7. Sieben Jahre im Odenberge.

Ein Müllerbursch hatte für seinen Herrn Frucht über Land gefahren und wollte am Abend mit seinen beiden Pferden noch nach der Mühle zurückkehren. Es war just an einem Tage, wo der Karlquintes seinen Umritt hält, was er alle sieben Jahre nur einmal thut. Den Burschen führte sein Weg am Odenberge vorüber, und da er nicht ganz frei von Furcht war, so sang er eine lustige Weise, um sich die Gedanken aus dem Kopfe zu schlagen. Aber plötzlich vernahm er ein dumpfes Geräusch, wie von fernem Trommelschlag und Pfeifenklang, vermischt mit Waffengerassel und Pferdegetrappel, und immer näher kam's und näher, bis das zweifelhafte Licht des Mondes ihn erkennen ließ, daß ein langer Zug berittener Krieger am Bergesabhang dahinsausete. Karlquintes ritt an ihrer Spitze, auf seinem weißen Roß, das mächtige Schlachtschwert in der Rechten tragend. Der Bursch trieb seine Pferde an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, aber die Pferde versagten ihm diesmal den Gehorsam; sie hatten nicht sobald den langen Zug der Reiter wahrgenommen, als sie in gestrecktem Galopp, über Stock und Stein, über Gräben und Hecken setzend, darauf losjagten und sich – es waren alte Cavalleriepferde – laut wiehernd mit in Reih' und Glied stellten. Den Burschen überlief es eiskalt inmitten der grausigen Kriegerschaar, doch wie er auch Sporn und Peitsche gebrauchte, seine Pferde hielten gleichen Schritt mit den anderen, jagten mit ihm um den Berg herum und wurden endlich vom Strome mitgerissen, als [7] das Heer seinen Einzug in die düstern Hallen des Berges hielt, der darauf für sieben Jahre wieder seine Wände schloß.

Lange harrte der Müller daheim des Burschen und seiner Pferde; all' sein Suchen und Forschen blieb indessen ohne Erfolg und so hielt er sich endlich für betrogen und geprellt, und miethete einen andern Knecht.

Es war an demselben Tage, an welchem vor sieben Jahren der Bursch über Feld gezogen, als um die Mittagsstunde Hufschlag vor der Mühle erscholl. Der Müller sprang ans Fenster: das war sein alter Bursch wie er leibte und lebte! So frisch, gesund und jung wie vor sieben Jahren, und seine Pferde waren noch wie damals, als er sie zuletzt gesehen.

»Herr!« flehte der Bursch, »nehmt mir's nicht übel, daß ich über Nacht ausgeblieben bin.« – »Ueber Nacht, sagst du Schelm! Das wäre mir eine lange Nacht von sieben Jahren!« – »Herr, als ich gestern Abend am Odenberge vorüber zog, hielt der Karlquintes seinen Umrittt, die Pferde gingen mir durch und rissen mich mit in den Berg hinein, und so mußte ich über Nacht unten bleiben.« – Da ging dem Müller ein Licht auf, er hatte schon mehr gehört, daß Menschen sieben Jahre in dem Berge gesteckt und nicht anders geglaubt hatten, als daß es nur eine Nacht gewesen wäre, und er nahm den Burschen wieder an.

Mündlich.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Lyncker, Karl. Sagen. Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. 7. Sieben Jahre im Odenberge. 7. Sieben Jahre im Odenberge. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-25DE-4