Nachträge zu den Kindertotenliedern

1. Als sich der Tod meiner Kinder bejährte

Grad' in diesen Tagen,
Da ich wollte klagen,
Daß du hingeschieden
Um die Zeit vorm Jahr,
[210]
Blickt dein Bild so klar,
So mit stillem Frieden
Auf mich wunderbar,
Daß ich statt Verzagen
Selig ein Behagen
Fühle, das fürwahr
Nicht ist von hienieden,
Sondern aus dem Frieden
Dorther, wo mein Paar
Nun auf immerdar
Wohnung aufgeschlagen,
Allem Weh geschieden,
Bei der sel'gen Schar.

2.

Entgegen geh' ich nun den trüben Tagen,
Der traur'gen Zeit, die mir vom ganzen Jahr
Die unerfreulichste schon sonst auch war,
Eh' sie so herbe Wunden mir geschlagen;
Die Zeit, wo wir um Lichtabnahme klagen
Und sehn die Erde Blumenschmuckes bar,
Dieselbe Zeit hat auch mein schönes Paar
Wie Sonnenschein und Blumen weggetragen.
Und wenn in Mitte dieser Finsternisse
Sonst ein Gestirn des Trosts und Heiles stand
Das Kinderfest der heiligen Weihnachten;
O wie ich nun auch dessen Segen misse,
Da ihr zu Grabe ginget, in der Hand
Die Gaben haltend, die vom Fest gebrachten!

3.

Im Sommer war es mir ein Trost, mit Blüten
Die Gräber meiner Kinder zu umfloren;
Neu glaubt' ich mir die blühenden geboren,
Wenn sich die Knospen aufzubrechen mühten.
[211]
Nun aber bei des Winters strengem Wüten
Die zarten Frühlingskinder sind erfroren,
Ging mir der süßen Täuschung Spiel verloren,
Und Dichtung nur kann den Verlust vergüten.
Die Kinder meiner Wonne, meiner Schmerzen
Sind nicht begraben in der harten Erde,
Sie sind's in meinem weichen lockern Herzen;
Das wird zu einem Rosenfeuerherde,
Aus welchem sprühn wie Flammen heil'ger Kerzen
Trostlieder, die ich ziehn statt Lilien werde.

4.

Unter des Himmels Blau,
Unter des Maien Tau,
Den Frühlingslüften lau,
Als ihr schliefet im Freien,
Dacht' ich, die Bettchen seien
Wohlbestellet euch zweien.
Unter des Himmels Grau,
Den Winterlüften rauh,
Auf der erstorb'nen Au,
Nun ihr schlafet im Freien,
Wird es über euch schneien
Nicht Blüten wie im Maien.

5.

Wenn ich euer denke,
Ist's als ob sich senke
Himmel in die Brust,
Und im Erdgewühle
Ist's als ob ich fühle,
Die ihr fühlet, Edens Lust.
Soll ich's Wunder nennen?
Nicht von euch zu trennen
Weiß ich mein Gefühl;
Nicht von euch zu scheiden,
[212]
Fühlt' ich eure Leiden
Mit bis zu des Todes Pfühl.
Soll ich's Wunder nennen?
Eurer Wunden Brennen
Hab' ich mitgefühlt;
Nun so mag ich fühlen
In des Herzens Kühlen
Auch den Balsam, der euch kühlt.

6.

Meine Guten,
Meine Lieben,
Auf den Fluten
Fortgetrieben,
Auf den dunkeln Fluten fort
Nach dem Hafen
Aus dem Meere,
Um zu schlafen
Mit dem Heere,
Das schon fand die Ruhe dort!
Lasset euern
Stern erwachen,
Um zu steuern
Meinen Nachen
Euerm sanften Glanze nach!
Wie ich schiffe,
Seht, ich bebe,
Durchs Geriffe,
Durchs Gewebe
Dieser Klippen tausendfach.
Meine Lieben,
Meine Guten,
Fortgetrieben
Auf den Fluten,
Aus der Nacht hinaus zum Tag!
[213]
Eure Bilder,
Die mir schweben
Mild und milder
Überm Leben,
Thun's, daß ich noch leben mag.

7.

Als Gestalten hab' ich euch besessen,
Jugendlich-belebte;
Und ich kann den Traum noch nicht vergessen,
Der so schnell entschwebte.
Himmlischen Beschlüssen muß mit Witzen
Menschensinn sich fügen:
Euch als schöne Bilder zu besitzen,
Muß mir jetzt genügen.

8.

Ein Jahr ist nun geschwunden,
Seit du geschieden bist,
Und wie zwei trübe Stunden
Gemahnt mich diese Frist.
Und hättest du gelebet,
Mein Kindchen, dieses Jahr,
So wär' die Frist entschwebet
Ein helles Stundenpaar.
Nun, seit ich auf der Bahre
Dich mußte sehn, mein Kind,
Denk' ich, wie wenig Jahre,
Verliehn dem Menschen sind.
Ob trüber oder heller,
Wie Stunden sind sie nur,
Ob langsamer, ob schneller,
Entschwunden ohne Spur.
Einst wünscht' ich langes Leben,
Um lang' dich blühn zu sehn;
[214]
Nun mag es schnell entschweben,
Da ich dich sah vergehn.

