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Aus meinem Bühnenleben.
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[]
Aus meinem Bühnenleben.

Erinnerungen

Mit dem Bildniß der Verfaſſerin in Photographie.

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Berlin,: 1871.
Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei
(R. v. Decker).
[][[—I—]]

Inhalts-Verzeichniß.


  • Seite.
  • Karoline Bauer?III
  • I. Die erſte Gage1
  • II.Das erſte Engagement16
  • III.Eröffnung des Königſtädter Theaters33
  • IV. Heiße Bretter57
  • V. Eine heitere Kunſtpauſe75
  • VI. Wieder in Reih und Glied106
  • VII. Eine aufrichtige Gegnerin159
  • VIII. Drei Jahre in Petersburg175
  • IX. »Es giebt nur a Kaiſerſtadt«252
  • X. Vier Tage in Dresden332
  • XI. Beim alten Dramaturgen382
  • XII. Das letzte Engagement432
[[—II—]][[—III—]]

Karoline Bauer?

Es war im Spätherbſt 1868. Ich ſaß am Re¬
dactionstiſche von »Ueber Land und Meer« und las
einen Brief und dann ein beiliegendes Manuſcript:
Bühnenerinnerungen, von Karoline Bauer. . . .


Karoline Bauer? Ich muß ehrlich bekennen,
der Name war mir völlig fremd. Die alte
tapfere Theater-Garde aus den zwanziger und dreißi¬
ger Jahren, die ſo fröhlich lebte und ſchwärmte
und kunſtenthuſiaſtiſch glühte und ſich ſo gern und
ſo ſtolz — ergab, möge dem Nachgeborenen ver¬
zeihen.


In dem Briefe ſtand: . . . »Ich war nicht
die bedeutendſte und berühmteſte Künſtlerin meiner
Zeit, aber ich hatte das Glück, in der Blütezeit
dramatiſcher Kunſt mit den größten Mimen unſeres
Jahrhunderts zuſammenwirken zu dürfen. Von die¬
**[—IV—] ſen edlen Künſtlern und von dem ganzen vergange¬
nen Künſtlerleben zu erzählen, treibt mich mein
Herz, das einſt ſo heiß für die Kunſt glühte und
ſich noch immer ſo gern an dem Blütenduft der
Erinnerung aus jenen unvergeßlichen Frühlingstagen
erquickt. Ich habe treu und ehrlich und ſchmucklos
nach dem Leben gezeichnet — auch nach dem mei¬
nigen. Ich habe mich bemüht, wahr über mich
und gerecht gegen Andere zu ſein. Vielleicht gehen
dieſe Spiegelbilder aus alten Tagen auch nicht ganz
nutzlos an den Augen und Herzen meiner jungen
Leſer vorüber. . . .«


Dann las ich das Manuſcript — und bald
hatte ſich mein ganzes Herz liebevoll verſenkt in
dieſe Blätter, in jene verſchollenen großen Künſtler¬
tage und vor Allem in das liebenswürdig feſſelnde,
anmuthig erheiternde und belehrende . . . und dann
wieder ſo wunderbar tief rührende »Bühnenleben«
der Schreiberin. — Das war keine gewöhnliche
Waare auf meinem ſo viel belagerten und gemi߬
brauchten Redactionstiſche.


»Haben Sie Karoline Bauer ſpielen ſehn?«
fragte ich einen alten Tapferen jener ausſterbenden
Berliner Theater-Garde. . . . Wie ſeine Augen da
[—V—] leuchteten, ſo ſtolz und dann ſo wehmüthig feucht!
Und ſein altes — unſterblich junges Herz lag
in den Worten: Karoline Bauer? — Cara me¬
moria! La bella Donna Diana
— das holdeſte
Käthchen von Heilbronn — die liebreizendſte Julia
— die edelſte Maria Stuart — die rührendſte
Gabriele — — und dann wieder das übermüthigſte
Suschen — der keckſte Page in den Pagenſtreichen
— der flotteſte Armand Richelieu . . . Karoline
Bauer war entzückend ſchön, aber doch noch ausge¬
zeichneter durch Grazie, Anmuth, Liebenswürdigkeit,
Wohllaut der Stimme und vor allen Dingen durch
edelſte Naturwahrheit in der Darſtellung. Sie
ſpielte ihre Rollen nicht, ſie lebte ſie. Darum
gelangen ihr auch am Beſten die liebenswürdigen
Partien, weil ſie in dieſen ſich ſelber gab. Sie
war vielſeitig, wie heute wenige Schauſpielerinnen.
Eine gediegene Geiſtes- und Herzensbildung unter¬
ſtützten ihr reiches Talent auf der Bühne, und
machten die bewunderte Künſtlerin faſt noch mehr
zum Liebling der Geſellſchaftskreiſe. Sie und ihre
ſchöne hochgebildete Mutter waren eben ſo ganz an¬
ders, als die meiſten Theaterdamen — wahrhaft
vornehm! — Im Uebrigen verweiſe ich Sie auf
[—VI—] das Theater-Lexikon von Robert Blum, Herloßſohn
und Marggraff und auf die »Portraits und Sil¬
houetten« von Guſtav Kühne. . . .«


Robert Blum, der damals als Theater-Secre¬
tair in Leipzig lebte und ſpäter durch ſeinen trau¬
rigen Tod ſo berühmt werden ſollte, ſchreibt nach
der kurzen Biographie, die der Leſer in dem »Bühnen¬
leben« ja ausführlicher wiederfindet, 1839: »Ka¬
roline Bauer iſt eine der lieblichſten und achtungs¬
wertheſten Schauſpielerinnen; im feineren Luſtſpiel,
im höheren Converſationsſtücke, in naiven, kecken,
koketten, pikanten und ſchalkhaften Charakteren iſt
ſie ausgezeichnet und dürfte nicht leicht eine würdige
Rivalin in dieſem Genre finden; in der Tragödie
hat ſie in der letzten Zeit außerordentliche Fort¬
ſchritte gemacht und ſich als eine treffliche Darſtel¬
lerin gezeigt, deren Mittel und Fähigkeiten das
Vollkommenſte erwarten laſſen. Ihre Leiſtungen
zeugen ebenſoſehr für ihr tiefes Gefühl und ihren
klaren Verſtand, als für ihr eminentes Darſtellungs-
Talent und ihre vollendete allſeitige Bildung; ſie
erhalten einen beſonderen Reiz durch den Umſtand,
daß ſie alle Effekthaſcherei verſchmäht und nur durch
die Totalität eines vollkommen gerundeten Bildes
[—VII—] zu wirken ſtrebt. Die reizendſte Perſönlichkeit
unterſtützt ihre lebensvollen Darſtellungen und ſie
weiß die ihr von Natur verliehenen ſchönen Mittel
auf's vortheilhafteſte zu benutzen, ohne dieſelben je¬
mals an unpaſſender Stelle geltend zu machen.
Ihrer liebenswürdigen Charaktereigenſchaften wegen
wird ſie ebenſo geliebt und geehrt, als wegen ihrer
künſtleriſchen Vortrefflichkeit geprieſen und bewundert!«


In Guſtav Kühne's »Portraits und Silhouet¬
ten« (Hannover 1843) heißt es über Karoline
Bauer aus dem Jahre 1836:


»Nach dreiwöchentlicher Landestrauer wurde
die Leipziger Bühne mit dem Gaſtſpiel von Fräu¬
lein Bauer wieder eröffnet. Ein Leipziger Cor¬
reſpondent in der Allgemeinen Zeitung nannte Fräu¬
lein Bauer eine — Repräſentantin echt klaſſiſcher
Schauſpielkunſt. Dieſer Ausdruck, falls er Sinn
haben ſoll, läßt bei dem geehrten Herrn auf die
entgegengeſetzte Annahme einer romantiſchen Schau¬
ſpielkunſt ſchließen.


Dieſe Unterſcheidungsweiſe mag etwas für ſich
haben. Eine Repräſentantin romantiſcher Schau¬
ſpielkunſt dürfte ſich in der Schröder-Devrient fin¬
den, und wem aus der Erinnerung Wolff's und
[—VIII—] Devrient's Geſtalten aufſteigen, der hätte recht eigent¬
lich Belege für dieſe zwiefache Richtung der Bühnen¬
kunſt. In Wolff war Claſſicität: ſein ganzes Spiel
ging lediglich aus dem Verſtändniß des Dichters
hervor; die Idee des Poeten zu erreichen, ſchien
ihm das Höchſte, ein anderes Ziel kannte er nicht.
Devrient's Spiel war nie das Ergebniß der Re¬
flexion, er hatte nie den Zweck, durch Studium den
Gedanken des Dichters zur Erſcheinung zu bringen.
Er hatte gleichſam ſeinen eigenen Gott für ſich, der
ihn ſo, und nicht anders ſeine Rolle auffaſſen
hieß, ihn nicht ſelten ganz irre führte, aber ihn,
wo er zutraf, der größten Effekte gewiß machte.
War ſeine Darſtellung einer Rolle mit der Inten¬
tion des Dichters identiſch, hatte ſein Genius rich¬
tig getappt, ſo ſah man wie durch wunderbares
Walten das Höchſte zur Erſcheinung kommen. In
Wolff feierte das Talent, in Devrient das Genie
ſeine Triumphe.


Bei dieſer Unterſcheidung aber ſtehen bleiben
und ſie auf eine einzelne Erſcheinung, die vielleicht
noch nicht das Höchſte, was ſie vermag, erreicht
hat, beziehen, hieße irre gehen. Hier wird weit
weniger von einem großen Styl, als von Manieren
[—IX—] in der Spielart die Rede ſein müſſen. Und in die¬
ſer Beziehung muß man an den Leiſtungen des
Fräulein Bauer rühmlichſt anerkennen, daß ſie in
einer Manier gehalten ſind, die gar keine Manier
iſt. Bei Mad. Crelinger, Mad. Haizinger, Fräu¬
lein von Hagn kann man in der That von Ma¬
nieren reden, von großen, intereſſanten und liebens¬
würdigen, womit ſie zu effektuiren im Stande ſind,
und mir fällt dabei das Wort der Catalani über
die Sontag ein, von der ſie ſagte: ſie ſei groß in
ihrer Manier, aber ihre Manier ſei nicht groß.
Fräulein Bauer hat in ihrem Spiel den eigenthüm¬
lichen Vorzug, keine effektuirenden Nebenrückſichten
zu kennen, ihr Spiel geht weſentlich aus dem Ver¬
ſtändniß des Dichters hervor, und tritt niemals
aus dem Rahmen heraus, der ein Kunſtwerk zu
einem Ganzen geſtaltet. Künſtleriſche Perſönlich¬
keiten dieſer Art erhalten ihre wahre Stellung recht
eigentlich nur in einem allſeitig durchbildeten En¬
ſemble, deſſen Zuſammenſpiel nur den Zweck hat,
ein echtes Kunſtwerk zur vollendeten Erſcheinung zu
bringen. Wolff mußte ſich immer erſt ſeine Mit¬
ſpieler erziehen, damit ſie ihm ſo, wie es zu einem
Totaleindruck nöthig war, in die Hand ſpielten.
[—X—] Devrient bedurfte kaum talentvoller und convenabler
Mitſpieler, er riß in ſeinen großen Momenten Alles
mit ſich fort, und zwang dann auch den Stümper,
wie ein willenloſes Werkzeug ihm zu folgen; in
Nebenzügen ließ er das Stück und die Mitſpieler
fallen.


Von effektuirenden Momenten iſt bei Fräulein
Bauer eigentlich keine Spur. Mag das Bedingung
ihres Naturells, oder Ergebniß ihres poetiſchen Ver¬
ſtändniſſes oder Beides ſein; ſo brillant ihre Er¬
ſcheinung auf der Bühne genannt werden kann, ſo
wenig beſteht ihr Spiel aus brillanten Einzelheiten.
Sie ſcheint ſelbſt auf Koſten der Wirkſamkeit nur
einen — Totaleindruck zu erzielen. Es liegt hierin
etwas ſehr Schönes und echt Künſtleriſches;
allein wie viel Rollen, ſelbſt gute Rollen giebt es
nicht, deren Werth nur in der Entwickelung dieſes
oder jenes Momentes beruht! Stände Fräulein
Bauer immer in einem kunſtfertigen, ausgebildeten
Enſemble, und brächten unſere Bühnen nur immer
Claſſiſches, ſo würde das Talent dieſer
Künſtlerin wohl
niemalsſeiner Wirkſam¬
keit entbehren
. Wie ſchön iſt in Dresden ihr
Zuſammenſpiel als Julia mit der humoriſtiſch-ſal¬
[—XI—] bungsvollen Werdy als Amme! — Auf unſerer
Bühne hatte ſie mit ihrer Amme förmlich zu käm¬
pfen, und der Zauber ihrer muſikaliſchen
Stimme
in den Balconſzenen zerbrach faſt an einem
wortkargen Romeo, dem der Souffleur mit ſeinem
Kaſten hätte nachlaufen müſſen in die grüne Schatten¬
laube. Durchaus glänzend — und von dem
Effekt, den die Dichtung bezweckt, war der große
Monolog, nach welchem Julia den Giftbecher leert.
In der Szene mit dem alten Capulet war ihr
Kampf zwiſchen Liebe, Schmerz, Verzweiflung und
kindlicher Ergebung meiſterhaft. Dagegen erſchien
ſie in der Todtengruft zu kühl. Wie ſehr ihr
Spiel jedoch, ſelbſt mit Aufopferung des Effekts,
dem poetiſchen Verſtändniß huldigt, beweiſt unter
anderem die Art und Weiſe, wie ſie in der Szene
auf dem Ball die Worte: »Ihr küßt recht nach der
Kunſt« — von jeder ſonſt üblichen Betonung ver¬
ſchieden, zu geben wußte. Dieſe Worte laſſen ſich
im Sinne der Julia kaum recht deuten; man weiß
nicht, wie Julia zu dieſer auffälligen Rede kommt.
In der Regel tappen die Darſtellerinnen über dieſe
Schwierigkeit ſehr oberflächlich hin, Fräulein Four¬
nier ſchlägt wie erröthend den Blick dabei zu Bo¬
[—XII—] den. Fräulein von Hagn ſieht dem Romeo dabei
liſtig in's Auge, ſowie denn dieſe Schauſpielerin
überhaupt dem Charakter einen Beigeſchmack von
moderner Schalkhaftigkeit giebt, von der das Shake¬
ſpeare'ſche Mädchen nichts weiß. Beide Darſtelle¬
rinnen effektuiren aber mit dieſer Auffaſſung der
Stelle. Fräulein Bauer ſpricht die Worte gewiſſer¬
maßen ganz harmlos in's Blaue, wie ein junges
Ding einmal Gehörtes gedankenlos nachplaudert.
Mich dünkt, Shakeſpeare habe ſo und nicht anders
ſeiner Julia dergleichen in den Mund gelegt.


An Fräulein Bauer als Donna Diana iſt
vielerlei als Mißgriff zu bezeichnen. Der ganze
Charakter war mädchenhaft, deutſch, nicht ſpaniſch,
nach ihrer Auffaſſung. In der Eiferſucht war ſie
mehr die empfindlich Gereizte, als die Leidenſchaft¬
liche, vor deren Liebesſchmerz die Säulen des Stol¬
zes zuſammenbrechen. Ihre Leidenſchaft drohte
nicht, ſie zu verzehren, ſie wurde nur gepeinigt von
dem Gefühl der erwachten Liebe. Der ganze Cha¬
rakter wird von der Darſtellerin durchaus deutſch
gefühlt und gegeben, mit allen Nüancen weiblicher
Empfindſamkeit, weiblicher Liſt und mädchenhafter
Luſt zu triumphiren.


[—XIII—]

In den erſten Akten mußte der Stolz pointir¬
ter, in der Gartenſzene die Coquetterie raffinirter
gehalten werden. In Beiden iſt die Crelinger be¬
deutſamer, während ſich in ihrem Spiel wieder das
verwiſcht, was Fräulein Bauer, die an der Natur¬
treue allgemein menſchlicher Auffaſſung feſthielt,
durch den Reiz elegiſcher Rührung hervorruft.
Meines Wiſſens war die zu früh für die Kunſt
geſtorbene Sophie Müller diejenige Diana, welche
den ſpaniſchen Typus mit dem allgemein poetiſchen
Grundelement am richtigſten vereinte. Die heißeren
Farben des Gemäldes waren in der Darſtellung
von Fräulein Bauer viel zu ſehr durch Lieblichkeit
und mädchenhafte Grazie vertuſcht.


Als Hedwig im Ball zu Ellerbrunn gab ſie
ein vortreffliches Bild der modernen Salondame.
Als Suſchen und Walpurgis entfaltete ſie die ganze
Spielerei einer erſten jungfräulichen Neigung in
allen ihren Stufengängen von der erwachenden Luſt
bis zur liſtigen Verſchlagenheit. Wie die unbe¬
fangene Seele ſich überraſchen läßt von ihrem eige¬
nen Gefühle, trat in dieſen Bildern idylliſcher Ge¬
müthswelt als ganz beſonders glücklicher Moment
hervor. Als Goldſchmidt's Tochter ließ ſie den
[—XIV—] Zug einer religiöſen Stimmung nicht außer Acht
und ſprach das Gebet vor Schlafengehen, das an¬
dere Darſtellerinnen in falſch verſtandener Auffaſſung
dieſes Charakters fortlaſſen, mit jener echten Natur¬
einfalt des Gemüths, die bei Rollen dieſer Art ſo
leicht in Coquetterie umzuſchlagen pflegt. So hob
ſie auch ihres Vaters Rang als Altbürger von Ulm
gegen den Ritter ganz beſonders hervor, und gab
der Walpurgis dadurch jene Beimiſchung von mittel¬
alterlich-bürgerlichem Stolz, der dieſe Figur von
aller modernen Naivetät abſcheidet.


Als Margarethe (in den Hageſtolzen) war ſie
eine Erſcheinung, wie ſie alte niederländiſche Maler
in ihren Bildern eines idylliſchen Friedens ſo gern
zeichneten.


Ihr Käthchen von Heilbronn war von ganz
beſonderem poetiſchen Verdienſt. Dieſen mittel¬
alterlichen Charakter ſieht man oft mit einer Sen¬
timentalität verſetzt, die ihn völlig vernichtet. Weil
das Mittelalter ſchwärmte, glaubt man, es ſei auch
ſentimental geweſen.


Heinrich von Kleiſt war ein zu tiefer Poet, um ſo
fehlzugreifen. In dem Unbewußten, in dem Räthſel¬
haften des innern Dranges liegt die Romantik des
[—XV—] Mittelalters, und dieſe dunkle Entzückung zeigt der Dich¬
ter in der ſpiegelreinen Mädchenſeele. Dies iſt die un¬
verwüſtliche Poeſie in dieſem Käthchen von Heilbronn.


Fräulein Bauer war in jeder Beziehung
das lebendige Bild dieſer Dichtung


So Guſtav Kühne. Mein Intereſſe an dem
»Bühnenleben« der mir unbekannten Künſtlerin, die
ſich in ſo beſcheidener Weiſe bei »Ueber Land und
Meer« einführte, wuchs natürlich nach dieſen glänzen¬
den Kränzen, welche die Mitwelt ihr geflochten und die
ſo freundlich bis in unſere Tage fortgrünen und duften.
Mit Liebe ging ich an die Redaction des Bühnenlebens
— eine fröhliche Oaſe in der ſonſt oft recht dürren
Redactionsthätigkeit. Und die Früchte blieben nicht
aus. Keine Artikel fanden während der 3 Jahre,
in denen die Bühnen-Erinnerungen von Karoline
Bauer in »Ueber Land und Meer« erſchienen, eine
ſolche Theilnahme bei den Leſern, wie dies »Bühnen¬
leben«. Dafür zeugten die vielen herzlichen Briefe
aus ganz Deutſchland, aus Rußland, ja aus Ame¬
rika, die bei der Redaction einliefen und von der
unvergeſſenen und unvergeßlichen Karoline Bauer
ſprachen und um Fortſetzungen und ſchließlich um
eine Buchherausgabe der Erinnerungen baten.


[—XVI—]

Dieſer Wunſch — auch mein wiederholter
dringender Wunſch — iſt mit dieſem Buche erfüllt.
Die Verfaſſerin hat mir eine Sammlung und Heraus¬
gabe ihrer Bühnenartikel geſtattet. Für dies Buch
übernehme ich als Herausgeber die volle Verant¬
wortlichkeit. Alſo, meine Herren Collegen mit den
flinken Recenſentenfedern, reſpectiren Sie die Ano¬
nymität der Verfaſſerin, die ſich ſeit 1844 in ein
hervorragendes glückliches Privatleben ſtill zurückge¬
zogen hat, — und halten Sie ſich freundlichſt bei
Ihren Beſprechungen an das »Bühnenleben« von
Karoline Bauer und — wenn's ſonſt noch Noth
thut — an den


verantwortlichen Herausgeber.


Wien, im Oktober 1871.

[[1]]

I.
Die erſte Gage.

Ich hatte das Glück, eine engelsmilde, vortreffliche
Mutter zu beſitzen. Sie liebte mich und meine drei Ge¬
ſchwiſter zärtlichſt und hätte ihr Leben freudig für uns
geopfert, — aber ſie konnte auch ſtreng und energiſch
verfahren.


Mit 23 Jahren Wittwe geworden — mein Vater
blieb in der Schlacht bei Aspern, als ich noch nicht zwei
Jahre zählte — ſchön, anmuthig, geiſtreich, wies ſie
jeden Heirathsantrag zurück, um ſich ganz ihren Kin¬
dern widmen zu können und das Andenken des Se¬
ligen treu zu bewahren. Es war keine leichte Aufgabe
für eine ſo junge Wittwe: ohne bedeutendes Vermögen
vier Kinder zu erziehen, fern vom heimatlichen freund¬
lichen Koburg und den Verwandten, — ohne jede an¬
dere Stütze, als die allgemeine Achtung der Menſchen
und ihr unerſchütterliches Vertrauen zu Gott! — So
ſteuerte ſie muthig vorwärts und überwand das Schwerſte.


Erinnerungen ꝛc. 1[2]

Meine ältere Schweſter war ein wunderbar begab¬
tes Weſen, hold und lieblich; ſie ſtarb am Nervenfieber,
erſt zwölf Jahre alt. Die Brüder waren gutmüthig,
geiſtig aufgeweckt, aber wild und unbändig, wie die
meiſten Knaben in unſerem Wohnorte Bruchſal im Gro߬
herzogthum Baden. Die faſt ununterbrochenen Truppen¬
durchmärſche 1813—1814, die Einquartierungen ſtörten
die Hausordnung der Familien und die gequälten
Eltern vermochten ihre Kinder nicht vom Umgang mit
den Soldaten zurückzuhalten. Da hatte auch unſere
Mutter ihre liebe Noth. Sie ſtrafte zwar ſehr ſtreng,
ſperrte nicht ſelten die Brüder bei ſchmaler Koſt ein,
— doch das half nur auf kurze Zeit.


Auch ich drohte zu verwildern, denn ich liebte die
Brüder über Alles und begleitete ſie nur zu gern, wenn
Koſaken oder Mameluken zu ſehen waren. Ich jauchzte
dann luſtig mit: Hurrah! oder: Vive l'Empereur!!


Bis zu meinem ſechsten Jahre kleidete die Mutter
mich als Knabe, weil ich zu unſchön als Mädchen aus¬
ſähe. Die ſtarken Züge, die große Naſe paßten eher
zum gelockten Tituskopf, und ein leichter Gang und Mo¬
bilität in allen Bewegungen ließen mich im Knaben¬
koſtüm hübſcher erſcheinen. Ich war auch nicht wenig
ſtolz auf meinen Sonntagsanzug von dunkelblauem Tuch
mit Spitzenkragen und hellgelben Saffianſtiefelchen. Ich
hatte zwei Titel: »Großnaſe« und »kleine Komödiantin«.
Der erſte demüthigte mich gar nicht, der zweite erfüllte
mich mit Stolz. Ich bildete mir nicht wenig darauf
[3] ein, das Spiel einer Wandertruppe, die in Bruchſal
einige Vorſtellungen gegeben, nachahmen zu können, ſo
auch den Tanz eines Seiltänzers, den ich als kleiner
Knirps mit angeſehen. Wenn Trübſinn im Hauſe
herrſchte, hieß es von den Brüdern gewöhnlich: »Ko¬
mödiantin, ſpiele uns etwas vor!« — und die kleine
Komödiantin gab ſich alle Mühe, die Traurigen zu er¬
heitern. Wenn bei Kaffeeviſiten die Unterhaltung ſtockte,
hieß es: »Linchen, tanze!« und freudeſtrahlend that ich
mein Beſtes. Einen Stock als Balancirſtange nach Art
der Seiltänzer haltend, ſtellte ich mich auf eine Ritze
des Fußbodens, und hin und her ging es auf dem
Pſeudo-Seil mit den zierlichſten Pas. Eine alte Dame,
die einſt dieſe Seiltänzerſprünge ſah, hielt mich für —
behext — und ſchlug das Kreuz vor mir. Erſt meine
der Kammerjungfer abgelauſchten Lieder: »In einem
Thal bei armen Hirten«, und »Willſt Dich, Hektor,
ewig von mir wenden«, welche ich rein und wohlklingend
geſungen haben ſoll, vermochten ſie etwas zu beruhigen.
— Einſt mußten viele Knaben Bruchſals in's Gefäng¬
niß wandern, ſo auch meine Brüder als Hauptſchuldige
— als Anführer. Sie hatten ein Feuerwerk abbrennen
wollen — und verbrannten ſich dabei nebſt einigen
Scheunen. Die Brüder ſaßen im Nord- und Südthurm.
Da war es wenigſtens hell und luftig. Eine ganze Woche
lang wanderte ich nun nach dem Nord- und Südthurme.
Hinein durfte ich nicht, aber von außen hinaufſprechen
und Obſt und Brod für ſie abliefern. Da ſtand ich
1 *[4] denn zuerſt am Nordthurm: »Louis! wie geht's Dir
da oben?« — Ein blaſſes, feines Geſicht ſah zum kleinen
Fenſter heraus: »Ganz gut, Linchen!« — »Haſt Du
Hunger?« — »Nein! gieb es dem Karl, der hat immer
Hunger; lebe wohl! grüß' die Mutter.« — Dann eilte
ich nach dem Südthurm: »Karl, wie geht's Dir in
Deinem Krähenneſt?« — Das runde, ſonſt ſo über¬
müthig luſtige Geſicht meines älteſten Bruders ſah weh¬
müthig nieder. »Nicht gut, Lina.« — »Willſt Du Obſt
und Brod?« — »Gewiß! ich habe Hunger,« und der
Wärter trug ihm meine Schätze hinauf. . . .


Wir zogen 1814 nach Karlsruhe, Louis kam in eine
Penſion, um ſich zum Kaufmann auszubilden, Karl in
die Junkerſchule, um Offizier zu werden. Die Mutter
trennte ſich ungern von Bruchſal, ſie hatte mit unſerm
Vater, der beim Dragoner-Regiment Heimrot ſtand, dort
glückliche Jahre verlebt. Auch meiner Erziehung wegen
ging ſie nach Karlsruhe. Die Knabenkleidung ward be¬
ſeitigt; und ich erſchien ſchon weniger häßlich als Mäd¬
chen; die Naſe hielt glücklicherweiſe im Wachsthum inne
und mich ſchmückte blühendſte Geſundheit.


In Karlsruhe ging mir ein neues Leben auf — und
vor Allem ein Ahnen von der Bedeutung des Wortes
»Komödiantin«, nachdem ich im großherzoglichen Theater
einige Vorſtellungen geſehen hatte. Nichts vermochte mich
ſo zu beſeligen, als wenn ich das Theater beſuchen durfte;
mit nichts wurde mein Fleiß mehr angeſpornt, als durch
das Verſprechen: »Du darfſt dann auch morgen in's
[5] Theater gehen!« Als die Händel-Schütz »lebende Bil¬
der« ſtellte, ſtand ich mit den der Mutter abgebettelten
24 Kreuzern ſchon zwei Stunden vor Beginn der Vor¬
ſtellung an der Eingangsthür des Muſeumsſaales. Aber
nachdem ich dieſe in der That lebensvollſten Bilder ge¬
ſehen, wurde es der Mutter mit mir faſt zu bunt. Was
einem Vorhang, Shawl, einer Draperie glich, wurde
zuſammengeſchleppt und benutzt, um die Händel-Schütz
nachzuahmen, bis endlich das mütterliche Machtgebot dem
Treiben ein Ende machte. Ja, die »kleine Komödiantin«
durfte nur ſelten noch das Theater beſuchen. Meine
Mutter eiferte mich ſtets zum größten Fleiße an: »Be¬
nutze die koſtbare Zeit!« Sie erlaubte auch nie, daß ich
mich bedienen ließ. Ich mußte mich ohne Hülfe friſiren,
mich ſelbſt ankleiden, das Zimmer aufräumen, meine
Kleider und Wäſche in Ordnung halten . . . und auf
rebelliſche Fragen: »Aber, Mama, wozu iſt denn die
Kammerjungfer da?« gab's die ernſte Antwort: »Kind,
Du wirſt es mir ſpäter noch danken! — Je mehr Du
lernſt, Dir ſelber zu helfen, deſto unabhängiger wirſt
Du ſein und jede ſchwierige Lage leichter ertragen!«


Ich lernte eifrig und wurde bald die Erſte in der
Klaſſe. Auf dem Klavier übte ich mit leidenſchaftlicher
Beharrlichkeit. Die Mutter hielt mir den beſten und
theuerſten Klavierlehrer, Marx. Noch nicht 13 Jahre alt,
ſpielte ich das D-moll-Konzert von Mozart mit Orcheſter¬
begleitung in einem Dilettantenconcert im Muſeumsſaal.
Gern hätte ich mich ganz der Muſik gewidmet. —


[6]

Einige Wochen ſpäter, als ich das Mozart'ſche Con¬
cert geſpielt hatte, langte ein großer Brief mit mächtigem
Siegel an. »Poſtſtempel Eiſenach?« ſagte die Mutter,
»dort kenne ich Niemand, als meine Stiefſchweſter.« —
Als ſie den Inhalt überflogen, ſank ſie todtenblaß auf's
Sopha. . . . Die Stiefſchweſter hatte eine gerichtliche
Klage wegen der Erbſchaft vom ſeligen Großvater an¬
geſtrengt. Sie beanſpruchte die Hälfte von Allem, was
meine Großmutter zur Zeit erhalten.


Verlor die Mutter den Prozeß und mußte heraus¬
zahlen, ſo blieb ihr nur die mäßige Penſion als Ritt¬
meiſterswittwe. Unſere Erziehung und die Kriegsjahre
hatten große Opfer gefordert. — Der berühmteſte Advokat
wußte auch keinen beſſeren Troſt: »Im ſchlimmſten Falle
müſſen Sie das Geld erſt nach einem Jahr herauszahlen.«


Sogleich war mein Entſchluß gefaßt. Als wir
allein waren und die Mutter blaß und angegriffen ihr
Herz durch Thränen erleichterte, fiel ich ihr um den
Hals — und fröhlich, zuverſichlich rief ich aus: »Sei
ruhig! — in einem Jahre nehme ich Dir alle Sorgen
ab! Mutter, laß die kleine Komödiantin Schauſpie¬
lerin werden — ich fühle: es ſoll ſo ſein — gewiß,
ich habe Talent. Weshalb wählte Kirchenrath Kazner
mich, um das Gebet vor der Konfirmation zu ſprechen,
mich von ſechszig vornehmeren, reicheren und begabteren
Mädchen! — Weshalb? — — Weil er vorausſetzte, daß
ich es am beſten vortragen würde. . . . Und hat man
nicht in der großen Kirche jedes Wort verſtanden? Weinten
[7] nicht Viele und ſagten nachher, ich hätte ſie durch meine
gefühlvolle Rede zu Thränen gerührt? O, ich will mich
übermenſchlich anſtrengen, um vor dem vierzehnten Jahre
auftreten zu können, und mit dem vierzehnten nehme ich
die erſte Gage ein.« Die Mutter umarmte mich, ſagte
aber trotz wiederholter Bitten noch nicht ja. Bekannte
und Freunde wurden zu Rath gezogen, es wurde dafür
und dagegen geſprochen. Die Mutter ſchrieb nach Kaſſel
an den Bruder des ſeligen Vaters, den General Bauer,
allein dieſer rieth zu meiner Verzweiflung ab. Das Haupt
der Familie in Koburg ſollte entſcheiden, der Neffe der
Mutter, der nachher ſo berühmt gewordene Baron Stock¬
mar. Wir reiſten nach Koburg, die Verwandten lernten
mich kennen, und — — der kluge, prächtige Vetter ſagte
in ſeiner humoriſtiſchen, herzigen Weiſe zur Mutter:
»Tante Chriſtiane! — Bis jetzt iſt unſere Familie mit
Talenten nicht geſegnet geweſen, es ſoll mich freuen,
eine Künſtlerin Couſine nennen zu können; aber das
bitte ich mir aus, Lina, daß Du eine wahre, edle,
tüchtige Künſtlerin wirſt.«


Ich hatte alſo geſiegt! — und mit Rieſenſchritten
ging es dem erſten Verſuch entgegen.


