Neue belletriſtiſche Werke
ſehr beliebter deutſcher Schriftſteller
aus dem Verlage von Otto Janke in Berlin,
welche durch jede Buchhandlung zu beziehen und in jeder guten
Leihbibliothek vorräthig zu finden ſind:
- Möllhauſen, Balduin, Das Hundertguldenblatt. Erzählung in 2 Abtheilg.
1. Abtheilung: „Der Bürgerkrieg.“ 3 Bde. Geh. 4 Thlr. 15 Sgr.
2. Abtheilung: „Die Kunſtſammler.“ 3 Bde. Geh. 4 Thlr. 15 Sgr. - Möllhauſen, Balduin, Der Piratenlieutenant. Roman. 4 Bde. 8°. Geh.
6 Thlr. - Mühlbach, L., Von Solferino bis Königgrätz. Hiſtor. Roman in 3 Abthlg.
1. Abth.: „Kirchenfürſten und Weltfürſten.“ 4 Bde. Geh. 6 Thlr.
2. Abth.: „Solferino,“ 4 Bde. Geh. 6 Thlr.
3. Abth.: „Die Nebenbuhler um Deutſchland.“ 4 Bde. Geh. 6 Thlr. - Ring, Max, Lieben und Leben. Neue Erzählungen. 3 Bde. Geh. 4 Thlr.
Inhalt: „Die Eheſcheuen.“ — „Im Hauſe der Bonaparte.“ —
„Der Sieg der Liebe.“ — „Der Philoſoph von Charlottenburg.“ - Schlägel, Max von, Von Sünde zu Sünde. Roman. 3 Bde. 8°. Geh.
4 Thlr. - Schweichel, Robert, Aus den Alpen. Erzählungen. 2 Bde. Geh. 3 Thlr.
Inhalt: „Der Krämer von Illiez.“ — „Der Wunderdoctor.“ - Spielhagen, Friedrich, Hans und Grete. Eine Dorfgeſchichte. Zweite Auflage
Geh. 1 Thlr. - Ulrici, Clara, Gertrud von Stein. Erzählung. Geh. 20 Sgr.
- Verena, Sophie, Ueber Alles die Pflicht. Roman. 3 Bde. 8°. Geh. 4 Thlr.
- Vincenti, C. von, Der Roman eines Gefolterten. 8°. Geh. 20 Sgr.
- Ziemſſen, Ludwig, Umwege zum Glück. Erzählung. 8°. Geh. 1 Thlr.
Druck und Verlag von Otto Janke.
Erſtes Capitel.
Der Tag von Valmy.
Unſere Frühſtücksſtunde ſchlug. So lange hatte
ich in fruchtloſem Mühen in der Laube geſeſſen. Nun
ſtieg ich hinunter. Die Eltern wußten bereits um die
Abreiſe des Prinzen. Das langgehegte Geheimniß
hatte ſich wie ein Lauffeuer durch die Stadt ver¬
breitet.
„Er iſt auf guten Wegen; Gott geleit’ ihn!“
ſagte der Vater, und drückte meine Hand. Die Mut¬
ter aber ſagte: „Du ſiehſt blaß und erkältet aus,
liebe Tochter. Geh’ und ruhe ein paar Stunden.“
Aber ich durfte nicht ruhen; ich mußte Dorotheen
vorbereiten, die der Kraft und des Muthes mehr be¬
dürfen mußte, als ich ſelbſt. Ich kam zu ſpät. Schon
auf der Treppe vernahm ich ihr angſtvolles Stöhnen.
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 1[2] Aus blauem Himmel hatte ſie der entſetzliche Schlag
getroffen.
Sie lag am Boden in ihren Tageskleidern. Die
Arme, quer über dem Bette ausgeſtreckt, zuckten con¬
vulſiviſch, die Augen ſtarrten nach der Thür, ohne
daß ſie die Eintretende bemerkten. „Fort, fort!“ war
der einzige Laut, der ſich der haſtig arbeitenden Bruſt
entrang.
Ich hob ſie auf das Bett und ſetzte mich an ihre
Seite. Der Krampf währte eine Weile; endlich ge¬
wahrte ſie mich und winkte leidenſchaftlich, daß ich
mich entferne.
„Du biſt krank, Dorothee,“ ſagte ich. „Ich werde
den Arzt rufen laſſen.“
Das Wort brachte ſie außer ſich. „Nein, nein!“
ſchrie ſie auf. „Keinen Arzt! Ich bin geſund. O
nur allein, ganz allein!“
Ich zog die Bettvorhänge zuſammen, und that,
als ob ich mich entferne, ſetzte mich aber verborgen
in den Hintergrund. Allmälig wurde ſie ruhiger; ein
Thränenſtrom machte ihr Luft; ich hörte ſie ſchluch¬
zen, endlich nur noch leiſe wimmern und ſeufzen.
Nach einer Stunde etwa richtete ſie ſich auf,
ſtrich den verſchobenen Anzug zurecht, trocknete ihre
[3] Augen und blickte ſich ſcheu im Zimmer rundum. Als
ſie meiner gewahr ward, überflog ſie von Neuem ein
Schauder. „Gehen Sie, Fräulein Hardine,“ flehte
ſie. „Um Gottes Barmherzigkeit willen, laſſen Sie
mich allein!“
Ich entfernte mich nun wirklich; aber von Zeit
zu Zeit warf ich einen Blick in das Nachbarzimmer.
Dorothee ſaß weinend und händeringend auf ihrem
Bett. Sie ſprach kein Wort, aber ſie war geſund.
Wochen gingen hin in mechaniſchem Tageslauf.
Langſam brachten die Zeitungen, raſcher von Zeit zu
Zeit ein durchreiſender Courier Kunde über den zö¬
gernden Vormarſch der verbündeten Armeen. Am Tage
des heiligen Ludwig, an welchem unſer junger Held
den Triumphzug nach Paris zu beſchließen gehofft
hatte, ſtanden die erſehnten Retter noch dieſſeit der
Ardennen, und der Enkel des heiligen Ludwig war
ein Gefangener des Tempel.
Dennoch verzagten wir nicht. Verdun hatte ſich
wie Longwy übergeben, und wenn von da ab wochen¬
lang alle Nachrichten ausblieben, hielten wir uns an die
Zuverſicht, daß das bis dahin immer ſiegreiche Heer
ſich an einen verächtlichen Feind in ſeiner Flanke nicht
gekehrt, in Eilmärſchen die Marne überſchritten, und
1*[4] wenn auch ſpäter, als wir gehofft, doch ſicher zur
Stunde bereits dem gefangenen Monarchen in ſeiner
Hauptſtadt die Freiheit wiedergegeben haben werde.
Unbegreiflich dahingegen und wahrhaft beängſti¬
gend war uns das Schweigen unſerer heimathlichen
Freunde bei der Armee; denn wenn wir auch bei un¬
ſerem aufgeregten Prinzen keine mittheilſame Stim¬
mung vorausſetzten, ſo hatte doch ein junger Regi¬
mentskamerad, der jenem als Adjutant beigegeben und
meinem Vater vertraulich zugethan war, fleißige Nach¬
richt verſprochen, und nun nahezu zwei Monate kein
Wort von ſich hören laſſen. Und Faber, dem durch
ſeltſame Fügung die Freunde auf fremdem Boden,
unter fremder Fahne in demſelben Regimentsverband
begegnen mußten, auch Fader ſendete keinen Troſt in
dieſer bänglichen Zeit.
„Ich habe ein beſſeres Fiducit zu dieſem Mosjö
Per—ſé gehegt,“ ſagte mein Vater ärgerlich. „Daß ich
auch nicht daran gedacht habe, dem Prinzen einen
Denkzettel an ihn mit auf den Weg zu geben. Die
arme kleine Dorl iſt wie verwandelt, ſeitdem es nun
ernſtlich zum Klappen gekommen iſt. Sie grämt ſich
und ſchämt ſich, ſo vergeſſen zu ſein in ihrer Angſt
und Noth.“
Ja freilich grämte und ſchämte ſie ſich, die un¬
glückliche Dorothee, wenn auch aus anderen Gründen,
als ihr alter Freund ihr unterſchob. Sie mied uns
in ſichtbarer Seelenangſt, ſaß mit vorgezogenem Rie¬
gel in ihrer Stube, und huſchte im Garten ſcheu und
ſtumm an uns vorüber. Redeten wir ſie an, und
war es das Gleichgültigſte, ſo antwortete ſie verwor¬
ren und ausweichend. Ich ſah, ſie zitterte vor einer
Erörterung, die auch ich von Tage zu Tage verſchob.
Warum, da ſie doch unausbleiblich und jedenfalls vor
meiner Abreiſe nach Reckenburg ſtattfinden mußte?
Ja, warum ſcheut man ſich denn, einen Knoten zu
durchhauen, warum rechnet man auf das Unwahr¬
ſcheinlichſte, das eine Löſung bewirken könnte? Ich
zum Exempel rechnete auf eine Eröffnung und vielleicht
Verſtändigung zwiſchen dem Prinzen und Faber, die
mich der Pein einer Mittlerrolle überhob.
Endlich, endlich kam der langerſehnte Brief vom
Adjutanten. Der Prinz hatte ſeine Verzögerung be¬
fohlen, um die Freunde, eines kleinen Unfalls halber,
nicht ohne Noth zu beunruhigen. Er war, indem er
dem die Tête bildenden Regimente Weimar nacheilte,
beim Ueberſchreiten der Gränze auf ein preußiſches
Reiterpiket geſtoßen, hatte ſich ihm angeſchloſſen und
[6] mit ihm eine recognoscirende, weit überlegene feind¬
liche Jägerabtheilung attakirt. Nach hartnäckigem
Kampfe war ſie niedergehauen und gefangen worden.
Dem Prinzen aber, der auch nicht einen Flüchtigen
entkommen laſſen wollte, ſtürzte während der Verfol¬
gung auf dem vom Regen durchweichten Boden das
Pferd. Er trug eine Verſtauchung davon, die ſich bei
mangelnder Pflege entzündete und ihn wochenlang in
einer armſeligen Bauernhütte feſthielt.
„Wie er knirſchte,“ ſo ſagte der Correſpondent,
„wie er wetterte, zurückbleiben zu müſſen, während die
Armee die Ardennenfeſtungen in ihre Hand bekam —
nun Ihr könnt es Euch denken, Ihr kennt ihn ja!
Wie er aber ſchäumte während des unbegreiflichen acht¬
tägigen Halts vor den ſchwachbeſetzten Argonnenpäſſen
— nein, das könnt Ihr Euch nicht denken, trotzdem
Ihr ihn kennt! Wäre das Commando doch in des
Königs Hand! Gottlob jedoch, ſein ritterlicher Sinn
hat über die alte Schulweisheit geſiegt und unſer
leichtes Glück bei Croix aux bois und Grandpré,
wo dieſe Freiheitshelden Reißaus nahmen wie die
Haſen, wird auch unſerem Sereniſſimus Cunctator
eine Fackel aufgeſteckt haben, welche den Weg nach
Paris beleuchten ſoll. Die Armee iſt in vollem
[7] Marſche nach Chalons. Zieht Dumouriez, dieſer
Schwätzer par excellence, ſich zurück: gut. Einen
ſolchen Feind in der Flanke fürchten wir nicht. Ge¬
lingt ihm die Vereinigung mit Kellermann, der ihm
von Metz zu Hülfe kommen ſoll: deſto beſſer. Wir
werden das Geſindel dann mit einem Schlage los.
Das Beste aber iſt, daß unſer Prinz, heil und wohl¬
gemuth, morgen aufbrechen wird, um ſein Regiment
einzuholen. Am Abend denken wir Menehould —
fluchwürdigen Andenkens! — zu erreichen.“
Das Ungeſtüm unſeres Prinzen ſprach aus jedem
Worte dieſes Berichts. Ein Poſtscriptum enthüllte
dahingegen die weit nüchternere Auffaſſung ſeines Be¬
gleiters. Weg und Wetter waren abſcheulich; es
fehlte an jeder geregelten Verpflegung; epidemiſche
Krankheiten decimirten die Armee; was aber am
tiefſten überraſchte: die Stimmung der Bevölkerung
war dem königlichen Befreiungskriege keineswegs ſo
geneigt, wie nach den Schilderungen der Emigranten
alle Welt vorausgeſetzt hatte. Einige diplomatiſche
Andeutungen über den Doppelſinn der Heerführung
bildeten den Schluß.
Wir ſchlugen uns den nachhinkenden Boten aus
den Gedanken und hielten uns an den guten Glau¬
[8] ben und an die gute Kunde von unſerem Helden,
wobei wir denn freilich die Gefahren jedes Augen¬
blicks vergaßen, welche die Spanne zwiſchen Sendung
und Empfang ſolcher Kunde füllen.
Der Brief, welcher am neunzehnten September
geſchrieben, erreichte uns am achtundzwanzigſten. Auf
den folgenden Tag, Michaelis, fiel Dorotheens Ge¬
burtsfeſt. Ich ſuchte ſchon früh am Morgen bei ihr
einzudringen. Die beruhigende Nachricht über den
Prinzen, hoffte ich, werde eine nicht länger aufzuſchie¬
bende Ausſprache ermuthigend einleiten. Aber wiederum
ein vergeblicher Verſuch. Sie war ſchon vor dem
Frühſtück hinüber zum Vater entſchlüpft und kehrte
während des ganzen Morgens nicht zurück.
Am Nachmittag ſaßen wir im Familienzimmer
um den Kaffeetiſch, auf welchem ein Feſtkuchen, um¬
geben von einem bunten Aſternkranze, prangte. Acht¬
zehn Jahreslichtchen, und in der Mitte das dicke Le¬
benslicht ſollten raſch angezündet werden, ſobald es
Ehren-Purzel, der an der Treppe aufgeſtellt war, ge¬
lungen, das Geburtstagskind abzufangen. Ich hatte
das Mißliche dieſer alljährlichen kleinen Feſtlichkeit
heuer wohl empfunden, wußte aber keinen Vorwand,
den guten Willen der Eltern zu verhindern. Wir war¬
[9] teten vergebens. Dorothee kam nicht. Auch hatte die
Frankfurter Poſt keinen Brief des bisher wenigſtens
zweimal im Jahre regelfeſten Bräutigams gebracht.
Papa ſchimpfte recht läſterlich auf ſeinen rückſichtslo¬
ſen Mosjö Per—ſé.
Es dämmerte bereits, als ein Staffettenſignal
ſich von Weſten vernehmen ließ. Bei jedem Klange
aus dieſer Richtung ſammelten ſich Offiziere wie Bür¬
ger vor dem Poſthauſe, um irgend eine wahre oder
unwahre Nachricht zu erhaſchen, welche die Couriere
auf den Stationen ausſtreuten. Der Vater eilte hin¬
aus, und auch uns Frauen ließ es keine Ruhe, wir
traten unter die Hausthür, ſeine Rückkehr erwartend.
Die Staffette ſprengte auf der Leipziger Straße
weiter. Der Vater kam zurück. „Ein Zuſammen¬
ſtoß ſoll ſtattgefunden haben,“ rief er uns kopfſchüt¬
telnd entgegen; „unfern von St. Menehould ein un¬
erhörtes Kanonenfeuer vernommen worden ſein. Wer
aber obtinirte? — und ob wirklich beim Abgange der
Poſt am anderen Tage die Armeen ſich in unverrück¬
ter Stellung gegenübergeſtanden? Reime ſich's, wer
kann — ich —“
Er bemerkte bei dieſen Worten Dorothee, welche
ſich leiſe von der Gartenſeite herbeigeſchlichen hatte,
[10] und in athemloſer Spannung ſeiner Rede lauſchte.
Lachend reichte er ihr einen Brief, welchen er dem
Courier abgenommen hatte; „Ein Tauſendſaſſa, liebe
Dorl, wie er die Gelegenheiten wahrzunehmen weiß!“
Dorothee riß den Brief an ſich und floh die
Treppe hinan. Der Vater hielt noch einen zweiten
Brief in der Hand. „Vom Adjutanten,“ ſagte er,
nachdem wir in das Wohnzimmer getreten waren.
„Er wird uns, denk’ ich, das Räthſel löſen.“
Ich zündete in der Haſt das Lebenslicht auf dem
Geburtstagskuchen an, und ſtand in athemloſer Span¬
nung, bis der Vater den Brief entſiegelt hatte. Kaum
aber, daß er einen Blick hineingeworfen, ſah ich ihn
auf dem Stuhl zurückſinken, das Blatt ſeiner Hand
entfallen. „Todt, todt!“ ſtöhnte er, wie vernichtet.
„Wer iſt todt?“ kreiſchte die Mutter. Sie hob
das Blatt vom Boden auf. Ein Blick auf das erſte
Wort; ein zweiter der tiefſten Angſt zu mir hinüber.
Ich lag nicht in Ohnmacht oder Krämpfen; ich ſtand
ſteif wie eine Kerze. Sie legte es beruhigt in meine
Hand. Es war flüchtig mit Bleiſtift geſchrieben und
datirte vom einundzwanzigſten September.
„Unſer herrlicher Prinz iſt todt! Das Opfer
eines Kampfes, für den ich keine Bezeichnung habe.
[11] Mitten in der Nacht waren wir aufgebrochen. Der
Weg war heillos, aber die Kundſchaft, daß der Kö¬
nig geſtern den Vormarſch und den Angriff der feind¬
lichen Armee befohlen habe, gab dem Prinzen Flügel.
Wir hetzten unſere wechſelnden Pferde zu Tode. Um
ſieben Uhr hörten wir den erſten Kanonenſchlag. Die
Gegend lag im dickſten Nebel. Das Feuer wuchs von
Minute zu Minute. Der Boden dröhnte. Der Prinz
glühte buchſtäblich im Fieber: die Schlacht, die hei߬
erſehnte Schlacht! Alle rückſtehenden Truppentheile,
die wir paſſirten, zeigten die zuverſichtlichſte Stim¬
mung, ja ausgelaſſene Heiterkeit. Unſer Regiment
ſtand bei der Avantgarde, mit welcher Hohenlohe den
Angriff erhoben hatte. Wir jagten vorwärts. Mit¬
tag war vorüber; der Nebel hatte ſich geſenkt. Jetzt
erkannten wir die feindliche Aufſtellung auf den Hö¬
hen vor Valmy. Eine günſtige Poſition; der Feind
uns um ein Dritttheil überlegen. Aber welch ein
Feind! Bodenlos ſoll die Verwirrung geweſen ſein,
als Hohenlohe den linken Flügel, d. h. Kellermann,
angriff, und Dumouriez auf dem rechten zu fern
war, um ihm beizuſpringen. Der Sieg ſchien mit
Händen zu greifen, und — wir ſetzten die Attaque
aus! Wir ſchoſſen hinüber, der Feind herüber, ohne
[12] begreifbaren Zweck und Erfolg. Vierzigtauſend Ka¬
nonenſchläge ſollen in dieſem Feuerwerk verpufft wor¬
den ſein.
„Der Prinz ſchäumte vor Wuth, als er jenſeit
der Straße von Menehould ſeinem Regiment auf dem
Rückzug begegnete. Fluch und Verwünſchung jagten
ſich auf ſeinen Lippen; Purpurröthe und Todtenbläſſe
auf ſeinem Geſicht. Laut und öffentlich ſprach er aus,
daß Hohenlohe dem unſeligen Rückzugsbefehle trotzen
müſſe, ſprengte tollkühn die Anhöhe hinab und jenſeit
wieder hinauf bis zu der Stellung, welche die Vor¬
truppen am Morgen inne gehabt hatten. Er glaubte
einen Angriff von dieſer Seite noch jetzt mit Sicher¬
heit ausführbar. Er kann nichts anderes gedacht
haben, als eine Recognoscirung bei dem verwegenen
Ritt. Die Kugeln ſauſten um ſeinen Kopf. Ich
ſprengte ihm nach, dem tödtlichen Beginnen Einhalt
zu thun. Mehrere Officiere des Regiments folgten
mir. Dicht ihm an den Hacken, ſahen wir ihn tau¬
meln, vom Pferde ſinken. Noch fing ich ihn in meinen
Armen auf. Unter einem Kugelhagen trugen wir ihn
nach dem Vorwerk la Lune, dem Standquartier un¬
ſeres hohen Chefs. Er war am Herzen getroffen und
in wenigen Minuten — eine Leiche.
[13]
„Und dieſes herrliche Opfer ſühnt kein Sieg, ſühnt
nicht einmal das Bewußtſein der genügten Ehre. Der
Feind ſteht uns heute wie geſtern hoch gegenüber.
Wir greifen auch heute nicht an und ſelber die Ge¬
ſchütze ſchweigen. Man munkelt von Unterhandlungen,
von Rückzug. Mir iſt nichts unglaublich nach dem
geſtrigen Puff. Kann aber, wird ein König von
Preußen ſich dieſer Schmach unterwerfen? Die Officiere
ſchreien Zeter über den Braunſchweiger. Mit abge¬
wandten Geſichtern ſchleichen ſie aneinander vorüber,
ſie, die geſtern ſo ſtolz und ſicher wie zur Parade
ausgezogen waren! Weinen habe ich ihrer ſehen vor
Zorn und Scham. „Wären Sie ein Preuße wie ich,“
ſagte mir ein alter Major, „hätten Sie noch unter
Friedrichs Fahne gedient, Sie beneideten Ihren ge¬
fallenen Prinzen.“
Was ſoll ich weiter ſagen? Aeußerlich hielt ich
Stand. Lautlos legte ich den Brief in des Vaters
Hand zurück. Er ſchluchzte wie ein Kind und die
Thränen rieſelten über ſeine Wangen in den ergrauenden
Bart. Die Mutter ſaß lange Zeit ſtill mit gefalteten
Händen. Endlich erhob ſie ſich. „Wir alle bedürfen
der Sammlung. Geh’ zur Ruhe, liebe Tochter,“ ſagte
ſie, indem ſie mich auf die Stirn küßte.
[14]
Der Vater führte mich bis zur Thür, preßte
meine beiden Hände und ſprach: „Gott muß es am
beſten wiſſen, mein gutes Kind.“
„Gott muß es am beſten wiſſen!“ wie oft habe
ich in ruhigeren Stunden dieſes Wortes gedacht, das
ſo alltäglich verhallt, und doch das einzige iſt, deſſen
wir Menſchen uns in unbegreiflichen Schickungen ge¬
tröſten. Dieſe lebensgierige Natur, ohne Halt in der
Außenwelt, zügellos in der inneren, würde ſie ſich be¬
hauptet haben während der zwanzig Jahre des Ver¬
falls, welche der Spiegelfechterei von Valmy folgten,
bis zur tiefſten Schmach und hart an die Gränze der
Vernichtung? Würde ſie ihre Kraft zuſammengehalten
haben, für die büßende Mannesthat? Oder nach
welcher Richtung hin ſie verſchleudert und ſich ſelbſt
verloren? Gott hat es am beſten gewußt, mein
braver Vater!
In dieſer Stunde freilich da war Dein Troſt¬
ſpruch mir ein Schall und ich hörte nur das eine
hoffnungsloſe todt, dahin was meiner Augen Licht und
meiner Seele Stolz geweſen. Aller Halt war ge¬
brochen, ſobald ich — endlich allein! — die Treppe
erreicht hatte. Ich ließ mich auf die Stufen nieder¬
ſinken, der Leuchter entglitt meiner Hand. So lag
[15] ich, ich weiß nicht wie lange; das Leben dünkte mich
eine Nacht, undurchdringlich als die, welche mich umfing.
Endlich raffte ich mich auf und taſtete mich nach
meiner Thür. Da ſah ich einen hellen Streifen durch
die Spalte der Nebenſtube fallen, und — Thörin, die
ich geweſen! ſah mich aus dem Reiche des Grabes
ſchon wieder inmitten der bewegenden Fluth. Denn
ich erinnerte mich an Eine, der wahrhaftiger als mir
des Lebens Leuchte erloſchen war.
Es war die Todespoſt, die ihr der alte Freund
als eine Freudenpoſt gereicht hatte und tödtlich ſchien
der Streich, der für ſie ſo jach getroffen. Sie lag
kalt und ſteif am Boden ausgeſtreckt; in der krampf¬
haft geballten Hand den Brief Siegmund Fabers. Die
tiefe Schnuppe des Lichts zeigte wie lange ſie in dieſer
Erſtarrung hingebracht hatte, und wohl ahnte mir das
jammervolle Daſein, zu welchem ich ſie erwecken ſollte.
Eine dunkle Stimme warnte mich, die Eltern oder
Diener um Beiſtand herbeizurufen. Ich trug ſie auf
ihr Bett, löſte die einengenden Schnüre und — —
Und was empfand die ſpröde, achtzehnjährige
Ehrenhardine vor der Enthüllung, die ſie nicht geahnt
hatte und doch mit Blitzesſchärfe verſtand? Erbarmen,
Empörung, Haß? Schrie ſie Wehe über die Sün¬
[16] derin? Nichts von alledem iſt ihr bewußt; aber heute
noch fühlt ſie den Schauer, der ſie in jenem Augen¬
blicke überrieſelte, den Schauer neuerwachenden Lebens
nach dem gellenden Todesſchrei. Nein, er war nicht
todt, nicht völlig todt; eine Spur von ihm lebte, und
ich beneidete das glückſelige Weib, dem ſeine Liebe ſie
eingeprägt hatte!
Ich öffnete das Fenſter, benetzte die Erſtarrte
mit kölniſchem Waſſer, hauchte meinen Athem auf ihre
Lippen; mit Todesangſt fühlte ich ihren Puls und
hätte auch ſchreien mögen vor Entzücken, als ich den
erſten matten Schlag ſpürte. Endlich ſchlug ſie die
Augen auf und ſchaute wirr umher, wie beim Er¬
wachen aus einem entſetzlichen Traum. Jetzt fiel ihr
Blick auf mich, und es war ein markerſchütternder
Schrei, der das rückkehrende Bewußtſein verkündete.
Gleich einer Wahnſinnigen ſprang ſie aus dem Bett,
wand ſich am Boden mit entblößtem Buſen und zer¬
rauftem Haar: „Tödte mich, tödte mich, Hardine!“
gellte das verzweifelnde Weib.
Aber die böſe Stunde verrann. Ein erwärmen¬
des Feuer praſſelte im Ofen, die Lampe brannte ruhig
auf dem Tiſch. Dorothee lag eingehüllt im Bett; ihre
Thränen rieſelten über die bleichen Wangen und:
[17] „Retten Sie mich, retten Sie mich, Fräulein Har¬
dine!“ wimmerte eine Kinderſtimme in mein Ohr.
Und die ermatteten Lider fielen zu; die Bruſt hob
ſich in gleichmäßigen Athemzügen; ſie ſchlummerte ein.
Auch ich wollte Ruhe ſuchen. Da bemerkte ich den
Brief, den ich vorhin ihrer Hand entwunden und den
zu leſen ich wohl ein Recht hatte. Mein erſter Blick
fiel auf die folgende Nachſchrift:
„Geſtern hatte ich ein Erlebniß, das mich ſeltſam
bewegte und das den Antheil Ihrer verehrten Haus¬
genoſſen erwecken wird. Seien Sie mit der Kundmachung
vorſichtig, liebe Dorothee. Ich befand mich bei den
Vorpoſten unſeres Regiments, als ich im Namen
meines durchlauchtigen Chefs zu ſchleuniger Hülfleiſtung
entboten ward. Ein hoher Anverwandter Seines
Hauſes, als Volontair erſt vor einer Viertelſtunde bei
der Truppe eingetroffen, war während eines kühnen
Erkundungsrittes ſchwer verwundet und in ein unfernes
Vorwerk gerettet worden. Ich hatte den unglücklichen
Vorgang mit angeſehen und war bereits auf dem Wege
zu helfen. „Gottlob, da iſt Faber!“ riefen der Herr
Herzog mir entgegen. Bei dem Namen Faber ſchlug
der Verwundete das ſchon brechende Auge in die Höhe.
Eine Lebenshoffnung mochte in ihm erwachen. „Faber,“
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 2[18] lallte er, „Faber!“ Er taſtete nach meiner Hand und
drückte ſie mit letzter Kraft an ſeine Bruſt: Ein eiſiger
Schauder überrieſelte ihn, der Todesſchweiß tropfte von
ſeiner Stirn. „Barmherzigkeit, Faber, Barmherzigkeit!“
hauchte er noch und ſank in meine Arme — entſeelt.
„Wie eigen war mir zu Muthe, als ich die Uni¬
form meines alten Regimentes löſte, und in Erinnerung
der Heimath doppelt begierig hätte helfen mögen, wo
doch alle Hülfe vergeblich war. Der Prinz war nicht
verwundet, wie wir angenommen hatten, nur von der
Kugel geſtreift, und ein Blutgefäß des Herzens durch
die Erſchütterung, oder den ungeſtümen Ritt, oder den
Sturz vom Pferde lädirt. Niemals ſah ich einen voll¬
kommneren männlichen Körper. Auf ſeinem Herzen
fand ich ein Band, gehüllt in ein Blatt, das unter
wohlbekannten Zügen einen verehrten Namen trug.
Ich geſtatte mir keinerlei Deutung. Aber mit Aller¬
höchſter Genehmigung lege ich dieſe Reliquie, vielleicht
als ein troſtreiches Andenken, in der Freundin Hand,
das einzige Angebinde, das ich Ihnen heute zu bieten
habe, theure Dorothee.“
Und nun wickelte ſich wieder das blaue Haar¬
band vom Frühlingsfeſte um meine Finger und ich be¬
trachtete das Blatt, welches nichts als den Namen
[19] „Hardine von Reckenburg“ trug, die abgeriſſene Unter¬
ſchrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee und
von dem, welchem das Blatt bei irgendwelchem Anlaß
zugeſpielt worden war, vielleicht niemals bemerkt. Aber
war es nicht eine ſeltſame Fügung, daß Siegmund
Faber es ſein mußte, welcher das Andenken von der
Bruſt des Mannes nahm, der ſein Lebensglück ver¬
nichtet hatte, und daß er es, als das Liebeszeichen
einer Anderen, in die Hand ſeiner treuloſen Verlobten
zurücklegte?
Ich aber, wie hätte es in jenen Stunden ohne
Einfluß auf mich bleiben können, daß über dem brechen¬
den Herzen Name und Schriftzüge der Freundin ge¬
ruht, welche er ſeine Schwester genannt hatte, als er
mit ſeinem Abſchiedsworte das geliebte Weib ihrem
Schutze anvertraute? Wie hätte ich mich in jenen
Stunden anklagen mögen, weil das Vermächtniß des
todten Freundes ſtärker in mir ſprach als die Pflicht
gegen den lebenden?
Ich ging in meine Kammer und warf mich un¬
entkleidet auf das Bett. Dorothee ſchlief; ich fand
keine Ruh'! Die Ereigniſſe dieſer Sonnenwende ver¬
ſchlangen ſich wie greifbare Erſcheinungen vor dem
halbbetäubten Sinn. von jenem Feſttage an, wo ich
2*[20] die alte Reckenburgerin das Liebeslied der Königsmark
trällern hörte, bis zu dem Schmerzensbilde, das Sieg¬
mund Faber enthüllt hatte. Ich träumte mit offnen
Augen und es währte wohl eine lange Weile, ehe ich
zwiſchen den Phantomen der Erinnerung die leibhaftige
Geſtalt unterſchied, welche bei dämmerndem Morgen
vor meinem Lager kniete mit geſenktem Kopf und die
Arme über der Bruſt gekreuzt gleich einer Verbrecherin.
„Wollen Sie mich retten, Fräulein Hardine?“
flüſterte ſie nach einer langen Stille.
Eine neue lange Stille folgte und ſtatt der Antwort
nur die Gegenfrage: „Was denkſt Du zu thun, Dorothee?“
„Denken — ich?“ verſetzte ſie, indem ſie traurig
den Kopf ſchüttelte. „Ich will thun, was Sie ſagen,
Fräulein Hardine.“
„Nicht was ich ſage, was Siegmund Faber ſagt,“
entgegnete ich.
Sie aber rief mit einem Schauder: „Der —
Der? Was hab’ ich mit Dem noch zu ſchaffen?“
Doch verſtand ſie meinen vorwurfsvollen Blick, denn
ſie ſetzte haſtig hinzu: „Ich werde ihm das Seine zu¬
rückgeben und mein Brod mit meiner Hände Arbeit
verdienen.“
In anderer Stimmung würde ich beim Anblick
[21] dieſer zartgeſchonten Hände den ausgeſprochenen Ent¬
ſchluß belächelt haben. In der gegenwärtigen ſagte
ich nur: „So ſchreibe ihm heute noch, Dorothee, be¬
kenn’ ihm die Wahrheit und empfange Dein Schickſal
aus ſeiner Hand.“
Sie fuhr in die Höhe mit einer Heftigkeit, die
ich niemals an ihr gekannt hatte. „Ihm ſchreiben
und heute noch!“ rief ſie. „Ihm Alles ſagen, ihm,
ihm! Nein, das verlangen Sie nicht, nur das Eine
nicht, Fräulein Hardine, das kann ich nicht.“
„Nun denn, ſo will ich es thun an Deiner Statt,“
ſagte ich.
„Würde ein Brief ihn treffen, Fräulein Hardine,“
entgegnete ſie. Es ſind zehn Tage, daß er ſchrieb, eine eben
ſo lange Zeit müßte vergehen — — und lebt er denn
noch? Und wo? Und wie?“
Sie hatte Recht. Wo ſtand die Armee in dieſer
Stunde? Vorwärts, in Feindesland? rückwärts, am
Rhein? Ein eintreffender Brief konnte bei ſo un¬
ſicheren Zeitläuften ein wahres Wunder genannt wer¬
den. Und durfte ich ein ſolches Geheimniß der Ver¬
ſchleuderung und einer fremden Entdeckung preisgeben?
Nein. Wir mußten weitere Nachricht von oder über
Faber erwarten.
[22]
„Wohlan, Dorothee,“ ſagte ich nach einer Pauſe
und ergriff ihre Hand, „wenn denn zur Stunde nicht
vor ihm, ſo vor der Welt zeige entſchloſſen, daß Euer
Bund ſich gelöſt. Kehre in Deines Vaters Haus zu¬
rück; nimm die Demüthigung auf Dich als Sühne
der Schuld; ſetze Pflicht gegen Pflicht. —“
Es war wie ein Todesurtheil, das ſie vernom¬
men hatte. Ein Fieberfroſt [durchſchüttelte] ihren Leib,
ſie ſank von Neuem auf die Kniee.
„Muß es ſein?“ hauchte ſie kaum vernehmlich.
„Ja, es muß ſein, Dorothee.“
„Jetzt, gleich jetzt, vor der Zeit? O, Fräulein
Hardine, mir iſt, als ob ich ſterben werde nach der
Zeit. Ach, ſo gerne ſterben! Sparen Sie es meinem
alten Vater, laſſen Sie ihn nicht mit Schanden in
die Grube fahren.“
Sie mochte wohl merken, daß das Mitleid mit
dem alten, trunkenen Schwachkopf, gar wenig auf mich
wirkte, denn ſie fuhr haſtig, mit bebender Stimme
fort: „Und Er — Er, den ich nicht nennen kann, ſoll
ſein Name verläſtert werden in einem Athem mit dem
der verworfenen Creatur? in der Stunde, wo die
Thränen noch warm um ihn fließen, wo ſein armer
Leib noch nicht die Ruhe bei ſeinen Vätern gefunden hat?“
Es war eine Zauberin, dieſes Kind Dorothee,
wie es im rechten Augenblicke immer das Wirkſame
zu treffen wußte! Nein, das Geheimniß war zur
Hälfte nicht zu wahren, und die Anklage gegen den
Verführer durfte ſich nicht in die Todtenklage um un¬
ſern Helden miſchen. Vor meinen Eltern, die ihn
geliebt hatten, vor den Kameraden, die ihn bewunder¬
ten, ja ſelber vor den gering geachteten Heimathsbür¬
gern Dorotheens, mußte der Letzte ſeines Stammes
ohne Makel in der Gruft ſeiner Ahnen ruhen.
„So ſei es denn, Dorothee, ich will Dein Ge¬
heimniß wahren und ſchützen, bis Siegmund Faber
über Dein zukünftiges Loos entſchieden haben wird.“
Mit dieſem Gelöbniß endete die erſchütternde
Unterredung.
So ſchwer der Entſchluß, ſo raſch und leicht war
der Plan. Dorothee begleitete mich nach Reckenburg;
alles Weitere enthüllte ſich in dem ſtillen Waldhauſe
Muhme Juſtinens. Und wie der Plan, ſo raſch und
leicht war auch die Ausführung. Vater Kellermeiſter
hatte keine Stimme; meine Eltern aber gönnten den
beiden bekümmerten Geſpielinnen ein tröſtendes Bei¬
einanderſein. Kaum eine Woche ſpäter waren ſie,
[24] von Leipzig ab in Begleitung des Predigers, auf dem
Wege nach Reckenburg.
Dorothee war dem alten Freunde keine Fremde;
ich hatte ihm oft von meiner reizenden Mitſchülerin
erzählt. Jetzt führte ich ſie ihm vor als eine Be¬
ſucherin Muhme Juſtinens, alſo ohne buchſtäbliche
Lüge. Wie denn überhaupt, wenn lügen oder täu¬
ſchen nur heißt: Unwahres ſagen, nicht auch Wahres
verheimlichen, ich in dieſem ganzen Verhältniſſe keiner
Lüge oder Täuſchung ſchuldig zu werden brauchte.
Freilich mochte das ſtilltrauernde Weib, wie es ſich
ſcheu und leiſe weinend in die Wagenecke ſchmiegte,
wenig zu dem Bilde ſtimmen, das ich von meiner
frohen, beweglichen kleinen Dorl entworfen hatte.
Sein Auge weilte mit Wehmuth auf dem bleichen,
geſenkten Geſicht. Gewiß, er ahnte die Wahrheit.
Der geiſtliche Herr aber war einer von denen, welche
dem bekümmerten Sünder die Hand entgegenſtrecken.
Wie oft hatte ich blutjunges Ding mich mit Ent¬
rüſtung von unſeres Seelſorgers milder Lehre und
Praxis, gegenüber einer zuchtloſen Gemeinde, abgewen¬
det. So erinnerte ich mich im Beſonderen einer Pre¬
digt über das ehebrecheriſche Weib, deren Text und
Auslegung ich beim Diner meiner alten Gräfin wie¬
[25] derholte. „Der Herr Paſtor könnte derlei bedenkliche
Themata vermeiden; aber was kümmert das uns?“
hatte ſie geſagt, und ich ihr — bis auf den Nachſatz
— endlich beigepflichtet. Das war am Sonntag vor
meiner Abreiſe, und heute führte ich ſelber ſolch ein
recht- und ehrvergeſſenes Weib als meinen Schützling
in ſeine Gemeinde ein; ich, die ich mein Leben ſo ſicher
auf den Wahrſpruch meines Hauſes gegründet glaubte.
Baue Keiner auf eine Maxime, wenn er nicht,
wie Jungfer Ehrenhardine, eines Tages mit ſchamro¬
then Wangen einem fertigen Menſchen gegenüber¬
ſitzen will. Das, meine Freunde, iſt die Moral der
Geſchichte von der Roſe und ihrem Blatt.
Zweites Capitel.
Muhme Juſtinens Pflegling.
Auf der letzten Station blieb Dorothee zurück.
Der geiſtliche Herr und ich rollten in Reckenburgs
goldner Kutſche unſerem Ziele entgegen. Die Gräfin
ſchlummerte, als ich auf dem Schloſſe anlangte. Ein
böſer Zufall, deſſen Anlaß ich nur zu gut errieth,
hatte ihre Kräfte härter denn jemals mitgenommen.
Es war die von Neuem bewährte Leibwärterin,
welche mir dieſe Auskunft gab, und ſo konnte denn
das, was mir zunächſt am Herzen lag, gleich in der
erſten Stunde ſeine Erledigung finden. Verſchwiegen¬
heit und Zuſtimmung waren mir zum Voraus ver¬
bürgt, ſchon weil ich es war, die ſie erbat. Im
Uebrigen brachte die Pflege ein Stück Geld und die
demüthigende Abhängigkeit der „Jungfer Obenaus“
einen erquickenden Kitzel. Von ſchweren ſittlichen Be¬
[27] denken konnte bei einer Helferin ihres Zeichens füg¬
lich nicht die Rede ſein.
Wir wurden daher ohne Markten handelseinig.
Die Muhme holte am andern Tage ihre Schutz¬
befohlene aus der Stadt ab, nahm ſie in Koſt und
Pflege und ließ ſie, wenn Einer nach ihr fragen ſollte
— unwahrſcheinlicher Weiſe, da „Bauern nicht wie
Stadtbürger wiſſenſchaftlicher Complexion ſind“ —
für eine Angehörige, die kürzlich Wittwe geworden
war, gelten. Vor allem Andern übernahm ſie die
Auseinanderſetzung mit dem Prediger, dem die unbe¬
dingte Wahrheit geſagt werden mußte. Daß unſer
Uebereinkommen gewiſſenhaft und mit beſtem Gelingen
durchgeführt worden iſt, ſei zum Voraus berichtet.
Nicht ohne Bewegung ging ich nun dem Wieder¬
ſehen der Gräfin entgegen. Mir, der Jugendlichen,
war ja nur ein Traum entwichen, ein flüchtiges Glück,
das ich erſt ſeit unſerer Trennung hatte kennen ler¬
nen. Ihr, der Urgreiſin, war der Bau eines langen
Lebens in Trümmern geſtürzt. Ich mußte auf eine
tiefe Wirkung vorbereitet ſein.
Was ich aber gewahren ſollte, das war die Ver¬
wüſtung eines ſengenden Strahls und Gott weiß, un¬
ter welchen Qualen ich lange Jahre hindurch in mei¬
[28] ner ſtillen Reckenburger Flur gegen ſein nachzehrendes
Feuer gerungen habe. Schon bei dieſem erſten Wie¬
derſehen fand ich die Geſtalt zuſammengeſunkener —
die Bewegungen hülfloſer, die Rede knapper; eine
Spur innerlichen Lebens nur noch in dem kalten, ſtahl¬
ſcharfen Blicke der Gier. Die Herrſchaft war ausge¬
ſtorben, und die Magd, die ſich frühe und zähe in
ihrem Dienſte ausgebildet hatte, die Alleingebieterin in
dem verödeten Haus.
Jetzt, das heißt ſeit der Stunde, in welcher die
Todesbotſchaft von Valmy ſie erreicht hatte, jetzt war
ſie und wurde von Tag zu Tage mehr „die ſchwarze
Reckenburgerin,“ zu welcher die Volksphantaſie die
einſame Erhalterin ſeit einem Vierteljahrhundert aus¬
gearbeitet hatte. Jetzt glich ſie den dämoniſchen
Märchenweſen, die Metalle hegen und hüten, lediglich
um ihres Glanzes willen; die der Kupferheller ſchmerzt,
welcher dem eignen Bedürfniß geopfert werden muß.
Ich ſage Euch, wie ein Herkules habe ich um die Er¬
haltung der nutzbringendſten Anlagen gekämpft und es
war am Ende nur die achtzigjährige Gewöhnung,
welche das Getriebe mechaniſch und methodiſch zu¬
ſammenhielt.
Die Correſpondenz mit Dresden verſtummte; der
[29] einzige Feſttag auf Reckenburg fiel aus und niemals
wieder hat der Name des erkorenen und verlorenen
Erben der Greiſin Lippen berührt. Sie dachte nicht
mehr an ſterben und vererben. Exiſtirte aus früherer
Zeit eine letztwillige Verfügung und zu weſſen Gun¬
ſten? Niemand wußte es. Die Teſtatorin aber würde
keinen Federſtrich gethan haben, um ſie zu widerrufen
oder umzuändern. Ein Menſch war ihr ſo gleich¬
gültig wie der andere; ſie kannte keine Pflicht. Sie
wollte leben, nur leben. Die Ewigkeit würde ihr
nicht zu lang gedäucht haben, allein, neben ihrem
funkelnden Schatz. Kam es aber eines Tages zum
Ende, nun, wenn dann die Erde unter ihrem Gold¬
thurm ſich geöffnet hätte, es würde ihr das rechte,
das willkommenſte Ende geweſen ſein.
Vierzehn Jahre noch, die letzten der Jugend, ſind
mir hingegangen in Abhängigkeit von dieſer Mumie
mit dem einen überlebenden Sinn; und ſicherlich nicht
ohne haftende Spur. Wohl waren die Anlagen, die
wir weibliche nennen, von Haus aus nur ſchwächlich
in mir organiſirt, die Stunden in dem Goldthurm
der Reckenburg aber; wenn auch nur wenige jeden
Tag und durch Arbeit gefüllt, ſie haben in mir die
letzte Fähigkeit unterdrückt, einem häuslichen Leben die
[30] anheimelnde Spur, eine Phyſiognomie einzuprägen,
wie das beſcheidene Erdgeſchoß der Baderei ſie doch
ſo beglückend getragen hat. Die Nachwirkung jener
Stunden hat auch den weſtlichen Thurm der Recken¬
burg zu einer Klauſe werden laſſen und wenn ich,
ihnen zum Trotz, die Grundrichtung meiner Natur
durchgeführt habe, ſo danke ich es der Werkſtatt unter
Gottes freiem Himmel, die mir rings um ihn er¬
schloſſen blieb.
Ihr ſeid noch zu jung, meine Freunde, ſeid Gott¬
lob! zu beglückt durch Euer wechſelſeitiges Selbſt, um
zu ermeſſen, wie ſolch eine Werkſtatt unter freiem
Himmel einem Menſchen zur Welt und zum Schickſal
werden kann. Aber macht einen alten Bauersmann
geſprächig und Ihr werdet über ſeine Erlebniſſe auf
der armen Hufe ſtaunen.
Nun aber eine Schöpfung, wie die der Recken¬
burg, ſo mühſam umgewandelt, ſo weithin angewach¬
ſen, ſo fruchtbringend ſchon heute, ſo ſegenverheißend
für eine kommende, freiere Zeit; da wird jeder Find¬
ling des Feldes zu einem weiterfördernden Mittel, die
kümmerlichſte Pflanzung zu einem beſeelten Weſen.
Wir ſehen die Ernte in dem aufgehenden Halm und
in der abſterbenden Stoppel die Befruchtung für eine
[31] neue Saat. Uns ſchmerzt jeder Baum, deſſen Alter
der Axt verfällt und wir freuen uns jedes jung auf¬
ſtrebenden Keims; wir führen fremde Coloniſten in
die beſchränkte Geſellſchaft, die unſerer Scholle von
Alters her entſproß, unſere Kenntniß wächſt, die Er¬
fahrung wird bunter mit jeder Färbung und Form.
Und wie befreunden wir uns mit der thieriſchen
Creatur; wie forſchen wir nach ihren Trieben, Sitten
und Geſetzen, lernen ihre Lebensart verbeſſern und
ihre Gaben immer reichlicher verwerthen! Seht Eure
Heerden Tag für Tag auf ihrer Trift und Ihr un¬
terſcheidet an jedem einförmigen Schaf oder Rind ein
Geſicht und ein Geſchick.
Endlich aber, ganz zuletzt, die menſchlichen Ge¬
noſſen in dieſer abgeſchiedenen kleinen Welt. Es iſt
kein Paradieſesgarten, meine Freunde. Gleichgültiger
als an der weidenden Heerde geht der Fremdling an
den ſtumpfen, entarteten Geſtalten vorüber, ſchätzt ſie
niedriger als das Wild des Waldes in ſeiner unver¬
kümmerten Schöne und dem ungebrochenen Inſtinct.
Aber Schritt für Schritt ſchwinden Ekel und Lange¬
weile, wächſt der aufmerkende Trieb. Allmälig wer¬
den ſie uns vertraut, die platten Geſichter, denen wir
jede Stunde begegnen, deren mühſeliges Tagewerk wir
[32] verfolgen von der Wiege bis zum Grabe. Wir ſchüt¬
teln die rauhe Hand, die mit uns arbeitet an der Um¬
bildung unſerer heimathlichen Welt, dringen aus dem
allgemeinen in das perſönliche Leben zurück, forſchen
nach der Spur des göttlichen Ebenbildes in unſerem
mitgeſchaffenen, ſtreben, ſie ihm ſelber kenntlich zu
machen und ihn höher zu fördern in der Reihe der
Weſen, die einen Schöpfer ahnen und bekennen.
Solch eine kleine Welt war mir untergeordnet,
mir zunächſt, ja mir allein. Sie hatte ich zu
ſchützen vor dem Verfall, welchem eine wahnſinnige
Leidenſchaft ſie preisgab; ſie der Zukunft zu erhalten,
gleichviel, ob dieſelbe mir oder einem Fremden zu
Gute kam; und je ſchwieriger der Ringkampf um die
Mittel, deſto tiefer wurzelte die Neigung, deſto hart¬
näckiger der Widerſtand. Dieſe uneigennützige Liebe
iſt mein Verdienſt um Reckenburg, weit mehr als die
freie, beglückende Wirkſamkeit in einer ſpäteren Zeit.
Auf dieſem meinem Arbeitsfelde ertrug ich denn
auch leichter, als ich nach der traurigen Epiſode des
Herbſtes hätte ahnen ſollen, den Schickſalswinter von
dreiundneunzig mit ſeinem ätzenden Hohn. Als die
Kunde des einundzwanzigſten Januar kannibaliſch
ſchreckend bis in unſeren ſtillen Waldwinkel drang, da
[33] pries ich meinen jungen Helden ſelig, der in der letz¬
ten Hoffnungsſtunde geendet hatte, während ſeine
Kampfgenoſſen wie von einer Narrenfahrt zurückirrten
und den königlichen Märtyrer, zu deſſen Erlöſung ſie
den Kreuzzug erhoben hatten, unter dem Henkerbeile
fallen ſehen mußten.
