Lug ins Leben aus meinem Nachtwächterhäuschen in Reichenbach

1813.

1.
Still steht das Leben, es steht der Zorn der Männer gefesselt,
Durch der Könige Wort ruhet das Eisen der Schlacht.
Ich auch sitz' hier in Engen, an Reichenbachs bröcklichte Mauer
Lehnt sich das Häuschen, wo Streit kaum mir ein Stübchen gewann.
2.
Denn zwei Stunden wohl war ich gelaufen von einem zum andern,
Hatte mit Worten genug, fast mit den Fäusten gekriegt,
Bis ich den Käfig errang, der reinlich und heiter und still ist;
Hat er der Fliegen zuviel, hat er des Lichts doch genug.
3.
Neu ist begonnen der Krieg, ich nehm' ihn als frohe Bedeutung
Gerne des größeren an; Friede das klänge wie Tod:
Erst ein russischer Oberst, der wollte mich trotzig verdrängen,
Dann ein Kosakenmajor – Was ich erstritten, blieb mein!
[142] 4.
Ist denn Stillstand, bleibt es auch still um mein einsames Häuschen,
Lass' ich das Leben so gehn – auch die Gedanken stehn still.
Zukunft, dich fraget nicht gern in solchen Zeiten die Seele;
Darum, Vergangenheit, komm! Sei mir, Erinnrung, gegrüßt!
5.
Als man sechzig und neun zu siebzehnhundert geschrieben
Nach unsers Herrn Geburt, sah ich das Licht dieser Welt,
Hinter dem Korsen vier Monde, dem auch dies Quartier ich verdanke;
Anderswo säß' ich gewiß, trieb' er nicht also die Welt.
6.
Fröhliche Zeit! Es war der zweite heilige Christtag,
Als meinem Vater die Post scholl: Noch ein Knäbchen ist da!
Glückliche Zeit! Es war die sechste Stunde des Abends,
Wo in der südlichen Welt alles zur Wonne sich schickt.
7.
Himmlischer Vater, o nimm den Dank für das selige Leben!
Zwar nicht Karneval stets, doch hat's der Masken genug
Und in den Masken der Freuden genug, und selbst in den Wechseln
Schwebt nicht dein liebender Geist immer als Spieler mit drein?
8.
Wo ich geboren bin? Am Ufer des Baltischen Meeres
Lullte die sausende Flut mich als mein Wiegenlied ein.
Sei mir, mütterlich Land, sei freundlich gegrüßet, o Rügen!
Liebliche Insel, wohin ewig die Liebe sich sehnt.
9.
Sei auch du mir gegrüßt, o Schoritz, am lustigen Busen
Stillerer Wellen, du Sitz, wo ich die Kindheit durchspielt!
Du auch, Dumsevitz; beide mit grünenden Hainen und Fluren
Und mit den Hügeln, die einst maß sich zu Bergen das Kind.
10.
Grüß' ich euch, grüßt' ich nicht auch die himmlischen Seelen der Liebe,
Freundliche Eltern, nicht euch eher als Land und als Meer?
[143]
Denn was Gutes ich bin, was Frohes ich Froher gefunden,
Habet des Dank! Denn von euch kam mir der Segen nächst Gott.
11.
Karnevalsgabe begrüßten mich einst die fröhlichen Menschen,
Mich als ein festliches Kind, Festliches dachten sie auch:
Daß ich würde Gespenster erschaun und Traumbilder deuten,
Und daß ein lustiger Sinn würde sich helfen hindurch.
12.
Auch um den Namen war Streit, als wäre das Kleine was Großes:
Ernst, rief die Mutter, er heißt Philipp, klang, Vater, dein Wort.
Mutter, du siegtest, auch hat das Geschick in dem Ernst mir der schweren
Vollen Bedeutung genug, oft fast zu viel gelegt.
13.
Und ich spielte zwölf Jahre und lernte mit fröhlichem Mute,
Worin uns Himmel und Meer, Hügel und Tal unterweist,
Wodurch der fabelnde Mund der Mutter, der fromme des Vaters
Lehren, was künftig wird sein, weil es das Ewige ist.
