Die Kinderzeit

Meine wunderschöne Mama trug ein weites Kleid aus dunkelbraunem Tüll mit hellbraunen Samtbändchen durchzogen. Man sagte, der Hofmeister der Familie W. mache ihr riesig den Hof. Wir verstanden das Wort »Hof« nicht. Eines Vormittags wurden wir zu dem Viadukt von vierzig Metern Höhe über dem Schwarzatal geführt, wo zwei Lastenzüge aufeinander aufgefahren waren. Die eine Berglokomotive hatte die andere direkt bestiegen. Wir nahmen zum Andenken sehr viel Zigarettenpapierschachteln mit, die einem Waggon entstürzt waren. Wir waren erstaunt, keine Leichen zu sehen. Selbst der Lokomotivführer war »mit dem Schrecken davongekommen«. Papa schenkte ihm einen Gulden. Als Belohnung, davongekommen zu sein.

Eines Tages wurde berichtet, die Raupen der Kohlweißlinge fräßen alle Felder ab. Infolgedessen fingen wir alle Kohlweißlinge an den Fenstern des schrecklich heißen Speisesaales weg und zertraten sie, obzwar sie schon über die Schädlichkeit hinüber waren und nur mehr die unschädlichen Ideale ihrer Art repräsentierten. Die Raupen waren uns zu unappetitlich, sie zu vernichten. Um halb 12 Uhr vormittags kam der Bäcker mit den warmen dufdenden vierfach eingekerbten Wecken. Da aßen wir heißhungerig zwei, worauf der Kellner vier auf die Rechnung stellte.

»Kinder, Kinder, da könnt ihr ja keinen Appetit zum Mittagessen haben – – –«, sagte die Mama. Aber Pudding mit Himbeersaft fraßen wir doch noch [55] zweimal und dreimal. Auf der sonnigen sandigen Straße zwischen den Wiesen interessierten uns die Sandläufer, die sprangen und flogen und nach Moschus dufteten und mattgrün schimmerten. Ferner die Admirale, schwarzrot, und die Dukatenfalter. Alles saß am liebsten an den trockenen Wagenrinnen der Lastwagen. Da konnte man ganz nahe hinschleichen. Wie gebannt von der Hitze saßen sie. Aber im letzten Moment kam der Selbsterhaltungstrieb über sie und sie flogen wieder auf. Der Hofmeister der Familie W. ging immer öfter und öfter mit uns. Aber wir machten uns nichts aus ihm. Eines Tages wurde der geliebte Hund »Wolf« meiner Schwester in einem Bottich im Garten ertränkt gefunden. Die Gouvernante meiner Schwester weinte noch viel mehr als meine Schwester. Denn sie weinte wegen »Wolf« und zugleich wegen meiner Schwester. Während meine Schwester nur wegen »Wolf« zu weinen hatte – – –.