Mein Lehrer der Aeſthetik war der berühmte Aloys
Schreiber (Herausgeber der rheiniſchen Taſchenbücher),
ein herzlicher Freund des lieben alemanniſchen Hebel. Oft
wurde mir das Glück, dieſe herrlichen Männer ſprechen
zu hören. Hebel kam gern in's gaſtliche Haus des Pro¬
feſſors und fühlte ſich behaglich in dem trauten Familien¬
[8] kreiſe, in dem ich bald heimiſch war. Wie lauſchten wir
Jungen auf jedes Wort! Mit innigſter Verehrung blickte
ich auf die Sprechenden mit dem niederwallenden Haar,
den edlen Zügen und den ausdrucksvollen, klugen, mild
verklärten Augen. Gütiges Lächeln umſpielte die Lippen
und ermuthigte zu beſcheidenen Fragen. Welch' goldene
Lehren prägten ſich da uns ein in's junge Herz und
Gedächtniß! Und wie harmlos heiter konnten dieſe liebens¬
würdigen Greiſe dann wieder ſich und uns necken!


Nie werde ich vergeſſen, wie anmuthig ſcherzend
Schreiber einſt fragte: »Weshalb benahmen Sie denn
Ludwig Tieck jede Hoffnung, Neues ſchaffen zu wollen,
lieber Freund?« — »Weil ich nicht gegen meine Ueber¬
zeugung ſprechen durfte!« entgegnete Hebel. — »Dürfen
wir nichts davon erfahren?« riefen wir im Chor. —
Hebel nickte lächelnd und Schreiber fuhr fort: »Tieck
hielt ſich auf ſeiner Reiſe nach Baden einige Tage hier
auf und wir ſahen ihn öfters. Als ich ihm mit Freund
Hebel Lebewohl ſagte, kam das Geſpräch auf die aleman¬
niſchen Gedichte. Tieck erſchöpfte ſich in Lobeserhebungen
und ſagte: »Weshalb, Verehrteſter, ſchreiben Sie nicht
mehr ſolcher allerliebſten Sachen?« Treuherzig und mit
größter Ruhe antwortete unſer Kirchenrath: »Weil mer
nix, mehr einfalle thut!«


»Tieck ſchien ſeinen Ohren nicht zu trauen, und
wiederholte in ſeiner gewinnenden, bezaubernden Sprach¬
weiſe im feinſten Hochdeutſch: »O! Sie wollen die Welt
mit herrlicheren Dingen überraſchen!« Aber unſer Hebel
[9] wiederholte unerſchütterlich in ſeiner gemüthlichen Mund¬
art: »Gewiß, lieber Herr, es will mer nix mehr ein¬
falle!« — Da lachte Hebel recht herzlich und wir Jungen
getrauten uns einzuſtimmen. Der Profeſſor aber ſagte
gerührt: »Kinder, wem die alemanniſchen Gedichte ein¬
gefallen, der kann auf ſeinen Lorbern ruhen« — und
dem Dichter die Hand reichend, fügte er hinzu: »Und
hätten Sie auch nur »Vergänglichkeit« geſchrieben, theurer
Freund!«


Mlle. Demmer, eine Schülerin Iffland's, welche
ſich in Manheim zur vortrefflichſten Künſtlerin herange¬
bildet hatte, gab mir Stunden in der Deklamation. Sie
mußte der Bühne im Zenith ihres Ruhmes Lebewohl
ſagen und wurde penſionirt, — weil ſie einige Mal
während des Spielens plötzlich von einem Starrkrampf
überfallen wurde. . . . Die Worte verhallten, und unbe¬
weglich, leeren Blickes ſtarrte ſie die entſetzten Zuſchauer
an! Ihr Bruder (auch in Manheim gebildet und ein
geſchätzter Künſtler) ſtürzte leichenblaß aus der Couliſſe
und trug die Schweſter fort. Einmal war ich Zeugin
von dieſer erſchütternden Scene; ſie erinnerte an den
Aktſchluß in der Jungfrau von Orleans, als alle Welt
ſich von Johanna wendet, ſie allein daſteht (im 4. Akt)
— und der treue Raimond ihre Hand faſſend ſagt: »Ich
will Euch führen.« Ich konnte den Eindruck gar nicht
los werden. Die Familie Demmer, Mutter, Bruder,
Schweſter, waren ſehr liebe, achtungswerthe Menſchen;
ſie lebten aber ſeit der Penſionirung ganz zurückgezogen.
[10] Die Schweſter litt an nicht zu beſiegendem Trübſinn,
ſeit ſie der Bühne entſagen mußte. Monate lang wan¬
derte ich jeden Vormittag zu ihrer abgelegenen Wohnung,
und meine Anweſenheit belebte dann die ſonſt ſo ſtillen
Räume. Sie hallten wieder vom »Kampf mit dem
Drachen« — »Ein frommer Knecht war Fridolin« —
und als das Einſtudiren der Margarethe in den Hage¬
ſtolzen von Iffland begann, da glaubte ich das glücklichſte
Geſchöpf der Welt zu ſein! Wie ein Feenland lag die
Zukunft vor mir! Nichts ſchien mir zu ſchwer. Ich ge¬
lobte mir, Alles zu erreichen durch beharrlichen Fleiß
und begeiſtertes Streben. Da ich auch groß für mein
Alter war, glaubte meine Lehrerin, ich könne den erſten
Verſuch bald wagen. Drei Monate, bevor ich 14 Jahr
wurde, ſtand auf dem Theaterzettel: »Die Hageſtolzen,
Schauſpiel von Iffland . . . Margarethe — Mlle. Karo¬
line Bauer, als erſter Verſuch!« Aus beſonderer Rück¬
ſicht für mich fanden zwei Proben von dem oft gege¬
benen Stück ſtatt, damit ich mit der Bühne, dem Pro¬
ſcenium, dem Kommen und Abgehen bekannt werde.
Der große altväteriſche Theaterwagen, den ich ſo oft
ſehnſüchtig betrachtet hatte, brachte mich mit Mlle.
Demmer an's Schauſpielhaus. Dieſe wollte im Zu¬
ſchauerraum der Probe beiwohnen, um zu hören, ob
ich laut genug ſpräche, und mir überhaupt noch manche
Winke geben.


Ein unbeſchreibliches Gefühl erfaßte mich, als ich an
der Hand meiner Lehrerin auf meine die Welt bedeutenden
[11] Bretter trat. Sie ſtellte mich den Mitgliedern vor, bat
um Nachſicht für die Anfängerin, und Alle bewillkommten
mich freundlich. Es wurde mit einer gewiſſen Feierlichkeit
begonnen, — wenigſtens kam es mir ſo vor. Später
ſollte ich die Ueberzeugung gewinnen, daß da, wo Achtung
und Pietät für die Kunſt herrſcht, die Proben ſtets mit
Ernſt und größter Aufmerkſamkeit abgehalten werden.
Die ſchwache Beleuchtung, der große dunkle Raum, die
feierliche Stille, die Angſt, daß ich nun bald ſprechen
müſſe, raubte mir faſt den Athem und das Herz klopfte
hörbar. Zum Glück konnte ich nach und nach etwas Faſſung
erringen. Ich hatte erſt im vierten Akt zu erſcheinen.
Mit welchem Intereſſe beobachtete ich jetzt in der Nähe
das Spiel der von mir ſo oft ſchon bewunderten Künſtler
— wie benahmen ſich Alle ſo würdig, einfach, edel!
Ich hätte laut rufen mögen: »Habt mich doch ein Bischen
lieb, ich gehöre ja nun auch zu Euch — und ich will
mit Ernſt und Fleiß an meine Aufgabe gehen!« Das
Zeichen zum vierten Akt ertönte, ich mußte ſprechen . . .
und die peinigende Angſt war nach den erſten Worten
wie durch Zauber entſchwunden! Immer vertrauter wurde
mir die Umgebung, ich ſang auch das Lied ohne Bangen,
und am Schluß der Probe lobten, ermunterten mich
Alle. Mlle. Demmer ſchien zufrieden, ja — gerührt
zu ſein und hatte wenig zu tadeln. In erhöhter, glück¬
ſeliger Stimmung kam ich nach Hauſe und erzählte der
beſorgten Mutter, wie Alles über Erwarten gegangen
ſei. Die Hauptprobe andern Vormittags ging prächtig,
[12] ich wurde viel zutraulicher begrüßt. Die Schauſpieler
mochten ſich wohl ihres erſten Verſuches erinnern.


Mittags vermochte ich vor Aufregung keinen Biſſen
zu eſſen. Selbſt Bruder Karl's Fröhlichkeit und himmel¬
ſtürmender Uebermuth hatte ſich in Ernſt verwandelt,
und die Mutter verſuchte umſonſt ihr Bangen zu ver¬
bergen. Um vier Uhr ſchon kleidete ich mich als Bäuerin
— ich ſeh' mich heute noch im grünen, wollenen Rock,
rothen Tuchleibchen, weißen Aermeln, großer, faltiger
Schürze, am ſchwarzen Sammetbande das ſilberne Kreuz¬
chen, von dem Margarethe zu ſprechen hat, die Haare
zurückgeſtrichen und in Zöpfe geflochten niederhängend.
— Ich kam mir ſchließlich aber doch furchtbar dünn vor
und fand mich nur — ziemlich hübſch in dem Koſtüm.
Um 5 Uhr holte Mlle. Demmer die Mutter ab; ſie ſah
aufgeregt aus und ihre Wangen glühten. Sie zeigte mir
noch, wie ich mich verbeugen müßte . . . im Fall ich her¬
vorgerufen würde, und fragte, was ich dann ſprechen
wollte? — »O, in die Verlegenheit werde ich wohl nicht
kommen!« — »Aber, Kind, im Fall es doch geſchehen
ſollte, wie wollen Sie danken?« — »Nun, ich werde
ſprechen — — was mir gerade einfällt!« entgegnete ich
reſolut. Die Demmer ſchüttelte bedenklich den Kopf.
Der Wagen rollte heran, der Theaterdiener klopfte und
bat um die mitzunehmenden Sachen. Ich umarmte Mutter,
Bruder, Mlle. Demmer und bat Alle, ja ruhig zu ſein.
— — Schnell flog ich die Treppen hinab, in den Wagen —
der Schlag klappte zu — und einer Ohnmacht nahe
[13] ſchloß ich die Augen und bat Gott um ſeinen Beiſtand. . . .
Im Konverſationszimmer verhielt ich mich ſehr ſtill und
ging die Rolle noch in Gedanken durch. Herr Demmer,
der den Konſulent Wachtel ſpielte, ſchminkte mich. —
Ich hörte die Ouverture, vernahm das Klingeln am
Aktſchluß, wagte aber vor lauter Bangigkeit nicht zu¬
zuſehen. Da klingelte es zum dritten Male — Herr
Demmer führte mich zu dem Hügel, von welchem herab
ich zu kommen hatte. Ich ſtand, des Stichworts harrend,
mit Rechen, Hut, Waſſerkrug — nein! der war ver¬
geſſen. — »Mein Waſſerkrug!« rief ich — und der
Requiſiteur vermochte ihn mir noch zu geben. »Jetzt!«
flüſterte Herr Demmer — ich trat vor und wurde mit
Beifall empfangen! — Darauf war ich nicht vorbereitet,
ich wußte nicht, ſollte ich mich verbeugen oder ſprechen,
es flimmerte mir vor den Augen, die helle Beleuchtung
blendete mich förmlich, aber mein Stoßgebet: »Lieber
Gott, ſteh' mir bei« — half — und hell und fröhlich
begann ich: »Iſt der Schwager noch nicht da?« . . . — —
Wie ich die Margarethe darſtellte — weiß ich nicht; ob
ich den Beifall verdiente — eben ſo wenig, ich erinnere
mich nur, daß es mir war, als ſei ich wirklich die Mar¬
garethe! — daß ich mit Entzücken ſpielte, den Hofrath
trotz ſeiner 45 Jahre liebte, weinte, lachte, wie es die
Rolle mit ſich bringt, und als Herr Meierhofer (der
den Hofrath hinreißend darſtellte) die letzten Worte ſprach,
indem er mir die Feldblumen überreichte: »Blühe wie ſie,
nütze wie ſie, und bleibe dem Schmucke getreu, mit dem
[14] Deine Felder Dich ſchmückten« — ſank ich an ſeine Bruſt
und erwachte wie aus einem Traum, als nach dem Fallen
des Vorhangs »Margarethe« ſtürmiſch gerufen wurde.


Die Mutter ſchilderte den erſten Verſuch in dem
Brief an eine theure Verwandte:


»Lina wagte geſtern ihren erſten Verſuch, worüber
die ganze Stadt ſich freute. Ich ſelbſt bin noch wie
betäubt davon. Jedermann wußte, welche Liebe und
Luſt ſie zu dieſem Berufe führte, und ſo war denn das
Haus ſchon um 5 Uhr ſo beſetzt, daß kaum noch ein
Plätzchen zu finden war. Sie wurde vom Offizierkorps,
das wohl damit das Andenken ihres tapferen Vaters
ehren wollte, freundlich empfangen. Dies machte ſie etwas
beklommen, doch faßte ſie ſich bald und ſpielte über Er¬
warten. Mit Enthuſiasmus wurde ſie gerufen. Ich
mußte weinen; ich allein wußte ja, daß Lina außer durch
Talent und Luſt noch durch edlere Zwecke zur Bühne
geführt wurde. Sie iſt nach dieſem Erfolg eben ſo be¬
ſcheiden, ſo innig wie ein Kind. »Haſt Du mich lieb,
Mutter?« war das Erſte, was ſie mir nach der Vor¬
ſtellung ſagte. . . .«


Meine zweite Rolle war Iffland's »Eliſe von Val¬
berg«, die dritte »Roſalie« im Inkognito von Ziegler.
Es wurde mir Engagement angetragen, und ſtolz unter¬
ſchrieb ich den Kontrakt »Großherzoglich badiſche Hof¬
ſchauſpielerin.«


Als ich an meinem 14. Geburtstage ganz ſtill mit
der Mutter, den Brüdern und unſerm gerichtlichen Bei¬
[15] ſtand um den Kaffeetiſch ſaß, trat der Theaterdiener in's
Zimmer — — mit meiner erſten Monatsgage! Wir
ſahen uns lächelnd an; wir hatten in demſelben Augen¬
blicke von meinem vor einem Jahre gegebenen Verſprechen
geplaudert. Ich nahm die 50 Gulden in Empfang, —
zitternd vor Bewegung. Jubelnd, ſchluchzend warf ich
mich der Mutter an den Hals: »Nicht wahr, Mütterchen
— jetzt hat die kleine Komödiantin ihr Wort gehalten!«


. . . . Später hatte ich größere Gagen einzunehmen,
Kunſtreiſen, Benefize, Glücksfälle brachten Gewinn, der
Prozeß endete auch bald nach meinem Engagement in
Karlsruhe zu unſern Gunſten — — aber keine noch ſo
große Summe beglückte mich wieder ſo unausſprechlich,
wie dieſe 50 Gulden — meiner erſten Gage.

[[16]]

II.
Das erſte Engagement.

Als Debütrolle auf der Karlsruher Hofbühne gab ich
in Kotzebue's Zigeunerin die Lazarilla. Es war eine
höchſt unglückliche Wahl. Dieſe Aufgabe erfordert mehr
Bühnengewandtheit, als natürliches Gefühl und Anmuth.
Ueberdies ſollte mir beim Einſtudiren neuer Rollen der
Beiſtand meiner trefflichen Lehrerin ſchon bei dieſer Lazarilla
fehlen. Sie zog ſich zurück — wegen einer grünen Schürze!
Nach Mlle. Demmer's bühnenerfahrenem Rath ſollte
ich nämlich in meiner dritten Proberolle als Roſalie
im Inkognito eine ſchwarzſeidene Schürze wählen. Die
Mutter wollte mich aber zum weißen, einfachen Kleide
lieber mit einer grünen ſehen. Mlle. Demmer vermochte
ihre verletzte Autorität nicht zu verſchmerzen, — und
verſagte fortan ihre mich ſo fördernde Hülfe. Sie war
vollkommen im Recht und ich — mußte die kleine ſo
verzeihliche Eitelkeit der Mutter büßen. Noch ſehe ich
die erſtaunten Blicke der guten Lehrerin, als ſie vor der
[17] Vorſtellung kam, um im Theaterwagen mit uns in's
Schauſpielhaus zu fahren, und mich weiß und grün fand.


Die Freude über den freundlichſten Empfang und
Beifall als Roſalie war keine ſo ungetrübte wie nach
den Hageſtolzen, als Iffland's Eliſe von Valberg. Die
Mutter kämpfte während der Vorſtellung mit den
Thränen, denn kein Wort kam über die Lippen der
neben ihr ſitzenden, ſonſt ſo ſanften Lehrerin. Dieſe
ominöſe Schürze lehrte uns Künſtler-Empfindlichkeit
ſchonen. Die Mutter und ich warnten uns ſpäter oft
gegenſeitig: »Denk' an die grüne Schürze!«


So mußten Mutter und Tochter nun auf eigene
Hand verſuchen: de conduire leure barque! . . . Daß
der arme Nachen nicht gleich am Beginn des klippen¬
reichen Theater-Fahrwaſſers zerſchellte, begreife ich jetzt —
da ich mich am Abende meines Lebens redlich bemühe,
mit der Deviſe: »Gerecht gegen Andere, ſtreng gegen
mich« klaren, leidenſchaftloſen Blickes die ferne Vergangen¬
heit zu ſchildern — oft ſelber kaum.


Wie waren die gute Mutter und ihr vierzehnjähriges
Töchterchen doch ſo gar unerfahren und unpraktiſch in
allen Couliſſendingen — — und viel zu beſcheiden für's
Theaterleben!


Wir verſtanden nicht einmal: mich vortheilhaft zu
ſchminken. Als einige ebenſo unerfahrene Freundinnen
mir riethen, die blonden Augenbrauen zu ſchwärzen, um
meinem weichen kindlichen Geſicht mehr Ausdruck zu geben,
— da zog ich im Eifer ſo kühne, ſchwarze Bogen, daß
Erinnerungen ꝛc. 2[18] ich förmlich entſtellt ausſah. Zu meinem Unglück hatte ich
überdies gehört, daß ſchwarze Punkte unter den Augen¬
wimpern dem Auge flammende ſpaniſche Glut geben . . .
und ich that auch hier des Guten mehr als zu viel.


Es ſtand wahrhaftig ſchlimm um die kleine Komö¬
diantin, und ſchon bekamen wir unter dem Mantel der
Theilnahme manches mitleidige Lächeln zu ſehen, manch'
zweifelndes Wort über mein Talent zu hören.


Das Alles trieb mich, etwas Entſcheidendes zu wagen.
Ich wählte als zweites Debüt unverzagt — Prezioſa!


Ganz Karlsruhe gerieth in Aufruhr, daß ich — das
blutjunge, unerfahrene Ding, überhaupt erſt viermal
vor's Publikum getreten, nach der gefeierten, ſchönen
Amalie Neumann die ſchwere Rolle der Prezioſa ſpielen
wolle. Die arme Mutter kam immer halbtodt aus ihren
Tarock-Partieen nach Hauſe — ſo ſehr hatten die Damen
ihr wegen meiner »Prezioſa« bange gemacht. Selbſt
Bruder Karl, der inzwiſchen Offizier geworden, berichtete
oft kleinlaut, daß ſeine beſten Kameraden am Erfolge zu
zweifeln anfingen. Die Frau Markgräfin ließ mir durch
Major Hennehofer theilnehmend ihr Bedenken äußern,
ob meine junge Stimme auch für die pathetiſchen Stellen
der Prezioſa ausreichen würde.


Wenn ich aber die bangende Mutter anſah, ſo wuchs
mir das muthige Wollen. Und ich ſetzte meine ganze
junge Kraft daran, die Feuerprobe würdig zu beſtehen.


Auf meine Bitte arrangirte Balletmeiſter Zeiſig ein
brillantes Solo: Pas de zephir der Gavotte für mich
[19] zu Weber's entzückender Muſik. — Prezioſa's berühmtes
Lied: »Einſam bin ich nicht alleine!« ſtudirte mir Geſang¬
lehrer Berger fleißig ein, und die melodramatiſche De¬
klamation übte ich unermüdlich nach dem Klavierauszuge.
Bruder Karl beſorgte eine leichte Jagdflinte und exerzirte
mich wie einen Rekruten damit ein: blitzſchnell zu zielen,
während der Rede abſetzend und bei der geringſten Be¬
wegung des Zigeunerhauptmanns wieder anzulegen.


Und mit welchem Entzücken ſtaffirte die gute Mutter
ihre Prezioſa heraus: ſpaniſches Koſtüm, himmelblau
mit Silber, graziöſe Marabouts auf dem Kopf! So wünſchte
mich ſpäter Maler Muxel in München zu malen. Er wählte
die Scene, wo Prezioſa wie verklärt Alonſo's Bouquet
aufgehoben. Ob das Bild noch in einer Münchener Galerie
hängt — ob in einer Trödelbude . . . ich weiß es nicht.


Das Haus war überfüllt und vor Beginn des Stückes
in aufgeregter — ja, die Verehrer von Mad. Neumann
in kampfgereizter Stimmung. Und wie klopfte mir ſelber
das junge, bange Herz! Aber ſchon während der ſüßen,
beſeligenden Melodieen der Ouverture kam mir eine
wunderbare Ruhe . . . und mit Gefühl und Begeiſterung
konnte ich ſprechen:


»Lächelnd ſinkt der Abend nieder,

Rings erſchallen Jubellieder . . .«

Der freundliche Beifall erhöhte meinen Muth —
meine Begeiſterung — mein Glück!


Das eingelegte Solo tanzte ich, den Tambourin
ſchwingend, wie von Flügeln getragen . . . und ich dachte
2 *[20] lächelnd dabei an des wilden Linchens Seiltänzerſprünge
auf der Dielenritze. Auch mein durch das Einfallen des
Horns und der Flöte im Takt ſo ſchwieriges Lied gelang
glücklich. Das Haus wurde nicht müde, die neue Prezioſa
zu rufen. Ich hatte vollſtändig geſiegt . . . und doch war
mein Glück kein ſo harmloſes, ungetrübtes, wie nach
meinem erſten Erfolge als Margarethe. Ich hatte in
dieſen wenigen Monaten die »heißen Bretter« ahnen ge¬
lernt. Das Anfangs ſo lachend nahe Feenland der idealen
Kunſt war in immer weitere Fernen gerückt. Würde
ich es je erreichen? würde ich je eine wahre, edle Künſtlerin
werden? Daß es nur nach vielen bitteren Erfahrungen —
nach bangen, ſchweren Kämpfen und Ringen ſein könne,
wußte ich jetzt ſchon. Aus der fröhlich und unbefangen
durch's Leben hüpfenden kleinen Komödiantin war —
die nachdenkende Schauſpielerin einer bretternen Welt
geworden.


Nach dieſem zweiten glücklichen Debüt trat ich in
Reih und Glied mit den meiſt ausgezeichneten Künſtlern
des Karlsruher Hoftheaters.


Hätte Ludwig Tieck doch dieſe »echten Komödianten«
— wie er am liebſten den wahren, kunſtbegeiſterten
Schauſpieler nannte — ſehen können! Er wäre entzückt
geweſen. Behauptete er mir gegenüber doch ſpäterhin
in Dresden ſtets hartnäckig: »Es iſt ein Nachtheil für
die wahre Kunſt, daß die Komödianten nicht mehr die
[21] »Parias« des bürgerlichen Lebens ſind. Werden ſie fein
bürgerlich, ſo iſt es mit dem Künſtler vorbei. Ihr Boden,
auf dem ſie nur wachſen können, iſt das Land der Ideale.
Ich kann trotz meiner 75 Jahre den Glauben an ein
romantiſches Künſtlertreiben nicht verlieren. Nennen die
Herren Kritiker mich doch auch immer — den Romantiker!«


Unſere Karlsruher Komödianten machten ſich ſelber
zu »Parias« des geſelligen Lebens. Und doch hätten ſie
nach ihrer meiſt gediegenen Bildung in den beſten Ge¬
ſellſchaftskreiſen glänzen können. Aber ſie, die einſt in
Jugendbegeiſterung Heimat, Freunde, glückliche Verhält¬
niſſe verlaſſen hatten, dem verführeriſchen Locken der Kunſt
zu folgen — — Kummer, Noth, Enttäuſchungen jeder
Art hatten ſie mit der Zeit — menſchenſcheu gemacht.


Woher ſtammte der Liebling des Publikums, der
auf der Bühne ſo lebensfriſche, fein humoriſtiſche — ja
übermüthig frohe Hartenſtein? Durch's Leben eilte er
finſter, — in trübe Gedanken verſunken.


In dem trefflichen Baſſiſten Sehring und ſeiner
lieblichen Frau ſchäumte echtes, unruhiges Komödianten¬
blut. Beim Beginn der Theaterferien verſchwanden beide
immer ſpurlos. Und einſt fand ein Bekannter das ge¬
heimnißvolle Paar — in einem winzigen Landſtädtchen,
auf einer aus Bettüchern und Fenſtergardinen improvi¬
ſirten Bühne . . . Verkleidungsrollen ſpielend. Sie konnten
nun einmal die Komödiantenfahrten nicht laſſen!


Der köſtliche, närriſche Komiker Labes, der das
ganze Haus bei ſeinem Auftreten ſtets vom homeriſchen
[22] Lachen der Zuſchauer erſchüttern machte — lächelte im
Leben nie. In ſeinem Hauſe war er ſogar ein hypo¬
chondriſcher kleiner Tyrann. Er ſpielte prächtig Violine
— aber im abgelegenſten Winkel ſeiner Wohnung, hinter
mehreren verſchloſſenen Thüren.


Bei welcher Wandertruppe hatte der tiefgebildete
Regiſſeur Mittel ſeine Theaterlaufbahn begonnen? —
Er ſprach nie darüber.


Auch die Karlsruher Oper hatte damals einen wohl¬
verdienten Ruf. Mad. Gervais, die gefeierte erſte Sän¬
gerin, war die Tochter eines Pariſer Tanzmeiſters.


Die Perle unſerer Bühne war aber unſtreitig Amalie
Neumann, die noch heute als Frau Haitzinger am Wiener
Hofburgtheater glänzt und im Fach der »komiſchen Alten«
unübertroffen in Deutſchland daſteht. Wer aber damals
zu ſagen gewagt hätte: Amalie Neumann — das reizendſte
Blondchen in der »Entführung aus dem Serail« — der
lieblichſte Benjamin in »Jakob und ſeine Söhne« — die
entzückendſte jugendliche Liebhaberin in hundert naiven
oder ſentimentalen Luſtſpiel-Rollen . . . wird einſt eine
prächtige »komiſche Alte« werden und die guten Wiener
als »Martha« im Fauſt entzücken, — den hätten unſere
jungen Theaterenthuſiaſten ſicher auf Piſtole gefordert.
»Unſere himmliſche Amalie Neumann — unmöglich!« . . .
Und doch wird in 50 Jahren, die ſeitdem hinabgerollt
ſind, im Leben ſo Manches möglich.


Amalie Morſtadt war 1800 in Karlsruhe geboren.
In einer Wohlthätigkeitsvorſtellung betrat das liebliche
[23] zehnjährige Kind in Wranitzky's jetzt vergeſſener Oper
»Oberon« in der Titelrolle zum erſten Male die Bühne.
Der Erfolg des ſeltenen Kindes entſchied für ein Künſtler¬
leben. Mit fünfzehn Jahren war Amalie Mitglied des
Karlsruher Hoftheaters, Anfangs nur in kleinen Opern¬
partieen thätig. Ein Jahr darauf heirathete ſie den
Schauſpieler Neumann und trat ihre erſte glänzende Gaſt¬
ſpielreiſe durch Deutſchland an. Aus einem zweiten Gaſt¬
ſpiel in Berlin im Jahr 1824 ſchrieb mir Amalie Wolff,
Goethe's geliebte Schülerin und die damals geiſtreichſte
Künſtlerin der Berliner Hofbühne, über die bezaubernde
Perſönlichkeit von Amalie Neumann: »Ein Weſen, wie
eine verkleidete Prinzeſſin anzuſehen, trat zu mir in's
Zimmer, ſtrahlend wie die Frühlingsgöttin in blühender
Schönheit. Hellblauer Mouſſelin umwallte die etwas zu
volle und gedrungene, aber doch zierliche Geſtalt. Ein
runder italieniſcher Strohhut mit weißem Band, wie ihn
die engliſchen Touriſtinnen tragen, beſchattete reiche hell¬
blonde Locken. Vergißmeinnicht-Augen blickten mich
ſchelmiſch-freundlich an. Griechiſches Profil, purpurrother
lieblicher Mund, Grübchen in den Wangen, roſig ange¬
haucht — ſanfte, wohlklingende Stimme . . . ſo bezaubernd
die ganze Erſcheinung, daß ich vor ſtaunender Bewunderung
kaum zu antworten vermochte!«


Wenn eine Kollegin — eine Rivalin in ſolche Be¬
geiſterung ausbricht: iſt es da zu verwundern, wenn in
jener Zeit des Theaterenthuſiasmus die ganze junge und
alte Männerwelt bei Amalie Neumann's Gaſtrollen faſt
[24] närriſch vor Entzücken wurde? In Leipzig begnügte man
ſich nicht mit Serenaden, Gedichten, Pferdeausſpannen —
nein, die Enthuſiaſten gründeten in allem Ernſt zu Ehren
Amalie Neumann's einen »Roſenorden«, und als Königin
mußte die Gefeierte präſidiren. In Wien hatten ihre
extravaganteſten Verehrer ſich einen von den goldenen
Schuhen zu verſchaffen gewußt, die Mad. Neumann als
»Aſchenbrödel« getragen . . . und aus dieſem Goldſchuh
auf das Wohl der Vergötterten die Reihe herum Cham¬
pagner getrunken . . .


Neben dieſer reizenden Künſtlerin ſpielte ich mit
großem Fleiß zweite und dritte Rollen. Auch ich be¬
wunderte ſie neidlos mit kindlicher Begeiſterung. Sie
war damals unſtreitig die vielſeitigſte Schauſpielerin
Deutſchlands und unnachahmlich in heiteren Konverſations¬
ſtücken, naiven und ſentimentalen Mädchenrollen. Sie
ſpielte mit unerſchöpflicher Wärme des Gefühls, reizender
Anmuth und nie müder Laune. Dazu ſang ſie allerliebſt.
Nur das hochtragiſche Fach war ihr verſchloſſen.


Während meines Debüts war Amalie Neumann auf
Gaſtreiſen. Sie nahm die jugendliche Kollegin bei ihrer
Wiederkehr freundlich auf. Nur einmal wußten taktloſe,
ſchlechte Freunde die Harmonie des Verkehrs zu ſtören.
Sie hatten gegen die Neumann das an mir gerühmt,
was ſie nicht beſaß: die ſchlanke, geſchmeidige Figur und
Leichtigkeit des Tanzes . . . und die ſonſt ſo reich Ausge¬
ſtattete hatte darauf gereizt und unfreundlich über die
Anfängerin geſprochen. Natürlich wurde mir dies ſchleu¬
[25] nigſt hinterbracht und ich fühlte mich ſehr geſchmeichelt,
daß die prächtige bewunderte Roſe der beſcheidenen
Knospe nicht gönnen wollte, auch bemerkt zu werden!


Das Lob über mein Tanzen als Prezioſa konnte ſie
nicht vergeſſen. »Liebe Kleine, welche Pas haben Ihnen
zu dem Beifall verholfen?« fragte ſie mich einſt. — »Pas
de zephir
aus der Gavotte!« — »O, die tanze ich auch!«
rief ſie vergnügt. »Wir wollen ſie im »Räuſchchen« zu¬
ſammen tanzen.«


Ich ging gern darauf ein. Amalie Neumann hatte
die brillante Rolle der Wilhelmine, ich die langweilig
ſentimentale der Eliſe. Eigentlich ſoll Wilhelmine tanzen,
um dem armen Brandchen den Kopf zu verdrehen, und
Eliſe dazu Klavier ſpielen. Aber wir wußten es uns
ſchon zurechtzulegen und übten fleißig das Pas de deux.
Im dritten Akt ſagte dann auch Wilhelmine zum Ent¬
zücken des Publikums: Brandchen, ſpiel' ein luſtig Stück
auf Deiner Violine — wir wollen tanzen!«


Brandchen-Labes geigte die Gavotte — und ich
tanzte mit Herzensluſt und — — bemerkte gar nicht,
daß mein Vis-à-vis nicht gleichen Tritt hielt.


