Verlag von Gebrüder Paetel.
1891.
Verlag von Gebrüder Paetel.
1891.
Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsverzeichniß.
- Seite
- 1. Frauenliebe 1
- 2. Monika 145
- 3. Klärchen's Frühlingsfahrt 187
Frauenliebe.
[][]Es lag noch Schnee auf den ſchwerer zugänglichen
Plätzen, in den Winkeln, welche die Sperrketten
und Prellſteine vor den Seiten der Kirchen und der
Muſeen bilden, aber der Schnee war ſtaubig und
mürb, und auf den Sperrketten ſaßen die kleinen
Mädchen und hatten beim Schaukeln die Winterjacken
ausgezogen. In der Mitte der Straße floß das
Schneewaſſer wie ein Bächlein bergab und rauſchte
ordentlich, und um die leeren Baumkronen lag ein
verheißungsvoller Schein, wie der Schatten künftiger
Belaubung.
Ein junger Mann, ein ſchlanker, hübſcher Menſch
mit einer Mappe unter dem Arm, ſchlenderte die
Straße hinab, mit jener wohligen Läſſigkeit, die uns
ſo gern im Frühling überfüllt, und ſtreifte mit
träumeriſchen Augen die ſonnenbeſchienenen Häuſer
mit den halboffenen Fenſtern, dann wieder die Am¬
ſeln auf den Bäumen, die es mit Hüpfen und Flöten
höchſt eifrig hatten, endlich die ſchaukelnden Mädchen
Frapan, Bitterſüß. 1[2] auf den Sperrketten, die nicht minder als jene kicher¬
ten und lärmten.
Endlich wandte er ſein ganz in Freude ge¬
tauchtes Geſicht zu einer der Kleinen nieder und
fragte nach einem Hauſe und einem Namen, die
er hier in der Adalbertſtraße zu ſuchen gekommen.
Die kleine Münchnerin verſtand nicht ſogleich, denn
er kam aus dem Norden, war erſt am vorigen Abend
in der ſchönen Iſarſtadt angekommen, und das Kind
lachte verlegen, ſtatt zu antworten. Ein größeres
Mädchen trat dienſtfertig herzu und gab ihm die ge¬
wünſchte Auskunft.
„Die Frau Brückner wohnt da, aber 's wird
Alles beſetzt ſein; ſie hat ſieben Zimmerherren, lauter
Maler und Studenten.“
„Du weißt ja gut Beſcheid,“ ſagte er lächelnd,
„iſt ſonſt kein Zimmer in der Nähe zu vermiethen?“
„Es gibt ſchon, wenn der Herr mitgehen will,“
ſagte die Kleine geſchmeichelt.
Sie führte ihn in ein Haus, das beſcheiden und
ſchmucklos mit ſeinen kleinen karrirten Scheiben
zwiſchen den neuen hohen erkerreichen Gebäuden ſtand.
Unten war eine geringe Wirthſchaft.
„Ueber eine Stiege, da wohnt meine Baſ', die
hat Platz.“
Eine muntere Bürgersfrau begrüßte die Ankömm¬
[3] linge, aus der Küche tretend, die wie eine appetitlich
duftende Nebelhöhle ausſah. Sie riß ſich die naſſe
Schürze ab und ſchleuderte ſie hinter ſich; dann ging
ſie mit einladendem Rückwärtsblicken den etwas dunk¬
len Gang hinab und öffnete die letzte Thür. Mit
einem gewiſſen Stolz wies ſie ihm das hochgethürmte
Bett mit dem bunten Zitzüberwurf, den breiten blau
und weißen Kachelofen, das Haartuchſopha neben dem
Fenſter und den verhängten Rahmen in der Ecke, der
ſtatt eines Kleiderſchranks diente.
„Und a Stiefelknecht kommt au no doher;
ſchaug'ns, 's is a Fräulen dogeweſen, die hat koa
braucht, — und a Kerzen; und dös Waſchſchüſſerl,
was do herein g'hört, is in der Kuchel; 's Fräulen
hat a eigenes gehabt, wiſſens; Emerenz, bring' doch
g'ſchwind 'm ſeligen Herrn Panther ſein Waſch¬
ſchüſſerl her, daß der Herre ſiecht, daß alles in der
Ordnung is.“
Der junge Mann war aus Fenſter getreten und
hatte eine der Scheiben geöffnet, die bei jedem Schritt
auf dem ſchwächlichen Fußboden und bei jedem Wagen¬
geraſſel draußen ſurrend erzitterten. Ein voller Strahl
der Märzſonne kam herein und dem Fremden in die
Augen, daß er ſie blinzelnd wegdrehen mußte.
Dieſer warme Gruß überzeugte ihn vollends,
daß er's hier ſehr gut getroffen habe, und über der
Waſchſchüſſel, die Emerenz wie ein Opfergefäß zwiſchen
1*[4] ſie beide hielt, ward er mit der Wirthin einig. Er
gab ihr ſeine Karte, von der ſie ihm ſeinen Namen
„Alfred Heuvels, Bildhauer,“ ſtotternd vorlas, und
die dienſtfertige Emerenz ſchickte ihm ihren Bruder,
den Buben heraus, daß er für ſeinen Handkoffer doch
keinen Fiaker zu nehmen brauche.
Sonderbar angeheimelt, obgleich ihm doch hier
Alles fremd war, und berauſcht von dem immer¬
währenden Bewußtſein: das iſt nun München, nach
dem ich mich ſo geſehnt habe, ſah ſich Alfred bald
wieder in der prächtigen Bahnhofshalle und las mit
lächelnden Blicken die Aufſchriften an den großen Ta¬
feln: „Nach Starnberg;“ „nach Salzburg;“ „nach
Innsbruck,“ — Da geh ich überall hin, ſagte er ſich
heimlich, und es ſchien ihm, als lache Italien ganz
nahe zu ihm herüber, und er dürfe nur die Hand
ausſtrecken und ſich hineinſchwingen. Freilich einſt¬
weilen noch nicht, — erſt wollte er hierbleiben, ge¬
nießen, ſehen, lernen, arbeiten. Aber er fühlte, daß
er das Sehen am Nöthigſten habe.
Vielleicht öffnete ihm ein bedeutender Künſtler
ſein Atelier. Ihm klopfte das Herz vor Freude und
Bangen, wenn er an ſeine eigenen geringen Entwürfe
und an die überſchwängliche Fülle des Schönen dachte,
die ihn hier erwartete. Eine dankbare Regung über¬
kam ihn gegen den unfreundlichen, geizigen Onkel,
der ihm nun doch in ſeinem Teſtament dreitauſend
[5] Thaler vermacht hatte. Solch einen Schatz in der
Taſche, und dazu fünfundzwanzig Jahre, Geſundheit,
leichtes Herz und Augen, die nach Schönheit dürſteten
und weit offen waren für die Lieblichkeit der Welt
— er genoß ſein Glück mit gerührter Seele. Ueber¬
muth war ihm fremd.
Er war hart auferzogen worden, hatte früh ums
Brot arbeiten müſſen, ſeinem Vater, der Steinmetz
und ſchwach auf der Bruſt war, früh beiſpringen
müſſen. Und wenn der Vater ein Grabkreuz zu meißeln
bekam, da war allemal Jemand geſtorben, den der
kleine Alfred auch gekannt hatte, und zugleich mit der
Freude über den Auftrag kam eine weinende Nach¬
barin in die Thür, und der Kleine ſah lieber frohe
Geſichter. So ging ihm der Ernſt des Lebens früh¬
zeitig auf. — Nun lebten die Eltern wohlverſorgt
bei ſeiner älteren Schweſter, die einen vermögenden
Holzhändler geheirathet hatte, und ihm war durch
das Vermächtniß des Onkels der heißeſte Lebens¬
wunſch erfüllt. Was hatte er denn bis jetzt gelernt?
Er war der beſte Schüler geweſen in der Gewerbe¬
ſchule, zu der er zwei Stunden weit täglich hatte
marſchiren müſſen. Pah, eine Gewerbeſchule, die 's
ja ſchon durch ihren Namen anſagt, daß ſie nichts
mit der Kunſt zu ſchaffen habe. Danach freilich hatte
er bei einem tüchtigen Bildhauer in Hamburg ar¬
beiten dürfen, fünf Jahre lang. Aber hatte nicht
[6] auch dieſer wackre Lehrer ihm vertraut, er ſei „dort
oben“ wie im Exil und könnte gar nimmer fort¬
machen, wenn er nicht ſo oft als thunlich im künſt¬
leriſchen Süden neue Anregung und Erfriſchung hole?
Und wie hatte ihm die theilnehmende Freude vom
Geſicht geleuchtet, als ihm Alfred den Glückszufall
mit der Erbſchaft erzählt.
„Gut, gut, da machen Sie geſchwind, daß Sie
fortkommen, es iſt hohe Zeit für Sie. Dreitauſend
Thaler? Das muß für acht, für zehn Jahre reichen,
wenn Sie ſolid bleiben. Und nur nicht gleich hei¬
rathen! dann iſt's verſpielt,“ hatte er ſeufzend hin¬
zugefügt. Und als der Schüler kopfſchüttelnd gelacht:
„Ja, jetzt hat's Lachen keinen Werth, lachen Sie,
wann Sie verliebt ſind! Eh glaub' ich's nicht. Ein
Hitzkopf ſind Sie auch.“ Und dann noch einmal
beim Abſchied: „Alſo Briefe, Berichte willkommen,
aber — Verlobungsanzeig verbitt ich, vor Ihrem
fünfzigſten Geburtstag.“
Warum kamen ihm dieſe ganz überflüſſigen
Worte jetzt wieder in den Sinn, während er ſie beim
Anhören nicht groß beachtet hatte? War es nicht
vielleicht ſchon ein Gefühl der Einſamkeit in all dem
neuen Glück, die Empfindung: hätt' ich nur Jemand,
dem ich's ſagen dürfte, wie ſchön das alles hier iſt?
Er ertappte ſich darauf, daß er einem jungen, eifrig
plaudernden Paare mit langem Halſe nachſah und
[7] erröthete, denn er hatte an die Stelle des jungen
Mannes, der ſo lebhaft auf das Mädchen an ſeinem
Arm einredete, ſich ſelbſt geſetzt In der Beſchämung
darüber machte er auf einmal ſo weite Schritte wie
um ſich ſelbſt zu entlaufen, daß der kleine Koffer¬
träger kläglich zu ſchnaufen begann und ſein Gepäck
zuletzt rathlos und zornig auf den Boden ſtellte.
Nun kam ihm der Gutmüthige ſchnell zu Hülfe. Er
griff ſelbſt nach dem ſchwerſten Stück, ja drückte dem
Buben gar die ſchmierige Mütze, die ihm entfallen
war, wieder auf die ſchwarzen Haare und ſcherzte ſo
freundlich mit ihm, daß der breite Mund ſich noch
breiter zog, und die ſchiefen gelben Zähne hervorbleck¬
ten wie bei einem Teckel, den man ſtreichelt. Es war
ein garſtiger Junge, aber heut' ſollte keiner ein kläg¬
liches oder böſes Geſicht machen ſeinetwegen. Er gab
ihm ein ſo reiches Geldgeſchenk, daß der kleine Träger
ohne Dank davonrannte und gleich mit einer Hand
„voll Münz“ zurückkam; er hatte wechſeln laſſen, weil
er nicht geglaubt, das Alles ſei für ihn. Als er es
zuletzt begriff, ſchoß ein warmer dankbarer Hunde¬
blick aus ſeinen kleinen Augen; der war von Stund
an dem Fremden zugethan, das fühlten ſie alle Beide.
Sobald er ſich's etwas behaglich gemacht, ſchloß
Alfred ſeinen Koffer auf, um an die Eltern zu
ſchreiben.
Vielleicht war das ein Weg, ſich die Bruſt zu
[8] erleichtern. Doch hatte er kaum die Feder angeſetzt,
als ihm einfiel, weder Vater noch Mutter würden
recht begreifen, was er eigentlich meine, und ſo ſchrieb
er nur eine flüchtige Karte, die meldete, daß er wohl
angekommen ſei. Er begann einen Brief an die
Schweſter; wie er ſich aber vorſtellte, daß grade ſie
am wenigſten Verſtändniß für ſeine Luſt hinaus ge¬
habt, wie ſie ihm eifrig zugeredet, des Vaters
„ſchönes Geſchäft“ zu übernehmen und die Schweſter
ihres Mannes zu heirathen, die wohlhabend und
kaum zwei Jahre älter war als er, kamen ihm ſeine
eignen Zeilen lächerlich vor, und er zerriß den Bogen
mit einem drückenden Gefühl der Fremdheit gegen
die erſte Freundin und Geſpielin ſeiner Kinderjahre.
Nein, er wollte ſeinem Lehrer ſchreiben, dem guten
Bildhauer, dem er Alles verdankte! Schreiben! Doch
was? Hatte er denn ſchon etwas geſehen? Alles,
was er ſagen gewollt, zerfloß in Nebel, wenn er des
humoriſtiſchen Graukopfs gedachte, wenn er ſich des
fatalen Lippenzuckens erinnerte, mit dem der ſolch'
einen „blauen Dunſt“ von ſeinem älteſten Schüler
aufnehmen würde. Nicht doch, dem ſchrieb man ernſte
Briefe, inhaltreiche Briefe über Studium und Arbeit.
Alfred legte ſein Schreibgeräth in die Schieb¬
lade zurück in eigenthümlicher Enttäuſchung. Daß er
hier fremd ſein mußte, war natürlich, aber daß er
in der Heimath im Grunde ebenſo allein ſtand, war
[9] ihm nie ſo zum Bewußtſein gekommen. Aus dem
Nebenzimmer drang der kratzende Ton einer Feder,
die eilig und unermüdlich übers Papier glitt. Durch
die breite Spalte der Thür ſah er im Vorübergehen
einen geſenkten dunklen Kopf und heiße Wangen.
„Der ſchreibt gewiß an ſeinen Schatz,“ flog es ihm
durch den Sinn.
Er nahm Rock und Hut und ging ins Gärtner¬
theater. Man gab ein oberbayriſches Volksſtück,
rührſelig und derb komiſch, aber er nahm es ohne
Kritik hin und erfreute ſich an dem echten Spiel, an
Geſtalten und Trachten und an der Mundart, obwohl
er ſie nur halb verſtand. „Da geh ich auch überall
hin,“ wiederholte er ſich, wie am Mittag.
Er hätte auch gern geplaudert in den Zwiſchen¬
akten, wie die Leute rechts und links um ihn.
Seine Nachbarin war ein blühendes Mädchen mit
muntern Augen, aber ſie blickte immer nach der
andern Seite. Da entfiel ihr der Theaterzettel. Al¬
fred war hinterdrein, als ſei es ein Kleinod, und er¬
faßte ihn im Fluge. Aber ſie nahm ihn garnicht,
dankte nur obenhin: „Ich brauch' ihn nimmer,“ und
ſprach wieder mit ihrem Begleiter. Wenn man ihm
bei ſeiner Abreiſe in Hamburg geſagt hätte: „Du
meinſt wohl, in München ſtehe ſchon Alles auf den
Zehen und warte, bis Du kommſt?“ ſo wäre er
ſicherlich beleidigt geweſen, daß man ihn für einen
[10] ſolchen Hans Narren halte, und doch war er ein bis¬
chen enttäuſcht, jetzt, daß man ihn ſo garnicht nöthig
hatte und er die Andern, ach, ſo ſehr.
Als er nach dem frühzeitigen Schluß des Spiels
fröſtelnd durch die rauhe Nacht heimging, zauderte er
mehr als einmal vor einem hellen Fenſter. Kann
ich nicht hinein gehen zu denen, die da vertraut bei¬
ſammen ſitzen? Bitten, gönnt mir euer Wort, euer
Licht und eure Herdflamme; ich bin auch ein Menſch
und komme weit her und freue mich ſo, daß ich da
bin? — Kopfſchüttelnd ſchritt er weiter, ſolche Ein¬
fälle führt man nicht aus. Er hätte vielleicht in
einem der zahlreichen Cafés oder Bierkeller noch gute
Geſellſchaft gefunden, aber war nicht gewohnt, ins
Wirthshaus zu gehen. Das hatte in Hamburg wenig
Verlockendes, außer, wenn man hungrig war, — von
dem andern Lebenszuſchnitt hier wußte er noch nicht
recht.
In ſeinem Zimmer flackerte ein beſcheidenes Feuer¬
chen, der große weißblaue Ofen fühlte ſich noch kühl
an. Er entzündete das Licht, löſchte es aber bald
wieder, denn das dünne trübſelige Flämmchen reichte
nur eben hin, den warmen Ofenſchein zu verjagen,
nicht aber das Gemach zu erhellen. Wie er noch ſo
brütend daſaß, drang aus der Nähe irgendwo, aber
doch wie gedämpft durch die Nacht, eine reiche volle
Stimme herein, die ein ſanftes einfaches Lied ſang.
[11] Er horchte, verſtand aber nur hie und da eine Zeile
von Roſenzeit und Herzeleid und dann am Schluß
ein langes, ſehnſüchtiges „vergeſſen, vergeſſen“. Was
aber kümmerten ihn die Worte. Ein beſtrickender
Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte ſeelen¬
volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengeſang,
aber keiner, der unſelig macht, einer der fromm macht
und weich, aber auch das Heimweh weckt nach
einer ſchöneren Welt, wo die Thüren aufgethan
ſind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die
Menſchen Brüder ſind und mit den Sternen und
den Blumen und allen Creaturen um die Wette
die Herrlichkeit des Daſeins preiſen. Der junge
Träumer ſah die Sängerin ſitzen; ſie trug einen
Schilfkranz in den langen naſſen Locken und eine
Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger
Kunſthalle. Der Arme hatte ſonſt noch keine Nixe
geſehen. Aber er meinte doch, etwas runder ſei ſie
vorzuſtellen, als jenes Bildwerk, und gar die „Taille“
würde er nimmermehr ſo ſchmächtig formen wie bei
der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders,
wie voll herzlichem Weinen: „Draußen vor der
Pforte ſteht ein Leiermann,“ und gar weiter das:
„Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen“, daß
ein Schmerzensſchauer den einſamen Hörer über¬
rieſelte, als blicke er in alles ſtumme Leid und Elend
der Menſchheit. Nun war es keine Nixe mehr, die
[12] ſang, nun trug ſie Flügel und die Schale der Er¬
quickung in den Händen; und ſie war ſchön wie —
nein, ihr glich keine der griechiſchen Göttinnen an
troſtverheißender Milde, an ſinnender Güte! Auf
ihrem Sockel ſtand — er ſah es deutlich — „Ich bin
das Mitleid.“ Ach, wenn er das bilden, das hin¬
ſtellen könnte, wie er es ſah! Sie ſtand ihm ja ſo
klar, ſo greifbar nah vor Augen. Er wünſchte nur,
daß es erſt morgen ſei, um gleich anzufangen. Alle
Einſamkeit war verſchwunden, war belebt von bild¬
reichen Träumen, über denen ſich ſeine Wangen
rötheten, ſein Herz hoffnungsvoll klopfte.
Da verſtummte die Sängerin. Ihm war, als
werde ſeiner Geſtaltenwelt plötzlich das Licht entzogen.
Es leuchtete wohl noch hie und da eine fließende
Falte, ein ſchön gebogener Arm, aber das Ganze
war ſeinen Blicken verhüllt. Eine unbeſchreibliche
Sehnſucht nach den verklungenen Tönen überkam ihn.
Er lauſchte mit angehaltenem Athem. Aber nun
waltete über dem Hauſe nächtliche Stille, oder —
was man ſo nennt — das Zuſammenhallen all der
leiſen Geräuſche, die der Tag übertäubt.
Ohne das Licht zu entzünden, legte er ſich in
das hochgethürmte Bett und träumte mit geſchloſſenen
Augen weiter, bis an den hellen Morgen.
Er hörte, wie ſein Zimmernachbar ſich herum¬
warf und brummte, der da habe ihn aufgeweckt.
[13] Das beſchämte ihn, denn er war voll Rückſicht, und
ganz geräuſchlos kleidete er ſich an, um nicht noch
weiter zu ſtören. Während er für den Tag Pläne
entwarf, miaute es draußen zart und leiſe, auch ein
beſcheidenes Kratzen ließ ſich vernehmen. Er öffnete,
und herein ſpazierte ein graues Kätzchen von zier¬
lichem Körperbau, ſah ſich mit einiger Verwunderung,
wie es ſchien, im Zimmer um, und ſprang dann auf
das Bett, wo es ſich behaglich in die noch warmen
Kiſſen duckte. Alfred hatte ſeine Freude an dem
niedlichen Gaſt, der hier ſo ganz wie zu Hauſe that,
ſich willig ſtreicheln ließ und gleich zu ſchnurren be¬
gann unter ſolchen Liebkoſungen. „Woher kommſt
Du?“ fragte er munter, „und was willſt Du bei
mir?“ Aber das Kätzchen antwortete nur mit einem
vielſagenden Zwinkern, legte ſich auf den Rücken und
reckte die Pfötchen mit den roſenrothen Fußballen,
als wolle es ſagen: Da gefällt mir's. Er hatte in
ſeinem freundlichen Gemüthe ſchon beſchloſſen, das
Waiſenkind zu adoptiren, als die Wirthin mit dem
Kaffeebrett hereintrat und ſogleich ausrief: „Nein,
Du biſt amol a Naſeweis! In dem Herrn ſein Bett
drin! Gelt, da iſt's gut warm? Da möcht ich auch
lieber liegen, als in aller Herrgottsfrüh an' Brunnen
ſpringen, weil die Waſſerleitung wieder amol zuge¬
froren is über Nacht. 's nimmt koa End' mit dem
Winter, ich ſag's ja.“
[14]
Sie ſetzte das Frühſtück nieder und hielt dem
Kätzchen den Arm hin.
„Da hupf 'nauf, daß Dein Fräulein koa Angſt
kriegt; die Emerenz trägt Dich 'nüber.“
„Ach, das Thierchen hat ſchon einen Herrn?“
ſagte Alfred.
„A guts, guts Fräulein; und ſingt ſo gar arg
ſchön! Sie werden's auch noch hören. Sie hot ja
in dem Stüberl do g'wohnt und wär' noch heut' do,
aber ſchaug'ns, do is die Wirthſchaft do herein,
drunten, do hat's ihr nimmer paßt. Jetzt das Peterl,
das Lumperl verlauft ſich als, weil's noch den Ge¬
ſchmack von der Wohnung in ſein' Nos hot.“
Nun hätte Alfred das Kätzchen doppelt gern ge¬
liebkoſt, aber die Frau hatte es mitgenommen. Er
ſah ſich in dem beſcheidenen Raum um, — früher
alſo war die herrliche Stimme hier erklungen. War
es nicht ſüß, nun da nach ihr zu hauſen? Hätte er
doch nur die Frau ein bischen ausgefragt! Aber es
war ihm faſt lieber ſo. Was hätte ihm die erzählen
können? Ein gutes, gutes Fräulein, hatte ſie geſagt?
Ja, das war ſie gewiß! Was brauchte er eigentlich
noch von ihr zu wiſſen? Wußte er doch, daß ihm
ihre Stimme wunderbar gefiel, und daß ihre ganze
Perſon ihm wunderbar gefallen werde, wenn er ſie
einſt erblicke. Sein Herz begann zu ſchlagen bei dem
Gedanken an dieſen künftigen Augenblick. Dann aber
[15] fragte er ſich als der gewiſſenhafte Junge, der er
war, ob er nicht ſeinem Lehrer Wort halten und ſolch
eine verführeriſche Bekanntſchaft von vornherein mei¬
den ſolle; und er erkundigte ſich nicht weiter, obwohl
er beim Hinausgehen noch einen „Ständerling“ mit
der Wirthin hatte über allerlei nothwendige und un¬
verfängliche Dinge.
Mit dem gehobenen Bewußtſein, das der kleinſte
über ſich ſelbſt errungene Sieg verleiht, begab er ſich
auf ſeine erſte Studienfahrt in die Glyptothek.
Wie aber ward dem Neuling hier! Wie ging
ſeine Freude in bloßes Staunen, ſein Staunen in
Schrecken, ſein Erſchrecken in völlige Zerſchmetterung
über. Hier, ach, hier hatte erſt recht Niemand auf
ihn gewartet, — war nicht längſt Alles verſammelt
und tauſendmal ſchöner, als er es auch nur geträumt?
Er ſtand wie betäubt vor dem barbariniſchen Faun,
in Grauen und Entzückung vor der Meduſa Ron¬
danini. Wenn das hier Menſchen gebildet hatten,
Künſtler, was war dann er? Er riß ſeine Karte aus
der Taſche und zog einen dicken Bleiſtiftſtrich durch
das Wort „Bildhauer“ unter ſeinem Namen, während
es ihm heiß und ſtechend in die Augen ſtieg. —
Seine Schweſter hatte Recht gehabt: ſeines Vaters
„ſchönes Geſchäft“, die Grabkreuze und abgebrochenen
Säulen alle nach demſelben Muſter, das war das
Richtige für ihn. Er mußte ſich Gewalt anthun, um
[16] nicht zu ſchluchzen wie ein Knabe: „Alle gegen Einen!
Wenn Alle ſo gegen Einen anſtürmen!“
Gern wäre er fortgelaufen, aber doch hielt es
ihn wieder wie mit Zangen. Die Erfahrung von
geſtern, daß man ihn ſo garnicht nöthig habe und er
die Andern ſo ſehr, ſo ſehr, kam wieder, aber heut
mit einer qualvollen Schärfe, die ihn ganz durchbeizte.
So kam er nach Hauſe. Alles Verlangen nach Speiſe
und Trank war von ihm gewichen. Er ſchleppte ſich
die Treppe hinauf und warf ſich todtmüde aufs
Sopha. So tief war er getroffen, daß er wie ein
körperlich Verwundeter vor Ermattung einſchlief und
feſt und traumlos ſchlummerte ſtundenlang.
Mit der unklaren Empfindung eines großen Glücks,
einer um ihn verbreiteten Wonne kam ihm die Beſin¬
nung zurück. Sie ſang wieder. Heut ſchien es noch
ferner als in der Nacht, es legte ſich ſo vieles Tages¬
geräuſch dazwiſchen. Doch ſelbſt aus ſolcher Weite klang
es wunderbar beruhigend, wie der Ausdruck der tiefen
Uebereinſtimmung unter der ſcheinbar ſo verſchiedenen,
ſo widerſtrebenden Weſenwelt. Es war kein deutſches
Lied, irgend ein alter italieniſcher Hymnus. Ein
leidenſchaftliches Flehen und Werben um Gnade, ein
ſtammelndes Geloben der Hingebung, ein ſich Auf¬
löſen und Zerfließen in der Gottheit. Ach, wie ſie
ſchön war! Er ſah ſie wieder, ſie trug die Züge der
Geſtalt, die ſich das Mitleid nannte, aber ſie ſtand
[17] nicht mehr aufrecht, ſie hatte ſich auf die Kniee ge¬
worfen, drückte mit beiden Händen ein Schwert gegen
ihre Bruſt und flehte mit verzücktem Antlitz: „Gieb
mir die Schmerzen der Welt, aber laß mich in allen
Schmerzen Dein ſein, o Gott.“
Mit einem langen, befreienden Athemzuge ſtand
er auf. Was in ſeiner Vernichtung Neid und Mi߬
gunſt geweſen, fiel von ihm ab. Eine heiße Dank¬
barkeit wallte in ihm empor. O, die theure, die
fromme, die Engelsſtimme! — Ja, er war nur ein
Nichts, verglichen mit Jenen, die der Menſchheit
ewige Schätze geſchenkt hatten. Aber hatte es nicht
auch eine Zeit gegeben, wo ſie noch nicht waren?
Ein redliches Verſuchen, ein unermüdetes Ringen war
noch keine Anmaßung. Es war nur eine Frage an
ſeine eigne Natur, und die mußte doch erlaubt ſein.
Er fühlte ſich ſo erhoben, als habe er ſchon gefragt
und die Antwort laute: ja. Mit der ganzen Spann¬
kraft ſeiner fünfundzwanzig Jahre ſchwang er ſich den
Hut auf den Kopf und ſtürmte hinaus. Er wollte
— ja, vor allen Dingen wollte er zu Mittag eſſen,
denn was er noch von Unbehaglichkeit ſpürte, würde
wohl Hunger ſein. Er vertiefte ſich mit einer Gründ¬
lichkeit in ſeinen Suppenteller, über die er ſelbſt ge¬
lacht hätte, wäre ihm nicht trotz der wiedergekehrten
Friſche höchſt feierlich zu Muthe geweſen. Seine hei¬
ligen Entſchlüſſe und ſein geſunder Durſt wirkten zu¬
Frapan, Bitterſüß. 2[18] ſammen, ſo daß er heut mehr trank, als er gewohnt
war. Voll Muth redete er einen älteren Herrn an,
der ihm einen künſtleriſchen Anſtrich zu haben ſchien,
fragte ihn, wann die Glyptothek geöffnet ſei, obgleich
er's gut wußte, gerieth in ein erträgliches Geſpräch
mit ihm über die Frage: Büſte oder ganze Figur bei
Denkmälern für Dichter und Gelehrte? und kam mit
der unklaren aber beſeligenden Empfindung, daß es
ihm ſehr gut gehe, nach Hauſe. Aus dem Fenſter
gegenüber hörte er Klavierſpiel; da wohnte ſie gewiß.
Wie, wenn er hinaufging, ihr dankte für Alles, was
ſie unwiſſentlich ſchon an ihm gethan hatte? Ein
toller Gedanke! So keck war er doch ſonſt nicht!
Um aber die Tollheit nicht auszuführen, wie es ihn
mächtig lockte, lief er geſchwind in ſeine eigene Haus¬
thür und die Treppe hinauf.
Wieder wie geſtern der einſame Feuerſchein aus
dem Kachelofen, das Licht auf dem Betttiſchchen.
Aber halt, war das nicht ein ſanftes Miauen? Er
leuchtete umher. Richtig, auf dem Kopfkiſſen ſeines
Bettes ſaß es ſchon wieder, grau und klein und reckte
die Pfötchen wie zum Willkommen. Das war zu
viel für ſeine Standhaftigkeit. Er konnte doch das
arme Fräulein nicht in der Unruhe laſſen! Sie
mußte es ja vermiſſen und hätte gewiß die Nacht
nicht geſchlafen, ohne den Liebling in Sicherheit zu
wiſſen. Er riß das weiche Klümpchen von der Bett¬
[19] decke, auf der es ſich zierlich angehäkelt hatte, in ſei¬
nen ſchützenden Arm und rannte ohne Beſinnen den
heute früh ſo gewiſſenhaft verſchworenen Weg entlang
quer über die Straße. Ueber den hellen Hausflur,
die Treppe hinauf und noch eine Treppe leitete ihn
die Stimme, Ach, warum ſang ſie auch gerade ein
neckendes Liebeslied! Es klang:
Nun ſtand er an der oberſten Treppenſtufe und
ſuchte mit den Augen die Thür, aus der die Töne
quollen. Das Kätzchen murrte leiſe, ſo drückte er es
an ſich. Horch, weiter:
Eine heimliche Drohung, verführeriſcher als eine
Zuſage, lockte aus der Stimme der Singenden, daß
es ihn überlief.
Das war wieder Nixengeſang! Spottend hallte
es hinter dem Verlockten drein:
Das Lied verhallte ſo, mit einem Seufzer, und
Alfred ſtand noch immer an derſelben Stelle. „Ja
— ja —“ murmelte er vor ſich hin, „aber nun hilft
es doch nicht, nun muß ich doch hineingehen. Ich
glaube, ich bin im Schlaf, ich glaube, mir träumt
das nur ſo hier, — ich glaube, ich muß anklopfen,
ſonſt werde ich verrückt, oder ich erwache, oder —
Er ging langſam die drei fehlenden Schritte und
klopfte mit zitternden Fingern. „Herein!“ ſagte die
volle weiche Alt-Stimme. Er griff nach ſeinem Hut,
um ihn abzuziehen, aber er fand ihn nicht, er hatte
ihn in der Haſt vergeſſen. Wie er ſich beſann, ob er
denn nicht lieber erſt zurücklaufen, den Hut holen
ſolle, ward das „Herein“ wiederholt. Halb gegen
ſeinen Willen öffnete er nun die Thür, ſeine Blicke
flogen ihm voraus, doch ward er geblendet, weil er
ſo lang im Halbdunkeln geſtanden hatte, und ſagte
mit unſicherer Stimme in das Gemach hinein: „Ich
bitte um Verzeihung, ich glaube, dieſes Kätzchen —“
„Ach Peterl, Peterl, Du machſt mir argen Kum¬
mer!“ ſagte die Dame, die da auf ihn zutrat und
die Hände nach dem Thierchen ausſtreckte. Es ſprang
auch gleich auf ihre Schulter und drückte ſich zärtlich
an ihren Kopf, das ungetreue Geſchöpfchen. Alfreds
Augen hatten ſich inzwiſchen erholt und flogen
ſuchend über die Stühle, die um den runden Tiſch
her ſtanden. Sie waren aber leer, und ebenſo alle
[22] Ecken, in die das Licht der über dem Tiſch hängen¬
den Lampe fiel. Leer war auch der Platz am Clavier;
es war Niemand im Zimmer als die Dame, die jetzt
freundlich ſagte:
„Wollen Sie nicht ſitzen? Daher?“
Das iſt doch nun gewiß ein Traum, dachte er
bei ſich und erwiderte mit einem gewiſſen prüfenden
Ton:
„Ich hörte hier Geſang und wollte nicht ſtören — “
„Ich habe geſungen wie immer am Abend und
bin froh, wenn ich nicht Andere ſtöre,“ war die ein¬
fache Antwort.
„Sie ſind die Sängerin?“ ſtotterte er und blickte
mit der peinvollen Gewißheit, daß dies Alles ein
böſer Traum ſei, der ihn aber doch herzlich quäle, in
das grotesk-häßliche Geſicht vor ihm, über das unter
ſeinem erſchrockenen Anſtarren ein leiſes wehmüthiges
Zucken ging. Sie wandte ſich nun ab: „Haben Sie
das Singen gern?“
„Ja — das heißt — nein,“ ſtammelte er wie¬
der und ſah angſtvoll auf die große reizloſe Geſtalt,
die knochigen Hände und das ſtumpfe chineſiſche Pro¬
fil. Dabei dachte er fortwährend: Ich muß dem hier
doch ein Ende machen, ich muß doch das Wort ſagen,
daß aus der häßlichen Haut die Nixe hervorſpringt,
die Huldin, die Göttin.
„So dank' ich Ihnen eben recht, daß Sie mir
[23] mein Peterl wiedergebracht haben und bitt' um Ent¬
ſchuldigung wegen der Beläſtigung,“ ſagte die Sän¬
gerin ruhig, „und wenn die Muſik Sie Abends ge¬
nirt, ſo kann ich zu andrer Zeit ſingen —“
„O nein — nicht doch — es war ja nur —
weil — ſein Sie mir nicht böſe —“
„Weil Ihnen mein Geſicht nicht gefällt?“ ſagte
ſie leiſe, — „da ſein Sie nur ruhig, mir gefällt's
auch nicht; nein, ich bin nicht böſe, es ſind ſchon
mehr an mir verſchrocken. — Nicht dorthin, bitte, da
geht's hinaus. Warten Sie, die Treppen möchten
ſchon dunkel ſein.“
Sie nahm einen Leuchter vom Clavier und be¬
gleitete ihn hinaus. „Sie haben keinen Hut, Sie
wohnen im Haus hier?“ fragte ſie. Als ſie hörte,
er habe ihn vergeſſen, bat ſie ihn, mit umzukehren.
„Es möcht' kalt ſein, ſo über die Straß'; 's iſt noch
ein Hut da vom verſtorbenen Bruder, warten Sie.“
Er ſaß in Beklemmung und wagte kaum, ſich in
dem bücherreichen, behaglichen Zimmer umzuſehen.
Ach, dieſe ſchlichte, unbefangene Freundlichkeit über¬
zeugte ihn, daß er leider nicht geträumt habe. Die
ſüße Märchenſtimme war körperlos, und die Bilder
alle, die er geſchaut, waren trügende Luftſpiegelungen
geweſen, die er nimmermehr würde feſthalten können.
Eine Art Erbitterung gegen die Sängerin ergriff ihn.
Verlocken und dann enttäuſchen!
[24]
So enttäuſchen! Und dieſe philiſterhafte Er¬
kältungsfurcht! Warum ſollte er nicht ohne Hut nach
Hauſe gehen? Er war ſchon im Begriff, fortzulaufen,
als ſie mit einem großen grauen Filzhut in der Hand
eintrat.
„Nun kommen Sie, mein Mädchen iſt ſchlafen
gegangen, und die Hausthür wird geſchloſſen ſein.“
Als ſie die Treppen zuſammen hinabgingen,
ſchlug es halb zwölf; ein Zugwind blies das Licht
aus. Ihr Kleid rauſchte neben ihm auf der Stufe,
und er fühlte ihre warme Nähe. Wieder ergriff es
ihn wunderlich. Vielleicht war ſie Nachts wieder,
was ſie eigentlich war, flog es ihm durch den Kopf.
Er taſtete leiſe nach ihr, umfing ſie plötzlich und
küßte die Ahnungsloſe auf die Lippen. „Für all' die
ſüßen Lieder,“ hauchte er, „leide es nur! Muß ich
nicht auch all die Träume leiden?“
Sie hatte ihn ſchnell zurückgedrängt und das
Licht wieder entzündet.
„Gehen Sie,“ ſagte ſie traurig, ohne die Augen
zu erheben, „das war nicht recht, wir werden uns
nicht wiederſehen.“ — Sie betonte die letzten Worte,
ſo daß ſie einem Befehl gleichkamen, reichte ihm auch
nicht mehr die Hand, wie verlangend er die ſeine
ausſtreckte, ſondern ſchloß haſtig die Thür hinter ihm.
Dann aber ſtand ſie noch eine Weile, auf den Schritt
horchend, der drüben verklang. Als ſie hinaufging,
[25] fiel eine große Thräne mitten in die Kerzenflamme
hinein, daß ſie auskniſterte und faſt verlöſcht wäre.
Peterl ſtand an der halboffenen Stubenthür. Sie
nahm es und preßte das runde Köpfchen an ihre
naſſe Wange, die langſam erröthete.
„Du gutes dummes Thier, was haſt auch an¬
geſtellt,“ ſeufzte ſie, „kannſt denn garnicht bei mir
bleiben?“ Sie wiederholte die Frage noch ein paar¬
mal, während ſie Bücher und Noten zuſammenlegte
und ſich zum Schlafengehen anſchickte. Draußen tobte
der Frühlingsſturm und riß an den Fenſtern. —
Der Schlaf nimmt nicht immer das Bewußtſein;
oft bleibt uns nach heftiger Gemüthsbewegung die
frohe oder trübe Empfindung alle Nachtſtunden hin¬
durch, und am Morgen bedarf es keines Beſinnens
— noch eh' die Augen offen ſind, wiſſen wir, was
uns freut oder fehlt, was gewonnen oder verloren iſt.
Alfred erwachte mit dem Gefühl, daß ſein Tag öde,
ſein Leben von heut ab trübe und ſchwer ſei, und er
war ſo ungeübt in dieſer Empfindung, daß ſie ihn
auch körperlich niederhielt. „Wenn es ſo hergeht,
wenn nichts iſt, was es ſcheint,“ ſeufzte er, „dann
iſt ja alle Freude Trug! Solch eine Stimme und
— ſolch ein Geſicht! O, es muß ein Teufel dahinter
ſtecken, daß man die Augen weiter aufthut, als nöthig
iſt, und nachher iſt Alles hin.“
Auch ſein Betragen fiel ihm ſchwer aufs Herz.
[26] Sie war ſo gütig geblieben, wie eine Erwachſene, die
einen wilden Knaben vor ſich ſieht. Sein unver¬
hohlenes Erſchrecken im Anfang, ſeine unzuſammen¬
hängenden Entſchuldigungen, ſeine beſinnungsloſe
Keckheit, — ſie hatte Alles mit lächelnder Nachſicht
hingenommen. Nein, das Letzte doch nicht, da hatte
ſie geſagt: „Das war nicht recht.“ Warum auch
hatte er ſie geküßt! Es war ja ſchon nach der Ent¬
zauberung. Und doch war er ſich bewußt, auch darin
ganz ſeinem Gefühl gefolgt zu ſein. Es war nicht
recht, aber falſch war es auch nicht. Sein Herz war
übergeſtrömt gegen ſie in Liebe und Haß, ja auch
Haß, daß ſie dem Bilde nicht glich, welches er ſich
von ihr gemacht. Und in dieſer gemiſchten Empfin¬
dung hatte er ſich hinreißen laſſen. Und es war doch
ein Kuß geweſen, als ſei ſie ſchön. Er fühlte es
noch weich und duftig an ſeinen Lippen. Freilich,
als ſie dann wieder das Licht entzündet —
Er war wie in einem Ring gefangen und ſtieß
ſich darin müde und matt. Zuletzt überredete er ſich,
das ſei die Strafe für ſeine Widerſtandsloſigkeit.
„Im erſten Gefecht ſchon beſiegt,“ würde ſein Lehrer
ſpotten, wenn er es wüßte. Was hatte er nach den
Frauen zu gaffen. „Und gar nach häßlichen!“ würde
ſein Lehrer ſagen. Der hatte eine Kellnerin gehei¬
rathet, freilich eine ſchöne; ſein beſtes und beſtändiges
Modell, wie er ſelbſt bekannte.
[27]
Voll Unluſt ging er endlich auf die Straße, weil
er es ſo allein mit ſich nicht aushalten konnte. Vor
der Hausthür gegenüber ſtand ein Wagen, der Kutſcher
legte eben einen Reiſekoffer zurecht; ſeine Wirthin
ſtand mit der Emerenz, die einen Reiſeſack in der
Hand hielt.
„Das Fräulein verreiſt auch wieder,“ ſagte ſie
zu ihm im Vorbeigehen, „da wird's Peterl nimmer
zu Ihnen kommen, 's geht mit. Da ſchaug'ns.“
Emerenz öffnete den Reiſeſack ein bischen, da
war nichts weiter drin, als das wohlbekannte Kätzchen.
„Verreiſt?“ fragte er betreten, „die Sängerin?“
„Sie iſt keine Sängerin, aber ſie ſingt arg
ſchön,“ erwiderte die Frau. „Sie geht zu ihrer
Schwägerin, die iſt krank. A guts, guts Fräulein,
wenn Eins krank iſt, gelt Du, Emerenz?“
Das Kind nickte eifrig und ſchaute in das Haus
zurück. Da kam ſie die Treppen herunter. Er wandte
ſchnell die Augen ab und ſtürmte um die Ecke, er
wußte ſelbſt nicht warum. —
Nun muß es anders mit mir werden, nun muß
das abgethan ſein, dachte er. Er ging in die An¬
tikenſammlung und vertiefte ſich ganz ins Anſchauen.
Auch entſchloß er ſich, ein Empfehlungsſchreiben des
Bildhauers in Hamburg an einen Kunſtgenoſſen ab¬
zugeben. Der nahm ihn freundlich auf, über Er¬
warten; einen Gehülfen brauche er zwar im Augen¬
[28] blick nicht, aber er ſolle nur ins Atelier komme, ſo
oft es ihm beliebe. Leider war dieſes Meiſters Kön¬
nen nicht nach Alfreds Geſchmack. Dieſe handhohen
Rokokofigürchen mit den Blumenkörbchen und ſchiefen
Hütchen, dieſe tragikomiſchen Katzengruppen, ſo ge¬
ſchickt ſie gemacht waren, erſchienen ihm wie Zucker¬
bäckerkunſtſtücke, und er ſtaunte innerlich über den
Eifer und Stolz, womit der Mann, der ſich Bild¬
hauer nannte, dieſe Zierlichkeilen verfertigte. Seine
Entwürfe gingen immer ins Große. Aber der be¬
häbige Meiſter meinte ganz trocken, ſeine Püppchen
ſeien weit einträglicher, die könne ein Jeder brauchen,
auf Schreibtiſch oder Kommodenkaſten. Zur Be¬
kräftigung dieſer Wahrheit führte er ihn eines Sonn¬
tagsnachmittags vor ſein hübſches Gartenhaus, das
ihm ſeine Miniatur-Kunſt eingebracht hatte. Es trug
denn auch dasſelbe zuckerige Gepräge, wie Alles, was
er machte, war mit Säulchen, Thürmchen, Amoretten¬
fresken und Figuren in Niſchen überreich verziert, und
an einem Springbrünnchen im Garten ſaß, wie eine
lebendig gewordene Puppe ihres Papas, die Tochter
des Bildhauers in einem kurzen hochgebauſchten Röck¬
chen, das unvermeidliche Blumentellerchen auf dem
kurzen Lockenwerk. Sie hieß Fräulein Appolonia
oder „Loni“, wie ſie ſich ſelbſt vorſtellte, war ſiebzehn
Jahre alt, wie ſie hinzufügte, und hatte ein pikantes
Geſichtchen mit hochgeſchwungenen Augenbrauen und
[29] tiefrothem Mündchen, wie Jeder ſehen konnte. Sie
begrüßte den jungen Hamburger ſo unbefangen, als
kenne ſie ihn ſeit Jahren, ließ ſich aber nicht ſtören
in ihrer Beſchäftigung, eine Hand voll blauer und
gelber Krokus, die ſie eben gepflückt hatte, zu einem
Sträußchen zuſammenzubinden und an ihr rothes At¬
lasmieder zu ſtecken. Kaum aber ſaß es dort, ſo
nahm ſie es wieder herunter und ſagte kopfſchüttelnd:
„Es paßt nicht, ich werf's fort, oder wollen Sie es
haben?“ Dabei legte ſie ihm die kaum aufgeblühten,
aber ſchon halbwelken Krokus in die offene Hand.
Alfred hatte Blumen ſehr gern, die zarten Frühlings¬
kinder am liebſten.
„Nicht, nicht!“ bat er die kleine Zerſtörerin, die
ſich ſchon wieder zu dem Beet gebückt hatte, „ſehen
Sie, wie ſie ſich an der Sonne freuen, wie ſie alle
Kelche weit geöffnet haben.“
Das Mädchen ſah ihn erſtaunt an:
„Morgen gibt's wieder neue, die machen noch
lang' fort; ich nehm' jetzt nur die gelben, weil's
Violett nicht zu dem Roth da geht.“
An den Stachelbeerhecken ſchimmerten die grünen
jungen Blättchen, hin und wieder war ſchon eine der
beſcheidenen bräunlichen Blüthen ausgeſchlüpft. Vor
Alfreds Seele ſtand plötzlich der kleine Garten ſeiner
Kindheit, der Fliederbuſch, der wilde Wein an der
Laube und ſein Kinderentzücken über die erſten grünen
[30] Stachelbeerblättchen. Dort war es ſchön geweſen.
War es das? Hatte er ſich nicht Jahr für Jahr
weggeſehnt von dort? Und nun ſchien er ſich ſo
fremd in der Welt, „ſo allein wie ein Stein“, wie
ein altes Lied ſagt.
„Aha, da kommen ſie ja! Der Muckerl und
der Storch, und der Kanonenjockel, guten Tag, Jockerl
— und der Herr Baron und der Bub', gieb e
Patſch, Bub', au! nit ſo derb! Ja, wo iſt denn der
Papa?“
Die Ausrufe kamen von Fräulein Loni, die in¬
mitten eines Kreiſes von fünf jungen Männern ſtand,
die eben hereingetreten waren. Alfred ſuchte mit den
Augen nach dem „Buben“, doch konnte er keinen
erblicken, auf den die Bezeichnung gepaßt hätte.
„Da iſt noch Einer,“ hörte er jetzt Loni ſagen
und dann „ſchau'ns, da ſteht er; ach bitt' ſchön, Herr,
wie heißen Sie doch gleich? ich möcht' die Herr¬
ſchaften mit einander bekannt machen.“
Alfred trat etwas verwundert näher und hörte
nun fünf Namen, die aber von ſeinem Trommelfell
vorläufig gleich wieder abprallten.
Es war weder ein Herr Storch noch ein Baron
darunter, doch ſchloß er bald, daß der Ueberſchlanke,
der ihr zur Rechten ſtand, von dem Fräulein mit
dem Vogelnamen ausgezeichnet worden. Der, den ſie
jetzt wieder „Bub“ nannte, hatte einen ſtattlichen
[31] Schnurrbart, den er beſtändig zauſte. Sie hatte das
Buſenſträußchen eben wieder abgenommen und ver¬
theilte die Blumen, wozu ſie allerlei muthwillige
Sprüche ſagte, die zwar meiſtens gar keine Beziehung
zu ihr oder dieſen Männern hatten, aber doch laut
belacht wurden. Zuletzt hielt ſie nur noch ein leeres
Zweiglein, das als Stiel gedient hatte, in der Hand.
Sie reichte es mit einer graziöſen Verbeugung Alfred
hin und ſummte dazu: „Wer nicht liebt Wein, Weib
und Geſang“ —
„Fräulein, Fräulein, das hat ja der Luther ge¬
ſagt,“ unterbrach ſie ein kleiner Schwarzhaariger mit
ſcherzhaftem Fingerdrohen.
„Der Luther?“ fragte ſie zweifelhaft, „warum
nicht?“
„Der Luther war doch ein Ketzer!“ ermahnte der
Schwarze unter dem Lachen der Uebrigen.
„Ach geh, Muckerl,“ rief das Fräulein, den Kopf
zurückwerfend, „das haben unſere katholiſchen Herren
lang' gewußt, eh ſie's der Luther gelehrt hat.“
Wieder lachte Alles.
„Aber hat denn der Luther Euch Katholiken
gelehrt?“ fragte der Schwarze in ſcheinbarer Ver¬
wunderung.
Die Kleine gerieth in die Enge.
„Geſchwätz!“ ſagte ſie, mit dem Fuß auf den
Kiesboden ſtampfend. „Wer hat wen was gelehrt?
[32] Ich nicht, mich nicht. Mich hat Niemand nix ge¬
lehrt. Muckerl will wieder anbinden. Ich laß ihn
ſtehn.“
Sie bückte ſich zu dem Springbrunnen, als wolle
ſie eine Hand voll Waſſer ſchöpfen. Der, den ſie
Muckerl genannt hatte, wich in komiſcher Eile zurück.
„Wein! von Wein war die Rede, Waſſer liebt
Niemand!“ betheuerte er.
„Und Ihr kriegt doch nur ein Bier!“ ſagte
Fräulein Loni mit tiefſchmollender Miene. „Iſt gut
genug für Euch.“
Sie huſchte die breite Treppe zu dem Garten¬
hauſe hinauf und machte noch droben eine kleine Fauſt
nach rückwärts.
Die jungen Männer lachten noch immer, nur
„Muckerl“ ſah Alfred mit einem ſonderbar gemiſchten
Blick an und ſagte plötzlich, vor ihm ſtehen bleibend:
„Nicht wahr?“
Und Alfred verſtand merkwürdiger Weiſe, was
das heißen ſollte, und nickte mit einem Seitenblick
nach dem Hauſe zu.
Der Schwarzhaarige trat ihm noch näher, zog
die Mundwinkel tief herab und ſagte gedämpft:
„Keine Mutter gehabt.“
Alfred nickte wieder und ſah mit Antheil in das
jetzt tief bekümmerte Geſicht des Andern. Es war
ſcharf und fein, mit einem Zug des Leidens; der
[33] volle Bart, ſchwarz wie das Haupthaar, ließ die
Züge noch bleicher erſcheinen. In den grauen Augen
aber ſchien ein Schalk verborgen, der manchmal hell
hervorblitzte.
„Ein ſchönes Mädchen,“ ſagte Alfred, mehr um
ihm einen Gefallen zu thun, als aus Ueberzeugung.
„Sehr! ſehr!“ ſeufzte der Andere. „Sie ſind
wohl auch hergekommen, ihr das zu ſagen, wie all'
die andern Sommerweſten da?“
Alfred mußte über den betrübten Ton lächeln.
„Wo Blumen blühn, da ſtiegen Schmetterlinge.“
„Thun Sie's nicht!“ bat Jener mit einem drin¬
genden Blick in ſeine Augen, „ſo ein Blümchen hat
nur einen Kopf, und der iſt bald verdreht!“
„Soll ich Ihnen ein Verſprechen geben?“ lächelte
Alfred, „ſoll ich Ihnen ſagen, daß ſie mir nicht ge¬
fährlich werden kann?“
Der Andre wehrte mit bedenklichem Geſicht.
