[][][][][][][[I]]
Die Politik,
auf den Grund und das Maaß der ge-
gebenen Zuſtaͤnde zuruͤckgefuͤhrt.


Erſter Band.
Staatsverfaſſung. Volksbildung.

Goͤttingen,:
Verlag der Dieterichſchen Buchhandlung.
1835.

[[II]][[III]]

Vorrede.


Ich habe ſtets den alten Ausſpruch fuͤr weiſe gehal-
ten, man muͤſſe die menſchlichen Dinge nicht bewei-
nen, nicht belachen, man muͤſſe ſie zu verſtehen trach-
ten. Vielleicht iſt er Miturſache, daß ich der kraͤf-
tigen Aufforderung unſerer Gegenwart, beachtet zu
werden, nie auf die Dauer widerſtanden habe. Es
ſchien mir immer mehr, der Augenblick ſey groß oder
gemein, je nachdem man ihn behandelt und verbin-
det, und der Unterſchied der ſo genannten gluͤcklichen
und ungluͤcklichen Zeitalter liege am Ende darin, daß
die einen fuͤr ſich ſelber etwas zu bedeuten ſcheinen,
die andern aber im Zuſammenhange mit dem Ganzen
unſerer Entwickelungen wirklich etwas um ſo Groͤße-
res bedeuten. Der freiere Blick auf eine lange und
immer zuſammenhaͤngendere Strecke von den Bahnen
der Menſchheit iſt dieſem Zeitalter zu Stab und Stuͤtze
gegeben. Weil ich dieſem Gedanken folgte, und
ich weiß ſelber nicht zu ſagen ihn feſthielt, oder er
mich, ſo war ich, ohnehin wenig geneigt durch die
Schrift zu reden, leicht entſchloſſen, allen Apparat,
[IV] literariſchen und gelehrten, der mein Fahrzeug zu uͤber-
frachten drohte, zuruͤckzudraͤngen und von Gegen-
ſtaͤnden, die mir an ſich ſelber wichtig ſchienen, ein-
fach ohne Zuthat zu reden, kurz, wenn ich glaubte,
ein Verhaͤltniß laſſe ſich wohl muͤndlich oder anders-
woher bequem ergaͤnzen, oder ſey von einem allgemei-
nen Standpunkte uͤberhaupt nicht der ſchließlichen
Erledigung faͤhig, in unbekuͤmmerter Ausfuͤhrlichkeit,
wo es mir darauf anzukommen ſchien einer leitenden
Idee ihr Recht zu thun. Auch meinen Zuhoͤrern wird,
wenn ſie dieſes Buch zur Hand nehmen wollen, ge-
rade dieſe Behandlung einen Dienſt erweiſen koͤnnen.
Im Uebrigen wuͤnſche ich denn freilich, daß dieſer
Band und der andere, der noch folgen mag, auch an
ſich ſelber etwas bedeuten, nicht bloß unſerer Buͤ-
cherſchaar als vermehrendes Mitglied ſich anſchließen
moͤge. Ich ſchicke ihn mit der Hoffnung in die Welt,
daß er allen politiſchen Secten misfallen werde.


Goͤttingen, Auguſt 1835.


Berichtigungen.


S. 60. zu 77. Ende. Den Titular-Adel hob erſt der 20. Jul.
1790. auf, die Ritter-Orden der 30. Oct. 1791.


— 63. Z. 10. f. Baronets l. Barone.


[[V]]

Inhalt.


  • Einleitung.
  • Wie der Staat zu der Menſchheit ſtehe Seite 1
  • Erſter Theil der Politik.
    Vom Staate fuͤr ſich ſelber
    .
  • Erſter Abſchnitt.
    Von der Staatsverfaſſung
    .
  • Erſtes Capitel.
    Von der Eintheilung der Verfaſſung nach der Zahl
    der regierenden Perſonen 13
  • Zweites Capitel.
    Von den Staatsverfaſſungen der Alten unſeres Welt-
    theils 20
  • Sparta 20
  • Athen 26
  • Rom 32
  • Drittes Capitel.
    Vom Gegenſatze der neueren Staatsverfaſſungen un-
    ſeres Welttheils. 51
  • Ariſtokratie von England 54
  • Das Parlament von Großbritannien 62
  • Viertes Capitel.
    Von der Staats-Regierung 77
  • Fuͤnftes Capitel.
    Von der Staats-Regierung in der Form des Koͤnig-
    thums 82
  • Erblichkeit des Koͤnigthums 82
  • Die koͤniglichen Rechte 90
  • Der koͤnigliche Reichthum 93
  • Die koͤnigliche Unverletzlichkeit und Unverantwortlichkeit 97
  • Sechstes Capitel.
    Von den Reichsſtaͤnden oder der allgemeinen Staͤnde-
    Verſammlung. 109
  • Das Princip: landſtaͤndiſch oder repraͤſentativ 109
  • Theilung der Staͤnde-Verſammlung in Kammern 121
  • Bildung des Ober-Hauſes 124
  • Bildung der zweiten Kammer Seite 129
  • Die Geſchaͤfts-Ordnung 140
  • Rechte der Staͤnde-Verſammlung 145
  • Verhaͤltniſſe der allgemeinen Staͤnde-Verſammlung zu
    Provinzial-Staͤnden 155
  • Siebentes Capitel.
    Von der Ausfuͤhrbarkeit der guten Verfaſſung 161
  • Achtes Capitel.
    Vom Rechte des Widerſtandes 173
  • Neuntes Capitel.
    Blick auf die Syſtematik der Staatswiſſenſchaft 182
  • Zweiter Abſchnitt.
    Von der Staatsverwaltung
    .
  • Erſte Abtheilung.
    Einleitung in den Organismus der Staatsverwaltung.
  • Zehntes Capitel.
    Von den Gemeinden 214
  • Eilftes Capitel.
    Von den Staatsbeamten 245
  • Zweite Abtheilung.
    Die Gebiete der Staats-Verwaltung.
  • I.Die Volksbildung.
  • Zwoͤlftes Capitel.
    Von dem Rechte des Staats uͤber Erziehung und
    Unterricht 254
  • Dreizehntes Capitel.
    Vom Unterrichte der Unerwachſenen, oder vom Schul-
    weſen 268
  • Vierzehntes Capitel.
    Von der hoͤchſten Bildungsanſtalt fuͤr Erwachſene,
    die noch nicht Staatsbuͤrger ſind, oder vom
    Univerſitaͤtsweſen 277
  • Funfzehntes Capitel.
    Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger 298
  • Sechzehntes Capitel.
    Religion und Kirche im Staate 310
[[1]]

Einleitung.


1
[[2]][[3]]

Einleitung.
Wie der Staat zu der Menſchheit ſtehe
.


1. Dem Staate geht kein Naturzuſtand voran, der
von blinden Trieben und vernunftloſen Menſchen handelt.
Der Naturſtand des Menſchen iſt Vernunft zu beſitzen,
ein Über und ein Unter ſich zu unterſcheiden.


2. Der Staat iſt alſo keine Erfindung, weder der
Noth noch der Kunſt, keine Actiengeſellſchaft, keine Ma-
ſchine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben her-
vorſpringendes Vertragswerk, kein nothwendiges Übel, kein
mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menſchheit, er iſt
eine urſpruͤngliche Ordnung, ein nothwendiger Zuſtand, ein
Vermoͤgen der Menſchheit und eines von den die Gattung
zur Vollendung fuͤhrenden Vermoͤgen.


3. Der Staat iſt uranfaͤnglich. Die Urfamilie iſt
Urſtaat; jede Familie, unabhaͤngig dargeſtellt, iſt Staat.
„Der Menſch iſt von Natur ein Staatsweſen.“ (Ariſtoteles).


4. Was man in der Beſchreibung ungebildeter Voͤlker
Naturſtand nennt, iſt nur ein minus der Staatsthaͤtigkeit,
das aus einem unentwickelten Bewußtſeyn des Staates
ſtammt. Man kann mehr Volk als Staat ſeyn, aber man
1*
[4]Einleitung.
kann nicht Volk ohne Staat ſeyn. Die Aufgabe iſt, den
Staat im Volks-Bewußtſeyn zu vollenden.


5. Die Annahme eines Naturſtandes iſt als Behelf
der Demonſtration, als ein bewußtes Abſehen vom Staate,
um ihn demnaͤchſt frei aus der menſchlichen Beſchaffenheit
entſtehen zu laſſen, nicht zu verwerfen. Wird aber der
Naturſtand mit poſitiven Eigenſchaften ausgeruͤſtet (unge-
ſellig, geſellig, gleichguͤltig), ſo wird eben dadurch der
Staat aus einer uͤbermaͤchtigen, uͤbermenſchlichen Ordnung
zum Geſchoͤpfe menſchlicher Willkuͤhr.


6. Denn der Staat iſt nicht bloß etwas Gemeinſames
unter den Menſchen, nicht bloß etwas Unabhaͤngiges, er
iſt zugleich etwas Zuſammengewachſenes, eine leiblich und
geiſtig geeinigte Perſoͤnlichkeit. Die Familie, unabhaͤngig
gedacht, iſt Volk und Staat in voͤlliger Durchdringung
beider. Durch mehrere Familien im Staate entſteht die
Moͤglichkeit mehrerer Staaten; von nun an weichen Volk
und Staat freier aus einander. Es braucht weder ein
ganzes Volk ſich in demſelben Staate abzuſchließen; tren-
nen doch oft Welttheile die Mitglieder deſſelben Hauſes;
noch duldet es die ſchon maͤchtiger ſchaltende Geſchichte,
daß uͤberall der Staat aus einer blutsverwandten Volks-
natur erwachſe, noch, wenn erwachſen, unvermiſcht fort-
beſtehe. Volk und Bevoͤlkerung unterſcheiden ſich fortan
haͤufig, und der Staat iſt etwas anderes geworden, als
bloß die Form des Volkes.


7. Gleiche Volksart von Haus aus, das will ſagen,
ein koͤrperlich und geiſtig gleichartiger Menſchenſchlag, gleiche
Sprache als Zeugniß ſeit Jahrhunderten gleichverſtandener
[5]Die Menſchheit und der Staat.
Lebenserfahrungen, geben eine gluͤckliche Naturausſtattung
auf dem Wege zur Staatsausbildung. Aber die Geſchichte
hat von jeher haͤufig die ſtille Ur-Bildung der Natur
unterbrochen, verſchiedenartige Staͤmme und Volksthuͤmlich-
keiten uͤber einander geſchichtet und aus der Vermiſchung
manchmal eine zweite gelungenere Natur und gediegene
Staatsbildungen gewonnen. Aus Pelasgern, Thrakern,
Achaͤern, Joniern erwuchs das lebensvolle Volk von Attika
und ſeit das Chriſtenthum unſerm Welttheile Einheit der
Religion gab, konnte ſelbſt Britten, Roͤmern, Sachſen,
Normannen, nachdem die furchtbaren Kriſen des erſten
Zuſammentreffens uͤberwunden waren, der Staat von
England gelingen. Tritt ſo das Band der urſpruͤnglichſten
Blutsverwandtſchaft allmaͤhlig zuruͤck, ſo verſtaͤrkt ſich da-
gegen das Band des oͤrtlichen Zuſammenſeyns mit dem
Wachsthum der Bildung. Das unbeſtimmte Heimathsge-
fuͤhl der Natur-Voͤlker, welches hauptſaͤchlich Liebe zu den
Genoſſen und zu gewiſſen Lebensarten iſt, ſteigert ſich mit
dem Fortruͤcken der Bildung und namentlich durch Werke
der bildenden Kunſt zur oͤrtlichſten Vaterlandsliebe. Voͤlker-
wanderungen hoͤren auf.


8. Die uͤbermaͤchtige weltliche Ordnung, welche den
Menſchen in ein Volk ſetzt, indem ſie ihn in einer Familie
geboren werden laͤßt, nimmt aber ihre Macht nicht aus
ſich ſelber und hat ihren letzten Zweck nicht in ſich. Sie
dient vielmehr einer hoͤher ſtehenden Ordnung, welche jedem
einzelnen Staate und allen Staaten mit einander uͤberlegen
iſt. Wir glauben an ein großes gemeinſames Werk der
Menſchheit, zu welchem das einzelne Staaten-Leben nur
die Vorarbeiten liefert, an eine auch aͤußerliche Vollendung
der menſchlichen Dinge am Ende der Geſchichte. Das
[6]Einleitung.
zwar hat die Lehre vom Staate nicht zu unterſuchen, wie
es denn gekommen ſey, daß die Menſchheit von Anfang her
ſo ſchief gegen das Licht ſteht, daß ſie bei jedem Schritte
einen langen Schatten wirft, warum Familien-Vortheil
und Staats-Wohl ſich ſo mannigfach bekaͤmpfen, und
warum, was die hoͤchſten Beziehungen angeht, Eines gut
ſeyn kann (dem Sittengeſetz des Individuums entſprechend),
ein Anderes aber recht (dem Gebot des Staats entſpre-
chend). Die Staatslehre hat den Grund der ethiſchen Ver-
haͤltniſſe nicht aufzudecken, ſie ſoll dieſelben anerkennen, und
diejenigen aͤußerlichen Einrichtungen ausbilden, welche die-
ſen Zwieſpalt zu vermindern dienen, indem ſie den Staat
der hoͤheren verſoͤhnenden Sitte empfaͤnglich machen. Der
Einzelne aber muß zuvor in ſeinem eigenen Weſen die
billig herrſchenden Gewalten von den billig dienenden un-
terſcheiden lernen, ehe er von Staatsſachen zu urtheilen
unternimmt.


9. Darum iſt die Errichtung des rechtlichen Zuſtandes,
wie er denn auch beſchaffen ſey, freilich Sache des Staa-
tes, aber nicht letzter Zweck des Staates. Darum aber
auch tritt der Staat als ſolcher nicht an die Stelle der
goͤttlichen, unbedingt zu befolgenden Ordnung, und es
kann die Vorſchrift nicht vor der Wahrheit beſtehen, daß
die aͤußere Pflicht vor der ſittlichen erfuͤllt werden muͤſſe;
wiewohl nichts auf der Erde der goͤttlichen Ordnung ſo
nahe ſteht als die Staatsordnung.


10. Der ſeiner hoͤheren Beſtimmung getreue Menſch
bringt dem Staate jedes Opfer des Eigenthums und der
Perſon, nur nicht das Opfer ſeiner hoͤheren Beſtimmung
ſelber; alles ſein Recht mag er hingeben, nur nicht das,
[7]Die Menſchheit und der Staat.
woruͤber er kein Recht hat. Das iſt der Ruhm und die
Gefahr der menſchlichen Dinge, daß der Einzelne am Ende
unberechenbar gegen den Staat ſteht.


„Ueber die Seele kann und will Gott Niemand laſſen regieren,
denn ſich ſelbſt allein.“ Luther, von der Unterthanen Pflicht
gegen die Obrigkeit.

11. Der Staat inzwiſchen darf keine Macht in ſeinem
Innern geſtatten, die ſich gegen ſeine Rechtsanſtalten er-
hebt. Der ſchlechte Staat bedient ſich zu dem Ende ledig-
lich ſeiner Gewalt, verſchlingt die Familie mit der Macht
ſeines Geſetzes, legt ſich ein Obereigenthum bei, dringt
jeder Regel jede Ausnahme auf. Der gute Staat hinge-
gen, weit entfernt das Privat-Recht zu zerſtoͤren, ſtallt es
unter den Schutz des oͤffentlichen Rechts, und legt dem
Eigenthum und den Perſonen allein diejenigen Beſchraͤn-
kungen auf, welche das oͤffentliche Wohl erfordert. Durch
dieſen entſcheidenden Schritt der Gewaͤhrleiſtung des Privat-
Rechts ſoͤhnt er das ſelbſtſtaͤndige Weſen der Familien mit
den Schuldigkeiten des Staatsrechtes aus, die Regierung
ſtellt ſich hoch uͤber der Bevoͤlkerung auf; alle ferneren
Zwiſtigkeiten kaͤmpfen ſich in kleineren Kreiſen durch, be-
drohen die Geſammt-Ordnung nicht.


12. Da die Menſchheit kein anderes Daſeyn hat als
dieſes, welches im ſteten Entwickelungskampfe raͤumlich und
zeitlich begriffen, in unſerer Geſchichte vorliegt, ſo entbehrt
eine Darſtellung des Staates, welche ſich der hiſtoriſchen
Grundlagen entaͤußert, aller ernſten Belehrung, und gehoͤrt
den Phantaſieſpielen an. Der Idealiſt, zeit- und ortlos
hinſtellend was den guten Staat bedeuten ſoll, loͤſet Raͤthſel,
die er ſich ſelber aufgegeben hat; er vollbringt mit Men-
ſchen, die es nie gegeben hat, die Aufſtellung einer Gegen-
[8]Einleitung.
wart, welche keine Faͤhigkeit zu ſeyn beſitzt. Die Politik
muß, um lehrreich zu ſeyn, ihre Aufgaben nicht waͤhlen,
ſondern empfangen, wie ſie im Drange von Raum und
Zeit hervorgehen aus jener tiefen Verſchlingung der geſun-
den Kraͤfte der Menſchheit mit allem dem krankhaften We-
ſen, welches in der phyſiſchen Welt Übel, in der morali-
ſchen Boͤſes heißet. Die Politik iſt Geſundheitslehre, nicht
weil ſie Geſundheit geben, ſondern weil ſie die Urſachen
der Krankheit entdecken und oft vermindern kann.


13. Darum mag auch ſelbſt die Erklaͤrung, was der
Staat bedeute, in den Fluß der Zeit hingeſtellt ſeyn. Der
Staat kann erſcheinen lediglich unter dem Charakter eines
aͤußerlich unabhaͤngigen Menſchen-Vereins, der nicht ein-
mahl vollſtaͤndige Familien zu beſitzen braucht 1), geſchweige
feſten, oder uͤberhaupt nur eigenen Boden, der aber doch
immer, um ein Verein (nicht mehrere) zu ſeyn, eine
Anzahl gemeinſamer Obliegenheiten, durch eine Regie-
rung gewahrt, enthalten muß. Er kann aber auch, wenn
alle Bedingungen als guͤnſtig angenommen werden, ſich
geſtalten als: ein unabhaͤngiger Verein von koͤrperlich und
geiſtig gleichartigen unter demſelben Geſetze lebenden Fami-
lien, welcher, nachdem er fortwachſend einen fuͤr eine dichte
Bevoͤlkerung ausreichenden Boden und ſtarke anerkannte
Grundlagen ſeines aͤußern Lebens gewonnen hat, und nun
ausgewachſen iſt, auch ſeinen innern Frieden findet, indem
die wachſende Vielgeſtaltigkeit ſeines Gemeinweſens der
Regierungs-Einheit nie entbehrt, und was nuͤtzlich, was
wahr und ſchoͤn und heilig unter den Menſchen iſt, zu einer
dieſem Volk eigenthuͤmlichen, und mit bewußtem Fortſchrei-
ten jede Volks-Claſſe fortbildenden Darſtellung kommt. —
Denn zur Darſtellung des weltlich Guten gehoͤrt auch das
[9]Die Menſchheit und der Staat.
gute Gelingen, und weil nichts vollkommen iſt was beſteht,
ſo iſt das hoͤchſte Darſtellbare der Fortſchritt.



14. In einem Staate dieſer Art iſt die Freiheit ſeiner
buͤrgerlichen Geſellſchaft ohne weiteres enthalten, und es
iſt dieſelbe an keine beſtimmte aͤußere Form gebunden, ob-
wohl es freiheitſtuͤtzende Einrichtungen giebt. In Hinſicht
auf die Form aber nennen wir denjenigen Staat frei, deſſen
Grund-Einrichtungen nur nach einer beſtimmten allgemei-
nen Regel und nur unter Zuthun aller Staͤnde oder
Gliedmaßen des Volks veraͤndert werden koͤnnen.


15. Weil die Menſchheit in jedem Zeitalter neue Zu-
ſtaͤnde gebiert, ſo laͤßt ſich kein Staat grundfeſt darſtellen,
außer mit den Mitteln und unter den Bedingungen irgend
eines Zeitalters, außer gebunden an die Verhaͤltniſſe irgend
einer unmittelbaren Gegenwart. Daher draͤngt alle Be-
handlung von Staatsſachen im Leben und in der Lehre zur
Hiſtorie hin, und durch ſie auf eine Gegenwart, und wei-
ter, weil keine neue Form des Lebens ſich vernachlaͤſſigen
laͤßt, auf unſere Gegenwart, unſern Welttheil, unſer Volk.


16. Der Staat iſt aber nicht allein ein In Sich,
er hat auch ein Neben Sich, die andern Staaten. Die
Ausbildung auch dieſes geſelligen Verhaͤltniſſes iſt unab-
weisbar Aufgabe der Politik und ſteht mit der Stufe der
innern Ausbildung in nothwendiger Wechſelwirkung. Wer
einen Welt- oder Menſchheits-Staat begehrt und in Uni-
verſal-Monarchieen vorverkuͤndigt ſieht, der verſchließt der
zu Staaten verſammelten Menſchheit die Ausſicht auf ihre
[10]Einleitung.
hoͤchſte Bildungsſtufe, auf welcher ſich der Staat, wie
er von der Familie ausgegangen, in der Staatenfamilie
vollende.


17. Darum zerfaͤllt die Lehre vom Staate fuͤr den
Darſteller in zwei Gebiete, die Lehre vom Staate, fuͤr ſich,
im innern Bau und Leben betrachtet, und betrachtet als
Glied der Staatengeſellſchaft. Die Lehre vom Staate fuͤr
ſich ſelber theilt ſich aber wieder zwiefach; indem ihr erſter
Theil von der Regierungsthaͤtigkeit, als der einheitlichen
Traͤgerin der Staatsgewalt ausgehend, die Staatsver-
faſſung
abhandelt, der zweite Theil aber, von der
Mannigfaltigkeit der Perſonen und Sachen ausgehend, die
Mittel zur Ausfuͤhrung der Verfaſſung durch Unterthanen-
Thaͤtigkeit, das iſt, die Verwaltung behandelt.


18. Die Verfaſſung nun beruht auf der Einheit im
Staate und hat eine einfachere Darſtellung. Fuͤr die Ver-
waltung bedarf es der Kenntniß der Gebiete, auf welchen
ſie ſich zu bewegen hat, der laͤndlichen und ſtaͤdtiſchen
Gemeinden und Gemeinde-Bezirke, imgleichen der darin
verwaltenden Behoͤrden, wie ſie zur Gemeinde und zum
Staate ſtehen muͤſſen, damit Regierung und Verwaltung
ſich am rechten Orte begegnen. Verwaltungsgegenſtaͤnde
ſind: die Verwaltung der an den Perſonen haftenden
Guͤter und die der ſaͤchlichen Guͤter, und zur Berichtigung
und Sicherſtellung beider Verwaltungen ſind die Rechts-
anſtalten der Polizey und Juſtiz berufen.


[[11]]

Der Politik erſter Theil.
Vom Staate fuͤr ſich ſelber.


[[12]][[13]]

Erſter Theil der Politik.
Vom Staate fuͤr ſich ſelber.


Erſter Abſchnitt.
Von der Staatsverfaſſung
.


Erſtes Capitel.
Von der Eintheilung der Verfaſſungen nach der Zahl
der regierenden Perſonen.


19. Von Alters her fing gleichwie in unſeren Tagen
jede Rede uͤber beſtehende Verfaſſungen gern mit der Frage
an: Wer regiert im Staate? Alle? oder Einer? oder
eine Anzahl? und nach dieſem Theilungsgrunde unterſchied
man drei Regierungsformen, Demokratie, Monarchie
und Ariſtokratie. Dann fragte man weiter, welche
die vorzuͤglichere ſey von den dreien.


20. Weil die Herrſchaft begehrenswerth erſcheint, trug
die Demokratie ſchon im hohen Alterthum den Preis
des allgemeinſten Beifalls davon. Von vollendeter Volks-
herrſchaft forderte man 1) ihre Allgemeinheit, indem
ſie Allen (Maͤnnern freilich nur) im Volk gleichen Zugang
zur Herrſchaft und ihren Ämtern gewaͤhren ſoll; 2) eine
Unumſchraͤnktheit, welche alle Gegenſtaͤnde der Herr-
[14]Erſtes Capitel.
ſchaft umfaſſen, keinen einzigen einem Monarchen, oder
etwa einem Adel abtreten ſoll; 3) die Unmittelbarkeit,
vermoͤge welcher ſie theils von Allen gleichzeitig als Volks-
verſammlung geuͤbt wird, inſoweit die Natur des Geſchaͤfts
es geſtattet, theils zwar von Einzelnen, aber in einem
raſchen Wechſel des Herrſchens und Beherrſcht-Seyns
(κατὰ μέϱος ἄϱχων καὶ ἀϱχόμενος) durch verantwortliche
Obrigkeiten und durch Richter, beide von beſchraͤnkter Amts-
Dauer. Aber in dieſen Forderungen ſelber ſind auch ſchon
die Graͤnzen ausgeſprochen, welche nicht minder die Natur
der zu Beherrſchenden als die Natur der Herrſchaft der
nach Vollendung ſtrebenden Demokratie geſetzt hat. Denn
jene ſtellt ihr Alles entgegen, was die Menſchen nothwen-
dig ungleich macht, den Geſchlechts-Unterſchied, der die
Menſchheit in zwei ungleich berechtigte Haͤlften theilt, die
Stufen des Alters, die jedes Individuum ſogar ſich ſelber
ungleich machen, Stamm- und Familien-Verfaſſung,
Talent, Bildung, Vermoͤgen, verſchiedene Lebensarten;
Alles gebieteriſche Beſchaffenheiten, welche nicht als gleich-
artige Mengen zuſammengezaͤhlt, nicht durch den Zufall
ausgeloost werden wollen. Die Natur der Herrſchaft aber
fordert nicht bloß Beſchluß und Ausfuͤhrung, ſondern zum
Zwecke der Beſchlußnahme eine Berathſchlagung, welche
kein verſammeltes Volk vornehmen kann, ſobald der Gegen-
ſtand uͤber die einfache Willensmeinung hinausgeht. Darum
lehrt die Erfahrung aller Zeiten, daß reine Volksherrſchaft
nur in einem ſehr kleinen und ungebildeten Staate ſtatt
hat, ſolche Volksherrſchaft nehmlich, welche die ganze Be-
voͤlkerung umfaßt und nicht etwa, wie im alten Hellas
und Italien, eine Menge freier Maͤnner ausſchließt und
unzaͤhlige Knechte ſich unterbreitet. Denn jene alten De-
mokratieen waren, nach menſchheitlichem Maaße gemeſſen,
[15]Demokratie. Monarchie. Ariſtokratie.
Ariſtokratieen, deren Mitglieder unter ſich gleich geworden
ſind. Die Heimath der Demokratie iſt nur da, wo unter
den einfachſten Lebensgewohnheiten hergebrachte Sitte gilt
was bei Andern das Geſetz, wie in den Achaͤiſchen Staͤd-
ten vor Arat, oder etwa noch heute im Canton Uri.


21. Die Monarchie hat durch Stamm- und Fa-
milien-Ordnungen vielen alten Glauben fuͤr ſich, aber
viele Urtheile der Menſchen gegen ſich, ſobald man die
Demokratie gekoſtet. Der Monarch gehorcht allein ſich
ſelber, keinem ſonſt, er herrſcht ohne Wechſel, ſein Wille
iſt dem groͤßeſten Staate gewachſen; kein Wunder, wenn
dieſer ungebrochene Wille ſich jeden beherrſchbaren Gegen-
ſtand zu unterwerfen trachtet. Aber bis zur Unumſchraͤnkt-
heit fortgefuͤhrt, erſcheint die Monarchie als ihrer Natur
nach unfreiheitlich, als ein unnatuͤrlicher Zwang von Ei-
nem gegen Viele geuͤbt, vielleicht ſogar von dem unkraͤftig-
ſten unter Allen, der den erblichen Machtgewinn durch des
Zufalls Gunſt dahinnimmt. Nun iſt freilich durchaus un-
moͤglich, daß der gar nicht Gehorchende auch uͤberall regiere,
allein noch viel ſchlimmer, wenn die mit Ausfuͤhrung des
allein herrſchenden Willens Beauftragten ihren eigenen Wil-
len an die Stelle ſetzen. Darum iſt im Welttheile der freien
Familie die Klage weit verbreitet: 1) die unumſchraͤnkte
Alleinherrſchaft entbehrt der ſonſt aus der Monarchie fließen-
den Einheit und Gewißheit der Regierung; denn aus der
einen Unumſchraͤnktheit gebiert ſich die Vielherrſchaft einer
Menge kleinerer Unumſchraͤnktheiten und sacrilegii instar
est dubitare, an is dignus sit, quem elegerit Imperator
(l. 9. cod. t. 29, 3. de crim. sacrilegii.)
. 2) Wenn das
Urtheil im Volk ſich ausbildet, ſo entwickelt ſich, je tiefer
die Unumſchraͤnktheit eingedrungen iſt, um ſo mehr die
[16]Erſtes Capitel.
Überzeugung, daß der Zuſtand des Gemeinweſens bis auf
das Maas der Faͤhigkeiten des jedesmahligen Herrſchers
herabgeſunken ſey. Und wo bleibt die geſetzliche Ordnung,
wenn ein Zufall die Faͤhigkeit zu Herrſchen ganz hinweg-
naͤhme? 3) Der unumſchraͤnkte Herrſcher iſt auch minder
maͤchtig als der beſchraͤnkte, weil er nichts uͤber ſeinen Tod
hinaus verfuͤgen kann. 4) Dagegen wird er leicht Macht
in denjenigen Gebieten uͤben wollen, welche nicht beherrſch-
bar ſind, in Religion und Wiſſenſchaft, in Familienrechte,
in die ſelbſt aufgeſtellte Regel der Geſetze eingreifen.


„Soll derohalben auch der Koͤnig allein die hoͤchſte Macht und
Gewalt haben, Geſetze und Verordnungen nach ſeinem eignen
guten Willen und Wohlgefallen zu geben, wie auch fruͤhere von
ihm ſelber oder ſeinen Vorvaͤtern gegebene Geſetze zu erklaͤren,
veraͤndern, vermehren, vermindern, ja auch voͤllig aufzuheben
(dieſes Koͤnigsgeſetz allein ausgenommen, welches als der rechte
Grund und das Grundgeſetz des Koͤnigthums allerdings unver-
aͤnderlich und unerſchuͤttert bleiben muß), imgleichen was und
wen ihm gefaͤllt, aus der allgemeinen Vorſchrift des Geſetzes
auszunehmen.“ §. 3. des Daͤniſchen Koͤnigsgeſetzes.

22. Die Ariſtokratie iſt darin der Monarchie ver-
wandt, daß beide Regierungsformen von einer Ungleichheit
unter den Mitgliedern des Staates ausgehen, die Demo-
kratie dagegen von einer Gleichheit. Darin aber iſt ſie
der Demokratie verwandt, daß die in ihr regieren zugleich
gehorchen, ſo jedoch, daß die große Mehrzahl der Bevoͤlke-
rung bloß zu gehorchen hat. Die Ariſtokratie iſt viel-
geſtaltig. Ihre mildeſte Herrſchaft uͤbt ſie in der Form
der Theokratie, inſofern ſie keinen Widerſtand findet; denn
ſie kann alle weltlichen Gegenſaͤtze im Staatsleben dulden,
ohne einen einzigen, auf ſich bezogen, anzuerkennen. Als
Organ der Gottheit handelnd, mithin, wie hoch ſie ſtehe,
[17]Demokratie. Monarchie. Ariſtokratie.
zu hoch ſich ſtellend, menſchliche Zwecke in eine goͤttliche
Vorſchrift huͤllend, miſcht ſie nothwendig Taͤuſchung ein,
und bewacht eben darum eiferſuͤchtig die Graͤnze der von
ihr verliehenen Bildung; denn jenſeits dieſer Graͤnze iſt
ihr Untergang. Die ariſtokratiſchen Gewalten von ge-
miſchter Beſchaffenheit, Kriegsadel mit Prieſterthuͤmern be-
kleidet, oder auch Geſchlechtsadel mit einer Prieſterſchaft
zur Seite, oder auch Grund- und Amts- und Geld-Adel,
bilden, ſobald ſie ſich zu einer alleinherrſchenden Koͤrper-
ſchaft abſchließen, die planmaͤßigſte der Regierungen, aber
auch in der Meinung der Menſchen die ſelbſtſuͤchtigſte.
Denn wenn Alle Einem dienen, ſo ſcheint das um des
Gemeinweſens Willen zu geſchehen, wenn aber eine Koͤr-
perſchaft herrſcht, um der Koͤrperſchaft Willen. Fuͤr die
Dauer ihrer Herrſchaft mit Recht beſorgt, wird ſich dieſe
Ariſtokratie immer oligarchiſcher verdichten, aus immer
engerem Kreiſe ſpaͤhend; denn kaum iſt die ausgeſchloſſene
Menge ſo ſehr zu fuͤrchten, ſie die bald der Milde, bald
dem Zwange dient, als monarchiſche Talente im Kreiſe
der Mitherrſcher es ſind. Denn ſtets der Monarchie ſich
naͤhernd, will die Ariſtokratie ſie nie erreichen. Der Eid:
„und ich will gegen das Volk uͤbelwollend ſeyn und ihm
ſo viel Boͤſes ſinnen als ich kann“ (Ariſtot. Pol. V, 9.),
ward zwar nur in einigen Oligarchieen des Alterthums
geſchworen; aber Heimlichkeit, Mistrauen und ein uner-
bittliches Huͤten der einmahl fertig gewordenen Form bilden
uͤberall den Grund-Charakter der abgeſchloſſenen Ariſtokratie.


Sparta; Venedig; Polens unvorſichtige Ariſtokratie; Bern, ein
ſeltenes Muſter gerechterer Maͤßigung, doch die Regel beſtaͤtigend.
Henzi’s Verſchwoͤrung, 1749.

23. Dergeſtalt ergiebt ſich, daß Demokratie, Monarchie
und Ariſtokratie, jede fuͤr ſich allein genommen, keine gute
2
[18]Erſtes Capitel.
Verfaſſung verſprechen, vielmehr eine um ſo ſchlechtere,
je mehr jede ganz ungemiſcht ſie ſelber ſeyn will. Dane-
ben zeigt indeß jede dieſer Verfaſſungen ihre eigenthuͤm-
lichen Vorzuͤge. Die erſte ſucht das Wohl des Ganzen in
der Theilnahme Aller an der Regierung; die zweite ſetzt
die Einheit des Willens Allem voran, ohne die kein Staat
ſtark und ſicher ſeyn kann, und keine Verfaſſungsform hat
als Zwiſchenzuſtand oͤfter den Staat gefoͤrdert, als die ge-
ſteigerte monarchiſche Gewalt, vorausgeſetzt, daß ſie, wie
im groͤßeſten Theile von Europa, uͤber Unterthanen, nicht
uͤber Knechte gefuͤhrt wird; die dritte tritt in die Mitte
zwiſchen beiden, indem ſie eine herrſchende Koͤrperſchaft
im Volk aufſtellt, welche mehr Einheit verſpricht, als die
Herrſchaft des ganzen Volks, und minder Willkuͤhr, als
die unumſchraͤnkte Hand eines dazu zweifelhaft fuͤr die
Herrſchaft ausgeſtatteten Einzelnen.


24. Es ſcheint daher eine Verbindung einer und der
andern Form, auch etwa von allen dreien, zur guten
Verfaſſung fuͤhren zu koͤnnen. Dieſe iſt nun auf mancherlei
Weiſe moͤglich; nur ſteht gleich von Anfang her feſt, daß,
ſobald die monarchiſche Gewalt mitaufgenommen iſt, dieſe
auch in der erſten Linie der Macht zu ſtehen kommt, denn
ſie kann nach keiner Seite hin ſich dienend verhalten.


25. Dunkel aber bleibt bei dem Allen die Art des
Zuſammenwirkens mehrerer Gewalten, wofuͤr Maas und
Zahl auch wohl nicht anders, als aus den lebendigen Be-
ſchaffenheitsverhaͤltniſſen zu gewinnen ſeyn wird. Denn
was von den einzelnen Menſchen gilt, daß keiner dem an-
dern gleicht, und wieder jeder ſich ſelber ungleich iſt, das
tritt noch gebieteriſcher in dem kraͤftigen Bau der ſelbſt-
[19]Demokratie. Monarchie. Ariſtokratie.
ſtaͤndigen Volksindividuen hervor. Dieſelbe Verfaſſung
wird nicht allein fuͤr verſchiedene Voͤlker, ſie wird fuͤr ver-
ſchiedene Entwickelungsperioden deſſelben Volks nicht allein
unpaſſend, ſondern haͤufig, weil die Elemente dazu noch
fehlen oder ſchon verſchwunden ſind, ganz unmoͤglich ſeyn.


26. Indeß iſt eben ſo gewiß, daß verwandtes Volks-
thum, gemeinſam verlebte Staatsjugend, der durchſchla-
gende Strahl gleicher Glaubenslehren und langes Zuſam-
menleben auch uͤber einen Welttheil oder mehrere hinaus
Staatsgeſellſchaften gruͤnden kann, welche ſehr aͤhnlicher
Verfaſſungen faͤhig ſind.


27. Weist nun dieſes klar auf die Geſchichte hin als
Lehrerin der Politik, weil allein aus der Natur der zu
beherrſchenden Elemente, wie ſie ſich im Fluſſe begriffen
zeigen, die Form der Herrſchaft anerkannt werden mag,
in der ein Volk ſeinen Frieden finde, ſo weist ein Anderes
uͤber die Geſchichte hinaus. Denn die Herrſchaft von
Menſchen uͤber Menſchen darf ja nicht auf die Benutzung
wie von lebloſen Dingen, allenfalls auch auf den Raub-
bau geſtellt ſeyn, oder wie bei Wollheerden allenfalls
auch auf die ſchaͤrfſte Schur, ſondern ſie ſoll zum leib-
lichen und geiſtigen Beſten des Ganzen und der Einzelnen,
die zum Staate verſammelt ſind, dienen. Und was das
Hohes und Tiefes umfaſſe, muß derjenige, wiederholen
wir, ſchon inne haben, welcher wohl vorbereitet zur Staats-
lehre herantreten will.


„Die Politik kann nicht fuͤglich von den erſten Grundſaͤtzen des
Guten anheben, ſondern ſetzt gewiſſe ſchon von uns anerkannte
voraus. Darum muß zur guten Sitte angefuͤhrt ſeyn, wer die
Politik paſſend hoͤren will.“ Ariſtoteles Ethik I, 4, 6.

2*
[20]Zweites Capitel.

Zweites Capitel.
Von den Staatsverfaſſungen der Alten unſeres
Welttheils.


28. Im Alterthum unſeres Welttheils ragen drei Ver-
faſſungen als die durchgebildetſten und denkwuͤrdigſten her-
vor, die von Sparta, Athen und Rom. Drei im Weſent-
lichen verwandte Voͤlker, auch von aͤhnlichen Verfaſſungs-
formen, ſtellen das verſchiedenartigſte Verhaͤltniß zwiſchen
Regierung und Unterthanen dar.


Sparta.

29. Die Spartaner ließen, als ſie in Lakonien die
Herrſchaft gruͤndeten, ihre alte Natur-Verfaſſung unter
dreißig Stammhaͤuptern, eines als Erbfuͤrſt an der Spitze,
bald hinter ſich. Da ſie das Land mit dem Speer ge-
wannen und die Herrſchaft fuͤr ſich allein behalten woll-
ten, ſo trat der Schwerpunkt ihrer Verfaſſung ganz in
die Ariſtokratie, wie ſie auch unter ſich die Elemente miſchen
mochten. Denn blieb auch das Koͤnigthum, war auch jeder
im Volk, der das Alter und die Schule hatte, zur Gleich-
heit und Mitregierung berufen; dieſes Volk machte kaum
den zehnten Theil der Bevoͤlkerung aus. Neuntauſend
Doriſche Gutsbeſitzer, in einem Bezirk beiſammen, herrſch-
ten als ein Kaſten-Adel aus der Stadt der Sieger uͤber
dreißigtaufend unberechtigte, doch freie Hufner des uͤbrigen
Gebietes, und uͤber ein paarmal hunderttauſend Leibeigne,
die ebenfalls Griechiſches Blut hatten.


30. Und auch im Volk der Herrſcher erhielt die Ari-
ſtokratie das Übergewicht. Die Regierung lag in den
Haͤnden des Raths der Alten, von dreißig, weil der
[21]Staatsverfaſſung der Alten. Sparta.
Spartaniſchen Staͤmme ſo viele waren, aus drei Haupt-
Staͤmmen abgeleitet. Den Alten-Rath ergaͤnzte die Volks-
verſammlung aus der Zahl mindeſtens ſechzigjaͤhriger Maͤn-
ner, wie einer abſtarb. Auch die peinliche Gerichtsbarkeit
ſtand nebſt der Sittenaufſicht bei dieſem, ohne alle Ver-
antwortlichkeit [der Greiſe].


31. Volksverſammlung, das heißt Spartaner-Ver-
ſammlung, gab es ſelten. Nur einmahl jeden Vollmond
trat ſie zuſammen und entſchied uͤber Veraͤnderungen in
den Geſetzen, welche die Regierung vorlegte, mit Ja und
Nein. Sie waͤhlte den Rath, und als Ephoren wurden
auch dieſe, und beſchloß uͤber Krieg und Frieden.


32. Der monarchiſche Theil der Verfaſſung erfuhr ein
widriges Schickſal. Das uralte Koͤnigthum ward gleich
nach der Eroberung durch Theilung geſchwaͤcht. Zwei
meiſt uneinige Koͤnigshaͤuſer. Der Verſuch lag nahe genug
fuͤr einen aͤchten Herrſcher nach dem Beiſpiel anderer Do-
riſcher Staaten durch Niederreißung der Schranke, welche
zwiſchen der freien Bevoͤlkerung trennend ſtand, den Thron
wiederherzuſtellen. Dennoch iſt gerade das Gegentheil ge-
ſchehen. Die Sproſſen des Herakles, die das Ohr der
Delphiſchen Gottheit waren, hatten als erbliche Senatoren,
Vorſitzer im Senat und in der Volksverſammlung, Ver-
walter von zwei Prieſterthuͤmern, Richter in Familien-
ſachen, in der Heimath nur geringen Antheil an der Re-
gierung, bloß als Kriegsfuͤrſten, wenn es draußen galt,
waren ſie Herrſcher, bis man ihnen im Fortgang der Zeit
die Feldherrnwuͤrde durch Beaufſichtigung ſchmaͤlerte, manch-
mal ganz entzog, und weiter vollends eine verantwortliche
Obrigkeit aus ihnen machte.


[22]Zweites Capitel.

33. Über das Schickſal des Koͤnigthums hat Lykurg
entſchieden. Indem er mit der einen Hand die Schranke
zwiſchen herrſchenden Freien und Gemeinfreien unwieder-
ruflich feſtſtellte, mußte er mit der andern ſeine Spartaner
ſo hoch heben, daß ſie die Schranke auch halten konnten.
Vor Lykurg waren Ausbruͤche roher Gewalt nirgend haͤufi-
ger, als unter dieſem Theile der Dorer. Er uͤberzeugte
ſie, daß, um fortzuherrſchen, ſie ſich ſelber beherrſchen
muͤßten, in Entbehrung, Maͤßigkeit und ſtrenger Ordnung
leben, dabei den Speer nicht aus der Hand laſſen 1), damit
ſie, die Wenigen, auf das eine Ziel geſtellt, der mannigfach
beſchaͤftigten und erwerbenden Menge draußen uͤberlegen
waͤren. Sie leiſteten das Geluͤbde der Armuth, uͤberließen
ihre Landguͤter den Leibeigenen zum Anbau, die ihnen
Jahr aus Jahr ein ein Gewiſſes an Lebensmitteln als
feſten Kanon liefern mußten, auf deſſen Erhoͤhung ein
Fluch haftete. Ihre Koͤnige mochten die reichſten Herren
in Hellas ſeyn, ihre Gemeinfreien Gewinn vom Acker,
aus Gewerbe und Handel ziehen, die Leibeigenen ſich be-
reichern, unter ihnen durfte Beſitz und Arbeit auf den
Erwerb weder Ehre noch Nutzen bringen. Reich hieß
unter ihnen, wer, weil ſeine Sclaven Weitzenboden bau-
ten, zum gemeinſamen Mahle Weitzenbrodte ſtatt der Gerſte
beiſteuern konnte. Die auch in anderen Ariſtokratieen von
Hellas hervortretende Anſicht, daß die Beſtellung des
Ackers mit eigener Hand nicht ehrenhaft ſey, kam derge-
ſtalt hier zur ſtrengſten Ausbildung. Ihr einzig erlaubtes
Gewerbe iſt Kriegsuͤbung, die eigene und die der Staats-
Jugend (πολιτικοὶ παῖδες). Die Buͤrgermahlzeiten, fuͤr
deren Beſtreitung der Kanon der Leibeigenen mehrentheils
aufging, geſchehen in kriegeriſcher Ordnung. Alles iſt hier
aus einem Stuͤcke, demſelben Zwecke unterthan; die rein
[23]Staatsverfaſſung der Alten. Sparta.
politiſch verſtandene Ehe; die abgeſtufte Staats-Erziehung,
erſt mit dem dreißigſten Jahre endigend, von jedem ruͤhm-
lich zu beſtehen, der zu den ganz Gleichen gehoͤren will;
die Ausſchließung der Fremden und ihres Goldes aus dem
eiſentragenden Lande; die planmaͤßige Verminderung des
Zuwachſes von Leibeigenen, welche außer der jaͤhrlich feier-
lich angeſagten Treibjagd 2), die zugleich zur Kriegs-
uͤbung fuͤr die Jugend diente, dann und wann zu tauſen-
den verſchwinden mußten 3). Das iſt nun keine gute Art
von Verfaſſung, die in weſentlichen Stuͤcken mit goͤttlichen
und menſchlichen Ordnungen, wie wir ſie verſtehen, im
Widerſpruche ſteht, aber eine vortreffliche Ausfuͤhrung der-
ſelben war es, welche bei Loͤſung ihrer Aufgabe, inner-
halb des einmahl gezogenen Kreiſes der Herrſcher die Sit-
ten keuſcher, den Gehorſam (πειϑαϱχία) unverbruͤchlicher
und die Ehre der Goͤtter allgemeiner erhielt, als ſonſt wo
in Hellas. „Es ſind viele Theile der Tugend in dieſem
Kriegerleben“, ſpricht Ariſtoteles. Der Menſch iſt aber
mehr als Staͤrke und geregelte Sitte.





34. Ein Verſuch des Koͤnigsthums ſich wiederherzu-
ſtellen, machte vier Menſchenalter (wenn nur ſo lange
Thucyd. I, 18.) nach Lykurg der faſt Alleinherrſchaft der
Greiſe ein Ende und rief das Ephorat hervor. Fuͤnf
Maͤnner aus den Auserzogenen des Volks, ohne weitere
Beſchraͤnkung waͤhlbar, ſollten ein Jahr lang Staatsauf-
ſeher ſeyn, berechtigt, jeden Beamten vom Amte zu ent-
[24]Zweites Capitel.
fernen, anzuklagen, gefangen zu ſetzen. Zu dieſen Beam-
ten gehoͤrten bald genug auch die Koͤnige, welche vor
ihnen, die ſich vom Seſſel nicht erhuben, ſtehen mußten,
in deren Hausweſen ſie eindrangen, mit denen ihrer zwei
in’s Feld zogen, um auch dort wie uͤberall, wenn ſie
gleich in Kriegsſachen nichts einzureden hatten, der Re-
gierung wahrzunehmen, die ſie vor Gericht ziehen und
auf Strafe und Tod anklagen durften. Freilich waren
ſie ſelber nach Verlauf des Amtsjahres fuͤr ihr Thun
verantwortlich, zwar war in den ſchwerſten Faͤllen ihre
ruͤſtige Gewalt an den bedaͤchtigen Willen der mitentſchei-
denden Greiſe gebunden, die allein ihr Amt nicht zu fuͤrch-
ten hatten; allein wo blieb ein Halt, wenn die Ephoren
ſogar politiſche Traͤume haben, wenn ſie alle acht Jahre
die Goͤtter wegen der Koͤnige fragen, und wenn dann
eine Sternſchnuppe uͤber den Nachthimmel fuhr, gegen ſie
verfahren durften? Die Regierung ward oligarchiſch.


35. Die Verfaſſung ſcheiterte am Ende an ihren
Grund-Principen, der Kaſten-Herrſchaft und der Armuth.
Wer ſich ſelbſt beherrſcht, darf nur wollen, und er be-
herrſcht auch andere, und ein Wunder waͤre es, wenn man
zuletzt nicht wollte. Als Sparta, im Beſitze alter Vor-
ſtandſchaft in Hellas gekraͤnkt, nach langer Zoͤgerung ſich
dem Eroberungstriebe hingab, ward die Regierung inne,
was das Geld fuͤr die Herrſchaft bedeute, und daß grobes
Eiſen fuͤr die Welt kein Geld ſey. Fruͤher ſchon hatte
man zu umgehen geſucht, jenſeits der Graͤnze in Arkadien,
damit das Unheil nicht in’s Land kaͤme, Gold und Silber
heimlich untergebracht 1), hatte den Koͤnigen, wol nicht
um ſie zu ehren, das Geldſammeln nachgeſehen, jetzt
mußten die Perioͤken, allenfalls auch die Spartaner Abga-
[25]Staatsverfaſſung der Alten. Sparta.
ben geben, und der Staat kaufte Geld davon fuͤr den
taͤglichen Bedarf, erpreßte Geld von Griechiſchen Staͤdten
und legte nun einen Schatz an. Immer noch ſtand der
Tod darauf, wenn ein Spartaner Gold und Silber haͤtte,
aber denen, die in Staatsgeſchaͤften ſtanden, ward es doch
verſtattet, und, als Beute erlangt, nachgeſehen. So be-
maͤchtigte ſich Habſucht der Gemuͤther um ſo ploͤtzlicher
und ungeſtuͤmer, da es verbotene Luſt war, zu um ſo
ungeregelterem heimlichem Genuſſe, da die Wege der Bil-
dung verſchloſſen blieben, durch welche Vermoͤgen zum
Beduͤrfniß edlerer Sitte wird. Habſucht ward die Mutter
der Neuerung. Man gab den alten erblichen Stammguͤ-
tern nun Beweglichkeit, und ploͤtzlich ſtand neben weni-
gen reichen Spartanern eine Schaar beſitzloſer, die den
Beitrag zum Buͤrgermahle nicht beſtreiten konnte. Zwei
Fuͤnftel der Landguͤter kamen an Frauen, und der alte
Staat Lykurgiſcher Maͤnner war in Ariſtoteles Tagen dem
Frauen-Einfluſſe ſo unterworfen, wie kein anderer ſonſt.
„Warum duͤrfen die Frauen nicht Obrigkeiten ſeyn, wenn
die Obrigkeiten den Frauen unterthan ſind?“



36. Jetzt vollends war das Koͤnigthum zu reich fuͤr
die voͤllige Unbedeutendheit; ſeine Haupteinkuͤnfte floſſen
aus Lacedaͤmoniſchen Laͤndereien. Ein hochbegabter Fuͤrſt
Kleomenes ließ die Ephoren toͤdten, zerriß die Bande der
auch an Menſchenzahl verarmten Kaſte, indem er tauſende
von Lacedaͤmoniern aufnahm und mit Spartaner-Recht
ausſtattete, eine neue Äckervertheilung einrichtete, und ſel-
ber mit der Spende der koͤniglichen Landguͤter voranging.
Allein als ihn mitten in der Wiedergeburt veredelter Ly-
kurgiſcher Einrichtungen das allgemeine Geſchick der Zeit
[26]Zweites Capitel.
hinwegriß, duldete die neue Volksart auch kein Heraklidi-
ſches Erb-Koͤnigthum mehr. Seit die uͤberſtarre Form
zerbrochen, blieb nun nichts Feſtes mehr, oft kein Ephorat,
ein unordentlicher Wechſel von Gewalthabern, einer darun-
ter, der fuͤr ein Talent an jeden der Ephoren bezahlt,
Heraklide und Koͤnig ward; der Wuͤtherich Nabis nahm
die Herrſchaft aus ſeiner auslaͤndiſchen Soͤldner Hand.


Athen.

37. Auch in Attika erwuchs der Staat in jener drei-
fachen Gliederung der Natur-Verfaſſung: Koͤnigthum,
Rath
und Volksverſammlung, aber er ging durch
einen großen Wechſel der Bedeutung dieſer Formen, und
zu einer Abgeſchloſſenheit des Daſeyns, die nun keine
Änderungen weiter zuließe, wie in Sparta, kam es nie.
Athens Natur-Anlage wies ſchon in den alten Tagen der
Stamm-Ariſtokratie auf ein anderes Ziel hin.


38. Keine Bevoͤlkerung hier von Siegern und Be-
ſiegten, fruͤhzeitig milde Weiſen jenes Sclaventhums, deſ-
ſen Fluch einmahl an allen alten Verfaſſungen haftet,
nichts von ſproͤder Ausſchließung alles Fremdenweſens,
vielmehr das Staatsvolk ſelber eine Geſellſchaft verſchie-
denartiger Griechiſcher Voͤlkerſchaften, die ſich unter dem
Landeskoͤnige allmaͤhlig zuſammenfinden, keine zum Nach-
theil der anderen berechtigt. Die Geſammt-Bevoͤlkerung
zerfiel in vier Staͤmme von je dreimal dreißig Geſchlech-
tern, alſo daß jedes Geſchlechter-Dreißig wieder als
Stammlinie eine engere Bruͤderſchaft bildete, welcher
Phratrien mithin zwoͤlfe waren. In jeder dieſer Phratrien
ſtand ein regierendes Geſchlecht an der Spitze, das Koͤ-
nigshaus freilich hoͤher als alle, aber die andern eilf Ge-
[27]Staatsverfaſſung der Alten. Athen.
ſchlechter, die ſich Milchbruͤder unter einander nannten,
wohnten mit dem Koͤnige auf dem befeſtigten Burghuͤgel,
theilten mit ihm die Prieſterthuͤmer, die Verwaltung des
Rechts, thaten den Reuterdienſt. Ausſchuß des Adels
war der Rath der Dreihundert. Wenn es eine Volksver-
ſammlung derzeit gab außer der der Adels-Geſchlechter,
ſo war doch die Entſcheidung bei dieſen. Mancher Buͤr-
ger baute in ſchwerem Frohn Eupatridiſches Land; man-
cher buͤste Schulden mit Knechtſchaft ab.


39. Ob die Koͤnige verſucht haben, den Gemeinfreien
Rechte in der Verſammlung zu verſchaffen, weiß man
nicht; aber dem Adel gelang es, das Koͤnigthum zu uͤber-
waͤltigen. Er ſetzte an die Stelle deſſelben einen verant-
wortlichen Regenten (Archon) aus dem Koͤnigshauſe, uͤber-
nahm ſelber die Herrſchaft; er ging weiter; denn als die
Lebenslaͤnglichkeit und die alte Ehrfurcht vor dem erſten
Hauſe des Staats den Erb-Regenten immer noch zu hoch
ſtellte, beſchraͤnkte man das Erb-Amt auf zehn Jahre;
bis man endlich dahin kam, den Vorzug des koͤniglichen
Hauſes ganz aufzuheben, und neun jaͤhrlich aus dem
Adel zu erwaͤhlende Archonten an die Stelle ſetzte. Was
das Koͤnigthum geweſen war, durfte fortan der Haupt-
ſache nach als bloße Richtergewalt in Sachen polizeylicher,
buͤrgerlicher und freiwilliger Gerichtsbarkeit fortbeſtehen.
Die peinliche war beſonderen Adelshoͤfen (Areopag und
Epheten) vorbehalten.


40. Es muß lange gedauert haben und die Gemein-
den muͤſſen ſehr dringend, und die Anſpruͤche der beweg-
lichen Guͤter muͤſſen unabweisbar geworden ſeyn, ehe man
einem Edelmanne von Solons unpartheiiſcher Weisheit
[28]Zweites Capitel.
die Ausgleichung der Wirren anvertrauen mochte. Er gab
Erleichterung im Schuldenweſen, verbeſſerte das Privat-
recht durch Abſchaffung der Schuldknechtſchaft, gab allen
Buͤrgern das Recht, in der Volksverſammlung und in den
gewoͤhnlichen Gerichten, die von nun an aus dem Volk
hervorgingen, zu ſtimmen.


41. Aber indem er neben dem Adelsrechte ein Recht
der Gemeinden aufrichtete, fehlte viel, daß er jenes ver-
nichtet haͤtte. Er verſtaͤrkte dem Areopag, der ſich aus den
Unbeſcholtenen der jaͤhrlich abgehenden Archonten fuͤllte,
ſein altes Straf- und Aufſichts-Recht, und daß die
Archonten-Stellen und dadurch der Areopag in den Haͤn-
den der Reichen, mithin der Hauptſache nach fuͤr jetzt in
des Adels Haͤnden blieben, war eine der beabſichtigten
nothwendigen Folgen ſeiner Theilung des Volks in vier
Vermoͤgens-Claſſen, nicht bloß die billigere Vertheilung
der Staatsleiſtungen und die Steuerfreiheit der Armen.
Denn nur ein Mitglied der erſten Claſſe war zum Archon
waͤhlbar, und nur wer den drei erſten Claſſen angehoͤrte,
war waͤhlbar zum Mitgliede des Raths, von nun an der
Vierhundert. Freilich mußte der jaͤhrliche Wechſel der
Archonten und des Raths, der fruͤher dem Demos der
Ariſtokraten gefallen konnte, weil er jedem von ihnen die
Ausſicht, bald einzutreten, gab, jetzt vielmehr ihm Sorge
erwecken. Denn er kuͤndigte von fern die nahende Demo-
kratie an.


42. Die Volksverſammlung waͤhlte Archonten
und Rathsperſonen aus den erlaubten Claſſen, und aus
allen Claſſen ohne Unterſchied die Geſchworenen des Jah-
res, die jetzt als Appellationshof richteten, wenn man von
[29]Staatsverfaſſung der Alten. Athen.
den Archonten an ſie ging; die Entſcheidung gab, wie in
Sparta, die einfache Stimmenmehrheit der Verſammlung.
Ihrer Gewalt aber waren ſcharf beſtimmte Graͤnzen an-
gewieſen. Wie ſie uͤberhaupt ſtets unter Vorſitz einer Ab-
theilung des Senats verhandelte, ſo durfte zwar jeder
Buͤrger auf ein neues Geſetz antragen, aber es kam nicht
zur Abſtimmung ohne die vorherige Billigung des Senats,
und auch dann entſchied nicht die ganze Volksverſammlung
daruͤber, ſondern ein Ausſchuß derſelben, lediglich aus
denjenigen aͤlteren Buͤrgern zu erkieſen, welche zu Ge-
ſchworenen des Jahres erwaͤhlt waren (Nomotheten,
mindeſtens 500.). Sonach uͤbten Senat und Nomotheten
die geſetzgebende Gewalt, inſofern der Areopag nicht ein-
ſprach; die Volksverſammlung war auf voruͤbergehende
Beſchluͤſſe auf dem Grunde der beſtehenden Geſetze beſchraͤnkt.


43. Dieſe Verfaſſung mochte ſich Dauer verſprechen,
wenn ſie an der Archonten Stelle wieder ein Erbkoͤnigthum
haͤtte ſetzen koͤnnen. Wie es nun ſtand, vermißte die
Gemeinfreiheit, angeregt, aber nicht befriedigt, fortwaͤhrend
die Staatsgewalt, welche allen Claſſen der Bevoͤlkerung
gleich nahe zu ſtehen berufen iſt. Man glaubte ſich ſchon
durch unregelmaͤßige Alleinherrſchaft gefoͤrdert. Das Haus
des Piſiſtratus wehrte den Haͤuptlingen, beſtritt den
Staatsaufwand wohlfeiler als bisher geſchehen und ver-
ruͤckte keinen Stein von der Soloniſchen Verfaſſung. Ein
gegneriſches Haus war nur dadurch im Stande, der Herr-
ſchaft der Piſiſtratiden fuͤr immer ein Ende zu machen,
daß es der perſoͤnlichen Ehrſucht das Opfer aller altariſto-
kratiſchen Vorrechte brachte. Kliſthenes, der ſich koͤnig-
licher Abkunft ruͤhmte, hob die alte ariſtokratiſche Stamm-
und Geſchlechter-Verfaſſung vollends auf. Die 10 Staͤmme,
[30]Zweites Capitel.
die er an die Stelle ſetzte, enthielten die 174 Gemeinden
von Attika, wie es oͤrtlich zutraf, ohne Ruͤckſicht auf den
Zuſammenhang der Geſchlechter. Was nun noch uͤbrig
blieb, um Athen zur Demokratie zu machen, das thaten
die Perſerkriege, welche unſern Welttheil gerettet haben,
die Seemacht, der Handelsreichthum und der Reichthum
aus weitlaͤuftiger Herrſchaft.


44. Die Stufen, auf denen der Demos zum Ziele
ſtieg, waren:


  • Der Oſtracismus, monarchiſche Talente ent-
    fernend;
  • Beſchraͤnkung der durch die Alter und Lebenslaͤng-
    lichkeit noch immer ariſtokratiſchen Gewalt der
    Areopagiten;
  • der jedem Buͤrger ohne Unterſchied des Ver-
    moͤgens
    geoͤffnete Zugang zu jedem Staats- und
    Gemeinde-Amte, auch zu den nicht erblichen Prieſter-
    ſchaften;
  • das Loos und der Wechſel, immer mehr an
    die Stelle der Wahl und der Staͤtigkeit tretend. Bald
    wurden von hoͤheren Ehrenaͤmtern nur die Geſandten,
    die Feldherren nebſt dem Verwalter der erſten Finanz-
    ſtelle mehr gewaͤhlt, dieſer ausnahmsweiſe auf vier
    Jahre. Rath, Richter, Archonten, Alles war jaͤhrig
    und ward erloost.
  • Die Einfuͤhrung der Diaͤten fuͤr Senat, Ge-
    ſchworene und die ganze Volksverſammlung, außer
    ſonſtigen Volksſpenden. Das Regieren ward Sache des
    Erwerbs, wovon die reichen Buͤrger und der Bundes-
    genoſſenzins die Koſten beſtritten.
  • Die mit der Volksbildung ſteigende Macht und Kunſt
    [31]Staatsverfaſſung der Alten. Athen.
    der in Sparta durch Sitte und Verfaſſung gebaͤndigten
    Beredſamkeit, welche einer Volksverſammlung ſtets
    Gefahr bringt.

Der Vollendung der Demokratie wirkte die Bei-
behaltung einiger alten Satzungen:


  • Bedingung des dreißigjaͤhrigen Alters fuͤr Senatoren
    und Geſchworene,
  • die Staats-Pruͤfung der Senatoren, Beamten und
    Richter,
  • die geſetzgebende Macht der Nomotheten,

zwar entgegen, aber mit ungleichen Kraͤften, weil die Ge-
walten, welche beaufſichtigen ſollten, aus voͤllig gleicharti-
gen Elementen mit den zu beaufſichtigenden beſtanden.


45. Die Folge war: die Archonten ſanken von Rich-
tern erſter Inſtanz zu bloßen Vorſitzern und Unterſuchungs-
richtern bei den Volksgerichtshoͤfen herab. Die Richter
auf Lebenslang, Epheten und Areopag, mußten, ſobald es
den Herrſchern gefiel, von ihrem Gebiete peinlicher Ge-
richtsbarkeit an die jaͤhrlich wechſelnden Volksgerichtshoͤfe
abtreten, fuͤr deren ſtets wachſenden Bedarf, um Millionen
zinsbarer Unterthanen, die man Bundesgenoſſen nannte,
in letzter Inſtanz Recht zu ſprechen, jetzt die ungeheure
Liſte der Geſchworenen von 6000 Buͤrgern, jaͤhrlich erloost,
zu Gebote ſtand. Der Rath der Fuͤnfhundert konnte bei
ſeinem jaͤhrlichen Wechſel neben dem ſteten Kreislauf auch
ſeiner Vorſitzer kein großes Übergewicht uͤber eine Volks-
verſammlung behaupten, von welcher er lediglich ein Aus-
ſchuß war. Und was half es, daß fuͤr die Geſetzgebung
Nomotheten noͤthig blieben, wenn man anfing, Alles auf
dem Wege der Verordnungen durch transitoriſche Volks-
ſchluͤſſe (Pſephismen) abzuthun?


[32]Zweites Capitel.

Daher durch das Verſchwinden aller uͤberlieferten ver-
ſchiedenartigen Beſtandtheile aus der Verfaſſung, und bei
dem eiferſuͤchtigen Wiederausſtoßen jeder dann und wann
verſuchten kuͤnſtlichen Schranke, von einem Volke hohen
Sinnes und nie wiedergeſehener Bildung dieſe Menge
raſcher unheilvoller Beſchluͤſſe. Der Reiche fuͤhlte es
ſchwer, daß er von den Armen beherrſcht werde. Beſonnene
wuͤnſchten, daß nicht alle Ariſtokratie moͤchte vernichtet
ſeyn. Andere prieſen das Koͤnigthum als eine goͤttliche
Einrichtung.


Rom.

46. Rom iſt eben wie Athen aus verſchiedenartigen,
doch verwandten Volksſtaͤmmen zuſammengekommen; beide
nahmen ohne große Schwierigkeit Zuwanderer auf und
reihten ſie nach dem Standesrechte, welches dieſe mitbrach-
ten, ein. Wie in Athen ſtand in Rom eine alte Adels-
herrſchaft, zugleich prieſterlich, uͤber den uͤbrigen Buͤrgern,
um ſo maͤchtiger, weil ſie hier ohne Koͤnigshaus den Koͤnig
aus eigener Mitte waͤhlte, nach Etrusker Art. Aber Sie-
ger hielten hier nicht uͤber Beſiegten Wache, noch war die
Kunſt, die einmahl gezogene Scheidung zwiſchen Herrſchaft
und Gehorſam bis an’s Ende aufrecht zu halten, der In-
halt von Roms Verfaſſungsgeſchichte, wie von Sparta’s.
Der Anſpruch der Gemeinden drang zu ſeiner Zeit in
Rom zur Erklaͤrung und rechtlichen Geltung durch, auch
zum Siege, aber nicht wie in Athen in wenigen ſchnell
auf einander folgenden Stoͤßen, vielmehr ſehr langſam und
ſtufenweiſe in ganz eigenthuͤmlicher Erſcheinung, uͤberhaupt
am Ende mehr durch Ausgleichung, unter Schonung der
Grundformen; nur daß das Koͤnigthum verloren ging
und blieb.


[33]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.

47. Drei Staatsgewalten waren: Koͤnig, Senat
und Adelsverſammlung, aber die letztere ſtand zu-
hoͤchſt. Koͤnig, Senat, alle hoͤheren Obrigkeiten gingen
aus der Adels-Wahl hervor und waren Mitglieder des
Adels. Der Koͤnig, auf ſtattlichem Kronland, war der
Feldherr, uͤbte das Recht der Opfer fuͤr das Volk, war
Oberrichter und Vollzieher des Rechts und der Geſetze,
doch blieb die Berufung von ihm an den Adel offen.
Der Senat war ein Ausſchuß der Adelsgeſchlechter; er
uͤbte, gleich dem Koͤnige, eine bloß uͤbertragene, ausfuͤh-
rende, vorbereitende Gewalt, die indeß lebenslaͤnglich war.
Starb der Koͤnig, ſo traten die zehn Vorſitzer des Senats
in den Genuß der hoͤchſten Wuͤrde, und beantragten, oft
ſehr verſpaͤtet, eine neue Koͤnigs-Wahl. Die Adels-
geſchlechter Roms gingen von drei Staͤmmen (tribus) aus,
jeder zu hundert Geſchlechtern, daher auch die drei Centu-
rien geheißen. Verſammelt ſchaarte ſich der Adel nach je
zehn Geſchlechtern, Curien genannt; ihrer ſind dreißig;
jede der dreißig Curien gab eine Stimme. Die Belie-
bung der Mehrzahl der Curien, nicht der Koͤpfe, war
Adelsſchluß, ja auch in der einzelnen Curie entſchieden nur
die gentes; die Kopfzahl gab bloß innerhalb der gens den
Ausſchlag. Waltete gleich Anfangs ein Unterſchied im
Rechte zwiſchen den drei nach und nach zuſammengekom-
menen Staͤmmen ob, ſo trat doch bald weſentliche Gleich-
heit ein, und auch der zuletzt aufgenommene Stamm der
Luceres, lange geringeren Gebluͤts geachtet, durfte ſeit
Tarquinius Priscus ſein Hundert in den Adelsrath der
nun Dreihundert ſenden.


48. Der Adel beſaß auch die Übermacht des Vermoͤ-
gens. Sein Ackerland zwar, dicht um die Stadt herum,
3
[34]Zweites Capitel.
war ein kaͤrglich zugemeſſener Beſitz; zwei Joch Ackers
konnten fuͤr den Hausſtand an Korn und Baumfrucht
wenig leiſten, und der Viehſtand auf der Gemeinweide
mußte wol das Beſte thun; aber als das Staatsgebiet
ſich vergroͤßerte, nahmen die Geſchlechter als regierende
Gemeinde den meiſten Zuwachs in ihre ausſchließliche
Nutzung, genug wenn jedes von ſeinem Antheil den Zehn-
ten an die Staatscaſſe zu entrichten verſprach. Auf die-
ſem ſeinem Staatsacker ließ der Adel zahlreiche Untergehoͤ-
rige wohnen, ſey’s daß ſie ein Gewerbe betrieben, oder
ein Paar Joch Landes bittweiſe bauen durften. Nach
ihrer Menge maaß man die Gewalt eines Geſchlechtes.
Sie ſelber, die Clienten, wurden in die Geſchlechter mit-
hineingezaͤhlt, aber bloß als dienende Mitglieder, die der
Staat nur durch ihre gentilen Vertreter kannte. Es fehlte
zwar dem Verhaͤltniſſe nicht an Wuͤrde und Gegenſeitigkeit,
aber Ausartung in Helotismus lag nahe, nur daß bei der
charakteriſtiſchen Staͤrke des Roͤmiſchen Familienbandes, tief
ausgepraͤgt in vaͤterlicher Gewalt und Ehe, an ein Opfer
der Familie, wie Lykurg’s Volk es taͤglich brachte, nicht
zu denken war.


49. Sonſt iſt die Staatsanlage Spartaniſch genug.
Denn eben ſo wenig als die Clienten hatten die freien
buͤrgerlichen Grundbeſitzer im wachſenden Roͤmiſchen Ge-
biete, Plebejer geheißen, irgend einen Antheil an der Re-
gierung. Ihre Familien wohnten in 30 Bezirken (regio-
nes
), die Bevoͤlkerung jedes Bezirks bildete eine Gemeinde,
welche tribus hieß, ohne mehr als den Namen mit den
patriciſchen Geſchlechter-Tribus gemein zu haben. Koͤnig
Servius Tullius gab der Plebs dieſe Eintheilung. Die
Gemeinde-Angelegenheiten der Tribulen eines Bezirks durfte
[35]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
ein Tribun leiten; auch gab ihnen Servius Richter fuͤr
buͤrgerliche Streitigkeiten, von jeder Tribus ſelber zu, waͤh-
len. Verſammlungen ſaͤmmtlicher Tribus hatten, wenn
uͤberhaupt geſtattet, lediglich Gemeinde-Zwecke, keine Be-
deutung irgend fuͤr den Staat.


50. Gleichwohl iſt Koͤnig Servius, ſoweit die Zeit
es zuließ, Roms Solon geworden. Er nahm dem Adel
die Regierung nicht, nicht den alleinigen Zutritt zu Koͤnig-
thum und Staatsaͤmtern, aber er ſtellte neben ihm eine
von der adlichen Geburt unabhaͤngige ſelbſtaͤndige Macht
des Beſitzes auf, eine Verſammlung der vermoͤgenderen
Freien im Staate, deren Genehmigung fortan fuͤr Geſetze
und Wahlen erforderlich ſeyn ſollte, die mithin ein Nein
hatte. Das war der wichtige Sinn ſeiner fuͤnf Claſſen der
vermoͤgenden Buͤrger, wenn man den Anfang plebejiſcher
Rechte beachtet, indeß berichtigte ſie zugleich das bisherige
Syſtem des Kriegsdienſtes und ſonſtiger Staatsleiſtungen.
Fortan ſoll der Vermoͤgendere allein mit der Lanze und
der koſtſpieligen ganzen oder halben Erzruͤſtung in den
erſten Reihen die Gefahr beſtehen, waͤhrend die aͤrmere
Zahl leichtbewaffnet und ruhmlos, aber auch faſt koſtenfrei
hintennachdraͤngt; auch die Steuer ſoll den Plebejer nur
nach dem Maaße ſeiner Claſſe belaſten.


51. Aber eben ſo wenig als von Alters her die Cu-
rien, darf die Verſammlung der Claſſenbuͤrger nach Kopf-
zahl uͤber Wahlen und Geſetze ſtimmen, die Einzelſtimme
hilft bloß eine der Geſammtſtimmen bilden, und die große
Mehrzahl der Geſammtſtimmen iſt dazu den erſten Ver-
moͤgens-Claſſen beigelegt; ja Alles iſt ſo eingerichtet, daß
wenn auch nur die 80 Centurien der erſten Claſſe zuſam-
3*
[36]Zweites Capitel.
menhalten, und mit den 18 Centurien patriciſcher und
plebejiſcher Ritter, die von Standeswegen außer den Claſ-
ſen mitſtimmen, ebenfalls einig ſind, dieſe 98 Stimmen
ganz allein den Sieg davon tragen; denn die niedrigeren
Claſſen treten ihnen mit nur 97 Centurien gegenuͤber.
Aber außer der Centurien-Einrichtung und der Vermoͤgens-
Ariſtokratie iſt der Gewalt der Zahl noch eine dritte Be-
ſchaffenheits-Schranke geſetzt: ein Vorrecht des Alters,
indem die Haͤlfte der Centurien jeder Claſſe den mehr als
fuͤnfundvierzigjaͤhrigen Buͤrgern eingeraͤumt wird, die doch
der Kopfzahl nach nur etwa halb ſo ſtark als die juͤngeren
ſeyn konnten. Und viertens: die Wirkſamkeit dieſer Ver-
ſammlung haͤlt uͤberhaupt eine enggezogene Graͤnze. Jeder
Antrag kam ihr vom Adels-Senat, auch der Vorſchlag
zu den Wahlen, nirgend eine redneriſche Bewegung; es
war eine ſtumme Volksverſammlung, die der Centurien
des Marsfelds, nur zur Annahme oder Verwerfung befugt.


52. Dennoch uͤbte ſie ein großes politiſches Recht,
das Nein, und es ſchien den Patriciern zu viel damit
gethan. Die Veraͤnderung koſtete dem Servius Thron
und Leben. Bald war das Koͤnigthum ganz geſtuͤrzt. So-
lange der beiden Staͤnden furchtbare vertriebene Tyrann
lebte, wurden die Serviſchen Geſetze gehalten; man ſah
einen plebejiſchen Conſul, in Centuriat-Comitien erwaͤhlt.
Als aber Tarquin todt war, da blieb unerfuͤllt der wahr-
ſcheinliche Grundgedanke des Conſulats, den ſchon
Servius hegte, daß einer aus dem populus und einer aus
der plebs fortan die hoͤchſte Wuͤrde im Staate gepaart
bekleiden ſollten. Nicht allein die Waͤhlbarkeit, ſondern
auch das Wahlrecht behaupten die Curien fuͤr ſich allein,
ſie entziehen ſich dem Zehenten vom ager publicus und
[37]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
werfen alle Abgabenlaſt auf die durch Kriegsdienſt in oft
ungluͤcklichen Kaͤmpfen ohnehin erſchoͤpften Gemeinden, und
keine Wiederherſtellung erſcheint, bis das Übermaas der
Privatnoth bei geſteigertem Selbſtgefuͤhl, einige Legionen
zur Verweigerung der Kriegsdienſte und zum Abzuge auf
den heiligen Berg bringt. Mit der Schutzwehr von zwei
Tribunen, den zwei Conſuln gegenuͤber, kehren ſie zuruͤck,
laͤngſt bekannte Namen, aber in ganz neuer Bedeutung.
Dieſe Volks-Tribunen, unverletzlich von Perſon, uͤben
ein Fuͤrſpruchs- und Einſpruchs-Recht gegen die Über-
ſchreitungen patriciſcher Staatsbeamten. Es konnte aber
nicht fehlen, daß ſie als Überſchreitung ruͤgen wuͤrden
Alles, was ſeither gegen das Serviſche Recht geſchehen war.


53. Das Volkstribunat hat die Verfaſſung im Sinne
der Buͤrgerfreiheit umgeſchaffen. Die Zahl der Tribunen
ſtieg bald bis auf 5 (die Zahl der Claſſen), dann bis auf
das Doppelte. Sie brachten die freie lebendige Rede, ein
bisher unbekanntes Element in die Centuriat-Verſamm-
lungen, ſie den ſchuͤtzenden Antrag. Alles dieſes zwar
nicht ohne mannigfachen Kampf nach innen und außen.
Ihr Antrag ging aus der Entſcheidung der Mehrzahl des
Tribunen-Collegiums hervor. Dieſe Mehrzahl aber war
nicht ſelten im patriciſchen Intereſſe gewaͤhlt, vermoͤge des
Einfluſſes, den die herrſchenden Geſchlechter dadurch in den
Centuriat-Verſammlungen zu gewinnen anfingen, daß viele
vermoͤgende Clienten Claſſenrang erhielten. Ja die Ge-
ſchlechter uͤbten ſogar, der untergeordneten Stellung der
Centuriat-Comitien gemaͤß, Anfangs ein Beſtaͤtigungsrecht
der jaͤhrlichen Tribunen-Wahlen durch ihre Curien. Auch
pflegten die Patricier dem Rechte der Tribunen, Antraͤge
zu machen, die die ganze Staatsverfaſſung angingen, heftig
[38]Zweites Capitel.
zu widerſprechen, und uͤber dem Wortkampfe ging der
Tag, an welchem bis zu Sonnenuntergang jedes Geſchaͤft
abgethan ſeyn mußte, dann ohne Erfolg verloren.


54. Darum war es entſcheidend, als die Tribunen
ſchon im dritten Jahrzehend ihrer Wirkſamkeit rein plebeji-
ſche Tribus-Verſammlungen durchſetzten, in denen
ſie ſelber gewaͤhlt wuͤrden, und die zugleich das Recht
haͤtten, uͤber tribuniciſche Antraͤge, welcher Art ſie auch
ſeyn moͤchten, unbegutachtet vom Senat, zu berathſchlagen
und Beſchluͤſſe zu faſſen. Solchen Beſchluͤſſen fehlte frei-
lich noch viel zu einem Geſetze, aber ſie bildeten eine
maͤchtige oͤffentliche Meinung; „ſie waren die Preß-
freiheit jener Zeit“ (Niebuhr), und von nun an ging das
Tribunat von ſeinem hemmenden Charakter zu einem poſitiv
geſtaltenden uͤber. Gleichheit der Rechte war das aufge-
ſtellte Ziel. Je naͤher man dieſem ruͤckte, um ſo mehr
mußte auch der Anſpruch der Plebs, Antheil an dem
Staatsacker zu haben, durch Ackergeſetze zur Frage kom-
men. In den neuen Comitien fand zwar keineswegs eine
Durchſtimmung nach Kopfzahl durch die ganze Verſamm-
lung ſtatt, aber indem in jeder einzelnen Tribus die bloße
Kopfzahl entſchied, ſchwanden alle Beſchaffenheitsunter-
ſchiede weg.


55. Nach ſolchen Vorgaͤngen geſchah, als die Stadt
beinahe drei Jahrhunderte alt war, vom Tribunat der
Antrag auf ein neues Staatsgrundgeſetz, das heißt,
Staatsrecht, Strafrecht, Privatrecht ſollten mehr in’s
Gleiche fuͤr alle Staͤnde geſtellt, und die neue Satzung
ſollte geſchrieben werden. Noch einem zehnjaͤhrigen Kampfe
gab der Senat nach; man war es zufrieden, das gefaͤhrliche
[39]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
Tribunat auf dem Wege zur neuen Ordnung zu beſeitigen.
Wirklich hoͤrte unter der Herrſchaft der zehn Geſetzgeber
das Tribunat ganz auf; und die Plebs hielt ſich fuͤr
hinlaͤnglich entſchaͤdigt, ſeit ſie, bis dahin ausgeſchloſſen
von hohen Staatsaͤmtern, und ſelbſt einen nur der Con-
ſuln aus Patriciern zu waͤhlen berechtigt, im zweiten
Decemvirat Maͤnner auch ihres Standes unter den Geſetz-
gebern thronen ſah. Allein der Ausgang betrog die Er-
wartung der Antragſteller; die alte Satzung war am Ende
durch die Schrift weit mehr beſtaͤtigt als gereinigt, die
Scheidewand der Staͤnde urkundlich gezogen, und was ja
neues erſchien, die Aufnahme von Patriciern und Clienten
in die Tribus, verſetzte den fortan noch unvermeidlicheren
Kampf auf einen fuͤr die Plebs vor der Hand weit un-
guͤnſtigeren Boden; und ſo mag es eine Folge der neuein-
gefuͤhrten Miſchung geweſen ſeyn, daß nicht lange darauf
eine neue Tribunats-Verfaſſung die Collegialitaͤt der Tri-
bunen aufhob, indem ſie die Abſtimmung uͤber einen An-
trag davon abhaͤngig machte, daß alle zehen fuͤr einen
Mann ſtaͤnden. Nicht alſo die berufenen Geſetzgeber beider
Staͤnde waren es, es war vielmehr die drohende Volks-
bewegung, die den jaͤhen Umſturz der frevelhaft zur Uſur-
pation misbrauchten Decemviralgewalt begleitete, welche die
Buͤrgerfreiheit weiter fuͤhrte. Conſulat und Tribunat keh-
ren wieder, aber die Centurien waͤhlen nun zum erſten
Mahle beide Conſuln, und auf eben dieſer Conſuln An-
trag wird den Beſchluͤſſen der Tribut-Comitien gleiche
Geltung mit den Centuriat-Beſchluͤſſen fuͤr die Geſetzge-
bung verliehen. Von daher die Macht der Tribut-Comi-
tien, in welchen der kuͤhnſte Antrag Anklang findet, un-
widerſtehlich, ſeit die Clienten mit den Plebejern zu
denſelben Standes-Intereſſen zuſammenwachſen. Das
[40]Zweites Capitel.
Einſpruchsrecht der Curien und des Senats, einem Volke
gegenuͤber, kann noch verſpaͤten, aber nichts verhindern
mehr.


56. Von nun an ward raſcher, doch immer ſtufen-
weiſe fortgeſchritten vom Wahlrechte bis zur Waͤhlbarkeit
der Plebejer, von den kleineren Staatsaͤmtern bis zu den
hohen und hoͤchſten. Ariſtoteles trat gerade ſeinen großen
Bildungsweg an, und entnahm aus der Zergliederung ſo
vieler um ihn her untergehender Staatsverfaſſungen Maas
und Regel fuͤr den aͤchten Staatsbau, als tribuniciſche
Beharrlichkeit, die ſchon durch Connubien mit dem Adel
theilweiſe verſchmolzene Plebs gerade auf den Punkt zu-
ruͤckbrachte, auf welchen Koͤnig Servius ſie hatte ſtellen
wollen. Ein Conſul ſoll von nun an immer Plebejer
ſeyn, und ein gemeſſener Theil vom oͤffentlichen Acker ſoll
den Patriciern entzogen und unter Plebejer als Eigenthum
vertheilt werden. Was noch von ungleichem Rechte uͤbrig
war, fiel nun in den naͤchſten Menſchenaltern (339-286
v. Chr.) von ſelber; erſt nach vollſtaͤndiger Begruͤndung
der politiſchen Freiheit fand die perſoͤnliche ihre Sicherheit
durch Aufhebung der alten Schuldknechtſchaft.


57. Dergeſtalt kam aber die Roͤmiſche Plebs, aller
Volkswuͤrden theilhaftig und privilegirt durch das Volks-
tribunat, viel weiter, als bis zur beabſichtigten Gleichſtel-
lung. Sie kam vielmehr gerade da zu ſtehen, wo zu An-
fang die Geſchlechter ſtanden. Bei ihr war die Herrſchaft.
Die Beſtaͤtigung der Volksbeſchluͤſſe durch die Curien und
den Senat ward am Ende bis auf eine unbedeutende
Foͤrmlichkeit hin ganz aufgehoben, eine Neuerung, die,
was die Curien betrifft, unvermeidlich, was den Senat,
[41]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
nachtheilig war; denn den Kern des Senats bildete jetzt
eine gepruͤfte Verſammlung von Maͤnnern beider Staͤnde,
welche in den hoͤchſten Staatswuͤrden geſtanden hatten.


58. Fragt man nun, wie es kam, daß nach der Auf-
hebung des alten Gegenſatzes von Adel und Gemeinden
jetzt, bei dem laͤngſt verlorenen Koͤnigthum, nicht geradezu
reine Demokratie einbrach und durch ſie Anarchie, ſondern
vielmehr die Staatsordnung lange Zeit eine ernſte und
hohe Haltung behielt, ſo liegt der Grund dieſer merkwuͤr-
digen Erſcheinung keineswegs allein in der Religioſitaͤt und
lange ſtreng bewahrten Familien-Sitte, ſondern ebenfalls
in der Nachwirkung der alten Inſtitutionen auf die oͤffentliche
Sitte, fruchtbar fuͤr die Maͤßigung und wohlthaͤtige Staͤ-
tigkeit der neuen. Darum, daß die Roͤmiſche Volksver-
ſammlung nie dahin gerieth, bloß nach Koͤpfen ſtimmen zu
wollen; darum, daß Antraͤge zu Beſchluͤſſen oder Geſetzen
nie aus der Volksverſammlung hervorgingen, ſondern von
dem Senat ausgingen, oder den Conſuln, oder den Volks-
Tribunen. Daher die Bewahrung der Lebenslaͤnglichkeit
und wuͤrdigen Stellung ihres Senats, und die Ehrfurcht
vor ſeinem Gutachten. In eben dieſem Sinne ließ man
einen gewiſſen Gegenſatz von Demokratie und Ariſtokratie
fortbeſtehen, indem man die beiden Formen der Volksver-
ſammlung beibehielt. Die geſetzgebende Gewalt zwar ruhte
weſentlich in den Tribut-Comitien; außer den Volks-
Tribunen wurden auch die Ädilen und die niederen Magiſtrate
hier gewaͤhlt, wo jeder Roͤmiſche Buͤrger ohne Unterſchied
des Vermoͤgens ſtimmte. Den Centuriat-Comitien
aber blieb die Wahl aller (fruͤher) altpatriciſchen Magiſtrate
vorbehalten, die Entſcheidung uͤber Krieg und Frieden und
das hoͤchſte Criminalgericht. In dieſen Comitien ward in
[42]Zweites Capitel.
altherkoͤmmlicher Form die patriciſche und nichtpatriciſche
Ritterſchaft fortwaͤhrend durch beſondere Centurien geehrt;
von den uͤbrigen Buͤrgern hatte nur derjenige Recht zu
ſtimmen, der eines gewiſſen Claſſen-Vermoͤgens war.
Nun trat zwar jetzt eine andere Eintheilung und Schaͤtzung
an die Stelle der veralteten Claſſen des Servius, welche
fuͤr die Kriegsaufſtellung ſeit Ausbildung der Legion ohne-
hin keine Bedeutung mehr hatten, und die umgebildeten
Centurien wurden jetzt Theile der Tribus, ſo daß jede
Tribus mit 2 Centurien ſtimmte; allein den tiefwirkenden
alten Unterſchied der Centurien der Älteren und der Juͤn-
geren fuͤhrte man auch bei der neuen Einrichtung durch.
Ebenfalls ließ man zwar zeitgemaͤße Änderungen an der
Zahl der Tribus zu, deren Zahl ſich fruͤher durch Land-
verluſte von 30 auf 25 vermindert hatte, und die ſich
jetzt durch die allmaͤhlige Aufnahme Italiſcher Voͤlkerſchaf-
ten in volles Buͤrgerrecht bis zu 35 vermehrten, allein
man verhuͤtete den Andrang fremdartiger Maſſen gerade
dadurch, daß man den neuen Buͤrgern wenige neue Tri-
bus fuͤr ſich anwies, und ebenmaͤßig die neuaufgenommene
Menge Gewerbtreibender und Freigelaſſener Roms in 4
ſtaͤdtiſche Tribus zuſammenzwaͤngte. Somit wirkte die
Sorge, daß Rom Mittelpunkt der Herrſchaft bliebe, Ita-
lien nur untergeordnet theilnaͤhme, kraͤftig zur Erhaltung
der alten Formen mit. Rom war verloren, wenn man
nach Kopfzahl ſtimmte.


Die Staatsverfaſſung, einmahl in’s Gleiche geſtellt,
kam zur Ruhe, und das Gutachten des Senats behauptete
fortwaͤhrenden Einfluß auf die Geſetzgebung. Der Senat
fuͤhrte die Finanzverwaltung, legte die Steuern auf, welche
uͤberdem bald Italien nichts mehr angingen; er hatte die
Leitung der auswaͤrtigen Angelegenheiten, und Richter
[43]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
aus dem Senat ſprachen in peinlichen Faͤllen, Volksrichter
nur in buͤrgerlichen. Aus der Vereinigung ſo vieler Thaͤ-
tigkeiten ging ein factiſches Veto des Senats hervor, eine
Bedeutung, die ſich auch den ſenatoriſchen Familien mit-
theilte, welche nun nach Amtsahnen zaͤhlten ſtatt der
Geſchlechtsahnen, und es dem Roͤmer, welcher curuliſcher
Vorfahren ermangelte, ſchwer genug machten, in den ge-
ſchloſſenen Kreis dieſer neuen Nobilitaͤt einzudringen, und
wenn er arm war, faſt unmoͤglich. Denn die erſte Stufe
zum Amts-Adel, die Ädilitaͤt, konnte ſeit dem erſten Pu-
niſchen Kriege nur durch Feſiſpiele, aus eigenen Mitteln
zu beſtreiten, erſtiegen werden. So war ein Herkommen
wieder da, eine Ariſtokratie, von der das Staatsrecht
nichts wußte, und deren Macht doch jede Stunde bezeugte.


59. Bei dem Allen war nicht zu erwarten, daß eine
Verfaſſung, welche ohne anerkanntes Gegengewicht am
Ende doch auf den Willen des einen Koͤrpers der Volks-
verſammlung beruhte, dauerhaften Beſtand habe. Schon
Polybius empfand, daß ihr die Nothwendigkeit abgehe.
Jede freie Verfaſſung rechnet auf Tugend im Volk, aber
auf ein tugendhaftes Volk darf keine rechnen. Am wenig-
ſten ein Staat der erobert, denn wer herrſcht, lernt am
Ende auch genießen.


Den Verfall der Freiheit und alten Ordnung brachte


  • 1) die Erweiterung des Reichs uͤber Italien hinaus
    durch Erwerbung einer Menge nicht mehr einzuverleiben-
    der, bloß dienender Gebiete. Das war unwiderruflich
    Verzichtung auf Volks- und Regierungs-Einheit, und
    mit dem erſten Statthalter eroͤffnete ſich die lange Reihe
    gefaͤhrlicher Staatsbuͤrger.
[44]Zweites Capitel.
  • 2) Die verfuͤhreriſche Verſuchung, die der Volks-
    Souveraͤnitaͤt durch das Herkommen geſetzte Schranke
    dennoch zu durchbrechen. Als der Tribun Flaminius
    (232 v. Chr.) zum erſten Mahle das Anſehn des Senats
    nichts gelten ließ, ſein unvorſichtiges Ackergeſetz gegen
    deſſen hartnaͤckige Weigerung durchfuͤhrte, kuͤndigte das
    Volk damit ſeine Selbſtregierung an. Wenn es den-
    noch zur Zeit wieder hinter die Schranke zuruͤcktrat,
    ſo war das ein ſeltener Herrſcher-Verſtand, fuͤr die
    Dauer unverbuͤrgt.
  • 3) Die dichte Zahl von Eroberungs-Kriegen, vom
    zweiten Puniſchen bis zur Unterwerfung Macedoniens,
    Griechenlands, Karthago’s. Der Pflug ſtand ſtill in
    der freien Hand, Sinn und Kraft wandte ſich auf die
    zu bezwingende und zu beherrſchende Welt. Den nach
    außen erfolgreich Ungerechten genuͤgte die Gebundenheit
    zu Hauſe von keiner Seite mehr.
  • 4) Der Zufluß von Weltreichthum, der dem Siege
    folgte, und eine Ungleichheit des Vermoͤgens von viel
    furchtbarerer Geſtalt als fruͤherhin hervorrief. Die Zahl
    der Sclaven in ſteter Zunahme, waͤhrend ſich Italien
    von freien Bauern entvoͤlkert. Allenthalben ſtatt der
    Bauernguͤter, auf welchen die Beſieger der Welt er-
    wuchſen, Latifundien, auf denen der Sclav den Pflug
    fuͤhrt. Der Anblick des von Freien veroͤdeten Etruriens
    erzeugte im Hauſe der Gracchen die Plane eines Kleo-
    menes.
  • 5) Seit dem Mislingen der Gracchiſchen Rogationen
    die den fruͤheren Tagen Roms fremde Entſcheidung von
    Staatsfragen durch Gewaltthat und Buͤrgermord.
  • 6) Die Ausartung des Tribunats, des Gruͤnders
    der Buͤrgerfreiheit, in eine der Freiheit gefaͤhrliche Macht;
    [45]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
    ſein Misbrauch erleichtert durch die Verbreitung der neuen
    Buͤrger durch alle Tribus, bald nach dem Bundesge-
    noſſen-Kriege. Dazu die Bewaffnung des ſtaͤdtiſchen
    Poͤbels durch C. Marius; Verderb der niedern Claſſe
    durch Austheilung von wohlfeilem Getreide, das bald
    umſonſt gegeben werden muß, zur großen Belaſtung
    der Finanzen zu einer Zeit, da in Folge des Syſtems
    der Verpachtung der Provinzial-Einkuͤnfte die Steuer-
    kraͤfte bereits im Sinken ſind.

