ganz unmäßig.


Nunmehr, ſagte der Graf, indem er ſich
zu Wilhelmen wendete, iſt es eine Haupt¬
[78] ſache, welche Göttin meynen Sie? Minerva
oder Pallas? die Göttin des Krieges oder
der Künſte? —


Sollte es nicht am ſchicklichſten ſeyn,
Euere Excellenz, verſetzte Wilhelm, wenn
man hierüber ſich nicht beſtimmt ausdrückte,
und ſie, eben weil ſie in der Mythologie
eine doppelte Perſon ſpielt, auch hier in dop¬
pelter Qualität erſcheinen ließe. Sie meldet
einen Krieger an, aber nur um das Volk zu
beruhigen, ſie preißt einen Helden, indem ſie
ſeine Menſchlichkeit erhebt, ſie überwindet
die Gewaltthätigkeit und ſtellt die Freude
und Ruhe unter dem Volke wieder her.


Die Baroneſſe, der es bange wurde, Wil¬
helm möchte ſich verrathen, ſchob geſchwinde
den Leibſchneider der Gräfin dazwiſchen, der
ſeine Meinung abgeben mußte, wie ein ſol¬
cher antiker Rock auf das beſte gefertiget
werden könnte. Dieſer Mann, in Masken¬
[79] arbeiten erfahren, wußte die Sache ſehr leicht
zu machen, und da Madam Melina, ohn¬
geachtet ihrer hohen Schwangerſchaft, die
Rolle der himmliſchen Jungfrau übernommen
hatte, ſo wurde er angewieſen, ihr das
Maas zu nehmen, und die Gräfin bezeichne¬
te, wiewohl mit einigem Unwillen ihrer
Kammerjungfern, die Kleider aus der Gar¬
derobe, welche dazu verſchnitten werden
ſollten.


Auf eine geſchickte Weiſe wußte die Ba¬
roneſſe Wilhelmen wieder bey Seite zu ſchaf¬
fen, und ließ ihn bald darauf wiſſen, ſie
habe die übrigen Sachen auch beſorgt. Sie
ſchickte ihm zugleich den Muſikum, der des
Grafen Hauskapelle dirigirte, damit dieſer
theils die nothwendigen Stücke komponiren,
theils ſchickliche Melodien aus dem Muſik¬
vorrathe dazu ausſuchen ſollte. Nunmehr
ging alles nach Wunſche, der Graf fragte
[80] dem Stücke nicht weiter nach, ſondern war
hauptſächlich mit der transparenten Dekora¬
tion beſchäftigt, welche am Ende des Stük¬
kes die Zuſchauer überraſchen ſollte. Seine
Erfindung und die Geſchicklichkeit ſeines Kon¬
ditors brachten zuſammen wirklich eine recht
angenehme Erleuchtung zuwege. Denn auf
ſeinen Reiſen hatte er die größten Feyerlich¬
keiten dieſer Art geſehen, viele Kupfer und
Zeichnungen mitgebracht, und wußte, was
dazu gehörte, mit vielem Geſchmacke anzu¬
geben.


Unterdeſſen endigte Wilhelm ſein Stück,
gab einem jeden ſeine Rolle, übernahm die
ſeinige, und der Muſikus, der ſich zugleich
ſehr gut auf den Tanz verſtund, richtete das
Ballet ein, und ſo ging alles zum beſten.


Nur ein unerwartetes Hinderniß legte
ſich in den Weg, das ihm eine böſe Lücke
zu machen drohte. Er hatte ſich den grö߬
ten[81] ten Effekt von Mignons Eyertanze verſpro¬
chen, und wie erſtaunt war er daher, als
das Kind ihm, mit ſeiner gewöhnlichen Trok¬
kenheit, abſchlug zu tanzen, verſicherte, es ſey
nunmehr ſein und werde nicht mehr auf das
Theater gehen. Er ſuchte es durch allerley
Zureden zu bewegen, und ließ nicht eher ab,
als bis es bitterlich zu weinen anfing, ihm
zu Füßen fiel und rief: lieber Vater! bleib
auch du von den Brettern! Er merkte nicht
auf dieſen Wink, und ſann, wie er durch
eine andere Wendung die Scene intereſſant
machen wollte.


Philine, die eins von den Landmädchen
machte, und in dem Reihentanz die einzelne
Stimme ſingen und die Verſe dem Chore
zubringen ſollte, freute ſich recht ausgelaſſen
darauf. Übrigens ging ihr es vollkommen
nach Wunſche, ſie hatte ihr beſonderes Zim¬
mer, war immer um die Gräfin, die ſie mit
W. Meiſters Lehrj. F[82] ihren Affenpoſſen unterhielt, und dafür täg¬
lich etwas geſchenkt bekam. Ein Kleid zu
dieſem Stücke wurde auch für ſie zurechte
gemacht, und weil ſie von einer leichten nach¬
ahmenden Natur war, ſo hatte ſie ſich bald
aus dem Umgange der Damen ſo viel ge¬
merkt, als ſich für ſie ſchickte, und war in
kurzer Zeit voller Lebensart und guten Be¬
tragens geworden. Die Sorgfalt des Stall¬
meiſters nahm mehr zu als ab, und da die
Offiziere auch ſtark auf ſie eindrangen, und
ſie ſich in einem ſo reichlichen Elemente be¬
fand, fiel es ihr ein, auch einmal die Sprö¬
de zu ſpielen, und auf eine geſchickte Weiſe
ſich in einem gewiſſen vornehmen Anſehn zu
üben. Kalt und fein wie ſie war, kannte ſie
in acht Tagen die Schwächen des ganzen
Hauſes, daß, wenn ſie abſichtlich hätte ver¬
fahren können, ſie gar leicht ihr Glück wür¬
de gemacht haben. Allein auch hier bediente
[83] ſie ſich ihres Vortheils nur, um ſich zu belu¬
ſtigen, um ſich einen guten Tag zu machen
und impertinent zu ſeyn, wo ſie merkte, daß
es ohne Gefahr geſchehen konnte.


Die Rollen waren gelernt, eine Haupt¬
probe des Stücks ward befohlen, der Graf
wollte dabey ſeyn, und ſeine Gemahlin fing
an zu ſorgen, wie er es aufnehmen mögte?
Die Baroneſſe berief Wilhelmen heimlich,
und man zeigte, je näher die Stunde herbey
rückte, immer mehr Verlegenheit: denn es
war doch eben ganz und gar nichts von der
Idee des Grafen übrig geblieben. Jarno,
der eben herein trat, wurde in das Geheim¬
niß gezogen. Es freute ihn herzlich, und er
war geneigt, ſeine gute Dienſte den Damen
anzubieten. Es wäre gar ſchlimm, ſagte er,
gnädige Frau, wenn Sie ſich aus dieſer
Sache nicht allein heraus helfen wollten;
doch auf alle Fälle will ich im Hinterhalte
F 2[84] liegen bleiben. Die Baroneſſe erzählte hier¬
auf, wie ſie bisher dem Grafen das ganze
Stück, aber nur immer ſtellenweiſe und ohne
Ordnung erzählt habe, daß er alſo auf jedes
Einzelne vorbereitet ſey, nur ſtehe er frey¬
lich in Gedanken, das Ganze werde mit ſei¬
ner Idee zuſammentreffen. Ich will mich,
ſagte ſie, heute Abend in der Probe zu ihm
ſetzen, und ihn zu zerſtreuen ſuchen. Den
Konditor habe ich auch ſchon vorgehabt, daß
er ja die Dekoration am Ende recht ſchön
macht, dabey aber doch etwas geringes feh¬
len läßt.


Ich wüßte einen Hof, verſetzte Jarno,
wo wir ſo thätige und kluge Freunde brauch¬
ten, als Sie ſind. Will es heut Abend mit
Ihren Künſten nicht mehr fort, ſo winken
Sie mir, und ich will den Grafen heraus
holen, und ihn nicht eher wieder hinein laſ¬
ſen, bis Minerva auftritt, und von der Il¬
[85] lumination bald Sukkurs zu hoffen iſt. Ich
habe ihm ſchon ſeit einigen Tagen etwas zu
eröffnen, das ſeinen Vetter betrift, und das
ich noch immer aus Urſachen aufgeſchoben
habe. Es wird ihm auch das eine Distrak¬
tion geben, und zwar nicht die angenehmſte.


Einige Geſchäfte hinderten den Grafen,
zu Anfange der Probe zu ſeyn, dann unter¬
hielt ihn die Baroneſſe. Jarnos Hülfe war
gar nicht nöthig. Denn indem der Graf ge¬
nug zurecht zu weiſen, zu verbeſſern und an¬
zuordnen hatte, vergas er ſich ganz und gar
darüber, und da Frau Melina zuletzt nach
ſeinem Sinne ſprach, und die Illumination
gut ausfiel, bezeigte er ſich vollkommen zu¬
frieden. Erſt als alles vorbey war, und
man zum Spiele ging, ſchien ihm der Unter¬
ſchied aufzufallen, und er fing an nachzuden¬
ken, ob denn das Stück auch wirklich von
ſeiner Erfindung ſey? Auf einen Wink fiel
[86] nun Jarno aus ſeinem Hinterhalte hervor,
der Abend verging, die Nachricht, daß der
Prinz wirklich komme, beſtätigte ſich, man
ritt einigemal aus, die Avantgarde in der
Nachbarſchaft kampiren zu ſehen, das Haus
war voller Lärmen und Unruhe, und unſere
Schauſpieler, die nicht immer zum beſten von
den unwilligen Bedienten verſorgt wurden,
mußten, ohne daß jemand ſonderlich ſich
ihrer erinnerte, in dem alten Schloſſe ihre
Zeit in Erwartungen und Übungen zu¬
bringen.


[87]

Achtes Capitel.

Endlich war der Prinz angekommen, die
Generalität, die Staabsofficiere und das
übrige Gefolge, das zu gleicher Zeit eintraf,
die vielen Menſchen, die theils zum Beſuche,
theils geſchäftswegen einſprachen, machten
das Schloß einem Bienenſtocke ähnlich, der
eben ſchwärmen will. Jederman drängte
ſich herbey, den vortrefflichen Fürſten zu ſe¬
hen, und jedermann bewunderte ſeine Leut¬
ſeligkeit und Herablaſſung, jedermann er¬
ſtaunte in dem Helden und Heerführer zu¬
gleich den gefälligſten Hofmann zu erblicken.


Alle Hausgenoſſen mußten nach Order
des Grafen bey der Ankunft des Fürſten
auf ihrem Poſten ſeyn, kein Schauſpieler
durfte ſich blicken laſſen, weil der Prinz mit
[88] den vorbereiteten Feyerlichkeiten überraſcht
werden ſollte, und ſo ſchien er auch des
Abends, als man ihn in den großen wohl¬
erleuchteten und mit gewirkten Tapeten des
vorigen Jahrhunderts ausgezierten Saal
führte, ganz und gar nicht auf ein Schau¬
ſpiel, vielweniger auf ein Vorſpiel zu ſeinem
Lobe, vorbereitet zu ſeyn. Alles lief auf das
beſte ab, und die Truppe mußte nach vollen¬
deter Vorſtellung herbey und ſich dem Prin¬
zen zeigen, der jeden auf die freundlichſte
Weiſe etwas zu fragen, jedem auf die gefäl¬
ligſte Art etwas zu ſagen wußte. Wilhelm
als Autor mußte beſonders vortreten, und
ihm ward gleichfalls ſein Theil Beyfall zu¬
geſpendet.


Nach dem Vorſpiele fragte niemand ſon¬
derlich, in einigen Tagen war es, als wenn
nichts dergleichen wäre aufgeführt worden,
außer daß Jarno mit Wilhelmen gelegent¬
[89] lich davon ſprach, und es ſehr verſtändig
lobte, nur ſetzte er hinzu: es iſt Schade, daß
Sie mit hohlen Nüſſen um hohle Nüſſe ſpie¬
len. — Mehrere Tage lag Wilhelmen die¬
ſer Ausdruck im Sinne, er wußte nicht, wie
er ihn auslegen, noch was er daraus neh¬
men ſollte.


Unterdeſſen ſpielte die Geſellſchaft jeden
Abend ſo gut, als ſie es nach ihren Kräften
vermochte, und that das mögliche, um die
Aufmerkſamkeit der Zuſchauer auf ſich zu
ziehen. Ein unverdienter Beyfall munterte
ſie auf, und in ihrem alten Schloſſe glaub¬
ten ſie nun wirklich, eigentlich um ihretwil¬
len dränge ſich die große Verſammlung her¬
bey, nach ihren Vorſtellungen ziehe ſich die
Menge der Fremden, und ſie ſeyen der Mit¬
telpunkt, um den und um deswillen ſich al¬
les drehe und bewege.


Wilhelm allein bemerkte zu ſeinem großen
[90] Verdruſſe gerade das Gegentheil. Denn ob¬
gleich der Prinz die erſten Vorſtellungen von
Anfange bis zu Ende auf ſeinem Seſſel
ſitzend, mit der größten Gewiſſenhaftigkeit
abwartete, ſo ſchien er ſich doch nach und
nach auf eine gute Weiſe davon zu diſpenſi¬
ren. Gerade diejenigen, welche Wilhelm im
Geſpräche als die Verſtändigſten gefunden
hatte, Jarno an ihrer Spitze, brachten nur
flüchtige Augenblicke im Theaterſaale zu,
übrigens ſaßen ſie im Vorzimmer, ſpielten,
oder ſchienen ſich von Geſchäften zu unter¬
halten.


Wilhelmen verdroß gar ſehr, bey ſeinen
anhaltenden Bemühungen des erwünſchteſten
Beyfalls zu entbehren. Bey der Auswahl
der Stücke, der Abſchrift der Rollen, den
häufigen Proben, und was ſonſt nur immer
vorkommen konnte, ging er Melinen eifrig
zur Hand, der ihn denn auch, ſeine eigene
[91] Unzulänglichkeit im ſtillen fühlend, zuletzt
gewähren ließ. Die Rollen memorirte Wil¬
helm mit Fleiß, und trug ſie mit Wärme
und Lebhaftigkeit, und mit ſo viel Anſtand
vor, als die wenige Bildung erlaubte, die er
ſich ſelbſt gegeben hatte.


Die fortgeſetzte Theilnahme des Barons
benahm indeß der übrigen Geſellſchaft jeden
Zweifel, indem er ſie verſicherte, daß ſie die
größten Effekte hervorbringe, beſonders in¬
dem ſie eins ſeiner eigenen Stücke aufführ¬
te, nur bedauerte er, daß der Prinz eine
ausſchließende Neigung für das franzöſiſche
Theater habe, daß ein Theil ſeiner Leute
hingegen, worunter ſich Jarno beſonders
auszeichne, den Ungeheuren der engliſchen
Bühne einen leidenſchaftlichen Vorzug gebe.


War nun auf dieſe Weiſe die Kunſt un¬
ſrer Schauſpieler nicht auf das beſte bemerkt
und bewundert; ſo waren dagegen ihre Per¬
[92] ſonen den Zuſchauern und Zuſchauerinnen
nicht völlig gleichgültig. Wir haben ſchon
oben angezeigt, daß die Schauſpielerinnen
gleich von Anfang die Aufmerkſamkeit jun¬
ger Officiere erregten; allein ſie waren in
der Folge glücklicher, und machten wichtigere
Eroberungen. Doch wir ſchweigen davon
und bemerken nur, daß Wilhelm der Gräfin
von Tag zu Tag intereſſanter vorkam, ſo
wie auch in ihm eine ſtille Neigung gegen
ſie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn
er auf dem Theater war, die Augen nicht
von ihm abwenden, und er ſchien bald nur
allein gegen ſie gerichtet zu ſpielen und zu
rezitiren. Sich wechſelſeitig anzuſehen, war
ihnen ein unausſprechliches Vergnügen, dem
ſich ihre harmloſen Seelen ganz überließen,
ohne lebhaftere Wünſche zu nähren, oder für
irgend eine Folge beſorgt zu ſeyn.


Wie über einen Fluß hinüber, der ſie
[93] ſcheidet, zwey feindliche Vorpoſten ſich ruhig
und luſtig zuſammen beſprechen, ohne an den
Krieg zu denken, in welchen ihre beiderſeiti¬
gen Partheyen begriffen ſind: ſo wechſelte
die Gräfin mit Wilhelm bedeutende Blicke
über die ungeheure Kluft der Geburt und
des Standes hinüber, und jedes glaubte an
ſeiner Seite, ſicher ſeinen Empfindungen nach¬
hängen zu dürfen.


Die Baroneſſe hatte ſich indeſſen den
Laertes ausgeſucht, der ihr als ein wackerer,
munterer Jüngling beſonders wohlgefiel, und
der, ſo ſehr Weiberfeind er war, doch ein
vorbeygehendes Abentheuer nicht verſchmähe¬
te, und wirklich dießmal wider Willen durch
die Leutſeligkeit und das einnehmende Weſen
der Baroneſſe gefeſſelt worden wäre, hätte
ihm der Baron zufällig nicht einen guten,
oder, wenn man will, einen ſchlimmen Dienſt
erzeigt, indem er ihn mit den Geſinnungen
dieſer Dame näher bekannt machte.


[94]

Denn als Laertes ſie einſt laut rühmte,
und ſie allen andern ihres Geſchlechts vor¬
zog, verſetzte der Baron ſcherzend: ich merke
ſchon wie die Sachen ſtehen, unſre liebe
Freundin hat wieder einen für ihre Ställe
gewonnen. Dieſes unglückliche Gleichniß,
das nur zu klar auf die gefährlichen Liebko¬
ſungen einer Circe deutete, verdroß Laertes
über die maaßen, und er konnte dem Baron
nicht ohne Ärgerniß zuhören, der ohne Barm¬
herzigkeit fortfuhr:


Jeder Fremde glaubt, daß er der erſte
ſey, dem ein ſo angenehmes Betragen gelte;
aber er irrt gewaltig, denn wir alle ſind ein¬
mal auf dieſem Wege herum geführt wor¬
den; Mann, Jüngling oder Knabe, er ſey
wer er ſey, muß ſich eine Zeitlang ihr erge¬
ben, ihr anhängen, und ſich mit Sehnſucht
um ſie bemühen.


Den Glücklichen, der eben, in die Gärten
[95] einer Zauberin hinein tretend, von allen Se¬
ligkeiten eines künſtlichen Frühlings empfan¬
gen wird, kann nichts unangenehmer über¬
raſchen, als wenn ihm, deſſen Ohr ganz auf
den Geſang der Nachtigall lauſcht, irgend
ein verwandelter Vorfahr unvermuthet ent¬
gegen grunzt.


Laertes ſchämte ſich nach dieſer Entdek¬
kung recht von Herzen, daß ihn ſeine Eitel¬
keit nochmals verleitet habe, von irgend ei¬
ner Frau auch nur im mindeſten gut zu den¬
ken. Er vernachläſſigte ſie nunmehr völlig,
hielt ſich zu dem Stallmeiſter, mit dem er
fleißig focht und auf die Jagd ging; bey
Proben und Vorſtellungen aber ſich betrug,
als wenn dieß blos eine Nebenſache wäre.


Der Graf und die Gräfin ließen manch¬
mal morgens einige von der Geſellſchaft ru¬
fen, da jeder denn immer Philinens unver¬
dientes Glück zu beneiden Urſache fand.
[96] Der Graf hatte ſeinen Liebling, den Pedan¬
ten, oft Stundenlang bey ſeiner Toilette.
Dieſer Menſch ward nach und nach beklei¬
det, und bis auf Uhr und Doſe equipirt und
ausgeſtattet.


Auch wurde die Geſellſchaft manchmal
ſammt und ſonders nach Tafel vor die ho¬
hen Herrſchaften gefordert. Sie ſchätzten
ſich es zur größten Ehre, und bemerkten
nicht, daß man zu eben derſelben Zeit durch
Jäger und Bediente eine Anzahl Hunde
hereinbringen, und Pferde im Schloßhofe
vorführen ließ.


Man hatte Wilhelmen geſagt, daß er ja
gelegentlich des Prinzen Liebling, Racine,
loben, und dadurch auch von ſich eine gute
Meinung erwecken ſolle. Er fand dazu an
einem ſolchen Nachmittage Gelegenheit, da
er auch mit vorgefordert worden war, und
der Prinz ihn fragte, ob er auch fleißig die
großen[97] großen franzöſiſchen Theaterſchriftſteller leſe?
darauf ihm denn Wilhelm mit einem ſehr
lebhaften Ja antwortete. Er bemerkte nicht,
daß der Fürſt, ohne ſeine Antwort abzuwar¬
ten, ſchon im Begriff war ſich weg und zu
jemand anders zu wenden, er faßte ihn viel¬
mehr ſogleich und trat ihm beynah in den
Weg, indem er fortfuhr: er ſchätze das fran¬
zöſiſche Theater ſehr hoch und leſe die Werke
der großen Meiſter mit Entzücken, beſonders
habe er zu wahrer Freude gehört, daß der
Fürſt den großen Talenten eines Racine völ¬
lige Gerechtigkeit wiederfahren laſſe. Ich
kann es mir vorſtellen, fuhr er fort, wie
vornehme und erhabene Perſonen einen Dich¬
ter ſchätzen müſſen, der die Zuſtände ihrer
höheren Verhältniſſe ſo vortrefflich und rich¬
tig ſchildert. Corneille hat, wenn ich ſo ſa¬
gen darf, große Menſchen dargeſtellt, und
Racine vornehme Perſonen. Ich kann mir,
W. Meiſters Lehrj. G[98] wenn ich ſeine Stücke leſe, immer den Dich¬
ter denken, der an einem glänzenden Hofe
lebt, einen großen König vor Augen hat,
mit den Beſten umgeht, und in die Geheim¬
niſſe der Menſchheit dringt, wie ſie ſich hin¬
ter koſtbar gewürkten Tapeten verbergen.
Wenn ich ſeinen Brittanikus, ſeine Berenice
ſtudire, ſo kommt es mir wirklich vor, ich
ſey am Hofe, ſey in das Große und Kleine
dieſer Wohnungen der irrdiſchen Götter ein¬
geweyht, und ich ſehe, durch die Augen eines
feinfühlenden Franzoſen, Könige, die eine gan¬
ze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tau¬
ſenden beneidet werden, in ihrer natürlichen Ge¬
ſtalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die
Anekdote, daß Racine ſich zu Tode gegrämt
habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht
mehr angeſehen, ihn ſeine Unzufriedenheit
fühlen laſſen, iſt mir ein Schlüſſel zu allen
[99] ſeinen Werken, und es iſt unmöglich, daß
ein Dichter von ſo großen Talenten, deſſen
Leben und Tod an den Augen eines Königes
hängt, nicht auch Stücke ſchreiben ſolle, die
des Beyfalls eines Königes und eines Für¬
ſten werth ſeyen.


Jarno war herbey getreten und hörte un¬
ſerem Freunde mit Verwunderung zu; der
Fürſt, der nicht geantwortet und nur mit ei¬
nem gefälligen Blicke ſeinen Beyfall gezeigt
hatte, wandte ſich ſeitwärts, obgleich Wil¬
helm, dem es noch unbekannt war, daß es
nicht anſtändig ſey, unter ſolchen Umſtänden
einen Diskurs fortſetzen und eine Materie
erſchöpfen zu wollen, noch gerne mehr ge¬
ſprochen und dem Fürſten gezeigt hätte, daß
er nicht ohne Nutzen und Gefühl ſeinen Lieb¬
lingsdichter geleſen.


Haben Sie denn niemals, ſagte Jarno,
G 2[100] indem er ihn beyſeite nahm, ein Stück von
Shakeſpearen geſehen?


Nein, verſetzte Wilhelm: denn ſeit der
Zeit, daß ſie in Deutſchland bekannter ge¬
worden ſind, bin ich mit dem Theater unbe¬
kannt worden, und ich weiß nicht, ob ich
mich freuen ſoll, daß ſich zufällig eine alte
jugendliche Liebhaberey und Beſchäftigung
gegenwärtig wieder erneuerte. Indeſſen hat
mich alles, was ich von jenen Stücken ge¬
hört, nicht neugierig gemacht, ſolche ſeltſame
Ungeheuer näher kennen zu lernen, die über
alle Wahrſcheinlichkeit, allen Wohlſtand hin¬
auszuſchreiten ſcheinen.


Ich will Ihnen denn doch rathen, ver¬
ſetzte jener, einen Verſuch zu machen, es kann
nichts ſchaden, wenn man auch das ſeltſame
mit eigenen Augen ſieht. Ich will Ihnen
ein Paar Theile borgen, und Sie können
Ihre Zeit nicht beſſer anwenden, als wenn
[101] Sie ſich gleich von allen losmachen, und in
der Einſamkeit Ihrer alten Wohnung in die
Zauberlaterne dieſer unbekannten Welt ſehen.
Es iſt ſündlich, daß Sie Ihre Stunden ver¬
derben, dieſe Affen menſchlicher auszuputzen,
und dieſe Hunde tanzen zu lehren. Nur
eins halte ich mir aus, daß Sie ſich an die
Form nicht ſtoßen, das übrige kann ich Ihrem
richtigen Gefühle überlaſſen.


Die Pferde ſtanden vor der Thüre, und
Jarno ſetzte ſich mit einigen Cavalieren auf,
um ſich mit der Jagd zu erluſtigen. Wil¬
helm ſah ihm traurig nach. Er hätte gerne
mit dieſem Manne noch vieles geſprochen,
der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art,
neue Ideen gab, Ideen deren er bedurfte.


Der Menſch kommt manchmal, indem er
ſich einer Entwicklung ſeiner Kräfte, Fähig¬
keiten und Begriffe nähert, in eine Verlegen¬
heit, aus der ihm ein guter Freund leicht
[102] helfen könnte. Er gleicht einem Wanderer,
der nicht weit von der Herberge ins Waſſer
fällt; griffe jemand ſogleich zu, riſſe ihn ans
Land, ſo wäre es um einmal naß werden
gethan, anſtatt daß er ſich auch wohl ſelbſt,
aber am jenſeitigen Ufer, heraus hilft, und
einen beſchwerlichen weiten Umweg nach ſei¬
nem beſtimmten Ziele zu machen hat.


Wilhelm fing an zu wittern, daß es in
der Welt anders zugehe, als er ſich es ge¬
dacht, er ſah das wichtige und bedeutungs¬
volle Leben der Vornehmen und Großen in
der Nähe, und verwunderte ſich, wie einen
leichten Anſtand ſie ihm zu geben wußten.
Ein Heer auf dem Marſche, ein fürſtlicher
Held an ſeiner Spitze, ſo viele mitwürkende
Krieger, ſo viele zudringende Verehrer er¬
höhten ſeine Einbildungskraft. In dieſer
Stimmung erhielt er die verſprochenen Bü¬
[103] cher, und in kurzem, wie man es vermuthen
kann, ergriff ihn der Strom jenes großen
Genius, und führte ihn einem unüberſehli¬
chen Meere zu, worin er ſich gar bald völ¬
lig vergaß und verlor.


[104]

Neuntes Capitel.

Das Verhältniß des Barons zu den Schau¬
ſpielern hatte ſeit ihrem Auffenthalte im
Schloſſe verſchiedene Veränderungen erlitten.
Im Anfange gereichte es zu beiderſeitiger
Zufriedenheit: denn indem der Baron das
erſtemal in ſeinem Leben eines ſeiner Stücke,
mit denen er ein Geſellſchaftstheater ſchon
belebt hatte, in den Händen wirklicher Schau¬
ſpieler und auf dem Wege zu einer anſtän¬
digen Vorſtellung ſah, war er von dem be¬
ſten Humor, bewies ſich freygebig, und kauf¬
te bey jedem Galanteriehändler, deren ſich
manche einſtellten, kleine Geſchenke für die
Schauſpielerinnen, und wußte den Schau¬
ſpielern manche Bouteille Champagner extra
zu verſchaffen; dagegen gaben ſie ſich auch
[105] mit ſeinen Stücken alle Mühe, und Wil¬
helm ſparte keinen Fleiß, die herrlichen Reden
des vortrefflichen Helden, deſſen Rolle ihm
zugefallen war, auf das genauſte zu memo¬
riren.


Indeſſen hatten ſich doch auch nach und
nach einige Mißhelligkeiten eingeſchlichen.
Die Vorliebe des Barons für gewiſſe Schau¬
ſpieler wurde von Tag zu Tag merklicher,
und nothwendig mußte dieß die übrigen ver¬
drießen. Er erhob ſeine Günſtlinge ganz
ausſchließlich, und brachte dadurch Eiferſucht
und Uneinigkeit unter die Geſellſchaft. Me¬
lina, der ſich bey ſtreitigen Fällen ohnedem
nicht zu helfen wußte, befand ſich in einem
ſehr unangenehmen Zuſtande. Die Geprieſe¬
nen nahmen das Lob an, ohne ſonderlich
dankbar zu ſeyn, und die Zurückgeſetzten
ließen auf allerley Weiſe ihren Verdruß
ſpühren, und wußten ihrem erſt hochverehr¬
[106] ten Gönner den Aufenthalt unter ihnen auf
eine oder die andere Weiſe unangenehm zu
machen, ja es war ihrer Schadenfreude keine
geringe Nahrung, als ein gewiſſes Gedicht,
deſſen Verfaſſer man nicht kannte, im Schloſſe
viele Bewegung verurſachte. Bisher hatte
man ſich immer, doch auf eine ziemlich feine
Weiſe, über den Umgang des Barons mit
den Comödianten aufgehalten, man hatte
allerley Geſchichten auf ihn gebracht, gewiſſe
Vorfälle ausgeputzt, und ihnen eine luſtige
und intereſſante Geſtalt gegeben. Zuletzt
fing man an zu erzählen, es entſtehe eine
Art von Handwerksneid zwiſchen ihm und
einigen Schauſpielern, die ſich auch einbilde¬
ten, Schriftſteller zu ſeyn, und auf dieſe Sage
gründet ſich das Gedicht, von welchem wir
ſprachen, und welches lautete wie folgt:


Ich armer Teufel, Herr Baron,

Beneide Sie um Ihren Stand,

[107]
Um Ihren Platz ſo nah am Thron,

Und um manch ſchön Stück Acker Land,

Um Ihres Vaters feſtes Schloß,

Um ſeine Wildbahn und Geſchoß.
Mich armen Teufel, Herr Baron,

Beneiden Sie, ſo wie es ſcheint,

Weil die Natur vom Knaben ſchon

Mit mir es mütterlich gemeint.

Ich ward, mit leichtem Muth und Kopf,

Zwar arm, doch nicht ein armer Tropf.
Nun dächt’ ich, lieber Herr Baron,

Wir ließen’s beide wie wir ſind:

Sie blieben des Herrn Vaters Sohn,

Und ich blieb meiner Mutter Kind.

Wir leben ohne Neid und Haß,

Begehren nicht des andern Titel,

Sie keinen Platz auf dem Parnaß,

Und keinen ich in dem Capitel.

Die Stimmen über dieſes Gedicht, das in
einigen faſt unleſerlichen Abſchriften ſich in
verſchiedenen Händen befand, waren ſehr ge¬
[108] theilt, auf den Verfaſſer aber wußte niemand
zu muthmaßen, und als man mit einiger
Schadenfreude ſich darüber zu ergötzen an¬
fing, erklärte ſich Wilhelm ſehr dagegen.


Wir Deutſchen, rief er aus, verdienten,
daß unſre Muſen in der Verachtung blieben,
in der ſie ſo lange geſchmachtet haben, da
wir nicht Männer von Stande zu ſchätzen
wiſſen, die ſich mit unſrer Litteratur auf ir¬
gend eine Weiſe abgeben mögen. Geburt,
Stand und Vermögen ſtehen in keinem Wi¬
derſpruch mit Genie und Geſchmack, das ha¬
ben uns fremde Nationen gelehrt, welche
unter ihren beſten Köpfen eine große Anzahl
Edelleute zählen. War es bisher in Deutſch¬
land ein Wunder, wenn ein Mann von Ge¬
burt ſich den Wiſſenſchaften widmete, wurden
bisher nur weniger berühmte Nahmen durch
ihre Neigung zu Kunſt und Wiſſenſchaft
noch berühmter; ſtiegen dagegen manche aus
[109] der Dunkelheit hervor, und traten wie unbe¬
kannte Sterne an den Horizont, ſo wird das
nicht immer ſo ſeyn, und wenn ich mich nicht
ſehr irre, ſo iſt die erſte Klaſſe der Nation
auf dem Wege, ſich ihrer Vortheile auch zu
Erringung des ſchönſten Kranzes der Muſen
in Zukunft zu bedienen. Es iſt mir daher
nichts unangenehmer, als wenn ich nicht al¬
lein den Bürger oft über den Edelmann, der
die Muſen zu ſchätzen weiß, ſpotten, ſondern
auch Perſonen von Stande ſelbſt mit un¬
überlegter Laune und niemals zu billigender
Schadenfreude ihres Gleichen von einem
Wege abſchrecken ſehe, auf dem einen jeden
Ehre und Zufriedenheit erwartet.


Es ſchien die letzte Äuſſerung gegen den
Grafen gerichtet zu ſeyn, von welchem Wil¬
helm gehört hatte, daß er das Gedicht wirk¬
lich gut finde. Freylich war dieſem Herrn,
der immer auf ſeine Art mit dem Baron zu
[110] ſcherzen pflegte, ein ſolcher Anlaß ſehr er¬
wünſcht, ſeinen Verwandten auf alle Weiſe
zu plagen. Jedermann hatte ſeine eigne
Muthmaßungen, wer der Verfaſſer des Ge¬
dichtes ſeyn könnte, und der Graf, der ſich
nicht gern im Scharfſinn von jemand über¬
troffen ſah, fiel auf einen Gedanken, den er
ſogleich zu beſchwören bereit war: das Ge¬
dicht könne ſich nur von ſeinem Pedanten
herſchreiben, der ein ſehr feiner Burſche ſey,
und an dem er ſchon lange ſo etwas poeti¬
ſches Genie gemerkt habe. Um ſich ein rech¬
tes Vergnügen zu machen, ließ er deswegen
an einem Morgen dieſen Schauſpieler rufen,
der ihm in Gegenwart der Gräfin, der Ba¬
roneſſe und Jarnos das Gedicht nach ſeiner
Art vorleſen mußte, und dafür Lob, Beyfall
und ein Geſchenk einerndtete, und die Frage
des Grafen, ob er nicht ſonſt noch einige
Gedichte von früheren Zeiten beſitze? mit
[111] Klugheit abzulehnen wußte. So kam der
Pedant zum Rufe eines Dichters, eines Witz¬
lings, und in den Augen derer, die dem Ba¬
ron günſtig waren, eines Pasquillanten und
ſchlechten Menſchen. Von der Zeit an ap¬
plaudirte ihn der Graf nur immer mehr, er
mochte ſeine Rolle ſpielen wie er wollte, ſo
daß der arme Menſch zuletzt aufgeblaſen, ja
beynahe verrückt wurde, und darauf ſann,
gleich Philinen ein Zimmer im neuen Schloſſe
zu beziehen.


Wäre dieſer Plan ſogleich zu vollführen
geweſen, ſo möchte er einen großen Unfall
vermieden haben. Denn als er eines Abends
ſpät nach dem alten Schloſſe ging, und in
dem dunkeln engen Wege herum tappte,
ward er auf einmal angefallen, von einigen
Perſonen feſtgehalten, indeſſen andere auf
ihn wacker losſchlugen, und ihn im Finſtern
ſo zerdraſchen, daß er beynahe liegen blieb,
[112] und nur mit Mühe zu ſeinen Kameraden
hinauf kroch, die, ſo ſehr ſie ſich entrüſtet
ſtellten, über dieſen Unfall ihre heimliche
Freude fühlten, und ſich kaum des Lachens
erwehren konnten, als ſie ihn ſo wohl durch¬
walkt und ſeinen neuen braunen Rock über
und über weiß, als wenn er mit Müllern
Händel gehabt, beſtäubt und befleckt ſahen.


Der Graf, der ſogleich hiervon Nachricht
erhielt, brach in einen unbeſchreiblichen Zorn
aus. Er behandelte dieſe That als das
größte Verbrechen, qualifizirte ſie zu einem
beleidigten Burgfrieden, und ließ durch ſei¬
nen Gerichtshalter die ſtrengſte Inquiſition
vornehmen. Der weißbeſtäubte Rock ſollte
eine Hauptanzeige geben. Alles was nur
irgend mit Puder und Mehl im Schloſſe zu
ſchaffen haben konnte, wurde mit in die Un¬
terſuchung gezogen, jedoch vergebens.


Der Baron verſicherte bey ſeiner Ehre
feyer¬[113] feyerlich: jene Art zu ſcherzen habe ihm frey¬
lich ſehr mißfallen, und das Betragen des
Herrn Grafen ſey nicht das freundſchaftlich¬
ſte geweſen, aber er habe ſich darüber hin¬
auszuſetzen gewußt, und an dem Unfall, der
dem Poeten oder Pasquillanten, wie man
ihn nennen wolle, begegnet, habe er nicht
den mindeſten Antheil.


Die übrigen Bewegungen der Fremden
und die Unruhe des Hauſes brachten bald
die ganze Sache in Vergeſſenheit, und der
unglückliche Günſtling mußte das Vergnügen,
fremde Federn eine kurze Zeit getragen zu
haben, theuer bezahlen.


Unſere Truppe, die regelmäßig alle Aben¬
de fortſpielte, und im Ganzen ſehr wohl ge¬
halten wurde, fing nun an, je beſſer es ihr
ging, deſto größere Anforderungen zu machen.
In kurzer Zeit war ihnen Eſſen, Trinken,
Aufwartung, Wohnung zu gering, und ſie
W. Meiſters Lehrj. H[114] lagen ihrem Beſchützer, dem Baron, an, daß
er für ſie beſſer ſorgen, und ihnen zu dem
Genuſſe und der Bequemlichkeit, die er ihnen
verſprochen, doch endlich verhelfen ſolle. Ihre
Klagen wurden lauter, und die Bemühungen
ihres Freundes, ihnen genug zu thun, immer
fruchtloſer.


