69. Vom Eschenheimer Turm

Zu Frankfurt steht noch gar ein alter Turm von der ehemaligen Stadtmauer. Einst hatten die Frankfurter einen Wilddieb gefangen, des Name war Hänsel Winkelsee, und der saß schon neun Tage im finstern Loch, ehe Spruch und Urteil über ihn erging, und hörte allnächtlich die Wetterfahne kreischen und rasaunen über seinem luftigen Losament hoch oben im Eschenheimer Turme und sprach: Wär' ich frei, und dürft' ich schießen nach meinem Wohlgefallen, so schöß' ich dir, du lausige Fahn' – so viel Löcher durchs Blech, als Nächt' ich hier gesessen hab'. – Diese Rede hörte der Kerkermeister und trug sie vor den Stadtschultheißen der freien Stadt, und dieser sagte: Dem Kerl gehört keine Gnad' als der lichte Galgen; wenn er aber so ein gar guter Schütz sein will, so wollen wir ihm sein Glück probiere lasse. – Und da ward dem Winkelsee seine Büchse gegeben und gesagt, nun solle er tun, wes er sich vermessen: wenn er das könne, solle er frei von dannen gehen, wenn aber auch nur eine Kugel fehl gehe, so müsse er baumeln, und da krähe kein Hahn nach ihm. Da hat der Wildschütz seine Büchse genommen, [62] und hat sie besprochen mit guten Weidmannssprüchlein, und hat Kugeln genommen, die auch nicht ohne waren, und hat angelegt und nach der Fahne gezielt, und hat losgedrückt. Da saß ein Löchlein im Blech, und alles hat gelacht und bravo gerufen. Und nun noch achtmal so, und jede Kugel an die richtige Stelle, und mit dem neunten Schuß war der Neuner fertig, der heute noch in der Fahne auf dem Eschenheimer Turm zu sehen ist, und war ein großes Hallo um den Schützen her. Der Stadtrat aber dachte bei sich: O weh, unsere armen Hirsche und sonstiges Wild, wenn dieser Scharfschütze und Gaudieb wieder hinaus in die Wälder kommt – und beriet sich, und der Stadtschultheiß sagte: Höre, Hänsel, daß du gut schießen kannst, haben wir schon lange an gemeiner Stadt Wildstand verspürt und jetzt auch deine Kunst mit Augen gesehen. Bleibe bei uns, du sollst Schützenhauptmann bei unserer Bürgerwehr werden. – Aber der Hänsel sprach: Mit Gunst, werte Herren, ins Blech hab' ich geschossen, und schieß euch auch auf euern Schützenhauptmann. Eure Dachfahnen trillen mir zu sehr, und euer Hahn kräht mir zu wenig. Mich seht ihr nimmer, und mich fangt ihr nimmer! Dank für die Herberge! – Und nahm seine Büchse und ging trutziglich von dannen. Mit dem Hahn hatte der Hänsel aber nur einen Spott ausgeredet, er meinte das Frankfurter Wahrzeichen, den übergüldeten Hahn mitten auf der Sachsenhäuser Brücke, die der Teufel hatte fertig bauen helfen. Denn als sie der Baumeister nicht fertig brachte, rief er den Teufel zu Hülfe und versprach ihm die erste Seele, die darüberlaufen werde, und jagte dann in der Frühe zu allererst einen Hahn über die Brücke. Da ergrimmte der Teufel, zerriß den Hahn und warf ihn durch die Brücke mitten hindurch; davon wurden zwei Löcher, die können bis heute nicht zugebaut und zugemauert werden, und fällt bei Nacht alles am Tage Gemauerte wieder ein. Auf der Brücke aber wurde der Hahn zum ewigen Wahrzeichen aufgestellt. Den meinte der Hänsel Winkelsee, daß er zu wenig krähe, nämlich gar nicht.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 69. Vom Eschenheimer Turm. 69. Vom Eschenheimer Turm. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2258-4