[][][][][][][[I]][[II]]
Aeſthetik
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.

Zum
Gebrauche für Vorleſungen


Dritter Theil:
Die Kunſtlehre.

Reutlingen und Leipzig.:
Carl Mäcken’s Verlag.
1851.

[[III]]
Aeſthetik
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.

Zum
Gebrauche für Vorleſungen


Dritter Theil. Erſter Abſchnitt.
Die Kunſt überhaupt und ihre Theilung in Künſte.

Reutlingen und Leipzig.:
Carl Mäcken’s Verlag.
1851.

[[IV]][[V]]

Inhaltsverzeichniß.


Dritter Theil.
Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen

oder
die Kunſt.


Erſter Abſchnitt.


Die Kunſt üherhaupt und ihre Theilung in Künſte.


  • §§.   Seite.
  • Aufgabe   485   1
  • A.Die Kunſt überhaupt.
  • Aufgabe   486   2
  • a. Der Uebergang der Phantaſie zur Kunſt   487—492   3 — 15
  • b. Die Vorarbeit zur Ausführung.
  • Motiv, Conception, Skizze   493   16 — 20
  • α.Die organiſirende Vorarbeit oder die Com-
    poſition
    .
  • Grundbegriff   494   20 — 22
  • 1. Die Momente dieſer Thätigkeit oder die Com-
    poſitionsgeſetze.
  • Das Maaß des Umfangs (Epiſoden)   495—496   22 — 27
  • Ueberordnung, Nebenordnung, Unterordnung   497   27 — 31
  • Scheidung, Contraſt   498   32 — 37
  • Verbindung (Vorbereitung, Motivirung, Auflö-
    ſung des Contraſts)   499   37 — 43
  • Rhythmus   500   44 — 51
  • Aeußere Begrenzung   501   51 — 53
  • 2. Die Bedingungen ihrer Freiheit: das Verhältniß
    des Künſtlers zum Zuſchauer.
  • Grundbegriff   502   53 — 55
  • Naturgemäßer Zuſtand (Wettſtreit, Beſtellung)   503—504   55 — 60
  • Trennung der Kunſt vom nationalen Boden   505   60 — 62
  • Naturalismus (Improviſiren)   506   62 — 65
  • Die Kunſt der bürgerlichen Bildung, Kritik,
  • moderne Mittel ihrer Pflege   507   65 — 71
  • Zwiſchenſtufe der Gegenwart   508   71 — 73
  • Der Geſchmack   509   73 — 76
  • §§.   Seite.
  • β.Der Rückblick auf das Naturſchöne.
  • Nothwendigkeit deſſelben   510   76— 77
  • Formen deſſelben (Modell, Act, eklektiſches Sammeln)   511   77— 82
  • Uebung, Studien   512   83— 84
  • Schließliche Löſung der Frage von der Naturnach-
    ahmung   513   84— 86
  • c. Die Technik.
  • α.Ihre Vorausfetzungen.
  • Das Handwerk   514   87— 90
  • Das Spiel   515   90— 94
  • Die Wiſſenſchaft   516   94— 95
  • β.Die Schule.
  • Das Material, die künſtleriſche Technik   517—518   95— 98
  • Die naive Kunſt   519   98—100
  • Der Schüler, der Dilettant, die Regel   520   100—103
  • Die familiäre Kunſtſchule   521   103—105
  • Die Akademie   522   105—110
  • Aufgabe der Verbindung beider   523   110—111
  • γ.Die Meiſterſchaft und der Styl.
  • 1. Der Meiſter als Einzelner.
  • Vollendung der Technik   524   112—116
  • Die Virtuoſität  525   116—118
  • Die Manier  526   119—121
  • Die Meiſterſchaft, der Styl  527   122—126
  • Geſchmack, Correctheit, Manier am Styl   528   126—129
  • 2. Der provinzielle und nationale Styl   529   130—133
  • 3. Der Styl als Ausdruck des geſchichtlichen Ideals   530   133—134
  • 4. Der Styl in ſeinen allgemeinen Entwicklungsſtufen   531   134—138
  • 5. Der Styl als Geſetz der einzelnen Künſte   532   138—142
  • B.Die Theilung der Kunſt in Künſte.
  • a. Prinzip der Theilung.
  • α.Die Haupteintheilung  533—538   143—153
  • β.Die Untereintheilung  539—541   153—160
  • b. Die Einheit in der Theilung   542—544   160—166
  • c. Die anhängenden Künſte.
  • Bedeutung   545   167
  • Aeußere Zweckmäßigkeit   546   168
  • Ethiſche Zweckmäßigkeit (didaktiſch, tendenziös, ſatyriſch)   547   168—170
  • Spiel mit lebendigem Naturſtoff   548   170—171
  • Nachbildung, Vervielfältigung   549   171—172
[[1]]

Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des
Schönen

oder
die Kunſt.


Erſter Abſchnitt.
Die Kunſt überhaupt und ihre Theilung in
Künſte.


§. 485.


Es iſt zu zeigen, wie der Gegenſatz des Naturſchönen und der Phantaſie
ſich in einem Dritten, der Kunſt, aufhebt, ihr allgemeines Weſen darzuſtellen
und aus demſelben der Grund einer neuen Theilung, woraus die Künſte her-
vorgehen, zu entwickeln: dieſer Abſchnitt enthält alſo das Allgemeine und
ſeinen Uebergang in das Beſondere.


Die Künſte ſelbſt werden ſich im zweiten Abſchnitte dieſes Theils
als das Einzelne darſtellen: die Form, worin alle bis dahin entwickelten
Momente concret zuſammengeſchloſſen in Wirklichkeit treten. Die zweite
Unterabtheilung des erſten Abſchnitts, worin der innere Theilungsgrund
der Kunſt in Künſte aufzuzeigen iſt, wird jedoch nicht unmittelbar die
einzelnen Künſte ableiten, ſondern nur die großen Eintheilungsfelder, in
welche ſie fallen und mit denen es ſich ſo verhält, daß zwei derſelben je
von Einer Kunſt ausgefüllt werden, ein anderes aber, und zwar das
erſte, eine Gruppe von Künſten in ſich befaßt. Dieſe Unterabtheilung
ſteht alſo unter der Kategorie des Beſondern, wie die erſte unter der des
Allgemeinen.


Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 1
[[2]]

A.
Die Kunſt überhaupt.


§. 486.

Die allgemeine Thätigkeit der Kunſt bewegt ſich von ihrem Anfang zu
ihrem Abſchluß durch eine Reihe inhaltsvoller Momente, deren Begriff dem
Uebergang in die Beſonderung zu concreten Kunſtformen weſentlich voraus-
geſetzt iſt.


Das Weſen der Kunſt überhaupt iſt bisher in der Wiſſenſchaft der
Aeſthetik ebenſo wie die Lehre von der Phantaſie viel zu kurz und flüchtig
behandelt worden. Es liegt hier ein Punct des Syſtems vor uns, der
ſeine eigene Welt hat, in welcher alle jene Begriffe auftreten, die man
in jeder Kunſtbeurtheilung als geläufige Schlüßel handhabt, ohne ſich
ſtrenge Rechenſchaft über ihre Bedeutung zu geben: eine Unterlaſſung,
die aber eben eine Hauptquelle der Verwirrung im Kunſturtheil iſt. Wir
nennen beiſpielsweiſe ſtatt alles Andern nur den Begriff der Compoſition
und der ſchwierigen Fragen (wie z. E. die des Contraſts), die er in ſich ſchließt.
Am meiſten hat ſich Thierſch (Allgem. Aeſthetik in akademiſchen Lehr-
vorträgen. 1846) mit dieſen allgemeinen Kunſtbegriffen, jedoch in zu ver-
zettelter Weiſe, beſchäftigt. Wie aber im Kunſturtheil, ſo läßt ſich auch
in der wiſſenſchaftlichen Darſtellung der Künſte nicht ein einziger ſicherer
Schritt gehen, wenn jene Begriffe nicht vorher in ihrer Allgemeinheit
entwickelt ſind. Wie ſchwierig iſt z. B. der Begriff des Styls, wie viel-
fach ſpaltet er ſich, und wie kann man über den Styl der einzelnen
Künſte etwas Klares ſagen, wenn man ſich nicht vorher am rechten Orte
Rechenſchaft über ſeine Grundbedeutung abgelegt hat!


[3]
a.
Der Uebergang der Phantaſie zur Kunſt.

§. 487.

Die Phantaſie hebt zwar die Mängel des Naturſchönen auf, aber in
rein ſubjectiver Form, d. h. in einem Bilde, das nur dem Innern des durch
Phantaſie thätigen Subjects angehört. Das Schöne iſt aber weſentlich Erſchei-
nung (§. 13. 14.), alſo für ein anſchauendes Subject (§. 70). Dieſe Schuld
der Phantaſie iſt näher eine Schuld (§. 416—424) der beſondern Phantaſie
(§. 384 ff.) an die allgemeine (§. 379 ff.). Die Phantaſie ſelbſt, wie ſie noch
innerlich eingeſchloſſen iſt, fühlt dieſen Mangel als Drang zur Aufſchließung.


Die Ueberſchrift vertauſcht den Ausdruck: (objective, ſubjective)
Exiſtenz, der im zweiten Theile des Syſtems auftritt, mit dem Ausdruck:
Wirklichkeit, der ein ganzes und volles Daſein im Unterſchied von dem
halben und ſeiner Ergänzung wartenden bezeichnet. Das Schöne als
Schöpfung der Phantaſie nun iſt allerdings die Ergänzung des in der
Natur vorgefundenen Schönen, das wir, nachdem es ſich als ein Schein
aufgelöst hat, nur der Gleichmäßigkeit der Terminologie wegen noch ein
Schönes nennen dürfen; ja es iſt eben aus dieſem Grunde mehr, als
bloße Ergänzung, es iſt eine. Hereinziehung, ein Aufſaugen des Letzteren
in den Geiſt. Nun dürſte ein Erzeugniß des Geiſtes, der frei aus ſich
thätig iſt, allerdings keine bloße „Exiſtenz“ mehr genannt werden, wenn
dieſe freie Thätigkeit in dem Erzeugniß, wie es bis jetzt vor uns tritt,
vollendet wäre, denn das vollendete Erzeugniß ſteht auf eigenen, feſten
Füßen, iſt daher ein Erfülltes, ein Wirkliches. Wir ſollen aber eben jetzt
das Erzeugniß der Phantaſie, wie es erſt als inneres Bild im Geiſte
lebt, ſelbſt noch als ein halbes, darum auch unſicheres, bedürftiges kennen
lernen. Dieſe Halbheit, Einſeitigkeit beſteht nun zunächſt darin, daß das
Phantaſiebild nur dem Innern deſſen angehört, der es erzeugt hat. Der
§. weist auf die Definition des Schönen im erſten Theil §. 13. 14. und
auf die Lehre vom ſubjectiven Eindruck des Schönen §. 70 ff. zurück,
welche das Schöne weſentlich als Erſcheinung beſtimmen und aus dieſem
Begriff einfach ableiten, daß das anſchauende Subject in der Definition
des Schönen weſentlich mitgeſetzt iſt. Das anſchauende Subject iſt hier
natürlich als Vielheit von Subjecten, ja als Geſammtſubject der Menſch-
heit zu verſtehen. Das Schöne will genoſſen ſein von möglichſt vielen,
von immer neuen Zuſchauern; hier iſt keine Grenze, ſein Ausſtrahlen iſt

1*
[4]unendlich und ſein wahrer Sinn, daß es ſich an die Menſchheit wendet,
weil in ihm ſelbſt das Ganze der Menſchheit erſcheint. Der Erzeuger
des Phantaſiebildes iſt daher, ſolang er es noch nicht aus dem Innern
entlaſſen und mitgetheilt hat, ein Schuldner, die Menſchheit ſein Gläubiger.
Dieſe der Zahl nach unbeſtimmte Vielheit von Subjecten, für welche das
Phantaſiebild erſcheinen ſoll, begreift ſowohl jene Wenigen in ſich, die
gleich dem Urheber dieſes Bildes die Gabe der Phantaſie im engeren,
productiven Sinne beſitzen, als auch die Maſſe derjenigen, in welchen die
Phantaſie ſich nicht zur freien Thätigkeit zuſammenfaßt, ſondern im All-
gemeinen auf den Stufen der bloßen Empfänglichkeit, Fähigkeit der Auf-
nahme ſtehen bleibt. Der zweite Abſchnitt des zweiten Theils hat dieſe
zwei Formen als die allgemeine und beſondere Phantaſie unter-
ſchieden, er hat gezeigt, wie weit die allgemeine, ſtumpfer ausgebildete,
der beſondern in der Reihe ihrer klar ſich ſcheidenden Acte zu folgen im
Stande iſt. Wir haben geſehen, wie jene zurückbleibt von da an, wo
die eigentlich idealbildende Thätigkeit beginnt (§. 392—399), d. h. wie
ſie der beſondern Phantaſie auf dieſe ſchöpferiſche Stufe nur im Sinn
eines maſſenhaften, unfreien, eine ſcheinbare neue Stoffwelt erzeugenden
Inſtincts folgt (§. 416), wie ſie daher auf die beſondere Phantaſie
wartet (§. 417), um aus ihrer Hand ihr eigenes Werk zur freien
Schönheit umgebildet zurückzuerhalten. Dieſe Mittheilung der beſondern
Phantaſie an die allgemeine mußte in §. 419 wirklich bereits voraus-
geſetzt werden. Das phantaſiebegabte Subject ſoll alſo nun ſein Bild
aufſchließen für Alle, und unter dieſen befinden ſich, wie vorhin geſagt
iſt, allerdings auch Solche, die ſelbſt der beſondern Phantaſie theilhaftig
ſind, alſo ſelbſt mittheilen können. An dieſem Verhältniß beſchäftigt uns
jedoch hier die letztere Seite, das Darſtellen des Künſtlers für Künſtler,
nicht; denn die Künſtler, welche das Werk eines Künſtlers genießen, lernen
daraus für ihre Thätigkeit, und dieſe iſt für ſie ebenſo eine Schuld gegen
die Maſſe, die nur empfangen kann, wie für jenen Künſtler, von dem
ſie lernen, alſo gehören ſie im vorliegenden Zuſammenhang eben zu der
Seite, auf welcher das Subject ſteht, von dem wir ausſagen, daß eine
Verpflichtung der beſondern Phantaſie gegen die allgemeine auf ihm ruhe;
dieſe Seite gehört alſo in einen andern Zuſammenhang, und zwar in den,
wo von der Schule die Rede ſeyn wird. Es ſoll ſich nun wirklich jene
Ariſtokratie aufheben, welche in dem Gegenſatze der beſondern und allge-
meinen Phantaſie liegt. Der Genius gehört derſelben Menſchheit an,
wie die des Schaffens unfähige Maſſe; was in dieſer ſo ausgebreitet iſt,
daß auf den Einzelnen wenig kommt, iſt in ihm geſammelt und zur
Energie des Könnens zuſammengeſchloſſen, daher bedürfen beide einander,
wie Mann und Weib oder Sohn und Mutter. Die Maſſe will und ſoll
[5] das Schöne ſchauen; da es aber in der Natur blos ſcheinbar ſich findet
und die Fähigkeit der geiſtigen Schöpfung der reinen Form hier fehlt,
ſo würde das Volk niemals das wahrhaft Schöne ſchauen, wenn ſeine
Genien ihm nicht zurückzahlten, was ſie aus ſeinem allgemeinen Lebens-
ſchooße und der Wurzel ſeiner Kräfte in ſich geſogen haben. Das Volk
beneidet ſeine Künſtler nicht, weil es ſie zu ſich zählt, ſie ſind ſeine eigene
Seele. Der Genius aber iſt auch nichts ohne ſein Volk; der Reiz, der
Drang, zu ſchaffen, das innerlich Geſchaute hinauszuſtellen an das Licht,
iſt nur das Gefühl, aus Einem Stamm zu ſein mit denen, welche auf
dieſe Mittheilung harren; er weiß, daß Aller Augen auf ihn warten, und
ſieht dieſe Augen innerlich warten zugleich während er ſein inneres Bild
erzeugt. Alle Freude der Phantaſie an ihrem Thun iſt eine Freude in
der Vorſtellung Mitanſchauender; dieſe Vorſtellung iſt ein Theil ihres
Schaffens ſelbſt, es iſt ein inneres Bühnenſpiel mit Parterre und
Galerieen, kein Drama vor leeren Bänken. Im Phantaſiebegabten iſt
ſein Volk mitgeſetzt, wie er in ihm, er iſt Legion. Daher iſt auch kein
äſthetiſcher Genius ohne Eitelkeit und dieß nicht ſein Schlechteſtes;
gewohnt, innerlich zu dramatiſiren vor vollem Hauſe, wird er freilich
dieſen Sinn nicht ausziehen, wenn er in’s gemeine Leben tritt; wem
ſeine eigene Erſcheinung gleichgiltig iſt, wer nicht ein die wirklichen
Zuſchauer anticipirendes Selbſtanſchauen ſeiner Perſönlichkeit mit ſich
trägt, iſt für die Kunſt verloren. Es iſt unmöglich, dieſe Behauptung zu
verwechſeln mit einer Beſchönigung der Eitelkeit des leeren Individuums,
deſſen ganzes Geſchäft iſt, ſich eigentlich oder uneigentlich vor dem Spiegel
zu ſehen. Im Genius iſt dieſe Beziehung der Ernſt ſeiner eigentlichen
Lebensaufgabe, der nur unſchädlich in ſein Privatleben übergeht. Dieſer
Ernſt iſt die Schuld an ſein Volk. Schleiermacher hat dieſe Beziehung
als eine weſentliche hervorgehoben (Vorleſ. über die Aeſth. herausgegeben
von Lommatzſch S. 108 ff.): „Die äſthetiſche Thätigkeit iſt eine allge-
mein menſchliche, kann ſich aber in der Maſſe nur als Minimum im
Traum und unklaren Vorſtellungen entwickeln. In dieſem gebundenen
Zuſtande ſpricht ſich aber die allgemeine Anlage im Wünſchen und Sehnen
aus, daß dieſe Thätigkeit frei werde. Der Geiſt hat das zweifache
Bewußtſein, daß er in dieſer Einzelheit ein Anderer iſt, als der Andere,
und daß er Eins mit dem Andern, identiſch mit ihm iſt (Gattungs-
bewußtſein). Wo nun in irgend einer Richtung der Eine blos zum
Verlangen kommt von dem, was er ſo nicht verwirklichen kann, und der
Andere die Thätigkeit ſelbſt leiſtet, da eignet jener ſich dieſe an und findet
darin die Befriedigung ſeines Verlangens. Dieſe Befriedigung iſt nichts
Anderes, als die Erhebung des Gattungsbewußtſeins über das Einzelne;
es erregt ſein Wohlgefallen, daß das, was in ihm iſt und nicht zur
[6] Vollſtändigkeit gebracht werden kann, in einem Andern wirklich dazu
gelangt iſt.“ — Wir haben dieß Verhältniß in unſerem Zuſammenhang
zunächſt von der Seite des Gebenden auffaſſen müßen; beide Seiten ſind
aber Eines, der Gebende bedarf der Empfangenden, weil ſie ſeiner
bedürfen. Daher ſind Naturen, die es zum innern Bilden, aber von da
nicht zum Darſtellen bringen, tief unglücklich; die innere Nothwendigkeit
ſpricht ſich im Subjecte als Drang, das Stocken als Schmerz aus. Es
gibt Hamlete in der Kunſt wie in der Politik.


§. 488.

Hier ergiebt ſich, daß jene Schuld (§. 487) zugleich eine Schuld gegen
das Naturſchöne iſt. Dieſes hat den Vorzug vor dem nur inneren Bilde der
Phantaſie, daß es als Object in der Außenwelt für Alle da iſt. Die Phantaſie
hat es als Object aufgehoben; will ſie nun ihr Bild in ein anſchauendes
Subject übertragen, ſo muß ſie die in blos ſubjectives Leben verwandelte
Objectivität wieder entlaſſen und ſo in Einem Acte die Schuld der Phantaſie
an die Natur und der beſondern Phantaſie an die allgemeine tilgen.


Mit dem Inhalte dieſes §. wendet ſich das Syſtem noch einmal zum
Naturſchönen zurück und nicht zum letztenmale. Die Streitfrage über die
Naturnachahmung iſt durch die Lehre von der Phantaſie von dem Puncte
an, wo wir das Naturſchöne auflösten (§. 379 ff.), bis zur Lehre vom
Ideal (§. 398. 399.) keineswegs vollkommen erledigt. Die Phantaſie
hat das Object, das ein ſchönes ſchien, in Wahrheit aber nur durch
relativ größere Vollkommenheit den Zuſchauer erregte, ihr das Urbild des
Vollkommenen aus ſeinem Geiſte unterzulegen, in ſich „zurückgeſchlungen;“
der Schein der objectiven Exiſtenz des Schönen iſt verzehrt. Nun zeigt
ſich, daß „die zerſtörte Welt herrlicher wieder aufzubauen iſt.“ Es iſt
dem Naturſchönen ein Unrecht geſchehen; es iſt eine Art von Rache
deſſelben an der Phantaſie, daß dieſe nun zu fühlen bekommt, wie ſie mit
ihrem Bilde allein ſteht, während der Schein des Naturſchönen am offenen
Tage hell und heiter für Alle ſich ausbreitete. Die Phantaſie muß
zurückgreifen und das am Naturſchönen nachahmen, wodurch es nun
wirklich im Vortheil iſt, die Objectivität; denn anders kann ſie ihr
inneres Bild nicht übertragen in das Innere der Subjecte, als dadurch,
daß ſie es, abgelöst vom Innern, ebenſo hinausſtellt in die Außenwelt,
wie das Naturſchöne in dieſer als Object dem Subjecte entgegenkommt.
Sie kann ihre Schuld an die allgemeine Phantaſie nur tilgen, indem
ſie zugleich dieſe Schuld gegen die Natur tilgt. In dieſem Sinn jeden-
falls iſt die Kunſt Naturnachahmung. Wir werden aber noch weiterhin
[7] auf das Verhältniß zum Naturſchönen zurückkommen, wie dieß im zweiten
Theil zu §. 379 S. 301 unten, §. 388, 1. S. 325, zu §. 391 S. 334
und §. 398, 2. S. 360 angekündigt iſt.


§. 489.

Entſtehen ſoll alſo ein Drittes, das objectiv iſt, wie das Naturſchöne,1.
und ſubjectiv in dem doppelten Sinne, daß das Object Träger der reinen, aus
dem Innern des Phantaſiebegabten Subjects erzeugten Form und daß es der
Vermittler iſt, durch welchen dieſelbe in die Phantaſie des anſchauenden Sub-
jects eingeht, die an ihm zum Nachſchaffen ſich entzündet: die ſubjectiv-objective
2.
Wirklichkeit des Schönen, worin die Mängel ſeiner blos objectiven und blos
ſubjectiven Exiſtenz aufgehoben und die Vorzüge beider Exiſtenzformen vereinigt ſind.


1. Die Phantaſie muß alſo (durch eine weitere, erſt darzuſtellende
Thätigkeit) ein Object herſtellen, in welchem ſie ihr Bild niederlegt.
Dieſes Object wird zur reinen Mitte zwiſchen ſeinem Urheber und dem
Zuſchauer. Das Naturſchöne war nicht jene Mitte; es kommt aus keinem
Geiſte, der es auf Schönheit als ſolche angelegt hätte, ſondern aus
Kräften, die auf andere Zwecke arbeiten, daher berührt ſich in ſeiner
Anſchauung nicht ein äſthetiſch Genießender mit einem äſthetiſch Schaffen-
den; nur durch eine Unterſchiebung der eigenen Phantaſie in das Object
gibt ſich der Zuſchauer die Illuſion, als begrüße ihn in der naturſchönen
Erſcheinung ein Künſtler. Das Gebilde aber, welches die aus dem Geiſte
eines äſthetiſch ſchöpferiſchen Subjects abgelöste reine [Anſchauung] in ſich
aufnimmt, trägt dieſe ſo über in den Zuſchauer, daß er das wirkliche
Erzeugniß einer Phantaſie nachzubilden genöthigt wird. Es iſt zu §. 487
auseinandergeſetzt, wie die beſondere Phantaſie eine Schuld an die allge-
meine abzutragen hat; jetzt iſt auszuſprechen, wie dieſe Schuld nicht
einfach darin beſteht, daß die nicht ſchöpferiſche Phantaſie der Maſſe durch
die ſchöpferiſche des Einzelnen zu dem, ihr ſonſt verſagten Genuſſe des
wahrhaft Schönen gelangen ſoll, ſondern darin, daß ſie gehoben werden
ſoll über ſich ſelbſt zu einer höheren Thätigkeit, als diejenige iſt, auf die
ſie in der Lehre von der Phantaſie im zweiten Abſchnitt des 2. Theils
eingeſchränkt auftritt. Dort erſchien ſie nur als Spiel der Einbildungs-
kraft und als eine unbewußte Ergänzung des Naturſchönen durch ein
Leihen; nunmehr ſteigt ſie, zwar nicht zum Schaffen, aber zum Nach-
ſchaffen des wahrhaft Schönen auf. Jedes Kunſtwerk wendet ſich an
den Nachdichtenden; der Zuſchauer ſieht es, hört es, aber in ihm und
durch es das reine Bild, das im Innern des Dichters war. Der
gebildete Stoff, der vor ihm ſteht oder ſich bewegt, entſchwindet ihm
[8] mitten in der wirklichen Anſchauung, greiflich nahe wird er ihm ferne,
es ſchiebt ſich ſichtbar unſichtbar zwiſchen ihn und den Anſchauenden ein
geiſtiges Bild: dieß iſt das Bild, das der ſchaffende Genius in der Seele
trug, an ein Material heftete, und das ſich nun im Anſchauen auflebend,
aufthauend von dieſem Material ablöst. Trefflich hat dieß Anſ.
Feuerbach dargeſtellt in ſ. vatic. Apollo S. 294 ff. Er erinnert an
jenen Herkules Epitrapezius des Lyſippus, der, einen Fuß groß, nach
dem Zeugniß der Alten im Anblick zum rieſigen Halbgott emporquoll:
„in dämmernde Nebelferne war das rein Sinnliche des Bildes entrückt
und wurde von da als ein großes Phantaſiegebilde reflectirt, das nun
auch die ſachliche Form in einem ganz andern, doch ihrem wahren Lichte
erſcheinen ließ, — — es war ein Hier und eine Ferne, in einem und
demſelben Momente ein ſtetes Daſeyn und Entweichen.“ So nennt er
den ruhigen Jupiterkopf des Phidias eine geſchloſſene Knoſpe, „bis in
der Dauer des Beſchauens, in der ſteigenden Wärme der Einbildungs-
kraft die Hülle durchbrochen ward und nun eine ganze Welt, in welcher
ſelbſt die Thaten und Schickſale des Gottes ihre Stelle finden, dem
ſtaunenden Blicke aufgeht.“ Die vielen Epigramme auf griechiſche Kunſt-
werke rühmen faſt durchgängig den täuſchenden Schein der Lebendigkeit,
ſprechen aber ebendamit aus, wie der Künſtler dem Zuſchauer durch das
Vehikel des bearbeiteten Stoffs ſein inneres Bild in die Seele ſchiebt.


2. Im Begriffe des Subjectiv-Objectiven iſt nun das Weſen der
Kunſt ausgeſprochen, wie ſie vom Naturſchönen die Objectivität ohne
jene Mängel, die insgeſammt daraus fließen, daß es nicht als ſolches
von einem Willen geſetzt iſt, von der Phantaſie die Subjectivität auf-
nimmt ohne den Mangel der nach außen verſchloſſenen Innerlichkeit, und
wie ſie dieſe zwei Beſtimmungen, die ſich im zweiten Theil des Syſtems
getrennt gegenüberſtanden, in Ein Ganzes vereinigt. Entwickelt iſt jedoch
hiemit der Begriff der Kunſt noch nicht, und weil wir die Thätigkeit
noch nicht kennen, die jenes Ganze ſchafft, auch der Name noch nicht
aufgeſtellt.


§. 490.

Zum Träger ihres Bildes bedarf die Phantaſie eines Materials, welches,
obwohl nicht an ſich, doch in dieſem Verhältniß roher und todter Stoff iſt, denn
nur ein ſolcher läßt paſſiv die reine Form an ſich darſtellen.


Jenes Object (§. 489) kann nur entſtehen dadurch, daß das
Subject, welches das innere Bild erzeugt hat und es mitzutheilen ſich
gedrungen fühlt, zu einem ſinnlichen Stoffe greift, an den jenes Bild
[9] geheftet, dem es gleichſam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es
weiter gebe, weiter ſchicke. Stoff hat hier die dritte der zu §. 55 Anm. 2
unterſchiedenen Bedeutungen und wir werden, um die Verwechslung mit
der erſten und zweiten zu verhüten, gewöhnlich den Ausdruck „Material“
vorziehen. Es verſteht ſich nun, daß das Material nicht abſolut roher
Stoff ſein kann, denn ſolcher oder reine Materie exiſtirt ja überhaupt
nicht, ſelbſt im Naturleben verwendet jedes Weſen zu ſeiner Erhaltung
Stoffe, die vorher ſchon irgendwie geformt waren. Der Stoff muß aber für
den Zweck der darſtellenden Phantaſie roh ſein in dem Sinne, daß die
Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts
zu ſchaffen hat. „Todt“ bedeutet entweder unorganiſche Maſſe, wie
Stein, Metall, Farbſtoffe, oder organiſche, aber abgeſtorbene, wie Holz,
Leinwand, Saiten. Alle Künſte bedürfen ein Material. Von der Poeſie
wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr eigentliches Material die
Phantaſie der Zuhörer iſt: ebenfalls relativ todter und roher Stoff in
einem dann zu entwickelnden Sinne; die Sprache iſt nur das Werkzeug,
womit in dieſem Material gearbeitet wird. Roh und todt in dieſem
Sinne muß nun der Stoff, der als Material dient, aus folgenden Gründen
ſeyn. Der Stoff, der eine eigene, noch lebendige Form mitbringt zur
künſtleriſchen Bearbeitung, läßt ſich die Selbſtändigkeit des Lebens, vermöge
deren er einmal ſeinen eigenen, anderweitig entſtandenen und befeſtigten
Ausdruck hat, nicht nehmen. Man kann mit wirklichen Bäumen, Bergen,
Waſſern keine Landſchaft malen, denn ſie folgen ihren Geſetzen und nicht
dem Geiſte des Malers. Wird vollends beides verbunden, Schein und
Wirklichkeit, wie in Tableau-Uhren, ſo kommt etwas zu Stande, was nur
Kindern nicht widerlich iſt. Lebendige Thiere auf dem Theater können
ihre eindreſſirte Rolle ganz ohne ſtörende Improviſation durchführen und
doch zeigt jede Bewegung, daß hier eine ſelbſtändige Natur vor uns
handelt, welche in das Ganze der Darſtellung als ein völlig Fremdes
hereingeworfen iſt, und ſchon die beſtändige Furcht, ſie möchten aus der
Rolle fallen, genügt, die ganze Stimmung jedes Zuſchauers, der einen
Begriff vom Schönen hat, zu zerreißen. Begeiſteter Stoff nun, d. h.
menſchliche Perſönlichkeit vermag allerdings durch den Willen die eigene
Geſtalt, Bewegung, Stimme bis auf einen gewiſſen Grad zum reinen
Stoff herabzuſetzen und ihnen den Ausdruck aufzulegen, den ein darzu-
ſtellendes äſthetiſches Ganzes verlangt; aber auch nur bis auf einen
gewiſſen Grad: denn die Erſcheinung drückt den Charakter dieſer Perſönlichkeit
in feſten Formen, angebornen und angewöhnten Bewegungen aus, welche
ſich niemals ganz in den beabſichtigten Ausdruck eines Phantaſiebilds
fügen, das ſie momentan darſtellen ſollen. Die Ueberwindung dieſer
Fremdheit iſt natürlich eine tiefere in bewegter und redender Darſtellung,
[10] als in unbewegter und ſtummer (tableaux vivants, Kellerſche Bilder);
vollſtändig iſt ſie aber auch dort nicht. Der lebendige Stoff drückt, dieß
alſo iſt unſer Hauptſatz, etwas für ſich aus, aber etwas Anderes, als
was er in dieſem Zuſammenhang ſoll. Dieſer fremde Ausdruck iſt
aber nicht nur darum ſtörend, weil er nicht in den Zuſammenhang gehört,
ſondern noch mehr darum, weil er der Ausdruck eines blos Naturſchönen
iſt. Iſt auch ein Naturſchönes ausgewählt worden, das, ſo weit nur
immer möglich iſt, dem darzuſtellenden Bilde entſpricht, ſo iſt es doch auch
in den Theilen, worin es entſpricht, mit allen Mängeln des Naturſchönen
behaftet. Als ſolches wirkt es aber auch ſtoffartig (vergl. §. 381, 1.);
bei wirklichen Stücken einer Landſchaft, bei lebendigen Thieren, die im
Theater auftreten, iſt dieſe pathologiſche Beziehung, obwohl vorhanden,
weniger fühlbar, als gegenüber der wirklichen Menſchengeſtalt, namentlich
der weiblichen; die Ausführung der Weiberrollen durch Knaben auf der
antiken und auf der älteren Schaubühne der neueren Zeit war daher
äſthetiſch beſſer begründet, als man gewöhnlich annimmt: das Urtheil des
männlichen Publikums wurde durch kein geſchlechtliches Intereſſe getrübt
(vergl. Ed. Devrient Geſch. d. deutſch. Schauſpielerkunſt B. 1, S. 259).
— Wir werden ſeines Orts die wichtigen Folgerungen aus dieſen Sätzen
ziehen; es gründet ſich auf ſie eine beſondere Nebenabtheilung in der
Lehre von den Künſten, in welcher, trotz ihrer übrigens hohen Bedeutung,
auch die Schauſpielkunſt ihren Ort einzunehmen hat.


§. 491.

An dieſem Stoffe muß, damit er zum Träger (§. 490) umgebildet werde,
eine Thätigkeit ausgeübt werden, welche als Vollſtrechung des Phantaſiebildes
die doppelte Natur hat, daß ſie nur die andere, in ihr als Anlage, Anſatz
ſchon enthaltene Seite der Phantaſiethätigkeit, ebenſoſehr aber ein weſentlich
Neues iſt. Denn ſie muß den Stoff durch Stoff, alſo ſinnlich bewältigen und
ſetzt daher ein beſonderes Vermögen und eine beſondere Uebung voraus, ein
Können: Kunſt.


Was die Technik des Künſtlers ausführt, iſt im innern Bilde ſchon
mitgeſetzt; wir erinnern uns, daß die Phantaſie (ſchon als Einbildungs-
kraft) eine innerlich geſetzte Sinnlichkeit iſt (§. 387, 2.); der Baukünſtler
baut, der Bildhauer modellirt, der Maler malt, der Muſiker componirt
innerlich, ehe er es äußerlich thut, der Dichter führt geiſtig bewegte Bilder-
züge in ſeinem Innern vorüber und ihm klingt zugleich der Rhythmus
der Sprache mit an, in dem er ſie ſeinen Hörern mittheilen will. Die
wirkliche Ausführung erſcheint nun nur als ein weiterer Schritt derſelben
[11] Thätigkeit, als ein ganz flüßiger, vor Leichtigkeit kaum merklicher Ueber-
gang. Allein dieſe Pforte zur Praxis wird nicht ohne ein ſtrenges Halt!
paſſirt. Der ſinnliche Stoff wird nur durch ein ſinnliches Thun bezwun-
gen. Es ſcheint, das Vermögen auch dazu müſſe in der Phantaſie, als
deren Grundlage wir ja eine lebendige, ſcharfe Sinnlichkeit forderten
(§. 385. 392.), ſchon mitenthalten ſeyn; die Phantaſie iſt ja eine geiſtige
Naturkraft, derſelbe Nerv, deſſen geheimnißvolle, höhere Thätigkeit das
innere Bilden vermittelt, ſcheint auch der Hebel der entſprechenden äußern
Thätigkeit zu ſeyn, ſo daß z. B. dem Maler ſein inneres Gemälde
ungehemmt in die Fingerſpitzen, die den Griffel und Pinſel führen,
übergienge, auf die Fläche von Holz oder Leinwand gleichſam nur her-
ausflöße, wie es durch das Auge hineingefloſſen iſt in den Schacht des
Geiſtes, der das Angeſchaute zur reinen Form umſchuf. Die Technik der
großen Künſtler erſcheint durchaus als eine äußere Geſchicklichkeit, deren
Geheimniß in dieſer dunkeln Mitte zwiſchen Geiſt und Hand ſitzt; ſie
läßt ſich, nachdem ſie im fertigen Werke niedergelegt iſt, nachahmen;
allein theils fehlt in der Nachahmung immer ein gewiſſer letzter Druck,
Strich, Punct, der unbedeutend ſcheint und doch dem Ganzen ſeinen
Charakter gibt, theils iſt ſie, ſo weit ſie gelingt, zu etwas Todtem gewor-
den, dem das Band mit ſeiner innern Quelle gebrochen und das daher
die Bedeutung verloren hat. So nützt es z. B. nichts, das Geheimniß
des venetianiſchen Colorits errathen zu haben und nachzuahmen, denn
unnachahmlich iſt jene innere Feſtlichkeit und Freudigkeit der Phantaſie,
welche zugleich der Inſtinct war, der jenes Colorit erfand. Dieſe Bemer-
kung führt zu dem innern Grunde der Schwierigkeit in dem vorliegenden
Uebergange: ebendarum, weil in dieſem Gebiete der Geiſt in Naturform
thätig iſt, herrſcht hier das Geſetz unendlicher Trennbarkeit des im Begriff
Zuſammengehörigen, welches durch die Natur geht. Die Pſychologie hat
mit der Phyſiologie noch nicht abgemacht, welches die Qualität des
Gehirn- und Nervenlebens im äſthetiſch begabten Individuum iſt, ſie wird
es auch nicht abmachen, und wie ſie der Natur nicht vorſchreiben kann,
dieſe geheimnißvolle Einheit mit dem Geiſte ihr zu enträthſeln, ſo hat ſie
auch die Thatſache einfach hinzunehmen, daß der Nerv, der die Anſchau-
ung in jener Intenſität aufnimmt, welche dem Genie eigen iſt, nicht
nothwendig, daher auch nicht immer dem Willenszuge von innen nach
außen, dem Drange zur Darſtellung ein williges Organ iſt. Es gibt
Naturen, die innerlich Schönes erzeugen und es nicht wiederzugeben
vermögen; die Wiſſenſchaft kann an dieſer Thatſache der Trennbarkeit
von organiſchen Bedingungen, die nach dem Begriffe ungetrennt demſelben
Geiſte angehören ſollten, nichts verändern und auch nichts weiter über
ſie ausſagen, als daß ſie beſteht. Daher tritt hier die Antinomie ein,
[12] daß durch das Talent der Ausführung zu dem Talente des innern
Bildens etwas Neues hinzukommt, und daß doch, wo beide Talente ver-
einigt ſind, nur vereinigt iſt, was an ſich zuſammengehört, alſo nichts
Neues hinzukommt. Dieſe Antinomie hat dieſelbe Natur zu verantworten,
die überhaupt den Einen Menſchentypus in die Unendlichkeit von Indivi-
duen auseinanderlegt. Auch da aber, wo dieſe Trennung des Zuſammen-
gehörigen nicht beſteht, hat das vorhandene Talent der Darſtellung eine
Kluft zu überſteigen. Dieſe Kluft heißt: Lernen, Uebung. Das glücklichſte
Organ erfährt ſeine Ungeſchmeidigkeit, wenn es ſich erſt am ſpröden
Stoffe ſtößt, der Weg iſt von vorne zu beginnen, eine neue Welt, die
ihren eigenen, ſelbſtändigen Zuſammenhang von Hinderniſſen und über-
lieferten Mitteln ihrer Ueberwindung mit ſich bringt, ſteht wie ein Berg
ſelbſt vor dem für die Darſtellung noch ſo begabten Geiſte. Wir beſchäf-
tigen uns an dieſer Stelle noch nicht mit dem Gebiete der Technik und
Schule an ſich, ſondern ſetzen nach dieſer Seite nur noch hinzu, daß das
Schwere nicht einfach in der Aufgabe liegt, eine überlieferte Reihe von
Mitteln der Stoff-Ueberwindung in ſich aufzunehmen, ſondern daß die
weitere dazukommt, mit dieſem Zuſammenhang das Eigene zu vermitteln;
denn das Genie hat ſich mitten im Lernen von Andern zugleich ſeine nur
ihm eigene Technik zu bilden. Das letztere Moment führt aber wieder
auf den erſten unſerer antinomiſchen Sätze, daß nämlich die Kunſt nur
das in Thätigkeit überſetzte Weſen der Phantaſie ſelbſt iſt, daß die Tech-
nik durch ein geiſtiges Band mit dem bildenden Geiſte zuſammenhängt,
der an magnetiſcher Nervenkette ſein inneres Schauen in ſie hinüberführt.


Ueber die Schwierigkeit, dieſe doppelte Natur der darſtellenden
Thätigkeit zu faſſen, iſt man freilich hinweg, wenn man die bekannte
Stelle in Leſſings Em. Galotti zum Motto nimmt, die Worte des Malers
Conti: „auf dem langen Wege vom Auge durch den Arm in den Pinſel,
wie viel geht da verloren! — — Meinen Sie, daß Raphael nicht das
größte maleriſche Genie geweſen wäre, wenn er unglücklicher Weiſe ohne
Hände wäre geboren worden?“ Dieß iſt der Standpunkt Schleier-
machers
, der die Kunſt als eine im Innern beſchloſſene (immanente)
Thätigkeit auffaßt. Das innere Bild iſt ihm das eigentliche Kunſtwerk
(Vorleſungen über die Aeſthetik, herausg. von Lommatzſch S. 58 ff.);
das Heraustreten in’s Aeußere iſt ihm nur ein Zweites, ſpäter Hinzu-
kommendes, was als ſolches auf eine mechaniſche Weiſe wird und daher
nicht mit unter den Begriff der Kunſt gehört, weil hier ſogleich die
techniſchen Regeln eintreten, mit denen ſich die Aeſthetik nicht befaßt.
Daher zieht er zwiſchen der Kunſt und der ſittlich-praktiſchen Thätigkeit
den Unterſchied, daß in jener das innere Bild den ganzen Werth beſtimme,
in dieſer aber die innere Vorbildung des Werks gar nicht den Werth des
[13] Menſchen gebe, ſondern die That (S. 112. 112.), und definirt die Kunſt
als die freie, aus der Selbſtthätigkeit des Geiſtes hervorgehende Wieder-
holung deſſen auf ideale Weiſe, was die Natur auf reale Weiſe vor
unſern Augen thut (S. 237). Dieß iſt eine faſt unbegreifliche Unter-
ſchätzung der Praxis der Kunſt. Den einfachſten Anhalt der Widerlegung
bietet, was er von der Thätigkeit des Bildhauers ſagt: er ſtelle ſeine
Statue dar in weichem Thon, die Ausführung in hartem Stein ſei nicht
ſein Werk, ſondern mechaniſche Nachahmung der Arbeiter; das Modell
aber ſei nur Nachahmung des innern Bildes und in einem Stoffe, der gar
nicht bleiben könne, ſondern blos den Uebergang vermittle zwiſchen dem
Urbild und ſeiner mechaniſchen Ausführung (S. 57). Allein der Bild-
hauer, der die Behandlung des Steines nicht ſelbſt gelernt hat, kann
auch ſein Modell nicht auf die Ausführung im Stein berechnen, ja
überhaupt kein plaſtiſch geſchautes Bild innerlich entwerfen; das Modelli-
ren ſelbſt iſt eine Fertigkeit, wobei Hand und Auge eine vom innern
Bilde beſtimmte Fertigkeit entwickeln, und in der letzten Ausführung im
Marmor muß allerdings der Künſtler ſelbſt Hand anlegen, denn nur aus
dem Groben läßt er ſich den Block durch den Arbeiter hauen. Nun iſt
zwar zu unterſcheiden zwiſchen einem lernbaren und nicht lernbaren Theile
der Technik, aber beide ſind mit dem Innern der Phantaſie durch ein
unlösbares Band vereinigt. Von der lernbaren Technik nämlich muß
auch das Talent, das den Uebergang vom Innern zur äußern Darſtel-
lung nicht findet, das Nothwendigſte ſich angeeignet haben, ſonſt kann es
überhaupt kein beſtimmtes, einer beſtimmten Kunſt angehöriges Bild
innerlich erzeugen; zur freien und originalen Meiſterſchaft in der Technik
aber muß es der gebracht haben, der ſein inneres Bild wirklich ſoll dar-
ſtellen können, und nur dieſer, nur wer ſelber machen kann, heißt ein
Künſtler. Das innere Bild wird ſich uns in den nächſten §§. als völlig
unreif zeigen vor der Ausführung. Raphael ohne Hände iſt gar nicht
zu denken, denn hätte er nie wirklich gemalt, ſo hätte auch ſein inneres
Malen ſich nicht entwickeln, er hätte nicht maleriſch erfinden können, und
hätte er nicht meiſterhaft gemalt, ſo hätte er nicht maleriſch genial erfin-
den können. Wir haben zwar aufgeſtellt, daß die Technik vom Innern
aus beſtimmt ſey, allein ebenſowahr iſt, daß die Bewegung von außen
nach innen geht, d. h., daß in und mit der Ausführung erſt das innere
Bild vollendet wird; es iſt eine untrennbare Wechſelwirkung. Schleier-
macher erkennt an, daß der Künſtler an ſeinem innern Werke ſelbſt zu
ändern durch die äußere Darſtellung beſtimmt werde, ſetzt jedoch hinzu:
„freilich aber iſt dieß eine Unvollkommenheit, denn die wahre Vollkommen-
heit iſt doch offenbar dieſe, daß der Künſtler ſein Urbild vollkommen in
ſich trage, ehe er äußerlich thätig iſt“ (S. 59). Dieß iſt, auf alle
[14] Einzeltheile des Kunſtwerks bezogen (und ſo iſt es gemeint), kein Ideal
der Vollkommenheit, ſondern eine Unmöglichkeit. Die Kunſt iſt kein
mechaniſches Abſchreiben einer innerlich fertigen Reinſchrift. Hätte aber
je irgend ein Künſtler einmal ſein Bild im Innern ſo vollendet, daß
die Ausführung nur ein Abklatſch deſſelben wäre, ſo hätte er die Mög-
lichkeit dieſer innern Vollendung dadurch erreicht, daß er ſein inneres
Bilden durch lange Uebung des wirklichen äußern bis zu dieſer Sicherheit
geſteigert hätte, und ſo tritt das behauptete Verhältniß, nur in eine
frühere Zeit zurückgeſchoben, wieder ein. Die Art, wie Schleiermacher
das ſittlichpraktiſche vom äſthetiſchen Gebiet unterſcheidet, iſt daher nicht
die richtige; wie er in der Kunſt das Werk zu niedrig ſchätzt, ſo in jenem
Gebiete die Geſinnung und Abſicht. Der Unterſchied liegt anderswo,
wir haben ihn auseinandergeſetzt in der Lehre vom Verhältniß des
Schönen zum Guten. §. 22—24 und §. 56—60.


Das Wort Kunſt faſſen wir vorerſt unbefangen in der äſthetiſchen
Bedeutung. Daß es jedes Vermögen, ſchwere Stoffe zu beſiegen, und
deſſen Uebung bezeichnet, dieß wird uns erſt intereſſiren, wenn wir die
techniſche Frage beſtimmter in unſere Unterſuchung hereinziehen, als dieß
hier bei ihrer erſten Einführung der Fall iſt.


§. 492.

Die Phantaſie ſieht ſich ſo in einer völlig neuen Stellung drei verſchie-
denen Anforderungen gegenüber: der Anforderung des Zuſchauers, des auf’s
Neue hervortretenden Naturſchönen und des Materials, das bearbeitet werden
ſoll. In dieſer Stellung iſt ſie genöthigt, auf ihr inneres Bild in dem Momente,
da es zur Darſtellung kommen ſoll, mit einer neuen Beſinnung (vergl. §. 397)
zurückzuſehen, und ſie erkennt es, gemeſſen an der neuen Aufgabe, als ungenügend,
unreif. Die ganze Bewegung der ausführenden Thätigkeit geht von dieſem
Punct aus an der Linie jener drei Bedingungen fort.


Hier alſo tritt heraus, was die Anm. zum vorh. §. ſchon vorbereitet
hat: die Kunſt iſt ſo wenig im Innern beſchloßen, daß vielmehr gerade
der Ruck, der Stoß, den im Augenblicke des Uebergangs zur Thätigkeit
die Hinderniße dem Künſtler verſetzen, ſelbſt erſt das innere Bild zur
Reife bringt. Es iſt eine Erſchütterung, ein Schütteln, das ihn ſtutzig
macht und ihn zur Prüfung ſeines innern Erzeugnißes nöthigt; es iſt
ein Examen, das ihm aufdeckt, was ihm noch fehlt. Das innere
Bild iſt unter dem Begriff des Ideals in §. 398. 399. ſchon als voll-
kommen Schönes beſtimmt; allein in den Worten: „zunächſt innern
Bildes“ (§. 398) iſt angedeutet, vorerſt, daß dieß blos innerliche Leben
[15] noch ein Mangel iſt, und daraus folgt, daß in der Beſtimmung dieſes
Bilds als eines vollkommenen auch die Frage noch offen gelaſſen blieb,
ob jene Vollkommenheit mit Einem Acte abgeſchloßen ſei, oder weitere
Acte, die dort noch nicht aufzuführen waren, vorausſetze. Dieſe Frage
beantwortet ſich nun dahin, daß die Vollkommenheit des Bildes durch
die Ausführung ſelbſt erſt erzielt wird. Der Künſtler behält ſein Bild
auch in und nach der Ausführung als inneres, aber es wächst und
vollendet ſich eben mit, in und unter der Ausführung, ja es gehört
ihm erſt recht an, wenn er es von ſich abgelöst hat: er ſieht im
vollendeten Kunſtwerk ſelbſt erſt ſein Bild in der wahren Geſtalt,
lernt es kennen und behält es innerlich für immer, auch wenn jenes
aus ſeinen Händen iſt. Wir haben in §. 398 auch dem erſt inneren
Bilde vollendete Objectivität zuerkannt, jedoch auch darauf bezieht ſich
die Einſchränkung: „zunächſt,“ ſo daß mit dem Eintritt der Objectivität
in neuem Sinne (der äußern nämlich) auch die Klarheit der innern
Objectivität in ein neues Stadium muß treten können. Der Moment
nun, wo der Künſtler ſich ſein inneres Bild aufs Neue als Object
gegenüberſtellt, tritt ein mit dem Gedanken, es darzuſtellen zu wollen.
In dieſem Augenblick ſieht der Erzeuger ſein inneres Product mit einem
durch die vorgeſtellten Augen, vor die es nun treten ſoll, vervielfältigten
Auge des Geiſtes an. Das Auge des vorausgeſetzten Zuſchauers fragt
ſein Bild: genügſt du mir? das Naturſchöne fragt: haſt du meine
Beſtimmtheit, Lebendigkeit, Unbefangenheit? der ſpröde Stoff fragt:
kannſt du mich mit meinen feſten Bedingungen zwingen, dein Träger zu
werden? Dieſe beſtimmten Fragen ſchlummerten noch, als das Bild
innerlich erzeugt wurde, auf ſie war mit Bewußtſeyn noch nicht Rückſicht
genommen: das Bild erſcheint dieſer Prüfung gegenüber noch blaß,
verſchwommen, ſchwankend. Die Phantaſie iſt zwar mehr, als die
Einbildungskraft, theilt aber doch mit dieſer das Schwanken der Umriße,
das im innerlich geiſtigen Elemente aller Inhalt annimmt (vergl. §. 388).
Die Ergänzung dieſer Unreife nun wird eben in der Ausführung
vollbracht, die innere Zeitigung geht ganz Hand in Hand mit der äußern
Darſtellung. Dabei ſind die drei bisher aufgeführten Rückſichten ganz
gleichzeitig in Thätigkeit und das Schwierige iſt nur, dieß gleichzeitige
Wirken in das unvermeidliche Nacheinander der Darſtellung durch das
Wort umzuſetzen. Vorausſetzungen und Nachholungen ſind dabei natürlich
nicht zu umgehen.


[16]
b.
Die Vorarbeit zur Ausführung.

§. 493.

1.

Der erſte Schritt des Uebergangs zur Ausführung iſt eine Willensregung,
welche durch das Bewußtſein entſteht, daß der zum innern Bilde gewordene
Stoff einen Reichthum an Schönheiten in ſich ſchließt, die das vorſchwebende
Material aufzunehmen geeignet iſt: d. h. ein beſtimmter Stoff wird Motiv.
Daraus erwächst der Entſchluß der Darſtellung und erfaßt mit dieſem Entſchluße
2.heißt das innere Bild Conception. Die erſte Probe der Objectivität hat
dieſer geiſtige Entwurf zu beſtehen in der vorläufigen Form eines Umrißes:
der Skizze.


1. Der §. führt zunächſt zwei Begriffe ein, welche die Momente
des Heraustritts aus der innern Idealwelt auf jene Schwelle der eigent-
lichen äußern Darſtellung bezeichnen, die unter dem beſcheidenen Namen
„Vorarbeit zur Ausführung“ eine Reihe von Acten der größten Bedeu-
tung umfaßt. Der erſte dieſer Begriffe iſt der des Motivs. Um
dieſen etwas ſchwierigen Begriff richtig zu faſſen, halte man vor
Allem eine anderweitige Bedeutung des Wortes, das aber dann
genauer Motivirung heißt, ferne. Dieſer Begriff tritt auf einem
Puncte ein, wo von dem innern Bilde bereits um ein Stadium weiter
vorgeſchritten iſt, und es werden durch ihn die Formen, Zuſtände, Hand-
lungen, die zur Darſtellung kommen, der Frage unterworfen, ob ſie hin-
reichend begründet ſeien durch die Bedingungen, welche in demſelben
äſthetiſchen Ganzen zum Vorſchein kommen oder als hinter ihm liegend
angenommen werden. Bei dem Begriffe der Motivirung wird
rückwärts geſehen, bei dem Begriffe des Motivs aber vorwärts; dort
fragt es ſich: iſt kein Theil des Kunſtwerks unmotivirt? hier fragt es
ſich: ſind die Motive benützt und enthält überhaupt der Stoff deren eine
gewiſſe Summe? Der Begriff des Motivs, der uns hier vorliegt, enthält
ein allgemeines, ein beſonderes und ein einzelnes Moment. Im allge-
meinen Sinne heißt der Grundgedanke des im Geiſte des Künſtlers ſchon
erzeugten Bildes Motiv, ſofern der Künſtler, wenn es nun zur Darſtel-
lung kommen ſoll, denſelben noch einmal beſchaut mit der Frage, ob der
von ihm erfaßte Stoff fruchtbar, ob er eine reiche Quelle von Schönheit
ſei. So iſt z. B. der Kindermord zu Bethlehem ein gutes Motiv, denn
dieſe Sage gibt auf den erſten Moment zu erkennen, daß hier eine
Situation gegeben iſt, worin der Gegenſatz von Grauſamkeit und Mutter-
[17] liebe in den verſchiedenſten Formen ſich müße entwickeln laſſen. Noch
deutlicher ſind ſolche Beiſpiele, wo der Stoff zunächſt etwas enthält,
was weniger günſtig ſcheint, aber doch Hebel iſt für eine Summe von
Schönheiten. So iſt das Wunder des Moſes, wie er an den Fels ſchlägt
und aus dieſem Waſſer quillt, eben ein Mirakel, wie andere auch; aber
es gibt Anlaß, die Dürſtenden, ſich Labenden in den verſchiedenſten
Gruppen darzuſtellen, und iſt daher ein gutes Motiv. Es kann dieß
Verhältniß ſo weit gehen, daß das ganze Werk eine Lüge wird, indem
nicht der angebliche Gegenſtand, ſondern etwas Anderes, wozu er das
Motiv geben muß, der eigentliche Darſtellungszweck iſt; man vergißt dieß
bei ſo ſchönen Werken, wie die Hochzeit zu Kana von Paolo Veroneſe,
aber nicht bei Baſſano, wenn ihm ein Mirakel als Motiv zu einem
Viehſtück, oder Niederländern, wenn ihnen eine Ausſtellung des gegeiſel-
ten Chriſtus als Motiv eines Fleiſchmarkts dient und dergl. Man ſieht
hier deutlich den Unterſchied von dem Erzeugen des innern Bildes, das
hinter uns liegt; in jenem Acte der noch im Innern verſchloſſenen
Phantaſie gibt ſich der Geiſt rein dem innern Geſtalten hin; dabei iſt
freilich ſchon vorausgeſetzt, daß inſtinctmäßig die rechten, die fruchtbaren
Stoffe ergriffen und als inneres Gemälde entfaltet, ausgebeutet werden;
allein theils iſt zu bedenken, daß wir in der Lehre von der Phantaſie
nur den glücklichen, den normalen Fall aufgeſtellt haben, daß die Phantaſie
auch irren, aus unfruchtbarem Stoff ein unglückliches Bild innerlich er-
zeugen kann, und daß eben der Act, von dem jetzt die Rede iſt, das
innerlich Entworfene in dieſer Richtung prüft; theils iſt auch das aus
glücklich ergriffenem Stoff erzeugte innere Bild noch ausdrücklich erſt
darauf anzuſehen, ob es wirklich entwickelt hat, was als furchtbarer Keim
im Stoffe lag. Die Beſtimmtheit dieſes Actes iſt bedingt durch die nun
erſt eintretende Rückſicht auf den Zuſchauer und das Material, ſowie durch
die erneuerte Rückſicht auf das Naturſchöne. Der Stoff ſoll ein Motiv
von Schönheiten werden, die dem Zuſchauer objectiv faßbar und mit
reicher Ausbeutung der Naturerſcheinungen, in die er einen Blick öffnet,
entgegentreten durch das Material, das dem Geiſte des Entwerfenden
vorſchwebt. Was das letztere betrifft, ſo haben wir eine beſtimmt
organiſirte Phantaſie bereits gefordert und dieſe Beſtimmtheit aufgewieſen
(§. 404); daß dieſe Phantaſie nach dem Materiale greifen werde, das
ihrer Art zu ſchauen entſpricht, folgt mit Nothwendigkeit, und aus dieſen
vereinigten Momenten werden wir die verſchiedenen Künſte entſtehen ſehen;
an der gegenwärtigen Stelle aber iſt zu dem, was unter §. 491 über die
Technik geſagt iſt, hinzuzufügen, daß insbeſondere die Natur des Materials,
und zwar auch ganz ſpeziell, ſofern jede Kunſt wieder die Wahl unter
verſchiedenen hat, auf die Erfindung zurückwirkt, indem die Schönheiten,

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 2
[18]die als Keime im Stoffe liegen, in dem einen Material dürftiger, in dem
andern völliger ſich entwickeln laſſen, in dem einen in dieſer, im andern
in jener Richtung geſucht werden müſſen. Mehr darüber in dem
Abſchnitt über die Technik. Erweist ſich nun in dem Prüfungs-Acte das
Ganze des ergriffenen äſthetiſchen Stoffs als eine Fundgrube von Schön-
heiten, ſo tritt weiter das zweite Moment, das Moment des Beſondern,
ein: der Künſtler erkennt, wie auf einzelnen Puncten des Ganzen gewiſſe
beſondere Schönheiten ſich wie von ſelbſt darbieten; dieß nennt man Motiv
im engeren Sinne. So z. B. die Gruppe von Vater und Sohn in
Raphaels Conſtantinsſchlacht, oder die Mutter, die ihr Kind erſtochen hat
und indem ſie es verzweifelnd noch anſchaut, ſich nicht entſchließen kann,
ſich durch die entſetzliche Speiſe vom Hungeriode zu retten, in Kaulbachs
Zerſtörung von Jeruſalem. Endlich zieht ſich der Begriff des Motivs
auf eine engſte Bedeutung zuſammen, indem innerhalb eines ſolchen Theils
des Ganzen das ſchon Gefundene benützt wird, um ſchöne Formen, Linien,
Töne u. ſ. w. ganz im Einzelnen zu entwickeln. Selbſt eine einzelne
Form z. B. im Ornament heißt Motiv in dieſem Sinn: ich führe einen
Blumenſtengel in einer gewiſſen Wendung fort und finde ſo von ſelbſt
einen Punkt, wo er ſich naturgemäß ſpaltet, weitere anziehende Bildungen
entwickelt, oder ich benütze den oder jenen durch den Bauzweck geforderten
Theil eines Gebäudes, ein paſſendes Ornament anzubringen; ſo wird den
Griechen die Säule und der Druck der Laſt, die auf ihr liegt, zum Motiv
des Capitäls u. ſ. w. — Unter dieſem Standpuncte der Fruchtbarkeit für
die wirkliche Darſtellung betrachtet legt ſich dann das innere Bild dem
Künſtler an das Herz, es wird ihm ein Anliegen und dieſes Anliegen ein
Beweggrund, daß ſich das Bild durch ſeine Hand zur Objectivität durch-
arbeite. Iſt dieſe Willensregung Entſchluß geworden, ſo nennen wir das
innere Bild Conception. Conception verhält ſich zu dem blos innern
Erzeugen des Phantaſie-Bildes wie Empfängniß zur Liebe: das Bild,
das zur Conception geworden, hat gefaßt, nämlich den Willen, oder um-
gekehrt, der Wille hat das Bild gefaßt, befruchtet im Acte des Entſchluſſes,
daß es mit Nothwendigkeit wächst, um an’s Tageslicht zu treten; kurz,
Conception heißt: das innere Urbild des Künſtlers mit dem Entſchluße,
es darzuſtellen (vergl. Schleiermacher a. a. o. S. 262).


2. Soll der Künſtler ſein inneres Bild prüfen können, ob es
reif ſey, in die Objectivität überzugehen, ſo muß er die Stelle des
Zuſchauers einnehmen und es wie mit fremden Augen anſehen. Dazu
genügt aber jetzt die erſte, rein innere Gegenüberſtellung (§. 389) nicht
mehr und ebenſo wenig jener weitere Act, durch den der Künſtler ſein
Inneres zu einer Welt von Zuſchauern erweitert (§. 487 Anm.); er muß
vielmehr ſein Bild in die Bedingungen des Raums und der Zeit hinaus-
[19] ſtellen, um zuzuſehen, ob es die Probe derſelben und des
unter ihnen anſchauenden Auges eines Dritten aushält. Es darf aber
nur eine Probe ſein, denn da noch ungewiß iſt, ob das innere Bild vor
dieſem erſten Schritte zur Objectivität beſteht, ſo muß die objective
Darſtellung verändert, zerſtört und noch einmal vorgenommen werden
können. Es bedarf alſo einer Objectivirung, die aber noch nicht gilt,
die nur vorläufig iſt. Dieſe vorläufige Objectivirung iſt es, welche wir
unter der Schwelle der eigentlichen äußern Darſtellung verſtanden, die
zu 1. erwähnt worden iſt. Sie vollzieht ſich in der Skizze: dem dritten
weſentlichen Begriffe, den dieſer §. einführt. Die Skizze iſt der erſte,
flüchtige, dem Künſtler ſelbſt als Prüfſtein dienende Wurf des innern
Bildes in die Außenwelt. Es liegt in der Natur derſelben, daß ſie
nicht nothwendig und jedenfalls nicht vollſtändig mit demſelben Material
ausgeführt wird, wie das eigentliche Kunſtwerk. Der Architekt zeichnet,
kann aber auch ein Modell ausfertigen, doch dieß nicht wohl für den
Zweck des erſten Entwurfs, denn es ſetzt ſchon mehr Durchbildung des
Einzelnen voraus; der Bildhauer zeichnet, modellirt flüchtig; der Maler
zeichnet, ſchreitet fort zur Farbenſkizze; der Muſiker wirft die Haupttheile
in der Zeichenſprache ſeiner Noten hin, durchfliegt ſie auf dem Inſtrument;
der Dichter läßt ſich mit kurzen Andeutungen, zwiſchen denen erſte
Verſuche einer Ausführung in künſtleriſcher Sprachform hinlaufen mögen,
ſeine Conception, obwohl ſie der Zeitform angehört, räumlich in Schrift-
zeichen entgegentreten, denn es bedarf auch für ihn dieſer faßbaren
Beihilfe, damit er prüfen könne, ob in ſeinem geiſtigen Entwurfe
Sonderung und Einigung ſich gehörig auseinanderſetzen. Daß zu dieſem
erſten Entwurfe bereits eine techniſche Fertigkeit gehört, verſteht ſich;
dieſer Vorgriff in ein vorausgeſetztes Gebiet iſt unvermeidlich. Daß
der Künſtler die Uebung habe, die Skizze ſo anzuſchauen, als wäre ſie
ſchon im eigentlichen und vollſtändigen Material ausgeführt, liegt ebenfalls
ſchon in dieſer Vorausſetzung eingeſchloßen. Uebrigens treten nun zwei
Momente ein, welche das Kunſtwerk auf dieſer Stufe fixiren, das an ſich
blos Vorläufige verſelbſtändigen können: das eine liegt im Künſtler,
das andere in der Sache. Was an ſich zuſammengehört, theilt ſich
in der Wirklichkeit; wie es daher eigentliche Macher ohne Tiefe gibt, ſo
auch geniale Erfinder, die ſich zwar von jenen auf die innere Erfindung
beſchränkten Naturen (vergl. Anm. zu §. 491) unterſcheiden, aber doch
nicht zur ganzen Ausführung vorſchreiten, zu der ihnen Organ,
Geduld, Uebung abgeht, die vielmehr bei der Skizze ſtehen bleiben;
ſo Karſtens, Genelli und And. Doch auch der Künſtler, welcher Meiſter
in der Ausführung iſt, mag ſich durch Laune und Umſtände beſtimmt
finden, dieſen oder jenen Entwurf bey der Skizze zu belaßen. Dagegen

2*
[20]bei einer gewiſſen Beſchaffenheit des Stoffes, die freilich hier nur durch
einen neuen Vorgriff berührt werden kann, tritt auch ein in der Sache
liegender Grund für dieſes Stehenbleiben bei dem Anfangspuncte der
eigentlichen Ausführung auf: die Künſte werden nämlich einander gegen-
ſeitig ebenfalls zum Stoff, und da kann die Art eines Werks der einen
Kunſt es mit ſich bringen, daß ihr eine andere, ſie als Stoff benützende
Kunſt nur mit einem Theil, einer Stufe der ihr eigenthümlichen Darſtellung
folgen kann; die innerliche, nur dünn und flüchtig geſtaltende Lyrik, das
Mährchen, das phantaſtiſche Drama z. B. werden für Umriſſe, aber
nicht für ausgeführte Gemälde, häufig nicht einmal ganz modellirte
Zeichnungen Stoff geben. Bleibt es nun ſo bei der Skizze, wird ſie für
die Oeffentlichkeit beſtimmt, ſo verſteht ſich, daß bei ihr derſelbe Prozeß
ſich im Kleinen wiederholt, der im Großen einzutreten hat, wenn es von
der Skizze zum vollen Werke kommen ſoll: ſie bedarf ſelbſt einer weitern
Durcharbeitung, bis ſie in ihrer Art ein Kunſtwerk iſt. Auf ein drittes
Moment, das die Fixirung des Bildes auf der Stufe der Skizze bedingt,
nämlich auf die Sitte der Illuſtrationen und die Gewöhnung des modernen
Publikums an ſolche flüchtige Textbegleitung kann hier nicht weiter
eingegangen werden; wir verweiſen aber noch auf das ungemeine
Intereſſe, das unendlich Belehrende, was die erhaltenen Entwürfe großer
Meiſter für den haben, der in die Geheimniße des Werdens des
Kunſtwerks eindringen will: Handzeichnungen, Cartons, erhaltene erſte
Entwürfe von Dichtern.


α.
Die organiſirende Vorarbeit oder die Compoſition.

§. 494.

Bei dieſer Probe muß alsbald zu Tage kommen, daß wirkliche Objectivität
etwas Anderes iſt, als die nur innere (§. 398). Gehalten an dieſen Maaßſtab
erſcheint vor Allem die organiſche Gliederung des Bilds zu einem Ganzen (§. 399)
noch durchaus unreif. Der Prozeß dieſer Gliederung muß daher mit beſtimmterem
Bewußtſein an der Hand der vorläuſigen Ausführung (Skizze) wiederhalt werden
und heißt nun Compoſition. Dieſe organiſtrende Thätigkeit umfaßt den
geiſtigeren, näher auf Seiten des innern Ideals liegenden Theil der Vorarbeit
zur Ausführung.


In §. 398 iſt das Ideal beſtimmt als „das zunächſt innere Bild,
das der Geiſt als ſein durch Umbildung eines Naturſchönen frei
[21] geſchaffenes Werk ſich in vollendeter Objectivität gegenüberſtellt.“ Wie
die Vollkommenheit, die hiedurch dem innern Ideal zugeſchrieben iſt, durch
das „zunächſt“ beſchränkt ſei, iſt im Allgemeinen in und zu §. 492 ſchon
ausgeſprochen, nunmehr aber ſind die Mängel beſtimmter ins Auge zu
faßen und iſt der Weg zu ihrer Tilgung darzuſtellen. In §. 398 wird
dann von dem innern Bilde ausgeſagt, daß es vom Naturſchönen die
ganze ſinnliche Lebendigkeit und unendlich eigene Bindung der ewigen
Gattungsformen zur Individualität, vom freien Geiſte die ganze
Ausſcheidung des ſtörenden Zufalls u. ſ. w. habe, und erſt der §. 399
geht dann auf den Begriff der organiſchen Gliederung des Bilds als eines
Ganzen über. Es ſcheint nun, an gegenwärtiger Stelle ſei dieſelbe
Ordnung einzuhalten und zuerſt nachzuweiſen, warum und wie die
ſinnliche Lebendigkeit des innern Bildes nur ſcheinbar eine wahre und
ganze, in Wahrheit vielmehr eine verblaßte und verwiſchte ſei, ſo lange
ſie nicht an der äußern, der wirklichen Objectivität geprüft wird. Allein
im gegenwärtigen Zuſammenhang muß ſich die Ordnung von §. 398 und
399 nothwendig umkehren, weil die wirkliche Objectivirung mit der Skizze
anfängt, welche ihrer vorläufigen, blos das Weſentliche, das Verhältniß
des Ganzen und der Theile mit flüchtigen Mitteln andeutenden Natur
gemäß zunächſt nicht für die Lebendigkeit der Erſcheinung, ſondern nur für
den innern Organismus der Prüfſtein ſein kann. Daher wird zuerſt §. 399
wieder aufgenommen. Dieſer §. ſtellte den Begriff der Gliederung abſichtlich
kurz und unentwickelt hin und ſagte in der Anmerkung: „dieß Alles
erhält ſeine ganze Bedeutung in der Kunſt, wo die Phantaſiethätigkeit,
indem ſie praktiſch wird, erſt auf die eigentlichen Schwierigkeiten ſtößt.“
Der Künſtler ſieht in der Skizze ſein inneres Bild unter die feſten
Bedingungen des Außer- und Hinter-einander in Raum und Zeit, des
Lichts und der Farbe, des Tons und ſeiner Maaße u. ſ. w. geſtellt.
Es iſt nicht möglich, daß die Ordnung und Meſſung, welche der Geiſt
mit dem innerlich ſchwebenden Bilde vorgenommen, in dieſer Probe
der erſten Uebertragung in die wirkliche Objectivität Stand halte;
die beſondern Mängel und ihnen gegenüber die Aufgaben kommen ſo zu
Tage, daß das Bewußtſein ſich Rechenſchaft von ihnen geben kann und
muß; die Skizze iſt ein Umſtoßen und Wiederaufbauen des innern Bildes
und ſtellt, wie ſie unter Verbeſſerungen und Veränderungen allmählich
entſteht, nichts Anderes dar, als den ſinnlichen Niederſchlag des mit
beſtimmterem Bewußtſein den Bedingungen der Objectivität gegenüber
noch einmal vorgenommenen Actes der Idealbildung: und dieß iſt die
Compoſition. Die Vorarbeit zur Ausführung, welche wir hier
darzuſtellen beſchäftigt ſind, verhält ſich zwar zu dem inneren Bilde bereits
als ein Uebertritt in die Realität; innerhalb dieſer Thätigkeit aber
[22] unterſcheiden ſich wieder zwei Acte, ein idealer, auf der Seite des
zeugenden Gedankens liegender, und ein realer, näher auf der Seite der
eigentlichen techniſchen Ausführung liegender. Der erſtere Act iſt eben die
Compoſition; ſie verhält ſich zum innern Bilde wie die Organiſation zum
Geſetzes-Entwurf, die Skizze, wie vorhin geſagt iſt, dient namentlich
dieſem geiſtigeren Theile der Vorarbeit; der zweite Act wird kein anderer
ſein, als jene neue Vergleichung mit dem Naturſchönen, deſſen ſpätere
Aufführung der Anfang dieſer Anm. motivirt.


1.
Die Momente dieſer Thätigkeit oder die Compoſitionsgeſetze.

§. 495.