Wilhelm kam indeſſen, auſſer in Proben
und Spielſtunden, wenig mehr zum Vor¬
ſcheine. In einem der hinterſten Zimmer
verſchloſſen, wozu nur Mignon und dem
Harfner der Zutritt gerne verſtattet wurde,
lebte und webte er in der ſhakeſpeariſchen
Welt, ſo daß er auſſer ſich nichts kannte
noch empfand.


Man erzählt von Zauberern, die durch
magiſche Formeln eine ungeheure Menge al¬
lerley geiſtiger Geſtalten in ihre Stube her¬
beyziehen. Die Beſchwörungen ſind ſo kräf¬
tig, daß ſich bald der Raum des Zimmers
[115] ausfüllt, und die Geiſter bis an den kleinen
gezogenen Kreis hinan gedrängt, um denſel¬
ben und über dem Haupte des Meiſters in
ewig drehender Verwandlung ſich bewegend
vermehren. Jeder Winkel iſt vollgepfropft,
und jedes Geſims beſetzt, Eier dehnen ſich
aus und Rieſengeſtalten ziehen ſich in Pil¬
zen zuſammen. Unglücklicher Weiſe hat der
Schwarzkünſtler das Wort vergeſſen, womit
er dieſe Geiſterfluth wieder zur Ebbe bringen
könnte. — So ſaß Wilhelm, und mit un¬
bekannter Bewegung wurden tauſend Em¬
pfindungen und Fähigkeiten in ihm rege,
von denen er keinen Begrif und keine Ahn¬
dung gehabt hatte. Nichts konnte ihn aus
dieſem Zuſtande reiſſen, und er war ſehr un¬
zufrieden, wenn irgend jemand zu kommen
Gelegenheit nahm, um ihn von dem, was
auswärts vorging, zu unterhalten.


So merkte er kaum auf, als man ihm
H 2[116] die Nachricht brachte, es ſollte in dem Schlo߬
hof eine Execution vorgehen und ein Knabe
geſtäupt werden, der ſich eines nächtlichen
Einbruchs verdächtig gemacht habe, und da
er den Rock eines Perückenmachers trage,
wahrſcheinlich mit unter den Meuchelmördern
geweſen ſey. Der Knabe läugne zwar auf
das hartnäckigſte, und man könne ihn des¬
wegen nicht förmlich beſtrafen, wolle ihm
aber als einem Vagabunden einen Denkzettel
geben und ihn weiter ſchicken, weil er einige
Tage in der Gegend herumgeſchwärmt ſey,
ſich des Nachts in den Mühlen aufgehalten,
endlich eine Leiter an die Gartenmauer an¬
gelehnt habe, und herüber geſtiegen ſey.


Wilhelm fand an dem ganzen Handel
nichts ſonderlich merkwürdig, als Mignon
haſtig herein kam und ihn verſicherte, der
Gefangene ſey Friedrich, der ſich ſeit den
Händeln mit dem Stallmeiſter von der Ge¬
[117] ſellſchaft und aus unſern Augen verlohren
hatte.


Wilhelm, den der Knabe intereſſirte,
machte ſich eilends auf, und fand im Schlo߬
hofe ſchon Zurüſtungen. Denn der Graf liebte
die Feyerlichkeit auch in dergleichen Fällen.
Der Knabe wurde herbeygebracht. Wilhelm
trat dazwiſchen und bat, daß man inne hal¬
ten mögte, indem er den Knaben kenne, und
vorher erſt verſchiedenes ſeinetwegen anzu¬
bringen habe. Er hatte Mühe mit ſeinen
Vorſtellungen durchzudringen, und erhielt
endlich die Erlaubniß, mit dem Delinquenten
allein zu ſprechen. Dieſer verſicherte, von
dem Überfalle, bey dem ein Akteur ſollte
gemißhandelt worden ſeyn, wiſſe er gar nichts.
Er ſey nur um das Schloß herum geſtreift,
und des Nachts herein geſchlichen, um Phi¬
linen aufzuſuchen, deren Schlafzimmer er
ausgekundſchaftet gehabt, und es auch gewiß
[118] würde getroffen haben, wenn er nicht unter¬
wegens aufgefangen worden wäre.


Wilhelm, der, zur Ehre der Geſellſchaft,
das Verhältniß nicht gerne entdecken wollte,
eilte zu dem Stallmeiſter und bat ihn, nach
ſeiner Kenntniß der Perſonen und des Hau¬
ſes, dieſe Angelegenheit zu vermitteln, und
den Knaben zu befreyen.


Dieſer launigte Mann erdachte, unter
Wilhelms Beyſtand, eine kleine Geſchichte,
daß der Knabe zur Truppe gehört habe, von
ihr entlaufen ſey, doch wieder gewünſcht, ſich
bey ihr einzufinden und aufgenommen zu
werden. Er habe deswegen die Abſicht ge¬
habt, bey Nachtzeit einige ſeiner Gönner
aufzuſuchen, und ſich ihnen zu empfehlen.
Man bezeugte übrigens, daß er ſich ſonſt
gut aufgeführt, die Damen miſchten ſich
darein, und er ward entlaſſen.


Wilhelm nahm ihn auf, und er war nun¬
[119] mehr die dritte Perſon der wunderbaren Fa¬
milie, die Wilhelm ſeit einiger Zeit als ſeine
eigene anſah. Der Alte und Mignon nah¬
men den Wiederkehrenden freundlich auf,
und alle drey verbanden ſich nunmehr, ihrem
Freunde und Beſchützer aufmerkſam zu die¬
nen, und ihm etwas angenehmes zu erzeigen.


[120]

Zehntes Capitel.

Philine wußte ſich nun täglich beſſer bey den
Damen einzuſchmeicheln. Wenn ſie zuſam¬
men allein waren, leitete ſie meiſtentheils das
Geſpräch auf die Männer, die kamen und
gingen, und Wilhelm war nicht der letzte, mit
dem man ſich beſchäftigte. Dem klugen Mäd¬
chen blieb es nicht verborgen, daß er einen
tiefen Eindruck auf das Herz der Gräfin ge¬
macht habe; ſie erzählte daher von ihm was
ſie wußte und nicht wußte; hütete ſich aber
irgend etwas vorzubringen, das man zu ſei¬
nem Nachtheil hätte deuten können, und
rühmte dagegen ſeinen Edelmuth, ſeine Frey¬
gebigkeit und beſonders ſeine Sittſamkeit im
Betragen gegen das weibliche Geſchlecht.
Alle übrigen Fragen, die an ſie geſchahen, be¬
[121] antwortete ſie mit Klugheit, und als die Ba¬
roneſſe die zunehmende Neigung ihrer ſchö¬
nen Freundin bemerkte, war auch ihr dieſe
Entdeckung ſehr willkommen. Denn ihre
Verhältniſſe zu mehreren Männern, beſon¬
ders in dieſen letzten Tagen zu Jarno, blie¬
ben der Gräfin nicht verborgen, deren reine
Seele einen ſolchen Leichtſinn nicht ohne
Mißbilligung und ohne ſanften Tadel bemer¬
ken konnte.


Auf dieſe Weiſe hatte die Baroneſſe ſo¬
wohl als Philine, jede ein beſonderes Inter¬
eſſe, unſern Freund der Gräfin näher zu
bringen, und Philine hoffte noch überdieß
bey Gelegenheit, wieder für ſich zu arbeiten,
und die verlohrne Gunſt des jungen Man¬
nes ſich wo möglich wieder zu erwerben.


Eines Tags, als der Graf mit der übri¬
gen Geſellſchaft auf die Jagd geritten war,
und man die Herren erſt den andern Mor¬
[122] gen zurück erwartete, erſann ſich die Baro¬
neſſe einen Scherz, der völlig in ihrer Art
war, denn ſie liebte die Verkleidungen und
kam, um die Geſellſchaft zu überraſchen, bald
als Bauermädchen, bald als Page, bald als
Jägerburſche zum Vorſchein. Sie gab ſich
dadurch das Anſehn einer kleinen Fee, die
überall, und gerade da, wo man ſie am we¬
nigſten vermuthet, gegenwärtig iſt. Nichts
glich ihrer Freude, wenn ſie unerkannt eine
Zeitlang die Geſellſchaft bedient, oder ſonſt
unter ihr gewandelt hatte, und ſie ſich zu¬
letzt auf eine ſcherzhafte Weiſe zu entdecken
wußte.


Gegen Abend ließ ſie Wilhelmen auf ihr
Zimmer fordern, und da ſie eben noch etwas
zu thun hatte, ſollte Philine ihn vorbereiten.


Er kam und fand nicht ohne Verwunde¬
rung, ſtatt der gnädigen Frauen, das leicht¬
fertige Mädchen im Zimmer. Sie begegnete
[123] ihm mit einer gewiſſen anſtändigen Freymü¬
thigkeit, in der ſie ſich bisher geübt hatte,
und nöthigte ihn dadurch gleichfalls zur
Höflichkeit.


Zuerſt ſcherzte ſie im Allgemeinen über
das gute Glück, das ihn verfolge, und ihn
auch, wie ſie wohl merke, gegenwärtig hier¬
her gebracht habe, ſodann warf ſie ihm auf
eine angenehme Art ſein Betragen vor, wo¬
mit er ſie bisher gequält habe, ſchalt und
beſchuldigte ſich ſelbſt, geſtand, daß ſie ſonſt
wohl ſo ſeine Begegnung verdient, machte
eine ſo aufrichtige Beſchreibung ihres Zuſtan¬
des, den ſie den vorigen nannte, und ſetzte
hinzu: daß ſie ſich ſelbſt verachten müſſe,
wenn ſie nicht fähig wäre ſich zu ändern,
und ſich ſeiner Freundſchaft werth zu machen.


Wilhelm war über dieſe Rede betroffen.
Er hatte zu wenig Kenntniß der Welt, um
zu wiſſen, daß eben ganz leichtſinnige und
[124] der Beſſerung unfähige Menſchen ſich oft
am lebhafteſten anklagen, ihre Fehler mit
großer Freymüthigkeit bekennen und bereuen,
ob ſie gleich nicht die mindeſte Kraft in ſich
haben, von dem Wege zurück zu treten, auf
den eine übermächtige Natur ſie hinreißt.
Er konnte daher nicht unfreundlich gegen die
zierliche Sünderin bleiben; er ließ ſich mit
ihr in ein Geſpräch ein, und vernahm von
ihr den Vorſchlag zu einer ſonderbaren Ver¬
kleidung, womit man die ſchöne Gräfin zu
überraſchen gedachte.


Er fand dabey einiges Bedenken, das er
Philinen nicht verheelte; allein die Baroneſ¬
ſe, welche in dem Augenblick herein trat,
ließ ihm keine Zeit zu Zweifeln übrig, ſie
zog ihn vielmehr mit ſich fort, indem ſie ver¬
ſicherte, es ſey eben die rechte Stunde.


Es war dunkel geworden, und ſie führte
ihn in die Garderobe des Grafen, ließ ihn
[125] ſeinen Rock ausziehen, und in den ſeidnen
Schlafrock des Grafen hinein ſchlupfen, ſetzte
ihm darauf die Mütze mit dem rothen Ban¬
de auf, führte ihn ins Kabinet und hieß
ihn, ſich in den großen Seſſel ſetzen und ein
Buch nehmen, zündete die argantiſche Lampe
ſelbſt an, die vor ihm ſtand, und unterrichtete
ihn, was er zu thun, und was er für eine
Rolle zu ſpielen habe.


Man werde, ſagte ſie, der Gräfin die
unvermuthete Ankunft ihres Gemahls, und
ſeine üble Laune ankündigen, ſie werde kom¬
men, einigemal im Zimmer auf und abgehn,
ſich alsdann auf die Lehne des Seſſels ſetzen,
ihren Arm auf ſeine Schulter legen, und ei¬
nige Worte ſprechen. Er ſolle ſeine Ehmanns¬
rolle ſo lange und ſo gut als möglich ſpielen,
wenn er ſich aber endlich entdecken müßte,
ſo ſolle er hübſch artig und galant ſeyn.


Wilhelm ſaß nun unruhig genug in die¬
[126] ſer wunderlichen Maske, der Vorſchlag hat¬
te ihn überraſcht, und die Ausführung eilte
der Überlegung zuvor. Schon war die Ba¬
roneſſe wieder zum Zimmer hinaus, als er
erſt bemerkte, wie gefährlich der Poſten war,
den er eingenommen hatte. Er leugnete ſich
nicht, daß die Schönheit, die Jugend, die
Anmuth der Gräfin einigen Eindruck auf
ihn gemacht hatten; allein da er ſeiner Na¬
tur nach von aller leeren Galanterie weit
entfernt war, und ihm ſeine Grundſätze einen
Gedanken an ernſthaftere Unternehmungen
nicht erlaubten, ſo war er wirklich in dieſem
Augenblicke in nicht geringer Verlegenheit.
Die Furcht, der Gräfin zu mißfallen, oder
ihr mehr als billig zu gefallen, war gleich
groß bey ihm.


Jeder weibliche Reiz, der jemals auf ihn
gewirkt hatte, zeigte ſich wieder vor ſeiner
Einbildungskraft. Mariane erſchien ihm im
[127] weißen Morgenkleide, und flehte um ſein
Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre
ſchönen Haare, und ihr einſchmeichelndes Be¬
tragen waren durch ihre neuſte Gegenwart
wieder wirkſam geworden, doch alles trat wie
hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn
er ſich die edle, blühende Gräfin dachte, de¬
ren Arm er in wenig Minuten an ſeinem
Halſe fühlen ſollte, deren unſchuldige Liebko¬
ſungen er zu erwiedern aufgefordert war.


Die ſonderbare Art, wie er aus dieſer
Verlegenheit ſollte gezogen werden, ahndete
er freylich nicht. Denn wie groß war ſein
Erſtaunen, ja ſein Schrecken, als hinter ihm
die Thüre ſich aufthat, und er bey dem er¬
ſten verſtohlnen Blick, den er in den Spiegel
warf, den Grafen ganz deutlich erblickte, der
mit einem Lichte in der Hand herein trat.
Sein Zweifel, was er zu thun habe, ob er
ſitzen bleiben oder aufſtehen, fliehen, beken¬
[128] nen, leugnen oder um Vergebung bitten ſolle,
dauerte nur einige Augenblicke. Der Graf,
der unbeweglich in der Thüre ſtehen geblie¬
ben war, trat zurück und machte ſie ſachte
zu. In dem Moment ſprang die Baroneſſe
zur Seitenthüre herein, löſchte die Lampe
aus, riß Wilhelmen vom Stuhle, und zog
ihn nach ſich in das Kabinet. Geſchwind
warf er den Schlafrock ab, der ſogleich wie¬
der ſeinen gewöhnlichen Platz erhielt. Die
Baroneſſe nahm Wilhelms Rock über den
Arm, und eilte mit ihm durch einige Stuben,
Gänge und Verſchläge in ihr Zimmer, wo
Wilhelm, nachdem ſie ſich erhohlt hatte, von
ihr vernahm: ſie ſey zu der Gräfin gekom¬
men, um ihr die erdichtete Nachricht von der
Ankunft des Grafen zu bringen. Ich weiß
es ſchon, ſagte die Gräfin: was mag wohl
begegnet ſeyn? Ich habe ihn ſo eben zum
Seitenthore herein reiten ſehen. Erſchrocken
ſey[129] ſey die Baroneſſe ſogleich auf des Grafen
Zimmer gelaufen, um ihn abzuholen.


Unglücklicherweiſe ſind Sie zu ſpät ge¬
kommen! rief Wilhelm aus. Der Graf war
vorhin im Zimmer, und hat mich ſitzen ſehen.


Hat er Sie erkannt?


Ich weis es nicht. Er ſah mich im Spie¬
gel, ſo wie ich ihn, und eh’ ich wußte, ob es
ein Geſpenſt oder er ſelbſt war, trat er ſchon
wieder zurück, und drückte die Thüre hinter
ſich zu.


Die Verlegenheit der Baroneſſe vermehrte
ſich, als ein Bedienter ſie zu rufen kam, und
anzeigte, der Graf befinde ſich bey ſeiner
Gemahlin. Mit ſchwerem Herzen ging ſie
hin, und fand den Grafen zwar ſtill und in
ſich gekehrt, aber in ſeinen Äuſſerungen mil¬
der und freundlicher als gewöhnlich. Sie
wußte nicht, was ſie denken ſollte. Man
ſprach von den Vorfällen der Jagd und den
W. Meiſters Lehrj. I[130] Urſachen ſeiner früheren Zurückkunft. Das
Geſpräch ging bald aus. Der Graf ward
ſtille, und beſonders mußte der Baroneſſe
auffallen, als er nach Wilhelmen fragte, und
den Wunſch äuſſerte: man möchte ihn rufen
laſſen, damit er etwas vorleſe.


Wilhelm, der ſich im Zimmer der Baro¬
neſſe wieder angekleidet und einigermaßen
erholt hatte, kam nicht ohne Sorgen auf
den Befehl herbey. Der Graf gab ihm ein
Buch, aus welchem er eine abentheuerliche
Novelle nicht ohne Beklemmung vorlas.
Sein Ton hatte etwas Unſicheres, Zitterndes,
das ſich glücklicherweiſe zu dem Inhalt der
Geſchichte ſchickte. Der Graf gab einigemal
freundliche Zeichen des Beyfalls, und lobte
den beſondern Ausdruck der Vorleſung, da
er zuletzt unſern Freund entließ.


[131]

Eilftes Capitel.

Wilhelm hatte kaum einige Stücke Sha¬
keſpears geleſen, als ihre Wirkung auf ihn
ſo ſtark wurde, daß er weiter fortzufahren
nicht im Stande war. Seine ganze Seele
gerieth in Bewegung. Er ſuchte Gelegenheit,
mit Jarno zu ſprechen, und konnte ihm nicht
genug für die verſchafte Freude danken.


Ich habe es wohl vorausgeſehen, ſagte
dieſer, daß Sie gegen die Trefflichkeiten des
auſſerordentlichſten und wunderbarſten aller
Schriftſteller nicht unempfindlich bleiben wür¬
den.


Ja, rief Wilhelm aus, ich erinnere mich
nicht, daß ein Buch, ein Menſch oder irgend
eine Begebenheit des Lebens ſo große Wir¬
kungen auf mich hervorgebracht hätte, als
I 2[132] die köſtlichen Stücke, die ich durch Ihre Gü¬
tigkeit habe kennen lernen. Sie ſcheinen ein
Werk eines himmliſchen Genius zu ſeyn, der
ſich den Menſchen nähert, um ſie mit ſich
ſelbſt auf die gelindeſte Weiſe bekannt zu
machen. Es ſind keine Gedichte! man glaubt
vor den aufgeſchlagenen, ungeheuren Bü¬
chern des Schickſals zu ſtehen, in denen der
Sturmwind des bewegteſten Lebens ſauſt,
und ſie mit Gewalt raſch hin und wieder
blättert. Ich bin über die Stärke und Zart¬
heit, über die Gewalt und Ruhe ſo erſtaunt,
und auſſer aller Faſſung gebracht, daß ich
nur mit Sehnſucht auf die Zeit warte, da
ich mich in einem Zuſtande befinden werde,
weiter zu leſen.


Bravo, ſagte Jarno, indem er unſerm
Freunde die Hand reichte und ſie ihm drück¬
te, ſo wollte ich es haben! und die Folgen,
die ich hoffe, werden gewiß auch nicht aus¬
bleiben. —


[133]

Ich wünſchte, verſetzte Wilhelm, daß ich
Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vor¬
geht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die
ich jemals über Menſchheit und ihre Schick¬
ſale gehabt, die mich von Jugend auf, mir
ſelbſt unbemerkt, begleiteten, finde ich in
Shakeſpears Stücken erfüllt und entwickelt.
Es ſcheint, als wenn er uns alle Räthſel
offenbarte, ohne daß man doch ſagen kann:
hier oder da iſt das Wort der Auflöſung.
Seine Menſchen ſcheinen natürliche Men¬
ſchen zu ſeyn, und ſie ſind es doch nicht.
Dieſe geheimnißvollſten und zuſammenge¬
ſetzteſten Geſchöpfe der Natur handeln vor
uns in ſeinen Stücken, als wenn ſie Uhren
wären, deren Zifferblatt und Gehäuſe man
von Kriſtall gebildet hätte, ſie zeigen nach
ihrer Beſtimmung den Lauf der Stunden an,
und man kann zugleich das Räder- und Fe¬
derwerk erkennen, das ſie treibt. Dieſe we¬
[134] nigen Blicke, die ich in Shakeſpears Welt
gethan, reizen mich mehr als irgend etwas
anders, in der wirklichen Welt ſchnellere
Forſchritte vorwärts zu thun, mich in die
Fluth der Schickſale zu miſchen, die über ſie
verhängt ſind, und dereinſt, wenn es mir
glücken ſollte, aus dem großen Meere der
wahren Natur wenige Becher zu ſchöpfen,
und ſie von der Schaubühne dem lechzenden
Publikum meines Vaterlandes auszuſpenden.


Wie freut mich die Gemüthsverfaſſung,
in der ich Sie ſehe, verſetzte Jarno, und
legte dem bewegten Jüngling die Hand auf
die Schulter. Laſſen Sie den Vorſatz nicht
fahren, in ein thätiges Leben überzugehen,
und eilen Sie die guten Jahre, die Ihnen
gegönnt ſind, wacker zu nutzen. Kann ich
Ihnen behülflich ſeyn, ſo geſchieht es von
ganzem Herzen. Noch habe ich nicht ge¬
fragt, wie Sie in dieſe Geſellſchaft gekom¬
[135] men ſind, für die Sie weder gebohren noch
erzogen ſeyn können. So viel hoffe ich und
ſehe ich, daß Sie ſich heraus ſehnen. Ich
weiß nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren
häuslichen Umſtänden, überlegen Sie, was
Sie mir vertrauen wollen. So viel kann
ich Ihnen nur ſagen, die Zeiten des Krieges,
in denen wir leben, können ſchnelle Wechſel
des Glückes hervorbringen; mögen Sie Ihre
Kräfte und Talente unſerm Dienſte widmen,
Mühe, und wenn es Noth thut, Gefahr
nicht ſcheuen, ſo habe ich eben jetzo eine Ge¬
legenheit, Sie an einen Platz zu ſtellen, den
eine Zeitlang bekleidet zu haben, Sie in der
Folge nicht gereuen wird. Wilhelm konnte
ſeinen Dank nicht genug ausdrücken, und
war willig, ſeinem Freunde und Beſchützer
die ganze Geſchichte ſeines Lebens zu er¬
zählen.


Sie hatten ſich unter dieſem Geſpräch
[136] weit in den Park verloren, und waren auf
die Landſtraße, welche durch denſelben durch¬
ging, gekommen. Jarno ſtand einen Augen¬
blick ſtill, und ſagte: bedenken Sie meinen
Vorſchlag, entſchließen Sie ſich, geben Sie
mir in einigen Tagen Antwort, und ſchenken
Sie mir Ihr Vertrauen. Ich verſichre Sie,
es iſt mir bisher unbegreiflich geweſen, wie
Sie ſich mit ſolchem Volk haben gemein
machen können. Ich hab’ es oft mit Ekel
und Verdruß geſehen, wie Sie, um nur eini¬
germaßen leben zu können, Ihr Herz an ei¬
nen herumziehenden Bänkelſänger und an
ein albernes zwitterhaftes Geſchöpf hängen
mußten.


Er hatte noch nicht ausgeredet, als ein
Officier zu Pferde eilends herankam, dem
ein Reitknecht mit einem Handpferd folgte.
Jarno rief ihm einen lebhaften Gruß zu.
Der Officier ſprang vom Pferde, beide um¬
[137] armten ſich und unterhielten ſich mit einan¬
der, indem Wilhelm, beſtürzt über die letzten
Worte ſeines kriegeriſchen Freundes, in ſich
gekehrt an der Seite ſtand. Jarno durch¬
blätterte einige Papiere, die ihm der Ankom¬
mende überreicht hatte, dieſer aber ging auf
Wilhelmen zu, reichte ihm die Hand, und
rief mit Emphaſe: ich treffe Sie in einer
würdigen Geſellſchaft, folgen Sie dem Rathe
Ihres Freundes, und erfüllen Sie dadurch
zugleich die Wünſche eines Unbekannten, der
herzlichen Theil an Ihnen nimmt. Er
ſprachs, umarmte Wilhelmen, drückte ihn
mit Lebhaftigkeit an ſeine Bruſt. Zu glei¬
cher Zeit trat Jarno herbey, und ſagte zu
dem Fremden: es iſt am beſten, ich reite
gleich mit ihnen hinein, ſo können Sie die
nöthigen Ordres erhalten, und Sie reiten
noch vor Nacht wieder fort. Beide ſchwan¬
gen ſich darauf zu Pferde, und überließen
[138] unſern verwunderten Freund ſeinen eigenen
Betrachtungen.


Die letzten Worte Jarnos klangen noch
in ſeinen Ohren. Ihm war unerträglich,
das Paar menſchlicher Weſen, das ihm un¬
ſchuldigerweiſe ſeine Neigung abgewonnen
hatte, durch einen Mann, den er ſo ſehr ver¬
ehrte, ſo tief heruntergeſetzt zu ſehen. Die
ſonderbare Umarmung des Officiers, den er
nicht kannte, machte wenig Eindruck auf ihn,
ſie beſchäftigte ſeine Neugierde und Einbil¬
dungskraft einen Augenblick; aber Jarnos
Reden hatten ſein Herz getroffen; er war
tief verwundet, und nun brach er auf ſeinem
Rückwege gegen ſich ſelbſt in Vorwürfe aus,
daß er nur einen Augenblick die hartherzige
Kälte Jarnos, die ihm aus den Augen her¬
ausſehe, und aus allen ſeinen Gebährden
ſpreche, habe verkennen und vergeſſen mö¬
gen. — Nein, rief er aus, du bildeſt dir
[139] nur ein, du abgeſtorbener Weltmann, daß
du ein Freund ſeyn könneſt! Alles, was du
mir anbieten magſt, iſt der Empfindung nicht
werth, die mich an dieſe Unglücklichen bindet.
Welch ein Glück, daß ich noch bey Zeiten
entdecke, was ich von dir zu erwarten
hatte! —


Er ſchloß Mignon, die ihm eben entge¬
gen kam, in die Arme, und rief aus: nein,
uns ſoll nichts trennen, du gutes kleines Ge¬
ſchöpf! Die ſcheinbare Klugheit der Welt ſoll
mich nicht vermögen, dich zu verlaſſen, noch
zu vergeſſen, was ich dir ſchuldig bin.


Das Kind, deſſen heftige Liebkoſungen er
ſonſt abzulehnen pflegte, erfreute ſich dieſes
unerwarteten Ausdruckes der Zärtlichkeit, und
hing ſich ſo feſt an ihn, daß er es nur mit
Mühe zuletzt los werden konnte.


Seit dieſer Zeit gab er mehr auf Jarnos
Handlungen acht, die ihm nicht alle lobens¬
[140] würdig ſchienen: ja es kam wohl manches
vor, das ihm durchaus mißfiel. So hatte
er zum Beyſpiel ſtarken Verdacht, das Ge¬
dicht auf den Baron, welches der arme Pe¬
dant ſo theuer hatte bezahlen müſſen, ſey
Jarnos Arbeit. Da nun dieſer in Wilhelms
Gegenwart über den Vorfall geſcherzt hatte,
glaubte unſer Freund hierin das Zeichen ei¬
nes höchſt verdorbenen Herzens zu erkennen;
denn was konnte boshafter ſeyn, als einen
Unſchuldigen, deſſen Leiden man verurſacht,
zu verſpotten, und weder an Genugthuung
noch Entſchädigung zu denken. Gern hätte
Wilhelm ſie ſelbſt veranlaßt, denn er war
durch einen ſehr ſonderbaren Zufall den Thä¬
tern jener nächtlichen Mißhandlung auf die
Spur gekommen.


Man hatte ihm bisher immer zu verber¬
gen gewußt, daß einige junge Officiere, im
unteren Saale des alten Schloſſes, mit einem
[141] Theile der Schauſpieler und Schauſpielerin¬
nen ganze Nächte auf eine luſtige Weiſe zu¬
brachten. Eines Morgens, als er nach ſei¬
ner Gewohnheit früh aufgeſtanden, kam er
von ohngefähr in das Zimmer, und fand die
jungen Herren, die eine höchſt ſonderbare
Toilette zu machen im Begriff ſtunden. Sie
hatten in einen Napf mit Waſſer Kreide ein¬
gerieben, und trugen den Teig mit einer
Bürſte auf ihre Weſten und Beinkleider,
ohne ſie auszuziehen, und ſtellten alſo die
Reinlichkeit ihrer Garderobe auf das ſchnell¬
ſte wieder her. Unſerm Freunde, der ſich
über dieſe Handgriffe wunderte, fiel der weiß
beſtäubte und befleckte Rock des Pedanten
ein, der Verdacht wurde um ſo viel ſtärker,
als er erfuhr, daß einige Verwandten des
Barons ſich unter der Geſellſchaft befänden.


Um dieſem Verdacht näher aus die Spur
zu kommen, ſuchte er die jungen Herren mit
[142] einem kleinen Frühſtücke zu beſchäftigen. Sie
waren ſehr lebhaft, und erzählten viele luſti¬
ge Geſchichten. Der eine beſonders, der eine
Zeitlang auf Werbung geſtanden, wußte
nicht genug die Liſt und Thätigkeit ſeines
Hauptmanns zu rühmen, der alle Arten von
Menſchen an ſich zu ziehen, und jeden nach
ſeiner Art zu überliſten verſtand. Umſtänd¬
lich erzählte er, wie junge Leute von gutem
Hauſe und ſorgfältiger Erziehung, durch al¬
lerley Vorſpiegelungen einer anſtändigen Ver¬
ſorgung betrogen worden, und lachte herz¬
lich über die Gimpel, denen es im Anfange
ſo wohl gethan habe, ſich von einem ange¬
ſehenen, tapferen, klugen und freygebigen
Officier geſchätzt und hervorgezogen zu ſehen.


Wie ſegnete Wilhelm ſeinen Genius, der
ihm ſo unvermuthet den Abgrund zeigte,
deſſen Rande er ſich unſchuldigerweiſe genä¬
hert hatte. Er ſah nun in Jarno nichts als
[143] den Werber; die Umarmung des fremden
Officiers war ihm leicht erklärlich. Er ver¬
abſcheuete die Geſinnungen dieſer Männer,
und vermied von dem Augenblicke mit irgend
jemand, der eine Uniform trug, zuſammen zu
kommen, und ihm wäre die Nachricht, daß
die Armee weiter vorwärts rücke, in dieſem
Sinne ſehr angenehm geweſen, wenn er nicht
zugleich hätte fürchten müſſen, aus der Nähe
ſeiner ſchönen Freundin, vielleicht auf immer,
verbannt zu werden.


[144]

Zwölftes Capitel.

Inzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere
Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten
Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das
Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer
war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz
aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬
nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen.
Seine Forderungen an die Geſellſchaft und
an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen.
Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen
merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und
in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und
wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey
Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß
gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬
cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändiger
Furcht,[145] Furcht, es möchte hinter dieſer anſcheinenden
Ruhe ſich ein geheimer Groll verbergen, ein
ſtiller Vorſatz, den Frevel, den er ſo zufällig
entdeckt, zu rächen. Sie entſchloß ſich daher,
Jarno zu ihrem Vertrauten zu machen, und
ſie konnte es um ſo mehr, als ſie mit ihm
in einem Verhältniſſe ſtand, in dem man ſich
ſonſt wenig zu verbergen pflegt. Jarno war
ſeit kurzer Zeit ihr entſchiedner Freund, doch
waren ſie klug genug, ihre Neigung und ihre
Freuden vor der lermenden Welt, die ſie
umgab, zu verbergen. Nur den Augen der
Gräfin war dieſer neue Roman nicht ent¬
gangen, und höchſt wahrſcheinlich ſuchte die
Baroneſſe ihre Freundin gleichfalls zu be¬
ſchäftigen, um den ſtillen Vorwürfen zu ent¬
gehen, welche ſie denn doch manchmal von
jener edlen Seele zu erdulden hatte.


Kaum hatte die Baroneſſe ihrem Freunde
die Geſchichte erzählt, als er lachend ausrief:
W. Meiſters Lehrj. K[146] da glaubt der Alte gewiß ſich ſelbſt geſehen
zu haben, er fürchtet, daß ihm dieſe Erſchei¬
nung Unglück, ja vielleicht gar den Tod be¬
deute, und nun iſt er zahm geworden wie
alle die Halbmenſchen, wenn ſie an die Auf¬
löſung denken, welcher niemand entgangen
iſt, noch entgehen wird. Nur ſtille, da ich
hoffe, daß er noch lange leben ſoll, ſo wollen
wir ihn bey dieſer Gelegenheit wenigſtens ſo
formiren, daß er ſeiner Frau und ſeinen
Hausgenoſſen nicht mehr zur Laſt ſeyn
ſoll.


Sie fingen nun, ſo bald es nur ſchicklich
war, in Gegenwart des Grafen an, von
Ahndungen, Erſcheinungen und dergleichen
zu ſprechen. Jarno ſpielte den Zweifler, ſei¬
ne Freundin gleichfalls, und ſie trieben es ſo
weit, daß der Graf endlich Jarno bey Seite
nahm, ihm ſeine Freygeiſterey verwies, und
ihn, durch ſein eignes Beyſpiel, von der
[147] Möglichkeit und Wirklichkeit ſolcher Geſchich¬
ten zu überzeugen ſuchte. Jarno ſpielte den
Betroffenen, Zweifelnden und endlich den
Überzeugten, machte ſich aber gleich darauf
in ſtiller Nacht mit ſeiner Freundin deſto lu¬
ſtiger über den ſchwachen Weltmann, der
nun auf einmal von ſeinen Unarten durch
einen Popanz bekehrt worden, und der nur
noch deswegen zu loben ſey, weil er mit ſo
vieler Faſſung ein bevorſtehendes Unglück, ja
vielleicht gar den Tod erwarte.


Auf die natürlichſte Folge, welche dieſe
Erſcheinung hätte haben können, möchte er
doch wohl nicht gefaßt ſeyn, rief die Baro¬
neſſe mit ihrer gewöhnlichen Munterkeit, zu
der ſie, ſo bald ihr eine Sorge vom Herzen
genommen war, gleich wieder übergehen
konnte. Jarno ward reichlich belohnt, und
man ſchmiedete neue Anſchläge, den Grafen
noch mehr kirre zu machen, und die Neigung
K 2[148] der Gräfin zu Wilhelm noch mehr zu reizen
und zu beſtärken.


In dieſer Abſicht erzählte man der Grä¬
fin die ganze Geſchichte, die ſich zwar an¬
fangs unwillig darüber zeigte, aber ſeit der
Zeit nachdenklicher ward, und in ruhigen
Augenblicken jene Scene, die ihr zubereitet
war, zu bedenken, zu verfolgen und auszu¬
mahlen ſchien.


Die Anſtalten, welche nunmehr von allen
Seiten getroffen wurden, ließen keinen Zwei¬
fel mehr übrig, daß die Armeen bald vor¬
wärts rücken, und der Prinz zugleich ſein
Hauptquartier verändern würde; ja es hieß,
daß der Graf zugleich auch das Gut ver¬
laſſen und wieder nach der Stadt zurückkeh¬
ren werde. Unſere Schauſpieler konnten ſich
alſo leicht die Nativität ſtellen, doch nur der
einzige Melina nahm ſeine Maaßregeln dar¬
nach, die andern ſuchten nur noch von dem
[149] Augenblicke ſo viel als möglich das Ver¬
gnüglichſte zu erhaſchen.


Wilhelm war indeſſen auf eine eigene
Weiſe beſchäftigt. Die Gräfin hatte von
ihm die Abſchrift ſeiner Stücke verlangt, und
er ſah dieſen Wunſch der liebenswürdigen
Frau als die ſchönſte Belohnung an.


Ein junger Autor, der ſich noch nicht ge¬
druckt geſehn, wendet in einem ſolchen Falle
die größte Aufmerkſamkeit auf eine reinliche
und zierliche Abſchrift ſeiner Werke. Es iſt
gleichſam das goldne Zeitalter der Autor¬
ſchaft; man ſieht ſich in jene Jahrhunderte
verſetzt, in denen die Preſſe noch nicht die
Welt mit ſo viel unnützen Schriften über¬
ſchwemmt hatte, wo nur würdige Geiſtespro¬
ducte abgeſchrieben, und von den edelſten
Menſchen verwahrt wurden, und wie leicht
begeht man alsdann den Fehlſchluß, daß ein
ſorgfältig abgezirkeltes Manuſcript auch ein
[150] würdiges Geiſtesproduct ſey, werth von ei¬
nem Kenner und Beſchützer beſeſſen und auf¬
geſtellt zu werden.


Man hatte zu Ehren des Prinzen, der
nun in kurzem abgehen ſollte, noch ein großes
Gaſtmahl angeſtellt. Viele Damen aus der
Nachbarſchaft waren geladen, und die Grä¬
fin hatte ſich bey Zeiten angezogen. Sie
hatte dieſen Tag ein reicheres Kleid ange¬
legt, als ſie ſonſt zu thun gewohnt war.
Friſur und Aufſatz waren geſuchter, ſie war
mit allen ihren Juwelen geſchmückt. Eben
ſo hatte die Baroneſſe das Mögliche gethan,
um ſich mit Pracht und Geſchmack anzu¬
kleiden.