„Zuviel! nichts verſchwören, das ruft die Rache der
kleinen Teufel wach. Sie kennen ſie noch nicht, haben
ſie noch nicht geſehen in ſtillen Augenblicken, ohne
dieſen Hofſtaat, — wie ich.“
„Ich will's trotzdem verſprechen,“ ſagte Alfred in
ſo ehrlicher Bereitwilligkeit, daß nun der Andre lachte
„Gut, gut, ich danke Ihnen; erlauben Sie, daß
ich mich Ihnen vorſtelle: Max Wolff aus Würzburg;
ich heiße nicht Muckerl natürlich,“ — er erröthete
Frapan, Bitterſüß. 3[34] leicht, „die Kleine hat dieſen Namen für mich aus¬
gedacht, weil ich ihr manchmal den Text leſe; ich bin
der einzige Proteſtant, den ſie kennt, und obgleich ſie
keine rechte Idee von dem Unterſchiede hat, nennt ſie
mich doch auch manchmal „Ketzerl“. Er erröthete
wieder. „Sie iſt nicht wie Andre, es iſt keine Bos¬
heit dabei, Sie dürfen das glauben,“ ſagte er eifrig,
„ich könnte Ihnen Züge erzählen, Züge von Güte
— o nicht gegen mich, — nein, darauf gründe ich
meine einzige Hoffnung, ſie kann mich nicht ausſtehen
— das iſt doch immerhin eine Auszeichnung.“
Alfred ſtreifte ihn mit einem verwunderten Sei¬
tenblick. O dieſe Liebe! Ein ernſthafter Mann mit
einem großen Bart, gewiß zehn Jahre älter als er,
und ganz erfüllt von dieſem kleinen Mädchen! Es
iſt doch etwas Unheimliches, dachte er. Und zugleich
ſehnte er ſich, dieſen unheimlichen Zwang auch ein¬
mal im vollen Umfang an ſich zu erleben. Der Kuß
auf der Treppe fiel ihm wieder ein. Es ſchoß ihm
heiß durch die Glieder. Das hier war doch Alles nur
Spielerei.
Das Fräulein trat wieder aus dem Haus, hinter
ihr das Mädchen mit einem Brett voll Bierkrügen.
Zuletzt erſchien der Vater auf der Treppe und rief in
den Garten hinab: „Bier! Bier!“
Ein zuſtimmender Ruf antwortete, und die jun¬
gen Leute ſtiegen zu der Veranda hinauf, wo auf
[35] dem Steintiſch auch Brot und friſche rothe Radies¬
chen aufgeſtellt waren. Im Nu ſaß Jeder hinter ſei¬
nem Bierkrug. Alfred ſah das Fräulein ſchärfer an,
ſie war doch ſehr anziehend mit dem warmen Puppen¬
geſichtchen. Freilich ſaß ſie mit gekreuzten Füßen,
die Arme übereinandergeſchlagen und ſchien unabſicht¬
lich oder abſichtlich Alles nachzuahmen, was die jun¬
gen Männer thaten. Sie gab ſich auch den Anſtrich,
ebenſo durſtig zu ſein, ſetzte ihren Krug prahleriſch
an den Mund, trank aber doch nur ein paar Tropfen
jedesmal. Es kam die Rede auf einen bekannten Offi¬
zier. Sofort fing ſie an, ſeine Sprechweiſe nach¬
zuahmen, ſchleifte das R, wie ein Lieutenant, ſprach
durch die Naſe und klemmte das Auge zu, als ſäße
ein Monocle darin. Das Lachen der Zuhörer erhöhte
ihre Ausgelaſſenheit.
Sie ſtülpte dem „Buben“, mit dem ſie am
dreiſteſten umging, ihr Blumenhütchen auf den Kopf,
ſchlang ihm ein buntſeidenes Tuch um die Schultern
und begann nun, eine ſchmachtende Liebesrede an ihn
zu richten, immer in karrikirtem Lieutenantsdeutſch.
Ihr Vater hielt ſich die Seiten vor Lachen.
„So ein Sonntagnachmittag auf dem Lande
ſtellt mich allemal wieder her,“ ſagte er behaglich zu
dem neben ihm ſitzenden Alfred.
„Alle lachen, nur der Muckerl nicht,“ bemerkte
Fräulein Appolonia herausfordernd.
3*[36]
„Daher der Name,“ erwiderte Wolff lakoniſch.
„Ein wüſter Name,“ ſagte ſie achſelzuckend.
„Den Sie mir gegeben haben,“ parirte er mit
einer Verbeugung.
„Paßt er nicht?“ fragte ſie unſchuldig.
„So gut wie Ihnen die Uniform paßt er ſchon.“
Sie ſah zweifelnd ihren Vater an.
„Papa, ich glaub', Muckerl will wieder anbin¬
den, wir zwei haben immer Händel,“ ſagte ſie in
weinerlichem Ton.
„Da ſitzt das Karnickel,“ entgegnete ihr Vater
phlegmatiſch und legte die Hand auf ihr krauſes
Köpfchen. „Laß doch Jeden 'n Geſicht hinmachen,
wie er will.“
Wolff zuckte ein wenig: „Fräulein ſieht mein
Geſicht nicht gern,“ ſagte er reſignirt; dazu machte er
eine Bewegung, als wolle er aufſtehen.
Das Mädchen blickte ſchnell auf.
„Meinetwegen ſollen Sie nicht gehen, ich geh'
ſchon ſelbſt,“ rief ſie halb weinend, ſchob ihren Stuhl
zurück und eilte in das Haus.
„Was war das nun wieder!“ ſagte der Vater
kopfſchüttelnd. „So 'n Mädel bleibt doch ewig 'n
Mädel.“
Eine Unbehaglichkeit fing an, ſich zu verbreiten.
Man ſprach wohl noch, aber dazwiſchen horchte man
doch auf den leichten Schritt, der wiederkommen ſollte.
[37] und nicht kam. Alle athmeten auf, als plötzlich ein
wüthender Walzer aus den oberen offenen Fenſtern
erklang.
Der Alte ſchoß einen Triumphblick zu Wolff hin¬
über, der unruhig auf ſeinem Sitz hin und her ge¬
rutſcht war. Nun ſtand er auf, ging die Stufen
hinan, ſo daß er von oben geſehen werden konnte,
und fing ein lautes Händeklatſchen und Bravorufen
an, in das die noch Sitzenden bald einſtimmten. Das
Klavierſpiel verſtummte, das Fräulein ſtreckte neu¬
gierig das Hälschen zum Fenſter heraus, zog es aber
gleich wieder zurück.
„Wiederkommen! Artig ſein!“ rief Wolff hinauf.
„Wer ſoll artig ſein?“ fragte ſie noch ein bis¬
chen gereizt.
„Ich natürlich! Will's gewiß nicht wieder thun,“
antwortete er in komiſcher Zerknirſchung.
Das Spiel oben begann von neuem, ſie ſchien
noch nicht zur Verſöhnung geneigt. Wolff und Al¬
fred ſchlenderten in den ſchmalen Steigen umher, ohne
zu ſprechen; auf dem Geſicht des Aelteren lag eine
gewiſſe Unruhe.
Er warf plötzlich die Cigarre fort und ſagte:
„Und darauf hat man ſich nun die ganze Woche
gefreut!“
Von der Veranda her kam lautes Gelächter; ſie
[38] ſahen ſich um und erblickten Fräulein Loni, die mit
einer großen Stange in der Luft herumfocht.
„Was hat das tolle Ding jetzt wieder?“ fragte
Wolff, während er, wie von einem Faden gezogen,
auf das Haus zuging.
„'s iſt nur mein Bergſtock,“ meinte ſie gelaſſen
und ſtützte ſich darauf, „ich geh' auf den Berg da,
zu den Veilchen, man muß doch was in die Hand zu
nehmen haben.“
Der „Berg“ war eine kleine Anhöhe hinten im
Garten, es ſtand auch eine Bank dort.
Die jungen Leute ſahen ſich einen Augenblick
kopfſchüttelnd an, dann rief der „Bub“: „Ich darf
doch mitgehen in die Berg'?“ Und als ſie gnädig
nickte: „Und den Stock da gebens mir und ſtützen
ſich auf mich!“
„Da wär' mir der Storch lieber, der iſt dünner,“
erwiderte ſie gemächlich.
Der Schlanke trat eilig vor und hielt ihr den
zierlich gekrümmten Arm hin.
„Nein, nein, ich könnt' Ihnen was zerbrechen,“
lachte der Wildfang, ſtieß den Bergſtock unten in den
Boden und flog mit weitem Schwung hinterdrein,
„ich hab' ſchon manche Bergtour allein gemacht, bleibt
nur alle da.“ Dies galt als Aufforderung, zu
folgen, nur ihr Vater blieb mit einem ſehr wohl¬
[39] genährten Jüngling am Tiſch ſitzen, es war der fri¬
ſirte Lockenkopf, den ſie Jockerl geheißen hatte.
Wolff nahm ſeinen Hut und flüſterte Alfred zu:
„Jetzt kann ich nicht mehr, und Sie ſcheinen auch
genug zu haben, kommen Sie mit?“
Beide verabſchiedeten ſich von dem Alten.
„Und dem Fräulein ſagen wir nicht Adieu?“
fragte Alfred befremdet, als Wolff ihn ſchnell der
Gitterthür zudrängte.
„Nachher, — das heißt. Sie — Sie haben ja
kein Intereſſe daran“ — ſtotterte Wolff, — „ich aber
komme zurück zum Gutenachtſagen, ich mache das
immer ſo — leider! Ich hoffe immer, ſie ſoll mich
vermiſſen,“ fuhr er ſarkaſtiſch fort, „aber dann bin
ich ſolch' ein Tropf, ſehen Sie, dann lauf' ich nach
zwei Stunden wieder her und will ſehen, wie ſie's
aufgenommen hat, und dann, ſo wie ſie mich ſieht,
natürlich, ſagt ſie: „Ach Muckerl, ſind Sie noch da?“
oder ſo etwas, daß ich aus der Haut fahren möchte,
's iſt grad' ſo, wie ich als kleiner Bub gethan hab',
da ich meine Erbſen und Bohnen jeden Tag aus dem
Boden genommen hab', um zu ſehen, ob ſie ſchon
wachſen. Aelter wird man ſchon, klüger wird man
nicht. Ich gäb' Gott weiß was drum, wenn ich jetzt
aus meiner Haut da herausfahren könnt'!“
Die Zutraulichkeit dieſer Klagen machte den
Zuhörer kühn.
[40]
„Sie ſollten ſich aber doch nicht ſo gehen laſſen,
Sie ſollten Ihren Stolz zu Hülfe rufen, — ein
Mann —“
„Ach Du lieber Gott,“ ſtöhnte Wolff, „laſſen's
mich aus mit dem Gered' da. Was Stolz gegen ſo ein
kleines armes Kind, — denn das iſt ſie ja! Geht's
ihr nicht elend genug? Hat ſie denn nur einen
Menſchen auf der Welt? Iſt das ein Vater? Iſt
das ein Umgang? Buben, die ihr den Kopf verdrehn
und ihre Hanswurſtenſtreiche auf allen Gaſſen herum¬
tragen! Fragen Sie mal bei den jungen Malern
herum, wer die Loni Spitzer nicht kennt! Alle ken¬
nen ſie, die meiſten freilich vom Hörenſagen, und das
iſt das Schlimmſte.“ Er ergriff plötzlich Alfreds
Hand. „Sie werden nit einſtimmen! Sie werden
ihr nichts anhängen!“ ſagte er mit halberſtickter
Stimme.
Alfred drückte herzlich die ihm gebotenen Finger.
Auch ihm war die Rührung bis in den Hals ge¬
ſtiegen. Das war nicht mehr der unheimliche Zauber,
der dieſen Mann gefangen hielt, das war eine herzen¬
verbindende Kraft.
Sie waren einige Straßen weit miteinander ge¬
gangen, nun ward es Abend. Die ſchmale Mond¬
ſichel tauchte aus dem Sonnenuntergangsnebel und
ſchimmerte durch die Ulmenkronen mit ihrem braunen
Blüthengekräuſel. Ein friſcher Wind ſtreute die grü¬
[41] nen Ahorndolden auf den Boden, ihr Honigduft kam
in Wellen angetrieben; in dem noch winterſchwarzen
Epheu an den Hauswänden lärmten die Spatzen.
Wolff blieb ſtehen und zog die Uhr. Dann ſagten
Beide mit dem gleichen lebhaften Ton und Aufblick:
„Wann ſehen wir uns wieder?“ Und ſchnell be¬
ſchloſſen ſie, daß es ſchon morgen ſein ſolle, in Wolff's
Atelier. Mit feſtem Händedruck ſchieden ſie; der Ver¬
liebte kehrte auf ſeinem Wege um — und zu dem
Spitzer'ſchen Hauſe zurück, nicht ohne viel ironiſches
Kopfſchütteln über ſich ſelbſt und den Rath an den
neuen Freund, ſeine Freiheit feſtzuhalten; Alfred
ſchlenderte noch ziellos weiter. Der ſanfte Abend
hatte es ihm angethan; dazu all' dies Liebesgeſäuſel.
Der Gedanke an ſeinen kahlen Käfig ſchreckte ihn mehr
als je — ach, es drang keine holde Stimme mehr
herein, es kamen keine Götterbilder mehr zu Beſuch.
Eine ſtille Sehnſucht nach den Abenden, da er ihr
zugehört, ergriff ihn, als habe er nur damals wirk¬
lich gelebt — die Erinnerung an die ihm wider¬
fahrene Enttäuſchung drängte er gewaltſam zurück,
ſobald ſie wieder aufſteigen wollte. Er gerieth zu¬
letzt in eine ſolche Verträumung hinein, daß es ihm
deutlich war, als ſage Jemand ihm ins Ohr: „Geh
nach Hauſe, ſie iſt wieder da.“ Er ſtürmte nun heim
und trat klopfenden Herzens in ſein Zimmerchen; es
war von außen verſchloſſen, das kam ihm garnicht
[42] zum Bewußtſein. Als er ein leiſes Raſcheln hörte,
fuhr er zuſammen und taſtete noch im Dunkeln auf
ſeiner Bettdecke umher, ob nicht etwa das Kätzchen
wieder daſitze. Er fand natürlich nichts, nur auf dem
Fußboden lag ein Brief, den der Poſtbote durch die
Thürritze geſchoben haben mochte. Bei der unruhig
flackernden Kerze las er die Adreſſe; es war ſeines
Meiſters Handſchrift; er legte den Brief ungeleſen bei
Seit'. Doch war mit den bekannten markigen Zügen
ſoviel Tageslicht in ſeine Dämmerung gefallen, daß
er ſich wieder einmal wie einen Dritten, der ihn nicht
viel anging, betrachten konnte. Alſo weil man das
Höchſte nicht erreichen kann, zum Faullenzer werden,
der überhaupt nicht mehr den Finger rührt; weil
man auf eine ſchöne Stimme gehorcht, die leider einem
häßlichen Körper gehört, ſich einreden, man ſei ver¬
liebt, natürlich hoffnungslos, unglücklich! So alſo
hat das Leben bei meinem erſten Ausflug auf mich
gewirkt; ſo ſchwach findet es mich. Bin ich aber
ſchwach, ſo tauge ich nichts und thäte gut, mich ſel¬
ber zu begraben. Hab' ich dazu Luſt? Ach nein,
auch das nicht! Was will ich denn? Nun, etwas
leiſten und glücklich ſein! Gut, ſo fange an lieber
zu arbeiten, gleich morgen ſchon! Und verliebe Dich
nicht wieder in eine Stimme ohne Körper. Die Stimme
iſt Dir aus dem Weg gegangen, Du haſt's ja
[43] leicht; nun geh Du auch aus dem Wege, und Du
biſt wieder frei.
Er ſeufzte, nickte ernſthaft vor ſich hin und griff
dann nach dem Brief, der ihm jetzt, in dieſer geſam¬
melteren Stimmung, viel Beherzigenswerthes und Zu¬
ſtimmendes ſagte. — Er ging endlich ſchlafen und
träumte. Es kam ſingend die dunkle Treppe herunter
und fiel ihm weich und warm in die Arme. Plötz¬
lich ward Licht, und er erkannte Fräulein Loni, die
ihn anlachte, und ſo erſchrak er über ihr niedliches
Geſicht, daß er zuſammenfuhr und die lange, lange
Treppe hinunterſauſte wie ein Sturmwind.
Der andere Morgen traf unſern Freund in jener
unternehmenden geſpannten Gemüthsverfaſſung, die
neue Entſchlüſſe hervorzurufen pflegen. Der Be¬
ſuch bei Wolff machte ihm faſt bange; er wollte
ſich durchaus zur Thätigkeit aufraffen und fürchtete,
ein Geſpräch mit dem verliebten Genremaler könne
ſeinen guten Vorſätzen vielleicht hinderlich ſein. Doch
ſehnte er ſich bald wieder nach einem freundlichen
Ohr und ging deshalb zu früher Stunde in das
Atelier mit der Abſicht, ihn dort zu erwarten. Zu
ſeiner Verwunderung fand er den Maler ſchon in
voller Arbeit; wie dieſer ihm mittheilte ſchon ſeit
Stunden. Ein Modell zu einem Dorfſchmied, den er
eben malte, war gerade im Begriff, ſeine rußige
Jacke abzuziehen und ſich in einen Jäger zu verwan¬
[44] deln, als welcher er im anſtoßenden Atelier eine
Sitzung zu leiſten hatte. Der Maler erwartete, wie
er ſagte, jeden Augenblick die Kindermodelle, die auf
ſeinem Bilde, an der Thür der Schmiede ſtehend, erſt
flüchtig mit Kohle entworfen waren. Alfred freute
ſich an der ſchon vielverſprechenden Gruppe; beſonders
ein derber Bube, die Hände auf dem Rücken gekreuzt,
ganz als dunkle Silhouette gegen den Feuerſchein
drinnen ſich abhebend, erregte ſeinen Beifall durch die
Wahrheit und Abſichtsloſigkeit, die in der ganzen klei¬
nen Geſtalt ſich ausſprach. Wolff malte auch jetzt
unverdroſſen weiter am Hintergrunde und ſprach nur
hie und da ein Wort, während Alfred die Rahmen
an den Wänden umdrehte, um die Bilder zu be¬
ſchauen. Es that ihm wohl, den neuen Freund ſo
im Eifer zu finden, und es war ganz ohne Empfind¬
lichkeit, als er ihn endlich fragte, ob er nicht beſſer
thue, wieder zu gehen.
„Nein, bleiben Sie noch,“ ſagte der Andre bit¬
tend; „ich möchte, daß Sie die kleine Babett ſähen,
das wäre auch etwas für Sie. Sie müſſen gleich
kommen.“
Alfred ſetzte ſich in einen wurmſtichigen ſchön¬
geſchnitzten Armſtuhl und wartete. Allmälig aber
fing die Vertieftheit des Malers ihn zu kitzeln an.
„Haben Sie Ihren Gutenachtgruß geſtern noch
angebracht?“ warf er hin.
[45]
Wolff hob die Hand mit dem Pinſel und drohte
ihm lächelnd. „Heute iſt Montag,“ ſagte er bedeut¬
ſam; und als ihn Alfred fragend anſah:
„Sonntags die Liebe, und Wochentags die Ar¬
beit, ſonſt kommt man auf den Hund,“ erklärte der
Maler — ſchon wieder mit den Augen auf der Leinwand.
„Sie haben Recht,“ rief Alfred etwas betroffen,
„ich möchte mir ein kleines Atelier miethen, anfan¬
gen zu arbeiten. Ich weiß zwar noch nicht, was —
Der Maler legte die Palette hin und kam mit
ernſtem theilnehmenden Geſicht auf ihn zu. „Ich bitte
Sie, ſehen Sie ſich die Babett an, die könnte Sie auf
Gedanken bringen. Wenn ich das Ding ſehe, fallen
mir alle Kindermärchen ein; ſo ein Rothkäppchen
oder Schneewittchen, Sie werden ſchon wiſſen, wofür
Sie ſich entſcheiden. Ein Atelier im Nachbarhauſe
iſt frei, im Hintergebäude, hell und ſtill, wie Sie's
brauchen. Miethen Sie's, wenn es Ihnen zuſagt,
und dann kommen Sie wieder und ſehen ſich das
Kind an.“
Der Maler hatte mit dem Arbeitskittel einen
ganz andern Menſchen angezogen. Alfred gehorchte
voll Freude. Nun erſt wünſchte er ſich von Herzen
zu der Bekanntſchaft Glück.
Das Atelier, von dem Wolff geſprochen, lag zu
ebener Erde und hauchte eine feuchte Kellerluft aus,
da es den Winter über leer geſtanden hatte; dennoch
[46] freute ſich der junge Bildhauer auf ſeinen erſten Ar¬
beitstag in dieſem kahlen weißgetünchten Raum, wie
auf die erſte Zuſammenkunft mit der Geliebten.
Kaum war er mit dem Vermiether einig geworden,
ſo eilte er zu dem Maler zurück, um ihm zu danken
und nun womöglich gleich ſein Modell zu beſtellen.
Er hörte ſchon Kinderſtimmen ſprechen, bevor er die
Thür öffnete, und als er es that, kam das Urbild
des netten Kerlchens mit den geſpreizten Beinen und
nackten Schultern neugierig gelaufen und meldete ſein
Kommen.
Mit Wolff war jetzt noch weniger zu reden, er
nickte nur und wies dann mit dem Pinſel auf eins
der Kinder, das, vorläufig noch nicht im Feuer, auf
einem Schemelchen am Fenſter kauerte und, die Arme
auf die Kniee geſtützt, das Kinn in die Handflächen
gelegt, gradaus guckte. Alfred ſah bald, daß der
Maler Recht gehabt. Es war ein Geſichtchen, auf
dem noch der volle Kinderſchlaf lag, nichts von Be¬
wußtſein ihrer ſelbſt. Alfred rief ſie heran und ſah
mit Entzücken die wohlgeformten nackten Füße, die
ſchlanken Beinchen unter dem kurzen Rock und wun¬
derte ſich über die Anmuth, mit der ſich die Kleine
bewegte. Babett war ſieben Jahre alt, wie er müh¬
ſam herausbrachte, und hatte keine Eltern mehr; der
derbe Bub, der Karle war ihr Bruder. Sie trug ein
ſchlechtes graues Miederchen, an den Nähten zerplatzt
[47] und von den Schultern tief herabhängend, die Schön¬
heit des Kindes ſtand faſt unbekleidet vor ihm.
Nein, das war kein Rothkäppchen, kein ſchelmiſches,
von der Großmutter verhätſcheltes, von der Mutter
gut gehaltenes Dirnlein. Auch kein Schneewittchen,
kein ſchwarzhaariges, trauriges Königskind; — das
war die Schönheit im Bettelkleid, die noch reich iſt,
weil ſie ihre blauen Augen hat und den blauen
Himmel über ſich. „Haſt Du kein Tuch, Babett?“
ſagte der junge Bildhauer mitleidig. Das Kind
ſchüttelte die vollen blonden Locken.
„Hab ich Dir nicht Freitag eins gegeben?“ rief
der Maler ſich umdrehend.
Die Kleine zeigte auf ein anderes Mädchen, das
ſich plötzlich ängſtlich zuſammenduckte, als erwarte es
etwas Schlimmes.
„Die Luiſ' hat's. Sie hat kalt gehabt.“
„Und Dich friert's nicht, Babett?“
Sie ſchüttelte den Kopf.
„Sternthaler,“ ſagte Alfred für ſich, „das iſt es,
freilich! könnt ich nur gleich anfangen.“
Er nahm ein Blatt Papier und fing an zu zeich¬
nen, um nur ſeine Ungeduld gleich etwas zu be¬
ſchwichtigen. Dann lief er wieder in den neuerwor¬
benen Raum und beſichtigte den Ofen, beſtellte eine
Menge Feuerung und heizte endlich ſelbſt, damit der
Ort bald bewohnbar werde. Mit einer großen Er¬
[48] leichterung erfuhr er, daß Wolff die Babett jetzt nicht
zu malen gedenke; er hatte das Kind erſt zu ſpät ge¬
ſehen, das paßte nun nicht in die fertig geplante
Gruppe; zudem war ſeine Lieblichkeit dort zwecklos,
wie der Maler ſagte, er ſparte ſie ſich für ſpäter.
So konnte denn Alfred wirklich am folgenden
Tage beginnen und that es mit einem Fieber, das
dem älteren Freund „rührend dilettantiſch“ vorkam.
Aber Alfred ſtutzte nicht ob des böſen Wortes.
„Warten Sie nur,“ ſagte er gutmüthig, „ich
weiß ſchon, wir Norddeutſchen kommen Euch ein bis¬
chen dumm vor mit unſerer „unkritiſchen Begeiſte¬
rung,“ wie Ihr ſagt, und Ihr traut ihr nicht. Aber
wie kritiſch Ihr Euch immer anſtellen mögt, 's iſt
auch nur äußerlich, und ich weiß doch, wie warm es
auch bei Euch drinnen ausſieht.“
Und als der Maler immer noch lächelte, rief er
faſt ärgerlich:
„Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie
dabei nichts empfunden haben?“ Er deutete ſo hef¬
tig auf das Bild auf der Staffelei, daß Wolff un¬
willkürlich wie zum Schutz die Hand erhob. Dann
klopfte er Alfred auf die Schulter. „Sie ſind ein
guter Kerl; machen Sie nur das Babettle recht, ſo
will ich mich auch dafür begeiſtern und Ihre Ge¬
ſundheit trinken.“
Machen Sie's recht. Ja, das war freilich leicht
[49] geſagt! Es ſchien von Tag zu Tag ſchwerer zu wer¬
den. Alfred theilte ſeine Zeit zwiſchen Arbeit und
Studium in den Sammlungen. Jeden Morgen be¬
gann er mit leiſer Hoffnung, daß ihm heut etwas
Gutes gelingen müſſe, und die Hoffnung ward zur
beglückenden Ueberzeugung, wie die Stunden ver¬
rannen. Mit heißen Wangen, mit gehobenem Selbſt¬
gefühl beendete er die Arbeitszeit. Dann kam der
Nachmittag und mit ihm der Umſchwung. Vor den
fertigen Meiſterwerken ſchwand ſein eignes Beginnen
in ein lächerliches Nichts zuſammen; die Zerſchmette¬
rung jenes erſten Beſuchstages wiederholte ſich, wenn
auch nicht ſo ganz vernichtend, weil ſie nicht mehr ſo
neu war. Sein Lehrer in Hamburg hatte an ihm
eine gewiſſe unbefangene Keckheit gelobt, ja zuweilen
bewundert. Die kam ihm hier ganz abhanden.
Alles ward Vorſicht, Abſicht. Statt des flotten
Zugreifens ein ängſtliches Taſten, eine qualvolle Un¬
ſicherheit, die bald nicht mehr aus noch ein wußte.
Er blieb aus dem Atelier des Malers fort, beſchränkte
ſich ganz auf ſich, wollte erzwingen, was ſich nur
mühſam Schritt für Schritt erarbeiten läßt, und
quälte die geduldige Kleine mit endloſen Sitzungen,
daß ſie darüber blaß und ſchläfrig wurde.
Als er es acht Tage ſo getrieben hatte, trat
eines Nachmittags Wolff in die von allen heiteren
Geiſtern verlaſſene Arbeitsſtätte. Alfred warf mit un¬
Frapan, Bitterſüß. 4[50] ruhigem Erröthen ein Tuch über ſein Thonmodell und
bemühte ſich, den Maler auf die andere Seite zu
locken. Doch Jener ging ruhig auf das verhüllte
Werk zu und betrachtete es eine Weile ſchweigend,
während der junge Bildhauer haſtig auf und ab lief.
Wolff hatte ſchon an der Begrüßung empfunden, wie
es hier ſtehe, und daß ermuthigender Zuſpruch eine
Lebensfrage bedeute. Er fing an, dies und jenes zu
loben, rieth ihm aber dann, die Arbeit, an der er ſich
offenbar müde geſehen, eine Weile ruhen zu laſſen
und irgend eine andere Aufgabe zu wählen.
Alfred athmete auf; er drückte dem Freunde
lebhaft die Hand. Dann erzählte er ihm von ſeinen
täglichen Leiden; der Maler nickte wie zu etwas
Längſtbekanntem.
„Sie ſind noch nicht weit genug, um den freien
Genuß und Nutzen davon zu haben. Machen Sie
jetzt etwas, und gehen Sie inzwiſchen nicht in die
„Theken“, es wird beſſer ſein. Und wenn Sie jetzt
Zeit haben, kommen Sie mit auf einen Spaziergang,
ich möcht' mit Ihnen reden.“
Alfred entließ Babett, die, müde ſich dehnend,
in einer Ecke ſtand. Sie gingen hinaus und quer
durch die Stadt, den Iſarauen zu. Die jungen
Uferweiden ſchimmerten in hellem Grün; doch war es
kühl und menſchenleer auf den kiesbeſtreuten Wegen.
„Ich muß reiſen,“ ſagte der Maler, „gleich mor¬
[51] gen früh; ich hab' eine ſchwindſüchtige Schweſter da¬
heim, die wird wohl in, dem Frühjahr draufgehen, ſchreibt
mir die Mutter. Man weiß nicht, wie lang es an¬
ſtehen kann, — ich möcht ſie noch ſehen. Vielleicht
mal' ich ſie für die Mutter, ſie hat immer danach
verlangt, ihr zartes Geſicht zu haben.“
Er ſchwieg; der Leidenszug trat heute deutlich
hervor, ſein gelaſſener Ton kontraſtirte ſeltſam damit.
„Ach, wie das traurig iſt,“ ſagte Alfred herzlich.
„Ja, aber es hilft nicht, es iſt nun ſchon ſo;
wir haben's ſeit drei Jahren kommen ſehen, daß es
ſo geht, aber hin will ich noch.“ Er ſah den Bild¬
hauer mit zuckendem Munde an, als wolle er noch
etwas ſagen.
„Kann ich irgend etwas thun?“ — rief der, ſeine
warmen kindlichen Augen halbſchließend, damit der
Andre nicht ſehe, daß eine Thräne darin ſtand,
„Gehen Sie manchmal zum Spitzer, und geben
Sie Acht auf die Loni,“ erwiderte Wolff, „nicht
wahr, Sie ſind nicht angebrannt?“
„Seien Sie meiner ganz ſicher,“ ſagte Alfred
ehrlich betheuernd.
„Nun alſo; ſehen Sie dort nach dem Rechten,
Sie wiſſen ja, wie's hergeht, haben's ja ſelbſt ge¬
ſeh'n. Ich möcht's nicht erleben, daß ſie ſich etwa
mit dem „Buben“ oder dem „Storch“ in eine Liebes¬
4 *[52] geſchicht' einlaßt, aus der ich ſie nachher wieder her¬
ausſchälen müßt.“
Alfred ſah ihn etwas verwundert an.
„Ich hab' die heimliche Ueberzeugung, daß ſie
mir zuletzt zufallen muß,“ ſagte der Maler nachdenk¬
lich, „denn die Buben alle geh'n nur des Lachens
wegen hin. Freilich, der Alte iſt nicht unbemittelt,
wer weiß — und die Loni könnt 'nen dummen Streich
machen und ſich aus Langerweil anbinden. Das
muß verhütet werden.“
„Aber wär' es nicht beſſer, Sie ſprächen mit
dem Fräulein vor ihrer Abreiſe?“
Ueber Wolffs Geſicht flog ein leiſes Roth.
„Nein,“ ſagte er abwehrend, „ſo weit ſind wir
noch nicht. Sie iſt ſo gar jung, was würd' ſie zu
ſolch' einem Geſicht ſagen; und kann doch im Augen¬
blick kein anderes hinmachen, ſelbſt ihretwegen nicht;
ich geh nicht mal zum Abſchiednehmen hin. Ich hoffe,
ſie ſoll mich vermiſſen!“
Alfred war verſtummt; er fühlte ſich wie zu¬
ſammengepreßt, wie eingeſchnürt.
„Ach,“ rief er endlich, „und ſo ſchlägt man ſich,
drängt man ſich, quält man ſich von einem Tag auf
den andern.“
„Ja, ſo lebt man,“ war die leiſe Antwort.
„Leben? Das iſt das Leben?“ fragte er in
ſchmerzlicher Verwunderung.
[53]
„Haben Sie Andres erwartet?“ ſagte Wolff mit¬
leidig lächelnd. „Aber fügen Sie noch hinzu: „Und
ſo gewinnt man Freunde, da klingt's doch gleich a
biſſel beſſer.“
Alfred drückte ihm mit einer Art Schwärmerei
die Hand.
„Werd' ich von Ihnen hören?“
„Ich ſchick' Ihnen den Trauerbrief, wenn's ſo¬
weit iſt,“ murmelte der Maler.
Wieder gingen ſie eine Weile ſchweigend neben
einander her.
„Ich ſoll Fräulein Loni Ihre Abſchiedsgrüße
bringen?“ fing Alfred wieder an.
„Wenn ſie nach mir fragt, eher nicht; verhin¬
dern Sie nur, daß ſie ſich verliebt, verlobt u. ſ. w.;
und reden Sie Gutes von mir. — Sie ſelbſt, nicht
wahr — —“
Er ſah Alfred mit einem langen, prüfenden
Blick in die Augen, die ihn ſicher und freudig er¬
widerten.
„Gut Freund,“ wiederholte der junge Bildhauer
ernſt, „Sie dürfen mir vertrauen.“
Mit einem feſten Händedruck ſagten ſie ſich Lebe¬
wohl. — — —
Alfred Heuvels war ſeit jenem Sonntag nicht
in der Villa Spitzer geweſen und hatte nur den
Alten einmal in ſeinem Atelier unter den Rokoko¬
[54] dämchen beſucht. Jetzt war er verpflichtet, ſich nach
dem närriſchen Fräulein umzuſehen. Es war im
Grunde ein recht ſonderbarer Auftrag, den ihm der
Freund da hinterlaſſen, und Alfred ging mit nicht
ſehr behaglichen Empfindungen hinaus. War er doch
ein ganz Fremder dort im Hauſe und hatte ſich in
jenen Stunden keineswegs wohl gefühlt. Wie ſollte
er ſich dem verzogenen Kinde nähern, ohne falſche
Vorausſetzungen zu erwecken? Sie nahm es ſo ſelbſt¬
verſtändlich hin, daß ihr Jeder ſeine Huldigungen
brachte.
Und wenn er ſich's recht überlegte, ſchien ihm
das auch die beſte Umgangsform mit ihr zu ſein.
Er aber ſollte vernünftig mit ihr reden und ſie be¬
aufſichtigen! Eben das hatte ja auch der Wolff ver¬
ſucht, und es war ihm ſo elend mißlungen. Mit
heimlichem Widerſtreben dachte Alfred daran, daß ſie
nun auch ihm irgend einen Spottnamen anhängen
und ihn ſo hitzig behandeln werde wie das „Muckerl“.
Es war ihm garnicht recht geheuer, als er jetzt die
Glocke an der Gartenpforte zog; und als endlich das
Mädchen mit einer kleinen Laterne herauskam und
ihm meldete, der Herr ſei noch nicht daheim, und das
Fräulein ſei in einer italieniſchen Stund', zog er ganz
erleichtert ſeine Karte heraus und empfahl ſich eilig.
Er hatte dieſe ſpäte Stunde gewählt, um nicht zuviel
Arbeitszeit zu verlieren. Denn er hatte das Relief¬
[55] porträt eines charakteriſtiſchen alten Männerkopfs
begonnen und war in ſeinem gewohnten Anfangs¬
fieber. Um ſich in der Stimmung zu erhalten, hatte
er diesmal Wolffs Rath befolgt, nichts andres in¬
zwiſchen zu ſehen, und war bis zum Dunkelwerden
an ſeinem Werk geblieben.
Als die Straße zu Ende war und er in die
nächſte einbiegen wollte, rannte er faſt mit einer
Dame zuſammen, die eilig daherkam. Wie ſie anein¬
ander vorbei wollten, erkannten ſie ſich.
„Ah, Fräulein Spitzer, ich komme grade von
Ihnen.“
„Von mir? ach, das iſt geſchickt, da geh'ns mit
mir z'rück, 's iſt ſo arg dunkel,“ rief ſie erfreut, „der
Papa wollt mich abholen, iſt aber net kommen,“ fügte
ſie hinzu.
Alfred verbeugte ſich und kehrte mit um, doch
hielt er es nicht für loyal, ihr den Arm anzubieten,
ſo freundlich ihn die ſchwarzen Augen unter dem
Kraushaar anlachten.
„Sie machen ſich rar,“ ſagte ſie, zu ihm hinauf¬
ſehend, „es hat Ihnen, ſcheint's, nicht bei uns ge¬
fallen.“
„O, wie können Sie denken —“ fing er an.
„Es ſchad't nix,“ begütigte ſie, „Sie dürfen
meinethalb' nicht lügen. Es thut halt Jeder, was
er mag.“
[56]
Der Ton war ſehr harmlos, aber er reizte doch
zum Widerſpruch, zum Complimentemachen.
„Es kommen mehr Leut', als ich mag,“ ſagte
ſie nun auch ſchon, da er nicht geantworet hatte.
„Wen ſehen Sie denn am liebſten?“ fragte Al¬
fred ſcherzend, — er hoffte auf Wolff zu kommen.
„Ja, darüber hab' ich mir noch nie den Kopf
zerbrochen!“ lachte ſie, ihn mit einem erwartungs¬
vollen Seitenblick ſtreifend.
„Ich aber weiß Jemand, der für ſein Leben gern
jetzt an meiner Statt hier ginge,“ ſagte Alfred mit
plötzlichem Entſchluß.
„Das heißt. Sie thun's nit ſo gern,“ erwiderte
ſie etwas gereizt; „da ſchaun's, ich bin gleich z'Haus,“
ſie wies mit ihrem Sonnenſchirmchen vorwärts.
„Sie werden mich doch nicht am Gartenthor
entlaſſen?“ rief Alfred wärmer, als es ihm ums
Herz war.
Sie nickte nachläſſig mit dem Kopf:
„Der Papa iſt noch nicht daheim, und ich bin
arg müd', ich muß ſchlafen gehn.“
Der Bildhauer biß ſich auf die Lippen.
„Sie ſind heut ſehr ungnädig,“ ſagte er lebhaft.
„Und Sie könnten ein biſſel galanter ſein,“ gab
ſie zurück.
„Liegt Ihnen ſo viel daran?“ entfuhr es ihm
faſt wider Willen.
[57]
Sie legte den Kopf zurück, drückte die Augen zu¬
ſammen und ſagte ſpöttiſch: „Sie wollen wohl auch
mit mir anbinden? Sie gehen wohl beim Muckerl
in die Schul'?“
„Wenn Sie von meinem Freunde reden —“ rief
der Bildhauer faſt heftig.
„So, Sie ſind Freunde miteinander, Ihr ſeid
ein Paar!“ ſagte ſie wegwerfend.
Der Zorn ſtieg ihm zu Kopf.
„Ich bitte Sie, ſeien Sie einmal vernünftig,“
rief er, „Sie ſind noch jung, Sie kennen die Men¬
ſchen noch nicht, aber daß Wolff ein edler, ein ſeltner
Menſch iſt, das ſollten auch Ihre Kinderaugen ſchon
erkannt haben, falls ſie überhaupt die Fähigkeit
haben, das Gute und Rechte wahrzunehmen.“
Das Fräulein hatte die nach der Glocke aus¬
geſtreckte Hand ſinken laſſen und ihn eine Weile in
ſprachloſer Verwunderung angeſtarrt. Sie that einen
tiefen Athemzug. Dann ſagte ſie langſam:
„Das iſt brav von Ihnen, daß Sie ihn in
Schutz nehmen; das muß wohl auch ein Freund
thun,“ Sie zog die Klingel und fuhr in demſelben
gezähmten Tone fort: „Wenn Sie Sonntag kommen
wollen, — es wird Ihnen arg langweilig ſein, —
aber mir machen Sie eine Freud' damit. Auf Wieder¬
ſehn!“ Sie ſtockte, erröthete und reichte ihm das
Händchen im ſeidnen Handſchuh. Er fühlte ihren
[58] heftigen Pulsſchlag, wie er es einen Augenblick feſt¬
hielt. Dann eilte ſie, ohne ihn anzuſehen, an dem
Dienſtmädchen vorüber und durch den dunklen Gar¬
ten; ihr leichter Fuß klang hörbar auf den Marmor¬
ſtufen, dann war ſie im Hauſe verſchwunden. Mit
langſamen Schritten entfernte ſich Alfred. Er hatte
wohl etwas erreicht, aber er war doch nicht zufrieden
mit ſich, nein, er war nicht zufrieden!
Kaum zu Hauſe angelangt, ſchrieb er einen Brief
an Wolff, bat ihn, den Auftrag von ihm zu neh¬
men; er ſei ungern bei den Spitzers und nicht die
geeignete Perſon, Fräulein Loni zu beeinfluſſen.
Danach ſchlief er ruhig und zerriß folgenden Mor¬
gens den Brief, aus Rückſicht für den Freund. Der
hatte Sorge und Schmerz genug, der ſollte nicht um
eines übertriebenen Skrupels willen beunruhigt wer¬
den. Als er erſt bei der Arbeit war, fand er ſeinen
Halt wieder und vergaß zuletzt Alles in der Welt,
außer dem Geſicht da vor ſich und dem Thonklumpen
in ſeinen Händen. In der Frühſtückspauſe kam das
alte Modell geſchlichen und beſah ſich, was da wurde.
Sein verſtändnißvolles Schmunzeln und Nicken dünkten
den jungen Künſtler werthvoller als alle gelehrte
Kritik. Der „Schufterl“, wie er in den Ateliers ge¬
nannt ward, hatte ſein Geſicht ſo oft auf der Lein¬
wand und in allerlei anderem Material geſehen, daß
er ſchon ein Urtheil beſaß. —
[59]
So gingen die Tage bis zum Wochenſchluß wie
im Traum dahin, und hin und wieder nur kam eine
einſame Abendſtunde, in der Alfred, von unbeſtimmter
ſehnſüchtiger Unruhe getrieben, das Fenſter aufriß
und hinaushorchte, und wenn Alles ſtill blieb, nach
dem Hute griff und ins Freie rannte, um ſich müde zu
machen und ſeine Gedanken und ſein warmes junges
Blut zu kühlen. Dabei war es ihm eine Annehmlich¬
keit, daß ſein Zimmernachbar ausgezogen war und
der leere Raum ganz anſpruchslos daſtand; die Wirthin
hatte ſogar die Verbindungsthür zwiſchen jenem und
dem ſeinigen geöffnet, ſo lange es unbenutzt ſei, und
Alfred freute ſich, für ſeine langen Beine etwas mehr
Spielraum zu haben. Was ihm die Frau gewonnen
hatte, war die Freigebigkeit des jungen Hamburgers
und ſeine Dienſtbereitſchaft für alles Weibliche im
Haus, ſei es das alte Mütterchen im dritten Stock,
der er den entfallenen Arbeitsbeutel hinauftrug, ſei
es das Wäſchermädchen, dem er den ſchweren Korb
auf den Kopf ſetzen half. Es lag ihm eben in der
Natur, daß ſein angenehmes Geſicht noch freundlicher
wurde, wenn es ein langes Haar und einen faltigen
Rock zu ſehen bekam.
Am Sonntag fühlte er ſich wieder unbehaglich
und aufgeregt, doch kam ihm garnicht der Gedanke,
daß er ja vielleicht aus dem Spitzer'ſchen Hauſe weg¬
bleiben dürfe. Noch hatte er das Fräulein nicht ge¬
[60] ſprochen, kein Wort über Wolffs Abreiſe mit ihr ge¬
tauſcht. Er aß haſtig zu Mittag und mußte dann,
weil es noch viel zu früh war, zwei Stunden mit
dem Leſen öder Zeitungen verbringen; er hielt dabei
zuletzt die Uhr in der Hand und bekam aus reiner
Langerweile Herzklopfen.
Endlich ſchlug es drei Uhr, in einer halben
Stunde war er draußen. Er hatte ſich vorgenommen,
mit Ernſt und Beſtimmtheit der gefährlichen Kleinen
entgegenzutreten und es zu keiner Neckerei kommen zu
laſſen. Er kam daher etwas aus der Faſſung, als
ihn Fräulein Loni mit einem ausgelaſſenen Gelächter
begrüßte, in das der Vater und die jungen Burſchen,
die ſchon alleſammt unter einem großen blühenden
Apfelbaum ſaßen, faſt beleidigend einſtimmten.
„Kommen Sie, Herr Niemand, für Niemand iſt
noch Platz!“ rief ſie, und zog einen Gartenſtuhl an
ihre Seite, auf dem Alfred indeſſen nicht Platz nahm.
„Darf ich nicht wiſſen, warum Sie ſo luſtig
ſind?“ fragte er, noch außerhalb des Kreiſes ſtehend,
die Augen von Einem zum Andern wandern laſſend.
„Da ſehn Sie!“ zwitſcherte das Mädchen und
hielt ihm eine Karte vor die Augen; „die Kart haben
Sie unſerm Mädel 'geben, — warum haben's ſich
denn vor ausgeſtrichen, wann's ſich nun doch wieder
einſtellen?“
Ach, ſeine Viſitkarte, auf der er damals in der
[61] Glyptothek ſeinen Beruf, und wie er nun ſah, in
dem ſchmerzlichen Eifer jener Stunde, unabſichtlich
auch ſeinen Namen durchſtrichen hatte! Der Zufalls¬
kobold hatte ihm auch gerade dieſe in die Hand
ſpielen müſſen, und er hatte garnicht hingeſehen, als er
ſie abgab.
„Was heißt denn das? Was bedeutet das?“
fragte man von allen Seiten. Alfred ward es immer
unbehaglicher; mit der ganzen Wahrheit, die ihn ſo
nahe anging, mochte er nicht vor dieſen Neugierigen
herausrücken. Dennoch mußte er etwas ſagen. Er
ſtotterte eine Entſchuldigung wegen des Mißgriffs;
aber Loni ſah ihn kopfſchüttelnd und forſchend von
der Seite an und fuhr fort, ihn „Herr Niemand“
zu nennen, was ſie in allerlei dreiſten Scherzen aus¬
beutete.
„Niemand darf aus meinem Glaſe trinken, gelt
Papa?“ ſagte ſie, ihm ihr Glas kredenzend, und es
ebenſo ſchnell zurückziehend und eifrig leerend. „Aber
Niemand findet mehr einen Tropfen drin,“ rief ſie
und ſtieß es ausgelaſſen auf den Tiſch nieder. Der
Alte lachte über die „Wetterhex“, und Alfred ſaß
dabei mit ſüßſaurer Miene und wäre gern weit fort
geweſen. In einer Pauſe ſah ſie ſich nach allen
Seiten um, guckte auch unter den Tiſch und rief dann
mit geheuchelter Ueberraſchung:
„Jeſſas, der Muckerl iſt nicht da!“
[62]
„Da bin ich froh dran,“ fiel der Alte ein, „er
hat was Zuwideres.“
„Wolff iſt ein wackrer Künſtler und ein edler
Menſch!“ ſagte Alfred, während es ihm roth ins Ge¬
ſicht ſtieg und ſeine Stirn ſich unmuthig zuſammenzog.
„Kann ſein, aber ich mag ihn net,“ erwiderte
Spitzer und klopfte behaglich ſeine kurze Pfeife aus.
Armer Freund! Alfred ſah Loni ſcharf an,
aber ſie klapperte mit ihrem Armband und bat dann
den „Buben“, ſie einen Salamander reiben zu lehren,
ſie könne es nimmer recht. Der abſichtlich laute un¬
bekümmerte Ton ſchien dem Bildhauer eine neue Her¬
ausforderung. Doch bekämpfte er ſeinen Aerger und
rief nun ſelbſt: „Exercitium salamandri!“ daß das
Mädchen die Augen aufriß und auch der Alte ſich
mit Schmunzeln nach ihm umwandte und ihm mit
einem väterlichen: „Ich hab's gern, wenn junge Leut'
luſtig ſind,“ auf die Schulter klopfte.
Wider Willen ſah ſich Alfred in die geräuſch¬
volle ſeichte Heiterkeit hineingezogen. „Blindekuh!
Wir ſpielen Blindekuh!“ rief das Fräulein, riß ihr
Tüchlein hervor und verband ihm die Augen. Dann
lief ſie ſo neckend an ihm vorbei, daß die Andern
wohl merkten, es ſei eigentlich nur ein Spiel zwiſchen
dieſen Beiden, und ſich bedeutſame Blicke zuwarfen.
Nicht lange dauerte es, da hatte er ſie erhaſcht und
hielt ihre warmen weichen Hände feſt in den ſeinen.
[63] Er ſchüttelte mit einer Bewegung das Tuch ſo weit
herunter, daß er ſehen konnte, ſie waren zwiſchen
zwei Bäumen und fern von den Uebrigen.
„Nicht eher geb' ich Sie los, als bis Sie eine
Frage thun,“ rief er in halbem Zorn.
„Welche Frage?“ Sie ſuchte ihre Hände zu be¬
freien und war purpurroth.
„Rathen Sie! Rathen Sie!“ drängte er und
ſah ſie mit dem Gefühl an, daß ſie es doch nicht
rathen werde, und daß ſie ihm überlegen ſei und ihn
um den Finger wickle.
Plötzlich war ſie frei, ſtellte ſich gerade vor ihn
hin und ſagte mit einem bittenden Kleinmädchenblick
in ſeine blauen Augen:
„Es wäre ſchon beſſer, Sie ſagten mir's, ich bin
halt gar zu dumm!“
„Mein Freund Wolff,“ — fing er an, aber es
klang ihm ſelbſt wie eine Formel, und das Fräulein
hatte ſich ſchnell abgewandt und war ein bischen zu¬
ſammengezuckt.
„Wolff iſt fort,“ ſagte er mit einer neuen Kraft¬
anſtrengung, „ich ſoll Sie grüßen.“
Nun ſchien ſie doch zu erſtaunen.
„Fort? Ganz fort?“ fragte ſie und ſagte dann
nach einer Weile: „Da kann er mir nimmer die Le¬
viten leſen, aber daß er ſo ſchnell gangen iſt — —“
[64]
„Seine Schweſter iſt im Sterben“, fuhr er in
bebendem Ton fort, „er iſt ſehr beklagenswerth.“
Sie maß ihn betroffen. „Muckerl?“ fragte ſie
leiſe, als habe ſie den noch niemals in dieſem Lichte
erblickt.
Wie ſie ſo nachdenkend ſtand, das lachende
Mündchen ernſthaft geſchloſſen, die zierliche Geſtalt
vom Abendſonnenſchein umſtrahlt, war es Alfred auf
einmal, als ſei er blind geweſen. Sie iſt ja reizend!
dachte er, und im gleichen Augenblick traf ihn ihr
Blick ſo voll Wohlgefallen, daß ſein Herz hoch auf¬
ſchlug.
„Sie ſind brav,“ ſagte ſie langſam und ohne
den Blick von ihm zu wenden, „wer Ihr Freund iſt,
hat es gut.“
Nun fing er mit einer wahren Ueberſtürzung an,
von dieſem Freund zu reden; er rühmte ſeine Güte,
ſeinen Fleiß, ſeine Begabung und demüthigte ſich zu¬
letzt ſo tief vor ihm, daß Loni abwehrend den Kopf
ſchüttelte. „Nein, jetzt, das iſt zuviel, das würd' er
nicht annehmen.“
Etwas verwirrt kehrten ſie zu den Uebrigen zu¬
rück, die ihnen zuriefen, man habe ſchon überall nach
ihnen geſucht. Fräulein Loni ſchlug den Schlanken,
den ſie „Storch“ nannte, geringſchätzig auf die Fin¬
ger, die er ihr entgegenſtreckte.
„Da hätt' ich viel zu thun, wenn ich all' Euer
[65] Geſchwätz glauben wollt',“ ſagte ſie achſelzuckend,
„Ihr habt derweil Bier trunken; ich kenn' Euren
Sonntagsnachmittagsdurſt.“
Der „Bub“ ſah Alfred mit frechem Lächeln an:
„Haben Sie ſich fangen laſſen, mein Beſter?“
fragte er.
