258. Heiligelinde

Als die Götterstätte in der Nähe von Rastenburg zerstört war, blieb doch dem Volke, obschon es zum Christentum bekehrt war, die Stelle lieb und wert, und es wurde auf jenem Hügel eine junge Linde gepflanzt. Nun saß einmal vor vielen hundert Jahren ein Missetäter zu Rastenburg auf den Tod gefangen, dem erschien, weil er reuig war, am Tage vor seiner anberaumten Hinrichtung die heilige Jungfrau, die sprach ihm tröstlich zu und gab ihm ein Messer und ein Stück Holz und sagte: Schnitze aus dem Holz, wozu du Lust hast, und setze das Bild dann auf eine Linde. Solches tat er und begann zu schnitzen, und am andern Morgen war es die kostbarste Schnitzerei geworden, ein übervortreffliches Marienbild mit dem Jesusknaben auf dem Arm, und nun erzählte der Gefangene von der Wundererscheinung. Darauf wollte ein Rat zu Rastenburg den Gefangenen nicht richten, sondern gab ihn frei, damit er Mariens Befehl vollziehe. Darauf ist der Mann aus Rastenburg gegangen gen Rössel zu, aber er ist vier Tage herumgeirrt, bis er eine Linde fand, und das war auf dem alten Götterhügel, darauf stellte er sein Bild. Es war aber der Ort gar nicht weit von Rastenburg und noch näher bei Rössel gelegen und führt jetzt die Straße von einem Ort zum andern dort vorbei. Als das Bild auf der Linde stand, blieb die Linde Sommer und Winter grünen, und das Bild begann Wunder zu üben, wie jenes wundertätige Holzbild der heiligen Jungfrau mit dem Kinde unter der Linde zu Grimmenthal, die noch heute steht. Ein Blinder ward vorbeigeführt, der sah einen hellen Schein, dem ging er nach, und als seine Hand die Linde berührte, wurden seine Augen aufgetan, und er sah zuerst vor allem das Bild und betete dankend an. Das Vieh, das am Baume vorbeigetragen wurde, beugte die Kniee vor dem Bilde. Da nun die zu Rastenburg von dem Bilde hörten, wollten sie es bei sich verehren und in gute Obhut nehmen, stellten daher eine große Prozession an und zogen über Poswangen und Pötschendorf nach dem Hügel und holten das Bild; allein am andern Morgen war es fort und wieder an der alten Stelle. Da haben die Rastenburger eine noch größere Prozession angestellt und sind wieder hingezogen und haben das Bild geholt, es ging ihnen aber wieder ebenso – das Bild kehrte zu seiner Linde zurück, wo es stehen wollte. Und nun wurde dort eine Kapelle gebaut und entstand eine große Wallfahrt, und ein Ort baute sich an, der wurde Heiligelinde genannt. Alle Bäume in der Gegend zwischen den vier Dörfern Pötschendorf, Beeslack, Kattmedien und Rabowen, deren genauen Mittelpunkt Heiligelinde bildet, neigen ihre Wipfel jener Kapelle zu.

Gleiche Wanderung eines Marienbildes, von welcher die Sagen häufig melden, wird auch von Kulm erzählt, allwo das Bild immer wieder aus der Kirche auf die Stadtmauer wich.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 258. Heiligelinde. 258. Heiligelinde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-27FE-2