656. Die heidnische Jungfrau zu Glatz

Zu Glatz saß als Herrin der Herrschaft und des Gaues in den Heidenzeiten eine Jungfrau, die führte ein üppiges Leben und ist eine Zauberin gewesen, auch also kräftig, daß sie zum öftern zur Kurzweil ein starkes Hufeisen mit den Händen zerriß. Sie war auch eine so geübte Schützin, daß sie mit einem Pfeil aus ihrem Ranzenbogen vom Schlosse zu Glatz bis zur großen Linde bei Eisersdorf an der Grenze schoß. Einstmals wettete sie mit ihrem Bruder um etwas Hohes, wer am [438] weitesten schießen könne; da schoß der Bruder kaum den halben Weg; darauf wurden an dem Ort, dahin die Jungfrau getroffen, zwei hohe spitze Steine zum Denkzeichen aufgerichtet, die lange gestanden haben. Da aber das Leben der Jungfrau ein verrufenes war, so wurde ihr nach dem Leben getrachtet, sie entging aber mittels ihrer Zauberkunst den Nachstellungen lange Zeit. Endlich wurde sie gefangen und in einen großen Saal beim Tor, wo man vom Niederschloß ins Oberschloß geht, eingemauert, alldort wurde ihr Bildnis, in einen Stein ausgehauen, der Mauer einverleibt, das noch gezeigt wird. Auch im grünen Saal des Schlosses war der Jungfrau Bild fein gemalt zu sehen, und in einem alten Kapellchen aus der Heidenzeit ward ihr Haar gezeigt, das war schön und gelb und hing an einem Nagel so hoch, daß nur ein großer Mann, auf dem Boden stehend, es erreichen konnte. Oft noch ward diese heidnische Jungfrau im Schlosse erblickt als ein umgehendes Gespenst, doch unschädlich denen, die es nicht verhöhnten oder beleidigten oder Verlangen trugen, das Haar hinwegzunehmen. Ein Soldat, der solches tat, empfing von ihrer kalten Hand einen Backenstreich, daß ihm die Wange blitzblau blieb all sein Lebetage. Ein anderer, der wirklich das Haar hinweggenommen, wurde vom Gespenst der Jungfrau gekratzt, gekrempelt und gar übel zugerichtet, bis es sein Rottgesell auf sein Flehen wieder an Ort und Stelle trug und hing. Die Forscher haben sich sehr zersonnen, wer die Jungfrau eigentlich gewesen und wie sie geheißen, und haben glücklich herausgebracht, daß sie die Böhmenkönigin Libussa nicht gewesen, deren Schwester Kascha oder Tetka aber auch nicht. Wanda, die Polenregentin, die im Jahre Christi 728 usw. herrschte, soll es auch nicht gewesen sein; daß es aber die zauberische Wlaska, die den böhmischen Mägdekrieg angezettelt, war – steht sehr in Zweifel. In Summa ist so viel ganz gewiß, daß man, wer jene Jungfrau gewesen, so recht eigentlich nicht wissen kann, wie mit der Höhe des Berges Sinai und vielen andern Dingen der gleiche Fall.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 656. Die heidnische Jungfrau zu Glatz. 656. Die heidnische Jungfrau zu Glatz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-26F8-B