Sammlung
ſatyriſcher
Schriften.
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Mit allergnaͤdigſten Privilegien.

Leipzig,:
Jm Verlage Johann Gottfried Dycks.
1751.
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Einige Urſachen haben mich veranlaßt, die-
jenigen ſatyriſchen Schriften in zween
Theile zuſammen zu bringen, welche ich
ſeit einigen Jahren in verſchiednen periodiſchen Schrif-
ten einzeln drucken laſſen.


Die Gefaͤlligkeit meiner Freunde gab mir Ge-
legenheit, mich dieſes Mittels zu bedienen, um das
Urtheil der Welt zu erfahren, und die vernuͤnftigen
Critiken der Kenner mir zu Nutze zu machen.


Beides iſt mit gutem Erfolge geſchehen. Jch
bin ſo gluͤcklich geweſen, daß die meiſten meiner
Schriften oͤffentlichen Beyfall gefunden haben, und
a 2die
[4]Vorbericht.
die verbindliche Nachſicht, welche man gegen meine
Arbeiten gezeigt, hat mich aufgemuntert, gegen
mich ſelbſt deſto weniger Nachſicht zu brauchen, und
nicht allein diejenigen Fehler auszubeſſern, welche
man auf eine ſehr beſcheidne Art und mit gutem Grun-
de dabey ausgeſetzt; ſondern auch denen, ſo viel
moͤglich, abzuhelfen, welche bey einer ſtrengen Be-
urtheilung verdient haͤtten, angemerkt zu werden.


Eine gute Aufnahme gegenwaͤrtiger Samm-
lung wird mir Muth machen, dieſe Arbeit fortzuſe-
tzen, wofern mich nicht mein unruhiges Amt zu ſehr
zerſtreut, oder andre Vorfaͤlle es hindern.


Vielleicht giebt es Leſer, welche eine Rechtferti-
gung von mir erwarten, wie ich es habe wagen koͤn-
nen, Satyren zu ſchreiben. Jch bin nicht willens,
eine Schutzſchrift fuͤr mich aufzuſetzen. Vernuͤnf-
tigen Leſern wuͤrde ich nichts neues ſagen; fuͤr un-
vernuͤnftige aber ſchreibe ich nicht.


Jch weis wohl, wie zweydeutig die Begriffe
ſind, welche ſich viele von der Satyre machen.
Sie ſind gar zu ſehr gewohnt, das Pasquill mit
der Satyre zu verwechſeln. Sie haben zwar ge-
lernt, daß ein Pasquill eine Schmaͤhſchrift ſey, wo
man, ohne ſich zu nennen, den ehrlichen Namen des
andern zu verunglimpfen, und ihm Laſter oder Ver-
brechen
[5]Vorbericht.
brechen anzudichten ſucht; Sie wiſſen auch ſo viel,
daß die Satyre nur die Laſter der Menſchen, und
das Laͤcherliche einer thoͤrichten Auffuͤhrung durch
Spotten kennbar zu machen ſucht, um andern einen
Ekel dawider beyzubringen, und wo moͤglich, die
Laſterhaften ſelbſt tugendhaft zu machen. Beides
wiſſen ſie, und dennoch ſeufzen ſie uͤber einen Saty-
renſchreiber ſo ſehr, als uͤber einen Pasquillanten.


Jch glaube, die Urſachen, dieſer ungereimten
Urtheile liegen an den Schriftſtellern ſo wohl, als
an den Leſern.


Jch will mich bemuͤhen, einige Urſachen aus
einander zu ſetzen, warum viele Leſer auf eine ſo
unbillige Art von der Satyre urtheilen.


Die vorgefaßte Meynung iſt wohl eine der wich-
tigſten. Man hat es uns in unſrer Jugend geſagt,
daß die Satyre vom Pasquille wenig oder nichts un-
terſchieden ſey. Wir wuͤrden ſelbſt nachdenken muͤſ-
ſen, wenn wir dieſen Unterſchied finden wollten;
vielmals aber koͤnnen wir nicht ſelbſt denken, und
noch oͤfter ſind wir zu bequem dazu. Ohne uns
alſo weiter zu bekuͤmmern, ſagen wir in kindlichem
Gehorſame nach, was unſre Mutter und Großmutter
vor uns geſagt haben; und dieſe waren doch auch
chriſtliche Weiber! Dergleichen Leſer ſind in der
a 3That
[6]Vorbericht.
That mehr zu bedauern, als zu beſtrafen. Sie koͤn-
nen bey ihrer gemaͤchlichen Unempfindlichkeit immer
ganz fromme Leute ſeyn, denn viele Leute ſind auch
aus Dummheit fromm, und ihre guten Abſichten
erſetzen das, was ihnen am Verſtande fehlt.


Diejenigen ſind weit weniger zu entſchuldigen,
welche auf die Bemuͤhungen, die Laſter laͤcherlich
und verhaßt zu machen, unerbittlich eifern, und
doch unermuͤdet ſind, von ihrem unſchuldigen Nach-
bar alles boͤſe zu reden, was ihnen der Neid oder an-
dre Leidenſchaften eingeben. Vielleicht halten dieſe
es fuͤr einen Eingriff in ihr Amt; denn dazu haben
ſie zu viel Eigenliebe, daß ſie ihre Verleumdungen
fuͤr Bosheit, und die Abſichten eines Satyrenſchrei-
bers fuͤr Menſchenliebe halten ſollten. Gemeinig-
lich ruͤhrt ihre Wut aus der Quelle ſo vieler Laſter,
aus der Heucheley, her. Sie fuͤhlen es, daß ihre
Auffuͤhrung ſchaͤndlich iſt; ſie haben ſich zu lieb,
als daß ſie ſolche aͤndern ſollten; ſie glauben, ge-
nug gethan zu haben, wenn ſie ihr einen guten An-
ſtrich geben. Sie eifern auf die Satyren, um auf
die Verleumdung eifern zu koͤnnen, und unter dieſer
ehrbaren Maske verfahren ſie ſo lieblos mit ihren
Naͤchſten, ohne den Vorwurf zu befuͤrchten, daß ſie
gefaͤhrliche Verleumder ſind. Denn wie wollte der
ein
[7]Vorbericht.
ein Verleumder ſeyn, welcher eben um deswillen
die Satyren verflucht? Es kann ſeyn, daß ich die-
ſen niedrigen Geſchoͤpfen zu viel thue. Vielleicht
iſt die Heucheley nur in ihren juͤngern Jahren die
Urſache dieſer Ausſchweifungen; bey zunehmenden
Alter erlangen ſie durch die unermuͤdete Uebung,
boͤſes zu reden, eine ſolche Fertigkeit darinnen, daß
ſie es wirklich mit Ueberzeugung reden, daß ſie glau-
ben, Buße zu predigen, wenn ſie laͤſtern, und daß
ihnen die Satyre im Ernſte verdaͤchtig wird, weil
ſie allein den Beruf haben, Heyden zu bekehren.


Bey vielen iſt die Begierde, auf die Satyre zu
ſchmaͤhen, nichts anders, als die Sprache eines boͤ-
ſen Gewiſſens. Davon ſind ſie uͤberzeugt, daß die
ruͤhmliche Abſicht der Satyre nur dieſe iſt, die Laſter
zu verfolgen. Weil ſie aber ſo gar unempfindlich noch
nicht ſind, daß ſie ihre eignen Laſter nicht wahrneh-
men ſollten, ſo wird ihnen dieſe Abſicht ſchrecklich.
Jeden Streich, der auf die Laſter geſchieht, fuͤhlen
ſie auf ihrem Ruͤcken. Koͤnnen dieſe wohl etwas
beſſers thun, als daß ſie die Satyre uͤberhaupt ver-
daͤchtig machen? Wie viel haben ſie zu ihrer eig-
nen Sicherheit gewonnen, wenn ſie dieſe große Ab-
ſicht erreichen? Nun mag die Satyre wider die
Laſter eifern; ſie iſt verdaͤchtig. Man faͤngt an,
a 4Mitleid
[8]Vorbericht.
Mitleid mit den Laſtern zu haben, weil man gehoͤrt
hat, daß die Abſichten der Satyre boshaft ſind,
daß man nicht beſſern, ſondern nur verunglimpfen,
daß man nicht die Laſter verfolgen, ſondern den ar-
men unſchuldigen Nebenchriſten um ſeinen guten
Namen bringen will. Hinter dieſes Vorurtheil ver-
bergen ſie ſich, und genießen ihrer Laſter geruhig.
Sucht man ſie in ihrem Hinterhalte auf, entbloͤßt
man ihre Fehler; ſo ſchreyen ſie uͤber Gewalt, und
man bedauert ſie, an ſtatt daß man uͤber ſie lachen
ſollte. Mit einem Worte, ſie ſind wie die muth-
willigen Knaben, welche die Ruthe verbrennen, um
ungeſtraft muthwillig ſeyn zu koͤnnen.


Verſchiedne von ihnen ſind noch etwas feiner.
Sie finden das Laͤcherliche von ihren Fehlern in ei-
ner Satyre abgeſchildert; ſie ſchweigen haͤmiſch dazu
ſtille, und beſeufzen nur das Unrecht, welches andre
neben ihnen zugleich leiden muͤſſen. Sie vertheidi-
gen ihre Mitbuͤrger, um unparteyiſch zu ſcheinen,
und von dieſen wieder vertheidigt zu werden. Koͤn-
nen ſie gar ihre ungerechte Sache zur Sache des
Herrn machen: So haben ſie doppelt gewonnen,
und fuͤr einen laſterhaften Heuchler iſt nichts zu ehr-
wuͤrdig. Ein Mann, welcher die heiligen Lehren
ſeines Amts durch ein unheiliges Leben entkraͤftet,
findet
[9]Vorbericht.
findet ſein Bild. Er erſchrickt, und ſchweigt. Er
ſucht mit boshafter Muͤhe eine Stelle, nur einen
Ausdruck, welcher durch eine unbillige Auslegung den
Verfaſſer zum Religionsſpoͤtter machen kann. Er findet
ein Wort, welches in ſeinem tuͤckiſchen Munde zur Laͤ-
ſterung wird. Nun ruft er mit freudiger Rache das
Wehe! aus, und verdammt den Verfaſſer. Sein Poͤbel,
welchen der Schein blendet, hebt Steine auf, und ver-
folgt im Namen des Herrn denjenigen, welcher nur
aus wahrer Hochachtung fuͤr die Religion ihren laſter-
haften Diener entlarven wollen. Jn der That ſind
dieſe die gefaͤhrlichſten Feinde der Satyre, aber
eben um deswillen verdienen ſie kein Mitleid, und
die Religion ſelbſt fodert es, daß wir ſie, wenn gar
keine Beſſerung zu hoffen iſt, ohne Barmherzigkeit
vertilgen.


Es giebt noch andre Feinde der Satyre. Die-
ſe ſind die traurigen Leſer. Sie ſind wirklich nicht
untugendhaft; Sie haſſen die Laſter von Herzen;
Sie wuͤrden es zufrieden ſeyn, wenn man alle La-
ſterhafte dem Teufel mit Leib und Seele uͤbergaͤbe;
aber ſpotten ſoll man nur nicht uͤber die Laſter.
Jch weis nicht, wie dieſen engbruͤſtigen Leuten zu
helfen iſt; vielleicht weis es mein Barbier. Die
Eigenliebe der Menſchen wird durch nichts ſo em-
a 5pfindlich
[10]Vorbericht.
pfindlich geruͤhrt, als wenn man ſie laͤcherlich macht.
Sie bleiben gleichguͤltig, wenn ich ihnen ſage, daß
ihre Laſter abſcheulich ſind; wenn es hoch koͤmmt,
ſo werden ſie verdruͤßlich. Aber alsdann ſchaͤmen ſie
ſich, wenn ich ihnen ihre Schoßſuͤnden, wenn ich ih-
nen ihre Fehler, mit denen ſie ſich bruͤſten, auf der
laͤcherlichen Seite zeige. Wir koͤnnen unſern Kin-
dern die aͤußerlichen Fehler des Uebelſtandes nicht
leichter abgewoͤhnen, als wenn wir ſolche vor ihren
Augen nachahmen; ſie ſehen alsdann, wie haͤßlich
ſie laſſen, und ſchaͤmen ſich. Wollen wir erwach-
ſenen Perſonen weniger Einſicht zutrauen? Wenn
ich die Abſicht habe, zu beſſern, ſo thue ich am ver-
nuͤnftigſten, ich waͤhle diejenigen Mittel, welche die
Erfahrung bewaͤhrt gemacht hat. Jnzwiſchen glau-
be ich, es wird gut ſeyn, wenn ich mit dieſen trau-
rigen Feinden der Satyre gemeine Sache mache.
Sie ſollen mit den Laſtern zanken; ich will uͤber die
Laſter ſpotten. Vielleicht ſind wir gluͤcklicher, wenn
wir mit zufammengeſetzten Kraͤften unſre Mitbuͤr-
ger tugendhaft zu machen ſuchen; ſie mit Feuer und
Schwerdt, ich aber mit Scherze.


Wenn ich ſage, daß viele um deswillen Feinde
der Satyre ſind, weil ſie nicht wiſſen, was die
Jronie ſey, und worinnen deren Staͤrke und Schoͤn-
heit
[11]Vorbericht.
heit beſteht, ſo ſage ich wirklich etwas, welches
dem guten Geſchmacke meiner Landsleute eben nicht
zur Ehre gereicht. Jnzwiſchen iſt es doch wahr,
und alles, was ich thun kann, iſt dieſes, daß ich
mich in ihrem Namen ſchaͤme. Spreche ich: „Die
„wolluͤſtigen Ausſchweifungen der Jugend ſind die
„Urſachen einer ungluͤcklichen Ehe, eines ſchimpfli-
„chen Alters, und eines troſtloſen Sterbens:„ So
verſtehen ſie mich ganz wohl, und werden dieſen Ge-
danken fuͤr gar erbaulich halten. Wollte ich aber
ſagen: „Gluͤckliche Juͤnglinge, die ihr die kurzen
„Augenblicke einer ſinnlichen Wolluſt dem unge-
„wiſſen Vergnuͤgen vorzieht, welches die muͤrriſche
„Tugend dem Alter verſpricht; die ihr zu vornehm
„erzogen ſeyd, als daß ihr den gemeinen Mann, um
„die altvaͤteriſche Gluͤckſeligkeit einer geſegneten Ehe
„beneiden ſolltet! Es koſtet euch in eurer Jugend
„tauſend Unruhe, und oft euer ganzes Vermoͤgen,
„um einem ſiechen und beſchwerlichen Alter mit ſtar-
„ken Schritten entgegen zu eilen. Fahrt unermuͤ-
„det fort! Nur der geſittete Poͤbel lebt tugendhaft,
„um ruhig zu ſterben; ſterbt ihr, ſterbt ihr auch mit
„Schrecken, ſo wißt, daß Leute von euerm Stan-
„de und Vermoͤgen weit uͤber dieſen aͤngſtlichen Ge-
„danken erhaben ſind!„ Wollte ich dieſes ſagen, ſo
wuͤrde
[12]Vorbericht.
wuͤrde ich in Gefahr ſeyn, von dieſen unwiſſenden
Richtern fuͤr einen Verfuͤhrer der Jugend gehalten
zu werden. Was ſoll man mit dieſen Leuten an-
fangen? Man ſchicke ſie wieder in Secunde! Da
moͤgen ſie den Voßius lernen, und ſich erklaͤren laſ-
ſen, was die Figur der Jronie heiße!


Nichts iſt gemeiner, als die Frage: Wer hat
dir aber den Beruf gegeben, Satyren zu ſchreiben?
Das iſt leicht zu beantworten. Sagt mir erſt: Wer
hat euch den Beruf gegeben, mich zu fragen? Uns?
Die Begierde, dich von deinem ſuͤndlichen
Vorhaben abzuziehen; das Verlangen, die
Unſchuld deinen bittern Spoͤttereyen zu entreiſ-
ſen; mit einem Worte, die allgemeine Men-
ſchenliebe: Jſt dieſes nicht Beruf genug?
Gut!
Und eben dieſe allgemeine Menſchenliebe iſt auch
mein Beruf, Satyren zu ſchreiben. Die Laſter zu
ſchrecken, die laͤcherlichen Fehler den Menſchen ver-
aͤchtlich vorzuſtellen, vernuͤnftige Buͤrger zu ſchaffen,
alle Welt mit mir gluͤcklich zu machen; ſind euch
dieſe Urſachen nicht wichtig genug? Brauche ich
dazu eine ſchriftliche Vocation? Jch werde mich
weiter verantworten, wenn man eben dieſe Frage
an alle diejenigen thut, welche Buͤcher ſchreiben.


Daß
[13]Vorbericht.

Daß es Maͤnner giebt, welche nur um deswil-
len Feinde der Satyre ſind, damit ſie Sporteln ma-
chen, und diejenigen zuͤchtigen koͤnnen, welche Sa-
tyren leſen: das iſt ein ſo rares Exempel, daß ich es
fuͤr uͤberfluͤßig halte, etwas davon zu erwaͤhnen.
Seit der Einfuͤhrung der hochnothpeinlichen Hals-
gerichtsordnung, weis man in der juriſtiſchen Hiſto-
rie nur einen einzigen Fall, daß dieſes in Deutſch-
land geſchehen ſey, und die vernuͤnftige Nachwelt
wird billig daran zweifeln.


Es kommen alſo dieſe feindſeligen Urtheile,
denen die Satyre ausgeſtellt iſt, gemeiniglich von
ſolchen Leſern her, welche ſich aus angeerbten Vor-
urtheilen, aus einer uͤbelverſtandnen Froͤmmigkeit,
aus eigner Schmaͤhſucht, aus haͤmiſcher Heucheley,
aus muͤrriſchem Eigenſinne, aus Unwiſſenheit, und
aus andern Leidenſchaften das bittre Vergnuͤgen ma-
chen, ſich zu Feinden der Satyre aufzuwerfen. Jch
habe aber oben geſagt, daß die Verfaſſer eben ſowohl,
als die Leſer, an den uͤbeln Begriffen Urſache ſind,
welche ſich viele von der Satyre machen, und ich
getraue mir zu behaupten, daß ſie die allermeiſte
Schuld daran haben.


Wer den Namen eines Satyrenſchreibers ver-
dienen will, deſſen Herz muß redlich ſeyn. Er muß
die
[14]Vorbericht.
die Tugend, die er andre lehrt, fuͤr den einzigen
Grund des wahren Gluͤcks halten. Das Ehrwuͤr-
dige der Religion muß ſeine ganze Seele erfuͤllen.
Nach der Religion muß ihm der Thron des Fuͤr-
ſten, und das Anſehen der Obern das Heiligſte ſeyn.
Die Religion und den Fuͤrſten zu beleidigen, iſt ihm
der ſchrecklichſte Gedanke. Er liebet ſeinen Mit-
buͤrger aufrichtig. Jſt dieſer laſterhaft, ſo liebt er den
Mitbuͤrger doch, und verabſcheut den Laſterhaften.
Die Laſter wird er tadeln, ohne der oͤffentlichen Be-
ſchimpfung die Perſon desjenigen auszuſtellen, wel-
cher laſterhaft iſt, und noch tugendhaft werden kann.
Er muß eine edle Freude empfinden, wenn er ſieht,
daß ſein Spott dem Vaterlande einen guten Buͤr-
ger erhaͤlt, und einen andern zwingt, daß er auf-
hoͤre, laͤcherlich und laſterhaft zu ſeyn. Er muß die
Welt und das ganze Herz der Menſchen, aber vor
allen Dingen muß er ſich ſelbſt kennen. Er muß
liebreich ſeyn, wenn er bitter iſt. Er muß mit ei-
ner ernſthaften Vorſicht dasjenige wohl uͤberlegen,
was er in einen ſcherzhaften Vortrag einkleiden will.
Mit einem Worte; er muß ein rechtſchaffner Mann
ſeyn!


Waͤren alle Satyrenſchreiber dieſes, wie ſie es
alle ſeyn ſollten, ſo glaube ich gewiß, die meiſten ih-
rer
[15]Vorbericht.
rer Feinde wuͤrden ihre oͤffentlichen Freunde werden,
und diejenigen, welche nicht dazu gemacht ſind, ver-
nuͤnftig zu denken, wuͤrden ſich, wo nicht vor ſich
ſelbſt, doch wenigſtens vor der Welt ſchaͤmen, laͤn-
ger ihre Feinde zu heißen. Es iſt wahr, wir wuͤr-
den, wenn dieſe ſtrengen Regeln beobachtet werden
ſollten, ein paar hundert Satyrenſchreiber weniger
haben. Aber, das iſt auch in der That alles, was
man dem Vaterlande nur wuͤnſchen kann. So lan-
ge dieſer Wunſch unerhoͤrt bleibt; ſo lange haben
die Verfaſſer die meiſte Schuld, daß die Satyren
ſo vielen Leſern verdaͤchtig ſind.


Kein Pasquillant iſt zu laſterhaft, er fluͤchtet
ſich hinter die Satyre. Er ſchaͤmt ſich nicht, dem
Unſchuldigen Laſter anzudichten; aber ein Pasquil-
lant zu heißen, ſchaͤmt er ſich doch. Seine Bos-
heit iſt gefaͤhrlicher, als die Tuͤcke des Straßenraͤu-
bers. Er verdient, wie dieſer, die Rache der Ge-
ſetze, und er iſt unwuͤrdig, daß wir weiter ſeiner
gedenken.


Wir ſind ſehr geneigt, die Fehler an unſern Fein-
den laͤcherlich zu machen, und ſchmeicheln uns, daß
wir eine Satyre ſchreiben, wenn wir dieſes thun.
Jch zweifle daran. Schreiben wir aus redlichen Her-
zen? Schreiben wir, unſern Feind zu beſſern? Hat
er
[16]Vorbericht.
er die Fehler auch wirklich an ſich, die wir laͤcher
lich machen? Drey ſchwere Fragen! Wie leicht be
truͤgen wir uns ſelbſt, wenn wir dasjenige fuͤr einen
Trieb der Menſchenliebe halten, welches wohl nichts,
als eine aufwallende Hitze der Rachbegierde, iſt.
Wir ſind beleidigt; unſer Feind ſoll es empfinden,
wie gefaͤhrlich es ſey, denjenigen zu beleidigen, der
ſeine Fehler einſieht, und Witz genug hat, ihn laͤcher-
lich zu machen. Wollen wir ihn beſſern? Nein!
denn er iſt unſer Feind, und wir verloͤren zu viel,
wenn derjenige durch ſeine Beſſerung ſich die Hoch-
achtung der vernuͤnftigen Welt verdiente, welchen
wir bey der vernuͤnftigen und unvernuͤnftigen Welt
laͤcherlich machen wollen. Vielmals hat er keinen
Fehler weiter, als dieſen, daß er unſer Feind iſt.
Schwachheiten machen wir zu Verbrechen[,] und was
wir bey uns Verſehen heißen, das ſtellt uns der
Haß an unſern Feinden als die abſcheulichſten Laſter
vor. Wie koͤnnen wir verlangen, daß dasjenige eine
Satyre ſeyn ſoll, was wir, wenn es wider uns ge-
gerichtet waͤre, eine rachſuͤchtige Verleumdung nen-
nen wuͤrden? Jch glaube auch, daß es ſehr unvor-
ſichtig iſt, wider ſeinen Feind Satyren zu ſchreiben;
geſetzt, daß wir in der That die Abſicht haͤtten, ihn
zu beſſern und geſetzt, daß er wirklich laſterhaft waͤre.
Unſer
[17]Vorbericht.
Unſer Feind gewinnt zu viel uͤber uns. Er darf
nur ſagen; daß wir von ihm beleidigt ſind, und daß
wir als Feinde ſchreiben: So hat er ſeine Fehler
vertheidigt, und kann ganz ruhig laſterhaft bleiben.
Er bringt die Leſer auf ſeine Seite, welche ohnedem
geneigt genug ſind, an der guten Abſicht der Sa-
tyre zu zweifeln. Wir werden der Welt verdaͤchtig,
an ſtatt, daß wir die Fehler unſers Feindes laͤcher-
lich machen wollten.


Wenn wir bey manchen die Urſachen unterſu-
chen wollten, warum ſie mit ſo vieler Bitterkeit wi-
der die Fehler der Menſchen eifern: So wuͤrden wir
finden, daß es aus Misgunſt, und aus ihrem ſchwar-
zen Gebluͤte herkomme. Ein rechtſchaffner Saty-
renſchreiber wird ſich freuen, wenn es aller Welt
wohlgeht; dieſe aber knirſchen uͤber das Gluͤck ihres
Mitbuͤrgers. Es waͤre zu verwegen, ihm ſein Gluͤck
vorzuwerfen. Was ſollen ſie thun? Sie vergiften ihm
ſeine Zufriedenheit; ſie machen die Quelle verdaͤch-
tig, aus der ſein Gluͤck entſprungen iſt, und werfen
ihm vor, daß er ſich deſſen nicht vernuͤnftig bediene.
Dadurch ſchaffen ſie ſich ein frommes und weiſes
Anſehen, und wollen uns bereden, daß ſie dieſes
Gluͤcks weit wuͤrdiger waͤren. Unter hundert Saty-
ren, wider die Pracht und Verſchwendung der Rei-
bchen
[18]Vorbericht.
chen, kommen gewiß funfzig aus der Feder ſolcher
Verfaſſer, welche innerlich mit dem Himmel murren,
daß ſie durch ihre Armuth gehindert werden, auf
eine ſo praͤchtige und verſchwenderiſche Art, wie je-
ne, laſterhaft zu ſeyn. Sie ſind Bettelmoͤnche,
welche Maͤßigkeit predigen. Jn ihren Augen iſt
ein Reicher ohne Unterſchied ein ungerechter Mann.
Er und ſein Vater muͤſſen Wuchrer geweſen ſeyn;
wo kaͤmen ſonſt die Schaͤtze her? Die Tugend adelt
nur, reich macht ſie nicht; ſagt der Herr Verfaſſer
mit einer bittern Miene, und ſchielt ganz kleinmuͤthig
auf ſeinen abgetragnen Rock. Sind dergleichen
Scribenten nicht ſelbſt Urſache, daß der Verſchwender
und der Wuchrer die Satyren verdaͤchtig machen?


Es iſt ein Ungluͤck fuͤr die Satyre, wenn ſie de-
nen in die Haͤnde geraͤth, welche witzig gnug ſind,
Lachen zu erregen, aber nur aus Muthwillen ſpotten.
Jn der That ſind ſie weder boshaft, noch neidiſch;
aber ſie ſind muthwillig. Sie wollen nicht gern
allein lachen; die Welt ſoll mit lachen. Sie ſpaͤ-
hen die Fehler des andern aus, nicht, ihn zu beſſern,
ſondern ihn laͤcherlich zu machen. Sie ſind froh,
daß es Fehler giebt, ſonſt koͤnnten ſie nicht witzig ſeyn.
Waͤren alle Menſchen tugendhaft; wie ſehr wuͤrden
ſie ſich aͤrgern! Sie warten nicht, bis ihr reifen-
der
[19]Vorbericht.
der Verſtand durch die Erfahrung die gruͤndliche
Einſicht erhaͤlt, welche noͤthig iſt, das Herz eines
Laſterhaften zu durchforſchen, um nur diejenigen
Fehler zu zuͤchtigen, welche eine Zuͤchtigung verdie-
nen. Nein; ſo bald ſie vernehmlich reden und le-
ſerlich ſchreiben koͤnnen, ſo bald reden und ſchreiben
ſie boͤſes. Sie ſpotten, ehe ſie denken lernen, und
weil noch immer viel gutes unter dem Muthwillen
eines ſo lebhaften Juͤnglings verborgen liegt, wel-
ches ſich gemeiniglich mit den Jahren durcharbeitet:
So wird man finden, daß ſie aufhoͤren, zu ſpotten; ſo
bald ſie anfangen, zu denken. Jnzwiſchen muß derjeni-
ge von ihnen leiden, welcher es nicht verdient hat. Die
Satyre wird verhaßt, weil ſie ihre Spoͤttereyen fuͤr
Satyren ausgeben; und es gehoͤren viele Jahre da-
zu, ehe ſie das Andenken ihres jugendlichen Muth-
willens ausloͤſchen; man gebe einmal acht, ob nicht
dieſe eben diejenigen ſind, welche in den gelehrten
Kriegen das groͤßte Laͤrmen machen.


Die Schreibart, deren man ſich bey der Satyre
bedienet, will mit einer außerordentlichen Vorſicht
gewaͤhlt ſeyn, wenn ſie nicht anſtoͤßig werden und
den Leſer wider die Satyre aufbringen ſoll. Viele
glauben, recht herzhaft zu lehren, wenn ſie recht an-
zuͤglich ſchreiben. Sie murren die Fehler der Men-
b 2ſchen
[20]Vorbericht.
ſchen an, an ſtatt daß ſie mit ihnen lachen ſollten;
aus Liebe zur Wahrheit ſchimpfen ſie. Sie thun
ſehr unrecht. Koͤmmt ihre Herzhaftigkeit nicht aus
einem boͤſen, ſo koͤmmt ſie wenigſtens aus einem gro-
ben Herzen her: das iſt alles, was man zu ihrer
Entſchuldigung ſagen kann; aber wie viele von den
Leſern ſind geneigt, dieſe Entſchuldigung gelten zu
laſſen? Und dennoch ſind ſie allemal weit ertraͤgli-
cher, als der ungezogne Witz derer, welche nicht
ſatyriſch ſeyn koͤnnen, ohne unflaͤtig zu ſeyn. Jch
kenne Maͤnner, welche ſich einbilden, ſehr fein zu
denken; welche im Stande ſind, einen ganzen Abend
lang eine Geſellſchaft beiderley Geſchlechts mit den
groͤbſten Zweydeutigkeiten zu unterhalten, ohne ein
einzigmal roth zu werden. Sie ſind gemeiniglich
die erſten, die uͤber ihre ſatyriſchen Einfaͤlle lachen,
und ſie zwingen dadurch wenigſtens den Wirth, aus
Gefaͤlligkeit mit zu lachen; Vernuͤnftige aber, wer-
den einen ſo niedertraͤchtigen Witz verabſcheuen.
Verhaͤngt es nun der Himmel in ſeinem Zorne, daß
ein dergleichen ungeſitteter Menſch gar ſchreibt, und
ſeine Satyren, wie er es nennt, drucken laͤßt; was
fuͤr einen Begriff muͤſſen die Leſer von einer Satyre
bekommen? Hoffen ſie etwan zu beſſern? Jch glaube
nicht, und ſie werden es auch nicht geſtehen, daß ſie
fuͤr
[21]Vorbericht.
fuͤr den Poͤbel ſchreiben; ob ſie gleich die Sprache
des Poͤbels reden.


Viele gehen in ihrem Eifer, das Laͤcherliche der
Menſchen zu zeigen, gar zu weit, und verſchonen
keinen Stand. Es iſt wahr, es giebt in allen Staͤn-
den Thoren; aber die Klugheit erfodert, daß man
nicht alle tadle, ich werde ſonſt durch meine Ueberei-
lung mehr ſchaden, als ich durch meine billigſten
Abſichten nutzen kann. Der Verwegenheit derer
will ich gar nicht gedenken, welche mit ihrem Frevel
bis an den Thron des Fuͤrſten dringen, und die
Auffuͤhrung der Obern verhaßt, oder laͤcherlich ma-
chen wollen. Jſt es nicht ein innerlicher Hoch-
muth, daß ſie in ihrem finſtern Winkel ſchaͤrfer zu
ſehen glauben, als diejenigen, welche den Zuſammen-
hang des Ganzen vor Augen haben; ſo iſt es doch
ein uͤbereilter Eifer, der ſich mit nichts entſchuldi-
gen laͤßt. Sie haben ſelbſt noch nicht gelernt, gute
Unterthanen zu ſeyn; wie koͤnnen wir von ihnen
erwarten, daß ſie uns die Pflichten eines vernuͤnftigen
Buͤrgers lehren ſollen? Es giebt andre Staͤnde, wel-
che zwar ſo heilig nicht ſind, daß es ein Verbrechen
waͤre, das Laͤcherliche an ihren Fehlern zu entdecken;
bey denen aber doch die Billigkeit erfodert, daß
man es mit vieler Maͤßigung thue. Jch rechne
b 3darun-
[22]Vorbericht.
darunter die Lehrer auf Schulen. Die Jugend iſt
ohnedem geneigt genug, das Fehlerhafte an denenje-
nigen zu entdecken, deren Ernſthaftigkeit ihren Muth-
willen im Zaume halten ſoll. Wollen wir ſie durch
bittre Satyren auf ihre Lehrer noch muthwilliger
machen? Geſetzt, ein ſolcher Lehrer hat ſeine Feh-
ler, welche verdienten, beſtraft zu werden! Vielleicht
iſt er eigennuͤtzig, vielleicht pedantiſch, vielleicht ein
elender Scribent. Es kann ſeyn. Werfe ich ihm
dieſe Fehler vor, ſtelle ich ihn dem Gelaͤchter ſeiner
Schuͤler bloß, geſetzt auch, daß ich es aus redlichem
Herzen thaͤte, um ihn zu beſſern; ſo werde ich alle-
mal mehr ſchaden, als nutzen. Jhn werde ich viel-
leicht nicht beſſern, und ſeine Schuͤler werden glau-
ben, ein Recht bekommen zu haben, demjenigen nicht
zu gehorchen, welchen die Welt fuͤr laͤcherlich haͤlt.
So oft er ſie ihrer Pflichten erinnert, ſo oft wird ih-
nen einfallen, daß ſie von einem eigennuͤtzigen Man-
ne, von einem Pedanten, von einem elenden Scri-
benten daran erinnert werden. Dieſes Andenken
macht ihnen die wichtigſten Pflichten veraͤchtlich; und
ein Schuͤler, bey dem dieſes Vorurtheil die Oberhand
gewinnt, wird ſelten als ein redlicher Mann ſterben.
Bin ich nicht Schuld? Einen Pedanten habe ich
nicht gebeſſert, dem Vaterlande aber habe ich an ſei-
nen
[23]Vorbericht.
nen Schuͤlern hundert ungeſittete Buͤrger gezogen.
Jn der That erſchrecke ich allemal, wenn ich ſehe,
daß ein Schulmann unter die Geißel der Satyre
faͤllt. Jhn bedaure ich ſelten, aber die Folgen da-
von ſind mir zu ernſthaft. Und thun dergleichen
Lehrer wohl Unrecht, wenn ſie der Jugend fuͤrchter-
liche Begriffe von der Satyre beyzubringen ſuchen?


Die Geiſtlichen haben gemeiniglich das Ungluͤck,
daß der Witz ſatyriſcher Koͤpfe auf ſie am meiſten
anprellt. Jch bin ſehr unzufrieden damit. Da
verſchiedne unter ihnen ſo wenig ſorgfaͤltig ſind, ih-
re Fehler zu verbergen: So koͤnnen ſie von uns nicht
verlangen, daß wir ſie nicht wahrnehmen ſollten.
Sie ſind nicht uͤber die Satyre erhaben, das raͤume
ich ihnen nicht ein; viele ſind tief unter derſelben,
wenn man ſie nach ihrer unanſtaͤndigen Auffuͤhrung
beurtheilen ſoll, und viele wuͤrden gar zu ſorglos ſeyn,
wann ihre ehrwuͤrdige Kleidung ſie vor allen Strei-
chen der Satyre ſchuͤtzte. Dennoch glaube ich, daß
man nicht vorſichtig genug dabey verfahren koͤnne.
Es gilt hier beynahe eben das, was ich oben von
den Lehrern in Schulen geſagt habe. Die Reli-
gion laͤuft Gefahr, veraͤchtlich zu werden, wenn man
die Fehler desjenigen veraͤchtlich macht, welcher ge-
ſetzt iſt, die Religion zu predigen. Das Volk iſt nicht
b 4allemal
[24]Vorbericht.
allemal einſehend genug, einen Unterſchied, zwiſchen
der Perſon desjenigen, der ſie lehrt, und zwiſchen
ſeinen Lehren ſelbſt zu machen. Wage ich nicht zu
viel, wenn ich einen beſſern will, und dadurch in
Gefahr komme, das Anſehen der ganzen Religion
zu ſchwaͤchen, welche man dem Volke nicht ehrwuͤr-
dig genug vorſtellen kann? Jſt ein Geiſtlicher wirk-
lich laſterhaft; ſo uͤberlaſſe man ihn der Obrigkeit,
welche aufmerkſam genug iſt, dem Aergerniſſe zu
ſteuern, das ſeine laſterhafte Auffuͤhrung in der Kir-
che veranlaſſen kann. Hat er laͤcherliche Fehler, und
wir finden ſchlechterdings noͤthig, dieſe zu zuͤchtigen;
ſo muß unſre Satyre ſo allgemein ſeyn, daß nur
die Fehler laͤcherlich werden, ſeine Perſon aber, ſo
viel es moͤglich iſt, verdeckt und unerkannt bleibt.
Sind es Kleinigkeiten, ſind es gelehrte Schwach-
heiten, die ihm anhaͤngen, ſo habe man Geduld,
oder maͤßige wenigſtens die Bitterkeiten mit aller
Vorſicht. Jſt er ein Jgnorant, und doch exempla-
riſch, (denn es giebt viel exemplariſche Jgnoranten,)
ſo verehre man ihn wegen ſeines guten Wandels,
und verzeihe ihm ſeine Unwiſſenheit. Durch Do-
natſchnitzer koͤmmt die Kirche nicht in Gefahr, und
wir koͤnnen uns mit der angenehmen Vorſtellung
beruhigen, daß wir gelehrter ſind, als er.


Jch
[25]Vorbericht.

Jch habe bey dem Charakter eines Satyren-
ſchreibers gefodert, daß das Ehrwuͤrdige der Reli-
gion ſeine ganze Seele erfuͤllen muß. Jſt dieſes,
ſo wird er nicht allein in Anſehung der Geiſtlichen
nach denen Regeln, die ich oben gegeben habe, viele
Maͤßigung brauchen; ſondern er wird auch ſeine
groͤßte Aufmerkſamkeit darauf gerichtet ſeyn laſſen,
daß durch ſeine Satyren das Anſehen der Religion
nicht im geringſten geſchwaͤcht werde. Wie kann
ſich derjenige ruͤhmen, daß ſeine Abſicht ſey, die Tu-
gend allgemeiner zu machen, welcher gegen die Reli-
gion leichtſinnig iſt? Ein ſolcher Menſch wird laſter-
haft, um nicht laͤcherlich zu ſeyn. Von denen will
ich nicht reden, welche unter dem gemisbrauchten
Namen der Satyre ſich Muͤhe geben, den ganzen
Bau unſers Glaubens zu erſchuͤttern. Jhre unſinni-
ge Wut, ſo ohnmaͤchtig ſie auch iſt, verdient das
Tollhaus, und keine vernuͤnftigen Vorſtellungen. Jch
will nur eines Misbrauchs gedenken, welcher, wenn
ich freundſchaftlich urtheilen ſoll, mehr Leichtſinn, als
Bosheit, verraͤth. Es giebt gewiſſe Gebraͤuche in
der Kirche, welche gleichguͤltig ſind, und zur Reli-
gion ſelbſt nicht gehoͤren; ſie machen den geiſtlichen
Wohlſtand aus. Man huͤte ſich ja, dieſe laͤcherlich
zu machen! Jſt das Volk aberglaͤubiſch, ſo wird es
b 5unſre
[26]Vorbericht.
unſre Schriften verabſcheuen; iſt es ſo leichtſinnig
wie wir, ſo wird es bey dieſen gleichguͤltigen Ge-
braͤuchen nicht ſtille ſtehen, ſondern weſentliche Stuͤcke
der Religion auch fuͤr gleichguͤltig halten, und end-
lich uͤber die ganze Religion ſpotten lernen.


Es war in Deutſchland eine Zeit, wo die Sa-
tyre nicht anders, als auf Unkoſten der Bibel, witzig
ſeyn konnte. Wenn man recht fein ſcherzen wollte,
ſo ſcherzte man aus den Pſalmen, und es gab mun-
tre Koͤpfe, welche ſo zu ſagen, eine ganze ſatyriſche
Concordanz in Bereitſchaft hatten, um in ihrem
Witze unerſchoͤpflich zu ſeyn. Zur Abwechſelung
brauchten ſie die Geſaͤnge der Kirche, und ſie brach-
ten dadurch in einer Minute mehr Narren zum La-
chen, als Zuhoͤrer der Geiſtliche durch Bibel und
Geſaͤnge in einem ganzen Jahre zum Weinen be-
wegen konnte. Jch freue mich, daß wir uns von
dieſem verderbten Geſchmacke, das iſt der gelindeſte
Name, den man dieſer Thorheit geben kann, wieder
erholt haben. Worinnen beſtund der Witz? Nicht
in dem Gedanken, den man vorbrachte, ſondern in
der Art, wie er vorgebracht ward. Das kam den
Zuhoͤrern luſtig vor, daß wir die geſchwinde Fertig-
keit beſaßen, den ernſthafteſten Gedanken der Schrift
durch eine poßierliche Verdrehung dermaaßen zu ver-
unſtal-
[27]Vorbericht.
unſtalten, daß er ſo abgeſchmackt ausſah, wie unſer
eigner Gedanke. Sie fanden dieſes Mittel ſehr be-
quem, ſpaßhaft zu ſeyn, ohne daß es noͤthig geweſen
waͤre, Verſtand zu haben; ſie ahmten es mit Freu-
den nach; und in kurzer Zeit ward dieſer Misbrauch
ſo allgemein, daß niemand witzig war, als ſo ein
bibelfeſter Luſtigmacher. Haͤtte man vor derglei-
chen Scherze auch um deswillen keinen Abſcheu haben
wollen, weil ſie wirklich dem ehrwuͤrdigen Anſehen
der Religion nachtheilig ſind: So haͤtte man ſich we-
nigſtens darum ihrer ſchaͤmen ſollen, weil wir dadurch
einen Eingriff in die Rechte des niedrigſten Poͤbels
thaten. Man gebe nur einmal acht! So bald ein
Stallknecht ſich fuͤhlt, daß er feiner denkt, als die
Viehmagd, ſo wird er ſie mit ſeinem Spaße aus
der Bibel, oder einem geiſtlichen Liede, uͤberra-
ſchen. Das ganze Geſinde ſchreyt vor Lachen, alle
bewundern ihn bis auf den Ochſenjungen, und die
arme Viehmagd, welche ſo witzig nicht iſt, ſteht be-
ſchaͤmt da. Der ſatyriſche Stallknecht! Man laſſe
ihm ſeinen angeerbten Witz! Sind wir eiferſuͤchtig
daruͤber?


Darauf bin ich ſtolz, daß in meinen ſatyriſchen
Schriften alles mit moͤglichſter Sorgfalt vermieden
iſt, was einigen Leichtſinn gegen die Religion ver-
rathen,
[28]Vorbericht.
rathen, oder als ein Misbrauch der Schrift und
geiſtlicher Geſaͤnge angeſehen werden koͤnnte. Jch
habe dieſes jederzeit fuͤr meine erſte Pflicht gehalten;
und man wird Stellen finden, wo ich eine wahre
Hochachtung gegen die Religion und ihre Diener
ernſthaft genug geaͤußert habe. Deſto empfindli-
cher hat mir es ſeyn muͤſſen, da ich erfahren, daß
man einer von meinen Schriften dieſen Vorzug ſo
gar gerichtlich ſtreitig machen wollen. Meine Leſer
werden mir erlauben, daß ich mich dieſer Gelegen-
heit bediene, etwas zu meiner Vertheidigung anzu-
fuͤhren. Vielleicht leſen ſie es mit Vergnuͤgen, denn
dergleichen poßierliche Haͤndel kommen nicht alle Jah-
re vor Gerichte vor.


Der Eidſchwur iſt unſtreitig eine der wichtigſten
Handlungen im gemeinen Leben, wir moͤgen den
Menſchen als einen Chriſten, oder nur als einen
Menſchen uͤberhaupt, betrachten. Der Misbrauch
der Eidſchwuͤre iſt mir vor vielen andern Laſtern ver-
abſcheuungswuͤrdig vorgekommen. Den Grund die-
ſes Misbrauchs habe ich nicht allein in dem Herzen
des Menſchen geſucht, welches immer geneigt iſt,
ſich ſeiner Pflichten, ſo viel moͤglich iſt, zu entlaͤſtigen;
ich habe auch gefunden, daß die Richter ſelbſt, und
wohl vielmals ohne ihren Willen Schuld daran ſind.
Die
[29]Vorbericht.
Die Vorſicht, mit welcher man in alten Zeiten ſich
des Eides bediente, war Urſache, daß er ſich in ſei-
nem wahren Werthe erhielt. Je behutſamer man
war, die Eide zuzulaſſen, deſtomehr Ehrfurcht be-
hielt man fuͤr dieſelben im Gerichte. Jtzt ſind unſre
Richter weit nachſehender, und ich weis nicht, iſt es
die Bosheit der Menſchen, oder iſt es eine andre
Urſache, welche das Uebel beynahe unvermeidlich
macht, daß man vor den meiſten Gerichtsbaͤnken faſt
mehr von Eiden, als von Sporteln, reden hoͤrt.
Jch hatte wahrgenommen, daß ein unverſchaͤmter
Leichtſinn bey Ablegung eines Eides gewiſſermaaßen
zu einer Art des Wohlſtandes geworden war. Frau-
enzimmer, welche ſich wuͤrden geſchaͤmt haben, ih-
rem Braͤutigame vor dem Altar anders, als mit ei-
ner ehrbaren und geſetzten Miene die Verſicherung
ihrer Treue zu geben, huͤpften mit dem flatterhaften
Leichtſinne einer Coqvette vor den Richterſtuhl, und
ſchwuren mit lachenden Mienen den ſchrecklichſten Eid.
Maͤnner, und Maͤnner deren Amt vielmals erfodert,
daß ſie ſelbſt andre vor dem Meyneide warnen muͤſſen,
verrichteten dieſe Handlung mit einer ſo frechen Sorg-
loſigkeit, daß ſie um nichts bekuͤmmert zu ſeyn ſchienen,
als wie ſie ihre Fuͤße wohl ſtellen, den Huth unterm
Arme anſtaͤndig halten, und den Mantel auf eine
galante
[30]Vorbericht.
galante Art zuruͤckſchlagen moͤchten. Wer ſie in
dieſer Stellung ſaͤhe, der wuͤrde darauf nicht gefal-
len ſeyn, daß ſie hier waͤren, vor dem Angeſichte des
oberſten Richters ſich entweder zu rechtfertigen, oder
ewig zu verfluchen; er wuͤrde haben glauben muͤſſen,
daß ſie da ſtuͤnden, vor der anweſenden Geſellſchaft
einen Scaramutz zu tanzen. Der niedertraͤchtige
Eigennutz ungewiſſenhafter Advocaten iſt an den mei-
ſten Meyneiden Urſache. Koͤnnen ſie es nur ſo weit
bringen, daß ihr Client zum Schwure koͤmmt, ſo
haben ſie gewonnen. Fuͤhlt ihr Client noch einige
Regungen der Menſchlichkeit; iſt er noch nicht ganz
ohne Gewiſſen: So werden ſie um einige Thaler beym
Proceſſe zu erbeuten, alle ihre Beredſamkeit anwen-
den, ihn entweder eben ſo verſtockt zu machen, als ſie
ſind; oder, weil dieſes ſo leicht nicht moͤglich iſt,
ihm wenigſtens durch falſche Begriffe vom Eide, und
von deſſen geheimen Verſtande, das Gewiſſen, wie
ſie es nennen, zu erleichtern, und ihn zu Ablegung ei-
nes ungerechten Eides zu vermoͤgen.


Alles dieſes hatte ich wahrgenommen, und ich
ſetzte mir vor, meinen Mitbuͤrgern dieſen thoͤrichten
Leichtſinn laͤcherlich zu machen; in der Hoffnung,
diejenigen, welche keiner ernſthaften Betrachtung faͤ-
hig ſind, wuͤrden ſich wenigſtens um deswillen ſchaͤ-
men,
[31]Vorbericht.
men, weil dieſe Auffuͤhrung unanſtaͤndig iſt. Jch
redete hievon in der ſatyriſchen Sprache der Jronie,
und ſagte von dem Eidſchwure: „Jn den alten
„Zeiten kam dieſes Wort nicht oft vor, und daher
„geſchah es auch, daß unſre ungeſitteten Vorfahren,
„die einfaͤltigen Deutſchen, glaubten, ein Eidſchwur
„ſey etwas ſehr wichtiges. Heut zu Tage, hat man
„dieſes ſchon beſſer eingeſehen, und je haͤufiger die-
„ſes Wort, ſo wohl vor Gerichte, als im gemeinen
„Leben vorkoͤmmt, deſto weniger will es ſagen. Ei-
„nen Eid ablegen,
iſt bey Leuten, die etwas wei-
„ter denken, als der gemeine Poͤbel, gemeiniglich nichts
„anders, als eine gewiſſe Ceremonie, da man auf-
„rechts ſteht, die Finger in die Hoͤhe reckt, den Hut
„unter dem Arme haͤlt, und etwas verſpricht, oder
„betheuert, das man nicht laͤnger haͤlt, bis man den
„Hut wieder aufſetzt; mit einem Worte, es iſt ein
„Compliment, daß man Gott macht. Ein Com-
„pliment aber gehoͤrt unter die nichts bedeutenden
„Worte. Etwas eidlich verſichern, heißt an vie-
„len Orten ſo viel, als eine Luͤgen recht wahrſchein-
„lich machen. Van Hoͤken in ſeinem allezeit fer-
„tigen Juriſten nennt den Eid herbam betonicam,
„und verſichert, einem den Eid deferiren, ſey
„nichts anders, als ſeinem klagenden Clienten die
„Sache
[32]Vorbericht.
„Sache muthwillig verſpielen, und die Formel, ſich
„mit einem Eide reinigen,
heiße ſo viel, als den
„Proceß gewinnen, denn zu einem Reinigungs ei-
„de
gehoͤre weiter nichts, als drey geſunde Finger,
„und ein Mann ohne Gewiſſen. Jene haͤtten faſt
„alle Menſchen, und dieſes die wenigſten. Und
„wenn auch ja jemand die Vorurtheile der Jugend
„an ſich, und ein ſo genanntes Gewiſſen haͤtte: So
„wuͤrde es doch nirgends an ſolchen Advocaten feh-
„len, welche ihn eines beſſern belehrten, und fuͤr ein
„dilliges Geld aus ſeinem Jrrthume helfen koͤnnten.
Gott ſtraf mich! oder: Der Teufel zerreiſ-
„ſe mich!
Jſt bey Matroſen und Muſketirern eine
„Art eines galanten Scherzes, und in Pommern
„lernte ich einen jungen Officier kennen, der ſchwur
„auch ſo, doch ſchwur er niemals geringer, als bey
„tauſend Teufeln,
weil er von altem Adel war.
Jch will nicht zu Gott kommen; Jch bin des
„Teufels mit Leib und Seele;
iſt das gewoͤhn-
„liche Spruͤchwort eines gewiſſen Narrens, welcher
„gar zu gern ausſehen moͤchte, wie ein Freygeiſt.
„Er wuͤrde es in der That ſehr uͤbel nehmen, wenn
„man ihn mit andern kleinen Geiſtern vermengen,
„und von ihm ſagen wollte, daß er einen Himmel
„oder eine Hoͤlle glaubte, und dennoch ſchwoͤrt er
„alle
[33]Vorbericht.
„alle Augenblicke, mit der witzigſten Mine von der
„Welt, bey Gott und allen Teufeln. Mir koͤmmt
„dieſes eben ſo kraͤftig vor, als wenn unſer Muͤnz-
„jude Jeſus, Maria! rufen wollte. Seinen Eid
„brechen,
will nicht viel ſagen, und wird dieſe Re-
„densart nicht ſehr gebraucht. Auf der Kanzel
„hoͤrt man ſie noch manchmal, aber daher koͤmmt
„es, daß ſie ſo geſchwind vergeſſen wird, als die
„Predigt ſelbſt. Jn der That bedeutet es auch
„nicht mehr, als die Ehe brechen, und um des-
„willen iſt ein Ehebrecher und ein Meyneidiger an
„verſchiednen Orten, beſonders in großen Staͤdten,
„ſo viel als ein Mann, der zu leben weis. Dieſe
„Bedeutung faͤngt auch ſchon an, in kleinen Orten
„bekannt zu werden, denn unſre Deutſchen werden
„alle Tage witziger, und in kurzem werden wir es
„den Franzoſen beynahe gleich thun.


Jch wuͤrde meine Leſer beleidigen, wenn ich ih-
nen nicht zutrauen wollte, ſie koͤnnten, ohne mein
Errinnern, einſehen, daß dieſes in der lachenden Spra-
che der Jronie eben dasjenige geſagt ſey, was ich
oben von den Misbrauche des Eides, von dem ſtraf-
baren Leichtſinne der Schwoͤrenden, und von der
Bosheit dererjenigen ernſthaft geſchrieben habe, wel-
che ihre Clienten zu einem falſchen Eide bereden. Jch
cließ
[34]Vorbericht.
ließ dieſe Stelle, nebſt andern, in eben dieſem ironi-
ſchen Charakter, unter dem Titel: Verſuch eines
deutſchen Woͤrterbuchs
* in die Monatſchrift der
neuen Beytraͤge, zum Vergnuͤgen des Verſtandes
und Witzes, einruͤcken, und ich war ſo gluͤcklich, daß
dieſer Aufſatz bey vernuͤnftigen Leſern Beyfall fand.


Jch weis aber nicht, durch welchen ungluͤckli-
chen Zufall dieſe Monatſchrift den Bauern eines
Dorfs im Voigtlande in die Haͤnde geſpielt wird.
Sie finden in dem Artikel von Complimenten,
in dem von Eidſchwuͤren und ſonſt einige Stellen,
die ihnen auch als Bauern gefallen. Der Geiſtli-
che des Orts hoͤrt etwas davon, und weil er nichts
als einzelne Stellen hoͤrt, ſo iſt es ihm zu gute zu
halten, daß er ſolche, außer ihrem Zuſammenhange,
fuͤr verdaͤchtig haͤlt. Auch dieſes will ich bey ihm
noch entſchuldigen, daß er auf der Kanzel ſowohl,
als bey dem Kindtaufeſſen, aͤngſtlich wider dieſe
Schrift eifert; wider dieſe gefaͤhrliche boͤſe Schrift,
die er noch nicht geſehen hat. Kurz; er macht
Laͤrmen, und der Gerichtsverwalter tritt ins Gewehr.
Nun hebt ſich das Schreiben an! Richter und Schoͤp-
pen, Muͤller, Bauern und Einnehmer werden vor-
gefodert; man will das boͤſe Buch heraus haben,
es
[35]Vorbericht.
es koͤmmt endlich, und man behaͤlts im Arreſte!
Haͤtte man es hiebey bewenden laſſen, ſo wuͤrde man
an dieſem Verfahren nichts weiter auszuſetzen fin-
den, als allenfalls eine zu hitzig geaͤußerte Vorſicht.
Jch bin wenig damit zufrieden, daß dieſes Buch den
Bauern in die Haͤnde gebracht worden. Es kann
leicht geſchehen, daß Leute von ſchwacher Einſicht eine
Schreibart nicht verſtehen, die ihr eigner Gerichts-
verwalter nicht verſteht, der doch lateiniſche Buͤcher
hat. Das gemeine Volk misbraucht gar leicht et-
was, wovon es die ernſthafte Abſicht nicht uͤberſieht,
und eine Obrigkeit kann in der That nicht vorſichtig ge-
nug ſeyn, dergleichen Leuten alles wegzuraͤumen,
was ihre Unwiſſenheit misbrauchen kann. Anfaͤng-
lich glaubte ich auch, die Bauern haͤtten einen oder
den andern Ausdruck unvorſichtig gemisbraucht,
und uͤber die Eide leichtſinnig geſcherzt. Waͤre die-
ſes geweſen; ſo wuͤrden ſie diejenige Strafe ver-
dient haben, welche ein ſolcher leichtſinniger Mis-
brauch nach ſich zieht; aber nein! Davon findet ſich
in den Acten nicht die mindeſte Spur. Sie haben
darinnen geleſen, ſie haben mit Vergnuͤgen darinnen
geleſen, und das iſt ein Verbrechen! Man treibt
die Unterſuchung weiter; man will alle wiſſen, die
in dieſem Buche geleſen haben. Es werden Zeu-
c 2gen
[36]Vorbericht.
gen vernommen, und das Anſehen der Eide zu ver-
theidigen, werden vergebne Eide geſchworen, weil
man alle diejenigen entdecken will, welche ſich den
Satan haben blenden laſſen, das Buch zu leſen.
Haͤtte man wohl eine grimmigere Unterſuchung wi-
der Fauſtens Hoͤllenzwang anſtellen koͤnnen? Alſo
gieng die Verfolgung bloß uͤber die arme Schrift,
welche mit oͤffentlicher Cenſur gedruckt, und im gan-
zen Lande orthodox war, nur in dieſem Winkel von
Sachſen nicht. Die Acten ſind voll von beleidi-
genden Ausdruͤcken, von ſolchen Ausdruͤcken, welche
einem Richter nnanſtaͤndig ſind, und welche die Ge-
ſetze, als Beſchimpfungen, geſtraft wiſſen wollen.
Man nennt meine Schrift: Verwegenſte Saͤtze
von Geringſchaͤtzung der Eidſchwuͤre; gottloſe,
gewiſſenloſe Lehren; ein aͤrgerliches Weſen;
verdaͤchtige und ſpoͤttiſche Ausdruͤckungen von
Eidſchwuͤren; ausgeſtreute Lehren vom Mis-
brauche des Meyneids; oͤffentliches Aerger-
niß; Verfuͤhrung unſchuldiger Herzen; ſkop-
tiſche Saͤtze; Saͤtze, welche zu nichts geſchick-
ter ſind, als ein zuͤgelloſes Leben zu aller heim-
lichen Bosheit zu befoͤrdern,
und ſo weiter.
Und wo koͤmmt denn Jhnen alle dieſe Weisheit her,
mein Herr, daß Sie in einem Buche ſo viel giftiges
finden,
[37]Vorbericht.
finden, welches vor Jhnen niemand gefunden hat,
und nach Jhnen niemand finden wird. Kann denn
ich was dafuͤr, daß Jhre Bauern ein Buch geleſen
haben, das weder fuͤr Jhre Bauern, noch fuͤr Sie ge-
ſchrieben iſt. Muß man denn ſo ungezogen ſeyn,
wenn man fuͤr die Ehre der Religion zu eifern glaubt?
Und kann man ſein Amt nicht verwalten, ohne grob
zu werden? Wie ſollte der Herr Gerichtsverwalter
geſprudelt haben, wenn er in den Zeiten geboren
waͤre, wo die Hexenproceſſe noch Mode waren! Es
iſt ein Gluͤck fuͤr mich, daß wir in Sachſen kein Au-
to da Fe
haben! Jch ſehe im Geiſte, wie er auf
ſeinem frommen Buckel aus heiliger Einfalt ein Buͤn-
del Holz zu meinem Scheiterhaufen traͤgt! Jn der
That bin ich uͤberzeugt, daß dieſes ganze Verfahren
mehr Eifer, als Ueberlegung, zum Grunde hat.
Außerdem wuͤrde ich mich empfindlicher raͤchen. Da
ich Gelegenheit gehabt habe, mich zu verantworten:
So bin ich geneigt, ihm ein Vergehen zu verzeihen,
deſſen er ſich, wie ich aus chriſtlicher Liebe hoffe,
mit der Zeit ſchaͤmen wird. Jch wuͤnſche ihm mehr
Gutes, als er von mir Boͤſes geſagt hat. Jch will
ihm, ſo viel ich kann, alle Wohlthaten vom Himmel
erbitten, et magnum Dei beneficium eſt, ſenſu
communi valere,
ſagt Cominaͤus!


c 3Ehe
[38]Vorbericht.

