166.

Die sehenden Leute erblicken einzeln zwar Vorgeschichten der verschiedensten Art, weitaus am häufigsten indessen Leichenzüge, seltener eine Hochzeit; jedoch soll die letztere ein unheimlicheres Schauspiel bieten als die ersteren, denn das Gefolge einer Leiche geht ehrbar und würdig mit gesenktem Haupte einher und macht den ernsten Eindruck, welchen die Gelegenheit verlangt, aber Hochzeitsgäste und Begleiter eines Brautpaares verzerren die Gesichter, grinsen und sehen mit den geöffneten Lippen und den langen weißen Zähnen gräulich aus. – Der Vorspuk zeigt einem Sehenden die Begebenheit in allen Einzelheiten, läßt die Pferde und Wagen, die Personen und ihre Kleidung und alle besonderen Vorkommnisse deutlich erkennen, nur sich selbst pflegt der Sehende nicht zu erkennen, mag er nun als Leiche, als Folger, Wagenführer oder wie sonst bei dem Ereignisse beteiligt sein. Auch wenn ein vorspukendes Lichtflämmchen grade dem Sehenden gilt, pflegt dieser davon keine Ahnung zu haben. Sonst aber sind die Erscheinungen der Wirklichkeit so täuschend ähnlich, daß der Sehende zuweilen gar nicht weiß, daß er Vorspuk sieht, sondern Wirkliches zu erleben meint.

a.

Dat mag nu woll'n Jahr of tein wäsen, do keem ick's Abends van de Arbeit. Unnerwegs keem ick bi Snider sin Jan, un wi gungen tohop awer den Kröger sin Esch. Do keem dar'n Wagen anjagd, Gott noch mal, wi kunnen doch nich so flink utn Wäge kamen, un't weer'n grot Spectakel. [175] Veer Pär harrn se vorn Wagen, dree brune un een wittet, un uppen Wagen seten acht Minsken, de hollden all den Kopp in de Luft und harrn den Mund wiet apen, as wenn se lachden – 't seeg gräsig ut! »da 's 'n Brutwagen,« sä ick to Snider sin Jan, un so as ick't sä, weer de Wagen weg, as weer'e inne Aer gahn, alles dodenstill. Wi gungen na Hus, awer nan halw Jahr deh Helmers sin Lena ut; as de na Raast (Rastede) keem, do halden se ähr mit veer Pär af, dree brune un een wittet, un as se do an us vorbifahren, do stottd ick Snider sin Jan an un sä: »Löwstu nu an Vorspok?«

b.

Ein Schmidt in Neuenkirchen sah sich eines Tages selbst als Leiche im Sarge in seinem Hause stehen oder meinte es doch. Kurz darauf kam die Nachricht von dem Tode seines Onkels, der in Holland wohnte, und seinem Neffen außerordentlich ähnlich war.

c.

Der alte Mann E. in Hohensüne, der spuksichtig war, konnte eines Nachts im Bette durchaus keine Ruhe finden und war deshalb genötigt aufzustehen. Wie er nun so aus dem Fenster sah, erblickte er einen Leichenwagen, der durch die enge Straße hinter seinem Hause fuhr, und obwohl der Weg vollkommen trocken war, hörte er doch den Wagen durch Wasser fahren. Die Personen auf dem Wagen konnte er, weil heller Mondenschein war, deutlich erkennen, nur das Gesicht des Fuhrmanns war ihm vollständig fremd. Auch sah er, daß das Gefolge vom Wege abbog und durch sein Haus ging, was auch sonst wohl geschah, wenn das Wetter naß und der Weg nicht mit trockenen Füßen zu passieren war. Kurz darauf starb in der Nachbarschaft der alte X. Jetzt erzählte er seinen Hausgenossen, was er gesehen, bedauerte aber dabei, daß durch diesen Todesfall sein Gesicht noch nicht ausgetan werden könne (also noch jemand sterben müsse), weil seit längerer Zeit eine überaus große Dürre geherrscht hatte. Was geschah aber? Des Nachts vor dem Begräbnis kam ein Gewitter, und es regnete so heftig, daß der Weg überschwemmt wurde und die Leidtragenden genötigt waren, durch E's Haus zu gehen. Und der Fuhrmann war E. selbst.

d.

Eine Frau zu Middogge ging einst mit mehreren Freundinnen, welche bei ihr zum Besuche waren, am Abend über die Dreschdiele nach dem Pferdestall. Wie sie eine kleine Strecke gegangen waren, blieb die Frau mit einem Male stehen und sagte: »Kinder, wo seid ihr? wir können dort unmöglich [176] hinkommen, es steht ja die ganze Diele voll schwarz gekleideter Menschen, sodaß niemand vorbei kann; kommt wieder um, wir müssen einen andern Weg gehen.« Sie gingen darauf einen andern Weg; von den Freundinnen hatte aber keine etwas gesehen. Nicht sechs Wochen waren danach verflossen, als jene Frau, welche den Besuch gehabt hatte, starb. Sie wurde im Sarge auf die Dreschdiele gestellt, woselbst sich viele schwarzgekleidete Verwandte und Nachbarn versammelten. So hatte sie ihre eigene Beerdigung vorhergesehen.

e.

