Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein

Zum Christtag 1813.


Einst hab' ich Märchen zum Einschläfern dir gesungen,

Nun haben dich in Schlaf gesungen Engelzungen.

Um zu erwachen dort, bist du hier eingeschlafen;

Fahr wohl! im Sturme sind wir noch, du bist im Hafen.

Johannis 1835.

Vom Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen

Denk' an! das Büblein ist einmal
Spazieren gangen im Wiesenthal;
Da wurd's müd' gar sehr
Und sagt': »Ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme
Und mich mitnähme!«
Da ist das Bächlein geflossen kommen
Und hat's Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich aufs Bächlein gesetzt
Und hat gesagt: »So gefällt mir's jetzt.«
Aber was meinst du? das Bächlein war kalt,
Das hat das Büblein gespürt gar bald;
Es hat's gefroren gar sehr,
Es sagt': »Ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme
Und mich mitnähme!«
Da ist das Schifflein geschwommen kommen
Und hat's Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich aufs Schifflein gesetzt
Und hat gesagt: »Da gefällt mir's jetzt.«
[275]
Aber siehst du? das Schifflein war schmal,
Das Büblein denkt: »Da fall' ich einmal«;
Da fürcht' es sich gar sehr
Und sagt': »Ich mag nicht mehr;
Wenn nur was käme
Und mich mitnähme!«
Da ist die Schnecke gekrochen gekommen
Und hat's Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich ins Schneckenhäuslein gesetzt
Und hat gesagt: »Da gefällt mir's jetzt.«
Aber denk'! die Schnecke war kein Gaul,
Sie war im Kriechen gar zu faul;
Dem Büblein ging's langsam zu sehr;
Es sagt': »Ich mag nicht mehr;
Wenn nur was käme
Und mich mitnähme!«
Da ist der Reuter geritten gekommen,
Der hat's Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich hinten aufs Pferd gesetzt
Und hat gesagt: »So gefällt mir's jetzt.«
Aber gib acht! das ging wie der Wind,
Es ging dem Büblein gar zu geschwind;
Es hopst drauf hin und her
Und schreit: »Ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme
Und mich mitnähme!«
Da ist ein Baum ihm ins Haar gekommen
Und hat das Büblein mitgenomnen;
Er hat's gehängt an einen Ast gar hoch,
Dort hängt das Büblein und zappelt noch.

Das Kind fragt:

Ist denn das Büblein gestorben?
Antwort:

Nein! es zappelt ja noch!
Morgen gehn wir 'naus und thun's‚ 'runter.

