XI. Scenen aus der Geschichte.
Auf wiederholtes Zudringen der Frauen ward beschlossen, einen Ausflug nach Ettal zu Wagen zu machen. Es lockte dieselben weniger noch die Neugierde, den schönen Tempel zu sehen, den ihnen der Freund nicht genug zu rühmen wußte, als vielmehr die Frömmigkeit und der Wunsch, ihre Andacht bei der Gnadenmutter zu verrichten. – Der Freund selbst wollte sie dahin begleiten.
Von der Straße, die über Eschenlohe nachPartenkirchen führt, zweigt sich, ungefähr in der Mitte des Weges, gen Westen ein Fahrweg ab, der einen steilen Berg hinauf in ein enges, von hohen Bergen umgebenes Thal führt. Hier wird man nun angenehm überrascht durch den Anblick eines, auch schon von Außen durch Größe und Gestalt imponirenden Tempels, und des daran stoßenden im neuern Styl erbauten Klosters; und es bilden diese [264] Gebäude einen wunderlichen Contrast mit der abgelegenen Wildniß, obwohl sie doch auch wieder wohl zusammen stimmen mit der großen Natur, die sie umgibt. – Im Vorhofe der Kirche liegen noch die marmornen Trümmer umher, die zum Ausbau der Façade bestimmt waren, und der Gedanke, daß dieser Tempel, durch die Unbill der Zeit, von vorn herein eine Ruine geworden, erwecket eine ganz eigne, wehmüthige Empfindung. Betrittst du nun die Kirche selbst, so siehst du dich umgeben von einer großen, freundlich erhellten Rotunde, und, wo du den Sinn hinwendest, begegnen dir bedeutsame Gemälde und andere heilige Bilder. Aber aus der Tiefe des Tempels lockt dich bald der, in schönen Formen, aus Marmor erbaute Choraltar näher, und Maria, wie sie, von Engeln umgeben, gen Himmel aufgenommen wird. Du stehst nunmehr in einer zweiten, kleinern Rotunde, deren Wände mit mannichfaltig gefärbtem Marmor durchaus getäfelt und geziert sind, und an deren Decke ein Fresco-Gemälde das Wunder jener frommen Sage in anderer Gestaltung entfaltet. Der Meister, scheint es, hat sich hier in beiden Arten von Malerei als Meister zeigen wollen.
Bei überraschenden Scenen dieser Art ist es merkwürdig, wie, in demselben Moment und vor demselben [265] Gegenstande, verschiedene Charaktere sich auf verschiedene Weise aussprechen und benehmen. Eine einzige flüchtige Beobachtung führt da weiter, als eine jahrlange Erfahrung. Die Frauen waren schon auf ihren Knien, andächtig betend, und die Mädchen folgten sogleich, von dem Ansehen des Beispiels bewältigt. Des Vaters Auge ruhte unbewegt am Altar- und dann wieder am Deckengemälde. Des Onkels Aufmerksamkeit schien mehr auf das Ganze, und die architektonischen Massen hingelenkt. Karl betrachtete und überschaute meist nur das bunte, marmorne Getäfel. Fritz schweifte mit Füßen und Augen hin und her, und alles schien seine Aufmerksamkeit zu erregen, und nichts. Der Freund bestrebte sich zu erklären, zu commentiren; ward aber so viel wie nicht gehört. – Endlich beschwichtigte und versammelte sich die Familie zu gemeinschaftlicher Andacht am Fuße des Altars.
Die Frauen verharrten länger im Gebete, als es den Männern genehm seyn mochte. Diese entfernten sich mit den Knaben, um die ehemaligen Klostergebäude im Innern anzusehen. Da machte denn der Freund wieder den geschäftigen, gefälligen Interpreten. »Das ist das Refectorium, der Speisesaal gewesen – und das ist die Wohnung des Prälaten gewesen – und das ist das Zimmer gewesen, [266] wo Ludwig der Bayer gewohnt hat, so oft er hieher gekommen« – – Es erregt schon das bloße Wort »gewesen« ein beengendes niederschlagendes Gefühl in uns, auch ohne unmittelbare Anschauung der verwitterten Ruine, des zerstörten Heiligthums, des modernden Leichnams ... Man eilte sehr, um recht bald aus diesen Gemächern zu kommen.
