3. Freimund

1822.

1.

Auf, zum Himmel dich zu schwingen aus der Nacht!
Herz, empor zum Licht zu ringen aus der Nacht!
Sieh, wie Gottes Liebesboten leuchtende
Grüße dir entgegenbringen aus der Nacht!
Wo im Westen sank die Sonne, blühn ihr nach
Röten, die noch nicht vergingen, aus der Nacht.
Wo sie steigen wird im Osten, sieh, wie schon
Rosen an zu keimen fingen aus der Nacht!
Lichts Erinn'rungen und Lichtes Hoffnungen,
Die sich dir zum Kranze schlingen aus der Nacht.
Und darüber schaun die ew'gen Stern' herein,
Die hernieder tröstend klingen aus der Nacht:
Eh' der Kranz von Doppelrosen dort verblüht,
Wird dein ew'ger Tag entspringen aus der Nacht!
Nachtigall der Himmelsrosen, Freimund, auf,
Liebend dich empor zu singen aus der Nacht!

[317] 2.

Die Seele soll am Boden schweben, wie lange noch?
Und soll sich nicht ins Licht erheben, wie lange noch?
Dem Strahl des Lichtes, der vom Himmel zur Erde kommt,
Ist hier der Schatten beigegeben, wie lange noch?
Die Sterne winken, doch du lässest, o Schmetterling,
Den Flug um Sinnenblumen schweben, wie lange noch?
Die Sonne strahlet, doch du lässest, o Nachtigall,
Dich Rosenschlummerduft umweben, wie lange noch?
Die Blume, die in Düften steigen zum Himmel will,
Sie fühlt sich fest an Wurzeln kleben, wie lange noch?
Der Frühling, der die Welt will schmelzen in Blumenglut,
Muß vor dem starren Winter beben, wie lange noch?
Und scheitern muß des ew'gen Lichtes Vernichtungskampf
An dunkler Stoffe Widerstreben, wie lange noch?
Wie lange willst du deiner Schranken, beschränkter Geist,
Ohnmächt'gen Drangs dich überheben, wie lange noch?
Sich senkt vor dir der Vorhang tiefer, jemehr du hebst,
Doch immer suchst du ihn zu heben, wie lange noch?
Es wächst die Zahl der Meereswogen, indem du zählst,
Doch immer zählen mußt du eben, wie lange noch?
O komm aus deinen Höh'n herunter! Es rufet hier
Dein Liebchen und das Blut der Reben: wie lange noch?
Sie rufen: »Gib dich uns gefangen und werde frei!
Genieß und frage nicht das Leben: wie lange noch?«

3.

Flammt empor in euren Höh'n, Morgensonnen, lobt den Herrn!
Rauscht in euren Tiefen auf, Schöpfungsbronnen, lobt den Herrn!
Die ihr, ohne zu verglühn, lang' geflammt vor seinem Blick,
Ohne zu verrinnen, lang' hingeronnen, lobt den Herrn!
Der ein mannigfaltiges Leben schaun will außer sich;
Alle, die ein Leben ihr habt gewonnen, lobt den Herrn!
Alle Tropfen seiner Huld, die zu Perlen sich geformt,
Funken Lichtes, die zu Gold sind geronnen, lobt den Herrn!
[318]
Soviel Halme von dem Tau seiner Gnade trunken sind,
Soviel sich an seinem Strahl Welten sonnen, lobt den Herrn!
Ob vor seinem ew'gen Blick ihr des Lebens raschen Tanz
Jetzt vollendet oder jetzt habt begonnen, lobt den Herrn!
Blumen, die der Frühling weckt, Garben, die der Sommer dörrt,
Trauben, deren Blut der Herbst preßt in Tonnen, lobt den Herrn!
Raupe, die das Blatt benagt, haftend an dem grünen Zweig,
Puppe, zur Verwandlung reif eingesponnen, lobt den Herrn!
Schmetterlinge, die ihr noch von dem Duft der Blüten nascht,
Schmetterlinge, die ins Licht schon zerronnen, lobt den Herrn!
Geister, eingeengt in Nacht oder aufgeflammt ins Licht,
Herzen, schmeckend Lebenslust, Todeswonnen, lobt den Herrn!
Die ihr mit dem Flügelschlag glühender Begeistrung strebt,
Oder fördert euer Werk still besonnen, lobt den Herrn!
Lobt den Herrn, des Lichtgewand auch durch dunkle Fäden wächst,
Die ein unscheinbarer Fleiß hat gesponnen, lobt den Herrn!
Lobt den Herrn, des Angesicht lächelnd in den Spiegel schaut
Auch des Tropfens, der am Halm hängt geronnen, lobt den Herrn!
Lobt den Herrn, der loben sich gern in allen Sprachen hört,
Die Bedürfnis seines Lobs hat ersonnen, lobt den Herrn!
Ob das Blatt am Zweige rauscht, ob des Menschen Zunge tönt,
Ob ein Engel höhern Gruß sich ersonnen, lobt den Herrn!
Alle, die ihr euren Gott fühlet, ahnet, denket, schaut,
Die ihr sinnt, was niemals wird ausgesonnen, lobt den Herrn!
Wenn in des Gemütes Nacht euch sein erster Schimmer brach,
Oder wenn ihr euch im Glanz habt versonnen, lobt den Herrn!
Alle Sinne, die des Sangs Woge schwellet himmelan,
Lobt mit allen rauschenden Schöpfungsbronnen, lobt den Herrn!
Alle Seelen, in der Glut des Gebetes Weihrauch-gleich,
Lobt mit allen brennenden Morgensonnen, lobt den Herrn!