60. Die Entſcheidung uͤber den Freiſtaat gab Sulla,
als er durch die bewaffnete Macht die Staatsverfaſſung
aͤnderte, wenn auch fuͤr das Mahl zu Gunſten der alten
Ordnung, und dieſe Änderung durch Militaͤr-Colonieen
bewachen ließ. Seit die Heere uͤber die Verfaſſung gebo-
ten, durfte Pompejus eigenmaͤchtig das Morgenland bis
zum Euphrat erobern, in Provinzen und abhaͤngige Fuͤrſten-
thuͤmer zerfaͤllen und ſich der Verdoppelung der Staats-
Einkuͤnfte ruͤhmen, Caͤſar das Galliſche Abendland bezwin-
gen, einrichten, den Staat, der nie auswachſen ſollte,
noch auf Britannien und Deutſchland anweiſen; die Ver-
mehrung der Staats-Einkuͤnfte um ein Drittheil war ſeine
Rechenſchaft. Neben Maͤnnern mit koͤniglichen Einkuͤnften,
denen jeder ihrer Kriegsleute ein Vermoͤgen dankte, dazu
oft Italiſchen Grundbeſitz auf Koſten der rechtmaͤßigen
Innhaber, galt Buͤrgerfreiheit nichts, die hauptſtaͤdtiſche
Volksverſammlung, ſchmachtend nach Brod und Luſtbar-
keiten, lediglich als Werkzeug. Ein Cicero ließ es ſich
gefallen, den Zweck des Roͤmiſchen Staats in der Erhal-
tung der großen Familien zu erkennen.


61. Aus Julius Caͤſar’s lichtem Haupte entſprang
der Gedanke, durch Wiederherſtellung eines rechtmaͤßigen
[46]Zweites Capitel.
Koͤnigthums den Staat aus der Schwankung zu reißen;
ein Grundgeſetz der Monarchie, deſſen Waͤchter der Senat
waͤre, war noch moͤglich; aber die Dolche von Brutus
und Caſſius, rettend vielleicht was ſie nicht kuͤmmerte,
die zu den groͤßeſten Dingen beſtimmte, durch Caͤſar’s letzte
Entwuͤrfe ſchwer bedrohte Freiheit der Deutſchen, gaben
der einzigen, auf die realen Elemente anwendbaren, freiheit-
lichen Ordnung den Todesſtoß. Die Graͤuel der Triumvi-
ren waren, die auf den Nutzen geſtellte Anſicht einmahl
zugegeben, groͤßtentheils nothgedrungen, unerlaͤßlich, um
ein paarmalhundertauſend ungeſtuͤm draͤngende Krieger mit
Geld und Italiſchem Acker abzulohnen; und als einer
unter den Triumviren die Alleinmacht unter erlogenen For-
men der Republik davontrug, blieb es zweifelhaft, ob ſei-
nen Nachfolgern der Senat das Imperium uͤbertragen
werde, die Bezeichnung des Vorgaͤngers ehrend, oder ob
die Garden, oder beide vereinbart, oder auch vielleicht ein
Graͤnzheer. Das Eine ſtand feſt: der Traum der Wieder-
herſtellung der Republik kann wol im Senat noch getraͤumt
werden, aber die bewaffnete Macht huldigt nur monarchi-
ſchen Formen mehr.


62. Der Ausgang war bloß zu Anfang dem Senat,
bald entſchieden den Garden guͤnſtig; alſo ein Principat
von einer Kriegertruppe, die denn doch gewiſſermaaßen
Rom angehoͤrte, in Erwartung oder unter der Bedingung
einer reichen Spende, uͤbertragen, vom Roͤmiſchen Senat
hintennach gebilligt und in die Form gebracht. Die Volks-
Verſammlung hatte das jauchzende Zuſehn. Als der letzte
der Caͤſaren den Aufſtaͤnden der Provinzial-Heere erlegen
war, zeigte ſich ungeachtet der foͤrmlichen Übertragung der
alten Verfaſſungsrechte durch den Senat an Vespaſian,
[47]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
die Naͤhe der Gefahr, daß Rom, ja ſelbſt Italien aufhoͤrte,
Mittelpunkt des Reichs zu ſeyn. Denn die Beguͤterten
aus allen Enden des Roͤmiſchen Reiches kamen jetzt in den
Roͤmiſchen Senat, in die Roͤmiſche Ritterſchaft, und nicht
lange, ſo ſah man Spanier, welche Kaiſer wurden.


63. Alle beſſeren Kaiſer hoben den Senat als das
einzig uͤbrige Bild der alten Ordnung, waͤre es auch nur
durch die Zuſage, daß kein Senator hingerichtet werden
duͤrfe; hoben die Ehre der Geſetze, und mochten deßhalb
neben dem Rechte der Ausnahmen (princeps legibus so-
lutus est
) recht gerne den Satz 1) geſtellt wiſſen: quae
facta laedunt pietatem, existimationem, verecundiam
nostram et (ut generaliter dixerim) contra bonos mores
fiunt, nec facere nos posse credendum est;
beriefen deß-
halb ihre großen Meiſter in der Rechtsgelehrſamkeit, die
einzig bewaͤhrten Charaktere der Zeit, in ihr Hofgericht,
wo der Kaiſer in Perſon ſprach, als Beiſtaͤnde, und man-
cher Statthalter mußte empfinden, was es bedeute, daß er
nun nicht mehr, wie zur Zeit des Freiſtaats, in letzter
Inſtanz Recht ſpreche. Alles beruhte indeß auf der Perſoͤn-
lichkeit des Kaiſers, und bei dem Mangel aller zwingenden
Grundſaͤtze ward die ohnehin ſchwache vererbende Kraft des
Guten, waͤhrend das Boͤſe ſich tief in die Faſern ganzer
Geſchlechter einniſtet, vollends ohnmaͤchtig. Die ſchlimme
Art brach zuletzt immer durch. Kaiſer Valens ließ ſich
uͤberreden, die Wahrnehmung des oberſtrichterlichen Amts
ſey tief unter ſeiner Wuͤrde 2).




[48]Zweites Capitel.

64. Vornehmlich krankten die Finanzen. Schon ſeit
der Dalmatier Diocletian das Reich um beſſerer Ordnung
Willen in vier Kaiſertheile theilte, die doch nach ſeinem
Wunſche ein Ganzes bilden ſollten, ging die Steuerfreiheit
Italiens, ſo oft factiſch ſchon verletzt, auch dem Grund-
ſatze nach verloren. Aber Italien war nicht mehr uner-
ſchoͤpflich. Die Zahl der Privat-Vermoͤgen von koͤnig-
lichem Umfange ſchmolz zuſammen, ſeit beſoldete Statt-
halter waren, und nur der Kaiſer in Perſon erobern durfte.
Aber fuͤr den kaiſerlichen Bedarf wurden jetzt die Provin-
zen ausgeraubt, raͤuberiſche Beamte fanden Vorſchub, um
hernach wie ein Schwamm ausgedruͤckt zu werden; ſchon
Caracalla verlieh allen Freigeborenen im Roͤmiſchen Reiche
Roͤmiſches Buͤrgerrecht, lediglich um der Steuern Willen,
die mit dieſem Rechte zuſammenhingen. Die neue Ord-
nung, welche Diocletian und Conſtantin in das Abgaben-
weſen brachten, erleichterte ſchlechten Kaiſern die jaͤhrlichen
Steuererhoͤhungen, doppelt peinigend durch ein Quoten-
Syſtem. Der unertraͤgliche Steuerdruck erſchuf eine dem
Reiche bisher fremde Claſſe der Bevoͤlkerung: leibeigene
Bauern, und nicht bloß in Gallien endloſe Kriege dieſer
Bagauden gegen ihre Draͤnger.


65. Das verzweifelnde Landvolk begruͤßte in den
Soldaten ſeine Protectoren, die auch wirklich oft beſſer,
gegen das Geſetz eingreifend, halfen, als den unter Ar-
menlaſten und ſolidariſcher Steuerhaftung ſeufzenden, doch
im Glanz der Gebaͤude ſtrahlenden Staͤdten ihre geſetzlich
beſtellten Defenſoren. Denn der Soldat war weder Roͤ-
miſch noch Italiſch mehr, auch gehoͤrte er nicht den Pro-
vinzen ohne Unterſchied an; er ward in den Graͤnzprovin-
zen zuſammengeworben, an beiden Seiten der Graͤnze,
[49]Staatsverfaſſung der Alten. Rom.
gluͤcklich noch, wenn der Kern aus ſolchen Barbaren beſtand
die im Reiche geboren, oder im Knabenalter als Geißel
hineingefuͤhrt waren. Der Roͤmiſche Unterthan kaufte die
Dienſtpflicht fuͤr ein willkuͤhrlich beſtimmtes Taxat ab. So
ſehr hielten die Barbaren-Voͤlker draußen, als ihre Stunde
kam, bloß die Nachleſe des Roͤmiſchen Wohlſtandes.


66. Dahin gerieth es, daß ein Mann von altroͤmiſchen
Erinnerungen ſelbſt in den verſchwundenen Praͤtorianern
den Untergang einer Roͤmiſchen Volksvertretung bedauern
konnte. Der Senat von Rom war zum Stadtrath geſun-
ken (nothwendige Folge der Reichstheilungen!), bloß in dem
Kaiſer, mochte einer auch in Nikomedien oder Mayland
oder endlich in Konſtantinopel reſidiren, mochte er allein
Kaiſer, oder mit mehreren, oder Ober-Kaiſer ſeyn, war
der Staat, der der Roͤmiſche noch hieß, enthalten, welchen
Barbaren (die tuͤchtigſten von ihnen auch in der Ruͤſtung
des Auslands) von innen beſchuͤtzten, von außen beſtuͤrm-
ten. Der Kaiſer war numen, sacrum numen und heilig
vom Diadem bis zur Purpur-Dinte, ohne Einſpruch der
neuen Staats-Religion ein Gottmenſch in Seide und
Gold, von Halbmenſchen und adorirenden Unverſchnittenen
umgeben, — und doch und eben deßhalb kein Koͤnig.


Zu Arkadius aber, dem jugendlichen Kaiſer des Mor-
genlandes, wagte Syneſius wahr zu reden: „Der Unter-
ſchied zwiſchen Koͤnig und Tyrann“, ſprach er, „liegt nicht
in der Menge der Unterthanen, ſo wenig als der Unter-
ſchied zwiſchen Hirte und Koch in der Groͤße der geweide-
ten oder geſchlachteten Heerde beſteht. Dem Koͤnige wird
zur Natur das Geſetz, die Natur des Tyrannen macht
ſich zum Geſetze. Schimpflich fuͤr den Herrſcher, bloß
durch Maler ſeinem Volke bekannt zu ſeyn. Wann ſtand
4
[50]Zweites Capitel.
es beſſer um das Reich, heutzutage, da ihr verpurpurt
und vergoldet ſeyd, mit Steinen aus barbariſchen Bergen
und Meeren vom Haupte bis zur Sohle beſetzt, geguͤrtet,
geſchnallt, bepolſtert, wie Pfauen ſtrahlend in ſteinernen
Roͤcken, die bei Homer eine Verwuͤnſchung ſind, und doch
wie Eidechſen nie aus eurer Hoͤhle hervorgehet, — oder
damahls als Sonnenverbrannte das Heer fuͤhrten? Der
kriegeriſche Herrſcher allein vermag auch der wahrhaft fried-
liche zu ſeyn. Ihr vermeidet den Namen Koͤnig (in
Athen zur Zeit der Volksfreiheit ein kleines verantwort-
liches Amt) und nennet euch nie mit dieſem Namen als
einem verhaßten, weder gegen eine Stadt, noch einen
Privatmann, noch einen barbariſchen Fuͤrſten, ihr nennt
euch Imperatoren, aber das bedeutet einen Feldherrn. Mit
Unrecht meidet ihr das Koͤnigthum, welches Platon eine
Gottesgabe fuͤr die Menſchheit heißt. Das iſt es auch,
wenn das Koͤnigthum nicht aus dem Verborgenen ſchreck-
haft dann und wann hervorbricht, ſondern geraͤuſchlos und
gleichmaͤßig, wie die Gottheit, die menſchlichen Dinge ordnet,
jedem zutheilend, weſſen er empfaͤnglich iſt. Wird denn die
Sonne verachtet, weil ſie ſich blicken laͤßt? Soll das laͤngſt
zur Geburt draͤngende letzte Geſchick des Roͤmiſchen Reiches
nicht hereinbrechen, ſo muß Gott und ein Koͤnig helfen“1).


Allein der Fortgang ſeiner Rede zeigt, daß fuͤr das
Koͤnigthum auch das Volk ſchon fehlte, das will ſagen,
ein mit Nothwendigkeit zuſammengehoͤriges Menſchenweſen,
ein Gemeinweſen der Geſinnung. Wo weder das Zu-
ſammengewachſene mehr iſt, noch das in Eins Gebildete,
da bleibt bloß eine Bevoͤlkerung uͤbrig, die, jeder erſinn-
lichen Form faͤhig, keiner durch ihr Weſen angehoͤrt.



[51]Neuere Staatsverfaſſung.

Drittes Capitel.
Vom Gegenſatz der neueren Staats-Verfaſſungen
unſeres Welttheils.


67. Rom hat den Germanen ihre Staͤdte gebauet 1),
ihnen die Kenntniß von mancherlei Gewerbe und lohnen-
derem Ackerbau zugefuͤhrt, hat ihnen das Chriſtenthum zur
Staatsreligion gegeben und eine chriſtianiſirte hoͤchſt ausge-
bildete Geſetzgebung dargeboten, in derſelben einen Schatz
von Reſultaten der Menſchengeſchichte, auf alle Faͤlle wei-
terbildend, ſie mochte nun angenommen oder ausgeſtoßen
werden. Außerdem gab Rom ihnen die Hauptbevoͤlkerung
ihrer Staaten. Das Volk thaten die Germanen hinzu,
und eine Staatsanlage, die von Anfang her in das Große
ging, unterſtuͤtzt durch eine Kriegsverfaſſung, welche der
dem Alterthum eigenen Feindſchaft zwiſchen Ariſtokratie
und Monarchie fuͤr immer ein Ziel ſetzte.



68. In der Groͤße der Germaniſchen Staaten erken-
nen wir den Unterbau unſerer heutigen Staatengeſellſchaft.
Ariſtoteles forderte fuͤr die Tragoͤdie eine gewiſſe Groͤße
als weſentlich; mit noch viel mehr Recht heiſchten die
Griechen fuͤr den Staat ein gewiſſes Maas raͤumlicher
Entfaltung, oft ſchwer genug zu erlangen. Wo Kleines
ſich als dem Großen gleich gebehrdete, uͤberſah, was die
freie Bewegung nach außen auch fuͤr das innere Seyn
bedeute, da fehlte es in der Zeit lebendiger Verhaͤltniſſe
nicht an mancherlei Zurechtweiſung: „Mache nicht große
Schuhe fuͤr einen kleinen Fuß“, hieß es da, oder: „Ent-
weder fuͤge zu deiner Staͤrke etwas hinzu, oder nimm von
4*
[52]Drittes Capitel.
deiner Hitze etwas hinweg“, oder was der Megarenſer
vom Lyſander hoͤren mußte: „Deinen Reden fehlt weiter
nichts als der Staat.“ Bei allem dem macht gerade die
Kleinheit einen Theil vom Weſen der wichtigſten Staaten
des Alterthums aus, wovon die Spur nie verloren geht.
Sie fingen mit Stadt und Stadtgebiet an, und blieben,
ſo ausgedehnt ſie auch durch Eroberung wurden, von klei-
nem Zuſchnitt, Hauptſtadt-Staaten. Dagegen nahmen
die Germaniſchen Landvoͤlker, ſobald ſie ihre Natur-Ver-
faſſung verließen und erobernd ſich des Staates bewußt
wurden, einen großen und maſſenhaften Staats-Charakter
an. Die feſten Hauptſtaͤdte waren bei den Germanen,
wo ſie ſich ſelbſt mehr uͤberlaſſen blieben, eine ſpaͤtere
Erfindung.


69. Das Chriſtenthum ſtellte den Staat nothwendiger
Weiſe tiefer, als er bei Griechen und Roͤmern ſtand. Es
will die erſte Angelegenheit des Menſchen ſeyn, welchen
Staat er auch bewohne. Dem Staate bleibt hoͤchſtens
die zweite Stelle, er kann nicht mehr im Ariſtoteliſchen
Sinne Architektonik ſeyn. Das Chriſtenthum will die
Einzelnen umwandeln, die Familie reinigen, und laͤßt es
mit dem Staate darauf ankommen, wie er den Weg zur
Nachfolge finde. Inzwiſchen iſt es unmoͤglich, daß daſſelbe
nicht, weiter durchgebildet, auch gewiſſe Staatsformen vor-
ziehe als dem chriſtlichen Leben zuſagend, andere verwerfe
als das Gegentheil; nur daß alles Recht bei ihm den
Pflichten nachſteht, und es nur in ſoweit dem Rechte
nachfragt, als ſolches fuͤr die chriſtliche Freiheit nothwen-
dig iſt. Das Chriſtenthum ſtellt allerdings Menſchenrechte
auf, welche zu politiſchen Rechten der Gattung fuͤhren,
allein von natuͤrlichen politiſchen Rechten aller Indivi-
[53]Neuere Staatsverfaſſung.
duen im Staate iſt in ihnen nichts enthalten. Die zuerſt
aͤußerlich hervortretenden Reſultate waren: Misbilligung
des Sclaventhums, welches Menſchen als Sache behan-
delt, und Empfehlung barmherziger Armenverſorgung, beide
langſam durchdringend, aber von unermeßlichen Folgen.
Daneben arbeitete es in aller Stille an einem Zuſammen-
hange von Ueberzeugungen und Zuſtaͤnden, die uͤber den
einzelnen Staat hinausgingen, an einer buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft ſeiner Bekenner.


70. Der Entwickelungs-Gang der alten Verfaſſungen
war: Untergang des National-Koͤnigthums durch den
Adel, dann Untergang des Adels durch das Volk. Die
Volksfreiheit bildete ſich durch Verwandlung der Vielartig-
keit in eine Gleichartigkeit, welche den Staat aufloͤste.
Wo das nicht ſo kam, da trat, wie in Sparta, ſtatt der
Entwickelung Erſtarrung ein. Der Germaniſche Staat
nimmt einen andern Weg. Aus dem ruhenden Germani-
ſchen Volksgrunde treten Koͤnigthum und Adel nicht bloß
in endlich entſchiedener Geſtalt hervor, ſeit die Deutſchen
Eroberer werden, ſondern die Ariſtokratie erkennt auch die
Unentbehrlichkeit des Koͤnigthums. Die Lehnsverfaſſung
iſt aus einem den Staat urſpruͤnglich nicht angehenden
Kriegsdienſt-Verhaͤltniſſe der Gefolgſchaften, und, wenn
es gelungen war, aus einem Acker-Sold auf Ruͤckfall,
zur Grundlage der Staatsverfaſſung des Mittelalters ge-
worden. Sie machte Koͤnigthum und Ariſtokratie ſo noth-
wendig fuͤr einander, wie Feldherr und Kriegsheer es
ſind; in ihr fanden Sieger und Beſiegte zuerſt ihren
Frieden; die Verſammlung der Lehns-Großen, durch den
Zutritt der hohen Geiſtlichkeit doppelt gewaltig, ſetzte ſich
an die Stelle der wegen der Groͤße des Staats ohnehin
[54]Drittes Capitel.
nicht mehr moͤglichen Volksverſammlung, und als die Ge-
meinfreiheit endlich wieder zur Staatsgeltung durchbrach
durch die ihr vom Lehne gezogenen Schranken, da begehrte
ſie ſelber einer Volksverſammlung nicht mehr, ſondern trat
aus Staͤdten, deren Stolz das vom Alterthum geſchmaͤhte
Handwerk war, durch Abgeordnete heran; ja auch als dem
Bauer der Tag der Freiheit wieder leuchtete, ihm, der die
ſchwerſte Laſt der Staatsbildung getragen, war er es wohl
zufrieden, ſich dem Staate durch ein erwaͤhltes Mitglied
ſeiner Landgemeinde darzuſtellen.


71. Das Volk der Celten hatte ſeine große Zeit ſchon
gehabt, als die Germaniſche anfing, und ſein Familienleben
war von jeher zerriſſen und unedler. Das Germaniſche
Volksleben ſteht nicht bloß an ſittlicher Tiefe und Vielge-
ſtaltigkeit dem des Alterthums voran, es hat bei dieſer
Fuͤlle der nebeneinander gepflegten Formen des Daſeyns
auch der zur Einheit durchbildenden Kraft, welche dem
Ganzen ſeine Friſche und Bedeutung verbuͤrgt, nicht uͤberall
ermangelt. Davon giebt England das Zeugniß, deſſen
ehrwuͤrdiger Verfaſſungsbau uͤberall die Hand der Jahr-
hunderte an ſich traͤgt, und das, ſo oft Veraltung auch
ſchon drohte, doch immer die Staats-Jugend wiederzuge-
winnen weiß. Zwei Punkte ſind es, welche hier beſondere
Aufmerkſamkeit verdienen: die Stellung der Engliſchen
Ariſtokratie und der Organismus ſeines Parlaments.


Ariſtokratie von England.

72. England hat die ſtaͤrkſten Miſchungen ſeiner Be-
voͤlkerung erlitten und uͤberwunden, nicht durch Zuwande-
rungen, wie Athen und Rom, ſondern durch eine ganze
Folge uͤberſtandener Eroberungen. Celtiſche Britannier,
[55]Neuere Staatsverfaſſung. England.
dann Roͤmer, heidniſche und chriſtliche; die lange Herr-
ſchaft der Sachſen, heidniſcher und chriſtlicher; die kurze
der Daͤnen, ebenſo; endlich die Normannen.


Sieger ſtanden uͤber Beſiegten. Das Vaſallen-Schwert
mußte behaupten was es gewonnen hatte. Wilhelm der
Eroberer erſchuf ſich mit anderthalbtauſend Landguͤtern eine
ungeheure Krondomaͤne, und that ſie an Vaſallen aus,
gab ſeinen Großen hunderte von Landguͤtern, die dieſe
Kronvaſallen wieder austhaten an After-Vaſallen, Alles
um Kriegsdienſt. Der Vater des Lehns iſt der Krieg.
Lehndienſt fordert Mannlehen und Erſtgeburtsrecht, d. i.
Untheilbarkeit zu Gunſten des Erſtgeborenen. Dieſer
Lehnsgrundſatz durchdrang den ganzen Staat. Der Koͤnig
nennt ſich den Lehnsherrn des ganzen Grundeigenthums
im Reiche. Alles Grundeigenthum wird nach Lehnrecht
beſeſſen; es giebt keine Allode in England.


Das Roͤmiſche Erbrecht kennt keinen Vorzug der
Primogenitur. In anderen Staaten wandte man die Be-
ſtimmungen deſſelben auf das Grundeigenthum an, theilte
im Suͤden von Frankreich ſogar die Lehne nach Koͤpfen
und ließ ſie allmaͤhlig aus der geſammten Hand gehen.
In England verwarf man das Juſtinianeiſche Recht, weil,
ſagt man, es unumſchraͤnkte Fuͤrſtenherrſchaft lehrte und
dem Lehngeſetze widerſtritt.


Die Folge war faſt unbeweglicher Beſitz des Grund-
eigenthums in denſelben Familien, und vornehmlich ein
Zuſammenhalten deſſelben in gewaltigen Maſſen in den
Haͤnden der großen Barone, der weltlichen und der geiſt-
lichen; denn auch die letzteren waren mit ihrem Grund-
vermoͤgen dienſtpflichtige Lehnsleute. Alle andern Lehns-
leute ſtanden tief unter dieſen.


[56]Drittes Capitel.

73. Die Praͤlaten und großen Barone ſaßen in des
Koͤnigs Rath, parlement; ſie bildeten den Gerichtshof
des Koͤnigs, curia regis, theils verſammelt, theils die
Grafſchaften durchreiſend. Wenn Steuern noth ſind, und
ſie ſind uͤberall noth, wo nicht Provinzen, in der Roͤmer
Art, aushelfen, bringen die reiſenden Richter ſie in den
einzelnen Grafſchaften und Staͤdten auf. Ausnahmsweiſe
wurden Deputirte aus den Grafſchaften (Ritter von den
Einwohnern gewaͤhlt im J. 1254.) etwa zum Koͤnige be-
rufen, um in Zeiten des Dranges Beiſteuern zu geben.
Die Regel war eine Reihe von Privat-Vertraͤgen. Es
gab noch keine ſteuerbewilligende Verſammlung.


Im Jahre 1264 aber fuͤhrten die großen Baronen
Krieg mit ihrem auf Auslaͤnder bauenden Koͤnige Hein-
rich III. wegen gekraͤnkter Freiheit; der ſchwache Koͤnig
fiel mit ſeinem Erben gefangen in des Grafen von Lei-
ceſier, Simon von Montfort, Haͤnde. Da beruft im
naͤchſten Jahre der Sieger, um die uſurpirte Macht zu
ſichern, Deputirte aus Grafſchaften, Staͤdten und Flecken
zur Parlaments-Verſammlung. Dieſe Anordnung ward
dauernd, nachdem der aus der Gefangenſchaft befreite
Koͤnigsſohn die Krone wiederhergeſtellt hatte und als
Eduard I. herrſchte.


Die neue Verſammlung ward um der Steuern Willen
berufen, welche die Gemeinden, deren Organ die De-
putirten waren, bewilligen ſollten. Sie erſchienen nicht
aus perſoͤnlichem Rechte, wie die Mitglieder alter Volks-
verſammlungen, und die Verſammlung ihrer geiſtlichen und
weltlichen Lords. Kein Zweifel auch, daß ſie an Auftraͤge
ihrer Waͤhler gebunden, erſt im Verlaufe der Jahrhunderte
zu Vertretern, nach eigner freier Einſicht handelnd,
gediehen. Um ſo weniger iſt es zu verwundern, daß die
[57]Neuere Staatsverfaſſung. England.
Deputirten der Grafſchaften, mochten ſie ſich auch ritter-
lichen Standes ruͤhmen, ſich von den Lords entfernt und
zu den ſtaͤdtiſchen Abgeordneten hielten, mit welchen ſie
in gleicher Lage waren. Ober- und Unterhaus ſind gleich
unter Eduard I. geſchieden, und alle Steuern muͤſſen
vom Unterhauſe bewilligt ſeyn. Aber das Unterhaus
knuͤpft Bedingungen an ſeine Steuer-Bewilligungen, und
erlangt dadurch auch einen Antheil an der geſetzgebenden
Gewalt.


74. Mit der Bildung einer Wahlkammer im Parla-
ment, welche einen nothwendigen Antheil an der allgemei-
nen Geſetzgebung hat, hoͤrt das bloße Nebeneinander in
der Engliſchen Staats-Verfaſſung auf; die Staatsgewal-
ten treten in eine organiſche Verbindung. Dennoch wuͤrde
ein Verhaͤltniß, wie zwiſchen Siegern und Beſiegten, uͤbrig
geblieben ſeyn, wenn die durch das Unterhaus vertretenen
Gemeinden fortwaͤhrend die Laſt der Abgaben faſt allein
getragen haͤtten. Es verſchwand, ſeit 1) die Lords ſich
allen Steuern, directen und indirecten, unterwarfen, und
gleichwohl die Bewilligung der Steuern nach wie vor dem
Unterhauſe anheimſtellten, ſich lediglich die Rechte der all-
gemeinen Zuſtimmung vorbehaltend, ſeit ſie 2) alle Lehns-
rechte aufgaben, ſeit 3) der Koͤnig das Recht geltend
machte, Lords beliebig zu ernennen (1377.); 4) dadurch,
daß die juͤngeren Soͤhne der Lords ſich dem buͤrgerlichen
Leben und Gewerbe zu widmen anfingen, haͤufig auch als
Deputirte im Unterhauſe erſchienen. Endlich 5) hat die
Weisheit Koͤnig Wilhelms IV. mittelſt der Reform-Acte
vom Jahre 1832. den großen und gefaͤhrlichen Einfluß be-
ſeitigt, welchen die Lords bis dahin unmittelbar und mittel-
bar auf die Wahlen der Mitglieder des Unterhauſes uͤbten.


[58]Drittes Capitel.

Dergeſtalt blieb, nachdem das Lehnsweſen ſeine Be-
deutung in der Verfaſſung verloren hatte, weil der Kriegs-
dienſt vom Lehn aufhoͤrte, und nachdem Karl II. alle Lehen
in freie Erbzinsguͤter verwandelt hatte, uͤber die durch
Teſtament verfuͤgt werden durfte, die Paͤrie als eine rein
politiſche Inſtitution uͤbrig, als ein lebendiger Zweig der
Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts
ſtuͤtzend auf einem ungeheuren unveraͤußerlichen Grundver-
moͤgen, dem Ganzen zum Nutzen, keinem Stande zu Leide,
auch kein Selbſtgefuͤhl des Buͤrgerlichen verletzend, weil
die juͤngeren Soͤhne der Lords dem Buͤrger-Stande an-
gehoͤren, und die Geburt der Mutter eines Lords rechtlich
gleichguͤltig iſt.


75. Wie viel es aber fuͤr die Staatsverfaſſung und
den Volksfrieden bedeute, daß die Geburtsariſtokratie ihre
rechte und verſoͤhnende Stelle im Staate finde, ergiebt
ſich vollends unwiderleglich, wenn man die Geſchichte an-
derer Staaten, in welcher die Ausbildung des Adels einen
abweichenden Weg nahm, in die Vergleichung zieht.


Der Kampf, den in England manche Koͤnige gegen
die Kronvaſallen unternahmen, ſcheiterte dort an dem Zu-
ſammenhange ihres Widerſtandes und dem rein bewahrten
Grundcharakter des Lehnweſens. Die franzoͤſiſche
Krone machte ihre Angriffe im Einzelnen, untergrub das
Princip und kam zum Ziele. Schon die Kreuzzuͤge wur-
den zu dieſem Zwecke benutzt; man geſtattete dem Adel
Guͤter-Verkaͤufe zum heiligen Werke. Mehr that das
Eindringen Roͤmiſcher Rechtsgrundſaͤtze, die Zerſplitterung
des Grundeigenthums beguͤnſtigend. Im Suͤden des Rei-
ches, wo das Juſtinianeiſche Recht vorwog (pays du droit
écrit
), theilte man fruͤh die Lehne nach Koͤpfen; im Norden,
[59]Neuere Staatsverfaſſung. Frankreich.
wo das Roͤmiſche Recht nur als Huͤlfs-Recht galt (pays
de coutume
), fand zwar bis in’s achtzehnte Jahrhundert
eine gewiſſe Primogenitur ſtatt, indem der Haupttheil vom
Lehen (préciput) dem aͤlteſten Sohne zufiel und daneben
auch ein groͤßerer Theil vom ſonſtigen Vermoͤgen, aber die
Sitte der Theilungen nahm immer mehr zu, die juͤngeren
Soͤhne entzogen ſich der Lehnsfolge und der Antheil des
Älteſten ward verringert. So zerfiel der Lehnsdienſt durch
die verlaſſene Lehnsordnung, ehe er noch vor der veraͤnder-
ten Kriegsordnung veraltete. Je ſtaͤrker die Zahl der
Adlichen geworden war, um ſo geringer die politiſche Be-
deutung des Adels, je zertheilter die Grundſtuͤcke, um ſo
ſtrenger ward auf den Feudalrechten derſelben, auf ihrer
Steuerfreiheit gehalten. Mit dem Adel ſtimmte, wer gegen
eine Abgabe an die Krone ein adliches Grundſtuͤck erworben
hatte. Seit 1270. gab es auch Briefadel.


76. Auf den Reichstagen erſchienen zwei Staͤnde, die
hohe Geiſtlichkeit und als zweiter Stand die Beſitzer adlicher
Grundſtuͤcke, die den Adel ausmachten. Seit Philipp dem
Schoͤnen auch ein dritter, die Staͤdte (1302.). Ein
Reichstag von drei Curien kommt nie leicht zum Ziele,
die Staͤdte aber halfen gern die Macht des Adels vollends
ſtuͤrzen, der kein Staats-Princip mehr fuͤr ſich hat, und
den ſteigenden Staatsbedarf gegen ſich.


Die Krone hatte den Adel als Staatsgewalt (die ſich
auch gegen die Krone wenden konnte) folgerecht von Lud-
wig XI. bis auf Richelieu bekaͤmpft und endlich zerſtoͤrt;
ſie wuͤnſchte ihn indeß als Vormauer gegen die Anſpruͤche
des dritten Standes beizubehalten. Die Gerechtſame der
Staͤdte mußten vor den Angriffen einer auf Unumſchraͤnkt-
heit geſtellten Koͤnigsmacht fallen, waͤhrend dem Adel die
[60]Drittes Capitel.
Freiheit von den wichtigſten Staatsleiſtungen vergoͤnnt
ward, dabei eigene Gerichtsbarkeit und Polizey und man-
cherlei Lehnsherrlichkeit auf ſeinen Guͤtern; daneben unter
Ludwig XV. die ausſchließliche Hoffaͤhigkeit; die Frau des
Adlichen war nur dann hoffaͤhig, wenn ſie ebenfalls den
Geburts-Adel nachwies. Der Vortritt des Adels zu den
wichtigſten und eintraͤglichen Staats-Ämtern und Sinecu-
ren hatte laͤngſt factiſch beſtanden; Ludwig XVI. ließ ſich
uͤberreden zu verordnen, daß alle hoͤhere Officier-Stellen
vom Capitain aufwaͤrts dem Adel, alle groͤßere Pfruͤnden
den juͤngeren Soͤhnen des Adels vorbehalten ſeyn ſollen.


77. Als nun die Finanznoth einen Reichstag hervor-
rief, der in die Formen von 1614. gekleidet und von dem
Geiſte der Nordamerikaniſchen Freiſtaaten erfuͤllt war, ſah
der Adel ſich dem dritten Stande nur als eine unter-
druͤckende, uͤbervortheilende Inſtitution bekannt, und als
die Haupturſache des oͤffentlichen Elends. Der dritte
Stand, von den ungeſtuͤmen Wuͤnſchen der Hauptſtadt
unterſtuͤtzt, erklaͤrte ſich ſelber fuͤr die Nation. Die Natio-
nal-Verſammlung hob alle Steuervorzuͤge, alle Feudal-
rechte ohne Entſchaͤdigung, und in der Nacht vom 4ten
auf den 5ten Auguſt 1789. den Adel ſelber auf.


78. Man hat, als die heftigſten Stuͤrme der Revolu-
tion ausgetobt, den Adel durch einen Rath der Alten zu
erſetzen geſucht, man hat, zur Monarchie zuruͤckgekehrt,
ihn wiederherſtellen wollen. Denn es iſt wider die
natuͤrlichſten Wuͤnſche des Koͤnigthums, als die einzige
erbliche Berechtigung dazuſtehen. Napoleon ſchuf einen
Majorats- und Ehren-Adel; ohne Feudal-Druck,
aber auch ohne politiſche Macht. Ludwig XVIII. wollte
[61]Neuere Staatsverfaſſung. Deutſchland.
den Wunſch der Franzoſen nach Verfaſſungsrechten befrie-
digen. Um es mit Sicherheit thun zu koͤnnen, bedurfte die
Krone einer ariſtokratiſchen Macht. Der Koͤnig beſchloß,
nach dem Muſter Englands eine Kammer von erblichen
Paͤrs neben der Wahl-Kammer aufzurichten. Aber die fuͤr
eine wahre Paͤrie nothwendigen Beſtandtheile waren großen-
theils verſchwunden. Die meiſten Majorate blieben unge-
ſtiftet, weil kein großer unzertheilter Grundbeſitz vorhan-
den; es ward zum Theil davon dispenſirt; einige Paͤrs
wurden mit Staats-Renten dotirt, fielen mithin der Staats-
Caſſe zur Laſt; auch bloß lebenslaͤngliche Paͤrs wurden
ernannt. Dazu noch außer der Paͤrie ein zwiefacher Titu-
lar-Adel, ein Alt-Bourboniſcher und ein Napoleoniſcher.


Dieſe Paͤrie war nicht auf Realitaͤten, ſondern auf
Fictionen gebaut, die mit Huͤlfe der Zeit inzwiſchen zu
Realitaͤten haͤtten werden koͤnnen. Die Julius-Revolution
hat es unwahrſcheinlich gemacht, daß das geſchehe. Alle
vom entſetzten Koͤnige ernannten Paͤrs ſind auf einen
Schlag entſetzt. Die Erblichkeit der Paͤrie iſt abgeſchafft,
und das Recht der Krone, lebenslaͤngliche Paͤrs zu ernen-
nen, iſt auf gewiſſe Kategorieen beſchraͤnkt. Die Zukunft
wird zeigen, ob ein ſolches Kunſtgebilde der Paͤrie ſtark
genug iſt, einen ſelbſtaͤndigen Theil der geſetzgebenden Ge-
walt in einem großen und beweglichen Lande, wie Frank-
reich, auszumachen.


79. In Deutſchland hat der Adel weder den
Engliſchen Weg, noch den Franzoͤſiſchen genommen, ſondern
eine dritte ganz eigenthuͤmliche Richtung. Dem hohen
Adel von Deutſchland iſt die Deutſche Koͤnigskrone unter-
legen und er hat ſelber die Regierung an ſich genommen;
[62]Drittes Capitel.
nicht zwar als Geſammtheit; einzelne Haͤuſer deſſelben tru-
gen die Herrſchaft uͤber Theile des Deutſchen Reiches davon.
In dieſen ehemahls reichsfuͤrſtlichen Haͤuſern, welche gegen-
waͤrtig ſouveraͤne Haͤuſer des Deutſchen Bundes ſind, findet
Untheilbarkeit und Primogenitur ſtatt, im Princip der
alten Lehnsverfaſſung; aber der niedere Adel Deutſchlands
iſt hauptſaͤchlich deßhalb außer Stande an die leergewordene
Stelle des hohen zu treten und ein kraͤftiges Oberhaus in
den neugepflanzten Verfaſſungen zu bilden, weil er das
Lehnsprincip meiſt verlaſſen hat, der Primogenitur wenig
oder nichts einraͤumt, imgleichen den Adel auf alle Soͤhne
uͤbertraͤgt. Diejenigen Staaten, welche an zahlreichen
Standesherren einen hohen Adel haben, beſitzen in dem-
ſelben einige reale Elemente fuͤr die Ausſtattung eines
Oberhauſes, inſofern die Standesherren geneigt ſind, ſich
als Glieder der Geſammtheit zu betrachten und geltend zu
machen.


Das Parlament von Großbritannien.

80. Das Oberhaus hat durch die Schottiſche und
die Irlaͤndiſche Union von den Jahren 1707 und 1800 von
ſeinem rein politiſchen Charakter etwas verloren. Denn
die alten Paͤrieen der unirten Koͤnigreiche ſind nicht in das
Engliſche Oberhaus eingetreten; ſie ſenden bloß Deputirte
aus ihrer Mitte, in Schottland nur fuͤr ein Parlament,
in Irland auf Lebenslang gewaͤhlt. Die Paͤrie iſt mithin
inſoweit kein politiſches Erbamt mehr und der Koͤnig kann
dieſelbe nicht verleihen, außer inſofern er Schotten und
Irlaͤnder zu Engliſchen Paͤrs erheben kann. Eben ſo
iſt es mit den Irlaͤndiſchen Biſchoͤfen bewandt, von wel-
chen nur 4, fuͤr ein Parlament gewaͤhlt, im Hauſe ſitzen.
Seit der Roman catholic relief act von 1829, welche
[63]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.
katholiſche Prieſter bloß vom Unterhauſe ausſchließt, ſind
auch katholiſche Biſchoͤfe waͤhlbar.


Im Hauſe der Lords ſitzen gegenwaͤrtig:


  • Herzoge von koͤniglichem Gebluͤt 4.
  • Herzoge ........ 21.
  • Marquis ........ 19.
  • Grafen ........ 100.
  • Viscounts ....... 18.
  • Baronets ....... 181.
  • Schottiſche Wahl-Pairs ... 16.
  • Irlaͤndiſche lebenslaͤngl. Pairs . 28.
  • Engliſche Biſchoͤfe ..... 26.
  • Irlaͤndiſche Wahl-Biſchoͤfe .. 4.
  • Im Ganzen 417.

und zaͤhlt man die 12 Oberrichter von
England mit, welche eine bloß be-
rathende Stimme haben, .... 429 Mitglieder.


81. Das Unterhaus wird ſeit der Regierung des
Braunſchweigiſchen Hauſes auf 7 Jahre gewaͤhlt (1715.),
unbeſchadet der Koͤniglichen Macht es zu jeder Zeit aufzu-
loͤſen und ein anderes an die Stelle zu berufen. Seit
1829. ſind auch weltliche Katholiken waͤhlbar; die durch-
greifendſte Veraͤnderung iſt aber durch die Reform-Acte
vom Jahre 1832. bewirkt. Vor derſelben waren viele
wichtige Staͤdte des Reiches ganz ohne Wahlrecht, moch-
ten ſie es nun durch Nichtgebrauch (zu den Zeiten, da der
Beſuch des Unterhauſes weniger ein Recht als eine Steuer-
laſt bedeutete) verloren, oder wegen der Jugend ihrer Be-
deutendheit nie beſeſſen haben, dagegen beſaßen herunter-
gekommene Ortſchaften, zum Theil nur einzelne Haͤuſer
[64]Drittes Capitel.
mehr, das parlamentariſche Burg-Recht (parliamentary
boroughs
), gar nicht zu erwaͤhnen, daß Grafſchaften, wie
Lancaſter und York, von zuſammen 1 Million 800,000
Einwohner mit 4 Mitgliedern, nicht ſtaͤrker als Bedford-
ſhire von nicht 100,000 Einwohnern repraͤſentirt wurden,
ja nicht einmahl ſtaͤrker als Weſtmoreland, welches nur
35,000 Einwohner zaͤhlt. Dazu kommt, daß die Verfuͤ-
gung uͤber die Mehrzahl der Plaͤtze im Hauſe in den
Haͤnden der Lords und der Reichen und uͤberhaupt ſehr
weniger Individuen lag. Man rechnet, daß nicht allein
84 Perſonen, großentheils Paͤrs, die Waͤhler von 157 Mit-
gliedern waren, ſondern auch daß 180 andere Plaͤtze durch
den Einfluß von 70 Individuen, theils aus den Graf-
ſchaften, theils Mitgliedern ſtaͤdtiſcher Magiſtraturen, die
ſich durch Cooptation ergaͤnzen, beſetzt wurden, manchmahl
durch ein foͤrmliches Feilgebot 1). Man fuͤhrt an, daß
die Mehrzahl des Hauſes nur etwa 5000 Waͤhler hatte,
waͤhrend allein Weſtminſter deren uͤber 12,000 zaͤhlte. Und
neben dem Allen, und im aͤußerſten Widerſpruch damit,
eine ſo kleine jaͤhrliche Einnahme als Bedingung des Wahl-
rechtes, daß das Verhaͤltniß einem allgemeinen Stimmrechte
jedes Englaͤnders von 21 Jahren, der nicht ein Weib, ein
Geiſtlicher, ein Papiſt, wahnſinnig, ſtumm u. ſ. w. iſt,
ziemlich nahe kam. Denn ein Freilehn von 40 Schilling
reinem Einkommen genuͤgte in der Grafſchaft, und in den
Staͤdten galt entweder dieſelbe Bedingung, oder der Beſitz
eines Hauſes, oder auch nur eines Haushalts, oder es
war hinreichend, daß man zu den Gemeinde-Laſten bei-
ſteuerte. Fuͤr die Waͤhlbarkeit ward in den Grafſchaften
ein Einkommen von 600 Pfund aus einem Freigut, das
man ſchon ein Jahr beſeſſen haben muß, erfordert, in
Staͤdten und Flecken ein Freigut von 300 Pfund reiner
[65]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.
Rente. Nur die aͤlteſten Soͤhne der Lords, die man auch mit
dieſem Titel ſchon zu ehren pflegt, und die Deputirten
der Univerſitaͤten brauchten kein Vermoͤgen nachzuweiſen.



82. Die Reform-Acte vom Jahre 1832. 1) haͤlt
die allgemeine Bedingung des Einkommens aus Grund
und Boden feſt und aͤndert nichts an den Erforderniſſen
fuͤr die Waͤhlbarkeit; ſie trifft eine der Gegenwart ent-
ſprechende Vertheilung der Wahlrechte, und indem ſie die
verſchiedenen Arten des abhaͤngigen Grundbeſitzes herbeizieht,
erhoͤht ſie den Waͤhler-Anſatz; ſie ſtellt endlich die Waͤh-
lerliſten und die Wahlhandlung unter Aufſicht.


Zu dem Ende 1) verlieren 57 ſ. g. Burgen ihr Wahl-
recht, 30 andere Burgen werden auf die Wahl eines
Mitglieds beſchraͤnkt und dagegen 22 Staͤdte, darunter
Birmingham, Mancheſter, Leeds, Sheffield zu (parla-
mentariſchen) boroughs erhoben, mit dem Recht 2 Mit-
glieder zu ſchicken, 20 andere Staͤdte zu boroughs fuͤr
ein Mitglied. Viele alte Burgflecken werden mit Erwei-
terungen ihrer Wahlbezirke ausgeſtattet. 25 Grafſchaften,
deren jede bis dahin 2 Mitglieder ſtellte, zerfallen nun jede
in 2 Abtheilungen (divisions), die im Ganzen 4 Mitglie-
der ſenden ſollen, 2 aus jedem Wahlbezirk. 7 Grafſchaften
erhalten 3 Mitglieder, ſtatt fruͤherer 2. u. ſ. w.


2) Das Wahlrecht fuͤr die Grafſchaften iſt nicht
laͤnger auf den Beſitz eines Freilehns (freehold) beſchraͤnkt,
es werden Laß- und Erb-Meierguͤter (copyholds) zuge-
laſſen, fuͤr alle aber ohne Ausnahme iſt 10 Pfund reiner
Einnahme und der Beſitz eines Jahres (Erbfaͤlle ausge-
5
[66]Drittes Capitel.
nommen) die Bedingung. Unter derſelben Bedingung
werden auch Zeitpaͤchter (leaseholders) zugelaſſen, deren
Pacht-Contract auf mindeſtens 60 Jahre lautet; wenn nur
auf mindeſtens 20 Jahre, ſo geben 50 Pfund Einkom-
men das Wahlrecht. In den Staͤdten erhaͤlt daſſelbe
jeder Hausbeſitzer, der es ein Jahrlang geweſen und deſ-
ſen Haus jaͤhrlich 10 Pfund traͤgt; in ſolchen Staͤdten
und Orten, die zugleich Grafſchaften ſind (die Inſel
Wight wird durch die Reform-Acte zu einer ſolchen county
of itself,
getrennt von Southamton erhoben), ſollen die
Freilehnbeſitzer ebenfalls ſtimmen. Das ausſchließliche
Stimmrecht der Stadtraͤthe hat uͤberall, nahmentlich auch
in Schottland ein Ende, und in der beſonders fuͤr dieſes
Land erlaſſenen Acte ſind auch Miethsleute von 10 Pfund
zugelaſſen.


3) Niemand ſtimmt fortan, der nicht in der Waͤh-
lerliſte ſteht, welche in jeder Gemeinde von den Armen-
pflegern (overseers) alphabetiſch zu fertigen, mit ihren
Bemerkungen verſehen jaͤhrlich auszulegen und gedruckt
zum Beſten der Armen zu verkaufen iſt. Dieſe Liſten
ſollen ebenfalls jaͤhrlich unter Leitung der reiſenden Ober-
richter revidirt, Beſchwerden angenommen und verbeſſert
werden. Die Wahlbeamten (returning officers) haben
daher keine Unterſuchung anzuſtellen; bloß auf Erfordern
von Seiten eines der Waͤhler nehmen ſie ihm uͤber die
Identitaͤt ſeiner Perſon, oder daruͤber daß er nicht ſchon
anderswo oder ſchon einmahl hier geſtimmt habe, oder
daruͤber daß er die Eigenſchaften eines Waͤhlers wirklich
beſitze, eine Verſicherung, allenfalls auch einen Eid ab.



[67]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.

83. Das Unterhaus zaͤhlte vor der Reformacte 658
Mitglieder, wovon 513 auf England (489) und Wales
(24), 45 auf Schottland, 100 auf Irland kamen. In
der Geſammtzahl iſt, wiewohl es Anfangs in der Abſicht
lag, keine Veraͤnderung eingetreten. Im Unterhauſe ſitzen
jetzt, aus


  • Engliſchen Grafſchaften — — 143.
  • — Univerſitaͤten — — 4.
  • — Staͤdten und Flecken — 324.
  • 471.
  • Waͤliſchen Grafſchaften — — 15.
  • — Staͤdten und Flecken — 14.
  • 29.
  • Schottiſchen 30 Grafſchaften — 30.
  • — Staͤdten und Flecken — 23.
  • 53.
  • Irlaͤndiſchen 32 Grafſchaften — 64.
  • — Univerſitaͤten — — 2.
  • — Staͤdten und Flecken — 39.
  • 105.
  • im Ganzen 658. Mitglieder.

In die inneren Gruͤnde vieler Änderungen laͤßt die
folgende Tabelle blicken, welche bloß England (ohne
Wales) angeht 1).



5*
[68]Drittes Capitel.
[69]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.

84. Das heutige England krankt an ſeiner uͤbelgelun-
genen Kirchenverbeſſerung, ſeinen Armenlaſten, ſeiner Staats-
ſchuld, an den Veraltungen ſeiner Geſetzgebung im Privat-
und Strafrecht, ſeiner Colonial-Groͤße, ſeinem Irland;
allein ſeine Verfaſſungs-Organe waren nie gereinigter als
jetzt und ſie haben die Friſche ihrer Kraft bereits durch
erfolgreiche Angriffe auf mehrere dieſer Übel bethaͤtigt. Das
Engliſche Parlament hat ſein inneres Gleichgewicht gefun-
den, und einem klaren Verhaͤltniſſe deſſelben zum Koͤnigthum,
welches der Lehnsſtaat des aggregirenden Mittelalters nicht
recht aufkommen laͤßt, ſteht laͤnger nichts im Wege. Der
Schritt des Überganges zum mehr einheitlichen Staatswe-
ſen, wohin die Gegenwart draͤngt, iſt gethan und eine
Reihe von tief in die Verwaltung eingreifenden Umbildun-
gen kuͤndet ſich unabwendbar an, welche, wenn es uͤber-
haupt damit gelingt, keineswegs, wie befuͤrchtet wird,
der koͤniglichen Macht Abnahme droht, wol aber mancher
Koͤrperſchaft die Aufloͤſung ihrer Selbſtſtaͤndigkeit und
dem ganzen Gemeinde-Leben eine andere Stellung gegen
die Regierung verkuͤndigt. Das altſtaͤndiſche Mitregieren
und Mitverwalten, welches die ſtaͤndiſche Krankheit des
Mittelalters iſt, findet keine Staͤtte mehr; die Übereinſtim-
mung beider Kammern wird ſich der Regierung gegenuͤber
zu einer der Hauptſache nach moraliſchen Macht geſtalten,
die nur in dem Falle unwiderſtehlich iſt, wenn ſie von
dem Beifalle des aufmerkſamen Volks unterſtuͤtzt wird.
Das Parlament nannte ſich von jeher nur allmaͤchtig in-
ſofern der Koͤnig einen Theil deſſelben ausmachte und alle
drei Zweige der Geſetzgebung zuſammenſtimmten; aber es
wird von nun an mehr als je noch einer vierten Zuſtim-
mung aufhorchen. Wohl lag es in dem ganzen Bildungs-
gange der neueren Voͤlker, daß der Staat lange Zeit un-
[70]Drittes Capitel.
vermoͤgend war den Reichthum des Mittelalters an Lebens-
formen bis zum klaren Bewuſtſeyn der Mittel und Wege
zu durchdringen, durch welche Regierungs-Macht und
Volksfreiheit in eine Ehe ohne Scheidung treten. Daher
in ſo vielen landſtaͤndiſchen Geſchichten das Mistrauen der
auf Bedingung geſtellten Huldigungen (y si no, no), das
unmittelbare Eingreifen der Staͤnde in die auswaͤrtigen An-
gelegenheiten, in die Landes-Verwaltung, beſonders in
das Caſſenweſen und uͤberhaupt jenes im Ganzen mehr
Standes-, und Corporations- als Staats-Leben, welches
an Koͤrperſchaften und Gemeinden die Unabhaͤngigkeit ſtuͤck-
weiſe verleiht, an welcher der Staat darben muß, und un-
veraͤußerliche Staats-Gewalten an den Privat-Beſitz ver-
ſchleudert. Wenn England durch den eigenthuͤmlich orga-
niſchen Grund-Bau ſeiner Verfaſſung, und ſein bedeu-
tendes Leben nach Außen vielen dieſer Klippen gluͤcklicher
entging, ſo konnte es doch den großen Erfindungen nicht
zuvoreilen, welche erſt ſeit den letzten Menſchenaltern eine
volle Öffentlichkeit der Staatsverwaltungen moͤglich ma-
chen, und eine Volksverſammlung der Geiſter, die einzige
gegenwaͤrtig anwendbare, deren Lebensluft die raſche
Schrift-Verbreitung iſt, um die Staatsverfaſſung ver-
ſammeln.


Unleugbar ſind indeß der uͤberlieferten Beſtandtheile
wieder ſeit der Reformbill viel weniger geworden, und
hier iſt ein Gegenſtand der Sorge, aber die uͤbrig geblie-
benen ſind verſtandener, und ihre Zweckmaͤßigkeit verſpricht
zu erſetzen was die Gewohnheit verloren hat. Das Ver-
haͤltniß iſt zu jener ſittlichen Klarheit erhoben, in welcher
die Staͤrke der heutigen Verfaſſungen beruht. Die Regie-
rung wird fortan nicht mit einer uͤber dem Parlament
ſtehenden, weil die Wahlen beherrſchenden Parthey transigi-
[71]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.
ren; ſie will ſich mit einem Parlament verſtaͤndigen, deſ-
ſen beide Kammern jetzt gleichmaͤßig ihren Schwerpunkt
in ſich ſelber tragen. Wo aber die geſellſchaftlichen Ele-
mente jedes fuͤr ſich lebendig ausgebildet und im Ganzen
mit Bewuſtſeyn vereinigt ſind, da dringen nicht tief ein
die muͤſſigen Fragen, ob das Koͤnigthum nicht doch viel-
leicht eine entbehrliche Einrichtung ſey, und ob eine durch
Eroberung entſtandene Ariſtokratie rechtmaͤßig fort beſtehe,
eben ſo wenig als es den Staͤdten ſchadet, daß ſie faſt
uͤberall in die Vertretung ſich Anfangs wider die Regel
eingeſchlichen oder eingedrungen haben, nicht bloß in Eng-
land und in Frankreich, ſondern auch in Deutſchland waͤh-
rend der kaiſerloſen Zeit, nicht minder in Daͤnnemark, wo
ein Bruder- und Koͤnigs-Moͤrder ſie berief, zu geſchwei-
gen jenes in ſeiner Art einzigen Herganges, welcher ihnen
ſchon im Jahre 1134. die Reichsſtandſchaft in Arragonien
verſchaffte. Freilich wenn fortgeſetzte graͤnzenloſe Ver-
ſchwendung die Erbariſtokatie in machtloſe Armuth ſtuͤrzte,
wenn dann als Heilmittel der Verſuch einer bloß lebens-
laͤnglichen Paͤrie gewagt wuͤrde, von demſelben Augenblicke
an wuͤrden auch die Hoffnungen der radicalen Reformer
ſteigen, welche England mit einem jaͤhrlichen Parlament
und allgemeinem Wahlrecht, ohne Ruͤckſicht auf Vermoͤ-
gen bedrohen. Jede Staatsform aber iſt am Ende den
Staats-Sitten unterthan.


85. Nicht viel uͤber tauſend Mitglieder, in zwei Haͤuſer
vertheilt, wovon viele in der Regel abweſend, geſtatten
bei einem lebendigen Fuͤr und Wider der Berathung, ein
Eingehen in das Gewicht der Einzel-Fragen, woran bei
keiner Volksverſammlung zu denken iſt. Daß aber auch
die Entſcheidung weder uͤbereilt werde, noch zur rechten
[72]Drittes Capitel.
Zeit ausbleibe, dafuͤr ſorgt die Regierung und Verfaſſung
jedes Hauſes, welche in ſeinem Sprecher und in der
parlamentariſchen Regel ſich verkuͤndigt.


Jedes Haus hat ſeinen Vorſitzer, Sprecher. Ihn er-
waͤhlt fuͤr das Oberhaus der Koͤnig, herkoͤmmlich den
Groß-Kanzler; das Unterhaus erwaͤhlt ſich ſelber den ſei-
nen, der Koͤnig beſtaͤtigt. Er ſitzt den Mitgliedern des
Hauſes gegenuͤber, die im Unterhauſe gegen ihn gewendet
reden, ihn anreden; im Oberhauſe redet man die Kammer
an. Gleich bei Eroͤffnung des Parlaments bittet der
Sprecher des Unterhauſes den Koͤnig um Zutritt der Ge-
meinen zum Koͤnige, waͤhrend das Unterhaus ſitzt, um
die Freiheit der Rede im Hauſe, um Freiheit von Verhaft
fuͤr die Mitglieder, was der Koͤnig zugeſteht. Der Spre-
cher beſtimmt die Folge der zu berathenden Gegenſtaͤnde
und verzeichnet ſie in ein offenliegendes Protocoll, aus
welchem die jedesmahlige Tages-Ordnung ausgehoben
und an jedem Morgen gedruckt vertheilt wird; er be-
ſtimmt die Folge der Redner, wo ſie ſtreitig iſt, hat Acht,
ob die nothwendige Zahl von Mitgliedern (mindeſtens 40)
anweſend iſt, regelt die Abſtimmung, verweist zur Ordnung,
doch bleibt die Berufung an die Kammer frei. Überall
haͤlt er auf der Parlamentsregel und nimmt wo dieſe
ihn im Stiche laͤßt, die Parlamentsgewohnheit zu Huͤlfe.


86. Eine Bill, welche einmahl verworfen iſt, darf
in derſelben Sitzungs-Periode nicht wieder an das Haus,
von dem ſie ausgegangen und hernach verworfen iſt, ge-
bracht werden 1). Jede Bill wird vorher angekuͤndigt,
eine Privatbill bedarf dazu einer Bittſchrift (petition); zu
den Privatbills werden aber nicht bloß Angelegenheiten
einzelner Perſonen und Gemeinden, ſondern auch gemein-
[73]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.
ſame Privat-Anliegen mehrerer Grafſchaften gerechnet,
und es werden von dieſen gewiſſe Gebuͤhren (fees) an die
Beamten des Hauſes entrichtet 2). Eine public bill be-
darf allein einer muͤndlichen Ankuͤndigung (motion), die
mindeſtens ein Mitglied unterſtuͤtzt, um die Bahn anzu-
treten, welche durch fuͤnf gluͤcklich beſtandene Stationen
(v. Vincke) ſie zu einem Beſchluſſe (resolution) des Hau-
ſes erhebt. Die erſte, die der Einreichung, welche ſchriftlich
geſchieht, oft indeß mit offen gelaſſenen Stellen oder Blaͤt-
tern (blanks), wo die naͤheren Beſtimmungen vom Par-
lament erwartet werden. Sie wird hierauf, falls nicht
ſchon ihr Einbringen am uͤberwiegenden Widerſpruche ge-
ſcheitert iſt, zum erſten Mahle verleſen, Redner fuͤr und
wider kuͤndigen ſich an, ſie reden, duͤrfen aber nur ein-
mahl
reden, worauf der Sprecher eine Abſtimmung vor-
nimmt, nicht ob die Bill ſchon beſchloſſen ſeyn ſoll, ſon-
dern ob ſie ferner durch eine zweite Leſung in Erwaͤgung
zu ziehen. Er ſelber hat keine Stimme. Dann nach ge-
wiſſer Zeit die zweite Verleſung (mindeſtens des Titels;
denn ſie befindet ſich nun ſchon abgedruckt in jedes Mit-
glieds Haͤnden) und nach einem umſtaͤndlicher als das erſte
Mahl eintretenden Fuͤr und Wider die abermahlige Abſtim-
mung. Beſteht ſie auch dieſe dritte Probe, ſo wird ſie
einem Ausſchuſſe von mindeſtens acht Mitgliedern uͤberwie-
ſen (committed). Bei Sachen von großer Bedeutung
verwandelt ſich die ganze Kammer in einen Ausſchuß
(committee of the whole house). In dieſem Falle ver-
laͤßt der Sprecher ſeinen Stuhl, ein anderer Vorſitzer
(chairman) nimmt ihn ein; ſo lange dieſe demokratiſche
Form des Hauſes dauert, darf jedes Mitglied oͤfter ſprechen,
auch der Sprecher ſpricht, und es erweiſen in dieſer Aus-
ſchuß-Arbeit manche Mitglieder, die, weil ſie ohne Redner-
[74]Drittes Capitel.
Talent ſind, im Parlament nicht glaͤnzen, die nuͤtzlichſte
Thaͤtigkeit. Denn hier unterſucht das Haus die Bill
punktweiſe, macht Amendments; man fuͤllt die weißen
Stellen aus, haͤngt auf einzelnen Blaͤttern Zuſaͤtze (riders)
an. Hierauf nimmt das Haus wieder ſeine ſtrenge Form
an, der Sprecher ſeinen Sitz ein. Der Vorſitzer berichtet aus
dem Ausſchuſſe, legt das Protocoll (the coherence) des Aus-
ſchuſſes vor; die ganze Bill mit den Amendments wird bera-
then, uͤber die einzelnen Verbeſſerungen abgeſtimmt, und ſie
dann vollſtaͤndig in dieſer neuen Geſtalt unter Aufſicht
von zwei dazu eigens beſtellten Secretaͤren (clerks) von
den Schreibern des Hauſes (writing clerks) in aller
Form auf Pergament geſchrieben (ingrossed). Dem-
naͤchſt die dritte Verleſung; Ausnahmsweiſe kommen auch
nach derſelben noch Zuſaͤtze und beſchraͤnkende Clauſeln
vor; dann aber ſchließlich eine einfache Abſtimmung, indem
der Sprecher die Bill mit den angefuͤgten Blaͤttern in der
Hand haltend, fragt, ob ſie angenommen werde. Die
gebilligte wird dann, wenn die Bill vom Unterhauſe aus-
ging, von einigen Mitgliedern des Hauſes in das Haus
der Lords uͤberbracht. Man tritt an die Schranken, der
Sprecher des Oberhauſes erhebt ſich von ſeinem Wollſacke
und nimmt die Bill in Empfang. Hier beſteht ſie den-
ſelben Kreislauf der Verleſungen und wiederhohlten Be-
rathungen, wird, wenn verworfen, ſtill hingelegt, wenn
aber genehmigt, an das Unterhaus zuruͤckgeſendet, und
wenn einzelne Differenzen uͤbrig bleiben, ſo werden dieſe
gewoͤhnlich durch eine Conferenz von beiderſeitigen Com-
miſſarien abgethan. Iſt ſie von beiden Haͤuſern genehmigt,
ſo geht ihr Weg aus dem Oberhauſe an den Koͤnig, ob
er ſie billige oder verwerfe; nur Geldbills kommen ſtets
vom Unterhauſe an den Koͤnig.


[75]Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.


87. Die Weisheit dieſer Berathungsformen, deren
Bildungsſtufen aus den trockenen Quartanten John Hat-
ſells recht klar erhellen, und der hohe Grad ihrer Allge-
meinguͤltigkeit hat ſich auch außer ihrer Heimat und nicht bloß
in den Freiſtaaten von Nord-Amerika erprobt. Aus denſel-
ben verſuchte ſchon Mirabeau fuͤr ſeine National-Verſammlung
zu ſchoͤpfen, und die beſten Deutſchen ſtaͤndiſchen Geſchaͤfts-
Ordnungen kennen keine andere Quelle. Zwar iſt die Dis-
cuſſion im Parlament trotz der alten Satzung, welche
Fremden den Zugang wehrt und den Druck verbietet, laͤngſt
in volle Öffentlichkeit getreten und die Staͤrke der oͤffent-
lichen Theilnahme weiß einen großen parlamentariſchen
Moment dergeſtalt im Fluge feſtzuhalten, daß ſeine Be-
deutung uͤberall nachtoͤnt, aber das laͤngſt ausgetiefte Bette
der beſonnen zum Ziele fließenden Verhandlung wird nur
ſelten durch den Prunk theatraliſcher Rede uͤberſtroͤmt, wo
Maͤnner, die ein großes Vaterland an ihrem Theile groß
zu erhalten haben, ohne Rednerbuͤhne, ohne Coſtuͤm, ein-
fach von ihren Plaͤtzen reden; keiner ſo gewaltig, daß nicht
eine Groͤße ihm gegenuͤber ſtaͤnde. Das Gewicht der
Fragen, die neuerdings zur Loͤſung ſich draͤngen, laͤßt den
[76]Drittes Capitel.
Glanz der Rede, ja ſelbſt ihre Eleganz mehr und mehr
ihres Eindruckes verfehlen, die Aſiatiſche Fuͤlle ſelbſt eines
Edmund Burke wuͤrde jetzt nicht mehr die alte Wirkung
thun. Das geuͤbte Ohr, den Schein der Worte durch-
dringend, laͤßt allein die Gruͤnde eindringen und ordnet
ſie zur Überzeugung. Mit kuͤrzeren Reden werden dauern-
dere Siege erfochten und die Reſignation der Mehrzahl,
welche lieber ſchweigend mitarbeiten als den Fortgang der
vaterlaͤndiſchen Geſchaͤfte durch redſeligen Vorwitz ſtoͤren
will, entbehrt verdienter Anerkennung nicht.


[77]Viertes Capitel.

Viertes Capitel.
Von der Staats-Regierung.


88. In der Familien-Verfaſſung wohnt im Hausva-
ter der Beruf dieſe Verfaſſung nach Innen und Außen
geltend zu machen, das iſt die regierende Gewalt. Auch
im Staate muß ſie irgendwo wohnen, damit die Staats-
verfaſſung Leben habe. Kein Staat ohne Regierung.


89. Es liegt nicht in dem Begriffe der Regierung,
daß ſie in den Haͤnden einer einzigen phyſiſchen Perſon
liege. Da Regierung aber den Staat ununterbrochen be-
ſeelen muß, ſo iſt es wichtig, und zwar um ſo wichtiger,
je ausgedehnter der Staat iſt, daß ſie nur da wohne, wo
ſie fuͤr die Dauer wirken kann, alſo nicht bei einer in
langen Zwiſchenraͤumen thaͤtigen Volksverſammlung, und
uͤberhaupt nicht bei ſehr Vielen; weil viele Willensmeinun-
gen langſam und immer nur durch Mittel vereinigt wer-
den, welche das Gepraͤge der Zufaͤlligkeit an ſich tragen,
zumal in der fuͤr das Mahl beſiegten Minoritaͤt ſtets auch
eine fuͤr das Mahl nichtregierende Fraction der Regierung
erblickt wird. Waͤre man der rechten Richtung der Regie-
rung nur gewiß, ihr Nie-Ausbleiben und ihre Allgemein-
Verſtaͤndlichkeit wuͤrde beſſer durch ein ſterbliches Indivi-
duum als durch eine unſterbliche Koͤrperſchaft erreicht.


90. Am wenigſten aber darf der Platz der Regierung
wechſeln, es muß vielmehr in Bezug auf alle Regierungs-
Gegenſtaͤnde die letzte Entſcheidung an einem und demſel-
ben Orte ſeyn. Denn das waͤre keine Staatsverfaſſung
zu nennen, die dem Koͤnige etwa das Recht Krieg zu er-
klaͤren zuwieſe, dem Volk aber ganz fuͤr ſich ſelber das
Recht Frieden zu ſchließen, oder welche die Steuergeſetze
[78]Staats-Regierung.
in des Koͤnigs alleinige Hand legte, die uͤbrige Geſetzge-
bung allein in die der Staͤnde. Das waͤre Staatsaufloͤ-
ſung, in die Form der Verfaſſung gebracht.


91. In dem Begriffe der Staats-Regierung liegt,
daß nichts im Staate gegen ihren erklaͤrten Willen ſtraf-
los geſchehen koͤnne; denn ſie waͤre ſonſt unterthan in
Allem was ihr aufgedrungen wird. Aber es liegt nicht in
dem Begriffe der Regierung, daß ihre Willens-Erklaͤrung
an keine Regel gebunden ſey. Es kann vielmehr ihr Wille
durch Staatsgewalten beſchraͤnkt ſeyn, welche an der
Regierung keinen Theil haben.


92. Dieſe Beſchraͤnkungen nimmt die Staats-Regie-
rung durch die Anerkennung einer beſtimmten Regierungs-
form in ihren Willen auf. Eine Abweichung davon wuͤrde
den Unterthanen einen doppelten Willen, folglich einen ſich
widerſprechenden, folglich gar keinen Willen zeigen. Man
wuͤrde die Regierung ſuchen muͤſſen. Sie waͤre unver-
ſtaͤndlich geworden.


93. Die Regierung iſt mithin zwar nothwendig die
hoͤchſte Staatsgewalt (superioritas, Souveraͤnitaͤt), ver-
moͤge welcher in ihr die Unabhaͤngigkeit des Staats nach
Innen und Außen erblickt wird; keineswegs aber noth-
wendig die geſammte Staatsgewalt (absolutum im-
perium
παμβασιλεία).


94. Wo die geſammte Staatsgewalt der R egierun
beiwohnt, da iſt der Wille der Regierung Geſetz, vielleicht
auch der nicht erklaͤrte. Wo das nicht der Fall iſt, da
unterſcheiden ſich verſchiedene Thaͤtigkeiten der Staatsge-
walt, und es fragt ſich, wie beſchaffen und in weſſen
Haͤnden der Theil von ihnen ſeyn wird, welcher ſich nicht
[79]Viertes Capitel.
in den Haͤnden der Regierung befindet. Denn verſchiedene
Traͤger der Staatsgewalt ſind hiemit vorausgeſetzt.


95. Dieſer ſogenannten Staatsgewalten ſind zwei, die
ausuͤbende und die geſetzgebende Gewalt. Denn
die richterliche darf ſich ihnen nicht als dritte gleichſtellen
wollen, da ſie als Anwenderin bereits vorhandener Geſetze,
bloß uͤber deren concreten Inhalt entſcheidend, jenen bei-
den Staatsgewalten untergeordnet iſt.


96. Fragt es ſich nun um die Ausſtattung jener hoͤch-
ſten Staatsgewalt, deren Inhaberin die Regierung ſeyn
muß, ſo kann einmahl Regierung gar nicht anders gedacht
werden als im unmittelbaren und ungetheilten Beſitze der
ausuͤbenden oder That-Gewalt. Denn jede andere
Staats-Gewalt neben ihr waͤre ſonſt die beziehungsweiſe
regierende oder mitregierende, alſo auch-regierende. Da
aber die Regierung auch nicht regierte wenn ſie einen
fremden Willen bloß auszufuͤhren haͤtte, vielmehr dann re-
giert wuͤrde von einem maͤchtigeren Willen, der vielleicht
mit dem ihrigen ſtreitet, ſo muß ſie, um in ununterbroche-
ner Kraft zu leben, auch Inhaberin der geſetzgeben-
den
Gewalt in ſoweit ſeyn, daß ſie ihren Willen zu allen
Geſetzen giebt.


97. Darum darf uͤberall wo der Staat, die Aggre-
gate des Mittelalters uͤberwindend, ſelbſtbewust zur ein-
heitlichen Vollendung ſtrebt, keiner der Unterthanen einen
Antheil an der ausuͤbenden Gewalt haben, der, einerlei
von wo er ausgegangen, nicht unter Oberaufſicht der Re-
gierung ſtaͤnde. Aber das Recht der Unterthanen, als Mit-
Inhaber der geſetzgebenden Gewalt ebenfalls ihre freie Zu-
ſtimmung zu den Geſetzen zu geben, verletzt das Weſen
der Regierung nicht, ſtellt vielmehr ihre praktiſchen Erfolge
[80]Staats-Regierung.
ſicherer. Dieſer Unterthanen-Antheil an der Geſetzgebung,
in welcher Form denn auch geuͤbt, iſt Staatsgewalt,
weil er unabhaͤngig von der hoͤchſten Staatsgewalt ge-
uͤbt wird.


98. In Staaten von ſo getheilter Staatsgewalt wird
nicht allein der Genuß der buͤrgerlichen Freiheit erſtrebt,
welche Familien und Eigenthum unter den Schutz, wie
denn auch beſchaffener Geſetze ſtellt; ſie ſoll durch den hoͤ-
heren Grundſatz der ſtaatsbuͤrgerlichen Freiheit, welcher in
dem Antheile am Inhalt der Geſetze beſteht, verbuͤrgt wer-
den. Wie nun das ganze Reich der Sittlichkeit voll von
Freiheitsfragen iſt, welche mit einer gewiſſen Nothwendig-
keit ganzen Zeitaltern geſtellt ſind, ſo liegt auch dieſe Frage
der freieren und doch einheitlichen Staats-Ordnung noth-
wendig in der Bahn der Europaͤiſchen Menſchheit, und es
iſt vergeblich davon abzulenken, wie ſehr auch Unbedacht
und Frevel die wichtigſten Aufgaben entſtellen moͤgen.
Denn dieſe uͤberraſchende Gleichzeitigkeit im Baueifer fuͤr
veraͤnderte Verfaſſungen, welcher die Regierungen gleich
den Regierten ergriffen hat, beruht im tiefen Grunde doch
auf dem gleichzeitigen Nachlaſſen derjenigen Kraͤfte und
Formen, welche wie Klammern den Staat des Mittelalters
zuſammenhielten.


99. Der Pfeiler der Gewohnheit pflegt zu weichen,
wo allzuviel und lang auf ihm allein gebaut iſt, und wo
die unſtaͤtte Neuerung eine Weile gehaust hat, da ſind
die alten Grundformen des Staatskoͤrpers leicht nur nu-
meriſch mehr aufzuſtellen, beſchaffenheitlich verſchwunden
und neue Gewohnheiten ſchwer zu ſtiften. Die Erfahrung
aller Zeiten lehrt aber: Die Regierungsform eines
großen Staates muß, um Dauer zu haben, nicht

[81]Staats-Regierung.
aus gleichartigen, ſondern aus verſchiedenar-
tigen, ſo wenig als moͤglich aus kuͤnſtlich ge-
bildeten, ſo viel als moͤglich aus real vorhan-
denen Beſtandtheilen gebaut ſeyn
. Den Unter-
ſchied ſolcher zeigt ſchon der Gegenſatz: Praͤſident und
Koͤnig, Rath der Alten und erbliche Paͤrie, allgemeine
Volksverſammlung ohne Unterſchied der Perſonen und auf
den thaͤtigen Zuſtaͤnden baſirte Volksvertretung.


6
[82]Fuͤnftes Capitel.

Fuͤnftes Capitel.
Von der Staats-Regierung in der Form des
Koͤnigthums.


100. Wir ſagen Koͤnigthum, weil unter demſelben
ſeit lange die vollkommenſte Form fuͤrſtlicher Herrſchaft,
uͤber einen groͤßeren Staat gefuͤhrt, verſtanden wird. Die
Forderung des Koͤnigthums iſt 1) Erblichkeit der Regie-
rung im koͤniglichen Hauſe; 2) ein Inbegriff von Regie-
rungsrechten, welcher aus der ausuͤbenden Gewalt, ver-
bunden mit einem Antheile an der geſetzgebenden Gewalt
(der nicht kleiner ſeyn darf als der Antheil, welcher nicht
in koͤniglichen Haͤnden liegt) hervorgeht; 3) Reichthum;
4) Unverletzlichkeit und Unverantwortlichkeit.


Die Frage iſt, ob die Erfuͤllung dieſer Forderungen
mit einer guten Staatsordnung beſtehe.


Erblichkeit des Königthums.

101. Die Unterſuchung des Princips der Erblichkeit
ſetzt voraus, daß uͤber die im neuern Europa laͤngſt prak-
tiſch entſchiedene Frage: Ob die Regierung am beſten in
der Hand eines Einzigen und zwar auf Lebenslang ruhe?
ſchon bejahend entſchieden ſey. Man muß bereits erkannt
haben, daß eine dann und wann erſcheinende Volks-
oder Staͤnde-Verſammlung weder zur Selbſtherrſchaft noch
zur Oberaufſicht tauge, daß ein regierendes Collegium
(Vollziehungs-Rath, Directorium) niemahls eine Willens-
Einheit im Auge des Volks bilde, immer nur einen Par-
thei-Sieg darſtelle, der auch anders fallen koͤnnte. Dann
erſt kann es ſich darum handeln, ob vielleicht die Wahl
des Wuͤrdigſten zu verſuchen ſey, oder ob die Erblichkeit
an und fuͤr ſich einen Werth habe, wiewohl ſie auch den
[83]Das Koͤnigthum.
Unwuͤrdigen berufen kann, oder ob ſie etwa nur fuͤr die
ſchlechtere Volksnatur genuͤge, die den Staͤrkeren ſchon fuͤr
einen Beſſeren nimmt, da es ja Volks-Individuen geben
mag, die eben ſo nothwendig ſogar des Tyrannen beduͤrfen,
wie einzelne Menſchen des Kerkermeiſters. Ariſtoteles, der
das Koͤnigthum bedingungsweiſe hochhielt, gab dem Kar-
thagiſchen Wahlkoͤnigthum den Vorzug vor der Spartani-
ſchen Vererbung, wiewohl erſteres kaͤuflich geworden war 1).



102. Gegen die Wahl-Monarchie und ihre Ver-
heißung des wuͤrdigſten Mannes auf der hoͤchſten Stelle
ſpricht aber von allen Seiten die Unausfuͤhrbarkeit dieſer
Verheißung; weil 1) die Wahlhandlung, von wem ſie
auch ausgehe, nicht die Wuͤrdigkeit verbuͤrgt, nur die
Partheymacht des Gewaͤhlten. Auch die Wahlhandfeſte iſt
Partheywerk. 2) Weil die Wahl nicht einmahl ihres naͤch-
ſten Zweckes, uͤberhaupt einen Herrſcher aufzuſtellen, ſicher
iſt, da beſtrittene Wahlen haͤufig ſind. Geht die Ernen-
nung vom Herrſcher aus, wie Peter der Große wollte,
ſo iſt nicht einmahl verbuͤrgt, daß ſie uͤberhaupt geſchehe.
Peter’s letzte Worte, die er zu ſchreiben verſuchte, waren,
ſagt man: „Donnez tout à ......” 3) Weil inlaͤndi-
ſche Wahlen ein Reich mit Koͤnigshaͤuſern, zwietraͤchtigen
und habſuͤchtigen uͤberfuͤllen, auslaͤndiſche aber liebloſe
Herrſcher herbeifuͤhren und die Unabhaͤngigkeit gefaͤhrden.
4) Weil eine Verfaſſung nicht gut ſeyn kann, deren na-
tuͤrlicher Feind jeder Koͤnig als Familien-Vater iſt. 5)
Wegen des Zwiſchenreiches.


103. Fuͤr die Erblichkeit ſtreitet 1) ihr mit der
Familien-Ordnung uͤbereinſtimmender Charakter, der das
Koͤnigshaus zugleich zum Vaterhauſe macht, und ebendaher
6*
[84]Fuͤnftes Capitel.
2) die aus ihr fließende Sicherheit, Sicherheit des Thron-
beſitzes wegen des keinem Zufalle unterworfenen, von nie-
mand angezweifelten Rechtes einer tief in das Volk verwach-
ſenen, dabei hervorragenden Familie, Sicherheit auch nach
Außen, weil die in unſerm Welttheile vorwaltende Monarchie
die altherrſchenden Haͤuſer ſelber zu einer großen Familie
verknuͤpft hat, in welcher Republiken keine Aufnahme finden
koͤnnen. Sie laͤßt 3) heilſame Familiengrundſaͤtze hoffen
und eine gewiſſenhaftere Beobachtung der Verfaſſung auch
von Seiten des ſchlechteren Fuͤrſten; denn er wuͤrde nicht
die Satzungen fremder Koͤnige, ſondern die ſeiner Ahn-
herren uͤbertreten. 4) Die Erbherrſchaft iſt neidloſer, freier
von Eiferſucht, weil auf einer Hoͤhe ſtehend, die auch das
glaͤnzendſte Unterthanen-Verdienſt nicht erklimmen darf.
5) Sie iſt milder, weniger begehrend, weil ſie Macht und
Reichthum nicht zu begruͤnden, nur fortzuſetzen hat. Alles
zuſammengenommen: Die Erblichkeit hat das beſſere
Staatsprincip fuͤr ſich; in Abſicht auf perſoͤnliche Wuͤrdig-
keit ſteht ſie mindeſtens nicht ſchlechter als das Wahlreich.
So weit zwar waͤre keinenfalls zu gehen, daß wir ſagten:
„Es iſt bei einer vollendeten Organiſation nur um die
Spitze formellen Entſcheidens zu thun, und man braucht
zu einem Monarchen nur einen Menſchen, der „Ja“ ſagt
und den Punkt auf das J ſetzt; denn die Spitze ſoll ſo
ſeyn, daß die Beſonderheit des Charakters nicht das Be-
deutende iſt 1)“; auch bei der beſten Verfaſſung bleibt der
gute Fuͤrſt ein Segen des Himmels, und der ſchlechte wird
minder verderblich ſeyn. Im Allgemeinen aber haben die
Grundſaͤtze der Freiheit weit mehr die fortreißende Gewalt
großer Fuͤrſten, als die Gebrechen gewoͤhnlicher zu fuͤrchten.



[85]Erblichkeit des Koͤnigthums.

104. Wo aber Erblichkeit ſtattfindet, muß ſie, um
ihrer wohlthaͤtigen Wirkung nicht zu verfehlen, in vollem
Maaße wurzeln. Sie muß den ſchwankenden und unvoll-
kommenen Charakter ganz verlaſſen, welchen ſie im fruͤhe-
ren Mittelalter in ſo vielen Staaten und in Deutſchen
Fuͤrſten-Landen bis zur Einfuͤhrung der Primogenitur
trug. Es darf weder eine Theilung der Staats-Suc-
ceſſion, welche den Staat allen Zufaͤlligkeiten der Verer-
bung nach Haͤuptern preisgiebt, durch Landestheilungen
oder Option, noch eine gemeinſame oder theilweiſe gemein-
ſame (in Bezug auf gewiſſe Landestheile oder Claſſen von
Unterthanen) oder abwechſelnde Regierung ſtattfinden; auch
kein gewaͤhltes Oberkoͤnigthum eines Bretwalda, oder ein
ererbtes des aͤlteſten Bruders, wie bei den Burgundern;
auch kein Vorzugsrecht des im Koͤnigshauſe geborenen juͤn-
geren Sohnes, wie in Sparta, dergleichen auch Xerxes
Erhebung ſtuͤtzte, und die des erſten Deutſchen Otto faſt
verhindert haͤtte; geſchweige denn eine Auslooſung des
Stammhalters; durchaus auch kein Gleichrecht des Frauen-
Stammes. Die Erbfolge der Erſtgeburt im ungetheilten
Reiche muß nach dem ſtrengen Lehnsgrundſatze zu Gunſten
des Mannsſtammes eintreten, nach dem Alter der Linien
fortſchreiten, unverworren durch Majorat und Seniorat.


105. Nach dieſem Grundſatze der Untheilbarkeit und
Primogenitur vererbt die Krone in der Ordnung der reinen
Lineal-Erbfolge, folglich mit Repraͤſentations-Recht der
Enkel, im Mannsſtamme des regierenden Hauſes unter
Ausſchließung jeder weiblichen Thronfolge bis zum Ab-
gange aller Linien des Mannsſtammes.


106. Wenn der Mannsſtamm erloſchen iſt, ſo geht
die Thronfolge auf die weibliche Linie ohne Unterſchied
[86]Fuͤnftes Capitel.
des Geſchlechtes in der Maaße uͤber, daß ohne Ruͤckſicht
auf die Naͤhe der Verwandtſchaft mit dem Stifter des
Hauſes, alſo mit Ausſchluß jeglicher Regredient-Erbſchaft,
allein die Naͤhe der Verwandtſchaft mit dem zuletzt regie-
renden Koͤnige und bei gleichem Verwandtſchaftsgrade das
Alter der Linie, und in der Linie das perſoͤnliche Alter den
Vorzug giebt. Es tritt aber in der Deſcendenz des neuen
alsdann regierenden koͤniglichen Hauſes (femina finis fa-
miliae
) ſofort mit dem Rechte der Erſtgeburt und der
Lineal-Erbfolge auch der Vorzug des Mannsſtammes
wieder ein.


107. Der Grundſatz dieſer rein linealen Erbfolge
macht beſondere Verzichtleiſtungen der Prinzeſſinnen uͤber-
fluͤſſig; er erhaͤlt die Krone ſo lange als moͤglich dem
regierenden Hauſe, waͤhrend jede Beguͤnſtigung weiblicher
Erbfolge dieſelbe bei noch beſtehendem Mannsſtamme in
eine andere Familie zu bringen droht (wie in England)
und eben dadurch den Staat leicht gefaͤhrdet. Es wird
aber, wenn an dem Ende der ganzen Familie eine Frau
ſteht, dieſe nach Deutſchem Herkommen billig fuͤr ihre
Perſon nicht ausgeſchloſſen; obwohl in Frankreich das ſo-
genannte Saliſche Geſetz eine ſolche Ausſchließung verordnet.


108. Die Rechte eines Mitglieds des koͤniglichen
Hauſes haͤngen zunaͤchſt von ſeiner ehelichen Geburt ab.
Man hat in neuerer Zeit die Guͤltigkeit jeder von einem
Mitgliede des regierenden Hauſes geſchloſſenen Ehe außer
den ſonſtigen Bedingungen des Eherechts noch an die
Einwilligung des Koͤnigs geknuͤpft, welcher als Vater der
ganzen regierenden Familie betrachtet wird. So ſeit 1772.
in England, doch mit der Clauſel, daß, ſobald ein Mit-
glied des Hauſes das fuͤnfundzwanzigſte Jahr zuruͤckgelegt
[87]Erblichkeit des Koͤnigthums.
hat, ſeine Ehe auch ohne des Koͤnigs Genehmigung guͤltig
iſt, wenn daſſelbe ſie zwoͤlf Calender-Monate vor dem
Abſchluſſe dem koͤniglichen Geheim-Rathe angezeigt und
das Parlament vor dem Ablaufe derſelben keinen Einſpruch
gethan hat. Die Deutſchen Hausgrundſaͤtze gehen indeß
viel weiter und erheiſchen neben der buͤrgerlichen Guͤltig-
keit und der (in den neuen Hausgeſetzen) unbedingt gefor-
derten landesherrlichen Genehmigung noch die Ebenbuͤrtig-
keit der Ehe. Denn was fuͤr den niedern Deutſchen Adel
alte Satzung wenigſtens beziehungsweiſe fordert, die Eben-
buͤrtigkeit der Mutter, ſteht fuͤr den hohen regierenden
(ehemals reichsſtaͤndiſchen) Adel als Bedingung des Ein-
trittes feſt, von welcher die Deutſchen Kaiſer ſeit dem
Jahre 1742. erklaͤrt haben einſeitig nicht abgehen zu wol-
len. Demgemaͤß iſt innerhalb der Deutſchen Bundes-
Staaten als ebenbuͤrtig jede Ehe zu betrachten, welche
Mitglieder ſouveraͤner Haͤuſer unter einander, oder mit
ebenbuͤrtigen Mitgliedern derjenigen Haͤuſer ſchließen, welche
laut Artikel 14. der Deutſchen Bundes-Acte den Souve-
raͤns ebenbuͤrtig ſind.


109. Die ſchwache Seite des Erb-Syſtems ſind die
Regentſchaften, mag ihre Urſache die Unmuͤndigkeit des
Koͤnigs oder irgend ein Misgeſchick ſeyn, welches ihn an
der Selbſtherrſchaft verhindert, als Gefangenſchaft, ſchwere
Krankheit, die den Koͤrper oder Geiſt trifft. Jede Regent-
ſchaft iſt von mancherlei Übeln begleitet, aber auch die
Regierung von Knaben iſt es, zumahl von vierzehn-
jaͤhrig unumſchraͤnkten. Darum darf der Zeitpunkt der
Muͤndigkeit des naͤchſten Thronfolgers nicht wider die Na-
tur verfruͤhet, aber auch um des Staatszweckes Willen,
nicht ohne Noth verſpaͤtet werden. Seit die goldne Bulle
[88]Fuͤnftes Capitel.
Art. VII. §. 40. den Kurfuͤrſten das zuruͤckgelegte achtzehnte
Lebensjahr fuͤr ihren Regierungs-Antritt vorſchrieb, iſt
dieſes in den groͤßeren Staaten von Deutſchland geſetzlich,
die uͤbrigen Prinzen des Hauſes pflegt das vollendete ein-
undzwanzigſte Jahr, oder (gemeinrechtlich und reichsgeſetz-
lich) das fuͤnfundzwanzigſte Jahr muͤndig zu ſprechen.


Das naͤchſte Anrecht auf die Regentſchaft hat derjenige
Agnat, welcher der Thronfolge am naͤchſten ſteht, inſofern
der letzte Koͤnig nicht eine andre Regentſchaft auf den Fall
ſeines Ablebens verordnet hat. Jede Regentſchaft, außer
derjenigen, welche eine Folge der Unmuͤndigkeit iſt, bedarf
der foͤrmlichen Übertragung, mag dieſe nun vom regieren-
den Koͤnige ausgehen, der vielleicht fuͤr ſich ſelber waͤhrend
einer Abweſenheit ſolche beſtellt, oder von einem Familien-
Rathe der Agnaten, welcher vom Staats-Miniſterium be-
rufen, zufoͤrderſt die Thatſache, daß der Koͤnig außer Stand
die Regierung zu fuͤhren ſey, conſtatirt, und demnaͤchſt
unter Zuſtimmung der Reichsſtaͤnde ſowohl fuͤr die Perſon
des Koͤnigs Familien-Sorge traͤgt, als auch die Regent-
ſchaft dem berechtigten Familien-Mitgliede uͤbergiebt.


110. Gewiſſe Koͤrperfehler, welche zwar den Geiſt
nicht truͤben, aber den Koͤrper verhindern, das Werk des
Geiſtes zu vollbringen, als Verluſt der Augen, des Ge-
hoͤrs, koͤnnen eine Mit-Regentſchaft, unter nur theilweiſer
Übertragung der Regierungsgewalt, herbeifuͤhren. Aber
auch die Entlegenheit einzelner Gebiete kann einen koͤnig-
lichen Stellvertreter fordern, welcher mit limitirten Voll-
machten vom Koͤnige beſtellt wird.


111. Da vom Rechte zu beſitzen kein Schluß auf
das Recht zu erwerben ſtattfindet, ſo laͤßt ſich mit der
Unverlierbarkeit der koͤniglichen Wuͤrde fuͤr das Individuum,
[89]Erblichkeit des Koͤnigthums.
von welchem die Faͤhigkeit, die bereits angetretene Regie-
rung zu fuͤhren, gewichen iſt, ſehr wohl die Ausſchließung
eines entſchieden unfaͤhigen Prinzen vom Antritte der Krone
vereinigen, gleichwie ſolche in verſchiedenen Hausgeſetzen,
alten und neuen (nur nicht den neueſten) und auch in der
goldnen Bulle Cap. XXV.1) fuͤr Deutſche Cur-Lande
nur zu unbeſtimmt, vorgeſchrieben iſt. Eine Ausſchließung
der Art wuͤrde jedenfalls vom regierenden Koͤnige nach ge-
haltenem Familien-Rathe und mit deſſen Zuſtimmung aus-
gehen muͤſſen, und nur in dem Falle eintreten duͤrfen,
wenn außer dem Staats-Miniſterium die Staͤndeverſamm-
lung des Koͤnigreiches die Richtigkeit der Thatſache aner-
kannt hat. Der ausgeſchloſſene Prinz duͤrfte ſich nur
morganatiſch vermaͤhlen. Iſt derſelbe bereits vermaͤhlt, ſo
hat die zur Zeit der Ausſchließung ſchon geborene Deſcen-
denz deſſelben Anſpruch auf die Staats-Succeſſion.




112. Eine Veraͤnderung in der Ordnung der Thron-
folge kann nur mit Einwilligung ſaͤmmtlicher betheiligten
Mitglieder des koͤniglichen Hauſes, unter Vertretung der
noch unmuͤndigen, ſtatt haben. Nicht minder muß die
Staͤnde-Verſammlung einwilligen. Willkuͤhrliche Änderun-
gen und ungewiſſe Verhaͤltniſſe ſind fuͤr eine abſolute Re-
gierung doppelt gefaͤhrlich, wie die Geſchichte der Pyrenaͤi-
ſchen Halbinſel zeigt, die Geſchichte der Cimbriſchen, wenn
nicht vorgebeugt wird, vielleicht zeigen mag.


Die königlichen Rechte.

113. Der Koͤnig beſitzt vermoͤge der Regierung die
geſammte vollziehende Gewalt, und wie er ſchon auf die
Berathung der Geſetze einigen Einfluß uͤbt (Ernennung von
Paͤrs; koͤnigliche Mitglieder), ſo kommt kein Geſetz ohne
des Koͤnigs Zuſtimmung zu Stande.