14.
Dann kamen Meister des Wissens, es schwebten fünf andere Jahre
Leichter als Träume dahin – o die glückselige Zeit!
Und es rühmten mich alle die Meister, mich lobten die Eltern,
Und bei den Nachbarn selbst hieß ich ein sittiges Kind.
15.
Darauf die feurige Zeit, wo heiß zwischen Schmerzen und Freuden
Kindheit und Jugend sich trennt und der Gedanke beginnt.
Was gedenk' ich hartseliger Kämpfe und schlafloser Nächte?
Was meiner Tage voll Mühn, Mühen, die selber ich schuf?
16.
Was ich wollte, das wußte ich nicht und weiß es auch heut kaum,
Doch ich vollbrachte mit Ernst, was mir der Busen gebot:
Trotz war mein herber Gesell, und eiserner Stolz war mein Wächter,
Mann sein mein höchstes Gefühl – Würdest du so doch, Mann!
[144] 17.
Und es ging mir die Liebe vorbei, die Wollust, die Freude
Manchen mühseligen Tag, manche durchkämpfte Nacht,
Und ich erschuf nichts, erfand nichts, empfand kaum, was ich empfunden,
Dachte kaum, was ich gedacht, schien nur von Träumen ein Traum.
18.
So flohen wieder neun Jahre dahin – o nein! Wie Soldaten
Gleichen geschlossenen Schritts zogen sie langsam dahin,
Wo nicht die Jugend zuweilen dazwischen ein lustiges Spiel trieb,
Doch ward ihr jegliches Spiel bei mir gebührlich gebüßt.
19.
Denk' ich nun alles zurück, so kann ich nicht traurig, nicht froh sein:
Gott hat es also gewollt, darum auch mußt' ich es tun.
Will ich mir's deuten, ich weiß, die eigene Deutung wird Torheit,
Bleib' es denn Rätsel, wie selbst, Leben, ein Rätsel du bist.
20.
Träumend so naht' ich dem dreißigsten Lenz um wenige Jahre,
Als wie die Nacht vor dem Blitz plötzlich das Dunkel mir wich,
Als mir ein Saitenspiel klang durch alle Nerven des Busens,
Durch jeden Porus ein Strahl leuchtete göttlichen Lichts.
21.
Das war Leben, das zweite, das rechte Leben im Aufgang,
Das war Liebe, sie ist ja mit dem Leben nur eins.
Und ich fühlte den Mann und träumte die mannlichen Dinge,
Doch wie ich selber ein Mann wurde, das dacht' ich nicht mehr.
22.
Gleichwie die Schwinge des Vogels der Morgenröte entgegen
Trägt das fröhliche Herz, trägt den hellen Gesang,
Wiegt' ich auf fröhlichen Fittichen auch mich hin durch die Lüfte,
Und wie mit Äther gefüllt schwoll mir die selige Brust.
23.
Und nun riß mich der Gott, der mutig mich weckte zur Freude,
Frisch in das Leben hinein, Hoffnung und Glaube ging mit;
Und ich beschaute die Städte und Länder und Sitten der Menschen,
Hatt' ich ja lange genug einsam mich selbst nur beschaut.
[145] 24.
Und nun ward mir's hell um die Augen, die drinnen und draußen
Schaun das lebendige All, schauen den ewigen Gott,
Und es deuchte mir alles, als hätt' ich es längst schon erkundet,
Und ich sprach bei mir selbst: Wunder! Was ist denn der Mensch?
25.
Und ich fiel in den Staub und reckte die Hände gen Himmel:
Sieh mich! Hier kniet vor dir dankend ein glücklicher Mensch,
Was ich mit Arbeit gesucht in langer Zeit und nicht funden,
Gibst du mir, gnädiger Gott, jetzund auf einmal von selbst.
26.
Darauf drückt' ich ein Weib mir lieb an den liebenden Busen,
Und ich freute der Lust, freute der Liebe mich sehr,
Und ich pries die Gestirne, die seligen, droben am Himmel,
Und was auf Erden so schön sprießt und grünet und blüht.