[276] Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald
In gutem und schlechtem Wetter;
Das hat von unten bis oben
Nur Nadeln gehabt statt Blätter;
Die Nadeln, die haben gestochen,
Das Bäumlein, das hat gesprochen:
»Alle meine Kameraden
Haben schöne Blätter an,
Und ich habe nur Nadeln,
Niemand rührt mich an;
Dürft' ich wünschen, wie ich wollt',
Wünscht' ich mir Blätter von lauter Gold.«
Wie's Nacht ist, schläft das Bäumlein ein,
Und früh ist's aufgewacht;
Das hatt' es goldene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: »Nun bin ich stolz;
Goldne Blätter hat kein Baum im Holz.«
Aber wie es Abend ward,
Ging der Jude durch den Wald,
Mit großem Sack und großem Bart,
Der sieht die goldnen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und läßt das leere Bäumlein dort.
Das Bäumlein spricht mit Grämen:
»Die goldnen Blättlein dauern mich;
Ich muß vor den andern mich schämen,
Sie tragen so schönes Laub an sich;
Dürft' ich mir wünschen noch etwas,
So wünscht' ich mir Blätter von hellem Glas.«
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
Und früh ist's wieder aufgewacht;
Da hatt' es glasene Blätter fein,
[277]
Das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: »Nun bin ich froh;
Kein Baum im Walde glitzert so.«
Da kam ein großer Wirbelwind
Mit einem argen Wetter,
Der fährt durch alle Bäume geschwind
Und kommt an die glasenen Blätter;
Da lagen die Blätter von Glase
Zerbrochen in dem Grase.
Das Bäumlein spricht mit Trauern:
»Mein Glas liegt in dem Staub,
Die andern Bäume dauern
Mit ihrem grünen Laub;
Wenn ich mir noch was wünschen soll,
Wünsch' ich mir grüne Blätter wohl.«
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
Und wieder früh ist's aufgewacht;
Da hatt' es grüne Blätter fein,
Das Bäumlein lacht
Und spricht: »Nun hab' ich doch Blätter auch,
Daß ich mich nicht zu schämen brauch'.«
Da kommt mit vollem Euter
Die alte Geiß gesprungen;
Sie sucht sich Gras und Kräuter
Für ihre Jungen;
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel,
Sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel.
Da war das Bäumlein wieder leer,
Es sprach nun zu sich selber:
»Ich begehre nun keine Blätter mehr,
Weder grüner, noch roter, noch gelber!
Hätt' ich nur meine Nadeln,
Ich wollte sie nicht tadeln.«
[278]
Und traurig schlief das Bäumlein ein,
Und traurig ist es aufgewacht;
Da besieht es sich im Sonnenschein
Und lacht und lacht!
Alle Bäume lachen's aus;
Das Bäumlein macht sich aber nichts draus.
Warum hat's Bäumlein denn gelacht,
Und warum denn seine Kameraden?
Es hat bekommen in einer Nacht
Wieder alle seine Nadeln,
Daß jedermann es sehen kann;
Geh 'naus, sieh's selbst, doch rühr's nicht an.
Warum denn nicht?
Weil's sticht.