„Nein, er hat mich gefangen!“ rief das tolle
Kind, „er war ja Blindekuh;“ plötzlich aber lief ein
Erröthen über ihr feines Geſichtchen, der „Bub“
hatte ſo beleidigend aufgelacht.
„Das is amal a dicker Spatz,“ ſtotterte ſie me¬
chaniſch und zeigte geradeaus auf den Raſenfleck unter
dem Birnbaum.
„Aber Fräulein, das iſt ja der Jockerl!“ näſelte
der „Storch“ mit komiſchem Mißverſtehen.
Loni lief zu ihrem Vater und ſetzte ſich neben
ihn. „Ich bin müde,“ flüſterte ſie, „ſchick ſie weg,
Papa.“ Sie ſtützte den Kopf auf die Hand und
ließ die Lippe hängen.
„Wenn Du müd' biſt, geh ſchlafen,“ ſagte der
Vater mürriſch, „man braucht Dich net.“
Die Kleine machte ein hülfloſes Geſicht. „Nie¬
mand, ich weiß nicht, wie er eigentlich heißt“ —
ſie lachte ſchon wieder — „alſo Niemand kann hier¬
bleiben, aber, bitte, Papa, ſchick die Andern weg.“
„Du biſt nicht geſcheut,“ war die Antwort,
„Herrgott, hat man eine Noth mit ſo Mädelen.“ Er
Frapan, Bitterſüß. 5[66] goß ärgerlich ſein Glas hinunter. Jockerl, der ihm
gegenüber ſaß und etwas von der halblauten Unter¬
redung gehört hatte, grunzte beiſtimmend und trank
ebenfalls.
Sie iſt doch elend dran! dachte Alfred, Wolff
hat ganz Recht. Sie könnte eine Andre werden. Ob
aber durch ihn?
„Guten Abend, Fräulein Loni,“ ſagte er, hinter
ihren Stuhl tretend, „ich möchte mich verabſchieden.“
„Ich auch!“ erwiderte ſie mit traurigem Nicken,
„ich thu's auch bald!“ Sie ſtand auf, obgleich Alle
ſie anſahen.
„Ich begleite Niemand!“ rief ſie mit dem ge¬
wohnten ſpitzbübiſchen Lachen, „ja, macht nur lange
Hälſe, iſt mir auch eins.“
„Ich wollt, die Andern gingen und Sie blieben
da,“ ſagte ſie, als ſie zwiſchen den Blumenbeeten
ſtanden, „nun fangen ſie bald an Skat zu ſpielen,
und da bringt man ſie vor Mitternacht net weg.
Spielen Sie auch Skat?“
„Nein,“ lächelte Alfred.
Sie ſeufzte tief. „Grad ſo ungebildet wie ich,
denn wer nicht Skat ſpielt, ſei ungebildet, ſagt
Jockerl. Ich glaub's aber net.“
„Wolff rührt keine Karte an,“ betheuerte der
Bildhauer mit einer heldenmüthigen Anſtrengung.
Sie erwiderte nichts; nach einiger Zeit bückte
[67] ſie ſich zu einem Quittenſtrauch, deſſen kaum er¬
ſchloſſene granatrothe Blüthen durch das ſpärliche
Grün leuchteten.
Sie reichte ihm ein Zweiglein und ſteckte ſich
ſelbſt eins an. Er haſchte nach der niedlichen Hand
und küßte ſie ſchnell.
„Ihnen kann man ſchon etwas zu Liebe thun,“
ſagte ſie, während ihr wieder das Blut ins Geſicht
ſtieg, ſich dann aber der Ausdruck plötzlich ins Schalk¬
hafte veränderte: „Sie ſind ja doch — Sie ſind ja
doch Niemand!“
Damit wollte ſie fortlaufen; er aber hielt ſie
feſt und warf einen ſchnellen Blick rückwärts; der
Tiſch war nicht zu ſehen, die Büſche traten davor.
„Niemand?“ ſagte er mit drohendem Flüſtern,
„iſt es wahr, Loni, bin ich Ihnen wirklich Nie¬
mand?“ Er wußte ſelbſt kaum, was er ſprach, nur
daß ſie ſehr lieblich war, und daß ihre kleine Hand
wie ein warmes zuckendes gefangenes Mäuschen in
der ſeinen lag.
„Ich will — ich will auf ihrer Kart' nachſchaun,
wie Sie heißen,“ flüſterte ſie.
„Alfred!“ hauchte er.
„Alfred,“ wiederholte ſie wie ein leiſes Echo;
und dann noch leiſer: „Gute Nacht, Alfred.“
„Gute Nacht, Loni!“ er beugte ſich auf ihr ge¬
ſenktes Köpfchen und drückte ſeine Lippen auf das
5*[68] weiche dunkle Gelock, ſein Herz ſchlug ängſtlich
und hart.
Da ging ein Mann an der Gartenpforte vor¬
über, nah' bei ihnen; Alfred ſah nicht viel mehr, als
den grauen Schlapphut, aber es fuhr ihm wie ein
Stich durch die Bruſt. Trug nicht Wolff ſolch einen
Hut? Wolff und er — o!
„Gute Nacht!“ ſtammelte er mit einem haſtigen
kurzen Händedruck und war, ohne ſich umzuſehen, mit
einem Sprung aus dem Garten.
Er ging nicht der Richtung nach, die jener Spa¬
ziergänger genommen, der den Schlafwandler auf¬
geweckt. O nein! Er eilte nach der entgegengeſetzten
Seite, obgleich ſie ihn weiter hinausführte. Wenn
der Mann wirklich ſein Freund geweſen wäre, er
hätte nicht erſchrockener vor ihm fliehen können. Und
doch lief er eigentlich vor ſich ſelbſt und zwar mit
dem erdrückenden Bewußtſein, daß das nutzlos ſei
und daß er ſich nicht entlaufen könne. Was hatte er
gethan! Weh, was hatte er gethan! Für ſich ge¬
nommen, was er dem Freund bewahren ſollte! Es
verdiente die ſchwärzeſten Namen. Wie er ſich an¬
klagte, wie er ſich haßte. Solch ein Menſch, ſolch
ein Freund! Solch ein Vertrauen! Und dazwiſchen
erboſte er ſich wieder für ſeine bisherige Unſchuld,
kämpfte mit ſich ſelbſt für ſie. — „Für mich genom¬
men?“ ſagte er ſich, „nicht doch — in den Schoß
[69] gefallen. Wie wenig hab ich dazu gethan!“ Und
wider Willen kam ihm ihre Geſtalt zurück und ihr
unverhohlenes Wohlgefallen und wie allein ſie ſei mit
dem Vater und unter jenen plumpen, läppiſchen Ge¬
ſellen. Ihn ſah ſie gern, war es nicht Pflicht viel¬
leicht, ihr die Freude zu gönnen? Sie war ja ganz
gleichgültig geblieben bei ſeinem Bericht über Wolff!
Nicht ein gutes, freundliches Wort für den Abweſen¬
den hatte er herausgehört, und von Vermiſſen war
auch nichts zu bemerken geweſen. Armer Wolff, es
ſchien ganz hoffnungslos. Der Vater war ihm auch
abgeneigt, nun alſo! — Sehe ich aus wie Einer, der
einen Freund betrügt? Habe ich nicht den beſten
Willen gehabt, für ihn zu werben? Aber wer kann
denn Liebe erzwingen und noch gar Liebe für einen
Andern?
So zuckte ſeine Seele hin und her; er war zu
klar, zu ſehr Pflichtmenſch, um ſich dauernd vor ſich
ſelbſt entſchuldigen zu können, und er war zu warm
und zu verliebt, um ſein Unrecht ohne Umſchweif zu
bereuen. Er hatte ſich ja nur treiben laſſen, wie der
Strom ihn zog. Ihm ſchien vor Allem unbegreiflich
ſeine frühere Verblendung, ſtrafbar ſeine Sicherheit,
ſein unbeſonnenes Verſprechen. Aber hatte nicht auch
Wolff gefehlt, der doch ſo viel älter war und wiſſen
mußte, daß es Stimmungen gibt und Impulſe, die
Niemand vorausahnt? — Eine Viertelſtunde lang
[70] dünkte es Alfred, als könne er allen Zorn auf den
Freund wälzen. Nicht wie ein Freund, wie ein Ver¬
ſucher hat er an mir gehandelt! — aber das unklare
Wehgefühl, das nicht weichen wollte, belehrte ihn eines
Beſſeren. Ach, er war unglücklich, er war tief be¬
dauernswerth, er liebte die Geliebte ſeines Freundes
und hatte es ihr nicht geſagt, aber doch deutlich ge¬
zeigt. Ihm wurden die Augen naß vor Mitleid mit
ſich ſelbſt, mit ihr, die er ohne Zweifel durch ſein
plötzliches Davoneilen gekränkt, und mit ihm, der ſich
in trüber Leidenszeit durch den Gedanken an ſie
Beide aufrecht hielt und ſo ſchmählich betrogen war.
Wie ein Irrgarten lag die Zukunft vor ihm. Wel¬
chen Weg einſchlagen? Und der Lockvogel, der ihm
unaufhörlich ins Ohr ſang: Sie liebt dich, und du
liebſt ſie auch; wer liebt, hat Recht, geh wieder hin!
Du haſt nur ihre Locken geküßt, küß ihre Lippen: ſie
warten auf dich, ſie rufen dich. Er nahm die rothen
Blüthen aus dem Knopfloch und küßte ſie, bis nicht
ein Blättchen daran blieb, aber ſie waren kühl und
küßten nicht wieder!
Der andere Morgen fand ihn matt und mit
ſchmerzendem Kopf auf ſeinem Lager. Doch ſtand er
haſtig auf, ſowie er munter geworden, er ſcheute ſich
vor dem Grübeln und Beſinnen. Werd' ich ſie heute
ſehen? Darf ich ſie ſehen? war Alles, was er dachte.
Erſt auf dem Wege zu ſeinem Atelier fiel ihm ein,
[71] daß heut eigentlich ein großer Tag für ihn ſei: der
Marmor, den er für die Mädchenfigur „Sternthaler“
beſtimmt hatte, ſollte heut ausgewählt werden. Mar¬
mor! Er hatte ſich ſo danach geſehnt, das edle Ge¬
ſtein unter ſeinen Fingern zu fühlen. Es war ein
großer Luxus, und Wolff hatte ihm abgerathen, und
nun erſt Spitzer: „Sie ſtecken da viel Geld hinein,
das Sie nie herausbekommen! Stellen Sie doch
Ihren Gips aus, wie andre Leute. Das iſt faſt
protzig gethan, ſag' ich Ihnen.“ Aber Alfred hatte
in guter Laune erwidert, er habe ſich's einmal in den
Kopf geſetzt, für die Babett ſei nur Marmor gut ge¬
nug. Er bekomme ihn billig aus dem Nachlaß eines
verſtorbenen Künſtlers, es werde auch nichts allzu
Rares ſein.
Sein Modell wartete ſchon auf ihn, das kam
ſonſt nicht vor. Auch nicht, daß er ſo ohne Gruß
an ihm vorbei ging und mit ſo zerſtreuter Unluſt zu
arbeiten begann. Er ſah bald ſelber ein, heut för¬
dere er nichts, heut verderbe er nur; er ſchickte den
Schufterl nach zwei Stunden fort und begab ſich in
den Schuppen neben dem Atelier des Todten, wo
drei noch rohe Blöcke lagerten. Er verſtand ſich nicht
ganz ſchlecht auf das Geſtein. Sein Meiſter in Ham¬
burg hatte mancherlei unter den Händen gehabt und
ihm, als dem vertrauteſten Schüler, jede Belehrung
zukommen laſſen, die ihm nützlich werden konnte.
[72] Ein reicher Kaufmann hatte einen Saal mit rundum
laufenden Frieſen und mit Statuen am Kamin
ſchmücken laſſen, zu denen der Marmor von dem Bild¬
hauer ſelbſt in den Brüchen von Seraveza ausgewählt
worden, damit man ein fehlerloſes Material erhalte.
Dabei hatte Alfred viel gelernt.
Der junge Mann hatte Hammer und Meißel zu
ſich geſteckt, denn er hatte an den Erben, den Bruder
des Verſtorbenen, das Anſuchen geſtellt, nicht bloß
mit den Augen prüfen zu dürfen. Der Verkäufer
war nicht ſelbſt zugegen, doch hatte er einen Arbeiter
geſchickt, welcher ihm etwa behülflich ſein dürfe und
jetzt wartend auf einem Dreibein im ſonnigen Hofe
ſaß. Der Bildhauer winkte ihm, ruhig ſitzen zu
bleiben, bis er ihn nöthig habe, und ging allein in
den Schuppen, froh genug, daß er ganz ungeſtört
wählen könne. Er überzeugte ſich bald, daß der eine
Block ſeiner Größe wegen ganz außer Betracht komme,
der zweite Riſſe zeige, von denen ſich nicht beſtimmen
ließ, wie tief ſie ſeien, und daß der dritte wahrſchein¬
lich der beſte für ihn ſei, auch dem Korn nach.
Der Arbeiter hörte ihn hämmern und klopfen,
zog, da er nicht gerufen ward, ein Brot hervor, und
that einige herzhafte Züge aus ſeiner Flaſche. Dann
ſtützte er den Kopf auf die Arme und nickte in der
warmen Mittagsſonne in ſeiner unbequemen Stellung
ein; er merkte es nicht einmal, daß ihm die Mütze
[73] herabfiel. Der Mann erwachte davon, daß er ſeit¬
wärts von dem Bock herunterrutſchte und ſich plötz¬
lich auf dem Boden ſitzen fand. Es war ſtill, die
Sonne ſchon aus dem Hof heraus. „Der hat ſich
ſo hehlings davon gemacht, man könnt' grad meinen,
er hab' was mitgenommen,“ brummte der Arbeiter,
trat in den Schuppen und warf einen Blick rundum.
Er fuhr mit einem Schreckensruf zurück: Dort zwiſchen
den zwei kleineren Blöcken lag der Fremde auf dem
Boden, ganz mit Staub und Splittern überſchüttet,
den Meißel noch feſt in der Hand, ohne Hut, mit
blutbeflecktem Geſicht. Eine friſche weiße Bruchfläche
an dem einen Marmor gab die Erklärung, dicht
neben der Schläfe lag ein fauſtgroßes abgeſprungenes
Stück.
„Herr, Herr!“ rief der Arbeiter und faßte ihn
an der Schulter, um ihn aufzurichten. Er ſchien in
Ohnmacht zu liegen, er antwortete nicht, doch athmete
er deutlich, und die Hand war warm. Der Mann
ſprang an den Brunnen, holte ſeine Mütze voll Waſſer
und goß ſie dem Liegenden über den Kopf. Das
hatte geholfen, er reckte die Arme, als wolle er
aufſtehen.
„Herr! Herr!“ rief der Arbeiter wieder, dies¬
mal dicht an ſeinem Ohr, „Sie ſind, ſcheint's, bleſſirt,
wo gehören's zu Haus, daß ich an Einſpänner be¬
ſorgen kann?“
[74]
„Meine Augen!“ ſagte der Verwundete matt,
während er ſich mit Hülfe des Andern halb aufrich¬
tete, „voll Staub! mehr Waſſer.“
Als der Arbeiter vom Brunnen zurückkam, fand
er ihn angelehnt auf dem Boden ſitzen, er fuhr immer
mit den Händen über die Augen hin.
„Iſt ſchon Abend?“ fragte er ängſtlich, als er
den Schritt hörte, „wird es ſchon dunkel?“
„Es iſt zwei Stunden nach Mittag, da trinken
Sie,“ ſagte der Arbeiter, ihm die Flaſche an den
Mund haltend.
Er trank begierig, dann riß er die Augenlider
gewaltſam auf und fuhr wieder mit den Händen
danach, hielt ſie mit zitternden Fingern offen. Und
plötzlich ſtieß er einen heftigen Schrei aus: „Dämme¬
rung! Nacht! Meine Augen!“ und ſank zum zwei¬
ten Mal ohnmächtig hintenüber.
Es gab ein mitleidiges Zuſammenlaufen auf der
Straße, als die Droſchke mit dem Verunglückten vor
dem Hauſe der Frau Huber hielt und der Arzt und
der Arbeiter, der ihm beigeſtanden hatte, den jungen
Bildhauer langſam mit verbundener Stirn die Treppe
hinaufführten. Er hatte hierher verlangt.
Die Wirthin hatte nach Emerenz gerufen, und
die immer hülfbereite Kleine war um Eis zur nächſten
Brauerei geſprungen und hatte auch das Rezept nach
der Apotheke getragen.
[75]
„Ja, was iſt denn? Was hat er denn?“ frag¬
ten die Leute und drängten ſich um das Kind, das
mit der Schürze vor den Augen auf der Haustreppe
ſaß, weil der Arzt es oben fortgeſchickt hatte.
„So bleich iſt er und kann net ſehn und hat a
rothen Fleck in jedem Aug', ſo grauſig! Und da hat
er ein großes Loch:“ ſie zeigte auf die Schläfe, „aber
er ſagt, das macht nix, und der Doktor ſagt's auch,“
jammerte Emerenz mit der Wichtigkeit einer Ein¬
geweihten.
„Ha, da thät ich heulen!“ rief ein kleiner Kerl
und ſtieß einen Kameraden, den häßlichen Bruder der
Emerenz an, „gelt, Du thätſt auch heulen, wann Du
da a Loch hättſt?“
Der aber ſchüttelte mit ſtoiſcher Miene den dicken
Kopf: „Ha nein! Ich bin ſchon die Stiegen herunter¬
rumpelt, hab' ich da a Loch kriegt,“ er wies auf
ſeinen Ellbogen; „es hat heidenmäßig brennt, aber
heult hab i net.“
„Das Loch macht nex,“ ſagte Emerenz eifrig,
„aber er geſieht nimmer nex! Gelt, da thätſt doch
heulen, wenn's Dir ſo gehn thät, gelt Leo?“
„Ha, da braucht ich net in Schul', da thät ich
net heulen,“ beharrte der Junge.
„Biſt a dummer Bub!“ rief Emerenz empört,
„wenn's nur auch das Fräulein Marianne wiſſen
thät!“ fuhr ſie altklug und nachdenkend fort.
[76]
„Fräulein Marianne iſt net daheim,“ ſagte eine
Stimme.
„Doch, ſie iſt geſtern Abend heimkommen, ich hab
a Bretzel von ihr kriegt,“ erwiderte eine andre.
„Da geh ich auch hin! Vielleicht krieg' ich auch
eins,“ rief ein kleiner Bub und kaute ſchon im Vor¬
aus mit leeren Backen.
„Da bleibſt!“ rief Emerenz, die eine Art Mutter¬
ſtellung bei den Kindern hier in der Straße beſaß,
„ich geh' ſelbſt hinauf und ſag' ihr's von dem Herrn
Heuwels.“
„Ich will auch a Bretzel,“ ſagte eins der Klein¬
ſten und wollte ſich an ihr Kleid hängen. Aber ſie
ſtreifte ſie flink von ſich und eilte über die Straße
und in das gegenüberliegende Haus; die Kinder
folgten ihr bis zur Hausthür und blieben dort mit
verlangenden Blicken ſtehen.
Als Emerenz wiederkam, drängten ſich Alle um
ſie, denn ihr Schurz ſchien wohlgefüllt. „Mir auch
a Weck', mir auch eins!“ riefen ſie ihr entgegen.
Aber das Mädchen hielt die Falten feſt zuſam¬
men und winkte mit der andern Hand. „Fräulein
Marianne hat geſagt, da beſſer unten ſoll ich's Euch
geben!“ flüſterte ſie, „wann Ihr fein ruhig ſeid.“
Sie führte die Kinder bis zum Ende der Straße,
dort blieb ſie ſtehen, öffnete die Schürze und ver¬
[77] theilte die Milchbrötchen mütterlich gerecht, für die
Kleinſten ward je eins durchgebrochen.
„Ihr ſollt jetzt da ſpielen, hat's Fräulein Mari¬
anne geſagt,“ ermahnte ſie dabei, „wer droben ſpielt,
kriegt nie nex mehr.“
Eine Frau war hinzugetreten, um ihr Kind heim¬
zuholen.
„Nu, Emerenz, biſt droben geweſen, beim guten
Fräulein Marianne? was hat ſie geſchwätzt?“ fragte
die Frau mit einem Blick auf die eſſenden Kinder.
„Gar nex hat ſie geſchwätzt, wie ich ihr's ver¬
zählt hab von dem Herrn Heuwels; ich glaub', ſie iſt
auch arg verſchrocken geweſen. Sie hat mich bloß an¬
guckt und geſagt: „In die Augen?“ und hat mich 'naus¬
geſchickt zur Magd, s'iſt a neue, ich weiß net, wie ſie
heißt, und nachher iſt ſie ſelbſt herauskommen und hat
mir noch a paar Semmel dazu geben und geſagt, die
Kinder ſollten beſſer unten ſpielen. Weiter nex.“
„Da folgt auch recht!“ ermahnte die Frau und
ging von dem Kinderhaufen weg, ihr eignes hinter
ſich herziehend.
Der Verunglückte erwachte aus einem Halbſchlaf
an einem laut geführten Geſpräch zwiſchen einer
männlichen und einer weiblichen Stimme, doch mu߬
ten die Sprechenden draußen ſein. Die Binde um
[78] Kopf und Augen, hinderte ihn, um ſich zu ſehen, aber
er hörte gut.
„Ich hab das Logis an einen Geſunden ver¬
miethet,“ ſagte die Frau kläglich, „und die Laſt könnt
ich mir doch net aufladen; bedenken Sie, ich bin
allein zu alle die Herren, da müßt' ich mich ſchier zu
Tod laufen.“
„Wenn ich Ihnen aber ſage, daß die Wärterin,
die ich ſchicke, Alles gut beſorgen kann? Nehmen's
doch Vernunft an, Frau Huber —“
„Ja, und die Wärterin, wer ſoll die ver¬
ſorgen?“
„Es handelt ſich ja bloß um ein paar Tage!
Es thut kein gut, den Patienten wegzuführen, wo's
Wundfieber im Anzug iſt. Möglich auch, daß nicht
einmal eins kommt! Die Kopfwunde iſt oberflächlich,
Sie hören's ja!“
„Ich bin nicht taub!“ jammerte die Frau, „aber
ich muß mich wehren. Ich bin ein armes Weib!
Das Stüberl' neben ſeinem iſt doch auch leer, —
wie kann ich das vermiethen neben ſo einem Kranken.“
„So werfen Sie ihn ins Teufels Namen aus
dem Haus,“ pruſtete der Arzt, „aber Ihre Schuld
iſt's, wenn er im Wundfieber drauf geht.“ —
Danach folgte das weinerliche Geſchrei:
„Ich bin a armes Weib, ich muß mi halt
[79] wehren!“ und ein Getrappel treppabwärts mit ſchwe¬
ren Sohlen. Dann ward es wieder ſtill.
„Wär' ich doch fort von hier!“ ſtöhnte der
Kranke, „warum bin ich nicht ins Spital gebracht
worden? Ach ſo, ich habe ſelbſt den Arzt gebeten,
mich in meine Wohnung ſchaffen zu laſſen. Gleich¬
viel, wo ich ſterbe!“
Seine Wunde brannte trotz des Eisumſchlags,
in ſeinen Augen ſtach und bohrte es. Er lag ganz
unbeweglich, wie ihm der Arzt geboten hatte, und
fühlte kalte Schauer über ſich rinnen. Nun ſterb'
ich bald, dachte er, beſſer ſterben, als leben und
blind ſein. Er taſtete mit der Hand an der naſſen
ſchweren Binde herum, die ſeine Augen bedeckte.
Ob ich garnichts ſähe, wenn ich ſie abriſſe?
durchzuckte es ihn. Doch graute ihm vor dem Ver¬
ſuch; mit einem tiefen Seufzer ließ er die Hand
wieder auf die Bettdecke ſinken. Als ihn der Arzt
hergebracht, war Alles um ihn her röthliche Däm¬
merung geweſen, ha, fürchterlich. Eh' er das noch
einmal empfinden ſollte, — „wenn ich nun geſund
werde!“ ſtöhnte er qualvoll, während tödtliche Angſt
ihm die Bruſt zuſammendrückte. In ſeinem Koffer
war ein ſcharfes Meſſer, er hatte daheim auch in
Holz geſchnitzt. Im ſchlimmſten Fall — das war
doch gut bei ſich zu haben, das war ein Troſt. Er
fühlte eine plötzliche Sehnſucht, die blanke ſcharfe
[80] Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war
der Schlüſſel zum Koffer in ſeinen Kleidern, die ſie
ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die ſein? Er
verſuchte, aufzuſtehen, doch war ihm der Kopf wirr,
ſobald er ihn vom Kiſſen erhob; Alles drehte ſich um
ihn, daß er hülflos zurückſank. Der Tod war wohl
ſchon nah? Er war ja ſonſt ſo ſtark, er war ja nie¬
mals krank geweſen. Seine Gedanken flogen an
Allen vorüber, die er kannte; ob ſie ſein Sterben be¬
trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig ſein.
Aber ſie ſind ja bei der Schweſter. Er ſah ſeine
Mutter im ſchwarzen Kleid mit dem Geſangbuch in
den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit
zu Zeit in ihr Taſchentuch und ſagte: „Wäre er doch
hier geblieben!“ Er ſah ſeinen Vater, tiefgebückt,
den Krückſtock zwiſchen den runzeligen Händen, vor
des Paſtors Denkſtein auf dem Ottenſer Kirchhof
ſtehen und zu dem jungen Paſtor ſagen: „Das hat
noch mein Sohn gemacht, kurz vor ſeiner Abreiſe
nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬
bracht, aber“ — — Er ſah ſeinen eigenen Grabſtein
und darauf die Inſchrift: „Geſtorben, ehe er etwas
hat leiſten können —“ und dann fiel ihm ein, daß
ihm ſelbſt dieſer Grabſtein nie zu Theil werden dürfe.
Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute
ins Spital; dem dort Geſtorbenen — wer ſollte ihm
einen Stein ſetzen? Gleichgültig wanderten ſeine Ge¬
[81] danken von dem einen zum anderen Bekannten.
Spitzer? Was kümmerte ſich der um ihn, er hatte
ja nicht mal Skat mit ihm geſpielt! Loni? Ihr
reizendes Bild war plötzlich verblaßt und verſchwom¬
men! Hatte er ſie wirklich erſt geſtern zu lieben ge¬
glaubt? War ſie es, die ihn nicht hatte ſchlafen
laſſen? Es ſchien faſt unbegreiflich. Er ſah auch ſie
zwiſchen den Blumenbeeten ſitzen und ſagen: „Jetzt
kann er nimmer den Muckerl herausſtreichen, aber daß
es ſo ſchnell gehn würd', hätt' ich mir net denkt, gelt
Papa?“ Und ſie ſetzte dem Jockerl nachdenklich einen
Kranz von Gänſeblumen auf ſeinen dicken rothen
Kopf. Einer war da, einer war ſein Freund, hätte
es werden können, wenn er ſich bewährt hätte.
Wolff! Wolff! Verrathener Freund! Wirſt Du's
je erfahren, daß ich untreu geweſen? Wird das
kleine Mädchen Dir Alles ſagen? Ach, es war viel¬
leicht Alles eine Strafe für mein Vergehen!
Wieder lag er regungslos, die Hände gefaltet,
in Trauer und Zerknirſchung. Dann hörte er von
Neuem Schritte auf der Treppe; ſie werden mich fort¬
ſchaffen wollen, dachte er, nicht ohne Bitterkeit, denn
es war ihm ein Wohlgefühl, ſo ſtill liegen zu dürfen.
Jetzt glaubte er die Stimme der Wirthin zu ver¬
nehmen. „Frau Huber,“ rief er laut, „beruhigen
Sie ſich, ich will ſelbſt ins Krankenhaus;“ — und
als keine Antwort kam, taſtete er nach dem Tiſchchen
Frapan, Bitterſüß. 6[82] neben dem Bette, ergriff den darauf ſtehenden Por¬
zellanleuchter und ſchleuderte ihn kräftig auf den
Boden, daß es klapperte und krachte. Eine Thür
ging auf.
„Frau Wirthin!“ rief er ſchwach.
„Ja,“ kam es zurück, doch ſo, daß der Kranke
aufhorchend antwortete:
„Sie ſind es nicht. Sie ſind die Wärterin?“
„Ja, ich werde Sie pflegen,“ ſagte eine tiefe
Stimme, die ihm wunderbar ins Herz ging.
„Sprechen Sie noch einmal,“ flüſterte er in tie¬
fer Bewegung.
„Ich bin es,“ hörte er nun dicht an ſeinem
Bette.
„O Sie! o die liebe Stimme! Schlaf ich denn
nicht?“ flüſterte er leiſe.
„Sie ſind wach und werden bald geſund ſein,“
erwiderte ſie.
„Nicht ins Krankenhaus?“ ſtammelte er.
„Nicht; Sie bleiben hier, der Arzt will es ſo;
ich habe Beiden geſagt, daß ich nach Ihnen ſehen
will, ſo oft es nöthig iſt; bleiben Sie ruhig.“
„Ich träume doch gewiß,“ ſagte er bedenklich,
„ſie iſt ja eine Fremde, warum ſollte ſie kommen.“
„Wenn ich Ihnen unangenehm bin, ſo geh ich
wieder,“ erwiderte ſie in etwas unterdrücktem Ton.
[83]
„O bleibe! bleibe!“ ſchrie er auf, „ich bin ſo
allein, und es iſt ſo dunkel.“
„Das hab' ich gedacht,“ murmelte ſie.
Er fühlte, daß ſie ſich neben ſeinem Lager auf
einen Stuhl ſetzte, obwohl es ſehr leiſe geſchah.
Nun lag er ganz ſtill, als habe er viel mit ſich aus¬
zumachen. Das dumpfe Entſetzen, das ihm auf dem
Herzen lag, ſprach nur hie und da aus einem ſchwe¬
ren Seufzer. Einmal fing er an:
„Ich ſehe nichts, nicht wahr?“
„Das iſt die Binde,“ ſagte ſie tröſtend, „aber
ſie kühlt und beruhigt, weil Sie einen argen Stoß
erlitten haben, und wenn ſie abgenommen wird —“
„Dann bin ich blind!“ ſtöhnte er.
„Hoffnung,“ flüſterte ſie, „und ein biſſel Ge¬
duld.“ Ihre Stimme zitterte wie von Thränen.
„Ich möchte an meinen Koffer, der Schlüſſel
ſteckt in meinem Rock, ich weiß nicht, wo ſie den hin¬
gethan haben, vielleicht —“
„Der Rock hängt an der Thür, und hier — ein
Schlüſſel, iſt das der rechte? Wollen Sie mir nicht
ſagen, was ich Ihnen herauslangen ſoll?“
„Ja — das heißt — nun wiſſen Sie, ganz auf
dem Grunde — ein längliches Lederfutteral, wenn
Sie mir das reichen wollten,“ die Worte klangen, als
hänge ſein Leben daran.
Er hörte, wie ſie aufſchloß und ſtreckte mit
6*[84] fieberhafter Ungeduld die Hände nach ihr aus. Eben
trat ſie heran.
„Glauben Sie, daß Sie dieſes Ding jetzt ge¬
brauchen?“ fragte ſie ernſt.
„Durchaus!“ rief er, „o bitte, geben Sie ſchnell,“
„Laſſen Sie mirs noch einen Tag,“ bat ſie mit
Innigkeit, „ich will Ihnen das Brot und Fleiſch
zerſchneiden, bis Sie es ſelbſt wieder können,“ fügte
ſie mit zitterndem Mitleid hinzu.
„Das Meſſer! Mein Meſſer!“ ſchrie er ver¬
zweiflungsvoll — „zwei Augen hatt ich! Meine
Kunſt war meine Welt! Seien Sie nicht hart wie
der Stein, der mich blind gemacht hat.“
Ein leiſes Weinen antwortete ihm.
„Da, nehmen Sie Ihr Eigenthum,“ hauchte ſie
ihm mit unſäglicher Traurigkeit zu, „thun Sie, was
Sie glauben thun zu müſſen,“ ſie drückte ihm die
Scheide in die Hand und entfernte ſich.
Aber ſeine Finger ließen den erſehnten Helfer
ſchnell los.
„Sie gehen?“ ſtammelte er.
„Ich fühle wohl, ich kann Ihnen nicht helfen,
ich bin zur Laſt.“ war die leiſe, ſchmerzliche Erwi¬
derung; „ich könnt's auch nicht mit anſehen.“
„Weh! weh! was ſoll ich thun,“ ächzte der
Kranke, und da ſich ihr Schritt zu entfernen ſchien,
ſtieß er plötzlich heraus: „Wenn Du gehſt, ſo thu'
[85] ich's gleich!“ Er erhob das Meſſer, das er aus der
Lederſcheide gezogen hatte.
„Ich bleibe!“ rief es da dicht neben ihm und
dann ſchmeichelnd: „Geben Sie mir das Meſſer, bis
— bis der Arzt dageweſen iſt!“
Eine warme Thräne fiel auf ſeine Hand.
„Weinſt Du um mich?“ ſagte er ganz leiſe,
„ach wie gut biſt Du! wie gut! wie gut.“
Und vor ſeinem innern Auge ſtieg die ſchönſte,
die rührendſte Geſtalt auf, in der er ſie geſehen, die
tröſtende Gottheit mit der Erquickungsſchale.
„Ach, wie wohl!“ ſeufzte er; „nun möcht' ich
ſchlafen! Aber — bleibſt Du auch da?“
„Ich bleibe da.“
„Wirſt Du auch nicht weg ſein, wenn ich auf¬
wache?“
„Gewiß nicht.“
Ein tiefer Seufzer der Erleichterung belohnte ſie.
Dann ſchien wirklich der Schlaf zu kommen. Doch
blieb der Schmerzenszug um den Mund ſtehen und
machte das Geſicht älter und reifer für die Augen
der Beſchauerin, die ſich im tiefen Weh darauf hef¬
teten. Als er ſich nicht rührte, ging ſie durch das
verdunkelte Zimmer bis zur offenen Thür des Nach¬
barraums, aus dem das Tageslicht drang, und ſetzte
ſich auf einen Stuhl dort an der Schwelle. Ein
Haufen dichten dunkelgrünen Stoffs lag auf einem
[86] Tiſchchen daneben; ſie nahm Fingerhut und Faden
und ließ haſtig die Nadel durch die Falten gleiten.
Sie hatte ein leiſes Geſpräch mit dem Arzt, der bald
darauf erſchien und den Kranken nicht geweckt wiſſen
wollte, ſondern nur Anordnungen für die Nacht traf.
Die kam und brachte das Wundfieber, Irrreden, hef¬
tiges Auffahren, Umherwerfen in den Kiſſen. Er
riß ſich die naſſe Binde von den Augen und wollte
ſich nicht halten laſſen.
Doch ſchien auch noch in dieſer Betäubung ſein
Ohr empfänglich für die ſanfte Stimme, die ihn be¬
ſchwichtigte wie ein krankes Kind, denn er flüſterte
mehrmals: Muſik! Muſik! und ſaß wie horchend im
Bette aufrecht. Mit einem Blick der Dankbarkeit,
der Erleichterung begrüßte die treue Pflegerin den
erſten Morgenſtrahl, es war eine ſaure Nacht ge¬
weſen. Nun lag der Patient in tiefer Ermattung,
und der Beſuch des Arztes ging für ihn faſt un¬
gemerkt vorüber. Für Marianne war es eine Be¬
ruhigung, ihn auf Stunden der angſtvollen Sorge
um ſein Augenlicht enthoben zu wiſſen. Im Uebrigen
hatte die flüchtige Unterſuchung wenig Troſt gebracht.
Der Arzt hatte die verſchwollenen Lider des Kranken
geöffnet und der beklommen Zuſehenden einen rothen
Fleck im Weißen beider Augen gezeigt. Draußen vor
der Thür gab er dann eine Aufklärung. „Es ſind
zwei Möglichkeiten,“ bemerkte er belehrend, „ein
[87] beſſere und eine ſchlimmere. Entweder dieſe Flecke
ſind Alles, dann bekommen wir einen ſogenannten
Verletzungsſtaar, der innerhalb eines gewiſſen Zeit¬
raums reift und operirt wird, worauf die volle
Sehkraft zurückkehrt; oder — es beſteht neben dieſer
Verletzung noch eine innere, welche die Netzhaut zer¬
riſſen hat und dann — gibt es nichts mehr.“
Das Geſicht der Zuhörerin war ſehr blaß.
„Und wann, — wann —“ begann ſie haſtig.
„Unmöglich zu beſtimmen,“ ſagte der Arzt achſel¬
zuckend, — „langwierig in jedem Fall, wie Sie ſehen.“
„Iſt die letztere, die ſchlimmſte Möglichkeit wahr¬
ſcheinlich?“ Ihre Stimme bebte.
„Wir wiſſen nichts,“ wehrte der Doktor ab,
„wir kennen nicht die Gewalt des Stoßes, den er er¬
litten hat, — da er aus geringer Entfernung kam,
wird er vielleicht nicht ſtark geweſen ſein, — nein,
ich neige eigentlich zu der günſtigeren Annahme,“
fuhr er ſich durch den Bart ſtreichend fort, — „wir
haben freilich auch dann Zeit vor uns! Zeit in
Menge! Sorgen Sie nur für Geduld.“
Langſamen Schritts kehrte ſie an das Kranken¬
bett zurück. Alfred murmelte im Halbſchlummer, ſie
legte ihre kühlen Hände auf ſeine brennenden. Plötz¬
lich ſchien er aufmerkſam zu werden; er betaſtete die
Finger, die Handflächen, umſpannte das Gelenk.
[88]
„Schade! ſchade!“ ſagte er träumend, „ſie ſollte
ſchön ſein, Alles wie die Stimme, ſchade!“ —
Ueber ihre Wangen flog eine tiefe Röthe. Sie
zog langſam ihre Hände fort, legte ſie vor ihr Ge¬
ſicht und ſaß lange ſo. Als ſie ſie endlich in den
Schoß ſinken ließ, ſchimmerte es feucht in den Augen,
aber ein Lächeln lag um den Mund.
„Wo biſt Du?“ rief furchtſam der Kranke, „ich
bin ſo durſtig.“
Das Lächeln verſchwand, die Thränen liefen ihr
übers Geſicht.
„Wo biſt Du?“ rief er wieder, da ſie nicht
gleich hatte antworten können, „wo biſt Du — Ma¬
rianne?“
„Hier, hier, trinke, erquicke Dich; Du weißt
meinen Namen?“
„Ich weiß nicht woher, aber ich kannte Dich
gleich, — weißt Du, ſinge mir etwas.“
„Wenn Du geſund biſt,“ ſagte ſie.
„Ich werde nie geſund,“ ſtöhnte er, „ich bitte
Dich, Marianne!“
„Was wird der Arzt ſagen!“
„Ach Marianne, Deine Stimme! Noch einmal,
eh' ich ſterbe!“
„Nichts da von Sterben, ich will's ja thun, was
ſoll ich ſingen?“
„Du weißt es beſſer.“
[89]
Sie ging ins Nebenzimmer und ſang ein paar
Volkslieder, einfach und lieblich.
„Du haſt die blaue Stimme, die Märchenſtimme,“
flüſterte Alfred, „laß mich Deine Hand küſſen.“
„Nein,“ ſagte ſie leiſe, „die Hand hat nichts
damit zu thun, ſchlafe nun.“
„Du machſt mich geſund,“ rief er, „kannſt Du
mich auch wieder ſehend machen?“ — Es klang kaum
wie eine Frage.
„Willſt Geduld haben zu warten, Alfred?“ Es
war das erſte Mal, daß ſie ihn Alfred nannte.
„Bleib bei mir, und ich will, Du Gute, Beſte,
Einzige,“ brach er aus, und es ſtieg ihm heiß in die
Wangen.
Sie trat raſch heran, um ihm den Eis-Umſchlag
zu erneuern. „Kein Wort mehr reden ſollſt!
ſchlafen ſollſt!“ flüſterte ſie ihm zu, „weißt ja, daß
ich Dich nicht verlaſſe,“ es gelang ihm nicht wieder,
ihre Hand zu erhaſchen.
Für die Nacht hatte Marianne ſich eine Wär¬
terin ſenden laſſen, weil ihr vor der Rückkehr des
Fiebers bangte. Doch ging ſie leidlich gut vorüber,
und am nächſten Tage ſprach der Arzt davon, daß
der Kranke das Bett verlaſſen dürfe, wenn er ſo
fortmache. Der Bruder der Emerenz ward von dem
Fräulein zu einem kleinen vorläufigen Kammerdiener
erhöht, und eine Woche grade nach dem Unfall ſaß
[90] der Kranke zum erſtenmal in einem Stuhl aufrecht,
den noch verbundenen Kopf kaum angelehnt und ein
feines Noth auf den ſchmäler gewordenen Wangen.
Er klagte nur, ihm ſei noch immer, als kämpfe er
mit dem Traum. „Könnt' ich aufwachen,“ ſeufzte er.
Nun kommt eine ſchwere Zeit! ſagte ſich Mari¬
anne, und ihr ward ſo verzagt ums Herz, daß ſie
ſeinen Seufzer erwiderte.
„Es iſt Alles ſo unbegreiflich,“ fuhr er grübelnd
fort, „immer im Dunkeln und Du immer bei mir
und doch auch nur mit Deiner holden Stimme! Ich
kann Dich nicht faſſen, nicht finden und fühle Dich
doch überall, — ich bin kein Menſch mehr — ich lebe
nicht mehr in Luft und Licht — nicht mehr in Tag
und Nacht — meine Atmoſphäre biſt Du, mein
Morgen und mein Abend biſt Du, Du mein Mond¬
ſchein und Du mein Sonnenlicht.“ — — —
„Armer Alfred,“ ſchluchzte ſie, „aber gewiß, es
bleibt nicht lang' ſo! Der böſe Alb fällt ab, wenn
Du nur Geduld haſt, der Arzt ſagt's ja, und Du
wirſt wach, und Alles iſt wie vorher.“
Er ſchwieg lange.
„Wir müſſen hinaus,“ ſagte ſie wie zu ſich ſelbſt,
„daß Du wieder eine Luſt fühlſt und einen großen
Athem. Der Doktor erlaubt's bald. Und für den
Augenblick — da weiß ich auch was — — ich bin
gleich wieder da.“
[91]
Er hörte ſie hinausgehen und draußen reden.
Bald trat ſie wieder ein und rief mit Befriedigung:
„Da bring' ich Dir das Dummerl, das Peterl,
es hat ja ſchon lang zu Dir gewollt in das Zim¬
mer da.“
Sie ſetzte ihm das weiche Kätzchen zwiſchen die
taſtenden Hände; es reckte ſich ſogleich, auf dem
Rücken liegend und äußerte die wohlbekannten Schnurr¬
laute. Ein Lächeln ſpielte um den Mund des
Kranken.
„Glaubſt Du wohl, daß ich mich manchmal nach
ihm geſehnt habe, wenn ich ſpät nach Hauſe kam?
Immer wünſchte ich, es aus irgend einem Winkel
hervor miauen zu hören.“
„Das glaub' ich ſchon; meinſt, ich möcht' ſo ganz
ohne Thierle leben? Das wär' mir ein langweiliges
Daſein.“
„So mein' ich's nicht, — aber es war ja das
Deine.“
„'s iſt noch arg jung und dumm.“
„Warſt Du mir nicht böſe, als ich's Dir hin¬
übertrug? Ich ſelbſt hab' mich nachher meiner Zu¬
dringlichkeit geſchämt.“
„Ich hab's für eine Freundlichkeit genommen
gegen das Peterl; wenn's aber als Zudringlichkeit
gegen mich gelten ſollt', ſo hab' ich's nicht begriffen.“
Ihr Ton klang zum erſten Mal verletzt.
[92]
„O verzeih' mir!“ rief er lebhaft, „ich war von
Deinem Geſange wie berauſcht, aber die ſo ſingen
konnte, erſchien mir hoch und herrlich, und Dir iſt
nie ein unbeſcheidener Gedanke zu nah getreten.“
„So ſchien mir Dein Geſicht,“ murmelte ſie,
„mir iſt aber doch leid, daß Du nicht eigentlich wegen
der Katz' kommen biſt.“
Sie war aufgeſtanden und ins Nebenzimmer ge¬
gangen. Unruhig rief er nach einer Weile:
„Du gehſt doch nicht fort, Marianne?“
„Ich hole meine Arbeit,“ klang es mit ver¬
ſchleierter Stimme.
„Arbeit?“ wiederholte er fragend.
„Die grünen Vorhänge, die der Arzt beſtellt hat,
die weißen taugen Dir nicht.“
„Für mich!“ Alfred erhob ſich plötzlich von
ſeinem Stuhl und verſuchte auf die offene Thür zu¬
zugehen. Sie aber hatte ſich auf das Geräuſch hin
erſchrocken umgedreht und eilte ihm entgegen, um ihn
zu führen.
„Wohin?“ fragte ſie, indem ſie ſeine Hand faßte
und ihn aufhielt.
„Zu Dir!“ rief er heftig. „Sehen will ich, ob
Du wirklich ein Menſch biſt oder ein Engel des
Mitleids, wie ich Dich lange erblickt.“
„Ei was!“ erwiderte ſie mit lachendem Unwillen.
„Ich hab' Dir das Dummerl gegeben, daß Du ein
[93] biſſel aus den Wolken herunterkommſt! Ihr Männer
ſeid auch immer über oder unter der Erde, — warum
könnt Ihr denn nicht darauf marſchiren? 's wäre
doch das Einfachſte!“
Schwindelnd von der ungewohnten Anſtrengung
war Alfred auf ſeinen Platz zurückgeſunken. Sie
legte ihm den Verband friſch um, lehnte ſeinen Kopf
gegen ein Kiſſen und flüſterte mit ihrer liebevollen
Stimme gute Worte.
„Da ruh' Dich aus, und ich ſitz' neben Dir und
ſäume den Vorhang voll fertig, und wenn Dir's beſſer
iſt, da erzählſt mir von Mutter und Vater und von
zu Haus und was Du hier getrieben haſt, und —
gelt Du — die Deinigen müſſen doch auch Nachricht
von Dir haben, — ſo eine Mutter, die ängſtigt ſich
ja zu Tod, wann ſie nichts hört; — wann ſchreiben
wir denn und was, daß ſie ſich nicht Alles noch
ſchlimmer vorſtellt?“
So ward geplaudert und der nothwendige Brief
geſchrieben, den Marianne entwarf, Alfred in Form
brachte, und diktirte und abermals Marianne in ſei¬
nem Namen niederſchrieb. Der gefürchtete erſte Tag
des klareren Bewußtſeins ging ſanft vorüber und
zeichnete gleichſam die folgenden vor. Es kamen
Stunden des Vorleſens, reich an gemeinſamem Ge¬
nuß, denn Marianne las Verſe mit feinſtem Verſtänd¬
niß auch für die Form; es kam die erſte Ausfahrt
[94] mit Leo als Kammerdiener auf dem Bock neben dem
Kutſcher. Der Wagen war offen, und voll fiel der
Sonnenſchein durch das ſeidne gleißende Buchengrün
auf die emporgewendeten Geſichter. „Nun leih' mir
Deine Augen und laß mich Alles ſehen, was Du
ſiehſt,“ bat der arme Geblendete. Und Marianne
verſtand ihn ſo gut, und die Erinnerung an vergan¬
gene helle Tage kam zu Hülfe, ſo daß er trotz aller
Entbehrung genoß. „Und Manches empfinde ich ver¬
ſtärkt, — hat denn das junge Laub auch früher ſo
geduftet? Hat die Luft ſo weiche Finger über meine
Backen gleiten laſſen? Ich bin wie ein Blatt, das
wohl auch nicht ſieht und doch ſich ſpreitet in Wonne
und Wohlgefühl, ich trinke den Sonnenſchein.“
Er ſaß da mit geöffneten Lippen und athmete
tief. „Und Du biſt neben mir; ich richte immer das
Geſicht nach der Stelle, woher Deine Stimme dringt,
und es iſt immer wieder ein Schrecken, daß ich ſo
ins Schwarze ſtarre, — aber nun biſt Du nah“ —
„Da iſt das Siegesthor,“ ſagte Marianne, ihre
Hand, die er zu faſſen ſuchte, wegziehend. Ein
Schatten flog über ſein Geſicht.
„Marianne,“ bat er, „ich möchte ein beſtimmtes
Haus ſehen, es muß bald kommen, rechter Hand, mit
den vielen Thürmchen“ —
„Du biſt bekannt dort, in der Villa Spitzer?“
[95] fragte ſie. „Da ſeh ich's ſchon, weiß und zuckrig, wie
vom Conditor.“
„Was ſiehſt Du? Iſt der Garten leer?“ fragte
er mit gewiſſer Aufregung.
„Ich ſeh' Niemand, doch ja, dort unterm Flieder
ſitzt ein junges Mädchen, bunt gekleidet, dunkle
Locken.“ —
„Das iſt ſie!“ flüſterte Alfred. „Allein?“
„Ja, mir ſcheint ſo, ſie ſchreibt oder zeichnet,
willſt Du hinein? Soll der Wagen halten?“
Ein helles Lachen ertönte. „Sie lacht ja, ſie iſt
wohl doch nicht allein?“
Alfred hatte ſich halb aufgerichtet und horchte
mit unwilligem Geſicht.
„Ach ſo, — ſie ſpricht mit einem Nachbarn,
ſcheint's, über den Zaun, ich ſeh' ſo ein Paar Bart¬
koteletten und einen breiten Strohhut; da lachen ſie
alle Beide.“
„Vorwärts, Kutſcher!“ ſchrie Alfred und ſank
auf den Sitz zurück. Er hatte die Zähne in die Un¬
terlippe gebiſſen und die Stirn tief geſenkt. Sie
fuhren ſchweigend vorüber. Nach einer Weile aber
fühlte er ſeinen Arm berührt.
„Wenn ſie Dir werth war, haſt darum keinen
Grund zu dummen Gedanken,“ ſagte ſie ermahnend.
„Ach, Marianne, es brennt mir ſchon lange auf
der Zunge, Dir Alles zu ſagen,“ rief er nun, „Du
[96] hältſt mich für einen redlichen Menſchen, aber ich bin
falſch geweſen, — es iſt vielleicht eine Strafe, daß
ich am Tag darauf das Unglück haben mußte.“
„An ſolche Strafen glaub' ich nicht, aber er¬
zähl',“ ſagte ſie ernſthaft.
Er beichtete nun, es ging wie ein Strom; er
konnte kaum ein Ende finden mit Selbſtanklagen und
malte ſich ſchwarz und ſchwärzer bis zu jenem Kuß
an der Gartenpforte.
„Und dann?“ fragte ſie.
„Dann kam die Krankheit und bewahrte mich
vor weiterem Wortbruch,“ ſeufzte er.
„War kein guter Entſchluß vorangegangen?“
„Ich ſchwankte zwiſchen Reue und Verliebtheit!
Armer Freund! Armes Mädchen!“
Ein leiſes Lachen unterbrach ihn, es klang wie
Spott.
„Marianne?“ rief er verwundert.
„Alfred?“
„Nun? Du lachſt?“
„Ihr ſeid närriſche Leut'!“ erwiderte ſie. „Ein
Mädchen mit ſo glänzendem Haar! Glaub' mir, dem
iſt Dein Kuß wer weiß wie lang' wieder aus den
Locken gefallen! Wer dahinein eine Roſe ſteckt, der
ſoll ſie fein feſt ſtecken, ſonſt haftet ſie nicht lang.
Liebſt Du ſie denn?“
„Nein!“ betheuerte er haſtig.
[97]
„O über Euch leichtſinniges Mannsvolk!“ rief
das Mädchen. „Das ſprüht Küſſe umher wie der
Springbrunnen Tropfen und ſäh's nicht einmal un¬
gern, wenn jeder Kuß für Ernſt genommen würd',
und jede arme Empfängerin ihn nun wie eine Re¬
liquie einbalſamirte! Die armen Kinder ſind auch
geſcheut, und wenn nach ſo einem Luftkuß nichts
weiter erfolgt, da bleibt's eben Luft auch für ſie.“
„Du hältſt mich gewiß für einen Gecken,“ fiel
er kleinlaut ein.