27.
Und ich dachte: Nun rollet nur hin und kehret nicht wieder,
Jahre! Du, Leben, so mit! Kehre auch du nicht zurück!
Denn das Unsterbliche hatt' ich und hab' ich und werde es haben.
Mutig, ihr Götter! Nun blitzt! Schon bin ich Blitzen zu hoch!
28.
Und sie blitzten – es sank mein zärtliches Weib in die Grube,
Schlummert den schweigenden Schlaf lange mit Schlafenden schon.
Sie entschlief, als den Sohn sie geboren, die herrliche Gabe,
An seinem neunten Tag ward sie als Leiche beklagt.
29.
Und ich grämte mich sehr und weinte Monden und Jahre,
Doch mit dem Lichte hinfort ging auch durch Trauer mein Pfad,
Denn ich hatte die Götter gesehn, den Himmel empfunden,
Über die Blitze hinaus hatt' ich mein Leben geführt.
30.
Und nun kam mir die zweite, die tiefere, stillere Schwermut,
Kam mir ein höherer Traum, welcher mich nimmer verläßt.
[146]
O sein Dasein ist süß, jetzt seh' ich Gespenster und Geister,
Nebel steht dick in dem Tal, doch auf den Bergen ist Glanz.
31.
Und ich war rüstig in Gram und tapfer in männlichen Tränen,
Und ein beweglicher Stahl schmolz sich mir weich um die Brust,
Mühe ward fröhliches Spiel und Arbeit lächelnde Freude,
Leben und Schicksal zugleich sah ich in Liebe verklärt.
32.
Jetzt erst lernt' ich, was hell durch alle Geschichten erklinget,
Jetzt erst sah ich dein Bild, männliche Tugend, enthüllt:
Wofür Herkules drang durch Plagen und Kämpfe zu Göttern,
Wofür Hermann sein Schwert bergender Scheide entriß.
33.
Und ich tat ihn, den Schwur der höchsten, heiligsten Liebe,
Legte die Hand auf das Herz, wandte zum Himmel den Blick,
Nie zu vergessen das Land, wo Ja einst Eide gegolten,
Nie zu vergessen den Glanz, der auf Germanien ruht.
34.
Denn nach traurigem Schlaf, der trübliche Jahre verdämmert,
Weckte in Wetter und Sturm Gott der Gewaltige uns;
Daß wir wieder gedächten der glorreichen Ehren der Väter,
Hob sich ein wilder Tyrann, Geißel des Himmels, empor.
35.
Wütend hat er die Völker von Kriegen zu Kriegen getrieben,
Mischend den höllischen Trug schlau mit dem himmlischen Schein,
Hat er die Menschensitze, die Menschengedanken erschüttert,
Bis aus dem wüsten Gewirr herrliche Freiheit erblüht.
36.
Ja sie wird blühen, so klingt's von Gott mir innerst im Busen,
Liegen im Staube wird bald Lügen und Lügengezücht,
Stehen wird wieder Germaniens Kraft in Ehren und Waffen,
Wann mit dem modernden Schutt weichliche Schande versank.
37.
Dies hat hell mir geklungen, dies hab' ich gesehnt und getrauet,
Flüchtling zu Wasser und Land, Flüchtling in Not und Gefahr,
[147]
Hiefür hab' ich am Mälare oft, am Strande der Newa
Nächtlicher Beter zum Licht flehende Hände gestreckt.
38.
Hiefür hab' ich die Segel den trügrischen Winden gespannet,
Habe mit Rädern den Staub fernester Straßen erregt,
Hiefür sitz' ich nun hier im engen, einsamen Stübchen. –
Dank dir, allmächtiger Gott, für den allmächtigen Zorn!
39.
Denn die Räder der Seele, sie rollen in herrlichen Kreisen,
Und in die Segel der Brust brauset ein mutiger Wind,
Daß ich mag sagen: Glückseliger Mann, der solches empfunden!
Denn wer nicht liebet und haßt, lebt den erbärmlichsten Tod.
40.