Am andern Morgen erhielt ich ein herrliches Blumen¬
bouquet mit einem anonymen Billet: »Die Blumenſpender
gratuliren der leichten Infanterie zum Siege über die
ſchwere Kavallerie.«


Als alte Frau darf ich wohl von einem ſolchen kleinen
Triumphe ſprechen. Zu meiner innigen Freude kann ich
aber hinzufügen, daß Amalie Neumann's liebliches Bild
[26] und ihre liebenswürdige Kollegialität gegen die junge An¬
fängerin bei mir noch heute unvergeßlich ſind. Ich habe
ſpäterhin keine erſte Liebhaberin neben mir gehabt, die
ihren Kolleginnen gegenüber ſo wenig herrſchſüchtig war,
wie Amalie Neumann.


Zwei liebliche kleine Mädchen knospeten damals neben
der vollblühenden Mutter auf. Louiſe Neumann entfaltete
ſich zur leuchtendſten Wunderblume des deutſchen Luſtſpiels,
— bis Graf Schönfeld in Graz ſie der Kunſt entzog. Adol¬
phine Neumann's kaum entfalte Blüte brach — der Tod.


Sechs Monate nach dem Debüt als Prezioſa trat
ich mit achttägigem Urlaub meine erſte Gaſtreiſe an —
nach Manheim! Der Gedanke, mit den ausgezeichneten
Künſtlern aus der Schule Iffland's, Dalberg's und
Schiller's ſpielen zu dürfen, erfüllte mein fünfzehnjähriges
Herz mit Stolz und Entzücken. Glückſelig packte ich mein
beſcheidenes Reiſekofferchen für Margarethe und Prezioſa,
und für die dritte Rolle die Huſarenuniform zu Kotzebue's
Luſtſpiel: »Braut und Bräutigam in einer Perſon« ein.


Ferdinand Löwe ſtand damals im Vollglanz männ¬
licher und künſtleriſcher Schönheit, — eine edle, hoch¬
poetiſche Erſcheinung. Ein wunderbarer Zauber umduftete
alle ſeine Kunſtgebilde. Er hatte gleich mein junges, en¬
thuſiaſtiſches Herz gefangen. Während der Probe von Pre¬
zioſa, als ich im zweiten Akt Alonſo's Züge zu beſchreiben
hatte, hielt ich plötzlich inne: »Hat Alexander Wolff Sie
perſönlich gekannt? — »Ja, — aber warum?«

[27]

»O, da hat er alſo an Sie gedacht, als er dieſe
Verſe dichtete!«


Löwe lächelte anmuthig über den Ausbruch meiner
kindlichen Bewunderung . . . und jetzt wurden auch Pre¬
zioſa's Worte!

»Und dies Grübchen Schelmerei!«


auf's Schönſte wahr.

So oft ich Heinrich Heine's Verſe aus den Atriden leſe:

»Blühend blieb mir im Gedächtniß

Dieſe ſchlanke Heldenblume —

Nie vergeß ich dieſes ſchöne

Träumeriſche Jünglingsantlitz.
Das war eben dieſe Sorte,

Die geliebt wird von den Feen!

Und ein märchenhaft Geheimniß

Sprach aus dieſen edlen Zügen . . .«

— muß ich dabei an Ferdinand Löwe denken. Schon
nach zehn Jahren ſollte dieſe »Heldenblume« zu Magde¬
burg in's Grab ſinken. Sein Sohn iſt der geniale Dar¬
ſteller von Helden- und erſten Liebhaberrollen und der
wiſſenſchaftlich gebildete Regiſſeur des Stuttgarter Hof¬
theaters, Feodor Löwe, ſeine Tochter Sophie die einſt
hochberühmte Opernſängerin zu Wien, vor wenigen Jahren
als Fürſtin Friedrich von Liechtenſtein zu Peſt geſtorben,
während ſeine zweite Tochter Lilla als Schauſpielerin
glänzte, bis ſie die Gattin des Freiherrn v. Küſter wurde.
Ein jüngerer Bruder Ferdinand's — vor kaum einem
Jahre als edelſte Kunſtgröße des Wiener Burgtheaters
geſtorben: Ludwig Löwe wurde nach dem frühen Tode
[28] des Vaters von Ferdinand erzogen und zu ſeiner idealen
Größe mit Liebe herangebildet,


Thürnagel, im Fach Ludwig Devrient's, Brand
als Tell und Wallenſtein, die noch immer ſchöne und
anmuthige Frau von Buſch ſtanden Ferdinand Löwe
würdig zur Seite.


Iffland's Geiſt lebte in Manheim, wie auch in
Karlsruhe beſonders wohlthuend fort: im maßvollen, klar
durchdachten und naturtreuen Spiel! Auch dem Publikum
war nichts unſympathiſcher, als affektirtes Uebertreiben
und zu kühnes Wagen, ſelbſt bei genialen Gäſten.


Der Manheimer Intendant Graf Luxburg ſorgte
wahrhaft väterlich für ſeine Schauſpieler und wurde von
ihnen geliebt und verehrt. Leider fehlte ihm die einem
Theater-Intendanten unentbehrliche hohe Geiſtesbildung.
Er war aber ſo verſtändig, dies ſelber einzuſehen und
ſeine trefflichen Regiſſeure gewähren zu laſſen.


Als ich 1835 zu Manheim in Charlotte Birch-
Pfeiffer's »Günſtlingen« Katharina II. als Gaſt gab,
ſpielte Mlle. Kinkel die Liebhaberin Seraphine. Von
Kindheit an bei der Manheimer Bühne, wurde ſie von
dem noch immer rührigen Intendanten Grafen Luxburg
echt patriarchaliſch kurzweg »Du« angeredet. So hörte
ich nach dem vierten Akt von ihm in ſeinem treuherzigen
pfälzer Dialekt: »Kinkele, Du haſcht im Ganzen ziemlich
ſchlecht geſpielt, biſcht aber ſchön in Ohnmacht g'fallen.«


Welch' einen Kontraſt bildete dieſer behäbige, wohlge¬
nährte Intendant, der wie ein gutmüthiger Landedelmann
[29] ausſah, zu unſerm fein ritterlichen Karlsruher Intendanten,
dem Dichter von »Alhambra«, »Löwe von Kurdiſtan« und
dem Trauerſpiel »Viola«: — Freiherrn von Auffenberg!


Das kleine Manheimer Gaſtſpiel hatte den be¬
glückendſten Erfolg für mich und erhöhte meine Zuver¬
ſicht nicht wenig. Die edle Großherzogin Stephanie, die
ohne Schönheit durch Geiſt, Güte und Liebenswürdigkeit
zu bezaubern wußte und von den Manheimern ebenſo
geliebt als hochverehrt wurde, ließ mich am Morgen
nach der »Prezioſa« zu ſich rufen. Noch heute höre ich
ihre lieben, guten Worte und ſehe ihre milden, klugen
Augen.


Große Reichthümer ſollte ich von meiner erſten Gaſt¬
ſpielreiſe nicht heimbringen. Aus Beſcheidenheit hatte
ich vorher kein Honorar ausgemacht. Für mein drei¬
maliges Auftreten vor ſtets vollem — bei Prezioſa ſogar
überfülltem Hauſe erhielt ich von der Intendanz in Summa
— — zehn Dukaten!


Wie mitleidig werden unſere heutigen Gaſtſpieler, die
ſich für einen Abend 100, ja 500 Thlr. und noch mehr
zahlen laſſen, auf dieſe winzige Summe herniederlächeln!


Ja, wir »Komödianten« von ehemals waren beſchei¬
dener — — und ich bin noch heute ſtolz darauf, daß
wir es waren. Wir reiſten damals mit den primitivſten
Lohnkutſchen, auch Hauderer genannt, logirten in Gaſt¬
höfen zweiten Ranges, begnügten uns mit einem einzigen
Zimmerchen — und waren dabei ein harmlos fröhliches
Künſtlervölkchen.


[30]

Für die Einnahme von Gaſtrollen kaufte ich mir
eine eigene Sparbüchſe — und war glückſelig, da ich als
Ueberſchuß von der erſten Manheimer Gaſtreiſe Einen
Gulden hinein thun konnte. Der führte lange ein melan¬
choliſches Einſiedlerdaſein. Erſt nach meinem zweiten Gaſt¬
ſpiel (Hamburg 1826) erhielt er einige Geſellſchaft . . .
und nach der Petersburger Gaſtreiſe (1828) ward die
Büchſe zu eng.


Der Wunſch, einer größeren Bühne anzugehören,
bei der ich mehr beſchäftigt werden konnte, wurde immer
ſehnlicher in mir. Die erſt 23 jährige Amalie Neumann
dürfte ſich noch Jahre lang im Fach erſter jugendlicher
Rollen behaupten — und da wöchentlich nur dreimal
geſpielt wurde, konnte ſie mir beim beſten Willen ohne
Opfer keine bedeutenden Rollen überlaſſen.


Das geſellige Leben Karlsruhes bot wenig Erſatz
für mein dürftiges Rollenfach. Der Adel ſonderte ſich
ſtreng ab und nur auf den Muſeumsbällen tanzte er
wenigſtens im gleichen Saale mit dem höheren Bürger¬
ſtande. Aber auch auf dieſen Bällen gab es eine adelige
und bürgerliche Françaiſe. Ich ſehe noch die piquirten
Blicke einiger hochadeligen Fräuleins, als ein junger
Gleichgeborner — wahrſcheinlich ein verkappter Republi¬
kaner — es wagte, mich bei meinem erſten Erſcheinen
als Hofſchauſpielerin auf dem Muſeumsballe in die adelige
Françaiſe am oberen Ende des Saales einzuſchmuggeln.
Mich amüſirten dieſe froſtigen Blicke nicht wenig — ich
[31] rächte mich durch das Aufbieten meiner ganzen Tanzkunſt
und die unbefangenſte, heiterſte Konverſation mit meinem
kühnen Tänzer . . . und bald war in die ſo ſchön ge¬
ſchloſſene hochadelige Phalanx für immer eine Breſche
getanzt — durch eine Schauſpielerin.


Erſt in Berlin begriff ich, daß Geiſt und Gemüth,
erfriſchende Geſelligkeit, herzliches Entgegenkommen, lie¬
benswürdige Gaſtfreundſchaft in Karlsruhe um's Jahr
1823 gar nicht exiſtirten.


Und mein Sehnen, aus dieſen kleinlichen Verhält¬
niſſen fortzukommen, ſollte früher erfüllt werden, als
ich ſelbſt zu hoffen gewagt.


In der Probe zu Kotzebue's »Wirrwarr« ſah ich
neben dem Regiſſeur Mittel einen ältlichen Herrn mit
wohlwollendem Geſicht und feinen Manieren. Ich hörte,
es ſei Heinrich Bethmann, der liebenswürdige Schau¬
ſpieler und Gatte der ſo früh verſtorbenen berühmten
Friederike Unzelmann-Bethmann. Zum Direktor des in
Berlin von reichen Aktionären neu gegründeten »König¬
ſtädter Theaters« gewählt, machte er jetzt eine große
Rundreiſe, um von den deutſchen Bühnen für das neue
Unternehmen die beſten Kräfte zu gewinnen. Auf dieſer
Tour hatte er ſich bereits den Namen »Bühnen-Pirat«
erworben, den er mit großem Stolz trug.


»O, wenn er doch auch mich wegkapern wollte!«
dachte ich ſehnſüchtig — und war während der ganzen
Probe zerſtreut . . . Und als ich nach Hauſe kam, ſaß
der Pirat traulich neben der Mutter auf dem Sopha
[32] und — bot mir mit dem Zauber ſeiner berüchtigten
Beredſamkeit ein ſehr verlockendes Engagement an als
— Erſte Liebhaberin. »Den 4. Auguſt wird unſere Bühne
eröffnet, aber ſchon Ende Mai beginnt das Einſtudiren.
Sie können bei uns nach Herzensluſt mit den bewähr¬
teſten Künſtlern ſpielen — und ſich an den Vorbildern
erhabenſter Kunſt auf der königlichen Bühne weiterbilden.
Die guten Berliner werden Ihnen und der Frau Mutter
ſchon gefallen. . . .« Wie berauſchend klang dies Alles
aus Bethmann's Munde! Freudeſtrahlend unterzeichnete
ich ein Engagement auf ein Jahr . . . und bald ſchied
ich mit tauſend Thränen von dem ſchönen Vaterlande,
von den mir ſo herzlich wohlwollenden Kollegen und all'
den andern guten, herzigen Menſchen in dem ſtillen Karls¬
ruhe. Hinaus ging's zum erſten Mal — und jetzt nicht
im Hauderer, nein, mit der Mutter im eigenen Wägel¬
chen mit Extrapoſtpferden und luſtig blaſendem Poſtillon
— hinaus in die weite, bunte, ſchimmernde Welt — in
den lachenden Frühling hinein. . . . Was wird dieſe
fremde Welt dem jungen, quellenden, ſehnenden Herzen
bringen? — Roſen oder Dornen?


Wenn ich jetzt bei der ſich ſanft neigenden Sonne
auf die ſeitdem herabgeglittenen vielen Jahre zurückblicke,
ſo kann ich mit dankerfülltem Herzen — gegen Gott
und die Menſchen! — niederſchreiben: jene weite, unbe¬
kannte Welt hat mir ſo viel köſtliche Roſen gebracht,
daß ſie die Dornen faſt verdeckten!

[[33]]

III.
Eröffnung des Königſtädter Theaters.

Welchem guten alten Berliner geht nicht noch heute
das Herz ſo frühlingsfriſch und fröhlich und — doch
wieder ſo jugendſehnſüchtig-wehmüthig auf bei dem
Namen: »Königſtädter Theater«? — oder wenn er bei
dem mächtigen, alten, längſt zur Wohnungskaſerne um¬
gewandelten Hauſe auf dem Alexanderplatze, der früher
Ochſenmarkt hieß, vorübergeht und daran denkt, wie er
vor ſiebenundvierzig Jahren im apfelgrünen Frack und
drunter das junge theaterſchwärmende Herz — die holde
Julie mit den langen, braunen Locken und dem blau¬
ſeidenen Spencer und dem gelben Strohhut à la Galathea
am Arm — an einem heißen Auguſttage vier Stunden
lang vor dem Theatereingange von glühenden Menſchen¬
wogen hin- und hergeſchoben wurde . . . und wie endlich
die Pforten ſich öffneten und der Strom ſtöhnend —
kämpfend — dampfend ſich hineinzwängte . . . und wie
er doch zuletzt glücklich auf ſeinem Parterreplatze anlangte,
Erinnerungen ꝛc. 3[34] wenn auch mit dem Opfer des einen apfelgrünen Frack¬
ſchoßes und der Hälfte der braunen Locken und des einen
blauen Atlaßſchuhes der holden Julie . . . und wie ſie
beide doch ſo unendlich glücklich waren, der Eröffnung des
neuen Königſtädter Theaters beiwohnen zu können. . . .


In dies alte, theaterenthuſiaſtiſche Berlin von anno
1824 — wie es ſich das junge Berlin von anno 1870
kaum noch denken kann — fuhren die Mutter und ich
am 26. Mai 1824 Nachts 11 Uhr ein, — durch die
nicht enden wollende Königsſtraße dem Ochſenmarkt zu.
Bethmann hatte verſprochen, uns dort ein proviſoriſches
Logis zu miethen.


Der große Ochſenmarkt war wie ausgeſtorben. In
dem bezeichneten Hauſe links neben dem Theater ſchienen
ſämmtliche Bewohner zu ſchlafen. Der Poſtillon blies,
rief, klopfte, zog die Glocke — lange vergebens. Endlich
wurde ein Fenſter im erſten Stock geöffnet. Ein Licht
und ein jugendliches Geſicht neigten ſich hinaus, und in
bayeriſcher Mundart hörten wir: »Kommen Sie etwa
aus Karlsruhe? Dann bitte heraufzukommen! Direktor
Bethmann hat uns erſucht, Sie zu bewillkommnen; bis
morgen müſſen Sie ſich ſchon mit dem beſtellten, leider ſehr
unwohnlichen Zimmer behelfen.« Die artige Sprecherin,
Fräulein Weidner aus München, begrüßte mich als Kol¬
legin ſehr herzlich. Aber eine Hiobspoſt kam nach: Beth¬
mann hatte nach einer heftigen Scene mit den Aktionären
ſeine Entlaſſung gefordert — erhalten — und tief ge¬
kränkt Berlin verlaſſen.


[35]

Aus übervollem, bangen Herzen, mit Seufzen und
Thränen klang uns dieſer Willkomm in der wildfremden
Stadt entgegen. Bekümmert und erſchrocken ſetzten die
Mutter und ich uns auf eines der Betten in dem ſopha¬
loſen, unbehaglichen Zimmer, und Fräulein Weidner und
ihre Mutter auf das gegenüberſtehende. Klagend fuhr
die Kollegin fort: »Es herrſcht hier heilloſe Unordnung!
Nichts iſt fertig, nur Weniges vorbereitet. Keine Rollen
ſind vertheilt, keine Proben angeſetzt. Vice-Direktor und
Sekretär Baron von Biedenfeld vermag trotz des beſten
Willens keine Autorität zu erlangen. Niemand will ge¬
horchen. Die Regiſſeure Schmelka und Angeli hemmen
die Thätigkeit ihres einſichtsvollen Mitregiſſeurs Nagel
durch Eiferſüchteleien und Mißtrauen. Der Geſchäfts¬
führer, Juſtizrath Kunowsky, iſt ein geiſtreicher Mann
und mit Enthuſiasmus dem neuen Inſtitut ergeben, aber
ihm fehlt Zeit, Praxis und — Energie. Er taucht auf
und verſchwindet wie ein Irrwiſch und hinterläßt nur
Verwirrung. Die Aktionäre wiſſen wohl die Einnahmen
zu berechnen, geizen aber mit den nöthigſten Ausgaben.
O hätte ich doch mein trautes München nicht verlaſſen!«


»Und wir nicht unſer ſchönes Karlsruhe!« — und
Thränen drohten auch bei mir auszubrechen. . . . Da
ertönte eine Flöte — wehmüthige Melodieen — ſehr gut
geblaſen. . . .


»Der Stiefſohn Bethmann's« — erklärte die Weid¬
ner, ſanfter, ernſter Jüngling; er wohnt über
uns und muſizirt oft die ganze Nacht hindurch.«

3 *[36]

»Das fehlt' uns noch!« rief meine Mutter in komiſcher
Verzweiflung, — »nichts ſtimmt trauriger, als melancho¬
liſches Flötenſpiel . . . o wie er jetzt ſo ſchwermüthig
bläſt:

»Mir auch war ein Leben aufgegangen!«


von Kapellmeiſter Himmel. . . .«


»Sicher folgt jetzt:

»An Alexis ſend' ich Dich!«


lachte die Weidner — und richtig: Gleich intonirte die
melancholiſche Flöte den Roſengruß an Alexis.


Da lachten wir denn hell auf — und wurden Alle
heiterer und muthvoller. Und bald lullte uns:

»Freudvoll und leidvoll«


des ſchwärmeriſchen Flötenſpielers ganz angenehm ein —
die erſte Nacht in dem großen, wildfremden Berlin.


Der folgende Morgen ließ ſich beſſer an. Ein etwas
zweifelhaftes Individuum präſentirte ſich als Theater¬
diener und brachte die erfreuliche Nachricht: die gegen¬
überwohnende Frau Doktorin Rintel ließe uns einladen,
das freie, hübſche Logis über ihrer Wohnung zu be¬
ſichtigen.


Froh eilte ich hinüber — und nach wenigen Stunden
war Alles ſo weit eingerichtet, daß wir Beſuch empfangen
konnten. Als ich treppauf treppab ſprang, um das Aus¬
packen zu überwachen, und rüſtig mit Hand anlegte —
trat mir aus dem Zimmer des erſten Stockes eine nicht
mehr junge, aber höchſt anmuthige Dame entgegen und
ſagte auf die liebenswürdigſte Weiſe: — »Ich bin die
[37] Doktorin Rintel — mein Vater iſt der Direktor der
Singakademie Zelter! — Bethmann, ein Freund meines
Mannes, hat Sie uns empfohlen. Er kam vor ſeiner
ſchnellen Abreiſe noch athemlos gerannt, um dies Brief¬
chen für Sie einzuhändigen. Recht viel Liebes haben
wir von der Süddeutſchen vernommen; nach Kräften
werden wir Ihnen beiſtehen!«


Da erſchien mir Berlin doch ſchon in einem roſigeren
Lichte. Wir waren nicht mehr verlaſſen; gute, liebe
Menſchen wollten ſich unſerer annehmen. . . .


Bethmann ſchrieb: »Um Ihretwillen, liebes Fräu¬
lein, bedaure ich hauptſächlich, Berlin ſo ſchnell verlaſſen
zu müſſen! Denn Sie ſind unſtreitig von den Mitglie¬
dern die Unerfahrenſte im Theater-Treiben. Doch nur
muthig vorwärts! — Talent, Jugend und ernſtes, eifriges
Streben werden auch Ihnen helfen, im neuen Kunſt¬
tempel Fuß zu faſſen. Vor dem Herbſt kehre ich wieder
und ſtelle Sie meinen ehemaligen Kollegen von der könig¬
lichen Bühne vor. . . .«


Wie heimiſch fühlten wir uns gleich bei Rintels,
wie ungenirt plauderten wir zuſammen, ſo vertrauens¬
voll, als ſei es nicht das erſte Mal, daß wir am Fami¬
lientiſch mit ihnen Kaffee tränken. Des Doktors ſanftes,
würdiges Weſen beruhigte und flößte Sympathie ein.
Das liebenswürdige Paar beſtätigte die Verſicherung
Bethmann's, daß die Berliner mit Ungeduld der Er¬
öffnung des Königſtädter Theaters — damals der ein¬
zigen Bühne neben der königlichen — entgegenſähen,
[38] und das Publikum ſich freue auf die heiteren Lebens¬
bilder; — denn nur Luſtſpielen, Lokalpoſſen, Operetten
ſolle die neue Bühne geweiht ſein, höchſtens dürften
dann und wann Melodramas ihre düſteren Schatten
werfen. Der König hätte gern dem Kommerzienrath
Cerf die Konzeſſion zum Bau eines zweiten Theaters
ertheilt, da beim königlichen Theater das klaſſiſche Re¬
pertoir vorherrſche und der König heitere Lebensbilder
im Volkston beſonders liebe.


»Aber warum läßt der König denn nicht ſeine Lieb¬
lingsſtücke auf ſeiner Bühne ſpielen?«


»Nein, Friedrich Wilhelm der Gerechte hat mehr
als einmal geſagt: Ich will meinen Geſchmack dem
Publikum nicht aufdrängen; — und Graf Brühl, der
Intendant, ſoll in Ruhe gelaſſen werden!«


Baron Biedenfeld machte uns ſeinen Beſuch. Der
Vize-Direktor trug einen verſtümmelten Arm in ſchwarz¬
ſeidener Binde; die Orden auf ſeiner Bruſt erklärten uns,
wie er zum Krüppel geworden. Der Mutter und mir
ſtiegen die Thränen in's Auge — — wir dachten an
meinen Vater, der aus jenen Schlachten für's Vaterland
nicht wiederkehren durfte. Der Baron mochte wohl vier¬
zig Jahre zählen und hatte angenehme, intelligente Züge.
Er zeigte ſich als feingebildeter Mann und plauderte
bald gemüthlich in Wiener Mundart. Er lud uns freund¬
lich ein, ihn nach Hauſe zu Frau und Tochter zum Mit¬
tageſſen zu begleiten. Wir würden dort auch ſeinen
Schwiegerſohn Spitzeder kennen lernen.


[39]

»Wenn das ſo fortgeht,« rief ich fröhlich, »müſſen
wir an eine beſchützende, unſichtbare Macht glauben.
Warum aber blicken Sie ſo traurig, Herr Baron?«


»Lina, bedenke doch!« verwies die Mutter. . . . Ent¬
ſchuldigen Sie, Herr Baron, das laute Denken meiner
Tochter!«


»O, laſſen Sie das Fräulein doch aufrichtig ſein!
Zu bald wird ſie leider nur Klugheit ſprechen müſſen,
wenn ſie durchkommen will auf den heißen Brettern. —
Sie haben aber ganz recht geſehen, mein aufrichtiges
Fräulein: ich bin ſehr deprimirt! Seit Bethmann's
Zerwürfniß mit den Aktionären iſt meine Stellung uner¬
träglich geworden: ich ſoll Alles vermitteln, ermöglichen
— und werde bei der herrſchenden Konfuſion nachgerade
mit verwirrt. Doch, dies darf Sie nicht entmuthigen,
bitte, erfreuen Sie mit Ihrer Heiterkeit meine heimweh¬
kranke Frau und Tochter — ſie vermiſſen hier noch
mehr als ich unſer geliebtes Wien.«


Am Fuß der Treppe hörten wir einen Wagen an¬
raſſeln, und eben auf dem Trottoir — ſtießen wir auf
einen Herrn, den Biedenfeld: »Ah! Kunowsky!« begrüßte.
Dann ſtellte er vor: »Herr Juſtizrath Kunowsky —
unſere Hauptſtütze, Geſchäftsführer und geiſtiger Dirigent
des neuen Inſtituts, das belebende Element des ganzen
Unternehmens!« Es klang wohl etwas Ironie aus dem
Lobe, — Kunowsky indeſſen nahm es à la lettre. Er
bot mir ſeinen Arm, mich zu Biedenfeld's zu führen.
Und nun — während der kurzen Strecke ſollte ich die
[40] echte, berühmte und berüchtigte Berliner Suada kennen
lernen. Solch' ein Ueberſtürzen verſchiedener Thematas,
ſolch' Gemiſch von Witz, Laune und Raketenſprühen im
allerſchnellſten Tempo hatte ich bis dahin noch nie gehört.
— Betäubt — verwirrt — konnte ich nur ſelten einige
Bemerkungen einſchalten. Kunowsky's Aeußeres frap¬
pirte mich auch; — ich vermochte nicht zu ſagen,
ob mich ein Alter-Junger, — oder ein Junger-Alter
führte. Die ſchlanke, geſchmeidige Figur, das nach Art
der Studenten geſcheitelte, lockige, braune Haar, die
blauen, geiſtvoll ſtrahlenden Augen — und dazu ein
ziemlich verwittertes, fahles Geſicht und bedenklicher
Zahnmangel. . . .


Kunowsky ſprühte: »Unſer Theater wird bald das
königliche überflügeln! — junge Kräfte, immenſe Ta¬
lente! — bei den Hofſchauſpielern iſt die Glanzperiode
vorüber. . . .«


»Madame Stich iſt aber doch noch zu den jugend¬
lichen Künſtlerinnen zu zählen?«


»Jewiß! jewiß, — impoſante Geſtalt, vortrefflich
im Trauerſpiel, — aber im Luſtſpiel ungraziös, gar
nicht bedeutend. . . .«


»Und die geprieſene Frau v. Holtei? — kaum in
den Zwanzigen. . . .«


»Reizende Erſcheinung, beſonders als Käthchen von
Heilbronn und Melitta, — aber zu klein, zu lange
Arme, beſchränktes Fach, auch nicht lebensfriſch genug,
zu veilchenartig beſcheiden wirkend. . . .«

[41]

»Und Devrient, Wolff, ſeine Gattin, Rebenſtein,
Krüger ꝛc., ſind das nicht Künſtler in voller Kraft ihres
Talentes?«


»Jewiß! jewiß! — aber unſere Königſtädter werden
ihnen ſchon nachkommen. Klaſſiſche Stücke — d. h.
Trauerſpiele dürfen wir zwar nicht geben, doch das wird
ſich finden. Und wir werden dafür ein brillantes Re¬
pertoir haben. Ludwig, Meyer, Piehl, Nagel — welche
Schauſpieler! Schmelka, Angeli, Röſike — welche Ko¬
miker! — und Spitzeder, unſere Perle, unſer Stolz!
— und die Damen — Weidner, die Schweſtern Sa¬
torius und Herold, Karoline Müller, Sie, Verehrteſte —
welche Künſtlerinnen!«


»Erlauben Sie, Herr Juſtizrath, — ſpielen dieſe
Damen — zweite Liebhaberinnen?«


»Nein! — Erſte!«


»Sieben erſte Liebhaberinnen an einer Bühne . . .
da hätte ich Luſt, ſogleich wieder abzureiſen. Mein
Kontrakt lautet auf erſte Partieen, und ich habe nicht
die Karlsruher Bühne verlaſſen, wo ich neben Madame
Neumann gefiel, um mit dieſen ſechs Damen hier um
die Palme zu ringen!«


»Begreife, Verehrteſte, aber im Anfang müſſen
Sie der Sache halber auch unbedeutendere Rollen über¬
nehmen. Im Tournier zu Kronſtein iſt die Gräfin
Elsbeth Ihnen zugetheilt; in acht Tagen wird die erſte
Probe ſtattfinden, am Geburtstag des Kronprinzen wird
das Stück gegeben werden.«

[42]

Aber der Geburtstag iſt ja erſt am 15. Oktober —
und jetzt haben wir Mai. Warum werden denn nicht
die vorhergehenden Stücke einſtudirt?«


»Kleinigkeit, wird Alles zur Zeit geſchehen . . .
und nun folgte eine wahre Apotheoſe des neuen Inſti¬
tutes, von dem Wohlwollen des Königs, der brennenden
Ungeduld des Publikums — einer neuen, herrlichen
Kunſtepoche . . . und ſo unaufhaltſam weiter. . . .


Erſt bei Biedenfeld's durfte ich freier athmen. Mit
Herzlichkeit wurden wir von den Wienerinnen bewill¬
kommnet. Die Baronin hatte dieſelbe Ruhe und Milde
in ihrem Benehmen, wie meine Mutter. Sie war früher
an den Komiker Schüler in Deſſau verheirathet geweſen
und hatte ſelbſt als Sängerin geglänzt. Ihre Tochter
aus erſter Ehe, Frau Spitzeder, war eine zierliche Er¬
ſcheinung: ſchwarze Prachtaugen ſchauten aus dem blaſſen,
lieblichen Geſicht unendlich wehmüthig, als ſuchten ſie
vergebens das geliebte Wien, wo Henriette Spitzeder als
erſte Sängerin der Liebling der Wiener war. Oder
ahnten dieſe ſchönen, traurigen Augen, daß ſie ſich ſchon
nach vier Jahren auf immer ſchließen ſollten? — Spitz¬
eder, der berühmte Wiener Baßbuffo, dagegen ſah fröh¬
lich und zuverſichtlich aus. Ein großer, blondlockiger,
ſchöner junger Mann, deſſen lächeln und blitzende tief¬
blaue Augen den humoriſtiſchen Schalk verriethen.


Plötzlich ſagte Kunowsky Adieu! — und fort war er.
Wir ſahen uns eine Weile beobachtend — lächelnd an
— aber der köſtliche Spitzeder gab in ſeiner derb gemüth¬
[43] lichen Wiener Art den Gedanken Worte: »Unſer Ge¬
ſchäftsführer iſt heut wieder einmal e biſſel — verruckt!
Sonſt ein ſeelenguter, auch kluger Herr, — aber hier
im Oberſtübchen geht es manchmal drunter und drüber
und zum Dirigenten für ein Theatervölkchen fehlt ihm
eine gute Portion Energie und kaltes Blut!« — Dann
ſchlug er plötzlich in das höchſte Pathos um: »Wir fahren
halt auf dem Meer fremder Verhältniſſe, und wiſſen
nicht, ob's Schifflein glücklich landen wird! — aber um
uns zu ſtärken vor den herannahenden Kämpfen, wollen
wir Leidensgefährten — — (in Wiener Mundart) jetzt
echte Wiener Rahmſtrudel eſſen.«


Für mich war dies genügend, um in tolles Lachen
auszubrechen; die andern mußten mit einſtimmen, ſelbſt
die kleine ernſte Frau, und nun weidete ich mich förmlich
an Spitzeder's unerſchöpflicher, liebenswürdiger Laune,
die dem Komiker bald in Berlin auf Befehl des Königs
24 Stunden Arreſt eintragen ſollte. Während des
ruſſiſch-türkiſchen Krieges extemporirte er nämlich im
Königſtädter Theater: »Die Fuſelmänner gegen die
Muſelmänner . . .« und eine preußiſche Königſtochter
war ja Kaiſerin der Fuſelmänner. — Als wir mit Cham¬
pagner auf glückliches Landen des Schiffes anſtießen,
kam ein Bote von Kunowsky mit einem Bleiſtiftzettel
an mich: »Verehrteſte! Ich vergaß zu erinnern, daß Sie
morgen durchaus den Herren Aktionären Beſuche abſtatten
müſſen; hier die Adreſſe — von den verheiratheten Mata¬
doren. Abends erwartet meine Frau Sie mit der werthen
[44] Mama. Es iſt unſer Empfangstag, und wir freuen uns,
Sie mit den für Kunſt glühenden Stammgäſten bekannt
zu machen.« —


»Wie liebenswürdig!« bemerkte meine Mutter.