9. Der Kinder Geburtstagswunsch an ihre Mutter

Heut kommen deine Vier,
Um Glück zu wünschen dir
Zum Tag, der dich gebar.
Sechs waren es vorm Jahr;
Nun fehlt das Pärchen. Nein!
Es stellet mit sich ein,
Kommt hergeflogen auch
Vom Himmel wie ein Hauch
Und wünschet Glück und Heil
Dir auch an seinem Teil.
»Auch wir, geboren dir,
Sind unverloren dir
Und danken als dein Kind,
Daß wir geboren sind,
Geboren nicht zum Schein,
Zum wesenhaften Sein,
Die andern für die Zeit,
Wir für die Ewigkeit,
Sie für des Lebens Braus,
Wir für das stille Haus,
Wo wir in Frieden ruhn
Und segnen euer Thun.«

10.

Am Himmel immer gern
Sah ich der Liebe Stern,
Und immer war er auch
Ein Bote mir vom Herrn.
Doch niemals sah ich ihn
Als einen glänzendern,
Wie ich ihn sehe nun
Dort über Gräber fern.
[215]
Es ist, als ob er erst
Bekommen seinen Kern.
Mit einem Blick, wie er
Ziemt Friedenskündigern,
Ruft er mir zu: »Blick' auf
Vom Grab zu mir und lern':
Ob deinen Toten scheint
Wie über dir der Stern;
Du wallest, und sie ruhn,
Wie du wirst ruhn, im Herrn.«

11.

Allen harten Proben
Bist du nun enthoben,
Allen rauhen Stürmen,
Die uns hier umtoben.
Ja, dir ist gefallen
(Uns ist es verschoben)
Solch ein Los gewißlich,
Das du selbst mußt loben.
Besser als bei deinen
Eltern aufgehoben
Bist du bei der Liebe
Deines Vaters droben;
Und du blickst befriedigt,
Doch bewegt, von oben
In das Herz des Vaters,
Dem du bist enthoben.
Denn die Züge, die ich
Liebte, sind zerstoben,
Aber nicht die Liebe,
Die dich mir verwoben.

12.

Du bist vergangen, eh' ich's gedacht,
Wie eine Blume verblüht über Nacht.
Wie eine Blum' über Nacht verblüht,
Auf die umsonst der Frühtau sprüht.
[216]
Es sprüht umsonst der frühe Tau,
Wie auf dich meine Thränen lau.
Es sprühn meine Thränen lau auf dich,
Und du bist nicht erwacht für mich.
Und du bist nicht für mich erwacht,
Meine Blume, verblüht über Nacht!

13. An die Kleingebliebenen

Heranzualtern ist der Jugend Los,
Und kleine Kinder wachsen mählich groß,
Dann machen sie sich von den Eltern los,
Und wiegen kannst du sie nicht mehr im Schoß.
Doch ihr, die mir geraubt ein frühes Los,
Bleibt immer klein, nie werdet ihr mir groß,
Ihr reißt euch nie von meinem Herzen los,
Und wiegen kann ich euch wie sonst im Schoß.

14. Tausch

Des verstorb'nen Töchterchens
Bild in meinem Zimmer,
Frische Blumen aus dem Wald
Holend, schmück' ich's immer.
Heute trat mir, als ich kam
Heim mit meinem Segen,
An der Thür mein lebendes
Töchterchen entgegen:
»Gib die Blumen, Vater, mir!«
Sollt' ich sie nicht geben?
Blumen schmücken schön den Tod,
Schöner noch das Leben.
Seh' ich doch das Töchterchen
Selbst, das ich verloren,
Schöner nur im lebenden
Wieder mir geboren!
[217]
Nicht das Bild im Zimmer wird
Minder freundlich lachen;
Mindern Vorwurf wird mir auch
Mein Gewissen machen,
Als in wilder Jugendzeit,
Da nach einer Toten
Ich um eine Lebende
Warb mit solchen Boten.
Blumen streuen wollt' ich zur
Stunde der Gespenster
Auf ein Grab und streute sie
Vor ein Kammerfenster.

15. Wiedersehn

Deine Kinder, hier verloren,
Wirst du droben wiedersehn;
Denn was aus dir ist geboren,
Kann dir nicht verloren gehn.
Daß du einst sie wiedersehest,
Dieses kannst du wohl verstehn,
Wenn du auch nicht das verstehest,
Wie du sie wirst wiedersehn.
Nicht als Kinder; oder wolltest
Du sie ewig halten klein?
Nicht gealtert; oder solltest
Du entfremdet ihnen sein?
Die hier streitenden Gestalten,
Dort, wo sie verglichen sind,
Wo nicht Mann und Weib sich spalten,
Trennt sich auch nicht Greis und Kind.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Nachträge zu den Kindertotenliedern. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AB96-E