Als die Gesellschaft wieder im Vorhof zusammen getroffen, erzählte Malchen: »es sey indessen während sie noch gebetet hätten, der Meßmer gekommen, und habe ihnen das Gnadenbild zum Kusse dargereicht. Es sey eine gar schöne Madonna.«
»Man sagt – erwiederte der Freund – daß es ursprünglich eine Juno gewesen. Die Antike verläugnet sich nicht.«
Die unbesonnene Aeußerung des Freundes fiel zu sehr auf, als daß sie nicht eine Widerrede hätte hervorrufen sollen. Der Vater nahm das Wort: »Es scheint also hier Sage gegen Sage zu streiten. In solchen Fällen halte ich es mit dem Satze: Der Gläubige hat Recht. Ein Gnadenbild ist sie aber sicherlich, diese Statue; denn seit Jahrhunderten ist es wohl zu unzähligen Malen geschehen, daß in diesem Bildniß, wie in einem Brennpunkte der Bitte der bedürftigen Creatur die Gnade, das Licht von Oben, begegnete, Herzen entzündend, verklärend [267] und beseligend. Die wunderthätige Kraft, die so aus dergleichen Bildnissen als sinnlichen Medien fließet, gibt dem Gläubigen allerdings das Recht, dieselben als Unterpfänder göttlicher Liebe zu halten und zu verehren.«
Man hatte beschlossen, das Mittagmahl in Ober-Ammergau einzunehmen. – Man lenkt nach einer kleinen Viertelstunde um die felsige Ecke herum, aus dem beengten, düstern Thale; und nun öffnet sich plötzlich, nach Norden zu, ein offenes, weites, begrüntes Gebäude, längs welchem zu beiden Seiten mäßig erhöhte Berge sich hinziehen, und in dessen Schooße gewerbsame Ortschaften sich lagern.
Man erging sich noch vor Tische in dem weitläufigen Flecken, und besuchte, unter der Anleitung des Freundes, die Niederlage jener Holzschnitzwaaren, die hier und in der Umgegend, wie anderswo, z.B. inBerchtesgaden, zahlreich verfertiget werden. Das war für die Kinder ein wahrer Christkindleins-Tag. Fritz gebärdete sich unmäßig im Auswählen; ein Stück um das andere gefiel ihm mehr. Der Vater fragte ihn: ob er etwa nicht gleich den ganzen Kram haben möchte? »Nein, sagte er sehr bescheiden; aber doch von allem etwas.« Eine Familie, wie die unsrige, fühlt sich in einer Bude dieser Art besonders wohlbehaglich. Der Gegenstände [268] gibt es eine unzählige Menge; die Preise sind wohlfeil; so manches Stück ist anziehend. Da kann man denn mit einem sehr geringen Aufwand dem und jenem ein Geschenk machen, das wohl gefällt und erfreut, so unbedeutend es auch an sich seyn mag. Denn merkwürdig ist es, wie die Einfachheit des Landlebens auch die Genügsamkeit, selbst derer, die in Städten leben, begründet und ausbildet, und wie unbedeutende und werthlose Sachen hier eben so zufrieden stellen, als dort Quincaillerien von edlen Metallen und Steinen. Der Mensch wünscht und verlangt und fordert immer und überall; aber das Maß ist verschieden nach Verhältnissen; und es besteht unser Glück nicht in dem, was wir haben, sondern nur, daß wir haben.
Der Vorrath der angekauften Waaren erinnerte zuletzt, daß vor allem – Schachteln nothwendig seyen, um sie zu packen. Die lebhafte Protestation der Männer wurde nicht angenommen, in Erwägung, daß auch sie, und zwar zuerst, sich jenes Versprechens ledig gemacht haben. Die Mutter beschwichtigte den Streit, indem sie, wie sie sagte, für das Verpacken und Aufpacken also sorgen wollte, daß keine Verlegenheit für die Männer entstehe.
Man schickte sich, nach eingenommenem Mittagsmahle, noch frühzeitig genug zur Rückfahrt an.