»Ja gewiß!« — ſagte die Baronin reſignirt —
»aber die Damen werden gleich uns bei dem Rout Ent¬
ſetzliches ausſtehen: — kleine Zimmer, überfüllt von
Beſuchenden. Das iſt ein betäubendes Kommen, Gehen,
Drängen, Schwätzen. . . . Ich werde ſtets krank von
dem — Vergnügen!«


In grauſeidenem Ueberrock, mit Roſa verziert, eine
Pariſer roſa Atlas-Toque mit Marabouts auf den hoch¬
friſirten Locken, die Mutter ſchwarz, im hellgelben Krepp¬
hut — fand ich unſere Toilette ſehr hübſch für die
Viſiten bei den Herren Aktionären. Aber wie wurde ich
angeſtarrt! Ob vielleicht die Toque zu verwegen auf¬
geſtülpt war? — oder ob ich mich nicht demüthig genug
vor den Millionären verbeugte? Ich vernahm wenigſtens
ſpäter von Baron Biedenfeld, daß Bankier Fränkel ihm
andern Tags geſagt: »Bedenken Sie ja die etwas deter¬
minirt ausſehende Blondine mit erſten Rollen, denn
zweite wird ſie ſicherlich nicht oft übernehmen.«


Bankier Beneke, wegen ſeines Reichthums auch
Fürſt Beneke genannt, ſprach ſehr leiſe, aber angenehm,
und geleitete uns zu ſeiner Gattin — wie verlegen.
Durchlaucht lehnten in der Sophaecke, ein Riechfläſchchen
[45] in der Hand, und klagten herablaſſend im beſten Ber¬
liniſch über Nervenkopfweh. Wir wollten uns ſogleich
entfernen, — wurden aber erſucht, Platz zu nehmen.
Eine gezwungene Unterhaltung entſpann ſich. Durch¬
laucht geruhten unter Anderm zu fragen: »Haben Sie
denn ein jutes Jedächtniß? — Das Auswendiglernen
muß doch entſetzlich ſind!«


Ich war im Begriff pikirt zu antworten, aber ein
Blick der Mutter verhinderte es. Rächen mußte ich mich
aber doch, — und ſo erwiederte ich lammfromm: »Ich
beſitze jar kein Jedächtniß, — ich bin ein jequältes
Menſchenkind!« —


Ihr Erröthen bewies, daß ſie mich verſtanden hatte.
Sie blieb meine Gegnerin von dieſer Minute an. Ich
habe nie wieder einen Fuß in dies goldene Haus geſetzt.


Von einer anderen Mad. Beneke, deren feenhafte
Feſte Friedrich Wilhelm III. nicht ſelten beehrte, um ſich
— an dem unverfälſchten Berliniſch der Wirthin zu er¬
götzen, wußte Spitzeder allerlei Anecdoten zu erzählen.
Sie titulirte den König nur »Majeſtäteken«. — Als
nun einſt eine wohlmeinende, aber weniger reiche Freundin
die Millionärin vertraulich erinnerte, doch nicht immer
»jeloffen« ſtatt gelaufen zu ſagen, platzte dieſe heraus: »Ach
wat, Liebſte, laſſen Sie mir man: Ihre Töchter ſind nun
ſchon 30 Jahre jelaufen und jelaufen un haben bis heute
noch keinen Mann gekriegt — meine Töchter ſind jeloffen
un jeloffen un waren mit 17 Jahren ſchon futſch!« —


Am Abend ſaß ich zum erſten Mal in höchſter
[46] Spannung im erſten Range des dichtbeſetzten königlichen
Schauſpielhauſes. Es erſchien mir gegen das Karlsruher
klein, aber eleganter, auch beſſer beleuchtet. Es wurde
»Hermann und Dorothea« gegeben, von Dr. Karl Töpfer
nach Goethe's Dichtung für die Bühne bearbeitet.


Neben mir ſaß ein gemüthlich-heiterer Herr von
einigen 30 Jahren. Sein ganzes Weſen erinnerte mich
lebhaft an meinen lieben Hofrath in Iffland's Hageſtolzen.
Mein jugendlich aufblitzendes Entzücken über einzelne
Stellen der Dichtung — meine Begeiſterung über das
vollendete Spiel ſchienen ihn zu ergötzen. Wir kamen
in den Pauſen in's Plaudern. Mein Nachbar ſprach
über Kunſt und Schauſpieler voll Verſtändniß und Be¬
ſcheidenheit — angenehm und liebenswürdig. Er hatte
ſogleich die Fremde und begeiſterte Kunſtnovize erkannt —
[und] nannte ſich mir als früheren Kollegen und Verfaſſer
von »Hermann und Dorothea« — Dr. Töpfer.


Töpfer war Hofſchauſpieler in Wien geweſen, hatte
dann durch Deutſchland Kunſtreiſen gemacht und beſonders
durch ſein Guitarrenſpiel entzückt. Seit einigen Jahren
hatte er die Bühne verlaſſen und war mit großem Glück
als Luſtſpieldichter und Novelliſt aufgetreten. Seine
Luſtſpiele: »Des Herzogs Befehl« und »Der beſte Ton«
wurden damals auf allen Bühnen gegeben und haben
ſich bis heute auf dem Repertoir erhalten. Vor wenigen
Wochen iſt Töpfer in Hamburg geſtorben.


»Hermann und Dorothea« iſt kein Effektſtück und
vermag nicht rauſchenden Beifall zu erzielen; — aber
[47] die faſt andächtige Aufmerkſamkeit des Publikums, das
bewundernswürdige Zuſammenwirken der edlen Mimen
ließen mich die »echte Weiſe der Kunſt« ahnen und den
glühenden Wunſch in meinem Herzen aufſteigen: mit
dieſen Künſtlern ſpielen, von ihnen lernen zu können!
Da drängte ſich Niemand vor, da geſtaltete ſich das
Ganze ſo harmoniſch, daß man das »Spiel« vergaß.
Man konnte ſich einbilden, mit den biederen Menſchen
dieſelbe Luft eingeathmet, jahrelang mit ihnen verkehrt
zu haben, — ja, den Sonnenſchein zu fühlen, der die
reizende Gegend beleuchtete.


Und die Künſtler, die dieſen Täuſchungszauber her¬
vorbrachten, waren: Herr und Madame Wolff, Ludwig
Devrient, Beſchort, Lemm, Rebenſtein und Karoline
Lindner. — Mad. Stich, die ſpätere berühmte Krelinger,
fehlte in dem Künſtlerkreiſe. Sie weilte augenblicklich
mit ihrem Gatten in Paris, um den Zorn der Berliner
über eine damals vielbeſprochene unglückſelige Geſchichte,
auf die ich zurückkommen werde, verdampfen zu laſſen.


In dem Rollenfach der Stich gaſtirte nun Karoline
Lindner, die Zierde des Frankfurter National-Theaters.
Heute gab ſie die Dorothea.


Bei dem erſten Anblick der kleinen, gedrungenen
Dorothea mit dem unſchönen, dicken Kopfe flüſterte ich
Dr. Töpfer zu: »Wie ſchade, daß die ſchöne Madame
Stich heute nicht ſpielt!«


Er lächelte: »Nach dem Aktſchluß werden Sie anders
urtheilen.«

[48]

Und ſo kam es. Kaum hatte Dorothea einige
Worte geſprochen, ſo ſchämte ich mich des vorſchnellen
Urtheils. Die ſüße Stimme mit der vibrirenden Innig¬
keit erfaßte mich mächtig, und die ſittſame Grazie ihres
Weſens ließ ſie ſogar anmuthig erſcheinen. Die großen,
ſeelenvollen Augen entſchädigten für die unſchöne Ge¬
ſichtsbildung.


Von einem anderen, noch glänzenderen Triumphe,
den das ſeltene Talent und das reiche, ſchöne Herz der
unſchönen Karoline Lindner ſogar über die jugendblühende,
bildſchöne Amalie Neumann in Berlin davontrug, er¬
zählte mir ſpäter der bekannte Geheimrath Heun — der
viel geleſene, viel geliebte und — viel geſchmähte Clauren.


Clauren hatte das Suschen in ſeinem »Bräutigam
aus Mexiko« für Amalie Neuman geſchrieben — und
dies ſchöne Suschen hatte ganz Berlin entzückt —
berauſcht. . . Und nun wollte die eckige, unſcheinbare
Karoline Lindner es wagen, in derſelben Rolle vor das
Berliner Publikum zu treten — welche Anmaßung!


Clauren erzählte: »Das Theater war — wohl mit
aus Neugier, wie dies kühne Unternehmen der kleinen
Frankfurterin ausfallen werde, überfüllt. Keine Hand
rührte ſich, als nach dem Aufrollen des Vorhanges das
reizloſe Suschen am Klöppeltiſch ſichtbar wurde.


Mir klopfte hörbar das Herz, und ich bedauerte,
der Lindner dieſe Rolle nicht abgerathen zu haben. Ich
konnte bemerken, wie viele Zuſchauer lächelten, die Köpfe
ſchüttelten, als wollten ſie ſagen: das war vorauszuſehen,
[49] — ein unbegreiflicher Mißgriff von einer ſonſt ſo denken¬
den Künſtlerin!


Die erſte Unterredung mit der Tante wurde gleich¬
gültig aufgenommen, — doch nach und nach regte ſich
die Theilnahme, — und am Schluß des Aktes ertönte
Beifall. Nach der Beſchreibung des Traumes im dritten
Akt aber jubelte bereits das ganze Haus vor Entzücken,
und nach dem vierten Akt geſtanden ſelbſt die glühendſten
Verehrer des ſchönen Suschens, daß dieſem unſchönen,
herzig gemüthlichen, heiter-ſeelenvollen — der Preis gebühre.
— Die hellen Thränen liefen mir über die Wangen, als die
tief gedemüthigte Spitzenklöpplerin ſo traurig und ergeben
ſich zur Arbeit ſetzte, und klagte: »mein Mütterchen im Grabe,
Du hörſt das Weinen Deines Kindes nicht!« Nur einer
Nüance will ich erwähnen, welche das Publikum elektriſirte.


Wenn die Tante die von Suschen im Spitzenkarton
eingeſchmuggelte ſeidene Schürze bemerkt, und ſie hervor¬
ziehend frägt: »Wie kommt denn die Schürze in den
Karton?« — waren wir gewohnt, die Neumann keck
antworten zu hören, indem ſie die Tante dabei durchaus
nicht ſchüchtern anblickte: »Wie kann man ſo vergeßlich
ſein! Du haſt ſie ja ſelbſt hineingelegt!« Lindner-Suschen
löſte verlegen den am Arm hängenden runden Strohhut,
ſetzte ihn auf, und den Schirm ein wenig in's Geſicht
drückend — belog ſie zum erſten Mal ihre Wohlthäterin
leiſe — zitternd und vermochte nicht, der Tante dabei
in's Auge zu ſehen! — und ſo folgten unzählige Ge¬
müths- und Charakterblitze. . .


Erinnerungen ꝛc. 4[50]

Auch in höheren dramatiſchen Aufgaben leiſtete die
Lindner Großes! Sogar als ſtummer Viktorin in »Waiſe
und Mörder« wußte ſie durch ihre Mimik zu bezaubern.
Sie gab keinen ſentimentalen Jüngling, koſtümirt wie
der Page in Figaro's Hochzeit, den Tituskopf zierlich
friſirt. Im dunklen Anzuge, der ſie ſchlank erſcheinen
ließ, die Künſtlerlocken zurückgeſtrichen, trat dieſer Viktorin
feſten Schrittes auf, die Augen, wie im Fieber glühend,
ſuchten überall nach dem Mörder ſeines Vaters. . . Man
ſah einen jugendlichen, energiſchen Künſtler, der mit
ſeinem Meißel ſchon das Andenken des theuren Vaters
verewigte. Und als ſie Raimbauts endlich erkannte,
ſtandirte ſie nicht, wie viele Gefeierte, nachdrücklich:
»Dies iſt der Mörder meines Vaters!« — nein, nach
neunjährigem Verſtummen rang ſich ein Herz und Mark
erſchütternder Schrei: »Mörder — Vater!« — gewaltſam
— krampfhaft aus der gequälten Bruſt . . . und Victorin
brach zuſammen. . .«


Das Urtheil Clauren's war vielbedeutend, denn auch er
zählte zur begeiſterten »alten Garde« Amalie Neumann's.


Clauren und ſein Sohn wurden in Berlin nach
Kotzebue's Luſtſpiel »die beiden Klingsberge« genannt,
weil auch ſie Beide dieſelben Kreiſe beſuchten. Clauren's
ſchriftſtelleriſche Produkte wurden oft bitter, unbarmherzig
heruntergeriſſen, und ſein jährlich erſcheinender Taſchen¬
kalender »Vergißmeinnicht« kam aus der Mode. Am
ſchärfſten hat ihn Wilhelm Hauff in ſeinem »Mann im
Monde« mitgenommen, welcher Roman bekanntlich im
[51] ſüßlichen Clauren'ſchen Styl und unter dem Namen
»Clauren« erſchien. Seit der Zeit hat Clauren einen
gar böſen Ruf als Schriftſteller und Menſch — — aber
ich habe ihn beſſer als ſein Ruf kennen gelernt. Geheime¬
rath Heun war gaſtfrei, aufrichtig, treu ſeinen Freunden
ergeben und der liebenswürdigſte Geſellſchafter. Sein
Sohn, den er durch das Nervenfieber verlor, zeigte keine
große geiſtige Befähigung, war aber beſcheiden, gutmüthig
und allgemein beliebt. Clauren heirathete nach dem Tode
des einzigen Sohnes ein junges, ſchönes, braves Bürger¬
mädchen, und der Greis erlebte noch die Freude, ein
Töchterchen auf ſeinen Armen wiegen zu können, das
»Suschen« getauft wurde und zu einem holden Mädchen
heranwuchs.


Die Probe vom »Turnier zu Kronſtein« benahm
mir vollends alle Luſt, bei der Königſtädter Bühne zu
bleiben. Je länger ich dem tollen Treiben zuſah, um ſo
froher war ich, den Rath des Freiherrn von Auffenberg
befolgt und mir im Kontrakt ausbedungen zu haben:
nach ſechs Monaten und vorhergegangener dreimonatlicher
Kündigung mein Engagement löſen zu können. Auch
ſtand es mir frei, nach Karlsruhe in's frühere Engagement
zurückzukehren.


Das ganze bunte, ordnungsloſe Treiben bei der
neuen Königſtädter Bühne erinnerte an Wilhelm Meiſter's
Truppe, nur fehlte der — Meiſter! Zuletzt wurden auch
4 *[52] die ernſten Künſtler vom übermüthigen Zuverſichts-Strudel
mit fortgeriſſen — und à la grace de Dieu ſteuerten
wir dem 4. Auguſt, dem Eröffnungstag, entgegen.


Wenn man von der unfertigen Bühne in den Zu¬
ſchauerraum blickte, mußte man kopfſchüttelnd fragen:
Am 4. Auguſt ſoll dort Publikum ſitzen? Die Sitze
knarrten, die Oelfarbe klebte, Schutt, Steine, Holz
bildeten ein Chaos, — und auf der Bühne war es
lebensgefährlich! Als der »Wunderſchrank« mit Beleuch¬
tung probirt wurde, fielen zwei mächtige eiſerne Rollen
vom Theaterhimmel ſchmetternd zwiſchen uns nieder.


Aber je näher der Eröffnungstag heranrückte, deſto
bemerkbarer wurde ein erfreulicher Umſchwung zum
Beſſern bei der Leitung und den Schauſpielern. Das
übermüthige Lachen und Renommiren verſtummte. Mit
Ernſt und Eifer wurde ſtudirt und probirt, beſcheiden
um Rath gefragt, und jede Eiferſucht ſchien verſchwunden.
Herzlich reichten ſich Alle die Hand zur gegenſeitigen
Unterſtützung. Jeder fühlte, daß der erſte Eindruck für
das junge Inſtitut entſcheidend ſein würde. Und als
endlich an den Straßenecken zu leſen ſtand:


Heute, den 4. Auguſt 1824:
Eröffnung des Königſtädter Theaters.
Prolog.
Der beſte Freund.   Luſtſpiel.
Die Ochſenmenuette.   Operette.

— da ſtanden wir gerüſtet zum Kampf da — zitternd vor Auf¬
regung, aber doch in hoffnungsfroher, erhöhter Stimmung.


[53]

Mir war die ſchwerſte Aufgabe zugefallen, — ſelbſt
für erfahrene Künſtler eine ſchwierige: den Prolog zu ſprechen.


Mir liegt ein alter, vergilbter Brief an meinen
Bruder Louis vor. Dieſe verblaßten Schriftzüge werden
jenen Tag am friſcheſten ſchildern:


»Seit zwei Uhr wogte bereits die Menſchenmaſſe auf
dem Ochſenmarkte und kaum vermochten wir Schauſpieler
uns durchzudrängen. Ich hatte zu Hauſe meine Toilette
vollendet, fuhr im geſchloſſenen Wagen über den Platz,
und die tauſend neugierigen Augen vermehrten meine
Angſt. Mein Herz bebte ſtärker, als in Karlsruhe vor
dem erſten entſcheidenden Auftreten. Zum erſten Mal
ſollte ich vor dem kunſtſinnigen, aber auch ſtreng richten¬
den Publikum Berlins erſcheinen, noch dazu in der
undankbaren Aufgabe als Sprecherin eines Prologs . . .
und in dem ganzen großen Berlin verſchwanden die
wenigen mir freundlich Geſinnten in der Maſſe.


Auf der Bühne reichten wir uns ſtumm die Hand.
Das Herz war uns zu voll, um reden zu können. Die
elf Damen waren weiß, höchſt elegant gekleidet, die
vierzehn Herren im ſchwarzen Geſellſchaftsanzuge.


Die hohen Herrſchaften waren bis auf den König
bereits erſchienen.


Ein ſehr hübſch erdachter, närriſcher Vorprolog
ſollte das Publikum überraſchen.


Das Zeichen zum Beginn der Ouverture wurde ge¬
geben — der Kapellmeiſter erhob ſeinen Taktſtock . . .
aber kein Laut ertönte.


[54]

Da ſchrie Louis Angeli, der luſtige Vaudevilledichter,
vom Olymp herab: »Herr Regiſſeur Nagel – na, wird's
bald? es die höchſte Zeit. . .«


Nagel ſteckte ſein verzweifeltes Geſicht neben dem
Vorhange heraus: »Ach! Herr Angeli — iſt das eine
Noth! Niemand iſt an ſeinem Platz — Muſici — Ma¬
ſchiniſten — ſogar der Souffleur fehlen. . . Wer ſoll
da Muſik machen und den Vorhang aufziehen und —
ohne Souffleur, wiſſen Sie, haben Schauſpieler ja nun
einmal kein Gedächtniß. . .«


Der urkomiſche Schmelka tauchte aus dem Orcheſter
auf und zankte: »Iſt das eine tolle Wirthſchaft in dem
neuen Komödienhaus — vorwärts — marſch. . .«


Das Publikum, das Anfangs gar nicht recht wußte,
was es aus der Geſchichte machen ſollte, ging bald
luſtig auf den Scherz ein, lachte, applaudirte . . . bis
die drei verzweifelten Regiſſeure plötzlich riefen: »Der
König — der König tritt in die Loge!« und der Vorhang
ſich glatt erhob. . . In ſchönſter Ordnung ſtand im
Halbkreis das Perſonal. Ich mußte vortreten, verbeugte
mich dreimal — und begann erſt leiſe bebend — dann
muthiger — und ſchloß mit Begeiſterung: »Es lebe
Friedrich Wilhelm der Gerechte!« Der Prolog ſprach
eigentlich meine Empfindungen aus, — und erleichterte
die Aufgabe:


Sie haben mich erwählt, das Wort des Grußes

An Euch zu richten, aber ſchüchtern nur

Vermag die Fremde vor Euch hinzutreten,

Denn eine neue, unbekannte Welt
[55]
Dringt rings mit ihren Strahlen auf ſie ein.

Da wird der Blick verwirrt, es klopft das Herz,

Und blöde weiß die Lippe nur zu ſtammeln.

Wie reizend hat ſich Alles hier geſtaltet,

Den ganzen Bau erfüllt der Gäſte Zahl,

Und herrlich prangt das kunſtgeſchmückte Haus. . .

Beifolgende Rezenſionen werden Dir zeigen, daß
mein banges Herzklopfen und alle Angſt reichlich belohnt
wurden. Da kaunſt Du gedruckt ſehen, daß ich eine
ſchöne Geſtalt habe, und ein ſeelenvolles Geſicht. Was
meinſt Du? hat die Großnaſe und die kleine Komödiantin
aus Bruchſal ſich nicht hübſch herausgemuſtert? Die
Mutter hat ſich von der Gemüthsbewegung noch nicht
erholt, und überläßt das Erzählen Deiner Lina, — mit
ihrem dritten Titel auch Plaudertaſche genannt.


Wir vermochten wie in Karlsruhe nichts zu eſſen;
Kaffee mußte den Nerven aufhelfen. Als ich um zwei Uhr
unter unſerm Fenſter die Menſchenmaſſe gleich dem
Wogen des Meeres ſich über den weiten Theaterplatz
bewegen ſah — ſchwanden mir beinahe die Sinne, die
Hände zitterten beim Friſiren, und die Mutter ſah mit
Entſetzen, wie ich mich gar nicht zu faſſen vermochte.


Wir hatten das Glückskleid gewählt, — in dem ich
dem bewußten Muſeumsball beiwohnte, und zum erſten
Mal in der geſprengten adeligen Francaiſe tanzte. Du
erinnerſt Dich doch: roſa gaze iris mit Silberſtreifen
und Blumen — echte Pariſer — roſa Hyazinthen mit
weißen Roſen. Perlen als Schmuck, aber unechte. Ich
ſah wirklich hübſch aus, und der Fächer war meine
[56] Rettung für die unbeſchäftigten Hände, da Geſten bei
Prologen nur ſpärlich angebracht werden dürfen. Die
vorgeſchriebenen drei Verbeugungen ſollen gut ausgefallen
ſein, und — gegen den Schluß des Prologs war die
Angſt überwunden. — Drei Abende wurde die gleiche
Vorſtellung ſammt Prolog gegeben, und ſtets lohnte
mir donnernder Applaus.


»Der beſte Freund« ſchien ſehr anzuſprechen, der Komiker
Schmelka zeigte in der Hauptrolle ſein glänzendes Talent.


Die Ochſenmenuette machte Furore! — Du hätteſt
aber auch den prächtigen Spitzeder als Ungar ſprechen
und ſingen hören ſollen. Ich konnte mich nicht enthalten,
am Schluß ihm ſcherzend zu ſagen: »Nun, ſind Sie jetzt
überzeugt, daß ihr Schiffle glücklich landen wird? — es
fehlen nur zur Erquickung die Rahmſtrudel!« Da lachte
er ſo lieb und entgegnete: »Ich freue mich hauptſächlich
wegen meinem Weiberl, nun wird ſie ſchon heiter werden!«


Sämmtliche Mitglieder waren vergnügt über den
Erfolg, die Aktionäre ſtrahlten förmlich in ſtolzer Ge¬
nugthuung — als ob ſie die Lorbern gepflückt hätten.
Der König ſoll ſich gegen Kunowsky ſehr gnädig geäußert
haben — und wir Alle haben nur eine Bekümmerniß:
daß — Kunowsky vor Seligkeit überſchnappt!


Es gefällt uns täglich mehr in der ſchönen Reſidenz,
bei den gaſtfreien, zuvorkommenden Berlinern — und ich
werde recht verwöhnt. . .«

[[57]]

IV.
Heiße Bretter.

Die Freude über den Erfolg meines erſten Auftretens
in Berlin ſollte von kurzer Dauer ſein. Während dreier
Wochen wurden nur Stücke gegeben, in denen ich Neben¬
rollen zu ſpielen hatte. Wenn ich den Regiſſeuren vor¬
ſtellte, wie wenig ſie die Bedingungen meines Kontraktes
erfüllten, — hieß es: »Nur Geduld; gehen Sie als
Jüngſte mit gutem Beiſpiel voran, bereitwillig zum
Wohl des Ganzen mitzuwirken. Der Wunderſchrank und
Ihre Glanzrolle darin werden Wunder wirken!« —
Kunowsky ſchien verlegen jede Erörterung vermeiden zu
wollen, — es war eine recht unerquickliche Epoche, und
ich wollte ſchon kündigen. Da ſtand eines Morgens in
der Spener'ſchen Zeitung: »Die erſte Stelle unter dem
weiblichen Perſonal des Königſtädter Theaters gebührt
unbedingt Fräulein Bauer. — Wir ſahen ſie leider nur
wenig . . .« und eine ſehr ſchmeichelhafte Kritik über
meine Leiſtungen folgte.


[58]

Mit der Rezenſion bewaffnet kam ich zur Probe,
und bat die Herren Regiſſeure, das Urtheil zu leſen! —
ſie ſtellten ſich an, als hätten ſie es vorausgeſehen.


Der Wunderſchrank gab meiner Stellung eine andere
Wendung! — Beifall, volle Häuſer, neue Rollen ent¬
ſchädigten mich für die erſte trübe Zeit. Das Melo¬
drama »Die Waiſe aus Genf« erregte Furore, man
überſchätzte meine Leiſtung als Thereſe. Dann gefiel ſehr
»Die diebiſche Elſter«, »Der Schwabe in Berlin«, — die
Aktionäre überboten ſich in Lobeserhebungen und Ku¬
nowsky vergoß reichliche Freuden- und Rührungsthränen.
Voll Eifer und mit Herzensluſt ſpielte ich wohl vier- bis
fünfmal wöchentlich. Der neue Wirkungskreis wurde mir
lieb und nur kleine Wolken verdüſterten vorübergehend
meinen Bühnenhimmel.


Eine ſolche Wolke war Saphir's erſtes öffentliches
Auftreten in Berlin als — Kritiker.


Der bekannte geiſtreiche und witzige — aber ebenſo
geſinnungs- als charakterloſe Schriftſteller erzählt ſpäter¬
hin, bei Gelegenheit meines Gaſtſpiels in Wien im Mai
1839, in ſeinem »Humoriſten« dieſe kleine, aber ſehr
lehrreiche Geſchichte. Man erſieht daraus, in welcher
leichtfertigen Weiſe oft Kritiken geſchrieben wurden und
werden . . . ohne daß die Herren Kritiker daran zu denken
ſcheinen, wie tief ihre ſcharfen, giftigen Federn ein
armes Menſchenherz verwunden. . . .


Saphir ſchreibt in ſeinem Humoriſten vom 22. Mai
1839: Als ich zum erſten Male nach Berlin kam, war
[59] das »Theater« mehr als je das einzige Magen- und
Kräuterſäckchen der ganzen Berliner Konverſationswelt.
Weder Cholera oder Politik, weder Frauen- noch Tabak¬
rauchen-Emanzipation, weder junges Deutſchland noch
alter Myſtizismus hatte die geſelligen Elemente ange¬
freſſen und zerſetzt; es war Alles ein einziges Athemholen
in dem unbegrenzten Element: Theater! Nie, nirgend
und auf keine Weiſe war je die Theaterwuth ſo aus¬
ſchließlich das Lebensprinzip, die Daſeinsbedingung, der
Bruſtkern der Exiſtenz und der Pulsſchlag aller Geſellig¬
keit, als dazumal in Berlin! Hegel, Neander und Ancelot
verklangen in dem Namen Sonntag; Literatur, Kunſt
und Wiſſenſchaft zerſtoben in den Namen Stich, Devrient,
und Gewerb-, Induſtrie- und Erfindungsgeiſt flüchteten
vor dem Namen: Olle. Karoline Bauer. Dieſe Letztere
betrat dazumal gerade die theatraliſche Laufbahn auf dem
Königſtädter Theater und bildete neben der gefeierten
Sonntag den zweiten Stern der Dilettanti, der feurigen
und der ſogenannten, dazumal weitverzweigten und in
Norddeutſchland lange geneckten Theater-Alte-Garde. Von
den Zelten Charlottenburgs bis zu Stralows Krebſen¬
fluren, von den Rüben Teltows bis zum Königsberger
Klops zog ſich nur ein Schall durch die ganze Menſch¬
heit: Theater! Theater! Theater!


Um dieſe Zeit des allgemeinen Theaterkultus kam
ich nach Berlin, und hatte gleich die große Wahrheit
inne: Rede vom Theater, ſchreibe vom Theater, gleich¬
viel ob dumm oder klug, wenn du gehört ſein willſt.
[60] Ich war dazumal noch fremd und faſt ungekannt in
Berlin, ein Neuling in dieſer großen Theaterepidemie,
kein Blatt ſtand mir zum Rezenſiren offen, und doch war
es nur eine »Theaterkritik«, die mir den Weg zur öffent¬
lichen Beachtung bahnen konnte.


Ich beſuchte alſo das königliche und das König¬
ſtädter Theater und ſchrieb eine Kritik über Madame
Stich (jetzt Crelinger) und Dlle. Bauer. Dieſe Kritik
trug ich in das Bureau der »Spenerſchen Zeitung« und
fragte, ob ſie aufgenommen werden könnte. Der Mann,
der da ſaß, nahm mir die Kritik ab und zählte die
Zeilen. Ich ſtand ganz verwundert da, denn ich glaubte,
er zählte an den Zeilen den Werth des Inhalts ab.
Allein bald wurde ich eines Anderen, wenn auch
keines Beſſeren belehrt. Der Mann wendete ſich pfleg¬
matiſch zu mir: »Acht Thaler und fünfzehn Silber¬
groſchen!«


Ich glaubte nun, ich bekäme dieſe Summe als Hono¬
rar; allein ich ſollte ſie als Inſertionsgebühren bezahlen!
Furchtbarer Moment! Nie werde ich dich vergeſſen! Acht
Thaler überſtiegen die Hälfte meines dazumaligen Ver¬
mögens mitſammt »meinen Gütern in der Provence!«
Und dennoch hing an dieſer Kritik das Wohl Deutſch¬
lands, wie ich wähnte.


Ich lächelte und bezahlte! — Was ich dabei empfun¬
den, mehr beim Bezahlen, als beim Lächeln, das, lieber
Leſer, biſt Du nicht fähig, mit zu empfinden, wenn Du
nicht in der Lage warſt, ausſchließlicher Beſitzer von
[61] dreizehn Thalern zu ſein und acht davon für einen Kritik¬
druck auszugeben.


Die Kritik erſchien in der »Spener'ſchen Zeitung«,
in der ſogenannten Löſchpapiernen, mit der blaſſeſten
Tinte auf dem ſchwärzeſten Papier, und gleich hinter
ihr ſtand, wie das bei allen Kunſt- und Literaturkritiken
jener Zeiten der Fall war, die Ankündigung, daß bei
Wiſotzky guter Entenbraten und dabei Erpelgreifen ſtatt¬
finden werde. Ich las dieſe Kritik mit großem Ver¬
gnügen, nicht ohne dennoch im Geiſte zu berechnen, wie
viel ich von der untenſtehenden Ankündigung hätte ge¬
nießen können, wenn ich die obenſtehende Kritik nicht
verfaßt hätte!


Als die Kritik erſchien, war es in Berlin, als ob
ein Erdbeben geweſen wäre; Alles war in Bewegung.
Der Leſer wird und kann es nicht glauben, und nur
wer die damalige, an Freneſie grenzende Theaterſucht der
Berliner kannte, wird es nicht übertrieben finden. Ich
ging zu Stehely, um zu hören, was darüber geſprochen
würde, fand Alles in Gährung, und ein Referendar ſagte
zu ſeinem Nachbar:


»Det muß ein janzer Racker ſind!«
worauf jener lächelte und ſprach:


»Nicht nur ſind, ſondern auch ſeind!«


Wer die Blume des Berliner Referendaren-Witzes
kennt, der weiß, daß obige Phraſen ſo viel heißen, als:
das muß ein verdammter, geſalzener, gewaſchener,
[62] geriebener, dickhinterdenohrenhabender, hutantreibender,
nierenguckender, hautundſeelbeizender Gottſeibeiuns ſein!