Auch Dorothee hatte ſich ſo friedlich eingelebt,
als es in ihrer Lage möglich war. Der Herbſt brachte
noch heitere Tage, die in das Freie lockten; die Wunde
verharſchte in der Stille ländlicher Natur; die Schande
drückte ſie nicht, da ſie Keinem begegnete, der ſie ihr
vorgeworfen hätte, und an die Sünde — wenn ſie die
Sünde überhaupt jemals gefühlt — wurde ſie um ſo
weniger erinnert, da heuer auch der übliche Weih¬
nachtsbrief Siegmund Fabers ausblieb.
Kehrte ich bei meinen Wanderungen durch den
auch im Winter belebten Wald in dem einſamen
Muhmenhauſe ein, ſo fand ich Dorothee flink und
zierlich mit einer Handarbeit beſchäftigt, wie ſie die
Sorge für ein junges Leben nöthig werden läßt. Die
Kinderlaune wachte in ihr auf, ſie tändelte mit dem
kleinen Gemäch wie zu der Zeit, wo ſie unter mei¬
nen verwunderten Blicken ihre Puppen ausſtaffirte.
„Wie reizend!“ rief ſie dann wohl aus, indem ſie ein
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 3[34] Mützchen, mit bunten Glasperlen durchſtrickt, auf ihren
Fingern wiegte; „wenn da erſt ſo ein Engelsköpfchen
darunter ſteckt! Ach, wie freue ich mich. Ich habe
Kinder immer ſo lieb gehabt, Fräulein Hardine.“
An einem der erſten Frühlingstage, mit Stör¬
chen und Droſſeln um die Wette, fand ich das neue
Erdenkind in dem Muhmenhauſe eingeflogen. „Zu
früh,“ wie die bewährte Pflegerin verſicherte, wenn¬
gleich das Männchen ein gar ſtattliches Anſehen trug,
und die junge Mutter ſich heil und friſch fühlte, wie
ein Fiſch im Waſſer. Freudenthränen träufelten auf
das Kind in ihrem Schoße. „So ſchön, ſo wunder¬
ſchön!“ rief ſie entzückt. „Ach, wie habe ich es lieb,
wie bin ich glücklich, Fräulein Hardine! Niemals, nie¬
mals könnte ich mich von dem kleinen Engel trennen.“
Bei welcher Entzückung Ehren-Juſtine freilich eine gar
hämiſche Grimaſſe zog und mir beim Hinausgehen
zuraunte: „Das wäre der erſte Wildling, der eine
dauerhaftige Mutterliebe ſpürte! Was nicht im Ehe¬
bett geboren worden iſt, das verfliegt wie Spreu.“
Indeſſen wußte ſie, immer unter der Rubrik „zu
früh“ ſchon anderen Tages eine häusliche Nothtaufe
einzurichten, bei welcher ſie und ich Gevatterinnen
wurden. Der Knabe erhielt den Vaternamen Auguſt
[35] und iſt unter ſeiner mütterlichen Familie geſetzmäßig
durch den Prediger in das Kirchenregiſter eingetragen
worden. Niemand würde leichtlich dieſen Namen in
den Annalen unſeres wüſten Walddörfchens geſucht
und aufgefunden haben. Als aber etliche Jahre ſpä¬
ter der Blitz die Kirchenbücher in der Sacriſtei ver¬
nichtete, da gab es nur noch ein einziges Dokument
über Auguſt Müllers Geburt und Ihr werdet es
an einer anderen Stelle dieſer Blätter beigeheftet
finden.
So lange Dorothee Bett und Zimmer hütete und
ihren Knaben an ihrer Seite liegen ſah, hegte ſie kein
Verlangen, als ſo lange als möglich in Reckenburg
zu weilen und ſich ſpäterhin irgendwo häuslich mit
ihm einzurichten. „Was kümmern mich die Leute!“
entgegnete ſie lächelnd den Einwänden der Muhme.
„Ich habe ja mein Kind!“ Die Muhme aber blieb
brummend bei ihrem Satz: „Schnickſchnack Kind! Sel¬
ber noch ein Kind! Die braucht einen Mann und
nicht ein Kind!“
Ich ſchalt darüber heimlich und laut mit meiner
alten Getreuen, zumal als ſie auch nach Dorotheens
Herſtellung die Pflege des Knaben ausſchließlich in
ihrer Hand behielt und ihre Hintergedanken bei dieſer
3*[36] Dictatur wenig verhüllte. Möglich allerdings, daß
das „halbſchürige Lamm, die Dörte“ für des kräfti¬
gen Knaben Ernährung ſich zu zart erwies und ſehr
wahrſcheinlich, daß ihre von jeher unliebſame Gegen¬
wart der Alten auf die Dauer läſtig fiel. Ganz ge¬
wiß aber war, daß der unverſöhnliche Schellenunter
von Neuem ſeine Streiche ſpielte. Sie ahnte ja
nicht, daß er im verwichenen Sommer ihre Orakel¬
weisheit bereits wahr gemacht hatte. Er lauerte noch
immer, und jetzt doppelt bedrohlich, unter der Kappe
der anrüchigen Dirne, zu deren Patronin ihr Fräu¬
lein ſich erhoben hatte, und ſo ruhte ſie denn auch
nicht, bis ſie die Gefährliche außerhalb des Weichbil¬
des ſah, das ſie, ſeitdem ſie ſelbſt ſich darin nieder¬
gelaſſen hatte, für ihres Fräuleins eigentliche Hei¬
math hielt.
Dorothee aber, wie ſie die Ernährung ihres Kin¬
des einer Ziege und ſeine Wartung einem deſpotiſchen
Willen überlaſſen mußte, wie ſie müßig in dem dürf¬
tigen Waldhauſe unter dem ſchnöden Gebahren ihrer
Wirthin gebannt ſaß, da merkte ich gar wohl, daß
das Herz ſich im Stillen nach der Freiheit und dem
Behagen des eigenen Heimweſens zu ſehnen begann.
Sie langweilte ſich, ſie wurde unruhig. „Was ſoll
[37] aus mir werden?“ ſeufzte ſie und klagte: „Ich bin
doch recht unglücklich, Fräulein Hardine.“
Ich hatte in dieſem Jahre den gewohnten Reiſe¬
termin vorübergehen laſſen, weil die Stimmung der
Gräfin und die mit dem Frühling wachſende Thätig¬
keit eine ununterbrochene Vermittlung zwiſchen Thurm
und Flur nothwendig machte. Zwiſchen Saat- und
Erntezeit gedachte ich auf etliche Wochen heimzureiſen
und hatte mich zum Voraus für eine Poſtfahrt ent¬
ſchloſſen. Zählte ich auch erſt achtzehn Jahre, ſo
fühlte ich mich ſeit den Erfahrungen des vorigen
Sommers ſelbſtſtändig genug, um getroſten Muthes
eine Reiſe um die Welt ohne Begleitung anzutreten.
Schon im Mai wurde ich indeſſen durch einen
aufregenden Zwiſchenfall in die Heimath zurückgeru¬
fen. Des Vaters Regiment gehörte zu dem Contin¬
gent, das der Kurfürſt zu dem Reichskriege gegen
Frankreich geſtellt hatte; der Vater ſelbſt aber war
bei den Depots zurückgeblieben und wir Alle, obgleich
gewiß keine weichlichen Naturen, fühlten uns deſſen
froh. Was durfte nach den Erlebniſſen des vorigen
Herbſtes von dieſem Feldzuge erwartet werden? Wer
hoffte denn noch auf eine rechtzeitige Rettung der un¬
glücklichen Königin und ihrer Kinder, nachdem man
[38] den König geruhig hatte morden laſſen? Für das
bedrohte Königthum und den bedrohten König eines
fremden Landes würden wir mit religiöſer Freudigkeit
unſere Theuerſten ſich haben opfern ſehen — wir,
ſage ich, meine Freunde, und meine damit durchaus
nicht blos uns Frauen, ſondern mit etwaiger Aus¬
nahme des Predigers alle Männer, ſtattliche, brave
Männer des mir zugänglichen Kreiſes — aber was
kümmerte es uns viel, daß deutſches Recht ver¬
höhnt, daß deutſches Land jenſeit und ſelber dieſſeit
des Rheins gebrandſchatzt, verheert und dauernd in
Beſitz genommen wurde? Erſt zwanzig Jahre ſpäter,
nach einer ungeheuren Umwälzung der Gemüther,
haben wir den Werth vaterländiſcher Erde auch außer¬
halb unſeres heimathlichen Gaues ſchätzen lernen und
dadurch erſt, nicht durch die Bezwingung eines Er¬
oberers, der früher oder ſpäter ſeinem Despotenwahn¬
ſinn zum Opfer gefallen ſein würde, durch dieſe
Schätzung erſt ſind die Befreiungskriege zu einem
bleibend hochherrlichen Segen für unſer Volk ge¬
worden.
Bei dieſer Gleichgültigkeit gegen den Kampfes¬
zweck traf es mich wie ein Unglücksſchlag, als mein
Vater plötzlich ſeinem dreißigjährigen Friedensdienſte
[39] entrückt und mit Majorsbeförderung zu der Armee
vor Mainz befohlen wurde.
Sobald ich dieſe Nachricht erhalten hatte, berei¬
tete ich meine Abreiſe für den nächſten Morgen vor,
und es blieben mir nur wenige flüchtige Minuten zum
Abſchied in dem Muhmenhauſe. Peinlich, trotz aller
[Aufregung], empfand ich die Nothwendigkeit, Dorotheen
in der Heimath als krank zurückgeblieben aufführen
und auf dieſe Weiſe mich der erſten buchſtäblichen
Lüge in meinem Leben ſchuldig machen zu müſſen.
Sie ſollte mir indeſſen erſpart werden, denn
zu meinem unausſprechlichen Staunen fand ich, als
ich am Morgen vor dem Poſthauſe eintraf, meine
Schutzbefohlene, zur Rückreiſe gerüſtet, meiner harrend
— allein ohne ihr Kind. „Es läßt mir keine Ruhe,
ich muß dem lieben, gnädigen Papa zum Abſchiede
noch einmal die Hand küſſen. Solch ein gütiger,
herzlicher Vater von Kindesbeinen an auch für mich,
Fräulein Hardine!“ ſchluchzte ſie und ſetzte dann haſtig,
mit niedergeſchlagenen Augen hinzu: „Der Kleine iſt
ja verſorgt; die Muhme verſteht es ja weit beſſer als
ich, Fräulein Hardine, und zum Herbſt nehmen Sie
mich wieder mit zurück.“
In unverhohlener Entrüſtung wendete ich mich
[40] hockte einſam und ſtumm vor der Thür, bis eine mit¬
leidige Nachbarin ihr einen Biſſen reichte, oder ſie in
ihr durchwärmtes Zimmer führte. Den Vater ſah ſie
faſt nie. Wenn er ſpät in der Nacht heimkehrte,
ſchlief ſie ſchon, und wenn er früh am Morgen wie¬
der aufbrach, ſchlief ſie noch. Es ging jach abwärts
mit dem Manne, wie ſeine ſterbende Frau es voraus¬
geſagt: aus dem Weinhauſe in die Branntweinskneipe,
aus dem Kreiſe kannegießernder Bürger unter ein Pu¬
blikum roher Geſellen. Sein lockigen Haare wurden
ſtruppig, blutrothe Flecken brannten auf den gedunſe¬
nen Wangen; die Adern ſchwollen neben den Narben
der Stirn, und ein wüſtes Feuer brannte aus den
großen, blauen Augen, wenn er nach dem Pferde
ſchrie, das er tummeln, nach dem Säbel, mit dem er
den noch immer erwarteten Feind niederhauen wollte.
Das alte Soldatenherz rumorte noch wie einſt, aber
Prinz Guſtel war untergegangen, und das Vaterherz
hatte noch niemals pulſirt. Der Handſchlag, den er
ſeinem ſterbenden Weibe gegeben, war ſo gut wie ver¬
geſſen.
Zu ſeinem Glücke kam der Tag, wo das letzte
Stück Hausrath, das letzte Kiſſen von Frau Liſettens
Brautſchatz abgepfändet waren, wo der Hauswirth die
[41] ter, als ich ihn vorausgefühlt hatte. Die grauſigen
Bilder des vorjährigen Rückzugs, deren Einzelnheiten
mir erſt in der Heimath deutlich wurden, ließen ein
Nimmerwiederſehen ahnen. Meine arme Mutter er¬
lag faſt der Anſtrengung, ſich als ſtandhafte Solda¬
tenfrau zu behaupten. Sie lächelte über den Troſt¬
ſpruch des ehrlichen Purzel; — des letzten Purzel im
Reckenburg’ſchen Dienſt; — „Nur guten Muth, gnä¬
dige Frau. Ich ſorge ſchon. Es paſſirt ihm nichts;
und paſſirt ihm doch was, dann komme ich gleich und
melde Poſt.“ Sie lächelte und bedachte das kleinſte
Bedürfniß, das einem Verwundeten oder Kranken die¬
nen kann. Aber ihre zarte Geſundheit hatte ſich von
den Schmerzen und Sorgen der Trennungsjahre nicht
wieder erholt.
Am Vorabend des Abmarſches ging ich zu Do¬
rothee, die ſich in ihrem Mädchenſtübchen ganz woh¬
lig wieder eingeniſtet hatte, und hob ohne Umſchweif
an: „Ich ſehe ein, Dorothee, daß Du zu einem frei¬
willigen Bekenntniß niemals das Herz haben wirſt.
Geſtatte mir daher, Dein Geheimniß meinem Vater
anzuvertrauen. Die ſächſiſche Armee ſteht mit der
preußiſchen vereint in dem Lager vor Mainz. Sieg¬
mund Faber wird dort leicht aufzufinden, der Vater
[42] aber der zuverläſſigſte Vermittler und Dir der mildeſte
Anwalt ſein.“
Sie war bei dieſen Worten wie vom Donner ge¬
rührt und es dauerte eine Weile, bevor ſie der kind¬
lichen Beredtſamkeit Herr geworden war, mit welcher
ſie meine Rechtsgrundſätze ſchon einmal aus dem
Felde geſchlagen hatte. „Thun Sie es nicht, Fräu¬
lein Hardine!“ rief ſie außer ſich. „Um Gottes Barm¬
herzigkeit willen thun Sie es nicht! Vor der ganzen
Welt, vor meinem eigenen Vater ſogar eine verwor¬
fene, ehrloſe Creatur, nur nicht vor den Augen des
argloſen, gütigen Herrn! Und würde er es der gnädi¬
gen Frau Mutter verbergen können, verbergen wollen?
Wie ſollte ich vor ihr beſtehen und fortan unter
einem Dache mit ihr leben? Sie iſt ſo ſtreng, ſo
ſtolz! Auch Sie würden von ihr zu leiden haben,
Fräulein Hardine, Sie erſt recht. Und weiß es erſt
Einer, wird's ein Lauffeuer. Ich habe es ja nicht
anders verdient, ich müßte es hinnehmen. Aber auch
Sie bekrittelt zu ſehen, Sie, die Sie mir ein Engel
geweſen ſind, von den eigenen lieben Eltern getadelt,
ich ertrüg' es nicht. — Und warum das Alles?“ fuhr
ſie nach einer Pauſe fort, während welcher ich dieſen
unbeachteten Geſichtspunkt hin und her erwogen hatte.
[43]
Der Vater, wie ich ihn kannte, würde in der
That ein erſtes eheliches Geheimniß kaum über die
Nacht und ſicherlich nicht über den erſten Brief hin¬
aus bewahrt haben. Sollte ich zu dem Herzeleid der
armen Mutter noch dieſe neue Prüfung fügen? Das
freundliche Verhältniß zu unſerer Hauswirthin wurde
geſtört, das Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Ehren¬
haftigkeit der einzigen Tochter im Grunde erſchüttert.
Auch der nachſichtigere Vater würde den mütterlichen
Auffaſſungen nicht widerſtanden und bekümmerten Her¬
zens von ſeinem pflichtloſen Kinde, vielleicht für’s Le¬
ben, geſchieden ſein.
„Und wozu uns Allen dieſe Verwirrung?“ fuhr
Dorothee durch meine ſichtliche Bewegung ermuthigt
fort. „Lebt er denn noch? Er hat den ganzen Win¬
ter nicht geſchrieben?“
„Briefe erreichen in ſolchen Zeitläuften ſelten ihr
Ziel,“ verſetzte ich; „die Nachricht ſeines Todes aber
würden wir erhalten haben.“
„Und wenn er lebt,“ entgegnete Dorothee, „in
welchem entfernten Lazareth, in welcher neuen Stel¬
lung. Es iſt ja ein ſo weitläufiger Kriegsplatz; Gott
weiß, ob der Herr Vater jemals mit ihm zuſammen¬
trifft. Begegnet er ihm aber und weiß ich erſt den
[44] Ort, wohin ich mich zu richten habe, dann will ich
ihm Alles bekennen; ja, Fräulein Hardine, ich ver¬
ſprech’ es Ihnen, Alles bekennen, und wie er es ver¬
ordnet, ſo ſoll es geſchehen. Nur ſtellen Sie keinen
Anderen zwiſchen mich und ihn.“
So war denn Fräulein Ehrenhardine wieder ein¬
mal die Beſiegte der kleinen Dorl. Der Vater reiſte
ohne unſer Geheimniß ab. Ja, in der Furcht einer
Entdeckung, wagte ich nur ganz ſchüchtern die Bitte,
ſich doch recht nach dem Faber umzuthun und aus¬
führlich über ihn zu berichten.
Dicke Thränen hingen dem guten Manne in den
Augen, als er beim Abſchied es noch mit einem Scherz¬
worte verſuchte: „Sage der lieben Dorl, meine Dine,
daß ich ihren Mosjö Per—ſé ganz gehörig in's Gebet
nehmen werde.“
Und wirklich enthielt der erſte väterliche Brief
aus dem Lager vor Caſtel, in welchem die Sachſen
mit einem Theil der Preußen vereinigt ſtanden, einen
ausführlichen Bericht über den ſeit dem Tage von
Valmy Verſchollenen. Er hatte alle Fährniſſe einer
peſtilenzialiſchen Krankenpflege glücklich überdauert und
ſtand, zum Regimentsarzt befördert, bei dem Belage¬
rungscorps. Der Ruf ſeiner Unermüdlichkeit, Uner¬
[45] ſchrockenheit und ſeines großen Geſchicks war durch
das ganze Lager verbreitet; Hoch und Gering ſchätzte
des noch jungen Mannes bedeutenden Beruf. Die
Genoſſen der alten Baderei waren bald aufeinander
geſtoßen und die heimiſchen Verhältniſſe weidlich hin
und her beſprochen worden. Ob dem kleinen Muſter¬
bräutchen nicht ein wenig die Ohren geklungen haben
ſollten?
„Ihr müßt Euch,“ ſo ſchloß der väterliche Be¬
richt, „unter dem Herrn Doctor Faber nun beileibe
nicht mehr den ſteifen Feldſcheergehülfen vorſtellen, der
ſich quaſi immer einen Spiegel vorhielt, um ja keine
angeſtammte Badereimanier durchſchlüpfen zu laſſen.
Er iſt degagirt wie Einer, ſeitdem Generale und Prin¬
zen ſo gut wie der gemeine Stückknecht unter ſeinen
Meſſern und Zangen ſtill halten müſſen. Auch ge¬
müthlicher, aufgeknöpfter iſt er geworden, nichtsdeſto¬
weniger aber doch noch der alte Per—ſé, der Alles an¬
ders anfaßt, wie andere Leute, und beſieht man’s bei
Licht, allemal recht. Als ich ihn auf das Riſico
hinwies, dem jungen, einſamen Bräutchen das einge¬
gangene Verhältniß ſo ſelten in Erinnerung zu brin¬
gen, da verſicherte er zwar, um die Weihnachtszeit
ſein regelmäßiges Carmen entſendet zu haben, und
[46] weil er es verſichert, muß der Brief verloren gegan¬
gen ſein. — Indeſſen“ — ſo ſetzte er hinzu — „in¬
deſſen wozu dieſes leere Stroh?“
„Der Allerweltsdoctor wurde bei dieſen Worten
zu einer Conſultation bei einem ſchwer erkrankten Ge¬
neral auf das linke Ufer abberufen. Ich hatte ihn
gebeten, ſich um ein Paar in einem Vorpoſtengefecht
Bleſſirte von unſeren Huſaren zu bemühen und erhielt
ſchon am anderen Tage ſchriftlich eine beruhigende
Kunde. Schließlich kam er denn auch auf die Her¬
zensangelegenheit zurück, in der wir geſtern unter¬
brochen worden waren. Ich ſchneide die betreffende
Stelle zum Frommen meiner lieben Jungfer Grund¬
text aus ſeinem Brief, und lege ſie dem meinigen bei.“
„ „Ueber das Riſico, wie Sie es mit Recht
nennen, mein Herr Major, über die Gefahr hinweg
hilft kein mahnendes Wort. Und Beruhigung, —
wer ſchöpfte die auf hundert Meilen Diſtance? Be¬
vor ein Brief ſeinen Ort erreicht, hat die Scene ge¬
wechſelt und der, über deſſen Wohlergehen man ſich
freut, modert vielleicht im Grabe. In beiden Fällen
hilft nur Vertrauen auf einen guten Stern, oder von
Haus aus Reſignation in Bauſch und Bogen. Briefe
ſind für Müßige oder für Gleichſtrebende. Soll ich
[47] mein liebes Kind mit militairiſchen Evolutionen und
diplomatiſchen Schachzügen unterhalten? oder ſoll ich
ihm mit meiner ärztlichen Widerwart eine Gänſehaut
erregen! Und Liebesſchwüre, Liebesſeufzer etwa? Iſt
es nicht der Superlativ aller Albernheit, das Heim¬
lichſte, Unſagbarſte der Menſchenbruſt in einen Ge¬
meinplatz umgeſetzt, Schwarz auf Weiß durch die
Welt zu jagen? Wie eingeſchnürt ſind die Kritzel¬
füßchen meiner kleinen Dorothee! Wie kann ich die
Stunden zählen, in denen ſie an ihrer Feder gekaut
hat! Wo ſind ihre Blumen und Vögel, ihr kindliches
Tändelwerk? Wo iſt eine Spur von dem, was in ihr
und um ſie wirklich lebt und webt? Da lobe ich mir
das Täſchchen und Beutelchen, die ſie geſtrickt. Sie
ſind mir ſtündlich zu Dienſt und ſehe ich ſie, ſo ſehe
ich auch die flinken Fingerchen in ihrem Bereich. Das
ſind Thaten, weibliche Liebesthaten, mein Herr Ma¬
jor, und da ich ſie nicht mit ſolchen aus meiner
Praxis erwidern kann, thue ich wohl, mich meiner
zärtlichen Treue nicht zu rühmen.
„„Sie verſichern mich, hochgeehrter Freund, der
ſtillen Geduld des herrlichen Kindes, und ich kann
Ihnen nicht ausſprechen, wie es mich beglückt, mein
ſchülerhaftes Experiment alſo gerechtfertigt zu ſehen,
[48] ein Experiment, vor dem ich mich bei reiferer Erfah¬
rung gehütet haben würde. Ich fühlte mich als
Mann und ſah in ihr das Kind, den einen vielleicht
zu früh, und das andere vielleicht zu lange. Im
Grunde aber ſah ich gemäß der Natur und gemäß
der Vernunft. Denn wem, frage ich, möchte eine
derartige Enthaltſamkeit in's Blaue hinein zugemu¬
thet werden, als dem Manne, der gewohnt iſt, vor
ſich ſelber Schildwacht zu ſtehen, oder dem Kinde,
das ohne zu träumen, im umfriedigten Neſtchen ſchlum¬
mert, bis der vorbeſtimmte Erwecker es zur Freiheit
ruft? Nun wohlan, mein Herr Major, der Mann
wird Farbe halten. Das Weltweſen, das ich ahnte,
als ich dieſes Bündniß ſchloß, hat ſich um zwei Jahre
verzögert, und der Himmel weiß, wann und wo das
Wirrſal enden wird. Ueberdauere ich es aber, und
wäre ich verſchlagen worden bis an's Ende der Welt,
ſo werde ich meinem anverlobten Weibe den väterli¬
chen Trauring unentweiht vor Augen führen, und ſehe
ich den meiner Mutter an ihrer Hand, werd’ ich den
Knabenglauben ſegnen, der ſich bewährte, wo ſo man¬
cher Mannesglauben zu Schanden ward.“ “
Dieſe experimentirende Reſignation, welche meine
argloſe Mutter nicht vorſichtig zurückhielt, war Waſſer
[49] auf die Mühle der bekenntnißſcheuen Sünderin. Der
ſeltſame Menſch verlangte ja gar keine Aufklärung,
und bis er perſönlich kam, dieſelbe einzuholen, —
wenn er überhaupt wieder kam, — ach, was konnte
da nicht alles verändert ſein! Ich aber wurde es
müde, ein Mißverhältniß zu demonſtriren in die leere
Luft. Schämte ſie ſich nicht, als Braut eines Mannes
zu gelten, den ſie verrathen hatte, ſcheute ſie ſich nicht,
mit ſeinem Treugut ſich ſelber und dem Kinde eines
Anderen das Leben leicht zu machen: warum ſollte
ich mich deſſen ſchämen und ſcheuen? War ſie meine
Schweſter, meines Gleichen? Thorheit über Thorheit,
der leichtfertigen Schenkentochter eine honnette Geſinnung
zuzutrauen! Kehrte Siegmund Faber zurück, dann lag
es mir ob, mich, nicht ſie, vor einem wahrhaftigen
Ehrenmanne zu entſchuldigen.
Zu Dorotheens Gunſten, und um vor der Hand
mit ihrem philoſophiſchen Liebhaber abzuſchließen, ſei
indeſſen vorausgemeldet, daß ein ſpäterer väterlicher
Brief von einem räthſelhaften Verſchwinden des Doctor
Faber berichtete. Während des Angriffs auf die feind¬
lichen Lager bei Pirmaſenz, Ende September, war
er in ſeiner beherzten, raſtloſen Thätigkeit noch viel¬
fach bewundert worden, — ſeitdem ſpurlos Aller Augen
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 4[50] entrückt. Anfangs glaubte man ihn, im Gefolge des
Königs, der ihn perſönlich hatte ſchätzen lernen, auf
das vor Kurzem ſo ſchmählich erworbene polniſche Ge¬
biet verpflanzt. Da dieſe Meinung aber ſich als
Irrthum erwies, ſahen die Einen ihn verwundet in
Feindes Hand, die Anderen ihn von erbitterten Ge¬
birgsbauern abgefangen. Die Mehrzahl hielt ihn für
geblieben, wenngleich ſein Leichnam von den das Ter¬
rain innehaltenden Siegern nicht aufgefunden werden
konnte. Alle aber beklagten die Lücke, welche durch
des immerbereiten Helfers Fehlen entſtanden war.
Auch als mein Vater nach drei Jahren, wohlbehalten
und mit dem Verdienſtorden belohnt, aber kopfhängeriſch
wie alle Theilnehmer dieſer unfruchtbaren Campagne
zurückkehrte, wußte er keine Spur von dem Verſchollenen
anzudeuten. Bald war er unter ſeinen Heimaths¬
bürgern ein todter, vergeſſener Mann und Niemand
würde es ſeiner bräutlichen Wittwe verargt haben,
hätte ſie, zu Gunſten eines Anderen, über ihre be¬
gehrenswerthe Perſon und das Anweſen der alten Fa¬
berei verfügen wollen.
Ich hatte in unſerer bänglichen Stimmung meine
Mutter während des Feldzugs nicht verlaſſen wollen
und nur auf beider Eltern dringende Vorſtellung mich
[51] zu der Rückreiſe nach Reckenburg entſchloſſen. „Bei
des Vaters ausgeſetzter Lage und unſerer Mittelloſig¬
keit,“ ſo ſagte die Mutter, „iſt die Gräfin Dein und
auch mein letzter Anhalt. Verſcherze ihn uns nicht,
liebe Tochter. Dort kannſt Du wirken, mir nützeſt
Du nichts. Ich bin nicht krank, und ſtieße mir etwas
zu, habe ich da nicht das liebe Kind, Dorothee?“
Das liebe Kind, Dorothee! Sie mir an einem
Sorgenſtuhle, an einem Krankenbette vorzuſtellen, mit
ihrer freundlichen, leiſe geſchäftigen Art, — wahrlich,
es konnte mir nichts Beruhigenderes widerfahren, als
daß ſie im Ernſte gar nicht mehr an die Rückkehr in
das einſame Waldhaus dachte, und daß eine abzehrende
Krankheit ihres Vaters die Täuſchung einer näher
liegenden Pflicht geſtattete. „Halten Sie Ihre Augen
über meinem Liebling, Fräulein Hardine,“ flüſterte ſie
beim Abſchied in mein Ohr. „Ich werde der gnä¬
digen Frau Mutter helfen und dienen an Ihrer Statt.“
So ſchieden wir, und als gegen die Weihnachts¬
zeit jene erſte Kunde von Fabers Verſchwinden ein¬
traf, ſtand ich ſchon längſt wieder auf meinem Recken¬
burger Poſten und Dorothee ſaß, — zu meiner inner¬
lichſten Befriedigung! — geruhig daheim in ihrer
Mädchenſtube. Dort fand ich ſie, wenn ich in den
4*[52] nächſten Jahren, — immer nur auf etliche Sommer¬
wochen, — in der Heimath einkehrte, unverändert
dieſelbe, fleißig bemüht durch zierliche Stickereien ihre
Einkünfte zu verbeſſern, auf daß es ihrem Knaben an
keiner Pflege, keiner Zierrath gebrechen möge. Hatte
ſie am Abend Mützendeckel und Flitterſchuhe bei Seite
gelegt, dann zeichnete ſie kleine Kinderköpfe, oder
ſchnitzelte ſie als Silhouetten aus ſchwarzem Papier,
legte ſie zwiſchen die Blätter ihres Geſangbuches und
küßte ſie als Gleichniſſe ihres ſchönen Knaben. Sie
fertigte ihm Röckchen und Wämschen, drehte Blumen
aus den hellen Locken, die ich ihm jedes Jahr für ſie
abſchneiden mußte, verflocht ſie mit einem Goldfädchen
ihres eignen Haars, auch wohl mit einem anderen,
das ſie einem theueren Erinnerungszeichen entwand,
und nannte ſie ihre Sonnenblumen. Sie herzte jedes
fremde Kind, ſie jubelte vor Luſt und weinte vor
Weh, wenn ſie des eignen gedachte, — aber wieder¬
geſehen hat ſie den Pflegling Muhme Juſtinens nicht.
Auch als ihr Vater ſchlafen gegangen, als der meine
heimgekehrt war, als ſie ledig jeder Pflicht auf eig¬
nen Füßen ſtand: daß ſie, und nicht eine Fremde
zur Hüterin ihres Kindes berufen ſei, daran dachte
ſie nicht.
[53]
Ich aber rüttelte nicht mit Gewalt dieſe Pflicht
in ihrem Gemüthe wach. Denn der Wuchs eines
Menſchen, wie der eines Baumes, — ich hatte es
allmälig begriffen, — er läßt ſich in die Breite und
allenfalls in die Höhe treiben; aber tiefer graben, bis
zum nährenden Quell laſſen ſich ſeine Wurzeln nicht.
Wie die Natur ausgepflanzt hat, ſo müſſen wir ein¬
ander hegen, — oder meiden. Im Uebrigen ſagte ich
mir auch, daß der vaterloſe Knabe ſich unter der rauhen
Hand der Fremden natürlicher entwickeln werde als
unter der tändelnden der Mutter. Und endlich hielt ich
die eignen Augen nicht auf ihn gerichtet?
Wie ich als Kind nicht mit Puppen geſpielt hatte,
ſo war ich auch ſpäterhin nicht das, was man kinder¬
lieb nennt. Dieſer Knabe aber wuchs mir nahe an's
Herz. Wenn ich auf dem Wege durch's Dorf die
blöde, plumpe, flachsſträhnige Bauernbrut zwiſchen
Hühnern und Ferkeln auf ihren Düngerhaufen hatte
hocken ſehen, und nun vom Walde her die biegſame,
kleine Geſtalt in ihrem zierlichen Röckchen mir ent¬
gegenſprang, da lachte ich wohl vor Luſt, aber ich
fragte mich auch mit Wehmuth, ob nicht der Vater,
an welchen mein Prinzchen ſo lebhaft erinnerte, ſich
in die natürlichen Schranken des Lebens gefügt haben
[54] würde, hätte er dieſes Liebeskind zur Führung an
ſeiner Hand gefühlt?
Wie früh und ſicher er die Füßchen bewegen
lernte, wie ausgelaſſen er ſich im Walde tummelte,
mit den Haſen Wettlauf hielt, hellen Klangs die Vo¬
gelſtimmen nachahmte, lange ehe er unſere menſchliche
Sprache zu reden verſtand! Wie trotzig lachend er
ſich das Eichhörnchen zum Muſter nahm, bis zum
Wipfel der knorrigen Steineiche hinankletterte, während
die alte Muhme mit ohnmächtiger Angſt am Fuße
drohend die Fäuſte ballte! — So wurde dem Kinde
der Natur die Natur eine frühe Bildnerin; frühe aber
auch drängte das Bedürfniß ſich auf, es einer ſtrengeren
Regel und dem Geſetze eines männlichen Willens zu
unterſtellen. Als der Knabe im fünften Jahre ſtand,
erklärte die Muhme, den Wildling nicht über den
nächſten Winter hinaus bändigen zu können, noch
zu wollen.
Denn es gab nichts Curioſeres, und für mich
nichts Aergerlicheres als der Zwieſpalt der alten Seele
gegenüber ihrem Ziehekind. Sie hatte ein Wohlgefallen
an dem neckiſchen, kleinen Patron, ja ein Herz für
ihn; ſobald ſie ihn aber in meiner Nähe ſah, überfiel
ſie eine ſo unwirſche Laune, daß, hätten noch Bären
[55] und Wölfe in unſerem Walde gehauſt, ſie ihn unter
die Bären und Wölfe in den Wald gejagt haben
würde. „Es kommt Ihnen nichts Gutes durch den
Wildling,“ wurde ſie nicht müde, mir vorzuhalten.
Das landläufige Sprichwort von dem beſudelnden Pech
und der Geiſt, welcher geheimnißvoll aus einem
Kartenſpiel warnt, ſtimmten in dieſer Mahnung zu¬
ſammen: Und alte, treue Juſtine, könntest Du doch
ſpüren, daß vierzig Jahre ſpäter die Erörterung der
Frage, ob Deinem Fräulein Gutes von dem Wild¬
ling gekommen iſt? die Schlußbetrachtung ihres Lebens
bilden wird.
Da half kein Zureden, der Junge mußte fort;
fort aus Reckenburg; und eine Erwägung anderer Art
gab dieſem Entschluſſe Nachdruck auch für mich. Unſer
treuer Freund, der Prediger, hatte uns kürzlich ver¬
laſſen, um als Vorſteher des Laurentiuskloſters eine
freiere, ſeinem väterlichen Sinne angemeſſenere Stellung
einzunehmen. Der Dienſt in der Gemeinde wurde
während der Vacanz wechſelnd von Nachbarpredigern
verſehen, die ſich um örtliche Verhältniſſe wenig küm¬
merten. Wenn aber kommenden Sommer der neu¬
gewählte Seelſorger ſich bekannt machte, konnte ihm
das Auffällige unſeres Schützlings ſchwerlich entgehen.
[56] War auch die Beglaubigung des Kirchenbuches zu
Grunde gegangen, dem Geiſtlichen durfte auf Befragen
die Wahrheit nicht verhehlt werden; ein Menſch mehr
wußte um Dorotheens ſo ängſtlich gewahrtes Geheim¬
niß; neugierige Spürverſuche, Fraubaſereien, irgend ein
unberechenbarer Zufall leiteten auf die richtige Fährte
und der immerhin intereſſante Zuſammenhang drang
über unſeren ſtillen Waldwinkel hinaus in der Leute
Mund. —
Alles dies führte ich Dorotheen zu Gemüthe, ſo¬
bald ich für etliche Herbſtwochen im Elternhauſe ein¬
gekehrt war. Ich fand ſie in nachdenklicher Stim¬
mung, vorbereitet durch den Prediger, wie Se. Hoch¬
würden, der nunmehrige Probſt und Director hier
zum letzten Male genannt werden ſoll.
Niemals hatte Dorothee ſeit ihrem Unglück ſich
in jugendliche Kreiſe gemiſcht, niemals mit einem Blick
oder Wort die Huldigungen der Bürgerſöhne, wenn
ſie ihr zufällig begegneten, ermuntert und ſo die Be¬
werbungen, an denen es ihr nicht gefehlt haben würde,
von vornherein abgeſchnitten. Niemals aber auch
hatte ſie gegen mich den Namen des Einziggeliebten
genannt. Dennoch, ſo oft ich ſie in der Einſamkeit
überraſchte, ſpürte ich an ihrem Weſen, an den inſich¬
[57] gekehrten oder ſehnſüchtig ſchweifenden Blicken, daß
der kurze Sommerrauſch des Glücks nicht erloſchen
ſei und jedes nüchterne Nachſpiel dämpfe.
Herz entwand.
Um ſo mehr war ich daher überraſcht, als ſie
jetzt auf meine Frage: Was ſie über die Zukunft ihres
Sohnes beſchloſſen habe? mit niedergeſchlagenen Augen
antwortete: „Wenn ich den Taube heirathete, Fräu¬
lein Hardine?“
„Unſern Hofmeiſter? Bewirbt er ſich denn um
Dich, Dorothee?“
„Er hat mich ſeit meiner Kinderzeit lieb gehabt,
und es mir vor wenig Tagen geſtanden.“
„Und Du?“
Sie ſchüttelte die Locken mit einem unausſprech¬
lichen Ausdruck von Wehmuth und ſtolzer Erinnerung.
„Lieben ich?“ rief ſie mit einem Schauder. „O nie¬
mals, niemals wieder! Aber,“ ſetzte ſie nach einer
Pauſe gelaſſen hinzu, „aber ich würde friedlich mit
ihm leben und er würde meinem Knaben ein guter
Vater ſein.“
„So dächteſt Du, ihm Dein Geheimniß zu be¬
kennen, Dorothee?“
„Wie ſollte ich nicht, Fräulein Hardine? Ich
nähme ihn ja nur, um das Kind zu verſorgen. Nur
um des Kindes willen.“
„Auch ſchon ehe er Dein Mann geworden iſt, es
ihm bekennen?“
„Wenn Sie es für Pflicht halten, auch ſchon zuvor.“
„Und Du glaubſt, daß er dennoch Dein Mann
werden würde?“
„Ich glaube es, Fräulein Hardine.“
Ich ſchwieg eine Weile. Dorothee ſaß mir im
Fenſter gegenüber, die Hände über der Bruſt gekreuzt.
Unwillkürlich fiel mein Blick auf den Verlobungsring,
den ſie noch immer am Finger trug. Sie bemerkte
den Blick und ſagte erröthend, indem ſie ſich vergeb¬
lich bemühte, den Reif abzuſtreifen: „Er iſt mir in's
Fleiſch gewachſen.“
Es war im achten Jahre, ſeit Siegmund Faber
von hinnen gegangen, im fünften ſeines ſpurloſen
Verſchwindens; niemand zweifelte an ſeinem Tode.
Lebte er aber ſelbſt — und eine innerliche Stimme
ſagte mir immerfort: er lebt!“ — lebte er und kehrte
er zurück: dieſer Mann konnte nimmermehr dieſes
[59] Weibes Gatte werden. Welch mildere Täuſchung aber
hätte ſich für ihn finden laſſen, als die lange Getreue
endlich einem natürlichen Berufe gefolgt zu ſehen.
Ich wußte demnach nichts Stichhaltiges einzuwenden,
inſofern ſich wirklich ein Mann fand, der ſeine Ehre
nicht durch die bewußte Unehre ſeiner Frau beleidigt fand.
Doch beſchloſſen wir, den Fall unſerem treuen
Gewiſſensrathe vorzulegen und machten uns auf den
Weg nach dem Kloſter.
„Ich ſpreche Ihnen, mein Kind,“ ſo ließ der
Probſt ſich vernehmen, „die Berechtigung zur Freiheit
nicht ab, und ich für mein Theil würde den Mann
nicht tadeln, der dem geliebten Weibe einen Fehltritt
vergiebt und mit ihr vereint ſich bemüht, deſſen Wir¬
kungen auf Andere in Segen zu verwandeln. Ich
habe aber Grund zu glauben, daß unſer hohes Con¬
ſiſtorium dieſe Auffaſſung nicht theilt. Die Gegen¬
wart des Knaben brächte vorausſichtlich Ihr Geheim¬
niß an's Licht, Ihr Mann würde aus ſeinem Lehr¬
amte ſcheiden müſſen, dem einzigen, zu dem er gebil¬
det und berufen iſt.“ „Wir würden ſtill auf dem
Lande leben und — ich bin nicht unbemittelt, Hoch¬
würden,“ ſtammelte Dorothee, den Purpur der Scham
auf den Wangen.
[60]
„Hinreichend für Sie und allenfalls für Ihr
Kind. Aber für eine zweite, vielleicht zahlreiche Fa¬
milie? Und geſetzt den, wenn auch unwahrſcheinlichen
Fall der Heimkehr Doctor Fabers: er würde ſeine
Schenkung nicht zurücknehmen und er dürfte es nicht.
Aber müßte es eine Natur, wie die unſeres Taube,
nicht zu Boden drücken, ſeine und der Seinigen Exi¬
ſtenz von dem Treugute des Getäuſchten abhängig zu
ſehen? Indeſſen, dieſe beiden möglichen Zwiſchenfälle
ungerechnet — kennen Sie das Leben eines Lehrers
auf dem Lande, liebe Dorothee?“
Es hatte dieſe Beſprechung auf dem Rückwege
vom Kloſter ſtattgefunden. Unmerklich aber waren
wir von unſerem Begleiter ſeitwärts durch ein Nach¬
bardorf geführt worden und ſtanden bei den letzten
Worten vor einem Häuschen, deſſen Beſtimmung ein
vieltöniger ſtockernder Chorus mit obligaten Donner¬
ſchlägen des Vorbeters verkündigte. Ein Schulhaus
und keines von den beſcheidenſten ſeiner Zeit, denn
von den Schäden des ſiebenjährigen Krieges ausgeheilt,
ſtand es auch jetzt noch unverſehrt unter Dach und Fach.
Deſſenungeachtet, wir konnten es nicht leugnen,
für ein idylliſches Stillleben war die Wohnſtube, in
welche wir vorüberſtreifend blickten, doch ein wenig
[61] dumpf und kahl. Die kleine Dorl hätte mit der Hand
an die Decke reichen können. Die Fenſterſcheiben
glichen Schiefertafeln, welche im Schulgebrauche blind
geworden waren und in dem Kachelofen brodelte das
Runkelrübenfutter für die Kuh nicht eben ſinnerquickend.
Wir ſetzten unſere Umſchau fort und weilten in der
Muſterung der hartköpfigen kleinen Menſchenheerde
und ihres kahlköpfigen treuen Hirten.
Keine Frage: Das Lehramt hat ſeine Poeſie.
Schwerlich aber würde ſie in unſeren Augen zu kurz
gekommen ſein, hätte ein leiſer Anflug der kindlichen
Pausbacken auf dem hehren Antlitz ihres Hüters re¬
flectirt; auch ein Erſatzſtück für das, was eines Tages
ſchwarzer Mancheſter auf ſeinem Leibe geheißen, würde
von uns nicht als ſträfliche Eitelkeit verläſtert worden
ſein. Aufrichtige Bewunderung dahingegen zollten
wir im Weiterſchreiten der muſiviſchen Kunſt, welche
auf der Hauswäſche über dem Gartenzaun entwickelt war.
Dieſe Kunſtleiſtung mochte unſeren Führer ver¬
locken, nach der Bekanntſchaft mit dem Schulregen¬
ten uns auch die der Hausregentin inmitten ihrer
privaten kleinen Heerde zu Gute kommen zu laſſen.
Und wieder ein Chorus mit obligaten Donnerſchlägen
lockte uns über den Hof auf ein Ackerſtück, daß ſich
[62] den ſtolzen Namen „Garten“ beigelegt hatte. Hier
ſtand ſie, die Heldin unſeres Idylls! Eine claſſiſche
Geſtalt, hoch geſchürzt, die Schritte nicht durch zwän¬
gendes Schuhwerk gehemmt, das geſtrige Haar durch
keine Spiegelkunſt verſchnörkelt. Die fremden Ein¬
dringlinge ſtörten ſie nicht in ihrem Geſchäft. Mit
antiker Kraft und Ruhe [hackte] ſie die Erdäpfel auf,
welche eine nachwüchſige Schaar in die Höhe puddelte.
Das beiläufig ausgerodete Unkraut lieferte einen Lecker¬
biſſen für die umkreiſende Ziege, ſammt ihren Zickel¬
chen, die mit luſtigen Sprüngen ihre Wolluſt an den
Tag legten. Das kleine, zweibeinige Publikum ſpen¬
dete dem vierbeinigen Beifall, die Arbeit ſtockte und
die Vorarbeiterin entfaltete die Macht ihrer Lungen
und Gliedmaßen, um ſie wieder in Gang zu bringen.
Jetzt aber griff ein tragiſcher Zwiſchenfall in das
ländliche Bild. Unter der Hofthür lehnte die älteſte
Tochter, zugleich Kindesmagd der Familie und noch
nicht nach mütterlichem Exempel ſtoiſch geſchult. Beim
Begaffen der fremden Gäſte entglitt das Wickelkind
ihrem Arm und fiel — zum Glück in den Schlamm
vor dem Schweinekoben. Mit erhobenen Händen ſtürzte
die Mutter zur Hülfe und Rache herbei; die älteſte
Tochter heulte, das Wickelkind ſchrie, die Säue grunz¬
[63] ten, die Zickelchen meckerten, im Stalle brüllte die
Kuh. Die Buben balgten ſich um die Beute einer
gelben Rübe; die Heldenmutter tachtelte nach rechts
und links; aufgeſcheucht durch die Gefahr, welche ſein
Theuerſtes bedrohte, zeigte ſich mit einem Weheruf
und umſchwärmt von ſeiner tobenden Schaar, die
hehre Geſtalt in weiland Mancheſter: wir aber, die wir
dieſen Sturm im Stillleben angeſtiftet hatten, ent¬
ſchlüpften leiſe über den Ackertrain.
„Ein reſpectables Weib! Für ihren Beruf ein
Muſterbild!“ ſagte nach einer langen Stille lächelnd
der menſchenkundige Freund. Dorothee ging ſchwei¬
gend mit geſenktem Kopf — und von einer Bewerbung
Chriſtlieb Taube's iſt fortan nicht die Rede geweſen.
Meine nahende Abreiſe drängte endlich zu einer
Entſcheidung über die Zukunft des Knaben und da
war es denn der Probſt, welcher das ſeiner Aufſicht
unterſtellte Kloſter in Vorſchlag brachte. Von ſeiner
urſprünglichen Beſtimmung für Soldatenwaiſen hoffte
er eine Ausnahme zu erwirken, wenn gelegentlich einer
Viſitation des hohen Curators der Anſtalt, ein Theil
des Geheimniſſes, die väterliche Abſtammung, vor¬
ſichtig angedeutet ward.
Dorothee weinte vor Freuden in der Ausſicht,
[64] ihren Knaben bald unter den Augen des gütigſten Be¬
ſchützers und in ihrer eigenen Nähe zu wiſſen, ohne
ſich ſelber einer ſchmachvollen Enthüllung preiszugeben.
Sie bedeckte ihres Wohlthäters Hände mit Küſſen
und Thränen, rief Gottes Segen auf ihn herab und
ſtellte zum Voraus den Betrag ihrer Hausrente für
den Aufwand eines Halbpenſionairs zu ſeiner Verfügung.
Mir dahingegen bäumte ſich die Seele bei der
Vorſtellung, das Liebeskind des Fürſten, dem das Erbe
der Reckenburg zugefallen ſein würde, in eine Armen¬
anſtalt eingeſchmuggelt und für eine ſubalterne Lebens¬
ſtellung herangebildet zu ſehen. Was hatte ich jedoch
Schicklicheres zu rathen und zu bieten? Das Kloſter
war wohlberufen, wie die Mehrzahl unſerer zu Schul¬
zwecken ſäculariſirten ſächſiſchen Abteien, war reich
dotirt und ſtand unter der trefflichen Obhut des ein¬
zigen Menſchen, der ſich zu einer väterlichen Theil¬
nahme an dem Knaben gezogen fühlte. Mußte ich
nicht ſchließlich eine höhere Fügung in dieſem Wechſel
der Verhältniſſe verehren?
So trat ich denn die Rückreiſe nach Reckenburg
an mit dem Verſprechen, im nächſten Frühjahr den
Zögling Muhme Juſtinens perſönlich dem Waiſen¬
kloſter zuzuführen.
Drittes Capitel.
Die Hochzeit.
Des Knaben Verſteck im Waiſenhauſe war eben
ſo nach der Muhme Sinn, als mein Plan, ihn
perſönlich dahin zu ſpediren, demſelben widerſtrebte.
Sie ſpürte plötzlich ein unbezwingliches Verlangen,
ihre Gegend einmal wiederzuſehen, und welchen Grund
hätte ich gehabt, ihre Reiſebegleitung abzulehnen?
Der Tag unſeres Eintreffens war den Eltern
bereits angekündigt, als ein heftiger „Zufall“ der
Gräfin einen Aufſchub veranlaßte. Die zähe Natur hielt
Stand wie ſchon ſo oft vorher und noch oft nachher. Die be¬
währte Leibpflegerin aber konnte nicht umhin, mit dem Rüſt¬
zeug ihrer Inſtrumente den verhängnißvollen Poſten zu hü¬
ten und ihr Erbfräulein zwölf Meilen weit ohne Bei¬
ſtand den Tücken des unverwüſtlichen Schellenunters
preiszugeben. Der Ehre jedoch, in Reckenburgs gol¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 5[66] dener Kutſche ſeiner fernerweitigen Reiſegelegenheit
entgegengeſchaukelt zu werden, wußte ſie den kleinen
Plebejer zu entziehen. Sie karrte ihn bei Nacht und
Nebel in einem Handwägelchen nach der Station,
nachdem ſie ihm, wie ich ſtark vermuthe, ein Mohn¬
ſäftchen einfiltrirt hatte. Ihr letztes Wort, als ſie den
Schlafenden neben mich in den Einſpänner hob, war
die Warnung, mich beileibe nicht mit dem Kinde der
Heimlichkeit einzulaſſen.