114. Er allein iſt Verkuͤndiger der Geſetze.


115. Er hat das Recht, ohne Weiteres auf dem
Grunde der beſtehenden Geſetze Verordnungen zu erlaſſen,
welche zur vollſtaͤndigen Ausfuͤhrung der Geſetze dienen;
auch trifft der Koͤnig vermoͤge der ihm zuſtehenden Ober-
aufſicht, wo das Wohl des Staats Eile erfordert, ohne
Mitwirkung der Staͤnde geſetzliche Verfuͤgungen (Ordon-
nancen), und legt dieſe erſt hintennach den Staͤnden zur
verfaſſungsmaͤßigen Zuſtimmung vor. Die in ſolchen Ver-
fuͤgungen enthaltene Abaͤnderung in den Geſetzen darf
[91]Die koͤniglichen Rechte.
demnach keine Abaͤnderung im Grundgeſetze des Staats
enthalten.


116. Der Koͤnig ordnet die auswaͤrtigen Verhaͤltniſſe
ohne Mitwirkung der Staͤnde, außer inſofern eingegangene
Verbindlichkeiten Finanzmittel in Anſpruch nehmen. Der
Koͤnig vertritt ſeinen Staat im Staatenkreiſe, ernennt Ge-
ſandte, bevollmaͤchtigt ſie; empfaͤngt die Geſandten fremder
Hoͤfe, ſchließt Vertraͤge und Buͤndniſſe, erklaͤrt Krieg und
beendigt ihn durch einen Frieden.


117. Darum iſt auch Land- und See-Macht von
ihm abhaͤngig; jede Vertheidigungs- und Ruͤſtungs-Maas-
regel geht von ihm aus; er beſtellt die Officiere. Die
Militaͤr-Verfaſſung ſey an geſetzliche Beſtimmungen ge-
knuͤpft, aber ein Parlament, welches die Kriegsmacht be-
fehligt, iſt der Krone Sturz.


118. Der Koͤnig iſt als Haupt des Staats auch
Schirmvogt der Kirche, und uͤbt uͤber die Proteſtantiſchen
Glaubensgenoſſen die Kirchengewalt, inſofern er ſelber Pro-
teſtant iſt. So liegt auch in ſeinen Haͤnden die Sorge
fuͤr das geſammte Unterrichtsweſen.


119. Der Koͤnig beruft die Staͤnde-Verſammlung
und hat das Recht ſie nach Gefallen zu vertagen, zu
entlaſſen und aufzuloͤſen. Permanente Staͤnde-Verſamm-
lungen ſind der Krone Sturz. Die aufloͤſende Regierung
befragt, indem ſie neue Wahlen verordnet, die Meinung
des Landes uͤber den Gegenſtand, welcher die Urſache der
Aufloͤſung war.


120. Das Veto des Koͤnigs, der Staͤnde-Verſamm-
lung gegenuͤber ausgeſprochen, iſt nicht bloß aufſchiebend
[92]Fuͤnftes Capitel.
(veto suspensif), ſondern von unbedingter Guͤltigkeit. Den
Koͤnig in den Fall ſetzen, daß er ein von den Staͤnden
vorgeſchriebenes Geſetz bloß zu verkuͤndigen und auszufuͤh-
ren hat, heißt ein Koͤnigthum ohne Macht gruͤnden, wel-
ches Koͤnig William III., von dem die Bluͤthenzeit der
Engliſchen Verfaſſung datirt, die ſchlechteſte aller Regie-
rungen nennt. Die Conſtitution von 1791. (Mirabeau
wollte es anders), die der Cortes, die heutige Norwegi-
ſche geben eine ſolche fuͤr die beſte aus.


121. Der Koͤnig hat vermoͤge des Oberaufſichtsrech-
tes (suprema inspectio) uͤber die innere Sicherheit des
Staates, des Eigenthums und der Perſonen, die Polizey-
Gewalt. Sie wird in ſeinem Namen ausgeuͤbt, aber an
geſetzliche Beſtimmungen geknuͤpft.


122. Die richterliche Gewalt geht vom Koͤnige aus
und wird von Richtern in des Koͤnigs Namen mittelſt
Anwendung der beſtehenden Geſetze ausgeuͤbt. Auch kehrt
die peinliche Gerichtsbarkeit durch das koͤnigliche Recht der
Begnadigung von der Hand der Richter in des Koͤnigs
Hand zuruͤck.


123. Der Koͤnig iſt der Quell der Staats-Ämter
und aller Ehren, Gnaden und Wuͤrden, die der Staat
verleiht.


124. Alle Mitglieder des koͤniglichen Hauſes ſind der
beſonderen Aufſicht und perſoͤnlichen Gerichtsbarkeit des
Koͤnigs unterworfen, uͤberall jedoch nach Maasgabe haus-
geſetzlicher Vorſchriften, welche, erwachſen aus der alten
Autonomie der fuͤrſtlichen Haͤuſer, den Inhalt des Privat-
fuͤrſtenrechtes
bilden. Der unveraltete Inhalt ſolcher
Hausvertraͤge pflegt in unſern Tagen gern (in der Art der
[93]Der koͤnigliche Reichthum.
Staatsgrundgeſetze, welche das, was ehedem fuͤr einzelne
Faͤlle geſchah, ein fuͤr allemahl leiſten wollen) in ein alle
Verhaͤltniſſe umfaſſendes Hausgeſetz zuſammengefaßt zu
werden, welches dann unter Einwilligung der Betheiligten
und, ſoweit es dieſe angeht, der Staͤndeverſammlung in
Wirkſamkeit tritt. Dieſe allgemeinen Hausgeſetze raͤumen
insgeſammt dem Staats-Oberhaupte einen Zuwachs von
Macht uͤber die Mitglieder ſeines Hauſes ein, und entſpre-
chen ſo den Forderungen des einheitlicheren Staates. In
den Deutſchen Bundes-Staaten geht derſelbe ſchon daraus
nothwendig hervor, daß ſeit dem Untergange des Deut-
ſchen Kaiſerthums alle nichtregierende Prinzen ſtatt unmit-
telbar unter Kaiſer und Reich zu ſtehen, der Staats-
Hoheit und Landesgerichtsbarkeit unterworfen ſind.


Der koͤnigliche Reichthum.

125. Die urſpruͤngliche Quelle des fuͤrſtlichen Privat-
Haushalts und nicht minder des fuͤrſtlichen Staats-Haus-
halts waren die Domaͤnen, welche man mit gleichem Rechte
landesherrliche Guͤter und Staatsguͤter nennt. Der Fuͤrſt
nahm, was er fuͤr Haus- und Hofhalt gebrauchte, aus
Domaͤnen und Regalien, wies ein Gewiſſes den Mitglie-
dern des Hauſes an; den Reſt verzehrte der Staatshaus-
halt. Steuern wurden, wo es gebrach, als Zuſchuß erbeten.


126. Der hausvaͤterliche Charakter trat zuruͤck, ſeit-
dem die Steuern Hauptſache wurden, er entwich vollends
in Folge der eingefuͤhrten Erſtgeburt. Ubi primogenitura,
ibi apanagium
. Die von glaͤnzenden Hoffnungen in eine
weite Ferne der Erfuͤllung zuruͤckgewieſenen juͤngeren Soͤhne
verlangten fuͤr die Opfer, welche ſie der aͤlteſten Linie
brachten, fuͤr das was ſie aufgaben, beſtimmte und ver-
[94]Fuͤnftes Capitel.
buͤrgte Zuſagen uͤber das, was ihnen bleiben ſoll. Wo
uͤberdieß die Domaͤne, arg verſchleudert, taͤglich mehr zu-
ſammenſchwand, nicht einmahl fuͤr den Bedarf des regie-
renden Hauſes ausreichte, da war es einer von Steuer-
Bewilligungen abhaͤngigen Krone am Ende ſelber recht,
ſichere Geldeinkuͤnfte ſtatt der Domaͤnen fuͤr beſtimmte mit
den Staͤnden vereinbarte Zwecke jaͤhrlich zu beziehen, Pri-
vatguͤter von Erſparniſſen zu haͤufen und eine koͤnigliche
Privatverlaſſenſchaft von dem Zubehoͤr der Staatsverlaſſen-
ſchaft, der dem Thronerben zufaͤllt, gruͤndlicher als bisher
abzuſcheiden. Man kam damit in England, freilich ſehr
unvollkommen, zu Stande, indem man eine Menge von
Staatsausgaben, den Aufwand fuͤr die ganze Civil-Ver-
waltung mit dem Privat-Aufwand in Verbindung bleiben
ließ. Die ganze dafuͤr ausgeſetzte Summe hieß civil list.
Aber dieſe Vermiſchung heterogener Zwecke ließ es zu kei-
ner Pruͤfung des wahren Bedarfs kommen, und rief eine
Menge außerordentlicher Zuſchuͤſſe hervor, bis endlich unter
der gegenwaͤrtigen Regierung (1831.) eine voͤllige Abſchei-
dung des civil government und Unterſtellung deſſelben
unter die Controle des Parlaments, Abſcheidung auch der
Penſionen der Bruͤder des Koͤnigs bewirkt iſt. Die der-
geſtalt entlaſtete ſ. g. Civil-Liſte iſt fuͤr des Koͤnigs Re-
gierung auf 520,000 Pfd Sterling feſtgeſetzt. Eine wohl-
geordnete Civil-Liſte ſoll demgemaͤß lediglich fuͤr die Haus-
und Hofhalts-Koſten beſtimmt ſeyn, welche aus dem
Hausſtande des Koͤnigs, der Koͤnigin und der unerwachſe-
nen koͤniglichen Kinder hervorgehen. Das ganze Apanagen-
Weſen iſt ausgeſchloſſen. Die Schloͤſſer, Forſten, Biblio-
theken, Silbergeraͤthe ꝛc., die dem Koͤnige als ſolchem ge-
hoͤren, fallen mit ihren Unterhaltungskoſten der Civil-Liſte
zur Laſt, ohne in die Privat-Erbſchaft uͤberzugehen. Der
[95]Der koͤnigliche Reichthum.
Betrag der Civil-Liſte mag zu Anfang jeder Regierung
fuͤr deren Dauer mit den Staͤnden vereinbart werden, wie
in England und Frankreich, oder auch ein fuͤr alle Mahl
geordnet werden, wie in den Deutſchen Bundes-Staaten,
ſo daß die Mehrbewilligung den Staͤnden offen bleibt,
nicht aber die Herabſetzung; ganz verwerflich aber bleibt
immer, ſie nach Vorſchrift der Norwegiſchen Verfaſſung
von Jahr zu Jahr feſtzuſetzen, ein ſchimpflicher Zuſtand
des erſten Hausweſens im Reiche, den kein Privatmann
ertragen wuͤrde. Auf Rein-Einkuͤnfte von ausgeſchiedenen
Domaͤnen geſetzt, wie im Koͤnigreiche Hannover, geſtaltet
die Krondotation ſich koͤniglicher, wird aber koſtſpieliger.
Freilich darf die Wohlfeilheit der Herrſchaft nicht der lei-
tende Geſichtspunkt ſeyn. Die letzten Merovinger waren
apanagirte Koͤnige. Es hat Deutſchland ungeheuer viel
gekoſtet, daß ihm ſein Kaiſer zuletzt ſo wenig koſtete —
13,884 Gulden 32 Kreutzer an ordentlichen Einkuͤnften,
wozu die Juden das Meiſte gaben 1).



127. Die nachgeborenen Kinder des koͤniglichen Hau-
ſes haben ihr Recht auf einen Theil der Staats-Succeſ-
ſion, vermoͤge der Primogenitur, aufgegeben und allein das
Recht auf das Ganze uͤbrig behalten. Darum duͤrfen die
Abfindungen das Werk der Primogenitur nicht wieder ver-
nichten, duͤrfen nicht in Landestheilen mit gewiſſen Hoheits-
rechten (Paragien, wie die Novemb. 1834. wieder heim-
gefallene Heſſiſche Quart), noch uͤberhaupt in liegenden
Gruͤnden ertheilt werden, ſondern allein in Geld, und
zwar, mit Ausnahme der Mitgaben, in einer Geldrente.


128. Die Apanagen-Ordnung kann aus einem zwie-
fachen Geſichtspunkte getroffen werden; ſie kann die Linien
[96]Fuͤnftes Capitel.
dotiren, und dergeſtalt die Apanagen in den Erbgang
bringen, bis ſie mit dem Erloͤſchen einer Linie der Staats-
Caſſe verfallen, oder ſie ſtattet die Individuen des Hauſes
aus, jedes nach ſeinem Standesverhaͤltniß im Hauſe, aber
die Apanage haftet an der Perſon, kommt nicht in den
Erbgang. Jedes von dieſen Syſtemen hat ſeine ſchwache
Seite. Die Erb-Apanagen koͤnnen durch Theilung ſo
klein werden, daß ſie fuͤr den fuͤrſtlichen Bedarf nicht aus-
reichen; der individuellen Apanagen koͤnnen dagegen, vor-
zuͤglich wenn ſie ſich bei der Heirath verdoppeln 1), ſo viele
werden, daß ſie die Staats-Caſſe zu ſchwer belaſten. Das
Correctiv des einen Syſtems iſt die Feſtſetzung eines Mi-
nimum, unter welches keine Apanage ſinken darf, das des
andern ein Maximum aller Apanagen-Betraͤge, nach deſſen
Erreichung verkleinerte Apanagen eintreten. Der Grundſatz
der Vererbung entſpricht den lebendigen Verhaͤltniſſen
und den alten Familien-Ordnungen, er ſcheint indeß eini-
ger Modificationen zu beduͤrfen. Jedenfalls ſind 1) fuͤr die
erwachſene Deſcendenz des regierenden Koͤnigs, ſo lange
ſie es iſt, bloß Jahrgelder auszuſetzen. 2) Die Erb-Apa-
nage (dahin lautet ſchon die beſſere alte Regel) 2) vererbt
nicht weiter, als auf die maͤnnliche Deſcendenz des Prinzen,
fuͤr welchen ſie urſpruͤnglich ausgeſetzt iſt. 3) Das Wittum,
wo ein ſolches ſtattfindet, pflegt aus der Haͤlfte der Apanage
des verſtorbenen Gemahls zu beſtehen. 4) Fuͤr die Toͤchter
des Koͤnigs und des Kronprinzen allein werden Jahrgelder
(Deputate) ausgeſetzt, fuͤr andere Prinzeſſinnen nur im
Falle des Bedarfs. 5) Wenn eine Apanage durch den
Erbgang unter ein gewiſſes Minimum ſinkt, findet ein
Zuſchuß bis zu einer beſtimmten Hoͤhe ſtatt. — Allge-
meine Regel iſt: Wo eine Civil-Liſte beſteht, ſind die
Apanagen aus der Staats-Caſſe zahlbar. Was zu den
[97]Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.
Zeiten der Domanial-Kraft Sache zwiſchen dem Landes-
herrn und ſeinen Familien-Mitgliedern war, iſt jetzt auch
Sache zwiſchen dieſen und den Staͤnden geworden. In-
zwiſchen darf das Quantum der Apanage und der Zeit-
punkt ihres Eintritts nicht zum Nachtheile der Berechtigten
feſtgeſetzt werden.




Die koͤnigliche Unverletzlichkeit und
Unverantwortlichkeit
.

129. Der Koͤnig wird zwar in Abſicht ſeiner Privat-
verbindlichkeiten vor den Landesgerichten Recht geben und
nehmen 1) und eben dazu auch die Mitglieder ſeines Hau-
ſes verpflichten; allein das Strafrecht koͤnnte des Koͤnigs
Perſon nicht treffen, ohne mit der koͤniglichen Wuͤrde die
Regierung ſelber zu verletzen. Der Koͤnig wird in eben
dieſem Betracht ſich das Strafrecht uͤber die Mitglieder
ſeines Hauſes, unter Zuziehung eines Familien-Rathes,
vorbehalten.



130. Auch die Unverletzlichkeit des Koͤnigs, die
Unverantwortlichkeit ſeiner Regierungshandlungen iſt im
Koͤnigthum und zunaͤchſt ſchon in ſeiner Lebenslaͤnglich-
keit enthalten. Regieren und verantwortlich ſeyn, gleich-
zeitig gedacht, ſind Widerſpruͤche; nun erſcheint fuͤr den
lebenslaͤnglichen Herrſcher der Zeitpunkt ſeiner Verantwort-
lichkeit vor Menſchen nimmer. Wo aber bleibt der Schutz
der mit den Staͤnden verabredeten Geſetze, wenn niemand
hernach fuͤr ihre Verletzung einſteht? wo der Schutz vor
der rohen Gewalt, die leicht dem verletzten Geſetz zu
Huͤlfe eilend, Übel auf Übel haͤufen und den Thron er-
ſchuͤttern moͤchte? Politiſche Erfahrung hat hier einen
Ausweg gefunden. Ein Gericht kann uͤber Regierungs-
handlungen dadurch allein ergehen, daß ein Unterthan die-
ſelben ſich zu eigen macht und ihre Verantwortung auf
eigene Gefahr uͤbernimmt. Darum muß in jedem Staate,
welcher zwiſchen dem Willen des Fuͤrſten 1) und dem Ge-
ſetze unterſcheidet, der nothwendigen Forderung der fuͤrſt-
lichen Macht, daß ſie einen Antheil an der Geſetzgebung
habe, die ebenfalls nothwendige Forderung der geſetzlichen
Freiheit gegenuͤber ſtehn, daß der Herrſcher Miniſter an-
ſtelle, welche fuͤr die Geſetzmaͤßigkeit jeder Regierungs-
maasregel buͤrgen. Alle koͤniglichen Befehle muͤſſen ver-
[99]Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.
faſſungsmaͤßig, nach Maasgabe ihres Inhalts, von einem
Miniſter, oder mehreren, oder allen mitunterzeichnet (con-
traſignirt) ſeyn; nicht bloß um die Ächtheit zu bezeugen;
die Unterzeichneten ſind fuͤr ihren Inhalt verantwortlich.



131. Als Miniſter (Miniſterial-Vorſtaͤnde) ſind daher
allein diejenigen Staatsbeamten zu betrachten, zwiſchen
denen und dem koͤniglichen Willen kein anderer Wille ſteht.
Sie duͤrfen ihre Unterſchrift, ohne welche der koͤnigliche
Wille keine Vollziehung hat, verweigern, und muͤſſen daher
berechtigt ſeyn, zu jeder Zeit zu reſigniren. Der Koͤnig
aber kennt keine Schranken in der Wahl und Entlaſſung
ſeiner Miniſter; ein Miniſterium, das dem Koͤnige geſetzt
wird, oder das er, einmahl gewaͤhlt, nicht wieder aͤndern
darf, heiße es Hausmeyer oder Reichs-Rath, iſt Mit-
Koͤnig.


Daß der Koͤnig auch ein Miniſterium, welches die Majoritaͤt
im Parlament hat, entlaͤßt, woruͤber die November 1834. ent-
laſſenen Miniſter klagen, faſt als ob es wider die Conſtitution
ſey, duͤrfte ſeit der Reform-Acte wol oͤfter vorkommen.


132. Die Verantwortlichkeit der Miniſter iſt theils
politiſch, theils ſtrafrechtlich. Die erſtere iſt von
unbeſchraͤnktem Umfange. Die freie Preſſe ruft die Hand-
lungen der Miniſter taͤglich vor den Richterſtuhl der oͤffent-
lichen Meinung; ſie beſchraͤnkt ſich nicht auf die Ruͤge
von Geſetzwidrigkeiten, ſie nimmt Alles auf, was, gethan
oder unterlaſſen, mit der oͤffentlichen Wohlfahrt ſtreitet.
Die ſtaͤndiſchen Verſammlungen aller Art noͤthigen den
Miniſtern auf jedem Schritte ihrer Bahn Rechenſchaft,
Verantwortungen uͤber ihr Verfahren, ihre Grundſaͤtze und
Abſichten ab. Bittſchriften aus dem Volk, aus den
7*
[100]Fuͤnftes Capitel.
Staͤnden koͤnnen Beſchwerdefuͤhrungen uͤber die Miniſter
an den Thron bringen. Durch das Alles knuͤpft ſich an
das Amt der hoͤchſten Unterthanen-Macht Muͤhſal und
mannigfacher Wechſel; Mistrauen im Volk, Misfallen des
Koͤnigs, innere Uneinigkeit koͤnnen ein Miniſterium ſtuͤrzen,
ohne daß von einer peinlichen Anklage derſelben durch
Unterthanen und ihrer Verurtheilung die Rede iſt. Sollen
die Miniſter als ſolche angeklagt werden duͤrfen, ſo darf
doch weder jeder aus dem Volk Anklaͤger ſeyn, noch
jedes Gericht die Anklage annehmen. Dreierlei iſt noth:
ein Gerichtshof, eine Vorſchrift uͤber die Procedur, und
die allgemeine Verzichtleiſtung des Koͤnigs auf Begnadi-
gung, und wo Abolition ſtattfindet, auch auf Abolition
fuͤr dieſen Fall.


133. Die Amtsthaͤtigkeit der Miniſter geht den gan-
zen Staat an; waͤhrend untergeordnete Beamte nur ein-
zelne Theile ergreifen und verletzen koͤnnen, und in der
Hauptrichtung Diener eines fremden Willens ſind. Kein
Wunder daher, daß man die Miniſter als in hoͤherem
Grade juriſtiſch verantwortlich betrachtet; verantwortlich
nicht bloß fuͤr die Geſetzlichkeit, ſondern auch fuͤr die
Zweckmaͤßigkeit ihrer Handlungen. Dennoch hat es lange
gedauert, ehe man ſelbſt in England den rechten Weg zur
Ausfuͤhrung fand. Als Koͤnig Eduard III. ſeine eigenen
Miniſter durch Anklage vor dem Schatzkammergericht ver-
derben wollte (1341.), brachte ihn der Widerſtand des
Parlaments zu dem Zugeſtaͤndniß, daß ein Paͤr, auch
wenn er Miniſter, nicht anders als im vollen Parlament
und von ſeinen Standesgenoſſen, gerichtet werden duͤrfe 1).
Das Haus der Gemeinen gewann mit der Zeit das Recht
der Miniſter-Anklage, das Haus der Paͤrs, als hoͤchſter
[101]Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.
Gerichtshof, that den manchmahl blutigen Spruch, aber
es gehoͤrten noch eigene Erfahrungen dazu (Lord Danbys
Proceß, 1678., der des Koͤnigs Begnadigung eventuell
ſchon in der Taſche hatte), bevor man inne ward, daß
jede Miniſter-Anklage illuſoriſch ſei, wenn nicht die Krone
ein fuͤr alle Mahl auf Begnadigung in ſolchem Falle
Verzicht leiſtet. Das geſchah durch dieſelbe Acte, welche
das Haus Braunſchweig auf den Thron berief (act of
settlement
. 1701.) 2). Allein auch Erfahrungen anderer
Art fanden Eingang. Man lernte einſehen, daß keine
Geſetzgebung dem Drange aller Umſtaͤnde gewachſen iſt,
daß die Thatſache manchmahl den Miniſter uͤber das Geſetz
hinausreißen muß. Darum war man indeß weit entfernt,
die alten Freiheitsbriefe, welche die Suspenſion der Geſetze
verbieten, aufzuheben, weit lieber ließ man der eingeſtan-
denen Überſchreitung hinten nach Strafloſigkeit angedeihen;
das Parlament genehmigte die von den Miniſtern erbe-
tene bill of indemnity3). Nur hat die Oppoſition ſtets,
und namentlich im J. 1807., gefordert, ſolche Ausnahmen
muͤßten uͤberhaupt ſelten vorkommen, duͤrften keinen Fun-
damental-Satz der Verfaſſung angehn, ihre Nothwendig-
keit fuͤr die Sicherung des Gemeinwohls muͤſſe jedes Mahl
nachgewieſen werden, und daß dieſe Nothwendigkeit nicht
durch die Miniſter verſchuldet ſey 4). Im uͤbrigen uͤber-
laͤßt man den Theoretikern die Frage, ob das Miniſterium
ſolidariſch hafte, ſowie den Alterthumsforſchern die andere
Frage, ob nicht eigentlich der Geheimerath haften ſolle,
nicht das Cabinets-Miniſterium (Hallam). Niemand zwei-
felt dort gegenwaͤrtig an der Verantwortlichkeit der Mini-
ſter, und man achtet eine Beſchraͤnkung des Anklagerechtes
des Unterhauſes nicht fuͤr noͤthig, weil man an muͤßiger
Anklage weder Freude, noch Zeit dazu hat. Auch iſt die
[102]Fuͤnftes Capitel.
perſoͤnliche Rachſucht aus den Staatsgeſchaͤften entwichen.
So wichtig es ferner iſt, daß nie im Parlament der Per-
ſon des Koͤnigs nachtheilig gedacht werde, das Volk iſt
nicht das Parlament; es laͤßt ſich ſein Recht der morali-
ſchen Zurechnung nicht nehmen, und weiſe duldet die Krone
ſelbſt einige Ungebuͤhr. Denn am Ende, wo kein Zorn,
da iſt keine Liebe, und dicht neben dem Koͤnige, dem auch
nicht das Geringſte zur Laſt gelegt werden darf, ſteht,
und wie leicht iſt die Verwandlung! der ungeliebte Koͤnig,
das dem abſtracten Denker allein verſtaͤndliche unperſoͤnliche
Geſpenſt des Herrſcherthums. Die beruͤhmte politiſche
Paroͤmie: The King can do no wrong, verkuͤndet zwar
einen großen Wendepunkt des Staatslebens, deutlicher noch,
als die Primogenitur. Ganz gewiß hat nun Blackſtone
Recht, wenn er behauptet, dieſer Satz ſey nicht um des
Koͤnigs, ſondern um des Staats Willen aufgeſtellt 5),
aber wenn die Individualitaͤt des Herrſchers auch zuruͤck-
tritt vor dem Staate, ſo wird ſie doch ſo wenig gleich-
guͤltig, als durch den politiſchen Spruch der Franzoſen:
Der Koͤnig ſtirbt nicht, das Leben des regierenden
Koͤnigs es wird. Wir wollen nicht, wie unſere alten
Vorfahren thaten, die Schuld des ſchlechten Wetters, der
Miserndten, des ausbleibenden Heerings, der Peſten auf
die Koͤnige des Landes ſchieben, aber wir beduͤrfen, gleich
unſern Vorfahren, eines Koͤnigs, der perſoͤnliches Leben
hat, der ſein Urtheil uͤber Staatsſachen in der Wahl ſei-
ner Rathgeber an den Tag legt und die Fuͤlle von Macht
der Gnade und des Reichthums zu gebrauchen weiß, uͤber
deren Verwendung zwar die oͤffentliche Meinung, aber
keine Anklage der Miniſter wacht 6).








134. In Frankreich nahm die Charte Ludwigs XVIII.
das Engliſche Verfahren zum Vorbilde (Act. 33. 55. 56.),
[104]Fuͤnftes Capitel.
nur daß die Franzoͤſiſche Paͤrskammer von Anfang her
zu ſchwach fuͤr einen Staatsgerichtshof war, und ſeit der
Juli-Revolution, da man nach ſchon angekuͤndigter An-
klage der Miniſter des entthronten Koͤnigs die 93 Paͤrs
ausſtieß, welche Karl X. ernannt hatte, und die Paͤrie
durchaus lebenslaͤnglich machte, iſt vollends jeder Vergleich
mit England nichtig. Die Paͤrie wird nicht freizuſprechen
wagen, wo eine einige Deputirten-Kammer anklagt.
Unter dieſen Umſtaͤnden waͤre vielleicht die beſte Auskunft
geweſen, die Anklage auf die Übereinſtimmung beider
Kammern zu beſchraͤnken, die Entſcheidung aber außer der
Kammer zu verlegen, wie ſchon in der Verfaſſung von
1791. geſchehen war (Kap. V. Art. 23.), weil der geſetz-
gebende Koͤrper nicht Anklaͤger und Richter zugleich ſeyn
durfte. Man hat es nicht gewollt, und bemuͤht ſich ſtatt
deſſen ſeit zwanzig Jahren, die Gegenſtaͤnde der Anklage
juriſtiſch zu beſchraͤnken. Schon die Charte Ludwigs XVIII.
verſpricht ein Geſetz fuͤr die Procedur und die Definition
von trahison und concussion, auf welche die Anklage be-
ſchraͤnkt wird. Aber die Miniſter Karls X. ſind gerichtet
und verurtheilt vor dem Erſcheinen dieſer Definitionen
(poena sine lege). Der Entwurf iſt vor der letzten Re-
volution ausgearbeitet (von Pasquier), ſeitdem umgearbei-
tet, und ungeachtet auch die Verfaſſung von 1830. das
Geſetz verlangt, doch wieder liegen geblieben. Er begreift
unter Verrath alle Handlungen, die die aͤußere und
innere Sicherheit des Staats vorſaͤtzlich verletzen (die Ver-
faſſung, den Koͤnig, die Thronfolgeordnung, die Rechte
des Koͤnigs und der Kammern), unter Concuſſion die
Erhebung nicht bewilligter Steuern, Veruntreuung oͤffent-
licher Gelder, Beſtechung, Theilnahme an Lieferungen
zum Privatvortheil des Miniſters; es wird aber die
[105]Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.
Praͤvarication (Pflichtvergeſſenheit) hinzugefuͤgt, welche
jede verſchuldete Gefaͤhrdung des gemeinen Wohls begrei-
fen will. Neuerdings (1. Dec. 1834.) iſt ein ſolcher Ge-
ſetzentwurf von dem Großſiegelbewahrer Perſil, fruͤher als
Commiſſaͤr der Deputirten-Kammer Anklaͤger jener Mini-
ſter, als abermahls veraͤndert angekuͤndigt 1); zu gleicher
Zeit ein Geſetz uͤber die Verantwortlichkeit der Regierungs-
beamten. Denn freilich, ſollen die Miniſter fortfahren, fuͤr
Thun und Laſſen ihrer Beamten in jedem Sinne verant-
wortlich zu ſeyn, ſo muͤſſen dieſe es wieder den Miniſtern
durch unbedingte Abſetzbarkeit ſeyn; und ſollen die Mini-
ſter fuͤr Alles, was in der Verwaltung geſchieht, einſtehen,
ſo muß die ganze Verwaltung in den Haͤnden koͤniglicher
Beamten ſeyn. Es war aus dieſem Grunde unmoͤglich
fuͤr das Miniſterium Martignac, eine Gemeinde-Ordnung
vorzuſchlagen, welche den Commuͤnen die freie Wahl ihrer
Maires uͤbergeben haͤtte.



135. Bei ſolcher Lage der Verhaͤltniſſe iſt es ohne
Zweifel wohlgethan, daß in den Deutſchen Bundes-Staa-
ten die Miniſter-Anklage von beiden Kammern beſchloſſen
wird (mit Ausnahme Wuͤrtembergs, §. 195.) und daß ein
hohes Landesgericht insgemein zu unterſuchen und zu ent-
ſcheiden hat. Freilich will man in den Koͤnigreichen Wuͤr-
temberg und Sachſen den Verſuch mit einem eigenen
Staatsgerichtshofe machen, zu welchem der Koͤnig die
Haͤlfte aus den hoͤheren Gerichten, die andere Haͤlfte die
[106]Fuͤnftes Capitel.
Staͤnde, doch keine ſtaͤndiſche Mitglieder, erwaͤhlen ſollen.
Wenn aber ein ſtehender Gerichtshof ſolcher Art beabſichtigt
wird (und dahin ſprechen ſich beide angefuͤhrte Verfaſſungs-
urkunden aus), ſo hieße das viele Menſchen-Kraft ver-
geuden fuͤr einen vielleicht in Menſchenaltern nicht vor-
kommenden Zweck, und Wenigen moͤchte eine ſolche jede
ſonſtige Thaͤtigkeit gefaͤhrdende Stellung zuſagen; wenn
ein fuͤr den eingetretenen Fall zu errichtender, ſo iſt der
Partheiſucht bei der Wahl der Richter Thuͤr und Thor
geoͤffnet. Das Begnadigungsrecht iſt in den meiſten Deut-
ſchen Verfaſſungen fuͤr dieſen Fall verzichtet. Die Anklage
muß nach der Beſtimmung der Bayriſchen und Hannover-
ſchen Verfaſſung auf die abſichtliche Verletzung der Ver-
faſſung gerichtet ſeyn, womit dem Rechte der Beſchwerde-
fuͤhrung nichts entzogen iſt.


Ganz abnorm ſteht inzwiſchen die Verfaſſung des Koͤ-
nigreiches Niederland da, welche die Unverantwortlichkeit
des Koͤnigs nirgend ausſpricht, nirgend die Verantwort-
lichkeit der Miniſter, und Act. 179. Klagen gegen
den Koͤnig
(auf perſoͤnliche Verantwortung?) annimmt
und an den Obergerichtshof verweist. Und dieſe Verfaſ-
ſung iſt das Werk des regierenden Koͤnigs. In ſtarkem Ge-
genſatze will die Belgiſche Verfaſſung vom 25. Febr. 1831.
Art. 134. (Dispositions transitoires) mit Miniſter-An-
klagen ſchon verfahren, ehe noch das Geſetz, welches ſie
regeln ſoll, erlaſſen iſt. Denn bis dahin beſitzt die Re-
praͤſentanten-Kammer eine willkuͤhrliche Gewalt (pouvoir
discrétionnaire
) der Anklage, der Caſſationshof der Ent-
ſcheidung; die ſchwerſte Strafe aber ſoll Gefaͤngniß ſeyn.


136. Die Anklage der Miniſter iſt das aͤußerſte Mittel
des Widerſtandes, ich nenne es das Schwert der Staͤnde;
[107]Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.
ſie duͤrfen es nicht leichtſinnig ziehn, nicht wie ein Rap-
pier zu Fechterſtreichen brauchen. Die wirkſamſte Verant-
wortlichkeit wird geraͤuſchlos taͤglich gehandhabt von einem
auf ſein Gemeinweſen aufmerkſamen Volke; ſie erhebt
ihre Stimme in der Preſſe, in der jaͤhrlichen Pruͤfung der
Staͤnde, verſtaͤrkt ſie in der Beſchwerdefuͤhrung. Aber
auch das Recht der ſtaͤndiſchen Anklage iſt ein weſentlicher
Theil des neueren Staatsrechtes, und gewaͤhrt, praktiſch
dargeſtellt durch den im Sinne jeder Verfaſſung gewaͤhl-
ten Gerichtshof, das Geſetz fuͤr die Procedur und den
koͤniglichen Verzicht, gerade fuͤr den Miniſter den unſchaͤtz-
baren Vortheil, daß er ſich, auf ſeine Verantwortlichkeit
geſtuͤtzt, verfaſſungswidriger Schritte weigern kann, fuͤr
das Volk den Schutz der Verfaſſung ohne Erſchuͤtterung
des Throns, fuͤr das unverantwortliche Haupt neben der
Unverletzlichkeit eine ernſte Mahnung an die ewigen Grund-
lagen des Guten und Rechten, welche die unſichtbaren
Traͤger aller Herrſchaft ſind.


137. So offenbart ſich in der Probe der verſchieden-
ſten Zeiten und Verhaͤltniſſe, welch eine tiefſinnige Ver-
faſſung die Monarchie iſt. Sie baut nicht auf die perſoͤn-
lichen Gaben des Fuͤrſten und traͤgt auch ſo den Preis
davon. Wohl iſt aus dem Patrimonial-Koͤnige ein Staats-
Koͤnig geworden, ſeit der Erſtgeborene nicht um ſeinet-,
ſondern um des Staates Willen vor ſeinen Bruͤdern er-
hoͤhet ward, und es tritt die Idee eines Gemeinweſens,
in welchem der Staat ſein Selbſtbewußtſeyn ſucht, uͤber den
Koͤnig hinaus; wohl ſtreiften die erſten Strahlen der kalt
und blutig aufgehenden Staats-Sonne ſchauerlich an die
Gewaͤnder der alten Majeſtaͤt, allein die Geſchichte hat
gerichtet, und, ſichtend zwar, wiederaufgerichtet. Die
[108]Fuͤnftes Capitel.
Mehrzahl des Volks bedarf zu allen Zeiten dieſer verſtaͤnd-
lichſten gemuͤthvollſten aller Regierungsweiſen, und un-
zaͤhlige Mahle hat ſich an die alte Treue fuͤr ein ange-
ſtammtes Haus die Erhaltung des ganzen Staats geknuͤpft.
Die gebildete Minderzahl bedarf aber ihrer vielleicht noch
mehr, als einer unuͤberſteiglichen Schranke fuͤr den perſoͤn-
lichen Ehrgeiz, dieſer Wucherpflanze der Bildung. Wer
in dieſem unter der Laſt ſo manches unabwendbaren Wech-
ſels faſt erliegendem Welttheile noch die Monarchie ent-
wurzeln moͤchte, der vergißt, daß zwar oftmals aus der
Ordnung die Freiheit, niemahls aber aus der Freiheit die
Ordnung hervorgegangen iſt. Zwar auch die Fuͤrſten ſelber
haben den Glauben an die Monarchie vielfach erſchuͤttert,
indem ſie Regierung als unumſchraͤnkte Regierung verſtan-
den, ſich einer unermeßlichen Verantwortlichkeit bloß ſtel-
lend, und andern Theils uͤberſahen, daß die Erbmonarchie
gerade in dem Verhaͤltniſſe dieſes Fuͤrſtenhauſes zu die-
ſem
Volk ſeine natuͤrliche Wurzel hat, keineswegs ſich
aber willkuͤhrlich ſofort auf eingetauſchte Seelen und ge-
raubte Kronen uͤbertraͤgt. Es war ein beſchraͤnkter Glaube
Kaiſer Friedrichs III., und eine haͤßliche Vergoͤtterung ſei-
nes Individuums, wenn er ſeinen im Alter abgenommenen
Fuß unter die avulsa imperii rechnete, „ytzt iſt dem Kai-
ſer und dem heiligen Reich der ain Fuß abgeſchniedten“
(Gruͤnbeck, 41.), aber es war ein tiefes Gefuͤhl der Wahr-
heit, welches dem entthronten, auf die Wunder und den
Wandel ſeiner Bahn zuruͤckblickenden Napoleon die Worte
eingab: „Wenn ich nur mein Enkel geweſen waͤre!“


[109]Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.

Sechstes Capitel.
Von den Reichsſtaͤnden oder der allgemeinen Staͤnde-
Verſammlung.


138. Hier kommt zunaͤchſt 1) das bildende Princip
der reichsſtaͤndiſchen Verſammlung zur Frage; dann 2)
ob ſie als ungetheilte Koͤrperſchaft tagen ſoll, und wenn
die Theilung den Vorzug erhaͤlt, fragt es ſich 3) um die
Bildung der erſten Kammer, 4) die der zweiten, 5) die
Geſchaͤfts-Ordnung, 6) die Rechte der Reichsſtaͤnde, 7)
ihr Verhaͤltniß zu den Provinzial-Staͤnden.


Das Princip; landſtaͤndiſch oder repraͤſentativ.

139. Wenn wir oben Bedenken trugen, wo es er-
wartet werden mochte (71.), eine allgemeine Schilderung
vom Geiſte des Mittelalters zu entwerfen und auf ſeinen
Staatsbau anzuwenden; was leicht ein zu großes Werk
geweſen waͤre und in dieſem Zwiſte der Meinungen inner-
halb ſolcher Schranken der Darſtellung ein unfruchtbares;
und daher lieber zunaͤchſt einige anerkannte hiſtoriſche Ver-
haͤltniſſe hervorhoben, auf die Ariſtokratie in ihrer Engli-
ſchen Geſtaltung hinzeigten und auf geſchichtlich vorliegende
Wege ihrer Verſoͤhnung mit Koͤnigthum und Demokratie;
ſo wollen wir auch jetzt in der Vergleichung der Jahr-
hunderte nicht uͤber das unmittelbare Beduͤrfniß unſrer
Aufgabe hinaus.


Den Leib des Juͤnglings haͤlt man nicht im Knaben-
Gewande und noch weniger den Sinn des Juͤnglings.
Auch die Voͤlker haben ihre Lebensalter, jedes mit dem
Reiz einer eigenthuͤmlichen Bildung ausgeſtattet, aber kei-
nes nach Willkuͤhr fuͤr alle Zeiten haltbar. Jede politiſche
[110]Sechstes Capitel.
Form neigt zur Veraͤnderung hin; ſey’s daß am Volks-
koͤrper ſich ein Glied umgeſtaltet, ein neues zuwaͤchſt, oder
die freiere That ſie hervorruft. Die Formen aͤndern ſich,
oder auch die alten, die man beibehaͤlt, wirken veraͤndert;
denn die ſich in ihnen bewegen, ſind nicht dieſelben mehr.
Es heißt immerfort Ariſtokratie; allein wie ganz anders
wirkt die nach Staatszwecken angeordnete als die ge-
wachſene, die allein ſtehende uͤber der ſchweigenden Be-
voͤlkerung als die mit andern Staͤnden zuſammenwirkende!
Es heißt immer Koͤnigthum, aber das Oberhaupt des
Lehnſtaates iſt von dem Primogenitur- und Eigenthums-
Koͤnige eben ſo verſchieden, als dieſer es wieder von dem
Staats-Koͤnige iſt, welcher an der Spitze einer uͤberſicht-
lichen Staatswirthſchaft ſtehend, alle Verantwortlichkeit
ſeiner Regierungs-Handlungen auf die Miniſter uͤbertraͤgt.
Im Ganzen und Großen iſt das durch Entwickelungen
geſchehen, vor denen die Willkuͤhr einzelner Menſchen ver-
ſchwindet.


Denn wie mochte es nur viel anders kommen? Der
Lehnsſtaat, als er fertig war, und die reiche Erbſchaft der
Volksrechte gemacht hatte, behandelte die Regierungsrechte
nicht eben anders, als die Roͤmiſchen Gentes den ager
publicus.
Es dauerte nicht lange, ſo hatte ſich jeder
Lehnstraͤger in ſeiner Quote Regierung feſtgeſetzt und
zaͤhlte ſie zu ſeinem Eigenthum; dem Koͤnige blieb zwar
auch die ſeine, und wenn er gewaltig war, mochte er wol
zu einzelnen großen Verrichtungen die geſammte Regie-
rungskraft vereinen, aber kein Gedanke daran, daß ſie
das Gemeinweſen dauernd durchdringen und darum von
einem Orte ihre Strahlen ausſenden muͤſſe. Wo man
Volksbeamte geſehen hatte und Koͤnigsbeamte, ſah man
jetzt Beamte der Lehnsgroßen und gutsherrliche. Regent
[111]Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.
im fruͤheren und im ſpaͤteren Sinne war der Koͤnig allein
in ſeinen Domaͤnen; daruͤber hinaus beſaß er einzelne
Regierungsrechte; die uͤbrigen ſind in Unterthanen-Haͤn-
den, gehen wie Privatrechte mit dem Eigenthum uͤber,
werden durch Pacht, durch Kauf erworben; auf welchem
Wege ſo viele Staͤdte die Vogtey-Rechte an ſich brachten
und ſo das Eigenthum einer Gerichtsbarkeit, waͤhrend
von der andern Seite nichts hinderte, daß auch ganze
Staͤdte der Gerichtsbarkeit eines Erbherrn als Patrimo-
nial-Staͤdte verfielen. Dazu die herrſchende Stellung der
Geiſtlichkeit, welche außer ihrer Lehnsmacht ſich die einzige
das Gemeinweſen erfuͤllende Herrſchaft gruͤndet, die nur
darum nicht dem Koͤnigthum verderblich wird, weil ſie in
ſo vielen Haͤnden ſich befindet und ihr ſichtbares Oberhaupt
jenſeits der Alpen thront. Den Staͤdten, als ſie aufka-
men, blieb nichts uͤbrig, als ſich ebenfalls ganz fuͤr ſich
als geſchloſſene Gebiete aufzuſtellen; die Bauern vollends
waren nur da ihrer freien Hufen ſicher, wo ſie in beſon-
derer Landſchaft nach Vertreibung des Adels eine unge-
miſchte Maſſe bildeten. So war die Zeit; was nicht fuͤr
ſich ſtand, und nicht die ſchmalen Wege eiferſuͤchtig be-
wachte, durch welche die Staatsgewalt eindringen konnte,
ward untergeſteckt.


Was das Lehn zertrennte, das haben in der zweiten
Haͤlfte des Mittelalters die Steuern wieder zu verknuͤpfen
getrachtet; an ſie vornehmlich knuͤpfte ſich der Gedanke, daß
man auch in Friedenszeiten einem groͤßeren Gemeinweſen,
das Alle angeht, verbunden ſey und Opfer zu bringen
habe. Fuͤrſt und Staͤdte haben das Ihre gethan, den
Begriff von Landes-Steuern zu entwickeln; die Staͤdte
gaben, aber empfingen auch; der geiſtliche Stand konnte
ſich, wenn er ſeine Lehre vor Augen hatte, kaum entziehen,
[112]Sechstes Capitel.
wo ein wirkliches Beduͤrfniß nachgewieſen war; allein der
Adel folgte nur ſeinem Rechte, wenn er darauf beſtand,
der Kriegsdienſt fuͤr ſein Lehn ſey die einzige Steuer,
welche ihm ſein freier Stand geſtatte. Wo er das in
Deutſchen Landen durchſetzte, nicht den Reichs-Steuern,
noch weniger einer Landes-Steuer ſich unterwarf, immer
nur den ſchon veraltenden Lehnsdienſt bietend, da trat er
mit der Zeit ganz aus dem Kreiſe der Landſtaͤnde aus,
die der Steuer halb hauptſaͤchlich berufen wurden, ließ
Praͤlaten und Staͤdte allein und ruͤhmte ſich der reichs-
ritterſchaftlichen Freiheit. Dahin kam’s in Wuͤrtemberg zu
Ende des Mittelalters. Wo die Ritterſchaft aber nachgie-
biger war, Reichsſteuern mit uͤbernahm, ein Paar her-
koͤmmliche Steuern (Prinzeſſinnen-Steuer, Schlachtbede)
anerkannte, den Landesſteuern wenigſtens ſeine Hinterſaſſen
unterwarf, nur die Ritterhufen ausnahm, bei außerordent-
lichen Faͤllen auch wol Vermoͤgensſteuern ſich gefallen ließ,
da rettete ſie wenigſtens das Prinzip, begehrte auf dem
Landtage einen act of indemnity, Schadlosbriefe, Re-
verſalen, daß ihr das Gute was ſie gethan, unſchaͤdlich
ſeyn ſolle; denn ſie hatte wider die geſetzliche Ordnung
gehandelt.


Aber die Gewalt, welche in den Dingen iſt, wenn ſie
ihre Entwickelung einmahl begonnen haben, wirkte, wie
im Reiche der Naturkraͤfte, ſchneller und ſchneller. Der
Fuͤrſt allein ſchiffte auf dem Strome der neuen Verhaͤlt-
niſſe. Er machte ſich zum Herrn eines Heeres, welches
das Land bezahlte, eroberte ſich ſtuͤckweiſe, Ämter bildend,
ſein Regierungsgebiet, erwarb Untheilbarkeit und Primo-
genitur, und wenn er ein guter Haushalter war, die
landſtaͤndiſche Ordnung vollends ſtarr werden ließ, Steuer-
freiheiten aufhob, allgemeine Bildungsanſtalten gruͤndete,
[113]Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.
und dann zu rechter Zeit, Humanitaͤt und Herrſcher-Sinn
gingen hier Hand in Hand, die Feſſel des Landmanns
lockerte, ſo mochte ihm ſelbſt unumſchraͤnkte Herrſchaft
nicht entgehen. Denn er allein trug Sorge fuͤr das Ganze,
wie die Zeit es ſchon begehrte.


Aber was, in ſich veruneint, dem Zuge zum Ganzen
gehorcht, will vielleicht Geſetze vorſchreiben, nachdem es
ſich als Geſammtheit zuſammengefunden hat. Die unum-
ſchraͤnktere Fuͤrſtenherrſchaft hat den alten ſcharfen Gegen-
ſatz der Staͤnde vollends beſeitigt. Der Kriegsadel war
ſchon von ſeinen Grundlagen verruͤckt, als die Reformation
der Geiſtlichkeit eine ganz andere Stellung zum Volk
und zur Regierung gab, auch da, wo ſie nicht durch-
drang; der Drang nach allgemeinem Unterricht entwickelte
ſich faſt ungeſtuͤm; auch er iſt kaſtenartigen Unterſchieden
fremd, denn das Talent waͤchst auf dem Boden jedes
Standes. Der Buͤrger kauft das adlige Gut, tritt wie
ihn Gluͤck und Geſchick traͤgt in den Handwerksſtand, den
des hoͤheren Gewerbes, wird Geiſtlicher, tritt in des Fuͤr-
ſten Rath. Nicht anders der Bauer, und auch als Bauer
iſt er zugleich, nach Art und Gelegenheit des Landes,
Handelsmann, Fabrikant, Schiffer; die Stadt iſt aufs
Land hinausgegangen. Noch immer keine voͤllige Gleich-
artigkeit; Eines faͤngt da an, wo das Andere aufhoͤrt.
Allein wo jetzt landſtaͤndiſche Verfaſſungen wieder erwachen,
oder gar ganz neue ſich bilden ſollen, da darf die neue
Bildung nicht auf gewichenen, fuͤr immer verſchwundenen
Grundlagen ruhn. Nicht durch das was alt, auch nicht
durch das was neu, ſondern durch das was ſtetig und
lebendig, oder wieder zu beleben iſt, werden Staats-Ord-
nungen geſtuͤtzt. Es giebt keinen Ausdruck eines tieferen
Verhaͤltniſſes, der den Misbrauch und die Misdeutung
8
[114]Sechstes Capitel.
abſchneidet; das aber iſt die Schwere der Gegenwart fuͤr
die Regierungen, daß Gewohnheit fehlt oder nicht aus-
reicht, daß faſt uͤberall, weil die Mittelglieder fehlen,
welche Vorzeit und Gegenwart verknuͤpfen ſollen, ein
Sprung zu thun iſt, um das Ziel, welches allen vor-
ſchwebt, die oͤffentliche Wohlfahrt zu erreichen. Das aber
iſt dahingegen die Stuͤtze der Regierungen, daß in den
einzelnen Gebieten nachgewieſen werden kann, die Regie-
rungskraft muͤſſe tief eindringen, und koͤnne es, ohne
darum abſolut zu ſeyn.


140. Stellen wir jenes Alt und Neu, beides ſo
oft geſchmaͤht und geprieſen, und ſo ſelten im Zuſammen-
hange ſeiner Zeit gewuͤrdigt, in wenigen Saͤtzen zuſam-
men, wiewohl in dieſem Theile der Deutſchen Staats-
rechtsalterthuͤmer der Weg noch kaum gebahnt iſt.


Die landſtaͤndiſchen Verſammlungen in den Deut-
ſchen Reichslanden hatten uͤber die Verwaltung und Ver-
wendung der Einkuͤnfte aus dem fuͤrſtlichen Kammer-Gute
nichts zu ſagen, insgemein auch uͤber den Zoll nichts,
der dem Grundſatze nach von kaiſerlicher Verleihung ab-
hing; aber daß ein Mehrbedarf ſtattfinde, mußte jeden-
falls aufgewieſen werden, bevor man Steuern, und nicht
aus Pflicht, bewilligte; auch nahmen die Staͤnde Theil
an der Erhebung, beaufſichtigten ihre Verwendung, hatten
gern ihr eigenes Schloß zum Landkaſten;


  • die neue Ordnung erkennt die Pflicht an, will aber den
    ganzen Staatshaushalt pruͤfend und bewilligend um-
    faſſen; ſie beſchraͤnkt ſich auf die Controle der Verwen-
    dung. Jeder ſoll, nicht nach ſeinem Stande, ſondern
    nach ſeinem Vermoͤgen ſteuern.

Der allgemeinen Geſetzgebung gab es zur altlandſtaͤndiſchen
[115]Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.
Zeit im Privatrecht wenig; man verhandelte auf den
Landtagen etwa uͤber Gegenſtaͤnde der Landespolizey und
Gerichts-Ordnung unter Beirath der Staͤnde; aber als
die Geſetzgebung thaͤtiger ward, entſtand ihnen insgemein
auch das Recht der foͤrmlichen Einwilligung nicht;


  • dieſe Einwilligung in die Geſetzgebung wird jetzt als
    nothwendiges Recht der Staͤndeverſammlung betrachtet.

Die alten Landſtaͤnde uͤbten großentheils und lange Zeit
hindurch das von ihren Landesfuͤrſten anerkannte Recht
einer bedingten Huldigung, die ſofort nichtig ſeyn ſolle,
wenn die verbrieften Freiheiten gebrochen wuͤrden, das
Recht des bewaffneten Widerſtandes, ſogar der Ent-
ſetzung 1); ſie waren berechtigt, bei Zwiſtigkeiten im fuͤrſt-
lichen Hauſe zu vermitteln, an der vormundſchaftlichen
Regierung theilzunehmen, allenfalls auch ſie allein durch
aus ihrer Mitte ernannte Raͤthe zu fuͤhren, zu Krieg
und Frieden ihre Stimme zu geben;


  • an Regierungsrechte der Staͤnde iſt billig bei Staats-
    verſtaͤndigen kein Gedanke mehr. Keine Scheidung der
    Ehe zwiſchen Fuͤrſt und Volk. Die Verantwortlichkeit
    der Miniſter macht den Fuͤrſten unverantwortlich.

Die Berufungen der vormaligen Landſtaͤnde waren in
der Regel die Folge eines Steuerbedarfs, und traten in
unbeſtimmten Zwiſchenraͤumen ein;


  • jetzt bedarf es der Steuern von Jahr zu Jahr, uͤberall
    Reformen der Geſetzgebung, und die Verfaſſungen ſchrei-
    ben eine Regel der Einberufung vor.

Die zu den Landtagen berechtigten Staͤnde waren ehemahls
im eigentlichen Sinne Landſtaͤnde; vermoͤge ihres An-
theils am Landbeſitze berufen, nach dieſem Geſichtspunkt
faſt allein beſteuert, auch die Staͤdte nach Ackerpfluͤgen
(Steinpfluͤgen) zur Steuer angeſchlagen;


8*
[116]Sechstes Capitel.
  • jetzt iſt des beweglichen Gutes viel geworden, die Steuern
    wiſſen es zu ergreifen; die Rechte der Waͤhler und die
    Waͤhlbarkeit ſind nicht mehr an Grundeigenthum ge-
    bunden.

Den Landtag berief die Landesherrſchaft; aber die Ritter-
ſchaft erwarb ſich nicht ſelten das Recht, beliebig fuͤr ſich
Convente zu halten, und beſtaͤndige Ausſchuͤſſe bildeten in
vielen Reichslanden eine fortdauernde engere Landtags-
verſammlung;


  • jetzt weiß man, was dergleichen Ausſchuͤſſe den Staͤn-
    den, was ſie dem Fuͤrſten drohen.

Wer in den Landſtaͤnden nicht aus perſoͤnlichem Rechte
tagte, wer als Deputirter, ſey’s einer Provincial-Ritter-
ſchaft, eines Stifts, einer Stadt, erſchien, war an die
Auftraͤge ſeiner Koͤrperſchaft gebunden und holte ſich,
wenn außer den vorher bekannten landesherrlichen Propo-
ſitionen etwas Unerwartetes vorkam, neue Inſtructionen
ein. Darum durfte auch in der Regel der Abweſende
durch Vollmacht ſtimmen;


  • jetzt ſtimmt jedweder, als Vertreter des ganzen Landes
    betrachtet, uͤber jeden Antrag, mag er vom Landesherrn
    oder von den Staͤnden ausgehn, nach Gewiſſen und
    nach der Einſicht, die er mitbringt, oder die ihm durch
    die Berathſchlagung mit ſeinen Mitſtaͤnden zuwaͤchst.
    Keine Verantwortlichkeit gegen die Waͤhler; aber dieſe
    beduͤrfen zum Erſatz der Kenntniß der Verhandlungen
    im ganzen Zuſammenhange, nicht bloß der Reſultate,
    um ihren Deputirten beurtheilen zu koͤnnen. Die Zu-
    laſſung von Vollmachten im Engliſchen Oberhauſe wird
    als Veraltung betrachtet.

Die Landtagskoſten wurden nicht vom Lande, ſondern
von jedem fuͤr ſich, oder von ſeiner Koͤrperſchaft aufgebracht;


[117]Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.
  • jetzt Diaͤten, die das Land bezahlt.

Den Vorſitz bei den Staͤnden fuͤhrte nach dem Herkommen
ein Biſchof, oder ein Praͤlat, oder auch ein Landmarſchall,
den der Landesherr erblich damit belehnte; der Vorſitz
konnte auch ein dingliches Recht, an einem Gute haftend
werden;


  • jetzt waͤhlen die Kammern ſich ihre Praͤſidenten unter
    Beſtaͤtigung des Landesherrn.

Die Staͤnde verſammelten ſich uͤberall nach Standes-
Curien als Praͤlaten, Ritter, ſtaͤdtiſche Obrigkeiten; Bauern
als vierter Stand, wie in Tyrol und Schweden, waren
im Mittelalter eine Ausnahme, und in den meiſten Lan-
den, in welchen die Reformation durchdrang, ward die
Praͤlaten-Curie ſchwach und lehnte ſich an die Ritter an.
Sonſt ſtellte ſich jeder Stand zuvoͤrderſt als unabhaͤngig
hin; kein Gedanke, daß ein Stand aus dem Geldbeutel
ſeines Mitſtandes Steuern bewilligen koͤnne; dagegen man
wenig Bedenken trug, ritterſchaftliche Guͤter, die in nicht-
ritterſchaftliche Haͤnde gekommen waren, und die Amts-
Diſtricte mit Landtags-Steuern zu belaſten; was ſich
freilich mit ſelbſtaͤndigen Rechten ausgeſtattete Landſchaften
nicht gefallen ließen. Daher kam es, daß Steuern und
Standes-Sachen in jeder Standes-Curie fuͤr ſich abge-
than wurden; gemeinſame Angelegenheiten aber und all-
gemeine Landes-Sachen (denn der Landtag legte ſich ein
Repraͤſentations-Recht fuͤr das ganze Land bei und reichte
Landesbeſchwerden ein) Gegenſtand der allgemeinen Be-
rathung wurden, wo denn allenfalls zwei Curien die dritte
uͤberſtimmen mochten, oder auch viritim abgeſtimmt wurde;
letzteres gewiß zum Vortheile der Ritterſchaft. Denn
der Staͤdte waren weniger an der Zahl, manche Staͤdte
verloren die Landſtandſchaft, weil ſie abgetheilten Herren
[118]Sechstes Capitel.
gehoͤrten, manche neuerbaute wurden gar nicht in den
nexus aufgenommen, und wenn gleich jede Stadt eine
beliebige Anzahl Bevollmaͤchtigte ſenden konnte, ſo mußten
doch dieſe ſich zu einer einzigen Stimme vereinigen 2).


  • Gegenwaͤrtig waͤre das keine Landesrepraͤſentation, die
    nicht jeden Landestheil zur Mitwirkung beriefe; alle
    Geſchaͤfte werden in einer vorgeſchriebenen Form ge-
    meinſam abgethan; keine Willkuͤhr in der Zahl der
    Mitglieder; jedes Mitglied hat ſeine Stimme.

Vgl. Eichhorn D. St. u. R. G. III. §. 423 ‒ 427., dem man immer
verdankt, auch wo man nicht beiſtimmen kann. Ungemein ver-
dienſtlich iſt Falck’s Darſtellung aus dem Standpunkte einer wich-
tigen Einzel-Verfaſſung im Handbuche des Schleswig. Holſt.
Privatrechts Bd. II. Hauptſt. 1. Cap. 3. Von den Landſtaͤnden.
Vgl. Michelſen, Über die vormalige Landesvertretung in Schles-
wig-Holſtein, mit beſonderer Ruͤckſicht auf die Ämter und Land-
ſchaften. Hamb. 1831., in welcher Schrift zwar manche Behaup-
tung zu beſchraͤnken ſeyn wird; ſo hat es namentlich mit der
S. 13. angenommenen alten Landſtandſchaft des Bauernſtandes
in Wuͤrtemberg eine ganz andere Bewandniß. vgl. Eichhorn III,
§. 414. Note f. Falck’s Annahme S. 225., daß auf dem Schles-
wig-Holſteiniſchen Landtage bloß viritim abgeſtimmt ſey, iſt mir
ſehr unwahrſcheinlich. In Bayern waren ſo viele Geſammtſtimmen
als Staͤnde vorhanden; wenn ſie ſich nicht vereinten, galt keine
Stimmenmehrheit; die Staͤnde trennten ſich dann, und jeder
ſetzte als beſondere Foͤderation durch, was er ohne die andere
thun konnte; war das nicht moͤglich, ſo unterblieb der Antrag.
Wenn der Antrag bloße res singulorum betraf, z. B. Steuern,
konnte jeder fuͤr ſich, aber nicht fuͤr den andern Stand, viel
weniger fuͤr das ganze Land bewilligen. So Rudhart, Geſch.
der Landſtaͤnde in Bayern II, 27. In der Calenbergiſchen land-
ſchaftlichen Verfaſſung findet, wenn uͤber gemeine Landesangele-
genheiten ein Entſchluß zu faſſen, ein Überſtimmen von zwei
uͤbereinſtimmenden Curien gegen eine diſſentirende zwar ſtatt,
aber der diſſentirenden wird der Weg Rechtens vorbehalten, in-

[119]Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.
ſofern ihre beſonderen, der Mehrheit der Stimmen nicht unter-
worfenen Vorrechte und Freiheiten dabei verletzt ſind. J. C. von
Hugo, Die landſchaftliche Verfaſſung des Fuͤrſtenthums Calen-
berg S. 53. u. 57., vgl. S. 71 ff.




141. Ehemahls war die Meinung, die allgemeine Ver-
faſſung duͤrfe nur inſoweit wirken, als die beſonderen Rechte
der zu Rechten berechtigten Staͤnde keinen Eintrag dadurch
litten; ſie hat ihre lieblichen und ihre herben Fruͤchte ge-
tragen. Jetzt liegt in der Bahn des Lebens die Überzeu-
gung, daß vor Allem die Ordnung der Geſammtheit mit
Einſicht und Gerechtigkeit zu erſtreben ſey; das Einzelne
ſoll, ſo zu ſagen, ſein Daſeyn rechtfertigen durch ſeine
thaͤtige Stellung zum Ganzen. Durch den faſt allgemeinen
[120]Sechstes Capitel.
Fortſchritt fuͤrſtlicher Gewalt ſeit der Reformation ſind
große Wegeſtrecken zu dieſem Ziele zuruͤckgelegt; aber nicht
die mechaniſche nach Willkuͤhr wechſelnde Einheit iſt das
Ziel, es gilt ein ſtetig einheitliches Leben fuͤr die Mannig-
faltigkeit freier Volksentwickelung in dieſe Gebundenheit
der Staatsordnung einzufuͤhren. Darum kann die Zukunft
Europa’s keine Verherrlichung des unumſchraͤnkten Koͤnig-
thums ſeyn, aber ſie iſt, wenn ſtetige Entwickelung gelin-
gen ſoll, geknuͤpft, an den Beſtand nicht bloß, ſondern
an die Macht der erblichen Koͤnigthuͤmer. Denn dieſes
iſt das einzige Band der Gewohnheit, welches durch die
Dauer immer feſter geworden iſt in der tiefer dringenden
Überzeugung. Eingeſtehen, daß fuͤr alle uͤbrigen Elemente
der politiſche Schwerpunkt erſt im Werden ſey, iſt keine
Theorie, aber auch kein Verdienſt, aber auch kein revolu-
tionaͤrer Sinn; es iſt der Blick auf die fortſchreitende
Veraͤnderung der Welt-Verhaͤltniſſe und dadurch der Men-
ſchen, der ſo zu reden zwingt. Wenn ein Familien-Vater
ſeinen Kindern auf ihren Lebenswegen mit dem Blicke
folgt, das eine ſteht in dieſem, das andere in jenem
Stande, nichts iſt darin unuͤberſteiglich; die alten Stan-
deskluͤfte, welche fruͤher kaum der Wunſch uͤberſprang,
ſind nicht mehr; wenig von Angeborenem, uͤberall Wahl-
und Berufsweſen. Darum hat die Frage: ſtaͤndiſch
oder repraͤſentativ?
wenig praktiſchen Werth mehr,
vor Allem, wo eine Staͤnde-Verſammlung von vorne
herein aufgebaut werden ſoll. Es wuͤrden zwei gleichver-
ſtaͤndige und unpartheiiſche Maͤnner, der eine von dieſem,
der andere von jenem Geſichtspunkte ausgehend, leicht in
Hinſicht auf die Beſtandtheile der Staͤndeverſammlung zu
demſelben praktiſchen Reſultat gelangen. Die Beſtand-
theile aber wirken wieder entſcheidend auf die Grund-
[121]Theilung der Staͤndeverſamml. in Kammern.
Form ein. Merklich anders freilich geſtaltet ſich die Sache,
wo am Beſtehenden bloß umzubilden iſt. Doch wird auch
hier fuͤr die Aufnahme alles deſſen, was den Staat wirk-
lich ſtuͤtzt, ihn mit ſaͤchlichen und perſoͤnlichen Guͤtern ver-
ſieht, die erſte Sorge zu tragen ſeyn. Überall muͤſſen in
die Luͤcken des Herkommens die frei geſchaffenen Nothwen-
digkeiten der politiſchen Inſtitutionen treten, wie man
Feſtungen baut, um den gelichteten Boden, fruͤher durch
Wald und Moor vertheidigt, nun kuͤnſtlich zu beſchuͤtzen.
Aber das Land iſt nicht um der Feſtungen Willen da, und
das Klima iſt vielleicht etwas kaͤlter geworden.


142. Faſſen wir die Dinge im Ganzen und Großen.
Dieſelbe Macht der Geſchichte, welche uͤberall dahin, wo
fruͤher Dienſte ſtanden, das Geld geſetzt hat, vermoͤge
deſſen nunmehr der Staat ſich ſelber bedient, welche an
die Stelle der uͤberlieferten Sitte die Gruͤnde waͤ-
gende Einſicht geſetzt hat, und eine oͤffentliche Mei-
nung
an die Stelle der Standes-Meinung — eben
ſie iſt es, welche die alten Landſtaͤnde zuſammenruͤcken heißt
zu einer Volksvertretung, die allgemeinverbindliche Geſetze
und Geld-Abgaben bewilligt, alle Regierungsrechte aber,
der Staͤnde und der Einzelnen, an den beſſer erkannten
Staat zuruͤckſtellt.


Theilung der Ständeverſammlung in Kammern.

143. Was man mit einem Mittel abthun kann,
dafuͤr, ſpricht die Theorie, ſoll man zwei nicht anwenden.
Ein Volk, eine Kammer; ſo gelangt ſich’s ſchnell durch
Erfragung der einfachen Mehrheit zum Ziele. — Aber
auch zum rechten Ziele?


[122]Sechstes Capitel.

Ein Volk iſt es zwar, allein abgeſehn vom Fuͤrſten,
den ſein Beruf vom Volk abſondert, ſtellt ſich dieſes Volk
ſelber deutlich in der Form verſchiedener Berufe dar, die,
wie frei ſie auch von den Einzelnen erwaͤhlt ſeyn moͤgen,
doch wieder Staͤnde von entſchiedener Lebens-Richtung
bilden, Ackerleute, Gewerbsleute, Friedens- und Kriegs-
Beamte, Geiſtliche, Gelehrte; als gleichartige Maſſe zeigt
ſich das Volk bloß im berufsloſen Poͤbel. Und ſo waͤre das
volksgemaͤße Verfahren wol eher dieſes, ſo viele Kammern
als Hauptberufe ſind, zu bilden, mehr Curien alſo noch
als im Mittelalter zu finden, und durch Befragung jeder
fuͤr ſich (vermoͤge der gezogenen Mehrheit freilich, die nun
einmahl unter Gleichartigen die Geſammtheit bedeutet)1)
herauszubringen, wohin die Geſammtheit neige. Aber es
ſind wieder Staͤndeverſammlungen nicht die Staͤtten wiſſen-
ſchaftlicher Forſchungen, nicht eines bloßen Zeugenverhoͤres
moͤglichſt vieler Kunſtverſtaͤndigen fuͤr die Benutzung drau-
ßen ſtehender Gewalten; in ihnen ſelber iſt Gewalt, die
ungebraucht nicht ſchlummern darf, ihr Beſchluß ſoll That
ſeyn. Darum darf die Theilung der Staͤndeverſammlung
nie ſoweit gehen, daß ſie die Thaͤtigkeit derſelben gewoͤhn-
lich in ein bloßes Fuͤr und Wider der Verhandlung auf-
loͤst. Das war mit der Deutſchen Reichsverſammlung der
Fall, ſeit im Weſtphaͤliſchen Frieden auch das Collegium
der Reichsſtaͤdte ein in den meiſten Faͤllen entſcheidendes
Veto erhielt.



144. Wenn ja getheilt werden ſoll, ſo ſcheint auch
ein anderer Grund dafuͤr zu ſtimmen, daß man nicht uͤber
[123]Theilung der Staͤndeverſamml. in Kammern.
zwei Kammern hinausgehe. Sind ihrer mehr, z. B. drei
oder fuͤnf, ſo iſt entweder gar keine Hoffnung eines Re-
ſultats, oder wenn Überſtimmen gilt, kann ein Beſchluß
zu Stande kommen, der freilich die Mehrzahl der Curien,
aber die Minderzahl der Individuen fuͤr ſich hat. Calonne
wußte recht gut, daß, wenn er ſeine 144 Notabeln in 7
Buͤreaux eintheile, er durch nicht ein Drittheil der Stim-
men die Majoritaͤt von vier Buͤreaux gewinnen, folglich
die uͤbrigen zwei Drittheile der Stimmen beherrſchen koͤnne.
Kurz, eine Kammer muß gegen die andere ein Veto haben,
damit aber der Hemmungen nicht zu viele werden, auch
der Majoritaͤt der Individuen ihr Recht geſchehe, muͤſſen
zwei gleichberechtigte Kammern genuͤgen.


145. Zwei gleichberechtigte Kammern geben der Ver-
ſchiedenartigkeit im Volk Raum, ohne die Staats-Einheit
in Korporations-Stimmen aufzuloͤſen. Sie gewaͤhren eine
eindringendere und reifere Berathung, inſofern die eine
Kammer die Kritik der andern zu ſcheuen hat. Eine mehr-
mahlige Berathung in derſelben Kammer leiſtet das nicht,
was die Durchberathung von vorne her in einer anderen
Verſammlung leiſtet, worin die nicht ſitzen, welche den
Antrag gemacht, und mit aller Staͤrke der Gruͤnde, viel-
leicht auch mit Aufbietung aller Partheymacht im Feuer
der Leidenſchaften durchgefuͤhrt haben. Eine Kammer hat
mehr Schnellkraft zu Änderungen, welche moͤglicher Weiſe
Verbeſſerungen ſind. Zwei Kammern ſind mehr erhaltend
als aͤndernd, darum langſamer zum Verbeſſern, allein was
einmahl durchgedrungen, geht nicht leicht wieder ruͤckwaͤrts.
In einer auf gutem Grunde gebauten Verfaſſung iſt aber
die Erhaltung wichtiger, als die Leichtigkeit raſcher Ver-
beſſerungen. Zwei Kammern gewaͤhren mehr Sicherheit
[124]Sechstes Capitel.
fuͤr die Krone, weil die Geſetzgebung ſich in ſich ſelber
berichtigt, der Krone manches Nein erſpart. Sie ſtellen
zugleich die Staͤnde auf einen hoͤheren Standpunkt; denn
eine Einmuͤthigkeit beider Kammern bedeutet in der Regel
auch die Volksſtimme, und ein Nein der Krone wird ſehr
ſchwer geſprochen, wo der Beſchluß nicht auf einer viel-
leicht zufaͤlligen Mehrheit in einer und derſelben Ver-
ſammlung, ſondern auf der Übereinſtimmung von zwei
Kammern beruht, in denen es an ſtreitenden Intereſſen
nicht fehlen wird.


Wo ein Geiſt der Umwaͤlzung erwacht, vielleicht weil
nothwendige Verbeſſerungen zu lange verſchoben ſind, da
greift er ſtets zuerſt die Zweizahl der Kammern an. So
in Karls I. von England Zeit, ſo in den Tagen der fran-
zoͤſiſchen Revolution, der Mutter und ihrer Toͤchter. Da-
gegen hat das freie Nord-Amerika, ohne alle Ariſtokratie
der Geburt, ſich nach Englands Beiſpiele Senate errichtet,
in ſeinen einzelnen Staaten nicht minder als in der Con-
greß-Verfaſſung. Darum iſt der Ablehnungsgrund nicht
triftig: „Wo finden wir ein Oberhaus wie in England?“


Freilich wird es darauf ankommen, zwei ſtaͤndiſche
Koͤrper nach genuͤgendem Theilungsgrunde, nicht bloß
numeriſchem, aufzuſtellen, aber wo auch alle Nothwendig-
keiten des Herkommens verſchwunden waͤren, da beſteht
doch der Unterſchied eines Daſeyns, welches auf dem
Landbau von demjenigen, welches auf dem Gewerbe ruht,
von Majorat und theilbarem Erbe, von Alt und Jung,
von Lebenslaͤnglich und fuͤr beſchraͤnkte Zeit.


Bildung des Ober-Hauſes.

146. Norwegen hat von ſeinen politiſchen Erinnerun-
gen den Haß gegen Schweden aufgegeben, den Adelshaß
[125]Bildung des Ober-Hauſes.
bewahrt. Es duldet keine Ariſtokratie irgend einer Art
neben ſeinem Koͤnige, und macht gleichwohl den Verſuch,
zwei Kammern allein dadurch zu bilden, daß ein Viertheil
der zu der Staͤndeverſammlung gewaͤhlten Mitglieder die
eine kleinere Kammer ausmacht, die uͤbrigen drei Viertheile
die andere, ohne irgend einen Beſchaffenheitsunterſchied.
Die groͤßere Verſammlung (Odelsthing) hat das Vorſchlags-
Recht, die kleinere (Lagthing) genehmigt oder lehnt ab.
Auch ohne die bei dieſer Einrichtung begangenen Fehler
(welche darin beſtehen, daß 1) die Ausſcheidung des Vier-
theils von der noch ungetheilten, noch thatenloſen Staͤnde-
verſammlung ſelber ausgeht, daß 2) auch dieſe ungetheilte
Staͤndeverſammlung in den Faͤllen wiederkehrt, wenn beide
Kammern beharrlich uneinig ſind und die Entſcheidung
giebt, und ſomit das Syſtem der zwei Kammern nur
ſcheinbar exiſtirt) bleiben das doch zwei Kammern, die ſich
durch nichts anders als die Zahl von einander unterſchei-
den, weder durch Geburt, noch durch Vermoͤgen, noch
durch Alter, noch Amt, noch lebenslaͤngliche oder doch fuͤr
laͤngere Zeit verfuͤgte Einſetzung. Welcher Grund aber iſt,
daß ¼ die Gewalt habe, gegen ¾ einzuſprechen? Beab-
ſichtigt man der geringeren Zahl gleiches Gewicht mit der
groͤßeren zu geben, ſo muß jene durch ihre Beſchaffenheit
Gewicht erhalten.


147. Eine erbliche Engliſche Paͤrſchaft laͤßt ſich zwar
nicht kuͤnſtlich erſchaffen: alter Ruf der Geſchlechter, mit
ungeheurem Grundvermoͤgen in den verſchiedenen Landes-
theilen in herkoͤmmlichem Anſehn wurzelnd, gepaart mit
dem Glanze neuer durch die Paͤrie belohnter Verdienſte
und mit dem hoͤchſten geiſtlichen und weltlichen Amtsadel.
Allein in keinem Staate, und auch in den Deutſchen
[126]Sechstes Capitel.
Staaten mittleren und kleineren Maaßes nicht, fehlt es
ganz an den dauerhaften und erblichen Beſtandtheilen, die
ſich fuͤr eine erſte Kammer eignen, als: Prinzen des regie-
renden Hauſes, Standesherren, Majoraten, ſchon errichtet,
oder noch zu bilden, wozu in Ermangelung einer gaͤnzlichen
Umbildung der Deutſchen Adelsverfaſſung (und wie ver-
moͤchte wenigſtens ein einzelner Deutſcher Mittel-Staat
dieſe zu vollbringen?), wechſelnde Deputationen aus den
Ritterſchaften der einzelnen Provinzen kommen. Je mehr
Veraltung oder Mangel an ſelbſtaͤndiger Bedeutung ſich
aber in dieſen Beſtandtheilen findet, da ſchwere Verſchul-
dung der Gutsbeſitzer ſie zu bloßen Antheils-Eigenthuͤmern
(der Hauptſache nach zu Verwaltern ihrer Glaͤubiger) machen
kann, um ſo mehr bedarf es des Zuſatzes theils von ſol-
chen, die vermoͤge ihres hohen geiſtlichen oder weltlichen
Amts eintreten, theils von Mitgliedern, die der Landesherr
ernennt. Dieſe letzteren verdanken ihren Verdienſten um
den Staat, auf welchem Felde dieſe auch errungen ſeyn
moͤgen, ihren Sitz, ſind alſo lebenslaͤnglich, und ihre Zahl
darf keine gebundene ſeyn. Alle Kategorieen der Ernen-
nung ſind (das heutige Frankreich zeigt es) leicht mit eini-
gen Redensarten uͤberſprungen. Von der Beruͤckſichtigung
bloß voruͤbergehender Zwecke bei der Ernennung, von der
gefuͤrchteten Abhaͤngigkeit der Ernannten haͤlt gerade am
beſten die Lebenslaͤnglichkeit ab.


Im Koͤnigreiche Hannover ging bei den Verhandlungen uͤber das
neue Staatsgrundgeſetz der Entwurf der Regierung dahin, die
erſte Kammer auf Majoraten von Koͤniglicher Ernennung zu
gruͤnden. Er fand indeß in beiden Kammern uͤberwiegenden
Widerſtand. Die erſte wollte keinen Majoratsadel uͤber dem
herkoͤmmlichen Adel geſtellt wiſſen, in der zweiten ſtieß man ſich
daran, daß die Majorate noch nicht exiſtirten und durch ein
Proviſorium aus Rittergutsbeſitzern einſtweilen erſetzt werden

[127]Bildung des Ober-Hauſes.
ſollten, daß ferner der bisherige Adel nun in die zweite Kammer
ruͤckte. Man ſah hierin eine doppelte Repraͤſentation des Adels.


148. Je aͤrmer eine erſte Kammer an politiſchem
Gewichte iſt, um ſo mehr fragt die oͤffentliche Meinung
nach der Einſicht und Wuͤrde der Mitglieder dieſes ſtaͤndi-
ſchen Senats. Fehlt die Schwerkraft des Vermoͤgens, ſo
ſtaͤnde theoretiſch nichts im Wege, das Steuergeſetz ledig-
lich von der Bewilligung der zweiten Kammer abhaͤngig
zu machen, und gut, wenn die Sache factiſch ſich ſo ſtellt.
Nicht rathſam jedoch, eine ſolche Gefaͤhrdung des Gleich-
gewichts beider Arme der Geſetzgebung anzuordnen, zu-
mahl es ſich heut zu Tage gewoͤhnlich weniger um die
Hoͤhe der auf der Steuerkraft baſirten Steuern, als um
deren geſchickte Anordnung handelt, wobei die Einſicht
einer nicht verheimlichten Berathung das Beſte thut.


149. In einem Staate von ſehr ſchwacher Bevoͤlke-
rung trachte man nach zwei Kammern nicht. Hier iſt die
Hauptſache die Vereinigung der geſammten geiſtigen Kraft,
damit es an einer tuͤchtigen Discuſſion der Geſetze nicht
mangle. „In einem Theetopfe kann man kein Bier
brauen.“ Aber eben hier, wo das Gefuͤhl der politiſchen
Bedeutſamkeit verloren geht, wird der Einzel-Bildung
mehr Raum vergoͤnnt werden koͤnnen. Eine Vor-Bera-
thung nach Standes-Curien, der großen und der kleinen
Grundbeſitzer, und der Staͤdter kann hier ſtattfinden;
die Schluß-Berathung und Abſtimmung falle in die all-
gemeine Verſammlung, doch muß in gewiſſen Faͤllen der
Einſpruch einer Curie Geltung haben. So duͤrfte uͤber
Verhaͤltniſſe zwiſchen Stadt und Land nicht gegen den
Einſpruch aller Staͤdte entſchieden werden.


[128]Sechstes Capitel.

Eine Stadt, die zugleich Staat iſt, wird immer zwei
Kammern fuͤr die Geſetzgebung haben; die Mannigfaltig-
keit der ſtaͤdtiſchen Betriebe fuͤhrt von ſelber dahin. Thoͤ-
richt dagegen waͤre es, ein einfaches Landvolk von gleich-
artigen, nirgend ſich gefaͤhrlich reibenden Intereſſen, in
zwei Kammern kuͤnſtlich zerſpalten zu wollen.


Überhaupt aͤndere man nie um der Theorie Willen.
Mancher Menſch lebt mit ſeinem Hoͤcker achtzig Jahre
lang. Die Operation wuͤrde ihm das Leben koſten. Wo
ein Volk in ungetheilter Verſammlung ſich innerlich befrie-
digt und eintraͤchtig fuͤhlt, da erfreue man ſich der Leich-
tigkeit des Geſchaͤftsganges und des Gefuͤhls der Gleich-
heit, welches ſie gewaͤhrt. Wo aber wichtige Intereſſen
ſich unterdruͤckt fuͤhlen unter einer und derſelben laſtenden
Majoritaͤt, da laſſe man der Ungleichartigkeit ihr Recht
widerfahren und verſoͤhne ſie, indem man ſie reſpectirt.


In den zweiten Kammern Deutſcher Staͤndeverſamm-
lungen hat ſich oft genug der Wunſch ausgeſprochen, daß
nur eine Kammer ſeyn moͤge. Die geiſtreichen Redner
ſetzen dabei offenbar ſtillſchweigend voraus, daß dann ihre
Anſichten und Wuͤnſche leichter obſiegen werden. Wie
aber, wenn das Gegentheil geſchaͤhe? Wenn die Ariſto-
kratie, oder wie man die ſchnellen Veraͤnderungen abge-
neigte Parthey nennen moͤge, nun in der ungetheilten
Staͤndeverſammlung obſiegte? Dann wuͤrden ſie empfin-
den, was es bedeutet, aus der Majoritaͤt, freilich nur in
einer Kammer, in eine beſtaͤndige Minoritaͤt verſetzt zu
ſeyn. — Darum wird nicht behauptet, daß die erſten
Kammern unſerer neueren Verfaſſungen politiſche Meiſter-
werke ſind.


Das Engliſche Parlament hat innerhalb weniger Jahre
zu Stande gebracht: die Aufhebung der Teſt-Acte, die
[129]Bildung der zweiten Kammer.
Emancipation der Katholiken, die Reform ſeines Unter-
hauſes; es giebt den hundert Millionen Oſt-Indiens eine
verbeſſerte Regierung, ſchafft die Sclaverey definitiv ab;
Alles dringende, viel zu lange verſchobene Anordnungen.
Allein wer moͤchte ſich nur denken, daß ſie in einer unge-
theilten Staͤndeverſammlung zum Trotze einer widerſtre-
benden ariſtokratiſchen Minoritaͤt durchgegangen waͤren und
nicht durch Verſoͤhnung beider Haͤuſer, wie jetzt, ohne den
Kunſtgriff einer Paͤrs-Ernennung bloß zu ſolchem Zwecke!


Bildung der zweiten Kammer.

150. Die erſte Kammer nimmt die perſoͤnlich und
amtlich Berechtigten auf, und ſtrebt nach Lebenslaͤnglich-
keit, wo nicht Erblichkeit ihrer Mitglieder. Die zweite
Kammer gehoͤrt dem Wechſel und der Wahl an.


151. In der Wahlkammer ſitzen die Gemeinden aus
Stadt und Land durch ihre auf beſtimmte Zeit gewaͤhlten
Abgeordneten. Es iſt alſo nicht davon die Rede, eine be-
ſtimmte Maſſe Volks durch eine beſtimmte Anzahl Depu-
tirte vertreten zu laſſen, auch die Steuerkraft hat nicht die
Hauptentſcheidung. Die Repraͤſentation beruht auf den
Ortsgemeinden, auf der einzelnen Gemeinde, oder wenn
dieſe an Volkszahl und Vermoͤgen zu ſchwach iſt, auf Ge-
meinde-Verbaͤnden.


152. Eine bloß numeriſche Repraͤſentation wird ſo
wenig beabſichtigt, daß vielmehr die Staͤdte, welche in
Deutſchland und Frankreich im Durchſchnitt den vierten
Theil der Bevoͤlkerung ausmachen, billig ſtaͤrker vertreten
werden als nach dieſem Maasſtabe, weil ihre Kraft durch
Verdichtung ſtaͤrker wirkt und ſie die Sitze der mannigfal-
tigſten Intereſſen ſind. Bei vielen kleinen Staͤdten (ſ. g.
9
[130]Sechstes Capitel.
Landſtaͤdten) iſt das freilich nicht der Fall und es koͤnnen
deren mehrere zuſammengefaßt, oder beſſer einzelne zu dem
naͤchſten laͤndlichen Bezirk gelegt werden.


153. Durchaus auch bedarf es keiner beſonderen Re-
praͤſentation der ſogenannten Intelligenz, die, worauf be-
ſonders Poͤlitz dringt, ein Drittel der Wahlkammer aus-
fuͤllen ſoll, aus Beamten, Geiſtlichen, Gelehrten, Ärzten,
Kuͤnſtlern zuſammengebracht. Ein compelle intrare iſt
hier uͤberfluͤßig, ſie finden ſich von ſelber ein. Ehemahls
war dieſes Element anweſend in der Form der Geiſtlich-
keit, als an der alle wiſſenſchaftliche und kuͤnſtleriſche Bil-
dung haftete. Gegenwaͤrtig findet jeder Stand, in wel-
chem mehr mit den Gehirnnerven als mit den Nerven
des Ruͤckenmarks gearbeitet wird, ein offenes Thor fuͤr
die hoͤhere Bildung. Sie hat ihr Standesgebiet aufgege-
ben. Eine Vertretung aber der Kirche und der Wiſſen-
ſchaft als ſolcher gehoͤrt fuͤr die Staͤndeverſammlung nicht,
welche weder liturgiſche Ketzer verurtheilen, noch philoſo-
phiſche Syſteme mit Geſetzes Kraft verſehen ſoll. Ihre
immer wiederkehrende Aufgabe iſt der Rechts-Schutz fuͤr
Perſonen und Eigenthum und eben daher auch die Feſt-
ſetzung der Leiſtungen, die dem Staate durch Perſon und
Eigenthum zu bringen ſind. Dabei kommt auch eine
Seite des Kirchen- und Unterricht-Weſens in Frage,
und gewiß iſt es nuͤtzlich, wenn ein Paar Mitglieder der
Geiſtlichkeit in der Kammer in dieſer Hinſicht Rede ſtehen,
zumahl die Leitung des Volk-Schulweſens billig in geiſt-
lichen Haͤnden liegt; aber ſie werden ſich als Grenzhuͤter
betrachten, Eingriffen wehren, poſitiv hier nichts begruͤn-
den wollen.


Die alte Landſtandſchaft der Univerſitaͤten leitet ſich
[131]Bildung der zweiten Kammer.
von ihrem urſpruͤnglichen Grundbeſitze her, deſſen Verwal-
tung mit ſelbſtaͤndigem Gemeinderecht ſie zu wichtigen po-
litiſchen Koͤrperſchaften machte. Aber gerade dieſer Theil
ihrer Bedeutung iſt uͤberall im Verſchwinden; die neuen
Univerſitaͤten ſind ohne Grundbeſitz errichtet; auch als ge-
lehrte Koͤrperſchaften iſt ihre Selbſtaͤndigkeit geringe; keine
Selbſtwahl der Lehrer mehr; keine unveraͤnderlichen Sta-
tuten; abnehmende Geltung der akademiſchen Wuͤrden im
Staate. Mithin findet an ſich hier kein groͤßerer Anſpruch
auf Beſchickung des Landtags ſtatt, als etwa fuͤr ein hoͤhe-
res Landes-Collegium. Dennoch kann es nuͤtzlich ſeyn einer
unpartheilich zum ganzen Lande ſtehenden Geſellſchaft der Wiſ-
ſenſchaftlichen ein Wahlrecht einzuraͤumen, nur daß die Wahl
nicht nothwendig an ein Mitglied derſelben gebunden ſey.


154. Jeder Waͤhler muß die volle Rechtsfaͤhigkeit
eines Eingeborenen beſitzen, das geſetzliche Alter und (es
waͤre denn daß eine beſſere Bewaͤhrung an die Stelle traͤte)
ein Gewiſſes an ſichern Einkuͤnften. Er muß auch wohn-
haft (oder mindeſtens angeſeſſen) in der Ortsgemeinde, in
welcher er Wahlrechte anſpricht, ſeyn, und verwandt der-
ſelben, wenn auch nicht als Vollbuͤrger, ſo doch durch
gewiſſe Leiſtungen fuͤr die Gemeinde. Noch ſtandesloſe,
und Schuͤtzlinge eines Standes (Lehrlinge aller Art) oder
die in der Gewalt ihrer Glaͤubiger ſtehend, vor der Hand
keinen Stand haben, uͤben kein Wahlrecht. Das Wahl-
recht der Frauen in Canada (doch ohne Waͤhlbarkeit) wird
wol eine muntere Ausnahme bleiben.


Moribus civilia officia ademta sunt feminis. Fr. 1. §. 1. D. 16, 1.’
Auf den deutſchen Reichstagen erſcheinen die Äbtiſſinnen in den
letzten 5 Jahrhunderten nur durch Geſandte. Scheidemantel Repert.
I, 103. vergl. Hugo Naturrecht §. 166. n. 3.


155. Den Maasſtab der Einkuͤnfte fuͤr den Waͤhler
9*
[132]Sechstes Capitel.
giebt eine gewiſſe, ein anſtaͤndiges buͤrgerliches Auskom-
men bedingende Steuer-Quote; es giebt ihn auch eine
gewiſſe Jahres-Einnahme vom Vermoͤgen, vom Nahrungs-
ſtande, oder feſtem Gehalt. Weil aber jeder Cenſus, wie
man ihn auch ſtelle, ungenuͤgende Buͤrgſchaft giebt und
tauſend Wege der Umgehung offen ſtehen, ſo thut man
wohl an ſeiner Statt, aber neben den uͤbrigen allgemei-
nen Erforderniſſen, eine lebendige Graͤnze fuͤr den Kreis
der Waͤhler zu ſuchen. Dieſe waͤre, ſcheint es, gefunden,
wenn man was die Staͤdte angeht, in Anerkennung, daß
der alte Kreis der Buͤrger nicht mehr das ſtaͤdtiſche We-
ſen ausfuͤllt, außer den Magiſtrats-Perſonen, den frei
gewaͤhlten Buͤrgervorſtehern, die es geweſen und noch ſind,
die Mitglieder der Gerichtshoͤfe und ſonſtigen in der Stadt
ſeßhaften Collegien und Behoͤrden, die Geiſtlichen und
hoͤheren Schullehrer, die Älteſten der gewerblichen Koͤr-
perſchaften, die Vorſteher von milden Stiftungen, die
Verwalter des ſtaͤdtiſchen Kranken- und Armenweſens, mit
einem Worte Alles was ein oͤffentliches Zeugniß ſeiner
Thaͤtigkeit im Gemeinweſen fuͤr ſich hat, — mit Waͤhler-
recht ausſtattete. Ungleich ſchwerer iſt die Aufgabe bei den
Landgemeinden; doch auch hier wuͤrde dasſelbe Princip
wenigſtens mitwirken muͤſſen, wenn im Übrigen der noch
unzerſplitterte Zuſtand des baͤuerlichen Eigenthums es ge-
ſtattet den Beſitz eines geſchloſſenen Hofes zur Baſis des
Waͤhler-Rechts zu machen.


156. In Ermangelung ſolcher Einrichtungen wird man
durch die Wahl der Waͤhler, die in beſonders zu dem Ende
zu bildenden Bezirken geſchieht, d. h. durch Wahlcollegien,
den Wahltumult und was ſonſt von Beſtechlichkeit und
Poͤbelherrſchaft droht, vermeiden wollen. Allein man ſpielt
[133]Bildung der zweiten Kammer.
dadurch die Entſcheidung aus der Hand der Leidenſchaft
in die der Gleichguͤltigkeit und ſchließlich in die der Intri-
gue. Weil man die laͤrmende Unordnung vermieden hat
und reinliche Wahlprotocolle zu leſen bekommt, bildet man
bequem ſich ein, es gehe Alles mit rechten Dingen unter
den Waͤhlern zu, aus deren engem Kreiſe mehrentheils doch
auch gewaͤhlt wird. Außerdem hat Burke recht: „Un-
ter den Befugniſſen, die ſich nicht auf andere uͤbertragen
laſſen, giebt es keine, die ſo ungeſchickt dazu waͤre als die
Befugniß, eine perſoͤnliche Wahl anzuſtellen. Handelt der
Abgeordnete den Rechten und Vortheilen ſeiner Conſtituen-
ten zuwider, ſo koͤnnen ſich dieſe nie an ihn, ſondern nur
an die Verſammlung der Waͤhler halten, die ſie gewaͤhlt
hatten, um ihn zu waͤhlen“.