Ich hatte nämlich in dieſer Kritik mein auf zwei
Seiten aufzumachendes Talent entwickelt: die zerrinnende,
himmelbläuliche, duftſchwüle und blumengeſtickte Kunſt
des Lobens, und auch die wortſpielvolle, witzüberladene,
antitheſengeſpickte, abſpringende, bunte und ſcheckige Kunſt
des Tadelns. Ich ſtellte den kritiſchen Jean qui rit
und Jean qui pleure auf einmal aus, die Jakobsſtimme
mit den Eſauhänden!


Das Weitere gehört nicht hierher; es iſt alſo Olle.
Bauer, die mich ſo zu ſagen zuerſt in die nordiſch-kritiſche
Schule einführte.«


Ich habe wohl kaum, nöthig, hinzuzufügen: daß
Saphir die »zweite Seite« ſeines »aufzumachenden Ta¬
lentes« an mir »entwickelt« hatte.


In Wien machte er für mich auch »die erſte
Seite« auf.


Da hieß es plötzlich: Karoline Müller *)iſt ange¬
kommen . . . der Liebling der Grazer, die hochberühmte
Künſtlerin will am Königſtädter Theater als Franziska
in »Minna von Barnhelm« debütiren. . . .


Mir recht, — dachte ich, — chacun à son tour!
[63] Sie iſt älter, geſchickter, ſpielt ſchon viele Jahre. . . .
Ich bin nur froh, daß mir die langweilige Minna
nicht zugetheilt wurde. — Als ich mit dieſen philo¬
ſophiſchen Anſichten mich ſo recht beruhigt hatte, ließen
ſich melden: — Kunowsky, Biedenfeld, Angeli und
Bankier Fränkel. — Ganz erſtaunt frug ich: wie ich zur
Ehre des Beſuches der geſammten Direktion käme? . . .
Endlich kam die verlegene Bitte ziemlich kleinlaut zum
Vorſchein: Ich möchte die Minna in drei Tagen ein¬
ſtudiren, denn in fünf Tagen ſei das Luſtſpiel der
königlichen Bühne verfallen . . . es müßte daher am
vierten Abende aufgeführt werden . . . die Franziska ſei
der Triumph der Müller. . . .


Sprachlos ſtarrte ich die naiven, unbegreiflich auf¬
richtigen Herren an. . . . Erſt nach langer Pauſe konnte
ich erwidern: »Und da muthen Sie mir zu, meine
Herren, ich ſoll mich blamiren — um der neu Ange¬
kommenen zum Siege zu verhelfen?! — ich ſoll die
Minna in drei Tagen auswendig lernen — wie viel
Bogen hat die Plaudertaſche zu ſprechen?«


»Einundzwanzig!« ſagte Angeli ſehr leiſe.


»Dann iſt es ja von vornherein unmöglich!« rief
ich entſetzt, — »kaum die Worte vermöchte ich in's Ge¬
dächtniß zu drängen — aber den Geiſt der Rolle — die
ſchwere Darſtellung . . . nein! nein! ich kann Ihre Bitte
nicht erfüllen — acht Tage wenigſtens iſt geſetzlich. . . .«


»Dann iſt das Stück verfallen!« ſchrie Kunowsky
verzweiflungsvoll. »Ein immenſer Schaden für unſer
[64] junges Inſtitut — die Tragweite gar nicht zu be¬
rechnen. . . . Werthes Fräulein — bitte! — willigen
Sie ein!« — ſo drang es nun wahrhaft Schwindel er¬
regend von allen Seiten auf mich ein.


Biedenfeld, als ich in meiner Verwirrung nichts
mehr erwiderte, legte die Rolle auf den Tiſch . . . und
fort waren die Herren. Ein Brief aus jenen Tagen an
meinen Bruder berichtet das Reſultat meiner Opfer¬
bereitwilligkeit am treuſten:


. . . . Ich muß Dir mittheilen, daß ich bald von
der neuen Bühne ſcheiden und Engagement bei dem könig¬
lichen Theater nehmen werde. Denke nur: in drei Tagen
habe ich Minna von Barnhelm auswendig gelernt, um
mich gefällig zu erweiſen. Wie habe ich ſtudirt! Ich
mußte die Nächte zu Hülfe nehmen, denn eine ſolche
Plaudertaſche par excellence war mir noch nicht vor¬
gekommen. Die Worte hatte ich endlich inne, aber von
Einſicht, von Auffaſſung war keine Rede, — ich ſprach
tollkühn d'rauf los — und wurde gleich der Franziska
am Schluß gerufen; auch iſt mir ſo oft wie der Müller
applaudirt. — Während der Probe gefiel ſie mir un¬
gemein. Sie ſpielte gewandt, pikant, bewegte ſich gar
zierlich, und die Ausſprache i ſtatt ü — der wenig klang¬
volle Ton der Stimme ſtörte als Franziska nicht. Karo¬
line Müller ſcheint hoch in den Zwanzigen zu ſein, iſt
mehr hübſch als ſchön, hat braune, beim Lampenlicht
funkelnde Augen, ſchelmiſches, anziehendes Lächeln, und
verdient Künſtlerin genannt zu werden. Du ſiehſt: ich
[65] bin gerecht, — obgleich die Müller ſich ſehr ſpröde ge¬
gen mich benommen, und nach dem Schluß der Vor¬
ſtellung ſogar unartig — feindlich.


Als wir im Garderobezimmer die Schminke ab¬
wiſchten und uns einhüllten, um über den Platz nach
Hauſe zu gehen, kam noch Kunowsky, um uns Beiden
ſeinen Dank zu Füßen zu legen. . . . Fräulein Müller
— zog ihn in die Ecke und flüſterte, heftig geſtikulirend
— ich konnte hören: »Ja, ja, Cabale war angezettelt
worden — mein Name wurde am wenigſten gerufen!« . . .
Er ſuchte ſie zu beruhigen — aber vergebens! Ohne mir
gute Nacht zu wünſchen ſtürzte ſie fort. Ich aber rief
außer mir, Kunowsky feſthaltend: »Iſt das mein Dank?
Ich opferte mich, der Direktion und Fräulein Müller zu
Gefallen, und nun muß ich von Kabale hören — und
ein unartiges Benehmen dulden. . . . Nein! Herr Juſtiz¬
rath, ich verlaſſe dieſes Inſtitut nach ſechs Monaten,
theilen Sie dies den Actionären mit!« — ein Thränen¬
ſtrom folgte und weinend verließ ich das Zimmer, Ku¬
nowsky wie erſtarrt ſtehen laſſend. »Das ſind heiße
Bretter!« — klagte ich der betrübten Mutter — »o,
wären wir doch in unſerem ſchönen friedlichen Karlsruhe
geblieben! . . .«


Den folgenden Vormittag trat wie ein Friedensbote
ein ſtattlicher Herr in's Zimmer — der Geheimerath
v. Gräfe.


Mit größtem Intereſſe betrachtete ich »den erſten
Augenarzt und Chirurgen ſeiner Zeit!« Und wie ver¬
Erinnerungen ꝛc. 5[66] ehrte ich bald den feingebildeten, höflichen Mann! —
Noch in den beſten Jahren, mit intelligenten Zügen,
klugen, freundlich blickenden Augen, die Haare von der
freien Stirn zurückgeſtrichen, ſprach er ſo bezaubernd an¬
genehm, mit herzlicher Anerkennung von meinen Bühnen¬
leiſtungen . . . und fragte dann im Namen ſeines Freundes,
des Intendanten der königlichen Schauſpiele, Grafen Brühl
vertraulich an: ob ich geneigt ſei, zur königlichen Bühne
überzuſiedeln. . . .


Ich ſagte mit Freuden: ja! — und wie glücklich ich
ſein würde, mit einem Ludwig Devrient, Wolff und ſo
vielen andern edlen Künſtlern ſpielen und von ihnen
lernen zu dürfen. . . . Wir mußten dem liebenswürdigen
Manne verſprechen, zum Diner zu kommen, ſeine Frau
hätte ſchon längſt gewünſcht, uns kennen zu lernen.


Die Wohnung des Geheimerath Gräfe ſollteſt Du
ſehen! Da fühlt man ſich erhoben durch die edelſten
Kunſtwerke. — Die weiten, hohen Zimmer bilden eine
herrliche Gemäldegalerie — von oben bis unten iſt kein
Plätzchen frei. — Seine Gattin, ſehr zart und vornehm
ausſehend, empfing uns äußerſt liebreich, ein holdes
Töchterchen und ein bildſchöner Knabe *) zeigten ſich ſo
wohlerzogen und kindlich — und nach und nach füllten
[67] ſich die Räume mit den intereſſanteſten Perſönlichkeiten
Berlins. Ein ariſtokratiſcher Ton herrſchte vor, aber
ohne Steifheit. Gräfe wurde von hülfeſuchenden Kranken
oft vom Tiſch abgerufen — und ſtets ging er bereitwillig,
ohne das geringſte Mißvergnügen zu zeigen. So ſoll er
auch die Kranken ſeines Klinikums äußerſt ſanft behandeln.
Mein Tiſchnachbar war Herr v. Bredow, alter Freund
des Hauſes und glühender Patriot. Er erzählte mir
charmante Anecdoten vom Könige. So auch dieſe:


»Finden Sie folgenden Zug ſeines Charakters nicht
rührend — edel? Ein höherer Offizier, wegen politiſcher
Vergehen zur Feſtungsſtrafe verurtheilt, wendete ſich an
des Königs Gnade — um Hülfe für ſeine Familie zu
erflehen. Die Räthe des Königs nannten das Geſuch
unverſchämt. Der König aber ſagte nach einer Pauſe:
»Der Mann iſt aber ſo unglücklich und um ſo beklagens¬
werther, weil durch eigene Schuld. Seiner Familie —
muß geholfen werden!« und reichliche Unterſtützung wurde
ihr zu Theil.«


Einen ſehr genußreichen Abend — nach der Minna-
Alteration — verlebten wir bei Zelter, dem Freund
Goethe's, dem Direktor der Singakademie. Ich lernte
dieſen herrlichen Greis bei ſeiner Tochter, der Doktorin
Rintel, kennen, und war nicht wenig ſtolz auf den Ehren¬
platz an ſeiner Seite. Er liebt es ſehr, des Sonntags
*)5 *[68] im engen Familienkreiſe bei der Doktorin zu ſpeiſen. Er
haßt allen Prunk und flieht elegante Viſitenzimmer, ſowie
große Geſellſchaften. Einſtens hatte die Tochter ihn zur
Einweihung eines Ballſaales herbeizulocken gewußt. Lange
grollte Zelter aber, daß ſie mit dem alten Vater para¬
diren wollte. — Als ich den großen, ernſten Mann zum
erſten Mal ſah, verſtummte ich verſchüchtert; ſeine blauen,
ausdrucksvollen Augen ſchienen bis in den Kern meines
Herzens dringen zu wollen — doch bald blickten ſie freund¬
lich mild — er vermochte wohl in den meinen keine Ab¬
gründe zu entdecken. Er ſprach zu mir in väterlichem
Ton und munterte mich auf, unverzagt meine Anſichten
zum Beſten zu geben. Wie herzlich lachte er über drollige
Einfälle! »Ich liebe fröhliche Jugend!« ſagte er, —
»nur friſch in's Leben geſchaut, übermüthige Blondine. . .
es wird leider ſchon anders kommen!« — Zelter erinnert
an Aloys Schreiber und Hebel, das gleiche biedere Weſen,
das kluge Sprechen, die edlen Züge . . . nur, ich möchte
ſagen, umfließt ihn noch der Reiz als Komponiſt und
Freund Goethe's, der ſein Abgott iſt. Wie oft faßte ich
ſeine weiche Hand und küßte ſie — raſch — ehe er es ver¬
hindern konnte; — und ſo wurde mir denn die ſeltene
Ehre zu Theil, von ihm eingeladen zu werden. Er
empfängt ſelten Gäſte und lebt ſehr zurückgezogen, ſorg¬
lichſt gepflegt von ſeiner jüngeren Tochter Dorothea, welche
jeden Heirathsantrag zurückgewieſen, um ſich dem Vater
widmen zu können; ein ſanftes, liebenswürdiges Mädchen.
Als wir in's Vorzimmer getreten — ich zitternd vor
[69] freudiger Erwartung, denn Zelter hatte verkündet, Louis
Berger, der liebenswürdige Komponiſt und beliebteſte
Klavierlehrer Berlins und Mendelsſohn, ſein beſter
Schüler, Sängerinnen mit ſüßem Sopran und herrlicher
Altſtimme würden zugegen ſein — kam uns Dorothea
entgegen und flüſterte: »Nur ganz leiſe — bis die Dis¬
kuſſion beendet iſt, die Herren ſprechen eifrigſt über die
Urtheilsfähigkeit des Berliner Publikums, — hören
Sie?« — — — Da vernahmen wir eine jugendliche
helle Stimme: »Wie grauſam ſind Ihre bewunderten
Muſikkenner mit meinem erſten Verſuch — mit meiner
Operette verfahren!« — und eine tiefere, gemüthvolle
Stimme fügte hinzu: »Ich mußte während vierzehn
Tagen das Bett hüten, ſo hatte mich die Gemüths¬
bewegung ergriffen — das Mitgefühl für meinen jungen
Freund!« . . . Das war der gute, herrliche Ludwig
Berger. Zelter erwiderte in ſeiner voll und kräftig
klingenden Redeweiſe: »Hat nicht der beſte Menſch ſeine
Launen, — darf ein Publikum nie irren? Und dennoch
ſind meine Berliner wahre Kunſtverehrer; Felix Mendels¬
ſohn-Bartholdy wird bald den entmuthigenden Eindruck
verſchmerzt haben und glänzende Anerkennung erringen. . .«
Wir folgten Dorothea in den Saal — und nun folgten
ſeltene Genüſſe für Geiſt und Ohr. . . . Berger und
Mendelsſohn ſpielten vierhändig — dann Mendelsſohn
Solo — Zelter ſchlug mächtige Akkorde an — ergreifende
Choräle, und begleitete dann der ſeelenvollen Altſtimme
eines jungen, ſchönen, bleichen Mädchens ſeine herrlichen
[70] Goethelieder: »Raſtloſe Liebe« und »Der König in
Thule.« . . . Zelter flüſterte ihr vor dem letzteren Liede
zu: »Bitte, ſanft und frei — als ſäßen Sie am Meeres¬
ufer ganz in Gedanken verſunken.«


Und wie durchſchauerte mich das wunderſame Lied
— beſonders die letzten Takte . . . traurig verhallend —
wie in's Meer verſinkend. . . . Die andere Schülerin
mit der Sopranſtimme trug »Roſe, die Müllerin« von
Berger vor, dann ſein »Veilchen«, — ein wehmüthig
klagendes Lied, welches er nach dem Tode ſeiner Frau
komponirt hatte:


»Von blauen Veilchen war der Kranz,

Der Hannchen's Locken ſchmückte,

Als ich zum erſten Mal beim Tanz

Sie ſchüchtern an mich drückte. . . .«

Zwölf Jahre hatte Berger in St. Petersburg, von
Field protegirt, ſich übermenſchlich angeſtrengt, um ſein
Hannchen, die geliebte Braut, heimführen zu können, und
nach einem Jahre glücklichſter Ehe — ſtarb ſie ſammt dem
Kinde. — Da verließ Berger Petersburg und zog nach
Berlin. Er iſt allgemein geachtet, von ſeinen Schülern
innigſt verehrt, nicht nur als ausgezeichneter Klavierlehrer,
ſondern als fein gebildeter, geiſtreicher Mann. Seine
Phyſiognomie trägt noch die Spuren tiefen Grames, auch
ſieht er kränklich aus; aber man empfindet Sympathie für
den ſo ſchwer Geprüften. Sein Benehmen iſt gewinnend
und ſein Aeußeres wie das eines vierzigjährigen deutſchen
Gelehrten, der aber die Toilette — nicht vernachläſſigt.


[71]

Mendelsſohn iſt der anmuthigſte Jüngling, den man
ſich denken kann. Kaum achtzehn Jahre alt, das dunkle
Haar geſcheitelt, die ſanften, braunen Augen, der liebliche
Mund, ſchönes Profil . . . könnte er als Benjamin einen,
Maler zum Modell dienen. Ja, wie ein echter Benjamin,
»ein Sohn des Alters«, — ein »Sohn der rechten Hand«,
(ich hoffe, Du bewunderſt meine hebräiſche Gelehrſamkeit!)
erſchien mir Mendelsſohn, wenn er ſo liebevoll, ſo
kindlich Zelter und Berger anſah, ſo zutraulich ſprach.


Lächle nicht über dieſen Vergleich, Louis — Du
weißt, wenn ich Jemand ſchildere, verſuche ich es nach
Bildern zu thun. So möchte ich Zelter mit Jakob ver¬
gleichen, denn patriarchaliſch zeigt ſich Zelter in ſeinem
würdevollen und doch ſo einfach edlen Benehmen.


Es war hohe Zeit, daß wir uns zum Souper nieder¬
ließen und als Sterbliche den guten Sachen zuſprachen,
— denn alles Gehörte, Empfundene, hatte uns in fieber¬
hafte Aufregung gebracht — wenigſtens mich und Mendels¬
ſohn. Seine Wangen glühten gleich den meinigen, und
Zelter ſagte ſcherzend: »Die Augen der lieben Jugend
glänzen gleich dem Karfunkel!« — Es wurde viel ge¬
plaudert, auch gelacht; ſelbſt Berger wurde heiter und
verglich Zelter mit einem Dirigenten, der mit Wohlgefallen
ſein Orcheſter den Gaben Gottes zuſprechen ſieht.


Kurz vor dem Gehen erbat ich mir Zelter's Rath:
ob ich Engagement bei der Hofbühne annehmen ſolle?


»Unbedingt!« entgegnete er raſch. »Was helfen
momentane Erfolge, wenn Sie den Launen von un¬
[72] künſtleriſch denkenden Privatunternehmern unterworfen
ſind? Das Wohlwollen ſolcher Herren richtet ſich nach
vollen Häuſern und Applaus und iſt unzuverläſſig. Nur
im Kreiſe bewährter Künſtler, unter den Augen eines
für wahre Kunſt glühenden Intendanten vermag ein
junges Talent ſich heranzubilden!«


Ich bin alſo entſchloſſen, Graf Brühl's Bedingungen
zu acceptiren. In vierzehn Tagen wird Alles entſchieden ſein.


Den 15. Oktober ſpiele ich die Gräfin Elsbeth im
»Turnier zu Kronſtein« und erſcheine im letzten Akte auf
einem ſtattlichen Schimmel. Der gute Roſinante wird
aber wohl nicht über die Lampen ſetzen, denn er iſt lamm¬
fromm und wie alle Theaterſchimmel — ſtockblind . . .


 

21. Oktober 1824.


Louis, was habe ich erlebt — und was werden wir
erleben! »Wenn ich den Verſtand nicht verliere, habe ich
auch keinen zu verlieren!« möchte ich faſt mit der Gräfin
Orſina ſagen.


Das Turnier ging nebſt dem Feſtſpiel am 15. Oktober,
dem Geburtstage des Kronprinzen, glänzend von ſtatten.
Lies ſelber! Die Mutter hat die Rezenſionen mit himmel¬
blauer Seide zuſammengenäht und ſah dabei wie ver¬
klärt aus.


Zwei Tage darauf, als ich eben die Kündigung
abſenden wollte, kam Kunowsky zu uns, außer ſich vor
Erregung. Er hätte vernommen, ich ſei abtrünnig ge¬
worden! Das ſei undankbar, ſchändlich! Die Mutter
[73] erwiderte: »Meine Tochter hatte Sie ja bereits mündlich
davon in Kenntniß geſetzt!« . . . »Das habe ich nicht für
Ernſt genommen!« entgegnete er. — »Weshalb nicht?«
fiel ich ein. »Und in wie fern bin ich undankbar? Erſt
wurde ich von der Direktion zurückgedrängt, dann half
mir das Publikum ſiegen. Jetzt verſucht Karoline Müller
auch wieder, mich zurück zu drängen — nein! Laſſen Sie
mich in Frieden ziehen, lieber die Dritte bei der königlichen
Bühne, als hier die Erſte ſein . . Kunowsky ſtürzte
fort, um mit den Aktionären Rückſprache zu nehmen, —
und nach einigen Stunden langte ein Brief der Direktoren
an, mit dem Anerbieten »doppelter Gage« und allen
möglichen Verſprechungen.


Ich hatte bereits den Kontrakt von der königlichen
Intendanz unterzeichnet — und wenn auch nicht, ich
hätte mich nicht verlocken laſſen.


Nun folgten ſchreckliche Tage: alle Rollen wurden
mir abgefordert, ſogar die Elsbeth dem Fräulein Müller
eingehändigt, und mir ſchriftlich erklärt: ich dürfe nicht
mehr auftreten, die Gage würde bis zum Dezember fort¬
bezahlt . . . So glaubte man mich dem Publikum zu
entfremden.


Sollen wir prozeſſiren? Vor Schluß des Prozeſſes
dürfte ich doch nicht ſpielen. Alles hätte ich verſchmerzt,
nur die Elsbeth that mir leid und — ich bekam ordent¬
lich Heimweh nach der Rolle und — — nach dem
Schimmel! Du glaubſt nicht, wie prächtig ich mich zu
Pferde ausnahm, wie eine rechte Soldatentochter! Ich
[74] kam auch glücklich vom Schimmel wieder herab, ohne
mich in die Schleppe zu verwickeln. — Denke nur: die
Herren Aktionäre ſollen an dem Tage, als Kunowsky
ſie von meinem Abgang in Kenntniß geſetzt hatte, gar
nicht auf die Börſe gegangen ſein, — es iſt, als ob
jetzt ohne mich das Inſtitut gar nicht beſtehen könnte.
Erſt unterſchätzt man mich, jetzt werde ich überſchätzt.
Und die vielen Gratulations-, Kondolenz- und Neugier¬
beſuche! Die Mutter wird ſicher noch krank und ich habe
verweinte Augen. Plötzlich bin ich berühmt geworden,
in ſo kurzer Zeit: vom 4. Auguſt bis 21. Oktober! —
aber es freut mich nicht, — ich bin tief betrübt.


Nun habe ich Muße bis zum 15. Dezember und
kann mit Bethmann, der jetzt wieder hier iſt und mich
den ehemaligen Kollegen an der königlichen Bühne vor¬
ſtellen und empfehlen will, Beſuche machen. Einladungen
giebt's auch die Fülle und wir dürfen den Vorſtellungen
der königlichen Bühne beiwohnen; aber es iſt eine traurige,
unfreiwillige Muße . . . Ich hätte doch nie gedacht, daß
die weltbedeutenden Bretter ſo rothglühend und furchtbar
heiß werden könnten . . .«

[[75]]

V.
Eine heitere Kunſtpauſe.

Dieſe unfreiwillige Muße, dieſe plötzliche Verbannung
von den heißen, aber immer doch noch heiß geliebten
Brettern des Königſtädter Theaters — dieſe Pauſe in
meiner vergötterten Kunſt bis zu ihrer neuen, ſchöneren
Blüthe auf der königlichen Bühne ſollte mir jedoch bald
in einem roſigeren Lichte erſcheinen — als in jener
dunklen Stunde, wo mir von den racheſchnaubenden
Herren Aktionären meine Lieblingsrollen abgefordert
wurden. . . . Dank der mir ewig unvergeßlichen liebens¬
würdigen Theilnahme und Güte der Berliner, die ſich
förmlich überboten, mich vergeſſen zu laſſen, daß es in
Berlin auch Dornen giebt.


Vor mir liegt wieder ein alter, vergilbter Brief mit
verblichenen Schriftzügen. . . . Ein junges, freudebebendes
Herz hat ſie einſt — vor faſt einem Menſchenleben dik¬
tirt — eine warmpulſirende, roſige Mädchenhand hat ſie
niedergeſchrieben. . . . Sie waren an das beſte, treueſte,
warmfühlendſte Bruderherz gerichtet. . . .


[76]

Dies Herz, das die friſchen, ſprudelnden Schrift¬
züge einſt mit Jubel geleſen, hat ausgeſchlagen. . . .


Eine alte Frau legt die vergilbten Briefblätter zu
den trockenen — aber immer noch lieb duftenden Blumen¬
blättern ihrer Erinnerungen. . . .


Berlin, den 10. Dezember 1824.


Der Strudel des geſelligen Lebens hat uns ſeit
einigen Wochen erfaßt und unaufhaltſam mit fortgeriſſen!
Dankbar, gerührt von den Beweiſen des Wohlwollens,
vermochten wir es nicht, die vielen herzlichen Einladungen
zurückzuweiſen. Bälle, Konzerte — in denen ich dekla¬
mirte — Diners, Soupers, Familienfeſte, ſogar ein
Maskenball wechſelten in bunter und ſchnellſter Reihen¬
folge. . . . Und was ſteht noch in Ausſicht bis Mitte
Dezember, wo meine unfreiwilligen Ferien zu Ende ſind!


Wer hätte gedacht, lieber Louis, daß Eure kleine
Komödiantin in dem kritiſirenden, ſelbſtbewußten, ge¬
lehrten Berlin Aufſehen erregen würde! Ungern von
der grollenden Königſtädter Direktion entlaſſen, — von
der königlichen Intendanz mit Freuden engagirt — und
— und was die Mutter am Meiſten freut — im geſel¬
ligen Leben ſo ausgezeichnet und geſucht . . . darf man
da mit 17 Jahren nicht ein wenig übermüthig glücklich
ſein? Ja, mon frère, ich bin ſeit dem »Turnier zu
Kronſtein« das enfant gâté der Berliner, — mein
succès außerhalb der Bühne übertrifft womöglich den
bretternen noch. Die gute Mutter wird nicht müde zu
wiederholen: »Lina, dieſe Epoche wird wohl die glücklichſte
[77] Deines Lebens bilden. Theile nur Louis Alles aus¬
führlich mit, damit Du in trüben Zeiten Dich einſt an
der Schilderung wieder erfreuen kannſt!« Ich bitte mir
daher aus, den Brief — Deiner unrühmlichen Gewohn¬
heit gemäß — nicht zu vernichten; — obwohl ich zu
hoffen wage: erſt nach vielen, vielen Jahren in der Lage
zu ſein, mich daran erquicken und aus dieſen Zeilen
Muth ſchöpfen zu müſſen.


Die Mutter hat Recht, ich bin förmlich berauſcht
von all' dem Erlebten, glücklich in der ſchönen, heiteren
Gegenwart, und der Zukunft übermüthig fröhlich ent¬
gegenſehend! Die ausgeſtandenen Alterationen ſind weg¬
gewiſcht aus dem Gedächtniß — und mit Luſt und
Zuverſicht gehe ich an meine neue Aufgabe bei der
königlichen Bühne. Ein ganzer Pack allerliebſter Rollen
wurde mir ſchon abgeliefert: — Strudelköpfchen, aus
dem Franzöſiſchen, — Die Gouvernante, von Körner,
— Wilhelmine, aus der Entführung, von Jünger, —
Die Nachtwandlerin, Operette von Karl Blum, welche
er für Madame Neumann komponirte, — und den Edwin
in Raoul de Crequi. . . . Alſo, ſingen wird die kleine
Komödiantin nun auch noch gar? Ja, Herzenslouis,
ich bin ſo kühn! Karl Blum hat bereits meine Geſangs¬
fähigkeit geprüft, und folgenden Urtheilsſpruch der hohen
Intendanz vorgelegt: »Nicht ſtarke, aber wohlklingende
Altſtimme. Richtiges Gehör. Muſikaliſche Ausbildung.
— Summa: für Operetten und nicht zu ſchwere Geſangs¬
partieen vollkommen genügend!« — Die berühmte Unzel¬
[78] mann hatte in früheren Jahren den Edwin geſungen.
Recht wehmüthig ſtimmte mich der Anblick der ver¬
gilbten Rolle; neben dem ausgeſtrichenen verblichenen
Namen der auf immer Verſtummten lacht mein junger,
lebensfriſcher Name von Graf Brühl's feſter Hand
geſchrieben. Für mich ein mahnendes Memento mori!
kein triumphirendes vive le Roi! Ich übernehme die
geiſtige Erbſchaft der großen Künſtlerin mit ernſter An¬
dacht — ſie iſt mir wie ein Gruß aus Jenſeits: »Strebe
beharrlich vorwärts, um der Ehre würdig zu ſein, mich
erſetzen zu dürfen; es iſt ſchwer, Lorbern zu pflücken
— auch ich mußte ſie erkämpfen!«


Und welche, — und wie viele jugend- und glück¬
ſtrahlende Namen werden einſt — vielleicht bald neben
meinem verblaßten ſtehen?!


Doch — laß Dich nicht irre machen durch die mo¬
mentane Sentimentalität Deiner Schweſter — meine
Mobilität wächſt im Gegentheil rieſig. Leicht ergriffen
— noch ſchneller getröſtet, erſcheint mir mein Charakter
für den erwählten Beruf ganz geeignet.


Und nun, mein Bruder, zu meinen neuen Erleb¬
niſſen! Freund Bethmann hätte zu keiner paſſenderen
Zeit in Berlin wieder eintreffen können, als während
meiner unfreiwilligen Ferien. Seine beruhigenden Ver¬
ſicherungen trugen viel dazu bei, uns wieder heiter zu
ſtimmen. Bethmann lobte meine Selbſtüberwindung:
der momentan glänzenden Stellung entſagt zu haben,
um eine in den Augen der Welt unbedeutendere, aber
[79] förderndere einzunehmen. Er ſagte: »Dieſer Schritt —
anſcheinend rückwärts, wird Sie nicht gereuen, da Sie
wahre Liebe und Achtung für Ihren Beruf empfinden!«


Der erſte Beſuch unter Bethmann's Protektion wurde
Madame Eunike abgeſtattet. Bethmann wollte die Runde
mit mir bei ſeiner älteſten, bewährteſten Freundin be¬
ginnen. Madame Eunike ſpielt die komiſchen Alten mit
Humor und liebenswürdiger Anmuth. In jüngeren
Jahren war ſie eine berühmte Geſangsſoubrette. Die
älteſte Tochter Johanna iſt eine ſehr beliebte Sängerin,
der Vater war einſt ein herrlicher Tenoriſt. Seine erſte
von ihm geſchiedene Gattin iſt die berühmte Händel-
Schütz, die Schöpferin der lebenden Bilder in Deutſch¬
land, die Meiſterin in der Attitüde und Mimik —
Mutter von ſechzehn Kindern und ſoeben auch von ihrem
vierten Manne geſchieden.


