Nicht deuteln
Als Max Reinhard mit seinem Ensemble im Münchener Künstlertheater gastierte, befand ich mich einmal am Künstlertisch der Torggelstube allein mit Adele Sandrock. Wir sprachen über die Wiener Literaten. Die große Tragödin geriet in Feuer: »Oh, ich kenne sie alle!« donnerte sie mit ihrem gewaltigen Organ. »Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Karl Kraus – sie alle sind in meinem Salon geboren worden!«
Am Abend darauf saß ich mit Frank Wedekind und Friedrich Kühne an demselben Tisch. Ich erzählte, wie die Sandrock sich geäußert habe. »Lieber Herr Mühsam«, meinte Friedrich Kühne mild, »Sie haben Fräulein Sandrock mißverstanden. Sie hat ihre Bemerkung nicht wörtlich aufgefaßt wissen wollen; sie hat nur ausdrücken wollen, die Herren seien in ihrem Salon das geworden, was sie heute darstellen.« – »Nein, Herr Kühne«, versicherte ich, »das kann ich mir wirklich gar nicht denken.« Kühne aber beteuerte: »Glauben Sie mir doch – es kann sicherlich nur bildlich gemeint gewesen sein!« Wedekind aber entschied jetzt unsern Disput: »Herr Kühne«, sagte er ernst und nachdrücklich, »ich kenne Adele Sandrock seit einer Reihe von Jahrzehnten; die meint, was sie sagt!«