Vom Bäumlein, das spazieren ging

Das Bäumlein stand im Wald
In gutem Aufenthalt;
Da standen Busch und Strauch
Und andre Bäumlein auch;
Die standen dicht und enge,
Es war ein recht's Gedränge;
Das Bäumlein mußt' sich bücken
Und sich zusammen drücken;
Da hat das Bäumlein gedacht
Und mit sich ausgemacht:
»Hier mag ich nicht mehr stehn,
Ich will wo anders gehn
Und mir ein Örtlein suchen,
Wo weder Birk' noch Buchen,
Wo weder Tann' noch Eichen
Und gar nichts desgleichen;
Da will ich allein mich pflanzen
Und tanzen.«
Das Bäumlein das geht nun fort
Und kommt an einen Ort,
[279]
In ein Wiesenland,
Wo nie ein Bäumlein stand,
Da hat sich's hingepflanzt
Und hat getanzt.
Dem Bäumlein hat's vor allen
An dem Örtlein gefallen;
Ein gar schöner Bronnen
Kam zum Bäumlein geronnen;
War's dem Bäumlein zu heiß,
Kühlt's Brünnlein seinen Schweiß.
Schönes Sonnenlicht
War ihm auch zugericht';
War's dem Bäumlein zu kalt,
Wärmt' die Sonn' es bald.
Auch ein guter Wind
War ihm hold gesinnt,
Der half mit seinem Blasen
Ihm tanzen auf dem Rasen.
Das Bäumlein tanzt' und sprang
Den ganzen Sommer lang;
Bis es vor lauter Tanz
Hat verloren den Kranz.
Der Kranz mit den Blättlein allen
Ist ihm vom Kopf gefallen;
Die Blättlein lagen umher,
Das Bäumlein hat keines mehr;
Die einen lagen im Bronnen,
Die andern in der Sonnen,
Die andern Blättlein geschwind
Flogen umher im Wind.
Wie's Herbst nun war und kalt,
Da fror's das Bäumlein bald;
Es rief zum Brunnen nieder:
»Gib meine Blättlein mir wieder,
Damit ich doch ein Kleid
[280]
Habe zur Winterszeit.«
Das Brünnlein sprach: »Ich kann eben
Die Blättlein dir nicht geben;
Ich habe sie alle getrunken,
Sie sind in mich versunken.«
Da kehrte von dem Bronnen
Das Bäumlein sich zur Sonnen:
»Gib mir die Blättlein wieder,
Es friert mich an die Glieder.«
Die Sonne sprach: »Nun eben
Kann ich sie dir nicht geben;
Die Blättlein sind längst verbrannt
In meiner heißen Hand.«
Da sprach das Bäumlein geschwind
Zum Wind:
»Gib mir die Blättlein wieder,
Sonst fall' ich tot darnieder.«
Der Wind sprach: »Ich eben
Kann dir die Blättlein nicht geben;
Ich hab' sie über die Hügel
Geweht mit meinem Flügel.«
Da sprach das Bäumlein ganz still:
»Nun weiß ich, was ich will;
Da haußen ist mir's zu kalt,
Ich geh' in meinen Wald,
Da will ich unter die Hecken
Und Bäume mich verstecken.«
Da macht sich's Bäumlein auf
Und kommt im vollen Lauf
Zum Wald zurück gelaufen,
Und will sich stell'n in den Haufen.
's fragt gleich beim ersten Baum:
»Hast du keinen Raum?«
Der sagt: »Ich habe keinen!«
Da fragt das Bäumlein noch einen,
[281]
Der hat wieder keinen;
Da fragt das Bäumlein noch einen:
Es fragt von Baum zu Baum,
Aber kein einz'ger hat Raum.
Sie standen schon im Sommer
Eng in ihrer Kammer;
Jetzt im kalten Winter
Stehn sie noch enger dahinter.
Dem Bäumchen kann nichts frommen,
Es kann nicht unterkommen.
Da geht es traurig weiter
Und friert, denn es hat keine Kleider;
Da kommt mittlerweile
Ein Mann mit einem Beile,
Der reibt die Hände sehr,
Thut auch, als ob's ihn frör'.
Da denkt das Bäumlein wacker:
»Das ist ein Holzhacker;
Der kann den besten Trost
Mir geben für meinen Frost.«
Das Bäumlein spricht schnell
Zum Holzhacker: »Gesell,
Dich friert's so sehr wie mich
Und mich so sehr wie dich.
Vielleicht kannst du mir
Helfen und ich dir.
Komm, hau' mich um
Und trag' mich in deine Stub'n,
Schür' ein Feuer an,
Und leg' mich dran;
So wärmst du mich
Und ich dich.«
Das deucht dem Holzhacker nicht schlecht,
Er nimmt sein Beil zurecht;
Haut's Bäumlein in die Wurzel,
[282]
Umfällt's mit Gepurzel;
Nun hackt er's klein und kraus
Und trägt das Holz nach Haus
Und legt von Zeit zu Zeit
In den Ofen ein Scheit.
Das größte Scheit von allen
Ist uns fürs Haus gefallen;
Das soll die Magd uns holen,
So legen wir's auf die Kohlen;
Das soll die ganze Wochen
Uns unsre Suppen kochen.
Oder willst du lieber Brei?
Das ist mir einerlei.