1

Die gliedernde Thätigkeit der Compoſition hat die reine Einheit zwiſchen
der Idee als Einheit und dem Bild als Vielheit herzuſtellen (vergleiche §. 14).
Zuerſt wird ſich zeigen, daß das innere Bild noch zuviel und zu wenig enthält.
Zu viel: denn es hat Solches in ſich aufgenommen, was die Idee nicht oder
2was ſie überflüßig ausdrückt; zu wenig: denn es fehlt in ihm oder iſt zu dürftig
entwickelt Solches, was die Idee ausdrückt. Ein Act, der gleichzeitig ein
erweitertes Schaffen und kritiſches Meſſen iſt, hat in der Entwerfung der Skizze
dieſen Mangel zu tilgen und ſo das quantitativ richtige Verhältniß, wie es
die Qualität des Ganzen fordert, durchzuführen.


1. „Das Schöne iſt ein ſinnlich Einzelnes, das als reiner Ausdruck
der Idee erſcheint, ſo daß in dieſer nichts iſt, was nicht ſinnlich erſchiene,
und nichts ſinnlich erſcheint, was nicht reiner Ausdruck der Idee wäre“:
zu dieſem Satz in §. 14 haben wir nun zurückzugehen, denn erſt die
Kunſt giebt ihm Wirklichkeit. Die Compoſition bringt zur deutlichen
Scheidung, was in der inneren Erzeugung des Bildes noch eingehüllt
ſchlummert und ungeſchieden ineinander verläuft, und fördert ſo eine Reihe
beſtimmter Geſetze, die ihrer Thätigkeit zu Grund liegen und zugleich
durch ſie ſelbſt zum Bewußtſein gelangen, zu Tage. Der Satz des §. 14
ſpricht nun die Qualität in der reinen Einheit zwiſchen Idee und Bild
zugleich als quantitatives Verhältniß aus. Die Idee iſt (unbeſchadet
der inneren Vielheit der Momente, die ſie enthält) die Einheit; das Bild
iſt die Vielheit, denn es gehört der ins Mannigfaltige auseinandergelegten
Erſcheinungswelt an. Dieſe beiden Seiten ſollen ſich vollſtändig, ohne
[23] Reſt auf einer von beiden, decken: dieß iſt die Einheit der Einheit und
Vielheit. Die erſte Entdeckung, welche das ſchärfer prüfende Auge an
dem innern Bilde macht, wird nun ſein, daß dieſes Verhältniß eben als
quantitatives noch nicht richtig abgemeſſen iſt, daß die Attraction und
Expanſion nicht rein und voll ineinander aufgehen. Ein Zuviel und ein
Zuwenig wird ſich aufdrängen. Das Zuviel iſt theils eine Aufnahme
von Solchem, was Anderes ausdrückt, als die Idee, die im vorliegenden
Ganzen erſcheinen ſoll, theils ein Ueberfluß, der dieſe Idee oder eines
ihrer Momente mehrfach ausdrückt. Die wirkliche Kunſt gibt in zahlloſen
Werken, welche ausgeführt ſind, ehe jene prüfende und abmeſſende
Compoſitionsthätigkeit ernſtlich vollzogen war, die Beiſpiele für den erſteren
und den zweiten Fall. In viele religiöſe Gemälde ſind z. B. rein
genreartige Gruppen eingeführt, welche ſtatt des Schwungs der Erhebung
zum Unendlichen die Behaglichkeit des Lebens darſtellen, in Dramen ganze
Figuren und Scenen, welche nicht zur Sache gehören, ſondern irgend
eine Form des Charakters, der Sitte u. ſ. w. außer Zuſammenhang mit
der geſchichtlichen Grund-Idee des Ganzen breit ausmalen. Intereſſante
Studien in dieſer Richtung laſſen ſich z. B. an Göthes Fauſt machen;
ſo iſt des Beſchwörungs- und Hexenſpucks zu viel, in die Walpurgis-
nacht ſind Epigramme auf Zeiterſcheinungen aufgenommen, welche in ein
ſo bedeutendes Werk nicht gehören und ohne einen Apparat ſehr zufälliger
Notizen nicht verſtändlich ſind. Das Zuviel im andern Sinne läßt ſich
beſonders belehrend an einem Ueberfluß der Motivirung (deren Begriff
ſpäter auseinanderzuſetzen iſt, aber für den jetzigen Zweck wohl voraus-
genommen werden kann) nachweiſen. Es iſt namentlich die Vermiſchung
des mythiſchen und rein hiſtoriſchen Standpuncts, die eine doppelte ſtatt
einer einfachen Motivirung herbeiführt: ſo z. B. in Raphaels Stanzen-
gemälde Leo und Attila, wo Attila durch die Beredtſamkeit des Pabſtes
Leo I. zur Umkehr vor Rom beſtimmt erſcheinen ſollte, verſchwindet dieſes
Motiv ganz unter dem zweiten, der Erſcheinung der zwei Apoſtel Petrus
und Paulus in der Luft; Attila ſieht nach dieſen, die Beredtſamkeit des
Leo und Leo ſelbſt ſind überflüßig geworden. Im Nibelungenlied wird
die Motivirung des Haßes Brunhildens gegen Sigfrid und Chriemhilde
durch einen Ueberfluß von Motiven dunkel: man weiß nicht, zürnt ſie,
weil ein bloßer Dienſtmann zu hoch geehrt iſt, oder aus Eiferfucht; das
kommt daher, daß ein mythiſcher Zug, Brunhildens Walkyrenſtand und
ihre frühere Verlobung mit Sigfrid, halbvergeſſen dem Bearbeiter
vorſchwebt. Doch auch ohne dieſen beſondern Grund zeigt ſich ſolcher
Ueberfluß der Motivirung ſelbſt bei großen Dichtern. So iſt Jago’s
tödtlicher Haß gegen Othello von Shakespeare nicht einfach genug
motivirt, indem zu ſeinem Groll über vermeintliche Zurückſetzung noch der
[24] unwahrſcheinliche Verdacht hinzutritt, daß Othello verbotenen Umgang mit
ſeinem Weibe gehabt habe.


2. Zu wenig: dieß hat dieſelbe doppelte Bedeutung: es fehlt
entweder im Weſentlichen, die Grund-Idee iſt nicht ausgedrückt, oder
ſie iſt in den Theilen des Ganzen nicht erſchöpfend ausgedrückt. Das
Erſtere iſt der Fall, wenn es einem Kunſtwerk an dem letzten Lichtpuncte
fehlt, der die Seele des Ganzen zu Tage bringen ſollte, wenn die
innerſte Abſicht wie mit einem Schleier bedeckt iſt; ein ſolcher Mangel
wird an gewiſſen Hauptſtellen, wie im Porträt an Auge und Mund am
empfindlichſten gefühlt werden, und was in dieſem Beiſpiel die letzten
treffenden Lichter und Schatten ſind, das kann im hiſtoriſchen Bild, im
Roman, Drama eine ganze Figur, Scene ſeyn, womit der Künſtler in
der Schuld geblieben iſt; der Fehler wird ſich aber ebenſoſehr durch das
Ganze hindurchziehen als eine Undurchſichtigkeit, ein Mangel an Relief,
an ſchlagendem Durchbruch der Bedeutung in allen Hauptſtellen.
Solche Werke beunruhigen dann, wie wenn man eine verwiſchte
Schrift bey ſchlechtem Lichte leſen ſoll. Es kann aber auch, und dieß
iſt der andere Fall, alles Nothwendige da und doch das Ganze dürftig
ſein. Ein dramatiſcher Dichter gibt z. B. holzſchnittartig die Grundzüge
einer Leidenſchaft, aber nicht ihren vollen Strom, nicht ihre Beredtſamkeit,
Sophiſtik, Bilderfülle, oder er ſpricht ein Moment des Ganzen aus
durch Eine Figur, Ein Ereigniß, Eine Handlung, wo der reiche Dichter,
ohne darum in das Zuviel zu gerathen, daſſelbe Moment in mehreren
Tönen, Schattirungen, durch mehrere Perſonen, Scenen giebt. So
entfaltet Schillers Wilhelm Tell das revolutionäre Element in
den verſchiedenen Formen der jugendlichen Leidenſchaft, der beſonnenen
Berathung, der einſilbigen Entſchloſſenheit u. ſ. w. Es führt übrigens
dieſer Punct auf ein anderweitiges Compoſitionsgeſetz, welches
in der weiteren Entwicklung zu erörtern iſt. Hier iſt nur noch allgemein
auszuſprechen, daß alle ächte Kunſt nicht dünn und ſpärlich, ſondern voll
und üppig quillt, nicht aus Einer, ſondern vielen Röhren ſprudelt und
mehr vor dem Zuviel als dem zu Wenig ſich zu hüten hat.


3. Daß die Thätigkeit, wodurch dieſes oberſte Compoſitionsgeſetz
erfüllt wird, gleichzeitig ein wiederaufgenommenes Schaffen und ein
kritiſches Meſſen ſein muß, dieſe Forderung begründet für das Begreifen
des vorliegenden Actes keine neue Schwierigkeit. Wenn ſchon die
Erzeugung des innern Ideals eine Einheit von Begeiſterung und
Beſonnenheit iſt, ſo erleichtert in der Ausführung der Skizze die nun
vor dem äußern Sinn ſich ausbreitende Form das Zuſammenwirken der
[25] productiven und der kritiſchen Thätigkeit: das Zuviel und Zuwenig
tritt ins Auge oder Gehör, das Denken iſt nun auch äußerlich ein
Denken in Formen. Das Zumeſſen und Wegſchneiden, das Zudichten,
Ausfüllen und das Streichen ſind nur zwei Momente Eines und
deſſelben in Geiſt und Hand des Künſtlers thätigen, die Einheit
entfaltenden, die Entfaltung in die Einheit zurückführenden Geſetzes.


§. 496.

Durch dieſes Geſetz wird in Kunſtwerken, deren Idee eine Fülle von
Momenten in ſich ſchließt (§. 21) die Einführung gewiſſer ſelbſtändiger
Einheiten, welche mit dem Ganzen nicht im Zuſammenhang der innern Noth-
wendigkeit, ſondern nur der äußern Verknüpfung ſtehen, aber theils negativ als
Ruhepuncte, theils poſitiv als weitere Entwicklung des ganzen Lebensbildes ſich
äſthetiſche Wirkung ſichern, d. h. von Epiſoden, keineswegs ausgeſchloßen.


Die Epiſode iſt von allen Einzelbildern, die ein äſthetiſches Ganzes
als weſentliche Darſtellung ſeiner Idee in ſich begreift, wie ſolche der
vorhergehende §. im Auge hatte, wohl zu unterſcheiden; ſie iſt keine
untergeordnete Einheit, die in der Geſammt-Einheit organiſch begriffen
iſt, ſondern könnte als Bild für ſich beſtehen und knüpft ſich nur loſe
an das Ganze. An den vorhergehenden §. ſchließt ſich die Frage nach
ihrer Berechtigung in dem Sinne an, daß es zunächſt ſcheint, zu wenig
enthielte ein Kunſtwerk offenbar nicht, wenn ſie fehlte, ſondern es ſei
nur zu beweiſen, ob ihre Einführung nicht ein Zuviel mit ſich bringe.
Und doch wird man zugeben, daß im äſthetiſchen Gebiet offenbar
etwas vermißt würde, wenn man die Epiſode als einen Beſtandtheil
anzuſehen hätte, der im beſten Fall nur erlaubt iſt und gegen den
Vorwurf des Zuviel in Schutz genommen werden kann. Da es mit
dem Epos eine ganz beſondere Bewandtniß hat, ſo ſei hier nur aus
einem Drama, Göthes Fauſt, der Auftritt zwiſchen Mephiſtopheles
und dem Schüler, ſo wie der in Auerbachs Keller angeführt: nothwendig
ſind ſie nicht, ſie führen die Handlung weder mittelbar, noch unmittelbar
weiter und doch gehören ſie offenbar nicht zu den Theilen, die des
Dichters eigenen Ausdruck „barbariſche Compoſition“ über dieſes Gedicht
begründen. Um das Wahre feſtzuſtellen, muß man vor Allem das
reichere Kunſtwerk auf Grundlage von §. 21 ins Auge faßen. Zwar
enthält auch das einfachſte, wie ſchon derſelbe §. ausgeſprochen, eine
Summe von Momenten in ſich, und da läßt ſich z. B. auf das (durch
Kunſtſtyl über den Ausdruck des bloßen Bedürfnißes erhobene) Wohnhaus
[26] hinweiſen, an welchem ein Erker hervortritt, der dem Ganzen nicht
nothwendig iſt, aber doch als ein behagliches epiſodiſches Ausblühen
deſſelben erſcheint; ihre wahre Bedeutung aber erhält die Frage
natürlich erſt bei höheren Kunſtwerken, die reich ſind an Gliedern,
wie dem hiſtoriſchen Gemälde, größern Muſikwerk, Epos (Roman),
Drama. Hier ſagt nun der §. von der Epiſode zuerſt aus, daß ſie
zwar nicht innerlich nothwendig, aber doch an das Ganze angeknüpft
ſein muß. So führt in Göthes Fauſt die Scene mit dem Schüler das
Bild von dem Charakter des Mephiſtopheles fort und durch deſſen
negative Kritik des Zuſtands der Wiſſenſchaften mittelbar das Bild von
Fauſts revolutionärem Geiſt in dieſem Gebiete; ſo erſcheint die Scene
in Auerbachs Keller als erſte Einführung des Fauſt in die Welt, damit
er ſehe, „wie leicht ſichs leben läßt,“ aber beides geſchieht in demſelben
Drama auch auf andere Weiſe und in andern Formen, die Scenen
wären entbehrlich und ſind jedenfalls weiter ausgeſponnen, als jene
Zwecke erfordern; ſo zeigt der Krieg gegen die Sachſen im Nibelungenlied
Sigfrid in ſeiner Größe und Unentbehrlichkeit, wird ein Motiv zu der
ſchönen Scene zwiſchen Chriemhilde und dem Boten, auch wird das
Verhältniß zu den Sachſen weiterhin als Vorwand bei der Einleitung
von Sigfrids Ermordung benützt, aber jener Krieg iſt im Verhältniß
zu dieſen Zwecken jedenfalls zu breit ausgeführt. Es iſt alſo allerdings
ein Ueberfluß vorhanden, und für dieſen nimmt nun der §. zwei
Rechtfertigungs-Gründe in Anſpruch: zuerſt den negativen eines Ruhe-
puncts, der die zwei Momente einer Erholung von vorangegangener
Erſchütterung und einer Stärkung für neue in ſich ſchließt. Jene zwei
Auftritte in Göthes Fauſt ſind ſolche Ruhepuncte, ein beſonders klares
Beiſpiel aber iſt die wiederholte ausführliche Erzählung von den Garten-
Anlagen im Wilhelm Meiſter; das Komiſche in Shakespeares ſtrengen
Tragödien (wie der Pförtner im Macbeth) ließe ſich ebenfalls anführen,
hängt aber mit Anderem zuſammen, was nicht hieher gehört. Der
poſitive Rechtfertigungsgrund aber iſt die Erweiterung des Lebensbildes:
ſo erweitern jene zwei Scenen in Göthes Fauſt das Bild des akademiſchen
Elements, welchem Fauſt angehört, ſo können in einem hiſtoriſchen Gemälde
genreartige Nebengruppen die allgemeine Lebensluft der Sitte und
Zuſtände weiter entwickeln, auf deren Grundlagen die höhere Handlung
ſich bewegt. Dieß gilt nun im weiteſten Sinne vom Epos, das die
Welt und das Menſchenleben in ihrer Breite mit ruhiger, Alles gleich
warm beleuchtender Sonne beſcheint; da dieſe Eigenſchaft bei der Lehre
von dieſer Kunſtform zu begründen und zu entwickeln iſt, ſo laßen wir
uns hier nicht weiter ein und beſchäftigen uns auch mit den vielbeſprochenen
homeriſchen Epiſoden nicht. Natürlich fällt nun aber die ganze Berechtigung
[27] weg und tritt einfach das Verbot des Zuviel ein, wenn eine ſolche halb
ſelbſtändige Einheit in der Einheit eines Kunſtwerks zu dieſem überhaupt
nicht ſtimmt: ſo, wenn bei einem Taufacte von Maſaccio ein von Froſt
zitternder Nackter eingeführt iſt, auf deſſen naturwahre Behandlung nun
ein, der Aufgabe des Ganzen fremdes, Intreſſe fällt; Aehnliches iſt
ſchon zum vorh. §. angeführt. Von den Liebes-Verhältnißen in Schillers
Wallenſtein und Tell läßt ſich zweifeln, ob ſie nicht ebenfalls Epiſoden
ſind, die zum Ganzen nicht ſtimmen. Eine Reihe von faſt lauter will-
kührlichen Epiſoden iſt das romantiſche Epos.


Natürlich hat nun auch der Umfang der berechtigten Epiſode ſeine
Grenze und dieß führt zu dem Geſetze des Werthverhältnißes der Theile,
wovon der folgende §. handelt.


§. 497.

Ein zweiter Mangel des innern Bildes, welchen jene Prüfung dem1
Künſtler enthüllen wird, iſt unvollkommene Beſtimmung des Werthverhältnißes
der im Ganzen enthaltenen Einzelbilder als eines Verhältnißes der Ueber-
ordnung, Uebenordnung, Unterordnung
. Dieß Verhältniß wiederholt ſich
aber auf zwei Seiten, in welche jedes künſtleriſche Ganze ſich theilt. Die eine dieſer
Seiten enthält das Subject des Ganzen, die andere entweder das Element, worin
2
es lebt und wirkt, oder das Beigeſellte, das von ihm als ſeinem Elemente
abhängt. Dieſe zweite, blos accidentielle Seite umfaßt das ſogenannte Beiwerk.
Ein weiteres, aus dem erſten folgendes Compoſitionsgeſetz hat nun das Maaß
der Betonung und Entfaltung gemäß der innern Rangſtufe ſowohl zwiſchen dieſen
beiden Seiten, als auch innerhalb einer jeden derſelben abzuwägen.


1. Das Werthverhältniß der Einzelbilder innerhalb der Seite des
Kunſtwerks, die das Subject des vorliegenden Ganzen enthält, iſt nicht
zu verwechſeln mit dem Verhältniß dieſer ganzen Seite zu der zweiten,
welche das Accidentielle, das ſogenannte Beiwerk, enthält; hier iſt zuerſt nur
von jenem erſteren Verhältniß die Rede. Subject des Ganzen iſt das,
was je im vorliegenden Kunſtwerke die weſentliche äſthetiſche Wirkung
beſtimmen ſoll, alſo z. B. im Landſchaftgemälde das Naturleben, im
Thierſtücke das thieriſche, im Genre- (Sitten-) Bilde und im hiſtoriſchen
Gemälde das menſchliche Leben. Die in dem letzteren der Haupthandlung
untergeordnete Nebenhandlung, oder z. B. im Drama die Nebenfigur,
ja die ganz untergeordnete Figur, wie ein Bote, Diener iſt nicht Beiwerk,
ſondern ein Glied der ſubſtantiellen, das Weſen des Ganzen beſtimmenden
Seite, aber innerhalb dieſer ein minder bedeutendes. Dieſer Unterſchied
[28] läßt ſich ſehr leicht auch auf Kunſtwerke übertragen, die nur Eine Geſtalt
darſtellen. Die einzelnen Glieder einer Figur ſind in ihrer Stärke, in
dem Grad ihrer ſich vordrängenden oder zurücktretenden Thätigkeit dem
Charakter des Ganzen untergeordnet; dazu gehört auch die Gewandung,
ſie iſt minder weſentlich, aber weit mehr, als bloßes ſogenanntes Beiwerk.
In der Architectur ſind Seitenflügel, Oeffnungen, Glieder des Gebäudes
ſolche untergeordnete Momente des Ganzen; was hier die Stelle des
Beiwerks vertrete, davon unter 2. In der Muſik kann kein Zweifel über
den Sinn des Unterſchieds zwiſchen Herrſchendem, Untergeordnetem u. ſ. w.
entſtehen, ebenſowenig in irgend einer Gattung der Poeſie. In der
Ausführung der Skizze wird nun der Künſtler immer finden, daß im
innern Bilde das rechte Werthverhältniß zwiſchen den Theilen, richtiger
Gliedern des Ganzen noch nicht beſteht. Der §. unterſcheidet Ueberordnung,
Nebenordnung, Unterordnung. Hier kann nur darüber ein Zweifel
entſtehen, was unter Nebenordnung verſtanden ſey. Der abſolute
Mittelpunct des Ganzen duldet natürlich nichts Nebengeordnetes, ſondern
nur Untergeordnetes, er ſoll herrſchen. Wenn auch zwei Helden kämpfend
ſich gegenüberſtehen, oder neben einer Haupthandlung eine zweite verwandte
hinläuft, ſo darf dort der zweite Held, hier die zweite Handlung doch
nur der Exponent für die Größe des Haupthelden, der Haupthandlung
ſein. So in Shakespeares Macbeth iſt dieſer nicht, ſeine Gemahlinn, die
Hauptfigur, im Antonius dieſer, nicht Octavian, im König Lear wiederholt
ſich die tragiſche Störung der Familie Lears im Hauſe Gloſters, aber
dieſe verſtärkt nur jene, verdrängt ſie nicht aus dem Vordergrund. Allein
innerhalb des Untergeordneten ſteht Einiges auf gleicher Höhe, gleicher
äſthetiſcher Rangſtufe, iſt ſich alſo nebengeordnet. So ſtehen ſich in
der Gruppe des Laokoon die beiden Knaben, dem Vater untergeordnet,
ungefähr in gleichem Gewichte der Bedeutung, wiewohl unter ſich wieder
verſchieden, gegenüber. So treten im König Lear Edgar und Cordelie
einander gegenüber als verwandte Lichtpuncte in einer verdorbenen
Welt. Es können auch Gegenſätze ſein: ſo erſcheinen Kent und Oswald,
der treue und der ſchurkiſche Diener, einander gegenüber geſtellt, ihr
Gegenſatz gibt ihnen dieſelbe Nichthöhe, die ſich in einem Gemälde, einem
plaſtiſchen Werk auch räumlich ausdrücken würde. In der Baukunſt ſind
dieſe Verhältniße am klarſten und treten unmittelbar ins Auge, wenn
Theile, die zu zweien oder mehreren ſymmetriſch ſich gegenüberſtehen ſollen,
wie Flügel, Fenſter, Portale u. ſ. w. verkehrter Weiſe nicht in dieſer
Ordnung geſtellt ſind. In der einzelnen menſchlichen Figur iſt dieß
Gegenüber durch den Bau des Körpers gegeben: das Haupt emporragend,
tiefer auf gleicher Höhe Schultern, Arme u. ſ. f. Wir reden übrigens
noch nicht ſpeziell vom räumlichen Compoſitionsgeſetz, darum wäre eine
[29] Warnung vor einer ängſtlichen Auffaßung dieſer Nebenordnung unzeitig.
Was Unterordnung ſei, iſt klar; darüber belehrt z. B. jeder Schauſpieler,
der in einer unbedeutenden Rolle die Bedeutung des erſten Helden affect-
tirt und durch ſein Vordringen das Ensemble ſtört. In der Gruppe des
Laokoon iſt der ältere, noch unverwundete Knabe bedeutender, als der
jüngere, der vom Biſſe eben getödtet zurückſinkt, u. ſ. w. Dem Unter-
geordneten iſt Weiteres untergeordnet und das Verhältniß wiederholt ſich
bis in die äußerſten Spitzen des Kunſtwerks.


2. Die zweite Seite iſt zunächſt das umgebende Element, Boden,
Wohnſitz, die allgemeinen Bedingungen und Mittel des Daſeins
für das Subject der Darſtellung enthaltend; alſo wo das thieriſche Leben
Subject der Darſtellung iſt, da wirkt die Natur als das tragende,
ernährende, dem Spiel und Genuß dienende Element mit; wo das
menſchliche Leben die Darſtellung beſtimmt, da bewegt ſie ſich nicht blos
in der Natur, ſondern auch in der künſtlichen Wohnung, in der Umgebung
von Geräthen, Schmuck, Werkzeugen, Thieren zu Dienſt und Spiel.
Es war aber noch eine andere Bedeutung dieſer zweiten Seite hervorzuheben,
die Umkehrung des Verhältnißes nämlich, ſo daß die Rolle des äſthetiſch
nur Mitwirkenden dem Theile zufällt, der eben von jenen Lebensbedingungen
abhängig iſt. So iſt im Landſchaftsgemälde das allgemeine Naturleben
Subject der Schönheit; Bauwerke, Thiere, Menſchen, die da auftreten
und denen jenes als Boden, Nahrungsquelle, Stoff der Thätigkeit dient,
ſind nur anhängende, mitwirkende Theile des Ganzen. Dieſe zwei
Verhältniße ſind an ſich ſehr verſchieden, im vorliegenden Zuſammenhang
aber fallen ſie beide unter Einen und denſelben Begriff: den des
Beiwerks. Der §. erläutert dieſen Ausdruck durch: accidentiell
(dem entſprechend hier das Subject des äſthetiſchen Ganzen Subſtanz zu
nennen wäre): eine Bezeichnung, durch welche der veraltete Standpunct,
der in dem Begriff des Beiwerks liegt, wohl am zweckmäßigſten vermieden
wird. Dieſes Accidentielle kann ſich allerdings nicht in allen Künſten
gleichmäßig ausbilden; nur in der Malerei, der epiſchen und dramatiſchen
Dichtkunſt tritt es in ſeiner Bedeutung klar hervor, in andern Künſten und
Kunſtformen findet ſich nur annähernd Entſprechendes: ſo iſt z. B. in
der Plaſtik des Attribut eigentlich mehr, als Beiwerk, und nur die
Baſis, die Andeutung des Locals durch einen Baumzweig, Fels und
dergl. entſpricht dieſem Begriffe. Wenn wir den Begriff des Beiwerks
einen veralteten nennen, ſo haben wir im Auge, wie man darunter eine
Zugabe zu dem Subjecte des äſthetiſchen Ganzen, die ſo oder anders
ſein oder auch ganz fehlen könnte unbeſchadet des Weſens dieſes Ganzen,
zu verſtehen pflegt. Es ſtammt dieſer atomiſtiſche Begriff aus den Zeiten
her, wo man die Bedeutung dieſer zweiten Seite des Kunſtwerks völlig
[30] verkannte. Im ächten Kunſtwerk iſt all dieß Umgebende, Mitwirkende
als ein die Stimmung und Situation des Ganzen weſentlich Mitbedingendes
und Vollendendes durch einen und denſelben Act mit dem Subjecte
des Ganzen empfangen und entworfen; die Skizze und Ausführung ändert
daran, aber ebenſogut auch an jenem Subjecte. Menſchliche Figuren
und ihre Umgebung von Landſchaft, Gebäuden, Geräthen, Thieren,
Landſchaft und ihre thieriſche oder menſchliche Staffage, Thierſtück und
die umgebende Landſchaft müßen zuſammencomponirt ſeyn, ſo daß man
ſich das Einzelne nicht anders oder wegdenken kann, ohne ſich das Ganze
anders zu denken. Ein anderer Künſtler hätte vielleicht dieß Mitwirkende
anders gemacht, aber dann auch die Hauptfiguren: in dieſer Conception
gehört es ſo zuſammen. Der fehlerhafte Begriff war aber nur der
Ausdruck einer fehlerhaften Praxis und dieſe war ein Ausfluß davon,
daß ſich die Kunſtzweige noch nicht klar geſchieden hatten: der Begriff
des Beiwerks ſtammt aus der Zeit, wo man in religiöſen oder überhaupt
ernſten Gemälden ſpielende Hunde (man denke u. A. an die obligaten
Katzen und Möpſe des einſt berühmten Kupferſtechers Ramberg), in
Landſchaften hiſtoriſche oder mythiſche Scenen anbrachte und wo häufig
der Landſchaftsmaler ſich die thieriſche oder menſchliche Staffage, oder der
Thiermaler die Landſchaft von einem andern in ſein Werk hineinmalen
ließ. Bei einer ſolchen Praxis konnte weder in die Bedeutung dieſer mit-
wirkenden Theile, noch in das Maaß derſelben, wie es ſich in verſchiedenen
Kunſt-Zweigen durch die Natur der Sache beſtimmt, eine Einſicht ſich
ausbilden. Schon in dem Ausdruck Beiwerk liegt die Meinung ausgeſprochen,
daß es ſich von einer Zugabe handle, die von außen nachträglich angeklebt
werde. Das Aeußerliche, was auch wir durch unſere Bezeichnung:
accidentiell ausdrücken, liegt aber nicht darin, daß der Künſtler hier
willkührlich verfahren dürfte und nachträglich nach Laune aufſetzen, ſondern
es liegt in der Bedeutung des blos Umhüllenden oder Anhängenden im
Verhältniß zum Hauptſubjecte, was aber je in einem gegebenen Ganzen
immer zu dieſem ſtimmen, mit ihm in Eins aufgehen ſoll. Es
iſt nicht gleichgiltig, ob in dieſer Landſchaft nur ein einſamer Reiher oder
Fuchs, in jener eine Gruppe wandernder, lagernder, badender Menſchen
als Staffage auftritt, nicht gleichgiltig, ob dieſe leer von menſchlichen
Wohnungen, jene mit wohnlicher oder verfallener Architectur ausgeſtattet
iſt, ob in dieſem Genrebild vieles und gerade ſolches Geräth, Hausthier,
in jenem hiſtoriſchen Bild nichts oder wenig der Art und eben nur ſolches
mitwirkt. Kurz: das Maaß des ſog. Beiwerks beſtimmt ſich durch die
Idee ſelbſt, welche dem Ganzen ſeine Einheit gibt, das hier aufgeführte
Compoſitionsgeſetz iſt alſo nur ein Ausfluß des oberſten §. 495. Es ließe
ſich von einer ſolchen Maaßbeſtimmung gar nicht reden, wenn dieſe Theile
[31] eines Kunſtwerks indifferent wären; vielmehr es kann eine ſolche nur
geben, weil die Einführung und Anordnung derſelben in Einem Zuge
mit der Grund-Idee erfolgen ſoll. Fehlt dieſes innere Band, ſo wird
des Umgebenden und Beigeſellten zu viel oder zu wenig, es wird zu
dürftig entwickelt oder zu anſpruchsvoll ſeyn. Die Verkehrung des richtigen
Verhältniſſes hat ihren Grund entweder darin, daß das Accidentielle durch
einen nachträglichen Act reflectirender Abſichtlichkeit weiter ausgeſponnen
wird, als ſich ziemt; dieſer Fehler iſt ein ächt moderner und insbeſondere
der Landſchaftmalerei der Düſſeldorfiſchen Schule vorzuwerfen: ein
Ausdüfteln, das immer noch mehr Gedanken in das Ganze hineintragen
will und es dadurch zerreißt; oder in der oben erwähnten Naivetät
einer Zeit, welche für die bereits erſtarkte Richtung auf Genre und
Landſchaft noch kein eigenes Bett gefunden hat. Geht jedoch das
Mißverhältniß ſo weit, daß geradezu das Höhere als Beiwerk zum
Niedrigeren erſcheint, wie in den zu §. 493, 2. angeführten Beiſpielen
von Baſſano und Andern, ſo gehört dieß in jenen, nicht in den
gegenwärtigen Zuſammenhang. Das richtige Verhältniß kann übrigens
auch durch die Art der Ausführung verletzt ſein, nämlich durch die
Wichtigkeit, welche die Behandlung einem Beiwerke gibt, z. B.
wenn in einem hiſtoriſchen Gemälde die. Reize einer doppelten Beleuch-
tung oder des Schimmers von Metall, Glas u. ſ. f. mit einer ſo
ausdrücklichen Virtuoſität behandelt ſind, daß ſie die Aufmerkſamkeit von
den Hauptgeſtalten und der Handlung ablenken; dieß iſt ebenfalls
insbeſondere ein moderner Fehler (z. B. die büßende Magdalena von
Maes). — Zum Schluße ſagt der §., es ſei in der Compoſition nicht
blos das Verhältniß zwiſchen dieſer accidentiellen und der ſubſtantiellen
Seite abzuwägen, ſondern auch innerhalb jeder der beiden Seiten das
rechte Maaß zwiſchen dem Herrſchenden und dem Untergeordneten zu
beſtimmen. Was damit gemeint iſt, bedarf nur eines Beiſpiels zur
Erläuterung. Es können in einem hiſtoriſchen Bild und in einem
Genrebild Bauwerke, innere häusliche Räume, Geräthe, Thiere auftreten,
in einer Landſchaft als Staffage ebenfalls Bauwerke, Menſchen, Thiere;
da muß nun der Charakter des Ganzen beſtimmen, welche unter dieſen
verſchiedenartigen mitwirkenden Erſcheinungen vorwiegt, wie es denn
z. B. einleuchtet, daß nicht jede Landſchaft gleichmäßig ſtark hervorgehobene
Architectur und menſchliche Staffage, daß nicht daſſelbe hiſtoriſche Bild,
das einen gewiſſen Apparat an Baulichkeiten und Geräthen und die
Zugabe eines Hausthiers paſſend erſcheinen läßt, darum das Vordringen
des letzteren verträgt u. ſ. w. Alle dieſe Bemerkungen finden ihre weitern
Belege in der Lehre von den einzelnen Künſten.


[32]
§. 498.

1

Dieſe ordnende Thätigkeit decht nothwendig zugleich den weitern Mangel
auf, daß es dem Einzelnen des innerlich entworfenen Ganzen an der ſtrengen
Sonderung fehlt, auf welcher die wahre Einheit ruht: ein unbeſtimmtes
Ineinanderlaufen, worin theils das Einzelne überhaupt noch nicht ſeinen rechten
Ort einnimmt, theils das richtig Aufgeſtellte nicht, wie es ſoll, voneinander
abſticht. Hier tritt das Compoſitionsgeſetz der Scheidung ein, welchem ebenfalls
durch einen Act des Meſſens genügt wird, der zugleich ein erweitertes Schaffen
2iſt. Daſſelbe verlangt überhaupt ein klares Auseinanderrücken und Auseinander-
halten, beſtimmter die gegenſeitige Hebung der Einzelbilder durch den Contraſt
ſowohl des Unterſchieds, als auch des Gegenſatzes.


1. Die Beſtimmung des Werthverhältnißes der Theile iſt natürlich
nicht möglich, wenn dieſe nicht ſcharf und klar ſich voneinander abheben;
alſo iſt in dem zuletzt aufgeführten Compoſitionsgeſetze das nun auftretende
vorausgeſetzt. Solche Vorausſetzungen ſind aber unvermeidlich, und ſo
hier: nur wenn die ſcheidende Thätigkeit an der gegenwärtigen Stelle
eingeführt wird, iſt der organiſche Fortgang der Begriffe möglich, der
uns von da weiter zu den letzten und höchſten Compoſitionsgeſetzen zu
führen hat. — Indem nun die Compoſition zunächſt als ein Scheiden
auftritt, wäre ſie auf dieſem Puncte eigentlich Diſpoſition zu nennen.
Das innere Bild kann der nunmehr aufgeſtellten Forderung unmöglich
genügen: denn verſetzt in den innern Bilderſaal des Geiſtes wird die
Erſcheinung in jenen Wurf und Hauch der Allgemeinheit gezogen, den
der Geiſt allen ſeinen blos innern Gebilden gibt: die Grenzen der Theile
oder Glieder verſchwimmen. So können wir von einem Angeſicht eine
den Grundcharakter deſſelben ganz beſtimmt feſthaltende innere Vorſtellung
haben, ohne daß wir doch die Farbe des Auges, die Zeichnung der Naſe,
Lippen anzugeben wüßten; die Wirkung, die dadurch entſteht, daß dieſe
Theile durch dieſe Farbe, Geſtalt, Licht und Schatten ſich ſo und ſo
voneinander abheben, iſt uns gegenwärtig, aber die Urſachen verſchweben
ins Unbeſtimmte. Geht man mehr ins Große, ſo iſt der Mangel ein
noch gröberer: das innere Bild einer Landſchaft, einer Scene, worin
Menſchen handeln, einer Tonmaſſe, worin eine Empfindung ihre
verſchiedenen Momente entfaltet, wird bei näherer Prüfung ſich nicht nur
in dem Sinne als unverarbeitet zeigen, daß das Einzelne ineinander
zerfließt, ſondern daß ganze Theile einen unpaſſenden Ort einnehmen;
da muß jener Fels herüber zu dieſem Baum, mit dem er einen ſchönen
Contraſt bildet, während er ſonſt nur ſtört, jene Figuren müßen
[33] auseinandergerückt werden u. ſ. f. Die ganze Thätigkeit, welche dieſen
Mangel zu ergänzen hat, könnten wir mit einem aus der Malerei
entlehnten Ausdruck eine Haltung gebende nennen. Unter Haltung
verſteht man, wenn in einem Gemälde ſich Alles klar und ſchlagend
voneinander abhebt, einander zurücktreibt, auseinander und hintereinander
tritt. Dieſe Wirkung bringt der Maler allerdings hauptſächlich durch die
ſpeziellen Mittel der Ausführung, Licht und Schatten, Farbe, Linear-
und Luftperſpective hervor, allein ſchon in der Anlegung der Skizze, ſelbſt
ſofern ſie noch erſt gezeichnet wird, muß ſich ihm darſtellen, daß die
Bedingungen der Haltung tiefer, in der Compoſition ſelbſt liegen. Es
muß abgetheilt, es muß durchgeſchnitten, es muß geſtrichen, es muß aber
auch hinzucomponirt werden. Auch dieſer Act, ſagt der §., iſt nicht nur
ein Meſſen, ſondern auch ein erweitertes Schaffen; es können ganze
Figuren, Gruppen u. ſ. w. hinzutreten müßen, um die nothwendige
Klarheit der Theilung einzuführen; aber auch die Ausſcheidung ſolcher,
welche die Schärfe der Sonderung hindern, iſt ein Schaffen. Nothwendig
jedoch iſt es nicht, daß ganze Theile des innern Entwurfs entfernt oder
neue hinzugefügt werden; auch ohne ſolche bedeutendere Veränderungen
iſt das meſſende Theilen ein neues Schaffen. Man frage ſich, ob in
dem Bilde, das ſich Lconardo da Vinci von ſeinem Abendmahl (auf das
zu dieſem Zwecke ſchon die Anm. zu §. 399 hingewieſen hat) innerlich
entworfen hatte, jene organiſche Theilung der 12 Jünger in Gruppen von
je drei Männern, die ſich ſo klar voneinander abheben, ſo verſchieden und
doch ſo ſymmetriſch geſtellt und alle von der Einheit des Eindrucks durchzuckt
ſind, welchen die Worte Chriſti hervorgerufen haben, mit der Beſtimmtheit
durchgeführt war, wie in ſeinem Gemälde? (vergl. Göthes Werke Band 39.
Abendmahl von Leon. da Vinci.)


2. Der Begriff des Contraſtes, zu dem ſich die vorhergehende
allgemeinere Forderung nun zuſammenzieht, iſt im erſten Theile des
Syſtems aufgetreten in dem Abſchnitte: das Schöne im Widerſtreit ſeiner
Momente. Er muß in der Kunſtlehre wieder, und zwar in einem ganz
neuen Sinne auftreten und darum wurde auch dort der Ausdruck Contraſt
wenig gebraucht. Contraſt nämlich iſt hergebrachtermaßen mehr ein
Kunſt-Ausdruck, als ein allgemein äſthetiſcher, d. h. als eine Benennung
für jene innere Bewegung im Weſen des Schönen, wodurch ſeine zwei
Momente ſich voneinander abſtoßend das Erhabene und Komiſche bilden.
Nicht nur dieſer innere Gegenſtoß ſelbſt wird in dem erſt innerlich
entworfenen Bilde, wenn es an die Ausführung geht, als noch nicht
hinreichend ſichtbar und ſcharf einer Aufhöhung durch derberen Strich
und Farbe ſich als bedürftig erweiſen; der Contraſt tritt als Kunſtgeſetz

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 3
[34]auf auch abgeſehen vom Erhabenen und Komiſchen. Es liegt demſelben die
einfache Wahrheit zu Grunde, daß das, was Jedes iſt, in ſein volles
Licht erſt tritt, wenn durch Gegenüberſtellung klar wird, was es nicht und
was ſein Gegentheil iſt. Dieſe Wahrheit iſt in dem erſt inneren Bilde,
wo Alles wie unter einem Flor ineinander verſchwimmt, noch nicht in
Kraft. Die allgemeine Accentverſchärfung, die nun eintreten, dieſer
verſtärkte Druck, der, auf die Einzelbilder geworfen, ſie durch Gegenſpannung
herausheben ſoll, dieſer Antagonismus, den wir Contraſt nennen, hat
nun ſelbſt wieder verſchiedene Stufen. Für die weniger ſtarke Form des
Contraſtes wiſſen wir keine andere allgemeine Bezeichnung zu finden, als:
Contraſt des Unterſchieds; nur einzelne beſtimmte Gebiete bieten die
erläuternde Terminologie. Wir nehmen hier als höchſt belehrendes Beiſpiel
das Farbengebiet. Contraſt des Unterſchieds bedeutet den Contraſt der
Töne Einer Farbe und der Schattirungen verwandter, d. h. im Farbenkreis
ſich nahe liegender Farben (wogegen Contraſt des Gegenſatzes die
Gegenwirkung der Hauptfarben bedeutet); alſo z. B. die gegenſeitige
Hebung, die dadurch eintritt, daß Hell- und Dunkelgrün oder Gelbgrün
und Blaugrün zuſammengeſtellt wird. Die Farbe iſt ein abſtractes
Moment im Schönen; in allem concret Schönen wird der Unterſchied
des Grades zugleich ein qualitativer, alſo Tonverſchiedenheit zugleich
Schattirungs-Verſchiedenheit ſeyn. Wir könnten nun die ganze Reihe der
Künſte durchwandeln und an Beiſpielen die Bedeutung dieſer erſten Stufe
des Contraſtgeſetzes nachweiſen; wir deuten aber nur mit einem Worte
auf die belebenden Contraſte innerhalb derſelben Hauptlinie in der Bau-
kunſt (z. B. die Theile des doriſchen Gebälks), auf die contraſtirenden
Lagen der Glieder in der Einzelſtatue der Plaſtik hin: z. B. daß der eine
Arm gehoben, der andere geſenkt iſt, daß keine Statue auf beiden Füßen
mit gleichem Gewichte ſteht u. ſ. w. In der Gruppe wird die Sache
klarer; man denke z. B. an die beiden Söhne Laokoons und ihren milden
Contraſt, indem der eine ſchon verloren, der andere noch nicht verwundet
iſt, mit der freien Hand die Schlange abzuſtreifen ſucht und die Seele
noch frei hat, um voll Mitleid und Schrecken zum Vater aufzuſehen; der
Contraſt beider Söhne gegen den Vater iſt ſtärker, läßt ſich aber doch
auch noch unter der milderen Form befaſſen. In der Malerei ſtelle man
ſich z. B. den verſchiedenen Ausdruck deſſelben Affects in einer Darſtellung
des bethlehemitiſchen Kindermords, zuſammenwirkend mit dem Farben-
Unterſchied, vor; daß die Muſik die reichſten Belege liefert, leuchtet ein,
wir machen aber nur auf den gleichzeitigen Vortrag einer Melodie durch
verwandte Inſtrumente und Stimmen, namentlich auf das Verhältniß
zwiſchen Baß und Tenor, Alt und Diſcant hin und verweilen etwas mehr
bei der Poeſie, und zwar der dramatiſchen, wo Shakespeare, dieſer noch
[35] unerklärte Compoſitionskünſtler, ſo viel Stoff bietet. Er vorzüglich liebt
es, jeden weſentlichen Ton des Ganzen durch eine Verdopplung,
Verdreifachung in verſchiedenen verwandten Tönen zu heben. In Romeo
und Julie iſt Romeo durch den verſchiedenen Charakter ſeiner Freunde
Benvolio und Mercutio in höheres Licht geſtellt, zu Mercutio ſteht er allerdings
in dem ſchärferen Contraſte des Gegenſatzes, mit ihm zuſammengefaßt aber
tritt er vielmehr gegen Tybalt in dieſes Verhältniß, mit Mercutio in das
des milden Contraſtes. Auf der andern Seite ſtehen Capulet und ſeine
Frau, Capulet und Tybalt im Contraſte der Schattirung und des Tons.
Auf beiden Seiten treten ſich die Amme und Lorenzo ſo gegenüber, daß
ſie den vollen Contraſt des Gegenſatzes bilden würden, wenn ſie nicht
durch die Rolle von Zwiſchenträgern und Vermittlern wieder verwandt
wären. In Richard III. iſt dieſer vollendete Böſewicht durch die, ſelbſt
wieder in den verſchiedenſten Tönen ſich unterſcheidende, Unreinheit und
nur inconſequentere Bosheit der ganzen umgebenden Welt in ſein volles
Licht geſetzt, in der Gleichheit verſchieden ertönt Schmerz und Fluch der
klagenden Frauen u. ſ. w. Macbeth und Lady Macbeth ſind zwei mit
der größten Tiefe auf gegenſeitige Farbenſteigerung innerhalb deſſelben
Charakters: phantaſievoller Ehrgeiz, angelegte Naturen. Am belehrendſten
tritt daſſelbe Kunſtmittel hervor, wo Shakespeare zwei verſchiedene Fabeln
verbindet, ohne daß dieß für die Darſtellung der Grundidee der Handlung
abſolut nothwendig geweſen wäre, eben um jenem Geſetze zu genügen.
So beſonders im König Lear: der ähnliche Fall begiebt ſich hier, damit
wir recht erkennen ſollen, was das Weſen und die Folgen verkehrter
Vaterliebe und zerſtörter Pietät ſeien, im Hauſe des Herzogs Gloſter,
wie in dem Hauſe Lears. Weiter heben ſich gegenſeitig der wirkliche
Wahnſinn Lears, der verſtellte Edgars und das abſichtliche Faſeln des
Narren. Auf der Seite des Hauſes Lear iſt der Kindes-Undank in doppelter,
abſichtlich nur ganz wenig unterſchiedener Form und ebenſo in zwei ganz
ſymmetriſch angelegten Scenen entwickelt. Wie die Böſen (Lears Töchter,
ihre Gatten, der Haushofmeiſter, Edmund) Variationen des Einen Thema
ſind, ſo die Guten: Edgar, Cordelia, Kent und der Narr. In ſo reicher
Theilung der Stimmen breitet ſich bei dieſem Dichter die Melodie aus.
Trotz der Relativität, welche dieſe Beziehungen ſo beherrſcht, daß daſſelbe
Verhältniß, das, nach der einen Seite betrachtet, voller Contraſt iſt, nach
der andern als milder erſcheint und umgekehrt, iſt nun von der bisher
beleuchteten Form der ſcharfe Contraſt des Gegenſatzes wohl zu unterſcheiden.
Licht und Dunkel, lichtvolle und lichtarme Farbe geben das nächſte Beiſpiel.
Man darf auch die Farben-Diſſonanzen (§. 251) hieher ziehen, denn wenn
in dieſer die eine Farbe auch die andre in ſich enthält (wie in der
Zuſammenſtellung von Rothblau und Roth u. ſ. w), ſo iſt dieß in der

3*
[36]moraliſchen Welt, wenn Bös und Gut unmittelbar aneinandergerückt
wird, ebenſo, denn das Böſe enthält die guten Kräfte gegen ihre Beſtimmung
gedreht in ſich. Wir verweilen auch hier nicht bei den einzelnen Künſten,
nicht bei dem Gegenſatze der Hauptlinien in der Baukunſt: dem Antagonismus
der Hauptformen und Bewegungen, des Feſten und Weichen, der Wölbungen
und Flächen, der ſcharfen Winkel und Bogenlinien (Feuerbach D. vatican.
Apollo S. 59.) in der plaſtiſchen Darſtellung des einzelnen Körpers,
der Charaktere, Leidenſchaften, Formen in der Gruppe, überſpringen das
für dieſen Satz beſonders fruchtbare Feld der Malerei, deuten in der
Muſik nur auf die vollen Diſſonanzen der Tonleiter, das gleichzeitige
Ertönen der entgengeſetzten Hauptſtimmen und verſchiedenen Melodien
hin und faßen nur die größere poetiſche Compoſition wieder genauer ins
Auge, und zwar an den ſchon gebrauchten Beiſpielen. Man ſehe, wie
in Romeo und Julie die Gegenſätze der Liebe und des Haßes, der Freuden
des Feſtes und der Schauder der Todtengruft zum vollen Gegenſtoß wie
das hellſte Licht und das tiefſte Schwarz aneinandergerückt ſind, wie ferner
die Perſonen einander in vielfachem vollem Contraſte gegenüberſtehen,
ſowohl von beiden Seiten, als innerhalb der einzelnen Seite, denn nicht
nur die beiden Häuſer, alſo insbeſondere Romeo dieſſeits, Capulet und
Tybalt jenſeits, ſondern auch die Charaktere in denſelben ſtehen ſich
gegenüber: Julie iſt durch die Amme, dann durch ihre Eltern, und zwar
mehr durch die Mutter, als den Vater, endlich durch den wilden Tybalt
wie ein Diamant durch dunkle Farbe gehoben, dann ſteht der ächten Liebe noch
die Erwerbung des Mädchens vermittelſt Elternzwangs durch Paris entgegen.
In Richard III: dieſer ſelbſt und die unſchuldigen Kinder Eduards, dann
Richmond (voller, unmittelbar auch ſceniſch zuſammengerückter Contraſt
vorzüglich in der Geiſterſcene.) In Macbeth: dieſer mit ſeiner Gattinn
und der gnadenreiche Duncan, der biedere Banquo, Schmaus und
furchtbare Geſpenſter-Erſcheinung. Im König Lear: Cordelia und ihre
Schweſtern, Edgar und Edmund, Kent und Oswald. Man denke ferner
an Othello und Jago, Desdemona und Emilie, und ſehe, wie hier
nicht nur Ehrlichkeit, Offenheit einer großen Seele und Argliſt, Adel der
Liebe und Gemeinheit, ſondern überhaupt der edeln, ächten Ehe die
ſchmutzige, die jeden Flecken und Verdacht unverſehrt erträgt, gegenüber
geworfen iſt; man denke an den unentſchloßenen Hamlet und den
entſchloßenen Laertes. Aus der neuern Poeſie wählen wir Göthes Fauſt,
weil in dieſem Werke gerade die fruchtbarſten Contraſte nicht im Stoffe
gegeben waren, ſondern ganz dem Dichter gehören; ſo iſt Wagner in
der Sage durchaus nicht das, was er im Gedicht iſt; die Folie, die
durch vollen Gegenſatz den Geiſt des Helden in doppelt helles Licht ſetzt;
Marthe und mit ihr der Contraſt gegen Gretchen iſt in derſelben gar
[37] nicht vorhanden, ja ſie enthält auch für die Figur Gretchens ſelbſt
nur einen ſchwachen Anknüpfungspunkt. Nun nehme man den Mephiſtopheles
dazu und beobachte die Wirkungen des Contraſtes nur z. B. in der Garten-
ſcene, wo die Geſpräche zwiſchen dieſem und Marthen, Fauſt und
Gretchen abwechſeln.


§. 499.

Ebenſo ſehr tritt nun aber der Mangel an Verbindung zu Tage.1
Das Compoſitionsgeſetz, das an dieſer Stelle auftritt, verlangt zuerſt Vorbe-
reitung
der Contraſte und überhaupt der entfalteten Wirkungen im Kunſt-
werke, es geht aber durch das Ganze deſſelben hindurch als die Forderung,
daß alle Einzelbilder lebendig auseinander hervorwachſen, und beſtimmt ſich
näher als Geſetz der Motivirung, d. h. der Begründung alles deſſen, was
2
zur Darſtellung kommt, in hinreichenden Bedingungen; worin ſich übrigens die
Kunſt zur Motivirung im Naturſchönen ebenſo verhält, wie das Ideal über-
haupt zu dieſem. Das ſo vorbereitete und ſelbſtändig gewordene Einzelne ſoll
3
aber demſelben Geſetze gemäß wieder lebendig ineinander übergehen, keine Fuge
unausgefüllt bleiben, Glied mit Glied durch Gelenke verbunden ſein und die
Contraſte ſollen ſich auflöſen.


1. Mit der Wirkung des Contraſts kann ein greller Mißbrauch
getrieben werden; eine überreife Kunſt wird leicht in dieſen Fehler ver-
fallen. Niemand hat ſich dieß mehr zu Schulden kommen laſſen, als die
Franzoſen, deren pointirendem Geiſt überhaupt eine Unnatur auf dieſem
Puncte nahe liegt. Es geſchah dieß vorzüglich in ihrer romantiſchen
Poeſie, das ſchlagendſte Bild aber gibt ihre Schauſpielkunſt, die es liebt,
vom Schrei der äußerſten Leidenſchaft ganz unvermittelt in den gleich-
gültigſten oder matteſten Redeton überzugehen. Dieſe Art des Ueber-
ſchlagens iſt nun freilich ganz blaſirt; in unſchuldigerer Weiſe tritt Aehnliches
ein bei unreifen Dichtern und Künſtlern, es iſt aber beidemal gegen „die
Beſcheidenheit der Natur.“ Dieſe Bemerkung führt uns aus der Lehre
vom Contraſt hinüber zu der Lehre von der Verbindung im Kunſtwerk
überhaupt. Wir wählen abſichtlich dieſen Ausdruck, der etwas mehr
Aeußerliches zu bezeichnen ſcheint; die innere Einheit muß natürlich zu
Grunde liegen, hier aber handelt es ſich davon, daß auch ausdrücklich
für ihr Hervortreten geſorgt ſei, und dieß nennen wir mit einem anſpruch-
loſen Namen das Compoſitionsgeſetz der Verbindung. Von dem Stand-
puncte, den wir mit der Lehre des Contraſtes eingenommen, ſtellt ſich als
erſte der in dieſem Geſetz enthaltenen Forderungen die der Vorbereitung
hervor; denn mit dem Contraſte ſtehen wir da, wo das Kunſtwerk ſich
[38] bereits zur Fülle ſeiner Einzelbilder ausgebreitet hat, blicken rückwärts
und verlangen, daß dieß ganze entfaltete Leben deſſelben überhaupt und
zunächſt auch abgeſehen von den Contraſten ein wohl eingeleitetes und
angelegtes ſei. Die Saamenkörner ſollen ſichtbar ſein, aus denen der
Baum mit ſeinen Aeſten aufſteigt, der Sturm ſoll ſeine Sturmvögel vor-
ausſchicken, das Einfache des Anfangs als fruchtbarer Keim erſcheinen.
Man vergegenwärtige ſich, wie im Bauwerk die Baſis, die Säulen, das
erſte Stockwerk auf die reiche Gliederung des Gebälks, den Schmuck des
Giebelfelds, den Glanz des mittleren Stockwerks, wie die Propyläen auf
den Parthenon, das gothiſche Portal auf die Herrlichkeit des Innern,
die viereckige Anlage im Thurm auf den Fortſchritt zum Achteck, dieſes
auf die zierliche Spitze, wie im Laokoon die beiden Söhne auf das Voll-
maaß des Leidens im Vater den aufſteigenden Blick vorbereiten, wie in
der Landſchaft der Vordergrund dem Mittelgrund und dieſer dem Hinter-
grunde denſelben Dienſt leiſtet, wie im hiſtoriſchen Gemälde die Situation
einer Geſtalt auf die einer andern, die ganze Situation auf die des
Helden hinführt, wie im Muſikwerke vordringende Tongruppen wieder-
kehrend, wachſend die Entfaltung aller Gewalten vorankündigen; die
beſtimmteſte Form jedoch wird dieß Compoſitionsgeſetz in der Dichtkunſt,
namentlich im Drama annehmen. Und ſo ſollen auch die Contraſte nicht
unvorbereitet ſein, ſondern organiſch hervorwachſen. Der Moment des
Gegenſtoßes darf freilich nicht abgeſchwächt werden, (ähnlich wie im
Erhabenen und Komiſchen aus demſelben Grunde Plötzlichkeit gefordert
wurde §. 86. 173.) aber er darf auch nicht aus den Wolken fallen;
die Erwartung ſchwächt ihn keineswegs ab, ſie macht nur empfänglicher
für die Ueberraſchung, welche, wohlbegründet, ein großes Kunſtmittel,
unbegründet ein kindiſcher Effect iſt. So treten in Romeo und Julie
höchſte Luſt und Todesſchauer in vollen Contraſt, aber dieſe ſind in
jener und vor ihr längſt in düſterer Ahnung vorbereitet; ſo klopft
jedem Zuſchauer das Herz vor dem nahen Pfeilſchuße des Tell auf
Geßler, ob wohl, ja gerade weil wir jenen lauernd im Hinter-
grunde wiſſen. — Alle dieſe Bemerkungen führen aber auf einen
Begriff hin, in welchem ſich das Geſetz der Vorbereitung näher beſtimmt
und welcher in der Kunſt von durchgreifender Wichtigkeit iſt: den Begriff
der Motivirung.


2. Die Motivirung iſt hinreichende Verbindung der Theile eines
äſthetiſchen Ganzen unter dem Geſichtspunkte der Cauſalität. Das Geſetz
der Motivirung iſt die lex rationis sufficientis in der Kunſt; dieſen
beſtimmteren Sinn nimmt jetzt der Begriff der Motivirung an. Zuerſt
leuchtet nun der ſchon in §. 493, 1. (Anm.) berührte Unterſchied des
[39] Begriffs der Motivirung von dem Begriffe des Motivs noch beſtimmter
ein. Schon dort wurde geſagt, bei jenem blicke man rückwärts, bei
dieſem vorwärts. Ein gutes Motiv, ein unglückliches Motiv, ein unbe-
nütztes Motiv iſt grundverſchieden von einem wohl, falſch, nicht motivirten
Theil eines Kunſtwerks: im erſteren Fall iſt noch nichts da, als ein
Ausgangspunkt, der ſich reich oder dürftig entwickelt, der nicht fruchtbar,
oder der fruchtbar iſt, dem aber der Künſtler ſeine Frucht nicht abgelockt
hat; im zweiten iſt immer etwas ſchon da und man ſieht zurück und
fragt, ob es Grund habe, ob es auf überzeugende Weiſe aus aufgezeigten
Bedingungen hervorgehe. Ich höre oder leſe z. B. von einem Verbre-
chen; ich erkenne an dem Stoffe, daß ſich das innerſte Weſen des Mords
an ihm darſtellen läßt, ſo wird er mir ein Motiv; daraus fließen wieder
einzelne Schönheiten und ganz untergeordnete. Allein ich kann dennoch
in der Ausführung verſäumen, die Haupthandlung und einzelne in ihr
begriffene Handlungen wahrſcheinlich zu machen, aus evidenten Trieb-
federn zu erklären und ebenſo die einzelnen Bewegungen; die Kämpfe des
Innern, Schuldbewußtſeyn, Reue ſtelle ich geiſtvoll dar, aber die Beweg-
gründe ſind nicht gehörig ins Licht geſetzt; ich habe alſo ein gutes Motiv
benützt, aber ich habe nicht gut motivirt. — Es iſt nun vor Allem der
Umfang des Begriffs der Motivirung zu beſtimmen. Er bezieht ſich
keineswegs blos auf menſchliche Zuſtände, ſondern auf das ganze Gebiet
des Naturſchönen, wie es nun als Kunſtobject auftritt. In der Landſchaft
muß z. B. der allgemeine Luft-Ton, Färbung, Localton als begründet
erſcheinen in dem angenommenen oder dargeſtellten Stande des beleuch-
tenden Körpers; in der Bildung der Pflanze, des thieriſchen und menſch-
lichen Organismus (noch abgeſehen von ſeinem ſeeliſchen Ausdruck) iſt
der Uebergang von einer Hauptform zur andern durch Knoten, Gelenke,
anwachſende, fallende Linien vermittelt, d. h. in der Künſtlerſprache moti-
virt. Der ganze organiſche Leib iſt eine wechſelſeitige Motivirung, denn
er iſt ein Ganzes, worin Alles gegenſeitig Urſache und Wirkung iſt; der
Künſtler hat dieß Wechſelverhältniß zu verſtehen und in ein helleres Licht zu
ſetzen. Ebenſo die Bewegung und Lage des Körpers: Stehen, Sitzen,
Liegen, Haltung der einzelnen Glieder, dann ſelbſt die Falten und Fal-
tengruppen der Kleidung ſollen motivirt ſein durch Ort, Bedürfniß,
Geſetz der Schwere, Kraft oder Ermattung, Leidenſchaft oder Ruhe, Schnitt
und Naht u. ſ. f. Treten wir tiefer in die menſchliche Welt ein, ſo
ſcheidet ſich von dem inneren Leben zunächſt wieder ein mehr äußeres
Gebiet ab: der Stand der Dinge nämlich, wie er thatſächlich als eine
Summe äußerer Umſtände gegeben iſt und erſt weiterhin der Menſch
durch ihn auf eine gewiſſe Weiſe geſtimmt und angeregt wird, ſoll ſich
ſelbſt wieder aus Anderem und Früherem erklären. Hier fragt ſich, da
[40] kein abgeſchloſſener einzelner organiſcher Körper vorliegt, wie weit die
Motivirung zurückgehen müſſe. Wir erinnern, um die Frage näher zu
bezeichnen, an das zu §. 336, 2. angeführte Beiſpiel aus Wallenſteins
Lager. Nicht unintereſſant in derſelben Richtung iſt ein ſpäteres Ein-
ſchiebſel in Göthes Fauſt: der Dichter hielt für nöthig, zu motiviren,
warum Mephiſtopheles den Helden in die Hexenküche führt, und fügte zu
dieſem Zweck die Worte: „warum denn juſt — nicht machen“ (erſt in
der zweiten Ausgabe) ein. Ein Genrebild verſetzt uns in eine arme
Hütte: nun kann es im Intereſſe des Malers liegen, durch den
Charakter der Figuren erſchließen zu laſſen, wie dieſe Armuth entſtanden
ſei, in einem andern Fall aber auch nicht. Tiefer geht die ganze Frage,
wenn von einer Sachlage die Rede iſt, die nicht blos eine Summe
äußerer Umſtände, ſondern mit ſolchen vereinigt eine moraliſche Situation
umfaßt: z. B. der Zuſtand einer Familie, eines Volks, mit welchem eine
Erzählung, ein Drama beginnt. So die Familien Montague und Capulet
in Romeo und Julie: Shakespeare hat ihren Haß als ein Vorausgeſetztes
eingeführt, nicht motivirt. Warum nicht? Und warum iſt es ein ander-
mal nothwendig? Man ſieht, daß hieher auch der Charakter noch gezogen
werden kann, wie er, bereits reif und fertig, im Anfang eines Kunſtwerks
auftritt, z. B. Capulet; und da fragt es ſich, wie weit das Werden eines
ſolchen Charakters nachträglich ſich erklären müſſe. Auch die leibliche Er-
ſcheinung einer Perſon gehört hieher; ihre Bildung ſoll als Ausdruck
ihres Innern erſcheinen, aus dieſem phyſiognomiſch motivirt ſeyn und
ſammt ihm als Frucht einer Lebensgeſchichte erkannt werden. Nun erſt
führt uns unſer Begriff weiter zu den Gefühlszuſtänden, Leidenſchaften,
Handlungen, weiteren Geſtaltungen eines gegebenen Charakters, die ein
äſthetiſches Ganzes nicht als gegeben, ſondern als vor unſern Augen
werdend uns vorführt. Hier erſt tritt der Begriff des Motivs in die
Bedeutung ein, wie er in §. 336, 2. dort aber nur ſtoffartig und noch
mit Abweiſung der Frage, wie weit die Kunſt in der Reihe der Motive
zurückzugreifen habe, ſchon aufgeſtellt iſt. Unter Motiv verſteht man nun
einen Umſtand, der auf das Gemüth wirkt und einen Trieb anregt: der
Wille genehmigt dieſe Anregung blind, wenn er charakterlos, denkend, wenn
er Charakter iſt, und erhebt ihn ſo zum Beſtimmungsgrunde des Handelns;
die Triebfeder iſt daher die Einheit des äußern Anſtoßes, des aufgeregten
Triebs und ſeiner Erhebung in den Willen. So iſt für Richard III.
ſeine Häßlichkeit ein Umſtand, durch den er ſich gleichſam von der Gat-
tung ausgeſtoßen fühlt, das zündet in ihm den Haß gegen die Gattung
an und dieſen Haß erhebt er mit Bewußtſein zum Grunde ſeines Han-
delns: dieß heißt Motivirung. Unſer Geſetz verlangt dann, daß keine
innere Bewegung, Stimmung, Leidenſchaft, That unmotivirt auftrete;
[41] die Leidenſchaften und Thaten Mehrerer bilden eine Handlung im collec-
tiven Sinn, und da gilt das Geſetz ebenſo. Eine That oder eine Reihe
von Thaten geben einem, wie es ſchien, vorher ſchon reifen und fertigen
Charakter eine neue Wendung (Wendepunct §. 337) und dafür verlangen
wir natürlich ebenfalls hinreichende Motivirung. Hiemit iſt nun erſt das
Gebiet, in welchem die Motivirung ſich geltend zu machen hat, flüchtig
umriſſen und eingetheilt; die Frage iſt aber, wie ſich die Motivirung in der
Kunſt zur Motivirung in der Wirklichkeit zu verhalten habe. In der Wirk-
lichkeit nun iſt jede Erſcheinung unendlich motivirt, d. h. ſie ſteht in einem
Cauſalnexus, der auf eine Reihe ohne Ende zurückführt. Dieß in der Länge-
Richtung; ſie iſt es aber auch in der Richtung der Breite, denn das Eine,
was die nächſte Urſache eines Zuſtandes, die Triebfeder einer Handlung abgibt,
hängt mit dem ganzen Daſein nach allen Seiten durch unzählige Fäden
zuſammen. Nun findet die unendliche Reihe und Vielheit zwar ihren
Schlußpunct im Acte der Freiheit; alſo, wo es ſich um Motivirung einer
That, eines Charakterbilds handelt, wäre ſchon im Stoff ohne die Kunſt
das Netz der unendlichen Fäden in Einen Faden geſammelt. Allein dieß
Sammeln des unbeſtimmt Vielen in Einen Brennpunkt weist ja eben auf
alle die Fäden, die es ſammelt, hinaus und kann daher ſo, wie es in der
Wirklichkeit iſt, in die Kunſt nicht übergehen. Vielmehr muß auf dieſem
ganzen Gebiete ſowohl der äußerlichen, als der innerlichen Motivirung
noch klarer und beſtimmter, als in dem erſt innern Ideale, jene Zuſam-
menziehung
(§. 53) wirken; die Beziehung des Einen auf das Viele,
die Bindung des Mannigfaltigen in der Idee muß eine kürzere, ſtraffere
ſein, als in der unendlichen Breite des Wirklichen, die Zahl der unendlichen
Fäden muß ſich in wenige und dieſe raſch in Einen zuſammenfaßen. Es
iſt nicht möglich, dieſes Geſetz der Vereinfachung, der idealen Abbreviatur
der Motivirung durch die Kunſt, hier, in der Lehre vom allgemeinen
Begriffe der Kunſt, näher zu beſtimmen, denn die geſchichtlichen Formen
der Phantaſie und die verſchiedenen Künſte und Kunſtzweige bedingen
auch verſchiedene Art und Breite der Motivirung: die ſymboliſche, claſſiſche,
romantiſche Phantaſie motivirt anders, als die moderne, weil ſie eine
Summe von Motiven in einer Gottheit zuſammenfaßt, durch deren Ein-
wirkung die Vielheit der äußeren Anſtöße auf ein ganz Einfaches, die
inneren Triebe und der beſchließende Wille auf eine von außen wirkende
Perſon reduzirt erſcheinen; die Aeußerlichkeit hebt ſich aber hier eben in
der Bedeutung des Gottes, eine innere Macht zugleich mit einer Natur-
macht darzuſtellen, wieder auf und dieſe ganze Reduction iſt nichts, als
die äſthetiſche Abbreviatur der Motivirung in der Sprache einer beſonderen
Weltanſchauung; der Deus ex machina iſt da erlaubt, wo Götter
geglaubte Weſen ſind. Das claſſiſche Ideal erhebt ſich allerdings eben-
[42] ſoſehr über dieſe Sprache der im mythiſchen Sinne vereinfachten Motivi-
rung, indem es neben ihr die eigentliche, natürlich menſchliche, vorzüglich
im Drama entwickelt. Die Kunſtgattungen aber bringen neue Unterſchiede
mit ſich: es iſt klar, daß die Motivirung eine unendlich andere in den
ſtummen Künſten, als in den tönenden, und wieder eine andere in der Dicht-
kunſt, als in der Tonkunſt, ſein muß. In der Dichtkunſt iſt es der Unterſchied
des Epiſchen und Dramatiſchen, der einen tief dringenden Unterſchied der
Motivirung begründet; auf dieſen Unterſchied iſt hier noch nicht einzugehen,
aber ſoviel folgt unmittelbar aus unſern Sätzen, daß auch die verzweigtere,
breitere, dem Aeußern mehr Raum gönnende Motivirung des Epos doch
die Handlungen ihrer Charaktere ſchließlich aus Einem Motiv, in dem
ſich die vielen zuſammenfaſſen, ableiten muß. Als Beiſpiel einer über-
fruchteten Motivirung haben wir zu §. 495, 2. ſchon die dunkel verviel-
fachten Impulſe von Brunhildens Haß im Nibelungenliede angeführt,
ebenſo die Triebfedern von Jago’s Haß in Shakespeares Othello.
Uebrigens wird natürlich auch das Drama, namentlich das hiſtoriſche,
vom einfachen nächſten Motiv auf eine breitere Summe von Motiven
hinausweiſen. So liegt hinter dem oben erwähnten nächſten Motiv
Richards III. die Wildheit der allgemeinen Zuſtände, deren Product
er iſt.


Bei dieſen Bemerkungen haben wir auf die Künſte, die nur im
unbeſtimmteſten Sinn ein Vorbild in der Natur haben (Baukunſt und
Muſik), keine Rückſicht genommen. Bei ihnen kann die Frage gar nicht
entſtehen, wie ſich die künſtleriſche Motivirung zu der thatſächlichen
Motivirung des Gegenſtands in der Wirklichkeit zu verhalten habe. Das
Geſetz der Motivirung beſteht hier einfach für die künſtleriſchen Formen,
die nun aber ebenſo begründet erſcheinen ſollen, wie wenn ſie Nachbil-
dung menſchlicher Handlungen wären. Eine Laſt ohne Stütze, ein Glied,
das nicht aus einem andern hervorgeht, eine lebhafte Tonmaſſe, die aus
früheren Tongruppen nicht hervorwächst, iſt wie eine Handlung ohne
Beweggrund.


3. Die ſo vorbereiteten und motivirten Theile des Ganzen dürfen
ſich nicht zu ſpröder Selbſtändigkeit verdichten, nicht vereinzeln. Wie
im Gemälde die Wirkung der vollen Farben durch Uebergangstöne und
Helldunkel, alle Härten der einzelnen Körper durch den die Umriſſe
mildernden Schleier der Luftperſpective zu vermitteln ſind, wie die
Plaſtik die Härte des Knochens, Muskels, der Sehne durch lebendige
Nachahmung des Weichen in der Fettbildung und Haut auflöſen und in
Fluß bringen muß, ſo hat alle Kunſt dafür zu ſorgen, daß das Einzelne,
wie es auseinander hervorgewachſen, ſo auch wieder ineinander hinüber-
wachſe. Bald wird dieſe Ausfüllung der Fugen mehr durch die Behand-
[43] lung überhaupt, bald durch Einſchiebung neuer Theile zu vollziehen ſein.
Ihre tiefſte Bedeutung erhält ſie bei den Contraſten, deren Zuſammen-
ſtoß ſtark und hart ſein darf, aber auch ſeine Auflöſung finden muß.
Die Auflöſung der Contraſte kann in verſchiedenen Formen geſchehen.
Die erſte, unbeſtimmteſte iſt die Wirkung allgemeiner Medien, wie ſolche
ſo eben von der Malerei angegeben ſind; klar iſt dieß in der Muſik, in
der Poeſie kann man an den allgemeinen Zuſtand der Geſellſchaft und
Sitte denken, der Freund und Feind unter Einen Beleuchtungston befaßt.
Als beſtimmtere Form tritt ſodann die Milderung des gegenſätzlich
ſchroffen Contraſts durch den Contraſt des bloßen Unterſchieds auf: ſo wird
der dämoniſch ſteil aufgerichtete Richard III. mit der Menſchheit, welcher
er als directer Feind gegenüberſteht, wieder vermittelt durch die weniger
conſequent böſen, daher vom Menſchlichen und Guten weniger losge-
riſſenen Charaktere, die ihn umgeben, ſo ſteht zwiſchen Mephiſtopheles
und Margarete die verdorbene, aber nicht abſolut böſe Marthe, ſo
erſcheint Macbeth menſchlicher neben Lady Macbeth und umgekehrt iſt
dieſe durch Gattenliebe an die Menſchheit geknüpft. Der verwandte, aber
ſchwächere und anders ſchattirte Farbenton führt die grelle Farbe zur
Farben-Totalität hinüber. Eine weitere Form iſt die Aufſtellung eines
Theils, einer Perſon, Scene, Tongruppe, welche die diſſonirenden in ſich
zuſammenfaßt, indem ſie ausdrücklich an beiden Theil hat: ſo kämpft in Fauſt
das Böſe und Gute, er vermittelt den grellen Abſtich von Schatten und Licht
zwiſchen Mephiſtopheles und Margareten und der in ihr verhöhnten
Menſchheit; Banquo liegt zwar im Contraſte mit Macbeth, hat aber den
Reiz der Verſuchung wohl kennen gelernt und ſteht ſo zwiſchen ihm und
der mißhandelten Unſchuld als eine helle, doch an ſeinem Schatten theil-
nehmende Farbe; die Scene zwiſchen Maria Stuart und Eliſabeth in
Schillers Tragödie denke man ſich ohne die Gegenwart des alten
Shrewsbury, der Eliſabeths Rath und zugleich Mariens theilnehmender
Freund iſt: ſo wäre ſie grell bis zum Unerträglichen. Die höchſte Form
der Auflöſung iſt nun aber natürlich die der Bewegung, der Handlung:
die kämpfenden Gegner heben ihren Gegenſatz auf, indem ſie durchein-
ander leiden, am Böſewicht rächt ſich die menſchliche Natur, die beleidigte
Geſellſchaft, doch nicht, ohne daß die Guten für lange Willenloſigkeit
büßen, und es gilt im weiteſten Sinne der Satz: duplex negatio affir-
mat.
Man denke aber dabei keineswegs blos an das Tragiſche und
Dramatiſche, wir nehmen unſere Beiſpiele vorzüglich aus der höchſten
Kunſtform und können nicht jedesmal auf alle andern Kunſtformen Rück-
ſicht nehmen, ohne in allzuhäufige Vorgriffe zu gerathen; der folgenoe §.
muß ohnedieß den Gegenſtand ſogleich wieder aufnehmen.