Wie nun der kleine Waldmenſch beim Erwachen
in dem engen Gehäuſe ungeberdig tobte, das werden
Euch Auguſt Müller's beigeheftete Erinnerungen an¬
ſchaulich vorführen. Auch gegen die bändigenden Pro¬
ceduren ſoll kein Widerſpruch erhoben werden. Je¬
denfalls wählte er für uns Beide das bequemſte Theil,
indem er die langweilige Fahrt faſt ohne Unterbrechung
verſchlief.
Der letzte Brief ſeines künftigen Pflegevaters da¬
tirte von einem thüringiſchen Gebirgsdorfe, in wel¬
chem er der Einführung ſeines Sohnes in deſſen er¬
ſtes Pfarramt beigewohnt und gleichzeitig die Freude
gehabt hatte, dem betrübten [Liebhaber], unſerem Taube,
eine heitere Lebensſtellung auszumitteln. Ein Lehrer-
und Organiſtenamt in einer kleinen, wohlgeſitteten
[67] Gemeinde, Haus und Gärtchen durch den Gutspatron
anheimelnd eingerichtet, und die Kinder dieſes Pa¬
trons ihm zur Pflege in der „göttlichen Muſika“ un¬
terſtellt, alles das in romantiſcher Berg- und Wald¬
einſamkeit: welch ein beſſeres Loos hätte er ſich wün¬
ſchen können, oder wir für ihn?
Da ich den Probſt die ſeltene Reiſeerholung ſo
lange wie möglich wollte genießen laſſen, hatte ich ihm
unſer verſpätetes Eintreffen poste restante nach
Jena gemeldet, glaubte ihn daher früheſtens geſtern
heimgekehrt, und war erſtaunt, ihn in meinem ge¬
wohnten Leipziger Nachtquartier, der goldenen Laute,
vorzufinden. Ich fragte ihn lachend, welche fernerwei¬
tige Einführung ihn ſo eilig wieder in entgegengeſetz¬
ter Richtung auf die Füße gebracht habe?
„Die Einführung dieſes Knaben in ſeine neue
Heimath,“ antwortete er ernſt, indem er den Schlafen¬
den von ſeinen Armen auf das Bett in meinem Zim¬
mer niederließ.
Ich witterte ſo etwas von einer Anwandelung
Muhme Juſtinens in dem geiſtlichen Herrn, entgeg¬
nete daher verſtimmt, daß ich auch ohne ſeine Be¬
mühung den kleinen Mönch im Kloſter Laurentii glück¬
lich abgeliefert haben würde.
5*[68]
Er ſchwieg; doch konnte mir eine gewiſſe bäng¬
liche Unruhe an dem gelaſſenen Mann nicht entgehen,
und als er auf meine Frage: ob er etwas auf dem
Herzen habe? ſeufzend den Kopf ſenkte, rief ich: „Ich
bitte Sie, keine Vorbereitungen, Freund; meine El¬
tern — —“
„Sind geſund und wohlgemuth in Erwartung
der geliebten Tochter,“ antwortete er.
„Und Dorothee?“ drängte ich weiter, da mir die
Bekümmerniß auffiel, mit welcher ſein Blick auf dem
Knaben ruhte. „Iſt Dorothee krank?“
„Nicht krank, nur —“
„Nur?“
„Verheirathet, oder ſo gut wie verheirathet.“
„Mit Chriſtlieb Taube, alſo doch!“
„Nicht mit Chriſtlieb Taube, aber mit — Mit?
— Mit Siegmund Faber!“
Mit Siegmund Faber! Das war denn nun frei¬
lich eine Neuigkeit, die mir das Blut im Herzen ſtocken
machte. Ich hatte ja niemals weder an ſeinem Le¬
ben, noch an ſeiner Heimkehr gezweifelt; aber ſo un¬
vorbereitet, ſo raſch am Ziel — ich fiel wie vernich¬
tet auf einen Stuhl.
„Sahen Sie ihn?“ fragte ich nach einer langen Pauſe.
[69]„Nicht ihn ſelbſt,“ verſetzte er.
„So ſahen Sie Dorothee?“
„Auch nicht.“
„Von wem erfuhren Sie denn aber — —“
„Von Ihrem Herrn Vater, Fräulein Hardine.“
„Wann, wann, wann — —“
„Geſtern Nachmittag, als ich kaum von der Reiſe
heimgekehrt war.“
„Und wiſſen Sie, glauben Sie, daß Dorothee ihm
die Wahrheit bekannte?“
„Ich weiß es nicht. Aber Sie, meine junge
Freundin, die Sie ſie beſſer kennen, als ich, — glau¬
ben Sie's?“
„Nein!“ ſagte ich entſchieden, und auch er ſchüt¬
telte den Kopf. „Und dennoch verheirathet, wirklich
verheirathet?“ fragte ich.
„Das letzte Aufgebot ſollte heute, Sonntag, ſtatt¬
finden. Wenn die Trauung vielleicht bis morgen ver¬
ſchoben worden iſt, ſo geſchah es in Erwartung Ihres
Eintreffens, Fräulein Hardine.“
„Heute, morgen erſt, und Sie erfuhren es ge¬
ſtern, Mann!“ ſchrie ich auf, indem ich entrüſtet ſei¬
nen Arm ſchüttelte. „Sie hatten Zeit, warum ſchrit¬
ten Sie nicht ein?“
„Weil dieſes Einſchreiten nicht begehrt worden
iſt,“ antwortete er ruhig, „und weil es, unbegehrt, in
ſo ſpäter Stunde zwecklos oder gefahrvoll geweſen
ſein würde.“
„Es wird, ſo Gott will, noch zu dieſer Stunde
nicht zwecklos ſein und die höchſte Gefahr abwenden,
nicht herbeiführen,“ ſagte ich, und ſtürzte aus der Thür.
Nachdem ich den Wirth beauftragt hatte, mir
augenblicklich Extrapoſt zu beſtellen, kehrte ich zu dem
Probſt zurück, der nachdenklich neben dem ſchlafenden
Knaben ſaß, und deſſen Hand in der ſeinen hielt.
Ich rannte ungeduldig im Zimmer auf und nieder.
Nie im Leben hatte ich mich in ähnlicher Aufregung
gefühlt. Jede Minute des Wartens däuchte mir eine
Ewigkeit, ich hätte mir Flügel anheften und von dan¬
nen fliegen mögen.
„Beruhigen Sie ſich, liebes Kind,“ mahnte end¬
lich der Freund. „Sie erreichen Ihr Haus noch in
dieſer Nacht. Einige Minuten früher oder ſpäter,
— allemal früh genug oder zu ſpät.“
„So erzählen Sie,“ rief ich, und der alte Herr
hob mit abſichtlicher Breite alſo an:
„Da ich Ihren Brief in Jena vorgefunden, ver¬
weilte ich dort noch ein paar Tage in heiterſter Stim¬
[71] mung, unter literariſchen Anregungen, mit deren Schil¬
derei ich Sie heute verſchone, Fräulein Hardine. Erſt
geſtern bei grauendem Tage trat ich die Poſtfahrt
nach meiner Anſtalt an. Mein gutes Glück gewährte
mir einen wiſſenſchaftlich und weltmänniſch gebildeten
Reiſebegleiter, der ſich mir, wenn auch nicht dem Na¬
men nach, als eine ärztliche Notabilität Berlins do¬
kumentirte.
„Das Geſpräch, wie das heutzutage kaum anders
mehr möglich iſt, ſprang von unſeren beiderſeitigen
friedlichen Neigungen bald genug hinüber auf das
wildbewegte Zeitweſen, auf die phänomenalen Ent¬
wickelungen, welche daſſelbe gleichſam aus dem Staube
in die Höhe wirbelt, um ſie eben ſo jach wieder in
Staub und Koth zurückzuſchleudern; und wie hätte
da der jugendliche Feldherrngenius unerwähnt bleiben
ſollen, der ſich zur Stunde kaum noch geheimnißvoll
zu einem Zuge rüſtet, um über Meer und Land den
letzten unbezwungenen Feind des republikaniſchen
Frankreich in der Grundfeſte ſeiner weltgebietenden
Macht zu erſchüttern.
„Ich habe,“ ſo erzählte im Verlauf der preußiſche
Herr, „über den General Buonaparte die intereſſanteſten
Aufſchlüſſe erhalten durch einen Augenzeugen ſei-
[72] ner vorjährigen italieniſchen Gloria. Dieſer Augen¬
zeuge, mit dem ich kürzlich meine kleine Er¬
holungsreiſe antrat, iſt ein Mann meines Fachs,
der ſeit etlichen Wochen unſer nach Curioſitäten ſo
lüſternes Berliner Völkchen in ein wahrhaftes Fieber
verſetzt, und, wennſchon mir ein gefährlicher Rival,
in der That verdient, als merkwürdiges Beiſpiel auf¬
geführt zu werden, wie eine ſuperiore Natur das rohe,
blutige Treiben der Gegenwart als Bildungsſtoff für
einen eng begränzten, friedfertigen Beruf mit Geſchick
und Glück zu verwerthen vermag.
„Denken Sie ſich, mein Herr, einen blutjungen,
ſächſiſchen Barbier, lediglich als Autodidact in einer
mühſam aufgeſuchten Praxis geſchult, der in Preu¬
ßens kriegeriſchen Rüſtungen einen günſtigen Spiel¬
raum für ſein Streben ahnt und durch die glücklich¬
ſten Begegnungen findet. Die heilloſen Feldzüge von
92 und 93 geben Gelegenheit, ſein Talent und ſeinen
Eifer in ein helles Licht zu ſetzen. Er, der keiner
Facultät immatriculirt geweſen iſt, kein Examen ab¬
ſolvirt hat, geht aus den verpeſteten Lazarethen jener
Tage als Regimentsarzt hervor; hochgeſtellte Herren
verdanken ihm Hülfe und Heilung, man eröffnet ihm
weittragende Ausſichten auch in friedlichen Zeiten.
[73] Während des Angriffs auf das Lager von Neuhorn¬
bach, wo er im Gefolge des verwegen vordringenden
Königs ſich allzuweit vorgewagt, und über dem Ver¬
bande eines feindlichen ſchwer Verwundeten aufgehal¬
ten hat, geräth er in franzöſiſche Hand. Er wird nach
Paris gebracht; ſein guter Stern will, daß es eine
einem Conventsmitgliede verwandte, einflußreiche Per¬
ſönlichkeit iſt, die ihm das Leben verdankt; ſie erwirkt
ihm die Freiheit, ſich in Inſtituten und Spitälern
umzuthun. Die große, wildbewegte Hauptſtadt, die
zahlreichen Opfer der Schlachtfelder, ja nicht zum Ge¬
ringſten die der Henkerbühne werden eine Vorlage für
den energiſchen Trieb. Selber inmitten dieſer tumul¬
tuariſchen Welt fällt hin und wieder ein beachtender
Blick auf den raſtlos forſchenden Fremden.
„Der Frieden von Baſel führte die ausgewech¬
ſelten Gefangenen in ihr Vaterland zurück. Auch un¬
ſer Doctor hatte die Freiheit, zu gehen. Aber er
blieb. „Was wollen Sie,“ ſagte er mir, „der Arzt,
als ſolcher, unterſcheidet nicht Heimiſche und Fremde,
nicht Freund und Feind. Er unterſcheidet nur Ge¬
ſunde und Kranke, Gebrechliche und Heile als Material,
und ſucht, ſo lange er lernt, das günſtigſte Terrain
für ſeine Kunſt und Pflicht.“ Freiwillig begleitete er
[74] die italieniſche Armee nach Italien; der junge deutſche
Doctor tritt in den Horizont des Helden von Lodi
und Arcole. Ein Jahr lang verweilt er, getheilt
zwiſchen Leiſtung und Studium, in dem dem Arzte
hochwichtigen Bologna, beobachtet an Kranken und
Verwundeten den ſteigernden oder mildernden Einfluß
eines ſüdlichen Himmels und kehrt, nachdem der Friede
von Campo Formio den Continent zur Noth beruhigt
hat, nach allen Seiten bereichert, aus dem republika¬
niſirten Italien nach Paris zurück.
„Hier wurden ihm glänzende Anerbietungen ge¬
macht, der räthſelhaften Meeresfahrt ſeine Dienſte zu
leihen, in welcher wir gegenwärtig den verwegenen
Corſen mit der gegen England beſtimmten Armee be¬
fangen ſehen. „Aber,“ ſo ſagte jetzt unſer Mann,
„ich war kein Abenteurer. Ich hatte mir in der
Fremde angeeignet, was meiner Heimath dienen konnte,
und ich fürchte, nur allzubald in ſchwerer Stunde die¬
nen wird. Ich durfte zurückkehren.“ So erſcheint
er vor etwa Monatsfriſt in unſerem ihm völlig
fremden Berlin. Ein Cäſar der Meſſer und Zangen,
kommt er, ſieht und ſiegt. Das Gerücht, raſch und
geheimnißvoll wie der Wind, ſchnellt ihn zu einem
Wunderthier in die Höhe. Kriegeriſche Kameraden,
[75] aus den Rheinfeldzügen zu Dank und Anerkennung
verpflichtet, bewillkommnen ihn mit feſtlichen Ehren; die
friedlichen Collegen ſpitzten die Ohren bei der Mähr
von dem Champion ihrer Kunſt, der, um Studien
zu machen, freiwillig ſeinen Kopf in des Löwen Rachen
geſteckt hat; der junge König, ſich ſeiner aufopfernden
Bemühung während der Seuchenzeit nach dem Feld¬
zuge in der Champagne erinnernd, empfängt ihn und
wünſcht ſeine Erfahrungen an der neubegründeten Pe¬
pinière verwerthet zu ſehen; die Menge drängt ſich
um den Zeugen der revolutionären Greuel und Ver¬
wogenheiten, mit deren Schilderei zur Zeit Ehren-
Haude und Spener ihre Haare ſträuben gemacht hat.
Kaum zu Athem gekommen, iſt er in Aller Munde;
die Fachgenoſſen lauſchen ſeinen genialen Aphorismen;
die Laien, bevor ſie erprobt, was der Mann kann, be¬
gnügen ſich mit dem, was er erlebt; bis die Neu¬
gierde verflogen, iſt die Clientel begründet. Kurz und
gut, niemals hat ein junger, ehrgeiziger Praktikant
ſeine Bahn unter günſtigeren Auſpicien angetreten.
Wir Alten werden die Segel ſtreichen müſſen denn frei¬
lich unſere Kathederweisheit ſieht ſich von ſeiner küh¬
nen Methode himmelweit überflügelt.“
„Ich brauche Ihnen nicht zu ſagen, Fräulein
[76] Hardine,“ fuhr der Probſt nach kurzer Pauſe fort,
„weſſen Bild während der Erzählung handgreiflich
vor mir aufgeſtiegen, und daß es eine müßige Frage
war, die ich nach dem Namen ihres Helden ſtellte.
In der Antwort: „Doctor, neuerdings Geheimerath
Faber,“ überraſchte mich höchſtens der Titel.
„Wir hatten uns der Stelle genähert, bei wel¬
cher der Weg nach der Anſtalt abzweigt. „Verſtand
ich Sie recht, mein Herr,“ fragte ich, nachdem ich Ab¬
ſchied genommen, den Fremden, „verſtand ich Sie
recht, ſo hat Doctor Faber Sie kürzlich auf der Reiſe
in dieſe Gegend begleitet? Sie werden meine Neugier
entſchuldigen, wenn ich Ihnen ſage, daß ich einem
lange Verſchollenen in ſeiner Heimath zu begegnen
hoffe.“ „„Ihre Hoffnung dürfte ſich erfüllen, Verehr¬
teſter,““ antwortete der Begleiter. „„Wir reiſten bis
Halle miteinander; dort verweilte ich, während er
ohne Aufenthalt auf der Merſeburger Straße weiterfuhr.
In Familienangelegenheiten, wie er ſagte.““ „Und
wann geſchah das?“ fragte ich noch einmal. „„Geſtern,
Freitag vor acht Tagen,““ verſetzte der Fremde, und
der Poſtwagen rollte von dannen.
„An dem nämlichen Tage hatte ich meine Fahrt
nach Thüringen angetreten; ſeit länger als einer
[77] Woche konnte demnach die Entſcheidung unter Ihrem
heimiſchen Dache, Fräulein Hardine, gefallen ſein.
Durfte ich hoffen, daß dieſe Entſcheidung meinem er¬
warteten Pflegling einen Vater gegeben habe? Mußte
ich fürchten, daß ſie ihm auch noch die Mutter ge¬
raubt? In der lebhafteſten Spannung legte ich den
Weg zur Anſtalt zurück.
„Kaum dort angekommen, berichtete meine alte,
Sie wiſſen, kurzſichtige Haushälterin, daß am Tage
nach meiner Abreiſe, bei kaum grauendem Morgen,
ein verhülltes, ſtädtiſch gekleidetes Frauenzimmer nach
mir gefragt, und als es meine Entfernung vernom¬
men, gebeten habe, ihr Anliegen ſchriftlich hinterlaſſen
zu dürfen. Ich fand das Blatt ohne Aufſchrift, aber
verſiegelt, auf meinem Schreibtiſche, und las die we¬
nigen Worte: „Sobald Sie zurückkehren, Hochwürden,
bitte, laſſen Sie mich es wiſſen. Aber um Gottes¬
willen! kommen Sie nicht zu mir, auch nicht zu der
gnädigen Herrſchaft, bevor Sie mich benachrichtigt
haben.“
„Sie wünſchte demnach eine Unterredung, ohne
Zweifel, um ihres Kindes Zukunft feſtzuſtellen, und
ſie fürchtete eine abſichtliche oder zufällige Enthüllung.
Ich wußte jetzt, wie die Entſcheidung gefallen war.“
„Sie wußten es!“ ſo unterbrach ich zum er¬
ſten Male den Erzähler, „und Sie eilten nicht, ge¬
gen ein drohendes Unheil einzuſchreiten?“
Der Freund erwiderte: „Ich war, trotz des Ver¬
bots, eben im Begriffe, an Ort und Stelle die
Lage der Dinge einzuſehen, als ein Beſuch Ihres
Herrn Vaters, Fräulein Hardine, mich dieſer Erkun¬
dung überhob. Er hoffte eine Nachricht aus Recken¬
burg, die Ihr verſpätetes Eintreffen erklärte, bei mir
vorzufinden und da ich ihm dieſe Aufklärung geben
konnte, bat ich ihn, nicht in Sorgen zu ſein, wenn
das erſehnte Wiederſehen ſich noch um etliche Tage
verzögern ſollte.“
„Ich komme auch keineswegs aus Sorge, im Ge¬
gentheil in heller Freude, Freund,“ verſetzte der gü¬
tige Herr. „Ich möchte meine Dine nur gern bei
einem — Familienfeſte darf ich wohl ſagen — unter
uns ſehen, als Brautjungfer unſerer kleinen Dorl
und des — — rathen Sie, Probſt, und des — — “
„Und des Geheimerath Faber,“ ergänzte ich; er¬
zählte in der Kürze, auf welche Weiſe ich von des Mannes
Heimkehr unterrichtet worden war, und bat, um eine
Darſtellung des Eindrucks, den die ſo lange getrenn¬
ten Verlobten auf einander gemacht haben, und wie
[79] die Sache ſo raſch zum letzten Abſchluſſe geführt wer¬
den konnte.
„Ich werde mir nun erlauben, dieſe Darſtellung
möglichſt exact mit Ihres Herrn Vaters eignen Wor¬
ten zu geben; die Schlußfolgerung aber Ihnen ſelbſt
überlaſſen, Fräulein Hardine.
— „Am Freitag Abend ſitzen wir ſtill beieinander.
Meine Frau ſpinnt, ich rauche. Da hören wir das
Hausthor unter einem kurzen, knackenden Druck ſich
öffnen und wieder ſchließen, hören einen raſchen, ela¬
ſtiſchen Schritt im Flur, drei klopfende Schläge wie mit
einem Hämmerchen an der Stubenthür. Der Druck,
der Schritt, das Klopfen ſind uns alte Bekannte.
Mir entfällt die Pfeife, Adelheiden der Faden: „Fa¬
ber!“ rufen wir aus einem Munde, und mit dem
Namen ſteht auch ſchon der Mann uns gegenüber.
Nicht mehr der Feldſcheer von Anno neunzig, auch
nicht mehr blos der Doctor aus den Schanzen vor
Mainz: ein capitaler Mann, ein gemachter Mann auf
den erſten Blick; aber auf den erſten Blick auch noch
leibhaftig der alte Mosjö Per—ſé. —
— „Er ſchüttelte mir die Hand und küßte die mei¬
ner Frau mit dem Air eines jener armen Marquis,
deren Köpfe er zu Dutzenden hat rollen ſehen. Den¬
[80] ken Sie, Probſt, der Sohn und Gehülfe meines al¬
ten Barbiers! Aber das Gute muß ja freilich der
Anblick des Plebsregiments hervorbringen, daß ein ho¬
netter Menſch ſich zu guten Manieren bequemen lernt.“ —
— „„Ich komme als Hochzeiter, mein Herr Ma¬
jor,““ ſagte er, indem er auf den väterlichen Trau¬
ring an ſeinem Finger wies. „„Ein wenig ſpät, wer¬
den Sie ſagen, — aber der Mann hat Farbe gehal¬
ten!““ „Oho!“ verſetzte ich lachend, „das Kindchen
erſt recht!“
— „Meine Frau hatte ſich unterdeſſen von ihrem
Staunen erholt und in Poſitur geſetzt. „Zunächſt,“
hob ſie an, „Herr — Doctor, nicht wahr?“ Er ant¬
wortete lächelnd mit einer Verbeugung. „„Für meine
älteſten Freunde Siegmund Faber, wie ehedem, Mosjö
Per—ſé, wie es Ihnen beliebt. Im Uebrigen: Ge¬
heimerath Faber, praktiſcher Arzt in Berlin.““ —
— „„Zunächſt alſo, Herr Geheimerath,“ ſagte
Adelheid, indem ſie ſich gleicherweiſe verneigte, „die Ver¬
ſicherung, daß Demoiſelle Müller in ungeſtörtem Wohl¬
befinden und in geduldiger Treue unter unſeren Augen
Ihrer Heimkehr gewartet hat.““ —
— „Wie eine Nonne auf den himmliſchen Bräuti¬
gam,“ fiel ich ein. Adelheid räuſperte ſich und Sie
[81] wiſſen ſchon, Probſt, wenn Adelheid ſich räuspert, das
heißt allemal: Mal apropos, Eberhard! „„Indeſſen
möchte es doch gut ſein,“ fuhr ſie fort, „das liebe Kind
auf Ihr überraſchendes Erſcheinen vorzubereiten.“ —
— „Sie wollte ſich entfernen. Da erwieſen ſich aber
der Herr Geheimerath recht gründlich als der alte
Per—ſé. Nach dieſer hochbeglückenden Verſicherung,
meinte er, erbitte er ſich die Gunſt, die gnädige Frau
begleiten und in einem unmittelbaren Eindrucke die
Entſcheidung über ſeine Herzenswünſche empfangen
zu dürfen. Er zündete während dieſer Rede ohne
Umſtände den Wachsſtock, der auf dem Tiſche ſtand,
an, und ſetzte es auf dieſe Weiſe durch, als Vorleuch¬
ter, zuerſt das Zimmer ſeiner Braut zu betreten. —
— „Die arme, kleine Dorl ſaß wie jeden Abend
einſam bei ihrer Spielerei. Sie hatte kleine Kinder¬
köpfe ausgeſchnitten, und war vor Langerweile einge¬
nickt. Die Arme lagen ausgeſtreckt über dem Tiſche,
und der Kopf war auf ſie herabgeſunken. Als die
Thür jetzt raſch geöffnet wurde, hob ſie ihn, wie aus
einem Traume erwachend, in die Höhe. „Ich kann
Dir,“ ſagte Adelheid, denn ich war natürlich unten
zurückgeblieben, „ich kann Dir das Entzücken nicht
beſchreiben, das ſich bei dieſem Bilde in Fabers Augen
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 6[82] malte. Die zierliche Einrichtung ſeines alten Zim¬
mers, der Kleinen unveränderte Schönheit, ihre kind¬
lich ſtille Beſchäftigung und den goldenen Reif am
Ringfinger, alles das hatte er mit einem einzigen
Blicke erfaßt. Er bedurfte keines Wortes, er wußte,
was er zu wiſſen brauchte.“ —
— „Jetzt hatte aber auch Dorothee ihn bemerkt.
Sie ſchrie auf wie ein Kind, das eine Biene geſtochen
hat, wurde kreideweiß und bedeckte das Geſicht mit
beiden Händen. –
— „„Ich habe Sie erſchreckt, meine theure
Dorothee,““ ſagte Faber, indem er auf ſie zueilte, ihre
linke Hand von den Augen zog und einen Kuß gegen
den Ringfinger drückte. —
— „„Aber dieſer Augenblick der Ueberraſchung iſt
mir Erſatz für die langen Jahre der Entſagung. Mein
ganzes Leben wird ein Dank ſein für das Glück, daß
Sie ihn mir gewährten.““—
— „Indeſſen dies zweite Experiment, — Sie wiſ¬
ſen, Probſt, er nannte ſchon ſeine Verlobung ein
Experiment, — nun dieſe Ueberrumpelung erwies ſich
denn doch ſchier zu ſtark für unſere arme, kleine Dorl.
Es überlief ſie ein Schauder, ihre Glieder flogen,
Fiebergluth verjagte die tödtliche Bläſſe auf ihrem
[83] Geſicht. „„Sie ſind unwohl, Dorothee!““ rief Faber
ängſtlich, führte ſie auf das Canapé, ſetzte ſich auf
einen Stuhl an ihre Seite und faßte ihre Hand,
nicht wie ein Liebhaber, ſagte Adelheid, ſondern wie
ein Arzt, der die Pulsſchläge zählt. Sie ſchüttelte
das Köpfchen, raffte ſich zuſammen, erholte ſich all¬
mälig, und als Faber nach einer Weile fragte, ob
ſie ſich kräftig genug fühle, ſeine Gegenwart zu ertra¬
gen, antwortete ſie mit einem Nicken. —
— „„Das Ziel, das ich mir geſetzt hatte, iſt er¬
reicht,““ ſagte Faber darauf, „„ſpäter als ich gehofft, aber
ſicher und ehrenvoll. Eine ausfüllende Thätigkeit wartet
meiner in Berlin, eine ſorgloſe Häuslichkeit ſteht mir,
— Ihnen, liebe Dorothee, — dort bereitet. Freilich
iſt meine Zeit gemeſſen. Aber was bedürfen wir auch
noch der Zeit? In einer Woche, denke ich, werden
wir vereint der neuen Heimath entgegenziehen.““ —
— „Da ſie alles ſo glücklich im Gange ſah, hielt
Adelheid, die bisher unbemerkt im Hintergrunde [ge¬
ſtanden] hatte, es an der Zeit, ſich zu entfernen.
Bei dieſer Bewegung wurde die Kleine ihrer anſichtig.
Sie fuhr in die Höhe, ſtürzte auf meine Frau zu mit
einem, wie dieſe behauptet, geradezu irrſinnigen Blick
und den Worten, den erſten, die ſie ſprach: „„Hardine,
6*[84] Hardine! wann kommt Fräulein Hardine?““ — „„Wir
erwarten ſie bis Mitte nächſter Woche, liebe Dorothee,““
— beruhigte ſie Adelheid und ließ die Brautleute
allein. —
— „Unten angekommen, ſagte ſie zu mir: „„Das
arme Mädchen iſt über die Maßen beſtürzt, Eberhard.
Mehr als ein Kopfnicken und Schütteln wird ihr auch im
tête à tête nicht abzuſchmeicheln ſein. Was Wunder
aber auch? Der Mann iſt ihr in acht Jahren ein
Fremder geworden; ja, als Mann betrachtet, ihr auch
vorher nur ein Fremder geweſen. Nun über Hals
und Kopf: Wiederſehen, Hochzeit, Abreiſe, eine gänz¬
lich neue Welt, und alles das ohne die getreue Be¬
ratherin, unſere Tochter Hardine.““ —
— „Ich bin der Anſicht, Probſt: nichts hilft einem
Menſchen gemüthlicher über eine verlegene Situation
als im Kreiſe guter Freunde eine heitere Tafelei, und
Adelheid und ich waren daher auch auf der Stelle
einig, das Beſte, was Küche und Keller boten, eilig
zu einem Bewillkommnungsſchmauſe aufzutiſchen. Kaum
daß ein Stündchen vergangen war, ſtieg ich die Treppe
hinauf, die Gäſte zu unſerem Extemporé einzuladen.
Ich machte der Braut, die noch immer die Sprache
nicht wiedergefunden zu haben ſchien, meine Gratu¬
[85] lation und dem glückſtrahlenden Bräutigam noch ein¬
mal mein Compliment. Bald ſaßen wir alle Vier
behaglich um den Tiſch; das erſte Fläſchchen wurde
entkorkt und niemals habe ich ein freudigeres Lebehoch
als das auf unſere beiden Getreuen erſchallen laſſen. —
— „Nun mußte aber auch endlich unſer Gaſt mit der
Sprache herausrücken und die Fahrten und Fährniſſe
zum Beſten geben, unter welchen der Gefangene von
Pirmaſenz ſich ſo glücklich bis zum königlich preußiſchen
Geheimenmedicinalrath durchgewunden hat. Probſt, der
Mann verſteht zu erzählen: ſimpel, anſchaulich, mit
Beſcheidenheit und doch nicht ohne das geziemende
Selbſtgefühl. —
— „Da gab es denn einen curioſen Wechſel von
Bewunderung und Grauen, wenn man den einſamen
Fremdling mit ſeinen Meſſern und Zangen ſo gelaſſen
dahinſchreiten ſah, heute unter den Blitzen des Fall¬
beils, morgen unter dem Donner der Kanonen; vor¬
bei an Menſchen, die geſtern Gold waren und heute
Staub ſind, und an ſolchen, die geſtern als Staub
überſehen und morgen als Gold vergöttert werden.
Was ſolch eine Revolution zu ſagen hat, das iſt mir
wahrlich erſt durch meinen Mosjö Per—ſé recht klar
geworden, Probſt. Die Nacht hindurch würden
[86] Adelheid und ich mit geſpanntem Ohr gelauſcht
haben. —
— „Aber freilich ein Anderes ſind ein Paar im
Grunde doch fremde alte Leute und ein Anderes eine
junge bängliche Braut. Die arme, kleine Dorl ſaß
ſtumm und blaß, Hände und Blicke im Schoß und
berührte keinen Biſſen noch Tropfen. Eigentlich kam
es mir vor, als hätte ſie von all’ den Mordgeſchichten
und Geſchäften nicht ein Sterbenswort gehört und
ganz an was anderes dabei gedacht. Der Erzähler
aber dankte ihr dieſes angſtvolle Erſtarren im Rück¬
blick auf die Gefahren, die er fern von ihr durchlebt
hatte. Er drückte ihr die Hand und ſchwenkte geſchickt
in ein Gebiet, in welchem das ſchwächlichſte Frauen¬
zimmer ſich allezeit erholt. Die revolutionairen Damen¬
moden wurden auf’s Tapet gebracht; das geſellige
Treiben, erſt in Paris, dann in Berlin; Namen wurden
genannt, als die von Gönnern und Freunden, bei
deren Klange dem vormaligen Schenkjüngferchen wohl
das Herz im Leibe lachen konnte; und als endlich gar
der eigene Hausſtand an die Reihe kam, als einer
Beletage unter den Linden, der Bedienten, Wagen und
Pferde wie ſelbſtverſtändlicher Dinge Erwähnung ge¬
ſchah, Freund, da hätten Sie ſehen ſollen, wie unſer
[87] Bräutchen aufthaute! Wie die Oehrchen ſich ſpitzten,
die Aeugelchen blitzten, die blaſſen Wangen immer
roſiger ſich färbten. Die kleine Dorl ſah ſich ſchon
als Frau Geheimeräthin, wohl gar als gnädige Frau,
in Tituskopf und Tunika, wiegte ſich auf ſeidenen
Polſtern zwiſchen Pendülen und Vaſen, während
draußen Generäle und Grafen antichambrirten in Er¬
wartung des gefeierten Herrn Gemahls. Jetzt wagte
ſie es, die Augen zu ihm aufzuſchlagen; ſie nickte ihm
lächelnd zu und ließ die bisher ſo widerwillige Hand
ohne Sträuben in der ſeinen. Ja, Weiberchen, Weiber¬
chen, Eva’s Töchter, die ihr alle ſeid! —
—„ „Das Heerdfeuer lodert in Erwartung der Haus¬
frau““ — ſo ſchloß der geſchickte Mann ſeine Schil¬
derei, — „ „und auch die Hausfrau wird ja, will’s
Gott, nur auf Tage noch dem freundlichen Heimweſen
fehlen. Wir ſind Beide verwaiſt, auch Sie, liebe
Dorothee majorenn; die erforderlichen Zeugniſſe können
im Orte bezogen werden. Uebermorgen darf das erſte
Aufgebot ſtattfinden, und zweifle ich nicht, daß uns
alle weiteren Obſervanzen erlaſſen werden, wenn ich
in Leipzig, wo ich morgen einige alte Freunde und
Gönner aufzuſuchen gedenke, mich beim Conſiſtorium
darum bemühe. Jedenfalls wird bis zum übernächſten
[88] Sonntag alles erledigt und dann auch die Zeugin
unſerer Verlobung gegenwärtig ſein, Fräulein Hardine,
die ich ſo gern auch als Zeugin unſerer ſtillen Hoch¬
zeitsfeier begrüßen möchte.““ —
— „Adelheid hat recht, Probſt; es iſt merkwürdig,
wie die kleine, liebe Dorl an unſerer Dine hängt.
Ein Anderer als Mosjö Per—ſé würde ſich ſolch ein
Freundſchaftsregiment verbitten! Aber der: Schürzen¬
angelegenheiten — bah! Ja, wär’s ein Mann, der
ihm in’s Gehege käme, dann Gnade Gott! —
— „Die Kleine hatte ſeinem Plane mit aller Ge¬
laſſenheit zugehört; bei dem Namen Hardine aber fuhr
ſie erſchrocken in die Höhe; weiß Gott, ſie zitterte und
wurde jählings wieder blaß wie eine Wand. „„Har¬
dine!““ flüſterte ſie. „„Wann kommt Fräulein Har¬
dine?““ — „Sie ſoll zur Hochzeit nicht fehlen, Herzens¬
kind,“ rief ich ihr ermunternd zu. — „Morgen ſchreibe
ich ihr und in ſpäteſtens acht Tagen iſt ſie da.“ —
— „Dorothee ſaß auf ihrem Stuhle zurückgeſunken
und regte ſich nicht. Der Bräutigam leerte das letzte
Glas auf das Wohl unſerer guten Tochter. Auch die
Braut mußte anſtoßen und nippen, aber ſie that es
mit einem Schütteln, als ob ihr der Tod über’s Grab
gelaufen ſei. Wir alle ſahen, wie ſehr das liebe Kind
[89] der Ruhe bedürfe. Meine Frau hob die Tafel auf;
der Gaſt empfahl ſich, um im Gaſthof ein Nacht¬
quartier zu ſuchen. Unſer Feſt war zu Ende. —
„„Lieber Herr Major,“ ſagte die gutmüthige Dorl,
als ich ſie die Treppe hinaufführte, „bitte, ſchreiben
Sie Fräulein Hardine nicht. Es möchte ihr unge¬
legen ſein. Sie kommt ja ohne dies. Oder wir
warten, bis ſie kommt.““ —
— „Nun ich habe auch nicht geſchrieben, da am
andern Morgen ein Brief ihre Ankunft bis ſpäteſtens
Donnerſtag meldete. Und nun iſt ſie doch nicht ge¬
kommen und kommt am Ende auch gar nicht mehr zu
rechter Zeit.“ —
„Ihr Herr Vater, Fräulein Hardine, hatte ſich
bei den letzten Worten erhoben, um den Heimweg an¬
zutreten. Ich begleitete ihn und bat, daß er ſeine
Mittheilung fortſetzen möge.
— „Was ſoll ich weiter berichten,“ ſagte er. „Es
iſt alles gekommen, wie unſer Doctor es ausgeſonnen
hatte. Am Sonntage ſind ſie zum erſten Male von
der Kanzel gefallen. Morgen geſchieht’s zum zweiten
und dritten Male vereinigt. Am Nachmittag, oder
ſpäteſtens Montag früh, eine ſtille Trauung auf dem
Lande; als Zeugen nur Adelheid, ich und wenn ſie
[90] noch eintrifft, verſteht ſich, unſere Tochter. Daß ſie
nur käme! Die Kleine verzehrt ſich buchſtäblich über
dieſer fixen Idee. Bei jedem Wagen, der die Straße
heraufrollt, ſtürzt ſie an’s Fenſter und ſchaut hinaus.
„„Hardine, Fräulein Hardine!““ ſind faſt die einzigen
Worte, die ihre Lippen berühren. Vorgeſtern, wo wir ſie mit
Beſtimmtheit erwarteten, habe ich ſelber mich über die
kleine Thorheit geärgert. Sie iſt in dieſen acht Tagen
abgemagert zum Skelett; der Verlobungsring, der ihr
ſo drall am Finger ſaß, rollt bei der geringſten Hand¬
thierung in ihren Schoß. Sogar an den Brautputz
denkt ſie nicht. „„Es wird doch nichts daraus!““ mur¬
melte ſie, als Adelheid neulich davon anfing. Hyſterie,
Probſt, nennt man ja wohl dieſe Launen bei dem
Frauenvolk? Gottlob, unſere Dine hat von dem
Weſen keine Spur.“ —
„Und zeigt der Bräutigam keine Art von Beun¬
ruhigung über dieſen jedenfalls verwunderlichen Herzens¬
zuſtand?“ wagte ich zu äußern: ein Zweifel, welchen
der ritterliche Herr Major aber nahezu als eine
Ehrenkränkung zurückwies. — „Wie meinen Sie das,
Probſt?“ rief er unwillig. „Hat der Mann nicht
Adelheids und mein eignes Zeugniß für des Mädchens
untadeliges Verhalten? Würde ohne daſſelbe unſere
[91] Tochter ihre Freundin ſein? Rühmt nicht die ganze
Stadt ihre gradezu ſcheue Zurückhaltung ſeit jenem
heilloſen Donnerſtagabend, an deſſen Ausgelaſſenheit
das arme Kind wahrlich geringere Schuld als wir
Anderen ſamt und ſonders getragen hat? Daß ſie
bis jetzt keine übermäßige Paſſion für den Herrn
Bräutigam empfindet, darüber wird er ſelber am beſten
im Reinen ſein, er iſt kein Apollo, unſer Mosjö
Per—ſé! Aber nur erſt unter die Haube und an den
eigenen Heerd. Einer, wie der Faber, fühlt ſich
Manns genug, um ein Frauenherzchen in Beſchlag
zu nehmen. Klug, wie er iſt, ſchont er die bängliche
Laune einer kurzen Uebergangszeit; zeigt ſich der
Kleinen nur in flüchtigen Beſuchen, liebreich, ohne
Zärtlichkeit, mit offener Hand und im Nimbus eines
gefeierten Namens. Alles drängt ſich um den merk¬
würdigen Heimathsfreund. Die Kunde ſeiner Rückkehr
hat ſich wie ein Lauffeuer in der Gegend verbreitet.
Meilenweit ziehen ſie einher, alte und neue Schäden
von dem Wunderdoctor heilen zu laſſen. Im Fluge
ſind etliche ſchwere Operationen abſolvirt worden.
Nun ſoll aber auch den alten Bekanntſchaften ein
Gruß und Lebewohl gebracht werden, bis zum Schinder
hinab, den er ſeinen erſten Profeſſor nennt. Kurz
[92] und gut: ein Tourbillon hat ſich um den Mann er¬
hoben und er bewegt ſich nach allen Seiten mit Tact
und comme il faut. Nicht zum Geringſten auch
gegen uns. Das alte, väterliche Haus, „ſeine Treu¬
burg“, wie er es nennt, bleibt unſerer Verfügung, der
Miethzins Fräulein Hardinen zu Armenzwecken über¬
laſſen. Kein Stück wird in Dörtchens bräutlichem
Zimmer verrückt, kein Gepäck mit auf die Reiſe ge¬
nommen. In ihren Hochzeitskleidern, leicht wie Sommer¬
vögel, fliegen ſie in das bereitete Neſt, wo dann alles
neu und nie geſehen das junge Weibchen umfängt und
erfriſcht.“ —
„Wir hatten während dieſer letzten Rede die Stadt
und Ihre Wohnung, Fräulein Hardine erreicht. Die
Mutter ſaß am Spinnrad vor der Thür. — „Die Poſt
von Leipzig iſt herein, und wieder ohne unſere Tochter,
Eberhard!“ — „Die Gräfin iſt krank geworden,“ ver¬
ſetzte der Gemahl, „der Probſt hat Nachricht. Aber
was ſagt unſere Dorl, Adelheid?“ — „ „Nun da ſo
ziemlich die letzte Hoffnung geſchwunden iſt, ſcheint ſie
ſich ihre kindiſche Sehnſucht aus dem Sinn ſchlagen
zu wollen. Sieh Dich um, Eberhard; an allen Fenſtern
und Thüren ein gaffendes Geſicht. Eben iſt Dorothee
am Arme ihres Bräutigams um die Ecke gebogen, zum
[93] erſten Male, daß ſie ſeit ſeiner Heimkehr das Haus
verläßt. Sie wollen den Gräbern der Eltern Lebe¬
wohl ſagen. Eine noble, delicate Natur, dieſer Faber;
Sie hätten ihn kennen lernen ſollen, Herr Probſt.
Auch meiner Tochter hätte ich ſein Wiederſehen ge¬
wünſcht. Doch mag ich der morgenden Trauung nicht
länger widerſprechen. Dorothee kommt ohne Abſchied
leichter zur Ruhe, und käme Hardine morgen Abend,
was könnte ihr an der bloßen Brautführerrolle ge¬
legen ſein?““ —
Der Probſt ſchwieg; ſeine Erzählung ſchien zu
Ende. „Und warteten Sie,“ fragte ich haſtig, „Do¬
rotheens Rückkunft und ihren Entſchluß nicht ab?“
„Nein,“ antwortete er mit Ruhe. „Ich bat Ihre
Frau Mutter, ihr meine Heimkehr von der Reiſe mit¬
zutheilen und ging in meine Anſtalt zurück. Als nach
dem Morgengottesdienſte, wie ich es kaum anders er¬
wartet hatte, eine Botſchaft an mich nicht ergangen
war, benutzte ich die Poſt nach Leipzig, um meinen
Schützling in Empfang zu nehmen.“
Die Poſtchaiſe fuhr in dieſem Augenblicke vor.
Ich hatte meine Reiſekleider gar nicht abgelegt und
das Gepäck bereits wieder hinunter ſchaffen laſſen.
Als ich jetzt den Knaben wecken und mit ihm voran¬
[94] eilen wollte, trat mir der Probſt entgegen. „Ich halte
es für beſſer,“ ſagte er, „mit dem Kleinen hier zu
übernachten und erſt morgen —“
„Der Junge wird im Wagen ſo gut wie hier
im Bette ſchlafen,“ unterbrach ich ihn gereizt. „Raſch
voran!“ Er ſann einen Moment und folgte mir dann,
den ſchlummernden Knaben auf dem Arme.
Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte
meine Aufregung nur geſteigert. Sicherlich nicht ohne
ſeine Abſicht: die Gährung ſollte vor den actuellen
Eindrücken verbrauſen. Zum erſten und Gottlob einzigen
Male im Leben fühlte ich mich in einem Zuſtande
von, — dreiſt heraus, in einem Zuſtande von Wuth;
von Wuth zunächſt gegen mich ſelbſt. Ich hätte mir
das Haar ausraufen, oder die Wagenfenſter zerſchlagen,
ich hätte ſchreien, oder wie ein wildes Roß mir die
Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein
Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieſes ſtrafwürdige
Ereigniß verſchuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬
treue verheimlicht; getäuſcht die argloſen Eltern, auf
deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in ſeinem
Allerheiligſten vorausſichtlich zur Stunde ſchon betrogen
war. Ich, ich hatte die ſtolze Zuverſicht der eignen
Seele für allezeit zerſtört.
[95]
In ſolcher Stimmung giebt es keine größere Er¬
leichterung, als einen Theil ſeiner Laſt auf einen An¬
deren abzuwälzen, und ſo wendete ich mich denn, ſo¬
bald das Gefährt auf die weniger holpernde Landſtraße
eingelenkt hatte, gegen den Begleiter, deſſen milde Ge¬
laſſenheit mich empörte.
„Wenn wir zu ſpät kommen, Probſt,“ ſagte ich
„wenn die Trauung vollzogen iſt, ſo haben Sie eine
ſchwere Verantwortung auf ſich geladen. Sie, der
Sie den Frevel hindern konnten und in bequemer
Scheu vor der Anklage es unterließen.“
„Darf der Beichtſtuhl zur Anklagebank werden,
Fräulein Hardine?“ entgegnete er, „und war ich nicht
in der Lage des Beichtigers, der ein anvertrautes Ge¬
heimniß zu bewahren hat?“
„Sie hatten das Geheimniß nicht von einem
Beichtkinde, nicht zuerſt wenigſtens vom einem Beicht¬
kinde empfangen. Uebrigens ſprechen Sie mit dieſer
Auffaſſung ſich ſelbſt das Urtheil. Dem Manne, dem
Freunde, mochte Zartgefühl die Zunge binden; dem
Seelſorger war es Pflicht, ein Verbrechen ſeines Beicht¬
kindes zu verhüten.“
„Und was thun, Fräulein Hardine?“
„Rathen, warnen, bedräuen; für die erſte chriſt¬
[96] liche und menſchliche Tugend, die Wahrhaftigkeit, das
matte Gewiſſen zum Leben rütteln.“
„Und haben Sie, meine muthige, junge Freun¬
din, nicht gerathen, nicht gewarnt, nicht das Gewiſſen
zur Wahrhaftigkeit aufgerüttelt, Sie, die von allen
Menſchen die ſtärkſte Macht über dieſes Kind geübt
haben und in einer Zeit der Gleichgültigkeit, ja mehr
als dieſer, gegen den Mann, dem ſie die Wahrheit
ſchuldete? Und mit welchem Erfolg? Heute aber, in
der letzten Stunde, am Vorabend der Trauung, wo
alles Sinnen und Trachten des beweglichen Herzens
nur gegen die Gefahr eines Widerſpruchs gerichtet iſt —“
„Hätten Sie im äußerſten Falle das äußerſte
Mittel nicht ſcheuen dürfen.“
Der Freund faßte nach einer kleinen Stille ſanft
meine Hand und ſprach: „Fordern Sie, mein liebes
Kind, von einem alten Manne nicht eine That, die
das Maaß ſeiner Anlagen überſchreitet, und für die
er, mißräth ſie, ſich und Anderen kein Heilmittel zu
bieten hat. Und wenn das Aeußerſte nun zum Aeußerſten
geführt hätte? Wenn das ſchwache Geſchöpf, — eben
weil es ſchwach iſt, Fräulein Hardine, — gebrand¬
markt vor der Welt und vor dem Manne, der im
Augenblick all ſein Begehren gefangen nimmt, in tödt¬
[97] liche Krankheit, in Wahnſinn verfallen wäre? Wenn
ſie verzweifelnd Hand an ſich gelegt —“
„Nun wohlan!“ rief ich leidenſchaftlich, „ich, iſt
es noch Zeit, werde dieſen Gefahren trotzen, werde,
und wäre es vor dem Altar, den Einſpruch der Wahr¬
heit vernehmen laſſen. Ich bin aus den Schranken
meiner natürlichen Anlagen, meiner Erziehung, der
Denkweiſe meiner Väter, der Geſetzmäßigkeit meines
Charakters herausgetreten, indem ich die Unehre duldete
und das Unrecht beſchönigte. In Recht und Ehren,
um jeden Preis, werde ich dieſe Irrung zu ſühnen
wiſſen.“
„Sie werden es, meine Freundin,“ entgegnete der
geiſtliche Herr mit Bedeutung; „Sie werden jene
Irrung ſühnen, früh oder ſpät, wenn auch mit an¬
deren Factoren als denen, die heute Ihr Gemüth be¬
herrſchen. Alſo irren heißt leben und in den heim¬
lichen Trieben, die unſere Menſchenlogik höhnen, keimt
unſere Entwicklung. Der Regenguß, der unſere Saaten
niederſchlägt, durchſickert die harte Bodenſchicht, und
ſammelt ſich zum Quell, welcher das Wurzelland be¬
fruchtet. Das iſt die Logik der Natur. Und darum
laſſen Sie mir den Glauben, daß das, was heute Ihr
Gewiſſen niederſchlägt, dereinſt als ein Jungbrunnen
Loniſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 7[98] Ihr Gemüth erquicken wird. Ich bin ein alter Mann.
Meine Aufgabe iſt, dieſem Kinde, das zur Stunde
vielleicht auch die Mutter verloren hat, ſo weit meine
Kraft noch reicht, den Vater zu erſetzen.“
Der alte Mann ſchwieg. Wenn Ihr aber glaubt,
daß ſein Gleichniß vom Waſſerborn, — Feuer und
Flamme wie ich war, — meinen Zorn gelöſcht haben
ſollte, nun, ſo irrt Ihr Euch. Oel hatte es in den
Brand gegoſſen. Ich kehrte dem gefühlvollen Schwäch¬
ling den Rücken, der ohne ſich zu rühren, das Haus
ſeines Nachbars einäſchern ſieht und derweilen gemüth¬
lich die Bauſteine für eine Hütte der Zukunft zu¬
ſammenträgt.