„Nein, nicht, — aber ein Gernegroß biſt; iſt's
nicht im Guten, ſo ſei's denn in Sünden, nicht wahr?
Warum biſt denn ſo zornig worden, wie das arm'
Dingerl da übern Zaun geſchwätzt und gelacht hat?“
„Schilt noch ein bischen,“ rief Alfred mit
wiedergewonnener Sicherheit, „ich ſchäme mich zwar
ſehr, denn Du haſt leider recht, — aber doch iſt mir
ſo wohl dabei — ich möchte dazu ſchnurren wie
Dein kleiner Kater, wenn Du ihn liebkoſeſt.“
„Geh', geh', ſo war's nicht gemeint! Aber
heut' noch ſchreibſt an den Wolff, das heißt, ich
ſchreib' für Dich, daß wir Nachricht kriegen über die
kranke Schweſter, arm's Weſen, und er von Dir weiß
und Deiner Verhinderung. Aber von dem einfältigen
Kuß wirſt nichts berichten, oder — —“
„Nein, nein! ſie hat ihn ja auch längſt vergeſſen,
ihn und mich,“ ſagte Alfred ſchnell.
Frapan, Bitterſüß. 7[98]
„So ein ſchönes junges Mädchen kann auch nicht
einem Mann nachfragen in der Stadt,“ meinte ſie.
„Wie ſeltſam, daß Du“ — fing er an.
„Ja, ja,“ unterbrach ſie ihn, „die Häßlichen
ſind doch für etwas gut, gelt? —“
„Du biſt ſchön,“ ſagte er träumend, „ich ſehe
Dich immer ſo wie Deine Stimme iſt, ſo klar und
rein und ſchön, und als ich Dich geküßt“ —
„Still! ſonſt iſt's aus,“ flüſterte ſie.
„Ich bin ja gefangen, Du haſt nichts zu fürch¬
ten,“ ſagte er und ließ den Kopf ſinken.
Da hielt der Wagen. Leo half ihm beim Aus¬
ſteigen, führte ihn auch bis ans Treppengeländer.
Marianne ſah mit thränenverdunkelten Augen das
mühſelige Taſten beim Hinaufſteigen; doch bot ſie
ihm nicht die Hand, und der Bub geleitete ihn ins
Zimmer und auf ſein Sopha.
Marianne ſprach mit der Wirthin draußen.
Sie hatte bis jetzt das Zimmer neben dem des
Kranken bewohnt, — nun war die gefährlichſte Zeit
vorbei, der Bub ſollte von jetzt ab dort einquartiert
werden, um immer zur Hand zu ſein, doch ſollte die
Wirthin ſich nicht ſorgen, ſie wolle trotzdem die Pflege
behalten und tagsüber wie ſonſt um den Blinden ſein.
Dann kam ſie herein und beantwortete Alfreds ſehn¬
ſüchtigen Gruß mit freundlicher Ruhe. Sie ſchickte
den Buben fort, das Nachteſſen zu holen und erzählte,
[99] auf und abgehend, von der kranken Schuſtersfrau
droben, die ſie morgen beſuchen müſſe, und daß die
Schwägerin ſo lange nicht geſchrieben, und daß die
neue Magd ſich ſchier zu Tod fürchte, weil ſie immer
ſo allein ſei, und noch mehr ſo Dinge.
„Liebe Marianne!“ rief Alfred mit bebender
Stimme.
„Was iſt?“ fragte ſie aus irgend einer fernen
Ecke des Zimmers hervor.
„Du biſt es müd', nicht wahr? Du willſt fort?“
Ein Seufzer antwortete.
„Sag's nur,“ rief er rauh, — „aber gieb mir
auch mein Meſſer wieder, eh' Du gehſt.“
„Was ich verſprochen, halt' ich!“ erwiderte ſie,
ſchnell hervortretend, — „aber Du, mach's mir nicht
gar zu ſchwer!“
„Alles, was Du willſt, Geliebte!“ rief er, das
ſchöne Geſicht mit den lichtloſen Augen flehend zu ihr
gewandt.
Da überwallte es ſie; ſie nahm ſeinen blonden
Kopf in die Hände und preßte ihre Lippen heiß und
lange auf die ſeinen. „Nur einmal, liebes Kind,“
flüſterte ſie, „weil Du mir der liebſte Menſch auf der
Welt biſt und weil — ich von Dir muß, wenn Dein
Tag wieder anbricht.“
„Mein! mein!“ ſtammelte er, ſie an ſich drückend,
„nie getrennt, Marianne! nie leben ohne Dich.“
7*[100]
Er fühlte, wie ſie ſich in ſeinen Armen ſchüttelte.
Nun machte ſie ſich vollends los, ſtreifte auch ſeine
Hände ab.
„Bedenk', es war nur dies eine Mal, wird nie
wieder ſein.“
„Iſt das Liebe?“ grollte er, die Arme ins Leere
ausgeſtreckt, „thut ſo die Liebe?“
„Sie trachtet nicht nach Schaden,“ ſagte ſie mit
der gewohnten klaren Stimme. „Horch, der Bub
kommt mit dem Nachteſſen, da halt ich mit, wie ſonſt,
und ſchreib' dann an den Wolff, wenn Dir's recht iſt.“
„Ach,“ klagte er, „Deine Empfindung für mich iſt
doch nur Theilnahme, Mitleid, und ich — ich liebe Dich!“
„Theilnahme, Mitleid, Freundſchaft, Liebe, warum
müßt Ihr nur den Menſchen in ſoviel Stücke zerlegen!“
erwiderte ſie eifrig, „iſt ja doch Alles ein Gefühl!“
„Aber Liebe will doch auch haben, will nicht
bloß geben,“ murmelte er.
„Das iſt ein Märchen,“ ſagte ſie zuverſichtlich,
„glaub' mir, Alfred, damit iſt's nichts. Ein Kniff,
eine niedrige Sach' mit einem hohen Namen zu ver¬
decken.“ Sie brach ab, athmete heftig, lachte kurz
auf und ſagte befangen: „Du meinſt, weil ich Dich
vorhin geküßt hab', könnteſt ſo mit mir ſprechen?
Weißt, ich hab' einen lieben einzigen Bruder gehabt,
mit dem bin ich aufgewachſen und nach der Eltern
Tod zuſammen blieben; da haben ſie ihn vor drei
[101] Jahren bei Champigny erſchoſſen. Er hat eine La¬
dung Schrot ins Geſicht bekommen, aus irgend einem
Mordwinkel, da er ſchon durch die Bruſt geſchoſſen
auf dem Krankenwagen lag. Iſt ſo in Blindheit ge¬
ſtorben. Ich war nicht da. Nun iſt mir's oft“ —
Sie hatte die Augen tief geſenkt, während ſie
ſprach, — ſo merkte ſie nicht, daß er ſich erhoben
und zu ihrem Stuhl gefunden hatte. Sie fühlte ſich
plötzlich umſchlungen und an ein hochſchlagendes Herz
gedrückt.
„Marianne,“ flüſterte er an ihrem Ohr, „liebſt
Du mich nur wie Deinen Bruder? Sag' —“
Ihre Antwort erſtickte in ſeinen Küſſen, die ſie
erwiderte, rückhaltlos, hingegeben, während ihr heiße
Thränen entſtürzten, die Beider Wangen netzten. Ein¬
mal verſuchte ſie, ſich los zu reißen. „Aber bedenk,“
— flüſterte ſie. „Nichts, als daß Du mein, meine,
meine Marianne!“ Mit einem tiefen Seufzer ließ
ſie ſich wieder zurückfallen, und die Stunden verran¬
nen ihnen im wortloſen Ineinanderſtrömen. — Es
war dunkel geworden, tiefe Nacht. — Nun kam ein
ſchmaler Mondſtrahl irgendwo durch eine Spalte der
Vorhänge herein und flog wie ein Silberblitz über
Alfreds Antlitz. Wie ſchön er war in ſeiner Leiden¬
ſchaft! Marianne bebte zurück, erblaßte plötzlich,
ſchlaff ſanken ihre Arme von ihm ab. Es ergriff ſie
[102] ſo, ſchüttelte ſie, daß ſie aufſchrie vor Qual. „Wie
lieb' ich Dich!“ ſtammelte Alfred.
„Nein, nein,“ ſchrie ſie verzweiflungsvoll, —
„Du lebſt von der Schönheit, Du biſt ein Künſtler,
— Schönheit ſoll die Speiſe Deiner Augen ſein!“
Damit floh ſie hinweg, weinend, die Hände ringend
und fortwährend murmelnd: „Nie wieder, nie nie nie
wieder!“
Alfred verſtand ſie nicht. „Iſt denn ſchon Mor¬
gen? Kannſt Du mich jetzt, jetzt allein laſſen? O,
Du biſt nicht mitleidig, Du biſt grauſam und ich —
gefangen!“
Unterdeſſen lag ſie vor ihrem Bette auf dem
Boden und weinte, weinte. Neben ihr ſchnurrte das
Kätzchen. Durch alle Stufen des Schmerzes begleitete
ſie der behagliche, gedämpfte Ton und lullte ſie all¬
mälig in Ergebung. Ja, ſo geht es, dachte ſie;
über uns iſt das Schickſal und ſchlägt uns mit Blind¬
heit und Leid, und rundum geht Alles weiter wie
gewöhnlich, und das gute dumme Thierchen ſpinnt
wie ſonſt. —
Es war doch keine Befangenheit in ihrem Wieder¬
begegnen am nächſten Tag, die Freude nahm ſie gleich
weg, wie die Sonne den Reif. Es blieb ihnen er¬
ſpart, ſich anzuſehen, ſo konnten ſie brüderlich ſchweſter¬
lich liebevoll ſich gute Worte ſagen und den Tag be¬
rathen. Der Arzt hatte jetzt nichts dagegen, daß ſich
[103] der Kranke dem Tageslicht ausſetze; ein breitkrämpiger
Hut ſchützte vor den blendenden Strahlen. Die
rothen Flecke in den Augen hatten ſich in weißliche
verwandelt, die, immer undurchſichtiger werdend, das
dunkle Blau der Iris und der Pupille verdeckten.
Das war der Staar, den der Arzt vorausgeſagt
hatte. Je mehr er reifte, deſto ſchwächer ward die
Dämmerung, die noch hindurch fiel und dem Ver¬
letzten die Hoffnung erhielt, daß es drinnen noch ge¬
ſund ſei. Sie verſuchten, Spaziergänge zu machen;
doch erwies ſich der Bub als ein kaum geſchickter
Führer, und ſobald ein Straßenübergang nöthig ward,
gerieth Marianne in Angſt, vor raſch daherfahrenden
Wagen.
„Sie ſollten hinausziehen, es wird ohnedies bald
heiß werden,“ rieth ihm der Doktor.
„Marianne?“ fragte Alfred ſtatt aller Antwort.
„Ich hab's mir auch ſchon gedacht,“ verſetzte ſie
bereitwillig, „ich geh ſogleich zur Huber und kündige
das Logis auf.“
„Aber allein können Sie's nicht unternehmen,“
ſagte der Arzt und blickte das Fräulein fragend an.
„Ich weiß, ich bleibe bei ihm,“ — es war ihr
aber doch ein leichtes Roth ins Geſicht geſtiegen. Sie
verließ ſchnell das Zimmer.
„Sie dürfen dankbar ſein,“ meinte der Doktor
zu Alfred.
[104]
Auch dem ſchoß es roth über die Wangen. „O,
ſie iſt einzig,“ flüſterte er.
„Als ich ſie da das erſte Mal ſah,“ fuhr der
Andere redſelig fort, „dacht' ich: ſo ein wüſtes Ge¬
ſicht haſt noch gar nimmer geſehen, und als ich mit
ihr geredet hatte und wegging, dacht' ich: ſo ein an¬
genehmes Frauenzimmer haſt Du gewiß nimmer
geſehen.“
Alfred war erbleicht.
„Iſt ſie ſo häßlich?“ fragte er tonlos.
„Ich ſag's ja, nein! ich ſeh's durchaus nicht
mehr; ſowie ſie redet, iſt Alles Seele, und dazu dieſe
angenehme Stimm'! das gäb' eine exemplariſche
Frau.“
„Ja,“ ſagte Alfred mechaniſch.
Während der Arzt fortfuhr, ihre Wärterdienſte
zu rühmen, ſprang der Blinde plötzlich mit einer
Frage ein.
„Werde ich mein Augenlicht wiederbekommen,
Doktor?“
„Ich hoffe ſo, — aber — in dieſem Fall laſſen
Sie ſich vorher trauen,“ er betonte das vorher
und lachte dazu, wie eben ſo ein Mann lacht, den es
nichts angeht.
„Sie irren ſich,“ rief Alfred aus ſeiner widrigen
Empfindung heraus, „es iſt nichts zwiſchen uns
Beiden.“
[105]
Er konnte den erſtaunten Blick nicht ſehen, den
der Doktor auf ihn warf, doch hörte er den unter¬
drückten Ausruf: „Nicht? Schade dafür! Schade
für Sie Beide,“ und blieb ſtill und beſchämt ſitzen.
Die Empfindung, daß er zum zweiten Mal einen
Treubruch begangen, drückte ihn faſt zu Boden. Aber
dieſes Mal wollte er es gut machen, ohne Beſinnen,
an der feige Verleugneten ſelbſt, wollte, ſowie ſie ein¬
trete, fragen — da kam ſie ſchon.
„Marianne, einzig Geliebte,“ rief er ihr ent¬
gegen, „ſag' mir in dieſem Augenblick, daß Du mein
Weib werden willſt!“
Er konnte nicht ſehen, wie ſie ſich am Thür¬
pfoſten feſthielt und mit weitaufgeriſſenen Augen
in ſeinem heißen, ſonderbar bewegten Geſicht forſchte.
Doch mußte ſie etwas darin nicht gefunden haben,
denn ſie kam langſam näher, legte ihre kühle
Hand auf die rothe Schläfennarbe, unter der es
zuckte und hämmerte, und ſagte ruhig: „Wenn Du
nicht geſund biſt, ſo können wir nicht nach Schlier¬
ſee und müſſen noch warten.“
Einen Augenblick ſchwieg er betroffen, dann
ſchrie er in herzzerreißendem Ton: „Ich will nicht
länger blind ſein! ich will Dein Geſicht ſehen! ich
will meine Augen wieder haben, meine Augen!
meine Augen!“
[106]
Die ihren quollen über von Mitleid und Ent¬
ſetzen.
„Komm!“ rief ſie, den Arm um ihn ſchlingend
und ſein armes Haupt an ihrer Schulter bettend,
„komm, mein Geliebter, mein armer Bruder, Deine
Schweſter iſt bei Dir, die Dir hilft, die Dich trägt,
die Dich lieb hat, die Dir nur Gutes wünſcht, nur
Gutes! Sieh, Herz, Du biſt nun da in einem wil¬
den tiefen Strom, kannſt jetzt nicht kämpfen, mußt
ſtill daliegen und Dich treiben laſſen; und ich, ich
treibe ſo neben Dir, und Du weißt doch, ich bin da,
und Du nicht allein in der großen Wüſte. Iſt das
nicht ſchon etwas? Und wenn Du nicht ſiehſt, wohin
wir treiben, ich geb' ſchon Acht.“
„Ich hab' Dich verleugnet!“ ſchluchzte er.
„Still! ſtill! nicht weinen, denk' an Deine
Augen, und gräm' Dich nicht, — wer wird's denn
auch den Fremden ſagen? — das kann ja kein Frem¬
des verſtehen! Der Doktor hat Dich ausfragen wollen,
gelt? er hat mich auch letzthin gefragt, ob ich nicht
Luſt hätte, ſeine Frau Doktorin zu werden — er
wußte wohl, daß ich nicht ja ſagen würd' — aber er
hätte mir's gern vom Mund abgepflückt, warum
nicht.“
„Das war unwürdig! Das hätte er nicht thun
ſollen,“ brauſte er auf.
Marianne ließ ihn ſanft aus den Armen.
[107]
„Willſt mir nun Eins verſprechen? Du weißt
was?“
„Warum?“ bat er dringend.
„Weil ein Krankes zuvor geſund werden ſoll, eh'
es, Entſchüſſe faßt! Verſprich!“
Er legte zögernd ſeine Hand in die ihre; ſie
drückte ſie kurz und feſt.
„Und nun horch, was mir vorhaben, liebes
Kind; das Schliers kenn' ich gut, bin ſchon zweimal
zur Sommerfriſche dort geweſen; und, gelt, wir ge¬
hen ins Ort, nicht auf den Freudenberg; es iſt zwar
ſehr ſchön droben, aber es kommen da ſo Penſions¬
gäſte hin, mit Schleppen und Strickſtrümpfen, allerlei
Familienbrei, da ſetzen wir uns nicht drunter. Und
der Leo muß mit, daß man Eins um die Hand hat,
und das Dummerl geht auch mit in 'm Körble, es
hat dort ſo herrliche Holzſtälle und Scheuern, wo's
herumſtreunen kann.“
Wie anders hatte ſich der junge Bildhauer
ſeinen erſten Reiſeausflug ins Gebirge vorgeſtellt!
Nicht im verräucherten Eiſenbahnwagen, im rüſtigen
Wanderſchritt, mit leichtem Gepäck hatte er gehofft,
die ſchöne Welt zu ſehen. Nun war das Gewicht,
das er mit ſich herumtrug, ſo ſchwer, daß er darüber
der ſchönen Welt vergaß und mühſelig und ſtumpf
wie die blinde Schnecke dahin kroch. Die Treue der
geliebten Gefährtin machte ihn wohl auf Stunden
[108] ſein Leid vergeſſen, doch liebte er auch ſie mit Angſt;
die ſchöne Sicherheit der Jugend war ihm erſchüttert;
ſeit er das Augenlicht verloren, ſchien ihm aller Be¬
ſitz vergänglich. — Sobald er Mariannens Stimme
nicht hörte, überfiel ihn der Schrecken: ſie iſt fort;
ſo oft er in der Nacht erwachte, rief er angſtvoll
ihren Namen, daß ſie oft zitternd aus dem Schlafe
fuhr und horchte, und wenn er zu rufen nicht auf¬
hörte, an ſeine Kammer ſchlich und ihn beruhigte,
wie ein fieberndes Kind.
Sie hatte eine beſcheidene Wohnung gefunden;
der See war nah, und ſchön waren die Stunden
am Waſſer. Alfred lag auf dem Boden ausgeſtreckt
in der würzig duftenden Minze; Marianne ſaß auf
einem Feldſtühlchen neben ihm, vorleſend oder plau¬
dernd und Alfred mit ihren Augen ſehen laſſend, wie
ſie es nannten. Er ſah dadurch die Form der wal¬
digen Ufer, den ſpitzen Kirchthurm des Dorfes, die
Farbe des Waſſers auf den perlmutterglänzenden
Steinen, das Funkengeblinzel auf der Oberfläche,
wenn die Sonne hoch ſtand, die gelben Schwertlilien
im windgeſchwungenen Schilf, die munteren Waſſer¬
ſtaare im weißen Wämschen, braunen Röckchen, die
nicht nur mit den Schwalben um die Wette über die
Wellen ſtreiften, nein, auch tief hineintauchten und
auf dem Grunde dahinliefen; endlich das ſonnver¬
brannte blonde Rudermädchen, Hoffiſchers Magd mit
[109] dem weißen Kopftuch und dem braunen grüngebän¬
derten Strohhut darüber.
Was ihn neben allem Uebrigen drückte, war die
gezwungene Unthätigkeit. Er hatte wieder zu ſchnitzeln
angefangen, doch freute es ihn nicht, da er kein Zu¬
trauen hatte, es werde ihm gelingen. Marianne
ſchnitt ihm dünne Binſen zurecht und lehrte ihn
Blumenkörbchen flechten; er brachte ſie zwar zu
Stand, ſpottete aber dabei über ſich ſelbſt und ſeine
Spitälerbeſchäftigung, die er denn auch wieder liegen
ließ. Sein Daſein hatte ſo vollſtändig durch das
Auge Licht empfangen, daß ihm mit dieſem Verluſt
Alles verſagte. Endlich lernte er von einem jungen
Burſchen Zither ſchlagen und brachte es darin zu
einiger Gewandtheit. Es gelang ihm, Mariannens
Geſang hie und da zu begleiten, wo es ſich um
leichte Volksmelodien handelte, und daraus entſprang
Freude und Genuß für Beide, die, ſeit ſie ſo ver¬
bunden waren, eigentlich nur noch im Andern leben
und ſich freuen konnten.
Einmal fuhr die rothwangige Hoffiſchers Magd
eine muntere Geſellſchaft nach Freudenberg hinüber.
Sie ſtiegen nicht weit von Alfreds gewohntem Platz
in das Boot, und die zwei Einſamen hörten ihr
lautes Geſpräch und ausgelaſſenes Gelächter. Der
Blinde horchte auf.
[110]
„Das könnte Fräulein Spitzer ſein, die da
ſpazieren fährt, ſieh doch hin, Marianne.“
„Warum haben Sie denn den Schurz umgethan?“
hörten ſie fragen. Und gleich kam die unvermuthete
Antwort: „Weil's doch a biſſel häuslicher ausſieht.“
„Sie wird es wohl ſein,“ ſagte Marianne, „ein
hübſches dunkles Mädchen mit einem rothen Schürz¬
chen und wahrhaftig — ſie trägt auch einen Alpen¬
ſtock!“
Ueber Alfreds Geſicht flog ein gemiſchter Zug,
halb Lachen, halb Bitterkeit.
„Ja, das iſt die Loni.“
„Der Vater iſt auch dabei und eine ältere Frau,
dann noch ſo junge Männer.“
„Wüßt ich nur etwas von Wolff! Er hat doch
wohl unſern Brief nicht bekommen. So, die da
ſingen!“
Ein luſtiges Lied, ganz Tanzmelodie, ſchwebte
durch den friſchen Morgen verſtändlich und hell
herüber:
„Nein! nein!“ bat Marianne und hob ihm den
Kopf in die Höhe, den er ſchluchzend in die Arme
vergraben hatte. „Oder — ſag' mir die Wahrheit,
Alfred, iſt Dir's noch immer weh um ſie?“
Er ſchüttelte den Kopf: „Weißt Du, es iſt nur,
da fährt nun die Jugend und die Lebensluſt und
fährt an uns vorbei,“ ſagte er mühſam.
„Und Du ſehnſt Dich mitten hinein! Es iſt ſo
natürlich,“ flüſterte das Mädchen mit zuckendem
Munde.
„Ach,“ rief er plötzlich, die Arme ausgebreitet,
[112] „was für ein elender undankbarer Neiding ich bin!
Hab ich nicht Dich! Hab ich nicht das höchſte Gut
der Welt? Komm, komm, laß mich wiſſen, daß Du
mir bleibſt, daß Du nicht froh ſein könnteſt ohne
mich, ſag', daß Du mich liebſt, Du Gute, Einzige!“
„Ich brauch' Dir nichts zu ſagen,“ erwiderte ſie
ſanft, doch bebte ein Krampf in ihren Zügen, und ſie
wich ſeinen Armen aus. „Es wird Zeit für uns
Beide,“ murmelte ſie in ſich hinein. Er war ſchon
wieder in ſeinen Grübeleien.
„Daß auch Wolff ſich nicht nach mir umſieht!
Verſtehſt Du das? Ich hielt ihn für meinen Freund!
Vielleicht iſt er bei Spitzers geweſen, und Loni hat
ihm geſagt, was mich ſtets beſchämen wird in der
Erinnerung.“
Er zerbrach einen dürren Aſt knackend unter
ſeinen Fingern.
„Was für ein Freundesrecht hab' ich danach auf
ihn? Aber er war ſo gut und ſo geſcheut, er hätte
mir von ſeinen Arbeiten geſprochen, da ich ſelbſt
müßig liegen muß.“
„Er wird ſchon kommen!“
Mariannens Ton war traurig, das fühlte er
bis ins Herz.
„Das Unglück macht die Menſchen ſchlecht, un¬
ſicher, bitter,“ ſagte er wie zu ſich ſelbſt, „ich erfahre
es an mir; jeden Tag nehm' ich mir vor, geduldig
[113] und gleichmüthig zu ſein, aber immer geht's anders,
und ich betrübe Dich, die ich beglücken möchte.“
„Zu Ende nächſter Woche kommt der Arzt, lieber
Alfred.“
„Ach, was bringt der! Denke Dir, Marianne,
wenn ich jetzt ſehen könnte! Den Kopf voller Ge¬
danken, die Hände voll Arbeit, und das Herz voll
von Dir! Was für ein Leben! Nicht wahr, Du
ſängeſt dann auch heitere Lieder? Warum nicht?
wir wären ja ſo glücklich! Und tanzen würden mir
auch! Ich möchte für mein Leben gern mit Dir
tanzen, Marianne!“
Sie antwortete nichts, doch er fuhr lebhaft fort:
„Und wenn mir nun einmal etwas gelänge! Ein
Kunſtwerk! Denk' Dir, Marianne! Und Du die
Erſte, die es ſieht. Denn ich hab' Dir's vielleicht im
Werden verborgen, um es Dir ganz fertig zu zeigen!
Erfolg mit Dir theilen dürfen, mit dem treueſten,
liebevollſten Weſen der Erde! Was meinſt Du, wär'
es nicht das Paradies? Gieb mir wenigſtens Deine
Hand, und laß mich fühlen, das Du's auch ſo
meinſt!“
Es war ein heißer, ſtummer Händedruck, mit
dem ſie antwortete.
„Sieh,“ fuhr er bewegt fort, „und wenn ich
nun ſolch eine ſelige Möglichkeit vor mir ſehe und
mir's dann plötzlich eiskalt auf die Hoffnungen fällt:
Frapan, Bitterſüß. 8[114] blind! blind! unnütz! elend verurtheilt! dann könnt
ich raſen, wie am erſten Tage, oder mich in das
Waſſer ſtürzen, wenn Du nicht wärſt!“
„Ich glaub's ſchon,“ ſagte ſie. „Wir wären
freilich nie zuſammen kommen, ohne Dein Unglück.“
„So will ich es doch ſegnen!“ rief er haſtig.
„Was redeſt Du!“ flüſterte ſie verwirrt.
„Segnen!“ rief er, „ſegnen!“ riß ihre Hand an
ſich und biß heftig hinein, daß ſie mit Mühe einen
Schrei unterdrückte. „Es thut mir weh, ſo lieb hab
ich Dich! Du kennſt mich noch nicht!“ ſprudelte er.
Marianne hatte die Lippen auf die blutende
Wunde gepreßt, aber wenn er ihre leuchtenden Augen
hätte ſehen können, er hätte ſie wohl noch nicht los¬
gelaſſen.
„Du Wilder!“ lächelte ſie, „es blutet ordentlich!
Ich bin nur froh, daß die Loni es nicht geſehen hat.“
Ein Schein von Uebermuth flog über ſein Geſicht.
„Manchmal kannſt Du auch eine rechte Schel¬
merei ſagen, ganz wie andere Mädchen!“ rief er be¬
wundernd. „Die Loni macht ſich nichts aus mir,
und ich mir nichts aus der Loni! Du aber —“
ſeine Stimme ſchmolz, wie immer, wenn ſie ihm er¬
laubte, von ihr zu reden. Er hatte jenes zugleich
Weiche und Sprühende des Weſens, das eigentlich
den Zauber der Jugend ausmacht und nur den Aus¬
[115] erwählten über Reifezeit und Alter verbleibt. „Du
aber — Marianne — meine Marianne —“
„Komm!“ ſagte ſie mit einer gewiſſen Macht¬
loſigkeit im Ton, „es iſt Mittagszeit; die Sonne
ſticht, — unſere Wirthin wartet, und es kommt ein
Gewitter; wir müſſen heim —“
Und mit fürſorglicher Hand leitete ſie ihn zurück
durch die gewundenen Gäßchen bis zur Fiſcherlieſel,
wo ſchon die Nudelſuppe auf dem Tiſche dampfte.
Hinter der Suppe ſaß aber bereits ein Gaſt mit
einem vollen Teller vor ſich. Doch ſchien er keinen
Hunger zu verſpüren, ſondern rührte bedenklich in
dem Fadenknäuel und ſprang in voller Eile auf, als
die Beiden in das Gaſtzimmer traten.
„Alfred!“ rief er mit halberſtickter Stimme.
Und „Max, biſt Du — ?“ klang es nicht we¬
niger bewegt zurück.
Der Maler drückte ihn kurz und ſchnell an die
Bruſt. „Da bin ich! und da biſt Du!“ er athmete
hoch auf, „und das iſt Fräulein Marianne Einſele,
die mir Alles geſchrieben hat.“
„Ja, das iſt die liebſte Marianne. Ach, Max,
daß ich Dich nicht ſehen kann!“
„Gar nichts?“ rief der Maler betroffen, „ich
dachte doch — aber der Arzt gibt doch Hoffnung?“
„Wer darf darauf bauen?“
Marianne ſah die ſtumme Erſchütterung in dem
8 *[116] dunklen ſchmalen Geſicht des Freundes. Sie tauſchte
einen ſchnellen Blick mit ihm und ſagte: „Doch!
doch! wir dürfen hoffen.“
Die erſten Worte von dieſer vollen tiefen Stimme
machten Wolff aufſchauen.
„Sie haben ihm das Leben gerettet,“ ſagte er
halb für ſich, „ich kann es begreifen.“
Ein ſchönes helles Roth färbte ihr Geſicht.
„Nun ſind wir froh, gelt Alfred?“ fragte ſie, ſich
abwendend.
„Erzähle,“ bat dieſer.
„Nein, weißt, zum Beſten iſt mir's auch nicht
gangen, — meine arme Schweſter — iſt nun er¬
löſt, aber —“
Ein ernſtes Schweigen folgte.
„Du haſt ſie gemalt?“ fragte Alfred zuletzt.
„Hab' ſie noch gemalt, ja, — und nachher war
die Mutter, die alt' Frau ſo arg einſam, — ich bin
ſchwer wegkommen und dann —“
„Haſt Du Spitzers geſehen?“
„Ich glaub' ſchon! Das Fräulein iſt mit dem
Baron verlobt!“ — Wolff lachte kurz auf.
„Nein!“ riefen die Freunde gleichzeitig.
„Ich hab's ihr heut Morgen geſagt: „Wie
können Sie den Menſchen nehmen?“ Da zuckt ſie die
Achſeln und ſagt: „Ich weiß auch nicht.“
Der Maler ſprang von dem Platz hinter dem
[117] kaum berührten Teller auf: „Sie weiß, daß ich's
nicht leiden werde! Ich hätte nicht davonlaufen
dürfen heut; ſie ſind Alle hier, ich war zu Anfang
dabei — nachher — Du weißt ja, wie's zu gehen
pflegt — der „Bräutigam“ war unausſtehlich, der
Alte zankt mit ihm, wird ſtark erhitzt. Ich red' ihm
ab, in dem Zuſtand ſelbſt nach Fiſchhauſen zu rudern;
es iſt ja gewitterſchwül; da ſagt er mir Grobheiten,
wie ſo ein blaurother, blutüberfüllter Kopf ſie eben
bereit hat. Das Fräulein tritt — zum erſten Mal
— auf meine Seite! Der Bräutigam höhnt; und
als ſie ihn ſo abfällig durch die Finger gleiten läßt,
wie einen falſchen Kreuzer, macht er eine höhniſche
Bemerkung über ſie und mich und ſagt, er danke
fürs Vergnügen und kehrt um. Da hätte der Alte
ſie faſt mit dem Ruder geſchlagen! Sie winkt mir,
weggehen ſollt' ich, o, ich hätt's nicht thun ſollen!
Aber ich wollte Dich aufſuchen, Alfred, darum ge¬
horcht' ich.“
„So mußt Du bald wieder fort?“ fragte Al¬
fred enttäuſcht.
„Nur ſehen, was da geworden iſt, — dann
komm' ich zurück, wenn Fräulein Marianne es er¬
laubt.“
Wolff und Marianne hatten ſich merkwürdig
ſchnell verſtanden, und ein gegenſeitiges warmes In¬
tereſſe belebte ihr Geſpräch.
[118]
Der Maler ſchied, doch warteten die Freunde
vergebens auf ſeine Rückkehr.
Dagegen verbreitete ſich Abends das Gerücht,
daß drüben in Fiſchhauſen Einer vom Schlag gerührt
worden ſei, ein Fremder von einer Geſellſchaft. Bald
wurden auch Einzelheiten erzählt. Die Leute hatten
im Wald, nicht weit vom See, Karten geſpielt; dabei
muß der Eine ſtark hitzig geworden ſein, des Wirths
kleiner Junge hatte geſehen, wie er auffuhr und dem
Andern mit der Fauſt drohte. Auf einmal aber ſei
er zurückgefallen und habe die Arme weit von ſich
geſtreckt. Nun hab's große Verwirrung gegeben, und
die Meiſten ſeien davongeſprungen, nur ein junges
Fräulein hab' ihn aufgerichtet und jämmerlich ge¬
ſchrieen. Zuletzt ſei noch Einer gelaufen kommen, der
zuvor nicht dabei geweſen, ſchwarze Haar hab' er ge¬
habt und ſo ein bleiches Geſicht. Aber eine Bären¬
ſtärke, daß er hab' den ſchweren Mann in die Arm'
nehmen und fortſchleifen können; auch ſei er bös
hineingefahren in den Jungen, daß er da ſteh und
gaffe, ſtatt Hülfe zu holen. —
Die Beiden, die dieſen Bericht anhörten, hegten
keinen Zweifel, wer der Betroffene ſein möge und
warteten geſpannt auf die weitere Entwickelung.
Andern Tags hörten ſie, der Fremde ſei ge¬
ſtorben, und gegen Mittag trat der Freund auf einen
Augenblick herein, überwacht und ernſt, aber ruhig
[119] und entſchloſſen wie immer. Er war auf dem Wege
nach München, — es war ja ſo natürlich, daß er
all' die traurigen Geſchäfte für die arme Hinterlaſſene
übernahm.
„Und der Bräutigum?“ fragte Alfred.
Der Maler richtete ſich ſtraff auf: „Wir werden
ihm die Wege weiſen, — das gehört auch zu meinen
Geſchäften, — er hat ſich übrigens bis jetzt noch nicht
gemeldet —“
„Glück auf den Weg!“ riefen ihm die Freunde
nach, er wandte ihnen noch einmal das Geſicht zu;
es war tiefernſt und doch ſah es aus, als breche dort
ſchon das Glück aus allen Linien hervor.
Am nächſten Abend, als der Mond aufgegangen
war, führte der Kahn der Schifferin einen Sarg
herüber. Die ganze Dorfbewohnerſchaft hielt ſich ſtill
am Strande. Marianne ſtand unter den Leuten und
ſah mit Wohlgefallen, wie ſich alle Häupter entblö߬
ten, als der ſchwarze Kaſten herausgehoben ward,
und wie ſich viele Hände nach der verſchleierten klei¬
nen Dame ausſtreckten, um ihr ans Land zu helfen.
Sie trug über ihrem bunten Kleide einen großen
dunklen Mantel, den ihr die Wirthin geborgt haben
mochte, denn er ſchlotterte um ihre feinen Glieder.
— Ohne Beſinnen trat eine Anzahl Männer heran,
ſchulterte den Sarg und trug ihn ſchweigend nach
dem Bahnhof. Es folgte Niemand als der blaſſe
[120] ſchwarzhaarige Maler und das verſchleierte Fräulein,
das er an der Hand führte.
Als ſie an Marianne vorüber kamen, grüßte
Wolff mit ſtummer Gebärde und deutete mit mitleid¬
fordernden Augen auf die zarte wankende Geſtalt
neben ſich.
Marianne blickte ihnen nach, ſo lange ſie konnte.
Dann ging ſie zu Alfred, der im Zimmer geblieben
war, und ſagte, ſeine Hände faſſend:
„Nun ſind ſie beiſammen, nun darfſt Du ruhig
ſein.“ Dann erzählte ſie. Alfred horchte geſpannt,
endlich ſagte er:
„Sie ſind glücklich, aber es iſt doch auch auf
einen ſchwarzen Grund gebaut.“
„Die Erde, die wir treten, iſt Moder,“ erwiderte
ſie langſam, — „es blühen aber doch Blumen darauf.“
„Du haſt einen ſeltſamen Gleichmuth, Marianne,“
rief er aus, „wie kannſt Du all die Gegenſätze ſo er¬
tragen?“
„Ich denk' halt, ich werd' nicht ewig leben,“
ſagte ſie gelaſſen, doch war ihr Geſicht nicht ganz ſo
ruhig, wie ihre Worte. —
Am andern Tage ſtand die erneute ärztliche
Unterſuchung bevor; der Arzt, der ſeine Schweſtern
zur Sommerfriſche in Freudenberg hatte, benutzte die
Gelegenheit zu einem freien Sonntag Nachmittage.
Als er nach eingehender Beobachtung des Kranken
[121] ging, ließ er die Beiden in Bewegung zurück: in zwei
Monaten etwa könne man zur Operation ſchreiten,
hatte er erklärt. Das wäre ſchon an ſich eine auf¬
regende Mittheilung geweſen, ward es noch viel mehr
durch das dunkle Räthſel, das dahinter ſtand: wird
die gute oder ſchlimme Möglichkeit jetzt eintreten.
Hätte er doch lieber noch geſchwiegen! Alfred konnte
kaum mehr ſchlafen, — war in ewiger Unruhe und
erſchreckte ſeine Gefährtin durch die ſchnellſten Ueber¬
gänge der Stimmung. Er ſah es nicht, wie bleich
ſie ward in dieſen Tagen, wie ihre Hände zitterten
und wie oft ihre Augen mit einem ſeltſamen, bohren¬
den Blick in ſeinem Antlitz zu forſchen ſchienen. Sie
hatte ihre Stimme ganz in der Gewalt und blieb
immer dieſelbe tröſtende, lindernde Freundin. Nie
hatte ihr Geſang herzbewegender geklungen, als in
dieſer langen Zeit.
Ein Beſuch unterbrach die Stille.
An einem feuchten grauen Morgen, wie ſie im
Auguſt an dieſen Seen ſchon vorkommen, erſchien
ohne Anmeldung ein Paar in der „Fiſcherlieſel,“
das nach den jungen Herrſchaften fragte und von dem
ſtiefelwichſenden Jungen in den Wald geführt ward,
zu dem Blinden und ſeiner Marianne.
Alfred lag in einer Hängematte, Marianne ſaß
mit einem Buch auf einem Baumſtumpf daneben.
Ein freundlicher Zuruf ſchon von Weitem meldete
[122] den Beſuch. Alfred ſprang aus dem Netz, Marianne
reichte den Freunden die Hand. Wolff legte den
Arm um den Maler. Es war ein gegenſeitiges ſtilles
Muſtern, ſtummes Grüßen.
Loni Spitzer in Trauerkleidern, etwas ſchmal
und bleich, aber lebhaft wie immer, begann zuerſt
das Geſpräch.
„Ja, was hätt' ich wohl anfangen ſollen ohne den
Muckerl! Das heißt, ich darf ihn eigentlich nicht
mehr ſo nennen, und Max klingt auch viel flotter,
gelt? Aber es war doch eine ſchöne Zeit, da er
noch der Muckerl war und der Papa noch lebte!“
Sie fing plötzlich heftig an zu weinen, hob dann
aber ihr naſſes Geſicht aus dem Taſchentuch und ſagte
mit glänzenden Augen:
„Und der Maxl nimmt mich ganz ohne Mitgift,
gelt, das iſt ſchön von ihm. Es war kein Geld im
Haus, um das Begräbniß zu bezahlen; der arm'
Papa hat garnicht gedacht, daß er ſterben könnt, na¬
türlich!“
„Und der „Baron“?“ fragte Marianne ſchelmiſch.
Loni ſchlug die Augen nieder.
„Ui, der Lackl! Ich bin nur froh, daß ich den
nicht kriegt hab'! Wiſſens, was er g'ſagt hat, als
ihm der Maxl zu verſtehn geben, daß ich keine Mit¬
gift hätt? 's wär ihm leid, hat er g'meint, aber er
könnt mich ſo nimmer nehmen, ich hätt mich zu arg
[123] kompromittirt, daß ich in Fiſchhauſen bei der Leich'
blieben wär', und der Maxl ſei auch dablieben!“
Eine flammende Röthe zog über ihr Geſichtchen,
ſie lachte voll Zorn und Verachtung und ſtampfte mit
dem Fuß.
Wolff wollte ſie an ſich ziehen.
„Nein, laß,“ ſagte ſie ſanft abwehrend, „ich
muß mich noch beim Herrn Heuvels bedanken; er
hat den Muckerl immer herausgeſtrichen; ſo iſt's
kommen, daß ich a recht's Zutrauen zu ihm kriegt
hab'.“ Sie drückte Alfreds Hand.
„Unſre Villa iſt verkauft, und morgen iſt Hoch¬
zeit, aber ganz ſtill, und dann fahren wir nach
Italien, in ſo ein kleines Neſt, ſagt der Maxl, und
ſuchen uns da 'n paar Stuben. — Es wird ſchon
recht komiſch ſein, wenn der Maxl immer ſo da iſt,
— ich war ja ſonſt immer allein. In Italien dürft'
ich ſo toll ſein, wie ich nur immer wollt', ſagt der
Maxl, und das iſt gut; ich mein', ſeit der Papa
lodt iſt, könnt ich nimmer recht lachen.“ Sie lachte,
und die Thränen liefen ihr wie Regen über die
Wangen.
Der Maler ließ ſie immer allein reden und ſah
nur von Zeit zu Zeit Marianne mit leuchtenden
Blicken an, als wolle er ſagen: „Und die iſt nun
meine!“
[124]
Mit kindlicher Neugier guckte Loni in Alfreds
getrübte Augen.
„Sehen Sie denn gar nix? Auch mich nicht?
Das iſt aber doch arg!“
Sie blickte entſetzt und fragend ihren Verlobten an.
Wolff legte den Finger auf den Mund. Da nickte
ſie ſchnell und fuhr in heiterem Ton fort: „Wenn Sie
wieder ſehen können und Ihr Zwei verheirathet ſeid,
beſucht Ihr uns in Italien, gelt?“
„Ja!“ murmelte Alfred.
Marianne hatte kaum merklich den Kopf ge¬
ſchüttelt. Nun, da Wolff ſie anſah, legte auch ſie
den Finger auf den Mund. Dann machte ſie ihm
ein Zeichen, und als Loni ihr Geplauder mit Alfred
wieder begonnen hatte, traten die zwei Andern bei¬
ſeite, und Marianne flüſterte leiſe und eifrig mit dem
Maler. Mit tiefbewegten Geſichtern, Marianne mit
naſſen Augen, der Mann nachdenklich und trübe,
wendeten ſie ſich dann um, gerade als Alfred rief:
„Marianne! biſt Du da?“
Die Blicke der Beiden flogen auf dieſen Ruf
einander noch einmal zu, Wolff ſchien mit ſtummer,
vorwurfsvoller Bitte zu ermahnen. Marianne kehrte
mit geſenktem Haupt zu Alfred zurück.
„Da bin ich; Du haſt mich gerufen.“
Man blieb bis zum Abend beiſammen. Mari¬
anne begleitete ſie durch den Garten hinaus. Als
[125] man ſchon Abſchied genommen, hörte ſie, wie Loni
mit ihrer unbekümmerten Lebhaftigkeit ſagte:
„Weißt, Maxl, ich mein', ſie ſei garnicht ſo
wüſt, wie Du's gemacht haſt! Ich war auf ein
noch weit ärgeres Meerwunder gefaßt. Und dazu,
wenn der Alfred blind iſt, wär's faſt ſchad' um 'ne
Schöne, gelt?“
Das Rauſchen in den Bäumen übertönte die
Antwort. —
In Mariannens Zimmer brannte das Licht die
halbe Nacht durch, und der Wächter ſah ſie ruhelos
auf und ab wandern und hörte, daß da drinnen laut
aufgeſchluchzt ward. Neugierig trat er an das helle
Fenſter, — da erloſch das Licht, aber immer, wenn
er wieder vorbei kam, ſcholl es wie unterdrücktes
Weinen.
Die Zeit verging doch, ſo lang ſie ward. Man
kehrte nach München zurück, zurück ſogar in das alte
Quartier zur Wittwe Huber, deren Zimmer über
Sommer wenig Annehmlichkeit boten und mithin auch
wenig Liebhaber fanden.
Emerenz, noch dünner und brauner, aber behend
und langzopfig wie ſonſt, lief ihnen mit einem
Freudenſchrei entgegen und machte faſt Anſtalt, ihren
Bruder Leo zu umarmen, ward aber noch rechtzeitig
durch die unnahbare Miene des Burſchen und ſeine
auf dem Rücken gefaltenen Hände an den Schicklichkeits¬
[126] begriff erinnert. „Und wo iſt denn das Dummerl?“
Ja, das zierliche Kätzchen war ein Rieſenkater gewor¬
den und wild obendrein, und es war aus dem Eiſen¬
bahnwagen wieder hinaus und in die Holzſtälle und
Scheunen zurück geſprungen, drin es ſich ſo lange
getummelt hatte. „Dem hat's in Schliers zu gut ge¬
fallen, das kommt nimmer.“
Emerenz ſah das Fräulein ganz verwundert an,
das klang arg gleichgültig.
Die Nachbarkinder ſchoben einander vorwärts,
dem Fräulein Marianne zu. Sie faßte auch all die
kleinen, nicht durchweg reinen Pfötchen, die ſich ihr
entgegenſtreckten, aber ſonſt hatte ſie dabei ein freund¬
liches Wort für ſie gehabt, ein Streicheln übers
Haar, eine Frage nach den Eltern; heute ſah ſie die
Kleinen zerſtreut an, und das Häuflein ſtarrte ihr
enttäuſcht nach — es war nichts von Bretzeln oder
Zwetſchen vorgekommen.
Sie ſtieg mit ihrem Schützling in ſeine alte
Wohnung und machte es ihm dort behaglich, ehe ſie
ſich in ihr eignes Quartier im Hauſe gegenüber be¬
gab. Mit einem gewiſſen Wohlgefühl ſetzte ſich Al¬
fred wieder auf das kleine ſteife Sopha, — hier
hatte er glückliche, hoffnungsvolle Stunden verbracht,
hier hatte er Marianne zum erſten Mal ſingen hören.
Wie war doch ſein Leben ſo zu einem Traum zer¬
ronnen! —
[127]
Der Arzt erſchien, ſtellte eine neue Unterſuchung
an und verkündigte ihm, die Operation könne mor¬
gen, übermorgen vorgenommen werden. Jawohl, in
dieſem Zimmer, wenn er's wünſche. Und er ſetzte
ſich zu ihm und erzählte ihm und Mariannen, daß es
eine leichte Sache ſei, dieſe Ablöſung der Trübung
von der verletzten Hornhaut, und daß die Nach¬
behandlung im verdunkelten Zimmer durch Aetzmittel
die letzten Flocken zerſtören werde.
„Und nachher?“ fragte Alfred furchtſam.
„Und nachher ſehen Sie wieder,“ fuhr der Arzt
zuverſichtlich fort. „Sie beſtätigen mir ja ſelbſt, bis
vor einigen Monaten noch hie und da Lichtempfin¬
dungen verſpürt zu haben, — wäre die Netzhaut zer¬
riſſen, ſo hätte das nicht ſein können.“
Alfred ſprang auf. „Marianne! Marianne!“
Er ſuchte nach ihrer Hand.
„Still!“ flüſterte ſie ihm zu. „Wir werden noch
alle Kräfte nöthig haben.“
„Du wirſt dabei ſein?“
„Ich verlaſſe Dich nicht.“
„Sie dürfen ſogar dem Patienten die Hand
halten,“ fiel der Arzt gutmüthig ein, „es iſt mir ſo¬
gar willkommen.“
Und ſo geſchah es. Als der junge Bildhauer
auf dem Bette lag, der Arzt und ſein Beiſtand die
feinen Meſſerchen in Bereitſchaft ſetzten und endlich
[128] die entſcheidenden Stiche geſchahen, da lag Alfreds
Hand feſt in der warmen treuen Hand Mariannens,
und wie ein elektriſcher Schlag ſprang jede Bewegung
von dem ſeinen in ihren Körper hinüber. Auf ein¬
mal flog es wie ein Blitzſtrahl durch ihn hin:
„Licht! Tag! Ich ſehe!“
„Schön ſo! recht ſo!“ rief der Arzt, ſelber in
lebhafter Bewegung und verdeckte das operirte Auge,
„nun das Andere.“
Und abermals ſchrie er nach ſtandhaft ertragenen
Schmerzen: „Marianne! Marianne! ich kann ſehen!
Das Fenſter, den Sonnenſtrahl, warum nicht Dich?“
Der Arzt hielt ihn feſt. „Keine Bewegung zur
Seite, es iſt gewonnen, danken Sie Gott und —
dieſer Dame!“
„Und Ihnen!“ rief er feurig.
Hochaufſchluchzend ließ Marianne ſeine Hand
fahren, um ſie gleich wieder zu ergreifen und an ihre
naſſen Augen zu drücken. Zum erſten Mal verſagte
ihr die Stimme, die im großen Leid ſo klar und feſt
geblieben war.
„Ach, warum ſchon wieder verdecken?“ klagte der
Kranke, „muß es denn ſein?“
„Geduld, in einigen Tagen! Es iſt ja Alles
gut. Aber ſtill müſſen Sie ſich halten, kein Glied
rühren heute, Sie wiſſen ja, wir haben das zuvor
beſprochen.“ —
[129]
Die folgenden Tage vergingen in einer Art Taumel
für Alfred. Sehen! ſehen dürfen! denn am Können
fehlt es ja nicht mehr! Er dachte kaum etwas an¬
deres, obwohl er doch auch von anderen Dingen
ſprach. Auch Marianne war ſtill und tief in Ge¬
danken. Nun, da es eingetreten, ſchien Beiden, als
ſei es das ſicher Erwartete, als hätte es garnicht an¬
ders kommen können. Der Arzt ſprach jetzt zweimal
des Tages vor. — Die Stunde kam, wo er ſagen
konnte: „Morgen ſtehen Sie auf, und die Binde wird
abgenommen, und dann wird es von Tag zu Tag
etwas heller um Sie, bis Sie das volle Licht ertra¬
gen können.“
In der Nacht vor Ablauf dieſer letzten Zeit hatte
Alfred einen ſeltſamen Traum. Eine Geſtalt kam
unhörbar herein, ſtand plötzlich neben ſeinem Bette
und küßte ihn leiſe auf Mund und Augen. Er griff
danach, doch zerfloß ſie ihm unter den Händen.
Mit heftigem Herzklopfen ſagte er die Worte: „Iſt
dies ein Abſchied?“
„Ja,“ antwortete eine gebrochene Stimme.
Er ſchrie auf und erwachte in unbeſchreiblicher
Beängſtigung; er ſetzte ſich aufrecht, heiß und zitternd
und ſtarrte im Zimmer umher. „Marianne!“ rief
er zuletzt; dann ſich beſinnend, daß ſie ja nicht im
gleichen Hauſe wohne: „Leo!“
Schlaftrunken, im Hemde, ſtolperte der Junge
Frapan, Bitterſüß. 9[130] nach einer Weile herein, Alfred ſah in dem ſchwachen
Dämmerlicht den großaufgeriſſenen Mund.
„War Jemand hier? Haſt Du Jemand ge¬
ſehen, Leo?“
„Na!“ ſagte der Junge kopfſchüttelnd und gähnte
laut und nachdrücklich.
„So leg' Dich wieder hin,“ befahl Alfred,
„ſchlaf nur.“
Der Junge nickte bereitwillig mit dem Kopf;
kaum war er fort, ſo tönte ſchon wieder ſein Schnar¬
chen aus dem Nebenzimmer.
Alfred lag wach bis an den Morgen, dann fiel
er noch einmal in tiefen Schlaf.
Er erwachte davon, daß er ſeine Schulter be¬
rührt fand.