[44]
§. 500.

1

Die ſo ſich herſtellende Einheit ſoll aber überhaupt eine lebendige ſein,
d. h. ſie ſoll das ſtufenförmig Verſchiedene, das gegenſätzlich oder unterſchiedlich
Contraſtirende in einem Fluße der Bewegung fortführen, worin die Glieder in
freier Entwicklung ungleich fortrücken, in beſtimmten Ruhepuncten ſtille ſtehen,
zuſammentreffen, dann, um neuen Reichthum zu entfalten, abermals auseinander-
gehen und endlich alle in Eine Wirkung befriedigt ſich ſammeln: ein Geſetz
des Rhythmus, welches durch das Ganze gehend in den Theilen als unter-
2geordneten Einheiten ſich wiederholen muß. In dem ſo belebten Ganzen wird
ſich, je reicher das Kunſtwerk, deſto ſichtbarer der nach den bisher aufgeſtellten
Compoſitionsgeſetzen gegliederte Inhalt durch drei Hauptabſätze bewegen, die
unter ſich durch anſteigende und abſteigende Linien wieder vermittelt ſind: den
Anfang, der die Entfaltungs-Keime aufzeigt, die Mitte, welche die Contraſte
entfeſſelt, den Schluß, der die Verwicklung löst.


1. Es darf hier aus der Lehre von den Künſten ſo viel voraus-
geſetzt werden, um auszuſprechen, daß alle Künſte die Strahlen Einer
Sonne ſind und daß ſie das, was in der Einheit der Kunſt an ſich
begriffen iſt, in einer Theilung auseinanderlegen, worin jede das Ganze
darſtellt, allerdings aber der einen Kunſtform mehr dieß, der andern
mehr jenes der im Ganzen liegenden Momente zur Erſcheinung zu brin-
gen obliegt: den bildenden Künſten die Geſtalt, der Muſik die Bewegung,
der Dichtkunſt die Einheit der Bewegung und der (hier nur der innern
Anſchauung vorgeführten) Geſtalt. Da nun das Compoſitionsgeſetz, in
welchem ſich hier die bisher aufgeſtellten vereinigen und worin wir den
Schluß der Anm. 3. zu dem vorherigen §. wieder aufnehmen, weſentlich
ein Geſetz der Bewegung iſt, ſo erhellt, daß es allerdings namentlich die
Muſik iſt, in welcher es ſeinen Ausdruck findet, aber eben in dem Sinne,
daß das rhythmiſch Bewegte in allen Künſten ſich in der Muſik entbin-
det
. Die Muſik ſtellt das verhüllte rhythmiſche Leben, das Bewegungs-
geheimniß in allen übrigen Kunſtformen heraus, gibt ihm ausdrückliche
Form, organiſirt es und leiht daher auch zur Bezeichnung aller in dieſen
Punct einſchlagenden Eigenſchaften jeder Kunſt das Allgemeine ihrer
Terminologie. Es iſt zunächſt der Takt, wodurch ſie die fortfließende
Tonreihe in wiederkehrende Einſchnitte theilt und in deſſen accentuirtem,
die Zeittheile durch die Gewichtverſtärkung des Einen Moments markiren-
dem Maaße ſie zugleich verſchiedene gleichzeitig erſchallende Töne, Stim-
men, Melodien, Kraftmaaße, Längen und Kürzen zuſammenfaßt; aber dieß
iſt nur erſt die abſtracte Seite, der lebendige Rhythmus iſt der Strom
des concreten muſikaliſchen Kunſtwerks, der einen Grundgedanken in reiche
[45] Gegenſätze, ſich zu Accorden auflöſende Diſſonanzen entwickelt, an ver-
ſchiedene Stimmen, Töne vertheilt, ſie wechſelnd und wieder ſammelnd
beſchäftigt, ſo daß hier die Bewegung pauſirt, zurückbleibt, während ſie
dort fortſchreitet, dann das Zurückgebliebene nachrückt und mit dem Vor-
geeilten ſich in einen Knoten, wie in ein ſtarkes, deutlich bindendes Gelenk
zuſammenfaßt, dann eine neue Theilung mit neuen Diſſonanzen, Tren-
nungen beginnt, um eine höhere, reichere Vereinigung vorzubereiten, und
ſo fort, bis der Grundgedanke völlig erſchöpft im Schluße alle Töne und
Tonreihen in Eins verſammelt. Nun ſtellen die bildenden Künſte zwar
ein ruhendes Bild vor das Auge, allein wie in der Natur ſelbſt die
Geſtalt nicht von Ewigkeit da war, ſondern ſich werdend baut, wie der
Künſtler ſein räumliches Werk aus dem Nichts erſt heraufführt, ſo reißt
der lebendig Schauende das fertige Werk gleichſam erſt wieder ein, um
es neu aufzubauen. Die Formen, Farben, Lichter kommen in Fluß,
thauen auf, um noch einmal zu gerinnen, ſie ſcheinen in dieſer belebten
Strömung zu klingen, kurz es iſt Muſik darin. Nur Ein Beiſpiel geben
wir, um nicht zu viel vorzugreifen, aus dieſem Gebiet, indem wir die
ſchon mehrfach erwähnte Laokoongruppe noch einmal aufnehmen. Feuer-
bach (D. vatic. Apollo S. 63) ſagt: „mit der Heftigkeit im Angeſichte
des Laokoon contraſtirt der mildere Ausdruck ſeiner beiden Söhne. An
ihnen bricht ſich der Schrei des Entſetzens, und die Gruppe wird ſtatt
eines gellenden Uniſono der harmoniſche Dreiklang der griechiſchen Plaſtik.“
Wir fügen zu dieſen claſſiſchen Worten noch Folgendes (zum Theil nach
Göthe „Ueber Laokoon“ W. B. 38): betrachtet man die Gruppe zuerſt
mit aufſteigendem Blick, ſo hat man in den beiden Söhnen zunächſt den
ſchon erwähnten milden Contraſt: der jüngere, tödtlich gebiſſen, ſinkt, den
rechten Arm noch hilfeflehend erhoben, zuſammen, der ältere rechts iſt
noch frei genug, um voll Schreck und Mitleid zum Vater aufzublicken:
in dieſem iſt ein Ruhepunct gegeben, wir athmen einen Augenblick
auf, es iſt ein Zuſchauer in der Gruppe ſelbſt, eine freiere, befreiende
Mitte. Zu dem Vater ſtehen beide in einem doppelten Verhältniß: in
dem des Contraſts, wie ihn Feuerbach bezeichnet, zugleich aber in dem
der Vorbereitung; in ihm iſt nämlich vereinigt, was in ihnen
getheilt iſt: eigene äußerſte Noth und Mitleiden, er wollte ſich ſelbſt und
den Kindern helfen und erhält ſo eben den tödtlichen Biß in die Hüfte;
zugleich Streben und Leiden, indem er mächtig arbeitend ſo eben erliegt.
So iſt in ihm Alles, was die Gruppe bewegt, zur höchſten Spitze zuſam-
mengefaßt, aber von dieſem Aeußerſten ſteigt Blick und Herz wieder
abwärts zu den Söhnen, um in dem rührenden Anblick Milderung der
Schrecken zu ſuchen. Dieſer Rhythmus iſt aber zugleich ein Rhythmus
der Linien: der Vater erhebt den rechten Arm, wie der jüngere Sohn;
[46] indem er die gebiſſene Hüfte krampfhaft einzieht, fährt er zugleich mit
dem ganzen Leib auf deſſen Seite hinüber, ſo bildet ſich ein herrſchender
Linienzug nach links (vom Zuſchauer), der ältere Sohn aber beugt ſich
aufſchauend rechts herüber ab von den zwei andern und löst ſo dieſen
Linienzug ergänzend auf. Wir überſpringen nun auch die Formen
der Dichtkunſt außer der dramatiſchen und zeigen nur an einem
Werke dieſer Gattung die ganze Bedeutung unſeres Geſetzes: an
Shakespeares König Lear. Im erſten Acte treten bereits die beiden
Gruppen auf, welche den Grundgedanken in verſchiedenen Farben, Tönen,
Melodien ausſprechen. Er enthält fünf Scenen, von welchen vier der
Familie Lears gewidmet ſind, eine der Familie Gloſters. Von den zwei
erſten Scenen nämlich ſtellt die erſte das Thema auf, wie es ſich in der
Familie Lears, die zweite, wie es ſich im Hauſe Gloſters darſtellt. Nun
aber, da die Begebenheit im letzteren Hauſe nur die im Sinne des Ton-
Contraſts verſtärkende, begleitende Stimme und Melodie darſtellt, ſchreitet
das Schickſal Lears in den weiteren drei Scenen für ſich fort; das
Schickſal Gloſters verſchwindet zunächſt und iſt überhaupt mit der Bege-
benheit im Hauſe Lears noch nicht verknüpft. Gloſters Thorheit iſt noch
nicht vollendet, Lears Thorheit iſt es, und da der Undank der Kinder
nur ganz die unmittelbare Kehrſeite ihrer Verwöhnung, der Leichtgläubig-
keit gegen ihre Schmeichelei iſt, ſo tritt auch bereits das ausgeſäte
Uebel ein: Lear wird von Goneril mißhandelt, das Ungewitter iſt ſchon
ausgebrochen, die Lichtpuncte, die Töne des Troſtes ſcheinen und klingen
zwiſchen das ausbrechende Chaos in der Treue Kents und des Narren,
der Hoffnung auf Cordelia. Im zweiten Acte rückt nun aber zuerſt die
zweite Gruppe, Stimme, Tonmaſſe, Melodie vor, der größere Theil der
erſten Scene iſt ihr gewidmet: Gloſters Thorheit iſt reif, er verſtößt den
guten Sohn, das Schickſal ſeines Hauſes rückt in gemeſſenen Schritten
dem Schickſale des königlichen nach. Unter 4 Scenen iſt je eine jenem,
eine dieſem gewidmet. In der zweiten Scene bereitet ſich die Mißhand-
lung Lears durch ſeine zweite Tochter vor, in der dritten ſehen wir Edgar
irren und in Verzweiflung zur Maske eines Tollhausbettlers greifen, in
der vierten folgt Lears ſchändliche Behandlung durch Cornwall und
Regan, er ſtürzt in die Sturmnacht hinaus, zum Wahnſinn reif, ſein
Schickſal iſt in raſcher Steigerung begriffen, die Töne des Schreckens
brauſen ſchon in wilderem Ausbruch heran. Gloſter leidet noch nicht,
aber in ſeinem verſtoßenen Sohn haben wir ſchon einen Genoſſen für
Lear, der in der Wüſte irrt, wie er. Zugleich tritt nun aber eine äußere
Verbindung beider verwandten Handlungen ein: Regan zieht Edmund an
ihren Hof, das Böſe ſoll ſich dadurch verdreifachen. Die Scene der
Mißhandlung Lears durch ſeine zweite Tochter geht in Gloſters Haus
[47] vor ſich. Im grollenden Sturme der allgemeinen Zerrüttung verſtärken
ſich aber nun auch die Lichtpuncte, die beſänftigenden Töne durch die
beſtimmtere Ausſicht auf die Hilfe der Cordelia. Der dritte Act ſtellt die
Mitte der rhythmiſchen Bewegung dar: er vereinigt alle Töne zur ſtärk-
ſten Wirkung. Man beobachte nun aber, wie in dieſem Aufzug, ehe
Lears Leiden ſeine Höhe ereilt und Gloſters Leiden beginnt, ein beruhi-
gender Accord vorangeht, der es der Bruſt möglich macht, den folgenden
Sturm auszuhalten, nämlich eben die gewiſſere Ausſicht auf Hilfe durch
Cordelia. In der erſten Scene ertheilt Kent einem Ritter Aufträge nach
Frankreich, das bereits ein Heer rüſtet, in der zweiten ſehen wir Lear
mit dem Narren auf der Heide im Sturm, ſein Geiſt beginnt bereits zu
ſchwindeln, aber dieſer Ton iſt nur erſt angeſchlagen, denn in der dritten
Scene ſoll erſt das beruhigende Moment ſich noch beſtimmter geſtalten:
Gloſter eröffnet ſeinem Sohn Edmund, daß bereits ein Theil des franzö-
ſiſchen Heeres gelandet iſt. Daran knüpft ſich freilich alsbald der Faden
des Verderbens für ihn, denn Edmund beſchließt, dieß dem Herzog Corn-
wall anzuzeigen, um durch ſeines Vaters Fall zu ſteigen. Jetzt erſt folgt
der entfeſſelte Sturm und Wirbelwind des Leidens. Lears Wahnſinn
bricht aus bei dem Anblick Edgars, der ſich in die Maske des Tollhaus-
bettlers geworfen hat, in der vierten, Edmund verräth ſeinen Vater in
der fünften, Lears wahrer, Edgars verſtellter Wahnſinn faſſet mit dem
tollen Humor des Narren um die Wette in der ſechsten, Gloſters ſcheuß-
liche Blendung im eigenen Schloße erfolgt in der ſiebenten Scene, wobei
aber auch der Schlächter Cornwall von Dienershand tödtlich verwundet
wird. Hier wechſelt alſo Scene um Scene die Fortführung des Uebels
im einen und andern der beiden Häuſer; Lears Leiden wird zwar noch
äußerlich, Gloſters Leiden noch innerlich wachſen, aber doch iſt der
Gipfel des Leidens erſtiegen, denn bei Lear iſt das innere Leiden das
fürchterlichere bei Gloſter das äußere. Wir haben einen furchtbaren
Dreiklang, indem Lear und Edgar zuſammengeſtellt werden und Gloſters
Blendung ſich dazu häuft: bei Lear eine innere, bei Gloſter eine äußere
Blendung infolge der moraliſchen Blindheit, und dazu das ſchauderhafte
Accompagnement von Edgars angenommener Maske der Auslöſchung des
Geiſteslichts. Auf der thätigen Seite iſt gleichzeitig das Böſe noch
gewachſen, aber auch die Ausſicht auf Herſtellung der ſittlichen Ordnung
ſtärker geworden. Im vierten Acte ſoll nun zwar das Böſe noch ſtärker
werden und ein Schauſpiel ſchauderhafter Art iſt dieſem Aufzuge vorbe-
halten: die Zuſammenſtellung der zwei Leidenden, Lears und Gloſters,
der unmittelbare Zuſammenklang dieſer zwei ſchrecklichen Tonmaſſen;
dennoch fühlt man, daß die Fläche ſich bereits neigt, daß das Wirrſal
ſich zu löſen beginnt; die Bruſt athmet leichter, denn das weitere Uebel,
[48] das man vorausſieht, iſt zugleich Selbſtzerſtörung des Böſen und Ende
zwar des Leidenden, aber auch ſeines Leidens; zugleich aber wächst das
Gute poſitiv, ein himmliſches Licht geht auf, ein wunderbarer Ton des
Friedens erklingt: Cordelia tritt wieder auf den Schauplatz. Dieſer
vierte Act hat ſieben Auftritte. Im erſten läßt ſich Gloſter von ſeinem
verſtoßenen Sohne, den er nicht erkennt, an den Felſen führen, von dem
er ſich ſtürzen will: ſein Leiden iſt zu einem innern geworden, aber die
Heilung iſt nahe. Die zweite führt uns in Albaniens Schloß; wir ſehen
durch die Eiferſucht Gonerils auf Regan um Edmund ein neues Ver-
brechen ſich vorbereiten, Edmund zum Heere ziehen, um gegen Lear und
Cordelia zu fechten; wir ſehen aber auch den Herzog Albanien verän-
dert, in ſich gegangen, überdrüßig des Böſen, wir hören, daß Cornwall an
ſeiner Wunde geſtorben. Der dritte und vierte Auftritt iſt es nun, der
den neuen Schrecken, die uns aufgeſpart ſind, jene verſtärkten Lichter
der guten Macht, der Milde, der ewigen Schönheit ſtärkend voranſchickt:
wir treten in das franzöſiſche Lager bei Dover, Kent iſt da, wir erfahren,
daß Lear hieher gerettet iſt, die Schilderung von Cordeliens Schmerz iſt
ein Gemälde wie aus Raphaels Pinſel, ſie tritt ſelbſt auf und befiehlt,
den in der Nähe umherirrenden König aufzuſuchen. Nun ſind wir
gefaßt auf neue Sturmwolken: wir treten mit dem fünften Auftritt in
Regans Schloß; dieſe ſpricht ihre Eiferſucht auf Goneril aus, zugleich
trägt ſie dem Haushofmeiſter auf, Gloſter zu tödten, denn: „wohin er
kommt, bewegt er die Herzen wider uns.“ Der ſechste Auftritt umfaßt
mit dem Entſetzlichen, das uns aufgeſpart iſt, ſo viel des Tröſtlichen, daß
man deutlich fühlt, wie weit man ſchon von dem vollen Wirbel des
Ungewitters entfernt iſt: Gloſter wird mit Lear nicht zuſammengeſtellt,
ehe er durch die bekannte Täuſchung und Enttäuſchung von ſeinem Sohne
Edgar, der ihm Böſes mit Gutem, nicht nur mit treuem Dienſte, ſondern
mit Reichung ſittlicher Arznei vergilt, innerlich geheilt iſt; nun können
wir es aushalten, wie der kindiſch geſchmückte Wahnſinnige dem Manne
mit den leeren blutigen Augenhöhlen begegnet, wie da die zwei von
Kindeshand geſchlagenen Väter beiſammenſtehen. In die ſcharf und weit
aufgeriſſene Wunde fließt aber raſch das Oel der neuen That Edgars,
welcher Oswald erſchlägt und ſo den Vater phyſiſch rettet, nachdem er
ihn moraliſch gerettet hat. Edgar iſt nun auf gleiche Höhe mit Cordelien
getreten, zwei Edelſteine gleicher Reinheit, verſchiedener Farbe leuchten
aus dem Dunkel. Und nun, im ſiebenten Auftritt, wo der ſchlafende
Lear in Tochter-Armen erwacht, werden jene Worte der Liebe gehaucht
zwiſchen dem erquickten Lebensmüden und der unendlichen Kindesliebe,
ertönen jene Mollklänge, die den Schmerz ſchon in ſanfte Thränen löſen.
Im fünften Acte folgt nun allerdings auf alles ſchon Erduldete noch ein
[49] tragiſcher Untergang, aber jedes äußere Uebel führt ſeinen inneren Troſt
mit ſich, das Böſe zerſtört ſich ſelbſt, das Gute ſiegt im ſcheinbaren Erlie-
gen als innere und öffentliche Macht. Die erſte Scene kündigt durch die
Rüſtungen zur Schlacht die Nähe der Entſcheidung an, aber wir erfahren
auch, daß Albanien, ganz zum Guten gewendet, nur mitwirkt, weil es
Frankreich iſt, das Britannien mit Krieg überzogen hat, und wir ahnen
in Edgars verſchloſſenem Briefe die Vorbereitung einer That rächender
Gerechtigkeit gegen Edmund, der allerdings ein neues Verbrechen gegen
Lear und Cordelia ausbrütet. Der kurze zweite Auftritt zwiſchen Edgar
und Gloſter dient zunächſt äußerlich dazu, daß wir das Ergebniß der
Schlacht, die Niederlage der Franzoſen erfahren ſollen, zugleich aber
erſcheint Edgar noch einmal als der Sprecher heilſamer Lehre für Gloſter,
den wir nicht mehr ſehen ſollen. Der große dritte Auftritt zerfällt nun
in folgende Gruppen: Lear und Cordelia, in’s Gefängniß geführt, ſüße
Worte der Liebe im Unglück wechſelnd, ein tief wehmüthig ſchönes Bild;
ſodann Edmunds Zweikampf mit Edgar, ſein Erliegen, damit verwoben
Regans Tod durch Gift ihrer Schweſter und Gonerils Selbſtmord; aber
dem Untergang des Böſen folgt, zu ſpät bereut, die Vollſtreckung eines
tückiſchen Anſchlags: Cordelia wird die Märtyrinn ihrer unendlichen Liebe,
Lear liſcht aus und von Gloſter erfahren wir dasſelbe; beiden Greiſen
iſt der Tod Wohlthat. Auf dieſe drei Sätze voll von furchtbaren, aber
auch milden Klängen folgt der Schluß, der die Heilung der Leiden des
Staats in ſichere Ausſicht ſtellt. Wir überlaſſen es dem Muſik-Kundigen,
dieſen organiſchen Strom durch alle ſeine Momente beſtimmter mit dem
Rhythmus eines großen Tonkunſtwerks zu vergleichen, und bemerken nur
noch, daß die Forderung des §., wonach der Rhythmus, der durch das
Ganze geht, auch in den Einzeltheilen herrſchen ſoll, nach dieſem Beiſpiel
keiner weitern Erläuterung bedarf. Geiſtreiche Gedanken über den Rhyth-
mus in der Compoſition gibt Lotze: Ueber Bedingungen der Kunſtſchönheit.


2. Durch dieſe rhythmiſche Bewegung des Kunſtwerks zieht ſich ein
Zahlengeſetz, das natürlich nur da beſtimmter erkennbar wird, wo ſich
jenes zu einem reich gegliederten Ganzen entwickelt. Es erſcheint im
Großen als ein Fortſchritt von 1 zu 2, von 2 zu 3, von 3 zu 5.
Thierſch (a. a. O. §. 31) hat das Verdienſt, dasſelbe angedeutet in
der unorganiſchen Natur, beſtimmt ausgedrückt in der organiſchen und
geiſtigen und ſo in der Kunſt zur Klarheit entwickelt aufgewieſen zu
haben. Auf umgekehrtem Wege können wir von den höchſten Kunſtformen
ausgehen und an das Wort des Ariſtoteles (Poëtik §. 18, 1.) anknüpfen,
daß die Tragödie in die zwei Theile: Schürzung und Löſung des Knotens
zerfalle. Nachher (23, 1.) verlangt er vom Epos wie von der Tragödie,
daß es eine vollendete Handlung darſtellen müße, welche Anfang, Mitte

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 4
[50]und Ende habe, damit ſie wie Ein ganzes lebendiges Weſen das ihr
eigenthümliche Vergnügen bewirke. Unter der Mitte, welche hier zwiſchen
die in der erſten Stelle unterſchiedenen zwei Theile tritt, kann nichts
Anderes verſtanden ſein, als der Gipfel der Schürzung auf dem Punkte,
wo der Umſchwung eintritt, dem nun die Vorbereitung vorangeht und die
Löſung nachfolgt. Allein dieſe Mitte iſt ſo reich, daß ſie ſich in mehrere
Momente zerlegen muß: der Anfang iſt die gegebene Situation mit dem
Keime der Colliſion, nun müßen ſich dieſe Keime entfalten, verwickeln,
der Kampf muß ausbrechen, ſeine Höhe erreichen und dann erſt erfolgt
der Umſchwung. Dieß iſt die anſteigende Linie, von welcher der §.
ſpricht. Steigt dieſe Linie raſcher an, ſo kann es dagegen durch die Idee
des Kunſtwerks gefordert ſein, daß die abſteigende Linie, welche von der
Kataſtrophe zum Schluße führen muß, langſamer ſinke, der Zuſchauer bei
der Löſung mehr verweile. In der Tragödie begründet dieſe an- und abſtei-
gende Linie zwiſchen Anfang und Mitte und Mitte und Ende ſehr naturgemäß
mit jenen 3 Hauptmomenten 5 Acte und die Kataſtrophe fällt entweder in
den vierten oder fünften. Dieß iſt nun aber ein ganz natürliches orga-
niſches Zahlenverhältniß, das ſich am menſchlichen Organismus in den
5 Fingern und Zehen ausſpricht, und ſo ſtellt dieſer überhaupt und ähn-
lich der thieriſche Leib den Fortſchritt von 2 zu 3 und zu 5 ganz einfach
in ſeinen Grundverhältniſſen dar, wie Thierſch nachweist: die 2 in der
ſymmetriſchen Theilung in 2 gleiche Seiten, in dem Gegenſatze von Leib
und Haupt oder von Haupt mit Rumpf als dem Getragenen und den
Füßen als Tragendem; die 3 in Haupt, Rumpf, Füßen, am Haupt für
ſich in Kinn mit Mund, Naſe mit Backen, Augen mit Stirne, am Rumpf
in Unterleib, Bruſt mit Schulter, Hals, in den drei Hebeln der Bewe-
gungsorgane im Großen (Armen und Beinen) und wieder an der Hand
in Knöchel, Handfläche, Fingern, am Fuße in Ferſe, Fläche, Zehe, endlich
in den drei Gelenken der Finger und Zehen, an denen dann die genannte
5 eintritt: dieſe Theilung der Bewegungsorgane entſpricht dem dreifachen
Zwecke des Bewegens, Biegens, Greifens (Feſthaltens, Abſchnellens).
In jeder phyſiſchen Bewegung weist er drei Momente nach; im
Organismus der Pflanze findet er die 2 in Wurzel mit Stamm
und Krone, die 3, wenn Wurzel und Stamm unterſchieden werden,
und ſelbſt im landſchaftlichen Leben überhaupt unterſcheidet er in
Erde und Himmel die 2, in Fläche, Berg und Himmel die 3 u. ſ. w.;
dieſelben Momente ſucht er im geiſtigen Prozeſſe nachzuweiſen, worauf
wir nicht weiter eingehen, da wir die tiefere und beſtimmtere Ent-
wicklung derſelben durch die neuere Philoſophie hier überhaupt als
bekannt vorausſetzen. Wir ſind von der höchſten Kunſtform aus-
gegangen und haben uns von da zu Naturformen abgeſehen von
[51] der Kunſt gewendet. Dieſe Naturformen treten aber nicht nur als
Stoff gewiſſer Künſte auf und dieſe müſſen den Tact ihrer Gliederung
noch beſtimmter ins Licht ſtellen, als er in der Natur hervortritt, ſondern
auch abgeſehen von dieſer Nachahmung (man denke z. B. im Landſchaft-
bild an Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, welche nur in der künſt-
leriſchen Auffaſſung ſich ſo beſtimmt voneinander abheben) und gerade in
den Künſten, die nur in ſehr entferntem Sinne nachahmende ſind (Bau-
kunſt und Muſik), wird ſich ein Zwei- Drei- und Fünfſchlag unſchwer
aufweiſen laſſen: in der Baukunſt als Tragendes, Getragenes, Abſchluß
(im Giebel u. ſ. f.), im Muſikwerk als Eingang, Entfaltung, Löſung
u. ſ. w.


§. 501.

Endlich wird im blos innern Bilde die äußere Begrenzung des ſo von
innen heraus geordneten Kunſtwerks nicht ſcharf genug beſtimmt ſein. Das
Geſetz der feſten Begrenzung hindert nun zwar nicht, daß eine Andeutung
der in’s Unendliche auslaufenden Vielheit der Erſcheinungen aus demſelben
Gebiete, aus welchem das Kunſtwerk einen ſtreng geſchloſſenen Ausſchnitt gibt,
an der Grenze hinſchwebe; aber durch dieſen Fernblick wird die Bedeutung des
Ganzen als eines Mikrokosmus, der den unendlichen Fluß der Dinge durch-
ſchneidend ein Einzelnes als reine Erſcheinung des Allgemeinen hinſtellt, nicht
aufgehoben.


Der Inhalt dieſes Geſetzes iſt nicht zu verwechſeln mit dem, was
in §. 495 aufgeſtellt iſt. Dort war die Rede von der innern Begren-
zung und Genüge des Kunſtwerks, von der Idee, wie ſie ſowohl ein
Zuwenig, als ein Zuviel der Einzelbilder im innern Entwurfe zu
tilgen gebietet; jetzt nehmen wir an, daß alles Weſentliche geordnet und
erfüllt ſei, ein Zug zu wenig oder zu viel in der Darſtellung der Grund-
Idee geht uns hier nicht mehr an und das Capitelchen, das Leſſing
zum Schluſſe von Werthers Leiden ſich noch ausbat, war, wenn es der
Dichter wirklich ſchuldig geblieben, ein Verſtoß gegen jenes höhere, nicht
gegen das jetzt vorliegende Geſetz. Die Sache iſt dieſe: das Kunſtwerk
deutet (freilich nicht in jeder Kunſtform ſo ſichtbar, wie in der Malerei,
Muſik, Poeſie) an, daß es aus der unendlichen Vielheit der Dinge ein
Einzelnes, einen Moment gefeſſelt hat. Dieſer Ausſchnitt gilt jetzt für
das Ganze; ſtreng genommen erkennt das Kunſtwerk nicht an, daß in dieſem
Gebiete es außer dem dargeſtellten Individuum noch andere gibt, denn
ſein Individuum iſt oder ſeine Individuen ſind abſolut, ſind Repräſentanten.
Dennoch kann und will es nicht verbergen, daß ſein Individuum auf eine

4*
[52]unbeſtimmte Menge von Individuen derſelben Art hinausweist. Im Reineke
Voß gibt es eigentlich nur Einen Löwen, Haſen, Fuchs u. ſ. w. mit ihrer
reſpectiven engeren Familie; dennoch treten auch die Vetter und Baſen auf
und es ſtört die Illuſion nicht, daß neben dem Einen Exemplar ſich auch die
Menge zeigt, die es repräſentirt. So iſt im Landſchaftgemälde durch
verſchwindende Fernen, Berge, Ebenen, Baummaſſen angedeutet, daß der
Ramen nicht wirklich die unendliche Welt einſchließt, in der Muſik iſt
jeder Ton Glied einer unendlichen Kette, die über das vorliegende Kunſt-
werk hinausliegt, und das Finale ſcheint oft zu zweifeln, wo in der
angeſchlagenen Tonfolge es Halt machen wolle, im Drama ſind am Ende
des Gewebes die Fäden ſichtbar, die auf den in der Wirklichkeit fortlau-
fenden Fluß der Geſchichte hinausweiſen; die bekannte Frage über die
Unbeſtimmtheit des Abſchluſſes im Epos wollen wir hier nicht beiziehen,
weil ſie in der That zu ſpeziell iſt. Dieſer an den Grenzen des Gewebes
ſichtbare Zettel iſt die an ſich unſchädliche Reminiſcenz an die Wirklich-
keit als einen unendlichen Fluß (§. 10 und 11). Unſchädlich: denn daß in
dieſem endloſen Verlauf die Idee anseinandergezogen iſt in jene Breite,
wo das Schönſte nicht wahrhaft ſchön, ſondern mit dem ſtörend Häßlichen
vermiſcht, daß daher ein wirklich ſchöner Ausſchnitt aus dieſem äußerlich
Unendlichen eine Täuſchung iſt, das vergißt der Zuſchauer über der Macht
der Behandlung, welche auch die äußerſten, an der ſinnlichen Grenze des
Kunſtwerks liegenden Theile zuſammenfaßt in die Licht- Farben- Linien-
Ton- Handlungs-Einheit des Ganzen. Ein gutes Porträt z. B. zeigt
ein Individuum in ſeinem wahren Sein; doch fehlen die Einzelnheiten
nicht, die uns geſtehen, daß in der Wirklichkeit dieſes Individuums ein
ſolcher abſoluter Moment, wo es ganz iſt, was es iſt, nicht gegeben iſt,
daß es hiezu jener Zuſammenziehung (§. 53) bedurfte; zudem iſt es ja
unſerem Bewußtſein ganz gegenwärtig, daß außer dem Bilde das wirk-
liche Individuum mitten in den unendlichen Abhängigkeiten der unerbitt-
lichen Realität lebt oder lebte; allein der Genius ſeines Lebens, ſein
leuchtendes Urbild, vom Künſtler geſchaffen, ſteht zwiſchen uns und ihm und
hält es gleichſam mit bergendem, rettendem Arm umfaßt, reſorbirt gleich-
ſam in jedem Momente das ſo eben auftauchende Bild ſeiner gemeinen
Wirklichkeit. Daher tragen wir auch nach beendigter Anſchauung des
Kunſtwerks ſeine erlöſende Kraft hinein in das von ihm erfaßte Gebiet
des Lebens, wenn wir, von jenem noch durchdrungen, es betreten: wir
kennen ſeine Mängel, aber der verklärende geiſtige Schleier liegt noch
friſch darüber. Im erſten Schritte zur Ausführung nun aber, in der
Skizze, wird es ſich finden, daß das innere Bild, obgleich einerſeits noch
zu dünn und idealiſtiſch, andererſeits an ſeinen Rändern hin zu viel
Breite des Stoffes hat, um ſie in die geiſtige Einheit ſo zu befaſſen, daß
[53] der Zuſchauer hinlänglich abgehalten iſt, an die breite und unreine
Selbſtändigkeit des Lebens neben dem Kunſtwerk ſich mit einer der
Täuſchung ſchädlichen Beſtimmtheit zu erinnern. An dieſer Landſchaft
eine Spanne Wald, Land, Waſſer, in jenem Sittenbild oder geſchichtlichen
Bild ein paar Figuren oder eine angedeutete Maſſe Figuren, in dieſem
Muſikwerk eine Tonreihe im Finale, in jenem Drama eine Scene muß
weggeſchnitten werden, denn der Künſtler fühlt, daß dadurch eine Breite,
eine Lagune entſteht, welche an die Stelle der idealen Perſpective eine
ſchwungloſe, matte ſetzt. Hätte z. B. Shakespeare am Schluſſe des Lear
nicht blos angedeutet, daß die Uebel des brittiſchen Staats geheilt werden
ſollen, ſondern noch eine oder ein paar Scenen eingeführt, worin Hand-
lungen zu dieſem Zweck dargeſtellt geweſen wären, ſo hätten wir uns zu
beſtimmt erinnert, daß dieſer Staat ja in der Geſchichte fortdauerte, daß
auf dieſe Herſtellung neue Störungen folgen mußten u. ſ. f.: wir hätten
uns dann in der Geſchichte mit all ihren Fragen befunden, ſtatt in der
Poeſie. Der Ramen iſt nicht zufällig, die äußere Grenze iſt die ſichtbare
Beruhigung des Ganzen, das ſich von ſeinem Kern bis zu dieſer und
keiner andern Grenze erweitern mußte. Es iſt klar, wie dieſes Geſetz von
dem Ausſcheiden alles Stoffartigen ſich unterſcheidet: wir nehmen hier an,
daß die weiteren Stellen an der Grenze, welche ſich als überflüßig er-
weiſen, an ſich ganz künſtleriſch behandelt wären, daß ſie aber trotz dieſer
Behandlung das Austönen des Ganzen über das Maaß verlängern.


2.
Die Bedingungen ihrer Freiheit: das Verhältniß des
Künſtlers zum Zuſchauer
.

§. 502.

Von den drei in §. 492 zuſammengeſtellten Anforderungen an den Künſtler1
kommt die erſte, die Rückſicht [auf] den Zuſchauer, vorzüglich bei der Conception
und Compoſition in Betracht. Sittlich betrachtet ſoll dieß Verhältniß die
2
Reinheit bewahren, daß die allgemeine Verpflichtung des Künſtlers (§. 487)
nie zur unfreien Abhängigkeit vom Publikum wird, ſondern in der Wechſel-
wirkung zwiſchen beiden die Kunſt ihre Selbſtändigkeit als bildende und
leitende Macht behauptet; es handelt ſich aber allgemein von den Bedingungen,
unter welchen ſich die künſtleriſche Thätigkeit frei bewegen kann.


1. Es ſind die Anforderungen des Zuſchauers, des auf’s Neue her-
vortretenden Naturſchönen und des Materials, zwiſchen die wir in §. 492
[54] den Künſtler hineingeſtellt haben. Dieſe drei Gläubiger begleiten ihn auf
dem ganzen Wege vom Entwurfe zur Ausführung, alſo auch bei der
organiſirenden Thätigkeit, die wir ſo eben betrachtet haben. So kann, um
die zweite Bedingung zu erwähnen, Vorrath oder Mangel an einer gewiſſen
Gattung von Naturſchönheit (z. B. Modellen) auf die ganze Conception
und Compoſition fördernd, hemmend, in ein anderes als das zuerſt beab-
ſichtigte Bett leitend einwirken, ſo kann die Art eines gegebenen Materials
ſchon im Anfange des Entwurfs die Richtung beſtimmen; klar aber iſt,
daß, unbeſchadet des fortdauernd gleichzeitigen Einwirkens aller drei Be-
dingungen, doch die erſte, die Stellung zum Publikum, gerade bei dem
geiſtigſten Theile der Arbeit, dem erſten Wurf und der Compoſition,
ganz weſentlich bedingend im fördernden oder hemmenden Sinne ſich
geltend macht, daß alſo hier der Ort iſt, wo dieſe Seite dargeſtellt werden
muß. Die zwei andern Anforderungen erledigen ſich dagegen in beſondern
Abſchnitten und begründen im Wege zur eigentlichen Ausführung beſtimmte,
weitere Momonte, wobei ſich jedoch allerdings zeigen muß, daß ſie auch
auf die erſten, hier vorliegenden Schritte beſtimmend einwirken. Auch
dieſes Gebiet iſt im Syſtem der Aeſthetik bis jetzt noch wenig beleuchtet;
Hegel hat unter der Aufſchrift: „die Aeußerlichkeit des Ideals im Verhält-
niß zum Publikum“ im 1. Theil ſ. Aeſth. die Frage über die ſog. hiſtoriſche
Treue abgehandelt, die wir in §. 400 erörtert haben. Andeutungen über
das, wovon im gegenwärtigen Zuſammenhang die Rede iſt, über die
Beſtimmung der künſtleriſchen Thätigkeit durch einen äußern Willen u. ſ. w.
giebt Schleiermacher a. a. O. S. 264 ff.


2. Die zwei Standpuncte, die der §. durch „ſittlich betrachtet“ und
„es handelt ſich aber allgemein“ u. ſ. w. unterſcheidet, verhalten ſich ſo,
daß unter jenem eine Pflicht ausgeſprochen wird, unter dieſem aber das
Ganze der Verhältniſſe, in das die Kunſt hineingeſetzt iſt und das auf
einem Geſchlinge von Bedingungen beruht, zu denen allerdings weſentlich
auch der Zuſtand des ſittlichen Lebens gehört und mit dieſem alles Factiſche,
was gegenüber jener Pflicht von der Kunſt, wie ſie der Einzelne antrifft,
gethan oder unterlaſſen iſt: alſo das Ganze des geſchichtlichen Zuſtands,
wie er dem Einzelnen die Erfüllung jener Pflicht, der Kunſt ihre Freiheit
zu bewahren, erleichtert oder erſchwert. Wir geben jedoch weder unter
jenem Standpunct eine Künſtlermoral, noch unter dieſem eine Geſchichte
des Verhältnißes der Kunſt zum Publikum. Die gründliche Erledigung
jenes Standpunctes nämlich müßte Gegenſtand einer beſondern ethiſchen
Abhandlung ſein, die freilich eine höchſt bedeutende Aufgabe und wünſchens-
werthes Werk wäre; die Aeſthetik muß ſich darauf beſchränken, den
leitenden Gedanken aufzuſtellen, und der §. ſpricht ihn einfach dahin
aus, daß die Schuld der beſondern Phantaſie an die allgemeine nie zur
[55] Knechtſchaft werden darf. Dieſe Schuld iſt ja in Wahrheit eine Ver-
pflichtung, der Maſſe zu geben, was ſie nicht hat: die ideale Geſtalt,
nicht von ihr zu entlehnen, was ſie hat, um es ihr mit einiger Aus-
ſchmückung zurückzugeben, ſei nun Eitelkeit oder gemeine Habſucht das
Motiv. Die Kunſt als ideale Thätigkeit gehört weſentlich zu den großen
geiſtigen Sphären, welche nach der einen Seite zwar der edelſte Auszug
aus dem Vorhandenen, aber nach der andern Seite die großen Hebel
ſind, welche, indem ſie den Kräften eines Volks und einer Zeit Ausdruck
und Bewußtſein geben, weſentlich neue Bahnen eröffnen und die Menſch-
heit mit gewaltiger Hand vorwärts führen. Beſonders belehrend über
dieſe doppelte Stellung der Kunſt, das Publikum und ſeine Gunſt zu
bedürfen und doch über ihm ſtehen zu ſollen, iſt die Schauſpielkunſt
und ihre Geſchichte. — Die [folgenden] §§. entwickeln hauptſächlich den
zweiten, allgemeineren Standpunct, in welchem jener ethiſche als eine
einzelne Seite enthalten iſt; ſie geben eine kurze Ueberſicht der allgemei-
nen Zuſtände, betrachtet unter der Frage, welches die Stellung des Künſt-
lers zu denen, für die er arbeitet, ſein muß, wenn dieſe Arbeit frei ſein
ſoll. Die Betrachtung iſt keine eigentlich geſchichtliche, entnimmt aber die
verſchiedenen Wendungen, die jene Stellung nehmen kann, natürlich der
geſchichtlichen Erfahrung.


§. 503.

In dem naturgemäßen Zuſtande, wo die Kunſt eine nationale (§. 423)1
und öffentliche iſt, wird die Freiheit jener Thätigkeiten weder durch die
Herrſchaft der mythiſchen und ſagenhaften Stoffe (§. 417), noch durch die
verbreitete Auffaßungsweiſe gehemmt; der Unterſchied von Kennern und
2
Nichtkennern beſteht in gewiſſem Sinn, aber er begründet keine Kluft und die
gleichzeitige Rückſicht auf beide, ſowie der natürliche Wettſtreit mit den
Kunſtgenoßen, fördert anregend und belebend den Künſtler im innern Bau
ſeines Werks.


1. Im zweiten Theil §. 423 wurde das Verhältniß der Kunſt zum
Publikum in ſeiner organiſchen Geſundheit einfach hingeſtellt, die Kunſt
als die Frucht der Geſammtkräfte eines Volks und Zeitalters, als die
geiſtige Zuſammenfaßung des Lebens bezeichnet, die dieſem ſein eigenes
unendlich erhöhtes Bild zurückgibt. So ſoll es ſein, ſo war es in guter
Zeit; jetzt aber gehen wir von da aus, um nachher auch unlebendigere,
verwickeltere Zuſtände ins Auge zu faßen. Dieſe gute Zeit war das
Alterthum und Mittelalter, die Zeit, wo die allgemeine Phantaſie der
beſondern durch Aufbau jener zweiten Stoffwelt vorarbeitete, welche ſich
[56] zwiſchen dieſe und die urſprüngliche Stoffwelt legte (vergl. §. 416 ff.); das
moderne Ideal, wo dieſe Zwiſchenwand wegfällt, iſt noch im Werden
begriffen und mehr das Schwierige, als der Vortheil dieſes neuen Ver-
hältnißes liegt bis jetzt zu Tage. Da entſteht nun im gegenwärtigen
Zuſammenhang die ſpeziellere Frage, ob nicht jenes frühere naive Ver-
hältniß näher betrachtet vielmehr eine Bindung ſei, welche die freie
Thätigkeit in Conception und Compoſition hemme? Immer dieſelben
Götter, Heroen, Heroenſagen, immer Maria, Chriſtus, ſein Leben und
Tod, immer dieſelben Heiligen: iſt bei ſolchem durchgängigen Gegeben-
ſein des Stoffes noch freie Compoſition möglich? So gewiß iſt ſie es,
als die erſte Erfindung, die Erzeugung des innern Ideals, wovon die
Abtheilung A, b. im zweiten Abſchnitte des zweiten Theils handelte, dabei
völlig frei bleibt. Es hieß in §. 418, die zweite Stoffwelt ſei zugleich
Vorſchub, Zuwachs und Verluſt, Hinderniß. Das Letztere gilt aber mehr
der Verengung des Horizonts, der quantitativen Verkürzung an Stoffen,
die man erſt fühlt, wenn die unendliche Welt ohne Mythus ſich vor dem
Auge aufſchlägt, und auch dann führt der Verluſt der alten Stoffwelt
zuerſt eine Erſchütterung mit ſich, die das Bewußtſein in ein irrendes
Schwanken zwiſchen den unendlichen neuen Stoffen wirft, ſo daß es den
Wald vor Bäumen nicht ſieht (vergl. §. 469), und wie die Erfindung,
ſo ſcheint auch die Compoſition gerade durch die neue Freiheit, die ohne
Vermittler an den Roh-Stoff des Lebens gewieſen iſt, zunächſt mehr erſchwert,
als erleichtert. In jenen Zeitaltern waren die Stoffe nicht nur gegeben,
ſondern auch bis auf einen gewißen Grad von der Volksphantaſie äſthetiſch
zubereitet. Dieſer halbreife Stoff hatte nun aber gerade noch die rechte
Empfänglichkeit, um durch die beſondere Phantaſie unendliche neue Formen
anzunehmen, und es war dadurch der Compoſition ſtatt eines Hemmſchuhs
der gewaltige Reiz des Wetteifers mit den Vielen gegeben, die denſelben
Stoff ſchon behandelt hatten. Der Reiz lag eben darin, daß der Genius den
bereits ſo oft behandelten Stoff noch einmal zum bildſamen Roh-Stoff
herabzuſetzen ſich erkühnte. Schillers Aeußerungen über dieſen Vortheil
der alten Künſtler, Göthes große Noth mit den Stoffen und Zweifel, ob
er den rechten ergriffen, ſind bekannt. Ebenſowenig hemmte den Künſtler
die verbreitete Auffaßungsweiſe, die der §. nur darum noch nicht mit dem
eigentlichen Worte Styl benennt, weil dieſer Begriff noch nicht erläutert iſt.
Wir ſtreifen hier dieſen Gegenſtand nur erſt von der Seite der ſubjectiven
Freiheit des Künſtlers und können ſoviel allerdings vorläufig ſagen: es
iſt ſchon aus der Geſchichte der Phantaſie oder des Ideals klar, daß die
äſthetiſche Anſchauung der Zeiten und Völker jedem Stoff einen ihrem
Weſen entſprechenden Hauch, Wurf, Schnitt geben muß, den nun der
einzelne Künſtler als unbedingt gültig vorfindet. Stört ihn auch dieß nicht
[57] im freien Componiren? Beſtimmte Grenzen ſind hier allerdings zu ziehen.
Einmal: ſo lange dieſe herrſchende Haltung das Belebte und Beſeelte
der Darſtellung in architektoniſcher Weiſe feſſelte, blieb freilich der Compoſition
wenig Spielraum, und auch als dieſe Starrheit der Anordnung ſich lüftete,
der Geiſt der Behandlung jedoch von einem nicht rein äſthetiſchen Geſetze
beherrſcht blieb, war die, obwohl ſchon freiere, Compoſition immer noch
in gewiſſe Grenzen der Unfreiheit gebannt, denn wie kann ich z. B. im
Gemälde den Contraſt der Ruhe und Leidenſchaft entfalten, wenn ein
devoter Bann alle leidenſchaftliche Bewegung von den Figuren ausſchließt?
Dieſe Hemmung des Künſtlers iſt jedoch keine von außen gegebene, er iſt
ein Kind derſelben Zeit und Anſchauung, er bindet ſich ebenſoſehr ſelbſt,
als er gebunden wird. Da aber der Geiſt in ihm freier wirkt, als in
der Maſſe, ſo wird auch der Moment eintreten, wo er dieſe Schranken
durchbricht, und nachdem ſie durchbrochen ſind, bleibt von jenem herrſchen-
Haltungs-Geſetze nur noch ein zarter Schleier, der unbeſchadet der individuellen
Freiheit in der Kunſt-Thätigkeit ſich über die Anſchauung legt. So hat
in Italien ſchon Duccio von Siena die architektoniſche Compoſition durch-
brochen, aber noch Raphael hat bei voller Höhe der freien Erfindung und
Compoſition den myſtiſchen Hauch und einen gewiſſen Geiſt der Gebunden-
heit des Mittelalters erſt in ſeinen ſpäteren Werken zurückgelegt. Daß
aber in den Zweigen der Kunſt, welche an ein mathematiſches Geſetz durch
ihr Weſen gebunden ſind, der Styl einer Zeit die freie Compoſition nicht
aufhebt, beweist die unendliche Fruchtbarkeit innerhalb derſelben Grund-
formen in der gothiſchen Baukunſt, beſonders dem Ornament.


2. Kunſtkenner gab es in Zeiten, da die Kunſt ein organiſcher Zweig
des öffentlichen Lebens war, im jetzigen Sinn eigentlich nicht. Die Kluft
der Stände war nicht ausgebildet; es gab einen Unterſchied der Bildung,
einen Gegenſatz von Wiſſenden und Nicht-Wiſſenden, aber verglichen mit
der modernen Zeit waren ſie alle miteinander naiv, erfreuten ſich an
denſelben Stoffen, an derſelben Auffaßung und es gab keine Kunſtliteratur.
Im Mittelalter wirft ſich allerdings die Adelspoeſie mit ihren romaniſchen
Stoffen in Gegenſatz gegen die Volksdichtung, gerade jene machte aber
an die Compoſition nicht zu viel, ſondern zu wenig Anforderung; die
Stoffe der bildenden Kunſt waren für das äſthetiſche Bedürfniß aller
Stände dieſelben. Als Kunſtkenner ſind in ſolcher Zeit dem Künſtler
gegenüber nur theils die übrigen Künſtler, theils die obwohl nicht weſent-
lich abweichend von der Volksbildung, doch feiner Gebildeten anzuſehen;
der Künſtler wird ihre ſtrengeren Forderungen im Auge haben, er
wird ſich, wie ſie, auch in einzelnen Maximen Rechenſchaft von
den Kunſtgeſetzen geben, allein es gibt keine Kunſtwiſſenſchaft, keine
literariſche Kritik, der Künſtler ſchwimmt mit jenen Einſichtigeren ſammt
[58] dem Volke in demſelben Elemente allgemeiner Unbefangenheit, er will ihnen
Freude machen und macht ihnen Freude; die relativ größere Beſtimmt-
heit ihrer Forderungen kann ihn daher nur heben und fördern. Auf dieſer
allgemeinen Grundlage lebendiger Einheit der Kunſt mit dem Volksgeiſte
war das in Griechenland von der Gymnaſtik aus durch alle Künſte ver-
breitete Prinzip der Agoniſtik etwas ganz Anderes, als die modernen
Concurſe. Das Urtheil über den Kunſtwerth der Wettſtreiter war der
Ausdruck des im Volke lebenden Kunſtſinns, der Preis war Ehre und
Ruhm des Siegers und ſeiner Vaterſtadt, das Geſchenk nur das Zeichen
davon. In ſo naturvollen Verhältnißen iſt der Ehrgeiz ein durchaus
edler und großartiger Sporn der Kunſt, der fruchtbare Reiz der allge-
meinen Oeffentlichkeit des Lebens für die künſtleriſche Phantaſie; der
Feſtjubel eines Volkes ſchwebt weckend und begeiſternd bei der Er-
findung und Entwerfung des Kunſtwerks vor dem innern Auge und
feuert zur höchſten Entfaltung aller Kräfte an.


§. 504.

Das einzelne Kunſtwerk entſteht auch in dieſem organiſchen Lebenszuſtande
der Kunſt ſeltener durch den unmittelbar zufälligen Anſtoß des Naturſchönen
(§. 393), als durch Beſtellung. Vorausgeſetzt aber, daß der Künſtler keine
Beſtellung annimmt, deren Gegenſtand er nicht ſofort zum innern Motiv erheben
kann, ſo iſt dadurch die Zufälligkeit, wie ihrer das künſtleriſche Schaffen bedarf,
keineswegs aufgehoben, ſondern nur auf eine andere Stelle gelegt und daher
die Freiheit deſſelben keineswegs gehemmt. Jene Beſtellungen gehen meiſt von
Gemeinſchaften aus und in ihnen ſteht ſich der Künſtler eine von hemmender
kritiſcher Einrede noch freie volksthümliche Oeffentlichkeit gegenüber.


Schon zu §. 393 (B. II. S. 341) iſt auseinandergeſetzt, wie die Beſtellung
keineswegs unſerer Forderung eines zufälligen Anſtoßes durch einen vor-
gefundenen naturſchönen Stoff widerſpricht. Nur in der Dichtkunſt verhält
ſich dieß anders, ſelbſt die Muſik läßt ſich eher einen Stoff geben, als ſie;
wir können aber die allgemeine Betrachtung durch Eingehen auf dieſe be-
ſondere Natur der geiſtigſten Kunſt hier nicht unterbrechen. Es darf
nun hier vor Allem nicht vergeſſen werden, daß der Künſtler nicht von der
Luft lebt; er iſt abhängig und dieſe Abhängigkeit, weil ſeine Thä-
tigkeit nicht zu denen gehört, die, weil ſie einem täglichen Bedürfniſſe
dienen, ihren immer gleichen Gang geſichert gehen, doppelt fühlbar und
in dem bittern Wort ars mendicat ausgeſprochen. Das Gefühl der Ab-
hängigkeit bei der Höhe des innern Berufs der Kunſt wird dem ächten
Künſtler zum Stachel eines um ſo edleren, wiewohl von Reizbarkeit nicht
[59] freien Stolzes; dieſer gebietet ihm, ſich ſuchen zu laſſen, aber keineswegs
verbietet er ihm, ſich Aufgaben geben zu laßen, ſondern nur, ſolche Auf-
gaben anzunehmen, denen er nicht anſieht, daß das, zunächſt durch einen
fremden Willen gegebene, Motiv dem Genius zuſagt und ſich zu einem
eigenen, inneren erheben läßt. Darüber gibt eine kurze Meditation dem
Künſtler Licht und fühlt er, daß der Stoff ſeine Phantaſie als ein ihr
entſprechender erfaßt, ſo iſt es eben, als hätte er ihn ſelbſt entdeckt; die
Stelle der Entdeckung iſt nur eine andere geworden, er findet ihn, ſtatt
direct in der Welt des Naturſchönen, durch Vermittlung der Beſteller.
Doch wenn man auf eine andere Seite ſieht, nämlich auf die ſubjective der
Compoſition, ſo ſcheint die Beſtellung allerdings mehr Hemmendes zu enthal-
ten, als die kurze Andeutung zu §. 393 und die gegenwärtige Er-
wägung ausſagt; ſie gibt nämlich häufig nicht nur den Stoff, ſondern auch
einen allgemeinen Umriß der Compoſition, und zwar noch näher beſchränkt
durch die Bedingungen des Gottesdienſtes, des Locals, der Wandfläche,
Aufſtellung u. dgl. Allein wie zu §. 393 geſagt iſt: ein Gegebenes um-
bilden beweist mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag, ſo
wird dem ſchöpferiſchen Geiſte auch dieſe Feſſel zu einer Quelle erhöhter
Selbſtthätigkeit werden. Gerade die gegebenen Bedingungen werden von
ihm genöthigt, ſich in neue, fruchtbare Motive zu verwandeln, er kann
ihnen gegenüber dieß und jenes, was er bei völlig freier Regung gekonnt
hätte, nicht, aber er kann Anderes, er erzeugt gerade in dieſen Bedingungen
das individuelle Kunſtwerk. Welche fruchtbare Motive haben Baukünſtler
aus Schwierigkeiten des Orts und Bodens, Maler aus beſtimmten
architektoniſchen Flächen gezogen! Auch das Material kommt theilweiſe
vorläufig ſchon hier in Betracht, denn anderweitige Umſtände können ein
ſolches fordern, das der Kunſtweiſe an ſich weniger günſtig iſt, oder das
gewünſchte überhaupt nicht zur Hand ſein: auch dieſem Hinderniß entlockt
der ächte Künſtler Schönheitsquellen, er weiß z. B. Holz oder Backſtein,
wo ihm gewachſener Stein urſprünglich willkommener geweſen wäre, zu
neuen, bedeutenden Motiven zu benützen. Eine neue Schwierigkeit ſcheint
ſich jedoch aufzudrängen, wenn man erwägt, daß bei der Beſtellung das
Gegebenſein von außen nicht zu Ende iſt, nachdem der Künſtler den Auf-
trag ſammt ſeinen nähern Bedingungen angenommen hat. Nichts iſt
nämlich ſchaamhafter, heimlicher und will unbelauſchter ſein, als das Be-
wußtſein des Künſtlers in den Momenten von der Conception bis zum
Abſchluße der Compoſition des Kunſtwerks; gerade darin aber kann er
ſich gehemmt ſehen durch den Willen der Beſteller, deren Bewußtſein dem
ſeinigen während dieſes innern Prozeßes belauſchend, controlirend, über-
wachend gleichſam über die Schulter ins Blatt ſieht. Dieſe wirklich drü-
ckende Hemmung tritt jedoch in dem Zuſtande, von dem hier noch die
[60] Rede iſt, am wenigſten ein. Der öffentliche und volksthümliche Charakter
des Lebens äußert ſich auch darin, daß die Beſtellungen vom Staat, von
einer Stadt, Corporation, einem Kloſter u. ſ. w. ausgehen; die Gemein-
ſchaft aber iſt ein Theil des Volks und in naiver Zeit ſo wenig kritlich,
als dieſes; man beſtellt und läßt dann den Künſtler frei gebahren, man vertraut
ihm, daß er es recht machen werde, man beſtellt zunächſt für ſich, doch nicht
um das Kunſtwerk einzuſperren, ſondern um es in Tempel, Kirche, Halle
Rath- und Stadthaus u. ſ. w. allem Volke beſtändig offen zu halten,
und dem Künſtler von ſeiner Seite ſchwebt nur dieß unbefangene Ge-
ſammt-Subject vor, es ſind aller Augen, die auf ihn warten,
es iſt nicht die Lorgnette launiſcher Einzelner, die er zu berück-
ſichtigen hat und welche die Freudigkeit ſeines geheimen Schaffens ſtört.
Geht die Beſtellung, einen Wettſtreit eröffnend, an mehrere Künſtler, ſo
fällt ohnedieß alles wirkliche oder vorgeſtellte Dareinreden weg, denn
da iſt vorausgeſetzt, daß derſelbe Gegenſtand auf verſchiedene Weiſe be-
handelt werden könne, und erſt auf die Vergleichung der vollendeten Werke
gründen die Beſteller und Schiedsrichter ihr Urtheil.


§. 505.

Anders iſt es, wenn der vom nationalen Boden entwurzelten Kunſt die
vollendete Trennung von Volk und höherer Geſellſchaft gegenüberſteht: jetzt wird
der Künſtler in der Darſtellung von Stoffen, die dem Volksbewußtſein fremd
ſind, von dem gelehrteren Geſichtskreiſe und der Willkühr Einzelner, in der
Auffaßungsweiſe von der Convenienz und Ueppigkeit, in der Compoſition von
der Einrede eitler Kennerſchaft abhängig.


Dieſer §. faßt Zuſtände zuſammen, die im Allgemeinen als Verfall
zu bezeichnen ſind. An der Grenze derſelben liegen allerdings gewiſſe
Uebergänge, wo zunächſt trotz der veränderten Stellung der Kunſt die
Stoffe noch dem Volke verſtändlich bleiben und demgemäß auch zwiſchen
der Behandlung des Künſtlers und dem Volksbewußtſein noch ein Band
bleibt, das ſich aber allmählich lockert. Als in Griechenland zur Zeit
Alexanders des Großen die Kunſt anfieng, dem Despotismus dienſtbar zu
werden, blieb ſie doch verhältnißmäßig noch öffentlich, dem Volke ver-
ſtändlich. Die Stoffe wurden zum größeren Theil noch dem geläufigen
Kreiſe des Mythus und der Heroenſage entnommen. Freilich rieß nun
auch die ſchmeichleriſche Verherrlichung der Perſon der Fürſten ein und
ſofern ſich die Kunſt zu dieſem herrſchenden Stoffe beſtellungsweiſe her-
gab, war, ſobald nicht wirkliche Größe dieſer Perſon den Künſtler ſo
ſtellte, daß er in ihr ſelbſt ein Allgemeines, eben das Volksbewußtſein, aus-
[61] drücken konnte (was bei Alexander dem Großen allerdings noch der Fall
war), die Entweihung in das innerſte Leben der Kunſt hineingetragen.
Auffaßung und Compoſition wurden zunächſt inſofern unfrei, als ſie der
beliebten Vergötterung fürſtlicher Perſonen und der herrſchenden Richtung
auf Glanz und Pracht dienen mußten. Doch verſtändlich blieb jene
Uebertragung immer noch und dieſer Prunk verwöhnte zwar, entfremdete
aber nicht. Kurz im Alterthum war eine ſolche Zerreißung des Bandes
zwiſchen der Kunſt und dem allgemeinen Volksleben gar nicht möglich,
wie in der neueren Zeit, und den letzten Grund davon giebt §. 342 mit
den Worten: „die Sittigung hat keine völlig fremden Elemente zu über-
winden“; auch die ſinkende Kunſt lehnt ſich nicht an fremdartige, nur dem
Gelehrten verſtändliche Stoffe. Weit eher könnte man in der römiſchen
Kunſt die Anfänge einer bis in den inneren Kreis der Volksvorſtellungen
hineinreichenden Entfremdung nachweiſen, denn ſchwerlich waren im ſpäteren
Rom die Darſtellungen aus fremden Religionen, der ägyptiſchen, perſi-
ſchen u. ſ. w., dem Volke ebenſo verſtändlich, als den Beſtellern. In der
neuern Zeit gieng vom ſechszehnten Jahrhundert an die Kunſtpflege von
den Gemeinden, Corporationen und ſomit vom Volke mehr und mehr an
Fürſten, Höfe, reichen Adel über. Dieſer Dienſt war jedoch für einen
Leonardo da Vinci, M. Angelo, Raphael, einen Rubens nicht erniedri-
gend, wie ein ähnliches Verhältniß für ſpätere Künſtler. Zwar dringt
nun der entfremdende Keil der gelehrten Stoffe zwiſchen Volk und Kunſt
ein: neben den chriſtlichen Mythus und Sagenkreis der antike nebſt der
alten Geſchichte; allein die Bekanntſchaft mit dieſen Stoffen ruhte bei dem
Adel und den Fürſten doch nicht auf einer Bildung, welche dem Volke ſo
fremd gegenübergeſtanden wäre, wie ſpäter. Die ungemeine Freiheit, die
man ſich gegen die Geſetze objectiver Treue der Darſtellung herausnahm,
war ebenſoviel Gewinn für das Band zwiſchen Kunſt und Volk; der
reiche, der fürſtliche Beſteller hatte ſich ſo gut wie der Künſtler und das
Volk dieſe Stoffe in die Formen ſeiner Zeit überſetzt und ſie waren nur
Gefäße, worin man einen geläufigen, menſchlich vertrauten Inhalt, die
Stimmung der Zeit, jenes Gefühl der Emanzipation goß, das dieſen
Jahrhunderten eigen war. Man denke nur an die Farneſina, an die
venetianiſche Schule, man denke an das verſtändliche, vertraute
Gewand, das in Shakespeares Hand die antiken Stoffe anlegen.
Zudem waren die Beſtellungen, obwohl mehr und mehr von Einzelnen
ausgehend, doch für die Oeffentlichkeit beſtimmt; ſelbſt der Pallaſt war
offen und leicht zugänglich; die Stanzen im Vatican waren etwas ganz
Anderes, als das hermetiſch verſchloſſene Haus des ſammelnden Englän-
ders. Erſt im ſiebzehnten Jahrhundert beginnt Cabinetsmalerei, Kam-
mermuſik, Hoftheater. Hatte der Künſtler den höheren Ständen gegen-
[62] über, als ſie dem Volke in der Form ihres Bewußtſeins noch näher
ſtanden, trotz dieſer Wendung zu einer einzelnen Volksclaſſe hin noch
ungleich freiere Bewegung in Erfindung und Anlegung ſeines Werks, ſo
vollendete ſich nun erſt und dauerte tief in das achtzehnte Jahrhundert
herein zugleich mit der Losreißung vom Volke ſeine Abhängigkeit von
der höheren Geſellſchaft. Nicht mehr das Bewußtſein, die Sitte und
Stimmung eines Volksganzen wird in die fremdartigen gelehrten Stoffe,
in die entſtellte Antike gelegt, ſondern nur der Geiſt und die Cultur-
formen des Hofs und Adels. Compoſition, Styl, alle Formen werden
conventionell über Einen Leiſten geſchlagen und die Kunſt wird ſo ſehr
von der Beſtellung beherrſcht, daß ſelbſt die am unmittelbarſten ſubjective
Form der geiſtigſten Kunſt, die lyriſche Poeſie, ſtückweiſe zu feſten
Preiſen nach der Anzahl der Verſe u. ſ. w. bezahlt wird. Wir ſtehen
hier an demſelben Puncte, der in §. 476 dargeſtellt iſt, nur daß wir
ihn jetzt von einer andern Seite, nämlich vom Standort der Frage nach
der Freiheit der innerſten geiſtigen Thätigkeit des Künſtlers, auffaſſen und
daß uns der dageweſene Zuſtand jetzt nicht als etwas Hiſtoriſches
beſchäftigt, ſondern als eine Form, die immer möglich und, nur nicht
als herrſchende, ſondern an den Rand gedrückt, auch in guter Zeit wirk-
lich iſt. So kann das Conventionelle auch in beſſerer Zeit als ein
Stützpunkt für Einführung idealerer Formen in Oppoſition gegen herr-
ſchenden Naturalismus aufgenommen werden, wie von Göthe auf dem
Theater zu Weimar. Daher iſt die höfiſch geregelte Kunſt nicht immer,
begreiflicher Weiſe aber häufig zugleich ein Dienſt der Lüſternheit
und pikanter Effecte; denn eine vom geſunden Volksboden losgeriſſene
Geſellſchaft wird mehr oder weniger die wahre Grazie immer mit jenem
reflectirten Kitzel der zurückgetretenen Sinnlichkeit (§. 73) zu verwechſeln
geneigt ſein.


§. 506.

1

In vollen Gegenſatz gegen dieſe Bindung wirſt ſich die Kunſt, wenn ſie
von dem innern Bilden des Ideals ohne Vermittlung einer den Zuſchauer im
Auge haltenden Beſinnung zum Darſtellen überſpringt. Dieß unmittelbare Schaffen
aus der Begeiſterung läßt jedoch nicht einmal jenen innern Prozeß (§. 393—399) zur
Reiſe gelangen und die ſcheinbar unbedingte Freiheit ſchlägt in Mechaniſtrung
und vollſtändige Abhängigkeit von dem auf die plötzliche Geburt wartenden
2Zuſchauer um, beſonders im eigentlichen Improviſiren. Auch wird eine ſolche
Kunſt durch ihren Naturalismus dem ungeläuterten Volksſinne dienſtbar.


1. Auch dieſes Verhalten der Phantaſie iſt in §. 478 als eine
hiſtoriſche Form aufgeführt worden, ſteht aber hier als eine Erſcheinung,
[63] wie ſie im Kampf mit dem Zuſtande unfreier, heteronomiſcher Geſetz-
gebung der Kunſt jederzeit hervortreten kann; daher werden hier zugleich
andere Erſcheinungen angeknüpft, die einer revolutionären Kunſt nur in
Einem Momente verwandt ſind, aber gerade durch die Aehnlichkeit im
Unterſchied ein lehrreiches Licht auf das Zweifelhafte und Gefährliche
jener Kunſt werfen, die mit dem Loſungswort Genie das Prinzip der
unmittelbaren Eingebung, der Urſprünglichkeit, der Göttlichkeit des erſten
Wurfes von dem ebenſo weſentlichen Geſetze jener neuen tiefen Beſin-
nung trennt, welche in dem Momente des Uebergangs von der innern
Dichtung zur äußern Darſtellung eintreten ſoll. Dieſe Beſinnung, dieſes
Stilleſtehen auf der Schwelle zwiſchen Phantaſie und Kunſt ſchließt nach
dem Standpunct unſerer gegenwärtigen Erörterung weſentlich eine Rück-
ſicht auf die wahren Anforderungen des Zuſchauers in ſich, die Compo-
ſitionsgeſetze kommen zur Ausführung durch die Vergegenwärtigung einer
objectiven Nothwendigkeit, die ebenſoſehr ein ſubjectives Bedürfniß der
Zuſchauer iſt. Die revolutionär geniale Kunſt dagegen macht an den
Zuſchauer die Anforderung, daß er ſich als hinreichend vertreten anſehe
im hervorbringenden Genie ſelbſt, wie es ſeinem innern Schaffen zuſieht,
als ob dieſes nicht zu ſehr Partei wäre, um für einen ſolchen Vertreter
gelten zu können, und erlaubt nun dem Künſtler, dieſem ſo der Garan-
tieen beraubten Zuſchauer ſein Werk ohne Weiteres zu octroyiren. Jenes
Zuſehen iſt aber überdieß, wo das Moment der Begeiſterung einſeitig
gilt, ſchon im erſten Acte, dem erſt innern Erzeugen des Ideals, ein
unzureichendes: die Beſonnenheit ſteht hier nicht mit der Begeiſterung auf
gleicher Höhe, wie §. 397 verlangte; das Kind wird nicht nur nach
der geiſtigen Geburt nicht an der mütterlichen Bruſt gehalten, bis es
gehen lernt, um in die Welt zu treten, ſondern es wird im Mutterſchooße
ſelbſt nicht ausgetragen. Das wirkliche Genie, ein Göthe, wird ſelbſt
dieſen ſtürmiſchen Frühgeburten ſeinen Geiſt einhauchen, und ein Götz
von Berlichingen verrieth den Schöpfer einer neuen Kunſt, obwohl er
„ohne Plan und Entwurf, ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links
zu ſehen“ gearbeitet war, aber das ganze Prinzip iſt falſch; es hat ſeine
einſeitige Berechtigung im Kampfe mit der conventionellen Kunſt; es ſtürzt
die fremden, von außen aufgedrungenen Geſetze und kann die neue, freie
Geſetzgebung noch nicht ſchaffen, es wirft einem Extrem ein Extrem ent-
gegen, es ſteht, wie alle Revolution, in der dunkeln Mitte zwiſchen Zer-
ſtören und Schaffen. Shakespeare wurde zur Zeit der conventionellen
Kunſt für ein wildlaufendes Genie gehalten, weil ſie ihre Afterweisheit
bei ihm ſuchte und ſo ſeine wahre Weisheit und Beſonnenheit nicht fand.
Die Falſchheit des Prinzips erweist ſich aber weſentlich dadurch, daß es
in ſein Gegentheil umſchlägt. Das Publikum nämlich iſt vorauszuſetzen
[64] als ein ſolches, das die revolutionäre Stimmung mit dem Dichter theilt;
die Naturrohheit wird Mode; der Dichter kennt dieſe Forderung ſeiner
Zuhörer, liebäugelt mit ihr, das Unabſichtliche wird abſichtlich und unver-
ſehens iſt der freie Götterſohn ebenſo ein Knecht der Menge geworden,
wie der Sklave des Hof- und Adelsgeſchmacks. Jetzt wird das Natur-
wilde ſelbſt mechaniſch, ſelbſt nach der Schablone verfertigt, die Stylloſig-
keit wird zum Style.


