An die Mitternacht
1764.
Jetzt, in der Mitternacht,
Die mich erzeugte, reifte und gebar,
Will ich mich fragen, wer ich war.
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Auf meiner Stirn ist Nacht! –
Ist's Wasser denn, was mir in Adern fleußt?
Ist Fleisch mein Herz, und Staub mein Geist?
Ach, Du (o weh Dir Nacht!)
Schriebst meinen Nam', wo goldne Namen glühn,
Mit Lethe's schwarzen Tropfen hin.
Schwarz ist mein Loos wie Du!
Mein Bücherkreis nur eine Milbensphär',
Und Feinde glänzen um mich her.
Nur meine Knospe sinkt –
Sie, kaum geweckt vom frühsten Morgenstrahl,
Kaum zweener Freunde Reiz dreimal,
Sinkt, stirbt, verwest! O Nacht,
Sprich, wo noch Geist in ihrer Asche glüht,
Daß sie zu Deiner Blum' aufblüht,
Die stillen Frühlingsthau
Zum Ambra für den matten Wandrer trinkt,
Wenn Philomele hoch ihm singt.