[319] 4.

Durch die Himmel jüngst mit Flügelschnelle
Stieg ich, suchend nach des Lichtes Quelle.
Bei dem Monde fragt' ich, und er sagte,
Von der Sonne fließ' ihm zu die Welle.
Zu der Sonne kam ich, forscht' und hörte,
Daß ihr Licht aus höh'rer Sonne quelle.
Und ich hörte von der höhern Sonne,
Daß noch höh'rer Sonnen Strom sie schwelle.
Und es wies mich jede höh're Sonne
Von sich weg zu höh'rer Sonnenschwelle.
Und ich schweifte durch den Glanz und sahe,
Daß unendlich mich umfloß die Helle;
Bebte, daß mein Kahn an Sonnenklippen
In des Lichtes Ozean zerschelle.
Doch ein Engel, ungesehn im Glanze,
Stand bei mir und redete: »Geselle!
Wohin irrst du? wohin dich verlierst du?
Kein Gestad' hat dieses Meeres Welle.
Eine Woge fließet aus der andern,
Alle fließen aus dem ew'gen Quelle.
Der allgegenwärt'ge Quell des Lichtes
Ist gleich nah' und ferne jeder Stelle.
Näher ist er nicht der höchsten Sonne
Als dir selbst in deines Busens Zelle.
Kehre bei dir selber ein, o Freimund,
Und daß hell dein Haus sei, das bestelle!«

5.

Laß die Welt in deinen goldnen Strömen baden, ew'ges Licht!
Speise Geister an der Tafel deiner Gnaden, ew'ges Licht!
Wie das Meer in weiten Kreisen um das Land, so flutet dein
Äther um die Welt in weitern Glanzgestaden, ew'ges Licht!
Nicht die Sonne dich, die Sonnen zeugest du; in deinem Strahl
Tanzen sie, als wie in ihrem Strahle Maden, ew'ges Licht!
[320]
Nicht der Himmel kann dich fassen, und zur Erde steigest du,
Opfer zündend unter allen Breitegraden, ew'ges Licht!
Zu dem Meru, zum Olympos, wie zum Sinai herab
Senkst du hell durch Wolkenschichten einen Faden, ew'ges Licht!
Ab von dir ins Dunkel wendet ihren Pfad die Welt, doch du
Strömst entgegen aus dem Dunkel ihren Pfaden, ew'ges Licht!
Auch auf krummen Straßen lenkest du den Wahn zurück zu dir;
Aber laß zu dir mich wandeln die geraden, ew'ges Licht!
Wo vor dir sollt' ich mich bergen? Sollt' ich auf zum Himmel fliehn,
Wo mir funkeln deine lichten Myriaden, ew'ges Licht;
Wo vor dir sollt' ich mich decken? Flieh' ich in die Erdennacht?
Golden brichst du durch des Schachtes dumpfe Schwaden, ew'ges Licht!
Ja, dies Herz auf keine Weise kann sich deinem Dienst entziehn,
Seit du mir dein goldnes Joch hast aufgeladen, ew'ges Licht!
Du mit Strahlen hell besaitend Abendsternes Lautenspiel,
Stimmest auch die schrill'ge Leier der Cikaden, ew'ges Licht!
Auch in meiner Töne Fugen, allgeschmeid'ges, schmiege dich!
Lasse dem Juwel nicht seine Fassung schaden, ew'ges Licht!
Gleichwie deine Sonnenstrahle sende meine Lieder aus,
Alle Welt zu deinen Festen einzuladen, ew'ges Licht!