Ein Mann in der Nähe von Hooksiel erzählt: Als ich schon verheiratet war, lebte ich mit meiner Mutter und meinen Brüdern noch in einem Hause. Ich wie meine Brüder mochten gern fischen und gingen oft vor Tage deshalb aus. Einst als meine Mutter recht krank war, rief ich in der Nacht meine Frau: »Komm, steh auf und mache Kaffee, damit wir fortkommen zum Fischen.« Sie sagte ja, kam aber nicht. Nachdem ich sie mehreremale aufgefordert, sagte sie: »Ja, jetzt stehe ich auf, aber stehe du gleich mit auf.« Ich tat es, trank meinen Kaffee, und wir gingen fischen. Am Tage frug ich meine Frau, wie es gekommen sei, daß sie diese Nacht so gezaudert habe. Sie erwiederte, in der Stube habe eine Leiche gestanden. »Laßt uns alles in Ordnung bringen,« sagte sie, »denn deine Mutter wird gewiß sterben.« Aber in der folgenden Nacht erkrankte sie selbst, und einige Tage nachher war sie eine Leiche. So hatte sie sich selbst als Leiche gesehen.

f.

Zu H. im Stedingerlande diente ein Knecht, der die Gabe hatte, Vorspuk zu sehen. Wenn ein Todesfall bevorstand, mußte er aus dem Bette und auf die Diele gehen, wo dann der Sarg stand, und jedesmal starb der, welchen er gesehen, in Jahresfrist. Als es ihn einmal wieder auf die Diele trieb, sah er den Sarg, aber den Toten, der darin lag, kannte er nicht. »Warte,« dachte er, »ich will dich schon wieder kennen, wenn ich dich antreffe,« nahm ein Messer und schnitt dem Toten über der Stirn einen Büschel Haar ab. Als sie am nächsten Morgen beim Trinken saßen, sagte die große Magd zum Knechte: »Du, wer ist dir bei den Haaren gewesen?« Der Knecht erschrak und sah, daß er selbst der Tote gewesen sei, dem er das Haar abgeschnitten. Er kündigte sofort den Dienst, denn der Tote muß in dem Hause sterben, wo er gesehen, und verdang sich anderswo. Aber nach einiger Zeit fühlte er eine große Sehnsucht nach seiner alten Herrschaft und [177] machte sich, da er sich ganz wohl fühlte, auf, um dieselbe zu besuchen. Wie er aber im Hause war, starb er. (Diese Geschichte wird mit geringen Abweichungen auch in Elsfleth, im Butjadingerlande und an verschiedenen Orten des Münsterlandes erzählt. In Butjadingen heißt der Schluß: Nach Jahren traf der Bauer seinen früheren Knecht in dem Wirtshause seines Dorfes, wo derselbe übernachten wollte, und lud ihn ein mitzugehen. Der Knecht nahm die Einladung an und starb in derselben Nacht in dem Hause seiner alten Herrschaft. In Fladderlohausen stirbt der Knecht, als er am nächsten Sonntag nach seinem Abgange ein vergessenes Bündel Kleidungsstücke abholen will; in Altenoythe, als er im Hause der früheren Herrschaft einen Toten ansagen muß. Er will nicht bleiben, läßt sich aber herbei, einen Augenblick Platz zu nehmen, wird plötzlich unwohl und stirbt. An mehreren Orten werden sogar die Namen der Personen genannt, denen die Sache begegnet sein soll.)

g.

Eine alte Frau in der Landgemeinde Oldenburg hatte einst erzählt, sie habe auf einer wassergefüllten Grube, die nicht weit von ihrem Hause am Wege lag, ein Licht brennen sehen; es werde dort bald ein Unglück geschehen. Nicht lange nachher ward diese selbe Frau in der Grube ertrunken gefunden.


Vgl. 160 a.

h.

Die Magd eines Hausmanns zu Jade, welche die Gabe hatte, Vorgeschichten zu sehen, war auf dem Lande bei ihrer Arbeit, als sie einen feinen in schwarz gekleideten Mann nach dem Hause gehen sah. Der Hausmann war auch draußen und kam über das Feld, wo die Magd beschäftigt war, und diese sagte ihm, daß er Besuch bekommen habe. Der Bauer ging nach Hause, aber es war niemand dagewesen. Die Magd erhielt nun Vorwürfe über ihre Unwahrheit, aber sie blieb dabei, daß sie die Wahrheit gesagt habe. Einige Tage darauf sah sie denselben schwarz gekleideten Herrn nach dem Hause gehen und teilte es dem Bauern, der wieder draußen war, mit. Dieser begab sich nach Hause, und nun war der Herr wirklich da. Es war ein Freier, der um die Schwester des Hausmanns anhielt.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. 166. [Die sehenden Leute erblicken einzeln zwar Vorgeschichten der verschiedensten]. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-2AE0-7