Philine, als ſie merkte, daß den beiden
Damen, in Erwartung ihrer Gäſte, die Zeit
lang wurde, ſchlug vor, Wilhelmen kommen
zu laſſen, der ſein fertiges Manuſcript zu
überreichen und noch einige Kleinigkeiten vor¬
[151] zuleſen wünſchte. Er kam und erſtaunte im
Hereintreten über die Geſtalt, über die An¬
muth der Gräfin, die durch ihren Putz nur
ſichtbarer geworden waren. Er las nach
dem Befehle der Damen; allein ſo zerſtreut
und ſchlecht, daß wenn die Zuhörerinnen
nicht ſo nachſichtig geweſen wären, ſie ihn
gar bald würden entlaſſen haben.


So oft er die Gräfin anblickte, ſchien es
ihm, als wenn ein elektriſcher Funke ſich vor
ſeinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht
mehr, wo er Athem zu ſeiner Recitation her¬
nehmen ſolle. Die ſchöne Dame hatte ihm
immer gefallen; aber jetzt ſchien es ihm, als
ob er nie etwas vollkommneres geſehen hät¬
te, und von den tauſenderley Gedanken, die
ſich in ſeiner Seele kreuzten, mochte ohnge¬
fähr folgendes der Inhalt ſeyn:


Wie thörigt lehnen ſich doch ſo viele
Dichter und ſogenannte gefühlvolle Menſchen
[152] gegen Putz und Pracht auf, und verlangen
nur in einfachen, der Natur angemeſſenen
Kleidern die Frauen alles Standes zu ſehen.
Sie ſchelten den Putz, ohne zu bedenken, daß
es der arme Putz nicht iſt, der uns mißfällt,
wenn wir eine häßliche oder minder ſchöne
Perſon reich und ſonderbar gekleidet erblik¬
ken; aber ich wollte alle Kenner der Welt
hier verſammeln und ſie fragen, ob ſie
wünſchten etwas von dieſen Falten, von die¬
ſen Bändern und Spitzen, von dieſen Puffen,
Locken und leuchtenden Steinen wegzuneh¬
men? Würden ſie nicht fürchten, den ange¬
nehmen Eindruck zu ſtöhren, der ihnen hier
ſo willig und natürlich entgegen kommt?
Ja, natürlich darf ich wohl ſagen! Wenn
Minerva ganz gerüſtet aus dem Haupte des
Jupiter entſprang, ſo ſcheinet dieſe Göttin
in ihrem vollen Putze aus irgend einer Blu¬
me mit leichtem Fuße hervorgetreten zu ſeyn.


[153]

Er ſah ſie ſo oft im Leſen an, als wenn
er dieſen Eindruck ſich auf ewig einprägen
wollte, und las einigemal falſch, ohne dar¬
über in Verwirrung zu gerathen, ob er gleich
ſonſt über der Verwechſelung eines Wortes
oder eines Buchſtabens als über einen leidi¬
gen Schandfleck einer ganzen Vorleſung ver¬
zweifeln konnte.


Ein falſcher Lerm, als wenn die Gäſte
angefahren kämen, machte der Vorleſung ein
Ende. Die Baroneſſe ging weg, und die
Gräfin, im Begriff ihren Schreibtiſch zuzu¬
machen, der noch offen ſtand, ergriff ein
Ringkäſtchen und ſteckte noch einige Ringe
an die Finger. Wir werden uns bald tren¬
nen, ſagte ſie, indem ſie ihre Augen auf das
Käſtchen heftete: nehmen Sie ein Andenken
von einer guten Freundin, die nichts lebhaf¬
ter wünſcht, als daß es Ihnen wohlgehen
möge. Sie nahm darauf einen Ring her¬
[154] aus, der unter einem Cryſtall ein ſchön von
Haaren geflochtenes Schild zeigte, und mit
Steinen beſetzt war. Sie überreichte ihn
Wilhelmen, der, als er ihn annahm, nichts
zu ſagen und nichts zu thun wußte, ſondern
wie eingewurzelt in den Boden da ſtand.
Die Gräfin ſchloß den Schreibtiſch zu, und
ſetzte ſich auf ihren Sopha.


Und ich ſoll leer ausgehn, ſagte Philine,
indem ſie ſich zur rechten Hand der Gräfin
niederkniete: ſeht nur den Menſchen, der zur
Unzeit ſo viele Worte im Munde führt, und
jetzt nicht einmal eine armſelige Dankſagung
herſtammeln kann. Friſch, mein Herr, thun
Sie wenigſtens pantomimiſch Ihre Schuldig¬
keit, und wenn Sie heute ſelbſt nichts zu er¬
finden wiſſen, ſo ahmen Sie mir wenigſtens
nach.


Philine ergriff die rechte Hand der Grä¬
fin, und küßte ſie mit Lebhaftigkeit. Wil¬
[155] helm ſtürzte auf ſeine Kniee, faßte die linke,
und drückte ſie an ſeine Lippen. Die Gräfin
ſchien verlegen, aber ohne Widerwillen.


Ach! rief Philine aus, ſo viel Schmuck
hab’ ich wohl ſchon geſehen, aber noch nie
eine Dame, ſo würdig ihn zu tragen. Wel¬
che Armbänder! aber auch welche Hand!
Welcher Halsſchmuck! aber welche Bruſt!


Stille, Schmeichlerin, rief die Gräfin.


Stellt denn das den Herrn Grafen vor?
ſagte Philine, indem ſie auf ein reiches Me¬
daillon deutete, das die Gräfin an koſtbaren
Ketten an der linken Seite trug.


Er iſt als Bräutigam gemahlt, verſetzte
die Gräfin.


War er denn damals ſo jung? fragte
Philine: Sie ſind ja nur erſt, wie ich weiß,
wenige Jahre verheyrathet.


Dieſe Jugend kommt auf die Rechnung
des Mahlers, verſetzte die Gräfin.


[156]

Es iſt ein ſchöner Mann, ſagte Philine.
Doch ſollte wohl niemals, fuhr ſie fort, in¬
dem ſie die Hand auf das Herz der Gräfin
legte, in dieſe verborgene Kapſel ſich ein an¬
der Bild eingeſchlichen haben?


Du biſt ſehr verwegen, Philine! rief ſie
aus: ich habe dich verzogen. Laß mich ſo
etwas nicht zum zweytenmal hören.


Wenn Sie zürnen, bin ich unglücklich,
rief Philine, ſprang auf und eilte zur Thüre
hinaus.


Wilhelm hielt die ſchönſte Hand noch in
ſeinen Händen. Er ſah unverwandt auf das
Armſchloß, das, zu ſeiner größten Verwun¬
derung, die Anfangsbuchſtaben ſeiner Nah¬
men in brillantenen Zügen ſehen ließ.


Beſitz ich, fragte er beſcheiden, in dem
koſtbaren Ringe, denn wirklich Ihre Haare?


Ja, verſetzte ſie mit halber Stimme; dann
nahm ſie ſich zuſammen, und ſagte, indem
[157] ſie ihm die Hand drückte: ſtehen Sie auf,
und leben Sie wohl.


Hier ſteht mein Nahme, rief er aus:
durch den ſonderbarſten Zufall! Er zeigte
auf das Armſchloß.


Wie? rief die Gräfin: es iſt die Chiffer
einer Freundin!


Es ſind die Anfangsbuchſtaben meines
Nahmens. Vergeſſen Sie meiner nicht. Ihr
Bild ſteht unauslöſchlich in meinem Her¬
zen. Leben Sie wohl, laſſen Sie mich
fliehen!


Er küßte ihre Hand, und wollte aufſtehn;
aber wie im Traum das Seltſamſte aus dem
Seltſamſten ſich entwickelnd uns überraſcht;
ſo hielt er, ohne zu wiſſen wie es geſchah,
die Gräfin in ſeinen Armen, ihre Lippen
ruhten auf den ſeinigen, und ihre wechſelſei¬
tigen lebhaften Küſſe gewährten ihnen eine
Seligkeit, die wir nur aus dem erſten auf¬
[158] brauſenden Schaum des friſch eingeſchenkten
Bechers der Liebe ſchlürfen.


Ihr Haupt ruhte auf ſeiner Schulter,
und der zerdrückten Locken und Bänder ward
nicht gedacht. Sie hatte ihren Arm um ihn
geſchlungen; er umfaßte ſie mit Lebhaftig¬
keit, und drückte ſie wiederholend an ſeine
Bruſt. O daß ein ſolcher Augenblick nicht
Ewigkeiten währen kann, und wehe dem nei¬
diſchen Geſchick, das auch unſern Freunden
dieſe kurzen Augenblicke unterbrach.


Wie erſchrak Wilhelm, wie betäubt fuhr
er aus einem glücklichen Traume auf, als
die Gräfin ſich auf einmal mit einem Schrey
von ihm losriß, und mit der Hand nach
ihrem Herzen fuhr.


Er ſtand betäubt vor ihr da; ſie hielt
die andere Hand vor die Augen, und rief
nach einer Pauſe: entfernen Sie ſich, eilen
Sie!


[159]

Er ſtand noch immer.


Verlaſſen Sie mich, rief ſie, und indem
ſie die Hand von den Augen nahm, und ihn
mit einem unbeſchreiblichen Blicke anſah,
ſetzte ſie mit der lieblichſten Stimme hinzu:
fliehen Sie mich, wenn Sie mich lieben.


Wilhelm war aus dem Zimmer, und wie¬
der auf ſeiner Stube, eh’ er wußte, wo er
ſich befand.


Die Unglücklichen! welche ſonderbare
Warnung des Zufalls oder der Schickung
riß ſie aus einander?

[[160]][[161]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.

Viertes Buch.

W. Meiſters Lehrj. L[[162]][163]

Erſtes Capitel.

Laertes ſtand nachdenklich am Fenſter und
blickte, auf ſeinen Arm geſtützt, in das Feld
hinaus. Philine ſchlich über den großen
Saal herbey, lehnte ſich auf den Freund,
und verſpottete ſein ernſthaftes Anſehn.


Lache nur nicht, verſetzte er, es iſt ab¬
ſcheulich, wie die Zeit vergeht, wie alles ſich
verändert und ein Ende nimmt! Sieh nur,
hier ſtand vor kurzem noch ein ſchönes La¬
ger, wie luſtig ſahen die Zelte aus! wie
lebhaft ging es darin zu! wie ſorgfältig be¬
wachte man den ganzen Bezirk! und nun iſt
alles auf einmal verſchwunden. Nur kurze
Zeit wird das zertretne Stroh und die ein¬
L 2[164] gegrabenen Kochlöcher noch eine Spur zei¬
gen, dann wird alles bald umgepflügt ſeyn,
und die Gegenwart ſo vieler tauſend rüſti¬
gen Menſchen in dieſer Gegend wird nur
noch in den Köpfen einiger alten Leute
ſpuken.


Philine fing an zu ſingen, und zog ihren
Freund zu einem Tanze in den Saal. Laß
uns, rief ſie, da wir der Zeit nicht nachlau¬
fen können, wenn ſie vorüber iſt, ſie wenig¬
ſtens als eine ſchöne Göttin, indem ſie bey
uns vorbeyzieht, fröhlich und zierlich ver¬
ehren.


Sie hatten kaum einige Wendungen ge¬
macht, als Madam Melina durch den Saal
ging. Philine war boshaft genug, ſie gleich¬
falls zum Tanze einzuladen, und ſie dadurch
an die Mißgeſtalt zu erinnern, in welche ſie
durch ihre Schwangerſchaft verſetzt war.


Wenn ich nur, ſagte Philine hinter ihrem
[165] Rücken, keine Frau mehr guter Hoffnung ſe¬
hen ſollte!


Sie hofft doch, ſagte Laertes.


Aber es kleidet ſie ſo häßlich. Haſt du
die vordere Wackelfalte des verkürzten Rocks
geſehen, die immer voraus ſpaziert, wenn ſie
ſich bewegt? Sie hat gar keine Art noch
Geſchick, ſich nur ein bischen zu muſtern und
ihren Zuſtand zu verbergen.


Laß nur, ſagte Laertes, die Zeit wird ihr
ſchon zu Hülfe kommen.


Es wäre doch immer hübſcher, rief Phi¬
line, wenn man die Kinder von den Bäumen
ſchüttelte.


Der Baron trat herein, und ſagte ihnen
etwas freundliches im Nahmen des Grafen
und der Gräfin, die ganz früh abgereiſt wa¬
ren, und machte ihnen einige Geſchenke. Er
ging darauf zu Wilhelmen, der ſich im Ne¬
benzimmer mit Mignon beſchäftigte. Das
[166] Kind hatte ſich ſehr freundlich und zuthätig
bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geſchwiſtern
und Verwandten gefragt, und ihn dadurch
an ſeine Pflicht erinnert, den Seinigen von
ſich einige Nachricht zu geben.


Der Baron brachte ihm nebſt einem Ab¬
ſchiedsgruße von den Herrſchaften, die Ver¬
ſicherung, wie ſehr der Graf mit ihm, ſeinem
Spiele, ſeinen poetiſchen Arbeiten und ſeinen
theatraliſchen Bemühungen zufrieden gewe¬
ſen ſey. Er zog darauf zum Beweis dieſer
Geſinnung einen Beutel hervor, durch deſſen
ſchönes Gewebe die reizende Farbe neuer
Goldſtücke durchſchimmerte; Wilhelm trat
zurück, und weigerte ſich ihn anzunehmen.


Sehen Sie, fuhr der Baron fort, dieſe
Gabe als einen Erſatz für Ihre Zeit, als
eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe, nicht
als eine Belohnung Ihres Talents an.
Wenn uns dieſes einen guten Nahmen und
[167] die Neigung der Menſchen verſchaft, ſo iſt
billig, daß wir durch Fleiß und Anſtrengung
zugleich die Mittel erwerben, unſre Bedürf¬
niſſe zu befriedigen, da wir doch einmal nicht
ganz Geiſt ſind. Wären wir in der Stadt,
wo alles zu finden iſt; ſo hätte man dieſe
kleine Summe in eine Uhr, einen Ring oder
ſonſt etwas verwandelt; nun gebe ich aber
den Zauberſtab unmittelbar in Ihre Hände,
ſchaffen Sie ſich ein Kleinod dafür, das Ih¬
nen am liebſten und am dienlichſten iſt, und
verwahren Sie es zu unſerm Andenken. Da¬
bey halten Sie ja den Beutel in Ehren. Die
Damen haben ihn ſelbſt geſtrickt, und ihre
Abſicht war, durch das Gefäß dem Inhalt
die annehmlichſte Form zu geben.


Vergeben Sie, verſetzte Wilhelm, meiner
Verlegenheit und meinen Zweifeln, dieſes Ge¬
ſchenk anzunehmen. Es vernichtet gleichſam
das Wenige was ich gethan habe, und hin¬
[168] dert das freye Spiel einer glücklichen Erin¬
nerung. Geld iſt eine ſchöne Sache, wo et¬
was abgethan werden ſoll, und ich wünſchte
nicht in dem Andenken Ihres Hauſes ſo ganz
abgethan zu ſeyn.


Das iſt nicht der Fall, verſetzte der Ba¬
ron; aber indem Sie ſelbſt zart empfinden,
werden Sie nicht verlangen, daß der Graf
ſich völlig als Ihren Schuldner denken ſoll:
ein Mann der ſeinen größten Ehrgeiz darin
ſetzt, aufmerkſam und gerecht zu ſeyn. Ihm
iſt nicht entgangen, welche Mühe Sie ſich
gegeben, und wie Sie ſeinen Abſichten ganz
Ihre Zeit gewidmet haben, ja er weiß, daß
Sie, um gewiſſe Anſtalten zu beſchleunigen,
Ihr eignes Geld nicht ſchonten. Wie will
ich wieder vor ihm erſcheinen, wenn ich ihn
nicht verſichern kann, daß ſeine Erkenntlich¬
keit Ihnen Vergnügen gemacht hat.


Wenn ich nur an mich ſelbſt denken,
[169] wenn ich nur meinen eigenen Empfindungen
folgen dürfte, verſetzte Wilhelm, würde ich
mich, ohnerachtet aller Gründe, hartnäckig
weigern, dieſe Gabe, ſo ſchön und ehrenvoll
ſie iſt, anzunehmen; aber ich leugne nicht,
daß ſie mich in dem Augenblicke, indem ſie
mich in Verlegenheit ſetzt, aus einer Verle¬
genheit reißt, in der ich mich bisher gegen
die Meinigen befand, und die mir manchen
ſtillen Kummer verurſachte. Ich habe ſo¬
wohl mit dem Gelde als mit der Zeit, von
denen ich Rechenſchaft zu geben habe, nicht
zum Beſten hausgehalten, nun wird es mir
durch den Edelmuth des Herrn Grafen mög¬
lich, den Meinigen getroſt von dem Glücke
Nachricht zu geben, zu dem mich dieſer ſon¬
derbare Seitenweg geführt hat. Ich opfre
die Delikateſſe, die uns wie ein zartes Ge¬
wiſſen bey ſolchen Gelegenheiten warnt, einer
höhern Pflicht auf, und um meinem Vater
[170] muthig unter die Augen treten zu können,
ſteh ich beſchämt vor den Ihrigen.


Es iſt ſonderbar, verſetzte der Baron,
welch ein wunderlich Bedenken man ſich
macht, Geld von Freunden und Gönnern
anzunehmen, von denen man jede andere
Gabe mit Dank und Freude empfangen
würde. Die menſchliche Natur hat mehr
ähnliche Eigenheiten, ſolche Skrupel gern zu
erzeugen und ſorgfältig zu nähren.


Iſt es nicht das nemliche mit allen
Ehrenpunkten? fragte Wilhelm.


Ach ja, verſetzte der Baron, und andern
Vorurtheilen. Wir wollen ſie nicht ausjä¬
ten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich
mit auszuraufen. Aber mich freut immer,
wenn einzelne Perſonen fühlen, über was
man ſich hinausſetzen kann und ſoll, und ich
denke mit Vergnügen an die Geſchichte des
geiſtreichen Dichters, der für ein Hoftheater
[171] einige Stücke verfertigte, welche den ganzen
Beyfall des Monarchen erhielten. Ich muß
ihn anſehnlich belohnen, ſagte der großmü¬
thige Fürſt, man forſche an ihm, ob ihm
irgend ein Kleinod Vergnügen macht, oder
ob er nicht verſchmäht Geld anzunehmen.
Nach ſeiner ſcherzhaften Art antwortete der
Dichter dem abgeordneten Hofmann, ich dan¬
ke lebhaft für die gnädigen Geſinnungen,
und da der Kaiſer alle Tage Geld von uns
nimmt, ſo ſehe ich nicht ein, warum ich mich
ſchämen ſollte, Geld von ihm anzunehmen.


Der Baron hatte kaum das Zimmer ver¬
laſſen, als Wilhelm eifrig die Baarſchaft
zählte, die ihm ſo unvermuthet, und wie er
glaubte, ſo unverdient zugekommen war. Es
ſchien, als ob ihm der Werth und die Würde
des Goldes, die uns in ſpätern Jahren erſt
fühlbar werden, ahndungsweiſe zum erſten¬
mal entgegen blickten, als die ſchönen blin¬
[172] kenden Stücke aus dem zierlichen Beutel her¬
vorrollten. Er machte ſeine Rechnung und
fand, daß er, beſonders da Melina den Vor¬
ſchuß ſogleich wieder zu bezahlen verſprochen
hatte, eben ſo viel, ja noch mehr in Caſſa
habe, als an jenem Tage, da Philine ihm
den erſten Strauß abfordern ließ. Mit
heimlicher Zufriedenheit blickte er auf ſein
Talent, mit einem kleinen Stolze auf das
Glück, das ihn geleitet und begleitet hatte.
Er ergriff nunmehr mit Zuverſicht die Feder,
um einen Brief zu ſchreiben, der auf einmal
die Familie aus aller Verlegenheit und ſein
bisheriges Betragen in das beſte Licht ſetzen
ſollte. Er vermied eine eigentliche Erzäh¬
lung, und ließ nur in bedeutenden und my¬
ſtiſchen Ausdrücken dasjenige, was ihm be¬
gegnet ſeyn könnte, errathen. Der gute Zu¬
ſtand ſeiner Caſſe, der Erwerb, den er ſeinem
Talent ſchuldig war, die Gunſt der Großen,
[173] die Neigung der Frauen, die Bekanntſchaft
in einem weiten Kreiſe, die Ausbildung ſei¬
ner körperlichen und geiſtigen Anlagen, die
Hoffnung für die Zukunft bildeten ein ſol¬
ches wunderliches Luftgemählde, daß Fata
Morgagna ſelbſt es nicht ſeltſamer hätte
durcheinander wirken können.


In dieſer glücklichen Exaltation fuhr er
fort, nachdem der Brief geſchloſſen war, ein
langes Selbſtgeſpräch zu unterhalten, in wel¬
chem er den Inhalt des Schreibens recapi¬
tulirte, und ſich eine thätige und würdige
Zukunft ausmahlte. Das Beyſpiel ſo vieler
edler Krieger hatte ihn angefeuert, die Sha¬
keſpeariſche Dichtung hatte ihm eine neue
Welt eröfnet, und von den Lippen der ſchö¬
nen Gräfin hatte er ein unausſprechliches
Feuer in ſich geſogen. Das alles konnte,
das ſollte nicht ohne Wirkung aufs Leben
bleiben.


[174]

Der Stallmeiſter kam und fragte: ob ſie
mit Einpacken fertig ſeyen? Leider hatte
auſſer Melina noch niemand daran gedacht.
Nun ſollte man eilig aufbrechen. Der Graf
hatte verſprochen, die ganze Geſellſchaft einige
Tagereiſen weit transportiren zu laſſen, die
Pferde waren eben bereit, und konnten nicht
lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach
ſeinem Koffer; Madam Melina hatte ſich
ihn zu Nutze gemacht; er verlangte nach ſei¬
nem Gelde, Herr Melina hatte es ganz un¬
ten in den Koffer mit großer Sorgfalt ge¬
packt. Philine ſagte: ich habe in dem mei¬
nigen noch Platz, nahm Wilhelms Kleider,
und befahl Mignon das Übrige nachzubrin¬
gen. Wilhelm mußte es nicht ohne Wider¬
willen geſchehen laſſen.


Indem man aufpackte, und alles zuberei¬
tete, ſagte Melina: es iſt mir verdrießlich,
daß wir wie Seiltänzer und Marktſchreyer
[175] reiſen; ich wünſchte, daß Mignon Weiber¬
kleider anzöge, und daß der Harfenſpieler
ſich noch geſchwinde den Bart ſcheren ließe.
Mignon hielt ſich feſt an Wilhelm, und ſag¬
te mit großer Lebhaftigkeit: ich bin ein Kna¬
be, ich will kein Mädchen ſeyn. Der Alte
ſchwieg, und Philine machte bey dieſer Gele¬
genheit über die Eigenheit des Grafen, ihres
Beſchützers, einige luſtige Anmerkungen. Wenn
der Harfner ſeinen Bart abſchneidet, ſagte ſie,
ſo mag er ihn nur ſorgfältig auf Band nä¬
hen und bewahren, daß er ihn gleich wieder
vornehmen kann, ſobald er dem Herrn Gra¬
fen irgendwo in der Welt begegnet; denn
dieſer Bart allein hat ihm die Gnade dieſes
Herrn verſchaft.


Als man in ſie drang und eine Erklä¬
rung dieſer ſonderbaren Äuſſerung verlangte,
ließ ſie ſich folgendergeſtalt vernehmen: der
Graf glaubt, daß es zur Illuſion ſehr viel
[176] beytrage, wenn der Schauſpieler auch im ge¬
meinen Leben ſeine Rolle fortſpielt, und ſei¬
nen Character ſoutenirt, deswegen war er
dem Pedanten ſo günſtig, und er fand, es
ſey recht geſcheid, daß der Harfner ſeinen
falſchen Bart nicht allein Abends auf dem
Theater, ſondern auch beſtändig bey Tage
trage, und freute ſich ſehr über das natürli¬
che Ausſehen der Maskerade.


Als die andern über dieſen Irrthum und
über die ſonderbaren Meinungen des Grafen
ſpotteten, ging der Harfner mit Wilhelm bey
Seite, nahm von ihm Abſchied, und bat mit
Thränen, ihn ja ſogleich zu entlaſſen. Wil¬
helm redete ihm zu, und verſicherte, daß er
ihn gegen jedermann ſchützen werde, daß ihm
niemand ein Haar krümmen, vielweniger
ohne ſeinen Willen abſchneiden ſollte.


Der Alte war ſehr bewegt, und in ſeinen
Augen glühte ein ſonderbares Feuer. Nicht
die¬[177] dieſer Anlaß treibt mich hinweg, rief er aus,
ſchon lange mache ich mir ſtille Vorwürfe,
daß ich um Sie bleibe. Ich ſollte nirgends
verweilen, denn das Unglück ereilt mich und
beſchädigt die, die ſich zu mir geſellen. Fürch¬
ten Sie alles, wenn Sie mich nicht entlaſſen,
aber fragen Sie mich nicht, ich gehöre nicht
mir zu, ich kann nicht bleiben.


Wem gehörſt du an? Wer kann eine
ſolche Gewalt über dich ausüben?


Mein Herr, laſſen Sie mir mein ſchau¬
dervolles Geheimniß, und geben Sie mich
los. Die Rache, die mich verfolgt, iſt nicht
des irrdiſchen Richters; ich gehöre einem un¬
erbittlichen Schickſale; ich kann nicht bleiben,
und ich darf nicht!


In dieſem Zuſtande, in dem ich dich ſehe,
werde ich dich gewiß nicht laſſen.


Es iſt Hochverrath an Ihnen, mein
Wohlthäter, wenn ich zaudre. Ich bin ſicher
W. Meiſters Lehrj. 2. M[178] bey Ihnen, aber Sie ſind in Gefahr. Sie
wiſſen nicht, wen Sie in Ihrer Nähe hegen.
Ich bin ſchuldig, aber unglücklicher als ſchul¬
dig. Meine Gegenwart verſcheucht das
Glück, und die gute That wird ohnmächtig,
wenn ich dazu trete. Flüchtig und unſtät
ſollt ich ſeyn, daß mein unglücklicher Genius
mich nicht einholet, der mich nur langſam
verfolgt, und nur dann ſich merken läßt,
wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen
will. Dankbarer kann ich mich nicht bezei¬
gen, als wenn ich Sie verlaſſe.


Sonderbarer Menſch! du kannſt mir das
Vertrauen in dich ſo wenig nehmen, als die
Hoffnung, dich glücklich zu ſehen. Ich will
in die Geheimniſſe deines Aberglaubens nicht
eindringen, aber wenn du ja in Ahndung
wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeu¬
tungen lebſt; ſo ſage ich dir zu deinem Troſt
und zu deiner Aufmunterung: geſelle dich zu
[179] meinem Glücke, und wir wollen ſehen, wel¬
cher Genius der ſtärkſte iſt, dein ſchwarzer
oder mein weißer!


Wilhelm ergriff dieſe Gelegenheit, um
ihm noch mancherley Tröſtliches zu ſagen;
denn er hatte ſchon ſeit einiger Zeit in ſei¬
nem wunderbaren Begleiter einen Menſchen
zu ſehen geglaubt, der durch Zufall oder Ge¬
ſchick eine große Schuld auf ſich geladen
hat, und nun die Erinnerung derſelben im¬
mer mit ſich fortſchleppt. Noch vor wenigen
Tagen hatte Wilhelm ſeinen Geſang behorcht,
und folgende Zeilen wohl gemerkt:


Ihm färbt der Morgenſonne Licht

Den reinen Horizont mit Flammen,

Und über ſeinem ſchuldigen Haupte bricht

Das ſchöne Bild der ganzen Welt zuſammen.

Der Alte mochte nun ſagen was er woll¬
te, ſo hatte Wilhelm immer ein ſtärker Ar¬
M 2[180] gument, wußte alles zum Beſten zu kehren
und zu wenden, wußte ſo brav, ſo herzlich
und tröſtlich zu ſprechen, daß der Alte ſelbſt
wieder aufzuleben und ſeinen Grillen zu ent¬
ſagen ſchien.


[181]

Zweytes Capitel.

Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen aber
wohlhabenden Stadt mit ſeiner Geſellſchaft
unterzukommen. Schon befanden ſie ſich an
dem Orte, wohin ſie die Pferde des Gra¬
fen gebracht hatten, und ſahen ſich nach an¬
dern Wagen und Pferden um, mit denen ſie
weiter zu kommen hofften. Melina hatte
den Transport übernommen, und zeigte ſich,
nach ſeiner Gewohnheit, übrigens ſehr karg.
Dagegen hatte Wilhelm die ſchönen Duka¬
ten der Gräfin in der Taſche, auf deren fröh¬
liche Verwendung er das größte Recht zu
haben glaubte, und ſehr leicht vergaß er,
daß er ſie in der ſtattlichen Bilanz, die er
den Seinigen zuſchickte, ſchon ſehr ruhmredig
aufgeführt hatte.


[182]

Sein Freund Shakeſpear, den er mit
großer Freude auch als ſeinen Pathen aner¬
kannte, und ſich nur um ſo lieber Wilhelm
nennen ließ, hatte ihm einen Prinzen be¬
kannt gemacht, der ſich unter geringer, ja
ſogar ſchlechter Geſellſchaft eine Zeitlang auf¬
hält, und, ohngeachtet ſeiner edlen Natur,
an der Roheit, Unſchicklichkeit und Al¬
bernheit ſolcher ganz ſinnlichen Burſche ſich
ergötzt. Höchſt willkommen war ihm das
Ideal, womit er ſeinen gegenwärtigen Zu¬
ſtand vergleichen konnte, und der Selbſtbe¬
trug, wozu er eine faſt unüberwindliche Nei¬
gung ſpürte, ward ihm dadurch auſſerordent¬
lich erleichtert.


Er fing nun an über ſeine Kleidung nach¬
zudenken. Er fand, daß ein Weſtchen, über
das man im Nothfall einen kurzen Mantel
würfe, für einen Wanderer eine ſehr ange¬
meſſene Tracht ſey. Lange geſtrickte Bein¬
[183] kleider und ein Paar Schnürſtiefeln ſchienen
die wahre Tracht eines Fußgängers. Dann
verſchafte er ſich eine ſchöne ſeidne Schärpe,
die er zuerſt unter dem Vorwande, den Leib
warm zu halten, umband; dagegen befreyte
er ſeinen Hals von der Knechtſchaft einer
Binde, und ließ ſich einige Streifen Neſſel¬
tuch ans Hemde heften, die aber etwas breit
geriethen, und das völlige Anſehn eines an¬
tiken Kragens erhielten. Das ſchöne ſeidne
Halstuch, das gerettete Andenken Marianens,
lag nur locker geknüpft unter der neſſeltuch¬
nen Krauſe. Ein runder Hut mit einem
bunten Bande und einer großen Feder mach¬
te die Maskerade vollkommen.


Die Frauen betheuerten, dieſe Tracht laſſe
ihm vorzüglich gut. Philine ſtellte ſich ganz
bezaubert darüber, und bat ſich ſeine ſchönen
Haare aus, die er, um dem natürlichen Ideal
nur deſto näher zu kommen, unbarmherzig
[184] abgeſchnitten hatte. Sie empfahl ſich da¬
durch nicht übel, und unſer Freund, der
durch ſeine Freygebigkeit ſich das Recht er¬
worben hatte, auf Prinz Harry’s Manier
mit den übrigen umzugehen, kam bald ſelbſt
in den Geſchmack, einige tolle Streiche anzu¬
geben und zu befördern. Man focht, man
tanzte, man erfand allerley Spiele, und in
der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des
leidlichen Weins, den man angetroffen hatte,
in ſtarkem Maaße, und Philine lauerte in
der Unordnung dieſer Lebensart dem ſpröden
Helden auf, für den ſein guter Genius Sor¬
ge tragen möge.


Eine vorzügliche Unterhaltung, mit der
ſich die Geſellſchaft beſonders ergötzte, be¬
ſtand in einem extemporirten Spiel, in wel¬
chem ſie ihre bisherigen Gönner und Wohl¬
thäter nachahmten und durchzogen. Einige
unter ihnen hatten ſich ſehr gut die Eigen¬
[185] heiten des äuſſern Anſtands verſchiedner vor¬
nehmer Perſonen gemerkt, und die Nachbil¬
dung derſelben ward von der übrigen Ge¬
ſellſchaft mit dem größten Beyfall aufgenom¬
men, und als Philine aus dem geheimen
Archiv ihrer Erfahrungen einige beſondere
Liebeserklärungen, die an ſie geſchehen wa¬
ren, vorbrachte, wußte man ſich vor Lachen
und Schadenfreude kaum zu laſſen.


Wilhelm ſchalt ihre Undankbarkeit; allein
man ſetzte ihm entgegen, daß ſie das, was
ſie dort erhalten, genugſam abverdient, und
daß überhaupt das Betragen gegen ſo ver¬
dienſtvolle Leute, wie ſie ſich zu ſeyn rühm¬
ten, nicht das beſte geweſen ſey. Nun be¬
ſchwerte man ſich, mit wie wenig Achtung
man ihnen begegnet, wie ſehr man ſie zurück
geſetzt habe. Das Spotten, Necken und
Nachahmen ging wieder an, und man ward
immer bitterer und ungerechter.


[186]

Ich wünſchte, ſagte Wilhelm darauf, daß
durch euere Äuſſerungen weder Neid noch
Eigenliebe durchſchiene, und daß ihr jene
Perſonen und ihre Verhältniſſe aus dem rech¬
ten Geſichtspunkte betrachtetet. Es iſt eine
eigene Sache, ſchon durch die Geburt auf
einen erhabenen Platz in der menſchlichen
Geſellſchaft geſetzt zu ſeyn. Wem ererbte
Reichthümer eine vollkommene Leichtigkeit
des Daſeyns verſchaft haben, wer ſich, wenn
ich mich ſo ausdrücken darf, von allem Bey¬
weſen der Menſchheit, von Jugend auf,
reichlich umgeben findet, gewöhnt ſich meiſt
dieſe Güter als das Erſte und Größte zu
betrachten, und der Werth einer von der
Natur ſchön ausgeſtatteten Menſchheit wird
ihm nicht ſo deutlich. Das Betragen der
Vornehmen gegen Geringere und auch unter
einander, iſt nach äuſſern Vorzügen abge¬
meſſen; ſie erlauben jedem ſeinen Titel, ſei¬
[187] nen Rang, ſeine Kleider und Equipage, nur
nicht ſeine Verdienſte geltend zu machen.


Dieſen Worten gab die Geſellſchaft einen
unmäßigen Beyfall. Man fand abſcheulich,
daß der Mann von Verdienſt immer zurück
ſtehen müſſe, und daß in der großen Welt
keine Spur von natürlichem und herzlichem
Umgang zu finden ſey. Sie kamen beſon¬
ders über dieſen letzten Punkt aus dem Hun¬
dertſten ins Tauſendſte.


Scheltet ſie nicht darüber, rief Wilhelm
aus, bedauert ſie vielmehr. Denn von je¬
nem Glück, das wir als das höchſte erken¬
nen, das aus dem innern Reichthum der
Natur fließt, haben ſie ſelten eine erhöhte
Empfindung. Nur uns Armen, die wir we¬
nig oder nichts beſitzen, iſt es gegönnt, das
Glück der Freundſchaft in reichem Maaße
zu genießen. Wir können unſre Geliebten
weder durch Gnade erheben, noch durch
[188] Gunſt befördern, noch durch Geſchenke be¬
glücken. Wir haben nichts als uns ſelbſt.
Dieſes ganze Selbſt müſſen wir hingeben,
und, wenn es einigen Werth haben ſoll, dem
Freunde das Gut auf ewig verſichern. Welch
ein Genuß, welch ein Glück für den Geber
und Empfänger! In welchen ſeeligen Zu¬
ſtand verſetzt uns die Treue, ſie giebt dem
vorübergehenden Menſchenleben eine himm¬
liſche Gewißheit; ſie macht das Hauptcapital
unſres Reichthums aus.


Mignon hatte ſich ihm unter dieſen Wor¬
ten genähert, ſchlang ſeine zarten Arme um
ihn, und blieb mit dem Köpfchen an ſeine
Bruſt gelehnt ſtehen. Er legte die Hand
auf des Kindes Haupt, und fuhr fort: Wie
leicht wird es einem Großen, die Gemüther
zu gewinnen, wie leicht eignet er ſich die
Herzen zu. Ein gefälliges, bequemes, nur
einigermaßen menſchliches Betragen thut
[189] Wunder, und wie viele Mittel hat er, die
einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten.
Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer,
und wie natürlich iſt es, daß wir auf das,
was wir erwerben und leiſten, einen größern
Werth legen. Welche rührende Beyſpiele
von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren
aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear
ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem
Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem
Größern gleich zu werden. Durch fort¬
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der
Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt
nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen
berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur
für den geringen Stand; er kann ſie nicht
entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer
ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬
ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬
heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬
[190] haupten zu können, daß ein Großer wohl
Freunde haben, aber nicht Freund ſeyn
könne.


Mignon drückte ſich immer feſter an ihn.


Nun gut, verſetzte einer aus der Geſell¬
ſchaft: wir brauchen ihre Freundſchaft nicht,
und haben ſie niemals verlangt. Nur ſoll¬
ten ſie ſich beſſer auf Künſte verſtehen, die
ſie doch beſchützen wollen. Wenn wir am
beſten geſpielt haben, hat uns niemand zu¬
gehört; alles war lauter Partheylichkeit.
Wem man günſtig war, der gefiel, und man
war dem nicht günſtig, der zu gefallen ver¬
diente. Es war nicht erlaubt, wie oft das
Alberne und Abgeſchmackte Aufmerkſamkeit
und Beyfall auf ſich zog.