„Heute alſo haben wir den großen Tag,“ ſagte
die Stimme des Arztes. „Ich wundere mich ganz,
Sie noch ſo vertieft zu finden.“
„Heute alſo,“ erwiderte Alfred mit einem tiefen
Aufathmen, das faſt einem Seufzer glich. „Haben
Sie das Fräulein ſchon geſprochen?“ —
„Ich komme erſt eben, wir bedürfen übrigens
ihres Beiſtandes nicht. Wiſſen Sie was? Sie klei¬
den ſich geſchwind an, und ich führe Sie hinüber —
Fräulein Einſele wohnt doch drüben? — Das wird
eine Ueberraſchung ſein, was? Aber eilen müſſen
Sie! Um 9 Uhr fängt meine Sprechſtunde an.“
[131]
Der Patient gehorchte; mit Leo's Hülfe war er
bald fertig; der kleine Kammerdiener hatte ſich an
das Dämmerlicht ſo gut gewöhnt wie Marianne.
Als der Arzt den vor Aufregung Sprachloſen in das
helle Nebenzimmer geleitete und Alfred beim Anblick
der ſo lang entbehrten Sonne in heiße Thränen aus¬
brach, flog es auch dem jungen Doktor roth um die
Augen.
„Wir bringen es im Ganzen recht ſelten dazu,“
ſagte er, Alfreds Hand drückend, „und auch bei
Ihnen — was hätten wir machen können, wenn die
Netzhaut zerriſſen geweſen, wie man anfangs befürch¬
ten mußte? Dann ſäßen Sie noch jetzt rettungslos
im Dunkeln.“
„Marianne!“ murmelte Alfred unruhig — „ſon¬
derbar iſt es doch —“
Der Arzt faßte ſeinen Arm, denn er ging ſchwan¬
kend und unſicher. Als ſie auf die Straße kamen,
blieb der Bildhauer ſtehen, warf ſtaunende Blicke
ringsum und erhob dann plötzlich die Arme, als wolle
er den ſonnigen blauen Himmel, die herbſtrothen Bäume,
die auf ihn zukamen, an ſeine Bruſt ſchließen.
Ein kleines Mädchen kam daher gelaufen, ſah
ihn eine Weile ſchüchtern fragend an und ſtreckte ihm
dann das Händchen entgegen.
„Babettle!“ rief Alfred, „das Babettle, — und
ich kann es wieder ſehen.“
9*[132]
Die Kleine ließ ſeine Hand nicht los, und er
ſchaute wieder in das ſchöne volle Geſichtchen des in
Geſundheit blühenden Kindes. Es war noch nicht
ein bischen aufgewacht, die großen blauen Augen
noch ebenſo ſtill und ziellos wie früher.
„Ich darf wieder arbeiten?“ fragte Alfred den
Begleiter, und in ſeine Züge ſchien alle Begeiſterung,
alle Freude des Lebens wieder einzukehren.
„Mit Maßen im Anfang; iſt das Kind ein Mo¬
dell von Ihnen?“
„Mein Sternthalermädchen, für das ich damals
den Marmor ausſuchte; — ich bin aber beſcheidener
geworden; wenn es mir zum hundertſten Theil ge¬
lingt, die Märchenſtille hier“ — er legte dem Kinde
die Hand aufs Haupt.
„Iſt es hier?“ fragte der Arzt, denn ſie hatten
die Treppe erſtiegen.
„Dort, die Thür, die offene; ja warum denn
offen? Ich bin nur einmal hier geweſen, ich irre
mich doch wohl“ — Alfred war haſtig bis zur Thür
geſchritten, hatte auch das Zimmer betreten und hinter
ſich offen gelaſſen. Neugierig folgte der Arzt. Er
ſah den Bildhauer in einer Ecke ſtehen, das Geſicht
zur Wand gekehrt und in den Händen vergraben.
Das Zimmer war leer, völlig ausgeräumt, ebenſo
das nächſte, deſſen Thür gleichfalls offen ſtand.
Der Arzt ſpitzte die Lippen, als ob er pfeifen
[133] wolle, beſann ſich aber, trat an den Bildhauer heran
und ſagte, ihm die Hand auf die Schulter legend:
„Wollen wir nicht die Wirthsleute fragen?“
Das Geſicht, das ihn anſah, erſchreckte ihn:
„Sie iſt fort,“ ſagte er mit Verzweiflung in Ton
und Blicken.
Der Doktor ſtand rathlos. „Sie ſagen das ſo
beſtimmt — wollen wir denn nicht die Wirthin fra¬
gen?“ — Er zog die Uhr. „Dazu ſehe ich mit Be¬
dauern, daß meine Zeit abgelaufen iſt! Was machen
wir denn jetzt? Sie müſſen doch mit herunter¬
kommen?“
Alfred reichte ihm mit abgewendetem Geſicht eine
kalte bebende Hand.
„Ich danke Ihnen, bitte, gehen Sie fort.“
„Verrücktes Weibervolk!“ brummte der Doktor
im Abgehen.
Dann war der Verlaſſene allein; das Kind ſtand
draußen auf dem Flur und hörte ſeine Seufzer und
erſtickten Ausrufe.
Er mochte lange ſo mit ſeinem Schmerz gerun¬
gen haben, da kamen Schritte auf die Thür zu. Er
raffte ſich zuſammen und floh wie ein Verfolgter hin¬
aus, die Treppe hinab und über die Straße in ſeine
Wohnung. Als er eintreten wollte, ſah er, daß ihm
die Kleine nachgelaufen war. Er ſah ſie von der
Seite an, dann ließ er ſie mit hereinſchlüpfen wie
[134] ein Hündchen oder Kätzchen, das ein Recht hat auf
den Eintritt.
Leo kam ihm entgegen, es ſchien, daß er eine
Frage in ſeinem dicken Kopf bewege.
„Fräulein Marianne?“ ſagte er erwartungsvoll.
„Sie war nicht hier?“ rief Alfred, von einer
blaſſen Hoffnung erfaßt.
Der Junge ſchüttelte den Kopf. „Es hat mich
ſelbſt gewundert.“
Alfred ſchlug die Thür hinter ihm zu und warf
ſich in einen Stuhl. Doch war kaum eine Minute
vergangen, ſo ward die Thür wieder geöffnet, und
der Junge guckte herein:
„Die Emerenz hat geſagt, das Fräulein ſei fort.“
„Wo iſt die Emerenz?“ rief Alfred aufſpringend.
„Sie iſt ſchon wieder weg, und die Hausfrau
hat mir den Brief da geben.“
Alfred nahm ihn kopfnickend, wie etwas Er¬
wartetes. Als er ihn aber entfaltete und las, all die
Liebe und Zärtlichkeit, die ein blutendes Herz in
dieſe Blätter gelegt, da brach er ganz zuſammen und
rief mit tauſend Schmerzen nach der Geliebten und
Verlorenen. Warum verloren? Ach, da ſtand es
nur zu klar:
„Ich bin nicht ſchwach, geliebter Freund, aber
doch auch nicht ſtark genug, um noch einmal Dein
Zurückſchaudern zu ertragen, wenn Du mich erblick¬
[135] teſt. So hab' ich Dir und mir das Herzeleid anthun
und grade den ſchönſten Tag Deines Lebens durch
den Abſchied trüben müſſen.“
Zuletzt kam eine Bitte, ſie nicht aufzuſuchen.
„Ich gehe fort, unter verändertem Namen. Von Dir
aber werde ich hören. Hab' Dank für alles Glück.
War's auch in Deinen Augen wenig, ſo war's doch
mehr, als ich je beanſpruchen durfte. Und nicht ſorgen
um einander, Geliebter. Dir hilft die Kunſt und das
neugewonnene Tageslicht; ich — hab' es ſchwerer —
aber ich habe ja auch gelebt vorher, werd's ſchon
wieder lernen.“
Als Alfred nach Stunden aus ſeinem ſchmerz¬
lichen Brüten erwachte, ſah er die Kleine noch im
Zimmer ſtehen.
„Was willſt Du noch?“ fuhr er ſie an.
Babettle's große Augen trübten ſich; kläglich
brachte ſie's heraus: „Das gute Fräulein hat geſagt,
ich ſoll gleich hergehen und dableiben, bis Sie mich
wegſchicken.“
Da nahm er die Kleine in den Arm und küßte
ihre naſſen Lider, während ihm ſelbſt die Tropfen
herunterliefen.
„Komm morgen wieder, — ins Atelier, Du
weißt ja,“ flüſterte er, „wir müſſen thun, was das
gute Fräulein geſagt hat.“
[136]
Es war ſechs Jahre ſpäter. Da kamen an
einem Septembernachmittage zwei Fremde in Stutt¬
gart an, ein Herr und eine Dame. Daß ſie fremd
hier waren, hörte man an den entzückten Ausrufen
der jungen Frau im grauen Reiſeſchleier, als ſie am
Königsbau ſtanden und ihre Augen über die Palmen
und Bananen des Schloßplatzes hinweg zu der lieb¬
lichen Hügelkette dahinter wandern ließen. Die grü¬
nen Weinberge dort, der rothe Erdboden, die hell¬
getünchten Häuschen unter den Obſtbäumen, all' das
ſtrahlte und glühte in reinen ſatten Farben, erhöht
und doch wieder gemildert durch den ſonnigen Staub,
der die ganze Luft erfüllte.
„Das iſt ja wie bei uns unten in Italien,“
ſagte die Dame, „jetzt freut mich's erſt, daß ſie hier
wohnt, gelt, Maxl? Ob wohl die Forſtſtraß' da
droben iſt, wo die netten gelben Häuſerln ſtehen?“
Nein, die Forſtſtraße lag hinter ihnen, wie man
ſie belehrte, und ſie hatten durch allerlei Gaſſen zu
gehen, das Grün hinter ſich zu laſſen, zwiſchen
Mauern dahinzuſchreiten, die Gluthhitze von ſich
ſpieen, auf weiß blendendem Boden, der heiß war.
Loni, die ein wenig ſtark geworden, ſtützte ſich
ſchwer auf ihren Mann.
Endlich ſtanden ſie vor einem größeren Gebäude,
das den Eindruck machte, ein öffentliches zu ſein.
Ein Vorgärtchen mit beſtaubten Sträuchern ſchied es
[137] von der Straße. Unter den Büſchen auf niederen
Bänken ſaßen einige Knaben, mit Strohflechten be¬
ſchäftigt; ſie hoben die Köpfe beim Geräuſch der
Schritte, ſtanden aber nicht auf. Die Hausthür war
nur angelehnt. Drinnen war es angenehm kühl und
ſonnenlos. Wolff zog die Glocke. Sogleich ſprang
die zweite innere Thür auf, und nun ſtanden ſie auf
einem großen Flur, in den eine Reihe von Sälen
mündete, Alles nüchtern, ſchmucklos, viereckig. Es
war ſtill hier; die beklemmende Atmoſphäre, die grö¬
ßeren Anſtalten eigen iſt, fiel bei der Hitze doppelt
auf. Loni ſchüttelte den Kopf: „Hier ſind wir nicht
recht; ſie hat doch geſchrieben, es gehe ihr ſo gut.“
Ein Mädchen trat aus einem der Säle, einige
Teller in der Hand.
Wolff ging auf ſie zu und fragte nach dem
Fräulein Marianne. Nein, Fräulein Marianne war
nicht daheim, das gute Fräulein war mit einigen der
Zöglinge ausgegangen. „Sie heißt auch hier das
gute Fräulein,“ flüſterte Wolff ſeiner Frau zu, „frag'
doch, wann wir ſie ſicher treffen.“ Das Mädchen
gab für den nächſten Tag eine beſtimmte Zeit an;
ſie trugen ihr Gruße auf; dann wandten ſie ſich
mit ſchwer enttäuſchten Geſichtern zum Weggehen.
Loni wagte kaum, die Kinder anzuſehen, die mit vor¬
ſichtigen, taſtenden Bewegungen über den Flur gin¬
gen, und deren blickloſe Augen beredt genug ſprachen.
[138]
Als ſie draußen waren, ſchüttelte die kleine
Dame ſich zum zweiten Mal: „Nein, das kann ich
nicht begreifen!“ rief ſie ungeduldig.
„Es iſt ſehr trübe,“ erwiderte der Maler ge¬
preßt, — „komm, wollen ſehen, daß wir aus den
dumpfigen Straßen hinaus kommen.“
Sie fanden ſich über einige ſchattenloſe breite
Staffeln hinauf, die ins Grüne führten, und ſtanden
aufathmend an einem ſchönen, von großen, höher¬
liegenden Gärten begrenzten Wege mit villenartigen
Häuſern, weitverſtreut zwiſchen dem üppigen Grün.
Ein friſcheres Lüftchen kam den langſam anſteigenden
Weg herabgefahren und flog ihnen kühlend und mit
tauſend Blumendüften gemiſcht um die erhitzten Ge¬
ſichter. Der Weg ward reizender, je weiter ſie hin¬
aufgingen; keine Häuſer mehr, nur noch Baumgüter,
in denen die Aepfel roth aus dem Laube her¬
vorſchimmerten, wo die Kinder mit den Amſeln
um die Wette beim Aufleſen der Früchte lärmten.
Der Weg ward zum Hohlweg, immer höher ſtieg er
an, rechts und links, bis zu einer Eiſenbahnbrücke,
die ſich hoch über der gekrümmten Straße wölbte
und das anmuthige Landſchaftsbild, die Weinberge
mit dem darüber aufſteigenden Fichtenwald, wie in
einen ſchwungvollen Rahmen faßte. Dicht hinter dem
Bogen, abſeits vom Wege, lag ein großer Raſenplatz
mit einem einzigen jungen Bäumchen und einer Bank
[139] darunter. Sie hörten dort lachen und ſingen; eine
frohe Kinderſchar drängte ſich um die Bank, Andere
lagen, Blumen und Halme zuſammenbindend, im
Gras. An der Bank ward zu trinken geſchenkt. Ein
ſchlankes, halb ländlich gekleidetes Mädchen füllte die
Gläſer aus einem großen Eimer; das Fräulein auf
der Bank reichte ſie umher, eben hielt ſie einem
Kinde den Trank an die Lippen. Sie hob dabei ein
wenig das Geſicht, das ein großer dunkler Strohhut
beſchattete. Wolff drückte Loni's Arm:
„Da iſt ſie ja! Da iſt ſie!“
Und nun ſah ſie die Beiden und ſtellte das
Glas auf die Bank, um den Freunden die freien,
ausgeſtreckten Hände zu reichen. Es lag etwas ſo
Friſches und Freudiges in ihrer Gebärde, der Gruß
der tiefen weichen Stimme klang ſo vertraut, ſo un¬
verändert, ſo aus der Seele, daß es dem Manne
warm emporquoll, und daß Loni die Wiedergefundene
ohne Umſtände mit beiden Armen umſchlang und
küßte.
Marianne ließ ſich geduldig ſo halten, ſie ruhte
einen Augenblick ſtill in Freundesarmen und ſah ganz
aus der Nähe prüfend und lächelnd in das feine
ſcharfe bräunliche Geſichtchen; es war nicht ganz das
frühere, hier ſchien etwas aufgewacht zu ſein, von
dem Loni Spitzer wohl ſelber kaum geträumt hatte.
„Bring doch geſchwind noch zwei Gläſer, Nanele,
[140] — es iſt eine gute Milch, friſch gemolken, da müßt
Ihr mithalten,“ ſagte Marianne eifrig und machte
dem Paare Platz auf der Bank.
„Und hier biſt Du!“ ſagte Loni, noch immer
verwundert.
„Hier bin ich.“
Ein kleines Kind kam heran und legte ihr ein
Sträußchen in den Schoß. Ein anderes umklam¬
merte, hinter der Bank ſtehend, ihren Hals. Mari¬
anne legte ihre Hand auf die zwei verſchlungenen
Kinderhändchen und ſah den Freunden ruhig in die
Augen.
„Sie ſind wohl recht brav und haben Dich lieb,
gelt?“ meinte Loni.
„'s paſſirt,“ erwiderte Marianne lächelnd und
den kleinen Kopf ſtreichelnd, der ſich von hinten jetzt
auf ihre Schulter legte. „Sie können auch ſingen.“
Das Wort ſchien ein Lockruf zu ſein. Mehr
Kinder kamen heran und ſtellten ſich um die Bank
auf. Einige taſteten ſich mühſam vorwärts, aber
immer war ein Schweſterärmchen da, das zu rechter
Zeit half und ſtützte. Die älteren Zöglinge bewegten
ſich mit ziemlicher Sicherheit.
Marianne gab den Ton an, dann begannen ſie,
hell und rein wie Vögel und ebenſo froh; die noch
am Boden gekauert hatten, richteten ſich nacheinander
auf und fielen ein: „Gang i ans Brünnele, trink
[141] aber net,“ und das vom Schätzle Alles treuherzig
mit, daß die Zwei lachten. „In der Anſtalt müſſen
wir viele Choräle ſingen,“ ſagte Marianne entſchul¬
digend; „da heraußen ziehen wir die Volkslieder vor.“
Ein kleiner alter Weingärtner mit einem ver¬
hutzelten braunen Mausgeſicht und blanken Ohrringen
trottete daher, hielt an, that ſeinen Butten herunter
und hörte zu, bis das Lied zu Ende war. Seine
kleinen Augen glänzten. Dann kam er heran, griff
an die Mütze, nahm von dem Butten ſorgfältig eine
große weiße Lilie ab, die obenauf lag, dann ein paar
Hände voll Zwetſchen, die er den Kindern reichte.
Zuletzt gab er die Blume an Marianne: „Jetzt hat's
keine meh, ſell iſch d'letzt gwe drobe imme Weinberg.“
„Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!“ riefen die
Kinder.
Marianne hatte dem Alten die Hand geboten,
die er nicht wieder freiließ.
„'s hätt mi arg gehei't, wann i's heut net troffe
hätt, Fräulein Maariann',“ ſagte er im Weggehen.
„Meine Kinder werden oft beſchenkt, und da
fällt dann auch für mich etwas ab.“ Marianne
hielt ihr Geſicht über die Lilie und ſog den ſtarken
Duft der weißen wehrloſen Blume ein; dann rief ſie
die Kinder zum Aufbruch. Nun ſahen die Freunde
wohl, daß das Gehen nicht ſo leicht war. Das
Reihehalten wäre nicht möglich geweſen ohne den
[142] langen Stab, den je vier Kinder mit den Händen
gefaßt hielten beim Marſchiren. Es waren vier
Reihen, Marianne ging zuletzt. Ein kleiner Junge
war übrig, den ließ ſie vor ſich treten und führte ihn,
indem ſie ihre Hände auf ſeine Schultern legte. Die
Blume hatte ſie ihm zu tragen gegeben, und ſo ſchritt
er nun wie ein kleiner Fahnenträger hinter der Ge¬
fährtenſchar.
„Sie ſind Alle unheilbar blind?“ flüſterte Wolff
bekümmert.
Marianne nickte. „Aber die Meiſten haben es
nie anders gekannt und ſind luſtig wie andere Kinder
und — ſicherer vor Enttäuſchung,“ fügte ſie trübe
lächelnd hinzu.
Einige Tage ſpäter ſuchten Max und Loni im
Kriſtallpalaſt in München nach dem erſten ausgeſtellten
Werk des Freundes. Loni wollte in den Katalog
ſchauen. „Nein,“ ſagte ihr Mann, „möchte ſehen,
ob wir's nicht ſo finden, das iſt hübſcher.“
Auf einmal deutete er lebhaft geradeaus, „das
muß es ſein.“ Sie traten näher: „Er hat uns nicht
geſchrieben, was es darſtellt, aber es iſt eine alte
Idee von ihm —“
„Ich bin das Mitleid,“ las die junge Frau, die
ſich zu dem Sockel niedergebeugt hatte, und nun mit
fragendem Blick in die Höhe fuhr.
[143]
Max ſtand lange wortlos vor der herrlichen
Statue, deren faſt übermenſchliche Größe und ruhige
Schönheit in dieſem bunten Gewühl wie ein Zauber
wirkten.
„Nun ſehen Sie, das iſt dieſe antikiſirende Rich¬
tung,“ näſelte es hinter ihnen, „Künſtler? Heuvels
in Rom, ah, Rom, dacht' ich mir — die ſitzen da ſo
drin bis an den Hals — das Zeitgemäße, das Ak¬
tuelle iſt für dieſe Sorte nicht vorhanden, übrigens
garnicht ohne Talent gemacht, — wenn der jetzt in
Berlin —“
Max wandte zornig den Kopf. Loni zupfte ihn
am Rock und kniff die Augen zu: „Gelt, Max, der
iſt dumm!“ ſagte ſie mit Ueberzeugung. Der Maler
ſah ſeine kleine Frau überraſcht und ſtrahlend an;
die zwei Kritiker waren weggegangen.
„Da ſchau nur, Schatz,“ flüſterte Loni, „wie ſich
das ſchöne Thier, ein Reh wird's ſein, an ſie heran¬
ſchneckelt! o weh, es hat was am Haxen —“
„Dieſe unvergleichliche Neigung der ganzen Ge¬
ſtalt,“ hörten ſie hinter ſich ſagen. Ein feines ält¬
liches Frauenantlitz blickte bewundernd auf die Sta¬
tue, ihre Worte galten dem halbwüchſigen Knaben an
ihrer Seite.
„Aber wem reicht ſie die Schale hin, Mutter?
Es iſt ja Niemand da,“ ſagte der Knabe.
„Sie reicht ſie Allen, die leiden; ſiehſt Du, die
[144] Schale fließt über, als trüge ſie in ſich die Seele der
Geſtalt,“ erklärte die Mutter leiſe.
„Jetzt wollen wir weiter gehen,“ meinte das
Kind. — —
Die Freunde aber konnten noch immer nicht die
Blicke wegwenden.
„Der hat ſich herausgemacht!“ ſagte Loni, „ja,
in Italien da gibt's ſo Geſtalten. Weißt noch,
Maxl, auf dem Bahnhof in Vittorio das ſtolze, fin¬
ſtere Geſchöpf? Du ſagteſt, ſie ſei nicht zu gering
für eine Medea, obwohl ſie ihre Schuhe in der Hand
trug.“
Max ſah ſie zerſtreut an: „Ja, aber die hat er
nicht aus Italien, Loni, das iſt ja die Marianne.“
„Die Marianne?“ Ein ſtarrer, verſtändnißloſer
Blick irrte über die Geſtalt des Mitleids. Plötzlich
fuhr es wie ein Blitz der Erkenntniß über ihre leb¬
haften Züge. Sie hob den Kopf ihrem Manne ent¬
gegen, zwei große Thränen ſammelten ſich in den
dunklen Wimpern und rannen hell und leuchtend über
ihre Wangen.
Monika.
Frapan, Bitterſüß. 10[][]Zweimal war er ſchon an dem ſtaatsmäßig hohen
und großen Hauſe vorübergegangen und hatte
ſich nicht hineingetraut. Wie ein Schloß lag es da,
hinter dem reichen Eiſengitter, halb verdeckt von dem
hochanſteigenden Garten mit den unregelmäßigen, von
blühenden Schlingpflanzen und Farn überwucherten
Staffeln, mit der breiten Freitreppe, die zwiſchen den
dichtbeblätterten Aeſten des mächtigen Birnbaums her¬
vorſchimmerte, mit den ſpiegelblanken Küchenfenſtern,
die zu den Seiten der Freitreppe wie zwei dunkle,
lockende Augen herüberglänzten.
Er war noch nie weiter, als bis zur Hausthür
gekommen, wo er jetzt ſtand und Betrachtungen an¬
ſtellte. Oder vielmehr nicht gerade an dem Hausthor,
ſondern ein Stückchen weiter hinauf, unterhalb des
eiſernen Gitters, in dem tiefen, trockenen, grünen
Graben voller Brombeergeſtrüpp, der ſich die ganze
gartenreiche Straße entlang zog.
Hätte er nur gewußt, ob die Monika daheim
ſei und in ihrer Küche hinter den blitzenden Scheiben!
10*[148] Es war doch zu dumm, jetzt hinzutreten, am ver¬
ſchloſſenen Thor zu ſchellen, den Sultan und den Jack
aus ihrem Sommernachmittagsſchlaf zu ſtören — er
ſah ſie ſchon mit Amtsübereifer, zungenreckend und
bellend zum Todtenaufwecken aus ihren ſchöngeſchnitzten
Hütten hervor und die Staffeln herunterſpringen.
Und die Herrſchaften ſaßen vielleicht in der Veranda
über der Freitreppe, wo die großen Yuccas ihre
ſtacheligen Blätter ſpreizten, — es war ja Kaffeezeit,
— und wie, wenn der Herr General auf den Lärm
hin die Glasthür oben in höchſteigener Perſon auf¬
riſſe und mit ſeiner hochmüthigen Polterſtimme her¬
unterriefe, was er denn wolle? und er müſſe ſagen,
es ſei halt — ja, es ſei nur um die Monika, die er
nothwendig ſprechen müſſe. Nein! es ging nicht, es
war „zu fad,“ wie die Monika in ihrem Bayriſch zu
ſagen pflegte. Er hatte das Wort von ihr angenom¬
men, und es paßte ihm oft recht gut, — wie ihm
das ganze Mädchen paßte, — in dem einen aus¬
genommen, daß ſie ſich's vorgeſetzt, in ſo ein vergit¬
tertes, verbarrikadirtes Herrſchaftshaus einzuſtehen als
Zimmermädchen, daß man ſeine Laſt hatte, wenn
man ihr einmal ein Wort ſagen wollte.
Kopfſchüttelnd ſtieg er aus dem Graben heraus,
putzte den Staub des Gitters, an das er ſich gelehnt,
von dem Aermel ſeiner Unteroffiziersuniform und
ſchritt langſam in der Hitze die Straße hinauf, bis
[149] zum Querweg, der in weitem Bogen an der Hinter¬
ſeite der Baumgärten entlang führte, die zu dieſen
Häuſern gehörten. Die Querſtraße war noch im
Bau, — eine Menge Arbeiter, ſchwitzend und keu¬
chend und in der nothdürftigſten Bekleidung, wühlten
im rothen Lehmboden, um den Weg zu reguliren
und tiefer zu legen, der bis jetzt noch dem allgemei¬
nen Verkehr geſperrt war. Mitten auf einem hoch¬
aufgeſchütteten Erdhaufen hatten ſich die Arbeiter eine
Bretterhütte gebaut, in der jetzt bald der eine, bald
der andere verſchwand, — denn die Arbeitsſtätte war
ohne jeden Schatten, und der dick und loſe liegende
Staub dörrte die Kehlen. Geſchafft wurde wenig,
alles dehnte ſich, gähnte, hockte, von der Hitze ge¬
ſchlagen, ſtumpfſinnig am Boden, oder ruhte an der
Hüttenwand mit vorgeſtrecktem, in die Erde geſtemm¬
tem Spaten. Einer hatte ſich, unbekümmert um die
Gefahr des Hitzſchlags, gerade auf den Rücken hin¬
gelegt und ſchlief wie todt, das Geſicht von der fettigen
Mütze bedeckt. Hinter einer neu aufgeführten Garten¬
mauer, die gelb und fleckenlos rein zwiſchen den ver¬
witterten grauen hervorſtach, welche den neuen Weg
begrenzten, bewegte ſich ein großer, rother Sonnen¬
ſchirm, und die Dame, die ihn hielt, guckte einen
Augenblick über die Mauer, die freie Hand leicht
aufgeſtützt, neben einem großen Kübel voll brennend
rother Geranien. Ihr weißes Kleid und ihr jugend¬
[150] liches Geſicht erſchien ſo von rothem Schimmer um¬
hüllt, als ſitze ſie inmitten einer purpurfarbenen
Glaslaterne. Der Unteroffizier, der, von Stelle zu
Stelle ſpringend, eben vorüberkam und mit erwar¬
tungsvollen Augen die Gärten abſpähte, hörte, wie
einer der Arbeiter, ein junger Burſch mit krauſem
Haar und frechen, glänzenden Augen hinaufſtarrend
lachte und ironiſch rief: „Weiſcht, Mädle, Du mit'em
Sonnedächle, gang in d' Stub promenire, — aber
dei Sonnedach, des mueſcht do laſſe, i brauch's noth¬
wendig!“ Unter dem Lachen der übrigen reichte er
mit einem ſpöttiſchen Kratzfuß ſeinen Spaten hinauf,
obgleich der rothe Sonnenſchirm ſchon bei dem erſten
Anruf entſchwebt war. Der Unteroffizier runzelte
zornig die Stirn, — die Dame war ja, wenn er ſich
nicht irrte, das gnädige Fräulein von ſeiner Monika
geweſen! Eben wollte er den Arbeiter anfahren, da
erblickte er ein Bild, das ihn alles andere vergeſſen
ließ. In dem umgitterten Gartenzwickel, jenſeits der
ſchreiend neuen Mauer, ſtand zwiſchen den Beeten
ein prächtiges, ſchlank und feſt gewachſenes Mädchen
in dunkelblauem Kleid, das von einem breiten, weißen
Schurz halb verdeckt wurde. Ihr Geſicht war nicht
zu ſehen vor dem breitrandigen, braunen, an den
Ohren niedergebogenen Schattenhut; ſie hatte die
Aermel aufgeſtreift, und die gebräunten Hände re¬
gierten den Spaten, daß die Erdſchollen flogen.
[151]
„Monika!“ rief der Unteroffizier halblaut, indem
er ſich auf einen der Steinblöcke ſchwang, die das
Gitter trugen. Das Mädchen ſchien aber nicht ge¬
hört zu haben, obſchon ſie ziemlich nahe ſtand. Laut
zu rufen getraute er ſich nicht, er fürchtete den Spott
der Wegarbeiter. So ſtand er und ſchaute. Ein
hellgrüner Zwergwald von Salatſtauden zum Ver¬
ſetzen bedeckte eins der Beete; über die anderen mit
ihrer ſchwarzen, krümeligen, aufgelockerten Erde waren
pünktlich in Reihen Fäden geſpannt, damit die jun¬
gen Setzlinge in regelmäßigen Abſtänden ihre neuen
Plätze fänden, wo ſie Haupt und Wurzel dehnen und
ſtrecken konnten. Junge Pfirſichſtämme mit grünen,
flaumigen, nußgroßen Früchtchen zwiſchen dem blanken
Laub ſtanden in den Gemüſebeeten; doch war der
Raum nicht bloß dem Nutzen unterthänig; um den
Rabattenrand zogen ſich blüthenſchwere Roſenſtöcke,
nicht eben die edelſten, aber dafür die dankbarſten
Sorten, — beſonders das Bäumchen, neben dem ſich
jetzt das Mädchen mit ihrem Setzling bückte, breitete
ſich weit wie eine Laube über den Weg mit ſeinen
zahlloſen, vollen, kleinen, weißen Roſen und den kuge¬
ligen, rothen Knoſpen. Der Unteroffizier war auch
ein Gartenfreund, und der Anblick der ſorgſam ge¬
pflegten Stelle mit der ſchönen Pflegerin inmitten
that ihm ſo wohl, daß er eine ganze Weile ſtand
und zuſchaute, ehe er wieder rief. Wie die Monika
[152] ihre Sache verſtand! Kein gelernter Gärtner hätte
es beſſer vermocht, und wie eifrig ſie ſchaffte in der
lähmenden Nachmittagshitze, und — für andere, für
die Herrſchaft! Wie wird ſie erſt im eignen Garten
und Haus ſich rühren. Freilich — fleißiger könnt'
ſie gar nicht ſein, aber ſie wird doch dann einmal
den Kopf heben und ihm zulachen unter dem braunen
Schattenhut, — denn der eigne Garten, in dem ſie
pflanzen wird, das wird ja auch der ſeinige, draußen
im Heimathdorf, in Metzingen, ſein, wo ſie mit ihm
einziehen ſoll in nicht zu langer Zeit, nein, recht bald
ſogar, nämlich wenn ſeine Dienſtzeit zu Ende iſt, im
Oktober, — als ſeine Frau Schultheißin! Heut' iſt
der Brief gekommen, vom alten Vaterbruder, daß ſie
ihn in Metzingen zum Schultheiß wollen, obgleich er
noch ſo jung iſt. Ja, und die Neuigkeit muß doch
die Monika erfahren, und nun ſteht ſie da, als gäb's
nichts als Salathäupter auf der Welt und ſchaut
nicht einmal um, und ihr Fleiß, der ihn eben noch
ſo gefreut hat, fängt an, ihn zu ärgern.
„Hör' auch Du, Monika!“
Jetzt endlich hebt ſie den Kopf, und wie ſie ihn
anſieht mit ihren großen, klaren, lachenden Augen,
ohne Ueberraſchung oder gar Erſchrecken, merkt er
wohl, der Schelm hab ihn ſchon längſt geſehen.
„Grüß Di Gott, Michel,“ nickte ſie leichthin,
„kommſt wegen meiner daher?“
[153]
„Ha, nei',“ ſagte der Angeredete und zog ein
wenig beleidigt die Brauen zuſammen, „i han mer
d' nui Straß a'ſehe wölle, wo do g'macht wird.“
Dabei guckte er blinzelnd in das hübſche, ſtolze Ge¬
ſicht des Mädchens, als wolle er jeden Augenblick in
Lachen ausbrechen, ſobald ſie's ihm nur etwas leichter
mache.
Aber ſie that es nicht; gleichmüthig ſtand ſie da,
nur, daß die fleißige Hand jetzt ruhte.
„'s iſcht e arge Hitz,“ ſagte er und rüttelte an
den Gitterſtäben.
„Mir macht's nix, — Hitz oder Kält, mir
iſt's gleich,“ erwiderte ſie, ſich leicht über die Stirn
fahrend.
„Do herin wär' Schatte,“ er wies auf ein
dichtes Tannengebüſch, das den Gemüſegarten vom
Baumgut trennte.
Lachend ſchüttelte ſie den Kopf. „Da gibt's
nix! die Pforten is zug'ſperrt, und der Herr General
hat den Schlüſſel in der Taſchen, herein kommſt nit!“
Der Michel ſah aus, als möcht' er wohl über
den Zaun ſpringen, wenn er ein Bub jetzt wäre, —
plötzlich aber ſchien er ſich ſeiner Würde und Jahre
bewußt zu werden.
„Moni, geh' her, laß Dei G'ſchäft en Augeblick,“
bat er ernſthaft, „i möcht Dir was verzähle.“
Neugierig aufhorchend kam nun das Mädchen an
[154] die Hecke: „Ja, was gibt's denn?“ fragte ſie und
ſah durch das verſtaubte Gezweig ihm gerade ins Ge¬
ſicht, denn ſie waren gleich groß und ſtanden nun
ganz dicht voreinander, nur durch das Gitter ge¬
trennt.
„'s gibt, daß — aber Moni, i moi' faſcht, D'
ſeiſt no ſaubrer worde“ — unterbrach er ſich und
reckte ſich unwillkürlich, als müſſe er ihre blühenden
Lippen erreichen.
Das Mädchen lachte, aber ein bißchen ärger¬
lich. „Weiter weißt nix?“ fragte ſie verwundert,
wegwerfend.
„Moni, d'r Ohm hot mer en Brief g'ſchickt, daß
i Schultheiß werde ſoll, wann i heimkomm vom Mi¬
litär.“ flüſterte er mit ſtrahlendem Geſicht, — „jetzt
könnteſcht mer eigetlich e Buſſerl gebe, gelt?“
Monika wurde roth; ihre Augen, die zwiſchen
blau und braun die Mitte hielten, ſchienen dunkel
vor Aerger: „Du willſt mi bukſiren, i merk's ſchon,“
ſagte ſie heftig, „Du wartſt mir wohl, — bis Nacht
iſt, gelt? Schultheiß oder nit, und übrigens, was
hab' ich da davon?“
„Du werſcht ebe Frau Schultheiße,“ lachte er,
„geh, ſei net ſo wüeſcht, was willſcht au mit em Ge¬
nettel *)— D' weiſcht, daß i 's ehrlich mit Dir im
Sinn han.“
[155]
Sie ſah ihn mit einem kurzen, ſcharfen Blick an.
„Haſt mi gern?“ murmelte ſie mit plötzlich nieder¬
geſchlagenen Augen.
Er ſtreckte ſeine Hand durch die Stäbe und
drückte die ihre, — ſie war hartgearbeitet, aber der
Druck war ſo herzhaft, faſt hätte ſie aufgeſchrieen.
„Kommſcht net e bisle uf d' Straß heut Obed? Du
ſteckſcht faſcht wie im e Gefängniß,“ bat er.
„Daß ſie mi recht ausricht'n*) in der ganzen
Nachbarſchaft? Nein, ein junges Madel muß vor¬
ſichtig ſein.“ Dabei ſah ſie ihn ſehnſüchtig an und
ſeufzte, daß ihm ganz heiß wurde. Sie verſtand ſich
auf allerlei Augenſpiel, und ihre Augen waren ſo
ſchön. Michel wollte es ihr eben ſagen, als es laut
durch den Garten daherſcholl:
„Monika! Monika!“
Sie verfärbte ſich etwas, „'s gnä' Fräulein ruft,“
ſagte ſie ſchnell, „man hat keinen Augenblick Ruh,
— b'hüt Gott, Michel.“
Da tauchte der rothe Sonnenſchirm ſchon ganz
nah aus dem Fichtendickicht hervor, das gnädige
Fräulein kam ſelbſt, offenbar in einiger Erregung,
auf die Gemüſebeete zugeſchritten, das Mädchen mit
dienſteifriger Eile ihr entgegen.
Michel ſchob ſich etwas ins Gebüſch zur Seite;
[156] er hoffte, ſein Mädchen werde ſogleich zurückkehren,
— es dünkte ihn noch gar nicht an der Zeit, ihr
Liebesgeplauder abzubrechen. Er dachte nicht daran,
jetzt zu horchen, aber die helle Stimme des Fräuleins
drang ohne Mühe durch die klare Sonnenluft an
ſein Ohr.
„Sehen Sie, Monika, da ſchickt der Schmied
noch einmal ſeine Rechnung, — warum haben Sie
mir die Quittung nicht gebracht, nachdem Sie bezahlt
haben?“
Monika ſprach leiſe, die verſtand er nicht, wohl
aber die Antwort des Fräuleins: „So, Sie haben
die Quittung in der Taſche? Nun, da geben Sie
nur, da kann die Köchin gleich vorgehen, — es iſt
aber eine Nachläſſigkeit, Monika. Sie müſſen ſo
etwas gleich abgeben, damit es ordentlich aufgehoben
wird.“ Damit ſchien die Dame ſich zu entfernen;
Monika blickte ihr eine Sekunde lang nach; dann
kam ſie wieder auf ihre Salatbeete zugegangen und
griff mit einer faſt wüthenden Eile nach dem Spaten.
Michel ſah deutlich die Spuren des Verdruſſes in
ihrem Geſicht, und das that ihm leid. „Aber ſie iſt
auch gar empfindlich,“ murmelte er, „das Fräulein
hat ſie net emol ordentlich verſchimpft, und e bisle
nachläſſig iſcht ſe doch g'weſe.“ Kaum getraute er
ſich, ſie anzureden. Als er's zuletzt doch that, blickte
[157] ſie mit zuſammengezogenen Brauen ungeduldig her¬
über. „Biſt noch immer da?“
„I geh ſcho, — b'hüt Gott, Moni, — aber
was i no ſage will, — deſcht ſcheint's e dumme
G'ſchicht mit dem Schmied?“
„Haſt's gehört?“ fuhr ſie auf und ſtarrte un¬
angenehm betroffen in ſein neugieriges Geſicht.
„Ja, — Du haſcht em, ſcheint's, ſei Guthabe
hintrage ſolle? Wieviel iſcht no des g'weſe, ſo bei¬
läufig?“
„Siebenundzwanzig Mark,“ ſagte ſie trocken.
„Siebenundzwanzig Mark!“ wiederholte Michel
mit einer gewiſſen Achtung vor der genannten Summe,
„deſcht Haufe g'nueg, wemmers zwoimal zahle ſoll!
Guet, daß Du d' Quittung bei der Hand g'hett haſcht,
mit Geldſache no ſoll mer vorſichtig ſei.“ Sein Ton
war der einer pedantiſchen Ehrlichkeit; das Mädchen
ſah ihn nicht an, ſondern ſchaffte verdroſſen weiter.
Da wollt' er ihr doch noch ein gutes Wort ſagen.
„I ſieh's wohl, es bizelt *)Di no; jez, was kenne
ſe Dir a'hänge? Dei Quittung haſcht, domit iſcht
alles g'ſagt; 's wird ſcho' recht werde.“
Und als ein freundliches Lächeln über ihr Ge¬
ſicht huſchte, fuhr er ermuthigt fort: „Was moinſcht,
[158] Moni, willſcht am nächſchte Sonntag zur Kommunio'
gehe? I geh als au“ —
Das Mädchen ſtützte ſich auf den Spaten und
ſagte: „Ja, warum nit? Sonntag hab i mein' Aus¬
gang, und wenn's in die Kirch' geht, wird mir's der
gnädig Herr gern e Stund bälder erlauben.“ Sie
lächelte ſchelmiſch. „Er iſt a chriſtlicher Herr, der
Herr General, der hätt' ſollen geiſtlich werd'n; aber
denn gleich a kathol'ſcher, ſo wie 's bei mir z'Haus
gibt.“ Ein vielſagendes Blinzeln gab ihr bei dieſen
Worten einen ganz veränderten, alten und welt¬
erfahrenen Ausdruck.
Michel ſah ſie unbehaglich, mit offenem Munde
an, er verſtand nicht recht, und das war ſeiner hohen
Meinung von ſich zuwider. Und dann — ſein Pfar¬
rer war die gefürchtete Reſpektsperſon im Dorf, —
was gab es jetzt zu lachen?
Denn Monika lachte laut und ausgelaſſen; als
ſie aber ſeine Verdutztheit ſah, hielt ſie inne und
ſagte: „Gelt, Du weißt nit, warum ich ſo lachen
muß? Ich hab' nämlich an den geiſtlichen Herrn
denken müſſen in meinem Heimathsdorf. Was der
meine Kam'rädinnen gefragt hat in der Beicht, — 's
iſt nicht zum ſagen.“ Sie lachte in ſich hinein und
fuhr fort: „Er hat's, ſcheint's, gethan, daß mir was
z' lachen haben. In der erſten Beicht' hat er jede
g'fragt, ob ſie ſchon mal 'n Mannsbild im Dunkeln
[159] verküßt hab'!“ Sie warf ihren Spaten hin, deckte
die Hände vors Geſicht und lachte, aber nicht eben
laut, mehr als ob ſie ſich ſchäme.
„Jetzt, wenn das nit für den gnä' Herrn gepaßt
hätt'“ — —
Michel ſchüttelte verwundert den Kopf; ſein lang¬
ſamer Geiſt war noch bei der ſonderbaren Frage des
Beichtigers. „'s iſcht mer ſcho liab, daß Du net
katholiſch biſcht,“ ſagte er nachdrücklich.
„Ha, i denk', fürs Lieben wär's eins,“ warf ſie
leichtſinnig hin.
„Aber fürs Heirathen net,“ meinte er.
Eine hohe Röthe überfluthete ihr bräunliches
Geſicht. Sie blickte ihn mit funkelnden, ſehnſüchtigen
Augen an. „Ob Du's ehrlich meinſt?“ murmelte ſie.
„Für was wär' i no daherkomme?“ rief er, ſich
in die Bruſt werfend.
„Ha, Du wärſt der Erſte nit, der en armes
Mädel zum Beſten halten thät,“ ſagte ſie trotzig.
„I moins wie — n — i ſag!“ brauſte er auf,
„no, warum biſcht ſo harb und u'guet mit mer?
Oder,“ ein ſchneller Gedanke flog ihm durch den
Sinn, „biſcht eppe ſcho emol ſo a'komme?“
„I wär' eingangen?“ *)Empört ſtarrte ſie ihn
an, „meinſt, i wär' dumm? Frag, wen Du willſt, ob
[160] ich nit brav bin, wie nur eine!“ Dann ſchüttelte
ſie lachend den Hut in den Nacken.
„Was ſtehſt da und guckſt mich an, ſo unſchul¬
dig, als wärſt nit auch e Mannsbild?“
Und als Michel noch ſtand und nicht wußte,
was er eigentlich ſagen ſolle, denn er konnte ihr nicht
folgen in all die Gedankenſprünge, warf ſie plötzlich
mit zorniger Miene den Spaten hin: „Jeſſas, da
rufen's ſcho wieder, nit en Augenblick hat man Ruh
in dem Haus!“ Ehe ſich's Michel verſah, ging ſie
ſchon mit geſenktem Kopf weit hinten zwiſchen den
Büſchen, und er hätte ſo gern eine Zuſage auf den
Abend mitgenommen. Er guckte, ſo lang er noch
einen Schimmer von dem weißen Schurz erhaſchen
konnte, — dies herbe Geſchöpf, das ihm nie ein
freundliches Wort gönnte, und ihm doch feurige
Blicke zuwarf, hatte es ihm angethan, ſaß ihm im
Blut, daß er's nicht mehr losmachen konnte.
Es war ſchon recht, ſie hatte etwas Fremdes;
ein Kamerad hatte einmal gemeint, etwas Welſches.
Aber nicht ſchwächlich wie die, nein, großgewachſen
und kräftig zur Arbeit, trotz ihrer dunkeln Haut und
der ſtarken Brauen über den großen Augen. Und
wie ſie die zuſammenziehen konnte, wenn ihr etwas
nicht gefiel! Und wie ſie reden konnte! Nicht wie
ein Mädel von achtzehn Jahren, nein, wie ein Altes,
ſo erfahren und geſchickt. Und weder dummſcheu wie
[161] die Bauermädchen daheim, die gleich kichern und ſich
zuſammendrängen, wie die Schafe; noch frech wie die
Mädchen, die in der Fabrik arbeiten und den Sol¬
daten ſchon von fern zulachen und winken. Und wie
nett in ihrer Kleidung, Alltags wie Sonntags; ja
Sonntags hatte er ſie oft verwundert angeſchaut, wie
geputzt ſie ſei, und dann hatte ſie ihm lachend er¬
zählt, nichts Beſonderes trage ſie an ſich, als eine
neue Maſche, die hab' ihr das gnädige Fräulein ge¬
ſchenkt. Ob ſie's wohl thut und künftigen Sonntag
zur Kommunion mit mir geht, dachte er, während er
langſam in die Stadt ſchlenderte. Da muß ſie doch
allein kommen! Das war der Punkt, über den es
ſchon allerlei Händel zwiſchen ihnen gegeben hatte.
Immer, wenn er ſie ausführte, beſtand ſie darauf,
eine Kamerädin mitzubringen. „Sonſt wird man
gleich ausgerichtet,“ ſagte ſie entſchieden, „o die Leut'
ſind ſo ſchlimm! Und ich hab' auch meinen Stolz,
es wird einem gleich was angehängt. Beſonders die
Köchin, dös iſt e Ratſchen!“ *)
Da hatte er ihr, wiewohl ungern, nachgeben
müſſen, und jetzt war's ihm faſt lieber ſo, denn im
Beiſein der anderen ließ ſie ſich weit freier gehen, ja
ſie war oft recht ausgelaſſen. Er mußte noch lachen,
wie er daran dachte, daß ſie das letztemal der Köchin
Frapan, Bitterſüß. 11[162] ihren Moſt zugeſchoben und ihr gar noch einen Wein
gezahlt hatte, damit ſie doch auch einmal „recht
luſtig“ werde, und wie die alte, dicke Perſon, die den
Mittag ein Eſſen für zwanzig Gäſte hatte bereiten
müſſen, gar nicht luſtig, ſondern ſehr ſchläfrig ge¬
worden und endlich im Garten des Bärenwirths in
Gaisburg völlig eingeſchlafen war. Wie die Monika
damals gekichert und mit der Schlafenden ihren
Scherz getrieben, und wie ſie zuletzt ganz ſtille neben ihm
geſeſſen und ſeine Hand gedrückt hatte, immer heißer,
immer feſter, daß es war, als wüchſen ihre Hände inein¬
ander. Und dazu hatte ſie kein Wort mehr geredet,
ihn nur angeſehen von Zeit zu Zeit mit ihren
feurigen, großen Augen. Und er ſelbſt hatte auch
nichts ſchwätzen können, die Kehle war ihm wie zu¬
geſchnürt geweſen, und ſo ſehr es ihn verlangt, den
Arm um des Mädchens Nacken zu legen, auch das
war unmöglich geweſen, ſo hatten ihre Augen ihn
in derſelben Stellung feſtgehalten. In dieſen Stun¬
den war es ihm zum erſtenmal zur Gewißheit ge¬
worden, daß er ſie heirathen müſſe, obwohl ſie ein
ganz armes Mädchen ſei. Er war ja zum guten
Glück ſein eigner Herr und konnte heirathen, wen er
wollte. Vater und Mutter waren früh weggeſtorben;
ihm lebten nur der Ohm, der ihn erzogen, und die
alte Baſe, die jetzt daheim mit gemietheten Leuten
der Bäckerei vorſtand, die ihm von den Eltern her
[163] gehörte; und die war gewißlich froh, die Laſt auf
junge Schultern abzuwälzen. Im übrigen, wenn ſie
dreinſchwätzen wollte, er fürchtete ſie nicht, — ſie war
ihm immer ſo arg gut geweſen, nachſichtiger als eine
Mutter. Das ſchöne Baumgut zu Haus ſtand ihm
vor den Augen, wie er, auf ſeinem langſamen
Schlendergange nach der Stadt, in den Gärten die
rothen Aepfel zwiſchen dem Laube ſchimmern ſah.
Die Luiken *)trugen heuer überreich, das mußte dort
eine Pracht ſein. Er ſah die Moni, ſchlank und
ſauber, auf der hohen Leiter ſtehen und Aepfel
brechen, er ſah ſie im ſchneeweißen Schurz als ſeine
junge Frau Bäckerin, den Kunden die Wecken zuzäh¬
len, er ſah ſie als ſeine Frau Schultheißin im feinen,
ſchwarzen Kleide am Sonntag in die Kirche gehen,
und Männer und Weiber die Hälſe nach ihr recken.
Noch zwei Monate, dann konnt' es vor ſich gehen!
Ihr Mißtrauen ſchmeichelte ihm mehr, als daß es
ihn gekränkt hätte, — ſah er doch daraus, daß ſie's
für etwas rechnete, ſeine Frau zu werden. Freilich,
hätt' er ein ſchlechtes Gewiſſen gehabt, er hätte ſich
nicht mehr unter ihre Augen getraut, ſo drohend
konnte ſie ihn anblicken. –– —
Ei, wie heiß es noch war! Schon ſieben
Uhr, aber eine Sonnengluth, eine erſtickende, ſtau¬
bige Schwüle, wie wenn's Mittag wäre. Das
11*[164] Pflaſter glühte durch die Stiefelſohlen, die Häuſer¬
mauern ſtrahlten die eingeſogene Hitze von ſich,
daß man ihnen nicht nah kommen mochte. Der
Unteroffizier Michel Scheitlin fühlte zudem ſeine Kehle
trocken von dem vielen ungewohnten Reden; er war
ſonſt ein Mann von wenig Worten. So ging er
denn in eine Weinwirthſchaft, ſetzte ſich hinter einem
Schoppen Fellbacher nieder und vertiefte ſich mehr und
mehr in ſein behagliches Brüten. Ein lautes Stim¬
mengeräuſch weckte ihn daraus. Nein, hier in dem
kleinen, ſchon halb dämmrigen Zimmer war es nicht,
es war im Hinterhaus, in der Schmiede, deren Feuer
rothe Lichter über den engen dazwiſchenliegenden Hof
mit ſeinem ſchwarzen Eiſengerümpel warf. Neugierig
bog er ſich zum offenen Fenſter hinaus, da erkannte
er in einer dichten, dunkeln Gruppe, unweit der Thür,
zwei Frauenzimmer, ein unterſetztes, dickes, auf deſſen
rothes Geſicht der volle Lichtſchein fiel, und ein
ſchlankes, deſſen weißer Schurz zwiſchen den ſchwarzen
Schmiedegeſellen hell vorleuchtete.
„Ha, da iſcht ja d' Monika!“ entſchlüpfte es
ihm ganz laut in der Ueberraſchung. Es war aber
niemand da, ihn zu hören, die Wirthin ſtand ſchon
horchend auf dem Hof, Gäſte gab es keine. Er faßte
nach der Klinke der Hinterthür, ſie gab gleich nach,
und nun ſtand er neben der Wirthin und fragte im
Vorübergehen: „Ja, was gibt's denn do?“ Und
[165] ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er mit beklom¬
menem Gefühl näher und ſtellte ſich hinter der Gruppe
auf. 'S iſt wegen der Rechnung, fällt ihm ein, ja,
iſt denn die dumme Geſchichte noch nicht erledigt,
wenn ſie doch die Quittung in Händen hat? Sie
ſchreien ſo durcheinander, daß man kein Wort recht
hört, und was für bitterböſe Geſichter die Kerle hin¬
machen! Ballt da nicht gar einer die Fauſt in die
Luft? Michel wird glühroth vor Zorn. Was haben
ſie mit dem Mädchen zu ſchaffen, daß ſie's ſo an¬
ſtieren und gar bedrohen? Es iſt ihm arg leid um
die Monika. Wenn er ihr doch nur helfen könnt!