Ich fand eine wahrhaft liebenswürdige, glückliche
Künſtlerfamilie, das innige Liebesband von gegenſeitiger
Achtung geknüpft. Zwei reizende Mädchenknospen blühten
neben der Schweſter Johanna auf. Bald fühlte ich mich
in dieſem harmoniſchen Kreiſe wie zu Hauſe. Ich wurde
gefragt: welche Vorſtellung auf der königlichen Bühne
und welcher Künſtler mich am mächtigſten ergriffen habe?
Ich war ſchnell fertig mit dem Wort: Ludwig Devrient!
Begeiſtert fuhr ich fort: »Wie hat er mich als Mer¬
cutio entzückt, — als armer Poet gerührt, — in den
Drillingen erheitert, — und als Raimbaut in Waiſe
und Mörder, und in den Galeerenſklaven — entſetzt!
[80] Aber wie ſieht der unſterbliche Devrient denn außer
der Bühne aus? — wird man denn nicht geblendet von
den Strahlen ſeiner merkwürdigen Augen?« — Da
lächelte Madame Eunike: »Sie ſollen ihn nächſten Sonn¬
tag bei uns ſehen — ja, proſaiſches Mittagsbrod mit
dem Unſterblichen eſſen! Er flieht zwar jede Geſelligkeit,
beſonders wenn Damen die Mehrzahl bilden, nur zu
uns kommt er gern. Aber — liebe Enthuſiaſtin, ver¬
lieren Sie nicht Ihr Herz, denn das ſeinige iſt felſenhart
und nicht geſtimmt, ein verlorenes Herz aufzuheben.
Und ſollte Ihrer Holdſeligkeit es vorbehalten ſein, dies
Herz zu erweichen — ſo würde ich Sie beklagen. Ich
ſchätze Devrient als unſeren Freund und den größten
Künſtler unſerer Tage, — aber zur Frau möchte ich ihm
keine meiner Töchter geben!« — »Er will uns ja auch
gar nicht!« fiel das junge Trio lachend ein. — »Um
mich armes Ding wird ein Ludwig Devrient auch nicht
minnen!« ſchloß ich mit Reſignation. — »Sie ſollen ihm
gegenüber ſitzen,« flüſterte mir der Vater zu, — »da
können Sie den Weiberfeind ſo recht con amore be¬
trachten und — beſtricken . . . aber ja unbemerkt, —
denn wähnt er ſich beobachtet, ſo wird er verlegen wie
ein ſchüchternes Mädchen.«


Drei Wochen vorher hatte ich als Minna von Barn¬
helm zu ſagen: »Eine Freude erwarten iſt auch eine
Freude!« Wie fühlte ich die Wahrheit dieſer Worte,
— wie freute ich mich auf den Sonntag! Endlich, end¬
lich waren wir bei Eunikes, — endlich trat Ludwig
[81] Devrient in's Zimmer. Ernſt und blaß, doch mit mil¬
den Zügen ſtand er vor mir und ſagte in bezaubernd
anmuthiger Weiſe freundliche Worte ſeinen Freunden,
— dann mir, der jungen Kollegin, Wohlwollendes, Er¬
muthigendes! Devrient war ſchwarz gekleidet, fein,
elegant, er ſprach leiſe, einfach, — aber wie zur Unter¬
haltung gezwungen, — bis er ſpäter bei Tiſche lebhafter
wurde. Sein ſchwarzes, voll gelocktes Haar, die mar¬
morweiße Stirn, die kühnen Augenbrauen mußten ſchon
frappiren; aber die magnetiſch anziehenden dunklen Augen,
welche bald wie Lorenz Kindlein blickten, ſo gut, ſo
fromm — bald aufblitzend von Geiſt und Leben, —
feſſelten mich unwiderſtehlich. Der hübſch geformte Mund,
den ſelbſt beim Lächeln Wehmuth umzitterte, das eigen
Traumartige, Zerſtreute in ſeinem ganzen Weſen rührten
mich tief. Ich fühlte die innigſte Sympathie mit dem
beſcheidenen, ſich ſo anſpruchslos zeigenden Mann, der
es gar nicht zu wiſſen ſcheint, daß er der größte Mime
ſeines Jahrhunderts iſt! Ich hätte ihm Angenehmes,
Beglückendes ſagen mögen — denn ich fühlte den edlen,
neidloſen Charakter des ſeltenen Künſtlers heraus —
und die Gewißheit, bald mit Devrient ſpielen zu können,
beſeligte mich wahrhaft; die Chikanen der Aktionäre, —
die Rolle der Gräfin Elsbeth — — ja ſelbſt der geliebte
blinde Theaterſchimmel — Alles iſt verſchmerzt!


Herr Kapellmeiſter Schneider und ſeine ſanfte, ge¬
müthliche Gattin ſind uns auch ſchon ſehr lieb geworden.
Es muß einem behaglich zu Muthe ſein bei dieſem bie¬
Erinnerungen ꝛc. 6[82] deren, wohlwollenden Paar. Ein liebliches Töchterlein
umſchwirrt anmuthig die Eltern und ſingt allerliebſt.
Der Sohn *) befindet ſich auf Reiſen. Wie heimelte es
uns an, wenn die Frau Kapellmeiſterin mit überſtrö¬
mender Liebe von ihrem, Louis erzählte, von ſeinem
eiſernen Fleiß, ſeinem Streben, und wie er zu den
größten Hoffnungen berechtige! Unſere Mutter ſprach dann
natürlich auch von ihrem herzlieben Louis, und ſo geſtaltete
ſchon der erſte Beſuch ſich gemüthlich erquickend.


Von beſonderem Reiz für mich war mein Beſuch
bei der Wittwe des berühmten Heldenſpielers Ferdinand
Fleck, jenes leuchtenden Sterns am Theaterhimmel der
Berliner Nationalbühne zur Glanzzeit Iffland's. Beide
ruhen jetzt ſchon ſtill und erloſchen draußen auf dem
grünen Friedhofe vor dem Halleſchen Thore. Sophie
Louiſe Fleck, früher eine glänzende Liebhaberin, iſt ſeit
1808 mit dem Kammermuſikus Schröckh verheirathet.
Sie hat das mild weibliche Weſen unſerer Mutter, eine
flötenartig weiche und volltönende Stimme und das
ſchönſte und reichſte Haar, das ich je geſehen. Ihre
Schönheit war mir ſchon im »Käthchen von Heilbronn«
aufgefallen, eine ſchönere Mutter Wetter's von Strahl
kann man ſich kaum denken — und doch iſt ſie bereits
48 Jahre alt. Auch jetzt bei Tage ſah ſie überaus
[83] anmuthig aus. Ihr von mir am meiſten bewundertes
Haar hat jenen bezaubernden röthlich goldenen Reflex,
wie auf vielen alten Heiligenbildern der italieniſchen
Maler. Es iſt ſo üppig, daß ſie es nur dicht geflochten
tragen kann, gleich einem Diadem um den Kopf ge¬
wunden. Auf meine unverhohlene Bewunderung ſagte
ſie: »Und doch iſt mir die Haarfülle eine große Laſt
und macht mir oft Kopfſchmerzen, ſo daß ich die Flechten
löſen muß!« Auf meine Bitte, ſich mir doch einmal ſo
zu zeigen, ließ ſie, wie ein junges Mädchen erröthend,
die Prachthaare niederwallen — der ſchönſte Goldſchleier,
den ich je geſehen. Denke Dir dazu: feine Züge, aus¬
drucksvolle blaue Augen, lieblichen Mund, herrlichen Hals
und Arme, ſchmale Kinderhändchen, Cendrillonfüße . . .
und die deutſche Rinon de Lenclos ſteht vor Dir, —
aber eine edle Rinon, mit allen häuslichen Tugenden
geſchmückt!


Madame Schröckh ſpielt das ältere Fach, die Tante
im Bräutigam aus Mexiko, auch dann und wann Lieb¬
lingsrollen, wie die »Eiferſüchtige Frau«, von Alexander
Wolff vortrefflich unterſtützt. Der poetiſche Romeo,
Fernando, der brillante Don Cäſar — hat ſich hier
plötzlich und wie durch Zauber in den — einfältigſten
Pantoffelmann verwandelt. Die Szene des Revoltirens,
wo er in komiſcher Verzweiflung ausruft: »Auch ich will
einmal Auſtern eſſen!« — und dabei mit gleichen Füßen
den kühnſten Luftſprung vollführt, erregte die unge¬
heuerſte Heiterkeit, — aber ich, die ich doch ſonſt ſo
6 *[84] gerne mitlache, verargte es faſt dem Künſtler: aus den
idealen Schöpfungen herausgetreten zu ſein, denn die
Darſtellung ſtreifte an die Poſſe; — die Mutter fühlte
gleich mir, rieth aber zu ſchweigen. — Eine alte Dame,
Frau Krikeberg, welche die undankbarſten Rollen über¬
nehmen muß, habe ich auch liebgewonnen. Sie war
mit Kotzebue befreundet, erzählt feſſelnd aus vergan¬
genen Zeiten und wird von Rahel von Varnhagen
ſehr geſchätzt.


Als ich im Begriff war, im vierten Stock bei Frau
Krikeberg anzuklopfen, trat mir Rahel entgegen, blieb
aber noch während meines Beſuches und forderte mich
auf, ſie durch die Straßen bis zu ihrer Wohnung zu
begleiten. Sie ſprach ſehr lebhaft, in ihrer bezaubern¬
den Redeweiſe. Unter Anderem ſagte ſie: »Von der alten
Krikeberg habe ich mir oft Rath geholt, von ihr kann man
Lebensweisheit lernen!«


»Sie — die geiſtreiche Rahel, bedürfen der Weis¬
heit Anderer?« fragte ich lächelnd. »Mehr als jedes
andere Menſchenkind!« ſagte ſie ſeufzend, — »ich bin
oft unausſtehlich trüb geſtimmt! — Das wundert meinen
lieben Narren, nicht? Ja, Sie Glückliche wiſſen noch
nicht, wie Nerven quälen können. Frau Krikeberg ver¬
ſteht aus der dürftigſten Blume noch Honig zu ſchlürfen,
iſt beladen mit den ſchwerſten Sorgen und doch ſtets
heiter. Sie ſpart, entbehrt für Lieblingswünſche — und
giebt reſignirt das ſauer Erworbene den um Hülfe bit¬
tenden Töchtern, Schwiegerſöhnen, Enkeln,— zufrieden,
[85] genug zu behalten, um ihre gefiederten Freunde nicht
abſchaffen zu müſſen!«


»Gefiederte Freunde?« fragte ich verwundert.


»Ja, bemerkten Sie denn nicht die Menge Käfige
mit Kanarienvögeln? Frau Krikeberg hört das luſtige
Geſchmetter ſo gern und freut ſich kindiſch, wenn die
reizenden Haushaltungen durch ausgebrütete Ankömm¬
linge vermehrt werden. Sie hat mir ſoeben verſprochen,
nächſtens einen Kaffee zu geben mit Theater-Damen —
vom Großmutterfach bis zu den Kinderrollen. Sie
kommen auch, lieber Narr?«


»Mit Freuden! ich helfe dann die Honneurs machen.«


»Und ich ſpendire die Kuchen. Das wird hübſch
werden. Ich verkehre gern mit dem Theatervölkchen.
Es ſind meiſtens gute Menſchen; wenn auch der Dämon
der Leidenſchaften unter ihnen wohnt, ſo macht er ſich
doch nur blitzartig — vorübergehend bemerkbar. Das
Beſſere überwiegt bei weitem die Fehler — und ich
wiederhole, ich liebe, ich verehre die Künſtler, ihr Um¬
gang erfriſcht mein Gemüth!«


Während dieſer Lobeserhebungen hatte ich meine
liebe Noth: bald mußte ich das Tuch erhaſchen, welches
ſtets von Rahel's Schultern glitt, dem Hut unbemerkt
einen Knuff geben, denn er war ſchief aufgeſetzt — ſie
ſtützen, denn alle Augenblicke trat ſie auf ihr zu langes
Kleid. Sie umarmte mich herzlich und ſchien keine
Ahnung zu haben von ihrer ſo ganz eigenen, wunder¬
lichen Toilette. Als ich Frau Brede frug, weshalb ſie,
[86] als vertraute Freundin, nicht Rahel beſtimmte, doch
nur die nothwendigſte Eitelkeit zu beobachten, oder Herrn
von Varnhagen in's Komplott zöge, verſicherte ſie, das
würde nichts nützen, Beide würden es weder begreifen,
noch ausführen, übrigens ſeien alle Bekannten an dieſe
Eigenheiten der liebenswürdigen und geiſtreichen Rahel
längſt gewöhnt. — Wie iſt denn aber Dein einfältiges
Schweſterchen mit der berühmten Rahel auf einen
ſo vertraulichen Fuß gekommen? Nicht wahr, Du
fängſt jetzt endlich an, vor mir ein wenig Reſpekt zu
bekommen!


Doch ich will ehrlich ſein — ich habe mich Anfangs
ſelber nicht wenig vor der Bekanntſchaft mit der be¬
rühmten, klugen, gelehrten, genialen Rahel von Varnhagen
gefürchtet, und die Mutter himmelhoch gebeten, ohne
mich bei Varnhagens Beſuch zu machen. Vergebens
wurde mir vorgeſtellt, daß Frau von Varnhagen wäh¬
rend ihres Aufenthaltes in Karlsruhe, wo ihr Mann
einige Zeit Geſandter geweſen, mehr noch durch Herzens¬
güte und ſanftes Weſen bezauberte, als durch ſprudeln¬
den Geiſt und hinreißende Unterhaltungsgabe . . . ich
konnte meine kindiſche Furcht vor der gelehrten Frau
nicht überwinden. Erſt Frau Brede, der Jugend- und
Herzensfreundin Rahel's*), einer beliebten Künſtlerin vom
Stuttgarter Hoftheater, die gerade auf Beſuch in Berlin
iſt und auch uns längſt eine liebe Bekannte geworden,
[87] war es vorbehalten, mich zu überreden. Frau Brede
kam, uns bei Rahel einzuführen.


Als ſie vernahm, weshalb ich nicht mitgehen wollte,
ermuthigte ſie mich: »Recht bald werden Sie Herr Ihrer
Befangenheit werden. Meine Freundin iſt gern heiter
mit der Jugend, ſie erwartet Sie und freut ſich, die
Abtrünnige vom Königſtädter Theater, die ſo gerühmte
Elsbeth aus dem Turnier zu Kronſtein zu ſehen. Rahel
war krank und konnte keiner Vorſtellung beiwohnen.
Kommen Sie getroſt, Sie werden mir noch für mein
Zureden danken.« Und ich ging wirklich mit — und
dankte Frau Brede ſpäter von Herzen.


Das Vorzimmer bei Varnhagens war nicht einla¬
dend, klein und düſter, und die Viſitenſtube, obgleich ge¬
räumig und hübſch möblirt, gefiel mir erſt recht nicht.
Auch hier hatte ſich die in Berlin ſo beliebte dunkelblaue
Tapete eingebürgert, welche Jedermann ſo blaß erſcheinen
läßt. Die grau-weißen Gardinen ſchienen ſehnlichſt einer
Wäſche zu harren, und gaben dem Zimmer ein ſchwer¬
müthiges Ausſehen.


Frau von Varnhagen bewillkommte uns herzlich mit
ſanfter, angenehm klingender Stimme. Als wir Platz
genommen hatten, hoffte ich die geprieſene Frau recht
aufmerkſam betrachten zu können, doch ich vermochte es
nicht unbemerkt zu thun, denn während des lebhaften
Geſprächs ſpielte ſie beſtändig mit einem Augenglas, und
öfters führte ſie es blitzſchnell an die Augen, mich
dadurch fixirend.


[88]

Rahel iſt klein, ziemlich ſtark, von Taille keine
Spur. Ein graues Kleid hing wie ein Sack um ihre
Geſtalt, nur von einer Gürtelſchnur loſe gehalten, deren
Enden nachſchleiften. Die dunkelbraunen Haare ſchienen
nur ſo in aller Eile hinaufgewirbelt zu ſein, von einem
Kamm gehalten, der immer herabzuſtürzen drohte. Einige
wilde kleine Locken ſchmückten ihre ſchöne Stirne, und
freundlich blickende, tiefblaue Augen, von langen Wimpern
beſchattet, milderten die ſcharfen jüdiſchen Züge; die ganze
Phyſiognomie athmete Wohlwollen und hohe Intelligenz.
Ich entſchuldigte auch bald die vernachläſſigte Toilette,
denn trotz der größten Lebendigkeit, der geiſtreichſten
Reden, ſah Rahel doch momentan — wie ermüdet aus,
und eine gewiſſe Wehmuth umſchleierte dann ihre Züge.
Ganz eigenthümliche Bemerkungen überraſchten und feſſel¬
ten mich, Lachen und Scherzen wechſelten bei der ſeltenen
Frau oft blitzſchnell mit ernſten Betrachtungen und
Rührung.


So behauptete Frau von Varnhagen, daß ſie erſt
beim Anblick ihrer Schwägerin, Madame Robert, und der
Madame Neumann, meiner Kollegin in Karlsruhe, die
Erzählung von des Grafen von Gleichen beiden Frauen
begriffen habe: — von der weißen und der rothen Roſe!
Ludwig Robert Torno's Frau, mit römiſchem Geſicht,
ernſt, marmorblaß, mit rabenſchwarzem Haar und großen,
dunklen Augen, gleiche einer Juno; — die Neumann,
roſig blühend, blond, mit ſchelmiſchen Augen und zier¬
licher Geſtalt, ſei ein heiterer Maitag. . . Plötzlich
[89] abbrechend frug ſie mich: »Warum ſagt denn die Jugend
kein Wörtchen?« — »Ich höre mit Entzücken zu,« er¬
widerte ich, und erzählte dann, wie glücklich ich in
Karlsruhe geweſen ſei, die ſchöne Frau Robert, damals
noch Frau Primaveſa, beim Kommen aus der Schule
auf der Straße zu ſehen. Wie ich ſie anſtaunte, wähnend,
die Fee aus dem eifrig geleſenen blauen Märchenbuch —
Du erinnerſt Dich doch, Louis? — zu erblicken, welche
aus ihrem Feenreiche zeitweiſe verbannt, jetzt in Karls¬
ruhe weile! So ſei ſie mir erſchienen: die hohe Geſtalt,
traurig an mir vorüberſchwebend, aber mild, meinen ehr¬
erbietigen Knix, mit den Worten lohnend: »Wie geht es,
liebes, freundliches Kind?«


»Wie hübſch ſich das anhört!« ſagte Rahel; »ja,
der Kinderblick! — wie richtig fühlen oft dieſe kleinen
Menſchen heraus, ob Kummer unſer Gemüth bedrückt!
Meine Schwägerin hatte damals manche Prüfung zu be¬
ſtehen und war ungern in Karlsruhe.«


Dann kam die Rede auf das Theater. Rahel freute
ſich, daß wir ihr Entzücken über die Muſtervorſtellung
von Kleiſt's »Käthchen von Heilbronn« theilten. Sie
fragte mehrere Male: »Nicht wahr? Rebenſtein iſt ein
prächtiger, biederer, ſchöner Wetter von Strahl? und
könnte man ein holderes, lieblicheres Käthchen zu ſehen
wünſchen, als Frau von Holtei? Wie entzückend iſt dieſe
zarte, ätheriſche Erſcheinung, beſonders neben Wauer,
dieſem herzigen Gottſchalk, der ſo brummig ſeinem Herrn
die Wahrheit ſagt und doch dabei zum — Freſſen lieb
[90] iſt!« Sie fand meine Anſicht ganz richtig, daß Frau
von Holtei an Goethe's Mignon erinnere. »Wenn doch
mein armer Kleiſt dieſen Erfolg ſeines Stückes erlebt
hätte!« — rief ſie mit Wehmuth aus, — »er hätte nicht
ſo furchtbar geendet — von der eigenen Hand! Hätte
dieſer Eine goldene Glücksſtrahl ſeine umdüſterte Seele
erhellt, Muth und Kraft wären ihm zurückgekehrt — zu
neuem Leben — zu neuem Dichten!«


Ihre Augen hatten im Eifer des Geſpräches einen
wunderbaren Glanz bekommen, und die blaſſen Wangen
waren geröthet. Das ließ ſie unendlich intereſſant und
anziehend erſcheinen.


Madame Brede lenkte das Geſpräch auf Frau von
Varnhagen's Herzblatt, Friederike Unzelmann-Bethmann,
und ich bat inſtändigſt, mir von dieſer ſeltenen Künſtlerin
zu erzählen. Heinrich Bethmann habe in rührender
Begeiſterung mir ſo viele Wunder von der verſtorbenen
Gattin berichtet. Rahel beſtätigte Alles. »Friederike
Bethmann hat uns gezeigt, wie richtig das Wort: »La
grâce
plus belle que la beauté!« Obgleich etwas
zu ſtark für ihre kleine Figur und mit zu dickem Halſe,
wußte ſie doch trotz ihrer 48 Jahre alle Welt zu bezaubern,
ſo daß Auguſt Wilhelm von Schlegel in ſeinem herrlichen
Gedicht an die Bethmann ſie mit Recht »ein Feenkind«
nennen durfte, bei dem die Anmuth mit den Grazien
Pathen geweſen. Sie ſpielte — gleich Ludwig Devrient —
ſtets wie plötzlich inſpirirt. Sie beſaß eine unerſchöpfliche
Wärme des Gefühls, und ihre Stimme verſtand nicht
[91] nur lieblich zu entzücken — auch zu erſchüttern, gewaltſam
zu ergreifen vermochte ſie, wie keine andere. Dafür
zeugten beſonders ihre Lady Macbeth und Phädra. —
Außerdem ſang und ſpielte ſie wunderlieblich in Ope¬
retten — als Adeline, Königin von Golkonda, Fanchon.
Die Vielſeitigkeit ihres Talentes iſt bis jetzt noch nicht
übertroffen!«


Herrn von Varnhagen's Kommen unterbrach das
für mich ſo höchſt intereſſante Geſpräch. Er machte auf
mich von vornherein einen recht unbedeutenden, ja un¬
angenehmen Eindruck. Er hat nicht die Spur von ernſter,
würdiger, imponirender Männlichkeit. Er gilt auch in
ganz Berlin als eine Klatſchbaſe prima Sorte. Er ſpricht
mit leiſer, beinahe flüſternder, gezierter Stimme. Die
grauen, matten Augen vermögen dem runden, vollen
Geſicht keinen belebenden Ausdruck zu verleihen, denn er
hält ſie ſtets halb geſchloſſen, dabei ſpielt ein ſtereotypes
Lächeln um ſeinen Mund, und das hellblonde Haar, die
faſt weißen Wimpern laſſen die Züge noch unbedeutender
und zerfloſſener erſcheinen. Gar keine anſprechende Per¬
ſönlichkeit! Herr von Varnhagen ſcheint ſeine Gattin
über alle Maßen zu verehren! Er lauſcht mit faſt komiſcher
Bewunderung jedem Worte Rahel's und beobachtet ihr
Geſicht, ihre Bewegungen fortwährend aufmerkſam und
mit Selbſtgefälligkeit, und aus ſeinem verſchwommenen,
eitlen Semmelgeſichte triumphirt es: Ah! ſeht doch —
ich bin der Mann dieſer geiſtreichen, berühmten Frau! —
In meinen Augen die jammervollſte Rolle, die ein Mann
[92] ſpielen kann: der Mann ſeiner Frau zu ſein! — alſo:
hüte Dich davor, Louis!


Beim Abſchied umarmte uns Frau von Varnhagen
ſehr herzlich und nahm uns das Verſprechen ab, recht
oft zur traulichen Theeſtunde zu kommen. . . Wenn wir
nur die unſchmackhafte Milchſuppe von Mann nicht mit
in den Kauf nehmen müßten!


Viele genußreiche, gemüthliche Stunden verlebten wir
ſchon bei Rahel. Sie ſcheint mir gewogen zu ſein und
Gefallen an meiner übermüthigen, jungen Fröhlichkeit zu
finden, und ermuntert mich, ſtets ſo friſch von der Leber
weg zu ſprechen, wie mir es gerade einfällt. Einſt ſagte
ſie lachend zur Mutter, nachdem ihr Augenglas ſehr be¬
ſchäftigt geweſen war, mich zu fixiren, und ich ſo recht
toll geplaudert hatte: »Ihre Tochter iſt ein Narr! —
aber — ein lieber Narr!« Ich beſtehe nun darauf, ſtets
ſo titulirt zu werden, denn dann iſt — oder wird Rahel
ſelber heiter und unnachahmlich liebenswürdig.


Du fragſt, ob Madame Milder-Hauptmann noch
an die Emmeline in der Schweizerfamilie erinnere, die
uns damals in Karlsruhe ſo entzückte — bezauberte? —
Ach, Louis — wie ward mir das Herz ſo weh. . . über
das Verblühen und Verblaſſen und Verklingen des armen
Menſchenlebens, da das Ideal unſerer frohen Kinderjahre
jetzt vor der jungen Kollegin ſtand: eine Marmorſtatue,
der es erlaubt worden, ſich auf Augenblicke zu beleben! Keine
Muskel zuckte in dem edel geformten Geſichte, die Augen
blickten kalt — faſt ſtarr — wie abweſend. Gleich ſchweren
[93] Regentropfen fielen die Worte langſam — eintönig von
den blaſſen Lippen. Sie ſagte mir durchaus kein un¬
freundliches Wort — ſie ſprach verſtändig, gebildet und
mit einer gewiſſen ſtolzen Sicherheit . . . aber ich fühlte
mich in ihrer Marmornähe mit erſtarren und kürzte den
Beſuch ab.


Und doch, wie bewundere ich die vierzigjährige Frau
noch heute auf den Brettern als Iphigenie, als Elvira
im Don Juan, als Fee in Spontini's Nurmahal und
vor Allem als Alceſte . . . die junoniſche, plaſtiſch ſchöne
Geſtalt, das tragiſche Spiel, der Zauber der metall¬
reichſten, ſüßeſten Stimme! . . . Sie ſoll auch im bürger¬
lichen Leben gut und ſehr wohlthätig ſein . . . aber die
Grazien ſtanden nicht an ihrer Wiege — oder — was
muß dies Herz erlebt haben, ehe es ſo erſtarren konnte!


Spontini könnte als Pendant zur Milder dienen,
was die Theilnahmloſigkeit, das kalte zurückhaltende Weſen
betrifft. Nur muß Letztere mit einer edlen Marmorſtatue,
und Spontini mit einer Wachsfigur verglichen werden.


Der italieniſche Maeſtro hat unſchöne Züge, gelb¬
weißlichen Teint, trägt große Vatermörder, immenſe
weiße Halsbinde, in welche ſein Kinn ſtets zu verſinken
droht. Die ſchwarzen Haare ſind als ungewöhnlich hoher
Titus auffriſirt, die Naſe flach, der Mund breit. Die
hagere Geſtalt ſieht vornehm aus, beſonders wenn Spon¬
tini vor dem Dirigenten-Pult ſteht und äußerſt graziös
den kleinen Stab ſchwingt. Er ſteht beim Könige in
großer Gunſt — beim Publikum aber faſt gar nicht.


[94]

Frau von Spontini hat das exkluſive Weſen ihres
Mannes angenommen und gleich ihm noch nicht zehn
Wörtchen Deutſch gelernt. Sie ſpricht nur von Paris —
gleich einer unglücklich hieher Verbannten. Sie bewohnen
ein prachtvolles Logis, ſind von vielen dienſtbaren Geiſtern
umſchwirrt und machen ein glänzendes Haus.


Spontini lebt mit dem Grafen Brühl auf mehr als
geſpanntem Fuße — aber er iſt allmächtig, kann ſeine
neu komponirten Opern nach Belieben und mit größter
Verſchwendung in Szene ſetzen, hundert Proben halten
und die Stimmen der armen Sänger und Sängerinnen
auf ſeinen beliebten Amboſſen langſam zu Blech hämmern. . .
Niemand darf ihm hineinreden. Der König ſchützt ihn.


Das Publikum hat ſeine letzten Schöpfungen nicht
beifällig aufgenommen und wirft ihm mit Recht Mangel
an Melodie und zu maſſenhafte Orcheſter-Begleitung vor.
Freunde Spontini's behaupten, dadurch ſei ſein Gemüth
ſo verbittert worden. Daß die Veſtalin, Ferdinand Cortez
zu den Meiſterwerken zählen, ſcheint ihn nicht zu beglücken.
Graf Brühl hat viel von ſeinen Prätenſionen zu
leiden.


Und dieſem ſteinernen Gaſte mußte ich bei einem
Diner, von ſeinen Verehrern ihm gegeben, gegenüber
ſitzen, — ſogar ein weihrauchduftiges Gedicht vortragen.
Madame Milder, Madame Schulz — unſere Primadonnen
— ſaßen zu ſeiner Rechten und Linken, Madame Spontini
neben mir. Rauſchende Muſik wurde aus ſeinen Opern
vorgetragen. Nach meiner Deklamation wurde ihm mit
[95] Tuſch und Vivats ein Lorberkranz überreicht. Ich ſah
— o Wunder! — die wächſernen Züge Spontini's einen
milden Ausdruck annehmen und etwas wie Thränen in
den harten Augen blinken . . . ſie brachen ſich aber keine
Bahn — dieſe Gefühl verrathenden, Herz erfriſchenden
Tropfen! Der Italiener hatte den Augenblick der Rüh¬
rung leicht überwunden; gefaßt, wie vorher berechnet,
theilte er den Lorberkranz und überreichte die Hälften
Madame Milder und Madame Schulz, in gebrochenem
Deutſch hinzufügend: »Den Sängerinnen — Lorber —
gebührt — mir — Sieg verholfen.«


Wie gerne hätte ich ihm zugerufen: Nicht einmal
für Augenblicke können Sie gemüthlich deutſch empfinden,
ſelbſt nicht im Kreiſe Ihrer Verehrer — und möchten
doch bei Deutſchen Sympathie erwecken!« —


Da wurde mir es klar, daß Graf Brühl mit dem
verſteinerten Maeſtro viel auszuſtehen hat. Graf Brühl,
ganz Hingebung und Begeiſterung für die königliche
Bühne, er, der Goethe und Schiller gekannt, Zeuge
klaſſiſcher Darſtellungen in Weimars Glanzperiode ge¬
weſen, — muß ſo den Intriguen des ſchlau berechnenden
Italieners nachſtehen! — Allgemein wird behauptet, daß
der hochbegabte Intendant nicht allein Kunſtſinn
auch Kunſtkenntniß beſitze, — ſeine Mitglieder zu
ſchätzen wiſſe und ſelbſt, wenn er Tadel ausſprechen muß,
nie verletze.


Tags darauf, nach dieſem froſtigen Feſt, fuhren wir
nach Potsdam, um in dem von Karl Blum dort arran¬
[96] girten Konzert mitzuwirken. Ja wir! Madame Grün¬
baum, die berühmte Tochter des Wiener Volkskomponiſten
Wenzel Müller, die Gattin des Tenoriſten Grünbaum,
die als Hofſängerin von der großen Oper in Wien hier
gaſtirt und mit Recht den Namen »die deutſche Catalani«
führt, eine fein gebildete, liebenswürdige Dame, und?!
Moſcheles — der geniale Virtuos — die Mutter
und ich.


Karl Blum hatte Moſcheles einige Tage vor dem
Konzert uns vorgeſtellt. Wir wußten kaum, was mehr
für ihn einnahm: — das eminente Talent, oder ſein
beſcheiden natürliches und doch ſo würdevolles Benehmen.
In Moſcheles' Augen würde Zelter auch gern blicken,
denn ſein ſanftes Gemüth, ſeine reine Künſtlerſeele ſpiegeln
ſich unverhohlen darin. Ich ſollte vor ihm ſpielen, aber
ich wagte es nicht. Er verſtand es jedoch ſo prächtig,
mir Muth einzureden, und ließ nicht nach, bis ich ein
vierhändiges Rondo mit ihm ausführte — Rondo Turc
von Czerny. Wahrſcheinlich opferte er ſich der Mutter
zu Liebe, denn die hat ihn ſchon ganz in ihr Herz ge¬
ſchloſſen und ſchwärmt für Moſcheles.


Blum hatte für einen bequemen Wagen geſorgt, und
recht vergnügt begannen wir auf der Landſtraße zu
plaudern, — als Moſcheles, plötzlich die Augen ſchließend,
todtenblaß zurückſank und ſtöhnte: »wie wird mir —
mein Kopf, mein Kopf!« Du kannſt Dir unſern Schrecken
vorſtellen, wir ließen halten und riefen nach Karl Blum,
der einige Schritte voraus fuhr. — Das Geſicht des
[97] Konzertgebers hätteſt Du ſehen ſollen, als er ſeinen
Freund in der Wagenecke liegen — und ſein Konzert um
die ſchönſte Zierde gebracht ſah. Doch ohne Bedenken
ſagte er: »Schnell nach Berlin zurück! — ich will in
Potsdam abbeſtellen. . .« Da öffnete Moſcheles matt die
Augen und flüſterte: »Nein! nein! ich ſpiele — und ſollte
ich ſterbe — nur vorwärts . . .«


Und alles Proteſtiren Blum's half nicht.


»Ich ſpiele!« wiederholte matt der Kranke, und die
Wagen ſetzten ſich in Bewegung. In Zehlendorf Pauſe,
abermaliges Fragen, Bitten Blum's, ſich zu ſchonen —
die gleiche Antwort des halbtodten Moſcheles — und
endlich langten wir nach der peinlichſten Fahrt in Pots¬
dam an.


Alle Billete waren bereits vergriffen. Im Gaſthaus
hatte Blum ſchönſtens vorgeſorgt, nach der Probe ſetzten
wir uns zu Tiſch — aber Moſcheles lag im Nebenzimmer
auf dem Sopha, jede Erquickung verſchmähend. Er hatte
in der Probe kaum die Kraft gehabt, die nöthigſten
Akkorde für das Orcheſter anzuſchlagen. Wenn aber Blum
nur Miene machte, gegen ſein Auftreten proteſtiren zu
wollen, ſo blieb Moſcheles reſignirt dabei: »Ich ſpiele!«


Zum erſten Mal ſollte ich vor den Potsdamern er¬
ſcheinen. Ich hatte alſo eine reizende Toilette gewählt:
weißen Tüll mit himmelblauen Aſtern! Ich ſollte mit
Guitarre-Begleitung die Erlebniſſe eines Troubadours
deklamiren. Blum akkompagnirte. Er ſoll der erſte
Guitarreſpieler Deutſchlands ſein.