Wir ſprachen bis zur Zwiſchenſtation kein weiteres
Wort. Der Probſt ſaß mir ſtill gegenüber, den Kopf
des ſchlafenden Knaben auf ſeinem Schoß. In mir
jagten ſich die Gedanken. Was geſchehen ſollte, kam
ich noch zur rechten Zeit, was aus mir werden, kam
ich zu ſpät — ich wußte es nicht.
Aus dieſem Tumult weckte mich eine Bewegung
meines Begleiters, der während des Pferdewechſels ſich
zum Ausſteigen rüſtete, um den Seitenweg nach ſeiner
Anſtalt mit dem Knaben einzuſchlagen. Ich merkte
die Abſicht und ſagte höhnend: „Sie ſchlucken Elephan¬
[99] ten und ſeipen Mücken, guter Freund!“ Worauf
er lächelnd antwortete: „Wohl mir, wenn ich den
giftigen Stich einer Mücke von Ihnen abwehren könnte,
Fräulein Hardine.“
Die Reizung fehlte mir nur noch. „Ich denke,
Herr Probſt,“ brauſte ich auf, „Name und Ruf des
[Fräulein] von Reckenburg — —“
„Der beſte Name und Ruf,“ unterbrach er
mich, „der Frieden des edelſten Menſchen können
getrübt werden, wenn eine Kette von Zufälligkeiten
ſich thörichter, oder böslicher Auffaſſung in die
Hände ſpielt. Zwingt ihre Ehe Dorothee Müller,
dieſen Knaben zu verleugnen, ſo hat er erweislich
weder Vater noch Mutter. Er iſt in Reckenburg,
unter den Augen Ihrer vertrauten Dienerin auf¬
gewachſen, durch Sie der Erziehung eines alten
Freundes übergeben worden. Ihre Perſon wird
es ſein, an welche ſeine Erinnerungen, vielleicht ſeine
Erwartungen ſich heften, zumal wenn eines Tages ein
Umſchlag in Ihren äußeren Verhältniſſen die Blicke
eines größeren Kreiſes auf Sie lenkt. Ihre einzigen
rechtfertigenden Zeugen, Juſtine und ich, ſind Greiſe;
die Kirchenregiſter vernichtet, und die Verwicklungen
des Schickſals unberechenbar. Ich muß es daher als
7*[100] eine Fügung der Vorſehung betrachten, daß mindeſtens
ein unumſtößliches Dokument über Auguſt Müllers
Abſtammung gerettet worden iſt. Kurz vor meinem
Abgange von Reckenburg und dem Brande der Kirche
nahm ich eine Abſchrift des Taufzeugniſſes, um es,
ohne die Aufmerkſamkeit eines Dritten zu erregen, der
Mutter des Knaben zu gelegentlicher Verwendung an¬
heimzugeben. Gedankenloſigkeit verzögerte den urſprüng¬
lichen Zweck; und ſo lege ich es jetzt, ſtatt in die
der Mutter, in Ihre Hand, Fräulein Hardine. Weiſen
Sie es nicht zurück; verwahren Sie es aus Rückſicht
für einen treuen Freund, ſo viel derſelbe heute in Ihrer
Schätzung verloren haben mag.“
Um weitere verdrießliche Erörterungen abzuſchnei¬
den, nahm ich das Atteſt; bei ruhigerem Blute ſah ich
in ſeiner Erhaltung eine Pflicht, wenn nicht für mich
ſelbſt, ſo doch für den verwaiſten Knaben und ich er¬
wähnte bereits, daß Ihr es dieſer Handſchrift beige¬
fügt finden werdet.
Nach dieſem Zugeſtändniſſe mußte nun aber der
geiſtliche Herr ſich darein ergeben, von mir nach ſeiner
Anſtalt geleitet zu werden. Die Kloſterglocke ſchlug
Mitternacht, als ich ihn, ſeinen Pflegling im Arm,
hinter der Pforte verſchwinden ſah.
[101]
Eine halbe Stunde ſpäter ſchmetterte das Poſt¬
horn vor der alten Baderei. Das Haus, das ganze
Städtchen lagen im Dunkel; alles ſchlief und es währte
mir eine Ewigkeit, bis die Thorfahrt geöffnet ward,
und mein Vater in Schlafrock und Nachtmütze unter
ihr erſchien. „Dorothee!“ ſchrie ich ihm entgegen, in¬
dem ich mich mit beiden Händen an ſeine Schultern
klammerte.
Du kommſt post festum, arme Dine,“ antwor¬
tete der Papa mit kleinlautem Scherz, „die Frau Ge¬
heimeräthin laſſen ſich gehorſamſt empfehlen!“
Und nun fragt mich nicht, wie ich an das Bett
meiner Mutter und über den erſten Austauſch hin¬
weggekommen bin. Auch nicht, wie lange ich ihr ge¬
genüberſaß und in halber Betäubung die Schlußſcene
unſeres häuslichen Dramas gleich einem Nebelbilde
an mir vorübergleiten ſah. Erſt bei öfterer Wieder¬
holung in den nächſten Tagen prägte ſie ſich mir ein
mit der Schärfe eines perſönlichen Erlebniſſes.
Die Verlobten waren von ihrem abendlichen
Abſchiedsgange heimgekehrt mit dem Beſchluß, die
Trauung am anderen Mittag in der verabredeten
Weiſe ſtattfinden zu laſſen. Vater und Mutter hat¬
ten nicht widerſprochen. Den Gruß ihres alten
[102] Freundes im Kloſter empfing die Braut mit einem
Thränenſtrom, der ſie zu erleichtern ſchien.
Als am Sonntagsmorgen der Gottesdienſt ſich
ſeinem Ende näherte, ſtieg die Mutter in Dorotheens
Stube hinauf, ihr kleines Angebinde zu überreichen.
Es war eine Silhouette und Locke ihrer Tochter, die
ſie einem perlenumrahmten Medaillon hatte einfügen
laſſen.
Sie fand die Braut fertig gekleidet in ihrem
Abendmahlsanzug, Bruſt und Arme mit einer Gar¬
nirung weißer Kloſterſpitzen, einem Geſchenke Fabers,
umſchloſſen. Das dunkle Bild am ſchwarzen Bande
als einziger Schmuck, hob das Trauerartige der Er¬
ſcheinung noch mehr hervor. In dieſem düſteren
Rahmen aber, in der Blüthenweiße des Angeſichts,
die Augen geſenkt, die Hände wie zu demüthigem
Flehen über der Bruſt gefaltet und die Morgenſonne
die weiche Lockenwelle übergoldend: die Mutter ge¬
ſtand, daß ſie unter dem Roſenſchimmer des Kindes
niemals dieſe ideale Schönheit geahnt und daß ſie ge¬
bannt im Anſchauen, einen Augenblick auf der Schwelle
geweilt habe.
Aber nur einen Augenblick. Im nächſten durch¬
flog ein Schrecken die Glieder der armen Hochzeits¬
[103] mutter und ein entſetztes „Herrgott!“ entſchlüpfte
ihren Lippen. Eine Braut, Siegmund Fabers Braut,
ihr Schützling — und ohne jungfräulichen Kranz!
Keiner hatte für das unerläßliche Symbol geſorgt,
das bis zum Letzten von der Hand der Brautführerin
erwartet worden war. Und wie nun in dieſer Ueber¬
eile, bei ſonntägig geſchloſſenen Läden, es beſchaffen?
Dorothee hat den Aufſchrei vernommen, ſie ſieht
die mütterliche Unruhe. Gleichzeitig hört ſie das Rol¬
len eines Wagens immer näher und näher die Straße
herauf. Jetzt hält er vor der Thür. „Hardine!“
kreiſcht ſie, „Barmherzigkeit, Hardine!“ und ſtürzt auf
ihre Kniee.
Aber es iſt nicht die erſehnte Kranzjungfer, es
ſind die Hochzeitskutſchen, welche vor dem Hauſe vor¬
fahren. Raſche Tritte eilen die Treppe herauf. Bräu¬
tigam und Hochzeitsvater treten ein, eben als die
zitternde Braut ſich vom Boden erhebt.
Allein der Kranz, der Kranz! Alles blickte be¬
ſtürzt — Alle, mit Ausnahme der todtenſtarren Braut.
Der glückliche Hochzeiter iſt der Erſte, ſich zu faſſen.
„Es muß ja nicht eben Myrthe ſein,“ ſagt er lächelnd.
„Im ganzen Süden wählt man beliebige weiße Blü¬
then, gemiſcht mit irgend einem anderen zarten Grün.“
[104] Er überblickt das Zimmer, das geſtern noch einem
Garten geglichen hatte. Sämmtliche Töpfe jedoch ſind
heute in der Frühe hinaus zum Schmucke der elter¬
lichen Gräber getragen worden; nur in einem Waſſer¬
glaſe ſieht er ein paar Zweige, die er achtlos ergreift
und der Geliebten reicht. Die Mutter unterdrückt
einen Schauder; mit einem herzzerreißenden Lächeln
flicht ſie dieſelben Dorothee in ihr goldenes Haar: es iſt ein
Strauß Rosmarin, auf eben jenen Gräbern geſtern
zum Andenken von der Tochter Hand gepflückt.
In dem nämlichen Augenblicke aber bringt trium¬
phirend der gute Papa, der in ſeinem Eifer in den
Garten gelaufen iſt, eine Handvoll weißer Tauſend¬
ſchön, an denen noch der Morgenthau perlt. Sie
werden zwiſchen die Zweige gewunden und ſo mit
Frühlingsblumen und Grabesgrün iſt der bräutliche
Schmuck vollendet. Siegmund Faber legt einen koſt¬
baren türkiſchen Shawl um die Schultern ſeiner Ver¬
lobten, er führt ſie zum Wagen, die Eltern folgen.
Unter den Grüßen und Winken ihrer Mitbürger, die
eben dem Gotteshauſe entſtrömen, fährt das ſchöne
Kind der Stadt aus ſeiner dunklen Heimath in den
blendenden Glanz der Welt.
Nach einer Stunde hielten die Wagen vor einer
[105] Kirche ſeitab des erſten Dorfes auf der Straße nach
Berlin. Die Bewohner ſaßen beim Mittagseſſen,
niemand außer dem Pfarrer und Küſter harrte in dem
kleinen, öden Gotteshauſe. Faber hatte aus Schonung
für ſeine Braut um eine kurze Feier gebeten und ſo
beſchränkte ſich dieſelbe nahezu auf die alte ſtrenge,
lutheriſche Formel und den Segensſpruch. Ohne
Sang und Orgelklang waren die Verlobten binnen
weniger Minuten Mann und Weib. Als die Ringe
von Neuem gewechſelt wurden, die ſie acht Jahre
lang getragen hatten, glitt der der Braut von der
ſchlaff herabhängenden Hand. Faber fing ihn auf
und ſteckte ihn an ihren Finger, den er von da ab
feſt zwiſchen den ſeinigen gepreßt hielt. Sein Ja
ſchallte laut und freudig durch den Raum. Doro¬
theens Lippen bewegten ſich nicht.
Schweigend führte Siegmund Faber ſeine junge
Frau bis an die Kirchhofspforte, winkte den Wagen
herbei und eilte zu geſchäftlichen Abmachungen in die
Sakriſtei zurück. Die Eltern nahmen Abſchied von
dem Kinde, das ſie neben dem eignen von der Wiege
ab gehegt hatten.
„Gottes Segen über Sie, theure Dorothee, auch
im Namen unſerer guten, fernen Hardine,“ ſagte der
[106] Vater, nachdem er ſeinen Liebling umarmt hatte und
ging dann raſch dem jungen Manne nach, um ſeine
Thränen zu verbergen.
Bei dem Namen Hardine war es wie eine Sin¬
nestäuſchung, wie ein Wahn, der das junge Weib
berückte. Unter convulſiviſchem Zucken ſtürzte ſie zu
Boden und umklammerte der Mutter Kniee.
„Barmherzigkeit, Hardine!“ ſchrie ſie, „Barmher¬
zigkeit! Ich wollte ja nicht — aber ich mußte!
Ich wollte ja reden, — aber ich konnte nicht. —
Das Kind, das arme Waiſenkind! Barmherzigkeit,
Hardine — Barmherzigkeit — um des Todten willen.“
Die letzten Worte wurden kaum noch verſtänd¬
lich gelallt. Sie taumelte mit gebrochenen Augen rück¬
wärts über ein friſch geſchaufeltes Grab. Faber ſtürzte
herbei und trug die Bewußtloſe in den Wagen. Eine
Minute ſpäter rollten ſie auf der Straße zur neuen
Heimath voran.
Viertes Capitel.
1806.
Das Geheimniß iſt enthüllt. Ihr wißt jetzt,
meine Freunde, wer Auguſt Müllers Mutter geweſen
iſt und welches Verhältniß mir die Lippen band, als
die Welt mich dafür genommen hat. Was weiter
nach Außen hin an mir und durch mich geſchehen
iſt, liegt zu Tage, die Geſchichte dürfte zu Ende ſein.
Weil aber jede Geſchichte eine Pointe haben
ſoll, das heißt: weil jedes Schickſal nicht nach Außen,
ſondern nach Innen hin gipfelt, und weil, iſt nur
einmal der erſte Strich gethan, es ein beſonderes Ver¬
gnügen gewährt, den Grundriß ſeines Lebensbaues vor
lieben Menſchen zu entfalten, ſo will ich den meini¬
gen weiter führen von Stock zu Stock, bis zu der
Spitze, die ſich vor Euch enthüllen wird, nachdem
Ihr den Richtſpruch vernommen habt.
[108]
Die Schwäche, mit welcher ich jahrelang Doro¬
theens Heimlichkeit geduldet und gewahrt, hatte mein
Gewiſſen frei gelaſſen. Nun aber, da eine untilgbare
Schuld gegen einen Anderen daraus erwachſen war,
drückte ſie mich wie ein Alp. Es gab jetzt einen
Menſchen, deſſen ehrenwerthen Namen ich nicht hören
konnte, ohne zu erbleichen; einen, vor dem ich in der
Erinnerung die Blicke niederſchlug; den ich belügen
oder in ſeinem innerſten Heiligthume vernichten mußte,
wenn er mir mit der Frage: „Handelteſt Du recht¬
ſchaffen und ehrenhaft gegen den Vertrauenden?“ un¬
ter die Augen getreten wäre. Die Dämonen des
Lebens: Unruhe, Zweifel, Furcht und Scham, ſie, die
ich mehr gefürchtet hatte, als Verlaſſenheit und Ar¬
muth, jetzt lernte ich ſie kennen. Der Stolz der Un¬
ſchuld war vernichtet, alle Sicherheit des Gefühls ge¬
brochen, ſeitdem die Nachgiebigkeit gegen ein Gefühl
mich ſo weit von meinem Grundweſen vertrieben hatte.
Von Dorothee hörte ich nichts. Ich hatte nicht
erwartet, daß ſie mir ſchriebe und würde ihr nicht ge¬
antwortet haben. Ob ſie mit dem Probſt in Verbin¬
dung geblieben, mochte ich nicht wiſſen, bezweifelte es
aber. Wir waren fertig mit einander.
Auch zu dem Probſt hatte mein Verhältniß ſich
[109] abgeſchwächt, ſeitdem ſeine Schlaffheit, wie ich es
ſchalt, mir eine Gewiſſensſchuld aufgebürdet. Ich
ſuchte ihn auf, ſo oft ich im Elternhauſe verweilte,
unterhielt eine Art Zuſammenhang zwiſchen ihm und
ſeiner alten Gemeinde, folgte nicht ganz ohne Antheil
ſeinen Beſtrebungen in der Gegenwart; von unſerem
gemeinſamen Geheimniß aber war niemals die Rede.
Niemals jedoch, ſo oft ich ihn beſuchte, unterließ
er es, mir ſeinen beſonderen Schützling vorzuführen
und meine frühere Theilnahme für ihn wieder anzu¬
regen, denn — und das war wohl der häßlichſte Um¬
ſchlag meiner Stimmung — der Knabe, an dem ich
mit ſo viel Wohlgefallen gehangen hatte, und der ſich
gleichmäßig ſchön und kraftvoll entwickelte, war ſeit
jener Mitternacht, wo ich ihn hinter der Kloſter¬
pforte verſchwinden ſah, meinem Herzen ein Gräuel.
Ich erblickte in ihm nicht mehr das Ebenbild ſeines
Vaters, der die Luſt und das Leid meines kurzen Len¬
zes, nicht mehr das Schmerzenskind ſeiner Mutter,
die meine einzige Geſpielin geweſen war; er erinnerte
mich nur noch an den Mann, der durch meine Mit¬
ſchuld um das Glück betrogen wurde, das Pfand
einer reinen Liebe an ſein Herz zu drücken. Unge¬
recht, wie ich war — auch gegen mich ſelbſt — grollte
[110] ich des Knaben ſtürmiſcher, ſchwer zu zähmender Na¬
tur; er wurde mir zum Wildling Muhme Juſtinens;
zu dem verlorenen Kinde der Sünde und vergeblich
ſuchte der alte Freund aufzuklären und zu entſchul¬
digen. „Er lügt niemals und er iſt beherzt vor allen
Anderen,“ ſagte der Freund; ich aber ſagte: „Er iſt
eine Range vor allen Anderen,“ und wenn Auguſt
Müller zwanzig Jahre ſpäter erzählt hat, daß das
Bild Fräulein Hardinens ſich ihm durch eine draſtiſche
Manipulation eingeprägt habe, ſo erinnere ich mich
dieſer Thatſache wahrſcheinlich nur darum nicht, weil
mir nicht einmal, ſondern hundertmal zu ſolchem Cor¬
rectiv die Hände zuckten.
Alles war mir verleidet; alles vergällt, zumeiſt
der Aufenthalt im Elternhauſe. Denn das Haus war
die Stätte des Verraths, der mich mein Selbſtgefühl
gekoſtet hatte und vor den ehrlichen Augen der Eltern,
die nur durch meine Schuld Mitſchuldige an demſelben
geworden waren, konnte ich nicht beſtehen. Ich lang¬
weilte mich in dem ohne mich ausgefüllten häuslichen
Getriebe und der geſellſchaftlichen Plattheit hatte
ich mich in dem freien, ländlichen Weſen meiner
Reckenburg bis zum Widerwillen entwöhnt. Denn die
Natur, auch in ihrer einfachſten Form, ſpricht immer
[111] neu und geiſtvoll zu Einem, der nicht blos eine be¬
ſchauliche, ſondern eine wirkende Stellung in ihrem
Bereiche eingenommen hat.
Der Beſuch in der Heimath verkürzte ſich daher
von Jahr zu Jahr; in den letzten bis auf wenige
Tage. Meine Gegenwart in Reckenburg wurde immer
unentbehrlicher; freilich auch immer undankbarer und
gebundener. Alles ſtockte, Allem drohte der Verfall
unter der wahnſinnigen Goldſucht der Greiſin. Die
bewährten Diener und Gehülfen verſagten ihren Dienſt;
ich mußte kämpfen um jeden Thaler, den ich aus den
Erträgen den gierigen Händen vorenthielt, ja ich mußte
zur Täuſchung, zum offenbaren Betrug meine Zuflucht
nehmen: heimlich Korn verkaufen, um die Arbeiter zu
bezahlen, daß die Aecker nicht brach liegen blieben;
heimlich Holz fällen laſſen, um die Forſtwärter zu be¬
ſolden, daß das überhand nehmende Wild nicht Saaten
und Schonungen vernichte.
Wenn ich dieſe dämoniſche Selbſtzerſtörung, die
Entartung der trefflichſten Anlagen vor Augen ſah,
oder die von Geſchlecht zu Geſchlecht wachſende Ver¬
wilderung der Gemeinde, welche ſeit jenem Brande
ſelber des ſchützenden Daches über dem Gotteshauſe
entbehrte, wenn ich ihre Reden erhaſchte von dem Beelze¬
[112] bub, dem das Geſpenſt im Goldthurm ſeine Seele
verſchrieben habe, Reden, vor deren Logik die Gegen¬
rede verhallte wie leerer Wind, da fragte ich mich oft¬
mals mit höhnendem Grimm, warum nicht in jedem
Tollhaus eine Station für Geiznarren errichtet ſei?
und noch öfter kämpfte ich mit der Verſuchung, eine
gerichtliche Curatel für meine unzurechnungsfähige
Verwandtin zu beantragen.
Aber ich kämpfte ſie nieder. Die Frau, die ſo
kraftvoll gelebt hatte, um ſo kümmerlich zu verſiechen,
ſtand in ihrem zehnten Jahrzehnt und nicht auf das
Zeugniß hin der Letzten, die ihren Namen trug, ſollte
ſie in den Regiſtern ihres Landes als eine Thörin
verzeichnet ſtehen. Noch war ich ſtark genug gegen die Ver¬
wüſtung Stand zu halten, bis ein zögernder Naturlauf die
Verwalterin zur Herrin ihres heimathlichen Grundes ma¬
chen, oder ſie für immer von demſelben vertreiben mußte.
Jahr um Jahr ſchlich dahin in dieſem Zuſtande
äußerlicher und innerlicher Latenz, wie der Arzt ein
lähmendes, laſtendes Siechthum nennt und der Kriſe
harrt, die ſeinen Patienten, ſei es im Tode, ſei es zu
einem verjüngten Leben befreit.
Und dieſes heimlich lauernde Elend verſpürte das
einſame Mädchen in dem Waldwinkel von Reckenburg,
[113] mehr noch als an ſich ſelber, an dem geſammten Weſen
ſeiner vaterländiſchen Zeit. Mit dem geſchärften Sinn
eines unbeſchäftigten Gemüths ſah es, über die eigne
Leere hinaus, die ſchwankenden Bewegungen von
Schwäche zu Schuld, ſah die Kraft ſeines Volkes, hier
überſchraubt, dort verſumpfend, einer Kataſtrophe ent¬
gegenſchleichen, die es zerreiben, oder aufrütteln mußte
zu einer erneuernden That.
Ich weiß, was Ihr ſagen wollt, meine Freunde,
oder mindeſtens was Ihr ſagen dürftet: Sei's um das
lauernde Siechthum der deutſchen Welt, wenngleich du
auch darin vielleicht die nachträgliche Erfahrung, oder
etwa den Contraſt deines rohen Reckenburger Völkchens
mit dem zarten Literaturfreunde im Kloſter als Zeichen der
Zeit deinem Spürſinne zu Gute geſchrieben haſt. Nun ſei's
darum. Was aber das Pathos deiner perſönlichen Latenz
betrifft, Fräulein Ehrenhardine, das war wohl nichts an¬
deres als der unbehagliche Zuſtand jedweden Jüngferchens,
das allmälig aus den Zwanzigern in die Dreißig hin¬
überſchreitet. Warum heiratheteſt du nicht? Du warſt
nicht ſchön und lieblich, wie wir dir glauben wollen; aber
du warſt tüchtig und reſpectabel und was mehr be¬
deutet, du warſt vorausſichtlich die Erbin des „grünen
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 8[114] Röcklein“ deiner Reckenburger Flur. So ein Röcklein
aber iſt kleidſam auch ohne Venusgürtel. Fehlte es
dir an Freiern, oder ſpielteſt du die Amazone?
Keines von Beiden, meine jungen Querulanten.
Fräulein Ehrenhardine war ſattſam ernüchtert, um
auch ſonder Sehnſucht und Neigung, eine verſtändige,
anſtändige Heirath für ein beſſeres Correctiv ihres
Siechthums zu halten als ſelber den Heimfall ihrer
Reckenburg. Was aber die Schaar ihrer Freiwerber
anbelangt, oho! eine väterliche Schwadron hätte ſie
mit ihren Cavalieren füllen können. Alt und jung,
bekannt und unbekannt, von fern und nah meldeten
ſie ſich, durchdrungen von den Reizen und Tugenden
der letzten Reckenburgerin. Sobald dieſe Letzte aber,
wahrheitsgemäß, die Reize und Tugenden als das
einzige verbriefte Kunkellehn der Reckenburgs in Er¬
wägung ſtellte, da ſah ſie jenen Zuſtand der Latenz
ſich plötzlich auch über die flott avancirte Ritterſchaft
verbreiten. Männiglich dämpfte ſich die Leidenſchaft
zu einem rhytmiſchen Tempo gleich dem der Menuet
in der choreographiſchen Schule Eberhards von Recken¬
burg: Cavaliers à droite, à gauche, en arrière!
nicht einen ganzen Pas, kaum einen halben und
jederzeit mit tiefer Reverenz und graziöſem Portebras,
[115] — doch ſo langathmig wie das Leben in dem Gold¬
thurm der Reckenburg.
Als aber, — um vor der Hand mit dem matri¬
monialen Kapitel abzuſchließen, — als aber jenes
langathmige Leben endlich dennoch ausathmete, und
die Reize und Tugenden der letzten Reckenburgerin in
dem grünen Röcklein ihrer Heimath ſtrahlten, da wußte
ſie Beſſeres zu thun, als die Blöße eines harrenden
Ritters unter ſeinen Falten zu verbergen. En arrière
cavaliers! hieß es nun ihrerſeits; en arrière au
galop!
Und das Herz hat ihr nicht geklopft bei dieſer
Freierſcheuche. Denn zu ihrem Glück oder Unglück,
hatte ſie früh nach großen Maaßen meſſen gelernt,
und ein verführeriſcher Antinous, ein Charakter wie
Mosjö Per—ſé zählten nicht zu ihrer ſpäteren Clientel.
Die Herbſtereigniſſe von 1806 trieben mich eilend
und vorausſichtlich für längere Zeit in das Elternhaus
zurück. Der Kurfürſt hatte ſich in letzter Stunde für
den Krieg entſchieden und mein alter Vater mußte zum
zweiten Male unter preußiſchem Banner zu Felde ziehen.
Die Mutter, deren Geſundheit ſich ſeit jenen
Trennungsjahren nicht wieder erholt hatte, brach bei
dieſem zweiten Abſchied ohne Widerſtand zuſammen.
8*[116] Heute ahnte ſie den Todesſtreich, den ſie damals nur
gefürchtet hatte und als der ehrliche Purzel ſeinen
alten Troſtſpruch wiederholte: „Gnädige Frau, es
paſſirt ihm nichts, und wenn ihm was paſſirt, da
komme ich gleich und melde Poſt,“ da verſuchte ſie
kein Lächeln, und ihr ſtarres Auge ſagte: „ich weiß,
daß du kommſt.“
Ich theilte dieſe apprehenſive Stimmung nicht.
Die Campagnen Napoleons waren nicht von der
Dauer der Rheinfeldzüge; die gegenwärtige ſpielte ſich
vorausſichtlich in unſerer Nähe ab, und warum ſollte
man von vornherein an Gottes Schutz verzweifeln,
wenn man denſelben ſchon einmal mit ſo viel Dank
empfunden hatte? Ich hoffte den theueren Mann
wiederzuſehen, bald wiederzuſehen.
Deſto unbezwinglicher war mein düſteres Vor¬
gefühl des allgemeinen Looſes. Wie einſame Hirten
oder Jäger Wolken- und Sternenlauf verſtehen lernen,
ſo hatte in meiner geiſtigen Vereinzelung ich mich ge¬
wöhnt, die Blicke aufmerkſam auf den umzogenen
Horizont unſeres Zeitweſens zu richten, und es waren
drohende Wetter, die ich aufſteigen ſah. Nun kam
ich heim. Unſer Städtchen glich einem preußiſchen
Feldlager. Der größte Theil der Armee, von der ich
[117] Bruchſtücke ſchon während der vorjährigen Mobil¬
machung hatte kennen lernen, zog durch unſere Straßen,
dem unfernen Hauptquartier entgegen. Mit natür¬
lichem Scharfblick für alles Praktiſche und als Sol¬
datenkind mit manchen militairiſchen Bedürfnißfragen
vertraut, mußten mir während dieſer Eindrücke Be¬
denken aufſteigen, welche die Folgezeit nur all zu
deutlich gerechtfertigt hat.
Mehr aber als dieſe actuellen Anſchauungen war es
eine nachſchleichende Erinnerung, welche ſich unheilweiſ¬
ſagend zwiſchen den bunten Wechſel drängte. Ich ſah
und hörte die cavalière Laune unter den Epigonen
aus Friedrichs Heldenſchule, die einzige Stimmung,
welche öffentlich zur Schau getragen ward und welche
die weniger heißblütigen ſächſiſchen Bundesgenoſſen
häufig genug verletzte; — nun man konnte ſie be¬
lächeln. Ich wechſelte, in flüchtigem Begegnen, ein
Wort mit dem heldenmüthigen Prinzen, der mich,
wenn auch mit genialiſcherem Gepräge, ſo lebhaft an
den Betrauerten von Valmy erinnerte; ich verneigte
mich vor der Huldgeſtalt der Königin und las die ſtolze,
ſiegeriſche Zuverſicht in dem ſchönſten Frauenauge:
— nun jenes Wort und dieſer Blick hätten das Ver¬
trauen beleben dürfen.
[118]
Aber ich ſah auch an der Spitze der Armee wieder
den halbſchlüſſigen Feldherrn von Zweiundneunzig, wo
Friedrichs Ruhmesfahne ſich zu ſenken begann; heute
ein Greis, von Greiſen umgeben und gegenüber nicht
einer Rotte von Sanscülotten, ſondern einer ſieges¬
trunkenen Armee unter einem Kaiſer Napoleon. Und
jener Autorität der Erinnerung ſah ich wieder einen
König von Preußen freiwillig unterſtellt, einen nüch¬
ternen, ſchüchternen Herrn, in deſſen ernſten Augen,
— von Allen allein, — ein Spüren der Kataſtrophe
zu leſen war; ein Ahnen aller Leiden der Zeit, die er
zu ſpät verſtehen lernte.
Die Armee hatte ſich ſeit faſt zwei Wochen weſt¬
wärts den Fluß entlang gezogen. In der Stadt war
keine Beſatzung zurückgeblieben, eine bängliche Stille
dem lauten Treiben gefolgt: die Stille vor dem Sturm.
Von Stunde zu Stunde erwartete man die Nachricht
eines Zuſammenſtoßes, Niemand aber ahnte, wo der
gefürchtete Sieger von Auſterlitz, der nach der letzten
Kunde, Anfang Oktober, in Würzburg angekommen
war, dieſen Zuſammenſtoß ſuchen, oder ihm begegnen
werde. Auch die Armee ahnte es nicht, wie uns ein
erſter Brief des Vaters angedeutet hatte.
Die letzte Nachricht über ihn brachte uns der
[119] Probſt, deſſen Sohn in ſeinem thüring'ſchen Pfarr¬
hauſe den Freund ſeines Vaters gaſtlich beherbergt
und ihn wohlbehalten und wohlgemuth gefunden hatte.
Der Haupttheil der Sachſen ſtand bei dem Hohen¬
loheſchen öſtlichen Flügelcorps; unſer Huſarenregi¬
ment an der oberen Saale bei den Vorpoſten, welche
Prinz Louis Ferdinand führte. Noch war Jedermann
im Dunkel, ob das Corps dem Feinde entgegen auf
das rechte Flußufer rücken, oder ob es ſich näher an
die Hauptarmee bei Erfurt ziehen werde. Dieſer
Brief, datirt vom achten Oktober, erreichte uns erſt
am Nachmittage des elften. Die Mutter hörte den
beruhigenden Inhalt ohne Glauben und faſt ohne
Antheil. Sie ſaß in ſich verſunken in einem zehren¬
den Fieber. Mich durchzuckte ein Ahnen, daß auch
ohne vernichtenden Schlag ſie dieſe Prüfungszeit nicht
überdauern werde.
Am anderen Morgen durchliefen beunruhigende
Gerüchte die Stadt; Gerüchte, wie ſie in ſolchen Ta¬
gen in der Luft zu ſchwirren ſcheinen: Keiner ſucht
und erfährt ihren Heerd. Ich las ſie in den Mienen
der Vorüberſtürzenden, fing ſie auf aus ihren halben
Worten, wenn ich auf einen Augenblick die Mutter
zu verlaſſen und auf die Straße zu treten wagte. Rei¬
[120] ſende wollten ſchon geſtern franzöſiſchen Truppenzü¬
gen begegnet ſein, die ſich auf dem rechten Ufer ſaal¬
abwärts bewegten; man ſah die verbündete Stellung
umgangen, ſah in ihrem Rücken den Feind ſich im
Kurfürſtenthum feſtſetzen; man glaubte ſich keine Stunde
mehr ſicher, dachte an's Bergen ſeiner Habſeligkeiten,
an Verproviantirung, an Flucht.
Die Aufregung wuchs, als gegen Mittag die
Sage von mehreren, für die Verbündeten unglücklichen
Vorpoſtengefechten, die ſchon am neunten ſtattgefun¬
den und die Kavallerie hart mitgenommen haben ſoll¬
ten, verlautete; ſie ſtieg zum Höchſten, als einige
Stunden ſpäter — wie? durch wen? ja, Gott weiß
es! die unheilvolle Kunde von Mund zu Mund lief.
Eine Schlacht — ſo hieß es — hatte ſtattgefunden,
der Feind den Uebergang gegen den preußiſchen Prin¬
zen, und demnach auch gegen unſer ſtädtiſches Regi¬
ment erzwungen. Die Verluſte wurden ungeheuer ge¬
nannt, unter ihnen ſogar der Name des heldenmüthi¬
gen Prinzen.
In dieſer Spannung des Lauerns und Horchens
neigte ſich der Tag. Die Frankfurter Poſt traf ein,
zwei Staffetten folgten ſich raſch auf den Straßen
nach Halle und Leipzig. Immer dichter wurden die
[121] Gruppen vor dem Poſthauſe uns gegenüber, immer
angſtvoller die Geberden; mir war, als ob alle Blicke
nach unſerem Hauſe gerichtet ſeien. Ich ertrug es
nicht länger.
Die Mutter ſaß unbewegt auf dem Schlafſtuhle
am Fenſter; ſie blickte ſtarr auf das Gedränge, aber
ſie fragte nach nichts. Ich ließ ſie unter Obhut der
Magd. Es dunkelte bereits. Ich lief hinüber nach
der Poſt; es waren kaum hundert Schritte, in weni¬
gen Minuten konnte ich zurück ſein.
Und in wenigen Minuten war ich zurück, die
Botſchaft im Herzen, die, ich wußte es, dem einzigen
geliebten Weſen, das mir auf Erden geblieben war,
wie ein Todesurtheil klingen mußte. Der theure
Mann war dahin! gefallen an der Spitze ſeines Re¬
giments während jenes letzten, unglücklichen Reiter¬
ſturmes, der auch dem fürſtlichen Führer zum Ver¬
hängniß werden ſollte. Wie ſtarrte ich, wie grauſte
mich, als ich die Schwelle überſchritt, die, ſo lange
ich denken konnte, zu einer Stätte beglückten Friedens
geführt hatte. Es waren nur wenige Minuten —
und ich fand ſie in eine Sterbekammer umgewandelt.
In ihrem Stuhle am Fenſter, ſo wie ich ſie ver¬
laſſen hatte, lehnte die unglückliche Frau mit ſchlaffen
[122] Gliedern und gebrochenem Blick, einer Leiche gleich.
Zu ihren Füßen lag händeringend die Magd, und
vor ihr, noch athemlos keuchend, laut ſchluchzend,
mit Blut und Koth beſpritzt, den Arm in der Schlinge,
ſtand der Schreckensbote, der mir zuvorgekommen war.
Der ehrliche Purzel hatte Wort gehalten. Als
von allen Seiten die Feinde immer dichter und dich¬
ter ſchwollen, als ringsum die Freunde zu wanken
begannen, jetzt auch, nach einem letzten muthigen An¬
griff, die Schwadronen ſeines eigenen Regiments aus¬
einanderſtoben; als er den Prinzen, der ſie vorgeführt
hatte, ſein Pferd wenden, und im nämlichen Augen¬
blicke auch ſeinen Herrn zu Boden ſtürzen ſah: da
hatte er keinen Gedanken mehr, als ihn zu retten und
da er ihn todt fand, rettungslos todt, ihn ſeitab in
einem Buſche zu bergen, dann aber Kehrt zu machen,
der arme Wicht, von dannen zu jagen, als ſein Pferd
zuſammenbricht, zu laufen, athemlos faſt Tag und
Nacht, bis er „ſein Haus“ erreicht, und ſeine Frau,
der er Poſt verſprochen hat, der erſte Flüchtling,
welcher die Kunde des ahnungsſchweren Vorſpiels von
Saalfeld in die Heimath trug.
Das mörderiſche Wort war nicht über ſeine Lip¬
pen gekommen; ein erſter, einziger Blick auf die ein¬
[123] tretende Geſtalt hatte das kranke, weiſſagende Herz
gebrochen. Ohne Zögern wurden die Mittel ange¬
wendet, die bei ſchlagartigen Lähmungen geboten ſind;
ſie friſteten das leibliche Leben auf unberechenbare
Zeit, das der Seele war todt und blieb es. Die un¬
glückliche Frau hat keinen Laut mehr vernehmen laſ¬
ſen, und, ich hoffe es, keinen unſerer Schmerzenslaute
mehr vernommen.
Das iſt der wühlendſte Schmerz, welchen eine
gleich große Sorge im Banne hält. Die lange Nacht
hindurch ſaß ich, und zählte mechaniſch die matten
Schläge des Pulſes, der jeden Augenblick erlöſchen
konnte. Mit grauendem Tage drängten ſich Theilneh¬
mende und Neugierige herbei; ich ſah und hörte ſie
kaum. Ich ſaß ſtarr und ſtumm.
Aus dieſem betäubten Zuſtande ſollte ich erlöſt
werden durch eine Freundesthat, die wie keine andere,
vorher und ſpäterhin, mein Herz gerührt hat. Was
es heißt, Treue zu ernten, wo die Väter Liebe ge¬
ſäet, ich hätte es in dieſen Tagen lernen können. Und
doch habe ich zwanzig Jahre nach ihnen hingelebt,
ohne ein gleiches Samenkorn auszuſtreuen. Freilich
hatte ich keinen Erben, dem es Frucht getragen haben
würde.
[124]
Es war um die Mittagsſtunde, als ich einen
Wagen in unſere Thorfahrt lenken hörte, — hörte,
ohne es zu beachten. Ein Wink des alten Soldaten
rief mich von dem Bette der Mutter; er zitterte und
weinte wie ein Kind, und der, vor welchen er mich
führte, zitterte und weinte wie er. „Fräulein Har¬
dine,“ ſtammelte Chriſtlieb Taube, „ich bringe Ihnen
was von dem gütigſten Menſchen, der auf Erden ge¬
lebt hat, zu retten war.“
Seinen Leichnam. Er hatte ihn in dem bergen¬
den Gebüſche entdeckt, als er mit ſeinem Prediger,
des Probſtes Sohn, das nahe Kampffeld nach Ver¬
wundeten durchſuchte; hatte ihn darauf im eilig aus
rohen Brettern gezimmerten Sarge zwiſchen die letz¬
ten Eichenblätter des Jahres gebettet, im Gotteshauſe
prieſterlich einſegnen laſſen, und ganz allein im leich¬
ten Korbwägelchen, Tag und Nacht faſt ohne Aufent¬
halt, ihn als letzten Troſt den Menſchen zugeführt,
die er ſeine Wohlthäter nannte.
Und da lag er nun, der Mann mit dem braven
Herzen, unverändert, wie ich ihn ſo oft im Leben
hatte ſchlummern ſehen; das gute, kräftige Geſicht
durch keinen Zug der Qual entſtellt. Noch hielt er
den Säbel feſt in der geballten Fauſt, und nur eine
[125] kleine durchbrannte Oeffnung im Collet bezeichnete die
Stelle, wo die Kugel in das Herz gedrungen war.
So ſtarb er einen raſchen, rühmlichen Reitertod, im
Bewußtſein eines gerechten Kampfes, vor den Tagen
der Schmach, die jahrelang auf ſeinem Stande und
Vaterlande laſten ſollten, und deren endliche Sühne
ſeinem Alter wohl kaum gegönnt geweſen wäre. Mein
theurer Vater, Gott hat es am beſten gewußt, auch
für Dich!
Niemals im Leben habe ich ſo geweint, ſo die
Wohlthat der Thränen empfunden, als vor dieſem
Todesbilde. Als ich den Kopf von ſeinem Herzen
erhob und die Hand des treuen Freundes drückte, der
ſtillbetend am Fußende des Sarges auf ſeinen Knieen
lag, da fühlte ich den alten Muth und die gewohnten
Kräfte wieder in mir aufgelebt. Es war, als ob ein
Sonnenſtrahl ſich durch bleiernen Winternebel kämpft;
nur eine Sekunde lang; bald umfängt uns wieder
der nächtliche Schatten. Aber wir haben uns des
unvergänglichen Lichtes dort oben erinnert.
Eine plötzliche Hoffnung durchzuckte mich. Ob
der Anblick des geliebten Mannes nicht den erlahm¬
ten Sinn der Mutter erwecken ſollte? Der herbeige¬
rufene Arzt zeigte kein Bedenken gegen den gewagten
[126] Verſuch, aber auch keine Hoffnung auf ſein Gelingen.
So wurde denn der Sarg in das Zimmer getragen
und an Stelle des Sophas, wo der Geſchiedene ſo
oft der Ruhe gepflogen, niedergelaſſen. Der Mantel
bedeckte die ſteifen Glieder, nur der Kopf lag wie im
friedlichen Schlummer.
Auf meinen Armen trug ich die Kranke wie ein
hülfloſes Kind aus der Kammer und gab ihr dem
Sarge gegenüber einen Platz. Mit welcher Span¬
nung ich in ihren Zügen forſchte! Ach, die ſtarren
Blicke richteten ſich wohl mechaniſch auf des Todten
Geſicht, aber kein Zucken verrieth eine Freude oder
einen Schmerz, nicht das leiſeſte Zeichen, daß ſie ihn
erkannte, daß ſie ihn nur ſah! Das Herz war todt,
vielleicht ſchon jenſeits bei ihm; nur das Blut wallte
noch in der entſeelten Maſchine. Wie lange Zeit, ob
Stunden, ob Jahre? Der Arzt zuckte ſchweigend die
Achſeln, als mein troſtloſer Blick ihm dieſe Frage
ſtellte.
Wir richteten die Kranke in meinem Dachzimmer
ein, um die unteren Räume für den Todten frei und
ſtill zu halten. Peinvolle Verabredungen wegen der
Beſtattung mußten getroffen werden. Der alte Sol¬
dat hatte keinen Kameraden am Ort, der ihm das
[127] Ehrengeleit zu ſeiner Ruheſtätte geben konnte, der
letzte Reckenburg keinen Sohn, keinen Blutsverwand¬
ten, welcher die erſte Handvoll Erde auf ſeinen Hü¬
gel rollen ließ. Seine Tochter aber ſollte ihm auf
dem letzten Gange nicht fehlen. Daß dieſer Gang
möglichſt ſtill und unbemerkt geſchehe, wählte ich eine
abendliche Stunde, und traf der gute Taube in die¬
ſem Sinne die erforderlichen Vorkehrungen. Er ſelber
grub bis in die Nacht hinein mit dem alten Diener
das Grab, für welches ſich ein Raum neben der Fa¬
ber’ſchen Erbſtätte gefunden hatte. Die alten Haus¬
genoſſen ſollten auch unter der Erde bei einander
bleiben.
Erſt nachdem dieſer wehmüthige Freundesdienſt
beendet war, machte ſich der gute Taube auf den Weg,
dem Freunde im Kloſter die Trauerbotſchaft zu brin¬
gen, bei ihm zu nächtigen, und dann am Morgen ſein
altes Schuldorf wiederzuſehen. Sobald er am Abend
von der Begräbnißfeier zurückkehrte, ſollte dann die
Heimfahrt angetreten werden, Freund Purzel ihn be¬
gleiten.
Der arme Schelm war, nachdem er den erſten
Schrecken überwunden hatte, halb und halb zu der
reumüthigen Erkenntniß ſeiner Fahnenflucht gelangt.
[128] „Ich bin nicht ausgeriſſen, Fräulein Hardine,“ ſagte
er ſchluchzend, „blos verſprengt. „Und meine Wunde
iſt auch nicht zum Sterben, wie ich dachte, blos ein
Ritz. Nur meinen Herrn Major zur Ruhe, dann ſuche
ich das Regiment und laſſe mich todtſchießen wie er.“
Taube hatte während der Herfahrt erkundet, daß
die Vortruppen von Saalfeld ſich nordwärts auf das
Gros des Hohenlohe’ſchen Corps zurückgezogen und
mit dieſem Stellung bei Jena genommen hatten.
Dort war demnach das Regiment aufzufinden. Mehr¬
fältigen Ausſagen nach hielten jedoch die Feinde be¬
reits den Saalpaß bei Köſen beſetzt, und ſo mußte
man ſich zu einem Umwege durch das Unſtrutthal
entſchließen. Welches unſelige Verhängniß unſerer Armee
drohte, wenn jene feindliche Umgehung ſich bewahrhei¬
tete, durch welche gröblichen Irrungen ſie möglich ge¬
worden war, daran ſollten wir nur zu bald jammer¬
voll gemahnt werden; in jenen erſten Stunden per¬
ſönlichen Schmerzes fehlte uns der Vorausblick in die
allgemeine Lage.
Chriſtlieb Taube hatte den Weg zum Kloſter an¬
getreten, die Magd, nach der Unruhe der verwichenen
Nacht, früh ihr Bett geſucht; Purzel hielt Wacht, das
heißt, der arme übermüdete Menſch ſchlief ſelbſt wie
[129] ein Todter neben dem Sarge ſeines lieben Herrn.
Im Hauſe herrſchte Leichenſtille. Ich ſaß allein am
Bette der Mutter, ob Minuten oder Stunden lang,
ich weiß es nicht. Das Bewußtſein der Verwaiſung
war in dieſer ſtillen Einſamkeit zum erſtenmale deut¬
lich in mir aufgetaucht. Der Verwaiſung! Denn
das Herz, das unempfindlich neben mir pulſirte, war
ja nicht das einer Mutter mehr, und Keiner ermißt
die Oedigkeit dieſes Bewußtſeins, als der, welchem,
wie mir, mit dem zurückleitenden Faden das einzige
Band des Gemüths zerreißt. Ich war dreißig Jahre alt,
ohne Geſchwiſter, ohne Hoffnung auf ein kommendes
Geſchlecht, die Letzte meines Bluts und Namens, vor
mir, neben mir, hinter mir Alles leer, — — ja,
in Wahrheit, ich war eine Waiſe.
Und dann, ich war arm; wie auch die Zukunft
ſich geſtalten mochte, im Augenblick bitterlich arm.
Für meine eigene Perſon würde ich darin kaum ein
Lebenshemmniß gefunden haben. Ich hatte meinen
Poſten auf Reckenburg, und mußte ich eines Tages
von ihm weichen, „ſo gehe ich als Coloniſtin in einen
Hinterwald Amerikas,“ hatte ich mehr als einmal
lachend dem Probſte geantwortet, wenn er in mich
drang, die Gräfin an die Pflichten gegen mich zu er¬
Louise v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 9[130] innern. In meiner gegenwärtigen Stimmung würde
ich leicht aus dem Scherze Ernſt gemacht, jedenfalls
in einer größeren ländlichen Verwaltung meinen Platz
gefunden haben. Im Hinblick auf die Mutter, die
ich in ihrer langſamen Agonie nicht verlaſſen konnte,
wurde die Armuth zu einer drückenden Sorge.
Die Veränderung meiner Lage war indeſſen zu
neu und erſchütternd, als daß ich ſie mit klaren Ge¬
danken hätte durchdringen mögen. Nur wühlend und
brütend ſchlichen die Vorſtellungen an meiner Seele
vorbei. Die Lampe glimmte dunkel umſchirmt; das
Krankenzimmer mußte kühl erhalten werden; mich
fröſtelte, wie es auch den Kräftigſten nach großen Auf¬
regungen in einem Sterbehauſe fröſtelt. Seit zwei
Tagen hatte ich keinen Augenblick geruht, und ſo
überfiel mich jener bleierne Druck, welcher zwiſchen
Schlaf und Wachen die Mitte hält, und in welchem
wir uns vergeblich zu beſinnen ſuchen, ob die wech¬
ſelnden Erſcheinungen wirklich vor offenen Augen,
oder ob ſie im Traum an uns vorüberziehen.
In dieſem Zuſtande war es mir plötzlich, als
ſpüre ich das Streifen eines lebenden Weſens; ich
ſah eine verhüllte Geſtalt ſich über das Krankenbett
[131] endlich zwiſchen ihr und mir zu Boden gleiten. Die¬
ſes Geräuſch, dieſe Berührung ſcheuchten den Alp.
Es war kein Traum: die räthſelhafte Erſcheinung lag
zu meinen Füßen. Ich ſprang auf, ergriff die Lampe
und leuchtete in ihr Geſicht, — Dorothee! Dorothee
im Krampfe erſtarrt, eiſeskalt, ſtieren, glaſigen
Auges, die Zähne knirſchend zuſammengepreßt, die
Hände in der Gegend des Herzens in das Kleid ge¬
krallt, — das nämliche Schreckensbild, das die Mut¬
ter am Hochzeitstage verlaſſen hatte.
Alle Nebel des Geiſtes waren bei dem erſchüt¬
ternden Anblick geſchwunden, das eigene Schickſal faſt
vergeſſen. Ich trug ſie nach dem Sopha, öffnete das
Fenſter, flößte ihr von den belebenden Tropfen ein,
welche für die Mutter bereit ſtanden. Sie ſchien das
Bewußtſein nicht verloren zu haben, und es währte
nur wenige Minuten, bis die ſteifen Muskeln ſich zu
ſtrecken, die Glieder ſich zu erwärmen begannen. Der
Puls wurde fühlbar, nur aus den Augen wich erſt
langſam der ſtarre Ausdruck der Qual.