Freilich ſteht ſie ſo ruhig da, ſo feſt und ſchön, —
ſie müſſen's ja ſehen, daß nur das gute Gewiſſen
ſie hält.
„Scht!“ ſchreit der Meiſter, ein kleiner, magerer
Mann mit nackten Armen und einem blaſſen, jäh¬
zornigen Geſicht, und als ein bißchen Ruhe ward:
„Alſo, i ben's emol net geweſe, — Sie müſſe doch
wiſſe, wer Ihne 's Geld abg'nomme hat?“
Monika hebt den Kopf. „Ich kenn' doch Ihnen
Ihre Leut nit bei Namen!“ ſagt ſie in gekränk¬
tem Ton.
„Aber vielleicht kenne Sie's G'ſicht wieder?“
meint der Schmied.
Da ſchlägt ſie lächelnd die Augen nieder. „Ich
ſchau doch die Mannsbilder nit ſo an!“
[166]
Die kann dir antworten! Michel hätte faſt
Bravo! geſchrieen.
Nun fängt wieder der Lärm an: „Ben i 's
gwe? Oder i? Oder i?“ ſchreien die Geſellen und
drängen ſich heran, als wollten ſie ſich auf Monika
ſtürzen. Michel ſpringt einen Schritt vor, aber es
iſt unnöthig, ſie hat keine Angſt, ihr Geſicht iſt ſo
rein, wie ihr weißer Schurz; ruhig ſchüttelt ſie den
Kopf. „Nein, ich ſeh ihn hier nit, er iſt gar nicht
hier, ſcheint's; ein junger Herr war's, — der hat
mir's Geld abgenommen und mir die Quittung ge¬
bracht.“
Der Meiſter guckt in das Papier, es zittert in
ſeinen Händen. „Aber, um Gotteswille, wer hat
denn das unterſchriebe?“ ruft er, unſchlüſſig im
Kreiſe umblickend. Die Geſellen ſehen über ſeine
Schultern weg mit in das Blatt.
„Deſcht e Mädeleshandſchrift!“ ruft plötzlich einer.
Voller Verwunderung blickt ihn Monika an:
„'s iſt aber doch a junger Mann geweſen!“
Die Köchin, die ihre großen Ohren horchend
offen hält und mit ängſtlichen weitaufgeriſſenen Augen
von einem zum anderen blickt, will doch auch etwas
ſagen.
„Vielleicht iſcht einer weggange von Ihre Leut?“
meint ſie.
„In de' letzte zwei Monet net.“
[167]
Die Geſellen ſtecken mit finſtern Mienen die
Köpfe zuſammen. Wenn die Monika nicht ein ſo
tapferes Geſchöpf wär — —
„Vor kaum vierzehn Tagen hab' ich's da bezahlt,
da herein, in der Werkſtatt,“ erzählt ſie nun mit
ihrer tiefen, weichen Stimme; „daher,“ ſie zeigt auf
eine Hinterthür, „iſt er kommen, der junge Herr, hat
mich erſt g'fragt, was ich krieg, hat mir die Rech¬
nung aus der Hand genommen und iſt damit dort
hinein; nachher hab' ich ihm 's Geld in ſeine Hand
bezahlt und die Quittung empfangen. So gewiß ich
hier ſteh.“
Der Meiſter ſchüttelt den Kopf; da geht die
Hinterthür auf, und zwei weitere Geſellen treten her¬
ein, eilig und verwundert, und ſchwarze Schwei߬
tropfen von ihren Stirnen wiſchend. Der Schmied
kümmert ſich nicht um ihre Verdutztheit, er ſchiebt ſie
an der Schulter vor das Mädchen: „So, weiter hab'
i keine Leut! Sind's eppe die g'weſe?“ Und dabei
wirft er einen furchtbaren Blick auf Monika, daß es
Michel kalt überläuft. Unter all' dieſen zornigen
Männern iſt ſie die einzige, die ihre Ruhe bewahrt,
und gerade ſie hätte doch am allermeiſten Urſache,
zornig zu werden. Sie muſtert langſam die vor ihr
Stehenden, Michel klopft das Herz, ach, wenn's doch
einer von denen wäre! Aber da ſchüttelt ſie wieder
[168] den Kopf: „Nein, die ſind's auch nit geweſen, ich
kenn' mich ſchon aus; derjenige war größer.“
Der Meiſter grinſt ſie ſonderbar an, Michel
kann's kaum mehr ertragen. Da ſteht nun das arme
Mädle in der größten Verlegenheit, wird bald roth,
bald blaß, und niemand kann ihm helfen. Es muß
da eine Verwechſelung vorgekommen ſein, anders
kann's ja nicht zugehen. Eben will der Meiſter etwas
Arges ſagen, er fährt ſo zu, und die Zornader auf
ſeiner blaſſen, knochigen Stirn zittert förmlich, ſo ge¬
ſchwellt iſt ſie. Da vergißt Michel Scheitlin, daß er
gar kein Recht habe, hier mitzureden, hier zu ſein,
er ſpringt vor, indem er die anderen zurückſchiebt und
ſchreit in angſtvollem Tone: „Sag, Mädle, biſcht net
eppe in e u'rechte Werkſtatt komme? 's iſcht no e
Schmied do in der Gaß', beſſer dronte!“
Das Mädchen war zuſammengefahren, als ſie
ſeine Stimme hörte, — ohne zu antworten, ſtarrte
ſie ihn an, als wär' er ein Geſpenſt und nicht der
Unteroffizier Michel Scheitlin, zukünftiger Schultheiß
in Metzingen und ihr Bräutigam.
Aber der plötzliche Schrecken war ſchnell über¬
wunden, ſie zuckte die Achſeln und ſagte gedehnt:
„Ich mein' doch, hier drin wär' ich geweſen, es
iſt mir da alles ſo bekannt,“ — ſie ließ ihre Augen
beſcheiden herumgehen, „und wenn ich mich recht auf
ſein G'ſicht b'ſinne thät“ — —
[169]
„Ho, ho! Mädle!“ ſchrieen die Geſellen und
rückten drohend auf ſie zu.
Einen Augenblick noch herrſchte das Schweigen
der Rathloſigkeit, dann ſagte plötzlich der Meiſter mit
rauher, entſchiedener Stimme:
„Jetzt, wiſſet Se was? Se ſend e Lügnerin!
Deſcht Ihre eigne Handſchrift!“
„'s iſcht wohr! 's iſcht e Mädeleshandſchrift!“
wiederholte der Chor der ſchwarzen Geſellen.
Ganz verſteinert ſtand das Mädchen; große
Thränen quollen aus ihren dunkeln Augen und rollten,
ohne daß ſich das Geſicht verzog, über die bräunlichen
Wangen. Ueber Michels Augen legte ſich's wie ein
Schleier, er faßte nach ſeinem Seitengewehr.
„Das hat mir noch kein Menſch geſagt,“
ſchluchzte das Mädchen, ihr weißes Tüchlein an die
Augen drückend, „das kann ich mir nicht gefallen
laſſen! Meine Ehr' angreifen? Was hab' ich denn
weiter als meine Ehr'?“ Und troſtlos mit ſtrömen¬
den Augen blickte ſie den Beſchuldiger an.
„Aber 's iſcht doch aſo!“ ſchrie der Meiſter
mit einem Schlag in die Luft.
Im ſelben Augenblick aber ſchlug ihn einer über
die Schulter, daß er zuſammenknickte, und ein zorn¬
glühendes Geſicht ſchnaubte ihn an:
„Wirſcht Dei' Maul halte? So eppes ſagt mer
net, wemmers net beweiſe ka'!“
[170]
Und während der Schmied ſich, verdutzt über
den Angriff, beſann, auf wen er zuerſt losgehen ſolle,
richtete ſich Monika auf und rief mit leidenſchaftlicher
Betheuerung:
„Ich will hier nicht geſund vor Ihnen ſtehen,
der Blitz ſoll mich hier vor Ihren Augen erſchlagen,
wenn das wahr iſt! Ich will gleich todt hinfallen!
Gleich auf der Stelle!“ Sie faltete die Hände und
betete in ſinnloſer Aufregung mit zuckenden Lippen:
„Ach, daß doch der Blitz herunterkäm' und die Wahr¬
heit an den Tag brächte! Ach, hilf mir doch, lieber
Gott!“
Die Köchin zupfte ſie am Aermel: „Komm, mer
gehe heim, Monika, mer ſoge 's emol em gnädige
Herrn, 's iſcht mer u'begreiflich.“
Sie endigte mit einem Schrei, denn der Meiſter
hatte, unbekümmert um die letzten Worte, den Unter¬
offizier angeſtarrt und verſetzte ihm nun plötzlich einen
tückiſchen Fauſtſchlag unter die Naſe. Im Augenblick
hatte Michel ihn gepackt und bearbeitete ihn mit dem
Seitengewehr, die Geſellen ſuchten ihn von hinten zu¬
rückzuzerren, einer ſchrie ihm ins Ohr: „'s iſcht e
Mädeleshandſchrift!“ ein anderer höhnte: „Mein
Kompliment zu dem Schatz!“ Er rang wie ein Be¬
ſeſſener, wie ein Raſender mit allen Angreifern zu¬
gleich, plötzlich fühlte er ſeine Arme ſchlaff werden,
er riß die Lider auf, aber er ſah nichts mehr, in
[171] ſeinen Ohren war ein dumpfes Brauſen, er hörte noch
wie aus weiter Ferne die Worte. „Der hat g'nueg,“
dann nichts weiter. Eine ſchwere, lebloſe Maſſe ſank
er zu Boden. —
Als er wieder zu ſich kam, fand er ſich mit Ver¬
wunderung auf einem Sopha liegen, in Hemdärmeln,
einen naſſen Lappen auf der Stirn. Er blickte um
ſich, da war es ein kleines halbdunkles Zimmer, in
dem er lag, und wie er ſich aufrichtete, ſagte jemand
in zufriedenem Ton: „No, jetzt, deſcht g'ſcheid, daß
Se wieder zu ſich komme ſend!“ Und eine Frau in
mittleren Jahren erhob ſich mit ihrer Näharbeit und
kam auf ihn zu: „'s iſcht, ſcheint's, e biſſele mild
drübe zugange, i ben nämlich d' Frau vom Herrn
Scheckg, — junge Leut ſend ſcho' e biſſele hitzig, u
raufe thue ſe älle gern. No iſcht Ihne ſchlecht worde,
u mei Mann, der Schmied u zwei G'ſelle hänt Se
bei Kopf u Füß do herei' g'ſchleift, jo, daß doch kei
Schutzma' dazwiſche' nei'kommt, jo, u e kloiner Riß
iſcht in d' Uniform 'nei'komme, no näh i 's Ihne
g'ſchwind zu, jo!“
Michel ſetzte ſich auf und hielt den Kopf mit
beiden Händen. Das Beſinnen ward ihm noch ſchwer,
ſonſt fühlte er ſich wohl genug, um heimzugehen.
Die Rückſicht, die ſeine Gegner auf ihn genommen,
war zwar nicht ganz uneigennützig, aber ſie erfüllte
ihn dennoch mit Dankbarkeit. Er trat auf die lang¬
[172] ſam plaudernde Frau zu und ſah ſie langſam den
Faden durch den Stoff ziehen; der „kleine Riß“ war
leider ſehr beträchtlich, und dumpfe Beſchämung und
drückende Sorge überfielen ihn. Was hatte er im
Jähzorn alles aufs Spiel geſetzt! Er war ja ſchwe¬
rer Strafe verfallen, wenn es irgendwie bekannt
wurde, daß er von ſeiner Waffe Gebrauch gemacht.
Er fragte, was aus dem Mädchen und ihrer
Begleiterin geworden, aber die Frau wußte davon
nichts; als ſie ihn herübertrugen, war jedenfalls kein
Mädchen mehr dageweſen. „’s iſcht e kreuzbraves
Mädele,“ ſagte er zutraulich zu der Frau, während
er, die Hände auf dem Rücken verſchränkt, neben ihr
ſtand und Stich um Stich verfolgte, „und e arg netts
G’ſicht, i ben miter b'kannt,“ er ſtockte und wurde
roth, „da muß ebe e Mißverſtändniß ſtecke?“
„'s wird Ihne Ihr Schätzle ſei',“ ſagte die Frau
und blinzelte ihm pfiffig zu, „aber mer lobt keine',
außer er brauch es, jo!“
Michel verzog zornig das Geſicht.
„D' Wahrheit wird ſcho a’ Tag komme,“
brummte er. „Wieviel Uhr iſcht no?“ Und als er
hörte, daß es kaum halb neun geſchlagen habe, hellte
ſich ſeine Miene auf. So war noch nichts verſäumt,
und er konnte Monika noch heute ſprechen. Er beſah
die nicht eben glänzend geheilte Wunde ſeines Uniform¬
rockes, — zum Glück war da ein Soldat, ein gelern¬
[173] ter Schneider, der die Sache ſäuberlich wieder auf¬
trennen und ohne alles Aufſehen regelrecht flicken
würde.
Seine Waffe war unbeſchädigt, er athmete er¬
leichtert auf, als er ſich davon überzeugte, und der
dumpfe Kopfſchmerz, der ihm von der Ohnmacht zu¬
rückgeblieben, ſollte wohl vergehen. Er dankte der
Frau, die einigermaßen bedauerte, daß ihr Mann,
„der Herr Scheckg,“ nicht von ihm Abſchied nehmen
könne, da er „nämlich bereits in ſei' Kneip' gange
ſei, jo,“ und wanderte verſtörten Gemüthes durch den
ſchwülen Abenddunſt wieder nach der Villenſtraße
hinauf. Die rothen und grünen Lichter der Bahn¬
höfe tanzten ihm vor den Augen, als er von oben
auf die Stadt hinabſah; er mußte ſich die Stirn
wiſchen, und das Athmen ward ihm ſchwer. Was
mochte inzwiſchen mit Monika geſchehen ſein? Er
war entſchloſſen, heut' am Vorderthor zu klingeln,
wenn die Hinterpforte verſchloſſen war, — er mußte
ſie noch ſehen, ſprechen, ihr vielleicht beiſtehen, wenn
etwa die Herrſchaft ſie auch beſchuldigen ſollte. Aber
noch ehe er das Gitterthor erreichte, hörte er ihre
Stimme im Garten, ſie ſprach mit der Köchin, ſo
ſchien es, und die Freude darüber, daß ſie alſo frei
und unbehelligt hier umherging, ließ ihn doppeltlange
Schritte machen. Eine einzige Laterne, an dem
Bretterhäuschen der Arbeiter hängend, ſchimmerte in¬
[174] mitten der nun menſchenleeren, unfertigen Straße;
es war ſchwer, in dem Zwielicht auf dem holprigen
Boden nicht fehl zu treten. Als er vor dem Gitter
ſtand, brauchte er nicht zu rufen, ſie hatte ihn auch
kommen ſehen und drängte ihre ganze kräftige Geſtalt
gegen die Stäbe, ſo daß er ihren weißen Schurz hätte
erfaſſen können. „Michel, biſt da? Biſt geſund?“
rief ſie haſtig, „ach, hab' ich Angſt ausg'ſtanden!“
Und ſie ſtreckte die Hand durchs Gitter und drückte
ſeine freie Rechte, wie ſie's nie gethan.
„Moni gelt. Du kommſcht heraus, oder laßt mi
ei'?“ bat Michel.
Das Mädchen riß einen Schlüſſel aus der Taſche
der Schürze und flüſterte zärtlich: „Jetzt, wo Du mir
ſo brav beig'ſtanden biſt, kann ich Dir nie nix mehr
abſchlagen! Der gnä' Herr hat ſeine Hoſen zum
Ausklopfen hergethan, da iſt der Schlüſſel heraus¬
g'fallen, g'rad' ſeh ich ihn liegen.“
Sie ſteckte ihn Michel durch die Stäbe zu:
„Schließ' auf und komm' herein, da iſt jetzt noch
beſſerer Schatten als am Nachmittag, gelt?“
Das ließ er ſich nicht zweimal ſagen. Er lehnte
ſeine Waffe an einen dicken Baumſtamm, dann ließ
er ſich von Monika an der Hand zu einer Bank
führen, die verborgen von den hängenden Aeſten einer
Schierlingstanne im Gebüſch ſtand. Nur ein Mond¬
ſtrahl fiel dazwiſchen und ſtreifte Monikas ſchönes,
[175] glühendes Geſicht, — ſie hatte offenbar bitter ge¬
weint, aber nun lag alle Noth und Sorge hinter ihr.
„No, was iſcht mit em Schmied?“ flüſterte
Michel voll Spannung, während er ſie in ſeine
Arme zog.
Das Mädchen ſchmiegte ſich an ihn, zog ſeinen
Kopf herunter und küßte ihn: „'s iſt alles in Ord¬
nung,“ ſagte ſie mit einem tiefen Athemzug, „weil
der gnä' Herr nichts auf mich kommen läßt!“ Sie
kicherte ein bißchen verſchämt, dann hing ſie ſich
wieder an ihn und küßte ihn, daß er kaum athmen
konnte. So war ſie noch nie geweſen.
Michel erwiderte ihre Liebkoſung, aber dazwiſchen
fragte er doch, was der Herr General mit der Sache
zu ſchaffen habe.
„O,“ ſagte Monika mit andächtig aufgeſchlagenen
Augen, „der gnä' Herr iſt ſo brav, es gibt nichts
Bräveres! Er hat g'ſagt, ſo ein blitzſaubres Madel
könn' nit lügen, da thät er lieber das Geld noch ein¬
mal herlegen, als daß en armer Dienſtbot' ins Un¬
glück käm!“
Sie lachte in ſich hinein und legte wieder die
Arme um ſeinen Hals.
„Deſcht arg chriſtlich von em,“ ſagte Michel voll
Freude.
Das Mädchen öffnete ihren Schurz, den ſie mit
Nadeln oben am Gürtel feſtgeſteckt hatte, daß er einen
[176] Sack bildete. „Da ſchau her,“ lächelte ſie, „grad'
war ich dabei, dem gnä' Herrn Roſen zu ſchneiden!
Die ſtell ich ihm heut Abend in ſein Schlafzimmer,
daß er mein dankbares Herz ſieht.“
Michel hob eine der Roſen auf und hielt ſie an
die Naſe: „Ja, die ſchmeckt fei', aber Moni, der
Schmied hat Dei' ehrliche' Nam' a'taſtet, des därfſcht
net uf Dir ſitze laſſe.“
Monika zog finſter und nachdenklich die Stirn
zuſammen. „Ich muß mal hinter den gnä' Herrn
gehen,“ ſagte ſie zuletzt. Dann aber legte ſie den
Kopf an ſeine Schulter: „Jetzt weiß ich's, daß Du
mich gern haſt, Michel, — und die Herrſchaft iſt zu
einer Viſit' gangen, 's iſt keiner z'Haus als die
Köchin.“ Aber ſonderbar, Michel hatte gar keine
Ruhe heut'. Er preßte zwar die Moni an ſich, aber
er mußte immer wieder an den Nachmittag denken,
und dieſe ſang- und klangloſe Rechtfertigung nach ſo¬
viel öffentlicher Schande ſchien ihm gar nichts Rechtes.
„Jetzt, 's iſcht doch merkwürdig, wo des Geld
bliebe iſcht,“ ſagte er vor ſich hin.
Monika lachte auf, er wußte nicht warum.
„Moni, das Geld?“ ſtotterte er angſtvoll, wie von
einem furchtbaren Gedanken durchzuckt, „warum
lachſcht au, Moni?“
„Ho,“ kicherte ſie, den Kopf von ſeiner Bruſt
[177] hebend, „Dir kann ich's ſchon ſagen, gelt? Du ver¬
rath'ſt mich nit?“
Und wie er athemlos ſie anſtarrte, flüſterte ſie,
ihm mit der Hand übers Geſicht ſtreichend: „Ja,
was kuckſt mich denn an, wie verdonnert? Für ſie
ſind's nur en paar Markeln, en paar lumpige, für
mich iſt's viel Geld! Und ich muß doch an meine
Zukunft denken! Und's is alles ſo theuer — und
ſauber möcht' ich doch auch geh'n.“ Und wie er vor
Schrecken gar keine Antwort fand, fuhr ſie in halb
ängſtlichem Ton fort: „Schau, Du ſprichſt vom Hei¬
rathen, — thuſt, als ob Du mich gern hätt'ſt, aber nach¬
her würd'ſt ſchauen, wenn ich nit emal etwas Weißzeug
mitbringen thät!“ Sie ſtreckte ſchmeichelnd den Arm
aus; als ſie aber ſah, daß er zurückſchrak, wurde ihre
Stimme hart und kalt.
„Oder vielleicht haſt nur ſo geſchwätzt vom Gern¬
haben, weil Du was von mir möcht'ſt?“ fragte ſie
ſpöttiſch. „O, Ihr Mannsbilder ſeid überein, alle
miteinander! Meinſt, ich kennt' Euch nit? Wie ich
ſieben Jahr g'weſen bin, hab' ich ſchon alles g'wißt,
— nichts ſucht Ihr bei uns, als Euer Vergnügen;
Ihr geht davon, wie die Katz' vom Taubenſchlag, und
für uns bleiben die Schmerzen und die Schande.“
„Du haſcht Urkundefälſchung b'gange, weißt,
was des heißt? des heißt“ — Michel brach ab und
ſchluchzte.
Frapan, Bitterſüß. 12[178]
Nun fing auch das Mädchen herzbrechend zu
ſchluchzen an: „O, ich bin ja die allerärmſte Kreatur
auf der Welt!“ jammerte ſie, „wen hab' ich denn,
wenn i mich nit ſelbſt e biſſerl um mich annehm? I
wär' ja ſchon als Kind verhungert, bei den Zieheltern,
die mich um Gottes Barmherzigkeit willen behalten
haben. I weiß nit, wer mein Vater iſt, die Zieh¬
mutter ſagt, en Fremder ſei's g'weſen, en italieniſcher
Arbeiter, der hab' meine Mutter aufm Feld überfallen,
wie ſie ein Madel mit ſechzehn Jahr iſt geweſen.
Sie mag mich nit, ſie hat mich nie a'g'ſchaut; bei
der Ziehmutter iſt ſie niederkommen, dann iſt ſie weg
und hat mich dort vergeſſen, hat mich liegen laſſen,
wie en zerriſſenen Schuh. Die Ziehmutter hat ſelbſt
nix g'habt, um jeden Biſſen hab ich raufen müſſen,
weil ich denken kann. Sie hat 'en Buben g'habt,
— nicht das Kleinſte hat er mir gönnt! Er iſt mit
zehn Jahr g'ſtorben, wie hab' ich mich da gefreut!
Er iſt drei Jahr älter als ich g'weſen, hat mich
g'ſchlagen und malträtirt den ganzen Tag! Aber wie
er todt dag'legen iſt, da hab' ich ihn g'hauen, noch
im Sarg drin! und er hat ſich nit wehren können!“
Die Leidenſchaft blitzte ihr aus den Augen, Michel
überlief ein Grauen.
„Du biſcht böſ',“ ſtieß er halblaut hervor und
ſah ſie ſcheu an.
Da ließ ſie den Kopf ſinken und ſagte in dem
[179] früheren Klageton: „Nachher iſt meine Mutter wieder
ins gleiche Dorf kommen, hat geheirath, jetzt hat ſie
vier Kinder, aber i g'hör nit dazu! Und ein Leben
hat ſie! Der Mann wirft's ihr den ganzen Tag vor,
daß er ſie ohn' Vermögen g'nommen hab; er hat
auch noch ſo zwei Bub'n zu verſorgen, die ihn an¬
gehen, von früher her. Sie hat oft kein Brot im
Haus! Könnt ſie mich nit emal anſchauen? Ich hab'
auch nix!“ Ihre Schultern zitterten vom Weinen,
Michel ſeufzte ſchwer.
„Und ſo arg ka'ſcht lüge,“ ſagte er troſtlos.
Da fuhr ſie wieder auf mit ausgeſtrecktem Zeige¬
finger, „Sie lügen alle! Der gnä' Herr, der mir
ſchön thut, wenn ich allein bin und mich anfährt,
wenn die gnä' Frau dabei iſt, — die gnä' Frau,
wenn ſie den Preis vom neuen Hut ſagen ſoll, und
auf der Rechnung, die ich geſehen hab', zufällig, ſteht
zweimal ſoviel, — unſer gnä' Fräulein, für die ich
alle Tag Brief wegtragen muß, poſtlagernd,“ ſie
lachte bedeutſam, „und wie meinſt, daß mir's gangen
wär in dem Fürſtenſchloß, wo ſie mich mit acht Jahr
zur Hilf aufg'nommen haben? Es war e große
Wohlthat! Wenn's ſchaffen angangen iſt, da heißt's:
„ſie hat Kräfte, wie ein Erwachſenes.“ Sagt die
Köchin: „Mir mußt helfen, das G'ſchirrputzen ver¬
ſteh'ſt beſſer als en Altes,“ das Zimmermädel ſchreit:
„Zu mir daher, Du haſt en jungen Rücken, Dir
12 *[180] macht's Bücken nichts, aber ich hab' derweil mit'm
Johann zu reden.“ Das Reden iſt ſtundenlang fort¬
gangen, ſie haben ſcharmirt, ordentlich g'ſchmatzt
haben's, und ich hab' für ſie g'ſchafft. Wenn's aber
zu Tiſch gangen iſt, da bin ich wieder „a kloans
Madel“ g'weſen, das eſſen kann, was die Hund'
übrig laſſen! Meinſt, daß die Dienſtleut' einander
was gunnen? Glaubſt, ich wär' ſtark und groß wor¬
den, wenn ich mir nit g'nommen hätt', was ich
braucht hab'? O, Du biſt leicht durch d' Welt kom¬
men, Michel, aber ich! Nur kein uneh'lich's Kind
ſein! En herrenloſes Katzerl hat's beſſer! Da lernt
man's erkennen, wie ſchlecht die Menſchen ſind, und
's wird einem alles gleichgültig!“ Sie ſah ihn
furchtlos an. „Sogar unterrichten hat ſie mich laſſen,
die gnä' Frau Fürſtin, zwei ganze Jahr, weil näm¬
lich die gnä' Prinzeß nit hat lernen wollen! O, ſie
hat können recht lieb ſein, hat mir auch manches
herg'ſchenkt von abg'legten Kleidern. Da iſt aber
emal einer kommen, ein Verwandter, auch ſo e nob¬
liger Herr, der hat g'meint, die gnä' Prinzeß wär'
ich, weil ich bin ſauber und groß g'weſen und ſie nur
en elendes, ſchieches Ding! Das hat emal en Bum¬
per *)geben. Da iſt ſie nimmer lieb g'weſen! Gleich
hab' ich die Kleider herunterthun müſſen, und mit
[181] den Lehrſtunden bei der Fräulein Erzieherin iſt's aus
g'weſen. Ja, wo der Steg niedrig iſt, darüber ſteigt
man gern! Die Prinzeß iſt aber drum nit ſchöner
worden!“ Sie lachte höhniſch. „Warum ſollt' ich
nicht lügen? Ich glaub' ja auch keinem was!
Meinſt, ich thät' Dir glauben, daß D' mich heirathen
willſt? Wenn du mich kriegen könnt'ſt, ohne das,
gelt, Dir wär's noch lieber?“
Sie bückte ſich, um in ſeine Augen zu ſehen.
„O, Moni, Du weißt net, was gut und böſ'
iſcht!“ rief Michel.
Sie lachte leichtfertig.
„Böſ' iſt, wenn man nichts zu eſſen hat, und
gut iſt, wenn man ſich lieben thut,“ ſcherzte ſie und
wollte ihn umarmen.
Aber er ſchob ſie weg.
„'s gaht nemme! 's gaht nemme!“ murmelte
er und griff ſich an die Stirn.
Da warf ſie ſchmollend die Lippe auf: „Hab'
ich Dir's nicht g'ſagt? Weil ich en arm's Madel bin
— o, ſo eins hat kein Glück! Jetzt hab' ich denkt',
der iſt treu, dem kannſt emal Dein Herz aus¬
ſchütten —“ und wieder begann ſie qualvoll zu
weinen.
„Wenn i net mei' Ehr ei'g'ſetzt hätt',“ ſagte
Michel zu ſich ſelbſt; „wenn i net meines Königs
Rock b'ſchmutzt und zerriſſe hätt', wenn i net — —“
[182]
Das Mädchen unterbrach die jammervolle Klage:
„Jetzt, Michel, gib Ruh; ich hab' Dich tauſendmal
lieber, als vorher, das ſag' ich Dir gleich, und wenn's
keiner weiß — —“
„Einer weiß ſcho,“ ſagte Michel dumpf.
„Ha, Du verrathſt mich nit, und der droben,
wenn Du den meinſt, den gibt's nicht,“ rief das
Mädchen zuverſichtlich. „Schau, wenn er da wär',
hätt' er mir wohl helfen können manch liebes Mal;
wann er aber nicht helfen will, ſoll er auch nicht
ſtrafen! 's iſt kein Blitz kommen heut Nachmittag!“
fuhr ſie fort und warf einen erwartungsvollen Blick
nach dem Himmel.
Da ſchlug plötzlich die Kirchenuhr, klar und nah,
Michel horchte auf, zählte laut. Er war aufgeſprun¬
gen. Als aber das Schlagen gar kein Ende nahm
und er nun „elf“ zählte, ſchrie er Monika an: „Mä¬
dele, iſcht des wahr? No iſcht jo o' Zeit verpaßt,
no komm' i net mehr in d' Kaſern!“
Das Mädchen drängte ihn zurück auf die Bank.
„So bleibſt hier,“ flüſterte ſie, „die Herrſchaft kommt
erſt gegen Morgen nach Haus.“
Michel ſchüttelte ſie ab: „No krieg i de erſchte
Arreſt in meiner ganze Dienſchtzeit, — und mit em
Schultheiß iſch erſt nex, — i ka' ja tei Schultheiß
mehr ſei, — i halt's ja mit'er Diebin!“ Er ſtützte
den Kopf in die Hände und weinte bitterlich.
[183]
Eine Weile hörte das Mädchen ihm zu, mit
verwundertem Warten, wann er ſich wohl beruhigen
werde. Dann begann ſie zu ſchelten:
„Du biſt e Lapp! Mit Dir muß man anfan¬
gen! Ach, Du mein Heiland, hätt' ich nur nichts
g'ſagt! Gelt, wirſt mich noch verrathen gar?“ Und
ſie verſuchte, ihm die Hände vom Geſicht zu nehmen.
Als er aber nicht nachgab, nur vor ſich hin
ſtöhnte und ächzte, wurde ſie kleinlaut. „Michel,
ſchlecht bin i net, g'wiß nit ſchlecht,“ betheuerte ſie,
„lieber Michel, gelt, nimmſt mich doch? Schau, wen
ich einmal mag, der hat's gut bei mir, und Dich mag
ich einmal, weiß ſelbſt nit, warum!“
Aber er ſchüttelte ihre ſchmeichelnde Hand ab
und blickte nicht auf. Da ſtand ſie zögernd noch eine
Weile und machte ſich mit den Roſen zu ſchaffen.
„Da Michel, ſchau her, ſie ſind alle verwelkt, haſt
mich ſo an Dich 'drückt, jetzt muß ich neue ſchneiden.“
Und ſie fing auch an, um die Büſche herumzugehen;
aber die Schere lag auf dem marmornen Garten¬
tiſchchen, etwas weiter im Gebüſch, die mußte ſie
holen. Nein, dort auf dem Tiſchchen war ſie nicht
mehr, richtig, die Köchin hatte ſie mit ins Haus ge¬
tragen. Monika warf noch einen Blick rückwärts auf
den verſunken Daſitzenden, dann eilte ſie dem Hauſe
zu, — „wenn ich zurückkomme, wird er ſich ſchon
beruhigt haben,“ dachte ſie und hielt ſich abſichtlich
[184] etwas länger auf mit der Köchin, die ſchlaftrunken
neben einem Glaſe Moſt ihren dicken Kopf auf den
Küchentiſch gelegt hatte.
Als ſie dann wieder in den ganz in Mondſchein
getauchten Garten hinaustrat, ſchlugen vorn die
Hunde an, aber mit dem eigenthümlich jauchzenden
Laut, daß ſie erkannte: die Familie kommt ſchon nach
Haus. Mit leiſen, ſchnellen Schritten durchmaß ſie
nun den Hintergarten, um Michel zu ſagen, daß er
gehen müſſe. Aber ſie fand ihn nicht mehr. Die
Thür war verſchloſſen und der Schlüſſel an der In¬
nenſeite ins Schloß geſteckt, daran hatt' er alſo ge¬
dacht, ans Abſchiednehmen nicht. „Der wartet mir
wohl, wenn er's nächſte Mal daherkommt,“ brummte
ſie ärgerlich, aber es war ihr dennoch beklommen zu
Muth, und die Köchin, die mit ihr das Zimmer
theilte, hörte, wie ſie ſich im Schlaf ſtöhnend herum¬
warf.
Als Monika früh um ſechs Uhr andern Mor¬
gens an die Hinterpforte ging, um die Milch herein¬
zuholen, die dort abgeliefert wurde, ſah ſie von wei¬
tem ſchon, daß die Straßenarbeiter in einem dichten
Haufen beiſammen und um die kleine Bretterhütte
her ſtanden. Sie ſtieg auf einen der Quaderſteine,
hielt ſich am Gitter feſt und ſchaute neugierig hinab.
Da ſtarrte ſie von der Hüttenwand ein todtenblaſſes
Antlitz an; dort angelehnt ſtand ein Todter, die ge¬
[185] brochenen Augen gerade auf ſie gerichtet. Er hatte
ſich ins Herz geſchoſſen. An die ſonnenbeſchienene
braune Wand neben ſeinem Kopf war mit Kreide
geſchrieben:
Mit einem gräßlichen Schrei brach das Mädchen
am Gitter zuſammen.
Klärchen's Frühlingsfahrt.
[][]Klärchen Esmarch an die Geſchwiſter in
München.
2 Uhr Mittags.
Liebe Große! O wie gut, daß Du mir noch
die Correſpondenzkarten in mein Umhängtäſchchen ge¬
ſteckt haſt, liebe Irene, jetzt kann ich Euch gleich eine
ſchreiben. Ich habe ſchon ſo viel geſehen, obgleich
wir erſt 2½ Stunden von München fort ſind, daß
mein Kopf ganz wirbelt vor Freude. Gleich, als
wir in die Nähe von Roſenheim kamen, merkte ich,
daß hier eine andere Welt anfing, nämlich die Berge.
O wie weiß ſie alle noch ſind, man kann nicht dar¬
auf hinſehen, weil es blendet, und der Himmel ganz
dunkelblau — ich bin nur ſo furchtbar traurig, daß
Ihr nicht mit ſeid. Mama auch. Wenn wir nicht
den Troſt hätten mit der Hochzeitsreiſe, könnt' ich es
gar nicht ertragen.
Dieſelbe an Dieſelben.
Ich ſchreibe gleich noch eine. Aber Rudi, mein
armer, ſüßer Bruder, Du biſt ja noch nicht verlobt,
[190] wie ſollſt Du es denn machen? Ach richtig, ich ver¬
geſſe ſchon wieder die Hauptſache: Kinder, Putzi iſt
über alle Beſchreibung! Im Warteſaal war er ja
noch ein bischen zu geſprächig, wißt Ihr, ſo daß ich
doch heimlich Angſt hatte, aber jetzt, im Wagen, das
ſüßeſte ſtillſte Zuckerthier. Wie er in ſeinem Körb¬
chen ſitzt und durch die Löcher guckt mit ſeinen großen
treuen Augen und keinen Laut von ſich gibt, ſo lange
ich die Hand auf dem Korbdeckel halte und ihn an¬
ſehe! Er läßt ſich auch durch den Gitterdeckel füt¬
tern wie ein Tiger! Sein kleines ſchwarzes Schnäuz¬
chen reckt er immer ſo hoch wie möglich, das arme
Würmchen. Papa fängt ſchon an, ſich damit auszu¬
ſöhnen, daß er mit iſt. Aber er hat ſo wenig da¬
von. Wie gern hätt' ich ihm das Kaiſergebirge ge¬
zeigt, das wir eben geſehen haben, ganz violett, grau
und weiß, gewiß muß es das ſchönſte von allen Ge¬
birgen ſein. Nun geht es weiter, Papa hat ſeinen
Braten auf, und jetzt kommt die Gepäckreviſion. Ich
muß Putzi auf den Arm nehmen — unterm Reiſe¬
mantel iſt es ja leicht — damit ſein Körbchen die
Marke: „Zollfrei“ kriegt. Ich zittere, bis wir glück¬
lich damit durch ſind. Verzeiht das Geſchmiere.
Eure Kläre.
[191]
Dieſelbe an Dieſelben.
Hôtel Greif, 7 Uhr Morgens.
ſüßer Rudi!
Papa und Mama ſchlafen noch, aber ich habe
die ganze Nacht gewacht, glaub' ich — ich bin zu
glücklich, daß ich mitgekommen bin. Denkt Euch,
hier iſt ſchon ganz Frühling! Alle Obſtbäume blü¬
hen, roſenroth und weiß und grün iſt Alles. O, und
was hab' ich unterwegs Alles geſehen. Zuerſt 'mal
Innsbruck. Aber Ihr könnt es Euch nicht denken,
weil Ihr es nicht geſehen habt, und beſchreiben kann
ich es Euch nicht, aber es iſt großartig und liegt um¬
geben von einem Kranz der wundervollſten Berge.
Wir ſtiegen dort aus und aßen zu Mittag. Ich aß
in Gedanken drei Brötchen zur Suppe, ſo daß Mama
über mich lachte, aber Papa ſagte, das ſei immer ſo,
Freude mache Appetit. Es war mir aber doch zu
ſchade um die Zeit, die man da in dem Bahnhofs¬
reſtaurant verſitzt — ich nahm den armen Putzi, der
ſchon ganz ſteif und wirr ſein mußte vom langen
Sitzen und Schütteln, aus dem Körbchen und ließ
ihn ein bißchen auf dem Perron laufen. Wie dank¬
bar er mich anſah, wie er ſeinen kleinen ſchwarzen
Zottelpelz ſchüttelte, es war rührend! Ich glaube,
[192] er hat unterwegs viel Kopfweh gehabt, ſein Köpfchen
war immer heiß, wenn ich es anfühlte — ein paar
Mal, wenn ich die Hand vom Korb nahm, hat er
heftig genieſt, um mich an meine Pflicht zu erinnern,
ſonſt war er muſterhaft. Und doch haben mir ſeinet¬
wegen ein ſchreckliches Abenteuer ausgeſtanden, es war
zwiſchen Innsbruck und Matrei, ich werde es nie ver¬
geſſen. Als wir nämlich in Innsbruck wieder ein¬
ſtiegen, guckte ich noch einen Augenblick aus dem
Fenſter, denn Papa hatte mir die Martinswand ge¬
zeigt. Ihr wißt ja: „Willkommen Tirolerherzen, die
Ihr ſo bieder ſchlagt!“ und mein Auge hing ganz
verzaubert an dem hochgethürmten ſagenhaften Felſen
— es war mir, als müſſe ich die Geſtalt des kühnen
Kaiſerſohnes in Alpenjägertracht dort oben zu ent¬
decken ſuchen! Da wir ganz allein im Coupé waren,
hatte ich mich Putzi's wegen in Sorgloſigkeit gewiegt.
Plötzlich aber höre ich ihn winſeln, ſcharf und lang¬
gezogen, durch die Naſe, wie er immer thut, wenn
er einen großen Kummer hat. Entſetzt ſehe ich mich
nach ihm um, da hebt ſich der Korbdeckel, und das
runde, ſchwarze Lockenköpfchen kommt zum Vorſchein;
im ſelben Augenblick aber, o Schrecken! öffnet ſich die
Coupéthür, und der Schaffner blickt herein und ſchreit:
„Jemand eingeſtiegen?“ Ich warf mich über das
Körbchen, um Putzi mit meinem Leibe zu decken, aber
der Schaffner hatte ihn doch ſchon geſehen. Und nun
[193] denkt Euch dieſe freundlichen Oeſterreicher! Er lachte
und fragte mich: „Iſt das Ihr Hunderl, gnä Fräu¬
lein?“ Und als ich ſchuldbewußt nickte: „O, 's
macht nix, der darf ſchon heraußen bleiben aus ſei'm
Gefängniß, der darf mitfahren, weil er ſo ſchön iſt!“
Ich hätte ihn umarmen mögen, Papa gab ihm auch
gleich ein paar Cigarren, und Mama athmete erleich¬
tert auf und drückte mir die Hand. O, wie ſchön
hätte es nun werden können! Putzi auf meinem
Schoß, zwei Pfötchen auf das Fenſterrähmchen ge¬
ſtützt, ſah mit ſeligen Blicken auf die wundervolle
Natur hier, die ihm ja auch ganz fremd war; da —
es hatte ſchon zum zweiten Mal geläutet, raſen zwei
Herren daher, daß die Rockſchöße fliegen, reißen un¬
ſere Wagenthür auf, und der Eine plumpſt über
Papa's Beine mitten in den Wagen hinein — Putzi
erſchreckt ſich furchtbar und ſpringt bellend von mei¬
nem Schoß herunter! Hätte ich ihn nicht noch gepackt,
er wäre dem alten Herrn, dem Papa und Mama auf¬
halfen, ins Geſicht geſchnellt. Der Herr bedankte ſich
mit einem Knurren und ſetzte ſich dann mir ſchräg
gegenüber, ſein rothes Geſicht ſah mich zornig an.
Der zweite Reiſende, ein junger Mann, ſo groß wie
Papa und ſehr ernſthaft, nahm den vierten Fenſter¬
platz auf derſelben Seite mit mir ein, ihm gegenüber
ſaß Papa, Mama mir gegenüber. Der Zug ſetzte
ſich in Bewegung, die Lampe war angezündet worden,
Frapan, Bitterſüß. 13[194] und mir kamen ſogleich in einen entſetzlich langen
Tunnel. Ich redete Putzi zu, ſich nicht zu fürchten,
denn er hatte ſolch' Herzklopfen, daß ſein ganzer
Körper zitterte. Der alte Herr ſchien immer böſer
zu werden, er ſchoß mir einen zornigen Blick zu und
ſagte auf einmal: „Thiere gehören übrigens in 'n
Viehwagen, wiſſen Sie das, mein Fräulein?“ Denkt
Euch! Gewiß hatte das Hinfallen ihn ſo geärgert,
und nun mußte er an dem unſchuldigen Putzelchen
ſeinen Zorn auslaſſen. „Setz ihn in den Korb, mein
Kind,“ flüſterte Mama ängſtlich, und ich ſelbſt hatte
auch ſchon die Abſicht gehabt. Aber nun nahm der
geliebte Papa ganz meine Partei. „Es iſt meiner
Tochter extra erlaubt worden, dies Schoßhündchen,
das Niemanden beläſtigt, offen mitzunehmen,“ ſagte
er. „Niemanden beläſtigt?“ ſagte der alte böſe
Mann, „hätt' mich wohl gern gebiſſen, wenn das
Fräulein ihn nicht feſtgekriegt hätte.“ — „Er beißt
wirklich nie,“ ſagte ich zitternd; „aber wenn er Sie
genirt, will ich ihn wieder einſperren.“ Und ich that
es. Aber er war noch nicht zufrieden. „So Vieh¬
zeug hat immer Mitbewohner,“ rief er, „und ich krieg
da immer gleich was ab. Auf der nächſten Station
muß ich mich umziehen, es juckt mich ſchon überall.“
Dieſe Böswilligkeit brachte mir faſt Thränen in die
Augen. „Putzi iſt wirtlich ſo ſauber“ — ſagte ich
— da konnte ich nicht mehr! Ein kurzes helles
[195] Lachen kam aus der Ecke, wo der junge Mann ſaß,
der dieſes unſchickliche Geſpräch mit angehört hatte.
Was mußte er von mir denken! Ich verſtummte
ganz, wendete kaum die Augen vom Korbe und ſteckte,
als wir aus dem ſchrecklichen Tunnel heraus waren,
zwei Finger durch das Flechtwerk in Putzi's Mund,
damit er daran knabbere. Der Alte aber murrte in
einem fort: „Wenn ich das bei uns in Neuſtadt-
Eberswalde erzähle, daß ich mit einem Hundeköter
in einem Wagen habe fahren müſſen — es glaubt
mir kein Menſch! Man reiſt krankheitshalber in dies
gräßliche Land, wo es ausſieht, als wollten Einem
die alten Berge übern Kopf fallen, und denn noch ſo
was! Aber ich will mich doch 'mal beim Stations¬
chef erkundigen, ob ſich ein preußiſcher Landrath hier
im Kreuzerlande ſo was gefallen zu laſſen braucht!“
Ich ſah immer von Mama auf Papa, aber denkt
Euch, der geliebte Papa nickte mir freundlich zu, und
kein Vorwurf kam über ſeine Lippen! Nur, als wir
in die Nähe von Matrei kamen, fing er an, unſere
Handkoffer und Plaidriemen herunterzunehmen; „wir
müſſen ein anderes Coupé ſuchen,“ ſagte er halblaut
zu uns. „Schade, es war ſo bequem hier,“ erwi¬
derte Mama, und ich warf einen betrübten Blick in
den kleinen engen Raum, wo ich ſo wunderſchöne
Stunden verlebt hatte. Der Zug hielt, und der
junge Herr ſprang zuerſt hinaus, Papa folgte, auch
13*[196] der böſe Landrath krabbelte, auf Papa geſtützt, die
ſteilen Stufen hinab, ſein ganzes Gepäck, eine Leder¬
taſche, in der Hand. Wir ſahen, wie der junge
Mann auf ihn zutrat, lebhaft mit ihm redete und
dann mit ihm ein anderes Coupé beſtieg. „Kinder,
wir ſind ſie beide los, bleibt nur drinnen!“ rief
Papa ſeelenvergnügt und reichte all' unſere Sachen
wieder herein. „Sonderbar, daß der junge Menſch
mit dem unangenehmen Alten zuſammen geblieben
iſt!“ meinte Mama. Ich ſagte nichts, aber ich glaube
feſt, er hat ſich für uns geopfert — er ſah gar nicht
danach aus! — Von nun an blieben wir allein bis
zum Brenner! O, meine Geliebten, wie ſoll ich Euch
mein Entzücken über all' das Schöne ſchildern. Irene
ſagt gewiß wieder: „Na, da haben wir die Con¬
fuſionsräthin,“ aber es iſt kein Wunder, es iſt auch
zu viel auf mich eingeſtürmt in dieſen letzten Tagen!
Mama ſagt auch, wenn auf ſie ſo viel eingeſtürmt
wäre, als ſie ſechzehn Jahre war, ſolch' eine Reiſe
nach Italien im Frühling, ſie wäre ebenſo confus
geweſen. O die Berge, die weißen Kuppen, die
fürchterlichen Schlünde und Abgründe, und an den
Felſen herunter ziehen ſich in ſchimmernden Streifen
die Gießbäche und kleinen Waſſerfälle, und unten,
denkt Euch, ganz dicht neben den Schienen, im hell¬
grünen Moos und Gras, unter den ſproſſenden Zwei¬
gen der Birken und Buchen ſteht es blau, ſo dunkel¬
[197] blau wie der Gebirgshimmel über mir! Wißt Ihr,
was das iſt? Ich wußt' es erſt auch nicht, aber
Papa hat es mir geſagt: Enzian! Frühlingsenzian,
und dann der große, ſtengelloſe, der die Lieblings¬
blume des unglücklichen Königs Ludwig geweſen iſt.
Hier habt Ihr ſie alle beide im Brief, und dazu noch
das Roſenrothe, das iſt die Steinnelke, die ähnlich
wie Syringen ausſieht und duftet, nur viel ſtärker.
Und das bläulich Roſa iſt die Mehlprimel, Primula
farinosa; es iſt merkwürdig, daß Papa Alles kennt.
Ich meinte immer, außer den Kelten und ihren
Gräberfunden und den Pfahlbauten intereſſirte ihn
nichts; und nun hat er alle Bergblumen bei Namen
gewußt und ſagt, die meiſten hab' er ſchon als Stu¬
dent geſammelt. — Auf dem Brenner, auf den ich
mich ganz beſonders gefreut hatte, ſieht man aber
nichts, weil man nämlich über ihn wegfährt, wißt
Ihr; während ſonſt die Berge immer höher ſind
rundum, iſt es hier im Gegentheil flach, wie bei uns
in München, aber prachtvoller Schnee lag überall,
ganz bis an die Bahnlinie, und als ich ausſtieg, um
mich umzuſehen, war es ſo kalt, daß ich einen grä߬
lichen Katarrh bekam, der aber nur bis Brixen
dauerte.
Der Weg herunter war ſo entzückend — die
ganze Nacht hat mir von den Felſen, den Gletſchern
und grünen Thälern, den Zacken und brauſenden
[198] Bächen geträumt. Um Brixen ſahen wir ſchon blü¬
hende Kirſchbäume und hellgrüne Buchen, und als
wir hierher kamen und die Sonne gerade im Unter¬
gehen auf den Roſengarten ſchien und die ganze laue
Luft von Düften und Vogelgeſang voll war, haben
Papa und Mama und ich uns im Coupé alle drei
umarmt und abgeküßt und immer geſchrieen: „Ach,
wenn doch die Kinder hier wären.“ Heut' Abend
mehr! Mama ruft mich zum Kaffee auf den Bal¬
kon! Putzi ſpringt an mir in die Höhe und ſagt,
daß ich Euch Allen von ihm drei Küſſe ſchicken ſoll,
den dickſten dem armen Rudi, weil der noch keine
Hochzeitsreiſe in Ausſicht hat!
Eure glückliche Kläre.
26. März, Abends 9 Uhr.
Meine Geliebten! Nur noch ein Doppelkärtchen,
ehe wir zu Bett gehen. Wir ſind heut' den ganzen
Tag herumgeſtreift und haben wieder ſo viele Aben¬
teuer gehabt! Es iſt wirklich, wie ich vermuthete,
er hat ſich für uns geopfert! Wir ſind ihm nämlich
wieder begegnet, an der Talferbrücke! Putzi wollte
trinken, obgleich das Waſſer ſo merkwürdig roth aus¬
ſah, gar nicht appetitlich; aber gerade an der ſteilſten
Stelle guckte er ſehnſüchtig hinunter und ſchwänzelte.
[199] Was ſollte ich machen? Papa erklärte Mama eben
die Gebirge, er war ganz bei den Formationen, und
ich mochte ihn nicht ſtören. Alſo nehm' ich den
Putzi auf und will mit ihm den Abhang hinabklet¬
tern. Plötzlich ſagt eine Stimme neben mir: „Ihr
Hunderl hat Durſt, gelt, gnädiges Fräulein? Blei¬
ben Sie nur, ich hab' meinen Trinkbecher da.“ Und
denkt Euch, er klettert hinunter und ſchöpft Waſſer
— es ſah ſo gefährlich aus, faſt hätt' ich geſchrieen.
Putzi war ganz verdurſtet, der Herr hielt ihm den
Becher hin, ſtrich ihm übern Kopf und ſagte zwei¬
mal: „Ein netter Kerl!“ Ich bedankte mich, aber
weil ich an die „Mitbewohner“ denken mußte, wurde
ich ſehr verlegen und ging ſchnell den Eltern nach.
Und in Gries war es wundervoll, lauter ſchmale
Wege zwiſchen hohen Mauern! Wie warm es da
war, und wie die Aprikoſenbäume darüber guckten
mit ihren röthlichen Blüthen! Wir ſahen auch noch
einige Mandelbäume in Blüthe, und hie und da ſin¬
gen ſchon die Glycinen an, ihre reizenden helllila
Trauben zu entfalten. In Gries ließen wir uns
einen Tiſch mit einer roth und blau gewürfelten
Decke vor die Thür des Wirthshauſes tragen und
tranken Kaffee im warmen Sonnenſchein. Die Kellner
im „Café Vogelweide“ ſind ſehr freundlich gegen
Putzi; einer, ein Italiener, bringt ihm immer ein
Stückchen Zucker und trägt ihm ſeine Taſſe Milch
[200] überall hin nach. Ich bedanke mich auch immer herz¬
lich dafür, da ja Putzi doch nicht ſprechen kann.
