192. Die getreue Alte

Zu Husum sollte einst ein Winterfest gefeiert werden auf dem Eise, denn das Eis war fest. Zelte wurden aufgeschlagen auf der herrlichen blanken Fläche zwischen dem Ufer und der Insel Nordstrand, Schlittschuh lief, was laufen konnte, Stuhlschlitten flogen dahin, Musik und Tanz, Lied und Becherklang verherrlichte den schönen Tag und die nahe lichthelle Mondnacht, die den Jubel noch vermehren sollte, denn schon ging der Mond auf.

Alles und alles war hinaus aufs Eis und machte sich lustig, nur ein steinaltes Mütterlein war zurückgeblieben, hatte die Weltlust hinter sich, und wenn sie ja wollte, konnte sie hinaus und hinab aufs Eis sehen, denn ihr Häuslein stand auf dem Damme. Und sie tat’s, sie sah gegen Abend hinaus und sah im Westen ein Wölkchen über die Kimmung heraufziehen, da befiel sie große Angst, denn sie war eines Schiffers Witwe und kannte die See und die Zeichen von Wetter und Wind. Sie rief, sie winkte – niemand vernahm sie, niemand blickte nach ihr – aber das Wölkchen wuchs zusehends und war ein Bote der Flut und schnell umspringenden Windes von Nord nach West. Und wenn die auf dem Eise nur noch eine halbe – eine Viertelstunde zögerten, so war es um sie getan, so stand Husum menschenleer. Wie die Wolke wuchs, zusehends, riesengroß, schwarz – wie sie schon den lauen Windhauch spürte, wuchs auch der Alten unsagliche Angst – und sie war allein, krank, halb gelähmt, machtlos. Dennoch ermannt sie sich, [151] kriecht auf Händen und Füßen zum Ofen, nimmt einen Brand, zündet das Stroh ihres eignen Bettes an und kriecht zur Türe des Häuschens hinaus. Bald schlägt die Flamme aus dem Fenster, hinauf zum Dach, des Sturmes Odem facht hellodernde Glut an, und: Feuer! Feuer! schreit es auf dem Eise, und die Zelte werden verlassen, die Schlittschuhläufer fliegen dem Strande zu, die Schlitten lenken sich heimwärts. Und da faucht schon der Wind über die Eisfläche, da pocht’s schon drunten und poltert, und wie Kanonendonner kracht das Eis in der Ferne. Die schwarze Wolke überzog den Mond und den ganzen Himmel, wie ein Leuchtturm flammt das Haus der Witwe und zeigt den Heimwärtseilenden die sichere Bahn. Wie die letzten am Strande sind, rollt die Flut ihre Wogen über das Eis und reißt Zelte und Tonnen, Wagen und Zechgeräte in ihre rauschenden Wirbel.

Die arme Alte hatte ihr Häuschen geopfert, die Bewohner ihrer Stadt zu retten. Es wird ihr ja wohl nicht unvergolten geblieben sein.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 192. Die getreue Alte. 192. Die getreue Alte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-21D5-0