Ehe ich ſchließe, muß ich noch eines Fehlers ge-
denken, welcher ſich bey der Satyre ſehr oft aͤußert,
und an dem die Verfaſſer ſo wohl, als die Leſer, Schuld
ſind. Manche ſind nicht im Stande, Satyren, und
lebhaft, zu ſchreiben, wenn ſie nicht einen aus dem
Volke herausheben, und ſeine Laſter oder laͤcherliche
Gewohnheiten der Welt zur Schau ſtellen. Sie
verfolgen und zerarbeiten ihn ſo lange, bis er der
ganzen Welt verhaßt oder laͤcherlich iſt. Jch ſetze
voraus, daß ſie dieſes in der That aus Liebe zur
Tugend, und andre vor ſeinen Fehlern zu warnen,
nicht aber aus Feindſchaft und Verbitterung, nur
um ſich zu raͤchen, thun; denn alsdann verdienen ſie
den Namen eines Satyrenſchreibers nicht einmal.
Geſetzt aber auch, ihre Abſicht waͤre billig; ſo glau-
be ich doch, daß dieſe verzweifelte Cur nicht eher
zu brauchen iſt, bis daß Laſter gar zu gefaͤhrlich iſt, und
zur Beſſerung ſonſt keine Mittel mehr uͤbrig ſind.
Derjenige, welchen wir auf dieſe Art dem Haſſe,
oder dem Gelaͤchter Preis geben, iſt nunmehr ganz
außer dem Stande, ſich zu beſſern; ſowohl, als ein
Miſſethaͤter, den man an der Stirne gebrandmarkt
hat. Die oͤffentliche Schande muß ihn zur Ver-
zweiflung bringen, und er wird oͤffentlich laſterhaft,
da er es vorher vielleicht nur heimlich war. Jch
glaube
[39]Vorbericht.
glaube aber auch, daß wir ſelbſt bey dieſer perſoͤn-
lichen Satyre,
dieſes iſt ihr eigentlicher Name,
Gefahr laufen, parteyiſch zu werden. Aus
allgemeiner Menſchenliebe fangen wir an, ſeine
Fehler zu tadeln, und aus Eigenliebe fahren wir
fort, ihn ohne Barmherzigkeit niederzureißen, ſo
bald er Muth genug hat, ſich zur Wehre zu ſtellen.
Jch will dieſen Satz mit nichts beweiſen, als mit
unſern gelehrten Streitigkeiten. Jch glaube, dieſer
Beweis geht uͤber alle. Außer der Gefahr, in wel,
che ſich auf dieſe Art ein Satyrenſchreiber begiebt-
ſich aus ſeinen Schranken zu verirren, wird er ſelbſt
ſehr viel dabey verlieren. Jch habe das Herz nicht,
einen Verfaſſer zu fragen, ob er nicht fuͤr die
Nachwelt ſchreibe; wenigſtens wuͤrde ich ſehr betre-
ten ſeyn, wenn man mich auf mein Gewiſſen dar-
uͤber fragen wollte. Wir wollen es alſo nur auf-
richtig geſtehen; wir ſchreiben auch fuͤr die Nach-
welt. Koͤnnen wir wohl hoffen, daß wir durch die
perſoͤnliche Satyre dieſen großen Zweck erlangen?
Jch glaube es nicht. Unſre Satyre wird nur denen
gefallen, welche den laͤcherlichen Menſchen kennen,
den wir zuͤchtigen. Wollen wir dieſen Thoren mit
verewigen? Wird die Nachwelt, die von ihm nichts
mehr weis, als was wir von ihm geſagt haben, mit
c 4eben
[40]Vorbericht.
eben dem Vergnuͤgen unſre Schrift leſen, wie es al-
lenfalls die ietzt lebenden thun? Hundert kleine Um-
ſtaͤnde, die uns laͤcherlich ſind, fallen ſodann weg,
und werden den Nachkommen gleichguͤltig. Wie
viel vermiſſen wir, eben um deswillen, an den Sa-
tyren des Juvenals? Boileau, deſſen Witz vielleicht
bitterer, als aufrichtig, war, hat einen großen Theil
der Unſterblichkeit ſeinen Scholiaſten zu danken.
Viele Schriften vom Swift kommen uns abge-
ſchmackt vor, weil wir in Deutſchland die Originale
nicht kennen, und die Gelegenheit nicht mehr wiſſen,
welche ſeine perſoͤnlichen Satyren veranlaßt haben.
Thun wir uns alſo durch dergleichen perſoͤnliche Sa-
tyren nicht ſelbſt Schaden?


Wie unendlich ſind die Vorzuͤge, welche die
allgemeine Satyre vor der perſoͤnlichen hat! Da-
durch, daß ich Laſter oder Fehler, welche vielen zu-
gleich gemein ſind, zum Gegenſtande meiner Saty-
re waͤhle, vermeide ich bey billigen Leſern den Vor-
wurf, daß ich aus Privatleidenſchaften, aus perſoͤn-
lichem Haſſe, aus Begierde, mich zu raͤchen, ſchreibe.
Gewinnt ein Autor ſo viel; erlangt er das Zu-
trauen der Leſer, daß ſeine Abſichten tugendhaft, bil-
lig und uneigennnuͤtzig ſind: So hat er ſchon halb
gewonnen. Er kann gewiß hoffen, daß ſeine Sa-
tyren
[41]Vorbericht.
tyren beſſern werden, und da er den Beyfall der ver-
nuͤnftigen Welt auf ſeiner Seite hat, ſo muß der
Laſterhafte ſich ſchaͤmen, ihn anzufeinden. Jch
laſſe ihm Platz, ſich zu beſſern, da ich ſeine Perſon
geſchont habe. Noch iſt er unerkannt; noch weis
niemand, daß er dieſer Laſterhafte iſt; nur ich weis
es, und ſein Gewiſſen. Er hat noch Zeit, tugend-
haft zu werden; und die Welt ſoll es nicht erfah-
ren, daß er laſterhaft geweſen iſt. Es kann nicht
fehlen; eine allgemeine Satyre muß eine allgemei-
ne Beſſerung wirken. Die Thorheit, die in Leipzig
laͤcherlich iſt, eben dieſe Thorheit iſt in Liſſabon und
in Moskau laͤcherlich. Die Narren ſehen, wie die
Menſchen, alle einander aͤhnlich, nur einige Zuͤge
veraͤndert das Clima. Kann meine Eigenliebe etwas
mehr verlangen, als die ſchmeichelhafte Vorſtellung,
daß, wenn ich die ſatyriſche Geißel wider die Unge-
reimtheiten meines Nachbars aufhebe, ſich alle Tho-
ren eines ganzen Landes buͤcken, aus Furcht, daß
der Streich ihnen gilt? Wird aber dieſes geſchehen,
wenn ich ihnen ſage, daß ich meinen Nachbar mey-
ne? Eine allgemeine Satyre bleibt der Nachwelt
immer neu. Eben die Thoren, die uns laͤcherlich
ſind, ſind auch die Thoren ihrer Zeit. Schildre
ich das Laſter allgemein, ſo lieſt der Enkel den Cha-
c 5rakter
[42]Vorbericht.
rakter eines Laſterhaften, er vergißt, daß dieſer ſchon
vor hundert Jahren geſtorben iſt, und ſucht ihn in
ſeiner Stadt.


Jch habe mich vor perſoͤnlichen Satyren in mei-
nen Schriften, mit allem Fleiße gehuͤtet. Die Cha-
raktere meiner Thoren ſind allgemein; nicht ein
einziger iſt darunter, auf welchen nicht zehen Narren
zugleich billig Anſpruch machen koͤnnen. Zeichne
ich das Bild eines Hochmuͤthigen, ſo nehme ich die
unverſchaͤmte Stirne von Baven, die ſtolzen Au-
genbraunen von Maͤven, die vornehmdummen Bli-
cke vom Gargil, die aufgeblasnen Backen vom Criſ-
pin, die trotzige Unterkehle vom Kleanth, den auf-
geblaͤhten Bauch von Adraſten, den gebieteriſchen
Gang vom Neran; und aus dieſen ſieben ſchaffe
ich einen hochmuͤthigen Narren, der heißt Suffen.
Koͤnnen Bav und Maͤv, koͤnnen die uͤbrigen ſa-
gen, daß ich ſie gezeichnet habe? Suffen wird noch
leben, wenn ſie alle todt ſind, und ein jeder von ih-
nen wird wohl thun, wenn er ſich denjenigen Feh-
ler abgewoͤhnt, welchen er in dieſer Copie laͤcherlich
findet. Habe ich mir auch eine einzelne Perſon zum
Originale vorgenommen, ſo bin ich doch ſorgfaͤltig
bemuͤht geweſen, ſo lange an ihm zu arbeiten, bis
das
[43]Vorbericht.
das Original durch viele fremde Zuͤge unkenntlich,
und zu einem neuen Originale geworden iſt.


Jch bin dieſe Vorſicht meiner Pflicht und der
allgemeinen Menſchenliebe ſchuldig geweſen. Deſto
weniger aber koͤnnen es diejenigen neugierigen Leſer
verantworten, welche ſo vorwitzig ſind, und zu die-
ſen allgemeinen Charakteren dennoch gewiſſe Per-
ſonen ausſuchen, welche darunter gemeynt ſeyn ſollen.
Es iſt dieſes ein ſehr gewoͤhnlicher Fehler der Men-
ſchen. Darf ich es wohl ſagen, woher es ruͤhrt?
Wir haben die ungerechten Begriffe von der Sa-
tyre, daß ſie nicht ſo wohl auf die Fehler der Men-
ſchen, als auf die Perſonen, gehen ſoll. Wir ſuchen
daher Perſonen, ſo bald wir eine Satyre in die
Haͤnde bekommen. Es iſt eine gewiſſe Bosheit in
uns, die uns in einer beſtaͤndigen Beſchaͤfftigung
erhaͤlt, die Fehler andrer auszuſpaͤhen. Wir freuen
nus, wenn andre laͤcherlich gemacht werden, denn wir
ſind ſehr geneigt, mehr uͤber die Fehler andrer zu
lachen, als uͤber ihre Tugend uns zu freuen. Mit-
ten unter dieſen Entdeckungen ſind wir ruhig, daß
nicht wir, wir tugendhaften Leute, ſondern unſer
naͤrriſcher Nachbar gemeynt iſt. Koͤnnten wir
wohl ſo ruhig ſeyn, wenn wir nicht zu viel thoͤrichte
Eigenliebe beſaͤßen? Vielleicht glaubt unſer Nach-
bar,
[44]Vorbericht.
bar, die Satyre gehe auf uns, und wir lachen wohl
zu gleicher Zeit beide uͤbereinander. Verdient nicht
unſer boshafter Vorwitz die ſchaͤrfſte Satyre? Durch
unſre Auslegungen wird dasjenige eine perſoͤnliche
Beleidigung, was der Verfaſſer in der billigen Ab-
ſicht geſchrieben hat, keinen zu beleidigen, ſondern
alle zu beſſern. Es iſt wahr; fuͤr den Verfaſſer iſt
es ſehr vortheilhaft, wenn man an zehen Orten zu-
gleich den Thoren findet, den er auf ſeiner Stube
geſchildert hat! Man geſteht dadurch, daß ſeine
Charaktere ſehr allgemein, und die Thorheiten nach
dem Leben gezeichnet ſind. Aber dieſe Schmeiche-
ley muß ihm ſo ſchaͤtzbar nicht ſeyn, als der Ruhm,
daß er nur die Fehler der Menſchen verfolgt, die Men-
ſchen aber, als ein vernuͤnftiger Mitbuͤrger liebt. Je-
ner Beyfall kuͤtzelt nur ſeinen Witz, dieſer aber macht,
daß er ein Recht erhaͤlt, auf ſein redliches Herz ſtolz
zu ſeyn.


Da meine ſatyriſchen Schriften das Schickſal
gehabt, daß andre den Schluͤſſel dazu geſucht, und
ſie auf ſo vielerley Art ausgelegt haben: So nahm ich
ſchon vor einigen Jahren Gelegenheit, die Unbillig-
keit dieſes Verfahrens laͤcherlich zu machen, und mich
durch einen meiner Freunde rechtfertigen zu laſſen.
Der Verfaſſer eines Wochenblatts, ſo der Juͤng-
ling
[45]Vorbericht.
ling* heißt, hat dieſe Muͤhe auf ſich genommen.
Jch brauche zu meiner Vertheidigung weiter nichts
zu thun, als daß ich es hier wiederhole.



Jch bin ſo gluͤcklich mit meinen Blaͤttern, daß
ſie Leſern in die Haͤnde kommen, welche eine ſo durch-
dringende Einſicht und Scharfſinnigkeit beſitzen,
daß ſie ſogleich die Originale zu den abgebildeten
Charakteren wiſſen. Dieſe Scharfſinnigkeit macht
ſowohl denen, welche ſie anwenden, als mir, viel
Vergnuͤgen. Jch ſehe daraus, daß die Welt der-
gleichen Charaktere als Aufgaben anſieht, deren
Aufloͤſung in ihrer Gewalt iſt. Jch habe vor an-
dern Schriftſtellern meiner Art den Vorzug, daß
die Welt keinen Schluͤſſel zu meinen Arbeiten ha-
ben will. Was die laͤcherlichen Charaktere anbe-
langt, die ich abgebildet habe; ſo iſt es mir gleich-
guͤltig, ob die Leſer die Originale dazu kennen,
oder nicht, wenn ich ſie nur nicht kenne. Jch den-
ke, daß ſich allezeit ein Original zu dem Abgeſchmack-
ten finden wird, den man beſchreibt; es fehlt ja in
der Welt an ſolchen Leuten nicht. Man mag ſich
alſo immerhin in die Ohren ſagen: Ja, ja, das iſt
das Frauenzimmer; es iſt nach dem Leben getroffen;
es
[46]Vorbericht.
es iſt, als wenn ich dieſen Edelmann oder Buͤrger
mit Augen vor mir ſaͤhe; wenn man Recht hat, ſo
erfreut es mich, daß ich die Natur ſo gluͤcklich treffe,
und ich bedaure den, der das Original zu meiner
Copie wird. Was die loͤblichen Charaktere betrifft;
ſo verſichre ich aufrichtig, daß ich alle diejenigen
meyne, welche die abgebildeten guten Eigenſchaften
beſitzen. Jch bedaure weiter nichts, als daß ſich
meine Leſer zuweilen nicht eher, als andre, nennen.
Unterdeſſen will ich der Welt dieſes Vergnuͤgen goͤn-
nen, und ihnen daher heute einige Charaktere vorle-
gen, von denen ich gewiß bekraͤftigen kann, daß ich
ſie nicht erdichtet habe. Die abgebildeten Perſo-
nen ſind nach dem Leben gezeichnet. Jch will mich
auch mit denen in einen vertrauten Briefwechſel ein-
laſſen, welche dieſe Perſonen kennen, damit ſie zu
einer ganz unſtreitigen Gewißheit in ihren Aufloͤſun-
gen gelangen koͤnnen.


Fa** iſt ſchoͤn; das wiſſen wir alle. Sie iſt
noch ein unſchuldiges Frauenzimmer. Ja, ja! Sie
iſt reich; das laͤugnet niemand. Allein die gute
Fa** lobt aus großer Begierde, gelobt zu werden,
ſich ſelbſt allzuſehr. Der Schade, den ſie davon
hat, iſt ſehr groß. Nunmehr will es niemand mehr
glauben, daß ſie ſchoͤn, daß ſie reich, daß ſie ein un-
ſchuldiges Frauenzimmer iſt.


Jch
[47]Vorbericht.

Jch bedaure den armen Dichter: Alle Welt
vermeidet ſeine Gegenwart; wo er hinkoͤmmt, laͤuft
man vor ihn. Er kann das nicht begreifen? Jch
will es ihm ſagen: Er iſt gar zu poetiſch. Ein groſ-
ſer Fehler! Man flieht ihn, wie die Peſt. Es iſt
auch in der That keinem ehrlichen Manne zuzumu-
then, daß er ſo viel ausſtehen ſoll, als man bey dem
Herrn C *** auszuſtehen hat. Wenn ich ſtehe, ſo
lieſt er mir ſeine Gedichte vor; ſetze ich mich nieder,
ſo lieſt er ſie mir auch vor. Jch fange an zu lau-
fen; er laͤuft nach, und lieſt mir immer hinten drein;
bis auf den Abtritt verfolgt er mich mit ſeinen geiſt-
reichen Werken. Vielleicht bin ich in der Allee vor
ihm ſicher? Es hilft nichts; er lieſt immer vor.
Jch eile auf die Reitbahn. Umſonſt, er laͤßt mich
nicht einmal auf das Pferd. Mich hungert; ich
muß zu Tiſche; er haͤlt mich immer noch auf. Jch
reiße mich los, und ſetze mich nieder; auch vom
Tiſche jagt er mich weg. Jch werfe mich aufs Bette,
und ſchlafe ein. Er weckt mich auf, und lieſt mir
ſeine Verſe vor. Jſt wohl etwas unertraͤglichers
zu denken? Er iſt ein billiger, rechtſchaffner und bra-
ver Mann; ich gebe es zu; allein es hilft ihm alles
nichts. Es ſcheut ſich alle Welt vor ſeinen Verſen.


Cliton
[48]Vorbericht.

Cliton hat in ſeinem ganzen Leben nicht mehr
als zwo Verrichtungen gehabt, zu Mittage und zu
Abend zu eſſen. Es ſcheint, daß er nur zur Ver-
dauung geboren worden ſey. Er ſpricht auch nur
von Dingen, die dahin gehoͤren. Er erzaͤhlt, wie
viele Gerichte bey dem letzten Schmauſe aufgetragen,
was fuͤr Eſſen, wie viel Eſſen, was fuͤr Braten und
Beygerichte aufgeſetzt worden ſind. Er beſinnt ſich
ganz genau darauf, was man fuͤr Gerichte bey dem
erſten Aufſatze gebracht hat, und eben ſo gewiß be-
ſinnt er ſich auf die Fruͤchte, und Aſſietten. Er
nennt alle Weine und gebrannte Waſſer her, von
denen er getrunken hat. Er verſteht die Sprache
der Kuͤche vollkommen, und er macht mir Appetit,
an einem guten Tiſche zu ſpeiſen, wo er nicht iſt.
Er iſt ein außerordentlicher Mann in ſeiner Art,
der die Kunſt, ſich gut zu maͤſten, zur groͤßten Voll-
kommenheit gebracht hat. Er iſt auch der Kenner
guter Biſſen; es wird kein Menſch wieder geboren
werden, der ſo viel, und ſo gut ißt. Man darf auch
ſelten dasjenige loben, was ihm misfaͤllt. Er hat
ſich bis auf ſeinen letzten Hauch zu Tiſche tragen laſ-
ſen; er gab eben an dem Tage, da er ſtarb, einen
Schmaus. Er mag ſeyn, wo er will, ſo wird er eſ-
ſen, und wenn er in die Welt zuruͤckkehrt, ſo koͤmmt
er zum Eſſen wieder.


Ka **
[49]Vorbericht.

Ka** befindet ſich wohl auf, und ſieht doch
blaß. Er trinkt nicht viel, und ſieht doch blaß.
Er verdaut gut, und ſieht doch blaß. Er hat eine
junge artige Haushaͤlterinn, und ſieht doch blaß.
Wo muß das herkommen?


Gorg ** an iſt ungemein freygebig gegen ab-
gelebte Greiſe und verſchwendet ſeine Geſchenke an
alte reiche Witwen. Verlangt Gorg ** an viel-
leicht, daß ich glauben ſoll, er thue ſolches aus Groß-
muth? Der Niedertraͤchtige! Seine Geſchenke ſind
Netze und Fallſtricke, die er ihren Erbſchaften legt.
Will er ſeine Großmuth bezeigen; will er ohne Ei-
gennutz ſchenken, ſo beſchenke er mich; denn ich bin
jung und munter, und ſterbe ohne Teſtament.


Unſrer Wuchrer F ** iſt ein ſchlauer Kopf!
Er hat eine Frau, die ſo reizend ausſieht, daß ihn
niemand zum Hahnreye gemacht haben wuͤrde, wenn
er auch Geld dazu gegeben haͤtte. Der Zutritt war
allen unverwehrt, und dennoch fand ſich kein Menſch,
welcher ſich ſelbſt ſo ſehr verlaͤugnen koͤnnen, daß er
auf dieſen Einfall gekommen waͤre. Was hat F **
zu thun? Er wird eiferſuͤchtig; er bewacht ſie, und
laͤßt ſie von andern bewachen. Welcher Laͤrm!
Es wimmelt unter ſeinen Fenſtern von jungen Stu-
tzern, die ſich faſt zu Kruͤpeln ſeufzen, und den hal-
dben
[50]Vorbericht.
ben Wechſel daran wenden, wenn ſie nur eine ein-
zige Nacht Herr F ** ſeyn koͤnnen. Herr F ** hat
ſeine Sachen vortrefflich gemacht.


Die Madame *** iſt vorzeiten verbuhlt und
faſt ein wenig allzu galant geweſen. Man hat von
ihr geſprochen, und dieſes hat ſie bewogen, ſich
den allzulaͤrmenden Ergetzlichkeiten der Welt zu ent-
ziehen. Sie iſt eben noch ſo empfindlich, aber vor-
ſichtiger. Sie hat eingeſehen, daß Frauenzimmer
ihre Ehre nicht ſo wohl durch ihre Schwachheiten,
als durch ihre geringe Maͤßigung in denſelben belei-
digen, und daß die Entzuͤckungen der Liebhaber im-
mer ſehr wirklich und angenehm ſind, wenn ſie gleich
verſchwiegen werden. Sie iſt ſchoͤn, aber ihre
Schoͤnheit iſt majeſtaͤtiſch, die ſich leicht Ehrerbie-
tung zuwege bringen wuͤrde, wenn ſie gleich kein
ernſthaftes Weſen annaͤhme. Sie kleidet ſich nicht
verbuhlt, aber doch nicht ohne Schmuck. Wenn
ſie ſagt, daß ſie nicht zu gefallen ſuche, ſo ſetzt ſie ſich
allezeit in den Stand, zu ruͤhren, und erſetzt dadurch
die Reizungen ſorgfaͤltig, die ihr ihre vierzig Jahre
genommen haben. Sie hat wenig Reizungen ver-
loren, und wenn man die friſche Farbe ausnimmt,
die mit der erſten Jugend verſchwindet, und welche
die Frauenzimmer oft noch vor der Zeit verderben,
indem
[51]Vorbericht.
indem ſie dieſelben blendend zu machen ſuchen, ſo
darf die Madame *** nichts bedauern, weil ſie nichts
verloren hat. Sie iſt groß und wohlgebildet; ſie
hat eine angenommene Nachlaͤßigkeit; ihre Geſichts-
bildung und ihre Augen ſind gezwungen ernſthaft.
Wenn ſie aber nicht darauf denkt, Achtung auf ſich
zu geben; ſo verrathen die Augen ein luſtiges We-
ſen und Zaͤrtlichkeit. Jhr Verſtand iſt lebhaft, oh-
ne unbeſonnen zu ſeyn, vorſichtig, und ein wenig zur
Verſtellung geneigt. Ob ſie gleich ein ſproͤdes An-
ſehen hat, ſo iſt ſie doch angenehm in Geſellſchaften.
Jhre Grundſaͤtze verlangen nicht, daß ein Frauen-
zimmer keine Schwachheiten begehen muͤſſe; ſie ver-
langen nur, daß allein der Geſchmack die Schwachhei-
ten der Vergebung werth machen ſoll.


Herr G ** hat ſich einen ganz neuen Weg zu
ſeinem Gluͤcke gebahnt. Es giebt eine gewiſſe Art
von Leuten, welche gern die Vornehmſten vor an-
dern ſeyn wollen und es nicht ſind; dieſen haͤngt er an.
Er laͤßt ſich zwar von ihnen nicht zum Narren ge-
brauchen; aber er lacht ſie ſelbſt freywillig an, und
bewundert ihre großen Geiſter. Was ſie ſagen,
lobt er; wenn ſie es wieder laͤugnen, ſo lobt er die-
ſes auch. Verneinen ſie etwas, ſo verneint ers mit.
Bejahen ſie etwas, ſo ſagt er auch Ja. Kurz, er
d 2hat
[52]Vorbericht.
hat ſich das Gebot auferlegt, allen zu ſchmeicheln;
denn das iſt itzt das eintraͤglichſte Gewerbe. Er
macht aus Narren Unſinnige. Wo er hinkoͤmmt,
laͤuft ihm alles entgegen, Koͤche, Weinſchenken,
Gaſtwirthe und Zuckerbecker. Sie gruͤſſen ihn;
ſie ſtellen ihm zu Ehren eine Gaſterey an, und wuͤn-
ſchen ihm zu ſeiner Ankunft Gluͤck. Man ſehe, was
der Muͤßiggang und fremdes Brod thun kann.
Hat Herr G ** nicht einen ganz neuen Weg zu ſei-
nem Gluͤcke gefunden?


Die Mademoiſelle *** zieht einen Handſchuh
ab, uns eine ſchoͤne Hand zu zeigen, und ſie vergißt
es nicht, einen ganz kleinen Schuh zu entdecken, der
einen kleinen Fuß voraus ſetzt. Sie lacht uͤber lu-
ſtige oder ernſthafte Dinge, um ſchoͤne Zaͤhne zu ver-
rathen; wenn ſie ihr Ohr ſehen laͤßt, ſo bedeutet ſol-
ches das, daß es ſchoͤn iſt, und wenn ſie niemals
tanzt, ſo kommt es daher, daß ſie, mit ihrer Geſtalt
wegen ihrer Dicke unzufrieden zu ſeyn, Urſache hat.
Sie kennt alle ihre Vortheile, einen einzigen ausge-
nommen; die Mademoiſelle *** redet beſtaͤndig und
hat keinen Verſtand.


Was? Der Madaine *** ſollte ein einziger
Mann genug ſeyn? Gewiß; nur ein Mann iſt fuͤr
die Madame *** zu wenig. Man wird ſie eher
dazu
[53]Vorbericht.
dazu noͤthigen, daß ſie ſich an einem Auge begnuͤgen
laſſe.


Der Herr Profeſſor mag ſprechen, oder Reden
halten, oder ſchreiben, ſo will er citiren. Er laͤßt
von dem Fuͤrſten der Philoſophen ſagen, daß der
Wein trunken macht, und von dem groͤßten Redner
der Roͤmer, daß das Waſſer denſelben mildere.
Wenn er ſich in die Moral einlaͤßt, ſo iſts nicht er,
ſondern der goͤttliche Plato, welcher verſichert, daß
die Tugend liebenswuͤrdig iſt, und das Laſter gehaßt
zu werden verdient, oder daß aus dem einen ſo wohl,
als aus dem andern, Fertigkeiten entſtehen. Die
gemeinſten und alltaͤglichſten Gedanken, und ſo gar
diejenigen, die er ſelbſt noch denken kann, will er den
Alten, den Lateinern und Griechen ſchuldig ſeyn, nicht
etwan, um dem, was er geſagt hat, mehr Gewichte
zu geben, oder vielleicht mit ſeiner Wiſſenſchaft ſich
ein Anſehen zu machen. Nein, er will citiren.


Sie bewundern allein die Alten, mein Herr ***
und loben nur die verſtorbnen Poeten; allein ich
bitte Sie, vergeben Sie mirs, mein Herr; Es iſt
der Muͤhe nicht werth, daß man ſtirbt, um Jhren
Beyfall zu erhalten.


Der Herr Doctor liebt die Jnſecten; er ſammlet
ihrer alle Tage mehr. Jn Europa hat niemand ſo ſchoͤne
d 3Schmet-
[54]Vorbericht.
Schmetterlinge von allerley Geſtalten und Farben.
Ach! zu was fuͤr einer Zeit beſuchen ſie ihn itzt? Er
iſt in einen toͤdtlichen Kummer verſenkt; er iſt muͤr-
riſch und finſter; ſeine ganze Familie leidet darunter.
Er hat auch einen entſetzlichen Verluſt erlitten. Kom-
men ſie nur naͤher, und ſehen ſie das an, was er
ihnen auf ſeinem Finger zeigt. Es hat kein Leben
mehr, es iſt ihm den Augenblick geſtorben! Was
iſt es denn? Es iſt eine Raupe. Was das fuͤr ei-
ne Raupe war!


Alter Narre! Merkſt du nicht, warum dich
P *** mit Geſchenken uͤberhaͤuft? Du biſt reich,
du gehſt auf der Grube! Stirb! Verſtehſt du kein
Deutſch?



Man wird ſich vielleicht der Charaktere erinnern,
die ich in einem meiner Blaͤtter der Welt, als
Aufgaben vorgelegt habe, welche ſie aufloͤſen ſollte.
Jch und mein Verleger haben verſchiedne Briefe erhal-
ten, in welchen die Perſonen angegeben werden, die
ich gemeynt haben ſoll. Jch muß eilen, und dieſe
Briefe beantworten; ſonſt bin ich in Gefahr, noch
mehrere zu erhalten. Jch haͤtte nicht geglaubt, daß
es eine ſo gefaͤhrliche Sache waͤre, ein Autor zu ſeyn.
Alle Leute, uͤber die gelacht werden kann, halten ei-
nen
[55]Vorbericht.
nen Autor fuͤr ihren Feind, und ich kann bey mei-
nem Vergnuͤgen ſchwoͤren, daß mir nichts lieber, als
Ruhe und Friede, iſt. Wenn ich glaubte, daß mein
eigner Name bekannt ſeyn koͤnnte, ſo traute ich mich
nicht auf die Gaſſe und vor die Stadt. So wer-
den die guten Abſichten belohnt! Jch wollte zum
Vergnuͤgen der Welt ſchreiben, und man giebt mir
Schuld, daß ich einige aus der Welt laͤcherlich ma-
chen wollte. Jch unſchuldiger Juͤngling! Doch ich
will aufhoͤren, mich zu beklagen. Hier ſind die Brie-
fe, aus welchen ich nur die Namen der Perſonen,
die ich abgebildet haben ſoll, weggelaſſen habe.


Mein Herr,

Mit ihrer Erlaubniß, daß ich Jhnen die reine
Wahrheit ſage. Sie ſind fuͤr einen jungen
Menſchen zu boshaft. Jch habe Jhr ſiebzehentes
Blatt mit Erſtaunen geleſen. Jm Anfange fand ich die
Abbildung eines Poeten aus dem Martiale, der ſei-
nen Freunden mit ſeinen Gedichten zur Laſt wird a).
d 4Dieſes
[56]Vorbericht.
Dieſes brachte mich auf die Gedanken, daß Sie
etwa derer, welche immer die Orginale zu Jhren
Charakteren finden wollen, ſpotten wuͤrden, indem
Sie aus dem Schriften der Alten laͤcherliche Cha-
raktere uͤberſetzten, ohne ſolches anzuzeigen. Jch
ward in dieſer guten Meynung beſtaͤrkt, als ich ge-
gen das Ende Jhres Blattes den Gnatho aus dem
Terenze fand b); denn ich wußte ſo wohl die Stelle
aus
b)
[57]Vorbericht.
aus dem Martiale, als die Abbildung des Gnatho
aus dem Terenze, noch von der Schule her auswen-
dig. Aber ich fand mich betrogen, nachdem ich alle
Regiſter von meinen Autoren nachgeſchlagen, und
in keinem die uͤbrigen Charaktere gefunden hatte.
Sie haben es alſo unter dieſem Kunſtgriffe nur ver-
bergen wollen, daß Sie viele große und vornehme
Maͤnner laͤcherlich zu machen ſuchen. Das iſt ſehr bos-
haft! Wenn ich es nur wuͤßte, daß Sie mich unter dem
Profeſſor, der immer citirt, verſtanden haͤtten, und
mich laͤcherlich machen wollen, daß ich eine Profeſ-
ſur ſuche! Jch wollte Jhrer ſpoͤttiſche Zunge bald
Einhalt thun. Die Univerſitaͤt ſollte mir gewiß
Recht ſchaffen. Doch ich will meinen Unwillen
noch aufſchieben. So viel ſage ich Jhnen, reizen Sie
mich nicht. Jch weis wohl mehr, als Sie denken.


Leipzig den 29. April.
Z. A. M.


Das iſt der liſtigſte unter meinen Correſponden-
ten! Er hat es gleich gemerkt, daß ich aus dem Mar-
tiale und Terenze einige Charaktere genommen habe.
Er hat Recht, daß die uͤbrigen in keinem Regiſter
ſtehen. Der Himmel weis, was ich mir in ſeiner
Perſon fuͤr einen gelehrten nnd wichtigen Mann bey
d 5der
[58]Vorbericht.
der Univerſitaͤt zum Feinde gemacht habe. Der
Profeſſor, den ich meyne, iſt ein Franzos c). Bruy-
ere
hat ihn in ſeinen Charakteren abgebildet; daß
ich keinen jetzt lebenden Gelehrten meyne, beſtaͤtigt
nachfolgendes Schreiben.


Mein Herr Juͤngling,

Da ich faſt alle Haͤuſer dieſer Stadt kenne, ſo
iſt es mir nicht ſchwer geworden, diejenigen
ausfuͤndig zu machen, welche Sie in ihrem ſiebzehen-
ten Blatte ſo wohl gezeichnet haben. Jch wollte
Jhnen wohl alle Namen ſchreiben; aber ich befuͤrch-
te, Sie moͤchten meinen Brief drucken laſſen. Un-
terdeſſen kann ich doch nicht errathen, wer der Pro-
feſſor ſeyn ſoll, der immer citirt. Jch weis nie-
manden. Die hieſigen Gelehrten haben nicht dar-
um
[59]Vorbericht.
um ſtudiert, daß ſie citiren wollen. Sie lieben, ſo
viel ich weis, alle die Alten wegen ihrer Wahrhei-
ten, die ſie vortragen, wegen der Schoͤnheiten ihres
Ausdruckes, wegen ihrer Kunſt, mit der ſie geſchrie-
ben haben, wegen der Geſchichte, die man daraus
lernen kann, und wegen andrer ſolchen Urſache mehr.
Jch wuͤßte hier keinen Pedanten. Underdeſſen kann
es ſeyn, daß Sie mehr Gelehrte kennen, als ich.
Melden Sie mir doch den Namen deſſen, den Sie
abgebildet haben, durch einen kleinen Brief, den
ich bey Jhrem Verleger abfodern laſſen will. Jch
wuͤßte niemanden. Jch bin,


Mein Herr Juͤngling,
den 2 May, 1747.
Jhr fleißiger Leſer.
A.


Herr A. weis niemanden; ich auch nicht. Jn
Leipzig haben wir keine Pedanten. Das iſt
gewiß!


Mein Herr Juͤngling,

Sie ſind ein loſer Vogel. Jch habe Jhr ſiebzehen-
tes Blatt mit Vergnuͤgen geleſen. Sie ſind
ein Schriftſteller fuͤr mich. Da ich mit den hieſi-
gen
[60]Vorbericht.
gen Frauenzimmern ſehr vertraut bin, ſo hatte ich
koum von dem Charakter der Fa ** die erſte halbe Zei-
le geſehen, daß ſie ſchoͤn waͤre, ſo wußte ich den Au-
genblick, daß Sie die Mademoiſelle ** meynten.
Es iſt andem, daß ſie ſich ſehr gern lobt. Jch darf
nur anfangen, ihr etwas von der neuen Art zu ſa-
gen, auf die ich meine Haare friſiren laſſe, ſo redet
ſie gleich von einer neuen Mode, die ſie erfunden ha-
ben will. Man kann vor ihrem Eigenlobe nicht
zum Worte kommen. Wenns ich ihr einige galante
Schmeicheleyen ſagen wollen, ſo iſt ſie oft ſo unver-
ſchaͤmt geweſen, und hat zu mir geſagt: Jch haͤtte
vollkommen recht, und ſagte nur noch zu wenig. Und
ma foi ich ſagte ihr ſo viel, daß ſie haͤtte ſollen roth
werden. Habe ich da nicht ſtumm werden muͤſſen?
Kurz; ſie haben ſie nach dem Leben gezeichnet.
Die Madame ***, die vorzeiten verbuhlt, und allzu
galant geweſen, iſt doch die Madame ** in der **
Straße? Habe ich nicht recht? Wahrhaftig Sie ſind
in Charakteren ſehr gluͤcklich. Jch bin,


Mein Herr Juͤngling,
den 4. May
1747.
der Jhrige
Jacob Flink.


Herr
[61]Vorbericht.

Herr Flink irrt ſich; es kann ſeyn, daß ſich
die Mademoiſelle ** ſelbſt lobt, weil er zu ihrem
Lobe zu ungeſchickt iſt, und ſie ſeinem unbeſcheidnen
Lobe auf einmal Einhalt thun will. Jch habe
aber weder die Mademoiſelle ** noch die Madame
** abbilden wollen. Jch kenne ſie nicht. Fa **
iſt eine Roͤmerinn d); die Madame *** aber, die
Madame Luͤrſay, eine Franzoͤſinn, deren Geſchich-
te Herr Crebillon der juͤngere beſchrieben hat e).
Allein
[62]Vorbericht.
Allein in meinem ſiebzehenten Blatte iſt aus Verſe-
ſehen ein Charakter weggelaſſen worden, in wel-
chem ich Herrn Flinken meynte. Weil ich nach
ſeinem Urtheile ſo gluͤcklich in Charakteren bin, ſo
will ich denſelben itzt noch nachholen.


Man ſagt, daß Herr Flink ſchoͤn ſey; es ſa-
gen es viele, und niemand ſagt es ſo oft, als er ſelbſt.
Aber warum ſollte er wohl ſchoͤn ſeyn? Warum er
ſchoͤn ſeyn ſoll? Sein Lackey friſirt ihm die Haare
am beſten; er iſt immer wohlriechend; er iſt ſo lan-
ge auf den Tanzboden gegangen, daß er end-
lich glaubt, er tanze am beſten; er iſt beſtaͤndig un-
ter Frauenzimmern, weil ſich niemand die Muͤhe neh-
men
e)
[63]Vorbericht.
men und ihm die Thuͤre weiſen laſſen will; er iſt
immer ſehr vertraulich mit ihnen, und ziſchelt ihnen
beſtaͤndig etwas ins Ohr; er ſchreibt Briefe an ſie,
die er fuͤr ſehr ſinnreich und galant haͤlt, weil ihm
niemand darauf antwortet; er weis genau, was
ein jedes Frauenzimmer fuͤr einen Liebhaber hat;
er laͤuft auf alle Gaſtereyen. Warum ſollte Herr
Flink nicht ſchoͤn ſeyn? Jch will mich nicht laͤnger
bey ihm aufhalten, weil ich noch mehr Briefe mit-
zutheilen habe.


Leipzig, den 4. May 1747.


Monſieur,

Wenn ich viel eſſe, ſo eſſe ich fuͤr mich viel. Er
iſt ein junger Menſch, was hat er ſich um mich
zu bekuͤmmern? Wir koͤnnen freylich nicht alle ſo
gelehrt ſprechen, als er. Spreche er von ſeinen Buͤ-
chern; ich will von meinen Braten ſprechen. Er hat
nichts daruͤber zu lachen. Jch muß den ganzen Tag
uͤber genug rechnen, eh ich mich zu Tiſche ſetzen kann.
Er wird in ſeinem ganzen Leben doch nicht ſo viel
Geld verdienen, als ich in einem Monate ausleihe.
Jch bin der Stadt nuͤtzlicher, als er. Jch bekuͤm-
mere mich wenig um ihn. Jch bin noch nicht todt,
wie er in ſeinem Blaͤttchen von mir ſpricht, und ich
will
[64]Vorbericht.
will noch lange leben. Kuͤnftig habe er vor Leuten
von meinem Alter mehr Reſpect. Deswegen habe
ich an ihn geſchrieben. Jch denke, wenn er mit
ſeiner ſchmaͤhſuͤchtigen Zunge fortfaͤhrt, daß er noch
auf das Carcer geſetzt werden ſoll. Jch will mich
einmal ſo nennen, wie er mich genannt hat.


Cliton.


Mich duͤnkt, daß zwiſchen denen, die viel eſſen,
und zwiſchen den Clitons, welche Bruͤyeref) be-
ſchreibt, noch ein ziemlicher Unterſchied ſey.


Mein
[65]Vorbericht.
Mein Herr Juͤngling,

Es iſt wahr, Sie haben der Welt in Jhrem ſiebzehen-
ten Blatte ſchwere Raͤthſel vorgelegt. Man
kennt ja den guten Herrn, der gut verdaut, und doch
blaß ausſieht, eine junge Haushaͤlterinn hat, und
noch immer blaß ausſieht, uͤberall. Sie haͤtten ihn
eben dadurch nicht unkenntlich zu machen ſuchen
duͤrfen, daß Sie ſeine Haushaͤlterinn jung und artig
nennen. Es iſt nunmehr ſchon eine geraume Zeit,
daß er gut derdaut, und doch blaß ausgeſehen hat.
Konnten Sie nicht zu gleicher Zeit ſeine Gebieterinn
beſchreiben? Sie war nicht reizend, und ward Haus-
haͤlterinn; ſie war ſchmutzig, und ward Haushaͤl-
terinn; er hat nichts, und ſie iſt doch reich. Wo
mag das herkommen?


Halle,
am 3. May.
X.


N. S. Jch irre doch nicht, daß Sie vor etlichen
Jahren hier in Halle ſtudiert haben?


Das weis ich nicht. Die Haushaͤlterinn von
der ich geredet habe, ſoll durchaus jung und artig
eſeyn;
[66]Vorbericht.
ſeyn; ich will es ſo haben. Martial hat mich zu
dieſem Charakter veranlaßt g)


Mein Herr Juͤngling,

Jch merke, wer Sie ſind; Sie moͤgen Sich ver-
bergen, wie Sie wollen. Sie ſind mein Lands-
mann, und dieſes laſſe ich mir nicht abſtreiten, ſeit-
dem Sie Jhr ſiebzehentes Blatt geſchrieben haben.
Wie gluͤcklich haben Sie doch einen gewiſſen Heuch-
ler getroffen, der in unſrer Stadt ſchon ſo viele Erb-
ſchaften erſchlichen hat! Jch lobe Sie, daß Sie einen
Mann dem Spotte Preis geben, den die Thraͤnen
ſo vieler Wittwen und Waiſen noch nicht zur Reue
und Erkenntniß ſeiner Ungerechtigkeiten gebracht
haben. Der Niedertraͤchtige! Er denkt, daß er fuͤr
alle ſeine Ungerechtigkeiten genugthue, wenn er ei-
nige Stiftungen und Gebetbuͤcher macht, und, mit
einem großen Laͤrmen, alle Jahre einmal Allmoſen
aus-
[67]Vorbericht.
austheilt. Habe ich den Gorg ** an nicht erra-
then? Jch bin


Mein Herr Juͤngling,
Aſchersleben,
am 5 May, 1747. Jhr aufmerkſamer Leſer,
Michael Gewiß.


Folgender Brief betrifft eben dieſen Charakter.


Mein Herr Juͤngling,

Fuͤrchten Sie Sich denn vor keinem Proceſſe?
Wenn der Herr Licentiat** keine Erbſchaft von
Jhnen erſchleichen kann, ſo kann er doch eine Ruͤge
wider Sie machen. Er wohnt auf der ** Straſ-
ſe. Jch habe mich wohl nicht geirrt. Er iſt eben
der, welcher einen alten reichen Narren, der kein
deutſch verſteht, mit Geſchenken uͤberſchuͤttet, damit
er ſterben ſoll. Jch moͤchte ſehr gern mit Jhnen
bekannt ſeyn, mein Herr Juͤngling. Jch wollte
Jhnen auch die kleine koſtbare Perſon mit der gold-
nen Uhr nennen, welche nur gern wiſſen will, ob ſie
von Jhnen gemeynt worden iſt. Jch bin,
Mein Herr Juͤngling,


Leipzig,
am 6 May, 1747. Jhr fleißiger Leſer
T.


e 2Nun-
[68]Vorbericht.

Nunmehr koͤnnte ich die Welt wieder rathen laſ-
ſen, welchen unter dieſen beiden ich gemeynt haben
ſoll. Bald wird keine Stadt in Deutſchland ſeyn,
wo meine Blaͤtter geleſen werden, aus der ich nicht
gebuͤrtig bin. Es hat ſchon zu Martials Zeiten
Leute genug gegeben, welche Erbſchaften zu erſchlei-
chen geſucht haben h).



Mein Herr,

Jch will Jhnen funfzig Thaler geben, wenn Sie
mir den Namen des Verfaſſers vom Juͤnglinge
nennen. Sie koͤnnen nichts dafuͤr, daß in dieſem
gottloſen Blatte rechtſchaffne Leute verleumdet wer-
den;
[69]Vorbericht.
den; das weis ich wohl. Daß ich Urſache habe,
auf meine Frau eiferſuͤchtig zu werden, und daß es
von Stutzern unter meinen Fenſtern wimmelt, iſt
leider der ganzen Stadt bekannt. Aber daß mich
ein junger Menſch einen Wuchrer nennt, das iſt ei-
ne Jnjurie! Die muß die Obrigkeit beſtrafen! Funf-
zig Thaler wende ich daran, damit ſie ſehen ſollen,
daß ich kein Wuchrer bin. Jch bin


G * *


Herr G ** muß mehr bieten, wenn der Verle-
ger ſeinen Schriftſteller verrathen ſoll. Der Juͤng-
ling laͤßt ſich um einen ſo geringen Preis nicht nen-
nen. Jch koͤnnte zwar ſagen, daß ich den Charak-
ter des G ** aus dem Martialei) genommen. Al-
lein ich will noch einige Zeit mit der Erklaͤrung ver-
ziehen, ob er es iſt. Denn er verſteht ohne Zwei-
fel kein Latein, und kann alſo nicht wiſſen, ob ich
nicht einige neue Zuͤge hinzugeſetzt habe.


e 3Mein
[70]Vorbericht.
Mein Herr Juͤngling,

Wenn Sie nur nicht ſo viel von einem Frauen-
zimmer mit blauen Augen, und von einem
mit ſchwarzen Augen redeten; ſo wuͤrden Sie ein huͤb-
ſcher frommer Menſch ſeyn, der es nicht ſo ſehr mit
der itzigen argen und verderbten Welt hielte. Dieſes
habe ich daraus geſehen, daß Sie der eiteln Made-
moiſelle **, die ſich auf ihre ſchoͤnen Haͤnde und
Fuͤße ſo ſchrecklich viel einbildet, und der Madame **,
die mehr als einen Mann braucht, den Text ſo wohl
geleſen haben. Jch habe recht meine Freude dar-
uͤber. Jch ſehe alle Tage mit inniger Betruͤbniß
meines Herzens zu, wie viel junge Menſchen bey ih-
nen aus und eingehen. Jch weis nicht, wie der
Himmel ſo lange zuſehen kann. Er iſt ſehr lang-
muͤthig. Ach wie ſchlimm wird es noch werden!
Jch bin,


Mein Herr Juͤngling,
Am 5 May.
Jhre andaͤchtige Leſerinn,
Flavia.


N. S. Jtzt gehen ſchon wieder zween Edelleute
hin. Was wird noch aus der Welt
werden?


Flavia
[71]Vorbericht.

Flavia koͤnnte freylich am beſten wiſſen, wen
ich meynte, weil ſie alt iſt, und Neuigkeiten liebt,
wenn ich nicht den Charakter der Mademoiſelle **
aus dem Bruyerek) und eine Abbildung der Ma-
dame** aus dem Juvenalel) genommen haͤtte.


Mein Herr Juͤngling,

Sie haben einen Mann beſchrieben, der allein die
verſtorbnen Poeten lobt. Wollen Sie Sich
in einen bekannten Streit wagen?


Am 5. May.
Elias Eilig.


e 4Jch
[72]Vorbericht.

Jch bin zu friedfertig, als daß ich Luſt haͤtte,
mich irgend in einen Streit einzulaſſen. Derjenige,
den ich meyne, heißt Vacerra, und Martial hat
ihn vor mir gemeynt m).


Mein Herr,

Weil Sie keine Raupen ſammlen, ſollen ſolches
darum andre Leute nicht thun? Der Herr
Doctor, der die Jnſecten ſo ſehr liebt, iſt mein Freund;
ich ſuche die Raupen mit ihm, und wenn er ſeine
Familie itzt ein wenig leiden laͤßt, ſo wird es ihr kuͤnf-
tig deſto beſſer gehen, wenn er ſein Raupencapinet
verkauft haben wird.


Am 8. May. 1747. Thomas Raupe.


Ob ich gleich den Charakter dieſes Doctors aus
dem Bruyeren) genommen habe, ſo will ich doch
den Freund des Herrn Thomas Raupe ſo lange
mey-
[73]Vorbericht.
meynen, bis er ſein Raupencabinet verkauft hat, und
bis es ſeiner Familie beſſer, als itzt, geht.


Man wird aus den Stellen der angefuͤhrten
Scribenten ſehen, wie ſehr ſich diejenigen geirrt
haben, welche die Originale zu meinen Charakteren
errathen wollen. Jch habe einige gewoͤhnliche Cha-
raktere in mein ſiebzehentes Blatt eingeruͤckt, und
doch haben ſich einige gefunden, welche beſondre
Perſonen angegeben, die ich in Gedanken gehabt ha-
ben ſoll. Ein Schriftſteller verſpottet die Laͤcherli-
chen, ohne darauf zu denken, ob dieſe oder jene un-
ter die Laͤcherlichen gehoͤren. Jch will mich uͤber
eine ſo bekannte Wahrheit nicht mit Anmerkungen
ausbreiten, und nur ſo viel ſagen, daß ich kuͤnftig
allezeit denjenigen gemeynt haben will, der ſo dreiſt
iſt, daß er Originale zu meinen Charakteren angiebt.
Was meine Leſer denken wollen, das laſſe ich ihnen
frey; ich verlange nur, daß ſie ihre Auslegungen nicht
auf meine Rechnung bringen ſollen.



Wie

n)


[74]Vorbericht.

Wie ſehr werde ich nunmehr meinen kuͤnftigen Le-
ſern ihre Muͤhe erleichtern! Sie koͤnnen es ſicher
glauben, ich meyne niemanden, als diejenigen, welche
wiſſen, wen ich gemeynt habe.


Leipzig,
an der Oſtermeſſe
1751.
Gottlieb Wilhelm Rabener.

[figure]
Samm-
[[1]]

Sammlung
ſatyriſcher
Schriften.
Erſter Theil.

[[2]][[3]]

DE
EPISTOLIS GRATVLATORIIS

ΕΞΩΤΙΚΟΘΑϒΜΑΤΟϒΡΓΗ-
ΜΑΤΟΤΑΜΕΙΟΙΣ.

Oder deutlicher zu reden:
Von der Vortrefflichkeit
der
Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben

nach dem neuſten Geſchmacke.

Wodurch
Herrn N. N.
als Derſelbe die hohe Schule ruͤhmlichſt verließ,
ſeine Ergebenheit bezeugen wollte
Deſſen
aufrichtigſter Freund und Diener,
Martin Scribler, der Juͤngere.




[[4]]
VIRGILIVS.
‒ ‒ ‒ procumbit humi bos.
*
()
[[5]]
Mein Freund!

[figure]

Du haſt mir vielmals deutliche Pro-
ben von deiner aufrichtigen
Freundſchaft gegeben, und haſt
mich dadurch dir ſehr verbunden
gemacht. Jch geſtehe es anitzt oͤffentlich. Jch
bekenne aber auch zugleich vor der ganzen Welt,
daß meine Verbindlichkeit gegen Dich niemals ſo
groß geweſen iſt, als itzt, da Du dieſen Ort verlaͤſ-
ſeſt. Dein Abſchied wuͤrde mir zwar ſchmerzlich fal-
len: Allein, das Vergnuͤgen, Dich mit einem ge-
druckten Bogen zu begleiten; die Zufriedenheit, mei-
nen Namen auf dem Titelblatte zu ſehen; das Ver-
langen, der gelehrten Welt, wo nicht zu dienen,
doch bekannt zu werden; kurz, ein mir und meinen
Landsleuten ſo natuͤrlicher, als ruͤhmlicher, Eifer zu
ſchreiben; dieſes ſind die Urſachen, warum ich dei-
nen Abſchied ſo gelaſſen anſehen kann.



[6]Von der Vortrefflichkeit

Nur etwas bedaure ich. Dein Abſchied koͤmmt
mir zu unvermuthet 1. Nur vor wenig Tagen
habe ich dieſen Deinen Entſchluß erfahren. Jch
bin alſo nicht im Stande geweſen, auf gegenwaͤr-
tige Arbeit den gehoͤrigen Fleiß zu wenden. Sie
iſt eine unreife Frucht 2 weniger Stunden, und
die haͤufig darinnen vorkommenden Fehler wird
nichts, als Dein Wohlwollen, und meine beynahe
ganz unglaubliche Eilfertigkeit entſchuldigen muͤſſen.
Von der wenigen Muße 3 die ich habe, und der
uͤber-
[7]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
uͤberhaͤuften Arbeit, wodurch ich auf eine verdrieß-
liche Art gebunden bin, mag ich nicht einmal et-
was erwaͤhnen.


Alle dieſe Hinderniſſe uͤberſteige ich auf eine mu-
thige Art. Jch liefre dir dieſe Arbeit, und widme
dir eine, wo nicht ganz neue 4 und von mir zuerſt
erfundne, doch noch nicht ſattſam erkannte Wahr-
heit. Der Nutzen unſrer gelehrten Gluͤck-
wuͤnſchungsſchreiben
iſt zu wichtig, als daß ich
denſelben mit Stillſchweigen uͤbergehen ſollte. Jch
will denſelben angenehm, deutlich, gruͤndlich und
ſo beſchreiben, daß mir hoffentlich niemand ſeinen
Beyfall verſagen, ſondern vielmehr zugeſtehen wird;
gegenwaͤrtige Schrift ſey nach dem neuſten Ge-
ſchmacke, und als ein Urbild aller gelehrten und zu
unſrer Zeit im Schwange gehenden Gluͤckwuͤn-
ſchungsſchreiben anzuſehen. Beſonders werde ich
mich der Kuͤrze befleißigen 5.



[8]Von der Vortrefflichkeit

§. 1. Jm Paradieſe 6 lebten unſre erſten
Aeltern bey der groͤßten Zufriedenheit. Dieſes
Gluͤck dauerte nur wenige Zeit. Je haͤufiger ſich
ihre Nachkommen mehrten, deſto heftiger nahm die
Unruhe und das Elend der Sterblichen zu. Der
kleine Ueberreſt der alten, und die einzige Hoffnung
der neuen Welt, ſchwammen in einem Kaſten.
Die Ruhe und Einigkeit ſchienen wieder hergeſtellt
zu ſeyn: Es waͤhrte aber nicht lange. Die
Herrſchſucht wollte ſich einen Thurm bis in die
Wolken bauen: Doch eine hoͤhere Vorſicht zerſtoͤr-
te dieſes verwegne Gebaͤude, und verwirrte die
Spra-
[9]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
Sprachen. Die Kinder Noah verſtunden einan-
der nicht mehr. Sie mußten ſich trennen. Die
ſtolzen Nachkommen Sems ließen ſich in dem fetten
Grunde Aſiens nieder. Der braune Mohr er-
waͤhlte ſich die ſandigten Gegenden Lybiens. Ob
es die Soͤhne Japhets geweſen, welche ſich unſre
noͤrdliche Gegend zum Sitze ausgeleſen, mag ich
nicht unterſuchen. Und es bemuͤhen ſich die Ge-
ſchichtsforſcher noch bis itzt vergebens, wie die be-
malten Einwohner in jenes Land gekommen ſind,
welches Columbus nach ſo ſpaͤten Jahren wieder
bekannt gemacht hat. So ſehr wurden diejeni-
gen zerſtreut, welche allerſeits Kinder eines Vaters
waren; und ſo wenig verſtehen die Nachkommen
einander, deren Aeltern nur eine Sprache geredet
haben.


§. 2. Das Gute hat ſeinen Urſprung vielmals
einem Uebel zu danken. Aus der Zerruͤttung der
Sprachen entſtunden Geſellſchaften. Diejenigen,
welche eine Sprache redeten, verſtunden einan-
der, und ſchlugen ſich daher zuſammen. Die
meiſten von ſolchen Geſellſchaften hatten zwar keine
andre Abſicht, als ſich zu ſchuͤtzen, und zu naͤhren:
Viele aber giengen hierinnen weiter. Die Sorge
fuͤr ihren Leib hinderte ſie nicht, an dasjenige zu den-
ken, was noch weit edler war. Sie bemuͤhten ſich,
ihre Seele und deren Kraͤfte zu beſſern. Sie
richteten Schulen auf. Sie erfanden ſchoͤne Wiſ-
ſenſchaften, und brachten ſie in Aufnahme. Aegy-
pten legte den erſten Grundſtein zu dieſem vortreffli-
chem Gebaͤude. Griechenland that es ihm nach, und
A 5uͤber-
[10]Von der Vortrefflichkeit
uͤbertraf ſeinen Lehrmeiſter. Rom entriß Grie-
chenland Zepter und Lorbeer, und pflanzte beides
auf die fruchtbaren Hoͤhen des Capitoliums. Jn-
nerliche Zerruͤttung, und fremde Gewalt verjagten
die Muſen aus dieſer angenehmen Wohnung. Sie
zogen ſich weiter nach dem rauhen Norden, und
wir ſind nebſt unſern Nachbarn ſo gluͤcklich gewor-
den, ihres Umgangs zu genießen. Leipzig, das ge-
lehrte Leipzig, hat ſich hierinnen vor allen andern
hohen Schulen eines beſondern Vorzugs zu ruͤh-
men. Tauſend vortreffliche Werke ſind unver-
werfliche Zeugen hiervon. Jch uͤbergehe die mei-
ſten mit Stillſchweigen, und will nur eine Art der-
ſelben anfuͤhren. Wer 7 thut es uns an Gluͤck-
wuͤnſchungsſchreiben zuvor? Wir haben es hierin-
nen aufs Hoͤchſte gebracht. Ein jedes derſelben iſt
ein Jnnbegriff ſeltner Schoͤnheit; ein Kern ausbuͤn-
diger Sachen, und ein Muſter, welches die Vor-
fahren mit ſtummer Verwunderung verehren wuͤr-
den, die ſpaͤteſten Nachkommen aber, als unverwes-
liche Merkmaale unſrer Gluͤckſeligkeit ruͤhmen muͤſ-
ſen. Dieſes alles ſchreibt ſich aus dem Paradieſe
her, W. Z. E. W.8



[11]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.

§. 3. Jch habe alſo den ruͤhmlichen Urſprung
der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben auf ſo eine Art dar-
gethan, daß kein vernuͤnftiger Menſch 9 etwas
daran auszuſetzen haben wird.


Nunmehr muß ich auch entwerfen, was ich
eigentlich unter den nach der neuſten Mode ein-
gerichteten Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben verſtehe.
Naͤmlich, ich verſtehe darunter nichts anders, als
eine ſauber gedruckte Abhandlung, worinnen viele
Worte, auf eine ungefaͤhre Art mit allen nur erſinn-
lichen Anmerkungen ausgezieret ſind, damit die Be-
leſenheit des Verfaſſers in die Augen falle, die ge-
lehrte Welt einen troͤſtlichen Zuwachs erhalte, und
bey dieſer Gelegenheit dem Goͤnner oder Freun-
de etwas annehmliches vorgeſaget werde. Hier-
von will ich ausfuͤhrlicher handeln.