Der an ſich ungerechte Vorwurf, daß das Repraͤſentativ-Syſtem
auf Mechanik, Taͤuſchung, Zufall beruhe, trifft gar ſehr die
Wahlcollegien, welche man ſo unbeſehens in unſere Deutſchen
Wahlgeſetze aufgenommen und ſelbſt bis zu dreifachen Wahlen ver-
feinert ſieht. Frankreich hatte ſeine Commuͤnen zerriſſen, und Frei-
heit und Gleichheit verſprochen; nun fuͤrchtete man Poͤbelwahlen
und erfand die Wahlcollegien. Deutſchland kann durch ein tuͤch-
tiges Gemeindeweſen directe Wahlen gewinnen, die nicht Poͤbel-
wahlen ſind. (Eine loͤbliche Ausnahme bildet in dieſer Beziehung
die Verordnung wegen naͤherer Regulirung der ſtaͤndiſchen Ver-
haͤltniſſe in dem Herzogthum Holſtein vom 15. May 1834.,
welche directe Wahlen anordnet, aber freilich auf Beſitz von
Grundeigenthum, ſelbſt in Staͤdten, Waͤhlerrecht und Waͤhlbar-
keit beſchraͤnkt, und, weil das Gemeindeweſen fehlt, doch am
Ende nur nach dem Cenſus.) Wer moͤchte es unbedenklich finden,
daß das Engliſche Unterhaus durch die Reformacte 800,000
Waͤhler erhalten hat? und wer ſollte nicht wuͤnſchen, daß, wenn
die Verbeſſerung des Brittiſchen Gemeindeweſens gelingt, es moͤg-
lich ſeyn moͤge, ein aͤchteres Princip der Wahlberechtigung einzu-
fuͤhren? Nur ja nicht das der Franzoͤſiſchen Reſtauration, die, als ſie

[134]Sechstes Capitel.
endlich zu directen Wahlen zuruͤckkehrte (Wahlg. v. 5 Febr. 1817),
nicht bloß die Armuth ausſchließen, ſondern auf dem Reichthum
ihre Kammer gruͤnden wollte. Ihre 80,000 Waͤhler bei viel-
leicht 20,000 Waͤhlbaren (dieſe auf 1000 Francs, jene auf 300
directer Steuer geſetzt) ſind ſeit dem neueſten Wahlgeſetz vom 19.
April 1831 freilich mehr als verdoppelt. Man zaͤhlt an 174,000
Waͤhler, ſeit hoͤchſtens 200 Francs directer Steuer die Bedin-
gung dieſes Rechtes ſind, vom double vote des Hoͤchſtbeſteuer-
ten iſt keine Rede mehr, allein noch immer bedingt man
500 Francs directer Steuer fuͤr die Waͤhlbarkeit. Es waͤ [...]
aber ſtatt von meuteriſchem Adel ſchon ein Wort von meuteri-
ſchen Reichen zu reden, und die Stunde mag ſchlagen, da man
in Frankreich eine Buͤrgſchaft der Ruhe in Diaͤten ſieht. Man
hat die Saite ſchon anklingen hoͤren.


157. Faͤlſchlich haͤlt man es fuͤr conſervativ, die For-
derung des Grundbeſitzes, die nicht einmahl in den Landge-
meinden unbedingt durchfuͤhrbar iſt, (denn Pachtungen und
Capitalien und Induſtrie verlangen gleichfalls Ruͤckſicht)
auch auf die Waͤhler der Staͤdte auszudehnen; wie viele
Beamte haben denn jetzt in großen Staͤdten, wo der Haus-
beſitz ein Gewerbe iſt, eigene Haͤuſer? Faͤlſchlich haͤlt man
es aber fuͤr eine Forderung der Freiheit, die Beamten ſo
viel moͤglich von den Staͤnden auszuſchließen. Schlimm
freilich, wenn es wie im Koͤnigreich Niederland ſteht, wo
die Stadt- und Gemeinderaͤthe allein die Provincial-
Staͤnde waͤhlen und dieſe wieder die Repraͤſentation in
die General-Staaten ſenden. Art. 144.


158. Wo das Waͤhlerrecht nicht bloß nach aͤußerli-
chen Beſtimmungen abgegraͤnzt, ſondern nach lebendigen
Verhaͤltniſſen innerlich geordnet iſt, da ſcheint die Waͤhl-
barkeit
vollends keiner Einkommens-Schranke zu beduͤr-
fen, und die Wuͤrtembergiſche Verfaſſung (§§. 134. 135.
146.) wird dem Grundſatze nach wohl recht haben. Frei-
[135]Bildung der zweiten Kammer.
lich wenn die Diaͤten Schuld daran wuͤrden, daß die
Landſtandſchaft zu einem Nahrungszweige ausartete, oder
gar zum Armengelde; welcher Fall doch abzuwarten waͤre,
ehe man vorbeugt; ſo muͤßte auch hier eine kuͤnſtliche
Schranke eintreten, nur ja keine, welche den Schluͤſſel
zur Kammer allein in die Haͤnde des Reichthums giebt.
Wo wohlgeordnete Provincial-Staͤnde ſind, da kann die
Waͤhlbarkeit der baͤuerlichen Grundbeſitzer an die Bedin-
gung geknuͤpft werden, vorher in den Provincial-Staͤnden
geſeſſen zu haben.


159. Die Wahl der Staͤdte darf nie auf die Waͤhl-
baren deſſelben Wahlbezirks beſchraͤnkt werden; und auch
fuͤr die Landwahlen muß die Regel gelten, daß dem
Vertrauen keine Schranke zu ſetzen iſt. Wo indeß neue
Provinzen ſind, die ſich noch nicht im Ganzen fuͤhlen, wo
der Provinzial-Sinn ſcharfe, nie kuͤnſtlich zu verſteckende
Gegenſaͤtze bildet, wo ſich gewiſſe Lebensarten beharrlich
dem Landtage entziehen moͤchten, wo fortwaͤhrende Beam-
ten-Wahlen zu fuͤrchten waͤren oder vorzugsweiſe groß-
ſtaͤdtiſche 1), da mag einſtweilen eine Ausnahme ſich recht-
fertigen.



160. Wuͤnſchenswerth iſt, daß die Wahlhandlung als
ein oͤffentlicher Act in Gegenwart der Gemeinde geſchehe,
und eben darum durch muͤndlich zu Protocoll gegebene Ab-
ſtimmung. Denn uͤberall verdient in oͤffentlichen Dingen
das offene Verfahren den Vorzug vor dem verdeckten, an
welchem ſich die liſtige Schwaͤche des Zeitalters weidet, es
[136]Sechstes Capitel.
waͤre denn, daß die Natur des Geſchaͤftes eine Schranke
geboͤte. Tritt dieſer Fall hier ein? Athen iſt nicht durch
ſeine oͤffentlichen Wahlen der Volksherrſchaft verfallen; es
gerieth dahin, als an die Stelle derſelben mehr und mehr
das blinde Loos trat. Gabinius wollte den Einfluß der
Roͤmiſchen Großen auf die Wahlen ſchwaͤchen und ſeine
Tafeln halfen die Herrſchaft einer beſtochenen Volksmenge
gruͤnden; denn die letzte Scham entwich 1). In England,
wo man muͤndlich ſtimmt, verſpricht man ſich neuerdings
von vielen Seiten Heil von der ſchriftlichen Abſtimmung.
Allein in einem unter den vielgetadelten Einfluͤſſen des
Geldes und der Gunſt gewaͤhlten Parlament iſt gleichwohl
die Reformbill durchgedrungen; eine Erfahrung, welche
hoffentlich genug vermoͤgen wird, daß man die reifen
Fruͤchte der Reformacte eine Weile abwartet, bevor man
dem Lord Durham in unvorſichtigen Änderungen folgt.
In Frankreich ſind alle Partheien fuͤr das Geheimthum.
Wenn Herault Sechelle’s Verfaſſung es noch ins Belieben
ſtellt, ob man geheim oder muͤndlich abſtimme, ſo ſind
Ludwig XVIII und Fuͤrſt Polignac und die Maͤnner der
Charte von 1830 mit dem Geheimniß aller Wahlgeſchaͤfte
einverſtanden 2). Es liegt aber der Unterſchied am Tage
zwiſchen Wahlen, die zum Geſchaͤftsgange der Kammer
gehoͤren und Wahlen, aus denen die Kammer ſelbſt her-
vorgeht. Dort iſt bereits Vertrauen gewaͤhrt, jedes Mit-
glied wird als wuͤrdig betrachtet und keine Wahl in der
Kammer entſcheidet uͤber einen Punkt des oͤffentlichen
Wohls; hier ſoll der Grund des Vertrauens erſt gelegt
werden. In Hinſicht auf die Deutſchen Wahlgeſetze 3) moͤgen
Furcht vor den Umtrieben der Demagogen und Furcht vor
dem Einfluſſe der Beamten ſich einander aufgewogen und
die allgemeine Scheu vor perſoͤnlichen Conflicten mag fuͤr
[137]Bildung der zweiten Kammer.
die ſchweigenden Wahlen den Ausſchlag gegeben haben.
Ein wirklich gegruͤndetes Bedenken gegen laute Wahlen
liegt aber in der gewoͤhnlich gar geringen Zahl der Waͤh-
ler, zumahl in unſern Staͤdten; ein Umſtand der, wenn
vollends unter den Waͤhlern die Haupt-Bewerber ſich be-
ſinden, der ganzen Handlung leicht einen ſehr gereizten
und perſoͤnlichen Anſtrich giebt. Ob aber minder Feind-
ſchaft folge aus der herausgerechneten als aus der erklaͤr-
ten Gegnerſchaft, ſteht noch immer wohl dahin.





[138]Sechstes Capitel.

161. Die Kammer, einmahl durch Wahl vereinigt,
bleibe in dieſer Friſt (ſechs Jahre ſind keine zu lange Zeit)
fernerem Wechſel ihrer Mitglieder moͤglichſt fremd; nur die
ganze wird aufgeloͤst, oder ſtirbt, nachdem ihre Zeit erfuͤllt
iſt, natuͤrlichen Todes. Dem Zuſammen-Einwohnen in
den Geſchaͤften, der Bildung politiſcher Charaktere, der
nothwendigen Unwiderruflichkeit der einmahl erfolgten Wahl,
mithin der Unabhaͤngigkeit der Kammer, treten die verſchie-
denen Erfindungen, welche den Wechſel nie enden laſſen,
ſtoͤrend entgegen: Erſatzmaͤnner, theilweiſe Er-
neuerungen, Verzichtung bis auf Wieder-
wahl
.


Die Erſatzmaͤnner (suppléans), auch Stellvertreter ge-
nannt, ſind eine Erfindung von 1791 1). Sie mehren
die Zahl der muͤſſigen, auf dem Anſtand ſtehenden Politi-
ker, ſchwaͤchen die Verpflichtung des Deputirten, der viel-
leicht zur gefaͤhrlichen Zeit aus der Reihe ſpringt und dar-
um ſicherlich kein Recht behalten darf, wieder einzuſprin-
gen, wenn ſein Erſatzmann ſtirbt; ſie fuͤhren Wandel und
Zufall in die Kammer ein, und laſſen das Urtheil von der-
ſelben nicht zur Reife kommen.


Mit vollem Rechte hat man in Frankreich ſeit der Juli-
Revolution die der Verfaſſung von 1795 abgelernte Af-
terweisheit der jaͤhrlichen Drittel-Erneuerung (Art. 53.),
von Ludwig XVIII. in eine Fuͤnftel-Erneuerung (Art. 37.)
umgeſtaltet, ausgeſtoßen. Sollte ſich wirklich im Groß-
herzogthum Baden die jaͤhrliche Viertels-Ausloſung und
Erneuerung der auf acht Jahre gewaͤhlten Kammer ſo be-
waͤhrt haben, daß ſich ein hinlaͤnglicher Grund zur Nach-
bildung fuͤr das Koͤnigreich Sachſen im Jahre 1831. ergaͤbe?
Soll man den Zufall ſuchen und die Wahlunruhe? Soll
man manchen ſchwaͤcheren Charakter zum Jagen nach eit-
[139]Bildung der zweiten Kammer.
ler Popularitaͤt verleiten, damit im Falle der Ausloſung
die Wiederwahl ja nicht fehlſchlage?


In England iſt die Verzichtung bis auf Wiederwahl,
ſobald ein Mitglied des Unterhauſes ein Kronamt erhaͤlt,
altes Herkommen und hat, wenn auf die Miniſter-Ernen-
nungen eingeſchraͤnkt, guten Grund; auch Neu-Frankreich
legt Werth darauf und die letzte Charte verſpricht ein Ge-
ſetz daruͤber. Wie in einem guten Theile von Deutſch-
land der Staatsbeamte ſteht, vor willkuͤhrlicher Entfernung
geſichert, kann er einen unabhaͤngigen Charakter bewah-
ren, und wo die Gegenwart ſeiner Geſchaͤftserfahrung in
ſo hohem Grade unentbehrlich iſt wie auf unſeren Land-
tagen, darf man ihm ſeine Stellung wol nicht erſchweren.
Und auch dieſes Meſſer hat wieder eine doppelte Schneide.
Oder waͤre der Fall etwa nicht vorgekommen, daß unbe-
queme Widerſacher durch eine kleine Befoͤrderung im
Staatsdienſt fuͤr den Augenblick entfernt worden ſind?



162. Jeder Deputirte iſt nach Aufloͤſung der Kammer
wieder waͤhlbar. Die Verfaſſung von 1791 paßte nicht
fuͤr Frankreich; ſie war unaufrichtig, trug die Republik im
Schooße und wollte ſie Hehl haben. Gleichwohl haͤtte ſie
ſich einige Dauer verſprechen koͤnnen; denn viele tauſend
Familien datirten ihren Wohlſtand von ihr und trugen
allen Enthuſiasmus des Gehorſams, welchen ſie der Krone
verſagten, auf die National-Verſammlung uͤber. Aber
daß die Baumeiſter das Haus verließen, ehe es wohnbar
geworden war, ſich thoͤricht die Wiederwaͤhlbarkeit ab-
ſchnitten, fuͤhrte ohne Verweilen die Republik herbei.


[140]Sechstes Capitel.

Die Geſchäfts-Ordnung.

163. Nachdem die Staͤndeverſammlung eroͤffnet iſt,
fuͤhrt vorlaͤufig das aͤlteſte Mitglied jeder Kammer den
Vorſitz, leitet die Pruͤfung der Vollmachten, beeidigt die
zugelaſſenen Deputirten und fordert, wenn die erforderliche
Zahl der Mitglieder (zwei Drittel) beiſammen und ver-
pflichtet iſt, zur Wahl des Praͤſidenten fuͤr den ganzen
Landtag und ſeines Stellvertreters auf. Dieſe Wahl, (wo
nicht Praͤſentation mehrerer Mitglieder) bedarf ſchlechter-
dings der koͤniglichen Beſtaͤtigung.


Ein Praͤſident auf 14 Tage verſteht ſein Amt nicht und trachtet
um ſo mehr darnach, die 14 Tage zur Epoche zu erheben, waͤre
es auch nur wie Praͤſident Menou (der ſpaͤtere General) durch
den Empfang einer Deputation von masquirten Abgeſandten des
Menſchengeſchlechts. 19. Jun. 1790.
Die Daͤniſche Regierung glaubt der Beſtaͤtigung der Praͤſidenten
ihrer vier ſtaͤndiſchen Verſammlungen entbehren zu koͤnnen.


164. Der Praͤſident handhabt die Policey der Ver-
ſammlung in Gemaͤsheit der von dieſer genehmigten be-
ſondern Vorſchriften (réglement), beachtet, ob die zur
Faſſung eines Beſchluſſes nothwendige Zahl anweſend, giebt
das Wort denen, welche zum Reden aufſtehen, verwandelt
die foͤrmliche Sitzung in eine berathende, ſtellt die Fragen
zur definitiven Abſtimmung und ſtellt ſie ſo, daß jedes
Mahl die Verbeſſerungs-Antraͤge fruͤher als der Haupt-
Antrag und wieder die Verbeſſerungen der Verbeſſerungs-
Antraͤge (sous-amendemens) fruͤher als dieſe zur Abſtim-
mung kommen. Er ſelber ſtimmt nur dann mit, wenn
gleiche Stimmen gefallen ſind.


165. Waͤhrend der berathenden Sitzung verlaͤßt der
Praͤſident den Stuhl und nimmt unter den Devutirten
[141]Die Geſchaͤfts-Ordnung.
Platz (86.). Den Vorſitz fuͤhrt derweile ein Mitglied der
Kammer, welches fuͤr das Mahl oder auch fuͤr den ganzen
Landtag zu dieſem Geſchaͤfte von der Kammer erwaͤhlt iſt.
In der berathenden Sitzung darf jedes Mitglied uͤber den
Gegenſtand der Berathung mehr als einmahl reden.


Berathende Sitzungen ſind (nicht bloß in Staͤndeverſammlungen)
dazu in der Welt, daß auf dem Wege der freieren Discuſſion,
oft durch den raſchen Wechſel von Frage und Antwort, der noch
unentſchiedene Theil der Verſammlung ſich in einer Überzeugung
befeſtige. Dringt man ihnen dagegen die Form auf, daß man
jedem Mitglied nach der Reihe ſeine vorlaͤufige Meinung ab-
fraͤgt, ſo lockt man den Ausdruck einer noch unreifen Überzeu-
gung hervor, die ſich dann um ſo hartnaͤckiger feſtzuſetzen pflegt,
je aͤrmlicher ſie begruͤndet iſt.


166. Der Redner redet von ſeinem Sitze aufſtehend
(ohne Tribuͤne, mithin ohne Verſuchung zu der Breite
aufgeſchriebener Reden) den Vorſitzenden an, nennt dabei
keinen der Deputirten bei Titel und Namen; denn jeder
Deputirter ſitzt unter ſeines Gleichen. Zur Ordnung vom
Vorſitzenden gerufen (d. h. erinnert, daß die Ordnung von
ihm uͤberſchritten ſey), darf er die Entſcheidung der Kam-
mer in Anſpruch nehmen.


Als John Howe 1694 geſagt hatte: Egone, qui Tarquinium Re-
gem non tulerim, Sicinium feram?
beſchloß das Haus die Rede
nicht zu ruͤgen, weil dazwiſchen etwas anderes ſchon geredet ſey.
Hattsell I, 181.

167. Die Abſtimmung uͤber Antraͤge geſchieht in der
Regel durch Aufſtehn und Sitzenbleiben, ausnahmsweiſe
durch namentlichen Aufruf.


Bei Wahlen zu Ausſchuͤſſen entſcheidet in der Regel
die relative Stimmenmehrheit. Wo die abſolute Stimmen-
[142]Sechstes Capitel.
mehrheit vorgeſchrieben iſt (und vielleicht wie bei der Praͤ-
ſidenten-Wahl, ſelbſt ⅖ der Stimmen), ſich aber bei
der erſten Abſtimmung nicht ergiebt, wird dieſe ſo gefun-
den, daß uͤber diejenigen Mitglieder, welche Stimmen er-
halten haben, ſo oft abgeſtimmt wird (jedes Mahl mit
Übergehung desjenigen Mitgliedes, welches die wenigſten
Stimmen erhalten hat), bis die erforderliche Zahl auf ein
einziges Haupt faͤllt.


Alle Wahlen geſchehen durch verſchloſſene Stimmzettel;
denn jeder Deputirte wird als wuͤrdig der Wahl betrachtet
und perſoͤnliche Gereiztheit ſoll nicht ohne Noth unter Maͤn-
nern eintreten, die einen langen Weg zuſammen zu
machen haben.


168. Antraͤge von Mitgliedern koͤnnen durch die bloße
Vorfrage (question préalable), ob die Kammer ſich jetzt
damit beſchaͤftigen wolle, beſeitigt werden; duͤrfen aber in die-
ſem Falle in derſelben Sitzung wieder aufgenommen werden.


Über einen Antrag, welcher an die Regierung gelangen
ſoll, darf nie an demſelben Tage, an welchem ein Mitglied
ihn gemacht hat, abgeſtimmt werden.


Über jedes Geſetz wird dreimahl, und immer in ver-
ſchiedenen Sitzungen abgeſtimmt, uͤber jeden ſonſtigen An-
trag, ſobald es ein Mitglied begehrt, zweimahl.


169. Die Beſtimmung der Ausſchuͤſſe iſt, alle An-
traͤge, welche die Kammer ihnen zuweist, zu pruͤfen und
zur Beſchlußnahme vorzubereiten, nicht minder abweichende
Beſchluͤſſe beider Kammern auf dem Wege des Conferenz-
Ausſchuſſes zu beſeitigen. Findet keine Vereinigung ſtatt,
oder verwerfen die Kammern die von dem beiderſeitigen
Ausſchuſſe geſchehenen Vergleichsvorſchlaͤge, ſo bleibt bei
[143]Die Geſchaͤfts-Ordnung.
landesherrlichen Propoſitionen als letztes Auskunftsmittel
die Zuordnung landesherrlicher Commiſſarien zu ſolchem
Ausſchuſſe beider Kammern uͤbrig. Denn ein Durchzaͤhlen
durch beide Kammern (die Appellation an den Zufall, der
an das Volk vergleichbar) tritt in keinem Falle ein 1).


Die Bildung der Ausſchuͤſſe kann geſchehen wie bei
den Franzoͤſiſchen Deputirten, wo ſich die ganze Kam-
mer von Anfang her in 9 moͤglichſt gleichzaͤhlige Buͤreaus
durchs Loos theilt, von welchen dann ein jedes ſein Mitglied
zum Ausſchuſſe waͤhlt. Dazu kommt ein zehntes Buͤ-
reau fuͤr die Berichterſtattung uͤber Bittſchriften, wozu je-
des der neun Buͤreaus ein Mitglied ſtellt. Alle Buͤreaus
werden monathlich durchs Loos erneuert 2). Man kann
aber auch in Engliſcher Art die Ausſchuͤſſe fuͤr jeden Fall
aus der Kammer waͤhlen. In England nun hat ſich die
Sache in edler Weiſe ſo geſtaltet, daß wenn nicht das ganze
Haus die Ausſchuß-Form annimmt, ſondern eine select
committee
fuͤr genuͤgend haͤlt, der Antragſteller gewoͤhn-
lich ſelber die Mitglieder vorſchlaͤgt und zwar zu gleicher
Anzahl aus den Baͤnken der Miniſteriellen und der Oppo-
ſition. Dieſe Einrichtung hat in ihrer Anwendung auf
Deutſchland darum Nachtheile, weil hier der Partheikampf
ſchon bei der Wahl der Ausſchußmitglieder ſtark hervortritt,
große Anſtrengungen geſchehen, daß nur gleichgeſinnte Mit-
glieder der gerade vorherrſchenden Parthey gewaͤhlt werden
moͤgen, wovon die weitere Folge, daß eine kleine Zahl von
Deputirten in den verſchiedenartigſten Ausſchuͤſſen ſitzt, eine
Fuͤlle von Arbeiten uͤbernimmt, um ſie liegen zu laſſen,
oder Dinge der reifſten Erwaͤgung in einem Zuſtande voͤlli-
ger Rohheit vor die Kammer bringt. Nun moͤchte man
zwar das Heilmittel keineswegs in einem dritten Syſtem,
dem Bairiſch-Darmſtaͤdtiſchen ſuchen, welches nach gewiſſen
[144]Sechstes Capitel.
Kategorieen (Finanzen, Geſetzgebung ꝛc.) unveraͤnderliche
Ausſchuͤſſe feſtſetzt, allein die Franzoͤſiſche Einrichtung ſcheint
wenigſtens fuͤr eine Kammer von einer maͤßigen Anzahl von
Mitgliedern große Vortheile zu gewaͤhren. So beraͤth im
Großherzogthum Baden jede von den fuͤnf Abtheilungen
der Kammer jeden Gegenſtand fuͤr ſich durch und weiht ſo
jedes Mitglied in das Verſtaͤndniß des Gegenſtandes in
engerer Berathung ein; nun erſt erwaͤhlt jede Abtheilung
ihr Mitglied zum Ausſchuſſe, ſo jedoch daß es der Kammer un-
benommen bleibt, Mitglieder hinzuzufuͤgen, und ſo ſtatt der
anfaͤnglichen 5 etwa einen Ausſchuß von deren 9 zu bilden.



[145]Rechte der Staͤnde-Verſammlung.

Rechte der Stände-Verſammlung.

171. Ohne die Einwilligung der Staͤnde-
Verſammlung kommt kein Landes-Geſetz zu
Stande
. Ein Antrag, der durch beide in geſetzlicher
Zahl und Ordnung verſammelte Haͤuſer nach der geſetzli-
chen Stimmenmehrheit beſchloſſen und hierauf vom Koͤnige
genehmigt und verkuͤndigt iſt, hat Geſetzes Kraft. Staͤnde,
ohne deren Rath und wider deren Rath ein Geſetz erlaſſen
werden kann, ſind auch nicht des Rathes maͤchtig, denn
ſie ſind zu ſchwach ſich diejenige Auskunft zu verſchaffen,
welche die Mutter alles guten Rathes iſt. Bloß berathende
Kammern ſind rathlos; ſie verſinken im Überdruſſe ihres
Unvermoͤgens, oder ſie trachten gefaͤhrlich nach Machtver-
mehrung.


172. Das Steuergeſetz unterſcheidet ſich dadurch
von den uͤbrigen Geſetzen, daß in der heutigen Lage des
Staatshaushalts es nothwendig irgendwie durchgehen muß,
nicht allenfalls fuͤr ein Paar Jahre bei Seite gelegt wer-
den kann. Dennoch iſt es ganz unthunlich, die Steuern
ein fuͤr alle Mahl zu bewilligen, ſo daß ſie, wie andere
Geſetze, fortdauerten, bis man wegen einer Änderung
uͤbereinkaͤme. Denn Steuerbedarf, Steuerkraft, Wahl der
Steuern ſind in einem beſtaͤndigen Wechſel begriffen; man
will nicht blindlings, nicht in Bauſch und Bogen bewil-
ligen
. Nun kann zwar von Steuerbewilligung im Sinne
10
[146]Sechstes Capitel.
des Mittelalters gar nicht mehr die Rede ſeyn, denn der
Staat kann keinen Tag ohne Steuern beſtehen; es hieße,
den Staat bewilligen. Die Steuern werden heut-
zutage ſo wenig der Regierung bewilligt, als die Geſetze,
ſondern dem Gemeinweſen, den Bewilligenden ſelber; der
Zuſtand iſt unwiderruflich vorbei, da die Steuern Zu-
ſchuͤſſe waren, die allenfalls auch ausbleiben konnten.
Fragt man inzwiſchen, ob denn nicht die Staͤnde auf das
Recht die Steuern zu verweigern, lieber verzichten ſol-
len, ſo laͤßt ſich das Ja darauf in der Theorie wohl hal-
ten, niemahls aber im Leben. Jener alte Schalk, der ge-
haͤngt werden ſollte, erkannte ſeine Verpflichtung zu haͤn-
gen vollkommen an, aber er durfte den Baum ſich waͤhlen
und nun war ihm kein Baum der rechte. Gerade ſo mit
den Steuern. Wer die einzelnen verweigern darf, kann
ihnen allen beikommen; nimmt man das Recht die einzel-
nen zu verweigern, ſo nimmt man das Recht mit Erfolg
zu pruͤfen und zu bewilligen und mag das Staͤndehaus
nur zuſchließen. Man ſpricht zwar: Was fuͤr die Erhal-
tung des Staats nothwendig iſt, muß einmahl da ſeyn;
aber gerade darum wird es ſich ſtreiten, wieviel denn
noth ſey und woher? und aus dem quale, quantum taucht
wiederum das verhaßte an hervor. Will man ein ge-
wiſſes Quantum als feſtſtehend, ein fuͤr alle Mahl be-
bewilligt, ſetzen, wie Lafitte als Miniſter ein bewegliches
Budget neben einem unbeweglichen im Sinne hatte?
Allein welcher Zweig am Staatsbaum ſoll denn verdor-
ren, wenn das bewegliche, doch immer nothwendige, un-
bewilligt bleibt? In den Verfaſſungen der Deutſchen Bun-
desſtaaten findet die Vorſichtsmaasregel Beifall, daß, wenn
man uͤber das Budget nicht einig wird, die alten Steuern
noch 6 Monate lang erhoben werden. Es fragt ſich in
[147]Rechte der Staͤnde-Verſammlung.
deß noch, ob hierin mehr Sicherheit als Verſuchung liege.
Ruht das Recht in der ganzen Einfachheit ſeiner Bedeu-
tung in den Haͤnden der Staͤndeverſammlung, und iſt da-
bei feſtgeſetzt, daß die Bewilligung fuͤr die ganze Finanz-
periode geſchieht und an keine den Steuern fremdartige
Bedingung geknuͤpft werden darf, ſo wird eben damit eine
Laſt der Verantwortlichkeit auf die verweigernden Staͤnde
gewaͤlzt, welche ihre Klugheit ſcheuen wird, wenn auch der
Wille ſich verſtocken ſollte. Wer will uͤberdies alle Faͤlle
vorherſehen koͤnnen? Werden denn die Grafen Anshelm
und Friedrich im Vaterlande getadelt, weil ſie ihrem Her-
zog Ernſt von Schwaben die Steuer ihres Lehndienſtes
verſagten, als er ſie wider das Vaterland verwenden wollte,
dem ſie ſich hoͤher verpflichtet fuͤhlten 1)? Das ſind nun
achthundert Jahre und das Reich iſt dahin, aber daß das
gemeinſame Vaterland dahin waͤre, ſteht im Deutſchen
Bundesrechte nicht.



173. Um den Misbrauch der Steuern gaͤnzlich abzu-
ſchneiden, moͤchten die Staͤnde Mitverwalter derſelben ſeyn,
einen Ausſchuß abordnen, daß der wie im Mittelalter den
einen Schluͤſſel zum Landkaſten habe, die Regierung den
andern. Sie duͤrfen es nicht. Eben weil ſie beurtheilen
10*
[148]Sechstes Capitel.
ſollen, wie verwaltet wird, duͤrfen ſie nicht mitverwalten,
nicht Parthey zugleich und Richter ſeyn. Die aͤltere land-
ſtaͤndiſche Geſchichte lehrt, daß Ausſchuͤſſe der Art je maͤch-
tiger, je ſtaͤndiger ſie waren, um ſo mehr dahin gewirkt
haben, das lebendige Beſteuerungsrecht den Staͤnden zu
entreißen und in wenige, oft feile, Haͤnde zu ſpielen. Kein
Bedenken ſteht indeß der Wahl ſtaͤndiſcher Commiſſarien
entgegen, welche der Pruͤfung der Finanzrechnungen ſich
fuͤr einen laͤngeren Zeitraum unterziehen 1). Denn detail-
lirte Finanzkunde war ſeit Ariſtides und Cato’s Zeiten die
Sache weniger, iſt auch auf einen Schlag nicht zu erlan-
gen. Nur moͤgen nachwachſende Talente nicht durch die
Lebenslaͤnglichkeit ausgeſchloſſen werden. Maͤnner ſolcher
Art ſind die Pfleger des unvergaͤnglichſten Theiles vom
Steuerbewilligungs-Rechte, das heißt, der Macht Erſpa-
rungen zu bewirken.



174. Die Bedingung der Guͤltigkeit jedes Steuerge-
ſetzes, gleichwie jedes anderen Geſetzes iſt, daß in dem
Geſetze angefuͤhrt ſey, daß es mit verfaſſungsmaͤßiger Zu-
ſtimmung der Staͤnde erlaſſen iſt. Geſtattet das Grund-
geſetz hievon eine Ausnahme, ſo muß auf dieſe bei Ver-
kuͤndigung des Geſetzes Bezug genommen werden.


175. Jeder Kammer der Staͤndeverſammlung ſteht
das Recht des Geſetz-Antrages billig zu, und auch Ge-
ſetzentwuͤrfe vorzulegen bleibt ihr unbenommen 1). Selten
indeß wird eine Kammer wuͤnſchen koͤnnen, ſich der voll-
ſtaͤndigen Ausarbeitung zu unterziehen, weil ſie der Mittel
ermangelt, welche einer Regierung zu Gebote ſtehen, die
durch einen zweckmaͤſſig organiſirten Staats-Rath, die
[149]Rechte der Staͤnde-Verſammlung.
hoͤchſte berathende Behoͤrde im Staate, ihre Geſetzentwuͤrfe
bearbeiten laͤßt. Die Regierung wird ſolche Geſetzentwuͤrfe
durch einen Miniſter vorlegen, ſich vorbehaltend ſie zu-
ruͤckzuziehen, wenn die Verbeſſerungsvorſchlaͤge der Kam-
mern allzutief eindringen. Eben darum wird ſie einfache
Geſetz-Antraͤge lieber durch Mitglieder der Kammer ge-
ſchehen laſſen, damit das Anſehen der Krone bei dem Kampfe
der Meinungen ungetruͤbt durch Partheinahme bleibe 2).




[150]Sechstes Capitel.

176. Jede Kammer bedarf einiger anerkannter Or-
gane der Regierung in ihrer Mitte und es iſt dieſes bei
weitem mehr ein Recht der Kammer ſie zu beſitzen als der
Regierung ſie ſenden zu duͤrfen. Fuͤr die Miniſter aber
ſelber iſt zu wuͤnſchen, daß ſie, wie in England, auf dem
Wege der Wahl ins Unterhaus treten, durch das oͤffent-
liche Vertrauen, welches dem ſonſt Wuͤrdigen darum nicht
verſagt werden darf, weil ihn auf dem Verfaſſungsgebiete ſein
Beruf zunaͤchſt an die Wahrung der Kronrechte knuͤpft. Nur
eine voͤllige Unkunde konnte die Miniſter und mit ihnen
eine Fuͤlle von Auskunft und augenblicklicher Vermit-
telung aus den ſtaͤndiſchen Verſammlungen ausſchließen,
oder ſie nur als Commiſſarien, ohne Sitz und Stimme,
dulden wollen.


177. Keine Vollmachten duͤrfen den Deputirten an
den Willen ſeiner Waͤhler binden; denn die Kammern ſol-
len Geſetze geben und nicht das Volk, nicht die Waͤhler.
Der Deputirte iſt der natuͤrliche Fuͤrſprecher ſeiner Wahl-
gemeinde, allein ſein Eid verpflichtet ihn dem Staate. Als
am achten Juli 1789 die Nationalverſammlung auf Tal-
leyrands Antrag beſchloß, auf die Mandate (cahiers)
weiter keine Ruͤckſicht zu nehmen, beſchloß ſie zwar
wozu ſie rechtlich nicht befugt war, aber handelte po-
litiſch richtig. Denn eine Verſammlung, die nicht uͤber
einzelne Proponenda berathſchlagen, ſondern eine Verfaſ-
ſung gruͤnden ſoll, konnte nicht an die Vorbeſchluͤſſe derer
gebunden ſeyn, die von ihren Gruͤnden nichts vernahmen.


178. Jede Kammer hat das Recht Bittſchriften,
welche von einem Mitgliede der Kammer ihr uͤber-
reicht werden, anzunehmen und die darauf gefaßten Be-
[151]Rechte der Staͤnde-Verſammlung.
ſchluͤſſe der Staͤndeverſammlung den Bittſtellern mitzutheilen.
Werden die in einer Bittſchrift etwa vorgetragenen Be-
ſchwerden gegruͤndet befunden und gehoͤren ſie fuͤr den Wir-
kungskreis der Kammern (fuͤr welchen die richterliche Ge-
ſetzanwendung nicht gehoͤrt, ſondern allein diejenige Geſetz-
anwendung und ſonſtige Thaͤtigkeit, welche auf dem Wege
der Regierung geſchieht und misbraͤuchlich und rechtver-
letzend geſchehen kann), ſo macht die Staͤndeverſammlung die
hoͤchſte Stelle darauf aufmerkſam und bittet um Verbeſſerung.


179. An Vertraͤgen mit andern Maͤchten hat die
Staͤndeverſammlung inſofern Theil als Geldmittel zu deren
Erfuͤllung erforderlich ſind oder ſie in die Geſetzgebung des
Koͤnigreiches eingreifen. Sie wird darum auf unverzoͤgerte
Mittheilung der Tractaten dringen und geheimen Artikeln
abhold ſeyn.


180. Die Kammern ſollen mit-Geſetzgebend, Geſetz-
wahrend, aber eben darum nicht mitregierend, nicht mit-
verwaltend ſeyn. Damit ſie das nicht werden, ſtehen ſie
der dauernden Regierungsgewalt als eine voruͤbergehende,
nur durch Zuthun der Regierung wirkſame Staatsgewalt
gegenuͤber. Der Koͤnig beruft, vertagt (die Kammer ſich
ſelber nur auf Tage), entlaͤßt, loͤst auf. Der Anfang der
Franzoͤſiſchen Revolution war der Moment, da Mirabeau
den dritten Stand beiſammen bleiben hieß gegen des Koͤ-
nigs Befehl und damit durchdrang. Permanente Staͤnde-
verſammlungen ſetzen ſich ſtets an die Stelle der Regie-
rung; auch ſtaͤndiſche Ausſchuͤſſe, welche ſelbſt die Aufloͤ-
ſung
der Staͤndeverſammlung uͤberleben wollen, fuͤhren
zur Mitregierung. Man mag den Beleg fuͤr ſie aus dem
Mittelalter geben, ſchwere Thaten der Vergangenheit an-
[152]Sechstes Capitel.
fuͤhren; eine Verfaſſung traͤgt nicht ungeſtraft den Charak-
ter despotiſcher Erinnerungen an ſich; eine ſolche ſchafft
Despoten.


181. Jeder Kammer fuͤr ſich gebuͤhrt das Recht durch
eine Adreſſe ihre Geſinnungen und Wuͤnſche gegen den
Koͤnig oder die Regierung auszuſprechen. Sie bildet die
Phyſiognomie der Verſammlung ab. Gluͤcklich wenn beide
Kammern in der Adreſſe einig zu ſeyn vermoͤgen, aber ſie
zur Einheit zuſammenzwingen, fuͤhrt wo nicht zur Unbe-
deutendheit, ſo zur Luͤge. Alle Antraͤge dahingegen, welche
geradezu eine rechtliche Folge beabſichtigen, muͤſſen von der
Staͤndeverſammlung als ſolcher ausgehn.


182. Weder eine einzelne Kammer, noch die Staͤnde-
verſammlung hat das Recht Erklaͤrungen oder Rechtsver-
wahrungen an das Volk oder an die Landesbehoͤrden zu
richten. Sie ſteht allein in unmittelbarem Verhaͤltniß zur
hoͤchſten Regierungs- und Verwaltungs-Behoͤrde und alle
ſtaͤndiſchen Mittheilungen gehen durch dieſe. Hiervon ſind
allein die Antworten auf Bittſchriften ausgenommen.


183. Jeder Landſtand hat das Recht einer unverhoh-
lenen Oppoſition; er kann ſeine Treue ſo gut im Nein
als im Ja bewaͤhren. Aber eben weil Wahrheit ſein Ziel
iſt, verwirft er die ſyſtematiſche Oppoſition (von der man
auch in England als von einer Maasregel der noch in der
Partheiung befangenen, ungelaͤuterten Verfaſſung zuruͤck-
zukommen anfaͤngt), hilft keine Parthey von Ja oder
Nein bilden, ſondern ſtimmt wie die Sache es jedes Mahl
von ſeiner Überzeugung fordert — measures, not men,
ſo lange nur irgend thunlich.


[153]Rechte der Staͤnde-Verſammlung.

184. Die Kammer hat das Recht Landesbeſchwerden
vorzutragen und durch die Anklage der Miniſter zu
verfolgen (130 ff.).


185. Die Sitzungen der Kammern ſind oͤffentlich,
beider, denn ſonſt uͤberwiegt die oͤffentliche Kammer. In
der Öffentlichkeit iſt mitenthalten, daß der Aufzeichnung
und unverſtuͤmmelten Mittheilung der ſtaͤndiſchen Verhand-
lungen durch den Druck nichts in den Weg treten darf.
Nur ja kein Nachtwandeln, da man keinen Namen nennen
darf ohne ein Ungluͤck anzurichten. Geheime Sitzungen fin-
den ausnahmsweiſe ſtatt, auf Begehren der Regierung oder
auf den Antrag von ein Paar Mitgliedern der Kammer.


Bekannt genug, daß man in England ſeit der Regierung Georgs
III die Parlamentsverhandlungen taͤglich hoͤren und leſen kann,
in Widerſpruch mit dem beſtehenden Geſetze, bloß durch Conni-
venz. Es waͤre aber kein Wunder, wenn der Brand der Parla-
mentshaͤuſer am 16. Oct. 1834. den Anſtoß zu einer Veraͤnde-
rung in der Geſetzgebung gaͤbe.


186. Die Zweckmaͤßigkeit der in Übereinſtimmung mit
den Ordnungen der Natur jaͤhrlich feſtzuſetzenden Steuern
fuͤhrt auf jaͤhrliche Staͤndeverſammlungen hin. Die jaͤhr-
liche Zuſammenkunft nimmt mehr Kraͤfte aber fuͤr kuͤrzere Zeit
in Anſpruch, erſchuͤttert minder und laͤßt die Geſchaͤftskennt-
niß nie ausgehn. Sie hat auch ihren beſondern Nutzen fuͤr
die Begruͤndung eines lebendigen Verhaͤltniſſes der allge-
meinen Staͤndeverſamlung zu Provinzialſtaͤnden.


Item it is accorded that parliament shall be holden every year
once, and more often if need be.
(4. Edward. II. — 1330.)

Im altkoͤniglichen Frankreich wurden die Reichsſtaͤnde im funf-
zehnten und ſechzehnten Jahrhundert uͤberhaupt nur zehn Mahle
berufen, im ſiebzehnten nur einmahl, 1614. Dann 1789.


[154]Sechstes Capitel.

187. Die Mitglieder der Kammern ſind auf ihrer Reiſe
zur Staͤnde-Verſammlung 1) und waͤhrend der Dauer ihrer
jedesmahligen Verſammlungsperiode frei von Civil-Ver-
haft. Decrete der eigenen Unverletzlichkeit ſind eine An-
maaßung der Souveraͤnitaͤt, an welcher weder das Mit-
glied, noch die Koͤrperſchaft Theil hat.



188. Den Mitgliedern der Wahlkammer und den nicht-
erblichen Mitgliedern der erſten Kammer werden Tagegel-
der und Reiſegelder gezahlt. Die Einfuͤhrung der Diaͤten
in die Wahlkammer mag man eher ein Landes-Recht als
ein ſtaͤndiſches heißen. Sie verbuͤrgen dem Volk, daß ſeine
Wahlkammer dem buͤrgerlichen Verdienſt auch ohne das Geleit
des Reichthums offen ſteht. Sie werden aus der Staats-
caſſe entrichtet. Moͤgen ſie dieſen und jenen Untuͤchtigen
anlocken; viel ſchlimmer doch, wenn, in Ermangelung der-
ſelben, am Ende der mindeſtfordernde zum Abgeordneten
gewaͤhlt wuͤrde.


In England erhielt zu Koͤnig Eduards III. Zeit ein Ritter 4, ein
Buͤrger 2 Schilling Diaͤten. Die Diaͤten wurden nach der Heim-
kehr fuͤr die Dauer der Abweſenheit ausbezahlt und zwar von
den Committenten. Die Lords und ihre Leibeigenen trugen nichts
dazu bei (Lingard, Überſ. v. Salis IV., 140. vgl. 147.). Ein-
zig in ſeiner Art mag wol der Vorgang in Frankreich auf dem
Reichstage zu Tours 1483 ſeyn, wo die beiden erſten Staͤnde
dem dritten ſaͤmmtliche Reichstagskoſten, auch den Sold fuͤr
ihre eigenen Deputirten
aufbuͤrden wollten, weil, wie
ſie behaupteten, der dritte Stand zur Ernaͤhrung der beiden an-

[155]Rechte der Staͤnde-Verſammlung.
deren geſchaffen ſey. Jedes Mitglied der conſtituirenden Natio-
nalverſammlung, 1200 an der Zahl, bezog taͤglich 18 Livres;
jeder Tag koſtete alſo 21,600 Livres. Beim Ausbruche des Krie-
ges 1792 widmeten die Deputirten 1∫3 ihrer traitemens dem
Vaterlande (22. April). Das Wahlgeſetz vom 5. Febr. 1817
ſchaffte alle Diaͤten und Reiſegelder ab (a. 19. les députés à
la chambre ne reçoivent ni traitement, ni indemnité),
auch
die Portofreiheit hoͤrte auf, die Wahlen wurden direct, aber ge-
riethen nun vollends in die Hand eines geſchloſſenen Standes der
Reichen, in dem man nicht ohne Urſache die Grundlage zu einer
Roͤmiſchen Ritterſchaft geſehen hat, wie denn ſchon die Rede da-
von war, die Geſchworenen allein aus ihm zu nehmen.


189. Die Staͤndeverſammlung hat bei jedem Regie-
rungswechſel die Verſicherung des Koͤnigs, oder des mit
koͤniglicher Gewalt bekleideten Regenten, daß die Verfaſ-
ſung unverletzt aufrecht gehalten werden ſolle, zu empfan-
gen und urkundlich zu bewahren. Ob bei Eid oder Koͤnig-
lichem Wort mag gleich gelten; verba enim principis
sunt et esse debent instar lapidis angularis, cui incon-
cussa veritas superaedificanda immota stare debet
1).



Verhältniß der allgemeinen Ständeverſammlung
zu Provinzial-Ständen
.

190. Vor Alters reisten Koͤnige von Landſchaft zu
Landſchaft, die Meinung der Staͤnde hier und dort ein-
holend, um zuletzt nachzuſehen, ob ſie ſich unter einen
Hut bringen laſſe. Sobald aber eine Verſammlung der
Reichsſtaͤnde vorhanden iſt, laͤßt ſie den Einſpruch der Land-
ſchaften nicht aufkommen. Sie thut recht daran; aber
unrecht thaͤte ſie nun gar keine Provinzial-Staͤnde zuzu-
[156]Sechstes Capitel.
geben oder gar die Provinzen ſelber zu zerſtoͤren als un-
noͤthige Denkmaͤler der Veraltung, wie das revolutionaͤre
Frankreich that. Gerade im Gegentheil: die Geſchichte der
Landſchaft iſt die Weltgeſchichte des groͤßeren Theiles ihrer
Bevoͤlkerung; dieſe begreift ſich im angeſtammten Selbſt-
gefuͤhle einer provinzialen Bedeutenheit, fuͤhlt ſich uͤber
Familien- und Orts-Gemeinde hinaus in einem hoͤher
ſtehenden Ganzen. Die Zeit wird ſchon ſorgen, daß es
auch an Solchen nicht fehle, die weiter blickend den Staat
uͤber die Landſchaft ſtellen, die Reichsſtaͤnde uͤber die Pro-
vinzial-Staͤnde. Wie oft aber haben ſich bedraͤngte Lan-
desfreiheiten in die Feſtung der Provinzialrechte gefluͤchtet?


191. Die Aufgabe iſt, das lebendige Verhaͤltniß bei-
der zu einander zu finden und grundgeſetzlich feſtzuſtellen.
Man ſagt nicht richtig: Provinzial-Staͤnde duͤrfen bloß
rathen, die Entſcheidung kommt den Reichsſtaͤnden zu.
Auch Provinzial-Staͤnde haben ihres Orts Entſcheidung
z. B. uͤber die Vertheilung landſchaftlicher Steuern, uͤber
die Bewilligung ſelbſt von ſolchen Steuern, welche noth-
wendige, aber bloß dieſer Provinz angehoͤrige Beduͤrfniſſe
z. B. Deiche beſtreiten. Das allgemeine Verhaͤltniß iſt:
ihre Beſchluͤſſe duͤrfen die der allgemeinen Staͤndeverſamm-
lung nicht kreuzen, muͤſſen ſich dieſen unterordnen. Alle
provinziellen Ausnahmen von den allgemeinen Landesge-
ſetzen beſtehen daher nur durch die Billigung der Reichs-
ſtaͤnde. Darum darf auch den Provinzial-Staͤnden das
Recht landſchaftliche Anlagen zu allgemeinen Zwecken zu
bewilligen nur in ſehr beſchraͤnktem Maaße zuſtehen. Man
muß ein Maximum feſtſetzen, fuͤr jede Provinz vermuthlich
ein verſchiednes 1). Geldanlagen daruͤber hinaus beduͤrfen
vor ihrer Ausſchreibung der Pruͤfung und Genehmigung
[157]Provinzial-Staͤnde.
der allgemeinen Staͤnde. Damit verſchwindet aber auch
die Beſorgniß, daß vielleicht in einer allgemeinen Staͤn-
den abgeneigten Zeit die Steuern mit Umgehung der Reichs-
ſtaͤnde wieder Provinzenweiſe eingeholt werden moͤchten.



192. Um aber wahrhaft zu nutzen, muß die Provin-
zialvertretung eine Anerkennung der gewordenen und zum
Werden draͤngenden Bevoͤlkerungs-Kraͤfte enthalten, kei-
nen Keim erſticken. Praͤlaten, Ritter, einige Staͤdte rei-
chen nirgend mehr aus. Allenthalben muß der Bauern-
ſtand Aufnahme finden und gerade ihm ſey dieſe Thaͤtig-
keit die Vorſchule fuͤr den Eintritt in die allgemeinen
Staͤnde. Die beſondern Verhaͤltniſſe jeder Provinz muͤſſen
aber entſcheiden, ob man ſich nach Curien berathen mag
und welchen und wie vielen, ferner ob es rathſamer ſey
auch nach Curien abzuſtimmen oder in ungetheilter Ver-
ſammlung.


Wer da behauptet, daß Provinzial-Staͤnde ohne allgemeine Staͤnde
vollkommen ausreichen, in deſſen Phantaſie muß die Zeit der
Provinzial-Finanzen, der Provinzial-Schulden noch der Ge-
genwart angehoͤren. Wie es heute ſteht, geht jeder irgend be-
deutende Gegenſtand der Berathung uͤber die Provinz hinaus
und unerbittlich wird der tiefer eindringenden Unterſuchung ihre
Spitze abgebrochen, wenn ſie ſich an keine reichsſtaͤndiſche Auf-
klaͤrung anlehnen kann. Als auf dem zweiten Schleſiſchen Land-
tage vom Jahre 1828. die Staͤnde uͤber Überſteurung klagten,
relative und abſolute, ward ihnen umſtaͤndlich ſoweit Quadrat-
meilen und Bevoͤlkerung da entſcheiden, nachgewieſen, daß ſie in
Verhaͤltniß zu andern Provinzen nicht zu viel bezahlten, allein
in Abſicht auf das uͤberhaupt zu viel wurden ſie bedeutet,
daß der Antrag der Ermaͤßigung des Staatsbedarfs nicht zu
ihrer Competenz gehoͤre. Ganz gewiß mit vollem Rechte; aber

[158]Sechstes Capitel.
hat nicht derjenige gleichfalls recht, welcher leugnet, daß Pro-
vinzial-Staͤnde ein Äquivalent von Reichsſtaͤnden ſind?


193. Durch eine wohlgeordnete allgemeine Staͤnde-
verſammlung kommen, ſoweit die Macht von Einrichtun-
gen reicht, zugleich rechtmaͤßige und zweckmaͤßige Geſetze
zu Stande, rechtmaͤßig in Bezug auf ihre Quelle, die freie
Übereinkunft der Staatsgewalten, zweckmaͤßig in Bezug
auf ihren Gegenſtand, inſofern alle Sorge aufgewandt iſt,
die beſten Kraͤfte des Staates zum Werke gerechter, ver-
nuͤnftiger und dauerhafter Geſetzgebung zu vereinigen.
Denn wie die buͤrgerliche Freiheit nicht darin allein beſteht,
daß nach Geſetzen gelebt wird und nicht nach dem Gebot
der augenblicklichen Willkuͤhr, da dieſe Geſetze Familie und
Eigenthum unterdruͤcken koͤnnten, ſondern hauptſaͤchlich in
der Gerechtigkeit und der ſchuͤtzenden Kraft der Geſetze;
ſo beſteht auch die ſtaatsbuͤrgerliche Freiheit nicht allein in
dem ſtolzen Bewustſeyn vom Antheile des Volks an der
Geſetzgebung, ſondern hauptſaͤchlich in dem hoͤheren menſch-
lichen Werthe der Ordnungen dieſes Urſprungs.


194. So lange eine Staatsverfaſſung, in ihrem alt-
herkoͤmmlichen Leben ununterbrochen, fortbeſteht, geluͤſtet
es einen Schriftſteller vielleicht das ausgefuͤhrte Portrait
der lebenden zu zeichnen, allein von Staatswegen wird
man ſchwerlich eine authentiſche Abbildung aufſtellen, und
dem Leben befehlen wollen nach dem geformten Abbilde ſich
zu achten, vielmehr abweiſen jeden Verſuch der Art, wel-
cher leicht in die geiſtigen Zuͤge ſtarre Haͤrte bringen, un-
ausgeſprochene, in gluͤcklicher Freiheit ſchwebende Verhaͤlt-
[159]Provinzial-Staͤnde.
niſſe zu nothwendigen und eben darum ſtreitigen machen
moͤchte. Bloß einzelne Urkunden haͤngen ſich an ein ſol-
ches Verfaſſungsleben an, von beſtimmten Verhaͤltniſſen
zeugend, wie ſie einmahl in Streit geriethen, hierauf ge-
aͤndert oder verglichen wurden. So hat England das Be-
duͤrfniß der Verzeichnung aller Verfaſſungsrechte in einer
ſyſtematiſchen Urkunde bisher nie gekannt und ſelbſt den
großen Act der Aufnahme von Schottland und Irland in
ſeinen Parlaments-Verband durch Schriften beſtaͤtigt, die
eben nur das enthalten, was am Herkommen jetzt zu aͤn-
dern war; denn trotz aller politiſchen Stuͤrme hat das
Brittiſche Staatsſchiff bis auf dieſen Tag ſeine Bahn ſtets
wieder gefunden. Anders mit Deutſchland, deſſen Reichs-
verfaſſung als es eben an der Zeit war, jenem Staten-
Staate des Mittelalters zu entwachſen, hoffnungslos im
Zwieſpalt erkrankte, deſſen Territorial-Verfaſſungen ſtarr
geworden waren ſchon vor dem Untergange des Reichs,
welches hierauf eine lange Fremden-Herrſchaft zu erdul-
den hatte, und nach deren Entfernung kein Reich wieder
werden ſollte, ſondern werden was es nie zuvor geweſen,
ein Bund von ſouveraͤnen Deutſchen Staaten, in welchen
zum großen Theile Fuͤrſten und Unterthanen ſich einander
als Fremde gegenuͤber ſtanden. Hier mußte wie auf einer
Brandſtaͤtte ein politiſcher Neubau unternommen werden.
Er geſchah in der Bundesacte, in den Verfaſſungsurkun-
den der einzelnen Bundesſtaaten. An dieſen iſt viel und
mit Recht getadelt worden; das erſtorbene Naturleben, die
noch junge Kunſt liegen nur zu klar am Tage; allein die
Nothwendigkeit der Sache an ſich ſelber wird allein von
denen verkannt und mit den umwaͤlzenden Neigungen der
Zeit zuſammengeworfen, welche uͤberall in Deutſchland
unumſchraͤnkte Regierungen pflanzen moͤchten und den
[160]Sechstes Capitel.
Staat halb als Vaterhaus, halb als Kirche uͤbertuͤnchen.
Waͤre es dieſer Anſicht gelungen in dem Grade wie ſie wollte
durchzudringen, ſo haͤtten ſich an keinem Deutſchen Damme
die Wogen des Jahres 1830 gebrochen. Die gerechtere
Nachwelt wird an unſern Staͤndeverſammlungen zwar min-
der was ſie ſchufen ſchaͤtzen als was ſie verhinderten, aber
dennoch dieſes, daß ſie gefaͤhrlich unbeſtimmten Wuͤnſchen
endlich doch eine fruchtbare Richtung auf die wirkliche Lage
des Deutſchen Lebens abgewannen, daß ſie einer kleinen
Pflanzſchule tuͤchtiger Deutſcher Staatsmaͤnner ſchon das
Daſeyn gaben, daß ſie, durch Erfahrung kluͤger gewor-
den, ſich mit der Zeit bequemten einige Gemaͤcher der
Freiheit nach Gelegenheit des Orts wohnlich auszubauen,
auf die Gefahr, daß von dem hohen Fach- und Latten-
Werke unſerer Staatsgrundgeſetze, in welchem die ſtaͤndi-
ſchen Feuerwerker niſten, ein guter Theil ungebraucht zu-
ſammenſtuͤrze.


[161]Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.

Siebentes Capitel.
Von der Ausfuͤhrbarkeit der guten Verfaſſung
.


195. Ariſtoteles verlangt von jeder in Anwendung zu
zu ſetzenden Verfaſſung, ſie ſoll zuvor ihre Ausfuͤhrbarkeit
darthun. Mit Recht, und auch zur Weiſung fuͤr dieſe
Darſtellung hier. Denn ſo wenig wir es auch unternah-
men eine Staatsverfaſſung fuͤr jeden Boden und fuͤr jede
Zeit zu bauen, was in Wahrheit fuͤr keinen Boden hieße
und fuͤr keine Zeit, ſondern auf dem Europaͤiſchen Volks-
grunde weilten und auf dieſem Mittelboden der Gegenwart;
ſo giebt es dennoch auch innerhalb dieſer Schranke gebie-
teriſche Thatſachen, welche ſich gegen die Verfaſſungsfor-
men, die wir aufgeſtellt, auflehnen, ſie manchmahl ganz
verbieten. Bedenken dieſer Art ſind uns zwar ſchon oͤfter
aufgeſtoßen. Ob der Staat groß oder klein, dicht be-
wohnt, oder von duͤnner, dabei zerſtreuter Bevoͤlkerung iſt,
Ob ſeine Örtlichkeit fuͤr den ausgebildeten Staat uͤber-
haupt geeignet, Ob er in ſeiner Volksentwickelung ſchon
vorwaͤrts geſchritten, oder noch zuruͤck, oder aber gewalt-
ſam darin gehemmt iſt, Ob er in einem Kreiſe gleicharti-
ger Staaten, oder vielleicht, wie die Nordamerikaniſchen
Freiſtaaten, umgeben von ſehr untergeordneten Bevoͤlkerun-
gen lebt — alle dieſe Fragen gehen die Ausfuͤhrbarkeit un-
mittelbar an. Indeß laͤßt ſich auf dieſelben, wenn wir
an unſerm Welttheile halten, im Ganzen eine guͤnſtige Ant-
wort geben. Wir haben manchen Staatsboden von genuͤ-
gender Raͤumlichkeit und Bevoͤlkerung um feſtzuſtehn im
Staatengedraͤnge, von hinlaͤnglicher Ergiebigkeit um viel-
fache Betriebe, um den Aufwand des Koͤnigthums und
11
[162]Siebentes Capitel.
eine Ariſtokratie zu tragen, die nicht unterdruͤckt; Aus-
nahmen nur ſind die Trauerſtaͤtten, auf denen ein Volk
der Sieger drohend uͤber dem knirſchenden Beſiegten ſteht,
ohne Hoffnung auf einen Reccared; der Sclavenſtand iſt
im Verſchwinden und der Krieg der Hautfarben hat uns
nie den Staat erſchwert.


196. Sind hiemit ſo manche Vorfragen guͤnſtig fuͤr
unſern Welttheil und gerade auch fuͤr ſeine Gegenwart ent-
ſchieden, ſo bleibt doch eine Schwierigkeit noch haͤufig un-
geloͤst, welche ſich durch die Frage ausdruͤckt: Ob der
Staat von einfacher oder zuſammengeſetzter
Bauart iſt
. Die Zuſammengeſetztheit kann in der Ört-
lichkeit, ſie kann auch in der Staatsbevoͤlkerung ihren
Grund haben. Die oͤrtlichen Hinderniſſe zwar verlieren
taͤglich an Bedeutung. Schon im fruͤhen Mittelalter hatte
der Handelstrieb die Macht, indem er entfernte, reich aus-
geſtattete Voͤlker zu einander zog, zugleich die dazwiſchen
liegenden aͤrmer begabten, (Schweitzer, Tyroler) aus ihrer
Iſolirung in die allgemeinen Bahnen fortzureißen; den
Wall der Gebirge, welcher Schweden und Norwegen trennt,
kann neue Kunſt uͤberwinden und dem armen Bewohner
der Pyrenaͤen, der am Seile ſchwebend den Buchweitzen
ſeines Felſenabhangs aͤrndten muß, ruͤckt die Kunſtſtraße,
welche ſein Daſeyn aͤndern wird, ſchon nahe genug. Wich-
tig fuͤr Schutz und Trutz und Wohlergehn wird es immer
bleiben, wenn die Staatsglieder allgemach wohl abgerun-
det beiſammenliegen, allein bei weitem weſentlicher iſt es
dennoch, daß der Staat in voͤlkerſchaftlicher Beziehung der
Einheit faͤhig ſey. Einfach in dieſer Betrachtung nennen
wir den Staat, deſſen Bevoͤlkerung einer und derſelben
Volksart und Regierungsform angehoͤrt und der auch nach
[163]Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.
außen zu jedem andern Staate voͤllig unabhaͤngig ſteht,
Herr der Buͤndniſſe und Vertraͤge, welche ſein Daſeyn be-
dingen. Die Zuſammengeſetztheit kann aber ebenfalls in-
nerlich und aͤußerlich an dem Staate haften: das heißt
verſchiedenartige Voͤlker koͤnnen den Staat bilden, indem
ſie demſelben Oberherrn gehorchen; es kann aber auch ein
unvermiſchtes Staatsvolk im zuſammengeſetzten Staate le-
ben, wenn es mit einem andern Staate oder mehreren
derſelben Volksart in unaufloͤslichen Bundesverpflichtungen
ſteht, welche das Ganze des Staats umfaſſen.


197. Auch in dieſem Betrachte weiſt zwar die Ge-
ſchichte große Thaten der gelungenen Ausgleichung auf.
Ein kleines Volk, mit einem großen Nachbar im Staate
verbunden, nimmt wol allmaͤhlig die Sprache und Art
des großen an; auch der gemiſchte Staat vereinfacht
ſich mit der Zeit, denn zwei verſchiedene chriſtliche Bevoͤl-
kerungen in demſelben Lande beiſammen, bilden am Ende
eine dritte gemeinſame Sprache und Volksart, in der ſie
ihren Frieden finden und nichts ſteht dann der Vereini-
gung der Regierungsformen weiter entgegen; allein der
beharrlich zuſammengeſetzte Staat ſtraͤubt ſich ent-
ſchieden gegen Einrichtungen, welche ſein Daſeyn zerſtoͤren
wuͤrden. Es moͤgen Laͤnder mit verſchiedenartigen Bevoͤlke-
rungen, groß genug jede um ſelber ein Reich fuͤr ſich zu bil-
den und jede eingedenk, daß das ehemahls der Fall war,
unter demſelben Fuͤrſtenhaupte ſich vereinen, oder es mag
eine große Nation, die ein Jahrtauſend hindurch ein Reich
bildete, in viele Monarchieen zerfallen ſeyn, die das Recht der
voͤlligen Selbſtaͤndigkeit beſitzen und an die Stelle der
Reichseinheit einen unaufloͤslichen Bundesverein ſetzen, —
in beiden Faͤllen, der Grund der Zuſammengeſetztheit liege
11*
[164]Siebentes Capitel.
nun im Naturleben ſeines Volks oder in der Geſchichte ſei-
ner Regierung, kann von der Ausfuͤhrbarkeit der aufge-
ſtellten guten Verfaſſung nur ſehr bedingungsweiſe die
Rede ſeyn.


198. Fragen wir die Geſchichte. Groß-Britannien
war ein zuſammengeſetzter Staat und iſt es in manchem
Betrachte noch. Verſchiedenartige Nationalitaͤten wider-
ſtritten lange jedweder inneren Vereinigung, ſeit Eroberung
und Erbfall Irland und Schottland fuͤr die Dauer an die
Beherrſcher Englands brachten. Vom Hauptlande ging
indeß die Einheit-bildende Kraft aus in That und Schrift;
die Hauptſtadt des Hauptlandes iſt Sitz des allgemeinen
Parlaments geworden, und die Emancipation des Jahres
1829, die keine einzige Wunde des Irlaͤndiſchen Wohlſtan-
des heilt, iſt doch ein Balſam fuͤr die Wunden, welche
der Überzeugung geſchlagen ſind. Altes Unrecht laͤßt ſich
doch am Ende verſchmerzen; neues Recht, Macht, Reich-
thum, Bildung, eine Fuͤlle ſchon gemeinſamer Erinnerun-
gen treten auf die Seite der zu vollendenden Einheit.


Das alte Polen erhielt im Jahre 1386 denſelben
Herrn mit Litthauen; aber lange Zeit ſtanden die beiden
Haͤlften des zuſammengefuͤgten Staates ſtarr einander ge-
genuͤber. Es dauerte faſt zweihundert Jahre, bevor man
zuſammenzuwachſen beſchloß. Wieder zweihundert Jahre
hatte man zuſammengehoͤrt, als das Polniſche Reich ge-
theilt und fortgetheilt ward, bis nichts mehr davon uͤbrig
blieb. Kaiſer Alexander von Rußland machte den Verſuch
den Theil des unterjochten und zerſtuͤckelten Polens, das
ihm zugefallen war, durch eine freie Verfaſſung mit ſei-
nem Schickſal zu verſoͤhnen; er ſaͤete Polniſches Selbſtge-
fuͤhl und hoffte Unterwuͤrfigkeit unter Rußland zu erndten.
[165]Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.
Dieſer Verſuch mußte ſcheitern. Das Selbſtgefuͤhl, von
der Verfaſſung geſtaͤrkt, wandte ſich gegen die kuͤnſtliche
Ordnung der Dinge der natuͤrlichen zu, der Wiederher-
ſtellung der Nation. Die Sache hat ſo ſich graͤuelvoll ge-
ſtaltet, daß die planmaͤßige Vernichtung der Polniſchen
Nation als die einzig ſichere Maaßregel erſcheint, durch
welche die Staͤtten, welche Polen hießen, von Ruſſen be-
herrſcht werden koͤnnen. Die Entſcheidung iſt den Ereig-
niſſen vertraut.


Durch ganz Skandinavien wohnte urſpruͤnglich der-
ſelbe Volksſtamm verbreitet, dieſelbe Sprache, dasſelbe
Heidenthum, gleichzeitig auch das Chriſtenthum; doch ließ
es die Ausdehnung und die Zerſchnittenheit des aͤrmlich
bevoͤlkerten Bodens zu keiner Skandinaviſchen Reichsein-
heit kommen. Als endlich dennoch die drei Reiche einem
fuͤrſtlichen Haupte huldigten, war das Naturleben ſchon
dahin, Schweden hatte ſeine Sprache fuͤr ſich und der
Staat galt hier vornehmlich mehr als der Stamm. Man
wollte ſeine Beſonderheit nicht aufgeben; ihr Alles vorbe-
haltend, bildete man nur fuͤr den Schutz nach Außen eine
Unionsverfaſſung. Daͤnnemark war Anfangs factiſch das
Hauptland, aber man ertrug es nicht. Der Koͤnig ſollte
allen drei Reichen gleichmaͤßig angehoͤren und ward da-
durch heimathlos; man machte einen Nomaden aus ihm.
Bald fiel Schweden ganz ab. Jetzt erſt gelang es Daͤn-
nemark das Norwegiſche Land gleicher Zunge zu ſeinem
Nebenlande zu machen, ihm ſeine Verfaſſung zu entreißen.
Seit 1813 iſt nun aber Norwegen von Daͤnnemark los-
getrennt, mit Schweden unter demſelben Koͤnige unirt
gegen den aͤußeren Feind, indeß unter voͤllig verſchiedener
Sprache, Verfaſſung und Verwaltung. Schweden und
Norwegen bilden einen zuſammengeſetzten Staat; einer iſt
[166]Siebentes Capitel.
an den andern gebunden, aber wie zwei verſchiedene Le-
ben, nicht wie ein Leib und eine Seele. Aber auch Daͤn-
nemark iſt in anderer Beziehung ein Staat von zuſam-
mengeſetzter Verfaſſung; außer dem eigentlichen Koͤnigreiche
gehoͤren die Herzogthuͤmer Schleswig und Holſtein und
ſeit einigen Jahren auch Lauenburg dieſem Scepter an,
der Hauptſache nach deutſchredende Lande. Lauenburg nun
gemeßt ſeiner eigenen neuverbuͤrgten Verfaſſung, allein
den Schleswig-Holſteinern iſt ihre altverbuͤrgte Verfaſſung
genommen und ſie ſind dem Rechte abſoluter Herrſchaft,
welchem ſich das Daͤniſche Volk freiwillig ehmahls unter-
worfen hat, unfreiwillig unterworfen worden 1). Dieſes
Verfahren indeß, weit entfernt die unumſchraͤnkte Herr-
ſchaft in groͤßerer raͤumlicher Ausdehnung zu begruͤnden, hat
vielmehr die Folge gehabt, die Unumſchraͤnktheit auch da zu
untergraben, wo ſie grundgeſetzlich beſtand. Vier Staͤnde-
Verſammlungen ſind angekuͤndigt, von welchen zwei auf
Schleswig und Holſtein fallen. Dieſe beiden Lande ha-
ben Jahrhunderte hindurch gemeinſam in Deutſcher Sprache
gelandtagt, ihr Recht auf dieſe Gemeinſamkeit iſt unbe-
ſtritten, die ausgeſprochene Trennung droht Unfrieden und
Verwirrung zu ſtiften, aber gleichwohl keine ſo arge, als
wenn dem Naturleben zum Trotze Deutſche und Daͤnen
zu einer und derſelben Reichstags-Verſammlung zuſam-
mengezwungen wuͤrden.



Das Beiſpiel des Koͤnigreichs Niederland hat neuer-
dings bewieſen, daß Naturverhaͤltniſſe ſich nicht ſpotten
laſſen. Der kuͤnſtliche Verſuch einen Reichstag aus re-
formirten Hollaͤndern und katholiſchen Wallonen und Flam-
laͤndern, denen franzoͤſiſch die Sprache des gemeinen Le-
[167]Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.
bens geworden iſt, zu geſtalten, hat ſich ſchwer beſtraft.
Eine Hollaͤndiſche und eine Belgiſche Staͤnde-Verſamm-
lung neben einander wuͤrden eine ſehr ſchwer zu behan-
delnde Verfaſſung gegeben haben, aber in ihrer Unbehol-
fenheit wahrſcheinlich eine dauerhaftere; denn der Charak-
ter der Regierung war, obgleich ſie unvorſichtig die Sprache
bedruͤckte und an manchen nicht geradezu beherrſchbaren
Verhaͤltniſſen ruͤttelte, auf Gerechtigkeit und Ausgleichung
gerichtet.


Am tiefſten wurzelt der Charakter der Zuſammengeſetzt-
heit im Öſterreichiſchen Staate. Slaven, Magyaren, Ro-
maniſcher und Deutſcher Stamm ſtehen ſich ſo maſſenhaft
gegenuͤber, daß Alles dafuͤr ſpricht, daß Kaiſer Joſephs
II. Machtgebot, der Ungar und der Boͤhme ſolle in be-
ſtimmter Friſt deutſch gelernt haben, ſich, wie die Welt
ſteht, ſo bald nicht wiederholen wird. Die Hauptſtadt der
Deutſchen Laͤndermaſſe, Wien, iſt von wegen des alten Deut-
ſchen Kaiſerthums Hauptſtadt des ganzen Staats und Re-
gierungs-Sitz geworden. Die Regierung dieſes Laͤnder-
Aggregats von mehr als dreißig Millionen Einwohnern iſt
deßhalb etwas weniger ſchwer zu fuͤhren, weil das Volk
der Ungarn, welches dazu ungetheilt an Öſterreich gehoͤrt,
allein lebendig gehandhabte Verfaſſungsrechte hat; denn
Poſtulaten-Landtage bedeuten weniger noch fuͤr die Frei-
heit als gemalte Gerichte fuͤr den Hunger. Wuͤrden aber
Verfaſſungs-Rechte den Polen Oeſterreichs, wuͤrden ſie
ſeinen Italiaͤnern, die deren mit ſo brennendem Eifer be-
gehren, vergoͤnnt, ſo wuͤrde Öſterreich die einen und die
andern das alte Naturband mit den uͤbrigen Polen, den
uͤbrigen Italiaͤnern aufſuchen, ſein Reich aber ſich aufloͤ-
ſen ſehen. Öſterreich kann daher den voͤlkerſchaftlichen
Charakter zwar im Privatrecht und der Sitte ehren, aber
[168]Siebentes Capitel.
nicht im oͤffentlichen Recht hervortreten laſſen. Das for-
dert ſeine Selbſterhaltung. Es muß daher ſich durch die
politiſche Wendung der Zeit weſentlich belaͤſtigt fuͤhlen und
koͤnnte es noch mehr werden, wenn es die Erfahrung
machen ſollte, daß ſich der Kunſtfleiß mit ſeinen neuen
Mitteln nicht befoͤrdern laͤßt, ohne einen gewaltigen Um-
ſchwung in der Sinnesart der ſchwerarbeitenden Claſſe
hervorzubringen, die aus allen erblichen Gewohnheiten
geruͤckt und in die Berufswahl hineingedraͤngt wird.
Der Unbedacht derer, die das uͤberſehen, wie wenig Öſter-
reichs Stellung zu den politiſchen Strebungen der Gegen-
wart eine Sache der freien Wahl ſey, iſt bloß der Un-
weisheit derer zu vergleichen, die darum weil dem ſo iſt,
alles Land auf den Öſterreichiſchen Fuß gebracht haben
moͤchten. Vielmehr iſt das A. E. J. O. U. Kaiſer Fried-
richs III. eben aus dieſem Grunde unanwendbarer als je
zuvor geworden.


199. Der Deutſche Bund bildet drei große politiſche
Maſſen: Öſterreich, welches keine allgemeine Reichsſtaͤnde
mit geſetzgebender Gewalt haben kann, Preußen, welches
dieſe haben kann, aber nicht hat, und das, wenn man
will, conſtitutionelle Deutſchland, deſſen Einwohner Ver-
faſſungsrechte beſitzen. Auf alle drei Laͤndermaſſen muß
das Bundesverhaͤltniß beſtimmend einwirken, am meiſten
aber auf die dritte, als aus minder maͤchtigen Staaten
und mehrentheils aus ſolchen beſtehend, welche vollſtaͤndig
im Bunde enthalten ſind, keinen Schwerpunkt auch außer
dem Bunde haben. Jeder Bund verlangt Opfer, von denen
aber die meiſten, die ihn am wenigſten entbehren koͤnnen.


Ein Staat begiebt ſich freiwillig in einen ewigen Staa-
tenbund, wenn er entweder ſich nicht Macht genug zu-
[169]Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.
traut, fuͤr ſich allein ſeine Selbſtaͤndigkeit zu behaupten,
oder wenn er ſeine an ſich ſchon ſtarke Macht noch durch
den Bund verſtaͤrken will. In jedem Falle iſt es ein Ver-
haͤltniß gegenſeitiger Leiſtung und jeder beitretende Staat
giebt einen Theil ſeines unabhaͤngigen Willens hin, um
den uͤbrigen Theil und das Ganze zu retten. Vollkom-
mene Souveraͤnitaͤt der einzelnen Regierungen iſt mit dem
Charakter eines Staatenbundes unvereinbar.


Dem einzelnen Gliede des Staatenbundes geht inſo-
fern es nicht noch ein Daſeyn außer dem Bunde hat, die
freie Bewegung nach Außen ab; es hat keine ſelbſtaͤndige
auswaͤrtige Politik. Es ſtellt zu den Kriegen, welche der
Bund beſchließt, ſein bundesmaͤßiges Contingent, es haͤlt
im Frieden die Kriegsmacht, welche der Bund vorſchreibt.
Die Staͤndeverſammlungen koͤnnen ſich nicht weigern die
noͤthigen Steuern zu dem Ende zu bewilligen, hoͤchſtens
Erſparungen darin bewirken; mußte man ja doch ſchon
im Deutſchen Reiche zwiſchen nothwendigen und freiwilligen
Steuern unterſcheiden lernen! Das unvermeidliche Reſul-
tat jeder Bundesverfaſſung iſt alſo Beſchraͤnkung der ſtaͤn-
diſchen Steuerbewilligung in einem der wichtigſten Punkte,
das will ſagen, Beſchraͤnkung der Ausfuͤhrbarkeit der gu-
ten Verfaſſung.


Kommt es zu einem allgemeinen Deutſchen Zollweſen, ſo
ſteht der ſtaͤndiſchen Steuerbewilligung eine neue große
Beſchraͤnkung bevor. Es iſt dann unmoͤglich, daß die ein-
zelne Deutſche Regierung mit Einwilligung ihrer Staͤnde-
verſammlung den Zoll und ebenfalls die Verbrauchs-
Steuern ferner nach einſeitigem Beſchluſſe veraͤndere, ein-
zelne aufhebe, erhoͤhe, verringere; gar nicht zu gedenken
der weiteren Einwirkung auf die Verfaſſung der Handwer-
ker, auf das Geldweſen, vornehmlich freilich in dem Falle,
[170]Siebentes Capitel.
daß die Europaͤiſchen Großmaͤchte die Ruͤckkehr zum Sy-
ſtem des Papiergeldes beſchließen ſollten. Fuͤr hochwichtige
innere Intereſſen wuͤrde fortan ein Geſammt-Beſchluß er-
fordert, an deſſen Bildung die Staͤndeverſammlungen gar
geringen Antheil haben koͤnnten. Ihnen bliebe uͤberall
hauptſaͤchlich nur die Sorge, daß die einkommende Quote
ihrem Zwecke gemaͤß verwandt werde.


Außerdem liegt es bei einer dauernden Bundesverfaſſung
ſehr nahe, daß die Bundesregierungen ſich das Recht vor-
behalten, Mishelligkeiten, welche die Erhaltung des Staa-
ten-Vereins gefaͤhrden koͤnnten, moͤgen dieſe nun zwiſchen
den Regierungen unter ſich, oder zwiſchen den Regierun-
gen und ihren Unterthanen vorkommen, auf geeignete
Weiſe hinwegzuraͤumen. Dadurch aber ſichert ſich der
Bund einen Theil des Oberaufſichtsrechtes zu, welches
uͤberall ſonſt lediglich der Staatsregierung zuſteht, und in
ſolchem Falle an geſetzliche Beſtimmungen geknuͤpft werden
kann. Wo jedoch eine Bundesverfaſſung beſteht, da iſt
keine Einwirkung der Staͤndeverſammlungen in die Bun-
desgeſetzgebung moͤglich, ohne den Erfolg jeder allgemei-
nen Maasregel von dem Ja oder Nein vielleicht der klein-
ſten Staͤndeverſammlung des mindeſt maͤchtigen Staats
abhaͤngig zu machen. Von der andern Seite indeß gaͤbe
es durchaus keinen Schutz fuͤr das Verfaſſungsrecht eines
deutſchen Staats, wenn vermoͤge der allgemeinen Beſtim-
mung, daß der Bund fuͤr die innere Sicherheit nicht
minder als fuͤr die aͤußere zu ſorgen habe, die Freiheiten
der Unterthanen von den gemeinſamen Beſchluͤſſen der
Bundesregierungen abhaͤngig gemacht wuͤrden. Denn die
Erfahrung aller Zeiten hat hinlaͤnglich gelehrt, daß es
nichts im Gemeinweſen giebt, was ſich nicht unter dem
Begriffe der Sicherheitsſorge befaſſen laͤßt; kein Wunder
[171]Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.
alſo, daß die von den Theoretikern unſeres Bundesrechts
in dieſer Richtung verſuchten Graͤnzbeſtimmungen zwiſchen
Bundesgewalt und Staatsgewalt ſich mit jedem Jahre
haben veraͤndern muͤſſen. Die einzige lebendige Graͤnze
gewaͤhrt in der That der Inhalt der Deutſchen Verfaſſungs-
urkunden, welcher durch das Gewiſſen der ſie verbuͤrgen-
den Fuͤrſten gewahrt wird und deſſen Verletzung das
Recht der Anklage gegen jeden Miniſter, welcher ſie auf-
opfern wuͤrde, begruͤndet. Da vermoͤge des Bundesrechtes
organiſche d. i. bleibende Einrichtungen nicht durch Über-
ſtimmung, ſondern allein durch Einſtimmigkeit, das will
ſagen, auf dem Wege des Vertrages zu Stande kommen
koͤnnen (Wiener Schlußacte Art. 13.) und keine einzige
Deutſche Landesverfaſſung einem Proviſorium unterworfen
iſt, ſo iſt auch in den Bundesordnungen nichts enthal-
ten, was der Gewiſſenhaftigkeit und dem Pflichtgefuͤhle
Gewalt thaͤte.


Hier aber ſteht auch der unuͤberſchreitbare Graͤnzwall
zwiſchen Bundesgewalt und Bundesſtaat; die in anerkann-
ter Wirkſamkeit beſtehenden landſtaͤndiſchen Verfaſſungen
koͤnnen nur auf verfaſſungsmaͤßigem Wege wieder abgeaͤn-
dert werden (Wiener Schlußacte Art. 56). Denn kaͤme es
je dahin, (Errorem hostibus illum!) daß die Stimme de-
rer obſiegte, welche von Bundeswegen verkuͤndigt wuͤn-
ſchen, keine Verantwortlichkeit hindere den Miniſter ſeine
Zuſtimmung zu einem Bundes-Beſchluſſe zu geben, wel-
cher mit ſeiner verbuͤrgten Landesverfaſſung im Widerſpruche
ſteht, wuͤrde die den Feinden des oͤffentlichen Rechts ge-
faͤllige, Religion und Vernunft gleichmaͤßig verwirrende
Lehre offen aufgeſtellt, das Gewiſſen des Fuͤrſten allein
habe uͤber das Daſeyn der Verfaſſungsrechte zu entſcheiden
und der Unterthan muͤſſe ſich auf alle Faͤlle beruhigen, ſo
[172]Siebentes Cap. Von d. Ausfuͤhrb. d. guten Verf.
waͤre damit ein Grundſatz aufgeſtellt, altem und neuem
Deutſchen Rechte gleichmaͤßig widerſtreitend, die wohlthaͤtige
Einheit des Staats, welche der Mitregierung der Staͤnde
ein Ende gemacht und den zuſammenhaͤngenden Staats-
haushalt begruͤndet hat, erſchiene dann als eine Lei-
ter bloß zur Willkuͤhr-Herrſchaft, und wer die Geſchichte
zu deuten weiß, ſaͤhe im Geiſte das Deutſche Volk durch
das gleisneriſch angeprieſene Mittel gegen Revolutionen
einer Umwaͤlzung, die den Welttheil erſchuͤttern wuͤrde,
entgegengefuͤhrt.


“Wenn Alle ins Verderben gehen, ſcheint keiner zu gehen. Nur
wer etwan anhaͤlt, macht wie ein feſter Punkt das Abirren der
Andern bemerklich”.
Pascal.

[173]Vom Rechte des Widerſtandes.

Achtes Capitel.
Vom Rechte des Widerſtandes
.


200. Es giebt mannigfache Wege des Widerſtandes
gegen Unterdruͤckung: Widerſtand der Sitte, der Einſicht
(“Wiſſen iſt Macht”), des Privatrechtes, des politiſchen
Rechtes, Widerſtand durch phyſiſche Kraft. Hier iſt von
dem Rechte der Unterthanen die Rede ſich gegen Über-
ſchreitungen der Regierungen durch phyſiſche Kraft ſicher
zu ſtellen. David Hume raͤth, daß die Geſetze uͤber
das Recht des Widerſtandes lieber zu ſchweigen fortfahren
moͤgen (obwohl ſie nicht immer ſchwiegen), aber er ver-
wahrt ſich ausdruͤcklich vor der Nachrede, als wolle er da-
mit die ganze Unterſuchung niederſchlagen.


201. So viel iſt klar, wenn in einem Volk der
Grundſatz aufgeſtellt iſt, jede Verletzung der Verfaſſung,
die am Ende auch eine unfreiwillige, wieder gutzumachende
ſeyn koͤnnte, ſey mit bewaffneter Hand zu raͤchen, und
das ſey nicht bloß erlaubt, ſondern Pflicht jedes Einzelnen
im Volke, und wenn das Volk dann nicht verſtaͤndiger iſt
als ſein Geſetz, ſo ſteht keine Regierung ſicher, denn keine
iſt ohne Fehl und keine vermag einmahl durchweg ſo zu
handeln wie in den Paragraphen eines Staatsgrundge-
ſetzes geſchrieben ſteht. Nun heißt es aber in den Men-
ſchenrechten der Franzoͤſiſchen Conſtitution von 1793 §. 35.
Quand le gouvernement viole les droits du peuple, l’in-
surrection est, pour le peuple et pour chaque portion
du peuple, le plus sacré et le plus indispensable des de-
voirs;
und Art. 66. der neuen Charte von 1830 ſcheint
in zierlicheren Ausdruͤcken: la présente charte et tous les
[174]Achtes Capitel.
droits qu’elle consacre demeurent confiés au patriotisme
et au courage des gardes nationales et de tous les ci-
toyens français,
doch faſt daſſelbe zu beſagen.


202. Von der andern Seite iſt klar: Wenn das
Volk verpflichtet iſt, jedem Regierungsbefehle, auch dem-
jenigen, welcher unzweideutigen Verfaſſungsbeſtimmungen,
mithin anderen Regierungsbefehlen, geradezu widerſpricht,
oder gar die Verfaſſung aufhebt, ohne Widerrede Folge
zu leiſten, alles Unrecht nicht bloß ſchweigend zu dulden,
ſondern ſelbſt es vollenden zu helfen, ſo iſt jede Verfaſſung
Luͤge. Schon die Sittenlehre befiehlt einer Herrſchaft zu
widerſtehen, welche nicht bloß Unrecht zu dulden, ſondern
ſelbſt zu begehen gebietet. Auch wuͤrde der ganz blinde
Gehorſam am Ende jeden Unterſchied zwiſchen factiſcher
Regierung und rechtmaͤßiger verwiſchen; man hielte ſich
dem unrechtmaͤßigen Eroberer gleichmaͤßig unbedingt ver-
pflichtet und ließe den rechtmaͤßigen Oberherrn huͤlflos im
Elend ſchmachten. Darum muß der Satz, daß Regierun-
gen Unrecht thun koͤnnen, um der Sicherheit der Regierun-
gen ſelber Willen fortbeſtehen; am allerwenigſten aber iſt
es dieſen zu rathen, durch Aufſtellung eines goͤttlichen
Rechtes auch zum Unrechtthun ohne Widerſtand, den Kno-
ten zu zerhauen. Aus der Bibel erweist ſich’s nicht.
Denn ſoll Paulus unbedingt gedeutet werden: „Jedermann
ſey unterthan der Obrigkeit, die Gewalt uͤber ihn hat ꝛc.“,
ſo verlangt Chriſtus gewiß das gleiche Recht, der nicht
einmahl, ſcheint es, eine erwieſene Ehebrecherin durch ein
Gericht, das ſich nicht ſelber rein fuͤhle, wollte verurtheilt
wiſſen. Luther nahm nicht den geringſten Anſtoß an der
Widerſetzlichkeit gegen einen Kaiſer, der „beſchriebenen
Rechten“ nicht folgen will, hielt den Kaiſer fuͤr richtig
[175]Vom Rechte des Widerſtandes.
entſetzt, welchem das Reich und die Kurfuͤrſten eintraͤchtig
den Gehorſam aufkuͤndigen. Und der ſanfte Melanchthon
fand den Tyrannenmord ganz in der Ordnung. Kurz,
wer bei den gradhinblickenden Gottesgelehrten nachfragt,
nicht bloß den uralten (von heutigen Hoftheologen iſt nicht
die Rede), hat weit kuͤhnere Antworten zu befahren, als die ein
Mann von politiſcher Lebenskenntniß auf ſich nehmen moͤchte.


203. Politiſche Erfahrung raͤth, gewiſſe Wege des
erlaubten Widerſtandes freiwillig zu eroͤffnen, damit die
zerſtoͤrenden durch Warnung bei Zeiten, um ſo ſicherer ver-
ſchloſſen bleiben. Von welcher Art aber koͤnnen jene ſeyn?
Soll man jeden Streit uͤber den Inhalt und die Hand-
habung der Verfaſſung einem unpartheiiſchen Dritten im
Staate verfaſſungsmaͤßig anvertrauen, deſſen Anrufung der
geſetzliche Widerſtand waͤre? Im Deutſchen Reiche war
das gewiſſermaaßen thunlich, wo uͤber der einzelnen reichs-
ſtaͤndiſchen Regierung noch eine Reichsregierung ſtand, wel-
che die Erkenntniſſe des Reichsgerichtes, wenigſtens der
Theorie nach, auszufuͤhren im Stande war; aber die
Haupttheilnehmer an dieſer Reichsregierung waren gerade
die Haͤupter, gegen welche die Beſchwerden ſich richteten,
und wie wenig fehlte im Jahre 1671 daran, daß den
Reichsgerichten alle fernere Muͤhe abgenommen waͤre! Wo
aber vollends der vollſtaͤndige Staat keine andere Regie-
rung uͤber der ſeinen anerkennt, da wird mit der Macht
uͤber Regierungsrechte zu entſcheiden die Regierung ſelber
uͤbertragen. Die Ephoren, der Karthagiſche Rath der
Hundert, der Juſticia der Arragoneſen bezeugen das in
ihrer Geſchichte. Es heißt dem Staate die Revolution ein-
impfen; denn die als Waͤchterin aufgeſtellte Gewalt muß
ſtaͤrker ſeyn wollen als die regierende.


[176]Achtes Capitel.

Waͤre denn aber dennoch das Recht des gewaffneten
Widerſtandes verfaſſungsmaͤßig aufzuſtellen und nur auf
gewiſſe nahmhaft gemachte Faͤlle zu beſchraͤnken? Wir be-
haupten: Nein. In der heutigen Staatsordnung darf
gewaltſamer Widerſtand nie geſetzlich gemacht werden; er
liegt dem Grundgeſetze ſo fern, als der wahrhaften Ehe
der Streit der Kirchen uͤber die Zulaͤſſigkeit der Scheidung
liegt. Das Verfaſſungsrecht des gewaffneten Widerſtandes
beruhte auf dem Rechte der ſtaͤndiſchen Mitregierung, war
ein Theil von dieſem und iſt mit ihm aufgegeben. Wo
vor Alters Volksverſammlungen ſchalteten, wurde in jedem
einzelnen Mitgliede derſelben ein Bruchſtuͤck der Regierung
verletzt; nur die Klugheit beſchraͤnkte das Recht des Auf-
ſtandes; alle Fractionen der Regierung verletzte der Tyrann,
es war Pflicht ihn zu toͤdten. So lange privilegirte
Staͤnde mitregierten, huldigten dieſe unter Vorbehalt, ließen
ſich Feſtungen einraͤumen, kuͤndigten den Gehorſam auf,
waͤhlten einen wohlgefaͤlligeren Herrn. Seit aber wachſende
politiſche Bildung die Wahlfuͤrſtlichkeit verworfen und ein-
geſehen hat, daß die Regierung am wohlthaͤtigſten von ei-
ner erbberechtigten Hand ohne Wahl und Zwiſchenreich in
die andere uͤbergeht, mit Ausſchließung aller willkuͤhrlichen
Verfuͤgung uͤber die Krone, und der Staat ſich in Folge
dieſer Grundwahrheit feiner und tiefſinniger organiſirt hat,
beſchraͤnken ſich die Wege des erlaubten Widerſtandes,
welche die Verfaſſung eroͤffnen kann aber auch eroͤffnen ſoll,
allein auf gewiſſe Weigerungen, ein Verneinen des
Gehorſams in gewiſſen Faͤllen, ein Nicht-Thun ohne alle
aggreſſive Zuthat. Es iſt das Recht der Unterthanen,
ſolchen Steuerausſchreibungen und Geſetzen, welche ohne
die verfaſſungsmaͤßig erforderliche ſtaͤndiſche Verwilligung
und die Anfuͤhrung der wirklich geſchehenen erlaſſen ſind,
[177]Vom Rechte des Widerſtandes.
den Gehorſam zu verweigern, unterſtuͤtzt durch die Pflicht
der Staͤnde, Miniſter, die dergleichen Ausſchreibungen und
Geſetze unterzeichneten, in den Anklagezuſtand zu verſetzen.
Im wirklichen Leben der Dinge tritt aber Bitte und Vor-
ſtellung mannichfach thaͤtig ein, ehe es zu ſolch einem
Äußerſten kommt. Kommt es dazu, ſo iſt die Stimme
der Beſten thaͤtig, daß nicht der Widerſtand gegen einzelne
Geſetze die ganze Geſetzgebung ergreife; denn ſie eben er-
kennen die nah und naͤher ruͤckende Gefahr einer Gewalt
das Daſeyn zu geben, welche, maͤchtiger als die Staats-
regierung, wahrſcheinlich auch fuͤr die Freiheit bedrohlicher
ſeyn wird: denn ihre erſte That muß, wenn ſie ſiegt, Wie-
derherſtellung der Ordnung ſeyn. Hat der Zwieſpalt un-
verſoͤhnt ſeinen Fortgang, ſo entſcheidet dann freilich die
Gewalt uͤber die kuͤnftige Regierung und Verfaſſung.
“Die Entſcheidung faͤllt dann dem Kriege anheim, nicht
der Conſtitution. — Die Frage uͤber die Entſetzung eines
Koͤnigs war ſtets eine außerordentliche Staatsfrage und
keine Rechtsfrage, es wird dabei ſtets wie bei jeder
Staatsfrage, um die Stimmung, die Mittel, die wahr-
ſcheinlichen Folgen, mehr als um poſitive Rechte ſich han-
deln.” (Burke.)


