[31] Die Silbenmaße

1.
Der Hexameter

Gleichwie sich dem, der die See durchschifft, auf offener Meerhöh'
Rings Horizont ausdehnt, und der Ausblick nirgend umschränkt ist,
Daß der umwölbende Himmel die Schaar zahlloser Gestirne,
Bei hell athmender Luft, abspiegelt in bläulicher Tiefe:
So auch trägt das Gemüth der Hexameter; ruhig umfaßend
Nimmt er des Epos Olymp, das gewaltige Bild, in den Schooß auf
Kreißender Flut, urväterlich so den Geschlechtern der Rhythmen,
Wie vom Okeanos quellend, dem weit hinströmenden Herrscher,
Alle Gewäßer auf Erden entrieselen oder entbrausen.
Wie oft Seefahrt kaum vorrückt, mühvolleres Rudern
Fortarbeitet das Schiff, dann plötzlich der Wog' Abgründe
Sturm aufwühlt, und den Kiel in den Wallungen schaukelnd dahinreißt:
So kann ernst bald ruhn, bald flüchtiger wieder enteilen,
Bald, o wie kühn in dem Schwung! der Hexameter, immer sich selbst gleich,
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Ob er zum Kampf des heroischen Lieds unermüdlich sich gürtet,
Oder, der Weisheit voll, Lehrsprüche den Hörenden einprägt,
Oder geselliger Hirten Idyllien lieblich umflüstert.
Heil dir, Pfleger Homers! ehrwürdiger Mund der Orakel!
Dein will ferner gedenken ich noch, und andern Gesanges.

2.
Die Elegie

Als der Hexameter einst in unendlichen Räumen des Epos
Ernst hinwandelnd, umsonst innigen Liebesverein
Suchte, da schuf aus eignem Geblüt ihm ein weibliches Abbild,
Pentametrea, und ward selber Apoll Paranymph
Ihres unsterblichen Bundes. Ihr sanft anschmiegend Umarmen
Brachte dem Heldengemahl, spielender Genienschaar
Aehnlich, so manch anmuthiges Kind, elegeïsche Lieder.
Er sah lächelnd darin sein Mäoniden-Geschlecht.
So, freiwillig beschränkt, nachläßigen Gangs, in der Rhythmen
Wellenverschlingungen, voll lieblicher Disharmonie,
Welche, sich halb auflösend, von neuem das Ohr dann feßelnd
Sinnigen Zwist ausgleicht, bildeten dich, Elegie,
Viel der hellenischen Männer, und mancher in Latium, jedes
Liebebewegten Gemüths linde Bewältigerin.

[33] 3.
Der Jambe

Wie rasche Pfeile sandte mich Archilochos,
Vermischt mit fremden Zeilen, doch im reinsten Maß,
Im Rhythmenwechsel meldend seines Muthes Sturm.
Hoch trat und fest auf, dein Kothurngang, Aeschylos;
Großart'gen Nachdruck schafften Doppellängen mir,
Sammt angeschwellten Wörterpomps Erhöhungen.
Fröhlicheren Festtanz lehrte mich Aristophanes,
Labyrinthischeren: die verlarvte Schaar anführend ihm,
Hin gaukl' ich zierlich in der beflügelten Füßchen Eil.

4.
Der Choliambe oder Skazon

Der Choliambe scheint ein Vers für Kunstrichter,
Die immerfort voll Naseweisheit mitsprechen,
Und eins nur wißen sollten, daß sie nichts wißen.
Wo die Kritik hinkt, muß ja auch der Vers lahm sein.
Wer sein Gemüth labt am Gesang der Nachteulen,
Und wenn die Nachtigall beginnt, das Ohr zustopft,
Dem sollte man's mit scharfer Dissonanz abhaun.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. Die Silbenmaße. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D3FC-9