§. 4. Mit großem Vorbedachte, habe ich oben
geſagt, ich wollte, was die Gluͤckwuͤnſchungsſchrei-
ben
8
[12]Von der Vortrefflichkeit
ben waͤren, entwerfen10. Jch bin ſo pedan-
tiſch nicht, daß ich eine ordentliche Definition da-
von machen wollte 11. Dieſes iſt viel zu verdrieß-
lich, zugeſchweigen, daß es wider die Pflicht eines
guten Buͤrgers laͤuft, eine Definition zu geben, in-
dem uns die Geſetze ſelbſt davor, als vor etwas ge-
faͤhrlichem, warnen 12. Nur ehedem gieng es an,
da man noch eigenſinnig war, da man genau wiſ-
ſen wollte, wovon eigentlich die Rede waͤre; kurz,
da man noch wenig ſchrieb, und viel dachte. Es
iſt dieſes bis itzt ein beſchwerlicher Fehler vieler Ge-
lehrten, welche etwas bey Jahren ſind. Jch und
die Herren Scribenten von meinem Alter haben uns
dieſer Sklaverey entriſſen. Dieſes unterhaͤlt unſre
Faͤhigkeit, daß wir mehr ſchreiben koͤnnen, als wir
denken. Wir entwerfen; und behalten dadurch
die Freyheit, zu ſagen, was uns einfaͤllt. Wer mir
nicht glauben will, der leſe unſre Gluͤckwuͤnſchungs-
ſchreiben.


§. 5. Jch nenne die Gluͤckwuͤnſchungsſchrei-
ben eine Abhandlung. Es ſey aber ferne von
mir, daß ich dadurch anzeigen wollte, als muͤſſe
man
[13]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
man dasjenige, was auf den Titelblatte ſteht, dar-
innen ordentlich ausfuͤhren. Dieſes iſt ſchlechter-
dings wider den Charakter meiner Gluͤckwuͤn-
ſchungsſchreiben. Man muß etwas ſagen, deſſen
ſich der Leſer nicht verſieht. Das Unerwartete
ruͤhrt am meiſten. Zum Exempel: Man thut, als
wolle man von den Regeln der Geſelligkeit han-
deln, und erzaͤhlt die Geſchichte des Aeneas und
Turnus. Man verſpricht, die Mittel zu zeigen,
wodurch man gluͤcklich werden kann, und beſchreibt
dafuͤr das Weſen des Schwefels und Salzes.
Man ſtellet ſich, als wolle man die Vorzuͤge der
heutigen Poeſie anfuͤhren, und ruͤhmt die Fabeln
des Criſpinus13.


§. 6. Dieſe Abhandlungen muͤſſen ſauber ge-
druckt
ſeyn. Dieſes wird hauptſaͤchlich erfodert;
darum habe ich es auch zuerſt angemerket. Es
nimmt den Leſer unvermerkt ein, und indem er den
ſchoͤnen Druck bewundert, ſo uͤberſieht er manchen
Fehler. Zum Titel, bey welchem man ſich der
laͤngſten 14 und fuͤrchterlichſten Woͤrter zu bedie-
nen
[14]Von der Vortrefflichkeit
nen hat, nimmt man die anſehnlichſten Lettern.
Soll er recht zierlich ſeyn, ſo muß er ausſehen, wie
die Grabſchrift eines reichen Muͤßiggaͤngers, in wel-
che der vergnuͤgte Erbe weit mehr ſetzen laſſen, als
der Verſtorbne in ſeinem ganzen Leben zu thun faͤ-
hig geweſen iſt. Daß der Anfangsbuchſtabe 15
in einem zierlich geſchnittnen Stocke ſtehen muß,
verſteht ſich von ſelbſt. Und jedermann wird zu
Steuer 16 der Wahrheit bekennen muͤſſen, daß
eine ſchlechte Abhandlung weit ertraͤglicher ſey, als
ein ſchlechter Anfangsbuchſtabe.


§. 7. Die Abhandlung muß aus zuſammen ver-
knuͤpften Worten beſtehen. Worte ſind alſo das
Hauptſtuͤcke unſerer Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
Wenn man dieſe hat, ſo hat man alles. Es giebt
noch viele unter unſern Gelehrten, deren Namen
ich
14
[15]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
ich aber aus Mitleiden verſchweige, welche in dem
irrigen Wahne ſtehen, man muͤſſe zufoͤrderſt wiſſen,
was man ſchreiben wolle, und alsdann erſt um die
Worte und Ausdruͤckungen bekuͤmmert ſeyn. Ver-
kehrte Meynung! Worte muß man zufoͤrderſt ha-
ben. Dieſe muß man mit einander verknuͤpfen;
und alsdann ſieht man, was man geſchrieben hat.
Es iſt hier eben, wie mit der Poeſie. Wenn ich
den Reim 17 habe, ſo habe ich auch den Gedan-
ken, welcher in den Vers ſoll; und wenn der Reim
fehlt, ſo iſt mir der ſchoͤnſte Gedanke nichts
nuͤtze.


Je fremder die Worte ſind, und ie weniger ſie,
außer der Verknuͤpfung, Aehnlichkeit mit einander
haben, deſto ſchoͤner wird die Schrift. Es wuͤrde
ſehr gemein laſſen, wenn man nichts ſetzen wollte,
als was durch eine natuͤrliche Folge aus einander
floͤſſe. Jch will ein Gleichniß 18 geben. Du
kennſt, mein Freund, jenes Frauenzimmer, welches
ihre ganze Nachbarſchaft in Verwunderung bringt.
Jhre Spitzen nimmt ſie aus Holland. Die Ohr-
ge-
[16]Von der Vortrefflichkeit
gehenke aus Jndoſtan. Peru muß dasjenige lie-
fern, was zum Halsſchmucke noͤthig iſt. Die Klei-
dung iſt ein Werk der Perſianer. Jhr Fiſchbein-
rock hat ſeinen Urſprung dem Nordpole zu danken,
und ſie wuͤrde tauſend noͤthige Dinge entbehren
muͤſſen, wenn nicht die Sorgfalt der Kaufleute ſol-
che von dem Suͤderpole herzuſchaffen wuͤßte. Von
ihrem Vaterlande hat ſie nichts, als den Koͤrper.
Gleichwohl mußt du zugeſtehen, daß alle dieſe frem-
den Sachen auf eine geſchickte Art zuſammen ver-
knuͤpft ſind; und jedermann die wohl ausgeſonne-
ne Pracht mit Hochachtung bewundert. Gleiche
Beſchaffenheit hat es mit unſern Gluͤckwuͤnſchungs-
ſchreiben. Sie kommen mir nicht anders vor, als
ein praͤchtig ausgeputztes Frauenzimmer. Aſien,
Aegypten, Griechenland, Rom, Frankreich, Lon-
don, Himmel und Hoͤlle haben ihren Antheil dar-
an; alles muß etwas dazu hergeben. Dieſes weis
der Verfaſſer auf eine ſinnreiche Art zu verknuͤpfen,
daraus verfertigt er ſeine praͤchtige Schrift.


§. 8. Dieſe Worte 19 muͤſſen auf eine un-
gefaͤhre
Art mit einander verknuͤpft ſeyn. Was
die-
[17]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
dieſes ſagen wolle, das iſt in dem vorhergehenden
Abſchnitte groͤßtentheils ausgefuͤhrt. An dieſem Or-
will ich nur einige praktiſche Regeln geben, welche
man bey allen dergleichen Ausarbeitungen mit be-
ſonderm Nutzen wird anwenden koͤnnen. Jch habe
die Ehre, ein unwuͤrdiges Mitglied von derjenigen
Geſellſchaft zu ſeyn, welche ſeit geraumer Zeit auf
dieſer hohen Schule bluͤht, und ſich die wuͤnſchen-
de Geſellſchaft nennt. Sie beſteht aus zwoͤlf Per-
ſonen, und einem Vorſitzer. Wir kommen alle Wo-
chen einmal zuſammen. Ein jeder von uns muß
vier Gedanken mitbringen. Dieſe beſtehen entwe-
der,
19
Erſter Theil. B
[18]Von der Vortrefflichkeit
der, aus einem weiſen Spruche eines Gelehrten,
oder aus einer Ueberſchrift, oder aus einem Stuͤcke
des Alterthums und der Hiſtorie, oder aus einer
kritiſchen Anmerkung. Sie duͤrfen nicht mit Fleiß
ausgeſucht, ſondern muͤſſen von ungefaͤhr gefunden,
mithin von einander ganz unterſchieden ſeyn. Ein
jeder Gedanke wird auf einen beſondern Zettel ge-
ſchrieben. Auf ſolche Weiſe bringen wir auf 52 Zet-
teln, 52 buͤndige Gedanken zuſammen. Dieſe wirft
der Vorſitzende in ſeinen Huth, ruͤhret ſie wohl un-
ter einander, und legt ſie alsdann in einer Reihe
auf den Tiſch. Der, welchen die Ordnung zu re-
den trifft, ſteht alsdann auf. Der Vorſitzende
ſagt ihm einen Satz, welcher ihm zuerſt beyfaͤllt.
Dieſer muß ſogleich abgehandelt werden, und in
den 52 Zetteln findet er eine unerſchoͤpfliche Quelle
desjenigen, wodurch er, aus dem Stegreife, eine
maͤnnliche, buͤndige, gelehrte, ſinnreiche und lebhafte
Rede, ohne Anſtoß, vorbringen kann. Es iſt dieſes
nichts unmoͤgliches. Ein jeder Gedanke fuͤhrt
uns auf den andern. Ein zufaͤlliges Wort iſt hier-
zu genug. Will ſich auch dieſes nicht finden, ſo
ſuchet man ein Gleichniß, oder ein Exempel. Das
bewaͤhrteſte Mittel iſt die Erfindung, welche die
Redner a contrario nennen. Sind aber die aufge-
gebnen Gedanken gar zu hartnaͤckigt, und wollen ſie
ſich auf keine Weiſe verbinden laſſen, ſo ſagen wir
dieſelben in ihrer unzertrennten Ordnung her, und
ſchließen mit einem verwundrungsvollen: Jedoch,
wo gerathe ich hin!
Dieſes heißt auf eine unge-
faͤhre Art verknuͤpfen.



[19]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.

§. 9. Wenn ich meine Worte auf eine unge-
faͤhre Art verknuͤpfe, ſo muß ich ſie auch mit allen
nur erſinnlichen Anmerkungen
auszieren, da-
mit die Beleſenheit des Verfaſſers in die Augen
falle, und die gelehrte Welt einen troͤſtlichen Zuwachs
erhalte. Wie noͤthig, wie ruͤhmlich dieſes ſey, das
werde ich in dem folgenden weiſen. Fx20vngue21
leonem22. Jch geſtehe zwar gar gern zu, daß es
B 2eine
[20]Von der Vortrefflichkeit
eine etwas muͤhſame Arbeit iſt: Jch weis 23 aber
auch, daß wir uns vielmals in andern Sachen keine
Muͤhe verdrießen laſſen, welche von ſolcher Wich-
tigkeit lange nicht ſind, als ein dergleichen loͤbliches
Vorhaben. Dieſe Anmerkungen muͤſſen aus vieler-
ley Sprachen beſtehen. Hierbey darf man ſchlech-
terdings nicht ſparſam ſeyn. Man ſchreibt fuͤr Ge-
lehrte, und alſo muß man ſie auf eine gelehrte Art
unterhalten. Dieſes 24 heißt aber gelehrt, wenn man
viele Sprachen kann. Es iſt eine leichte Sache, die
Gottesgelahrtheit zu faſſen, die innlaͤndiſchen, und
auswaͤrtigen Rechte zu lernen, die Arzneykunſt zu
begreifen, und ein Meiſter der Weltweisheit zu wer-
den
22
[21]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
den. Dazu gehoͤret nicht mehr, als hoͤchſtens eine
Zeit von drey Jahren, ſo iſt man darinnen vollkom-
men. Aber Sprachen zu lernen; dieſes iſt dasjeni-
ge, womit wir in der zarteſten Jugend anfangen,
vom Morgen 25 bis auf den Abend zubringen, und
doch in dem ſpaͤteſten Alter noch nicht fertig ſind.
Sollte dieſes nicht die wahre Gelehrſauikeit ſeyn?
Sollten dieſes nicht die ſicherſten Merkmaale ſeyn,
wodurch man darthun kann, daß man ein wuͤrdiger
Sohn des Apollo 26 ſey?



[22]Von der Vortrefflichkeit

Zwar moͤchte mancher einwenden: Es ſey un-
moͤglich, daß ein jeder eine ſo weitlaͤuftige Wiſſen-
ſchaft in Sprachen beſitze; man habe nicht allemal
Gelegenheit, ſie zu erlernen; Nicht ein jeder ſey faͤ-
hig 27, ſolche zu faſſen. Sollte man denn deswegen
das reizende Vergnuͤgen entbehren, etwas zu ſchrei-
ben? Keinesweges. Jch ſehe es nicht, als eine un-
umgaͤngliche Nothwendigkeit an, daß man viele
Sprachen verſtehen muͤſſe. Jch verlange nur, daß
die Anmerkungen aus vielen Sprachen beſtehen ſol-
len. Was man nicht ſelbſt kann, das werden doch wohl
unſre guten Freunde koͤnnen. Dieſe 28 ſind ſchul-
dig, uns in der Noth zu helfen, und uns aus der
Schande der Unwiſſenheit zu reißen. Wer wollte
mir zumuthen, daß ich Griechiſch, Rabbiniſch, Ebraͤ-
iſch, Chaldaͤiſch, Syriſch, Arabiſch, Franzoͤſiſch,
Jtalieniſch und Engliſch koͤnnte? Jch verſtehe nichts,
als meine Mutterſprache, und ein wenig Latein.
Gleichwohl wuͤrde man es mir nimmermehr anſe-
hen, wenn ich nicht ſo offenherzig waͤre, und es an-
itzt
26
[23]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
itzt oͤffentlich bekennte. Jch habe 29 ein halb Du-
tzend gute Freunde, welche mich von Zeit zu Zeit
mit gelehrten und fremden Anmerkungen verlegen,
und ich habe ihrer Freygebigkeit dasjenige einzig
und allein zu danken, was ich in gegenwaͤrtigem
Abſchnitte dem geneigten Leſer mitgetheilet 30. Es
iſt dieſes gar kein Fehler von mir. Wenn nie-
mand nichts ſchreiben wollte, als was er verſtuͤnde,
ſo wuͤrde gewiß die Haͤlfte von den gelehrten Wer-
ken wegfallen, welche alle Meſſen an das Licht tre-
ten. Wir haben genug gethan, wenn wir unſre
Namen auf den Titel ſetzen laſſen.


§. 10. Jn unſern Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben
pflegen wir unſern Goͤnnern oder guten Freun-
den etwas annehmliches vorzuſagen.


Es koͤnnte das Anſehen gewinnen, als waͤre
dieſes der Hauptendzweck. Er iſt es aber nicht.
Wir ſchreiben nicht darum, weil wir etwas wuͤn-
ſchen wollen; ſondern wir wuͤnſchen, damit wir
ſchreiben koͤnnen. Die Erfahrung wird dieſes am
beſten beweiſen. Man ſehe unſre Gluͤckwuͤnſchungs-
B 4ſchrei-
[24]Von der Vortrefflichkeit
ſchreiben an. Den groͤßten Theil macht eine ſo ge-
nannte Abhandlung aus. Dieſe ſteht uns zu Eh-
ren da. Ein kleiner Anhang gehoͤrt unſerm Goͤnner
oder guten Freunde. Jn jenem ſagen wir ganz aus-
fuͤhrlich, ohne uns zu nennen, was fuͤr tiefſinnige
und unentbehrliche Mitglieder der gelehrten Welt
wir ſind. Jn dieſem aber bedauern wir in moͤglich-
ſter Kuͤrze, daß die Schrift wider alles Vermuthen
uns unter den Haͤnden gewachſen, und ſtaͤrker ge-
worden ſey, als unſer Vorſatz geweſen. Wir be-
zeugen unſern Unwillen, daß wir abbrechen muͤſſen;
wir beklagen, daß der Raum zu enge, und die Zeit
zu kurz iſt, und was wir noch alles gleichſam auf
der Flucht ſagen koͤnnen, iſt dieſes: Die Verdien-
ſte 31 unſers Goͤnners oder Freundes waͤren ohne
dieß jedermann bekannt, und wir wuͤrden unbillig
handeln, wenn wir uns wagen wollten, etwas zu
loben, welches wir bloß zu erzaͤhlen nicht einmal ver-
moͤgend waͤren; empfehlen uns anbey deſſen ho-
hem Patrocinio oder Freundſchaft, und verharren,
bis
[25]der Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben.
bis zu dem letzten Hauche unſers Lebens, Diener
und Freunde.


Wuͤnſche von dieſer Art ſchicken ſich fuͤr alle;
und dergleichen weitlaͤuftige Ausdruͤcke ſind darum
unentbehrlich, weil wir mit unſern Lobſchriften lange
vorher fertig ſind, ehe wir noch wiſſen, wen wir loben.


§. 11. Nunmehr habe ich den Urſprung der
Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben ganz kuͤrzlich gezeigt.
Jch habe geſagt, was ich unter Gluͤckwuͤnſchungs-
ſchreiben verſtehe. Jch bin dieſen gemachten Ent-
wurf ſtuͤckweiſe durchgegangen. Jch habe Regeln
gegeben, und bin ſolchen ſelber gefolget. An No-
ten, und Anmerkungen wird hoffentlich kein Man-
gel ſeyn, und wenn ich nicht gar zu ſittſam waͤre,
ſo wuͤrde ich ſagen; daß gegenwaͤrtige Schrift ein
Muſter aller Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben, eine un-
leugbare Probe meiner unerſchoͤpflichen Faͤhigkeit
im Denken, ein Jnnbegriff vieler inn- und auslaͤndi-
ſchen Schoͤnheiten, und ein ſolches Werk waͤre, wel-
ches, wie wir großen Geiſter tiefſinnig zu reden pfle-
gen, wo nicht ſich ſelbſt uͤbertreffe, doch ſeine eigne
Parallel ſey.



COROLLARIVM.


Als ich gegenwaͤrtige Abhandlung einem guten
Freunde zu leſen gab: So entdeckte dieſer gleich
an-
[26]Von der Vortrefflichkeit
anfangs einen großen Fehler daran. Jch haͤtte
naͤmlich, ſagte er, vergeſſen, dem Zoilus, beym Ein-
gange meiner Schrift, eines zu verſetzen. Jch haͤtte
ihn warnen ſollen, daß er ſich mit ſeinem alles be-
geifernden Zahne nicht an mich wagen ſollte. Al-
lein, es iſt mit gutem Vorbedachte unterlaſſen wor-
den. Jch will gar nicht boͤſe werden, wenn ſich je-
mand wider dieſes Werkchen auflehnet: Es ſoll
mir vielmehr ein beſondres Vergnuͤgen ſeyn. Auf
ſolche Weiſe bekomme ich wieder Gelegenheit, etwas
neues, und vielleicht noch viel zu ſchreiben. Jch ha-
be mich ſchon auf verſchiedne beißende und ſatyriſche
Gedanken gefaßt gemacht, womit ich meinen Ge-
gner laͤcherlich machen will. Hiermit will ich alſo je-
dermann, wer es auch ſey, zu einem gelehrten Kam-
pfe auffodern. Sollte aber niemand, wie ich faſt
vermuthe, das Herz haben, ſich an mir zu vergrei-
fen: So werde ich mich genoͤthigt ſehen, in dem
naͤchſten Gluͤckwuͤnſchungsbriefe unter verdeckten
Namen, ſelbſt wider mich zu ſchreiben. Jch hoffe
hierdurch im Stande zu ſeyn, in weniger Zeit der ge-
lehrten Welt eine ſtarke Sammlung auserleſener
Streitſchriften unter dem Titel SCRJBLE-
RJANA, zu liefern. Schreiben muß ich, und
zwar viel ſchreiben. Denn ich bin ein
Gelehrter!




[[27]]

Eine Rede,
beym Antritte
in die
Wuͤnſchende Geſellſchaft,
nach den
im vorſtehenden 8 §, und der beygefuͤgten Anmerkung
vorgeſchriebnen Regeln
aus dem Stegreife gehalten
von
Martin Scriblern, dem Juͤngern.

Am 2 Jenner 1740.


[[28]][29]

Antrittsrede
von der
wahren Beſchaffenheit eines vernuͤnftigen
Buͤrgers.


Meine Herren,


Wir machen uns allerſeits ein Vergnuͤgen dar-
aus, wenn man uns fuͤr ehrlich und ver-
nuͤnftig haͤlt.1.


Ein ſolcher Mann wird durch ſeine Ehrlichkeit
anſehnlich, und jeder muß die Verdienſte deſſelben
mit Stillſchweigen bewundern 2.


Es iſt aber auch nichts ſo gut, es iſt zu etwas
ſchaͤdlich. Was iſt ſo nuͤtzlich, als das Feuer? Und
gleichwohl kann man die praͤchtigſten Gebaͤude da-
durch vernichten. Was dient mehr zu unſrer Si-
cherheit, als das Schwerdt? Und oft bringt es uns
ſelbſt den Tod 3.


Wer Ehrlichkeit und Verdienſte ſelbſt von ſich
ruͤh-
[30]Von der wahren Beſchaffenheit
ruͤhmen will, dem glaubt man nicht, der macht ſich
verhaßt, der ſchadet ſich ſelbſt 4.


Fuͤr einen Großſprecher wird man ihn halten 5,
und glauben, daß er ſeine Fehler unter dem ſchein-
baren Namen der Tugend verbergen wolle 6.


Wer dasjenige in der That ſeyn will, was er
von ſich ruͤhmt, der hat unter allen Regeln beſon-
ders viere wohl in Acht zu nehmen 7.


Er muß ſeinen Beruf wohl abwarten, und nicht
eher ruhen, bis er ſeiner Pflicht eine voͤllige Gnuͤge
geleiſtet hat 8;


Er muß das Wahre von dem Falſchen vor-
ſichtig zu unterſcheiden wiſſen 9;


Er muß, was ſeinem Amte wohlanſtaͤndig iſt,
auf das genauſte beobachten 10;


Er muß endlich der weiſen Vorſicht des Him-
mels alles ruhig uͤberlaſſen 11.


Aber,
[31]eines vernuͤnftigen Buͤrgers.

Aber, wie wenige unter uns thun dieſes! Wie
wenige kennen ihre eigne Schwaͤche 12!


Wie wenige warten ihren Beruf gebuͤhrend ab!
Man ſollte zwar meynen, ſie waͤren in beſtaͤndiger
Arbeit und Unruhe; in der That aber thun ſie gar
nichts 13.


Fodert ihr Beruf eine Verſchwiegenheit, ſo
glauben ſie doch, es ſey ihnen erlaubt, alles, was
ſie hoͤren, was in der Nacht der Vergeſſenheit, was
noch ſo tief verſteckt bleiben ſollte, in der ganzen Welt
auszubreiten 14.


Faͤllt ihnen auch zuweilen ihre Pflicht ein, fin-
den ſie eine innerliche Regung ſolche zu beobachten:
So reut ſie doch dieſer Vorſatz gleich wieder. Sie
bleiben bey dem erſten Schritte ſtille ſtehen, weiter
gehen ſie nicht fort. 15.


Viele ſtoͤrt die Rachbegierde in Beobachtung
ihrer Pflichten, und dieſe verrathen, wie klein, wie
niedertraͤchtig ihre unedle Seele ſey 16.


Je
[32]Von der wahren Beſchaffenheit

Je leichter ſie dieſen Fehler vermeiden koͤnnten,
deſto thoͤrichter handeln ſie, daß ſie es nicht thun 17.


Und wie koͤnnten ſie dieſe Leidenſchaft wohl leich-
ter uͤberwinden, als wenn ſie bloß die Liebe zum
Vaterlande ihr Augenmerk ſeyn ließen 18?


Die zweyte Pflicht war:


Man muß das Wahre vom Falſchen vorſich-
tig zu unterſcheiden wiſſen.


Man duͤrfte hier nur der Wahrheit ſelbſt folgen,
welche durch ihren Glanz die dickſte Finſterniß ver-
treibt 19.


Dieſes iſt der erſte Grund, worauf dieſe ganze
Wiſſenſchaft ruht; nur dieſen duͤrfte man ſich be-
kannt machen 20.


Allein, man iſt zu verdroſſen, und dieſes macht
uns die leichteſte Sache beſchwerlich 21.


Oft haben wir zu viel Eigenliebe; wir wollen
unſerm verdrießlichen Hochmuthe nicht entſagen,
und
16
[33]eines vernuͤnftigen Buͤrgers.
und eben dadurch wird unſre ganze Vorſicht zu
Schanden gemacht 22;


Oft glauben wir dem aͤußerlichen Scheine zu
viel 23.


Wenn man drittens in ſeinem Berufe das
Wohlanſtaͤndige beobachten will; ſo darf man kein
abgeſchmackter Nachahmer alles desjenigen ſeyn,
was uns vorkoͤmmt 24.


Es iſt unanſtaͤndig, wenn man ſich ſelbſt groß
machen will. Nur diejenigen betruͤgt man dadurch,
die uns nicht kennen; denen, die uns beſſer kennen,
wird man laͤcherlich 25.


Es iſt unanſtaͤndig, wenn ein ſolcher Mann
andrer ſpotten, und uͤber ihre Beſchimpfung frohlo-
cken will 26.


Es iſt unanſtaͤndig, wenn man ſich der oͤffentli-
chen Gebraͤuche entziehen will, welche nichts aber-
glaͤubiſches, nichts eitles bey ſich haben 27.


Erſter Theil. CKurz
[34]Von der wahren Beſchaffenheit

Kurz: Bey allen ſeinen Handlungen, darf er
auch das ſchaͤrfſte Urtheil der ganzen Welt nicht
ſcheuen 28.


Die vierte und letzte Pflicht iſt, daß er ſich der
liebreichen Vorſorge des Himmels uͤberlaſſe.


Die Welt iſt ein verfuͤhreriſches Labyrinth;
man muß alles der Leitung des Himmels anheim
ſtellen 29.


Je weniger man von ihm verlangt, deſto mehr
erhaͤlt man von ihm 30.


Es heißt hier gar nicht:


‒‒ ‒‒ cupidine caedis
Vtitur ‒‒ et nunc quoque ſanguine gaudet.
31.
()

Man thue ſeine Berufsarbeit, dafuͤr trage man
Sorge; fuͤr das Uebrige ſorgt der Himmel! Was
will man weiter 32?


Eine
[35]eines vernuͤnftigen Buͤrgers.

Eine reiche Erndte wird ſo dann unſre Beloh-
nung ſeyn 33.


Wir koͤnnen dieſes thun, wir haben die Faͤhig-
keit dazu vom Himmel erlangt 34, und dieſer iſt auch
der erſte Urheber davon 35.


Non omnes arbuſta iuuant humilesque myri-
cae
36!
()

Man darf nicht einen Augenblick aufſchieben,
ſeine Lebensart vernuͤnftig einzurichten 37, und eine
Blutegel laͤßt nicht eher ab, zu ſaugen, bis ſie ganz
voll Blut iſt 38.


Meine Rede koͤnnte wohl hier manchem unor-
dentlich und verwirrt ſcheinen 39), wenn man nicht
bedaͤchte, daß der Menſch um deswillen aufrecht er-
ſchaffen ſey, damit er den Himmel betrachten ſolle 40.


C 2Gluͤck-
[36]Von der wahren Beſchaffenheit

Gluͤckſelig iſt derjenige, welcher von freyen
Stuͤcken ohne Zwang thut, was recht iſt, und kei-
nen Richter ſcheuen darf 41.


Dieſes geſchah in den erſten Zeiten; itzt ſind ſie
viel ſchlimmer, und die Bosheit nimmt uͤberhand 42.


Die Waffen ſind ſchaͤdlich; Wolluſt aber ſcha-
det weit mehr 43.


Sehr wohlbedaͤchtig hat Horaz geſagt:


Torquet ab obſcenis iam nunc ſermonibus
aurem
Mox etiam pectus praeceptis format amicis,
Aſperitatis et inuidiae corrector et irae,
Recte facta refert
44.
()

Und handelt derjenige nicht am vernuͤnftigſten,
welcher nichts thoͤrichtes unternimmt 45?


Doch wo gerathe ich hin! Jch komme zu weit
ab. Jch verliere mich von meinen Zwecke.


Horaz,
[37]eines vernuͤnftigen Buͤrgers.

Horaz, den ich nur itzt gelobt habe, ſtraft mich
ſelbſt, wenn er ſagt:


Seruetur ad imum,
Qualis ab incepto proceſſerit, et ſibi conſtet
46!
()

Der Haß gegen die Wolluſt hat dieſe kleine Un-
ordnung verurſacht. Und gewiß iſt dieſer Eifer
noͤthig, denn wer die Schamhaftigkeit einmal ver-
liert, findet ſie nicht wieder 47.


Allein es iſt mein Vorſatz nicht, die Laſter zu
richten, und alle Narren durch die Muſterung gehen
zu laſſen 48.


Wenn wuͤrde ich fertig mit tadeln? Denn es
iſt alles voll vou laͤcherlichen Fehlern 49.


Jch handle von den Pflichten eines ehrlichen
und vernuͤnftigen Mannes. Jch habe oben vier
Regeln gegeben: ich will noch die fuͤnfte hinzu-
thun:


Man muß friedfertig ſeyn, wenn man Gelegen-
heit zu ſtreiten hat; man muß dem Naͤchſten helfen,
wenn man ihm gleich ſchaden koͤnnte; man muß
C 3ſich
[38]Von der wahren Beſchaffenheit ꝛc.
ſich der Tugend befleißigen wenn es auch erlaubt
waͤre, laſterhaft zu ſeyn 50.


Wer dieſe Regeln beobachtet, von dem kann
man wohl nicht ſagen, daß er ſich mit geringen Klei-
nigkeiten beſchaͤfftige 51.


Es iſt dieſes ein weſentliches Stuͤck des Got-
tesdienſtes, welchen die Natur ſelbſt den entlegen-
ſten Voͤlkern bekannt gemacht hat, und von welchem
Lucrez ſagt:


Nunc, quae cauſa Deum per magnas numina
gentes
Peruolgauerit, et ararum compleuerit vrbes
Non ita difficile eſt, rationem reddere verbis
52.
()

Jch weis meine Herren, Sie haben einerley
Meynung mit mir. Jch wuͤnſche, daß dieſe fluͤch-
tige Probe den entſcheidenden Beyfall einer ſo an-
ſehnlichen Geſellſchaft erlangen moͤge. Dieſes, und
die Ehre ihr Mitglied zu werden, wird mich auf-
muntern, Sie bis in meinen Tod mit Wuͤnſchen
zu uͤberhaͤufen.


Klage

[[39]]

Klage
wider die
weitlaͤuftige Schreibart.


C 4
[[40]][41]
Hochedler Herr,
Hochgeehrteſter Herr,

Welchergeſtalt Eure Hochedl. in Jhrer Mo-
natsſchrift,
daß alle muntre Koͤpfe dieſes großen deutſchen
Reichs die Freyheit haben ſollten, Jhre Samm-
lung durch ihren Beytrag zu befoͤrdern,

hochgeneigt, und guͤnſtig erlaubt, nicht minder,
daß Denenſelben ſie die wohlgerathenen Proben
von der Staͤrke ihres Geiſtes, und der Gruͤnd-
lichkeit ihres Verſtandes zur Bekanntmachung
anvertrauen moͤchten,

zugleich erſucht: Solches muß Ew. Hochedl. noch
wohl erinnerlich ſeyn, erhellet auch aus der Vorrede
de dato Leipzig, den 1ten Heumonats 1741. pag. 15.
allenthalben in mehrerm.


Nachdem nun von meinem hochgeehrteſten Herrn
hierdurch ich befehliget zu ſeyn glaube, dasjenige, ſo
zur Ausbeſſerung der deutſchen Sprache dienet,
treufleißigſt und pflichtſchuldigſter Maßen beyzutra-
gen, mithin den Vorwurf mit Grunde nicht befuͤrch-
ten darf,


quod culpa ſit, immiſcere ſe rei ad ſe non pertinenti,
l. 36. D. de R. I.
()

wenigſtens wider den klaren Jnnhalt der Geſetze lau-
fen wuͤrde, wenn jemand, daß ich mir dieſe Freyheit
nehme, uͤbel deuten wollte,


C 5quia,
[42]Klage wider die
quia, quotiens dubia interpretatio libertatis eſt, ſe-
cundum libertatem reſpondendum erit, l. 20. ibid.
()

und aber in denen bisherigen Monaten obmentio-
nirter Schrift ich misfaͤllig wahrnehmen muͤſſen,
daß Dieſelben uns zwar von verſchiedenen Arten
der Gelehrſamkeit Regeln und Proben mitgetheilet,
im Gegentheil, wie die Schreibart maͤnnlich und
buͤndig einzurichten ſey, nicht alleine gefliſſentlicher
Weiſe keine Anleitung gegeben,


eius enim eſt non nolle, qui poteſt velle. Vlpianus.
l. 1. ad Sabin.
()

ſondern auch zum mehrerſten ſolche Stuͤcke uns vor-
gelegt, in welchen oftermals die gruͤndlichſten Sa-
chen durch eine widrige Schreibart ekelhaft, die Le-
ſer bey denen buͤndigſten Beweiſen durch eine ver-
druͤßliche Weitlaͤuftigkeit muͤde gemacht, und dasje-
nige in funfzig Perioden eingehuͤllet worden, was
doch auf die angenehmſte und deutlichſte Art in ei-
nem einzigen Satze vorgetragen werden koͤnnen,
ſollen, oder moͤgen;


iniuſtus enim videtur, qui per ambages exponit,
quod vna formula comprendere poteſt. Pyrrhus
Mauritius. de Satisd. \& fidej.
Et illa actio eſt optima, quae breuiſſima. vid. Lan-
francus de Oriano, de dilat. cf. Mantica de conuent.
it. Loriottus de tranſact. \& Caccialupa de off. advoc.
()

  • Als habe Ew. Hochedl. ſolches ich nicht bergen
    moͤgen, mit dem Ermahnen, Sie wollen, daß
    ſolchem allem abhelfliche Maße gegeben, und die
    bisherige weitlaͤuftige Schreibart geaͤndert, auch
    alles in einer beliebigen Kuͤrze abgefaſſet wer-
    den
    [43]weitlaͤuftige Schreibart.
    den moͤge, gebuͤhrende Sorge tragen, oder, ent-
    ſtehenden Falls, daß ich dieſerhalb nach gegen-
    waͤrtiger Probe eigne Regeln entwerfe, und
    Denenſelben zur Bekanntmachung ſchierſtkuͤnf-
    tig uͤberſende, Sich unfehlbar gewaͤrtigen.
    Und Denenſelben bin ich uͤbrigens angenehme
    Freundſchaft zu erweiſen, vor die Perſon ſtets
    willig. Der ich verharre

Ew. Hochedlen
Meiſſen,

den 9. Novembr. 1741.
ergebenſter
CAIVS IAVOLENVS,
I. V. D. Aduocatus \& Not. Publ. Cæſ.
cor. Reg. El. immatr.



Unterdienſtſchuldigſtes Jnſerat.


Auch,
Hochgeehrteſter Herr,

duͤrfte zwar manchen aus Eigenſinn beyfallen,
daß dieſe meine Schreibart undeutlich, und dennoch
weitlaͤuftig ſey, ob ich gleich in einem Satze dasje-
nige ſagte, wozu ein andrer eine Ausfuͤhrung von
vielen Perioden gebraucht haben wuͤrde, nicht we-
niger, daß die Einſtreuung altvaͤteriſcher Worte,
und die barbariſchen Namen fremder Rechtsgelehr-
ten ſo abgeſchmackt, als ihre beygebrachten Zeug-
niſſe waͤren;


Dem-
[44]Klage wider die weitlaͤuftige ꝛc.

Demnach aber und dieweil einiger Undeutlichkeit
ich mit Grunde nicht beſchuldiget werden mag, da
ich dasjenige, ſo ich geſchrieben, ganz wohl verſtehe,
einfolglich vor unzaͤhlig neuern Schriftſtellern einen
großen Vorzug verdiene, anbey wider die arithme-
tiſche Verhaͤltniß laͤuft, daß dasjenige, ſo in einem
einzigen Satze geſaget wird, eben ſo weitlaͤuftig ſeyn
ſollte, als das, wozu ich die muͤhſame Umſchreibung
vieler Perioden noͤthig habe, hiernaͤchſt die Beybe-
haltung geſchickter Kunſtwoͤrter vielmehr eine Lo-
beserhebung, als Beſtrafung, verdienet, uͤber dieſes
die Anziehung alter Rechtsgelehrten und ihrer Zeug-
niſſe allerdings nach dem neueſten Geſchmacke zu
ſeyn ſcheinet, da die eingebildetſten meiner Lands-
leute zum oͤftern den Homer, Virgil, Boileau,
Milton, und andere Auslaͤnder dasjenige griechiſch,
lateiniſch, franzoͤſiſch, und engliſch ſagen laſſen, wor-
auf vielmals ein auch nur halbgelehrter Deutſcher
von ſelbſt gefallen ſeyn wuͤrde;


Als zweifle nicht, Ew. Hochedlen werden ſich
meinen Vorſchlag gefallen, und mir dasjenige Recht
wiederfahren laſſen, welches Sie einem Patrioten,
und Befoͤrderer der deutſchen Sprache ſchuldig ſind.
Jch bin


Ew. Hochedlen
Datum vt in litteris.
ergebenſter
C. IAVOLENVS.


[[45]]

Memoires d’ Amourette,
oder
Lobſchrift auf Amouretten,
ein Schooßhuͤndchen.


[[46]][47]
Geneigter Leſer!

Die vornehmſte Sorge eines Schriftſtellers
geht dahin, wie er ſich des Beyfalls ſeiner
Leſer verſichern moͤge. Die meiſten ſchrei-
ben heutiges Tages aus Hunger; viele ſuchen be-
ruͤhmt zu werden; einige wenige haben die Abſicht
zu erbauen; alle aber bemuͤhen ſich, ihre Schriften
beliebt zu machen. Meine gegenwaͤrtige Abſicht
iſt keine von dieſen dreyen. Jch ſchreibe einzig und
allein darum, damit ich meine Gedanken will ge-
druckt leſen. Dieſes iſt meine vornehmſte Leiden-
ſchaft. Jch habe dir es ſchon einmal zugeſtanden;
ich will es auch itzt nicht leugnen. Jſt es ja eine
Suͤnde; ſo iſt es doch nur eine Erbſuͤnde. Mein
Vater iſt ein Autor geweſen; mein Großvater hat
Buͤcher geſchrieben; von meines Urgroßvaters Faͤ-
higkeit habe ich nur geſtern noch eine nicht uͤbelge-
rathne Probe aus dem Wuͤrzladen bekommen; und
bloß eine unvermuthete Feuerbrunſt iſt Schuld dar-
an, daß wir den Fleiß meines Aeltervaters nicht he-
wundern koͤnnen. Wird man es mir alſo wohl
uͤbel nehmen, wenn ich dem angebohrnen Triebe, zu
ſchreiben, nicht widerſtehen kann? Daß unſre
Frauenzimmer noch itzt gern Liebesbriefe abfaſſen,
ſolches koͤmmt uns gar nicht fremd vor. Denn ſchon
Eva hat ſehr zaͤrtlich an ihren Adam geſchrieben, wie
man den Beweis davon in Zieglers Heldenliebe fin-
det. Hier ſiehſt du alſo, geneigter Leſer, meine Be-
fugniß zum Schreiben. Und ob ich gleich weder aus
Geld-
[48]Lobſchrift auf Amouretten,
Geldgeiz, noch aus Ehrgeiz, noch dem Vaterlande
zum Beſten, ſondern lediglich zu meiner eignen Be-
ruhigung, ſchreibe: So erachte ich es doch der Hoͤf-
lichkeit gemaͤß zu ſeyn, daß ich mir dein Wohlwol-
len, und eine guͤnſtige Aufmerkſamkeit ausbitte.


Jch kann dieſes, als eine ſchuldige Gegengefaͤllig-
keit, von dir verlangen. Denn bloß dir zu Liebe habe
ich mich uͤberwunden, gegenwaͤrtiger Arbeit den Ti-
tel der Memoires zu geben; einen Titel, deſſen allge-
meinen Gebrauch du nebſt vielen dergleichen Wohl-
thaten dem Gehirne unſrer Nachbarn zu danken haſt.
Jch kenne die abgoͤttiſche Hochachtung, welche du
fuͤr dergleichen Art von Schriften traͤgſt, und weis
deine Guͤtigkeit, welche die abgeſchmackteſten Sa-
chen bewundert, wenn ſie nur dieſen anſehnlichen
Namen fuͤhren. Was haͤtte mich wohl ſonſt hierzu
bewegen ſollen? Jch bin vielleicht der erſte, der von
einem Thiere Memoires ſchreibt. Meine Amourette
iſt keine Marqviſinn; und ich kann nicht behaupten,
daß ſie aus einer beſonders anſehnlichen Familie er-
zeugt, oder von ihren Aeltern in der zarten Jugend
verlohren, und erſt nach ſpaͤten Jahren durch viele
Abentheuer wiedergefunden worden ſey. Eben ſo
wenig getraue ich mir, dich zu bereden, daß ſie ganz
gemeiner Hunde Kind waͤre, und nur durch ihre
blitzende Schoͤnheit, und eiſenfeſte Tugend einen ir-
renden Ritter ihres Geſchlechts gefeſſelt habe. Du
wirſt weder Liebesſtreiche noch Entfuͤhrungen an-
treffen; und da es nur ein Werk von etlichen Blaͤt-
tern ſeyn ſoll, ſo ſiehſt du wohl, wie wenig Aehnlich-
keit es mit deinen Memoires habe, welche die Be-
ſtaͤndig-
[49]ein Schooßhuͤndchen.
ſtaͤndigkeit ihrer Helden nicht eher, als in dem ach-
ten, oder zwoͤlften Bande, kroͤnen. Bloß dir zu
Liebe, gebe ich meiner Schrift dieſen Namen, und
du wuͤrdeſt undankbar ſeyn, wenn du ſie nicht mit
geneigten Augen anſehen, und mit gebuͤhrender Ehr-
furcht durchleſen wollteſt.


Jch halte es fuͤr etwas uͤberfluͤßiges, mein Ver-
fahren zu rechtfertigen, daß ich auf einen Hund eine
Lobſchrift mache. Wer Amouretten von Perſon
kennt, der weis, daß es ihre ſonderbaren Eigen-
ſchaften wohl verdienen, auf die Nachkommen ge-
bracht zu werden. Wer ſie aber nicht kennt, dem
will ich ſie durch die lebhafteſten Zuͤge bekannt ma-
chen. Du kannſt dich darauf verlaſſen, daß mir
eine niedertraͤchtige Schmeicheley die Feder nicht
fuͤhren wird. Jch darf Amourettens Tugenden
nur erzaͤhlen, ſo iſt auch die Lobſchrift fertig. Soll-
te ich etwan eine Leichenrede halten, oder einen Maͤ-
cenaten wegen ſeiner Freygebigkeit und Verdienſte
herausſtreichen: So wuͤrde ich alle Kuͤnſte der Be-
redſamkeit anwenden muͤſſen, um meinen Zuhoͤrern
eine verdaͤchtige Sache wahrſcheinlich zu machen.
Aber, weil ich Amouretten loben will, ſo darf ich
nur die Wahrheit reden laſſen. Dieſe brauchet
keine Schminke.


Von der Geburt unſrer Amourette, kann ich
nicht viel beſonders ſagen. Sie iſt im Jahre 1735
in Coͤlln, einem Dorfe an der Elbe, auf die Welt
gekommen. Jch nenne dieſes Dorf um deswillen
ausdruͤcklich, damit ich der Nachwelt einen Zweifel,
Erſter Theil. Dden
[50]Lobſchrift auf Amouretten,
den kuͤnftigen Geſchichtſchreibern eine muͤhſame Un-
terſuchung, und den andern Doͤrfern ſelbiger Ge-
gend einen hitzigen Wettſtreit erſpare, welches un-
ter ihnen ſich dieſer Ehre anzumaaßen habe. Bey
der Geburt ſelbſt hat ſich eben nichts merkwuͤrdiges
zugetragen. Ein Winzer, ihr Pflegevater, ſagte
mir, daß ſie gleich anfangs ſehr gewinſelt, und er
daher befuͤrchtet habe, es wuͤrde ihr in der Welt
ungluͤcklich gehen. Allein, die Folge hat gewieſen,
daß dieſe aberglaͤubiſche Meynung ungegruͤndet ge-
weſen iſt. Jhre Mutter iſt aus einem zwar guten,
doch gemeinen, Buͤrgerhauſe; und ihr Vater ſoll
von einem adlichen Hofe ſeyn. Es iſt eine Ver-
muthung, welche viele Umſtaͤnde glaubwuͤrdig ma-
chen. Die ganze Sache bleibt freylich eine Unge-
wißheit. Allein, dieſes iſt etwas gewoͤhnliches, und
kann Amouretten bey vernuͤnftigen Leuten nicht
zum Vorwurfe gereichen. Sie hat noch zween
Bruͤder gehabt, welche gleich nach der Geburt er-
ſaͤuft worden ſind, und meine Amourette wuͤrde ein
gleiches Schickſal erfahren haben, wenn ſie nicht
ihre ehrliche und gute Geſichtsbildung davon be-
freyet haͤtte. Sie blieb alſo die einzige in ihrer
Mutterhuͤtte; und es waͤre daher kein Wunder ge-
weſen, wenn man ſie bey ihrer Auferziehung verzaͤr-
telt, und in aller uͤppigen Wolluſt und eigenwilliger
Freyheit gelaſſen haͤtte. Allein dieſes geſchah nicht.
Sie ward von ihrer Mutter geliebt, welche ſie auch
nicht einmal einer Amme anvertrauen wollte, ſon-
dern es fuͤr ihre Schuldigkeit hielt, ſie ſelbſt zu ſaͤu-
gen. Bey zunehmendem Alter ward ſie zu allen
moͤgli-
[51]ein Schooßhuͤndchen.
moͤglichen Hundetugenden angehalten. Jch ver-
ſtehe darunter die Wachſamkeit, die Treue, ein
freundliches Weſen, und die Reinlichkeit. Jn
kurzer Zeit brachte ſie es weit, und ihre beſondre
Faͤhigkeit, welche ſie dabey zeigte, machte ihren An-
verwandten manche Sorge, ſie duͤrfte ihr Leben
wohl nicht hoch bringen. Dieſe Sorge iſt verge-
bens geweſen, und es dient ſolches alten Leuten
zum kraͤftigen Troſte, welche daraus abnehmen koͤn-
nen, man muͤſſe eben nicht dumm ſeyn, wenn man
zu Jahren gekommen iſt.


Kaum hatte ſie es ſo weit gebracht, daß ſie ſich
ſelbſt forthelfen konnte: So trug ihre Mutter Be-
denken, ſie laͤnger unter ihrer Aufſicht zu behalten.
Sie mußte ihre Wohnung verlaſſen, und ward in
ein Haus gebracht, wo man ſie mit vieler Guͤtigkeit
aufnahm. Ob ihre Mutter bey dem Abſchiede
dieſer einzig geliebten Tochter ſehr klaͤglich gethan,
ſolches iſt mir unbekannt. Dieſes hat man wohl
aus ihrer nachherigen Auffuͤhrung geſehen, daß ſie
derſelben viele gute Lehren mit auf den Weg gege-
ben haben muͤſſe. Jhr freundliches und dienſtfer-
tiges Bezeigen machte ſie bey jedermann beliebt,
und erwarb ihr den praͤchtigen Namen, den ſie noch
itzt fuͤhrt.


Einen Umſtand darf ich nicht vergeſſen, welcher
in ihren Leben beynahe der merkwuͤrdigſte geweſen
iſt. Um meine Amourette recht vollkommen zu
machen, ſo war man bedacht, ſie auf Reiſen zu ſchi-
cken. So gefaͤhrlich dieſes zu ſeyn ſchien, und ſo
D 2viel
[52]Lobſchrift auf Amouretten,
viel Furcht unzaͤhlige Beyſpiele deswegen haͤtten
erwecken koͤnnen; ſo wenig ließ man ſich doch da-
von abwendig machen. Man wußte ſich auf ihre
Tugenden zu verlaſſen, und lediglich dieſen hat man
es zuzuſchreiben, daß alles nach Wunſch abgelau-
fen iſt. Sie ward nach Großenhayn geſchickt, ei-
nem Orte, wo ſchon viel junge Hunde verfuͤhret
worden ſind. Amourette mußte ohne Hofmeiſter
dahin gehen. Man hatte ſeine Urſachen. Sie
hielt ſich eine geraume Zeit daſelbſt auf, bis ein un-
vermutheter Zufall ſie noͤthigte, wieder in ihre Hei-
math zu kehren. Es traf ungefaͤhr zu, daß ich
gleich bey ihrer Ruͤckkunft gegenwaͤrtig war; und
ich kann nicht laͤugnen, ich ward damals ſehr er-
baut: Denn Amourette brachte ihr redliches und
unſchuldiges Gemuͤthe wieder zuruͤck. Sie hatte
ihre Wohlthaͤter nicht verkennen lernen, und erſetzte
mit verdoppelten Liebkoſungen dasjenige, was ſie
bisher entbehren muͤſſen. Sie hatte ihre Stimme
nicht geaͤndert; ſie bellte noch eben ſo, wie vorher;
und man merkte nicht die geringſte laͤcherliche Nach-
ahmung der Fremden an ihr. Jch kann nicht be-
greifen, wie es zugegangen iſt, daß ſie auf ihrer Reiſe
keine Schulden gemacht hat? Anfaͤnglich wollte
man es gar nicht glauben; es befand ſich aber in
der That ſo. Jch vermuthe, daß ſie keine Liebha-
berinn vom Spielen, und von zaͤrtlicher Geſellſchaft,
ſondern lediglich auf die Beobachtung ihrer Schul-
digkeit bedacht geweſen iſt. Von Moden, und an-
dern galanten Neuigkeiten brachte ſie gleichfalls
nicht das geringſte mit. Jch fuͤhre dieſes um des-
willen
[53]ein Schooßhuͤndchen.
willen zu ihrem Lobe an, weil ich gehoͤrt habe, daß
ſich viele Hunde bey ihr nach dergleichen erkundigt
haben, und ihr ſolches fuͤr eine Einfalt auslegen
wollen.


Geſtehe es nur, geneigter Leſer, meine Erzaͤh-
lungen ſcheinen dir fabelhaft zu ſeyn. Von Rei-
ſen zu kommen; ohne Schulden, ohne Moden, mit
unveraͤndertem Gemuͤthe? Dieſes ſind Sachen,
welche wider alle Wahrſcheinlichkeit laufen. Jch
will dir nicht widerſprechen. Jch behaupte aber
doch, daß ich die Wahrheit geredet habe. Ver-
lange keinen Beweis von mir. Du mußt mir
glauben. Jch wuͤrde es ja nicht ſagen, wenn es
nicht wahr waͤre! Jſt dieſes nicht Beweis genug?


Jch ſehe ſchon; du wirſt begierig, Amouretten
genauer kennen zu lernen. Du willſt ihre Geſtalt
wiſſen. Wie ſoll ich dir aber dieſe beſchreiben, ohne
daß es ſchmeichelhaft klingt? Wenn es unter den
Hunden auch Poeten gaͤbe: So zweifle ich nicht,
der ſinnreichſte unter ihnen wuͤrde ſie alſo abmalen:
„Jch ſoll dich beſingen, bezaubernde Amourette!
„Aber floͤße du mir zuvor das Feuer deiner Augen
„in meine Adern, damit ich mich recht lebhaft aus-
„druͤcken koͤnne! Die Natur hat an dir alle Schoͤn-
„heiten verſchwendet, und ſich dergeſtalt erſchoͤpft,
„daß ſie in langer Zeit nicht vermoͤgend ſeyn wird,
„wieder einen ſolchen Hund zu zeugen. Deine
„Haare, deine anbethenswuͤrdige Haare, uͤbertref-
„fen die zarteſte Seide des ſtolzen Perſers. Auf
„deiner Stirne ſcherzen die Gratien, und deine zarten
D 3Ohren
[54]Lobſchrift auf Amouretten
„Ohren wuͤrden vollkommen ſeyn, wenn ſie nicht
„immer bey unſerm ſeufzenden Bellen taub waͤren.
„Deine Augen ſind Sonnen, welche durch ihre
„freundlichen Stralen beleben, durch ihre erzuͤrn-
„ten Blicke aber den zitternden Liebhaber Blitze,
„und donnerſchwangre Wolken gebaͤren. Deine
„korallne Schnauze uͤberſteigt den Purpur der pran-
„genden Morgenroͤthe. Deine weiße Bruſt uͤber-
„trifft an Schoͤnheit den ewigen Schnee, welcher
„auf den Gipfeln der unerſteiglichen Alpen liegt.
„Was Wunder, wenn dein Herz von Eiſe iſt?
„Deine wohlgebauten Pfoten tragen einen nied-
„lichen Koͤrper, welchen die Natur durch braune
„und weiße Flecke reizend gemacht hat. Gluͤckſe-
„lig iſt der, welcher die aͤußerſte Spitze deiner
„Krallen anruͤhren darf. Dein zierlich gelockter
„Schwanz iſt der Sitz einer zaͤrtlichen und aufge-
„weckten Seele, welche ihre Regungen durch freu-
„diges Wedeln an den Tag legt. Verzeihe mir,
„Amourette, wenn ich mein Rohr niederlege! Mei-
„ne Muſe wird eiferſuͤchtig. Sie verlaͤßt mich!“


Dieſes wuͤrde ungefaͤhr der Ausdruck eines Hun-
depoeten ſeyn, und ich glaube, viele der unſrigen
ſelbſt koͤnnten ihm das Feuer eines Dichters nicht
gaͤnzlich abſprechen. Allein dieſes iſt zu weitlaͤuftig.
Jch will dir eine kuͤrzere Beſchreibung machen, wenn
ich ſage, daß Amourette einen artigen Kopf, ein
weißes Fell mit braunen ordentlich gezeichneten
Flecken, und alle Schoͤnheiten eines Schooßhundes
hat. Was Wunder, wenn in einem ſo ſchoͤnen Koͤr-
per auch eine ſchoͤne Hundeſeele wohnt!


Amou
[55]ein Schooßhuͤndchen.

Amourette weis, daß ſie ſchoͤn iſt. Dieſes hat
ſie mit unſerm Frauenzimmer gemein. Allein, ihre
Schoͤnheit macht ſie weder hochmuͤthig, noch laͤcher-
lich; und hierinnen iſt ſie von vielen unterſchieden.
Sie bringt nicht ganze Stunden vor dem Spiegel
zu; ſie ſchmuͤckt ſich nicht, und nahm es fuͤr den
groͤßten Schimpf an, als ich ihr nur im Scherze ein
Schminkpflaͤſterchen unter das rechte Auge kleben
wollte. Sie hat ſchon ſechs neue Frauerzimmer-
trachten erlebt, iſt aber nicht zu bewegen geweſen,
die ihrige zu aͤndern, von welcher ſie glaubt, es ſey
die natuͤrlichſte.


Sie liebt Geſellſchaft, ſie ſtattet Beſuch ab, und
nimmt welchen an. Niemals aber hoͤrt man ſie
von ihren Naͤchſten uͤbel ſprechen, oder mit einer
boshaften Neugierigkeit nach andrer Hunde Um-
ſtaͤnde fragen. Sie redet auch nicht vom ſchoͤnen
Wetter, und ob ſie gleich nicht ſpielt, ſo wird ihr
doch die Zeit nicht lang.


Mit allen macht ſie ſich zwar nicht gemein; ſie
verachtet aber auch niemand. Der Rangſtreit iſt
ihre kleinſte Sorge, und ich habe es mit meinen Au-
gen geſehen, daß ſie einem Budel die Oberſtelle ließ,
von dem ſtadtkuͤndig war, daß ſein Vater nur ein
Fleiſcherhund geweſen.


Aus dem Schmucke, oder andern Koſtbarkeiten,
macht ſie ſich wenig. Einige Halsbaͤnder und
zwey Betten ſind ihre ganze Gerade. Ob der Korb,
in dem ſie liegt, auch dazu gehoͤre, das moͤgen die
Rechtsgelehrten unter ſich ausmachen.


D 4Die
[56]Lobſchrift auf Amouretten,

Die Maͤßigkeit, welche ſie beobachtet, iſt merk-
wuͤrdig. Sie frißt nicht mehr, als ihr gut iſt, und
ſaͤuft nicht eher, als wenn ſie durſtet. Nur darin-
nen iſt ſie den Menſchen aͤhnlich, daß ſie eine Liebha-
berinn vom Caffee iſt.


Dieſes ſind die vornehmſten Tugenden, welche
meine Amourette zieren. Es iſt kein Zweifel, daß
ſie deren nicht noch mehr beſitzen ſollte. Allein, ſie
macht ſo wenig Ruͤhmens von ſich ſelbſt, daß ich
befuͤrchte, ich wuͤrde ihre Sittſamkeit beleidigen,
wenn ich ſie weiter lobte.


Jch will unpartheyiſch ſeyn. Jch will auch
dasjenige von ihr anfuͤhren, was Uebelgeſinnte fuͤr
Fehler auslegen wollen. Zugleich aber werde ich
zeigen, daß es Verleumdungen ſind.


Man wirft ihr vor, ſie ſchlafe zu lange; ſie liege
beſtaͤndig im Bette. Jſt denn dieſes ein Fehler?
Jſt es nicht vielmehr ein untruͤgliches Zeugniß, daß
ſie, wenigſtens von vaͤterlicher Seite, aus einem vor-
nehmen Hauſe ſey?


Sie ſoll verliebt ſeyn. Man will unſchuldige
Kleinigkeiten beobachtet haben, aus welchen die Laͤ-
ſterzungen ganze Romane machen. Es geſchieht
ihr zu viel. Zwar zu gewiſſen Zeiten empfindet ſie
einige verliebte Schwachheiten: Aber, ein kleiner
Zwang, und noch mehr ein freundliches Zureden,
iſt vermoͤgend, ſie von allen Unordnungen abzuhal-
ten. Alsdann iſt man erſt tugendhaft, wenn man
einen Trieb, zu fehlen, empfindet, wenn man Gele-
genheit hat, ſolchen zu befriedigen, beides aber groß-
muͤthig uͤberwindet.


Sie
[57]ein Schooßhuͤndchen.

Sie ſoll neidiſch ſeyn. Man will es daraus
ſchließen, daß ſie in einen heftigen Eifer geraͤth,
wenn ſich ein fremder Hund ins Haus ſchleicht.
Jſt denn dieſes neidiſch? Jſt es nicht eine Probe
ihrer Wachſamkeit? Jeder Hund muß den andern
am beſten kennen. Vermuthlich ſieht ſie, daß dieſe
fremden Hunde nur die tuͤckiſche Abſicht haben, aus-
zuforſchen, was in einem Hauſe vorgehe, um bey
der naͤchſten Zuſammenkunft haͤmiſche Erzaͤhlungen
davon zu machen.


Noch eins faͤllt mir ein. Es wollte vor eini-
gen Tagen ein guter Freund behaupten, Amourette
ſey dumm. Jch lachte daruͤber; er aber blieb da-
bey. Er wollte wiſſen, daß ſie vielmals ganz tief-
ſinnig, und ohne Gedanken laͤge, und ſich zum oͤf-
tern ſo weit vergaͤße, daß ſie nicht einmal auf die
aͤußerliche Reinlichkeit ihres Felles genugſam be-
dacht waͤre. Du irreſt dich, mein Freund, ſagte
ich zu ihm. Dieſes iſt kein Zeichen einer Dumm-
heit. Amourette iſt tiefſinnig, und denkt vielleicht
auf eine Wahrheit. Wer weis, ob ſie nicht die
Quadratur des Zirkels unterſucht, oder gar mit ei-
ner philoſophiſchen Spitzfindigkeit beſchaͤfftigt iſt?
Jch werde in dieſer Muthmaaßung dadurch beſtaͤr-
ket, weil ſie ihre Gedanken nicht deutlich von ſich
geben kann, und ich unlaͤngſt ſelber geſehen habe,
daß ſie mit dem Kopfe wider die Wand anlief.
Sind dieſes nicht Spuren einer abſtracten Gelehr-
ſamkeit?


