[310] 22. Die verfolgte Tugend
1.
Tugend pflegt ja sonst zu geben
süsse Freud / (wie daß sie mir:
Unruh ursacht für und für?)
Seither sie mein ganzes Leben /
seither sie ist meine Lust /
ist nur Unlust mir bewust.
2.
Ach du Himmel / voller Sterne!
kanst du auch vertunkelt seyn?
solte nicht dein heller Schein
alle Wolken jagen ferne?
ja / der Donner scheut sich nicht /
sie zu treffen ins Gesicht.
3.
Wie auf edle Adler stechen /
alle Vögel / doch umsonst:
So versucht die Misvergunst
ihre Pfeil' auch abzubrechen /
an der Tugend / mit viel Schmerz:
doch geht er ihr selbst ins Herz.
[311] 4.
Tugend ist ein Regenbogen /
Ehren-bunter Himmelzeug;
doch auch gäher Regenß-Steig
der bald drauf komt hergezogen.
Ihr beglückter Sonnen Glanz /
wird offt schier verdunckelt ganz.
5.
Nun sie sey auch / wie sie wolle:
einmal hab' ich sie erkiest.
Mein Schluß unzerbrüchlich ist /
ewig treu er bleiben solle.
Um sie dult ichs allzumal /
Donner / Regen / Blitz und Strahl.
6.
Trutz des Wetters ungeheur /
trutz der stürmen-vollen See /
trutz des Winters Eis und Schnee /
trutz den Strahlen / trutz dem Feur /
trutz / was Tugend hindern will!
wann Gott will / wird alles still.