2. Improviſiren im eigentlichen Sinne heißt, in Gegenwart von
Zuhörern über ein von ihnen gegebenes Thema ein Gedicht vortragen,
das in einer möglichſt kurzen Friſt der Beſinnung entworfen iſt, im Vor-
trag aber erſt ausgeführt wird. Dieſe Caricatur der blitzſchnellen erſten
Operation der Phantaſie, wodurch das Schöne geſchaffen wird, iſt neuer-
dings mit Recht verſchollen. Die geniale Schnelligkeit ſoll durch dieſen
Act recht in ihrer Geburt dem Publikum vorgezeigt werden, verliert aber
eben durch dieß Vorzeigen, dieß Belauſchenlaſſen des ſchamhaft Verbor-
genen und Geheimen ihren Sinn oder wird vielmehr in ihrem Weſen
aufgehoben. Denn durch die wirkliche Gegenwart der wartenden Zuhörer
iſt die Schnelligkeit ſtatt einer Naturſchnelligkeit eine preſſirte Schnelligkeit
und dieſe bringt nichts zu Tage, als handwerksmäßiges Zuſammenleimen
von Gemeinplätzen, fertigen und landläufigen Bildern, Reimen und dergl.
Die italieniſchen Kunſt-Improviſatoren ſind bekanntlich aus den Volks-
Improviſatoren hervorgegangen, welche uneigentlich ſo heißen, wenn ſie
fremde epiſche Gedichte vortragen, dem eigentlichen Stegreifdichter aber
näher ſtehen, wenn ſie Novellen, Mährchen aus freier Hand, doch nach
einem gegebenen Stoffe und mit vorhergehender Ueberlegung des Plans
vortragen, wie dieß bekanntlich noch heuzutage in den Straßen der ital.
Städte geſchieht. Dieſe ſogenannten Improviſatoren weiſen zurück auf
die Rhapſoden Griechenlands und dieſe führen in letzter Linie auf das
urſprüngliche Entſtehen des epiſchen Lieds und aller Poeſie überhaupt,
das nun allerdings als ein unter den Augen wartender Zuhörer werden-
des vorzuſtellen iſt. Allein da iſt die Sage vorher von Mund zu Munde
gegangen, ein Stück aus ihrem Kreiſe, den er freilich zugleich erweitert,
ergreift der Volsſänger, die Anlage und Compoſition iſt ihm aber im
Weſentlichen durch die Sage ſelbſt gegeben, nur die ſpezielle Aus-
führung improviſirt er, und auch dieſe nicht ohne eine vorhergegangene
Meditation in ſtiller Einſamkeit und für Zuhörer, welche nicht die Abſicht
haben, die Schnelligkeit ſeines Hervorbringens zu controliren, ſondern mit
ihm, dem Begeiſterten, ſeine Begeiſterung durch die ihrige verdoppelnd,
ſich der Herrlichkeit ihrer Heldenbilder freuen. Es gilt dieß auch
der techniſchen Form, die gleichzeitig mit dem Inhalt wuchs und wurde;
wir müſſen uns ein Verſuchen derſelben unter Begleitung des muſikali-
[65] ſchen Inſtruments vor der Ausführung in einem Zuhörerkreiſe vorſtellen,
und nachdem ſie ſchon gefunden war, begegnen wir den bekannten ſtehen-
den Wendungen, Bildern, metriſchen Sätzen, namentlich Vers-Endungen,
welche nun dieſem naiven Improviſator freilich ein Aushilfebedürfniß
waren, wie jenem Kunſt-Improviſator, aber der ganze Prozeß iſt himmel-
weit von dem des letzteren verſchieden und gehört unter den Begriff der
naiven Kunſt, der ſeines Orts aufgeführt werden wird. Dem falſchen
Bilde der Urſprünglichkeit in der künſtlichen Improviſation nähert ſich
nun aber die Dichtweiſe der revolutionären Genialität in dem Grade,
in welchem ſie ſich von ihrem Prinzip zur Renommage der Plötzlichkeit im
Produziren verleiten läßt. Der Ort für dieſes Glänzen iſt eigentlich das
gemiſchte Gebiet des Geſelligen und Aeſthetiſchen, wo der Wettſtreit im
Hinwerfen gereimter bonmots und dergl. berechtigtermaſſen vom Hebel der
Bewunderung wartender Zuhörer beſchleunigt wird; doch hat Mancher,
deſſen Talent zu höherer Leiſtung berufen war, hier ſeine Kräfte vergeu-
det, z. B. Schubart, der gleichzeitig ein Gedicht machte, einen Brief dictirte
und dergl. Kunſtſtücke mehr. — Es erhellt nun, daß dieſe ganze Form,
ſelbſt die freiere unter 1. dargeſtellte, nur der Poeſie angehören kann;
fordert aber ſelbſt dieſe geiſtig raſche Kunſt ein hinreichendes Meditiren
in ungeſtörter Einſamkeit, ſo wird man im Gebiete der bildenden Künſte
um ſo weniger von einem eigentlichen Improviſiren reden können, weil
hier der Weg vom innern Entwurfe zur Ausführung viel länger iſt: der
ſeltene Fall genialen Hinwerfens einer Skizze in einem Augenblick, wo
der Künſtler nicht einſam mit ſich zu Rathe gehen kann, ſondern, der
Beſteller oder ſonſt eine Umgebung dem raſchen Entſtehen zuſieht, mag
als analog jener Form der Unmittelbarkeit in der Poeſie angeführt wer-
den. Die Muſik liegt ungleich näher und bietet verwandte Erſcheinungen
dar. Beſonders belehrend iſt aber das Schauſpiel in ſeinen früheren
Verſuchen, ſich als Stegreifſpiel von der Dichtkunſt loszumachen und ganz
der Eingebung des Augenblicks zu folgen; hier ſieht man insbeſondere,
in welche tiefe Abhängigkeit vom grob naturaliſtiſchen Volksſinn eine ſolche
Kunſtweiſe ſinkt. Darüber vergl. Geſchichte der deutſchen Schauſpielkunſt
von Ed. Devrient B. 1 und 2.


§. 507.

Aus jener Unfreiheit und dieſer unwahren Freiheit tritt die Kunſt heraus1
durch ihre Verbindung mit der wahren Bildung. Dieſe, zunächſt in den höheren
Kreiſen durch Vermittlung der Wiſſenſchaft erworben, drückt jedoch der von
ihr freigelaſſenen und begünſtigten Kunſt vorerſt einen eſoteriſchen Charakter
auf, ſo daß ſie mitten im Elemente edler Humanität gelehrt und unvolksthümlich

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 5
[66]2bleibt. Künſtliche Verbindungen und Mittel zu ihrer Pflege erſetzen mangelhaft
die Pflege der lebendigen Corporation und bilden einen ſchwachen Faden
3des Uebergangs zur wahren Oeffentlichkeit, an die Stelle der beengenden
Anſprüche der Kunſtliebhaberei und der aus ihr hervorgehenden Kennerſchaft
und Convenienz tritt, unmittelbar befangend und ſtörend, nur mittelbar läuternd
die vielſtimmige Kritik.


1. Geſchichtlich kann man ſich den hier dargeſtellten Zuſtand am
beſten durch Vergegenwärtigung der Verhältniſſe zwiſchen Kunſt und Pub-
likum zur Zeit Göthes und Schillers klar machen, es handelt ſich aber
allgemeiner von einer Sachlage, wie ſie überhaupt die moderne Zeit durch
das Zurücktreten des Bildungsmonopols von den Fürſten und ihren Höfen
und das Aufleben des dritten Stands mit der ſoliden geiſtigen Bildung
ſeiner höheren Kreiſe hervorgerufen hat. Daß es in Weimar und
anderswo Höfe waren, welche vorzüglich die Kunſt pflegten, verändert
nichts an der Sache, denn dieſe Höfe waren geiſtig gehoben durch
Sammlung der edelſten dem Bürgerthum entſproßenen Kräfte. Dieſe
Zeit ſetzte nun aber an die Stelle der alten Kluft zwiſchen Volk und Adel die
neue zwiſchen Volk und gebildeten Ständen. Die Bildung ruhte weſent-
lich auf claſſiſchen Studien, einem Apparate, der dem Volk im umfaſſen-
deren Sinn unzugänglich iſt. Sie war menſchlich rein und ſchön, aber
eſoteriſch, und ſo auch die Kunſt, die ſie pflegte; der vollere Strom der
wahren Oeffentlichkeit, das vollere Säfteleben, das die Pflanze der Kunſt
aus dem Volksboden, dem breiten Rapport mit dem Volk im Sinne unge-
ſchiedener Einheit ſeiner Stände zieht, konnte noch nicht eintreten. Die
Stoffe waren meiſt gelehrt, der claſſiſchen Welt entnommen, die Behand-
lung künſtleriſch frei, ungehemmt von Convenienz, aber mehr oder minder
ebenfalls in der claſſiſchen Anſchauungs- und Gefühlsweiſe gehalten und
daher, ſo viele Wirkungen aus dieſen edeln Kreiſen mittelbar in das
Volk übergiengen, dieſem doch im Ganzen fremd und unverſtändlich.
Man vergleiche nicht etwa blos mit Göthe, ſondern auch ſelbſt mit dem
populären Schiller einen Shakespeare, oder mit den damals herrſchenden
claſſiſchen Stoffen in der, zwar eben neu erſtehenden, Malerei die Fresken,
die im Alterthum, „da das Antike noch neu war,“ und im Mittelalter
am Lichte des Tages glänzten und allen Ständen zugänglich und ver-
ſtändlich waren: ſo erkennt man, was wir meinen. Auch die romantiſche
Schule hütete mit den gebildeten Ständen den Schatz einer gelehrten
Kunſt; im Stoffe griff ſie wohl in das Mittelalter und das Volksleben,
aber ſie legte einen nur allzu ſubjectiven, blos dem Geweihten verſtänd-
lichen Inhalt und Geiſt hinein.


2. Aus dieſer Kunſtpflege des gebildeten Bürgerthums ſind die
[67]Kunſtvereine, die Kunſtausſtellungen, die Preisvertheilungen
mit oder ohne Concurrenz bei vorgeſchriebenem Gegenſtande, die Anlegung
von Sammlungen moderner Kunſtwerke, die Verlooſungen hervorgegan-
gen: künſtliche Mittel, die ſich zu der Lebensfülle, welche die Kunſt unge-
ſucht aus dem flüßigen Rapport mit dem geſammten Volksleben zieht, ſo
verhalten, wie die einzelnen Parteien, Vereine, Verſammlungen u. ſ. w.,
die in einem gebundenen Staatsleben einem freieren vorarbeiten, zu
dieſem. Sie ſind von großem Nutzen, aber ſie haben alle etwas Abſicht-
liches, Gemachtes; ſie ſind Nothmittel in einer Zeit, wo die Quelle der
Kunſt nicht frei und voll von ſelber ſprudelt; ſie zeugen von gutem Wil-
len, haben aber etwas Armes und Knappes; ſie unterſtützen, fördern,
wecken den Künſtler, binden ihn nicht in ſeinem freien Schaffen, aber
begeiſtern auch nicht; ſie ſammeln und vereinigen, ohne ein immanentes
geiſtiges Geſammtleben der Künſtler unter ſich und mit dem Publikum zu
erzeugen. An dieſen Erſcheinungen beſchäftigt uns hier die Seite, nach
der ſie den Zweck haben, Kunſtſinn im Volke zu wecken, nur mittelbar,
ſofern dieſer, wenn er wirklich geweckt iſt, den ſchaffenden Künſtlergeiſt
naturgemäß hält, hebt und treibt. Da iſt es denn klar, daß das Sam-
meln, Ausſtellen, Verlooſen von Kunſtwerken, die nach Zweig, Stoff,
Behandlung bunt gemiſcht ſind, durch eine zu dieſem Zweck beſonders
gebildete Geſellſchaft, neben heilſamer Anregung und rühmenswerthem
Verdienſt doch auch der zerſtreuten Naſchhaftigkeit, Eitelkeit und wohlwei-
ſen Kenner- und Gönner-Miene ächt moderne Nahrung giebt. Auch die
Sammlungen alter Kunſtwerke, meiſt in der früher geſchilderten Zeit durch
Fürſten angelegt, die Galerieen, ſind hier zu erwähnen; ihr bildender
Werth für Publikum und Künſtler iſt unberechenbar, aber an ſich iſt ſchon
ihre Exiſtenz ein Beweis, daß zur Zeit der Sammler die Kunſt nicht
wahrhaft lebte, denn wo ſie lebt, werden ſolche Herbarien, worin Kunſt-
werke, von ihrem Ort, an den ſie hingehören, hinweggeriſſen in zerſtreu-
ender, betäubender, abſpannender Menge und Mannigfaltigkeit vereinigt
ſind, überhaupt nicht angelegt. Nur Wenige vermögen die ſinnliche und
geiſtige Abſtraction zu vollziehen, daß ſie dem einzelnen Kunſtwerk einen
einzelnen Beſuch und geſammelte Betrachtung widmen. Was aber keiner
großen Stadt fehlen ſollte, ſind neben den Abgüßen der bedeutendſten
Antiken, Modellen der bedeutendſten architektoniſchen Werke der Vergan-
genheit gute Copieen der großen, namentlich monumentalen Werke der
Malerei, nicht blos wegen ihres abſoluten Werths für die Studien des
Künſtlers (die wir hier noch nicht in’s Auge faſſen), ſondern für das
Volk, damit es ſehen, daher auch die moderne Kunſt würdigen lerne und
ſo ein empfänglicher und fördernder Boden für die lebende Kunſt werde.
Was nun aber die unmittelbare Förderung der Kunſt betrifft, welche von

5*
[68]dieſen Vereinen und ebenſo von offiziellen Körpern, Akademieen, Theater-
directionen ausgeht, ſo iſt ohne Frage das bedeutendſte ihrer Mittel die
Concurs-Eröffnung mit beſtimmterer oder unbeſtimmterer Aufgabe des
Gegenſtands. Zwar können im gegenwärtigen Zuſtande die Kunſt-Wett-
ſtreite keineswegs das ſein, was ſie in einer Zeit der volksthümlich
ſchwungvollen Kunſtblüthe waren (§. 503, 2.); ſchon deßwegen nicht,
weil es hier mehr darauf ankommt, der Kunſt Brod zu geben, als
ein Ehrengeſchenk, an ſich von unbedeutendem Werth, aber vergoldet vom
Jubel des bewundernden Volks; doch fehlt auch die ehrende Anerkennung
eines, obwohl verengten, Kreiſes verſtändiger Kunſtfreunde nicht, im
Wettſtreit um dieſe Anerkennung liegt aber immer ein mächtiger, durchaus
berechtigter Sporn des Ehrgeizes, und dieſe Bedeutung wäre zu
erweitern durch Beſtellung monumentaler, nicht dem Verkauf und der
Verlooſung, ſondern der öffentlichen Aufſtellung beſtimmter Werke.
Wie hier auch der Staat eintreten ſollte, davon nachher; hier
heben wir nur noch hervor, wie namentlich die Baukunſt durch
Eröffnung von Künſtler-Concurrenzen bei allen höheren Aufgaben
der drückenden und abſtumpfenden Abhängigkeit des Baubeamten-
thums und der ſchreibermäßigen Controle und Beſchnipflung der Com-
poſition entriſſen werden ſollte. Vergl. zu dieſen Bemerkungen: Hand-
buch der Geſch. der Malerei von KuglerII. 9, 2. (Ausg. 1837). Kunſt-
beſtrebungen der Gegenwart von A. Hallmann 1842. Schutzfragen für
Kunſt und Künſtler in Deutſchland u. ſ. w. von Fr. Oſten. 1848.


3. Unter Kritik iſt natürlich nicht die Bildung einzelner Maximen
und Fällung einzelner Urtheile zu verſtehen, wie ſolche aus einem ver-
breiteten lebendigen Gefühle des Richtigen nothwendig jederzeit hervor-
geht. In dieſem Sinn hatte das blühendſte Kunſtleben die vollendetſte
Kunſtkritik und dieſe war der Kunſt nur förderlich. Der griechiſche
Künſtler hatte es mit einem Volke von Kunſtrichtern zu thun und fühlte
ſich dadurch nur um ſo höher gehoben. Die Kritik im eigentlichen Sinne
beginnt erſt da, wo die einzelnen Maximen, Urtheile ſich zunächſt zu
Reflexions-Ganzen anſammeln, dann dieſe geſammelten Reihen unter
leitende Gedanken zuſammengefaßt und dieſe endlich unter dem Begriffe
des Schönen ſelbſt vereinigt werden. Die Kritik führt zur Wiſſenſchaft
des Schönen und wird, nachdem dieſe beſteht, zu einer Ausübung, An-
wendung derſelben, doch nicht in dem Sinne, daß der einzelne Kritiker
von dieſer höchſten Einheit nothwendig ausgienge, ſondern hier bewußt,
dort unbewußt, hier unter Irrthum und Schiefheit verſteckt, dort richtig
angewandt zieht ſich durch die breiten Maſſen der kritiſchen Thätigkeit die
Einheit des Begriffs. Wir müſſen nun an den Zuſtand der ausgebilde-
ten Kritik den Künſtler, dann das Publikum und endlich die Wechſel-
[69] wirkung zwiſchen beiden halten. Der Künſtlernatur ſteht vor Allem das
philoſophiſche Begreifen des Schönen prinzipiell entgegen; hierüber iſt
nach §. 68. 69. 392. kein Beweis mehr zu führen. Es gibt für den
Künſtler weder einen Uebergang vom reinen Begriffe des Schönen zu
einer einzelnen künſtleriſchen Schöpfung, noch während einer ſolchen eine
Förderung durch jenen; überdieß hat er ſo wenig, als das Organ, auch
die Zeit, ſich mit der ſtrengen Kunſtphiloſophie zu befaſſen. Allein gleich-
zeitig mit dem Anbau der letztern ergeht ſich ſowohl die Literatur, als
auch der ſonſtige allgemeine Verkehr in jener unendlich zerſplitterten Maſſe
einzelner Reflexionen, in welcher die Einheit des zuſammenfaſſenden, ein
gegebenes Kunſtobject unter den Begriff ſeines Gebietes richtig ſubſumi-
renden Gedankens nur da und dort hervortritt, wie ein Zufälliges in
dieſer oder jener Perſönlichkeit ſich darſtellt und auch von einer ſolchen
nicht in jedem einzelnen Falle des Urtheils angewandt wird: ein Durch-
einander unzählicher Stimmen, welches auf den Künſtler nothwendig ver-
wirrend wirkt. Aus dieſem Gewirre trifft eine einzelne Reflexion der
Kritik auf ein einzelnes ſeiner Werke oder einen einzelnen Theil deſſelben;
ſie iſt vielleicht richtig, aber er nimmt ſie nicht an, weil ſeine Total-An-
ſchauung nicht erfaßt, der ſpezielle Gebrauch ſeiner techniſchen Mittel nicht
verſtanden iſt. Es iſt überhaupt das Weſen der Reflexion ſchon an ſich,
das ihm nicht weniger widerſtrebt, als der höhere philoſophiſche Begriff:
die Art, wie ſich Sinnliches und verſtändig Allgemeines in ihren Kate-
gorieen miſchen, iſt für ſeinen Inſtinct zu abſtract, für ſeinen guten Wil-
len, einmal von der Kritik zu lernen, zu unſinnlich und für die tiefere
Einſicht, von der er nur wiſſenſchaftlich nicht Rechnung ablegen kann, wieder
zu ſinnlich. Dieß führt auf eine allgemeine, tiefe Schwierigkeit.
Die wahre Kritik müßte auf der lebendigſten Anſchauung, dem richtigſten
Inſtincte, der innigſten Vertrautheit mit den Gewohnheiten, Bedingungen,
Geheimniſſen des künſtleriſchen Thuns beruhen. Wer ſich ſo legitimirt,
von dem wird der Künſtler auch Kritik annehmen, ſelbſt ein Göthe, der
die Kritik im Allgemeinen ſo wenig achtete; allein im Ganzen und Großen
ſetzt die Kritik und die Kunſtphiloſophie zwar eine entwickelte Kunſtwelt
und ein unmittelbar lebendiges Verſtändniß derſelben voraus, aber auf-
ſteigend zum allgemeinen Abſtracten läßt ſie dieſen Boden hinter ſich und
die Zeit ihrer Blüthe iſt nicht zugleich die Zeit eines vollen, friſchen
Kunſtſinns. So kann eine Kunſtphiloſophie in ihren allgemeinen Sätzen
richtig und doch im Speziellen von dem lebendigen Sinne der Anſchau-
ung verlaſſen ſein. Es iſt dieß allerdings ein Mangel der Wiſſenſchaft
ſelbſt als ſolcher, aber er hebt ſie darum nicht auf, er ſoll ſie nur zu der
Vollendung treiben, wo die tiefſte Abſtraction zur innigſten Durchdrin-
gung mit der Natur zurückkehrt. Bei all dieſem haben wir der ſchlechten
[70] Kritik, der verrenkten Wiſſenſchaft noch nicht einmal gedacht, nicht all des
Leeren, Windigen, Halbwahren und ganz Unwahren, was in einer Zeit
der Vielſchreiberei umherſchwirrt. Kann nun ein ſolcher Zuſtand zunächſt
den Künſtler nicht fördern, ſo hebt er auch das Publikum unmittelbar
nicht zum ächten Kunſtverſtändniß. Dieſe Maſſe, die „vom Leſen der
Journale kommt,“ die „an das Beſte nicht gewöhnt iſt, allein ſchrecklich
viel geleſen hat“, die urtheilt, ehe ſie genießt, ja, ſtatt zu genießen, iſt kein
Boden für eine fröhliche Kunſt; die Unterlage des wahren Urtheils, die
geſunde Sinnlichkeit, die Innigkeit, Friſche und Schärfe der Anſchauung
iſt zerfreſſen und wie groß der Reichthum an richtigen Sätzen ſein mag,
welche die Kritik verbreitet, er vermag dieſes Uebel nicht gut zu machen.
Ein ſolches, ein ſo reflectirtes Publikum vermehrt aber zugleich den Wider-
willen des Künſtlers gegen die Kritik. Durch dieſe Auffaſſung haben wir jedoch
keineswegs die mittelbare Förderung der Kunſt durch die Kritik geläug-
net. Es verhält ſich mit der Kritik wie mit der Preſſe im Allgemeinen:
das Einzelne in ihrem vielſtimmigen Durcheinander zerſetzt und zerſprengt
das Ganze der Wahrheit, verwirrt, verblendet, aber durch die bewegte
Maſſe dieſes Einzelnen zieht doch, erzeugt aus der Wechſel-Ergänzung des
Einſeitigen, zu Tage gefördert durch Streit und Widerſpruch, als Geiſt
des Ganzen die Wahrheit. Die Summe der Reflexionen, die ſich ver-
drängenden und ergänzenden Gedanken der philoſophiſchen Aeſthetik müſſen
endlich, nachdem ſie die Geiſter durchwühlt haben, einen Niederſchlag zu-
rücklaſſen, in welchem das durcharbeitete Urtheil in die Unmittelbarkeit des
richtigen Gefühls zurückkehrt. Wie überall die höchſte Bildung zur Natur
zurückgeht, ſo auch hier, und wenn dieſer Prozeß, welchem freilich durch-
greifende Veränderungen des ganzen Volks- und Staatslebens nachhelfen
müſſen, abgelaufen iſt, wird dem Künſtler ein durch die Reflexion hin-
durchgegangener Kunſtſinn des Publikums gegenüberſtehen, der, nachdem
der Reflexions-Inhalt zum wahren, lebendigen Eigenthum geworden iſt,
wieder mit der Sicherheit des Inſtincts urtheilt. Bis dahin vergeſſe der
Künſtler nicht, daß er ſelbſt in einer reflectirten Zeit ſich dem Sauerteige
der Reflexion nicht entziehen kann und daß er daher in gewiſſem Maaße
doch dieſelbe Cur durchmachen muß, wie das Publikum: den Teufel durch
Beelzebub austreiben, die Reflexion durch Reflexion vernichten. Es wird
dieß bei Wenigen ſo weit gehen können und dürfen, wie bei Schiller, der
ſeinem kritiſchen und philoſophiſchen Bedürfniß eine beſondere Friſt ent-
ſprechender Studien gönnte, um von deren Höhe mit nur um ſo tiefer
begründeter Ueberzeugung und verſtärktem Naturdurſt ſich dem productiven
Kunſt-Inſtinct in die Arme zu werfen; es iſt überhaupt ein ſolcher Durch-
gang nicht der an ſich richtige Weg und wir haben vorhin, als wir vom
Künſtler im Allgemeinen ſprachen, ihm nicht verwehrt, alles Kritiſiren und
[71] Philoſophiren abzuweiſen, aber der Künſtler unſerer Tage ſieht ſich vor-
übergehend einmal dieſen beſonderen Zeitbedingungen verſchrieben. Die
Rückkehr aus der Reflexion in den Naturſinn, aus der Zerfahrenheit des
Urtheils in den unbefangenen und geſchloſſenen Genuß und die ihm ent-
ſprechende Naturfülle der Production ſetzt aber allerdings, wie ſchon an-
gedeutet, voraus, daß jener Cirkel von außen durch geſchichtliche Bedin-
gungen durchbrochen werde, von denen jetzt die Rede ſein muß.


§. 508.

Die Gegenwart ſtellt eine Zwiſchenſtufe dar, worin dem Drang nach1
Oeffentlichkeit und Volksmäßigkeit in Stoff, Behandlung und Aufſtellung des
Kunſtwerks ſich Wege öffnen, während gleichzeitig die eſoteriſche, nur [auf] einen
Theil des Volks wirkende, vereinzelte Kunſt noch in großem Umfange fortbeſteht.
Der Zufälligkeit jener höheren Anfänge und der Getheiltheit dieſes ganzen
2
Zuſtands iſt zunächſt dadurch entgegenzuwirken, daß der Staat im Geiſt einer
freien, zuſammenfaßendenden Leitung die Kunſtpflege in die Hand nimmt und
ſo die Zukunft vorbereitet, wo in einem erneuten öffentlichen Leben der im
Volk als der Einheit aller Stände erwachte Sinn ſich in einer von den Körper-
ſchaften ausgehenden Hebung der Kunſt ausſpricht.


1. Es hat ſich in unſerer Zeit ein Drang geltend gemacht nach
Stoffen aus der Geſchichte und der lebendigen Gegenwart des eigenen Volkes
und nach dem Verſtändlichen, allgemein Menſchlichen im Leben anderer
Völker, ein Drang nach einer die geiſtigen, ſozialen, politiſchen Kämpfe
des Lebens naturkräftig und gewaltig darſtellenden Behandlung, ein Drang
endlich zur monumentalen Aufſtellung oder öffentlichen Aufführung des
Kunſtwerks vor aller Augen, ſo daß alles Volk ſich erfreue. Ein Unter-
ſchied zwiſchen Kennern und Nichtkennern muß immer bleiben, aber man
rede nicht von einer Blüthe der Kunſt, wo nicht der Inhalt ſo zugänglich
und gewaltig, die Form ſo klar, einfach mächtig iſt, daß auch der nicht
gebildete Bürger, der Arbeiter, der Bauer, ja das Kind ſie fühlt und
genießt. Es iſt außer Frage, daß Monarchen es ſind, welche dieſe Auf-
gabe verſtanden und dieſe neuen Wege geöffnet haben, namentlich Ludwig
von Baiern (gleich zu Anfang ſchon durch den glücklichen Gedanken der
Arkadengemälde in München und dann durch eine Reihe großer monumentaler
Unternehmungen), Louis Philipp von Frankreich (Muſeum in Versailles).
Sie haben richtig geahnt und von oben gefördert, wiewohl ſie nicht gleich-
zeitig von unten die Kluft der Stände durch Inſtitute für gründliche
Volksbildung zu tilgen und ſo ihrer Schöpfung den organiſchen Boden
zu bereiten gewußt haben. Monumente der Baukunſt, plaſtiſche Denkmale
[72] großer Männer, Fresken in Kirchen und andern öffentlichen Gebäuden
ſind an vielen Orten erſtanden und haben der Kunſt die Wege geöffnet,
wo Gedanke und Compoſition aus dem rechten Elemente, dem des
öffentlichen, geſchichtlichen Bewußtſeins, ſchöpfen kann. Die fürſtliche Pflege
kam dabei allerdings dem gleichzeitigen Drange des Publikums und der
Kunſt entgegen. Die Muſik erfriſchte ſich am Volksliede, die Poeſie kehrte
dahin zurück, wo Göthe mit ſeinem Götz begonnen hatte, freilich ohne
viel vorwärts zu bringen (vergl. §. 484); die Schauſpielkunſt ſuchte zu
folgen. König Ludwig von Baiern hat vielleicht mehr für die Kunſt
gethan, als je ein Monarch, doch hat er ein ſchon begonnenes neues Leben
vorgefunden, und ſo verhält es ſich mit aller Pflege der Kunſt durch
Monarchen: ſie erſtarkt im Bürgerthum und die monarchiſche Sonne
gewinnt ihr nur die letzten, reichſten Blüthen ab. In Florenz war gereift,
was kunſtliebende Päbſte zum höchſten Glanze riefen, im griechiſchen Volke,
was Perikles und ſpäter Alexander d. Gr., jener ſelbſt ein republicaniſches
Haupt, zu den höchſten Leiſtungen ſteigerten. Shakespeare war ein Volkskind
und arme bürgerliche Prinzipalſchaften haben die deutſche Schauſpielkunſt
zur Reife gebracht. Neben den Anfängen einer öffentlichen, monumentalen
Kunſt beſteht in der Gegenwart die Kabinetskunſt noch fort und zwar in
ungleich größerem Umfang natürlich, als jener nie ganz zum Verſchwin-
den beſtimmte Unterſchied zwiſchen Kennern und Nichtkennern es an
ſich bedingt. Man bedenke nur z. B. wie lang es noch dauern muß, bis
das Volk in ausgedehnteren Kreiſen die Schönheit der Landſchaft verſteht,
aber eine Behandlung wie die von Rottmann, muß auch in dieſem Gebiete
gewaltig und im edelſten Sinne populariſirend wirken.


2. Dieß Wurzelſchlagen der Kunſt im Volksboden ſetzt nun freilich,
wenn es zum Ziele gedeihen ſoll, neue Zuſtände des ganzen Staats-
und Geſellſchaft-Lebens voraus, wie ſchon zu §. 507, 3. (vergl. die Anm.
zu §. 484) angedeutet iſt. Die Kluft der Stände kann nicht ohne die
Hilfe großer politiſcher Reformen überwachſen, die zerfahrene Bildung nicht
ohne neue vollere Strömung des Bluts im Körper der Nationen zurück-
kehren in Fülle und Freude des Gefühls. Bis dahin muß aber wenigſtens
das Mögliche geſchehen: die höhere Pflege der Kunſt muß der Zufällig-
keit wahrer Kunſtliebe in der wechſelnden Perſon der Monarchen entnom-
men und zu einer Cultus-Angelegenheit (vergl. namtl. Oſten a. a. O.)
gemacht werden. Die Cultminiſterien, geführt von den Volksvertretungen,
haben nicht nur die Erziehungsanſtalten für die Kunſt (von denen hier
noch nicht die Rede iſt) zu leiten, ſondern namentlich die architektoniſchen
Unternehmungen für die Zwecke des Staats zum Mittelpunkte der höheren
Hebung der bildenden Künſte zu machen, die Hoftheater in National-
theater umzuwandeln und von dieſem Mittelpunkt aus insbeſondere Muſik
[73] und Poeſie zu fördern, dem Gottesdienſt einen höhern künſtleriſchen Aus-
druck zu geben. Der Zuſtand, den wir als einen künftigen vorausſetzen
und hoffen, muß allerdings zugleich die immanente Religion erzeugen,
welche ohne Mythus die großen geſchichtlichen Stoffe der Menſchheit, die
ihr Cultus zum Gegenſtand haben wird, dem Künſtler als ſichere Fundgrube
monumentaler Schöpfungen anweist. Mit der Leitung der Kunſt von
oben muß aber eine Volks-Erziehung Hand in Hand gehen, wie ſie im
gegenwärtigen Dualismus von Kirche und Staat freilich überhaupt nicht
möglich iſt. Denken wir uns den Kunſtſinn im Volke als einen durch
dieſe verſchiedenen Beſtrebungen entwickelten, ſo muß, wie im Alterthum
und Mittelalter, die Gemeinde und Körperſchaft es ſein, die das Beſte
für die Kunſt thut. Das Bewußtſein aber, ein lebendiges Glied des
Volks und Staats zu ſein, iſt allein die wahre Lebensluft, worin die Gedanken
des Künſtlers in großen Entwürfen frei und lebendig ſich entwickeln können.


§. 509.

Nur in den §. 505 und theilweiſe in den §. 507 aufgeführten Zuſtänden
wird die äſthetiſche Urtheilsfähigkeit mit dem Geſchmacke (vergl. §. 79) ver-
wechſelt und der Künſtler davon abhängig gemacht. Eine bleibende Anwen-
dung dieſes Begriffs auf dem äſthetiſchen Gebiete kann nur inſofern berechtigt
ſein, als ſie in poſitivem Sinne die äußerſten Grenzen des Kunſtwerks im
Auge hat, an welchen daſſelbe mit dem öffentlichen Urtheil über anhängende
Schönheit in Berührung kommt, in negativem Sinn Alles, was den Forderungen
des Schönen widerſpricht, als überdieß dem ausgebildeten Gefühle für das
Angenehme und Schickliche widerſprechend bezeichnet.


Es iſt auf dieſem Puncte der Begriff des Geſchmacks noch einmal
aufzunehmen; denn hier iſt die Rede von dem geiſtigen Elemente, wel-
ches den Künſtler und das Publikum gemeinſam trägt und aus welchem
jener Förderung und Zucht oder Hemmung und Verführung ſeiner inneren
Thätigkeit entnimmt. Geſchmack nun, ſei es ein richtiger oder ein unrich-
tiger Begriff, bezeichnet jedenfalls ein ſolches gemeinſames Element, einen
Reflex von gewiſſen Forderungen des Publikums im Geiſt und Gefühle
des Künſtlers, näher eine Eigenſchaft, vermöge deren er ſich jenen For-
derungen zugebildet hat und zwar in der Weiſe der Ausführung des
Kunſtwerks, ſo jedoch, daß dieſe Weiſe der Ausführung ihren Grund im
innerſten Fühlen, geiſtigen Taſten hat. Zunächſt nun erklärt es der §.
für eine Verirrung, wenn dieſes gemeinſame Element als Geſchmack auf-
gefaßt wird; denn Geſchmack iſt im §. 79 als ein Sinn für die blos
anhängende Schönheit, die Miſchung des Schönen mit dem Angenehmen
und ſittlich Schicklichen beſtimmt worden. Einfach gilt nun dieſes Urtheil
[74] jedenfalls von dem in §. 505 dargeſtellten Zuſtande. Da iſt nämlich das
ideal Schöne in ſeiner hohen Freiheit überhaupt dem Publikum unbekannt
und fern, der Schönheitsſinn daher auch nicht in ihm entwickelt, ſondern
ein conventionelles Gefühl hat ſich ausgebildet, das eigentlich auf das
Angenehme und Schickliche geht, und dieſem ſoll die Kunſt nicht etwa
beiläufig, ſondern im Mittelpuncte ihres Werkes und als oberſtem Geſetze
dienen. Das Wort Geſchmack ſchon zeigt an: man legt das Werk der Kunſt
prüfend, dem Weinſchmecker ähnlich, auf die Zunge und urtheilt nun
ſo nicht über ſeine Idealität, ſeine künſtleriſche Compoſition, den reinen
Schwung ſeiner Formen, ſondern ob es jenen conventionellen Sinn mit
feiner und ſüßer Oberfläche wohlthuend reize oder mit grober und harter
beleidigend abſtoße; für dieſe feine Zunge zu arbeiten macht ſich nun
der Künſtler zur Aufgabe, ſo daß er ſtatt des Schönen das Delicate giebt.
Mit der Befreiung der Kunſt aus der ariſtokratiſchen Ausſchließlichkeit und
Convenienz nahm dieſe Verwechslung nicht alsbald ein Ende, wie denn
noch Kant trotz ſeiner ſcharfen [Unterſcheidung] zwiſchen freier und anhän-
gender Schönheit den Sinn für jene durchgängig als Geſchmacksurtheil
auffaßt. Aber ſelbſt als eine reine Kunſt und ihre Erkenntniß längſt be-
ſtand, hielt man den Begriff noch feſt und zwar jetzt neben dem Begriffe
des Schönheitsſinnes, ſo nämlich, daß man zwei Stufen unterſchied, eine
inſtinctive und eine gebildete, und die letztere nannte man Geſchmack; ſo
noch Hegel (Aeſth. B. I. S. 45. Geſchmack iſt gebildeter Schönheitsſinn).
Nicht dieſe Feſthaltung kann die richtige ſein, denn Geſchmack muß immer
etwas Niedrigeres bezeichnen, als das Organ der Aufnahme des Schönen
iſt, und die Ausbildung macht daher den Schönheitsſinn nicht zum Ge-
ſchmack, ſondern erſt wahrhaft zum Schönheitsſinn, aber es muß doch
etwas in dem Begriffe liegen, was ſeine Beibehaltung ſelbſt in dem rein
äſthetiſchen Gebiete begründet. Dieß findet denn der §. darin, daß eben-
daſſelbe, was ſeinem wahren Weſen nach dem Schönen angehört und nur
von dem Sinne des Schönen, d. h. der Phantaſie, aufgenommen ſein
will, in zweierlei Beziehungen mit einem gewiſſen Rechte auch unter den
Standpunct jener untergeordneten Auffaßungsweiſe gezogen werden kann:
einer poſitiven und einer negativen. Faſſen wir zuerſt jene, obwohl die
negative weit die bedeutendere iſt, ins Auge, ſo ſind es offenbar nur
die äußerſten Spitzen des Kunſtwerks, in welchen es ſich mit dem Zu-
ſchauer nach der Seite des Geſchmacks berührt. Es ſind einzelne
Ornamente in der Architektur, Faltenlegung der Gewänder und dergl. in
der Plaſtik, in der Malerlei Koſtüm, Farbenverhältniſſe auf einzelnen
Puncten (denn die Farbenharmonie im Ganzen und Großen liegt hoch
über dieſem Gebiete), Zierrathen eines Muſikſtücks, einzelne Bilder, Ver-
gleichungen, Wendungen in der Poeſie. Nun müßen allerdings auch
[75] dieſe Ausläufer eines Kunſtwerks vom innern Quellpuncte des Ganzen,
alſo von dem Schöpfungsacte der Phantaſie aus beſtimmt ſein, allein hier
trifft die Kunſt auf eine Region, wo das äſthetiſche Kriterium mit jenem
eigenthümlichen Prüfungsorgane ſich miſcht, das in der geſelligen Welt
in der Sphäre des Angenehmen und Schicklichen, wie ſie ſich mit dem
Schönen ſecundär verbindet, entwickelt und gebildet wird. Dieß iſt dann
ein geſchichtlich beſtimmtes Element, man kann es ſich am beſten deutlich
machen an dem Beiſpiele Shakespeares und ſeiner Zeit: er und ſie hatten
unendlich mehr, als Geſchmack, allein es war die Epoche der Schnörkel
der renaissance (zwar noch ſehr verſchieden vom Rokoko), wie in Bau-
kunſt und Geräthen, ſo in der Dichtung; dieſe Schnörkel fehlen bei
Shakespeare nicht, ſie gefielen ihm und ſeiner Zeit: das war Geſchmack
und zwar hier ein ſchlechter. Negativ aber dehnt wohl auch ein Solcher,
der Geſchmack und Phantaſie keineswegs verwechſelt, den Geſchmacks-
begriff ungleich weiter aus, ſo daß er ſelbſt die der idealen Erfindung
näher liegenden Gegenden eines Kunſtwerks, ſofern er ſie als verfehlt
bezeichnen will, unter ihn befaßt. Dieß geſchieht nun entweder nur in
ganz ungenauer Bezeichnungsweiſe, oder es geſchieht mit dem Vorbehalte,
daß jene höheren Seiten allerdings eigentlich unendlich hoch über der
bloßen Geſchmacksfrage ſtehen, daß aber die Verletzungen der äſthetiſchen
Geſetze nebenher auch Verletzungen des Geſchmacks ſind. Wenn man
nämlich fragt, was denn eigentlich geſchmacklos und abgeſchmackt ſei, ſo
weiß man nichts zu nennen, wofür nicht das äſthetiſche Urtheil ein anderes
Wort hätte: Verſtöße gegen die Grundgeſetze einer Kunſt (z. B. einen
ſchiefen Thurm), grobe Compoſitionsfehler (unmäßige Ausbildung und
Hervorhebung untergeordneter Theile, unſinnige Motivirung und dergl.),
verſchrobene Formen, Fall aus dem höchſten Schwung in die Proſa,
häßliche, falſche Grazie, Schwulſt ſtatt des Erhabenen, geſuchten Witz:
alles dieß nennen wir geſchmackswidrig, während es doch weit mehr,
nämlich äſthetiſches Vergehen iſt, aber wir nennen es ſo, weil es zum
Unſchönen auch noch unangenehm iſt und Maaßbegriffe verletzt, die
ſich in der Geſellſchaft ausgebildet haben. Wir ſtellen uns, wenn wir
äſthetiſche Fehler als Geſchmacksfehler bezeichnen, vor, als führe ſich das
Kunſtwerk als Mitglied in eine gute Geſellſchaft von geläutertem und
feinem Gefühle ein, und jene Fehler erſcheinen uns nun ſo, wie wenn
dieſe Perſon durch Unpaßendes im Anzuge, durch barocke Reden und Ge-
bärden jenes Gefühl verletzte. Es iſt alſo jedenfalls eine Uebertragung
des Forums: der Künſtler wird vor zwei Gerichtshöfen verurtheilt; und
dieß mag hingehen, wenn man ſich dieſer Dopplung bewußt iſt; wo man
ſie aber verwechſelt und das Geſchmacksforum für identiſch mit dem Schön-
heitsforum hält, da handelt man ebenſo, wie Einer, der die Plaſtik vom
[76] Standpuncte des Schneiders beurtheilte, und ein Künſtler, der ſich dieſem
Forum als dem competenten und wahren ſtellt, hat auf das Schöne
verzichtet und ſich dem Schneider unterworfen, wo denn in dieſer Rückſicht
auf ſalonmäßige Taille alle Freiheit der innern Anſchauung und Organiſation
eines Kunſtwerks verſchwindet.


β.
Der Rückblick auf das Naturſchöne.

§. 510.

Die Unreife (§. 492) des erſt innern Ideals erweist ſich im Uebergange
zur Ausführung auf der andern Seite als eine Verwiſchung der Beſtimmtheit
und Lebendigkeit, die der Geſtalt des naturſchönen Gegenſtands, welcher die
Phantaſie zu einer Erfindung begeiſtert hat, eigen war. Die Schuld gegen
das Naturſchöne (§. 488) nimmt daher beſtimmtere Form an: es ergibt ſich,
daß die erſte Anſchauung nicht genügt, daß der Künſtler auf jenes mit neuer
Intention zurückblicken muß, was eine Uebung und Bildung des Anſchauungs-
vermögens vorausſetzt.


Alles Angeſchaute, in den Geiſt gezogen und hier als inneres Bild
ſchwebend, verliert an Beſtimmtheit und Schärfe, es wird hingenommen
in den bewegten Fluß der geiſtigen Allgemeinheit, worin die Deutlichkeit
des Einzelnen, der Umriß erzittert und verſchwimmt. Schon zu §. 492
mußte die neue Aufgabe, welche hier erſteht, mit der Bemerkung einge-
leitet werden, daß die Phantaſie, obwohl ſie mehr iſt, als die Einbildungs-
kraft, doch mit dieſer das Schwanken der Umriße (vergl. §. 388) theile.
Sie gebietet allerdings der gaukelnden Unruhe der Einbildungskraft
Stillſtand und reduzirt das Zerfließende und Verſchwommene zur Beſtimmt-
heit und klaren Begrenzung, allein ihr ebenfalls nur inneres Bild muß,
obwohl den Träumen der Imagination gegenüber klar und ſcharf, gegen-
über den nun aufgetretenen Forderungen der äußern Objectivität mit
jenem allgemeinen Mangel noch behaftet ſein. Auch dieß bekommt der
Künſtler in der Ausführung der Skizze zu fühlen: hier gilt es beſtimmte
Zeichnung, beſtimmte Farben, Töne, Bilder, und er muß ſich ſagen, daß
dieſe vor ſeinem Innern ſo klar nicht ſtehen, als er in der Freude des
innern Entwerfens, in der Stunde der Viſion, da das Ideal wie ein
glänzendes Traumbild vor ihm erſchien, es glaubte. Die Unbeſtimmtheit
wird ſich ebenſo über Bewegungen, Handlungen, Sitten, wie über feſte
ſichtbare Formen erſtrecken. Die Poeſie führt zwar ihr Werk auch nur
der innern Vorſtellung vor, aber die relative Unbeſtimmtheit, welche darum
das Sichtbare in ihrer Darſtellung haben darf, unterliegt doch immer noch
[77] ganz andern und ſtrengern Bedingungen, als die Unbeſtimmtheit des innern
Entwurfs vor der Ausführung, ſei es in welcher Kunſt es wolle; eben
in der Poeſie aber handelt es ſich ja weſentlich auch von Hand-
lungen, Charakteren, Sitten, und wie ſich der Maler bei der Entwerfung
der Skizze fragt: wie iſt denn das Ding, wie ſieht es denn aus? und
wie dieſer findet, daß er es zu wiſſen meinte und vielmehr nicht weiß,
ebenſo fragt ſich der Dichter: was thut, wie gebärdet ſich, wie ſpricht
dieſe Gattung Menſchen, dieß Individuum in der und der Situation? und
auch er muß ſich oft genug ſagen, daß er ſich das Ding erſt noch einmal
anſehen muß, ehe er auch nur die Skizze vollenden kann. Die erſte An-
ſchauung muß alſo wiederholt werden; iſt der Anſtoß zur Erfindung nicht
von der eigentlichen Anſchauung ausgegangen, ſondern von einem durch
Ueberlieferung vermittelten Bilde (§. 386), ſo wird der Künſtler vielleicht
überhaupt erſt in dieſem Momente ſuchen, das blos durch Kunde innerlich
Geſchaute wirklich zu ſchauen, wie denn z. B. Schiller ſich den Ton, Schnitt
und Manier des öſtreichiſchen Militärs anſah, als er Wallenſteins Lager
ſchon concipirt hatte. Doch kann auch in dieſem Falle etwas dem Geleſenen,
Gehörten, überhaupt nur Vorgeſtellten Aehnliches an dem äußern Auge
mehrfach ſchon früher vorübergegangen ſein, nur daß es nicht mit Auf-
merkſamkeit angeſchaut worden iſt. In allen Fällen muß aber jetzt die
Anſchauung des Gegenſtands mit einer Intention vollzogen werden, wie
ſolche der erſten Anſchauung, obwohl dieſe an ſich bereits etwas Anderes,
nachdrücklicher Erfaßendes iſt, als die gewöhnliche Wahrnehmung, nicht
inwohnte: die Abſicht der wirklichen Darſtellung legt dieſer erneuten An-
ſchauung eine verdoppelte Anſtrengung der Organe, Concentrirung des
Geiſtes und Kraft der Aneignung bei. Dieß ſetzt nun freilich zugleich
eine durch frühere Verſuche, Schulbildung, wirkliche Kunſtpraxis erlangte
Uebung der Anſchauung voraus: eine Anticipation, die hier nicht zu
vermeiden und auf welche ſchon zu §. 388, 1. (B. II. S. 325) hingewieſen
iſt. Der Künſtler ſieht und beobachtet anders, als der Laie; wer ſchon
gezeichnet, gemalt, dichteriſch geſchildert hat, und zwar mit innerem Beruf,
deſſen Anſchauen iſt ein haarſcharfes inneres Nachzeichnen, Nachbilden.
Es wird aber dieſe wiederholte Anſchauung auch bereits ſo vorgenommen
werden, daß mit dem Anſchauen auch die techniſche Nachbildung verbun-
den wird, ſo daß wir hier in noch beſtimmterem Sinn einen Theil der
Technik vorausnehmen müßen; dieſe Vorausnahme iſt zu rechtfertigen,
nachdem verſchiedene Fälle und Formen unterſchieden ſein werden.


§. 511.

Dieſes Zurückblicken iſt zunächſt ein vom Künſtler ſtetig geübtes auf-1
merkſames Umherſchauen auf alle Lebenserſcheinungen, welche überhaupt in das
2
[78] Gebiet gehören, das ſeine individuelle Phantaſie umfaßt. Es iſt aber auch ein
ausdrückliches Beobachten einer einzelnen Erſcheinung, welche einen Theil des
Stoffes eines angelegten Kunſtwerks bildet. Eine dritte Form iſt die Beob-
achtung der menſchlichen Geſtalt in Folge einer eigentlichen Beſtellung: das
Modell, und ihrer feſtgehaltenen Bewegung: der Act, was ſowohl zum
Zwecke des Studiums überhaupt, als auch des Studiums für ein einzelnes
Kunſtwerk geſchehen kann; ein Mittel, das, begleitet von den zwei erſten,
mehr zufälligen, Formen und getragen von der ſchöpferiſchen, organiſirenden
Idee ebenſo ungefährlich, als unentbehrlich und von dem mechaniſchen Sammeln
des Eklektikers grundverſchieden iſt.


1. Der ganz eigene Fall, in welchem ſich die Künſte, die kein be-
ſtimmtes Vorbild in der Natur haben, Baukunſt und Tonkunſt, gegenüber
der jetzt entſtandenen Forderung befinden, kann hier nicht weiter erörtert,
ſondern nur ſo viel vorläufig angedeutet werden, daß ihnen das wieder-
holte Anſchauen der eigenen Objectivirung des Entwurfs in der Skizze und
theilweiſen vorläufigen Ausführung derſelben, das wiederholte Vertiefen
in Bauzweck, Umgebung, Idee und Stimmung des Ganzen die aufmerkſa-
mere Anſchauung eines naturſchönen Objects erſetzen muß. Aber auch
dem allgemeinen, den bildenden Künſtler, Dichter, Schauſpieler ungeſucht
durch das Leben begleitenden ſcharfen und hellen Anſchauen der Erſchei-
ſcheinungswelt, dem „luſtigen und freudigen Umherſchauen“ (Rumohr.
Italien. Forſchungen B. I. S. 77) muß in jenen Künſten ein inniges
Blicken auf Formen, ein Horchen auf Naturſtimmen und Herzensſtimm-
ungen entſprechen. Der Künſtler überhaupt nun wandelt mit andern
Augen durch die Welt, als der Laie; er zeichnet ſich nicht nur durch
angeborne Friſche und Allſeitigkeit der Anſchauungsgabe aus, ſondern be-
obachtet auch mit beſtimmtem Bewußtſein immer, er ſieht nicht nur mehr,
nicht nur deutlicher, ſondern die Erſcheinungen werden ihm auch ſchon
im Beſchauen zum reinen Scheine (§. 54), er iſt im Mitſpielen mehr Zu-
ſchauer, als der gewöhnliche Menſch, der mehr nur Mitſpieler iſt, und
Arioſto ſtudirte an ſeinem Vater, während dieſer ihn ausſchalt, geduldig
zuhörend einen polternden Alten. Der Künſtler ſammelt jederzeit, ſein
Geiſt iſt ein lebendiges Skizzenbuch. Dem griechiſchen Künſtler vertrat
lange das Leben mitten in der Schönheit mit vollen und offenen Augen,
das Anſchauen derſelben in Gymnaſien und Paläſtren, bei feſtlichen Reigen
und Tänzen die ausdrücklicher veranſtalteten Studien für das einzelne
Werk (ſ. C. Fr. Hermann. Ueber die Studien der griech. Künſtler),
erſt ſpäter, nach der Zeit des Phidias, tritt theilweiſe ein, was der §.
als dritte Form aufführt. Ein beſonders reiches Bild des ſtets offenen,
ſtets geſammelten Künſtlerblicks, den wir fordern, bildet das allſeitige,
unermüdlich ſammelnde Belauſchen des Ausdrucks der menſchlichen Er-
[79] ſcheinung durch Leonardo da Vinci; um aber auch Dichter anzuführen:
wie muß Homer Shakespeare, Göthe die Augen immer offen gehabt
haben! Hauptſächlich auch am Schauſpieler iſt es klar, wie der Künſtler
das innere Urbild der menſchlichen Charakter-Erſcheinung, das ihm ſeinen
Künſtlerberuf gibt, durch ſtetige allſeitige Beobachtung ausfüllen und
verſchärfen muß.


2. Das vorhin geforderte ſtetige Umſchauen iſt, wie ſchon bemerkt,
ein bewußteres, gewollteres gegenüber der natürlichen Friſche der An-
ſchauung, von der in §. 385 und 392 die Rede war, es unterſcheidet ſich davon
weſentlich als eine Thätigkeit, welcher die Erfahrung vorangegangen iſt,
daß das unmittelbare Anſchauen (obwohl dieß ſelbſt ſchon ein energiſcherer
Act iſt, als das gewöhnliche Sehen) nicht genügt, ſondern daß der Wille
mit Bewußtſein hineingelegt werden muß. Dieß iſt eigentlich ſchon Be-
obachten, wir gebrauchen aber dieſen Ausdruck erſt von einem Acte, wel-
chem gegenüber dieſe Thätigkeit ſelbſt wieder als eine mehr zufällige,
unabſichtliche erſcheint, nämlich von der beſondern Vornahme eines einzel-
nen Gegenſtandes zum Zwecke der intenſiv verweilenden Anſchauung für
ein einzelnes Kunſtwerk, das ſchon in der Compoſition begriffen iſt, wie
dafür zum vorh. §. ein Beiſpiel von Schiller bei der Ausführung von
Wallenſteins Lager gegeben iſt. So wird z. B. auch der Landſchaft-
maler, wenn er das nach dem Vorbild einer wirklichen Landſchaft erzeugte
höhere Phantaſiebild ſkizzirt hat und auszuführen gedenkt, entdecken, wie
viele Einzelformen ihm zu unbeſtimmt vorſchweben: da muß er das Zim-
mer verlaſſen und ſich Baum, Buſch, Schlingpflanze, Erdformen, Licht,
Luft, Waſſer genauer anſehen; aber auch dieſe beſtimmtere Form iſt
wieder zufällig zu nennen gegenüber einer noch beſtimmteren, wo Er-
ſcheinungen des Naturſchönen ihrem Ort entnommen und zum gründlichen
Beſehen in das Atelier des Künſtlers verpflanzt werden. Hier tritt
jedoch der Gegenſatz von zufällig und abſichtlich noch einmal auf, nur
daß er ſich jetzt auf eine andere Seite der Sache bezieht, nämlich
darauf, ob der Gegenſtand der Beobachtung unterzogen wird, ohne
darum zu wiſſen (weil er überhaupt dem Reiche des Bewußtloſen
oder blos thieriſch Beſeelten angehört) oder ſo, daß er davon
weiß. Der erſtere Fall bezieht ſich auf künſtliche Beleuchtungen
des Ateliers, den Gebrauch von Gliederpuppen für Koſtüm, Falten-
gebung und dergl., auf Geräthe, Pflanzen, lebendige oder todte
Thiere, die der Künſtler vor ſich nimmt, aufſtellt, aufhängt. Dieſe
Mittel wird Niemand verwerfen, vorausgeſetzt nur, daß der Künſtler
ihre Mangelhaftigkeit fühlt und durch ſonſtige freie Beobachtung des
Lebens, durch helles inneres Schauen ergänzt; aber ſchwieriger wird die
Sache im zweiten Fall. Mit jenem Wiſſen nämlich tritt etwas Neues
[80] und auf den erſten Blick ſehr Bedenkliches in die Vorarbeiten des Künſt-
lers ein. Zu §. 379 (B. II. S. 303) iſt geſagt: „ſo ſehr iſt das Nicht-
gewolltſeyn Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als wenn
in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.“
Schon dort iſt aber dieß auch auf die Nachahmung des Gegenſtands
durch die Kunſt übergetragen und zum voraus gefordert worden, daß
derſelbe in ihrer Darſtellung den Ausdruck der Unabſichtlichkeit haben
müße, weil ſonſt alle äſthetiſche Wirkung verloren gehe. Nun aber wird
eine Perſon beſtellt, um ſich vor dem Künſtler ſehen zu laſſen und aus-
zuhalten, während er ſie beobachtet und zugleich abbildet; dieſe Situation
gibt ihrer ganzen Erſcheinung den Ausdruck des Wiſſens um das Dar-
geſtelltwerden, und dieſer Ausdruck iſt zunächſt ein Ausdruck des Geſpannt-
ſeins, dann der Eitelkeit, endlich aber, da die Sache langweilig und an-
ſtrengend wird, der Ausdruck des Abgeſpanntſeins, der Todtheit. Wir
führen zunächſt das Porträtſitzen an, wiewohl es ſtreng genommen nicht
in dieſen Zuſammenhang gehört, denn da gilt es, eben dieſe Perſon
abzubilden, zwar ſo, daß aus ihrer empiriſchen Erſcheinung das Urbild
ihres Weſens ausgeſchieden wird, doch nicht, um eine Ideal-Perſon hin-
zuſtellen, die zugleich individuell und zugleich Repräſentant einer ganzen
Sphäre ſein ſoll, wie im freien Kunſtwerk, ſondern die Grundlage bleibt
immer, daß dieſer Einzelne als ſolcher kenntlich dargeſtellt werde; auch
wird mit dem Sitzenden kein Act vorgenommen, ſo daß er eine beſtimmte
Bewegung, einen beſondern ausdrucksvollen Moment, Leidenſchaft u. ſ. w.
nachzuahmen hätte, daher iſt weniger Anlaß zum Ausdruck der Eitelkeit,
und doch ſieht man ſo vielen Bildniſſen zugleich mit der abgeſpannten
Geſpanntheit auch an, daß der Sitzende ein Geſicht gemacht hat.
Man verlangt daher vom Porträtmaler, daß er ſeine Beobachtung wäh-
rend des Sitzens durch eine ſonſtige wiederholte Belauſchung und durch
die aus ihr entwickelte geniale Intuition des rein ausdrucksvollen Urbilds
der Perſon ergänze. Wenden wir nun dieß auf das Modell und den
Act an, wobei wir von Modellſtudien zum Behufe der allgemeinen Ue-
bung, abgeſehen von der Benützung des einzelnen Modells für ein beſon-
deres Kunſtwerk, abſtrahiren, weil dieß noch nicht in unſern Zuſammen-
hang gehört. Zunächſt ſollte man meinen, das Modell gebe für den
Zweck des Kunſtwerks, das im Individuellen ja immer ein Allgemeines
darſtellt, zu ſehr blos individuelle (beſchränkt porträtartige) Züge. Es
giebt allerdings Kunſtwerke, denen man in dieſem Sinne das Modell an-
ſieht; z. B. Riedels Medea, Judith, Sakontala geben zu erkennen, daß
hier ein ſinnvoller höherer Genremaler, aber nicht Hiſtorienmaler ein
weibliches Modell gefunden, das ihm paſſend ſchien, mit einem jener
hiſtoriſchen Namen getauft und ſo dargeſtellt zu werden: ein intereſſanter
[81] Fall falſcher Verknüpfung einer empiriſch einzelnen Anſchauung mit einem
durch Erinnerung und Sage verallgemeinerten, idealiſirten Bilde einer
Einzelperſon und nützlich zur näheren Beſtimmung unſeres Satzes,
daß die Schöpfung des Ideals ausgehen müſſe von der Findung eines
naturſchönen Gegenſtandes (§. 393); denn wenn es ſich von einem
großen hiſtoriſchen Stoff aus der Vergangenheit handelt und Porträts
von den darin auftretenden Perſonen nicht erhalten ſind, ſo kann dieſer
Satz nur bedeuten, daß das Bild desſelben in der Form der Ueberliefe-
rung (§. 386) vor die Phantaſie tretend ſie begeiſtere, Erſcheinungen aus
der Gegenwart und wirklichen Anſchauung können dabei nur nachträglich,
ſofern ſie dem in der Phantaſie frei aufgetauchten Bilde entſprechen, als
nachhelfende Momente benützt werden, überhaupt aber geht es nicht wohl
an, Charaktere aus der Vergangenheit oder alten Sage, von denen kein Bild-
niß fixirt iſt, vereinzelt und ohne Handlung als Porträt darzuſtellen.
Gewöhnlich jedoch zeigt ein unter Abhängigkeit vom Modell entſtandenes
Kunſtwerk den entgegengeſetzten Mangel: der Künſtler ſieht dem Modell
nur allgemeine Formen ab und bringt ein abſtractes Bild ohne Indivi-
dualität zu Stande, ja ſogar das Nationale verwiſcht ſich und die Act-
zeichnungen aller europäiſchen Akademieen gleichen ſich auffallend (vergl.
Rumohr a. a. O. Th. I. S. 69). Dieß hat ſeinen Grund in der Ertödtung
aller Zufälligkeit, alſo auch Individualität durch die Abſichtlichkeit der
Stellung des Models und in dem das allgemeine Schema der Formen
und Bewegungen aus dem Individuellen kalt herausſuchenden Auge des
in ſolcher Weiſe abhängigen Künſtlers. Der Ausdruck der Geſpanntheit,
Affectation und Abſpannung kommt hinzu und gibt einem ſo entſtandenen
Bilde den Charakter der Gliederpuppe. Darum iſt aber nicht alle
Benützung des Modells verwerflich; es ſtände auch ſchlimm, wenn es ſo
wäre, da nicht abzuſehen iſt, woher dann der Künſtler, namentlich bei der Dar-
ſtellung des Nackten der moderne, die Mittel nehmen ſollte, ſich das
Unbeſtimmte der blos innern Vorſtellung zu ergänzen. Es muß etwas
dem Aehnliches, was wir vom Porträtmaler gefordert haben, nur weiter
und tiefer bei dem höheren Kunſtwerke, mit dem Modell geſchehen und
der §. ſtellt dieß feſt, indem er die Bedingung ſetzt, daß die allgemeine
und die ausdrücklich einzelne Beobachtung des Lebens in der Wärme
ſeiner ſich nicht belauſcht wiſſenden Zufälligkeit und das lebendige Ideal
im Geiſte des Künſtlers als tragende und organiſirende Kraft das
Modell frei verarbeiten müße, ſo daß es, in den lebendigen Fluß der innern
bildenden Thätigkeit gezogen, der darzuſtellenden Erſcheinung ſeine Natur-
beſtimmtheit und Lebenswärme abgibt, während das im ſtörenden Sinn
Zufällige ſeiner Individualität und ebenſo der todte Schematismus ſeiner
Gezwungenheit von jenem innern Bilde wie von einem Feuer verzehrt

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 6
[82]wird. Von dieſem Standpunct aus leuchtet nun die Nothwendigkeit ein,
daß der Künſtler für Ein Werk mehrere Modelle benütze. Zunächſt for-
dert dieß die Unvollkommenheit jedes Naturſchönen als eines Einzelnen;
da nun aber die Anſammlung mehrerer unvollkommener Erſcheinungen
immer noch keine Vollkommenheit macht, ſondern der Schein des Voll-
kommenen rein das Werk der Phantaſie iſt, ſo kann die Benützung meh-
rerer Modelle eben nur die Bedeutung haben, daß der Phantaſie durch
ein Vergleichen gegebener Natur-Erſcheinungen der Stoff gegeben werde
für die organiſche, freie That, und zwar jetzt, nachdem wir die That
der Idealſchöpfung an ſich längſt hinter uns haben, der That in dem
Sinne einer zweiten, die erſte, blos innere, zum Ausdruck der vollen
Lebenswärme und Naturbeſtimmtheit erhebenden Schöpfung. Daß dieß
lebendige freie Vergleichen und Einſchmelzen in die Einheit des innerlich
ſchon vollendeten Bildes im §. als grundverſchieden von der mechaniſchen
Arbeit des Eklektikers bezeichnet wird, der ohne jene innere Schöpfung
ein todtes Moſaik aus einer Vielheit empiriſcher Geſtalten zuſammenliest,
bedarf keiner weitern Begründung. Zeuxis hat aus den Mädchen von
Kroton, die ihm für ſeine Helena Modell ſtanden, keine Allgemeinheit im
Sinn der Schule der Caracci zuſammengeſetzt; daß die Griechen in der
Zeit nach Phidias das Modell vielfach und namentlich in dieſer Art der
Benützung mehrerer Modelle gebrauchten, darüber vergleiche C. Fr.
Hermann a. a. O. S. 29. 30, der auch Belege aus der gleichzeitigen
Philoſophie, daß ſie dieß Verfahren als ganz gerechtfertigt anſah, und
die Bemerkung von Quatremére de Quincy (Essai sur l’ imitation S. 246)
zu Cicero Or. c. 3 (vergl. zu unſ. §. 389 B. II. S. 360) anführt:
„Cicéron a spécifié le genre d’ imitation individuelle, au quel ne se
bornait pas le travail de Phidias; je dis au quel ne se bornait pas,
parceque prétendre, qu’on ne fait pas la copie ou le portrait d’ un
modéle seul, n’est pas prétendre, qu’on ne se sert d’aucun modéle“.
Uebrigens
hat das Modell ſeine Bedeutung nur für Form in der Ruhe, Farbe,
für die Bewegung, ſofern ſie nicht zu ſtark iſt, um ſie willkührlich bervor-
bringen und einen Moment derſelben feſthalten zu können; für den
Geſichtsausdruck der Leidenſchaft iſt es durchaus nicht zu gebrauchen und
was von Peinigung der Modelle zu dieſem Zweck erzählt wird (Seneca
berichtet ſchon von dem athen. Maler Parrhaſius, er habe einen Kriegs-
gefangenen gekauft und gepeinigt, um nach ihm einen Prometheus
darzuſtellen), gehört zu den Verzerrungen der Kunſt. — Mit dieſen Be-
merkungen iſt erledigt, was zu §. 398, 2. als eine dort noch nicht zu
erörternde Frage über nachträgliches Benützen eines einzelnen Natur-
ſchönen bei der Ausführung des innern Bildes angekündigt iſt.


[83]
§. 512.

Die erneuerte Anſchauung und ausdrückliche Beobachtung ſetzt aber nicht
nur eine allgemeine Uebung des Anſchauungs-Vermögens (§. 510), ſondern
nach eine Bildung deſſelben durch wirkliche Thätigkeit am Materiale (§. 491)
voraus, ja ſie läßt ſich von der letztern ſo wenig trennen, daß dieſelbe wenigſtens
mit den ausdrücklicheren Weiſen des Anſchauens (§. 511, 2.) entweder als vor-
läuſige verſuchsweiſe Ausführung einzelner Theile des Kunſtwerks (Studien)
oder als ſchon gültige theilweiſe Ausführung bereits Hand in Hand geht.


Wir werden zu einer neuen Erörterung, der über die Technik nämlich,
noch ſtärker, als bisher, hingedrängt. Schon die früher vorausgeſetzte allge-
meine Uebung des Blicks begreift auch die Uebung durch Technik ſchon in ſich:
nur durch Darſtellen lernt man ſehen, nur das Auge erkennt Formen,
zu dem eine Hand gehört, welche ſie ſchon nachzubilden verſucht hat.
Nimmt aber nun der Künſtler ein Naturſchönes ausdrücklich vor ſich, um
das zu unbeſtimmte innere Bild deſſelben zu ſchärfen und zu beleben, ſo
ſieht er es natürlich nicht blos an, ſondern er bildet es ſogleich nach.
Auch dieſe wirkliche Ausführung muß, wiewohl es ſich nicht mehr blos
von der Vorausſetzung einer techniſchen Thätigkeit als einer vorhergegan-
genen handelt, ſondern eine ſolche nun als gegenwärtige eintritt in unſern
Zuſammenhang, hier vorausgenommen werden, denn ſie gehört zur Vor-
arbeit der Ausführung und der Accent fällt nicht auf die Technik, ſondern
auf eine erneute Anforderung des Naturſchönen an die Anſchauung und
Auffaßung. Unzweifelhaft gilt es von der ſogenannten „Studie“ (man
gebraucht das Wort im Unterſchied vom Studium als allgemeiner Bildung
der künſtleriſchen Fähigkeiten weiblich), daß ſie unter den Begriff der
Vorarbeit fällt. Ein einzelner Baum, irgend ein Landſchaftſtück, Thier,
menſchliche Geſtalt oder ein Kopf kann nun von einem Künſtler mit
voller Virtuoſität ausgeführt werden, aber ſofern die Ausführung nur den
Zweck hatte, beſtimmte Formen genau zu erfaßen und in künſtleriſcher
Nachahmung zu feſſeln mit dem Vorbehalte, dieſe Nachahmung eines Stoffs,
der nur einen Theil des Kunſtwerks bilden ſoll, bei der Aufführung des
Ganzen ſelbſt wieder nachzuahmen, iſt ſie eben eine Studie. Von Studien
nach Werken anderer Künſtler reden wir hier nicht, denn ſie haben nicht
dieſe Bedeutung, ſondern gehören zu den allgemeinen Ausbildungsmitteln
des Künſtlers. Uebrigens macht nicht nur der Bildhauer und Maler,
ſondern auch der Dichter Studien, wenn er einzelne Theile eines Ganzen
aus friſcher Erinnerung einer aufmerkſamen Anſchauung vorläufig aus-
führt, wobei natürlich die zweite Nachahmung wegfällt, wofern man nicht
die weitere Ueberarbeitung des Concepts und die letzte Schrift als ſolche
anſehen will. Wenn nun aber ein Naturſchönes als Theil eines Kunſt-

6*
[84]werks nicht blos vorläufig nachgebildet wird, ſondern während der Aus-
führung des Ganzen, die gelten und bleiben ſoll, die erneute Anſchauung
zu Hilfe gezogen und ihre Nachbildung unmittelbar in das Ganze ein-
getragen wird, ſo iſt freilich die Technik ſchon in vollem Zuge, aber das
daran, daß hier mitten in dieſem Zuge ein naturſchöner Gegenſtand zu
Hilfe genommen werden muß, gehört nicht in den Zuſammenhang der
Technik an ſich, ſondern ebenfalls in den vorliegenden, welcher die aufs
Neue hervortretenden Anſprüche des Naturſchönen darzuſtellen hat, die
wir nun in einen beſtimmten Begriff noch zuſammenfaßen müßen.


§. 513.

1

Aus der Nothwendigkeit dieſer erneuten Anſchauung erhellt der bleibende
ſelbſtändige Werth, den das Naturſchöne trotz ſeiner Aufhebung in die Phantaſie
ſo lange behält, bis die Ausführung des Kunſtwerks vollendet iſt (vergl.
§. 232, 2): es beſteht neben der Phantaſie ebenſoſehr als ihr Correctiv, als ſie
2ſein Correctiv iſt. Hienach erſt erledigt ſich vollſtändig die Streitfrage über die
Naturnachahmung in der Kunſt, und zwar dahin, daß dieſe ebendie Er-
ſcheinung, welche die Natur geſchaffen, aber im Gedränge des ſtörenden Zufalls
(§. 40) Trübungen jeder Art (§. 379. 380.) ausgeſetzt hat, auf ihre Reinheit
zurückführt und ſo gereinigt in einem idealen Scheinbilde wiederholt, in der
Zurüchführung aber das Vorbild mit der Beſtimmtheit ſeiner Formen und der
Wärme ſeiner Lebendigkeit nacheifernd feſt im Auge behalten muß.


1. Solange die Phantaſie ihr inneres Bild nicht völlig in die
Objectivität übergetragen hat, behält das Naturſchöne ihr gegenüber den
Werth einer ſelbſtändigen Form des Daſeins des Schönen; dieß iſt der
tiefere Grund, warum auch eine ſchon als Theil der letzten Ausführung
gültige techniſche Nachbildung eines Modells am Schluße des vorh. §.
noch aufzuführen war: erſt wenn das Kunſtwerk vollendet iſt, verſchwin-
det in ihm das Gebiet des Naturſchönen, das in ihm dargeſtellt iſt, iſt
ganz in ihm aufgehoben, ſo daß der ächte Beſchauer nicht mehr von ihm
weiß, es in ſeinem reinen Abbilde ganz vergißt und auch der Künſtler
für dießmal damit abgeſchloſſen hat. Auf dem ganzen Wege vom innern
Bilde zur Ausführung dagegen ſteht das naturſchöne Object noch da
neben dem Bilde im Geiſt des Subjects, worein es eingegangen iſt und
in dem es verſchwinden ſoll, es ſteht noch da als Richtmaaß für die
Wahrheit der Nachahmung, freilich nicht für die gemeine, empiriſch richtige,
wohl aber als Richtmaaß für die wahre Nachbildung ſeiner ewigen
Grundformen, wie ſehr ſie in ihm als Individuum getrübt ſein mögen.
Noch hier auf dem Puncte des Uebergangs zur vollen Ausführung, ja
gerade hier in voller Kraft macht ſich daher der Satz §. 232, 2. geltend,
[85] daß gegenüber der ſubjectiven Einſeitigkeit der Phantaſie die unmittelbar
objective Exiſtenz des Schönen in der Natur das Recht ihrer einſeitigen
Exiſtenz behaupte, und ebenhieher gehört die Bemerkung zu §. 391
(B. II. S. 334): „der wache Geiſt behält außer dem innern Bilde zu-
gleich den Gegenſtand, um jenes mit dieſem zu vergleichen, und ſo iſt
freilich mit der vollen innern auch eine, das Bild an der Sache meſſende,
äußere Objectivität vorhanden; wir haben die Natur im Rücken, dürfen
ſie aber nicht verlieren.“ Eine Art von Rache, die das Naturſchöne an
der ſiegreichen Phantaſie noch nimmt, in die es einſinken mußte, um in
ihr aufzuerſtehen, einen nachgeholten Rechtsanſpruch haben wir in §. 488
ſchon die Nothwendigkeit genannt, daß die Phantaſie objectiv bilde, wie
die Natur; nur eine Fortſetzung davon iſt es, daß die eigentliche Phan-
taſie nun noch dieſe Prüfung aushalten muß, ob ſie ſich aus der Will-
kühr und dem Taumel der bloßen Einbildungskraft wirklich erhoben habe
zu ihrem Idealbildenden Acte, wozu den Prüfungsſtein der Gegenſtand
in ſeiner realen Strenge abgibt: er zügelt die Phantaſie, ſie verſtößt ſich
an ihm den Kopf, ſolange ſie noch ungezogen iſt. Was dieſe Strenge
heißen will, davon wiſſen die Künſtler zu ſagen: nicht eine Blättergruppe,
nicht eine Faltenmaſſe iſt aus der Erinnerung allein zu geben, der
Gegenſtand will in ſeiner ſtrengen Beſtimmtheit noch einmal angeſehen
und verglichen ſeyn; vollends ein Ganzes, eine Handlung, menſchliche
Verhältniſſe und Sitten: da wollen Studien jeder Art gemacht ſein.
Der Widerſpruch, daß nunmehr die Phantaſie an dem, was ſie prinzipiell
zu ihrem Object herabgeſetzt hat, einen Widerhalt findet, der gegen ſie
drückt und ihr ſeine Strenge entgegenhält, daß ſie über alles Einzelne
hinausgehen muß, um aus der Trübung die wahre Form zu entbinden,
und daß ſie dieſe doch nicht finden kann ohne die Gegenwart und ſcharfe
Anſchauung dieſes Einzelnen: dieſer Widerſpruch des gegenſeitigen Cor-
rectivs iſt ein vorhandener und getilgt wird er nur im fertigen Kunſtwerk.