Wenn ich abrechne, verſetzte Wilhelm,
was Schadenfreude und Ironie geweſen ſeyn
mag: ſo denk ich, es geht in der Kunſt wie
in der Liebe! Wie will der Weltmann bey
[191] ſeinem zerſtreuten Leben die Innigkeit erhal¬
ten, in der ein Künſtler bleiben muß, wenn
er etwas Vollkommenes hervorzubringen
denkt, und die ſelbſt demjenigen nicht fremd
ſeyn darf, der einen ſolchen Antheil am
Werke nehmen will, wie der Künſtler ihn
wünſcht und hofft.


Glaubt mir, meine Freunde, es iſt mit
den Talenten wie mit der Tugend: man muß
ſie um ihrer ſelbſt willen lieben, oder ſie
ganz aufgeben. Und doch werden ſie beide
nicht anders erkannt und belohnt, als wenn
man ſie, gleich einem gefährlichen Geheim¬
niß, im Verborgnen üben kann.


Unterdeſſen, bis ein Kenner uns auffindet,
kann man Hungers ſterben, rief einer aus
der Ecke.


Nicht eben ſogleich, verſetzte Wilhelm.
Ich habe geſehen, ſo lange einer lebt und
ſich rührt, findet er immer ſeine Nahrung,
[192] und wenn ſie auch gleich nicht die reichlichſte
iſt. Und worüber habt ihr euch denn zu be¬
ſchweren? Sind wir nicht ganz unvermuthet,
eben da es mit uns am ſchlimmſten aus¬
ſah, gut aufgenommen und bewirthet wor¬
den? Und jetzt, da es uns noch an nichts
gebricht, fällt es uns denn ein, etwas zu un¬
ſerer Übung zu thun, und nur einigermaßen
weiter zu ſtreben? Wir treiben fremde Din¬
ge, und entfernen, den Schulkindern ähnlich,
alles, was uns nur an unſre Lection erinnern
könnte.


Wahrhaftig, ſagte Philine, es iſt unver¬
antwortlich! laßt uns ein Stück wählen;
wir wollen es auf der Stelle ſpielen. Jeder
muß ſein Möglichſtes thun, als wenn er vor
dem größten Auditorium ſtünde.


Man überlegte nicht lange; das Stück
ward beſtimmt. Es war eines deren, die
damals in Deutſchland großen Beyfall fan¬
den,[193] den, und nun verſchollen ſind. Einige pfif¬
fen eine Symphonie, jeder beſann ſich ſchnell
auf ſeine Rolle, man fing an und ſpielte mit
der größten Aufmerkſamkeit das Stück durch,
und wirklich über Erwartung gut. Man
applaudirte ſich wechſelsweiſe; man hatte ſich
ſelten ſo wohl gehalten.


Als ſie fertig waren, empfanden ſie alle
ein ausnehmendes Vergnügen, theils über
ihre wohlzugebrachte Zeit, theils weil jeder
beſonders mit ſich zufrieden ſeyn konnte.
Wilhelm ließ ſich weitläuftig zu ihrem Lobe
heraus, und ihre Unterhaltung war heiter
und fröhlich.


Ihr ſolltet ſehen, rief unſer Freund, wie
weit wir kommen müßten, wenn wir unſre
Übungen auf dieſe Art fortſetzten, und nicht
blos auf Auswendiglernen, Probiren und
Spielen uns mechaniſch pflicht- und hand¬
werksmäßig einſchränkten. Wie viel mehr
W. Meiſters Lehrj. 2. N[194] Lob verdienen die Tonkünſtler, wie ſehr er¬
götzen ſie ſich, wie genau ſind ſie nicht, wenn
ſie gemeinſchaftlich ihre Übungen vornehmen.
Wie ſind ſie bemüht, ihre Inſtrumente über¬
einzuſtimmen, wie genau halten ſie Takt,
wie zart wiſſen ſie die Stärke und Schwäche
des Tons auszudrücken! Keinem fällt es ein,
ſich bey dem Solo eines andern durch ein
vorlautes Accompagniren Ehre zu machen.
Jeder ſucht in dem Geiſt und Sinne des
Componiſten zu ſpielen, und jeder das, was
ihm aufgetragen iſt, es mag viel oder wenig
ſeyn, gut auszudrücken.


Sollten wir nicht eben ſo genau und eben
ſo geiſtreich zu Werke gehen, da wir eine
Kunſt treiben, die noch viel zarter als jede
Art von Muſik iſt, da wir die gewöhnlich¬
ſten und ſeltenſten Äuſſerungen der Menſch¬
heit geſchmackvoll und ergötzend darzuſtellen
berufen ſind? Kann etwas abſcheulicher ſeyn,
[195] als in den Proben zu ſudeln, und ſich bey
der Vorſtellung auf Laune und gut Glück zu
verlaſſen? Wir ſollten unſer größtes Glück
und Vergnügen darin ſetzen, mit einander
übereinzuſtimmen, um uns wechſelsweiſe zu
gefallen, und auch nur in ſo fern den Bey¬
fall des Publikums zu ſchätzen, als wir ihn
uns gleichſam unter einander ſchon ſelbſt ga¬
rantirt hätten. Warum iſt der Kapellmeiſter
ſeines Orcheſters gewiſſer, als der Director
ſeines Schauſpiels? Weil dort jeder ſich ſei¬
nes Mißgriffs, der das äußere Ohr beleidigt,
ſchämen muß; aber wie ſelten hab’ ich einen
Schauſpieler verzeihliche und unverzeihliche
Mißgriffe, durch die das innere Ohr ſo
ſchnöde beleidigt wird, anerkennen und ſich
ihrer ſchämen ſehen! Ich wünſchte nur, daß
das Theater ſo ſchmal wäre, als der Draht
eines Seiltänzers, damit ſich kein Ungeſchick¬
ter hinauf wagte, anſtatt daß jetzo ein jeder
N2[196] ſich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu para¬
diren.


Die Geſellſchaft nahm dieſe Apoſtrophe
gut auf, indem jeder überzeugt war, daß
nicht von ihm die Rede ſeyn könne, da er
ſich noch vor kurzem nebſt den übrigen ſo
gut gehalten. Man kam vielmehr überein,
daß man in dem Sinne, wie man angefan¬
gen, auf dieſer Reiſe und künftig, wenn man
zuſammen bliebe, eine geſellige Bearbeitung
wolle obwalten laſſen. Man fand nur, daß
weil dieſes eine Sache der guten Laune und
des freyen Willens ſey, ſo müſſe ſich eigent¬
lich kein Director darein miſchen. Man
nahm als ausgemacht an, daß unter guten
Menſchen die republikaniſche Form die beſte
ſey; man behauptete, das Amt eines Di¬
rectors müſſe herum gehen; er müſſe von
allen gewählt werden, und eine Art von
kleinem Senat ihm jederzeit beygeſetzt blei¬
[197] ben. Sie waren ſo von dieſem Gedanken
eingenommen, daß ſie wünſchten, ihn gleich
ins Werk zu richten.


Ich habe nichts dagegen, ſagte Melina,
wenn ihr auf der Reiſe einen ſolchen Ver¬
ſuch machen wollt; ich ſuſpendire meine Di¬
rectorſchaft gern, bis wir wieder an Ort und
Stelle kommen. Er hofte, dabey zu ſparen,
und manche Ausgaben der kleinen Republik
oder dem Interimsdirector aufzuwälzen. Nun
ging man ſehr lebhaft zu Rath, wie man
die Form des neuen Staates aufs Beſte ein¬
richten wolle.


Es iſt ein wanderndes Reich, ſagte Laer¬
tes, wir werden wenigſtens keine Grenzſtrei¬
tigkeiten haben.


Man ſchritt ſogleich zur Sache, und er¬
wählte Wilhelm zum erſten Director. Der
Senat ward beſtellt, die Frauen erhielten
Sitz und Stimme, man ſchlug Geſetze vor.
[198] man verwarf, man genehmigte. Die Zeit
ging unvermerkt unter dieſem Spiele vor¬
über, und weil man ſie angenehm zubrachte,
glaubte man auch wirklich etwas Nützliches
gethan und durch die neue Form eine neue
Ausſicht für die vaterländiſche Bühne eröf¬
net zu haben.


[199]

Drittes Capitel.

Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Geſell¬
ſchaft in ſo guter Dispoſition ſah, ſich auch
mit ihr über das dichteriſche Verdienſt der
Stücke unterhalten zu können. Es iſt nicht
genug, ſagte er zu ihnen, als ſie des andern
Tages wieder zuſammen kamen, daß der
Schauſpieler ein Stück nur ſo oben hin an¬
ſehe, daſſelbe nach dem erſten Eindruck beur¬
theile, und ohne Prüfung ſein Gefallen oder
Mißfallen daran zu erkennen gebe. Dieß
iſt dem Zuſchauer wohl erlaubt, der gerührt
und unterhalten ſeyn, aber eigentlich nicht
urtheilen will. Der Schauſpieler dagegen
ſoll von dem Stücke und von den Urſachen
ſeines Lobes und Tadels Rechenſchaft geben
können: und wie will er das, wenn er nicht
[200] in den Sinn ſeines Autors, wenn er nicht
in die Abſichten deſſelben einzudringen ver¬
ſteht? Ich habe den Fehler, ein Stück aus
einer Rolle zu beurtheilen, eine Rolle nur
an ſich und nicht im Zuſammenhange mit
dem Stück zu betrachten, an mir ſelbſt in
dieſen Tagen ſo lebhaft bemerkt, daß ich euch
das Beyſpiel erzählen will, wenn ihr mir
ein geneigtes Gehör gönnen wollt.


Ihr kennt Shakeſpears unvergleichlichen
Hamlet aus einer Vorleſung, die euch noch
auf dem Schloſſe das größte Vergnügen
machte. Wir ſetzten uns vor, das Stück zu
ſpielen, und ich hatte, ohne zu wiſſen was
ich that, die Rolle des Prinzen übernommen;
ich glaubte ſie zu ſtudieren, indem ich anfing
die ſtärkſten Stellen, die Selbſtgeſpräche und
jene Auftritte zu memoriren, in denen Kraft
der Seele, Erhebung des Geiſtes und Leb¬
haftigkeit freyen Spielraum haben, wo das
[201] bewegte Gemüth ſich in einem gefühlvollen
Ausdrucke zeigen kann.


Auch glaubte ich recht in den Geiſt der
Rolle einzudringen, wenn ich die Laſt der
tiefen Schwermuth gleichſam ſelbſt auf mich
nähme, und unter dieſem Druck meinem Vor¬
bilde durch das ſeltſame Labyrinth ſo man¬
cher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen
ſuchte. So memorirte ich, und ſo übte ich
mich, und glaubte nach und nach, mit mei¬
nem Helden zu einer Perſon zu werden.


Allein je weiter ich kam, deſto ſchwerer
ward mir die Vorſtellung des Ganzen, und
mir ſchien zuletzt faſt unmöglich, zu einer
Überſicht zu gelangen. Nun ging ich das
Stück in einer ununterbrochenen Folge durch,
und auch da wollte mir leider manches nicht
paſſen. Bald ſchienen ſich die Charaktere,
bald der Ausdruck zu widerſprechen, und ich
verzweifelte faſt, einen Ton zu finden, in
[202] welchem ich meine ganze Rolle mit allen Ab¬
weichungen und Schattirungen vortragen
könnte. In dieſen Irrgängen bemühte ich
mich lange vergebens, bis ich mich endlich
auf einem ganz beſondern Wege meinem
Ziele zu nähern hoffte.


Ich ſuchte jede Spur auf, die ſich von
dem Character Hamlets in früherer Zeit vor
dem Tode ſeines Vaters zeigte; ich bemerkte,
was unabhängig von dieſer traurigen Bege¬
benheit, unabhängig von den nachfolgenden
ſchrecklichen Ereigniſſen, dieſer intereſſante
Jüngling geweſen war, und was er ohne ſie
vielleicht geworden wäre.


Zart und edel entſproſſen wuchs die kö¬
nigliche Blume, unter den unmittelbaren Ein¬
flüſſen der Majeſtät, hervor; der Begriff des
Rechts und der fürſtlichen Würde, das Ge¬
fühl des Guten und Anſtändigen mit dem
Bewußtſeyn der Höhe ſeiner Geburt, ent¬
[203] wickelten ſich zugleich in ihm. Er war ein
Fürſt, ein gebohrner Fürſt, und wünſchte zu
regieren, nur damit der Gute ungehindert
gut ſeyn möchte. Angenehm von Geſtalt,
geſittet von Natur, gefällig von Herzen aus,
ſollte er das Muſter der Jugend ſeyn, und
die Freude der Welt werden.


Ohne irgend eine hervorſtechende Leiden¬
ſchaft, war ſeine Liebe zu Ophelien ein ſtil¬
les Vorgefühl ſüßer Bedürfniſſe; ſein Eifer
zu ritterlichen Übungen war nicht ganz Ori¬
ginal, vielmehr mußte dieſe Luſt, durch das
Lob, das man dem Dritten beylegte, ge¬
ſchärft und erhöht werden; rein fühlend
kannte er die Redlichen, und wußte die Ruhe
zu ſchätzen, die ein aufrichtiges Gemüth an
dem offnen Buſen eines Freundes genießt.
Bis auf einen gewiſſen Grad hatte er in
Künſten und Wiſſenſchaften das Gute und
Schöne erkennen und würdigen gelernt; das
[204] Abgeſchmackte war ihm zuwider, und wenn
in ſeiner zarten Seele der Haß aufkeimen
konnte, ſo war es nur eben ſo viel als nö¬
thig iſt, um bewegliche und falſche Höflinge
zu verachten, und ſpöttiſch mit ihnen zu ſpie¬
len. Er war gelaſſen in ſeinem Weſen, in
ſeinem Betragen einfach, weder im Müßig¬
gange behaglich, noch allzubegierig nach Be¬
ſchäftigung. Ein akademiſches Hinſchlendern
ſchien er auch bey Hofe fortzuſetzen. Er be¬
ſaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des
Herzens, war ein guter Geſellſchafter, nach¬
giebig, beſcheiden, beſorgt, und konnte eine
Beleidigung vergeben und vergeſſen; aber
niemals konnte er ſich mit dem vereinigen,
der die Grenzen des Rechten, des Guten,
des Anſtändigen überſchritt.


Wenn wir das Stück wieder zuſammen
leſen werden, könnt ihr beurtheilen, ob ich
auf dem rechten Wege bin. Wenigſtens
[205] hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stel¬
len belegen zu können.


Man gab der Schilderung lauten Bey¬
fall; man glaubte voraus zu ſehen, daß ſich
nun die Handelsweiſe Hamlets gar gut wer¬
de erklären laſſen; man freute ſich über die
Art, in den Geiſt des Schriftſtellers einzu¬
dringen. Jeder nahm ſich vor, auch irgend
ein Stück auf dieſe Art zu ſtudieren und den
Sinn des Verfaſſers zu entwickeln.


[206]

Viertes Capitel.

Nur einige Tage mußte die Geſellſchaft an
dem Orte liegen bleiben, und ſogleich zeigten
ſich für verſchiedene Glieder derſelben nicht
unangenehme Abentheuer, beſonders aber
ward Laertes von einer Dame angereizt, die
in der Nachbarſchaft ein Gut hatte, gegen
die er ſich aber äußerſt kalt, ja unartig be¬
trug, und darüber von Philinen viele Spöt¬
tereyen erdulden mußte. Sie ergriff die Ge¬
legenheit, unſerm Freund die unglückliche
Liebesgeſchichte zu erzählen, über die der
arme Jüngling dem ganzen weiblichen Ge¬
ſchlechte feind geworden war. Wer wird
ihm übel nehmen, rief ſie aus, daß er ein
Geſchlecht haßt, das ihm ſo übel mitgeſpielt
hat, und ihm alle Übel, die ſonſt Männer
[207] von Weibern zu befürchten haben, in einem
ſehr concentrirten Tranke zu verſchlucken gab?
Stellen Sie ſich vor: binnen vier und zwan¬
zig Stunden war er Liebhaber, Bräutigam,
Ehmann, Hahnrey, Patient und Wittwer!
Ich wüßte nicht, wie man’s einem ärger
machen wollte!


Laertes lief halb lachend, halb verdrie߬
lich zur Stube hinaus, und Philine fing in
ihrer allerliebſten Art die Geſchichte zu er¬
zählen an, wie Laertes als ein junger Menſch
von achtzehn Jahren, eben als er bey einer
Theatergeſellſchaft eingetroffen, ein ſchönes
vierzehnjähriges Mädchen gefunden, die eben
mit ihrem Vater, der ſich mit dem Director
entzweyet, abzureiſen Willens geweſen. Er
habe ſich aus dem Stegreife ſterblich ver¬
liebt, dem Vater alle mögliche Vorſtellungen
gethan zu bleiben, und endlich verſprochen,
das Mädchen zu heirathen. Nach einigen
[208] angenehmen Stunden des Brautſtandes ſey
er getraut worden, habe eine glückliche Nacht
als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn
ſeine Frau des andern Morgens, als er in
der Probe geweſen, nach Standesgebühr mit
einem Hörnerſchmuck beehrt; weil er aber aus
allzugroßer Zärtlichkeit viel zu früh nach
Hauſe geeilt, habe er leider einen ältern
Liebhaber an ſeiner Stelle gefunden, habe
mit unſinniger Leidenſchaft drein geſchlagen,
Liebhaber und Vater herausgefordert, und
ſey mit einer leidlichen Wunde davon ge¬
kommen. Vater und Tochter ſeyen darauf
noch in der Nacht abgereiſt, und er ſey lei¬
der auf eine doppelte Weiſe verwundet zu¬
rück geblieben. Sein Unglück habe ihn zu
dem ſchlechteſten Feldſcheer von der Welt ge¬
führt, und der Arme ſey leider mit ſchwar¬
zen Zähnen und triefenden Augen aus die¬
ſem Abentheuer geſchieden. Er ſey zu be¬
dau¬[209] dauern, weil er übrigens der bravſte Junge
ſey, den Gottes Erdboden trüge. Beſonders,
ſagte ſie, thut es mir leid, daß der arme
Narr nun die Weiber haßt: denn wer die
Weiber haßt, wie kann der leben?


Melina unterbrach ſie, mit der Nachricht,
daß alles zum Transport völlig bereit ſey,
und daß ſie morgen früh abfahren könnten.
Er überreichte ihnen eine Dispoſition, wie ſie
fahren ſollten.


Wenn mich ein guter Freund auf den
Schooß nimmt, ſagte Philine, ſo bin ich zu¬
frieden, daß wir eng und erbärmlich ſitzen,
übrigens iſt mir alles einerley.


Es thut nichts, ſagte Laertes, der auch
herbey kam.


Es iſt verdrießlich! ſagte Wilhelm, und
eilte weg. Er fand für ſein Geld noch einen
gar bequemen Wagen, den Melina verleug¬
net hatte. Eine andere Eintheilung ward
W. Meiſters Lehrj. 2. O[210] gemacht, und man freuete ſich, bequem abrei¬
ſen zu können, als die bedenkliche Nachricht
einlief: daß auf dem Wege, den ſie nehmen
wollten, ſich ein Freycorps ſehen laſſe, von
dem man nicht viel Gutes erwartete.


An dem Orte ſelbſt war man ſehr auf
dieſe Zeitung aufmerkſam, wenn ſie gleich
nur ſchwankend und zweydeutig war. Nach
der Stellung der Armeen ſchien es unmög¬
lich, daß ein feindliches Corps ſich habe durch¬
ſchleichen, oder daß ein freundliches ſo weit
habe zurück bleiben können. Jedermann war
eifrig, unſrer Geſellſchaft die Gefahr, die auf
ſie wartete, recht gefährlich zu beſchreiben,
und ihr einen andern Weg anzurathen.


Die meiſten waren darüber in Unruhe
und Furcht geſetzt, und als nach der neuen
republikaniſchen Form die ſämmtlichen Glie¬
der des Staats zuſammen gerufen wurden,
um über dieſen auſſerordentlichen Fall zu be¬
[211] rathſchlagen, waren ſie faſt einſtimmig der
Meinung, daß man das Übel vermeiden und
am Orte bleiben, oder ihm ausweichen und
einen andern Weg erwählen müſſe.


Nur Wilhelm, von Furcht nicht einge¬
nommen, hielt für ſchimpflich, einen Plan,
in den man mit ſo viel Überlegung einge¬
gangen war, nunmehr auf ein bloßes Ge¬
rücht aufzugeben. Er ſprach ihnen Muth
ein, und ſeine Gründe waren männlich und
überzeugend.


Noch, ſagte er, iſt es nichts als ein Ge¬
rücht, und wie viele entſtehen dergleichen
im Kriege! Verſtändige Leute ſagen, daß
der Fall höchſt unwahrſcheinlich, ja beynah
unmöglich ſey. Sollten wir uns in einer
ſo wichtigen Sache bloß durch ein ſo unge¬
wiſſes Gerede beſtimmen laſſen? Die Route,
welche uns der Herr Graf angegeben hat,
auf die unſer Paß lautet, iſt die kürzeſte,
O 2[212] und wir finden auf ſelbiger den beſten Weg.
Sie führt uns nach der Stadt, wo ihr Be¬
kanntſchaften, Freunde vor euch ſeht, und
eine gute Aufnahme zu hoffen habt. Der
Umweg bringt uns auch dahin; aber in wel¬
che ſchlimme Wege verwickelt er uns, wie
weit führt er uns ab. Können wir Hoffnung
haben, uns in der ſpäten Jahrszeit wieder
heraus zu finden, und was für Zeit und
Geld werden wir indeſſen verſplittern! Er
ſagte noch viel, und trug die Sache von ſo
mancherley vortheilhaften Seiten vor, daß
ihre Furcht ſich verringerte, und ihr Muth
zunahm. Er wußte ihnen ſo viel von der
Mannszucht der regelmäßigen Truppen vor¬
zuſagen, und ihnen die Marodeurs und das
hergelaufene Geſindel ſo nichtswürdig zu
ſchildern, und ſelbſt die Gefahr ſo lieblich
und luſtig darzuſtellen, daß alle Gemüther
aufgeheitert wurden.


[213]

Laertes war vom erſten Moment an auf
ſeiner Seite, und verſicherte, daß er nicht
wanken noch weichen wolle. Der alte Pol¬
terer fand wenigſtens einige übereinſtimmen¬
de Ausdrücke in ſeiner Manier, Philine lach¬
te ſie alle zuſammen aus, und da Madam
Melina, die, ihrer hohen Schwangerſchaft un¬
geachtet, ihre natürliche Herzhaftigkeit nicht
verloren hatte, den Vorſchlag heroiſch fand;
ſo konnte Melina, der denn freylich auf dem
nächſten Wege, auf den er accordirt hatte,
viel zu ſparen hofte, nicht widerſtehen, und
man willigte in den Vorſchlag von ganzem
Herzen.


Nun fing man an, ſich auf alle Fälle
zur Vertheidigung einzurichten. Man kaufte
große Hirſchfänger, und hing ſie an wohl¬
geſtickten Riemen über die Schultern. Wil¬
helm ſteckte noch überdieß ein Paar Terze¬
role in den Gürtel, Laertes hatte ohnedem
[214] eine gute Flinte bey ſich, und man machte
ſich mit einer hohen Freudigkeit auf den
Weg.


Den zweyten Tag ſchlugen die Fuhrleute,
die der Gegend wohl kundig waren, vor: ſie
wollten auf einem waldigen Bergplatze Mit¬
tagsruhe halten, weil das Dorf weit abgele¬
gen ſey, und man bey guten Tagen gern
dieſen Weg nähme.


Die Witterung war ſchön und jedermann
ſtimmte leicht in den Vorſchlag ein. Wil¬
helm eilte zu Fuß durch das Gebirge vor¬
aus, und über ſeine ſonderbare Geſtalt mußte
jeder, der ihm begegnete, ſtutzig werden. Er
eilte mit ſchnellen und zufriedenen Schritten
den Wald hinauf, Laertes pfiff hinter ihm
drein, nur die Frauen ließen ſich in den
Wagen fortſchleppen. Mignon lief gleich¬
falls nebenher, ſtolz auf den Hirſchfänger,
den man ihr, als die Geſellſchaft ſich bewaff¬
[215] nete, nicht abſchlagen konnte. Um ihren Hut
hatte ſie die Perlenſchnur gewunden, die
Wilhelm von Marianens Reliquien übrig
behalten hatte. Friedrich der Blonde trug
die Flinte des Laertes, der Harfner hatte
das friedlichſte Anſehen. Sein langes Kleid
war in den Gürtel geſteckt, und ſo ging er
freyer. Er ſtützte ſich auf einen knotigen
Stab, ſein Inſtrument war bey den Wagen
zurück geblieben.


Nachdem ſie nicht ganz ohne Beſchwer¬
lichkeit die Höhe erſtiegen, erkannten ſie ſo¬
gleich den angezeigten Platz an den ſchönen
Buchen, die ihn umgaben und bedeckten.
Eine große ſanft-abhängige Waldwieſe lud
zum Bleiben ein; eine eingefaßte Quelle bot
die lieblichſte Erquickung dar, und es zeigte
ſich an der andern Seite durch Schluchten
und Waldrücken eine ferne, ſchöne und hoff¬
nungsvolle Ausſicht. Da lagen Dörfer und
[216] Mühlen in den Gründen, Städtchen in der
Ebene, und neue in der Ferne eintretende
Berge machten die Ausſicht noch hoffnungs¬
voller, indem ſie nur wie eine ſanfte Be¬
ſchränkung hereintraten.


Die erſten Ankommenden nahmen Beſitz
von der Gegend, ruhten im Schatten aus,
machten ein Feuer an, und erwarteten ge¬
ſchäftig, ſingend die übrige Geſellſchaft, wel¬
che nach und nach herbey kam, und den
Platz, das ſchöne Wetter, die unausſprechlich
ſchöne Gegend mit Einem Munde begrüßte.


[217]

Fünftes Capitel.

Hatte man oft zwiſchen vier Wänden gute
und fröhliche Stunden zuſammen genoſſen;
ſo war man natürlich, noch viel aufgeweckter
hier, wo die Freyheit des Himmels und die
Schönheit der Gegend jedes Gemüth zu rei¬
nigen ſchien. Alle fühlten ſich einander nä¬
her, alle wünſchten in einem ſo angenehmen
Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen.
Man beneidete die Jäger, Köhler und Holz¬
hauer, Leute, die ihr Beruf an dieſen glückli¬
chen Wohnplätzen feſt hält; über alles aber
pries man die reizende Wirthſchaft eines Zi¬
geunerhaufens. Man beneidete dieſe wun¬
derlichen Geſellen, die in ſeeligem Müßig¬
gange alle abentheuerlichen Reize der Natur
zu genießen berechtigt ſind; man freute ſich,
ihnen einigermaßen ähnlich zu ſeyn.


[218]

Indeſſen hatten die Frauen angefangen,
Erdäpfel zu ſieden, und die mitgebrachten
Speiſen auszupacken und zu bereiten. Eini¬
ge Töpfe ſtanden beym Feuer, gruppenweiſe
lagerte ſich die Geſellſchaft unter den Bäu¬
men und Büſchen. Ihre ſeltſame Kleidun¬
gen und die mancherley Waffen gaben ihr
ein fremdes Anſehen. Die Pferde wurden
bey Seite gefüttert, und wenn man die Kut¬
ſchen hätte verſtecken wollen, ſo wäre der
Anblick dieſer kleinen Horde bis zur Illuſion
romantiſch geweſen.


Wilhelm genoß ein nie gefühltes Ver¬
gnügen. Er konnte hier eine wandernde
Colonie und ſich als Anführer derſelben den¬
ken. In dieſem Sinne unterhielt er ſich mit
einem jeden, und bildete den Wahn des
Moments ſo poetiſch als möglich aus. Die
Gefühle der Geſellſchaft erhöhten ſich; man
aß, trank und jubilirte, und bekannte wie¬
[219] derholt, niemals ſchönere Augenblicke erlebt
zu haben.


Nicht lange hatte das Vergnügen zuge¬
nommen, als bey den jungen Leuten die
Thätigkeit erwachte. Wilhelm und Laertes
griffen zu den Rappieren, und fingen die߬
mal in theatraliſcher Abſicht ihre Übungen
an. Sie wollten den Zweykampf darſtellen,
in welchem Hamlet und ſein Gegner ein ſo
tragiſches Ende nehmen. Beide Freunde
waren überzeugt, daß man in dieſer wichti¬
gen Scene nicht, wie es wohl auf Theatern
zu geſchehen pflegt, nur ungeſchickt hin und
wieder ſtoßen dürfe; ſie hofften ein Muſter
darzuſtellen, wie man, bey der Aufführung,
auch dem Kenner der Fechtkunſt ein würdi¬
ges Schauſpiel zu geben habe. Man ſchloß
einen Kreis um ſie her; beide fochten mit
Eifer und Einſicht, das Intereſſe der Zu¬
ſchauer wuchs mit jedem Gange.


[220]

Auf einmal aber fiel im nächſten Buſche
ein Schuß, und gleich darauf noch einer,
und die Geſellſchaft fuhr erſchreckt auseinan¬
der. Bald erblickte man bewaffnete Leute,
die auf den Ort zudrangen, wo die Pferde
nicht weit von den bepackten Kutſchen ihr
Futter einnahmen.


Ein allgemeiner Schrey entfuhr dem weib¬
lichen Geſchlechte, unſre Helden warfen die
Rappiere weg, griffen nach den Piſtolen, eil¬
ten den Räubern entgegen, und forderten,
unter lebhaften Drohungen, Rechenſchaft des
Unternehmens.


Als man ihnen lakoniſch mit ein Paar
Musketenſchüſſen antwortete, druckte Wil¬
helm ſeine Piſtole auf einen Krauskopf ab,
der den Wagen erſtiegen hatte, und die
Stricke des Gepäckes auseinander ſchnitt.
Wohlgetroffen ſtürzte er ſogleich herunter;
Laertes hatte auch nicht fehl geſchoſſen, und
[221] beide Freunde zogen beherzt ihre Seitenge¬
wehre, als ein Theil der räuberiſchen Bande,
mit Fluchen und Gebrüll, auf ſie losbrach,
einige Schüſſe auf ſie that, und ſich mit
blinkenden Säbeln ihrer Kühnheit entgegen
ſetzte. Unſre junge Helden hielten ſich tapfer;
ſie riefen ihren übrigen Geſellen zu, und
munterten ſie zu einer allgemeinen Verthei¬
digung auf. Bald aber verlor Wilhelm den
Anblick des Lichtes, und das Bewußtſeyn
deſſen, was vorging. Von einem Schuß, der
ihn zwiſchen der Bruſt und dem linken Arm
verwundete, von einem Hiebe, der ihm den
Hut ſpaltete, und faſt bis auf die Hirnſchale
durchdrang, betäubt, fiel er nieder, und mu߬
te das unglückliche Ende des Überfalls nur
erſt in der Folge aus der Erzählung ver¬
nehmen.


Als er die Augen wieder aufſchlug, be¬
fand er ſich in der wunderbarſten Lage. Das
[222] erſte, was ihm durch die Dämmerung, die
noch vor ſeinen Augen lag, entgegen blickte,
war das Geſicht Philinens, das ſich über
das ſeine herüber neigte. Er fühlte ſich
ſchwach, und da er, um ſich empor zu rich¬
ten, eine Bewegung machte, fand er ſich in
Philinens Schooß, in den er auch wieder
zurück ſank. Sie ſaß auf dem Raſen, hatte
den Kopf des vor ihr ausgeſtreckten Jüng¬
lings leiſe an ſich gedrückt, und ihm in ihren
Armen, ſo viel ſie konnte, ein ſanftes Lager
bereitet. Mignon kniete mit zerſtreuten blu¬
tigen Haaren an ſeinen Füßen, und umfaßte
ſie mit vielen Thränen.


Als Wilhelm ſeine blutigen Kleider an¬
ſah, fragte er mit gebrochner Stimme, wo
er ſich befinde? was ihm und den andern
begegnet ſey? Philine bat ihn, ruhig zu blei¬
ben, die übrigen, ſagte ſie, ſeyen alle in Si¬
cherheit, und niemand als er und Laertes
[223] verwundet. Weiter wollte ſie nichts erzäh¬
len, und bat ihn inſtändig, er möchte ſich
ruhig halten, weil ſeine Wunden nur ſchlecht
und in der Eile verbunden ſeyen. Er reichte
Mignon die Hand, und erkundigte ſich nach
der Urſache der blutigen Locken des Kindes,
das er auch verwundet hielt.


Um ihn zu beruhigen, erzählte Philine:
dieſes gutherzige Geſchöpf, da es ſeinen
Freund verwundet geſehen, habe ſich in der
Geſchwindigkeit auf nichts beſonnen, um das
Blut zu ſtillen, es habe ſeine eigenen Haare
die um den Kopf geflogen, genommen, um
die Wunden zu ſtopfen, habe aber bald
von dem vergeblichen Unternehmen abſtehen
müſſen. Nachher verband man ihn mit
Schwamm und Moos, Philine hatte dazu
ihr Halstuch hergegeben.


Wilhelm bemerkte, daß Philine mit dem
Rücken gegen ihren Koffer ſaß, der noch
[224] ganz wohl verſchloſſen und unbeſchädigt aus¬
ſah. Er fragte, ob die andern auch ſo glück¬
lich geweſen, ihre Haabſeligkeiten zu retten?
Sie antwortete mit Achſelzucken und einem
Blick auf die Wieſe, wo zerbrochne Kaſten,
zerſchlagne Koffer, zerſchnittne Mantelſäcke
und eine Menge kleiner Geräthſchaften zer¬
ſtreut hin und wieder lagen. Kein Menſch
war auf dem Platze zu ſehen, und die wun¬
derliche Gruppe fand ſich in dieſer Einſam¬
keit allein.


Wilhelm erfuhr nun immer mehr als er
wiſſen wollte: die übrigen Männer, die al¬
lenfalls noch Widerſtand hätten thun kön¬
nen, waren gleich in Schrecken geſetzt und
bald überwältigt; ein Theil floh, ein Theil
ſah mit Entſetzen dem Unfalle zu. Die Fuhr¬
leute, die ſich noch wegen ihrer Pferde am
hartnäckigſten gehalten hatten, wurden nie¬
dergeworfen und gebunden, und in kurzem
war[225] war alles rein ausgeplündert und wegge¬
ſchleppt. Die beängſtigten Reiſenden fingen,
ſobald die Sorge für ihr Leben vorüber war,
ihren Verluſt zu bejammern an, eilten, mit
möglichſter Geſchwindigkeit, dem benachbar¬
ten Dorfe zu, führten den leicht verwundeten
Laertes mit ſich, und brachten nur wenige
Trümmer ihrer Beſitzthümer davon. Der
Harfner hatte ſein beſchädigtes Inſtrument
an einen Baum gelehnt, und war mit nach
dem Orte geeilt, einen Wundarzt aufzuſu¬
chen, und ſeinem für todt zurück gelaſſenen
Wohlthäter nach Möglichkeit beyzuſpringen.


W. Meiſters Lehrj. 2. P[226]

Sechstes Capitel.

Unſre drey verunglückten Abenteurer blie¬
ben indeß noch eine Zeitlang in ihrer ſeltſa¬
men Lage, niemand eilte ihnen zu Hülfe.
Der Abend kam herbey, die Nacht drohte
hereinzubrechen; Philinens Gleichgültigkeit
fing an in Unruhe überzugehen, Mignon lief
hin und wieder, und die Ungeduld des Kin¬
des nahm mit jedem Augenblicke zu. End¬
lich da ihnen ihr Wunſch gewährt ward,
und Menſchen ſich ihnen näherten, überfiel ſie
ein neuer Schrecken. Sie hörten ganz deut¬
lich einen Trupp Pferde in dem Wege her¬
auf kommen, den auch ſie zurück gelegt hat¬
ten, und fürchteten, daß abermals eine Ge¬
ſellſchaft ungebetner Gäſte dieſen Wahlplatz
beſuchen möchte, um Nachleſe zu halten.


[227]

Wie angenehm wurden ſie dagegen über¬
raſcht, als ihnen aus den Büſchen, auf einem
Schimmel reitend, ein Frauenzimmer zu Ge¬
ſichte kam, die von einem ältlichen Herrn
und einigen Cavalieren begleitet wurde;
Reitknechte, Bedienten und ein Trupp Huſa¬
ren folgten nach.


Philine, die zu dieſer Erſcheinung große
Augen machte, war eben im Begriff zu ru¬
fen und die ſchöne Amazone um Hülfe an¬
zuflehen, als dieſe ſchon erſtaunt ihre Augen
nach der wunderbaren Gruppe wendete, ſo¬
gleich ihr Pferd lenkte, herzuritt und ſtille
hielt. Sie erkundigte ſich eifrig nach dem
Verwundeten, deſſen Lage, in dem Schooße
der leichtfertigen Samariterin, ihr höchſt ſon¬
derbar vorzukommen ſchien.


Iſt es Ihr Mann? fragte ſie Philinen.
Es iſt nur ein guter Freund, verſetzte dieſe
mit einem Ton, der Wilhelmen höchſt zuwi¬
P 2[228] der war. Er hatte ſeine Augen auf die
ſanften, hohen, ſtillen, theilnehmenden Ge¬
ſichtszüge der Ankommenden geheftet; er
glaubte nie etwas edleres noch liebenswürdi¬
geres geſehen zu haben. Ein weiter Manns¬
überrock verbarg ihm ihre Geſtalt; ſie hatte
ihn, wie es ſchien, gegen die Einflüſſe der
kühlen Abendluft von einem ihrer Geſellſchaf¬
ter geborgt.