Der Spielmann

Der Spielmann stimmt seine Geigen
Und spricht zu ihr:
»Du sollst dein Kunststück zeigen,
Komm, geh mit mir!«
Der Spielmann geht mit ihr vor ein Schloß;
's ist Nacht, der Spielmann fiedelt drauf los.
Der Spielmann sagt: »'s ist nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Vor dem Schloß ist ein Garten,
Mit Bäum' und Pflanzen;
Die können die Zeit nicht erwarten,
Zu tanzen.
Der Spielmann fiedelt vor dem Schloß,
Die Bäume tanzen alle drauf los.
Der Spielmann spricht: »'s ist nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Im Garten ist ein Weiher,
Darin sind Fisch';
Die hören auch das Geleier
[283]
Und tanzen frisch.
Der Spielmann fiedelt vor dem Schloß,
Die Bäum' und die Fische tanzen drauf los.
Der Spielmann spricht: »'s ist noch nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Im Schlosse drin sind Mäuse,
Der Spielmann spielt auf,
Die Mäuse hören leise,
Sie wachen auf.
Der Spielmann fiedelt vor dem Schloß;
Bäume, Fisch' und Mäuse tanzen drauf los.
Der Spielmann spricht: »'s ist noch nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Im Schloß sind Tisch' und Bänke,
Die werden wach,
Sie kommen aus dem Gelenke
Und tanzen nach.
Der Spielmann fiedelt vor dem Schloß;
Bäume, Fische, Mäuse, Bänke tanzen drauf los.
Der Spielmann spricht: »'s ist noch nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Sind denn keine Menschen vorhanden?
Der Spielmann spricht:
»Ich spiele mich schier zu schanden,
Sie hören nicht.
Bäume, Fische, Mäuse, Bänke tanzen drauf los;
Wollen die Menschen nicht aus dem Schloß?«
Der Spielmann spricht: »'s ist noch nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Da wird das Schloß auf einmal ganz
Lebendig,
Es stellt sich auf die Spitz' und tanzt
Unbändig.
Der Spielmann spielt, es tanzt das Schloß,
Die Menschen schlafen noch immer drauf los.
[284]
Der Spielmann spricht: »'s ist noch nicht genug,
Ich muß fiedeln noch einen Zug.«
Da tanzt das Schloß bis in Stücken es geht
Mit Krachen;
Nun hören es endlich die Menschen im Bett
Und erwachen;
Sie hören den Spielmann spielen vorm Schloß
Und tanzen nun auch mit dem andern Troß.
Der Spielmann spricht: »Nun ist es genug;
Doch will ich fiedeln noch einen Zug.«
Warum denn noch einen?
Wegen des Männleins in der Gans.
Muß das auch an den Tanz?
Wird gleich erscheinen.

Das Männlein in der Gans

Das Männlein ging spazieren einmal
Auf dem Dach, ei seht doch!
Das Männlein ist hurtig, das Dach ist schmal,
Gib acht, es fällt noch.
Eh' sich's versieht, fällt's vom Dach herunter
Und bricht den Hals nicht, das ist ein Wunder.
Unter dem Dach steht ein Wasserzuber,
Hineinfällt's nicht schlecht;
Da wird es naß über und über,
Ei, das geschieht ihm recht.
Da kommt die Gans gelaufen,
Die wird's Männlein saufen.
Die Gans hat's Männlein 'nuntergeschluckt,
Sie hat einen guten Magen;
Aber das Männlein hat sie doch gedruckt,
Das wollt' ich sagen.
Da schreit die Gans ganz jämmerlich;
Das ist der Köchin ärgerlich.
[285]
Die Köchin wetzt das Messer,
Sonst schneidt's ja nicht:
Die Gans schreit so, es ist nicht besser,
Als daß man sie sticht;
Wir wollen sie nehmen und schlachten
Zum Braten auf Weihnachten.
Sie rupft die Gans und nimmt sie aus
Und brät sie,
Aber das Männlein darf nicht 'raus,
Versteht sich.
Die Gans wird eben gebraten;
Was kann's dem Männlein schaden?
Weihnachten kommt die Gans auf den Tisch
Im Pfännlein;
Der Vater thut sie 'raus und zerschneid't sie frisch.
Und das Männlein?
Wie die Gans ist zerschnitten,
Kriecht's Männlein aus der Mitten.
Da springt der Vater vom Tisch auf,
Da wird der Stuhl leer;
Da setzt das Männlein sich drauf
Und macht sich über die Gans her.
Es sagt: »Du hast mich gefressen,
Jetzt will ich dafür dich essen.«
Da ißt das Männlein gewaltig drauf los,
Als wären's seiner sieben;
Da essen wir alle dem Männlein zum Trotz,
Da ist nichts übergeblieben
Von der ganzen Gans, als ein Tätzlein,
Das kriegen dort hinten die Kätzlein.
Nichts kriegt die Maus,
Das Märlein ist aus.
Was ist denn das?
Ein Weihnachts-Spaß;
[286]
Aufs Neujahr lernst
Du, was?
Den Ernst.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9F5B-E