D 5Es
[58]Lobſchrift auf Amouretten ein ꝛc.

Es ſey genug! Jch habe Amourettens Ankunft,
ihre Schickſale, ihre Leibes- und Gemuͤthsgaben,
kurz, ich habe Amourettens Leben und Thaten be-
ſchrieben. Sie lebt noch. Jch wuͤnſche ihren
Verdienſten eine Dauer von vielen Jahren. Sie
iſt es wuͤrdig. Allein, ſie iſt auch ſterblich, und
ſtirbt vielleicht eher, als mancher Menſch, der ſich ſo
vieler Tugenden nicht ruͤhmen kann. O, ihr Dich-
ter, die ihr ſo vielmals bey dem Grabe eines Laſter-
haften euer eigennuͤtziges Lob verſchwendet! Sollte
es geſchehen; ſollte meine Amourette ſterben: Ver-
ehrt die Wahrheit! Streut nur eine Hand voll Cy-
preſſenreiſer auf ihre Aſche! Beſingt ihre ſeltnen
Eigenſchaften! Amourette verdient es! Wenig-
ſtens werdet ihr von derſelben mit gutem Grunde
mehr ſagen koͤnnen, als daß ſie geboren und geſtor-
ben ſey.


Martin Scribler, der juͤngere.



Lob-
[[59]]

Lobſchrift
auf
die boͤſen Maͤnner.


[[60]][61]

Mein herannahendes Alter, und die eigne Er-
fahrung werden mich hinlaͤnglich rechtferti-
gen, da ich mir vorgenommen habe, auf die
boͤſen Maͤnner eine Lobſchrift zu machen. Der Spie-
gel erinnert mich, daß es Zeit ſey, ernſthaft zu werden.
Hat man mir in meinen jungen Jahren mit Vergnuͤ-
gen zugehoͤrt, wenn ich die unſchuldigſten Handlun-
gen der Mannsperſonen auf eine boshafte Art beur-
theilte: So wird man ſich gegenwaͤrtige Schrift, als
eine oͤffentliche Ehrenerklaͤrung gefallen laſſen; da
ich mir die Gewalt anthue, und diejenigen lobe, von
denen vielleicht die meiſten meiner Mitſchweſtern
glauben, daß ſie es am wenigſten verdienen. Ein
zwanzigjaͤhriger Eheſtand hat mich die Vortrefflich-
keit der boͤſen Maͤnner einſehen gelehrt; und mein
Beweis muß uͤberzeugend ſeyn, weil ich nichts rede,
als was ich ſelbſt erfahren habe. Dieſe Gruͤnde
ſcheinen mir wichtig genug zu ſeyn; und ich bin ver-
ſichert, daß der Beruf desjenigen weiſen Mundes,
welcher vor einiger Zeit auf die boͤſen Weiber eine
Lobrede gehalten hat, wenigſtens nicht ſtaͤrker gewe-
ſen iſt, als der meinige.


Noch etwas muß ich im Voraus erinnern. Fehlt
gegenwaͤrtiger Abhandlung die Deutlichkeit, das
Feuer, und die Ordnung im Vortrage: So bedenke
man nur, daß ſie ein Frauenzimmer geſchrieben, ein
Frauenzimmer, welches das Vorurtheil des Vaters
nur in der Kuͤche erzogen, und dem die kluge Vor-
ſicht eines boͤſen Mannes alle Mittel benommen,
deut-
[62]Lobſchrift auf die boͤſen Maͤnner.
deutlich zu reden, und vernuͤnftiger zu denken, als
er ſelbſt gedacht hat.


Die unendliche Menge der boͤſen Maͤnner uͤber-
hebt mich der Muͤhe, zu beſchreiben, was ich eigentlich
darunter verſtehe. Durch das Gegentheil will ich
der Sache zum Ueberfluſſe einige Erlaͤuterung geben.
Es befinden ſich noch hier und da Geſchoͤpfe, welche
man vernuͤnftige Maͤnner nennt. Dieſe ſtehen in
dem aberglaͤubiſchen Wahne, als erfodre Pflicht und
Gewiſſen, daß ſie ihre Weiber ebenfalls fuͤr vernuͤnf-
tige Creaturen halten, welche nicht zur Sklaverey,
oder ihrem herrſchſuͤchtigen Eigenſinne zum Beſten
erſchaffen, ſondern um deßwillen da ſind, daß durch
eine aufrichtige Liebe, und beiderſeitige Huͤlfe die
Beſchwerlichkeit des menſchlichen Lebens erleichtert,
und durch vereinte Sorgfalt dem Vaterlande nuͤtz-
liche Buͤrger erzogen werden. Kurz, dieſe ſehen
ihre Weiber, als Freundinnen, an. Jch wuͤrde den
Ungrund dieſer Meynung ausfuͤhrlich widerlegen,
wenn ich nicht gewiß wuͤßte, daß die allermeiſten
Maͤnner ſchon hinlaͤnglich davon uͤberzeugt waͤren.
Ein Frauenzimmer iſt ein Thier, welches vor andern
Thieren die Ehre hat, daß es ein Mann zur Frau
nimmt; welches bloß des Mannes wegen in die Welt
geſetzet iſt, und das mit einer blinden Ehrfurcht dem
Willen ſeines Oberhauptes unterwuͤrfig ſeyn muß.
Dieſes iſt der eigentliche Begriff, den man ſich macht.
Wer dieſen Begriff zur Wirklichkeit bringt, der ver-
dient allererſt den ruͤhmlichen Beynamen eines boͤ-
ſen Mannes.


Es
[63]Lobſchrift auf die boͤſen Manner.

Es erhellt hieraus, daß der Urſprung der boͤſen
Maͤnner in dem Weſen der Sache und in der Natur
ſelbſt liegt. Waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrde mir es eben
ſo wohl erlaubt ſeyn, den Adam an ihre Spitze zu
ſtellen, als es einigen gefallen hat, die Eva zur boͤſen
Frau zu machen. Jch halte aber die Anfuͤhrung
ſolcher Exempel fuͤr allzu leichtſinnig, und ich glaube,
ich werde beſſer thun, wenn ich ohne fernern Um-
ſchweif dem Leſer zeige, daß ich Urſache habe, die
boͤſen Maͤnner zu loben.


Das Laſter der Eigenliebe iſt ſo reizend, als ge-
faͤhrlich. Man giebt es dem Frauenzimmer am
meiſten Schuld. Jch weis nicht, ob man Urſache
darzu hat; ſo viel aber weis ich wohl, daß wir dem-
jenigen unendlich verbunden ſind, welcher uns davor
ſchuͤtzt. Jch kenne einen Mann, ein Muſter ſeines
Geſchlechts, die Krone aller boͤſen Maͤnner. Waͤre
er nicht ſo ſittſam und beſcheiden, ſo wuͤrde ich ihn
nennen. Dieſer Mann giebt ſich alle Muͤhe, die
Eigenliebe ſeiner Frau zu daͤmpfen. Er kann nicht
laͤugnen, daß ſie vernuͤnftig iſt; er will aber doch
nicht, daß ſie es glauben ſoll, oder daß ſie andre Leu-
te fuͤr vernuͤnftig halten. Wie ſoll er es anfangen?
Er tadelt alle ihre Mienen; ſie darf kein Wort re-
den, ſo weiſt er, wie abgeſchmackt es ſey. Er beſchaͤmt
ſie in oͤffentlichen Geſellſchaften, ja er geſteht ihr nicht
einmal die Faͤhigkeit zu, daß ſie vernuͤnftige Kinder
gebaͤren koͤnne, da er an dem Kinde erſter Ehe weit
mehr Verſtand anmerkt, als an dem ihrigen, unge-
achtet er der Vater zu beiden iſt. Muͤſſen wir nicht
alle dieſen Mann loben? Wie ungluͤcklich koͤnnte ſeine
Frau
[64]Lobſchrift auf die boͤſen Maͤnner.
Frau werden, wenn die Eigenliebe ihre Leidenſchaft
wuͤrde? Reißt er ſie nicht durch dergleichen Demuͤ-
thigung aus ihrem Verderben?


Ein Mann iſt das Oberhaupt ſeiner Familie. Die-
ſes erfodern die Rechte, und nach eben dieſen Rechten
kann er alle Hochachtung verlangen. Will er ein lo-
benswuͤrdiger Mann ſeyn, ſo muß er ſich dieſelbe zu
erwerben wiſſen. Das geſchieht am leichteſten auf die
ſinnliche Art. Was iſt aber ſinnlicher, als was der
Koͤrper fuͤhlt? Und was fuͤhlt der Koͤrper nachdruͤck-
licher, als Schlaͤge? Jſt alſo nicht derjenige ein lo-
benswuͤrdiger Mann, welcher bey ſeiner Frau mit
geballter Fauſt die Rechte der Natur zu behaupten
weis?


Wenn ich ſage, das Frauenzimmer ſey ein ſchwa-
ches Werkzeug, ſo ſage ich nichts mehr, als was ſchon
alle Welt weis. Dieſe angeborne Schwaͤche iſt Ur-
ſache, daß wir den Laſtern am wenigſten widerſtehen
koͤnnen. Eine geringe Reizung iſt genug, uns laſter-
haft zu machen. Niemals aber ſind die Reizungen
ſtaͤrker, als wenn wir uns in dem Ueberfluſſe aller Din-
ge befinden. Dieſer muß uns entzogen werden, wenn
wir anders tugendhaft bleiben ſollen. Es geſchieht
nur zu deinem Beſten, geliebte Freundinn, daß dein
Mann dir allen Ueberfluß benimmt, welcher deine
Schwachheit rege machen koͤnnte. Er vertraut dei-
nen Haͤnden nicht einen Groſchen Geld an. Du mußt
dir an dem elendeſten Tranke, an den unſchmackhafte-
ſten Speiſen, an den ſchlechteſten Kleidern genuͤgen
laſſen. Es geſchieht nicht aus Geiz; nein, meine
Freundinn; es geſchieht zu deinem Beſten. Genug,
daß
[65]Lobſchrift auf die boͤſen Maͤnner.
daß du dein Leben friſten kannſt. Dieſes iſt die Ur-
ſache, warum wir eſſen, warum wir trinken, warum
wir Kleider tragen. Der geringſte Ueberfluß wuͤrde
eine Quelle tauſendfachen Ungluͤcks ſeyn. Jch habe
nicht noͤthig, dieſes genauer auszufuͤhren; du wirſt
es ſelbſt einſehen koͤnnen.


Jſt die Maͤßigkeit eine ſo große Tugend, wie ſie es
denn wirklich iſt, ſo muß wohl derjenige Mann laſter-
haft ſeyn, welcher ſich unmaͤßig und wolluͤſtig auffuͤh-
ret? Keinesweges! Die Maͤnner geben uns die Ge-
ſetze, niemand aber, der Geſetze giebt, iſt denſelben
weiter unterworfen, als er es ſelbſt fuͤr gut befindet.
Dein Mann verſpielt alle ſein Vermoͤgen. Wie
loͤblich iſt dieſes? Koͤnnte dich nicht der Beſitz vie-
les Geldes geizig machen, oder im Gegentheile zur
Verſchwendung reizen? Er iſt niemals nuͤchtern.
Allein, was kann dir wohl einen lebhaftern Abſcheu
vor der Trunkenheit machen, als ein beſoffner Mann?
Nur um deinetwillen beſaͤuft er ſich, damit du ſehen
ſollſt, was es fuͤr eine edle Sache um die Maͤßigkeit
ſey. Er entzieht ſich deinen Armen, und bringt die
meiſte Zeit bey andern Weibsbildern zu. Er thut
recht daran. Der beſtaͤndige Beſitz eines Gutes
macht uns daſſelbe ekelhaft. Du wuͤrdeſt ihn uͤber-
druͤßig werden, wenn er niemals von deiner Seite
kaͤme. Dein Mann iſt lobenswuͤrdig.


Dieſes ſind die Vortheile noch nicht alle, die wir
von unſern boͤſen Maͤnnern haben. Nichts iſt em-
pfindlicher, als der Tod eines Mannes, welchen man
innigſt liebt. Wie ſehr wird uns aber dieſer hef-
tige Schmerz erleichtert, wenn uns ein wolluͤſtiger,
Erſter Theil. Eein
[66]Lobſchrift auf die boͤſen Maͤnner.
harter, ein ehrgeiziger, wenn uns ein boͤſer Mann
ſtirbt! Was iſt leichter, als bey dergleichen Falle
den Ruhm einer chriſtlichen Standhaftigkeit zu er-
werden? Wir trauern, weil uns der Schneider eine
ſchwarze Kleidung gemacht hat; und wenn wir ja
weinen, ſo geſchieht es, weil ſein Abſterben nicht eher
erfolgt iſt.


Noch tauſend Urſachen koͤnnte ich anfuͤhren,
die uns den boͤſen Maͤnnern verbindlich machen.
Jch will aber mit Fleiß abbrechen, um denjenigen
Fehler zu vermeiden, welchen man ſonſt dem Frauen-
zimmer vorwirft. Es ſcheint mir uͤberfluͤßig zu
ſeyn, wenn ich das Alterthum zu Huͤlfe rufen, und
alle vier Theile der Welt auspluͤndern wollte, einen
Satz zu beweiſen, den die Beyſpiele der meiſten
Maͤnner unſrer Stadt unlaͤugbar machen. Viel-
leicht iſt mir der Leſer verbunden, daß ich dasjenige
auf wenigen Blaͤttern ſage, was ich mit einer klei-
nen Ausdehnung in vier Bogen haͤtte vor-
bringen koͤnnen.




[[67]]

Trauerrede
eines Wittwers auf den Tod ſeiner Frau,
in der Geſellſchaft
der geplagten Maͤnner
gehalten;
nebſt einer Nachricht von dieſer Geſellſchaft.


E 2
[[68]][69]

Nachricht
von einer Geſellſchaft
geplagter Maͤnner.


Mein Herr,

Sie werden ſich der Gefaͤlligkeit noch wohl erin-
nern, welche Sie gegen diejenige erkenntliche
Wittwe gehabt haben, die ſich einbildete, ſie
koͤnnte ihre jungfraͤulichen Zungenſuͤnden nicht ſchaͤr-
fer buͤßen, als wenn ſie eine Lobſchrift auf die boͤſen
Maͤnner verfertigte. Jch fodre itzt, im Namen unſers
Geſchlechts, eine gleiche Willfaͤhrigkeit von Jhnen,
und erſuche Sie, beyliegende Trauerrede, die ich, auf
den Tod meiner Frau, in der Geſellſchaft der geplag-
ten Maͤnner gehalten habe, bekannt zu machen. Es
wuͤrde dem maͤnnlichen Geſchlechte nachtheilig ſeyn,
wenn es von dem weiblichen an Großmuth uͤbertrof-
fen werden ſollte; ſo viel kann ich Sie verſichern, daß
ich dieſe Trauerrede aus einem eben ſo redlichen Ge-
muͤthe gemacht habe, als unſre Wittwe ihre Lob-
ſchrift.


Jch glaube nicht, daß Sie von dieſer Geſellſchaft
der geplagten Maͤnner einige Nachricht haben werden.
Es geht uns nicht viel beſſer, als den erſten Chriſten;
wir verſammlen uns nur bey verſchloßnen Thuͤren,
E 3aus
[70]Nachricht
aus Furcht vor den Weibern. Niemand weis die Ab-
ſicht unſrer Zuſammenkunft, nicht einmal der Wirth,
von dem wir das Zimmer gemiethet haben. Dieſer
haͤlt uns fuͤr Quacker, weil wir allezeit tiefſinnig aus-
ſehen, und die Koͤpfe haͤngen. Wir kommen woͤchent-
lich einmal zuſammen, und erzaͤhlen einander die Ver-
folgungen, welche wir von Zeit zu Zeit ausſtehen muͤſ-
ſen. Sie koͤnnen glauben, daß es uns niemals an Ma-
terie zu reden fehle. Es geht in unſrer Geſellſchaft zu,
wie in den Jnvalidenhaͤuſern, wo die alten Soldaten,
von nichts, als von Feldzuͤgen, von Hunger, von Be-
ſchwerlichkeit des Krieges, von Treffen reden, und
einander die empfangnen Wunden zeigen. Es iſt mir
nicht erlaubt, Jhnen von der Einrichtung dieſer Ge-
ſellſchaft naͤhere Nachricht zu geben; dieſes aber darf
ich wohl ſagen, daß wir einen Vorſitzenden unter uns
haben. Hierzu gelangt keiner, der nicht beſondre
Vorzuͤge hat. Demjenigen, welcher itzt dieſe Wuͤrde
bekleidet, wollten verſchiedne unter uns den Rang
ſtreitig machen; er behauptete ihn aber dadurch, daß
er bezeugte, ſeine Frau ließe ihn allemal unter den
Tiſch kriechen, ſo oft er nicht gut thun wollte.


Der Nutzen, welchen die Mitglieder unſrer Geſell-
ſchaft haben, iſt augenſcheinlich. Jch ſage nicht zu
viel, wenn ich verſichere, daß derjenige der beſte Philo-
ſoph ſey, der eine boͤſe Frau hat. Die Baͤndigung der
Affecten, die Entſagung der Eigenliebe, der Bequem-
lichkeit, des Vergnuͤgens, und alles deſſen, was uns
in Ausuͤbung der Weltweisheit ſtoͤren kann: dieſes,
ſage ich, bringt niemand ſo hoch, als ein geplagter
Mann.
[71]von geplagten Maͤnnern.
Mann. Faͤllt ihm ſeine Frau in die Haare, ſo wird er
ſich daruͤber nicht entruͤſten; weil er glaubt, ſie thue es
mit zureichendem Grunde. Geht ſie auf Eroberungen
aus, und ſie iſt bemuͤht, den Haufen ihrer Anbeter zu
vermehren: So wird er ſich mit einer philoſophiſchen
Geduld waffnen; denn er weis, es wiederfahre ihm
nichts, wozu er nicht praͤſtabilirt ſey. Schlagen ſie
alle Schriften der tiefſinnigſten Weltweiſen nach, kein
einziger wird eine boͤſe Frau zur beſten Welt rechnen;
unſre ganze Geſellſchaft aber iſt davon uͤberzeugt.


Vielleicht halten Sie dieſe unſre Gluͤckſeligkeit
nicht fuͤr beneidenswuͤrdig; ich will ihnen den
Stand der geplagten Maͤnner auch auf der ſchoͤnen
Seite zeigen.


Niemand kennt den Werth der Geſundheit, der
nicht vorher krank geweſen iſt; ein Sklave, der zehen
Jahr auf den Ruderbaͤnken geſchmachtet hat, wird
nach ſeiner Loslaſſung am beſten ſagen koͤnnen, wie
edel die Freyheit ſey: Und ein Mann, der eine boͤſe
Frau begraͤbt, empfindet einen ſolchen Grad der
Wolluſt, den niemand beſchreiben kann, als wer in
meinen Umſtaͤnden iſt.


Jch halte die Geſellſchaft der geplagten Maͤnner
fuͤr eine Pflanzſchule, in welcher man die geſchickteſten
Leute zu den allerbeſchwerlichſten Aemtern antrifft.
Jch finde hiervon einen ſtarken Beweis in der glaub-
wuͤrdigen Reiſebeſchreibung des berufnen Klims,
welcher unter andern vernuͤnftigen Geſetzen der Ein-
wohner des Planeten Nazars beſonders dieſes ruͤhmt,
E 4daß
[72]Nachricht
daß ſie zu den beſchwerlichſten Verrichtungen die ge-
duldigſten Ehemaͤnner nehmen. Sie werden mir
verzeihen, wenn ich Jhnen hier kein Verzeichniß von
dergleichen muͤhſeligen Aemtern mache; dieſes einzi-
ge muß ich, mit ihrer Erlaubniß, erinnern, daß ſich,
nach meiner Meynung, niemand beſſer zu einem Scri-
benten ſchicke, als ein geplagter Mann.


Bedenken Sie nur ſelbſt, was ein Autor ausſtehen
muß. Er ſtellt ſich den Urtheilen aller Welt bloß; er
geht durch gute und boͤſe Gerichte, und die letzten ſind
gewiß haͤufiger, ſo lange es mehr Leute giebt, die leſen,
als die ſchreiben koͤnnen. Wie ſtandhaft wird hierbey
ein geplagter Mann ſeyn! Haben ihn die unfreund-
lichen und gehaͤßigen Blicke, das Schelten, die
Schimpfreden, ja ſo gar die erbitterten Haͤnde ſeiner
Frau nicht zur Verzweiflung bringen koͤnnen; ſo
wird er gewiß auch alsdann gelaſſen bleiben, wenn
die Leſer ſeine Schriften mit dem ſtrengſten Eifer be-
urtheilen. Jch weis nicht, mein Herr, ob ſie verhei-
rathet ſind; ich ſollte es aber faſt glauben, und ich bin
begierig, ihre Frau kennen zu lernen. Den ſparſamen
Wachsthum der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, ſchreibe ich
keiner andern Urſache, als dieſer, zu, daß es unter uns
eine ſo große Anzahl Scribenten giebt, welche entwe-
der gar keine, oder doch keine boͤſen, Weiber haben.
Wenn dieſe ſchreiben, ſo haben ſie nicht das Herz, bey
ihrer guten Abſicht ſtandhaft zu bleiben. Die gering-
ſte Drohung, ein einziges Blatt erſchreckt ſie, und
reißt ihnen die Feder aus der Hand; ſie geben bey
dem erſten Feuer die Flucht. Jch finde eine große
Aehn-
[73]von geplagten Maͤnnern.
Aehnlichkeit zwiſchen den Actien, und den Schriften
dieſer unabgehaͤrteten Scribenten. Eine Schifferzei-
tung, ein Nordweſtwind, ein kleiner Seeſturm, ein
Kaper iſt vermoͤgend, zu machen, daß jene auf ein-
mal fallen: Dieſe aber gerathen gleich ins Stecken, ſo
bald ein Widerſacher aufſteht, der ihnen die Zaͤhne
weiſt.


Jch vermuthe, es werde Jhnen dieſe Erzaͤhlung
eine Hochachtung fuͤr unſre Geſellſchaft beygebracht
haben. Sie werden mich in dieſer Meynung beſtaͤr-
ken, wenn Sie die Anſtalt treffen, daß ich meine
Trauerrede in dem naͤchſten Monate gedruckt
leſen kann. Leben Sie wohl.



E 5Trauer-
[74]

Trauerrede
eines Wittwers,
auf den Tod ſeiner Frau.


Meine Herren,

Niemals habe ich die Geſetze unſrer Geſellſchaft
mit mehrerm Vergnuͤgen beobachtet, als itzt,
da ich mit Jhnen von dem Verluſte reden
ſoll, welchen ich durch das Abſterben meines Weibes
erlitten habe. Schon ſeit vielen Jahren wuͤnſche ich
mir dieſe Gelegenheit zu reden, und dieſes bloß darum,
damit ich Jhnen in einem kurzen Abriſſe die ganz be-
ſondern Eigenſchaften meiner Frau vorſtellen moͤchte,
welche mich ein zehenjaͤhriger Eheſtand deutlich genug
hat kennen lehren. Sie wiſſen wohl, meine Herren,
daß mir bey ihren Lebzeiten dieſes zu thun nicht ver-
goͤnnt war; ſie konnte nichts weniger vertragen, als
das Lob ihres Mannes, und alles, was ich von ihren
Faͤhigkeiten erzaͤhlte, kam ihr verdaͤchtig vor. Nun-
mehr befreyet mich ihr Tod auch von dieſem Zwange,
und wenn Sie bedenken wollen, wie ſehr mich dieſer
Verluſt ſchmerze: So werden Sie auch wohl einſe-
hen koͤnnen, wie groß mein Vergnuͤgen ſeyn muͤſſe,
da ich Sie von der Wichtigkeit desjenigen unterhal-
ten kann, was ich verloren habe. Finden Sie viel-
leicht nicht in meinen Angen die Blicke eines bekuͤm-
mer-
[75]Trauerrede eines Wittwers.
merten Wittwers: So wird Jhnen doch dieſer Trauer-
mantel, und dieſer lange Flor von meiner Betruͤbniß
zeugen koͤnnen. Jch bin eben ſo ſehr geruͤhrt, als an-
dre, welche der Himmel in meine Umſtaͤnde verſetzt
hat: Nur darinnen unterſcheide ich mich von jenen,
daß ich meine Regungen durch kein Tuch zu verber-
gen ſuche. Hierdurch machen Sie mich Jhnen ſo ver-
bindlich, daß ich meine Wuͤnſche verdoppeln werde,
Jhnen bey einer gleichen Gelegenheit eben ſo gefaͤl-
lig ſeyn zu koͤnnen.


Meine Liebe hat ſich mit einer Krankheit angefan-
gen, womit die meiſten unſers Geſchlechts befallen
werden. Mir iſt es einerley, ob man ſie Milzſucht,
oder Fieber, oder gar den verliebten Schwindel
heißt; ſo viel weis ich noch, daß ich damals meine
Freunde beredete, ich ſey bezaubert, und dieſes war
allerdings nicht unwahrſcheinlich. Ein Blick, ein
einziger Blick von einer Perſon, die ich meine Grau-
ſame nannte, brachte mich in die aͤußerſte Verwir-
rung. Jch ſah, ich ſeufzte, und auf einmal empfand
ich eine Gewalt in mir, welche mich alles Nachden-
kens beraubte. Mein Gebluͤt kam in ein heftiges
Wallen, ich ward unruhig, und gieng des Tages
wohl hundertmal, diejenigen Haͤnde zu kuͤſſen, wel-
che mich, wie ich klagte, gefeſſelt hielten. Jch kuͤßte
ſie, und dieſes brachte meine Bezauberung aufs hoͤch-
ſte. Jch verlor die Sprache, wenigſtens diejenige,
welche man bey geſunden Leuten hoͤrt. Jch redete
von nichts, als von Sterben, von Entzuͤckungen, von
Cometen, von Blitzen, von Sonnen, von Opfern;
ja,
[76]Trauerrede
ja, ich habe nach der Zeit erfahren, daß ich ſo gar in
Verſen geredet habe. Bald verwandelte mich mei-
ne Zauberinn in einen Schaͤfer, und ich beſchwur die
Felſen; bald duͤnkte mich, ich ſey mehr, als alle Koͤ-
nige, und der Zepter war das geringſte, was ich zu
den Fuͤßen meiner Gebieterinn legen konnte. End-
lich erbarmte ſich meine Grauſame. Sie gab mir
ihre Hand, und dieſes endigte meine Bezauberung
auf einmal. Meine Geſichter verſchwanden, und
ich ſah meine Frau. Alle ſchmeichelnde Entzuͤckun-
gen verloren ſich. Jch war weder Schaͤfer, noch
Koͤnig; nichts blieb mir uͤbrig, als eine Gebieterinn.
Sie werden es entſchuldigen, meine Herren, wenn
ich in dieſer Beſchreibung zu weitlaͤuftig geweſen bin.
Sie haben ſich vielleicht mehr als einmal gewundert,
wie ich mich entſchließen koͤnnen, eine Frau, wie die
meinige, zu heirathen: nunmehr werden Sie einſe-
hen koͤnnen, daß die Ueberlegung an dieſer Wahl
keinen Antheil gehabt hat.


Jch habe Jhnen einen ganz kurzen Abriß von den
ganz beſondern Eigenſchaften meiner Frau verſpro-
chen; ich will dieſes Verſprechen erfuͤllen, und Sie
werden finden, daß alles ganz beſonders geweſen
iſt.


Mich duͤnkt, diejenigen ſehen den Nachdruck und
Gebrauch unſrer Sprache nicht genugſam ein, wel-
che das Wort, Eheſtand, als einen Jnnbegriff alles
desjenigen betrachten, was man durch zaͤrtliche Liebe,
durch den hoͤchſten Grad der Freundſchaft, durch
ver-
[77]eines Wittwers.
vernuͤnftigen Umgang, durch eine edle Bemuͤhung
eines beiderſeitigen Vergnuͤgens, und, ich weis nicht
durch was fuͤr ſchoͤne Benennungen mehr, ausdruͤckt.
Man findet vielleicht dieſe Bedeutung in den Woͤrter-
buͤchern, oder in den Schriften philoſophiſcher Jung-
geſellen, dergleichen der Zuſchauer geweſen iſt; ich
glaube aber nicht, daß eine ſolche Auslegung im ge-
meinen Leben einen großen Nutzen habe. Wenig-
ſtens war derjenige Eheſtand ganz anders beſchaffen,
in welchen mich das Verhaͤngniß geſetzt hatte. Auch
meiner Frau kann ich es nachruͤhmen, daß ſie ſich
einen ganz andern Begriff davon machte. Sie war
meine Frau, weil ich ihr Mann war; ſie hatte mich ge-
heirathet, um ſich ernaͤhren zu laſſen. Dieſes hielt ſie
fuͤr ihre Pflichten des Eheſtandes; und ich muß es ge-
ſtehen, daß ſie dieſelben niemals gebrochen hat.


Jch bewundre ihre Einſicht, wenn ich daran ge-
denke, wie nachdruͤcklich ſie die Meynung derer zu
behaupten wußte, welche glauben, daß die Herr-
ſchaft der Maͤnner in den Geſetzen der Natur nicht
den geringſten Grund habe. Den Anfang zu ihrer
unumſchraͤnkten Macht legte ſie durch Blicke, und
ſchmeichleriſche Mienen; ich ward erweicht, und gab
mit Vergnuͤgen nach. Sie gieng weiter; ſie befeſtig-
te ihre Gewalt durch Worte, und ein ernſthafteres
Verlangen. Jch ſchwieg, und ließ mir alles gefallen,
um wenigſtens den Reſt der eingebildeten Herrſchaft
zu erhalten. Endlich machte ſie ihren Sieg voll-
kommen; ſie befahl, ſie drohte, und ich wußte durch
nichts, als durch einen blinden Gehorſam, mein
Schickſal ertraͤglich zu machen.


Meine
[78]Trauerrede

Meine Frau war viel zu edel geſinnt, als daß ſie
ihre Gemuͤthsruhe durch die Sorgen der Nahrung
haͤtte unterbrechen ſollen. Sie uͤberließ ſich der
Vorſehung des Geſindes. Sie befuͤrchtete, ſie moͤch-
te die Natur beſchimpfen, wenn ſie diejenigen ſchoͤ-
nen Haͤnde in der Kuͤche beſudelte, welche ich ehedem
recht abgoͤttiſch gekuͤßt hatte, und von denen ihre Ver-
ehrer noch itzt zweifelhaft waren, ob ſie den Schnee,
oder den Alabaſter, uͤbertraͤfen.


Jch war ſo gluͤcklich, daß ſich beſtaͤndig Kenner
fanden, welche meine Wahl vollkommen billigten.
Sie wußten es meiner Frau auf das verbindlichſte
vorzuſagen, daß ſie die artigſte Perſon von der Welt
waͤre. Sie beneideten das Gluͤck desjenigen Sterbli-
chen, welchem vergoͤnnt waͤre, eine ſo anbetenswuͤr-
dige Goͤttinn zu lieben. Meine Frau nahm Antheil
an meinem Gluͤcke; ſie konnte dieſe Schmeicheley
wohl leiden, und war allemal erfreut, ich weis aber
nicht, ob uͤber ihre goͤttlichen Eigenſchaften, oder dar-
uͤber, daß man ihr ſagte, ich ſey ein Sterblicher. Die-
ſes muß ich noch zum Ruhme meiner Freunde erin-
nern, daß ſie dergleichen Lobeserhebungen niemals
in meiner Anweſenheit vorbrachten; ſelbſt meine Frau
war hierinnen vorſichtig. Eine ſolche Erklaͤrung haͤt-
te mich hochmuͤthig machen koͤnnen, und ich wuͤrde es
nicht ohne Erroͤthung angehoͤrt haben, wenn man die-
ſes in meiner Gegenwart haͤtte ſagen wollen.


Meine Frau war bemuͤht, ihre natuͤrliche Schoͤn-
heit durch einen praͤchtigen Aufputz noch mehr zu er-
heben.
[79]eines Wittwers.
heben. Sie wußte, daß die Kleidung noch zu etwas
weiter, als zur Bedeckung der Bloͤße, dienlich waͤre.
Jch kann nicht laͤugnen, daß mir dieſe ihre Einſicht
ſehr theuer zu ſtehen kam. Jch weis, wie viel es mich
gekoſtet hat, nur ihren Reifenrock in baulichem We-
ſen zu erhalten, und es iſt mehr als einmal geſchehen,
daß ſie dasjenige an einen einzigen Kopfputz ge-
wandt, was ich binnen vier Wochen, nicht ohne ſau-
re Muͤhe, erworben hatte. Sie hatte etwas geleſen,
das ſie fuͤr einen ſinnreichen Scherz hielt, und mit
Vergnuͤgen auf ſich deutete, wenn ſie ſagte: Es waͤ-
ren ihr alle vier Theile der Welt zinsbar: der Perſer
ſpinne fuͤr ſie; der Mohr fange ihr die Perlen; der
Amerikaner durchwuͤhle die Erde, ihr den noͤthigen
Putz zu ſchaffen; der Europaͤer wage ſein Leben, al-
les dieſes herzubringen; ihr Mann aber ſey nur um
deswillen erſchaffen, daß er die noͤthigen Koſten dazu
verdiene. Jch weis nicht, ob dieſer Gedanke wohl
ausgeſonnen iſt; daß er aber allerdings gegruͤndet
geweſen, ſolches habe ich merklich genug empfunden.


Sie duͤrfen nicht denken, meine Herren, als waͤre
der Endzweck dieſes praͤchtigen Aufputzes der gewe-
ſen, daß ſie ihrem Manne haͤtte gefallen wollen. Kei-
nesweges. Hierinnen war ſie unbeſorgt, und ſie ge-
hoͤrte unter die Zahl derjenigen Weiber, welche al-
les fuͤr uͤberfluͤßig halten, was ihren Maͤnnern zu ge-
fallen geſchieht, und welche in ihrem Anzuge alsdann
am unachtſamſten ſind, wenn ſie niemanden, als
ihre Maͤnner, um ſich haben. Die ganze Stadt ſoll-
te Zeuge von ihrer wohlausgeſonnenen Pracht ſeyn.
Sie
[80]Trauerrede
Sie beſuchte Geſellſchaften, welche ihr zu dieſer Ab-
ſicht dienlich waren, und kehrte allezeit mit einer
triumphirenden Miene zuruͤck, wenn ſie merkte, daß
ſie den ſchmeichleriſchen Beyfall eines artigen Herrn
erhalten, und eine eiferſuͤchtige Nachbarinn in Un-
ruhe geſetzt hatte.


So koſtbar dieſer Aufwand war, ſo ſorgfaͤltig war
meine geſchickte Frau, denſelben durch verſchiedne
Arten der Sparſamkeit einigermaaßen zu erſetzen.
Niemals ſchien ihr das Geſinde boshafter zu ſeyn,
als wenn die Zeit herankam, da es ſeinen Lohn fo-
dern konnte. Sie war recht ſinnreich in Erfindung der
Urſachen, ſolchen zu verkuͤmmern, und konnte es mit
einer wunderbaren Standhaftigkeit anſehen, wenn
ein Dienſtbothe mit leeren Haͤnden von ihr ziehen
mußte. Nichts auf der Welt war ihrer Natur ſo
zuwider, als die flehende Stimme eines Armen.
Hierinnen erzeigte ſie ſich, als eine gute Buͤrgerinn,
indem der Befehl wider die Bettler dasjenige Geſetz
war, welches ſie am liebſten mit einer unverbruͤchli-
chen Sorgfalt beobachtete. Jch habe es nicht, ohne
geruͤhrt zu werden, anhoͤren koͤnnen, ſo oft ſie einen
Duͤrftigen, der um eine geringe Gabe bat, mit dem
heftigſten Eifer uͤber ſeine Faulheit, ſein luͤderliches
Leben, und ſeine niedertraͤchtige Auffuͤhrung von ſich
ſtieß. Wenn ich zuweilen dieſes Bezeigen fuͤr un-
freundlich halten wollte: So wußte mir meine gute
Wirthinn die ſchweren Zeiten ſehr lebhaft zu Gemuͤ-
the zu fuͤhren.


Aus
[81]eines Witwers.

Aus dieſer Erzaͤhlung koͤnnen Sie wohl ſehen, daß
unter den Tugenden meiner Frau das thaͤtige Chri-
ſtenthum nicht die kleinſte geweſen iſt. Jch kann Sie,
meine Herren, das im Ernſte verſichern, daß ihre An-
dacht jedermann in die Augen fiel. Die ganze Wo-
che hindurch war nichts vermoͤgend, ihre erqvickende
Ruhe zu unterbrechen, und ſie ſchlief ungeſtoͤrt ſo
lange, bis ſie ihre Berufsarbeit zum Caffeetiſche noͤ-
thigte. Deſto muntrer hingegen war ſie an den
Feyertagen. Sie bereitete ſich etliche Stunden lang
vor dem Spiegel zu ihrer Andacht, und wußte ihren
Anzug mit einer ſehr genauen Sorgfalt einzurichten,
weil, wie ſie ſagte, die geringſte Unordnung ihren
Nebenchriſten in der andaͤchtigen Beſchaͤfftigung ſtoͤ-
ren koͤnnte. Jn der Kirche waren ihre Augen ohne
Unterlaß in Bewegung. Sie hat mich verſichert,
es geſchaͤhe dieſes nicht aus Neugierigkeit, ſondern
darum, weil ſie ein Vergnuͤgen empfaͤnde, an einem
Orte ſo viel glaͤubige Seelen beyſammen zu ſehen,
welche allerſeits mit ihr aus einerley Abſicht dahin
gekommen waͤren.


Es erfodern, wie Jhnen bekannt iſt, die Statuten
hieſiges Orts, daß das Frauenzimmer des Nachmit-
tags, nach geendigter Andacht, zuſammen komme.
Wer niemals die Ehre gehabt hat, dabey zu ſeyn,
der koͤnnte glauben, es geſchaͤhe dieſes wegen des
Caffees und des Spielens; allein, dieſe Meynung
iſt falſch; es geſchieht lediglich in der Abſicht, dasje-
nige zu wiederholen, was man in der Kirche gehoͤrt
und geſehen hat. Auch hierinnen uͤbertraf meine
Frau ihr ganzes Geſchlechte. Jch habe bey dieſer
Erſter Theil. FGele
[82]Trauerrede
Gelegenheit mit Verwunderung gehoͤrt, wie auf-
merkſam ſie in der Kirche geweſen war. Jhre Be-
redſamkeit war erſtaunend, wenn ſie den Jnnhalt
desjenigen beurtheilte, was an heiliger Staͤte gere-
det worden war. Sie machte die ganze Geſellſchaft
dadurch aufgeraͤumt, und haͤtte wegen ihrer witzigen
Spoͤtterey billig den Namen eines ſtarken Geiſtes
verdient, wenn ſie eine Mannsperſon geweſen waͤre.
Die reichſte Materie wird endlich erſchoͤpft, und die
Ordnung der Gedanken fuͤhrte meine ſtrenge Rich-
terinn auf die andern Perſonen, welche zugegen ge-
weſen waren. Es ſchien etwas uͤbernatuͤrliches zu
ſeyn, wenn man ſie die geheimſten Nachrichten ihrer
Nachbarn erzaͤhlen hoͤrte. Sie erklaͤrte die verſtohl-
nen Blicke jener Freundinn, welche die Eiferſucht ih-
res Mannes ſo behutſam gewoͤhnt hatte. Sie wußte
von dem Faͤcher eines Frauenzimmers, welches ihr
gegen uͤber geſeſſen, einen weitlaͤuftigen Roman zu
erzaͤhlen, und ſchwur, daß vier wohlhabende Maͤn-
ner vergebens ſeufzten. Sie ſtellte ihren Feinden mit
einer ungemeinen Zuverſicht die Nativitaͤt, wobey
ſie mit vieler Wahrſcheinlichkeit anzeigte, warum es
dieſer oder jener ungluͤcklich gehen muͤßte. Der
ſuͤndliche Hochmuth einer Frau, welche ihr acht Ta-
ge vorher den Rang ſtreitig gemacht, war die ein-
zige Urſache, warum ſie der Himmel zween Tage
darauf augenſcheinlich gezuͤchtigt, und durch einen
Verluſt gedemuͤthigt hatte, welchen ihr Mann in
ſeiner Nahrung erlitten. Jedes Strafurtheil, das
ſie faͤllte, endigte ſich mit dem chriſtlichen Seufzer;
ſie wolle niemanden nichts Boͤſes nachgeredet haben.


Nun-
[83]eines Wittwers.

Nunmehr wird mir es leicht fallen, Jhnen ei-
nen genauern Begriff von der Kinderzucht meiner
verſtorbnen Frau beyzubringen. Sie wiſſen, mei-
ne Herren, daß ich der Vater einer Tochter bin, und
wenn Sie es nicht glauben wollen, ſo kann ich es
Jhnen aus dem Kirchenbuche beweiſen. Dieſe
Tochter hat mir in den erſten ſechs Wochen mehr,
als die ganze folgende Zeit uͤber, gekoſtet. Jch
will von dem praͤchtigen Aufputze des Wochenzim-
mers nichts gedenken, welcher allerdings verſchwen-
deriſch wuͤrde geweſen ſeyn, wenn er nicht zu Eh-
ren meiner Frau, und ihrer Nachkommen, alſo ein-
gerichtet worden waͤre: nur dieſes muß ich erin-
nern, daß mir damals die guten Wuͤnſche unzaͤhli-
ger neugieriger Freundinnen mehr Schaden an
meinen Einkuͤnften gethan haben, als jemals die
Fluͤche meiner Feinde. Meine Frau hatte dieſe
Tochter zur Welt gebracht, und alſo alles verrich-
tet, was man von einer Mutter fodern kann. Der
Wohlſtand noͤthigte ſie, eine Amme zu waͤhlen,
welche die Pflichten der Ernaͤhrung uͤber ſich naͤh-
me. Schon im zweyten Jahre zeigte das Kind,
zum unausſprechlichen Vergnuͤgen ſeiner werthe-
ſten Mama, die deutlichſten Proben eines durch-
dringenden Verſtandes, da es mit der groͤßten Hef-
tigkeit dasjenige verlangte, was ihm einfiel, und
mit Haͤnden und Fuͤßen ſeinen Unwillen bezeugte,
wenn jemand ſo unbedachtſam war, und ihm wi-
derſprach. Schlaͤge gehoͤren nur fuͤr die Kinder
gemeiner Leute; meine Frau hielt es fuͤr eben ſo
grauſam, ihr Kind zu ſchlagen, als wider ihr eignes
F 2Ein-
[84]Trauerrede
Eingeweide zu wuͤten. Man war ſehr ſorgfaͤltig,
meine Tochter zu unterweiſen. Das erſte, was
ſie von ihrer Mutterſprache lernte, war dieſes: Sie
ſey ein artiges Kind, und wenn ſie fromm waͤre, ſo
ſollte ſie auch einen huͤbſchen Mann bekommen.
Dieſe wichtige Vermahnung war nicht ohne Nu-
tzen. Die Hoffnung, einen Mann zu bekommen,
hatte ſo vielen Nachdruck in dem Gemuͤthe dieſer
Tochter, daß ſie alles faßte, was meine Frau fuͤr
Tugenden ihres Geſchlechts hielt. Jm vierten
Jahre verſtund ſie die Wirkung des Spiegels; im
fuͤnften erlangte ſie einen Geſchmack von ſchoͤnen
Kleidern; im ſechſten war ſie vermoͤgend, uͤber ihre
Geſpielinnen zu ſpotten; im ſiebenten faßte ſie die
Regeln des Lombers, und andern Zeitvertreibes;
im achten unterwies man ſie in der Kunſt, zaͤrtlich
zu blicken, und artig zu ſeufzen, und nunmehr war
meine Frau eben im Begriffe, ihr eine kleine Kennt-
niß von demjenigen beyzubringen, was der gemeine
Mann Chriſtenthum und Wirthſchaft nennt, als
eine unverhoffte Krankheit dieſe ſorgfaͤltige Mutter
von ihrer hoffnungsvollen Tochter trennte.


Jch komme itzt auf denjenigen Umſtand meiner
Ehe, an welchen ich nicht ohne die empfindlichſte
Ruͤhrung gedenken kann. Was bey einem Trauer-
ſpiele die Aufwickelung des Knotens heißt, das iſt
in dem Eheſtande der Tod unſrer Weiber. Je
verwirrter, ie betruͤbter bey jenem das widrige
Schickſal der aufgefuͤhrten Perſonen vorgeſtellt
wird; deſto wichtiger ſcheint uns die Aufwickelung.
Jch
[85]eines Wittwers.
Jch ſehe dem Tode meiner Frau getroſt entgegen,
weil ich dadurch aufhoͤre, eine beſchwerliche Rolle
zu ſpielen, und weil ich ihr diejenige Ruhe von
Herzen goͤnne, welche die Weltweiſen ſo lebhaft
zu ruͤhmen wiſſen. Meine Frau fiel in eine
Krankheit, wobey gleich die erſten Anzeigen toͤdt-
lich waren. Sie nahm ihre Zuflucht zum Arzte,
welcher ſie in ſeiner Sprache ſehr umſtaͤndlich ver-
ſicherte, daß ſie ſich nicht wohl befaͤnde. Er hatte
Recht; denn das Uebel nahm in wenigen Stun-
den dergeſtalt zu, daß er an nichts weiter gedachte,
als ſie nur nach gehoͤriger Ordnung zu ihren Vaͤ-
tern zu verſammlen. Man kann das Gemuͤth ei-
nes Menſchen niemals beſſer einſehen, als in dem-
jenigen Augenblicke, wenn die Seele anfaͤngt, ſich
von der Beſchwerlichkeit des Leibes frey zu machen.
Dieſes habe ich an meiner ſterbenden Frau beob-
achtet. Sie foderte einen Spiegel; ſie ſah ſich an,
und erſchrack. Jch ſterbe, rief ſie, ich ſterbe zu
fruͤh! Meine Schuldigkeit war, ſie zu troͤſten. Jch
redete ihr zu; ſie ſolle nur freudig ſterben. Aber ein
zorniger Blick unterbrach meine Vermahnung; ſie
ſtieß mich mit den Worten von ſich: Schweig, Ver-
raͤther! Dieſes war ihr letzter Wille, welchen ſie in
dem Augenblicke mit ihrem Tode verſiegelte.


Jch bin nicht vermoͤgend, meine Herren, Jhnen
dasjenige deutlich gnug zu beſchreiben, was ich da-
mals in meinem Gemuͤthe empfand. Stellen Sie
ſich einen Menſchen vor, welchen ein fuͤrchterlicher
Traum beunruhigt. Er befindet ſich auf der See,
F 3wo
[86]Trauerrede eines Wittwers.
wo ihn ein heftiger Sturm von der groͤßten Hoͤhe in
den tiefſten Abgrund wirft; ſein Schiff ſcheitert;
er glaubt, nun ſey alles verloren, und erwacht.
Mein Eheſtand hatte zehen Jahr gedauert, die
ſchaͤrfſten Proben einer ſtrengen Geduld hatte ich
ausgehalten, noch ſah ich nicht die geringſte Hoff-
nung, als meine Frau ganz unvermuthet ſtarb.


Dieſes wird genug ſeyn, Jhnen, meine Herren,
einen hinlaͤnglichen Begriff von den ganz beſondern
Eigenſchaften meiner Frau beyzubringen. Nun-
mehr werden Sie uͤberzeugt ſeyn, daß ich der Ehre,
Jhr Mitglied zu heißen, nicht ganz unwuͤrdig gewe-
ſen. Jch beſcheide mich deſſen gar wohl, daß ich
nur die unterſte Stelle verdiene, da mir diejenigen
Vorzuͤge nicht unbekannt ſind, welche Jhre Wei-
ber noch vor der meinigen haben.




[[87]]

Ein Auszug
aus der Chronike des Doͤrfleins
Querlequitſch,

an der Elbe gelegen.


F 4
[[88]][89]
Geneigter Leſer,

Du wirſt mir nicht zumuthen, daß ich dir ſagen
ſoll, wie ich zu dem Manuſcripte gekommen
ſey, von welchem ich dir gegenwaͤrtigen Aus-
zug liefere. Wenn ich ſpraͤche, ich haͤtte es unter
einem alten Gemaͤuer gefunden: So wuͤrdeſt du es
vielleicht, als ein ſchaͤtzbares Alterthum, mit vieler
Ehrfurcht durchleſen. Jch koͤnnte dich wohl auch
bereden, es gehoͤrte in eine Bibliothek, und weil ich
ein Gelehrter bin, ſo wuͤrdeſt du unfehlbar denken,
ich haͤtte es mit lehrbegierigen Haͤnden heimlich ent-
wendet. Allein, ich bin nicht geſonnen, dir eine
Unwahrheit vorzuſagen; du ſollſt aber auch die
Wahrheit nicht erfahren. Sey zufrieden, daß ich
dir ein Werk mittheile, welches allen Geſchichtſchrei-
bern zur Vorſchrift, und dir vielleicht zur Erbauung
dienen kann.


Den eigentlichen Verfaſſer dieſer Chronike, und
die Zeit, wenn ſie geſchrieben worden, kann ich
nicht angeben. Auf dem Titelblatte ſteht an ſtatt
des Namens ein N. welches der Verfaſſer ſonder
Zweifel um deswillen gethan hat, daß er den Leſer
neugierig machte, und deſto bekannter wuͤrde. Mei-
ne Vermuthung geht dahin, es habe es ein ehema-
liger Pfarrer daſelbſt geſchrieben. Ob ich recht
habe, wirſt du aus denen Umſtaͤnden urtheilen, die
in dem Auszuge ſelbſt vorkommen. Wenn aber
dieſer Pfarrer gelebt, und die hiſtoriſchen Nach-
richten geſammlet hat, ſolches iſt noch ungewiſſer.
F 5Jch
[90]Ein Auszug aus der Chronike
Jch vermuthe, daß es kurz nach des Kanzlers Crells
Tode geſchehen ſey; ich will aber niemanden meine
Meynung aufdringen.


Das Werk ſelbſt iſt von einer ziemlichen Weit-
laͤuftigkeit, in Folio, vier Alphabeth ſtark. Die
Schrift iſt ſehr klein und unleſerlich, auch hin und
wieder, ich weis nicht aus was fuͤr Urſachen, Platz
gelaſſen worden. Der Auszug, den ich geben will,
ſoll deſto kuͤrzer ſeyn, und mit Ausfuͤllung der leeren
Stellen moͤgen ſich diejenigen beluſtigen, welche in
Ergaͤnzung verſtuͤmmelter Alterthuͤmer, wo nicht
gluͤcklich, doch unermuͤdet ſind.


Gleich durch den erſten Anblick des Buchs wird
man uͤberfuͤhrt, daß der Verfaſſer von einem beſon-
dern Geſchmacke, und kein abgeſagter Feind ſeiner
Verdienſte, muͤſſe geweſen ſeyn. Man findet da-
ſelbſt ein Bild, welches er vermuthlich eigenhaͤndig
entworfen hat, und das zwar nicht kuͤnſtlich, doch
ziemlich deutlich, gerathen iſt. Es ſtellt die flie-
gende Fama vor, die zwo ſehr dicke Backen und eine
Trompete kenntbar machen. An dieſer haͤngt ein
Tuch, worinnen man eine menſchliche Figur mit
einer Pechmuͤtze, einem Ueberſchlaͤgelchen, und ei-
ner ſo genannten Harzkappe erblickt. Es iſt eine
Umſchrift dabey, von der ich aber nichts, als die
beiden erſten Buchſtaben errathen kann, welche
nach meiner Einbildung P. L. und wie ich glaube,
Paſtor loci, heißen, wiewohl ſie auch Poeta laureatus
heißen koͤnnten. Aus den Wolken ragt eine Hand
hervor, welche eine zuſammengekruͤmmte Schlange,
und noch etwas faßt, das vermuthlich ein Lorbeer-
kranz
[91]des Doͤrfleins Querlequitſch.
kranz ſeyn ſoll. Unten feſſelt ein Genius die Zeit
an einen Baum, in den die Buchſtaben gegraben
ſind: S. H. N. Q. T. L. Q. M. Wenn ich mich
nicht irre, ſo zielen dieſe auf den Vers: Semper
honos, nomenque tuum laudesque manebunt.

Dabey ſtehen ſehr viele Leute, welche mit Ver-
wunderung, und aufgehabnen Haͤnden, nach dem
Bilde ſehen. Sie ſind alle ſehr undeutlich gemalt,
bis auf einen einzigen, den ich fuͤr den Schulmei-
ſter des Dorfs halte, weil er das Maul ſchrecklich
aufſperrt. Die Aufſchrift ſtellt eine Landſchaft,
und darinnen das Dorf Qverleqvitſch, vor, uͤber
dem ein offnes Buch ſchwebt, das ſonder Zweifel
eine Concordanz, oder gar die Chronike ſelbſt bedeu-
ten ſoll. Jch finde dieſe Worte darinnen: Nil
ſine me.
Dem Bilde gegen uͤber iſt ein Blatt leer
gelaſſen, auf welchem ſteht: Erklaͤrung meiner Er-
findung. Ob er aber ſeine Erfindung ſelbſt nicht
verſtanden hat; oder von dem Tode an der Erklaͤ-
rung verhindert worden iſt; das weis ich nicht.
Jn Beſchreibung dieſes Bildes bin ich um deswil-
len weitlaͤuftig geweſen, damit man das Alterthum
des Buchs daraus abnehmen koͤnne; denn heuti-
ges Tages, und ſchon ſeit vielen Jahren, ſind derglei-
chen praͤchtige Bilder gar nicht mehr gebraͤuchlich.


Hierauf folgt der Titel, welcher ein neuer Be-
weis des Alterthums, und ſo weitlaͤuftig iſt, daß man
ihn, ohne eine rechte geſunde Lunge zu haben, in ei-
nem Athem nicht durchleſen kann. Jch will ihn ganz
herſetzen; Hellgeblaſene Kriegstrompete und Frie-
denspoſaune! Das iſt; eine kurz gefaßte Chronik
des
[92]Ein Auszug aus der Chronike
des weit beruͤhmten Doͤrfleins Qverleqvitſch an der
Elbe, worinnen deſſen beliebte, aber zuweilen be-
truͤbte, Geſchichte, von den aͤlteſten, mittlern und
neuern Zeiten, aus zuverlaͤßigen Nachrichten, alter
Leute Munde, und andern Urkunden genommen,
zugleich auch die darinnen einſchlagende Geſchichte
der aſſyriſchen, perſiſchen, griechiſchen, und roͤmiſchen
Monarchien, nebſt denen merkwuͤrdigen Veraͤnde-
rungen der Kaiſerthuͤmer, Fuͤrſtenthuͤmer und Rei-
che, Leben und Thaten der Paͤbſte, Kaiſer, Koͤnige,
Fuͤrſten ꝛc. nebſt ihren guten und boͤſen Eigenſchaf-
ten, vorgetragen, die unergruͤndlichen Wunder der
Natur an Sonne, Mond und Sternen, ingleichen
an Pflanzen, Baͤumen, kriechenden und fliegenden
Thieren, ſo wohl auf der Erde, als im Waſſer,
auch was ſonſten lebet, webet, und Odem hat, lehr-
reich beygebracht, und dadurch die verderblichen, ab-
ſcheulichen und verteufelten Meynungen der Soci-
nianer, Arrianer, Pelagianer, Manichaͤer, Wieder-
taͤufer, Moliniſten, Syneretiſten, Atheiſten, Jndiffe-
rentiſten, und aller Ketzer, die ſich in Jſten endigen,
heftig und kraͤftig widerlegt, zur Warnung und
Vermahnung, beſonders aber zum Troſte des chriſt-
lichen Haͤufleins in Qverleqvitſch, mit beliebter Kuͤr-
ze, und eilfertiger Feder entworfen durch N.


Auf der 1 Seite ſteht die Zueignungsſchrift an
ſeinen lieben Schwiegervater und Gevatter, George
Klunkern, Buͤrgermeiſtern in Merane, auch des
loͤblichen Schneiderhandwerks daſelbſt Oberaͤlteſten.
Er weiſet darinnen die Aehnlichkeit, welche das
Staͤdtlein Merane mit dem alten Rom habe, und
nach-
[93]des Doͤrfleins Querlequitſch.
nachdem er ſeinem Herrn Schwiegervater durch
viele lateiniſche Stellen gewieſen hat, wer Cicero
geweſen ſey, ſo fragt er ihn und die ganze Buͤrger-
ſchaft, ob Herr Klunker nicht ein andrer Cicero
ſey? Er beweiſt es durch Exempel, und unter an-
dern daraus, daß er den Stadtſchreiber daſelbſt, als
einen gefaͤhrlichen Catilina, aus ihren Mauern ge-
jagt; ſo daß man billig ausrufen koͤnnen: exceſſit!
euaſit! erupit!


Auf der 5. S. ſchreitet er naͤher zu ſeinem Vor-
haben, und fuͤhret die Urſachen an, die ihn bewogen
haben, zu ſchreiben. Er erzaͤhlt dieſelben nach der
Reihe, und haͤlt darunter die fuͤr die wichtigſte, da
er dem heftigen und unaufhoͤrlichen Bitten, Flehen
und Drohen ſeiner Freunde, Goͤnner und Vorgeſetz-
ten mit gutem Gewiſſen nicht laͤnger widerſtehen,
und lieber der gelehrten Welt dieſes Buch mitthei-
len, als Anlaß zu einigen Gewaltthaͤtigkeiten geben
wollen.


Von der 9 bis 12 S. weiſt er die Einrichtung
des ganzen Werks;


A. d. 13 S. aber deſſen großen Nutzen und


Von 15 bis 19 erklaͤrt er ſich auf ſechs Seiten,
daß er wegen ſeiner vielen Amtsverrichtungen ab-
brechen, und dieſe Zueignungsſchrift ſchließen muͤſſe,
worauf a. d. 20 und 21 S. ein herzlicher Seufzer folgt.


A. d. 22 S. ſtehen dieſe Worte: Ungeheuchelte
Lobſchriften und ſchuldige Ehrendenkmaale auf den
T. T. Herrn, Herrn N. ‒ ‒ Verfaſſern der Chronike
des Doͤrfleins Qverleqvitſch, aufgerichtet von nach-
benannten gelehrten Maͤnnern. Es hat aber der
Herr
[94]Ein Auszug aus der Chronike
Herr N. ſolche vermuthlich nicht erlebt, weil bis p.
40 leere Seiten in dem Manuſcripte ſind.


A. d. 40 S. faͤngt ſich endlich die Chronike ſelbſt
mit den großen Buchſtaben Q. B. D. V. an.


Gott aber ſchuf nur ein Maͤnnlein, und ein Fraͤu-
lein, ſind ſeine erſten Worte, und er weiſt ſodann,
wie wunderbar, durch ſo viele Jahrhunderte, Laͤnder,
und Orte, ſich das menſchliche Geſchlecht fortgepflan-
zet, ſo daß anitzt nur allein in Qverleqvitſch neun und
achzig vernuͤnftige Seelen zu befinden waͤren, wobey
er wuͤnſcht, daß ſie moͤchten fuͤr Krieg, Peſt und theu-
rer Zeit behuͤtet werden, welches ſie zwar mit ihren
Suͤnden gar wohl verdienet haͤtten.