Erinnerungen ꝛc. 7[98]

Um ſechs Uhr, als wir des Anfangs harrten, wankte
Moſcheles in feinſter Toilette in's Verſammlungszimmer,
mit fieberhaft glühenden Augen, blaß wie eine Leiche.
Die Mutter rieb ihm die Schläfen mit Eau de Cologne
und — ſchminkte ihn, damit das Publikum nicht er¬
ſchrecken ſolle. Dann ſaß er auf dem Sopha, den Kopf
in den Armen der Mutter, und ſah ſo — jammervoll
zu ihr auf, daß ich trotz meines Mitleids laut lachen
mußte. Das Zeichen wurde gegeben — und Moſcheles
taumelte vor — wurde rauſchend empfangen . . . und ſpielte
— wie ein Gott! Raſender Applaus und — der Ge¬
feierte flüchtete todmatt zum Sopha. Nach der zweiten
Nummer gleicher Enthuſiasmus und gleiches Hinſinken
auf's Sopha — aber bald, ſo wie Moſcheles nicht mehr
zu fürchten brauchte, daß durch ſeine Krankheit Blum's
Konzert geſtört würde — da fühlte er ſich wohler, ver¬
mochte ein wenig zu eſſen, und während der Rückfahrt
verminderte ſich die Migräne ſo, daß ich meinem Muth¬
willen ſchon die Zügel ein wenig ſchießen laſſen durfte.
Ich ahmte ſein Augenſchließen, Zurücklehnen, Liſpeln:
»Ich ſpiele — und ſollte ich auch ſterben . . .« zu ſeinem
größten Ergötzen nach.


Kaum waren wir von dieſer angreifenden Fahrt
etwas zu uns gekommen, ſo ließ ſich Präſident Scheve
melden, ein freundlicher, ehrwürdiger alter Herr, un¬
geheuer zeremoniös. Tief ſich verbeugend trug er feier¬
lichſt ſein Anliegen vor: Ich ſollte deklamiren im Konzert,
zum Beſten des Louiſenſtiftes gegeben, deſſen Vorſteher
[99] — nein, Schutzpatron der Präſident iſt. Gern ſagte
ich zu, und finde mich auch recht leidlich darein: — einſt¬
weilen zu deklamiren, ſtatt Komödie zu ſpielen. Aber,
Louis, es iſt keine leichte Sache, ein geeignetes Gedicht
zu wählen. Es ſoll nicht zu ernſt, auch nicht zu heiter,
weder zu kurz noch zu lang ſein. Ich wählte — »Nichts«
von Theodor Hell.


Der Konzertſaal des Schauſpielhauſes iſt ein prächtig
erleuchtetes, ſchönes Lokal, da erſcheint man ungeſchminkt,
was mir beſſer ſteht. Und mein »Nichts« gefiel.


Zu unſerer Ueberraſchung beſuchte uns Präſident
Scheve am andern Morgen abermals, um mir in ſeiner
feierlichen Weiſe nochmals zu danken und eine lange Rede
zu halten, deren kurzer Sinn war: daß »die tauſend¬
jährige Geſellſchaft« uns durch ihn mit der Einladung
beglückte — dem alljährlich ſtattfindenden Stiftungsdiner
beizuwohnen. . .«


»Tauſendjährige Dinergeber?« fragte ich nicht ohne
Entſetzen »Ja, liebes Fräulein, die geſchloſſene Geſell¬
ſchaft beſteht aus vierzehn Mitgliedern — dieſe zuſammen
machen tauſend Jahre. . .«


Du weißt leider, mein Bruder, daß ich ſtets ungern
Rechenſtunden genommen und öfters die aufgegebenen
Exempel von den Schulkameradinnen abſchrieb — aber
ſo viel konnte ich doch dividiren: daß tauſend durch vier¬
zehn getheilt, jedem Kopf 71 Jahre 6 Monate zuweiſt.
Schon wollte ich mich entſchuldigen, aber die Mutter
verſicherte raſch: wir würden mit Vergnügen erſcheinen. . .
7 *[100] und ein gewiſſer Blick — Louis, Du kennſt doch noch
dieſen Blick? — machte mich verſtummen.


Als Präſident Scheve uns verlaſſen hatte, beklagte
ich mich aber bitter, daß ich nun gar mit ſiebenzigjährigen
Herren ſpeiſen ſolle das ſei von einem jungen Mäd¬
chen zu viel verlangt. . . Aber da hätteſt Du unſere
Mutter hören ſollen: »Gegen junge, ſchöne Herren,
nicht wahr? — da wird es Dir nicht ſchwer, liebens¬
würdig zu ſein; — das will aber gar nichts heißen, das
können Viele! — aber dem Alter gegenüber beſcheiden, an¬
muthig, zuvorkommend ſich zu benehmen — das erfordert
nicht allein Bildung, ſondern auch Herzensgüte. Nur gute
Herzen vermögen zu ſchätzen, von ehrwürdigen Greiſen
achtungsvoll, wohlwollend ausgezeichnet zu werden. . .«


Und ich fühlte mich wahrlich tief beſchämt. Ich dachte
aber doch daran, die alemanniſchen Gedichte mitzu¬
nehmen und etliche vorzutragen, wenn mich meine Weis¬
heit und — Liebenswürdigkeit gegen die ehrwürdigen
tauſendjährigen Herrn im Stiche laſſen ſollte.


Die Mutter ſchmückte mich, als ſollte ich mir einen
Bräutigam erobern. Sie hatte ſich blühendes Geranium
zu verſchaffen gewußt; und dieſe friſchen Blumen nahmen
ſich gar hübſch in den blonden Locken aus.


Präſident Scheve holte uns in ſeiner Equipage ab,
wir wurden von den alten Herren meiſt — hohen Militärs,
die Bruſt mit Orden bedeckt — freundlichſt begrüßt . . .
und bald fühlte ich mich ſtolz und zufrieden in der tauſend¬
jährigen Geſellſchaft.


[101]

Du haſt keine Idee, Louis, auf welche liebenswürdig
humoriſtiſche, geiſtreiche Weiſe die Unterhaltung geführt
wurde! Wie dieſe alten Herren uns in's angenehmſte
Geſpräch zu ziehen wußten, und wie meine unbefangenen
Aeußerungen ſie erfreuten. Ich mußte von Karlsruhe —
die Mutter vom ſeligen Vater erzählen. Sie lachten
herzlich über meine enthuſiaſtiſchen Lobeserhebungen —
über Berlin und die Berliner.


Beim Deſſert las ich »Hebel's Sommerabend« und
»Hans und Verene«. Die alemanniſche Mundart war
ihnen etwas Neues, und General Leſtock, mein Nachbar,
bat immer wieder:


»O, nur noch einmal den Schluß« . . . und ich wurde
nicht müde zu ſagen: »jo frili willi, jo!«


Die Mutter ſah wie verklärt aus und — lobte mich
auch ſpäter. Beim Abſchiednehmen mußten wir ver¬
ſprechen: nächſtes Jahr dem Diner wieder beizuwohnen,
und — — der Abweſenden zu gedenken. »Niemand wird
fehlen!« — rief ich lebhaft — »ich ahne es!« — und
herzlich tönte es von beiden Seiten: »Auf frohes Wieder¬
ſehen — über's Jahr!«*)


Und nun von den Bällen. Einer der hübſcheſten
war der des General Herwarth, — ein lieber alter Herr,
ſeine Gemahlin die Sanftmuth ſelbſt. Beide ſind noch
gar nicht von den Gebrechen des Alters heimgeſucht,
[102] und genießen ſo recht froh und dankbar den Lebensabend.
Die beiden älteſten Söhne*) ſind ſchön verheirathet, auch
Militärs, eine glückliche Familie.


Dann folgte ein reizender Maskenball, durch Sub¬
ſkribenten veranſtaltet.


Bei Juſtizrath Ludolf — eines der gaſtlichſten Häuſer
Berlins, und namentlich für Künſtler, Gelehrte, Pro¬
feſſoren eine wahre Heimath, — hatten wir Ludwig Rell¬
ſtab — den ehemaligen Lieutenant und gefürchtetſten
Kritiker Berlins — kennen gelernt. Ein junger, korpu¬
lenter, häßlicher — und doch höchſt einnehmender Mann.
Seine etwas mongoliſchen Züge verrathen den regſten
Geiſt, und durch die Brille blitzen klug forſchende Augen.
Er ſpricht bezaubernd. Rellſtab ſoll gutmüthig ſein,
einen ehrenwerthen Charakter haben, aber den Dämon
der Satyre nicht immer zu zügeln vermögen. Was er
ſchreibt: — trifft — verwundet — ſchadet — ſelbſt gegen
ſeine Abſicht. Ich bat ihn himmelhoch, mich nie zu loben
— lieber gnädigſt zu tadeln**) .


Während einer Soirée bei Ludolfs wurde viel von
dem bevorſtehenden Maskenball geſprochen — und nach
[103] vielem Zureden nahm ich den Vorſchlag Rellſtab's an:
zuſammen als Papageno und Papagena zu erſcheinen.
Wir wählten keinen Federnanzug, wie es auf der Bühne
üblich, ſondern grün, gelb, roth ſchillernden Plüſch, mit
kleinen rothen Federn garnirt. Ich trug einen Federn¬
ſchmuck auf dem Kopf — gleich der Amazili in Ferdinand
Cortez, Korallen um Hals und Arme und grüne
Atlasſchuhe.


Rellſtab ſah gut, beinahe hübſch aus, denn die
Halbmaske bedeckte die eingedrückte Naſe, und nur der
feinlächelnde Mund war ſichtbar. Er hatte mich mit
einem Blumenkörbchen verſehen, in welchem ſich gedruckte
Sprüche, Verſe, Aphorismen in Bonbonform befanden
— natürlich auch viele Dornen darunter.


Wir erregten Aufſehen und wurden bald von neu¬
gierigen Masken umringt. . . . Ich theilte die Bonbons
aus, Rellſtab gab prächtige Repliken, und — Papagena
bemühte ſich, ihrem Papageno keine Schande zu machen.
Rellſtab verſicherte: wir hätten glänzend reüſſirt — und
ich erhielt nach dem Ball eine Menge Gedichte.


Die Berliner Subſkriptionsbälle im Opernhauſe
habe ich auch zu »ſehen« bekommen, denn getanzt wird
dort faſt gar nicht. Man konverſirt, beobachtet und
**)[104] muſtert und — beneidet gegenſeitig die Toiletten. Die
Herren bewegen ſich im Saal, die Damen ſitzen meiſt
auf den rings herum angebrachten Eſtraden. Der König
promenirt unermüdet durch das Gedränge und ſpricht
leutſelig mit Vielen. Dabei ſchaut er lächelnd umher,
wie ein Vater, der ſich freut, die Kinder vergnügt
zu ſehen.


Auf der vierten Eſtrade ſaß ich ganz beſcheiden mit
der Mutter und einer befreundeten Familie und ergötzte mich
an dem glänzenden Gewirr im Saal . . . als plötzlich mir
zugeflüſtert wurde: »Der König will mit Ihnen ſprechen,
ſteigen Sie herab« . . . und ich ſtand vor Friedlich Wil¬
helm dem Gütigen.


Ich fühlte, daß ſämmtliche Anweſende mich beobachte¬
ten, wie ich mich benehmen würde, es flimmerte mir
vor den Augen — aber kaum begegnete ich den milden,
gütigen Augen des Königs, ſo war ich gefaßt. Der
König ſagte in ſeiner bekannten, abgebrochenen Weiſe:
»Freue mich, Brühl Sie für meine Bühne gewonnen —
oft auf dem Königſtädter Theater geſehen — viel Ver¬
gnügen gemacht — muntres Weſen lieben — ſehr
gefallen.«


»Ew. Majeſtät beglücken mich. . .«


»Wann auftreten?«


»Mitte Dezember!«


»Welchen Stücken?«


»Beſchämte Eiferſucht — Juriſt und Bauer —«


»Gut, liebe Luſtſpiele — wünſche Glück!«

[105]

Dann nickte der König freundlich und ging weiter.


Hofrath Heun (Clauren) bot mir ſeinen Arm, mich
wieder auf die Galerie zu geleiten; doch nur mit Mühe
gelangte ich hinauf. Alle Welt wollte mir vorgeſtellt
ſein — mich ſehen — mit mir ſprechen.


Bei meinem nächſten Schreiben bin ich ſchon in Reih
und Glied — unter den Berühmtheiten der königlichen
Bühne und muß fleißig ſein, um den Namen Künſtlerin
zu verdienen . . .«

[[106]]

VI.
Wieder in Reih und Glied.

Ueber mein erſtes Debüt auf der königlichen Bühne,
Mitte Dezember 1824, war in der Spener'ſchen Zeitung
folgendes zu leſen, von Hofrath Schulz unterzeichnet, dem
nach Goethe's Ausſpruch »befähigtſten Kritiker Deutſch¬
lands:«


Als vor einigen Monaten verlautete, daß dieſes
junge Mädchen das Königſtädter Theater, deſſen Stütze
es war, verlaſſen wolle, um bei der königlichen Bühne,
deren Hoffnung es iſt, Engagement anzunehmen, —
wurde überall heftig diskutirt! Eine Weltbegebenheit
konnte nicht mehr beſprochen werden! Die Gemüther
erhitzten ſich, und hätte das Auftreten damals gleich
ſtattgefunden, — ein Sturm würde ausgebrochen ſein.


Die dazwiſchen liegende Pauſe führte glücklicher¬
weiſe zu der Anſicht: daß es bei ſolcher Jugend von
lobenswerther Selbſtkenntniß, von wahrer Liebe zur Kunſt
zeuge, eine erſte Stellung aufzugeben, um eine zweite
[107] anzunehmen — nur deshalb: um im Kreiſe der vor¬
trefflichen Mimen der königlichen Bühne den Namen
Künſtlerin zu erringen.


Wir heißen daher das junge, ſtrebſame Talent
herzlich willkommen und ſtimmen freudigſt dem herzlichen
Empfang, Beifall, Hervorruf bei. . . .«


Ich hatte zwei beſcheidene Rollen gewählt: die Julia
in der »beſchämten Eiferſucht« und Roſine in »Juriſt
und Bauer«. Die kleinen Luſtſpiele wurden im über¬
füllten Opernhaus gegeben; die Annonce, daß der pen¬
ſionirte Komiker Unzelmann, erſter Gatte Friederike
Bethmann's und in Berlin wegen ſeiner launigen,
witzigen Einfälle ſehr beliebt, den Rechenmeiſter Grübler
ausnahmsweiſe ſpielen würde, hatte das Intereſſe erhöht.


Nach dem Schluß der Vorſtellung führte mich, auf
den Hervorruf, der ſchon 71jährige Liebling der Berliner
an der Hand vor. Gar hübſch beurtheilte ein Kritiker
andern Tags unſer Danken ohne Worte: »Die liebliche
Roſine bot mit dem verehrten Veteranen das anſchaulichſte
Bild der auf- und untergehenden Künſtlerlaufbahn.
Beide blieben ſtumm. Die junge Debütantin nahm wohl
aus Beſcheidenheit nicht das Wort, und Unzelmann ver¬
mochte vor Rührung nicht zu ſprechen. . . .«


In den »Quälgeiſtern« trat ich zunächſt auf;
»Prezioſa« war mein drittes Debüt! — Alexander Wolff
ſpendete gleich ſeiner Gattin (Viarda) erfreuliches Lob,
und ich blieb auch im Beſitz der geliebten Rolle; Prezioſa
war der Glanzpunkt in meiner neuen Stellung.


[108]

So freundlich und gütig die Familie Eunike die zu¬
künftige Kollegin bei ſich aufgenommen hatte, das Herz
ſtets auf der Zunge — ſo kühl und ceremoniös empfingen
mich anfangs, bei meinem erſten Beſuch, während meiner
Kunſtpauſe, Herr und Madame Wolff: ſie gleich einer
Oberhofmeiſterin, er wie ein Miniſter. Bethmann wußte
aber bald die etwas affektirte Zurückhaltung zu beſeitigen,
indem er unbefangen und gemüthlich in ſeiner unwider¬
ſtehlich herzlichen Weiſe ſagte: »Ihr alter Freund bittet
Sie für dieſe Kunſtjüngerin um Wohlwollen und gütigen
Rath. Ich habe ſie in meiner eigenen Vertrauensſeligkeit
aus dem friedlichen Karlsruhe an das heiße Königſtädter
Theater hergelockt — und nun kann ich leider meinem
Verſprechen, ſie in Allem zu unterſtützen, nicht nach¬
kommen. . . . Bitte, machen Sie gut, was ich vielleicht
verſehen habe — mir zur Liebe. . . .«


Da thauten denn Beide zuſehends auf und wurden
zutraulicher. Sie verſprachen auch, mir ihren Beiſtand
zu leihen.


Später, als Amalie Wolff freundlichſt mit mir ver¬
kehrte, geſtand ſie unverhohlen: ſie und ihr Mann ſeien
gegen die Fremde eingenommen geweſen, denn Louiſe
v. Holtei, von ihnen gleich einer Tochter geliebt, hätte
kurz vor meinem Beſuch ihr Leid geklagt und die Be¬
fürchtung ausgeſprochen: von der neu Engagirten in
ihrem Rollenfach beeinträchtigt zu werden!


Wolff's waren aber viel zu klug und gerecht, um
nicht bald von der irrigen Anſicht ihres Lieblings über¬
[109] zeugt zu werden. Fr. v. Holtei's Individualität paßte
nur für wenige Rollen, und ihre zarte Konſtitution ver¬
hinderte ſie, das jugendliche Fach allein auszufüllen.
Eine Kollegin hätte ſie doch neben ſich dulden müſſen, —
und wahrſcheinlich eine pretentiöſere.


Amalie Wolff glänzte nicht im Mindeſten durch
Schönheit; das kleine, angenehm geformte Geſicht hatte
zu tief liegende Augen, die Geſtalt war unbedeutend und
doch feſſelte ſie unwiderſtehlich: ihre Grazie, ihr feines
Benehmen erinnerte an die gefeierte Mlle. Mars in Paris,
ihre Unterhaltung entzückte beſonders durch die herrliche
Gabe des echten Humors, der belebt, erquickt und — nie
verletzt. Geiſt, Talent, Anmuth, beharrlicher Fleiß hatten,
harmoniſch zuſammenwirkend, Amalie Wolff, geborne
Malcolmi, die geliebte würdige Schülerin Goethe's und
Schiller's, zu einer der erſten Künſtlerinnen Deutſchlands
erhoben. Sie glänzte Anfangs in ſanften, naiven, idealen
Mädchenrollen, ſpäter aber durch ihre ſcharfe Indivi¬
dualiſirung im Charakter- und komiſchen Fach. Auch ihr
Gatte, Pius Alexander Wolff, — der Verfaſſer meiner
lieben »Prezioſa« — machte beim erſten Anblick mit
ſeinen ſchmalen Schultern, müden Haltung, ſchlaffen
Zügen und kranker Geſichtsfarbe den Eindruck der dürf¬
tigſt ausgeſtatteten Perſönlichkeit. Ich hätte fragen
mögen: »Zu welchen Zaubermitteln haben Sie Ihre Zu¬
flucht genommen, um auf der Bühne — ſo poetiſch ſchön
auszuſehen?«


Die Unterhaltung den Anderen überlaſſend, ſuchte
[110] ich aus des Künſtlers Phyſiognomie herauszuleſen, wir
er es ermöglichte, als Romeo, Oreſt, Hamlet, und in
ſeiner bedeutendſten Schöpfung: Don Fernando im
»Standhaften Prinzen« Alle zu überſtrahlen? Doch ſeine
Stimme hatte ja einen ſo zu Herzen gehenden Wohllaut,
und ſeine Augen . . . ja, ſeine wunderbaren Augen! —
Alſo Sprache und Seelenſpiegel — damit verdunkelte
Alexander Wolff die brillanteſten Nebenbuhler. In dieſen
Augenſternen lag die religiöſe Schwärmerei Don Fer¬
nando's, das tief forſchend Sinnende Hamlet's. Dann
blickten ſie plötzlich wieder kindlich heiter, an Ludwig
Devrient erinnernd, wenn dieſer lächelte. Auch Wolff
ſpielte ausnahmsweiſe zu ſeiner Erholung gerne in über¬
müthigen Luſtſpielen mit fröhlichſter Laune.


Mit Entzücken erinnere ich mich noch jetzt jeder Vor¬
ſtellung, in welcher ich mit dem Künſtlerpaar Alexander
und Amalie Wolff beſchäftigt war. Von Allen iſt mir
ein Abend unvergeßlich geblieben, als Dr. Töpfer's »Her¬
mann und Dorothea« — während der Abweſenheit von
Mad. Stich — gegeben wurde. Ich durfte die Dorothea
ſpielen . . . und am Schluß, als ſämmtliche Beſchäftigte
mit Hervorruf belohnt wurden, verſuchte ich ſtill bei Seite
zu gehen. Wolff's jedoch erlaubten es nicht und zogen
mich mit ſanfter Gewalt auf die Bühne. Als ich nach dem
Fallen des Vorhangs weinend verſicherte: »Es ſind Freuden¬
thränen, aber ich verdiene dieſe Auszeichnung nicht . . .«,
nannten mich Beide lachend einen Kindskopf! — Ludwig
Devrient, noch in ſeinem Koſtüm als dicker, herziger
[111] Apotheker, klopfte mir ſo recht wie ein guter Vater auf
die Schulter und ſagte herzlich: »Aber ich liebe und
lobe die Gefühle — des Kindskopfes!«


Das war die Art und Weiſe, wie große Künſtler
und beliebte Anfänger damals zuſammen verkehrten.
Während meines fünfjährigen Engagements bei der könig¬
lichen Bühne in Berlin habe ich nicht eine boshafte
Bemerkung, nicht eine unliebſame Aeußerung vernommen.
Die Mitglieder gingen Hand in Hand, gegenſeitig wohl¬
wollend geſinnt, und löſten undankbare wie belohnende
Aufgaben mit gleicher Hingebung und gewiſſenhaftem
Fleiß, — und das Wolff'ſche Ehepaar ging mit beſtem
Beiſpiel voran. Alexander Wolff verdiente, was Goethe
über ihn ſagte, als er Weimar längſt verlaſſen hatte:
»So viel ich auch in's Ganze gewirkt habe und ſo
Manches durch mich angeregt worden iſt, ſo kann ich
doch nur einen Menſchen, der ſich ganz nach meinem
Sinn gebildet hatte, nennen: das iſt der Schauſpieler
Wolff!«


Aber Ludwig Devrient? Habe ich denn über ihn
nichts zu ſagen — über mein Idol? Da liegt wieder
ein altes, verblichenes Blatt vor mir, das ich 1826 über
Ludwig Devrient an meinen verehrten, würdigen Lehrer
Aloys Schreiber nach Karlsruhe ſchrieb. Es mag hier
ſeinen Platz finden — meine heutige Feder würde doch
nicht ſo friſch und lebensvoll zeichnen können.


». . . . Ludwig Devrient iſt der genialſte Künſtler,
die intereſſanteſte Perſönlichkeit, welche ich bis jetzt ge¬
[112] ſehen, ein Original im vollſten Sinne des Wortes, aber
ein ſo liebenswürdiges, großartiges und doch ſo be¬
ſcheidenes, daß man ſeine Eigenheiten gern überſieht.
Devrient's Darſtellung bietet immer Neues, Ueber¬
raſchendes. Wenn man ihn öfters in demſelben Stücke
geſehen und ſich freut auf Scenen, welche er früher ſchon
nach unſerem Bedünken unübertrefflich gab, da ſchafft er
doch noch Ergreifenderes. . . . Manches Mal ſcheint er
abgeſpannt zu ſein, mit ſich unzufrieden, geht hinter
den Couliſſen raſch auf und ab, vor ſich hinſprechend:
»Es geht heute gar nicht!« und fragt dann wohl einen
vorübergehenden Kollegen: »Nicht wahr, ich ſpiele heute
ſchlecht? Das Publikum iſt kalt — giebt kein Lebens¬
zeichen!?« . . . und plötzlich wieder weiß er zu elektriſiren,
daß raſender Beifall ertönt und er ſelbſt wieder voll
Zuverſicht erſcheint. Unſere herrliche Künſtlerin Mad.
Wolff nennt dies »Genie« und ich hörte mehr als ein¬
mal, wie ſie ſagte: »Devrient trifft wie mit Zauber¬
gewalt das Richtige, was mein Mann erſt mühſam
herausſtudirt.«


Fragen Sie mich nun: ſpielen Sie lieber mit Wolff
oder Devrient? ſo erwidere ich unverhohlen: mit Erſterem!
Man verliert die Faſſung nicht, wie bei Devrient, wenn
er zerſtreut iſt, oft ganz anders eine Szene darſtellt,
als in der Probe, oder ſo erſchütternd, daß man vor
lauter Thränen nicht ſprechen kann. Ich ſage dies als
Kunſtnovize, die Meiſterinnen werden mit Devrient ihre
Aufgaben ſo ſicher löſen, wie mit Wolff. Hören Sie,
[113] was ich als Cordelia und in »Die Macht der Verhält¬
niſſe« empfand.


Für Madame Unzelmann mußte ich die Cordelia
ſpielen. Ich ſtehe im letzten Akt über Lear gebeugt, ſein
Erwachen erwartend: da erhebt ſich Devrient, erkennt
die verſtoßene Tochter, ſinkt langſam mit gefalteten
Händen — wie um Verzeihung ſtehend — vor mir nieder,
mit dem Ausdruck eines ſo unſäglichen Seelenſchmerzes,
mit einem Blick ſo voll Reue — Liebe, daß ich nicht im
Stande war, vor Mitgefühl und Erſchütterung zu ſprechen;
es fehlte nicht viel, ſo wäre ich vor ihm niedergekniet
und hätte das ehrwürdige Haupt geküßt und an mich
gedrückt.


In Ludwig Robert's Trauerſpiel »Die Macht
der Verhältniſſe«, hat Devrient die Sterbeſzene ſo dar¬
geſtellt, daß ſelbſt die ſonſt ſo ruhige Mad. Schröckh zitterte,
weinte und eingeſtand: ihr Mann, der große, berühmte
Fleck, habe niemals ergreifender geſpielt. Ueberhaupt,
theurer verehrter Lehrer, wie würde Sie dieſe Vor¬
ſtellung entzückt haben, wo Alles ſich beſtrebte, der
Meiſter Beſchort und Devrient würdig zu ſein! Sie
kannten ja Robert, den Bruder von Frau Rahel Varn¬
hagen in Karlsruhe; hat er Ihnen nie aus dieſem bürger¬
lichen Trauerſpiel vorgeleſen?


Beſchort giebt einen Präſidenten, ſtolz, herzlos —
einen Sohn, welcher Militär iſt, anbetend, ihm Alles
erlaubend. Der Präſident beſitzt eine edle Gattin, eine
liebenswerthe Tochter (Mad. Schröckh und ich), und auf
Erinnerungen ꝛc. 8[114] dem Gipfel des Glückes vergißt er, daß ein früher ge¬
borener Sohn auch Anſprüche hat. Ein Bürgermädchen
wurde einſt von ihm getäuſcht — verlaſſen. . . . Sie
erzog ihr Kind mit übermenſchlicher Anſtrengung zu
einem edlen jungen Mann. Dieſer (Devrient) iſt Idealiſt,
geiſtreich, ernährt eine Schweſter durch eine Stelle als
Sekretär, kennt ſeinen Vater nicht, haßt aber den
Adel, weil er ahnt, was ſeine Mutter einſt durch einen
Hochgeſtellten gelitten. Er will auch nicht, daß ſeine
Schweſter eine junge Gräfin (mich) bei ſich ſieht, die
unter dem Vorwand kommt, Arbeit zu beſtellen und
weil ſie das Bürgermädchen gern hat, in Wahrheit aber
— weil ſie heimliche Liebe für den Sekretär empfindet.
Er warnt auch ſeine Schweſter vor den Liebesverſicherungen
ihres Bruders — des Rittmeiſters, und erklärt: er würde
ihn tödten, wenn er nicht fern bliebe. — Er erfährt, daß
ein Rendezvous ſtattfinden ſoll, entfernt die Schweſter,
der Rittmeiſter tritt herein und — wird von ihm er¬
ſchoſſen. Den Monolog vor dem Morde trug Devrient
meiſterhaft vor. — Der Sekretär kommt in's Gefängniß,
der Präſident muß ihn dem Gericht überliefern und —
erfährt, daß ſein Sohn es iſt, der ſterben muß, weil
er — ſeinen eigenen Bruder erſchoſſen. . . .


Es wurde während der Szene zwiſchen Beſchort und
Devrient nicht applaudirt, aber man hätte eine Nadel
fallen, eine Fliege ſummen hören können — ſo aufmerk¬
ſam, ſo athemlos geſpannt verfolgte das Publikum das
Spiel dieſer Meiſter. Alles ſagte der unglückliche Sohn,
[115] was er, was ſeine Mutter gelitten, er erſpart ſeinem
Vater keinen Vorwurf, läßt aber auch ſeine edlen Gefühle,
ſeinen Geiſt den Vater erkennen, und dieſer — zu ſeinem
qualvollen Entzücken — fühlt eine raſende Liebe für den
Verſtoßenen in ſeinem Herzen auflodern. Er erkennt jetzt
den Werth ſeines armen Kindes . . . zu ſpät.


Der Sekretär nimmt Gift, um die Ehre ſeines Vaters
zu retten. Frau und Tochter des Präſidenten ſtürzen
mit der von ihnen liebevoll aufgenommenen Schweſter
herein, und in ihren Armen ſtirbt der Unglückliche. Herr
Hofrath! — zu ſchildern, wie Devrient ſtirbt, welchen
Blick er dem um Verzeihung flehenden Vater ſchenkt, indem
er ihm die Hand reicht . . . das muß man ſehen — zu
beſchreiben iſt es nicht.


Und erſt der Todeskampf! — das Zucken der Augen¬
wimpern, der Schmerzenszug um den Mund, das Er¬
löſchen der Stimme, das Beben des Körpers — dann
das letzte Aufflammen des Lebenslichtes vor dem Erlöſchen
— Alles unnennbar ergreifend und doch nichts übertrieben,
kein kraſſes, zurückſtoßendes Mienenſpiel. . . . Devrient
ſinkt, uns mit ſich niederziehend, hin — der Vorhang
fällt.


Tiefe Stille im Publikum — wie noch unter dem
Eindruck des Geſehenen. Dann ertönt's: »Devrient!
Beſchort!« Wir wollen Devrient aufhelfen — er rührt
ſich nicht! — Man kommt uns zu Hülfe, ich ſage: »Sie
werden gerufen!« — Da ſchlägt er mit einem tiefen
Seufzer die Augen auf und ſagt leiſe — mit wehmüthigem,
8 *[116] müden Lächeln: »Ich dachte, ich ſei wirklich geſtorben!«
— und geht mit wankenden Schritten von der Bühne.
So hatte er ſich in ſeine Aufgabe hineingeſpielt, hinein¬
gelebt.


Nun von weniger Ernſtem! In der Tragödie
Raupach's, Raphaele, ſtellt Devrient einen Türken vor,
Krüger und ich ſind ſeine Kinder. Der Vater muß uns
etwas Wichtiges mittheilen, und aufmerkſam zuhörend
ſitzen wir auf einem Divan rechts und links von ihm,
etwas entfernt vom Souffleurkaſten. Die Rede beginnt
mit: »Allah iſt groß!« — und: »Allah iſt groß!« ſagt
Devrient zum zweiten Mal — man merkt, er iſt zer¬
ſtreut — »Allah iſt groß!« zum dritten Mal. . . . Er
kommt über Allah's Größe nicht hinweg. Da verſuche ich
ihm die von mir ganz gut gehörten Worte zu ſouffliren,
ganz leiſe. . . Devrient verſteht mich, ſpricht nach, wird
Herr ſeines Gedächtniſſes und ſpielt mit gewohnter Meiſter¬
ſchaft weiter.


Nach dem Akt ſehe ich ihn raſch auf mich zukommen;
er legt ſeine Hand wie ſegnend auf meinen Turban und
ſagt ſehr freundlich: »Brav, brav, liebe Kleine, — ich
danke! ich danke!« — Wer war ſtolzer und glücklicher
als ich!


Devrient half mir dann auch beim Einſtudiren der
Karoline in »Die Nachtwandlerin« von Blum. — Ich
theilte ihm mit, wie ſchwer mir die Nachtwandlerſzene
würde und wie Angſt es mir ſei, nach der Neumann
dieſe Rolle zu ſpielen. Da erbot er ſich, mir Rath zu
[117] ertheilen, kam pünktlich zur verabredeten Stunde, und
mit wahrer Engelsgeduld ließ er mich die Szene wieder¬
holen, — zeigte, wie die Augen blicken müßten, beſchrieb
das gewiſſe ſchleppende, doch lieblich klingende Sprechen
beim Nachtwandeln, — Gang, Bewegungen ſicher, leicht,
und doch wie mechaniſch. . . . Genug, ich begriff, hatte
großen Erfolg und dankte Devrient innigſt für ſeinen
Beiſtand.