Die Ritter waren indeß auch näher ge¬
kommen; einige ſtiegen ab, die Dame that
ein gleiches, und fragte, mit menſchenfreund¬
licher Theilnehmung, nach allen Umſtänden
des Unfalls, der die Reiſenden betroffen hat¬
te, beſonders aber nach den Wunden des
hingeſtreckten Jünglings. Darauf wandte
ſie ſich ſchnell um, und ging mit einem alten
Herrn ſeitwärts nach den Wagen, welche
langſam den Berg herauf kamen, und auf
dem Wahlplatze ſtille hielten.


[229]

Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit
am Schlage der einen Kutſche geſtanden, und
ſich mit den Ankommenden unterhalten hat¬
te, ſtieg ein Mann von unterſetzter Geſtalt
heraus, den ſie zu unſerm verwundeten Hel¬
den führte. An dem Käſtchen, das er in der
Hand hatte, und an der ledernen Taſche mit
Inſtrumenten erkannte man ihn bald für ei¬
nen Wundarzt. Seine Manieren waren
mehr rauh als einnehmend, doch ſeine Hand
leicht, und ſeine Hülfe willkommen.


Er unterſuchte genau, erklärte, keine
Wunde ſey gefährlich, er wolle ſie auf der
Stelle verbinden, alsdann könne man den
Kranken in das nächſte Dorf bringen.


Die Beſorgniſſe der jungen Dame ſchie¬
nen ſich zu vermehren. Sehen Sie nur,
ſagte ſie, nachdem ſie einigemal hin und her¬
gegangen war, und den alten Herrn wieder
herbey führte, ſehn Sie, wie man ihn zuge¬
[230] richtet hat! Und leidet er nicht um unſert¬
willen? Wilhelm hörte dieſe Worte, und
verſtand ſie nicht. Sie ging unruhig hin
und wieder; es ſchien, als könnte ſie ſich
nicht von dem Anblick des Verwundeten los¬
reiſſen, und als fürchtete ſie zugleich den
Wohlſtand zu verletzen, wenn ſie ſtehen blie¬
be, zu der Zeit, da man ihn, wiewohl mit
Mühe, zu entkleiden anfing. Der Chirurgus
ſchnitt, eben den linken Ermel auf, als der
alte Herr hinzutrat und ihr, mit einem ernſt¬
haften Tone, die Nothwendigkeit ihre Reiſe
fortzuſetzen vorſtellte. Wilhelm hatte ſeine
Augen auf ſie gerichtet, und war von ihren
Blicken ſo eingenommen, daß er kaum fühl¬
te, was mit ihm vorging.


Philine war indeſſen aufgeſtanden, um
der gnädigen Dame die Hand zu küſſen.
Als ſie neben einander ſtanden, glaubte un¬
ſer Freund nie einen ſolchen Abſtand geſehn
[231] zu haben. Philine war ihm noch nie in ei¬
nem ſo ungünſtigen Lichte erſchienen. Sie
ſollte, wie es ihm vorkam, ſich jener edlen
Natur nicht nahen, noch weniger ſie be¬
rühren.


Die Dame fragte Philinen verſchiednes,
aber leiſe. Endlich kehrte ſie ſich zu dem
alten Herrn, der noch immer trocken dabey
ſtand, und ſagte: lieber Oheim, darf ich auf
Ihre Koſten freygebig ſeyn? Sie zog ſogleich
den Überrock aus, und ihre Abſicht, ihn dem
Verwundeten und Unbekleideten hinzugeben,
war nicht zu verkennen.


Wilhelm, den der heilſame Blick ihrer
Augen bisher feſt gehalten hatte, war nun,
als der Überrock fiel, von ihrer ſchönen Ge¬
ſtalt überraſcht. Sie trat näher herzu, und
legte den Rock ſanft über ihn hin. In die¬
ſem Augenblicke, da er den Mund öffnen
und einige Worte des Dankes ſtammeln
[232] wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer
Gegenwart ſo ſonderbar auf ſeine ſchon an¬
gegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal
vorkam, als ſey ihr Haupt mit Strahlen
umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite
ſich nach und nach ein glänzendes Licht. Der
Chirurgus berührte ihn eben unſanfter, in¬
dem er die Kugel, welche in der Wunde
ſtack, herauszuziehen Anſtalt machte. Die
Heilige verſchwand vor den Augen des Hin¬
ſinkenden; er verlor alles Bewußtſeyn, und
als er wieder zu ſich kam, waren Reiter und
Wagen, die Schöne ſammt ihren Begleitern
verſchwunden.


[233]

Siebentes Capitel.

Nachdem unſer Freund verbunden und an¬
gekleidet war, eilte der Chirurgus weg, eben
als der Harfenſpieler mit einer Anzahl
Bauern herauf kam. Sie bereiteten eilig
aus abgehauenen Äſten und eingeflochtnem
Reiſig eine Trage, luden den Verwundeten
drauf und brachten ihn unter Anführung
eines reitenden Jägers, den die Herrſchaft
zurück gelaſſen hatte, ſachte den Berg hinun¬
ter. Der Harfner, ſtill und in ſich gekehrt,
trug ſein beſchädigtes Inſtrument, einige Leu¬
te ſchleppten Philinens Koffer, ſie ſchlenderte
mit einem Bündel nach, Mignon ſprang
bald voraus, bald zur Seite durch Buſch
und Wald, und blickte ſehnlich nach ihrem
kranken Beſchützer hinüber.


[234]

Dieſer lag, in ſeinen warmen Üeberrock
gehüllt, ruhig auf der Bahre. Eine elektri¬
ſche Wärme ſchien aus der feinen Wolle in
ſeinen Körper überzugehen; genug er fühlte
ſich in die behaglichſte Empfindung verſetzt.
Die ſchöne Beſitzerin des Kleides hatte mäch¬
tig auf ihn gewirkt. Er ſah noch den Rock
von ihren Schultern fallen, die edelſte Ge¬
ſtalt, von Strahlen umgeben, vor ſich ſtehen,
und ſeine Seele eilte der Verſchwundnen
durch Felſen und Wälder auf dem Fuße nach.


Nur mit ſinkender Nacht kam der Zug
im Dorfe vor dem Wirthshauſe an, in wel¬
chem ſich die übrige Geſellſchaft befand, und
verzweiflungsvoll den unerſetzlichen Verluſt
beklagte. Die einzige kleine Stube des Hau¬
ſes war von Menſchen vollgepfropft; einige
lagen auf der Streue, andere hatten die
Bänke eingenommen; einige ſich hinter den
Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete,
[235] in einer benachbarten Kammer, ängſtlich ihre
Niederkunft. Der Schrecken hatte ſie be¬
ſchleunigt, und unter dem Beyſtande der
Wirthin, einer jungen, unerfahrnen Frau,
konnte man wenig Gutes erwarten.


Als die neuen Ankömmlinge herein ge¬
laſſen zu werden verlangten, entſtand ein
allgemeines Murren. Man behauptete nun,
daß man allein auf Wilhelms Rath unter
ſeiner beſondern Anführung dieſen gefährli¬
chen Weg unternommen, und ſich dieſem Un¬
fall ausgeſetzt habe. Man warf die Schuld
des übeln Ausgangs auf ihn, widerſetzte ſich
an der Thüre ſeinem Eintritt, und behaupte¬
te: er müſſe anderswo unterzukommen ſuchen.
Philinen begegnete man noch ſchnöder, der
Harfenſpieler und Mignon mußten auch das
ihrige leiden.


Nicht lange hörte der Jäger, dem die
Vorſorge für die Verlaßnen von ſeiner ſchö¬
[236] nen Herrſchaft ernſtlich anbefohlen war, dem
Streite mit Geduld zu; er fuhr mit Fluchen
und Drohen auf die Geſellſchaft los, gebot
ihnen zuſammen zu rücken, und den Ankom¬
menden Platz zu machen. Man fing an ſich
zu bequemen. Er bereitete Wilhelmen einen
Platz auf einem Tiſche, den er in eine Ecke
ſchob; Philine ließ ihren Koffer darneben
ſtellen, und ſetzte ſich drauf. Jeder druckte
ſich ſo gut er konnte, und der Jäger begab
ſich weg, um zu ſehen, ob er nicht ein be¬
quemeres Quartier für das Ehepaar aus¬
machen könne.


Kaum war er fort, als der Unwille wie¬
der laut zu werden anfing, und ein Vorwurf
den andern drängte. Jedermann erzählte
und erhöhte ſeinen Verluſt, man ſchalt die
Verwegenheit, durch die man ſo vieles ein¬
gebüßt, man verhehlte ſogar die Schaden¬
freude nicht, die man über die Wunden un¬
[237] ſers Freundes empfand, man verhöhnte Phi¬
linen, und wollte ihr die Art und Weiſe, wie
ſie ihren Koffer gerettet, zum Verbrechen
machen. Aus allerley Anzüglichkeiten und
Stichelreden hätte man ſchließen ſollen, ſie
habe ſich während der Plünderung und Nie¬
derlage um die Gunſt des Anführers der
Bande bemüht, und habe ihn, wer weiß
durch welche Künſte und Gefälligkeiten, ver¬
mocht, ihren Koffer frey zu geben. Man
wollte ſie eine ganze Weile vermißt haben.
Sie antwortete nichts und klapperte nur mit
den großen Schlöſſern ihres Koffers, um ihre
Neider recht von ſeiner Gegenwart zu über¬
zeugen, und die Verzweiflung des Haufens
durch ihr eignes Glück zu vermehren.


[238]

Achtes Capitel.

Wilhelm, ob er gleich durch den ſtarken Ver¬
luſt des Blutes ſchwach und nach der Er¬
ſcheinung jenes hülfreichen Engels mild und
ſanft geworden war, konnte ſich doch zuletzt
des Verdruſſes über die harten und unge¬
rechten Reden nicht enthalten, welche bey ſei¬
nem Stillſchweigen von der unzufriednen
Geſellſchaft immer erneuert wurden. Endlich
fühlte er ſich geſtärkt genug, um ſich aufzu¬
richten, und ihnen die Unart vorzuſtellen,
mit der ſie ihren Freund und Führer beun¬
ruhigten. Er hob ſein verbundnes Haupt in
die Höhe, und fing, indem er ſich mit eini¬
ger Mühe ſtützte und gegen die Wand lehn¬
te, folgendergeſtalt zu reden an:

[239]

Ich vergebe dem Schmerze, den jeder
über ſeinen Verluſt empfindet, daß ihr mich
in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich
beklagen ſolltet, daß ihr mir widerſteht und
mich von euch ſtoßt, das erſtemal da ich
Hülfe von euch erwarten könnte. Für die
Dienſte, die ich euch erzeigte, für die Gefäl¬
ligkeiten, die ich euch erwies, habe ich mich
durch euren Dank, durch euer freundſchaftli¬
ches Betragen bisher genugſam belohnt ge¬
funden; verleitet mich nicht, zwingt mein
Gemüth nicht zurückzugehn und zu überden¬
ken, was ich für euch gethan habe; dieſe
[Berechnung] würde mir nur peinlich werden.
Der Zufall hat mich zu euch geführt, Um¬
ſtände und eine heimliche Neigung haben
mich bey euch gehalten. Ich nahm an euren
Arbeiten, an euren Vergnügungen Theil;
meine wenigen Kenntniſſe waren zu eurem
Dienſte. Gebt ihr mir jetzt auf eine bittre
[240] Weiſe den Unfall Schuld, der uns betroffen
hat; ſo erinnert ihr euch nicht, daß der erſte
Vorſchlag dieſen Weg zu nehmen, von frem¬
den Leuten kam, von euch allen geprüft wor¬
den, und ſo gut von jedem als von mir ge¬
billigt worden iſt.


Wäre unſre Reiſe glücklich vollbracht, ſo
würde ſich jeder wegen des guten Einfalls
loben, daß er dieſen Weg angerathen, daß
er ihn vorgezogen, er würde ſich unſrer Über¬
legungen und ſeines ausgeübten Stimmrechts
mit Freuden erinnern; jetzo macht ihr mich
allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine
Schuld auf, die ich willig übernehmen woll¬
te, wenn mich das reinſte Bewußtſeyn nicht
frey ſpräche, ja wenn ich mich nicht auf euch
ſelbſt berufen könnte. Habt ihr gegen mich
etwas zu ſagen, ſo bringt es ordentlich vor,
und ich werde mich zu vertheidigen wiſſen;
habt ihr nichts Gegründetes anzugeben, ſo
ſchweigt,[241] ſchweigt, und quält mich nicht, jetzt da ich
der Ruhe ſo äuſſerſt bedürftig bin.


Statt aller Antwort fingen die Mädchen
abermals zu weinen und ihren Verluſt um¬
ſtändlich zu erzählen an. Melina war ganz
auſſer Faſſung: denn er hatte freylich am
meiſten und mehr als wir denken können
eingebüßt. Wie ein Raſender ſtolperte er in
dem engen Raume hin und her, ſtieß den
Kopf wider die Wand, fluchte und ſchalt auf
das unziemlichſte; und da nun gar zu glei¬
cher Zeit die aus der Kammer trat,
mit der Nachricht, daß ſeine Frau mit einem
todten Kinde niedergekommen, erlaubte er ſich
die heftigſten Ausbrüche, und einſtimmig mit
ihm heulte, ſchrie, brummte und lermte alles
durcheinander.


Wilhelm, der zugleich von mitleidiger
Theilnehmung an ihrem Zuſtande und von
Verdruß über ihre niedrige Geſinnung bis in
W. Meiſters Lehrj. 2. Q[242] ſein Innerſtes bewegt war, fühlte ohnerach¬
tet der Schwäche ſeines Körpers die ganze
Kraft ſeiner Seele lebendig. Faſt, rief er
aus, muß ich euch verachten, ſo beklagens¬
werth ihr auch ſeyn mögt. Kein Unglück be¬
rechtigt uns, einen Unſchuldigen mit Vorwür¬
fen zu beladen; habe ich Theil an dieſem
falſchen Schritte, ſo büße ich auch mein
Theil. Ich liege verwundet hier, und wenn
die Geſellſchaft verloren hat, ſo verliere ich
das meiſte. Was an Garderobe geraubt
worden, was an Dekorationen zu Grunde
gegangen, war mein; denn Sie, Herr Meli¬
na, haben mich noch nicht bezahlt, und ich
ſpreche Sie von dieſer Forderung hiermit
völlig frey.


Sie haben gut ſchenken, rief Melina, was
niemand wiederſehen wird. Ihr Geld lag in
meiner Frauen Koffer, und es iſt Ihre Schuld,
daß es Ihnen verloren geht. Aber o! wenn
[243] das alles wäre! — Er fing aufs neue zu
ſtampfen, zu ſchimpfen und zu ſchreyen an.
Jedermann erinnerte ſich der ſchönen Kleider
aus der Garderobe des Grafen, der Schnal¬
len, Uhren, Doſen, Hüte, welche Melina von
dem Kammerdiener ſo glücklich gehandelt
hatte. Jedem fielen ſeine eigenen, obgleich
viel geringeren Schätze dabey wieder ins
Gedächtniß; man blickte mit Verdruß auf
Philinens Koffer, man gab Wilhelmen zu
verſtehen, er habe wahrlich nicht übel gethan,
ſich mit dieſer Schönen zu aſſociiren, und
durch ihr Glück auch ſeine Habſeligkeiten zu
retten.


Glaubt ihr denn, rief er endlich aus, daß
ich etwas Eignes haben werde, ſo lange ihr
darbt, und iſt es wohl das erſtemal, daß ich
in der Noth mit euch redlich theile? Man
öffne den Koffer, und was mein iſt, will ich
zum öffentlichen Bedürfniß niederlegen.


Q 2[244]

Es iſt mein Koffer, ſagte Philine, und
ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es
mir beliebt. Ihre Paar Fittige, die ich Ihnen
aufgehoben, können wenig betragen, und
wenn ſie an die redlichſten Juden verkauft
werden. Denken Sie an ſich, was Ihre Hei¬
lung koſten, was Ihnen in einem fremden
Lande begegnen kann.


Sie werden mir, Philine, verſetzte Wil¬
helm, nichts vorenthalten, was mein iſt, und
das wenige wird uns aus der erſten Verle¬
genheit retten. Allein der Menſch beſitzt
noch manches, womit er ſeinen Freunden bey¬
ſtehen kann, das eben nicht klingende Münze
zu ſeyn braucht. Alles was in mir iſt, ſoll
dieſen Unglücklichen gewidmet ſeyn, die ge¬
wis, wenn ſie wieder zu ſich ſelbſt kommen,
ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden.
Ja, fuhr er fort, ich fühle daß ihr bedürft,
und was ich vermag, will ich euch leiſten,
[245] ſchenkt mir euer Vertrauen aufs neue, beru¬
higt euch für dieſen Augenblick, nehmet an,
was ich euch verſpreche! Wer will die Zu¬
ſage im Namen aller von mir empfangen?


Hier reckte er ſeine Hand aus, und rief:
ich verſpreche, daß ich nicht eher von euch
weichen, euch nicht eher verlaſſen will, als
bis ein jeder ſeinen Verluſt doppelt und drey¬
fach erſetzt ſieht, bis ihr den Zuſtand, in
dem ihr euch, durch weſſen Schuld es wolle,
befindet, völlig vergeſſen, und mit einem
glücklichern vertauſcht habt.


Er hielt ſeine Hand noch immer ausge¬
ſtreckt, und niemand wollte ſie faſſen. Ich
verſprech’ es noch einmal, rief er aus, indem
er auf ſein Kiſſen zurück ſank. Alle blieben
ſtille; ſie waren beſchämt, aber nicht getröſtet,
und Philine, auf ihrem Koffer ſitzend, knackte
Nüſſe auf, die ſie in ihrer Taſche gefunden
hatte.

[246]

Neuntes Capitel.

Der Jäger kam mit einigen Leuten zurück,
und machte Anſtalt, den Verwundeten weg¬
zuſchaffen. Er hatte den Pfarrer des Orts
beredet, das Ehepaar aufzunehmen; Phili¬
nens Koffer ward fortgetragen, und ſie folgte
mit natürlichem Anſtand. Mignon lief vor¬
aus, und da der Kranke im Pfarrhaus an¬
kam, ward ihm ein weites Ehebette, das
ſchon lange Zeit als Gaſt– und Ehren-Bette
bereit ſtand, eingegeben. Hier bemerkte man
erſt, daß die Wunde aufgegangen war und
ſtark geblutet hatte. Man mußte für einen
neuen Verband ſorgen. Der Kranke verfiel
in ein Fieber, Philine wartete ihn treulich,
und als die Müdigkeit ſie übermeiſterte, lös¬
te ſie der Harfenſpieler ab; Mignon war,
[247] mit dem feſten Vorſatz, zu wachen, in einer
Ecke eingeſchlafen.


Des Morgens, als Wilhelm ſich ein we¬
nig erholt hatte, erfuhr er von dem Jäger,
daß die Herrſchaft, die ihnen geſtern zu Hülfe
gekommen ſey, vor kurzem ihre Güter ver¬
laſſen habe, um den Kriegsbewegungen aus¬
zuweichen, und ſich bis zum Frieden in einer
ruhigern Gegend aufzuhalten. Er nannte
den ältlichen Herrn und ſeine Nichte, zeigte
den Ort an, wohin ſie ſich zuerſt begeben,
erklärte Wilhelmen, wie das Fräulein ihm
eingebunden, für die Verlaßnen Sorge zu
tragen.


Der hereintretende Wundarzt unterbrach
die lebhaften Dankſagungen, in welche ſich
Wilhelm gegen den Jäger ergoß, machte
eine umſtändliche Beſchreibung der Wunden,
verſicherte, daß ſie leicht heilen würden, wenn
der Patient ſich ruhig hielte und ſich ab¬
wartete.


[248]

Nachdem der Jäger weggeritten war, er¬
zählte Philine, daß er ihr einen Beutel mit
zwanzig Louisd’oren zurück gelaſſen, daß er
dem Geiſtlichen ein Douceur für die Woh¬
nung gegeben, und die Curkoſten für den
Chirurgus bey ihm niedergelegt habe. Sie
gelte durchaus für Wilhelms Frau, introdu¬
zire ſich ein für allemal bey ihm in dieſer
Qualität, und werde nicht zugeben, daß er
ſich nach einer andern Wartung umſehe.


Philine, ſagte Wilhelm, ich bin Ihnen
bey dem Unfall, der uns begegnet iſt, ſchon
manchen Dank ſchuldig worden, und ich
wünſchte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen
Sie vermehrt zu ſehen. Ich bin unruhig, ſo
lange Sie um mich ſind, denn ich weiß
nichts, womit ich Ihnen die Mühe vergelten
kann. Geben Sie mir meine Sachen, die
Sie in Ihrem Koffer gerettet haben, heraus,
ſchließen Sie ſich an die übrige Geſellſchaft
[249] an, ſuchen Sie ein ander Quartier, nehmen
Sie meinen Dank und die goldne Uhr als
eine kleine Erkenntlichkeit, nur verlaſſen Sie
mich; Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr
als Sie glauben.


Sie lachte ihm ins Geſicht, als er geen¬
digt hatte. Du biſt ein Thor, ſagte ſie, du
wirſt nicht klug werden. Ich weiß beſſer
was dir gut iſt; ich werde bleiben; ich wer¬
de mich nicht von der Stelle rühren. Auf
den Dank der Männer habe ich niemals ge¬
rechnet, alſo auch auf deinen nicht; und
wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?


Sie blieb, und hatte ſich bald bey dem
Pfarrer und ſeiner Familie eingeſchmeichelt,
indem ſie immer luſtig war, jedem etwas zu
ſchenken, jedem nach dem Sinne zu reden
wußte, und dabey immer that, was ſie woll¬
te. Wilhelm befand ſich nicht übel; der
Chirurgus, ein unwiſſender, aber nicht unge¬
[250] ſchickter Menſch, ließ die Natur walten, und
ſo war der Patient bald auf dem Wege der
Beſſerung. Sehnlich wünſchte dieſer ſich
wieder hergeſtellt zu ſehen, um ſeine Plane,
ſeine Wünſche eifrig verfolgen zu können.


Unaufhörlich rief er ſich jene Begebenheit
zurück, welche einen unauslöſchlichen Ein¬
druck auf ſein Gemüth gemacht hatte. Er
ſah die ſchöne Amazone reitend aus den Bü¬
ſchen hervorkommen, ſie näherte ſich ihm,
ſtieg ab, ging hin und wieder, und bemühte
ſich um ſeinetwillen. Er ſah das umhüllende
Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Ge¬
ſicht, ihre Geſtalt glänzend verſchwinden.
Alle ſeine Jugendträume knüpften ſich an
dieſes Bild. Er glaubte nunmehr die edle
heldenmüthige Chlorinde mit eignen Augen
geſehen zu haben; ihm fiel der kranke Kö¬
nigsſohn wieder ein, an deſſen Lager die
ſchöne theilnehmende Prinzeſſin mit ſtiller
Beſcheidenheit herantritt.


[251]

Sollten nicht, ſagte er manchmal im Stil¬
len zu ſich ſelbſt, uns in der Jugend wie im
Schlafe, die Bilder zukünftiger Schickſale
umſchweben, und unſerm unbefangenen Auge
ahndungsvoll ſichtbar werden? ſollten die
Keime deſſen, was uns begegnen wird, nicht
ſchon von der Hand des Schickſals ausge¬
ſtreut, ſollte nicht ein Vorgenuß der Früchte,
die wir einſt zu brechen hoffen, möglich
ſeyn?


Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene
Scene tauſendmal zu wiederholen. Tauſend¬
mal rief er den Klang jener ſüßen Stimme
zurück, und wie beneidete er Philinen, die
jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam
ihm die Geſchichte wie ein Traum vor, und
er würde ſie für ein Mährchen gehalten ha¬
ben, wenn nicht das Kleid zurück geblieben
wäre, das ihm die Gewisheit der Erſcheinung
verſicherte.


[252]

Mit der größten Sorgfalt für dieſes Ge¬
wand war das lebhafteſte Verlangen verbun¬
den, ſich damit zu bekleiden. Sobald er auf¬
ſtand, warf er es über, und ſorgte den gan¬
zen Tag, es möchte durch einen Flecken, oder
auf ſonſt eine Weiſe beſchädigt werden.


[253]

Zehntes Capitel.

Laertes beſuchte ſeinen Freund. Er war bey
jener lebhaften Scene im Wirthshauſe nicht
gegenwärtig geweſen, denn er lag in einer
obern Kammer. Über ſeinen Verluſt war er
ſehr getröſtet, und half ſich mit ſeinem ge¬
wöhnlichen: was thuts? Er erzählte ver¬
ſchiedne lächerliche Züge von der Geſellſchaft,
beſonders gab er Frau Melina Schuld: ſie
beweine den Verluſt ihrer Tochter nur des¬
wegen, weil ſie nicht das altdeutſche Vergnü¬
gen haben könne, eine Mechtilde taufen zu
laſſen. Was ihren Mann betreffe, ſo offen¬
bare ſichs nun, daß er viel Geld bey ſich
gehabt, und auch ſchon damals des Vor¬
ſchuſſes, den er Wilhelmen abgelockt, keines¬
weges bedurft habe. Melina wolle nunmehr
[254] mit dem nächſten Poſtwagen abgehn, und
werde von Wilhelmen ein Empfehlungsſchrei¬
ben an ſeinen Freund den Director Serlo
verlangen, bey deſſen Geſellſchaft er, weil
die eigne Unternehmung geſcheitert, nun un¬
terzukommen hoffe.


Mignon war einige Tage ſehr ſtill gewe¬
ſen, und als man in ſie drang, geſtand ſie
endlich, daß ihr rechter Arm verrenkt ſey.
Das haſt du deiner Verwegenheit zu dan¬
ken, ſagte Philine, und erzählte: wie das
Kind im Gefechte ſeinen Hirſchfänger gezo¬
gen, und als es ſeinen Freund in Gefahr
geſehen, wacker auf die Freybeuter zugehauen
habe. Endlich ſey es beym Arme ergriffen
und auf die Seite geſchleudert worden. Man
ſchalt auf ſie, daß ſie das Übel nicht eher
entdeckt habe, doch merkte man wohl, daß
ſie ſich vor dem Chirurgus geſcheut, der ſie
bisher immer für einen Knaben gehalten
[255] hatte. Man ſuchte das Übel zu heben, und
ſie mußte den Arm in der Binde tragen.
Hierüber war ſie aufs neue empfindlich, weil
ſie den beſten Theil der Pflege und War¬
tung ihres Freundes Philinen überlaſſen
mußte, und die angenehme Sünderin zeigte
ſich nur um deſto thätiger und aufmerkſamer.


Eines Morgens als Wilhelm erwachte,
fand er ſich mit ihr in einer ſonderbaren
Nähe. Er war auf ſeinem weiten Lager in
der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere
Seite gerutſcht. Philine lag queer über den
vordern Theil hingeſtreckt; ſie ſchien auf dem
Bette ſitzend und leſend eingeſchlafen zu ſeyn.
Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen,
ſie war zurück und mit dem Kopf nah’ an
ſeine Bruſt geſunken, über die ſich ihre blon¬
den aufgelößten Haare in Wellen ausbreite¬
ten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte
mehr als Kunſt und Vorſatz ihre Reize; eine
[256] kindiſche lächelnde Ruhe ſchwebte über ihrem
Geſichte. Er ſah ſie eine Zeitlang an, und
ſchien ſich ſelbſt über das Vergnügen zu ta¬
deln, womit er ſie anſah, und wir wiſſen
nicht, ob er ſeinen Zuſtand ſegnete oder ta¬
delte, der ihm Ruhe und Mäßigung zur
Pflicht machte. Er hatte ſie eine Zeitlang
aufmerkſam betrachtet, als ſie ſich zu regen
anfing. Er ſchloß die Augen ſachte zu, doch
konnte er nicht unterlaſſen zu blinzen und
nach ihr zu ſehen, als ſie ſich wieder zurecht
putzte und wegging, nach dem Frühſtück zu
fragen.


Nach und nach hatten ſich nun die ſämmt¬
lichen Schauſpieler bey Wilhelmen gemeldet,
hatten Empfehlungsſchreiben und Reiſegeld
mehr oder weniger unartig und ungeſtüm
gefordert und immer mit Widerwillen Phili¬
nens erhalten. Vergebens ſtellte ſie ihrem
Freunde vor, daß der Jäger auch dieſen Leu¬
ten[257] ten eine anſehnliche Summe zurückgelaſſen,
daß man ihn nur zum Beſten habe. Viel¬
mehr kamen ſie darüber in einen lebhaften
Zwiſt, und Wilhelm behauptete nunmehr ein
für allemal, daß ſie ſich gleichfalls an die
übrige Geſellſchaft anſchließen und ihr Glück
bey Serlo verſuchen ſollte.


Nur einige Augenblicke verließ ſie ihr
Gleichmuth, dann erholte ſie ſich ſchnell wie¬
der, und rief: wenn ich nur meinen Blonden
wieder hätte, ſo wollt’ ich mich um euch alle
nichts kümmern. Sie meinte Friedrichen,
der ſich vom Wahlplatze verloren und nicht
wieder gezeigt hatte.


Des andern Morgens brachte Mignon
die Nachricht ans Bette: daß Philine in der
Nacht abgereiſt ſey; im Nebenzimmer habe
ſie alles, was ihm gehöre, ſehr ordentlich zu¬
ſammen gelegt. Er empfand ihre Abweſen¬
heit; er hatte an ihr eine treue Wärterin,
W. Meiſters Lehrj. 2. R[258] eine muntere Geſellſchafterin verloren; er
war nicht mehr gewohnt allein zu ſeyn. Al¬
lein Mignon füllte die Lücke bald wieder aus.


Seitdem jene leichtfertige Schöne in ihren
freundlichen Bemühungen den Verwundeten
umgab, hatte ſich die Kleine nach und nach
zurück gezogen, und war ſtille für ſich geblie¬
ben; nun aber da ſie wieder freyes Feld ge¬
wann, trat ſie mit Aufmerkſamkeit und Liebe
hervor, war eifrig ihm zu dienen, und mun¬
ter ihn zu unterhalten.


[259]

Eilftes Capitel.

Mit lebhaften Schritten nahete er ſich der
Beſſerung. Er hoffte nun in wenig Tagen
ſeine Reiſe antreten zu können. Er wollte
nicht etwa planlos ein ſchlenderndes Leben
fortſetzen, ſondern zweckmäßige Schritte ſoll¬
ten künftig ſeine Bahn bezeichnen. Zuerſt
wollte er die hülfreiche Herrſchaft aufſuchen,
um ſeine Dankbarkeit an den Tag zu legen,
alsdann zu ſeinem Freunde dem Director
eilen, um für die verunglückte Geſellſchaft
auf das beſte zu ſorgen, und zugleich die
Handelsfreunde, an die er mit Addreſſen ver¬
ſehen war, beſuchen, und die ihm aufgetrag¬
nen Geſchäfte verrichten. Er machte ſich
Hoffnung, daß ihm das Glück wie vorher
auch künftig beyſtehen, und ihm Gelegenheit
R 2[260] verſchaffen werde, durch eine glückliche Spe¬
kulation den Verluſt zu erſetzen, und die
Lücke ſeiner Caſſe wieder auszufüllen.


Das Verlangen, ſeine Retterin wieder zu
ſehen, wuchs mit jedem Tage. Um ſeine
Reiſeroute zu beſtimmen, ging er mit dem
Geiſtlichen zu Rathe, der ſchöne geographi¬
ſche und ſtatiſtiſche Kenntniſſe hatte, und
eine artige Bücher– und Karten–Sammlung
beſaß. Man ſuchte nach dem Orte, den die
edle Familie während des Kriegs zu ihrem
Sitz erwählt hatte, man ſuchte Nachrichten
von ihr ſelbſt auf; allein der Ort war in
keiner Geographie, auf keiner Karte zu fin¬
den, und die genealogiſchen Handbücher ſag¬
ten nichts von einer ſolchen Familie.


Wilhelm wurde unruhig, und als er ſei¬
ne Bekümmerniß laut werden ließ, entdeckte
ihm der Harfenſpieler: er habe Urſache zu
glauben, daß der Jäger, es ſey aus welcher
[261] Urſache es wolle, den wahren Nahmen ver¬
ſchwiegen habe.


Wilhelm, der nun einmal ſich in der
Nähe der Schönen glaubte, hoffte einige
Nachricht von ihr zu erhalten, wenn er den
Harfenſpieler abſchickte; aber auch dieſe Hoff¬
nung ward getäuſcht. So ſehr der Alte ſich
auch erkundigte, konnte er doch auf keine
Spur kommen. In jenen Tagen waren ver¬
ſchiedene lebhafte Bewegungen und unvor¬
geſehene Durchmärſche in dieſen Gegenden
vorgefallen, niemand hatte auf die reiſende
Geſellſchaft beſonders Acht gegeben, ſo daß
der ausgeſendete Bote, um nicht für einen
jüdiſchen Spion angeſehn zu werden, wieder
zurück gehen und ohne Oelblatt vor ſeinem
Herrn und Freund erſcheinen mußte. Er
legte ſtrenge Rechenſchaft ab, wie er den
Auftrag auszurichten geſucht, und war be¬
müht, allen Verdacht einer Nachläſſigkeit von
[262] ſich zu entfernen. Er ſuchte auf alle Weiſe
Wilhelms Betrübniß zu lindern, beſann ſich
auf alles, was er von dem Jäger erfahren
hatte, und brachte mancherley Muthmaßun¬
gen vor, wobey denn endlich ein Umſtand
vorkam, woraus Wilhelm einige räthſelhafte
Worte der ſchönen Verſchwundnen deuten
konnte.


Die räuberiſche Bande nämlich hatte
nicht der wandernden Truppe, ſondern jener
Herrſchaft aufgepaßt, bey der ſie mit Recht
vieles Geld und Koſtbarkeiten vermuthete,
und von deren Zug ſie genaue Nachricht
mußte gehabt haben. Man wußte nicht, ob
man die That einem Freycorps, ob man ſie
Marodeurs oder Räubern zuſchreiben ſollte.
Genug, zum Glücke der vornehmen und rei¬
chen Caravane waren die Geringen und Ar¬
men zuerſt auf den Platz gekommen, und
hatten das Schickſal erduldet, das jenen zu¬
[263] bereitet war. Darauf bezogen ſich die Wor¬
te der jungen Dame, deren ſich Wilhelm
noch gar wohl erinnerte. Wenn er nun ver¬
gnügt und glücklich ſeyn konnte, daß ein
vorſichtiger Genius ihn zum Opfer beſtimmt
hatte, eine vollkommene Sterbliche zu retten,
ſo war er dagegen nahe an der Verzweif¬
lung, da ihm, ſie wieder zu finden, ſie wie¬
der zu ſehen, wenigſtens für den Augenblick,
alle Hoffnung verſchwunden war.


Was dieſe ſonderbare Bewegung in ihm
vermehrte, war die Ähnlichkeit, die er zwi¬
ſchen der Gräfin und der ſchönen Unbekann¬
ten entdeckt zu haben glaubte. Sie glichen
ſich, wie ſich Schweſtern gleichen mögen, de¬
ren keine die jüngere noch die ältere genannt
werden darf, denn ſie ſcheinen Zwillinge zu
ſeyn.


Die Erinnerung an die liebenswürdige
Gräfin war ihm unendlich ſüß. Er rief ſich
[264] ihr Bild nur allzugern wieder ins Gedächt¬
niß. Aber nun trat die Geſtalt der edlen
Amazone gleich dazwiſchen, eine Erſcheinung
verwandelte ſich in die andere, ohne daß er
im Stande geweſen wäre, dieſe oder jene feſt
zu halten.


Wie wunderbar mußte ihm daher die
Ähnlichkeit ihrer Handſchriften ſeyn! denn er
verwahrte ein reizendes Lied von der Hand
der Gräfin in ſeiner Schreibtafel, und in
dem Überrocke hatte er ein Zettelchen gefun¬
den, worin man ſich mit viel zärtlicher Sorg¬
falt nach dem Befinden eines Oheims erkun¬
digte.


Wilhelm war überzeugt, daß ſeine Rette¬
rin dieſes Billet geſchrieben; daß es auf der
Reiſe in einem Wirthshauſe aus einem Zim¬
mer in das andere geſchickt und von dem
Oheim in die Taſche geſteckt worden ſey. Er
hielt beide Handſchriften gegen einander, und
[]

[figure]

[265] wenn die zierlich geſtellten Buchſtaben der
Gräfin ihm ſonſt ſo ſehr gefallen hatten; ſo
fand er in den ähnlichen aber freyeren Zü¬
gen der Unbekannten eine unausſprechlich
fließende Harmonie. Das Billet enthielt
nichts, und ſchon die Züge ſchienen ihn, ſo
wie ehemals die Gegenwart der Schönen, zu
erheben.


Er verfiel in eine träumende Sehnſucht,
und wie einſtimmend mit ſeinen Empfindun¬
gen war das Lied, das eben in dieſer Stun¬
de Mignon und der Harfner als ein unre¬
gelmäßiges Duett mit dem herzlichſten Aus¬
drucke ſangen:


Nur wer die Sehnſucht kennt,

Weiß was ich leide!

Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh ich ans Firmament

Nach jener Seite.

[266]
Ach! der mich liebt und kennt

Iſt in der Weite.

Es ſchwindelt mir, es brennt

Mein Eingeweide.

Nur wer die Sehnſucht kennt,

Weiß was ich leide!
[267]

Zwölftes Capitel.

Die ſanften Lockungen des lieben Schutzgei¬
ſtes, anſtatt unſern Freund auf irgend einen
Weg zu führen, nährten und vermehrten die
Unruhe, die er vorher empfunden hatte. Eine
heimliche Gluth ſchlich in ſeinen Adern, be¬
ſtimmte und unbeſtimmte Gegenſtände wech¬
ſelten in ſeiner Seele, und erregten ein end¬
loſes Verlangen. Bald wünſchte er ſich ein
Roß, bald Flügel, und indem es ihm un¬
möglich ſchien, bleiben zu können, ſah er ſich
erſt um, wohin er denn eigentlich begehre.