[269] Die Frauen mit den Mädchen bestiegen den einen Wagen, die Männer mit den Knaben den andern. Der letztere war vorn und hinten und über der Decke mit Schachteln bepackt. So hatte es die Mutter besorgt, und die Männer mußten sich's eben gefallen lassen.
Unter Wegs hatte der Freund mancherlei zu erzählen von der Betriebsamkeit der Ammergauer und derer, die in der Umgegend wohnten. »Die Natur, die sich hier eben so karg, als schwierig zeigt – sagte er – hat die Menschen zu besonderer Thätigkeit und Geschäftigkeit angeleitet und genöthigt. Die einen, denen besondere körperliche Kraft inne wohnt, lockt sie hinaus auf die Berge, in die Schluchten, zu den Tiefen, um Holz zu fällen, Gestein zu sprengen, Gemse zu jagen, Alpenweiden zu bauen und Vieh zu hüten; die andern hält sie zurück zu Hause, um zu spinnen, zu weben, aus Holz zu schnitzen, oder auf sonst eine ruhige Art Lebensunterhalt sich zu verschaffen. Indem nun aber die Waare ihren Verkäufer sucht und haben will, so bieten sich noch andere an, in die weite Welt zu wandern, beladen mit den künstlichen Erzeugnissen des Landes. Ehrlich, genügsam, heimathliebend, wie sie sind, ziehen sie von Land zu Land, ihre Paaren zudringlich anbietend und billig [270] verkaufend. Einige unter ihnen, die unternehmendern, knüpfen Verbindungen in entfernten Oertern an, bilden wohl selbst Niederlagen, treiben den Handel im Großen, nach Norden bis Rußland, nach Süden bis Spanien, sogar bis in das überseeische Amerika.«
»Sie sprechen doch wohl nur von einer frühern Zeit,« unterbrach der Vater.
»Ich spreche und erzähle allerdings – sagte der Freund – von einer frühern Zeit, wo durch Mauthen, Kriege, andere Umwälzungen dort draußen die Industrie dieser arbeitsamen Leute noch keinen Eintrag, keine Beschränkung erlitten hatte. Es begünstigte sie auch damals vorzüglich noch der Verkehr und der Handel zwischen Deutschland und Italien, der großentheils durch diese Gegend und dieses Weges ging. Unsere Leute waren dabei nicht bloß müßige Zuschauer, wie der Reichthum beider Länder vor ihren Augen vorbei zog, sondern sie verfolgten selbst die Straße bis zu ihrer Quelle hinauf und bis zu ihren Mündungen hinunter, und errichteten dort ihre eigenen Stapelplätze. Es ist aus amtlichen Urkunden bekannt, daß noch in den siebenziger Jahren die einzige Grafschaft Werdenfels sechzig Handelspatrone zählte, ihre Knechte (wie sie ihre Commis nannten) nicht mitgerechnet. Ueberhaupt [271] konnte man annehmen, daß je die fünfte Seele aus dem ›Landl‹ abwesend war. Denn Auswanderung konnte man diese Abwesenheit wohl nicht nennen, da die Entfernten fortdauernd in bürgerlichem und Familienband mit den Ihrigen blieben; wie denn auch wohl die meisten von Jahr zu Jahr auf einige Zeit die Heimath wieder besuchten, oder, nachdem sie ein stattliches Vermögen gesammelt, in ihrem spätern Alter sich in die heimathlichen Thäler auf immer zurück zogen. Noch vor einigen Jahren lebte in dem Dörschen Farchent einer aus jener frühern Zeit, der sein Hunderttausend wägen mochte.«
Karl, der mit großer Aufmerksamkeit zugehört, bemerkte, daß ihm so etwas unbegreiflich sey; und er wünschte, der Freund möchte Mehreres und Näheres von diesen Leuten und ihrer kaufmännischen Thätigkeit und Klugheit erzählen.