2. Daß die Streitfrage über Naturnachahmung im Prinzip gelöst
ſei durch die Lehre von der Phantaſie §. 379 — 399 (die Zuſammen-
ſtellung des Weſentlichen ſ. §. 398 zu 2 S. 360 im II. B.) iſt ſchon
zu §. 488 ausgeſprochen aber ebendaſelbſt bemerkt, daß zu ihrer völligen Ab-
wicklung noch etwas fehle, und dieß Fehlende iſt jetzt völlig ergänzt. Sie
weiter verfolgen hieße Veraltetes aufwärmen. Daß die Griechen, und
namentlich Ariſtoteles, mit dem Ausdruck μίμησις einen ganz unbefangenen
Sinn verbanden, iſt eine längſt bewieſene Sache. Beſonders ſchlagend
iſt die Stelle in Ariſtoteles Poetik C. 25, wo er die Nachahmung geradezu
im Sinne von objectiver Darſtellung verſteht, indem er aufſtellt, der
Dichter dürfe in ſeinem Namen am wenigſten ſagen, denn nicht in die-
ſem Sinne ſei er Nachahmer; Homer ſei es, der am beſten wiſſe, was er
[86] zu thun habe, er mache es nicht wie die Andern, die immer ihre Dichter-
perſon vordrängen, Weniges und ſelten aber nachahmen, ſondern nach
kurzem Anruf an die Muſe führe er geradezu einen Mann oder eine
Frau oder ſonſt etwas ein und nichts ohne, ſondern mit Charakter. Wie
es die Franzoſen mit ihrem pſeudo- ariſtoteliſchen Prinzip der Naturnach-
ahmung meinten, erfährt man am Beſten, wenn man Diderots Verſuch
über die Malerei mit Göthes Anmerkungen liest (Göthes Werke B. 36);
Diderot hält das Prinzip viel ſtrenger (vergl. das von uns zu §. 52, 1.
angeführte Beiſpiel vom Buckligen) ein, als Batteux (Les beaux arts
reduits à un même principe),
der ohne Einſicht in den Widerſpruch,
der daraus entſteht, den Geſchmack als wählendes Prinzip neben das der
Naturnachahmung ſtellt. Das Geſetz der Naturnachahmung löst ſich im
Verſuche, es ſtreng [feſtzuhalten], in ſich ſelbſt auf, denn eigentlich im eng-
ſten Sinne die Natur nachzuahmen, iſt gar nicht möglich, da ſelbſt dann,
wenn der Künſtler jedes Atom durch das Vergrößerungsglas betrachten
würde, nicht der ganze Umfang der Erſcheinung zur Wahrnehmung und
Nachahmung gelangen könnte; läßt man aber auch nur durch die kleinſte
Breſche ein Wählen zu, ſo iſt das Prinzip aufgegeben. Wäre übrigens
eine abſolute Copie der Natur auch möglich, ſo iſt nicht abzuſehen, zu welchem
Zweck man ſich die Mühe geben ſoll, zu machen, daß die Dinge doppelt
da ſind, eigentlich und im Nachdruck; es müßte denn nur die Genug-
thuung ſein, die in dem Machen an ſich, in der Ueberwindung der
Schwierigkeiten liegt, welche nöthig iſt, um als geſchickter Nachdrucker der
Schöpfung dieſen Schein einer Doublette hervorzubringen, und dieſer
Reiz der gemeinen Nachahmung iſt allerdings ſofort aufzunehmen, nur
nicht als Seele der Kunſt, ſondern als einer der Ausgangspuncte der
Technik. Das Prinzip der Naturnachahmung iſt aber überhaupt hiſtoriſch,
nicht dogmatiſch zu behandeln: es war der Ausdruck jener Oppoſition
gegen die falſche Idealität, welche den volleren Schein der Natürlichkeit
forderte und nun überſah, daß aus der Gerechtigkeit dieſer Forderung
nichts weniger folgt, als daß die Kunſt eine Copie der Natur ſein ſoll. —
Der §. hebt als Ziel der Nacheiferung die Beſtimmtheit der Formen und
die Lebendigkeit der Natur hervor: nur der Schein dieſer Lebendigkeit
iſt es natürlich, nach welchem die Kunſt ſtreben kann; die empiriſch wirkliche
Lebendigkeit des Naturſchönen iſt ja zugleich ſein Mangel und Tod (vergl.
namentlich zu §. 379 B. II S. 301 unten). Das Streben nach immer
vollerem Scheine der Lebendigkeit wird ſich aber als das Treibende und
Beſtimmende in der Reihenfolge der Künſte erweiſen; ganz verſchieden iſt
der Umfang des Scheins der Bewegtheit des Lebens in den einzelnen
Künſten, ebenſo in ihren Zweigen und ihrer Geſchichte, wie ſie durch die
hiſtoriſchen Ideale beſtimmt iſt.


[87]
c.
Die Technik.

α.
Ihre Vorausſetzungen.

§. 514.

Soll nun auf dieſe Vorarbeit die wirkliche Ausführung folgen, ſo tritt
die Aufgabe, das Material ſtunlich zu bewältigen und zum Träger des Phan-
taſiebildes umzugeſtalten (§. 489—491), als eine ſo neue und ſchwere hervor,
daß ihre Löſung eine auf anderem Gebiet erworbene Fertigkeit in Ueberwin-
dung eines Theils der Hinderniſſe vorausſetzt. Dieß Gebiet iſt das der
mechaniſchen Thätigkeit für äußere Zwecke oder das Handwerk: die elementare
Vorausſetzung der Kunſt, der Boden, aus dem ſie ſich erhebt und den ſie,
wenn ſie entwickelt iſt, umgekehrt wieder zu ſich heraufhebt und mit ihrem
Geiſte durchdringt.


Welche Kluft trotzdem, daß im innern Bilde auch die Ausführung
mitangelegt iſt, zwiſchen dieſer und jenem beſteht, iſt in und zu §. 491
dargeſtellt. Der Stoß der reinſten und zarteſten Geiſteskräfte auf das
ſpröde Material wäre geradezu vernichtend für die Darſtellungsluſt,
wenn nicht etwas dazwiſchenträte, was, auf ganz anderem Gebiete ausge-
bildet, die Gewalt desſelben vermittelnd ſchwächt, das Gebälke zur Brücke
über die Kluft liefert. Eine Art von Fertigkeit muß der höheren, geiſt-
durchdrungenen, welche die Kunſt fordert, zu Hilfe kommen, die ſich der
Menſch früher erworben hat, weil ſie ſich leichter erwerben läßt. Dieß
iſt die mechaniſche Fertigkeit des Handwerks. Sie iſt nicht ſchlechthin
leicht, ſondern die Frucht eines an ſich ebenfalls ſchweren Kampfs mit
dem Materiale, man nennt ſie daher, wenn man das Wort nicht im
eingeſchränkt äſthetiſchen Sinne gebraucht, ebenfalls eine Kunſt, denn in
dieſer weitern Bedeutung bezeichnet das Wort jedes Ueberwindenkönnen
von Schwierigkeiten ſinnlicher Art. Das Sinnliche iſt dabei weſentlich,
denn, ſagt Kant (Kr. d. äſth. Urthlslr. §. 43) ſehr richtig, „das, was
man kann, ſobald man nur weiß, was gethan werden ſoll, wird nicht
Kunſt genannt, ſondern nur das, was man, wenn man es auch auf das
Vollſtändigſte kennt, dennoch darum zu machen noch nicht ſofort die
Geſchicklichkeit hat.“ Wenn man ſagt: „das iſt eine Kunſt“, ſo hat man
[88] immer die Beherrſchung eines widerſtrebenden ſinnlichen Objects im Auge.
Zunächſt nun iſt es das Bedürfniß, was den Menſchen mit der raſchen
Hand der Nothwendigkeit und des Erwerbtriebs zur mechaniſchen Fertig-
keit führt lang, ehe er daran denkt, der ſchweren Maſſe die lebendigere
geiſtige Form des Phantaſiebilds überzuziehen. Alle Thätigkeiten aber,
welche ein dem äußern Zwecke dienendes Object herſtellen, ſind, ſo ſchwer
ſie an ſich ſein mögen, doch darum unendlich leichter, als die künſtleriſche
Technik, weil in ihnen das herzuſtellende Object dem Zwecke gemäß, dem
es als Mittel dienen ſoll, verſtändig gedacht wird und die Ausführung
ein reines äußeres Nachbilden des Gedachten iſt: da geht es nach Schuh,
Zoll, Zahl und die ſtraffe Linie bezwingt das ſpröde Material. Zwar
fordert man von dem Handwerker (und höhern Mechaniker, den wir trotz
dem Stufen-Unterſchiede, der ihn von dieſem trennt, hier mit ihm zuſam-
menfaſſen,) auch Inſtinet und innere Anſchauung und die Anfänge des
Handwerks, da es noch keine Meßkunſt u. ſ. w. gab, mußten nicht blos
einem gezeichneten Plan und Riß mit dem deutlichen innern Bild zu
Hilfe kommen, ſondern ihn geradezu durch dieſes erſetzen, allein auch dieß
Bild iſt etwas weſentlich Anderes, als das äſthetiſche Phantaſiebild, in
welchem die Norm mit der Zufälligkeit der Individualität (§. 31. ff.)
ſich zu einem incommenſurabeln Ganzen durchdringt. Es bedarf einer
qualitativ andern Technik, um dieſe geiſtig unmeſſbare Form in das rohe
Material zu übertragen, einer ſolchen, welche bis in die Fingerſpitzen durch
das innerlich angeſchaute Bild während der ganzen Arbeit bis zum
letzten Meiſelſchlag und Pinſelſtrich von innen heraus flüßig beſtimmt und
durchdrungen iſt. Einem ſo ſchweren Prozeſſe aber eben muß vorge-
arbeitet, der mechaniſche Theil der Thätigkeit muß auf einem andern
Gebiete bis zur Fertigkeit vorgeſchritten ſein, ſo daß der Künſtler den
Handgriff als ſolchen traditionell erlernen kann. Dieſe Ausſonderung
eines traditionell mechaniſchen Theils der künſtleriſchen Technik darf nicht
ſo mißverſtanden werden, als ließen wir im Widerſpruch mit unſerem
frühern Satze (§. 491) das innere Schaffen und die Technik wieder
auseinanderfallen; denn es iſt nur eine Unterſcheidung von zwei Seiten
innerhalb dieſer Technik ſelbſt: ſie zerfällt als ſolche in einen mechaniſchen
und einen nicht mechaniſchen Theil und dieſe beiden verhalten ſich ſo,
daß jener erlernt ſeyn muß, damit dieſer ſich in ihn ergießen könne, d. h.
eine allgemeine Fertigkeit der Hand, Uebung der Sinne muß erworben ſeyn,
damit die ſo gebildeten Organe in ununterbrochenem Fluße dem inneren
Bilde, der Auffaſſung und Anſchauung dienſtbar werden und ſo die geiſt-
volle concrete Technik auf die erlernte mechaniſche, abſtracte impfen. Ich
muß z. B. überhaupt fertig zeichnen und malen können, ehe ich in meine
Zeichnung, mein Colorit den beſondern Charakter gießen kann, der meiner
[89] Anſchauungsweiſe entſpricht und, wenn ſie eine geniale iſt, einen neuen
Styl begründet. Zunächſt iſt aber in unſerem Zuſammenhang nicht die
Rede von dem mechaniſchen Theile der Technik innerhalb der Kunſt, (die
nun dem Handwerke gegenüber die freie heißt), ſondern von der Geſchick-
lichkeit überhaupt, die das Handwerk ausbildet, dem Ablauſchen der Natur
des Materials, dem Erfinden von Werkzeugen zu ſeiner Bewältigung,
der Uebung der Hand und des Nervs, wie ſolche mittelbar der Kunſt,
die wir vorerſt als gar nicht vorhanden betrachten, zu gute kommen
ſoll. So verſtanden kann unſer Satz nicht beſagen wollen, daß dasſelbe
Individuum, das Künſtler werden ſoll, durch das Handwerk hindurch-
gegangen ſein müße; wohl aber, wenn der Boden völlig geebnet iſt für
die Kunſt, tritt in denjenigen Handwerken, denen ihrer Natur nach ein
Uebergang zur Kunſt näher liegt, als andern, dieſe Einheit in den
Perſonen auf: der Baumeiſter wird Baukünſtler, der Zimmermann,
Schreiner, Küfer, Schaffler zieht nicht, um ſeinem Werke den künſtleriſchen
Schmuck zu geben, den Schnitzer zu Hilfe, ſondern er wird ſelbſt Schnitzer
und läßt etwa in weiterem Fortſchritte das Handwerk ganz fallen, um
rein künſtleriſche Schnitzwerke auszuführen, ſo daß von da an erſt Hand-
werk und Kunſt ſich trennen; Peter Viſcher war ein einfacher Roth-
gießermeiſter, der von der Meiſterſchaft des Handwerks durch die Orna-
mentik zur künſtleriſchen Compoſition aufſtieg, aber ſein Modell ſelbſt
abgoß und anſpruchslos bei ſeiner Zunft blieb. So machten die Künſtler
des Mittelalters überhaupt keinen Anſpruch auf eine höhere Rangſtufe,
als die des Handwerks, auf deſſen Boden ſie ſtanden. Auch in Griechen-
land ſchied ſich der Künſtler dem Stande nach nicht vom Handwerker, er
blieb δημιȣργὸς, χειρώναξ, der Name τέχνη umfaßte Kunſt und Hand-
werk und z. B. die großen Meiſter des Erzgußes fiengen ſo einfach an,
wie P. Viſcher (vergleiche Hermann. Ueber die Studien der griechiſchen
Künſtler S. 6). Dieß iſt der wahre und geſunde Ausgangspunct der
Kunſt; wie ſie techniſch ihre Wurzeln im Handwerk hat, ſo moraliſch im
Marke des Volks, im Volksboden. Das Geſagte gilt nun zunächſt nur
von den bildenden Künſten; Muſik und Dichtkunſt, ſchon im Alterthum gegen-
über den durch Handarbeit thätigen Künſten durch den Namen artes liberales
höher geſtellt, ſcheinen in dieſem Zuſammenhang gar nicht aufgeführt
werden zu können; doch haben auch ſie, bei allem Unterſchiede des
Materials, ihre Technik, die in eine productive und eine mechaniſche
Seite zerfällt, und die letztere ſetzt eine Uebung (des Ohrs, der Hand,
der Sprachbehandlung) auf anderem, beziehungsweiſe ebenfalls unterge-
ordnetem Gebiete, dem des Angenehmen und Nothwendigen, auch hier
voraus. — Der Schluß des §. bereitet die Wendung vor, wo ſich das
Verhältniß zwiſchen Handwerk und Kunſt umkehrt: nachdem dieſe ſich
[90] aus jenem herausgearbeitet, neben und über ihm beſteht, hat ſie es
wieder zu ſich heraufzunehmen, das veredelte Handwerk wird ein Seiten-
zweig der Kunſt und tritt ſo in einer Reihe anhängender Thätigkeiten
im Syſtem der Künſte wieder auf. Da hat ſich denn aber das Noth-
wendige und Nützliche, wie es vom Handwerke hergeſtellt wird, bereits
mit einem Höheren verbunden, das auf einem Triebe ruht, der nun
geſondert als weitere Vorausſetzung der Kunſt aufzuführen iſt.


§. 515.

1

Ueber das Gebiet der Nothdurft, dem das Handwerk dient, erhebt ſich
der Menſch auf dem Wege zur Kunſt durch einen Trieb, das Leben und
ſeinen ſtoffartigen Ernſt in einem bloßen Scheine darzuſtellen, der den Reiz des
Ernſtes, eben indem er ihn mit ſich führt, wieder auflöst: den Spieltrieb.
2Derſelbe hängt ſich theils an das Werk der äußern Zweckmäßigkeit und an die
eigene perſönliche Erſcheinung, um verſchönernd jenem den Schein der Frei-
heit zu geben, ſchmückend den Ausdruck des unendlichen Werths der Per-
ſönlichkeit in dieſer zu erhöhen; theils, in ſelbſtändigerer Form als Nach-
ahmungstrieb
auftretend, ſtellt er entweder ſubjectiv durch die eigene Perſon
des Spielenden, oder in objectiver Geſtaltenbildung die Erſcheinungen des
3Lebens dar. Von dem Kunſttriebe unterſcheidet er ſich dadurch, daß der Schein,
den er ſucht, nicht der reine Schein (§. 54) iſt.


1. „Auf dem Wege zur Kunſt“, denn daß von der Arbeit für die
äußern Zwecke des Lebens unzählige andere Formen des theoretiſchen
und praktiſchen Thuns aufwärts zur Bildung führen, verſteht ſich, eben-
ſoſehr aber, daß dieſe, ausgenommen die geiſtige Thätigkeit, die der
folgende §. aufführen wird, für uns, die wir die Linie, welche zur Kunſt
führt, feſt einhalten, zur Seite liegen bleiben. — Den Begriff des Spiels
müſſen wir zuerſt ganz einfach und anſpruchslos, ohne Rückſicht auf die
höhere Bedeutung, die ihm, von Kant angeregt, Schiller beilegte, vor
uns hinſtellen. Fangen wir bei dem Thiere an: es iſt das Hauptzeichen
der höheren Stellung, welche die Säugethiere in der Thierwelt einnehmen,
daß ſie, wenigſtens in der Jugend, ſpielen, doch ſchon bei dem Vogel
läßt ſich das Spiel wahrnehmen. Alles Thierſpiel aber iſt ein Aufführen
von Scheinkämpfen (wozu auch ſcheinbare Jagd gehört), alſo ein Fingi-
ren des Ernſtes, um deſſen Spannung und Erregung ohne ſeine Schmerzen
zu genießen in einem frei erzeugten Scheine. Es iſt dieß ein Beweis,
daß die Thiere nach der Seite der Intelligenz Einbildungskraft, nach der
Seite des Willens Trieb der freien, zweckloſen Thätigkeit haben. So iſt
nun auch das menſchliche Spiel, obzwar als ein vom Geiſte durch-
[91] drungenes ſpezifiſch höher, durchaus ein Darſtellen des Lebens in einem
freien Scheine, um den Reiz des Ernſtes ohne den Druck des Ernſtes,
die Form ohne die pathologiſch materielle Schwere der Sache zu genießen,
ſich in die Spannung hineinzutäuſchen und die Täuſchung, indem ſie
erzeugt wird, wieder aufzulöſen. Aus der nachahmenden Form nehmen
wir als Beleg hiefür die Scheinkämpfe herauf, welche die allgemeinſte
Art auch des menſchlichen Spieles ſind. Faſt alle Spiele der Kinder und
der jugendlichen Völker ſind ſolche Scheinkämpfe, ſei es mehr im eigent-
lichen Sinne oder in dem des Wettkampfes. Die feineren geſelligen
Spiele der Erwachſenen und Gebildeten ſind Wettſtreite des Witzes und
Scharfſinns, wobei, um das Bild des Lebens vollſtändig zu machen, dem
Zufall ein Raum offen gelaſſen iſt. Es darf aber nicht um fühlbaren
Gewinn oder Verluſt gehen, ſonſt iſt das Spiel kein Spiel mehr, ſon-
dern artet in Häßlichkeit aus. Von dieſem ſtörenden Ernſte des Spiels,
der immer einen zerfreſſenen Zuſtand der Sitte anzeigt, ſind jedoch die
wirklichen Gefahren wohl zu unterſcheiden, die mit den Kampfſpielen der
Volksfeſte von jeher verbunden waren, denn hier liegt hinter dem Spiele
ein tiefer nationaler Ernſt, dem wohl bewußt iſt, daß, wer im Spiele
die Gefahr ſcheut, auch im Ernſte nicht wagt; die blutigen Gladiatoren-
ſpiele der Römer aber zeigen einen ſtarken, rohen Sinn an, dem das
ächte Spiel überhaupt fremd war. Es ſind nun die Hauptformen des
Spiels zu unterſcheiden.


2. Der Spieltrieb in der Form des Verſchönerungstriebs ſcheint
unter die obige Begriffsbeſtimmung nicht befaßt werden zu können.
Sieht man aber die zuerſt aufgeführte Form, die Verſchönerung eines
Products des Handwerks durch den Ueberfluß der Zierrath, näher an,
ſo leuchtet ein, daß durch dieſe Zuthat das Werk, das der äußern Zweck-
mäßigkeit dient, ein Ausſehen bekommen ſoll, als diene es nicht, ſondern
genieße ein eigenes, freies Daſein, wäre um ſeiner ſelbſt willen da.
Der Weg iſt daher hier nur ein anderer, der Sinn aber derſelbe, wie
in unſerer allgemeinen Auffaßung des Spiels: der ſtoffartige Ernſt des
Lebens wird nicht vorneherein frei fingirt, ſondern er iſt (in einem ſeiner
Zwecken dienenden Arbeitsproducte) wirklich da, aber er wird wieder
weggetäuſcht. Weil das Merkmal der urſprünglich freien Fiction
fehlt, iſt dieſe Form allerdings die untergeordnetſte, an ſich aber darf ihre
hohe Bedeutung nicht verkannt werden: ſie iſt es, durch die das Hand-
werk, wie ſchon zum vorherigen §. berührt iſt, den Uebergang zur
Kunſt macht, durch ſie arbeiten ſich die Völker aus der Barbarei heraus,
ſie begründet einen Theil der Sphären, welche als anhängende in das
Syſtem der Künſte einzureihen ſind, durch ſie ſchlingt ſich die Kunſt, den
Druck der Erdenſchwere löſend, mit dem Leben zuſammen. Ihre hohe
[92] Bedeutung iſt in anderem Zuſammenhang ſchon §. 23, 3. ausgeſprochen.
— Der Schmuck der eigenen perſönlichen Erſcheinung iſt mit der Ver-
ſchönerung eines todten Products der Zweckmäßigkeit, obwohl er zunächſt
auch an einem ſolchen, der Kleidung, angebracht wird, nicht zu verwech-
ſeln, denn nicht die Kleidung wird geſchmückt, ſondern durch ſie der Leib als
Erſcheinung des Geiſtes; der Schmuck will aber ſagen, daß dieſe Erſchei-
nung ein Unendliches anzeigt, das in keinem ſeiner beſtimmten Zwecke
erſchöpft iſt, ſondern frei ſchwebend eine Welt in ſich trägt: indem ſich
der Menſch ſchmückt, erklärt er ſpielend die Noth und den Drang des
Lebens für Schein. Uebertreibt er es freilich, ſo kehrt ſich die Sache um
und der Schmuck, ſtatt die Unendlichkeit ſeines Herrn auszuſprechen,
macht ihn zu ſeinem Narren und Knecht. Wie frühe übrigens dieſe Form
auftritt, wie ſelbſt der Wilde durch ſie über die Arbeit für die Nothdurft
ſich erhebt, zeigen die höchſt feinen Schmuck-Erzeugniſſe ſelbſt der roheſten
Völker. — Es tritt nun aber natürlich eine höhere und ſelbſtändigere
Form des Spiels erſt ein, wenn ein Ganzes, ein Stück aus dem Lebens-
bilde vorneherein fingirt wird. Wir nennen dieſe höhere Form Nach-
ahmungstrieb, ohne zu verkennen, daß es zwei Arten des Nach-
ahmungstriebs giebt, einen ſtoffartigen, der im wirklichen Lebensernſte
unbewußt den Sitten und Gewohnheiten Anderer nachgeht, und einen
freien, den eigentlich mimiſchen: nur der letztere gehört als eine Gattung
des Spieltriebs der Aeſthetik an. Mit der ſubjectiven Form deſſelben
ſtehen wir an der Hülſe, worin der Keim des Schauſpiels liegt, denn
die Luſt, ſich zu maskiren und andere Perſonen darzuſtellen, iſt ſein
Ausgangspunct. Es iſt nicht der Keim ſelbſt, dieſer liegt vielmehr, wie
für das Schauſpiel (Drama und darſtellende Kunſt), in dem geiſtigen
Schöpfungstriebe der Phantaſie; aber in dieſer Gattung trifft die Phan-
taſie, wenn ſie ſich äußern ſoll, gewiſſe Fertigkeiten ſolcher Art ſchon aus-
gebildet an, wie ſie der Spieltrieb entwickelt (Mummenſchanz, religiöſe,
nachahmende Tänze, Chöre), und eben von ſolchen vorausgeſetzten Uebun-
gen iſt die Rede, ſonſt dürften wir nur einfach für alle Kunſt die Spiele
der Einbildungskraft, welche der Ausbildung der Phantaſie vorausgehen,
als Vorſtufe anführen, was aber eben nicht hieher, ſondern in die Lehre
von der Phantaſie gehört. Aber nicht nur das Drama, ſondern was in
allen Gattungen der Poeſie objective Darſtellung heißt, zieht irgendwie
aus dieſer vorausgehenden Verlarvungsluſt (die ja auch in dem mehr
epiſchen und lyriſchen, als dramatiſchen Göthe ſo ſtark war) Vortheil;
der Tanz ferner iſt urſprünglich mimiſche Darſtellung nicht blos von
Empfindungen, ſondern auch von Sitten und Handlungen, und auch die
einfachſten Anfänge der Muſik kann man als ein Spiel anſehen, das ſeine
Luft daran hatte, Empfindungen mit Anklang von Naturlauten nachzuahmen.
[93] Auch auf das Thieriſche erſtreckt ſich dieſe Nachahmungsluſt: Kinder und Wilde
(namentlich mit außerordentlicher Naturtreue die Indianer in ihren Thier-
tänzen) ahmen gern Thiere nach, dem ſinnlichen Menſchen iſt dieß natür-
lich; das Nächſte, wozu er nachahmend aufſteigt, werden Kämpfe ſinnlicher
Stärke ſein, wohin eben die oben angeführten Scheinkämpfe gehören. Das
Höchſte aber, was dieſer ſpielende Nachahmungstrieb zu ſeinem Gegenſtande
macht, ſind Charaktere und Sitten; daher liegen die Mummenſchänze
und dergl. ſchon nahe an der eigentlichen Kunſt. — Eine ſpezifiſch andere
Seite des nachahmenden Spieltriebs iſt die im eigentlichen Sinn objective,
welche fremde Geſtalten in einem Materiale nachahmt. Die älteſten
plaſtiſchen Verſuche der Völker (Zeichnung und Malerei iſt viel jünger,
ihre Anfänge ſind aber auch noch bloßes Spiel) ſind in ihrem Weſen
Daſſelbe wie die Puppenſpiele der Kinder. Auch hier jenes Motiv, das
wir allem Spiel zu Grunde liegend fanden: der Menſch bereitet ſich die
Luſt, von ebendem, was ihn als wirklich Lebendiges ſtoffartig umgibt,
einen Schein zu erzeugen, eine zweite ſcheinbare Auflage; es ergötzt ihn,
ſich einzubilden, das Bild ſei ernſtlich die Sache ſelbſt, wobei er ſich doch
bewußt iſt, daß es bloßer Schein iſt. Aber auch hier werden im bloßen
Spiele Geſchicklichkeiten erworben, die nachher der Kunſt zu gute kommen,
und zwar nicht nur der bildenden, ſondern aller objectiven Darſtellungs-
fähigkeit. Die Genugthuung des Selbſtgefühls, ſo geſchickt zu ſein, iſt
allerdings ein weſentliches, wiewohl nur ſecundäres, Motiv ſowohl bei
dieſer, als bei allen Formen des Spieltriebs. Wer die Kunſt auf die
Naturnachahmung ſtellt, erklärt ſie für Spiel.


3. Der Begriff des Spiels iſt allerdings ſchon ſo hoch gefaßt worden,
daß dieß kein Vorwurf wäre: das „freie Spiel der Einbildungskraft und
des Verſtands,“ worin Kant (Kritik der äſth. Urthlskr. §. 9) das Weſen
des äſthetiſchen Wohlgefallens ſucht, ſcheint es geweſen zu ſein, was
Schiller (Ueber die äſth. Erziehung d. Menſchen Br. 15. 26. 27.)
beſtimmte, denſelben ſo zu ſteigern, daß er identiſch wurde mit dem der
Hervorbringung und des Genußes der Schönheit. Er ſieht den Gegenſatz
des Stoff- und Form-Triebs, des Naturgeſetzes und Sittengeſetzes im
Spiele ausgelöſcht: indem die Idee zur Anſchauung, die Anſchauung zur
Idee, die Pflicht zur Neigung und die Neigung zur Pflicht wird in dem
freien Scheine des Spieles, kehrt der Menſch zur reinen Indiffererz ſeiner
Unendlichkeit aus jenem Zwieſpalte zurück. Es iſt höchſt intereſſant, wie
Kant und er hier aus dem Dualiſmus der Reflexionsphiloſophie heraus-
ſtreben; was bei Kant die Einbildungskraft und der Zweckbegriff des
Verſtandes iſt, das erweitert Schiller zu dem Gegenſatze des Naturtriebs
und der geiſtigen Geſetzgebung überhaupt, und wie Kant ein drittes
Gebiet freien Wohlgefallens entſtehen läßt, indem er zu zeigen ſucht [...] wie
[94] die Einbildungskraft dem Verſtande den Zweckbegriff zuſchiebt, der in
einer harmoniſchen Naturerſcheinung anklingt, dieſer aber, weil kein be-
ſtimmter Zweckbegriff gedacht werden kann, ihn der Einbildungskraft
zurückſchiebt, ſo läßt Schiller den ganzen Dualiſmus von Geiſt und Natur
im Schönen, das zugleich ſinnlich und unſinnlich, zufällig und nothwendig
iſt, ſich auflöſen. Aber für dieſe Höhe genügt der Begriff des Spiels
nicht mehr. Das Spiel erzeugt den oben dargeſtellten Schein, aber es
erzeugt nicht den reinen Schein, d. h. es ſtellt dar, was nicht da iſt,
indem es den vom Durchſchnitt getrennten Aufriß der Erſcheinungen
nachahmt, aber es tilgt in der nachgeahmten Geſtalt nicht die Mängel
des Naturſchönen, es fehlt ihm die Idealität. Daher täuſcht der Spie-
lende zwar nicht ſich ſelbſt, aber er erfreut ſich daran, den Zuſchauer in
die gemeine Täuſchung zu verſetzen, als wäre die Sache ſelbſt da, nicht be-
zweckt er den „aufrichtigen“ Schein des Schönen, der „weder Realität
vertreten will, noch von derſelben vertreten zu werden braucht.“ Kein
Sprachgebrauch berechtigt dazu, jene erhabene Illuſion, welche nicht
Realität lügt und doch die Wahrheit aller Realität ins Gemüth ſenkt,
unter den Begriff des Spiels da zu befaßen, wo es auf wiſſenſchaftlich
genaue Beſtimmung ankommt.


§. 516.

Die Fertigkeit in der Beherrſchung des Materials, welche durch das
Handwerk und das Spiel erworben wird, gibt ſich zuerſt in einzelnen Grund-
ſätzen Rechenſchaft von den Geſetzen des Naturſtoffs und ſeiner Behandlung,
welche ſich, indem von anderer Seite der reine Erkenntnißtrieb dieſe Gebiete
betritt, allmählich zu Wiſſenſchaften erweitern, die nun ebenfalls der
künſtleriſchen Technik als Vorarbeit und Hülfsmittel zu dienen beſtimmt ſind.


Auch das Spiel muß als Ausgangspunct eines Bewußtſeins über
techniſche Regeln aufgeführt werden, denn, anfangs rein willkührlich,
ordner und organiſirt es ſich mit der Zeit: das verſchönernde verbindet
ſich mit dem Handwerk und es entſtehen höhere, feinere Gewerke, die
natürlich ihre Regeln haben; das ſubjectiv nachahmende bildet ſich als
Tarz, Mimik u. ſ. w. einen Rhythmus, ein Geſetz, das objectiv nach-
ahnende macht Erfahrungen über Material, Werkzeug und ſeine Hand-
habung, worin es natürlich auch vom Handwerk lernt. Zugleich iſt aber
der Erkenntnißtrieb in ſeinem eigenen Intereſſe thätig, die Natur der
Dinge und die Geſetze der menſchlichen Thätigkeit zu erforſchen, und auf
dieſen verſchiedenen Wegen entſtehen die Wiſſenſchaften, welche nachher
Bedingungen der künſtleriſchen Technik werden. Natürlich arbeitet übrigens
[95] die Kunſt von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort-
bildung derſelben mit. Was nun die Ausbildungsſtufen dieſes theoreti-
ſchen Bewußtſeins betrifft, ſo ſind theils Zeiten, theils Zweige wohl
zu unterſcheiden. Die Epochen blühender Kunſt im Alterthum und
Mittelalter haben im Großen und Ganzen mit dem Inſtinct und einzelnen
Regeln ausgereicht, erſt an der Grenze des höchſten Schwungs hat ſich ein
wiſſenſchaftliches Bewußtſein über die Geſetze der darzuſtellenden Natur
(namentlich Anatomie), des Materials, der Technik ausgebildet. Unſere
und jede künftige Zeit aber trifft die Wiſſenſchaft bereits ausgebildet an,
der Schüler muß ſie, ſoweit ſie ſich auf die Kunſt bezieht, durcharbeiten,
wobei er die Erleichterung, die ſie ihm verſchafft, mit einer Gefahr bezahlt,
welche demnächſt zur Sprache kommen muß. Unterſcheidet man jedoch
verſchiedene Zweige, ſo erſcheint dieſer Gegenſatz der Zeiten zunächſt wieder
beſchränkt. In einigen der erſteren nämlich muß allerdings ſchon in der
inſtinctiven Zeit ein theoretiſches Bewußtſein vorhanden ſein: ohne geomet-
riſche, mechaniſche, ſtatiſche Kenntniße läßt ſich überhaupt nicht bauen, einige
mineralogiſche, ſtatiſche Kenntniſſe, ein Bewußtſein über die Proportionen
des menſchlichen Körpers ſetzt die Bildhauerkunſt voraus, über den Rhythmus
in Muſik und Poeſie entwickeln ſich Begriffe und die Malerei kann ohne
die Kenntniß der Perſpective ſich nicht als ſelbſtändige Kunſtform ausbilden.
Von einem ſyſtematiſchen Ausbau dieſer Wiſſenſchaften kann jedoch in
den Epochen, deren blühende Kunſt auf einer naiven Cultur ruht, nicht
die Rede ſein und ebenſo beſchränkt iſt das theoretiſche Bewußtſein ſeiner Aus-
dehnung nach: es gibt z. B. keine Farbenlehre, keine Anatomie; Mathematik
und Phyſik haben weſentliche Zweige, die jetzt zur Propädeutik des Künſtlers
gehören, noch gar nicht getrieben und dieſe qualitativen und quantitativen Lücken
ſind nur der Ausdruck einer noch unentwickelten Reflexionsbildung, wodurch
der oben ausgeſprochene Gegenſatz im Ganzen und Großen ſich wiederherſtellt.


β.
Die Schule.

§. 517.

Tritt nun die Phantaſie auf den ſo vorbereiteten Boden ein, ſo findet ſie
ihre Arbeit am Materiale zwar erleichtert, aber ſie hat dem auf andern Gebieten
Erlernten einen völlig neuen Geiſt einzugießen. Dieſer Schöpfung ſtellt ſich
das Material unendlich ſpröder entgegen, als den in §. 514—516 voraus-
geſetzten Thätigkeiten: es beengt durch die ſinnliche Ausſchließlichkeit ſeiner
Natur die Freiheit der Erfindung und es ſträubt ſich, die flüßig lebendige
Form in ſich aufzunehmen.


[96]

Es verſteht ſich, daß es ſich hier nicht von einem Momente der
Geſchichte handelt, in welchem die Phantaſie, vorher unthätig, plötzlich ein-
getreten wäre. Sie iſt als innerer Drang gleichzeitig mit dem Handwerke,
dem Spiele, der Forſchung da, die erſten Verſuche, ihr inneres Bild
techniſch darzuſtellen, treten nach den erſten Schritten des Handwerks
u. ſ. w. raſch hervor und geben ruckweiſe jenen Vorarbeiten die Rich-
tung nach der äſthetiſchen Form. Es iſt nur unſer wiſſenſchaftlicher Gang,
der die Gebiete ſtreng ſondern muß, um ſie wieder lebendig zu vereinigen. —
In §. 514 ſind die Schwierigkeiten, die das Material dem Künſtler
entgegenhält (weßwegen wir in §. 491 ein beſonderes Talent der Technik
annehmen mußten), ganz im Allgemeinen ausgeſprochen. Dieſe Schwierigkeiten
ſind nun durch die Vorarbeiten, von denen die Rede geweſen iſt, in einem
gewiſſen Sinne beſiegt, über das Gröbſte iſt man hinweg, aber das Feine
und damit die größere Schwierigkeit beginnt erſt. Dieſe hat zwei Seiten.
Die eine bezieht ſich auf die innere Phantaſiethätigkeit, auf die wir hier
zurückblicken müßen. Wir haben zwar geſehen, daß der Künſtler ſchon im
innern Erfinden auch die techniſche Ausführung vorbildet (zu §. 491),
er nimmt alſo die Natur eines beſtimmten Materials ſchon bei der geiſtigen
Thätigkeit mit in Rechnung (vergl. §. 493 Anm.); allein der Stoß auf
das nicht blos vorgeſtellte, ſondern wirkliche Material iſt dennoch ein
ungeheurer. Dieſes trägt den ſtreng ausſchließlichen Charakter alles
ſinnlichen Daſeins; ſtumm, ſtarr, ſtreng nothwendig ſteht es dem geiſtig
weichen, flüßigen, unendlicher Möglichkeit vollen Bilde der Phantaſie
gegenüber. Nur gewiſſe Seiten der Lebenserſcheinungen laßen ſich in ihm
darſtellen, andere ſchlechthin nicht (auf die beſondere Bewandtniß, die
es mit der Dichtkunſt hat, können wir hier nicht eingehen, daß ſie aber
für die über Alles ſich erſtreckende Ausdrucksfähigkeit ihres Vehikels, der
Sprache, und Empfänglichkeit ihres Materials, der Phantaſie im Zu-
hörer, andere Vortheile opfern muß, leuchtet zum voraus ein); kein Trotz
bezwingt dieſe Grenze, er beſtraft ſich durch Mißlingen; die Intentionen
des Künſtlers müßen ſich fügen und er muß vielfach noch an der Compoſition
ſelbſt ändern. Zudem haben die meiſten Künſte unter verſchiedenen
Materialen bald zu wählen, bald ſind ſie in gegebenen Fällen auf eines
unter denſelben beſchränkt, neue werden entdeckt (Stein-Arten, Metall-
compoſitionen, Farben und dergl.) und neue Erfahrungen ſind daran zu
machen. Die andere Seite bezieht ſich auf die techniſche Ausführung.
Will man ſich recht klar machen, was über dieſen Punct, der nun aus-
drücklich hervorzuſtellen war, anmerkend ſchon zu §. 514 geſagt werden
mußte, ſo betrachte man die Arbeit des Handwerkers oder der Fabrik nach
dem Entwurfe eines Künſtlers oder die Copie eines Kunſtwerks aus der-
ſelben Werkſtätte: nicht nur überhaupt der Mangel an Seele ſpringt
[97] hier auf den erſten Blick in die Augen, ſondern auch die Hand erkennt
man, die wohl gelernt, oder die Maſchine, der man wohl aufgelegt hat,
ein Material nach Winkel und Maaß zu bearbeiten, aber nicht, ihm den
Schwung der belebten Form einzuhauchen. Ein anderer, ein runderer,
ein geiſtreicherer iſt der Zug der Künſtlerhand, der Strich ſeines Pinſels,
ſeines Modellirholzes, ſeines Bogens, der Klang ſeines Worts, aber auch
dem Künſtler iſt das nicht im Schlafe gegeben worden.


§. 518.

Auf der andern Seite iſt dieſe erſchwerende Natur des Materials ein1
Widerlager, das durch ſeine Gegenſtemmung die Phantaſie ebenſoſehr zur
Erfindung neuer Motive, die gerade den Hinderniſſen abgewonnen werden,
als zum Heraustritt aus der Innerlichkeit und muthigen Ringen mit den äußern
Schwierigkeiten reizt. Aber dieſe beſtehen und es gilt, von vornen zu lernen
2
und durch eine beſondere Uebung aus der geiſtigen Welt der Phantaſie und
der mechaniſchen, ſpielenden, verſtändigen Thätigkeit ein neues Drittes, die
künſtleriſche Technik, zu bilden.


1. Das Material in der Kunſt hat dieſelbe Bedeutung wie alles
Object als Nicht-Ich: durch ſeinen Gegenſtoß ſetzt ſich die Thätigkeit des
Ich überhaupt erſt in Bewegung. Die Schranke ſelbſt iſt der Drang
ihrer Ueberwindung, der Kampf ſteigert den Kampfmuth, und im Feuer
deſſelben ruft der Geiſt dem ſchweren Stoffe zu: du ſollſt und mußt dich
zwingen laſſen, deine Geſetze ſelbſt, die ich kenne und achte, müſſen meiner
Abſicht dienen! Dieſe allgemeine Wahrheit beſtimmt ſich aber, wie in allen
Sphären der Thätigkeit, ſo auch in der künſtleriſchen, zu der beſondern,
daß Reibung mit der ſtrengen Ausſchließlichkeit des Materials im Geiſte des
ächten Arbeiters die Funken neuer Motive hervorſchlägt. Zu dieſem Satze,
der ſchon in der Lehre vom geiſtigen Theile der Vorarbeit zu §. 493, 1. nicht
zurückgehalten werden durfte und der nachher zu §. 504 noch einmal
berührt iſt, wollen wir als Beiſpiel nur anführen, welcher Reichthum von
Schönheiten neuerdings in Baiern dem Backſtein, auf den man durch den
Mangel an gewachſenem Stein in einem Theile dieſes Landes angewieſen iſt,
abgewonnen wurde, zu welcher Zierlichkeit es die Holzbaukunſt (wiewohl ſie
zur wahren monumentalen Kunſthöhe ſich nie erheben kann) in ſteinarmen
Ländern gebracht hat; wir erinnern an die Fortſchritte der Schnitzer- und
Dreher-Kunſt in Geräthen u. ſ. w. in Gegenden, wo feine Thon-Erde
fehlt; in München hätte die Gießerkunſt ſchwerlich die bekannte Höhe
erreicht, wenn der Marmor leichter zu beſchaffen wäre; in der Malerei
hat der Auftrag auf Kalk die Mängel, die er mit ſich führt, durch Größe

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 7
[98]des Styls erſetzt; der Lithograph und Kupferſtecher ſucht dem farbloſen
Schwarz durch die Behandlung einen Anklang von Farbe abzugewinnen;
die Muſik hat ſcheinbar arme Inſtrumente durch Erfindungen zu den
ſeelenvollſten Tönen befähigt und die Poeſie das Vehikel einer tonloſen
und harten Sprache (namentlich Shakespeare das Engliſche) mit Feuer-
athem in Fluß gebracht, ſo daß ihm eine Kraft entſtieg, worin ihm ſchönere
Sprachen nicht folgen können. Zu dem Materiale müßen wir auch weitere
Bedingungen, Ort, Aufſtellung, Licht, Zeitmoment u. ſ. w. ziehen und
auf die tauſend Fälle hinweiſen, wo Zwang dieſer Bedingungen für geiſt-
volle Künſtler vielmehr ein Hebel der fruchtbarſten Gedanken, ganzer
Compoſitions-Reihen und Cyclen, und der anziehendſten Behandlung
geworden ſind.


2. Dieß Alles erſpart dem Künſtler den Kampf mit den Schwierig-
keiten des Materials nicht; „des Fleißes Nerv muß ſich ſpannen, nur
beharrlich ringend unterwirft der Gedanke ſich das Element, nur des
Meiſels ſchwerem Schlag erweichet ſich des Marmors ſprödes Korn.“
Auch die Lieblingskinder des Dichters ſind „Schmerzenskinder“ (Göthe
von ſeiner Iphigenie) und es iſt nur die Palme des Ringens, daß man
dem fertigen Werke den Schweiß nicht mehr anſieht. Nur die ſaure
Arbeit des Lernens ſchafft das Band zwiſchen der ſchwungloſen Fertigkeit,
die das Handwerk verleiht, der leeren Regel, die durch das Spiel
befeſtigt wird, der kalten Einſicht, welche die Wiſſenſchaft gibt, und
zwiſchen der innerlich ſchaffenden Phantaſie: die beſeelte Technik, die
Kunſttechnik.


§. 519.

1

Es gibt allerdings eine Kunſt mit dem denkbar geringſten Maaße von
techniſcher Bildung, jedoch nur in Gebieten, wo das Material von einer Nach-
giebigkeit iſt, die einen unmittelbaren Uebergang des Innern in das Aeußere
erlaubt. Dieß iſt die Kunſt vor der Kunſt, die naive Kunſt: die einzige
Stufe, wohin die allgemeine Phantaſie der beſondern im künſtleriſchen Schaffen
folgt. Mehr ein Gemeinproduct des Volks, als ein Werk des Einzelnen, iſt
ſie nach Inhalt tief, voll, innig, nach Form entweder kurz und einfach oder
lückenhaft in der Compoſition, gedrängt, knapp, incorrect in der Ausführung,
aber durch die Friſche ihrer Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für die
2Kunſt einer ausgetrackneten Bildung. Dagegen folgt der Naturaliſt mitten in einer
ſchon gebildeten Kunſtwelt dem bloßen Inſtincte, deſſen Führung eine zufällige
iſt und deſſen urſprüngliche Friſche ſich bei mangelnder Schule in angewöhnten
Formen verhärtet.


[99]

1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunſt geben, wo
das Material oder das Vehikel (dieſen Unterſchied wird die Lehre von
der Poeſie aufhellen) unmittelbar in den eigenen Organen der Phantaſie-
erfüllten Seele liegt, alſo in der Muſik und Poeſie (auch dem Tanz); dieſe
Unterſcheidung muß aus der Kunſtlehre vorausgenommen werden, die
naive Kunſt iſt aber eine ſo weſentliche, in der Lehre von der Technik
bedeutende Erſcheinung, daß ſie trotz ihrer Beſchränkung auf beſondere
Kunſtgebiete ſchon hier einzuführen iſt. Jene zwei Künſte vereinigen ſich
im Volksliede, an welchem die gedrängte Charakteriſtik der naiven Kunſt-
form, wie ſie der §. gibt, ſeines Orts zu erläutern iſt, ſo daß hier nur
die Hauptzüge hervorgehoben werden können. Zuerſt iſt ganz im Allge-
meinen die Lehre vom Verhältniß der allgemeinen und beſondern Phantaſie
auf dem Puncte, wo wir ſie in §. 416 ff. zuletzt ſtehen gelaſſen, wieder
aufzunehmen. Kann der allgemeinen Phantaſie, wie in §. 416 dargethan
iſt, nicht alle höhere Productivität im Sinne des innern Bildens abgehen,
ſo folgt von ſelbſt, daß ſie in irgend einem Maaß auch zur künſtleriſchen
Darſtellung fortgehen wird, eben in den Gebieten nämlich, wo dieß mit
einem Minimum von Technik möglich iſt, denn begäbe ſie ſich in die
Schule der Technik, ſo würden wir das Subject der allgemeinen Phantaſie
ſelbſt, nämlich das volksmäßig naive Geſammtſubject, verlieren. In den
bildenden Künſten, da dieſe ein gegenüberſtehendes ſprödes Material zu
bewältigen haben, kann bei dieſem Minimum der Technik von eigentlicher
Kunſt nicht die Rede ſein, ſondern was die allgemeine Phantaſie von
Kunſt-Aehnlichem hier leiſtet, bleibt auf der Stufe des Spieles ſtehen.
Wie nun das innere Phantaſiebild der allgemeinen Phantaſie das Geſammt-
product eines maſſenhaften Inſtincts iſt (§. 416), ſo auch ihr Werk: der
Sänger iſt nur „der Mund der Sage“ (Wilh. Grimm) und der einfachſten
Grundgefühle des Volksgemüths; ja die Sage und dieſe einfache
Gemüthswelt bildet ſich und lebt gerade in und durch dieſe kunſtloſe Kunſt.
In welcher Weiſe bei dieſem Zurücktreten des Einzelnen das Entſtehen
des Lieds und ſeiner Melodie zu denken iſt, darüber eben iſt in der Dar-
ſtellung des Volkslieds erſt Auskunft zu geben. Waldfriſche iſt der Charakter
der naiven Kunſt, ſie gleicht der ungefaßten Quelle im Waldesdunkel, ſie
blüht und duftet wie die Erdbeere unter den Mooſen des Tannendickichts.
Sie verhält ſich zur Kunſtpoeſie wie das Naturſchöne zur
Phantaſie
: ſie iſt, wie jenes für dieſe, Vorausſetzung und Stoff
für die eigentliche Kunſt; von ihrer weiteren wichtigen Bedeutung, daß
nämlich eine ausgetrocknete Bildungskunſt aus dieſem Borne neue Jugend
trinkt, zeugt vor Allem der Moment in der deutſchen Literatur, als der
jugendliche Göthe an Herders Hand zur Naturkraft des Volkslieds und
Shakespeares (der zwar Kunſtdichter war, aber ſelbſt gegen den eindrin-

7*
[100]genden welſchen Geſchmack aus dem Marke der ſächſiſchen Volkspoeſie
die beſte Kraft ſog) aus dem franzöſiſchen Garten der falſchen Claſſicität
ſich zurückwandte.


2. Man nennt die Naturdichtung und Naturmuſik nicht näturaliſtiſch;
denn bei dieſem Ausdruck iſt nach feſtgeſtelltem Sprachgebrauch ein Zuſtand
ausgebildeter Technik vorausgeſetzt und er bezeichnet weder Völker, noch
Schichten eines Volks, welche durch allgemeinere Culturverhältniſſe dieſem
Zuſtande ferngerückt ſind, ſondern einzelne Subjecte, die mitten in dem-
ſelben ſtehen, aber ſich der Schule nicht unterwerfen mögen, ſondern dem
Glücke des Inſtincts vertrauen. Man darf hier nicht an jene Naturen
denken, von denen am Schluſſe der Anm. zu §. 487 die Rede war; der
Naturaliſt hat wirkliche Fülle der Kraft, welche den Uebergang vom innern
Bilde zur äußern Darſtellung mit Leichtigkeit vollzieht, aber weil er nicht
lernen mag, hängt eine gewiſſe Naturrohheit auch ſeiner gelungenſten
Darſtellung an, ſein Werk iſt, weil er ſich er Zufälligkeit der Natur
überlaſſen hat, heute gut, morgen ſchlecht und ſchließlich gewöhnt er ſich
doch in gewiſſe Formen ein, die, von keinem Fleiß, Nachdenken und
Uebereinkommen künſtleriſcher Erfahrung geſchaffen, der todte Niederſchlag
der urſprünglich warm ſtrömenden Naturkraft ſind. Den vollen Gegen-
ſatz gegen den Naturalismus bildet die Schulbildung ohne Talent; eine
andre Schattirung bezeichnet der Ausdruck routinier (hauptſächlich vom
Schauſpiel hergenommen wie der Ausdruck Naturaliſt): der Routinier hat
alle techniſchen Kunſtgriffe durch Erfahrung und Geſchicklichkeit, aber ohne
gründliche Schule und Ernſt des Nachdenkens ſich angeeignet, „hat die
Sache los“, iſt immer bereit, nicht in Verlegenheit zu bringen, aber auch
nie tief und bedeutend. — Uebrigens hat der Ausdruck Naturalismus
noch eine andere, materielle Bedeutung, die in dieſen Zuſammenhang
gar nicht gehört: dann bezeichnet er den Grundſatz der Naturnachahmung
in der Kunſt, wie er in beſtimmter geſchichtlicher Form gegenüber einem
naturloſen Idealismus und der auf bloße Nachahmung vorhandener
Kunſt-Muſter gegründeten Manier ſich geltend gemacht hat.


§. 520.

1

Die Erziehung zur eigentlichen, durch techniſche Bildung vermittelten Kunſt
nimmt die ganze Kraft des Lernenden in Anſpruch; der Schüler, der ihr ſein
2Leben widmet, unterſcheidet ſich ſtreng vom Dilettanten. Vorausgeſetzt iſt
bei dieſer Erziehung, daß durch das Genie die Technik des Handwerks und
Spiels ſchöpferiſch über ſich ſelbſt gehoben und ein gewiſſer Inbegriff von Regeln
gebildet ſei (vergl. §. 412). Das Genie ſammelt Schüler um ſich, die unter
ſeiner Leitung in die vorgerückte Technik eingeweiht werden, den Rückblick auf
[101] das Naturſchöne (§. 510—513) nunmehr als Studium betreiben und zugleich
die Werke des Lehrers und anderer genial Vorgeſchrittener zum Vorbild nehmen.


1. Der Unterſchied der Kunſt vom bloßen Spiele erſcheint hier
erſt in ſeiner vollen Bedeutung: das Spiel iſt momentan und will mühe-
los ſein, die Kunſt fordert den ganzen Mann, ſie nimmt die ganze Kraft
eines Menſchenlebens in Anſpruch, und zwar zuerſt die ganze Kraft einer
Jugend für die Schule und ihre langen Lehrjahre. Da gilt es lernen
und auch nachdem man eine gewiſſe Stufe der Ausbildung erſtiegen
hat, ſich des Hervorbringens enthalten, ſo lange man nicht im Beſitze der
Sicherheit iſt. Der Dilettant dagegen übt die Kunſt wie ein Spiel; einen
allgemeinen Trieb zur Nachahmung, ein Intereſſe an gewiſſen Stoffen,
eine natürliche Leichtigkeit in gewiſſen Theilen der Darſtellung hält er für
Talent und Beruf; ſtatt ſich der Geduldprobe der ordentlichen Schule zu
unterwerfen, glaubt er es abgethan mit dem oberflächlichen Kunſt-Unter-
richt, wie er in die allgemeine Erziehung übergegangen, und flüchtiger
nachträglicher Uebung, welche die Reſultate langer, mühſam erworbener
Fertigkeit leicht oben abſchöpft, und indem er von da unmittelbar zur
Ausübung ſchreitet, verhält er ſich zur Kunſt wie der Pfuſcher zum
Handwerk; „weil ein Vers ihm gelingt in einer gebildeten Sprache, die
für ihn dichtet und denkt, glaubt er ſchon Dichter zu ſeyn“ (Schiller).
Dem Inhalte nach iſt ſein Werk ſubjectiv: er flieht das Object und gibt
ſtatt deſſen pathologiſch ſeine Empfindung über das Object. Er ſchiebt
ſein Ich in den Gegenſtand, er iſt eitel. In ſolchen Zweigen, wo das
Subject allein ſchon für ſich viel bedeutet, kann er ſich am eheſten dem
Künſtler nähern, ſo in der lyriſchen Poeſie, Muſik, Tanz; in den
Gattungen aber, die als ſolche ſchon objectiver ſind, Epos, Drama,
Malerei, plaſtiſchen Verſuchen, Bau-Entwürfen, erkennt man, daß es
ihm an der Hauptſache, an der Erfindung eines Ganzen fehlt, an der
Architektonik. Er iſt daher immer unſelbſtſtändig, Plagiarius. In der
Technik iſt er ungründlich, d. h. entweder geiſtreich mit Vernachläßigung
des Mechaniſchen, oder mechaniſch geſchickt und ſauber ohne Mark und
Feſtigkeit in den Grundlagen: er hat den Handgriff ohne ſeine Vorbe-
dingungen abgeſehen. So gibt es in der Malerei manche Dilettanten,
die ſauber malen, aber Keinen, der gut zeichnet. Der Dilettantismus hat
jedoch ſeinen Werth; er iſt ein edlerer Zeitvertreib (namentlich häusliche
Muſik und Liebhabertheater), er leitet den Kunſtſinn dahin, wohin der
Künſtler nicht kommt, begründet Kennerſchaft, verbreitet Cultur. — Dieſe
Sätze ſind zum Theil wörtlich aus Göthes trefflicher Skizze „über den
ſogenannten Dilettantismus oder die praktiſche Liebhaberei in den Künſten
(Werke B. 44 S. 264 ff.); Göthe und Schiller beſchäftigten ſich auf-
[102] merkſam mit einer Erſcheinung, die als Zeichen der Zeit damals ſchon
in raſchem Wachſen begriffen war. — Der Dilettant iſt wohl vom
Autodidakten zu unterſcheiden: dieſer läßt ſich ein gründliches Lernen
angelegen ſein, aber Umſtände oder Eigenſinn halten ihn von praktiſcher
Anweiſung durch einen Meiſter fern; er bildet ſich nach Muſtern, da ihm
aber Niemand den Handgriff zeigt, ſo behält ſeine Leiſtung Zeitlebens
einen idiotiſchen Charakter, dem man anſieht, wie er mit Mühe und auf
langen Umwegen ſich dasjenige angeeignet hat, worin die Schule durch
verkürzte Methode und Rath der Kundigen ihren Zögling zur Sicher-
heit führt.


2. Wir können ohne ſcheinbaren Widerſpruch hier nicht vorwärts:
wir fordern Schule, damit ein Künſtler werde, und brauchen doch den
Künſtler, um die Schule zu ſchaffen. Dieſer Widerſpruch hebt ſich nur,
wenn wir uns aus dem gewordenen Zuſtande in die dunkeln Anfänge
zurückverſetzen, wo geniale Perſönlichkeiten aufeinander folgend die ge-
meine Technik ruckweiſe, wie wir es ſchon zu §. 517 ausgedrückt haben,
in die beſeelte äſthetiſche hoben: da haben wir freilich Künſtler, welche
Schüler bilden, ohne ſelbſt Schüler (nämlich Kunſtſchüler, denn in der
Schule des gewöhnlichen Handgriffs müſſen ſie irgendwie ſich gebildet haben,)
geweſen zu ſein, aber je weiter wir zurückgehen in dieſer unbeſtimmbaren
Linie, deſto mehr haben wir uns dieſe fortſchreitenden Perſönlichkeiten vor-
zuſtellen als ſolche, welche Künſtler nur in dem Sinne waren, daß der
Anſtoß, die Möglichkeit der Kunſt von ihnen ausgieng. So beſeelt ein
Cimabue die zum Handwerk herabgeſunkene byzantiniſche Malertechnik
mit höherem Ausdruck, er begründet eine Schule, aber näher betrachtet iſt
dieß nur die Staffel für Giotto, und deſſen Schule wieder für Fieſole,
Maſaccio u. ſ. w.; aber bei ungleich geringerem Erbe, als ſelbſt Cimabue,
haben einſt große Talente mit Anſtreichen begonnen und mit den Anfängen
der Malerkunſt geendigt. Gehen wir nun von ſolchen Anfängen vorwärts
bis zu entwickelten Zuſtänden und nehmen die Lage der Dinge je wie ſie
beſteht, wenn eben ein Genie, ein ſchöpferiſcher Künſtlergeiſt entſcheidende
Wirkungen verbreitet hat, ſo wird die Sache einfach und es iſt gleichgültig,
welchen Punct wir ins Auge faßen, denn wir haben überall Meiſter, die
Schüler geweſen ſind, und daſſelbe Verhältniß kehrt immer wieder: der
geniale Meiſter ſchafft eine neubeſeelte Technik. Seine Wirkungen beſtehen
in Regeln, die ſich aber nicht formuliren laſſen; ſie ſind keine bloße
Stimmung, Weiſe zu ſchauen, ſie ſind vielmehr ganz beſtimmt und conſti-
tuiren eine feſte Technik, ſie geben dem überlieferten Inbegriff der Ver-
fahrungsweiſe, welcher ſelbſt ſchon der Niederſchlag früherer genialer
Entwicklungen iſt, nicht nur neuen Geiſt, ſondern auch einen neuen Leib
mit feſtem Knochengerüſte, aber ſie laſſen ſich nicht in Buchſtaben faſſen,
[103] ſie ſind perſönlich, das Genie macht nicht Regeln, ſondern iſt Perſon-
gewordene Regel (vergl. zu §. 412 Th. II S. 396) und was davon
lernbar iſt, kann nur praktiſch mitgetheilt werden. Einem ſolchen Lehrer
ſtrömen nun die Schüler zu und nachdem einzelne Talente ſeine neugeſchaffene
Technik ſich angeeignet haben, begründen auch dieſe ihre Werkſtätten und
ſammeln Schüler. Der Schüler iſt zunächſt Lehrling, er dient von unten
herauf und hat die handwerksmäßigen Theile der Technik (Farbenreiben u. dgl.)
als Handlanger zu üben, bis er als Geſelle an den Ausführungen des
Meiſters Theil nimmt und ſo in die Uebung des geiſtigen Theils ſeiner
Technik eintritt, man hat die freiere Stellung des Schülers im Atelier des
modernen Künſtlers, wo, wie in Paris, der Lehrer etwa nur zweimal in
der Woche ſeine Schüler beſucht und dieſe früh zu eigenen Hervorbringungen
übergehen, zunächſt ganz fernzuhalten. Unter der Leitung des Meiſters
nimmt nun der Schüler die Studien nach der Natur vor; ſie haben jetzt
eine andere Bedeutung, als in §. 511, wo ſie als dem ſelbſtſtändigen
Kunſtwerke dienend aufgeführt ſind: ſie ſind Uebungen. Und zu dem
naturſchönen Stoffe, der als Uebungs-Vorlage dient, den der Meiſter
ſehen und wiedergeben lehrt, tritt nun ein neuer Stoff der übenden Nach-
ahmung: die zweite, die erhöhte Natur eben in den Kunſtwerken des
Meiſters und anderer Meiſter, auch ſolcher, die einer vergangenen, aber
in gewiſſem Sinne noch Maaßgebenden Kunſtblüthe angehören: der
Schüler muß ſich durch Copiren bilden. Für die neuere Zeit iſt hier
die Antike ein Haupt-Gegenſtand des nachbildenden Studiums.


Daß dieſe Formen der Künſtlerbildung im ſtrengen Sinne nur von
den bildenden Künſten gelten, leuchtet ein; der Muſiker und der Dichter
errichtet keine Werkſtätten. Zwiſchen dieſen zwei iſt aber wieder ein
weſentlicher Unterſchied; die Muſik hat noch eine ſinnliche Technik, welche
der Meiſter unmittelbar an Schüler, die jedoch nicht im Verhältniß eines
ununterbrochenen Zuſammenſeins zu ihm ſtehen, praktiſch mittheilt; in der
Poeſie aber gibt es keinen Unterricht, da tritt an die Stelle desſelben
theils einzelner Rath, Wink des bewährten Dichters, theils aber die
ſtille Uebung in der Anſchauung der vorhandenen Meiſterwerke; der
Anfänger wagt ſich auch mit ſelbſtſtändigen Hervorbringungen früher in
in die Oeffentlichkeit, und dieſe zieht ihn durch die Schule der Erfahrung.


§. 521.

Dieſe Erziehungsform iſt die urſprüngliche, concrete; ſie gehört den Zeiten
an, wo die Kunſt ſich noch beſcheiden mit dem Handwerk zuſammenfaßt und die
Grundſätze der Zunftverbindung auf die Verhältniſſe ihrer Schule überträgt.
Sie iſt patriarchaliſch familiär und naiv, wohlthätig durch die Friſche der perſön-
[104] lichen Leitung, aber gefährlich durch deren Einſeitigkeit; doch der Drang des
Genius in dem begabten Schüler wirſt dieſe Feſſel ab: er vergleicht, wandert,
ſucht vorgerücktere Meiſter auf und wird ſelbſt ſchöpferiſcher Meiſter, der die
Kunſt durch einen neuen Aufſchwung vorwärts führt.


Das Lehrlings- und Geſellen-Verhältniß, von welchem zu dem
vorh. §. die Rede geweſen iſt, war im claſſiſchen Alterthum und Mittel-
alter ganz dasſelbe wie im Handwerk. Der älteſte Schooß der Fortpflanzung
techniſcher Uebung iſt die Familie, der Vater lehrt den Sohn oder die
Söhne und dieſe pflanzen das Erlernte in weitere Zweige der Familie und
an die Enkel fort. Dieſe Form erhält ſich auch neben entwickelteren
Zuſtänden, man denke z. B. an P. Viſcher und ſeine Söhne. Das
Verhältniß zwiſchen dem Meiſter und den aus fremdem Hauſe um ihn
ſich ſammelnden Schülern, das ſodann an die Stelle der Familientradition
tritt, ſtellt nur eine patriarchaliſche Erweiterung der Familie dar, die
Lehrlinge und Geſellen leben in der Regel im Hauſe des Meiſters und
ſind ſeiner Zucht wie Kinder des Hauſes untergeben. Dieſe ſo erweiterten
Familien ſind im Mittelalter durch das über die bildenden Künſte aus-
gedehnte Zunftweſen zu einem größeren Ganzen zuſammengeſchloſſen, deſſen
Satzungen den Uebergang vom Lehrling zum Geſellen, von dieſem zum
Meiſter an ſtrenge Bedingungen knüpfen und neben der Reglung der
Stufen der Technik zugleich die ganze geſellige Stellung der Glieder ordnen
und die ſittliche Aufführung unter die Aufſicht der Zunft ſtellen. Am weiteſten
war dieß in der Maurerzunft ausgebildet, deren locale, durch die großen
Bauten vereinigte Innungen (die Bauhütten) ſich über ganze Länder
miteinander verbanden, eigene Gerichtsbarkeit hatten und den ausgeſpro-
chenſten Corpsgeiſt entwickelten. Das Selbſtbewußtſein des Künſtlers, das
jetzt in ſubjectiver Vereinzelung leicht erkrankt, hatte durch dieſes Zunftleben
ſeine geſunde Wurzel in dem Ehrgefühle der Genoſſenſchaft; die ſtrenge und
lange Schule begründete Sicherheit und Gediegenheit in den handwerks-
mäßigen Grundlagen der Kunſt, die Vertraulichkeit ihrer Form bedingte
ein warmes Einleben in den Styl des Meiſters, feſſelte aber allerdings
den Schüler zu eng an Einen Meiſter; er verfeſtigte ſich ſo in deſſen
Kunſtform, daß ſie ſeine zweite Natur wurde. Daher die Erſcheinung
einer Menge von Schulbildern, welche nur der gründlichere Kenner nicht
mit Werken des Meiſters verwechſelt: eine Uniformität, welche in der
neueren Zeit ſo nicht möglich iſt; Giotto’s Styl konnte nur durch jene
Erziehungsweiſe der Künſtler ein Jahrhundert lang in Italien herrſchen.
Zum Geſellen-Leben gehört nun aber auch das Wandern und dieß war
das Gegenmittel gegen die Uebermacht der häuslich beſchränkten Einflüſſe
Eines Meiſters. In dem begabten Schüler, der ſelbſt die Beſtimmung
[105] hatte, eine neue Schule zu gründen, war der Wandertrieb eben der
Drang des Fortſchrittes über den bisherigen Meiſter; man vernimmt, daß
deſſen Standpunct überflügelt ſei, man ſucht den Ort der neuen Fortſchritte
auf. Maſaccios Fresken in S. Maria del Carmine zu Florenz waren ein
Studirzimmer für die großen Geiſter, die nachmals die Malerei zu ihrem
Gipfel führten, einen Leonardo da Vinci, Mich. Angelo, einen Raphael, der
aus der Werkſtätte ſeines Meiſters zur neuen Hochſchule der Malerei,
nach Florenz wanderte. Aber umgekehrt wanderten auch die Meiſter und
verpflanzten die Fortſchritte der Kunſt, die ſie ſelbſt hervorgerufen, an andere
Orte, wo ſich ihnen wieder Schüler anſchloſſen; ſo Leonardo da V. nach
Mailand, M. Angelo und Raphael nach Rom. — Wir haben ſo drei
Formen der Künſtlerſchule: Vererbung in Familien, locale Meiſter-
werkſtätte, Aufſuchen auswärtiger berühmter Meiſter oder Wanderungen
dieſer ſelbſt (alle drei Stufen laſſen ſich ebenſo in Griechenland unter-
ſcheiden vergl. Hermann a. a. O. S. 7. ff.); dieſe drei Formen ſtehen
zueinander im Stufenverhältniß der ſteigenden Löſung der patriarchaliſchen,
familiären Form und wenn man bedenkt, daß die großen Hauptſitze der
Kunſt, die der wandernde Geſelle aufſucht, zugleich die Mittelpuncte eines
gereiften wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins über die Technik ſind, ſo findet
man ſich bereits am Uebergang zu einer ſpeziſiſch verſchiedenen Form
der Kunſterziehung.


§. 522.

Dieſer Erziehungsweiſe ſteht als reflectirte und abſtracte Form die
moderne akademiſche gegenüber. Unumgänglich in einer Zeit, welche im
vergleichenden Ueberblick einer langen Reihe von Kunſtentwicklungen die Regel
zum ſyſtematiſchen Bewußtſein erhoben und mit einem weiten Kreiſe von Wiſſen-
ſchaften in Verbindung geſetzt hat, wirkt ſie wohlthätig durch die Gründlichkeit
und Vollſtändigkeit der Durchbildung, die ſie gewährt, ſo wie in gewiſſem Maaße
durch den Sporn der Concurrenzen, nachtheilig durch den Mechanismus des
Uniformen, wobei ſie doch die Gefahreu einſeitiger Einflüſſe, die von Einer,
oder verwirrender, die von mehreren verſchieden denkenden Perſönlichkeiten
ausgehen, nicht vermeidet.