Sie war noch immer ſchön; dieſelbe biegſame,
jugendliche Geſtalt, dieſelbe Durchſichtigkeit der Haut in
dem gerundeten Kinderangeſicht. Die geſchonten Hände,
Haartracht und Kleidung, alles was ich ſah, zeugten
9*[132] von Eleganz und Behagen; alles, was ich kürzlich
während der preußiſchen Beſatzung über ihre geſell¬
ſchaftliche Stellung gehört hatte, ſprach von Sicher¬
heit und Ehren: Sie war ein geliebtes, ein glückli¬
ches Weib, und wie verlaſſen, wie elend hatte ich vor
wenigen Minuten vor mir ſelber geſtanden.
Und dennoch, — denn wer beſchriebe jenen heim¬
lichen Zug von Zwang, der gleich einem eiſernen
Stirnband die Unglücklichſten unter uns kennzeichnet?
oder gäbe es einen wehethuenderen Ausdruck, als den
der Angſt in einem Kinderauge? — und dennoch tönte
eine Stimme aus meinem Innerſten heraus: dieſes
ſchöne, geſegnete Weib iſt elender, gottverlaſſener
als Du!
Und als hätte dieſe Stimme ein Echo erweckt,
ſo flüſterten jetzt die bleichen Lippen: „Hardine, ich
bin elender als Du!“
Der Krampf war gelöſt; ſie athmete und be¬
wegte ſich frei; aber ſie ſprang nicht in die Höhe,
wie ſonſt; ſie erröthete nicht, ſenkte und hob nicht die
Lider, ſchmiegte ſich nicht an meine Kniee, an meinen
Arm, reichte mir nicht einmal die Hand. Sie ließ
das müde Auge in dem meinen ruhen und erhob ſich
langſam, wie in gewohnter, peinvoller Zurückhaltung.
[133]
Eben ſo ruhig ließ ſie ſich darauf, meinem ſtum¬
men Winke folgend, wieder nieder, und nachdem ich
neben ihr Platz genommen hatte, erklärte ſie, ohne
meine Aufforderung abzuwarten, ihr überraſchendes
Erſcheinen. Sie that es mit klaren, knappen Wor¬
ten, wie man berichtet, nicht wie man erzählt. Ihr
Laut war reiner, der Ausdruck reifer geworden, aber
der ſilberne Lerchenklang der Stimme drang wie durch
einen Flor.
„Faber,“ ſo ſagte ſie, „befand ſich ſeit Wochen
im Gefolge des Königs bei der Armee. Ich konnte
ohne Entdeckung, und wenn entdeckt, ohne Aufſehen,
eine Reiſe in die Heimath wagen, wegen der Zukunft
des Knaben Verabredungen treffen, vielleicht ihn ſehen.
Von der letzten Station ab ging ich zu Fuße nach
der Anſtalt. Es war Abend geworden. Der Probſt
verweigerte es, mich heute noch, kurz vor Schlafen¬
gehen, einen Blick auf den Knaben wer fen zu laſſen.
Es werde auffallen; Ahnungen, Erinner ungen, Ent¬
deckungen wecken. Der Knabe dürfe nicht an eine
Mutter denken, die ihm weder einen Va ter nennen,
noch ihn in ein Elternhaus führen könne.
„Ich mußte mich ſeinem Willen füge n,“ fuhr ſie
nach einer Pauſe mit faſt eiſiger Star rheit fort.
[134] „Niemals hätte ich das Herz, mich vor meinem Gat¬
ten als ſeine Mutter zu bekennen.“
„Und was fürchten Sie, wenn Sie es thäten?“
fragte ich. Sie ſtutzte, nein, ich glaube ſie ſeufzte
leiſe bei dem „Sie“, das ich unwillkürlich gebrauchte.
Doch ſchien ſie raſch über unſer verändertes Verhält¬
niß klar geworden und antwortete mit dem Ausdruck
reinſter Wahrheit: „Nichts für mich. Wenn er mich
verſtieße, ich würde ihm meine Bettlerfreiheit danken;
wenn er mich tödtete, ich würde ihn für die Erlöſung
ſegnen. Sie ahnen es nicht, Fräulein von Recken¬
burg, was es heißt, die Natur verleugnet zu haben.
Aber was ich fürchte, fragen Sie? Ich kann es deut¬
lich nicht ſagen. Ein unbeſtimmtes, vielleicht falſches
Vorgefühl des Haſſes, — der Rache, — da er den
Vater nicht mehr erreichen kann, gegen den unſchul¬
digen Knaben, der Feindſeligkeit auch gegen — ge¬
gen — —“
„Gegen die Schuldgenoſſen“ ergänzte ich.
Sie neigte den Kopf. „Er iſt ein gerechter, ein
argloſer Mann, und gütig, o viel zu gütig gegen
mich,“ fuhr ſie fort; „aber denke ich daran, ſo
blinkt es mir vor den Augen wie ein gezückter Dolch.
Er würde es niemals vergeben, und dem Schuldloſen
[135] vielleicht weniger als mir, die er ſich zu lieben ge¬
wöhnt hat. Alles das mag Selbſttäuſchung ſein;
auch die Scheu, das ätzende Gift in eine vertrauende
Seele zu gießen. Kann Eine ſich ſelber kennen, de¬
ren ganzes Leben eine Lüge iſt? So ſage ich denn
einfach: Ich habe nicht den Muth, die Wahrheit zu
bekennen. Und dann: ich habe nicht mehr die Kraft,
es zu thun. So oft ich reden will, überfällt mich
der Krampf, deſſen Zeugin Sie vorhin waren. Wollte
ich ſchreiben, die Hand würde mir erſtarren. Es iſt
keine Krankheit; es wird mich nicht tödten; ich werde
alt dabei werden, oder — oder —“ Sie deutete auf
die Stirn mit einem Ausdruck, der mich ſchaudern
machte.
„Haben Sie Kinder?“ fragte ich nach einer lan¬
gen Stille.
Sie ſchüttelte den Kopf. „Gott iſt gerecht,“
ſagte ſie nach einer langen Pauſe. „Nein, er iſt
barmherzig. Ich würde keinem Kinde eine Mutter
ſein können.“
„Und Ihr Gemahl?“
„Vermißt ſie nicht, oder zeigt mir nicht, daß er
ſie vermißt. Er iſt ſehr, ſehr ſchonend gegen mich
— und noch immer ſo beſonders,“ ſetzte ſie hinzu,
[136] indem zum erſten Male etwas, das einem Lächeln
glich, über ihre Züge lief. „Du biſt mein Kind,
Dorothee, hat er mir mehr als einmal geſagt. Kein
Arzt wünſcht einem geliebten Weibe das Martyrium
und die Sorgen der Mutterſchaft. Er ſieht der Qua¬
len genug außer ſeinem Hauſe.“
„Und haben Sie ſeine Liebe erwidern lernen?“
fragte ich. Sie ſah mich einen Moment groß an, als
ob ſie über eine wahrhaftige Antwort nachdenke.
Dann ſprach ſie: „Ich glaube, daß ich meine kindiſche
Scheu überwunden und ihn lieb gewonnen haben
würde, wäre ich ſein eigen geworden, damals, als ich
keine Urſache hatte, ihn zu fürchten. Heute aber, wo
ich ſie habe — lieben? — o nicht einmal wie einen
Wohlthäter, einen Bruder, einen Freund. Im Scla¬
vendienſt der Sünde erſtirbt das Gemüth.“
„Und auch dieſen Mangel fühlt er nicht?“
„Nicht daß ich es jemals geſpürt hätte. Meine
kühle Zurückhaltung paßt zu dem Traumbilde, das er
ſich von mir geſchaffen hat. Ich glaube, daß meine
urſprüngliche Natur ihm läſtig geworden ſein würde.
Entweder, Fräulein von Reckenburg, iſt die Liebe ein
Räthſel mit vielen Auslegungen, oder dieſer Mann
ahnt nicht, was lieben iſt.“
Wir ſaßen nach dieſen Worten eine Weile ſchwei¬
gend nebeneinander, dann fuhr ſie in der Mittheilung
fort, die meine Frage unterbrochen hatte. „Der Probſt
beredete mich, die Nacht in der Stadt in meinem al¬
ten Zimmer zu verbringen. Dort wollte er mir am
Morgen den Knaben unter irgend einem Vorwande
zuführen. Er begleitete mich nur bis an's Stadtthor,
da ich in ſeiner Geſellſchaft nicht geſehen und viel¬
leicht erkannt werden ſollte. Weder er, noch ich ahnte
ja das Schickſal, das dieſes Haus betroffen hat. Ich
ſah Licht im unteren Zimmer und fand die Hausthür
unverſchloſſen. Ich hätte mich ſtill hinaufſchleichen
mögen. Aber konnte ich unbemerkt bleiben? So trat
ich ein. Der alte Soldat ſchlief im Stuhle neben
dem verhüllten Lager und erwachte nicht. Ich hob
das Tuch und ſah in das todte Antlitz des Mannes,
den ich mehr als meinen eigenen Vater geliebt hatte.
Ich ſtieg die Treppe hinan und beugte mich noch ein¬
mal über Eine, die ich verehrt und die der Tod be¬
reits erfaßte. Nun wollte ich mich ungeſehen aus dem
Hauſe entfernen, Ihnen meinen Anblick erſparen, heute,
immerdar. Der Krampf überfiel mich. Vergeben
Sie mir, Fräulein von Reckenburg.“
Ich kann es nicht mit Worten ausſprechen, wie
[138] dieſer Ausdruck dumpfer Reſignation mir durch die
Seele ſchnitt. Was mußte das bewegliche Kind ge¬
kämpft haben, um ſo ſeiner Impulſe Herr zu wer¬
den, und was gelitten! Ich zog ihren Kopf an mein
Herz, drückte ihre Hand und ſprach: „Der Todte hat
Dich lieb gehabt wie ſein eigenes Kind — laß die bö¬
ſen Erinnerungen zwiſchen uns gelöſcht ſein, Dorothee.“
Ein Hauch, ſo roſig wie in ihrer glücklichſten
Zeit, flog über das bis dahin ſchattenbleiche Geſicht.
Sie beugte ſich über meine Hände und warme Thrä¬
nen rieſelten auf ſie herab. Die Wanduhr ſchlug
eben Mitternacht. „O Fräulein Hardine!“ rief ſie,
„wenn das Ihr Ernſt iſt — und Sie haben ja nie¬
mals ein Wort gegeben, das Sie nicht wahr gemacht
— o, ſo bethätigen ſie es auch heute, dieſe Nacht viel¬
leicht zum letzten Male, daß wir im Leben bei ein¬
ander ſind. Ruhen Sie und laſſen Sie mich wachen bei
dieſer theueren Frau, noch einmal ſie pflegen wie ſonſt.
Sie brauchen Kraft für den morgenden Tag, und ich,
könnte ich in ſeiner Erwartung ruhen? Gönnen Sie mir
die Wohlthat dieſes Vertrauens, Fräulein Hardine.“
„Ja, wache bei meiner Mutter, Dorothee,“ ant¬
wortete ich ohne Beſinnen, „ich will in Deinem Bette
drüben ſchlafen.“
Wie auf ein Zauberwort war ſie plötzlich wieder
die alte Dorl, küßte meine Hand, fragte nach der
ärztlichen Vorſchrift, richtete geſchäftig Alles für die
Nachtpflege ein, zündete dann Licht an und leuchtete
mir hinüber in ihre Mädchenſtube.
Unter der Thür ſtockte ihr Fuß; ſie ſah den
Raum ſauber in Ordnung gehalten, unverändert, wie
ſie ihn verlaſſen hatte. Im Fenſter breitete ſich ein
Strauch von Rosmarin, den die Mutter aus einem
jener Hochzeitszweige aufgezogen hatte.
Sie brach in einen Thränenſtrom aus und barg
das Geſicht hinter ihren Händen. „O daß ich nie¬
mals, niemals dieſe Schwelle überſchritten hätte!“
ſchluchzte ſie. Bald aber war ſie wieder ruhig und gefaßt,
ordnete mein Bett, half mir beim Auskleiden, miſchte
mir ein Glas Zuckerwaſſer, alles mit ihrer leiſe ſchwe¬
benden Art, küßte dann noch einmal meine Hand und
ging hinüber zur Mutter.
Ich aber, als hätte das liebliche Geſchöpf mir
einen Beruhigungstrank eingeflößt, ſchlief ungeſtört bis
zum grauenden Morgen. Als ich das Krankenzimmer
betrat, ſtand Dorothee am Fenſter in einem weißen
Morgenkleid aus ihrer Mädchenzeit, da ſie durch die
bunten Farben ihres Reiſeanzuges nicht allzu grell
[140] gegen unſere Trauer abſtechen wollte. Der reiche
Haarſchleier war der Zeitmode zum Opfer gefallen;
die kurzen Löckchen ringelten ſich natürlich um den
feinen Kopf. Sie ſtand hinter der Gardine und ſtarrte
mit flammenden Augen und eine Fiebergluth auf den
Wangen hinaus nach dem Knaben, den ſie nicht mehr
ihren Knaben zu nennen wagte.
Wie ſie aber auch ſtarren mochte, der dichte Mor¬
gennebel — der Nebel des vierzehnten Oktober! —
wehrte jede Umſchau. Sie ſprach keinen Laut; ein
leiſes Zittern durchflog die Geſtalt, über welche die
Leidenſchaft der Erwartung den lebensvollen Hauch
erſter Jugend ergoſſen hatte.
Endlich hörte ſie Schritte auf der Treppe und
ich folgte ihr bis unter die Thür. Aber es war der
Prediger allein, der die Schluchzende in ſeinen Ar¬
men aufgefangen hatte. „Mein Pflegeſohn folgt mir
in Kurzem,“ ſagte er. „Dieſe erſte Stunde gehöre
unſeren trauernden Freunden, liebe Dorothee.“
Damit trat er in das Krankenzimmer; auch einer
jener ſtillgetreuen, Balſamſpender für die verwundeten
Herzen, auch ein lange entfremdeter, wiedergefundener
Freund.
Er wurde uns allen ein Rather und Ordner an
[141] dieſem unruhvollen Tage; zumeiſt aber hatte Doro¬
thee, die in ihrer Erregung häufig die vom Freunde ge¬
botene Vorſicht vergaß, ihm ihr gelungenes Incognito
zu danken. Chriſtlieb Taube war bis zum Abend über
Land, der alte Diener in Begräbnißangelegenheiten
früh aus dem Hauſe entfernt, die Thorfahrt für Be¬
ſucher und Neugierige verschloſſen worden. Der
Magd durfte vertraut werden, ſie war als Auswär¬
tige mit der Vergangenheit des Hauſes unbekannt,
und hatte in ihrer blöden Ehrlichkeit von der fremden
Leidtragenden in dem Trauerhauſe kaum Notiz ge¬
nommen.
Die Freunde hatten unſerem Todten Lebewohl
geſagt und mich allein an ſeinem Sarge in der Kam¬
mer zurückgelaſſen. Ein Geräuſch unter der Thür
weckte mich aus meiner Verſunkenheit; es war der
Prediger, der ſeinen Pflegling vor die Leiche führte,
um deſſen Aufmerkſamkeit von der heftig erregten
Mutter abzulenken. Wenn er darüber hinaus etwa
einen von dem Soldatenhandwerk abſchreckenden Ein¬
druck bezweckte, ſo hatte ſein Plan, nach mancher
weislichen Pläne Art, die entgegengeſetzte Wirkung;
er hatte nur die Begierde, das Soldatenblut in dem
Knaben geweckt.
[142]
Auguſt Müllers Jugenderinnerungen haben Euch,
meine Freunde, ein anſchauliches Bild der nachfolgen¬
den Scene gegeben. Laßt mich nur Eins hinzufügen.
Als der Knabe ſo friſch und fröhlich rief: „Ich möchte
auch für das Vaterland ſterben!“ und jener marker¬
ſchütternde Schrei ſich dem Mutterherzen entrang, da
fühlte ich meinen ungerechten Groll gegen den „Wild¬
ling“ ſchwinden; ich ſah in ihm wieder den Sohn des
Freundes, der die Bethörungen der Jugend durch ein
ritterliches Ende geſühnt hatte. Und ſo ſollten denn
dieſe ſchweren Prüfungstage nach allen Seiten hin zu
einem friedlichen Abſchluß führen.
„Ich werde ihn niemals wiederſehen, niemals!“
mit dieſem Aufſchrei war die unglückliche Mutter zu¬
ſammengebrochen, als die Thür ſich hinter ihrem Kinde
ſchloß. Der geſtrige Krampf hatte ſie überfallen.
Wir trugen ſie in ihr Zimmer hinauf und an dem
Herzen, unter den Thränen des alten Freundes er¬
wachte ſie wieder zum Leben. „Gott iſt der Vater
der Fremdlinge und Waiſen,“ flüſterte ſie, das glä¬
ſerne Auge auf ihn gerichtet, „und Du biſt Gottes
Prieſter auf Erden.“
Nach dieſen Worten entfernte ich mich, die Beiden
zu einer langen Unterredung über des Knaben Zukunft
[143] beieinander laſſend. Eine anſehnliche Summe für
Lehrgeld und erſte Einrichtung des künftigen Forſt¬
eleven iſt ſeinem alten Beſchützer bei dieſer Gelegen¬
heit eingehändigt worden. Mit mir ſprach Dorothee
bis zum Abſchied keine Silbe mehr; ſie hielt ſich aus¬
ſchließlich im Krankenzimmer und folgte demüthig des
Freundes Winken. Das eiſerne Band, von dem ſie
ſich für etliche Stunden befreit, drückte ſchon wieder auf
ihre Stirn. Sie hatte ſich von Neuem unter die Wucht
ihres Verhängniſſes gebeugt und hätte ich heute noch
von ihr fordern dürfen: Zerbrich es, oder entfliehe ihm?
Während dieſer Vorgänge hatten ſich die erſten
dumpfen Gerüchte über die ungeheure Kataſtrophe die¬
ſes Tages in der Stadt verbreitet. Bauern, welche
von den entfernteren weſtlichen Dörfern zum ſtädtiſchen
Markte kamen, wollten ſeit dem Morgengrauen un¬
ausgeſetztes Kanonenfeuer vernommen haben; Leipziger
Kaufleute, die von Frankfurt zurückkehrend, in Naum¬
burg übernachtet hatten, ſprachen mit Beſtimmtheit
von der gelungenen Umgehung Davouſt’s und einem
blutigen Zuſammenſtoß mit der Hauptarmee, der man
geſtern auf dem Marſche von Weimar nach Eckarts¬
berga begegnet war. Man nannte ſogar ſchon das
Dorf Haſſenhauſen als den Punkt, wo der Kampf
[144] um den Saalpaß entbrannt war. Wer von unſeren
Bürgern ein Fuhrwerk oder ein Pferd auftreiben konnte,
wagte ſich eine Strecke in abendlicher Richtung voran,
um die Wahrheit dieſer Angaben und ihre Folgen zu
erkunden.
Wieder wogte es unruhig auf dem Markte durch¬
einander; aber nicht ein Auge von den vielen blickte
hoffnungsvoll, nicht eine Stimme redete beherzt. Das
tragiſche Vorſpiel von Saalfeld hatte die düſterſten
Ahnungen verbreitet.
Keiner aber fühlte dieſe Vorahnungen drückender
als die, welche in dem Hauſe der Trauer um das
Opfer von Saalfeld den Tag des vierzehnten October
in ſchweigendem Brüten dahinſchleichen ſahen und wer
möchte die wehevollen Stimmungen erſchöpfend ſchil¬
dern, die binnen weniger Stunden ſich unter dem
einen Dache begegnet waren? Trauerſpiel ſchob ſich
in Trauerſpiel; das perſönliche in das allgemeine, das
vergangene in das zukünftige. Ein Jeder fühlte im
beſonderen einen Kummer, eine Sorge, eine Angſt und
Qual; jeder Einzelne theilte die des Andern und über
Allen ſchwebte das Schickſal des Vaterlandes wie eine
drohende Wolke.
So brach der Abend herein und das Grabgeleite
[145] ſetzte ſich in Bewegung. Obgleich ich es ſtill,
ohne fremde Zeugen gewünſcht, hatte ich es nicht
hindern können und wollen, daß die Bürgerſchaft faſt
ohne Ausnahme, Fackeln tragend, den Zug eröffnete.
Ehrten ſie doch den Tapferen, der für das Vaterland
gefallen war, betrauerten ſie doch einen alten, werthen,
langjährigen Heimathsgenoſſen.
Hinter dem Sarge ging nur ich mit dem Probſt,
gefolgt von Chriſtlieb Taube und dem alten Diener.
Und ſo ſenkten wir den theueren Mann zur Ruhe,
Alle in [Thränen], Alle in düſterer Beklemmung in der
verhängnißvollen Stunde, wo die gleichzeitig in zwei
Schlachten vernichteten Armeen, keine der anderen
Schickſal ahnend, in wilder Flucht aufeinanderſtießen.
Die erſte und noch unklare Kunde der Niederlage
bei Haſſenhauſen, — erſt ſpäterhin nannte man ſie
Auerſtädt, — traf uns, als wir von unſerem Trauer¬
gange heimkehrten. Chriſtlieb Taube mit ſeinem
„Verſprengten“ beſchleunigte darauf hin ſeine Abreiſe
in der ſchon geſtern angenommenen Richtung über
Freiburg. Auch Dorothee wurde von dem Probſte
beſtimmt, mit der Nachtpoſt die Rückreiſe anzutreten,
denn wer hätte dafür bürgen mögen, daß nicht morgen
ſchon ein wilder Troß von Freund und Feind die
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 10[146] Gegend überfluthete? So folgte dem erſten ewigen
Abſchied nun eine Trennung nach der anderen und
keine wohl ohne das Vorgefühl des Nimmerwiederſehens.
Der ehemalige Lehrer und Bewerber ahnte nicht,
daß er mit der Gattin Siegmund Fabers unter einem
Dache geweilt hatte. „Das treue Herz iſt ſchwer zur
Ruhe gekommen, beirren wir es nicht von Neuem“,
hatte der gemeinſame alte Freund gemahnt und Dorothee
ſich verborgen gehalten, bis das Wägelchen von dannen
rollte. Ich aber ſollte Zeuge ſein, daß das treue
Herz noch keineswegs zur Ruhe gekommen war. Ich
traf den guten Menſchen, nachdem er uns Lebewohl
geſagt hatte, ſeine Thränen trocknend, auf der Schwelle
von Dorotheens Mädchenſtube. „Die vergißt keiner,
der ihr einmal angehangen hat“, ſagte er mit gebrochener
Stimme. Ein elegiſches kleines Zwiſchenſpiel inmitten
ſo vieler Schreckensbilder!
Dorothee hatte ihre Reiſekleider angelegt und ich
hielt ihre Hand zum letzten Lebewohl. Es war für
uns beide ein Tag des Schweigens, geweſen; jetzt be¬
drückte etwas ihr Herz, für das ſie ſichtlich um den
Ausdruck kämpfte. „Darf ich reden?“ fragte ſie end¬
lich mit niedergeſchlagenen Augen und als ich die
Frage herzlich bejahte, ſagte ſie haſtig:
„Sie werden eines Tages reich ſein, ſehr reich,
Fräulein Hardine, — bald vielleicht. — Aber für den
Augenblick, — bei der Verwirrung im Lande, — wenn
Sie vielleicht — vielleicht — —“
Ich ſchüttelte ablehnend den Kopf.
„Sie ſollen das Darlehn nicht von mir annehmen,
Fräulein Hardine, Sie würden es nicht, ich weiß es.
Aber — von Ihm. Er erwirbt ſo viel und achtet
es ſo wenig. Er braucht ſo wenig. Sie würden ihn
glücklich machen, Fräulein Hardine.“
„Nein, Dorothee, — rief ich übereilt, — nein.
Von Dir dürfte ich ein Darlehn annehmen, eine
Unterſtützung, wenn ich ihrer bedürfte. Von Ihm —
nimmermehr!“ —
Ich ſah ſie erbleichen und bereute die böſe Mah¬
nung, die mir unwillkürlich entſchlüpft war. Ich zog
ſie an mein Herz, küßte ſie zum erſten Male im Leben
und wir trennten uns ohne weiteres Wort. Wenige
Minuten ſpäter hörte ich den Poſtwagen vorüberrollen.
Bei der allgemeinen Verwirrung hatte niemand in der
verhüllten, ſchweigſamen Reiſenden, die vielbeneidete
einſtige Mitbürgerin erkannt. Ihr flüchtiger Heimaths¬
beſuch iſt ein Geheimniß geblieben.
Auch der Probſt konnte in dieſer drangvollen
10*[148] Zeit ſeine Anſtalt nicht länger ohne Obhut laſſen.
Nach den zwei unruhvollſten Tagen meines Lebens ſaß
ich um Mitternacht wieder allein in dem todtenſtillen
Krankenzimmer.
Wie nun in der nächſten Zeit das allgemeine
Unheil, weit über alles Vorahnen hinaus, zu Tage
trat, wie die überſtolzen Sieger von der Stadt Beſitz
nahmen, die Landestruppen halb und halb als franzö¬
ſiſche Verbündete zurückkehrten; wie die gefangenen
Preußen verhöhnt, des Nothdürftigſten baar in Kirchen
und Schuppen gepfercht lagen, das ſtattliche Schloß, in
ein verpeſtendes Lazareth verwandelt, von Freunden
und Feinden ausgeplündert ward, wie aller Muth, alle
Kraft, aller gute Wille darniederlag; wie Alles ſich
ſtaunend, geblendet, bewundernd um den unüberwindlichen
Kaiſer drängte, als er an dem, ſieben Jahre ſpäter
für ihn ſo verhängnißvollen achtzehnten October durch
unſer Städchen gen Leipzig jagte, wie ein Jeder nur
noch Heil von der Gnade des Gottgeſandten erwartete, —
von dieſen Eindrücken des Grauens und Ekels laßt
mich ſchweigen. Sie haben die Erinnerung durchwühlt,
Jahrelang nachdem das perſönliche Herzeleid ſich in
Frieden gelöſt hatte.
Zur Stunde freilich dämpften die perſönlichen
[149] Nöthe den Antheil an dem allgemeinen Geſchick. Jenes
feindliche Gefolge, das ſo häufig einem großen Schmerze
nachhinkt und nach Tyrannenart ſich ſo hämiſch an
dem verachtenden Stolze rächt: die Sorge um das
gemeine Daſein, die Unruhe um das tägliche Brod,
ſchlummerloſe Nächte an einem Siechbette, Scham über
die erlahmende Kraft, demüthigendes Hoffen auf fremde
Hülfe, Zweifel und wie ſie ferner noch heißen mögen
die markſaugenden kleinen, — großen Erdenherren, —
ſie ſtiegen an meinem Horizonte auf. Flüchtig aller¬
dings, nicht zu einem erſchöpfenden Ringkampfe der
Kräfte, [vielleicht] nur darum, daß ich ſie kennen lerne
von Angeſicht zu Angeſicht, kennen und Anderer Noth¬
wehr würdigen lerne, ſobald ich eines Tages ſtärker
als Viele gegen ſie gerüſtet war. Ich lernte ſie kennen;
aber die Lehre habe ich bis nahe an das Greiſenalter
nicht beherzigt.
Das hülfloſe Hinſiechen meiner armen Mutter
konnte ſich Jahre lang friſten, unſere kleinen Erſpar¬
niſſe reichten aber kaum auf Monate aus. Der be¬
ſcheidene Gnadengehalt der Wittwe, wenn er in dieſen
Zeiten überhaupt gewährt werden konnte, würde unſere
mäßigſten Bedürfniſſe nicht gedeckt, Arbeit von meiner
ungeübten Hand ſchwerlich einen Abnehmer gefunden
[150] haben. Die Kranke hätte, nach des Arztes Ausſpruch,
ohne Gefahr nach Reckenburg überſiedelt werden dürfen;
aber nicht einmal einer Antwort würdigte uns die
Gräfin auf meine Anzeige des erlittenen Verluſtes,
auf des Probſtes wiederholte Darſtellung unſerer Lage.
Mit Recht hob dieſer fürſorgliche Freund hervor, daß
auch alle Ausſichten für die Zukunft mir entſchlüpfen
würden, wenn ein Anderer den von mir verlaſſenen
Verwaltungspoſten einnehmen und ſich geſchickt auf
demſelben behaupten ſollte, und wie viel bedeutender,
wie viel mächtiger lockend als ich mir bis dahin ein¬
geſtanden hatte, ſtellten dieſe Ausſichten ſich jetzt mir
dar. Alles in Allem: ich ſah keine Ausflucht aus
meiner Bedrängniß und das Pförtchen, das ſich mir
endlich erſchloß, das Pförtchen, welches heute von dem
Immergrün der Treue bekränzt, leuchtender vor der
Erinnerung ſteht als das Portal zu dem Goldthurme der
Reckenburg: damals war es eng und drückend für den
ſtolz gewöhnten Sinn.
Das Aſyl, welches die reiche Verwandtin in ihrem
leerſtehenden Palaſte verweigerte, die arme Dienerin
eröffnete es in ihrer dürftigen Hütte. Muhme Juſtine
erbot ſich, ihre einſtige Herrin aufzunehmen und zu
verpflegen, während die Tochter in das Amt zurücktrat,
[151] das ihrer Gegenwart ſo dringend bedurfte. Die treue
Seele drängte flehentlich zu ſchleunigem Aufbruch, ſie
ſchilderte ihren kleinen Nothpfennig als eine uner¬
ſchöpfliche Hülfsquelle.
Und ich zögerte nicht, die dargereichte Hand zu
ergreifen. In Eile wurde der Umzug eingeleitet. Die
Ueberſiedelung der Kranken ſollte noch vor dem Chriſt¬
feſte ſtattfinden.
Gott aber hatte es gnädiger beſchloſſen. Er er¬
ſparte mir die Scham, meine Mutter von fremder
Hand gepflegt zu ſehen und er gönnte ihr eine Ruhe¬
ſtatt an der Seite des Mannes, den ſie ſo lange und
ſo beglückend geliebt hatte. Wenige Morgen vor dem
zur Reiſe beſtimmten fand ich ſie ſanft hinüberge¬
ſchlummert, und ſo ſchloß mein heimathliches Leben
mit einem zweiten Grabgeleit.
Aber es war nicht das letzte dieſes großen Zer¬
ſtörungsjahres. Als ich früh am Weihnachtstage, auf
Reckenburg eintraf, lag die Gräfin in hoffnungsloſer
Qual. Sie zerriß ſich Gewand und Haar, krallte ſich
mit Todesangſt an den Leib der Wärterinnen, ſchrie
um Hülfe, um Luft und Licht.
Ich öffnete die Fenſter. Ein klares Sonnengold
ſtrahlte von der weißen Winterdecke zurück, ein erfri¬
[152] ſchender Strom drang in das ſo lange verhüllte luft¬
loſe Gewölbe; die Chriſtglocken läuteten auf dem
Thurme, der unverſehrt das geborſtene Gotteshaus
überragte. Der Kampf der Greiſin beſchwichtigte ſich,
ihr Athem wurde ruhig und frei. Hell und ſcharf wie
allezeit richtete ſie den Blick — aber nicht auf die
Geldtruhe neben ihrem Stuhl, ſie richtete ihn auf mich,
reckte die Hand nach mir zu einem kräftigen Druck
und rief mit fast jugendlichem Klang:
„In Recht und Ehren!“
Es war ihr Sterbewort und ich hatte ſeinen
Sinn verſtanden. In der letzten Stunde des Jahres
1806 ſenkten wir die ſagenhafte Greiſin zur Ruhe
und das Regiment der letzten Reckenburgerin begann.
Fünftes Capitel.
Die neue Herrſchaft.
Wandelt durch Reckenburg, wenn Ihr in der
Chronik meiner nächſten zwanzig Jahre blättern wollt.
Jahre, in denen das, was hinter ihnen lag, unmerk¬
lich in nebelhafte Erinnerung verſchwamm und mit
deren Beginn ich mich gewöhnte, die Geſchichte meines
eigentlichen Lebens zu datiren.
Es war eine Zeit lediglich der Arbeit, aber einer
Arbeit, die alle Bedingungen des Gelingens und darum
der Befriedigung in ſich trug. Denn zu einem lang¬
gehegten, der natürlichen Neigung entſprungenen Plan
geſellte ſich ein beharrlicher Wille und das Gebot
über die durchführenden Mittel.
Die Reichthümer meiner Erblaſſerin waren nicht
unermeßlich, wie ſie die Volksfabel ſich ausgemalt hat;
ſie hatten ſeit Jahren nahezu als todtes Kapital ge¬
[154] legen. Aber ſie waren für einen bedeutenden Zweck
mehr als ausreichend, wenn die Perſönlichkeit in Be¬
tracht gezogen wird, die frei wie ein König mit ihnen
ſchalten und walten durfte.
Das Eigenthum an ſich hatte wenig Reiz oder
Werth für mich, denn wenn juſt auch Eicheltrank und
Grützbrei meiner Vorgängerin mir weder genutzt noch
geſchmeckt haben würden, ſo war mir nach Anlage
und Erziehung Einfachheit doch ein Bedürfniß, mehr
als ein Gebot. Meine Werkſtatt war meine Flur,
und der bisher innegehaltene Erkerbau, ein klein we¬
nig wohnlicher eingerichtet und ausſtaffirt mit dem
altheimiſchen Geräth, bot hinlänglich Gelaß für die
Stunden der Ruhe. Ich hegte keine äſthetiſchen Lieb¬
habereien, keine geſelligen Bedürfniſſe, welche das Zeit¬
weſen mir ohnehin verleidet haben würde; ich war
ohne beanſpruchenden Familienzuſammenhang und frei
von jener gemüthlichen Liberalität, die, weil ſie nicht
„nein“ zu ſagen vermag, die reichſten Mittel der
Kreuz und Quer zerſplittert. Summa Summarum:
Natur und Schickſal hatten mir die Beſchränkung leicht
gemacht, welche jedes bildende Streben erheiſcht.
Was aber ſolchem Streben erſt die Befugniß
giebt: Ort und Stunde, auch ſie waren mindeſtens
[155] nicht ungünſtig für das meine. Inmitten welterſchüt¬
ternder Ereigniſſe blieben mir volle ſechs Friedens¬
jahre für einen gründlichen Unterbau. Das Gut lag
ſeitab der großen Heerſtraßen und fehlte es auch nicht
an Durchzügen, Lieferungen und Aushebungen, trug
man ſeine Laſten auch mit ſauerem Geſicht, weil ſie
ſich Freunde nannten, die man als Feinde haßte:
mein Bauplan würde unter dem ſo hart um den Reſt
ſeiner Selbſtſtändigkeit ringenden Nachbarſtaate nicht
gediehen ſein wie unter dem ruhigen Vaſallenthum
des unſeren. Ihr kennt dieſen Plan: Es galt die
reiche Cultur eines herrſchaftlichen Grundbeſitzes über
einen armen Gemeindeverband auszudehnen.
Wenn nun Kanäle und ſchützende Deiche, bequeme
Fahrſtraßen, entſumpfte Brüche und wohlregulirte For¬
ſten ſich auch über die dörfliche Flur verbreiteten, wenn
zu allgemeinen Zwecken Bauholz gefällt, Ziegelöfen
errichtet wurden, Laſten von Bruchſteinen ſtromauf-
und abwärts landeten; wenn Schul- und Gotteshaus
aus dem Ruin erſtanden und endlich an Stelle der
wüſten, ekelerregenden Hüttentrümmer reinliche Dorf¬
ſchaften ſich ausbreiteten, die ich unter dem Gemein¬
namen „Reckenburg“ zuſammenfaſſe: ſo war Alles
das, was ſcheinbar als Reſultat gefällig in die Au¬
[156] gen ſpringt, doch nur das Mittel zum Zweck und ein
bequemes Mittel für eine freie, volle Hand. Der
Zweck meiner Aufgabe und ihre Schwierigkeit, die
hießen: ein erneuertes Menſchengeſchlecht inmitten der
erneuten Flur; eine kräftige, arbeits– und ordnungs¬
tüchtige Bauernſchaft in der Gemeinde von Reckenburg.
— „Majeſtät Fritz in Pommerellen,“ ſo nannte mich
neckend mein guter Probſt in ſeinen ermunternden
Briefen; und in der That war es ſolch ein hungern¬
des, lungerndes pommerell’ſches Völkchen, über das ich
das Regiment uſurpirte. Ja uſurpirte; denn nicht mehr
die Erbunterthänigkeit, nur die Noth und der anlockende
Zauber des Eigenthums machten ſie zu meinen Sclaven.
Die fruchtbringenden Liegenſchaften auch der freien
Bauern waren in Zeiten der Drangſal an die Herrſchaft
verſchleudert worden, kaum mehr als dürftige Fetzen
Haide– und Bruchlandes in den Händen von Wild¬
dieben, Schmugglern und frohnpflichtigen, faulen Tage¬
löhnern zurückgeblieben. Juſt aber auf dieſem Grund¬
ſtock des Uebels beruhte meine Zuverſicht der Heilung.
Denn in den üppigſten Landſchaften entartet und auf
dem kümmerlichſten Boden fördert ſich die Cultur.
Der Acker, der lange Zeit Oel– und Zuckerfrüchte ge¬
tragen hat, ſinkt, ausgeſogen, zu einem Haferfelde
[157] herab; ein Forſt, welchen vor einem Jahrhundert ein
Windbruch verwüſtete, ſteht, bei Fleiß und Geduld,
nach wieder einem Jahrhundert in einen Nadelwald und
endlich in einen Laubwald umgewandelt. Und wie die
Erde, ſo der Erdenherr. Nicht auf dem Lotterbette,
ſei es des Elends oder der Wolluſt, aufrecht, im
Schweiße ſeines Angeſichtes bildet ſich der Menſch.
Dieſe Fibelweisheit prägte ich in das Gemüth
meiner Colonie nicht mit dem verpuffenden Wort des
Miſſionärs, ſondern als Münzmeiſter mit dem hand¬
lichen Stempel, den ich in dem Goldthurm der ſchwar¬
zen Gräfin vorgefunden hatte. Wer ſeine dürftige
Scholle nach meinen Erfahrungen bearbeitete, ſeinen
Viehſtand genau nach denſelben verpflegte, erhielt aus
herrſchaftlichen Beſtänden Werkzeug, Saatkorn und
junge Zucht, erhielt ſie wiederholt in Zeiten des Mi߬
wachſes oder der Seuche. Niemals jedoch ohne die
Bedingung allmäliger Rückerſtattung nach Jahren des
Gedeihens. Wer ſeines Bodens am früheſten oder
fleißigſten Herr geworden war, der erhielt von dem
Gutsareal, das ſich während der kriegeriſchen Unſicher¬
heit ohne ſchwere Opfer noch immer erweitern ließ,
zugelegt. Niemals jedoch ohne die Bedingung einer
mäßigen, aber regelmäßigen Rente, welche den Til¬
[158] gungsfonds in ſich ſchloß. Ungehemmte Arbeitskraft
und unbeſchränkte Arbeitszeit waren die einzigen Rechte,
welche den bisher zu Frohnden und Dienſten Ver¬
pflichteten ſonder Clauſula überlaſſen wurden.
Bei dieſen Erweiterungen war nun von Haus
aus darauf Bedacht genommen worden, daß die Grund¬
ſtücke eines Beſitzers beieinander und ſeinem Gehöfte
ſo nah als möglich lagen. Das Dominium durfte
behufs dieſer Ausgleichung nicht geſchont werden.
Ohne Streitigkeiten oder Sporteln vollzog ſich dieſer
weſentlichſte Wohlſtandsprozeß für den kleinen Grund¬
beſitz lediglich durch meinen Schiedsſpruch und aller¬
dings durch meine Opfer. Wer aber nicht opfern
will, ſoll nicht reformiren wollen.
Alles wurde auf Leiſtung und Gegenleiſtung ge¬
gründet; nicht das geringfügigſte Erzeugniß verſchenkt,
nicht die unweſentlichſte Verpflichtung erlaſſen, nicht die
herkömmlichſte Eigenthumsverletzung geduldet. Selber
für die Beeren, welche die Kinder in den Gutsforſten
pflückten, für Reißholz und Stoppeln, welche die Müt¬
terchen ſammelten, mußte ein Tribut erlegt werden.
Freilich brachte die Schloßfrau, als Zwiſchenhändlerin
ihn bei dem Ankauf zu höchſten Marktpreiſen in An¬
ſchlag und trieb auf dieſe Weiſe ein bewußtes Spiel,
[159] indem ſie mit der einen Hand gab, was ſie mit der
andern gefordert hatte; aber ſie ſparte den Leuten
Zeit, zerſtreute ſie nicht durch Handel und Wandel,
ſtärkte den Rechtsſinn, der durch kleine Uebertretun¬
gen am ſicherſten untergraben wird und ein Ehrgefühl,
das mit dem Begriffe des Verdienſtes anfängt und
mit dem der Duldung endet.
In ähnlicher Weiſe wurde auch der Neubau der
Dörfer nach einem voraus entworfenen Plane allmä¬
lig zu Stande gebracht.
Der bisherige Beſitzer, der ſein hinfälliges Ge¬
höft an die mir gelegene Stelle verrückte, der neue
Anſiedler, der es nach meinem Muſter aufrichtete, ein
Jeder, der ſich verpflichtete, ſein Anweſen nach einer
ſtrengen Polizeiordnung reinlich und zweckmäßig zu
erhalten, ſie empfingen den Bauplatz, das Material
und eine Unterſtützung der Arbeitskräfte während der
Anlage unentgeltlich, ſpäter gegen Zins und raten¬
weiſe Abzahlung; und zwar ohne, daß auch hier bis
zur letztgültigen Regulation eine Feder oder ein Schuld-
und Grundbuch in Bewegung geſetzt worden wären.
Der einfache Handſchlag genügte und die Unerbittlich¬
keit, mit welcher ich bei jeder hinterhältigen Bauern¬
liſt die Aushülfe zurückzog, verbürgte mir die Treue
[160] meiner Contrahenten, bis Ordnung und Redlichkeit
zur eingewöhnten Sitte in Reckenburg geworden wa¬
ren. Daß in Bauſch und Bogen der Schloßſeckel
kaum ein ſchlechteres Geſchäft gemacht haben würde,
hätte ich von Haus aus geſagt: „Hinz, hier ſchenke
ich Dir eine Hufe,“ oder: „Kunz, da haſt Du eine
von meinen Wieſen,“ daß die Freude des Empfängers
und Gebers gegen die Unruhe des Schuldners und
die Wachſamkeit des Gläubigers vertauſcht wurden,
das ward nicht in Rechnung gezogen und durfte es
nicht werden. Nicht die Blume der Gemüthlichkeit,
den Baum des Rechtes und der Ehre galt es zu pflan¬
zen in der Reckenburger Flur.
Zuletzt, doch nicht zum Letzten ſei nun auch der
Gehülfen gedacht, die mir bei dieſer Pflanzung ſo
wacker in die Hand gearbeitet haben. Ich muß es
als einen Glücksfall preiſen, daß kurz nach Antritt
meines Regiments der damalige Pfarrer, ein deutſcher
Biedermann und Familienvater, die bequeme Stelle
eines ſtädtiſchen Nachmittagspredigers dem rauhen
Poſten auf Reckenburg vorzog. Ein Stündchen Kirchen¬
ruhe war den rührigen Stadtbürgern zu gönnen. Der
Mann kam auf den rechten Platz und ich fand für den
meinen den rechten Mann. Ohne die Gemeinde ihrer
[161] Verpflichtungen gänzlich zu entbinden, ward die Stelle
von Seiten des Dominiums auskömmlich verbeſſert,
und Ludwig Nordheim, der Zweite, trat auf meine
Einladung in dieſelbe ein.
Seiner Anlage und meiner ſpäteren Entwicklung
gemäß, konnte der Sohn mir nicht ein Freund wer¬
den, wie der Vater es geweſen war; aber der rüſtige
Mann war mir ein Amtsgenoſſe, mehr als jener es
hätte werden können. Hatte der Vater ſich abgemüht,
durch mildes Reden und Thun, das Himmelreich un¬
ter uns auszubreiten, ſo ſparte der Sohn kein Don¬
nerwort, um uns die Hölle heiß zu machen. Jener
ſcheiterte, dieſer wirkte; denn wir zählten zur Zeit
mehr Höllen– als Himmelreichscandidaten in der
Reckenburger Flur. — Desgleichen fand ſich für die
Zucht unſerer noch unflüggen Brut ein Meiſter, der
neben dem Bakel auch Axt und Pflugſchaar inſtructiv
zu handhaben verſtand. Ich hatte anfangs mit Sehn¬
ſucht an meinen getreuen Chriſtlieb Taube gedacht,
ſparte ihm aber ſchließlich die Opferung auf einem
verlorenen Poſten. Er lebt noch heute zwiſchen ſeinen
Bergen, pflegt ſeinen Roſenflor und ſpielt die Orgel
zu Gottes Ehr'! Ohne eigenes Weib und Kind, iſt er
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 11[162] wie ein Vater geliebt von den Geſchlechtern, die er
herangebildet hat. Der Aermſte und der Reichſte un¬
ter denen, mit welchen ich jung geweſen bin. Der
Glücklichſte! Wiedergeſehen habe ich ihn nicht.
Einen anderen Getreuen dahingegen, unſeren Pur¬
zel, durfte ich noch Jahre lang unter meinen Augen
hegen. Seine Werbezeit war abgedient und ihn
graute vor einem Heldenthum unter dem Banner des
Siegers von Jena, den er, zwar nicht als Patriot,
aber als Diener ſeines geopferten Herrn, ingrimmig
haßte. Mit Behagen fügte er ſich daher in die Rolle,
die unter dem Anſtandstitel „Heiduck“ auf Reckenburg
fortgeführt ward, und hat ſeinen Zopf mit Ehren zu
Grabe getragen. Viele Jahre vor ihm ſchied die
Treueſte der Treuen. Ihr Erdenziel war erreicht, als
ſie das Kind ihres Herzens auf dem Gipfel ihrer
Träume angelangt ſah und in dieſer ſtolzen Region
keinen kreuzenden Schellenunter mehr zu pariren hatte.
Der ſchwerſte Verluſt war der meines einzigen
Freundes, des Probſtes. Wiedergeſehen habe ich auch
ihn nicht. Sein Kränkeln und mein Schaffen bann¬
ten jeden auf ſeinem Platze. Sein letzter Brief fiel
in den Sommer 1809 und enthielt die Kunde von
dem Verſchwinden Auguſt Müllers aus dem Förſter¬
[163] hauſe. Die Sorge um den väterlich geliebten Schütz¬
ling mag den lange ſiechen Körper aufgerieben haben.
Ich theilte dieſe Sorge nicht. Der ſoldatiſche
Inſtinkt des Knaben würde auf die Dauer doch nicht
zu bändigen geweſen ſein; und weſſen bedurfte un¬
ſere Zeit ſo ſehr, als dieſes verwegenen Soldaten¬
triebes? Hatte er in dem vorzeitigen Rachezug ein
vorzeitiges Ende gefunden, — nun wohlan! der Bo¬
den, dem die Freiheit entſprießen ſoll, muß ja, ſo
heißt es, mit Märtyrerblut gedüngt werden; und wie
hätte ich nicht eine genugthuende Fügung darin erken¬
nen ſollen, daß der Sohn meines Helden von Valmy
unter dem Sohne des Feldherrn von Valmy voran¬
ſtürmte, um die Schmach zu tilgen, die mit dem Tage
von Valmy begann!
Als Auguſt Müller mir eines Tages plötzlich
wieder gegenübertrat, hatte ich ihn viele, viele Jahre
lang ſo gut wie vergeſſen. Ob Dorothee von ſeinem
Entweichen unter die ſchwarze Schaar gewußt, oder
ob ſie daſſelbe blos geahnt hat, habe ich niemals er¬
mittelt. Seit ich ihr am Begräbnißtage meines Va¬
ters Lebewohl geſagt, gehörte auch ſie mir zu den
Begrabenen. Es that mir wohl, von ihr in Frieden
geſchieden zu ſein; aber wie einſt im Unfrieden, ſo
11*[164] fühlte ich auch jetzt: wir waren fertig miteinander.
Kaum daß dann und wann der immer weiter ſich
verbreitende Ruf ihres Gatten mich an die einzige
Jugendgeſpielin erinnerte. Bei wenig mehr als dreißig
Jahren ſtand ich gemüthlich ſo einſam wie wohl ſel¬
ten ein Weib. Ein ſtark gewurzelter Baum inmitten
einer Schonung von niederem Gehölz.
Während meines „fritziſchen“ Schaffens blieb ich
nun aber eine theilnehmende Beobachterin des ſtaat¬
lichen Lebens, deſſen Kataſtrophe mit meinem eignen
neuen Leben zuſammengefallen war. Niemals habe ich an
ſeiner Wiederaufrichtung gezweifelt. Denn ich erfuhr
es in meiner Flur: das Wetter, der reife Ernten
knickt, befruchtet eine Frühlingsſaat. In dieſem Preu¬
ßen aber rang ein unverbrauchtes, hart gepflanztes Men¬
ſchenvolk.
Durch den Grafen, unſeren Nachbar, damals auf
jenſeitigem Gebiet, trat ich auch in eine Art von Ver¬
bindung mit den Patrioten, welche in Preußen und
Oeſterreich heimlich ihre Fäden ſpannen, und warum
ſoll ich es verſchweigen, daß manche von den Mit¬
teln, die mir ja ausreichend zu Gebote ſtanden,
den höchſten Zwecken zugefloſſen ſind? Als aber
endlich der heiligſte Kampf ſich erhoben hatte, mit
[165] welchem Feſtesjubel wurden da zum erſtenmale die
Prunkgemächer der Reckenburg geöffnet zu einer Pflege¬
ſtätte für die Verwundeten, deren Großthaten den
mir erreichbaren Bezirk erfüllten. Ja, ja, meine
Freunde, die Helden Bülows und Yorks haben mit den
altgräflichen Vorräthen in Keller und Speicher reinen
Tiſch gemacht. Und ſo rühme ich mich denn auch,
als eine der Wenigen meiner heimathlichen Standes¬
genoſſen, von der erſten Stunde an mit offenem
Viſir auf die Seite des befreienden Vorvolks getre¬
ten zu ſein, rühme mich, daß Niemand freudiger als ich
ſich einem Staate unterordnete, der ſich beherzt zu
Recht und Ehren wieder durchgekämpft hatte. Denn
wer ſo emſig wie ich an ſeiner Heimath baut, der
trachtet danach, ſie unter der Hut eines ſtarken Va¬
terlandes zu bergen.