Papa ſagt, im Sommer, wenn viele Reiſende kom¬
men, ſind die Kellner nicht mehr ſo nett, ſie ſind
dann zu abgehetzt. Unſere Wirthin hat mir heut'
Morgen zum Kaffee ein Sträußchen Bergblumen ge¬
bracht; es ſind Orchideen dabei, ich lege Euch ein
paar davon ein. Iſt es nicht reizend? Wie merk¬
würdig, daß alle Menſchen ſo gut ſind gegen Eure,
Euch innig liebende Kläre.
P. S. Der greuliche Landrath iſt in Gries an
uns vorübergegangen und hat Putzi durchbohrend
angeguckt!
Klärchen an Eveline.
1 Uhr Mittags. Hôtel Greif.
O, meine geliebte Evy! tauſend, tauſend Glück¬
wünſche und Küſſe! So iſt nun alſo Dein Edmund
ordentlicher Profeſſor! Wie glücklich wir ſind über
die Nachricht, das ſagen keine Worte! Papa und
Mama ſitzen auch und ſchreiben Dir, um halb zwei
wird geſpeiſt. Schreib Edmund, daß ich ſchrecklich
ſtolz auf meinen Schwager ſei, und beſuchen darf ich
Euch doch oft, nicht? Würzburg! Wie himmliſch!
Mama fürchtete immer, es würde Berlin werden oder
[201] gar Königsberg. Nach dem Eſſen wollen wir auf
den Runkelſtein, die Freudenbotſchaft von Dir hat
gleich Mamas Kopfweh vertrieben, das ſich heute
Morgen beim Spazierengehen in der Sonne eingeſtellt
hatte. Mir thut die Sonne nichts. Ich werde ſo
friſch davon wie eine Eidechſe! Die Menſchen hier
ſind reizend! Als ich eben nach Hauſe kam, ein bis¬
chen hinter den Eltern wie gewöhnlich, ſah ich in
einem verwahrloſten Garten, in dem ein Haus ge¬
baut wird, einen blühenden Pfirſichbaum ſtehen. Der
arme Baum war ganz kalkbeſpritzt und verſtaubt und
blühte doch wie ein ſchönes Wunder. Ich weiß nicht,
ob ich ihn begehrlich angeguckt habe, — genug, auf
einmal trat ein kleiner Arbeiter von der Kalkgrube
weg auf den Baum zu, brach einen blüthenvollen
Zweig ab und reichte ihn mir freundlich lächelnd
über den zerbrochenen Zaun. Ich gab ihm die Hand,
um mich zu bedanken, und er ſchüttelte ſie ganz ver¬
gnügt und griff noch an die Mütze. Mama war
auch nicht wenig erſtaunt, als ich mit dem Zweige
ankam! Meine Evy, wenn Ihr Eure Hochzeitsreiſe
nicht hierher macht, bin ich Euch ewig böſe.
Tauſend Küſſe!
Eure Kläre.
[202]
Klärchen an die Geſchwiſter.
7 Uhr Morgens.
Kinder, ich bin ſchon wieder bei Euch in Ge¬
danken, weil ich all' dies Schöne allein nicht ertragen
kann. Papa und Mama halten ſehr zuſammen, und
wenn Papa ſeine prachtvollen Erklärungen gibt, und
Mama Alles ſo genau und ſchnell begreift, ſtehe ich
immer ganz verdutzt daneben und merke nun erſt
recht, wie dumm ich bin. Ihr drei Aelteren ſeid
ſonſt ſo die Mittelglieder zwiſchen den Eltern und
mir, und nun fehlt Ihr mir ſehr! Ich tröſte mich
dann mit Putzi, der auch ſo wenig weiß, ja faſt noch
weniger als ich, und dem man es doch nicht übel
nehmen kann. Geſtern waren wir alſo auf dem herr¬
lichen Schloß Runkelſtein, wo die Geſchichte von
Triſtan und Iſolde auf die Wände gemalt iſt. Und
ſeht 'mal, das Alles mit der Reſtaurirung wußte
Papa ganz genau, ich aber bin gar nicht recht klug
daraus geworden! Iſolde erinnerte mich ganz an
Dich, meine ſüße Irene, eben ſo ſchlank und dünn
war ſie wie Du und trug auch ſolchen großen Hut,
wie wir alle drei gern tragen. Aber die Jagd konnte
ich gar nicht verſtehen, und die Hunde hatten mit
Putzi nicht die geringſte Aehnlichkeit! Aber man
konnte ſich doch ganz in die alte Zeit verſetzen, wo
[203] ſich Triſtan und Iſolde liebten! Es muß ſehr ſchön
geweſen ſein, nur das mag ich nicht, daß ſie den
alten König Marke betrogen! Warum hätten ſie ihm
nicht offen die Wahrheit ſagen können? er hätte
ihnen gewiß verziehen, denn es war ja ein Liebes¬
trank, und ſie konnten nichts dafür. Denke Dir,
Irene, wenn Du nun in ſolch eine ſchreckliche Lage
kämeſt, würdeſt Du nicht ſofort Deinem Albert Alles
erzählen? Wenn ich einmal mit ſolch einem böſen
Gewiſſen herumlaufen müßte, wie die Iſolde, ich hätte
an nichts mehr Freude. Aber das wird wohl auch
nur im Alterthum und allenfalls noch im Mittelalter
vorgekommen ſein. Und denkt Euch, als wir nach¬
her um das Schloß herumgingen, wer da unten ſaß
an einem ſehr maleriſchen Thorbogen, überhangen
von einem blühenden Apfelbaum? Der junge Herr,
unſer Retter, und er hatte ein Skizzenbuch auf den
Knieen und zeichnete ſo eifrig, daß er gar nicht auf¬
blickte. Sein Geſicht iſt ſehr hübſch, braun und et¬
was mager, mit einem lockigen Vollbart, und neulich
habe ich auch ſchon bemerkt, daß er reizende Augen
hat, ähnlich wie Putzi's, groß und dunkelbraun.
Aber ſehr ernſthaft ſieht er aus, ja traurig, mit einer
tiefen Falte zwiſchen den Augenbrauen. Ob der
greuliche Landrath mit ihm verwandt iſt und ihm die
Reiſe verdirbt? Mama glaubt, daß er Maler iſt,
und ich denke mir, daß er ſehr ſchöne, aber traurige
[204] Bilder malt. So etwas bemerkt man auf den erſten
Blick; Madonnen und Grablegung Chriſti, wie die
Meiſter in der alten Pinakothek, und in neuerer Zeit
Fugel u. A. m. wißt Ihr. Ich hatte mich ſo in
Acht genommen, ihn zu ſtören, aber Putzi, der ja
ſonſt der wohlerzogenſte Hund der Welt iſt, verſtand
meinen Wink nicht, ſondern ſprang plötzlich mit freu¬
digem Gebell an ihm in die Höhe, ſo daß der Maler
zuſammenfuhr. Papa und Mama waren ſchon wieder
voraus, und ich ſtand nun da, ganz roth vor
Schrecken und entſchuldigte Putzi, ſo gut ich konnte.
Der Maler ſah mich aber gar nicht an, ſondern ſagte
nur zu Putzi: „Alſo jetzt biſt du auch auf'm Runkel¬
ſtein geweſen? Wirſt du aber ein gelehrtes Hunderl!“
Ob das Spott ſein ſollte? Nachher fiel mir Allerlei
ein, was ich hätte antworten können, jetzt aber wußte
ich gar nichts zu ſagen und ging ſchnell weiter. Wie
gern hätte ich einen Blick in ſein Skizzenbuch gewor¬
fen, aber er ſollte nicht glauben, daß ich eben ſo un¬
delikat ſei, wie Putzi; der hatte ihn durch ſein un¬
zeitiges Bellen gewiß aus einer Weiheſtimmung ge¬
riſſen !
Ein ſehr komiſches, nettes Ehepaar aus Pom¬
mern haben wir kennen gelernt, ebenfalls durch Putzi,
der die dicke kleine Frau anſprang. Sie ſchrie erſt
auf, als ſie aber Putzi's Engelsköpfchen erblickte, rief
ſie: „O, du ſüßes Thier, willſt du mir bange
[205] machen?“ und da hob ich ihn auf und zeigte ihn ihr
in der Nähe. Nachher beim Abendeſſen ſaß ſie neben
mir und ſagte mir, Mama ſei die ſchönſte Frau, die
ihr begegnet ſei, und ſo etwas ganz Apartes habe ſie
in der glatten Haartracht und der ganzen Erſcheinung.
Sie fragte, ob Papa Profeſſor ſei, und als ich ſagte:
„nein, Privatgelehrter“, wußte ſie gar nicht recht,
was das iſt. Ich erzählte ihr auch von Euch, und
ſie erzählte mir von einem reizenden Lamm, das ſie
als junges Mädchen gehabt hatte, und das immer
mit einem Blumenkranz um den Hals geſchmückt und
an einem roſa Bande durchs Haus geführt wurde,
wenn Sonntag war. Aber einmal, als Alle aus
waren, ſtieg es in die Haferkiſte und aß ſich ſo dick
und rund, daß es nicht wieder heraus konnte. Der
Thierarzt mußte kommen und verſchrieb dem Lamm
für 50 Pfg. Ricinusöl, da war es wieder geſund.
Ach, und noch ein Abenteuer! Denkt Euch,
geſtern Abend lieſt Papa uns das ſchöne Gedicht aus
dem Scheffel vor: „Noch heute freut mich's, o Rungl¬
ſtein“ — das ja nun für uns beſonders intereſſant
war. Er kam ganz in Feuer und ſprach eben in
dumpfem Ton die Zeile: „Betrüblich ſehr ſteht König
Marke, der alte“, da klopft es donnernd an die
Thür, und ohne „Herein“ abzuwarten, erſcheint —
der Landrath. Er trug einen Schlafrock, zwei lange
rothe Troddeln ſchleiften hinter ihm her. „Wollt'
[206] mir nur erlauben, zu fragen, was hier los iſt? Ob
die Herrſchaften noch nicht bald zu Bett gehen? wol¬
len doch nicht die Nacht durch Theater ſpielen?
Kranker Zimmernachbar hat Anſpruch auf Rückſicht!“
Bums, Thür zu! Wir ſahen uns ganz verſteinert
an. „Kinder, es iſt wirklich über elf,“ ſagte Papa,
„leſt den Reſt für Euch, es thut mir leid, daß dieſer
Rüpel mir eine Lection in der Lebensart hat geben
müſſen.“ Mama wollte Einſpruch erheben, aber Papa
ſagte kopfſchüttelnd: „Hôtel bleibt Hôtel, da ſoll man
nicht thun, als ob man zu Hauſe wäre; man vergißt
das nur, wenn man lang' nicht gereiſt iſt!“ Aber
daß der Landrath auch hier wohnt!
Heut Nachmittag geht es weiter nach Trient!
Leider regnet es ein bischen, aber ganz lau, nicht
kalt wie in München oder gar in unſerer geliebten
Kinderheimath Eiſenach. Die Pfarrkirche mit dem
grünen Ziegeldach bimmelt fortwährend, ſogar Nachts.
Schreibt uns nach Riva.
Eure Kläre.
P. S. Der Maler ſteht nicht hier im Fremden¬
buch, ich habe nachgeſehen; der Landrath Nietzſche ja,
— ich athme auf, ſie ſind gewiß nicht verwandt.
[207]
Eugen Schmidthammel an Toni Emmer
in München.
Lieber Junge! Deine Hartnäckigkeit im Fragen
hat mich erſt erboſt, ſchließlich gerührt, — es fehlt
nur, daß ich Thränen vergieße, wie ein frierendes
Krokodil! Nun ja, es geht mir leidlich; das alte
Trento iſt ſo ſchön, wie damals, als wir vor drei
Jahren im September zuſammen hier waren. Wollte
nur, ich wär' derſelbe, — aber ſo was ſchüttelt man
nicht ab, wie der Pudel die Prügel! Wie geht's
ihr denn? Siehſt Du, hörſt Du etwas von ihr?
Ich will mal ganz offen gegen Dich ſein und Dir
ſagen, — wenn mich die Frage nach ihr nicht immer
noch in Unruh' erhielte, — vielleicht hätt' ich Dir
auch heut' noch nicht geſchrieben. Zudem iſt heut'
ein Regentag! — gelt, ich bin eine ehrliche Haut?
Gemacht hab' ich ſo gut, wie nichts, — eine
Illuſtration zu einem grauslichen Ritterpoem für die
„Fliegenden“, das iſt wahrhaftig Alles! Jetzt hab'
ich 'n Moraliſchen zu dem andern, dem Unmoraliſchen,
Du weißt ja! Sag' mir nur, wie ſie's trägt, wie ſie
ſich d'rein findet! Sieht man ſie wieder zuſammen mit
—Ihm? Iſt ſie bleich? leidend? Schreib' mir's! ſchreib'
mir's! Gleich auf der Stelle möcht' ich die Antwort
haben! — Mich verdrießt's bis ins Mark, wie ich
[208] vor ihm dageſtanden bin! Wie ein Schulbub'. Nach
dieſer Eröffnung! Und das perfide Wort: „Du biſt
der Erſte nicht!“ und dazu dies Hohnlächeln auf
ſeinem blaſſen Geſicht. Und die Frau, die mir eben
geſtanden hat, ſie liebe mich, was thut ſie? Wie
nimmt ſie die tödtliche Beleidigung auf? Sie ruft
mir zu: „Gehen Sie, mein Freund, ich werde meinen
Gatten zu verſöhnen ſuchen!“ Und ein Geſicht dazu,
wie eine Nonne, die eingemauert werden ſoll! —
Pfui und dreimal pfui! das iſt eine ſchandbare Er¬
innerung! Und wenn man nun Geſchöpfe umher¬
wandeln ſieht, unbekümmert, heiter, gut, — 's wird
Einem ſchwer ums Herz, daß man ſich nicht dazu
rechnen darf! Ich habe ſo eine Familie unterwegs
getroffen, ein paarmal. Blühende, freundliche Men¬
ſchen, rieſengroß, mit einem Ausdruck in den Ge¬
ſichtern, als wär' alles Schöne in der Welt extra ge¬
ſchaffen, um ſie zu erfreuen, — ſie haben einen Hund
mit, einen Affenpinſcher, der fortwährend kläfft,
ſchwarz mit braunen Pfoten, unten weiß und gelb.
Er kennt mich ſchon von weitem, merkt, daß ich ein¬
mal närriſch auf die Hunde bin. Da ſchick' ich Dir
ſeine Photographie, 's iſt aber Caricatur, weißt ja,
daß ich ſonſt nichts machen kann. Hier in Trento
ſind ſie auch eben aufgetaucht, — ich geh' aber aus'm
Weg. Es iſt nämlich eine Tochter dabei, — und ich
hab' übergenug von der Liebe! Sonſt freilich —
[209] hätt' ich nicht mit theuren Eiden mir ſelbſt geſchworen,
— — Eine Geſtalt, wie ein Ritterfräulein, ein Ge¬
ſicht, wie eine Frühlingsblume, blond, blauäugig,
dazu eine zarte Flötenſtimme, wie ein kleines Kind
oder eine Amſel. — Ach, ich habe gar kein Recht, in
ſo ein unſchuldiges Geſicht zu ſehen! Und wer weiß,
was ſchließlich dahinter iſt! Gebrannte Kinder, — —
weißt Du! — Lebwohl, mein Junge, ſchreib' mir,
wie's mit — Selma ſteht, — ich kann den Namen
noch nicht ohne Herzweh ſchreiben. Verſchweig' mir
nichts. Ich will nicht geſchont ſein.
Dein alter Eugen.
Klärchen an die Geſchwiſter.
12 Uhr Mittags.
So lange hab' ich Euch nicht geſchrieben, meine
armen Verlaſſenen, und jetzt wird es auch nur ein
Kärtchen! Eben ſind wir angekommen nach der
ſchönſten Fahrt, die ich in meinem ganzen Leben ge¬
macht. O, der erſte Blick auf den Gardaſee durch
das Thor, und die Olivenbäume und Limonengärten!
Jetzt ſind wir in Italien, obwohl dies Paradies noch
zu Tirol gehört, ſagt Papa. Ich natürlich wußt' es
nicht, ich weiß gar nichts! Wir lernten die letzten
Jahre immer nur amerikaniſche und afrikaniſche
Frapan, Bitterſüß. 14[210] Geographie. Der junge Maler iſt auch mitgekommen
in einem Wagen, der immer hinter unſerm herfuhr,
mit den zwei Pommeranzen, — ſo nenne ich das
pommerſche Ehepaar — die ſüße Pommeranze iſt die
Frau, — die bittere der Mann, er läßt die arme
kleine Dicke immer alle Mäntel, Plaids und Reiſe¬
taſchen allein tragen!
Eure ſelige Kläre.
Dieſelbe an Dieſelben.
11 Uhr Abends.
Der Balkon iſt ganz in Mondſchein gebadet, ich
habe mich hierher geſetzt, Putzi iſt auf meinem Schoß,
ich ſchreibe dies ohne Licht, und die Nachtigallen ſin¬
gen in allen Büſchen des Gartens. Ach, liebe, ſüße
Schweſtern, wäret Ihr hier! Ueber die Bäume weg
ſchimmert der See, und es iſt Alles ein Duft, denn
Syringen und Goldregen blühen. Wie ſchön! wie
ſchön! Iſt es nicht traurig, daß es Menſchen gibt,
die das nicht fühlen können? Der Maler hat noch
immer ſeine düſtere Falte zwiſchen den Augenbrauen,
und der Landrath — Aber das will ich Euch morgen
erzählen, ich will den ſchönen Abend nicht mit dem
Bericht entweihen! Was für eine Wohlthat müßte
es ſein, wenn man hier Verſe machen könnte! Mama
[211] ſagt, ich werde ſentimental, aber ich bin ja nur ſo
außer mir vor Freude!
Eure Kläre.
Dieſelbe an Dieſelben.
7 Uhr Morgens auf dem Balkon.
Meine ſüßen Kinder! Eigentlich war es ur¬
komiſch, wie ich mich geſtern Abend an den Table
d'hôte-Tiſch ſetze und plötzlich in meinem Nachbarn
zur Rechten, — links ſaß Mama, — den Feind, den
Landrath erkenne! Mein erſter Gedanke war: Gott
ſei Dank, Putzi iſt geborgen in meinem Zimmer auf
dem Sopha. Da fing der ſchreckliche Menſch mit
vollem Munde an zu ſprechen, ganz als ob wir immer
die beſten Freunde geweſen wären! „Na, wie geht's
Ihnen, Fräulein? Haben Sie das Reiſen noch nicht
bald dick? Mir iſt die Geſchichte jetzt ſchon bis übern
Hals! — Thür zu!“ brüllte er den Kellner an, „es
iſt ſo ſchon 'ne Hundekälte hier!“ Ich blickte ihn er¬
ſtaunt an, aber er fuhr ganz zornig fort: „Na ja,
die Sonne kriecht ja ſchon um vier Nachmittags hin¬
ter die Berge, wie ſoll es da nicht kalt ſein?“ —
„O, es iſt im Garten himmliſch,“ wagte ich zu
ſagen, „die Nachtigallen ſingen jetzt die ganze Nacht!“
Da legte er Meſſer und Gabel hin und ſtotterte er¬
14 *[212] ſchrocken: „Was? Wer? Die Nachtigallen ſingen
hier Nachts? Das können ſie ja den ganzen Tag
thun! Das fehlte mir noch! Ich kann ſo wie ſo
nicht ſchlafen, und die wollen noch dazu ſingen? Ich
dreh' ihnen den Hals um!“ Mein Herz klopfte vor
Entrüſtung, aber ich gab mir Mühe, ganz ruhig zu
antworten: „Sie werden ſich wohl nicht fangen
laſſen!“ Zum Glück hörte er es gar nicht, ſondern
fuhr fort: „Man hat ja ſchon genug Störungen aus¬
zuhalten, der Nachtruhe, mein' ich, in den Hôtels;
fehlt nur noch, daß Sie das Piano bearbeiten, mein
kleines Fräulein, wie die Perſon in Bozen, die mich
aus dem „Schwarzen Adler“ vertrieben hat.“ Ich
beruhigte ihn über mein Clavierſpiel, das ich ja
ſelbſt nicht hören mag, aber er war nicht zu be¬
ſänftigen. „Ach, es war doch ſo ſchön in Bozen,“
ſagte ich. — „Schön? Wo denn?“ rief er wüthend,
„in den alten, ſchmalen Gängen zwiſchen den Mauern?“
— „Auf der Talferbrücke —“ warf ich ein. Er
legte wieder Meſſer und Gabel hin. „Ja, Sie ſind
doch nicht über das wackelige Ding gegangen? Fällt
ja ein, wenn man darauf tritt! Was? auf dem
ſchmalen Steig an der Talfer, wo man immer ſo
einen Fuß vor den andern ſetzen muß? Hab' mich
wohl gehütet, da zu gehen! Bis jetzt hab' ich noch
meine geſunden Knochen, das Spierken Rheumatismus
zählt doch nicht!“ Ich fragte ihn, ob er die reizen¬
[213] den grünen und braunen Eidechſen geſehen habe, die
jetzt hier überall an den Mauern herumſchnellen. Da
ſtöhnte er ſo entſetzlich auf, daß es mir faſt ängſtlich
wurde, obgleich ich nachher lachen mußte. „Das Un¬
geziefer nennen Sie auch noch reizend?“ rief er ver¬
zweifelt, „na, da hört aber doch Alles auf! Solch'
Viehzeug gibt es Gottlob in Neuſtadt-Eberswalde
nicht, und da mag es auch Niemand leiden und
nennt es reizend!“ Er ſchob ſeinen Teller weg.
„Und der alte Kalbsbraten iſt auch ganz ohne Sauce,
ſolchen hab' ich nu ſchon jeden Tag gekriegt, dieſes
Elend mit dem bischen Eſſen, und nu verderben Sie
mir noch ganz den Appetit mit Ihren Eidechſen!“
Er ſah aus, als wollte er weinen, ich fragte ihn, ob
ihn die Füße ſehr ſchmerzten. Da antwortete er
wieder nichts, blickte aber einer Dame nach, die ge¬
rade vom Tiſch aufſtand und flüſterte ganz vergnügt:
„Iſt das 'ne Italienerin? Iſt ſie verheirathet? Iſt
ſie ſchon lange hier? Einen Ring trägt ſie nicht,
was? Haben Sie's nicht bemerkt?“ Und plötzlich
zog er einen Kneifer heraus und guckte der Dame
dadurch nach, ganz neugierig und luſtig, und als ſie
hinausging, ging er auch hinaus, kam aber bald
wieder herein, und ſagte ganz laut zu mir: „Sie
trägt keinen Ring!“ wobei er mich ſtrafend an¬
blickte. Iſt das nicht ein ſonderbarer Menſch?
Mama ſagt, er ſehnt ſich gewiß ſo ſehr nach ſeiner
[214] Familie, darum iſt er ſo brummig, jetzt hat er ja
Niemanden, der ihn pflegt. Wie ſchade, daß nicht
ſeine Frau oder ſeine Tochter mit ihm gegangen iſt! —
Jetzt lauf' ich in den Garten, der ſo ſchön iſt,
wie die Gärten in den Märchenbüchern! Er reicht
bis an den blauen See, und gegenüber iſt der Monte
Baldo; ich wandle hier unter Lorbeern und Cypreſſen,
und ſie kommen mir gar nicht fremd vor, es iſt Alles,
wie ich es mir gedacht habe, nur noch viel, viel
ſchöner. Am Berge gegenüber iſt eine ganz ſchmale
Straße am Abhang eingeſprengt, die Ponalſtraße
heißt, dorthin gehen wir heut' Nachmittag!
Mit tauſend Grüßen
Kläre.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Mein lieber Junge! Hab' Dank für Deine
ſchnelle Antwort. Du haſt mich nicht geſchont, Du
wußteſt eben doch nicht, wie nah' mir die Geſchichte
noch geht. Dein Bericht über das Frühlingsfeſt der
Künſtler, wo Selma als Maifee erſchien, — nach den
Erlebniſſen der letzten Monate! und der — Gatte als
Maikäfer hat mir ein bitt'res Lächeln auf die Lippen
gebracht! So ſchnell vergeſſen zu werden, das hatt'
ich nicht — gehofft! Ich habe doch die Nacht nicht
[215] geſchlafen und hatte heut' miſerables Kopfweh. Wen
führt ſie denn jetzt am Bändel? Das vergaßeſt Du
mir mitzutheilen! Ich werd' ihn nicht beneiden.
Seiner wartet ein „Unmoraliſcher“, den kein Hering
und kein Sodawaſſer vertreibt. Uebrigens — Maifee?
Mit ihrer Ueppigkeit? Ihrem ſchwarzen Kraushaar?
Was hat ſie denn angehabt? Brillant genug mag ſie
ausgeſehen haben! Hat ſie ihre Schultern ſehr frei¬
gebig gezeigt? Sie that das nie, ſo lange ſie mit
mir — Aber nun, wo ſie beſchäftigt iſt, ihren „Gatten
zu verſöhnen“! Iſt Dir das Wort „Gatte“ auch ſo
zuwider? Ich möchte um die Welt nicht ſo genannt
werden!
Ach, Du, — Maifee! Jetzt muß ich doch lachen!
Nein, nein, dafür paßte ſie nicht! Das hätte ſie
nicht gewählt, ſo lang' ich ihr Rathgeber in Coſtüm¬
fragen war. Königin der Nacht, Nachtſchatten, Bella¬
donna, aber Maifee? Da weiß ich eine Andre, die
für die Rolle paßt. Und ſie hat nicht 'mal ein be¬
ſonderes Coſtüm dafür nöthig! In ihrem flattern¬
den, hellbraunen Mantel, in ihrem Reiſehut und
grauen Schleier, — ſie iſt immer dieſelbe Frühlings¬
blume. Du kannſt Dir denken, daß ich von meiner
Reiſebekanntſchaft ſpreche, — ach, richtig, Du gibſt
mir ja ſogar den guten Rath, mich in ſie zu ver¬
lieben! Hör' auf, Toni, ſonſt hör' ich auf! Nein,
ernſthaft, es iſt mir unangenehm, daß Du mich zu
[216] dem ahnungsloſen kleinen Engel in ſolche Beziehung
bringſt. Geſtern traf ich ſie allein, nur Putzi, ihr
Pinſcherchen war mit, auf der Ponalſtraße. Ich ſaß
grade auf einem Bauernwägelchen, neben einer alten
Italienerin, die mit ihrem Eſelchen vom Ledrothal
heraufkam und mich eingeladen hatte, mitzufahren.
Ein Bub' ſaß hinten auf und ſang zur Ziehhar¬
monika, die alte madre aus voller Kehle mit. Da
kam ihr Putzi daher und kläffte den Eſel an. Ihr
Erſchrecken, ihre Freundlichkeit gegen die armen
Bauersleute, und wie ſie ſogar die Priſe Schnupf¬
tabak nahm, die die Alte ihr anbot, und dann nießen
mußte, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen,
all' das war allerliebſt. Freilich, ſie iſt ein Kind,
ein Backfiſch, aber der Geſtalt nach völlig erwachſen
und mit einem lieblichen Ernſt. Wenn ich nicht
Alles abgeſchworen hätte — — Aber necke mich nicht
mit ihr, mein Junge, es kommt mir hinterliſtig vor
gegen das Mädchen. Beneidenswerth, wer ſo eine
friſche Jugend als erſte Liebe auf ſeinem Weg fin¬
det! Ich wünſch' ihr einen, der keine Selma geliebt
hat und von ihr geliebt worden iſt. Manchmal krieg'
ich einen ganzen Widerwillen gegen mich ſelbſt. —
Die Familie kommt aus München, — ich wohne jetzt
im gleichen Hôtel wie ſie, — wenn ich irgendwie
merke, daß ſie von der Geſchichte gehört haben, dann
[217] verſchwinde ich aus ihrer Reiſeroute. Unmöglich
wär's nicht, unſer gutes München iſt halt ein arges
Klatſchneſt!
Dein Freund Eugen.
Klärchen an die Geſchwiſter.
Im Garten 3 Uhr Nachm.
Wie haben wir uns über Eure lieben, langen
Briefe gefreut, meine ſüßen Kleinen! Ach, ich kann
mir denken, wie unangenehm es Euch war, in der
Suppe ein Haar zu finden! Nicht allein des Haares
wegen, als weil Ihr es Kathl habt ſagen müſſen!
Es iſt ſo peinlich, einen Menſchen zu beſchämen, nicht
wahr? Das habe ich vorgeſtern auch recht empfun¬
den, als mir der junge Maler, — er heißt Herr
Eugen Schmidthammer — auf der Ponalſtraße, die,
in der Nähe beſehen, ſehr breit iſt, entgegengefahren
kam. Er ſaß nämlich auf einem Eſelfuhrwerk, auf
einem großen Haufen Gras und Futter, und ſo ge¬
ſchmückt war das Eſelchen mit rothen Troddeln und
Bändern, daß es wunderhübſch ausſah. Mit Geſang
kamen ſie daher, und ich wurde ſo luſtig, ich hätte
gerne mitgeſungen, wenn es nicht italieniſch geweſen
wäre. Als aber der Maler mich erblickte, wurde er
[218] ganz roth und ſprang herunter und ſagte: „Putzi
ſcheint zu glauben, daß dies hier meine gewöhnliche
Beſchäftigung iſt, und Sie am Ende auch, mein Fräu¬
lein?“ Denkt Euch! Ich lachte natürlich und ſagte,
ich wiſſe wohl, daß er Maler ſei, aber ich wurde doch
ganz verlegen mit und vergaß, auf Putzi zu achten,
und plötzlich läuft der Maler hin und reißt ihn von
dem ſteilen Abſturz der Straße zurück! Das war ein
Schrecken! Putzi, der ſich doch ſonſt von keinem
Fremden anrühren läßt, hatte nicht gemuckt, ſaß ganz
ruhig einen Augenblick auf ſeinem Arm und ließ ſich
ſtreicheln. Die alte Italienerin hat mir dann eine
Priſe angeboten, und ich nahm ſie ganz ahnungslos
und mußte fürchterlich nießen, worüber ſie und ihr
Junge, der eine Harmonika hatte, jauchzten und in
die Hände klatſchten. Hätte ich gewußt, wie es krib¬
belt, ich hätte nicht ſo viel genommen. Dann fuhr
der Wagen weiter, aber der Maler ſtieg nicht wieder
auf, und das freute mich, der arme Eſel hatte ſo
ſchon genug zu ziehen. Ich ging weiter, immer höher
hinauf; links unten iſt der See, blauer faſt, als der
Himmel, rechts die Felswand, voller Blumen. O,
wie Einem die Augen hier groß und weit werden!
Nachher geht es immer um Zacken und durch ein
paar halbdunkle Tunnels, wenige Leute begegneten
mir; zuletzt ſteht da an der Bergwand, in einem
prachtvollen Tunnel, der ein Fenſter hat, eine In¬
[219] ſchrift über den Erbauer dieſer großartigen Straße.
Dort kehrte ich um, weil es mir einſam wurde, —
Papa und Mama machten nämlich ihren Nachmit¬
tagsſchlaf, und ich war allein weggelaufen. An einem
Wegwärterhäuschen, das ganz verloren neben einem
tiefen Schlunde liegt, in den ſich ein Waſſerfall er¬
gießt, ſah ich wieder Herrn Sch. ſitzen und zeichnen.
Er ſtand aber auf, als ich heran kam, weil er fertig
war, wie er mir erzählte. Da faßte ich mir ein
Herz und bat ihn, mir zu zeigen, was er gemacht
habe. O, meine Evy, welche Enttäuſchung ſtand mir
bevor! Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen
ſollte! Lauter ſchreckliche Fratzen waren in ſeinem
Skizzenbuch, Ritter mit ganz dünnen Beinen und
furchtbar großen Füßen nach einwärts, und eine dicke,
runde Frau, die ein bischen ausſah, wie die ſüße
Pommeranze, nur ſehr übertrieben, und wen führte
ſie am Band? Putzi! Aber nicht meinen kleinen
ſchönen Putzi, ſondern ein dickes Ungeheuer mit vier
Schwefelhölzchen ſtatt der Beine und einem gerin¬
gelten Schwanz, wie eine Wurſt! Es kam mir Alles
vor, als ob es aus den „Fliegenden Blättern“ ab¬
gezeichnet wäre, und als er mich fragte, was ich dazu
meinte, ſagte ich ihm das, was gewiß ſehr unartig
war. Er lachte hell auf und ſagte, ich hätte ganz
Recht, nur mit dem Unterſchied, daß die „Fliegenden
Blätter“ dieſe Sachen von ihm abzeichneten! Nun
[220] ſeht, wie ich mich blamirt habe. Alſo traurige Bil¬
der malt er nicht, — ich habe ihn danach gefragt,
und er hat nein geſagt. Er wunderte ſich, daß ich
die „Fliegenden“ nicht wundervoll fände; ich ſagte,
ich möchte ſie ſehr gern, aber wenn ſie ſo ganz ver¬
dreht und verſchroben wären, möchte ich ſie nicht, ich
möchte überhaupt lieber etwas Schönes, als etwas
Luſtiges ſehen. Dann fragte er plötzlich, wie alt ich
wäre. Ich ſagte „Sechzehn“; da rieth er mir, nicht
ſo allein herumzulaufen, ganz in dem Ton, wie Du
manchmal, mein alter Rudi, und begleitete mich, bis
das Hôtel in Sicht war. Ich ſehe gar nicht ein,
warum; aber ich werde wohl folgen müſſen, Papa
und Mama hatten ſich auch ſchon geängſtigt. Ach,
wäret Ihr doch hier!
Eure Kläre.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Mein lieber Toni! Was redeſt Du von ver¬
liebt? Weiß ich denn nicht, wie das thut? Ich bin
nicht verliebt, ich ſchwöre es Dir. Nichts von dem
dumpfen Drang, der ſtachelnden Unruhe, dem Fieber
im Blut, dem Schwanken zwiſchen Begier und Wider¬
willen, wie ichs in den ſelig-unſeligen Monaten mit
[221] Selma empfunden. Alles ganz anders! Mein Blut
iſt ruhig, meine Nerven zucken nicht krampfig, wie
abgeſchnittene Glieder, wenn ich die kleine Kläre da¬
herkommen ſehe. Ebenſogut könnteſt Du behaupten,
ich ſei verliebt in die Frühlingsſonne, oder in den
Gardaſee, oder in die Nachtigall vor meinem Fenſter!
Sie hat ja auch von allen dieſen etwas, aber ſie iſt
dazu noch allerlei Andres. Hat nicht Goethe irgend¬
wo geſagt: „Als Kinder ſind wir Alle moraliſche Ri¬
goriſten?“ Dieſe Kläre, glaub' ich, wird's bleiben
ihr Leben lang. Eine ſüße, kleine Perſon, die aber
einmal von ihrem Manne viel verlangen wird! In
aller Unſchuld, weißt Du. Ich habe ihr meine un¬
ſterblichen Illuſtrationen gezeigt. Meinſt Du, daß ſie
auch nur ein Wort der Bewunderung dafür gehabt
hätte? Du weißt, ich bin nicht eitel, aber ſie iſt ſonſt
ſo bereit, zu bewundern! Ich könnte mich ja damit
tröſten, daß ich ſie einfältig fände, aber nein, — ein¬
fältig iſt ſie nicht. Ich habe ihr offenbar nicht im¬
ponirt mit meinem Können, und ſo dumm es klingt,
— mich ärgert's! Jetzt ſchwatz' ich ſo viel davon,
jetzt wirſt Du erſt gar glauben, es ſei was an der
Geſchicht'!
Alſo, noch kein Erſatzmann in Sicht? Arme
Selma! Was thut ſie nun inzwiſchen mit dem un¬
ausgefüllten Herzen? Oder iſt vielleicht der — Gatte
Zwiſchenbewohner? Mein lieber Junge, ſie hat ein
[222] paar Briefe von mir, tolles Zeug, drei oder vier
nur, — wenn Du ſie zurückerbitten und vernichten
könnteſt! Die ihrigen hab' ich ihr ſtets ſofort zurück¬
geben müſſen. Sie hieß mich ſie küſſen und ver¬
brannte ſie dann an der bunten Schreibtiſchkerze in
ihrem Boudoir, immer ihr Auge in meines getaucht,
immer mich bändigend, der ich ihr in den Arm fallen
wollte! Ach, die Komödie! Willſt Du mir das
thun? Es iſt ein arger Freundſchaftsdienſt, aber als
ihr quasi Verwandter? —
Dein Freund Eugen.
Klärchen an die Geſchwiſter.
Im Garten Nachmittags.
Ihr Lieben alle! Der verwahrloſte Theil des
Gartens iſt der ſchönſte, — da ſtehen die Bäume ſo
dicht, und Wurzeln, wie klammernde Arme, ſpannen
ſich über die Wege. Hier ſitz' ich am liebſten, an
einem vertrockneten, moosüberwucherten Brunnen und
ſchreibe Euch. Ach, leider zum letzten Mal heut',
denn morgen früh geht es weiter, den See hinab,
nach Deſenzano! Ich bin ſo gerne hier geweſen, es
iſt mir ganz wie ein Abſchied. Das bunte Städtchen
[223] mit der kleinen Piazza, nach der Seeſeite offen, die
Kaſtanienallee, die von uns aus dorthin führt, die
Wein- und Oelpflanzungen am Berg hinauf, ja, ſelbſt
der Friedhof mit den hohen Cypreſſen, die wie dunkle
Säulen zu beiden Seiten der Pforte ſtehen, — Alles
iſt mir vertraut und wird es bleiben, ſo lang' ich
lebe. Die beiden Pommeranzen ſind geſtern abgereiſt,
die Table d'hôte war heut' mit den zwei leeren
Stühlen noch ſchrecklicher, als gewöhnlich. Man ſitzt
und ißt anderthalb Stunden, und einige Leute ſtarren
Einen ſo an, daß man ſich gar nicht getraut, etwas
in den Mund zu ſtecken. Ich ſchüttele mich immer,
wenn wir damit durch ſind. Papa und Mama geht
es ebenſo, ſie ſagen, das Table d'hôte-Eſſen ſei —
der, die oder das? — einzige draw-back auf Reiſen.
Der Maler ißt nie mit, er macht Ausflüge und ißt,
wo er etwas findet. Das denke ich mir herrlich. —
Der Landrath aber ſitzt faſt täglich neben mir und
erzählt mir lauter Sachen, die weder intereſſant noch
hübſch ſind, aber ganz freundlich iſt er jetzt mit mir,
und er will ſogar Putzi füttern mit großen Fettſtücken
und Käſerinden, daß ich immer eine Todesangſt aus¬
ſtehe! Glücklicherweiſe iſt das ſüße Thier ſo klug,
mir die Brocken immer erſt vorzuzeigen, ſo daß ich ſie
ihm unbemerkt wegnehmen kann. Ich habe immer
ein Extra-Taſchentuch und eine Papiertüte dazu bei
mir. Geſtern, als ich im Garten ſpazieren ging,
[224] wehte plötzlich vom Balkon ein Briefblatt herunter.
Ich hob es auf, darauf ſtand: „Liebe Toni!“ Ich
dachte, eine Dame habe es vielleicht herunterflattern
laſſen, als ich es aber auf den Balkon zurücktrug,
ſaß oben der Maler und ſchrieb. Ich fragte ihn, ob
Toni ſeine Schweſter ſei, er ſagte: „So gut, wie
Schweſter.“ „So iſt ſie wohl Ihre Braut?“ fragte
ich. Da lachte er und ſagte: „Soll ich Ihnen Toni's
Bild zeigen?“ Ich nickte, denn ich dachte ſie mir
ſehr hübſch, nach ihm zu urtheilen; da zeigte er mir
die Photographie eines jungen Mannes in Tiroler
Tracht! „Wer iſt das?“ fragte ich. „Toni, mein
Freund Toni,“ lachte er. Ich ſtand recht dumm
da. „Bei uns iſt Toni ein Mädchenname,“ ſagte ich,
und dann ſprachen wir von Euch, und ich erzählte
ihm, daß ich Euch Alles, Alles ſchreibe, was mir be¬
gegnet. „Haben Sie auch von mir geſchrieben?“
fragte er. Ich hatte große Luſt, nein zu ſagen, aber
ich konnte doch nicht lügen! Ich ſagte alſo ja, aber
nun wollte er auch noch wiſſen, ob es Gutes oder
Schlimmes geweſen ſei. Ich ſagte ihm, nun natür¬
lich Gutes, daß er immer ſo nett gegen Putzi geweſen
ſei und ſo weiter. Nun kamen wir in ein ganzes
Hundegeſpräch, er hatte nämlich auch einen Hund ge¬
habt, einen Teckel, ein ſehr merkwürdiges Thier, ſehr
liebenswürdig, aber treulos, ein richtiger Don Juan,
der allen Hunden die Köpfe verdrehte und ſich dann
[225] nicht weiter um ſie bekümmerte. Die Hündin ſeines
Onkels, eine ſehr zänkiſche, biſſige, alte Jungfer ver¬
liebte ſich ſterblich in den Don Juan und ſtarb an
gebrochenem Herzen. Der Teckel wurde ſchließlich von
einer Dogge todtgebiſſen, und ſein Herr wollte nun
keinen Hund wieder haben. Es war Alles ſehr ſpa߬
haft, wie er es erzählte, aber ich konnte doch nicht
ſo recht darüber lachen. Ich ſagte ihm, ich möchte
lieber treue Hunde, wie Putzi, die andern verdienten
gar nicht den edlen Hundenamen; Putzi würde gewiß
ſterben, wenn ich ſtürbe, und er ſolle ſich nur ruhig
wieder einen Hund anſchaffen, einen wie Putzi. Aber
er ſagte, ſolchen fände er doch nicht. Nachher kamen
Papa und Mama auch aus ihren Zimmern auf den
Balkon heraus, und wir plauderten alle vier ganz
gemüthlich. Ich habe meiſtens zugehört, Papa ſprach
mit dem Maler über italieniſche Kunſt und das in¬
tereſſirte mich ſehr. Herr Schmidthammer kennt die
meiſten Maler und Zeichner in München und erzählte
uns viel Luſtiges aus dem Künſtlerleben, — er war
ganz verwundert, daß mir noch ſo wenig davon geſehen
haben, obwohl wir ſchon bald ein Jahr dort leben.
Er hat Papa um Erlaubniß gebeten, uns in Mün¬
chen beſuchen zu dürfen, und ſo werdet Ihr ihn ja
nun auch bald kennen lernen. Er iſt noch etwas
größer als Rudi, ſieht ihm überhaupt gar nicht ähn¬
lich, und doch fühle ich mich ſo zu ihm hingezogen,
Frapan, Bitterſüß. 15[226] als ob ich ihn ſchon lange kennte. Und Putzi läßt
ſich von ihm freiwillig auf den Arm nehmen! Das
iſt doch viel, nicht? — Ich muß Abſchied nehmen von
den Tauben im Hof, von den zwei Katzen, einer
grauen und einer dreifarbigen, — Putzi hat ſie ſo
oft erſchreckt, wenn ſie behaglich blinzelnd im Sonnen¬
ſchein lagen, das muß ich ihnen vergüten. Und von
den herrlichen Bäumen und allen Plätzen im Garten,
und vom berankten Balkon und heute Abend von den
Nachtigallen. So früh wie dieſes Jahr fingen ſie
ſonſt auch hier nicht, ſagt der Wirth. Die Orangen¬
blüthen, die ich Euch einlege, hat er mir heut' im
Gewächshaus geſchnitten, dazu auch noch zwei weiße
Camelien, aber die ſind zu dick. Wie glücklich bin ich
hier geweſen! Wie viel hab' ich ſchon erlebt, ſeit wir
fort ſind! Ich komme mir ganz erwachſen vor, und
Papa ſagte heute auch: „Du wirſt auf dieſer Reiſe
Deine Kinderſchuhe austreten, Kleine.“ Da nahm
Mama mich in die Arme und ſagte: „Mein armes
Kind! nein, nein, noch nicht!“ Was kann ſie damit
gemeint haben? Ich fragte ſie, aber ſie ſah mich
nur an und küßte mich.
Eure halb frohe, halb traurige Kläre.
[227]
Eugen Schmidthammel an Toni Emmer.
Lieber Toni! Dein Brief hierher befeſtigt mich
in meinem Entſchluß. Sie gibt die Briefe nicht her¬
aus, und ſo lange ich die Unglücksblätter in ihrem
Beſitz weiß, fühle ich mich nicht als freier Menſch!
Der Gebrauch meiner Glieder iſt mir beengt, ge¬
hemmt — als ein Halbgefangener kann ich vor dem
ſüßen Geſchöpf nicht umhergehen. Ich muß ver¬
ſchwinden, jetzt, nachdem ich in einem ſchwachen Augen¬
blick, hingeriſſen von ihrer Lieblichkeit, den Vater um
Zutritt in die Familie gebeten habe! In welches
Licht werd' ich kommen! Was wird das argloſe
Kind, das nicht einmal untreue Hunde ausſtehen mag,
von mir denken! Es iſt freilich nicht die Briefan¬
gelegenheit allein, die mich vertreibt. Auf dem
Dampfer nach Deſenzano — wir machten die Fahrt
zuſammen — und ich hatte ein Gefühl, als machte
ich meine Hochzeitsreiſe mit Klärchen, wenn ich ihr
allerlei kleine Dienſte leiſten, den weggeflogenen Hut
ihr wiederholen, den Putzi warten durfte, während ſie
ſich den Mantel zuknöpfte — auf dem Dampfer alfo
tauchte in Gargnano plötzlich das unheilverkündende
Geſicht der Baronin Hechingen unter den Ankommen¬
den auf. Die ſchlimmſte Zunge unſerer theueren
Kunſtmetropole, die natürlich meine und Selma's Ge¬
15*[228] ſchichte bis ins Detail kennt und in ſelbſt zubereiteter
pikanter Sauce Bekannten und Unbekannten auftiſcht.
Ich ſaß wie auf Kohlen, denn ich ſah das grinſende
Geſicht der Alten noch ſüßlicher werden, als ſie mich
erblickte, und wie ſie mich von Weitem anrief, wurde
mir aufrichtig ſeekrank. „Sieh' da, Herr Schmidt¬
hammer,“ ſagte ſie, „warum haben Sie denn unſer
Künſtlerfeſt verſäumt? Die Maifee hat ſich nach
Ihnen ihre ſchönen Augen ausgeweint!“ Klärchen
war zum Glück an den Frühſtückstiſch getreten und
hörte nichts, und der Papa iſt zu harmlos, war auch
zu ſehr in Betrachtung der Ufer vertieft, um die gif¬
tigen Worte zu hören. Die Mutter aber warf mir
einen fragenden Blick zu und flüſterte dann: „Iſt das
nicht die Hechingen? Ich kenne ſie aus einem Wohl¬
thätigkeitsconcert — leider — wenn ſie mich nur
nicht ſieht!“ „Ich will ſie unſchädlich machen,“ rief
ich, ſtürzte mich auf die Granate, die jeden Augen¬
blick platzen konnte und wich nicht mehr von ihrer
Seite, bis wir in Deſenzano waren. Ein Jammer
um die ſchöne Fahrt! Sie iſt leider gleichfalls nach
Verona gekommen, und ich habe, während ich ſie
überwachte, meine Familie aus den Augen verloren.
In Deſenzano auf der Station ging der Doktor an
mir vorüber, beladen mit warmen Koteletts und Bröt¬
chen, er ſah mich nicht und ich — herabgeſunken zum
Ritter der Hechingen, der ich eben zwei Apfelſinen
[229] hielt, während ſie die andern in ihre Reiſetaſche
ſtopfte, wagte kein Lebenszeichen zu geben. — Ich
fürchte, es iſt Alles aus! Zum Unglück hab' ich ſeit
geſtern Abend auch die Hechingen nicht mehr geſehen.
Mir iſt zu Muth, als ſei eine Brillenſchlange ent¬
kommen und wolle ſich auf mein Lamm ſtürzen.
Dazu Dein Brief! Der Hohn, ich ſelbſt ſolle die
Briefe zurückholen! Aber ſie weiß doch, daß ich auf
der Reiſe bin! Verſuch' es noch einmal, Toni, mein
Freund, mein Bruder. Ich bin ſehr unglücklich!
Dein Eugen.
Klärchen an die Geſchwiſter.
Meine Lieben! Mama bittet mich, Euch auch
noch ein Wörtchen zu ſchreiben; ich habe zwar einen
dummen Kopf, aber einen herzlichen Gruß ſollt Ihr
doch haben. Unſere Seefahrt war wunderſchön, ich
war ganz aufgelöſt vor Freude. Aber in der zweiten
Hälfte der Reiſe verſchwand plötzlich der Maler, Herr
Schmidthammer, und hat ſich ſeitdem gar nicht wie¬
der ſehen laſſen. Es thut mir ſehr, ſehr leid! Ob
wir ihn beleidigt haben, oder ob er uns nicht mehr
mochte, als er uns genauer kennen lernte, weiß ich
[230] nicht. Ich habe ſchon Kopfweh vom vielen Grübeln.
Nun, morgen bin ich wieder heiter.
Eure Euch zärtlich liebende
Kläre.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Lieber Sohn! Es iſt mir doch leid, daß ich gar
kein Malzeug mit habe, das ewige Karikiren hol' der
Teufel. Gelegenheit gäb's ja hier genug, und ich
bin nicht müßig drin, 's iſt ja auch Brotarbeit.
Aber mir juckt's in den Fingern, auch wieder e biſſel
zu landſchaftern. Gelt, thu mir die Lieb' und ſchick
mir meinen Studienkaſten, wie er ſteht und geht,
nach Venedig in den Sandwirth. Das heißt, Du
thuſt einen Blick hinein, ob er nicht ganz leer iſt und
räumſt e biſſel ein, was man ſo braucht! Skizzen¬
leinwand krieg' ich hier — ich könnt' ja auch das
Uebrige hier beſorgen, aber es wär' doppelte Ausgabe!
In vier, fünf Tagen bin ich in Venedig. Geſtern in
der Arena iſt mir die Hechingen begegnet, da gehört
ſie auch hin zu den andern Schuhus. Aber froh war
ich doch an der Begegnung, ſie reiſt nämlich ab, heut
ſchon, nach Vicenza, — das arme Vicenza, ich be¬
neid's nicht um den Beſuch! Nun Bog s nej! wie
[231] Freund Alexej ſagt! Wenn ſie mir nur mein Lamm
nicht würgt! Ich hab's nicht wieder gefunden, das
weiße Lämmchen und hätte ja allen Grund, in miſe¬
rabler Laune zu ſein, aber — ich weiß nicht, es geht
nicht; ich glaube, das Kind hat mich mit ſeiner Freu¬
digkeit angeſteckt. Wenn ich nur erſt einen Brief von
Dir hätte — Nachricht, daß ſie mich endgültig
freigibt.
Dein Freund Eugen.
Weißt, Landſchaft mit Staffage, denk fein dran,
wenn Du mir die Tuben zuſammenſuchſt!
Klärchen an die Geſchwister.
9. April Nachmittags.
Meine Geliebten! Seid nicht böſe, daß ich Euch
jetzt ſeltener und kürzer ſchreibe, wir ſind ſehr viel
unterwegs und haben ſoviel zu beſehen, daß ich es
nicht recht bewältigen kann. So ſchön wie Riva iſt
Verona nicht, finde ich, obgleich Papa ſagt, gerade
Verona trage echt italieniſchen Charakter. So furcht¬
bare blutige Erinnerungen gibt es hier! Wir waren
z. B. in der Arena. Erſt war es wie ein Traum,
dieſes rieſige Theater, in das die heiße Mittagsſonne
herunterglühte, daß die Steinſitze ganz warm waren.
[232] Ich dachte mir die ſchönen Geſtalten in antiken Ge¬
wändern dazu, und mein Herz zitterte ordentlich vor
Freude, ſolch' eine denkwürdige Stätte zu betreten.