Der Faden ſeines Schickſals hatte ſich ſo
ſonderbar verworren; er wünſchte die ſeltſa¬
men Knoten aufgelöſt oder zerſchnitten zu ſe¬
hen. Oft wenn er ein Pferd traben oder
einen Wagen rollen hörte, ſchaute er eilig
[268] zum Fenſter hinaus, in der Hoffnung, es
würde jemand ſeyn, der ihn aufſuchte, und
wäre es auch nur durch Zufall, ihm Nach¬
richt, Gewisheit und Freude brächte. Er
erzählte ſich Geſchichten vor, wie ſein Freund
Werner in dieſe Gegend kommen und ihn
überraſchen könnte, daß Mariane vielleicht
erſcheinen dürfte. Der Ton eines jeden Poſt¬
horns ſetzte ihn in Bewegung. Melina ſoll¬
te von ſeinem Schickſale Nachricht geben,
vorzüglich aber ſollte der Jäger wiederkom¬
men und ihn zu jener angebeteten Schönheit
einladen.


Von allem dieſem geſchah leider nichts,
und er mußte zuletzt wieder mit ſich allein
bleiben, und indem er das Vergangne wieder
durchnahm, ward ihm ein Umſtand, je mehr
er ihn betrachtete und beleuchtete, immer wi¬
driger und unerträglicher. Es war ſeine ver¬
unglückte Heerführerſchaft, an die er ohne
[269] Verdruß nicht denken konnte. Denn ob er
gleich am Abend jenes böſen Tages ſich vor
der Geſellſchaft ſo ziemlich herausgeredet hat¬
te; ſo konnte er ſich doch ſelbſt ſeine Schuld
nicht verleugnen. Er ſchrieb ſich vielmehr in
hypochondriſchen Augenblicken den ganzen
Vorfall allein zu.


Die Eigenliebe läßt uns ſowohl unſre
Tugenden als unſre Fehler viel bedeutender,
als ſie ſind, erſcheinen. Er hatte das Ver¬
trauen auf ſich rege gemacht, den Willen der
übrigen gelenkt, und war von Unerfahrenheit
und Kühnheit geleitet, vorangegangen; es
ergriff ſie eine Gefahr, der ſie nicht gewach¬
ſen waren. Laute und ſtille Vorwürfe ver¬
folgten ihn, und wenn er der irregeführten
Geſellſchaft nach dem empfindlichen Verluſte
zugeſagt hatte, ſie nicht zu verlaſſen, bis er
ihnen das Verlorne mit Wucher erſetzt hät¬
te; ſo hatte er ſich über eine neue Verwe¬
[270] genheit zu ſchelten, womit er ein allgemeines
ausgetheiltes Übel auf ſeine Schultern zu
nehmen ſich vermaß. Bald verwies er ſich,
daß er durch Aufſpannung und Drang des
Augenblicks ein ſolches Verſprechen gethan
hatte; bald fühlte er wieder, daß jenes gut¬
müthige Hinreichen ſeiner Hand, die niemand
anzunehmen würdigte, nur eine leichte Förm¬
lichkeit ſey gegen das Gelübde, das ſein
Herz gethan hatte. Er ſann auf Mittel,
ihnen wohlthätig und nützlich zu ſeyn, und
fand alle Urſache, ſeine Reiſe zu Serlo zu
beſchleunigen. Er packte nunmehr ſeine Sa¬
chen zuſammen, und eilte, ohne ſeine völlige
Geneſung abzuwarten, ohne auf den Rath
des Paſtors und Wundarztes zu hören, in
der wunderbaren Geſellſchaft Mignons und
des Alten, der Unthätigkeit zu entfliehen, in
der ihn ſein Schickſal abermals nur zu lange
gehalten hatte.

[271]

Dreyzehntes Capitel.

Serlo empfing ihn mit offnen Armen, und
rief ihm entgegen: Seh ich Sie? Erkenn’ ich
Sie wieder? Sie haben ſich wenig oder nicht
geändert, iſt Ihre Liebe zur edelſten Kunſt
noch immer ſo ſtark und lebendig? So ſehr
erfreu ich mich über Ihre Ankunft, daß ich
ſelbſt das Mißtrauen nicht mehr fühle, das
Ihre letzten Briefe bey mir erregt haben.


Wilhelm bat betroffen um eine nähere
Erklärung.


Sie haben ſich, verſetzte Serlo, gegen
mich nicht wie ein alter Freund betragen;
Sie haben mich wie einen großen Herrn be¬
handelt, dem man mit gutem Gewiſſen un¬
brauchbare Leute empfehlen darf. Unſer
Schickſal hängt von der Meinung des Pu¬
[272] blikums ab, und ich fürchte, daß Ihr Herr
Melina mit den ſeinigen ſchwerlich bey uns
wohl aufgenommen werden dürfte.


Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunſten
ſprechen, aber Serlo fing an, eine ſo un¬
barmherzige Schilderung von ihnen zu ma¬
chen, daß unſer Freund ſehr zufrieden war,
als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat,
das Geſpräch unterbrach, und ihm ſogleich
als Schweſter Aurelia von ſeinem Freunde
vorgeſtellt ward. Sie empfing ihn auf das
freundſchaftlichſte, und ihre Unterhaltung war
ſo angenehm, daß er nicht einmal einen ent¬
ſchiedenen Zug des Kummers gewahr wurde,
der ihrem geiſtreichen Geſicht noch ein beſon¬
deres Intereſſe gab.


Zum erſtenmal ſeit langer Zeit fand ſich
Wilhelm wieder in ſeinem Elemente. Bey
ſeinen Geſprächen hatte er ſonſt nur noth¬
dürftig gefällige Zuhörer gefunden, da er
ge¬[273] gegenwärtig mit Künſtlern und Kennern zu
ſprechen das Glück hatte, die ihn nicht allein
vollkommen verſtanden, ſondern die auch ſein
Geſpräch belehrend erwiederten. Mit wel¬
cher Geſchwindigkeit ging man die neuſten
Stücke durch! mit welcher Sicherheit beur¬
theilte man ſie! wie wußte man das Urtheil
des Publikums zu prüfen und zu ſchätzen!
in welcher Geſchwindigkeit klärte man einan¬
der auf!


Nun mußte ſich, bey Wilhelms Vorliebe
für Shakeſpearen, das Geſpräch nothwendig
auf dieſen Schriftſteller lenken. Er zeigte
die lebhafteſte Hoffnung auf die Epoche, wel¬
che dieſe vortrefflichen Stücke in Deutſchland
machen müßten, und bald brachte er ſeinen
Hamlet vor, der ihn ſo ſehr beſchäftigt hatte.


Serlo verſicherte, daß er das Stück längſt,
wenn es nur möglich geweſen wäre, gegeben
hätte, daß er gern die Rolle des Polonius
W. Meiſters Lehrj. 2. S[274] übernehmen wolle. Dann ſetzte er mit Lä¬
cheln hinzu: und Ophelien finden ſich wohl
auch, wenn wir nur erſt den Prinzen haben.


Wilhelm bemerkte nicht, daß Aurelien
dieſer Scherz des Bruders zu mißfallen ſchien;
er ward vielmehr nach ſeiner Art weitläuftig
und lehrreich, in welchem Sinne er den
Hamlet geſpielt haben wolle. Er legte ihnen
die Reſultate umſtändlich dar, mit welchen
wir ihn oben beſchäftigt geſehen, und gab
ſich alle Mühe, ſeine Meinung annehmlich
zu machen, ſo viel Zweifel auch Serlo gegen
ſeine Hypotheſe erregte. Nun gut, ſagte die¬
ſer zuletzt, wir geben Ihnen alles zu, was
wollen Sie weiter daraus erklären?


Vieles, alles, verſetzte Wilhelm. Denken
Sie ſich einen Prinzen, wie ich ihn geſchil¬
dert habe, deſſen Vater unvermuthet ſtirbt.
Ehrgeitz und Herrſchſucht ſind nicht die Lei¬
denſchaften, die ihn beleben; er hatte ſich’s
[275] gefallen laſſen, Sohn eines Königs zu ſeyn;
aber nun iſt er erſt genöthigt auf den Ab¬
ſtand aufmerkſamer zu werden, der den Kö¬
nig vom Unterthan ſcheidet. Das Recht zur
Krone war nicht erblich, und doch hätte ein
längeres Leben ſeines Vaters die Anſprüche
ſeines einzigen Sohnes mehr befeſtigt, und
die Hoffnung zur Krone geſichert. Dagegen
ſieht er ſich nun durch ſeinen Oheim, ohnge¬
achtet ſcheinbarer Verſprechungen, vielleicht
auf immer ausgeſchloſſen, er fühlt ſich nun
ſo arm an Gnade, an Gütern, und fremd in
dem, was er von Jugend auf als ſein Ei¬
genthum betrachten konnte. Hier nimmt ſein
Gemüth die erſte traurige Richtung. Er fühlt,
daß er nicht mehr, ja nicht ſo viel iſt als
jeder Edelmann, er giebt ſich für einen Die¬
ner eines jeden, er iſt nicht höflich, nicht her¬
ablaſſend, nein, herabgeſunken und bedürftig.

Nach ſeinem vorigen Zuſtande blickt er
S 2[276] nur wie nach einem verſchwundnen Traume.
Vergebens, daß ſein Oheim ihn aufmuntern,
ihm ſeine Lage aus einem andern Geſichts¬
punkte zeigen will, die Empfindung ſeines
Nichts verläßt ihn nie.


Der zweyte Schlag, der ihn traf, verletzte
tiefer, beugte noch mehr. Es iſt die Heirath
ſeiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärt¬
lichen Sohne, blieb, da ſein Vater ſtarb,
eine Mutter noch übrig; er hoffte in Geſell¬
ſchaft ſeiner hinterlaßnen edlen Mutter die
Heldengeſtalt jenes großen Abgeſchiednen zu
verehren; aber auch ſeine Mutter verliert er,
und es iſt ſchlimmer als wenn ſie ihm der
Tod geraubt hätte. Das zuverläßige Bild,
das ſich ein wohlgerathnes Kind ſo gern von
ſeinen Eltern macht, verſchwindet; bey dem
Todten iſt keine Hülfe, und an der Lebendi¬
gen kein Halt. Sie iſt auch ein Weib, und
unter dem allgemeinen Geſchlechtsnahmen,
Gebrechlichkeit, iſt auch ſie begriffen.


[277]

Nun erſt fühlt er ſich recht gebeugt, nun
erſt verwaiſt, und kein Glück der Welt kann
ihm wieder erſetzen, was er verloren hat.
Nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur,
wird ihm Trauer und Nachdenken zur ſchwe¬
ren Bürde. So ſehen wir ihn auftreten.
Ich glaube nicht, daß ich etwas in das Stück
hineinlege, oder einen Zug übertreibe.


Serlo ſah ſeine Schweſter an, und ſagte:
habe ich dir ein falſches Bild von unſerm
Freunde gemacht? Er fängt gut an, und
wird uns noch manches vorerzählen und viel
überreden. Wilhelm ſchwur hoch und theuer,
daß er nicht überreden, ſondern überzeugen
wolle, und bat nur noch um einen Augen¬
blick Geduld.


Denken Sie ſich, rief er aus, dieſen Jüng¬
ling, dieſen Fürſtenſohn recht lebhaft, verge¬
genwärtigen Sie ſich ſeine Lage, und dann
beobachten Sie ihn, wenn er erfährt, die
[278] Geſtalt ſeines Vaters erſcheine; ſtehen Sie
ihm bey in der ſchrecklichen Nacht, wenn der
ehrwürdige Geiſt ſelbſt vor ihm auftritt.
Ein ungeheures Entſetzen ergreift ihn; er
redet die Wundergeſtalt an; ſieht ſie win¬
ken, folgt und hört — Die ſchrecklichſte An¬
klage wider ſeinen Oheim ertönt in ſeinen
Ohren; Aufforderung zur Rache und die
dringende wiederholte Bitte: erinnere Dich
meiner!


Und da der Geiſt verſchwunden iſt, wen
ſehen wir vor uns ſtehen? Einen jungen
Helden, der nach Rache ſchnaubt? Einen ge¬
bohrnen Fürſten, der ſich glücklich fühlt, ge¬
gen den Uſurpator ſeiner Krone aufgefordert
zu werden? Nein! Staunen und Trübſinn
überfällt den Einſamen; er wird bitter gegen
die lächelnden Böſewichter; ſchwört den Ab¬
geſchiednen nicht zu vergeſſen, und ſchließt
mit dem bedeutenden Seufzer: die Zeit iſt
[279] aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboh¬
ren war, ſie wieder einzurichten.


In dieſen Worten, dünkt mich, liegt der
Schlüſſel zu Hamlets ganzen Betragen, und
mir iſt deutlich, daß Shakeſpear habe ſchil¬
dern wollen: eine große That auf eine Seele
gelegt, die der That nicht gewachſen iſt. Und
in dieſem Sinne find’ ich das Stück durch¬
gängig gearbeitet. Hier wird ein Eichbaum
in ein köſtliches Gefäß gepflanzt, das nur
liebliche Blumen in ſeinen Schooß hätte auf¬
nehmen ſollen; die Wurzeln dehnen ſich aus,
das Gefäß wird zernichtet.


Ein ſchönes, reines, edles, höchſt morali¬
ſches Weſen, ohne die ſinnliche Stärke, die
den Helden macht, geht unter einer Laſt zu
Grunde, die es weder tragen noch abwerfen
kann; jede Pflicht iſt ihm heilig, dieſe zu
ſchwer. Das Unmögliche wird von ihm ge¬
fordert, nicht das Unmögliche an ſich, ſondern
[280] das was ihm unmöglich iſt. Wie er ſich
windet, dreht, ängſtigt, vor und zurück tritt;
immer erinnert wird, ſich immer erinnert, und
zuletzt faſt ſeinen Zweck aus dem Sinne ver¬
liert, ohne doch jemals wieder froh zu
werden.


[281]

Vierzehntes Capitel.

Verſchiedene Perſonen traten herein, die das
Geſpräch unterbrachen. Es waren Virtuo¬
ſen, die ſich bey Serlo gewöhnlich einmal
die Woche zu einem kleinen Concerte ver¬
ſammelten. Er liebte die Muſik ſehr, und
behauptete, daß ein Schauſpieler ohne dieſe
Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff
und Gefühl ſeiner eigenen Kunſt gelangen
könne. So wie man viel leichter und an¬
ſtändiger agire, wenn die Gebährden durch
eine Melodie begleitet und geleitet werden,
ſo müſſe der Schauſpieler ſich auch ſeine pro¬
ſaiſche Rolle gleichſam im Sinne componi¬
ren, daß er ſie nicht nur eintönig nach ſeiner
individuellen Art und Weiſe hinſudele, ſon¬
dern ſie in gehöriger Abwechſelung nach Takt
und Maaß behandle.


[282]

Aurelie ſchien an allem, was vorging, we¬
nig Antheil zu nehmen, vielmehr führte ſie
zuletzt unſern Freund in ein Seitenzimmer,
und indem ſie ans Fenſter trat und den ge¬
ſtirnten Himmel anſchaute, ſagte ſie zu ihm:
Sie ſind uns manches über Hamlet ſchuldig
geblieben; ich will zwar nicht voreilig ſeyn,
und wünſche, daß mein Bruder auch mit an¬
hören möge, was Sie uns noch zu ſagen
haben, doch laſſen Sie mich Ihre Gedanken
über Ophelien hören.


Von ihr läßt ſich nicht viel ſagen, ver¬
ſetzte Wilhelm, denn nur mit wenig Meiſter¬
zügen iſt ihr Charakter vollendet. Ihr gan¬
zes Weſen ſchwebt in reifer ſüßer Sinnlich¬
keit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf
deſſen Hand ſie Anſpruch machen darf, fließt
ſo aus der Quelle, das gute Herz überläßt
ſich ſo ganz ſeinem Verlangen, daß Vater
und Bruder beide fürchten, beide geradezu
[283] und unbeſcheiden warnen. Der Wohlſtand,
wie der leichte Flor auf ihrem Buſen, kann
die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen,
er wird vielmehr ein Verräther dieſer leiſen
Bewegung. Ihre Einbildungskraft iſt ange¬
ſteckt, ihre ſtille Beſcheidenheit athmet eine
liebevolle Begierde, und ſollte die bequeme
Göttin Gelegenheit das Bäumchen ſchütteln,
ſo würde die Frucht ſogleich herabfallen.


Und nun, ſagte Aurelie, wenn ſie ſich
verlaſſen ſieht, verſtoßen und verſchmäht,
wenn in der Seele ihres wahnſinnigen Ge¬
liebten ſich das Höchſte zum Tiefſten um¬
wendet, und er ihr ſtatt des ſüßen Bechers
der Liebe den bittern Kelch der Leiden hin¬
reicht —


Ihr Herz bricht, rief Wilhelm aus, das
ganze Gerüſte ihres Daſeyns rückt aus ſei¬
nen Fugen, der Tod ihres Vaters ſtürmt
herein, und das ſchöne Gebäude ſtürzt völlig
zuſammen.


[284]

Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit wel¬
chem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aus¬
ſprach. Nur auf das Kunſtwerk, deſſen Zu¬
ſammenhang und Vollkommenheit gerichtet,
ahndete er nicht, daß ſeine Freundin eine
ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß
ein eigner tiefer Schmerz durch dieſe drama¬
tiſchen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt
ward.


Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von
ihren Armen unterſtützt, und ihre Augen, die
ſich mit Thränen füllten, gen Himmel ge¬
wendet. Endlich hielt ſie nicht länger ihren
verborgnen Schmerz zurück; ſie faßte des
Freundes beide Hände, und rief, indem er
erſtaunt vor ihr ſtand: verzeihen Sie, ver¬
zeihen Sie einem geängſtigten Herzen! die
Geſellſchaft ſchnürt und preßt mich zuſam¬
men, vor meinem unbarmherzigen Bruder
muß ich mich zu verbergen ſuchen; nun hat
[285] Ihre Gegenwart alle Bande aufgelöſt. Mein
Freund! fuhr ſie fort, ſeit einem Augenblicke
ſind wir erſt bekannt, und ſchon werden Sie
mein Vertrauter. Sie konnte die Worte
kaum ausſprechen, und ſank an ſeine Schul¬
ter. Denken Sie nicht übler von mir, ſagte
ſie ſchluchzend, daß ich mich Ihnen ſo ſchnell
eröffne, daß Sie mich ſo ſchwach ſehen.
Seyn Sie, bleiben Sie mein Freund, ich
verdiene es. Er redete ihr auf das herzlich¬
ſte zu, umſonſt! ihre Thränen floſſen und er¬
ſtickten ihre Worte.


In dieſem Augenblicke trat Serlo ſehr
unwillkommen herein, und ſehr unerwartet
Philine, die er bey der Hand hielt. Hier iſt
Ihr Freund, ſagte er zu ihr, er wird ſich
freun, Sie zu begrüßen.


Wie! rief Wilhelm erſtaunt, muß ich Sie
hier ſehen? Mit einem beſcheidnen, geſetzten
Weſen ging ſie auf ihn los, hieß ihn will¬
[286] kommen, rühmte Serlo’s Güte, der ſie ohne
ihr Verdienſt, bloß in Hoffnung, daß ſie
ſich bilden werde, unter ſeine treffliche Trup¬
pe aufgenommen habe. Sie that dabey ge¬
gen Wilhelmen freundlich, doch aus einer
ehrerbietigen Entfernung.


Dieſe Verſtellung währte aber nicht län¬
ger, als die Beiden zugegen waren. Denn
als Aurelie ihren Schmerz zu verbergen weg¬
ging, und Serlo abgerufen ward, ſah Phili¬
ne erſt recht genau nach den Thüren, ob bei¬
de auch gewiß fort ſeyen, dann hüpfte ſie
wie thörigt in der Stube herum, ſetzte ſich
an die Erde, und wollte vor Kichern und
Lachen erſticken. Dann ſprang ſie auf,
ſchmeichelte unſerm Freunde, und freute ſich
über alle maßen, daß ſie ſo klug geweſen ſey,
vorauszugehen, das Terrain zu recognoſciren
und ſich einzuniſten.


Hier geht es bunt zu, ſagte ſie, gerade
[287] ſo wie mir’s recht iſt. Aurelie hat einen un¬
glücklichen Liebeshandel mit einem Edelman¬
ne gehabt, der ein prächtiger Menſch ſeyn
muß, und den ich ſelbſt wohl einmal ſehen
möchte. Er hat ihr ein Andenken hinterlaſ¬
ſen, oder ich müßte mich ſehr irren. Es
läuft da ein Knabe herum, ohngefähr von
drey Jahren, ſchön wie die Sonne; der
Papa mag allerliebſt ſeyn, ich kann ſonſt die
Kinder nicht leiden, aber dieſer Junge freut
mich. Ich habe ihr nachgerechnet. Der Tod
ihres Mannes, die neue Bekanntſchaft, das
Alter des Kindes, alles trift zuſammen.


Nun iſt der Freund ſeiner Wege gegan¬
gen; ſeit einem Jahre ſieht er ſie nicht mehr.
Sie iſt darüber auſſer ſich und untröſtlich.
Die Närrin! — Der Bruder hat unter der
Truppe eine Tänzerin, mit der er ſchön thut,
ein Aktrischen, mit der er vertraut iſt, in der
Stadt noch einige Frauen, denen er aufwar¬
[288] tet, und nun ſteh ich auch auf der Liſte.
Der Narr! — Vom übrigen Volke ſollſt du
morgen hören. Und nun noch ein Wörtchen
von Philinen, die Du kennſt, die Erznärrin
iſt in Dich verliebt. Sie ſchwur, daß es
wahr ſey, und betheuerte, daß es ein rechter
Spaß ſey. Sie bat Wilhelmen inſtändig,
er möchte ſich in Aurelien verlieben, dann
werde die Hetze erſt recht angehen. Sie
läuft ihrem Ungetreuen, Du ihr, ich Dir und
der Bruder mir nach. Wenn das nicht eine
Luſt auf ein halbes Jahr giebt, ſo will ich
an der erſten Epiſode ſterben, die ſich zu die¬
ſem vierfach verſchlungenen Romane hinzu¬
wirft. Sie bat ihn, er möchte ihr den Han¬
del nicht verderben, und ihr ſo viel Achtung
bezeigen, als ſie durch ihr öffentliches Betra¬
gen verdienen wolle.


Funf¬[289]

Funfzehntes Capitel.

Den nächſten Morgen gedachte Wilhelm
Madam Melina zu beſuchen; er fand ſie
nicht zu Hauſe, fragte nach den übrigen
Gliedern der wandernden Geſellſchaft, und
erfuhr: Philine habe ſie zum Frühſtück ein¬
geladen. Aus Neugier eilte er hin, und traf
ſie alle ſehr aufgeräumt und getröſtet. Das
kluge Geſchöpf hatte ſie verſammelt, ſie mit
Chocolade bewirthet, und ihnen zu verſtehen
gegeben, noch ſey nicht alle Ausſicht ver¬
ſperrt; ſie hoffe durch ihren Einfluß den Di¬
rector zu überzeugen, wie vortheilhaft es
ihm ſey, ſo geſchickte Leute in ſeine Geſell¬
ſchaft aufzunehmen. Sie hörten ihr auf¬
merkſam zu, ſchlurften eine Taſſe nach der
andern hinunter, fanden das Mädchen gar
W. Meiſters Lehrj. 2. T[290] nicht übel, und nahmen ſich vor, das Beſte
von ihr zu reden.


Glauben Sie denn, ſagte Wilhelm, der
mit Philinen allein geblieben war, daß Serlo
ſich noch entſchließen werde, unſre Gefährten
zu behalten? Mit nichten, verſetzte Philine,
es iſt mir auch gar nichts daran gelegen,
ich wollte, ſie wären je eher je lieber fort!
den einzigen Laertes wünſcht’ ich zu behal¬
ten; die übrigen wollen wir ſchon nach und
nach bey Seite bringen.


Hierauf gab ſie ihrem Freunde zu verſte¬
hen, daß ſie gewiß überzeugt ſey, er werde
nunmehr ſein Talent nicht länger vergraben,
ſondern unter Direction eines Serlo auf’s
Theater gehen. Sie konnte die Ordnung,
den Geſchmack, den Geiſt, der hier herrſche,
nicht genug rühmen; ſie ſprach ſo ſchmei¬
chelnd zu unſerm Freunde, ſo ſchmeichel¬
haft von ſeinen Talenten, daß ſein Herz
[291] und ſeine Einbildungskraft ſich eben ſo ſehr
dieſem Vorſchlage näherten, als ſein Ver¬
ſtand und ſeine Vernunft ſich davon entfern¬
ten. Er verbarg ſeine Neigung vor ſich
ſelbſt und vor Philinen, und brachte einen
unruhigen Tag zu, an dem er ſich nicht ent¬
ſchließen konnte, zu ſeinen Handelscorreſpon¬
denten zu gehen, und die Briefe, die dort
für ihn liegen möchten, abzuholen. Denn
ob er ſich gleich die Unruhe der Seinigen
dieſe Zeit über vorſtellen konnte, ſo ſcheute
er ſich doch, ihre Sorgen und Vorwürfe um¬
ſtändlich zu erfahren, um ſo mehr, da er ſich
einen großen und reinen Genuß dieſen Abend
von der Aufführung eines neuen Stücks ver¬
ſprach.


Serlo hatte ſich geweigert, ihn bey der
Probe zuzulaſſen. Sie müſſen uns, ſagte er,
erſt von der beſten Seite kennen lernen, eh
wir zugeben, daß Sie uns in die Karte ſehen.


T 2[292]

Mit der größten Zufriedenheit wohnte
aber auch unſer Freund den Abend darauf
der Vorſtellung bey. Es war das erſtemal,
daß er ein Theater in ſolcher Vollkommenheit
ſah. Man traute ſämmtlichen Schauſpielern
fürtrefliche Gaben, glückliche Anlagen und
einen hohen und klaren Begriff von ihrer
Kunſt zu, und doch waren ſie einander nicht
gleich; aber ſie hielten und trugen ſich wech¬
ſelsweiſe, feuerten einander an, und waren
in ihrem ganzen Spiele ſehr beſtimmt und
genau. Man fühlte bald, daß Serlo die
Seele des Ganzen war, und er zeichnete ſich
ſehr zu ſeinem Vortheil aus. Eine heitere
Laune, eine gemäßigte Lebhaftigkeit, ein be¬
ſtimmtes Gefühl des Schicklichen bey einer
großen Gabe der Nachahmung, mußte man
an ihm, wie er aufs Theater trat, wie er
den Mund öffnete, bewundern. Die innere
Behaglichkeit ſeines Daſeyns ſchien ſich über
[293] alle Zuhörer auszubreiten, und die geiſtreiche
Art, mit der er die feinſten Schattirungen
der Rollen mit der größten Leichtigkeit aus¬
druckte, erweckte um ſoviel mehr Freude, als
er die Kunſt zu verbergen wußte, die er ſich
durch eine anhaltende Übung eigen gemacht
hatte.


Seine Schweſter Aurelie blieb nicht hin¬
ter ihm, und erhielt noch größeren Beyfall,
indem ſie die Gemüther der Menſchen rühr¬
te, die er zu erheitern und zu erfreuen ſo
ſehr im Stande war.


Nach einigen Tagen, die auf eine ange¬
nehme Weiſe zugebracht wurden, verlangte
Aurelie nach unſerm Freund. Er eilte zu
ihr, und fand ſie auf dem Kanapee liegen;
ſie ſchien am Kopfweh zu leiden, und ihr
ganzes Weſen konnte eine fieberhafte Bewe¬
gung nicht verbergen. Ihr Auge erheiterte
ſich, als ſie den Hereintretenden anſah. Ver¬
[294] geben Sie! rief ſie ihm entgegen, das Zu¬
trauen, das Sie mir einflößten, hat mich
ſchwach gemacht. Bisher konnt’ ich mich mit
meinen Schmerzen im Stillen unterhalten,
ja ſie gaben mir Stärke und Troſt, nun ha¬
ben Sie, ich weiß nicht wie es zugegangen
iſt, die Bande der Verſchwiegenheit gelöſt,
und Sie werden nun ſelbſt wider Willen
Theil an dem Kampfe nehmen, den ich gegen
mich ſelbſt ſtreite.


Wilhelm antwortete ihr freundlich und
verbindlich. Er verſicherte, daß ihr Bild und
ihre Schmerzen ihm beſtändig vor der Seele
geſchwebt, daß er ſie um ihr Vertrauen bit¬
te, daß er ſich ihr zum Freund widme.


Indem er ſo ſprach, wurden ſeine Augen
von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf
der Erde ſaß, und allerley Spielwerk durch¬
einander warf. Er mochte, wie Philine ſchon
angegeben, ohngefähr drey Jahre alt ſeyn,
[295] und Wilhelm verſtand nun erſt, warum das
leichtfertige, in ihren Ausdrücken ſelten erha¬
bene Mädchen den Knaben der Sonne ver¬
glichen. Denn um die offnen braunen Au¬
gen und das volle Geſicht kräuſelten ſich die
ſchönſten goldnen Locken, an einer blendend
weißen Stirne zeigten ſich zarte dunkle ſanft¬
gebogene Augenbraunen, und die lebhafte
Farbe der Geſundheit glänzte auf ſeinen
Wangen. Setzen Sie ſich zu mir, ſagte Au¬
relie, Sie ſehen das glückliche Kind mit Ver¬
wundrung an; gewiß, ich habe es mit Freu¬
den auf meine Arme genommen, ich bewahre
es mit Sorgfalt; nur kann ich auch recht
an ihm den Grad meiner Schmerzen erken¬
nen, weil ich den Werth einer ſolchen Gabe
nur ſelten empfinde.


Erlauben Sie mir, fuhr ſie fort, daß ich
nun auch von mir und meinem Schickſale
rede; denn es iſt mir ſehr daran gelegen, daß
[296] Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte eini¬
ge gelaſſene Augenblicke zu haben, darum
ließ ich Sie rufen; Sie ſind nun da, und
ich habe meinen Faden verloren.


Ein verlaßnes Geſchöpf mehr in der
Welt! werden Sie ſagen. Sie ſind ein
Mann, und denken: wie gebährdet ſie ſich
bey einem nothwendigen Übel, das gewiſſer
als der Tod über einem Weibe ſchwebt, bey
der Untreue eines Mannes, die Thörin! —
O mein Freund, wäre mein Schickſal gemein,
ich wollte gern gemeines Übel ertragen, aber
es iſt ſo außerordentlich, warum kann ichs
Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht
jemand auftragen, es Ihnen zu erzählen? O
wäre ich verführt, überraſcht und dann ver¬
laſſen, dann würde in der Verzweiflung noch
Troſt ſeyn; aber ich bin weit ſchlimmer dar¬
an, ich habe mich ſelbſt hintergangen, mich
ſelbſt wider Wiſſen betrogen, das iſts, was
ich mir niemals verzeihen kann.


[297]

Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen
ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht
ganz unglücklich ſeyn.


Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬
nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬
lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals
ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen,
dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und
Neigung zu verführen.


Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬
ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬
wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum
Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu
verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer
jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬
ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn
ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬
ſen konnte.


Was mußten wir Kinder mit dem reinen
und deutlichen Blick der Unſchuld uns für
[298] Begriffe von dem männlichen Geſchlechte
machen? Wie dumpf, dringend, dreiſt, unge¬
ſchickt war jeder, den ſie herbeyreizte, wie
ſatt, übermüthig, leer und abgeſchmackt da¬
gegen, ſobald er ſeiner Wünſche Befriedigung
gefunden hatte. So hab’ ich dieſe Frau
Jahre lang unter dem Gebote der ſchlechte¬
ſten Menſchen erniedrigt geſehen; was für
Begegnungen mußte ſie nicht erdulden, und
mit welcher Stirne wußte ſie ſich in ihr
Schickſal zu finden, ja mit welcher Art dieſe
ſchändlichen Feſſeln zu tragen.


So lernte ich Ihr Geſchlecht kennen,
mein Freund, und wie rein haßte ichs, da
ich zu bemerken ſchien, daß ſelbſt leidliche
Männer, im Verhältniß gegen das unſrige,
jedem guten Gefühl zu entſagen ſchienen, zu
dem ſie die Natur ſonſt noch mochte fähig
gemacht haben.


Leider mußt’ ich auch bey ſolchen Gele¬
[299] genheiten viel traurige Erfahrungen über
mein eigen Geſchlecht machen, und wahrhaf¬
tig, als Mädchen von ſechzehn Jahren war
ich klüger als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich
ſelbſt kaum verſtehe. Warum ſind wir ſo
klug, wenn wir jung ſind, ſo klug, um im¬
mer thörichter zu werden?


Der Knabe machte Lerm, Aurelie war
ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib
kam herein, ihn wegzuholen. Haſt du noch
immer Zahnweh? ſagte Aurelie zu der Alten,
die das Geſicht verbunden hatte. Faſt un¬
leidliches, verſetzte dieſe mit dumpfer Stim¬
me, hob den Knaben auf, der gerne mitzu¬
gehen ſchien, und brachte ihn weg.


Kaum war das Kind bey Seite, als Au¬
relie bitterlich zu weinen anfing. Ich kann
nichts als jammern und klagen, rief ſie aus,
und ich ſchäme mich, wie ein armer Wurm
vor ihnen zu liegen. Meine Beſonnenheit
[300] iſt ſchon weg, und ich kann nicht mehr er¬
zählen. Sie ſtockte und ſchwieg. Ihr Freund,
der nichts Allgemeines ſagen wollte, und
nichts Beſonderes zu ſagen wußte, druckte
hre Hand, und ſah ſie eine Zeitlang an.
Endlich nahm er in der Verlegenheit ein
Buch auf, das er vor ſich auf dem Tiſchchen
liegen fand; es waren Shakeſpears Werke
und Hamlet aufgeſchlagen.


Serlo, der eben zur Thür herein kam,
nach dem Befinden ſeiner Schweſter fragte,
ſchaute in das Buch, das unſer Freund in
der Hand hielt, und rief aus: find’ ich Sie
wieder über Ihrem Hamlet? Eben recht! Es
ſind mir gar manche Zweifel aufgeſtoßen, die
das canoniſche Anſehn, das Sie dem Stücke
ſo gerne geben möchten, ſehr zu vermindern
ſcheinen. Haben doch die Engländer ſelbſt
bekannt, daß das Hauptintereſſe ſich mit dem
dritten Akt ſchließe, daß die zwey letzten
[301] Akte nur kümmerlich das Ganze zuſammen
hielten, und es iſt doch wahr, das Stück
will gegen das Ende weder gehen noch
rücken.


Es iſt ſehr möglich, ſagte Wilhelm, daß
einige Glieder einer Nation, die ſo viel Mei¬
ſterſtücke aufzuweiſen hat, durch Vorurtheile
und Beſchränktheit auf falſche Urtheile gelei¬
tet werden, aber das kann uns nicht hin¬
dern, mit eignen Augen zu ſehen, und ge¬
recht zu ſeyn. Ich bin weit entfernt, den
Plan dieſes Stücks zu tadeln, ich glaube
vielmehr, daß kein größerer erſonnen worden
ſey. Ja, er iſt nicht erſonnen, es iſt ſo.


Wie wollen Sie das auslegen? fragte
Serlo.


Ich will nichts auslegen, verſetzte Wil¬
helm, ich will Ihnen nur vorſtellen, was ich
mir denke.


Aurelie hob ſich von ihrem Kiſſen auf,
[302] ſtützte ſich auf ihre Hand, und ſah unſern
Freund an, der mit der größten Verſiche¬
rung, daß er Recht habe, alſo zu reden fort¬
fuhr: es gefällt uns ſo wohl, es ſchmeichelt
ſo ſehr, wenn wir einen Helden ſehen, der
durch ſich ſelbſt handelt, der liebt und haßt,
wenn es ihm ſein Herz gebietet, der unter¬
nimmt und ausführt, alle Hinderniſſe abwen¬
det und zu einem großen Zwecke gelangt.
Geſchichtsſchreiber und Dichter möchten uns
gerne überreden, daß ein ſo ſtolzes Loos dem
Menſchen fallen könne. Hier werden wir
anders belehrt; der Held hat keinen Plan,
aber das Stück iſt planvoll. Hier wird nicht
etwa durch eine ſtarr und eigenſinnig durch¬
geführte Idee von Rache ein Böſewicht be¬
ſtraft, nein es geſchieht eine ungeheure That,
ſie wälzt ſich in ihren Folgen fort, reißt Un¬
ſchuldige mit; der Verbrecher ſcheint dem
Abgrunde, der ihm beſtimmt iſt, ausweichen
[303] zu wollen, und ſtürzt hinein, eben da, wo er
ſeinen Weg glücklich auszulaufen gedenkt.


Denn das iſt die Eigenſchaft der Greuel¬
that, daß ſie auch Böſes über den Unſchul¬
digen, wie der guten Handlung, daß ſie viele
Vortheile auch über den Unverdienten aus¬
breitet, ohne daß der Urheber von beiden oft
weder beſtraft noch belohnt wird. Hier in
unſerm Stücke wie wunderbar! Das Fege¬
feuer ſendet ſeinen Geiſt und fordert Rache,
aber vergebens. Alle Umſtände kommen zu¬
ſammen, und treiben die Rache, vergebens!
Weder Irrdiſchen noch Unterirrdiſchen kann
gelingen, was dem Schickſal allein vorbehal¬
ten iſt. Die Gerichtsſtunde kommt. Der
Böſe fällt mit dem Guten. Ein Geſchlecht
wird weggemäht, und das andere ſproßt auf.