Herr Friedrich Murhard (Über Widerſtand, Empoͤrung und
Zwangsuͤbung der Staatsbuͤrger gegen die beſtehende Staatsge-
walt, in ſittlicher und rechtlicher Beziehung. Braunſchw. 1832)
meint (S. 194.), das Problem ſey “Staatsordnungen zu er-
ſchaffen, wodurch jeder Mißbrauch der Staatsgewalt
u. eben dadurch jede Empoͤrung unmoͤglich gemacht
wird
.” Wir wuͤrden die Loͤſung dieſes Problems, welche laut
der Vorrede einem zweiten Werke aufgeſpart iſt (das gelieferte
enthaͤlt bloß eine Zuſammenſtellung der Meinungen Anderer) mit
eben ſo großer Verwunderung leſen, als nur die des Johannes
Major ſeyn koͤnnte, ſaͤhe er ſich hier (S. 195.) unter den Kir-
chenvaͤtern aufgefuͤhrt.


12
[178]Achtes Capitel.

204. So wenig alſo beachtet ein in politiſcher Bildung
vorgeruͤcktes Volk das ſtolze y si no, no der Arragoneſen,
und was bei den Polen, Ungarn, und in Englands und
Deutſchlands Geſchichte Verwandtes vorkommt, als einen
beneidenswerthen Vorzug einer kraͤftigeren Vergangenheit,
daß es vielmehr von den aus der Ferne vorbeugenden Mit-
teln, die hauptſaͤchlich in der Kraft furchtlos freier Rede
aus gerechtem Munde ruhen, ſtets am meiſten erwartet,
den Widerſtand durch Verſagung aber ſcheut wegen der
zarten Graͤnze, die ihn vom aggreſſiven Widerſtande ſchei-
det. Ein ſolches Volk giebt aus tiefer Überzeugung ſelbſt
ſeine Stimme zu den Strafen, welche die Geſetzgebung
denen droht, welche gewaltſame Unternehmungen gegen
eine einzelne That der Regierung durch Aufſtand oder ge-
gen das Daſeyn derſelben durch Revolution verſuchen
moͤchten. Weil indeß der Unternehmung moͤglicher Weiſe
ein Nothrecht zum Grunde lag, ſo liegt es in der Na-
tur der Sache, daß Staatsverbrecher des Auslands an-
ders behandelt werden als Verbrecher gegen die buͤrger-
liche Geſetzgebung und die Auslieferung jener in der Regel
verweigert wird.


205. Denn Nothwehr hat von jeher als ſittliche
Rechtfertigung der Erhebung gegen eine Staatsgewalt ge-
golten, welche uͤber ihre Zwecke und Graͤnzen beharrlich
hinausſchreitet. Es iſt aber fuͤr das Heil der Staaten
und ihrer Regierungen hochwichtig zu erkennen, wie nicht
uͤberall dieſelben Verletzungen das Herz der Nation mit
der Überzeugung verwunden, die Stunde der Nothwehr
ſey gekommen. Es giebt Voͤlker, die allein den Bedarf,
andere, die auch die Bequemlichkeiten zu den Nothwendig-
keiten des Lebens rechnen, es giebt Regionen, in denen
[179]Vom Rechte des Widerſtandes.
Genug haben, wie der Dichter ſagt, darben hieße. Eine
Regierung, die ihren Unterthanen den aufrechten Gang
verboͤte, welche den Kindern die Herrſchaft uͤber die Er-
wachſenen gaͤbe, ſchreitet nicht viel raſcher dem Übergange
entgegen, als diejenige, welche die Toͤchter des Landes der
rohen Gewalt Preiß giebt, nicht viel raſcher als diejenige,
welche einem froh erwerbenden Volk in ſein Recht der
Selbſtbeſchatzung eingreift und an die Stelle der Steuern
die allgemeine Pluͤnderung ſetzt, welche ſich auslaͤndiſcher
Macht bedient, um auf die Ruine der vaterlaͤndiſchen Frei-
heiten das Banner der Despotie zu pflanzen, welche dem
kirchlich begeiſterten Volk die Gegenſtaͤnde ſeiner Vereh-
rung, dem wiſſenſchaftlich erregten Zeitalter den freien
Austauſch ſeiner Gedanken entzieht.


206. Aber was die That der Staatsumwaͤlzung recht-
fertigt oder entſchuldigt, hebt darum ihre Folgen nicht auf;
jede Revolution iſt nicht bloß das Zeugniß eines ungeheu-
ren Misgeſchicks, welches den Staat betroffen hat, und
einer keineswegs bloß einſeitigen Verſchuldung, ſondern
ſelbſt ein Misgeſchick, ſelbſt ſchuldbelaſtet. Darum werden
weiſe und gewiſſenhafte Maͤnner weder das Gelingen einer
Revolution, darum weil es ihre Strafloſigkeit verbuͤrgt,
als ihre Rechtfertigung darſtellen, noch die zoͤgernde Hand
zur Widerſetzlichkeit erheben, als wenn kein Mittel ſonſt
mehr uͤbrig, der allgemeinen Herabwuͤrdigung zu entgehen.
Denn was allein auf den Herrſcher oder die Dynaſtie an-
geſehen iſt, ſchlaͤgt gar leicht zu einem Umſturze der ganzen
geſellſchaftlichen Ordnung aus, und wenn ſich auch der
beſſere Wille der neuen Herrſchaft verbuͤrgen ließe, wird
ſie ſich auch befeſtigen koͤnnen? Eben darum kann der
einmahl entſchiedenen Umwaͤlzung ſich loͤblich auch der Va-
12*
[180]Achtes Capitel.
terlandsfreund anſchließen, derſelbe der ihren Ausbruch
misbilligte, weil ein Zuſtand nicht dauern darf, in wel-
chem die Regierung nirgend iſt, weil ſie uͤberall iſt; aus-
wandern oder ſich irgendwie entziehen in der Stunde, wo
Alles was Gutes im Staate iſt enger zuſammentreten
ſollte, ward von jeher fuͤr unwuͤrdig des guten Buͤrgers
geachtet.


Auch die aufs Beſte ausgehende Revolution iſt eine
ſchwere Kriſe, die Gewiſſen verwirrend, die innere Sicher-
heit unterbrechend und nicht minder alle Staatsvertraͤge
gefaͤhrdend; denn dieſe beruhen auf dem Daſeyn einer
nicht ſtreitigen, darum der Anerkennung faͤhigen Regierung.
Einige Faͤlle giebt es zwar, da die mit ihr unvermeidlich
verbundene Zerſtoͤrung vor der Wiederherſtellung verſchwun-
den iſt; wo ſie dann hereinbrach mehr als eine Begeben-
heit denn als ein erſonnener Plan, wie als Guſtav Waſa
Koͤnig ward; in noch ſeltnerem Falle gelingt es der Kraft
des unverletzt fortbeſtehenden Theiles der Verfaſſung den
verſtuͤmmelten Staatskoͤrper wieder zu ergaͤnzen und die
unſtaͤte, herrſcherloſe Kreiſung auf den engſten Zeitraum
zu beſchraͤnken (England. 1689). Wo dann das Beſte ge-
ſchehen iſt was moͤglich war, da faͤllt die Frage weg, ob
das Geſchehene rechtmaͤßig geſchehen ſey.


207. Der revolutionaͤre Sinn, der auf Revolutionen
wie auf oͤffentlichen Luſtbarkeiten Rechnung macht, die nicht
allzu lange ausbleiben duͤrfen, iſt von der Vaterlandsliebe
viel weiter entfernt als die traͤge Verehrung alles laͤndlich
ſittlich Hergebrachten es iſt, uͤber die er ſo vornehm ſich
zu erheben pflegt. Die Vaterlandsliebe ſchlaͤgt ihre Wur-
zel in den Örtlichkeiten, welche ſich um die Wiege des
Menſchen verſammelten; ſie bleibt vielleicht daran hangen
[181]Vom Rechte des Widerſtandes.
verſchließt ſich provinzialiſtiſch gegen die Entwickelung von
Volk und Staat in ihren großen Dimenſionen, allein der
beſchraͤnktere Sinn bewahrt den menſchlichſten Neigungen,
welche die vier und zwanzig Stunden jedes Tags zuſam-
menhalten, ſeine Treue, bis vielleicht die Stunde der Noth
ihn weiter hinaus zu blicken zwingt. Der revolutionaͤre
Sinn hat ſeine flache Wurzel im Verſtande, iſt familien-
los, heimatlos. Fuͤr ihn gelten nur die großen Verhaͤlt-
niſſe. Er moͤchte das Jahrhundert umgeſtalten, unbekuͤm-
mert ob die naͤchſte Heimat mit ihrem Gluͤcke und ihrer
Sitte ein Opfer des Umſchwungs wird. Zwar wird die
Nachwelt dem angebildeten politiſchen Quietismus die Ehre
nicht zollen, die er ſich ſelbſt verſchwenderiſch zumißt.
Aber wer das Reich, deſſen geborener Koͤnig jeder iſt, die
Beherrſchung ſeiner eigenen Seele, wohl verwaltet, und
ein Bild des guten Staates in ſeiner Familie zeigt, der
verbeſſert die oͤffentliche Sitte, welche die Traͤgerin aller
freiheitlichen Einrichtungen iſt und bewahrt auch unter
einer Despotie ein unverletzliches Gebiet der Freiheit.


[182]Neuntes Capitel.

Neuntes Capitel.
Blick auf die Syſtematik der Staatswiſſenſchaft
.


208. Neben den Gebundenheiten der Staaten wie ſie
waren und ſind bewegt ſich ein Syſtem der Meinungen
fort, warum die Staaten gerade ſo ſeyn moͤgen und wie
ſie anders doch ſeyn koͤnnten und anders kuͤnftig werden
muͤſſen. Dieſe Meinungen haben von jeher eine nicht un-
bedeutende Herrſchaft uͤber die Dinge ſelber geuͤbt, man
war im Alterthum durchaus nicht ungeneigt, wenn der
Volksgedanke ſich verwirrte, mit dem Werdenden nicht zu
bleiben wußte, einem hervorragenden Manne das Schick-
ſal ſeines oͤffentlichen und ſelbſt ſeines Privat-Rechts zu
vertrauen. Berg und Thal ſtanden damahls geſchiedener.
Heutzutage, wo ein geſteigertes Selbſtgefuͤhl die Staats-
verfaſſungen ſcheinbar zur Dispoſition der Voͤlker ſtellt,
die oͤffentliche Meinung allein hervorragen und entſcheiden
will, iſt es doppelt noth, daß dieſe ſich durch Erfahrung
zu berichtigen eile und den politiſchen Vorwitz mindeſtens
an der Originalitaͤt ſeiner Irrthuͤmer verzweifeln laſſe.
Überhaͤuft man nur den Stoff der Meinungen nicht bis
zum widerwaͤrtigen Gemiſche gemein ſubjectiver Gegenſaͤtze,
laͤßt es ſich gefallen lieber belehrt als gelehrt zu ſeyn und
ruht bloß bei den bedeutenderen Erſcheinungen aus, ſo
enthaͤlt es einen großen Beitrag zur Verſtaͤndigung zu be-
trachten, wie der Eine um den Staat herauszubringen
die Familie befeſtigt, der Andere ſie zerſtoͤrt hat, wie man
den Naturſtand zur Grundlage macht und Despotie dar-
aus folgert oder mit eben ſo leichter Muͤhe auch ihr Ge-
gentheil, wie man aus der Bibel den Staat baut und
[183]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
durch die ſchoͤpferiſche Salbung des Fuͤrſten Inneres hei-
ligt, den Staat unter die Kirche ſchiebt und wieder die
Kirche unter den Staat, der politiſchen Dreizahl huldigt
oder der Volks-Souveraͤnitaͤt; wie man dieſer im Herzen
unſchuldige Altaͤre baut, oder ſie in die Welt ausſtroͤmen
laͤßt, damit die Freiheit des Ganzen lebe, wenn auch das
Gluͤck der Einzelnen zum Opfer faͤllt. Aber auch Land-
ſtaͤnde goͤlte es hier zu muſtern, die keine Lebenskraft zum
Stehen haben und von einer Conceſſions- und Octroy-
Syſtematik waͤre zu reden, die Andere glauben machen
will was ſie ſelbſt nicht glaubt; falls nicht dieſe Eroͤrte-
rung uͤber das bloße Meinen hinausgeht. Hier nun moͤge
Weniges zugleich an das Viele erinnern, das unge-
ſagt bleibt.


209. Von keinem fruͤher aber wuͤrde als vom Pytha-
goras
anzufangen und wohl lange bei ihm zu verweilen
ſeyn, ſtaͤnde er nicht wie eine eben ſo verdunkelte als ein-
zig hohe Geſtalt da. Die Weiſeſten des ſpaͤteren Griechen-
lands deuteten gern auf ihn als den Meiſter zuruͤck, der
jedem Theile des Wiſſens in die Tiefe ſah, groͤßer noch
durch den Beſitz des geiſtigen Bandes, welches die Theile
zum Ganzen verknuͤpft, der es zweifelhaft ließ, ob nicht,
wenn ſeine Schule Beſtand gehabt, aus ſeinen Weihen ſich
eine Religion der Hellenen von tiefſinnigerem Grunde her-
vorgebildet haͤtte, durch eine Prieſterſchaft der Geweihten
hoͤchſter Stufe zugleich mit dem Staate ſelber verwaltet.
Wie es nun kam, blieb, waͤhrend im Innern jeder Wiſſen-
ſchaft Denkmale dieſes ſo gewaltigen geiſtigen Vermoͤgens
aufgeſtellt waren, im oͤffentlichen Gedaͤchtniß der Menſchen
nur die Überlieferung einer ganz ausgezeichneten Lebens-
weiſe uͤbrig, welche Pythagoras auf ſeine Bundesgenoſſen
[184]Neuntes Capitel.
uͤbertrug. Wir vernehmen, daß er in Kroton geſetzgebe-
riſch gewaltet, und all ſein Abſehn war, entfernt von der
Selbſtfeier der vom Staate Zuruͤckgezogenen, auf die Ein-
fuͤhrung trefflicher Ordnungen in den Staat gerichtet. Durch
uͤberlegene Menſchenbildung und fortgepflanzte politiſche
Grundſaͤtze gedachte er die Herrſchaft nicht an die Beſtgebo-
renen, ſondern an die Beſtgebildeten zu knuͤpfen und eben
dadurch die in den Italiſchen Staͤdten der Griechen fruͤh-
zeitig entwickelte Hinneigung zur Volksherrſchaft zu be-
kaͤmpfen. Aber die Schulen der Pythagoraͤer wurden ver-
brannt und das Griechenthum ging ſeinen Weg.


210. Platon und Ariſtoteles, des Pythagoras
wohl eingedenk, aber in ſchon nachtheilig entſchiedenen
Staatsverhaͤltniſſen von Griechenland lebend, die kein ver-
fuͤhreriſches Bild mehr boten, am wenigſten aber eine Ruͤck-
kehr auf den Weg des Pythagoras zuließen, wichen nach
verſchiedenen Seiten ab. Platon lehnte ſeinen Staat, deſ-
ſen Ausfuͤhrbarkeit er ſelber dahinſtellt, faſt laͤugnet, an die
Staͤrke der menſchlichen Natur, Ariſtoteles den ſeinen an
die Staͤrke und die Schwaͤche derſelben an, und Ariſtoteles
beurtheilte das Maas beider aus den geſchichtlich vorliegen-
den Zuſtaͤnden. Platon zielte zu hoch, dagegen Ariſtoteles
Gefahr lief ſein Ziel zu niedrig zu nehmen und vorkom-
mende, darum aber nicht nothwendige Zuſtaͤnde fuͤr un-
vermeidlich zu halten. Platon erhielt, wenn uͤberhaupt
einen durchfuͤhrbaren Staat, immer nur einen einzigen,
Ariſtoteles, die Zuſtaͤnde meſſend, erkannte, daß ſehr verſchie-
dene Regierungsformen beziehungsweiſe gut ſeyn koͤnnen.


211. Dem Platon iſt die Darſtellung des Staats der
nothwendige Schlußſtein zu ſeinen Ausfuͤhrungen auf dem
[185]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
Felde der Sittenlehre. Platon ſtellt den Staat dar um
der Lehre von der Gerechtigkeit willen; er nimmt an, die Ge-
rechtigkeit, als die jedem Theile des Ganzen die Gebuͤhr
zutheilende Tugend, muͤſſe ſich im guten Staate im groͤße-
ſten Maasſtabe und dadurch in deutlicheren Umriſſen dar-
legen als ſie in den Seelen Einzelner erſcheinen kann.
Allein ſchon dieſer Ausgangspunkt entfernt ihn vom wirk-
lichen Leben, welches haͤufig in kleineren Kreiſen des Da-
ſeyns die ſittlich befriedigendſten Verhaͤltniſſe entfaltet, waͤh-
rend die Staatseinrichtung in Ungerechtigkeit verſun-
ken iſt.


Das Werk der Gerechtigkeit aber ſoll ſo vollbracht wer-
den, daß die Bevoͤlkerung ſich theilt in ſolche die zu be-
fehlen und ſolche die zu gehorchen haben, die Befehlenden
ſich aber wieder theilen in Befehlshaber und Ausrichter
oder Gehuͤlfen. Wie demnach die in der beſten Erziehung
beſtbewaͤhrten als die eigentlichen Weiſen (Philoſophen) im
Staate, die Huͤter ſind, d. h. den Staat regieren, ihm
ſeine Graͤnze ſetzen, Geſetze geben, Gericht und Verwal-
tung einſetzen, und ſelber, doch nicht vor dem funfzigſten
Jahre, an die hoͤchſte Stelle treten, ſo wirken die mit den
Kraͤften der Tapferkeit begabten Juͤnglinge in tieferer Ord-
nung als der Weiſen Helfer und Ausrichter ihrer Anord-
nungen. Sie ſind die Wehrmaͤnner, das ſtehende Heer
des Staats. So kommen in die dritte Claſſe die bloß
Gehorchenden, welches die Gewerbtreibenden ſind und dar-
um dahin gehoͤren, weil ſie nur den eigenen, nicht des
Staates Nutzen ſuchen. Daher duͤrfen ſie weder befehlen,
noch ſelbſt mit ſchuͤtzen helfen. Ihnen liegt ob jene Obe-
ren zu ernaͤhren, von dem Gewinne, welchen ſie aus den
Gewerben ziehen, die jedem von ihnen nach ſeiner Faͤhig-
keit vom Staate angewieſen werden. Eine eigentliche Ge-
[186]Neuntes Capitel.
ſetzgebung fuͤr die Verhaͤltniſſe der Gewerbtreibenden gilt
fuͤr nicht der Muͤhe werth. Sie ſind, bei weitem die Mehr-
zahl freilich der Bevoͤlkerung, dennoch der eigentliche Un-
terbau des Staats, nicht das Staatsgebaͤude ſelber
(IV, p. 425.).


212. Wie aber dieſe Claſſen ſich bilden? Zuerſt ge-
wiſſermaaßen durch ein Wunderwerk, wie es Platon ſelber
darſtellt, dadurch nehmlich, daß Philoſophen die Herrſchaft
irgendwie bekommen, die Unterthanen aber ſich gefallen
laſſen ſo viele ihrer uͤber zehn Jahre alt, auf das Land zu
wandern, womit die juͤngeren zur Erziehung den Herr-
ſchern anheim fallen. Sowie ſich deren Faͤhigkeiten ent-
wickeln, geſchieht die Sonderung der ſo Erzogenen, welche
von nun an erbliche Gewalt hat, und vermoͤge des Prin-
cips, daß von Guten Gute geboren werden, eine Verer-
bung der hoͤheren Faͤhigkeiten verſpricht, inſofern nur jede
Miſchung der hoͤheren Claſſen mit einer niedern vermieden
wird. Ausnahmsweiſe haben die Herrſcher das Recht,
Sproͤßlinge der hoͤheren Ordnung, die ſich der beſten
Staats-Erziehung nicht wuͤrdig beweiſen, in die niedere
Ordnung herabzuſtoßen, und umgekehrt, wo ſich unter un-
edelm Metall edles zeigt, dieſes in die beiden hoͤhern Claſ-
ſen zu verſetzen, deren Mitglieder Ehre es iſt kein Eigen-
thum zu haben, keinen Hausſtand, nur gemeinſame Mahle,
damit ihnen nicht die eigene Familie, ſondern der Staat
das Naͤchſte und Alles ſey.


213. Darum beruht der Staat auf der Staatsauf-
ſicht uͤber die Ehen. Und hier ſpricht Platon den Frauen
gleiches Weſen und Faͤhigkeit mit den Maͤnnern, nur im
geringeren Maaße zu, und ohne in der Gebundenheit ihrer
[187]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
Koͤrper ein Hinderniß zu finden, weist er ihnen maͤnnliche
Leibesuͤbungen und maͤnnliche Erziehung an und die
Kriegs- und Friedens-Ämter ſind Frauen und Maͤnnern
gemeinſam, nur nach Unterſchied der perſoͤnlichen Faͤhig-
keit. Da ihm nun der Antrieb zur Vereinigung der Ge-
ſchlechter bloß in dem ſinnlichen Reize der Koͤrper beſteht,
ſo macht es keine Schwierigkeit auch dadurch die Staats-
Oberen uͤber jede Beengung durch Familien-Ruͤckſichten
zu erheben, daß in Hinſicht auf ſie eine Gemeinſchaft der
Älterlichkeit gegruͤndet wird, vermoͤge welcher weder die
Ältern ihr Kind kennen, noch das Kind ſeine Ältern.


Dieſes darf darum keine regelloſe Vermiſchung ſeyn.
Die Oberen ſollen die Zahl der Heurathen beſtimmen, mit
Ruͤckſicht auf Kriege und Krankheiten, nach dem Grund-
ſatze, daß der Staat ſo viel moͤglich niemahls kleiner oder
groͤßer an Maͤnnern werde. Die Hochzeiten werden an
gewiſſen Feſten feierlich unter weihenden Geſaͤngen began-
gen und zwar ſo, daß die Ehegenoſſen ſich einander erlo-
ſen, obwohl nur dem Scheine nach, denn die Herrſcher
lenken ſo die Looſe, daß die gleich Trefflichen ſich einander
zu Theil werden, ſehr geheim indeß, damit ein jeder ſein
ſchlechteres Gluͤck dem Looſe beimeſſe, nicht den Oberen.
Und die Tapferſten duͤrfen ſich mit mehreren Frauen ver-
binden, damit recht viele Tapfere erzeugt werden. Die
Kinder dieſer Ehen aber werden gleich nach der Geburt in
ein beſonderes Stadt-Viertel, in das Kinderhaus gebracht,
wo alle Muͤtter ſich beiſtehen ſie aufzuſaͤugen, ſo daß we-
der Vater noch Mutter ihr Kind herauszuerkennen vermoͤ-
gen. Kinder ſchlechter Ältern aber, oder in vorgeruͤckten,
nicht mehr fuͤr die Zeugung erlaubten Jahren erzeugte,
oder gebrechliche, werden gar nicht auferzogen, ſondern aus-
geſetzt. Alle Kinder, die zwiſchen dem ſiebenten und dem
[188]Neuntes Capitel.
zehnten Monat nach jener Feſthochzeit geboren ſind, werden
demnach von allen damahls Verbundenen als gemeinſame
Kinder betrachtet und als ſolche weiter erzogen. Mit die-
ſen nun duͤrfen ſich die Geſammt-Ältern zwar nicht ver-
ehlichen, allein die Geſammt-Kinder, die ſich Bruͤder und
Schweſtern nennen, duͤrfen es, wenn Apollon nichts da-
wider hat (V, p. 461.).


214. So bringt Platon der Gottheit des Staats die
hoͤchſten nur denkbaren Opfer, das Opfer der Familie, des
Hausweſens, der individuellen Bildung, und perſoͤnlichen
Freiheit, indem uͤber jede menſchliche Anlage von Staats-
wegen in Erziehung und Anwendung verfuͤgt wird, der
Hauswirthſchaft, der im Reichthum enthaltenen Bildungs-
mittel und Genuͤſſe, der freien Bewegung der Kuͤnſte,
insbeſondere der Dichtkunſt, er ſcheint ſelbſt einige Natur-
geſetze zu opfern, und alles Dieſes, um ein Gemeinwe-
ſen zu gruͤnden, welches von irgend einem der allein-
Weiſen, welcher widerwillig fuͤr kurze Zeit ſich dazu her-
ablaͤſſet, unumſchraͤnkt beherrſcht wird; und außerdem alles
Dieſes nicht fuͤr einen Staat der reinen, einfachen allge-
meinen Menſchlichkeit, ſondern fuͤr einen Staat von Hel-
lenen, denen alle Nicht-Hellenen Gefaͤße der Unehren ſind.
Wuͤrde die Gottheit (Apollon), von welcher der Staat
ſeine Religion erwarten ſoll, dieſe Mittel fuͤr dieſe Zwecke
gutheißen? Steht denn wirklich das Gut-Seyn des Staats
hoͤher noch als das Gut-Seyn ſeiner Beſten, da ſie durch
Trug (in den Ehe-Looſen), alſo durch einen Abfall vom
Guten dieſe hoͤchſte Ausbildung des Staats-Kunſtwerks,
welches ſeinen Zweck in ſich ſelber haͤtte, erkaufen ſollen?
Waͤre da nicht beſſer ein weniger guter Staat, aber mit
beſſeren Bewohnern?


[189]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.

Plato leitet den hiſtoriſchen Staat aus der Beduͤrftig-
keit der Menſchen ab, die einander nicht zu entbehren ver-
moͤgen (II. p. 369.); die faſt voͤllige Unausfuͤhrbarkeit ſei-
nes urbildlichen Staates giebt er ſelber mehrmahls zu.
Staͤnde er aber durch ein Wunder ploͤtzlich da, ſo gewaͤhrt
er in ſeiner voͤlligen Fertigkeit nur ein Bild zum An-
ſchaun, nichts fuͤr das Weiter-Streben, nichts fuͤr die Ver-
vollkommnung. Der beſte Staat kann nicht beſſer wer-
den, er kann nur vor Verſchlimmerung bewahrt werden.


215. Nichts deſto weniger enthaͤlt Platons Staat die
große ethiſche Darſtellung der Wahrheit, daß die Ge-
rechtigkeit auch in ihrer raͤumlichſten Erſcheinung (im
Staate) nicht darin allein beſtehe, daß uͤberhaupt ein Recht
angenommen ſey, ſondern daß das rechte Recht es ſey, daß
eine gewiſſe Beſchaffenheit des Rechts nicht fehlen duͤrfe,
und zwar eine ſolche, wodurch nicht ein einzelnes Glied
des Staats befriedigt wird, ſondern jeder Theil des Volks
an die ihm gebuͤhrende Stelle kommt. Die Moral fuͤr ſich
betrachtet, verlangt Geſinnung, das Staatsgebot fuͤr ſich
betrachtet, verlangt Leiſtung, es darf nicht unterlaſſen wer-
den, aber der gute Staat ſchreibt ſolche Leiſtungen vor,
welche dem Geſetze der hoͤheren Gerechtigkeit entſprechen
und darum eine Gewaͤhrleiſtung ihrer dauernden Erfuͤllung
in ſich tragen.


216. Im hohen Alter ſchrieb Platon die zwoͤlf Buͤcher
der Geſetze, die er gleichſam fuͤr die Leute vom Schlage
der dritten Claſſe beſtimmte, deren Erziehung und Geſetze
er fuͤr ſeine zehn Buͤcher vom Staate zu gering achtete.
Hier ſchließt er ſich, obwohl an alten Neigungen haftend,
mehr den Zuſtaͤnden und der Geſchichte an, verſchmaͤht
[190]Neuntes Capitel.
keine Belege, laͤßt nicht die Philoſophen herrſchen, nicht
Guͤter und Kinder gemeinſam ſeyn, laͤßt auch das maͤnn-
liche Geſchlecht in ſeinem Unterſchiede vom weiblichen be-
ſtehen. Die Erziehung der Knaben und die verſchiedenen
Obrigkeiten ſind hier ſehr umſtaͤndlich entwickelt.


217. Ariſtoteles ſah eine Welt von Freiſtaaten
rings um ſich verſinken, waͤhrend die ungeheure politiſche
Kraft des Koͤnigthums ſich laut und lauter verkuͤndigte:
Ihm, der in einem beſonderen Werke mehr als anderthalb
hundert Staatsverfaſſungen beſchrieb, der in allem Wiſſens-
wuͤrdigen zu Hauſe, in dem meiſten Meiſter war, lag es
vornehmlich nahe, daß der Menſch nicht uͤberall dasſelbe
Neſt baue. Er verwarf den Staat ſeines Lehrers (der
faſt unmoͤglich werden und ſchwerlich ſeyn kann), weil
ſeine Mittel fuͤr ſeine Zwecke nicht ausreichen, und er dabei
bloß die Philoſophen- und die Krieger-Claſſe bedenkt
(Pol. II. c. 1. u. 2.). Lieber beobachtet er die hiſtoriſch
gegebenen Staaten, vornehmlich den der Spartaner, Kre-
ter und Karthager; denn der Roͤmiſche muß ihm doch
nicht nahe genug getreten ſeyn, um ſeiner Überlegenheit
inne zu werden. Nicht zwar als ob die Zuſtaͤnde allein
ihm das Maas der Dinge gaͤben, aber er findet daß die
Natur ſelber in den gelungneren Darſtellungen der zum
Staat verſammelten Menſchheit ein ſittliches Gleichmaas
ſuche und bewaͤhre. Nicht jede Volksanlage aber iſt des
beſſeren Staats empfaͤnglich; und kein Staat darf, weder
im Begriffe, noch in der Wirklichkeit, als fehlerlos betrach-
tet werden. Daß dem ſo ſey, wird ſchon dadurch bezeugt,
daß es zur Sclaverei geborene Naturen giebt, wie im All-
gemeinen die der Barbaren ſind. Sie ſind geborene Sa-
chen und Beſitzthuͤmer und muͤſſen um ihres eigenen Beſtens
[191]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
willen bloß beherrſcht werden. Und ſo kommt es dem Ari-
ſtoteles ſo wenig als dem Platon in den Sinn die Recht-
maͤſſigkeit eines Verhaͤltniſſes, das ſich eben allenthalben
darſtellte, der Entſcheidung eines hoͤheren Geſetzes der Ge-
rechtigkeit zu unterwerfen. Die Maͤnner ſind von den
Frauen uͤberlegener Natur. Die Frauen ſind nicht Buͤr-
ger, ſie bilden einen gewiſſen Mittelſtand zwiſchen Buͤr-
gern und Sclaven.


218. Es giebt keinen Ariſtoteliſchen Staat, wie es
einen Platoniſchen giebt, nur eine Ariſtoteliſche Staats-
lehre. Der Staat war dem Ariſtoteles uranfaͤnglich, aͤlter
ſogar als die Familie, darum im ſtrengſten Sinne Natur-
gemaͤß. Das Nicht-Staatsweſen iſt entweder aus Unver-
moͤgen ein Thier, oder aus Unbeduͤrftigkeit ein Gott. Aber
wie der Werth der Naturen verſchieden, ſo auch der Staa-
ten. Eine Staatsform zwar iſt abſolut verwerflich, die
Tyrannis, weil ſie allein ſich ſelber zum Zwecke macht,
nicht das Wohl der Gehorchenden; alle anderen koͤnnen
beziehungsweiſe gut ſeyn. Sie ſind aber um ſo viel beſ-
ſer, wenn ſie nicht bloß auf die Erhaltung des Staats,
was die naͤchſte Sorge ſeyn muß, ſondern ſo viel als
moͤglich zugleich auf des Volks Begluͤckung geſtellt ſind,
die von der niedern Luſt zu unterſcheiden iſt. Zu dieſem
Ende kommt es nur darauf an, daß das herrſche, was in
jedem Staate das Beſte iſt, denn dann findet die wahre
Ariſtokratie ſtatt, mag auch die Zahl der Herrſcher
verſchieden ſeyn, ein Einzelner herrſchen als der Beſte, oder
mehrere als die Beſten oder das Gute ſo gleichmaͤßig ver-
theilt ſeyn, daß der groͤßere Theil des Volks, weil in ihm
ſelber das Beſte enthalten, ſich ſelber Geſetze giebt. Dar-
um iſt in dieſem hoͤheren Sinne ſowohl das Koͤnigthum
[192]Neuntes Capitel.
Ariſtokratie (denn nothwendig muß ja der Beſte im Staate
nicht vertrieben, nicht getoͤdtet, auch nicht beherrſcht werden,
ſondern herrſchen) als die gewoͤhnlich ſo geheißene Ariſtokra-
tie; die trefflichſte Form der Ariſtokratie aber und darum vor-
zugsweiſe Politeia zu heißen waͤre freilich die dritte, welche
ein ſich ſelbſt regierendes Volk darſtellt. Sie verſpricht
am meiſten Begluͤckung, und die Naturanlage der Griechen,
Muth und Einſicht vereinigend, ſcheint fuͤr dieſe beſte
Verfaſſung vorzugsweiſe geeignet (VII, 6.); aber ſelten
wird der groͤßere Theil des Volks ſich als den Beſten an-
gehoͤrig verhalten. Das Koͤnigthum entſpricht am meiſten
der Erhaltung; aber freilich das unumſchraͤnkte Koͤnigthum
(παμβασιλεία) ſetzt eine ſchlechte Volksnatur voraus, ſo
auch iſt auf das Erbkoͤnigthum wenig zu bauen, da oft
dem guten Vater ein ſchlechter Sohn folgt, und uͤberhaupt,
wenn das Volk aus Gleichen und einander Ähnlichen be-
ſteht, iſt das Koͤnigthum nicht raͤthlich, da es gegen die
Natur, daß ein Theil uͤber das Ganze herrſche. Nur ein
Geſchlecht, beſſer als alle uͤbrigen im Volk, iſt zum Koͤnig-
thum berufen.


219. Nun aber neigt die menſchliche Natur fortwaͤh-
rend zu Überſchreitungen hin, welche jene drei Gattungen
der Ariſtokratie zwar der aͤußeren Form nach darſtellen, aber
das Weſen iſt verloren. Denn das Beſte herrſcht nicht in
ihnen und ſie ſorgen wol etwa fuͤr einen Theil des Volks-
Wohles, aber nicht fuͤr das Ganze. Als ſolche Ausartung
tritt dem Koͤnigthum die Tyrannis, der Ariſtokratie die
Oligarchie, der Politeia die Demokratie entgegen. Fragt
es ſich daher nach der fuͤr die meiſten Staaten im Allge-
meinen geeignetſten Verfaſſung, ſo iſt das diejenige, welche
dem Vermoͤgen die Macht giebt, die ariſtokratiſchen und
[193]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
die demokratiſchen Principe auszugleichen. Ariſtoteles nennt
dieſe Verfaſſung welche er den Menſchen, wie ſie einmahl
ſind, empfiehlt, Timokratie von der Vermoͤgensſchaͤtzung,
waͤhrend die Timokratie des Platon das Trachten nach
Ehre im Kriege zum Grunde hat und durch einen Ab-
fall der Krieger von ſeiner beſten Verfaſſung entſteht. Die
Timokratie des Ariſtoteles, welche er ausfuͤhrlich in ſeiner
Ethik (VIII, c. 10.) darlegt, iſt nichts anders als eine leich-
ter ausfuͤhrbare Form ſeiner Politeia.


In allen ſonſtigen Einrichtungen wird der Naturgrund
geſchuͤtzt. Keine Erſchuͤtterung der Familie, keine bloße
Staatswirthſchaft (wobei gegen Platons Guͤtergemein-
ſchaft erinnert wird, daß ſie zwar einige Übel hinwegnehme,
aber bei weitem mehr Gutes, und uͤberhaupt nicht moͤglich
ſey), ſondern eine Hauswirthſchaft, ſo daß der Mann er-
wirbt, die Frau erhaͤlt.


220. Nehmen wir Alles zuſammen, Ariſtoteles bietet
uns einen urbaren Boden der Politik dar, den wir wohl
fortbauen moͤgen, nur daß wir an die Stelle des harten
Hellenenthums die Chriſtliche Menſchen-Liebe und Men-
ſchen-Achtung ſetzen, und zwar nicht bloß als humane
Theorie, zur Weide des Gemuͤths, ſondern auch ihren
Entwickelungen im Staate ſtets getreu bleiben, und dabei
das vorwaltende Element in unſerm heutigen Staaten-
Weſen, das Koͤnigthum, gruͤndlicher zu begreifen trachten
als Ariſtoteles es vermochte, der dem Koͤnige ſogar Auf-
ſeher beiordnet (III, 11, 15. VII, 14.).


221. Das Chriſtenthum erſchuf eine ganz neue Welt-
betrachtung, indem es die Voͤlker aller Staaten zu Bruͤ-
dern berief. Das konnte nur aus einer großen Innerlich-
13
[194]Neuntes Capitel.
keit der Anſicht kommen, welche, von keiner Verſchieden-
[artigkeit] der Erſcheinungen uͤber das Beduͤrfniß der
Gattung irregefuͤhrt, jedem Glaubensgenoſſen unermuͤdet
das gemeinſame Ziel fuͤr Hier und fuͤr Jenſeits entgegen-
hielt. Der Einzel-Staat trat nothwendig auf eine tiefere
Stufe, ſeit Millionen in der Anſchauung eines Menſch-
heits-Staates lebten. Der Staat konnte nicht mehr im
Ariſtoteliſchen Sinne Architektonik ſeyn.


222. Dazu die große Gemeinſamkeit des Natur-Stam-
mes der nun chriſtlichen Voͤlker und in den, ſobald groͤßere
Reichsbildungen ein klareres Bewußtſeyn des Staats er-
zeugten, fertig daſtehenden Lehnſtaͤnden eine ſolche Gebun-
denheit der großen Schichten der Bevoͤlkerung, wie ſie
nur irgend da geweſen ſeyn konnte wo Eupatriden und die
hohen Rhamnes herrſchten. Eine compacte Ariſtokratie der
Geſchlechter mit ſtarkem Druck nach unten; dennoch fan-
den die widerſtrebenden Volks-Elemente, aus denen der
Franken Reich zuſammenkam, ſiegende Deutſche und be-
ſiegte theils Gallier, theils ebenfalls Deutſche allein im
Bau des Lehnsſyſtems ihre endliche Verbruͤderung. Vaſal-
lenthum mochte den Thron erſchuͤttern, aber der Sturz
des Throns haͤtte das Lehn mit ſich fortgeriſſen.


223. Die Kirche war Trotz des (Roͤmiſchen) Staates
entſtanden und gewachſen; ſie lehrte leidenden Gehorſam
gegen den Staat. Einfach zu leiſten war dieſer; religioͤſe
Demuth, damahls in Fuͤlle vorhanden, reichte aus. Schwer
und verwickelt ward erſt die Aufgabe, ſeit das Chriſten-
thum uͤberall in den Staaten des Welttheils durchge-
drungen war, als ſeine Geiſtlichkeit allenthalben erſter
Reichsſtand war, und es ſich nun fragte, welches Gebiet
[195]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
der Kirchengewalt im Staate gebuͤhre. Weit ſchwerer als
Unrecht dulden iſt das Maas ſeiner Rechte halten.


224. So gewaltig aber der Kampf einer ihr Ziel uͤber-
ſpringenden Kirchen-Herrſchaft gegen den halb trotzig, halb
verzagt widerſtrebenden weltlichen Arm die Staaten des
Welttheils bewegte, die Gewiſſen der Unterthanen verwir-
rend, ſo war der Ausgang doch faſt gehaltlos zu nennen
gegen die ſtillen Siege, die das Chriſtenthum inzwiſchen
im innern Leben der Bevoͤlkerungen feierte. Es entſchied ſich
mehr und mehr dem Grundſatze nach (wie zoͤgernd auch
in der Vollfuͤhrung), daß keine Menſchen-Opfer laͤnger
dem Staats-Goͤtzen gebracht werden duͤrfen; die Sclave-
rei ward, ſo weit die Religion ihrer Herr werden kann,
abgethan; das Strafrecht erhielt eine ſittlichere Begruͤn-
dung; es ward in der chriſtlichen Freiheit ein lebendiges
Menſchenrecht, das den Menſchen von Gottes wegen ge-
buͤhrt, geheiligt; in der chriſtlichen Geſinnung lag die Si-
cherheit, daß ſie, die immer mit der eigenen Pruͤfung an-
faͤngt, ſich nicht uͤber die weltliche Ordnung erhebe.


225. Es lag nicht allein daran, daß bloß der geiſt-
liche Stand nachdenklich lebte und Buͤcher ſchrieb, es lag
unmittelbar in den Thaten dieſer umgeſtaltenden Religion,
daß der Staat faſt nur von der kirchlichen Seite ergriffen,
Staatsweisheit aber unter der Form der Fuͤrſten-Bildung
gelehrt ward. So mit einigen Byzantinern Thomas von
Aquino, Vinzenz von Beauvais; ſo auch der gelehrte Abt
Engelbert von Admont. Die Staatslehrer des Alterthums
handeln ſtets am ausfuͤhrlichſten von der Erziehung des
Staatsvolks; allein in den Tagen der Chriſtenheit ſtand
die Volksbildung in ihren leitenden Ideen durch die heili-
13*
[196]Neuntes Capitel.
gen Schriften feſt und ſie lag in den Haͤnden der Geiſt-
lichkeit. Was der Staat einheitlich vollbrachte, ſchien im
Fuͤrſten enthalten.


226. Von aͤußeren Erfolgen ſolcher ſtillen Bemuͤhun-
gen um den Staat im Sinne ſeines Standes zur Menſch-
heit bemerkte ſich freilich auf der Oberflaͤche des Lebens
wenig. Die Stimme des Tags, der den Staat, wie er
vorliegt, thaͤtig zu behandeln und ſeine Zwecke zu foͤrdern
hat, toͤnt zu laut in der Geſchichte. Seit indeß die Re-
formation die feinſten Fragen praktiſch gemacht hatte, ſo
entſcheidend daß ſeitdem vergeblich alles Bemuͤhn iſt ſie
ins Myſterium zuruͤckzuſpinnen, ſtellte ſich neben den Schrift-
ſtellern, welche den Staat der aͤußeren Erfolge, der Staͤrke
der Herrſchaft, daher des Reichthums wollten, die lange
Reihe derjenigen auf, die nicht muͤde wurden das in chriſtli-
cher Zeit doppelt ſchwierige Verhaͤltniß des Individuums zum
Staate zu eroͤrtern, welches ſich in der Frage ausſpricht:
Wie ſoll Sittlichkeit mit dem Recht, das innere Geſetz der
Freiheit mit dem aͤußeren des Zwangs beſtehen? wer von
beiden ſoll nachgeben ohne doch ſich aufzugeben? iſt in die-
ſer Gebrechlichkeit der menſchlichen Dinge eine Verſoͤhnung
uͤberhaupt nur moͤglich?


227. Den unfruchtbarſten Pfad ſchlugen wohl dieje-
nigen ein, welche in Form der Alten ohne den Boden der
Alten ein Ideal des Staats in die Luft zu malen ſuch-
ten, mochte es nun Utopia oder Oceana heißen. Die wilden
Monarchomachen aber durchſchnitten mit Schwert und Dolch
den Knoten, den ſie nicht zu loͤſen wußten. Beſonders
unhold ſteht Mariana’s Jeſuitiſche Volks-Souveraͤnitaͤt da,
die den tyranniſchen Koͤnig zu Gericht und Hinrichtung
[197]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
verdammt, zumahl im Vergleiche mit den Juriſten und
Theologen Wittenbergs, welche ſich mit der glimpflichen
Entſcheidung begnuͤgten, dem Kaiſer ſey in Glaubens-
Sachen nicht zu gehorchen.


228. Wie kundig und gruͤndlich man ſich auch um
Machiavelli bemuͤhe, immer bleibt feſt, daß “dem
Spinoſa der Politik” (Stahl) das Tuͤchtige fuͤr das Gute
gegolten, das Schwache fuͤr das Boͤſe; daher er auch kei-
nen Anſtand nahm, den Staat nach Weiſe der Alten,
als hoͤchſtes Ziel zu ſetzen, und zugleich als die Urſache,
daß uͤberhaupt von gut und recht und ihren Gegenſaͤtzen
die Rede iſt. Die hoͤchſte Eigenſchaft des Staates aber
iſt ſeine Macht, deren Urſache nicht in der Privatwohl-
farth, ſondern in der allgemeinen Wohlfarth ruht. Außer-
dem verſtimmt ihn der Anblick der ſchlaffer gewordenen
Volksbande und der ſo ſchwer ins Rechte zu ſtellenden
Kirchenmacht, gegen das Chriſtenthum. Die Verderbniſſe
des Pabſtthums, welches er als den eigentlichen Grund
der politiſchen Schwaͤche Italiens betrachtet, hofft er
durch ein gewaltiges Tyrannenthum zu beſiegen, Italien
wiederherzuſtellen, und alle ſeine vaterlaͤndiſchen Hoffnun-
gen begleiten einen Caͤſar Borgia. Hinterher moͤgen dann
auf dem durch Trug und Gewalt geglaͤtteten Boden der
Ordnung auch Sitte und Froͤmmigkeit ſich anbauen und
zur wahren Freiheit fuͤhren. An Machiavell mag man
die Schwachherzigkeit verlernen, welche die Staats-Bahn
durchweg im Geleiſe des Zuſchnitts der Privatrechte feſt-
halten moͤchte, aber ſeine Lehre iſt Umwaͤlzung, gewiſſe
Verſchlimmerung ſeiner ſelbſt und Anderer im rechten Kerne
des Weſens um eines zweifelhaften aͤußerlichen Erfolges
willen, der thoͤricht nun auf dieſelben Tugenden Rechnung
[198]Neuntes Capitel.
macht, die er im Keime zertreten hat 1). Jean Bodin
ſchilt den Machiavell ohne ſeinem Genie zu huldigen; er
hat von den Alten gelernt, daß nicht die Staatsform, ſon-
dern die Lage der Staatsgewalten uͤber die Wirkung einer
Verfaſſung entſcheidet; ſchon die Untheilbarkeit der hoͤchſten
Gewalt aber beſtimmt ihn fuͤr die Monarchie. Sein Werk
uͤber den Staat hat nichts von der erſchuͤtternden Gedan-
kenkraft Machiavells, iſt nicht begeiſternd, aber lehrreich iſt
er, ungeachtet mancher Unzuverlaͤſſigkeit in den Thatſachen,
voll Sinns fuͤr die hiſtoriſche Verſchiedenartigkeit der
menſchlichen Zuſtaͤnde, auch reich an volkswirthſchaftlichen
Notizen, die er freilich noch reicher in einem fruͤher erſchie-
nenen Werke ausgeſtreut hat 2).




229. Hobbes, ſo ſtarr ſein Weſen, erinnert doch in
gewiſſer Weiſe an Machiavell, denn er iſt entſchieden das
Product ſeines Lebensganges, iſt in ſich fertig wie jener
und in ſeinem Syſtem politiſcher Verzweiflung gegen alle
Folgerungen geſtaͤhlt. Wer ihm ſeine erſte Erfindung, ſei-
nen Naturzuſtand zugiebt, in welchem jeder Recht
hatte zu dem was er vermochte, und dann zweitens die
naͤchſte Folge, die graͤnzenloſe Furcht zugiebt, die, um ſich
aus dieſem Kriege Aller gegen Alle zu retten, einen
Staats-Vertrag unter allen Einzelnen zu Stande
brachte, in welchem dieſe auf allen Eigen-Willen fuͤr alle
Zukunft in die Haͤnde der Regierung verzichten, der iſt
auch allen ſpaͤteren Folgerungen unterthan. Boͤſe iſt dann
wirklich was das poſitive Geſetz verbietet, gut was es zu-
laͤßt oder gebietet. Dieſelbe Bewandniß hat es mit jeder
Wahrheit in der Wiſſenſchaft und im Glauben. Darum
iſt es gar nicht einmahl moͤglich, daß die Regierung irren
oder Unrecht thun koͤnnte, ſie, die ſelbſt der Gottheit darin
vorangeht, daß dieſer keine Gewalt uͤbertragen iſt. Es
liegt in der Natur der Sache, daß des Hobbes Lehren
Republikanern wie Milten, Harrington und Sidney
[200]Neuntes Capitel.
ein Graͤuel waren, aber er gewann fuͤr ſein Syſtem nicht
einmahl bei dem Sohne des ungluͤcklichen Stuart Ver-
trauen. Wie viel bequemer ruhten unumſchraͤnkte Neigun-
gen bei einem Filmer und einem Wandalin aus!
Wenn ſchon Adam als Koͤnig Adam der Erſte Jahrhun-
derte lang unumſchraͤnkt uͤber das ganze Menſchengeſchlecht
geherrſcht hat, wenn der Fuͤrſten Seelen an ſich beſſer
begabt ſind, wie bereits Kaiſer Karl IV. behauptete, als
er ſeinen ſtets unmuͤndigen Wenzel den Fuͤrſten des Reichs
empfahl, und wenn nun vollends jedes gekroͤnte Haupt durch
die innerlich charakteriſirende Salbung in unmittelbare Ge-
meinſchaft mit der Gottheit tritt, ſo iſt die Unumſchraͤnkt-
heit der Koͤnige Sache der Religion. Die Unumſchraͤnkt-
heit, welche Hobbes lehrt, koͤnnte ja auch einer republika-
niſchen Regierung zu Gute kommen.


230. So viel menſchlicher ausgeſtattet Locke daſteht
als Hobbes und ſo ſehr man ſeinem Werke die friſche
Empfindung des ſeltenſten Gluͤckes anſieht — Vermehrung
der Freiheit als unmittelbare Folge einer Staatsumwaͤl-
zung —, ſo iſt doch ſein Staat nicht minder auf einer
Fiction gebaut, und ſtellt weder die, von ihm zuerſt im
Sinne neuer Staatsordnung getheilten, Staatsgewalten
in ein richtiges Verhaͤltniß zu einander, noch weiß er die
wichtigſten Fragen, welche einer inneren Loͤſung vertraut
ſeyn wollen, anders als rein aͤußerlich d. h. factiſch zu be-
antworten. Seinen Naturſtand laͤßt er auf Naturgeſetzen,
deren Quelle die Vernunft iſt, beruhen und ſtattet ihn mit
ſo viel angenehmer Freiheit und Gleichheit aus, daß man
nicht recht begreift, warum die Menſchheit freiwillig von
ihm ſcheidet, um nach dem freien Willen der Gemeinde
die Staatsgewalt zu gruͤnden. Da die Einzelnen freiwillig
[201]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
zugetreten ſind, ſo koͤnnen ſie auch freiwillig wieder aus-
treten. Inzwiſchen beſteht auch innerhalb des Staates ein
Recht der Einzelnen, welches der Staat nicht antaſten
oder der Antaſtung preißgeben darf; es iſt das Recht des
Eigenthums, welches durch Arbeit erworben wird, alſo
niemandem zu Leide, da jedermann zu arbeiten freiſteht.
Nur darf es nicht gebrauchlos aufgehaͤuft werden, eine
Beſchraͤnkung, die freilich dem Eigenthume wieder Gefahr
droht, gar nicht davon zu reden, daß Locke ſelber, ſchlech-
ter bewandert in der Staatswirthſchaft als Hobbes, die
moͤglichſte Anhaͤufung von Gold und Silber anempfiehlt.
Der Staat iſt gleichwohl da, um das Eigenthum zu
ſchuͤtzen; er gewaͤhrt dieſen Schutz durch die vollziehende
Gewalt, welche ihre Macht vom Volke hat, das durch
die geſetzgebende Gewalt vertreten wird. Die voll-
ziehende Gewalt darf einen Antheil an der Geſetzgebung
haben, handelt aber nach den Vorſchriften der geſetzgeben-
den Gewalt, welche in unveraͤnderlichen, alle Unterthanen
gleichmaͤßig angehenden Geſetzen niedergelegt ſind. Vor
Allem keine Steuer, ohne Einwilligung der Geſetzgeber.
Gerathen Koͤnig und Geſetzgeber in Streit, ſo entſcheidet
das Volk, ein Volk, welches Locke nur unter der Form
von gleichberechtigten Einzelnen zu betrachten liebt, und
welche freilich ſo aufgeſtellt am beſten die noͤthige Wache
halten, daß nicht die Geſetzgebung in die Hand der Voll-
ziehung falle, waͤre nur dieſe Maſſe eben ſo leicht gegen
ſich ſelbſt geſchuͤtzt. Da man indeß von ſeinem Rechte
auch nicht Gebrauch machen kann, ſo wird das oberauf-
ſehende Volk auch warten koͤnnen, bis die ordentlichen
Staatsgewalten ihre Pflicht erkannt haben, ſich wieder zu
vertragen. Nur muß, damit zu ſolcher Maͤßigung Hoff-
nung ſey, der geſunde Sinn lehren, daß es ſich im Staate
[202]Neuntes Capitel.
nicht von einem Kunſtwerke handelt, bei dem man an die
Vollendung eines Theils billig das Ganze wagt, ſondern
von einem organiſchen Koͤrper, der ſeine Krankheiten da-
durch beſteht, daß die geſunden Theile uͤberwiegen. Der-
geſtalt hat England, dem Manne gern vertrauend, der fuͤr
die Sache der Freiheit auch edel zu leiden verſtanden hatte,
ſich das freiheitliche Element aus Lockes Theorie bewun-
dernd angeeignet, und ſich durch ſeinen Familien-Sinn,
durch die ſittliche Kraft ſeines gediegenen Mittelſtandes,
durch den Tact der Einſicht, der das Ganze durchdringt,
vor der Anwendung der Corrective bewahrt, auf die ſeine
Buͤrger ſtolz ſind, die aber ins Leben uͤbergetragen, einen
alles verſchlingenden Abgrund unter ihnen oͤffnen wuͤrden.


231. Nun geſchah’s, daß, von einem durch Despotie
und Anarchie unter wachſendem Sitten-Verderb der Vor-
nehmen bis zur Aufloͤſung entarteten Staate aus, Mon-
tesquieu
den großen Geiſt, welcher in der Engliſchen
Verfaſſung lebt, erkannte und es wagte den politiſchen
Feind ſeines Vaterlandes als Muſter der Freiheit aufzu-
ſtellen. Er ſah klar genug in Sitte und Recht, um, wenn
er gewollt, nachweiſen zu koͤnnen, daß Locke zwar die frei-
heitlichen Verfaſſungs-Formen, durchaus aber nicht den tie-
feren Grund enthuͤllt, warum es mit ihrer Arbeit in Eng-
land ſo wohl gelingt. Aber Montesquieu war durch ver-
derbtes Koͤnigthum und Prieſterthum und mancherlei Mo-
deſatzung gegen die tiefſinnigen und wahrhaft menſchlichen
Grundlagen der neueren Staatenbildung verſtimmt, durch
Verhaͤltniſſe zur Ironie eingeengt, und ohnehin, ſeiner ſel-
tenen Talente froh, dem Glanze eines neuen Syſtems
mehr geneigt. Die Alten und England ſind die Quellen,
aus welchen Montesquieu ſchoͤpft. Er ſtellt drei Verfaſſun-
[203]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
gen auf: Republik, Monarchie, Despotie, ver-
wirft aber die letztere, weil ſie willkuͤhrlich iſt, die Furcht
zum Princip hat. Das Princip der Monarchie aber iſt
die Ehre. Die Republik bietet zwei Formen, Demokra-
tie und Ariſtokratie, die erſtere hat die Tugend, die an-
dere die Maͤßigung zum Princip. Dergeſtalt wird der
alte Irrthum, daß die Zahl der Herrſcher uͤber den Geiſt
der Verfaſſungen entſcheide, wieder hervorgeſucht; die Demo-
kratie erhaͤlt natuͤrlich im Halb-Stillen den Preis, da doch
bei der groͤßten Tugend der Bevoͤlkerung, kein wahrhaft
ſelbſtaͤndiger Staat unſers Welttheils demokratiſch regiert wer-
den kann. Er ſelber verkennt indeſſen nicht, daß Republiken
klein ſeyn muͤſſen, daß die Voͤlker ſich ihre Rechte am
beſten durch Stellvertretung ſichern. Auch nimmt er ſich
wohl in Acht, ſeine drei, den Alten abgeborgten, Staats-
gewalten, geſetzgebende, richterliche und vollziehende ſo zu
ſondern, daß ſie abſolut geſchieden waͤren. Montesquieus
Darſtellung waͤre reiner geblieben, wenn er vom Chriſten-
thum gaͤnzlich abgeſehen haͤtte. Jetzt muß der Katholicis-
mus monarchiſch, der Proteſtantismus republikaniſch ſeyn,
worin ein vielfacher Irrthum ſteckt. Wie viel einfacher
ſteht David Hume da, der ſich unverſtellt als Zweifler
gegen das Chriſtenthum verhielt; darum eben naͤhert
er ſich ohne Scheu den wichtigſten Wahrheiten der
Chriſtlichen Zeit. Er will feſtgehalten wiſſen an der
Sitte der Gattung als der Quelle des eigentlichen
Rechts, und nicht mit der Sitte der Einzelnen zu ver-
mengen. Darum darf ſich die Maſſe der Einzelnen
am allerwenigſten als berechtigt zur Umwaͤlzung der Re-
gierung darſtellen; beſſer ſelbſt die Tyranney. Am wuͤn-
ſchenswertheſten, wenn es ſich machen laͤßt, zur Ver-
hinderung ſolcher aͤußerſten Faͤlle, ein erblicher Fuͤrſt,
[204]Neuntes Capitel.
ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender
Koͤrper.


232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge-
brechen des Lockiſchen Syſtems gluͤcklich an der Hand der
Erfahrung vermied, ſo ſtellt dagegen der Buͤrger von Genf
die Humiſche Sitte der Gattung als ein Recht der
Gattung auf und erhebt dasſelbe zum Sitze einer unver-
aͤußerlichen Souveraͤnitaͤt. Auf die Nothbruͤcke, welche
Locke fuͤr den aͤußerſten Fall geſchlagen hat, baut Rouſ-
ſeau
den ganzen Staat. Er geht, wie man ſeit Hobbes
pflegte, von einem Naturſtande aus, der ihm ungeſellig
erſcheint, und aus demſelben durch einen freien Vertrag,
aͤhnlich dem des Locke, in die buͤrgerliche Geſellſchaft uͤber,
die aber dem Rouſſeau keineswegs als ein Zuſtand der
Vervollkommnung ſich darſtellt. Dieſer ungluͤcklicherweiſe
nun einmahl noͤthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz
des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber
keineswegs geſchloſſen zwiſchen einer Regierung, die man
in Vorausſetzung der definitiven Übereinkunft vorlaͤufig
ſchon anerkennt, und einem Volke, welches ſich bedin-
gungsweiſe regieren zu laſſen bereit iſt, ſondern lediglich
unter den Mitgliedern des Volks ſelber, die demnaͤchſt eine
Regierung zur Ausfuͤhrung des Vertrags anſtellen und in-
ſtruiren werden. Er iſt das Reſultat einer freiwilligen
Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks,
die ihren Einzel-Willen (volonté de tous) fuͤr die Zu-
kunft dem allgemeinen Willen (volonté générale) unter-
werfen. Das Volk iſt und bleibt im Beſitze nicht bloß
der hoͤchſten, ſondern aller unabhaͤngigen Staatsgewalt
(souverain). Es uͤbt die Geſetzgebung unmittelbar in
Volksverſammlungen, deren unvermeidliche Unfoͤrmlichkeit
[205]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
in großen Staaten durch Foͤderationen kleinerer Volksge-
meinden zu ermaͤßigen iſt. Doch misfallen große Staa-
ten dem Genfer uͤberhaupt. Ich verlange, ſpricht er,
kleine Staaten. Niemahls aber koͤnnen Erwaͤhlte des
Volks das Volk repraͤſentiren; die Freiheit der Englaͤnder
iſt daher ein bloßes Blendwerk; hoͤchſtens commiſſariſch
koͤnnen ſolche Deputirte verfahren, und was ſie beſchließen,
bleibt ſtets der Beſtaͤtigung der ſouveraͤnen Volksverſamm-
lung unterworfen. Nun iſt zwar außer ihr eine Regie-
rung noͤthig, da das Volk in doppelter Geſtalt ſich dar-
ſtellt, als Ganzes und dann als ſelbſtregierender Souve-
raͤn, und als eine Menge vieler Einzelnen und dann als
Unterthan, mithin der Regierung beduͤrftig. Inzwiſchen
tritt auch dieſe Regierung ſelbſt dem Einzelnen gegenuͤber
nicht an die Stelle des Souveraͤns, der aus ſich ſelbſt die
Gewalt nimmt; ſie iſt bloß commiſſariſch, mit nicht ſo-
wohl uͤbertragener als bloß geliehener Gewalt, mithin durch
Kuͤndigung auch ohne weiteres vom Souveraͤn wieder zu
entfernen (destituer). Da nicht Alle zugleich regieren koͤn-
nen, ſo iſt es gut, wenn es wenige thun, am beſten ein
Einziger, nur darf er nicht erblich berechtigt ſeyn.


233. Der Gedanke an Volks-Souveraͤnitaͤt iſt
wohl uralt. Es liegt ſo nahe anzunehmen, daß das Volk,
um deſſen willen regiert wird, das Recht habe die Regie-
rung zu aͤndern, die ihm nicht mehr zuſagt; es iſt klar,
daß es die Macht dazu hat und es iſt oft geſchehen. Außer-
dem glaubt der Einzelne gar leicht, daß die innere Unab-
haͤngigkeit, welcher er ſich als Vernunftweſen ruͤhmt, ihm
auch ein Recht auf Unabhaͤngigkeit nach Außen gebe und
wenn er inne wird, dem ſey nicht ſo, glaubt er doch, wenn
Recht nur goͤlte, muͤßte dem ſo ſeyn. Zur Doctrin aber
[206]Neuntes Capitel.
iſt der Gedanke zuerſt von den Jeſuiten ausgebildet, welche
das geiſtliche Regiment des Pabſtes unmittelbar von Gott
leiteten und eben darum alle weltliche Herrſchaft nur mit-
telbar. Im Allgemeinen nehmlich ſey Regierung von Gott,
denn ſie folgt aus der Natur der Menſchheit und kommt
mithin von dem, der dieſe Natur gemacht hat; allein die
beſondere Form der Regierung ſey darum nicht von Gott
und auf dieſe der Spruch des Paulus an die Roͤmer nicht
zu beziehen. “Das goͤttliche Recht hat keinem beſondern
Menſchen dieſe Gewalt verliehen, mithin hat es dieſelbe der
Menge verliehen, darum gehoͤrt die Gewalt der ganzen
Menge an.” Auch bewahren die Jeſuiten ſich ſchlau vor
der ſpaͤter von Hobbes dennoch gebrauchten Annahme, daß
dieſe Gewalt der Menge, die ja doch nicht ſelber herrſchen
kann, durch den Act der Herrſchafts-Übertragung verloren
gegangen ſey. “Es iſt nicht denkbar, daß die Buͤrger ſich
ihrer Macht ganz berauben, ſich nicht den groͤßeren Theil
haben vorbehalten wollen.” 1) Eben dieſes Weges ſucht
Locke ſeinen Pfad und Rouſſeau macht gar die gewoͤhnliche
Landſtraße daraus, die er allem Volk zu ziehn raͤth. Will
man nun das Volks-Souveraͤnitaͤt nennen, daß das
Volk am Ende mit ſeinem Wohle Zweck aller Regierung
bleibt, daß eine ihrem Zwecke beharrlich widerſtrebende Re-
gierung dem Untergange verfallen iſt, daß das Recht
zu regieren nie rein-privatrechtlich ein jus quaesitum
werden kann, ſo iſt nichts gegen den Sinn der Sache ein-
zuwenden, nur daß die Benennung ihn verdunkelt; allein
dem Volk im Gegenſatze gegen ſeine Regierung, dem von
Regierung verlaſſenen, an ſeiner Einheit verſtuͤmmelten
Volk die Souveraͤnitaͤt beilegen, wie Rouſſeau thut, iſt
ein verderblicher Irrthum, der die Krankheit zur Geſund-
heit und jede Rotte verfaſſungsmaͤßig zum Herrn der Re-
[207]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
gierung macht. Darum iſt auch bei Rouſſeau ſtets nur
von den Einzelnen die Frage, daß von denen ja niemand
fehle bei der kuͤnſtlichen Zuſammenſetzung des Geſammt-
willens, und dennoch geſteht er ſelber zu, daß Einſtim-
migkeit ſich nicht finden laſſe und alle Entſcheidung nach
Stimmenmehrheit bloß ein Werk der Convention ſey.



234. Rouſſeau’s Princip ſchmeichelt den ſelbſtaͤndigen
Neigungen der Menſchen durch ein Minimum des Staats-
Zwanges. Daher der ſtuͤrmiſche Beifall. Niemand dem
nicht Unabhaͤngigkeit gefiele, waͤre ſie nur ausfuͤhrbar ohne
die Zerſtoͤrung noch wichtigerer Zwecke, die gerade in der
Nicht-Unabhaͤngigkeit beruhen. Ohne Zweifel lag es den
Nordamericaniſchen Freiſtaaten nahe, einfach zu erklaͤren,
daß ſie ſich einer fuͤr Soͤhne Englands nicht mehr ertraͤg-
lichen, dazu misbrauchten, Oberaufſicht von Seiten des
Mutterlands entzogen haben; ſtatt deſſen huben ſie irr-
thuͤmlich von der urſpruͤnglichen Gleichheit der Menſchen
und den unveraͤußerlichen Rechten derſelben ihre Unabhaͤn-
gigkeits-Erklaͤrung vom 4. Jul. 1776. an, zu deren Mit-
unterſchrift ſie freilich ihre Neger nicht einluden. Was
das ganze Ereigniß angeht, vergeſſe man nicht, daß es der
alte Chatham war, der ſchon im Januar 1766 das Wort
ſprach: “ich freue mich, daß America widerſtand”. Aber
es iſt immer eine andere Sache eine Umwaͤlzung rechtfer-
tigen, indem man ihr den Anſchein der Widerherſtellung
[208]Neuntes Capitel.
einer bloß geſtoͤrten urſpruͤnglichen Ordnung giebt, als das
Princip der Umwaͤlzung zu einem ſtetig wirkenden im
Staate machen, und wieder ein Anderes das in den Con-
ſtitutionen von einzelnen neuen Freiſtaaten in America thun,
die denn doch durch eine nicht vom einzelnen Staate ab-
haͤngige Unionsverfaſſung zuſammengehalten werden, als es
in den uralten Bau einer großen Europaͤiſchen Monarchie
einfuͤhren. Als die Franzoͤſiſche Revolution ausbrach, wur-
den zwar auch in England die Überzeugungen heftig er-
ſchuͤttert, und jene große parlamentariſche Nacht vom 11-
12. Febr. 1791, welche Maͤnner wie Burke und Fox fuͤr
immer trennte, gab zum Voraus zu erkennen, welch eine
endloſe Zerruͤttung folgen werde, wenn das Fuͤr und Wi-
der ſo tiefſinniger Fragen an ungeuͤbte Voͤlker und in die
Haͤnde von Staatsmaͤnnern des mittleren Schlages kaͤme.
Denn die Wunde im Brittiſchen Gemeinweſen ſahen ſie
Beide, und weder kam dem Einen ein goͤttliches Recht
der Herrſcher auf ungeſtoͤrte Fortpflanzung ſchlechter Staats-
einrichtungen in den Sinn, noch dem Andern ein goͤttliches
Recht des Volks die Regierung zu deſtituiren. Es han-
delte ſich um beſtimmte praktiſche Veraͤnderungen, ob ſie
uͤberhaupt Verbeſſerungen waͤren und ob fuͤr jetzt ihre Aus-
fuͤhrung nuͤtzlich. Denn es iſt ein Glaube, eben ſo alt als
irrig, man duͤrfe in bedrohten Zeiten nichts veraͤndern.
Man muß aber dann aͤndern, wenn mangelhafte Einrich-
tungen die Urſache dieſer Bedrohung ſind.


235. Die Lafayettiſchen Menſchenrechte ſind darum
hauptſaͤchlich ſo widerſinnig, weil ſie mit jeder Verfaſſung
unzufrieden machen. Statt von den nothwendigen Opfern
auszugehen, welche gebracht werden muͤſſen, damit aus
dem Staatsvereine die ſchoͤnen Fruͤchte des Geſammtwohls
[209]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
und der Einzelbildung erwachſen, fuͤhrt man ein langes
Gefolge von Freiheits- und Gleichheits-Rechten auf, die
der Menſchheit opferloſes unveraͤußerliches Eigenthum von
jeher geweſen ſeyn ſollen und bleiben muͤſſen, — und von
denen ſich doch am Ende in der Urkunde ſelber bloß einige
Truͤmmer finden. Haͤtte die National-Verſammlung nicht
bloß das Staatsrecht veraͤndern wollen, ſondern auch ins
Privatrecht eingreifen, die Äcker gleich vertheilen, den Rei-
chen zwingen ſich mit der Quote zu begnuͤgen, die bei
der allgemeinen Auftheilung an ihn zuruͤckfallen wird, den
Beſitzer mehrerer Haͤuſer ſich auf eins zu beſchraͤnken, ſo
waren die Menſchenrechte ganz in der Ordnung. Wie es
aber nun ſtand, der Arme arm blieb und ungeehrt, der
Vermoͤgende fortzahlte, fragte ſich die Nation gleich dem
Plutus des Ariſtophanes: “Wie mach’ ich s, daß ich der
Macht, die ich wie du ſagſt beſitze, wirklich Herr werde?”
und da ſich an den Menſchenrechten nicht zweifeln ließ, ſo
mußte die Schuld an ihrer mangelhaften Einfuͤhrung in
die Conſtitution liegen. Man legte Alles der Beibehaltung
des Koͤnigthums zur Laſt und vergeblich vertheidigte La-
fayette als ehrlicher Mann ſeine Verfaſſung. Die Krone
fiel. Was war damit geholfen? An die Spitze der re-
publicaniſchen Conſtitution ſetzte man noch ſtolzere Men-
ſchenrechte, man war abermahls unbefriedigt und da die
Menſchenrechte laͤngſt den Ausdruck gelaͤufig gemacht hat-
ten: “das Geſetz kann nicht”, ſtatt daß man fruͤher
ſagte: “das Geſetz ſoll nicht”, ſo uͤbte man, ſobald ein
Geſetz dennoch that was es nicht konnte, das conſtitu-
tionelle Recht ihm als bloß anmaaßlichem Geſetze den Ge-
horſam zu verweigern, ſtatt auf dem geſetzlichen Wege die
Aufhebung deſſelben zu bewirken. Die Theorie des Unge-
horſams war fertig.


14
[210]Neuntes Capitel.

236. Hoffe man aber nicht dieſelbe durch Theorieen
des blinden Gehorſams zu uͤberwinden. Schlimm wenn
dieſe von Privatleuten, verderblich wenn ſie vvn Regierun-
gen ausgehen. Was Brandes, Rehberg, was der
noch nicht feile Gentz gegen den Geiſt der Franzoͤſiſchen
Revolution erinnerten, athmete nichts von dieſer Art und
hinterließ eben darum einen tiefen und wohlthaͤtigen Ein-
druck. Dagegen haben Bonald, Le Maiſtre, Adam
Muͤller, Friedrich Schlegel, Haller
das Terrain,
welches ſie den flachen politiſchen Freigeiſtern gluͤcklich ab-
ſtritten, alsbald dadurch wieder eingebuͤßt, daß ſie die
Geſchichte da abſchloſſen wo ſie ihnen unbequem ward
und ihren Staat auf der Wiederherſtellung von Ver-
haͤltniſſen bauten, welche bei dem beſten Willen ſchon
darum unwiederherſtellbar ſind, weil auf beſſere Erkenntniß
nicht willkuͤhrlich verzichtet werden kann, ſelbſt wenn ſie
die Zuſtaͤnde gefaͤhrlich erſchuͤttert haben ſollte. Man mag
die unſaͤgliche Weitſchweifigkeit des Hallerſchen Werkes dem
Ernſte dieſer Production zu Gute halten, mag ihn billig
loben, daß er die Chimaͤre des urſpruͤnglichen Staatsver-
trages vernichtet und die ſeit Kant herrſchend gewordene
Idee, als ſeyen die Staaten bloß um des Rechtsgeſetzes
willen gegruͤndet, ebenfalls verwirft als in der bloßen
Phantaſie der Juriſten entſprungen, die ihr poſitives Ge-
ſetz fuͤr das groͤßeſte Weltbeduͤrfniß halten; loben, daß er
das reiche Nebeneinander der Entwickelungen des Mittel-
alters mit Liebe auffaßt und dieſen friſchen Wald den grad-
linigten Grundriſſen der modernen Theoretiker gegenuͤber-
ſtellt. Allein ſein Patrimonial-Staat giebt doch auch vom
Mittelalter nur ein hoͤchſt einſeitiges Bild. In keine Zeit
will die Darſtellung ganz paſſen, daß der Staat nur aus
einem ungeheuren Aggregat von Privatrechten beſtehe, ver-
[211]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
moͤge welcher jeder im Volke herrſcht, welcher maͤchtig iſt
und ſchuͤtzt und auch der Fuͤrſt bloß aus Privatrecht re-
giert, und lediglich ſeine eigene Sache beſorgt, wenn er
es thut, nur dadurch ſich unterſcheidend, daß er zugleich
unabhaͤngig iſt. Dieſer Anſicht laͤßt ſich eine gewiſſe Farbe
geben, ſo lange der Fuͤrſt den Regierungsaufwand bloß
aus eigenen Mitteln beſtreitet, ſowie aber die Steuerwirth-
ſchaft ihren Anfang nimmt, was doch recht fruͤhe geſchieht,
verbleicht ſie. Darum wird auch Englands Daſeyn, als
ein politiſch unerlaubtes, gaͤnzlich in den Winkel geſtellt
und der widerſprechenden Geſchichte ins Antlitz behauptet,
daß die Landſtaͤnde von jeher bloß zum Rathfragen gedient
haͤtten. Das waͤre nun wohl kein Fortſchritt zu nennen,
wenn dem Trachten der Jakobiner, jedes Privatrecht durch
ein liberales Staatsrecht zu vernichten, die Lehre gegen-
uͤbertraͤte, alles vermeinte Staatsrecht ſey bloß eine Ver-
ſchlingung von Privatrechten. Aber Haller vermag ein-
mahl nicht zu ſehen, daß nicht Vorwitz und Unchriſten-
thum, ſondern der ganz natuͤrliche Gang der Menſchen-
bildung ſeit Jahrhunderten eine ſcharfe Sonderung von
Staats- und Privatrechten einleitet und den verſchie-
denen Claſſen der Bevoͤlkerung eine ganz veraͤnderte und
gleichere Stellung gegen einander und nicht minder ihrer
Geſammtheit eine veraͤnderte Stellung der Regierung ge-
genuͤber gegeben hat. Waͤre denn aber das Revolution,
wenn das Zeitalter dieſe uͤberlieferte, nicht willkuͤhrlich von
ihr hervorgerufene Ordnung nach ihren wahren Bedin-
gungen zu erforſchen und weiter durchzubilden trachtet,
um nach den herben Fruͤchten auch die ſuͤßen zu ko-
ſten? Darum darf auch die neuere Legitimitaͤts-Lehre
(wir kommen weiter unten wohl dahin) den Stuͤtzen des
Hallerſchen Syſtems nicht allzuſehr vertrauen; die aͤchte
14*
[212]Neuntes Capitel.
laͤngſt ausgebildete Rechtmaͤßigkeits-Lehre bedarf ihrer
ohnehin nicht.


237. Fuͤr die Staatsfragen der Gegenwart wird die
Philoſophie nicht viel mehr thun koͤnnen als die Haupt-
ſache, daß ſie Sittlichkeit und Recht in einem viel hoͤhe-
ren Daſeyn als dem menſchlichen zu begruͤnden fortfaͤhrt.
Der Politik bleibt die wuͤrdige Aufgabe, mit einem durch
die Vergleichung der Zeitalter geſtaͤrkten Blicke die noth-
wendigen Neubildungen von den Neuerungen zu unterſchei-
den, welche unerſaͤttlich ſeys der Muthwille ſeys der Un-
muth erſinnt. Die Lage der realen Volks-Elemente iſt
aber dieſe. Faſt uͤberall im Welttheile bildet ein weitver-
breiteter, ſtets an Gleichartigkeit wachſender Mittelſtand
den Kern der Bevoͤlkerung; er hat das Wiſſen der alten
Geiſtlichkeit, das Vermoͤgen des alten Adels zugleich mit
ſeinen Waffen in ſich aufgenommen. Ihn hat jede Re-
gierung vornehmlich zu beachten, denn in ihm ruht ge-
genwaͤrtig der Schwerpunkt des Staates, der ganze Koͤr-
per folgt ſeiner Bewegung. Will dieſer Mittelſtand ſich
als Maſſe geltend machen, ſo hat er die Macht, die ein
jeder hat, ſich ſelber umzubringen, ſich in einen Bildungs-
und Vermoͤgens-loſen Poͤbel zu verwandeln. Strebt er
einſichtig nach ſchuͤtzenden Einrichtungen, ſo moͤgen ſeine
Mitglieder bedenken, daß nichts ſchuͤtzt als was uͤber uns
ſteht, als was feſtſteht, erhaben uͤber dem wechſelnden
Willen der Einzelnen, als was zugleich beſchraͤnkt. Laſſen
ſeine Mitglieder der gemeſſenen Fortbildung Raum,
ſo kommt es in Betracht des Endreſultats wenig
darauf an, ob dieſe emſiger auf den Wegen der
Verwaltung oder der Verfaſſung vorſchreitet; denn
beide bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt,
[213]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
auf welchem ſie unfehlbar zuſammenlaufen, um nicht
wieder auseinander zu weichen. Mithin wird der Zuſtand
der oͤffentlichen und Privat-Sitte allein entſcheiden, ob
eine Freiheitsentwickelung ſtatthaben wird. Die Fertigkeit,
die aͤlteſten Suͤnden auf die neueſte Art zu thun, iſt die
Kunſt nicht, die zum Ziele fuͤhrt.


[[214]]

Zweiter Abſchnitt.
Von der Staatsverwaltung.


Erſte Abtheilung.
Einleitung in den Organismus der Staatsverwaltung.


Zehntes Capitel.
Von den Gemeinden
.

238. Das Verfaſſungsgeſetz bildet die Regel ab, welche,
im Staatsganzen waltend, die Gemeinſamkeit des Volks-
Daſeyns immer inniger begruͤnden ſoll. Dieſe große Ge-
meinſamkeit iſt indeß weder im Raume erkennbar, noch zu
aller Zeit im Bewußtſeyn der Bevoͤlkerung gegenwaͤrtig
Denn dieſe verbringt ein zertrenntes Leben in einer Fuͤlle
kleinerer Geſammtheiten, die leicht ſichtbar neben einander
im Raume hervortreten, laͤngſt befeſtigte Kreiſe des Da-
ſeyns, lebendige gern ſelbſtaͤndige Ordnungen zuſammen-
gewachſener Familien und Berufe, die doch nicht ganz
ſelbſtaͤndig ſeyn duͤrfen, und in welchen es nun gilt, die
hoͤchſte Regel, die zum Ganzen leitet, verwaltend feſtzu-
ſtellen; nicht etwa, daß man aufzuloͤſen trachte was Gott,
Natur und die Geſellſchaft mannigfaltig geſchaffen haben;
eben ſo leicht moͤchte man die menſchlichen Individuen an
den Verſuch wagen, einen einzigen Volksmenſchen aus
[215]Von den Gemeinden.
ihnen darzuſtellen; ſondern daß man die Art des Gan-
zen in ſie einfuͤhre, ſo daß theils ſie ſelber dazu thun,
theils von oben dazu angewieſen werden. Das Ganze iſt
allein im Koͤnige bildlich ſichtbar, ſonſt Gemeinde bei Ge-
meinde und Behoͤrden darin, die einen mit doppeltem Le-
ben, drinnen und draußen, zugleich die Staatszwecke der
Gemeinde erfuͤllend, die andern bloß der Gemeinde ge-
widmet. Da ein ſelbſtaͤndiges Leben ſoweit es die hoͤhere
Regel erlaubt, in jedem Kreiſe gefuͤhrt werden ſoll, ſo
folgt, daß die Regierung durchweg oberaufſehend uͤber dem
Gemeindeleben ſteht.


239. Es gab eine Zeit bei den Deutſchen und viel-
leicht in jedem Volk, da die Gemeinde in den Staͤmmen
wohnte; hier der Schutz der Familien und Geſchlechter;
der Stamm, durchaus nicht immer aus blutsverwandten
Haͤuſern beſtehend, machte faſt den Staat aus. Es war
ſo wenig noth, daß die Stammgenoſſen immer beiſammen
wohnten, als daß ein Heer ſtets beiſammen lagert; man
fand ſich, wenn es darauf ankam. Niemahls zwar war,
ſeit man vererbliche Äcker baute, das Zuſammenwohnen
von Perſonen und Sachen gleichguͤltig, allein der poli-
tiſche Gehalt fehlte noch dieſen Verhaͤltniſſen; aber eine an-
dere Zeit kam, da das nachbarliche Band ſchon uͤberwog
— denn der Menſch vollbringt ſein gebildeteres Leben in
einem ſehr engen Raume —, die Stammgemeinde vor der
Ortsgemeinde zuruͤcktrat. Indeß giebt es bis auf dieſen
Tag Geſchlechter, die ſich der unbedingten Herrſchaft der
Ortsgemeinde entziehen.


240. Wie die Familie in den Geſchlechts-Linien und
zuletzt im Stammverbande ihre Sicherheit zu Hauſe und
[216]Zehntes Capitel.
vor Gerichte fand, ſo die Orts-Gemeinde in den Ge-
meindeverbaͤnden. Manches Dorf, mancher Verband mark-
genoſſiſcher Doͤrfer und Bauerſchaften gehoͤrte dazu, bis
man an den Gau kam, aber in dieſem war denn auch faſt
Alles enthalten, was den Staat jetzt ausmacht. Gauen
fuͤhrten ſogar Krieg unter ſich und mit Gauen eines an-
dern Volks. Im Gau-Staate lebte man eilf Monathe
im Jahre, der Volks-Staat that ſeine großen Schlaͤge im
Maͤrz oder May.


241. Als von Gauen laͤngſt nicht mehr die Rede, lebte
der autonome Charakter des Gemeindeweſens in den Staͤd-
ten fort; denn bis zum eigenen Ortsrecht, Zoll, Maas und
Gewicht und Muͤnze fuͤr ſich brachte es denn doch der ad-
liche Grundherr nicht. Der Staat drang nicht tief in die
Staͤdte ein, bis daß die Staatsregierungen vielbeduͤrftig
wurden und nun machtvollkommen, beſoldete Kriegsmann-
ſchaft im Ruͤcken, allenthalben hineinſchauen wollten, wo
es Geld und Gut gaͤbe. Der dreißigjaͤhrige Krieg und das
gewaltthaͤtige Zeitalter, welches ihm folgte, hat mit den
Landesverfaſſungen zugleich die meiſten Deutſchen Staͤdte-
verfaſſungen zerruͤttet, die Gemeinderechte theils an den
Staat uͤbertragen theils in die unrechten Haͤnde niederge-
legt. Aber der Tag der Pruͤfung blieb nicht aus, da man
inne ward, es ſey das Volk an Kraft und Muth verſtuͤm-
melt, ſeit man es in ſeinen wichtigſten Gliedmaaßen, den
Gemeinden, ſchwach gemacht, daher das allgemeine Unge-
ſchick gefaͤhrlichen Zeitlaͤuften zu begegnen, denn wem man
ſeine naͤchſten Geſchaͤfte, die er taͤglich vor Augen ſieht, ab-
genommen hat, der muß groͤßeren Sorgen unterliegen.
Vielleicht war die Lage der ſtaͤdtiſchen Commuͤnen nirgend
unſicherer als in Preußen, wenn wir Preußiſchen Schrift-
[217]Von den Gemeinden.
ſtellern ſelber folgen. Die hoͤchſte Abhaͤngigkeit von der
Provincialbehoͤrde, der man vergeblich verbriefte Rechte ent-
gegenhielt, und die Magiſtrate, haͤufig Fremdlinge der
Stadt, entſchaͤdigten ſich fuͤr den Druck den ſie erlitten,
durch denjenigen, den ſie ausuͤbten. Preußen aber that
einen Schritt, wie man willenskraͤftiger ihn nicht thun kann,
in faſt hoffnungsloſer Lage; die Schlacht von Jena war
nur die aͤußere Darſtellung der tiefen inneren Entzweiung,
welche durch alle Staͤnde ſeines Volks ging; es wollte in-
nerlich geneſen, um den aͤußeren Feind beſtehen zu koͤnnen.
Der Freiherr vom Stein iſt, indem er hier den Grund zu
Preußens Rettung legte, in tieferem Sinne als Koͤnig
Heinrich, der bloß Feſtungen bauen konnte, der Staͤdteer-
bauer von Deutſchland geworden.


Der Deutſche Staatenbund zaͤhlt auf ſeinen 11,800 □ Meilen 2,395
Staͤdte, das will ſagen, mehr Staͤdte als irgend ein Reich Eu-
ropas. Frankreich hat auf 10,096 □ M. nur 1,600 Staͤdte,
Großbritannien deren 980 auf 5,554 □ M. vgl. Reichard,
Anſichten und Unterſuchungen ꝛc. ꝛc. der ſtaͤdtiſchen Verfaſſungen
in Deutſchland. Leipz. 1830. S. 19.
ein uͤberhaupt lehrrei-
ches Buch.


242. Es kam aber nicht bloß darauf an Rechte zu-
ruͤckzuſtellen, es galt ebenfalls, dem Staate was ihm ge-
buͤhrte zu bewahren. Man ſage was man wolle, es kam
auf einen Neubau an; die ſchwer errungene Einheit der
hoͤchſten Gewalten durfte zum Beſten der wiederherzuſtel-
lenden Gemeinden nicht ruͤckgaͤngig gemacht werden. Zum
Weſen jeder Gemeinde gehoͤrt eine gewiſſe Summe ge-
meinſamer Zwecke, fuͤr welche man die Mittel ſuchen will,
zum Weſen der Ortsgemeinde, daß die Gemeindeangelegen-
heiten ſich auf ein gewiſſes Gebiet beziehen, zum Weſen
der politiſchen Gemeinde, daß ſie vom Staate in dem
[218]Zehntes Capitel.
was ſie iſt und hat anerkannt ſey. Hiemit gewinnt ſie zu-
gleich den Charakter einer ihren Mitgliedern uͤberlegenen
hoͤher geſtellten Perſoͤnlichkeit, gegen deren Fortbeſtand kein
Beſchluß der Einzelnen, welche die Activa etwa auftheilen
und davongehn moͤchten, entſcheiden kann; das Gemeinde-
vermoͤgen gehoͤrt Gemeindezwecken an, und nur uͤber die
Fruͤchte, nicht uͤber den Stamm des Baums duͤrfen die
jetzt Lebenden verfuͤgen. Dergeſtalt ſchuͤtzt der Staat die
unſterbliche Gemeinde, indem er die vergaͤnglich lebende be-
ſchraͤnkt. Die innere Einrichtung aber geht nothwendig
vom Unterſchiede der Land- und der Stadt-Gemeinden,
des einfachen und des zuſammengeſetzten Daſeyns aus.
Denn die Staͤdte ſind die Augen und Ohren des Staats-
gebietes, ihre dichte Bevoͤlkerung, in den mannigfachſten
Berufsweiſen verkoͤrpert, deren Innungen nicht bloß uͤber
die Stadt, auch uͤber den Staat hinausgehen koͤnnen,
giebt, zufrieden oder unzufrieden, den Ausſchlag; hier
wenn irgendwo iſt oͤffentliche Meinung; ſie ſind als Reſi-
denzen die Sitze der hoͤchſten Macht, ſie die Mittelpunkte
des kriegeriſchen Widerſtandes, der Wiſſenſchaft, des kunſt-
fleißigen Verkehrs, welcher das Vermoͤgen der laͤndlichen
Betriebſamkeit zum Reichthum ſteigert. Hier kommt es
auf die Stellung der Stadt zum Staate, noch mehr aber
auf die Vertheilung der Gemeinderechte unter den Mit-
gliedern der ſtaͤdtiſchen Gemeinde an. Staͤdte koͤnnen wie
in Ungern große Reichstags-Freiheiten haben und doch
die einzelnen Buͤrger fuͤr nichts geachtet ſeyn. Wenn Ma-
giſtrats-Rechte Stadtrechte waͤren, ſo waͤre es mit den
meiſten Staͤdten von England wohl beſtellt, allein die Buͤr-
gerſchaft nimmt wenigen oder gar keinen Theil an der
Verwaltung; daher die alte Klage, und jetzt die Arbeit
an ihrer Beſeitigung.


[219]Von den Gemeinden.

Eine große Ausnahme bildete gewiß der Zuſtand in Belgien:
“Dans les villes, dans les châtellenies et dans les moindres
villages des Pays-Bas, on annonce, tous les ans, soit par
convocation, ou par publication aux prônes dans les paroisses,
soit par des affiches, le jour et l’heure où les comptes so
rendent. Ils se lisent à haute voix, à portes ouvertes, se
coulent et s’apostillent en présence des magistrats, gens de
loi, des représentans de la bourgeoisie dans les villes, des
principaux adhérités, domiciliés et notables dans les villages.
Il y a même des villes où l’on ne peut procéder à la clôtu-
re des comptes, qu’après avoir interpellé les représentans
d’opiner si le compte est à clôtures sur le pied proposé, ou
pas.
So in einem Extrait d’un rapport de la Jointe des ad-
ministrations et des affaires des subsides, adressé aux gou-
verneurs-généraux le 7 Décembr. 1784
. ſ. Précis du regimo
municipal de la Belgique avant 1794. par L. P. Gachard,
archiviste du royaume. Bruxelles Déc. 1834. p. 120
.


