637. Die Braut vom Kynast

Auf der Burg Kynast über Hermsdorf, ohnweit Warmbrunn, saß ein Ritterfräulein, Kunigunde genannt, das war eine grimme Männerfeindin. Allen Bewerbern um ihre Hand legte sie eine Mutprobe auf, die so gefahrvoller Art war, daß deren Bestehen schier unmöglich; sie sollten auf der hohen und schmalen Burgmauer rund um die Burg reiten; wenn sie es versuchten, und es ging noch so gut, sobald sie an die Stelle der Mauer kamen, die man noch heute die Hölle nennt, wo der Abgrund zu jäher Tiefe sich steil absenkt, da schwindelten Roß und Mann und stürzten zerschmetternd in die Tiefe. Das eben, und keinen Mann, wollte Kunigunde. Viele Ritter hatten schon auf diese grausame Weise ihr Leben verloren, doch hatte der Ruf davon noch nicht alle Freier abgeschreckt; angezogen von Kunigundens kalter Schönheit und vielleicht mehr noch vom kalten Mammon in ihren Kisten und Kästen, mehrten sie die Zahl der betörten Opfer. Da geschah es, daß ein Landgraf von Thüringen – einige sagen Albert, andere nennen dessen Sohn Friedrich den Freudigen – daheim auf seinem Wartburgschloß ein gefährliches Kunststück übte; er umritt die Mauer [425] seines Schlosses täglich einmal und gewöhnte sein treues und kluges Roß an sichern Blick und Tritt, denn hoch über Felsenabgründen hebt sich der Wartburg alter geweiheter Bau. Endlich ritt der Landgraf von Thüringen mit einem reisigen Zuge gen Schlesien zum hohen Kynast hinan und ließ als ein Ritter aus Thüringen sich melden. Und als Kunigunde den herrlichen Mann ersah, ward ihr wunderbar zu Sinne, ihr starres Gefühl ward weich, sie liebte den noch jugendlichen Ritter und beschwur ihn flehentlich, den Ritt nicht zu versuchen. Allein er ließ sich nicht davon abbringen, er wagte den Ritt und bestand glückhaft das gefährliche Abenteuer. Jubelnd flog ihm Kunigunde entgegen, all ihr Sehnen war gestillt, ihm allein wollte sie angehören, gern und freudig, ihm wollte sie ein liebendes Weib sein. Aber mit Ernst und Strenge im Blick wehrte der Landgraf ihr Umfahen von sich ab und sprach Worte zu ihr, die sie in ihres Gemütes tiefsten Tiefen erschütterten. Darunter war die Nachricht, daß er bereits glücklich vermählt sei, ihr das härteste Wort – und wie er als der Rächer so vieler Opfer stolz von dannen ritt, da soll Fräulein Kunigunde die Mauer erklommen und ihm nachgesehen haben, so lange, als ihr nur möglich, dann habe sie sich freiwillig in die Hölle hinabgestürzt. Andere haben die ernste Sage scherzhaft gewendet und sagen, Kunigunde habe sich vor Schreck in das häßliche Holzbild verwandelt, das noch heute als Braut vom Kynast den Reisenden zum Kusse dargeboten wird, wer es aber nicht küssen will, dieweil es statt der Haare und Augenbrauen mit der Haut eines Stacheligels aufwartet, der muß sich mit kleinem Gelde lösen. – Diese Sage haben Theodor Körner, Friedrich Rückert und andere deutsche Dichter als Balladenstoff sich dienen lassen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 637. Die Braut vom Kynast. 637. Die Braut vom Kynast. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2744-2