»Ein Beispiel – sagte der Freund – mag statt mehrerer dienen. Ein Ammergauer Bube, von ungefähr 14 bis 15 Jahren, verläßt, die wohlbepackte Krächse auf dem Rücken, seinen Vaterort. Sie ist beladen mit künstlichen Holzwaaren jeder Art, welche der Vater während des Winters fleißig und geschickt verfertigt hatte – Rosse und anderes Vieh, allerhand Hausrath, Pfeifen, [272] Trompeten, Rätschen, Hanswurste, Burzelmännlein – meist alles, oder doch das Gemeinste und Wohlfeilste dieses Krams trägt der junge Kaufmann mit sich – wobei er zudem noch mit jedem Weisen Griechenlands sagen kann, daß er all das Seine mit sich trage; denn dieser Kram ist ungefähr die Ausstattung, die sein armer Vater ihm auf den Weg, ins Leben mitzugeben vermag. Der Sohn empfängt dieß aber alles nur als Darlehen, mit dem er in der weiten Welt handeln und wuchern soll. Mit diesem Reichthum an geschnitztem Holz, nebst einigen Batzen im Baaren, die ihm die sorgsame Mutter noch insgeheim zugesteckt, begibt er sich auf die Wanderung. Er geht von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, und bietet seine Waare feil. Gelüstige Kinder gibt es überall, und gutmüthige Mütter auch; so geht er denn selten ohne Absatz weg, und ein und der andere Pfenning bleibt als Gewinnst hängen. Wo er Mittags oder Abends zuspricht in einem ansehnlichen Bauern- oder Bürgershause, da vergönnt man ihm gern einen Bissen, und ein Lager. Das Volk übt (ich rede von früherer Zeit) gern Gastfreundschaft, zumal gegen einen jungen Menschen von offenem Gesichte, freier Rede und von Mutterwitz, der ohnehin eine Mitgabe des Gebirgsvolkes ist. – So kommt denn unser [273] junger Wanderer nach einigen Wochen, ohne daß er etwas verzehrt, aber viel, vielleicht das Doppelte, ja das Dreifache des eigentlichen Werthes seiner Waaren, verdient hat, in der nächsten Niederlage und Commandite der Ammergauer Manufacturen, etwa in Augsburg oder Ulm an. Hier ist bereits der Patron durch ein Brieflein des besorgten Vaters in Kenntniß gesetzt von der Ankunft seines Sohnes, und dessen Gnade sattsam empfohlen durch die Nachschrift eines wohlhabenden, angesehenen Vetters. Der Junge wird aber schon wegen Landsmannschaft freundschaftlich aufgenommen; und nachdem man vollends Einsicht genommen von seinem Erwerb, und der dabei erprobten Redlichkeit und Geschicklichkeit, so läßt man sich, gegen baare Bezahlung – was der junge Kaufmann auch zu leisten vermag – gern herbei, seine Krächse mit neuen Waaren zu befrachten um den billigsten Preis. Dieser wandert nun weiter, nach Westen oder Osten oder Norden, je nachdem ihm da oder dorthin bessere Aussicht eröffnet worden, seine Waaren abzusetzen und neue Freunde und Gönner zu finden. – Während des Winters, wo die Wanderung gehemmt oder doch sehr beschwert ist, läßt er sich bei einem Patron nieder, und verdingt sich zur Ausbesserung der Waaren auf dem Lager, oder zu sonstigen Dienstleistungen, [274] wofür ihm, nebst Kost und Wohnung, auch ein mäßiger Lohn zu Theil wird. Mit dem Frühjahr tritt er nun wieder seine Wanderung an, und treibt seine Handelschaft immer mehr ins Weite, in die Ferne, und macht dabei, je seltner die Waaren, desto größern Gewinn. Nach ein Paar Jahren erlauben es ihm bereits seine Mittel, sich einen größern Waarenvorrath anzuschaffen, als seine Krächse zu fassen vermag. Er bezieht nun bereits die Märkte; er handelt en gros, das ist, zu Duzenden von