Die Akademieen haben ſich bekanntlich zuerſt in Italien nach Ablauf
der großen Kunſtblüthe im ſechzehnten Jahrhundert gleichzeitig mit der
Entſtehung des Eklekticismus (namentlich in Bologna) gebildet und es
liegt im Weſen dieſer Erziehungsanſtalten, daß ſie einen relativen Ab-
ſchluß der Kunſt vorausſetzen; eine friſch blühende Kunſt hätten ſie niemals
erfunden, ſie ſind modern und laufen in Einer Linie mit allen den Er-
[106] findungen und Culturformen, welche an die Stelle des Individuellen und
Unmittelbaren eine durch Abſtraction erdachte Kraft ſetzen, die gleich-
mäßig und gleichzeitig eine größtmögliche Summe von Stoff bearbeitet:
Fabriken, modernes Militärweſen u. ſ. f. Die Entſtehung iſt auch hier eine
ganz natürliche und nothwendige: man überſieht eine lange Kunſtgeſchichte,
man hat ihre Reſultate, die Manieren, Style, techniſchen Uebungen vieler
Meiſter und Schulen vor ſich liegen; man formulirt, vergleicht ſie und
ſucht das Erprobte, das Beſte herauszuziehen; es bildet ſich alſo ein
Auszug, ein Abſtractum, ein Inbegriff von Regeln. Nun aber hat ſich
gleichzeitig auch die Wiſſenſchaft zu der Reife herangebildet, von welcher
zu §. 516 im Unterſchiede von den perſönlichen Einſichten einzelner Meiſter
in der Zeit einer mehr inſtinctiv blühenden Kunſt die Rede geweſen iſt,
und ſie gibt einen ganzen Umkreis ihrer Zweige an den Kunſtunterricht
als unerläßliches Fundament einer gründlichen Diſciplin ab: Mathematik,
Geometrie, Statik, Optik, Perſpective, Anatomie; aber auch das Bewußt-
ſein über das Schöne ſelbſt und ſeine Wirklichkeit als Kunſt faßt ſich allmählich
in die Einheit und Allgemeinheit des Gedankens zuſammen, es entſteht
eine Aeſthetik, Kunſtlehre, Kunſtgeſchichte und der Schüler ſoll auch dieſem
Denken und Wiſſen über das Element ſeiner eigenen Thätigkeit nicht fremd
bleiben. So maſſenhaft angeſammelte und ſo auf ein Allgemeines reduzirte
Bildungsbedingungen kann nun der Schüler weder in der Werkſtätte eines
Meiſters mehr vereinigt finden, noch ſich auf eigene Fauſt zuſammenſuchen.
Man bedenke zugleich, daß keine Werkſtätte die Muſterwerke früherer
Meiſter, nach denen er ſich bilden ſoll (vergl. §. 520, 2.), namentlich
die des Alterthums, das als erſtes unter allen Muſtern (§. 438) erkannt
iſt und in deſſen Geiſt der Schüler durch übende Nachbildung innig ein-
dringen ſoll, in dem Umfange vereinigen kann, wie der moderne Erziehungs-
plan es fordert, daß alſo Sammlungen gegeben ſein müſſen, welche zu
den wechſelnden Generationen der Schüler eines Bezirkes, Landes ſich als
bleibender Vereinigungspunct verhalten. Ebenſo iſt es aber mit den andern
Bildungsmomenten beſtellt: ihre Maſſe und der Charakter der Allgemein-
heit, den ſie angenommen, führt von ſelbſt dahin, daß eine Einrichtung
geſchaffen werden muß, welche den wiederkehrenden lernenden Geſchlechtern
ihr Bedürfniß fortwährend reicht und ſich zu ihnen verhält wie die Maſchine
zu dem immer neuen Stoff, der ihr zur Verarbeitung zugeſchoben wird.
Dieſe Vergleichung ſoll zunächſt noch keinen Tadel enthalten, ſie leitet ihn
aber allerdings ein. Die Vorwürfe, welche ſeit der Reformation der Kunſt
durch Karſtens, Schick, Wächter, Koch gegen die Akademieen erhoben
worden, ſind bekannt und laufen alle auf den eines Mechanismus hinaus,
der im Schüler die künſtleriſche Individualität und den Naturſinn abtödte.
Man hat aber nicht immer deutlich geſagt, ob man den Vorwurf ſo ver-
[107] ſteht, daß die Akademie an ſich und nothwendig dieſe mechaniſirende
Wirkung habe, oder ob man nur das Akademieen-Weſen, wie es empiriſch
einmal iſt, im Auge hat. Das Richtige wird zunächſt ſein, daß der
akademiſchen Einrichtung dieſes Uebel nahe liegt, daß es ſchwer vermeidlich
iſt, und zwar deßwegen, weil es unmöglich iſt, zwiſchen dem Theile der
Technik, der als ein exacter Unterrichtszweig ohne Frage ſchulmäßig mitgetheilt
werden kann, und dem Theile, der bereits äſthetiſcher Natur und daher
blos durch die incommenſurabeln, geiſtigen Einwirkungen einer Perſönlichkeit
mittheilbar iſt, eine feſte Linie zu ziehen. Zunächſt iſt allerdings ein exact
wiſſenſchaftlicher Theil klar erkennbar und in Beziehung auf dieſen ſteht
außer Zweifel, daß wir die Akademieen nicht entbehren können: ſo die
dem Architekten nothwendigen wiſſenſchaftlichen Kenntniſſe, Mathematik,
Geometrie, Statik, u. ſ. f., ſo die Vorkenntniſſe und Vorübungen für den
Bildhauer und Maler: Perſpective, Anatomie, Zeichnen nach Vorlagen,
Gyps-Abgüſſen, nach dem Modell, Modelliren, Bearbeitung des Steins u. ſ. w.
Dieſes ganze Gebiet iſt, wie wir ſchon gezeigt, zu umfangreich geworden,
als daß der Schüler alle Unterrichtsmittel in einem Atelier vereinigt finden
könnte, insbeſondere kann ihm in jetziger Zeit nicht erlaſſen werden, über
die einſchlagenden Wiſſenſchaften auch rein theoretiſch ſich zu belehren, d. h.
Vorleſungen zu hören, und daran können wir ſogleich knüpfen, daß er
einen Begriff von der Kunſtgeſchichte haben muß, den er ſich gewiß beſſer
durch Vorträge, als durch Lectüre aneignet; am eheſten könnten wir ihm
die Aeſthetik erlaſſen, aber in einer räſonnirenden Zeit wird es doch ſchwer
ſein, gegen einen Schwall falſcher Maximen ſich anders, als durch richtige
Begriffe zu waffnen. Nun mündet aber ein Theil jener fundamentalen
Unterrichts-Zweige bereits in das unbemeßbar Aeſthetiſche: die Art und
Weiſe, die vorgelegten Muſter anzuſchauen, das lebendige Modell zu ſtellen
und aufzufaſſen, der Zug und Strich der Zeichnung, die Farbengebung, die
Behandlung der Formen im Modelliren, — alles dieß liegt über die Formel
und ſchulgeſetzmäßig darſtellbare Regel ebenſoſehr hinaus, als es von der
andern Seite durch ſchulmäßige Anweiſung gelernt werden muß. Dazu
kommt aber noch, daß ſelbſt die geiſtig freieſte Thätigkeit des Künſtlers,
nämlich die Compoſition, zu den Unterrichtszweigen gezogen wird und, da
ſie zwar Sache des freien Geiſtes iſt, aber doch ſelbſt auch einer Zucht
bedarf, gezogen werden muß. Die Lehrer nun ſind zwar Künſtler, aber
in ihrer Stellung zur Akademie Beamte, der Beamtengeiſt und dazu die
Gewohnheit der Unterrichtswiederholung mit der regelmäßig ſich erneuern-
den größeren Schülerzahl wird ſehr leicht eine vertrocknende Wirkung auf
den Geiſt ihres Unterrichts haben, er wird im Gegenſatze gegen den des
Meiſters, der mit ſeinen Schülern zuſammenwohnend fortgeſetzte perſönliche
Anregung in der freieren Weiſe der Gelegenheit und Zufälligkeit übt, faſt
[108] unwillkührlich zur Dreſſur werden. Sieht man davon ab oder läugnet
man es und ſagt, da die Lehrer ſelbſt Künſtler ſeien, ſo wirken ſie ja
perſönlich wie der Meiſter in jener familiären Erziehungsform, ſo geräth
man auf die neue Schwierigkeit, daß, da für die verſchiedenen Zweige
des Unterrichts verſchiedene Lehrer angeſtellt ſind, jene Einheit des Geiſtes
verſchwinden muß, die auf die Lehrlinge eines Meiſters zwar einerſeits
feſſelnd wirkt, aus der ſie ſich aber, wenn der eigene Geiſt die Flügel
regt, auch leichter emanzipiren, eben weil es Ein erkennbarer Typus iſt,
gegen den der erwachte freie Geiſt ſich in klare und einfache Oppoſition
ſtellen kann. Geſchichtlich aber hat ſich dieß weitere Uebel der Verſchie-
denheit des Geiſtes im Unterricht verſchiedener Lehrer in das andere verkehrt,
daß eine lange Zeit hindurch der eingewurzelte Geiſt der Abſtraction auch
den geiſtig freien Theil der Technik ſchlechthin unter den Begriff des exact
Lehrbaren ſubſumirte und Alles, ſelbſt die Compoſition, in das ſteife Maaß
der conventionellen Regel geſpannt wurde, worin denn dem Geiſte der
Zeit gemäß die verſchiedenen Lehrer ſo übereinſtimmten, daß ſie alle nach
Einem Rezept Anweiſung gaben. Nachdem nun der Mechanismus, der
zunächſt den Akademien an ſich nur nahe liegt, hiſtoriſch ſich ausgebildet
hatte, drang er auch in der Weiſe in den Unterricht ein, daß der ver-
nünftige Grundſatz der längeren Wiederholung einer und derſelben Uebung
bis zur Abſtumpfung übertrieben wurde: ewiges Copiren, ewiges Actzeich-
nen u. ſ. w. gab ſtatt der Sicherheit, welche ein richtiges Maaß fortgeſetzter
Uebung verleiht, der Anſchauung und der Phantaſie den Tod. Man
betrachte z. B. die Concurrenzarbeiten, wie ſie in der Akademie S. Luca zu
Rom ſeit Jahrhunderten geſammelt ſind: überall Sicherheit der Fauſt,
aber durchgängig auch ein todtenhafter, Präparaten-artiger, Schablonen-
mäßiger Charakter des Gemachten. Nun iſt es allerdings die Zeit der
Herrſchaft der Manier, in die uns unſere Erörterung geführt hat, allein
es waren namentlich eben die Akademieen, welche dieſe Schulmeiſterung
der Natur durch die ſelbſtgefällige Geſchicklichkeit des Subjects, die ſtehen-
den Griffe und Pfiffe, die obligaten Effecte, das Hinrücken der Gegenſtände
in einen verkünſtelten Beleuchtungsſtandpunct, das Renommiren mit
wunderbaren Stellungen, Verkürzungen, Licht- und Schatten-Contraſten,
die repoussoirs, die Charlatanerie der Compoſition, die geleckte Süßigkeit und
die eiſenfreſſeriſche Gewaltſamkeit der Auffaſſung genährt haben, und eben-
dieß lag ihnen ihrem Weſen gemäß nahe. Wenn wir nun behaupten,
daß in der akademiſchen Einrichtung an ſich dieſe Gefahr liegt und ſie
doch für unentbehrlich und nützlich erklären, ſo müſſen wir die Mittel
ſuchen, wodurch der Gefahr geſteuert wird. Davon im nächſten §. Zuvor
iſt nur noch auf das Concurrenzweſen hinzuweiſen, welches hier nicht, wie
§. 507, 2. als Förderungsmittel der Kunſt durch Anſpornung reifer Künſtler,
[109] ſondern als Reizmittel des Fortſchritts für Schüler zur Sprache kommt
und mit allen Akademieen verbunden iſt, namentlich aber in Frankreich
faſt noch eine wichtigere Rolle ſpielt, als der Unterricht (vergl. Kugler
Ueber die Anſtalten und Einrichtungen zur Förderung der bild. Künſte
u. ſ. w. S. 14. 15). Daß dieſes Mittel ein gutes, daß der Ehrgeiz
ein berechtigter Hebel iſt, ſoll natürlich auch hier nicht geläugnet werden,
und namentlich ſind die Preiſe als zweckmäßig anzuerkennen, welche in
Abreichung der Mittel zu Studienreiſen beſtehen (académie de France
in Rom); überhaupt wirkt dieſes Unterſtützungsſyſtem und die Akademie
ſelbſt als Staasanſtalt ſchon durch die hierin ausgeſprochene Thatſache,
daß die Kunſt eine Angelegeheit des Staats iſt und wir haben zu §. 508, 2.
nachzuholen, daß für die Erhebung der Kunſt zu dieſer Bedeutung in
Frankreich mehr geſchieht, als irgendwo. Das Concurrenzweſen muß aber
Maaß einhalten; geſteigert zu dem Umfang und der Herrſchaft, wie in
Frankreich, zieht es den Schüler ab vom ſtillen Wachsthum der Kräfte
und führt ihn zu ſehr nach außen, ſpannt ſein ganzes Abſehen auf
den Erfolg. — Was die Künſte betrifft, die ihr geiſtigeres Leben in der
Zeitform äußern, ſo folgt die Muſik noch dem akademiſchen Syſtem, theils
in Verbindung mit den Akademieen, deren Hauptgegenſtand die bildende
Kunſt iſt, theils in beſondern Anſtalten, den Conſervatorien; die Dichtkunſt
läßt ihrem Weſen nach nicht auch nur den Verſuch einer ſolchen Schul-
Anſtalt zu und die italieniſchen Akademieen für Sprache und Dichtkunſt,
die deutſchen Dichter-Orden im ſiebzehnten Jahrhundert nach ihrem Vor-
bild (namentlich dem der crusca) gebildet, die fruchtbringende Geſellſchaft
oder der Palmenorden, die Geſellſchaft der Pegnizſchäfer oder der gekrönte
Blumenorden u. ſ. w. konnten nicht Schulen für künftige Dichter ſein
wollen, ſondern waren Innungen für Reinbewahrung der Sprache und
für gegenſeitige Förderung Solcher, die ſich für gemachte Dichter hielten;
ſie haben Verdienſte um die Sprache, waren übrigens Spielereien. Am
meiſten analog dem Akademieen-Weſen war die Dictatur über alle auf-
ſtrebenden Talente, wie ſie die conventionelle Poeſie in Frankreich durch
die ſog. Claſſiker, in Deutſchland namentlich durch Gottſched ausübte.
In gewiſſem Sinne aber iſt für den Dichter das, was für den bildenden
Künſtler die akademiſche Erziehung iſt, die allgemeine höhere Schulbildung:
durch ſie lernt er die großen Muſter-Werke der Poeſie kennen und ver-
ſtehen, durch ſie empfängt er die techniſche Vorübung für höhere Sprachform
und Rhythmus. — Aehnlich, wie in der Erziehung des bildenden Künſtlers,
ſtellt ſich dagegen die Sache in der Bildung des Schauſpielers. Die neuere Zeit
hat es mit ſich gebracht, daß man die Erziehung auch in dieſer Kunſtform
dem Zufälligen, was in der früheren Heranbildung des Zöglings inmitten
der Truppe und durch die Perſönlichkeit des Prinzipals lag, zu entnehmen
[110] ſuchte und an den ſtehenden Theatern Schauſpielerſchulen errichtete, welche
in den nöthigen Vorkenntniſſen und Vorübungen Unterricht ertheilen. Dem
höheren, äſthetiſchen Theile der Schauſpielerbildung hat man durch die
Einführung angeſtellter Dramaturgen eine diſciplinirte Form zu geben
verſucht; ein ſolcher Verſuch wird jedoch an dem natürlichen Widerwillen,
ſich von einem Andern, als einem bewährten Fachgenoſſen, belehren
zu laſſen, immer ſcheitern; Eckhofs, Schröders Theater-Akademieen
konnten ſich freilich gegen die Trägheit, den Eigenſinn und die Empfind-
lichkeit der Schauſpieler auch nicht halten und es käme darauf an, einem
beſtimmter geregelten Unterricht bedeutender Künſtler und Schauſpieldirectoren
durch geſetzliche Einrichtung feſten Halt zu geben, ohne das Freie in der
Form ſolcher Akademieen zu zerſtören.


§. 523.

Die Aufgabe iſt, durch Verbindung des Zweckmäßigen in beiden Erzie-
hungsformen ein Drittes, den Bedingungen der Zeit und den Forderungen der
wahren Kunſt Entſprechendes zu bilden.


Da die akademiſche Einrichtung unentbehrlich iſt, ſo handelt es ſich
zunächſt von der Methode des Unterrichts in derſelben, und zwar insbe-
ſondere in den Zweigen, wo die Technik ſich unzweifelhaft mit dem
freien äſthetiſchen Gefühle verbindet: Zeichnen nach der Antike, nach dem
lebendigen Modell, Farbenbehandlung, Modelliren und namentlich eigenes
Entwerfen, Componiren (in den Elementen des Zeichnens hat Dupuis
die naturgemäße Methode eingeführt. Vergl. Leibniz Ueber die Einführung
der Dupuis’ſchen Methode u. ſ. w.) Es kommt darauf an, daß man
den Schüler anregend leite, ohne den Geiſt der geſunden Natur-An-
ſchauung und das Leben der Phantaſie, das in ihm vorausgeſetzt iſt, zu
erdrücken. Man lehre ihn ſelbſt ſehen und ſelbſt (künſtleriſch, d. h.
in Formen) denken. Zu beherzigen iſt namentlich, was Rumohr (a. a. O.
B. I. S. 69. 70) räth: neben ſtrengen anatomiſchen Studien ſolle der
Lehrling in ſchneller und allſeitiger Auffaſſung und Nachbildung zufälliger,
frei gewählter Stellungen des Modells geübt werden. Noch mehr natür-
lich müßte von dem freien Acte des Entwerfens und Componirens alles
Conventionelle in der Leitung fern gehalten werden. Nun kann eine
geiſtvoll freie Methode, wie ſie hier angedeutet iſt, natürlich nur von be-
deutenden Meiſtern ausgehen, in welchen nicht der Beamte den Künſtler
unterdrückt, d. h. welche zu ihren Schülern in dem perſönlich freien Ver-
hältniß ſtehen, wie in der familiären Erziehungsform, nur daß das engere,
häusliche Zuſammenſein, wie es in naiven Zeiten Statt fand, natürlich
[111] nicht mehr angeht. Hieraus ergibt ſich eine Einrichtung, wonach in allen
den Zweigen, welche eine exact ſchulmäßige Behandlung bedingen, die
Schüler gemeinſchaftlichen Claſſen-Unterricht genießen, dagegen für den
äſthetiſchen Theil der Technik in Baukunſt, Bildhauerei, Malerei (und
Kupferſtich) Ateliers gegründet werden, worin praktiſche Künſtler einen
Kreis von Schülern ſelbſtſtändig leiten. In Düſſeldorf iſt dieß mit dem
glücklichſten Erfolge geſchehen, in Antwerpen und München verordnet und
eingeleitet, doch noch nicht vollſtändig ins Werk geſetzt. Die wechſelſeitige
Anregung der zahlreichen Schüler ſolcher Ateliers iſt nicht der geringſte
Vortheil dieſer Einrichtung. Sollte ſich dieſe Einrichtung im Großen den-
noch praktiſch nicht bewähren, ſondern der Beamtengeiſt lähmend auch in ſie
eindringen, ſo käme es darauf an, die zu Paris beſtehende Einrichtung,
wo neben der Akademie einzelne Künſtler Ateliers auf ihre Rechuung
errichten, Modell u. ſ. w. beiſchaffen, ihre Schüler, welche daneben für
die exacten Fächer den Unterricht der Akademie benützen, zweimal wöchent-
lich beſuchen und ihre Arbeiten corrigiren, in verbeſſerter Form herzuſtellen;
denn hier iſt das Verhältniß ein zu wenig vertrautes, der Meiſter ſieht
zu wenig nach den Schülern und es iſt daher eine Verwilderung einge-
rißen, welche Delaroche nöthigte, ſein Atelier zu ſchließen (Kugler a. a. O.
S. 18). Daß nun bei dieſer Verbindung des akademiſchen und des perſön-
lichen Prinzips in dem Theile der Künſtlerbildung, der unter letzteres ge-
ſtellt wäre, die beſtimmte Perſönlichkeit des Künſtlers einen nicht viel weniger
bindenden und einſeitigen Einfluß äußern würde, als in der alterthümlichen
Erziehungsform (§. 521), iſt natürlich und unvermeidlich, dagegen iſt aber
auch das freie Fortbildungsmittel des Wanderns in erweitertem Maaße
dem Schüler der jetzigen Zeit zugänglich, da der Staat große Summen für
Reiſeſtipendien ausſetzt. Die Studienreiſe iſt dem Künſtler unerläßlich,
insbeſondere dem nordiſchen die Reiſe nach Italien, wogegen dem ſüdlichen
Künſtler zur Ergänzung deſſen, was ihm die Heimath in Fülle darbietet,
die Anſchauung der nordiſchen Kunſt als Schutzmittel gegen ſeine Neigung
zum Sinnlichen und individualitätslos Allgemeinen zu rathen iſt.


[112]
γ.
Die Meiſterſchaft und der Styl.

1.
Der Meiſter als Einzelner.

§. 524.

Die Vollendung der Herrſchaft über die Technik iſt das Ende der Schule;
in ihr verſchwindet die Mühe, das Werk des reifen Künſtlers erſcheint wie von
ſelbſt geworden, alſo wie ein Naturwerk, obwohl der Zuſchauer ſich bewußt
bleibt, daß es Kunſtwerk iſt (Kant). Es ſteht auf ſich und erklärt ſich ſelbſt,
denn es bleibt im Innern des Künſtlers nichts zurück, was nicht flüſſig her-
austräte in ſein Werk, und in dieſem nichts, was bloßer Stoff wäre. Hiedurch
erſt iſt die Definition des Schönen §. 14 vollſtändig entwickelt.


Der §. vermeidet noch den Namen Meiſter, weil eine gewiſſe Form
der vollendeten techniſchen Ausbildung erſt aufzuführen iſt, welcher ein
weſentliches Moment fehlt, um denſelben zu verdienen; da jedoch aller-
dings nur da, wo dieſes Moment eintritt, geleiſtet wird, was der §. an
die Spitze der folgenden Unterſcheidungen ſtellt, ſo mögen wir hier das Subject
der dargeſtellten Leiſtung immerhin bereits Meiſter nennen. Allerdings hat
nun auch der Meiſter nie ausgelernt und zeitlich iſt daher der Punct, den
wir hier ſetzen, kaum zu finden, aber der Begriff muß feſtſtellen, was
ſich in der Wirklichkeit in’s Unbeſtimmte verläuft und nur als relatives
Maximum zu erkennen iſt. Das Verſchwinden der Mühe nun in dem
meiſterhaften Werke iſt das Verſchwinden des Gegenſatzes zwiſchen Subject
und Object: das Subject iſt nicht mehr ſichtbar, denn es hat ſein inneres
Bild ohne Reſt in das Material niedergelegt, im Gelingen ſind die Spuren
der Mühe, des Kampfs mit der techniſchen Regel und mit dem Material
getilgt, das Object iſt nicht mehr ſichtbar, weil das Material als ſolches,
d. h. als roher Stoff, überwunden, weil es ſchlechthin zum Ausdruck des
innern Ideals umgebildet iſt. Daher erſcheint ein ſolches Werk nicht mehr
als gemacht, als gearbeitet, ſondern als geworden. Da nun von der
Natur nicht ausgeſagt werden kann, daß ſie arbeite und mache, weil in ihr
der Gegenſatz zwiſchen einem Zweckſetzenden Subject, einem zu beſtimmen-
den Object und Mitteln zu deſſen Ueberwindung überhaupt nicht vor-
handen iſt, ſo erſcheint das Kunſtwerk aus Meiſterhand, in welchem das
Machen und Arbeiten unſichtbar geworden, wie ein Naturwerk. Weil aber
der weſentliche Unterſchied zwiſchen einer Kraft, in welcher der Gegenſatz
[113] von Subject und Object gar nicht vorhanden iſt, und einer ſolchen, welche
ihn überwindet, beſtehen bleibt, ſo kann der Schein der Natur im Kunſt-
werk nicht ein wirkl[i]cher Betrug ſein, es kann den Zuſchauer nicht in
die gemeine Täuſchung verſetzen, als habe er ein wirkl[i]ches Naturwerk
vor ſich; es erſcheint als Natur und nicht als Natur, als zweite Natur.
Hier iſt die Stelle, wo der tiefſinnige Satz Kants (Kr. d. äſth. Urthlskr.
§. 45) einzurücken iſt: „an einem Producte der ſchönen Natur muß man
ſich bewußt werden, daß es Kunſt ſei und nicht Natur; aber doch muß
die Zweckmäßigkeit in der Form deſſelben von allem Zwange willkürlicher
Regeln ſo frei ſcheinen, als ob es ein Product der bloßen Natur ſei. —
Die Natur war ſchön, wenn ſie zugleich als Kunſt ausſah, und die Kunſt
kann nur ſchön genannt werden, wenn wir uns bewußt ſind, ſie ſei
Kunſt, und ſie uns doch als Natur ausſieht.“ Die weitern Sätze des §.,
daß das Kunſtwerk auf ſich ſteht und ſich ſelbſt erklärt, folgen von ſelbſt
aus dieſem ſeinem Grundcharakter und erklären ſich zugleich mit der, nun
nothwendigen, weitern Entwicklung beider Seiten desſelben. Die erſte
Seite iſt: das Kunſtwerk erſcheint als Naturwerk. Darin iſt vor Allem
enthalten, daß die innere Bedeutung desſelben dem Zuſchauer unmittelbar
einleuchtet; die Herrſchaft des Kunſtvers über ſein Material bedingt ja
den flüßig ungetheilten Uebergang alles deſſen, was er ausdrücken wollte,
in ſein Werk, und zwar ſo, daß man es findet, ohne ſich durch einen
Begriff Rechenſchaft darüber zu geben. Dieß iſt nur eine nähere Beſtim-
mung des dem Kunſtwerk eigenen Naturcharakters in Rückſicht auf den
Zuſchauer; denn die Natur, weil ſie ſich nicht in Subject und Object
entzweit, hebt in dem organiſchen Bau der innern Zweckmäßigkeit alle
einzelnen wirkenden Kräfte ſo in den Geſammtausdruck der Geſtalt auf,
daß, wer dieſe ſieht, auch die werkthätige Idee ſieht, weßwegen ja Kant
ſo ganz ohne Grund die organiſche Schönheit zu dem blos anhängend
Schönen, d. h. zu dem, das blos durch Vermittlung eines Begriffs
gefällt, (a. a. O. §. 16) rechnet; ebenſo aber iſt in dem ächten Kunſt-
werk alles Innere heraus und in die anſchauliche Form rein aufgegan-
gen. Das Meiſterwerk erklärt ſich ſelbſt, Dunkel iſt eine Eigenſchaft,
die das Kunſtwerk degradirt. Unter Dunkel iſt natürlich nicht zu ver-
ſtehen die Ferne der Zeit, die Fremdheit der Sprache u. ſ. w., ſofern ſie
für eine ſpätere Zeit, ein anderes Volk, eine gewiſſe Zurüſtung von
gelehrten Mitteln zur Erklärung eines Kunſtwerks nothwendig machen;
auch fremde und verſchwundene Culturformen, welche ein gleichzeitiger
Künſtler der eigenen Nation zur Darſtellung bringt und deren Verſtänd-
niß gewiſſe Kenntniſſe vorausſetzt, machen ein Kunſtwerk noch nicht im
übeln Sinne dunkel, ſofern nur das rein Menſchliche, das Alle unmittel-
bar verſtehen, nicht mit ſolchen überladen iſt; auch die Darſtellung einer

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 8
[114]Form des Bewußtſeins, welche zwar im menſchlichen Geiſte begründet,
aber nur für einen Kreis von Zuſchauern verſtändlich iſt, die ein
tieferes Geiſtesleben führen, (wie Göthes Fauſt, erſter Theil), fällt nicht
unter den Vorwurf unzuläßigen Dunkels, denn die ungleiche Bildung iſt
eine Schuld der Zeiten; noch weniger das Bedürfniß einer allgemeinen
Notiz, die den Zuſchauer, Zuhörer mit dem Gegenſtande überhaupt, mit
der dargeſtellten Situation bekannt macht: ſo unmittelbar leuchtet ja auch
das Naturſchöne der bedeutenderen Sphären, namentlich der geſchichtlichen,
nicht ein, daß der Zuſchauer nicht erſt wiſſen müßte, von was es ſich in
dem vorliegenden Auftritt handelt. Was aber ſchlechterdings keiner Erklä-
rung bedürfen ſoll, das iſt der Sinn eines Kunſtwerks (vergl. die Krit.
Gänge des Verf. B. II S. 49 ff.) und der ſchlimmſte aller Fälle iſt
der, wenn es ſo dunkel iſt, daß man nach aller Mühe der Entzifferung
nicht einmal wiſſen kann, ob man den Sinn richtig gefunden hat, wie bei
dem zweiten Theil von Göthes Fauſt. Die letzte Urſache eines ſolchen
Dunkels iſt immer ein Nicht-Können, alſo ein Mangel an Kunſt. Man
wende nicht ein, das ſei dann ein Mangel des innerſten Schaffens, nicht
der Technik, dieſe könne vielmehr mit großer Fertigkeit durchgeführt ſein;
denn die Technik, wie ſie vor uns entſtanden iſt als Spitze der äſtheti-
ſchen Thätigkeit, worin alle vorangegangenen geiſtigen Momente ſich zu-
ſammenfaſſen, iſt der volle Strom, in welchem das Innere ungehemmt
ganz zum Aeußern wird, ſie iſt der ſinnliche Erguß, der auch nachdem er
feſt geworden, immer noch warm bleibt, nie erkaltet, dem man immer
anfühlt, wie er friſch aus dem Innern gekommen. Die formell geſchickte
Technik, die noch übrig bleibt, wenn das Innere und Aeußere ausein-
anderfällt, iſt eben nicht die wahre, die lebendige. Die näheren Urſachen
des Nichtkönnens, wie ſie im Innern des Künſtlers zu ſuchen ſind, können
ſehr verſchiedene ſein: Mangel an Begabung, Unreife, Erloſchenſein der
Phantaſie, Erkranktſein derſelben in Künſtelei, Grille, Eitelkeit im Auf-
geben von Geheimniſſen: dieſe innere Seite beſchäftigt uns hier nicht
mehr, nachdem wir die Lehre von der Phantaſie und von der Allegorie,
der häufigſten Form des Dunkels, entwickelt haben, vielmehr ſtehen wir
jetzt an dem Puncte, wo alle jene innern Mängel als äußere erſcheinen
müſſen, indem die Stockung der Geiſtesthätigkeit in einer Stockung der wah-
ren, naturvollen Technik zum Vorſchein kommt, das ausgeführte Werk ſich
nicht als geworden, ſondern als gemacht darſtellt und eines Commentars über
ſeinen Sinn bedarf. Nur der Fall iſt noch beſonders zu erwähnen, wo ein
pathologiſcher Zuſtand des Künſtlers oder ein Mangel an Zufluß allgemein
bedeutender Phantaſiebilder Urſache der beſonderen Form des Dunkels iſt,
welche Erläuterungen aus der Lebensgeſchichte des Künſtlers nothwendig macht;
dieſer ſubjective Charakter iſt nämlich ein beſonders häufiger Mangel von Kunſt-
[115] werken in der neueren Zeit und freilich hat auch das Publikum ſich
gewöhnt, mehr nach dem Subjecte des Künſtlers, als dem Objecte, ſeinem
Werke, zu fragen. Aber auch dieſe Art der Schwierigkeit des Verſtänd-
niſſes fällt einfach in die Gattung des unzuläßigen Dunkels. Das ächte
Kunſtwerk ſteht auf ſich, der Künſtler iſt ganz abweſend, weil er in ihm ganz
aufgegangen und anweſend iſt, der Faden zwiſchen ihm und ſeinem Product
iſt abgeſchnitten, es hat ſein eigenes freies Leben, iſt eine ſelbſtändige Welt. —
In dem Satze, daß das Kunſtwerk als Naturwerk erſcheint, iſt aber als
weiteres Moment enthalten, daß es nicht den Ausdruck der Abſichtlich-
keit
haben darf. Den innern Grund dieſer Eigenſchaft haben wir in
§. 406, 5. bereits in der einſeitigen Fixirung des Moments der Beſinnung
gefunden; es kommt zwar erſt darauf an, auf was der Künſtler, in
welchem dieſes Moment überwiegt, ſich beſinnt: es kann ein ſinnlicher
(vergl. §. 73, 2), ein moraliſcher, ein intellectueller Zweck ſein, ein
Effectſtück kann alſo mancherlei Charakter tragen, aber alle Effectſtücke
haben den Ueberſchuß der Beſinnung miteinander gemein, und von dieſem
iſt nun die Rede, ſofern er in die Behandlung übergeht, ſo daß man dem
Werk anſieht, daß der Künſtler nicht unbefangen, wie dieß in und zu
§. 487 gefordert iſt, ſondern in bewußter und verfänglicher Weiſe den
Zuſchauer im Auge gehabt, nicht die Sache mit und in ihrer Wirkung,
ſondern die Wirkung ſtatt der Sache im Auge gehabt hat. Das ächte
Kunſtwerk iſt naiv, es weiß nicht um den Zuſchauer. — Die andere Seite
unſeres Hauptſatzes war: das Kunſtwerk erſcheint, indem es einem Natur-
werke gleicht, ebenſoſehr fortwährend als Kunſtwerk. Dieß ſetzt nun
natürlich voraus, daß die ganze Umbildung des Naturſchönen, die durch
den Act der Phantaſie und die Compoſition vollzogen wird, in die techni-
ſche Ausführung übergegangen ſei. Das Material iſt dadurch zum
reinen Scheine vollſtändig umgewandelt und eine Täuſchung darüber,
daß man nicht Naturſchönes, ſondern durch die Kunſt umgebildetes Natur-
ſchönes vor ſich habe, kann daher gar nicht eintreten. Allein eine unvoll-
kommene oder verkehrte Vollziehung der geiſtigen Intention kann Fehler
und Verirrungen der Technik herbeiführen, deren Wirkungen höchſt beleh-
rend ſind über die Wirkung der wahren Kunſt im Sinne des jetzt vor-
liegenden Grundgeſetzes. Unreife und verbildete Kunſt kann nämlich
meinen, das Naturſchöne nach allen Momenten der Erſcheinung darſtellen
zu müſſen, indem ſie die ausſchließliche Natur des Materials (vergl. §. 517)
verkennt, und ſo einen Wettſtreit mit der Natur auf einem Boden ver-
ſuchen, worauf die Kunſt es ihr nicht gleichthun kann, vielmehr in dem
Grade, in welchem ſie jener nacheifert, nur ihre Blöße zeigt: auf dem
Boden der empiriſch wirklichen, unmittelbaren Lebendigkeit (§. 379).
Ein Werk, das aus dieſem Irrthum hervorgegangen iſt, täuſcht einen

8*
[116]Augenblick, aber ſchon in dieſer augenblicklichen Täuſchung kündigt ſich
Gefühl der Enttäuſchung an, nur noch nicht mit Bewußtſein, ſondern ſo,
daß es, zum Gefühle der Täuſchung geſchlagen, dieſem die Beimiſchung
eines geſpenſtigen Grauſens gibt; aber raſch ſtellt ſich die volle Enttäuſchung
als eine aus Widerwillen und Lachen gemiſchte Empfindung ein. So
wirkt die Verbindung der Malerei und Plaſtik in völlig polychromiſchen
Werken der letzteren, namentlich in Wachsfiguren. Es kann aber noch
auf andere Weiſe gegen jenes Grundgeſetz gefehlt werden und auch
dieſer Fehler ſeinen Grund entweder in Unreife oder in Ueberreife
haben: es wird nämlich mitten in der künſtleriſchen Bearbeitung ein Stück
Natur ſtehen gelaſſen oder zwiſchen ſie mit Abſicht hineingeſtellt: natür-
licher Stein, Baumſtamm mit Rinde in der Baukunſt, natürlicher Fels
in der Plaſtik, aufgeſetztes erhabenes Goldblech in der Malerei, Thiere
auf dem Theater. Zu §. 490 iſt gezeigt worden, wie ſolche Einführung
der wirklichen Natur in die Kunſt gegen das Geſetz verſtoße, das ver-
langt, daß das Material todter Stoff ſei; jetzt ſehen wir, wie dadurch
ein übrigens künſtleriſches Ganzes rein auseinandergeſprengt wird: die
Folge dieſes Fehlers iſt nämlich eine Enttäuſchung, welche hinüberfällt auf
den künſtleriſch durcharbeiteten Theil, eine Zerſchlagung des Kunſt-
Eindrucks, die rohe Natur tritt mit plumpem Fuße in das zarte Gebäude
der Kunſt und zertritt es. Hätte man das Naturſchöne, dem man hier
begegnet, auf ſeinem Boden, in der Natur vorgefunden, ſo hätte man
ihm in bereitwilliger Illuſion, was ihm zur vollen Schönheit abgeht, aus
der eigenen Phantaſie zugewogen, hier aber, wo es ſich zwiſchen die reine
Schönheit der Kunſt eindrängt, fühlt man nur ſeine Mängel und wird
dadurch aus der Kunſtſtimmung herausgeworfen.


Soll die Definition des Schönen in §. 14, wie ſie nun durch die
vollendete Technik, die alles Innere im Aeußern darſtellt und alles Aeußere
zum Ausdruck des Innern erhebt, verwirklicht iſt, ſo gefaßt werden, daß
alle Hauptmomente der bisherigen Entwicklung darin niedergelegt ſind,
ſo lautet ſie nun: das Schöne iſt die durch den Geiſt erzeugte
und in ein äußeres Material niedergelegte Umbildung der
ſinnlich begrenzten Erſcheinung zum reinen Ausdruck der
Idee
.


§. 525.

Die erſte Stufe der vollendeten Technik iſt die vollkommene Herrſchaft
über die Mittel der Darſtellung ohne eigenen ſchöpferiſchen Geiſt oder die
Virtuoſität. Da es keine rein äußerliche Kunſt-Technik gibt, ſo fordert
dieſelbe außer der Uebung allerdings ein Talent, das ſich auch in den Geiſt
[117] einer gegebenen Technik reproductiv hineinfühlt; dieſes iſt jedoch von dem Talent
überhaupt als einer iſolirten Gabe der Technik der innerlich bildenden Phantaſie
(§. 409) verſchieden. Die ſo von ihrem innern Bande relativ getrennte Technik
erzeugt aber auch eine Erſcheinung, worin die bloße Virtuoſität ihre Schranke
zu überſpringen verſucht und dem fragmentariſchen Genie (§. 410) analog auftritt.


Es iſt hier von Stufen die Rede, die in der Wirklichkeit als ge-
ſonderte Erſcheinungen auftreten, von Graden der Durchdringung der
Technik mit dem künſtleriſchen Schöpfergeiſte, in welchen der Grundbegriff,
wie ihn §. 524 aufſtellt, ſich auseinanderlegt, Momente jenes Ganzen
als einſeitige Formen voranſchickt, um jedes derſelben vollſtändig zu ent-
falten, dann aber das Einſeitige zu überwinden und ihm gegenüber in
ſeiner Fülle hervorzutreten. Die unterſte Form muß eine ſolche ſein,
worin die Gewalt der Technik über das Material ſich in der höchſten
Sicherheit, ihrem ganzen Glanze zu erkennen gibt, aber auch nur ſie,
getrennt von dem ſchaffenden Geiſte. Dieſe Trennung gehört weſentlich
zu dem Begriffe der Virtuoſität; man legt dieſen Namen nicht der tech-
niſchen Reife des Genius bei, der zugleich ſchöpferiſch wirkt; der Virtuos
iſt nicht productiver Künſtler. Da es aber keine Kunſttechnik gibt, die
nicht beſeelt iſt von innen heraus durch die ſchaffende Phantaſie, ſo tritt
hier eine Schwierigkeit ein, die ſich am leichteſten allerdings aufhellt,
wenn man von der Muſik als einer Kunſt ausgeht, in welcher die
Compoſition und die techniſche Ausführung ſo auseinanderfällt, daß der
erfindende Künſtler nicht nothwendig auch in der Ausführung es zur
Vollkommenheit gebracht haben muß, daher er dann hier, wenn dieß
der Fall iſt, auch Virtuos heißen kann. Wirklich gehört der Ausdruck
Virtuoſität urſprünglich der muſikaliſchen Welt an. Der muſikaliſche
Virtuos nun hat nicht nur ein Inſtrument oder das Organ der eigenen
Stimme ſo völlig in ſeiner künſtleriſchen Gewalt, daß er ihm jeden Ton
und Ausdruck, deſſen es fähig iſt, mit einer Fertigkeit entlockt, in welcher
die letzte Spur der Mühe verſchwindet, ſondern er hat auch die reproductive
Fähigkeit, ſich ganz in die Stimmung der Compoſition zu verſetzen und
ſie in ſeinem Vortrag durch alle ihre einzelnen Momente und Bewegungen
hindurch zum vollen Ausdruck zu bringen. Schaffen hätte er das muſikaliſche
Kunſtwerk nicht gekonnt; der Virtuos als ſolcher componirt zwar wohl
auch, aber nicht ein freies künſtleriſches Ganzes, ſondern regelloſere Er-
gießungen, die ihm nur die Unterlage geben, um ſeine techniſche Fertigkeit
zu entwickeln, namentlich variirt er zu dieſem Zweck gegebene Compoſitionen,
aber eigentlich hervorbringender Künſtler iſt er nicht. Er verhält ſich alſo,
was den inneren Geiſt des Kunſtwerks betrifft, anempfindend. Ebendieß
haben wir in §. 490 von dem Talent überhaupt ausgeſagt. Der Virtuos
[118] iſt jedoch weniger, als dieſes; er hat Talent, aber in einem beſondern,
beſchränkten Sinn. Das Talent ſchlechthin nämlich iſt hervorbringend, in
der Muſik Componiſt. Seine Schöpfung iſt freilich nicht die ureigene des
Genie, aber es folgt dieſem in die Geheimniſſe der Technik nicht in dem
Sinne, wie wir die Technik jetzt verſtehen, ſondern der innern, bildenden,
bauenden Technik; in der Poeſie z. B. macht es nicht blos gute Verſe
mit Leichtigkeit, ſondern weiß die Anſchauungsweiſe einer Zeit, eines Meiſters
in geſchickter Compoſition niederzulegen, zu verbreiten, fortzubilden. Das
Talent dagegen, das ſich in der Virtuoſität kund gibt, fühlt ſich in einen
gegebenen Geiſt nur hinein, wie er an eine gegebene Technik gebunden
iſt, es erfindet nicht, es exequirt nur, aber mit Seele, mit Verſtändniß
der Seele. In den Künſten, in welchen Erfindung und Ausführung nicht
auseinanderfällt, iſt dieß inſofern anders, als das virtuoſe Talent noth-
wendig auch erfinden muß, um ſeine Bravour in der Technik zeigen zu
können; da wird man aber bemerken, daß die Erfindung nur Schein iſt,
daß ſie in Reminiſcenzen beſteht, welche zuſammengeſtellt ſind zu dem Zweck,
die glänzende Beherrſchung aller Mittel daran entwickeln zu können. —
Die Virtuoſität thut nun aber allerdings noch einen weiteren Sprung,
der ſie in das Gebiet des kühnſten Schaffens zu tragen ſcheint. Da
nämlich die Technik keineswegs bloß Handwerksregel iſt, ſondern aus einem
Ganzen von Darſtellungsmitteln beſteht, dem der Genius ſeinen Geiſt ein-
gehaucht hat, ſo wird ſie zu einem relativ ſelbſtſtändigen Ganzen, dem ein
Reiz inwohnt, getrennt von dem urſprünglichen Bande es auf eigene Fauſt
zu verſuchen: die Geſchicklichkeit, mit anempfindender Seele gepaart, emanzipirt
ſich von dem, an was ſie ſich anempfinden muß, um zur wahren Kunſtleiſtung
färig zu ſein, ihre Freiheit von Mühe nimmt ſie für poſitive, inhaltsvolle
Freiheit, und wie ſie nun jenes Band ſprengt, iſt es, als ob ein Dämon in
ſie führe, wie in die Beine des Betrunkenen, die dem Willen nicht mehr
gehorchend auf eigene Fauſt abſonderliche Figuren ausführen. So werden
die Finger des muſikaliſchen Virtuoſen toll, die gereizten Nerven handeln für
ſich und in losgelaſſenen Capricen, Seltſamkeiten, Ueberraſchungen und Sprün-
gen aller Art täuſchen ſie mit dem Afterbilde des ächten Genius das Ohr
des Hörers, das im Wirbel vergißt, daß Kunſtſtück nicht Kunſt, daß innere
Nothwendigkeit und Harmonie der Grundzug der letzteren iſt. In den andern
Künſten wird ſich der Virtuos durch den Zug ſeiner techniſchen Sicherheit
auf ähnliche Weiſe zu einem Scheinbilde der fragmentariſchen Genialität
(die trotz ihren Mängeln doch etwas unendlich Höheres iſt, als der losge-
laſſene Flug der techniſchen Bravour [...] fortreißen laſſen: Formen, Stellungen,
Bewegungen, Licht- und Farben-Effecte, Scenen, Bilder vertreten hier die
Töne, er ſucht das Schwierige auf, um ſeine Macht zu ze[i]gen, und das
leicht überwundene Schwierige gibt ſich den Schein kühner Gedanken.


[119]
§. 526.

Die zweite Stufe bildet das Eindringen des ſchöpferiſchen Geiſtes als
eines zunächſt bloß ſubjectiven in die Technik. Die Phantaſie, mit welcher die
wahre Technik an lebendigem Bande vereinigt bleibt, iſt nämlich zunächſt die
ſubjective des einzelnen Künſtlers, die den Act jeder Schöpfung mit der Auf-
faſſung
des Gegenſtands beginnt. Im Begriffe der Auffaſſung liegt es, daß
der Künſtler den Gegenſtand von der Seite ergreift, welche der Subjectivität
ſeiner Phantaſie zuſagt. Iſt dieſe Subjectivität eine relativ enge, beſchränkt
ſich aber auf ein Gebiet, worin ſie von der zunächſt ergriffenen Seite in das Innere
des Gegenſtands zu dringen vermag nnd ſich daher in Einklang mit dem Objecte
bewegt, ſo iſt der Ausdruck dieſer Schranke, wie er ſich in einer ſtehenden
Technik niederlegt, Manier im berechtigten Sinne; gewöhnt ſich aber
die Subjectivität in Eine Auffaſſungsweiſe ſo ein, daß ſie dieſelbe ohne Fug
erweitert und in Widerſpruch mit dem objectiven Leben des Gegenſtands
geltend macht, ſo entſteht Manier im übeln Sinne des Worts.


Das Wort Manier wird hier natürlich nicht in ſeiner urſprünglichen,
rein äußerlichen Bedeutung: eine Art der Führung des Werkzeugs, ge-
nommen; dieſe Bedeutung iſt weiter unten an ihrem Ort aufzuführen,
das aber iſt ſtreng feſtzuhalten, daß in unſerem jetzigen Zuſammenhang keine
geiſtige Erſcheinung mehr in anderem Sinne auftritt, als wie ſie ſich in
einer beſtimmten Art der Technik ausſpricht. So iſt denn Manier im
vorliegenden tieferen Sinne die in der Subjectivität der Auffaſſung zu-
rückgehaltene Phantaſie, wie ſie ſich in der Technik niederlegt. Auffaſſen
muß zunächſt jeder Künſtler; Auffaſſung iſt der Moment, wo das Object
aufhört, blos Object zu ſein, indem die Phantaſie es erfaßt, in ihr Inneres
ſetzt. Es iſt dieß nicht daſſelbe, wie der allgemeine Schritt von der An-
ſchauung zur Einbildungskraft (§. 387), denn wir haben jetzt den Künſt-
ler, ſeine ſchon geübte Phantaſie und Technik, und in dieß Ganze
von Stoffbewältigender Thätigkeit zieht er den Gegenſtand herein durch
die Auffaſſung. Gewöhnliche Soldatenbilder, wie ſie für Kinder gemalt
werden, Veduten, Thiere in der gewöhnlichen Abbildung der Naturgeſchichten
ſind Darſtellungen von Gegenſtänden ohne Auffaſſung; ſind die Soldaten
in Gruppen zuſammengeſtellt mit irgend einem Grade von Charakteriſtik,
iſt nur irgend ein Hauch von Leben in der Landſchaft, erſcheinen die
Thiere bewegt, ſo iſt ſchon Auffaſſung da. Die Auffaſſung iſt aber der
Anfang eines tiefern Acts, worin die Phantaſie des Künſtlers das wahre
objective Leben des Gegenſtands ſo in ſich hereinnehmen und ihr ſubjectives
Leben ſo in es ergießen ſoll, daß der Gegenſatz des Subjectiven und
Objectiven überhaupt verſchwindet (vergl. §. 412). In dieſem Acte darf
[120] und kann ſich die Auffaſſung, obwohl immer zunächſt ſubjectiv, unbeſchadet
der objectiven Durchdringung des Gegenſtands erhalten. Der ganze Geiſt
der Behandlung bekommt davon ſeine Färbung, daß der Künſtler von
dem oder jenem Puncte aus in den Gegenſtand eingedrungen iſt. Es
wird ſich dieß bei der Entwicklung des Stylbegriffs erklären. Nun können
aber zweierlei Fälle eintreten, in welchen ſtatt dieſer völligen Tilgung
des Gegenſatzes das ſubjective Moment im Uebergewicht erſcheint. Ent-
weder die Auffaſſung ſchreitet fort zur wirklichen Durchdringung des Objects,
aber die künſtleriſche Subjectivität iſt eine vergleichungsweis enge, beſchränkt
ſich auf ein kleines Gebiet des Naturſchönen und innerhalb deſſelben auf
einen engen Ausſchnitt von Erſcheinungen, Stimmungen, Tönen u. ſ. w.,
ſie iſt aber in ihrem engen Kreis objectiv: d. h. ſie faßt nur die Erſchei-
nungen auf, welche ihr diejenige äſthetiſche Wirkung wirklich entgegenbringen,
für die ſie hauptſächlich organiſirt iſt, läßt alles Andere liegen, was ſich
nicht in dieſer Stimmung, dieſem Lichte behandeln läßt, wenn man nicht
der Sache Gewalt anthun will, ſie wiederholt ſich in dieſer Weiſe beſtän-
dig, aber nie auf Koſten des Gegenſtandes, denn ſie ſchreitet zu jener innigen
Durchdringung des Objects fort, in welcher die Auffaſſung mit dem wirk-
lichen Leben deſſelben zuſammentrifft: die ſo beſchränkte Kunſtart, ſofern
ſie ſich in einer, der angewöhnten Auffaſſung entſprechenden Technik niederlegt,
heißt Manier im guten Sinne des Worts; man fühlt in ihren Werken
mehr den Künſtler, als den Gegenſtand, doch ohne daß eine Kluft des
Eigenſinns dieſen von jenem trennte; es iſt nicht die Mißbandlung des
Gegenſtands, ſondern die Enge des Wiederkehrens, was die ſubjective
Seite in den Vordergrund ſtellt. Man kann den Niederländern nicht vor-
werfen, daß ſie nicht mit inniger Liebe in ihren Gegenſtand eingehen,
aber Niemand wird ihre Auffaſſung und Ausführung Styl nennen, ſondern
es iſt Manier, aber das Wort ſchließt keinen Tadel ein, ſoweit ſie nicht
(was im Einzelnen allerdings geſchieht) den Gegenſtand nur als Mittel
aufſuchen, um ihre Gefühls- und Malweiſe daran glänzen zu laſſen. Der
andere Fall tritt ein, wenn die Subjectivität ſich auf Koſten des Objects
verengt. Hier iſt von vorneherein eine gewiſſe Schuld vorauszuſetzen: eine
urſprünglich elaſtiſchere Subjectivität rennt ſich aus Trägheit oder Eigen-
ſinn in die Enge einer Auffaſſungsweiſe feſt oder eine urſprünglich engere
verle [...]nt ihre Schranken. Zunächſt wird ſie noch die Stoffe ergreifen,
we[l]che die ihr zuſagende Wirkung ihr entgegenbringen, ſie wird aber ſchon
geneigt ſein, die mitwirkenden Seiten, welche von dem Grundtone mehr
oder minder, bis zum vollen Contraſt, abweichen, nicht in ihrer Berechtigung
aufzufaſſen, einen energiſchen, einen ſanften, einen düſtern Ton, ein roſiges
Licht, einen bläulichen Hauch u. ſ. w. über Alles zu ziehen, auch den
ſtarken Körper ſchlank und welch, den ſchlanken und weichen ſtark und
[121] heroiſch zu behandeln u. ſ. w. Nun beſtimmt ein ſolcher Künſtler der ihm
eigenen Auffaſſung gemäß ſeine Technik; jene fängt an, zur Gewöhnung
zu werden, dieſe auch; aber die Verhärtung der Technik iſt nicht einfach
eine Folge der verhärteten Auffaſſung, ſondern übt eine rückwirkende Ge-
walt auf dieſe aus. Dieß letztere Moment iſt ganz weſentlich: das Feſt-
rennen geht zuerſt von innen nach außen, dann verſtärkt von außen nach
innen zurück; der Künſtler möchte wohl anders, aber die gewohnte Pinſel-
führung, Farbengebung, Handhabung des muſikaliſchen Inſtruments u. ſ. w.
iſt ſchon ſtärker, als er; er hat ſich in dem gefangen, was urſprünglich
frei von ihm ausgieng. Nun dringt die Verhärtung weiter: er fängt
an, auch Gegenſtände, welche die ihm geläufige Wirkung nicht dar-
bieten, zu behandeln, als böten ſie ſie dar, und er endigt damit, ſie
denjenigen aufzuzwingen, welche die entgegengeſetzte, und zwar nicht nur
theilweiſe, ſondern im Ganzen ihrer Erſcheinung darbieten. So preſſen
die italieniſchen Manieriſten, in welchen das Einſeitige des M. Angelo und
Correggio zur Unnatur, dort des Gewaltſamen, hier des Süßen und
Sentimentalen ausgeſchlagen iſt, Alles, mag es biegen oder brechen, in das
Prokruſtesbett der einen oder andern dieſer Auffaſſungsweiſen; ſo gibt es
Porträtmaler, denen unter der Hand jeder Kopf ins Heroiſche oder
Empfindſame hinübergleitet, Landſchaftmaler, welche der Luft, den
Erdformen überall dieſelbe ſtehende Phyſiognomie geben, ja allen Baum-
ſchlag überein behandeln, ſo daß man lauter Linden, Stechpalmen und
dgl. zu ſehen glaubt. Die immer gleichen, ſtehenden Geſichter älterer
Meiſter wie eines Giotto, Fieſole, P. Perugino, Fr. Francia gehören nicht
hieher, das iſt der unſchuldige Fehler einer noch jugendlichen Kunſt, die
für eine Gemüthsſtimmung, eine Art, zu ſehen, die in der Zeit liegt, die
entſprechenden Formen gefunden hat und noch nicht zu wechſeln verſteht.
In der Muſik wimmelt es von ſchlagenden Beiſpielen; in der Poeſie
erinnern wir an J. Paul, deſſen großer Genius ſich capriciös in einer bis
zum Unerträglichen wiederkehrenden, bis auf die Einzelheiten der Satz-
und Wortbildung hinaus verhärteten Technik der Sentimentalität und des
Witzes verfangen hat. — Uebrigens verſteht ſich, daß der gemeine Sprach-
gebrauch nicht ſo ſtreng unterſcheidet, als die Wiſſenſchaft, daß er Manier
oft für das anwendet, was wir ſofort Styl nennen werden. Es gibt
allerdings ein Gebiet, wo die Begriffe ſchwanken müſſen: das große Feld
von Kunſtweiſen, die zu bedeutend ſind, um ſie als Manier, zu unbedeu-
tend, um ſie als Styl im ſtrengen Wortſinne zu bezeichnen. Wir werden
dieſes Feld in dem geſchichtlich erweiterten Kreiſe der gegenwärtig vor-
liegenden Begriffe finden.


[122]
§. 527.

Die Einheit der, obwohl innerhalb der Grenzen einer gewiſſen Auffaſſung,
mächtigen und weiten Subjectivität mit der vollendeten Technik iſt die höchſte
und letzte Stufe oder die wahre Meiſterſchaft. Dieſe Subjectivität durch-
dringt den Gegenſtand und ſich mit ihm, ſcheidet alles Unbeſtimmte, Gedrückte,
Kleine und Gemeine von dem Weſentlichen aus und legt die der Großheit
ihrer Anſchauung entſprechenden, in feſtem Rhythmus ſchwungvoll bewegten,
durch ihren über den Wechſel des Augenblicks erhabenen Charakter monumen-
talen Formen in der ſchöpferiſch umgebildeten Technik nieder. Die Technik
als habitueller Ausdruck dieſer objectiven Gewalt des Genius oder das Ideale,
wie es in der techniſchen Gewöhnung erſcheint, heißt Styl.


Wenn man die Technik nur als eine von der Durchdringung mit
der ſchaffenden Phantaſie relativ trennbare und die Vollkommenheit der-
ſelben gegenüber den noch Ungeübten, noch Lernenden im Auge hat, heißt
auch der bloße Virtuos und der auf Manier Beſchränkte ein Meiſter.
Im intenſiven Sinne des Worts aber kann Meiſterſchaft nur die Stufe
bezeichnen, wo das Meiſte, das Höchſte erreicht iſt und dieß iſt eine vom
wahren Genius durchdrungene Technik. Der Meiſter in dieſem vollen
Sinne des Worts ſchafft eine neue Technik (vergl. Anm. zu §. 491),
er iſt alſo vor Allem mehr, als Virtuos; dieſe neue Technik drückt aber
mehr aus, als eine bloß ſubjective Auffaſſung, denn ſonſt iſt ſie ſtreng
genommen nicht werth, überliefert d. h. allgemein gemacht zu werden,
da nur das Wahre, das Objective auch das wahrhaft Allgemeine iſt;
daher heißt auch der Künſtler, der nur Manier verbreitet, nur im unge-
naueren Sprachgebrauche Meiſter. Ebenſo intenſiv, wie das Wort
Meiſter, wird nun hier auch der Ausdruck Styl genommen. Nach dem
beliebten Satze le style c’est l’homme même hat Jeder Styl, der in
ſeiner Technik irgend eine Individualität bleibend ausdrückt; da wird
Styl genommen, wie das Wort Charakter, wenn man nur formell das
Moment der Gleichmäßigkeit, und wäre es die Gleichmäßigkeit des Un-
gleichmäßigen, im Auge hat (vergl. zu §. 333); dann gibt es auch einen
ſchlechten Styl, dann kann man von einem Styl Kotzebues reden. Wir
nehmen aber das Wort hier abſolut, in dem Sinne, den man damit
verbindet, wenn man ſchlechtweg ſagt: er hat Styl, oder: das iſt (nicht
bloße Manier, ſondern) Styl, ebenſo, wie man ſagt: er iſt ein Charak-
ter, das iſt Charakter. Wenn man alſo herkömmlich einen objectiven und
ſubjectiven Styl unterſcheidet, ſo werfen wir den ſubjectiven Styl zurück
zur bloßen Manier. Alle anderen Unterſcheidungen, die man aufzuführen
pflegt, gehen entweder ſchon auf die hiſtoriſche Bedeutung des Stylbe-
[123] griffs, und zu dieſer werden wir erſt im Verlaufe fortſchreiten, oder auf
die Styl-Arten, wie ſie durch die Bedingungen der einzelnen Künſte ent-
ſtehen, und auch dieſe Erweiterung des Stylbegriffs ſoll ſich uns erſt im
Folgenden ergeben; es iſt falſch, ihn auf die letztere Bedeutung zu be-
ſchränken wie Rumohr; oder ſie ſuchen wirklich die möglichen individuellen
Style einzutheilen — und dieß führt auf den ſchwierigen Punct, von dem
hier auszugehen iſt. Es kann nämlich nach der Beſtimmung des §.
ſcheinen, als könne es nur Einen Styl geben, weil es nur Eine Art
gibt, die Dinge wahrhaft in ihrem Weſen zu ſchauen. Das Genie gibt
die Sache ſelbſt; Eine Sache ſcheint aber nur auf Eine Weiſe und
in Einem Styl wahr gegeben werden zu können. Gäbe man etwa nur
ſoviel zu, daß die großen nationalen und geſchichtlichen Unterſchiede in
der Auffaſſung Eines Gegenſtands (z. B. der Perſönlichkeit und des
Charakters) einen berechtigten Styl-Unterſchied begründen, ſo würde uns
dieſes Zugeſtändniß hier, wo wir ja wie geſagt noch vom einzelnen Mei-
ſter handeln, nichts helfen. Es iſt aber doch unzweifelhaft, daß gleich-
zeitige
Meiſter bei Behandlung derſelben Gegenſtände verſchiedenen Styl
zeigen, wie z. B. M. Angelo und Raphael, Göthe und Schiller, und daß
doch Jedem derſelben Styl im vollen Sinne des Wortes zuerkannt wird.
Hier entſteht die Aufgabe, zu zeigen, was zum vorh. §. ausgeſprochen
iſt, daß die Subjectivität der Auffaſſung, worin dieſe Unterſchiede des
Styls ihren Grund haben, mit der ſtrengen Objectivität, welche doch dem
Style weſentlich iſt, ſich ohne Widerſpruch verträgt. Zu dieſem Zwecke
müſſen wir zuerſt auf die Arten der Phantaſie §. 401 ff. zurückgehen.
Von dieſen fällt die zweite, auf den Unterſchied der Stoffe gegründete
(§. 403), ſogleich weg, denn es iſt jetzt die Rede von verſchiedener und
doch objectiver Behandlung deſſelben Stoffs; die Eintheilung nach Momen-
ten der Phantaſie (§. 404) fällt inſofern ebenfalls weg, als ſie die
Grundlage zu den verſchiedenen Künſten und Zweigen dieſer Künſte bil-
det, denn es iſt jetzt die Rede von verſchiedener und doch objectiver
Behandlung in Einer und derſelben Kunſt, allein die in dieſer Einthei-
lung begründeten Arten miſchen ſich auch und dieſe Miſchung wird nicht
nur für die Entſtehung der hiſtoriſchen Styl-Unterſchiede beſtimmend
werden, ſondern ſie iſt es ſchon hier, bei der Frage nach den individuellen
Styl-Unterſchieden; ganz aber gehört hieher der Unterſchied der einfach
ſchön, der erhaben und der komiſch geſtimmten Phantaſie §. 402. Jene ver-
ſchiedenen Miſchungs-Verhältniſſe können ſich aber mit dieſen letzteren
Arten wieder auf verſchiedene Weiſe verbinden und hierauf gründen ſich
die verſchiedenen Organiſationen der Phantaſie, wie der Unterſchied des
Styls aus ihnen hervorgeht. An wenigen Beiſpielen der landſchaftlichen
und menſchlichen Phantaſie in verſchiedener Miſchung mit der plaſtiſchen
[124] und rein maleriſchen ſo wie mit der erhabenen und ſchönen läßt ſich nun
zeigen, wie bei ſubjectiv verſchiedener Art, Ein und daſſelbe Object zu
ſehen und zu empfinden, dennoch Styl möglich iſt. Hier muß der
unbeſtimmte Ausdruck (§. 526): Auffaſſung des Gegenſtands von der
Seite, die der Subjectivität des Künſtlers zuſagt, genauer genommen
werden. Seite iſt eines der Momente, welche die Erſcheinung eines der
Darſtellung gebotenen Stoffs in ſich befaßt, und zwar eine bedeutende,
weſentliche, von welcher aus der Gegenſtand in ſeinem Innern ſich er-
greifen läßt und zwar ſo, daß auch die andern Momente ſeiner Erſchei-
nung mitergriffen werden, nur je in dieſer Auffaſſung als untergeord-
net; ſo iſt eine Landſchaft ein Ganzes von Erdformen, worin ſich haupt-
ſächlich das Reich der Linien darſtellt, von Vegetation, Licht und Luftleben,
Waſſer u. ſ. w.; der menſchliche Körper bietet in Knochen und Muskel
die Erſcheinung des organiſch Starken, in Fett und Haut des weicher
Umkleidenden, im Angeſicht und Händen und ihrem Spiel die Erſcheinung
des geiſtigen Ausdrucks in ſeinen verſchiedenen Richtungen dar, ſo daß
mehr der Wille oder die empfindende Seele oder der Gedanke hervor-
tritt; eine Handlung zeigt das Bleibende der Sitte, die augenblicklichen
und doch vielfach motivirten Erregungen des Temperaments, der Gedan-
ken- und Gefühlswelt und den Moment des Entſchluſſes. Nun ſetze
man, daß einer dieſer Stoffe gegeben ſei in einer Erſcheinung, in
welcher unbeſchadet ſeiner objectiven Natur das eine oder andere die-
ſer Erſcheinungsmomente zum Standpuncte der Auffaſſung genommen,
zum Mittelpuncte der Darſtellung erhoben werden kann, ſo iſt man
bis dahin gekommen, wo die Sache klar wird. Man nehme alſo
z. B. eine Landſchaft, welche bedeutende Linien, bedeutende Baum-
gruppen, Reize des Licht- und Luft-Lebens im Sinne der ſüdlichen Natur
darbietet, ſo wird ein genialer Landſchaftmaler ſeiner ſubjectiven Auffaſſung
gemäß hauptſächlich das Großartige der Erdformen, ein anderer mehr
das Bedeutende der Vegetation hervorheben und zugleich dem Zauber
im Luft- und Licht-Leben nachgehen, jene Seite aber mehr zurückſtellen,
beide aber können von ihrem Auffaſſungspunct in das volle Leben des
Gegenſtands eindringen. Cl. Lorrain und Rottmann haben beide Styl,
obwohl dieſer in der Poeſie des Erdlebens, jener des Baum- Licht- und
Luft-Lebens bedeutender iſt. Man denke ſich aber, daß dieſe beiden ihre
klare, offene, plaſtiſche Auffaſſung einer nordiſchen, in Linien und
Vegetation ſchwungloſen, rauhen, in Licht und Luſt düſtern Landſchaft
aufdrängten, ſo würde nicht Styl, ſondern Manier entſtehen. Hier
wäre die Auffaſſung eines Ruisdael und Everdingen gefordert; auch
dieſe beiden haben Styl, aber ſie würden manierirt, wenn ſie ihre Auf-
faſſung einer ſüdlichen Landſchaft aufdrängten. So wenn Raphael
[125] und M. Angelo denſelben Gegenſtand darzuſtellen hätten, ſo könnte
jeder von ihnen unbeſchadet der objectiven Natur desſelben ſeinen
Styl geltend machen, ſofern derſelbe die musculöſe, ſtarke, gewaltig
bewegte Auffaſſung ebenſogut zuließe, als die großartig ſchöne. Man
ſetze: beide hätten einen Moſes zu malen gehabt, die Situation aber
wäre frei gegeben geweſen; ſo hätte M. Angelo ihn als den erhaben
zürnenden aufgefaßt, wie in ſeinem bekannten plaſtiſchen Werke, Raphael
als den ernſtmilden, ruhig großen Geſetzgeber, beide großartig, beide
berechtigt, beide im intenſiven Sinne des Stylbegriffs. Wäre aber ein
beſonderer Moment darzuſtellen geweſen, ſo wäre M. Angelo ohne Zweifel
manierirt geworden, wenn dieſer Moment der einer milden und ſchönen
Stimmung geweſen wäre (ſo wie er manierirt iſt in der Uebertragung
ſeiner überſtarken Formen und gewaltſamen Stellungen auf die Gruppe
der Seligen im jüngſten Gericht), und Raphael wäre vielleicht manierirt
geworden, wenn dieſer Moment ein furchtbarer geweſen wäre: er hätte
verſucht, den M. Angelo da nachzuahmen, wo nur M. Angelo heimiſch
war. — Der ganze Schwerpunkt des Stylbegriffs liegt nun darin, daß
er die idealbildende Thätigkeit (§. 398) darſtellt, wie ſie in die techniſche
Gewöhnung übergegangen iſt. Wo gewiſſe Bedingungen ausbleiben, um
von jenem innern Acte zu dieſer techniſchen Gewöhnung den Uebergang
zu gewinnen, kann Einzelnes gelingen, von dem man Idealität ausſagen
kann, aber Styl iſt nicht da: man ſieht dem Zuge der Hand, den Linien,
Tonverhältniſſen, dem Gebilde des Dichters an, daß der innere Schwung
nicht habituell übergegangen iſt in die techniſchen Organe, was freilich
auch auf mangelnde Fülle der geiſtig innerlichen Phantaſiethätigkeit,
wenigſtens im Sinne einer dauernd gleichmäßigen Wirkung, ſchließen
läßt. Die Düſſeldorfer Schule hat einzelnes Treffliches geleiſtet, aber
man hat nicht mit Unrecht zwiſchen ihr und der Münchener-Schule ſo
unterſchieden, daß dieſe Styl habe, jene nicht. Die Großheit, die alles
Kleine, Zerfahrene, Dünne, Gemeine entfernt und die Grundzüge des
mit Geiſt durchdrungenen Gegenſtands mit gewaltiger Fauſt herausführt
an’s Licht, die feſten Knochen der Darſtellung, den markigen Rhythmus,
das Monumentale, was durch dieſe wie für eine Ewigkeit hingeſtellten
Formen in die Ausführung tritt: alles dieß läßt ſich auch im Begriffe
des Architektoniſchen zuſammenfaſſen. Daß der Bildhauer in Manier zer-
fährt, wenn er das Band löst, welches ſeine Kunſt innerlich und äußer-
lich an die Baukunſt knüpft, leuchtet von ſelbſt ein; länger hatte man ver-
geſſen, daß auch die Malerei zur Ausbildung deſſen, was man Styl nennt,
am ſicherſten durch Anlehnung an dieſe Kunſt gelangt; die Entwicklung
der Münchenerſchule brachte dieſe Wahrheit wieder zu Tage; freilich ſind
die rechten Kräfte auch hier vorausgeſetzt, Cornelius hat ſchon in ſeinen
[126] Skizzen zu den Nibelungen und zu Göthes Fauſt recht ſchlagend gezeigt,
was Styl heißt. Es hat aber einen tiefern Sinn, wenn man das
Weſentliche des Styls ein Architektoniſches nennt: die feſten Maaße, das
Gewaltige und Große der Architektur, ihr in mächtigen Maſſen ſprechen-
der Rhythmus, der ganze objective Charakter dieſer Urkunſt dringt auch
in der Muſik und Poeſie hindurch, wo wahrer Styl hervortritt.


§. 528.

1

An den äußern Grenzen der Kunſtſchöpfung kann der Styl gegen den
Geſchmach (§. 509) und das negative Geſetz der Correctheit verſtoßen.
2Da aber der Genius ſeine Grenze (vergl. §. 527) nicht immer einhält und da
ein nicht überwundener Reſt der bloßen Subjectivität auch in der objectiven
Auffaſſung zurückbleibt, ſo gibt es Manier am Style. Ferner wird der
Meiſter des Styls, wie er ſeine Höhe auf dem in §. 411 bezeichneten Wege
erſtiegen hat, auch an einem Punct ankommen, wo er ſtehen bleibt und dann
abwärts geht; dann wird ſein Styl in Manier verſtaken. Ebendieß wird durch
Schüler geſchehen, welche ſeine Formen ohne den inwohnenden Geiſt ſich aneig-
nen, während andere ſeinen Styl lebendig fortbilden, den reiferen eines fortge-
ſchrittenen Meiſters aufnehmen und dann einen eigenen entwickeln.


1. Nur zu dem Zwecke wird der Begriff des Geſchmacks aus §. 509
noch einmal aufgenommen, um zu zeigen, wie eben das Große, was im
Style liegt, über die Tact-Rückſichten des Geſchmacks mit ſeinen mächtigen
Schritten gelegentlich rückſichtslos hinüberſchreiten kann. Shakespeare iſt
dort ſchon angeführt und man hat mit Recht von ihm geſagt, daß, wer
eine grandioſe Toga um einen gewaltig bewegten Heldenkörper wirft,
nicht nach jeder kleinen Falte ſehen kann, ob ſie geſchmackvoll gelegt ſei.
Phantaſie, „das Rieſenweib, das unter Donnerſturm den Mund aufthut,
nach der purpurnen Wolke die Hand ſtreckt und ſie als Gewand umwirft“,
hat keine Zeit, darnach zu fragen, wie ſie im Salon aufgenommen würde.
Es iſt wahr, daß auch Geſchmacksverletzungen in Begleitung des Styls
vorkommen, welche nicht aus einem erhabenen Ueberſehen, ſondern aus
einer kleinen Abſichtlichkeit kommen, die ſich ſeltſam mit der wahren Größe
verbinden kann. Es iſt dieß zu §. 509 von Shakespeare ſchon zugegeben;
ſeine Geſchmackloſigkeiten kommen meiſt in der Converſationsſphäre vor
und wenn er darin allerdings der Mode ſeiner Zeit huldigt, alſo dem,
was damals für Geſchmack galt, uns aber als Ungeſchmack gilt, ſo nimmt
er doch Theil an der gemeinſamen Schuld einer falſchen conventionellen
Bindung und ſeine Anbequemung an einen falſchen Geſchmack iſt ein Ver-
[127] ſtoß gegen den guten, von dem er als höher Begabter ein Gefühl hätte
haben ſollen, aber ein um ſeiner übrigen Größe willen verzeihlicher. Man
hüte ſich jedoch wohl, die kühnen Blitze in den Stellen, wo das Pathos
ſeine höhere Sprache ſpricht und worin er mit der höchſten poetiſchen
Abſicht die phantaſieloſen Begriffe von Ordnung und Maaß vor den Kopf
ſtößt, zu den Sünden gegen den guten Geſchmack zu rechnen, wie z. B.
die furchtbar herrlichen Worte Macbeths: „und Mitleid, wie ein neu-
gebornes Kind, auf Sturmwind reitend“ u. ſ. w. So ſind die Worte in
Göthes herrlichem Liede der Mignon: „es brennt mein Eingeweide“ nicht
ein Verſtoß gegen den Geſchmack, ſondern hoch über allem bloßen Ge-
ſchmack mit ſeinen Begriffen von Schicklichkeit. Selbſt im Lohenſteiniſchen
Schwulſt ſind Perlen wirklich großen Styls, welche nur die Gottſchediſche
Dictatur, die alle Poeſie unter den Stab des Geſchmacks ſtellen wollte,
als geſchmackswidrig verdammen konnte. — Aehnlich verhält es ſich mit
dem Geſetze der Correctheit. Dieſer Begriff iſt ein rein negativer, d. h.
er ſtellt Richtigkeitslinien auf, welche nicht verletzt werden ſollen, aber
welche nicht verletzt zu haben noch entfernt kein äſthetiſches Lob iſt. Es
war die Zeit der leeren Kunſt, der conventionellen Poeſie (vergl. §. 476),
welche den Begriff der Correctheit für ein poſitives Prinzip nahm. Die
höhere Kunſttechnik iſt ein Lebendiges, dem jeder große Genius einen
neuen Geiſt einhaucht; der Genius iſt autonomiſch. Zieht man daher das
ganze Gebiet der äſthetiſchen Regel von dem Umkreiſe ab, in welchem
von einem gegebenen äußern Geſetze die Rede ſein kann, ſo bleibt
nur die allgemeine Grundlage der gemein-techniſchen Normen und in
den Künſten, welche direct ihr Vorbild in der Natur haben, das nothwendig
Regelmäßige in den Gebilden der letzteren. Ein geometriſcher Verſtoß des
Architekts, eine ungleiche Stellung der Augen, Verletzung einer Proportion
im Werke des Bildhauers, eine Verzeichnung des Malers, eine ungelöste
Diſſonanz, falſcher Ton des Muſikers, Ueberſehen einer Unwahrſcheinlichkeit
und Schnitzer im Versmaaß bei dem Dichter: dieß ſind Fehler, welche
nicht vorkommen ſollen, aber ſehr leicht vorkommen können als einzelne
Schwäche ſelbſt des größten Styliſten. Cornelius und Genelli haben Styl
im beſten Sinne des Worts und doch leiden ihre Werke an theilweiſe
groben Verzeichnungen. Abſichtliche Unrichtigkeiten, welche von der Be-
rechnung auf einen gewiſſen Geſichtsſtandpunct herkommen oder gewiſſe
höhere Wirkungen unmerklich motiviren, ſind etwas ganz Anderes, ſie
ſind nicht Fehler, ſondern abſichtliche Mittel. Die Griechen haben bekanntlich
hierin ganz frei gehandelt, auch Raphael bietet belehrende Beiſpiele. Wenn
man übrigens dem Meiſter wirkliche Incorrectheiten nachſieht, ſo darf dieß
natürlich nicht ſo verſtanden werden, als ob dem Schüler ein Freibrief für
Nachläßigkeit gegeben werden ſolle; die Genieſucht, welche im Incorrecten
[128] die höhere Freiheit der Phantaſie ſucht, iſt um wenig beſſer, als der ent-
gegengeſetzte Formalismus der Meiſterſänger-Tabulatur und der Gottſche-
dianer, welche die Kunſt, untadeliche Verſe zu machen, für Poeſie hielten.