Still steht das Leben, es steht der Zorn der Männer gefesselt,
Und durch der Könige Wort ruhet das Eisen der Schlacht.
Ich auch sitz' hier in Engen, an Reichenbachs bröcklichte Mauer
Lehnt sich das Häuschen, wo Streit kaum mir ein Stübchen gewann.
41.
Bin ich nicht glücklich? Das Rad Fortunens, das auf und hinab mich
Also gerollt bis hieher, rollt ja den Größten auch so.
Gab nicht auch das mir die Zeit, die Feigen nur Großes genommen,
Daß ich die Nichtigkeit ganz fühle bis tief in ihr Nichts?
42.
Bin ich nicht glücklich? Wie stehn in Kraft die mächtigen Berge
Fern in dem dämmernden Blau, Lehrer des Ewigen, da!
Scheint nicht freundlich der Mond, der liebende Hort, durch mein Fenster?
Leuchten die Sterne nicht lieb hier wie im Königspalast?
43.
Bin ich nicht glücklich? Ich lernte durch Not das meiste entbehren,
Doch was mein Busen geliebt, hab' ich mir nimmer versagt;
Da bin ich Königen gleich und Kaisern, die Herrlichstes wagen,
Da steht mein herrischer Thron fester gebaut als Demant.
[148] 44.
Bin ich nicht glücklich? Ich halte die grünende, bräutliche Hoffnung,
Nehme sie stolzen Vertrauns mit mir hinab in das Grab:
Siegen wird Wahrheit und Recht und fallen die prunkende Lüge –
O ich glückseliger Mann! Solches hat Not nicht gelehrt.
45.
Solches hast du mir gelehrt, du Walter auf himmlischen Höhen,
Solches erlauscht' ich von dir, wehender, liebender Geist,
Welcher die Sterne durchweht, die Brüste der Menschen durchleuchtet,
Dir muß ich knien – Gebet, werde ein jauchzendes Lied!
46.
Bin ich nicht glücklich? Auch selbst wenn der Kampf, den wir ritterlich streiten,
Mich mit den Besten zugleich risse hinweg von der Bahn?
Diese Glückseligkeit steht Tyrannen nimmer erreichlich,
Nur zu der Hölle hinab recken sie mordisch die Hand.
47.
Seh' ich nicht leuchten das Rot der herrlichen Zukunft der Zeiten?
Grünt mit der Jugend der Welt nicht auch die meinige frisch?
Zahlt für des zwanzigsten Jahrs und dreißigsten Jahres Entbehrung,
Gnädige Götter, den Zins ihr nicht im vierzigsten reich?
48.
Blüht mir die Blume der Lust nicht lieblich in himmlischen Träumen,
Wie sie im sechzehnten Jahr kaum aus der Knospe geblüht?
Schlingt um das dünnere Haar die Liebe nicht leuchtende Rosen,
Jene, die stolzer besitzt, weil sie Besitzes entbehrt?
49.
So, ihr Höchsten, erfüllt ihr jeglichem, was ihr gelobet,
Liebe hält ewig ihr Wort, Liebe und Glaube, die zwei:
Fasse, Pygmalion, brünstig den Stein und hauche die Seele
Immer und immer darein – Sieh! Er erwacht zu Gefühl.
[149] 50.
Sei mir denn, niedriges Häuschen, gegrüßt und bröckelnde Mauer!
Auch wenn du bröckelst, Glück, welches dem Pöbel gefällt!
Siehe, ich rufe den Mond zum Zeugen und alle Gestirne,
Daß ich kein anderes Los wahrlich mir wünsche denn meins.
51.
Rollt denn, ihr Räder, die weiter mich tragt, und flattert, ihr Segel!
Glaube und Liebe sind mit, Zorn fliegt fröhlich voran,
Vaterland klinget der Ruf, die Freiheit schwebt wie ein Engel,
Schwingend den leuchtenden Kranz, über der staubigen Bahn.

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TextGrid Repository (2011). Arndt, Ernst Moritz. Gedichte. Gedichte. Lug ins Leben. Lug ins Leben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-065D-9