243. Zu der Zeit als das Deutſche Reich unterging,
war der Zuſtand des ſtaͤdtiſchen Weſens auf Deutſchem Bo-
den im Allgemeinen dieſer: Wo die Staatsregierung oder,
noch ſchlimmer, wo irgend eine untergeordnete Grundherr-
ſchaft (Mediat-, Vaſallen-Staͤdte) noch ſtaͤdtiſche Freihei-
ten, vielleicht nur deren Truͤmmer uͤbrig gelaſſen hatte, da
lagen ſie in der Regel in den Haͤnden eines ſich ſelbſt er-
gaͤnzenden Stadtrathes, an welcher Cooptation man die
Vererbung der Grundſaͤtze preiſen mag, aber ſchwerlich die
Grundſaͤtze, zumahl wenn er, wie das in Leipzig und
Dresden der Fall, von aller Rechenſchaft wegen des
Haushalts durch landesherrliche Privilegien befreit war.
Überall hatte der Magiſtrat den Sieg uͤber die gewerbli-
chen Corporationen errungen; inſofern aber dieſen eine
Mitwirkung noch zuſtand, geſchah ſolche in der Regel durch
lebenslaͤngliche meiſt wohl belohnte Buͤrger-Deputirte, mit
[220]Zehntes Capitel.
Rechtsgelehrten als Conſulenten zur Seite; die Buͤrger-
ſchaft war zufrieden wenn ihr Nahrungsſtand nicht ver-
ſchlechtert ward, Zunft gegen Zunft in herkoͤmmlicher Tren-
nung der Betriebsarten, vornehmlich aber in der Aus-
ſchließlichkeit des Betriebs gegen Schutzverwandte geſchuͤtzt
ward, die zur buͤrgerlichen Nahrung nicht berechtigt. Die
große Umgeſtaltung, mit welcher Preußen im Jahre 1808
hervortrat, beruhte auf einem doppelten Grunde, einem
erklaͤrten politiſchen: Wiederherſtellung ſelbſtaͤndiger Ge-
meinden 1), und einem noch in der Vorbereitung begriffe-
nen volkswirthſchaftlichen: die Theilung der Arbeit ſollte
ihre Macht in Preußen entfalten; die Zuͤnfte ſollten nicht
bloß als politiſche, auch als gewerbliche Corporationen,
inſoweit ſie der Arbeit hinderlich ſind, auf die Seite tre-
ten. Hierin lag die Anerkennung von zwei großen Wen-
depunkten der Zeit, und es lag hierin nothwendig vor
der Hand mehr Aufloͤſung als Wiedergeburt; allein es ſteht
eben hier auch die Wiege des Zollvereins, was denen ge-
ſagt ſey, die den Stein des Preußiſchen Anſtoßes (τετϱά-
γωνος ἄνευ ψόγου) gern in einen Nebenweg waͤlzen moͤch-
ten. Zwar laͤßt ſich das Eine ohne das Andere haben.
Frankreich hat in der Revolution ſeine Innungen abge-
ſchafft, Gewerbfreiheit eingefuͤhrt und behalten, als ſeine
junge Gemeindefreiheit laͤngſt der Centralgewalt zum Opfer
gefallen war. In Frankreich hob das Geſetz vom 18. Dec.
1789 die alten Stadtverfaſſungen, die ſo ſehr wie nur
irgend in Deutſchland aus einander gingen, auf, und ſetzte
uniforme gleichberechtigte Municipalitaͤten an die Stelle,
deren Mitglieder von den Commuͤnen gewaͤhlt wurden.
Die Aufhebung der Zuͤnfte, im Princip laͤngſt ausgeſprochen,
folgte am 17. Maͤrz 1791 nach. Allein gleich die erſte
Zeit der Republik war den freien Communen nicht hold;
[221]Von den Gemeinden.
man nannte ſie die Schlupfwinkel der Royaliſten, die
Heerde des Widerſtandes gegen die alldurchdringende Kraft
der Freiheit, und verfuͤgte derzeit ſchon mit der aͤußerſten
Willkuͤhr uͤber das Gemeindevermoͤgen, und als darauf die
Directorial-Verfaſſung kam, warf dieſe faſt alle Selbſtaͤn-
digkeit der Gemeinden uͤber den Haufen, denn jetzt waren
es die Terroriſten, die in den Gemeinden niſten ſollten.
Es war das gerade um dieſelbe Zeit, da Kaiſer Paul von
Rußland terroriſtiſch alle Staͤdte in ſeinem Reiche, die ihm
nicht gefielen, aufhob und ſie Marktflecken zu nennen befahl.
Die letzten Stoͤße hat Napoleon als Conſul und Kaiſer
gegeben. Von nun an ſtand ein Praͤfect unter ſtrenger
Controle ſeines Miniſters der Departemental-Verwaltung
vor; ein Unterpraͤfect der Bezirksverwaltung, mit dem dop-
pelten Gewichte der Verantwortlichkeit gegen Praͤfect und
Miniſter belaſtet, beaufſichtigte wieder die Gemeinden, de-
ren jede ihren Maire hat, der auf fuͤnf Jahre angeſtellt iſt.
Keine von dieſen drei Behoͤrden durfte aus der Gemeinde
ſelber hervorgehen, der Miniſter ernannte ſie, mit Aus-
nahme der Maires in den kleineren Gemeinden, welche
der Praͤfect zu ernennen hatte, wie nicht minder die
Mitglieder des Gemeinderaths. Und wo der Praͤfect er-
nannte, da durfte er auch entſetzen, eben wie er ſelber
mit ſeinem Rathe, der Unterpraͤfect mit dem ſeinen der
Entſetzung durch den Miniſter unterworfen war. Alle drei
Verwaltungsraͤthe waren eben nichts anders als was ihr
Vorſtand ſie wollte gelten laſſen, ohne alle collegialiſche
Bedeutung, ſelbſt Sachen des Haushalts nicht ausgenom-
men; ſie waren dem Staate fuͤr die Ausfuͤhrung der Re-
gierungsbefehle unentbehrlich, aber keinen einzigen Gemein-
dezweck ſicherzuſtellen im Stande. Darum auch konnte es
hinreichen, wenn der Gemeinderath ſich nur einmahl im
[222]Zehntes Capitel.
Jahre unter Vorſitz des Maire auf vierzehn Tage verſam-
melte. Die Folge von dem Allen war, daß den Behoͤrden
ihr Verwaltungskreis wenig, Alles die Gunſt des Vorge-
ſetzten bedeutete, die nicht durch Gemeindedienſte (Wirth-
ſchaftlichkeit, Sorge fuͤr Schulen, Hospitaͤler, Wege), ſon-
dern nur durch Staatsdienſte (Eifer fuͤr die Conſcription
und, ſeit der Reſtauration, Einmiſchung in die Deputir-
ten-Wahlen) zu erlangen war. Dem irgend darin Saͤu-
migen, dem laͤßigen Beobachter des Windes, der aus der
Hauptſtadt wehte, brachte der naͤchſte Telegraph ſeine Ent-
ſetzung. Hievon zuruͤckzulenken und den rechten Platz zu
finden, wo Verfaſſung und Verwaltung einander begegnen
moͤgen, war zwar in den Tagen der Reſtauration ein oft auf-
genommener Gedanke, aber auch die Reſtauration verfolgte zu
viele kleine Zwecke, um fuͤr die großen Muße zu haben, und
das wohlmeinende und einſichtige Martignacſche Miniſte-
rium ſcheiterte an der Hitze der Partheiung bei dem viel
zu ſpaͤt unternommenen Verſuche. Das ſeit der neuen Um-
waͤlzung erreichte neue Municipalgeſetz vom 21. Maͤrz 1831
hat nun zwar eine weſentliche Verbeſſerung wenigſtens in
ſofern bewirkt, als jetzt in den Staͤdten, welche allein das
Geſetz angeht, die Gemeinderaͤthe nicht mehr von der Re-
gierung, ſondern von den hochbeſteuerten Mitgliedern der
Gemeinde und zwar mit Zuziehung der ſonſtigen Notabi-
litaͤten der Stadt (Mitglieder der Gerichte, Friedensrich-
ter, Verwalter der gelehrten Schulen, der Hospitaͤler ꝛc.)
ſelbſt ernannt werden und der Koͤnig oder der Praͤfect aus
der Zahl der Gemeinderaͤthe den Maire ernennt; indeß iſt
in dieſer Richtung von den heutigen Franzoſen ohnehin nicht
viel zu lernen und die gaͤnzliche Beſeitigung der Reſte Napo-
leoniſcher mit zu vieler Vorliebe aufgenommener Organi-
ſationen dieſer Art (Anhalt-Koͤthen 1811. Naſſau 1816.
[223]Von den Gemeinden.
Großherzogthum Heſſen 1821.) wird im Deutſchen Volke
kein Bedauern erwecken. Preußens Ziel war einfach: die
Staͤdte ſollen ſelbſtaͤndig, aber nicht wie vor Alters Staat
im Staate ſeyn. Darum ſollen ſie wieder erhalten, wo
man ihnen dieſen genommen hat, ihren Haushalt, ſollen
abgeben was des Staates iſt, Polizey und Juſtiz; ihr
Gemeinweſen ſoll nicht laͤnger von unabhaͤngigen Corpora-
tionen mit lebenslaͤnglichen faſt erblichen Mitgliedern, aber
auch nicht von Staatsbeamten, es ſoll von Gemeindebe-
amten, von wechſelnden Behoͤrden, deren Wahl von der
Buͤrgerſchaft ausgeht, verwaltet werden. Die Abſicht war,
der Staͤdteordnung eine Organiſation der Landgemeinden
folgen zu laſſen, wozu die nothwendigen Vorſchritte durch
das Geſetz vom 9. Oct. 1807 geſchehen waren, welches
die freie Wahl des Gewerbes und die Aufloͤſung der Guts-
unterthaͤnigkeit verkuͤndigt 2); den Schlußſtein ſollten die
Reichsſtaͤnde bilden. Indeſſen ward man wie die Jahre
weiter gingen, und aͤußere Gefahr entfernt ſchien, an dem
großen, und wer wollte es laͤugnen? allzeit gewagten Un-
ternehmen irre, deſſen Ausfuͤhrung Preußen einen entſchie-
denen, des erſten proteſtantiſchen Staates der Chriſtenheit
wuͤrdigen Stand zwiſchen den aus Grundſatz unumſchraͤnk-
ten Regierungen und den durch [Umwaͤlzung] erneuten
Staaten gegeben haben wuͤrde. Es liegt aber in den Le-
bensbahnen der Staaten eine gewiſſe Nothwendigkeit.




244. Die Staͤdte-Ordnung vom 19. November 1808
leidet an dem Gebrechen, welches man gewoͤhnlich nur den
Verfaſſungsurkunden vorwirft, ihre Beſtimmungen ſind
nicht ſelten zu allgemein, ſie ſchneiden dann und wann
theoretiſch in das Leben ein und der Faſſung fehlt es
manchmahl an Schaͤrfe (z. B. §. 178.). Sie theilt die
Staͤdte des Reichs in große, mittlere (von unter 10,000
bis 3,500 Einwohnern) und kleine, beſtimmt nach dieſem
Maasſtabe die Zahl der Rathsperſonen, das Verhaͤltniß
der gelehrten Mitglieder zu der Mehrzahl der unſtudirten,
der beſoldeten zu den unbeſoldeten. Beſoldet werden nur
diejenigen, welche ihre meiſte Zeit dem Amte widmen muͤſ-
ſen; es wird aber nicht lebenslaͤnglich angeſtellt, ſondern
theils auf 6, theils auf 12 Jahre. Wer 12 Jahre fuͤr
Beſoldung gedient hat und nicht wieder gewaͤhlt wird, er-
haͤlt eine geſetzlich beſtimmte Penſion. Den Rath waͤhlen
die Stadtverordneten, ſo, daß alle zwei Jahre der Abgang
ergaͤnzt wird; die Provinzial-Behoͤrde beſtaͤtigt. In den
großen Staͤdten, wo neben dem Buͤrgemeiſter ein Ober-
buͤrgemeiſter ſteht, waͤhlt der Landesherr dieſen aus drei
[225]Von den Gemeinden.
Candidaten aus. Der Stadtverordneten ſind mindeſtens
24, hoͤchſtens 102 an der Zahl, davon ⅔ Hausbeſitzer;
ſie werden von den ſtimmfaͤhigen Buͤrgern gewaͤhlt d. h.
ſolchen Buͤrgern, welche ehrenhaft und je nachdem die
Claſſe der Stadt iſt, gewiſſen Einkommens ſind (§. 74.),
150 Thaler reines Einkommen das Minimum; denn da
die Corporationen wegfallen, ſo iſt hier ein Cenſus uner-
laͤßlich. Die Wahl geſchieht, mit Ausnahme der kleinſten
Staͤdte, bezirksweiſe. Waͤhlbar ſind alle ſtimmfaͤhigen
Buͤrger. Die Stadtverordneten bleiben drei Jahre im
Amte, das ihnen keine Einnahme gewaͤhrt, ein Drittel
tritt jaͤhrlich aus. Magiſtrat und Stadtverordnete ſtehen
in Summe ſo: der Magiſtrat iſt die ausfuͤhrende Behoͤrde,
deſſen Befehlen die Stadtgemeinde zu folgen hat, allein
fuͤr die Aufbringung der zu den oͤffentlichen Beduͤrfniſſen
der Stadt noͤthigen Geldzuſchuͤſſe, Leiſtungen und Laſten
bedarf es der Einwilligung der Stadtverordneten, denen
auch die Vertheilung derſelben auf die Buͤrgerſchaft zuſteht.
Sie ſind auch in allen Angelegenheiten des Gemeinweſens
die Vertreter der Buͤrgergemeinen, und weil alle Zweige
der Verwaltung, welche einer dauernden Aufſicht und Con-
trole beduͤrfen, dem Magiſtrat nicht fuͤr ſich allein zuſtehen
(§. 174. 175.) ſo werden zu dem Ende Deputationen und
Commiſſionen beſtellt, welche aus einer Minoritaͤt von
Magiſtratsmitgliedern, der Mehrzahl nach aber aus Stadt-
verordneten und Buͤrgern beſtehen. Die Wahl geſchieht
von den Stadtverordneten, der Magiſtrat beſtaͤtigt. Fuͤr
dieſe Ausſchuͤſſe gehoͤren Kirchen- und Schulſachen, das
Armenweſen, die ſtaͤdtiſchen Sicherheitsanſtalten, Bauſa-
chen ꝛc., beſonders aber die Kaͤmmereikaſſen. Nach Be-
ſchaffenheit des Gegenſtandes nimmt die Polizeybehoͤrde ꝛc.
Antheil. Örtliche Statuten, die der allgemeinen Geſetzge-
15
[226]Zehntes Capitel.
bung nicht widerſprechen, beduͤrfen außer der Übereinſtim-
mung des Magiſtrats und der Stadtverordneten in der
Regel bloß der Zuſtimmung der Ortspolizeibehoͤrde. Wer-
den dadurch beſtehende, hoͤheren Orts genehmigte Anord-
nungen abgeaͤndert, ſo kommt die Entſcheidung an die Pro-
vinzialbehoͤrde.


245. Im Fortgang der Jahre machte man in Preußen
mit der Staͤdte-Ordnung die Erfahrung, die man anderswo
mit mancher Verfaſſungs-Urkunde gemacht hat, ſie paſſe
nicht uͤberall zu den Zuſtaͤnden. Man fuͤhlte in mancher
Stadt das Beduͤrfniß, neben ihr noch ein beſonderes Sta-
tut, der oͤrtlichen Eigenthuͤmlichkeit entſprechend, zu beſitzen,
man empfand an der oͤfter eintretenden Schwierigkeit, die
Magiſtrats-Stellen wuͤrdig zu beſetzen, daß der Stadtrath
an ſeinem fruͤheren Übergewicht im erſten Eifer wohl zu
ſehr verkuͤrzt und namentlich, inſofern das Amt zugleich
einen Nahrungsſtand begruͤndet, wegen des Wechſels zu
unſicher geſtellt ſey. Seit der Einfuͤhrung der Gewerbe-
freiheit paßte ferner die Beſtimmung nicht mehr “das Buͤr-
gerrecht beſtehe in der Befugniß ſtaͤdtiſche Gewerbe zu trei-
ben und Grundſtuͤcke im Polizeibezirk der Stadt zu be-
ſitzen” (§. 15.); denn dieſe Befugniß war jetzt allgemein,
es gab ſeit 1810 keine ausſchließlich ſtaͤdtiſchen Gewerbe
mehr, die Thoracciſe war 1818 verſchwunden und ſeit
1820 auch der Unterſchied zwiſchen ſtaͤdtiſchen und laͤndli-
chen Steuern. Die Zahl der Stadtverordneten war offen-
bar bisher zu groß. Endlich mochten auch manche Sorg-
lichkeiten mitwirken, da man dieſes Weges fuͤr jetzt ein-
mahl nicht weiter wollte, ob nicht ſchon viel zu viel ge-
ſchehen ſey. Waren auch die Zeiten laͤngſt voruͤber, da
man in allem Frieden die Staͤdte abſchaͤumte wie Sancho
[227]Von den Gemeinden.
die Toͤpfe des Camacho 1), die Orkane unſerer Zeit bre-
chen ploͤtzlich ein, und jede Gemeinde, die uͤber ſich hin-
ausſieht, und das thut jetzt jede, ſucht gern ihr Schirm-
dach, wenn die Gewitterwolken: Wohl des Ganzen
und hoͤheres Staatsintereſſe genannt, haͤufiger her-
anziehen. Ließ der Widerſtand der Staͤdte ſich berechnen?



246. Zu allem Dieſem kann man in der Revidir-
ten
Staͤdte-Ordnung vom 17. May 1831 und den da-
zu gehoͤrigen Verordnungen die Belege finden.


Jede Stadt ſoll ihr Statut haben; eine eigene Ver-
ordnung (Einfuͤhrung der Staͤdte-Ordnung ꝛc. ebenfalls
vom 17. May 1831) zeigt ſehr einſichtig, wie dieſes vor-
zubereiten ſey. Da die revidirte Staͤdte-Ordnung nicht
bloß naͤhere Beſtimmungen, ſondern §. 3. ausnahmsweiſe
auch Abweichungen im Statut von der allgemeinen
Vorſchrift zugiebt, ſo kaͤme es freilich auf die Kenntniß
der einzelnen Statute an, um zu erſehen, ob dergleichen
eingetreten ſind und wie tief ſie greifen.


Die erſte Staͤdte-Ordnung hatte dem Magiſtrat die
Polizey genommen, nur ihre Koſten der Gemeine gelaſſen;
15*
[228]Zehntes Capitel.
es kam darauf an, ob der Staat ſie dem Magiſtrat uͤber-
tragen wollte; von nun an bleibt ſie in der Regel dem
Magiſtrat (meiſt dem Buͤrgermeiſter oder einzelnen Mit-
gliedern), aber ſie wird ausgeuͤbt im Namen des Staats
und man unterſcheidet ſchaͤrfer zwiſchen dem Magiſtrat als
Verwalter der Gemeindeangelegenheiten und dem Magi-
ſtrat als Organ der Staatsgewalt (St. O. 1831. §. 34.
vgl. 105. 109. 112.).


Man raͤumte dem Magiſtrat ausgedehntere Einſpruchs-
rechte gegen Beſchluͤſſe der Stadtverordneten, den Haus-
halt betreffend, ein, hob das Übergewicht der Stadtver-
ordneten in den Deputationen und Commiſſionen auf und
ordnete dieſe dem Magiſtrate unter (§. 107.), gab den
Hauptmitgliedern des Magiſtrats, allen beſoldeten, 12
Jahre, lenkte ſogar auf die Lebenslaͤnglichkeit hin, doch
ausnahmsweiſe, und wenn außer den beiden Stadtgewal-
ten auch die Regierung zuſtimmt.


Alle Einwohner gehoͤren fortan der Stadtgemeine an,
allein das Buͤrgerrecht muß von jedem Einwohner perſoͤn-
lich erworben werden, und wird nur dem zu Theil, der
muͤndig und unbeſcholten und im Beſitze eines gewiſſen
Vermoͤgens iſt. Dieſes muß entweder in einem ſtaͤdtiſchen
Grundſtuͤcke von mindeſtens 300 Thalern Werth (in groͤße-
ren Staͤdten hoͤchſtens 2000) beſtehen, oder in einem ſtaͤd-
tiſchen Gewerbe, das 200 (hoͤchſtens 600) Thaler rein ein-
bringt, es kann aber auch aus einem ſonſtigen Einkommen
von 400 bis 1200 Thaler fließen, wenn zweijaͤhriger Auf-
enthalt in der Stadt hinzukommt (§§. 15. 16.). Jeder
Buͤrger hat Stimmrecht bei den Gemeindewahlen, ſeine
Waͤhlbarkeit indeß liegt in der Regel eine Stufe hoͤher,
ſie wird durch groͤßeren Grundbeſitz (von 1000-12000
Thlr.), zum Theil auch durch groͤßeres Einkommen (200-
[229]Von den Gemeinden.
1200 Thlr.) bedingt (§. 56.). Dieſe erhoͤhten Vermoͤgens-
ſaͤtze beſchraͤnken die aͤrmere Claſſe auf die Schutzgenoſſen-
ſchaft, welche die Laſten theilt, ohne an den Ehrenrechten
theilzunehmen; inzwiſchen kann perſoͤnliche Wuͤrdigkeit, durch
den uͤbereinſtimmenden Beſchluß des Magiſtrats und der
Stadtverordneten bezeugt, in beiden Faͤllen das erſetzen,
was dem Vermoͤgen abgeht (§§. 17. 59.).


Die Zahl der Stadtverordneten iſt zum Vortheil be-
ſonnener Berathung vermindert; nicht unter 9, nicht uͤber
60 ſollen ſeyn. Grundbeſitz wird nur fuͤr die Haͤlfte mehr
bedungen; in großen Staͤdten, in welchen Hausbeſitz ein
Nahrungsſtand iſt, duͤrfte die Beſchraͤnkung beſſer ganz
wegfallen. Dem Statut ſoll uͤberlaſſen bleiben, ob der
Bezirkseintheilung eine andere Eintheilung nach Berufsclaſ-
ſen beizuordnen oder an ihre Stelle zu ſetzen iſt (§. 52 ff.);
mit Recht, denn die alten Corporationen ſind nicht deß-
halb zur Seite geſchoben, weil man die Schaͤtzung nach
Vermoͤgen liebte, ſondern weil ſie nicht mehr haltbar wa-
ren und man keine andere vor der Hand an die Stelle zu
ſetzen hatte.


Wichtige Beſchraͤnkungen ſind dieſe. Jede bedeutende
Veraͤnderung im Beſtande des Stadtvermoͤgens, Gemein-
heitstheilungen, Anleihen, Beſteurung der Einwohner, Ver-
wandlung von Gemeindevermoͤgen, deſſen Ertrag bisher an
Einzelne vertheilt ward, in Kaͤmmereivermoͤgen, iſt von
der Genehmigung der Staatsbehoͤrde abhaͤngig gemacht
(§. 177 ff.). Wenn in Faͤllen des innern Haushalts die
Stadtgewalten ſich nicht einigen koͤnnen, und der Magi-
ſtrat das Gemeinwohl gefaͤhrdet glaubt, da tritt auf ſeinen
Bericht die Regierung ein, in der Regel zuerſt durch einen
Commiſſarius, der dann Magiſtrat und Stadtverordnete
verſammelt, auch nach ſeinem Dafuͤrhalten andere achtbare
[230]Zehntes Capitel.
Einwohner zuziehen darf und die Einigung verſucht; ge-
lingt es nicht damit, ſo kommen die Gutachten der Majo-
ritaͤt und der Minoritaͤt an die Regierung, welche dann
entſcheidet (§§. 114. 115.). Endlich hat der Buͤrgermeiſter
oder Oberbuͤrgemeiſter die Macht erhalten, Beſchluͤſſe des
Magiſtrats, welche er fuͤr geſetzwidrig oder gemeinſchaͤdlich
haͤlt, zu ſuspendiren (§. 108 b). Dem Vernehmen nach
gruͤndet ſich auf dieſen Beſchraͤnkungen und einiger, bei
den Provinzialſtaͤnden oͤfter zur Sprache gekommenen Mis-
ſtimmung uͤber Eingriffe in die Staͤdte-Ordnung von
Seiten der Landraͤthe 1), die entſchiedene Abneigung derje-
nigen Staͤdte des Koͤnigreichs, welche im Beſitze der Ord-
nung von 1808 ſind, die ihnen dargebotene revidirte und
in wichtigen Verhaͤltniſſen augenſcheinlich verbeſſerte anzuneh-
men, die bei ihrem Erſcheinen fuͤr die zum provincialſtaͤn-
diſchen Verbande der Mark Brandenburg und des Mark-
grafthums Niederlauſitz gehoͤrenden Staͤdte beſtimmt war,
in welchen die Staͤdte-Ordnung von 1808 nicht einge-
fuͤhrt iſt, und ſeitdem außer einigen zu Poſen gehoͤrigen
Staͤdten auch in Preußiſch-Sachſen Geſetzeskraft erhalten
hat 2), von der Rheinprovinz aber abgelehnt iſt. Wie dem
denn aber auch ſey, ſowohl dieſe Abneigung als dieſe Be-
ſchraͤnkungen werden verſchieden beurtheilt werden muͤſſen,
je nachdem man die Staͤdte-Ordnung als den Theil einer
neuen Staatsorganiſation betrachtet, oder als eine Feſtung,
die den Staͤdten fuͤr ſich gebaut iſt.




247. Preußens Beiſpiel griff tief ein. Baiern hatte
wenig Wochen vor dem Erſcheinen der Preußiſchen Staͤdte-
[231]Von den Gemeinden.
Ordnung die Verwaltung des Gemeindevermoͤgens aller
ſeiner Staͤdte von uͤber 5000 Seelen an Regierungsbeamte
uͤberantwortet, die aus dem Miniſterium des Innern er-
nannt wurden. (Edict uͤber das Gemeindeweſen v. 24.
Sept. 1808.) Mit ſeiner Gemeinde-Ordnung vom 17.
May 1818 trat es in wuͤrdigere Bahnen ein. Noch deut-
licher huldigte Wuͤrtemberg (1822) dem in Preußen
aufgeſtellten Vorbilde. Beide gleichwohl nicht als blinde
Nachahmer. Denn gleich von Anfang her entzogen ſie
bloß die Juſtiz dem Magiſtrat, mit der Policey aber be-
auftragten ſie ihn als zugleich Regierungsbehoͤrde, mit
Ausnahme der Reſidenz und der Univerſitaͤtsſtaͤdte, mach-
ten auch von Anfang her den Magiſtrat zum Mittelpunkt
des ſtaͤdtiſchen Weſens, waͤhrend es in Preußen, minde-
ſtens in der erſten Staͤdte-Ordnung, die Stadtverordne-
ten ſind; und von der andern Seite uͤbertrug Wuͤrtem-
berg nicht den Stadtverordneten, ſondern der geſammten
Buͤrgerſchaft die Wahl des Magiſtrats. Baiern und Wuͤr-
temberg ſtimmen uͤbrigens darin uͤberein, daß ſie die Le-
benslaͤnglichkeit der Magiſtratsmitglieder (Baiern nur der
wichtigeren) beguͤnſtigen. Nach einer Probezeit von 2 oder
3 Jahren geſchieht eine neue Wahl; das zum zweiten
Mahle gewaͤhlte Mitglied bleibt Lebenslang im Amte.
Baiern gruͤndet den Cenſus der Waͤhlbarkeit zu Gemeinde-
Bevollmaͤchtigten auf die hoͤchſte Beſteuerung (§. 76.) 1).
Baden kam erſt unterm 31. Dec. 1831 mit ſeinem ſchon
1822 ernſtlich berathenen Geſetze uͤber die Verfaſſung und
Verwaltung ſeiner Gemeinden zu Stande. Hier ſteht, wie
in Wuͤrtemberg, der Gemeindeverſammlung ſelber die Wahl
des Magiſtrats (Gemeinderaths) zu. Den Buͤrgermeiſter
beſtaͤtigt die Regierung, iſt aber die Wahl zweimahl nicht
beſtaͤtigt, ſo kann bei der dritten Wahl die Beſtaͤtigung
[232]Zehntes Capitel.
nicht laͤnger verſagt werden (§. 11.); wir muͤſſen aber was
wir in der Staatsverfaſſung verwarfen (ſ. 120.) auch in
der Gemeindeverfaſſung misbilligen, zumahl nicht einmahl
die Wiederwahl der zweimahl nicht beſtaͤtigten Perſon aus-
geſchloſſen iſt. Der Gemeinderath wird auf 6 Jahre (kein
Übergang zur Lebenslaͤnglichkeit), der Buͤrgerausſchuß auf de-
ren 4 gewaͤhlt. In groͤßeren Staͤdten iſt es geſtattet (§. 40.)
einen groͤßeren Ausſchuß zu waͤhlen, der, allzeit oͤffentlich
verhandelnd, die Gemeindeverſammlung in der Regel ver-
tritt, nur nicht bei Wahlen zum Gemeinderath und zum
engeren Ausſchuſſe.



[233]Von den Gemeinden.

Wie aber ſchon Baiern ſein Syſtem der Wahlcollegien
auf die Wahlen der Gemeindebevollmaͤchtigten anwendet,
ſo iſt dieſes auch im Koͤnigreiche Sachſen in der Staͤdte-
Ordnung vom 2. Febr. 1832 geſchehen. Das Wahlcolle-
gium ſoll in der Regel 1/20ſtel der Buͤrgerzahl enthalten.
Buͤrgermeiſter und beſoldete Rathsherren werden auf Le-
benszeit gewaͤhlt. Aber nur in Dresden und Leipzig haben
die Stadtverordneten allein den Stadtrath zu waͤhlen, in
den uͤbrigen Staͤdten tritt ein groͤßerer Buͤrgerausſchuß
hinzu, welcher mindeſtens zweimahl ſo ſtark ſeyn ſoll als
die Zahl der Stadtverordneten; dieſer hat auch ſeine
Stimme zu Veraͤnderungen im ſtaͤdtiſchen Vermoͤgen zu
geben. Iſt er mit dem Magiſtrat einig und bleibt die
Subſtanz des Vermoͤgens nebſt ſeinem jaͤhrlichen Ertrage
ungeſchmaͤlert, ſo bedarf es der Genehmigung der Regie-
rung nicht, und auch wenn es die Abtretung oder Er-
werbung von Grundſtuͤcken angeht, iſt dieſe in dem Falle
nicht nothwendig, wenn außer dem Einverſtaͤndniſſe des
Rathes ſaͤmmtliche Mitglieder des groͤßeren Buͤrgeraus-
ſchuſſes dafuͤr ſtimmen (§. 33.). Bemerkenswerth iſt
(§. 170.), daß den Stadtverordneten neben dem Drucke
ihrer Verhandlungen und Beſchluͤſſe auch die Öffentlichkeit
ihrer Sitzungen freigeſtellt iſt, und es werden dieſe dem
Vernehmen nach in Leipzig und Dresden wirklich oͤffent-
lich gehalten.


Die neue Cur-Heſſiſche Gemeinde-Ordnung
(23. Oct. 1834) ſtimmt darin mit der Koͤniglich-Saͤchſi-
ſchen uͤberein, daß der Gemeindeausſchuß (Verſammlung
der Stadtverordneten) nicht fuͤr ſich allein das Recht hat
den Stadtrath zu waͤhlen, ſondern dasſelbe mit einer dop-
pelt ſo ſtarken Anzahl außerordentlicher Mitglieder theilt.
Die außerordentlichen Mitglieder dienen auch zur Ergaͤn-
[234]Zehntes Capitel.
zung der ordentlichen. Die Haͤlfte des Gemeindeausſchuſ-
ſes beſteht aus Hochbeſteuerten. Die Buͤrger haben das
Wahlrecht, inſofern ſie durch Beruf oder Cenſus wahlfaͤhig
ſind; ſie uͤben es in groͤßeren Staͤdten nach Stadttheilen,
falls nicht die Statuten eine Eintheilung der Ortsbuͤrger
fuͤr dieſes Wahlgeſchaͤft in Claſſen nach der Verſchiedenheit
des Beſitzes, der Beſchaͤftigung oder Lebensweiſe feſtſtel-
len (§. 45.). Beide, Rath und Ausſchuß, werden auf 5
Jahre gewaͤhlt, ebenſo der Buͤrgermeiſter, der jedoch mit
landesherrlicher Genehmigung auch auf Lebenszeit gewaͤhlt
werden kann.


Im Koͤnigreiche Hannover iſt kein allgemeines Ge-
ſetz als Staͤdte-Ordnung erlaſſen, wohl aber erſchien ſeit
1819 eine Reihe von Verfaſſungsurkunden und Reglements
fuͤr die einzelnen Staͤdte des Koͤnigreichs. Die unterſchei-
denden Grundſaͤtze ſind: Dem Magiſtrats-Collegium ver-
bleibt außer der Verwaltung der Gemeindeſachen auch die
Rechtspflege und die Polizey, ſo indeß daß der Polizey-
Director, auch wo die Regierung ihn beſonders einſetzt,
Mitglied des Magiſtrats-Collegiums iſt, welches einige
Functionen zwar ungetheilt ausuͤbt (Wahlen von Predigern
und ſtaͤndiſchen Deputirten, Beſetzung ſtaͤdtiſcher Verwal-
tungsſtellen und Schulaͤmter, Berathung uͤber allgemein-
wichtige Einrichtungen, Abſchluß der ſtaͤdtiſchen Caſſenfuͤh-
rung), die laufenden Geſchaͤfte aber in zwei Sectionen be-
ſorgt. Dieſe ſind: der verwaltende Magiſtrat, in welchem
auch die Polizeybehoͤrde ihren Sitz hat, und das Stadtge-
richt. Die Stadt theilt ſich in Diſtricte und dieſe wieder in
Bezirke; denn obwohl in den meiſten Staͤdten des Koͤnigreichs
die Zuͤnfte in herkoͤmmlicher Kraft beſtehen, ſo iſt es doch
nicht rathſam befunden, die Repraͤſentationen der Buͤrger
auf ihnen zu gruͤnden. Jeder Diſtrict hat einen Buͤrger-
[235]Von den Gemeinden.
vorſteher, der nicht in ſeinem Diſtrict zu wohnen braucht,
jeder Bezirk einen Bezirksvorſteher, der in ſeinem Bezirke
wohnen muß. Alle ſtimmfaͤhigen Buͤrger des Diſtricts oder
Bezirks ſind die Waͤhler. Stimmfaͤhig iſt der mit einem
Hauſe angeſeſſene Buͤrger und von den Inquilinen-Buͤr-
gern die erſte Claſſe, die (in Goͤttingen) wenigſtens 5 Tha-
ler ſtaͤdtiſcher Abgaben zahlt. Die Bezirksvorſteher, auf drei
Jahre gewaͤhlt, ſollen jeder in ſeinem Bezirk den Magi-
ſtrat, die Polizeybehoͤrde und das Armen-Collegium in
Verwaltungszwecken unterſtuͤtzen. Die Buͤrgervorſteher,
auf vier Jahre gewaͤhlt (16 in der Stadt Hannover, 12
in Goͤttingen) ſind die Vertreter der Buͤrgerſchaft in allen
Angelegenheiten des Gemeinweſens und haben namentlich
die zu den oͤffentlichen Beduͤrfniſſen der Stadt erforderli-
chen Geldzuſchuͤſſe, Leiſtungen und Laſten zu bewilligen
und zu vertheilen. Wenn bei Antraͤgen des Senats die
Mehrheit der Buͤrgervorſteher widerſpricht, ſo muß die
Verhandlung an die hoͤhere Behoͤrde (Landdroſtey, Cabi-
binets-Miniſterium) zur Entſcheidung gelangen; wenn
der Magiſtrat bei Antraͤgen der Buͤrgervorſteher diſſentirt,
ſo kommt es auf dieſe an, ob ſie ſich dabei beruhigen wol-
len. Die Mitglieder des Magiſtrats-Collegiums ſind le-
benslaͤnglich; zur Wahl derſelben vereinigt ſich entweder der
Magiſtrat oder das Magiſtrats-Collegium mit den Buͤrger-
vorſtehern, im Ganzen nach dem Grundſatze, daß der Stim-
men aus der Buͤrgerſchaft nicht mehrere oder nicht viel
mehrere ſind als aus dem Magiſtrat; das Wahlgeſchaͤft er-
ſtreckt ſich aber nicht weiter als auf die Wahl von drei
Candidaten, aus denen das Miniſterium einen auswaͤhlt.
Dieſes kann auch alle drei Praͤſentirten als nicht qualifi-
cirt verwerfen, imgleichen die Stelle des Magiſtratsdirec-
tors ohne vorherige Praͤſentation conferiren. — Inzwiſchen
[236]Zehntes Capitel.
iſt, wie mehrere Staͤdte des Koͤnigreichs ſich von jeher im
Beſitze eines freien Wahlrechts ihrer Obrigkeit befanden,
ſo auch in dem Staatsgrundgeſetze vom 26. Sept. 1833
§. 53. fuͤr die Zukunft im Allgemeinen feſtgeſetzt, daß die
Staͤdte das Recht haben ſollen ihre Magiſtrate und uͤbrigen
Gemeindebeamten ſelbſt zu waͤhlen; das Wahlrecht ſollen
die Magiſtrate und die Buͤrgervorſteher uͤben; die hoͤhere
Beſtaͤtigung bleibt vorbehalten in Bezug auf die ſtimmfuͤh-
renden Mitglieder des Magiſtrats und des Stadtgerichts.
Die Oberaufſicht der Regierung auf den ſtaͤdtiſchen Haus-
halt dehnt ſich nicht uͤber die laufende Einnahme aus, in-
ſofern Magiſtrat und Buͤrgervorſteher einig ſind; jedoch
muß der Haushaltungsplan zu Anfang jedes Rechnungs-
jahres eingeſandt werden und zu Ende desſelben ein Aus-
zug aus den Rechnungen, falls nicht die Vorlegung der
ſaͤmmtlichen Rechnungen begehrl wird. Auch ſcheint aus
§. 53. 2) des Staatsgrundgeſetzes gefolgert werden zu koͤn-
nen, daß diejenigen Staͤdte des Koͤnigreichs, welche bis
dahin unter der Jurisdiction koͤniglicher Ämter ſtehen, ein
eigenes Stadtgericht erhalten ſollen.


248. Faſſen wir alle Erwaͤgung zu einer Anſicht zu-
ſammen, ſo treten einige charakteriſtiſche Zuͤge beſſerer Ge-
ſtaltung klar hervor:


Es iſt die Folge einer aus den Zuſtaͤnden entſprun-
genen, darum gleichmaͤßigen Überzeugung, ohne alle
Verbindung mit neuernden Strebungen, daß man uͤber-
all angefangen hat, die Staͤdte unabhaͤngiger zu ſtellen
ſowohl von der centraliſirenden Kraft der Stadtregierun-
gen als von der Staatsregierung. Sie duͤrfen ihre Ge-
meindezwecke ſelber ausrichten.


Der entſcheidende Schritt zu dieſem Ziele iſt, weil
[237]Von den Gemeinden.
Gemeindezwecke nur durch Gemeindegut erreicht werden,
daß die Buͤrgerſchaften den Haushalt des ſtaͤdtiſchen
Vermoͤgens zuruͤckerhalten, welches in keinem Falle als
Staatsvermoͤgen behandelt, noch unter die unmittelbare
Verwaltung von Staatsbehoͤrden gezogen werden darf.
Es ſoll aber eben ſo wenig zur beliebigen Bereicherung
des Magiſtrats oder zum Verbrauche einer Generation
von Buͤrgern dienen. Darum Staatsaufſicht auf den
zu veroͤffentlichenden Haushaltsplan, uͤberſichtlich, nach
den Wirthſchaftsjahren, daß keine Verſchlechterung im
Vermoͤgensſtamme ſtattfinde.


Die Stadt hat aber auch Staatszwecke zu erfuͤllen;
denn uͤberall ſucht der Staat die Familien auf im Po-
lizeybezirk der Gemeinde, ſtellt in demſelben Staatsan-
ſtalten auf Staatskoſten auf, ordnet die Rechtspflege an,
beaufſichtigt das Kirchen- und Unterrichtsweſen, fordert
Beitrag fuͤr das Heerweſen, heiſcht Staatsabgaben, nimmt
diejenige Sicherheits-Sorge, die zum Ganzen dient, am
Orte wahr. Stellt man nun daneben die naͤchſten und
wichtigſten Gemeindezwecke auf, als da ſind: die Sorge
fuͤr alle Theile des ſtaͤdtiſchen Vermoͤgens, und fuͤr den
Haushalt mit ſeinen Einkuͤnften, Sorge fuͤr den oͤrtli-
chen Nahrungsſtand und in Folge davon auch fuͤr die
nahrungsloſen Gemeindeglieder, beſonders die kranken
Armen, Schutz vor Feuer und Waſſer, Sorge fuͤr die
Örtlichkeit, daß dieſe außer der Sicherheit bei Tag und
Nacht auch den Forderungen des gebildeten Sinnes in
Bequemlichkeit und Schoͤnheit (inſofern dieſe auf der
Ordnung beruht) entſpreche und leichte Verbindung im
Gemeindebezirk und mit andern Gemeinden gewaͤhre,
ſo zeigt ſich leicht, daß es hier, wem auch die oͤrtliche
Staatspolizey vertraut ſeyn mag, einem Staatsbeamten

[238]Zehntes Capitel.
außerhalb des Magiſtrats, oder einem Mitgliede, oder
dem ganzen Magiſtrat, der Abgraͤnzungen mancherlei
beduͤrfe zwiſchen ihr und der Polizey der Gemeinde-
zwecke, die der Gemeinde ſelber bleiben muß, daß auch ein
gemiſchtes Gebiet unvermeidlich ſey, auf welchem die Ge-
meinde mindeſtens gehoͤrt werden muß, — und daß
doch am Ende der Eifer fuͤr das Gemeindewohl den Kno-
ten zu loͤſen hat, waͤhrend wo der Staatsbefehl Alles
thut, Alles nach gewieſenen Wegen regelrecht, aber frei-
lich um ſo ſchlechter geht.


Von den ſtaͤdtiſchen Gewalten muß die obrigkeitliche
den Charakter der Dauer, im haͤufigen Zuſammenkom-
men derſelben ein Collegium bildenden Mitglieder,
an ſich tragen, die buͤrgerſchaftliche den des Wechſels.
Daraus folgt nicht, daß die erſte nothwendig lebenslaͤng-
lich, und in allen ihren Mitgliedern es ſey, aber es
folgt, daß die letztere nicht lebenslaͤnglich ſeyn duͤrfe.


Die Buͤrgerſchaft waͤhlt ihre Vertreter, die Vertreter
(nicht die Buͤrgerſchaft) waͤhlen ihre aus ſtaͤdtiſchen Mit-
teln, inſoweit Beſoldung ſtatt hat, zu beſoldende Obrig-
keit. Der Staat uͤbt ſein Aufſichtsrecht, indem er den
Vorſtand des Stadtrathes aus drei von der Gemeinde
vorgeſchlagenen Perſonen ernennt 1), der legalen Beſetzung
der uͤbrigen Magiſtratsſtellen ſich verſichert und dieſe (dar-
um nicht alle von der Stadt zu beſtellenden Gemeinde-
beamten) durch Beſtaͤtigung beglaubigt.


Wenn der Magiſtrat und die Stadtverordneten uͤber
einen Antrag uneinig ſind, ſo hat, inſofern Staatszwecke
in Frage ſind, die Regierung die Entſcheidung; was uͤber-
haupt nothwendig iſt und vollends unbedenklich in den-
jenigen Staaten geſchehen mag, in welchen das Gemein-
derecht unter dem Schutze von Reichsſtaͤnden ſteht. In

[239]Von den Gemeinden.
dieſen wird auch hinlaͤnglich unterſchieden werden, was
Gemeinde-, was Staats-Verbindlichkeit ſey.


Die Verſammlungen der Buͤrgerſchaften geſchehen nach
oͤrtlichen Eintheilungen, ſo lange keine Berufsclaſſen an
die Stelle der nicht mehr haltbaren fruͤheren Corpora-
tionen getreten ſind.


Öffentlichkeit der Sitzungen der Stadtverordneten
moͤchte gerade den naͤchſten Zwecken entgegenwirken. Das
Beduͤrfniß dieſer Berathungen iſt Einfachheit, ohne thea-
traliſchen Zuſatz; ſie ſind ſehr perſoͤnlicher Art und duͤr-
fen ſich nicht ſcheuen es zu ſeyn, denn es betrifft das
Intereſſe des naͤchſten Buͤrgerkreiſes, die Geſchicklichkeit
und Zuverlaͤſſigkeit der Behoͤrden. Wie viel anders in
einer Staͤndeverſammlung, die an einem einzelnen Orte
des Landes verſammelt, uͤber die Intereſſen des ganzen
Landes zu beſchließen hat 2).




249. Die Land-Gemeinde beruht auf der allge-
meinen Grundlage der ſtaͤdtiſchen, und ſo haben auch nach
dem Vorgange Baierns und Wuͤrtembergs andere Deutſche
Staaten, als Baden, Koͤnigreich Sachſen und zuletzt Cur-
Heſſen allgemeine Gemeindeordnungen geſtiftet, in welchen
Land und Staͤdte ſich nur durch Modificationen unterſchei-
den. Die Zweckmaͤßigkeit dieſes Verfahrens haͤngt davon
ab, ob gewiſſe Vorbedingungen ſich ſchon genuͤgend auf
dem Lande entwickelt haben: perſoͤnliche Freiheit des Land-
manns, freiere Dispoſition uͤber den Boden und deſſen
Bewirthſchaftung, Aufhebung gemeinſchaͤdlicher Exemtionen
von Gemeindelaſten und Ortsgerichten bei verbeſſerter
Einrichtung der letzteren, ein befreiteres Gewerbweſen un-
ter Beſeitigung des ſtrengen Unterſchiedes zwiſchen laͤndlichen
und ſtaͤdtiſchen Gewerben. Bei der Anordnung der laͤnd-
lichen Gemeinde muß aber viel mehr von vorne angefangen
werden als bei der ſtaͤdtiſchen. Denn waͤhrend dieſe ſich
entſchieden oͤrtlich abſchließt, nie zu klein iſt, immer eine
concentrirte Bevoͤlkerung enthaͤlt, kann die laͤndliche oft
erſt dadurch politiſche Bedeutung erhalten, daß ſie dieſe im
Verbande mit andern Gemeinden erſtrebt, bloß ihre indi-
viduellen Sorgen als laͤndliche Corporation fuͤr ſich ab-
thut. Den rechten Mittelpunkt zum lebendigen Vereine aber
zu finden iſt ſchwer. Denn nicht uͤberall gelingt es wie im
Großherzogthum Oldenburg neuerdings (Erlaß v. 28. Dec.
1831), die kirchliche Gemeinde auch zum politiſchen Gemein-
deverbande zu geſtalten. Denn wie oft ſind es nicht ganz
verſchiedene Dorfſchaften und Weiler, die die Feldmark, die
[241]Von den Gemeinden.
die Schule, die die Kirche verbindet und zu Gemeinde-
zwecken verpflichtet! Wie manche Bauerſchaft iſt zur Stadt
eingepfarrt, die ihr weiter eben nichts bedeutet! von dem
Verbande der Waſſerzuͤge und gemeinſamer Waldungen gar
nicht zu reden. Im Einzelnen laͤßt ſich da wohl allmaͤh-
lig zur Einheit hinlenken, aber hier durchgreifen und ſeys
einer erdkundlichen oder geometriſchen oder politiſchen Theo-
rie zu Liebe ein durchlaufendes Princip erzwingen wollen,
hieße den Glauben an unveraͤnderliche Verhaͤltniſſe unvor-
ſichtig auch da erſchuͤttern, wo ſonſt der einfache Sinn,
immerdar gebunden an die Wiederkehr der Jahrszeiten, der
Pflegerinnen des Landbau’s, bei ſtetigen Ordnungen gern
beruht, eingreifende Willkuͤhr meidet. Die hoͤhere Einheit,
der ſich die einzelne Gemeinde oft entzieht, laͤßt ſich bei
Verbindung mehrerer Gemeinden zu einer groͤßeren politi-
ſchen Genoſſenſchaft auf natuͤrlichem Wege daneben errei-
chen; nur daß auch hier Natur und Geſchichte die letzte
Graͤnze vorgeſchrieben haben, es iſt die der Landſchaft oder
Provinz.


Eindringende Bemerkungen macht Karl Reck (Goͤtt. gel. Anz.
1835 St. 58. S. 580 f. bei Gelegenheit des v. Hodenbergi-
ſchen
Werkes: Abhandlungen aus der Erfahrung uͤber Staats-
und Gemeinde-Verwaltung). Er ſtellt der Behauptung, daß der
Kreis des Kirchſpiels unabweichlich auch den Kreis aller buͤrger-
lichen Gemeinden, aller Verwaltungsbezirke und gemeinſamen
Laſten bilden muͤſſe, entgegen, daß dieſer Grundſatz, in der Re-
gel hergebracht auf der Haide und jenſeits der Haide bis in die
Spitzen von Großbritannien und Norwegen, in Mittel- und
Oberdeutſchland oft gar nicht ausfuͤhrbar iſt und daß eine ge-
waltſame Umaͤnderung der bisherigen Gemeindeverhaͤltniſſe nach
dem obigen Grundſatze hier die ſchlimmſten Folgen auf die Stim-
mung der Bauern haben wuͤrde. „Hier haben ſehr oft die Doͤr-
fer desſelben Kirchſpiels gar nichts gemein als dieſelbe
Kirche und denſelben Pfarrer
, oft hat jedes noch eine
16
[242]Zehntes Capitel.
beſondere Capelle, kurz, um Alles in Allem zu ſagen, die Ge-
meinden haben ſich ſehr oft nicht nach der Gemeinſamkeit der
Kirche, ſondern der Guts- und Schutzherren gebildet, und ſind
oft auch aus dieſen und anderen Gruͤnden zu verſchiedenen Äm-
tern geſchlagen. Im Ganzen bildet diesſeits der Haide die Ge-
markung die Einheit der Gemeinheit, nach der urſpruͤnglichen
Ausrodung oder Anſiedelung, wie die Localitaͤt zwiſchen den Ber-
gen unzweifelhaft ergiebt. — — Zu einer durchgreifenden legis-
lativen Veraͤnderung in dieſer Hinſicht iſt jetzt die Zeit viel zu
empfindlich; man wuͤrde den Bauern recht eigentlich in ſeinem
Neſte angreifen und die Vortheile ſind bei weitem nicht groß
genug dazu, und darauf kommt doch Alles an! Dieß moͤge
man auch im Hannoͤverſchen wohl bedenken, wenn es etwa zu
einer allgemeinen Gemeinde-Ordnung kommen ſollte. — Die
Schulbezirke fallen dagegen bei den Doͤrfern in Mittel- und
Oberdeutſchland faſt immer mit dem Gemeindeverbande zuſam-
men, obgleich die Ausnahmen in manchen Diſtricten auch nicht
ſelten ſind.”


250. Wenn die Landgemeinde klein iſt, bedarf es kei-
ner beſonders gewaͤhlten Vertreter. Zwanzig Bauern im
Dorf, alle Theilnehmer der Feldmark, machen ſelber die
Vorſteher, waͤhlen den Schulzen und ein Paar Gehuͤlfen
die er braucht, immerhin auf 6 Jahre, nie auf Lebens-
lang, denn die Landobrigkeit muß ruͤſtig und ruͤhrig ſeyn.
Die Staatsbehoͤrde beglaubigt den Schulzen, denn ſo wird
er, hoffen wir, lieber als Buͤrgermeiſter heißen. Wo
indeß das Dorf groͤßer iſt oder mehrere Bauerſchaften
und Weiler vereinigt ſind, da bedarf es der gewaͤhlten
Dorfvorſteher und da wird man denn auch die bloß mit
Haͤuſern angeſeſſenen Handwerker zuziehen, ſey’s bloß zum
Wahlrecht oder auch zur Waͤhlbarkeit. Das Gemeindege-
ſchaͤft der Vorſteher und ihrer Obern iſt nun die Beauf-
ſichtigung alles deſſen was in dem Plane der Ackerwirth-
[243]Von den Gemeinden.
ſchaft gemeinſchaftlich ſeyn muß, Erhaltung der gemein-
ſamen Nutzungen und des ganzen Gemeindevermoͤgens
(welches nie Staatsvermoͤgen werden darf), der Graͤben
und Daͤmme, in wirthſchaftlichem und polizeylichem Ver-
ſtande, nicht minder aber die Beaufſichtigung des Über-
gangs von baͤuerlichem Eigenthum von einer Hand in die
andere durch Auflaſſung vor der Gemeinde, falls nicht
fremdartige Satzung die altbaͤuerliche Ordnung ſchon zerruͤt-
tet hat, wohin auch das Recht der Schließung der Ge-
meinde gegen unverbuͤrgte Ankoͤmmlinge gehoͤrt 1). Die
Caſſen-Bewahrung und Fuͤhrung verſieht der Schulze mit
ſeinen Schoͤffen, alles unter Oberaufſicht der Regie-
rungsbehoͤrde.


Wo nun wirthſchaftliche Verhaͤltniſſe oder ſonſtige nur
in einem noch ausgedehnteren Verbande als dem der poli-
tiſchen Gemeinde erreichbare Zwecke eintreten, wird fuͤr die
Erreichung derſelben eine beſondere Genoſſenſchaft gebildet,
die denn zugleich laͤndlichen zerſchnittenen und noch abhaͤn-
gigen Beſitz mit geſchloſſenen Bauerhoͤfen und Landguͤtern
vereinigen mag und ſie ſelbſt vielleicht mit einigen ſtaͤdtiſchen
Laͤndereien zuſammenfuͤhrt; und hier bedarf es denn aber-
mahls der leitenden Vorſtaͤnde, um die gemeinſamen Nutzun-
gen zu wahren, die groͤßeren Communalwege, Waſſer- und
Feuerhuͤlfe, der die einzelne Gemeinde nicht gewachſen iſt,
in Stand zu ſetzen und zu halten, auch Verbeſſerungen auf
gemeinſame Koſten (Entwaͤſſerungen) zu unternehmen.
Wahrſcheinlich wird auch die Ausfuͤhrung von Geſund-
heitsmaasregeln, die nothwendige Mitwirkung der Gemein-
den bei Militaͤrſachen ſchon hieher gehoͤren. Wie es nun
aber weiter ſich geſtalte durch Mittelgewalten bis zu dem
allen Gemeinden und ihren Genoſſenſchaften gemeinſamen
Mittelpunkte der hoͤchſten Provinzialverwaltung, iſt ſchwer
16*
[244]Zehntes Capitel. Von den Gemeinden.
anzugeben, ohne einen beſtimmten geſchichtlichen Staat vor
Augen zu haben, und auf keinen Fall allein aus dem
Geſichtspunkte der Gemeinde.



[245]Von den Staatsbeamten.

Eilftes Capitel.
Von den Staatsbeamten
.

251. Dem Staate, welcher Alle ſchuͤtzt und traͤgt,
darf niemand ſeinen Dienſt entziehen, aber niemand hat
auch ein Recht darauf, daß gerade er und kein anderer
diene. Das Recht ſich ſeine Beamten zu waͤhlen, welches
die Gemeinde in Anſpruch nimmt, uͤbt unerlaͤßlich der
Staat und darf es keinen Augenblick aufgeben, darf nicht
zugeben, daß er es durch die einmahl getroffene Wahl
verloren habe. Staatsaͤmter aber ſind von jeher oͤfter ge-
ſucht als aufgedrungen worden. Man kuͤndigt, daß man
dereinſt ſuchen wolle, durch Studien an, noch beſtimmter
dadurch, daß man um die Staatspruͤfung bittet, unzwei-
felhaft durch ſeine Bewerbung; daher kommt der Gebrauch
des Zwangsrechtes nur ausnahmsweiſe etwa in kleinen
Freiſtaaten vor, wo großer Reichthum ſich der Laſt von
Staatsbedienungen entziehen moͤchte, welche den Ehrgeiz
nicht reizen, dem Erwerbe und ſeinen Genuͤſſen im Wege
ſtehen. Auch kommt es dem Gemeinweſen zu ſehr auf
gutwillige Diener an, als daß man nicht lieber gewoͤnne
fuͤr den Staatsdienſt als dazu zwaͤnge. Weit oͤfter tritt
der Fall ein, daß man den Staat zwingen will, den Die-
ner, den er nicht brauchen kann, doch zu behalten. Man
ruͤhmt ſich eines Privatrechtes, dem Staate uͤble Dienſte
zu erweiſen.


252. Den Steuern ſieht man es nicht an, daß ſie
mit ſaurer Miene bezahlt ſind, darum nimmt man ſie den
Willigen und den Unwilligen ab; allein Dienſte, ſelbſt ge-
meine Dienſte, taugen nicht, widerwillig verrichtet, darum
[246]Eilftes Capitel.
wendet der Staat hier hoͤchſt ungern Noͤthigung an, ver-
guͤtet mindeſtens, belohnt ſelbſt, und thut das um ſo reich-
licher je hoͤher ein Amt an Wichtigkeit ſteht und je koſt-
ſpieligere Voruͤbungen es fordert. Weil er aber doch das
Recht zu zwingen hat, ſo wird durch den Eintritt in den
Staatsdienſt kein Vertragsrecht des Beamten begruͤndet,
weder auf den Dienſt laͤnger als er dem Staate gefaͤllt,
noch auf die Beſoldung laͤnger als der Dienſt dauert, es
muͤßte denn in Abſicht der letzteren ein Anderes verabredet
ſeyn. Nicht der Auslaͤnder einmahl wuͤrde ſich die fort-
waͤhrende Bekleidung des Amtes guͤltig beim Eintritte in
den fremden Staatsdienſt bedingen koͤnnen, weil Staats-
zwecke nicht unterbleiben duͤrfen, wenn er gleich ſeinen An-
ſpruch auf den Fortgenuß der Beſoldung ſicherer ſtellen
kann als ſonſt jemand.


253. Alle geſetzlichen Beſchraͤnkungen der Staatsgewalt
uͤber die oͤffentlichen Ämter muͤſſen zunaͤchſt aus dem Ge-
ſichtspunkte des oͤffentlichen Rechtes und Wohles fließen.
Dieſer zeigt 1), daß fuͤr die gerechte und ungeſtoͤrte Anwen-
dung der Geſetze Alles darauf ankommt, daß um das
Richteramt den Eingriffen der Staatsgewalt zu entziehen,
die Entlaſſung von demſelben allein durch Urtheil und Recht
verfuͤgt werden, auch die Verſetzung, mindeſtens der hoͤhe-
ren Richter nicht ganz von der Willkuͤhr abhaͤngen duͤrfe.
Was aber 2) die uͤbrigen Staatsaͤmter angeht, ſo muß die
Entlaſſung zwar an geſetzliche Beſtimmungen geknuͤpft,
doch von Urtheil und Recht nicht abhaͤngig gemacht wer-
den. Um indeß hier des rechten Zieles nicht zu verfehlen
hat man zwiſchen den Staatsaͤmtern im eigentlichen un-
verkuͤrzten Sinne des Worts und denjenigen oͤffentlichen
Thaͤtigkeiten zu unterſcheiden, die nur in einem oder
[247]Von den Staatsbeamten
dem andern Sinne an der ſtaatsamtlichen Stellung theil-
nehmen.


254. Die buͤrgerlichen Dienſtleiſtungen, unter welchen
die Staatsaͤmter eine ausgezeichnete Stelle einnehmen, ge-
ſchehen entweder im Auftrage des Staats oder bloß mit
Einwilligung desſelben; ſie koͤnnen eine beſtimmte Sphaͤre
der Staatsverwaltung, aber auch Privatzwecke betreffen; ſie
ſind dauernd oder voruͤbergehend; ſie haben Bedeutung fuͤr das
Ganze oder ſind untergeordnet. Nur wo der Staatsauftrag,
einerlei ob unmittelbar oder mittelbar, ſich findet, wo die
Zwecke ſtaatsoͤffentlich und beſtimmt bezeichnet ſind, der Auf-
trag dauernd, keine bloße Miſſion iſt, wo er endlich Be-
deutung fuͤr das Ganze hat (— der bloße Amtsname, si-
necure,
genuͤgt da nicht), findet ſich Alles beiſammen, was
das Staatsamt ausmacht, deſſen Traͤger man mit Grund
nicht mehr Regierungsbediente oder bloß Diener-
ſchaft
nennt, ſondern Staatsdiener oder Staats-
beamte
, weil ihr Auftrag, was auch Hallers Reſtaura-
tion dagegen erinnern moͤge, nicht bloß perſoͤnliche Ge-
ſchaͤfte des Fuͤrſten, ſondern das was Fuͤrſt und Volk zu-
ſammenhaͤlt, den Staat begreift. Darum kann der Hof-
ſtaat des Fuͤrſten wohl der Ehrenrechte des Staatsdieners,
eines ausgezeichneten Rangs der eigentlichen Hofchargen,
auch reicher Beſoldung genießen, allein vergeblich bemuͤht
ſich Goͤnner ihn zum Staatsdiener zu ſtempeln, und jede
Beſchraͤnkung, die hier in Annahme und Entlaſſung die
Willkuͤhr des Fuͤrſten baͤnde, waͤre unangemeſſen. Nur
daß man nicht dieſe Entfernbarkeit (ad nutum principis)
als den Grund verſtehe, warum Hofamt kein Staatsamt
iſt. Denn es tritt, freilich aus ganz andern Gruͤnden, der
gleiche Fall der Entfernbarkeit ohne alle Aufkuͤndigung
[248]Eilftes Capitel.
(durante beneplacito in England), verbunden mit dem
Rechte ſich jeden Augenblick zuruͤckzuziehen, bei dem Amte
des Staatsminiſters ein, welches doch Staatsamt in der
hoͤchſten Bedeutung des Wortes iſt, und der Staatsminiſter
wieder muß ſich ſeine naͤchſten Raͤthe und Arbeiter noth-
wendig frei waͤhlen duͤrfen, die ebenfalls Staatsbeamte ſind.
Der Arzt, der Anwald verwaltet kein Staatsamt, wenn er
auch der Einwilligung und Beglaubigung des Staats fuͤr
ſeine Geſchaͤfte bedarf; ihn durch den Act der Beſtaͤtigung
den Bedingungen der Entlaſſung unterwerfen, welchen der
Staatsdiener unterliegt, ſeine freie Bewegung an Amts-
urlaub ketten, waͤre unſtatthaft. Der Staatsauftrag, der
ihnen abgeht, ſteht im hohen Grade dem Geiſtlichen, dem
Lehrer zur Seite, allein der Staatszweck tritt hier zuruͤck,
Religion und Wiſſenſchaft werden nicht um des Staates
Willen begehrt und ſtehen ihrem Inhalte nach, inſofern
aͤhnlich dem Richteramt, nur unter ſehr bedingter Con-
trole des Staats, der hauptſaͤchlich nur die Sphaͤre des
Unterrichts regelt und die Amtstreue mißt. Hier wird der
Staat, wenn es auf Remotion vom Amte wegen des In-
halts der Lehren ankommt, bevor das Dienſtgeſetz entſchei-
det, die Gutachten der Erfahrenen einhohlen, wird indeß
den Lehrern der hoͤheren Ordnungen die Rechte der Staats-
beamten was Ehre und Lohn (Ruhegehalt, Penſionen der
Wittwe, der Kinder) angeht zuzuſichern keinen Anſtand
nehmen wollen. Der Subaltern im Staatsdienſte handelt
in Staatsauftrag, iſt fuͤr Staatszwecke bemuͤht, allein er
iſt nur Hand und Fuß ſeines Oberen, es ſind Verrich-
tungen, (ὑπηϱεσίαι, διακονίαι, nicht ἀϱχαὶ) die er mit
weniger oder gar keiner Freiheit des Urtheils nach jedesmah-
liger Anweiſung auszufuͤhren hat ohne in die hoͤheren Zwecke
einzuoringen; hier iſt, je tiefer die Stufe, um ſo mehr
[249]Von den Staatsbeamten.
Annahme auf Aufkuͤndigung am Platze und um ſo weniger
der Staat im Stande, den Lohn uͤber die Dienſtleiſtung
hinaus zu erſtrecken. Eben hier koͤnnte man auch verſucht
ſeyn, das Kriegsheer einzureihen, ginge nicht der hohe
und gefahrvolle Staatszweck, welchem ſich der gebundene
Gehorſam des gemeinen Kriegers widmet, weit hinaus
uͤber Schreiber- und Boten-Dienſt.


Goͤnner (Der Staatsdienſt aus dem Geſichtspunkt des Rechts und
der National-Oeconomie betrachtet, nebſt der Hauptlandesprag-
matik uͤber die Dienſtverhaͤltniſſe der Staatsdiener im Koͤnig-
reiche Baiern. Landsh. 1808.) macht die Rechte des Staats ge-
gen die aͤltere rein privatrechtliche (van der Becke vgl. Leiſt,
Staatsr. §. 120.) und die bedingt privatrechtliche Anſicht (von
Seuffert
) geltend; Rehberg (Über die Staatsverwaltung
deutſcher Laͤnder. Hannover 1807.) wird nicht beruͤckſichtigt. F.
Saalfeld, comment. Num principi liceat ministros publicos in-
cognita causa dimittere. Heidelb.
1807. 4. iſt bloß Ausfuͤhrung
der Rehbergiſchen Anſicht. Wie wenig aber die aͤltere deutſche
Anſicht die aͤlteſte ſey, wie wenig noch ein Ludolph Hugo an der
Entſetzung nach Willkuͤhr zweifle (Nam pleraque officia non
tam a legibus quam a solo nutu principis dependent
), zeigt
Eichhorn St. u. R. G. IV, §. 549. vgl. §. 616. und uͤber die
ganze Frage Heffter, Einige Bemerkungen uͤber die Rechtsver-
haͤltniſſe der Staatsdiener. In deſſen Beitraͤgen zum Deutſchen
Staats- und Fuͤrſtenrecht. 1ſte Lief. Berl. 1829. S. 106‒167.


255. Die jedem Unterthan obliegende Pflicht ſich dem
Staate dienſtlich zu erweiſen, wird bei dem Staatsbeam-
ten durch die Einweiſung in eine beſtimmte Amtsſphaͤre
und durch die beſondere Verpflichtung des Dienſteides 1)
geſteigert. Die Faͤhigkeit Staatszwecke auszufuͤhren kann
heutzutage weniger als je mit Gelde erkauft, oder er-
erbt werden; denn die Paͤrie iſt kein Staatsamt, ſie
iſt Staatsgewalt. Aber der Staat darf auch nicht geſtat-
[250]Eilftes Capitel.
ten, daß ſein Beamter feſter an ſein Amt gebunden ſey,
als an den Zweck desſelben; er legt nicht bloß Ord-
nungsſtrafen auf, er ſuspendirt, quiescirt, entlaͤßt, ohne
die gerichtliche Entſcheidung abzuwarten, denn das Staats-
intereſſe kann nicht warten, und die Geſetze haben keinen
Maasſtab fuͤr die Gradationen der Tuͤchtigkeit und keine
Wage fuͤr das Gewicht der Geſinnung und des oͤffentlichen
Vertrauens im heutigen Staatsleben. Mag die Kaͤuflich-
keit und Erblichkeit von Staatsaͤmtern eine Schutzwehr
gegen Willkuͤhr im alten koͤniglichen Frankreich geweſen
ſeyn, mag auch die mit Eifer behauptete und im Ganzen
genommen durchgeſetzte Inamovibilitaͤt gleichen Nutzen in
unſerm Vaterlande gehabt haben, welches die Beamtenge-
walt in demſelben Grade ſteigen ſah als die Kraft der ſtaͤndi-
ſchen Rechte ſank, — wo heute die Repraͤſentativ-Verfaſſung
den Gang der Staatsregierung begleitet und, wenn auch
berichtigt, doch haͤufig aufhaͤlt, darf dieſer Grundſatz nicht
laͤnger gelten. “Eine Regierung, in der geſetzgebenden Ge-
walt durch Staͤnde, in der Ausfuͤhrung der Geſetze durch
die Selbſtaͤndigkeit ihrer eigenen Beamten beſchraͤnkt, waͤre
eine baare Nullitaͤt” (Heffter). Das Staatsamt darf
dem Lehn weder darin gleichen, daß es abgelehnt werden,
noch daß es nur durch einen Spruch der Lehnsgleichen
verloren gehen duͤrfte.



256. Auf der andern Seite darf weder vergeſſen wer-
den was bei Aufloͤſung eines auf lebenslaͤngliche Dauer
angelegten, den ganzen Mann vom Schulalter an in An-
[251]Von den Staatsbeamten.
ſpruch nehmenden Verhaͤltniſſes die Erſchuͤtterung des Nah-
rungsſtandes zahlreicher Familien bedeutet, noch auch aus
welchem erbitterten Haſſe das haͤufig kommt, was aͤußer-
lich in aller Form Staatsraͤſon heißt. Darum wird loͤb-
lich durch ein Geſetz beſtimmt, daß die Verſetzung ohne
Herabwuͤrdigung im Amte (Gleichſtellung iſt nicht immer
moͤglich) und der Amtseinnahme (volle Entſchaͤdigung iſt
nicht immer moͤglich) geſchehe, daß die Disciplinarſtrafe
ihr Maas habe, die Suspenſion nur auf begraͤnzte Zeit
verhaͤngt werde, Entlaſſung aber unter Abſchneidung der
Wiederanſtellung (nicht bloße Quiescirung fuͤr beſtimmte
Zeit) nur begruͤndet ausgeſprochen und nach gegebener Zeit
zur Verantwortung und in Gemaͤßheit des Gutachtens
der hoͤchſten berathenden Behoͤrde im Reiche allein von der
hoͤchſten entſcheidenden Behoͤrde verfuͤgt werden duͤrfe;
auch muͤſſe unverſchuldete Entlaſſung, die ja lediglich die
Folge neuer Organiſation ſeyn kann, ſtets von einer ge-
ſetzlich anzuſprechenden Entſchaͤdigung begleitet ſeyn. Man
hat zwar den Verſuch gemacht, den Grund und das Maas
dieſer Entſchaͤdigung dadurch feſtzuſtellen, daß man von
dem Grundſatze ausgeht, der Staat muͤſſe, indem er den
Anzuſtellenden von einem Nahrungsſtande abruft, ihm auch
einen Nahrungsſtand zum Erſatze geben, nicht bloß einen
widerruflichen Ertrag; dieſen Nahrungsſtand habe
der Staat in der Penſion zu erſetzen, er ſey deßhalb nur
durch Urtheil und Recht entziehbar, waͤhrend der Erſatz
fuͤr die Koſten des Dienſtes billig mit der Dienſtleiſtung
wegfaͤllt. Aber es iſt der Staat gerade, der in der Regel
geſucht und mit Geſuchen bedraͤngt wird, daß er einen
Nahrungsſtand erſt verleihe, und die ungemein kuͤnſtliche
Zerfaͤllung in Standesgehalt 1) und entziehbaren Dienſtge-
halt, (Bairiſche Haupt-Landes-Pragmatik v. 1. Januar
[252]Eilftes Capitel.
1805.), kann denn doch am Ende des Regulators der
Dienſtjahre nicht entbehren. Und wie waͤre der Dienſtauf-
wand nach allgemeinen Regeln zu ſchaͤtzen? Alles kommt
zuletzt auf ein anſtaͤndiges dauerndes Auskommen hinaus,
wofuͤr die allgemeinen Grundſaͤtze durch Combinirung des
Dienſteinkommens mit der Zahl der Dienſtjahre gefunden
und den Kraͤften jedes Staats angepaßt werden muͤſſen.
Ähnliche Erwaͤgungen treten bei den von Staatswegen
dotirten Penſions-Caſſen fuͤr Beamten-Wittwen und,
wenn die Kraͤfte reichen, auch deren Kinder bis zu einem
gewiſſen Alter ein.



257. Aus denſelben Gruͤnden, welche dem Staatsdie-
ner das Recht auf ſeinen Dienſt abſchneiden, findet kein
Recht der Anciennitaͤt auf eine hoͤhere Dienſtſtufe ſtatt 1),
kein Bannrecht auch gegen Staatsdiener einer anderen
Carriere, auch keines gegen das Ausland. Ein Indige-
natgeſetz kann als Ausdruck der Überzeugung Werth ha-
ben, bindend darf es niemahls ſeyn.



258. Daß der Staatsbeamte vorzugsweiſe geſchuͤtzt,
ein Angriff auf ihn in ſeiner Amtsverrichtung ſchwer ver-
poͤnt ſeyn muͤſſe, keine Frage; der Staat ſchuͤtzt in ihm
[253]Von den Staatsbeamten.
ſich ſelber. Aber der Staat ſehe auch wohl zu, wie er
ſich ſelber ſchuͤtze vor dem Beamten, deſſen Untreue oder
Nachlaͤſſigkeit in anvertrauten Geldern, Hypotheken und
wie vielen beſonderen Faͤllen entweder durch den Staat gut-
gemacht werden muß, oder wenn der Staat dieſe Verbind-
lichkeit von ſich abwaͤlzt und allein oder doch zunaͤchſt den
Schuldigen vorſchiebt, die wohlthaͤtigſten Staatsanſtalten
in einen Zuwachs von Laſten verwandelt. Darum bedarf
der Staat ſelber der lebendigen Controle der Beamten
durch die oͤffentliche Meinung, durch ungehinderte Beſchwer-
defuͤhrung, und wenn gleich Widerſtand gegen oͤffentliche
Beamte nie geſetzmaͤßig ſeyn darf, wie in England, ſo
iſt es von der andern Seite mit buͤrgerlicher Freiheit un-
vereinbar alle Verantwortlichkeit bloß auf die Staatsmi-
niſter zu concentriren. Das ſubalterne Werkzeug ſey un-
verantwortlich in politiſchen Dingen; bei buͤrgerlichen Ver-
brechen, in der Amtsverrichtung begangen, werden die Ge-
richte es zu finden wiſſen; allein wem ein ſelbſtaͤndiges
Gebiet bleibt, der hat freilich nicht die Befehle ſeiner
Oberen, (welche er allein auf eigene Gefahr unausgefuͤhrt
laſſen darf,) wohl aber ſein Verfahren, inſofern er ſelb-
ſtaͤndig gegen die Verfaſſung handelt, zu verantworten.
Iſt dem Staate gegeben was des Staates iſt, ſo darf
dann, außer der Klage auf Entſchaͤdigung, auch die cri-
minelle Verfolgung ihren Weg gehen und keineswegs von
einer zuvor einzuholenden Erlaubniß der hoͤchſten Behoͤrde
abhaͤngig gemacht werden.


[[254]]

Zweite Abtheilung.
Die Gebiete der Staatsverwaltung
.


I.Die Volksbildung.

Zwoͤlftes Capitel.
Von dem Rechte des Staates uͤber Erziehung
und Unterricht
.

259. Die Wirkung der Rechtsanſtalten, welche der
Staat aufſtellt, beruht auf ſeinen Bildungsanſtalten. Denn
mit dem Sollen gelingt es ſchlecht ohne die Berichtigung
des Wollens. Unſer Wille aber wird allein dadurch ver-
beſſert, daß von den im Menſchen ſtreitenden Willenskraͤf-
ten die beſſere an den beſſeren Ort geſtellt wird und da-
durch zur Herrſchaft gelangt. Dahin kommt es, wenn
ſich fruͤhzeitig die Geſinnung auf das vollkommenſte der
Weſen richtet als den Quell alles Guten und den Traͤger
jedes untergeordneten Daſeyns, wenn die Erkenntniß, im
werdenden Menſchen geweckt, der Geſinnung die Wege zur
entſprechenden That bereitet, damit dann die That end-
lich ſelber ein hoͤheres Seyn im Menſchen verkuͤnden und
in der Außenwelt huͤlfreich darſtellen koͤnne. Alle dieſe
[255]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.
Bahnen ſucht die Volksbildung zu brechen; ihr Zuſtand
giebt das Zeugniß ab fuͤr den Geiſt einer Nation. Wo
der Geiſt der Nation einen hohen Schwung nimmt, da
allein iſt oͤffentliche Meinung und dieſe iſt dann eine Macht,
ununterbrochen und mehr aus der Tiefe wirkend als alle
politiſchen Inſtitutionen.


260. Auch Thiere warten ihre Jungen, bringen ih-
nen die Tradition der Gattung bei und der Menſch als
ein Hoͤherer vermag ſie abzurichten; der Menſch allein iſt
von ſeines Gleichen erziehbar. Zu bilden iſt an dem Men-
ſchen ſo lange er lebt, nur der werdende Menſch wird er-
zogen, durch Zucht, durch Lehre, durch Übung. Die Er-
ziehung umfaßt den ganzen, auch den koͤrperlichen Men-
ſchen. “Es iſt gefaͤhrlich die Seele zu uͤben und nicht
zugleich den Leib”.


261. Wie der Staat aus der Familie entſpringt, ſo
alle Menſchenbildung aus der Ehe. Sie iſt die Bedin-
gung von Allem was ein Volk gut und groß macht. Sie
ſchafft durch Erziehung Volksbildung, durch Hauswirth-
ſchaft Volkswirthſchaft, Staatswirthſchaft. Sie iſt voͤllig
unterſchieden von der regelloſen Geſchlechtsverbindung, die
wieder mit der Vielweiberei nicht einerlei iſt; das Wort
Harem bedeutet ſchon das was abgeſchloſſen, nicht jeder-
mann zugaͤnglich iſt; die wahre Ehe aber iſt ihrer Natur
nach einfach, zwiſchen einem Manne und einer Frau
mit freier Einwilligung beider Theile geſtiftet. Durch ſie
erwaͤchſt aus dem Zuſammentritte von zwei verſchiedenen
Haͤuſern eine neue Familie; denn Heurath in naher Bluts-
freundſchaft hat auch das gegen ſich, daß ſie ein fruͤheres
Verhaͤltniß zerruͤttet, um ein neues unvollkommen zu be-
[256]Zwoͤlftes Capitel.
gruͤnden. Die Ehe iſt ſo heilig, daß es kaum ein Volk
giebt, bei dem ſich nicht um ihretwillen die buͤrgerliche
Gemeinde zugleich zur kirchlichen geſtaltete, die den hoͤhe-
ren Seegen fuͤr ſie herbeiruft. Wo keine Ehe iſt, da iſt
keine Erziehung, ſelten Unterricht. Der unehelich Gebo-
rene hat es nur der Barmherzigkeit des Chriſtlichen Le-
bens zu danken, daß er nicht gleich untergeht, ein Bach,
den ſeine Quelle verlaſſen hat. Wie der auf oͤffentliche
Koſten ernaͤhrte Arme einer Auflage gleichgeachtet wird, ſo
ſtaͤnde unverſchuldet außer dem Volk der unehelich Ge-
zeugte, weil er keine Familie hat, wenn nicht jene Milde
waͤre. Der kleine Staat, deſſen Grundgeſetz die Ehe iſt,
legt ein Verhaͤltniß von Freien zu Freien dar und doch
voller Gebundenheit; er ſpricht dem Manne die Herrſchaft
und Geſetzgebung zu, der Frau die Verwaltung, auch
an den Kindern wird geehrt was frei ſchon an ihnen iſt,
oder mit den Jahren werden wird, ſie ſind auf keiner Le-
bensſtufe bloß Sache; erwachſene Soͤhne ſind der Schutz
des Hauſes und nehmen am Vermoͤgen Theil, ſie duͤrfen
neue Familien ſtiften, wodurch Erbtheilungen entſtehen;
denn mehrere Familien koͤnnen nicht wohl im Gemeinbe-
ſitze bleiben.


262. Die Natur ſelber hat die Mutter zur Naͤhrerin
des Kindes ſchon vor der Geburt und geraume Zeit nach
der Geburt beſtellt, ihr bleibt dieſe Sorge ſo lange Naͤh-
ren und Schuͤtzen das Geſchaͤft der Erziehung umfaßt, bis
ſich auf einer hoͤheren Bildungsſtufe Erziehung und Un-
terricht unterſcheiden. Bei dem erſten Aufkeimen der Selb-
ſtaͤndigkeit aber ſcheidet ſich nun die Anſicht der Voͤlker;
Staat und Familie beginnen einen Streit um das Kind,
vor Allem wenn es ein Knabe iſt. In dieſem Zeitpunkte
[257]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.
nahmen die Spartaner den Muͤttern die Kinder und uͤber-
gaben ſie Staatserziehern und ſo zu thun empfehlen un-
verkennbar nach Doriſchem Muſter Platon und Fichte 1).
Kann nur die Rede davon ſeyn, ob die Spartaner recht
daran thaten? Das Kind, wenn uͤberhaupt der Auferzie-
hung werth geachtet, gehoͤrte nach ihrem Glauben dem
Staate zu. Nur ſechs Jahre blieben ihre Knaben in der
Finſterniß des Hauſes (σκότιοι), mit dem ſiebenten be-
gann die oͤffentliche Erziehung des Buͤrgers, von nun
an gehoͤrte er einer Schaar der Staatsjugend an, mit
dem achtzehnten Juͤngling, war er doch nicht auserzogen,
man zog ihn nur um ſo ſtrenger, er trat als dienendes
Glied zu den Syſſitien der Maͤnner, uͤbte zugleich die Re-
gel der Zucht an den juͤngeren Knaben und ſtieg ſo, Er-
zieher und erzogen, in feſten Schranken bis zum dreißig-
jaͤhrigen Mannesalter. Warum ergriff hier der Staat den
Knaben ſo fruͤh, den andere Dorer zehn Jahre laͤnger der
Familie ließen 2)? Weil der Spartaner-Stamm ſeine ganze
Kraft ununterbrochen aufbieten mußte, um ſeine Herrſchaft
gegen diejenigen zu beſchuͤtzen, „welche jeden Spartiaten gern
roh verſchlungen haͤtten“ 3), gegen den Haß von neun
Zehntheilen der Bevoͤlkerung. Darum war die Erhaltung
des Staates zunaͤchſt Zweck der Spartiaten-Ehe, die nicht
zu ſpaͤt geſchloſſen, noch weniger unterlaſſen werden, am
wenigſten aber der Fortpflanzung verfehlen durfte, ſonſt
Entfernung der Frau, wenn nicht der Ehemann vorzog
ihr einen anderen Erzeuger zu gefallen. Demſelben
Zwecke aber weiht ſich die Erziehung. Die Gegenſtaͤnde
derſelben lagen zwiſchen den beiden Polen: Reli-
gion
und Leibesuͤbung. Durch die erſtere ſollen die
Gewalten, die der Menſch in ſeiner Macht nicht hat, ge-
wonnen, geneigt erhalten werden, die Gewalten, die den
17
[258]Zwoͤlftes Capitel.
Saaten Gedeihen ſchenken oder ſie in Miswachs bringen,
die Sonne, die Elemente, auch die hoͤheren Kraͤfte, die
der Menſchen Herzen mit Hoffnung erleuchten oder ſie fin-
ſter machen, ihren Unternehmungen Gelingen oder Mis-
lingen geben; denn ſeine Beduͤrftigkeit fuͤhlt uͤberall der
Menſch. Die zweite ſoll was in des Menſchen Macht ſteht
durch dauernde Übung ſtaͤhlen fuͤr die Stunde der Gefahr
gegen aͤußere und innere Feinde. Zwiſchen beiden Gebie-
ten bewegen ſich wenige und einfache Bildungsmittel der
Seelenanlagen als Vermittler. Durch den Leib ward auch
die Seele ſtark gemacht. Jede Entbehrung, jede Unbill
der Elemente freudig erproben war Pflicht. Jagd auf Thiere,
Jagd auf Sclaven, Alles zu ſeiner Zeit, auch den eigenen
Mitbuͤrgern durch Schlauheit den Unterhalt abzujagen,
eben wie man ſich die Frau ſtahl, waren die Ziele des
Wetteifers der Jugend. Ihre mildere Freude war der Fauſt-
kampf, der Tanz zur Lyra und zur Floͤte, der Geſang zu
der Tapfern und der Goͤtter Ehren. Wenige laſen oder
uͤbten Schrift, die Geſetze lernte man fruͤhe als Denkſpruͤche
auswendig, wie wir Bibelſpruͤche, und behielt ſie in ſteter
Übung. Die Grundanſicht war, die Spartiaten ſo zu bil-
den, daß ſie die Beſten im Staate und Einer wie der An-
dere waͤren. Die uͤbrigen Einwohner, Freie und Knechte,
wollte man nutzbar, hervorragende Tuͤchtigkeit an ihnen
in Krieg und Frieden ward aus demſelben Grunde gefuͤrch-
tet, aus welchem man heutzutage in Virginien verbietet,
einen Sclaven leſen zu lehren. Aber auch den Spartanern
ſelber kam von den Erforderniſſen, welche Ariſtoteles in der
Metaphyſik als die Baſis hoͤherer Bildung aufſtellt: der herr-
ſchende Stamm ſeyn und Muße haben
, nur die er-
ſtere zu Gute. Die Arbeit fuͤr die Erhaltung ihrer Gewalt-
herrſchaft nahm ihnen die Muße, welche der Muſen Mutter iſt.


[259]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.



263. Wir haben keinen Grund es den Spartanern
und ihren Nachbildnern nachzuthun; weder die gleiche Sorge
laſtet auf uns, noch ruͤhmen wir uns des Rechtes, dem
Staate Guͤter zu opfern, die mehr werth ſind als ein
Staat, der dieſer Opfer bedarf; unſere Erziehungsmittel
ſollen das Ganze des Volks in jeder Claſſe umfaſſen. Es
giebt in unſerm beſten Staate keinen geborenen Herrſcher
außer einem, aber auch niemanden, der bloß zum Die-
nen geboren waͤre, nur die dem Boͤſen dienende Natur
kann ſich dazu herabwuͤrdigen. Jedem ſoll der Weg zu
jeder Hoͤhe bleiben, den hoͤchſten Platz ausgenommen, wo-
zu ihn Talent, Verdienſt und Gluͤck erheben wollen, denn
die Berufe werden nicht von Staatswegen angewieſen.
Gleichwohl liegt die Sache keineswegs bloß zum Nach-
theile des Alterthums; die heitre Hoͤhe der tiefſinnigen
Bildung, auf welcher ein Paar Menſchenalter hindurch das
Volk von Attika im reichſten Selbſtgefuͤhle ſtand, hat ihres
Gleichen nicht in der Menſchengeſchichte und faͤllt dennoch
nicht in unſere Bahnen, die, wir muͤſſen es nur geradezu
auf uns nehmen, weit ernſter und muͤhſeliger geworden
ſind, ſeit die Menſchheit dem Staate den Vortritt abge-
wonnen hat. Darum mußte die breite bequeme Baſis,
welche der Sclavenſtand des Alterthums dem Staatsbau
Gluͤck anſprechender Freier gab, verlaſſen werden, auch die
Leibeigenſchaft durfte nicht fortbeſtehen, und mancher Staats-
mann hat redlich daran gearbeitet den Landmann von der
Scholle zu loͤſen und den Handwerker von der geſchloſſenen
Zunft, ohne zu ahnden, daß er die Urſache von den Con-
greßreiſen ſeiner Soͤhne werde. Denn alle Staatsſachen
17*
[260]Zwoͤlftes Capitel.
ſind gerade dadurch ſo ſchwierig und vor der Hand ge-
wiſſermaaßen unabſehlig geworden. Die Macht dieſer Grund-
ſaͤtze wirkt aber, obwohl allein dem Auge des Geiſtes ſicht-
bar, ſo unwiderſtehlich, daß es lediglich darauf ankommt,
ihre Reſultate, ſo wie ſie erſcheinen, ſtufenweiſe in den
Staatsbau einzugliedern; ſie wuͤrden den Staat mit ſich
fortreißen, der mit ihnen den ungleichen Kampf des Wi-
derſtandes begoͤnne, wenn auch der Finanzminiſter nicht
einſpraͤche. Darum iſt das Oben und das Unten unſeres
Bildungsganges von dem des Alterthums unterſchieden.
Nach beiden Seiten iſt unſre Muͤhe groͤßer. Die hoͤhere
Bildung jeder Art wird auf der muͤhſeligen Bahn ſehr ver-
zweigter Studien erworben und die unteren Claſſen ſind
an harte Arbeit des Tagelohns und Handwerks gebunden,
welche der freie Grieche und Roͤmer in Sclaven-Haͤnde legte.


264. Am auffallendſten iſt an unſerm Bildungswege
die Nothwendigkeit vieler Sprachen, beſonders der todten.
Sogar die Religion iſt aus Buͤchern in zwei fremden
Sprachen zu erlernen; eben ſo unſere Jurisprudenz. Es
iſt kaum zu ſagen, wie weit das fuͤhrt in der Muͤhe und
in ihrem Lohne. Der Knabe bekommt an der Schale der
alten Sprache nagend, die erſte Ahndung vom Suͤndenfalle
und daneben hat Karl V. doch darin Recht, daß der Menſch
ſo viele Seelen hat als er Sprachen verſteht, was wieder
freilich ſeine doppelte Seite hat. Die Sprache iſt das Or-
gan des Denkens, es denkt ſich nicht ohne ſie, geſchweige
denn daß ſich die Theilung der Arbeit verſuchen laſſe, ver-
moͤge welcher man Gedanken giebt und wieder empfaͤngt.
Eine Sprache aus dem Grunde lernen heißt denken lernen;
die Naturgeſchichte mehrerer Sprachen vergleichen koͤnnen,
lehrt von dem Innern der Voͤlker verſtehen was in keiner
[261]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.
politiſchen Geſchichte ſteht. Die Aufgaben des Scharf-
ſinnes in dem Kunſtgewebe einer Sprache, die ausge-
ſprochen hat, ſind unendlich, und der jugendlichen Faſ-
ſungskraft eben ſo ſehr als der maͤnnlichſten Tiefe zuſagend.
Dann der Inhalt der alten Schriften, die ſich dem Sinne
nahen durch gewinnende Einfalt in aller ihrer Vollendung
und zugleich dem Vorwitze des Urtheils ſich entziehen durch
die Scheidewand, welche zwiſchen unſerm Daſeyn und
dem ihren ſteht.


Das Alles nun iſt wahr, aber wahr iſt auch, daß dieſe
vielen Canaͤle des Wiſſens, von aller Welt Enden herge-
leitet, unſer Grundſtuͤck ſo durchfurchen, daß der feſtere
Schritt und das gediegene Weſen leicht auf dieſem zer-
ſtuͤckelten Boden Schaden nimmt. Die Kluft zwiſchen
Wiſſen und Koͤnnen, Kraft des Verſtandes und Kraft des
Charakters, iſt ungeheuer groß geworden. Die am mei-
ſten von Tapferkeit leſen und lehren, ſind ſie tapfer? brin-
gen ſie wirklich dem Vaterlande Opfer? Iſt nicht die Mehr-
zahl der Wiſſenden mit ihrem Wiſſen mehr aͤußerlich be-
haͤngt als davon durchdrungen, gehemmt dadurch in ihrer
Bewegung, ſtatt daß der Wiederſchein der edelſten Be-
ſchaͤftigungen ſich in jeder That des wahrhaft Wiſſenden
abſpiegeln ſollte? Wiſſen wir wirklich fuͤr uns ſelber, oder
nicht bei weitem mehr fuͤr Andere? Und was kann man
am Ende fuͤr Andere wiſſen? Alles bloß aufgenommene
Wiſſen iſt krank und macht Kranke. Wo iſt darum Siech-
thum mehr zu Hauſe als bei den Gelehrten? Wo fehlt haͤufi-
ger jenes kraͤftige Gleichgewicht der geiſtigen und koͤrperlichen
Thaͤtigkeiten, das den gelungenen Menſchen bezeichnet?


265. Niemand hat dieſes tiefe Leiden der heutigen
Menſchheit ſchmerzlicher im Gemuͤthe empfunden und
[262]Zwoͤlftes Capitel.
ergreifender dargeſtellt als Rouſſeau in ſeinem Emil, jene
Unnatur von Anfang her, jenes Leben fuͤr Andere, nicht
um ihnen zu nutzen, ſondern ſie zu benutzen, ihnen zu ge-
fallen, wozu das Leben von Paris ſo unzaͤhlige Bilder
darbot, das eitle und doch ſo ſchwere Geſchaͤft der Ver-
gnuͤgungen und Alles das um die einfache Wahrheit, das
Ziel des menſchlichen Lebens zu verlernen. Alle dieſe
Verderbniſſe mißt Rouſſeau der Cultur, der buͤrgerlichen
Geſellſchaft und ihren Wiſſenſchaften bei, indeß kann er
auch den Naturſtand nicht billigen, denn fuͤr dieſen bleiben
ihm nur rohe Inſtincte und koͤrperliche Beduͤrfniſſe uͤbrig.
Darum ſchafft er ſich einen gewiſſen Mittelzuſtand, in dem
Familie und Vaterland ſchon iſt, aber noch nicht was ſich
Alles weiter bei uns daran knuͤpft und findet dieſen nahe
am Naturſtande im Leben der Wilden, uͤberſpringt dabei
ohne Muͤhe die Inconſequenz, die einen Anfang der Bil-
dung gutheißt, aber nicht ihren Fortgang, ſtatt das Ver-
trauen zu faſſen, daß dieſelbe geheimnißvoll durchdringende
Kraft der buͤrgerlichen Geſellſchaft, die allein die Tugen-
den der Menſchen entfaltet, auch durch die Wege und Irr-
wege der Bildung den Ruͤckweg zur Natur finden und
den Kreis gluͤcklich vollenden werde. Seiner phantaſtiſchen
Waͤrme des Herzens fehlte die ſittliche Tiefe und jene von
keinem Dogmenſtreite abhaͤngige Religioſitaͤt, mit welcher
ſich der Einzelne den Bahnen anzuſchließen hat, welche mit
hellen Zuͤgen dem ganzen Geſchlechte vorgeſchrieben ſind.
Wie ein an ſich widerſinniger Zuſtand dennoch, weil er
einmahl da iſt, leidlich einzurichten ſey, entſchloß ſich
Rouſſeau nachher im Contrat social zu ſchildern.


Allen Glanz, alle Tiefe und alle Schiefe dieſer verfuͤhreriſchen Dar-
ſtellung zeigen gleich die Anfangsworte des Emil. Tout est bien,
sortant des mains de l’Auteur des choses: tout dégenère entre
[263]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.
les mains de l’homme. Il force une terre à nourrir les pro-
ductions d’une autre, un arbre à porter les fruits d’un autre:
il mêle et confonds les climats, les élémens, les saisons: il
mutile son chien, son cheval, son esclave: il bouleverse tout,
il défigure tout: il aime la difformité, les monstres: il ne
veut rien, tel que l’a fait la nature, pas même l’homme: il le
faut dresser pour lui, comme un cheval de manège; il le faut
contourner à sa mode, comme un arbre de son jardin.
Sans cela, tout iroit plus mal encore, et notre espèce ne
veut pas être façonnée à demi. Dans l’état où sont désormais
les choses, un homme abandonné dès sa naissance à [...]i-même
parmi les autres, seroit le plus défiguré de tous. Les préjugés,
l’autorité, la nécessité, l’exemple, toutes les institutions socia-
les dans lesquelles nous nous trouvons submergés, étoufferoient
en lui la nature et ne mettroient rien à la place. Elle y seroit
comme un arbrisseau que le hasard fait naître au milieu d’un
chemin, et que les passans font bientôt périr en le heurtant de
toute part et le pliant dans tous les sens.


266. Im Emil liegt ein Stoff zu nicht leicht zu been-
digendem Nachdenken. Leider aber werden die Äußerlich-
keiten einer außerordentlichen Erſcheinung am leichteſten
ergriffen und auf den Markt des Lebens gebracht. In
Deutſchland ſchloß ſich an Rouſſeau eine ganze Schaar
von Reformatoren an, die die Kinder Natur lehren wollten
ſtatt der alten Sprachen und die Alten ein Kindiſchwerden
mit den Kindern; als wurzelte nicht in der Kindes-
natur dicht neben dem Gefuͤhle eigener Huͤlfsbeduͤrftigkeit
die tiefe Achtung vor Allem was hoͤher ſteht, die man nur
nicht ausreuten darf um ihrer ſicher zu ſeyn! als laͤge
nicht daher viel naͤher der Gedanke, ein gutes Kinderbuch
muͤſſe ſtatt den Kindern nachzukriechen, neben dem Ver-
ſtaͤndlichen einen ſtachelnden Zuſatz von noch nicht verſtaͤnd-
lichen Dingen enthalten! Die Campianer und Trappiſten
[264]Zwoͤlftes Capitel.
hatten einigermaaßen recht in dem was ſie verneinten, allein
um ſo mehr Unrecht in dem was ſie bejahten. Sie er-
kannten das Unnuͤtze in der gewoͤhnlichen Weiſe des alten
Sprachunterrichts, warfen ſich aber nun bloß auf die Nuͤtz-
lichkeit, welche, einſeitig erſtrebt, alle hoͤhere Bildung aus-
ſchließt 1). Platte Misgriffe dieſer Art verſchwinden frei-
lich bei einem Volke von wiſſenſchaftlichem Capital, aber
Irrſaͤtze wie die Rouſſeauſchen leben immer wieder auf,
weil ſie aus einer Unſitte im Gemuͤth hervorgehen und
jede beliebige Anwendung im Leben geſtatten. Sie ſchmei-
cheln dem innern Stolze, ſtempeln jeden, der ſich zu ihnen
bekennt, zu einem Genie, das, von ſeinem Zeitalter un-
gehalten, ſich ſelber Geſetze giebt, zwar die Staatsordnun-
gen nothduͤrftig befolgt, um der oͤffentlichen Ahndung zu
entgehen, auch ein oͤffentliches Amt verwaltet, inſofern es
deſſen nicht entrathen kann, aber Alles wie unter der
Wuͤrde des Mannes von wahrhafter Freiheit. Maͤnner der
Art duͤnken ſich nicht dem einzelnen Staate, ſondern der
Welt, der Menſchheit zu leben. Aus derſelben Quelle fließt
auch auf dem Boden der Wiſſenſchaftlichen jenes oft ſo ſtolze
Überheben uͤber den Staat und den Bedarf deſſelben. Man
vernimmt zu Zeiten von einer Rechtsgelehrſamkeit, welche,
ſich ſelber Zweck, viel zu gut ſey fuͤr die Rechtsanwen-
dung, von einer Gegenwart, viel zu ſchlecht um verſtan-
den zu werden, von einer Hiſtorie, viel zu vornehm um
bis auf den heutigen Tag zu gehn. Vergeblich raͤth ſol-
chen Stimmungen der Dichter, das was in ſchwankender
Erſcheinung lebt durch dauernde Gedanken zu befeſtigen.
Thucydides ſtellte was ihn ſchmerzte uͤber Reue und Klage
hinaus in ſeiner Geſchichte auf; denn die Geſchichte iſt
immer groß, mag ihr naͤchſtes Ziel Untergang oder Auf-
gang ſeyn.