Hanswursten und Burzelmännlein an Land- und Stadtkrämer, und gewinnt damit ungeheuer viel. Dabei ist und bleibt er der alte, genügsame und sparsame Bub' ausAmmergau, in Kleidung, in Kost, in allem. Er gewinnt viel und braucht wenig, und das ist der nächste, beste Weg zum Reichwerden. Reich ist er aber schon nach einigen Jahren; denn sein Waarenlager, das er in irgend einem Städtchen Oesterreichs oder des Elsaßes oder Sachsens und Brandenburgs aufgehäuft hat, beträgt an Werth mindestens ein Paar tausend Gulden, von denen er jedoch ungefähr die Hälfte noch schuldig ist. Der Credit des Kaufmanns ist bekanntlich so viel werth, wie baares Geld, und das erste Tausend ist schwerer zu erringen, als die nächsten zehn Tausend. Und so ist's denn zu erklären, [275] wie der zwanzigjährige Jüngling, mit einem nicht unansehnlichen Vermögen, in seine Heimath, das trauliche Ammergau, zurück kehrt, um eine Tochter irgend eines Mannes, der brav Batzen hat, zu ehelichen. Man kauft nun ein Haus, eine Heimath; man richtet sich ein; man knüpft Handlungsverbindungen an; – der alte Vater, der mit den übrigen Kindern fleißig fort arbeitet, ist der erste Kunde; es wird ihm sein Anlehen, Kapital und Zinsen, ehrlich und reichlich zurück bezahlt. Der Sohn geht wieder auf seinen Platz zurück, und erweitert sein Geschäft immer mehr; er legt sich bald Sachen von höherm Werthe und besserm Gehalte bei; kurz, er wird ein Kaufmann von ausgedehntem und einträglichem Geschäfte.«
»Diese Schilderung, die Sie da machen – sagte der Vater – paßt genau auf eine Classe von Menschen, deren Betriebsamkeit eben nicht als Muster aufgestellt werden kann, und welche, zumal in neuesten Zeiten, zu einer wahren Landplage geworden sind.«
»Ich verstehe Sie – sagte der Freund. – Aber der Unterschied zwischen jenen und unsern Leuten ist wesentlich, und ganz zum Vortheil der letztern. DerAmmergauer, der Gebirgsbewohner überhaupt, der sich in die Handelschaft begibt, er [276] hat sein Vaterland, und liebt es; er entfernt sich nur aus Drang, wegen Armuth von seiner Heimath, um mit Freiheit dahin zurück zu kehren, und in Selbstständigkeit da zu verbleiben. Das wandernde, handelnde Leben gilt ihm nur als Mittel, um seines Lebens, Thuns und Treibens letzten Zweck zu erreichen, ein ruhiges, friedliches, geachtetes Daseyn in seinen alten Tagen. So kehrte er denn, wie ich schon gesagt, gern in sein trautes Thal zurück; und, wenn Verhältnisse ihn daran verhindern, so lebte er doch in weiter Ferne ungeschieden von den Seinigen und von dem Vaterlande im Geiste und in dankbarer Erinnerung.«
Unter diesen Erzählungen des Freundes langten sie wieder in dem engern Thal an, welches Ettal umschließt. Die Abendsonne senkte sich bereits gegen die westlichen Berge; es schien, als wolle sie noch in überfließender Freude ihren Lichtstrom ausgießen auf diese heilige Einöde; die Kuppeln des schönen Domes erglänzten wie Gold; die Fenster blitzten; das ganze Gotteshaus stand in lichter, hehrer Verklärung. Die Gesellschaft verharrte eine Weile in stiller Andacht. Nun zog sich der blasse Schatten heran, und legte sich düster über das Heiligthum hin, und das Gold der Kuppeln verbleichte, und die diamantnen Blitze der Fenster erblindeten, und es schien, als [277] schwebe nur noch der Schemen des Domes vor, als wäre er von einer lichten, sonnigen Höhe plötzlich herabgesunken in eine nächtliche, öde, bodenlose Tiefe.