Ich selbst sah nur den »aufgedunsenen Kadaver« und hatte keinerlei Mitgefühl. So verteilt sich alles verschieden in derselben Angelegenheit. In einer Allee von gelben Rispenstauden stachen die Bienen und die Wespen viele Vorübergehende. Da bat ich ein wunderschönes Mäderl der Familie K., dort ja nicht hindurchzugehen, und sie mußte mir darauf einen heiligen Eid schwören. Das Mäderl erzählte es ihren Eltern. Diese besprachen es mit meinen Eltern, und infolgedessen wurde uns der Verkehr verboten, weil solche »romantische Beziehungen« ungesund seien. Was geht es ihn an, wenn sie zerstochen wird?!? Dazu ist die Gouvernante da. Der Hofmeister der Familie [56] B. kam für vier Wochen zu uns als Aushilfe für unseren geliebten Hofmeister, der verreisen mußte. Er sagte: »Gnädige Frau, Ihre Kinder sind Prachtexemplare«. Jedenfalls betrachteten wir es als Ferialwochen. Im Walde nach dem Regen roch es immer wunderbar. Nach Schwämmen, feuchter Erde, feuchtem Moos und Erdbeeren. Im Kuhstalle roch es auch wunderbar und im Pferdestalle und in dem Schupfen, in dem Holz gesägt wurde, und in der Mehlmühle und auf der Wiese am Bache, wenn die Sonne hinsengte. Dann der Duft aus der heißen eleganten Hotelküche und der Duft der Zimmer nach den Cretonmöbeln und den Zirbelkieferkästen. Alle diese Gerüche gehörten zu dem Ferienglück mit dazu. Ja, sie waren sogar ein wesentlicher Bestandteil desselben. Von dem Geruche der Bahnhofshalle und des Waggons und dem schneidig-frischen Duft der Gebirgsluft in Station Payerbach gar nicht zu reden. Mama trug oft das braune Tüllkleid mit den hellbraunen Samtbändern. Der Aushilfshofmeister wollte uns immer für sich gewinnen, aber es war gar nicht nötig, denn wir hatten ihn auch von selbst sehr gern. Er sagte zum Beispiel: »Siehst du, was mir gestern besonders an dir gefallen hat – – –« Und dann kam eine Sache herausgestrichen, die gar nicht von Bedeutung war. Oder er sagte: »Gnädige Frau, ich muß Ihnen einen reizenden Zug Ihres Söhnchens mitteilen, auf die Gefahr hin – – –«

Die Gouvernante meiner Schwester sagte zu ihm: »Monsieur, weshalb dienen?! Machen Sie doch Ihre Prüfungen!« – »Ich stehe mich so bedeutend besser«, erwiderte der Aushilfshofmeister. Im [57] Hirschpark senkte einmal plötzlich der Vierzehnender den Kopf, fegte mit dem Geweih flach am Boden gegen mich her und hatte bereits stiere glotzende Augen. Ich machte im letzten Moment einen Sprung zur Tür und er fuhr krachend gegen die Planken. Infolgedessen wurde er erschossen und ich bekam am nächsten Abend zum Souper ein Stückchen meines Mörders zu essen. Der Hofmeister sagte: »Hirsche sind gefährlicher als Tiger, weil man sie eben bloß für Hirsche hält, während man beim Tiger immer weiß, daß es ein Tiger ist!« Ich hielt diesen Satz damals für vollkommen unverständlich. Aber Mama sagte: »Wunderbar. Ist es nicht auch so mit den Menschen???« Worauf der Aushilfshofmeister ein verzücktes Gesicht machte und Mama die Hand küßte. Wir waren paff. Sehr beliebt war die Jagd auf die »Nußhäher«, die zum »Raubzeug« zählen, zum Raubgetier. Es war schwer, sich das von dem schönen Vogel mit den kleinen blauschwarzen Federchen vorzustellen. Aber wenn er am Boden lag, sagten die Jäger oft: »Du arger Sünder!« Abends, wenn es stark geregnet hatte, tappten Salamander über den Waldboden. Man hatte die Empfindung von vorsintflutlichen Welten: Der feuchtwarme stille Wald und die schwarzgelben Molche – – –. Auch die Kreuzspinne war unheimlich, und man hoffte es immer, daß Regen und Wind sie vom Netze treiben würden. Aber es war wie aus Tauen gedreht, schaukelte und brach nicht im Sturm. Die ersten Herbstzeitlosen machten uns ganz gedrückt. Wir hatten uns so riesig an das geliebte Reichenau wieder attachiert wie alle herrlichen [58] Sommer hindurch unserer Kindheit. Und an dem ersten Abend wieder in der Stadt waren wir immer tief unglücklich, obzwar es große Nüsse, Isenbartbirnen, kaltes Poulard und Sachertorte gab vor dem Schlafengehen – – –. Auch Mama war recht traurig und nachdenklich.

[59]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Die Kinderzeit. Die Kinderzeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DAB7-F