[265]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.

267. Wenn die Quelle eines Irrthums hiſtoriſch nach-
weiſen und ihn rechtfertigen einerlei waͤre, ſo genuͤgte es
freilich anzufuͤhren, daß ſolche Richtungen ſich uͤberall zei-
gen, ſobald die Wiſſenſchaften ſich entwickeln, uͤber den
Bereich eines Staats hinauszugehen anfangen, und es nun
offenbar wird, daß auf dieſem Felde Vertraͤge mit Aus-
waͤrtigen geſchloſſen werden, die des Siegelbewahrers nicht
beduͤrfen, daß hier eine Theilung der Geiſtesarbeit ſtatt-
findet, die nicht einmahl der Krieg unterbricht. Das war
es im Grunde, warum ſchon die Sokratiker ſchlechte Buͤr-
ger heißen mußten, und als nun vollends ein Glaube
uͤber den ganzen Welttheil ging, ein und daſſelbe Haupt
des Glaubens jedweden Staat geiſtlichen Ordnungen unter-
warf, die in das feinſte Geaͤder des Lebens drangen, da
konnte es Einem der das Alles vom Standpunkte der
Geiſtlichkeit betrachtete, leicht beduͤnken, daß wohl am Ende
der gemeinſame Kirchenſtaat der allein wahre ſey, beſtimmt
die aus dem Heidenthum uͤberlieferten weltlichen Staaten
allmaͤhlig in ſich aufzunehmen. Dennoch war das Taͤu-
ſchung und der Beweis des Gegentheils ward langſam
aber gruͤndlicher als durch den weltlichen Arm auf unſchein-
barem Pfade gefuͤhrt. In kloͤſterlicher Stille entwickelte
ſich im Schooße der Geiſtlichkeit ſelber ein Schulſtand, trat
dann freier heraus wo in Dom- und Collegiatſtiften Geiſt-
liche zum kanoniſchen Leben vereinigt wohnten; nicht bloß
kuͤnftige Geiſtliche zu bilden, auch die weltliche Jugend zu
unterrichten ward der Zweck. Von da war noch ein wei-
ter Weg bis zur Selbſtaͤndigkeit. Aber auch die Zeit der
Univerſitaͤten kam und wie dieſe reif da ſtanden, erkannte
die Kirche ihren vorigen Pflegling, den demuͤthigen Schul-
[266]Zwoͤlftes Capitel.
meiſter, gar nicht mehr. Die Wiſſenſchaft hat zwiſchen
Staat und Kirche eine entſchiedene Stellung eingenommen;
ſie zu uͤberſehen iſt unmoͤglich, allein ſie darf um ihres
Heiles willen auch nicht uͤberſehen. Dieſe Zeit traͤgt eine
ſchwere Laſt mit ſich, aber der Unbedeutendheit darf nie-
mand ſie anklagen. Außerdem muß man den Boden ſtam-
pfen, auf dem man ſteht.


268. Fichte hat in ſeiner Art energiſch den Verſuch
gemacht dieſe vom oͤffentlichen Leben mit ſtolzer Schwaͤche
abgewandte Geſinnung auf einen Streich todtzuſchlagen.
Wie er fruͤher in ſeinem Naturrechte einen ſchwer loͤsbaren
Knoten mit dem Satze zerhieb, es ſey gar nicht moͤglich,
daß ein Volk rebellire, die hoͤchſte Gewalt gegen ſich ſel-
ber, ſo nachher, da es galt ein unterjochtes Vaterland zu
retten, aus Verzweiflung an den Eltern, die er vor Au-
gen ſah, nahm er den Eltern die Kinder, ſtellte ſie in ein
oͤffentliches Erziehungsinſtitut, hier ſollen ſie in die Welt
der Anſchauung eintreten, der Staat ſoll ſelber ihr Erzie-
her ſeyn. Allein der Staat, der die Älteren, in ſofern ſie
Eltern ſind, vom Erziehungsamte abweiſt, bedarf der aͤl-
teren Menſchen doch wieder als Erzieher, gruͤndet alſo auf
einem Umwege doch gerade auf dem verderbten Theile des
Gemeinweſens ſeinen Rettungsplan. Hier iſt alſo kein Ge-
winn, um ſo ſicherer der Verluſt. Wo die wohlthaͤtige
Waͤrme der Familie waltet, da erzieht der Hausvater, der
dem aͤußern Leben vielleicht nur die gehaͤßige Seite zeigte,
uneigennuͤtzig den Sohn, der ein beſſerer ſeyn ſoll als er
ſelber, denn an dieſem Bande der Natur ſcheitert alle ſelbſt-
ſuͤchtige Berechnung. Kein Staat hat je, ohne Schaden
am beſten Theile ſeines Volks zu nehmen, ſich die Kinder
zugeeignet, um nach ſeinem Gefallen ſie zu bilden, fuͤr
[267]Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.
Staatszwecke ohne Ruͤckſicht auf die Selbſtbeſtimmung durch
Anlage und Wahl; uns aber verbietet vollends beſſere
Einſicht die Seelenverkaͤuferei an den Staat. Schutz und
Wartung des menſchlichen Sproͤßlings gehoͤren der Familie
an, vornehmlich ihrem weiblichen Theile, deſſen geſellſchaft-
liche Beſtimmung ganz in der Familie enthalten iſt; denn
die Jungfrau verlaͤßt dieſen Kreis nur um nicht von ihm
verlaſſen zu werden und indem ſie einen anderen begruͤndet.
Auch auf der ſpaͤteren Bildungsſtufe, wo ſich Erziehung
und Unterricht unterſcheiden, bleibt der Theil der Erziehung,
welcher vom Unterrichte getrennt werden kann, in der Hand
der Familie; den die Bildungsanſtalten, welche Erziehung
und Unterricht zugleich umfaſſen, ſind, wie viel auch ihre
freier experimentirende Thaͤtigkeit der Erziehungswiſſenſchaft
nuͤtze, doch nur da am Orte, wo die Familie fehlt, zer-
ruͤttet, oder von den Mitteln der Bildung verlaſſen iſt.
Der Unterricht geht zwar uͤber die Familie hinaus, und
bedarf je mehr Bildung er bezweckt, um ſo mehr des Ge-
meinweſens; jedoch wieder nicht ſo, daß die Regierung ſich
des zu unterrichtenden bemaͤchtige. Sie wird oͤffentliche
Unterrichtsanſtalten bilden und ſie anbieten, ohne den Pri-
vatunterricht anders als dadurch zu beeintraͤchtigen, daß die
Regierungsanſtalten die vollkommneren ſind. Ihrem ober-
aufſehenden Charakter gemaͤß hat ſie das geſammte Unter-
richtsweſen im Auge, ſchreibt die Faͤcher des oͤffentlichen
Unterrichts vor, aber nicht die Wahrheiten des Faches, ge-
ſtattet auch nicht daß die Kinder durch Fahrlaͤßigkeit der
Eltern nichts von dem erfahren, woruͤber der Menſch nur
zum Schaden ſeines Heiles unwiſſend iſt. Endlich pruͤft
der Staat jedweden, bevor er ihn zum Lehren zulaͤßt.


[268]Dreizehntes Capitel.

Dreizehntes Capitel.
Vom Unterrichte der Unerwachſenen, oder vom
Schulweſen
.

269. Reich kann ein Menſch den andern unbedingt
machen, aber nur bedingt ihn bilden. Das Maas der Bil-
dung wird vom Lebensalter, der Anlage und der Lebens-
lage vorgeſchrieben. Man moͤchte jeden Zoͤgling lehren was
gerade fuͤr ihn wiſſenswuͤrdig iſt, denn jedes Blatt am
Baume der Menſchheit hat ſeinen eigenthuͤmlichen Zu-
ſchnitt; weil aber eine Unterrichtsanſtalt ſich Vielen zugleich
widmen ſoll, ſo geſchieht was thunlich iſt, wenn ſie ſich in
Claſſen theilt. Das Übrige leiſtet die allgemeine Claſſifi-
cation der Unterrichtsanſtalten, welche gelehrte und Buͤr-
ger-Schulen unterſcheidet. Sie nehmen das ganze Schul-
alter des Staats, das will ſagen mindeſtens den ſiebten
Theil der Bevoͤlkerung auf, enthalten mithin auch den
Elementarunterricht. Begreifen alle Schulen den Knaben
unbequem unter der allgemeinen Bildungs-Regel, der Staat
wird es kuͤnftig noch unſanfter thun; die Erziehung aber,
welche ihm ungebeten ſeine Mitſchuͤler ertheilen, weckt die
jugendliche Tuͤchtigkeit durch Widerſtand und Wetteifer, daß
ſie ſich Platz machen lerne im Gedraͤnge der Mitwelt, waͤh-
rend ſie ihm keine haͤusliche Verzaͤrtelung, keinen Unter-
ſchied der Geburt und der Gluͤcksguͤter zu Gute haͤlt.


270. Die Aufgabe der gelehrten Schulen iſt nicht, Ge-
lehrte zu bilden, wohl aber durch Kenntniſſe, gelehrt ge-
nug um auf den Grund der menſchlichen Bildung zu drin-
gen, Richtung und Mittel an die Hand zu geben, ſey’s
fuͤr den kuͤnftigen Gelehrten, ſey’s zu den gelehrte Vorbil-
[269]V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.
dung erfordernden oͤffentlichen Geſchaͤften. Der Unterricht
in gelehrten Schulen iſt ſeinem Weſen nach welthiſtoriſch,
er pfluͤckt vom Baume der Erkenntniß, der durch die
Pflege aller Voͤlker aller Zeiten gewachſen iſt. Die Un-
terweiſung in den Buͤrgerſchulen hat eine ſtatiſtiſch-na-
tionale Grundlage, ſie hat zunaͤchſt das Vaterland, zunaͤchſt
den Bedarf des Augenblicks im Auge. Daraus erwaͤchſt
ein Unterſchied in den Gegenſtaͤnden, mehr noch in der
Behandlung des Unterrichts, und abermahls ein Unter-
ſchied im Kreiſe der hoͤhern und niedern Buͤrgerſchule.
Aber noch viel weniger fehlt es an dem was der ganzen
Staatsjugend gemeinſames Beduͤrfniß iſt, denn die taͤg-
liche Übung zum Gehorſam und die Bildung einer Ge-
ſinnung ſind uͤberall die Hauptſache, und es ſind ja auch
die von Alters her anerkannten Baſen des Unterrichts:
Sprache und Mathematik, allen Unterrichtsanſtalten
gemeinſam. Fuͤr das fruͤheſte Schulalter exiſtiren vollends
die Unterſchiede zwiſchen gelehrter und hoͤherer Buͤrger-
Schule nicht und es iſt ſogar buͤrgerlich nuͤtzlich, daß beide
einfach ohne Überhebung des einen Theils zuſammenfallen,
ſo lange es darauf ankommt die Mutterſprache zum Ge-
genſtande des Unterrichts zu machen, daß ſie recht geſpro-
chen, geleſen und geſchrieben werde, damit ſich dieſes Organ
des Gedankens und der Darſtellung ſo von Anfang her
berichtige, ſtatt von Anfang her, wie es meiſt der Fall noch
iſt, ein verpfuſchtes Werkzeug zu ſeyn und ein Hinderniß
fuͤr die Darſtellung des inneren Menſchen und jedes ge-
faͤlligere Bezeigen. Bewegt ſich nun die Sprache man-
nigfach im Reiche der Natur und der Geſchichte, ſo ſam-
melt ſich hier fruͤhzeitig eine ſchoͤne Reihe nuͤtzlicher Kennt-
niſſe, welchen die Kunde des naͤchſten Vaterlandes An-
ſchaulichkeit zu geben vermag, Ordnung aber giebt ihnen
[270]Dreizehntes Capitel.
die Zahl, welche die Mathematik in der Rechnenkunſt hin-
zubringt. Kaͤmen auch ſchon hier die Anfangsgruͤnde einer
zweiten Sprache hinzu, welche naͤchſt der Mutterſprache am
unmittelbarſten auf unſere Gegenwart und die meiſten le-
benden Sprachen eingewirkt hat, der Roͤmiſchen, ſo waͤre
auch das kein Verluſt fuͤr den kuͤnftigen Geſchaͤftsmann,
denn die Elemente dieſer Weltſprache der Gelehrten leiten
ihn gruͤndlich in das Verſtaͤndniß ſeiner Weltſprache ein,
welches zur Zeit die Franzoͤſiſche iſt. So wie die Bil-
dungsſtufen aber ſteigen, mithin in den hoͤheren Claſſen,
trennen ſich die Buͤrgerſchule und die gelehrte Schule.
Dieſe nimmt mehr alte Sprachen auf, der Lateiniſchen
giebt die Griechiſche einen tieferen Grund und gewaͤhrt
fuͤr groͤßere Anſtrengung den Lohn anſprechenderer Bil-
dungsmittel, man dringt tiefer in die Schatzkammer der
alten Literatur, vornehmlich durch Huͤlfe der Geſchichte,
welche das rechte Gebiet auch iſt fuͤr die vielſeitige Übung des
Gedaͤchtniſſes zur Zeit ſeiner groͤßeſten Empfaͤnglichkeit;
jene nimmt mehr neuere Sprachen, mehr Sachkenntniſſe
aus Natur und Leben und neuere Geſchichte auf; in der
vaterlaͤndiſchen Geſchichte, welches fuͤr die Deutſchen die
Geſchichte des geſammten Deutſchlands iſt und bleibt,
begegnen ſich beide. Aber ebenfalls in der Mathematik iſt
das der Fall, welche in jeder Unterrichts-Claſſe ſich fort-
bildet und erweitert und eben darum in der hoͤchſten
Claſſe der gelehrten Schule das zu leiſten vermag, was
manche durch Einfuͤhrung der Philoſophie oder ihrer Ge-
ſchichte in die Schulen zu leiſten trachten. Denn wie
koͤnnte die Schule, welche der Regel, nicht der Ausnahme
zu folgen hat, hoͤher hinauf, als daß ſie den philoſophi-
ſchen Sinn entwickele? Das nun aber thut im hohen
Grade die Mathematik. Sie geht als reine Vernunftwiſſen-
[271]V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.
ſchaft von der einfachſten Erkenntniß aus, knuͤpft an ſie
durch eine niemahls abbrechende Kette von Schlußfolgen,
die keine Luͤcke des Fleißes duldet, neue eben ſo gewiſſe
Kenntniſſe an; ſie durchdringt den Schuͤler mit dem Ge-
fuͤhle der vollkommenſten Evidenz, mit dem tiefſten Glau-
ben daran, daß es Wahrheit giebt, unumſtoͤßliche; zu-
gleich aber entwickelt ſie in ihm die eben ſo nothwendige
Erkenntniß, daß nicht alle Wahrheit mathematiſch ſey,
wenn er nehmlich die bloß formalen Groͤßen verlaſſend, von
der Arithmetik und Algebra aus zur angewandten Mathe-
matik uͤbergeht, wo denn ſeine mathematiſche Formel man-
nigfach modificirt wird durch die hier und dort abweichen-
den Naturthaͤtigkeiten. Dergeſtalt verbindet ſich die Ma-
thematik, die in ihrer Wurzel bloß formale, auf die ein-
fachſte Weiſe mit den materiellen Bildungselementen, durch
die Naturwiſſenſchaften, gleichwie die [Sprachkunde] durch
das Studium der Alten mit der Geſchichte; und in dieſem
Sinne iſt die Koͤniglich Preußiſche Inſtruction fuͤr die
Gymnaſien der Rhein-Provinzen vom 18. Sept. 1814
mit großer Einſicht abgefaßt.


Bernhardi, Anſichten uͤber die Organiſation der gelehrten Schu-
len. Jena 1818. Abh. IV.
Das 1834 zu Berlin erſchienene
“Reglement fuͤr die Pruͤfung der zu den Univerſitaͤten uͤbergehen-
den Schuͤler” nennt indeß unter den Pruͤfungsgegenſtaͤnden auch
philoſophiſche Propaͤdeutik.


271. Aus den Schulen ſind die Univerſitaͤten durch
Abſonderung hervorgegangen; dadurch aber haben die Schu-
len nicht das Recht erworben ſich zu Univerſitaͤten zu er-
weitern, oder ſich auch nur in den Beſitz einzelner Uni-
verſitaͤtsgebiete zu ſetzen. Zwitteranſtalten dieſer Art uͤber-
ſpringen was ſie leiſten koͤnnen, (und ein gelehrter Schul-
ſtand wie der Deutſche vermag viel) um zu verſuchen was
[272]Dreizehntes Capitel.
nie gelingt. Auch der Verſuch die Methode der Univerſi-
taͤt in der Schule nachzubilden, iſt eitel. Es pflegt in die
auf Profeſſoren-Weiſe lehrenden Schullehrer ein umſtaͤnd-
lich-vornehmer Styl uͤberzugehen, dem Unterrichte keines-
wegs erſprießlich. Die einzige Sorge geht dahin, im wiſ-
ſenſchaftlichen Zuſammenhange zu lehren und etwa Hefte
ſchreiben zu laſſen, das verdienſtlichſte Bemuͤhen aber ſtets
nachzufragen, ob auch die Lehre haftet, die laſſe Aufmerk-
ſamkeit immer wieder zu erwecken, wird hintangeſetzt. Eben
ſo nachtheilig aber iſt die Einwirkung auf die Disciplin.
Das gebundene Verhaͤltniß, welches dem Schulalter ziemt,
iſt auch ohne ſolche Vermiſchung ganz verſchiedenartiger
Betriebe, gefaͤhrdet genug in einer Zeit, in welcher wenige
zu befehlen wiſſen und faſt niemand gehorchen mag. Ehe-
dem uͤbergaben die Eltern den Lehrern die volle vaͤterliche
Gewalt waͤhrend der Dauer der Schulſtunden; manche
Leidenſchaft konnte da vorfallen, allein der Sinn war rich-
tig und dem noͤthigen Anſehn der Lehrer angemeſſen. Auch
jetzt geſtattet man den Eltern keine Einmiſchung, aber
man will durch oͤffentliche Inſtructionen (die magna charta
der Schuͤler) und Schulcollegien zuſehen, daß gerecht ge-
ſtraft werde, und zu dem Ende wird nicht nur durch weit-
laͤuftige Cenſurprotocolle, die ſich mit Unarten und Ver-
ſaͤumniſſen fuͤllen, eine Art von Annaliſtik der Ungezogen-
heit gegruͤndet, die gute Zeit den Lehrern entwandt, ſon-
dern was bei weitem ſchlimmer, ihr Anſehn bei Hauptfaͤl-
len durch ein faſt gerichtliches Verfahren gefaͤhrdet. Zuͤch-
tigung durch den Pedellen oder Carcer iſt die Folge, wobei
ſchon der Aufſchub der Strafe ſchaͤdlich wirkt, die Strafe
aber jugendlichen Fehlern das Anſehn von Verbrechen giebt.
Aber auch Freiſprechung kann die Folge ſeyn, und ſo hat
der Lehrer dem Schuͤler als Parthey gegenuͤber geſtanden
[273]V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.
und hat ſeine Sache verloren. Eine ſtarke disci-
plinariſche Gewalt muß in den Haͤnden der Lehrer ruhen.
Die in Eton-School verbrauchten Birken-Waͤlder (auf
welche Burke mit der Hand hinzeigte, als ihn Madame
de Genlis um das paͤdagogiſche Princip der Englaͤnder
fragte), denen ſelbſt der ſchon erwachſene Fox nicht entge-
hen konnte, ſind fruchtbringender geweſen als unſere Schul-
ordnungen, die den Schuͤlern ſagen, wann ſie den Schlaͤ-
gen entwachſen ſind und die Lehrer unter die Aufſicht der
Schuͤler ſtellen. Muͤſſen denn die Geſetze immer nur dann
kommen, wenn ſie nicht mehr noͤthig ſind? Gegen Schul-
tyrannen hatte in Deutſchland die oͤffentliche Meinung
laͤngſt entſchieden, litt ſie nirgend mehr, als eine verweich-
lichte Schulgeſetzgebung der leeren Furcht vor ihnen die
Disciplin zum Opfer brachte. Nichts muß in dieſer Hinſicht
ſo vorliegen, daß es ein Recht des Schuͤlers werden
koͤnnte, Alles der Anordnung der Obern und der ſtillen
Übereinkunft der Lehrer uͤberlaſſen bleiben. Durchaus kein
Contract mit den ausgeſetzten Theilen des Koͤrpers, keine
Aſſecuranz irgend einer Art.


272. Wie weit man mit der Bildung der unteren
Claſſen der Bevoͤlkerung gehen duͤrfe? Die Beantwortung
dieſer Frage haͤngt weit weniger von der Anlage, die kei-
nem Volke fehlt, von dem Begehren nach Bildung, das
ſich wecken laͤßt, als von dem Bildungsvermoͤgen ab. Das
Angebot der Bildung ſoll ſtattfinden, Bibel und Kate-
chismus dringen ſich dem Proteſtanten auf, und ſo wenig
der Vater jetzt ſein Kind toͤdten darf wie in den alten Roͤ-
mertagen, ſo wenig darf die Gleichguͤltigkeit und der Ei-
gennutz der Ältern ſeinen Geiſt abtoͤdten; der Staat hat
ein Einſehn darin. Die Reformation iſt die Mutter der
18
[274]Dreizehntes Capitel.
leſenden und ſchreibenden Voͤlker, den Beweis giebt Schott-
land, wo ihr Geiſt das ganze Volk durchdrang, ein un-
ſaͤgliches Gruͤbeln und Streiten uͤber Dogmen weckte und
Buch und Feder in jede Huͤtte brachte. Nicht ſo in England,
noch weniger natuͤrlich in Irland. Man koͤnnte in jedes Ir-
laͤndiſche Dorf ein Schulhaus ſtellen, einen Schullehrer hin-
ein, ohne die Volksbildung einen Schritt weiter zu brin-
gen; warum? weil das Bildungsvermoͤgen fehlt. Die
aͤußeren Anſtalten ohne dieſes ſind nicht mehr als die De-
corationen von Doͤrfern und Heerden, mit denen Kaiſe-
rin Katharina bei ihrer erſten Reiſe in die Krimm geblen-
det ward. Der Zuſtand des niedern Landmanns, des
Lohnarbeiters muß ihm erlauben von der Erde aufzuſehen,
die heranwachſenden Kinder eine Weile zu entbehren, die
Urſachen und die Stuͤtzen ſeines arbeitvollen Elends. Denn
wer beſtaͤndig fuͤr den Bedarf zu trachten hat, der betrach-
tet die Friſtung des ſinnlichen Daſeyns als des Lebens
Ziel; ohne die aufloͤſende Wohlthat der Nacht waͤre er gei-
ſtig ganz dahin. Man kann die Arbeit eines zu reizbaren
Gehirns durch koͤrperliche Arbeit maͤßigen, Grillen weg-
ſpaziren, allein eben ſo gewiß nimmt das Übermaas der
Koͤrperarbeit dem Geiſte die Schwingen, bringt Raͤuber-
oder Sclaven-Naturen hervor und die Irrlehre von billig
erblicher Knechtſchaft. Immer aber behaͤlt fuͤr den Haus-
ſtand des Armen jede geraubte Arbeitsſtunde großen Werth;
ihm darf nur maͤßige Zeit durch vorgeſchriebenen Unter-
richt der Seinen entwandt werden. Darum verdienſtlich
das Bemuͤhen in kurzer Zeit viel zu leiſten, wie der wech-
ſelſeitige Unterricht verſpricht, welchen der Schotte Andreas
Bell bei den Hindus fand und den Ruſſiſche Reiſende
ſpaͤter auch in Tibet entdeckt haben. Dergeſtalt hat er den
Beweis ſeiner Ausfuͤhrbarkeit ſchon mit ſich gebracht, da-
[275]V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.
zu Zeiterſparung, Wohlfeilheit, und Manchem empfiehlt
ſich vielleicht auch die ihm eigene ſoldatiſche Subordina-
tion. Wirklich ſcheint dieſe Methode Empfehlung in den
Landen zu verdienen, wo fuͤr Elementarſchulen wenig ge-
than iſt wie in einem großen Theile von Großbritannien,
von Frankreich1) und beſonders in Rußland und dem fruͤher
Spaniſchen America, weil es gut iſt daß leſen, ſchreiben,
rechnen verbreitet werde da wohin es ſonſt nicht kaͤme.
Wo auf Maſſen mit wenigen Mitteln in der kuͤrzeſten Zeit
gewirkt werden ſoll, da iſt Mechanik die einzige Methode.
Allein wenn man fruͤher die ſpielenden Unterrichtsmethoden
zu bekaͤmpfen hatte, ſo bekaͤmpfe man jetzt mit allem Ernſte
die mechaniſchen, moͤgen ſie Jacotot, Hamilton oder Bell-
Lancaſter heißen; denn zweckwidriger koͤnnte wohl nichts
ſeyn als was wir doch erlebt haben, die Zerruͤttung eines
verſtaͤndig geordneten, nur zu koſtſpieligen Land-Schul-
weſens, um mit neuen Koſten dieſe ſummende, ſchnurrende
Wechſelſeitigkeit einzufuͤhren. Der wahre Menſchenfreund
wird mit dem Unterrichte auch der unterſten Volksclaſſen
nicht bloß den naͤchſten praktiſchen Nutzen erzielen, ſondern
erhoͤhte Geiſtesthaͤtigkeit und dadurch Sitte. Nur einer
beguͤnſtigten Minderzahl im Volke iſt es vergoͤnnt ſich mit
freierer Muße der Arbeit hoͤherer Bildung zu widmen. Wo
nun die Muße ſich von freien Stuͤcken Gedanken-Arbeit
ſchafft, wo nothwendige Arbeitſamkeit ſich ſtaͤrker anſpannt,
um einige Mußeſtunden zu gebildetem Genuſſe zu gewin-
nen, da hat Jugendbildung gewaltet. Keine Tugend wird
in genieſuͤchtiger Zeit mehr verkannt und modiſcher her-
abgewuͤrdigt als jene edle Beharrlichkeit, welche die Mut-
ter freier Arbeitſamkeit iſt. Newton ward gefragt, wo-
durch er die Geſetze der Natur gefunden? Er antwortete:
durch große Arbeit und Geduld. Buffon definirt ſogar
18*
[276]Dreizehntes Capitel.
das Genie als eine natuͤrliche Anlage zur Ausdauer (l’ap-
titude à la patience
). Der Menſch allein verſteht fuͤr
Jahre und fuͤr die Ewigkeit zu arbeiten; Ernſt und Muͤhe
befruchten ſelbſt das geringere Talent, bringen einigen
urbaren Boden auf ſtarre Felſenhaͤupter. Arbeit, die
am ernſten Zwecke haftet, begruͤndet den ſittlichen Charak-
ter, durch das Sustine das Abstine, Kraft fuͤr das Va-
terland und einen Sinn daruͤber hinaus fuͤr die Menſchheit.



[277]Vom Univerſitaͤtsweſen.

Vierzehntes Capitel.
Von der hoͤchſten Bildungsanſtalt fuͤr Erwachſene,
die noch nicht Staatsbuͤrger ſind, oder vom
Univerſitaͤtsweſen
.

273. Man kann den Pythagoras im Kreiſe ſeiner
Juͤnglinge die aͤlteſte Univerſitaͤt nennen, von ihm an gab
es nur Special-Schulen der Philoſophen und Redner bis
auf Ariſtoteles. Vor dieſem gewaltigen Manne thaten ſich
Speculation, Natur und Geſchichte gleichmaͤßig auf; der
Grund tieferer Sprachkunde lag freilich außer der Sphaͤre
des Alterthums. Allein wie Ariſtoteles im Lyceum Athens
zweimahl jedes Tages, Morgens und Abends, vor jetzt
mehr als 2,100 Jahren lehrte, in gleich lebendigem Zu-
ſammenhange des Ganzen und harmoniſcher Entwickelung
der einzelnen derzeit ſelbſtaͤndigen Wiſſenſchaften, ſo mag
wohl auf keiner unſerer Univerſitaͤten gelehrt worden ſeyn.
Seine Schuͤler waren dem Schulalter entwachſen. Wiſſen-
ſchaft aber, ihrem ausgebildeten Umfange nach dem maͤnn-
lichen Lebensalter vorgetragen, iſt das Unterſcheidende des
Univerſitaͤts-Unterrichts. Das neuere Univerſitaͤtsweſen iſt
ebenfalls von einzelnen hervorragenden Maͤnnern ausgegan-
gen, aber ſolchen, die ein einzelnes Fach anbauten. Den
Gerbert allenfalls moͤchte man eine wandernde Univerſitaͤt
nennen, aber ſeine Hoͤhe wird denn doch zu vielfach von
den Wipfeln der großen Alten uͤberragt und er belehrte
nur die Jugend einzelner Fuͤrſtenſoͤhne, in Hugo Capets
und der Ottonen Hauſe. Aber die Verweltlichung des
Wiſſens ſteckte ſchon in ſeinem Thun. Klarer ward es,
daß die Geiſtlichkeit den Alleinbeſitz der Wiſſenſchaft ver-
lieren werde, als ein getaufter Jude Conſtantin der Kar-
[278]Vierzehntes Capitel.
thager, kein Ariſtoteles, (der unter Andern auch den Ele-
phanten ſecirte, welchen die Kriegszuͤge ſeines Zoͤglings
ihm zufuͤhrten), ſondern der Mann eines einzelnen Faches,
die Medicin fuͤr ſich herausriß, welche bis dahin ebenfalls
von der Geiſtlichkeit mit Reliquien und Beſchwoͤrungen
und Receptbuͤchern beſtritten ward, und der Welt zeigte,
daß ſeine weitlaͤuftigen Reiſen in Aſien und Ägypten ihn
weiter gebracht haben. Man nennt ihn als den Anlaß zur
mediciniſchen Schule von Salern.


274. Manch Menſchenalter aber verging, ehe aus
ſolchem Betriebe vereinzelter Zweige des Wiſſens der voll-
ſtaͤndige Koͤrper der Wiſſenſchaft auf dem Wege allmaͤhli-
ger Verbindung ihrer Gliedmaaßen hervortrat. Denn Kai-
ſer Friedrich II, hier wie in Vielem das Maaß der Zeit
uͤberſpringend, ging uͤber die gelehrten Mittel ſeiner Tage
hinaus, als er auf die hohe Schule von Neapel Lehrer fuͤr
alle Wiſſenſchaften berief; und als es daran laͤngſt nicht
mehr gebrach, hat nicht die Pariſer Univerſitaͤt gleichwohl
viertehalb Jahrhunderte lang das Roͤmiſche Recht nicht
lehren duͤrfen, oder nur verſtohlen gelehrt1)? Nachdem man
aber den nothwendigen Zuſammenhang des menſchlichen
Wiſſens verſtanden und erfahren hatte, was der Geſammt-
betrieb an demſelben Orte bedeute, ließ ſich die Nothwen-
digkeit der Theilung der Arbeit um ſo weniger uͤberſehen,
je erſichtlicher mit jedem Tage der Apparat des Wiſſens
zunahm. Unmoͤglich, daß wie vormahls der Geiſtliche auch
den Civiliſten mache, ohne ſeinen Beruf zu verfehlen. Wenn
zufaͤllige Umſtaͤnde den Sieg der Facultaͤts-Verfaſſung
uͤber die nach Nationen und Provinzen hervorriefen, es
war nichts deſto weniger ein Sieg der Wiſſenſchaft.



275. Um die Mitte des funfzehnten Jahrhunderts be-
ginnen unſere vaterlaͤndiſchen Univerſitaͤten einen eigenthuͤm-
lichen Charakter zu entwickeln. Die Druckerkunſt faͤngt an,
und die Reformation vollendet. Zwar kann man auch das
ſchon eigenthuͤmlich heißen, daß in dem politiſch zerſtuͤckelten
Deutſchland von Anfang her mindere Unterſtuͤtzung, aber
mehr Freiheit der Studirenden ſtattfand. Keine Spur frei-
lich von jener ſtolzen Autonomie der Bologneſer Rechts-
ſchule, wo die Lehrer unter der Gerichtsbarkeit ihrer Schuͤ-
ler ſtanden, nur daß allenfalls auch einen Profeſſor die
Wahl zum Rector durch der Schuͤler Stimmen treffen
konnte; die Zeiten waren uͤberhaupt nicht mehr, da Maͤn-
ner von vorgeruͤcktem Alter und hoͤchſtem Range von allen
Enden herbeiſtroͤmten, um Schuͤler der Roͤmiſchen Rechts-
weisheit zu werden. Das Deutſche Univerſitaͤtsweſen hatte
die Pariſer hohe theologiſche Schule zum Vorbilde; hier
galt der Grundſatz geiſtlicher Disciplin von Anfang her
und die großen Unterſtuͤtzungen, welche die aͤrmeren, in
weitlaͤuftigen Gebaͤuden zuſammenwohnenden Studirenden
genoſſen, ſtellten gerade dieſe Collegien, mit aller der Auf-
ſicht uͤber Leben und Studium, die an ihnen haftete, in
den Mittelpunkt der Pariſer Univerſitaͤt. Wer nicht in
einem Collegium lebte, unterſtuͤzt oder in den Mitgenuß
der Stiftung eingekauft, gehoͤrte nicht zur eigentlichen
Univerſitaͤt, er lebte in communi. In Deutſchland nun
war die Unterſtuͤtzung geringer und ſchwieriger zu er-
langen; aber die bursae der Deutſchen waren dafuͤr
meiſt freie Penſionsanſtalten, die ihre Mitglieder ge-
gen Zahlung aufnahmen. Man waͤhlte ſeine Vortraͤge
[280]Vierzehntes Capitel.
ſo frei als die perſoͤnliche Autoritaͤt der Lehrer, die gebun-
dene Art der Lehre, die Nothwendigkeit ſich im Disputiren
kunſtgerecht zu zeigen, es geſtattete. Der Muth zu freiem
Vollbringen wuchs, als ſeit der Eroberung von Conſtan-
tinopel jene unverſiegbare Quelle der Griechiſchen Bildung
ſich fuͤr die Deutſchen urſpruͤnglicher aufthat, als Androni-
kus Kontoblakas in Baſel Griechiſch lehrte und Reuchlin
auf dem in Paris gelegten Grund nun hier und in Tuͤ-
bingen weiter bauen konnte. Er brachte ſeinen Verwand-
ten Philipp Melanchthon als Lehrer der Griechiſchen und
Hebraͤiſchen Sprache nach Wittenberg. Seit ſo der Kreis
der Wiſſenſchaft ſich erweiterte, das Älteſte zum Neueſten
ward, die Hoͤrſaͤle der Scholaſtiker verlaſſener daſtanden,
war es beſonders wichtig, was nun die Druckerkunſt hin-
zutretend vollbrachte. Die endloſen Dictate hoͤrten auf
nothwendig zu ſeyn, ſeit man der Bibel, der Roͤmiſchen
Geſetzbuͤcher wohlfeilen Kaufs habhaft werden konnte und
nun der Text-Dictate mindeſtens nicht bedurfte; auch die
Jahre lange, manchmahl bandwurmartige Dauer einer Vor-
leſung hoͤrte auf, man las doch nur zwei Jahre an den
Inſtitutionen, kam auf ein Jahr, und als Goͤttingen ge-
gruͤndet ward, lautete nach dem neuen Muſter der Saͤch-
ſiſchen Univerſitaͤten die Vorſchrift dahin, jeden Lehrgegen-
ſtand ſo viel moͤglich in einem Semeſter abzuthun1). Das
Wichtigſte aber hat die Reformation gethan; ſie vermehrte
die politiſche Entzweiung unſeres Vaterlandes, allein ſie
gab den Deutſchen eine allgemeine Buͤcherſprache und
brachte die geiſtige Waͤrme dieſer Mutterſprache auf die von
Alters her Lateiniſch lehrenden Katheder. Die Univerſitaͤ-
ten hatten es um ſie verdient. Die Reformation erwuchs,
im Schooße einer Univerſitaͤt genaͤhrt, in wenig Jahren
zur Mannes-Reife; die Schweitzeriſche Lehre gedieh nicht
[281]Vom Univerſitaͤtsweſen.
fruͤher, als bis ſie ihre Univerſitaͤt, Genf, gefunden hatte.
Dem neuerwachten Leben des Geiſtes ſchloſſen ſich alle
gluͤcklichen Talente an; wie oͤde ward es da, wo man es
ausſchloß! Es gehoͤrt eine ſeltene Geiſteskraft und Reinheit
dazu, ſich uͤber widerwaͤrtige hiſtoriſche Erinnerungen bis
zur Unpartheilichkeit zu erheben, aber gluͤcklicher Weiſe auch
die ſeltenſte Verblendung, um erhebender zu vergeſſen.
Preußen iſt durch die Reformation Alles geworden was es
iſt; Öſterreich waͤre durch ſie zu verſchiedenen Mahlen bei-
nahe untergegangen. Wie man aber uͤber die Reformation
denkt, ſo denkt man uͤber die Univerſitaͤten, die den Geiſt
der Reformation in ſich aufgenommen haben.



[283]Vom Univerſitaͤtsweſen.

276. Die Reformation ging in der Fortbildung der
hohen Schulen ihren ſicheren Weg, aber nicht ſo raſch als
man gewoͤhnlich annimmt. Gar manche alte Gewohnheit
blieb haͤngen. Erſt Chriſtian Thomaſius verdraͤngte die
Lateiniſche Sprache vollends von den Kathedern und es
brauchte Zeit ehe die große Umgeſtaltung der Kirchengeſchichte,
mit ruͤckwirkender Kraft vollfuͤhrt, aber durch wie unchriſt-
liche Leidenſchaften verſpaͤtet! bis zur politiſchen Darſtel-
lung durchdrang. Die erſte Stelle im kirchlichen Staate
nahm jetzt der proteſtantiſche Landesfuͤrſt ein, allein dieſer
Zuwachs fuͤrſtlicher Macht kuͤndete fuͤr die Univerſitaͤten eine
große Umgeſtaltung mehr in der Ferne an als daß ſie
ſchon in Erfuͤllung getreten waͤre. Die theologiſche Facul-
taͤt bleibt nach wie vor die Grundlage der Deutſchen Uni-
verſitaͤten, ſie uͤbt eine Art von Aufſichtsrecht uͤber das
Ganze. Die Profeſſoren aller Facultaͤten wurden in Helm-
ſtaͤdt auf die proteſtantiſchen Bekenntnißſchriften, auch auf
die Concordienformel vereidigt; hiezu kam, damit es an
einer Norm der Lehre nirgend fehle, die beſondere Ver-
pflichtung der Mediciner auf Hippokrates, Galenus und
Avicenna als goͤttliche Lehrer, der Philoſophen auf Ariſto-
teles und Melanchthon. Das Vier-Monarchien-Syſtem
des Magiſters Carion, auf Melanchthons Autoritaͤt geſtuͤtzt,
ließ nicht ab von der Univerſalhiſtorie, und wie eiferſuͤchtig
ward der Kampf gegen die wachſende Macht der Humani-
ſten gefuͤhrt, die doch in alle Wege in den Bahnen der
Reformation lag! Was eben Ambos war, wird Hammer.
Wollte man doch im proteſtantiſchen Tuͤbingen lange Zeit
den Profeſſoren der Philoſophie die Ehe verbieten!


Die Corporationsrechte blieben ſtark, nur daß der
Landesherr, indem er ſich ſelbſt als Rector aufſtellte, eine
entſchiedene Stellung nahm. Die Univerſitaͤt hatte bloß
[284]Vierzehntes Capitel.
den Vice-Rector (Prorector) zu waͤhlen, der nach der
Ordnung der Facultaͤten gewaͤhlt ward, außer wo, wie in
Tuͤbingen, die philoſophiſche Facultaͤt noch in tiefer Her-
abwuͤrdigung unter den andern ſtand. Der Senat uͤbte
bei Vacanzen das Recht der Vocation, aber der Landes-
fuͤrſt als Rector confirmirte, hatte alſo ein Veto bei der
nicht auf Lebenszeit, ſondern nach gewiſſen Pruͤfungen auf
Aufkuͤndigung oder etwa auf zehn Jahre gegebenen Anſtel-
lung. Das Recht der Vocation pflanzte in jeder Univer-
ſitaͤt einen gewiſſen unveraͤnderlichen Typus fort, ge-
woͤhnlich zugleich einen polemiſchen Gegenſatz gegen
eine oder die andere Univerſitaͤt; die Lehrer fuͤr ſich und
wieder Lehrer und Schuͤler bilden ein Ganzes des Glau-
bens und der Überzeugung. An Erſchuͤtterungen freilich
fehlte es auch nicht, wenn etwa ein calviniſtiſch geſinnter
Fuͤrſt an die Stelle eines Fuͤrſten der Concordienformel trat.
Das Recht der Landſtandſchaft der Corporationen ging aus
ihrem großen Grundbeſitze, nicht aus Wuͤrdigung ihrer
Intelligenz hervor. Dieſer Grundbeſitz knuͤpfte mannig-
fache Verwaltungsſorgen an die uͤbrigen Pflichten der aka-
demiſchen Behoͤrden.


Die Lage der Studirenden wuͤrde man heutiges Tages
nicht beneidenswerth finden. Zwar keine einengende Col-
legien-Ordnung im Franzoͤſiſchen und Engliſchen Sinne,
jedem Studirenden blieb die freie Wahl ſeiner Wohnung,
und wenn Viele in Privat-Convictorien lebten, welche
einzelne Profeſſoren hielten, und ſomit unter deren ent-
ſchiedener Aufſicht ſtanden, ſo ging das aus freier Wahl
hervor; aber haͤufige Pruͤfungen in den Vorleſungen fan-
den ſtatt, daneben die Disputatorien, derzeit als unerlaͤß-
licher noch als die Duelle betrachtet, die noch immer geringe
Zahl der Buͤcher, ſo Vieles, wozu der Lehrer allein den
[285]Vom Univerſitaͤtsweſen.
Schluͤſſel hatte; Alles das zuſammengenommen begruͤndete
eine große Abhaͤngigkeit der Studirenden, welche durch die
ſtrengen Verpflichtungen der Promovirten, ſogar uͤber die
Univerſitaͤt hinausging.


277. Die heutige Form des Deutſchen proteſtantiſchen
Univerſitaͤtslebens iſt nicht aͤlter als das achtzehnte Jahr-
hundert. Das lehrt vielleicht am klarſten eine Vergleichung
der beiden Univerſitaͤten der Braunſchweigiſchen Lande:
Helmſtaͤdt’s, 1574-76 gegruͤndet1), und durch den Re-
ceß von 1635 gemeinſchaftliche Landesuniverſitaͤt des Braun-
ſchweigiſchen Geſammthauſes, und der Univerſitaͤt Goͤttin-
gen, nach deren Eroͤffnung im Jahre 1737 der Gruͤnder
Koͤnig Georg II. auf die mannigfache Zuſchuͤſſe erfordernde
Mit-Direction der Helmſtaͤdter Univerſitaͤt verzichtete (1745),
die dann waͤhrend des Weſtphaͤliſchen Zwiſchenreiches 1809
vollends aufgehoben ward. Auf Helmſtaͤdt paßt Alles,
was bisher von den proteſtantiſchen Univerſitaͤten Deutſch-
lands bemerkt iſt, aber durchaus nicht auf Goͤttingen. Die
Stiftung und Entwickelung der Goͤttinger Univerſitaͤt faͤllt
in eine Zeit der uͤberall in Deutſchland geſteigerten lan-
desfuͤrſtlichen Macht, des ſinkenden Einfluſſes der Kirche
in die Staatsverhaͤltniſſe, des von der theologiſchen Auf-
ſicht befreiten Studiums der Alten, der wachſenden Ab-
neigung gegen Alles was ſich als Zunft gegen den ſchon
nach Einheit bewußter ſtrebenden Staat abſchließt. Schon
die Univerſitaͤt Halle war im Sinne einer Oppoſition ge-
gen Öſterreich, daneben der Duldung unter Lutheranern
und Reformirten gegruͤndet. In Goͤttingen ſollte ſich das
Beduͤrfniß befriedigen im proteſtantiſchen Deutſchland Lehr-
ſtuͤhle des deutſchen Staatsrechts zu beſitzen, wo dieſes
dem Religionsfrieden und dem Weſtphaͤliſchen gemaͤß ge-
[286]Vierzehntes Capitel.
lehrt wuͤrde, die Territorial-Hoheit ſtuͤtzte, den Kaiſer auf
wenige Reſervatrechte beſchraͤnkte. Die Univerſitaͤt ward
ohne Grundbeſitz auf Geldeinkuͤnften gegruͤndet, von wel-
chen die Landſchaften einen Theil jaͤhrlich beitrugen, bei
weitem der groͤßte Theil aber aus der ſogenannten Calen-
bergiſchen Kloſtercaſſe floß, welche aus den Einkuͤnften
der aufgehobenen Kloͤſter in dieſer Provinz entſtanden iſt,
die der Landesherr, laut Übereinkunft mit den Staͤnden,
nicht zu ſeinen Kammer-Revenuͤen zu ziehen, ſondern fuͤr
das Unterrichtsweſen und milde Zwecke zu verwenden hat.
Weil nicht grundbeſitzend, vielmehr uͤberhaupt ohne Ver-
moͤgen, war auch von keiner Landſtandſchaft der Univerſi-
taͤt die Rede; ſie iſt ihr erſt geworden, ſeit es ein Koͤnig-
reich Hannover mit einer allgemeinen Staͤndeverſammlung
giebt, und durch das Staatsgrundgeſetz neuerdings aner-
kannt. Die Univerſitaͤt, Prorector und Senat an der
Spitze, theilte ſich nach alter Ordnung in vier Facultaͤten,
welche academiſche Wuͤrden ertheilen, aber das Recht der
Vocation, welches die Univerſitaͤten aͤlterer Stiftung theils
uneingeſchraͤnkt, theils in Beziehung auf die Profeſſuren
der aͤlteſten Fundation beſaßen, nicht beſitzen. Der Lan-
desherr uͤbt dasſelbe durch ein Curatorium aus. Hiemit
war die Zunft aufgeloͤſt, da ſie keine Meiſterrechte mehr
ertheilen durfte, ganz gewiß mit triftigem Grunde, und
Goͤttingen hat ſich deſſen zu erfreuen gehabt, allein immer
doch auch hier zum Beweiſe, daß die Macht der alten Cor-
porationen nicht vor einem ploͤtzlichen Neuerungstriebe, ſeys
der Regierungen, ſeys der Unterthanen, ſondern vor den
veraͤnderten Beduͤrfniſſen und unter Vorgang der Regie-
rungen ſelber geſunken iſt. Auch erhielt die neue Univer-
ſitaͤt uͤberhaupt keine unveraͤnderliche Statuten. Goͤttingen
hat das Seine gethan, die vaterlaͤndiſchen Univerſitaͤten in
[287]Vom Univerſitaͤtsweſen.
Staatsanſtalten zu verwandeln, und wir nennen das kei-
nen Ruͤckſchritt. Denn die Lehre war freier als leicht
irgendwo wo Facultaͤten das Regiment fuͤhrten. Die Stu-
direnden auch genoſſen von Anfang her voͤlliger Freiheit, im
Wohnen nicht minder als in der Wahl ihrer Lehrer und
Vorleſungen. Die Vorſchriften uͤber Examinatorien, Dis-
putatorien veralteten bald; der Sinn des Zeitalters ſtand
entgegen.



278. Die Gefahren, welchen das Deutſche Univerſi-
taͤtsweſen neuerdings ausgeſetzt iſt, haben zum Theil in
der allgemeinen Lage unſeres Vaterlandes ihren Grund,
zum Theil ſind ſie ſelbſtverſchuldet. Öſterreich hat ſich dem
Proteſtantismus, mithin dem Geiſte des proteſtantiſchen
Univerſitaͤtsweſens, welches dieſe Richtung concentrirt, nie
befreunden koͤnnen. Dieſer Staat ſchreibt ſeinen Uni-
verſitaͤten einen ſtrengen Studien-Plan vor, beaufſichtigt
in Schulart den Fleiß, und der durch Vorſchrift geregelte
Vortrag pflegt beſtaͤndig mit Einzel-Pruͤfungen abzuwech-
ſeln; man lehrt im Ganzen Kenntniſſe, nicht Wiſſenſchaften.
Öſterreich ſieht auf ſeinem Standpunkte Gefahr in Allem
was daruͤber hinaus liegt und bedient ſich ſeines maͤchtigen
Einfluſſes, welchem kein corpus evangelicorum, keine itio
in partes
laͤnger im Wege ſteht, um die Thaͤtigkeit der
Deutſchen hohen Schulen auf gleichmaͤßig vorgeſteckte
Graͤnzen zuruͤckzufuͤhren. Dieſe Anſicht hat dadurch vielen
Eingang auch bei einigen anderen Deutſchen Regierungen
gefunden, daß die Deutſche Univerſitaͤtsjugend, von ihren
Studien durch eine ſchwere Zeit zur Mannesarbeit abge-
rufen, und derzeit in manchen heimlichen Verkehr zum
[288]Vierzehntes Capitel.
Sturze der Unterdruͤckung eingeweiht, nachdem ſie zur
Rettung des Vaterlandes an ihrem Theile redlich beigetra-
gen, nicht hinlaͤnglich hat einſehen wollen, daß dieſer Zu-
ſtand ein außerordentlicher geweſen ſey und daß, ſtatt den-
ſelben widernatuͤrlich feſtzuhalten, ſie vielmehr eilen muͤſſe
zu jener gluͤcklichen geſchuͤtzten Lage zuruͤckzukehren, welche
die Sorgfalt der Vorfahren ihr milde bereitet hat; eine
Lage, in welcher der Staat ſie freiſpricht von allen An-
forderungen und nichts deſto weniger mannigfach mit den
groͤßeſten Vortheilen und Rechtswohlthaten ausſtattet. Viele
haben das verkannt, nicht wenige in Verhoͤhnung der ge-
ſellſchaftlichen Schranken ihr Wiſſen und ihr Leben durch
vermeſſene Anſchlaͤge zu Grunde gerichtet, auch einzelne
Lehrer haben, einer gefaͤhrlich unbeſtimmten Anſicht folgend,
einen Irrthum geſchuͤrt, der hin und wieder zur Flamme
ausgebrochen iſt.


279. Will man ſich die Frage beantworten, ob unge-
achtet jener Gefahren das Univerſitaͤtsweſen in ſeiner freie-
ren durch den Proteſtantismus begruͤndeten Form (denn
an dem Namen Univerſitaͤt liegt nichts) feſtzuhalten ſey, ſo
muß man von der Frage anfangen, ob man den Fortbe-
trieb der Wiſſenſchaften wolle. Kann man dieſen nicht
wollen? oder richtiger, kann man ihn verhindern? Eines
kann man. Man kann die Wiſſenſchaften von den Univer-
ſitaͤten vertreiben, indem man ſie auf die Fortpflanzung
uͤberlieferter Kenntniſſe beſchraͤnkt. Es geht durchaus nicht
uͤber die Macht des Staates, die bisherigen Sitze freier
Bildung in haͤmmernde Werkſtaͤtten zu verwandeln; allein
der den Wiſſenſchaften zugedachte Schlag wuͤrde weniger
ſie, die ſich auch aufs Wandern verſtehen, als die Staats-
jugend treffen. Es geht durchaus nicht uͤber die Macht
[289]Vom Univerſitaͤtsweſen.
des Staates, dieſe zu ſolchen Univerſitaͤten zwangsmaͤßig an-
zuhalten, allein er hat die Macht nicht, der Verachtung
zu wehren, mit welcher ſie Staatsanſtalten betrachten wird,
die das Zeugniß der auf ein beſſeres Ziel geſtellten Schu-
len und der geſammten Deutſchen Literatur gegen ſich
haben, von denen ſich mit Entruͤſtung die oͤffentliche Mei-
nung abwendet. Denn an den Stellen, wohin ſonſt ein
edler Ehrgeiz die Beſtgebildeten fuͤhrte, werden dann Hand-
langer ſtehen, und man wird es dann recht am hellen Tage
erkennen, wie deren Geſchaͤft ſtille ſteht, ſobald die Wiſſen-
ſchaftlichen, die vom Lehren ausgeſchloſſen ſind, nicht den
Anſtoß mehr geben; denn ja auch jene Lehr- und Hand-
buͤcher, die jetzt nach Vieler Meinung die Univerſitaͤten
uͤberfluͤſſig machen, ſind ja allein dadurch entſtanden, daß
es Maͤnner gab, welche durch die taͤgliche Erfahrung inne
wurden, wohin das Beduͤrfniß der ſtudirenden Jugend ſich
richte, und nur unter denſelben Bedingungen koͤnnen ſie
ſich verjuͤngen. Man haͤtte fuͤr viele Muͤhe eine verpfuſchte
Staatsjugend und eine noch ſtoͤrrigere gewonnen. Es iſt
nicht anders, man muß die Wohlthaten der Wiſſen-
ſchaft mit ihren Gefahren uͤbernehmen, ſie iſt der Speer,
der zu verwunden aber auch zu heilen weiß. Ja dieſel-
ben Haͤnde, die unſere Univerſitaͤten niedergeriſſen haͤtten,
dieſelben Augen, welche mit froher Überraſchung die Bib-
liotheken ihnen nachſtuͤrzen ſahen, wie wuͤrden ſie ſich re-
gen um ihre Truͤmmer zu ſammeln zum ſchleunigen Wie-
deraufbau, ſobald ſie der Polytechniker inne geworden
waͤren, die ſie ſich erzogen haben! Wer Wind ſaͤet, wird
Sturm erndten.


280. Die deutſchen Univerſitaͤten koͤnnen unter ſehr
verſchiedenen Formen fortbeſtehen, aber nicht ohne ihr ent-
19
[290]Vierzehntes Capitel.
wickeltes Weſen. Dieſes beruht auf der Lehrfreiheit, auf
dieſer ſo langſam gewonnenen, nicht wieder in einen Spe-
cialbetrieb aufzuloͤſenden, Vereinigung der Wiſſenſchafts-
lehre, ferner auf der ſteten Verjuͤngung, die der Wetteifer
aller hohen Schulen hervorruft, indem jedwede der geſamm-
ten Staatsjugend des Deutſchen Vaterlandes offenſteht.
Sie beruht zum Theil auch auf der Erhaltung der alten
gluͤcklichen Mannigfaltigkeit der Univerſitaͤts-Locale, theils
in großen, theils in Mittel- und kleinen Staͤdten.


281. Die Lehrfreiheit begreift ein Zwiefaches: fuͤr den
Lehrer das Recht innerhalb der Graͤnze ſeines Lehrberufs
zu lehren, was ihm wahr und gut duͤnkt; denn die wiſ-
ſenſchaftlichen Wahrheiten ſind keine Gegenſtaͤnde der Ge-
ſetzgebung: fuͤr die Studirenden die Freiheit der Auswahl
der Vorleſungen nach eigener oder entlehnter Anſicht und
nicht minder die Auswahl der Lehrer. Beide Befugniſſe
zwar koͤnnen gemisbraucht werden. Der Lehrer kann leh-
ren was zu leicht wiegt auf der Waage der Wiſſenſchaften,
indem er ſtatt einen wiſſenſchaftlichen, in den Grundbe-
griffen zuſammenhaͤngenden Vortrag zu geben, ſich einer
loſen, bloß aͤußerlich verbundenen Reflexion vertraut; er
kann lehren was beziehungsweiſe uͤberfluͤſſig iſt, indem er
nicht beruͤckſichtigt was gegenwaͤrtig aus dem reichen Vor-
rathe an Buͤchern ergaͤnzt werden kann und ſoll, und ſel-
ber Buͤcher giebt, der Form und der Stoffhaltigkeit nach,
Vorraͤthe aufſpeichert fuͤr den etwanigen kuͤnftigen Ge-
brauch, die aber fuͤr jetzt den Geiſt uͤberſchuͤtten und ihm
den Glauben nehmen an den jeder Wiſſenſchaft einwohnen-
den Grundgedanken. Er kann auch wieder zu eng begraͤnzt
lehren, ſowohl was die Wiſſenſchaft angeht, indem er nur
Lieblingstheile entwickelt, um das Ganze unbekuͤmmert
[291]Vom Univerſitaͤtsweſen.
als auch was die Zuhoͤrer angeht, indem er ſich den aus-
erleſenſten Kreis denkt von werdenden, wo nicht gar ſchon
fertigen Gelehrten, die Bahn der Univerſitaͤt mit der einer
Geſellſchaft der Wiſſenſchaften verwechſelnd. Der Lehrer
kann endlich auch Irrthum lehren ſtatt der Wahrheit, Lei-
denſchaft ſtatt der Beſonnenheit, eine Freiheit die keinen
Gehorſam kennt; er kann ſtatt die Irrthuͤmer ſeiner Zu-
hoͤrer zu bekaͤmpfen, ſich ihnen dienſtbar machen, in alle
Wege nur nach Beifall luͤſtern. Gegen dieſe Gefahren
ſteht der Regierung dreierlei zur Seite: 1) die hinlaͤngliche
Kenntniß der Lehrer von dem Bildungs-Stadium her,
welches ſie als noch nicht angeſtellte Lehrer in unbeſchraͤnk-
tem Wetteifer mit den ſchon angeſtellten gemacht haben
(denn die Wurzel der Univerſitaͤt graͤbt ab, wer die Pri-
vat-Docenten hinwegnimmt und an die ungeuͤbte Lehr-
kraft von Beamten ꝛc. verweiſt), nicht minder aus ihren
ſchriftſtelleriſchen Leiſtungen. 2) Die Bekaͤmpfung jeder
Irrlehre auf ihrem eigenen Felde durch das Aufbieten der
Kraft gegen die Kraft. Wenn die Regierung jede falſche
Richtung durch Verſtaͤrkung der Kraft der wahren Rich-
tung bekaͤmpft 1), ſo huldigt ſie der Wahrheit und zwingt
den Irrthum ſelber ihr zu dienen. 3) Gegen Lehrer, die
das Geſetz verletzen, wendet ſie die Kraft der Strafge-
ſetze an.



Der Studirende kann ſeinen Antheil an der Lehrfreiheit
misbrauchen, indem er die Wahl der Vortraͤge ohne Regel
trifft und ſie dann wahrſcheinlich eben ſo regellos wieder
fallen laͤßt, indem er die allgemeinen Vorſtudien verab-
ſaͤumt und ſtatt an der Schwelle der Univerſitaͤt ſich von
der philoſophiſchen Facultaͤt empfangen zu laſſen und den
19*
[292]Vierzehntes Capitel.
Grund der Sprache und des Zeitenwechſels tiefere Bedeu-
tung zu erforſchen und den Werth wiſſenſchaftlicher Gedan-
kenbildung kennen zu lernen, unvorbereitet hineinſchwaͤrmt
in den Tempel der Wiſſenſchaft, den er wie eine Speiſe-
kammer zu benutzen denkt. Juͤnglinge dieſes Schlages ſind
es gewoͤhnlich, welche die ausſchweifendſten Forderungen
an das machen, was ſie den Vortrag des lehrers nennen.
Wo die Vorkenntniſſe fehlen, mit welchen das Schulalter
fuͤr die Wiſſenſchaft ausſtatten muß, da iſt kein Vortrag
gut, und der Univerſitaͤtslehrer, welcher den Verſuch machen
wollte, die Luͤcken der Schulkenntniſſe hintennach auszufuͤl-
len, wuͤrde ein unſeeliges Mittelding darſtellen. Sonſt iſt
jeder Vortrag gut, der die Wiſſenſchaft, welche er ankuͤn-
digt, wirklich enthaͤlt und begruͤndet, vorzuͤglich wenn er
die tieferen Aufgaben gleichſam mit der Wurzel bis zur
Faßlichkeit hervorzuheben und von fremdartiger Verhuͤllung
zu entkleiden weiß, der beſte freilich derjenige, welcher in
dem Augenblicke der Mittheilung die Wiſſenſchaft gewiſſer-
maaßen neu geboren werden laͤßt. Denn dieſer verbindet
mit ſeinem Gehalte den Vorzug der augenblicklichen Aufre-
gung; er iſt nicht bloß das was man ſchwarz auf weiß
beſitzt und getroſt nach Hauſe traͤgt, ein Gut auf Hoff-
nung, er verbuͤrgt ſich ſelber, indem er das was er ver-
ſpricht, Augenblicks auch leiſtet. Die Regierung hat es
uͤbrigens in ihrer Macht groͤberen Maͤngeln der Vorbildung
durch Maturitaͤtspruͤfungen, welche jeder, der Staatsdienſte
beabſichtigt, beſtehen oder nachhohlen muß, vorzubeugen;
nur daß dieſe mehr vom Tact der Pruͤfer als durch aͤußere
Vorſchrift geleitet werden muͤſſen; außerdem ſtellt ſie die
Staatspruͤfung als Waͤchter zwiſchen der Univerſitaͤt und
der oͤffentlichen Thaͤtigkeit auf.


Der Errichtung von Special-Schulen ſtatt der Uni-
[293]Vom Univerſitaͤtsweſen.
verſitaͤten ſteht außer dem wiſſenſchaftlichen Grunde, der
es jeder vereinzelten Facultaͤt unmoͤglich macht das zu lei-
ſten was ſie im Ganzen wirkend vermoͤchte, auch der wirth-
ſchaftliche entgegen. Eine philoſophiſche Facultaͤt wuͤrde
jedenfalls angehaͤngt werden muͤſſen, eine Bibliothek, nicht
bloß fuͤr das eine Fach errichtet, duͤrfte nicht fehlen. Man
haͤtte ungeheure Opfer gebracht, um eine fehlerhafte Ein-
richtung zu begruͤnden, welche keine der politiſchen Sorg-
lichkeiten vermindert.


Die Freiheit der Unterthanen auswaͤrtige Univerſitaͤten
zu beſuchen (jedermann weiß aus ſeiner Bildungsgeſchichte,
was ſie ihm bedeutet) iſt in den Hannoverſchen Landen
ungeachtet aller Vorliebe fuͤr Goͤttingen nie beſchraͤnkt wor-
den. Koͤnig Friedrich Wilhelm I. von Preußen verbot ſei-
nen Theologen in Wittenberg zu ſtudiren, weil dort ſchaͤrfer
gegen die Reformirten gelehrt wurde. Im Jahre 1808 aber
(σωφϱονεῖν ὑπὸ στένει) ward verfuͤgt, es ſolle fortan nie-
mand mehr der Erlaubniß fuͤr den Beſuch auswaͤr-
tiger Univerſitaͤten beduͤrfen, und auf den Rath tiefblicken-
der Maͤnner, welche wußten woher fuͤr Deutſche Wunden
Heilung komme, gruͤndete man bald darauf die Berliner
Univerſitaͤt. Neuerdings iſt man zu der vorigen Beſchraͤn-
kung zuruͤckgekehrt und Erlaubniſſe werden nur als ſeltene
Ausnahme ertheilt, aus nicht hinlaͤnglich verſtaͤndlichem
Grunde. Denn die Annahme, daß die Staatsjugend vor
den Gefahren unpreußiſcher Wiſſenſchaft bewahrt werden
muͤſſe, hat ſich irrig bewieſen, ſeit die zunehmende Menge
der Verhaftungen Preußiſcher Studirenden zeigt, wie taͤu-
ſchend auch in der Politik der Lieblingsglaube der Vaͤter
ſey, daß ihre Kinder ihre Unarten von fremden Kindern
gelernt haben. Auch iſt uͤberhaupt nicht anzunehmen, daß
die Politik von der alten Erfahrung, daß das Wiſſen
[294]Vierzehntes Capitel.
richtiger leite als die Unwiſſenheit, eine Ausnahme
mache.


Johann David Michaelis in ſ. Raͤſonnement uͤber die proteſtan-
tiſchen Univerſitaͤten in Deutſchland 4 Thle. Frkft. 1768 ff. be-
kennt ſich zu dieſer Meinung (I, 83.): “Ob die Politik auf Uni-
verſitaͤten dem Nahmen nach und pedantiſch, oder gut getrieben
werde, das ruͤhrt das Wohl desjenigen Staates nur mittel-
maͤßig, in welchem bloß der Geheimde-Rath, der durch mehrere
Stufen und lange Erfahrung gebildet wird, die Regeln der Po-
litik verſtehen und zum Beſten des Landes anwenden ſoll”.
Dieſe Worte wurden ungefaͤhr zu derſelben Zeit geſchrieben, da
einer der ehrenwertheſten Deutſchen Maͤnner, der juͤngere Mo-
ſer
(Von dem Deutſchen National-Geiſt 1765) vornehmlich den
Deutſchen hohen Schulen zuͤrnt, “weil auf den mehreſten derſel-
ben die Profeſſoren der Politik und des Staats-Rechts ſich mit
weit mehrerem Grunde Lehrer des Eigennutzes und blin-
den Gehorſams
nennen koͤnnten, da ihnen das Große und
Erhabene der Liebe des Vaterlandes ein verſiegeltes Buch iſt,
daß ſie mithin auch ihren Untergebenen keine andere als knech-
tiſche, eigennuͤtzige, gleichguͤltige und niedertraͤchtige Geſinnungen
einfloͤßen, daß ſie jene hohe Wiſſenſchaft als ein Handwerk zu
ihrem Lebensunterhalt treiben”; von welchem Vorwurfe nur
Goͤttingen einigermaaßen ausgenommen wird. Auch traͤgt Mi-
chaelis hinterher (S. 85.) gar kein Bedenken zu meinen, die
Lehre de iure divino und der passiva obedientia koͤnne fuͤr
Hannoͤveriſche Lande nachtheilig werden, wo die Landſtaͤnde noch
ihre alten Rechte haben. Er fuͤgt hinzu (S. 87.): “Wenn im
Jahre 1756 noch das ius publicum im Preußiſchen ſo geglaubt
waͤre, wie man es vor Stiftung der Halliſchen Univerſitaͤt ge-
meiniglich lehrte, und wenn alsdenn der geiſtliche Stand den
Irrthum vom goͤttlichen Recht der Koͤnige und der Unrechtmaͤßig-
keit des Widerſtandes gehabt, und auf den Kayſer angewandt
haͤtte; ſo wuͤrde der Ausgang des vorigen Krieges noch ein
groͤßeres Wunder ſeyn muͤſſen als er jetzt iſt. Was in dieſen
Sachen auf der Univerſitaͤt gelehrt wird, das hoͤren zwar An-
fangs nur Studenten, aber nach und nach und etwa in einem
[295]Vom Univerſitaͤtsweſen.
Menſchenalter wird es der allgemeine Sinn des Volks”. So
glaubt noch heute die Mehrzahl alles Andere lernen zu muͤſſen
nur nicht die Politik, jeden Fall der Politik aber nach dem
Lichte der Natur entſcheiden zu koͤnnen. Das Michaeliſche Buch
(denn der Verfaſſer hat ſich doch vor dem vierten Bande dazu
bekannt, nachdem er vorher ſeine Verfaſſerſchaft in dem Grade
verheimlicht hat, daß er ſelbſt in der Vorrede zum dritten
Bande ſeinen Tod vom Verleger beklagen laͤßt) iſt uͤbrigens voll
von hellen Blicken in das innere Gebiet des Univerſitaͤtsweſens
und enthaͤlt manche ſeitdem gluͤcklich erfuͤllte Weiſſagung. Wir
fuͤhren eine an: “Auf welche Deutſche Univerſitaͤt wuͤrde ich
Den hinweiſen, der von ſeiner Mutterſprache die aͤltern Dialek-
ten ſo wollte kennen lernen, als es zum Verſtande aller Denk-
maͤhler, und zur gelehrten Kenntniß unſerer eigenen Sprachen
noͤthig iſt? z. E. der die Gothiſche Sprache, die man in der
Nordiſchen Geſchichte gebraucht, lernen, und etwa ein Collegium
uͤber die Reſte des Ulphilas hoͤren wollte?”


Der mehrmahls in Anregung gekommenen Verlegung
unſerer Univerſitaͤten in die Hauptſtaͤdte ſteht entgegen 1) die
verfuͤhreriſche Genußſucht der Hauptſtaͤdte; 2) die unaus-
bleibliche Verwendung der praktiſchen Talente zu oͤffentlichen
Geſchaͤften aller Art, dadurch Verwandlung des Lehrberufes,
der den ganzen Mann will, in ein Nebengeſchaͤft; 3) der zu
unmittelbare Einfluß der Regierungsanſichten auf die Freiheit
des Lehrvortrages; 4) die zu unmittelbare Beruͤhrung der
Hoͤchſtgeſtellten mit einzelnen Exceſſen der akademiſchen Frei-
heit *), die nie ausgeblieben ſind, nie ausbleiben werden;
5) der nachtheilige Einfluß einer großen Zahl nichtſtudi-
render Zuhoͤrer auf die Wiſſenſchaftlichkeit ſolcher Vortraͤge,
welche auf den zugaͤnglicheren Gebieten des Wiſſens be-
ſchaͤftigt ſind. Den meiſten Eingang duͤrfen ſich folgende
Gegengruͤnde verſprechen: 6) die ſtoͤrende Naͤhe der
hauptſtaͤdtiſchen Staͤndeverſammlungen; 7) die ſchweren
Koſten des Umzugs.


[296]Vierzehntes Capitel.

282. Sehr verſchiedene Anſichten dagegen koͤnnen uͤber
akademiſche Gerichtsbarkeit und Disciplin ſtattfinden, und
es iſt vielleicht ſogar wuͤnſchenswerth, daß ſich hierin die
verſchiedenen Univerſitaͤten verſchiedenartig geſtalten moͤgen,
vorausgeſetzt daß die Einrichtung im Sinne des Univerſi-
taͤtslebens ſey 1). Jedenfalls werden die Lehrer die Fort-
dauer ihrer Gerichtsbarkeit uͤber die Studirenden nicht als
einen perſoͤnlichen Gewinn betrachten; es kommt aber ſehr
darauf an, ob eine durchgreifende Veraͤnderung den Ver-
haͤltniſſen der Studirenden frommen wird. Wie dem in-
deß ſey, gewiß iſt es unbillig die taͤglich mehr in bloße
Lehrer verwandelten Lehrer mit einer Verantwortlichkeit zu
belaſten, die man ihnen niemahls aufwaͤlzte als ſie noch
die Regierer waren. Was der Lehrer vermag, vermag er
fortan allein als Einzelner. Seine Pflicht iſt mit dem
Beiſpiele der Geſetzmaͤßigkeit voranzugehen, wo ſich ihm
ein Vertrauen oͤffnet, an Ernſt, an Treue, an Rath und
Warnung nicht zu ſparen, fuͤr die Hoͤrer einzuſtehen ver-
mag er nicht. Aber der Staatsmann kehre auch zuruͤck
von den alles Maas uͤberſchreitenden Anklagen gegen das
Verderben der Deutſchen ſtudirenden Jugend, welche von
Unkenntniß zeugen und ſeinen Blick auf eine wichtige va-
[297]Vom Univerſitaͤtsweſen.
terlaͤndiſche Angelegenheit truͤben. Es iſt noch immer ein
wahres Wort, welches Brandes2) zu ihm ſprach: “er
ſieht nicht den ſchlechteſten Theil des Men-
ſchengeſchlechts, denn er ſieht die Jugend
”.




[298]Funfzehntes Capitel.

Funfzehntes Capitel.
Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger
.

283. Fuͤr den Staatsbuͤrger giebt es keine Erziehung,
keinen Unterricht mehr; ſeine Zucht iſt das Staatsgeſetz.
Fortbildung aber kann ihm der Staat unmittelbar berei-
ten, nicht durch irgend eine kuͤnſtliche Anſtalt weiter, ſon-
dern lediglich durch die in ſeinem Innern herrſchende Ge-
rechtigkeit. Denn dieſe allein wagt das Staatsinnere vor
dem Staatsbuͤrger zur lehrreichſten Betrachtung aufzu-
ſchließen, entfernt die Heimlichkeit aus der Verwaltung,
denn ſie bedarf ihrer nicht um Haͤrte und Willkuͤhr und
die gleißenden Ungerechtigkeiten der Großmuth und Gnade
zu verhuͤllen; ſie laͤßt die oͤffentliche Meinung walten, in
welcher ſich die Herzensangelegenheiten eines Volks erklaͤ-
ren, und indem ſie die Macht derſelben anerkennt, und
ſelber ſie benutzt, um ſich eine eigene Meinung, die zu-
gleich anwendbar ſey, zu bilden, eroͤffnet ſie ihr unermuͤd-
lich die Wege zur Berichtigung und macht ſie ſich dadurch
dienſtbar. Darum ſieht ſie ihre Stuͤtze in der theils oͤffent-
lichen, theils offenkundigen Wirkſamkeit der Staatsgewal-
ten, laͤßt den Wunſch der Einzelnen, der Koͤrperſchaften,
der Gemeinden in freier, darum nicht ungeregelter, Bitte
ſich erklaͤren, denn ſie hat was ſie erwiedern kann; ſie ge-
waͤhrt der Schrift durch Geſetz ihre Freiheit, denn ſie hat
nicht hehl, daß Wiſſen und Glauben nicht auf dem ge-
woͤhnlichen Wege beherrſchbar ſind.


284. Die Verſuche das Leſen und das Schreiben von
Staatswegen zu beſchraͤnken ſind uralt; es gab beſtrafte
und verbotene Buͤcher, lange ehe es cenſirte gab. In der
[299]Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
Chriſtlichen Zeit unterwarf die niedere Geiſtlichkeit ihre
Schriften vor der Bekanntmachung willig der Durchſicht
ihrer kirchlichen Obern; ſeit aber die Wiſſenſchaften welt-
lich wurden, gab die Druckerkunſt dem Staate das erſte
ſichere Mittel an die Hand, die Veroͤffentlichung eines
ſchriftſtelleriſchen Werks von ſeiner Abfaſſung zu unterſchei-
den. Man konnte von nun an die Bekanntmachung jeder
nicht vorher gebilligten Schrift durch Strafbefehle an die
Drucker verhindern. Die Entfernung ſolcher Strafbefehle,
durch den Druck oͤffentlich reden duͤrfen ohne vorgaͤn-
gige Erlaubniß, hieß ſeitdem Preßfreiheit.


285. Es iſt die Macht der Sprache, welche durch
Unterricht ausgebildet jetzt ſo ſtark im Staatsbuͤrger in die
Außenwelt heraustritt, daß ſie ganz allein einen Mann,
der nichts bedeutet, uͤbermaͤchtig machen kann. Ich kann
durch mein Wort meinen Gedanken faſſen und ihn dem
Mitmenſchen uͤberliefern, nicht die rohe Willensaͤußerung
bloß, die auch wohl aus den Haͤnden ſpraͤche, den feinſten
Nerv des Beweiſes enthuͤlle ich ihm, das leiſeſte Gefuͤhl.
Bloß durch mein Wort verwandle ich ſeine Geſtalt, Freude,
Zorn, Beifall, Verzweiflung ruf’ ich hervor, ein Wort
vermag zu toͤdten. Ich kann mein ungeſprochenes Wort
in Schrift verkoͤrpern und es uͤbt tonlos auf tauſend Mei-
len dieſelbe Gewalt, unendlich viel weiter als Schießpul-
ver wirkt. Es uͤbt ſeine Macht ohne alle Beziehung auf
den Vortheil, die Verbeſſerung der Lage des Angeredeten;
“Was iſt ihm Hekuba? was iſt er ihr, Daß er um ſie ſoll
weinen?” Aber welch ein Hebel auch zu Thaten, wenn
Ort und Zeit und Intereſſe mit dem entflammenden Worte
zuſammentreffen? Haben Worte ſo große Macht zum
Guten und zum Boͤſen, ſo folgt daraus, daß man durch
[300]Funfzehntes Capitel.
ihren Misbrauch freveln koͤnne. Die Sittenlehre weiß da-
von viel zu ſagen und das Strafgeſetz, und daß durch vie-
len Gebrauch die Worte nichts an ihrer Kraft im Laufe
der Jahrhunderte verloren haben, bezeugt die bis zum
Krankhaften geſteigerte Empfindlichkeit unſrer Continental-
Ohren (die Alten und die Englaͤnder leiden nicht daran,)
durch Injurienproceſſe aller Art. Vom Kindesalter an er-
heben ſich die meiſten Streitigkeiten nicht uͤber Thaten, ſon-
dern uͤber Worte. Weiter folgt, daß die Machthaber, welche
der Natur der Sache nach das freie Wort haben, die Macht
der Worte, vornehmlich der in Schrift geſetzten (denn die
uͤbrigen ſind ſchwer zu hindern, verhallen auch) von Alters
her bei ihren Unterthanen ſcheuen mußten; denn dïe Unter-
thanenworte koͤnnten leicht viel anders lauten als die ihren.
Schon der alte Verfaſſer des Vridank klagt, wenn er Alles
ſo ſchreiben wolle wie er es wiſſe, muͤſſe er außer Landes
gehn. Dieſe Furcht muß zunehmen ſeit fuͤr ganze Voͤlker
geſchrieben wird, und ſie iſt den Regierungen jeder Form
gemein, denn nirgend ward die Preſſe aͤrger tyranniſirt als
im republikaniſchen Frankreich. Von der andern Seite wird
die Begierde nach der Wohlthat des freien Worts jetzt
nicht bloß durch einen Kreis der Wiſſenſchaftlichen, der ein
Recht auf die Wahrheit und ihre Mittheilung behauptet,
moͤge ſie auch der Kirche und dem Staate noch ſo unbe-
quem ſeyn, ſie wird durch leſende und ſchreibende Voͤlker
unterſtuͤtzt. Kein Volk, das die Macht dazu in Haͤnden
hat, wird um ihrer Gefahr willen der freien Schrift
entſagen. Nach dem Sturze der Stuarts weigerte ſich das
Parlament 1694 die bisherigen Hinderniſſe der Preßfrei-
heit in England ferner zu genehmigen. Von nun an ur-
theilten die Geſchworenen auch in Preßſachen, weil aber
noch die Hauptſache, die Entſcheidung, ob die in Frage
[301]Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
ſtehende Schrift wirklich ein Libell, d. i. eine geſetzwidrige,
in ſtrafbarer Abſicht publicirte Schrift ſey, in richterlichen
Haͤnden geblieben war, ſo verſchaffte Charles Fox hundert
Jahre ſpaͤter durch die Bill, welche Erskine erdachte und
dem geliebteren Staatsmanne abtrat, der Jury das ge-
neral verdict
.


286. Das iſt nun Alles ſo in England in der Ord-
nung, aber ein Misverſtand iſt es zu glauben, Preßfrei-
heit koͤnne beſtehen ohne einen ſtarken Staat, der die
Injurienproceſſe nicht zu ſcheuen hat, welche mit Kanonen
gefuͤhrt werden, und, was mehr iſt, ohne einen volks-
freien
Staat. In Daͤnnemark verkuͤndigte im Jahre
1770 der Miniſter-Koͤnig Struenſee die Preßfreiheit und
Voltaire ſang dem Koͤnige ſeinen Gluͤckwunſch dazu. Es
hieß ploͤtzlich im Lande: Thut was ihr ſollt, Schreibt
was ihr wollt. Was ihr wollt? Daͤnnemark war ein un-
umſchraͤnkt regiertes Reich, deſſen Grundgeſetz jedem Ver-
derben droht, der mit Wort oder That dieſe Ordnung an-
taſtet, und am allerwenigſten war Struenſee der Miniſter,
deſſen Bahn das Licht der oͤffentlichen Meinung ertrug.
Gleich im naͤchſten Jahre traten Beſchraͤnkungen ein und
mußten es, denn man hatte das Unmoͤgliche gewollt. Wenn
man nach Struenſees Sturze die Cenſur einzufuͤhren an-
ſtand, ſo ehrte man darin die Gefuͤhle des Volks, welches
mit ganzer Seele an dieſer geiſtigen Errungenſchaft hing,
vielleicht auch ſchwebte Bernſtorffs hellem Geiſte vor, daß
die Überzeugungen des Zeitalters, auch wenn man ſie nicht
theilt, Beachtung verdienen. Aber die Beſchraͤnkungen
wuchſen mit jedem Tage. Über Staat und Regierung
und allgemeine Anſtalten durfte zuerſt nicht in Zeitſchrif-
ten, dann uͤberhaupt nicht geurtheilt werden; Policeiſtrafen
[302]Funfzehntes Capitel.
raͤchten die Übertretung. Die Preßfreiheit verlor die
Stimme aus Mangel an Nahrung. Man durfte uͤber die
Wolken vom vorigen Jahre, uͤber den Nutzen der Gluͤck-
ſeligkeit und des Kartoffelbaues ſchreiben. Es war die
Preßfreiheit des Figaro. On me dit que pourvu que je
ne parle ni de l’autorité, ni du culte, ni de la politi-
que, ni de la morale, ni des gens en place, ni de l’o-
pera, ni des autres spectacles, ni de personne qui tien-
ne à quelque chose, je puis tout imprimer librement
.
Man verdient keinen Tadel, wenn man das nicht leiſtet
was unmoͤglich iſt. Die Preßfreiheit gehoͤrt in einen
wohlumhegten Garten von bluͤhenden Freiheiten, iſolirt ge-
deiht ſie nicht. Eine Zeit lang wohl mag Zeus mit dem
ſchwachen Menſchen ſich uͤber Himmel und Erde beſpre-
chen und der Gott laͤßt recht verſtaͤndig mit ſich reden,
aber als ihm der Philoſoph doch ein allzu arger Zweifler
wird, auf das allmaͤchtige Schickſal kommt und die eben-
falls allmaͤchtigen Goͤtter (den wunden Fleck, die Polniſche
Theilung der Mythologie), greift er zum Donnerkeile. Frei-
lich hat der Andere in ſeiner Art auch Recht, wenn er der
verlorenen Redefreiheit beim Abſchiede noch die Worte nach-
ſchickt: “Jetzt gerade ſehe ich, Zeus, daß du Unrecht haſt,
weil du deinen Donner zu Huͤlfe nimmſt”.


287. Die Deutſchen conſtitutionellen Staaten ſind
nicht in der Lage von Daͤnnemark. Sie bauen auf einem
Grunde politiſcher Freiheit, allein die Macht fehlt. Sie
geben keinen Ausſchlag in Europa, keinen im Deutſchen
Bunde. Öſterreich kann keine Preßfreiheit haben, Preußen
hat keine. Warum nicht? Die Preßfreiheit kann nicht
allein ſtehen. Ein Verſuch mit der Preßfreiheit in Preußen
wuͤrde entweder ihre Zuruͤcknahme im erſten Monat, oder
[303]Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
politiſche Inſtitutionen zur Folge haben. Nur dieſen ſchließt
ſich der Staatshaushalt auf (Alles was fruͤher ſo ausſieht,
iſt nur ein Klingeln mit den Schluͤſſeln vor verſchloſſener
Thuͤre), nur dieſen der Grund der Geſetzgebung. Dem
iſt nun unerfreulich ſo; aber iſt es nicht beſſer als Unaus-
fuͤhrbarkeiten traͤumen, dem geradezu ins Geſicht zu ſehen,
und ſollte ſich auch noch mehr Unfreude daran knuͤpfen?
Denn ſehr wahrſcheinlich werden die Großmaͤchte das Gut,
welches ihre Unterthanen miſſen, ungern in den Haͤnden
anderer Unterthanen im Bunde ſehen; die Preſſe koͤnnte
zur Macht gegen ſie wachſen, koͤnnte auch mit andern
Europaͤiſchen Maͤchten in Verwickelung fuͤhren, gemisbraucht
und ſelbſt bloß gebraucht. Denn manche ſchwere Thaten
ſind geſchehen, die keine friſche Beruͤhrung dulden.


288. Iſt nun das Alles darum ans Licht geſtellt, um
dieſen Theil unſres Volks zu uͤberzeugen, er muͤſſe ſich in
die nothwendige Nichtigkeit ſeiner Preßfreiheit ergeben?
Keineswegs; nur um ihn zu vermoͤgen, den Blick von dem
Gipfel begeiſterter Wuͤnſche einſtweilen abzuwenden und
auf die maͤßige Hoͤhe des ohne Umwaͤlzung der beſtehen-
den Verhaͤltniſſe gegenwaͤrtig Erreichbaren zu richten. Wenn
von der einen Seite was erreichbar, von der andern
was mit Erfolg zu verbieten iſt, erkannt wird, dann
erſt kann der gute Wille wirkſam in die Mitte treten. Die
Regierungen koͤnnen den Fortſchritt Deutſcher Preßfreiheit
nur ſehr bedingt hemmen. Die taͤglich wachſenden Com-
municationsmittel, der raſche Flug der Briefe und der
Reiſenden macht es von Tag zu Tag unmoͤglicher den
Weltlauf in Geheimniß zu verhuͤllen. Die Zeitungen
ſchreiben ſich in Briefen und wo der Brief nicht ſicher iſt,
da ſprechen ſie ſich. Das geſchieht taͤglich mehr; jedermann
[304]Funfzehntes Capitel.
will und wird wiſſen was in der Welt vorgeht. Die
Preſſe der Thatſachen laͤßt ſich mit Erfolg nicht bekaͤmpfen.
Jeder giebt aber auch ſeine Meinung dazu. Dieſer Zuſatz
von Raͤſonnement wird beſonders an unſern Zeitungsblaͤt-
tern gefuͤrchtet. Allein je ſchwerer man es den Zeitungs-
ſchreibern macht, ihre wahre Meinung auszuſprechen, je
eifriger man Sorge traͤgt, bloß abſolutiſtiſche zu privilegi-
ren, um ſo mehr richtet ſich die Neigung auf die auswaͤr-
tigen Blaͤtter, welche man durch Verbote vertheuern, aber
nimmermehr abhalten kann. Es iſt mit einem Zeitungs-
blatte wie mit dem Gelde, ſeine Wirkſamkeit iſt nicht nach
der Zahl der Exemplare, ſondern nach der Zahl der Um-
laͤufe, die es in gegebener Zeit macht, zu beurtheilen. Die
Beſchraͤnkung der wiſſenſchaftlichen Preſſe verwickelt vollends
die Regierungen in einen hoͤchſt ungleichen Kampf. Sie
beduͤrfen der Wiſſenſchaft, der Staat kann ohne ſie nicht
mehr behandelt werden, allein man moͤchte ſie bloß in der
Richtung der Regierungs-Zwecke benutzen, ſogenannte ge-
faͤhrliche Theorieen abhalten. Das liegt nun allerdings
gar ſehr im Kreiſe der Pflicht der Wiſſenſchaftlichen, zu-
mahl in heutigen Tagen, die Macht der Regierung mit
aller Kraft ihrer Einſicht zu ſtuͤtzen, allein eigentlich an-
halten laſſen ſie ſich dazu nicht. Waͤren die gefaͤhrlichen
Theorieen zugleich die wahren (das iſt zum Gluͤcke nicht
der Fall, weder wenn Regierungen, noch wenn Untertha-
nen ſie aufſtellen), ſie wuͤrden, oͤffentlich verboten, um ſo
ſicherer im Geheimen durchdringen. Nun kommt hinzu,
daß das Deutſchland der Verfaſſungsurkunden denn doch
wirklich ein Recht auf ſeine Rechte hat, daß das Kippen
und Wippen an den Conſtitutionen die oͤffentliche Meinung
entſchieden gegen ſich hat, daß die Öffentlichkeit allein die
verſchlungenen Gaͤnge im Staatsgebaͤude ſo zu erhellen
[305]Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
weiß, daß die Staͤnde ſich in gemeſſener Zeit zurechtzufin-
den vermoͤgen. Ein fortgeſchrittenes Volk kommt immer
wieder auf die Preßfreiheit zuruͤck; es kann von der Preß-
freiheit nicht laſſen, ſo wenig als vom Schießpulver, ob-
gleich beide ihre Bedenken haben. In der Hildesheimer
Stiftsfehde kam einem der Braunſchweigiſchen Herzoge der
Gedanke, dem Gegner anzubieten, ohne Schießgewehr Mann
gegen Mann zu ſchlagen nach Sitte trefflicher Vorfahren,
damit die Welt erfahre, auf welcher Seite die Mannhaf-
tigkeit ſey. Es ließ ſich ſo wenig thun als man heute in
Weiſe der Geſchlechter und Kluͤfte oder unter den Berufs-
Panieren der Zuͤnfte Schlachten liefern kann. Die Preßfrei-
heit iſt der Alcibiades des Staats, heute liebt, morgen haßt
man ihn, aber niemahls will man ihn miſſen 1). Dieſen
Theil von Deutſchland einer druͤckenden Cenſur zu unterwer-
fen iſt nur dann moͤglich, wenn man zugleich die Verfaſſungs-
rechte hinwegnimmt. Alsdann iſt aber auch Alles moͤglich.



289. Auch die mildeſte Cenſur iſt ein Übel; des Gei-
ſtes Auge wird leicht auch durch ein Staͤubchen getruͤbt.
Friedrich Gentz machte im Jahr 1818 den Verſuch ſie
dem Deutſchen Volke einzureden 1). Kein Talent war dazu
mehr, kein Charakter minder geeignet. Haͤtte die Preß-
freiheit ſeine Schulden bezahlt, er wuͤrde fuͤr dieſe geſchrie-
ben haben. Als der jetzige Koͤnig von Preußen ſeine Re-
gierung antrat, ließ Gentz ein Sendſchreiben an den Koͤnig
drucken, worin er beſonders die Verkuͤndigung der Preß-
freiheit verlangte, als die ſicherſte Schutzwehr des Volks,
eben ſo leichtfertig derzeit im Ja als nun im Nein. Mit
dem Nein hat er es nur zur Haͤlfte vollbracht. Er be-
20
[306]Funfzehntes Capitel.
wies, was jedermann wußte, es ſey hier nur ein zwie-
faches Verfahren moͤglich: die Regierung muͤſſe dem Preß-
vergehen entweder zuvorkommen, das geſchehe durch ein
Polizeygeſetz (Cenſur), oder ſie muͤſſe das begangene Ver-
brechen hintennach beſtrafen, das geſchehe durch ein Straf-
geſetz (Preßgeſetz und wahrſcheinlich Preßgericht). Gentz
erklaͤrt ein gutes Preßgeſetz fuͤr unmoͤglich, weil die Eng-
laͤnder es noch zu keiner ſtringenten Definition des Wor-
tes Libell gebracht haben, und weil hier nicht bloß That
und Abſicht, wie ſonſt bei Vergehungen, ſondern vor-
nehmlich die Tendenz (er uͤberſetzt es Wirkung) einer
Schrift entſcheidet. Das Reſultat iſt: es haͤnge, auch wo
ein Preßgeſetz beſteht, am Ende doch Alles von der Will-
kuͤhr der Richter ab und die Frage ſey alſo bloß, ob man
einen Cenſor vor der That, oder nach der That will.
Es ſey aber einem gewoͤhnlichen Gerichtshofe gar nicht ein-
mahl zuzumuthen, daß er, bei der Schwierigkeit Preßver-
gehen zu ergruͤnden und der nothwendigen Unvollkommen-
heit der Geſetzgebung ſich mit ſeinen Ausſpruͤchen in das
Gewoge der Partheien ſtuͤrze, das geringſte Übel ſey im-
mer noch, es, wo eine Volks-Jury eingerichtet iſt, dieſer
zu uͤberlaſſen, wiewohl deren Ausſpruͤche ganz willkuͤhrlich
und der Preßunfug in England (es war gerade derzeit in
leidenſchaftlicher Aufregung gegen das Caſtlereaghſche Mini-
ſterium) unertraͤglich, ein Gift fuͤr oͤffentliches und Pri-
vat-Leben; denn nur durch Selbſtſucht und Leidenſchaft
werde die Engliſche Preſſe regiert. Hiebei bleibt denn
freilich uneroͤrtert, was im Drange Napoleoniſcher Zeit aus
Europa geworden waͤre, waͤre England zum Cenſur-Volke
herabgeſunken; gewiß aber war Friedrich Gentz den Be-
weis nun ſchuldig, wie ſich denn auf dem Wege der Cen-
ſur die Willkuͤhr entfernen und der freie Gedankenverkehr
[307]Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
ſicherſtellen laſſe, auch verſpricht er dieſen Beweis, hat ihn
zum zweiten und zum dritten Mahle verſprochen, und iſt
ihn bis an ſein Ende ſchuldig geblieben und auch keiner
ſeiner Fortſetzer hat dieſe Fortſetzung geliefert.