Da zeigte Papa uns die dunkeln Gelaſſe unter den
Galerien, wo die wilden Thiere und wohl auch die
Verurtheilten, die mit ihnen kämpfen mußten, gefan¬
gen lagen bis zum Beginn des Kampfſpiels, und
dann wies er uns in der Mitte der Arena im Stein¬
fußboden die Löcher, durch die das Blut abfloß, und
da kriegte ich ein Grauen vor den Menſchen, die
ſolch' Schauſpiel hatten anſehen mögen, und mit aller
Freude war es vorbei. Sogar die Leute auf der
Piazza d'Erbe, die alle ſo lebhaft durcheinander rie¬
fen und ſprachen und ſo bunt gekleidet waren, kamen
mir nachher unheimlich vor, weil ſie doch die Nach¬
kommen jener grauſamen Alten ſind. Und am an¬
deren Tage, als wir in der Stadt ſpazieren fuhren,
führte uns der Kutſcher, der ein alter Soldat war,
aus der Feſtung hinaus und zeigte uns die Schlacht¬
felder von Cuſtozza und S. Lucia und ſagte immer:
„Hier war ein erbitterter Kampf um eine öſter¬
reichiſche Batterie, bis hierher lagen die Gefallenen,
dort an dem weißen Kreuz ſo hoch übereinander,
dieſer Bach floß roth von Blut.“ Nun war noch das
Aergſte, daß zwiſchen der Saat, auf die er zeigte,
viele Adonisröschen blühten, die wie friſche Bluts¬
tropfen in der Sonne glänzten — ach, ich ſehnte mich
[233] zurück in das liebe friedliche Riva, in den Garten
mit den Lorbeerbäumen und an den himmliſchen See.
Es thut mir ſo leid, daß ich ſo undankbar bin, ich
gebe mir auch alle Mühe, es vor Papa und Mama
zu verbergen.
Eure dumme Kläre.
P. S. Ach, und denkt Euch, mein armes Putzel¬
chen hat eine muserola, einen Maulkorb! Das iſt
hier Vorſchrift, und wir haben ihm einen kaufen
müſſen! Wie er damit ausſieht, was für Anſtren¬
gungen er macht, um ihn loszuwerden, und welch'
flehende Blicke er mir zuwirft, das iſt nicht zu be¬
ſchreiben! Es war der kleinſte Maulkorb, den ſie im
Laden hatten, und ſogar der iſt ihm noch zu groß!
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Lieber Junge! Wir ſind in eine Correſpondenz
hineingerathen, die wahrhaftig mehr ins vorige Jahr¬
hundert gehört, als in unſer Depeſchenzeitalter. Aber
ich muß mir's von der Seele ſchreiben, beſonders das
dumme, das mir jeden Tag paſſirt. Heut hab' ich
etwas Extras angeſtellt — ich möchte mich prügeln,
nur „wenn es noch einmal vor Dir ſtünde. Du thätſt
es noch einmal, mein Herz.“ Alſo Dir ahnt's wohl
[234] ſchon! Hab' die kleine Kläre wiedergeſehen, endlich,
und wo? — am „Grabe der Julia!“ Da bleib ein
Anderer vernünftig. Weiß wohl, was die Gelehrten
über den „Sarkophag“ für eine Anſicht haben, aber
für ſie war dieſer antike Schweinetrog ſo echt, ſo be¬
wundernswerth, ſo unantaſtbare Wirklichkeit! Und
ich frage Dich übrigens, warum könnt's nicht wahr
ſein? Wie ich da in die kleine Kapelle trat, durch
das Spitzbogenfenſter die Sonne ſchien auf den alten
Moſaikboden und den alten Steintrog, und die Rank¬
roſen draußen ihre zitternden Schatten warfen auf
das ſchlanke Ritterfräulein mit der tiefen Andacht in
den kindlichen Zügen, da erſchien mir alle Romantik
glaubwürdig und als das Wirkliche, Echte im Leben,
für das nur unſere Augen ſtumpf geworden ſind!
Und als ich gar bemerkte, daß ſie ſich freute — kurz
und gut, ich benahm mich unverantwortlich, und nun
ſitz' ich da und hab' noch immer keine Nachricht von
Dir! Aber, was iſt das auch für eine Wirthſchaft,
daß in unſerem verderbten neunzehnten Jahrhundert
ſo reizende Geſchöpfe unbewacht umherlaufen, um
Einem das bischen Verſtand vollends zu verwirren!
So etwas ſollte verboten werden. Freilich, ſolche
Muſtermenſchen, wie dieſes Elternpaar, urtheilt nach
ſich, und das Mädchen iſt ja auch von einer himm¬
liſchen Einfalt! Lebewohl, ſchilt mich, wie ich's
verdiene.
Dein Eugen.
[235]
P. S. Hab's aber nachher wenigſtens eingeſehen
und bin ſofort hierher abgedampft. Oder war das
nun am Ende wieder verkehrt?
Klärchen an die Geſchwiſter.
O, meine ſüßen Kinder, iſt es nicht merkwür¬
dig? gerade jetzt, wo wir morgen nach Venedig fah¬
ren, fängt Verona an, mir lieb zu werden! Ich hatte
eben das Schönſte hier noch nicht geſehen, und das
iſt das Grab der Julia. Heut war ich dort, allein,
denn Papa und Mama haben es früher ſchon geſe¬
hen, und da Papa etwas Kopfweh hatte, wollte
Mama lieber bei ihm bleiben. Sogar Putzi blieb zu
Haus, denn die alte Muſerola iſt ihm eine Qual.
— Eine ganze Weile war ich ſchon dort in dem
poetiſchen Kapellchen — andere Leute kamen nicht,
und der Aufſeher ging draußen pfeifend umher. Ich
konnte mich ganz vertiefen und vergaß, wo ich war.
Zuletzt kamen Schritte, der Aufſeher brachte mir eine
Roſenknoſpe und einen Myrthenzweig aus dem Ge¬
büſch draußen, als „Ricordo della tombal di Giu¬
lietta.“ Hinter ihm trat Jemand hervor, da war es
plötzlich der Maler, Herr Schmidthammer! Ich freute
mich ſehr, ſehr! Seit Gargnano hatten wir ihn
[236] nicht mehr geſehen. Fragen mocht' ich ihn nicht, er
war auch ganz wie ſonſt, faſt noch bekannter. Er be¬
gleitete mich bis an unſer Hôtel, wir ſprachen ſoviel
zuſammen, ich weiß nicht recht was, aber es war
Alles intereſſant. Er fragte mich, ob ich die Baronin
Hechingen kenne — ich war ganz verwundert, daß er
ſie kennt, denn Ihr wißt ja, wie ſie Mama unſym¬
pathiſch iſt. Und mir erſt! Er ſagte, er kenne ſie
nur ſehr oberflächlich, alſo ganz wie wir. Ich habe
ihm die Roſenknoſpe geſchenkt, er ſieht ſo unbeſchreib¬
lich freundlich aus, wenn er bittet. Ich wollte ihm
auch den Myrthenzweig geben, aber er ſagte, den
ſolle ich behalten. Nun haben wir Beide ein „Ri¬
cordo“! Aber das Grab der Julia würde ich ohne¬
hin nicht vergeſſen, mir ſcheint es das Schönſte von
ganz Verona zu ſein! Nächſter Brief aus Venedig!
Tauſend Grüße
von Eurer Kläre.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Jetzt ſind wir wieder 'mal Alle beiſammen, die
Familie, die Hechingen und ich! Es iſt zum Platzen!
Hielt's nicht aus in Vicenza, ſonſt meine Lieblings¬
ſtadt, auf die ich mich gefreut hatte wie auf eine ge¬
[237] liebte lebendige Seele. Palladio's Rathhaus war
göttlich wie ehedem, aber das Gefrorene in dem Café
gegenüber erinnerte mich an die Hechingen, es zog
mir den Mund zuſammen. Und im römiſchen Theater
trat ſie aus einer der Seitencouliſſen, und der ganze
Chor der Eumeniden ſchien mir in ihr verkörpert, als
ſie zu krächzen anfing: „Sie, Schmidthammer, wo
haben's denn den Doktor Esmarch und ſeine liebe
Frau gelaſſen, die ſo kurzſichtig iſt, daß ſie die Leut'
nimmer wieder erkennt, und das ſcharmante Klärchen,
das ſo einen langen Hals hinter Ihnen drein machte,
als Sie mit mir gingen in Deſenzano? Sie ſind er¬
kannt, Schwerenöther, Sie! Und ich ſollt' Ihnen
Grüße bringen von einer gewiſſen ſchönen Frau, die
ein treueres Gemüth hat als Sie, Schmetterling!
Was, eine trauernde Wittwe, ſo zu ſagen, in Mün¬
chen und nun ſchon wieder — —“ Ich ließ das rö¬
miſche Theater im Stich und rannte davon, was ich
laufen konnte. In die Rotonda habe ich mich nicht
einmal gewagt, ich wußte ja, Klärchen iſt nicht da!
Und wie hätte gerade ſie dorthin gepaßt mit ihrer
ſchlanken Anmuth und ihrer inſtinktiven Liebe zum
Großartigen! — Jetzt liegen die Sachen ſo: die
Hechingen wohnt in der Aurora, ich im Sandwirth,
und die Esmarchs, wie ich aus der Fremdenliſte er¬
ſehe, bei Bauer-Grünwald. Alſo ſämmtlich hingeſäet
am Canale grande! Sie, meine Verfolgerin, muß
[238] täglich an meinem Haus vorbei, wenn ſie ſtadtein
geht — ich, der arme Netzumſtellte, bin verurtheilt,
Klärchen zu verleugnen und die Hechingen zu cha¬
peronniren, ſobald es der einfällt! Das Frauen¬
zimmer wird mich noch zu einer Verzweiflungsthat
treiben. Du ſollſt es erleben. Könnteſt Du ihr nicht
eine Depeſche ſchicken, die ſie ſofort nach München
zurückberuft? Anonym natürlich! Schreib ihr, ihr
Haus ſei abgebrannt, ihr Sohn ſei im Duell gefallen,
ihre verheirathete Tochter ſei mit einem Anderen
durchgegangen, etwas Draſtiſches muß es ſchon ſein,
ſonſt wirkt es bei ihr nicht. Ach, ich fürchte, Deine
angeborene Weichherzigkeit läßt Dich vor jedem Ge¬
waltmittel zurückbeben. Du haſt keinen Muth, Toni!
Ihr Tyroler ſeid einmal zu gemüthvoll! Aber frei¬
lich, Du haſt den Jammer nicht auszuſtehen! Die
Briefe von — Selma haſt Du mir auch noch nicht
geſchickt, überhaupt keinen Brief! Den Studienkaſten
auch nicht! Na, Du biſt ein netter Kerl! Und ich
erſt!
Dein Eugen.
Derſelbe an Denſelben.
Gottlob, daß ich arbeiten kann! Haſt Alles
brav gemacht, alter Junge! So werd' ich die Ge¬
[239] witterſtimmung am eheſten beſchwören. Die Kleine
wag' ich nicht wiederzuſehen. Nein, nein! Ich halt's
zwar nur für einen ihrer — — Selma's — ge¬
wohnten Theatercoups, daß ſie Dir ſagt, ſie bewahre
die Briefe zum Hochzeitsgeſchenk für meine zukünftige
Frau. Deſſen iſt ſie nicht fähig. Sie iſt haltlos,
charakterlos, aber nicht ſchlecht. Mir ſelbſt wird ſie
ſie nicht verweigern, es iſt mir nur wie der Tod, daß
ich noch einmal zu ihr ſoll. Ach, das bischen Leben,
wieviel Angſt und Qual hat man davon. Und ich
glaubte dieſe Frau zu lieben.
Dein Freund Eugen.
Klärchen an ihre Geſchwiſter.
13. April Nachmittags.
Meine geliebten Kleinen! Ganz träg bin ich ge¬
worden im Briefſchreiben, nicht wahr? Es muß der
Scirocco ſein, der ſeit unſerer Ankunft hier weht und
uns faſt täglich ein Gewitter bringt. Im Anfang
war ich wie betäubt von all' den Wundern hier;
kann es noch etwas Schöneres, Märchenhafteres geben,
als dieſe Waſſerſtadt? Jetzt aber macht die Luft mir
Kopfweh, und Mama geht es ebenſo. Wir ſitzen
meiſtens wie matte Fliegen unter den Prokuratien
[240] oder eſſen Granita und füttern die Tauben. Das
Fahren in den engen Kanälen iſt jetzt bei der
Schwüle gar nicht angenehm, die unzähligen Taſchen¬
krebſe an den Hausmauern ſind greulich! ganz wie
dicke Rieſenſpinnen. Wir bleiben nicht lang mehr
hier. Von Murano fuhren mir geſtern im vollen Ge¬
witter in offener Gondel herüber, nicht eine einzige
bedeckte war da. Geſtern kam plötzlich die Baronin
Hechingen zu uns, als wir im Hôtelgarten zu Abend
aßen. Sie ſetzte ſich an unſeren Tiſch, obwohl wir
ſie gar nicht dazu eingeladen hatten, und nun fing
ſie an zu klatſchen. Soviele häßliche Geſchichten, daß
mir ſchlecht wurde. Zum Glück ſagte Mama, es ſei
ihr kalt, ich möchte ihr Tuch herunterholen. Ich ver¬
ſtand den Wink, gab das Tuch einem Kellner zum
Beſorgen und blieb auf meinem Zimmer oben. Die
Eltern kamen auch bald herauf; nachher gingen wir
noch Alle ins Café Quadri auf dem Marcusplatz, um —
wie Papa ſagte — den Abend nicht mit einem Mi߬
ton zu ſchließen. Es war Concert und ſehr belebt,
aber wir ſahen keine Bekannten. Niemanden als den
Landrath, der mit einem Kellner ſchimpfte. Er hatte
ſich nämlich an einen Tiſch geſetzt, wo es nur Bier
gab und verlangte dort Grog. Ich machte mich
ganz klein hinter einem Pfeiler, und er ſah mich
wirklich nicht. Nachher aber, denkt Euch, ging er
mit unter den Promenirenden und zwar in eifrigem
[241] Geſpräch mit der Baronin Hechingen. Papa wies mit
der Spitze ſeines Reiſeſchirms auf die Beiden und
flüſterte uns zu: „Da haben ſich ein paar edle Seelen
gefunden.“ Das war komiſch, nicht? Aber ſonſt
kein bekanntes Geſicht! Seid innig gegrüßt
von Eurer Klara.
P. S. Was müſſen das für himmliſche Men¬
ſchen geweſen ſein, die dieſe Stadt gebaut haben!
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
O, mein Freund, mein Freund! Es hat ein¬
geſchlagen, und ich bin ganz zerſchmettert. Wir tra¬
fen uns geſtern auf dem Dampfer nach dem Lido,
zum erſtenmal in Venedig. Als ich ſie erblickte, ein
bischen blaß und ernſt und mit ſuchenden Augen, war
wieder alle Ueberlegung dahin, und ich ſtürmte zu
ihnen hinüber. Mir fiel auf, daß der treffliche Dok¬
tor mich fixirte und mir langſam, als koſte es ihn
Ueberwindung, die Hand bot. Die Frau war ver¬
legen und ſprach ſchnell und bunt durcheinander,
Klärchen einzig war wie ſonſt, nur nicht heiter.
Putzi, deſſen Schnäuzchen in einem Maulkorb ſteckte,
ſah grämlich und mit zuckenden Lippen vom Schoß
Frapan, Bitterſüß. 16[242] ſeiner Herrin herüber. Mein ſternſchnuppenartiges
Auftauchen und Verſchwinden war ihnen unverſtänd¬
lich, das ſah ich wohl. Ich mag auch nicht zum
Beſten ausgeſehen haben, denn als wir ſpäter am
Strande auf- und abgingen — ich war mühſam,
durch häufiges Stehenbleiben und Muſchelſammeln
an Klärchen's Seite gelangt, fragte ſie mich, was
mir fehle? Da fuhr es mir wie ein Blitz durch den
Kopf: Sag' es ihr, ſie iſt ja kein Kind mehr, beſſer
noch, ſie erfährt es durch dich ſelbſt, als durch An¬
dere. Aber ſo direct wagte ich's doch nicht, ich
ſagte, das Schickſal eines Freundes gehe mir ſehr zu
Herzen. „Iſt es Ihr Freund Toni?“ Verzeih mir,
mein Alter, daß ich ja ſagte, es war ein ſo bequemer
Ausweg! „Kann ich's wiſſen, was ihm fehlt?“
fragte ſie, voll Mitgefühl in Ton und Gebärde. Da
ſagte ich blinder Thor ihr: „Er hat das Unglück ge¬
habt, ſich in eine verheirathete Frau zu verlieben!“
Sie riß die Augen auf: „Wie Triſtan und Iſolde!“
rief ſie verwundert. Ich wußte den Augenblick nicht
'mal den genauen Zuſammenhang der Geſchichte, ſagte
aber mechaniſch ja. „Alſo ſie kannten ſich, eh' Iſolde
den alten König Marke heirathete?“ fragte ſie zuver¬
ſichtlich. „Nein, das nicht, ſie lernten ſich erſt lange
nach ihrer Verheirathung kennen.“ Ihr Geſicht
wurde unruhig. „O, aber dann iſt es ja ganz an¬
ders! Wurde der Alte denn auch betrogen?“ Das
[243] mußte ich leider zugeben, aber ich ſuchte den Triſtan
dadurch zu vertheidigen, daß er noch keine rechte
Frau kennen gelernt hatte und deshalb dazu kam,
ſich in dieſe zu verlieben, die er für gut hielt, weil
ſie ſchön war. Aber ich ſagte Dir's ja ſchon, dieſe
Kleine ſieht durch drei eiſerne Thüren. „Wie konnte
er ſie für gut halten, wenn er doch wußte, daß ſie
ihren Mann betrog?“ fragte ſie mit tiefem Erröthen.
„Und weiter?“ — „Und nun hat mein Freund die
Richtige gefunden und fühlt ſich nicht mehr werth,
ſich ihr zu nähern, weil“ — „O,“ flüſterte ſie plötz¬
lich mit abgewandtem Geſicht, „die Geſchichte hat
uns geſtern die Baronin Hechingen von Ihnen er¬
zählt, und ich — habe kein Wort davon geglaubt!“
Sie brach in Thränen aus, drehte ſich um und ging
der Badeanſtalt zu, ohne ſich weiter umzuſehen. Ich
wünſchte, ich wär' ein Taſchenkrebs geweſen und hätte
mich in den Sand eingraben können. Jetzt kehrten
auch die Eltern um; ich beſchleunigte meinen Schritt
in derſelben Richtung, an der Brücke der Badeanſtalt
erreichte ich Klärchen. „Nun hab' ich auch noch mei¬
nen Freund verleumdet,“ ſagte ich, — ich glaubte,
Dir das ſchuldig zu ſein, da ſah ſie mich mit thränen¬
vollen Augen an und flüſterte: „Ich möchte, es wäre
doch lieber er geweſen.“ Ach, mein Junge, wirſt Du
mir's verzeihen, daß ich von Herzensgrund denſelben
Wunſch hege? Sie hat dann weiter kein Wort ge¬
16 *[244] ſprochen, und ich habe den Alten eine ſtumme Ver¬
beugung gemacht und mich gedrückt. Kein Zweifel,
ich habe ſie verloren! Sie iſt zu jung, zu weltun¬
kundig, um nicht durch dieſe Enttäuſchung für immer
den Geſchmack an mir zu verlieren. Ich ſagte Dir's
ja, dieſe reinen Weſen verlangen viel! Eine dumpfe
Trauer hat ſich meiner bemächtigt; von dem Beſten,
was einem Manne werden kann, von der reinen un¬
enttäuſchten Liebe eines jungen Herzens wie dieſes
bin ich ausgeſchloſſen. Was für andere Frauen viel¬
leicht ſogar ein pikanter Reiz wäre, für dieſes Kind
trägt es den Namen Sünde. Ach, und ich geb' ihr
Recht!
Dein Eugen.
Klärchen an die Geſchwister.
Meine Lieben! Mama hat Euch einen ſo herr¬
lichen Brief geſchrieben (ſie hat ihn mir eben vor¬
geleſen) und Euch dieſe ganze einzige Stadt ſo ſchön
darin geſchildert, daß ich wirklich gar nichts übrig
behalten habe. Vorgeſtern Abend hatten wir ein
großartiges Gewitter, es hielt uns auf dem Lido feſt
bis in die Nacht hinein, es ſah aus, als ob Himmel
und Erde vergehen wollten; ſo ſchnell und ununter¬
[245] brochen wie ſich kreuzende Schwerter zuckten die Blitze.
Mir war ganz ruhig dabei, während Papa und
Mama ſich um mich und das Nachhauſekommen ſorg¬
ten. Seitdem nun iſt der Scirocco verſchwunden, es
weht eine reine Luft, aber es iſt kalt; die Berge in
der Ferne ſind alle mit Neuſchnee bedeckt, und wir
haben unſre wärmſten Kleider angezogen. Es iſt, als
wollte es Herbſt werden und war doch eben erſt
Frühling. Ich habe Sehnſucht nach Euch, trotz all'
dem Schönen, das uns hier umgibt. Habt Ihr mich
noch ſo lieb wie als ich wegging? Schreibt Edmund
Dir ſchon viel über Eure Einrichtung, meine Evy?
Ich will recht bei der Ausſteuer helfen, wenn wir
zurück ſind, ſchade, daß ich ſo wenig Handarbeit ver¬
ſtehe. Von Albert's Buch haben wir längere Zeit
nichts gehört, ſchick' uns doch die Anzeigen, liebe
Irene. Wir freuten uns ſo, als wir die Broſchüre
in Bozen in einem Schaufenſter liegen ſahen!
Hiſtoriſches aus Tyrol muß ja auch die Tyroler in¬
tereſſiren. Wir gehen heute wieder zu Aſſunta von
Tizian. Das iſt doch das allerſchönſte Bild. Ich
denke mich ganz hinein, und manchmal kommt es mir
vor, als ſei es der Maria ſchmerzlich, in den Him¬
mel aufzuſteigen, wenn ſich doch ſo viele Hände von
der Erde ihr nachſtrecken. Ich lege Euch eine un¬
aufgezogene Photographie des Bildes ein, ſie iſt aber
[246] ſehr ſchlecht. Wenn Ihr Eure Hochzeitsreiſe hierher
macht, müßt Ihr zuerſt zur Aſſunta gehen.
Mit vielen Grüßen
Eure Schweſter Klara.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Ich kann Dir nicht ſagen, was für eine Offen¬
barung dies Kind für mich iſt! Es wäre zwar ver¬
zweifelt unbequem, wenn alle Frauen wären wie ſie,
aber beſſer für uns Männer wär's gewiß. Ich ſchäme
mich jedes unreinen Gedankens, ſeit ich ſie kenne; ich
denke mit Grauen an die dumpfe Leidenſchaft zu
Selma, wie an eine ſchwere Krankheit, die hinter
mir liegt, — ich bin überzeugt, ſie könnte alles Gute
in mir wecken, alles Gemeine allmälig von mir ab¬
ſtreifen, — aber — was hilft es mir — ſie will
mich ja nicht! Nein, Toni, ſie will mich nicht!
Sie grüßte mich geſtern, als wir uns vor der
Aſſunta trafen, mit einem müden Lächeln, und als
ich auf ſie zutreten wollte, ſenkte ſie den Kopf, daß
ihr großer Hut das Geſicht verdeckte und trat bei
Seite. Sie mag mich nicht mehr. Denn daß ſie
mich früher gemocht hat, erkenn' ich nun wohl, wenn
ich an frühere Begegnungen denke. Wie da ihre
[247] Augen „Willkommen!“ riefen, und die liebe Hand
ſich mir entgegenſtreckte, ſchon von Weitem. Nun
quält mich die Frage: Hätt' ich beſſer gethan, ihr
die Geſchichte zu verſchweigen? Aber ſie hängt mir
doch einmal an, und wenn Selma mich geliebt hätte,
ſtatt mit mir zu ſpielen, ſo wäre vielleicht, nein, ge¬
wiß — die Scheidung im Gange, und ich wäre in
abſehbarer Zeit Selma's Mann! Die Thatſache läßt
ſich doch nicht aus der Welt räumen, ſo qualvoll ſie
mir jetzt auch iſt. Wie glücklich, daß nicht alle
Wünſche in Erfüllung gehen! Denk' Dir, ich hätte
Selma geheirathet, und mir wäre dann Klärchen be¬
gegnet! Ich bin freilich auch ſo unſelig.
Dein Eugen.
P. S. Ich male, daß es nur ſo ſpritzt. Die
Hechingen grüß' ich höflich, da ich ſie ja doch nicht
vergiften kann, was ich lieber thäte.
FrauDr. Esmarch an ihre Kinder.
Meine geliebten Kinder! Klärchen weiß nicht,
daß ich Euch dies ſchreibe, — es iſt aber nothwendig,
weil ich Euch bitten möchte, in Euren Briefen nicht
nach dem Herrn Nietzſche zu fragen. Er iſt uns ja
erſt als ein grober, unſchädlicher Polterer erſchienen
[248] und war gewiſſermaßen die komiſche Perſon auf unſrer
Reiſe. Jetzt aber hat er verſucht, ſich unſerm arg¬
loſen Klärchen auf eine unbeſchreiblich unzarte Art zu
nähern, und das arme Kind iſt ganz außer ſich.
Leider wohnt er wieder in demſelben Hôtel wie wir,
und als er geſtern Abend Klärchen allein im Leſe¬
zimmer traf, hat er es unbegreiflicher Weiſe gewagt,
einen Kuß von ihr zu verlangen. Ihr könnt Euch
den Schrecken des armen Kindes denken! Sie hat
zuerſt geſagt: „Aber Sie ſind doch nicht mein Gro߬
papa!“ Da iſt er zornig aufgeſprungen und hat ge¬
ſagt: „O, ich bin noch nicht ſo alt, ich kann noch,
was mancher Jüngere nicht kann! Meine Kinder ſind
alle verheirathet, und mit einer jungen Frau lebt
man erſt recht wieder auf, Sie ſind noch ein bischen
kindiſch, aber das wollt' ich Ihnen bald abgewöhnen.
Die Männer, die heirathen wollen, ſind heutzutage
rar, und 'ne alte Jungfer wollen Sie doch nicht wer¬
den?“ Klärchen war ganz in eine Ecke verbarricadirt
hinter einem Lehnſtuhl und mußte die plumpen Reden
anhören, bis zum Glück Leute hereinkamen, und ſie,
zitternd vor Aufregung und Beſchämung, in unſer
Zimmer ſtürzte. Und trotzdem dieſer Mann nun doch
geſehen hatte, wie erſchrocken das Kind war, hat er
Papa im Garten abgefangen und ihm einen förm¬
lichen Heirathsantrag gemacht. Dies nun weiß
Klärchen nicht, und ich bitte Euch, es auch nicht zu
[249] erwähnen! Wie iſt es möglich, daß der älteſte un¬
angenehmſte Mann ſich noch immer gut genug hält
für das jüngſte und liebſte Mädchen! Papa war ſo
zornig, wie ich ihn in den letzten Jahren gar nicht
geſehen habe. Und denkt Euch, der unverſchämte
Mann hat Eure Schweſter ſogar noch beleidigt, hat
geſagt, ſie habe ihn aufgemuntert und ihm verliebte
Augen zugemacht! Ihr wißt doch, wie Klärchen iſt,
wie ſie der ganzen Welt zulächelt und für Jeden ein
freundliches Wort hat, aber daß es ſo ſchändlich mi߬
deutet werden könnte, wäre mir nie in den Sinn ge¬
kommen. So lehrt der Verkehr mit Menſchen uns
eine Vorſicht, die uns zwar beſchützt, aber doch auch
entſtellt. Ihr, meine Aelteſten, die Ihr das Glück
habt, mit guten, feinfühlenden Männern verlobt zu
ſein, werdet meine Bekümmerniß um das arme Klär¬
chen verſtehen, und Du, mein lieber Sohn, mein guter
Rudi, Dich bitt' ich innig, wo Dich das Leben mit
Frauen zuſammenführt, ſei zart, ſei achtſam, wir
ſind ſo leicht verletzlich! Denke nicht, jedes freund¬
liche Mädchen, das Dir zulächelt, weil der liebe Gott
es zum Lächeln geſchaffen hat, ſei ſchon bereit, ſich in
Dich zu verlieben.
Wir reiſen morgen früh direct nach Goſſenſaß,
wo wir uns noch einige Zeit aufzuhalten gedenken.
Die herbe Gebirgsluft bekommt Klärchen am Beſten
und iſt auch für Papa ſo anregend, obgleich gerade
[250] er Venedig ſehr ungern ſchon verläßt. Ihr wißt ja,
ihm iſt dieſe „Pfahlbauerſtadt von der höchſten künſt¬
leriſchen Vollendung,“ wie er ſie immer nennt, ſchon
dieſer Eigenthümlichkeit wegen ans Herz gewachſen;
„das uralte Bauprincip der Seebewohner hat nur
dieſe einzige dauerhafte Blüthe gezeitigt,“ ſagte er,
„alle übrigen Anſiedlungen ſind auf ganz niedrer
Kulturſtufe ſtehen geblieben.“ Die Frage, ob denn
gar keine Zwiſchenglieder exiſtirt haben, beſchäftigt
ihn ſehr; wenn wir zurück ſind, wird er wohl etwas
darüber ſchreiben. — Liebe Kinder, auch den jungen
Maler erwähnt lieber nicht. Ihr wißt, den Herrn
Schmidthammer, der ſich uns eine Zeit lang an¬
geſchloſſen und durch ſein ſympathiſches Weſen und
ſeine Zuthunlichkeit ſehr für ſich eingenommen hatte.
Wir haben Allerlei über ihn gehört, was uns ſehr
mißfällt, und wenn auch die Quelle unrein iſt, — es
iſt die Hechingen — ſo wird immerhin etwas Wahres
daran ſein. Ich habe Klärchen gewarnt, aber ſie
hält ſich ſchon ſelbſt zurück. Lebt wohl, meine gelieb¬
ten Kinder. Ich küſſe Euch zärtlich.
Eure Ma.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
Du meinſt, ich hätt' ihr noch ſagen ſollen, daß
zwiſchen mir und Selma Alles aus iſt? Aber ich
[251] bitte Dich, das verſteht ſich für ſie doch ganz von
ſelbſt! Nein, ich habe ſie verloren, jetzt weiß ich's
ſicher. Sie wird roth und blaß, wenn wir in Ga¬
lerien und Kirchen zuſammentreffen, was doch hie und
da geſchieht. Und immer ſind die Eltern dicht bei
ihr und ſehen mich fremd und kühl an, als wollten
ſie mich mit den Blicken in angemeſſener Entfernung
halten, und ich kann's kaum glauben, daß dies die¬
ſelben Menſchen ſind, die ſo unbefangen und freund¬
lich waren und mich in ihr Haus einluden. Ich bin
in den Bann gethan! Frag' doch mal beiläufig
Selma, wenn Du ſie ſiehſt, ob ſie mich verflucht hat.
Ich möchte wiſſen, ob ihre Flüche wirken. Was ſie
übrigens dazu veranlaßt haben könnte, wüßt ich auch
gern. Daß ich Klarheit verlangte, ihr ein Entweder
— Oder ſtellte, wer kann mir's verdenken? Daß ſie
trotz ihrer Liebe zu mir, ihrer ſogenannten großen
Leidenſchaft, es auch mit dem — Gatten nicht ganz
verderben wollte, daß ſie ihr ſtattliches Haus, den
Luxus, der ſie umgab, nicht aufzugeben gedachte, um
einem jungen Liebhaber zu folgen, der nicht viel
mehr hat als ſein Talent, — iſt das ihre Schuld
oder die meine? —
Ich füttere meine hungrige Seele, um ſie über
die dürre Gegenwart zu täuſchen, mit ſüßen Brocken
aus der Vergangenheit. Auf dem Dampfer von
Riva nach Gargnano hab' ich eigentlich am ungeſtör¬
[252] teſten in ihr liebes Geſicht ſchauen dürfen. Und dies
beglückte Plaudern! Eine Muſikbande war auf dem
Schiff, ſpielte einen Walzer. Klärchen begann mit
den Füßen den Tact zu ſchlagen. Ich fragte ſie, ob
ſie gern tanze? „O ja,“ ſagte ſie, „ſonſt nicht ſo
gern, aber mit Ihnen möcht' ich es wohl 'mal pro¬
biren.“ — „Warum mit mir?“ frug ich wie ein
eitler Geck. — „Weil Sie meine Größe haben; auf
den zwei Bällen, die ich mitgemacht, war es entſetz¬
lich! alle Herren, die mit mir tanzen wollten, kleiner
als ich! einige gingen mir geradezu unterm Arm
durch!“ Ihre klägliche Miene war zum Küſſen.
Und heute früh ſind ſie abgereiſt! Ich ſah ſie
in einer Gepäckgondel den großen Canal hinein zum
Bahnhof fahren, ich ſchwenkte meinen Hut, aber ſie
ſahen mich nicht. Vielleicht auch wollten ſie mich
nicht ſehen.
Dein Eugen.
P. S. Hab's nicht laſſen können, bin hinein zu
Bauer-Grünwald und hab' nach den Herrſchaften Es¬
march gefragt. „Soeben abgereiſt.“ Ich bedauerte
aufrichtig, Du weißt, wie aufrichtig! „Wiſſen Sie
zufällig, wohin die Herrſchaften gehen?“ frug ich.
Der Oberkellner brachte das Fremdenbuch. Da
ſtand's: Goſſenſaß! Fremdenbücher ſind doch eine
ausgezeichnete Erfindung, ich habe das nie genug ein¬
geſehen. So ſag' denn auch ich der ſchönen Venezia
[253] Lebewohl und fahre meinem Sterne nach! Wohin er
mich wohl ſchließlich führt? Ich bin begierig! Ob
nach München? Oder nach Bethlehem? D. O.
Baronin Hechingen an Frau Selma Corrodi.
Ja, was ſagen Sie nur, liebſte ſchönſte Frau
Selma, daß zu Ihrer Viſit ſtatt der dicken Hechingen
in Perſon nur e Brieferl von ihr kommt! Gelt, Sie
werden mich ſchön ausrichten! Die alte Ratſchen,
werden Sie ſagen, wann man's emal braucht, um ſo
e leidige Kaffeeviſit e biſſerl aufzumuntern, da kommt
ſie nit! Ja, wenn die Ax' nit brochen wär', geſtern
Abend an unſerm Zug hier bei Goſſenſaß, ſo wär'
die Hechingen ſchon kommen, aber 's iſt ihr halt
nicht geheuer geweſen, nachher in dem reparirten
Wagen, wiſſen's, und ſo bin ich dablieben. Ach, was
hab' ich erlebt; was hab' ich erlebt! Mein Herz hat
geſchlagen, mehr als das Ihrige, Frau Selma, bei
Ihrem erſten Rendez-vous! Es iſt zwar ſchon lang'
her, aber vielleicht gedenkt's Ihnen doch noch! Alſo
ich bin vom Regen in die Traufen hereinkommen.
Wiſſen's, ich hab' die Reiſe hierher gemacht mit einer
ſcharmanten Bekanntſchaft von mir, Nize heißt er
oder ſo was und iſt ein Landrath, ein grober Kerl,
[254] aber man muß lachen. Im Warteſaal in Bozen ſaß
ein junges ſauberes Bauermadel, drei geiſtliche Herren
rundum und ſchneiden ihr die Cour. Ich ſtoß den
Nize an und zeig ihm die Gruppe, da ſagt er den
bibliſchen Spruch her von den Adlern, die ſich ſam¬
meln, wo — na, fein war's nit, aber gar nit übel,
ich ſag's ja, die Preußen haben Salz. — Alſo der
Landrath und ich, wir geh'n mitſammen ins Hôtel,
was man hier ſo heißt, mir geben ſie ein erbärm¬
liches Zimmer, dem Nitz eines daneben, nach dem
Nachteſſen geh ich bald ſchlafen. Auf einmal iſt ein
Gelauf und Getöbſe draußen auf der Dorfgaſſe, daß
ich auffahre, und es donnert an die Wand: „Ba¬
ronin, es brennt! Feuer!“ Der Nitz hat's alſo
früher gemerkt als ich! Durch den Vorhang gibt's
ſchon einen rothen Schein, ich war mehr todt als le¬
bendig. „Na, dies iſt 'ne Zucht!“ ſchreit der Nitz
immer durch die Wand, „der Wind ſteht hier her¬
über, nu man alle Mann aus der Bude hier raus!“
Ich ſah's nit für ſo ſchlimm an, will mich grad noch
e biſſerl pudern gegen die Nachtluft, da fährt die
Wirthin herein und ſchreit: „Bitt ſchön, hier ſind Sie
nicht ſicher, 's Haus iſt ſchon 'mal abgebrannt.“
Gelt, die Leut, die gewiſſenloſen? Quartiren Gäſt'
in ein Haus ein, das ſchon einmal abgebrannt iſt!
Eh ich meinen Zorn an dem Weib auslaſſen konnt',
war ſie ſchon draußen, und ich ſteh da und ſchrei um
[255] Hülfe, denn wie ſollt ich den Koffer wegſchaffen?
Wenigſtens wird doch der Nitzſch ſo viel Cavalier
ſein, daß er mir den Koffer nausſchafft, denk ich.
Aber nein, Frau Selma, in unſerm Alter da iſt
Spiel und Tanz vorbei! Sie werden's auch ſchon er¬
fahren haben, arme Seel'. Ich allein mit meinen
ſchwachen Kräften mußt' den ſchweren Handkoffer
hinauszerren, und wie ich, — kaum noch konnt' ich
ſchnaufen, — über dem Gang auf der Haustreppe
ſtehe, ſeh ich den Landrath mit 'em Perſpectiv in
der Hand auf den Stufen auf ſeinem eignen Koffer
ſitzen, und wie ich ihm zurufe, ſchreit er: „Na, wir
können froh ſein, daß wir hier trocken ſitzen; da geht
es böſ' her, die alten hölzernen Baracken brennen,
als wenn's Kartenhäuſer wären.“ Ich ſetzte mich
alſo neben ihn und kriegte auch mein Perſpectiv vor,
denn auf der Steintreppe war's nit gefährlich.
Sieben Häuſer brannten auf einmal, lichterloh, und
es war ein Geſchrei, daß man ſein eigen Wort kaum
verſteh'n konnt'. Auch im Bräuhaus und in der
Poſt ſaßen die Gäſte mit ihrem Gepäck auf der
Treppe, die meiſten aber ſtellten ſich in Reih und
Glied auf, vom Bach bis zur Brandſtätte, und ließen
die Feuereimer durch die Hände geh'n, denn eine
Feuerſpritz ſchien hier ganz unbekannt zu ſein. Die
paar Tropferln machten natürlich nicht viel aus, und
es brannte immer ärger. Alles kam mit dem biſſerl
[256] Hausrath auf die Straße heraus, das Vieh brüllte,
die Weiber ſchrien, 's war wie auf dem Theater.
Und wiſſen's, wer der Hauptmann bei der Feuerwehr
war, ich meine, bei der improviſirten? Ich wollt'
meinen Augen nicht trauen, ein guter Bekannter von
Ihnen, Frau Selma, kein Andrer als der Maler
Schmidthammer, der mich, ſcheint's, nit gut leiden
kann, weil ich ihn, wann ſich's ſchickt, an Sie er¬
innere! Der Bub muß immer mit dem Feuer ſpielen!
Ich weiß ſchon, Sie hören's nit gern, Liebſte, wann
ich von ihm rede, — 's iſt halt immer kränkend,
wann man einen jungen Anbeter einbüßt. Aber in¬
tereſſiren wird Sie's doch, daß er hier ſo romantiſch
mit 'em Waſſereimer umenandergeſprungen iſt, gelt?
Und das Schönſte kommt noch! Auf einmal nämlich
wird ein Mordsgeſchrei: „Das achte Haus hat Feuer
gefangen!“ und zwei, drei Weiber ſtürzen daher und
wollen die Schweine wegtreiben, die über die Gaſſe
zotteln, grad auf das Feuer los. Eine jammert, daß
es mir grad einen Stich durchs Herz gibt, denn das
Schweinsvieh iſt ihr entkommen und lauft gradaus.
Da ſpringt auf einmal eine hinter ihm drein, packt's
um den ſchmutzigen Leib und will's zurückziehen!
„Jeſſas,“ ruf' ich den Nitſch an, „iſt das nicht die
junge Perſon, die das Hunderl hat? das Klärchen
Esmarch?“ Und ſie iſt's, und grad ſeh' ich ſie neben
dem brennenden Haus hineinlaufen, dem Schweindel
[257] nach! Und haſt Du nicht geſeh'n, der Schmidt¬
hammer mit dem Feuereimer thut einen Sprung und
hinter ihr drein, und hinter dem der Vater, der Es¬
march, und hinter dem wieder die Mutter, alle in
den brennenden Stall! Jetzt ſeh'n Sie, Liebſte, ſo
was Dummes kann nur e ganz junges Madel an¬
ſtellen, denken Sie ſich, mir zwei, daß wir auf ein
Schweindel Jagd machten, — 's wär' nicht ſchlecht
für die „Fliegenden.“ So einem blutjungen Ding aber
ſteht Alles, und darum halt ich's auch mit der Ju¬
gend. — Ich bin Ihnen aber auch gut, das wiſſen's
doch? Kurz, als ſie wieder zum Vorſchein kamen,
das Märchen, wie ſich's gehört, in den Armen von
dem jungen Menſchen, und der Esmarch mit dem
Schweindel, und die Frau Esmarch bald das Klär¬
chen ſtreichelte und bald das Schweindel, da hätt'
ich was d'rum gegeben, wenn ich hätt' an dem Klär¬
chen ihrer Stell' ſein dürfen! Und Sie auch, gelt,
Liebſte? Jetzt bin ich begierig, wie ſich die Geſchicht'
weiter machen wird. Ich denk', ich kann Ihnen bald
eine fröhliche Verlobung melden, und deswegen bin
ich heut' noch hier blieben. Eine Feuerſpritz' von
Sterzing iſt kommen, gleich nach dem Knalleffekt und
hat das Feuer ausgelöſcht. Wir haben dann noch
einen Kaffee machen laſſen und ſchlafen wollen, aber
es ging nicht, das ganze Wirthshaus war voll von
Bauerbuben, die freie Zeche verlangten, weil ſie das
Frapan, Bitterſüß. 17[258] Dorf gerettet haben. Sie hätten's aber fein abbren¬
nen laſſen, ohne die Fremden, ſie hatten ganz den
Kopf verloren. Ich hab' mich ſchon befragt nach den
Esmarch's, die im Bräuhaus wohnen, aber ſie neh¬
men noch keinen Beſuch an, ſie haben alle drei leichte
Brandwunden erlitten, und nur der Schmidthammer
hat nichts. Das heißt, er wird halt ein brennendes
Herz haben! — Jetzt bitt' ich ſchön, daß Sie den
Brief, den langmächtigen, in Ihrer Viſit heute vor¬
leſen, daß die Hechingen doch dabei geweſen iſt. 's
iſt odios, wenn man alt wird! Das junge Volk freit
und läßt ſich freien, und wir ſitzen daneben. Jetzt
ſorgen Sie nur, daß Sie Ihre Zeit ausnützen, ein
paar Jährle haben Sie immer noch vor ſich, aller¬
ſchönſte Maifee! Immer
Ihre treue dicke Hechingen.
Klärchen an die Geſchwiſter.
Meine ſüßen Schweſtern und mein Herzens¬
bruder! Wir fürchten, daß Ihr etwas über die
Brandnacht von geſtern in den Zeitungen findet, ehe
Ihr wißt, daß es uns ganz gut geht, und deshalb
will ich Euch ſchnell beruhigen! Natürlich haben wir
uns bei dem großen Unglück helfend betheiligen wol¬
[259] len; es fehlte namentlich an Waſſer, denn der Bach
iſt ſeicht, und der Eiſak nicht ſo nah', — es war ein
unbeſchreiblicher Jammer. Drei arme Familien, die
Alles eingebüßt haben, da ſie nicht verſichert waren,
ſitzen in Thränen und Verzweiflung in der Küche
unſres Wirthshauſes. Papa hat unter den Fremden
hier eine Collecte gemacht, die ziemlich viel eingebracht
hat, und wir ſind übereingekommen, unſre Rückreiſe
zu beſchleunigen, um das Scherflein zu vergrößern.
Ein Glück iſt es nur, daß kein Menſch verunglückt,
auch außer einigen armen Hühnern kein Vieh ver¬
brannt iſt. Wir drei ſind, glaub' ich, die Einzigen,
die einige Brandwunden haben. Aber meine ſind
ganz unbedeutend, nur an der linken Hand, und
Papa's und Mama's ſind noch geringer, wie ſie
ſagen. Liebe, ſüße Kinder, ich muß es Euch doch
ſagen, vielleicht wäre es ſchlimm mit mir geworden,
wenn mich Herr Schmidthammer nicht hinausgetragen
hätte! Ich war vom Rauch ohnmächtig geworden,
und er fand mich und trug mich ins Freie. Ich hab'
ihn noch nicht wieder geſehen, aber ich muß immer
an ihn denken. Wenn er nicht bald kommt, geh' ich
hinüber, wo er wohnt, und erkundige mich, ob er auch
ganz unverletzt iſt, — oder ich bitte Papa, daß er
geht. Ich habe nämlich ein böſes Gewiſſen ihm ge¬
genüber; ich bin ziemlich unfreundlich gegen ihn ge¬
17 *[260] weſen. Und nun hat er mein Leben gerettet! Ich
bin noch ganz betäubt, kann nicht klar denken. Bald
mehr, Ihr Geliebten
von Eurer Klara.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
O, mein Freund, dies Klärchen! Haſt Du von
der Feuersbrunſt gehört, die heut' Nacht hier ſieben
Häuſer in Aſche gelegt hat? Denke Dir, die Kleine
lief einem Schweinchen nach in einen brennenden
Stall, das unbeſonnene, hochherzige Kind, — ich war
in der Nähe, und hab' ſie herausholen dürfen! Mir
iſt's wie ein Traum, daß ich ſie auf den Armen hielt.
Aber nun? was ſoll ich jetzt thun? Mir ihre Dank¬
barkeit zu Nutze machen? Das wäre nicht mein Ge¬
ſchmack! Soll ich —
(Drei Stunden ſpäter.) Toni, mein alter Junge,
wenn ich je wieder vom geraden Wege weiche, dann
heiß' mich einen Schuft, einen Verlorenen, Alles, was
Du willſt! Denke Dir, ſie ſind hier geweſen, hier
bei mir, alle drei, Vater, Mutter und Kind, um zu
ſehen, ob ich auch heil und geſund ſei! Und nach¬
[261] her hat der Vater mich bei Seite geführt und mir
geſagt, er möchte reinen Wein haben über die hä߬
liche Geſchichte, die ihnen die Hechingen erzählt. Da
hab' ich denn mein Herz erleichtert, Mann dem
Manne, und der treffliche Doktor hat zwar ſtark mit
dem grauen Kopf geſchüttelt, iſt auch, die Hände auf
dem Rücken, lange mit mir auf- und abgegangen,
endlich aber hat er doch gemeint, er wolle den Um¬
gang mit mir wieder aufnehmen, nur bitt' er ſich
aus, daß ich dem Klärchen keine Grillen in den Kopf
ſetze. Da hab' ich mich nicht halten können und hab'
ihm auch über das Klärchen Alles geſagt, was ich zu
ſagen hatte. Da hat er mir geantwortet, wenn ich
mein Herz ein Jahr lang prüfen und ſchweigen wolle,
dann werde er nicht dazwiſchen treten. Darauf hat
er ſeine Frau gerufen und ihr unſer Abkommen mit¬
getheilt, und ſo bin ich nun alſo der geduldete Be¬
werber um das reizendſte Geſchöpf dieſer Erde! Ich
werde ihr ſagen: „Liebes Herz, von mir weißt Du's
nun wenigſtens, daß ich nicht immer viel getaugt
habe, und auch wieſo nicht, — wenn ein Andrer
käme und verſchwiege ſein Vorleben, und gäbe Dir
nicht, wie ich, das Verſprechen, gut zu ſein, — Du
könnteſt noch weit ärger enttäuſcht werden.“ Soll ich
das ſagen? Oder ſie daran erinnern, daß ich acht
Jahre älter bin als ſie, und deshalb mehr Gelegen¬
heit gehabt habe, zu ſündigen? Ach, ſie wird mir
[262] ewig etwas zu vergeben haben! Was thäten wir
ohne die Nachſicht der Frauen!
Dein glücklicher Eugen.
Klärchen an die Geſchwiſter.
Meine ſüßen Drei! Morgen ſind wir bei Euch,
alle drei, alle vier! Wer der Vierte iſt? Ich ſag's
nicht, vielleicht könnt Ihr es rathen! Putzi liebt ihn
unbeſchreiblich, und es iſt eine gegenſeitige Liebe.
Wir haben heut' einen wonnevollen Tag gehabt, Alle
zuſammen. Mit verbundenen Händen zwar, — Papa's
Wunde iſt ſchon faſt wieder gut — aber dennoch
haben wir Frühlingsſträuße gepflückt; am Eiſakufer
und unter dem Berge, der Hühnerſpiel heißt, ſteht
Alles voll der ſchönſten Alpenblumen. Und ein Him¬
mel, ſo hoch und weit, und der Feuerſteingletſcher in
der Sonne blendend wie weißes Feuer! Schon wird
der Schutt der verbrannten Wohnungen weggeräumt,
und es heißt jetzt, der Schaden ſei weniger groß, als
man anfangs vermuthete. Herr Schmidthammer hat
in Venedig ſehr ſchöne Farbenſkizzen gemacht, ich hab'
ihm ganz Unrecht gethan mit meinem vorſchnellen
Urtheil über ſein Skizzenbuch. Mama ſagt, man
glaubt einen Menſchen zu kennen und kennt ihn noch
[263] lange nicht ganz. O, wie wahr das iſt. Er iſt der
beſte, liebſte, tapferſte Menſch, den man ſich denken
kann. Und ſo aufrichtig! Ich bin ſo glücklich
Eure kleine Kläre.
Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.
O Freund, ſie liebt mich wirklich, Klärchen liebt
mich! Als ich die ſchrecklichen Briefe bekam, die Du
mir endlich geſchickt haſt, — Du mußt mir noch er¬
zählen, wie Du ſie ihr entwunden, Freund, — als
die Blätter an die Frau, die mein Herz in ihren
Händen gehalten, mir zwiſchen den Fingern brannten,
dacht' ich plötzlich: Wie, wenn ich ſie Klärchen über¬
gebe, damit ſie ſieht, daß ich kein Geheimniß vor ihr
habe! Es war eine Gewaltprobe, ich wußt' es wohl,
denn wenn ſie dieſe tollen Dinge las, wenn ihre
Neugier größer war als ihr Vertrauen, dann mußte
ich auf das Schlimmſte gefaßt ſein, dann ſtand ihre
junge Neigung ſicher auf dem Spiel. Aber ich war
ſo unruhig, ich wollte Gewißheit haben. So ſucht'
ich Klärchen auf und gab ihr die Briefe. Und was
that ſie? O Freund, ſie gab ſie mir zurück und
ſagte mit einem himmliſchen Lächeln: „Es iſt ja
vorbei! verbrennen Sie ſie; nicht wahr, Sie wollen
[264] es niemals wieder thun?“ Wie mich die Kinder¬
worte durchzuckten: ich wäre ihr faſt zu Füßen ge¬
fallen! — Toni, Toni, was wirſt Du ſagen, wenn
Du ſie ſiehſt! Aber brav muß ich ſein, furchtbar
brav, mein Lebelang, ſonſt geht es mir ſchlimm.
Morgen ſehen wir uns! Ich rücke Dir gleich auf
die Bude und erzähle Dir von ihr, bis Du Dir die
Ohren zuhältſt! Uebers Jahr Bräutigam.
Dein Eugen.
Appendix A
Druck von Martin Oldenbourg, Berlin, Adlerſtraße 5.
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Appendix B
Berlin.
Druck von Martin Oldenbourg.
Adler-Straße 5.
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- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Bittersüß. Bittersüß. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhqw.0