1. Mewlana Dschelaleddin Rumi

1819.


»Im Osten tagt's von unsres Feuereifers Lichte.«

J.v. Hammer,

in den Redekünsten Persiens.

Die Form des Ghasels

Die neue Form, die ich zuerst in deinen Garten pflanze,
O Deutschland, wird nicht übel stehn in deinem reichen Kranze.
Nach meinem Vorgang mag sich nun mit Glück versuchen mancher
So gut im persischen Ghasel wie sonst in welscher Stanze.

1.

Solang' die Sonne nicht den Nachtflor bricht,
Sind Tagesvögel ohne Zuversicht.
Der Blick der Sonne ruft die Tulpen auf;
Jetzt ist, o Herz, dir zu erwachen Pflicht.
Das Sonnenschwert gießt aus im Morgenrot
Das Blut der Nacht, von der es Sieg erficht.
Voll Schlafs das Auge, sprach ich: »Es ist Nacht.«
Er sprach: »Vor meinem Angesichte nicht.«
Solang' es graut, ist zweifelhaft der Tag;
Am hellen Tag, wer zweifelt noch am Licht?
Im Osten steht das Licht, ich steh' im West,
Ein Berg, an dessen Haupt der Schein sich bricht.
[308]
Ich bin der Schönheitssonne blasser Mond;
Schau weg von mir, der Sonn' ins Angesicht!
Dschelaleddin nennt sich das Licht im Ost,
Des Wiederschein euch zeiget mein Gedicht.

2.

Zum Himmel thu' ich jede Nacht den Liebesruf,
Der Schönheit Gottes voll, mit Macht den Liebesruf.
Mir jeden Morgen Sonn' und Mond im Herzen tanzt,
Zu Sonn' und Mond thu' ich erwacht den Liebesruf.
Auf jeder Au' erglänzt ein Strahl von Gottes Licht,
Ich thu' an Gottes Schöpferpracht den Liebesruf.
Die Turteltaub' im Laub, erweckt von meinem Gruß,
Thut mir entgegen girrend sacht den Liebesruf.
Dem Felsen, der zu deinem Preis mit Licht sich krönt,
Zuruf' ich, und er nimmt in acht den Liebesruf.
Dir thu' ich für die Blum' im Feld, die schüchtern schweigt,
Fürs Würmlein, das du stumm gemacht, den Liebesruf.
Das Weltmeer preist mit Rauschen dich, doch ohne Wort;
Ich hab' in Worte ihm gebracht den Liebesruf.
Dir thu' ich als das Laub am Baum, als Tropf' im Meer,
Dir als der Edelstein im Schacht den Liebesruf.
[309]
Ich ward in allem alles, sah in allem Gott,
Und that, von Einheitglut entfacht, den Liebesruf.

3.

Ich sah empor und sah in allen Räumen eines;
Hinab ins Meer und sah in allen Wellenschäumen eines.
Ich sah ins Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten,
Voll tausend Träum'; ich sah in allen Träumen eines.
Du bist das Erste, Letzte, Äußre, Innre, Ganze;
Es strahlt dein Licht in allen Farbensäumen eines.
Du schaust von Ostens Grenze bis zur Grenz' im Westen,
Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen eines.
Vier widerspenst'ge Tiere ziehn den Weltenwagen;
Du zügelst sie, sie sind an deinen Zäumen eines.
Luft, Feuer, Erd' und Wasser sind in eins geschmolzen
In deiner Furcht, daß dir nicht wagt zu bäumen eines.
Der Herzen alles Lebens zwischen Erd' und Himmel,
Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen eines!

4.

Wohl endet Tod des Lebens Not,
Doch schauert Leben vor dem Tod.
Das Leben sieht die dunkle Hand,
Den hellen Kelch nicht, den sie bot.
So schauert vor der Lieb' ein Herz,
Als wie von Untergang bedroht.
Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt
Das Ich, der dunkele Despot.
Du laß ihn sterben in der Nacht,
Und atme frei im Morgenrot.

5.

Ihr Augen, geht, den Lenz zu schauen,
Der lächelnd liegt auf unsern Auen.
Ein Himmelskind in Blumenwiegen,
Gesäugt von Milch der Wolkenfrauen.
Die Ostluft ist die Amm' und schaukelt
Die Wiege mit dem Hauch, dem lauen.
[310]
Das Kindlein thut, als schlaf' es, blinzet
Mit seinen Äugelein, den schlauen.
Und wie's die Augen aufgeschlagen,
Träuft Tau von seinen Augenbrauen.
Und Bienen kommen, saugen emsig
Den Tau, aus dem sie Honig brauen.
O kommt und laßt euch doch vom Lächeln
Des Himmelkindleins auch durchtauen.
O kommt aus euern dumpfen Zellen,
Die euch des Himmels Licht verbauen.
Laßt uns die Zell' aus Wachs und Honig
Sechseckig, wie die Bienen, bauen.
Erwarmt am bunten Blumenfeuer,
Und laßt die Aschen ruhn, die grauen.
Die Buß' ist tot, die Liebe lebet,
Ihr Atem weht in unsern Gauen.
Geht in des Frühlings Liebeschenke,
Trinkt seines Weines ohne Grauen;
Auf daß ihr liebestrunken werdet,
Eu'r Herz sich öffne mit Vertrauen.
Die Lieb' ist wach an Erd' und Himmel,
Im Grünen Rose, Sonn' im Blauen.
O Nachtigall, sieh deine Rose;
Du Adler sollst zur Sonne schauen.

