Liebe und Gegenliebe

Als einst die Mutter der Anmuth
Den Knaben Amor gebar,
Bekränzt' er, ein einziges Söhnchen,
Mit Rosen sein lockiges Haar.
Er schuf nur Qualen den Herzen;
Die zarte, süßere Pflicht,
Mit Liebe Liebe zu lohnen,
Die kannte der Flüchtige nicht.
Und manche beleidigte Göttin
Und mancher beleidigte Gott,
Sie zürnten Alle dem Knaben
Und schufen ihm Flügel zum Spott.
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Bis einst Urania selber
Ein schöneres Mittel ersann:
Sie ward zur Welle des Meeres
Und blickte den Lieblichen an.
Er sieht im Meere sein Bildniß
Und wird von Liebe beseelt
Und fühlt nun selber die Schmerzen,
Mit denen er Andre gequält.
Umfangen will er das Wahnbild,
Ihm in der Welle so nah,
Und sieh, sein schönerer Bruder
Steht vor dem Liebenden da.
»Wer bist Du?« spricht er verwirret.
»Du selbst, Dein Bruder bin ich.
Laß uns versuchen im Kampfe!
Vielleicht besiegest Du mich.«
Und seitdem ringen die Beiden
Der Liebe mächtigen Streit;
Wo Einer Herzen verwundet,
Ist nie der Andere weit.
Wo Liebe, schaffende Liebe
Hinschaut mit zauberndem Blick,
Kommt ihr vom Bilde des Anschauns
Die Gegenliebe zurück.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Erstes Buch. Liebe und Gegenliebe. Liebe und Gegenliebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5A10-B