Nach einer Pauſe, in der ſie einander an¬
ſahen, nahm Serlo das Wort: Sie machen
der Vorſehung kein ſonderlich Compliment,
[400[304]] indem Sie den Dichter erheben, und dann
ſcheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres
Dichters, wie andere zu Ehren der Vorſehung,
ihm Endzweck und Plane unterzuſchieben, an
die er nicht gedacht hat.


Sechs¬[305]

Sechszehntes Capitel.

Laſſen Sie mich, ſagte Aurelie, nun auch eine
Frage thun. Ich habe Opheliens Rolle wie¬
der angeſehen, ich bin zufrieden damit, und
getraue mir ſie unter gewiſſen Umſtänden zu
ſpielen. Aber ſagen Sie mir, hätte der Dich¬
ter ſeiner Wahnſinnigen nicht andere Lied¬
chen unterlegen ſollen? Könnte man nicht
Fragmente aus melancholiſchen Balladen
wählen? was ſollen Zweydeutigkeiten und
lüſterne Albernheiten in dem Munde dieſes
edlen Mädchens?


Beſte Freundin, verſetzte Wilhelm, ich
kann auch hier nicht ein Jota nachgeben.
Auch in dieſen Sonderbarkeiten, auch in die¬
ſer anſcheinenden Unſchicklichkeit liegt ein
großer Sinn. Wiſſen wir doch gleich zu
W. Meiſters Lehrj. 2. U[306] Anfange des Stücks, womit das Gemüth
des guten Kindes beſchäftigt iſt. Stille lebte
ſie vor ſich hin, aber kaum verbarg ſie ihre
Sehnſucht, ihre Wünſche. Heimlich klangen
die Töne der Lüſternheit in ihrer Seele, und
wie oft mag ſie verſucht haben, gleich einer
unvorſichtigen Wärterin ihre Sinnlichkeit zur
Ruhe zu ſingen mit Liedchen, die ſie nur
mehr wach halten mußten. Zuletzt, da ihr
jede Gewalt über ſich ſelbſt entriſſen iſt, da
ihr Herz auf der Zunge ſchwebt, wird dieſe
Zunge ihre Verrätherin, und in der Unſchuld
des Wahnſinns ergötzt ſie ſich vor König
und Königin an dem Nachklange ihrer ge¬
liebten, loſen Lieder: vom Mädchen, das ge¬
wonnen ward; vom Mädchen, das zum Kna¬
ben ſchleicht, und ſo weiter.


Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf
einmal eine wunderbare Scene vor ſeinen
Augen entſtand, die er ſich auf keine Weiſe
erklären konnte.


[307]

Serlo war einigemal in der Stube auf
und ab gegangen, ohne daß er irgend eine
Abſicht merken ließ. Auf einmal trat er an
Aureliens Putztiſch, griff ſchnell nach etwas
das darauf lag, und eilte mit ſeiner Beute
der Thüre zu. Aurelie bemerkte kaum ſeine
Handlung, als ſie auffuhr, ſich ihm in den
Weg warf, ihn mit unglaublicher Leiden¬
ſchaft angriff, und geſchickt genug war, ein
Ende des geraubten Gegenſtandes zu faſſen.
Sie rangen und balgten ſich ſehr hartnäckig,
drehten und wanden ſich lebhaft mit einan¬
der herum; er lachte, ſie ereiferte ſich, und
als Wilhelm hinzu eilte, ſie auseinander zu
bringen und zu beſänftigen, ſah er auf ein¬
mal Aurelien mit einem bloßen Dolch in der
Hand auf die Seite ſpringen, indem Serlo
die Scheide, die ihm zurückgeblieben war,
verdrießlich auf den Boden warf. Wilhelm
trat erſtaunt zurück, und ſeine ſtumme Ver¬
U 2[308] wunderung ſchien nach der Urſache zu fragen,
warum ein ſo ſonderbarer Streit über einen
ſo wunderbaren Hausrath habe unter ihnen
entſtehen können?


Sie ſollen, ſprach Serlo, Schiedsrichter
zwiſchen uns beiden ſeyn. Was hat ſie mit
dem ſcharfen Stahle zu thun? Laſſen Sie
ſich ihn zeigen. Dieſer Dolch ziemt keiner
Schauſpielerin; ſpitz und ſcharf wie Nadel
und Meſſer! Zu was die Poſſe? Heftig wie
ſie iſt, thut ſie ſich noch einmal von ohnge¬
fähr ein Leids. Ich habe einen innerlichen
Haß gegen ſolche Sonderbarkeiten, ein ernſt¬
licher Gedanke dieſer Art iſt toll, und ein ſo
gefährliches Spielwerk iſt abgeſchmackt.


Ich habe ihn wieder, rief Aurelie, indem
ſie die blanke Klinge in die Höhe hielt, ich
will meinen treuen Freund nun beſſer ver¬
wahren. Verzeih mir, rief ſie aus, indem
ſie den Stahl küßte, daß ich dich ſo vernach¬
läßigt habe!


[309]

Serlo ſchien im Ernſte böſe zu werden. —
Nimm es wie du willſt, Bruder, fuhr ſie
fort, kannſt du denn wiſſen, ob mir nicht
etwa unter dieſer Form ein köſtlicher Talis¬
man beſcheert iſt; ob ich nicht Hülfe und
Rath zur ſchlimmſten Zeit bey ihm finde;
muß denn alles ſchädlich ſeyn, was gefähr¬
lich ausſieht?


Dergleichen Reden, in denen kein Sinn
iſt, können mich toll machen, ſagte Serlo,
und verließ mit heimlichem Grimme das Zim¬
mer. Aurelie verwahrte den Dolch ſorgfäl¬
tig in der Scheide, und ſteckte ihn zu ſich.
Laſſen Sie uns das Geſpräch fortſetzen, das
der unglückliche Bruder geſtört hat, fiel ſie
ein, als Wilhelm einige Fragen über den
ſonderbaren Streit vorbrachte.


Ich muß Ihre Schilderung Opheliens
wohl gelten laſſen, fuhr ſie fort: ich will die
Abſicht des Dichters nicht verkennen; nur
[310] kann ich ſie mehr bedauern, als mit ihr em¬
pfinden. Nun aber erlauben Sie mir eine
Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen
Zeit oft Gelegenheit gegeben haben: mit Be¬
wunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen
und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung
und beſonders dramatiſche Dichtung beur¬
theilen; die tiefſten Abgründe der Erfindung
ſind Ihnen nicht verborgen, und die feinſten
Züge der Ausführung ſind Ihnen bemerkbar.
Ohne die Gegenſtände jemals in der Natur
erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahr¬
heit im Bilde; es ſcheint eine Vorempfin¬
dung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen,
welche durch die harmoniſche Berührung der
Dichtkunſt erregt und entwickelt wird. Denn
wahrhaftig, fuhr ſie fort, von auſſen kommt
nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht
jemanden geſehen, der die Menſchen, mit
denen er lebt, ſo wenig kennt, ſo von Grund
[311] aus verkennt, wie Sie. Erlauben Sie mir,
es zu ſagen: wenn man Sie Ihren Sha¬
keſpear erklären hört, glaubt man, Sie kä¬
men eben aus dem Rathe der Götter, und
hätten zugehört, wie man ſich daſelbſt bere¬
det, Menſchen zu bilden; wenn Sie dagegen
mit Leuten umgehen, ſeh ich in Ihnen gleich¬
ſam das erſte, groß gebohrne Kind der Schö¬
pfung, das mit ſonderlicher Verwunderung
und erbaulicher Gutmüthigkeit Löwen und
Affen, Schafe und Elephanten anſtaunt, und
ſie treuherzig als ſeines gleichen anſpricht,
weil ſie eben auch da ſind und ſich bewegen.


Die Ahndung meines ſchülerhaften We¬
ſens, werthe Freundin, verſetzte er, iſt mir
öfters läſtig, und ich werde Ihnen danken,
wenn Sie mir über die Welt zu mehrerer
Klarheit verhelfen wollen. Ich habe von
Jugend auf die Augen meines Geiſtes mehr
nach Innen als nach Auſſen gerichtet, und
[312] da iſt es ſehr natürlich, daß ich den Men¬
ſchen bis auf einen gewiſſen Grad habe ken¬
nen lernen, ohne die Menſchen im mindeſten
zu verſtehen und zu begreifen.


Gewiß, ſagte Aurelie, ich hatte Sie An¬
fangs in Verdacht, als wollten Sie uns zum
Beſten haben, da Sie von den Leuten, die
Sie meinem Bruder zugeſchickt haben, ſo
manches Gutes ſagten, wenn ich Ihre Briefe
mit den Verdienſten dieſer Menſchen zuſam¬
men hielt.


Die Bemerkung Aureliens, ſo wahr ſie
ſeyn mochte, und ſo gern ihr Freund dieſen
Mangel bey ſich geſtand, führte doch etwas
Drückendes, ja ſogar Beleidigendes mit ſich,
daß er ſtill ward, und ſich zuſammen nahm,
theils um keine Empfindlichkeit merken zu
laſſen, theils in ſeinem Buſen nach der Wahr¬
heit dieſes Vorwurfs zu forſchen.


Sie dürfen nicht darüber betreten ſeyn,
[313] fuhr Aurelie fort, zum Lichte des Verſtandes
können wir immer gelangen; aber die Fülle
des Herzens kann uns niemand geben. Sind
Sie zum Künſtler beſtimmt; ſo können Sie
dieſe Dunkelheit und Unſchuld nicht lange
genug bewahren; ſie iſt die ſchöne Hülle
über der jungen Knoſpe; Unglücks genug,
wenn wir zu früh herausgetrieben werden.
Gewiß es iſt gut, wenn wir die nicht immer
kennen, für die wir arbeiten.


O! ich war auch einmal in dieſem glück¬
lichen Zuſtande, als ich mit dem höchſten
Begrif von mir ſelbſt und meiner Nation
die Bühne betrat. Was waren die Deut¬
ſchen nicht in meiner Einbildung, was konn¬
ten ſie nicht ſeyn! Zu dieſer Nation ſprach
ich, über die mich ein kleines Gerüſt erhob,
von welcher mich eine Reihe Lampen trennte,
deren Glanz und Dampf mich hinderte, die
Gegenſtände vor mir genau zu unterſcheiden.
[314] Wie willkommen war mir der Klang des
Beyfalls, der aus der Menge herauf tönte;
wie dankbar nahm ich das Geſchenk an, das
mir einſtimmig von ſo vielen Händen darge¬
bracht wurde. Lange wiegte ich mich ſo hin;
wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf
mich zurück, ich war mit meinem Publikum
in dem beſten Vernehmen; ich glaubte eine
vollkommene Harmonie zu fühlen, und jeder¬
zeit die Edelſten und Beſten der Nation vor
mir zu ſehen.


Unglücklicherweiſe war es nicht die Schau¬
ſpielerin allein, deren Naturell und Kunſt
die Theaterfreunde intereſſirte, ſie machten
auch Anſprüche an das junge lebhafte Mäd¬
chen. Sie gaben mir nicht undeutlich zu
verſtehen, daß meine Pflicht ſey, die Empfin¬
dungen, die ich in ihnen rege gemacht, auch
perſönlich mit ihnen zu theilen. Leider war
das nicht meine Sache, ich wünſchte ihre
[315] Gemüther zu erheben; aber an das, was ſie
ihr Herz nannten, hatte ich nicht den minde¬
ſten Anſpruch, und nun wurden mir alle
Stände, Alter und Charaktere, einer um den
andern zur Laſt, und nichts war mir ver¬
drießlicher, als daß ich mich nicht wie ein
anderes ehrliches Mädchen in mein Zimmer
verſchließen, und ſo mir manche Mühe er¬
ſparen konnte.


Die Männer zeigten ſich meiſt, wie ich
ſie bey meiner Tante zu ſehen gewohnt war,
und ſie würden mir auch diesmal nur wie¬
der Abſcheu erregt haben, wenn mich nicht
ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhal¬
ten hätten. Da ich nicht vermeiden konnte,
ſie bald auf dem Theater, bald an öffentli¬
chen Orten, bald zu Hauſe zu ſehen, nahm
ich mir vor, ſie alle auszulauern, und mein
Bruder half mir wacker dazu. Und wenn
Sie denken, daß vom beweglichen Ladendie¬
[316] ner und dem eingebildeten Kaufmannsſohn,
bis zum gewandten abwiegenden Weltmann,
dem kühnen Soldaten und dem raſchen Prin¬
zen, alle, nach und nach, bey mir vorbey ge¬
gangen ſind, und jeder nach ſeiner Art ſeinen
Roman anzuknüpfen gedachte; ſo werden
Sie mir verzeihen, wenn ich mir einbildete,
mit meiner Nation ziemlich bekannt zu ſeyn.


Den phantaſtiſch aufgeſtutzten Studenten,
den demüthig-ſtolz verlegnen Gelehrten, den
ſchwankfüßigen genügſamen Domherrn, den
ſteifen aufmerkſamen Geſchäftsmann, den
derben Landbaron, den freundlich glatt-plat¬
ten Hofmann, den jungen aus der Bahn
ſchreitenden Geiſtlichen, den gelaſſenen, ſo
wie den ſchnellen und thätig ſpekulirenden
Kaufmann, alle habe ich in Bewegung geſe¬
hen, und beym Himmel! wenige fanden ſich
darunter, die mir nur ein gemeines Intereſſe
einzuflößen im Stande geweſen wären, viel¬
[317] mehr war es mir äußerſt verdrießlich, den
Beyfall der Thoren im einzelnen, mit Be¬
ſchwerlichkeit und langer Weile, einzucaſſi¬
ren, der mir im Ganzen ſo wohl behagt hat¬
te, den ich mir im Großen ſo gerne zueig¬
nete.


Wenn ich über mein Spiel ein vernünf¬
tiges Kompliment erwartete, wenn ich hoffte,
ſie ſollten einen Autor loben, den ich hoch¬
ſchätzte; ſo machten ſie eine alberne Anmer¬
kung über die andere, und nannten ein ab¬
geſchmacktes Stück, in welchem ſie wünſchten
mich ſpielen zu ſehen. Wenn ich in der Ge¬
ſellſchaft herum horchte, ob nicht etwa ein
edler, geiſtreicher, witziger Zug nachklänge,
und zur rechten Zeit wieder zum Vorſchein
käme, konnte ich ſelten eine Spur verneh¬
men. Ein Fehler, der vorgekommen war,
wenn ein Schauſpieler ſich verſprach oder ir¬
gend einen Provinzialiſm hören ließ, das
[318] waren die wichtigen Puncte, an denen ſie
ſich feſt hielten, von denen ſie nicht los kom¬
men konnten. Ich wußte zuletzt nicht, wo¬
hin ich mich wenden ſollte; ſie dünkten ſich
zu klug, ſich unterhalten zu laſſen, und ſie
glaubten mich wunderſam zu unterhalten,
wenn ſie an mir herum tätſchelten. Ich fing
an, ſie alle von Herzen zu verachten, und es
war mir eben, als wenn die ganze Nation
ſich recht vorſätzlich bey mir durch ihre Ab¬
geſandte habe proſtituiren wollen. Sie kam
mir im Ganzen ſo links vor, ſo übel erzo¬
gen, ſo ſchlecht unterrichtet, ſo leer von ge¬
fälligem Weſen, ſo geſchmacklos. Oft rief
ich aus: es kann doch kein Deutſcher einen
Schuh zuſchnallen, der es nicht von einer
fremden Nation gelernt hat!


Sie ſehen, wie verblendet, wie hypochon¬
driſch ungerecht ich war, und je länger es
währte, deſto mehr nahm meine Krankheit
[319] zu. Ich hätte mich umbringen können; al¬
lein ich verfiel auf ein ander Extrem: ich
verheirathete mich, oder vielmehr ich ließ
mich verheirathen. Mein Bruder, der das
Theater übernommen hatte, wünſchte ſehr ei¬
nen Gehülfen zu haben. Seine Wahl fiel
auf einen jungen Mann, der mir nicht zu¬
wider war, dem alles mangelte, was mein
Bruder beſaß, Genie, Leben, Geiſt und ra¬
ſches Weſen; an dem ſich aber auch alles
fand, was jenem abging: Liebe zur Ordnung,
Fleiß, eine köſtliche Gabe hauszuhalten, und
mit Gelde umzugehen.


Er iſt mein Mann geworden, ohne daß
ich weiß wie, wir haben zuſammen gelebt,
ohne daß ich recht weiß warum. Genug,
unſre Sachen gingen gut. Wir nahmen viel
ein, davon war die Thätigkeit meines Bru¬
ders Urſache; wir kamen gut aus, und das
war das Verdienſt meines Mannes. Ich
[320] dachte nicht mehr an Welt und Nation.
Mit der Welt hatte ich nichts zu theilen,
und den Begriff von Nation hatte ich ver¬
loren. Wenn ich auftrat, that ich’s um zu
leben, ich öffnete den Mund nur, weil ich
nicht ſchweigen durfte, weil ich doch heraus
gekommen war, um zu reden.


Doch, daß ich es nicht zu arg mache,
eigentlich hatte ich mich ganz in die Abſicht
meines Bruders ergeben; ihm war um Bey¬
fall und Geld zu thun; denn, unter uns, er
hört ſich gerne loben und braucht viel. Ich
ſpielte nun nicht mehr nach meinem Gefühl,
nach meiner Überzeugung, ſondern wie er
mich anwies, und wenn ich es ihm zu Danke
gemacht hatte, war ich zufrieden. Er rich¬
tete ſich nach allen Schwächen des Publi¬
kums; es ging Geld ein, er konnte nach ſei¬
ner Willkühr leben, und wir hatten gute
Tage mit ihm.


Ich[321]

Ich war indeſſen in einen handwerks¬
mäßigen Schlendrian gefallen. Ich zog mei¬
ne Tage ohne Freude und Antheil hin, mei¬
ne Ehe war kinderlos und dauerte nur kurze
Zeit. Mein Mann ward krank, ſeine Kräfte
nahmen ſichtbar ab, die Sorge für ihn un¬
terbrach meine allgemeine Gleichgültigkeit.
In dieſen Tagen machte ich eine Bekannt¬
ſchaft, mit der ein neues Leben für mich an¬
fing, ein neues und ſchnelleres, denn es wird
bald zu Ende ſeyn.


Sie ſchwieg eine Zeitlang ſtille, dann fuhr
ſie fort: auf einmal ſtockt meine geſchwätzige
Laune, und ich getraue mir den Mund nicht
weiter aufzuthun. Laſſen Sie mich ein we¬
nig ausruhen; Sie ſollen nicht weggehen,
ohne ausführlich all mein Unglück zu wiſſen.
Rufen Sie doch indeſſen Mignon herein,
und hören was ſie will.


Das Kind war während Aureliens Er¬
W. Meiſters Lehrj. 2. X[322] zählung einigemal im Zimmer geweſen. Da
man bey ſeinem Eintritt leiſer ſprach, war
es wieder weggeſchlichen, ſaß auf dem Saale
ſtill, und wartete. Als man ſie wieder her¬
einkommen hieß, brachte ſie ein Buch mit,
das man bald an Form und Einband für
einen kleinen geographiſchen Atlas erkannte.
Sie hatte bey dem Pfarrer unterwegs mit
großer Verwundrung die erſten Landkarten
geſehen, ihn viel darüber gefragt, und ſich,
ſo weit es gehen wollte, unterrichtet. Ihr
Verlangen etwas zu lernen ſchien durch dieſe
neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden.
Sie bat Wilhelmen inſtändig, ihr das Buch
zu kaufen. Sie habe dem Bildermann ihre
großen ſilbernen Schnallen dafür eingeſetzt,
und wolle ſie, weil es heute Abend ſo ſpät
geworden, morgen früh wieder einlöſen. Es
ward ihr bewilligt, und ſie fing nun an, das¬
jenige, was ſie wußte, theils herzuſagen,
[323] theils nach ihrer Art die wunderlichſten Fra¬
gen zu thun. Man konnte auch hier wieder
bemerken, daß bey einer großen Anſtrengung
ſie nur ſchwer und mühſam begriff. So war
auch ihre Handſchrift, mit der ſie ſich viele
Mühe gab. Sie ſprach noch immer ſehr ge¬
brochen deutſch, und nur wenn ſie den Mund
zum Singen aufthat, wenn ſie die Zither
rührte, ſchien ſie ſich des einzigen Organs zu
bedienen, wodurch ſie ihr Innerſtes aufſchlieſ¬
ſen und mittheilen konnte.


Wir müſſen, da wir gegenwärtig von ihr
ſprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in
die ſie ſeit einiger Zeit unſern Freund öfters
verſetzte. Wenn ſie kam oder ging, guten
Morgen, oder gute Nacht ſagte, ſchloß ſie
ihn ſo feſt in ihre Arme, und küßte ihn mit
ſolcher Inbrunſt, daß ihn die Heftigkeit die¬
ſer aufkeimenden Natur oft angſt und bange
machte. Die zuckende Lebhaftigkeit ſchien ſich
X 2[324] in ihrem Betragen täglich zu vermehren, und
ihr ganzes Weſen bewegte ſich in einer raſt¬
loſen Stille. Sie konnte nicht ſeyn, ohne
einen Bindfaden in den Händen zu drehen,
ein Tuch zu kneten, Papier oder Hölzchen zu
kauen. Jedes ihrer Spiele ſchien nur eine
innere heftige Erſchütterung abzuleiten. Das
Einzige, was ihr einige Heiterkeit zu geben
ſchien, war die Nähe des kleinen Felix, mit
dem ſie ſich ſehr artig abzugeben wußte.


Aurelie, die nach einiger Ruhe geſtimmt
war, ſich mit ihrem Freunde über einen Ge¬
genſtand, der ihr ſo ſehr am Herzen lag,
endlich zu erklären, ward über die Beharr¬
lichkeit der Kleinen diesmal ungeduldig, und
gab ihr zu verſtehen, daß ſie ſich wegbege¬
ben ſollte, und man mußte ſie endlich, da
alles nicht helfen wollte, ausdrücklich und
wider ihren Willen fortſchicken.


Jetzt oder niemals, ſagte Aurelie, muß
[325] ich Ihnen den Reſt meiner Geſchichte erzäh¬
len. Wäre mein zärtlich geliebter, ungerech¬
ter Freund nur wenige Meilen von hier, ich
würde ſagen, ſetzen Sie ſich zu Pferde, ſu¬
chen Sie auf irgend eine Weiſe Bekannt¬
ſchaft mit ihm, und wenn Sie zurückkehren,
ſo haben Sie mir gewiß verziehen, und be¬
dauern mich von Herzen. Jetzt kann ich
Ihnen nur mit Worten ſagen, wie liebens¬
würdig er war, und wie ſehr ich ihn liebte.


Eben zu der kritiſchen Zeit, da ich für die
Tage meines Mannes beſorgt ſeyn mußte,
lernt ich ihn kennen. Er war eben aus
Amerika zurück gekommen, wo er in Geſell¬
ſchaft einiger Franzoſen mit vieler Diſtink¬
tion unter den Fahnen der vereinigten Staa¬
ten gedient hatte.


Er begegnete mir mit einem gelaßnen
Anſtande, mit einer offnen Gutmüthigkeit,
ſprach über mich ſelbſt, meine Lage, mein
[326] Spiel, wie ein alter Bekannter, ſo theilneh¬
mend und ſo deutlich, daß ich mich zum er¬
ſtenmal freuen konnte, meine Exiſtenz in ei¬
nem andern Weſen ſo klar wieder zu erken¬
nen. Seine Urtheile waren richtig ohne ab¬
ſprechend, treffend ohne lieblos zu ſeyn. Er
zeigte keine Härte, und ſein Muthwille war
zugleich gefällig. Er ſchien des guten Glücks
bey Frauen gewohnt zu ſeyn, das machte
mich aufmerkſam; er war keinesweges ſchmei¬
chelnd und andringend, das machte mich
ſorglos.


In der Stadt ging er mit wenigen um,
war meiſt zu Pferde, beſuchte ſeine vielen
Bekannten in der Gegend, und beſorgte die
Geſchäfte ſeines Hauſes. Kam er zurück,
ſo ſtieg er bey mir ab, behandelte meinen
immer kränkern Mann mit warmer Sorge,
ſchafte dem Leidenden durch einen geſchickten
Arzt Linderung, und wie er an allem, was
[327] mich betraf, Theil nahm, ließ er mich auch
an ſeinem Schickſale Theil nehmen. Er er¬
zählte mir die Geſchichte ſeiner Campagne,
ſeiner unüberwindlichen Neigung zum Sol¬
datenſtande, ſeine Familienverhältniſſe; er
vertraute mir ſeine gegenwärtigen Beſchäfti¬
gungen. Genug, er hatte nichts geheimes
vor mir; er entwickelte mir ſein Innerſtes,
ließ mich in die verborgenſten Winkel ſeiner
Seele ſehen; ich lernte ſeine Fähigkeiten, ſei¬
ne Leidenſchaften kennen. Es war das erſte¬
mal in meinem Leben, daß ich eines herzli¬
chen, geiſtreichen Umgangs genoß. Ich war
von ihm angezogen, von ihm hingeriſſen, eh’
ich über mich ſelbſt Betrachtungen anſtellen
konnte.


Inzwiſchen verlor ich meinen Mann ohn¬
gefähr wie ich ihn genommen hatte. Die
Laſt der theatraliſchen Geſchäfte fiel nun
ganz auf mich. Mein Bruder, unverbeſſer¬
[328] lich auf dem Theater, war in der Haushal¬
tung niemals nütze; ich beſorgte alles, und
ſtudierte dabey meine Rollen fleißiger als je¬
mals. Ich ſpielte wieder wie vor Alters, ja
mit ganz anderer Kraft und neuem Leben,
zwar durch ihn und um ſeinetwillen, doch
nicht immer gelang es mir zum Beſten, wenn
ich meinen edlen Freund im Schauſpiel wu߬
te; aber einigemal behorchte er mich, und
wie angenehm mich ſein unvermutheter Bey¬
fall überraſchte, können Sie denken.


Gewiß, ich bin ein ſeltſames Geſchöpf.
Bey jeder Rolle, die ich ſpielte, war es mir
eigentlich nur immer zu Muthe, als wenn
ich ihn lobte und zu ſeinen Ehren ſpräche;
denn das war die Stimmung meines Her¬
zens, die Worte mochten übrigens ſeyn, wie
ſie wollten. Wußt’ ich ihn unter den Zuhö¬
rern, ſo getraute ich mich nicht, mit der gan¬
zen Gewalt zu ſprechen, eben als wenn ich
[329] ihm meine Liebe, mein Lob nicht geradezu
ins Geſicht aufdringen wollte; war er abwe¬
ſend, dann hatte ich freyes Spiel, ich that
mein Beſtes mit einer gewiſſen Ruhe, mit
einer unbeſchreiblichen Zufriedenheit. Der
Beyfall freute mich wieder, und wenn ich
dem Publikum Vergnügen machte, hätte ich
immer zugleich hinunter rufen mögen: das
ſeyd ihr ihm ſchuldig!


Ja, mir war wie durch ein Wunder das
Verhältniß zum Publikum, zur ganzen Na¬
tion verändert. Sie erſchien mir auf einmal
wieder in dem vortheilhafteſten Lichte, und
ich erſtaunte recht über meine bisherige Ver¬
blendung.


Wie unverſtändig, ſagt ich oft zu mir
ſelbſt, war es, als du ehemals auf eine Na¬
tion ſchalteſt, eben weil es eine Nation iſt.
Müſſen denn, können denn einzelne Men¬
ſchen ſo intereſſant ſeyn? Keinesweges! Es
[330] fragt ſich, ob unter der großen Maſſe eine
Menge von Anlagen, Kräften und Fähigkei¬
ten vertheilt ſey, die durch günſtige Umſtän¬
de entwickelt, durch vorzügliche Menſchen zu
einem gemeinſamen Endzwecke geleitet wer¬
den können? Ich freute mich nun, ſo wenig
hervorſtechende Originalität unter meinen
Landsleuten zu finden; ich freute mich, daß
ſie eine Richtung von auſſen anzunehmen
nicht verſchmähten. Ich freute mich, einen
Anführer gefunden zu haben.


Lothar — Laſſen Sie mich meinen Freund
mit ſeinem geliebten Vornahmen nennen —
hatte mir immer die Deutſchen von der Sei¬
te der Tapferkeit vorgeſtellt, und mir gezeigt,
daß keine bravere Nation in der Welt ſey,
wenn ſie recht geführt werde, und ich ſchäm¬
te mich, an die erſte Eigenſchaft eines Volks
niemals gedacht zu haben. Ihm war die
Geſchichte bekannt, und mit den meiſten ver¬
[331] dienſtvollen Männern ſeines Zeitalters ſtand
er in Verhältniſſen. So jung er war, hatte
er ein Auge auf die hervorkeimende hoff¬
nungsvolle Jugend ſeines Vaterlandes, auf
die ſtillen Arbeiten in ſo vielen Fächern be¬
ſchäftigter und thätiger Männer. Er ließ
mich einen Überblick über Deutſchland thun,
was es ſey, und was es ſeyn könne, und ich
ſchämte mich, eine Nation nach der verwor¬
renen Menge beurtheilt zu haben, die ſich
in eine Theatergarderobe drängen mag. Er
machte mir’s zur Pflicht, auch in meinem
Fache wahr, geiſtreich und belebend zu ſeyn.
Nun ſchien ich mir ſelbſt inſpirirt, ſo oft ich
auf das Theater trat. Mittelmäßige Stel¬
len wurden zu Gold in meinem Munde, und
hätte mir damals ein Dichter zweckmäßig
beygeſtanden, ich hätte die wunderbarſten
Wirkungen hervorgebracht.


So lebte die junge Wittwe Monate lang
[332] fort. Er konnte mich nicht entbehren, und
ich war höchſt unglücklich, wenn er auſſen
blieb. Er zeigte mir die Briefe ſeiner Ver¬
wandten, ſeiner fürtrefflichen Schweſter. Er
nahm an den kleinſten Umſtänden meiner
Verhältniſſe Theil; inniger, vollkommener iſt
keine Einigkeit zu denken. Der Nahme der
Liebe ward nicht genannt. Er ging und
kam, kam und ging — und nun, mein
Freund, iſt es hohe Zeit, daß Sie auch
gehen.


[333]

Siebzehntes Capitel.

Wilhelm konnte nun nicht länger den Be¬
ſuch bey ſeinen Handelsfreunden aufſchieben.
Er ging nicht ohne Verlegenheit dahin; denn
er wußte, daß er Briefe von den Seinigen
daſelbſt antreffen werde. Er fürchtete ſich
vor den Vorwürfen, die ſie enthalten mu߬
ten; wahrſcheinlich hatte man auch dem
Handelshauſe Nachricht von der Verlegen¬
heit gegeben, in der man ſich ſeinetwegen
befand. Er ſcheute ſich, nach ſo vielen rit¬
terlichen Abentheuern, vor dem ſchülerhaften
Anſehen, in dem er erſcheinen würde, und
nahm ſich vor, recht trotzig zu thun, und auf
dieſe Weiſe ſeine Verlegenheit zu verbergen.


Allein zu ſeiner großen Verwunderung
und Zufriedenheit ging alles ſehr gut und
[334] leidlich ab. In dem großen lebhaften und
beſchäftigten Comtoir hatte man kaum Zeit,
ſeine Briefe aufzuſuchen, ſeines längern Auſ¬
ſenbleibens ward nur im Vorbeygehn ge¬
dacht. Und als er die Briefe ſeines Vaters
und ſeines Freundes Werner eröffnete, fand
er ſie ſämmtlich ſehr leidlichen Inhalts. Der
Alte, in Hoffnung eines weitläuftigen Jour¬
nals, deſſen Führung er dem Sohne beym
Abſchiede ſorgfältig empfohlen, und wozu er
ihm ein tabellariſches Schema mitgegeben,
ſchien über das Stillſchweigen der erſten Zeit
ziemlich beruhigt, ſo wie er ſich nur über
das Räthſelhafte des erſten und einzigen vom
Schloſſe des Grafen noch abgeſandten Brie¬
fes beſchwerte. Werner ſcherzte nur auf ſei¬
ne Art, erzählte luſtige Stadtgeſchichten, und
bat ſich Nachricht von Freunden und Be¬
kannten aus, die Wilhelm nunmehr in der
großen Handelsſtadt häufig würde kennen
[335] lernen. Unſer Freund, der auſſerordentlich
erfreut war, um einen ſo wohlfeilen Preis
loszukommen, antwortete ſogleich in einigen
ſehr muntern Briefen, und verſprach dem
Vater ein ausführliches Reiſejournal, mit al¬
len verlangten geographiſchen, ſtatiſtiſchen
und merkantiliſchen Bemerkungen. Er hatte
vieles auf der Reiſe geſehen, und hoffte dar¬
aus ein leidliches Heft zuſammen ſchreiben
zu können. Er merkte nicht, daß er beynah
in eben dem Falle war, in dem er ſich be¬
fand, als er ein Schauſpiel, das weder ge¬
ſchrieben, noch weniger memorirt war, auf¬
zuführen, Lichter angezündet und Zuſchauer
herbey gerufen hatte. Als er daher wirklich
anfing, an ſeine Compoſition zu gehen, ward
er leider gewahr, daß er von Empfindungen
und Gedanken, von manchen Erfahrungen
des Herzens und Geiſtes ſprechen und erzäh¬
len konnte, nur nicht von äuſſern Gegenſtän¬
[336] den, denen er, wie er nun merkte, nicht die
mindeſte Aufmerkſamkeit geſchenkt hatte.


In dieſer Verlegenheit kamen die Kennt¬
niſſe ſeines Freundes Laertes ihm gut zu
ſtatten. Die Gewohnheit hatte beide junge
Leute, ſo unähnlich ſie ſich waren, zuſammen
verbunden, und jener war bey allen ſeinen
Fehlern, mit ſeinen Sonderbarkeiten wirklich
ein intereſſanter Menſch. Mit einer heitern
glücklichen Sinnlichkeit begabt, hätte er alt
werden können, ohne über ſeinen Zuſtand ir¬
gend nachzudenken. Nun hatte ihm aber
ſein Unglück und ſeine Krankheit das reine
Gefühl der Jugend geraubt, und ihm dage¬
gen einen Blick auf die Vergänglichkeit, auf
das Zerſtückelte unſers Daſeyns eröffnet.
Daraus war eine launigte, rhapſodiſche Art
über die Gegenſtände zu denken, oder viel¬
mehr ihre unmittelbaren Eindrücke zu äuſſern,
entſtanden. Er war nicht gern allein, trieb
ſich[337] ſich auf allen Kaffeehäuſern, an allen Wirths¬
tiſchen herum, und wenn er ja zu Hauſe
blieb, waren Reiſebeſchreibungen ſeine liebſte,
ja ſeine einzige Lektüre. Dieſe konnte er
nun, da er eine große Leihbibliothek fand,
nach Wunſch befriedigen, und bald ſpukte die
halbe Welt in ſeinem guten Gedächtniſſe.


Wie leicht konnte er daher ſeinem Freun¬
de Muth einſprechen, als dieſer ihm den völ¬
ligen Mangel an Vorrath zu der von ihm
ſo feyerlich verſprochenen Relation entdeckte.
Da wollen wir ein Kunſtſtück machen, ſagte
jener, das ſeines gleichen nicht haben ſoll.
Iſt nicht Deutſchland von einem Ende zum
andern durchreiſt, durchkreuzt, durchzogen,
durchkrochen und durchflogen? und hat nicht
jeder deutſche Reiſende den herrlichen Vor¬
theil, ſich ſeine großen oder kleinen Ausga¬
ben vom Publikum wieder erſtatten zu laſ¬
ſen? Gieb mir nur deine Reiſeroute, ehe du
W. Meiſters Lehrj. 2. Y[338] zu uns kamſt, das andre weiß ich. Die
Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke
will ich dir aufſuchen; an Quadratmeilen,
die nicht gemeſſen ſind, und an Volksmenge,
die nicht gezählt iſt, müſſen wir’s nicht feh¬
len laſſen. Die Einkünfte der Länder neh¬
men wir aus Taſchenbüchern und Tabellen,
die, wie bekannt, die zuverläſſigſten Docu¬
mente ſind. Darauf gründen wir unſre po¬
litiſche Raiſonnements; an Seitenblicken auf
die Regierungen ſolls nicht fehlen. Ein Paar
Fürſten beſchreiben wir als wahre Väter des
Vaterlandes, damit man uns deſto eher glaubt,
wenn wir einigen andern etwas anhängen,
und wenn wir nicht geradezu durch den
Wohnort einiger berühmten Leute durchrei¬
ſen, ſo begegnen wir ihnen in einem Wirths¬
hauſe, laſſen ſie uns im Vertrauen das al¬
bernſte Zeug ſagen, und beſonders vergeſſen
wir nicht eine Liebesgeſchichte mit irgend
[339] einem naiven Mädchen auf das anmuthigſte
einzuflechten, und es ſoll ein Werk geben,
das nicht allein Vater und Mutter mit Ent¬
zücken erfüllen ſoll, ſondern das dir auch je¬
der Buchhändler mit Vergnügen bezahlt.


Man ſchritt zum Werke, und beide Freun¬
de hatten viel Luſt an ihrer Arbeit, indeß
Wilhelm Abends im Schauſpiel und in dem
Umgange mit Serlo und Aurelien die größte
Zufriedenheit fand, und ſeine Ideen, die nur
zu lange ſich in einem engen Kreiſe herum
gedreht hatten, täglich weiter ausbreitete.


Y 2[340]

Achtzehntes Capitel.