Nun aber galt es, mancherlei Verwüſtungen aus¬
zuheilen, welche der Kriegstroß in meinem Bereiche
zurückgelaſſen hatte. Es galt nicht minder, mich ſelbſt
und die Meinen in die ſtraffe, mancherlei harte Lei¬
ſtungen heiſchende neue Ordnung einzugewöhnen. Dann
folgten die Hungerjahre von 1816 und 1817, welche
die Vorräthe des Speichers und Seckels reichlich in
Anſpruch nahmen. Endlich aber trat eine Pauſe ein,
[166] in welcher das Geſchaffene nur eben erhalten, oder
mäßig über ſeine Gränzen hinausgeführt zu werden
brauchte. Ein ruhiger Ueberblick war geſtattet.
Da ſah ich das Werk denn aufgerichtet, mit wel¬
chem mein Daſein gleichſam zu einem Weſen ver¬
wachſen war; ſah die fruchtbringende Flur und den
Baum des Rechtes und der Ehre Wurzel ſchlagend
in einem neuen Geſchlecht. Mit Zuverſicht blickte ich
auf den Keimſtock der Gemeinde, die ſich heute rühmt,
ſeit faſt einem Menſchenalter keinen Prozeß geführt
und keinen Frevel gebüßt zu haben, keinen Spieler
und Trunkenbold, kein Mädchen zu kennen, das ohne
Kranz zum Altare getreten wäre; eine Gemeinde, die
ihre Rekruten ohne Murren ſtellt, ihre Waiſen ohne
Beihülfe innerhalb der Familie zur Arbeit erzieht;
keiner Wittwe, keinem Greiſe den Altentheil ver¬
kümmert.
Und ich ſage Ja und Amen zu dieſem Ruhm.
In der That, es war eine ehrſame und rechtſchaffene,
aber es war auch eine freude- und liebeloſe Colonie.
Freude- und liebelos wie die, welche ſie gegrün¬
det hatte. Denn — was iſt da zu vertuſchen? —
das, was Ihr ein Herz nennt, meine Freunde, das
war für nichts bei meiner That. Ich hatte einen
[167] Stoff bearbeitet, wie jeder berufene Handwerker, —
oder ſei es Künſtler, — den ſeinen; ich hatte meine
Kräfte an einer und für eine Geſammtheit entfaltet,
— ich würde ſie, und das dünkt mich das Kenn¬
zeichen der Liebe, — ich würde ſie um keines Einzel¬
nen willen beſchränkt haben. Mein Puls ſchlug nicht
höher noch matter bei dem Schickſale eines Einzigen
von denen, die ich die Meinen nannte; ich trug die
Neugeborenen zum Taufſtein, geleitete die Bräute zum
Altar, die Todten zur Gruft; aber ich empfand we¬
nig mehr dabei, als wenn ich meine Bäume pflanzen
und fällen, oder meine Aecker befruchten ſah für einen
neuen Trieb. Indem ich eine Bauernſchaft zu bil¬
den ſtrebte, hatte ſich in mir der ächte, rechte Bauern¬
ſinn ausgebildet, der den Menſchen als ein Produkt
der Scholle nimmt; der Scholle, die ihn nährt, und
die er wieder nährt.
Das Werkzeug klapperte und auch die Kirchen¬
glocken läuteten, wie ſich gebührt: Sang und Klang
aber ſchwiegen in der Reckenburger Flur. Wir tanz¬
ten nicht unter dem Maienbaum, wir jubelten nicht
bei Hochzeit und Kindelbier. Kein Weihnachtslicht
mahnte uns an die frohe Botſchaft der Gotteserſchei¬
nung in einem hülfloſen Kinde. Burſche und Dirne
[168] freiten nicht nach Neigung und Luſt, ſondern nach
Vernunft und elterlichem Willen; der Bettler ſchlug
einen Bogen um Reckenburg, denn er ſah keinen Bro¬
ſamen von des Reichen Tiſche fallen, und „arbeite
wie wir, ſo wirſt Du Dich wohl befinden wie wir,
ein Jeder ſorge für das Seine,“ ſchallte es ihm von
der ungaſtlichen Schwelle entgegen. In der That:
wir waren eine ſehr ehrſame, aber eine ſehr liebloſe
Colonie!
Die unbeſtimmte Empfindung von etwas Feh¬
lendem in meinem Werk und Leben dämmerte mir
zum erſtenmale in jener Pauſe, wo ich mich des
Gelingens hätte freuen ſollen. Ich ſpürte keine Ab¬
ſpannung, aber eine Art unruhiger Langeweile, und
es kamen Stunden, wo ich mir ſagte, daß wenn ich
noch einmal zu leben anfangen ſollte, ich nicht als
Arbeitsbiene wieder anfangen möchte. Ich hätte Zer¬
ſtreuungen ſuchen können, Umgang, großſtädtiſchen
Wechſel, hätte reiſen können, künſtleriſche Liebhabe¬
reien pflegen und Gott weiß was ſonſt noch Alles
reiche Leute können. Aber ich kannte mich hinlänglich,
um zu wiſſen, daß das, was mir fehlte, nicht von
Außen in mich getragen, daß es aus dem Innern
herauswachſen müſſe. Was es aber war, das in mir
[169] nach einer Vollendung rang, dafür fand ich die Lö¬
ſung nicht.
Meiner Art gemäß taſtete ich bei dieſen Unter¬
ſuchungen nicht nach dem Mond, ſondern faßte die
Sache, wo ſie zunächſt auch weſentlich lag. Ich nä¬
herte mich den Fünfzigen, und hatte ich mich bei
Zwanzigen auch nicht rüſtiger gefühlt, ich wußte, die
ſtärkſten Fäden ſind es, die am raſcheſten reißen, und
wenn der meine einmal jählings riß, was wurde dann
aus dem Gewande meiner Reckenburg, das mit mei¬
nem Leibe ſchier verwachſen war, oder was wollte ich,
das aus ihm werde?
Zwar ſah ich manches ſtolze Segel gebläht, und
manche Nothftagge aufgehißt, um in den ſchützenden
Hafen einzulaufen. Aber wie in den Tagen meiner
Freierhetze, verdroß es mich auch heute, einer nimmer¬
ſatten Begierde, oder einem ſchamloſen Bedürfniß
fröhnen zu ſollen. Ich verlangte freie Wahl und
kein Zug der Vergangenheit, kein gegenwärtiges In¬
tereſſe leitete mich auf eine Spur.
Auch Pläne anderer Art ſtiegen in mir auf.
Wie wär's mit der Gründung eines Aſyls für inva¬
lide Krieger, oder deren Waiſen, für das es, leider
Gottes! zur Zeit nicht an Anwärtern gebrach? Oder
[170] mit einem Fräuleinſtift, für das es, leider Gottes!
keiner Zeit an Anwärterinnen gebrechen wird? Aber
kennt Ihr einen alten Bauer, — und ich war ſolch’
ein Stück alten Bauers, — der ſeine Hufe nicht lie¬
ber dem Unbedürftigſten ſeines Gleichen, als dem be¬
dürftigſten Gemeinweſen verſchrieben hätte? Mir wi¬
derſtand eine fiskaliſche oder communale Schablonen¬
verwaltung meiner Flur; ich mochte ſie mir nur den¬
ken unter dem Gepräge einer Individualität, wie zu¬
erſt die Gräfin und ſpäter ich ſelber es ihr aufgedrückt
hatten, ich forderte für den Wandel der Zeiten einen
perſönlichen Erben, und begann, als Matrone, zu be¬
klagen, daß ich in der Jugend nicht den erſten beſten
Krautjunker geheirathet, und mir auf dem natürlichſten
Wege die Qual der Wahl abgeſchnitten hatte.
Was meine äußerliche Stellung anbelangt, ſo
war ich ſeit dem Frieden nicht durchaus mehr die
Einſiedlerin des neuen Thurms. Man wußte in dem
materiell erſchöpften Staate eine beſitzende Hand, in
der neuerworbenen Provinz eine aufrichtige Anhänge¬
rin zu ſchätzen; man ſuchte meinen Rath bei ländli¬
chen Einrichtungen, kurz und gut: von oben herab,
wie von unten herauf erwies man mir allerlei Ehren,
und ſo bildete ſich unwillkürlich ein Verkehr, nicht
[171] wie er zwiſchen Mann und Weib, oder gar Weib und
Weib, ſondern wie er zwiſchen Mann und Mann gäng
und gebe iſt; mich aber würde es gewundert haben,
wenn es anders geweſen wäre.
Von Zeit zu Zeit fühlte ich mich nun auch ver¬
anlaßt, durch ein Gaſtgebot dem Anſehen meiner
Reckenburg gerecht zu werden; da gaben denn die ge¬
zopften Einrichtungen, — Heiducken, goldene Kutſche
ſammt Schimmelgeſpann und tutti quanti, — gab
ihre Harmonie mit der ererbten Ausſtattung dem Rufe
der Beſitzerin ein ſtarkes Relief. Man citirte die
Reckenburgerin als Ariſtokratin reinſten Waſſers, und
man that es mit Recht.
Je mehr und mehr empfand ich indeſſen dieſe
obligatoriſchen Schauſtellungen als einen Vorſchub
der heimlich eingeniſteten Langeweile. Das Herz war
hier am wenigſten bei der Sache, und das Verlan¬
gen, dem Gebäude, das ich aufgeführt hatte, gleich¬
ſam einen Thurm aufzuſetzen, quälte mich niemals be¬
unruhigender, als nach ſolcher Unterbrechung des ein¬
fachen Tageslaufs. Hätte ich nur einig werden kön¬
nen über das Wo und Wie!
Wie beim Abſchied von der Jugend in den Zei¬
ten der Abhängigkeit, ſo ſchlich in denen der ſchran¬
[172] kenloſen Freiheit Jahr um Jahr vorüber, in welchem
nur der Mechanismus eingelebter Ordnungen mich
aufrecht hielt und ich war fünfzig geworden, als ſich
mir überraſchend ein Ausblick öffnete, dem ich in jun¬
gen Tagen gewiß nicht den Rücken gekehrt haben
würde.
Ich habe weiter oben flüchtig des Grafen, un¬
ſeres Nachbars, erwähnt. Ihr kennt und verehrt ihn,
meine Freunde; ich brauche daher nicht mehr über ihn
zu ſagen, als daß ein bedeutender geſchäftlicher Verkehr ſich
zwiſchen uns erhalten hatte, und daß er ſchon damals
das Vertrauen des Staates und der Stände genoß,
wie kein Zweiter unſerer provinziellen Ritterſchaft,
deren Ehrenämter und einflußreichſte Stellungen denn
auch auf ſeine Perſon übertragen wurden. Und auf keinen
mit größerem Recht. Er war und iſt ein Beamter von dem
Schlage, der ſich in den preußiſchen Annalen einen klaſſi¬
ſchen Namen erworben hat, ein Mann von ſounermüd¬
licher und uneigennütziger Thätigkeit für das Allgemeine,
daß ſeine privaten Angelegenheiten, vor allen die Ver¬
waltung ſeines bedeutenden Majorats, merklich den
Kürzeren dabei zogen.
Ich ſchätzte den Mann nach ſeinem Verdienſt;
auch die Gräfin gehörte zu den wenigen Weibern,
[173] deren Umgang mir nicht beſchwerlich fiel. Denn ich
hatte auch darin einen männlichen Geſchmack, daß nur
die frauenhafteſten Eigenſchaften der Frauen mir zu
Herzen gingen. Einer Amtsverwalterin wie Jungfer
Ehrenhardine würde ich auf einer wüſten Inſel, glaub’
ich, zehn Schritte fern geblieben ſein; das Kind Do¬
rothee hatte ſelber als Sünderin den Reiz für mich
nicht eingebüßt. Die Gräfin aber war eine ſchmieg¬
ſame, zärtliche Seele, das Weib „in Gottes Namen,“
wie es im Buche ſteht, und ſicherlich würde ich die
Sprößlinge dieſes anziehenden Paares, drei noch un¬
bärtige Junkerchen, für das Erbe der Reckenburg in
nächſten Betracht gezogen haben, hätte ich ſie etwas
weniger flott und übermüthig heranwachſen ſehen.
Wohl ſagte ich mir entſchuldigend, daß bei der zer¬
ſtreuenden Thätigkeit des Vaters und der gelaſſenen
Umfriedung der Mutter dem jungſchäumenden Blute
der Zügel gefehlt habe; unter allen Umſtänden aber
mußte die Zeit einer reiferen Entwickelung abgewartet
werden.
Vor Jahr und Tag nun war der Graf Witt¬
wer geworden. Er hatte die Frau ſehr geliebt, ſich
ſehr beglückt durch ſie gefühlt, und nach ihrem Tode
allen geſelligen Verkehr, auch den mit mir abgebrochen.
[174] Es ſchien, als ob er ſeine Trauer mit in's Grab
nehmen wolle, und nichts hätte mich, abgeſehen von
meinem halben Jahrhundert, mehr überraſchen kön¬
nen, als ihn eines Tages bei mir eintreten zu ſehen
und ohne Präliminarien einen Heirathsantrag von ihm
zu vernehmen.
Der Mann war bei geſunden Sinnen und ernſt¬
haft wie ein Cato, heute mehr denn je. Mich ver¬
droß dieſe dreiſte Begehrlichkeit, wie ſie mich von kei¬
nem Anderen verdroſſen haben würde. „Ich zähle
fünfzig Jahre, Graf,“ ſagte ich trocken.
„Ich auch,“ verſetzte eben ſo trocken der Graf.
„Das heißt: als Mann ein Vierteljahrhundert
weniger,“ entgegnete ich, und er darauf:
„Unter den herkömmlichen Vorausſetzungen einer
Ehe allerdings.“
Seine merkwürdige Offenherzigkeit begann mich zu
beluſtigen. Ich lachte hell auf; deſto ernſthafter blieb mein
Bewerber.
„Wollen Sie nur den Gatten, nicht auch den
Vater in Anſchlag bringen?“ fragte er. „Ich habe
Söhne — —“
„Die eher Frauen, als eine Mutter brauchen
würden,“ unterbrach ich ihn. „Warum ſagen Sie
[175] nicht einfach: adoptiren Sie meine Jungen, oder ſetzen
ſie zu Ihren Erben ein, Fräulein Hardine?“
„Einfach, weil dieſe Einſetzung meinen Wünſchen
nicht dienen, oder nur zur Hälfte dienen würde,“
antwortete der Graf gelaſſen. „Ich bin gewiß der
Erſte, das Anſehen zu würdigen, das meinen Nach¬
kommen aus dem Namen und Erbe der Reckenburg
erwachſen würde; aber näher als der Glanz der Zukunft
liegt mir das Bedürfniß der Gegenwart. Sie trauen
mir den Takt zu, meine Gnädigſte, daß ich dieſem
Bedürfniß nicht eine gefühlvolle Einkleidung geben
werde. Das Leben meines Herzens iſt abgethan und
die Eitelkeit, das des Ihrigen zu erwecken, liegt mir
fern. Aber Freunde könnten wir einander ſein; Ra¬
ther und Helfer Sie mir, wie ich Ihnen; ein offen¬
bares Bedürfniß uns gegenſeitig befriedigen.
„Sie, Fräulein von Reckenburg, ſtehen vor einem
wohlgelungenen Werke, deſſen mechaniſche Erhaltung
Ihnen nicht genügt. Sie ſind keine beſchauliche Na¬
tur, bedürfen von Stunde zu Stunde der ſelbſterrun¬
genen Erfolge. Sie ſehen ſich allein und ſuchen un¬
ter Fremden nach Einem, der einen ehrwürdigen Na¬
men und eine bedeutende Beſtimmung von Geſchlecht
zu Geſchlecht tragen würde. Nun eine neue organi¬
[176][ſatoriſche] Wirkſamkeit und einen Abſchluß für die
Zukunft, das iſt es, was ich Ihnen zu bieten habe,
indem ich Ihnen ſage: „Ziehen Sie ſich ſelber aus
reinem, kräftigem Stamm die Sproſſen, die Sie
dem abſterbenden Baume der Reckenburg einimpfen
wollen.
„Ich dahingegen — nun, Sie kennen mich, Sie
wiſſen, was ich im allgemeinen Gebiete leiſte, und im
eigenſten verſäume. Das Leben auf meinen Gü¬
tern ſtagnirt, und das meiner Söhne treibt wilde
Schößlinge. Ich ſehe es mit der Unruhe des Vaters
und Stammhalters, ſehe es, — und vermag es nicht
zu ändern, nicht die weitertragenden Entwürfe, den
Ehrgeiz, wenn Sie ſo wollen, zu beſchränken. Ich
bin nicht der erſte Mann, der ſein Haus gegen ſei¬
nen Beruf zurückſetzt; jeder Staatsdiener größeren
Styls thut es, muß es thun. Laſſen Sie mich hin¬
zufügen, daß ich mich im Augenblicke dringen¬
der denn je in dieſem Zwieſpalt der Pflichten befan¬
gen ſehe. Das Oberpräſidium der Provinz, das mir
angetragen worden iſt, — als Durchgangspoſten zu
einem höheren, ich weiß es — würde mich dauernd
aus dieſer Gegend entfernen; aufrichtiger: es wird
mich entfernen, denn ich kenne zum Voraus meine
[177] ſchließliche Entſcheidung, und die Frage iſt nur,
ob ich mit leichtem oder ſchwerem Herzen ſcheiden
ſoll.“
Er machte eine Pauſe. Auch ich ſchwieg. Dann
fuhr er fort:
„Legen wir unſere Hände ineinander, Verehrteſte.
Es iſt ein Vertrauen, wie es Ihnen nicht reiner ge¬
boten werden kann. Sie fügen zu der unbeſchränk¬
ten Verwaltung Ihres Beſitzthums die des meinigen
nach freiem Ermeſſen. Die Aufgabe iſt nicht zu groß
für Sie. Sie werden, wie dem Vater die Statthal¬
terin und Gehülfin, ſo den Söhnen die leitende
Freundin, der ſie ſo dringend bedürfen. Wie keine
Zweite ſind Sie die Frau, welche Knaben den
Vater zu ergänzen, und allenfalls zu erſetzen vermag.
Sie ſind ſtreng und wachſam, und Sie werden ge¬
recht ſein, weil Sie die Anlagen des Mannes nach
den eigenen meſſen dürfen. Mein älteſter Sohn würde
die Militärſchule verlaſſen, und ſich unter Ihrem er¬
weckenden Einfluß zum Landwirth und Majoratserben
ausbilden. Sie würden für die jüngeren die Lebens¬
ſtellung ausfindig machen, welche, bei beſchränkteren
äußeren Mitteln, ihren Anlagen entſpricht, und wenn
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 12[178] es dem Vater, mit beruhigtem Gewiſſen, gelingt, ſeine
Beſtrebungen für das Vaterland durchzuführen, ſo
wird das Gute, das er wirkt und genießt, in dem
Buche Ihrer Segnungen verzeichnet ſtehen.“
Nun, da ſah ich ja einen Thurmplan für mein
Haus! Da hatte ich ja einen Familienzuſammenhang
bei ungeſtörter Freiheit für mich ſelbſt, eine Thätig¬
keit der gemäß, an welcher ſich meine Kräfte erprobt
hatten, und eine zweite in den Kauf, an der ſich neue
Kräfte erproben konnten, erproben würden, wie ich
mir zutrauen durfte. Denn wenn ich auch ſchwerlich
die Stütze geweſen wäre, an welcher ein ſchwächliches
Pflänzchen ſich in die Höhe rankt, zu rauh für eine
Töchtermutter: Zucht und Schnitt verwilderter Schö߬
linge, die hatte ich an meiner Bauernſchaft üben ge¬
lernt, und hätte ſie wohl auch an einer feineren Race
bewähren lernen. Der Mann hatte Recht: ich war
eine Vormünderin, eine Stiefmutter für Knaben.
Warum zögerte ich denn noch, warum ſagte ich denn
nicht Ja und Amen zu dem guten Wort?
War die einſame Gewöhnung ſo mächtig in der
Eremitin des neuen Thurms? Achtete ſie die Welt ſo
hoch, deren draſtiſchen Humor eine Altjungfernheirath
zu erwecken pflegt? Oder gab ſie der Flüſterſtimme
[179] Gehör, die in ihrem Innerſten warnte: „Es iſt nicht
was Du brauchſt. Du wirſt fertig damit, aber Du
wirſt nicht fertig mit Dir ſelbſt!“ Spürte ſie einen
heimlichen, noch unverſtandenen Proteſt gegen eine
neue männliche Aufgabe, während das Weib nach
ſeinem verkümmerten Rechte drängte?
Ich forderte Zeit zur Ueberlegung, und es ver¬
gingen Wochen, in welchen ich den Grafen nicht wie¬
derſah, Wochen der Unentſchloſſenheit, wie ich ſie nie¬
mals erfahren hatte. Endlich aber konnte eine Ent¬
ſcheidung nicht länger verzögert werden.
Denn es nahte der Geburtstag des Königs, an
welchem nach einer zehnjährigen Regel, das größte
Gaſtgebot auf die Reckenburg erlaſſen wurde.
Der geſammte Pomp des reichen Hauſes entfal¬
tete ſich bei dieſer Gelegenheit, ſelber die altgräflichen
Juwelen der alten Tante mußten für die feſtlichen Stun¬
den den Glanz ihrer Erbin erhöhen. Selbſtverſtändlich,
daß der Graf zu den Geladenen gehörte. Ich erwar¬
tete die Erneuerung ſeines Antrags. Die Vernunft
hatte geſiegt: ich war entſchloſſen, Ja zu ſagen.
So oft der dritte Auguſt in dieſer Weiſe auf
Reckenburg ſchon verherrlicht worden, es war mir
nicht ein einziges Mal eingefallen, daß vor fernen‚
12*[180] fernen Zeiten im Morgengrauen dieſes Tages ich einen
ewigen Abſchied genommen, und das Traumbild mei¬
ner Jugend hatte ſchwinden ſehen. Heute, im fünf¬
zigſten Jahre, ſollte der dritte Auguſt nun mein Ver¬
lobungstag werden.
Sechſtes Capitel.
Mutter und Sohn.
Das war ein ſaures Mahl meine Freunde! Bei
dem Toaſt, den ich auf Seine Majeſtät den König
ausbrachte, blieb ich ſtecken; jede Redensart, die ich
Anſtands halber wechſelte, verfing ſich in meiner Kehle
mit dem Ja, das ich nicht ausſprechen konnte und
doch nicht unausgeſprochen laſſen wollte. Ein Glück,
daß man an die Feſte auf der Reckenburg keinen An¬
ſpruch als den der vornehmen Langeweile zu ſtellen
gewohnt war.
Nach der Tafel zerſtreute ſich die Geſellſchaft im
Garten. Ich war allein mit dem Grafen auf der
Terraſſe geblieben. Er hatte mir ſchon vor dem Eſſen
geſagt, daß ſeine Ernennung eingetroffen, eine Ent¬
ſcheidung demnach nicht länger zu verzögern ſei. Ich
hatte den letzten Kampf beſtanden, ein einleitendes
[182] Wort tapfer herausgepreßt und eben wollte ich meine
Hand in die ſeine legen, als ich eine bierbäſſige
Stimme zu meinen Füßen den Namen „Hardine“
rufen hörte.
Ihr ſeid, wenn auch in früher Jugend, Zeugen
der nun folgenden Scene geweſen, meine Freunde, habt
ſie ohne Zweifel ſpäterhin manchmal recapituliren
hören. Ich brauche Euch alſo nur über die Vorgänge
in meinem Innern, die eine ſo verdächtigende Wirkung
hervorbrachten, aufzuklären.
Im entſcheidenden Momente unterbrochen, blickte
ich auf und gewahrte einen jungen, rüſtigen Mann,
die Gluth des Trunkenbolds auf dem Geſicht; zu jeder
Zeit mir die widerwärtigſte Begegnung, bei dieſer Ge¬
legenheit aber doppelt ein Greuel. Unter wüſten, mir kaum
verſtändlichen Reden ſtieg er die Stufen heran, ein
Fuſeldunſt quoll mir entgegen; mit der Hand, die ich
eben zu einem Verlöbniß ausgeſtreckt hatte, wehrte ich
den dreiſten Geſellen von mir ab. Er taumelte, ſtürzte
und eine Blutſpur am Boden trieb mich an, ihn ge¬
nauer in’s Auge zu faſſen. Jetzt erſt bemerkte ich die
verwitterte Uniform, das kriegeriſche Zeichen des Legio¬
nairs, den verkrüppelten Arm; ich ſtarrte in die narbi¬
gen Züge und eine erſchütternde Ahnung überkam mich.
[183]
Wie er nun aber, plötzlich ernüchtert, mir mit
geballter Fauſt und drohendem Trotze gegenübertrat,
da weckte das ſtolze Zurückwerfen des Kopfes, der
zornig flammende Blick des blauen Auges in meiner
Erinnerung ein lange ſchlummerndes Bild; ſeltſamer
Weiſe aber nicht zuerſt das des Sohnes, der ſich einen
Tod auf dem Schlachtfelde gewünſcht, ſondern das des
Vaters, der ihn ſo früh auf demſelben gefunden hatte.
Prinz Auguſt, nicht Auguſt Müller war plötzlich vor mir
lebendig geworden. Die Viſion währte nur einen
Augenblick. Bei den erſten Worten von Vater und
Kind hatte ich mir ihre ſeltſame Begriffsverwirrung
erklärt; durfte ich aber, konnte ich vor dieſer gaffenden
Geſellſchaft den Irrthum löſen? Ehe ich noch einen
Entſchluß gefaßt, hatte ſich der Mann zum Gehen ge¬
wendet; ich ſah einen aſchfarbigen Schatten über ſeine
Züge fliegen, ihn ſich zitternd an das Laubengitter
klammern; ich winkte dem Prediger, ihn zu unterſtützen,
auch der Graf eilte ihm nach in merklicher Verblüffung,
bald waren ſie in dem Laubengange verſchwunden.
Ich war nicht in der Stimmung, mich mit meinen
Gäſten in Erläuterungen einzulaſſen; wir beknixten uns
wohl noch ſpäter im Schloſſe, und entfernten ſie ſich
ohne Abſchied: deſto beſſer. Daß einer von ihnen im
[184] Ernſt an die Bezüchtigungen des Fremden glauben
könne, kam mir nicht in den Sinn. Ich ſuchte die
Stille meines Zimmers.
In Wahrheit ich fühlte mich tief bewegt. War doch,
wie durch einen Zauber, ein lange vergangenes, vergeſſe¬
nes Leben vor mir aufgerüttelt, in dem Augenblick, wo
ich über den Reſt deſſelben zu verfügen im Begriffe
ſtand! Dazu der verwahrloſte Zuſtand des Mannes und
ſeines Kindes, die Täuſchung, der er ſich hingegeben
und deren Berechtigung ſein und mein alter Freund
mir warnend vorausgekündigt hatte. So ſollte ich
dieſem Freunde nach einem Menſchenalter doch noch
ſeine vielverſpottete Fürſorge danken lernen.
Während ich nach Auguſt Müllers Taufzeugniß
in meinen Papieren kramte, zweifelte ich nicht an meinem
Recht, den bethörten Mann über ſeine Herkunft auf¬
zuklären. Ich zeigte ihm, ſo meinte ich, das Atteſt,
verſchwieg den Namen des Vaters, wie das fernere
Schickſal der Mutter, und wenn ich für ein ſchickliches
Unterkommen von Vater wie Tochter Sorge trug und
ihre Zukunft ſicher ſtellte, war der Handel abgemacht.
Eben hatte ich nach langem Suchen das Zeugniß
gefunden, als der Prediger mit dem Grafen bei mir
eintrat. Der letztere in einer Aufregung, die mich an
[185] dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete. „Er
liegt im Wirthshauſe und ſimulirt eine Krankheit,“
rief er mir haſtig entgegen.
„Er iſt krank, Herr Graf,“ — widerſprach der
Prediger, — „das Fieber ſchüttelt ihn.“ —
„Ein Katzenjammer, wenn nicht das Delirium
des Trunkenbolds!“ entgegnete der Graf. „Ein Glück,
daß ich heute noch Landrath des Kreiſes heiße und
ihm ſeine Papiere abnehmen durfte. Leſen Sie,
Fräulein von Reckenburg!“
Er übergab mir bei dieſen Worten jene mehrer¬
wähnten ſchriftlichen Kindheitserinnerungen Auguſt
Müllers, und erging ſich, während ich die Blätter
überflog, mit zornigen Worten, über das Wirrſal von
Verleumdungen, welche ſich ſeit dem Morgen in der Ge¬
meinde verbreitet hatten und über Nacht in der Um¬
gegend verbreiten mußten. „Ich werde,“ ſo ſchloß er,
„den Vagabonden unverweilt in das ſtädtiſche Kranken¬
haus und nach ſeiner Herſtellung, mittelſt Zwangs¬
paſſes, über die Grenze transportiren laſſen. Der
kürzeſte Weg, das Gerede abzuſchneiden. Der Menſch
iſt verrückt, oder ein Betrüger erſter Sorte.“ „Er iſt
keines von beiden,“ verſetzte ich ruhig, indem ich die
Handſchrift, nebſt den beiliegenden Atteſten in meinem
[186] Schreibtiſche verſchloß. „Auguſt Müllers Erinne¬
rungen ſind richtig und der Schluß, den er irrthüm¬
lich daraus gezogen hat, mag durch ſein Elend ent¬
ſchuldigt werden. Er iſt ein Eingeborner von Recken¬
burg und wir haben die Pflicht, ihn innerhalb der
Gemeinde zu verpflegen.“ —
Ich klingelte bei dieſen Worten und befahl dem
eintretenden Diener, den Hausarzt aufzuſuchen und
den Kranken im Wirthshauſe anſtändig verſorgen zu
laſſen.
„Eine Gnade, die Ihnen bittere Früchte tragen
wird,“ ſagte der Graf, wie mich dünkte mit Hohn.
„Die erſte ihrer Art, auf die man ſich in Reckenburg
wird berufen können.“
Die erſte Wohlthat an einem Fremdling in
Reckenburg! Die Lehre, ſo wenig ſie in dieſem
Sinne gemeint war, würde ſchneidend geweſen ſein,
hätte ich auf den Ruhm einer barmherzigen Schweſter
überhaupt etwas gegeben, oder hätte ich wenigſtens ſie bei
ruhigem Blute aufgefaßt. Aber des Grafen Verſtim¬
mung, hatte mich angeſteckt. Ich trug in mir einen
wunden Fleck, deſſen Berührung ich einſt meinem
erſten Freunde ſchwer vergeben hatte, und die ich
meinem letzten Freunde nimmer vergeben haben würde.
[187] Um drohenden, weiterführenden Auslaſſungen wenigſtens
den Zeugen zu erſparen, bat ich den Prediger, mit
dem Doctor Rückſprache zu nehmen und falls er die
Verpflegung des Kranken im Wirthshauſe nicht genügend
fände, ſeine Ueberſiedelung nach dem Schloſſe anzuordnen.
Sobald ich mit dem Grafen allein war, ſagte
ich: „Wollen Sie mir, Graf, die bitteren Früchte
nicht etwas näher bezeichnen, die mir, nach Ihrem
Dafürhalten, aus der Verpflegung eines Fremden er¬
wachſen ſollen?“ —
„Ja, aber welches Fremden!“ rief der Graf,
achſelzuckend. „Nach ſeiner öffentlichen Anklage und
dem Zugeſtändniß, welches Sie eben gemacht — —“
„Sie meinen das Zugeſtändniß, ein verwaiſtes
Kind in einer Anſtalt untergebracht zu haben?“ —
fragte ich.
„Haben Sie ein Zeugniß über den Urſprung
dieſes Kindes aufzuweiſen?“ fragte der Graf dagegen.
„Ich denke mein Wort genügt,“ — entgegnete ich,
indem ich den Taufſchein, den ich noch in der Hand
hielt, zerknitterte.
„So ſprechen Sie dieſes Wort. Nennen Sie den
Namen der Eltern, der in dem Anſtaltszeugniß ſo
gefliſſentlich verſchwiegen ſcheint.“
„Und wenn ich ihn ebenſo gefliſſentlich auch
fernerhin verſchweigen wollte?“
„So würden Sie vor ſich ſelber den Unglimpf
eines bis heute makelloſen Rufes zu vertreten haben.“
Bis dahin hatte ich meine Standhaftigkeit be¬
hauptet; nun hielt ich mich nicht länger. „Sie ſprechen
damit aus, daß ich ein eignes Kind — —“
„Nicht von mir iſt die Rede,“ unterbrach mich
der Graf, jetzt ſo ruhig, als ich das Gegentheil war.
„Die Welt urtheilt nach dem Scheine und mir, als
Beamten und Ihrem Freunde ſteht es zu, dieſem böſen
Schein entgegenzutreten. Darum frage ich Sie noch
einmal: Können, wollen Sie mir ein Zeugniß über
den Urſprung dieſes Mannes geben?“
„Nein!“ ſagte ich. „Ob ich es nicht geben kann,
oder es nicht geben will, gleichviel. Ich bedarf keiner
Freunde, die ein fremdes Zeugniß für meine Ehren¬
haftigkeit nöthig halten; und von dem Beamten, der
das Recht meines Heimathsgenoſſen nicht gelten laſſen
will, erwarte ich, daß er den Gaſt meines Hauſes
reſpectiren werde.“ —
Damit verließ ich ihn. Ich wußte, daß ich die
offene Thür meines Hochzeitsſaales zugeſchlagen hatte
und fühlte es wie einen Stein von meiner Seele fallen.
[189]
Bei alledem bebte ich vor innerer Entrüſtung.
Dorothee lebte, und ich hatte kein Recht ihr Geheim¬
niß preiszugeben. Hätte ſie ſelber aber dieſes Ge¬
heimniß zu meiner Rechtfertigung enthüllen wollen, ich
würde das Wort auf ihren Lippen zurückgehalten haben.
Die Leidenſchaft hatte meine Auffaſſung plötzlich
geklärt: Nicht ich, die Mutter hatte über das
Schickſal ihres Sohnes zu entſcheiden.
Noch in der Nacht reiſte ich mit Courierpferden
nach Berlin. Ich reiſte ohne Dienerſchaft, weil mir,
ebenſo um der Menſchen willen, denen ich zueilte, wie
für meine eigene Perſon ein Ausſpioniren und Aus¬
deuten meiner Schritte widerſtand.
Bei einbrechendem Abend erreichte ich mein Ziel
und begab mich, ohne erſt ein Hotel zu ſuchen, vom
Poſthauſe zu Fuße nach der Faber’ſchen Wohnung, die
mir jedes Kind zu bezeichnen wußte. Gelang es mir,
Dorothee noch dieſen Abend ohne Zeugen zu ſprechen,
ſo war meine Aufgabe erledigt und ich reiſte unerkannt
noch in der Nacht nach Reckenburg zurück. Der Zu¬
ſtand des Kranken beunruhigte mich. Der Arzt, den
ich vor meiner Abreiſe geſprochen, und der eine Ueber¬
ſiedelung nach dem Schloſſe widerrathen, hatte ihn für
eine Lungenentzündung erklärt, Folge ſchlechtgeheilter
[190] Bruſtwunden und bei der Gewöhnung an ſtarke Getränke
doppelt bedrohlich. Auch ahnte ich, nach langem Still¬
ſtand, wieder ſo eine Art Kriſis in meinem Leben, die
ich jedenfalls auf meinem Poſten erwarten wollte.
Wenn man ſolch eine Lebensgeſchichte durchblättert,
in welcher blos die Hauptactionen Schlag auf Schlag
in hinlänglicher Breite geſchildert werden, während
man die dazwiſchen liegende [Ausfüllung], die ſtill um¬
wandelnde Arbeit der Zeit nur oberflächlich ſtreift, da
denkt man ſich leicht die Perſonen unverändert in dem
innerlichen Verhältniß, in welchem ſie bei der letzten
Scene zu einander geſtanden haben. Und ſo könntet
auch Ihr, junge, lebhafte Menſchen, wohl wähnen,
daß ich den alten Bekannten mit den alten leiden¬
ſchaftlichen Empfindungen, oder mit dem Herzklopfen
der Schuld entgegenging. Aber ſiebenundzwanzig Jahre
waren vergangen ſeit ich Dorotheens Heirath erfuhr,
wie manches Menſchenleben ſpinnt ſich in dieſem
Zeitraume ab, von der Wiege bis zum Grabe! Und
wenn ich in demſelben auch keiner hervortretenden, ge¬
müthlichen Wendepunkte zu erwähnen hatte: eine gänz¬
lich veränderte Lebensſtellung, eine große, ſtarkempfundene
Weltepoche, [Nachdenken] und umfaſſende Thätigkeit
hatten mich zu einer Anderen, die Menſchen von Einſt
[191] mir zu Fremden gemacht. Ich würde heute Siegmund
Faber ohne Verlegenheit gegenüber getreten ſein und
ihm erforderlichen Falls Rede geſtanden, mit Dorotheen
aber die Lage der Dinge gelaſſen, unter Berückſichti¬
gung ihrer Natur und Stellung, beſprochen haben.
Ja, wie ich ſo im Abenddunkel die Flucht der Straßen
entlang ſchritt, da kam mir wiederholt der Zweifel, ob
meine erſte Entſcheidung über das Schickſal ihres
Sohnes nicht die richtige geweſen ſei; ob der Todt¬
gewähnte nicht ein Todter für ſie hätte bleiben ſollen?
Indeſſen der Affekt hatte mich einmal zu dieſer
Erweckung des Mutterherzens getrieben, und wir ſind
ja ſo leicht geneigt, hinter derlei perſönlichen Einge¬
bungen eine ahnungsvolle Fügung vorauszuſetzen.
Jedenfalls konnte die Stimmung für meine Botſchaft
geprüft und eine fernere Maßregel mir überlaſſen bleiben.
Als ich mich dem Faber'ſchen Hauſe näherte, fand
ich das Straßenpflaſter mit Stroh belegt und bemerkte,
daß die Vorübergehenden gruppenweiſe zuſammentra¬
ten, oder mit Neugier nach dem matterleuchteten erſten
Stockwerk deuteten. Auch einige unzuſammenhängende
Bemerkungen fing ich im Vorübergehen auf. „Hier
aus dieſem Fenſter! — Der Mann kam dazu, der
arme Mann!“
Die Hausthür war unverſchloſſen, die Treppe
leer, aber dicht mit Teppichen belegt; alles ſtill. Erſt
am Ausgange derſelben harrte ein zurechtweiſender
Diener und im Corridor ließ ſich ein leiſe geſchäfti¬
ges ängſtliches Treiben beobachten.
„Sie iſt krank und nicht zu ſprechen,“ lautete
die Antwort auf meine Bitte, der Frau Geheimeräthin
gemeldet zu werden.
„Auch nicht für eine durchreiſende alte Bekanntin?“
„Für Niemand.“
„Auch morgen nicht?“
„Auch morgen nicht,“ beſchied der Diener, erbot
ſich aber, mich dem Geheimerath zu melden.
Ich ſchwankte einen Augenblick. Der Zweck
meiner Reiſe war verfehlt, doch hätte ich gerne über
den Zuſtand der Kranken nähere Auskunft gehabt, die
mir die ſichtlich aufgeregte Dienerſchaft nicht geben
konnte oder wollte. Ich entſchied mich indeſſen, den
Herrn ſo ſpät am Tage nicht ſtören, dahingegen mor¬
gen noch einmal vorfragen zu wollen, gab meine Karte
ab und war im Begriff mich zu entfernen, als ein
Thürvorhang mir gegenüber auseinandergeſchlagen
ward und Siegmund Faber mit raſcher Bewegung
mir entgegentrat.
[193]
Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht geſehen
und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh
war ſeinen Zügen aufgeprägt; dennoch würde ich,
auch an jedem anderen Orte, ihn auf den erſten Blick
erkannt haben. Und auch ſeine ausgeſtreckte Hand
deutete an, daß er ohne Beſinnen in der Matrone,
die ihm unerwartet gegenüberſtand, das fünfzehnjährige
Mädchen wiedergefunden hatte. Der Lauf der Zeit
hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren
zurückgelaſſen; wir waren, wie man es nennt, orga¬
niſch alt geworden; ein Vorrecht derer, die nur ſchwach
mit dem Herzen leben.
Ich folgte ſeinem ſtummen Winke in das eigene
Zimmer. „Eine jammervolle Stunde, Fräulein Har¬
dine, in der Sie mein Haus zum erſten Male betre¬
ten!“ ſagte er, indem er meine Hand mit tiefer Be¬
wegung drückte.
„Hoffen Sie noch, Faber?“ fragte ich, zum Vor¬
aus hoffnungslos.
Er aber antwortete: „Hoffen? ja, ich hoffe, aber
nicht auf das Leben,“ und als ich leiſe das Wort
„Hirnfieber“ nannte, da ſagte er: „Wenn dem ſo
wäre. Sie würden mich weniger rathlos finden. Nein,
kein Fieber — —“
Ich ſchnitt ſeine Erklärung mit einer haſtigen
Bewegung ab; der Schauder in ſeinem Blicke hatte
meine Ahnung beſtätigt. Ich gedachte der Stunde,
wo Dorothee mir dieſen Ausgang angedeutet hatte.
Wir ſtanden eine Weile ſchweigend und lauſchten auf
die markerſchütternden Töne, die aus dem Nebenzim¬
mer drangen. „Störe ich Sie?“ fragte ich endlich.
„Leider nein!“ antwortete er. „Nach Außen fehlt
mir die Ruhe, und da, wo ich Tag und Nacht nicht
weichen möchte, darf ich nur ein verſtohlener Zeuge
ſein. Die Unglückliche, ſo ſcheint es, ſieht in mir
nur den Arzt, vor dem ſie ſich allezeit geſcheut, nicht
den troſtloſen Gatten, dem ſie bis zum Aeußerſten
ihre Qual liebreich verheimlicht hat.“
„Und wann trat dieſes Aeußerſte ein?“ fragte
ich weiter.
„Das Aeußerſte erſt geſtern,“ verſetzte er. „Sei¬
ner Natur nach iſt es ein heimtückiſcher, ſchleichender
Zuſtand, der vielleicht ſchon vor unſerer Vereinigung
begonnen hat. Alles in Allem, ein Räthſel.“
Ich ſchwieg mit geſenktem Blick. Ich allein
hätte ihm ja den Schlüſſel zu dieſem Räthſel reichen
können.
Er lud mich darauf zum Niederſitzen ein, nahm
[195] an meiner Seite Platz und ſchilderte mir jenen erſtar¬
renden Krampf, der ſeit dem Hochzeitstage von Zeit
zu Zeit das blühende Geſchöpf überfallen habe. „Bis¬
weilen,“ ſagte er, „konnte ich die Kriſe ſtundenlang
vorausſehen. Sie war beklemmt, unruhig, trat wieder¬
holt mit über der Bruſt gekreuzten Händen auf mich
zu, eine Geberde, durch welche ſie ſchon als Kind eine
Bitte ſo unwiderſtehlich auszudrücken verſtand; ſie
ſah mit einem herzzerreißenden Blicke zu mir in die
Höhe, vermochte nicht zu reden und kämpfte ſo fort,
bis ſie erſtarrt, mit ſtockendem Puls, aber völligem Be¬
wußtſein zu Boden ſank. Da der Zuſtand jedoch nur
ſelten eintrat, raſch vorüberging und keine geſundheit¬
liche „Störung“ hinterließ, nahm ich ihn als eine je¬
ner unverfänglichen nervöſen Affektionen, denen Frauen
in kaum berechenbarer Weiſe unterworfen ſind. Ich
ſuchte ſeinen Grund in der jahrelangen Spannung des
Brautſtandes, in dem dann allzu plötzlichen Wechſel
aller Lebensverhältniſſe, unter denen ſie nur allmälig
in Ruhe und Stille heimiſch werden könne. Ich
ſchonte ſie, ſchonte ſie vielleicht zu ſehr. Ich verfiel
in den Irrthum vieler Aerzte, die das körperliche Le¬
ben ihrer Angehörigen nach den bedenklichen Erfah¬
rungen ihres Berufes und das ſeeliſche nach ihren
13*[196] eigenen Bedürfniſſen beurtheilen. Weil mir nach
einem abſpannenden Tagewerk eine Pauſe des Aus¬
ruhens Wohlthat war; weil ich nichts verlangte, als
das holdſelige Geſchöpf, ſtill und vergoldend gleich
einem Sonnenſtrahl, die Schatten meines Berufsle¬
bens ſtreifen zu ſehen; in meinem ſelbſtſüchtigen Be¬
hagen überſah ich ihr unausgefülltes Einerlei, vergaß
den Widerſpruch mit ihrer urſprünglich bewegſamen Na¬
tur, vergaß ihn um ſo leichter, als ſie ſelber nie¬
mals klagte, nach nichts verlangte, immer verſicherte
wohl zu ſein und keine Spur des Hinwelkens ihre
Worte Lügen ſtrafte. Sie war und blieb ein blühen¬
des, liebliches Kind, Fräulein Hardine, ein Engel der
Demuth; Dorothee, meine Gottesgabe, mein Sonnen¬
ſtrahl!“
Der Mann verbarg das Geſicht hinter ſeinen
Händen, ich hörte ein krampfhaftes Schluchzen; lange
vermochte er nicht weiter zu reden und als er endlich
von Neuem begann, geſchah es mehr zu ſich ſelbſt als
zu mir. „Die unterdrückte Natur rächt ſich allemal —
allemal! — wenn ich ſie hätte reiſen laſſen — ihr
Zerſtreuung und Umgang geſucht — Licht und Luft
um ſie geſchaffen in der weiten Einöde der Stadt:
— nichts, nichts habe ich für ſie gethan; mich an
[197] ihrem Anblick erquickt, Egoiſt, der ich war und nun
ſo grauſam geſtraft!“
Eine neue Pauſe folgte. Nachdem er ſich ge¬
ſammelt hatte, fuhr er raſch, gleichſam geſchäfts¬
mäßig fort: „Unter den erſchütternden Ereigniſſen des
Herbſtes 1806 hatte ihr Leiden ſich geſteigert. Als
ich bei meiner Rückkehr von der Armee unerwartet
bei ihr eintrat, umfing ich minutenlang eine Leiche.
Der Zuſtand kehrte ſeitdem öfter wieder, dauerte län¬
ger, man möchte ſagen, er wuchs mit den Qualen
und Enttäuſchungen des Vaterlandes. Im Sommer
1809, als Schlag um Schlag das Scheitern Schills
und Braunſchweigs, die Niederlage Oeſterreichs bekannt
wurden, ſchien er ſeinen Höhepunkt erreicht zu haben.
Dann trat eine Pauſe ein; die Stille der Reſignation,
um unter den Opfern der Erhebungszeit von Neuem
aufzuwachen. Ich war der Armee gefolgt und hörte
ſpäter erſt von Anderen — niemals von ihr ſelbſt —
daß ſie ſich den Frauenvereinen angeſchloſſen hatte,
die nach den Märkiſchen Schlachten ſich des Dienſtes
in unſeren Spitälern unterzogen. Armes, zärtliches
Kind, das niemals einen Blutstropfen ſehen, von
einer Wunde nur reden hören konnte! Tag für Tag
trat ſie den Gang durch dieſe Leidensſtätten an, ging
[198] von Bett zu Bett, ſtarrte angſtvoll in jedes Kranken¬
angeſicht, als ob ſie Einen ſuche, der nicht zu finden,
Einen retten wollte, der nicht zu retten war und brach
dann am Ausgange vernichtet zuſammen, um andern
Tages den qualvollen Weg von Neuem anzutreten.
„Selbſtverſtändlich würde ich, wenn zur Stelle,
dieſe zweckloſe Folter gehindert haben. Als ich aber
nach Jahr und Tag aus Frankreich heimkehrte, fand
ich die Spitäler geleert und Dorothee faſt unverändert
die Alte. Erſt während der Tage von Ligny und
Waterloo, — ich befand mich wieder bei der Blücher¬
ſchen Armee — ſoll eine kurze Kataſtrophe eingetre¬
ten ſein, die mich auf die heutige hätte vorbereiten
können. Ich war nicht Zeuge derſelben und tröſtete
mich wiederum, daß die eindrucksfähige Kindernatur,
die Idioſyncraſie gegen alles, was Tod und Leiden
heißt, dieſe gewaltſame Erſchütterung hervorgerufen
habe. Ihr gegenwärtiger Zuſtand, ohne jeglichen An¬
laß von Außen her, ſpricht jenem Troſte Hohn. Ich
ſtehe wie ein Narr vor dieſem Räthſel der Natur.
„Sie dürfen denken, Fräulein Hardine, daß da,
wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele ſtand, ich
dem eigenen Urtheil nicht allein vertraute. Ich habe
den Rath meiner anerkannteſten Collegen in Nähe
[199] und Ferne eingeholt. Einmal aber ſträubte ſich Do¬
rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem ſonſtigen Weſen
völlig fremd war, und ihren Zuſtand ſteigerte, gegen
jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch
kein Einziger eine zweckmäßig ſcheinende Methode vor¬
zuſchlagen. Sie ſelbſt erklärte ſich für geſund und ſie
ſchien es zu ſein. Ich mußte mich allerſeits mit dem
Vorwurf hypochondriſcher Aengſtlichkeit abfertigen laſ¬
ſen. Höchſtens daß man das Poſtulat der Kinder¬
loſigkeit als die Urſache momentaner körperlicher oder
gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin
aber zu ſehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬
ſtulate zu ſein. Unſere Kunſt iſt eine der Exemtionen.
Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine
Mutter erlag, als ſie mir das Leben gab; und laſſen
Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war
zu ſehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater
ihr ſo wenig eine Stütze zu ſein vermochte. Sie er¬
kannte das auch wohl ſelbſt. Niemals hat ſie eine
mütterliche Sehnſucht angedeutet; ja ich ſah ſie von
einem Schauder befallen, als wir auf einer unſerer
ſeltenen gemeinſamen Wanderungen durch die Stadt
einer Schaar tobender Waiſenknaben begegneten. Als
ich ihr nach 1806 — nicht zu meiner, nur zu ihrer
[200] eigenen Ausfüllung — den Vorſchlag machte, eine
Soldatenwaiſe zu adoptiren, da war ein Krampfanfall
ihre Antwort, und nachdem die Sprache wieder zurück¬
gekehrt war, ſagte ſie nichts als mit der flehendſten
Geberde: „Bitte, bitte — nein!“
„Man gewöhnt ſich an ſolchen Zuſtand, Fräulein
Hardine. Mein Berufsleben wurde immer abſor¬
birender. Ich war häufig auf Reiſen und wenn in Ber¬
lin, oft nur minutenweiſe in meinem Hauſe anweſend.
Da bemerkte ich es denn kaum, daß ſie von Jahr zu
Jahr ſtiller und in ſich gekehrter ward, ja daß wohl
Tage vergingen, ohne daß ich einen Laut von ihren
Lippen vernahm. Das Alter macht naturgemäß
ſchweigſam; und was hätten wir im Grunde uns auch
mitzutheilen gehabt? Sie erlebte zu wenig und ich zu
viel, aber doch nicht das, was zu häuslichem Aus¬
tauſch ſich eignete. Die beängſtenden Zufälle hörten
allmälig auf, ich fühlte mich beruhigt, — bis, ja es
mögen jetzt drei Monate ſein.
„Da konnte ich mir denn nicht länger verbergen,
daß die ſtumme Apathie in eine ſeltſame Aufregung
umgeſchlagen war. Sie ging den ganzen Tag im
Zimmer auf und ab und ſaß die Nächte mit offenen
Augen in ihrem Bette, oder ich traf ſie wohl auch
[201] dann leiſe auf und niederwandelnd. Mahnte ich ſie
zur Ruhe, ſo gehorchte ſie, legte ſich und ſtellte ſich
ſchlafend. Sobald ich aber in meine Kammer zurück¬
gekehrt war und ſie ſich unbeobachtet glaubte, richtete
ſie ſich auf und begann ihre Wandelgänge von Neuem.
Sie ſchlummerte nicht, ſie fragte nach nichts und ant¬
wortete nur mit ſtummen, aber deutlichen Geberden;
ſie nahm nur gezwungen die nothdürftigſte Nahrung.
„O, daß das arme Hirn in dieſer Zerſetzung ſich
leiſe erſchöpft hätte, aber ſeit geſtern — —“
„Seit geſtern?“ drängte ich geſpannt.
„Seit geſtern — —“
Ein ſchriller Schrei aus dem Nebenzimmer
unterbrach ihn. Er ſprang auf und lauſchte hinter
dem Vorhang an der ſacht geöffneten Thür. „Wer
faßt es, Fräulein Hardine,“ ſagte er darauf, als es
drinnen wieder ſtill geworden war, „wer erträgt es,
die friedfertigſte Creatur enden zu ſehen unter den
Qualen einer Mörderin, ſie mit Gewalt vom Aeußerſten
abhalten zu müſſen, — — o, Gott, Gott! geſtern in
der Dämmerſtunde, ein unbewachter Moment und —
ſie würde — —“
Der Mann konnte nicht weiter; auch ich ſtand
erſchüttert bis in’s Mark. Seit Monden, wo der
[202] Sohn, eine Mutter ſuchend, das Land durchwanderte,
und geſtern, geſtern, da er im Wahn ſeine Hand nach
einer Andern ſtreckte, — — darf man an ſolche Sym¬
pathien glauben, an eine electriſche Strömung des
verwandten Blutes?“
„Dürfte ich ſie ſehen?“ fragte ich nach einer
langen Stille den unglücklichen Mann.
„Sie würde Sie nicht erkennen, ſchwerlich be¬
merken. Aber Sie, wie ſollten Sie dieſen Eindruck
ertragen? Fräulein Hardine, — ſie raſt!“
„Führen Sie mich zu ihr,“ ſagte ich voranſchrei¬
tend. Unter der Thür hielt ich an. „Eine Frage
noch: Iſt es eine formloſe Beklemmung, oder — —
„Es iſt ein fixirtes Wahnbild,“ verſetzte Faber
flüſternd, „das ſinnloſeſte, — — oder ſollte dennoch
eine unterdrückte, mütterliche Sehnſucht — — ſollte
ich zum zweiten Male genarrt — — ? Doch genug
der fruchtloſen Grübeleien. Sie quält ſich mit der
verzweifelten Idee, eine Kindesmörderin zu ſein. Nicht
aber eines eigenen, neugebornen Kindes, wie es ein häufiger
Wahn irrſinniger Frauen iſt; nein, über einen Knaben
tobt ſie, einen Waiſenknaben, den ſie, ſie ſelber todt¬
geſchoſſen haben will. Auf Viertelſtunden tritt wohl
eine Pauſe ein; dann formt ſie aus Kiſſen und
[203] Tüchern einen Knäuel, preßt ihn an ihr Herz und
liebkoſt ihn wie eine Mutter ihr Kind: bald aber zer¬
reißt ſie mit der Kraft der Raſerei den Balg in
Stücken, ſchleudert ihn von ſich, ſchreit auf, ſieht ſich
— oder wen? — in einer teufliſchen Umgebung, die
ſie „die Schwarzen“ nennt und kann nur mit Zwangs¬
mitteln zurückgehalten werden, eine gewaltſame Befrei¬
ung aus dieſer Seelenqual zu ſuchen. Und dennoch,
dennoch, ſollten Sie es glauben, Fräulein Hardine?
das engelhafte Gemüth hat ſich auch in dieſem
Aeußerſten nicht bemeiſtern laſſen. Vor dem troſtloſen
Gatten möchte ſie ihre Folter auch jetzt noch verheim¬
lichen. „Still, ſtill!“ flüſtert ſie, ſo oft ich mich nahe.
Da aber die Angſt ſtärker iſt als der Wille, wird ſie
immer unruhiger, windet ſich, bäumt ſich, ſtöhnt, bis
ich mich entferne und ſie wie erlöſt aufathmet, um
bald von Neuem von dem gemordeten Knaben und
den Schwarzen verfolgt zu werden.“
Wir traten in das Krankenzimmer. Es war
tageshell erleuchtet, denn die bedrohenden Geſpenſter
wuchſen in der Dunkelheit. Zwei baumſtarke Wär¬
terinnen verſahen den Dienſt. Dorothee ſaß im Bett
in unzähmbarer Unruhe. Mit der einen Hand ſtieß
ſie eine calmirende Arznei zurück, mit der anderen riß
[204] ſie die Eisblaſe ab, die man auf dem Kopfe feſt¬
zuhalten ſuchte. Das einſt goldige Haar hing wie
eine Silberwelle, von geſchmolzenen Eistropfen über¬
perlt, an den Schläfen herab, das Antlitz glich einer
ſchneeigen Blüthe und die erweiterten Augen flogen in
ruheloſem Flimmer auf und nieder. Das unglückſelige
Weib, im fünfzigſten Jahre, in den Banden des
Wahnſinns, an der Pforte des Grabes war noch
immer ſchön; ja, mich dünkte, ich hätte es niemals
ſchöner geſehen als in dieſem Aufruhr der heimlichſten
Natur.
Ich bedeutete die Wärterinnen, ihr fruchtloſes
Bemühen aufzugeben; ſie zogen ſich zurück und ich
ſetzte mich auf einen Stuhl am Bette. Der Mann
lauſchte verborgen im Hintergrunde, kein Athemzug ging
durch den Raum.
Eine lange Weile bemerkte ſie mich nicht; ſie
hatte einen ihrer ruhigen Momente; geſchäftig bündelte
ſie die Eisblaſe, die ſie ſich vom Kopfe geriſſen, in ein
Tuch und preßte ſie an ihr Herz. „Hu, hu, wie kalt!“
murmelte ſie ſchaudernd, „wie kalt!“ Ich trat dicht
an ſie heran, ergriff ihre beiden Hände und ſenkte
meine Augen feſt in die ihren. „Kennſt Du mich
noch, Dorothee?“ fragte ich.
[205]
Und wunderbar! kaum daß ſie meine Stimme
vernommen und nur einen Moment forſchend zu mir
aufgeblickt hatte, rief ſie: „Hardine! Fräulein Har¬
dine!“
Der lauſchende Mann konnte einen Laut der
Ueberraſchung nicht zurückhalten. Dorothee horchte
geſpannt. „Still, ſtill!“ flüſterte ſie, indem ſie das
Bündel unter ihre Decke verbarg. Als aber alles
wieder ruhig geworden war, zog ſie es von Neuem
hervor, drückte meine Hand darauf und ſagte: „Fühlen
Sie, Fräulein Hardine, wie kalt! Es iſt todt, hu, ſo
kalt, ſo kalt, das arme Kind, todt!“
„Es iſt kein Kind, Dorothee,“ ſagte ich, „es iſt
ein kalter Stein, der lange auf Deinem Herzen gelegen
hat. Ich will ihn von Dir nehmen. Siehſt Du, nun
iſt er fort, nun wird Dir leicht werden, Dorothee. —
Sie ließ es willig geſchehen, daß ich das Bündel
von ihr nahm; aber ſie wimmerte immerzu: „Todt,
todt, das arme Kind todt!“ Einen Augenblick ſchwankte
ich noch; dann wagte ich es, dem Lauſcher zum Trotz,
auf alle Gefahr. Ich drückte die Hand der jammernden
Mutter an mein Herz und ſprach mit erhobener
Stimme: — „Das Kind iſt nicht todt, Dorothee.
Gott iſt ein Vater der Waiſen, der Knabe lebt!“ —
[206]
„Er lebt, er lebt!“ ſchrie ſie auf. „Wer ſagt,
daß er lebt? Wer hat es geſehen, daß er lebt?“
„Hardine ſagt es,“ verſetzte ich, „Hardine hat
ihn geſehen. Der Knabe lebt!“
„Er lebt, er lebt!“ rief ſie, „Hardine ſagt es,
Hardine lügt nicht, niemals! Hardine hat ihn ge¬
ſehen. Er lebt! Wo, wo? Führe mich zu ihm, Har¬
dine!“
„Ja, ich will Dich zu ihm führen, Dorothee.
Ich will Dich mit mir nehmen nach Reckenburg.
Weißt Du noch? nach Reckenburg, Dorothee.“ —
Eine Minute lang ſaß ſie ſinnend, rieb ſich die
Stirn und murmelte: „Reckenburg! Reckenburg!“
Endlich hatte ſie es gefunden. „In Reckenburg, ja in
Reckenburg, da war's. Nicht im Waiſenhauſe, nicht
bei den Schwarzen. In Reckenburg lebt er. Fräu¬
lein Hardine hat ihn geſehen. Fräulein Hardine
nimmt mich mit nach Reckenburg; Fräulein Hardine
hält Wort!“ Sie klatſchte in die Hände wie ein
Kind. „Nach Reckenburg!“ jubelte ſie, „kommen Sie,
Fräulein Hardine.“
„Ich bringe Dich nach Reckenburg,“ ſagte ich;
aber nicht heute; erſt mußt Du geſund werden, liebe
Dorothee.“
„Ich bin geſund, ganz geſund,“ verſicherte ſie,
indem ſie Anſtalt machte, das Bett zu verlaſſen.
Ich konnte ſie nur mit Mühe darin zurückhalten.
„Du biſt krank, Dorothee;“ ſagte ich beſtimmt; „Du
wirſt aber bald geſund werden, wenn Du mir folgſt.
Nimm dieſe Tropfen; lege Dich ruhig hin, drücke die
Augen zu und ſchlafe aus. Dann gehſt Du mit mir
nach Reckenburg.“
„Ich will Ihnen folgen, Fräulein Hardine,“
ſagte ſie und nahm ohne Sträuben den Trank, dem ſie
ſich bisher ſo gewaltſam widerſetzt hatte. Plötzlich
wurde ſie aber wieder unruhig, ſpähte ängſtlich im
Zimmer umher und flüſterte mir in's Ohr: „Er, er!
Wenn er nun kommt? wenn er nun merkt? Er läßt
mich nicht fort, Fräulein Hardine.“
„Sei ruhig; ich wache bei Dir,“ entgegnete ich
laut. „Und er wird Dich mit mir gehen laſſen, denn
er liebt Dich, Dorothee.“
„Fräulein Hardine wacht bei mir,“ liſpelte ſie
ſchon mit ſchläfrigen Augen, ließ ſich darauf, gehor¬
ſam wie ein Kind, das durchnäßte Haar von mir ab¬
trocknen, warm einhüllen und betten. Ihre beiden
Hände ruhten in den meinen; ſie blickte noch einige¬
male in die Höhe, als ſie mich aber ruhig auf dem
[208] Bettrande ſitzen und meine Augen wachſam auf ſie
gerichtet ſah, ſchlummerte ſie ſanft athmend ein.
Nach einer Weile erhob ich mich leiſe und trat zu
dem, welcher dieſem Auftritte unbemerkt gelauſcht hatte.
Thränen, vielleicht die erſten des bewußten Lebens,
rannen über ſeine Wangen. Er drückte meine beiden
Hände an ſein Herz. „Die Wohlthat einer erſten
friedlichen Stunde!’, ſagte er. „Welch ein Zauber
liegt doch in den früheſten Erinnerungen, in den
Menſchen, welchen wir am früheſten vertrauten. O,
des Selbſtſüchtigen, Verblendeten, der nur nach dem
Pendelſchlag der Stunde gerechnet hat! Wenn ich ſie
vor Jahren Ihnen zugeführt hätte, vor Monaten
noch — —“
„Und wenn es noch jetzt nicht zu ſpät wäre,
mein Freund?“ fragte ich.
Er aber ſchüttelte den Kopf und antwortete: „es
iſt zu ſpät.“
Ich verſprach ihm darauf, die Nacht bei Doro¬
thee zu wachen und bat ihn, für einige Stunden die
Ruhe zu ſuchen, deren er ſo dringend bedürfe.
„Auch ich werde Ihnen folgen,“ ſagte er und
ging nach einem wehmüthigen Blick auf die Schlum¬
mernde in ſein Zimmer. Von Viertelſtunde zu Vier¬
[209] telſtunde erſchien er indeſſen lauſchend unter der Thür,
bis er endlich mit dem Entſchluſſe, ſchlafen zu wol¬
len, in ein paar Stunden ungeſtörter Ruhe die er¬
ſchöpften Kräfte wiederfand.
Ich ſaß allein bei der Kranken, ihre Hände in
den meinen und Gott weiß! in welchem Aufruhr der
Gedanken! Was für eine Ironie in dem beglückenden
Wahne des getäuſchten Mannes! Was für eine Strafe
in dem gräßlichen Wahne der täuſchenden Frau!
Aber ſie lag ſo ſtill, ſie athmete ſo gleichmäßig leiſe:
ſollte es wirklich zu ſpät ſein, Wahrheit und Frieden
an Stelle der Irrung walten zu laſſen?
Nein, ich hoffte noch, hoffte noch, als ich mich
beim grauenden Morgen erhob, um die Lampen zu
löſchen und die Fenſterbehänge zurückzuziehen. Als
ich aber nach wenigen Minuten auf meinen Platz zu¬
rückkehrte, da gewahrte ich jene plötzliche, unbeſchreib¬
liche Wandlung, welche jede Hoffnung vernichtet.
Ich hätte Siegmund Faber herbeirufen mögen,
zum letzten Lebewohl. Aber Dorothee ſchlug jetzt die
Augen zu mir auf, nicht mehr im Flimmer des Wahns,
nein, die fragenden Kinderaugen aus ihrer ſchuldloſen
Zeit. Sie taſtete nach meiner Hand und flüſterte in
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 14[210] mein Ohr: „Glaubſt Du, daß Gott barmherzig iſt,
Hardine?“
„Ich glaube es, Dorothee,“ antwortete ich be¬
ſtimmt.
„Auch gegen Eine, die nicht mehr Vater zu ihm
ſagen darf?“
„Gegen jedes ſchwache, irrende Geſchöpf, das ſich
nach ſeiner Vaterliebe ſehnt.“
„Und er lebt, haſt Du geſagt, er lebt?“
„Er lebt und ich werde meine Augen über ihn
halten und ihm ſagen, daß im Vaterreiche eine lie¬
bende Mutter ſeiner Heimkehr harrt.“
Kaum hatte ich dieſe Worte geſprochen und Do¬
rothee mit letzter Lebenskraft ihre Lippen auf meine
Hand gedrückt, als Siegmund Faber in das Zimmer
trat und mit einem herzdurchdringenden Schrei an
dem Sterbebette niederſtürzte. Sie ſchlug das brechende
Auge noch einmal zu ihm auf, ein letztes Beben er¬
ſchütterte den halberſtarrten Leib. „Faber!“ röchelte
ſie. „Barmherzigkeit, Faber! Herr, mein Heiland
Barmherzigkeit!“
Und Alles war zu Ende.
Ich entfernte mich unbemerkt. Als ich aber nach
etlichen Stunden wiederkehrte, um Abſchied von dem
[211] Freunde zu nehmen, da fand ich ihn noch auf der
nämlichen Stelle; umklammernd die todte Geſtalt, die
er bis zum Letzten ſein Kind und nicht einmal ſein
Weib genannt hatte. Doch faßte er ſich, ſobald er
mich bemerkte und begleitete mich aus dem Sterbe¬
zimmer, nachdem ich mit einem langen Blicke von dem
auch im Tode noch ſchönſten Weibe Abſchied ge¬
nommen hatte.
„So lange ich lebe, Fräulein Hardine,“ ſagte er
„werde ich Ihnen dieſe ſanfte Erlöſungsſtunde danken.
Sie war meine Lebensfreude, mein ganzes Glück!“
Ich trennte mich von Siegmund Faber mit dem
heiligen Vorſatz, die Erinnerung an ſeinen Sonnen¬
ſtrahl rein zu erhalten vor jedem trübenden Hauch.
Meine Seele war erfüllt von dem Schauerbilde
einer beleidigten und ſich rächenden Natur, aber
auch — ich ſehe Deine Thränen fließen, mein Kind!
— aber auch von einem Verſöhnungsglauben, wie ich
ihn niemals ſtärker an einem Sterbebette empfunden
habe. Sie hatte den Frevel gegen Gottes ewige Ordnung
erkannt und mit allen Qualen eines armen Men¬
ſchenherzens hienieden gebüßt; der Wahn war dem
Leben vorausgeflüchtet, mit dem Flehen, in dem ſie
geſchieden iſt, wird ſie jenſeit begonnen haben und Vater
14*[212] ſagen dürfen, den wiedergefundenen Sohn an ihrer
Hand.
In dieſer Stimmung nahm ich es als eine troſt¬
reiche Erfüllung, daß ich bei meiner Heimkehr nach
Reckenburg allſobald an ein zweites Sterbebett beru¬
fen ward, zu einem Scheiden, ſo klar und gefaßt, wie
das tapfere Herz es ſich dereinſt, wenn auch in mäch¬
tigerer Umgebung gewünſcht hatte.
„Fräulein Hardine,“ rief mir Auguſt Müller
entgegen. „Sie ſind nicht meine Mutter, ich weiß
es jetzt, denn der Tod macht hell. Vergeben Sie
mir die Unehre, welche meine Thorheit über Sie ver¬
breitet hat.“
„Du ſuchtest eine Mutter und irrteſt in gutem
Glauben. Du haſt mich nicht beleidigt, Auguſt,“ ver¬
ſetzte ich aufrichtig, indem ich ihm die Hand reichte.
Er drückte ſie kräftig, lag eine Weile in Nach¬
denken verſunken und ſagte dann: „Eins noch, Fräu¬
lein Hardine: Jene weiße Frau mit dem gelben Haar,
die ich bei der Leiche Ihres Vaters ſah, iſt ſie—?“
„Sie war Deine Mutter, Auguſt. Sie iſt Dir
in Liebe vorangegangen. Ich aber werde an ihrer
Statt für Deine Tochter Sorge tragen.“
Nachtrag des Herausgebers.
Ja, unſer tapferer Invalid’ iſt todt! Drei Tage,
nachdem er hoffnungstrunken das Waldhaus Muhme
Juſtinens. wiedererkannte, iſt er dahin, und wohl ihm!
rufen wir ihm nach. Wir hätten ihm den Todes¬
ſtreich von einem Türkenſäbel gegönnt; aber zehn
Friedensjahre hatten ſein Lebensmark aufgezehrt. Nun
ſtarb er raſch, wie er gelebt, gut gepflegt, auf hei¬
miſchem Grund und ſein brechender Blick fiel auf das
verwaiſte Kind, welches Fräulein Hardine zum Schutz
in ihre Reckenburg führte. Auguſt Müller endete glück¬
licher, als ſeine brave Liſette auf dem Sterbebett ge¬
ahnt hatte. Wohl ihm!
Und wieder ſehen wir Fräulein Hardinen als
einzige Leidtragende ſeinem Sarge folgen zu der Ruhe¬
ſtätte, die ihm an der Seite der „treueſten Dienerin“
[214] bereitet worden war. Es war dies eine letzte Ehre,
welche die Herrin jedem ihrer Gemeindeglieder erwies,
und wir, die wir ihre Bekenntniſſe geleſen haben,
wiſſen, welchen Erinnerungen ſie durch dieſelbe ge¬
recht ward, die Zeitgenoſſen aber, welche die Wahrheit
erſt aus dieſen Blättern erfahren werden, die ſchrieen
im Chor: „Einem Fremden, einem bettelnden Tage¬
dieb! dem, der die ſchwerſte Bezüchtigung gegen ſie
verbreitet hat?“
So war es denn Fräulein Hardine ſelbſt, die,
ſchweigend und handelnd, dieſer Bezüchtigung Vorſchub
leiſtete, in einer Weiſe, daß ihr goldheller Name
dauernd dadurch geſchwärzt werden ſollte. Wir wol¬
len uns nicht dabei aufhalten, wie dem ſtarren Er¬
ſtaunen die kleinlichſten Spürverſuche folgten, wie der
verbiſſene Neid triumphirte, Entrüſtung, ja Empörung
gegen die langjährige Heuchelei laut und öffentlich zur
Schau getragen ward. Das Haus, zu welchem der
Eintritt als hohe Gunſtbezeugung erſtrebt worden war,
ſah ſich ſcheu vermieden, gleich einem, in welchem ein
anſteckendes Fieber ausgebrochen iſt; der ſtolze Bau
des Rechtes und der Ehre ſchien in ſeinem Funda¬
ment erſchüttert; keine Hand regte ſich, ihn zu ſtützen,
ſeitdem ſelber der Graf die Beziehungen zur Recken¬
[215] burg und alle Zukunftsausſichten aufgab und, ſchwei¬
gend zwar, eben darum aber ſprechend genug für die
geſpannten Lauſcher, auf ſeinen neuen hohen Verwal¬
tungspoſten eilte.
Wer hätte nicht in ähnlicher Weiſe eine wankende
Autorität verlaſſen ſehen? Gleichwohl würde der ge¬
räuſchvolle Eifer bei dieſer Kataſtrophe nicht hinläng¬
lich zu erklären ſein, wenn der Zeitpunkt derſelben
außer Acht gelaſſen würde. Der übermäßigen An¬
ſtrengung aller Lebenskräfte in Noth und Kampf waren
zehn Jahre einer apathiſchen Stille nachgeſchlichen;
in beſchränktem Kreiſe wieder herſtellend und aufbauend,
folgte Jeder einem tiefen Ruhebedürfniß. Aller Abzug
in weitere Gebiete war unterdrückt, die ſtaatsbürger¬
lichen Intereſſen ſchwiegen, ſelber unſere jüngſten gro¬
ßen Erinnerungen ſchienen wie mit dem Schwamme
ausgelöſcht. Mit dem patriarchaliſchen Behagen ver¬
breitete ſich patriarchaliſche Kleinſucht und Fraubaſe¬
rei. Ein weniger bemerkenswerthes Ereigniß, als der
Sturz von Fräulein Hardinens Ehrenkrone würde in
einer ſolchen Epoche als eine Haupt– und Staats¬
action verhandelt worden ſein, weit mehr, als der
Sturz von Königskronen in einer anderen.
Ob Fräulein Hardine dieſen Sturz bemerkte?
[216] ob ſie ihn einer Beachtung würdigte? Kein Zeichen
deutete es an. Sie bewegte ſich nach wie vor zuver¬
ſichtlich in ihrem Tagewerk und ſcheute ſich nicht,
das angezweifelte Weſen, das ſie demſelben eingefügt
hatte, immer dichter in ihre Nähe zu ziehen. Unter
allen Umſtänden that ſie keinen entgegenkommenden
Schritt, der eine verſöhnliche Stimmung eher als jener
hochmüthige Gleichſinn angebahnt haben würde. Wir
aber, die ſie die Ihren nannte, wir Reckenburger
Leute, ei nun, wir kümmerten uns nicht um Klatſch
und Matſch. Wir glaubten's nicht und wir bezwei¬
felten's nicht. Wie Fräulein Hardine es uns gelehrt,
ſorgte ein Jeder für das Seine.
Indeſſen: das heftigſte Unwetter verzieht, und
auch die Windsbraut um Reckenburg legte ſich; nicht
ganz ſo jählings wie ſie herangebrauſt war, aber
hübſch ſacht und gemüthlich nach deutſcher Stürme
Art. Die Hand, die eine Reckenburg zu verſchenken
hat, behauptet ihre Anziehung; die Standesgenoſſen¬
ſchaft beſann ſich auf ihre alten Hoffnungen, auch die
bürgerliche Clientel auf gelegentliche Berückſichtigung.
Bald erſehnte Jedermann nur einen Anlaß, um öf¬
fentlich zu verleugnen, was heimlich von Keinem be¬
zweifelt ward. Dieſer Anlaß aber ließ nicht lange
[217] auf ſich warten und es war die Stelle, von welcher
man im lieben Vaterlande alle Hülfe beanſpruchte,
zu der man ſich ſelber nicht entſchließen konnte, die
Allerhöchſte, der man auch die Rettung von Fräulein
Hardinens Ehrenkrone zu verdanken hatte. Das Fräu¬
lein erhielt das Diplom einer Ehrenchanoineſſe des
vornehmſten Damenſtiftes der Monarchie und damit
die Prärogativen einer verheiratheten Frau. Sie machte
von dieſer Sonderſtellung keinen Gebrauch, nannte
ſich und ließ ſich nennen Fräulein von Reckenburg.
Man erzählte ſich auch, daß ſie eine gräfliche Erhe¬
bung ihres Wappenſchildes dankbarlichſt ausgeſchlagen
habe. Sie ſchien ſich darauf zu ſteifen, als Freifräu¬
lein in die Grube zu fahren. Die königliche Gunſt¬
bezeugung wurde jedoch zum Signal, die Verun¬
glimpfung zu bezweifeln, oder großmüthig zu decken.
Ein tapferer Veteran der Befreiungskriege! von
plötzlichem Fieberwahnſinn befallen, hatte auf Recken¬
burg eine Pflegeſtatt und ein ehrenvolles Grab, ſeine
hülfloſe Waiſe hochherzige Verſorgung gefunden.
Wehe dem, der Jahr und Tag nach dem verhängni߬
vollen Königsfeſte eine andere Verſion über die große
Kataſtrophe hätte laut werden laſſen! Fräulein Har¬
dine feierte weder heuer noch jemals ſpäter den dritten
[218] Auguſt mit einem patriotiſchen Mahl; hätte ſie ihn
aber gefeiert, ſie würde kein geladenes Haupt an ihrer
Tafel vermißt haben.
Indeſſen die Gäſte ſtellten ſich auch ungeladen
wieder ein. Viſiten, Rathſuchende, Huldigende, Hoffende
meldeten ſich; das Lächeln der Unſchuld auf den Lippen,
ſo als ob ſie nimmer gewichen, und wurden empfangen,
ſo als ob ſie nimmer vermißt worden wären. Scheiden
und Meiden ſchien auf beiden Seiten vergeſſen; das
alte Fahrgleis zur Reckenburg war wieder hergeſtellt;
nur daß die Blicke ſich je mehr und mehr zwiſchen der
großen und der an ihrer Seite heranwachſenden kleinen
Hardine theilten.
Denn wie ſtaunten die erſten Beſucher, in der
verwahrloſten Landſtreicherin ſchon nach Jahresfriſt
ein Kind wieder zu finden, geſund und lieblich, wie
man je eines geſehen. Fürwahr, Fräulein Hardine
hatte eine glückliche Hand. Auch ihr trübſeliger Schütz¬
ling war gediehen in der Luft des neuen Thurms
und auf den Flurwegen, wo ſie der Herrin tägliche
Begleiterin geworden. Die Nachbarſchaft erwartete in
Bälde den Akt einer Adoption, dem die Adelsbeſtäti¬
gung nicht fehlen werde. Man zählte zum Voraus
die Reihe der ritterlichen Jünglinge, die ohne Scheu
[219] das Erbe der Reckenburg aus der Hand der Marke¬
tenderinnentochter empfangen würden. Und die Reihe
war lang.
Aber nichts von dem Erwarteten geſchah. Fräulein
Hardine that keinen Schritt, um die kleine Plebejerin
zu ihrem eignen Range zu erheben. Sie machte nicht
einmal ihr Teſtament. Ihre Pflegebefohlene blieb nach
wie vor Hardine Müller.
Auch wurde ſie keineswegs herangebildet wie es einer
Erbin von Reckenburg geziemt haben würde: keiner
vornehmen Koſtanſtalt, keinem gelehrten Hofmeiſter,
keinen fremdländiſchen Gouvernanten übergeben. Der
erſte Lehrer des Kindes, Paſtor Nordheim, blieb auch
der letzte und von allen Kunſtfertigkeiten der Mode
war es ſpäterhin nur die Muſik, welche ein tüchtiger
Meiſter der Nachbarſchaft in dem talentvollen Mäd¬
chen pflegte. Im Uebrigen fügte ſich daſſelbe bald in
das Getriebe des inneren Haushaltes und ſchien ſich
in demſelben mit gleicher Neigung zu bewegen wie ihre
Beſchützerin in der äußeren Verwaltung.
Dieſe Erziehung deutete allerdings nicht auf hoch¬
fliegende Pläne für das geheimnißvolle Waiſenkind.
Wer hätte jedoch behaupten mögen, daß Fräulein
Hardine, welche in ſo vielen Stücken gegen den Strom
[220] zu ſteuern wagte, einer eignen Tochter oder Enkelin
eine vielſeitigere Bildung bewilligt haben würde? Daß
das Maaß des eignen Wiſſens und Könnens ihr nicht
das Genügende ſchien, um einen großen Beſitz und
ein bedeutendes Amt zu verwalten?
Zu dieſen wohlgerechtfertigten Zweifeln geſellte
ſich die Wahrnehmung eines allmäligen Umwandelns
des Reckenburgſchen Lebenszuſchnittes nach der häus¬
lichen Seite hin. — Der Verlauf war natürlich und
folgerecht für Eine, die nichts halb that, wie unſer
Fräulein Hardine. Denn ein Menſch zieht den an¬
deren nach und keiner mehrere als ein Kind. Die
kleine Waiſe bedurfte der Wartung, des Unterrichts
und Umgangs; ſie bedurfte des Raums zur Pflege,
zum Spiel, zur Aufnahme nachbarlicher Genoſſinnen
und deren erwachſener Sippſchaft, die nicht ſpröde auf
ſich warten ließ. Ein freundliches Gelaß mußte mit
den Tändeleien einer Kinder- ſpäter einer Mädchenſtube
ausgefüllt, Gaſtzimmer und wohnliche Verſammlungs¬
räume mußten eingerichtet werden. Der neue Thurm
war zu eng und einfach für mehr als Eine; die an¬
ſtoßenden Säle waren zu weit und prunkvoll für
Wenigere als eine Galaverſammlung. Da gab es denn
Abtheilungen und Zwiſchenwände; wärmende Oefen
[221] traten an die Seite der unzulänglichen Marmorkamine;
weiche Teppiche bedeckten die kältende Moſaik des
Bodens, bequeme Polſtermöbel nahmen die Stelle der
harten, goldverzierten Seſſel ein, duftende Blumen¬
gruppen die der modernden Potpourris und wackelnden
Chineſen auf den Conſolen. Muſik und Geſang er¬
tönten in dem lange ſtillen Palaſt und ein modern
gefälliges Geräth bedeckte ſtatt der barocken Silber-
und Porzellangefäße die wohlbeſetzte Tafel.
Und wie das Haus ſo die Gartenpracht. Die
geſammte todte Götterwelt, vor welcher die kleine
Hardine ſich gefürchtet hatte, fiel ohne Gnade; die
drei- und viereckigen, lebendigen Geſtalten, über welche
ſie gelacht, als man ſie Bäume nannte, machten [un¬
beſchnittenen] Strauch- und Baumgruppen Platz; die
ſteifen Hecken, die glasgeſäumten Schnörkelbeete, welche
den Tummelplatz der Kinderwelt beengten, verſchwanden,
und weite Raſenplätze rundeten ſich an ihrer Stelle zu
beiden Seiten der ſtattlichen Avenue. Junge Mädchen
lieben Blumen, und ſo entfaltete ſich weiterhin bis
zum Waldesrande ein üppiger Flor; rings um den
Gutshof aber dehnten ſich Gemüſe- und Obſtpflanzungen,
Glashäuſer und Winterbeete, denn das gaſtliche Haus
bedurfte der Leckerbiſſen, welche die einſame Herrin
[222] vordem nicht vermißt hatte. Anmuthige Sitzplätze
ladeten aller Orten zur Ruhe ein, eine einzige große
Fontaine inmitten der Terraſſe ſpendete kühlend die
Waſſermenge, welche die Ungethüme des Luſtgartens
in zahlloſen Fädchen ausgetröpfelt hatten, und die
Singvögel des Waldes flatterten bis an den Rand des
Baſſins, wo freundliche Kinderhände ihnen Futter
ſtreuten. Alles in Allem: unſere Reckenburg, ohne
ihren herrſchaftlichen Urſprung zu verleugnen, hatte
ſich in ein Heimweſen mit zeitgemäßem, bürgerlichem
Behagen umgewandelt, und wie hätte fortan ein Be¬
dürftiger ohne Labe und Pflege von ihrer Schwelle
gewieſen werden ſollen, wenn die kleine Hardine für
ihn „bitte, bitte“ ſprach. Gut geartete Kinder geben
ja ſo gern und die kleine Hardine war ein gut
geartetes Kind. Als in den erſten dreißiger Jahren
die Cholera rings im Lande viele Opfer forderte,
und mit einem ihrer Katzenſprünge nur unſer Recken¬
burg, verſchonte, da errichtete das Fräulein ein ſtatt¬
liches Waiſenhaus und an dem Einſegnungstage ihrer
Pflegetochter wurden fünfzig kleine, vater- und mutter¬
loſe Mädchen darin eingeführt.
So iſt die kleine Hardine nun ein erwachſenes
Dämchen geworden; und ein wechſelnder Verkehr mit
[223] Stadt und Land hat ſich angebahnt und ausgedehnt
auch über Kreiſe, die ſonſt nicht zu der Tafelrunde
der Reckenburg gezählt worden waren; innerhalb dieſer
Kreiſe werden, bei dem ſeit den Julitagen angeregteren
Zeitweſen, denn auch wohl Stimmungen laut geworden
ſein, welchen die große Hardine in früheren Tagen
ſchwerlich Gehör geſchenkt haben würde. Kurzum,
wohin wir blicken, da iſt ſeit dem Eintritt des kleinen
Bettlerkindes in der vertrauten Umhegung allmälig das
Alte neu, das Verlebte jung geworden. Und ſo ſehen
wir denn auch nicht mehr die goldene Kutſche mit dem
altersſchwachen Schimmelzug, ſondern ein leichtes Ge¬
fährt, mit raſchem Zweigeſpann die Herrſchaft und
ihre Gäſte zu einander führen, und nicht mehr die ge¬
puderten Heiducken, ſondern ein flinkes, jugendliches
Völkchen verſieht den Dienſt in dem erneuten Haus.
Die periodiſchen Galafeſte haben aufgehört, aber im
Schloß wie Dorf ſingt und ſpringt die Jugend unter
dem Maienbaum und dem Erntekranz; die Schenke
ſtreckt einladend ihren Arm in die Luft, die Kegel
rollen, die Krüge klappen, wenn auch mit Maaß; wir
ſind noch immer eine ehrbare Colonie, aber doch an¬
dere Leute geworden wie jene, die den wandernden
Invaliden mit Wunderaugen betrachteten und die
[224] ſtattliche Feſtcavalcade keines Blinzelns würdigten.
Es herbergte ſich gut auch bei den Bauern von
Reckenburg; droben aber in den herrſchaftlichen Ge¬
mächern lockte ein allempfundener Zauber die Gäſte
herbei, denn die alte Dame lächelte gütig und die
junge war ſchön.
Indeſſen ſie hieß noch immer ſchlechthin Hardine
Müller, ſie nahm eine Stellung ein, die ſich ebenſo¬
wohl für die bevorzugte Geſellſchafterin, wie für die
Verwandtin eines großen Hauſes geſchickt haben würde.
Ausbildung und Beſchäftigungsweiſe hätten ſie für das
Familienleben bürgerlicher Kreiſe geeignet gemacht,
Anſtand und äußere Form möchte ein junger Cavalier
nicht unter ſeiner Würde gefunden haben. Und eben
weil ſie ſo Verſchiedenen gerecht ſchien, ſah die Hoff¬
nung jedes Beſonderen ſich eingeſchränkt. Die Bürger¬
lichen ſchreckten die Anſprüche der ariſtokratiſchen
Pflegemutter; die Ariſtokraten ſchreckte die plebejiſche
Herkunft ohne verbriefte Zukunftsausſicht. Eine Zeit
lang glaubte man an eine Verbindung mit dem älteſten
Sohne des Grafen, einem, hübſchen, flotten Cavalier.
Der junge Herr beſann ſich aber anders, er wählte
Eine, die ich weiß nicht wie viele Ahnen und nicht,
wie die kleine Hardine, zwar zehn Sperlinge auf dem
[225] Dach, aber einen ſicher in der Hand hatte. Es war
das zweifelhafte Erbe der Reckenburg, welches von
zwei Seiten die Bewerber zurückhielt, und ſo müſſen
wir leider die Thatſache conſtatiren daß die liebliche,
vielbewunderte kleine Hardine in ihrem zwanzigſten
Jahre ſich noch keines Heirathsantrages rühmen durfte.
Alle dieſe Freierzweifel fanden jedoch eine über¬
raſchende Löſung, als juſt in den Hochſommertagen,
wo vor zwölf Jahren die Waiſe des Invaliden an
dem Heerde der Reckenburg heimiſch geworden war,
Fräulein Hardine die Verlobung ihrer Pflegetochter
bekannt machte. Der Auserkorene war ihr erſter
Kindheitsgenoſſe, der uns bekannte, freundliche Gym¬
naſiaſt, der aber nicht das geiſtliche Erbamt auf Recken¬
burg [übernommen], ſondern nach dem Tode ſeines
Vaters vor ein Paar Jahren die juriſtiſche Laufbahn
mit der öconomiſchen unter Fräulein Hardinens Augen
vertauſcht hatte und jetzt als deren Gehülfe die Recken¬
burg verwaltete.
Manche heimliche Hoffnung wurde durch dieſe
Verbindung zerſtört, manche neu belebt. Man nahm
ſie als einen Akt der Verleugnung, wo man einen der
Adoption gefürchtet hatte. Nun und nimmermehr
konnte dieſes Prototyp einer Edelfrau den Stammſitz
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 15[226] ihrer Väter, das Erbe, welches deren Namen in die
Zukunft leitete, auf die Familie eines Mannes über¬
tragen, der als Bedienſteter in ihrem Lohn und Brode
ſtand. Wer reines Blut in ſeinen Adern fühlte,
brachte ein Hoch aus auf die alte Reckenburgerin.
In wenigen Wochen waren Ludwig Nordheim
und Hardine Müller ein Paar. Die unruhige Span¬
nung aber ſteigerte ſich, als ſchon am Tage nach der
Hochzeit ſich die Neuigkeit verbreitete, daß das Fräulein
von Reckenburg ein Teſtament übergeben habe. Sie
hatte es ohne notariellen Beiſtand abgefaßt, Siegelung
und jedwede gerichtliche Einmiſchung in die zur Zeit
ihres Todes beſtehende Verwaltung unterſagt, bis nach
dreißigtägiger Friſt die Eröffnung ſtattgefunden haben
werde. Mit dieſer letzten Clauſel mochte es allerdings
Weile haben. Die Teſtatorin war an Geiſt wie Körper
kerngeſund, kein Haar auf ihrem Haupte ergraut, der
ſtolze Nacken nicht um eine Linie gekrümmt. Sie zählte
ſechszig Jahre, vielleicht auch mehr, aber ſie ſchien auf
ein Jahrhundert angelegt.
Manche unſerer heimiſchen Zeitgenoſſen werden
ſich daher des allſeitigen Staunens, ja Erſtarrens er¬
innern — dem Herausgeber zittert heute noch die
Hand, nun er bei dieſem Wendepunkt angelangt iſt
[227] — als am 21. September 1837 ſich die Kunde von
dem Tode der letzten Reckenburgerin gleich einem Lauf¬
feuer über die Landſchaft verbreitete. So fern ſie ir¬
gend einem gemüthlichen Zuſammenhange außer ihrer
Flur geſtanden, die Blicke und Gedanken von Hoch
und Gering hatten ſich Geſchlechter hindurch mit einem
allzu lebhaften und mannichfaltigen Intereſſe auf die
beiden ungewöhnlichen Schloßherrinnen geheftet, um
ſich nicht wie von einem perſönlichen Schickſale be¬
troffen zu fühlen, als jetzt die Stelle, die ſie einge¬
nommen, plötzlich verödet war. Wer ſollte dieſe Stelle
fortan füllen? Einzelne, wie Corporationen forſchten
ängſtlich nach dem leiſeſten Faden, welcher zu der be¬
währten Segensquelle leiten konnte. Jedweder ſah
ſich zu einer Hoffnung berechtigt um ſo mehr, als
keiner zu einem Anſpruch berechtigt war, und nur
Glück oder Gunſt ihm ein großes Loos in die Hand
ſpielen konnten.
Aber es waren nicht dieſe Glücksjäger allein. Ein
umfänglicher Gemeindeverband hatte eine Oberherrin
verloren, die ſich ſein Gedeihen zur Aufgabe eines
langen Lebens geſetzt; eine große Zahl Beamteter die
gerechteſte Gebieterin, auch die Armuth eine milde
Verſorgerin, ſeitdem durch die Hand eines Bettler¬
15*[228] kindes die Tugend der Barmherzigkeit eine Sitte auf
Reckenburg geworden war, und es iſt nicht zu viel
geſagt, daß Tauſende mit beklommener Bruſt der
Stunde entgegenſahen, die über die Wahl des Erben
von Reckenburg entſcheiden ſollte.
Keiner aber empfand dieſe Beklemmung tiefer als
das junge Paar, deſſen ſorgloſes Glück durch den jähen
Tod einer Wohlthäterin ſo dunkel getrübt worden war.
Erſt ſeit dieſer Stunde fühlten Ludwig und Hardine
voll und ganz das Bedeuten ihrer frühen Verwaiſung,
fühlten ſie das Bangen der Heimathloſigkeit. Ein
warmes, weiches Neſt hatte ſie bis heute geborgen;
wo aber ſollte die Hütte ihrer Zukunft ſtehen?
Unb es war nicht nur die zweifelhafte Zukunft,
nicht nur der Kummer der Gegenwart, es war auch
das Geheimniß der Vergangenheit, welches die Her¬
zen der armen Kinder ſo ängſtlich zuſammenzog. Sie
allein von den Vielen, welche der letztgültigen Ent¬
ſcheidung über ihre Heimath mit Spannung entgegen¬
ſahen, ſie allein wußten, daß gleichzeitig das Räthſel
ſich löſen ſollte, welches der Waiſe des Invaliden eine
Freiſtatt in derſelben eröffnet hatte.
Als an jenem unglückſeligen Morgen die jungen
[229] Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in
das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬
den ſie dieſelbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬
ſchäftsbetrieb gerüſtet. Das Bett war unberührt, ſie
ſelber aber ſaß im Nachtkleide zurückgeſunken in dem
Lehnſtuhle, der ſchon in ihrem Vaterhauſe geſtanden hatte.
Auf dem Schreibtiſche vor ihr lag die alte Erbbibel
aufgeſchlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes
und die Worte des vierzehnten Verſes, „denn welche
der Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes Kinder
heißen,“ waren ſichtbarlich friſch unterſtrichen. Neben
der Bibel aber fanden ſie ein Manuſcript, deſſen
Aufſchrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen
lautete:
„Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu leſen von
Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der
Eröffnung meines letzten Willens.“
Erſt ſpät in der Nacht ſchien das Siegel auf
dieſe Mittheilung gedrückt worden zu ſein, denn die
Lackſtange wie das Reckenburg’ſche Wappen zeigten
Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige
Kerze, welche dem ſcharfen Auge und der ſchlichten
Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war
tief herabgebrannt. Noch hatte ſie die Flamme ſorg¬
[230] lich gelöſcht, dann mit gefalteten Händen, im Rückblick
oder Aufblick, mochte ſie noch eine Weile geruht haben
und ſo entſchlummert ſein. Nicht wie die Kinder
beim erſten Eindruck hofften, um wiederum zu er¬
wachen, nein, eingeſchlummert für immer. Ein Herz¬
ſchlag hatte ſie getödtet. Kein Zeichen von Kampf
oder Krampf entſtellte die ruhigen Züge, ein leiſes
Lächeln umſpielte die Lippen und auf den Wangen
war der letzte röthliche Hauch noch nicht entflohen.
Das todte Antlitz ſah ſich ſchöner an als einſt das
lebende. Noch zeigte es das milde Entzücken des
Heimganges, jenen Adel der letzten Stunde, welcher
den Schmerz der Ueberlebenden zu ewigem Troſte ver¬
klärt. Die letzte Reckenburgerin war geſchieden vor
dem Hinſiechen einer Kraft, in bewußtem Frieden mit
Gott, mit ſeiner Welt und mit ſich ſelbſt.
Heute aber lief die Monatsfriſt zu Ende, die ſie
bis zur Enthüllung ihres langbewahrten Geheimniſſes
anberaumt hatte. Die Sonne des Oktobertages neigte
ſich und wir empfinden den feierlichen Ernſt, mit
welchem wir die jungen Gatten, in tiefe Trauerkleider
gehüllt, die Terraſſe hinabſteigen und ſchweigend den
Ulmengang bis zum Waldesrande verfolgen ſehen.
Eine langgehegte Neigung des Herzens hatte
[231] Ludwig und Hardine zuſammengeführt und die Liebe,
ſagt man ja, wählt blind. Aber auch der ſcharfprü¬
fende Blick ihrer Beſchützerin würde kaum zwei Men¬
ſchen gefunden haben, welche, wie dieſe beiden, zur
gegenſeitigen Ergänzung geſchaffen ſchienen.
So klaren Auges, von ſo kraftvoller Structur
und Färbung, wie die des jungen Mannes, ſo hoch
aufgerichtet wie ihn, würden wir uns einen leiblichen
Sproſſen des Reckenburger Stammes haben vorſtellen
können. So ſicher ſeiner ſelbſt und raſch zur That
mußte der Gehülfe ſein, welchen Fräulein Hardine
ſich in ihrem Amte erwählt hatte. Der frohmüthige
Gymnaſiaſt, der ſchon bei der erſten Begegnung das
Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte, war
ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann.
Hardine aber, wie ſie ſich jetzt ſo dicht an den
einzigen Beſchützer ſchmiegt, deſſen Schulter der weiche,
goldglänzende Scheitel kaum erreicht, jeder Blick des
großen, feuchtſchimmernden Auges eine Frage, jede Bie¬
gung der anmuthigen Glieder, jede Blutwelle unter
der durchſichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürfti¬
gen Gemüths: ſo gleicht ſie der jungen Birke, deren
Laub im leiſeſten Hauche zittert und deren zarter Schaft
zuſammenknicken würde, wenn Sturm und Wetter ſich
[232] nicht an dem hochragenden Wipfel des ſchützenden
Eichenbaumes brechen ſollten.
Es war einer von den ſeltenen Tagen, deren
Sonnengold und Farbenſpiel wir ſo dankbar als letzte
Gunſt des Jahres genießen. Ludwig und Hardine er¬
ſtiegen einen Hügel, der, zwiſchen Garten und Forſt,
meilenweit über die Flußaue einen Ausblick bietet.
Die Herbſtſpinne hatte die Stoppeln der Felder mit
einem ſilbernen Netze verhüllt, die Zeitloſe einen Vi¬
olenſchimmer über die noch immer ſaftgrünen Wieſen
gebreitet. Leiſe drangen die Glocken der abweidenden
Heerden herauf; die Spätlingsdüfte der Reſeda miſch¬
ten ſich mit der Würze des Waldes, der in allen
Schattirungen des abſterbenden Laubes und der immer¬
grünen Nadeln die Landſchaft umrahmt. Breit und
ruhig wallte der Strom, ein Spiegel reinſter Him¬
melsbläue, bis er fern im Weſten im Glänze der ſin¬
kenden Sonne verſchwand; gegen Morgen aber ſtand
die feine Sichel des Mondes gleich einem Diadem
über dem ſchwärzlichen Tannenforſt und aus dem
Grunde ſtiegen ſchon jene weißen Dunſtſchleier in die
Höhe, welche an die Ahnungen unſerer Seele erinnern,
wenn Sang und Duft der Jugend erloſchen ſind.