2. Daß es Manier am Style gibt, daß dieſelbe da hervortritt,
wo ein Meiſter des Styls Stoffe ergreift, die ſich gegen ſeine Auffaſſungs-
weiſe ſträuben, wurde zum vorh. §. ſchon berührt. M. Angelo’s Bei-
ſpiel, das dort angeführt worden, iſt beſonders belehrend. Auch Rubens
wird manierirt, wenn er ſeinen ſaftigvollen, leidenſchaftlich energiſchen
Styl auf Stoffe überträgt, welche ruhige ſanfte Schönheit fordern.
Rottmann wurde manierirt, wenn er den Licht-Effecten ſtärker nachgieng,
als dieß mit ſeiner plaſtiſchen Auffaſſungsweiſe vereinbar war. Göthe
wird manierirt, wenn er ſeine menſchlich ſchöne Auffaſſungsweiſe auf
ſchlechthin draſtiſche Stoffe überträgt, Schiller, wenn er mitten in große
Handlungen und zwiſchen ſtarke Stellen ſeinen ſentimentalen Ton ein-
ſchiebt; auch ſonſt fühlt man, wie von der Zeit an, da er ſeinen Styl
gefunden und es ihm leicht aus der Hand geht, ſtellenweiſe das fertige
Machen der Manier bei ihm eintritt, ſo namentlich in der Jungfrau von
Orleans. Ob man die erſte Stufe in der Entwicklung des Genius, wo
er wie eine Naturgewalt hervorbricht (§. 411), als Manier oder als
Styl zu bezeichnen habe, kann zweifelhaft ſcheinen. Das Große in
Göthes und Schillers ungeſtümmer Jugenddichtung weist auf den wer-
denden Styl hin, das Muthwillige daran iſt ſehr ſubjectiv und, ſofern
es als angewöhnter Ton erſcheint, als Manier zu bezeichnen, das Unreife
und Rohe fällt unter keinen dieſer beiden Begriffe. Wie aber die Kraft
gewachſen iſt, ſo nimmt ſie auch ab, und dieſe Abnahme wird es aller-
dings mit ſich bringen, daß eines großen Künſtlers ganze Technik in
Manier verſinkt. Was von dem Hervortreten derſelben bei Göthe und
Schiller ſo eben erwähnt iſt, gehört zum Theil ſchon hieher. Der
Künſtler copirt nun ſich ſelbſt; ſeine großen Formen überleben den Geiſt,
der ſie geſchaffen, und verlieren ihre objective Macht und Wahrheit auch
da, wo der Gegenſtand der Auffaſſungsweiſe an ſich entſpricht, erſcheinen
daher als bloß gemacht. Der Verluſt der objectiven Gewalt wird aber
allerdings auch mit einer, dem zunehmenden Alter eignen, Neigung zu-
ſammenfallen, ſolche Stoffe zu ergreifen, an welchen, weil ſie der Auffaſſung
nicht zuſagen, ſchon bei noch voller Kraft der Styl zur Manier geworden
wäre. So ſah Göthe wohl ein, daß ſein Fauſt im zweiten Theile in
das höhere, handelnde, politiſche Leben geführt werden müſſe, aber er
mochte fühlen, daß dieß nicht ſein Boden ſei, und wagte ſich nicht an die
Fortſetzung; im hohen Alter aber that er es und wurde manierirt im höchſten
Grade. Auch ſchon in ſeiner natürlichen Tochter ergreift er einen Stoff,
der am Krater einer Revolution ſpielt, und was ſonſt Schönheit der
[129] zarteſten Humanität war, wird als Ueberzuckerung eines vulcaniſchen
Bodens Manier der „Silberbleiſtiftzüge.“ Ueberhaupt aber wird ſeine
weiſe Beſchaulichkeit, ſein Maaß, ſeine Durchſichtigkeit, ſeine edel weibliche
Seelenmilde, ſein reiner Adel, ſeine objective Ruhe in ſeinen ſpäteren
Werken zur Vornehmheit, ſchleppenden, kanzleiſtylartigen Bedächtigkeit,
Wohlweisheit, ſchönfärbenden Abſchwächung. Ein anderweitiges Moment
kommt hinzu bei Künſtlern, die zwar Styl haben, aber einen ſolchen, der
Angeſichts höherer Fortſchritte als ein unreifer erſcheint, wie z. B. bei
P. Perugino. Er hat bekanntlich am Ende handwerksmäßig ſeine Formen
wiederholt und erſcheint in dieſem Stadium als Manieriſt; da kam aber
zu der natürlichen Abnahme der erfüllenden Geiſteskraft die Scheue, ſich
die ſchon erfolgten Fortſchritte höherer Meiſter anzueignen, und dieſe
Erſcheinung führt vom Individuum ſchon hinaus auf den hiſtoriſchen
Boden des Kunſtlebens im Großen. Ebendah[i]n weist uns aber auch
die Schlußbemerkung des §.; ſie leitet vom einzelnen Meiſter zunächſt
zur Schule zurück, die aber nun in einem andern Zuſammenhang, als
früher, auftritt. Der Schüler, der nicht Gabe und Beruf hat, ſelbſt
Meiſter im intenſiven Sinne des Wortes zu werden, verbreitet den Styl
ſeines Meiſters, ſetzt ihn aber nach und nach zur bloßen Manier her-
unter, weil der Genius fehlt, der dieſe großen Formen ausfüllen ſollte.
So iſt das holde Lächeln der weiblichen Köpfe Leonardo’s da Vinci in
der Mailändiſchen Schule vielfach zum manierirten Grinſen geworden, ſo
geht von M. Angelo’s Kraftſtyl und Correggio’s Anmuths- und Ent-
zückungsſtyl jene oben ſchon erwähnte doppelte Linie des Verfalls aus:
die falſche Kraftmanier und die falſche Anmuths-, die ſüßliche und doch ner-
vös aufgeregte Sentimentalitäts-Manier; ſo wird Göthes Styl als vor-
nehme Manier, ſo Schillers als rhetoriſche Phraſentechnik fortgeführt und
verbreitet. Man darf aber darum nicht annehmen, daß der individuelle
Styl, ſobald er in die Hand anderer Individuen übergeht, nothwendig
in Manier ausarte; dieß geſchieht nur durch unbegabte oder geiſtig nicht
geſunde Schüler, noch mehr unter ungünſtigen Zeitbedingungen, wenn es
nämlich mit der Kunſt überhaupt ſchon abwärts geht; der tüchtige und
ſelbſt zum Großen berufene Schüler führt den Styl in ſeiner vollen
Kraft fort, bis er ihn überflügelt, wie Raphael den Peruginesken. Ehe
er ſeine ganze Selbſtändigkeit entwickelt, kann er zunächſt einen weiteren,
fortgeſchrittenen Styl eines andern Meiſters in ſich aufnehmen; der erſte,
den er ſich angeeignet, entſpricht nun dem, was bei andern Anfängern
(namentlich Dichtern) der ſtürmiſche Naturton ihrer erſten Periode iſt.
So treten in Raphaels Entwicklung drei Stufen des Styls auf: der
kindliche ſeines erſten Meiſters Perugino, der an der Nähe der vollen
Reife ſtehende florentiniſche, dann der reife römiſche.


Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 9
[130]
2.
Der provinzielle und nationale Styl.

§. 529.

1

Der Styl erweitert ſich aber von ſeinem individuellen und auf die ver-
einzelte Schule beſchränkten Ausgangspuncte zu ein[e]r ausgedehnteren Geltung
durch Ortsmechſel der Meiſter und Verbreitung der Schüler; ganze Volks-
ſtämme, ja Völker eignen ſich denſelben an, Schule heißt nun nicht mehr die
einzelne Werkſtätte als Bildungsanſtalt, ſondern die in dieſen weiten Kreiſen
herrſchende Kunſtweiſe, und indem der Grund dieſer Ausdehnung in einer
urſprünglichen Verwandtſchaft der ganzen Auffaſſung zu ſuchen iſt, kommt zu
Tage, daß die individuellen Urheber ſelbſt nur die Organe waren, durch die
ſich der Geiſt eines Stammes, Volkes in einer beſtimmten Zeit ſeinen Aus-
2druck gab. Auch der unreife Styl und die bloße Manier gewinnen in dieſem
Zuſammenhang hiſtoriſche Berechtigung und objectives Gewicht.


1. Der §. zeigt zuerſt pragmatiſch die Verbreitung eines Styls,
einer Manier auf, wie dieß ſchon durch die Erwähnung der Gründung
von Werlſtätten durch Schüler und der Wanderung der Meiſter (zu
§. 520 und 521) vorbereitet iſt. Das Ganze einer ſolchen Fortpflan-
zung heißt nun Schule im erweiterten Sinne des Worts. Sie tritt zu-
nächſt örtlich auf im engeren Sinne einer bedeutenden Stadt (athenienſiſch,
argiviſch, ſikyoniſch, ſieneſiſch, florentiniſch, venetianiſch), erweitert ſich
naturgemäß über Provinzen und erſcheint nun beſtimmter als der Aus-
druck des Stamms [eines] Volks (joniſch, doriſch, umbriſch, lombardiſch,
niederdeutſch, oberdeutſch und innerhalb dieſer Unterſcheidung ſchwäbiſch,
fränkiſch u. ſ. f.), tritt aber allerdings in dem Grade, in welchem die
einzelnen Kräfte ſich in höchſten Wirkungen zuſammenfaſſen, ſporadiſch
auf, ſammelt ſich an künſtlichen Mittelpuncten und kann dann nicht mehr
mit einem örtlichen Namen, ſondern nur nach dem Meiſter, der Richtung,
dem früheren natürlichen Mittelpuncte bezeichnet werden. So kann nicht
wohl von einer römiſchen Malerſchule die Rede ſein (vergl. Rumohr
Ital. Forſch. B. II S. 211), denn päpſtliche Kunſtpflege hat in Rom
nur die Blüthe aller Fortſchritte, wie ſie ſich zuerſt in den einzelnen
Ländern Italiens entwickelt hatten, vereinigt, Raphael und M. Angelo,
die hier wirken und in den beſondern Stylen ihrer Schule die Momente
des ganzen italieniſchen Kunſtgeiſtes darſtellen, haben ſich in Florenz auf
ihre Höhe geſchwungen und ein anderer Strahl derſelben höchſten Ent-
wicklung wird von L. da Vinci nach Mailand getragen. In der neueren
[131] deutſchen Poeſie ſpricht man von örtlichen Schulen, ſo lange der Genius
die auseinanderlaufenden Richtungen nicht in einen höchſten Brennpunct
geſammelt hat; ſchon hier iſt übrigens die bezeichnende Unterſcheidung
durch den ſporadiſchen Charakter der Fortpflanzung ſchwierig: die Rich-
tung auf das Erhabene ſcheint vorzüglich dem nördlichen Volksſtamme
zu entſprechen, aber ſchon vor Klopſtock ſchlägt Haller, ein Schweizer,
dieſen Ton an und Klopſtock ſelbſt (allerdings ganz ein Norddeutſcher)
findet wieder vorzüglich in der Schweiz Nachahmer; die ſogenannte
anakreontiſche Dichtung ſollte man in ihrem Urſprunge für ſüddeutſch
halten, ſie faßt ſich aber in Wielands Geiſt zu einer umfaſſenderen
Wirkung erſt zuſammen, nachdem ſie von dem Dichterkreiſe in Halle aus
mehr nach dem Norden, ja bis Hamburg (Hagedorn) getragen war;
noch beſtimmter aber tritt nun das Provinzielle bei den großen claſſiſchen
Dichtern in den Hintergrund: ſie geben vom Süden aus, aber Niemand
wird Göthes Styl den fränkiſchen, Schillers den ſchwäbiſchen nennen, ſie
leiſten ihr Höchſtes in dem künſtlichen Mittelpuncte einer kleinen ſächſiſchen
Reſidenz und ihre Wirkungen zünden ohne einen beſtimmten Faden in
allen Gegenden Deutſchlands. Eben hieran knürft ſich aber die richtige
Anſchauung dieſer Verhältniſſe: ſolange man die Schulen vorherrſchend
als örtliche und provinzielle zu bezeichnen hat, ſind ſie auch nur Ausdruck
eines Stamm- und Provinzialgeiſtes, die höchſte Entwicklung aber iſt
Ausdruck des Nationalgeiſtes in einer beſtimmten Epoche. M. Angelo’s
und Raphaels Styl iſt der vollendete italieniſche, Göthes und Schillers
der vollendete deutſche Styl, und dieſe Style verbreiten ſich, weil ſie dieß
ſind. Somit geht die Betrachtung aus dem Pragmatiſchen heraus und
erklärt die Verbreitung der Schulen und ihrer Style aus einer Empfäng-
lichkeit, welche von dem Gefühle geleitet iſt, ein urſprünglich Verwandtes,
das derſelben Quelle, demſelben Volks- und Zeitgeiſte entſtiegen iſt, zu
finden und zu ergreifen, und wir kommen zu dem Satze in §. 423 zu-
rück, daß im begabten Individuum die Geſammtkräfte eines Volks und
Zeitalters ſich zuſammenfaſſen, einem Satze, der ſich aber jetzt zu der
concreten Anſchauung eines in beſtimmten Formen Niedergelegten,
geſchichtlich Vermittelten entwickelt hat. Uebrigens werden durch die
Ausbildung eines höchſten nationalen Styls die bedeutenderen Gegenſätze
der Provinzen, Stämme allerdings nicht völlig aufgehoben, nur die Ein-
ſeitigkeit verſchwindet, in der ſich früher der Localgeiſt geltend gemacht
hatte, die Hauptgegenſätze des Styls haben gleichen Antheil an der
erreichten relativen Vollkommenheit. So ſpaltet ſich in Griechenland auch
der ideale Styl in den attiſchen der reinen, hohen Schönheit (Phidias)
und den argiviſch-ſikyoniſchen Styl der athletiſchen Kraft (Polyllet, ähnlich
der Eleutherer Myron); ſo erhält ſich in Italien der Gegenſatz der

9*
[132]umbriſchen Innigkeit und Grazie (Raphacl) und der feurigen florentini-
ſchen Bewegtheit, Kraftfülle (M. Angelo); ſo in Deutſchland der des
offenen fränkiſchen Weltſinns (Göthe), des innerlichen gedankenvollen
ſchwäbiſchen Pathos (Schiller).


2. Nachdem ſich uns der Stylbegriff von ſeiner erſt individuellen
Bedeutung zu einer allgemeineren provinziellen und nationalen erweitert
hat, müſſen wir von dem Zuſtande der Reife und relativen Vollkommen-
heit, der uns zu dieſer Erweiterung geführt hat, zurückblicken auf frühere
Stufen der Unreife und die auf ihnen hervortretenden Styl-Unterſchiede.
Es fragt ſich nämlich, ob nach oder Angeſichts der höchſten Styl-Ent-
wicklung dieſe frühern Stufen nicht als blos ſubjectiv, als bloße Manier
erſcheinen? Keineswegs, denn auch die ihnen angehörigen Formen des
Styls zeigen ſich nun als getragen von dem Boden einer engeren oder
weiteren Allgemeinheit. Was an ihnen ſchwerfällig, hart, eckig, ſteif,
ſchüchtern erſcheint, iſt Ausdruck des Geiſtes eines Stammes, Volks auf
dieſer Stufe; Cimabue, Giotto, Fieſole, Maſaccio, Ghirlandajo,
P. Perugino, Fr. Francia, Mantegna, G. Bellini ſind nicht Ma-
nieriſten, ſondern Styliſten, ein Volk iſt hinter ihnen, ihre M [...]in-
gel ſind nicht ſubjective Verhärtung, ihre Art hat trotz ihrer Enge
ſubſtantiellen Charakter, das Objective, die Großheit des Styls. Die
deutſche Malerei iſt auch am Schluſſe des Mittelalters nicht aus den
eckigen, harten, hageren Formen herausgekommen, der Durchbruch der
fließenden Zeichnung war dem ſpäten achtzehnten Jahrhundert vorbehal-
ten, und doch ſind jene Formen von einer gravitas durchdrungen, welche
ihnen den Namen des Styls im vollen Sinne ſichert. Es iſt ein Aus-
druck der Nothwendigkeit in dieſen zur habituellen techniſchen Haltung
gewordenen Auffaſſungsweiſen, der alles blos Subjective ausſchließt.
Dazwiſchen legen ſich allerdings auch einzelne Erſcheinungen, die mehr
als bloße Manier zu faſſen ſind, wie z. B. die Kunſtweiſe eines Fra
Filippo Lippi. Eigentlich aber tritt die Manier erſt mit dem Momente ein,
wo der beginnende Verfall die Subjectivität entbindet. Allein in der
nun gewonnenen hiſtoriſchen Anſchauung erhält ſelbſt die Manier die
Baſis einer objectiveren Bedeutung, denn daß die Subjectivität mit ihrer
Eitelkeit ſich entfeſſelt, iſt eben auch der Ausdruck eines hiſtoriſchen
Zuſtands. Inſofern ſpricht man nicht mit Unrecht von einem Style des
Bernini, denn ſeine eitle, renommiſtiſche, knochenloſe Manier iſt eben das
Spiegelbild einer Zeitſtimmung, in techniſcher Gewöhnung niedergelegt;
alles, was man unter Rokoko begreift, iſt eigentlich ganz Manier, heißt
aber als ein verbreitetes Zeitgemäßes doch Styl; die ſentimentale Manier,
wie ſie ſeit Klopſtock eingedrungen und in Werthers Leiden, dann in
J. Paul ihren höchſten Ausdruck gefunden, kann man aus demſelben
[133] Grunde einen Styl nennen; in der ſpäteren deutſchen Poeſie iſt Heine
ganz Manieriſt, doch kann man den Ausdruck Styl ſelbſt mit der in ihm
liegenden Intenſität ſoweit auf ihn anwenden, als er eine blaſirte Zeit
ganz objectiv getreu darſtellt.


3.
Der Styl als Ausdruck des geſchichtlichen Ideals.

§. 530.

Der Kreis dehnt ſich noch weiter aus: Styl (und Manier), von Volk
an Volk mitgetheilt und von der vorbereiteten entſprechenden Stimmung auf-
genommen, erhält die allgemeinere Bedeutung, als Ausdruck des Geiſtes
einer ganzen Völkergruppe, ja aller gebildeten Völker auf einer beſtimmten
geſchichtlichen Stufe der Weltanſchauung zu erſcheinen; d. h. die verſchiedenen
Geſtaltungen des Ideals (§. 416—484) verkörpern ſich in ſtehenden techniſchen
Formen und die Geſchichte des Ideals heißt nunmehr Geſchichte der Style
(und Manieren).


Während man ſonſt die verſchiedenen Bedeutungen des Styls durch-
einanderwirft, entſieht uns eine aus der andern und ſo hat ſich der
Begriff nun erweitert zu der Bedeutung, die dem Ausdruck: claſſiſcher,
romantiſcher Styl u. ſ. w. zu Grunde liegt. Auch hier iſt aber zunächſt
die pragmatiſche Vermittlung nicht zu überſehen: die Völker theilen ſich
ihre Style mit und die Mittheilung fällt auf um ſo fruchtbareren Boden,
je verwandter ſie ſind. Zunächſt werden alſo ſtamm- und bildungs-
verwandte Völker am meiſten aufeinander einwirken. So hat die engliſche
Dichtung ſtärkere Beiträge zur Entſtehung der claſſiſchen Poeſie der Deutſchen
gegeben, als irgend eine neuere; ſo haben die romaniſchen Völker einander raſch
das erneuerte Claſſiſche, den individualitätsloſeren Styl der flüſſigen Form
mitgetheilt; im Norden von Frankreich, wo mehr deutſches Blut iſt, hat
die germaniſche Baukunſt tiefer Wurzel geſchlagen, als in Italien. Aber
große, weltbezwingende Zeit-Anſchauungen greifen ſelbſt über die vollſten
Gegenſätze zwiſchen Völkern und Völkergruppen und ſchaffen den Styl,
der ganze Weltalter charakteriſirt. Im Mittelalter ſind die Elemente des
Arabiſchen und Keltiſchen, weil ſie ſeiner phantaſtiſchen Anſchauung zuſagten,
trotz ihrer Fremdheit durch alle europäiſchen Länder gedrungen; daß der
gothiſche Bauſtyl in Italien, wo er nie organiſch anwachſen konnte, dennoch
unaufhaltſam eindrang, beweist nur um ſo mehr die Macht einer ſolchen
Kunſtform. Während das Antike allen romaniſchen Völkern näher liegt,
dem deutſchen Geiſte aber zunächſt ganz fremdartig gegenübertrat, hat ſich
[134] dieſer in ſeinen Styl nur um ſo tiefer eingefühlt und eingelebt, als er
endlich berufen wurde, das moderne Ideal in der Dichtkunſt hinzuſtellen;
von anderer Seite aber ruht dieſes Ideal weſentlich auf dem Aufklärungs-
prinzip, das von England nach Frankreich, dann nach Deutſchland ge-
drungen iſt, von wo es als Revolutionsſtyl der Poeſie (und Philoſophie)
wieder in alle Lande gieng. Dieſes Ueberwachſen eines Styls über die
Kluft der Völker iſt jedoch nicht mit dem Univerſalismus zu verwech-
ſeln, der ohne eigenen Styl die verſchiedenſten ausländiſchen Kunſtfor-
men ſich aneignet; dieſer tritt nur in einer Zeit ein, wo der große Styl
ſchon verfallen iſt. — Uebrigens ſagt der §. neben dem Styl auch
von der Manier aus, daß ſie zu der allgemeinen Bedeutung, ganze
Zeitalter zu charakteriſiren, ſich erweitere. Dieß geſchieht in den Zeit-
räumen, wo ein Idealſtyl verblüht und ein neuer noch nicht geſtaltet iſt.
Von Berninis Manier iſt ſchon erwähnt, daß und worum ſie ſich dieſe
Bedeutung erworben hat; die Malerei der Manieriſten iſt von Italien
in alle gebildeten Länder Europas gedrungen, ebenſo ſpäter die ſinnen-
reizende italieniſche Muſikmanier u. ſ. w.


4.
Der Styl in ſeinen allgemeinen Entwicklungsſtufen.

§. 531.

Die Anerkennung des unreifen Styls (und der Manier) in §. 529, 2.
führt zu einer weiteren Bedeutung dieſes Begriffs. Wie nämlich der individuelle
Styl ſeine Entwicklungsſtufen hat, ſo iſt auch der Styl der Weltalter der
Phantaſie von einem Bildungs-Geſetze beherrſcht, gemäß welchem er in jeder
Hauptperiode zuerſt als ſtrenger und harter (theilweiſe typiſcher, vergl. §. 430, 3.
und hieratiſch gebundener), dann als hoher oder erhabenſchöner, endlich als
einfach ſchöner, reizender und rührender, zugleich an die Grenze der
äſthetiſchen Naturtreue fortgehender Styl auftritt; die letzte Form geht unauf-
haltſam in falſchen Reiz und Effect, prachliebenden Dienſt des Luxus, Naturalismus
und Manier über.


Dieſer neue Stylbegriff iſt durch den Satz in dem angeführten §. und
die ihn erläuternden Bemerkungen vorbereitet, welche neben dem reifen
Styl auch dem unreifen und der Manier eine objective hiſtoriſche Bedeutung
zu egen. Es entſt[e]ht ſo eine Reihe, die ſich von ſelbſt zu einem beſtimm-
teren Bilde geſtaltet, als deſſen Hintergrund jenes Entwicklungsgeſetz ſich
erkennen läßt, das zuerſt Winkelmann (Geſch. d. Kunſt d. Alterth. B. III
[135] Buch 8, Cap. 1—3.) mit tiefer und geiſtvoller Empirie an dem Gange
der bildenden Kunſt an Griechenland nachgewieſen und namentlich Lanzi
(Notizie della scultura degli antichi e dei vari suoi stili) näher beſtimmt
hat. Die Begründung deſſelben in der Natur der Sache leuchtet nach
dem bisher Geſagten ganz unmittelbar ein: es iſt daſſelbe Geſetz einer
Aufeinanderfolge verſchiedener Miſchungsverhältniſſe des Subjectiven und
Objectiven, das in allen geiſtigen Sphären (Staat, Religion, Wiſſenſchaft)
hervortritt, nur klarer oder dunkler, in verſchiedene Breite und Schwierig-
keitsgrade der Verwicklung auseinandergezogen, in vervielfältigten Kreiſen
die Verbindungsformel jener ſeiner Elemente durcheinanderſchiebend, in
der Auflöſung neues Leben andeutend je nach der verſchiedenen Natur dieſer
Sphären. In aller Entwicklung erſcheint der Geiſt zuerſt objectiv beſtimmt,
ſein ſubjectives Leben verſchwindet in der einfachen Strenge des Inhalts;
ſo auch in der Kunſt. Nach drei Seiten zeigt ſich hier dieß Verſchwinden des
Subjects: pſychologiſch im Sinne der ſubſtantiellen Verſenkung des Künſtler-
geiſts in den Gegenſtand, dem Naturvorbi [...]de und dem Materiale gegenüber
im Sinne eines Kampfs zwiſchen Scheue und Streben, das erſtere in
ſeiner Lebendigkeit zu erfaſſen und des ungleichen Ringens mit dieſem,
gegenüber dem Subject, an das die Mittheilung ſich richtet, in der
Abweiſung jeder Condeſcendenz, in dem Charakter ſtrenger, auf kein
Entgegenkommen ſich einlaſſender Sächlichkeit. Dieß iſt der ſtrenge und
harte Styl der griechiſchen Plaſtik von der Zeit an, wo man von Kunſt
reden kann, d. h. wo das bloße Handwerk und das bloße Spiel über-
wunden iſt, bis vor Phidias, der Styl, der in den Aeginetengruppen
ſchon theilweiſe gemildert und dem Uebergang in den reifen Styl nahe
erſcheint und beſonders belehrend in den drei Fortſchrittsſtufen der ſelinuntiſchen
Metopen zu Tage liegt. Das Götterbild, ſtreng, düſter, Ehrfurcht fordernd,
nicht Liebe weckend, gebunden in Bewegung, behält am längſten die alte
Herbigkeit. Die typiſche Bindung des Bewußtſeins, welche dem Phantaſie-
bilde innerlich nicht geſtattet, ſeine Züge zu mildern, ſeine Formen zu
befreien (vergl. §. 430, [3.]) erſcheint nun äußerlich in ihrer techniſchen
Verhärtung. Als Ausfluß einer ſpezifiſch religiöſen Bindung (wiewohl
in Griechenland keiner förmlichen Prieſterſatzung) heißt dieſer Styl hieratiſch.
Daß gleichzeitig eine geſuchte, ſteife Zierlichkeit ſelbſt an den Götterbildern
hervortritt, ſteht mit dem Grundzuge ſtrenger Objectivität nicht in Wider-
ſpruch: es iſt die vorzeitig ungeſchickte Regung des ſubjectiven Moments,
das nicht abweſend, ſondern nur zurückgehalten iſt und ſich noch in der
Weiſe des Spieles äußert, die Grazie vor der Grazie, und kommt genau
ebenſo in der byzantiniſchen Malerei und dem vorgothiſchen Bauſtyle
zum Vorſchein. In der Darſtellung des Menſchlichen, die ſich früher vom
Typus befreit, tritt neben dieſer ſteifen Zierlichkeit, die beſonders auch in
[136] dem ſtehenden Lächeln der Geſichter ſich ausſpricht, durchaus der Charakter
der Kraft in überſtarken, gewaltſam bewegten Formen hervor; ein harter
und eckiger Umriß, der in dieſem ganzen Style herrſcht, iſt der augen-
fällige Ausdruck einer Verſchmähung der Grazie. — Es folgt der ſo-
genannte hohe Styl, vor Allen durch Phidias vertreten. Es iſt der Styl
des Ideals in näherer hiſtoriſcher Beſtimmtheit. Das ſubjective Kunſtleben
hat ſich mit dem objectiven Momente zum Gleichgewichte durchdrungen:
der Künſtler gießt dem Gegenſtande das ganze warme Leben der eigenen,
aber von dem weiten und mächtigen Gehalte der Idee erfüllten Bruſt
ein, verleiht ihrer Geſtalt die ganze Wärme und freie Zufälligkeit der
Natur, ohne je die zarte Linie zu überſchreiten, die zur gemeinen Natur
führt, gibt durch vollendete Herrſchaft über das Material, die ſich namentlich
in dem ſchwungvollen Fluß der Umriſſe ausſpricht, dem innern Bilde die
reine Erſcheinung, und dieſe zeigt mild und freundlich und doch bedürfniß-
los ſelig und erhaben in ſich dem Zuſchauer, daß er ſeine ganze edlere
Menſchheit in ihr wiederfindet, in ihr bei ſich iſt. Winkelmann hat dieſen
Styl als den der erhabenen Grazie bezeichnet und leitet ſeine Unter-
ſcheidung einer doppelten Grazie mit den Worten ein: „wenn der Grundſatz
des hohen Styls geweſen iſt, das Geſicht und den Stand der Götter und
Helden rein von Empfindlichkeit und entfernt von inneren Empörungen,
in einem Gleichgewichte des Gefühls und mit einer friedlichen immer
gleichen Seele vorzuſtellen, ſo war eine gewiſſe Grazie nicht geſucht,
auch nicht anzubringen“, und nun nennt er zuerſt jene erhabene Grazie,
die „von höherer Geburt wie die himmliſche Venus, von der Harmonie
gebildet, beſtändig und unveränderlich iſt, wie die ewigen Geſetze von dieſer;
eine Geſellinn der Götter iſt ſie ſich ſelbſt genugſam, bietet ſich nicht an,
ſondern will geſucht werden; mit den Weiſen allein unterhält ſie ſich und
dem Pöbel erſcheint ſie ſtörriſch und unfreundlich; ſie verſchließet in ſich die
Bewegungen der Seele und nähert ſich der ſeeligen Stille der göttlichen
Natur.“ — Die dritte Entwicklungsform des Styls nun trägt den Charakter
einer volleren Ausbildung des Subjectiven, zunächſt in berechtigter Weiſe,
dann ſichtbar an der Schwelle anlangend, jenſeits welcher die Subjectivität
auf Koſten des objectiven Ernſtes ſich geltend macht, endlich ſie überſchreitend.
Der Künſtler, in eine aufgeregtere, ſubjectiver gebildete Welt geſtellt, theilt
dem Gegenſtande ein reicheres, vielſeitiger entfaltetes inneres Leben mit,
er greift in der ſinnlichen Darſtellung tiefer in die Fülle lebendiger Reize,
welche das Naturſchöne darbietet, das Material wird noch ungleich runder,
weicher, fließender, als zuvor, behandelt und dadurch die höchſte Virtuoſität
der Technik an den Tag gelegt, das Kunſtwerk wendet ſich vertrauter,
holder, entgegenkommender zu dem Zuſchauer. Dieſer ganze Schritt hält
ſich vorerſt in den Grenzen ächter Idealität. Jene zweite Grazie, welche
[137] Winkelmann unterſcheidet und als den Genius dieſes Styls aufführt,
„läßt ſich herunter von ihrer Hohheit und macht ſich mit Mildigkeit, ohne
Erniedrigung, denen, die ein Auge auf ſie werfen, theilhaftig, ſie iſt nicht
begierig, zu gefallen, ſondern nur, nicht unerkannt zu bleiben; — das
Mannigfaltige und die mehrere Verſchiedenheit des Ausdrucks thut der
Harmonie und der Großheit in dem ſchönen Style keinen Eintrag: die
Seele äußert ſich nur wie unter einer ſtillen Fläche des Waſſers und tritt
niemals mit Ungeſtüm hervor, in Vorſtellung des Leidens bleibt die
größte Pein verſchloſſen, wie im Laokoon, und die Freude ſchwebet wie
eine ſanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Geſichte einer
Leukothea“ u. ſ. w. Wenn Winkelmann dieſe erſte, reine Stufe des dritten
Styls den ſchönen Styl nennt, ſo führt dieß auf eine Unterſcheidung, die
wir in Th. I §. 73, 1. 231, 1. aufgeſtellt haben. Was wir die Grazie
des ganzen Schönen nannten, welches das Erhabene als ein noch ruhendes
in ſich ſchließt, iſt die erhabene, himmliſche Grazie, die Winkelmann dem
Style des Phidias beilegt; was wir eine Abzweigung derſelben nannten,
die Grazie des einfach Schönen, das neben und gegenüber dem aus
jener ruhigen Einheit entlaſſenen Erhabenen eine ſanftere, lieblichere,
herablaſſendere Form annimmt, iſt die zweite Grazie in der Unterſcheidung
Winkelmanns, die Grazie eines Skopas und Praxiteles, die ja auch das
Tragiſche (Gruppe der Niobiden) mit ſeiner furchtbaren Grazie und
das Komiſche mit ſeiner „ungezogenen“ Grazie (bacchiſcher Kreis) aus
jener ruhigen erſten Einheit herausgebildet haben: das Reizende, noch im
edeln Sinn, gegenüber dem Rührenden, das ebenfalls noch im edeln
tragiſchen Geiſt auftritt, und dem Komiſchen. Allein dieſe zweite Grazie
des einfach Schönen theilt ſich noch einmal: ihre erſte Geſtalt, obwohl
nicht von der das Erhabene in ſich ſchließenden Hoheit, wie der Titanen-
bezwinger Zeus, ſondern weiblich ſanfter, hat doch noch jene Großheit
und Mächtigkeit, wie ſie ſich in einer Venus von Melos darſtellt, gegenüber
einer andern Form, die Winkelmann die kindliche Grazie nennt, gegenüber
den Eros- und anderen Knabengeſtalten, den (edleren) Faunen deſſelben
Styls und noch mehr gegenüber den ſpäteren Bildungen der Liebesgöttin,
wie der Mediceiſchen und der Καλλίπυγος. Der dritte Styl wiederholt
alſo relativ den Gegenſatz der erhabenen und einfach ſchönen Grazie
innerhalb der letztern. Dieſer Styl geht nun aber unaufhaltſam über in
die Formen der Ausartung, die der §. bezeichnet, und die, in Werken der
ſpäteren griechiſchen Schulen wie einem Laokoon, Apoll von Belvedere
erſt als zarter Anflug einer theatraliſchen Wirkung angedeutet, nach
der Verpflanzung in die römiſche Welt grell hervortreten. Ueber das ganze
Werk iſt nun der Ausdruck des Wiſſens um den Zuſchauer ergoſſen, es
lockt, es lächelt ihn an oder macht ſich durch einen leidenſchaftlichen Wurf
[138] intereſſant, der Effect iſt Zweck, die Grazie wird zum Sinnenreiz, der
gefälligen Ausbildung des Einzelnen die Strenge der Compoſition geopfert,
die Idee unter prachtvoller Ueberladung erſtickt, an die Stelle des innerlich
Großen das äußerlich Coloſſale geſetzt. Alle dieſe Züge haben in dem
Uebergewichte des Subjectiven über das objective Gewicht der Sache ihren
ſchließlichen Grund und faſſen ſich im Begriffe der Manier zuſammen.
Wir müſſen hier nur Eines der ausgeſprochenen Merkmale näher ins
Auge faſſen: das „Fortgehen bis an die äſthetiſche Grenze der Naturtreue“
und den „Naturalismus.“ Es hat dieß zunächſt den doppelten Sinn,
daß mehr Stoff aus der wirklichen Welt und Geſchichte in den Kreis der
Kunſt gezogen wird (Lyſippus: Alexander und ſeine Helden, Schule von
Pergamon: Keltenſchlachten) und daß mehrere Seiten der Erſcheinung des
Naturſchönen in die Darſtellung aufgenommen werden, als der frühere
Styl mit dem Adel des Ideals vereinbar hielt (Porträtzüge, Adern, Sehnen,
Muskelbildungen); dieß führt ſpäter dahin, daß die gemeine Natur ohne
Idealität ſich eindrängt, was hier Naturalismus heißt. Allein in dieſer
Wendung liegt allerdings von der andern Seite der Keim eines neuen
Ideals, alſo Styls, genau, wie in der altniederländiſchen Malerei in
derſelben Aufnahme des Porträt- und Genre-artigen in das religiöſe
Ideal mit dem Verfalle des letzteren zugleich der Aufgang eines neuen
ſich kund gibt. Dieß zugleich ein Zug zur Erläuterung jener obigen
Bemerkung über „verſchiedene Breite und Schwierigkeitsgrade der Ver-
wicklung“ u. ſ. w. — Uebrigens haben wir hier die Hauptzüge der
Geſchichte der griechiſchen Plaſtik als einer prototypiſch exemplariſchen,
abſolut inſtructiven Entwicklung zu Grunde gelegt, daſſelbe Geſetz an der
griechiſchen Baukunſt und Dichtkunſt (Aeſchylos, Sophokles, Euripides
und Ariſtophanes) nachzuweiſen wäre leicht und die höchſt intereſſante
Parallele der Geſchichte der Malerei in Italien hat ſchon Winkelmann
berührt.


5.
Der Styl als Geſetz der einzelnen Künſte.

§. 532.

Die Kunſt kann nicht als abſtract Allgemeines wirklich ſein, ſondern
muß ſich in Künſte und deren Zweige gliedern. Hiedurch erhält der Begriff
des Styls eine neue Bedeutung; er bezeichnet die Auffaſſung, wie ſie der ein-
zelnen Kunſt und einem einzelnen ihrer Zweige zu Grunde liegend ſich in einer
beſtimmten Technik niederlegt und ſtehend conſtituirt. Ein beſonderer Accent
[139] fällt auf den ſo gewendeten Stylbegriff, wenn die Auffaſſungs- und Behand-
lungsweiſe einer Kunſt auf eine andere oder eines Kunſtzweigs auf einen
andern übergetragen wird, was auf berechtigte oder unberechtigte Weiſe geſche-
hen kann. Der Ausdruck Styliſiren enthält daher bald ein Lob, bald einen
Tadel. Das Wort Manier bezeichnet nun rein techniſch die untergeordneten
Verſchiedenheiten in der Behandlung des Materials.


Hier erſt iſt Rumohrs Beſtimmung des Stylbegriffs zu beurtheilen.
Was wir nämlich hier als deſſen letzte Bedeutung aufführen, darin ſiebt
er die ganze Bedeutung deſſelben erſchöpft, ſo daß er unter Styl im
intenſivſten Sinne des Worts nichts Anderes verſteht, als ein „zur
Gewohnheit gediehenes ſich Fügen in die innern Forderungen des Stoffes,
in welchem der Bildner ſeine Geſtalten wirklich bildet, der Maler ſie
erſcheinen macht“ (Ital. Forſch. Th. I S. 87 ff.). Daß der Künſtler,
der Styl hat, weſentlich den Geſetzen ſeines Materials ſich fügt, haben
wir in unſerer Darſtellung des individuellen Stylbegriffs (§. 527) nur
deßwegen nicht beſonders hervorgehoben, weil es ſich von ſelbſt ergeben
muß, wenn die Beſtimmung des Styls als des Idealen, wie es zur
techniſchen Gewöhnung geworden, zuſammengefaßt wird mit dem weiteren
Satze, daß die verſchiedenen Arten der Phantaſie in verſchiedenem Mate-
rial ihre Auffaſſung niederlegen und daß daraus die verſchiedenen Künſte
entſtehen. Die Objectivität, die den Charakter des Styls begründet,
muß ja natürlich von innen herausgehen in die Behandlung des Materials
nicht nur im Sinne einer habituellen Großartigkeit der Technik über-
haupt, ſondern auch ſpezieller im Sinne einer ernſten Unterordnung unter
die Bedingungen eines ſpeziellen Materials, als ein „ſich Fügen“ u. ſ. w.
Nun iſt es aber ganz ſeltſam, daß Rumohr die Objectivität des Styls
in dieſer ſeiner Aeußerung ganz trennt von ihrem innern Grunde, der
Objectivität der Auffaſſung; ſie entſpringe, ſagt er, nicht aus einer
beſtimmten Richtung und Erhebung des Geiſtes, ſondern einzig aus
einem richtigen, aber nothwendig beſcheidenen und nüchternen Gefühle
einer äußern Beſchränkung der Kunſt durch den derben, in ſeinem Ver-
hältniß zum Künſtler geſtaltfreien (rohen) Stoff. Was hier richtig,
beſcheiden, nüchtern heißt, iſt vielmehr ein gewaltiges, großartiges Erfaſſen
der Bedingungen des Materials ſchon in der Geſtaltung des innern
Bildes und dann in der Ausführung, ein freies Unterwerfen, ein Wollen,
denn wer heißt mich denn Stein oder Farbe wählen, wenn ich nicht
will? Dieſes Wollen muß aber freilich zur Gewohnheit und innern
Disciplin werden. Rumohr leitet nun aus den Bedingungen des Mate-
rials die Compoſitions- und Darſtellungs-Geſetze für den Bildner und
Maler ab, was in die beſondere Kunſtlehre gehört; daß er von Styl
[140] nur in Beziehung auf zwei Künſte redet, iſt übrigens eine weitere unbe-
gründete Verengung des Styl-Begriffs. Wenn dagegen wir dieſen
Begriff hier in einer neuen Bedeutung aufführen, ſo kann dieſe zunächſt
keine andre ſein, als: die jeder Kunſt zukommende Behandlungsweiſe
des Materials als eine durch ihre nothwendigen Bedingungen feſtgeſtellte
gewohnheitsmäßige Uebung; eine Bedeutung, die von der Intenſität der
früheren vorerſt ganz wieder abſieht und darin auch von Rumohrs
Begriffsbeſtimmung noch verſchieden iſt, denn dieſe nimmt das Wort Styl
allerdings in dem intenſiven Sinn, worin der Ausdruck ein Lob des
Künſtlers enthält (wiewohl ſie das Lobenswerthe zu äußerlich deutet, zu
ſehr bloß negativ auffaßt); Styl bedeutet uns jetzt zunächſt ohne alle
Emphaſe das Verfahren einer einzelnen Kunſt und eines einzelnen Zweigs
derſelben: Architekturſtyl (Pallaſtſtyl, Kirchenſtyl), Styl der Bildhauerei
(Genre-Styl, heroiſcher Styl u. ſ. w.), Styl der Malerei (hiſtoriſcher
Styl, Genre-Styl, Landſchaftſtyl), Muſik-Styl (Kirchenſtyl, Styl des
Oratoriums, Kammerſtyl u. ſ. w.), Styl der Poeſie (epiſcher, lyriſcher,
dramatiſcher). Wie wir nun oben, als wir vom Innern ausgiengen,
das ſich Fügen unter die techniſchen Bedingungen miteinverſtanden, ſo
iſt jetzt, da wir bei dem Aeußern ſtehen, vorausgeſetzt, daß der Einzelne
ſich ſeinen Bedingungen aus innerem Wollen füge. Es liegt darauf,
weil es eben vorausgeſetzt iſt, zunächſt kein Accent; allein man ſieht leicht,
daß ein ſolcher alsbald eintreten muß, denn offenbar redet man von dem
Styl einer Kunſt oder eines Kunſtzweigs, ſtatt einfach: Baukunſt, Kirchen-
baukunſt u. ſ. w. zu ſagen, namentlich dann, wenn durch einen Contraſt
ein Schlaglicht auf die aus der geiſtigen Auffaſſung fließenden techniſchen
Bedingungen fällt, und dieß geſchieht vor Allem, wenn die Auffaſſungs-
und Verfahrensweiſe der einen Kunſt auf die andere oder des einen
Kunſtzweigs auf den andern übergetragen wird. Durch den Schlußſatz
von §. 404 iſt auf dieſe Uebertragung vorbereitet. Nun erhält der Begriff
wieder eine Emphaſe, enthält Lob oder Tadel. Wann das Eine oder
Andere begründet ſei, iſt in abstracto nicht auszumachen, dieß gehört in
die ſpezielle Kunſtlehre. Nur einige Beiſpiele: wie die Aegyptier die
Bildhauerei architektoniſch behandeln, iſt dieß ein tiefer Mangel, dagegen
gibt es in mehrfachem Sinn eine ganz edle und freie architektoniſche
Behandlung der menſchlichen und thieriſchen Geſtalt, nicht blos in Karya-
tiden und heraldiſchen Thieren, ſondern auch bei höherer Aufgabe. Bernini
hat die Plaſtik maleriſch behandelt im Sinn der übelſten Effecthaſcherei,
das Mittelalter hat dieß in anderem und hiſtoriſch berechtigtem Sinne
gethan. In der Malerei kann architektoniſcher Styl in berechtigter oder
unberechtigter Weiſe ſich geltend machen, ebenſo plaſtiſcher Styl. Umge-
kehrt kann die Architektur in plaſtiſchem oder maleriſchem Styl behandelt
[141] werden mit Fug oder Unfug. So geht es durch alle Künſte, die Ueber-
tragungsweiſen ſind äußerſt mannigfaltig. Die Zweideutigkeit, wie ſie
durch die nur in concreto lösbare Ungewißheit entſteht, ob die Ueber-
tragung eine gute oder eine verlehrte ſei, zeigt ſich in dem ſchwankenden
Gebrauche des Zeitworts Styliſiren. Man bezeichnet damit eine Erhöhung
der Formen in das Mächtige, Schwungvolle, den Ausdruck des Indivi-
duellen ſtreng Beſchränkende des großen Styls, allein man hat zugleich
die beſondere Haltung im Auge, die dieſer Styl in einem Werke annimmt,
das einer Kunſt oder einem Kunſtzweige angehört, welche weniger ſtarke,
maſſige, ſtrenge Formen als derſelbe mit ſich bringt, zuzulaßen ſcheinen.
Styliſirte Blumen z. B. ſind auf architektoniſche Regelmäßigkeit und Sym-
metrie reduzirte Blumen, wie ſich dieß für die Ornamentik, doch nicht unter
allen Umſtänden in gleichem Grade, eignet; eine ſtyliſirte Figur in der
Malerei iſt eine ſolche, welche in der Zeichnung ſich einer plaſtiſch ſtrengern,
weniger individuellen Behandlung nähert; ein ſtyliſirtes Gewand iſt ein
ſolches, dem man ebenfalls im Sinne der Plaſtik alles Zufällige, Unbe-
ſtimmte, Kleine, Dünne genommen hat, u. ſ. w. Man drückt durch das
Wort Styliſiren eine Idealität der Formenbehandlung aus, von der es
fraglich iſt, ob ſie dieſer Kunſt, dieſem Kunſtzweige zuſage, ob ſie
nicht vielleicht in einem gewiſſen Sinn zu ſchön, auf Koſten der Indivi-
dualität ſchön, genauer betrachtet alſo allerdings (da das Schöne ſich in
jeder Kunſt ſeine beſtimmte Geſtalt gibt und ein Schönes außer dieſen
Bedingungen nicht exiſtirt) nicht wahrhaft ſchön ſei. Die Ent-
ſcheidung bleibt aber noch ausgeſtellt. Leop. Robert hat italieniſchen
Genre-Stoff im großen Style des hiſtoriſchen Gemäldes behandelt, Göthe
hat in Hermann und Dorothea die Idylle in den Styl des Epos gehoben
und Stellen wie die, wo der Geiſtliche den Richter der flüchtigen Gemeinde
wie einen der älteſten Führer, die durch Wüſten und Irren vertriebene
Völker geleitet, wie Joſua oder wie Moſes anſchaut, Stellen wie die,
wo Hermanns und Dorotheas hohe Geſtalten durch das Korn ſchreiten,
ſind im ächt Homeriſchen Sinne gefühlt; in den Genreſtyl von Wallen-
ſteins Lager ragt der hohe tragiſche herein und der erſte Küraſſier wächst
durch die Großheit, womit er den Geiſt des Soldatenthums ausſpricht,
hoch empor in den heroiſchen Styl. Dieß heißt Styliſiren im edelſten
und berechtigtſten Sinne des Worts. Dagegen haben die Meiſter der ſog.
hiſtoriſchen Landſchaft zu viel ſtyliſirt, d. h. in ihrer plaſtiſch architekto-
niſchen Weiſe zu viel von der individuellen Phyſiognomie der örtlichen
Natur ausgelöſcht, M. Angelo, Karſtens, Wächter haben in den Figuren
das Maleriſche zu ſehr plaſtiſch ſtyliſirt, in anderer Weiſe R. Mengs.
— Der Schluß des §. hebt noch hervor, daß Manier im jetzigen Zuſam-
menhang ganz einfach und untergeordnet gewiſſe Unterſchiede des techni-
[142] ſchen Verfahrens bezeichnet: ſo im Kupferſtich Schraſſir-, Punctir-Manier,
Radir-Manier u. ſ. w. Dieß iſt die urſprüngliche Bedeutung des Worts
(maniera Handführung). Ein Anſatz zu intenſiverem Sinne liegt aller-
dings auch in dieſem unſchuldigſten Gebrauche des Ausdrucks; denn wie es
Styl-Uebertragungen gibt, ſo gute und üble Manier-Uebertragungen:
Verbindung des Stichels mit Aezen und Radiren iſt zu einer guten Wir-
kung vielfach nöthig, es kann aber auch z. B. eine beſtimmte Landſchaft
ſich zur Radirmanier eignen und iſt doch in einer andern behandelt, da
liegt der Fehler ſchon in der Auffaſſung und das Wort Manier kann
nun ſo angewendet werden, daß bereits ein Urtheil darin liegt.


[[143]]

B.
Die Theilung der Kunſt in Künſte.


a.
Das Prinzip der Theilung.

α.
Die Haupteintheilung.

§. 533.

Der Grund der innern Nothwendigkeit jener Theilung der Kunſt (§. 532)1
liegt zunächſt in der ſinnlichen Ausſchließlichkeit des Materials (§. 517).
Jedes Material kann nur gewiſſe Erſcheinungsſeiten des Naturſchönen und einen
gewiſſen Inhalt der Idee in ſich aufnehmen. Als das Organ des ganzen
Schönen muß die Phantaſie dieſe Schranke zu überwinden ſtreben und daher je
das beengendere Material mit dem vertauſchen, in welchem das Leben der
Erſcheinung umfaſſender und tiefer zur Darſtellung gebracht werden kann, und
dieſes Suchen ſo lange fortſetzen, bis ſie in einem gewiſſen Sinn alles Material
abwirft und zugleich mit dem reinen Schein den vollen Schein zu geben
vermag. Die überſtiegenen Stufen ſind aber darum nicht aufgehoben, denn die
2
Beſchränkung bedingt die Vollkommenheit und der Gewinn im Fortgang iſt
nach der andern Seite ein Verluſt.


1. Zuerſt eine Bemerkung zu den Ueberſchriften. Unter den „Künſten“
in der Haupt-Aufſchrift ſind auch die Zweige jeder einzelnen Kunſt ver-
ſtanden, was wohl keinem Widerſpruch unterliegt, da auch im einzelnen
Zweige das ganze Weſen einer beſondern Kunſt ſich niederlegt. Statt
„das Prinzip der Theilung“ wäre genauer zu ſetzen: das Prinzip und
[144] die untergeordneten Prinzipien, denn man wird ſehen, daß in der Ein-
theilung der Zweige zu dem oberſten Eintheilungsgrund ſecundäre Ein-
theilungsgründe mehr äußerlich hinzutreten. Die Nothwendigkeit der
Kürze in Aufſchriften erlaubt aber das Anſinnen, mit dem allgemeinen
Ausdruck: das Prinzip einen Begriff zu verbinden, der die Grenze in
dieſem Sinn offen läßt. — Die Nothwendigkeit nun, daß die Kunſt in
eine Mehrheit ſelbſtändiger Formen auseinandertrete, iſt in §. 532 als
eine vorausgeſetzte ausgeſprochen. Der Ausgangspunct für den Nachweis
dieſer Nothwendigkeit liegt zunächſt einfach in dem Charakter der ſinn-
lichen Ausſchließlichkeit, den das Material trägt. Die Phantaſie iſt das
Organ des Schönen in ſeinem ganzen Umfang, ſowohl nach dem Ideen-
gehalt, als nach der weiten Welt der Erſcheinungsformen. Will ſie ſich
als Kunſt verwirklichen, ſo muß ſie zu einem Materiale greifen. Jedes
Material aber hat ſeine unüberſteigliche Grenze; in Stein und Erz läßt
ſich nur dieß und auf dieſe Weiſe ſagen, in Farbe mehr, aber wieder
nicht Alles u. ſ. f. Dieſe Schranke iſt aber in der Phantaſie nothwen-
dig Eins mit dem Drang ihrer Ueberwindung. Das Geſetz dieſer Fort-
bewegung kann zunächſt beſtimmt werden als Geſetz eines Suchens nach
der am meiſten ſprechenden Form, d. h. der geiſtig tiefſten, umfaſſend-
ſten, ausdrucksvollſten, oder man kann vorerſt die Formel aufſtellen: der Ein-
theilungsgrund der Künſte iſt der Grad ihrer Geiſtigkeit (innerhalb des
Sinnlichen). In der Sprache der Aeſthetik aber heißt das Geiſtige reiner
Schein; dieſer ſetzt (vergl. §. 54) die völlige Abſtraction vom Durch-
ſchnitt voraus und wird ſchließlich nur da eintreten, wo wirklich alles
Material abgeworfen iſt; „in einem gewiſſen Sinne“ ſagt der §.: in
welchem, dieß wird ſich zeigen. Der reine Schein iſt aber auch der
vollere, d. h. der umfaſſendere, denn da das Material den Charakter der
Ausſchließlichkeit hat, ſo wird die Kunſt erſt dann Alles ſagen können,
was ſie zu ſagen hat, wenn ſie auf alles Material verzichtet. Wenn
wir die Reihe der Künſte demgemäß als eine aufſteigende Stufenfolge
faſſen, deren treibendes Geſetz dieſer Drang der Fortbewegung iſt, ſo
haben wir uns bereits gegen die gemeine Logik erklärt, welche den
älteren Eintheilungen zu Grunde liegt. Die Maſſe der Kunſt wird hier
in Künſte zerſchnitten, die ohne inneres Band nebeneinanderliegen; rich-
tiger, man findet die Stücke vor und ſubſumirt ſie unter gewiſſe Kate-
gorien: Mittheilungsmittel: Geſtalt, Ton; Organ der Aufnahme: Geſicht,
Gehör; Grundform der Anſchauung: Raum, Zeit; ſo entſtand die Ein-
theilung in bildende und toniſche Künſte. Wir werden dieſe veraltete
Eintheilung noch von andern Seiten prüfen müſſen; zunächſt werfen wir
ihr nur den Mangel innerer Einheit vor. Unſere organiſch verbindende
Auffaſſung kann nicht ſo verſtanden werden, als denken wir an ein
[145] Durchlaufen der Stufen durch das Individuum. Die Phantaſie iſt ja
ein Großes und Allgemeines, wie die Natur, welche die Stufen ihres
Lebens als ſelbſtändig bleibende hinſtellt, wiewohl die höhere die tiefere
widerlegt; ſie führt Ein Individuum ſo wenig durch alle Formen, als
dieſe den einzelnen Vogel zum Säugethier fortbildet. Die Stufen in der
Natur dauern als geſchloßene Reiche, Gattungen, Arten nebeneinander,
jede Stufe iſt zugleich die ganze Natur; ſo iſt jede Kunſt implicite die
ganze Kunſt. Es liegen zwei Beziehungen vor: jede Kunſt als eine
Welt für ſich und jede Kunſt verglichen mit der ganzen explicite gedachten
Aufgabe der Kunſt; die zweite Beziehung bringt den Mangel der einzel-
nen Kunſt zu Tage und führt den Standpunct des Werthverhält-
niſſes in Vergleichung mit den andern Künſten herein. Beide Beziehungen
haben ihre Wahrheit und Geltung; wir werden übrigens die zweite in
eine beſtimmtere Anſchauung ſich aufheben ſehen. Im Großen aber ſtellt
ſich das Stufenverhältniß allerdings bis zu einer gewiſſen Grenze wirklich
als eine hiſtoriſche Aufeinanderfolge dar; welches dieſe Grenze ſei, muß
ſich zeigen. Zunächſt fragt ſich noch, ob nicht der Gang von oben nach
unten dem von unten nach oben vorzuziehen ſei, wie z. B. Solger ge-
than hat, der mit der Poeſie anfängt. Auf den erſten Blick ſcheint es,
als ob zwiſchen beiden Wegen die Wahl unbeſtimmbar frei ſtehen müſſe:
es kann, könnte man ſagen, als gleichgültig betrachtet werden, ob ich
von der Poeſie als der adäquateſten Erſcheinung der Kunſt ausgehe und
abſteigend die andern Künſte als die projicirte, in Momente aufgelöste
Dichtkunſt (wie Oken das organiſche Reich als den projicirten Menſchen)
abwick[l]e, oder aufſteigend in der Poeſie die disjecta membra ſammle.
Für die Wahl des erſteren Wegs könnte nun ein Grund in der Geſchichte
gefunden werden, denn die Poeſie (und Muſik) iſt allen andern Künſten
vorangegangen; allein damit iſt (um die Frage nach dem empiriſchen
Beweiſe für die logiſch abſteigende Reihenfolge der übrigen Künſte zu
übergehen) nicht bewieſen, daß die Dichtkunſt in der Zeit, wo ſie den
andern Künſten vorauseilte, der adäquateſte Ausdruck des Kunſtlebens
geweſen ſei, im Gegentheile läßt ſich leicht zeigen, daß ſie die ächt moderne
Kunſt iſt, welche alle andern überleben wird, alſo hiſtoriſch die letzte.
Dieſer Satz iſt freilich nicht mehr bloß empiriſch, ſondern enthält bereits
einen Schluß aus dem Weſen, und aus dieſem muß überhaupt der Ent-
ſcheidungsgrund fließen. Er ergibt ſich mit der folgenden Anmerkung.


2. Da die Kunſt ein geiſtiges, freies Thun iſt, warum ergreift ſie
nicht ſogleich und allein das vollkommenſte Darſtellungsmittel? Warum
bindet ſie ſich an das engere? Deßwegen, weil das Erſcheinungsleben des
Naturſchönen für ſeine einzelnen Momente eine beſondere und ſelbſtändige
Ausbildung fordert, damit Alles erſchöpft werde, was in ihm liegt. Die

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 10
[146]Theilung der Kräfte iſt es, die das für ſich bearbeitete Glied des ganzen
Umfangs der Thätigkeiten zur Vollkommenheit bringt; ſo iſt es auch in
der Kunſt: die höhere und umfaſſendere Stufe nimmt wohl in ſich auf, was
durch dieſe Kraft der Einſeitigkeit in der engeren gewonnen iſt, allein da
das Gewonnene nun zum Moment in einem reicheren Umfange herab-
geſetzt iſt, hat es nicht mehr die Fülle, wie da, wo das ganze Weſen
einer einzelnen Kunſt ſich in dieſe Seite legte. So kann die Poeſie nur
in einem gewiſſen beſchränkten Sinne Geſtalten bilden und malen, genau
wie der Menſch zwar der feinſte Auszug der Kräfte des Thierreichs iſt,
aber die Schärfe der einzelnen Kräfte, wie ſie in den Thieren ausein-
andergelegt ſind, in dieſem höchſten Sammelpuncte, der zugleich eine
ſpezifiſch neue Welt eröffnet, zu Gunſten der geiſtigen Einheit weſentlich
abgeſchwächt erſcheint. Dieß iſt nun auch der Entſcheidungsgrund für
die aufſteigende Darſtellung. Geht man umgekehrt, ſo iſt das Engere
und Einſeitigere ſchon als bloßes Moment erkannt und kann nicht mehr
zu ſeinem Rechte kommen; was nachher Glied eines reicheren Ganzen
wird, muß zuerſt als Einziges, Ganzes erſcheinen, um Alles entwickeln
zu können, was in ihm liegt; die reichere und geiſtigere Form muß er-
kannt werden als ſtehend auf der Schulter deſſen, was vorher als Ganzes
erſchien und nun in ihm depotenzirt iſt. Die genetiſche Wiſſenſchaft
löst nicht auf, verdünnt nicht das Dichte, ſondern baut auf und ſammelt
an. Die bildenden Künſte ſind nicht eine verkommene, die Muſik iſt
nicht eine zerfloſſene Dichtkunſt, ſondern die Dichtkunſt iſt die um ein
geiſtiges Centrum ſich bewegende Einheit aller dieſer Künſte.


§. 534.

Hiemit iſt der Theilungsgrund bereits in den Geiſt verlegt; derſelbe muß
aber, da der Ausgang von dem Charakter des Ausſchließlichen, den alles
Sinnliche trägt (§. 533), hiedurch nicht aufgehoben ſein kann, näher in der
innern Sinnlichkeit der Phantaſie liegen; nur als ergriffen von dieſer könnte
das Material und das phyſiſche Geſetz, unter dem es ſteht, den Grund der
Theilung der Kunſt in Künſte enthalten. Allein die innere Sinnlichkeit der
Phantaſie iſt eine doppelte: ſie bindet ſich theils an die wirkliche Erſcheinung,
theils wirſt ſie dieſes Band ab, um ſich nur innerhalb ihrer ſelbſt zu bewegen.
An dem Puncte, wo dieſe Befreiung eintritt, erliſcht alſo die Bedeutung des
Material-Unterſchieds für die Eintheilung völlig und weicht dem neuen Thei-
lungs-Prinzip dieſer zweifachen Art der Phantaſie. So treten zunächſt zwei
Kunſtformen auf.


[147]

Wer zwingt denn den Künſtler, ſo mußten wir ſchon zu §. 532
fragen, den Stein, das Erz, die Farbe u. ſ. w. zu wählen? Dieſe ein-
fache Frage hat ſich die gemeine Logik nicht aufgeworfen, indem ſie
das Darſtellungsmittel, Material, Organ, Grundform der Anſchauung
(Raum und Zeit) zum Theilungsprinzip erhob und nun bildende und
toniſche Künſte (andere dreitheilige Unterſcheidungen auf demſelben Stand-
puncte werden ſpäter zur Sprache kommen) unterſchied. Wir werfen
jedoch dieſes veraltete Verfahren nicht einfach weg, ſondern verbeſſern es
vorerſt dahin, daß nur nicht das Darſtellungsmittel an ſich den Einthei-
lungsgrund zu bilden hat, ſondern die Sinnlichkeit, wie ſie ſich in den
Geiſt hineinerſtreckt und das ihr entſprechende Material ergreift. Dadurch
erſt wird auch eine Gliederung innerhalb der einzelnen Kategorien des
Materials möglich, welche jenen alten Eintheilungen ganz fehlte: es läßt
ſich nun zeigen, warum es dreierlei bildende Künſte, alle in körperlich
ausgedehntem, bewegungsloſem, aber verſchiedenem Material darſtellend,
geben muß, und es wird im Folgenden gezeigt werden. Die Muſik hat
ihr ſinnliches Material im Tone, der ebenfalls noch einen Körper, dem
er abgewonnen wird, vorausſetzt. Allein ganz erliſcht das Recht dieſer
Eintheilungsweiſe bei der Poeſie; denn daß ſie mit der Muſik nicht
(unter der Kategorie der toniſchen Künſte, Künſte der Zeit) coordinirt werden
kann, leuchtet ſelbſt vor der Beweisführung ein, da Jeder weiß, daß das
Wort der Poeſie nicht das iſt, was der Muſik der Ton. Die Poeſie
iſt es ja aber, die „in gewiſſem Sinn“ gar kein Material hat; die alte
Eintheilung hatte durchaus keinen Ort für ſie. Es muß alſo eine dop-
pelte Art der innerlich geſetzten Sinnlichkeit geben: eine ſolche, die wirk-
lich das ihrer Anſchauungsweiſe entſprechende körperliche Sein nicht ent-
behren kann, und eine ſolche, die in ſich bleibt, die auch in bloß vorge-
ſtelltem Stein, Farbe, Ton darſtellen kann und nichts vorausſetzt, als
daß der, an den ſie ſich wendet, dieſelbe Vorſtellung in ſich erzeugen
könne. Nunmehr beſchränkt ſich jener verbeſſerte, vom Material genom-
mene Eintheilungsgrund auf die Künſte außer der Poeſie, er theilt nur
Eines von zwei Feldern, die nun vor uns liegen, und der höhere Thei-
lungsgrund für die zunächſt auftretende Zweizahl iſt der Unterſchied zwi-
ſchen einer auf den entſprechenden Körper bezogenen und einer rein
innerlichen Sinnlichkeit des Geiſtes; alſo der des Realen und Idealen.
Auf dieſes Schellingiſche Theilungsprinzip gründet denn Solger ſeine
Grundeintheilung. Er hat (Vorleſ. über Aeſth. herausg. v. Heyſe
S. 259) richtig erkannt, daß für die Poeſie die Sprache nicht Darſtel-
lungsmedium iſt wie für die andern Künſte ihr Material, er faßt ſie als
die Kunſt der reinen, das Mannigfaltige aus ſich erzeugenden, ganzen
Idee, als die univerſelle Kunſt, und ſtellt ihr die andern Künſte gegen-

10*
[148]über als den Ausdruck der in das Mannigfaltige der Wirklichkeit zerſpal-
tenen (weil an die wirklich ſinnliche Darſtellung gebundenen) Idee. Dieſe
nennt er Kunſt im engern Sinn und ſtellt ſo den Gegenſatz Poeſie und
Kunſt auf.


§. 535.

Allein außer der Kunſtform der rein innerlichen Sinnlichkeit wird eine
Stufe auftreten müſſen, in welcher ſich der Moment der Ablöſung vom kör-
perlichen Materiale als beſondere Kunſt fixirt, indem dieſes zur bloßen Bedin-
gung eines zwar noch ſinnlichen, aber geiſtig frei bewegten Erſcheinungs-Ele-
ments herabgeſetzt iſt. Dadurch tritt an die Stelle der Zweizahl die Drei-
zahl
. Die ſo entſtandene Eintheilung aber führt zurück auf die Arten der
Phantaſie, wie ſie in §. 404 aufgeſtellt
und aus dem Weſen der letz-
teren abgeleitet ſind.


Die ausübende Phantaſie kann von der Gebundenheit an ein kör-
perliches Material zur freien Bewegung in ihrer eigenen idealen Sinn-
lichkeit keinen Sprung machen; es muß eine Mitte ſein, worin das
körperliche Medium ſo eben verſchwindet und verſchwebt. Der Ton iſt
für die Muſik bereits nicht mehr Material, wie es der ſchwere Körper
für die bildende Kunſt iſt; ſie ſtellt keinen abgeſchloſſenen materiellen
Gegenſtand mehr zwiſchen ſich und das Subject, dem ſie ſich mittheilt, der
Ton iſt unmittelbar ihr Leben und ſchwingt ſich zu Ohr und Gemüth,
ohne in der Mitte zwiſchen dieſem und dem Künſtler an einem Kör-
per auszuruhen; er ſetzt einen feſten Körper voraus, dem er entlockt
wird, aber im Entlocken hebt ſich deſſen Materialität in die geiſtige Zeit-
form auf. Aſt (Syſtem der Kunſtlehre u. ſ. w. §. 62 ff.) wendet ſogar
die Schellingiſche Formel ſo an, daß er den Gegenſatz des Realen und
Idealen in das Verhältniß zwiſchen bildender Kunſt und Muſik ſetzt;
die Poeſie faßt er dann als höhere ideale Einheit beider, (wobei wir
die zu bedeutende Stellung, die er der Orcheſtik als der realen Einheit
beider gibt, überſehen können). Eine ganz ähnliche Auffaſſung wird ſich
uns im Verlaufe bilden; hier vorerſt bleiben wir dabei, den Gegenſatz in
dem Verhältniſſe der Poeſie zur bildenden übrigen Kunſt zu ſuchen, die
Muſik aber als ſinnlich unſinnliche Kunſt, worin die bildenden Künſte
ausklingen und die Poeſie ſich ankündigt, als die Halle zu faſſen, worin
das Gemüth von der räumlichen Zerſtreuung der bildenden Künſte ſich
ſammelt und auf den Eintritt einer geiſtig innerlichen Kunſt vorbereitet.
Die Dreizahl, die uns nun entſteht, iſt es, mit welcher eine frühere
Eintheilung im Syſteme ſich wieder öffnet und geltend macht; denn hier
[149] wird es ja klar: das Eintheilungsprinzip der Kunſt bildet die Verſchie-
denheit der innern Organiſation der Phantaſie und unter den
in §. 402—404 aufgeführten Arten der Phantaſie iſt es die in 404
dargeſtellte Reihe, worauf der Unterſchied der Künſte beruht. Dieſe
Arten ſind: die bildende, auf das Auge organiſirte
die empfindende, auf das Gehör organiſirte
die dichtende, auf die ganze ideal geſetzte Sinnlich-
keit
geſtellte Phantaſie.


§. 536.

Dieſe Organiſation iſt zunächſt eine individuell zufällige, aber da ſie auf
der Ordnung des Geiſtes in ſeiner Einheit mit der Natur ruht, verbindet die
gleich organiſirten Individuen ein gemeinſchaftliches Geſetz nothwendiger Thä-
tigkeit, welche als ſelbſtändige Macht ſich über ſie ſtellt und ſie zu ihrem
Dienſte fordert. Dieſe Macht iſt die einzelne Kunſt und ſo gründet ſich auf
die erſte Art der Organiſation die bildende Kunſt, auf die zweite die Kunſt
der tönenden Empfindung oder die Tonkunſt, auf die dritte die Dichtkunſt.


Ein vermittelnder Begriff muß zwiſchen die Art der Phantaſie und
die auf ſie begründete Kunſt geſtellt werden. Die Arten der Phantaſie
ſind zwar innerlich begründet auf die Momente der Phantaſie ſelbſt
(vergl. §. 404), aber daraus folgt zunächſt nur, daß es immer Indivi-
duen geben wird, deren Phantaſie in der einen oder andern Weiſe orga-
niſirt iſt; die unbeſtimmte Vielheit derſelben zerſtreut ſich ohne bindende
Macht der Einheit. So verhält es ſich jedoch nur dem äußerlichen
Scheine nach; die zerſtreute Vielheit iſt vielmehr von innen durch eine
feſte Linie zuſammengehalten, denn die gleiche Organiſation hat zuſam-
menordnende, gemeinſchaftbildende Kraft, weil die verwandten Geiſter es
fühlen, daß ein inneres Geſetz die verſchiedenen Formen der Beziehung
des Geiſtes zur Natur (Organiſation auf das Auge u. ſ. w.) ebenſo
fordert und hinſtellt, wie das organiſche Leben verſchiedene Thier-Gattun-
gen bildet. Die wirkliche Thätigkeit der gleich organiſirten Einzelnen
erhebt aber dieſen geheimnißvollen innern Zug zu einer wirklichen, conſti-
tuirten, bindenden Macht. Was aus dem Zuſammentrag Vieler entſteht,
iſt nicht mehr eine bloße Summe, ſondern wird zum Strome, der ſtärker
iſt, als der Einzelne, zum Syſteme, das ihn in ſeine Kreiſe zieht. Die
äußere Erſcheinung dieſer Macht iſt die Schule mit ihren Ueberlieferungen
und Regeln, ihr tieferer Ausdruck die (zu dieſem Zweck ſchon hier zu
erwähnende, im Verlauf abzuleitende) Gliederung jeder Kunſt in ihre
Zweige, denen ſich, während ſie doch urſprünglich von Einzelnen erfunden
[150] ſcheinen, der Einzelne unwiderſtehlich einordnen muß. So erſt iſt der
Uebergang des Begriffs: Art der Phantaſie in den Begriff: einzelne
Kunſt motivirt und konnten nun die drei Hauptformen der Kunſt aufge-
ſtellt werden.


§. 537.

Dieſe Geſetzmäßigkeit führt aber weiter zurück auf ein höheres Geſetz
und zwar auf das der Objectivität und Subjectivität, welches das
ganze Syſtem beherrſcht und nunmehr im Gebiete der Kunſt ſich ſo wiederholt,
daß die bildende Kunſt das Moment der Objectivität darſtellt und hiemit dem
Naturſchönen entſpricht, die Kunſt der tönenden Empfindung das Moment
der Subjectivität verwirklicht und ſo der Phantaſie entſpricht, in der Dicht-
kunſt aber, welche im Elemente der idealgeſetzten Sinnlichkeit die Wirkung
aller andern Künſte vereinigt, als der ſubjectiv-objectiven Kunſt die
Einheit der Gegenſätze, welche im ganzen Syſtem die Kunſt darſtellt, ſich
concret wiederholt.