A. d. 46 S. geraͤth er auf den Einfall, wie es
wohl vor tauſend Jahren in Qverleqvitſch ausgeſe-
hen habe? Er iſt der Meynung, daß die daſige Ge-
gend zu der Zeit ganz und gar unbewohnt geweſen,
und vielleicht an dem Orte, wo anitzt die Kanzel ſte-
he, nichts als Rohrdommeln in der Wuͤſten, gehoͤrt
worden ſind. Hierauf legt er ſeine ganze Gelehr-
ſamkeit aus, und redet von einem Cherusker Fuͤrſten
Arminius, von den Hermunduren, und Myſen. Die
Thracier und Scythen fallen ihm ein. Er erblaßt,
wenn er an den Attila gedenkt, und bewundert das
Schickſal, welches die Vandalen aus dem kalten
Norden in das heiße Jtalien geworfen, um die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften zu zerſtoͤren. Er
beſinnt ſich auf die Langobarden, und zieht zwoͤlf ge-
lehrte Maͤnner an, welche dieſen Namen von den
langen Baͤrten herleiten.


Auf
[95]des Doͤrfleins Qverleqvitſch.

Auf der 59 S. koͤmmt er wieder zu ſich ſelbſt, und
erinnert, er haͤtte um deswillen in ſeiner Erzaͤhlung
ausgeſchweift, weil er beweiſen wollen, wer ihre Vor-
fahren in daſiger Gegend geweſen waͤren. Die ganze
Sache aber haͤlt er fuͤr ungewiß, und will lieber gar
nichts, als etwas zweifelhaftes, ſagen, indem ein ver-
nuͤnftiger Mann nichts reden muͤſſe, als was er mit
gutem Grunde behaupten koͤnne. Er beſeufzt den
verderblichen Huſſitenkrieg, in welchem vermuthlich
die ſchoͤnſten Urkunden von dieſem Dorfe verbrannt,
oder mit nach Boͤhmen gefuͤhrt worden waͤren.
Bey dieſer Gelegenheit faͤllt ihm ein, daß Huß eine
Gans heiße, und lacht recht herzlich uͤber die ſan-
ctam ſimplicitatem
des Bauers, welcher in Coſtnitz
ein Buͤndel Holz zum Scheiterhaufen getragen, die-
ſen theuren Maͤrtyrer zu qvaͤlen.


A. d. 66 S. will er, um mit Ehren und unbefleck-
tem Gewiſſen aus dieſem Krame zu kommen, einem
jeden hierinnen ſeine Meynung laſſen. Genug,
ſpricht er, daß wir muͤſſen Vorfahren gehabt haben;
denn wo ein effectus iſt, da iſt auch eine cauſa; at-
qui,
ſchließt er weiter, ich und alle Bauern im Dor-
fe ſind ein effectus, Ergo muͤſſen wir eine cauſam
gehabt haben, und dieſe ſind eben unſre Vorfahren,
welche ich im Vorhergehenden ſo muͤhſam ſuchte.
Durch eine ausfuͤhrliche Note zeigt der Herr Autor,
in welchem modo dieſer Schluß ſey, und verwuͤnſcht
den Ariſtoteles in den Abgrund der Hoͤlle, weil er
durch ſeine Sophiſterey die ganze Welt mit Blind-
heit geſchlagen habe. Am Rande ſtehen die Wor-
te: O Vernunft! wie ſchaͤdlich biſt du! Die Dinte
iſt
[96]Ein Auszug aus der Chronike
iſt aber ganz friſch, und die Zuͤge ſind nach der heuti-
gen Art; daher ich vermuthe, dieſe Randgloſſe muͤſſe
nur etwan vor zwanzig Jahren gemacht ſeyn.


A. d. 68 S. dankt er dem Himmel mit einem inn-
bruͤnſtigen Ach! daß er ihm Weisheit und Kraͤfte ver-
liehen habe, aus dieſem Labyrinthe der Alterthuͤmer
gluͤcklich zu entkommen, und die verwirrten Nachrich-
ten ihrer Vorfahren in ein helles Licht zu ſetzen. Er
beſchreibt ſo dann, mit ziemlicher Deutlichkeit, die La-
ge, den Umfang, Groͤße, Zaͤune, Graben, und Einthei-
lungen der Gaſſen des Doͤrfleins Qverleqvitſch, wel-
ches ich aber alles unberuͤhrt laſſe, weil der Ort je-
dermann bekannt, und noch auf dieſe Stunde deſſen
aͤußerliche Beſchaffenheit unveraͤndert iſt.


A. d. 80 S. beſinnt er ſich, daß er in der Eil vergeſ-
ſen habe, zu ſagen, wo der Name Qverleqvitſch her-
ſtamme. Er hat aber ſo einen loͤblichen Abſcheu vor
alten Unterſuchungen bekommen, daß er ſich dabey
nicht aufhaͤlt. Seine Meynung geht dahin, es ſey,
wegen ſeiner anmuthigen Lage, in dem Pabſtthume
querelarum quies genannt worden. Es koͤmmt ihm
dieſes hoͤchſt wahrſcheinlich vor, weil man nur die
Buchſtaben e und arum wegwerfen, und ies in
itſch verwandeln duͤrfe. Er beweiſt dieſes auch nach-
druͤcklich, indem er ſagt, man muͤſſe keine geſunde
Vernunft haben, wenn man die Wahrheit davon
nicht einſehen wolle.


A. d. 81 S. wird gehandelt von des Doͤrfleins
Qverleqvitſch weltlichen Hauptgebaͤuden, und denen
damit verknuͤpften Gerechtſamen, Gerichten, und
Privilegien. Des geſtrengen Junkers Ritterſitz
wird
[97]des Doͤrfleins Qverleqvitſch.
wird zuerſt vorgenommen. Es iſt keine Mauer, keine
Stube, kein Fenſter, kein Ziegel auf dem Dache, wel-
chen er nicht nach ſeiner Laͤnge und Breite beſchreibt,
ja den Einfaͤltigen zum Beſten, hat er ſo gar einige
Riſſe nebſt dem Maasſtabe beygefuͤgt. Es gehoͤrt
eine ziemliche Geduld dazu, wenn man alles will
durchleſen. Doch darf ihm dieſes nicht als ein Feh-
ler ausgelegt werden, weil er nichts gethan hat, als
was unſre Scribenten mit einer unermuͤdeten
Sorgfalt noch heutiges Tages thun.


Ueber dem Thorwege entdeckt er eine alte ſteiner-
ne Figur, welche nach dem verfertigten Entwurfe ver-
muthlich nichts anders iſt, als eine Verzierung von
Laubwerke, er will es aber fuͤr ein hochadeliches Wa-
pen anſehen, woraus er verſchiedene Verbindungen
des geſtrengen Junkers mit andern Familien, und
zugleich einige rechtsgegruͤndete Anſpruͤche auf ſechs
Ritterguͤter ableitet.


Einen Thurm, welcher den Bauern zum Gefaͤng-
niſſe dienen muß, haͤlt er fuͤr beſonders merkwuͤrdig.
Er nennt ihn ein Schrecken der Widerſpaͤnſtigen
und einen Tempel der Gerechtigkeit, den Gerichts-
voigt aber ſacerdotem iuſtitiae, und zeigt bey dieſer
guten Gelegenheit, den gegruͤndeten Unterſchied zwi-
ſchen dem geiſtlichen und weltlichen Arme.


Das Gemeindehaus kann er mit Stillſchweigen
nicht uͤbergehen. Er machet eine beynahe eben ſo
lebhafte Abbildung davon, als von dem Ritterſitze;
uͤber die dabey ſtehende Linde aber, worunter die
Bauern ordentlich zuſammen kommen, bezeigt er eine
herzliche Freude, weil ſie ihn auf die Geſchichte der
Erſter Theil. Galten
[98]Ein Auszug aus der Chronike
alten abgoͤttiſchen Linden, und die Gewohnheit, un-
ter freyem Himmel Gerichte zu halten, durch eine
natuͤrliche Ordnung bringt. Er handelt dieſe Ma-
terie mit vieler Beleſenheit ab, und ich habe davon
einige neuere Schriften geſehen, welche es ihm nicht
gleich thun.


A. d. 140 S. folgen die geiſtlichen Hauptgebaͤu-
de. Sie beſtehen nur aus der Kirche, Pfarre und
Schulwohnung. Bey jedem aber machte er eine lan-
ge Erzaͤhlung, und die Bilder ſind auch nicht geſpart.
Jch will dem geneigten Leſer mit einem Auszuge da-
von nicht beſchwerlich fallen. Einige Umſtaͤnde aber
kann ich nicht unberuͤhrt laſſen.


Wie lange die Kirche geſtanden habe, weis er ei-
gentlich nicht; wohl aber, daß ſie ſchon im Pabſtthu-
me geweſen. Die Geſchichte der Reformation nimmt
hier viele Seiten weg, und es koͤmmt mir wahrſchein-
lich vor, daß Seckendorf ſich dieſes Manuſcripts mit
gutem Nutzen bedient habe. Den Weihkeſſel, wel-
cher noch in der Kirche eingemauert iſt, kann er ohne
Thraͤnen niemals anſehen, und er haͤlt ſolchen fuͤr et-
was, das zum papiſtiſchen Sauerteige gehoͤre. Den
wohl angerichteten Beichtſtuhl aber nennt er einen
Schmuck und eine Zierde des ganzen Tempels. Bey
einem vorgehabten Kirchenbaue hat ſich hinter dem
Altare etwas gefunden, welches der Herr Verfaſſer,
als eine alte Muͤnze, ſehr hoch haͤlt, und nicht allein
einen Abriß davon, ſondern auch die Muͤnze ſelbſt
beygefuͤgt. Anfaͤnglich hat er gar nicht gewußt, was
er daraus machen ſolle. Aber durch eine unermuͤ-
dete Unterſuchung, und Beyhuͤlfe einiger gelehrten
Freun-
[99]des Doͤrfleins Qverleqvitſch.
Freunde, hat er auf einer Seite ein Roß im Waſſer,
auf dem andern aber eine Figur gefunden, welche bey
nahe, als ein gekroͤntes Bruſtbild ausgeſehen, mit
der zwar etwas undeutlichen Umſchrift: vedkend.
Seine Freude uͤber dieſen Fund iſt ganz unausſprech-
lich. Er beweiſt, daß dieſe Muͤnze Carl der Große
auf Wittekinds Taufe habe praͤgen laſſen. Er be-
ſchreibt die ganzen Kriege der Sachſen, und ihre end-
liche Bekehrung, und dankt dem Himmel mit gefalt-
nen Haͤnden, welcher ſolchen großen Schatz ſo lange
erhalten, und ihn mit dieſer koſtbaren Muͤnze beſe-
ligt habe. Jch ſchickte ſie unlaͤngſt dem beruͤhm-
ten Herrn Profeſſor Koͤhler zu, um ſeine Meynung
daruͤber zu vernehmen, er ſchrieb mir aber, es ſey
nichts anders, als ein alter verroſteter Deckel von
einer Mithridatbuͤchſe.


Er ruͤhmet ferner den ſchoͤnen Buͤchervorrath,
womit die Sacriſtey ausgezieret ſey, welche er des-
wegen armamentarium ſacrum nennet, und verſi-
chert, es waͤren ſo viele praktiſche Buͤcher, Sterne und
Kerne, und andere bibliſche Ruͤſtzeuge darinnen, daß
man ſich binnen einer halben Stunde mit einer troſt-
reichen Predigt bewaffnen koͤnne.


Das bey der Kirche angemachte Halseiſen ſoll
ein untruͤgliches Merkmaal guter Policeyordnung
ſeyn. Er wuͤnſcht, daß alle diejenigen daran geſchloſ-
ſen wuͤrden, welche ſich nicht ſchaͤmten, ihrem Pfar-
rer, an ſtatt des guten Decems, Wicken und Treſpe
zu geben, da ihnen doch dieſer das Wort Gottes
lauter und rein predige.


G 2Des
[100]Ein Auszug aus der Chronike

Des Pfarrers Studierſtube koͤmmt ihm nicht an-
ders vor, als das trojaniſche Pferd. Aus dieſem
ſpricht er, waͤren ſo viel tapfre Helden geſtiegen, wel-
che das hochmuͤthige Troja in die Aſche gelegt haͤtten;
aus jener aber trete eine erbauliche Predigt nach der
andern hervor, welche das ſtolze Babel beſtuͤrmte.


Doctor Luthers Hauspoſtille, nennt er ſein Pal-
ladium, deſſen ganze Geſchichte er aus dem Alter-
thume hervorſuchet.


Von der 203 bis 279 S. iſt das Geſchlechtregiſter
der geſtrengen Junkern von N. Erb-Lehn- und Ge-
richtsherrn auf Qverleqvitſch. Jch will nur einige
davon anfuͤhren, und mich, ſo viel moͤglich, ſeiner
eignen Worte bedienen.


Hanns von N. ward gebohren 1429 und lebte
fuͤnf und ſechzig Jahr. Man weis von ihm gar
nichts weiter, als daß er einen ſehr dicken Bauch
gehabt hat.


Hanns Ulrich von N. des vorigen Sohn, hat-
te einen Jagdhund, welchen er unſaͤglich liebte. Als
der Hund ſtarb, ſchickte er dem Pfarrer eben ſo viel
an Leichengebuͤhren, als wenn ein Sohn geſtorben
waͤre. Es mag ein loͤblicher Herr geweſen ſeyn.


George von N. aß, trank, und vermaͤhlte ſich
dreymal. Seinen Bauern war er gewogen, dem
Pfarrer aber ſpinnefeind. Er wollte nicht leiden,
daß ihm dieſer auf der Kanzel die derbe Wahrheit
ſagte, da es doch an einem ſo privilegirten Orte ge-
ſchah. Von undenklichen Jahren her hatte der
Pfarrer des Sonntags auf dem Herrnhofe geſpeiſt,
dieſer George aber brachte es ab. Es war ein rech-
ter
[101]des Doͤrfleins Qverleqvitſch.
ter Atheiſte, ohne Gottesfurcht und Gewiſſen, und
wie er lebte, ſo ſtarb er auch; denn er fiel vom Pferde,
und brach den Hals. Nach dem Tode hat es hef-
tig auf ſeinem Grabe getobt, und des Pfarrers Frau
hat es mit ihren Ohren gehoͤrt, daß es nicht anders
geweſen ſey, als wenn ſich die Katzen gebiſſen haͤtten.
Er ſtarb ohne Kinder, und das Guth fiel an ſeinen
Vetter Caſimir von N.


Von der 280 bis 336 S. ſind die Leben der Kir-
chen- und Schuldiener daſelbſt beſchrieben. Es iſt die-
ſes mehr ein Zuſammenhang vieler Lobſchriften, als
eine hiſtoriſche Erzaͤhlung; und wie dergleichen be-
ſondre und nach Befinden geheime Nachrichten, nur
wenigen Leuten gefallen koͤnnen, den meiſten aber
ekelhaft ſind: So iſt auch von gegenwaͤrtiger Ab-
handlung nicht zu leugnen, daß derjenige ſchlechter-
dings Pfarrer in Qverleqvitſch ſeyn muß, der ein
Vergnuͤgen daran finden ſoll. Jch will alſo die
Geduld meines Leſers nicht misbrauchen, und nur
etwas weniges daraus anfuͤhren.


M.Heinrich Qvad, ein ehrwuͤrdiger Mann,
predigte alle Wochen einmal, und ſtarb. Er hat
ein Buch geſchrieben, welches den Titel fuͤhrt: προς
ἑαυτον, oder wohlgemeynter Unterricht, fuͤr die ein-
faͤltigen Pfarrherrn, wie ſie ſich auf der Kanzel zuͤch-
tig geberden ſollen. Mit Holzſchnitten.


George Voigt, verſtund das Hausweſen vor-
trefflich, und predigte ziemlich.


M.Curt Hauchius. Er war ein ſtarker Zelo-
te. Er ward allemal braun im Geſichte, wenn er an
den Pabſt gedachte, und hat ſechs und funfzig neue
G 3Ketzer
[102]Ein Auszug aus der Chronike
Ketzer gemacht. Er lebte in großer Uneinigkeit mit
ſeinem Gerichtsherrn, und hatte viel Verdruß mit
der Gemeinde, wegen des Pfarrbaues. Ueber das
Pfingſtbier hat er ſich ſehr ereifert, woran er auch
ſtarb.


M.Heinrich Bockſtaudius ſollte des Kanzlers
Crells Ordonanz unterſchreiben, deſſen er ſich weiger-
te, und des Amts entſetzt ward. Der Herr Autor ſieht
dieſen Umſtand fuͤr merkwuͤrdig an, weil er glaubt,
dieſer ſey der einzige unter allen Gelehrten, welcher lie-
ber das Amt verlieren, als etwas ſchreiben wollen.


Bis hieher gehen die Kirchendiener, und ſind als-
dann einige Blaͤtter leer gelaſſen, welches mich, wie
ich im Eingange erwaͤhnt, auf die Vermuthung ge-
bracht, daß gegenwaͤrtige Chronike nach Crells Tode
geſchrieben ſey.


Von den Schuldienern des Orts, deren der Au-
tor zwanzig nahmhaft macht, will ich nur eines einzi-
gen erwaͤhnen. Er hieß ihn Gall Veidt den Groſ-
ſen.
Es kam mir Anfangs laͤcherlich vor, daß er ei-
nem Schulmeiſter dieſen praͤchtigen Beynamen giebt;
er behauptet es aber dadurch: Er habe zierlich ſchrei-
ben und leſen koͤnnen, die Kinder fleißig unterrichtet,
die Kirche reinlich gehalten, die Glocken wohl gelaͤu-
tet, eine gute Paſſion ſingen koͤnnen, und alles voll-
kommen gethan, was einem rechtſchafnen Schulmei-
ſter gebuͤhrt. Mithin ſey er zwar kein großer Held,
aber doch ein großer Schulmeiſter geweſen.


A. d. 336 S. findet man verſchiedene geſammelte
Nachrichten von gelehrten Qverleqvitſchern, unter de-
nen etwa folgende die beruͤhmteſten zu ſeyn ſcheinen.


George
[103]des Doͤrfleins Qverleqvitſch.

George Greif, eines Bauers Sohn, legte ſich
auf die Rechte, und advocirte in einem Staͤdtlein,
ohnweit Magdeburg. Man hat, als etwas beſon-
ders an ihm wahrnehmen wollen, daß er ſehr lange
Finger, und im Geſichte eine ſo dicke Haut gehabt,
daß er niemals roth geworden iſt.


Antonius Cuntz, gleichfalls einer der Rechte,
wollte in Erfurt Doctor werden, und diſputirte des-
wegen de capillamento Vlpiani, wobey er auf der
Catheder die Wichtigkeit ſeines Satzes mit ſolcher
Heftigkeit vertheidigte, daß er ſich etwas im Leibe
zerſprengte, und kurz drauf ſtarb.


Balthaſer Wurzel, ein Arzt und geſchickter
Mann. Wenn ein Bauer Blaͤhungen hatte, ſo
wußte er gleich, wie ſie auf griechiſch hießen. Er
erfand viele Univerſalmedicinen und Lebenstinctu-
ren, ſtarb aber in ſeinen beſten Jahren, und vermach-
te der Buͤrgerſchaft zu Zwencka einen halben Acker
Landes zu einem neuen Kirchhofe.


Martin Pinſel,miniſterii candidatus, war des
alten Martin Pinſels, Pfarrers zu Qverleqvitſch,
Herr Sohn. Seine Mutter that in ihrer Schwan-
gerſchaft ein Geluͤbde, wenn ihr der Himmel einen
Sohn geben wuͤrde, ſo ſollte er ein Pfarrer werden.
Jhr Wunſch ward zu allerſeits Vergnuͤgen erfuͤllt,
und der junge Pinſel von ſeinem Herrn Vater zu al-
len guten Wiſſenſchaften und Kuͤnſten angehalten.
Er hatte aber einen ſchweren Kopf, eine ſtotternde
Sprache, und ein langſames Gedaͤchtniß, bezeigte
auch wenig Luſt zum Studieren, ſondern wollte
ſchlechterdings ein Grobſchmied werden. Allein die
G 4Mut-
[104]Ein Auszug aus der Chronike
Mutter pruͤgelte ihn ſo lange, bis er ſeinen Beruf
erkannte, wobey er auch blieb, und im neun und
funfzigſten Jahre ſeines Alters als Jnformator zu
Dresden ſanft und ſelig entſchlief.


Jlgen Pape, ein Meiſterſaͤnger und poßierli-
cher Mann. Er hatte ſehr hohe Abſaͤtze an ſeinen
Schuhen, und gieng beſtaͤndig, als wenn er im San-
de wadete. Er ſchnaubte heftig, wenn er redete, und
ſang alles ab, was er ſagte. Man hat ihn gar nicht
lachen, wohl aber oftmals ohne Urſache weinen und
zittern geſehen. Niemals war er vergnuͤgter, als
wenn es donnerte, und ſah, ohne, daß es ihm etwas
ſchadete, in den Blitz. Er ſtarb an der Schwulſt,
und ſchrieb: das blinde Alter, oder: Tobias ein
Trauerſpiel.


Zacharias Pape, des vorigen Bruder, und auch
ein Meiſterſaͤnger, doch von jenem ganz unterſchie-
den. Er ſchminkte ſich dergeſtalt, daß man niemals
ſeine natuͤrliche Farbe hat erfahren koͤnnen. Die
Haͤnde wuſch er ſich in Roſenwaſſer, und kaute be-
ſtaͤndig ſuͤß Holz. Sein Wamms war mit Knoͤ-
pfen von buntem Glaſe beſetzt, und an dem Halſe trug
er ein ordentliches Pferdegelaͤute. Jn Nuͤrnberg
war er unter eine Bande Gaukler gerathen; dieſe hat-
ten ihn gelehrt, wie er ſeine Glieder auf eine erſtau-
nende Weiſe ausdehnen, in einem Augenblicke aber
wieder zuſammen ziehen konnte, daß er nicht groͤßer
war, als ein Jgel. Er war ſehr ungeſund, und hatte
immerzu Anfaͤlle vom hitzigen Fieber. Seine Gedich-
te ſind zuſammengedruckt unter dem Titel: Canicu-
lares.
[105]des Doͤrfleins Qverleqvitſch.
lares. Er ſchrieb ein Sinngedichte auf ſeine Leyer,
und lachte ſich daruͤber zu tode.


Endlich machen auf der 384 Seite allerhand ver-
miſchte Merkwuͤrdigkeiten einen erwuͤnſchten Schluß.
Die Zuͤge ſind hier in dem Manuſcripte von den vo-
rigen ganz unterſchieden, und ich glaube, daß des Ver-
faſſers Ehefrau dieſe Merkwuͤrdigkeiten niederge-
ſchrieben habe. Meine Vermuthung iſt nicht un-
wahrſcheinlich, die Sache aber behaͤlt doch ihren
Werth, und die ganze Einrichtung iſt noch itzt nicht
altvaͤteriſch geworden. Ja ich kenne einen gelehrten
Mann, von deſſen Chronike man ſchwoͤren ſollte, daß
ſeine Großmutter die angefuͤgten Merkwuͤrdigkeiten
verfertigt habe.


Jch weis nicht, ob ich mich um meine Leſer ver-
dient machen werde, wenn ich ihnen einen Auszug
davon liefere. Vielleicht geben ſie ſich zufrieden,
wenn ſie auch nicht wiſſen, wie oft Soldaten daſelbſt
im Qvartiere gelegen, und des geſtrengen Junkers
ſeine Feuereſſe gebrannt, oder die gnaͤdige Frau in der
Kirche, zum Schrecken und ſchmerzlichen Beyleide
aller Anweſenden, den Unterrock verſengt habe. Eben
ſo erbaulich iſt es, wenn man lieſt, wie oftmals die
Bauern in Qverleqvitſch mit dem Durchfalle heim-
geſucht worden ſind. Die Geſchichte von einem
Pferdediebe, deſſen Lebenswandel, Verbrechen, Ge-
fangennehmung, und erfolgter Strafe, machet viele
Seiten aus, und die Unterredungen des Herrn Pfar-
rers mit dieſem Diebe ſind von einer ziemlichen Weit-
laͤuftigkeit, an und fuͤr ſich aber ſehr erbaulich. Des
Schulmeiſters aͤlteſter Sohn, ein Kind guter Art
G 5und
[106]Ein Auszug aus der Chronike ꝛc.
und großer Hoffnung, iſt Anno 1542 jaͤmmerlich in
die Miſtpfuͤtze gefallen, aber, zu gutem Gluͤcke, ohne
Schaden. Wer dieſe und dergleichen klaͤgliche Be-
gebenheiten mehr wiſſen will, dem kann ich das Ori-
ginal ſelbſt zeigen. Eine Frau, die den Drachen ge-
habt hat, koͤnnte zwar viele leichtſinnige Gemuͤther
aus ihrem verſtockten Jrrthume reißen, und das
Himmelszeichen, welches man im Jahre 1541, als
eine gewiſſe Vorbedeutung der ſechs Jahre darauf er-
folgten Muͤhlberger Schlacht, geſehen, ſollte wohl ver-
moͤgend ſeyn, die Hartnaͤckigkeit unſrer Atheiſten zu
beſchaͤmen. Allein mein Beruf iſt nicht, Heiden zu
bekehren; meine Schuldigkeit aber erfodert, den ge-
neigten Leſer nicht laͤnger aufzuhalten. Jch ſchließe
alſo mit denjenigen Worten, die am Ende meines
Manuſcripts ſtehen:
Exegi monumentum aere perennius.
Non omnis moriar.




[[107]]

Ein
Schreiben
von
vernuͤnftiger Erlernung der Sprachen
und Wiſſenſchaften
auf niedern Schulen.


[[108]][109]
Mein Herr,

Man hat mir geſagt, Sie waͤren ſeit etlichen
Monaten mit einer Sammlung verſchied-
ner deutſcher Schriften beſchaͤfftigt. Bey
dieſer Gelegenheit bekommen Sie vermuthlich viele
Briefe von gelehrten Maͤnnern zu leſen. Jch zweif-
le aber doch nicht, Sie werden Sich auf mein Bitten
die kleine Gewalt anthun, und einen Brief eines
jungen Menſchen anſehen, welcher nur vor wenig
Wochen die niedern Schulen verlaſſen hat, und im
Begriffe ſteht, auf eine hohe Schule zu ziehen, um,
gewoͤhnlichermaaßen, laͤngſtens binnen drey Jah-
ren zu abſolviren. Daß ich mir dieſe Freyheit neh-
me, dazu veranlaßt mich ein Umſtand, von deſſen
Wichtigkeit ich Sie bald uͤberfuͤhren will.


Jch habe mich ſechs Jahr lang in einer Schule
aufgehalten, welche vor allen uͤbrigen Schulen einen
Vorzug, und zugleich den billigen Ruhm hat, daß
viele große, und gelehrte Maͤnner den Grund ihres
Gluͤcks darinnen gelegt haben. So bald ich die er-
ſten Jahre uͤberſtanden, und mich geſchickt gemacht
hatte, die Sache mit einer reifern Ueberlegung
einzuſehen; ſo ließ ich bey einem unermuͤdeten Eifer
diejenigen Wiſſenſchaften mein Hauptwerk ſeyn, zu
denen ich den groͤßten Trieb empfand, und welche
ich fuͤr die edelſten unter allen hielt. Jch traue Jh-
nen die Einſicht zu, daß Sie von ſelbſt errathen koͤn-
nen, worinnen alſo meine vornehmſte Bemuͤhung
beſtanden habe.


Es
[110]Von Erlernung der Sprachen

Es ward uns Gelegenheit gegeben, die aͤltere
und neuere Geſchichte zu erlernen. Man lehrte uns
die Geographie, und andre davon abhangende Wiſ-
ſenſchaften. Man bemuͤhte ſich, uns einen kleinen
Vorſchmack von den Rechten eines jeden Reichs,
und hauptſaͤchlich unſers Vaterlands beyzubringen.
Es wurden auf Koſten der Obern Leute gehalten,
welche die Jugend in der franzoͤſiſchen und italiaͤni-
ſchen Sprache unterrichten ſollten. Ja, welches
beynahe unglaublich iſt, ſo gar in der deutſchen
Sprache gab man uns Anleitung. Die mathema-
tiſchen Wiſſenſchaften wurden getrieben, ſo viel es
auf Schulen moͤglich iſt. Von der Malerey, Mu-
ſik, und Tanzkunſt will ich nicht einmal etwas er-
waͤhnen, ſo wenig, als von der Anweiſung, wie
man die Buchſtaben leſerlich und ſchoͤn ſchreiben
ſoll.


Was meynen Sie davon, mein Herr? Jch
weis, Sie laſſen mir die Gerechtigkeit wiederfahren,
und trauen mir zu, daß ich die koſtbare Zeit mit der-
gleichen Sachen nicht verderbt habe. Es waͤre
dieſes ein Fehler geweſen, welchen man kaum mit
dem gelinden Namen einer Jugendſuͤnde haͤtte ent-
ſchuldigen koͤnnen; und ich glaube, meine Enkel
wuͤrden ſich dereinſt ſchaͤmen muͤſſen, wenn man ih-
nen dergleichen gelehrte Schwachheiten von ihrem
Großvater vorwuͤrfe.


Meine Bemuͤhungen waren weit ruͤhmlicher.
Lateiniſch, Griechiſch, Ebraͤiſch, die Redekunſt, und
die Logik, dieſes ſind die Wiſſenſchaften, worauf ich
mich
[111]und Wiſſenſchaften.
mich mit einem unerſaͤttlichen Fleiße, und mit Aus-
ſchließung aller andern gelegt habe.


Jſt es nicht klaͤglich, daß man die Jugend zu
Erlernung der Geſchichte, und beſonders unſrer ge-
genwaͤrtigen Zeiten anhaͤlt. Dieſes vermehrt ihre
leichtſinnige Neugierigkeit, zu der ſie ohne dem
mehr als zu geneigt iſt. Aus dieſer Urſache habe
ich mich jederzeit davor gehuͤtet, und ich kann mir
ohne eiteln Ruhm nachſagen, daß mir dasjenige,
was nach dem Raube der Helena in Griechenland
vorgegangen, weit bekannter iſt, als die Unruhe,
worein Deutſchland durch den Tod des Kaiſers ge-
ſtuͤrzt ſeyn ſoll. Wozu die Geographie, und die
zugehoͤrigen Wiſſenſchaften nuͤtzen, das kann ich
nicht einſehen. Jch habe den Weg von der Schu-
le nach meiner Heimath gewußt, ich will ihn auch
wohl ohne Geographie nach Leipzig finden. Jch
weis die Namens- und Geburtstage meiner gnaͤdi-
gen Herrſchaft; ich weis, daß unſer Herr Pfarrer
einen Todtenkopf mit einem Kreuze in ſeinem Pet-
ſchafte hat; dieſes hilft mir mehr, als wenn ich das
ganze Geſchlechte, und alle Wapen des Kaiſers von
Fez und Marocco auswendig koͤnnte. Daß ich die
Rechte der Reiche und meines Vaterlands lernen
ſoll, ſolches ſcheint mir ein verwegnes Unternehmen
zu ſeyn. Es ſind Geheimniſſe, welche man nicht
erforſchen, ſondern den Regenten uͤberlaſſen muß;
zu geſchweigen, daß man vielmals an den Hoͤfen
ſelbſt nicht weis, was Rechtens iſt; wie will man
es denn in den Schulen wiſſen? Die flatterhafte
Eitelkeit der Franzoſen, und die Gemuͤthseigenſchaf-
ten
[112]Von Erlernung der Sprachen
ten der Jtaliaͤner haben mir jederzeit einen Abſcheu
vor ihren Sprachen gemacht. Deutſch zu lernen,
klingt gar laͤcherlich. Unſer Thorwaͤrter in der
Schule konnte gutes Deutſch reden, ungeachtet er
niemals in die Lehrſtunden kam, und meine Mutter
verſtund mich allemal, wenn ich um Geld ſchrieb.
Jch habe zwar gegenwaͤrtigen Brief von einem mei-
ner guten Freunde durchſehen, und die Schreibart
aͤndern laſſen; dieſes geſchieht aber mehr aus einer
Gefaͤlligkeit, als innerlichen Ueberzeugung, daß es
noͤthig ſey. Daß die mathematiſchen Wiſſenſchaf-
ten auf Schulen getrieben werden, das laſſe ich eher
gelten. Es kommen doch immer griechiſche Woͤr-
ter darinnen vor. Die Malerey, Muſik, und das
Tanzen ſchicken ſich am beſten fuͤr Frauenzimmer,
und die Kunſt leſerlich und ſchoͤn zu ſchreiben, fuͤr
den Poͤbel. Denn gelehrte Leute muͤſſen ſchlecht
ſchreiben; dieſes iſt ein altes Herkommen.


Sagen Sie mir aufrichtig, mein Herr, wie ge-
faͤllt Jhnen dieſer Beweis? Nicht wahr, vortreff-
lich? Sollten Sie wohl in einem jungen Menſchen
ſo viel Verſtand, und einen ſo guten Geſchmack
ſuchen?


Die lateiniſche Sprache kam mir ſo einnehmend
und reizend vor, daß ich mich ſchaͤme, ein gebohr-
ner Deutſcher zu ſeyn. Jn der griechiſchen Spra-
che fand ich etwas, von dem ich viel zu wenig ſage,
wenn ich ſpreche, daß es reizend, und entzuͤckend
war. Jch habe mich vielmals gewundert, warum
man ſie nicht bey Hofe einfuͤhrt, und ich bin gewiß
verſichert, ein Frauenzimmer wuͤrde bey einer grie-
chiſchen
[113]und Wiſſenſchaften.
chiſchen Liebeserklaͤrung nimmermehr unempfindlich
bleiben koͤnnen. Daß ich ebraͤiſch ohne Punkte
verſtehe, das iſt das wenigſte, deſſen ich mich ruͤh-
men kann. Die Redekunſt hatte mich recht bezau-
bert. Die Regeln und Muſter, die ich mir er-
waͤhlte, waren zwar nach dem neuſten, jedoch nach
meinem Geſchmacke. Beſonders in den Figuren
war ich ſehr ſtark. Jch wußte alle ihre Vor- und
Zunamen, und meine Reden, die ich hielt, beſtun-
den in nichts, als Fragen, und Anmerkungen. Die
Erlernung der Logik war meine ernſthafteſte Be-
ſchaͤfftigung. Zwar die gemeine Art, zu denken, hat
mir niemals gefallen wollen. Sie iſt gar zu deut-
lich, und die Kunſtwoͤrter ſind zu ſehr geſpart.
Wenn ich jemanden, als ein Gelehrter, uͤberzeugen
will, ſo muß meine Ueberzeugung kunſtmaͤßig ſeyn,
und ich mag denken, was ich will, ſo denke ich in
forma.
Meiner Abſchiedsrede kann ich mich ohne
einige Selbſtliebe nicht erinnern. Jch handelte von
den Rauchfaͤngen der alten Griechen, und inſonder-
heit der Lacedaͤmonier. Jn welcher Sprache ich
dieſelbe eigentlich gehalten habe; ſolches kann ich
Jhnen nicht ſagen. Wenn ich Jhre Ohren nicht
beleidigte, ſo wuͤrde ich ſie Ebraico-Latino-Grae-
cam
nennen. Dieſes letzte Meiſterſtuͤck meiner Faͤ-
higkeit mochte wohl Urſache ſeyn, daß man mir ein
vortreffliches Schulzeugniß gab. Jch werde es
mit nach Leipzig bringen, und alſo die Ehre haben,
Jhnen Brief und Siegel uͤber meine Geſchicklichkeit
zu zeigen.


Erſter Theil. HBis
[114]Von Erlernung der Sprachen

Bis hieher klingen meine Erzaͤhlungen ganz ver-
gnuͤgt. Sie werden den wichtigſten Umſtand noch
nicht einſehen koͤnnen, welcher mich bewogen hat, an
Sie zu ſchreiben. Sie ſollen ihn gleich erfahren.


Von der Schule gieng ich nach Hauſe zu meinem
Vater, welcher im Gebuͤrge ein adliches Rittergut
gepachtet hat. Meine Abſichten erfoderten, daß ich
unſerm gnaͤdigen Herrn ſogleich meine Aufwartung
machte. Er erkundigte ſich nach der Einrichtung
der Schule, und beſonders meines bisherigen Stu-
dierens. Jch erzaͤhlte ihm alles, was ich itzt ge-
ſchrieben habe, und ich glaube, ich erzaͤhlte ihm noch
mehr. Seine Aufmerkſamkeit machte mich beredt,
und ich verſprach mir ſchon im voraus die Anwart-
ſchaft auf eine Pfarre. Allein, wie ſehr betrog ich
mich in meiner Hoffnung! Urtheilen Sie ſelbſt von
meiner Beſtuͤrzung, die ich empfand, als mir derſel-
be mit einem ernſthaften Geſichte ungefaͤhr alſo ant-
wortete: „Gewiß, mein Freund, ich bedaure ihn,
„ſein Vater hat das Geld verloren, und er die
„Zeit verderbt. Er hat ſtudiert, und iſt keinem
„Menſchen zu etwas nuͤtze. Waͤre es nicht ver-
„nuͤnftiger geweſen, wenn er ſich auf diejenigen
„Wiſſenſchaften etwas mehr gelegt haͤtte, von de-
„nen er geglaubt, daß ſie ſo veraͤchtlich und uͤber-
„fluͤßig ſind? Muß er ſich nicht ſchaͤmen, daß er in
„Griechenland zu Hauſe, und in Sachſen ein
„Fremdling iſt? Daß er die Geſetze ſeines Solons
„verſteht, und nicht die geringſte Kenntniß von den
„Rechten ſeines Vaterlandes hat? Haͤtte er ſich
„nicht die Sprachen der Auslaͤnder wenigſtens nur
„in
[115]und Wiſſenſchaften.
„in etwas bekannt machen ſollen; wenn er ſie auch
„allenfalls nicht beſſer gelernt haͤtte, als die deut-
„ſche? Wie viel brauchen wir lateiniſche, und grie-
„chiſche Sprachmeiſter? Jch tadle deswegen nicht
„an ihm, daß er lateiniſch, und griechiſch gelernt
„hat. Dieſes muß ſeyn, und ein Gelehrter, der es
„nicht kann, koͤmmt mir eben ſo abgeſchmackt vor,
„als er, da er ſeine Mutterſprache nicht beſſer ver-
„ſteht. Was glaubt er wohl, daß ich mit meinem
„Schneider anfangen ſollte, wenn er nichts arbei-
„ten koͤnnte, als ſolche Kleider, wie ſie Seneca,
„und Sokrates getragen haben? Wuͤrde der Kerl
„nicht Hungers ſterben muͤſſen, wenn er ſonſt nichts
„gelernt haͤtte? Mit ſeiner Redekunſt lockt er kei-
„nen Hund aus dem Ofen, geſchweige, daß er die
„Gemuͤther der Zuhoͤrer ruͤhren ſollte, und ſeine
„ganze Logik beſteht aus Worten ohne Gedanken.
„Hat ihm denn niemand auf der Schule geſagt, wie
„unentbehrlich es heutiges Tages ſey, daß man die
„ſogenannten gelehrten Sprachen und Kuͤnſte, mit
„den neuern Wiſſenſchaften verknuͤpfe?“ Jch
konnte dieſes nicht laͤugnen. Jch geſtund, daß ei-
nige meiner Lehrer mich deswegen vielmals getadelt,
und mir meine Bemuͤhungen, als unnuͤtze, vorgewor-
fen haͤtten. Jch ſagte aber auch, daß andre mei-
nen Eifer aufgemuntert, und mir mit großer Zu-
verſicht prophezeihet haͤtten, ich wuͤrde dereinſt die
Zierde ihrer Schule, eine Bruſtwehr wider die ein-
reißende Barbarey und eine Stuͤtze des Vaterlan-
des ſeyn. Er ſchuͤttelte den Kopf, und ließ mich
mit vielen derben Vermahnungen von ſich gehen.


H 2Wie
[116]Von Erlernung der Sprachen

Wie meynen Sie wohl, mein Herr, daß mir
damals zu Muthe geweſen iſt? Wahrhaftig, ſo ſehr
hat ſich wohl Plato kaum geſchaͤmt, als ihn Dio-
genes durch einen nackigten Hahn, wegen ſeiner ir-
rigen Meynung, laͤcherlich machen wollte. Jch
gieng ganz beſtuͤrzt nach Hauſe.


Allein, das war noch nicht genug. Dieſer Tag
ſchien recht zu meiner Demuͤthigung auserſehen zu
ſeyn. Jch fand unſern Hofmeiſter, welcher ſeinen
Sohn mit vielem Eifer ausgeſcholten hatte. Jch
hoͤrte nur noch ſo viel, daß er zu ihm ſagte: „Du
„biſt mir ein braver Kerl! Du ſchickſt dich zu al-
„lem, wie der Eſel zum Lautenſchlagen. Ein Narr
„bleibt ein Narr, und wenn man ihn im Moͤrſel zer-
„ſtieße. Du kannſt nichts, du haſt nichts gelernt,
„du willſt nichts lernen, was ſoll denn endlich aus
„dir werden? Halte dein Maul, oder ‒ ‒! Fort!
„Packe dich! Geh mir aus den Augen!“ Jch er-
ſtaunte, als ich dieſes hoͤrte. Wie? dachte ich.
Unſer Hofmeiſter, ein Bauer, ein Mann, der weder
leſen noch ſchreiben kann; der verſteht die Rede-
kunſt! Sarkaſmus, Diaſyrmus, Ploki, Anaphora,
Ellipſis, Aſyndeton, ſind dieſes nicht alle die Figu-
ren, die ich itzt von ihm gehoͤrt habe? Und der Kerl
hat nicht ſtudiert! Wie geht das Ding zu? Jch
redete ihn an. Jch fragte ihn, warum er ſich ſo er-
eifert haͤtte? Was! ſprach er, das iſt mein Junge,
und ich ſoll mich nicht aͤrgern, daß ſich der Schlin-
gel auf die faule Seite legt? Neue Wunder! Un-
ſer Hofmeiſter verſteht auch die Logik. Jſt dieſes
nicht
[117]der Wiſſenſchaften.
nicht der buͤndigſte Schluß in Darii? War es
nicht eben ſo viel, als wenn er geſagt haͤtte: Wer
einen ungerathnen Sohn hat, welcher ſich auf die
faule Seite legt, der muß ſich aͤrgern; Atqui, ich
habe einen ſolchen ungerathnen Sohn, Ergo muß
ich mich aͤrgern.


Jch muß es Jhnen geſtehen, mein Herr, ich war
damals ganz außer mir. Die empfindlichen Reden
unſers gnaͤdigen Herrn machten mich nur unruhig,
dieſer Hofmeiſter aber ganz und gar kleinmuͤthig.
Gehoͤrt zu einem Gelehrten heutiges Tages mehr,
als Lateiniſch, Griechiſch, und Ebraͤiſch; kann auch
der einfaͤltigſte Bauer in Figuren und Schluͤſſen re-
den, ohne daß er weis, wie ſie auf griechiſch heißen,
oder in welcher Forme ſie ſind: Wozu nuͤtzt denn
mir mein Fleiß? Warum habe ich mir ſo viele
ſchlafloſe Naͤchte gemacht? Sollte es wohl in der
That vernuͤnftiger ſeyn, wenn man auf Schulen
ſich die Sprachen der Gelehrten zwar bekannt
macht, zugleich aber auch in den neuern Sprachen,
und, wie man ſie nennt, in den galanten Wiſſen-
ſchaften ſich uͤbt? Sollte es wohl laͤcherlich ſeyn,
wenn man ſich einbildet, die Erlernung einiger
Kunſtwoͤrter machte uns zu Rednern und Philo-
ſophen?


Nein, ich kann mich dieſes nicht bereden. Jch
gehe von der einmal gefaßten Meynung nicht ab.
Das ſey fern von mir. Und ich werde Jhnen,
mein Herr, ungemein verbunden ſeyn, wenn Sie
H 3mich
[118]Von Erlernung der Sprachen ꝛc.
mich zu meiner Beruhigung in dieſem Urtheile be-
ſtaͤrken wollen. Jch werde dafuͤr ohne alle Figur
in der beſten Forme verharren,


Dero
ergebenſter Diener,
Jrenaͤus Maſtigophorus,
ſonſt
Friedrich Geißelmann genannt.


P. S. Jch habe bey muͤßigen Stunden des Hie-
ronymus Comitem ſiue Lectionarium denen zum
Beſten in griechiſche Verſe uͤberſetzt, welche der la-
teiniſchen Sprache nicht maͤchtig ſind. Weil ich
nun glaube, daß es eine beſondre Beluſtigung des
Witzes abgeben kann: So uͤberſende ich Jhnen dieſe
Ueberſetzung zu beliebigem Gebrauche.



Lebens-
[[119]]

Lebenslauf
eines
Maͤrtyrers der Wahrheit.


H 4
[[120]][121]

Es iſt in Geſellſchaften nichts gewoͤhnlicher, als
daß einer den andern mit beſtaͤndigen Erzaͤh-
lungen von ſich ſelbſt, und ſeinen Faͤhigkeiten
unterhaͤlt. Wir ſind uns die naͤchſten; und weil
wir ſchuldig ſind, von unſerm Naͤchſten alles gutes
zu reden, ſo glauben wir, es erfodere die natuͤrliche
Pflicht, uns ſelbſt zu loben. Jch will die wahrhaf-
ten Urſachen dieſer thoͤrichten Eigenliebe nicht unter-
ſuchen; weil ich nicht geſonnen bin, mir auch nach
meinem Tode Feinde zu machen. Jch fuͤhre ſolches
nur um deswillen an, damit ich mein gegenwaͤrtiges
Vorhaben einigermaaßen rechtfertige. Bezeigſt du
ſo viel Geduld, andre anzuhoͤren, welche ſich bey le-
bendigen Leibe ruͤhmen: So goͤnne mir deine Auf-
merkſamkeit, wenn ich dir nach meinem Tode ſage,
wer ich geweſen bin. Das habe ich mit andern
Menſchen gemein, daß ich meinem Namen die Un-
ſterblichkeit wuͤnſche, wenn auch gleich der Koͤrper
verweſen muß. Wollteſt du mir aber verwehren,
meinen Lebenslauf zu erzaͤhlen: So wuͤrde ich vor
vielen ungluͤcklich ſeyn, an deren Verdienſte man
wenigſtens ſo lange gedenkt, als die Erbtheilung
waͤhrt. Die Liebe zur Wahrheit hat mich in ſo
geringe Umſtaͤnde geſetzt, daß meinen Tod beynahe
niemand, als der Leichenſchreiber, erfahren hat.
Haͤtte ich ein anſehnliches Vermoͤgen beſeſſen, ſo
wuͤrden meine ſchmerzlichbetruͤbten Erben durch eine
verhuͤllte Frau der ganzen Stadt haben anſagen
H 5laſ-
[122]Lebenslauf
laſſen, daß ihr Herr Vetter in Gott ſelig verſchieden
ſey; oder ich wuͤrde mir noch auf meinem Todbet-
te einen glaubwuͤrdigen Redner haben miethen koͤn-
nen, welcher der chriſtlichen Gemeine die ewige
Wahrheit bewieſen haͤtte, daß unter allen erſchreck-
lichen der Tod das erſchrecklichſte, und meine tu-
gendhafte Seele noch viel zu fruͤhzeitig aus ihrem
drey und ſechzig jaͤhrigen Koͤrper gefahren ſey. Al-
lein, meine Armuth hat mir nicht verſtattet, einen
ſo praͤchtigen Abſchied aus der Welt zu nehmen.
Jch bin geſtorben, als ein Maͤrtyrer der Wahrheit,
das iſt, arm und unbeweint; und wenn die Nach-
welt etwas von mir erfahren ſoll, ſo muß ich ihr ſol-
ches ſelbſt ſagen.


Daß ich im Jahre 1674, den 17 September, zu
Muͤhlberg, einem Staͤdtchen an der Elbe, geboren
bin, ſolches ſcheint kein Umſtand von beſondrer
Wichtigkeit zu ſeyn, und ich kann eben ſo wenig da-
fuͤr, als es ohne mein Verſchulden geſchehen iſt, daß
mein Vater nicht ein Hochedelgebohrner, Hochedler,
Veſter, und Hochgelahrter Erb-Lehn- und Gerichts-
herr auf drey Ritterguͤtern, ſondern nur, wenn ich
anders der Erzaͤhlung meiner Mutter glauben darf,
Meiſter Lollinger, Buͤrger und Schneider daſelbſt,
geweſen iſt. Jch brachte zwo Zaͤhne mit auf die
Welt, und lernte gleich im erſten Jahre reden, und
ſchon im andern war ich vermoͤgend, durch mein
Plaudern Vater und Mutter zu uͤbertaͤuben. Mei-
ne Aeltern hielten dieſes fuͤr eine vergnuͤgte Vorbe-
deu-
[123]eines Martyrers.
deutung, ich wuͤrde mit der Zeit ein großer Rechts-
conſulent werden. Sie irrten ſich aber, und die
Folge hat gelehrt, daß es ungluͤckliche Anzeigen
meiner Liebe zur Wahrheit geweſen ſind. Jch
fieng fruͤhzeitig an, ſolches merken zu laſſen. Kaum
hatte ich vier Jahre erreicht, als ich bemerkte, daß
mein Vater in ſeinem Berufe nicht gar zu gewiſſen-
haft war. Jch verwies ihm ſolches auf eine zwar
kindiſche, doch empfindliche, Art; und weil ich es
oft that, ſo gab er mir endlich, durch einen derben
Schilling, die erſten Fruͤchte der Wahrheit zu ſchme-
cken. Jedoch ward ich dadurch nicht furchtſam.
Mein Vater ſtarb, und hinterließ meine Mutter,
als eine junge Wittwe; mich aber, als einen uner-
zognen Knaben. Meine Mutter that uͤber dieſen
Tod recht jaͤmmerlich. Sie heulte und ſchrie; ſie
verſteckte ſich hinter einen großen Schleyer; ſie
wuͤnſchte mit ihrem Manne zu verweſen, und
ſchwur der ganzen Welt ab. Jch dachte auch nach
meiner kindiſchen Einfalt, es waͤre ihr Ernſt, und
ich blieb zwoͤlf Wochen lang in meinem Jrrthume.
Nach deren Verlaufe ward ſie aufgeraͤumt; ſie
ſcherzte, ſie lachte, ſie beſuchte ihre Nachbarn, und
ich ſah verſchiedne junge Leute aus- und eingehen,
ohne daß ſie boͤſe daruͤber ward. Kurz, ſie hatte
ihren Mann vergeſſen, und die Luſt war ihr vergan-
gen, mit ihm zu verweſen. Jch fragte, warum ſie
mich und andre ſo betrogen haͤtte? Ein Paar Ohr-
feigen aber waren die ganze Antwort. Einsmals
ſah ſie in dem Spiegel, und fragte mich, ob ſie nicht
ſchoͤn
[124]Lebenslauf
ſchoͤn waͤre? Jch ſagte: Nein; und dieſes brachte
mich um alle muͤtterliche Liebe. Sie konnte mich
nicht laͤnger um ſich leiden, und es ward beſchloſ-
ſen, mich auf eine Schule zu thun. Es geſchah
auch, und ich kam an einen Ort, wo ich etliche
Jahre lang die Gruͤnde der Sprache lernte. Man
fand es fuͤr gut, mich auf eine andre Schule zu
bringen; ich folgte willig, und man war anfaͤng-
lich wohl mit mir zufrieden; es dauerte aber nicht
lange. Einige meiner Mitſchuͤler waren faul; ich
verwies ihnen ihre Faulheit. Einige legten ſich
mit großem Eifer auf die Erlernung ſolcher Wiſſen-
ſchaften, von denen ich glaubte, daß ſie abgeſchmackt,
und einem Gelehrten nur zur Laſt waͤren. Einige
waren hochmuͤthig, weil ſie auf lateiniſch und grie-
chiſch zu ſagen wußten, wer ſie erſchaffen haͤtte.
Dieſe verſicherte ich, daß ich ſie ohne Lachen nicht
anſehen koͤnnte. Keiner aber dankte mir wegen
meiner Freymuͤthigkeit, und alle machte ich mir zu
Feinden. Der Zorn eines meiner Lehrer, von dem
ich das gegruͤndete Urtheil faͤllte, er habe mehr Staͤr-
ke in der Fauſt, als in der Gelehrſamkeit; dieſer
Zorn, ſage ich, war ſo nachdruͤcklich, daß ich alsbald
die Schule raͤumen, und in einer oͤffentlichen Ab-
bitte mich bedanken mußte, daß man mich ohne wei-
tern Schimpf gehen ließ.


Dieſer unvermuthete Streich haͤtte mich bald
zum Mammelucken gemacht. Jm erſten Schrecken
nahm ich mir feſt vor, die Wahrheit nimmermehr
wieder
[125]eines Maͤrtyrers.
wieder zu reden. Es gieng mir aber, wie denjeni-
gen Dichtern, welche die Verſe verſchwoͤren. Jch
zog auf die hohe Schule, von der ich mir einen ſehr
edlen Begriff gemacht hatte, wodurch ich aber meine
Unerfahrenheit verrieth. Leute, welche ihre einzige
Sorge ſeyn ließen, wie ſie den Pflichten gegen ihr
Vaterland Genuͤge leiſten, die Hoffnung ihrer Ael-
tern erfuͤllen, und deren ſaure Muͤhe, und aufge-
wandte Koſten vergelten koͤnnten; Leute, welche
diejenigen Wiſſenſchaften mit Ernſte ausuͤbten, nach
denen ſie ſich nennten; ſolche Leute dachte ich zu
finden. Jch irrte mich. Gleich den erſten Abend
erſchreckte mich eine Geſellſchaft trunkner Menſchen,
welche unter Schreyen und Wetzen nach ihren
Wohnungen eilten. Anfaͤnglich glaubte ich, es
ſey ein Auf lauf, oder wenigſtens Feuer in der Gaſſe.
Jch ſah durchs Fenſter; in dem Augenblicke fiel ihr
Anfuͤhrer in den Koth, und ich hoͤrte aus den Re-
den der andern, daß ſie ſich bemuͤhten, einem Meiſter
der Weltweisheit wieder auf die Beine zu helfen.
Dieſe Begebenheit machte mich aufmerkſam. Jch
beobachtete die Sitten meiner Mitſchuͤler genauer.
Jch lernte einen kennen, welcher der Gottesgelahrt-
heit eifrigſt Beflißner war, und ſich ruͤhmte, er
habe ſich in der Schenke zweymal feſt geſoffen, wie
er es nannte. Ein Landsmann von mir wollte ſich
die Wuͤrde eines Lehrers beider Rechte erſtehen,
weil er ſich innerlich uͤberzeugt fand, daß nimmer-
mehr etwas aus ihm werden wuͤrde. Eine Sum-
me von zwoͤlf Thalern machte ihn zum Autor und
Re-
[126]Lebenslauf
Reſpondenten; und weil ich ihm, zu mehrerer Si-
cherheit, ſeine Diſputation ins Deutſche uͤberſetzen
mußte, ſo verſprach er mir zur Vergeltung ein an-
ſehnliches, welches er aber noch an demſelben Abende
verſpielte, und mich auf ſeine bevorſtehende Heirath
vertroͤſtete. Mein Stubennachbar erlernte die
Medicin, gieng aber lieber mit fleiſchigten Koͤrpern,
als ekelhaften Gerippen, um, und verfluchte den
abgeſchmackten Eigenſinn ſeiner Lehrer, welche ihn
mit ſo vielen griechiſchen Woͤrtern martern woll-
ten. Dieſe und hundert dergleichen thoͤrichte Exem-
pel fielen mir taͤglich in die Augen; und ich ſollte
ſchweigen? Und ich ſollte die Wahrheit nicht re-
den? Jch that mir alle Gewalt an, meinen Schwur
nicht zu brechen, und manche, die einen ſchoͤnen Ge-
danken, oder artigen Einfall haben, ſolchen aber
nicht an den Mann bringen koͤnnen, empfinden das
innerliche Nagen und den unruhigen Schmerz lan-
ge nicht ſo ſehr, als ich ihn dazumal empfand.
Endlich uͤberwand die Natur allen Zwang. Jch
ſagte es ungeſcheut, daß das Verfahren der mei-
ſten meiner Mitſchuͤler unverantwortlich und un-
ſinnig waͤre. Bey aller Gelegenheit ſtellte ich ih-
nen ihre Thorheit ſo wohl ernſthaft, als laͤcherlich,
vor. Jch ſchilderte zu verſchiednenmalen nicht al-
lein die Laſter, ſondern auch die Perſonen, auf
eine ſatyriſche Art in Verſen ab; und wenn ich die-
ſes that, ſo empfand ich bey mir ſelbſt eine doppelte
Wolluſt. Allein, meine Ehrlichkeit, mein Eifer
fuͤr die Wahrheit, meine billigſten Abſichten wur-
den
[127]eines Maͤrtyrers.
den ſchlecht belohnt. Man mied meine Geſell-
ſchaft, man verachtete, man verſpottete, man ver-
abſcheute mich, und ich erfuhr, daß einige ſich ver-
ſchworen hatten, mich oͤffentlich zu beſchimpfen.
Es waͤre auch gewiß geſchehen, wenn ich nicht bey
Zeiten die Vorſicht gebraucht, und mich an einen
andern Ort begeben haͤtte, um die angefangnen
Studien zu vollenden.


Das Schickſal fuͤhrte mich zu einem Manne,
der mir freyen Unterhalt gab, und mir große Ge-
faͤlligkeiten erwies. Er glaubte, ſeine Gemuͤths-
neigung habe mit der meinigen viele Aehnlichkeit;
und dieſes bewog ihn zum Mitleiden. Jch kann
nicht ſagen, daß er ein hitziger Verehrer der Wahr-
heit geweſen waͤre. Seine große Leidenſchaft be-
ſtund in der Begierde, Recht zu behalten, ſeine vor-
gefaßte Meynung zu vertheidigen, und mit allen
aufs unbarmherzigſte zu verfahren, welche anders
urtheilten. Er war einer von denen Gelehrten,
welche die Faͤhigkeit nicht haben, ſelbſt etwas nuͤtz-
liches zu ſchreiben, aber mit deſto groͤßerm Vorwitze
die Schriften andrer durchwuͤhlen. Ein Comma,
ein Punkt, ein einziger Buchſtabe war vermoͤgend,
ihn in die groͤßte Wuth zu bringen, und diejenigen
in den Bann zu thun, welche ihm widerſprachen.
Er beſaß einen erſtaunenden Vorrath von Buͤchern
nach ſeinem Geſchmacke; wie er denn glaubte, der
ſey kein rechtſchaffner Gelehrter, welcher nicht we-
nigſtens ſechs bis acht Pfund Buͤcher geſchrieben
habe.
[128]Lebenslauf
habe. Es fiel ihm ein, mich zu fragen, was ich
von ihm hielte? Jch erblaßte uͤber dieſe Anfrage.
Sollte ich ſprechen, er waͤre ein geſchickter und dem
gemeinen Weſen nuͤtzlicher Mann, ſo wuͤrde er mich
mit neuen Wohlthaten uͤberhaͤuft haben. Aber
alle dieſe mußte ich verlieren, wenn ich die Wahr-
heit redete. Jch redete ſie aber doch. Jch ſagte,
daß Maͤnner von ſeinen Faͤhigkeiten bey dem Baue
der Gelehrſamkeit unentbehrlich waͤren; indem ſie
den Schutt wegfuͤhren muͤßten, welcher den Bau-
leuten hinderlich ſey. Mehr brauchte ich nicht zu
ſagen, mich zu verderben. Jch mußte auf der
Stelle aus dem Hauſe, unter Begleitung tauſend
lateiniſcher Schimpfwoͤrter, welche ich vorher mein
Tage nicht gehoͤrt und erſt lange hernach in Bur-
manns Schriften geleſen habe.


Der Verluſt dieſes Maͤcenaten ward mir durch
einen Rechtsgelehrten reichlich erſetzet. Jn den
Landesgeſetzen war er ganz unerfahren, deſto geuͤb-
ter aber in den roͤmiſchen Rechten. Es gieng mir
wohl bey ihm; weil man ihm aber hinterbrachte,
ich haͤtte mich verlauten laſſen, daß er mehr Ge-
ſchicklichkeit habe, eine Rede pro roſtris zu halten,
als eine Ruͤge zu machen, ſo hub er ſeine Wohltha-
ten gegen mich auf, und bewies mir ex l. 1. C. de
donat. reuoc.
daß ich ihm nicht wieder unter die
Augen kommen ſollte.


