Parabeln

1.

Es ging ein Mann im Syrerland,
Führt' ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
Urplötzlich anfing scheu zu werden
Und that so ganz entsetzlich schnaufen,
Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
Von ungefähr am Wege da.
Das Tier hört' er im Rücken schnauben,
Das mußt' ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch,
Er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
Aus des geborstnen Brunnens Bauch;
Daran der Mann sich fest that klammern
Und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh' und sah
Dort das Kamelhaupt furchtbar nah',
Das ihn wollt' oben fassen wieder.
Dann blickt' er in den Brunnen nieder;
Da sah am Grund er einen Drachen
Aufgähnen mit entsperrtem Rachen,
Der drunten ihn verschlingen wollte,
Wenn er hinunter fallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte,
Da sah der Arme noch das Dritte.
Wo in die Mauerspalte ging
Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
[287]
Da sah er still ein Mäusepaar,
Schwarz eine, weiß die andre war.
Er sah die schwarze mit der weißen
Abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
Die Erd' ab von der Wurzel spülten;
Und wie sie rieselnd niederrann,
Der Drach' im Grund aufblickte dann,
Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
Der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in Angst und Furcht und Not,
Umstellt, umlagert und umdroht,
Im Stand des jammerhaften Schwebens,
Sah sich nach Rettung um vergebens.
Und da er also um sich blickte,
Sah er ein Zweiglein, welches nickte
Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut
Und nicht den Drachen in der Flut
Und nicht der Mäuse Tückespiel,
Als ihm die Beer' ins Auge fiel.
Er ließ das Tier von oben rauschen
Und unter sich den Drachen lauschen
Und neben sich die Mäuse nagen,
Griff nach den Beerlein mit Behagen,
Sie deuchten ihm zu essen gut,
Aß Beer' auf Beerlein wohlgemut,
Und durch die Süßigkeit im Essen
War alle seine Furcht vergessen.
Du fragst: »Wer ist der thöricht' Mann,
Der so die Furcht vergessen kann?«
So wiss', o Freund, der Mann bist du;
Vernimm die Deutung auch dazu.
Es ist der Drach' im Brunnengrund
Des Todes aufgesperrter Schlund;
[288]
Und das Kamel, das oben droht,
Es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
Am grünen Strauch der Welt mußt schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
Dich samt den Zweigen, die dich tragen,
Zu liefern in des Todes Macht,
Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
Es nagt vom Morgen bis zum Abend
Die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
Lockt dich die Beere Sinnenlust,
Daß du Kamel, die Lebensnot,
Daß du im Grund den Drachen Tod,
Daß du die Mäuse Tag und Nacht
Vergissest und auf nichts hast acht,
Als daß du recht viel Beerlein haschest,
Aus Grabes Brunnenritzen naschest.

2.

Der Sultan läßt den Mewlana
Zum Thronsaal führen, ihn zu fragen:
»Du rühmst dich sondrer Weisheit ja,
So sollst du mir nun Antwort sagen.
In vier verschiedne Sekten teilt
Sich alles Volk der Muselmanen;
So sage nun mir unverweilt,
Wer geht davon auf rechten Bahnen?
Auf welchem der vier Pfade mag
Der Staub zum Thron des Herrn gelangen?
Ich zweifelte bis diesen Tag,
Nun laß Gewißheit mich empfangen.
Der Sultan sprach's und harrte stumm;
Der Mewlana, erst sah er schweigend
[289]
Im Thronsaal sich des Sultans um,
Dann sprach er, sich vor ihm verneigend:
Du, dessen Thron das Ebenbild
Des Throns der Himmel ist auf Erden,
Mich schirme deiner Gnade Schild;
So soll dir meine Antwort werden:
Du thronest hier in einem Saal,
Zu dem geöffnet sind vier Thüren;
Und deinen Thron sieht allzumal,
Wen du durch eine lässest führen.
Daß ich des Weges nicht geirrt,
Des mußte mir dein Bote frommen;
Und nun weiß ich, vom Glanz verwirrt,
Nicht, welches Wegs ich bin gekommen.«

3.

Im Feld der König Salomon
Schlägt unterm Himmel auf den Thron;
Da sieht er einen Sämann schreiten,
Der Körner wirft nach allen Seiten.
»Was machst du da?« der König spricht;
»Der Boden hier trägt Ernte nicht.
Laß ab vom thörichten Beginnen;
Du wirst die Aussaat nicht gewinnen.«
Der Sämann, seinen Arm gesenkt,
Unschlüssig steht er still und denkt;
Dann fährt er fort, ihn rüstig hebend,
Dem weisen König Antwort gebend:
»Ich habe nichts als dieses Feld,
Geackert hab' ich's und bestellt;
Was soll ich weitre Rechnung pflegen?
Das Korn von mir, von Gott der Segen!«

[290] 4.

Es ritt ein Herr, das war sein Recht,
Zu Fuße ließ er gehn den Knecht;
Er reitet über Stock und Stein,
Daß kaum der Knecht kann hinterdrein.
Der Treue schleppt sich hinterher
Dem leichten Ritt und fürchtet sehr,
Zu Falle komm' er schwer.
»Herr! Herr!« erschallt des Knechtes Ruf,
»Ein Nagel ging Euch los vom Huf;
Und schlagt Ihr nicht den Nagel ein,
So wird der Huf verloren sein.« –
»Ei! Nagel hin und Nagel her!
Der Huf hat ja der Nägel mehr
Und hält noch ohngefähr.«
Und wieder schallt des Knechtes Ruf:
»Herr! losgegangen ist ein Huf;
Und schlagt Ihr nicht das Eisen an,
So ist es um das Roß gethan.« –
»Hufeisen hin, Hufeisen her!
Das Rößlein hat Hufeisen mehr
Und geht noch wie vorher.«
Und eh' der dritte Ruf erschallt,
Da ist er an den Stein geprallt;
Das Rößlein liegt und steht nicht auf,
Geendet ist des Herren Lauf.
Er spricht nicht mehr: »Roß hin, Roß her!«
Er rafft sich auf und schreitet schwer
Mit seinem Knecht einher.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Parabeln. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AB34-C