»Es war ein großer, des großen Kaisers würdiger Gedanke, die Stiftung dieses Klosters – sagte der Onkel. – Heimkehrend von dem gefährlichen Römerzuge, wo die deutschen Kaiser so oft bedroht waren von Gefahren aller Art, von offenen Aufständen und heimlichen Intriguen, von Dolchen und Giften und Meineiden – nun wieder nach langer Abwesenheit, den Boden des engern Vaterlandes betretend, und zum ersten Male wieder verweilend unter seinem biedern, treuen Volke: da gelobte er ein Kloster zu stiften für Mönche aus dem Orden des heiligen Benedikts, auf daß sein Dank gegen Gott aus dem Munde frommer Priester auf ewige Zeiten erschallen möchte. Zugleich aber auch, und in Verbindung mit der Zelle der Mönche, stiftete er Wohnung und Verpflegung für arme, gebrechliche und alte Ritter, und sorgte, daß es ihnen weder an der Gemächlichkeit des zurückgezogenen Lebens, noch auch an der Gelegenheit zu Fahrten zu Pferd, und zu dem gewohnten, edlen Waidwerk mangelte. So ehrte er, als ein frommer und tapferer Mann, die beiden ausgezeichneten Stände seines Volkes, Adel [278] und Geistlichkeit, deren Rechte und Würden er erkannte und schützte. Wie aber seine Sorgfalt sich auch dem dritten Stande zuwandte, oder vielmehr, wie er so recht erst diesen dritten Stand schuf und wahrte und mit Gnaden und Rechten beschenkte, davon zeugt ohnehin jedes Blatt seiner Regierungsgeschichte; und das Denkmal, das ihm einer seiner Ur-Enkel, der große Max, in München setzte, es ist ein Denkmal des ganzen deutschen Volkes, dessen Bürger er befreit und geadelt hat.
Die Männer, mit den Knaben, legten die Steig hinunter zu Fuß zurück. Plötzlich rief Fritz, dessen Augen überall waren: ›Schau, Vater, wie schön der Fels dort noch in der Sonne erglänzt, während die Berge überall umher schon im Schatten stehen.‹ ›Es ist dieß das Ettaler Mandl 1 – sagte der Freund.‹ – ›Warum nennt man's denn so?‹ fragte Fritz. Der Freund sagte: ›Ich erzähle, was mir einmal ein alter Gemsjäger erzählt hat, der die Geschichte von seinem Großvater gehört haben will: Es sey einmal ein Riese gewesen, ein gewaltiger Gemsjäger; der habe sich der höhern Reviere ganz bemächtigt, und der Gemse, die da oben geweidet. Und wenn er einen Jäger auf dem[279] Gebirge erblickt, so habe er ihn mit seinem weithin treffenden Geschosse erlegt. Und, um seine Heerde dort oben zu nähren und zu mehren, sey er immer des Nachts herunter gestiegen zu den Sennhütten, und habe das mühsam erarnte Heu geraubt, so daß Heerden und Menschen dahin gestorben vor Hunger. Endlich aber sey das Maß seiner Sünden voll geworden, nachdem er einen Raub an einer Wittwe mit sieben Kindlein begangen; und er sey plötzlich in einen Felsen verwandelt worden, dort hoch oben, wie auf einem Pranger, zum abschreckenden Beispiele aller derer, welche die Frucht des Fleißigen freventlich rauben und die Nahrung des Armen grausamlich verkümmern.‹
In der Niederung angekommen, bestieg man wieder den Wagen, dem der andere, welcher die Frauenzimmer führte, schon voraus geeilt war. Karl, von der schönen Beleuchtung der südlichen Gebirge angezogen, erbat sich, daß er seinen Sitz auf dem Bock nehmen dürfe. Fritz nahm den bequemen Platz zwischen dem Großvater und dem Vater ein, und wurde bald vom Schlafe überrascht. Die Männer unterhielten sich lebhaft während des Weges über Klöster, ihren Ursprung und Verfall, ihre Verdienste um Künste und Wissenschaften, um Landbau und Civilisation, und vorzüglich um das, [280] was von jeher vor allem Noth that, um Verbreitung und Erhaltung der Religion. Ueber Einzelnes und Einzelne im Widerstreit, waren sie doch im Ganzen und überhaupt Einer und derselben Meinung; und der Freund selbst, der für geistige Interessen weniger Sinn hatte, als für materielle, erinnerte zuletzt noch an Westenrieders, des bayerischen Justus Möser, unparteiisches Wort, welches er den scheidenden Mönchen in den Mund legt: ›Eine Wüste haben wir übernommen; ein Paradies euch hinterlassen.‹« –
Die Gesellschaft kam, nach einem angenehm verlebten Tage, wohlbehalten zu Hause an.
Fußnoten
1 »Mandl« im Dialekt, statt »Männlein.«