200. Enten zeigen den Mord an

Nahe bei Glückstadt steht einsam eine große alte Eiche und weit und breit herum keine zweite. An dieser Eiche Stelle stand früher nur ein kleiner Busch, und an ihm saßen ein paar Männer und sahen, wie denselben Ruheplatz ein wandernder Handwerker wählte, der sie nicht sah und, sich allein glaubend, sein Geld zählte. Schnell reifte im Herzen der Männer der Entschluß zu einer Untat. Sie überfielen den Handwerker und ermordeten ihn. Da rauschte aus dem Wasser des nahen Teiches ein Flug wilde Enten auf, die flogen schreiend über den Busch, und der Unglückliche hob sterbend seine Hand und rief: Zeugt, ihr Vögel, zeugt von dieser ungetreuen Tat! Die Mörder verscharrten die Leiche unter dem Busch und entflohen. An jener Stelle wuchs ein blutrotes Kraut, und die Pferde, welche dorthin zur Weide getrieben wurden, scheuten und bäumten sich, wenn sie vorbei sollten, und wieherten und scharrten mit den Hufen. Dies tun sie immer da, wo Unschuldige getötet wurden. Lange Zeit ging vorüber; der eine jener beiden Mörder verheiratete sich in einem nahen Dorfe, der andere diente auf einem Hofe als Knecht, sie waren alt und grau, und ihr Lebenswandel war untadelig. Eines Abends ging der eine mit seiner Frau spazieren und kam von ohngefähr an den Busch und an den roten Fleck – so hieß die Stelle schon seit lange von dem roten Kraut, das dort wuchs und nirgends anders in der ganzen Umgegend. Und da kam zufällig auch der Knecht und wollte ein Pferd von der Weide holen, und da flog ein Flug Enten schreiend aus dem Weiher auf, und beide Männer riefen erschrocken aus einem Munde unwillkürlich: Ha die Enten, die Zeugen! – dann aber schwiegen sie und erbleichten, und die [156] Frau sah beide forschend an, und die Enten kreischten wieder, und die Männer erzitterten. Und daheim wurde der verheiratete Mann wortkarg und still und ging wie schwermütig umher, und die Frau klagte ihr Leid und sein Leiden den Nachbarn, und so habe es angefangen, dort am roten Fleck, wo die Enten geschrieen und die Männer gerufen hätten: Ha die Enten, die Zeugen! – Das kam vor den Bauernvogt, und der ließ in aller Stille beim roten Fleck nachgraben, und da fand sich ein Gerippe, und die Männer wurden verhaftet und gestanden im ersten Verhör die vor vierzig Jahren begangene Tat. Reuig erlitten sie zu Glückstadt den Armensündertod, und zum Gedächtnis wurde jene Eiche gepflanzt, die noch heute steht. So zeigten hier Enten die Mordtat an, wie im altdeutschen Märchen das Rebhuhn und in der griechischen Sage die Kraniche des Ibykus.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 200. Enten zeigen den Mord an. 200. Enten zeigen den Mord an. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2CDF-2