Minnie

»Liebe Minnie, bringen Sie mir doch – – –.«

»Bin ich Ihr Dienstbote?! Sie sind komisch –.«

Er erbleichte. Er spürte es direkt wie Thränen in den Nerven, im Cerebralsysteme, im Rückenmark, im Gangliensysteme, überall pressten sich Thränen hervor, bis in die Kniee hinab weinte es, durch die Röhren der Knochen hindurch pressten sich Thränen, in den Schultern, in den Elbogengelenken rieselte es durch; wie Thränen-Regen rieselte es an der Haut herab –. »In Thränen gebadet« sagt man.

»Bin ich Ihr Dienstbote?!« wiederholte sie, »was glauben Sie eigentlich?!«

Er ging langsam weg. »Werde ich umfallen?!« dachte er. Er ging ganz langsam.

Auf der Strasse zog er eine Mandarine aus der Tasche, liess dieselbe in den Schnee fallen. Sie sank ein, vergrub sich wie in einem weissen Plümeau, die goldene Frucht Milano's. Dann liess er noch eine fallen und eine dritte legte er behutsam in das dicke Schneemützchen eines grauen Ecksteines. »So wird sie keine Mandarinen mehr essen – – –« dachte er.

Er ging nach Hause.

In seinem kleinen Zimmer legte er weisses Holz über's Kreuz auf in seinem winzigen wunderbaren Re gulir-Füll-Öfchen mit innerer Chamotte-Verkleidung[203] und verstellbarem Roste, warf zwei Pech-Zünder hinein, wartete ein bischen auf die Feuersbrunst und schüttete dann eine Menge kleiner Kohlenstücke darauf. Gleich brannte es und die weichen Holzstücke knacksten. Er dachte: »He, Ihr knackst und gebt blos ein Flackerfeuer. Die Kohlen hingegen sind stumm und brennen dennoch lange in sich hinein.« Er liebte sein Regulir-Füll-Öfchen, welches gute sichere Wärme brachte und in vielen Beziehungen wie ein Mensch war. Dann kochte er sich Thee, goss denselben in eine breite tiefe hellgrüne englische Schale, welcher er ebenfalls sehr zugethan war, zog sich aus, legte sich in's Bett und trank langsam Thee. Dann zündete er sich eine wundervolle Cigarette an, M.C. Rabinowsky, und begann zu lesen »Hamsun, Hunger.« Gott wie tief war es. »Diese Lucidität« dachte er, »jawohl, Lucidität – –.« Das Umblättern machte ihm Freude: Wieder zwei lange Seiten voll Hamsun-Sätzen!

Das Zimmer war wie ein warmes Bad, welches mit Thee-Duft und Cigaretten-Essenz gewürzt wird. Plötzlich legte er sich gegen die Wand um und weinte – – –.

Knut Hamsun glitt die Bettdecke herab, auf den Boden, wie ein diskreter Freund.

»Guten Tag, Herr A.« sagte am nächsten Tage Minnie's Schwester errötend, »wie geht es Ihnen?!«

»Haben Sie meinen Brief bekommen?!«

»Ja. Wie geht es Ihnen?!« Ich habe zu Minnie gesagt: »Wie kann so ein Fratz einem feinen [204] Menschen – – –!?« »Wann denn soll ich so sein?!« erwiderte sie, »vielleicht wenn ich alt und schierch bin?!«

»So ein junges Mistviecherl – – –.«

Der Herr war starr.

»Wohin schauen Sie?!« sagte das junge Mädchen; »machen Sie sich doch nichts daraus.« Er aber stand da und vernahm erschauernd die grossen tönenden Laute, die Fanfaren einer Königin des Lebens, einer Königin über das perfide Reich »Mannes-Herz«, welche mit tyrannischen Zügen thronte auf dem goldenen Throne ihrer Schönheit, ihrer Jugend!!

»Wann denn soll ich so sein – – –?!« hatte sie gesagt! »Vielleicht wenn ich machtlos bin?!«

Wie Cäsar Borgia kam sie ihm vor, in einem langen nachschleppenden Blutpurpurmantel, hinweg-über-schreitend nackte aschfahle Seelen, Männer!

Die Schwester sagte: »Sie sind ganz consternirt.« Sagen Sie zu ihr: »Sie haben sich frech benommen, verstehen Sie mich, Sie Prinzessin!?« Sagen Sie das zu ihr, ich bitte Sie. Wohin kommt es sonst?!«

»Nein – –« sagte der Herr. Er nahm drei Mandarinen aus der Tasche und sagte: »geben Sie ihr diese.«

»Sie sind verrückt. Ich habe eine Ehre im Leibe. Sie setzen sich herunter. Wollen Sie das junge Geschöpf zu Grunde richten?! Wohin kommt sie?! Gott, welche Sorgen. Prügel bekommt sie von mir.«

Er nahm die Mandarinen, ging weg, übergab dieselben einem Dienstmanne, mit Adresse: »an Minnie.«

[205] Er fühlte: »Minnie! Eure königliche Hoheit, Königin Hermine! Königin über das Leben, König Frühling, König Kräft!«

Am nächsten Tage erhielt er ein kleines weisses Paket, welches, in Seidenpapier gehüllt, die Schalen der Mandarinen enthielt.

Er fühlte: »Königliche! Königlicher Trotz!«

Aber er grüsste sie nicht mehr, schenkte nicht mehr Mandarinen, zog sich zurück und träumte: »Königin – – –!«

Eines Tages kam er wieder in das Geschäft, in welchem sie bedienstet war.

Sie hockte in einem dunklen Nebenraume voll alter Kisten, auf einer kleinen niederen Kiste, hielt einen Brief auf ihrem Schoosse, war ganz zusammengebückt, hatte blos die Höhe ihrer Kniee. Die seidenen Haare glänzten wie eine Krone und der Leib bebte.

Er ging vorüber. Er dachte: »Tristis regina –« und »Erhebe Dich!«

Am selben Tage schickte er wieder drei Mandarinen.

Er wartete drei Tage auf das Paketchen mit den Mandarin-Schalen. Nichts kam. Endlich kam ein Brief mit: »oh danke sehr – –.«

Da fühlte er: »Minnie ist keine Königin mehr! Minnie ist eine Bettlerin geworden! Minnie ist eine Bettlerin, Bettlerin, Bettlerin!« Alle Worte mit »Bettel« stürzten aus seinem Inneren heraus und umflatterten ihn wie Fledermäuse: »Der Bettel, die Bettlerin, der Bettler, der Bettelbrief, die Bettelei, die Bettelmönche, [206] der Bettelvogt, der Bettelstab, das Bettelwesen, das Bettel-Leben!«

Wie entzaubert war er. Er begann sich zu bewegen, warm zu werden, menschlich – – –.

»Minnie, Ladenmädchen – – –«, fühlte er.

Er schrieb einen Brief, welchen er gleich abschickte:

»Minnie!

Sie, Minnchen, Sie Kleine, Dumme, Junge, wissen Sie, Sie waren eine freche ungezogene Gans!

Ein König.« [207]

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Wie ich es sehe. Minnie. Minnie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DAAB-B