Ein unverhoffter Zufall brachte mich in eine
Stadt, wo es ſchien, ich wuͤrde den Grund zu mei-
nem
[129]eines Maͤrtyrers.
nem kuͤnftigen Gluͤcke legen. Es gieng mir alles
nach Wunſche, und ich weis nicht, ob die Leute da-
ſelbſt die Wahrheit beſſer vertragen konnten, oder
ob es daher kam, daß ich nicht alles oͤffentlich ſagte,
was ich bey mir ſelbſt dachte. Man gab mir ein
Amt, welches nicht anſehnlich, aber doch austraͤg-
lich, war. Jch hatte es etliche Jahre verwaltet,
als eine Gelegenheit erfoderte, einen Gluͤckwunſch
zu verfertigen. Jch handelte darinnen von der
Vernunft, und ließ ihn drucken, ob ſich gleich meine
Freunde mit allen Kraͤften dawider ſetzten. Ein
Mann, welchen ſein Amt ehrwuͤrdig machte, fand
ſich dadurch beleidigt. Es wuͤrde verdaͤchtig ge-
laſſen haben, wenn er ſeine Perſon haͤtte vertheidi-
gen wollen, er vertheidigte alſo Schrift und Reli-
gion. Auf eine unſchuldige Art hatte ich das Wort
Broſamen mit einfließen laſſen. Dieſes war ge-
nug, Himmel und Hoͤlle zu bewegen. Ein Ver-
aͤchter der Schrift, ein Religionsſpoͤtter, ein Atheiſt;
dieſes waren die gelindeſten Namen, die man mir
gab. Einige glaubten gar, ich ſey der Antichriſt.
Kurz, ich ſollte mich oͤffentlich auf den Mund ſchla-
gen, oder Amt und Stadt meiden. Jch waͤhlte
das Letzte, und mußte zwoͤlf Jahr in der Jrre ge-
hen, ehe ich den heiligen Zorn meiner Feinde ver-
winden konnte.


Endlich ſchien mein widriges Schickſal verſoͤhnt
zu ſeyn. Man bot mir ein Amt an, mit dem Be-
dinge, ein Frauenzimmer zu heirathen. Hunger
Erſter Theil. Jund
[130]Lebenslauf
und Armuth uͤberwanden allen Zweifel. Meine
bisherigen Umſtaͤnden hatten mich ſo ſchuͤchtern ge-
macht, daß ich mir vieles gefallen ließ, welches mir
ehedem unertraͤglich geweſen ſeyn wuͤrde. Meine
Frau liebte Geſellſchaft; ſie ſpielte. Vermoͤgen
und Einnahme ward auf Putz verwendet, die
Haushaltung verſaͤumt, und mir zugemuthet, vie-
les zu uͤberſehen, wozu mehr, als eine ordentliche
Geduld, gehoͤrt. Meine Geduld ward ermuͤdet.
Jch ſagte, ein Weib muͤſſe ſich bemuͤhen, ihrem
Manne zu gefallen, alle uͤbermaͤßigen Ausgaben
vermeiden, der Wirthſchaft vernuͤnftig vorſtehen,
und ſich keiner Herrſchaft anmaaßen, welche Schrift
und Ordnung nur den Maͤnnern gelaſſen haͤtten.
Aber, wie ungluͤcklich machten mich dieſe Wahrhei-
ten! Jch empfand, daß der Zorn eines Weibes
ſchaͤdlicher ſey, als der Zorn aller andern Creatu-
ren. Man hieß mich einen nackichten Bettler, ei-
nen verlaufnen Kerl, den man auf der Straße auf-
geleſen haͤtte, der nicht werth ſey, daß er durch die
Heirath eines liebenswuͤrdigen Frauenzimmers in
eine ſo anſehnliche Schwaͤgerſchaft aufgenommen
worden; ja, es fehlte wenig, daß ich nicht meiner
Frau eine kniende Abbitte haͤtte thun muͤſſen, wel-
che aber, ich weis nicht, ob zu meinem Gluͤcke
oder Ungluͤcke, unvermuthet ſtarb. Die Menge
meiner Feinde verfolgte mich alsdann unaufhoͤr-
lich. Hatte ich keines Menſchen geſchont, ſo
war auch nunmehr niemand, der ſich meiner
annahm. Man wußte meine Vorgeſetzten auf
eine
[131]eines Maͤrtyrers.
eine tuͤckiſche Art zu gewinnen, und mir Verbre-
chen aufzubuͤrden, an denen ich gar keine Schuld
hatte. Jch ſollte mich verantworten, und meine
Fehler geſtehen; ich behauptete aber, ich waͤre
unſchuldig, meine Feinde waͤren Luͤgner, und
meine Vorgeſetzte geblendete und parteyiſche
Richter. Dieſes war Urſache genug, mich zu
verdammen. Die Entſetzung von meinem Amte,
die Entziehung meines wenigen Vermoͤgens und
ein achtjaͤhriges Gefaͤngniß waren die Belohnun-
gen meiner offenherzigen Redlichkeit. Jch ward
endlich freygelaſſen, und man legte mir auf, Stadt
und Land zu raͤumen. Jch that es, und ſeit-
dem iſt es mir unmoͤglich geweſen, irgendswo
mein Gluͤcke zu finden; vielmehr ſah ich mich ge-
zwungen, den Reſt meiner Jahre auf eine ſo
niedertraͤchtige Art hinzubringen, daß ich Be-
denken trage, ſolches der Nachwelt wiſſen zu laſ-
ſen. Jch bin endlich nackend und bloß, ohne
Freunde, in der aͤußerſten Verachtung, jedoch
zu meiner Beruhigung, als ein Maͤrtyrer der
Wahrheit, im Jahre ‒ ‒ ‒ geſtorben, und hat
mich gleich die ganze Welt verabſcheut, ſo bin ich
doch mit mir ſelbſt zufrieden geweſen.



Der Lebenslauf dieſes ſo genannten Maͤrty-
rers der Wahrheit hat mir merkwuͤrdig zu ſeyn
geſchienen. Er iſt wirklich im Jahre 1738 in ſei-
J 2ner
[132]Lebenslauf eines Maͤrtyrers.
ner Wohnung todt gefunden worden, wo man ver-
muthet, daß er vor Froſt und Hunger geſtorben
ſey. Sein Koͤrper ward auf die Anatomie ver-
kauft, um die noͤthigſten Schulden zu bezahlen,
und ich glaube, daß ſein betruͤbtes Beyſpiel allen
denen zur nachdruͤcklichen Warnung dienen kann,
welche ſich einbilden, es ſey ein großmuͤthiger Eifer
fuͤr die Wahrheit, wenn ſie ohne Anſehen der Per-
ſon, ohne Freunde und Vorgeſetzte zu ſchonen, das-
jenige mit einer unverſchaͤmten Stirne andern un-
ter die Augen ſagen, was ihnen oftmals Eigenliebe,
Hochmuth, Undank, und Unvernunft in den
Mund legen.



Send-
[[133]]

Sendſchreiben
von der
Zulaͤßigkeit der Satyre.


J 3
[[134]][135]
Mein Herr,

Sie verlangen meine Gedanken von der Saty-
re zu wiſſen. Jch ſoll Jhnen ſagen, ob ich
ſolche fuͤr zulaͤßig halte, und was vornehm-
lich bey deren Verfertigung zu beobachten ſey.
Vielleicht koͤnnte ich der Muͤhe, davon zu ſchreiben,
uͤberhoben ſeyn, wenn ich Sie auf diejenigen Buͤ-
cher wieſe, welche von beiden umſtaͤndlich gehandelt
haben. Jch nehme aber dennoch dieſe Arbeit mit
Vergnuͤgen auf mich, weil ich glaube, der Unter-
richt eines Freundes werde hierinnen mit noch meh-
rerem Nachdrucke bey Jhnen wirken, als die Re-
geln fremder Perſonen. Sie haben mich gebeten,
Jhnen meine Gedanken davon zu ſchreiben; Sie
duͤrfen Sich alſo um ſo viel weniger wundern,
wenn Sie keine philoſophiſche Abhandlung erhal-
ten; und weil es ein Brief iſt, den ich an Sie ſchi-
cke, ſo bin ich hoffentlich entſchuldigt, wenn ich keine
ſyſtematiſche Ordnung dabey beobachte.


Von der Zulaͤßigkeit der Satyre weitlaͤuftige
Gruͤnde beyzubringen, ſcheint mir uͤberfluͤßig zu
ſeyn. Jch kenne Jhre angeborne Neigung zu die-
ſer Art von Schriften, und ich glaube, es wuͤrde
mir ſchwerer fallen, Sie zu uͤberzeugen, daß ſie ver-
werflich waͤren, als zu beweiſen, daß ich ſie aller-
dings fuͤr ein noͤthiges Stuͤck der Sittenlehre halte.
So lange eine Satyre dieſe Abſicht behaͤlt, daß ſie
die Laſter laͤcherlich machen, und den Menſchen ei-
J 4nen
[136]Von der Zulaͤßigkeit
nen Abſcheu davor beybringen will: So lange ſehe
ich nicht, warum ſie tadelhafter ſeyn ſoll, als die
tiefſinnigſte Abhandlung eines moraliſchen Satzes,
welchen man durch eine Kette von Beweiſen buͤn-
dig, und durch die Zeugniſſe beruͤhmter Maͤnner,
oder gar der goͤttlichen Schrift anſehnlich machen
will. Jch getraue mir ſo gar, zu behaupten, daß
ſie bey unterſchiednen Faͤllen, und bey einer gewiſ-
ſen Art von Laſtern beynahe nuͤtzlicher ſey, als die
ernſthafteſte Strafpredigt. Wenn wir die Laſter
laͤcherlich machen; ſo greifen wir die Menſchen an
demjenigen Orte an, wo ſie am empfindlichſten ſind.
Jhre Eigenliebe leidet darunter, und wenn ſie nicht
ſchon gar zu ſehr verwildert ſind, ſo muͤſſen ſie ei-
nen Abſcheu vor derjenigen Angewohnheit bekom-
men, welche ſie bey Vernuͤnftigen zum Geſpoͤtte
macht. Ein Exempel wird meinem Satze ein
mehreres Licht geben. Jch will es aus demjeni-
gen Theile der Beluſtigungen nehmen, welchen Sie
mir zugeſchickt haben *. Wenn ich zum Harpax
ſagen wollte: Schaͤmſt du dich nicht, du Geizhals,
daß du mit ſo aͤngſtlicher Sorge, mit ſo ungerech-
ten Haͤnden, unter ſo vielem Seufzen der Armen,
eine Hand voll Erde, ein beſchwerliches, ein ver-
gaͤngliches Gut an dich zu bringen ſuchſt, welches
du doch in der Welt laſſen mußt, welches dir dein
Leben kummervoll, und den Tod erſchrecklich macht!
Was meynen Sie, daß dieſes beym Harpax fuͤr ei-
nen
[137]der Satyre.
nen Eindruck ſchaffen duͤrfte? Spraͤche ich: Be-
denke doch, Harpax, was du thuſt! Der Geiz iſt ja
eine Wurzel alles Uebels, und die da reich werden
wollen, fallen in Verſuchung und Stricke, und viel
thoͤrichte und ſchaͤdliche Luͤſte, welche die Menſchen
ins Verderben, und Verdammniß verſenken! Ja,
ja, wuͤrde Harpax ſprechen, unſer Pfarrer ſagte es
am Sonntage auch. Er wuͤrde gaͤhnen, und die-
ſes waͤre der ganze Nutzen von meiner Sittenlehre.
Erzaͤhlen Sie ihm aber die Fabel vom kranken Hun-
de, welcher nur um deswillen bey ſeinem Sterben un-
ruhig und aͤngſtlich iſt, weil er die verſcharrten
Beine nicht noch vor ſeinem Ende freſſen, oder mit
ſich nehmen ſoll, welcher gegen ſeinen vertrauteſten
Freund argwoͤhniſch iſt, welcher ſich ſeine beſten
Knochen herzuſchleppen laͤßt, um ſolche wenigſtens
noch einmal anzuriechen, welcher mitten unter
Seufzern und Geluͤbden fuͤr ein laͤngeres Leben
ſeine geizige Seele von ſich blaͤſt. Erzaͤhlen Sie ihm,
ſage ich, dieſe Fabel; was gilts, Harpax wird ſich
ſchaͤmen, und wenigſtens eine innerliche Ueberzeu-
gung empfinden, daß ſeine Leidenſchaft thoͤricht iſt.


Aber; wer hat euch den Beruf gegeben, andre
zu tadeln? Seyd ihr ſelbſt ohne Fehler, daß ihr
euch um die Maͤngel des Naͤchſten bekuͤmmern
koͤnnt? Schreibt ihr wohl eure Satyren aus Lie-
be, zu beſſern, und nicht vielmehr aus Begierde,
zu lachen? Dieſes ſind gemeiniglich die Einwuͤrfe,
die man macht. Sie ſind leicht zu beantworten.
Wer mir, als einem Liebhaber der Weltweisheit,
die Macht gegeben hat, Sittenlehren zu ſchreiben,
J 5von
[138]Von der Zulaͤßigkeit
von eben dem habe ich auch den Beruf, Satyren
zu verfertigen. Daß ich ſelbſt nicht ohne Fehler
bin, ſolches benimmt dem Werthe der Sache nichts.
Mancher zeigt den Menſchen den Weg zum Him-
mel, den er vielleicht ſelbſt nicht geht, und den-
noch bleibt ſein Vortrag eine goͤttliche Wahrheit,
welcher ich zu folgen verbunden bin. Die Er-
bauung muß allezeit die Hauptabſicht einer Sa-
tyre ſeyn. Daß ich aber uͤber die Fehler lache; daß
ich ſie andern laͤcherlich mache; dieſes iſt ein un-
ſchuldiges Vergnuͤgen, welches man mir wohl goͤn-
nen kann.


Auf ſolche Art wuͤrde ich die Einwuͤrfe beant-
worten: wir wollen aber doch auch denjenigen ken-
nen lernen, welcher ſie gemacht hat. Es iſt nie-
mand anders, als der, welcher ſich getroffen merkt.
Pruͤfen Sie dieſe Grundregel, Sie werden ſie allemal
wahr befinden. Jch will bey meinem obigen Exempel
bleiben. Wer wird uͤber die Fabel vom Hunde
ſchreyen? Gewiß nicht der junge Herr. Dieſer
wolluͤſtige Verſchwender haͤlt einen Geizigen fuͤr
ſeinen Todfeind. Er wuͤrde daruͤber gelacht ha-
ben, wenn er auch ſeinen eignen Vater darinnen
abgeſchildert gefunden haͤtte. Harpax ſieht ſein
Bildniß; er erblickt ſich in ſeiner natuͤrlichen Ge-
ſtalt; dieſe koͤmmt ihm abſcheulich vor. Er ſchmaͤht
auf den Spiegel; er flucht demjenigen, der ihm ſol-
chen vorhaͤlt. Harpax iſt der einzige, welcher Jhren
Beruf hierzu wiſſen will, welcher Jhnen Jhre eig-
nen Unvollkommenheiten vorwirft, welcher Jhre
Abſichten tadelhaft macht.


Allein,
[139]der Satyre.

Allein, die Satyre hat noch andre Feinde, wel-
che behutſamer gehen. Sie loben die Einrichtung
und Abſicht derſelben; ſie geben aber nicht zu, daß je-
mals ein Laſterhafter dadurch gebeſſert worden ſey.
Jchweis nicht, ob dieſe Wahrheit allgemein iſt.
Beſſert die Satyre nicht allemal den Laſterhaften;
ſo haͤlt ſie doch vielleicht andre ab, laſterhaft zu wer-
den. Fiele aber auch gleich beides weg; ſo muß
die Satyre doch in ihrem Werthe bleiben. Nicht
in ihr, ſondern in den Gemuͤthern der Menſchen
waͤre der Fehler zu ſuchen. Wenn die Schaubuͤh-
ne ſo eingerichtet iſt, wie ſie ſeyn ſoll: So verdient
ſie alle diejenige Hochachtung, welche man einer
Sittenſchule ſchuldig iſt; und dennoch halte ich es
fuͤr muͤhſam, die Beyſpiele derer beyzubringen, wel-
che durch die Schaubuͤhne gebeſſert worden ſind.
Wir ſtehen dabey; wir lachen uͤber die Thorheiten;
wir haben Mitleiden mit der unterdruͤckten Tugend;
wir koͤnnen uns kaum der Thraͤnen enthalten, wenn
wir das ſtandhafte Chriſtenthum der Zayre ſehen:
Werden wir aber allemal tugendhafter? Werden
wir beßre Chriſten? Wenigſtens liegt der Fehler
nicht an der Schaubuͤhne.


Man koͤnnte noch ſagen: Durch die Satyre
erregen wir den Zorn andrer gegen uns; wir ma-
chen uns Feinde: waͤre es nicht alſo den Regeln
der Klugheit gemaͤß, ſich mit einer ſo gefaͤhrlichen
Arbeit gar nicht zu vermengen? Jch weis beynahe
nicht, was ich hierauf antworten ſoll.


Die
[140]Von der Zulaͤßigkeit

Die Wahrheit, ſo edel ſie iſt, macht dennoch
auch Feinde. Es wuͤrde unbedachtſam ſeyn, wenn
man bey aller Gelegenheit die Wahrheit ſagen woll-
te, und ich glaube, wer Satyren ſchreiben will, der
muß ſeine Umſtaͤnde wiſſen, und allerdings vorſich-
tig ſeyn. Vielleicht habe ich im Nachfolgenden Ge-
legenheit, mehr davon zu reden.


Dieſes ſind ungefaͤhr meine Gedanken von der
Zulaͤßigkeit der Satyre. Die Lehre, von dem,
was bey ihrer Verfertigung zu beobachten ſey, iſt
von einem viel weitlaͤuftigern Umfange. Jch will
die umſtaͤndliche Abhandlung davon bis zu einer
andern Gelegenheit, oder bis zu unſrer muͤndlichen
Unterredung ausſetzen, voritzt aber nur etwas erin-
nern. Es wuͤrde ſchon genug ſeyn, wenn ich hier
bloß dasjenige wiederholte, was ich oben von der
Abſicht der Satyre geſagt habe. Soll dieſe Abſicht
vernuͤnftig ſeyn, ſo muß ſie ſuchen, die Laſter laͤcher-
lich zu machen, und den Menſchen einen Abſcheu
davor beyzubringen.


Was alſo kein Laſter iſt, mit dem hat die Saty-
re nichts zu thun. Liſette ſchielt. Ein muthwilli-
ger Kopf, welcher gern ſinnreich heißen, und in ei-
ner Geſellſchaft die luſtige Perſon abgeben wollte,
beobachtet an Liſetten dieſen natuͤrlichen Fehler.
Waͤre er vernuͤnftig, ſo wuͤrde er hier eine Gele-
genheit finden, an denjenigen mit dankbarem Ge-
muͤthe zu denken, welcher ihm geſunde und muntre
Augen gegoͤnnt hat; allein er iſt zu leichtſinnig
dazu. Er will lachen; er will andre zu lachen ma-
chen,
[141]der Satyre.
chen, und Liſette muß der unſchuldige Gegenſtand
ſeiner ausſchweifenden Einfaͤlle ſeyn. Aber Li-
ſette thut verliebt, ſie wirft ihre ſchielenden Blicke
mit einer wolluͤſtigen Frechheit in der Kirche herum.
Nunmehr wird ſie laͤcherlich; nunmehr giebt ſie die
ſchoͤnſte Gelegenheit zu einer Satyre.


Eine der gemeinſten Regeln iſt dieſe: Die Sa-
tyre ſoll die Laſter tadeln, nicht aber die Perſo-
nen. Jch muß dieſer Regel Beyfall geben, und
ſie ſcheint aus demjenigen Satze zu fließen, welchen
ich oben zum Grunde gelegt habe. Dennoch aber
halte ich auch diejenigen nicht fuͤr ſtrafbar, welche
ihre Gedanken bey Verfertigung der Satyre auf
eine gewiſſe Perſon richten. Meine Begriffe, mei-
ne Ausdruͤckungen, meine ganze Arbeit wird viel
lebhafter ſeyn, wenn ich ein Urbild vor mir ſehe.
Jch tadle alsdann nicht die Perſon, ich tadle das
Laſter, welches dieſe an ſich hat. Leſe ich den Ab-
riß, welcher von dem leoniſchen Doctor in den Be-
luſtigungen gemacht worden iſt: So werde ich viel-
mehr geruͤhrt, wenn ich an Arganten denke; und
vielleicht hat der Verfaſſer auch an ihn gedacht, um
das Bild eines leoniſchen Doctors recht nach dem
Leben zu ſchildern. Deswegen aber darf ich nicht
ſagen, daß dieſes eine Satyre auf Arganten ſey. Sie
geht auf alle diejenigen, welche eben ſo, wie unſer
Argant, ihre faule Unwiſſenheit unter dem Doctor-
huthe verbergen wollen.


Gemeiniglich verſtehen wir unter dem Worte
Laſter nur die drey Hauptfehler, den Ehrgeiz, Geld-
geiz,
[142]Von der Zulaͤßigkeit
geiz, und die Wolluſt. Jch glaube, es giebt noch
einige Sachen, welche man ſo gar fuͤglich unter ei-
nes von dieſen dreyen Laſtern nicht bringen kann,
und mit denen die Satyre doch auch zu thun hat.
Jch weis nicht, ob ich es werde ehrgeizig, geld-
geizig oder gar wolluͤſtig nennen koͤnnen, wenn
das Frauenzimmer Jhres Orts in der groͤßten
Kaͤlte mit dem Faͤcher geht, oder ein artiger Herr
im Sturme und Regen den Huth unter dem Arme
traͤgt. Dergleichen Gewohnheiten ſind nicht la-
ſterhaft, aber vielleicht laͤcherlich; und es bleibt ei-
nem Satyrenſchreiber unverwehrt, uͤber beide zu
lachen. Mit einigen Dingen der Gelehrſamkeit
hat es gleiche Bewandniß. Jch will nur ein ein-
ziges anfuͤhren. Wer uͤber diejenige Schreibart
ſpotten wollte, die in oͤffentlichen Gerichten einge-
fuͤhrt iſt, und die man den Stylum curiae nennt,
der wuͤrde unrecht handeln. Wenn aber Javole-
nus an ſeine Schoͤne ein Schreiben ſchickt, das ei-
ner Ruͤge aͤhnlicher ſieht, als einem Liebesbriefe; ſo
iſt Javolenus ein Pedant. Er iſt nicht laſterhaft;
er verdient aber doch, daß man ihm ſeine Thorheit
vorruͤckt.


Wenn die Satyre die Laſter der Menſchen
ſtraft: So vertritt ſie die Stelle der Wahrheit.
Gleichwie aber dieſe keine Verſtellung, noch einiges
Anſehen der Perſon, leidet; alſo koͤnnte es auch
ſcheinen, daß die Satyre keines Menſchen ſchonen
duͤrfe. Wenn ich dieſes behauptete, ſo wuͤrden
ſonder
[143]der Satyre.
ſonder Zweifel ſehr viele, und vielleicht die meiſten
jungen Leute, auf meine Seite treten. Jch bin
aber ganz andrer Meynung. So verhaßt mir die
Luͤgen iſt, ſo unbeſonnen ſcheint es zu ſeyn, wenn
ich allemal die Wahrheit reden wollte. Kann ich
durch ein vernuͤnftiges Stilleſchweigen ſo wohl
meinen Pflichten, als der geſelligen Klugheit, Gnuͤ-
ge thun, ſo thue ich am beſten, wenn ich ſchweige.
Jch bin verbunden, eher mein Leben zu laſſen, als
meinen Glauben zu verlaͤugnen. Wuͤrden Sie
aber denjenigen nicht fuͤr unſinnig halten, welcher
ſeinen Glauben ohne Noth nur darum bekennte,
damit er ſterben moͤchte. Die Pflichten gegen uns
ſind ſtaͤrker, als die Pflichten, welche wir andern
ſchuldig ſind; und der Schade, welchen wir durch
eine unuͤberlegte Freymuͤthigkeit uns ſelbſt augen-
ſcheinlich zuziehen, iſt wichtiger, als der ungewiſſe
Nutzen, den wir durch eine unbedachtſame Satyre
zu ſchaffen ſuchen. Jch mag hier nicht unter-
ſuchen, ob wir auch allemal die vernuͤnftige Ab-
ſicht haben, zu nutzen. Vielleicht iſt es eine Be-
gierde, bekannt zu werden; vielleicht iſt es nur ein
Muthwille, der uns die Feder in die Haͤnde giebt.
Wie unvermerkt kann man ſich ſelbſt betruͤgen! Es
giebt Perſonen, welche ihre Gewalt gefaͤhrlich,
und ihr Stand ehrwuͤrdig macht, welche wir als
Goͤnner und Befoͤrderer verehren muͤſſen. Sie
haben vielleicht ein tadelnswuͤrdiges Laſter an ſich;
aber huͤten Sie Sich dieſes Laſter auzugreifen.
Es bleiben noch tauſend andre Fehler uͤbrig, wo-
mit
[144]Von der Zulaͤßigkeit
mit ſich Jhre Satyre beſchaͤfftigen kann. Wer
wollte die Trunkenheit nicht fuͤr ſtrafenswerth ach-
ten? Stellen Sie Sich aber zween Soͤhne vor,
welche ihren trunknen Vater auf der Erde und
entbloͤßt liegen ſehen. Der eine lacht daruͤber, er
ruft die Nachbarſchaft herzu; er zeigt ihr an ſei-
nem Vater, wie ſchaͤndlich die Trunkenheit ſey, er
weiſt ihr deſſen Bloͤße. Der andre wendet ſein
Geſichte ab, er bedeckt den entbloͤßten Vater.
Welcher von dieſen beiden Soͤhnen iſt wohl der
vernuͤnftigſte?


Von der Schreibart, deren man ſich in der
Satyre zu bedienen hat, will ich nur noch ein paar
Worte ſagen. Mein Vortrag muß ordentlich
ſeyn; denn ich will andre uͤberzeugen. Er muß
nicht ausſchweifend ſeyn, und meine Ueberlegung
muß mehr Antheil daran haben, als meine Einbil-
dungskraft. Aber dunkel darf er auch nicht ſeyn;
denn ich will den Verſtand meiner Leſer nicht er-
muͤden, ſondern beluſtigen. Alle niedertraͤchtige,
alle anſtoͤßige Schreibart muß ich ſorgfaͤltig ver-
meiden; ſonſt werde ich mehr ſchaden, als erbauen.
Viele glauben, recht beißend zu ſchreiben, wenn
ſie ſchmaͤhen und ſchimpfen. Allein dieſes ſchickt
ſich fuͤr einen Sittenlehrer nicht, welcher die Laſter
und Fehler der Menſchen laͤcherlich machen will.
Vielmehr koͤnnte man ſie unter die muthwilligen
Jungen zaͤhlen, welche die Voruͤbergehenden mit
Kothe werfen.


Jch
[145]der Satyre.

Jch muß noch etwas erwaͤhnen, welches be-
ſonders Jhnen nuͤtzlich ſeyn kann. Sie haben eine
Lebensart erwaͤhlt, worinnen Sie, wie ich hoffe,
kuͤnftighin Gelegenheit haben werden, oͤffentlich
und an heiliger Staͤtte zu reden. An dieſem Orte
muͤſſen Sie die Laſter ſtrafen; aber huͤten Sie
Sich, daß Sie ſie nicht alsdann laͤcherlich zu ma-
chen ſuchen. Sie werden mir dieſe Warnung zu
gute halten. Jch weis Jhre Neigung, und kenne
große Maͤnner, welche ihre Lebhaftigkeit in dieſen
Fehler gebracht hat. Oftmals vergeht man ſich
wohl gar ſo weit, daß man auf der Kanzel uͤber
ſolche Sachen eifert, welche nicht einmal wider
die Wohlanſtaͤndigkeit ſind, geſchweige wider das
Chriſtenthum laufen. Jch habe in meiner Jugend
einen um die Kirche ſehr verdienten Lehrer gekannt,
welcher dem Volke die Pracht der Großen laͤcher-
lich machen wollte, und mit dem Poeten ſagte, ſie
haͤtten


— — — — — ſechs Viehe vor dem Wagen
Und ſechſe hinten drauf.


Redete er aber von den Feinden unſers Glau-
bens, ſo wußte ich vielmals nicht, ob ich uͤber die
Ketzerey weinen, oder lachen ſollte? Dergleichen
Vortrag iſt allenfalls annehmlich, aber gewiß nicht
erbaulich. Jch will Jhnen ein andres Muſter ge-
ben, da ich wohl wuͤnſchen wollte, daß Sie es, wie in
andern Sachen, alſo auch darinnen nachzuahmen
Sich bemuͤhen moͤchten. Die Religionsſpoͤtter
ſind Leute, welche wegen ihrer abgeſchmackten
Erſter Theil. KMey-
[146]Von der Zulaͤßigkeit der Satyre.
Meynungen wohl verdienten, nicht uͤberfuͤhrt,
ſondern laͤcherlich gemacht zu werden; aber wie
ernſthaft, wie beweglich, wie nachdruͤcklich weis
nicht der beruͤhmte Mosheim ihnen ihre Thorhei-
ten in ſeinen heiligen Reden vorzuhalten! Dieſes
iſt die wahre Sprache eines geiſtlichen Redners.
Wenn er von eben dieſer Sache an einen vorneh-
men Mann ſchreibt, oder in andern Schriften han-
delt, ſo iſt ſein Ausdruck ſchon aufgeweckter, und in
vielen Stellen ſatyriſch.


Jch will die weitere Ausfuͤhrung dieſes Satzes
bis zu einer andern Zeit verſparen, und ich werde
alsdann Gelegenheit nehmen, meine Gedanken von
den Stachelſchriften uͤberhaupt, und inſonderheit
von der Kanzelſatyre durch neuere Exempel
zu erlaͤutern.




[[147]]

Von
Unterweiſung der Jugend.


K 2
[[148]][149]

Jch habe unſern geſtrigen Unterredungen wei-
ter nachgedacht, mein werther Herrmann.
Wir bemuͤhten uns, ausfindig zu machen:
Warum es ſo ſchwer ſey, eine gruͤndliche Gelehr-
ſamkeit zu erlangen? Und woher es komme, daß ſo
wenige unter den Gelehrten den anſehnlichen Titel
verdienen, mit welchem ſie ihre Bloͤße ſorgfaͤltig zu
bedecken wiſſen?


Die von dir angefuͤhrten Urſachen ſind wichtig
genug. Die blinde Liebe der meiſten Aeltern geht
dahin, ihre Kinder zu anſehnlichen Mitgliedern des
gemeinen Weſens zu machen. Der Sohn muß
ſtudieren, damit er Doctor werden kann. Er hat
weder die Faͤhigkeit, noch den Willen, etwas recht-
ſchaffnes zu lernen. Er lebt alſo ſich zur Laſt, und
dem Vaterlande zum Schimpfe. Waͤre dieſer ein
Schneider geworden, ſo wuͤrde er gewiß ſein Brod
verdienen, da er anitzt von der Sparſamkeit ſeiner
Vorfahren, oder dem Einbringen ſeiner Frau le-
ben muß.


Du haſt recht, mein Freund; vielleicht aber
giebſt du mir auch Beyfall, wenn ich eine Urſache
anfuͤhre, welche noch allgemeiner iſt.


Erwaͤge nur einmal, wie die Anfuͤhrung unſrer
Jugend zu der Gelehrſamkeit beſchaffen iſt. Bis
in das zehente Jahr uͤberlaͤßt man uns der Aufſicht
der Frauenzimmer, welche glauben, ſie haben ge-
nug gethan, wenn ſie uns reinlich halten, wenn ſie
uns leſen lehren, und allenfalls einige Fragen aus
K 3dem
[150]Von Unterweiſung
dem Catechiſmus ins Gedaͤchtniß bringen. Nun-
mehr iſt es Zeit, daß man uns der Aufſicht eines
Hofmeiſters uͤbergiebt. Ob er von guten Sitten,
ob er fleißig, ob er gelehrt iſt; darnach fragt man
eben nicht. Aber; wie viel verlangt der Herr fuͤr
ſeine Muͤhe? Das iſt unſre erſte Sorge. Der
Wohlfeilſte bleibt allemal der Beſte. Dieſer fuͤhrt
uns eben den Weg, welchen er ſelbſt unter ſo vie-
len Seufzern und Thraͤnen gegangen iſt. Ein Ge-
lehrter muß die lateiniſche Sprache verſtehen. Die
Sache hat ihre Richtigkeit. Man waͤhlt alſo eine
Grammatik, welche die beſte zu ſeyn ſcheint. Durch
eine unermuͤdete und oftmals nachdruͤckliche Unter-
weiſung faſſen wir eine Menge dunkler Kunſtwoͤr-
ter und weitlaͤuftiger Regeln, welche wir gewiß
noch weniger verſtehen, als die Sprache ſelbſt, die
wir daraus erlernen ſollen. Endlich uͤberwinden
wir dieſe Schwierigkeit. Man giebt uns des Ci-
cero Schriften, nebſt andern Buͤchern, zu leſen, und
unſre Vaͤter weinen vor Freuden, wenn ſie ſehen,
daß ihre Kinder im zwanzigſten Jahre dasjenige
begriffen haben, was zu des Cicero Zeiten, in Rom,
ein Junge von fuͤnf Jahren verſtund. Nunmehro
zieht der gelehrte, oder beſſer zu ſagen, der lateini-
ſche Sohn auf hohe Schulen. Du darfſt von ihm
nicht verlangen, daß er in den alten und neuern Ge-
ſchichten, in der Geographie, Genealogie, Zeitrech-
nung, Wapenkunſt, und dergleichen erfahren ſeyn,
und einen Vorſchmack von der Mathematik, Welt-
weisheit und andern Wiſſenſchaften erlanget haben
ſollte. Dazu hat er nicht Zeit gehabt; er hat
muͤſſen
[151]der Jugend.
muͤſſen Latein lernen. Es wuͤrde laͤcherlich ſeyn,
wenn du ihn fragen wollteſt, ob er deutſch verſtuͤn-
de? Ob er einen guten Brief ſchreiben koͤnnte? Er
iſt ja ein Deutſcher; er iſt in Meißen geboren;
ſollte er nicht Deutſch verſtehen? Von der griechi-
ſchen Sprache hat er noch zur Noth ſo viel begrif-
fen, als er auf der hohen Schule, binnen drey Jah-
ren zu verlernen gedenkt. Wie geſchwind verlau-
fen dieſe! Er muß eiligſt nach Hauſe. Sein Va-
ter verlangt es, weil ein Amt, und eine reiche Frau
auf ihn warten. Nunmehr iſt unſer Gelehrter
fertig!


Sage mir, mein Freund, ob nicht dieſes die ge-
woͤhnlichſte Art ſey, unſre Jugend zu unterweiſen?
Du wirſt es nicht laͤugnen koͤnnen; du wirſt aber
auch zugleich geſtehen muͤſſen, daß ſolches die wahr-
hafte Urſache ſey, warum nur ſo wenige ſich eine
rechtſchaffne Gelehrſamkeit erwerben. Der ganze
Fehler beruht meines Erachtens darinnen, daß wir
glauben, wer die lateiniſche Sprache verſtehe, der
ſey ein Gelehrter; und daß wir durch eine weit-
laͤuftige Erlernung derſelben, diejenige Zeit verſaͤu-
men, welche wir zugleich auf nuͤtzlichere Sachen
wenden ſollten.


Aber ſoll ein Gelehrter kein Latein verſtehen?
Dieſes iſt meine Meynung keinesweges. Jch be-
haupte vielmehr, daß er in dieſer Sprache eben ſo
ſtark ſeyn muͤſſe, als in ſeiner Mutterſprache. Nur
das kann ich nicht begreifen, warum wir der Ju-
gend die Erlernung derſelben ſo ſchwer machen?


K 4Der
[152]Von Unterweiſung

Der alte Richard, welcher geſtern in unſrer Ge-
ſellſchaft war, ſoll mir zum Beweiſe meines Satzes
dienen. Du kennſt ſeinen Sohn, der anitzt durch
wirkliche Verdienſte unter den Gelehrten eine an-
ſehnliche Stelle bekleidet. Kaum hatte dieſer das
ſechſte Jahr erreicht, als ihn ſein ſorgfaͤltiger Vater
der Aufſicht eines jungen Menſchen anvertraute,
welcher ihm die noͤthigſten Gruͤnde unſers Glau-
bens beybringen, und ihn zu einer wohlanſtaͤndigen
Auffuͤhrung angewoͤhnen ſollte. Alles, was er mit
dem Knaben redete, was ihn dieſer fragte; das
mußte, ſo viel es moͤglich ſeyn wollte, in lateiniſcher
Sprache geſchehen. Jede Sache, die im Hauſe,
auf der Gaſſe, in der Kirche, oder im Garten vor-
kam, die gemeinſten Geſchaͤffte, welche taͤglich vorfie-
len, wurden auf Lateiniſch benannt. Dieſe Be-
muͤhung gieng gluͤcklich von ſtatten. Nach Ver-
lauf einer Zeit von vier Jahren war der junge Ri-
chard ſchon vermoͤgend, ſich in der lateiniſchen
Sprache ordentlich und deutlich auszudruͤcken, und
regelmaͤßig zu reden, ohne zu wiſſen, warum er ſei-
ne Worte eben ſo, und nicht anders, ſetzen muͤſſe,
Nunmehr glaubte man, daß es Zeit waͤre, ihn die
vornehmſten Regeln der Grammatik zu lehren, und
weil er die Sprache ſchon verſtund, ſo faßte er dieſe
in wenigen Monaten. Die griechiſche Sprache
war ihm, als einem kuͤnftigen Gelehrten, zu wiſſen
unentbehrlich. Weil aber ſein Vater meynte, es
ſey eine gelehrte Eitelkeit, griechiſch zu reden, oder
dergleichen Schriften und Gedichte zu verfertigen:
So ſchien es genug zu ſeyn, ihn nach den ordentli-
chen
[153]der Jugend.
chen Regeln ſo weit zu bringen, daß er alles ver-
ſtuͤnde, was griechiſch abgefaßt waͤre. Er erlangte
auch ſolche Geſchicklichkeit wirklich in wenigen Jah-
ren. Weil man dieſes nicht zu einem Hauptwerke
machte: So blieben noch Stunden genug uͤbrig,
ihm in andern Kuͤnſten und Wiſſenſchaften Unter-
weiſung zu geben. Nach unſrer heutigen Einrich-
tung iſt es eine bekannte Sache, daß die franzoͤſiſche
Sprache vielmals weit unentbehrlicher iſt, als alle
todte Sprachen der Morgenlaͤnder. Man nahm
alſo einen Franzoſen an, welcher ihn, durch Unter-
richt und fleißigen Umgang, zu der gehoͤrigen Voll-
kommenheit brachte. Hatte ihm ſein Hofmeiſter
ſchon in den erſten Jahren, bloß durch Geſpraͤche,
wo nicht eine Kenntniß von der Hiſtorie, dennoch
eine Luſt dazu beygebracht: So war es nachher
um ſo viel leichter, auch darinnen weiter zu gehen.
Die aͤltern Geſchichten wurden nicht vergeſſen; die
neuern aber, und beſonders die Geſchichte ſeines
Vaterlandes, blieben allemal der Hauptzweck. Die
groͤßern Schriften der lateiniſchen Redner und Poe-
ten wurden zugleich ſorgfaͤltig durchgegangen, nicht
ſo wohl die Redensarten daraus zu erlernen, als
vielmehr ihren ganzen Bau, und die Buͤndigkeit des
Vortrags einzuſehen. Hierdurch lernte unſer Ri-
chard die Zaͤrtlichkeit einer Ode, die Staͤrke eines
Heldengedichts, und diejenigen Urſachen kennen,
welche den Cicero zu einem Redner gemacht haben.
Was konnte ihm auf eine ſolche Art wohl leichter
fallen, als auch in ſeiner Mutterſprache die Geſchick-
lichkeit zu erlangen, die einem Gelehrten ſo wohlan-
K 5ſtaͤn-
[154]Von Unterweiſung
ſtaͤndig iſt? Man brachte ihm einen Begriff von
der Weltweisheit bey, ſo weit er naͤmlich bey ſei-
nem damaligen Alter dazu vermoͤgend war; und
man brauchte zugleich die Vorſicht, die Kraͤfte ſei-
nes Verſtandes und Nachdenkens durch die mathe-
matiſchen Wiſſenſchaften zu ſchaͤrfen und in Ord-
nung zu bringen. Zu ſeiner Gemuͤthsergetzung
ward ihm ein Tanzmeiſter und ein Zeichenmeiſter
nebſt andern Kuͤnſtlern gehalten, und Richard iſt
dennoch ein Gelehrter, ob er gleich wider die bishe-
rige Gewohnheit gelernt hat, wie man leſerlich und
zierlich ſchreiben muͤſſe. Wenn ich davon noch
nichts geſagt habe, wie ſorgfaͤltig man ihn von Zeit
zu Zeit in ſeinem Chriſtenthume unterwieſen; So
darf man darum nicht denken, als ob dieſes verab-
ſaͤumt worden waͤre. Du kennſt ſeinen vernuͤnf-
tigen Vater, das iſt ſchon genug. Auf ſolche Wei-
ſe ward der Grund zu derjenigen Gelehrſamkeit ge-
legt, welche Richard nunmehr beſitzt. Nur dieſes
muß ich noch erinnern, daß man ihn erſt im neun-
zehenten Jahre auf die hohe Schule that, ungeachtet
er die Kraͤfte vielleicht eher gehabt haͤtte, den De-
gen zu tragen.


Das Beyſpiel dieſes gelehrten Mannes uͤber-
hebt mich aller Muͤhe, einige Regeln von der Un-
terweiſung unſrer Jngend in den erſten Jahren zu
geben. Vielleicht zweifelſt du aber, ob dieſe Art,
die Jugend zu unterweiſen, auch allgemein, und bey
andern ebenfalls mit Nutzen anzuwenden ſey? Jch
getraue mir, ſolches zu behaupten.


Jſt
[155]der Jugend.

Jſt es wohl ſchwerer, die lateiniſche Sprache zu
erlernen, als die franzoͤſiſche, oder die deutſche? Das
kannſt du nicht ſagen. Wie alt biſt du geweſen,
als du deutſch reden konnteſt, und entſinnſt du dich
wohl, daß du ſchon im achten Jahre mit deiner
Franzoͤſinn zu plaudern vermoͤgend warſt? Der
Umgang, eine fleißige Uebung, und der Mangel ei-
ner verwirrten Methode und ekelhafter Regeln,
brachten dich ſo zeitlich zu dieſer Geſchicklichkeit.
Eben das verlange ich bey der lateiniſchen Sprache.
Wo findet man aber diejenigen, welche geſchickt ſind,
die Jugend auf ſolche Art zu unterweiſen? wie viele
giebt es nicht, die zwar wiſſen, wie ſie auf der Ca-
theder, aber nicht, wie ſie in der Kuͤche lateiniſch re-
den ſollen. Wir beide haben ſtudiert; wir laſſen
uns beide Gelehrte nennen, und dennoch ſollte es
uns ſchwer fallen, die gemeinſten Handlungen der
Menſchen auszudruͤcken. Jch gebe dieſes zu, mein
werther Herrmann; ich glaube aber, daß dein Ein-
wurf die Wahrheit meiner Meynung nicht wider-
legt, ſondern nur noch mehr bekraͤftigt. Waͤren
wir, waͤren andre in ihrer Jugend beſſer angefuͤhrt
worden: So wuͤrde es uns und andern an der Ge-
ſchicklichkeit nicht fehlen, welche man allerdings bey
wenigen antrifft. Unterdeſſen will ich dir doch ver-
ſchiedne aufweiſen, welche dieſe Geſchicklichkeit wirk-
lich beſitzen, noch mehrere aber, welche gar wohl faͤ-
hig waͤren, ſolche zu erlangen, wenn man nur ihre
Bemuͤhung durch billige Vergeltungen aufmunter-
te. Die Schuld faͤllt allemal auf die Aeltern zu-
ruͤck, welche die Art, ihre Kinder zu unterweiſen,
entwe-
[156]Von Unterweiſung der Jugend.
entweder ſelbſt nicht verſtehen, oder aus Geiz die
noͤthigen Koſten ſcheuen. Du kennſt jenen Vater,
welcher mehr auf ſeine Pferde wendet, als auf ſei-
nen Sohn. Er ſcheut keine Koſten, ſeinen Budel
recht abzurichten zu laſſen; wenn er aber dem Lehr-
meiſter ſeines Sohnes ein Quartal bezahlen ſoll, ſo
geſchieht es niemals ohne innerlichen Widerwillen.
Bedaͤchten wir nur, daß das Gluͤck unſrer Kinder,
daß unſre eigne Ehre auf eine vernuͤnftige Unterwei-
ſung derſelben ankaͤme, ſo wuͤrden wir hierinnen eher
verſchwenderiſch, als karg ſeyn, und ich weis gewiß,
es wuͤrden ſich viele finden, welche vermoͤgend waͤ-
ren, alles dasjenige zu leiſten, was ich von einem
Lehrmeiſter gefodert habe. Bedaͤchten wir aber
auch, daß ſich von unſern Kindern nur diejenigen
den Studien widmen ſollten, denen die Natur die
Faͤhigkeiten darzu verliehen hat: So wuͤrden wir
ſehen, daß es ſehr leicht ſey, die Jugend nach derje-
nigen Art zu unterweiſen, welche mir die ver-
nuͤnftigſte zu ſeyn geſchienen hat.




[[157]]

Jrus.
Eine
lucianiſche Erzaͤhlung.


[158]

Jrus, der verlaßne Jrus, deſſen Nahrung in
Brod und Waſſer, die Kleidung in einem zer-
rißnen Mantel, und das Lager in einer Hand
voll Stroh beſtund; dieſer ward auf einmal der
gluͤcklichſte Menſch unter der Sonne.


Die Vorſicht riß ihn aus dem Staube, und ſetzte
ihn den Fuͤrſten an die Seite. Er ſah ſich in dem
Beſitze unermeßlicher Schaͤtze. Sein Auge erſtarrte
vor dem ungewoͤhnlichen Glanze des Goldes. Sein
Palaſt war weit praͤchtiger ausgeputzt, als die Tem-
pel der Goͤtter. Purpur und Gold waren ſeine
ſchlechteſte Kleidung, und ſeine Tafel konnte man
billig einen Jnnbegriff alles deſſen nennen, was die
wolluͤſtige Sorgfalt der Menſchen zur Unterhaltung
des Geſchmacks erſonnen hatte. Eine unzaͤhlbare
Menge ſchmeicherhafter Verehrer folgte ihm auf al-
len Schritten. Wuͤrdigte er jemanden eines ge-
neigten Blickes, ſo hielt man denſelben ſchon fuͤr
gluͤckſelig, und wer ſeine Hand kuͤſſen durfte, der
ſchien allen beneidenswuͤrdig zu ſeyn. Er glaubte,
der Name Jrus ſey ihm ein beſtaͤndiger Vorwurf
ſeiner vormaligen Armuth; er nannte ſich alſo Ce-
raunius
oder den Blitzenden, und das ganze Volk
frohlockte uͤber dieſe edelmuͤthige Veraͤnderung. Ein
Dichter, welcher ihn vormals nur zum Spotte den
armen Jrus genannt hatte, dieſer hungrige Dich-
ter entdeckte eine Wahrheit, die bisher jedermann
unbekannt geweſen, itzt aber von allen mit einem
ſchmeichleriſchen Beyfalle angenommen wurde:
Jupi-
[159]Jrus, eine lucianiſche Erzaͤhlung.
Jupiter haͤtte ſich in des Ceraunius Mutter ver-
liebt, und in einen Ochſen verwandelt gehabt, um ih-
rer Liebe zu genießen. Nunmehr baute man ihm
Altaͤre; man ſchwur bey ſeinem Namen, und die
Prieſter waren beſchaͤfftigt, in dem Eingeweide des
Opferviehes zu finden, daß der große Ceraunius,
dieſer wuͤrdige Sohn des Jupiters, die einzige Stuͤtze
von ganz Jthaka ſey. Toxaris, ſein ehemaliger
Nachbar, ein Mann, welchen das Gluͤck, ein uner-
muͤdeter Fleiß, und eine vernuͤnftige Sparſamkeit zu
einem reichen Buͤrger gemacht hatten, war das erſte
Opfer ſeiner ungezaͤhmten Begierde. Er hatte ihn
ſchon damals beneidet, als er noch Jrus hieß; und
nunmehr war es Zeit, daß er ihn empfinden ließ,
was derjenige vermoͤge, deſſen Vater den Donner-
keil in Haͤnden trage. Es traten Zeugen auf, wel-
che behaupteten, Toxaris habe die Goͤtter gelaͤug-
net, die Tempel beraubt, die Prieſter verſpottet, und
durch ungerechtes Gut ſeine Schaͤtze vermehrt. Er
ward ins Gefaͤngniß geſchmiſſen, und zu einem
ſchmaͤhlichen Tode verdammt. Seine geaͤngſtigte
Frau, ſeine unſchuldigen Kinder warfen ſich mit
Thraͤnen zu den Fuͤßen unſers unempfindlichen Ty-
rannen; aber umſonſt. Toxaris mußte ſterben,
und alle, die ihm angehoͤrten, mußten ins Elend ge-
hen. Jrus blieb ſein einziger Erbe. Noch etwas
fehlte ihm an ſeiner Gluͤckſeligkeit. Er wollte ſich
vermaͤhlen. Die Vornehmſten des Landes waren
bemuͤht, in ſeine Verwandtſchaft zu kommen. Me-
nippus
war allein ſo gluͤcklich, daß Jrus auf ſeine
Tochter, Euforbia, die Augen warf. Er hoffte
durch
[160]Jrus, eine lucianiſche Erzaͤhlung.
durch eine naͤhere Verbindung mit dem angeſehnen
und reichen Menippus ſein eignes Gluͤck noch
mehr zu befeſtigen. Ueberdieſes war Euforbia
ſchoͤn genug, ſein Herz einzunehmen. Jhr lockigtes
Haar, ihre erhabne Stirne, ihre feurigen Augen, ihr
reizender Mund, ihre bezaubernde Bruſt, ihr maje-
ſtaͤtiſcher Gang, kurz ihre ganze Geſtalt, hatten den
hochmuͤthigen Jrus gefeſſelt, und alle Dichter in
Jthaka ſchwuren, daß Venus mehr als einmal uͤber
dieſe Schoͤne eiferſuͤchtig geworden waͤre. Die
Vermaͤhlung geſchah. Der große Sohn des Ju-
piters eilte, ſeine Geliebte zu kuͤſſen. O! ſprach er,
indem er ſie umarmen wollte, o, wie vergnuͤgt ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒


Hier erwachte Jrus; ſeine Gluͤckſeligkeit war
nur ein Traum geweſen. Er lag noch auf eben
dem Strohe, wohin er ſich geſtern gelegt, noch un-
ter eben dem zerrißnen Mantel, womit er ſich den
Abend zuvor bedeckt hatte. Ceraunius war ver-
ſchwunden, und der unſchuldige Toxaris
lebte noch.




[[161]]

Eine
Todtenliſte
von Nicolaus Klimen,

Kuͤſtern an der Kreuzkirche zu Bergen
in Norwegen.


Erſter Theil. L
[[162]][163]

Jch habe unter dem Buͤchervorrathe meines
Vaters den Aufſatz gefunden, welchen ich itzt
meinen Leſern mittheile. Unſer beruͤhmter
Klim hat ihn geſchrieben; ich kenne ſeine Hand ge-
nau, und es wird wohl niemand zweifeln, daß es
ſeine eigne Arbeit ſey, wenn man nur dieſes beden-
ken will, daß er ein Mann war, welcher auf ſeinen
unterirrdiſchen Reiſen die Gemuͤther der Menſchen
vollkommen einſehen gelernt hatte. Als Kuͤſter
beſaß er noch eben die Faͤhigkeiten, durch welche er
ſich als Kaiſer in Quama anſehnlich und beliebt ge-
macht hatte. Jch berufe mich auf ſeine unterirrdi-
ſche Reiſebeſchreibung, in welcher man die deutlich-
ſten Spuren finden wird, daß er als ein Philoſoph
gedacht hat.


Gegenwaͤrtiger Aufſatz iſt ein Verzeichniß unter-
ſchiedner Perſonen, welche Zeit ſeines Kuͤſteramts in
Bergen geſtorben ſind. Er ſagt von einer jeden ſei-
ne Meynung, und die Liebe laͤßt uns hoffen, er wer-
de in ſeinen Charakteren unparteyiſch geweſen ſeyn.
Es waͤre zu wuͤnſchen, daß in allen Staͤdten derglei-
chen Todtenliſten gehalten, und beym Schluſſe des
Jahres zum Drucke gegeben wuͤrden. Hierdurch
erlangte man Gelegenheit, viele ſeiner Mitbuͤrger
nach ihrem Tode beſſer kennen zu lernen, als man
ſie in ihrem Leben gekannt hat. Manche werden
auf den Kanzeln als hochedle, hochgelahrte, hochwei-
ſe, ehrſame und tugendbelobte abgekuͤndigt, welche
bey ihrer Unwiſſenheit, bey ihrer niedertraͤchtigen,
L 2und
[164]Eine Todtenliſte
und laͤcherlichen Auffuͤhrung, keinen von dieſen Ti-
teln verdient haben. Es iſt unbillig, daß wir den-
jenigen im Grabe loben, welcher ſich auf der Welt
um einen guten Namen nicht bekuͤmmert hat. Durch
eine Todtenliſte von der Art, wie gegenwaͤrtige iſt,
wuͤrden wir die Ehre der Wahrheit retten; und ich
zweifle nicht, daß unſre Buͤrger dadurch wenigſtens
eben ſo ſehr erbaut werden duͤrften, als durch die
jaͤhrlich gedruckten Nachrichten, wie viel Commu-
nicanten geweſen, oder unehliche Kinder geboren
worden. Jch will es dem Urtheile der Leſer uͤber-
laſſen, ob meine Hoffnung gegruͤndet ſey. Viel-
leicht bedauern ſie mit mir, daß gegenwaͤrtige Liſte
nicht vollſtaͤndig, ſondern durch die Unachtſamkeit
der klimiſchen Erben, der Anfang, und vermuthlich
ein großes Stuͤck davon verloren gegangen iſt.


Bergen in Norwegen
am \frac{10}{21} des Wintermo-
nats 1742.
B. Abelinſon.


‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ geizig,
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ geizig;
er hatte es aber lediglich dem ehrwuͤrdigen Anſehen
ſeines langen Rocks zu danken, daß niemand an
ihm diejenigen Fehler tadelte, welche an andern
wuͤrden unertraͤglich geweſen ſeyn.


Guſtav Trolle. Durch den Tod dieſes
Mannes verlor unſre Stadt mehr, als ſie glaubte.
Er war ein Dichter von einem ehrlichen Gemuͤthe;
er
[165]von Nicolaus Klimen.
er nahm jederzeit an dem Gluͤcke und Ungluͤcke ſei-
ner Mitbuͤrger vielen Antheil, und wuͤnſchte allen
Leuten Gutes. Seine Feinde nannten ihn nur
ſpottweiſe den Gratulanten. Kein Namenstag
oder Geburtstag ward begangen, an welchem er
nicht gedruckte Merkmaale ſeiner Ehrfurcht uͤber-
reichte. Unauf hoͤrlich ließ er die Haͤuſer ſeiner
Goͤnner und Freunde mit Freude und Wonne uͤber-
ſchatten; und wenn der Himmel ſeine chriſtlichen
Wuͤnſche erhoͤrt haͤtte, ſo wuͤrden alle Rathmaͤnner
in Bergen, vom Buͤrgermeiſter an bis auf den
Stadtſchreiber, wenigſtens Neſtors Jahre erreichet
haben. Bey jedem Todesfalle tauchte er ſeinen
Kiel in bittre Salſen und herben Wermuth ein.
Er ſchien ganz untroͤſtbar uͤber den Tod des Capel-
lans, welcher drey Vornamen hatte, und alſo dem
Berufe unſers Dichters ſehr eintraͤglich war. Die
Muſen unterhielt er in beſtaͤndiger Bewegung. So
bald er die Feder eintunkte, ſo bald ſtunden ſie alle
neune auf ſeinem Zeddel. Sie hatten auch Urſa-
che, gehorſam zu ſeyn; denn es war ein ſehr hitzi-
ger Mann. Wenn ſie nicht gleich kamen, und ihm
bey ſeiner ſauern Arbeit vorſpannten: So ſchimpfte
er ſo lange auf ſie, bis der Bogen voll war. Er
machte ein Sinngedichte auf mich, als ich zum Kuͤ-
ſter an der Kreuzkirche erwaͤhlt ward; es war we-
nigſtens acht Groſchen werth, und ich und meine
Frau haben es niemals ohne Thraͤnen durchleſen
koͤnnen. Bey Hochzeitgedichten war er ſehr ſcherz-
haft. Der Name des Braͤutigams oder der Braut
mochte noch ſo verwirrt klingen, ſo wußte er ihn
L 3doch
[166]Eine Todtenliſte
doch ſo lange herum zu zerren, bis er in demſelben
einen Gedanken fand, der ſich zur Wiege ſchickte.
Die Deutſchen haben ihm die Erfindung der Leber-
reime zu danken, welche er, zum erſtenmale an des
Stadtſchulzens Geburtstage, aus dem Stegreife
machte, da er ſo trunken war, daß er von ſeinem
Verſtande nicht wußte. Er war weder eigennuͤtzig,
noch geizig, und fuͤr ſechzehen Groſchen ſchuͤttete er
ſein ganzes Herz aus. Er ſtarb auch in großer Ar-
muth, und hinterließ nichts, als einen Lorbeerkranz,
und einen zerrißnen Mantel.


Suante Stuve, verwaltete das Stadtſchul-
zenamt zwanzig Jahre lang; ſeine Frau aber hatte
das Directorium actorum. Dieſe machte auch die
Abſchiede, und die Parteyen mußten in ihrer Kuͤ-
che gegen einander verfahren. Wer daſelbſt nicht
erſchien, der ward ſachfaͤllig; wer aber den groͤßten
Braten ſchickte, der hatte das groͤßte Recht. Schie-
nen die Sachen gar zu zweifelhaft zu ſeyn, ſo muß-
ten die Parteyen wuͤrfeln; derjenige gewann den
Proceß, der die meiſten Augen warf. Der Stadt-
ſchreiber war ſein Schwiegerſohn, und hatte bey
ihm freyen Tiſch.


Peter Brahe, ein witziger Kopf, ein Wunder
der ſpielenden Natur, ein Greis von zwanzig Jah-
ren. Alles war fruͤhzeitig an unſerm Brahe.
Schon im ſiebenten Jahre war er kluͤger, als ſeine
Aeltern und Lehrmeiſter; im vierzehenten verwickel-
te er ſich in gelehrte Streitigkeiten, und ſchrieb kri-
tiſche Anmerkungen uͤber die philoſophiſchen Buͤcher
ſeiner Zeit, welches in Norwegen einen großen Laͤr-
men
[167]von Nicolaus Klimen.
men machte. Er war heftig in ſeinen Meynun-
gen, in ſeiner Schreibart ſpoͤttiſch, und wenn ihn
ſein Witz uͤberfiel, welchem Uebel er oft ausgeſetzt
war, ſo ſchonte er keines Menſchen. Auf ſeinen
leiblichen Vater machte er Satyren. Er hatte eine
ſo herzliche Neigung gegen ſich und ſeine Einfaͤlle,
daß er ſich lieber wuͤrde den Staupbeſen haben ge-
ben laſſen, als einen artigen Gedanken auf ſeinem
Herzen und Gewiſſen behalten wollen. Er ſchrieb
einen zierlich gedruckten Vers, welcher aber dem ge-
neigten Leſer ſchwerer zu verſtehen war, als ihm zu
machen. Die Proſodie war ſein Leibſtudium nicht,
und die Grammatik fuͤr ſeine hohe Gelehrſamkeit zu
niedrig. Jm zwanzigſten Jahre ſpuͤrte er eine
merkliche Abnahme ſeines Verſtandes, und ward ſo
kindiſch, als ein Greis von neunzig Jahren. Man
glaubt, er habe ſich damals ſelbſt gefuͤhlt, und ſein
herannahendes Ende vermuthet; dieſes will man
aus einer Ode ſchließen, welche er unter dem Titel
des Schwanengeſangs der Nachwelt hinterlaſſen,
und worinnen er von ſeiner muthwilligen Leyer Ab-
ſchied genommen hat. Er ſtarb auch wirklich kurz
darauf, und hinterließ eine große Anzahl Titel zu
Buͤchern, die er hat ſchreiben wollen.