Nicht ohne das größte Intereſſe vernahm
er Stückweiſe den Lebenslauf Serlo’s, denn
es war nicht die Art dieſes ſeltnen Mannes,
vertraulich zu ſeyn, und über irgend etwas
im Zuſammenhange zu ſprechen. Er war,
man darf ſagen, auf dem Theater gebohren
und geſäugt. Schon als ſtummes Kind mu߬
te er durch ſeine bloße Gegenwart die Zu¬
ſchauer rühren, weil auch ſchon damals die
Verfaſſer dieſe natürlichen und unſchuldigen
Hülfsmittel kannten, und ſein erſtes: Vater
und Mutter, brachte in beliebten Stücken
ihm ſchon den größten Beyfall zuwege, ehe
er wußte, was das Händeklatſchen bedeute.
Als Amor kam er, zitternd, mehr als ein¬
mal, im Flugwerke herunter, entwickelte ſich
[341] als Harlekin aus dem Ey, und machte als
kleiner Eſſenkehrer ſchon früh die artigſten
Streiche.


Leider mußte er den Beyfall, den er an
glänzenden Abenden erhielt, in den Zwiſchen¬
zeiten ſehr theuer bezahlen. Sein Vater,
überzeugt, daß nur durch Schläge die Auf¬
merkſamkeit der Kinder erregt und feſtgehal¬
ten werden könne, prügelte ihn beym Ein¬
ſtudieren einer jeden Rolle zu abgemeſſenen
Zeiten; nicht, weil das Kind ungeſchickt war,
ſondern damit es ſich deſto gewiſſer und an¬
haltender geſchickt zeigen möge. So gab
man ehemals, indem ein Gränzſtein geſetzt
wurde, den umſtehenden Kindern tüchtige
Ohrfeigen, und die älteſten Leute erinnern
ſich noch genau des Ortes und der Stelle.
Er wuchs heran, und zeigte auſſerordentliche
Fähigkeiten des Geiſtes und Fertigkeiten des
Körpers, und dabey eine große Biegſamkeit
[342] ſowohl in ſeiner Vorſtellungsart, als in Hand¬
lungen und Gebährden. Seine Nachah¬
mungsgabe überſtieg allen Glauben. Schon
als Knabe ahmte er Perſonen nach, ſo daß
man ſie zu ſehen glaubte, ob ſie ihm ſchon
an Geſtalt, Alter und Weſen völlig unähn¬
lich und unter einander verſchieden waren.
Dabey fehlte es ihm nicht an der Gabe ſich
in die Welt zu ſchicken, und ſobald er ſich
einigermaßen ſeiner Kräfte bewußt war, fand
er nichts natürlicher, als ſeinem Vater zu
entfliehen, der, wie die Vernunft des Kna¬
ben zunahm, und ſeine Geſchicklichkeit ſich
vermehrte, ihnen noch durch harte Begegnung
nachzuhelfen für nöthig fand.


Wie glücklich fühlte ſich der loſe Knabe
nun in der freyen Welt, da ihm ſeine Eu¬
lenſpiegelspoſſen überall eine gute Aufnahme
verſchafften. Sein guter Stern führte ihn
zuerſt eben in der Faſtnachtszeit in ein Klo¬
[343] ſter, wo er, weil eben der Pater, der die
Umgänge zu beſorgen, und durch geiſtliche
Maskeraden die chriſtliche Gemeinde zu er¬
götzen hatte, geſtorben war, als ein hülfrei¬
cher Schutzengel auftrat. Auch übernahm er
ſogleich die Rolle Gabriels in der Verkündi¬
gung, und mißfiel dem hübſchen Mädchen
nicht, die als Maria ſeinen obligenten Gruß,
mit äußerlicher Demuth und innerlichem
Stolze, ſehr zierlich aufnahm. Er ſpielte
darauf ſucceſſive in den Myſterien die wich¬
tigſten Rollen, und wußte ſich nicht wenig,
da er endlich gar als Heiland der Welt ver¬
ſpottet, geſchlagen, und ans Kreuz geheftet
wurde.


Einige Kriegsknechte mochten bey dieſer
Gelegenheit ihre Rollen gar zu natürlich
ſpielen, daher er ſie, um ſich auf die ſchick¬
lichſte Weiſe an ihnen zu rächen, bey Gele¬
genheit des jüngſten Gerichts in die präch¬
[344] tigſten Kleider von Kaiſern und Königen
ſteckte, und ihnen in dem Augenblicke, da ſie,
mit ihren Rollen ſehr wohl zufrieden, auch
in dem Himmel allen andern vorauszugehen
den Schritt nahmen, unvermuthet in Teu¬
felsgeſtalt begegnete, und ſie mit der Ofen¬
gabel zur herzlichſten Erbauung ſämmtlicher
Zuſchauer und Bettler weidlich durchdroſch,
und unbarmherzig zurück in die Grube ſtürz¬
te, wo ſie ſich von einem hervordringenden
Feuer aufs übelſte empfangen ſahen.


Er war klug genug einzuſehen, daß die
gekrönten Häupter ſein freches Unternehmen
nicht wohl vermerken, und ſelbſt vor ſeinem
privilegirten Ankläger- und Schergen-Amte
keinen Reſpekt haben würden; er machte ſich
daher, noch ehe das tauſendjährige Reich an¬
ging, in aller Stille davon, und ward in einer
benachbarten Stadt von einer Geſellſchaft,
die man damals Kinder der Freude nannte,
[345] mit offnen Armen aufgenommen. Es waren
verſtändige, geiſtreiche, lebhafte Menſchen,
die wohl einſahen, daß die Summe unſrer
Exiſtenz durch Vernunft dividirt, niemals
rein aufgehe, ſondern daß immer ein wun¬
derlicher Bruch übrig bleibe. Dieſen hinder¬
lichen, und, wenn er ſich in die ganze Maſſe
vertheilt, gefährlichen, Bruch, ſuchten ſie zu
beſtimmten Zeiten vorſetzlich los zu werden.
Sie waren einen Tag der Woche recht aus¬
führlich Narren, und ſtraften an demſelben
wechſelſeitig durch allegoriſche Vorſtellungen,
was ſie während der übrigen Tage an ſich
und andern närriſches bemerkt hatten. War
dieſe Art gleich roher als eine Folge von
Ausbildung, in welcher der ſittliche Menſch
ſich täglich zu bemerken, zu warnen und zu
ſtrafen pflegt; ſo war ſie doch luſtiger und
ſicherer, denn indem man einen gewiſſen
Schooßnarren nicht verleugnete, ſo tractirte
[346] man ihn auch nur für das was er war, an¬
ſtatt daß er auf dem andern Wege durch
Hülfe des Selbſtbetrugs oft im Hauſe zur
Herrſchaft gelangt, und die Vernunft zur
heimlichen Knechtſchaft zwingt, die ſich ein¬
bildet, ihn lange verjagt zu haben. Die
Narrenmaſke ging in der Geſellſchaft herum,
und jedem war erlaubt, ſie, an ſeinem Tage,
mit eigenen oder fremden Attributen, charak¬
teriſtiſch auszuzieren. In der Karnavalszeit
nahm man ſich die größte Freyheit, und
wetteiferte mit der Bemühung der Geiſtli¬
chen, das Volk zu unterhalten und anzuzie¬
hen. Die feyerlichen allegoriſchen Aufzüge
von Tugenden und Laſtern, Künſten und
Wiſſenſchaften, Welttheilen und Jahrszeiten
verſinnlichten dem Volke eine Menge Be¬
griffe, und gaben ihm Ideen entfernter Ge¬
genſtände, und ſo waren dieſe Scherze nicht
ohne Nutzen, da von einer andern Seite die
[347] geiſtlichen Mummereyen nur einen abge¬
ſchmackten Aberglauben noch mehr befeſtigten.


Der junge Serlo war auch hier wieder
ganz in ſeinem Elemente; eigentliche Erfin¬
dungskraft hatte er nicht, dagegen aber das
größte Geſchick, was er vor ſich fand zu
nutzen, zurecht zu ſtellen, und ſcheinbar zu
machen. Seine Einfälle, ſeine Nachahmungs¬
gabe, ja ſein beiſſender Witz, den er wenig¬
ſtens einen Tag in der Woche völlig frey,
ſelbſt gegen ſeine Wohlthäter, üben durfte,
machte ihn der ganzen Geſellſchaft werth, ja
unentbehrlich.


Doch trieb ihn ſeine Unruhe bald aus
dieſer vortheilhaften Lage in andere Gegen¬
den ſeines Vaterlandes, wo er wieder eine
neue Schule durchzugehen hatte. Er kam in
den gebildeten aber auch bildloſen Theil von
Deutſchland, wo es zur Verehrung des Gu¬
ten und Schönen zwar nicht an Wahrheit
[348] aber oft an Geiſt gebricht; er konnte mit
ſeinen Masken nichts mehr ausrichten; er
mußte ſuchen auf Herz und Gemüth zu wir¬
ken. Nur kurze Zeit hielt er ſich bey klei¬
nen und großen Geſellſchaften auf, und merk¬
te, bey dieſer Gelegenheit, ſämmtlichen Stük¬
ken und Schauſpielern ihre Eigenheiten ab, die
Monotonie, die damals auf dem deutſchen
Theater herrſchte; den albernen Fall und
Klang der Alexandriner, den geſchraubtplatten
Dialog; die Trockenheit und Gemeinheit der
unmittelbaren Sittenprediger hatte er bald
gefaßt, und zugleich bemerkt, was rührte und
gefiel.


Nicht Eine Rolle der gangbaren Stücke,
ſondern die ganzen Stücke blieben leicht in
ſeinem Gedächtniß, und zugleich der eigen¬
thümliche Ton des Schauſpielers, der ſie mit
Beyfall vorgetragen hatte. Nun kam er zu¬
fälligerweiſe auf ſeinen Streifereyen, da ihm
[349] das Geld völlig ausgegangen war, zu dem
Einfall, allein, ganze Stücke, beſonders auf
Edelhöfen und in Dörfern vorzuſtellen, und
ſich dadurch überall ſogleich Unterhalt und
Nachtquartier zu verſchaffen. In jeder Schen¬
ke, jedem Zimmer und Garten war ſein Thea¬
ter gleich aufgeſchlagen; mit einem ſchelmiſchen
Ernſt und anſcheinendem Enthuſiasmus wu߬
te er die Einbildungskraft ſeiner Zuſchauer
zu gewinnen, ihre Sinne zu täuſchen, und
vor ihren offenen Augen einen alten Schrank
zu einer Burg, und einen Fächer zum Dolche
umzuſchaffen. Seine Jugendwärme erſetzte
den Mangel eines tiefen Gefühls, ſeine Hef¬
tigkeit ſchien Stärke, und ſeine Schmeicheley
Zärtlichkeit. Diejenigen, die das Theater
ſchon kannten, erinnerte er an alles, was ſie
geſehen und gehört hatten, und in den übri¬
gen erregte er eine Ahndung von etwas
Wunderbaren, und den Wunſch, näher da¬
[350] mit bekannt zu werden. Was an einem
Orte Wirkung that, verfehlte er nicht am
andern zu wiederholen, und hatte die herz¬
lichſte Schadenfreude, wenn er alle Men¬
ſchen, auf gleiche Weiſe, aus dem Stegreife,
zum beſten haben konnte.


Bey ſeinem lebhaften, freyen und durch
nichts gehinderten Geiſte verbeſſerte er ſich,
indem er Rollen und Stücke oft wiederholte,
ſehr geſchwind. Bald rezitirte und ſpielte er
dem Sinne gemäßer, als die Muſter, die er
Anfangs nur nachgeahmt hatte. Auf dieſem
Wege kam er nach und nach dazu, natürlich
zu ſpielen und doch immer verſtellt zu ſeyn.
Er ſchien hingeriſſen, und lauerte auf den
Effekt, und ſein größter Stolz war: die
Menſchen ſtufenweiſe in Bewegung zu ſetzen.
Selbſt das tolle Handwerk, das er trieb,
nöthigte ihn bald mit einer gewiſſen Mäßi¬
gung zu verfahren, und ſo lernte er, theils
[351] gezwungen, theils aus Inſtinkt, das, wovon
ſo wenig Schauſpieler einen Begriff zu haben
ſcheinen: mit Organ und Gebährden ökono¬
miſch zu ſeyn.


So wußte er ſelbſt rohe und unfreundli¬
che Menſchen zu bändigen, und für ſich zu
intereſſiren, und da er überall mit Nahrung
und Obdach zufrieden war, jedes Geſchenk
dankbar annahm, das man ihm reichte, ja
manchmal gar das Geld, wenn er deſſen
nach ſeiner Meinung genug hatte, ausſchlug;
ſo ſchickte man ihn mit Empfehlungsſchreiben
einander zu, und ſo wanderte er eine ganze
Zeit von einem Edelhofe zum andern, wo er
manches Vergnügen erregte, manches genoß,
und nicht ohne die angenehmſten und artig¬
ſten Abentheuer blieb.


Bey der innerlichen Kälte ſeines Gemü¬
thes liebte er eigentlich niemand; bey der
Klarheit ſeines Blicks konnte er niemand
[352] achten, denn er ſah nur immer die äuſſern
Eigenheiten der Menſchen, und trug ſie in
ſeine mimiſche Sammlung ein. Dabey aber
war ſeine Selbſtigkeit äuſſerſt beleidigt, wenn
er nicht jedem gefiel, und wenn er nicht über¬
all Beyfall erregte. Wie dieſer zu erlangen
ſey, darauf hatte er nach und nach ſo genau
acht gegeben, und hatte ſeinen Sinn ſo ge¬
ſchärft, daß er nicht allein bey ſeinen Dar¬
ſtellungen, ſondern auch im gemeinen Leben
nicht mehr anders als ſchmeicheln konnte.
Und ſo arbeitete ſeine Gemüthsart, ſein Ta¬
lent und ſeine Lebensart dergeſtalt wechſels¬
weiſe gegen einander, daß er ſich unver¬
merkt zu einem vollkommnen Schauſpieler
ausgebildet ſah. Ja, durch eine ſeltſam ſchei¬
nende, aber ganz natürliche Wirkung und
Gegenwirkung ſtieg, durch Einſicht und
Übung, ſeine Rezitation, Declamation und
ſein Gebährdenſpiel zu einer hohen Stufe
von[353] von Wahrheit, Freyheit und Offenheit, in¬
dem er im Leben und Umgang immer heim¬
licher, künſtlicher, ja verſtellt und ängſtlich
zu werden ſchien.


Von ſeinen Schickſalen und Abentheuern
ſprechen wir vielleicht an einem andern Orte,
und bemerken hier nur ſo viel: daß er in
ſpäteren Zeiten, da er ſchon ein gemachter
Mann, im Beſitz von entſchiednem Nahmen,
und in einer ſehr guten obgleich nicht feſten
Lage war, ſich angewöhnt hatte, im Geſpräch
auf eine feine Weiſe theils ironiſch, theils
ſpöttiſch den Sophiſten zu machen, und da¬
durch faſt jede ernſthafte Unterhaltung zu
zerſtören. Beſonders gebrauchte er dieſe Ma¬
nier gegen Wilhelm, ſobald dieſer, wie es
ihm oft begegnete, ein allgemeines theoreti¬
ſches Geſpräch anzuknüpfen Luſt hatte. Dem¬
ungeachtet waren ſie ſehr gern beyſammen,
indem durch ihre beiderſeitige Denkart die
W. Meiſters Lehrj. 2. Z[354] Unterhaltung lebhaft werden mußte. Wil¬
helm wünſchte, alles aus den Begriffen, die
er gefaßt hatte, zu entwickeln, und wollte
die Kunſt in einem Zuſammenhange behan¬
delt haben. Er wollte ausgeſprochene Re¬
geln feſtſetzen, beſtimmen, was recht, ſchön
und gut ſey, und was Beyfall verdiene;
genug, er behandelte alles auf das ernſtlich¬
ſte. Serlo hingegen nahm die Sache ſehr
leicht, und indem er niemals direct auf eine
Frage antwortete, wußte er, durch eine Ge¬
ſchichte oder einen Schwank, die artigſte und
vergnüglichſte Erläuterung beyzubringen, und
die Geſellſchaft zu unterrichten, indem er ſie
erheiterte.


[355]

Neunzehntes Capitel.

Indem nun Wilhelm auf dieſe Weiſe ſehr
angenehme Stunden zubrachte, befanden ſich
Melina und die übrigen in einer deſto ver¬
drießlichern Lage. Sie erſchienen unſerm
Freunde manchmal wie böſe Geiſter, und
machten ihm nicht blos durch ihre Gegen¬
wart, ſondern auch oft durch flämiſche Ge¬
ſichter und bittre Reden einen verdrießlichen
Augenblick. Serlo hatte ſie nicht einmal zu
Gaſtrollen gelaſſen, geſchweige daß er ihnen
Hoffnung zum Engagement gemacht hätte,
und hatte demungeachtet nach und nach ihre
ſämmtlichen Fähigkeiten kennen gelernt. So
oft ſich Schauſpieler bey ihm geſellig ver¬
ſammelten, hatte er die Gewohnheit leſen zu
laſſen, und manchmal ſelbſt mitzuleſen. Er
Z 2[356] nahm Stücke vor, die noch gegeben werden
ſollten, die lange nicht gegeben waren, und
zwar meiſtens nur Theilweiſe. So ließ er
auch, nach einer erſten Aufführung, Stellen,
bey denen er etwas zu erinnern hatte, wie¬
derholen, vermehrte dadurch die Einſicht der
Schauſpieler, und verſtärkte ihre Sicherheit,
den rechten Punkt zu treffen. Und wie ein
geringer aber richtiger Verſtand mehr als
ein verworrnes und ungeläutertes Genie zur
Zufriedenheit anderer wirken kann; ſo er¬
hub er mittelmäßige Talente, durch die deut¬
liche Einſicht, die er ihnen unmerklich ver¬
ſchafte, zu einer bewundernswürdigen Fä¬
higkeit. Nicht wenig trug dazu bey, daß er
auch Gedichte leſen ließ, und in ihnen das
Gefühl jenes Reizes erhielt, den ein wohl¬
vorgetragner Rythmus in unſrer Seele er¬
regt, anſtatt daß man bey andern Geſell¬
ſchaften ſchon anfing, nur diejenige Proſa
[357] vorzutragen, wozu einem jeden der Schnabel
gewachſen war.


Bey ſolchen Gelegenheiten hatte er auch
die ſämmtlichen angekommenen Schauſpieler
kennen lernen, das was ſie waren, und was
ſie werden konnten, beurtheilt, und ſich in
der Stille vorgenommen, von ihren Talenten
bey einer Revolution, die ſeiner Geſellſchaft
drohete, ſogleich Vortheil zu ziehen. Er ließ
die Sache eine Weile auf ſich beruhen, lehn¬
te alle Interceſſionen Wilhelms für ſie mit
Achſelzucken ab, bis er ſeine Zeit erſah, und
ſeinem jungen Freunde ganz unerwartet den
Vorſchlag that: er ſolle doch ſelbſt bey ihm
aufs Theater gehen, und unter dieſer Bedin¬
gung wolle er auch die übrigen engagiren.


Die Leute müſſen alſo doch ſo unbrauch¬
bar nicht ſeyn, wie Sie mir ſolche bisher ge¬
ſchildert haben, verſetzte ihm Wilhelm, wenn
ſie jetzt auf einmal zuſammen angenommen
[358] werden können, und ich dächte, ihre Talente
müßten auch ohne mich dieſelbigen bleiben.


Serlo eröffnete ihm darauf, unter dem
Siegel der Verſchwiegenheit, ſeine Lage: wie
ſein erſter Liebhaber Miene mache, ihn bey
der Erneuerung des Contracts zu ſteigern,
und wie er nicht geſinnt ſey, ihm nachzuge¬
ben, beſonders da die Gunſt des Publikums
gegen ihn ſo groß nicht mehr ſey. Ließe er
dieſen gehen, ſo würde ſein ganzer Anhang
ihm folgen, wodurch denn die Geſellſchaft
einige gute, aber auch einige mittelmäßige
Glieder verlöre. Hierauf zeigte er Wilhel¬
men, was er dagegen an ihm, an Laertes,
dem alten Polterer und ſelbſt an Frau Me¬
lina zu gewinnen hoffe. Ja, er verſprach
dem armen Pedanten als Juden, Miniſter,
und überhaupt als Böſewicht einen entſchie¬
denen Beyfall zu verſchaffen.


Wilhelm ſtutzte, und vernahm den Vor¬
[359] trag nicht ohne Unruhe, und nur um etwas
zu ſagen, verſetzte er, nachdem er tief Athem
geholt hatte: Sie ſprechen auf eine ſehr
freundliche Weiſe nur von dem Guten, was
Sie an uns finden und von uns hoffen;
wie ſieht es denn aber mit den ſchwachen
Seiten aus, die Ihrem Scharfſinne gewiß
nicht entgangen ſind?


Die wollen wir bald durch Fleiß, Übung
und Nachdenken zu ſtarken Seiten machen,
verſetzte Serlo. Es iſt unter euch allen, die
ihr denn doch nur Naturaliſten und Pfuſcher
ſeyd, keiner, der nicht mehr oder weniger
Hoffnung von ſich gäbe; denn ſo viel ich
alle beurtheilen kann, ſo iſt kein einziger
Stock darunter, und Stöcke allein ſind die
Unverbeſſerlichen, ſie mögen nun aus Eigen¬
dünkel, Dummheit oder Hypochondrie unge¬
lenk und unbiegſam ſeyn.


Serlo legte darauf mit wenigen Worten
[360] die Bedingungen dar, die er machen könne
und wolle, bat Wilhelmen um ſchleunige
Entſcheidung, und verließ ihn in nicht gerin¬
ger Unruhe.


Bey der wunderlichen und gleichſam nur
zum Scherz unternommenen Arbeit jener fin¬
girten Reiſebeſchreibung, die er mit Laertes
ausarbeitete, war er auf die Zuſtände und
das tägliche Leben der wirklichen Welt auf¬
merkſamer geworden, als er ſonſt nicht ge¬
weſen war. Er begriff jetzt ſelbſt erſt die
Abſicht des Vaters, als er ihm die Führung
des Journals ſo lebhaft empfohlen. Er
fühlte zum erſtenmale, wie angenehm und
nützlich es ſeyn könne, ſich zur Mittelsperſon
ſo vieler Gewerbe und Bedürfniſſe zu ma¬
chen, und bis in die tiefſten Gebirge und
Wälder des feſten Landes Leben und Thä¬
tigkeit verbreiten zu helfen. Die lebhafte
Handelsſtadt, in der er ſich befand, gab ihm
[361] bey der Unruhe des Laertes, der ihn überall
mit herumſchleppte, den anſchaulichſten Be¬
griff eines großen Mittelpunktes, woher al¬
les ausfließt, und wohin alles zurückkehrt,
und es war das erſtemal, daß ſein Geiſt im
Anſchauen dieſer Art von Thätigkeit ſich
wirklich ergetzte. In dieſem Zuſtande hatte
ihm Serlo den Antrag gethan, und ſeine
Wünſche, ſeine Neigung, ſein Zutrauen auf
ein angebornes Talent, und ſeine Verpflich¬
tung gegen die hülfloſe Geſellſchaft wieder
rege gemacht.


Da ſteh ich nun, ſagte er zu ſich ſelbſt,
abermals am Scheidewege zwiſchen den bei¬
den Frauen, die mir in meiner Jugend er¬
ſchienen. Die eine ſieht nicht mehr ſo küm¬
merlich aus, wie damals, und die andere
nicht ſo prächtig. Der einen wie der andern
zu folgen fühlſt du eine Art von innern Be¬
ruf, und von beiden Seiten ſind die äuſſern
[362] Anläſſe ſtark genug; es ſcheint dir unmöglich
dich zu entſcheiden, du wünſcheſt, daß irgend
ein Übergewicht von Auſſen deine Wahl be¬
ſtimmen möge, und doch, wenn du dich recht
unterſuchſt, ſo ſind es nur äuſſere Umſtände,
die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb
und Beſitz einflößen, aber dein innerſtes Be¬
dürfniß erzeugt und nährt den Wunſch, die
Anlagen, die in dir zum Guten und Schö¬
nen ruhen mögen, ſie ſeyen körperlich oder
geiſtig, immer mehr zu entwickeln und aus¬
zubilden. Und muß ich nicht das Schickſal
verehren, das mich ohne mein Zuthun hier¬
her an das Ziel aller meiner Wünſche führt?
Geſchieht nicht alles, was ich mir ehemals
ausgedacht und vorgeſetzt, nun zufällig ohne
mein Mitwirken? Sonderbar genug! Der
Menſch ſcheint mit nichts vertrauter zu ſeyn,
als mit ſeinen Hoffnungen und Wünſchen,
die er lange im Herzen nährt und bewahrt,
[363] und doch, wenn ſie ihm nun begegnen, wenn
ſie ſich ihm gleichſam aufdringen, erkennt er
ſie nicht und weicht vor ihnen zurück. Alles,
was ich mir vor jener unglücklichen Nacht,
die mich von Marianen entfernte, nur träu¬
men ließ, ſteht vor mir, und bietet ſich mir
ſelbſt an. Hierher wollte ich flüchten, und
bin ſachte hergeleitet worden; bey Serlo
wollte ich unterzukommen ſuchen, er ſucht
nun mich, und bietet mir Bedingungen an,
die ich als Anfänger nie erwarten konnte.
War es denn bloß Liebe zu Marianen, die
mich ans Theater feſſelte? oder war es Liebe
zur Kunſt, die mich an das Mädchen feſt¬
knüpfte? War jene Ausſicht, jener Ausweg
nach der Bühne blos einem unordentlichen,
unruhigen Menſchen willkommen, der ein
Leben fortzuſetzen wünſchte, das ihm die Ver¬
hältniſſe der bürgerlichen Welt nicht geſtat¬
teten, oder war es alles anders, reiner, wür¬
[364] diger? und was ſollte dich bewegen können,
deine damalige Geſinnungen zu ändern?
Haſt du nicht vielmehr bisher ſelbſt unwiſ¬
ſend deinen Plan verfolgt, und iſt nicht jetzt
der letzte Schritt noch mehr zu billigen, da
keine Nebenabſichten dabey im Spiele ſind,
und da du zugleich ein feyerlich gegebenes
Wort halten, und dich auf eine edle Weiſe
von einer ſchweren Schuld befreyen kannſt?


Alles, was in ſeinem Herzen und ſeiner
Einbildungskraft ſich bewegte, wechſelte nun
auf das lebhafteſte gegen einander ab. Daß
er ſeine Mignon behalten könne, daß er den
Harfner nicht zu verſtoßen brauche, war kein
kleines Gewicht auf der Wagſchale, und
doch ſchwankte ſie noch hin und wieder, als
er ſeine Freundin Aurelie gewohnterweiſe zu
beſuchen ging.


[365]

Zwanzigſtes Capitel.

Er fand ſie auf ihrem Ruhbette; ſie ſchien
ſtille. Glauben Sie noch morgen ſpielen zu
können? fragte er. O ja, verſetzte ſie leb¬
haft; Sie wiſſen, daran hindert mich
nichts. — Wenn ich nur ein Mittel wüßte,
den Beyfall unſers Parterr’s von mir abzu¬
lehnen: ſie meinen es gut, und werden mich
noch umbringen. Vorgeſtern dacht’ ich das
Herz müßte mir reißen! Sonſt konnt’ ich es
wohl leiden, wenn ich mir ſelbſt gefiel, wenn
ich lange ſtudirt und mich vorbereitet hatte‚
dann freute ich mich, wenn das willkommene
Zeichen: nun ſey es gelungen, von allen
Enden wiedertönte. Jetzo ſag ich nicht, was
ich will, nicht wie ichs will, ich werde hinge¬
riſſen, ich verwirre mich, und mein Spiel
[366] macht einen weit größern Eindruck. Der
Beyfall wird lauter, und ich denke: wüßtet
ihr, was euch entzückt! die dunkeln, heftigen,
unbeſtimmten Anklänge rühren euch, zwingen
euch Bewundrung ab, und ihr fühlt nicht,
daß es die Schmerzenstöne der Unglücklichen
ſind, der ihr euer Wohlwollen geſchenkt habt.


Heute früh hab’ ich gelernt, jetzt wieder¬
holt und verſucht. Ich bin müde, zerbrochen,
und morgen geht es wieder von vorn an.
Morgen Abend ſoll geſpielt werden; ſo
ſchlepp’ ich mich hin und her, es iſt mir
langweilig aufzuſtehen, und verdrießlich zu
Bette zu gehen. Alles macht einen ewigen
Zirkel in mir. Dann treten die leidigen Trö¬
ſtungen vor mir auf, dann werf ich ſie weg,
und verwünſche ſie. Ich will mich nicht er¬
geben, nicht der Nothwendigkeit ergeben —
warum ſoll das nothwendig ſeyn, was mich
zu Grunde richtet? Könnte es nicht auch
[367] anders ſeyn? Ich muß es eben bezahlen, daß
ich eine Deutſche bin; es iſt der Charakter
der Deutſchen, daß ſie über allem ſchwer
werden, daß alles über ihnen ſchwer wird.


O, meine Freundin, fiel Wilhelm ein,
könnten Sie doch aufhören ſelbſt den Dolch
zu ſchärfen, mit dem Sie ſich unabläſſig ver¬
wunden! Bleibt Ihnen denn nichts? Iſt
denn Ihre Jugend, Ihre Geſtalt, Ihre Ge¬
ſundheit, ſind Ihre Talente nichts? Wenn
Sie ein Gut ohne Ihr Verſchulden verloren
haben, müſſen Sie denn alles Übrige hinter¬
drein werfen? Iſt das auch nothwendig?


Sie ſchwieg einige Augenblicke, dann fuhr
ſie auf: ich weiß es wohl, daß es Zeitver¬
derb iſt, nichts als Zeitverderb iſt die Liebe!
Was hätte ich nicht thun können! thun ſol¬
len! nun iſt alles rein zu Nichts geworden.
Ich bin ein armes verliebtes Geſchöpf, nichts
als verliebt! Haben Sie Mitleiden mit mir,
bey Gott, ich bin ein armes Geſchöpf!


[368]

Sie verſank in ſich, und nach einer kur¬
zen Pauſe rief ſie heftig aus: ihr ſeyd ge¬
wohnt, daß ſich euch alles an den Hals
wirft, nein ihr könnt es nicht fühlen, kein
Mann iſt im Stande, den Werth eines Wei¬
bes zu fühlen, das ſich zu ehren weiß. Bey
allen heiligen Engeln, bey allen Bildern der
Seeligkeit, die ſich ein reines gutmüthiges
Herz erſchaft, es iſt nichts Himmliſchers, als
ein weibliches Weſen, das ſich dem geliebten
Manne hingiebt.


Wir ſind kalt, ſtolz, hoch, klar, klug,
wenn wir verdienen Weiber zu heißen, und
alle dieſe Vorzüge legen wir euch zu Füßen,
ſobald wir lieben, ſobald wir hoffen, Gegen¬
liebe zu erwerben. O wie hab’ ich mein
ganzes Daſeyn ſo mit Wiſſen und Willen
weggeworfen; aber nun will ich auch ver¬
zweifeln, abſichtlich verzweifeln. Es ſoll kein
Blutstropfen in mir ſeyn, der nicht geſtraft
wird.[369] wird, keine Faſer, die ich nicht peinigen will.
Lächeln Sie nur, lachen Sie nur über den
theatraliſchen Aufwand von Leidenſchaft.


Fern war von unſerm Freunde jede An¬
wandlung des Lachens. Der entſetzliche, halb
natürliche, halb erzwungene Zuſtand ſeiner
Freundin peinigte ihn nur zu ſehr. Er em¬
pfand die Foltern der unglücklichen Anſpan¬
nung mit; ſein Gehirn zerrüttete ſich, und
ſein Blut war in einer fieberhaften Bewe¬
gung.


Sie war aufgeſtanden, und ging in der
Stube hin und wieder. Ich ſage mir alles
vor, rief ſie aus, warum ich ihn nicht lieben
ſollte. Ich weiß auch, daß er es nicht werth
iſt; ich wende mein Gemüth ab, dahin und
dorthin, beſchäftige mich, wie es nur gehen
will. Bald nehm ich eine Rolle vor, wenn
ich ſie auch nicht zu ſpielen habe, ich übe die
alten, die ich durch und durch kenne, fleißi¬
W. Meiſters Lehrj. 2. A a[370] ger und fleißiger, ins Einzelne, und übe und
übe — mein Freund, mein Vertrauter, wel¬
che entſetzliche Arbeit iſt es, ſich mit Gewalt
von ſich ſelbſt zu entfernen! Mein Verſtand
leidet, mein Gehirn iſt ſo angeſpannt; um
mich vom Wahnſinne zu retten, überlaß ich
mich wieder dem Gefühle, daß ich ihn lie¬
be. — Ja, ich liebe ihn, ich liebe ihn! rief
ſie unter tauſend Thränen, ich liebe ihn, und
ſo will ich ſterben.


Er faßte ſie bey der Hand, und bat ſie
auf das inſtändigſte, ſich nicht ſelbſt aufzu¬
reiben. O, ſagte er, wie ſonderbar iſt es,
daß dem Menſchen nicht allein ſo manches
Unmögliche, ſondern auch ſo manches Mög¬
liche verſagt iſt. Sie waren nicht beſtimmt,
ein treues Herz zu finden, das Ihre ganze
Glückſeeligkeit würde gemacht haben. Ich
war dazu beſtimmt, das ganze Heil meines
Lebens an eine Unglückliche feſtzuknüpfen, die
[371] ich durch die Schwere meiner Treue wie ein
Rohr zu Boden zog, ja vielleicht gar zer¬
brach.


Er hatte Aurelien ſeine Geſchichte mit
Marianen vertraut, und konnte ſich alſo jetzt
darauf beziehen. Sie ſah ihm ſtarr in die
Augen, und fragte: können Sie ſagen, daß
Sie noch niemals ein Weib betrogen, daß
Sie keiner mit leichtſinniger Galanterie, mit
frevelhafter Betheurung, mit herzlockenden
Schwüren ihre Gunſt abzulocken geſucht?


Das kann ich, verſetzte Wilhelm, und
zwar ohne Ruhmredigkeit; denn mein Leben
war ſehr einfach, und ich bin ſelten in die
Verſuchung gerathen, zu verſuchen. Und
welche Warnung, meine ſchöne, meine edle
Freundin, iſt mir der traurige Zuſtand, in
den ich Sie verſetzt ſehe. Nehmen Sie ein
Gelübde von mir, das meinem Herzen ganz
angemeſſen iſt, das durch die Rührung, die
Aa 2[372] Sie mir einflößten, ſich bey mir zur Sprache
und Form beſtimmt, und durch dieſen Au¬
genblick geheiligt wird: jeder flüchtigen Nei¬
gung will ich widerſtehen, und ſelbſt die
ernſtlichſten in meinem Buſen bewahren; kein
weibliches Geſchöpf ſoll ein Bekenntniß der
Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich
nicht mein ganzes Leben widmen kann.


Sie ſah ihn mit einer wilden Gleichgül¬
tigkeit an, und entfernte ſich, als er ihr die
Hand reichte, um einige Schritte. Es iſt
nichts daran gelegen, rief ſie, ſo viel Wei¬
berthränen mehr oder weniger, die See wird
darum doch nicht wachſen. Doch, fuhr ſie
fort, unter Tauſenden Eine gerettet, das iſt
doch etwas, unter Tauſenden Einen Redli¬
chen gefunden, das iſt anzunehmen. Wiſſen
Sie auch was Sie verſprechen?


Ich weiß es, verſetzte Wilhelm lächelnd,
und hielt ſeine Hand hin.


[373]

Ich nehm’ es an, verſetzte ſie, und machte
eine Bewegung mit ihrer Rechten, ſo daß er
glaubte, ſie würde die ſeine faſſen; aber
ſchnell fuhr ſie in die Taſche, riß den Dolch
wie der Blitz heraus, und fuhr mit Spitze
und Schneide ihm raſch über die Hand weg.
Er zog ſie ſchnell zurück, aber ſchon lief das
Blut herunter.


Man muß euch Männer ſcharf zeichnen,
wenn ihr merken ſollt, rief ſie mit einer wil¬
den Heiterkeit aus, die bald in eine haſtige
Geſchäftigkeit überging. Sie nahm ihr
Schnupftuch und umwickelte ſeine Hand da¬
mit, um das erſte hervordringende Blut zu
ſtillen. Verzeihen Sie einer Halbwahnſinni¬
gen, rief ſie aus, und laſſen Sie ſich dieſe
Tropfen Bluts nicht reuen. Ich bin ver¬
ſöhnt, ich bin wieder bey mir ſelber. Auf
meinen Knieen will ich Abbitte thun, laſſen
Sie mir den Troſt, Sie zu heilen.


[374]

Sie eilte nach ihrem Schranke, holte Lein¬
wand und einiges Geräth, ſtillte das Blut,
und beſah die Wunde ſorgfältig. Der
Schnitt ging durch den Ballen gerade unter
dem Daumen, theilte die Lebenslinie, und
lief gegen den kleinen Finger aus. Sie ver¬
band ihn ſtill, und mit einer nachdenklichen
Bedeutſamkeit in ſich gekehrt. Er fragte
einigemal: Beſte, wie konnten Sie Ihren
Freund verletzen?


Still! erwiederte ſie, indem ſie den Fin¬
ger auf den Mund legte: ſtill!

[]

Appendix A Nachricht an den Buchbinder.


Die von dem Hrn. Capellmeiſter Reichard
componirten Lieder werden ſo eingeheftet,
daß man ſie von der Rechten zur Linken
aufſchlägt:


  • Zu Seite 7. Kennſt du das Land, ꝛc.
  • Zu S. 265. Nur wer die Sehnſucht kennt, ꝛc.
[]
[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhvj.0