6.

O Wieg', aus der die Sonnen steigen, o heiliges Meer!
O Grab, in das die Sonnen neigen, o heiliges Meer!
O du im Duft der Nacht entfaltend den Spiegel, darein
Vom Himmel Luna schaut mit Schweigen, o heiliges Meer!
O du in stillen Mitternächten mit Wogengesang
Einklingend in der Sterne Reigen, o heiliges Meer!
Die Morgen- und die Abendröten erblühen aus dir,
Zwei Rosen deinem Garten eigen, o heiliges Meer!
[321]
Atmender Busen Amphitrites, der nieder und auf
Die Wogen sinken läßt und steigen, o heiliges Meer!
Schoß, mütterlicher, Aphrodites! gebäre dein Kind,
Um deinen Glanz der Welt zu zeigen, o heiliges Meer!
Spreng' auf den Frühlingskranz der Erde den perlenden Tau!
Denn alle Perlen sind dein eigen, o heiliges Meer!
Du sammelst alle dir entstammten Najaden der Flur
Zurück zum Nereidenreigen, o heiliges Meer!
Die Schiffe der Gedanken segeln und sinken in dir;
Atlantis ruht in deinem Schweigen, o heiliges Meer!
Der Götterbecher, der gefallen vom hohen Olymp,
Hängt tief an den Korallenzweigen, o heiliges Meer!
Ein Taucher in das Meer der Liebe ist Freimunds Gesang,
Der deinen Glanz der Welt will zeigen, o heiliges Meer!
Als wie der Mond will ich mit Sehnen mich stürzen in dich;
Laß mich aus dir als Sonne steigen, o heiliges Meer!

7.

Die Schöpfung ist zur Ruh' gegangen, o wach in mir!
Es will der Schlaf auch mich befangen, o wach in mir!
Du Auge, das am Himmel wachet mit Sternenblick,
Wenn mir die Augen zugegangen, o wach in mir!
Du Licht, im Äther höher strahlend als Sonn' und Mond;
Wenn Sonn' und Mond ist ausgegangen, o wach in mir!
Wenn sich der Sinne Thor geschlossen der Außenwelt,
So laß die Seel' in sich nicht bangen, o wach in mir!
Laß nicht die Macht der Finsternisse, das Grau'n der Nacht
Sieg übers innre Licht erlangen, o wach in mir!
O laß im feuchten Hauch der Nächte, im Schattenduft
Nicht sprossen sündiges Verlangen, o wach in mir!
[322]
Laß aus dem Duft von Edens Zweigen in meinem Traum
Die Frucht des Lebens niederhangen o wach in mir!
O zeige mir, mich zu erquicken, im Traum das Werk
Geendet, das ich angefangen, o wach in mir!
In deinem Schoße will ich schlummern, bis neu mich weckt
Die Morgenröte deiner Wangen; o wach in mir!

8.

Preis dir, allgewaltige
Liebe, vielgestaltige!
Licht und Schatten, Farbenspiel,
Eine, mannigfaltige!
Formenquelle, die du strömst,
Unerschöpft reichhaltige!
Fördre zur Geburt ans Licht
Alles Lichtgehaltige!
Laß im Licht gedeihn und blühn
Alles Lichtgestaltige!
Gleiche aus mit deinem Hauch
Jegliches Zwiespaltige!
Und vor deinem Blick vergehn
Laß das Mißgestaltige!
Blättre mir wie Rosen auf
Dies Gemüt, das faltige!
Und noch lange sing' ich dir
Lieder mannigfaltige!

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. 3. Freimund. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AAC6-A