Die Wahrheit
Altes Manuscript.
Vier Jungfräulein von hohem Stamm,
Die wären bei einander,
Ignis Feuer die erst mit Nahm,
Aqua Wasser die ander:
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Aer die Luft, so hieß die dritt,
Dann Veritas die Wahrheit,
Die stand da in des Gartens Mitt,
Und leuchtete in Klarheit.
Ich sehne mich gar oft nach euch,
Sprach sie mit klugen Sinnen,
Drum saget mir, eh ich entfleug,
Wo soll ich euch stets finden?
Das Feuer sprach: Schlag an ein Stein
Mit guten Schwerdtes Spitzen,
So werd ich schnelle bei dir sein,
Und freudig Funken spritzen.
Das Wasser sprach: Wo Binsen stehn,
Da sollst du nach mir graben,
Du wirst mich bei der Wurzel sehn,
Da will ich dich erlaben.
Die Luft sprach: Wenn an einem Baum
Die Blättlein gehn und nicken,
Da bin ich auch in selbem Raum,
Und will dich bald erquicken.
All drei sie sprachen wonnsamlich:
Du edele Warheite!
Wo sollen wir dann finden dich?
Die Wahrheit sprach: Im Leide.
O ihr Schwestern Mord über Mord!
Kein eigen Haus mir bleibet,
Man findet mich nicht hier, nicht dort,
Ein jeder mich vertreibet.
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Ich pocht auch bei Gelehrten an,
Weil ehrlich ist ihr Wandel,
Doch ist ihr Werk ein Lug und Wahn
Und spärlich nach dem Handel.
Sie fingen mich und banden mich,
Begossen mich mit Dinten,
Im mein schneeweißes Angesicht,
Ich muste schier erblinden.
Mit Büchern schlugen sie mich dumm,
Und krazten mich und krallten,
Und zogen mich beim Haar herum,
Zur Thür hinaus mich brallten.
Sie wollte klagen noch viel mehr,
Ein Thürlein thät erklingen,
Ein Critikus kam ganz grad daher,
Davon that sie sich schwingen.