Als in §. 404 die dort aufgeſtellten Arten auf die Momente der
Phantaſie ſelbſt gegründet wurden, war eigentlich bereits zu erkennen,
daß dieß tiefer auf jenes Grundgeſetz weist, das ſchon im erſten Theile
die Unterſchiede im Erhabenen und Komiſchen beherrſcht und im zweiten
Theile den Gegenſatz des Naturſchönen, d. h. des objectiv gegebenen,
und der Phantaſie, d. h. des ſubjectiv erzeugten Schönen hervortreibt,
um ihn in der ſubjectiv-objectiven Wirklichkeit des Schönen, d. h. der
Kunſt, als dem Inhalte des dritten Theils wieder aufzuheben; denn die
Art der Phantaſie, welche, auf die Anſchauung geſtellt, bildend wirkt, iſt
einleuchtend die objective, die auf die Empfindung geſtellte die ſubjective,
die auf die ganze idealgeſetzte Sinnlichkeit gewieſene iſt die ſubjectiv-
objective Form, indem ſie die in der bloßen Empfindung verklungene
Geſtaltenwelt der erſten, objectiven Form wieder hervorruft, aber in dem
innerlichen Elemente, das ſie, obwohl durch dieſes Hervorrufen weſentlich
verändert, mit der ſubjectiven Form gemein hat. Dort wurde dieſe
Zurückführung auf das oberſte Geſetz nur noch unterdrückt, weil vorher
durch Eröffnung des dritten Theils klar werden ſollte, wie daſſelbe das
ganze Syſtem beherrſcht, und weil die tiefere Begründung des innern
Thuns der Phantaſie erſt in volles Licht tritt, wenn dieſes Thun ſich
erſchließt, ſich im äußern Körper niederlegt, ſich auf den Ton und von
da auf das reine Element des Malens mit Phantaſie in Phantaſie zu-
rückzieht. Nun aber fällt dieſe höhere Beleuchtung von ſelbſt auf die
Eintheilung des ſubjectiven Organs der Kunſt in §. 404 und ebenhiemit
[151] noch weiter, nämlich auf die Momente der Phantaſie (§. 385 — 399),
worauf dieſe Eintheilung gegründet iſt, zurück. In welchem Sinne die
Poeſie ſubjectiv-objectiv iſt, konnte für jetzt nur angedeutet werden; die
Kunſtlehre wird dieſe Andeutung zur klaren Ausführung erheben. Eine
Ahnung, Spur von unſerer nunmehr tiefer begründeten Eintheilung zieht
ſich durch die ganze Literatur der Aeſthetik; Kant iſt ihr mit ſeiner Unter-
ſcheidung von drei Formen, deren eine in Worten, die andere in Gebär-
dung, die dritte in Tönen darſtellt, auf der Spur (Kr. d. äſth. Urthlskr.
§. 51); ſelbſt Krug (Aeſth. §. 68) ſucht zu ſeiner Zweitheilung in
plaſtiſche und toniſche Künſte ein vereinigendes Drittes, das er aber,
nachdem er die Dichtkunſt zu den toniſchen Künſten geworfen, in den
(nicht rein äſthetiſchen) mimiſchen ſucht; Aſt hätte unſere Eintheilung,
wenn er nicht durch Zwiſchen-Einfügung der Orcheſtik als realer Einheit
des Idealen und Realen ſeine Entwicklung trüben würde (vergl. zu §. 535).
Gewonnen iſt nun zu der feſten Begründung der Eintheilung der Künſte
die Abrundung des ganzen Syſtems: es geht in ſich zurück als erfüllter
Kreis, verdichtet ſein Grundgeſetz, ſich in ſich wiederholend, zur immer
concreteren Wirklichkeit, und dieſe Bewegung werden wir noch tiefer
dringen ſehen.


§. 538.

Dieſe Dreitheilung erweitert ſich, ohne darum ihre grundgeſetzliche Geltung
zu verlieren, zu einer Fünftheilung durch die reichgegliederte Organiſation der
bildenden Phantaſie, deren Unterſchiede (§. 404) durch die im Weſen der
objectiven Kunſtform gegründete Nothwendigkeit, in verſchiedenem Materiale
darzuſtellen, in drei ſelbſtſtändigen Künſten ſich niederlegen: der Kunſt des meſ-
ſenden Sehens oder der Baukunſt, der Kunſt des taſtenden Sehens oder der
Bildnerkunſt, der Kunſt des eigentlichen Sehens oder der Malerei; das
Grundgeſetz wiederholt ſich in dieſer Theilung ſo, daß die ſubjectiv-objective
Form in die Mitte, die objective jenſeits, die ſubjective dieſſeits fällt. Die
Dichtkunſt aber wird als die abſolut ſubjectiv-objective Kunſt auch die Totalität
der Kunſt ſein, alſo das Syſtem der Künſte in ſich wiederholen, aber die drei
Formen, welche aus dieſer Theilung entſtehen, können ſich im Gebiete der ideal-
geſetzten Sinnlichkeit nicht zu ſelbſtändigen Künſten verdichten, ſondern erſchei-
nen nur als Zweige.


Vor der weiteren Ausführung, welche der Kunſtlehre vorbehalten iſt,
kann vorläufig ſoviel ausgeſprochen werden: die Theilung der objectiven
Kunſtform in drei ſelbſtändige Künſte iſt zunächſt darin begründet, daß
in dem Gebiete, wo der wirkliche Körper das Material abgibt, eine
[152] weſentlich andere Anſchauung auch ein weſentlich anderes Material fordert
und dadurch eine ſelbſtändig neue Kunſt bildet. So ſcheidet ſich zunächſt
die Malerei, da ſie nur den Schein der wirklichen Körperlichkeit auf
eine Fläche vermittelſt eines Materials legt, das nach ſeiner Körperlichkeit
eigentlich gar nicht in Betracht kommt, von der Baukunſt und Plaſtik
als eine ſelbſtändige Kunſt ab. Baukunſt und Plaſtik haben in gewiſſem
Sinn ihr Material gemein: den ſchweren, in ſeiner wirklichen Ausdehnung
geltenden Körper; die Baukunſt als Kunſt des meſſenden Sehens bildet
ihn abſtract geometriſch, die Plaſtik als Kunſt des taſtenden Sehens,
deſſen Gegenſtand die Welt der individuellen, organiſchen Oberflächen iſt,
ſchafft ihn zur ſchönen, leiblich gediegenen Erſcheinung der Seele um;
jenes iſt ſtrenge, dieſes ſubjectiv beſeelte Objectivität; die Malerei aber,
eben weil ſie einen bloßen Schein von Ausdehnung auf die Fläche wirft,
liegt der reinen Subjectivität der Muſik näher und bezeichnet den Ueber-
gang der bildenden Kunſt in dieſe Form. Hier ſtellt alſo die Plaſtik
offenbar die Mitte dar, während im ganzen Syſtem der Künſte das Sub-
jectiv-Objective den Schlußpunct bildet; der Grund davon liegt in der
eben genannten Bedeutung der Muſik ausgeſprochen: es iſt die Stellung
der bildenden Kunſt auf der erſten Stufe des Syſtems, ihr Hinausweiſen,
Hinaufdringen zur ſubjectiven Kunſtform, was hier die ſtreng objective
Kunſt voran, die ſubjectiv-objective in die Mitte, die ſubjective (innerhalb
des objectiven Gebiets) an die Grenze ſtellt. Warum die Muſik in ſo be-
deutende Unterſchiede nicht auseinanderfällt, läßt ſich aus ihrer ſubjectiven
Natur bereits erratben. Die Poeſie wiederholt als die Kunſt der ganzen
ſich in ſich ſelbſt bewegenden Phantaſie in Epos, Lyrik, Drama die ganze
Stufenfolge der Künſte in ſich, ebenhiemit aber das ganze Syſtem der
Aeſthetik, denn das Epos iſt objectiv und entſpricht der bildenden Kunſt
und im Syſteme dem Naturſchönen, die lyriſche Dichtung ſubjectiv und
entſpricht der Muſik und im Syſteme der Phantaſie, das Drama ſubjectiv-
objectiv und entſpricht der Poeſie ſelbſt und im Syſteme der Kunſt.
Hiemit beſtätigt ſich die Schlußbemerkung zu §. 537, daß die Bewegung
der Rückkehr des Syſtems in ſich noch tiefer dringen werde. Aber in
dem geiſtig flüſſigen Elemente dieſer höchſten Kunſtform, die kein Material
im gewöhnlichen Sinne mehr hat, werden dieſe Arten nicht zu ſelbſtän-
digen Kunſtformen; wenn wir ſie bloße Zweige nennen, ſo iſt damit der
Uebergang zu der folgenden Untereintheilung der Künſte mit dem Vorbehalte
gegeben, daß keine Kunſt einen ſo bedeutenden Formen-Unterſchied entwickeln
werde, wie dieſe, daß alſo die Zweige der andern Künſte nicht die bedeu-
tende Stellung einnehmen, wodurch ſie dem entſprächen, was in anderem
Gebiete in der Form von ſelbſtändigen Künſten auftritt, wie dieß bei
den Arten der Poeſie der Fall iſt. Es zeigt ſich hier eine intereſſante
[153] Verſchiebung der gemeinen Logik, ein Schwanken gewöhnlicher Eintheilung;
denn entſprechend den Arten der Poeſie wäre die Theilung der bildenden
Kunſt in Baukunſt, Plaſtik, Malerei eine Theilung in bloße Zweige, in
Betracht der ſpezifiſchen Schärfe ihres Unterſchieds aber iſt ſie eine Thei-
lung in ſelbſtändige Künſte, und umgekehrt verhält es ſich mit den Arten
der Poeſie: dieſe treten in ſolcher Beſtimmtheit auf, daß ſie wie ſelbſtſtändige
Künſte analog jenen Arten der bildenden Kunſt erſcheinen, als verſchiedene
Formen einer ſo geiſtig durchſichtigen Kunſt aber, wie die Poeſie iſt, erſcheinen
ſie eben als bloße Zweige.


β.
Die Unter-Eintheilung.

§. 539.

Das Hervortreten von drei Künſten in der bildenden Kunſt und die
klare Scheidung der Dichtkunſt in drei Hauptzweige iſt im tiefſten Grunde
durch jenes allgemeine Geſetz (§. 537) bedingt; wie aber dieſes überhaupt durch
Vermittlung der individuellen Organiſation der Phantaſie (§. 535) in Wir-
kung tritt, ſo iſt auch jene Theilung der bildenden Kunſt und Poeſie
vermittelt durch ein Ineinanderwirken der einen und der andern Art dieſer
Organiſation (§. 404). Ebendieſer gegenſeitige Uebertritt der Arten, im tieferen
Sinne immer durch jenes das ganze Syſtem beherrſchende Geſetz bedingt, iſt
aber auch der erſte Grund der Entſtehung untergeordneter Zweige in
allen Künſten.


Schon der Schlußſatz des §. 404 hat von der Verbindung der dort
aufgeführten Arten, zunächſt unter ſich, geſprochen und die Anmerkung hat
hiezu einzelne Andeutungen gegeben. Es hätte nun ſchon unter α. gezeigt
werden können, wie die Künſte, die in der bildenden Kunſtform eine Gruppe
bilden, und die großen Zweige der Dichtkunſt ebenſo ſichtbar aus ſolchen
Verbindungen hervorgehen, als ſie tiefer im Geſetze des Fortgangs vom
Objectiven zum Subjectiven und Subjectiv-Objectiven begründet ſind.
Dieß geſchieht aber erſt hier, weil in ununterbrochener Reihe derſelbe
Grund auch als eines der Motive der Entſtehung der untergeordneten
Zweige auftritt; wie wir denn zum vorh. §. gezeigt haben, daß die Künſte
in der bildenden Kunſt-Form und die Hauptformen der Poeſie eben-
ſowohl als Gattungen wie als Arten (Zweige) gefaßt werden können.
So erſcheint nun zunächſt jedenfalls die Malerei als ein gewiſſer Ueber-
tritt der empfindenden und dichtenden Phantaſie in die bildende, von der
[154] Plaſtik kann man in eingeſchränkterem Sinn und, mit der gehörigen Be-
hutſamkeit nur die Vergleichung mit der Baukunſt einhaltend, ſagen, ſie
ſei ein erſtes Auftauchen der maleriſchen Phantaſie innerhalb der bildenden;
im ſtrengſten Sinne gehört die Architektur der bildenden Kunſt an. Die
Muſik iſt hier noch nicht zu erwähnen, weil ſie ſo ſcharfe und ſelbſtändige
Unterſchiede nicht treiben kann; von der Poeſie aber iſt zu §. 538 ſchon
bemerkt, daß das Epos eine Uebertragung der bildenden, die Lyrik der
empfindenden Phantaſie in die dichtende darſtellt. Dieß ſind aber, wie
ebenfalls ſchon gezeigt iſt, zugleich ſpeziellere Modificationen des durch-
herrſchenden Gegenſatzes des Objectiven und Subjectiven. Allein eben-
dieſes Uebertreten der Arten ineinander in erweiterter Linie, alſo in letzter
Beziehung zugleich ebenfalls ein verſchiedenes Verbindungs-Verhältniß des
Objectiven und Subjectiven, wirkt nun als Theilungs-Grund der Künſte
in untergeordnete Zweige, nicht als der einzige (vergl. §. 533 Anm. 1),
aber als der erſte. Man denke z. B. in der Poeſie an die verſchiedenen
lyriſchen Formen: das eigentliche Lied iſt reiner Ausdruck einer Wieder-
holung der empfindenden Phantaſie innerhalb der dichtenden, alſo zugleich
des Moments der Subjectivität; die Romanze und Ballade aber iſt mehr
epiſch oder dramatiſch: ein Uebertritt der bildenden (denn auf ſolchem
beruht ja alles Epiſche) oder der im engſten Sinne dichtenden Phantaſie
in die empfindende Art der dichtenden, alſo zugleich Wiederholung des
Objectiven und Subjectiv-Objectiven in einem Zweige der ſubjectiv-objectiven
Kunſtform. Die Liedermelodie in der Muſik, welche Kunſt mit ihren
Zweigen nun allerdings in Betracht kommt, iſt reiner Ausdruck der empfin-
denden und ſubjectiven Art der Phantaſie, worauf dieſe ganze Kunſt ruht,
die Oper aber iſt Uebertritt der dichtenden und zwar der dramatiſch dichtenden,
alſo der ſubjectiv-objectiven, das Oratorium der epiſchen und dramatiſchen,
alſo der objectiv und der ſubjectiv-objectiv beſtimmten Phantaſie in die
empfindende, ſubjective. In der Malerei iſt die Landſchaft vorherrſchend
ein Ausdruck der empfindenden, ſubjectiven Phantaſie innerhalb der bilden-
den, objectiven, das bewegte hiſtoriſche Gemälde der dramatiſch dichtenden,
ſubjectiv-objectiven. Wir verfolgen die Sache nicht weiter, um nicht zu
ſehr vorzugreifen.


§. 540.

1

Dieſe weitere Theilung iſt aber ebenſo weſentlich in der Verbindung der
Arten der Phantaſie, worauf die Künſte beruhen, mit den in §. 403 und 402
aufgeführten Arten begründet, und damit vereinigen ſich zwei neue Theilungs-
gründe: der Moment und der Grad des Umfangs, in welchem ein Stoff von
einer Kunſt ergriffen wird, und das verſchiedene Material in den einzelnen
[155] Künſten nebſt dem darin begründeten Unterſchiede der Technik. Alle daraus ent-
2
ſtehenden Theilungsreihen der Kunſt-Zweige verbinden ſich nun ſo, daß, in
gewiſſen Grenzen, jede die einzelnen Glieder ihrer eigenen Reihe miſchen, jede
mit den andern verſchiedene Miſchungsverhältniſſe eingehen kann, was ſich nur
in der ſpeziellen Kunſtlehre verfolgen läßt.


1. Wir gehen rückwärts die Eintheilungs-Reihen der Phantaſie durch
und faſſen ſo zunächſt die in §. 403 auf den naturſchönen Stoff begrün-
dete wieder auf: landſchaftliche, thieriſche, menſchliche und zwar
entweder rein menſchliche oder geſchichtliche Phantaſie. Es iſt klar, wie
durch dieſe Arten, indem ſie in die bildende Phantaſie eintreten, eine Linie
von Zweigen der Plaſtik und Malerei entſteht; es würde noch mehr einleuchten,
wenn nicht die zweite Stoffwelt, von der allgemeinen Phantaſie eingeführt
(§. 417), alterirend auf dieſe Theilungs-Linie wirken würde. Daß und
warum ſie nicht in allen Künſten gleich ſtark auftritt, wird ſich in der
ſpeziellen Kunſtlehre zeigen. Ein weiteres Theilungsprinzip liegt in
den auf verſchiedene Grundſtimmung begründeten Arten der Phantaſie,
der einfach ſchönen, erhabenen, komiſchen (§. 402), wie ſie nun
auf dem Boden einer der Haupt-Arten (Künſte) ſich geltend macht. Ganz
unzweifelhaft Zweigbegründend wirkt dieſer Theilungsgrund allerdings nur
in der dramatiſchen Poeſie: Trauerſpiel, Luſtſpiel. Die Künſte verhalten
ſich ſehr verſchieden zu ihm: die Architektur iſt des einfach Schönen und
Erhabenen fähig, des Komiſchen gar nicht u. ſ. w. Wir greifen auch hier
nicht weiter vor. Nun treten zwei neue Eintheilungsgründe auf. Was
den erſten betrifft, Moment und Grad des Umfangs, in welchem
ein Stoff aufgenommen wird, ſo iſt hier von der tiefern Quelle dieſes
Unterſchieds im Geiſte des Künſtlers zu abſtrahiren und nur die Thatſache,
daß er beſteht, aufzufaſſen; ſo können z. B. bedeutende geſchichtliche
Charaktere in ruhiger Situation oder in figurenreicherer, bewegter Handlung
zuſammengeſtellt werden und ſo entſteht die Eintheilung des hiſtoriſchen
Bilds in ein Situationsbild und in ein Handlungsbild. Endlich das
Material, die Möglichkeit der Wahl zwiſchen verſchiedenen in einer und
derſelben Kunſt und die dadurch bedingte verſchiedene Technik: Holzbau,
Steinbau, Backſteinbau, Stein oder Erz in der Plaſtik, Fresko oder
Oelfarbe in der Malerei, die verſchiedenen Inſtrumente der Muſik und
alle im Gegenſatz gegen die menſchliche Stimme (Inſtrumentalmuſik, Ge-
ſang); in der Poeſie mag der Unterſchied der rhythmiſchen Maaße als
dem analog betrachtet werden. Dieſe Unterſchiede begründen Zweigthei-
lungen, die nach ihnen benannt werden, obwohl jedesmal auch der Geiſt
der Behandlung ein anderer iſt.


2. Es iſt noch ein vorläufiger Blick in die möglichen Verbindungen
[156] zu werfen, wobei auch auf die Anmerkungen zu §. 402 ff. zurückverwieſen
werden kann. Die erſte beſteht darin, daß die einzelne Theilungsreihe
ihre Glieder miſcht. Sie iſt nur in beſchränktem Umfange möglich, ſofern
nämlich daraus nicht nur unbeſtimmt ein Unterſchied der äſthetiſchen Wir-
kung, ſondern eine Eintheilung von Zweigen entſtehen ſoll; ſo gibt es
z. B. ein geſchichtliches Genrebild: da verbindet ſich die rein menſchliche
mit der geſchichtlichen Phantaſie. Iſt die Hauptperſon darin eine heroiſche,
hier aber in gemüthlicher, einfach gefühlvoller Situation vorgeſtellt, ſo
liegt zugleich eine Verbindung des einfach Schönen mit dem Erhabenen vor.
Am ſtärkſten miſchen ſich die Glieder dieſer letztern Theilungsreihe (§. 402)
im Drama, doch nicht ſo, daß Zweige entſtehen, ſondern dieſe Miſchungen
ſind mehr allgemein durch die Geſchichte der Style bedingt; dennoch läßt
ſich ein Drama mit humoriſtiſchen Beſtandtheilen von einem rein ernſten
und ein rein komiſches Luſtſpiel von einem zugleich ernſt rührenden bleibend
unterſcheiden. Dagegen können ſich die Verſchiedenheiten der dritten unter
den hier aufgeführten Reihen (Auffaſſung des Moments und Grad des
Stoffumfangs) wohl miſchen, aber nicht ſo, daß dadurch an ſich ſchon
ſelbſtändige Zweige entſtänden, z. B. einfache Compoſition in bewegter
Handlung, umfangreiche in ruhigem Momente, und die der vierten Reihe
(Material und Technik) nur theilweiſe, z. B. in der Verbindung von
Vocal- und Inſtrumentalmuſik, von gebundener und ungebundener Sprache,
von verſchiedenen Versmaaßen in der Poeſie. Nun iſt aber die weit-
ſchichtige Möglichkeit von Verbindungen aller dieſer Reihen untereinander
und zugleich mit der erſten (bildende Phantaſie u. ſ. w.) noch ins
Auge zu faſſen, nicht um ſie hier zu erſchöpfen, ſondern mehr nur, um
die Schranken dieſes in abſtracto nicht zu überſehenden Gebiets zu erkennen.
Dieſe Schranken legen ſich weſentlich in den zwei Sätzen nieder: erſtens,
nicht jedes einzelne Glied einer Reihe kann ſich mit jedem einzelnen Gliede
der andern Reihen verbinden, z. B. das Komiſche nicht mit der Landſchaft,
Erz ſehr ſchwer mit der epiſch bildenden, rein menſchlichen oder geſchicht-
lichen, einfach ſchönen oder erhabenen, figurenreichen Stoff umfaſſenden
Phantaſie in der Compoſition des Relief; zweitens, nicht jede Verbindung
(wie ſchon angedeutet) gibt einen ſelbſtändigen Zweig, z. B. Landſchaft
al fresco iſt als ſolche ein Zweig der Malerei in der doppelten Unter-
ſcheidung gegenüber den andern durch den Stoff bedingten Zweigen (Hiſtorie,
Genre, Porträt) und gegenüber einem andern Material (Oel), aber ob
der Stoff heiter oder ernſt erhaben (Gewitter, Sturm u. ſ. w.) aufgefaßt
iſt, dieſer Unterſchied begründet keinen beſonders benannten Zweig; übrigens
liegt hier vor eine Verbindung der bildenden, empfindenden, landſchaftlichen,
einfach ſchönen oder erhabenen Phantaſie mit einem Gliede der Theilungs-
reihe nach dem Material. Statt weiteren Eingehens wollen wir die
[157] Verbindung von Gliedern aus allen Eintheilungsreihen nur an Einem
Beiſpiele aufzeigen: dem großen Fresco-Bilde der Schlacht des Conſtantin
nach Raphaels Compoſition ausgeführt von G. Romano im Vatican.
Hier iſt vereinigt: aus der erſten Reihe mit der bildenden, näher
der maleriſch ſehenden Phantaſie der Geiſt der dramatiſchdichtenden (großer
Entſcheidungsmoment), aus der zweiten Reihe die geſchichtliche Phan-
taſie mit Anklängen der rein menſchlichen (Gruppe von Vater und Sohn),
aus der dritten die erhabene Phantaſie mit Anklängen der einfach ſchönen
(der Jüngling in ebendieſer Gruppe), aus der vierten die Wahl des ent-
ſcheidenden Moments mit der Umfaſſung breiten, maſſenhaften Stoffes;
aus der fünften kann keine Miſchung ihrer Arten hinzutreten, ſondern nur
die Technik des Fresko; alle dieſe Glieder aus verſchiedenen Eintheilungs-
reihen, und zwar die aus den vier erſten ſelbſt ſchon eine Verbindung
von je zwei Arten Einer enthaltend, verbinden ſich nun unter ſich zu einem
großen hiſtoriſchen Fresko-Schlachtgemälde.


§. 541.

Die Kunſt durchwandert die Geſchichte des Ideals und die hiedurch be-
dingten Veränderungen erſcheinen ebenfalls in erſter Linie als theils berechtigte,
theils unberechtigte Uebertragungen der in §. 404 aufgeſtellten Arten der Phantaſie
aufeinander, ſodann als verſchiedene Verhältniſſe der Durchdringung derſelben
mit den in §. 403 und 402 aufgeſtellten Arten. Dieſe geſchichtliche Entwich-
lung fordert in der Behandlung jeder Kunſt einen beſondern Abſchnitt, allein
ſie wirkt weſentlich beſtimmend auf die Ausbildung der Zweige ein, und dazu
kommt noch als ein die Eintheilung derſelben erweiterndes und erſchwerendes Mo-
ment das Eindringen der zweiten Stoffwelt (§. 417. 418), ſo daß die logiſche
Eintheilung von der geſchichtlichen durchkreuzt wird.


Das geſchichtliche Leben der Kunſt iſt eine neue Quelle von Ueber-
tragungen der verſchiedenen Arten der Phantaſie auf einander, wie dieß
ſchon in der Darſtellung der hiſtoriſchen Ideale §. 425 ff. vielfach nach-
gewieſen iſt. Der Unterſchied dieſer Ideale hat ſeinen innerſten Grund
in der ganzen Weltanſchauung der Völker und Zeiten, aber indem er ſich
Form gibt, erſcheint er weſentlich in dieſen Uebertritten, gemäß welchen
z. B. die Plaſtik von den Aegyptiern architektoniſch, im Mittelalter maleriſch
behandelt wird, das ernſte Drama im claſſiſchen Ideal das Komiſche aus-
ſchließt, im modernen zuläßt, die landſchaftliche Phantaſie erſt in dem
letzteren ſich mit der bildenden verbindet in der Malerei, und die Behandlung
der Perſönlichkeit in allen Idealen das Individuelle (§. 331 ff.) in ver-
ſchiedenen Graden ausbildet. Der §. ſagt, dieſe Verbindungen ſeien
[158] „ebenfalls“ theils berechtigt, theils unberechtigt; dieß bezieht ſich auf §. 532,
wo von Verbindungen der Styl-Arten die Rede iſt, wie ſie abgeſehen von
den hiſtoriſchen Bedingungen jederzeit durch einzelne Individuen vollzogen
werden können. Offenbar unberechtigte Verbindungen ſind z. B. die der
vollen Farbe mit der plaſtiſchen Geſtalt, der maleriſchen Compoſition mit
dem Relief; doch auch ſolche erhalten in dieſem Zuſammenhang ihre
hiſtoriſche Bedeutung. Es handelt ſich aber nicht blos von einer Verän-
derung der Künſte, ſondern es iſt klar, daß ganze Künſte und Gruppen
von Künſten einem Ideale vorzüglich entſprechen und in ihm ſeine Aus-
bildung finden. Auch dieß iſt in §. 425 ff. im ſubjectiven Sinne (von
Seiten des innern Grundes der Künſte in gewiſſen Arten der Phantaſie)
ſchon aufgezeigt, wird aber nun erſt in ſeiner Stärke hervortreten, da z. B.
die Plaſtik ſich beinahe gar nicht allgemein wiſſenſchaftlich behandeln läßt,
ſondern vermöge des ſtreng claſſiſchen und namentlich die Mythologie
faſt unabweislich fordernden Geiſtes dieſer Kunſt die hiſtoriſche Behandlung
ſich auf allen Puncten in die logiſche eindrängt. Darin hat nun
Hegel einen Beweggrund gefunden, das geſchichtliche Moment ſogar
zum Eintheilungsgrunde der Künſte überhaupt zu erheben (Aeſthet. Th. I
S. 106—116 Th. II S. 252—261): die Architektur tritt als die ſym-
boliſche, die Plaſtik als die claſſiſche, die Gruppe der Malerei, der Muſik
und Poeſie als die romantiſche Kunſt auf. Die Plaſtik iſt die Mitte des
ganzen Syſtems: die reine Gegenwart des Abſoluten in der individuellen,
ungetheilt ſinnlichen und geiſtigen Geſtalt der Gottheit; die Architektur,
einen innern Sinn nur andeutend, tritt auf das eine Extrem, indem ſie
dem Gott ſeine räumliche Umgebung ſchafft, auf das andere treten die
romantiſchen Künſte, in denen der Gott übergeht in das ſubjective Leben
der Gemeinde, und die Malerei, Muſik, Poeſie ſtellt eine Steigerung
dieſes Prozeſſes der Vergeiſtigung dar. Doch ſchwankt Hegel in der
Anwendung dieſes Eintheilungsprinzips, er ſtellt das aus dem Unterſchiede
des Materials abgeleitete mit dem hiſtoriſchen durch ein „auf der andern
Seite“ (Th. I S. 107) zuſammen und in den Ueberſchriften erſcheint die
hiſtoriſche Bezeichnung nur bei den „romantiſchen Künſten.“ In der That
muß im Syſtem der Künſte das außer- oder vielmehr übergeſchichtliche
rein logiſche Prinzip herrſchen; hier iſt die Thatſache, daß jede kunſtübende
Nation und Zeit mehr als Eine Kunſt angebaut hat und die Poeſie
namentlich ihrer Natur nach die ſchlechthin allgemeine Kunſt iſt, das Be-
ſtimmende und die andere, daß die Ideale ſich in einer oder einigen
Künſten reiner und völliger offenbaren, als in den andern, muß dagegen
zurücktreten, ſo daß ſelbſt die oben hervorgehobene Schwierigkeit in der
Darſtellung der Plaſtik nicht ſo ſtark erſcheinen darf, um nicht den Geſichts-
punct, daß doch der Orient, das Mittelalter, die neue Zeit auch ihre
[159] Plaſtik hatten und haben, zum beſtimmenden zu erheben, d. h. die hiſtoriſche
Behandlung von der logiſchen zu trennen. Die Losreißung der Malerei
von der Architektur und Plaſtik, mit denen ſie doch ſchlechthin als bildende
Kunſt zuſammengehört, iſt Beweis, wie die Bevorzugung des hiſtoriſchen
Standpuncts hier die Verletzung der Logik zur Folge haben muß. Will
man aber einmal hiſtoriſch eintheilen, ſo wäre die Poeſie als die im
ſtrengſten Sinn moderne Kunſt aufzuſtellen, was freilich mit dem bei
Hegel zu ſehr herrſchenden religionsphiloſophiſchen Standpuncte ſo wenig
vereinbar iſt, als überhaupt die Aufſtellung eines modernen Ideals,
denn dieſes ruht auf keiner beſondern Religionsform. Es muß alſo
jede Kunſt zuerſt allgemein behandelt, d. h. in ihrem Weſen dargeſtellt,
dann in ihre Zweige auseinandergelegt werden und als weitere Unter-
eintheilung muß die Geſchichte derſelben, wie ſie ſich gemäß der Geſchichte
des Ideals geſtaltet hat, alſo mit der Eintheilung in claſſiſch, romantiſch,
modern in ihren Grundzügen nachfolgen. Dabei iſt nun freilich unver-
meidlich, daß die logiſche Reihe in der nachfolgenden hiſtoriſchen Behandlung
vielfach alterirt wird; ſo muß z. B. in der Malerei die Landſchaft dort
als integrirender Zweig auftreten, während ſie als ſolcher in der ganzen
älteren Kunſtgeſchichte noch gar nicht exiſtirte. Dieß iſt jedoch die gerin-
gere Schwierigkeit, denn die logiſche Theilung legt ihrem Schema mit
Fug eine überſchauende Vergleichung und Verbindung des in der Geſchichte
ungleich Fortſchreitenden zu Grunde. Ungleich ſchwieriger wird die Durch-
kreuzung des Logiſchen mit dem Hiſtoriſchen durch den Zutritt der zweiten
Stoffwelt, wie er durch das geſchichtliche Verhältniß der beſondern zur
allgemeinen Phantaſie gegeben iſt: die Künſte treiben Zweige, in welchen
derſelbe Stoff, der in der Kunſt der Aufklärung einfach wunderlos in ge-
wiſſen Zweigen niedergelegt wird, eine mythiſche Darſtellung findet.
Dadurch entſteht dieſelbe logiſche Verwirrung wie in der Staatslehre durch
die Exiſtenz mythiſcher Stände (des Adels und Clerus) neben den rationell
auf den Unterſchied der Thätigkeit begründeten, eine Verwirrung, die
freilich in beiden Gebieten auch ſehr zur praktiſchen geworden iſt. Es
zeigen ſich nun die Folgen des in §. 418 aufgezeigten Widerſpruchs in
dem Gebiete der verwirklichten Phantaſie, der Kunſt. Theilweiſe
nämlich wird durch den mythiſchen Zweig der entſprechende wunderlos
natürliche verdrängt: ſo gibt es keine eigentlich hiſtoriſche Malerei, ſo lang
aller Geſchichtsgehalt in der heiligen Sage zuſammengezogen angeſchaut
wird: nachdem aber jene ſich gebildet, ſollte es conſequent keine Mythen-
malerei mehr geben, allein dieſe überlebt ihren Tod, dauert neben der
rein hiſtoriſchen Malerei fort, durch die ſie eigentlich aufgehoben iſt, und
daraus entſteht eine unvermeidliche Confuſion: das unkritiſche Bewußt-
ſein wirft beide Formen getroſt in der Kategorie Hiſtorienmalerei zu-
[160] ſammen; wer aber ein Bewußtſein davon hat, wie ſie einander eigentlich
ausſchließen, unterſcheidet ſie zwar, muß ſie aber doch in der Aufführung
der Zweige nebeneinanderſtellen. So ſchließen in der Poeſie Epos und
Roman einander aus, denn jenes ruht auf der mythiſchen, dieſes auf der
aufgeklärten Weltanſchauung, und doch müſſen beide nebeneinander als
Zweige der epiſchen Form in der allgemeinen, logiſchen Darſtellung hin-
geſtellt werden. Man kann ſich nicht damit helfen, daß man die mythiſchen
Zweige aus dieſer wegläßt und der hiſtoriſchen Darſtellung vorbehält,
weil weſentliche Kunſtbegriffe, die ſich einmal am Mythiſchen entwickelt haben,
aber den Charakter einer Kunſt an ſich ausdrücken, ſonſt ausfallen würden.
Wer wollte, um auf die Bemerkung über die Plaſtik zurückzukommen, das all-
gemeine Weſen dieſer Kunſt darſtellen ohne Berückſichtigung des hohen, ruhig
thronenden Götterbilds! Wie aber das Mythiſche ſeinen Tod überlebt, ſo
haben Zweige, welche durch das mythiſche Ideal eigentlich ausgeſchloſſen ſind,
ſchon zur Zeit der Blüthe deſſelben in voller Kraft beſtanden, ſo der ganze
Kreis rein menſchlicher Darſtellungen neben dem Götter-Ideale der Plaſtik,
ein Widerſpruch, der nicht geläugnet werden kann, wenn man z. B. bedenkt,
daß ſtreng genommen die Liebe im Eros vollſtändig dargeſtellt und daher die
Darſtellung derſelben in ihrer rein menſchlichen Erſcheinung eigentlich eine
Tautologie iſt; ja man kann vom griechiſchen Drama ſagen, es ſei ein kühner
und herrlicher Widerſpruch mit der ſtreng mythiſchen Anſchauung, wie ſie
Grundlage des Epos iſt. Freilich iſt jenes viel jünger, als dieſes, aber
beide gehören doch Einem Ideale an. Ebendieſe hiſtoriſche Erſcheinung
aber beruhigt über den unvermeidlichen Widerſpruch in der wiſſenſchaftlichen
Darſtellung; ſtellt die Geſchichte zuſammen, was ſtreng genommen einan-
der aufhebt, ſo trifft die Wiſſenſchaft keine logiſche Schuld, wenn ſie
daſſelbe thut; nur muß ſie ein Bewußtſein davon haben und dieſes hat
ſich einfach dadurch auszuſprechen, daß die hiſtoriſche Darſtellung die wahren
und nothwendig ſucceſſiven Verhältniſſe deſſen auseinanderſetzt, was die
logiſche Aufreihung nebeneinanderſtellt, als wäre es oder könnte ſein ein
Gleichzeitiges.


b.
Die Einheit in der Theilung.

§. 542.

Schon die Entſtehung der einzelnen Künſte in der Gruppe der bildenden
Kunſt und der Hauptgattungen der Dichtkunſt, ferner der ſpezielleren Kunſt-
Zweige aus Miſchungen der verſchiedenen Arten der Phantaſie (§. 539.), ebenſo
die hiſtoriſchen Uebertragungen des Geiſtes einer Kunſt auf die andere (§. 541)
[161] ſind eine Beſtätigung der einfachen Wahrheit, daß die Künſte und ihre Zweige
nur die Wirklichkeit der Einen Kunſt, der Kunſt an ſich ſind. Dieſelbe gibt
ſich aber auch der unmittelbaren Erfahrung in der Erſcheinung kund, daß in
der Wirkung jeder einzelnen Kunſt etwas von der Wirkung der andern iſt,
wobei gewiſſe beſondere Wahlverwandtſchaften zwiſchen einzelnen Künſten zum
Vorſchein kommen, welche verſchiedene abweichende Eintheilungen des Syſtems
der Künſte zu rechtfertigen ſcheinen.


Es handelt ſich nicht um einen Beweis für den Satz, daß die Künſte
die Strahlen einer Sonne, die Aeſte Eines Baumes ſind, denn wir kom-
men ja von dieſer Einen Kunſt, der Kunſt an ſich her und haben in der
Einheit die Vielheit werden ſehen, ſondern nur von Erſcheinungen, die
ihn erproben. In unſerem Gang vermittelt ſich das beſondere Hervorheben
dieſes Satzes zunächſt wiſſenſchaftlich durch das, worauf der §. zurückweist;
ſchon davon fällt aber das zweite Moment, nämlich die hiſtoriſche Ueber-
tragung des Geiſtes einer Kunſt auf die andere (z. B. maleriſche Be-
handlung der Plaſtik im Mittelalter) auch unmittelbar in die Augen. Die
eigentliche Probe für jene Wahrheit aber iſt die Wirkung der Künſte in
der Empfindung: ſie zeigen ſich verwandt, wie die Ergänzungsfarben,
wie Töne mit Figuren und Farben, ja das Letztere iſt ſchon nicht mehr
bloßes Beiſpiel. Jeder Kunſt fehlt etwas, weil ſie nur ein Theil des
Ganzen iſt; wie daher das Auge zum Grünen das fehlende Roth ſelbſt
erzeugt, ſo klingt im Eindrucke des der einzelnen Kunſt angehörigen Werks
die Wirkung der andern mit an. Dieß zunächſt namentlich in dem Sinne,
daß gerade die vollen Gegenſätze einander wechſelſeitig hervorrufen. Die
Werke der bildenden Kunſt, denen die wirkliche Bewegung fehlt, ſcheinen
zu tönen, es iſt eine fühlbare Muſik in ihnen, dagegen begleitet die
Phantaſie die Töne der Muſik mit innerlich aufſteigenden ſchwebenden
Geſtalten. Hier liegt ein tiefes Geheimniß: der Ton erſcheint nicht bloß
als die punctuelle Reduction, nicht mehr als Verklingen der Geſtalt, ſon-
dern als die Geſtaltenerzeugende Kraft ſelbſt, als der implicirte Keim der
Geſtalt (vergl. Deutinger Kunſtlehre S. 174). In der Poeſie dagegen
iſt der Gegenſatz der objectiven und ſubjectiven Kunſt an ſich ſchon ver-
einigt, ſie bringt Muſik und Geſtalt mit eigener Hand ausgebildet der
Phantaſie, die aber im inneren Weben das empfangene Bild ſchwebend
und tragend fortſetzt, entgegen. Dieſe Wirkungen hebt auch Schiller
hervor (Ueber d. äſth. Erz. d. Menſchen. Br. 22). Dagegen treten ja
alle übrigen Künſte auch der Poeſie als der abſoluten Kunſt gegenüber
(§. 534) und nun klingt mit ihnen allen die Poeſie an, ſo daß man das
Schöpferiſche in ihnen nicht ſchlechthin ſchön, ſondern unwillkührlich über-
tragend poetiſch nennt. Aus dieſem Wechſelverhältniß im Großen, dieſem

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 11
[162]allgemeinen magnetiſchen Rapport treten aber wieder einzelne Künſte in
das Verhältniß beſonderer Wahlverwandtſchaft heraus: am beſtimmteſten
die Baukunſt und die Muſik. Ihre innige Verwandtſchaft iſt in der
ſpeziellen Kunſtlehre darzuſtellen. Dieſe in vollem Gegenſatze ſo geheim-
nißvoll wahlverwandten Künſte nun ſind es, deren Terminologie nicht
zufällig und willkührlich, ſondern mit innerer Nothwendigkeit durchaus in
allen andern Künſten angewandt wird, um die inneren Compoſitionsver-
hältniße eines Kunſtwerks zu bezeichnen: Bau, Structur, Rhythmus,
Harmonie u. ſ. w.; dagegen die Terminologie der Plaſtik und Malerei
leiht allen Künſten die Bezeichnungen für den vollen Körper des Kunſt-
werks (plaſtiſche Gediegenheit, organiſche Gliederung, maleriſch, bunt, grell,
Farbe, Colorit, Tinte, Schattirung, Beleuchtung, u. ſ. w.). Es treten
aber auch andere ſchwächere Anziehungen auf: ſieht man in der Bau-
kunſt nicht auf die Verhältniſſe, ſondern auf die Schwere, und erwägt
man, wie die Plaſtik noch buchſtäblich und in ihrem Styl auf die Geſetze
derſelben gewieſen iſt, ſo treten dieſe beiden Künſte als ein Paar zuſam-
men; die Malerei aber, worin das Körperliche in den klangverwandten
Licht- und Farbenwirkungen verſchwebt, ſchließt ſich als Schweſter der
Muſik an. Statt unſerer Eintheilung hätten wir, wenn wir die Attraction
der Architektur und Muſik als conſtitutiv behandelten, die Eintheilung
Solgers, welcher der Plaſtik und Malerei jene beiden Künſte als Aus-
druck des allgemeinen, in den abgeſchloſſenen Künſten nicht erſchöpften
künſtleriſchen Bewußtſeins entgegenſtellt, das einerſeits im Körper ſchlecht-
hin, d. h. ohne individuelle Geſtaltung deſſelben, andererſeits in der bloßen
Zeitbewegung des Lautes ohne Stoff ſich Ausdruck gibt, woraus er dann
die Analogie gewinnt, daß die Baukunſt der Bildnerkunſt, die Tonkunſt der
Malerei entſpricht. (a. a. O. S. 262—263); wenn wir dagegen die zweite
Attraction zur beſtimmenden machten, ſo erhöbe ſich die Poeſie über den
Schweſterpaaren Architektur und Plaſtik, Malerei und Muſik. Man kann
aber auch auf das Schwere in der Baukunſt und ihre relative Armuth
im Ausdruck ſolches Gewicht legen, daß man ſie, getrennt von allen bil-
denden Künſten als vollen Gegenſatz der Poeſie gegenüberwirft und in
die Mitte die Gruppe: Plaſtik, Malerei, Muſik als die zur Poeſie füh-
rende Skala ſetzt, in welcher dann die Malerei die Mitte bildet, die Plaſtik
aber das zur Baukunſt, die Muſik das zur Dichtkunſt hinüberleitende
Glied iſt (ſ. Deutinger a. a. O. S. 176—178). Aber auch Hegels
Eintheilung will ihr Recht, die in der angegebenen Weiſe die Plaſtik in
die Mitte des ganzen Syſtems der Künſte nimmt; und endlich bietet ſich
die Möglichkeit dar, die Muſik an den Anfang zu ſetzen als die Kunſt
des noch geſtaltlos innerlich webenden Ideals, die bildenden Künſte als
objective Ausbreitung deſſelben in die Mitte zu nehmen und dieſen Ge-
[163] genſatz in der Poeſie als concreter Einheit aufgehoben darzuſtellen; dieß
iſt die Anordnung Weißes (Syſt. d. Aeſth. §. 42). Die Gründe für
alle dieſe Eintheilungen ſind nicht ſo ſtark, um die oben feſtgeſtellte um-
zuſtoßen, aber ſie ſind ſtark genug, um zu zeigen, welches intereſſante
wechſelſeitige Wandern und Stellenwechſeln, welche ſich kreuzende Polaritäten
unter den Künſten herrſchen: der lebendigſte Beweis ihrer innern Einheit.


§. 543.

Vermöge ihrer lebendigen Einheit treten die Künſte auch in das praktiſche
Wechſelverhältniß zu einander, daß (in gewiſſen Grenzen) die eine ihren Stoff
aus der andern abbildend oder umbildend entlehnen kann; ein Verhältniß, das
ſich innerhalb der Hauptzweige der Dichtkunſt wiederholt. Dadurch erweitert
ſich die Stoffwelt der Kunſt, denn das benützte Werk der einen Kunſt verhält
ſich zu der Formgebung durch die andere wie das Naturſchöne zur Phantaſie
und Kunſt überhaupt.


„In gewiſſen Grenzen“ und dieſe können ſo bezeichnet werden: die
Künſte, welche dem äußern oder nur dem innern Auge eine ſichtbare Ge-
ſtalt vorführen, können keinen Stoff entlehnen aus derjenigen, welche nur
die [Empfindung] ertönen läßt, alſo die bildenden und die Poeſie nichts
aus der Muſik; nur in ſehr eingeſchränktem Sinne vermag die Dichtkunſt ein
Ganzes von Tönen in vorgeſtellte Bilder und ausgeſprochene Gefühle
umzuſetzen. Umgekehrt kann die Muſik die objectiven Kunſtgeſtaltungen
nicht wohl in ihre Empfindungsſprache überſetzen, denn in ihnen iſt für
ſie zu wenig vorgefühlt; von Werken der bildenden Kunſt gilt dieß ohne
Einſchränkung, denn ein entferntes Entlehnen von Motiven iſt nicht genug;
ebenſo verhält ſie ſich zur epiſchen Dichtungsform als der vorzugsweiſe
objectiven. Aehnlich wie zur Muſik verhält ſich die bildende Kunſt zu
denjenigen Zweigen der Dichtkunſt, in welchen das Subjective herrſcht
oder gleich ſtark mit dem Objectiven wirkt: aus der lyriſchen Poeſie iſt
für ſie nicht viel zu holen, aus demſelben Grunde, warum ihr die Muſik
keine Quelle von Stoff ſein kann; in der Skizze geht es eher, aber das Aus-
ſpinnen eines lyriſchen Tons in der Breite der Ausführung wie in Leſſings
trauerndem Königspaar thut nicht gut; reichen Stoff ſcheint ihr das Drama
zu bieten, in der That aber iſt dieſe Form zu geiſtig reif und durchgearbei-
tet, geht zu ſehr auf eine beſtimmte ſtarke Wirkung, als daß die bildende
Kunſt, wenn ſie ihr nachbildet, nicht ihre objective Unſchuld verlieren und
einem theatraliſchen Ausdruck verfallen müßte. Innerhalb der Gruppe
der bildenden Künſte verhält es ſich mit der Architektur wie im ganzen
Syſteme mit der Muſik: die Plaſtik und die Malerei kann keinen Stoff

11*
[164]aus ihr ziehen (mit der Architekturmalerei hat es eine beſondere Bewandt-
niß, wovon nachher); aber auch die Malerei nichts aus der Plaſtik,
nämlich kein fertiges Bild, denn wenn ſie, von ihr angeregt, nur über-
haupt denſelben Stoff benützt, dieß iſt etwas Anderes und gehört nicht
hieber; der Grund dieſer letztern Grenzſperre iſt der tiefe Gegenſatz im
Geiſte beider Künſte bei Einheit der ganzen Kunſtſphäre. Aber auch die
Plaſtik kann nicht wohl Gemaltes in ihrem Sinne verarbeiten, und zwar
aus demſelben Grunde, warum die bildende Kunſt überhaupt nicht gut
thut, ein dramatiſches Werk auszubeuten. Innerhalb der Poeſie kehrt
dieſe Einſchränkung wieder im Verhältniß der epiſchen zur dramatiſchen
Form: ein Drama in Erzählung umſetzen heißt das Reifere in das Un-
reifere decomponiren. Es bleiben aber viele Möglichkeiten fruchtbarer
gegenſeitiger Benützung übrig. Ueberſehen wir die Reihe noch einmal,
ſo bietet die eriſche Poeſie der bildenden Kunſt eine reiche, ſchon in
Griechenland (Zeus des Phidias) vielbenützte Fundgrube und keines-
wegs nur ſo, daß der Bildhauer und Maler vom Dichter angeregt würde,
denſelben Stoff zu bearbeiten, alſo namentlich aus derſelben Sage zu
ſchöpfen, ſondern fertige Bilder, ganze Scenen und Scenenreihen nimmt
er aus dieſem, freilich nur, um ſie im Geiſte ſeiner Kunſt umzubilden;
aber auch die dramatiſche Poeſie hat epiſche Theile und dieſe natürlich
kann die bildende Kunſt trefflich verwenden (Mord der Söhne Eduards
in Richard III). Die Muſik hat an der lyriſchen und dramatiſchen Poeſie
eine Welt von Stoff. Die Poeſie kann aus Werken der bildenden Kunſt
in beſtimmterem Sinn, als die Muſik, Motive entnehmen, ähnlich wie der
Mythus aus einzelnen Erſcheinungen (vergl. Thl. II S. 342 die Anekdote
von la cruche cassée; ſo hat man das Genrebild einer Brautwerbung
auf Helgoland zu einem Luſtſpiel umgearbeitet). Innerhalb der Gruppe
der bildenden Künſte ſtellt ſich eine Erſcheinung dar, auf welche allein
das Wort des §. „abbildend“ paßt: das Werk der Baukunſt nämlich, an
ſich ſchon am meiſten natur-artig unter allen Werken der Kunſt, nimmt
mit der Zeit noch mehr einen Naturton an und wird ſo Gegenſtand
der Malerei wie ein Bau der Natur, Berg, Baum u. ſ. w. Kein Werk
einer Kunſt kann in dieſem Sinne, nämlich im Sinne der künſtleriſchen
Abbildung eines fertigen Stoffs, Gegenſtand für eine andere Kunſt wer-
den, wie ein Bauwerk in der Architekturmalerei; die epiſche Dichtkunſt
kann Paläſte, Statuen, Gemälde ſchildern, aber ſie iſt darin viel ſchwächer,
als in den frei von ihr ſelbſt erzeugten Geſtalten, weil das Abbilden eines
feſt Gegebenen mit ihrem bewegten Charakter im Widerſpruch ſteht. In-
nerhalb der großen Zweige der Poeſie iſt die reichſte Stoffquelle eröffnet
in der epiſchen für die dramatiſche Gattung: der epiſche Stoff hat auf
höherer Stufe genau noch das Unreife, von geiſtigen Willensbeſtimmungen
[165] Undurchdrungene, maſſenhaft Ausgebreitete, Sachliche für den dramatiſchen
Dichter, was der Naturſtoff für die Phantaſie überhaupt hat; ſchon das
griechiſche Drama ruht auf dem griechiſchen Epos, Shakespeares Quellen
ſind Erzählungen (ſagenhafte Chroniken, Novellen). — Somit ſehen wir
überhaupt das Verhältniß zwiſchen dem Naturſchönen und der Phantaſie
wiederkehren: die Stoffwelt iſt erweitert durch ein künſtleriſch Geſchaffenes,
das noch einmal zum bloßen Stoff herabgeſetzt wird, wie ſie ſchon durch
Mythus und Sage erweitert iſt (§. 417. 418. 427. 428.); aber der
Unterſchied iſt, daß nun das eigentlich Naturſchöne ſammt Mythus und
Sage, durch neue Erfindungen bereichert und umgebildet von einer Kunſt,
Stoff einer andern wird. Die Kunſt, die ſich in dieß Verhältniß zu einer
andern ſtellt, hat jedoch an dem Stoffe, der ſchon Form geworden, eben-
ſoviel Selbſtthätigkeit, vielleicht mehr zu entwickeln, um ihn noch einmal
zum bloßen Stoff herabzuſetzen, als an dem reinen Stoffe.


§. 544.

Dieſe innere Einheit und Wechſelbeziehung hebt die ſpezifiſche Selb-1
ſtändigkeit der Künſte nicht auf. Es kann nur Eine rein äſthetiſche Verbindung
von zwei Künſten geben, nämlich die von Poeſie und Muſik; alle andern Ver-
bindungen ſind entweder berechtigt, aber durch Beiziehung lebendigen Stoffes
(vergl. §. 490) nicht rein äſthetiſch, oder ſie ſind Fehler. Dagegen ſuchen die
2
Künſte ſich äußerlich aneinander anzulehnen und ſo die große Wirkung ihrer ver-
einten Kräfte hervorzubringen. Dieß iſt ſo weſentlich, daß alle Künſte nur in
dieſer Verbindung wahrhaft leben; die Compoſition (§. 494—501) und der
Umfang des Stoffs (§. 540, 1.) wird dadurch weſentlich beſtimmt, rykliſche
Entfaltungen hervorzurufen. Durch die Vermittlung einer nicht ſtreng äſthetiſchen
3
Kunſtform entſteht eine höchſte Vereinigung aller Künſte, worin die Poeſie den
Mittelpunct bildet.


1. Unter Verbindung zweiter Künſte iſt nicht bloß eine Uebertragung
des Styls (vergl. §. 532), ſondern eine Vereinigung der vollen Wirkung
derſelben mit ihrem ganzen Material verſtanden, welche ſchlechthin den
Eindruck Eines Kunſtwerks machen will, wie die ſchon im hiſtoriſchen Zu-
ſammenhang (zu §. 541) angeführte eines Werks der Plaſtik mit allen
Mitteln der Farbe (nicht bloßer Farben-Andeutung). Man hat die Ma-
lerei mit der Wirkung der Poeſie in Verbindung zu ſetzen geſucht, indem
man einen Schein wirklicher Bewegung in die Bilder brachte, ja die Muſik
noch dazu gezogen, indem man z. B. zur Aufführung von Haydns
Schöpfung Sonne und Mond aufſteigen ließ, bewegtes Meer darſtellte
u. ſ. f. Dieß iſt lauter Unnatur, denn die Künſte ſind ſpezifiſche Orga-
[166] nismen, deren Gliederbau im Verſuche der Vereinigung nur eine Mißge-
burt darſtellen kann. Nur die zwei Künſte, die im Elemente der Zeit
leben, können ſich zu einem Ganzen gemeinſchaftlicher Bewegung vereinigen,
doch iſt auch in der Verbindung von Poeſie und Muſik weſentlich die
letztere herrſchend, der Text darf nicht an ſich bedeutend ſein. Andere
Verbindungen ſind nur dann keine Verletzungen der Aeſthetik, wenn ſie
auf den reinen Schein verzichten; dieß geſchieht durch die Darſtellung in
empiriſch lebendigem Stoff und es iſt klar, daß damit die Orcheſtik und
die Mimik gemeint iſt: in der erſtern vereinigt ſich die bildende Kunſt mit
der Muſik, indem lebendige Menſchenkörper nach gemeſſenen Tönen ſchöne
Bewegungen darſtellen, in der anderen mit der Dichtkunſt, indem der empiriſche
Menſch ein Werk der Poeſie an ſeiner perſönlichen Erſcheinung zum Aus-
druck bringt. Daß die Schauſpielkunſt durch dieſe Verweiſung jenſeits
der Linie des ſtreng rein Aeſthetiſchen nicht verkannt werden ſoll, muß
ſich zeigen, und zwar theilweiſe ſchon in dem, was hier über die An-
lehnungen der Künſte zu ſagen iſt.


2. Der Hauptvereinigungspunct für dieſe Anlehnung iſt die Bau-
kunſt: die Plaſtik ſchließt ſich ihr naturgemäß an, die Malerei ſchmückt,
die Muſik durchſtrömt ihre Räume. Wie ſehr die Künſte in dieſer Ver-
bindung erſt organiſch leben, wird ihre ſpezielle Darſtellung beweiſen,
wo denn auch das wichtige Moment, das dieſe Anlehnung für die Com-
poſition namentlich in der Plaſtik und Malerei hat, die Entſtehung
cykliſch umfaſſender, durch einen großen Gedanken beherrſchter Entwürfe,
alſo der Einfluß auf den Theilungsgrund, der in §. 540, 1. vom Umfange
des Stoffs genommen iſt, ja eine dadurch motivirte neue Zweig-Bildung
(Relief) näher zur Sprache kommen muß.


3. Die Poeſie ſcheint in dieſen Anlehnungen zunächſt keine Stelle
zu finden, denn Vortrag eines Gedichts in feſtlichem Raume kann man
nicht eine Anlehnung an die Architektur nennen; dennoch wird nicht nur
eine ſolche, ſondern eine Verbindung mit allen Künſten für ſie vermittelt
durch den Zutritt der Schauſpielkunſt; nun wird ſie die beſtimmende Seele
eines Ganzen, worin Architektur, Malerei, Muſik mit ihr und dieſer
ihrer nächſten Schweſter, die unter allen nicht ganz rein äſthetiſchen
Künſten am höchſten ſteht, zur mächtigſten Geſammtwirkung vereinigter
Künſte ſich die Hand reichen.


[167]
c.
Die anhängenden Künſte.

§. 545.

Die Kunſt als die Wirklichkeit des Schönen hat keinen Zweck außer-
halb ihrer ſelbſt (vergl. §. 23. 56—69. 76—78.). Mitten im Leben wirkend
tritt ſie jedoch mit dieſem in reichverſchlungene Wechſelbeziehung, worin ſie
ihre abſolute Stellung freiwillig verläßt, außer-äſthetiſchen Thätigkeiten ihre
Formgebung leiht und ſo erſt ihre ganze Fülle und Bildungskraft entwickelt.
Dadurch entſteht eine Reihe bloß anhängender Kunſtformen.


Genauer ausgedrückt hieße die Aufſchrift: die Neben-Eintheilung
oder u. ſ. w. Es liegt hier nicht eine Theilungsreihe vor, welche die
Fortſetzung der Unter-Eintheilung a,β. darſtellte, denn es iſt der Zutritt
eines neuen, außeräſthetiſchen Moments, was die nun auftretenden For-
men begründet, ſie fordern daher eine eigene Stelle im Ganzen, ſie
bilden nur einen Seitenzweig der Kunſtlehre. Nachdem man aufgehört
hat, dieſes gemiſchte Gebiet, worin die ſchöne Form blos Mittel, Vehikel
iſt, namentlich die didaktiſche Poeſie, als integrirendes Glied in die Kunſt-
lehre aufzunehmen und dadurch die Eintheilung zu verwirren, iſt man
übrigens gegen daſſelbe vielfach auch ungerecht geworden. Das Ein-
dringen in’s Leben, wodurch eine ganze Welt ſolcher halb-äſthetiſcher
Formen entſteht, iſt nothwendige Wirkung einer blühenden Kunſt, alſo
auch Erkennungszeichen einer ſolchen, freilich unter der Vorausſetzung,
daß in dieſen Formen Styl herrſche, denn es gibt auch eine Vielgeſchäf-
tigkeit in Hervorbringung ſolcher anſchmiegender Mittel-Formen, von
welcher man nicht weiß, ob ſie die Auflöſung eines Kunſtlebens oder den
Drang zu einem neuen offenbart; da ſind aber dieſe Formen auch ſtyllos.
Lebendige Entwicklung in dieſem Gebiet iſt allerdings ebenſoſehr auch
eine Vorausſetzung, iſt der Anfang der Kunſt; wir erinnern an das in
§. 514 ausgeſprochene Doppelverhältniß; daſſelbe ſtellt ſich jetzt im
Syſteme der Kunſtlehre dar, denn dort giengen wir vom Handwerk und
Spiel aus und jetzt hängen wir dieſes Gebiet, als ein von der entwickel-
ten Kunſt veredeltes, dieſer nachfolgend an. Auch ſonſt iſt der Werth
ſolcher Halbformen, wie der tendenziöſen Kunſt, vergl. zu §. 76 Th. I
S. 197, bereits anerkannt. Das ganze Leben wäre barbariſch ohne dieſes
vermittelnde Band zwiſchen ihm und der Kunſt.


[168]
§. 546.

Zwei Arten dieſer anhängenden Formen gründen ſich auf die Extreme
der Kunſt. Sie hat auf der einen Seite ihre Wurzel im Handwerk und in
der Reihe der Künſte iſt dieſer Zuſammenhang durch die Baukunſt bezeichnet.
Nach dieſer Seite verſchönern (vergl. §. 515. 2.) nun mit dieſer die andern
bildenden Künſte das der äußern Zweckmäßigkeit dienende Erzeugniß des
Handwerks und bilden in dieſer Richtung eine Reihe feinerer, kunſtſinniger
Gewerke aus.


Wenn geſagt iſt, daß die Baukunſt es ſei, die dieſes Band mit dem
Reiche der äußern Zweckmäßigkeit (nach dieſer Seite kommt von den §§.
des erſten Theils, auf die hier wieder verwieſen werden mußte, zuerſt
§. 23 in Betracht) im Syſteme der Künſte darſtelle, ſo iſt damit natürlich
nicht gemeint, daß nur ſie jene verſchönernde Thätigkeit entwickle; die
Reihe von feineren Gewerken (vergl. §. 516 Anm.), die dieſem Ver-
ſchönerungszwecke, deſſen Bedeutung ſchon §. 515, 2. dargeſtellt iſt, in
der vielfachſten Weiſe dient, ſteht in dem Verhältniſſe von Trabanten zu
allen bildenden Künſten. Dieſe natürlich ſind es, die hier die entſprechen-
den Seitenzweige treiben, die Muſik werden wir im Verhältniſſe zu
andern anhängenden Künſten treffen; wenn die Poeſie z. B. ein Gebäude
durch Inſchrift ſchmückt, ſo gehört dieß nicht hieher; die Künſte der Zeit
können ſich mit dem Bewegungsloſen im Raume, wozu ja alles Product
des Handwerks gehört, in dem Sinne nicht verbinden, daß eine anhän-
gende Kunſtform entſtehen würde. Wer die reiche Formenwelt des
Orients, des claſſiſchen Alterthums, des Mittelalters in allen Geräthen,
Kleidern, Waffen, Schmuck der räumlichen Umgebungen kennt und damit
die Kahlheit unſerer Welt vergleicht, der weiß, warum wir dieſem Gebiete
ſo große Bedeutung zuerkennen.


§. 547.

Auf dem andern, im Syſteme der Künſte durch die Poeſie bezeichneten
Extreme mündet die Kunſt in das Wahre und, da dieſes ſich wieder in das Gute
umſetzt, in das ſittlich politiſche Leben. Dieſem geiſtigen Zwecke können alle
Künſte dienen, aber nur die Malerei und die Dichtkunſt treiben eigene Neben-
zweige in dieſer Richtung, welche entweder dem Leben poſitiv die wahre Idee
entgegenhalten oder dieſelbe negativ ſeiner unwahren Geſtalt als Folie im Sinne
der Komik unterlegen. Jenes Verfahren iſt bei direct und ſyſtematiſch ausge-
ſprochener Abſicht das didaktiſche, bei blos zu Grunde liegender Abſichtlich-
keit der ganzen Haltung das tendenziöſe (vergl. §. 484), dieſes iſt ſatyriſch
(vergl. §. 195), ſteht höher und kann ſich bis zum Humor erheben.


[169]

Daß die hier aufgeführten Nebenzweige nicht rein äſthetiſch ſind,
bedarf nach den Auseinanderſetzungen des erſten Theils keines Wortes
mehr. Die Haupt-Stellen ſind zu §. 545 ſchon angegeben; es kommt
hier das Verhältniß zum Guten, zur Religion und zum Wahren §. 65—69.
76—78 in Betracht. Das Gute iſt dort als ein dem Schönen Voraus-
geſetztes früher aufgeſtellt, das Wahre folgt als höhere Sphäre über dem-
ſelben. Die Religion kann hier mit dem Guten zuſammengefaßt werden,
denn wenn die Kunſt ihr dient, ſo thut ſie es nur, um ſie als Hebel des
Sittlichen zu verſtärken. Ebendieſe Bedeutung hat nun aber das dienende
Verhältniß der Kunſt zum Wahren, denn im unendlichen Wechſel-Ueber-
gang aller Kräfte des Lebens ſetzt ſich der reine Auszug einer
Geſammtſumme von Thaten und Zuſtänden, die Idee, wieder in Wille
und Thun um und nur auf den ſo gewendeten Gedanken bezieht ſich die
Kunſt, ſofern ſie einmal aus dem Gebiete des abſoluten Geiſtes herab-
ſteigt, ihre Elemente auflöst und die getrennte Form dem Wahren als
Mittel leiht; es gibt keine rein didaktiſche Kunſt, ſelbſt die Gedichte über
die Urſache des Uebels und die beſte Welt wollen nicht blos belehren,
ſondern beſſern. Wenn aber die Kunſt auch wirklich die Abſicht, rein zu
belehren, nicht unwillkürlich in die feurigere, auf den Willen zu wirken,
verwandeln müßte, ſo würde ihr dennoch durch dieſe Richtung, obwohl
die rein gedachte Wahrheit höher iſt, als die Kunſt, keine höhere Würde
zuwachſen, ſondern es bliebe dabei, daß ſie durch dieſe Miſchung nur
eine anhängende Form hervorbringt, wie §. 78, 2. bewieſen iſt, und
dazu kommt noch, daß die belehrende Kunſt nicht das reine und ganze
Wiſſen, das über den Gegenſätzen ſteht, ſondern nur ein Bruchſtück des
Wiſſens vortragen kann, das, der Wirklichkeit als einer nicht entſprechen-
den gegenübergeſtellt, blos relative Wahrheit iſt und ſo als Inhalt mit
dem Schönen äußerlich verbunden dieſes in ſeine Relativität mit hinein-
zieht. Es iſt übrigens nur die höchſte Gattung der bildenden Kunſt und die
Poeſie, welche in dieſer Richtung auf einen geiſtigen Zweck das Gebiet
des rein Schönen ſo beſtimmt überſchreiten, daß eigene Zwitterformen
entſtehen. Die Architektur und Muſik kann nicht dociren, dieß erhellt
aus dem individualitätsloſen Charaktere dieſer Künſte. Die Plaſtik thut
dieſen Schritt in den ſog. Chargen; dieſer Uebertritt iſt aber viel zu
unbeſtimmt, liegt viel zu weit über den Charakter einer ſo ſtreng gediegenen
Kunſt hinaus, als daß dabei irgend zu verweilen wäre. Daß übrigens
auch die Malerei ſich in dem Gebiete der Miſchung des Schönen mit
dem Wahren und Guten weniger ausbreiten könne, als die Poeſie, geht
daraus von ſelbſt hervor, daß ſie eine ſtumme Kunſt iſt. Nur mit Zwang
kann ſie didaktiſch verfahren, tendenziös und ſatyriſch aber ſehr wohl.
Was nun die nähern Beſtimmungen des §. über dieſes Zwittergebiet

11**
[170]betrifft, ſo muß ſich die Auseinanderſetzung derſelben mit der Darſtellung der
wirklichen Kunſtformen, die in ihnen befaßt ſind, ergeben. Nur was das
Satyriſche anbelangt, ſo mag hier noch auf §. 195 zurückgewieſen werden,
wo der ſchweifende und der ſtoffartige Witz unterſchieden ſind; der letztere
liegt der Satyre zu Grunde; wie ſie ſich aber zum Humor erhebt, das
zeigt ſchon eine vorläufige Hinweiſung auf die Komödie des Ariſtophanes:
dieſelbe hat eigentlich das ſatyriſche Porträt, die Carricatur zu ihrer
Grundlage, an dieſe iſt ſichtbar die Dichtung der Fabel angeſchoſſen,
hat ihn in Fluß gebracht und in dieſer Bewegung hat der freie, im rein
äſthetiſchen Element ſchwebende Humor ſich entzündet.


§. 548.

Zwiſchen dieſen Extremen bildet ſich ein drittes Gebiet bloß anhängender
Kunſt durch die Neigung zum Spiel mit lebendigem Naturſtoff. Die
Kunſt ergreift gewiſſe Formen dieſes Spiels an der tieferen Bedeutung,
die an ſich ſchon in ihnen liegt, erhebt ſie zur ſchönen Darſtellung und zieht eine
derſelben als Mittel der ſinnlichen Ausführung ihres höchſten Zweigs an
ſich (vergl. §. 544, 3.).


Von den in §. 515 aufgeführten Arten des Spieltriebs iſt im
vorliegenden Zuſammenhang der verſchönernde und ſchmückende zu dem
höhern Handwerke (§. 546) gefallen; der zuletzt aufgeführte objectiv
bildende iſt in der ächt äſthetiſchen bildenden Kunſt verſchwunden, nur
Eine Form bleibt noch von ihm übrig, nämlich der Verſuch, mit wirk-
licher, empiriſch lebendiger Natur zu malen (ſchöne Garten-Kunſt). Da-
gegen bleibt als Grundlage eines bedeutenden Gebiets unſelbſtändiger
Künſte der Nachahmungstrieb übrig, der als Material der Darſtellung die
eigene Perſon verwendet und, künſtleriſch gebildet, als Orcheſtik und
Mimik auftreten wird. Dazu kommt die Gymnaſtik, die auf einer Verbindung
des Spieltriebs und des ernſten Zwecks der Durchbildung des Leibs zum
adäquaten Organe des Geiſtes in ſeinem perſönlichen und nationalpoliti-
ſchen Berufe, insbeſondere dem des Krieges, beruht. Hier miſchen ſich alſo
verſchiedenartige Motive, allein die Gymnaſtik hat ihr rein darſtellendes,
zweckloſes Gebiet, indem ſie die erworbene Fertigkeit feſtlich aufzeigt;
in dieſer Bedeutung iſt ſie reines, von der Kunſt veredeltes Spiel und
gehört in die Aeſthetik. Der Ausdruck des §. „tiefere Bedeutung“ iſt
oberflächlich, allein es konnte anders der verſchiedene Gehalt dieſer Spiel-
formen, wie ihn die Kunſt zum höheren äſthetiſchen Schein entwickelt,
nicht zuſammengefaßt werden. Es handelt ſich um ein mittleres Gebiet
zwiſchen den ſtrengen Zwecken des Wahren und Guten auf der einen
[171] und dem Dienſte der äußern Zweckmäßigkeit auf der andern Seite: das
Gebiet der ſpielenden Veredlung der Perſönlichkeit durch Genuß der
freien Natur, rhythmiſche Bewegung u. ſ. w. Näher ſollen die verſchie-
denen mittelbar ethiſchen Grundlagen dieſer Spielformen auch jetzt noch
nicht auseinandergeſetzt, ſondern nur ausgeſprochen werden, wie die Kunſt
die Zwecke der Erholung, Entfeſſlung vom Drange der Arbeit und von
der Laſt des Lebens, Unterhaltung, des ſpielenden Umgangs der Ge-
ſchlechter, Durchbildung der körperlichen Erſcheinung, Ausbildung zum
Krieger u. ſ. w. zu aufgehobenen Momenten herabſetzt, indem ſie das
Darſtellende an dieſen Thätigkeiten rein als Solches ergreift, ihre reine
Formthätigkeit, ihren leitenden und ordnenden Rhythmus, ihre dichtende
Erfindung hineinwirft und ſo ein Kunſtgebiet herſtellt, das rein äſthetiſch
wäre, wenn es nicht gegen die Grundregel §. 490 lebendigen Stoffes ſich
als ſeines Materials bediente. Dieſe Beiziehung eines nicht rein äſthe-
tiſchen Mediums mußte als Mittelglied, wodurch allein gewiſſe Verbin-
dungen von Künſten möglich werden, ſchon §. 544, 1. erwähnt werden.
Das Spiel wird nun durch kunſtmäßige Behandlung zwar äſthetiſch im
Sinne der zweckloſen Darſtellung, aber nicht im Sinne der völligen Til-
gung der Mängel des Naturſchönen, was eben zu §. 490 auseinander-
geſetzt iſt. Die Orcheſtik und Mimik führt Schleiermacher unter dem
Namen „begleitende Künſte“ auf; das werden ſie eben dadurch, daß die
Kunſt ſie an ſich nimmt, ihnen zur leitenden, beſtimmenden Seele wird;
zugleich erhält dadurch umgekehrt die Muſik und die Poeſie einen Leib,
ſie verkörpert ſich in lebendiger Plaſtik und Malerei. Daß man ſie aber
darum nicht als höhere Einheit faſſen darf, dieß erhellt nun eben daraus,
daß ſie empiriſch lebendigen Materials ſich bedienen. Krug (Aeſt. §. 68)
hat dieß dennoch gethan, indem er die mimiſchen, in Raum und Zeit
zugleich darſtellenden Künſte als Zuſammenfaſſung der toniſchen und
plaſtiſchen, als drittes Glied in derſelben Reihe aufführt, Aſt iſt zu
§. 535 in dieſer Beziehung ſchon angeführt. Der Mimik im engeren
Sinne, der Schauſpielkunſt, iſt aber durch den Schlußſatz des §. nun
ausdrücklich der höchſte Platz unter allen blos anhängenden Künſten zum
Voraus gerettet.


§. 549.

Endlich zieht ſich neben der Kunſt eine Linie von Thätigkeiten hin,
welche, nur nachbildend und vervielfältigend, in bloßen Mechanismus
auslaufen, in ihren höheren Formen aber künſtleriſches Talent fordern und
ſelbſt von Meiſtern der ſelbſtändigen Kunſt neben dieſer geübt werden.


[172]

Dieſe vierte Art anhängender Kunſtformen darf nicht überſehen
werden; Kupferſtich, Holzſchnitt, Lithographie, Anmalen, u. ſ. w. ſind
wichtige Kanäle, die Kunſt mit dem Leben zu vermitteln. Von talent-
vollen Händen ergriffen knüpfen ſie ſich namentlich als Illuſtration an
die Literatur und geben zum Worte die Anſchauung. Zum blos Mecha-
niſchen gehört das Daguerrotyp, deſſen über den wahren Sinn der Natur-
nachahmung negativ höchſt belehrende Bedeutung ſeines Orts zu erör-
tern iſt.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bq9k.0