6.

Ich sah, wie auf zur Sonne sich schwang ein Adelaar,
Und wie im Schatten girrte ein Turteltaubenpaar.
Ich sah, wie Wolkenherden der Ost am Himmel trieb,
Und auf der Flur dem Hirten sich stellten Lämmlein dar.
Ich hörte Sterne fragen: »Wann sollen wir entstehn?«
Und Keim im Körnchen: »Sollen wir schlafen immerdar?«
Ich sah ein Gras am Morgen erblühn und vor der Nacht
Verblühn und Zedern trotzen den Stürmen tausend Jahr.
Ich sah des Weltmeers Wogen wie Kön'ge schaumgekrönt,
Vorm Fels sich niederwerfen wie Beter am Altar.
[311]
Ich sah ein Tröpflein funkeln, Juwel am Sonnenstrahl,
Das, aufgeglüht zu werden, nicht scheute die Gefahr.
Ich sah im Menschenwimmeln sich Städt' und Häuser baun,
Und Hügelein zu häufen sich mühn Ameisenschar.
Ich sah das Roß des Krieges zertreten Stadt und Land,
Daß seine Hufe wurden vom Blute rosenfar.
Ich sah den Winter weben aus Flocken ein Gewand
Der Erde, die der Frühling verlassen nackt und bar.
Den Webstuhl hört' ich sausen, der Sonnenschleier wob,
Und sah ein Räuplein weben sein Grab aus Fädlein klar.
Ich sahe Groß' und Kleines, und sah auch Kleines groß;
Denn Gottes Gleichnis sah ich in allem, was da war.

7.

Unser Haus hat viele Thüren,
Die hinein zum Herren führen.
Wer den Herrn sieht, muß anbetend
Mit der Stirn den Boden rühren.
Viel' im Haus sind blind geboren,
Die des Herrn Gebot doch spüren.
Auch den Lahmen sind gegeben
Hausgeschäfte zu vollführen.
Selbst der Wind mit kaltem Atem
Muß des Hauses Feuer schüren.
Thun muß jeder, was ihm obliegt,
Wahl hat keiner, selbst zu küren.
Mancher wähnt sich frei und siehet
Nicht die Bande, die ihn schnüren.
Trägest du dein Band in Demut,
Wird es dir zu Blumenschnüren.
Schwöre Treu'! und Gnad' antwortet
Dir mit höchsten Liebeschwüren.
Knecht im Hause! gegen deinen
Mitknecht will kein Stolz gebühren.
Sei verträglich! denn der Herr hat
Keine Freud' an Ungebühren.
[312]
Wer darf trotzig Einlaß fordern,
Den nicht Er ein lässet führen?
Wer kann mit dem Hausherrn hadern,
Den er stößt aus seinen Thüren?

8.

Tag ist's, auf, steh auf, o Jüngling Muselmane!
Packe dein Gerät und komm zur Karawane.
Horch, o horch, sie ziehet schon, indes du schläfest.
Horch! ihr Glöcklein, daß es nicht zu spät dich mahne!
Wann der Wüste Sand verweht hat ihre Spuren,
Hoffe nicht, daß sie dein Fußtritt wieder bahne.
Auf dich raffe! sei ein Mann, ein Held, ein Kämpe,
Bringe nicht das Leben hin in eitlem Wahne.
Sei gedenk des Ahnenstammes, Perserjüngling,
Wie Rostem ein Held, wie Sal ein Pehlewane.
Mann des Lichtes, Held des Rechtes, Sonnenkämpe!
Falle nicht anheim dem dunklen Ahrimane.
Wenn du hast die ird'sche Seel' im Kampf getötet,
Schwingt die himmlische des Lebens Siegesfahne.
Wann du dich demütigtest zum Staub der Schwelle,
Wirst du Siegelring in unsres Schachs Diwane.

9.

Die Liebe rief vom Himmelsthor:
»Wer ist, der schaut zu Gott empor?«
»Wir sind, die schaun empor zu Gott«,
Rief zu der Lieb' ein Priesterchor.
Die Liebe rief: »Wie könnt ihr schaun?
Vor eurem Antlitz hängt ein Flor,
[313]
Ein Flor, gewebt aus Gier und Haß,
Durch den das Licht den Schein verlor.
Vor eurem trüben Blicke nimmt
Die Sonne Wolkenschleier vor.
Die Gnade, die auf Wolken sitzt,
Schließt eurem dumpfen Ruf ihr Ohr,
Und die Erhörung steiget nicht
Herab, die eu'r Gebet beschwor.
O thut, eh' ihr zum Himmel schaut,
Euch Erdedunkels ab zuvor.
Statt Gier und Haß nehmt Lieb' ins Herz
Und schaut zur Gottheit dann empor.«

Notizen
Erstdruck posthum: Ghaselen des Dschelaleddin Rumi, Stuttgart (Der kommende Tag) [ca. 1915].
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. 1. Mewlana Dschelaleddin Rumi. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A568-2