Keine Jahresfärbung ſteigert die einfachen For¬
[233] men unſerer Landſchaft zur Schönheit wie die des
Herbſtes, und war es zum Lebewohl, war es zu einem
heimathlichen Glückauf, daß ſie heute ihren blendend¬
ſten Schmelz entfaltet hatte?
Ludwig und Hardine hatten eine Weile ſchwei¬
gend das reichgeſättigte Bild überſchaut. Jetzt un¬
terbrach der junge Mann die Stille; er faßte der
Gattin Hand und ſprach mit einem Lächeln und herz¬
erſchließenden Klang der Stimme: „Ja, es iſt eine
liebe Heimath, und es müßte köſtlich ſein, ſich aus
eigenem Antriebe in ihr ein Bürgerrecht zu erwerben.
Aber trockne Deine Thränen, meine Hardine. Gehö¬
ren wir nicht Eines dem [Anderen]? ſind wir nicht
durch Sie zu froher Thätigkeit gewöhnt? Du wirſt
auch anderwärts glücklich ſein, mein liebes, ſanftes
Weib!“
„Ueberall, Ludwig, überall mit Dir!“ flüſterte
ſie, indem ſie den hellen Kopf an ſeine Bruſt gleiten
ließ. Nach einer Pauſe aber ſetzte ſie hinzu, und ein
Schauer überrieſelte die ſchwanke Geſtalt: „Es iſt ja
nicht das, Ludwig, nicht das allein — —“ Sie ſtockte,
er aber ſagte:
„Nein, es iſt nicht das, und ich weiß, was es
iſt, Hardine. Kein bangeres Geheimniß als das des
[234] Blutes. Liegt die Zukunft verhüllt, die Vergangenheit
wollen wir klar überblicken, wollen die Ahnen kennen,
denen wir die Wohlthat des Daſeins zu danken haben.
Und darum —?“
„Darum!“ hauchte die junge Frau.
„Darum,“ fuhr Jener fort mit einer ſtolzen Zu¬
verſicht, als gälte es einen Zweifel an der eigenen
Ehre zurückzuweiſen, „darum ſage ich Dir, was auch
die nächſte Zukunft enthüllen mag, nun und nimmer
einen Makel auf dem hehren Bilde dieſer Frau, die
uns beiden eine Mutter geworden iſt.“
Die Gattin beugte ſich und küßte des Mannes
Hand, zum Dank, daß er ihr ein frohes Bewußtſein
bekräftigt habe. Dennoch floſſen ihre Thränen noch
immer. „Und mein Vater, Ludwig,“ ſchluchzte ſie,
„mein armer Vater —“
„Dein Vater,“ verſetzte Ludwig, „klammerte ſich
in dem Schiffbruche des Lebens an den Strohhalm
einer Erinnerung, eines Wahns, um ſich ſelber und
ſein hülfloſes Kind vor dem Verſinken zu erretten.“
Die junge Frau ſchluchzte [krampfhaft]. Ihr Mann
küßte ſie auf die Stirn und zog ſie neben ſich auf
eine Bank, über welche ein Ebereſchenbaum ſeine
ſchweren Traubenzweige hangen ließ.
[235]
„Faſſe Dich, mein Kind,“ ſagte er. „Uns bleibt
noch eine Stunde. Laß uns die Enthüllungen, welche
wir vermuthen, durch unſere Erinnerungen vorberei¬
ten. Niemals würde ich mir ſolch eine Ausſprache
ſelber mit meinem geliebten Weibe geſtattet haben, ſo
lange ihre Augen über uns wachten. Ich fühlte ihre
heimliche Mißbilligung. Heute aber, wo ihr eigener
Wille das Geheimniß brechen wird, heute frage ich
Dich: „Hat ſie je gegen Dich der Vergangenheit er¬
wähnt?“
„Niemals, niemals, Ludwig,“ betheuerte die junge
Frau.
„Und auch gegen mich nur mit einem einzigen,
ernſten, aber nicht enthüllenden Wort,“ ſagte Nord¬
heim, von der Erinnerung bewegt.
„An jenem glückſeligen Morgen, wo ſie meine
langgehegten Wünſche zum Ausdruck und zur Erfül¬
lung brachte, da fragte ſie mich: „Kennſt Du die Ab¬
ſtammung des Kindes, Ludwig, deſſen Schutz Du von
heute ab übernimmſt?“ Und als ich die Frage be¬
jahte, fuhr ſie fort: „Sie iſt in Ehren geboren; ihr
Vater war ein tapferer Soldat, deſſen Wunden die
ſpäteren Verirrungen decken. Sei auch Du ein tapfe¬
rer Soldat und ſcheue nicht die Wunden in dem immer¬
[236] hin ſchweren Kampfe des Lebens.“ Das iſt das ein¬
zige Mal, daß ſie das Andenken Auguſt Müllers in
mir wach gerufen hat.“
Ludwig ſprach eine lange Weile über jene erſte
traurige Zeit. Das Gedächtniß des lebhaften, neu¬
gierigen Schülers hatte manches erfaßt und erfahren,
was dem blöden, kleinen Mädchen entgangen oder
entfallen war. Er ſcheute ſich nicht, ſie an ihres Va¬
ters verwahrloſten Zuſtand und ſelber an ihren eigenen
zu erinnern, wie ſie ein zitterndes, halbnacktes Vögel¬
chen, faſt ſtumpfſinnig von Entbehrung und Elend,
der Frau unter die Augen getreten ſei, die ihren Ab¬
ſcheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch
zu keines Menſchen Gunſten verleugnet habe.
„Ich kann uns dieſen Rückblick nicht erſparen,
mein liebes Herz,“ ſagte er, „auf daß wir die Frau
verſtehen lernen und ihre That. Frage Dich nun
ſelber, ob ſolch eine Erſcheinung, mit dem unerhör¬
teſten Anſpruche ſich zudrängend und ſich des ſchmäh¬
lichſten Unglimpfes nicht entblödend, ob ſie die bishe¬
rige Natur, die bisherigen Grundſätze unſerer Freundin
erſchüttern, oder ob ſie dieſelben ſchärfen mußte?“
Weiterhin ſprach er von den Folgen jener Be¬
gegnung. Erſt in dieſer Stunde erfuhr Hardine, mit
[237] welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Ma¬
trone ihr Geheimniß bewahrt habe und beider Weſen
beugte ſich vor dieſem ſchweigenden Heldenmuth, den
die junge Frau mit dem ihr geläufigſten Worte „Liebe“
nannte.
„Nein,“ ſo ſchloß Ludwig ſeine umſichtige Be¬
trachtung, „nein, es war nicht, was Du Liebe nennſt,
Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher dieſer Frau
ihrer ſtrengen Lebensregel und der hochgehaltenen Mei¬
nung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch
nicht der übernatürliche Trieb des Chriſten, der Schmach
und Verfolgung als eine Seligkeit auf ſich nimmt.“
„Und was dann, Ludwig?“ hauchte die junge
Frau, „was dann?“
„Ein Geheimniß, wie ſie es ſelber nennt, ein
Geheimniß, das, wenn es ſich löſt, uns lehren wird,
daß wir die Macht beſitzen, auch gegen unſere Nei¬
gung das Rechte zu thun. Gewiſſen heißt ſie, jene
himmliſche Macht, auf welcher in erſter Ordnung
alles Menſchliche ſich gründet. Dieſe Frau erfüllte
eine Pflicht. Sie erfüllte ſie voll und ganz nach ihrer
großgeſchaffenen Natur. Und wenn im Laufe der
Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend
entquoll, ſo ſind wir zweimal ihre Schuldigen ge¬
[238] worden: zuerſt um des Kampfes willen, welchen ſie
beſtand, und dann um des Sieges willen, welcher ſie
zu unſerer Mutter machte.“
Ludwig Nordheim erhob ſich nach dieſen Worten,
ergriff die Hand ſeiner Gattin und fuhr nach einer
Pauſe mit warmer Bewegung fort: „Und darum,
meine Hardine, ehe wir das letzte Wort aus ihrem
Munde vernehmen, lege Deine Rechte in die meine
zu einem unverbrüchlichen Entſchluß. Was dieſe Frau
uns enthüllen oder vorenthalten wird: wir wollen es
verehren als die Offenbarung einer Mutter; was ſie
uns heißen oder verbieten wird, wir wollen ihm ge¬
horchen, als dem Geſetz einer Mutter. Sollen wir
arm und auf uns ſelbſt geſtellt in die Fremde ziehen,
wir zweifeln nicht: es war die Weisheit einer Mutter,
welche den Stachel der Noth zu unſerer Reife erkannte.
Zeigt ſie uns einen Pfad: wir wandeln ihn; eröffnet
ſie uns ein Amt: wir warten ſein, ſtark durch den
Rückblick auf ſie. Endlich aber, meine Hardine: wenn
unter ihrer Hand ein Bild ſich entſchleiern ſollte, wel¬
ches die Enkel verehren möchten und vor welchem ſie
erröthend die Augen niederſchlagen, ſo zählen wir un¬
ſer Geſchlecht von dem Tage an, wo dieſe Frau dem
losgelöſten Kinde eine Freiſtatt in ihrem Herzen er¬
[239] öffnet hat; und wir wollen unſere Häupter hoch tra¬
gen, gerade darum, denn die freie Liebe einer Mutter
hat ſich zwiſchen uns und den mächtigen Schatten ge¬
ſtellt.“
Er ſchwieg. Die Gattin hatte ihre beiden Hände
in ſeine Rechte gelegt und er hielt ſie eine Weile
mit kräftigem Drucke umſchloſſen. Es war Abend
geworden; das letzte Roth verglüht, der erſte Stern
am Horizonte aufgeſtiegen; die weißen Nebelgeſtalten
der Aue drangen immer dichter und dichter zu den
dunklen Föhrenwipfeln empor. Noch einen Abſchieds¬
blick in die Runde, dann wendeten Ludwig und Har¬
dine ſich raſch und gingen ſchweigend, aber mit leb¬
hafteren Schritten, als ſie gekommen, dem Schloſſe
zu. Ohne Aufenthalt betraten ſie das einfache Thurm¬
gemach, das noch unverrückt die Spuren des ent¬
ſchwundenen Lebens trug.
Fräulein Hardine hatte im Laufe des Sommers
einem namhaften Künſtler zu dem einzigen Bilde ge¬
ſeſſen, welches von ihr exiſtirt und welches jetzt, ſeiner
Beſtimmung gemäß, in dem Ahnenſaale der Recken¬
burg das letzte Feld einnimmt. Von der kinderloſen
Erbauerin war dieſer Platz dem fürſtlichen Gemahle
zugedacht, um die Reihe mit einem Purpur abzuſchlie¬
[240] ßen. Nun weilt der Beſchauer ſinnend vor der ſchlich¬
ten Geſtalt, welche der Künſtler gut gemalt, aber beſſer
noch aufgefaßt hat.
Wir haben eine lange Reihe hinter uns. Zu
Anfang die nach Natur und Kunſt ziemlich grobſchläch¬
tigen ritterlichen Damen und Herren in Schaube und
Barett, in Koller und Panzerhemd. Dann, zahlreich
vertreten, der Cavalier und ſein Geſpons, in Locken¬
perrücke und Zopf, uniformirt und beſternt, Puder,
Toupet und Schönpfläſterchen, tanzmeiſterliche Haltung
und Höflingspas. Endlich die kleine Figur der Gräfin
mit dem ſcharfen Vogelprofil, ein neunperliges Krön¬
chen in der hochgethürmten Friſur, wie ſie vor den
Ruinen der alten Burg den Bauplan des neuen
Schloſſes in der beringten Hand entrollt.
Die Spanne eines Jahrhunderts liegt zwiſchen
dieſem Bilde und dem, welches die Reihe ſchließt.
Und welches Jahrhunderts! Mit Siebenmeilenſtiefeln
rennt die gewaltigſte Umwälzung, welche die Weltge¬
ſchichte kennt, an unſerem Geiſte vorüber. Der Fuß
thut einen Schritt, — und wir ſtehen vor der Geſtalt
Fräulein Hardinens.
Alle Frauen der Galerie und ſelber die Mehrzahl
ihrer männlichen Vorgänger überragend, iſt ſie in
[241] einer Waldeslichtung und im Vorwärtsſchreiten dar¬
geſtellt, den Blick mit ruhiger Zuverſicht in die Ge¬
gend gerichtet, von welcher das Licht in die Scene
fällt. Schlicht geſcheiteltes Haar, ein jagdgrünes
Gewand, in der Hand einen Eichenzweig: ſo wie wir
ihr täglich auf ihren Flurgängen begegnet ſind. Auf
der Bruſt als einzigen Schmuck, das ſchwarzweiße
Ordenszeichen der Befreiungsjahre.
Ist es auch nur der Lauf und Ablauf eines Ge¬
ſchlechts, die Geſammtheit ſpiegelt ſich uns in dieſem
Einzelbilde. Unſer Herz war beklommen, nun ſchlägt
es getroſt. Wir fühlen uns gemahnt an jene Menſch¬
heitspfeiler, welche an die Gränze zweier Zeiten geſtellt,
aus der alten hinaus die Brücke in eine neue
ſchlagen; gemahnt durch das gute Bild von unſerem
Fräulein Hardine.
Dieſes Bild war erſt nach dem Tode der Dame
von dem Maler abgeliefert und von den Kindern, mit
einem Aſternkranze umrahmt, für die heutige Weihe¬
ſtunde über dem Lehnſtuhle befeſtigt worden, auf welchem
die Theure den letzten Athemzug ausgehaucht hatte.
Dem Bilde gegenüber nahmen ſie ihren Platz
vor dem altväterlichen Eichentiſche, auf welchem die Bibel
bei dem achten Capitel des Römerbriefes aufgeſchlagen
Louise v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 16[242] geblieben war. Hardine zündete die Kerzen an und
legte ihre zitternde Hand in die ihres Gatten.
Nach einem tiefen Athemzuge löſte er die Siegel
des Schriftſtückes, und ohne Unterbrechung als die
eines liebreichen Blickes auf die ſtill weinende Frau,
oder auf das Bild in der Höh' las er den Inhalt,
den wir dem Leſer vorausgegeben haben bis zu dem
Tode des Invaliden.
Das Geheimniß der Vergangenheit war enthüllt,
dem Geiſte nach ſo, wie Ludwig Nordheim es der
Gattin vorausgekündigt hatte. Nur wenige Blätter
blieben noch in ſeiner Hand; er ahnte daß ſie das
Geſetz für ihre Zukunft enthalten müßten und nach
einer langen, langen Pauſe las er den letzten Abſchnitt
von der Geſchichte der ſeltenen Frau.
Siebentes Capitel.
Der Jungbrunnen.
Das Schlußcapitel meiner Geſchichte haben wir
miteinander durchlebt, liebe Hardine. Es wird Dir
wenig erzählen, deſſen Du Dich nicht erinnerteſt, und
ſoll nur ein Facit ſein von dem, was wir uns gegen¬
ſeitig ſchuldig geworden ſind.
Du glaubſt, es ſei eine warme Hand geweſen,
welche die Waiſe von der Leiche des Vaters unter
ein heimiſches Dach geführt hat. Wie oft habe ich
mit Scham den Dank Deiner Thränen auf dieſer
Hand empfunden! Mein Kind, es war ein ſehr froſti¬
ges Geleit, und es hat lange gewährt, bis ich — Dich
lieben etwa ? — o nein, bis ich Deinen Anblick nur
ertragen lernte.
Es war ein Moment in meinem Leben, in wel¬
chem die letzte matte Spur von dem, was die Men¬
16*[244] ſchen Anzügliches für mich gehabt hatten, zu erlöſchen
drohte. Das Schickſal, deſſen Zeuge ich geweſen,
hatte mich erſchüttert, nicht erweicht. Aus Liebe war
Dorothee zur Sünderin geworden; aus Liebe der
Mann, der ſein ganzes Leben auf ſie geſtellt hatte,
ein Betrogener; in einem unbeſtimmten Drange der
berechtigtſten Empfindung Auguſt Müller zu einem
Ehrenräuber und Verleumder; und ich ſelber, hatte ich
nicht in der Jugend den ſicheren Ankergrund meines
Lebens einer gefühlvollen Anwandlung preisgege¬
ben, um im Matronenalter den Geifer der Welt als
gerechte Strafe dafür einzuernten? „Das Herz macht
uns zu Schwächlingen und Thoren!“ rief ich mit
einer Bitterkeit, wie ich ſie niemals gekannt hatte.
Denn ich ſpürte den allſeitigen Abfall von mei¬
ner Perſon um ſo tiefer, da ich ihn nicht zu ſpüren
ſchien, und da ich mich bis zum Letzten gegen ſeine
Möglichkeit geſträubt hatte. Keiner dieſer Menſchen
auch nicht der Graf, war meinem Gemüthe ein Ver¬
luſt; nicht erſt an ihrer Schätzung hatte ſich mein
Selbſtgefühl entwickelt. Aber Ehre und Ehrerbietung, glei¬
chen ſie nicht der Luft, die den Athem in der Bruſt
unterhält, den Athem, der um ſo ſtärker ringt, je
ſchwächer der Pulsſchlag des Herzens den inneren
[245] Kreislauf belebt? Alle dieſe Menſchen, auch das
wußte ich recht gut, führte über kurz oder lang Eitel¬
keit und Eigennutz mit dem Schein der Ehrerbietung
zu mir zurück. Aber ich wußte auch, daß das Grund¬
weſen der Ehrerbietung für alle Zeit vernichtet war.
Und die Ehre iſt nicht ſelbſtgenügſam wie das Ge¬
wiſſen, ſie lebt nur durch und in dem Wiederſtrahl.
Es iſt ein einſames Feuer, das in dem Wartthurme
brennt, aber es leuchtet dem Schiffer zu ſeinen Fü¬
ßen, und erliſcht es, ſteht der Thurm als ein zweck¬
loſes Gehäus. Wie ſolch’ ein ausgelöſchter Leucht¬
thurm kam ich mir vor.
Und was hatte ich als Entgelt dafür, daß der
Ehrenname der Reckenburg unter Spott und Hohn
verhallen ſollte? Eine Aufgabe für den thatkräftigen
Sinn? Eine Herzensluſt, ja, nur die Erinnerung
daran, — für welche ſchon Manche Ruf und Ruhe
in die Schanze geſchlagen hat? Nun, die Verſorgung
eines Bettlerkindes war kein Heldenſtück für die reiche
Frau, die ohne Opfer, Hunderten ein Gleiches hätte
erweiſen dürfen; aber eine Herzensfreude war ſie noch
weniger, als ein Heldenſtück.
Wenn es noch ein Knabe geweſen wäre! Ein
friſcher, fröhlicher Geſell, wie Ludwig Nordheim etwa,
[246] der ſich zu einem tüchtigen Arbeiter auf meinem Felde
heranziehen ließ. Aber ein Mädchen! was ſollte mir und
meiner Reckenburg ſolch ein ſchwächliches, zerbrechliches
Ding, das beſtenfalls Stricknadel und Kochlöffel re¬
gieren lernte? Und ein verkümmertes, trübſeliges Ge¬
ſchöpf obendrein, in dem kein Zug mich an das Paar
erinnerte, das mir den Jugendſinn der Schönheit er¬
weckt und bisher allein befriedigt hatte. Gründete
ich dem Kinde eine bürgerlich behagliche Exiſtenz, für
welche ich es, nach ſeiner körperlichen Erholung, in
einer braven Predigerfamilie erziehen ließ, ſo war
mein gegebenes Wort und damit meine Aufgabe gelöſt.
Die Sorge für dieſe körperliche Erholung hatte
ich meiner Kammerfrau übertragen, auf die ich mich
verlaſſen durfte, wie auf mich ſelbſt. Denn „gleiche
Herren, gleiche Diener,“ das Axiom galt ſeit der
Neubegründung der Reckenburg. Das Kind wurde
gekleidet, genährt, gebadet, gepflegt auf ein Titelchen
nach der Vorſchrift des Medicus oder meinem eige¬
nen Befehl, mit der nämlichen Accurateſſe, wie meine
Wäſche gebügelt, oder meine Zimmer entſtäubt wur¬
den; aber auch nicht einen Funken über den Dienſt¬
eifer hinaus. Ich konnte deſſen verſichert ſein, ohne
nachzuſchauen. Indeſſen ſchaute ich nach, ſo oft ich vor
[247] und nach meinen Flurwegen auch die Geſindeſtuben
im Parterre revidirte. Es fehlte an keiner Schuldig¬
keit und das Kind war ſichtlich geſund. Aber es
hockte müde, mit leeren, wäſſerigen Augen im Ofen¬
winkel, oder in einer ſonnigen Ecke auf der Terraſſe,
ſprach ungefragt kein Wort, und legte gleichgültig das
Spielzeug bei Seite, das man ihm in die Hand ge¬
geben hatte. „Das Kind iſt idiot!“ ſagte ich, indem
ich ihm den Rücken wendete.
Monate waren in dieſer Stimmung vergangen,
die häßlichſten, weil hoffnungsloſeſten meines Lebens.
An einem Novembermorgen erhielt ich das königliche
Patent, das mich zur gnädigen Frau erheben ſollte.
Ich erkannte die gute Abſicht, eine verpfuſchte Sache
wieder in's Schick zu bringen, ſchrieb meine Dank¬
ſagung und legte den huldreichen Akt zu den Akten.
Später als andere Tage trat ich daher meinen
Flurgang an. Auf der Terraſſentreppe ſaß das Kind.
Seine Augen, gewöhnlich halbbedeckt und ſchläfrig
geradeaus gerichtet, waren heute groß zum Himmel aufge¬
ſchlagen, an welchem die Sonne noch hinter einem
Nebelflor um den Durchbruch kämpfte. Der Blick
frappirte mich; ich ging ſchweigend vorüber, aber nach
etlichen Schritten kehrte ich um, und fand das Kind
[248] noch in dem nämlichen Aufſchauen, unbekümmert, daß
der ſchwarze Neufundländer, mein häufiger Begleiter,
ſeine Bekanntſchaft ſuchte, indem er das Frühſtück¬
brödchen aus den kleinen Händen zu ſich nahm.
Ich konnte den Blick nicht los werden. Es war
zum erſtenmale, daß meine Gedanken ſich mit dem
Kinde beſchäftigten. Ich kürzte meinen Morgengang
ab, kehrte des nämlichen Wegs zurück und ſtand ſtill
vor einem Bildchen, das, wäre ich ein Maler gewe¬
ſen, ich augenblicklich ſkizzirt haben würde.
Die Kleine ſaß noch auf derſelben Stelle, und
der große, ſchwarze Hund geduldig neben ihr. Sie
hatte die Aermchen um ſeinen Hals geſchlungen, und
den Kopf in ſein zottiges Fell gewühlt. Die Sonne,
die jetzt klar und faſt ſommerwarm niederſchien, brei¬
tete einen Goldſchimmer über das loſe flatternde Haar;
ich bemerkte erſt jetzt, daß es ſich anmuthig kräuſelte,
daß auch die ſteckenartigen Glieder ſich gebleicht und
gefüllt hatten, und die Bäckchen, die im Augenblick
ein leiſes Roth überhauchte, ſich kindlich zu runden
begannen. Ein friedliches Behagen prägte ſich aus
über der kleinen Geſtalt. Bei meinem Nahen hob ſie
die Augen zu mir auf, belebt und dunkelblau; ſie
[249] lächelte zum erſtenmale unter meinem Dach, —
vielleicht zum erſtenmale im Leben.
„Das Kind friert. Es braucht Wärme!“ ſagte
ich, und von dem Tage ab wohnte und ſchlief es in
meinem Erkerthurm, der gegen die Mittags- und
Abendſonne gelegen und allein von der langen, glän¬
zenden Zimmerflucht warm, und allenfalls wohnlich
eingerichtet war.
Nun aß ich mit der Kleinen an einem Tiſch, nun
ſah ich ſie Morgens und Abends in ihrem Bett, nun
merkte ich auf die Entwickelung des zarten Keimes.
Lange freilich noch nicht mit der bewußten Liebe des
Gärtners, der ein Samenkorn zum Pflänzchen auf¬
erzieht, aber doch mit einer Art von neugierigem Ver¬
langen: ob es wohl zur Blüthe kommen wird? Sie
wurde täglich weißer, runder, gefälliger anzuſehen.
Manchmal rief ich überraſcht: die Dorl! Aber ſie
drehte ſich nicht wie die Dorl, lachte nicht, ſchwatzte
nicht, ſpielte nicht wie ſie, und der große, ſchwarze
Hund war ihr einziger, aber treuergebener Freund.
Ich hatte mit dem Prediger einen Unterrichts¬
verſuch verabredet, der nach Neujahr mit dem ſchwäch¬
lichen Geiſte angeſtellt werden ſollte. Am Nachmittag
des Weihnachtsheiligabends kam er zu mir, die Kleine
[250] zur Chriſtbeſcheerung einzuladen, die ſein Sohn, als
Feriengaſt, heimlich aufgebaut hatte. Im Schloſſe
wurde nicht beſcheert; das Dienſtperſonal erhielt ſein
ausbedungenes Geldgeſchenk und ein ſtehendes Feſtge¬
richt. Im Uebrigen glich der Freudenabend der
Chriſtenheit allen anderen Abenden des Jahres.
Der junge Herr Ludwig hatte den Vater beglei¬
tet und blieb bei dem Kinde, während ich mit jenem
in Gemeindeangelegenheiten noch einen Gang durch’s
Dorf machte. Als wir zurückkehrten, ſaß der junge
Herr im Fenſter, durch welches die Sonnenſtrahlen
ſchräg in das Zimmer fielen, und das Kind ſaß auf
ſeinen Knieen, die Händchen in den ſeinen, den Kopf
an ſeine Bruſt gelehnt, und die Augen leuchtend zu
ihm aufgeſchlagen; er hatte eben eine hübſche Legende
vom Chriſtkindchen zu Ende gebracht. Mir war es
niemals eingefallen, der Kleinen ein Märlein oder
Stücklein zu erzählen; wüßte auch wahrlich nicht, wie
mir eines hätte einfallen können.
Ich ließ das vorräthige Spiel- und Naſchwerk
nach der Pfarre tragen, und begleitete, obgleich nicht
mit eingeladen, das Kind hinunter. So lange ich
meine Winter regelmäßig auf Reckenburg verlebt, alſo
ſeit ſechsunddreißig Jahren, hatte ich keine Chriſtbe¬
[251] ſcheerung angeſehen, und fürwahr, es muß ein Zauber
aus dem lichterglänzenden Tannenbaum ſtrahlen, ein
Zauber, der eine heilige Familienfreude weckt. Die
zäheſte alte Jungfer wird zur Mutter, während ſie
die Chriſtlichter brennen ſieht, und die Würze der
Nadeln mit der des Wachsſtocks, der Früchte und
Süßigkeiten gemiſcht, dies unvergleichliche Weihnachts¬
gedüft ihr in die Naſe ſteigt.
Und wie feierlich ſpielte und ſang nun Herr
Ludwig am Clavier: „Vom Himmel hoch da komm'
ich her!“ und wie künſtleriſch hatte er ſeinen Lichter¬
baum aufgeputzt, wie geheimnißvoll die Beſcheerung
vertheilt, wie lieblich das Chriſtkindchen in der Moos¬
krippe gebettet! Eine muntere Schaar aus dem Schul-
und Forſthauſe war als Feſtgenoſſenſchaft eingezogen,
und — wißt Ihr’s noch? — wie die kleine Hardine
wett mit ihr Ringelrund um den Weihnachtstiſch
tanzte, wie ſie ſpielte, lachte und ihrem Meiſter nach
„o Tannenbaum, o Tannenbaum“ zwitſcherte, ſo friſch
und fröhlich, wie der Anderen keins? Als ſie aber
ſpät Abends an der großen Hardine Hand über die
im Mondlicht glitzernde Schneedecke, durch das todten¬
ſtille Dorf, in das todtenſtille Schloß zurückkehrte, da
erzählte ſie ihr Wort für Wort die Geſchichte vom
[252] Chriſtkinde, die ſie heute zum erſtenmale von freund¬
lichen Lippen gehört und im Bilde geſchaut hatte und
in dem alten Herzen regte ſich zum erſtenmale das
Ahnen der Gotteserſcheinung nicht blos in dem Einen
gnadenreichen, aber in jedem hülfloſen Menſchen¬
kinde.
„Die Kleine iſt nicht idiot,“ ſagte ich, als ich
vor Schlafengehen ſie mit purpurnen Wangen und
raſchem, kräftigem Athem in ihrem Bettchen liegen
ſah, „aber ſie braucht Erregung und Freude.“
Trotz der Sabbathfeier ſtellte am erſten Feſttage
ein Lehrmeiſter auf Schloß Reckenburg ſich ein. Nord¬
heim junior, als Subſtitut für ſeinen vielbeſchäftig¬
ten Herrn Papa. Und als der Subſtitut am Feſte Epi¬
phanias ſeine Würde niederlegte, da wußte das Wun¬
derkind zwölf Märchenſtücklein und ſämmtliche Buch¬
ſtaben, wie auch Grundzahlen am Schnürchen herzu¬
ſagen. Der Fortſchritt erlahmte ein wenig unter der
Methode des älteren Profeſſors, regelmäßig aber wäh¬
rend der feſtlichen Ferienzeit rannte er mit Sieben¬
meilenſtiefeln voran, namentlich in der rhetoriſchen
Kunſt. Als das verhängnißvolle Königsfeſt jährig
ward, da dachte ich nicht mehr daran, die kleine An¬
wärterin des Kochlöffels in einer braven Predigerfa¬
[253] milie zu verſorgen, ſondern dankte Gott, daß ich ſie,
als Schatz des neuen Thurmes, hüten durfte.
Nun aber war es erſtaunlich, welche niegekannte
Bedürfniſſe ich dem beſcheidenen Kinde Tag für Tag
zu befriedigen fand, wie mit jeder Befriedigung der
Hunger nach neuen Bedürfniſſen wuchs, und wie das
nüchterne, einförmige Leben allmälig ſo bunt und
mannichfaltig ward rings um mich her. Das Kind
braucht Behagen und Freiheit, es braucht Geſpielen
und Freunde, Blumen und Vögel, Sang und Klang;
es braucht Almoſen für die Armen und Obdach für
die Waiſen, die es ſich nachgelockt hat; alles in Eins
gefaßt: das Kind braucht Liebe!
Wenn wir das Leben bedeutender Menſchen, wie
es die Geſchichte, oder der Dichter uns vorführt, über¬
ſchauen, ſo finden wir in heißen Jugendkämpfen, in
Luſt und Leid ein aneignendes Streben, ein Drängen
aus der eigenen Perſönlichkeit heraus und in die der
Anderen hinein, bis denn am Ende, nach mancher
Verirrung, befriedigt oder entſagend, das Ich zur
Ruhe kommt, die Heldenmäßigen ſelbſtvergeſſend für
eine Geſammtheit wirken, Denker und Dichter be¬
ſchaulich das Ganze, wie das Einzelne an ſich vor¬
überziehen laſſen.
[254]
Aber nicht bloß bei dieſen Auserwählten, auch im
Alltagslauf zeigt ſich wohl eine beſchränktere, aber
keine abweichende Entwickelungsart: Freude, Wünſche,
Sehnſucht, Anſchluß in der Jugend, und im Alter
Entſagen, Vereinſamen, beſcheidenes Zurückziehen in
den Beruf, in den Mechanismus der Stunde und bei
den Glücklichſten unter uns: in die Religion.
Mich hatten Natur und Schickſal den entgegen¬
geſetzten Weg geführt. Kaum den Kinderſchuhen ent¬
wachſen, trat ich ohne Tanz und Spiel, ohne Ge¬
noſſen, ohne Streit, außer dem flüchtigen mit einem
Traumgeſpinnſt, ohne weitabführende Irrung, trat ich
in einen männlichen Beruf, in ein Wirken für Andere
mehr als für mich ſelbſt, und fühlte mich durch dieſes
Wirken beglückt bis in die Matronenjahre hinein. Erſt
in dem Alter, wo Andere weiße Haare tragen, regte
ſich der verſäumte Jugendſinn, regte ſich ein unbe¬
ſtimmtes Bedürfen, das über das Schaffen hinaus,
mich einem natürlichen Zuſammenhang verbände.
Und dieſes ſpäte, kaum verſtandene Bedürfen, es
wird geſtillt wie durch ein Wunder. Aus der geſamm¬
ten, reichen Welt, die mir die Auswahl bietet, iſt es
die verlaſſenſte, die armſeligſte Creatur, ein Stein des
Anſtoßes auf meinen Weg geſchleudert, die ſich mir
[255] an das Herz ſchleicht, es umſpinnt, es weckt, es füllt
bis auf die letzte Falte; die alle Anſprüche verdrängt,
alle Wünſche überbietet, die ohne es zu ahnen, die
alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit
umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬
ſchlechter, natürliche Freuden und das Walten der
Liebe an die Stelle der erſtarrenden Regel ſetzt.
Meine liebe Hardine, wer iſt dem Anderen mehr
ſchuldig geworden, die hülfloſe Waiſe, die in dem Hauſe
der reichen alten Frau eine Kindesſtelle fand; oder
iſt es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬
gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch
dieſes Kind eine beglückte Mutter und erſt ein Weib
geworden iſt?
In einen einſamen Born, kühl und durchſichtig
wie ein Cryſtall, da iſt einmal ein Staubkorn gefal¬
len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen
ſah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde
geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und
es trübt ſich der klare Spiegel. Aber des Himmels
Lichter brechen ſich farbig in der verdunkelten Fläche;
ein erſter grüner Keim drängt über ſie hinaus; bald
ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume
von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬
[256] ſamen Born, es iſt Frühling in ihm und über ihm
geworden, rings umher Farbe und Würze, Vogelſang
und wärmender Sonnenſtrahl. Es klingt wie ein
Märchen, was dem alten Born geſchah.
Und darum, meine Kinder, — nicht weil ein
fremdes Schickſal der Entſchleierung harrte, — darum
habe ich meine Geſchichte ein Geheimniß genannt,
und habe „die Logik der Natur“ verehrt als eine
Hülfe der Gnade.
Die kleine Welt, welcher unſere Reckenburg ein
gewohnter Zielpunkt geworden war, konnte deren all¬
mälige Neuerung nicht entgehen, und männiglich hat
man in dem Fremdling, der ſie unbewußt hervorlockte,
die Erbin nicht nur des über kurz oder lang herren¬
loſen Beſitzes, ſondern auch des erlöſchenden Namens
der Reckenburg vorausgeſetzt.
Es iſt mir aber niemals in den Sinn gekommen,
dem alten Baume, der nach Gottes Willen abſterben
ſollte, dieſes neue Reis aufzupfropfen. Ich habe
einen alten Adel als einen zuverläſſigen Stütz¬
punkt geehrt; ich achte einen neuen Adel gleich
einer Seifenblaſe. Junge Geſchlechter mögen nach
[257] haltbareren Baſen trachten. Nun und nimmer aber
würde ich mit dem Klange eines Namens eine Täu¬
ſchung verewigt haben, welche durch eine vorlaute
Hoffnung geweckt, durch ein halb pflichtmäßiges, halb
trotziges Schweigen genährt worden war. Die letzte
Reckenburgerin will auch nicht mit dem Scheine einer
Unehrlichkeit in die Grube ſteigen.
Ebenſowenig aber dachte ich daran, die Laſt eines
großen Beſitzthums ſo ſchwachen Schultern, wie den
Deinen aufzubürden. Ich war durchaus nicht gewillt,
mein Werk als eine Quelle des Behagens auch dem
geliebteſten Menſchen zufließen zu laſſen. Es war ein
Amt, ein Treugut, das ich übertrug, und Du biſt ein
Weib, Hardine, deſſen Kraft erwächſt aus der Kraft
des Herzens, dem es ſich zu eigen giebt. „Das
Kind braucht Liebe,“ ſagte ich. „Liebe es denn frei
aus ſeinem Gemüthe heraus, ohne bindende Pflichten,
als die, welche dieſem Gemüthe entkeimen.
Es geſchah daher nicht gefliſſentlich, daß ich
die Zweifel über Dein zukünftiges Verhältniß zur
Reckenburg unterhielt; nein, ich hegte dieſe Zweifel
ſelbſt. Du warſt geartet und erzogen, um Dich je¬
dem Zuſammenhange der gebildeten Stände einzufü¬
gen, und man durfte vorausſetzen, daß meiner Pflege¬
Louiſe François, Die letzte Reckenburgerin. II. 17[258] tochter zu einer ſicheren Bewegung in dieſem Zuſam¬
menhange die materielle Ausſtattung nicht gemangelt
haben würde. Einen reichen Mann, oder einen ar¬
men, einen alten Namen, oder einen neuen, einen beſchau¬
lichen Charakter, oder einen thätigen: das Herz hatte
freie Wahl, das Erbe der Reckenburg war unabhän¬
gig von derſelben.
Es ſoll indeſſen nicht verhehlt ſein, daß ein Zu¬
ſammentreffen der beiden Abſchlußakte meines Lebens,
daß namentlich eine Verbindung mit dem gräflichen
Hauſe, mir als Wunſch vor der Seele ſtand, und
bleibe es dahingeſtellt, ob der alte Namensklang nicht
einen heimlichen Zauber übte. Es hält gar ſchwer,
mit eingelebten, geiſtigen Gewöhnungen, Vorurtheile
genannt, tabula rasa zu machen, und es iſt auch gar
nicht nöthig ſo mit Schaufel und Harke ſein Stück¬
chen Lebensboden zu planiren; wenn nur in der ent¬
ſcheidenden Stunde das Urtheil ſtirnhoch über dem
Vorurtheil und das Herz auf dem rechten Flecke ſteht.
Heimlich alſo, es iſt möglich, lockte der alte
Namensklang, unter dem der neue verſchwinden ſollte;
laut aber, das iſt gewiß, ſprach das Verlangen,
eine getäuſchte Erwartung nachträglich in Erfüllung
zu bringen. Ich ſchätzte den Grafen mehr als jemals
[259] in ſeinem erweiterten ſtaatsmänniſchen Wirkungskreiſe;
ich kannte ihn als den Einzigen in meiner Umgebung,
der, ſo rückſichtslos er ſich gegen einen böſen Schein
geberdet, nicht einen Augenblick an mir gezweifelt
hatte. Ich ſah das Wohlgefallen des ſtattlichen, jun¬
gen Cavaliers an meiner Hardine, und wenn ihr Herz
ſich dem ſeinigen zuneigte, warum ſollten die Vortheile,
welche die Eltern erſtrebt hatten, am Ende nicht durch
die Kinder zu erreichen ſein? Meine argloſe Hardine,
Du haſt meine Wünſche und Beſtrebungen in dieſer
Richtung nicht bemerkt, und heute danke ich Gott, daß
Du ſie nicht bemerkteſt.
Denn als es mir klar wurde, wie des Grafen
Standesſinn vielleicht ſchwach genug war, um ſich
vor dem verbrieften Reckenburgiſchen Erbe in meines
Kindes Hand zu beugen; aber zu ſtark, um ſonder Er¬
röthen dieſes Kind in ein Vaterhaus zu führen, als
ich den jungen Herrn nur in ſeinen Schwächen als
den Sohn, ſeines Vaters kennen lernte; endlich aber,
als ich ſah, wie Hardinens Lippen bei der unerwar¬
teten Fahnenflucht lächelten, und wie ſie gleich darauf
den Blick vor eines Anderen Blicke ſenkte, da fiel die
letzte Binde vor meinen Augen und mindeſtens die eine
Hälfte meines Abſchlußaktes war im Stillen feſtgeſetzt.
17*[260]
Ludwig Nordheim, mein Heimathskind, war der
Enkel meines milden Freundes, und der Sohn mei¬
nes kräftigen Mitarbeiters; ich hatte mit Vertrauen
Beider Grundlagen ſich ſchon im Knaben zu einer
heiteren Harmonie vereinigen ſehen, und gar wohl den
Reiz eines erſten Märchenerzählers auch in einem an¬
deren Herzen geſpürt. Aber ſie waren Kinder dazu¬
mal, Jahre der Entfernung, der Entfremdung viel¬
leicht, darüber hingegangen, und als er in die Hei¬
math zurückkehrte, war es um Abſchied zu nehmen von
dem Grabe ſeines Vaters und auf ſich ſelbſt geſtellt,
ſich einen Weg durch’s Leben zu ſchlagen.
Eine tüchtige Kraft, einen frohen Willen, die
treue Liebe zu der heimathlichen Flur, und — jenes
Erröthen meines Kindes, was brauchte ich mehr, um
ihn zu fragen, ob er der alternden Frau ein Gehülfe
in ihrem Tagewerke werden wolle? Und was brauchte
er mehr, um Ja zu ſagen und manchen friſchen Trieb
in das ſich verjüngende Gehege einzupflanzen?
Nun aber erſt, in dem freudigen Zuſammenſpiel
der Herzen, wurde es um mich her ſo warm und le¬
bendig, ſo bunt und neu. Die Gegenwart erſchien mir
ſo lieblich; ich mochte an die Veränderungen der Zu¬
kunft gar nicht denken. „Es hat noch Zeit,“ ſagte
[261] ich, zögerte von Tage zu Tage mit einem abſchließen¬
den Plan, und Gott weiß, wie lange ich noch gezö¬
gert haben würde, wenn nicht ein Strahl von Außen,
— oder nenne ich's von Oben? — das behagliche
Selbſtvergeſſen durchbrochen hätte.
Erinnerſt Du Dich noch, Ludwig, des Nachmittags,
es iſt heute ſechs Wochen, als Du zu mir trateſt mit den
Worten: „Da bringt die Zeitung den Nekrolog des be¬
rühmten Doktor Faber. Ich wußte nicht, daß er Ihr
Landsmann geweſen iſt, auch Ihr Zeitgenoſſe könnte
er noch geweſen ſein. Haben Sie ihn gekannt, Fräu¬
lein von Reckenburg?“
Du wurdeſt im nämlichen Augenblick zu einem
Geſchäfte abgerufen, und das erſparte mir eine Ant¬
wort, für welche mir der Athem geſtockt haben würde.
Der erſte und noch der einzige Jugendgenoſſe war vor
mir dahingegangen!
Ich nahm das Blatt zur Hand und überlas den
Artikel. Er war geſtorben nach raſcher Krankheit den
dritten Auguſt. Der dritte Auguſt! Ihr wißt, was
dieſer Tag mir bedeutete. Darf man an ſolche Schick¬
ſalsdaten glauben? ſoll man ſie als ein verwirrendes
Spiel des Zufalls von ſich weiſen? Entſcheidet's nach
Eurem Gemüth, aber — die Glocke ſchlägt Eins, —
[262] ſeltſam! — es iſt der zwanzigſte September, der Tag von
Valmy, an dem ich dieſe [Aufzeichnungen] zu Ende bringe.
Und weiter las ich: der Mann, wie zwölf Jahre
früher ſeine Gattin, war geſchieden ohne Erben, ohne
verwandtſchaftlichen, oder nahe befreundeten Zuſam¬
menhang. Kein ehrfürchtiges Gefühl wurde demnach
verletzt, wenn ich Dir, Hardine, und dem, welchen Du
liebteſt, jetzt ſagte: „Die Gattin dieſes Mannes war
Deines Vaters Mutter.“
So hatte denn der alte Zauberer Tod die alten
Geſtalten noch einmal vor mir wach gerüttelt, und
die ernſthafte, vergangene Zeit drängte ſich in meine
heitere Gegenwart hinein. Wunderbar aber, wie ſich ſo
Bild nach Bild im Zuſammenhange entrollte, da er¬
ſchien mir auch das Deine, Hardine, plötzlich in einem
neuen Licht.
Wohl war ich durch Deinen Anblick ſo manches¬
mal an die reizende Dorothee erinnert worden. Ich
ſah ihren lockigen Goldſcheitel auf Deinem Haupt,
manchen ihrer Züge, die fragenden Kinderaugen. Aber
Deine Augen fragten nach etwas Anderem, als die
ihren, Deine Geſtalt war größer, die Farbe matter, und
der ſtille Ernſt der Bewegungen machte das ähnelnde
Bild zu einer beſonderen Erſcheinung. Nein, es war
[263] nicht die Enkelin Dorotheens, es war einfach das Kind,
das ſich in das ſehnende Herz geniſtet hatte.
An jenem Abende nun ſah ich in meinem Kinde, —
zwar auch nicht die Enkelin Dorotheens — aber zum
erſtenmale die Enkelin des Mannes, zu deſſen Erbe
die alte Reckenburgerin den Stammſitz ihrer Väter
neu geſchaffen hatte, des Mannes, der, hätte er ge¬
lebt, der geliebten Mutter ſeines Sohnes in dieſem
Erbe eine Heimath bereitet haben würde. Mir war
zu Sinn, als ob ich nur ein Treugut für die recht¬
mäßige Beſitzerin verwaltet habe.
Unter dieſen alten Erinnerungen und neuen Vor¬
ſtellungen ſchlief ich endlich ein und — träumte.
Ich bin in meinem Leben, weder wachend noch
ſchlummernd, viel von Traumgeſichten behelligt oder
beſeligt worden, und ich brauche auch nicht zu ver¬
ſichern, meine Kinder, daß ich mich für nichts weni¬
ger, als eine Viſionairin halte. Ich war an jenem
Abend bewegt wohl, doch ohne Aufregung, kerngeſund
eingeſchlafen, und kerngeſund, wie noch in gegenwär¬
tiger Stunde, wachte ich am anderen Morgen auf;
aber mit dem deutlichen Bewußtſein eines Traums.
Welches Traums? Mich däucht, ich hätte ihn
malen können, könnte ihn heute noch malen, und doch
[264] war es etwas Unbeſchreibliches, Unendliches, das man
nur fühlt, nicht ſieht. Soll ich ſagen ein wogendes
Meer? oder eine blendende Wolke, die von einem
Throne niederwallte und wie mit einem durchſichtigen
Schleier vier Geſtalten überwob, die Hand in Hand
auf ihren Knieen lagen und ihre Blicke in die Höhe
richteten? Dieſe Geſtalten aber, ich ſah ſie ſo deutlich,
wie ich ſie je im Leben geſehen hatte, es wa¬
ren Siegmund Faber, Dorothee, ihr Sohn und ihres
Sohnes Vater. Und eine Fünfte trat zu ihnen, um
zwiſchen dem Letzten und Erſten die Kette zu ſchlie¬
ßen, dieſe Fünfte aber war ich ſelbſt. Der leuchtende
Schleier überwallte auch mich und es flüſterte unter
ſeiner Hülle wie Luftgeſäuſel: „Denn welche der
Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen.“
Unter dieſem Geflüſter erwachte ich, und es
währte eine Weile, bis ich mich beſann, daß nur
die Fontaine in der Morgenſtille plätſcherte, und daß
das leuchtende Meer, das mich umwogte, die aufſtei¬
gende Sonne ſei, welche die Nebel der Aue über¬
goldete.
Raſch erhob ich mich nun. Mein Puls ſchlug
ruhig und kräftig, wie alle Tage, wie dieſe Stunde
noch. Aber es war etwas in mir lebendig geworden,
[265] das mich unaufhaltſam vorwärts trieb. Hatte ich bis
heute geſagt:„Es hat Zeit!“ heute ſagte ich: „Es iſt
Zeit!“ und ich wußte ohne Beſinnen, für was es
Zeit geworden war.
An jenem Morgen, Ludwig, nahm ich das längſt
geahnete Wort von Deinen Lippen, und am Abend
begann ich dieſe Aufzeichnungen. An dem Tage aber,
an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit
und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte,
an dieſem Tage ſchrieb ich mein Teſtament.
Es wird daſſelbe Euch eröffnet werden, ſei es in
Wochen, ſei es in Jahren, an dem Morgen, nachdem
Ihr dieſe Blätter geleſen habt, und Ihr werdet nur
die wenigen Worte darin finden: „Die Erbin meiner
geſammten Hinterlaſſenſchaft iſt meine Pflegetochter,
Hardine Nordheim, geborene Müller.“
Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand
der Enkelin, wie meine Vorfahrin es in die Hand des
Ahnen gelegt haben würde. Ich lege es in die Hand
der Gattin meines bewährten Mitarbeiters. Ich lege
es aber auch in die Hand des Kindes, das in dem
einſamen Weibe die Liebe einer Mutter erweckte, und
ich lege es vor Allem in die Hand der Waiſe, mit
welcher der Geiſt der Liebe ſeinen Einzug in meine
[266] Flur gehalten hat. Ich thue es ohne bedingende
Clauſel, denn ich bin der Herzen meiner Kinder in
ihrem Amte gewiß.
So ſei denn dieſes Vermächtniß die Krone über
dem Werke des abgeſtorbenen Geſchlechts. Sein
Wahrſpruch walte in dem jungen Stamm unter den
umwandelnden Strömungen der Zeit, und der Geiſt
der Gottesgemeinſchaft wirke und wachſe zum Segen
von Kind auf Kindeskind.
Mitternacht war vorüber, als dieſes Schlußwort
verhallte. Mit erhobenen Händen knieten Ludwig und
Hardine vor dem Bilde der letzten Reckenburgerin zu
einem erneuerten, heiligen Verſpruch. Und bis heute
ſind ſie ihrem Gelöbniß treu geblieben.
Ende.
[]
Inhalt des zweiten Bandes.
- Seite
- 1. Capitel. Der Tag von Valmy 1
- 2. „ Muhme Juſtinens Pflegling 26
- 3. „ Die Hochzeit 65
- 4. „ 1806 107
- 5. „ Die neue Herrſchaft 153
- 6. „ Mutter und Sohn 181
- Nachtrag des Herausgebers 213
- 7. „ Der Jungbrunnen 243
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). François, Louise von. Die letzte Reckenburgerin. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bqfb.0