Guſtav Gripp, ein Rathmann, und eine gut-
herzige Seele; er hat in ſeinem Leben nicht wider-
ſprochen, und ſagte zu allem, ja. Nirgends ſchlief
er ſanfter, als auf der Rathsſtube, beſonders, wenn
die Rechtshaͤndel vorgetragen wurden. Kam die
Reihe an ihn, ſein Gutachten zu ſagen: So weckte
L 4ihn
[168]Eine Todtenliſte
ihn ſein Nachbar auf, und alsdann votirte er alle-
mal, wie der regierende Buͤrgermeiſter.


Hauns Erichſon, ein fleißiger Mann. Er
war in Sammlung und Leſung alter Buͤcher uner-
muͤdet, lebte in ſeiner Studierſtube zwey und ſieben-
zig Jahre, und ward nach ſeinem Tode nicht ver-
mißt, weil er in ſeinem Leben der Welt mit nichts
genutzt hat. Unter ſeinen Papieren hat man ei-
nen Aufſatz gefunden, welcher den Titel fuͤhret;
Unumſtoͤßlicher Beweis, daß ein gruͤndlich Gelehr-
ter nicht fuͤr andre Leute, ſondern nur fuͤr ſich, er-
ſchaffen ſey.


Jugo Alricus, ein geſchickter Arzt. Wer
unter ſeinen Haͤnden ſtarb, der ſtarb dogmatiſch.
Er konnte aus dem Uringlaſe beſſer wahrſagen, als
ein Zigeuner aus der Hand. Wenn er jemanden
an den Puls fuͤhlte, ſo war dieſes ein ſichres Zei-
chen eines herannahenden Todes. Er war Leib-
medicus von allen denen, welche alte geizige Witt-
wen, oder ſolche Weiber hatten, die ſich nicht wie-
der aus der Welt finden konnten; und er verwal-
tete ſein Amt redlich. Alle ſeine Patienten curir-
te er auf griechiſch; wie ich denn nachgerechnet ha-
be, daß binnen dreyen Jahren uͤber vierhundert
Leute am Hippokrates geſtorben ſind. Man kann
leicht glauben, daß die Geiſtlichkeit, ich, der Kuͤſter,
und andre Todtengraͤber, dieſem fleißigen Manne
viel zu danken haben.


Chriſtian Tywede hatte auf der hohen Schu-
le zu Abo ſeine Wiſſenſchaften erlernt, war von
einem
[169]von Nicolaus Klimen.
einem unerſaͤttlichen Hochmuthe, und doch dabey
geizig, in ſeiner Freundſchaft unbeſtaͤndig, gegen
Vornehme niedertraͤchtig, gegen Geringe tyranniſch,
in allen Arten wolluͤſtig, in ſeiner Religion leichtſin-
nig, im uͤbrigen aber ein Philoſoph.


Claeß Horn, war ein Sohn des reichen Jo-
hann Horns,
und ein Enkel des beruͤhmten ge-
lehrten Elrich Horns. Jch nenne ſeine Vorfah-
ren um deswillen, weil ſein eigner Name nicht gar
zu bekannt iſt. Er hatte einen natuͤrlichen Abſcheu
vor aller Arbeit. Seine Tugenden beſtunden in
zehentauſend Thalern Einkuͤnften. Haͤtte ihn die
weiſe Vorſehung nicht mit dieſem Vorzuge bega-
bet, ſo wuͤrde er ſeinem Vaterlande zur Laſt gerei-
chet haben. Seine Berufsarbeit war dieſe, daß
er aus dem Bette aufſtund, und ſich wieder nieder-
legte. Er lebte neun und funfzig Jahre; zieht man
aber davon diejenige Zeit ab, in welcher er ſchlief,
ſo hat er ſein Alter nicht hoͤher, als auf neunzehen
Jahre, gebracht. Man muß ihm die Gerechtig-
keit widerfahren laſſen, daß er einſah, wie wenig
Antheil er an dem Vermoͤgen hatte, welches nicht
er, ſondern ſeine Voraͤltern durch ihren Fleiß ver-
dient. Um deswillen betrachtete er ſich nicht an-
ders, als einen Verwalter fremder Guͤter, von wel-
chen er einmal Rechnung ablegen muͤßte. Was
er zu ſeiner hoͤchſten Nothdurft brauchte, das
nahm er davon; weiter nichts. Haͤtte er durch
ſein Vermoͤgen nothleidenden Freunden unter die
Arme greifen ſollen: So wuͤrde er dieſes fuͤr einen
Eingriff in fremde Guͤter angeſehen haben. End-
L 5lich
[170]Eine Todtenliſte
lich ſtarb er, und hinterließ ſeine Schaͤtze einem Vet-
ter, welcher unſerm Horn die Augen mit Freuden
zudruͤckte. Seinem letzten Willen zu Folge mußte
ihm ein Leichenſtein geſetzt werden, auf den dasje-
nige kommen ſollte, was er in ſeinem Leben ruͤhm-
liches gethan hatte. Es ſteht alſo weiter nichts
darauf, als dieſes, daß er geſtorben ſey.


Nilſon Scribbens. Dieſer gelehrte Mann
hatte eine ganz beſondre Natur. Unter andern
war es merkwuͤrdig, daß bey ihm ſeine Gelehrſam-
keit den Sitz im Magen hatte. So bald ihn hun-
gerte; So bald fieng er auch an, Buͤcher zu ſchrei-
ben. Aus der Groͤße ſeiner Schriften konnte man
deutlich abnehmen, wie lange er gefaſtet hatte. Ein
Tractaͤtchen von zween oder dreyen Bogen war ein
untruͤgliches Merkmaal, daß er binnen vier und
zwanzig Stunden nichts zu eſſen gehabt, und wenn
der Hunger recht nagend war, ſo ſchrieb er auch
Werke zu ganzen Alphabeten. Jn der großen
Theurung im Jahre 1689, ſchrieb er die Univerſal-
chronicke aller Nordſcheine, welche ſich ſeit dem To-
de Koͤnig Knuts hatten ſehen laſſen, in zwoͤlf Baͤn-
den, großquart, mit Figuren, nebſt einer Vorrede
wider die unbußfertigen Atheiſten. Dieſes gelehr-
te Werk faͤngt ſchon an, rar zu werden, weil es
gleich in den erſten Jahren ſtark verbraucht wor-
den iſt.


Johann Kyle, ein Advocat, und geuͤbter
Mann, welcher alle caſus in terminis gehabt
hatte. Seinen Clienten konnte er es gleich an den
Kleidern anſehen, ob ſie gerechte Sache hatten, oder
nicht.
[171]von Nicolaus Klimen.
nicht. Die Armen ermahnte er ſehr ernſtlich zum
Frieden, und ſchlug ihnen ſeinen Beyſtand ſchlech-
terdings ab; denn ſie hatten kein Geld, und folg-
lich Unrecht. Weſſen er ſich aber einmal annahm,
den verließ er nicht, ſo lange derſelbe noch einen
Groſchen im Beutel hatte. Sein groͤßter Vor-
theil beſtund im Schwoͤren. Er war auch ſelbſt
vermoͤgend, in einem Athem drey falſche Eide zu
thun. Er verſtund ſich ſehr wohl auf die Kunſt,
Zeugen zu machen. Der Schelme und Diebe nahm
er ſich recht vaͤterlich an, und weſſen Sache er ver-
theidigte, den redete er gewiß vom Galgen los.


Steen Dalekerl, ein gelehrter Renomiſt.
Er war ein Todfeind von allen denen, welche nicht
ſo dachten, als er. Kein Gelehrter durfte ſich bli-
cken laſſen, den er nicht mit der Feder in der Fauſt
anfiel. Eigentlich hatte er ſich auf nichts gelegt;
aber eben um deswillen glaubte er, er ſey geſchickt,
alles zu beurtheilen, es moͤchte ſeyn, aus welcher
Diſciplin es wollte. Er war aus Northolm gebuͤr-
tig, und hielt alle diejenigen fuͤr Jdioten, welche
nicht ſeine Landsleute waren. Beſonders in
Druckfehlern hatte er eine ſtarke Einſicht, wouͤber
er ſich oftmals ſehr luſtig machte. Jn ſeiner
Schreibart war er ſo ſpoͤttiſch, wie ein Boots-
knecht, und konnte ſchimpfen, wie ein Kunſtrichter.
Haͤtten ihn die unterirrdiſchen Einwohner der
Stadt Keba gehabt; ſo wuͤrde er auf ihrem gelehr-
ten Kampfjagen der beſte Maskabus geweſen, und
wenigſtens fuͤr dreyßigtauſend Ricatu verkauft
worden ſeyn.


Urſel
[172]Eine Todtenliſte.

Urſel Sigrid. Wollte kuͤnftig jemand die Ge-
muͤthsbeſchaffenheit dieſer Frau beſchreiben, der wuͤr-
de in einer Perſon ſo viele verwirrte, und einander
entgegen laufende Charaktere finden, daß es un-
moͤglich ſcheint, dieſelben auseinander zu wickeln,
wofern man nicht in ihrem Lebenslaufe beſonders
drey Zeitpunkte feſt ſetzt.


Der erſte geht bis in ihr dreyßigſtes Jahr.
Was die Auslaͤnder galant, und wir nach unſrer
einfaͤltigen Mutterſprache verbult nennen, das
fand man damals in der groͤßten Vollkommenheit
an ihr. Jhr Haus wimmelte von jungen Herren,
die daſelbſt zuſammen kamen, ihre verliebte Andacht
zu verrichten, welche in einer ſehr ſtrengen Abgoͤt-
terey beſtund. Sie ließ ſich anbeten, und ſchien
doch unempfindlich dabey zu ſeyn. Man mochte
ſie einen Tieger, oder einen Engel, ihre Augen Son-
nen oder donnerſchwangre Wolken heißen, ihre
Bruſt mit hartem Marmor, oder mit kaltem Schnee
vergleichen; bey allem that ſie gleichguͤltig. Die
Seufzer ihrer Anbeter bewegten ſie nicht; ſie ſah
dieſelben als einen Tribut an, welche ihr ihre Skla-
ven ſchuldig waͤren, und dieſe hielten es ſchon fuͤr
ein großes Gluͤck, wenn ſie nur in ihrer Gegenwart
ſeufzen konnten. Viele brachte dieſe angenomme-
ne Sproͤdigkeit beynahe zur Verzweiflung. Sie
ſchwuren, daß ſie nicht laͤnger leben wollten, rede-
ten von Gift und Dolche; ſie leben aber noch alle,
dem Himmel ſey Dank, bis auf dieſe Stunde friſch
und geſund. Man wird an dieſer Erzaͤhlung kei-
nen Zweifel tragen, wenn ich verſichre, daß ich in
meiner
[173]von Nicolaus Klimen.
meiner Jugend ſelbſt einer von denen geweſen bin,
welche unter dieſen verliebten Feſſeln geſchmachtet
haben. Jch will glauben, daß mir dieſes Geſtaͤnd-
niß eben nicht zur Ehre gereicht; vielleicht aber
wird man mich entſchuldigen, wenn man bedenkt,
daß ich damals noch nicht Kuͤſter an der Kreuzkir-
che, ſondern nur ein junger Menſch und Baccalau-
reus der Philoſophie war. Der Umgang, den ich auf
Schulen mit griechiſchen und lateiniſchen Frauen-
zimmern gehabt hatte, wirkte in mir die gewiſſe Zu-
verſicht; die norwegiſchen Schoͤnen wuͤrden eben
ſo wohl mit ſich reden laſſen, als jene. Jch waͤhl-
te bey meiner erſten Anrede an dieſelbe die zaͤrtlich-
ſte Stelle aus dem Anakreon; es ſchien aber nicht,
als wuͤrde ſie dadurch ſehr geruͤhrt. Jch ſtrich
meine Verdienſte heraus, und erzaͤhlte ihr, daß ich
drey Diſputationen von den Pantoffeln der alten
europaͤiſchen Voͤlker gehalten haͤtte; dennoch blieb
ſie gleichguͤltig. Jch wies ihr die Zeugniſſe, wel-
che ich zu Coppenhagen, meines Fleißes und mei-
ner Gelehrſamkeit wegen, von der philoſophiſchen
und theologiſchen Facultaͤt bekommen hatte. Al-
lein, ich glaube, ich wuͤrde den Greif, welcher mich
auf den Planeten Nazar riß, eher dadurch bewegt
haben, als dieſe Unempfindliche. Jch beſchwur ſie
bey dem Rocken der Parcen, ſie moͤchte mit mir
Erbarmung haben; aber umſonſt. Sie nannte
mich einen Schulfuchs, und dieſer Name war mir
ſo unertraͤglich, daß ich halb raſend von ihr gieng.
Kurz darauf geſchah es, daß ich in die Gruft fiel,
welche mich bekanntermaaßen, zu den unterirrdiſchen
Ein-
[174]Eine Todtenliſte
Einwohnern brachte. Dieſen Umſtand fuͤhre ich
um deswillen hier an, weil er die wahre Urſache
meiner damaligen Tiefſinnigkeit iſt, welche ich nicht
einmal dem redlichen Abelin, und meinem guten
Freunde, Magiſter Eduarden, vertraute; denn ich
ſchaͤmte mich, wie ein Gelehrter, wenn er einen Do-
natſchnitzer gemacht hat. Jch komme wieder auf
unſre Sigridinn. Dieſe bezeigte Grauſamkeit
war ihrer Natur ſo ſehr zuwider, als der Abſchied
vieler von ihren Anbetern. Jhr Herz war eben ſo
ſo wohl vom Fleiſche, als die Herzen andrer Frauen-
zimmer. Allein, Seufzer, verliebte Fluͤche, zaͤrtli-
che Verzweiflungen uud Diſputationen von Pan-
toffeln, waren freylich die Mittel nicht, durch wel-
che man dieſelbe gewinnen konnte. Ein Band, ein
Kopfputz, eine neue Mode aus Hamburg, konnte
dieſe Sproͤde ſo zahm machen, als ein Lamm. Jch
verſchweige es nur aus Hochachtung gegen meine
ehemalige Schoͤne, und kraft tragender Amtspflicht,
was ich in unſerm Kirchenbuche gefunden habe.
Der hollſteiniſche Edelmann iſt noch vielen bekannt;
er haͤtte freylich ſein Wort halten ſollen; doch hat
er auch allemal bezahlt, als ein ehrlicher Cavalier.
Doch genug! Waͤre ich nicht Kuͤſter, ſo duͤrfte ich
mehr reden.


Was ich bisher erzaͤhlt habe, das macht den
Lebenslauf meiner Heldinn bis in ihr dreyßigſtes
Jahr aus. Nunmehr koͤmmt der andre Aufzug,
und die Rolle, welche ſie darinnen bis in ihr vier-
zigſtes Jahr geſpielt hat, iſt nicht weniger merkwuͤr-
dig, als die vorige. Mich duͤnkt, das dreyßigſte
Jahr
[175]von Nicolaus Klimen.
Jahr ſey bey der Schoͤnheit dasjenige, was im
menſchlichen Leben das große Stufenjahr heißt.
Man wird wenig Schoͤnen finden, welche daſſelbe
uͤberleben; ich beweiſe dieſes mit dem Exempel un-
ſrer Sigridinn. Um dieſe Zeit verlor ſich das
Feuer ihrer Blicke, welches ſo viele Herzen in Flam-
men geſetzt hatte. Jhre Anbeter verſchwanden,
mit ihren Reizungen: man konnte ſie anſehen, oh-
ne den Verſtand zu verlieren, und wenn ſie gleich
unempfindlich that, ſo wollte doch niemand verzwei-
feln. Nunmehr kam die Reihe zu ſeufzen an ſie.
Jn oͤffentlichen Geſellſchaften war ſie bemuͤht, den
Reſt ihrer Reizungen an den Tag zu legen, um
wenigſtens einen zu gewinnen, der ihr diejenigen
Schmeicheleyen vorſagte, deren ſie ſeit langen Jah-
ren gewohnt war; aber umſonſt. Man rechnete
ſie unter die galanten Alterthuͤmer, welche man
nicht anſehen kann, ohne an die Fluͤchtigkeit der
Zeit zu gedenken. Dieſe bezeigte Kaltſinnigkeit
machte ſie unruhig; ſie ſuchte ihren Zweck zu erlan-
gen, es moͤchte auch koſten, was es wolle. Jhre
verſtellte Sittſamkeit verlor ſich gaͤnzlich; ihre Bli-
cke wurden frech, ihr Umgang unverſchaͤmt; ſie
ſuchte dasjenige mit Sturm zu erobern, was ſie
nicht mit Liſt hatte erlangen koͤnnen. Nunmehr
fieng ſie an, veraͤchtlich zu werden. Ein Dichter,
welcher ehedem ihr zu Ehren, alle Geſtirne und Mi-
neralien in ſeinen Verſen verſchwendet hatte; die-
ſer leichtſinnige Dichter, war ſo boshaft, daß er ſie
die Chronike von Bergen nennte, und ihre unge-
zaͤhmte Auffuͤhrung dergeſtalt laͤcherlich machte, daß
die
[176]Eine Todtenliſte
die ganze Stadt mit Fingern auf ſie zeigte, und ſie
nur die verliebte Alte hieß.


Dieſe allgemeine Verſpottung brachte ſie in die-
jenigen Umſtaͤnde, in welchen ſie bis an ihren Tod
geblieben iſt. Sie ſah ſich in ihren Abſichten betro-
gen, und hatte alle fleiſchliche Hoffnung verloren;
deswegen gerieth ſie in Verzweiflung und ward
fromm. Die Welt, die abtruͤnnige Welt, ſchien
ihr ein Abſcheu, und eine Moͤrdergrube zu ſeyn; ſie
ſeufzte, wenn ſie ein ſchoͤnes Frauenzimmer ſah, ſie
eiferte wider die unſchuldigſten Gefaͤlligkeiten, die
man artigen Perſonen erzeigte; denn dieſes, ſagte
ſie, ſey der gerade Weg zur Hoͤllen. Reinlichkeit
und Putz hielt ſie fuͤr Eitelkeit, und Lockungen des
Satans. Die Haare ſtunden ihr zu Berge, wenn
ſie tanzen ſah; Schwefel und Pech wuͤrde das ge-
ringſte geweſen ſeyn, das ſie auf dieſe verſtockte
Rotte wuͤrde haben herabfallen laſſen, wenn ſie
im Himmel etwas zu befehlen gehabt haͤtte. Nach
ihrer Meynung war der juͤngſte Tag vor der Thuͤre,
als um ſelbige Zeit die Weiber einiger Rathmaͤn-
ner in Bergen anfiengen, die ſuͤndlichen Fontan-
gen zu tragen. Von keinem Menſchen redete ſie
Gutes, und verdammte die ganze Stadt, beſonders
aber das Frauenzimmer bey lebendigem Leibe.
Widerfuhr jemanden ein Ungluͤck an ſeinem Koͤr-
per oder an ſeiner Nahrung, ſo waren dieſes alle-
mal augenſcheinliche Zorngerichte, welche uͤber das
boͤſe Geſchlechte hereinbrachen. Den Dichter,
welcher, wie ich’ gedacht habe, an ihrer andaͤchtigen
Verwandlung die vornehmſte Urſache war, ſah ſie
ſchon
[177]von Nicolaus Klimen.
ſchon in der Hoͤlle brennen, und er ſollte ſchlechter-
dings nirgends anders, als auf dem Miſthaufen,
ſterben; denn er war ein Greuel vor ihren Augen.
Auf der Welt wollte niemand mehr auf ſie ſehen;
darum ſah ſie beſtaͤndig gen Himmel. Jn Geſell-
ſchaften mochte ſie niemand haben; darum gieng ſie
einſam, und verſchloß ſich in ihr Kaͤmmerlein, und
beſeufzte vor ihrem Spiegel die Hinfaͤlligkeit aller
Dinge. Sie ſtarb endlich alt und lebensſatt, und
hinterließ in den Naſen ihrer Mitſchweſtern einen
ſtarken Geruch der Heiligkeit. Thue ich ihr durch
dieſe Erzaͤhlung zu viel, ſo bin ich gewiſſermaaßen
zu entſchuldigen; denn ſie hat mir es in meiner Ju-
gend auch ſauer gemacht, als ich noch ein verliebter
Baccalaureus war.


Humulfo Humblus, ein lateiniſcher Mann,
und geſchworner Feind ſeiner Mutterſprache. Nichts
kam ihm niedertraͤchtiger vor, als die Bemuͤhung
einiger Gelehrten, welche die norwegiſche Sprache
in Aufnahme bringen, und gewiſſe Regeln der
Schreibart feſt ſetzen wollten. Jhm war es einer-
ley, ob er Duyter, oder Titer ſchriebe; und wer
ihn bereden wollte, nur das erſte ſey recht, den hielt
er wenigſtens fuͤr einen Grillenfaͤnger. Wenn er
aber ſah, daß jemand im Lateiniſchen ein D fuͤr
ein T ſetzte, ſo ſchlug er die Haͤnde uͤber den Kopf
zuſammen, und vergoß die bitterſten Thraͤnen uͤber
den Verfall der ſchoͤnen Wiſſenſchaften. Keinen
Gedanken hielt er fuͤr artig, den man nicht aus dem
Cicero beweiſen konnte. Niemand verdiente, nach
ſeiner Meynung, den Namen eines Gelehrten, der
Erſter Theil. Mnicht
[178]Eine Todtenliſte
nicht zum wenigſten einen auctorein claſſicum edirt
hatte. Er ſchrieb eine kritiſche Unterſuchung der
Frage: Ob Horaz die triefigten Augen von dem
Rauche ſeiner Oellamve, oder von den geſalznen
Fiſchen bekommen habe, die er in der Jugend bey
ſeinem Vater gegeſſen. Er behauptete die erſte
Meynung; und weil ſein College, der ehrliche Con-
rector, der letzten Meynung zugethan war, ſo warf
er einen ſo toͤdtlichen Haß auf ihn, daß er ſich auch
nicht einmal auf dem Todbette mit demſelben ver-
ſoͤhnen wollte. Ueber jeden Schnitzer wider die
Grammatik konnte er ſich aͤrgern, daß er das Po-
dagra bekam; und als ſein College, der Conrector,
ein Programma in ſeiner Mutterſprache ſchrieb, ſo
ereiferte er ſich dergeſtalt daruͤber, daß ihm das Po-
dagra in den Leib trat, woran er auch ſtarb.


Stephan Waͤderhat, ein friedfertiger Sol-
dat, welcher vor den Augen ſeiner Mutter als ein
gehorſamer Sohn gewandelt hat, bis an ſeinen
Tod. Er wuͤnſchte fuͤr ſein Vaterland zu ſterben,
und kam deswegen niemals aus Bergen. Er hat
Zeit ſeiner Kriegsdienſte vielen Belagerungen und
Schlachten beygewohnt, aber nur von Haus aus.
Etlichemal geſchah es, daß er mit ins Feld ruͤcken
ſollte; ſo bald er aber Ordre bekam, ſo uͤberfiel ihn
eine ſtarke Engbruͤnſtigkeit, und er uͤberſchickte an
ſeiner Stelle ein Atteſtat vom Stadtphyſicus, daß
er im Leibe nicht richtig waͤre, und an dieſer Krank-
heit vermuthlich nicht eher, als nach geendigtem
Feldzuge, geheilt werden duͤrfte. Deswegen aber
war er zu Hauſe nicht muͤßig; denn er trank alle
Tage
[179]von Nicolaus Klimen.
Tage die Geſundheit des commandirenden Gene-
rals und ſeiner uͤbrigen Cameraden, die im Felde
ſtunden, deren Wohlſeyn er dergeſtalt zu Herzen
nahm, daß er vielmals von ſeinen Sinnen nichts
wußte. Es gereichte ihm auch auf dem Todbette
zu ſonderbarem Troſte, daß er ſeine Haͤnde nie-
mals mit Blute befleckt hatte. Jm uͤbrigen war er
kuͤhn und unerſchrocken, und machte ſich weder aus
Buͤrgern noch Bauern etwas, die er oftmals ſei-
nen kriegeriſchen Beruf empfinden ließ. Es iſt
eine bloße Verleumdung, daß ihm unſer Pfarrer
Schuld gab; er ſey ein rechter Atheiſt, und glaube
weder Himmel noch Hoͤlle. Es geſchieht ihm zu-
viel; denn ich habe es ſelbſt gehoͤrt, daß er allemal
uͤber das andere Wort ſagte: Hohl mich der Teu-
fel! und daß er zu jeder Luͤgen ſchwur. Das
Frauenzimmer mochte er gern leiden; doch war er
dabey nicht ekel. Er gerieth einmal beym Spie-
len mit einem ſchwediſchen Officier in Haͤndel, wel-
cher ihn herausfoderte. Allein unſer ſanfmuͤthiger
Waͤderhat war im Mutterleibe verwahrloſt, daß
ihm allemal Hoͤren und Sehen vergieng, wenn er
einen bloßen Degen erblickte; deswegen ſchlug er
die Ausfoderung vorſichtig ab, unter dem Vorwan-
de: Er ſey der einzige Sohn ſeiner Mutter, und
der Stammhalter des Waͤderhatiſchen Geſchlechts;
wenn ein Ungluͤck geſchaͤhe, ſo koͤnnte die Nachwelt
um ſeine Kinder kommen, woruͤber er ſich ein Ge-
wiſſen machte, und mit einer Hand voll Blut ſey
ihm auch nicht gedient. Heuer im Fruͤhjahre be-
kam er Befehl, ſich ſchlechterdings marſchfertig zu
M 2hal-
[180]Eine Todtenliſte
halten, und weder ſeine Engbruͤſtigkeit, noch andre
natuͤrliche Fehler vorzuſchuͤtzen. Dieſes war ein
Donnerſchlag in ſeinen Ohren, und die Tapferkeit
fuhr ihm dergeſtalt in alle Glieder, daß er bis an
ſein ſeliges Ende zitterte, welches vier Tage darauf
erfolgte, da er in den Armen ſeiner gebeugten Mut-
ter ſtarb, und in Frieden zu ſeinen Vaͤtern verſam-
melt ward.


Curt Stemhill. Dieſer Mann hatte in ſei-
ner Jugend hohe Abſichten, und eine vornehme Ein-
bildung von ſeinem kuͤnftigen Gluͤcke. Als er noch
auf der Stadtſchule zu Bergen ſtudierte, dachte er
wenigſtens regierender Buͤrgermeiſter in ſeinem
Vaterlande zu werden. Jn dieſen ſchmeichelhaf-
ten Gedanken beſtaͤrkte ihn der Aberglaube ſeiner
Mutter, welcher damals, als ſie mit dieſem Soh-
ne ſchwanger gegangen war, getraͤumt hatte, ſie
braͤchte einen Knaben mit einer ernſthaften Miene,
und einem ſehr dicken Bauche zur Welt. Auf der
hohen Schule zu Coppenhagen lernte er mehr Men-
ſchen kennen, als er in ſeiner Vaterſtadt jemals ge-
ſehen hatte. Dieſes verringerte ſeine Hochachtung
gegen ſich ſelbſt, und er erklaͤrte ſich bey ſeiner Heim-
kunft, daß er allenfalls mit dem Stadtſchreiberdien-
ſte vorlieb nehmen wollte. Allein, auch in dieſer
Hoffnung ſah er ſich betrogen, und mußte es noch
fuͤr ein unverdientes Gluͤcke rechnen, daß er bey
zunehmenden Jahren, als Maͤgdleinſchulmeiſter an
der Barfuͤßerkirche, ſein Brod verdienen konnte,
welchem Amte er auch, bis an ſein Ende mit der
groͤßten Ernſthaftigkeit, und unermuͤdeten Faͤuſten
vorge-
[181]von Nicolaus Klimen.
vorgeſtanden hat. Dem ungeachtet glaubte er,
der Traum ſeiner Mutter ſey erfuͤllt; denn ein re-
gierender Buͤrgermeiſter habe hoͤchſtens nur uͤber
Hals und Hand die Gewalt, ein Schulmeiſter hin-
gegen herrſche mit unumſchraͤnkter Macht uͤber den
ganzen Koͤrper ſeiner Schulkinder.


Veit Segherſell, war aus einem adlichen
Geſchlechte, und ein Todfeind aller Haſen und
Fuͤchſe. Mit Hunden und Pferden gieng er um,
als mit ſeines gleichen, und liebte ihre Geſellſchaft
am meiſten, weil er unter ihnen die vernuͤnftigſte
Creatur war. Aus den Umgange mit Menſchen
machte er ſich nicht viel; denn ſie redeten allemal
von Sachen, die er nicht verſtund. Mit der Bibel
konnte er ſich gar nicht behelfen, deſto beſſer aber
mit dem Erbregiſter, welches ſeine Bauern nach-
druͤcklich erfahren haben. Auf dem Nimrod hielt
er große Stuͤcke, weil ihm ſein Pfarrer geſagt hat-
te, er wuͤrde ein gewaltiger Jaͤger genannt, er woll-
te ſich es auch nicht ausreden laſſen, daß dieſer
Nimrod ein Landedelmann in Aſſyrien geweſen
waͤre. Um die Geſchichte auswaͤrtiger Voͤl-
ker und ſeines Vaterlandes bekuͤmmerte er ſich
nicht; doch hatte er ein vortreffliches Gedaͤchtniß,
wenn er auf ſeine Ahnen zu reden kam. Einen
Buͤrger roch er auf zwanzig Schritte weit. Nichts
war ihm unbegreiflicher, als wenn er hoͤrte, daß
ein Mann wegen ſeiner Tapferkeit, wegen ſeiner
Staatserfahrenheit, oder wegen andrer Verdienſte,
die er dem Vaterlande erzeigt hatte, in den Adel-
ſtand erhoben ward; denn er ſagte, wenn ſolche
M 3Ver-
[182]eine Todtenliſte
Verdienſte einen Edelmann machten, ſo waͤre ihm
und ſeines gleichen Vater und Mutter, und die
ganze Sippſchaft, nichts nuͤtze. Seine Wirth-
ſchaft ward ſehr unordentlich beſtellt. War er
nicht auf der Jagd, ſo ſaß er bey Tiſche, und als-
dann war er vermoͤgend, ſeine ganze hochadliche
Nachbarſchaft zu Boden zu ſaufen. Seine Bauern
machte er arm, und jagte ſie durch Proceſſe zum
Dorfe hinaus. Er folgte ihnen aber ſelbſt bald nach,
weil er, wegen Schulden, ſeinem Verwalter das Gut
uͤberlaſſen, und den Reſt ſeines Lebens in Bergen
zubringen mußte.


Nicolaus Andreaͤ, handelte anfangs mit ge-
doͤrrten Fiſchen, und war zugleich ein Wechsler.
Dieſe Lebensart ſtund ihm aber nicht laͤnger an;
er bemuͤhte ſich alſo, Capellan in der fanoenſiſchen
Kirche, nicht weit von der Stadt, zu werden, wel-
chen Dienſt er auch, wider alles Vermuthen, er-
hielt. Kein Menſch konnte begreifen, wie es zu-
gienge. Er ſagte aber; wer in Bergen einen Dienſt
haben wollte, der muͤßte entweder der Vetter eines
Rathmannes, oder ein Lakey, oder ein Hahnrey
ſeyn; folglich habe er einen dreyfachen Beruf zu
ſeinem Amte. Wer nur einen ſolchen Dienſt ſu-
che, zu dem er ſich ſchicke, der wuͤrde ſeinen Zweck
nimmermehr erlangen. Ein Kutſcher koͤnne ein
Amtmann, ein Amtmann Superintendent, ein Su-
perintendent hingegen ein Geldmaͤkler, und folg-
lich dieſer gar leicht ein Capellan werden. Er
habe eine gute Lunge; er koͤnne ſchmaͤlen, und mit
ſeinem
[183]von Nicolaus Klimen.
ſeinem Willen ſolle ihn niemand um den Decem
betruͤgen; mithin ſaͤhe er nicht, was man an ihm
ausſetzen wolle.


Uffo Suanvita, eines Schneiders Sohn.
Anfaͤnglich wollte der Vater, er ſollte ſein Hand-
werk lernen; er ſtellte ſich aber ſo dumm dabey an,
daß man gar bald ſah, er habe weder Witz noch
Verſtand genug, ein Schneider zu werden. Der
betruͤbte Vater erzaͤhlte dieſe große Bloͤdigkeit des
Sohnes einigen ſeiner Collegen, welche alle der
Meynung waren, er ſchicke ſich zu gar nichts wei-
ter, als zu einem Gelehrten. Dieſer Entſchluß
ward ins Werk gerichtet. Der dumme Sohn
mußte ſtudieren; er lebte auch wirklich ſechs Jahr
lang auf der niedern Schule zu Bergen, und drey
Jahre auf der Univerſitaͤt zu Coppenhagen; ſodann
abſolvirte er mit Ehren, und kehrte zu den werthen
Seinigen zuruͤck, zwar aͤlter, aber nicht kluͤger.
Nunmehr wußte ſein Vater ſo wenig, als andre
Leute, was mit dem gelehrten Herrn Sohne anzu-
fangen ſey. Er behielt ihn bey ſich, und war zu-
frieden, daß er ihn wenigſtens in der Kuͤche brau-
chen konnte. Er vertraute ihm zugleich die Auf-
ſicht uͤber ſeine Huͤhner an, welche er in der That mit
vieler Sorgfalt fuͤtterte. Endlich ſtarb der Vater,
und die uͤbrigen Freunde erbarmten ſich uͤber un-
ſern Suanvita, damit er nicht verhungern durfte.
Dieſe kuͤmmerlichen Umſtaͤnde aͤnderten ſich auf
einmal. Ein luͤbeckiſcher Kaufmann, welcher ſein
Vetter war, ſtarb unvermuthet, und hinterließ ihm
M 4ein
[184]Eine Todtenliſte
ein anſehnliches Vermoͤgen. Kaum war er in dem
Beſitze deſſelben, als er einen innerlichen Beruf
empfand, ein großer Mann zu werden. Was er
in ſeinem Kopfe vermißte, das fand er in dem
Geldkaſten ſeines Vetters. Der Titel eines
Strandraths hatte ihm von Jugend auf gefallen.
Er glaubte, wer die Faͤhigkeiten beſitze, jaͤhrlich
drey tauſend Thaler Renten zu heben, und ein
ſammtnes Kleid zu tragen, der habe Geſchicklich-
keit genug, ein Strandrath zu werden. Um des-
willen fand er kein Bedenken, ſich dieſen Titel zu
kaufen. Die Laſt, welche nunmehr Jhro Excel-
lenz, der Herr Strandrath, auf ſeinen Schultern
fuͤhlte, druͤckte ihn viel zu ſehr, als daß er laͤnger
vermoͤgend geweſen waͤre, ſich auf den Fuͤßen zu
erhalten. Er ſetzte ſich alſo in einen Wagen, und
zwey muntre Pferde ſchienen recht ſtolz zu ſeyn,
daß ihnen die Ehre gegoͤnnt ward, dieſen theuern
Mann, dieſe Zierde des Vaterlandes, durch die
Gaſſen zu ſchleppen. Er hatte ſich eine ernſthafte
und tiefſinnige Geſichtsbildung zugelegt; in ſeinem
Umgange that er ſehr geſchaͤfftig; er hatte aber in
der That itzt viel weniger zu thun, als ehedem in
ſeines Vaters Hauſe, weil er damals eine ganze
Heerde Huͤhner fuͤttern, nunmehr aber ſeinen Mops
abrichten mußte, an dem er einen guten natuͤrlichen
Verſtand zu verſpuͤren glaubte, welchen er niemals,
ohne eine kleine Eiferſucht zu empfinden, bewun-
derte. Die Gelehrten nannte er nur Grillenfaͤn-
ger und Pedanten. Er verſicherte, daß er niemals
an den Wiſſenſchaften einen Geſchmack gefunden,
und
[185]von Nicolaus Klimen.
und gleich anfangs bey ſich gemerkt habe, daß er
zu etwas groͤßerm, als zu einem Schulfuchſe, gebo-
ren ſey. Durch die viele Berufsarbeit, die er zu
verwalten hatte, war ihm das Gedaͤchtniß derge-
ſtalt geſchwaͤcht, daß er ſich derjenigen Freunde gar
nicht mehr erinnern konnte, bey denen er ehedem,
nach ſeines Vaters Tode, das Gnadenbrod gegeſ-
ſen hatte. Das konnte er ſich gar nicht einbilden,
daß ſein Vater ein Schneider geweſen waͤre; Adler
zeugten nur Adler, und kein Schneider einen
Strandrath. Er bedauerte das fruͤhzeitige Ab-
ſterben ſeiner Mutter, welche ihm in dieſer Sache
ein großes Licht wuͤrde gegeben haben. Die Poe-
ten mochte er gern leiden: er las aber von denen
Gedichten, die ihm in Demuth, zur Bezeigung un-
terthaͤnigſter Devotion, uͤberreicht wurden, weiter
nichts, als den Titel. War dieſer recht anſehnlich
und weitlaͤuftig; ſo ſagte er, es ſey ein Carmen von
einem guten Geſchmacke, und er zahlte die Gratula-
tionsgebuͤhren willig. Sein Tod iſt auch nieman-
den ſo nahe gegangen, als den bergiſchen Muſen.
Waͤre alles dasjenige wahr geweſen, was in den
Leichenverſen ſtund; ſo wuͤrde der Verluſt unerſetz-
lich geweſen ſeyn, welchen das Vaterland durch das
Abſterben dieſes Maͤcenaten erlitten haͤtte. Man
hat aber eben nicht gehoͤrt, daß durch ſeinen Tod
eine merkliche Veraͤnderung im norwegiſchen Reiche
vorgegangen waͤre.


Carl Hunding, dieſer Mann hatte durch das
Gluͤcke und durch ſeinen unermuͤdeten Fleiß ein an-
ſehnliches Vermoͤgen erworben; gleichwohl ſeufzte er
M 5beſtaͤn-
[186]Eine Todtenliſte
beſtaͤndig uͤber die nahrloſen Zeiten und die erhoͤhten
Abgaben, welche ihm noch zum Bettler machen
wuͤrden. Mit ſeinem Schoͤpfer war er gar nicht
zufrieden, daß er ihm einen Magen gegeben hatte;
denn er glaubte, der Menſch wuͤrde viel erſparen
koͤnnen, wenn ihn nicht hungerte. Er konnte ſich
gewaltig ereifern, wenn er auf die Kleiderpracht
zu reden kam, und eine geſtickte Weſte hielt er fuͤr
eine Todſuͤnde. Seiner Meynung nach waren
die Kleider zu nichts nuͤtze, als daß ſie uns an den
klaͤglichen Fall der erſtern Aeltern, und an den Ver-
luſt derjenigen Gluͤckſeligkeit erinnern ſollten, da
wir keine Kleider wuͤrden noͤthig gehabt haben.
Um deswillen flickte er ſich weder Struͤmpfe noch
Hoſen; und je mehr dieſe zerloͤchert waren, deſto
naͤher glaubte er dem Stande der Unſchuld zu kom-
men. Alle ſeine Ausgaben rechnere er nach Pro-
centen, und betete nicht einmal ein Vater Unſer
umſonſt; denn die Gottſeligkeit, ſagte er, ſey zu
allen Dingen nuͤtze. Ward er ja einmal aufs aͤu-
ſerſte gebracht, und genoͤthigt, Ehrenhalber einen
Thaler Geld zu verthun, ſo brach er es gewiß ent-
weder dem Pfarrer, oder ſeinem Geſinde am Lohne
wieder ab. Die Haut ſchauerte ihm, wenn ihn ein
ein Duͤrftiger um einen Biſſen Brod anſprach.
Nichts war ihm unbegreiflicher, als die Langmuth
des Himmels, welche dieſe nichtswuͤrdigen Muͤßig-
gaͤnger auf dem Erdboden duldete. So oft ihm
ſeine Frau ein Kind zur Welt brachte, ſo oft klagte
er, daß er in ſeiner Nahrung einen empfindlichen
Stoß erlitte; denn Kinder waͤren freſſende Capi-
talien.
[187]von Nicolaus Klimen.
talien. Als ſie zum fuͤnftenmale in die Wochen
kam, ſo ſchien er ganz untroͤſtbar; da er aber gar
hoͤrte, daß es eine Tochter waͤre, ſo gerieth er in
eiue ſolche Verzweiflung, daß er Bonis cediren woll-
te, weil er glaubte, wer Toͤchter haͤtte, und ſie nach
der Mode erziehen ſollte, der muͤßte banquerot wer-
den, er ſey auch ſo ehrlich, als er wolle. Starb
ihm ein Kind, ſo war er allemal ſo vergnuͤgt dar-
uͤber, als waͤre ihm eine ungewiſſe Schuld einge-
gangen. Seine Frau gewoͤhnte er zu allen Arten
der Maͤßigkeit, und ſie wuͤrde ſich haben ſehr elend
behelfen muͤſſen, wenn ſie nicht ſchoͤn ausgeſehen
haͤtte, auf ſolche Weiſe aber fanden ſich verſchiedne
Liebhaber ihrer Waare, und ſie verſtund ihren
Handel vortrefflich. Der Mann wußte dieſes;
er ſchien aber nicht eiferſuͤchtig zu ſeyn: denn er
meynte, es muͤſſe jedermann mit ſeinem Pfunde
wuchern, ſo gut er koͤnne; ſeine Frau thue nichts
umſonſt, und was ihm dadurch an der Ehre ab-
gienge, das komme ihm am Gelde wieder zu gute;
er gewinne alſo mehr dabey, als er verliere. Er
war mit ſeiner Tochter ungluͤcklich; er konnte auch
in der That ſeine Betruͤbniß daruͤber nicht bergen,
doch zog er ſich nicht ſo wohl die Schande, als die
Vermehrung, ſeiner Familie zu Gemuͤthe. Er
wollte dieſe ungerathne Tochter enterben, als er
hoͤrte, daß ſie bloß aus Neigung gegen ihren Lieb-
haber dieſen Fehltritt gethan hatte. Da aber die-
ſer ſich erklaͤrte, ſie zu heirathen, und zwar ohne
Mitgift, ſo kam er auf einmal wieder zu ſich ſelbſt,
und hielt dieſe Begebenheit fuͤr die gluͤcklichſte in
ſei-
[188]Eine Todtenliſte
ſeinem Leben. Sein aͤlteſter Sohn war ſehr luͤ-
derlich, und verſchwendete mehr Geld, als der Va-
ter erſparen konnte. Weil ihm dieſer keines gab,
ſo borgte er bey andern Leuten; und wie der Va-
ter niemals weniger, als funfzehen pro Cent nahm,
ſo mußte auch der Sohn allemal ſo viel geben. Er
wies alle Schuldner auf des Vaters Leiche an,
welcher ihm auch das Vergnuͤgen machte, und
ſtarb. Denn er fiel in ein hitziges Fieber, welches
ihm den Verſtand noch verwirrter machte, als er
bey geſunden Tagen geweſen war. Er redete von
nichts, als Jntereſſen, von boͤſen Schuldnern, und
ſeinen Handelsbuͤchern. Sein Beichtvater war
bemuͤht, ihn von dem Jrrdiſchen abzuziehen, und
ihm Todesgedanken beyzubringen; er wies ihn
auf das theure Loͤſegeld aller Welt. Nein, rief
der Kranke, dafuͤr kann ich es nicht brauchen, es
thut nach itzigem Cours nicht mehr, als ein und
drey Qvart! Dieſes waren ſeine letzten Worte, und
er verſchied.


Stine Frogerta, ein frommes Weib. Sie
hatte ſehr oft andaͤchtige Entzuͤckungen, welche die
Kinder dieſer Welt ihrer verdorbnen Milz und dem
ungeſunden Gebluͤte zuſchreiben wollten. Wenn
ſie betete, ſo betete ſie mit Haͤnden und Fuͤßen,
und man konnte die Wirkung ihres glaͤubigen Her-
zens an allen Gliedern ſehen; wie ſie denn uͤber
die Unbußfertigkeit der verſtockten Welt ſich derge-
ſtalt betruͤbte, daß ſie rothe Augen, und einen krum-
men Hals bekommen hatte. Die dunkelſten
Wor-
[189]von Nicolaus Klimen.
Worte, und ſolche Formeln, welche etwas verwirr-
tes in ſich faßten, waren ihre Kern- und Troſtſeuf-
zer; ſie hielt dasjenige fuͤr die Sprache des Gei-
ſtes, was die ſich ſelbſt gelaßne Vernunft nicht ver-
ſtund. Die Liebe des Naͤchſten rechnete ſie zwar
nur unter das Caͤremonialgeſetz, gleichwohl that ſie
den Armen im Urſelinerkloſter viel gutes; weil es
allemal von der Kanzel abgekuͤndigt, und dem
chriſtlichen Wohlthaͤter vor oͤffentlicher Gemeine
gedankt ward. Jhr Mann mußte ſehr viel bey ihr
ausſtehen; denn wenn ſie nicht betete, ſo zankte ſie,
und es iſt mehr als einmal geſchehen, daß ſie ihm
ſo gar mitten in der Andacht ein Bund Schluͤſ-
ſel an den Kopf geſchmiſſen hat. Jhr Ehrgeiz
war unerſaͤttlich, wenn ſie auch bey dem Gottes-
dienſte auf die Knie niederfiel, ſo mußte es doch
nach der Rangordnung geſchehen. Sie hatte die
Gabe zu wahrſagen, und Geſichter zu ſehen. Das
Geſchrey einer Kraͤhe war ihr ſo verſtaͤndlich, daß
ſie allemal wußte wer davon ſterben wuͤrde. Heul-
te ein Hund unter ihrem Fenſter, ſo ward ſie da-
durch weit mehr geruͤhrt, als wenn unſer Capellan
eine Bußvermahnung hielt. Wenn ſich ein Stern
ſchneutzte, ſo fuhr es ihr in die Seele; und als ihr
von faulen Eyern traͤumte, erſchrack ſie dergeſtalt
daruͤber, daß ſie das Teſtament machte, und ſich zu
ihrer Heimfahrt bereitete. Jn dieſer Einbildung
ſtaͤrkte ſie ihr Mann auf alle erſinnliche Weiſe, und
war dabey ſo gluͤcklich, daß ſie einige Wochen dar-
auf ſtarb.


Fried-
[190]Eine Todtenliſte

Friedlev Frohton. Dieſes hoffnungsvolle
Kind hat ſein Leben nicht hoͤher gebracht, als auf
ein Jahr und drey Tage. Sein Vater, der Apo-
theker in Bergen, kann ſich uͤber den fruͤhzeitigen
Verluſt dieſes tugendhaften Soͤhnleins noch itzt
nicht troͤſten. Er fand einen recht maͤnnlichen Ver-
ſtand an demſelben, welches ihn vielmals auf die
zweifelhaften Gedanken gebracht hat, ob es auch
wirklich ſein eigner Sohn waͤre. Alle Handlun-
gen dieſes Kindes verriethen, ſeiner Meynung nach,
eine große Seele. Wenn es auf ſeinem Stuͤhlchen
ſaß, ſo machte es eine ſo ernſthafte Miene, als ein
Arzt, welcher bey dem Krankenbette ſitzt, und zwei-
felhaft iſt, ob er den Patienten an Pulvern oder
an Tropfen ſterben laſſen will. Eben dieſe ernſt-
hafte Miene hielt der aufmerkſame Vater fuͤr einen
untruͤglichen Beruf, daß ſein Sohn in Doctorem
medicinae
promoviren muͤßte; nur war er noch
zweifelhaft, ob es zu Upſal, oder zu Coppenhagen
geſchehen ſollte, welche Ungewißheit ihm viel ſchlaf-
loſe Naͤchte machte. Schon im Geiſte ſtellte er
ſich vor, wie anſehnlich der junge Herr Doctor
Frothon in einer ſammtnen Weſte einher treten,
und den Glanz ſeines vaͤterlichen Hauſes empor
bringen wuͤrde. Aber auf einmal verſchwand dieſe
ſuͤße Einbildung durch den Tod des hoffnungsvol-
len Knabens, und der ungluͤckliche Vater hatte
weiter keinen Troſt, als dieſen, daß er unter ſeinen
Haͤnden ſtarb; denn er war eben im Begriffe, ihm
das letzte Clyſtier zu ſetzen, als er verſchied. Sein
Vaterland bedauerte er ſo ſehr, als ſich ſelbſt.
War
[191]von Nicolaus Klimen.
War noch etwas vermoͤgend, ihn zu beruhigen, ſo
waren es die vielen Exempel kluger Kinder, welche
eben dieſe fruͤhzeitige Klugheit unter die Erde ge-
bracht hatte. Er prophezeihte ſich um deswillen ein
hohes Alter, und die ganze Stadt glaubt es, daß er
uͤber hundert Jahr leben kann, wenn der Verſtand
der Geſundheit ſchaͤdlich iſt.


Sivard Staͤrcoter, ein Aſtronomus, welcher
am Tage die Sonne, und des Nachts den Mond
mit ſo unermuͤdetem Fleiße beſchaute, daß er zu
nichts weiter geſchickt war, als an die Geſtirne zu
ſehen. Bey den unaufhoͤrlichen Betrachtungen
des Himmels, hatte er memals Zeit gehabt, dasje-
nige zu lernen, was auf der Erde, und in dem Um-
gange mit Menſchen, zu wiſſen noͤthig iſt. Er war
dadurch ſo tiefſinnig geworden, daß er ſeiner ſelbſt
vergaß. Mehr als einmal geſchah es, daß er des
Morgens im Schlafpelze, und ohne Hoſen aus-
gieng. Wer ihm begegnete, dem ſah er ſtarr in die
Augen, ſchuͤttelte mit dem Kopfe, und redete nicht
ein Wort. Aber von allem dieſen wußte ſeine
Seele nichts; denn der Koͤrper bewegte ſich nur
mechaniſch. Kurz vor ſeinem Tode ſah er mich in
der Kirche; er gieng auf mich los, packte mich bey
der Halskrauſe an, und ſagte mit einer zerſtreuten und
mathematiſchen Miene zu mir: Die eccentriſche
Anomalie iſt der Bogen des eccentriſchen Zir-
kels, zwiſchen der Linie Apſidum; das ſollte
er lange wiſſen, und ich ſchaͤme mich, daß ich
es ihm erſt itzt ſagen muß.
Darauf gieng er
wieder
[192]Eine Todtenliſte von Nic. Klimen.
wieder von mir, und ließ mich voller Schrecken ſte-
hen; denn ich hatte geglaubt, er wuͤrde mich zum
wenigſten erwuͤrgen wollen. Er hat ſich vielmals
des Nachts aus den Armen ſeiner Frau geriſſen,
wenn ihm eine aſtronomiſche Speculation einfiel.
Anfangs kam ihr dieſes ſehr unertraͤglich vor, und
ſie hat zu gewiſſen Zeiten mehr uͤber die Sterne ge-
ſeufzet, als mancher Liebhaber nicht thut. Endlich
aber fand ſie Gelegenheit, die Abweſenheit ihres
Mannes durch den Zuſpruch ſolcher Leute zu erſe-
tzen, welche irrdiſcher geſinnt waren, als jener. Je
geſtirnter der Himmel war, deſto ungeſtoͤrter blieb
ſie in ihrem Vergnuͤgen; und wenn der Mann eine
Mondenfinſterniß zu beſorgen hatte, ſo konnte
ſie gewiß glauben, daß er an ſie nicht
denken wuͤrde.



Schrei-
[[193]]

Schreiben
des Gratulanten an den Autor,

nebſt
den Gedanken des Autors
daruͤber.



[[194]][195]

Schreiben des Gratulanten
an den Autor.