Dem Allen iſt nun ſo und dennoch kann ein Freund
des Vaterlandes im Intereſſe der Freiheit rathen, daß die
Deutſchen Staaten, von denen es hier ſich handelt, lieber
fortfahren moͤgen den breitgetretenen Weg der Cenſur zu ge-
hen, als demnaͤchſt die Verſuche wiederholen, ſich durch Preß-
geſetze den ſtolzeren Pfad zu bahnen. Wie die Deutſchen
Dinge neubegruͤndet in nicht ſorgloſer Jugend ſtehen, muß
ſich die Forderung des Selbſtgefuͤhls der Erhaltung des
Guten, welches wir noch beſitzen, unterordnen. Ein Preß-
geſetz, welches den Anſpruͤchen der Theorie entſpraͤche,
wuͤrde den Widerſpruch der Deutſchen Großmaͤchte, wuͤrde
Europaͤiſchen Widerſpruch finden, hat ihn ſchon gefunden.
Eben ſo gewiß wie der Juͤngling keine Meinung hat in
der Geſellſchaft von Maͤnnern, eben ſo ſicher giebt dem
Staate ſeine Macht das Maas ſeiner freien Meinung in
der Staatengeſellſchaft. Ein Preßgeſetz, wie man es haben
kann, ſchmeichelt mit einer Freiheit, die es doch nicht ge-
waͤhrt. Cenſur fuͤr auswaͤrtige Angelegenheiten, Preßfrei-
heit fuͤr die innern iſt als leitender Grundſatz fuͤr jede Re-
gierung loͤblich, aber als Geſetzvorſchrift ſehr leicht zwar
auf dem Papiere, allein in der Staatspraxis durchaus
nicht durchfuͤhrbar. Kein wichtiger Gegenſtand des Ge-
meinweſens, ſelbſt der Wiſſenſchaft, der ſich nicht wie ein
Handſchuh leicht umkehren ließe. Eine Bahn des unauf-
hoͤrlichen Streites wird eroͤffnet, unaufhoͤrliche Einfluͤſte-
rungen, auf dieſem Streite fußend, verdaͤchtigen auch den
20*
[308]Funfzehntes Capitel.
letzten Reſt der Freiheit, ein Gegenſtand nach dem andern
muß aus dem geſchuͤtzten Gebiete weichen, und der ver-
heißene Genuß der Preßfreiheit verliert ſich in die Feier
einiger theoretiſchen Siege auf dem großen Schlachtfelde
praktiſcher Niederlagen. Gewiß die Beibehaltung der Cen-
ſur iſt demuͤthigend fuͤr das Selbſtgefuͤhl, aber es liegt
eine Ausſicht in ihr fuͤr die friedliche Vermittelung drohen-
der vaterlaͤndiſcher Verhaͤltniſſe und einen kuͤnftigen Beſſer-
ſtand. Die Regierungen, jenes laͤſtigen fortwaͤhrenden
Conflicts enthoben, mit den Maͤchten draußen, oder drin-
nen mit den eigenen Unterthanen, bleiben auf gewohnten
Bahnen der Macht im Stande, die wirkliche Lage der
Dinge ſorgenfreier ins Auge zu faſſen. Sie koͤnnen der
Wiſſenſchaften nicht entrathen und wiſſen das, denn Ge-
walt allein vermag heute auf die Dauer nichts, auf uͤber-
lieferte Ordnung iſt jetzt wenig mehr zu bauen, auch die
Macht muß mit Gruͤnden kaͤmpfen. Man darf den Aſt
nicht abſaͤgen, auf dem man ſelber ſitzt und Fruͤchte ſam-
melt. Vor Allem aber bedeutet der freie Gedankenverkehr
dem Deutſchen viel. So abgezogen ſinnt und ſo beruhigt
ſich keiner, wenn er ſich das Herz leicht geſprochen hat,
wie der Deutſche. Er iſt langſam zur That, ein volles
Jahrhundert liegt zwiſchen Huß und Luther; aber wie be-
harrlich iſt er auch den Grundgedanken auszuarbeiten, der,
lange getragen, endlich ihm aus der Seele in die Auſſen-
welt getreten iſt! Nicht der Deutſche iſt zum Staate, der
Staat iſt zu dem Deutſchen gekommen, hat durch eine
ſchwere Leidenszeit Genugthuung von ihm genommen fuͤr
lange Vernachlaͤſſigung. Dieſe Richtung geht nicht wieder
unter. Sie kann und muß beſchraͤnkt werden, damit ſie
Bildung gewinne, nicht naturaliſtiſch wuchere; ſie unter-
druͤcken wollen, heißt ſie verdichten, daß ſie gewaltſam der-
[309]Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.
einſt ausbreche. Je ſtaͤrker die oͤffentliche Meinung fuͤr
gewoͤhnlich zuruͤckgedraͤngt wird, um ſo gewaltſamer macht
ſie ſich in den Kammern Luft. Politiſche Leidenſchaft wird
rufen: “So hebe man die Kammern auf!” — Wer aber
die Weltlage wuͤrdigt und die Lage ſeines Vaterlandes in
ihr, oͤrtlich und geiſtig, wird ſich nicht ſcheuen es auszu-
ſprechen: Die Sicherheit und Wohlfahrt der Deutſchen
Staaten mittleren und unteren Ranges beruht darauf, daß
ſie ihren Unterthanen in der freien Entwickelung der Kraͤfte,
welche den Einzelnen vergoͤnnt wird, einen Erſatz fuͤr die
ſelbſtaͤndige Bedeutung und freie Bewegung nach Außen
geben, welche dieſen Staaten verſagt iſt.


[310]Sechzehntes Capitel.

Sechzehntes Capitel.
Religion und Kirche im Staate
.

290. Der Staat, ſo hoch er ſteht, hat nicht allein
die Gewalt; durch ihn geht eine Natur der Dinge, die er
zuvor anerkennen muß, damit ſie bedingt ihm diene; er
kann meiſtern an der aͤußeren Bewegung und Darſtellung
der Wiſſenſchaft, ohne ihren Inhalt abaͤndern zu koͤnnen;
vor Allem iſt die Religion dem Staate uͤberlegen und es
fragt ſich, wie die Kirche zu ihm ſtehe.


Hobbes zerhaut den Knoten, er legt der Regierung
unbeſchraͤnkte Macht bei die oͤffentliche Lehre vorzuſchrei-
ben; denn das Volk hat ihr alle ſeine urſpruͤnglichen Rechte
uͤbergeben und Ruhe und Friede erfordern ſolche Vorſchrift.
Ob nur da nicht beſſer Unruhe und Unfriede waͤre! An-
dere dagegen wollen allgemeine Duldung, Baſedow ſelbſt
allgemeine Gleichſtellung in Rechten, doch beſchraͤnkt er ſie
am Ende auf die Chriſtlichen Religionspartheien. Am kuͤr-
zeſten und friedfertigſten waͤre es, den Glauben an Gott
ganz hinwegzunehmen, wofuͤr Diderot ſagte, daß er gern
ſein Leben gaͤbe, wenn er es vermoͤchte, und eine ſtarke
Parthei entſchloſſener Atheiſten war mit ihm. Die ſtarken
Geiſter der Franzoͤſiſchen Revolution begnuͤgten ſich zu
lehren, die Religion habe gar keinen Platz in der buͤrger-
lichen Ordnung, ſie ſey Sache des Einzelnen, den Staat
nicht angehend, ihm gleichguͤltig. Im Herbſte 1793
verordnete der National-Convent, daß im Jugendunter-
richt von Gott und der Religion nicht mehr die Rede ſeyn
ſolle. Wir wollen hier nicht fragen, ob der Staat, der
ſeine Nahrung von der oͤffentlichen Sitte zieht, den Gleich-
[311]Religion und Kirche im Staate.
guͤltigen ſpielen koͤnne gegen die Religion, welche die Sitte
heiligt, indem ſie ſolche auf ihren Urquell zuruͤckfuͤhrt,
welche indeß auch Unſitte heiligſprechen kann. Aber auch
die ſtaͤrkſte Vereinzelung der Religionspflege geht nothwen-
dig uͤber den Einzelnen hinaus, der Vater redet davon zu
ſeinem Kinde, fuͤhrt haͤusliche Weiſen der Andacht ein; die
Religion iſt mindeſtens Familienſache. Die einfachſten Zu-
ſtaͤnde der Menſchheit zeigen die Hausvaͤter als Prieſter,
der Stamm-Älteſte verſieht die Opfer ſeines Stammes,
der Koͤnig des Volks; Prieſterthum iſt Theil der Re-
gierung.


291. Die Alten kannten wenig Irrlehren, die Viel-
goͤtterei iſt von Natur duldſam, niemand leugnete dem An-
dern ſo leicht ſeinen Gott ab, wohl aber die Macht ſeines
Gottes. Ableugner wurden gehaßt, beſtraft, man verbot
des Diagoras Schriften, ließ Sokrates ſterben, weil er die
Jugend von den vaterlaͤndiſchen Goͤttern abwandte. Ge-
wiß er that das, aber wandte ſie der einen Gottheit zu,
und da er ſeines Glaubens lebte, beſonders aber da er
fuͤr ihn ſtarb, ſo fehlte von dieſer Seite wenig, daß er
nicht Religionsſtifter geworden waͤre. Die Anſicht des Po-
lybius, daß dieſes ganze Fach wohl uͤberfluͤſſig ſeyn moͤchte,
vorausgeſetzt, daß der Staat aus lauter einſichtsvollen Leu-
ten beſtaͤnde, war durchaus nicht die ſeine. Indeß erhielt
Sokrates ſich doch mehr bloß verneinend gegen die alten
Religionsirrthuͤmer, waͤhrend er ſich des Materials der
vaterlaͤndiſchen Goͤtterverehrung fuͤr ſeine Darſtellungen be-
diente, auch die vaterlaͤndiſchen Opfer keineswegs ver-
ſchmaͤhte. Was Sokrates nicht vermochte in Bezug auf
einen ſehr ausgearteten Cultus, ſollte es fuͤr den jetzigen
Staat in Beziehung auf das Chriſtenthum, ich will nicht
[312]Sechzehntes Capitel.
ſagen wuͤnſchenswerth, ſondern uͤberhaupt nur moͤglich
ſeyn, daß es ignorirt werde? Alle hoͤhere Bildung und
namentlich auch der Fortſchritt in bewußterer Staatsbil-
dung iſt dem neueren Europa durch das Chriſtenthum und
mit ihm geworden. Es gilt hier gar nicht die Frage, ob
nicht dieſe oder jene Wahrheit oder Erleuchtung den Ger-
maniſchen Voͤlkerſchaften auch auf anderem Wege eben ſo
fuͤglich haͤtte zukommen koͤnnen. Man weiß dem Geber
Dank und calculirt ſich nicht von der Dankbarkeit frei durch
die Erwaͤgung, ob dieſer oder jener uns nicht auch am
Ende ausgeholfen haben moͤchte. Die Chriſtliche Vorzeit
hat Gliedmaßen unſers eigenen Daſeyns geſchaffen, denen
wir nicht entſagen koͤnnen, auch wenn wir wollten. Als
die Franzoſen in der Revolution mit der allen Chriſten ge-
meinſamen Zeitrechnung auch die Wocheneintheilung ver-
warfen, welche das Chriſtenthum aus dem Judaismus
auf uns gebracht hat, kuͤndigte ſich ſolch ein Wollen an,
aber ſie haͤtten auch der nothwendigen Einheit der Ehe,
dem Nichtausſetzen der Kinder, dem tieferen Princip des
Strafrechts, der Naͤchſtenliebe uͤber den Staat hinaus, ſie
haͤtten der Grundlage ihrer ganzen Bildung entſagen muͤſ-
ſen, um ihre vermeinte Hoͤhe zu erreichen. Wir unſeres
Theils moͤchten nicht einmahl die Kirchthuͤrme aus der
Landſchaft miſſen und machen gar nicht einmahl den Ver-
ſuch uns von dem loszuſagen was das Chriſtenthum durch
unſere Vaͤter uns geweſen iſt. Inzwiſchen hat der Stif-
ter der Lehre keine Darſtellung derſelben hinterlaſſen, auch
iſt es ſpaͤter niemanden gelungen, ein Syſtem aufzuſtellen,
welches die ganze Chriſtenheit anerkannt haͤtte. Denn es
iſt mit der Religion nicht wie mit den Wiſſenſchaften, in
welchen Daſſelbe Allen wahr ſeyn muß, eben wie in der
Sphaͤre der aͤußeren Erfahrungen; es iſt viel mehr wie
[313]Religion und Kirche im Staate.
in der Welt der Gefuͤhle, die den Menſchen ohne ſein Zu-
thun faſſen, in dem Einen wird uͤbermaͤchtig, was bei dem
Andern ſpurlos voruͤbergeht. Wir geſtehen zu, daß ohne
die Dazwiſchenkunft der Paͤbſte ſich das Chriſtenthum wahr-
ſcheinlich in eine Menge verſchiedenartiger Culte, deren ge-
meinſamer Urſprung vielleicht nur dem gelehrten Unterſucher
vorlaͤge, verloren haben wuͤrde; nichts deſto weniger iſt ihr
Trachten eine bindende Glaubensnorm fuͤr die ganze Menſch-
heit feſtzuſtellen durch die Reformation fuͤr immer vereitelt.
Wenn gleich kein voͤlliges Auseinandergehen mehr zu fuͤrch-
ten iſt; man erkennt vielmehr an, daß im tieferen inne-
ren
Grunde Katholicismus und Proteſtantismus ſich haupt-
ſaͤchlich dadurch unterſcheiden, daß der eine auf dieſe, der
andere auf jene Saͤtze desſelben Glaubens das Hauptge-
wicht legt; ſo wird doch wahrſcheinlich die Zahl der kirch-
lichen Abſonderungen in der naͤchſten Zeit eher zu- als
abnehmen. Denn was fruͤher einfach war, die perſoͤnli-
chen und Lebens-Verhaͤltniſſe des Stifters, iſt jetzt durch
Gelehrſamkeit (unvermeidlich wohl, aber doch wirklich) ein
hoͤchſt verwickelter Thatbeſtand geworden, einfach dagegen
ein Anderes, was fruͤher, als das Chriſtenthum noch keine
eigentliche Geſchichte hatte, ſchwierig war, weil eben die
hiſtoriſche Entwickelung fehlte: das Verhaͤltniß der Lehre
zum Leben und die Erkenntniß der Wirkungen der Lehre.
Woher es denn gekommen ſeyn mag, daß Viele jene fruͤ-
heſte Zeit, als mit großem Dunkel behaftet und kaum
erforſchbar aufgeben, gleichſam auf den Aufgang der Sonne
verzichten, keinesweges aber den Glauben verſagen jener
groͤßeſten aller Erſcheinungen, die laͤngſt an den Mittags-
himmel der Geſchichte getreten iſt, vielmehr ſie an ihren
Werken zu erkennen und ihre Weiſungen in ſich aufzu-
nehmen bemuͤht ſind. Daraus aber folgt, daß mit der
[314]Sechzehntes Capitel.
Rede: “dieſes iſt ein Chriſtlicher Staat” zwar unendlich
viel geſagt iſt, aber keineswegs eine voͤllige Einheit des
Bekenntniſſes, eine religioͤſe Gemeinſchaft darunter verſtan-
den wird. Nicht einmahl ſo viel wird verſtanden, daß ſich
die durch den Staat vereinigten Buͤrger in demſelben
Raume einer Kirche erbauen moͤgen, daß ihnen dieſelben
Tage heilig, dieſelben Arbeitstage waͤren. Es iſt wie wenn
einer auf einem Berge ſteht und ſich von dort aus der Har-
monie der Landſchaft freut, die ſich ringsum fruchtbar ver-
breitet; nun ſteigt er hinab, ergeht ſich in der Landſchaft,
und findet alles geſchieden in Stadtgebiete, Flecken, Doͤr-
fer, im kleinſten Dorfe hat jedes Haus ſeinen Herrn und
Meiſter, jedes Feld, jeder Baum, allenthalben zwiſtige
Menſchen. Darf der Staat auf dem Berge ſtehen blei-
ben? oder muß er hinab und ein Einſehn thun? oder lie-
ber ganz einfach: Kann der Staat ſich bloß lei-
dend gegen die Kirche verhalten
?


292. Alles waͤre leicht abgethan, waͤre es mit der
Religion bewandt, wie mit der Geſetzgebung. Jedermann
iſt von der Nothwendigkeit uͤberzeugt, den Staatsgeſetzen,
auch inſofern man ſie nicht billigt, zu gehorchen; der Ein-
zelne unterwirft ſich, haͤlt ſich aber ſein Urtheil bevor. Wo
es aber ganz allein das Urtheil gilt, wie in Sachen der
Wiſſenſchaft, da laſſe ich mir von keinem Staate vor-
ſchreiben, und wie ließe ſich vollends vorſchreiben, was
man von den goͤttlichen Dingen und ihrer Beziehung
auf die menſchlichen glauben ſoll? Freilich giebt es Ab-
weichungen in der Überzeugung, welche eine Gemeinſchaft
nicht ausſchließen, weil ſie in einer hoͤheren Einheit ſich
aufloͤſen, und allerdings koͤnnte man annehmen, daß Chri-
ſten, wie auch der Glaubensſatz ſie trenne, dennoch uͤber-
[315]Religion und Kirche im Staate.
wiegende Urſache haben, ſich in dem unendlichen Vielen,
welches Gemeingut unter ihnen iſt wieder zuſammenzufin-
den, ſo daß in der Staatslehre allein von dem Verhalten
gegen nichtchriſtliche Mitglieder des Staats die Rede zu
ſeyn brauchte. Allein gerade das Gegentheil iſt der Fall;
ſie trennen ſich beiweitem lieber wegen der Abweichungen
als daß ſie wegen des Gemeinſamen zuſammenhielten. Auch
liegt hiebei keineswegs bloß Partheiſucht zum Grunde.
Das religioͤſe Gefuͤhl gleicht dem kuͤnſtleriſchen darin, daß
es in der Richtung, die es einmahl genommen hat, die
allerbeſtimmteſte Geſtaltung begehrt, und ſo war es aller-
dings keineswegs bloße Leidenſchaft, welche durch den Streit
uͤber den Abendmahlspunkt Lutheraner von Reformirten
trennte und wieder Zwinglianer von Calviniſten. Die Er-
bitterung ging ſo weit, daß ein Theil den andern ſchlim-
mer als die Tuͤrken nannte; doch wuͤrde derjenige am
ſchlimmſten gefahren ſeyn, den bitterſten Unmuth aller Par-
theien gegen ſich vereint haben, der nun dazwiſchen ge-
treten waͤre und geſagt haͤtte: “Es liegt an beiden Mei-
nungen nicht ſo viel, haltet Euch an dem worin Ihr einig
ſeyd”; denn allerdings haͤtte er das Formloſe gewollt. So
erklaͤrt ſich einiger Maßen Melanchthons unguͤnſtige Lage
gegen ſeine Zeit und uͤberhaupt derjenigen, welche an Ver-
einigung der Confeſſionen arbeiten. Daß ſich abweichende
Glaubensbekenntniſſe bilden und in ſtreitenden Kirchen dar-
ſtellen, laͤßt ſich alſo einmahl nicht hemmen. Die Frage
wiederholt ſich: Kann und ſoll der Staat allgemeine To-
leranz dagegen uͤben?


293. Wer vom Studium der Philoſophie ausgegan-
gen iſt und an die Frage kommt, wird ſie mit Ja beant-
worten und wird vielleicht, um die Ausfuͤhrbarkeit zu zei-
[316]Sechzehntes Capitel.
gen, Nordamerika fuͤr ſich anfuͤhren; wer die Geſchichte
beachtet hat und das Leben, wird mit dem Wunſche fuͤr
Ja, ſich fuͤr Nein entſcheiden, Nordamerika nicht gelten
laſſen, indeß ſich um ſo ernſtlicher bemuͤhen der Staatsein-
wirkung Graͤnzen zu ſtecken. In ſolcher Art trafen bei
dieſer Streitfrage zwei bedeutende Deutſche Maͤnner un-
ſrer Zeit, Juſtus Moͤſer und Rehberg zuſammen, in der
Berliner Monatſchrift der Jahre 1787. 1788 u. 1789.
Moͤſer, nach ſeiner ſchoͤnen Art Wahrheiten, die das Leben
in Anſpruch nehmen, in Beiſpielen lebendig zu geſtalten,
verſetzt uns nach Virginien in eine Colonie; Deiſt und
Atheiſt, Chriſt und Unchriſt leben friedfertig mit einander,
da leugnet Einer dem Andern, einem Kaufmanne, eine
Schuld ab; der Kaufmann ſoll ſeine Buͤcher beſchwoͤren;
der Widerpart wendet ein, das ſey hier nicht zulaͤſſig; der
Kaufmann habe ſich als Atheiſt ausgeſprochen. So ſtoßt
man im Recht auf die Religion. Der verlegene Richter
ruft die Colonie zuſammen, man meint nicht laͤnger mit
den Atheiſten zu gleichem Recht leben zu koͤnnen, faßt den
Schluß, jeder Einwohner ſoll ſein Glaubensbekenntniß ein-
reichen. Mit vieler Muͤhe unter vielen Abaͤnderungen bringt
man ſie zu Protokoll, ſtellt daraus gewiſſe Artikel zuſam-
men, in welchen man mehr oder weniger uͤbereinſtimmt,
doch mit Übereinkunft Aller werden die Atheiſten ſogleich
aus der Zahl ehrenhafter Buͤrger geſtrichen. Alſo eines
Gottes mindeſtens bedarf der Staat, kann ſich gegen das
oͤffentliche Bekenntniß des Atheismus nicht neutral verhal-
ten. Als man nun aber, unvermoͤgend die verſchiedenen
Glaubensbekenntniſſe auf die Dauer zuſammenzuhalten, je-
dem Bekenner, inſofern er ſich nur zu Gott bekannte, freien
Lauf ließ, zeigte ſich bald, daß auch damit noch viel zu
wenig gethan ſey. Denn die Einen erkennen in Allem
[317]Religion und Kirche im Staate.
was Gott geſchaffen hat, ein Gemeingut, brechen in des
Andern Gehege, Bruder und Schweſter verehlichen ſich,
und alle Menſchen ſollen nach Gottes Befehl ſich gleich
ſeyn, ohne Obrigkeit ꝛc. Da trat die Mehrzahl herzu und
legte den gefaͤhrlich Glaͤubigen durch ihre groͤßere Staͤrke
wenigſtens als Geſetz auf ſo nicht zu thun, obwohl ſie
ihren Glauben nicht hindern konnte, und auch mit der
Duldung ſah es uͤbel aus, da die Unterliegenden an Hand-
lungen gehindert wurden, die der unmittelbare Abdruck
ihres Glaubens waren. So Moͤſer. Nun trat freilich
Rehberg, derzeit vom Studium der Kantiſchen Philoſophie
erfuͤllt, mit mehreren Inſtanzen dazwiſchen, als z. B.,
daß jener der gegen den Atheiſten gewinnt, erſt beweiſen
muͤſſe, daß er den Gott, den er zu glauben vorgebe, wirk-
lich glaube; denn ſonſt koͤnne die buͤrgerliche Zuſicherung
des Atheiſten, der ſich bloß zu dem Vernunft- und Sit-
tengeſetz bekennt, ohne Vergleich ehrenwerther ſeyn ꝛc. Moͤ-
ſer ſchreitet dagegen in ſeiner Richtung fort und gelangt
durch die weitere Entwickelung ſeiner Beiſpiele zu dem
Reſultat: der Staat muß ſich die Glaubensbekenntniſſe
jeder Parthey, die ſich als ſolche geltend macht, vorlegen
laſſen; hat er eines gebilligt, ſo muß die Parthey ſolches
in ihren Schulen und Tempeln nicht nur getreulich, ohne Zu-
ſatz lehren, ſodann auch ihre Jugend ſich dazu auf eine feier-
liche Art bekennen laſſen. Ob er ſein Bekenntniß wirklich
glaube, darf der Staat nicht weiter erforſchen wollen, er
muß die rechtliche Meinung fuͤr ſich haben. Wer es aber
nicht kund geben will, der iſt zwar zu dulden, aber er
kann zu keinem obrigkeitlichen Amte gelangen, ſein Zeug-
niß wird nicht angenommen, und wenn es zum Kriege
geht, muß er, weil man ihm ſelber die Waffen nicht ver-
trauen kann, ſeinen Mann bezahlen. Dabei wird er aber
[318]Sechzehntes Capitel.
doch, wenn er gegen die von der Mehrzahl beliebten Ge-
ſetze ſich vergeht, eben ſo beſtraft, als ob er das Geſetz
mitbewilligt haͤtte. So weit Moͤſer; und Rehberg iſt in
ſpaͤteren Tagen nicht allein Moͤſern beigetreten, ſondern
urtheilt ſelbſt, daß dieſer nicht genug gethan habe, wie denn
Moͤſer wirklich als guter Erzaͤhler innerhalb ſeines Gleich-
niſſes auf nordamerikaniſchem Boden geblieben iſt. Reh-
berg ſpricht fuͤr den Staat das Recht an, ſolche religioͤſe
Vereine, deren Grundſaͤtze und Meinungen fuͤr verderblich
erklaͤrt ſind, auszuſchließen; auch duͤrfe keiner als vollkom-
mener Wildfang leben, und ſeine Kinder ſo aufwachſen
laſſen. Jeder muß fuͤr die Erziehung derſelben Gewaͤhr
leiſten und hier ſind bloß ausſchließende Ordnungen nicht
einmahl hinlaͤnglich. Einiges Poſitive muß gelehrt wer-
den. Wie viel aber, iſt aus der eigenthuͤmlichen Denkart
jedes Volks, mithin dem beſondern Staatsrechte zu ent-
ſcheiden.


Moͤſers vermiſchte Schriften B. I.


Rehbergs ſaͤmmtliche Schriften B. I. Allgemeine Toleranz.


294. So nun iſt es in der That. Der Staat
darf nicht beherrſcht werden von der Kirche,
aber er darf auch nicht herrſchen zum Nachtheile
des religioͤſen Lebens
.


Nicht beherrſcht werden von der Kirche. Es wuͤrde
wenig Kenntniß der Religionsgeſchichte verrathen, wenn
jemand meinte, die Staatsordnung duͤrfe darum laxer ſeyn,
weil unſere Europaͤiſchen Staaten doch faſt allein mit
Chriſtlichen Secten in Beruͤhrung kommen. Aber ſelbſt
unſer Zeitalter hat Poͤſchelianer geſehen, die fuͤr ihren Glau-
ben Mitmenſchen toͤdteten, hat Gemeinſchaft der Guͤter
und der Weiber geſehen, die ſich Chriſtenthum nannte.
[319]Religion und Kirche im Staate.
Andere ehrenwerthe Secten machen es dem Staate ſchwer
durch ihre Gleichguͤltigkeit gegen ihn, wie die Herrnhuter,
andere noch ſchwerer durch ihr Widerſtreben gegen einzelne
ſeiner Forderungen, wie die Quaͤker, welche aus Misver-
ſtand ſich dem Eide und dem Kriegsdienſt entziehen.
Weder die Zahl der Gleichguͤltigen, noch die der Wider-
ſtrebenden darf im Staate ſtark anwachſen, indeß wird der
Staat auch ſelbſt den Letzteren bedingte Duldung in der
Hoffnung vergoͤnnen, daß ſich eben durch die Duldung das
duldungswuͤrdige Princip weiter ausbilden, das entgegen-
geſetzte aber allmaͤhlig einſchlummern werde; eine Hoff-
nung, die ſich auch in den Quaͤker theilweiſe ſchon erfuͤllt
hat. Allein wenn der Staat es auch litte, der taͤglich uͤber
Eid und Ehe halten muß, auch den Kriegsdienſt nicht der
Chriſtlichen Liebe aufopfern darf, die Religion ſelber beſitzt
die Faͤhigkeit gar nicht, als herrſchende Kirche an den Platz
des Staates zu treten, oder ſich ſo zu ſtellen, daß ſie we-
nigſtens die Hauptleitung uͤbernehme, im uͤbrigen ſie den
Staat dulde
. Die Religion iſt eine Fackel, welche das
menſchliche Thun zu erleuchten vermag, aber nicht zu er-
ſetzen. Die der Gottheit zugewandte Geſinnung weiß die
vergaͤnglichen Guͤter den ewigen unterzuordnen, verirrt
ſich nie dahin in jenen die letzten Zwecke des menſchli-
chen Strebens zu erkennen, allein die Faͤhigkeit die weltli-
chen Dinge, wie ſie dermahlen vorliegen, thaͤtig zu behan-
deln wird auf ganz andern Bahnen erworben, und nur
wer uͤber die Stoͤrungen der Erſcheinung im Geiſte hin-
auszublicken vermag, iſt vielleicht im Stande in der Voll-
endung der menſchlichen Dinge eine kuͤnftige Ausgleichung
vorzuahnden. Wer dagegen die Forderungen der Religion,
welchen die zuruͤckgezogenſte Aſcetik ſich nur ſtufenweiſe zu
naͤhern weiß, ohne weiteres auf die großen Weltverhaͤlt-
[320]Sechzehntes Capitel.
niſſe uͤbertraͤgt, der kann zwar, wenn er gewaltig und
wirklich begeiſtert iſt, maͤchtig aufregen, aber er zuͤndet
ſtatt zu erleuchten und gefaͤhrdet durch Mishandlung der
weltlichen Ordnungen den Staat, den er zu verbeſſern ge-
dachte. Daß der Menſch Alles mit Religion, nichts aus
Religion thun muͤſſe, iſt ein tiefes Wort Schleiermachers.
Den Beweis dafuͤr giebt mancher große Abſchnitt der Men-
ſchengeſchichte, von der Geſchichte des Kirchenzehenten und
des Zinſes vom Darlehn, des den Sachſen mit dem
Schwert gepredigten Glaubens, der treuga Dei, des geiſt-
lichen Coͤlibats und der Kreuzzuͤge an bis ſelbſt zur inne-
ren Geſchichte der heiligen Allianz herab. Darum ſteht,
wer moͤchte es leugnen? die katholiſche Kirche viel bedenk-
licher gegen den heutigen Staat, der auf ſeine Rechte auf-
merkſam geworden iſt und entſchloſſen iſt das nicht fahren zu
laſſen, was von der andern Seite nur als Conceſſion in der
Form von Circumſcriptionsbullen oder Concordaten mit ei-
nem auswaͤrtigen Kirchenfuͤrſten, der des doppelten Schwer-
tes ſich ruͤhmt, unwillfaͤhrig eingeraͤumt wird, als die pro-
teſtantiſche, welche mit dem Staate ausgeſoͤhnt iſt, ſeinen
alleinigen Schutz in Anſpruch nimmt und keines auswaͤrtigen
Richters begehrt, ſeiner Oberaufſicht ſich willig unterwirft,
ſein Veto in kirchlichen Dingen anerkennt, und nur uͤber
die Graͤnzen nachſinnt, welche ſeiner geſetzgebenden
Gewalt auf kirchlichem Boden zu ſtecken ſind.


295. Denn der Staat darf nicht herrſchen zum Nach-
theile des religioͤſen Lebens. Vielleicht iſt es minder zu
beklagen als es zu geſchehen pflegt, daß die großen Refor-
matoren ihren Eifer lieber auf die lebendige Pflege der
Religion als auf die Ausarbeitung einer vollſtaͤndigen Kir-
chenverfaſſung verwandten; ſie wuͤrden auf dem andern
[321]Religion und Kirche im Staate.
Wege den Conflict der vom Pabſtthum losgeriſſenen, ihren
Herrn ſuchenden Kirche mit dem Staate gefaͤhrlich ver-
ſtaͤrkt und den Ausgang, wie er nun wurde, dennoch
ſchwerlich vermieden haben. Denn der Staat ſchmachtete
nach Einheit. Das Territorial-Syſtem des Chriſtian Tho-
maſius und das Collegial-Syſtem des Tuͤbingiſchen Kanz-
lers Chriſtoph Matthaͤus Pfaff gehen beide von gleich noth-
wendigen Geſichtspunkten aus, die ſie nur einſeitig gel-
tend machen und manchmahl bis zum Äußerſten verfolgen.
Der Eine eilt dem Staate zu Huͤlfe, aber er verwechſelt
gern die Rechte des Staats mit denen des Fuͤrſten, der
Andere traͤgt die Fiction des urſpruͤnglichen Vertrages auf
die Kirche uͤber, doch treibt in ihm der Grundgedanke des
religioͤſen Lebens nach Verwirklichung. Es fragt ſich hier
weſentlich zweierlei: Was der (evangeliſche) Staat uͤber-
haupt in kirchlichen Dingen vermoͤge? und: Auf welchem
Wege er am beſten ausrichte was ihm zuſteht, was ihm
nicht ziemt vermeide? Die Antwort auf die erſte Frage
iſt: er hat die einmahl aufgenommenen Kirchen nach ihrem
Lehrbegriffe und ihrer Geſellſchaftsverfaſſung zu behandeln.
Er iſt daher dermahlen außer Stand die katholiſche Kirche,
beſonders inſofern ſie papiſtiſch iſt, in ein ganz richtiges
Verhaͤltniß zu ſeiner Ordnung zu ſetzen; nichts deſto we-
niger regelt er dasſelbe durch Vergleiche mit der Paͤbſtli-
chen Curie, ſo viel ohne Verletzung der Gewiſſen geſchehen
kann, moͤglichſt zu ſeinem Vortheile, denn er iſt in ſeinem
Rechte. Die evangeliſche Kirche erkennt alle Herrſchafts-
Rechte des Staates an, wie ſie aus dem Schutze
und der Oberaufſicht hervorgehen, allein von dieſer Kir-
chenhoheit, welche aus dem Begriffe des Staates fließt,
trennt ſie die Kirchengewalt, welche die Verwaltung der
Kirchengeſellſchaft angeht, die aber freilich auch an ein
21
[322]Sechzehntes Capitel.
Mitglied uͤbergehen kann. Denn nur einem Mitgliede,
nur einer gleichen Glaubensuͤberzeugung glaubt ſie mit
Sicherheit die Handhabung derſelben vertrauen zu koͤnnen,
und in weſſen Hand auch ihre inneren Angelegenheiten
liegen moͤgen, geſetzt auch, daß der Landesherr ſich im Be-
ſitze der Ausuͤbung der Rechte ſaͤmmtlicher Gemeinden be-
faͤnde, dieſe Ausuͤbung darf doch nur im Sinne ihres Lehr-
begriffes und ihrer Geſellſchaftsverfaſſung geſchehen; denn
in beiden iſt ihr Weſen enthalten. Das: in weſſen
Hand
fuͤhrt auf die zweite Frage. Daß mit dem jus
majestaticum circa sacra,
als aus der Landeshoheit fließend,
auch das jus in sacra unter dem Namen des hoͤchſten
Epiſcopats in die Haͤnde der proteſtantiſchen Fuͤrſten Deutſch-
lands uͤberging, hat, was man auch gegen die Concordien-
Formel einwende, ſeine ſchoͤnen Fruͤchte getragen. Der
Deutſche Proteſtant hat weder England, noch Schweden,
in welchen Landen der Kirchenſtaat in die Haͤnde der ho-
hen Geiſtlichkeit kam, um die Entwickelung ihres Kirchen-
weſens zu beneiden. Allein er wird allerdings fragen,
ob, vorausgeſetzt auch daß ein Verfaſſungsartikel die Kir-
chengewalt fuͤr den Fall ſicher geſtellt hat, daß der Fuͤrſt
den evangeliſchen Glauben verließe, nicht außerdem noch,
eben wie die Staatsgewalten, ohne ſich der monarchiſchen
Kraft zu entfremden, der Theilnahme des Volks empfaͤng-
lich ſind, auch in der Kirche die Thaͤtigkeit der Ge-
meinden hinzuzuziehen ſey. Das Princip der Reformation
entfernt den Unterſchied zwiſchen Prieſtern und Laien. Die
Schweizeriſche Lehre hat zuerſt auf franzoͤſiſchem Boden im
Widerſtande gegen den Druck einer fremden Kirche die Kir-
chengewalt der Gemeinde bei gleichen Rechten der Laien mit
den Geiſtlichen zur voͤlligen Autonomie ausgebildet. Was
in dieſer Richtung gelingen koͤnne, zeigen die Presbyterien
[323]Religion und Kirche im Staate.
in der Schweiz, den Niederlanden, Schottland, auch ein-
zelnen kleinen Theilen der Deutſchen Bundesſtaaten. Die
Presbyterial-Verfaſſung, wo ſie allein ſteht, iſt die Re-
publik des Kirchenweſens.


Nichts zwar hindert den Landesherrn auch unbeſchadet
ſeiner Kirchengewalt die in der Reformation tief begruͤnde-
ten Anſpruͤche der Laien durch Rathserholung zu ehren.
In dieſem Sinne wurden auf den Rath der Reformatoren
Conſiſtorien aus Geiſtlichen und kundigen Laien berufen
welche den Landesherrn, der ſie ernannte, in kirchlichen
Dingen beriethen. Dieſe Einrichtung hat in unſern Ta-
gen manche Umgeſtaltung erfahren, ohne daß doch ihr
Grundſatz veraͤndert waͤre. Gegenwaͤrtig hat im Koͤnig-
reiche Preußen ein Provincial-Conſiſtorium die Aufſicht
uͤber das Kirchenweſen und die ganze Amtsfuͤhrung der
Geiſtlichkeit, welche letztere bis zur Suspenſion geht; uͤber
Remotion entſcheidet auf Antrag des Conſiſtoriums die
Regierung durch eine fuͤr jeden Regierungsbezirk der Pro-
vinz beſtellte Kirchen- und Schul-Commiſſion, welche
einen Theil des Regierungs-Collegiums ausmacht, die
koͤniglichen Prediger- und Schulſtellen beſetzt, imgleichen
die Pruͤfungen der Anzuſtellenden beſorgt *). Im Allge-
meinen pflegt den Conſiſtorien auch die Aufſicht oder Mit-
aufſicht auf das Volksſchulweſen vertraut zu ſeyn, nicht
minder eine Jurisdiction, welche ſich auch auf Nicht-Geiſt-
liche durch Kirchenſtrafen bei Vergehungen gegen die kirch-
liche Ordnung und in Eheſachen ausdehnen kann; nur daß
die Kirchenſtrafen außer Übung getreten ſind und Eheſachen
oft einem eigenen aus Geiſtlichen und Weltlichen gemiſch-
ten Ehegerichte uͤbergeben werden. Das allgemeine Reſul-
tat bleibt: Wo die reine Conſiſtorial-Verfaſſung ſtattfin-
det, und uͤberhaupt wo in der evangeliſchen Kirche der
21*
[324]Sechzehntes Capitel.
evangeliſche Landesherr die volle Kirchengewalt hat, da
wird von Geiſtlichen und Laien, die der Landesherr aus-
waͤhlt, je nachdem der Landesherr es anordnet, in kirchli-
chen Dingen entweder bloß berathen, oder nach Inſtruction
entſchieden.



296. Dieſe Verfaſſung wird fuͤr den gewoͤhnlichen
Gang der Dinge ausreichen, inſofern die monarchiſche Kir-
chengewalt den Grundſaͤtzen jeder Kirche getreu und leben-
dig nachkommt, den Kirchenvorſtaͤnden der einzelnen Ge-
meinden einen gehoͤrigen Antheil an der Verwaltung des
kirchlichen Vermoͤgens geſtattet und nicht etwa einer beguͤn-
ſtigten Confeſſion zuwendet was ſie der anderen entzieht.
Aber wenn Veraltung eintritt, wenn vielleicht ein neues
Geſangbuch, eine neue Liturgie einzufuͤhren, vielleicht gar
eine Union von Lutheranern und Reformirten zu begruͤn-
den iſt, kurz wenn in der Kirche etwas zu ſchaffen iſt,
dann offenbart ſich die Unvollkommenheit der Verfaſſung,
welche zu der Kirchenhoheit auch die geſammte Kirchenge-
walt allein in landesherrliche Haͤnde niederlegt. Landesherr
und Conſiſtorium, auch ſelbſt durch Notabeln, die wieder der
Landesherr ernennt, erweiterte Conſiſtorien koͤnnen keine
Kirchengeſetze begruͤnden, ohne Gefahr zu laufen, mit der
Gemeinde der Glaͤubigen in Widerſpruch zu gerathen. In
dieſem Falle bieten ſich zwei Wege dar: Entweder, die Re-
gierung verzichtet auf das unmittelbare Schaffen, ſtellt ihre
kirchlichen Arbeiten, gleich Rechtsbuͤchern, auf, unterſtuͤtzt
ſie mit aller ihr zur Gebote ſtehenden Kraft der Einſicht,
uͤbrigens ihr Schickſal der oͤffentlichen Meinung vertrauend,
die ſie zur allmaͤhligen Annahme durch freie Verſtaͤndigung
[325]Religion und Kirche im Staate.
der Prediger mit ihren Gemeinden fuͤhren oder auch nicht
fuͤhren moͤge; Oder, der Landesherr entaͤußert ſich der allei-
nigen Kirchengewalt, fordert die einzelnen Gemeinden auf
einen gemiſchten Kirchenvorſtand aus freigewaͤhlten (nicht
lebenslaͤnglichen) Älteſten und Orts-Geiſtlichen ſich zu bil-
den, dieſem ihr kirchliches Vermoͤgen unter Oberaufſicht
des Staates in ſelbſtaͤndige Verwaltung zu geben, nicht
minder durch das Presbyterium die Wahl von Geiſtlichen
und Älteſten vorzunehmen, die auf einer Provincial- oder
auch allgemeinen Synode ihren Rath abgeben werden, und
wider deren Rath nicht entſchieden werden ſoll. Den Con-
ſiſtorien bleibt dabei ihre Gewalt als landesherrlichen Be-
hoͤrden in Kirchenſachen unbenommen, die Synoden aber
gehen aus der kirchlichen Gemeinde eben wie die Staͤnde-
verſammlungen aus der politiſchen, indeß mit minder Will-
kuͤhr aus organiſchen Grundlagen hervor. Auch an Mit-
gliedern von landesherrlicher Ernennung wird es in der
Synode nicht fehlen. Denn erſten dieſer Wege hat die
Preußiſche Regierung im Jahre 1798 verſucht, und in der
Koͤniglichen Cabinetsordre wegen der neuen Liturgie vom
18ten Juli ſo bezeichnet: “Jetzt beſonders freut es mich,
daß Hoffnung vorhanden iſt, beide Confeſſionen durch eine
gemeinſchaftliche Agende, der bleibenden Verſchiedenheit der
Meinungen ungeachtet einander naͤher zu bringen, und da-
durch ſelbſt den unaufgeklaͤrten Theil der kirchlichen Ge-
meine immer mehr zu uͤberzeugen, daß Friede, Liebe und
Duldung die einzigen noͤthigſten Mittel in Religionsſachen
ſind. Durchdrungen von dieſer Wahrheit will ich, daß bei
der vorhabenden Liturgie nicht nur aller Zwang — denn
an dieſen darf in Angelegenheiten des Gewiſſens und der
Überzeugung gar nicht gedacht werden — ſondern auch ſo
viel als moͤglich alle buͤrgerliche Autoritaͤt vermieden, und
[326]Sechzehntes Capitel.
die auszuarbeitende verbeſſerte Agende Anfangs bloß als
eine Privatunternehmung einzelner Gelehrten angeſehen wer-
den ſoll. — — Naͤchſtdem aber befehle ich Euch, einigen ernſt-
haften, tolerant denkenden, und in jeder Ruͤckſicht brauch-
baren Maͤnnern, nach vorgaͤngiger meiner Genehmigung
derſelben, den Auftrag zu machen, eine Sammlung von kirch-
lichen Gebeten, Tauf-, Trauungs- und Abendmahlsformu-
laren, mit Benutzung der ſchon vorhandenen und allgemein
geſchaͤtzten Agenden, zu veranſtalten, und, nach von derſel-
ben erhaltener Billigung, ſolche dem großen Publicum zur
allgemeinen Pruͤfung durch den Druck vorlegen zu laſſen,
die Stimme der Verſtaͤndigeren daruͤber zu vernehmen, ihre
gegruͤndeten Erinnerungen zu benutzen, und, wenn die oͤffent-
liche Meinung fuͤr die Zweckmaͤßigkeit derſelben entſchieden
hat, auch die mehrſten Prediger und Gemeinen die Einfuͤh-
rung derſelben verlangen, unter Einreichung derſelben an mich
zu berichten. Alsdann werde ich beſtimmen, ob der oͤffent-
liche Gebrauch der verbeſſerten Agende denen, die ſie ver-
langen, unter gaͤnzlicher Freiheit eines Jeden, ſich noch der
alten zu bedienen, erlaubt werden ſolle. Nur auf dieſe Weiſe
wird eine in dieſer wichtigen Angelegenheit, wovon die Wie-
derbelebung der in neueren Zeiten ſo merklich in Abnahme
gekommenen Religioͤſitaͤt abhaͤngt, ſo hoͤchſt wuͤnſchenswerthe
Verbeſſerung ohne anſtoͤßige unruhige Auftritte bewirkt wer-
den koͤnnen. Ich empfehle Euch daher, bei der Ausfuͤhrung
dieſes Auftrages mit der moͤglichſten Behutſamkeit zu Werke
zu gehen — —”. *) Indeß kam damahls aus minder be-
kannten Gruͤnden nichts zu Stande. Als aber zwanzig
Jahre darauf im Jubeljahre der Reformation durch einen
Aufruf des Koͤniges von Preußen der wichtige Verſuch ein-
geleitet ward, eine Vereinigung beider Confeſſionen im Sinne
einer freien Union ohne kuͤnſtliche Unirung des Dogma zu
[327]Religion und Kirche im Staate.
vollbringen, und bei der vorwiegenden Neigung der Gemein-
den die noch trennenden Unterſchiede um der naͤheren Ge-
meinſchaft Willen lieber zu uͤberſehen, der Hauptſache nach
durch freien allmaͤhligen Beitritt gelang, kuͤndigten ſich zu-
gleich Einrichtungen an, welche die unerkennbare Richtung
des zweiten Weges nahmen. Mit der Staatsverfaſſung
ſollte ſich die kirchliche Verfaſſung umgeſtalten, Provincial-
Staͤnde und Reichsſtaͤnde ſollten neben Provincial-Syno-
den und Reichs-Synoden ſtehen. Auch ward wirklich der
Verſuch mit Kreis- und Provinzial-Synoden, die indeß
bloß aus Geiſtlichen beſtanden, gemacht, und eine General-
Synode verheißen. Inzwiſchen gab man nach einigen Jah-
ren mit der Umbildung der Reichsverfaſſung auch die der
Kirchenverfaſſung auf, verließ den zweiten Weg, ohne ge-
neigt zu ſeyn auf den langſam aber, weil der Glaube ſich
nicht vertreten laͤßt, ſicherer zum Ziele fuͤhrenden erſten zu-
ruͤckzukehren. Vielmehr hat bei Betreibung der neuen
Agende ſeit 1821 ſich mannigfache Klage verbreitet uͤber
Bedruͤckung der oͤffentlichen Meinung, indem nur den Lob-
rednern das Wort vergoͤnnt ſey, ſelbſt beſcheidener Tadel
die Gewalt erfahren muͤſſe, welche Gunſt und Ungunſt der
Maͤchtigen zu uͤben vermoͤgen, auch ſey neben lockender An-
erbietung in einigen Faͤllen Drohung angewendet. Dar-
um hat die neue Agende nicht allein den Stand des Kir-
chenweſens nicht verbeſſert, ſondern ſelbſt nachtheilig durch
Misſtimmung und Kaͤlte auf das erfreuliche Werk der Union
zuruͤckgewirkt.



297. Synoden, bloß aus Geiſtlichen beſtehend, vielleicht
dazu bloß hoͤheren Geiſtlichen (Wuͤrtemberg), oder aus Geiſt-
lichen mit einem Zuſatze von Beamten, wie man ſie fuͤr
die Proteſtanten im Koͤnigreiche Baiern beabſichtigte, (waͤh-
rend man in Baden zutreffenden Formen Raum gab, nur
bei der Ausfuͤhrung der Synodalbeſchluͤſſe den Vorwurf des
[328]Sechzehntes Capitel. Religion und Kirche im Staate.
Gewiſſenszwanges nicht ganz vermied,) werden bei den
Gemeinden eher Sorge wegen hierarchiſcher Fortſchritte als
Zutraun erwecken, und zwar um ſo viel weniger Zutraun,
je mehr die Beſetzung der meiſten Pfarrſtellen der Mitwir-
kung der Gemeinden entzogen iſt. Da der Staat vermoͤge
der Staatspruͤfung ungebildete Religionslehrer abwehrt, ſo
darf die Forderung aufgeſtellt werden, daß die freie Wahl
der Gemeinde unter Beſtaͤtigung der Regierung als Regel
bei Beſetzung von bloßen Pfarrſtellen eintreten moͤge, und
zwar vornehmlich bei den Landgemeinden, als welchen keine
Auswahl unter mehreren Seelſorgern vergoͤnnt iſt.


298. Die Aufnahme der Iſraeliten zu gleichen Rechten
bleibt, wie ſehr man ſie auch ausſchließlich auf den Ge-
ſichtspunkt der leidenden Menſchheit zuruͤckfuͤhre, immer doch
eine Staatsfrage. Wo Widerwillen, mindeſtens Gleichguͤl-
tigkeit gegen weſentliche Beſtandtheile unſrer geſellſchaftli-
chen Ordnung obwaltet, wo eine den Gegenſtaͤnden unſe-
rer Verehrung feindſelige Geſchichte ihre unverkennbare Macht
uͤbt, da iſt weder die Frage nach der Zahl der ſo Beſchaffe-
nen uͤberfluͤſſig, noch nach der Staͤrke ihrer Aſſociation, auch
keineswegs unbillig der Unterſchied ihrer Behandlung im
Einzelnen und Allgemeinen nach der Art ihrer Betriebe und
dem Grade ausgebildeter Standesehre, nach dem Mehr oder
Minder der nationalen Privatrechte, welche ſie als Theile
ihres Glaubens heilig zu halten fortfahren, nach der Stim-
mung, mit welcher die chriſtliche Bevoͤlkerung auf einen
Richter, einen militaͤriſchen Vorgeſetzten aus dieſem Volk hin-
blicken wuͤrde. Der richtige Geſichtspunkt iſt, zu verhindern,
daß ſie nicht bloß die Vortheile hinnehmen, den Verbindlich-
keiten ſich entziehen. Fortſchritte moͤgen mit Fortſchritten ſtu-
fenweiſe belohnt werden; die Gebrechen unſrer buͤrgerlichen
Geſellſchaft geſtatten keine politiſche Wageſtuͤcke mehr.

[][][]
Notes
*)
So auch gegen die indirecten Wahlen, allein das Project der
Verfaſſungs-Commiſſion der Eilfe, die Wahlcollegien aufzu-
heben, ward am 15. Jul. abvotirt: L’assemblée ferme la
discussion et décrète, en principe, qu’il aura des corps
électoraux
.
Notes
1).
Delos, wo keine Frau gebaͤren, die Jomsburg, wo keine hau-
ſen durfte.
1).
Im eigentlichſten Sinne des Worts. Xenophon R. A. c. 12,
4. vgl. die von Haaſe citirten Stellen.
2).
„Sie toͤdten von den Heloten ſo viele als noͤthig iſt.“ Hera-
clidis Pont. Fragm. II.
vgl. Plutarch’s Lykurg c. 28.
3).
Thucyd. IV, 80.
1).
Poſidonius bei Athenaͤus. B. IV. p. 233.
1).
Papinians. Digest. L. XXVIII. t. 7, 15.
2).
quod infra imperiale columen causarum essent minutiae pri-
vatarum. Ammian. Marcell. l. XXX. c.
4. Anfg. ſ. Bethmann-
Hollweg, Gerichtsverfaſſung und Proceß des ſinkenden Roͤmi-
ſchen Reichs. S. 98.
1).
δεῖ ϑεοῦ καὶ βασιλέως ἐπὶ τὰ πϱάγματα. p. 21. der Rede des
Syneſius uͤber das Koͤnigthum in der Petaviſchen Ausgabe von
1612. Vgl. ſonſt pp. 6. 13. 16. 19‒21.
1).
Von den Staͤdteverfaſſungen iſt hier nicht die Rede.
1).
ſ. Lord John Ruſſel, Geſch. der engl. Reg. und Verf. S. 233.
der Ueberſ. und was John Craig, Grundzuͤge der Politik I, 182.
aus der Petition an die Commons vom J. 1793. anfuͤhrt.
1).
Über den groͤßeren politiſchen Zuſammenhang der Maasregel
vortrefflich Rehberg in den Bemerkungen zu ſeiner Überſ. von
Lord Porcheſters Aufenthalt in Spanien waͤhrend der Revolution
im J. 1820. S. 116. ff.
1).
Bei Edgar Taylor, The book of Rights: or, constitutional
acts and parliamentary procedings. Lond
. 1833. S. 283. dem
Abdrucke der Reform-Acte hinzugefuͤgt.
1).
The substance of this rule (Journal des Oberhauſes v. 17. May
1606.) is, “That a bill being brought into the House, and af-
terwards rejected, another Bill of the same argument and
matter may not be renewed in the same house in the same
session; but if a Bill begun in one House, be disliked and
refused in the other, a new Bill of the same matter may be
drawn and begun again in that House whereunto it was sent.”
(John Hatsell) Precedents of procedings in the house of Com-
mons. Vol. 2. (sec. ed. Lond. 1785.) p.
92.
2).
Bills, die Armen angehend, wurden 1699. fuͤr public bills,
darum koſtenfrei erklaͤrt; doch ſ. die Note bei J. Hatſell II, 205.
1).
Polit. II, 8. vgl. Platon’s Rep. VIII. p. 544.
1).
Hegel, Grundlinien der Philoſophie des Rechts, herausgeg. von
Gans. Berlin 1833. S. 372 f.
1).
§. 3. Primogenitus filius succedat in eis, sibique soli jus et
dominium competat, nisi forsitan mente captus, fatuus seu
alterius famosi et notabilis defectus*) existeret, propter
quem non deberet seu posset hominibus principari.
§. 4. In quo casu inhibita sibi accessione secundogenitum,
si fuerit in ea progenie, seu alium seniorem fratrem, vel con-
sanguineum laicum, qui paterno stipiti in descendenti recta
linea proximior fuerit, volumus successurum.
*)
Eine ſchaͤrfere Beſtimmung war hier um ſo nothwendiger, da
die Lehnsgewohnheiten in dieſem Punkt ſehr abweichen. Nach
auctor vetus de benef. §. 81. ſchließt bloß der Ausſatz vom
Lehn aus. Das Roͤmiſche Recht unterſcheidet zwiſchen dem
Rechte ein Amt bei koͤrperlichem Fehl fortzuſetzen und es damit
behaftet anzutreten. fr. 1. §. 5. Dig. de postulando (III, 1.).
Seit die Lehnseigenſchaft der Deutſchen Fuͤrſtenthuͤmer mit dem
Reichsverbande erloſchen iſt, tritt vollends der Geſichtspunkt
ein, nach welchem ſchon im Saͤchſiſchen Landrecht 1, 4. Land-
erbe und Lehnerbe unterſchieden wird, und es kommt zur Zeit
lediglich der politiſche Nutzen neuer Verfaſſungsbeſtimmungen [90]Fuͤnftes Capitel.
uͤber dieſen Punkt in Frage. Eine ſolche Beſtimmung findet
ſich im Koͤnigl. Wuͤrtembergiſchen Hausgeſetze vom 1ſten Jan.
1808. §. 7. (bei Reyſcher B. III.), ſie iſt aber in das jetzt
guͤltige Wuͤrtembergiſche Hausgeſetz vom 8. Jun. 1828. nicht
wieder aufgenommen.
1).
Meiners und Spittler, Goͤtting. Hiſt. Magaz., 4ter Bd. 1ſtes St.
1).
S. den den Großherzogl. Badiſchen Staͤnden im May 1831.
vorgelegten, auf der Apanage der Individuen baſirten Entwurf
eines Apanage-Geſetzes Art. 27. Verhandlungen der Badiſchen
Staͤnde vom Jahr 1831., das Beilageheft S. 155 ff.
2).
Beſonders lehrreich uͤber die Grundſaͤtze des Apanage-Weſens
iſt der Erbverein des Geſammthauſes Naſſau vom J. 1783.
(Reuß teutſche Staats-Canzley B. 16.), und das Primogenitur-
Geſetz des Naſſau-Oraniſchen Hauſes vom J. 1785. (Reuß a. a.
O. B. 19.) Den aͤlteren Grundſaͤtzen folgt auch das mit großer
Einſicht entworfene Hausgeſetz des K. Wuͤrtemberg vom J. 1828.
in ſeinem VIIten Abſchnitte.
1).
Digna vox est majestate regnantis, legibus obligatum se prin-
cipem profiteri. l. 1. cod. tit. 14, 4. de legibus.
„Auch ſolche
Rechtsgeſchaͤfte, die das Oberhaupt des Staates betreffen, aber
auf deſſen Privateigenthum, oder auf die in dem buͤrgerlichen
7
[98]Fuͤnftes Capitel.
Rechte begruͤndeten Erwerbungsarten ſich beziehen, ſind von den
Gerichtsbehoͤrden nach den Geſetzen zu beurtheilen.“ Allgem.
buͤrgerl. Geſetzbuch fuͤr die Öſterreich. Monarchie Th. I. Hptſt.
1. §. 20. If any person has, in point of property, a just
demand upon the king, he must petition him in his court of
chancery, where his chancellor will administer right as a
matter of grace, though not upon compulsion. Blackstone
Comment. on the law of England. B.I. Chapt. 7. (T. I. p. 242.
the 15d ed. by Christian).
1).
Quod principi placuit legis habet vigorem.
1).
Lingard, Geſch. v. England (uͤberſ. v. Salis) IV, 44 ff.
2).
That no pardon under the great seal of England be pleadable
[103]Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.
to an impeachment by the commons in parliament. In der
ausfuͤhrlichen Monographie: Die Miniſterverantwortlichkeit in
conſtitutionellen Monarchieen. Leipz. 1833. wird dieſe Beſtim-
mung der bill of rights angeeignet und uͤberhaupt unrichtig an-
gegeben (S. 38.) und endlich mit Unrecht angenommen, (S. 104.)
daß dem Koͤnige von England das Begnadigungsrecht zwar nicht
waͤhrend des Proceſſes, aber nach erkannter Strafe zuſtehe.
3).
Vgl. oben 125.
4).
Als das Miniſterium im J. 1807. die Abgaben von der Nord-
Americaniſchen Einfuhr einen Monath laͤnger erhoben hatte, als
die American act vorſchrieb, geſtand es die Verletzung des Ge-
ſetzes zu, „denn warum ſollte ſonſt die Krone ihre Praͤrogative
aufgeben und um eine bill of indemnity einkommen, wenn es
klar, daß kein Geſetz verletzt ſey?“ Merkwuͤrdig aber ſind die
ſchriftlichen Proteſtationen der Oppoſition bei Hansard, The
parliamentary debates from the year 1803. to the present
time. Vol. IX. p.
996-1001. Am heftigſten beſtritten ward in
beiden Haͤuſern im Jahr 1818. die nach Suspenſion der Habeas
Corpus
-Acte geforderte Strafloſigkeit nicht bloß fuͤr die Miniſter,
ſondern auch fuͤr die Magiſtratsperſonen, welche die Klagen vie-
ler unſchuldig Verhafteten fuͤrchteten, nicht minder fuͤr die An-
geber (informers, oder wie die Oppoſition ſagt: spies). S.
Hansard Vol. XXXVII. Auch die wegen Miswachs der Futter-
Kraͤuter geſetzwidrig erlaubte Hafer-Einfuhr gab 1826. zu eini-
gen Debatten uͤber die erbetene indemnity Stoff. Hansard, New
Series Vol. XVI.
5).
Commentaries B. I. c. 7. p. 245 sq.
6).
Die Erwaͤgung, wie incommenſurabel Menſchliches zum Himm-
liſchen ſtehe, war auch dem Mittelalter nicht verſchloſſen.
Daz der bâbest niht gesünden müge,

swer des giht, daz ist ein lüge.

ſagt im 13ten Jahrhundert Vridank in Wilhelm Grimm’s Ausg.
S. 149.
1).
Der fruͤhere (jetzt aufgegebene) Gedanke war, zu der politiſchen
und criminalen Verantwortlichkeit noch eine dritte, die civile,
hinzuzufuͤgen, indem man das Vermoͤgen der Miniſter fuͤr jeden
Verluſt dafuͤr in Anſpruch naͤhme, welchen durch ihr oder ihrer
Unter-Beamten Verſehen der Staat erleidet. Es war hiermit
hauptſaͤchlich die Überſchreitung der miniſteriellen Credite gemeint.
1).
Nicht bloß in fruͤhen Zeiten, wie 1292. in Brabant (Huͤllmann
Geſch. des Urſprungs der Staͤnde in Deutſchland S. 655.). Noch
1514. erinnern die Bayriſchen Staͤnde ihren Landesherrn an die
Strafe (der Entſetzung), welche ihre alten Briefe drohen, und
wollen es von zwei Bruͤdern mit dem folgſamern Fuͤrſten halten
(Rudhart a. a. O. II, 52. 58.). Die ſogen. ewige Union der
Sachſen-Lauenburgiſchen Staͤnde, am 16. Dec. 1515. abgeſchloſſen
und vom Herzoge Franz approbirt, enthaͤlt eine gleich drohende
Huldigung. Die Schleswig-Holſteiniſchen Staͤnde waͤhlten noch
1588. ihre Landesherren, und drohten in der Wahlacte, wenn
uͤber Zuverſicht die Privilegien nicht gehalten wuͤrden, „daß als-
dann eine ehrbare Landſchaft ihrer Eyde und Pflicht erlaſſen,
und dieſe ergangene Wahl nichtig ſeyn ſoll.“ Lackmann, Einleit.
zur Schl.-Holſt. Geſch. Th. II. S. 25 f.
2).
In der noch geltenden Verfaſſung des Herzogthums Lauen-
burg iſt das ausdruͤcklich feſtgeſetzt. Suſemihl in den Kieler
Blaͤttern IV, 290. Es iſt nehmlich ein Irrthum, wenn in der
neuen Ausgabe von Poͤlitzens Europ. Verf. I, 2, 723 ff., die
neuen ſtaͤndiſchen Einrichtungen fuͤr Holſtein auch auf Lauenburg
ausgedehnt werden.
1).
Es iſt das aber nicht bloß eine nothwendige politiſche Fiction;
es liegt in der Natur der Dinge, daß ſich ihr Schwerpunkt nach
der Seite neige, wohin die Mehrzahl ihrer Beſtandtheile tritt.
1).
Auch nach der Julius-Revolution hat man in Frankreich den
Artikel 42. der Charte von 1814. beibehalten, welcher vor-
ſchreibt, daß mindeſtens die Haͤlfte der Deputirten eines Depar-
tements in demſelben wohnhaft ſeyn muͤſſe.
1).
Suffragandi nimia libido in non bonis causis eripienda fuit
potentibus; non latebra danda populo, in qua bonis ignoran-
tibus, quid quisque sentiret, tabella vitiosum occultaret suffra-
gium. Cicero de legibus III, 16.
2).
In der Verfaſſung von 1791. findet ſich gar keine Beſtimmung.
Acte constitutionnel de la république (1793) art. 16. Les
élections se font au scrutin ou à haute voix, au choix de
chaque votant.
vgl. art. 17. 18. Verfaſſung von 1795. titre 3.
art. 31. Toutes les élections se font au scrutin secret.
Die
Charte Ludwigs XVIII. beſtimmt nichts, aber das Wahlgeſetz
vom 5. Febr. 1817. lautet art. 15. Les électeurs votent par
bulletin de liste. — Ordonnance du 25 Juillet 1830. art. 23.
Les électeurs voteront par bulletin de liste. Chaque bulletin
contiendra autant de noms qu’il y aura de nominations à faire.
— 24. Les électeurs écriront leurs votes sur le bureau ou
l’y feront écrire par l’un des scrutateurs
. Wo bleibt aber in
dieſem gewiß haͤufig vorkommenden Falle das Geheimniß?
3).
Deren eine gute Zahl in der neuen Ausg. von Poͤlitz’s Conſtitu-
tionen beiſammen. Ich glaube aber, daß diejenigen Regierun-
gen es nicht bereuen werden, welche bis zur gehoͤrigen Berichti-
gung ihres Gemeindeweſens proviſoriſche Wahl-Anordnungen
treffen. — Die Frage wegen der Abſtimmung haben nach den
entgegengeſetzten Seiten Burchardi in Kiel (Kieler Correſpon-
denz-Blatt Juli 1832. N. 52.) und Welcker in Freiburg (Staats-
Lexicon I, 1. Abſtimmung.) behandelt; dem Erſteren muß ich
beitreten.
1).
un nombre de suppléans égal au tiers de celui des repré-
sentans.
Verfaſſ. v. 1791. Cap. 1. Abſchn. 3, A. 1.
1).
Boiſy d’Anglas ſagt in ſeinem Bericht an den National-
Convent uͤber die Verfaſſung von 1795 viel Treffendes uͤber das
Zweikammer-Syſtem, deſſen Werth man zu ſpaͤt anerkannte *),
uͤber das Durchzaͤhlen aber Folgendes (Moniteur 1. Jul. 1795.
p. 1140. a.): — On avait proposé de créer deux sections
égales, délibérant séparément, se proposant mutuellement
leurs décrets, et se réunissant en commun pour délibérer dans
une seule assemblée, toutes les fois qu’il y aurait dissenti-
ment. — — Dans cette hypothèse, toutes les foix que l’objet
est peu important, les deux chambres doivent être d’accord,
et c’est alors précisément que la séparation est inutile; toutes
les foix que l’objet s’aggrandit et qu’il acquiert une haute
importance, le dissentiment des deux sections force la réu-
nion en une seule chambre, et voilà tous les dangers d’une
assemblée unique, précisément pour la seule chose où il an-
rait fallu les éviter
. Man kann hinzuſetzen, daß die zweite
Kammer durch dieſe Einrichtung die Macht bekommt, wenn ſie
nur unter ſich einig iſt, den Einſpruch der erſten ganz zu elu-
diren; denn die zweite iſt die zahlreichere. Der Fall trat 1820
im Großherzogthum Baden ein, wo man bei Finanzſachen in
dem Falle durchzaͤhlt, daß die erſte Kammer das von der zweiten
genehmigte Finanzgeſetz verworfen hat.
2).
Réglement pour la chambre des députés des départemens,
définitivement adopté dans la séance du 25 Juin 1814
. im
Moniteur v. 28. Jun. Der Moniteur v. 1. Juli 1814 enthaͤlt
auch das Reglement uͤber die Verhaͤltniſſe beider Kammern zum
Koͤnige und untereinander v. 28. Jun.
1).
Nolumus inficiari, quin vobis fidem firmiter promitteremus
contra omnes, praeter eum, qui nos vobis dedit. Si servi
essemus Regis et Imperatoris nostri et ab eo juri vestro
emancipati, non nobis liceret, a vobis separari. Nunc vero
quum liberi simus et libertatis nostrae summum defensorem
Regem et Imperatorem nostrum habeamus ubi illum deseri-
mus, libertatem amittimus —. Quod quum ita sit, quicquid
honesti ac justi a nobis exquiritis, in hoc parere volumus vo-
bis, si autem contra hoc vultis, illuc revertemur liberaliter,
unde ad vos venimus conditionaliter. Wippo p. 474.
1).
Hannov. Staatgrundgeſ. §. 149.
1).
Cur-Heſſ. Verſ. §. 97. und ganz unzweideutig die Hannov. §. 88. —
2).
Der eben nicht gluͤcklich gewaͤhlte Ausdruck, Initiative mag
von De Lolme’s Erfindung ſeyn (S. 218 der Überſ.);
er bedeutet im politiſchen Sprachgebrauche aber nicht bloß das
Recht auf ein Geſetz anzutragen, ſondern zugleich das Recht
auch den Geſetz-Entwurf vorzulegen. Napoleon nahm den Aus:
druck in ſeine zweite Verfaſſung vom 4. Aug. 1802 auf, wo
im titre V. du Sénat art. 56. ſteht, daß die Senatusconſulte
sur l’initiative du gouvernement berathen werden. In den fruͤ-
heren Conſtitutionen heißt es immer la proposition de la loi. Der
ungeſchmaͤlerten Initiative ruͤhmt ſich das Engliſche Parlament
ſeit Heinrich VI.; das Schottiſche und Engliſche durfte bloß
the heads of the bill vorſchlagen. Die Charte Ludwigs XVIII.
lautet A. 16. le roi propose la loi und geſtattet den Kammern
bloß auf einem ſehr langſamen Wege (a. 19.) die Petition um
ein Geſetz. Die Charte der Julius-Revolution giebt die Pro-
poſition den drei Gewalten. Am auffallendſten ſtehen auf Deut-
ſchem Boden die altherkoͤmmlichen Herzoglich-Lauenburgiſchen
Staͤnde, die mindeſtens vor kurzem ſich ſelbſt die Publication
der Geſetze nicht nehmen ließen, den neuen Fuͤrſtlich-Lichtenſteini-
ſchen gegenuͤber (Verfaſſ. Urk. vom 9ten Nov. 1818.), welche
Antraͤge machen duͤrfen, nur nicht im buͤrgerlichen, nicht im po-
litiſchen (bedeutet im Öſterreichiſchen Geſetzbuche ſ. v. a. polizey-
lichen) und nicht im peinlichen Fache. Da nun §. 14. die Lan-
des-Regalien zum Privat-Eigenthum des Fuͤrſten erhoben
werden, ſo duͤrfte auch fuͤr Finanz-Antraͤge das Feld nicht
gar groß ſeyn.
1).
Die Unſicherheit der Wege im Mittelalter war der natuͤrliche
Grund, auf die Verletzung der Abgeordneten beim Hin- und
Herreiſen die ſchwerſten Strafen zu ſetzen. Die Schwediſche Si-
cherheitsacte vom J. 1772. Art. 51. erklaͤrt dergleichen noch fuͤr
Staatsverbrechen, die Verf. von 1809. §. 111. fuͤr Hochverrath.
1).
Worte eines getreuen Herzoglichen Rathes in Schleswig-Hol-
ſtein, Laurentius Laͤlius, auf dem Haderslebner Landtage von 1614.
1).
Geſetz, die Einfuͤhrung der Landraͤthe in Bayern betreffend,
§. 2, 2. bei Poͤliz I, 2, 1185.
1).
Utque evenit in consiliis infelicibus, optima videbantur, quo-
rum tempus effugerat. Tac. Hist. I, 39.
1).
Gervinus hat in ſeinen ausgezeichneten Unterſuchungen uͤber
die Florentiniſche Hiſtoriographie (Hiſt. Schriften. 1833) buͤndig
bewieſen, daß nicht im Principe allein das enthalten ſey was
man gewoͤhnlich am Machiavelli verabſcheut, ſondern gleichmaͤßig
in allen ſeinen Schriften und namentlich in den Discorsi. Sehr
bezeichnend fuͤr M’s Denkart ſind die S. 128 aus ſeinem golde-
nen Eſel gegebenen Verſe.
Wohl glaubt’ ich ſtets, daß Gift des Todes ruhte

in Zins und Wucher, und daß Fleiſchesſuͤnde

der Erdenreiche Geißel ſey und Ruthe;

und daß ſich ihrer Groͤße Urſach finde

im Wohlthun und im Beten und Enthalten,

und daß ſich hierauf ihre Macht begruͤnde:

doch denkt wer tiefern Sinn weiß zu entfalten,

dies Übel gnuͤge nicht ſie zu vernichten,

noch gnuͤge dieſes Gut ſie zu erhalten.

Der Wahn, Gott werde Wunderwerk verrichten

an uns, dieweil wir faul die Kniee beugen,

muß Reich und Staaten gar zu Grunde richten.

Wohl noth iſt’s vom Gebete nicht zu weichen,

und ſinnlos ſind, die ſich zu ſtoͤren freuen

ein Volk in ſeinen heiligen Gebraͤuchen.

[199]Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
Denn wahrhaft ſcheint’s, daß ſie die Gruͤnder ſeyen,

von Zucht und Eintracht, und mit dieſen war

ſtets gutes Gluͤck und froͤhliches Gedeihen.

Doch keiner ſey ſo hirnlos ganz und gar

zu harren, wenn ſein Haus den Einfall droht,

ob ihn ein Wunder rette vor Gefahr:

Ihn haſcht in der Ruinen Sturz der Tod.
2).
Die Responsio ad Paradoxa Malestretti (de Malestroit) de
caritate rerum ejusque remediis
iſt gemeint, welche Her-
mann Conring zu Helmſtaͤdt 1671. 4. lateiniſch herausgegeben
hat. Bodin gedenkt ihrer De Republ. VI, p. 1028. ed. 7.
1).
Bellarmin: Jus divinum nulli homini particulari dedit hanc
potestatem: ergo dedit multitudini: igitur potestas totius est
multitudinis. Mariana: Neque fit verisimile, sua se cives
universos penitus autoritate spoliare voluisse. — Neque res-
publica ita in principem jura potestatis transtulit, ut non sibi
maiorem reservarit potestatem
. ſ. Ranke, Zeitſchrift II, 3,
609. 614.
1).
Die Staͤdte-Ordnung von 1808 hebt mit den Worten an:
“Der beſonders in neuern Zeiten ſichtbar gewordene Mangel an
angemeſſenen Beſtimmungen in Abſicht des ſtaͤdtiſchen Gemein-
weſens und der Vertretung der Stadtgemeine, das jetzt nach
Klaſſen und Zuͤnften ſich theilende Intereſſe der Buͤrger, und
das dringend ſich aͤußernde Beduͤrfniß einer wirkſamern Theil-
nahme der Buͤrgerſchaft an der Verwaltung des Gemeinweſens,
uͤberzeugen uns von der Nothwendigkeit, den Staͤdten eine ſelb-
[224]Zehntes Capitel.
ſtaͤndigere und beſſere Verfaſſung zu geben, in der Buͤrgerge-
gemeine einen feſten Vereinigungspunkt geſetzlich zu bilden, ihnen
eine thaͤtige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinweſens
beizulegen und durch dieſe Theilnahme Gemeinſinn zu erregen
und zu erhalten”.
2).
§. 2. “Jeder Edelmann iſt, ohne allen Nachtheil ſeines Stan-
des, befugt, buͤrgerliche Gewerbe zu treiben; und jeder Buͤrger
oder Bauer iſt berechtigt, aus dem Bauer- in den Buͤrger- und
aus dem Buͤrger- in den Bauerſtand zu treten”.
§. 12. “Mit dem Martinitage Ein tauſend Acht hundert und
zehn (1810) hoͤrt alle Gutsunterthaͤnigkeit in Unſern ſaͤmmtli-
chen Staaten auf”. — —
1).
Koͤnig Friedrich Wilhelm I. ſtellte freilich nicht wie Ludwig XIV.
1692 that, als Grundſatz auf, daß die ſtaͤdtiſchen Ämter zum
Beſten der Finanzen verkauft werden ſollten, aber er hat un-
bedenklich Rathsſtellen verkauft, auch ließ er ſeine commissarios
loci,
die Steuerraͤthe nach Willkuͤhr mit dem ſtaͤdtiſchen Ver-
moͤgen ſchalten; ſie unterſuchten die ſtaͤdtiſchen Caſſen und der
Koͤnig nahm die ſogenannten Überſchuͤſſe zu ſich; er uͤbernahm
1716 und 1717 in Cleve und Mark alle ſtaͤdtiſchen Kaͤmmereien
um nach Einfuͤhrung der Acciſe den Haushalt cum onere et
commodo
ſelbſt zu fuͤhren. Foͤrſter im Leben dieſes Koͤnigs
Th. III, 281. 283. vgl. ſonſt v. Lanzizolle, Grundzuͤge der
Geſchichte des Deutſchen Staͤdteweſens S. 98 ff.
1).
Reichard S. 367 f.
2).
S. den Eingang der Rev. St. O. vgl. v. Savigny, die Preuß.
Staͤdte-Ordnung, in Ranke’s Zeitſchrift 1832. H. 3. S. 392.
1).
Die Nachrichten, welche der Regierungsrath Beisler im Ober-
donaukreiſe (Betrachtungen uͤber Gemeinde-Verfaſſung und Ge-
werbweſen mit beſonderer Bezugnahme auf Bayern. Augsb.
1831.) uͤber den Zuſtand der Bairiſchen Stadtgemeinden giebt
(S. 63 ff.), lauten hoͤchſt unguͤnſtig. Die meiſten ſind verarmt,
die Rechnungen mehrerer ſchließen nach einem 15jaͤhrigen Frie-
den mit einem jaͤhrlichen Deficit. Vielfache Vergeudung des Ge-
meindevermoͤgens zu Privatzwecken, die Magiſtrate votiren ſich
Gratificationen. Exorbitant iſt der Vorgang in Augsburg, deſſen
Magiſtrat in dem einen Jahre dem durchreiſenden Koͤnige Prunk
und Geſchenke darbietet, zu einer Stiftung allein 18,000 Gul-
den, und im Jahre darauf durch eine Deputation vor dem
Throne den Communal-Banquerot mit einem jaͤhrlichen Deficit
von 50,000 Fl. erklaͤrt und Staatshuͤlfe in Anſpruch nimmt. Allein
dieſe Thatſachen beweiſen nicht was der ſonſt einſichtige Verfaſſer
beabſichtigt, die Nachtheile einer freien Communalverfaſſung;
ſie beweiſen, daß es nachtheilig iſt, wenn die Gemeinde-Bevoll-
maͤchtigten in Abſicht des ſtaͤdtiſchen Haushalts bloß einen Rath
abzugeben haben (§. 82. der B. Gem. Ordnung — Geſetzblatt v.
1818.), den der Magiſtrat auch unbeachtet laſſen darf, was im-
mer dem Rathe die Fluͤgel der Kraft und Einſicht laͤhmt; ſie
beweiſen endlich, daß außer dem Magiſtrat auch die oberaufſe-
hende Behoͤrde ihre Pflicht vergeſſen hat.
1).
Gluͤcklich fuͤr die Zukunft der Staͤdte unſeres Mittelalters
und im Ganzen fuͤr Deutſchland, wenn ſie die Vogtey nie
gaͤnzlich erworben haͤtten, wenn die Entwickelung ihrer Selb-
ſtaͤndigkeit bei der ſtaͤdtiſchen Mitwirkung zur Beſtellung des
Vogts haͤtte ſtehen bleiben koͤnnen. Allein das Mittelalter
laͤßt ſich einmahl im Einzelnen nicht meiſtern, und es waren
ja im Grunde nicht die Staͤdte, es waren die Stadtraͤthe,
welche die Vogtey erwarben und als ſie nun mit dieſer ver-
ſtaͤrkten Macht auftraten, den nothwendigen Gegenſatz ins
Daſeyn riefen, das Gemeinderecht.
2).
Wir verhehlen nicht daß ein gewichtiges Urtheil dieſer Öffent-
lichkeit geneigt iſt; v. Savigny, die Preußiſche Staͤdteord-
nung, in Ranke’s Zeitſchrift I, 3, 413.) iſt der Meinung, “eine
vielleicht kleinliche und engherzige Anſicht der Stadtverordne-
ten moͤge dadurch bekaͤmpft werden, daß alle wirkliche Buͤr-
ger der Stadt und auch die welche das Recht haben Buͤrger
zu werden, den Zutritt als Zuhoͤrer zu den Berathungen der
Stadtverordneten erhalten”. — Wie aber wenn Kritiken der

[240]Zehntes Capitel.
Staatsverwaltung ſich einmiſchen und in Zeitungsartikeln
wiederhallen? Bei dem reitzbaren Gehoͤr der Zeit duͤrfte der
Verſuch leicht die letzte Stunde der Staͤdteordnung und ihrer
Reviſion herbeifuͤhren.
1).
Sehr lehrreich in dieſen tiefen Beziehungen iſt die Bauern-
Rechts- und Gerichts-Ordnung der Alten Mark-
Brandenburg
, ein Landtagsſchluß vom Jahre 1531, welche
eben jetzt U. Huͤbbe im 89ſten Hefte der Jahrbuͤcher fuͤr
Preußiſche Geſetzgebung herausgegeben hat. Die fruͤher unbe-
kannte Urkunde, gelehrt und was mehr iſt mit Einſicht in das
Leben der Dinge eroͤrtert, zeigt, welche ſchuͤtzende Ordnungen
des altmaͤrkiſchen baͤuerlichen Familienrechtes auch uͤber dem ab-
haͤngigen
baͤuerlichen Eigenthum noch bis zum dreißigjaͤhri-
gen Kriege walteten, „Vorzug der Soͤhne in der Hofannahme als
ein Recht, durch Vertraͤge oͤfters geaͤndert; demnaͤchſt der Toͤch-
ter; dann der Seitenverwandten vom Mannesſtamme vor den
uͤberlebenden Ehegatten, wenn es nicht anders vertragen wor-
den; Beiſpiele des Naͤherrechts bei Verſteigerungen; — an
Teſtamente gar kein Gedanke, — vormundſchaftliche Verwaltung,
Witthum, Zwiſchenwirthſchaft lediglich Sache des Familienſchluſ-
ſes und Vertrages; — alles das oͤffentlich, gerichtlich, unter
Aufſicht der Gutsherren und Gemeinden, und der geſammt-
oder voigtteigerichtlichen Entſcheidung im Fall der Klage unter-
worfen” (S. 52.). Nach dieſer Zeit nahm die Civilrechts-Theo-
rie den Bauern das Naͤherrecht, wenn auch die Gutsbeſitzer es
feſt hielten, die geſetzliche Verbuͤrgung der Untheilbarkeit des
Hofes hoͤrte auf und die erlaubte Zerſtuͤckelung des ſeiner Be-
ſtimmung, den Erbgang durch die Familie zu machen, entwende-
ten Hofes nahm dem Gemeinderecht ſeine wichtigſten Gegen-
ſtaͤnde. Die Öffentlichkeit ſelber hoͤrte auf. Dennoch iſt noch
die Flecken-Dorf- und Ackerordnung von 1702 ein Zeugniß der
Fortdauer des alten Lebens. §. 15. ſagt: “Ein jeder ſoll —
wenn er ſich allhier einkaufen und einfreyen will, beglaubte
Nachricht ſeines Vermoͤgens — vor dem Amte, auch Richter,
Schulzen und Schoͤppen auflegen — wonach der Beamte ſampt
der Gemeine, weiln ſie alle vor einen und einer vor alle in jedem
Dorfe ſtehen muͤſſen, zu ſehen — wie denn auch, um deß Willen
von den Beamten der Gemeine Niemand wider ihren Willen in den
Flecken u. Doͤrfern geſetzet u. aufgedrungen werden ſoll”. (S. 68.).
1).
Sehr treffend ſagt Moͤſer in den Patriotiſchen Phantaſien,
der Dienſteid gewaͤhre dem Richter den Vortheil einer Nonne,
die mit der Berufung auf ihr Geluͤbde der Keuſchheit alle Be-
theurungen und Bemuͤhungen ihres Liebhabers vereitelt.
1).
Das Minimum in Baiern 7∫10; im Koͤnigreiche Sachſen aber
7∫10 das Maximum eines nach dreijaͤhrigem widerruflichem Dienſt
ohne Entſchaͤdigung, feſtangeſtellten Staatsdieners (Regierungs-
vorſchlag. 1833.) Das Cur-Heſſiſche Staatsdienſtgeſetz vom 6ten
Maͤrz 1831 beginnt von 1∫3 und laͤßt nie mehr als 3∫4 zu.
1).
Schlimm genug daß der lange Vorbereitungsdienſt ohne Beſol-
dung factiſch doch dahin zu fuͤhren pflegt, gleich an der Schwelle
des Staatsdienſtes. — Ein großes, wenn gleich ganz freiwillig
dargebrachtes Opfer ſcheint einen Anſpruch auf Entſchaͤdigung
zu begruͤnden.
1).
Reden an die Deutſche Nation. Berlin 1808. 10te u. 11te Rede.
2).
O. Muͤller, Dorier II, 303 und uͤberhaupt.
3).
Xenophon’s Ausdruck Hellen. III, 3, 6.
1).
Rehberg, Saͤmmtliche Schriften Bd. 1. Erziehung. Pruͤfung
der Erziehungskunſt.
1).
Inzwiſchen ſoll man nicht vergeſſen, was in Frankreich geſchehen
iſt, und es iſt loͤblich, daß man gerade in Preußen, wo man ſich
ſo verdient gemacht und ein Recht auf die dauernde Dankbarkeit
der Rheinprovinz erworben hat, das anerkennt. Frankreich hatte
1827 5 1∫2 Millionen Kinder im Schulalter (zwiſchen dem voll-
endeten ſechsten und noch nicht erreichten funfzehnten Jahre)
und doch nur 1 Mill. 200,000 Kinder wirklich in den Schulen
ungefaͤhr 1∫5. Es gab nur 25,900 Schulen fuͤr den Elemen-
tarunterricht, nicht viel weniger Gemeinden ohne Schulen als
mit Schulen. Das Miniſterium Martignac 1828 fuͤgte 4000
Schulen hinzu. Seit der Juli-Revolution hat ſich der Miniſter
Guizot große Verdienſte erworben, beſonders durch Couſin’s
Huͤlfe. Das Geſetz vom Juli 1833 uͤber den oͤffentlichen Unter-
richt, offenbar nach Preußiſchem Muſter, iſt ein wichtiger Fort-
ſchritt. Frankreich hatte zu Ende des Jahres 1833 bereits
45,119 Schulen und wenn auch noch 9568 Gemeinden ohne
Schulen ſind, ſo genießen doch jetzt beinahe 2∫5 des Schulalters
Schulunterricht. ſ. Schubert hiſt. u. literaͤriſche Abhandlun-
gen der Koͤniglichen Deutſchen Geſellſchaft in Koͤnigsberg. Dritte
Saml. Koͤnigsb. 1834. Abth. II.
1).
Von 1220, da es Pabſt Honorius III verbot, bis 1568 und
[279]Vom Univerſitaͤtsweſen.
im Grunde laͤnger, denn erſt 1679 wird das alte Verbot ganz
aufgehoben. v. Savigny, Geſch. d. R. R. im M. III, 343. 349 f.
Im Allgem. vgl. Eichhorn, Kirchenrecht II, 628 ff.
1).
Statut. Gotting. §. 39. vgl. ſonſt Meiners, Geſch. der — ho-
hen Schulen unſers Erdtheils I, 170 ff. 207 f. Mancher dunkle
Punkt der inneren Geſchichte unſerer Univerſitaͤten wird ſich uͤbri-
gens gruͤndlicher als es Meiners gelungen iſt, der gerade Prag
ſehr wenig beruͤckſichtigt, erhellen laſſen aus: Monumenta histo-
rica universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis. T. I.
worin
Liber Decanorum facultatis philosophicae universitatis ab a.
Chr. 1367. usque ad a. 1585. P. I. Pragae
1830. Ich hebe
einige Andeutungen hervor. Weihnachten 1366 wurden die Ho-
norare (pastus) eingerichtet; wer nicht mehr als 12 fl. jaͤhrlich
zu verzehren hat, geht frei aus. Beſonders der Pariſer Maas-
ſtab wird fuͤr die Honorare zum Grunde gelegt, fuͤr Ariſtoteles
Metaphyſik acht Groſchen und ſoll in einem Semeſter beendet
werden, eben ſo viel fuͤr die Phyſik in 3 Quartalen, de coelo 5
grossos per 4 menses, de generatione 3 grossos per 2
menses — —, de longitudine et brevitate vitae 1
grossum per 2 septimanas — —, algorismus 8 Hallen-
ses per 3 septimanas
. Ein Scholar, der dreimahl gekommen
iſt, ſoll zum pastus verpflichtet ſeyn. Offenbar hatte alſo zu
Anfang jede philoſophiſche Vorleſung ihren eigenen Verlauf, konnte
auch (bis 1367) anfangen, wann man wollte; bloß die Disputir-
Übungen waren von Anfang her halbjaͤhrig (ad a. 1379.), fin-
gen zum Sommer mit St. Georg (13 April), zum Winter mit St.
[282]Vierzehntes Capitel.
Gallus (16 Oct.) an, wurden auch halbjaͤhrig honorirt. Im J.
1367 ward der Anfang der Vorleſungen fuͤr jedes Jahr auf
den Tag vor St. Lucas, alſo den 17ten Oct. geſetzt; denn das
incipere quemlibet librum quolibet tempore indifferenter habe
unter die Studirenden Unordnung gebracht, indem ſie von einem
Lehrer zum andern uͤbergeſprungen; wodurch auch Misgunſt unter
die Lehrer gekommen. Kein Lehrer darf laͤnger als bis St. Gallus
leſen. 1370 findet man, es ſey doch nicht gut, quod quilibet
librorum ordinariorum tantum per unum magistrum legeretur
,
eine moderata concurrentia ſey beſſer, doch ſollen nur 2 mit dem
Ordinarius concurriren duͤrfen und der Ordinarius darf dann
die Stunde waͤhlen, und die Concurrenten duͤrfen nicht dieſelbe
nehmen ꝛc. In demſelben Jahre werden auch Sommerferien
feſtgeſetzt vom Tage nach Margarethen (13 Jul.) bis zum Tage
nach Bartholomaͤi (24 Aug.); nicht minder Feſtſetzung auch eines
Minimi der Zeit fuͤr jede Vorleſung, fuͤr die Ethik und Phyſik
hoͤchſtens 3, mindeſtens 2 Quartale. — Die magistri theilen
ſich in regentes und non regentes. Die erſteren (wer 5 Jahre
Magiſter geweſen iſt) machen allein das concilium der Facultaͤt
aus. Aus dieſem werden 1370 vier magistri actu regentes aus
allen vier Nationen gewaͤhlt, die mit dem (halbjaͤhrigen) Decan
die gewoͤhnlichen Facultaͤtsgeſchaͤfte beſorgen. Außerdem 2 col-
lectores,
die mit dem Decan jeder einen von den drei Schluͤſſeln
zum Geldkaſten der Facultaͤt fuͤhren ꝛc.
Der großen Umwaͤlzung bei der Prager Univerſitaͤt 1409,
da durch Hußens Einfluß die Boͤhmiſche Nation, ſtatt einer
Stimme gegen drei — Polen, Sachſen, Baiern, ploͤtzlich, in
Pariſer Art, drei gegen eine auslaͤndiſche erhielt, wird nur ſehr
leiſe und indirect gedacht. In dieſem Jahre werden freilich die
4 examinatores ad baccalauriatus gradum wie gewoͤhnlich aus
den 4 Nationen gewaͤhlt; sed pro tunc examen fuit impeditum
per quosdam magistros nationis Bohemicae propter quoddam
mandatum domini regis de tribus vocibus, et sic illo me-
dio anno solum unum fuit examen
; und der Koͤnig ſetzt wegen
der Zwietracht der Nationen dieſes Mahl den Decan der philoſo-
phiſchen Facultaͤt ſelber ein.
1).
E. L. Th. Henke, die Univerſitaͤt Helmſtaͤdt im ſechzehnten
Jahrhundert. Halle 1833.
1).
v. Savigny, Weſen und Werth der deutſchen Univerſitaͤten,
in der hiſt. polit. Zeitſchr. v. Ranke B. I, 4, 489.
*)
Das nahe Zuſammenſeyn mit der hoͤchſten Ordnung, welche
keine Verletzung dulden darf, giebt ſolchen unvermeidlichen Un-
ordnungen eine unverdiente Wichtigkeit, ungefaͤhr in der Art,
wie wenn einer den am 11. April 1589 gefaßten Beſchluß des
academiſchen Senats von Tuͤbingen “3) die Koͤnigreich ſollen
abgeſchafft werden, 4) die verdaͤchtigen Haͤuſer” ꝛc. ꝛc. anders
verſtaͤnde, als von den Koͤnigreichen, die bei Wein und Bier
geſtiftet werden. ſ. Robert Mohl, geſchichtl. Nachweiſungen uͤber
die Sitten und das Betragen der Tuͤbinger Studirenden waͤh-
rend des 16ten Jahrhunderts Tuͤb. 1832. 4., wo der Verf. ein
bedenkliches Fragezeichen dieſer Stelle S. 32. anhaͤngt.
1).
Das ſcheint nicht der Fall mit der, ſeit der Polniſchen Revolu-
tion aufgehobenen, Univerſitaͤt Wilna geweſen zu ſeyn, inſofern
ſie uns getreu geſchildert wird. Die Profeſſoren, heißt es, ſind
verpflichtet, ihre Vorleſungen zur Pruͤfung an das Miniſterium
zu ſchicken. Sie muͤſſen nach ihren eigenen Heften leſen, die
Studenten duͤrfen waͤhrend der Vorleſung nichts aufſchreiben.
Dieſe muͤſſen 8 bis 10 Stunden taͤglich Vorleſungen hoͤren. Alle
halbe Jahre findet eine Pruͤfung ſtatt. Der Profeſſor giebt eine
Anzahl Fragen ſchriftlich auf, welche die Zuhoͤrer auswendig zu
lernen haben. Pedelle in Uniform und mit Degen gehen aus einem
Collegium in das andere, um zu ſehen, ob jeder Student auf
dem ihm angewieſenen Platze ſitzt, und ob auch alle anweſend
ſind. Fehlt einer, ſo kommt er bei Waſſer und Brod auf die
Hauptwache. Eben ſo beim Verſaͤumen der Kirche, ſogar bei
einem Spaziergange außer der Stadt ohne nachgeſuchte Erlaub-
niß. Sie muͤſſen einzeln arbeiten, worauf die Pedelle wachen,
duͤrfen auch keine oͤffentliche Luſtorte, Caffehaͤuſer u. dgl. beſu-
chen. ſ. Pabel, Rußland in der neueſten Zeit. Dresden ꝛc.
1829.
2).
Über den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Univerſitaͤt Goͤttingen. Goͤtt.
1802. S. 333.
1).
Ποϑεῖ μὲν, ἐχϑαίϱει δὲ, βούλεται δ̛ἔχειν. Aristoph. Ran.
1425.
1).
Wiener Jahrbuͤcher der Literatur B. I. 1818. in einer Abhand-
[lung]: Preßfreiheit in England.
*)
S. bei Eichhorn Kirchenr. I, 728 ff. die Inſtruction fuͤr die Pro-
vincial-Conſiſtorien v. 1817, ſo auch die fuͤr die Regierungen von
demſelben Jahre.
*)
Falck, Actenſtuͤcke, betreffend die neue Preußiſche Kirchenagende
S. IX ff.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhrv.0