Mein Herr,

Jch muß es Jhnen ohne Schmeicheley geſtehen,
daß ich mich niemals des Lachens enthalten
kann, ſo oft Sie mir auf der Gaſſe begegnen.
Sie ſind ein Autor; und da ich mit Jhnen, wie ich
bald erweiſen will, gleiches Recht zu dieſem praͤch-
tigen Titel habe: So glaube ich, ein Autor kann
den andern ſo wenig, als vormals bey den alten
Roͤmern ein Vogeldeuter den andern, ohne Lachen
anſehen. Sie ſchreiben aus Liebe zum Vaterlan-
de; und ſo oft ich die Feder anſetze, ſo oft iſt dieſes
meine Sorgfalt, daß ich meine geneigten Leſer mit
einer patriotiſchen Miene verſichere, bloß die Liebe
gegen meine Mitbuͤrger, und die zaͤrtlichſte Neigung
gegen das menſchliche Geſchlecht uͤberhaupt, habe
mich auf den ruͤhmlichen Einfall gebracht, ihre Gluͤck-
ſeligkeit durch meine Schriften zu befoͤrdern. Sie,
mein Herr, haben alle gebuͤhrende Hochachtung ge-
gen Sich ſelbſt, und ich laſſe mir in dieſem Stuͤcke
alle Gerechtigkeit widerfahren; denn das Wohl-
wollen, welches ich gegen mich hege, iſt ſo ſtark, daß
ich mich fuͤr die vollkommenſte Creatur unter der
Sonnen halte, meine Schriften niemals ohne Be-
wunderung anſehe, und ihnen den billigen Vorzug
einraͤume, welchen ſie vor allen andern haben. Ja
ich beobachte die Pflichten meines Berufs ſo genau,
N 2daß
[196]Schreiben des Gratulanten
daß ich niemals ohne Verachtung an diejenigen
Werke gedenken kann, welche kuͤnftig die Preſſe
verlaſſen werden. Sie ſchreiben, ohne zu denken,
(wenigſtens ſuchen Sie uns dieſes zu bereden,) und
ich muß Jhnen zugeſtehen, daß Sie, nach meiner
Einſicht, dieſen Charakter mit vieler Wahrſchein-
lichkeit zu behaupten wiſſen. Mir aber laͤßt dieſes,
ohne Ruhm zu melden, noch weit natuͤrlicher, als
Jhnen. Wer mich kennt, und es kennen mich viel
Leute, der giebt mir das Zeugniß, daß man gleich bey
dem erſten Anblicke, bey den erſten Worten, die ich
rede, auf die ſinnlichſte Art uͤberfuͤhrt werde, daß
mich die Natur recht dazu erſchaffen zu haben ſcheint,
ein Autor, nach Jhrer Erklaͤrung, zu ſeyn; denn ich
bin im Stande, viele Stunden hintereinander eine
ganze Geſellſchaft zu unterhalten, ohne daß man die
geringſte Spur eines Nachdenkens an mir entdeckt.
Jch glaube, dieſes wuͤrde genug ſeyn, Jhre Hoch-
achtung zu verdienen; allein Sie wiſſen wohl, mein
Herr, daß ein Autor am liebſten von ſich ſelbſt redet,
und um deswillen werden Sie es nicht unguͤtig neh-
men, wenn ich Jhnen noch ein kleines Verzeichniß
meiner autormaͤßigen Faͤhigkeiten mittheile. Jch
finde, wo ich mich nicht ſehr irre, daß ſie der Himmel
mit aller derjenigen Herzhaftigkeit ausgeruͤſtet hat,
welche Jhnen und Jhren Herren Collegen, in dieſem
ſtreitbaren Jahrhunderte, ſo unentbehrlich iſt. Aber
ſollten Sie nur die Ehre haben, mich genauer zu ken-
nen; ſo wuͤrden Sie an mir einen deutſchen Bur-
mann, einen kritiſchen Panduren, mit einem Worte,
einen ſolchen Kunſtrichter finden, der an Dreiſtigkeit,
und
[197]an den Autor.
und, wenn ichs ſagen darf, an Unverſchaͤmtheit alle
diejenigen uͤbertrifft, welche bisher unſerm Vaterlan-
de ſo manche vergnuͤgte Stunde gemacht haben.
Bey Jhren Schriften, mein Herr, haben Sie keine
andre Abſicht weiter, als daß ihr Name unſterblich,
und die Bewunderung der ſpaͤteſten Nachwelt ſeyn
moͤge. Dieſes iſt der einzige Umſtand, in welchen
ich von Jhrer Sittenlehre abgehe. Jch ſchreibe zwar
auch fuͤr die Nachwelt; deswegen aber mag ich nicht
fuͤr die Nachwelt hungern, und wenigſtens ſcheint mir
derjenige eine ſehr betruͤbte Figur zu machen, welcher
mit dem Lorbeer auf dem Haupte, und einem leeren
Magen, der Unſterblichkeit entgegen ſehen muß. Jch
bin fuͤr das Vaterland, und mein Vaterland iſt fuͤr
mich geboren. Die Pflichten gegen mich ſelbſt bleiben
mir allezeit die ſtaͤrkſten, und ich empfinde den innerli-
chen Beruf, ein Autor zu werden, niemals uͤberzeu-
gender, als wenn mich hungert. Jch will nicht hoffen,
daß mir dieſes freye Bekenntniß bey Jhnen zum
Nachtheile gereichen wird; denn ich kenne meine Her-
ren Collegen gar zu genau, und weis es aus der Er-
fahrung, daß ſie niemals großmuͤthiger thun, als
wenn ſie die Freygebigkeit des Verlegers zur Un-
ſterblichkeit aufgemuntert hat. Es war noͤthig, Jh-
nen dieſes alles im Voraus zu ſagen; denn nunmehr
werden Sie wohl einſehen, daß ich zwar ein Autor,
aber ein ſolcher Autor bin, dem ſein Leben ſo lieb iſt, als
ſein Nachruhm. Wollten Sie daran nur im gering-
ſten zweifeln; ſo darf ich Jhnen nur ein Wort ſagen.
Jch bin ein Poet, und eigentlich ein gluͤckwuͤnſchender
Poet; denn es darf es kein Maͤcenat oder keine Maͤ-
N 3cena-
[198]Schreiben des Gratulanten
cenatinn wagen, einen Namens- oder Geburtstag,
oder ein andres Feſt zu begehen, denen ich nicht auf
einem großen Regalbogen mit vieler Lebhaftigkeit er-
zaͤhle, daß ich mit der tiefſten Ehrfurch, jedoch nicht
ohne Urſache, verharre, der unterthaͤnigſt gehorſam-
ſte Autor. Jch wuͤrde mich gegen Sie, mein Herr,
nicht ſo aufrichtig erklaͤren, wenn Sie nicht ſelbſt ein
Bekenntniß von Jhrem guten Geſchmacke in der Poe-
ſie abgelegt haͤtten. Jch weis wohl, was fuͤr Poeten
auf Jhre Hochachtung einen Anſpruch machen duͤr-
fen. Leute, welche die Poeſie zu andern Dingen, als
zum gratuliren und condoliren, anwenden; Leute, de-
nen die Fundgruben der edlen Reimkunſt ſo wenig
entdeckt ſind, daß ſie ihnen nicht, ſtatt aller Wiſſen-
ſchaften, dienen koͤnnen; Leute, welche das Amt, zu
wuͤnſchen, fuͤr ſo geringe halten, daß ſie dabey noch Zeit
haben, etwas zu lernen; ſolche Leute, ſage ich, verdie-
nen Jhre und meine Betrachtung eben ſo wenig, als
alle Autoren uͤberhaupt, welche noch unter dem Zwan-
ge der Vernunft ſtehen. Da ich aber hievon voͤllig
frey bin; ſo wuͤrden Sie gegen Jhren Mitbruder ſehr
barbariſch ſeyn, wenn Sie mir, bey meinen Umſtaͤnden,
die ich Jhnen gleich entdecken will, Jhr Mitleiden ver-
ſagen wollten. Jch finde naͤmlich an meinem eignen
Exempel, daß der Geſchmack zu den ſchoͤnen Kuͤnſten
und Wiſſenſchaften leider in großen Verfall gerathen
iſt. Es verlohnt ſich beynahe nicht mehr der Muͤhe,
daß man den Leuten alles erſprießliche Wohlergehen
anwuͤnſcht. Jch erinnere mich der gluͤckſeligen Zeiten
noch wohl, da Braut und Braͤutigam noch nicht das
Herz hatten, ſich ohne unſre poetiſche Einſeegnung zu
Bette
[199]an den Autor.
Bette zu legen. Kein Magiſter durfte ſich unterſte-
hen, mit gutem Gewiſſen den Ring zu tragen, wenn
er nicht wenigſtens ein Dutzend gedruckte Zeugniſſe
von dem Beſitze der ſieben freyen Kuͤnſte aufzuweiſen
hatte. Wir Poeten, (die Thraͤnen treten mir in die
Augen, wenn ich daran gedenke,) wir goͤttlichen Poe-
ten, hatten an der Geburt, und an dem Abſterben unſ-
rer Nebenmenſchen eben ſo viel Antheil, als die Heb-
ammen und Aerzte. So bald ein Kind auf die Welt
kam, ſo ſchwuren wir, ſo lange wir noch Athem und
Reime hatten, daß es des theuern Vaters Ebenbild,
und die Hoffnung des hohen Hauſes, ſo wie des gan-
zen Vaterlandes waͤre. Starb aber jemand, ſo war
keine Muſe auf dem Parnaſſe, welche nicht mit zu
Grabe gehen mußte; denn es fehlte oftmals dem
Wohlſeligen an betruͤbten Erben, und dem Dichter
an Gelde. Bartholus und Baldus hatten keine ruhi-
ge Stunde; denn ſo bald ein gelehrter Herr Candidat,
durch die weiſe Vorſehung ſeiner Mama, zum Prie-
ſter der Gerechtigkeit eingeweihet wurde; So zog ich
dieſe graubaͤrtigen Rechtsgelehrten aus ihrer Gruft
hervor, und ließ ſie die Weisheit des jungen Herrn
Doctors bewundern. Vergeben Sie mir, mein Herr,
daß ich Sie mit Erzaͤhlung ſolcher Sachen aufhalte,
die Jhnen nicht fremde ſind, aber doch noch bekannter
ſeyn wuͤrden, wenn Sie ſo, wie ich, unter Reimen und
Wuͤnſchen grau geworden waͤren. Jch bin niemals
weitlaͤuftiger, als wenn ich auf die Gluͤckſeligkeit der
der vergangnen Zeiten zu reden komme, in welchen
kein Handwerksmann lebte, der nicht auch zugleich ein
Maͤcenat war. Es geht mir, wie den alten Schoͤnen,
N 4wel-
[200]Schreiben des Gratulanten
welche ſich derjenigen Jahre mit Wolluſt erinnern, da
ſie der Gegenſtand verliebter Seufzer und zaͤrtlicher
Blicke geweſen, aber eben um deswillen ein gerechtes
Misfallen empfinden, da ſie nunmehr ihre Schoͤnheit
verſchwunden, und ſich von der Menge ihrer Anbeter
verlaſſen ſehen. Wenn es ſo fortgeht, ſo muß ich der
ungluͤcklichſte Menſch auf der Welt werden. Nie-
mand verlangt etwas von meiner Waare. Man frei-
het, man ſtirbt, man wird geboren, und alles dieſes
ohne mich. Nichts Boͤſes ſoll man den Leuten wuͤn-
ſchen; wuͤnſcht man ihnen aber etwas Gutes, ſo wird
es nicht bezahlt. Wo will hernach der Seegen her-
kommen? Und ſind unſre verſtockten Mitbuͤrger nicht
ſelbſt Schuld daran, wenn ſie weder Stern noch Gluͤck
haben? Gewiß, mein Herr Autor, ich fuͤrchte, es ſind
itzt die letzten Zeiten, und die Atheiſterey, die Philoſo-
phie, der Undank ‒ ‒ ‒. O mein Herr, die Haare ſtehen
mir zu Berge, wenn ich daran gedenke. Halten Sie
mir meinen Eifer zu gute! Jch eifre nicht fuͤr mich, ich
eifre fuͤr das Vaterland, fuͤr mein undankbares Va-
terland, welches ſich um tauſend gute Wuͤnſche, und
mich um manchen Gulden bringt. Jch habe vielmals
den Einfall gehabt, ob es nicht billig waͤre, daß die
Obrigkeit fuͤr die alten Poeten meiner Art eben die
Sorgfalt truͤge, welche ſie fuͤr abgedankte Soldaten,
oder fuͤr abgelebte Maͤnner und Weiber hat. Sollte
es nicht dem gemeinen Weſen ſehr vortheilhaft ſeyn,
wenn ſie ein Gratulantenſpital errichtete? Wenig-
ſtens ſollte es mir ein beſondres Vergnuͤgen ſeyn, wenn
ich den voruͤberreiſenden Fremden die Allmoſenbuͤchſe
vorhalten, und ihnen, fuͤr ihre Gaben, Gottes reichen
Seegen
[201]an den Autor.
Seegen anwuͤnſchen ſollte. Denn ich bin das Wuͤn-
ſchen gewohnt, und um deswillen ſollte mir dieſe Ar-
beit nicht ſchwer fallen. Jch werde es aber wohl nicht
erleben, daß dieſer gute Vorſchlag jemals zu Stande
koͤmmt, und um deswillen wird es noͤthig ſeyn, daß ich
auf andre Mittel ſinne, welche zu meiner Erhaltung
dienen koͤnnen. Es hat mir ein vornehmer Goͤnner
den Vorſchlag gethan, daß ich um die Stapelgerech-
tigkeit anſuchen ſollte, vermoͤge welcher nur ich allein,
und ſonſt niemand, binnen zwanzig Meilen um mei-
nen Aufenthalt herum, die Freyheit haben ſollte, mei-
nem Naͤchſten etwas Gutes zu wuͤnſchen. Allein zu
geſchweigen, daß mir dieſer Vorſchlag ein wenig zu
weitlaͤuftig ausſieht; ſo fuͤrchte ich mich auch der Suͤn-
de, da ich manche Seufzer und Thraͤnen auf mich brin-
gen, und die Menge meiner gluͤckwuͤnſchenden Mit-
bruͤder in die erbaͤrmlichſten Umſtaͤnde ſetzen wuͤrde.
Jch habe noch einen andern Einfall. Sie ſind be-
ruͤhmt, mein Herr Autor; Sie ſind in den witzigſten
Geſellſchaften bekannt, und ich hoͤre, daß Jhre Worte
nicht ohne Nachdruck ſind. Thun Sie das Werk der
Barmherzigkeit an einem ungluͤckſeligen Collegen, an
einem Autor, an einem Poeten, der vor guten Wuͤn-
ſchen berſten moͤchte! Empfehlen Sie mich Jhren Le-
ſern zu freygebigem Wohlwollen! Sagen Sie ihnen,
daß ich einen natuͤrlichen Trieb zu ſingen habe: So
werden ſich Goͤnner genug finden, welche eine natuͤr-
liche Begierde beſitzen, beſungen zu werden. Umſonſt
koͤnnen ſie es freylich von mir nicht verlangen; aber ich
will es doch gewiß billig machen. Jch will ſie alle lo-
ben, ich gebe Jhnen mein Wort; und ob ich gleich die
N 5Ver-
[202]Schreiben des Gratulanten
Verdienſte meiner Helden noch nicht weis: So ge-
hoͤrt dieſes doch nicht zur Hauptſache. Jch bin verſi-
chert, ſie werden nicht unerkenntlich ſeyn, und ſchon
dieſes iſt lobenswuͤrdig genug. Damit ſie aber auch
wiſſen moͤgen, wie viel ſie ſich von meiner Faͤhigkeit zu
verſprechen haben: ſo will ich ihnen einige Proben
davon bekannt machen. Jch habe einen ziemlichen
Vorrath ſchoͤner Gedanken, wovon die meiſten bereits
ausgearbeitet ſind, und nur auf den Titel warten.
Wollte aber jemand das Carmen auf ſeine beſondern
Umſtaͤnde eingerichtet haben, oder waͤre er etwan gar
ſo gluͤcklich, einen Namen zu fuͤhreu, welcher zu ſinn-
reichen und troͤſtlichen Einfaͤllen Anlaß giebt: So bit-
te ich, mir ſolches nur zu melden. Man darf nur nach
dem Gratulanten fragen; es kennen mich alle Kin-
der. Jch werde nicht undankbar ſeyn, Sie koͤnnen ſich
darauf verlaſſen; und ich wollte nichts mehr wuͤn-
ſchen, als daß ich Jhren Vornamen wuͤßte, ſo ſollten
ein ganz Dutzend Goͤtter zu Jhrem Befehle ſtehen.
Hier haben Sie ein kleines Verzeichniß meiner Ge-
dichte! Die Taxe ſteht gleich dabey, und Sie werden
finden, daß ſie billig iſt. Uebrigens verharre ich,


Mein Herr,
Jhr bedraͤngter Freund und Diener,
der Gratulant.


Liſte einiger bis auf den Titel fertigen
Gedichte.


  • 1) Der gedruͤckte, aber erqvickte, Apollo. 1 Thl. 8 gr.
  • 2) Der jauchzende Pindus uͤber die hoͤchſt unvermu-
    thete Ankunft des ꝛc. ꝛc. Dieſes iſt um den gewoͤhn-
    lichen Marktpreis zu haben.

3) Hi-
[203]an den Autor.
  • 3) Hiſtoriſch-genealogiſche Nachrichten, wie viele aus
    Verſehen den Gradum angenommen. Erſter Theil.
    Der zweyte Theil ſoll kuͤnftiges Jahr fertig wer-
    den, weil das Werk ſehr weitlaͤuftig wird. 2 Thlr.
  • 4) Le jour ſans pareil, oder die Sonne in Galla, bey
    dem hoͤchſterwuͤnſchten Geburts- und Namensfe-
    ſte ꝛc. ꝛc. koſtet wegen des franzoͤſiſchen Titels 4
    gr. mehr, als gewoͤhnlich.
  • 5) Die traͤumende Clio. 1 Thl. NB. Dieſes iſt eine
    ſpitzige Satyre, und muß ohne Cenſur gedruckt
    werden. Jch habe mich niemals in dieſes Feld
    gewagt; aber zu itziger Zeit brauchet man nichts,
    als Muth dazu.
  • 6) Der Eſelskopf, noch eine Satyre, nach dem heu-
    tigen Geſchmacke, in der ironiſchen Schreibart ab-
    gefaßt. Jſt nur fuͤr Leute, welche ſich meiner Ge-
    ſchicklichkeit bey Streitſchriften bedienen wollen.
    1 Thl. 12 gr.
  • 7) Zwey Dutzend Sonnette von verſchiednem Jnn-
    halte, in welchen der letzte Vers allemal der ſchoͤn-
    ſte iſt, weil der geneigte Leſer daſelbſt aufhoͤren
    kann. Das Stuͤck 8 gr.
  • 8) Ein Dutzend dergleichen etwas feiner, weil ich die
    Pointen unterſtrichen habe. Das Stuͤck 12 gr. Es
    kann aber auch nur in Batzen gezahlt werden.
  • 9) Wohlgemeynter Himmelsſturm bey dem gluͤck-
    lich erlebten Neuenjahre. 16 gr.
  • 10) Die erbaͤrmliche Verzweiflung der Goͤtter, bey
    dem Grabe u. ſ. w. Bey der Bezahlung richte ich
    mich nach der Leiche, nachdem ich ihr viel oder we-
    nig Tugenden andichten muß.

11) Hi-
[204]Schreiben des Gratulanten.
  • 11) Hitziger Streit zwiſchen der Tugend und einer rei-
    chen Weſte, entſchieden von der liebenswuͤrdigen
    N. N. bey ihrer Verbindung mit u. ſ. w. Ein Schaͤ-
    fergedichte, iſt unter Bruͤdern 2 Thl. 2 gl. 6 pf.
    werth. Die 6 pf. gehen ab, wenn es baar bezahlt
    wird.
  • 12) Hymen und die Reue, bey der im Himmel ge-
    ſchloßnen Ehe ꝛc. ꝛc. Dieſes Stuͤck will ich um 12 gr.
    laſſen, weil es mir ſchon lange auf dem Halſe liegt.
  • 13) Trauer- und Leichenrede uͤber den gewaltſamen
    Tod der Wahrheit, oder wohlgemeynter Wunſch,
    als der Wohledle, Großachtbare, und Wohlge-
    lahrte Herr, Herr ‒ ‒ von ‒ ‒ der ‒ ‒ eifrigſt Befliß-
    ner, auf der hohen Schule zu ‒ ‒ die ſchon laͤngſt
    verdiente hoͤchſte Wuͤrde der Weltweisheit, nach
    aller Gelehrten ſehnlichen Wuͤnſchen, ruͤhmlichſt
    erhielt ꝛc. Dieſes Stuͤck wird umſonſt ausgegeben.
  • 14) Ungefaͤrbtes Zeugniß von den Verdienſten des ꝛc.
    ausgeſtellt von Aretophilo, kaiſerlichen geſchwor-
    nen Notario. Es darf ſich niemand durch den Ti-
    tel abſchrecken laſſen, denn es iſt poetiſch ausge-
    fuͤhrt. 1 thl.
  • 15) Die Blindheit des Schickſals, ein Leichengedicht.
    Jſt durch und durch philoſophiſch, weil ich es ſelbſt
    nicht verſtehe, und wider die Anhaͤnger der beſten
    Welt. Wird nach Belieben bezahlt.

Anmerkung.


Die Herren Auslaͤnder muͤſſen die Preiſe dop-
pelt bezahlen, denn ich ſchreibe bloß aus Liebe zum
Vaterlande.



Gedan-
[205]

Gedanken des Autors
uͤber das Schreiben des Gratulanten
*.


Der rechtſchaffne Mann! Wie ſehr wuͤrde ich
dem guten Geſchmack auf helfen, wenn ich
ihn bey der Welt in einiges Anſehen ſetzen
koͤnnte! Es iſt ohnedem aus mit unſrer Poeſie; es
iſt ganz aus damit, denn man hat andre Begriffe
von ihren Regeln, und Schoͤnheiten, als ich davon
habe. Die Vorſchlaͤge, die er indeſſen von mir er-
warten kann, ſind leicht vorauszuſehen. Jch bin
der Autor; ich rathe alſo zum Drucke. Vielleicht
thut die undankbare Welt die Augen auf, wenn ſie
ſeine Wuͤnſche beyſammen ſieht! Wenigſtens koͤn-
nen doch die Einkuͤnfte davon, auf einige Zeit ſeine
Seufzer hemmen. Sollte ſich aber, weil der Ge-
ſchmack ſehr boͤſe iſt, kein Verleger finden: So will
ich ihm eine Heirath vorſchlagen, die ich vielleicht
ſelbſt ſuchen wuͤrde, wenn keine Philippine waͤre.
Folgende Liebeserklaͤrung, welche ſchon vergangne
Michaelmeſſe, bey meinem Verleger eingelaufen,
aus Verſehen aber liegen geblieben iſt, wird ihm
mehr Licht geben.


Allerſchoͤnſter Herr Autor,

As ich geſtern, meiner Gewohnheit nach, um die
Zeit, wenn die jungen Herren und die Schrift-
ſteller ſich in der Allee ſehen laſſen, auch daſelbſt
ſpa-
[206]Gedanken des Autors
ſpatzierte, um aus den Geſichtsbildungen die Gemuͤ-
ther der Menſchen zu unterſuchen, ſo begegnete mir
eine ungemein artige Perſon, welche ſich vor den an-
dern allen unterſchied. Der Herr hatte den linken
Arm in die Seite geſtemmt, und ſah ſehr ernſthaft
aus. Zuweilen lachte er auch, und ſchien ſehr zufrie-
den mit ſich ſelbſt zu ſeyn. Er redete mit dem Mun-
de und den Haͤnden, ob er gleich ganz allein war; er
drehte den Hut in die Runde, und als er bey mir
vorbey gieng, waͤre er aus Tiefſinnigkeit beynahe
hingeſtolpert. Jch bin von Stunde an in ihm ver-
liebt geworden. Waren Sie es, allerliebſter Herr
Autor? Jch bin eben nicht haͤßlich, und habe ein
ziemliches Vermoͤgen, daß ich Sie daher mit Dinte,
Federn und Papier wohl verſorgen wollte. Jch ſter-
be vor Ungeduld, ehe ich Nachricht erhalte. Jch bin


Allerſchoͤnſter Herr Autor,
Jhre demuͤthige Dienerinn,
Eliſabeth Contuſch.


N. S. Da ich unter meiner eignen Gewalt und
Aufſicht ſtehe: So mag ich, ob ich gleich ſchon Do-
ctorinn und Licenciatinn heißen koͤnnte, doch keinen
andern, als den Autor, heirathen. Jch laſſe mir alle
Morgen, bey dem Nachttiſche, wenn ich mir die Haa-
re, und das Geſicht zurichte, ein Stuͤck von Jhren
Schriften vorleſen, welche ordentlich hinter dem
Spiegel liegen. Es iſt, als wenn ich mir noch ein-
mal ſo gut gefiele, wenn ich Sie ableſen hoͤre. Wo
ich mich erinnere, ſo hatte der Herr ein rund Geſicht,
mit einer breiten Stirne.


Es
[207]uͤber dieß Schreiben.

Es iſt nichts gewiſſers, als daß ſich die Jungfer
Contuſch in ihren Muthmaaßungen geirrt hat. Jch
ſage es zum andernmale, daß mich meine Arbeit
nicht ſo viel Muͤhe koſtet, daß ich noͤthig haͤtte, da-
bey tiefſinnig auszuſehen. Jch pflege auch nicht nach-
zudenken, wenn ich ſpatzieren gehe, ſondern meine
Schreibtafel ſetzt mich in Stand, auch da zu ſchrei-
ben. Unfehlbar hat ihr alſo ein Poet begegnet. Und
wie gluͤcklich waͤre der Zufall, wenn es mein Client
geweſen waͤre! Jch weis von guter Hand, daß das
artige Kind noch nicht vor Ungeduld geſtorben iſt.
Jch werde mir alſo ein beſondres Vergnuͤgen ma-
chen, zwo Perſonen zu vereinigen, die fuͤr einander
geboren zu ſeyn ſcheinen. Wie artig wird es nicht
laſſen, wenn er ihr zu der Zeit, da ſie ſich das Ge-
ſicht zurichtet, ſeine Gedichte vorlieſt! Jch finde oh-
nedem in der Liſte ſeiner Werke nichts verliebtes, und
es waͤre Schade, wenn er der Welt ſein poetiſches
Talent, von ſo einer gefaͤlligen Seite, verbergen
wollte. Vielleicht ſtillt er mein Verlangen, wenn
er, wegen ſeines Magens in Sicherheit iſt. Weil
aber ein gewiſſer beruͤhmter Schriftſteller ſagt, daß
man ſeit Erſchaffung der Welt ſchon einige Bey-
ſpiele von dem Eigenſinne des ſchoͤnen Geſchlechts
aufzuweiſen haͤtte: So koͤnnte es leicht kommen,
daß die Jungfer Contuſch ihr Gluͤck nicht erkennen,
und eine Heirath ausſchlagen wollte, wodurch ſie
alle Zuͤge ihres Geſichts verewigen koͤnnte. Jn die-
ſem Falle erſuche ich meinen Herrn Clienten, nur
nicht zu verzagen. Jch will fuͤr ihn ſorgen. Nach
dem Entwurfe, den ich mir von meiner kuͤnftigen
Hoheit
[208]Gedanken des Autors uͤber ꝛc.
Hoheit gemacht habe, iſt es nunmehr Zeit, Streit-
ſchriften anzufangen. Eheſtens werde ich meinen
erſten Feldzug antreten. Mein Herr Client ſcheint
uͤber Ehre und Schande weg zu ſeyn, und ſolche
Leute ſind zu brauchen. Man frage mich nicht:
Wo meine Feinde ſind, und wodurch man mich be-
leidigt habe? Vielleicht werde ich boͤſe, daß mich
niemand boͤſe machen will. Jch weis freylich noch
nicht recht, was ich fuͤr eine Urſache, den Frieden zu
brechen, ergreifen werde. Es iſt aber mein Troſt,
daß es nur Kleinigkeiten ſeyn duͤrfen, weswegen
wir Autoren das Recht haben, uns unſinnig anzu-
ſtellen. Crede mihi, leuia ſunt, propter quae non
leuiter excandeſcimus, qualia quae pueros in ri-
xam et iurgia concitant. Nihil ex his, quae tam

triſtes agimus, ſerium eſt, nihil magnum.
Seneca.


Ende des erſten Theils.



[209]

Verzeichniß
der Schriften, ſo in dieſem

Theile enthalten ſind.


  • I.
    Vorbericht; von dem Misbrauche der
    Satyre.
  • II.
    De Epiſtolis gratulatoriis ΕΞΩΤΙΚΟ-
    ΘΑϒΜΑΤΟϒΡΓΗΜΑΤΟΤΑΜΕΙΟΙΣ;
    oder, von der Vortrefflichkeit der
    Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben nach dem
    neueſten Geſchmacke, a. d. 5. S.
  • III.
    Antrittsrede in die Wuͤnſchende Ge-
    ſellſchaft von der wahren Beſchaffen-
    Erſter Theil. Oheit
    [210]Verzeichniß
    heit eines vernuͤnftigen Buͤrgers,
     a. d. 29. S.
  • IV.
    Klage wider die weitlaͤuftige Schreib-
    art, a. d. 41. S.
  • V.
    Memoires d’ Amourette, oder Lob-
    ſchrift auf Amouretten, ein Schooß-
    huͤndchen, a. d. 47. S.
  • VI.
    Lobſchrift auf die boͤſen Maͤnner,
     a. d. 61. S.
  • VII.
    Trauerrede eines Wittwers auf den
    Tod ſeiner Frau, in der Geſellſchaft
    der geplagten Maͤnner gehalten;
    nebſt einer Nachricht von dieſer Ge-
    ſellſchaft, a. d. 69. S.
  • VIII.
    Ein Auszug aus der Chronike des Doͤrf-
    leins Qverleqvitſch an der Elbe gele-
    gen, a. d. 89. S.
  • IX.
    Ein Schreiben von vernuͤnftiger Erler-
    nung der Sprachen und Wiſſenſchaf-
    ten auf niedern Schulen, a. d. 109. S.
  • X.
    Lebenslauf eines Maͤrtyrers der Wahr-
    heit, a. d. 121. S.
  • XI.
    Sendſchreiben von der Zulaͤßigkeit der
    Satyre. a. d. 135. S.
  • XII.
    Von Unterweiſung der Jugend, a. d.
    149. S.
  • XIII.
    Jrns, eine lucianiſche Erzaͤhlung, a. d.
    158. S.
  • XIV.
    Eine Todtenliſte von Nicolaus Klimen,
    Kuͤſtern an der Kreuzkirche zu Ber-
    gen in Norwegen, a. d. 163. S.
  • XV.
    Schreiben des Gratulanten an den Au-
    tor, nebſt den Gedanken des Au-
    tors uͤber dieſes Schreiben, a. d.
    195. S.


[[213]][[214]][[215]][[216]]
Notes
*
Siehe dieſe Sammlung ſatyriſcher Schriften, den 2 Theil.
*
Siehe den Juͤngling 1. Band. das 17 und 21. Stuͤck.
a)
Occurrit tibi nemo quod libenter,
Quod, quocunque venis, fuga eſt, et ingens
Circa te, Ligurine, ſolitudo:
Quod ſi ſcire cupis, nimis poeta es.
Hoc valde vitium periculoſum eſt.
Non tigris catulis citata raptis

Non
b)
Hoc novum eſt aucupium: Ego hanc primus inveni viam.
Eſt genus hominum, qui eſſe primos ſe omnium rerum volunt;
Nec ſunt. Hos conſector; hiſce ego non paro me, ut rideant;
Sed eis ultro arrideo, et eorum ingenia admiror ſimul.
Quicquid dicunt, laudo; id rurſum ſi negant, laudo id quoque;
Negat quis, nego: ait, ajo: poſtremo imperavi egomet mihi,
Omnia aſſentari. Is queſtus nunc eſt multo uberrimus etc.
Terentius in Eunuch. Act. II. Sc. I.
b)
Non et ipſas medio peruſto ſole,
Nec ſic ſcorpius improbus timetur.
Nam tantos rogo quis ferat labores?
Et ſtanti legis, et legis ſedenti:
Currenti legis, et legis cacanti:
In thermas fugio, ſonas ad aurem:
Piſcinam peta, non licet natare:
Ad coenam propero, tenes euntem:
Ad coenam venio, fugas ſedentem:
Laſſus dormio, ſuſcitas jacentem.
Vis quantum facias mali videre?
Vir juſtus, probus, innocens timedis.

Mart. Libr. V. epigr. 89.
c)
Herille ſoit qu’il parle, qu’il harangue, ou qu’il ecrive,
veut citer. Il fait dire au Prince des Philoſophes, que le vin
enyvre, et a l’Orateur Romain, que l’eau le tempere; s’il ſe
jette dans la morale, ce n’eſt pas lui, c’eſt le divin Platon, qui
aſſure, que la vertu eſt aimable, le vice odieux, ou que l’un
\& l’autre ſe tournent en habitude: les choſes les plus commu-
nes, les plus triviales, et qu’il eſt même capable de penſer, il
veut les devoir aux Anciens, aux Latins, aux Grecs. Ce n’eſt ni
pour donner plus d’autorité, à ce qu’il dit, ni peut-être pour
ſe faire honneur de ce qu’il ſçait. Il veut citer.
Bruy. p. 440.
d)
Bella es, novimus, et puella, verum eſt,
Et dives, quis enim poteſt negare?
Sed dum te nimium, Fabulla, laudas,
Nec dives, neque bella, nec puella es.

Martial. libr. I. ep. 29.
e)
Coquette jadis, même un peu galante, une avanture d’é-
clat, et qui avoit terni ſa reputation l’avoit degoutée de plaiſirs
bruyans du monde. Auſſi ſenſible, mais plus prudente, elle
avoit compris enfin, que les femmes ſe perdent moins par leurs
foibleſſes, que par le peu de menagement, qu’elles ont pour
elles-mêmes; \& que pour être ignorés, les transports d’ un
amant n’en ſont ni moins réels, ni moins doux. ‒ ‒ Elle
étoit belle, mais d’une beauté majeſtueuſe, qui même, ſans le
ſerieux, qu’elle affectoit, pouvoit aiſement ſe faire reſpecter.
Miſe ſans coquetterie, elle ne negligoit pas l’ornement. En
diſant, qu’elle ne cherchoit pas a plaire, elle ſe mettoit tou-
jours en état de toucher; et reparoit avec ſoin ce que près de
quaranteans, qu’elle avoit, lui avoient enlevé d’agremens: elle

en
e)
en avoit pas même peu perdu; et ſi l’on en excepte cette frai-
cheur, qui diſparoit avec la premiere jeuneſſe, et que ſouvent
les femmes flêtriſſent avant le tems, en voulant la rendre plus
brillante; Madame Lurſay n’avoit rien à regretter. Elle étoit
grande \& bien faite; et dans ſa nonchalance affectée, peu des
femmes avoient autant des graces qu’elle. Sa Phyſionomie et
ſes yeux étoient ſéveres forcément, et lors qu’elle ne ſongeoit
pas à s’ obſerver, on y voyoit briller l’enjouement et la ten-
dreſſe. Elle avoit l’eſprit vif, mais ſans etourderie, prudent,
même diſſimulé. Au reſte quoique prûde elle étoit douce dans
la ſocieté. Son Syſteme n’etoit point, qu’on ne dût pas avoir
des foibleſſes, mais que le ſentiment ſeul pouvoit les rendre
pardonnables.
Crebillon dans ſes egaremens de l’eſprit et du
coeur. p.
17.
f)
Cliton n’a jamais en toute ſa vie, que deux affaires, qui
eſt, de diner le matin et de ſouper le ſoir, il ne ſemble né
que pour la digeſtion; il n’a même, qu’un entretien, il dit les
entrèes qui ont été ſervies au dernier repas, ou il s’eſt trouvé;
il dit, combien il y a eu de potages; il ſe ſouvient exactement,
de quels plats on a releve le premier ſervice; il n’oublie par
le’fruit et les aſſiettes; il nomme tous les vins, et toutes les
liqueurs, dont il a bû; il poſſede le langage de cuiſines autant,
qu’il peut s’etendre, et il me fait envie, de manger a une bonne
table, où il ne ſoit point. C’eſt un perſonnage illuſtre dans
ſon genre, et qui a porté le talent, de ſe bien nourir, jusques
où il pouvoit aller. On ne reverra plus un homme, qui mange
tant, et qui mange ſi bien; auſſi eſt ‒ il l’arbitre de bons mor-
ceaux, et il n’eſt gueres permis d’avoir du gout, pour ce qu’il
desapprouve. Mais s’il n’eſt plus, il s’eſt fait du moins porter
à table jusque au dernier ſoupir: il donnoit à manger le jour,
qu’il eſt mort; quelque part où il ſoit, il mange; et s’il re-
vient au moude, c’eſt pour manger.
Bruyere, p. 397.
g)
Pulere valet Carinus, et tamen pallet.
Parce bibit Carinus, et tamen pallet.
Bene concoquit Carinus, et tamen pallet.
Tingit cutem Carinus, et tamen pallet.
Puellam amat Carinus, et tamen pallet.

Mart. lib. I. ep. 78.
h)
Munera quod ſenibus viduisque ingentia mittis:
Vis te munificum, Gargiliane, vocem?
Sordidius nihil eſt, nihil eſt te ſpurcius uno:
Qui potes inſidias dona vocare tuas:
Sic avidis fallax indulget piſcibus hamus,
Callida ſic ſtultas decipit eſca feras.
Quid ſit largiri, quid ſit donare, docebo,
Si neſcis: dona, Gargiliane, mihi.

Martial. libr. IV. ep. 56.
Munera qui tibi dat locupleti, Gaure, ſenique:
Si ſapis et ſentis, hic tibi ait, morere.

Martial. lib. VIII. ep. 27.
i)
Nullus in urbe fuit tota, qui tangere vellet
Uxorem gratis, Caeciliane, tuam,
Dum licuit; ſed nunc, poſitis cuſtodibus, ingens
Turba fututorum eſt. Ingenioſus homo es.

Martial. libr. I. epigr. 74.
k)
Argyre tire ſont gant, pour montrer une belle main, et
elle ne neglige pas, de decouvrir un petit ſoulier, qui ſuppoſe,
qu’elle a le pied petit; elle rit de choſes plaiſantes ou ſerieuſes,
pour faire voir de belles dents; fi elle montre ſon oreille, c’eſt
qu’elle l’a bien faite, et ſi elle ne danſe jamais, c’eſt qu’elle eſt
peu contente de ſa taille, qu’elle a épaiſſe; elle entend tous
ſes interets à l’exception d’un ſeul, elle parle toujours, et n’a
point d’eſprit.
Bruyere, p. 138.
l)
Unus Iberinae vix ſufficit: ocyus illud
Extorquebis, ut haec oculo contenta ſit uno.

Juvenal. Satyr. VI. v. 53.
m)
Miraris veteres, Vacerra, ſolos,
Nec laudas niſi mortuos Poëtas.
Ignoſcas petimus, Vacerra; tanti
Non eſt, vt placeam tibi, perire.

Martial. libr. VIII. epigr. 69.
n)
Il aime les inſectes, il en fait tous les jours de nouvelles
emplettes; c’eſt ſurtout le premier homme de l’Europe pour
les papillons; il en a de toutes les tailles et de toutes les cou-
leurs. Quel tems prenes-vous pour lui rendre viſite? Il eſt

plongé
n)
plongé dans une amere douleur, il a l’humeur noire, chagrine,
et dont toute ſa famille ſouffre; auſſi a-t-il fait une perte
irreparable; approchez, regardez ce qu’il vous montre ſur
ſon doigt, qui n’a plus de vie, et qui vient d’ expirer, c’eſt
une chenille, et quelle chenille!
Bruyere, p. 283.
*
Es iſt ein erbaulicher Gebrauch, daß man zum Anfange
eines ieden Buchs aus einem alten Schriftſteller einige
Worte ſetzet. Wenn in dem ganzen Buche nichts gutes
iſt, ſo ſind wenigſtens die Worte des alten Schriftſtel-
lers gut; ich habe es alſo auch nicht unterlaſſen wol-
len. Jch habe mir wenigſtens angelegen ſeyn laſ-
ſen, eine ſolche Stelle ausfuͤndig zu machen, welche mit
meinem gegenwaͤrtigen Vorſatze gar kein Verhaͤltniß hat.
Denn dieſes iſt nach dem neueſten Geſchmacke.
1.
Dieſes iſt die erſte Spur in gegenwaͤrtiger Abhandlung,
welche von der Staͤrke zeuget, die ich in Verferti-
gung eines Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben, nach der neuſten
Mode, beſitze. Dein Abſchied iſt mir gar nicht unvermu-
thet gekommen. Jch habe ihn vor vielen Wochen gewußt.
Schon ſeit dem Tode des Kaiſers bin ich mit dieſer Schrift
fertig geweſen. Jch habe mit innigſtem Schmerzen auf
eine Gelegenheit gewartet, ſie unter die Preſſe zu bringen.
Es wuͤrde aber ein weſentliches Stuͤck weggefallen ſeyn,
wenn ich nicht ſo beſtuͤrzt und eilfertig gethan haͤtte.
Meine wertheſten Mitbruͤder, die wuͤnſchende Geſellſchaft,
ſieht die Schoͤnheit davon vortrefflich ein. Und es wuͤr-
de ſehr altvaͤteriſch geklungen haben, wenn ich geſagt haͤtte,
daß dieſes Werkchen mit gruͤndlichem Vorbedachte, und
reifer Ueberlegung geſchrieben ſey.
2.
Dieſes Urtheil faͤlle ich von mir, aus einer gelehrten und
allen Autoren gewoͤhnlichen Schamhaftigkeit; will es
aber bey dem geneigten Leſer moͤglichſt verbitten. Es
widerleget ſich auch aus obigem von ſelbſt, und iſt nur
eine Figur.
3.
Jch beziehe mich hier auf obige Anmerkungen. Wenn
ich ſpraͤche, daß ich nichts zu thun haͤtte, auch allem Anſe-
hen nach ſo bald nicht mit einem Amte oder uͤberhaͤufter
Arbeit beſchweret werden duͤrfte, ſo redete ich zwar die
Wahrheit; aber ich ſagte etwas, quod indignum eſſet no-
ſtris temporibus, indignum autore, indignum gratulante,
\& fauſta quaeuis appreeante.
4.
Wir leben anitzt, dem Himmel ſey Dank, in denen
Zeiten, wo alles, was Athem hat, neue Wahrheiten erfin-
det. Neue Wahrheiten bey dem Richterſtuhle, neue Wahr-
heiten bey dem Krankenbette, ja ſo gar neue Wahrheiten
auf der Kanzel, und ich waͤre nicht werth, in dieſem Jahr-
hunderte gebohren zu ſeyn, wenn ich nicht im Stande
waͤre, binnen weniger Friſt eine ganze Kette neuer Wahr-
heiten zu entdecken.
5.
Dieſes iſt eine edle Tugend, welche mir und meinen Col-
legen, ohne Ruhm zu melden, nebſt der Ordnung im Vor-
trage, und der Buͤndigkeit im Denken, ganz eigen iſt.
Sed bono vino hedera non opus eſt.
6.
Jch bin, wie es uͤberhaupt gebraͤuchlich iſt, allemal ge-
wohnt, die Schoͤnheiten meiner Schriften zuerſt anzumer-
ken, damit es dem Leſer deſto leichter falle, weiter nach-
zudenken. Gegenwaͤrtigen Abſchnitt halte ich fuͤr ein
Meiſterſtuͤck eines Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben. Jch hatte
verſprochen, kurz zu ſchreiben, und fange, aller Kuͤrze un-
beſchadet, vom Paradieſe an. Wie ſchwer ſollte es einem
andern fallen, die Woͤrter Paradies, Arche Noah, babylo-
niſchen Thurm, Sem, Aſien, braune Mohren, Lybien, Ja-
phet, Norden, bemalte Leute und Columbus, auf eine ſo
natuͤrliche, lebhafte und buͤndige Art mit einander zu ver-
knuͤpfen? Dieſes kann ich, und meine Mitbruͤder. Was
die Natur in einer Weite von vielen tauſend Meilen faßt,
das ſtellen wir auf einer einzigen Seite vor, und was in
ſechs tauſend Jahren geſchehen iſt, das wiſſen wir in wenig
Punkte zu ſchließen. Noch mehr. Wer haͤtte meynen ſol-
len, daß ich den Urſprung unſrer heutigen Gluͤckwuͤn-
ſchungsſchreiben in dem Paradieſe zu ſuchen wuͤßte? Der
folgende Abſchnitt wird es weiſen, daß ich ihn ruͤhmlichſt
gefunden habe. Lauter neue Wahrheiten! Es ſey voritzt
genug. Nunmehr weis der Leſer, was er ſich von mir
zu verſprechen hat. Und die Folge wird weiſen, daß die-
ſes und alle auf ſolche Art eingerichtete Schreiben nichts
anders ſind, als ἐξωτικοϑαυματουργηματοταμ [...]α.
7.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ich hier nur von denen
rede, welche ich mir zum Muſter vorgeſetzt habe,
und denen gegenwaͤrtiges zu einem ruͤhmlichen Exempel
dienen kann. Es giebt noch eine große Menge andrer
Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben, die aber bey ihrer Trocken-
heit nur denen gefallen koͤnnen, die an unſrer
itzigen und neuſten Art zu denken keinen Geſchmack
haben.
8.
Finis coronat opus. Dieſe vier Buchſtaben wollen mehr
ſa-
9.
Es iſt die loͤbliche Gewohnheit meiner Bruͤder, daß man
auf einen jeden Beweis einen Trumpf ſetzet. Jm Lateini-
ſchen klingt es noch maͤnnlicher: Cui ſanum eſt ſinciput
\& occiput.
Jn meiner ratiocinatione practica, welche
kuͤnftige Oſtermeſſe ans Licht treten wird, ſind zwey Alpha-
bethe, ſolcher gruͤndlichen Formeln angemerket, welche aber
groͤßtentheils aus dem Hollaͤndiſchen genommen ſind.
8.
ſagen, als alle hieroglyphiſche Figuren der aͤgyptiſchen
Prieſter. Sie zeigen an, daß ich fertig bin, daß ich or-
dentlich gedacht habe, daß mein Beweis unumſtoͤßlich
iſt. Man mag ſchreiben wie man will! Man ſetze nur
zum Schluſſe W. Z. E. W. ſo ſchreibt man mathematiſch.
Dieſe Buchſtaben ſind nichts anders, als das alte Plaudi-
te.
Der Verfaſſer bittet ſich dadurch den Beyfall des Le-
ſers aus, daß er ſeine philoſophiſche Rolle ſo vortrefflich
geſpielet hat.
10.
Jch kann den Unterſchied nicht beſſer ausdruͤcken, als
durch die Diſtinction: Inter definitionem \& deſcri-
ptionem.
11.
Es koͤmmt allerdings auf mein Wollen an. Denn ich
weis ſehr umſtaͤndlich, was zu einer Definition erfodert
wird, indem ich mehr als eine Logik eigenthuͤmlich beſitze,
und daſelbſt nur nachſchlagen duͤrfte. Mehr gehoͤret zu
einem rechtſchaffnen Gelehrten nicht.
12.
L. 202. D. de R. I. Omnis definitio etc. periculoſa
eſt etc.
13.
Meine Leſer werden es beſtens entſchuldigen, daß bey
dieſem Abſchnitte keine Note iſt. Es iſt ein Verſehen, wel-
ches mir, beſonders bey gegenwaͤrtiger Abhandlung, bey-
nahe nicht zu verzeihen waͤre, wenn ich mich nicht hier-
durch anheiſchig machte, es in folgenden Abſchnitten
wieder einzubringen.
14.
Der Titel, welchen ich dieſer Schrift vorgeſetzt habe,
kann dieſen Satz am beſten beweiſen. Jch hatte eine
rechte Freude, als er fertig war, und mancher Dichter
empfindet bey denen Verſen, die er zur Welt gebracht, die
kuͤ-
15.
Videatur mein D. beym Anfange dieſer Schrift!
16.
Bey dem Worte Steuer faͤllt mir eine rare Muͤnze bey,
welche ich auf den Titel ſtechen laſſen. Ein andrer, der
meine Faͤhigkeit im Denken nicht beſitzt, wuͤrde nimmer-
mehr darauf gekommen ſeyn. Weil ich dieſes Werk ſelbſt
verlegen werde, ſo habe ich die Koſten nicht geſcheut,
dieſes Kupfer verfertigen zu laſſen. Es iſt die allerneu-
ſte Mode. Es machet ein Buch beliebt. Und was das
ſchoͤnſte iſt, ſo wird gar nicht erfodert, daß ſich die Muͤnze
zur Abhandlung ſchicke, oder etwas davon in derfelben
gedacht werde. Wer haͤtte in meiner Lobſchrift auf die
Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben, eine Steuermuͤnze ſuchen ſol-
len? Bloß dem Worte Steuer hat der Leſer das ſchoͤ-
ne Bildchen zu danken.
14.
kuͤtzelnde Zufriedenheit lange nicht, welche ich bey mir ver-
ſpuͤrt, als ich den erſten Bogen aus der Druckerey
bekam.
17.
Jch werde hiervon in meinem Poeta in nuce, oder in
meiner Sammlung 10000 auserleſner Reime, vermittelſt
welcher man, beſonders bey Magiſterpromotionen, auf die
leichteſte poetiſche Art, ſatyriſche und ernſthafte Gedichte
binnen kurzer Zeit zu Papiere bringen kann, ausfuͤhrlich
handeln.
18.
Es wollte mir hier ſchwer fallen, einen ordentlichen
Beweis zu machen. Jch bediene mich alſo mit großem
Nutzen der Freyheit, welcher ſich meine wertheſten Mit-
bruͤder vorlaͤngſt angemaaßt haben. Daß ſie naͤmlich mit
Gleichniſſen reden, wenn ihnen die trocknen Schluͤſſe zu
muͤhſam ſind.
19.
Die Regeln, welche ich in dieſem Abſchnitte gebe, wer-
den ſich durch ein Exempel am beſten erlaͤutern laſſen.
Es war am 2 Jenner 1740, als ich in die wuͤnſchende Ge-
ſellſchaft trat. Jch mußte eine Antrittsrede halten, um
meine Faͤhigkeit zu zeigen. Der Vorſitzende redete mich
zuerſt an. Er ſagte mir die Regeln und Geſetze ſeiner
Geſellſchaft. Jch verſprach, ihnen nachzuleben. Hier-
auf gab er mir den Freymaͤurer, welcher das Jahr vor-
her
19.
her geſchrieben war, in die Hand, wies mir die uͤber jedem
woͤchentlichen Blatte ſtehende Ueberſchrift, und ſagte, daß
ich nach dieſer Ordnung alſobald meine Antrittsrede hal-
ten ſollte. Jch fragte ihn, was fuͤr einen Satz ich aus-
fuͤhren ſollte. Er beſann ſich ein wenig, und ſagte mir, ich ſoll-
te handeln: Von der wahren Beſchaffenheit eines vernuͤnf-
tigen Buͤrgers.
Hierauf hielt ich ſogleich eine bewunderns-
wuͤrdige Rede. Als ich mit ſolcher fertig war, gab ich den
Freymaͤurer dem Vorſitzenden zuruͤck, welcher eine Gegenrede
an mich hielt, und darinnen, nach Anleitung und Ordnung
eben dieſer Ueberſchriften, von der damaligen ungemeinen
Kaͤlte handelte. Er wendete dieſes ſehr natuͤrlich auf unſre
Geſellſchaft, und beſonders auf mich an, ruͤhmte dabey wie
leicht zu vermuthen iſt, meine Rede ungemein, und hielt es
mir, als einem Anfaͤnger, zu gute, daß ich mich in der erſten
Haͤlfte derſelben zu ſehr an den aufgegebenen Satz gebun-
den hatte: verſicherte mich zugleich, daß die andre Haͤlf-
te unverbeſſerlich, und nach ihrem neueſten Geſchmacke
ſey Man wird die Wahrheit dieſes Urtheils ſelbſt er-
kennen, wenn man ſich das Vergnuͤgen machen will, ſie zu
leſen, zu dem Ende habe ich ſie dieſer Abhandlung bey-
drucken laſſen.
20.
Es wird dem gemeinen Weſen ſehr zutraͤglich ſeyn, wenn
ich hier anmerke, daß Virgilius das Woͤrtchen Ex beſonders
hundert und ſiebenzehnmal mit Nachdrucke anfuͤhret. Ecl. 3.
Puero ſylueſtri EX arbore lecta Aurea mala decem miſi. Ecl.
6. Iniiciunt ipſis EX vincula ſertis. Ecl. 7. EX illo Co-
rydon. Ecl. 10. EX vobis vnus, Georg. L. 1. Collectae
EX alto nubes. Ibid. Reuolant EX aequore mergi. Ib.
nec minus EX imbri ſoles. Ib. L. 2. Inſeritur vero EX
foetu nucis etc. Ib. non vllo EX aequore cernes. Ib. EX
ſe ipſa remittit. Ib. EX arbore Plantas. Ib. Oſcilla EX
alta ſuſpendunt. Ibid. L. 3. Pugnam EX auro. Ib. EX
hoſte trophaea. Ib. aliam EX alia generando.
Wegen
der uͤbrigen Stellen beliebe der geneigte Leſer den uͤber
Virgilii Opera verfertigten Indicem Nicolai Erythraei
aufzuſchlagen, welchen ich hier maſcula imitatione ausge-
ſchrieben habe.
21.
a Graeco ὄνυχες, Terent. in Eun. act. IV. Sc. 3. v. 6.
Vnguibus in os alicui inuolare.
Tibull. Libr. 1. el. 8. v. 12. Vnguinum praeſegmina.
Tertull. de Poenit. cap. 10. Repaſtinare vngues.
Ouid. I. de arte amandi:
Et nihil emineat \& ſint ſine ſordibus vngues.
Horat. I. epiſt. VII. v. 51.
Cultello proprio purgantem leniter vngues.
Videatur omnino Fabri Theſaurus, ſub voce Vnguis.
22.
Jch zweifle gar nicht, daß man nicht bey dem Worte Leo
ſchoͤne Anmerkungen, aus den Alterthuͤmern, Geſchichten,
Muͤnzen, ſinnreichen Spruͤchen gelehrter Maͤnner, der
Naturkunde, Sternkunſt, und andern Wiſſenſchaften ma-
chen
23.
Heſiod. Op. et Dies, v. 178. ſſ.
Μ [...]κέτ [...] ἔπειτ [...] ᾤϕειλου, ἐγὼ πέμπτοισι μετει῀ναι
Ἀνδράσιν, ἀλλ ἤ πρ [...]ϑε ϑανει῀ν, ἤ ἔπειτα γενέ [...]αι.
Νῦν γὰρ δὴ γένος ἐςὶ σιδήρεον, οὐδέ ποτ᾽ ἦμαρ
Παύσομαι καμάτου κα [...] ὀρζίως, οὐδέ τι νόκτωρ,
Φϑειρόμενοι. Χαλει [...]ας δὲ ϑευῖ δὼσουσι μερίμνας.
24.
Jch muß mich wundern, daß es Leute giebt, welche von
einem Gelehrten mehr fodern wollen, als Sprachen. Es
iſt mir zu verdrießlich, mich in dieſen Streit einzulaſſen.
Jch will meine Gegner nur auf den R. Moſes Ben-Mai-
mon
weiſen, welcher ſie zur Gnuͤge beſchaͤmt, wenn er in
Hal. Sanhedr. c. 2. v. 7. folgendermaßen redet:
[...]
22.
chen koͤnnte. Es war auch dieſes anfaͤnglich mein loͤbli-
cher Vorſatz, und es wuͤrde dieſem Abſchnitte eine ſonder-
bare Zierde gegeben haben. Weil ich aber in allen Re-
giſtern, die ich beſitze, davon nichts rechtes finden koͤnnen,
ſo bin ich hinlaͤnglich entſchuldigt. Denn es iſt bekannt,
daß wir Gelehrte nichts weiter wiſſen, als was in den Re-
giſtern ſteht.
25.
Dieſes druͤckt der Ebraͤer alſo aus: [...]
Wenn ich nun die Beſchreibung der uͤbrigen Morgenlaͤn-
der, als des Chaldaͤers, [...] und
des Syrers,
[...]
und des Arabers,
[...]
dagegen halte: So muß ich dem gelehrten Flacius in Cla-
ui Scripturae P. II. Tr. VII. p. m.
758. D. Wagenſeil
iu Synopſi Hiſt. Vniuerſ. P. I. p. m. 264. ſeq. beypflich-
ten, welche die ebraͤiſche Sprache fuͤr die allererſte und
die Mutter der andern Sprachen halten.
26.
Jch kann nicht leugnen, daß es mir ſehr ſauer geworden,
den Apollo hier anzubringen, und wer nicht weis, worin-
nen die Schoͤnheit eines Gluͤckwuͤnſchungsſchreibens beſteht,
der doͤrfte wohl gar glauben, es klaͤnge gezwungen. Al-
lein, es hat ein italieniſcher Poet geſagt: Eccoti, benigno
Lettore un parto di poche ſere, che ſe ben nato di nobile,
non è però aborto di tenebre, ma ſi farà conoſcere Fi-
glio d’ APOLLO con qualche raggio di Parnaſo.
Weil
ich
27.
On voit peu d’Eſprits ſans doute, qui ne ſoient capables
de quelque Art ou de quelque Science. Ils ont tous un
certain deſir d’apprendre \& d’ augmenter leurs lumieres,
qui ſe peut fortifier par une bonne Methode. Mr. No-
ble dans l’ Ecole du monde.
28.
It is a true ſaying, that misfortunes alone prove one’s
friendships, they show us not only other peoples for
us, but our own fvr them; we hardly know our ſelves
any otherwiſe. New Letters of Mr. Al. Pope. p.
207.
26.
ich nun in meine Anmerkungen auch etwas Jtalieniſches
ſetzen wollte, gleichwohl mir nichts anders, als vorſtehen-
des, bekannt war: So habe ich lieber der natuͤrlichen Ord-
nung ein wenig Gewalt anthun, als dieſe Schoͤnheit miſ-
ſen wollen.
29.
Jch muß hier die aufrichtige Fuͤrſorge meiner guten Freun-
de oͤffentlich und mit Danke ruͤhmen. Jch habe durch
ihre Beyhuͤlfe einen ſo ſchoͤnen Vorrath von Anmerkungen
in verſchiednen Sprachen, daß ich alle Stunden vermoͤ-
gend bin, ein neues Werk zu ſchreiben. Nur kann ich noch
nicht ſchluͤßig werden, wovon es handeln ſoll.
30.
Herr Prof. Kehr in Petersburg hat mit eine auserleſene
Sammlung von Noten in auslaͤndiſchen, und bey uns ganz
unerhoͤrten Sprachen verſprochen. Es iſt mir verdrieß-
lich, daß er in Erfuͤllung ſeines Verſprechens ſo ſaumſelig
iſt. Haͤtte ich ſie anitzt gehabt, ſo wuͤrden ſie gegenwaͤr-
tiger Abhandlung ein beſondres Anſehen gegeben haben.
31.
Du wirſt alſo, wertheſter Freund, mir nicht zumuthen,
daß ich dir itzt einen ausfuͤhrlichen Wunſch, oder ein wohl-
geſetztes Lob liefern ſolle. Jch goͤnne dir alles Gutes.
Du beſitzeſt mehr ruͤhmwuͤrdige Eigenſchaften, als ſich in
ein Gluͤckwuͤnſchungſchreiben von dieſer Art ſchicken. Jch
liebe dich aufrichtig. Allein! Du wirſt mir nicht fuͤr uͤbel
halten, wenn ich davon gar nichts ſage. Jch wuͤrde das
Geluͤbde brechen, welche ich bey meinem Antritte in die
gluͤckwuͤnſchende Geſellſchaft gethan; ich wuͤrde mir mei-
ne Mitbruͤder zu Feinden machen. Dieſes kannſt du mir
nicht anſinuen. Zu geſchweigen, daß gegenwaͤrtige Ab-
handlung fertig geweſen, ehe ich an dich gedacht habe.
Jch und meines gleichen aber haben fuͤr dasjenige, was
wir einmal geſchrieben, viel zu viel Liebe und Hochachtung,
als daß wir etwas ausſtreichen oder aͤndern ſollten.
*
Weil Corollarium nicht mehr, wie bey unſern Vorfahren,
ene ſolche Propoſition heißt, die aus denen vorherbeſtehen-
den Saͤtzen durch eine natuͤrliche Folge fließt; ſondern
vielmehr dadurch dasjenige angezeiget wird, was auf das
letzte weiße Blatt gedruckt wird. So bin ich befugt ge-
weſen, dieſen Anhang ein Corollarium zu nennen.
1.
Vir bonus, et prudens dici, delector ego, ac tu.
Horat.
2.
Tum pietate grauem, ac meritis, ſi forte virum quem
Conſpexere, ſilent. Virgil.
3.
Nil prodeſt, quod non laedere poſſit idem.
Igne, quid vtilius? Si quis tamen urere tecta
Comparat, audaces inſtruit igne manus.
Et latro, et cautus praecingitur enſe viator,
Ille ſed inſidias, hic ſibi portat opem.
Quid.
4.
Quodcunque oſtendis mihi ſic, incredulus odi.
Horat.
5.
Quid dignum tanto feret hit promiſſor hiatu!
Horat.
6.
Fallit enim vitium ſpecie virtutis et vmbra!
Iuuenal.
7.
Quatuor ex omni — — —
Virgil.
8.
— — Suſceptum perfice munus! Virgil.
9.
— — Pulſa, dignoſcere eautus,
Quid ſolidum crepet, et pictae tectoria linguae.
Perſ.
10.
— — Rigidi ſeruator honeſti.
Lucan.
11.
Permittes ipſis expendere numinibus, quid
Conueniat nobis, rebusque ſit vtile noſtris.
Nam pro iucundis aptiſſima quaeque dabunt Dîi
Charior eſt illis homo, qnam ſibi.
Iuuen.
12.
— — Egomet me noui.
SY. Pauci iſtuc faciunt homines, quod tu praedicas.
Nam in foro vix dicimus quisque eſt, qui ipſus ſe nouerit.
Plaut,
13.
Eſt ardelionum quaedam Romae natio,
Trepide eoncurſans, occupata in otio,
Gratis anhelans, multa agendo nihil agens.
Phaedr.
14.
— — loca nocte ſilentia late
Sit mihi fas audita loqui: ſit numine veſtis
Pandere res alta terra, et caligine merſas.
Virgil.
15.
Dum licet, et modici tangunt praecordia motus,
Si piget, in primo limine ſiſte pedem.
Ouid.
16.
quippe minuti
17.
Tu quod cauere poſſis, ſtultum admittere eſt.
Terent.
18.
Vincet amor patriae ‒ ‒
Virgil.
19.
Noctem flammis funalia vincunt.
Virgil.
20.
Elementa velint vt diſcere prima.
Horat.
21.
Nulla eſt tam facilis res, quin difficilis ſiet
Quam inuitus facias ‒ ‒
Terent.
16.
Semper et infirmi eſt animi, exiguique voluptas
Vltis. Iuuenal.
22.
Ingratam — — pone ſuperbiam
Ne currente retro funis eat rota.
Horat.
23.
Nimium ne crede colori.
Virgil.
24.
Scribere ſi fas eſt imitantes turpia Mimos.
Ouid.
25.
— — Verbis jactans gloriam,
Ignotos fallit, notis eſt deriſui.
Phaedr.
26.
Scit riſiſſe vafer, multum gaudere paratus
Si Cynico barbam petulans Nonaria vellat.
Perſ.
27.
— — non haec ſolennia nobis
Vana ſuperſtitio — —
Virgil.
28.
— — Volet haec ſub luce videri
Iudicis argutum quae non formidat acumen.
Horat.
29.
Vt quondam Creta fertur Labyrinthus in alta
Parietibus textum caecis iter, ancipitemque
Mille viis habuiſſe dolum, qua ſigna ſequendi
Falleret indeprenſus et irremeabilis error.
Virgil.
30.
Quanto quisque ſibi plura negauerit
A Dis plura feret. — —
Horat.
31.
— — — — eupidine caedis
Vtitur — — et nunc quoque ſanguine gaudet.
Ouid.
32.
Et dubitant homines ſerere, atque impendere curam?
Quid majora ſequar.
Virgil.
33.
Quid faciat laetas ſegetes
Virgil.
34.
— — Equidem credo, quia ſit diuinitus illis
Ingenium — —
Virgil.
35.
— — Horum omnium cauſa
Conſtituiſſe Deum fingunt. — —
Lucret.
36.
Non omnes arbuſta iuuant, humilesque myricae.
Virgil.
37.
Incipe, qui recte viuendi prorogat horam,
Ruſticus expectat, dum defuit amnis; at ille
Labitur, et labetur in omne volubilis aeuum.
Horat.
38.
Non miſſura cutem, niſi plena cruoris hirudo.
Horat.
39.
— — Farrago libelli.
Iuuenal.
40.
Os homini ſublime dedit, coelumque tueri
Iuſſit, et erectos ad ſidera tollere vultus.
Ouid.
41.
— — — — Vindice nullo
Sponte ſua ſine lege fidem rectumque colebat.
Poena metusque aberant nec vincla minantia fixo
Aere ligabantur. Nec ſupplex turba timebant
Iudicis ora ſui, ſed erant ſine iudice tuti.
Ouid.
42.
Quippe aliter tunc orbe nouo coelumque recenti
Viuebant homines — —
Omne aliud crimen mox ferrea protulit aetas.
Iuuenal.
43.
— — Saeuior armis
Luxuria incubuit. — — Iuuenal.
44.
Torquet ab obſcenis iam nunc ſermonibus aurem,
Mox etiam pectus praeceptis format amicis,
Aſperitatis et inuidiae corrector et irae
Recte facta refert. Horat.
45.
Quanto rectius hic, qui nil molitur inepte.
Horat.
46.
— — Seruetur ad imum
Qualis ab incepto proceſſerit, et ſibi conſtet.
Horat.
47.
Laeſa pudicitia eſt, deperit illa ſemel.
Ouid.
48.
— — Huc propius me,
Dum doceo inſanire omnes, vos ordine adire.
Horat.
49.
— — O quantum eſt in rebus inane!
Perſ.
50.
Tum certare odiis, tum res rapuiſſe licebit.
Nunc ſinite, et placidum heri componite foedus.
Virgil.
51.
Rem peragit nullam — —
Martial.
52.
Nunc quae cauſa Deum per magnas numina gentes
Peruolgauerit, et ararum compleuerit vrbes
Non ita difficile eſt, rationem reddere verbis.
Lucret.
*
S. Beluſtigungen des Verſtandes und Witzes 2 B. 2 St.
a. d. 190 S.
*
S. Beluſtigungen des Verſtandes und Witzes 6 B. d. 168
u. f. S.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Sammlung satyrischer Schriften. Sammlung satyrischer Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bqcq.0