Seine Eigenheit kommt zuletzt. Devrient's Tochter
lebte in Braunſchweig bei dem Schauſpieldirektor Klinge¬
mann, geliebt und gepflegt wie von guten Eltern. Sie
kommt als 16 jähriges Mädchen nach Berlin, um den
Vater zu umarmen und — vor ihm zu ſpielen. Devrient
ſtellt uns die Tochter vor; ein holdes Mädchen mit des
Vaters Zügen, aber jugendlich weiblich, dieſelben Pracht¬
augen! — Ich frage: »Iſt Ihr Vater ſchon die Rolle
mit Ihnen durchgegangen? Was ſagte er? Das iſt ein
Lehrer, ein vortrefflicher!« — Da erwiderte ſie kleinlaut:
»Ach nein! — er meinte ich ſpräche. . .« — »Nun?!« —
»Etwas affektirt — in ſo kurzer Zeit ſei es nicht möglich,
anders zu werden — er wolle erſt ſehen, wie ich die
»Toni« ſpiele, dann mir Unterricht geben. Er wieder¬
holt immer: Klingemann'ſche Manier iſt mir zuwider!
Unnatur! — Nun begreifen Sie wohl meine Angſt —
wie wird es mir gehen!«


Wir ſprachen ihr Muth zu. »Die Gouvernante«
von Körner ſollte als Nachſpiel gegeben werden, und
während der Probe gefiel ſie nur ſehr gut. Devrient
[118] ließ ſich nicht erblicken. Abends freue ich mich, wie ſchön
ſie ausſieht, erwarte großen Beifall. . . aber der bleibt
beinahe ganz aus. Auch mir kommt die Art des Dekla¬
mirens etwas unnatürlich vor, doch auch Manches hübſch
und lobenswerth. Die Toni iſt vorüber — kein Devrient
zu ſehen! Der Tochter ſtanden Thränen im Auge. Wir
ſpielen die Gouvernante, man applaudirt, denn ſie ſprach
charmant franzöſiſch als alte Gouvernante. Dennoch
kein — Devrient! Andern Morgens kommt Fräulein
Devrient und klagt uns: der Vater ließe ſie nicht mehr
hier auftreten, es ſei mit Affektation nichts zu machen,
ſie würde immer unnatürlich ſprechen, ſei von Klinge¬
mann's verſchroben gebildet, und es ſei undelikat, einem
Publikum die Tochter aufzudringen, weil es den Vater
liebe. . . .


Devrient hatte als Künſtler recht, aber als Vater
konnte er doch wohl verſuchen, ob dieſe Manier der ſonſt
ſo begabten Tochter nicht zu ändern ſei. Seine fixe
Idee war aber: es ginge nicht. . .


Louiſe von Holtei, geborne Rogée, ſollte ich nicht
näher kennen lernen. Sie kränkelte ſchon längere Zeit
und betrat nur noch ſelten die Bühne.


Und dann — wenige Monate nach meinem Engage¬
ment — während der Leſeprobe von »Pauline« (Schauſpiel
von Frau von Weißenthurn) ſtürzte der Theaterdiener
[119] in großer Aufregung in den Saal mit den Worten:
»Frau von Holtei iſt ſoeben verſchieden. . .«


Wie waren wir da Alle — Alle ſo erſchüttert, als
träfe jeden Einzelnen dieſer Schlag ganz beſonders.
Mad. Wolff ſchluchzte laut auf und ſelbſt ihr Gatte
verlor die Faſſung. Niemand vermochte weiter zu leſen.
Der Regiſſeur, Herr v. Lichtenſtein, ſchloß die Probe.
Wolff flüſterte ſeiner Frau zu: »Ich will den armen
Holtei beſuchen. Soll ich Dich vorher nach Hauſe be¬
gleiten?« — »Nein! Ich muß mich hier erſt faſſen. . .«
Ein Strom von Thränen unterbrach ſie. »Ich werde
hier bleiben und Mad. Wolff nach Hauſe führen!« ſagte
ich hinzutretend. Aber vergebens ſuchte ich nach Troſtes¬
worten. Erſt als Amalie Wolff von der verſtorbenen
Freundin ſprechen konnte, milderte ſich ihr Schmerz.
Sie rühmte Louiſe Holtei als treue, ſorgliche Mutter,
liebende Gattin und fleißige Hausfrau. Sie ſprach von
ihrem reinen Engelsgemüth. . . Aber ſie zitterte noch,
wie ſie an meinem Arm nach Hauſe ging. Beim Lebe¬
wohlſagen blickte ſie mich liebevoll an und ſagte herzlich:
»Nie werde ich vergeſſen, wie auch Sie die Todesnachricht
aufgenommen . . . und doch war Louiſe von Holtei Ihre
gefährlichſte Nebenbuhlerin in dem Herzen des Berliner
Kunſtpublikums. Von heute an zählen Sie vertrauensvoll
auf meine wahre mütterliche Freundſchaft!« Und Amalie
Wolff hielt Wort.


Dem Begräbniß der viel beweinten, kaum 25 Jahre
alten Louiſe von Holtei wohnte auch ich bei — dem erſten
[120] in meinem Leben, denn als meine kleine einzige Schweſter
in Bruchſal begraben wurde, weilte ich bei Bekannten
in Karlsruhe.


In einem großen Parterrezimmer verſammelten ſich
die Beileidtragenden. Louiſe von Holtei — das holde
Käthchen — lag weißgekleidet da, — ſo lieblich, als
ſchlummerte ſie ſüß unter dem Hollunderbaum, im Traum
ihrem Ritter ihre mädchenhaft keuſche Liebe geſtehend. . .
Schwarze geſcheitelte Haare umrahmten die edle Stirn,
und lange Augenwimpern beſchatteten die Wangen, als
müßten ſie ſich jeden Augenblick zu Wetter von Strahl
erheben. . .


Und doch war das holde Käthchen von Heilbronn
für immer von uns gegangen — die ſchönſten Augen
Berlins ſollten ſich nie wieder öffnen. . . Starr lag ſie
da in ihrem Sarge. . . O, wie das ſo eiſig an mein
junges, lebensfrohes Herz griff. . .


Karl von Holtei, der damals dramatiſche Vorleſungen
hielt und ſchon berühmt war durch ſeine »Wiener in
Berlin«, ſtand bleich und vergrämt an der Seite des
Sarges, ſein Töchterchen an der Hand. . .


Vierzig Jahre ſind in's Meer der Ewigkeit verſunken,
ſeit ich dieſe rührende Leiche geſehen, — und doch kann
ich mich auch heute noch jedes Zuges des ſelbſt im Tode
ſo holden Antlitzes erinnern. . . Es wird heute wenig
mehr von Louiſe von Holtei geſprochen . . . und doch hat
man nach ihr keine lieblichere Melitta — kein idealeres
Käthchen von Heilbronn geſehen. . .


[121]

Von Denen, die damals mit mir trauernd an dieſem
ſo viel Schönheit und Kunſt und Glück umſchließenden
Sarge ſtanden, iſt heute wohl Niemand mehr übrig, als
Karl von Holtei und ich. . .


Zunächſt ſollte ihr Alexander Wolff nachfolgen —
ſchon nach zwei Jahren.


Faſt dreizehn Jahre lang hatte dieſer Liebling
Goethe's und der Muſen in idealen Geſtalten an der
Berliner Hofbühne geglänzt. Vergebens hatten Goethe,
Karl Auguſt und der Erbgroßherzog Karl Friedrich ihn
und ſeine Gattin an Weimar zu feſſeln geſucht — nach
Ablauf ihres Kontrakts waren beide Künſtler auf die
vielverheißenden Anträge des Grafen Brühl 1815 ge¬
ſchieden, — wenn auch mit ſchwerem Herzen von der
Weimar'ſchen Bühne, »der Wiege, der Schule, dem
Ehrenfelde unſeres Strebens«, wie es in einem Briefe
Wolff's an Goethe heißt.


Doch hatte Wolff ſeit Jahren ſchon ein bedenkliches
Halsleiden und faſt alljährlich beſuchte er mit ſeiner
Gattin Pyrmont und Ems. Als er einſt von dort zu¬
rückkehrte und nach langer Pauſe mit mir in »Hermann
und Dorothea« wieder auftrat — mit welchem Jubel
empfing ihn das Publikum! Man hoffte, daß er nun
von ſeinem Halsleiden geheilt und der Kunſt wieder ge¬
wonnen ſei. Das Opernhaus faßte die Herbeiſtrömenden
nicht, und der Beifall, die Begeiſterung war ſo groß, die
Freude, das Künſtlerpaar wieder bewundern zu können, ſo
ſichtbar, daß man einem Familienfeſte beizuwohnen wähnte.


[122]

Wie liebenswürdig war Wolff in feinen Konverſations¬
ſtücken, wie belebend wirkte ſein Humor in Luſtſpielen,
und wie meiſterhaft in ernſten, edlen, dramatiſchen Auf¬
gaben! Nie ſpielte er, um größeren Beifall zu erringen,
gegen ſeine Ueberzeugung; er ſtrebte unermüdlich nach
Vollkommenheit und war gegen ſich ſelbſt am ſtrengſten.


Und dieſer wahre, gewiſſenhafte Künſtler mußte im
beſten Mannesalter ſterben! Bei dem Abſchied vor der
letzten Reiſe nach Ems war der Ausdruck ſeiner ſchönen
geiſtvollen Augen ein unendlich wehmüthiger. Er ver¬
ſuchte lächelnd auf Wiederſehen zu ſagen, aber es klang
hoffnungslos.


Wie freudig wurden wir aber überraſcht, als uns
Mad. Wolff hoffnungsvolle Briefe aus Ems ſandte!
Zwar ſehr entkräftet, aber doch ſelbſt voll neuen Muthes,
trat er die Rückreiſe an. Sie nahmen ihren Weg über
Weimar, und hier zwang ihn die plötzlich wieder aus¬
brechende unbarmherzige Krankheit zum Bleiben.


Wo der Stern am Kunſthimmel ihm aufgegangen
war, iſt der Stern ſeines Lebens erloſchen. An einem
Sommerabend trugen ihn ſeine alten Freunde auf den
Friedhof hinaus, wo auch Karl Auguſt, Goethe, Schiller,
Hummel und ſeine Kollegen aus Goethe's Schule: Oels,
Vohs und Moltke, jetzt längſt ruhen.


Mad. Wolff ſprach gern von dem Entſchlafenen;
ſie verſicherte, daß es ſie beruhige und ihre Sehnſucht
mildere, wenn ſie ſo mit ganzer Seele der Vergangenheit
gedächte und mittheilen könne, wie viel des Schönen und
[123] Guten ihnen Gott gewährt. Sie konnte nicht genug
rühmen, wie ſanft und fromm ergeben ihr Gatte geweſen
ſei, und wie dankbar für alle Sorge und Beweiſe der
Liebe! Auch erzählte ſie, daß er plötzlich einige Minuten
vor dem Todeskampfe ſich aufgerichtet und mit begeiſtertem
Ausdruck und laut (er, der ſo lange ſchon verſtummt
war) einige Worte aus »dem ſtandhaften Prinzen« von
Calderon geſprochen. Das letzte Aufflammen der Lebens¬
kraft war der Erinnerung an ſeine edelſte Schöpfung
geweiht, an ſeine liebſte Rolle, und nach dem Ausſpruch
aller Kenner, ſeine beſte. . .


»Wolff ſehnte ſich auf ſeinem Sterbebette immer,
eine Blume in der fieberheißen Hand zu halten«, erzählte
Mad. Wolff, »er labte ſich an ihrem Dufte. Einige
Theeroſen hatten den Kranken ſehr erfreut, beſonders
bewunderte er die Grazie der Knoſpen.


»Ich wachte allein bei ſeiner Leiche, küßte ſeine
Stirn und Wangen, nahm ſeine erkaltete Hand und
erblickte in ihr — eine welke Roſenknoſpe.


»Da nahm ich die Knospe und ſtellte ſie in ein
Glas Waſſer; traurig ſenkte ſie das Köpfchen,


»Ach, hätte ich weinen können! Nicht weinen zu
können war meine größte Qual. Wie hätten Thränen
mein Herz erleichtert!


»Endlich gegen Morgen ſchlummerte ich vor Ermattung
ein wenig ein, und als ich wieder erwachte, erblickte ich
in jenem Glaſe — eine herrlich erblühte Roſe!


»Da war es mir, als ob ein Lächeln über das
[124] Antlitz des Verklärten ginge, das mir ſagen ſollte:
»Dies mein Gruß aus dem Jenſeits. Beruhige Dich,
Geliebte — Du verſtehſt mich . . . wir ſehen uns
wieder. . .«


»Da konnte ich weinen. . .«


. . . Und kaum nach vier Jahren — in den erſten
Tagen des Januar 1833 — trugen die Berliner Freunde
auf ihren Schultern den größten Mimen unſeres Jahr¬
hunderts hinaus zur letzten Ruhe — unter dem kühlen
Raſen des ſtillen, jetzt faſt vergeſſenen franzöſiſchen
Kirchhofs vor dem Oranienburger Thore zu Berlin, wo
auch Seydelmann liegt . . . Ludwig Devrient!


Wie hatte Devrient danach gelechzt — gerungen:
ſein Ideal einer Künſtleraufgabe — Shakeſpeare's »Richard
den Dritten« in Berlin darſtellen zu dürfen. . . Endlich!
endlich kam dieſer heißerſehnte Abend . . . aber faſt zu
ſpät für den großen und doch in ſeinem Leben ſo wenig
glücklichen Mann. . . Noch nicht 48 Jahre alt, waren
ſeine phyſiſchen Kräfte erſchöpft . . . weil ihm die mora¬
liſche Lebenskraft gefehlt hatte. Nicht glücklich in ſeinen
drei Ehen — getrieben von einer fortwährenden inneren
Unruhe, Unbefriedigtheit und Zerriſſenheit, ſuchte er mit
ſeinem Freunde, dem geiſtreichen, wunderlichen Kammer¬
gerichtsrath E. T. A. Hoffmann, Vergeſſenheit in der
Weinſtube von Lutter und Wegener . . . oft — zu oft —
zuletzt täglich. . . Der Wein und andere ſcharfe Getränke
zerrütteten ſeine empfindſamen, leicht erregten Nerven
immer mehr. . . Und als er den Richard mit dem Auf¬
[125] gebot ſeiner letzten Kraft ſpielte — und ſo ſpielte, wie
man dieſe gigantiſche Rolle weder vor ihm noch nachher
in Berlin wieder ſah . . . da fühlte er doch ſelber zu
ſeinem tiefſten Schmerz, daß er ſein Ideal von dieſer
Rolle nicht erreicht hatte — nie mehr erreichen konnte. . .
Das brach ſeine Lebenskraft vollends und er ſank auf's
Krankenlager hin. . . Aber noch einmal flackerte die alte
Kunſtliebe und Kunſtbegeiſterung in dem gebrochenen
Körper auf — ſo mächtig, daß ſie auch dem müden Leibe
noch für eine kurze Friſt Kraft gab. Devrient wollte —
konnte wieder ſpielen. Am 1. Dezember 1832 ſchleppte
er ſich auf die Bühne — und ſpielte den »Schewa«,
eine ſeiner Lieblingsrollen, wie nur Ludwig Devrient
ihn ſpielte. . . Wer einmal die zornigen, ſchrillen Fiſtel¬
töne Schewa's von Devrient gehört hat — bei ihnen
zuſammengeſchauert iſt . . . der wird mir Recht geben.
Athemlos — mit wehmüthigem, ernſten Schweigen folgte
das volle Haus der erſchütternden Leiſtung. . . Der
Vorhang fiel, und Ludwig Devrient, der Wiedererſtandene,
wurde ſtürmiſch gerufen. . . Er wankte vor und dankte
mit zitternder Stimme und erloſchenen Augen für dieſe
beglückende Theilnahme und ſprach von ſeiner Freude,
wieder vor ſeinen Gönnern auf der Bühne zu ſtehen —
und von der Hoffnung auf ein neues, friſches Leben und
Blühen und Wachſen ſeiner Kunſt. . . Aber er glaubte
ſelber nicht an dieſe Worte — an dieſe ſchöne Zukunft. . .
Mühſam ſchleppte er ſich in die Couliſſen zurück — da
brach er zuſammen und die Thränen ſtürzten ihm aus
[126] den Augen und das troſtloſe Wort bebte von ſeinen
erbleichenden Lippen: »Es iſt mit mir vorbei — für
immer — Alles!«


Und es war vorbei!


Am 30. December 1832 in nachtdunkler Morgen¬
ſtunde weinte die Muſe an der Leiche ihres edelſten
Prieſters. . .


Doch wer den Beſten ſeiner Zeit genug gethan,

Der hat gelebt für alle Zeiten. . .

Doch meine Erinnerungen fliegen voraus. . .


Aber mein Herz trieb mich, an dieſen wenigen
leuchtenden Künſtlerbildern aus der alten, verſchollenen
Zeit zu zeigen, wie beglückt ich war — und ſein mußte:
mit ſolchen edlen, begeiſterten Künſtlern ſpielen und —
von ihnen lernen zu dürfen!


Bald ſollte ich auch die volle Bedeutung der ſo oft
gehörten Worte: »Alte Schule — Traditionen Iffland's —
Pietät des Intendanten Grafen Brühl, im Iffland'ſchen
Sinne dem Inſtitut vorzuſtehen,« verſtehen und würdigen
lernen.


In Karlsruhe hatte ich auch Ordnung, Fleiß, esprit
de corps
wahrgenommen, aber bei weitem nicht in dem
Maß, wie bei der königlichen Bühne. So vieler Be¬
ſcheidenheit bei eminentem Talent, — liebenswürdigſter
Bereitwilligkeit, dem Ganzen zu lieb die kleinſten Rollen
[127] zu übernehmen, — begeiſtertem Streben, unermüdlichſtem
Fleiß der berühmteſten Mimen, — einem ſo harmlos
heiteren, freundlichen Verkehr mit den Kollegen, und
dabei anſpruchsloſen Benehmen der Gefeiertſten den jungen
Anfängern gegenüber, bin ich in den 25 Jahren meines
Bühnenlebens nie wieder begegnet.


Wohl haben ſpäter einzelne hervorragende gigantiſche
Genies, leuchtende Perſönlichkeiten mit vollendeter Künſtler¬
ſchaft noch glänzendere Triumphe errungen, — Ehrenbe¬
zeugungen jeder Art, reicherer Gewinn belohnte ihre
Leiſtungen . . . aber mit ſo ebenbürtigen, gleichgeſinnten,
gleichberechtigten Künſtlern zu wirken — — dies hohe
Glück blieb ihnen verſchloſſen.


Wenn ich ſpäter von den Anſprüchen und goldenen
und lorbernen Erfolgen der Nachahmer Ludwig Devrient's
hörte, mußte ich ſtets mit Rührung des unübertroffenen
und doch ſo beſcheidenen Künſtlers gedenken. . . Ludwig
Devrient hatte eine Gage von 2500 Thalern, und die
brillanteſte Kunſtreiſe brachte damals nur 400 — höchſtens
600 Thaler ein. Ueberdies waren die Koſten dieſer
Reiſen — da man ſtets mit eigenem Wagen oder Extra¬
poſt reiſen mußte — ſo bedeutend, daß oft die ganze
Einnahme auf die Reiſe verwendet werden mußte. . .
Und heute?


Devrient iſt auch ſein Leben lang die Schulden nicht
los geworden. Im Jahre 1809, als er noch in Leipzig
engagirt war, hatte er 900 Thaler Schulden und wußte
ſich vor ſeinen Gläubigern nicht anders zu retten, als
[128] — durch Flucht nach Breslau. Dort begründete er
ſeinen Ruf als Charakterſpieler.


Und bei — nach heutigen Begriffen — ſo geringem
goldenen Lohn hatte die Berliner Hofbühne Muſtervor¬
ſtellungen — im edelſten Sinne des Worts — aufzu¬
weiſen, wie keine andere Bühne Deutſchlands. Die
entzückten das dankbare und gebildete, nach höchſtem
Maßſtabe richtende Publikum von Iffland's Direktion
an bis zum Scheiden des Grafen Brühl und bis zum
Tode Ludwig Devrient's.


Die ſpäter ſo mühſam veranſtalteten Muſtervor¬
ſtellungen auf der Münchener Bühne — waren vorüber¬
gehend; ſie fanden nur 1833 und 1854 ſtatt — ohne
Blüte — ohne Frucht.


Solche Erfolge in Berlin waren aber auch nur zu
erreichen durch das einträchtige, ſelbſtloſe, begeiſterte
Ringen Aller nach — Einem Ziele. Die jüngeren, ſelbſt
die beliebteſten Mitglieder ſtellten nie die Bitte: von
kleinen effektloſen Rollen dispenſirt zu werden. Und wenn
nur ein Zug von Ueberſchätzung ſich zu erkennen gab,
hieß es gleich: hat man Ihnen nicht erzählt, wie Iffland
und Friederike Bethmann Anmaßende zurechtgewieſen
haben?! Hören Sie:


»Während des Probirens vom Krönungszuge in der
Jungfrau von Orleans hatte ſich ein Anfänger für zu
gut gehalten, zu zeigen, wie er das Kiſſen mit der Krone
tragen werde, und ſchlenderte nachläſſigen Schrittes über
die Bühne. Iffland unterbrach den Krönungszug, nahm
[129] dem Pretentiöſen das Kiſſen ab und ging ernſt, würde¬
voll es tragend gemeſſenen Schrittes vor ihm her. . .
Dann forderte er den jungen Ueberklug auf, das Kiſſen
ebenſo zu tragen. Nach mehrmaligem Probiren ſagte
Iffland laut: »Nun können Sie es wagen! Auf Ihre
Manier wären Sie heute Abend ausgepfiffen worden!«


Der ſo Belehrte — Beſchämte wurde beſcheiden und
ein nützliches Mitglied der Berliner Hofbühne.


Eine junge, beliebte Sängerin wollte in einem Sing¬
ſpiel die zweite Partie nicht übernehmen. Da erbot ſich
Friederike Bethmann: neben ihr — die kleinere Rolle zu
ſpielen und der jungen Dame die glänzende erſte zu
überlaſſen. . . Das half! Beſchämt geſtand die Anfängerin
ihr Unrecht ein. So wurde ſie mit der Zeit eine ernſt
ſtrebende liebenswürdige — erſte Sängerin . . .«


Von der wahrhaft rührenden Beſcheidenheit be¬
währter und gefeiertſter Künſtler zu meiner Zeit nur
einige Beiſpiele: Muſikdirektor Karl Blum bat den be¬
rühmten Tenoriſten Bader, doch ihm zu Gefallen den
Guſtav in ſeiner Operette »Die Nachtwandlerin« zu
ſingen. Da es zugleich eine Spielrolle und Stümer —
damals noch zweiter Tenor — nicht im Stande ſei,
trotz des beſten Willens in Proſa zu ſprechen und ſich
in elegant moderner Kleidung graziös zu bewegen, ſo ſei
er in größter Verlegenheit.


Guſtav war — Numero drei in der Operette, denn
die Nachtwandlerin und Heinrich Blum als Rudolph
hatten die dankbarſten Aufgaben.


Erinnerungen ꝛc. 9[130]

Und der gefeiertſte Sänger Deutſchlands, der ideale
Licinius, bewunderte Cortez — ſang den Guſtav, ſpielte
entzückend, ſprach anmuthig, mit Gefühl . . . und Dank
ſeinem Mitwirken erregte die beſcheidene Operette Enthu¬
ſiasmus, blieb auf dem Repertoir und wurde ſtets vor
beſetztem Hauſe gegeben.


Der ſpäter ſo berühmt gewordene Eduard Devrient
(bis vor kurzem Intendant in Karlsruhe), damals Baſſiſt
und nur in großen Opern beſchäftigt, übernahm bereit¬
willig die kleine Partie des Bedienten Guſtav's und
ſpielte und ſang allerliebſt.


Das Hübſcheſte dabei war, daß Bader vor ſeinem
Auftreten als Guſtav ſeine — Befangenheit eingeſtand . . .
da er ſo gar nicht gewöhnt ſei, als ſüß girrender Lieb¬
haber zu ſprechen, mit halber Stimme zu ſingen, und da er
ſich in dem modernen Koſtüme unbehaglich fühle. . . Aber
wie bezaubernd klang ſeine Stimme in dem leiſe vorge¬
tragenen Duette während der Nachwandlerſcene — ſo ſüß
verklingend — faſt überirdiſch.


Ueberhaupt war Bader das Muſter eines edlen, guten
Künſtlers, mit voller Glut ſich ſeinem Beruf widmend.
In Spohr's »Jeſſonda« ſang er am liebſten. Nach dem
Duette mit Mad. Seidler: »Laß uns dahin zieh'n« hatte
er in der Probe Thränen in den Augen — plötzlich brach
er in die Worte aus: »Welche himmliſche Muſik, o großer
Meiſter Spohr, wie ſoll ich Dir genug danken für den
Genuß und die Gnade, deine Töne dem Publikum über¬
[131] mitteln zu dürfen!«. . . Und das Orcheſter applaudirte
jubelnd dieſen Worten.


Ludwig Devrient verſchmähte es nicht, in dem
Vaudeville »Die Hottentottin« die kleine Rolle des Onkels
zu übernehmen, der eigentlich nur eine Scene zu ſpielen hat.
Aber er wirkte ſo belebend, erheiternd durch ſeinen köſtlichen
Humor, daß die Hottentottin unzählige Male wiederholt
werden mußte — in Potsdam, Charlottenburg, ſogar in
Sansſouci in dem von Friedrich dem Großen erbauten
eleganten Miniaturtheater, dem bijou einer Bühne.


Rebenſtein, der prächtige Wetter von Strahl, der
poetiſche Don Carlos, ſpielte in demſelben Vaudeville
den Neffen, eine winzige Rolle. Ich als »Hottentottin«
mußte ſingen und ein Solo tanzen.


Die Achtung, das Wohlwollen der Kollegen galt
damals als Hauptſache! Nichts vermochte ſo zu ermuntern,
wie deren Lob.


Aber dem großen Ganzen zu Liebe übernahmen wir
Jüngeren unter Umſtänden auch wohl Aufgaben, die faſt
über unſere Kräfte gingen.


Die Oper »Joconde« ſollte in Sansſouci aufgeführt
werden mit Henriette Sontag als Gaſt. Der König
hatte hohe Gäſte und ſelber dieſe Vorſtellung gewünſcht. —
Da wird die Sängerin krank, welche die Partie der
Mathilde einſtudirt hatte. Keine Stellvertreterin war
zu finden! Denn den erſten Sängerinnen Seidler und
Schulz war doch der Antrag nicht zu ſtellen, neben der
Sontag als Folie zu figuriren.


9 *[132]

Karl Blum kam zu mir in fliegender Haſt, im
Auftrag des Kapellmeiſters und Intendanten. »Sie müſſen
uns aus der Noth helfen! Singen Sie die Mathilde! —
Die hohen Herrſchaften freuen ſich, die Sontag und
Bader in Joconde zu hören. Sie ſind muſikaliſch, es
geht gewiß. Wir wollen gleich beginnen . . .« und Blum
öffnete den Flügel, drückte mir die Noten in die Hand
und ſchlug das Accompagnement an.


»Ich — mit der Sontag vor dem Hofe ſingen?«
rief ich außer mir. »Mir ſchwinden ſchon bei dem Ge¬
danken die Sinne — und dazu noch über Hals und
Kopf einſtudiren? — Fiasko machen — ſtecken bleiben?
— lieber ſterben. . . «


Aber Blum bat ſo beharrlich, verſuchte mich mit
der Verſicherung zu beruhigen, dem König würde ge¬
meldet werden, ich hätte nur aus Gefälligkeit gewagt,
neben der Sontag zu ſingen — in Berlin würde ja
Joconde nicht wiederholt . . . und dazwiſchen ſpielte er
immer Bruchſtücke der ſüßen, lockenden Melodieen, die
Mathilde zu ſingen hatte. . . Ich war überwunden und
ſtudirte auf Tod und Leben die Rolle ein. Die Proben
gingen gut; aber während der Hauptprobe in Sans¬
ſouci ſtand ich doch zitternd und angſtbeklommen da,
denn der König wohnte mit Suite der Probe bei, dicht
hinter dem Orcheſter.


Nach dem erſten Trio und Aktſchluß — ſtand plötzlich
Friedrich Wilhelm der Gute vor mir auf der Bühne
und ſagte ſo recht mild, väterlich: »Sich nicht ängſtigen
[133] — vernommen — nur aus Gefälligkeit ſingen, — recht
ſchön — lobenswerth — wird gut gehen danke!
danke!« — Dabei nickte der leutſelige König freundlichſt
und war verſchwunden. Das gab mir neuen Muth.
Ich athmete auf, ſang und ſpielte tapfer weiter und —
blamirte mich nicht. Andern Tages erhielt ich vom
Geheimen Kämmerer Timm im Auftrage des Königs
köſtliche Potsdamer Trauben und einen reizenden Pariſer
Hut. Das Geſchenk, das einzige, das ich vom Preußiſchen
Hofe erhalten habe, beglückte mich wegen des beigefügten
Billets: »Die Mathilde möge ſich gerne des gebrachten
Opfers erinnern. . .«


Ueberhaupt die Fahrten nach Potsdam! Wie liebten
wir Alle dieſe heiteren Kunſtreiſen en mininiature — im
altmodiſchen Theater-Wagen, langſam von alten Pferden
gezogen. . . denn wie angenehm verplauderten ſich die
vier Stunden mit Kolleginnen wie: Mad. Wolff, Stich,
Schröckh, Eunike, Komitſch, Unzelmann — und den
Kollegen Ludwig Devrient, Alexander Wolff, Beſchort,
Lemm, Krüger, Rebenſtein. . . Nicht nur, daß die
Geſpräche belehrten — ſie wirkten auch wohlthätig auf
das Gemüth; man lernte ſich beſſer kennen, ſchätzen und
— vertrauen. Es wurden Erlebniſſe mitgetheilt, das
Wohl und Wehe der Angehörigen beſprochen und oft
ganz merkwürdige Beichten abgelegt. Dabei kamen ſo
liebenswerthe, vertrauenerweckende Eigenſchaften zu Tage,
daß man ſich nicht fremd zu bleiben vermochte. Oft
war es mir in unſerem großen grünen oder rothen
[134] Rumpelkaſten, als ſäße hier eine Familie traulich bei¬
ſammen.


Dieſes gegenſeitige Verſtehen und Vertrauen hat
ſicher viel zu der damaligen herrlichen harmoniſchen
Kunſtepoche beigetragen.


Als Feſte anderer Art, höchſt reizend und beneidens¬
werth, galten uns die Vorſtellungen in dem Palais des
Königs, wo kleine Luſtſpiele, Geſang, Ballet mit lebenden
Bildern abwechſelten.


Auf einem winzigen, proviſoriſch errichteten Theater,
im größten Saal des Palais, wurden die Proben abge¬
halten, — heiter und zwanglos, oft übermüthig. — Da
wurden Gruppen lebender Bilder geſtellt, während be¬
gleitender Geſang aus den Couliſſen ertönte. Dann
wanderte wieder das fliegende Orcheſter in den Saal
hinab, um Henriette Sontag und Mad. Seidler zu accom¬
pagniren, von Muſikdirektor Möſer dirigirt. Die
Tänzerinnen figurirten in graziöſen Pas, und am
Schluß der Probe ſetzte man ſich an reich ſervirte Tiſche
zum Déjeûner à la fourchette — zu Gaſt bei Sr.
Majeſtät.


Der leutſelige Monarch wohnte manches Mal ein
Stündchen den Proben bei und befahl, wenn Alle ſich
ehrerbietig verbeugten und verſtummten, ungenirt fort¬
zufahren, mit Intereſſe das Treiben des Künſtlervölk¬
chens betrachend. Nicht ſelten richtete der König gütige
Worte an die Mitwirkenden. Er konnte auch wohl
herzlich lachen, z. B. als Meiſter Gropius das lebende
[135] Bild »Die neun Muſen« ſtellen wollte und auf der
beſchränkten Breite der Bühne ſeine auserwählten Damen
nicht zu placiren vermochte trotz des kameradſchaftlichſten
Zuſammenrückens . . . Da lachte der »Muſen
verträglich ſein müſſen!« — und endlich ſtanden wir
auch in ſchönſter Harmonie als klaſſiſche Gruppe.


Zwei ſolcher Vorſtellungen von lebenden Bildern im
königlichen Palais werden mir aber unvergeßlich bleiben
— wegen der dabei ausgeſtandenen Angſt.


Hofrath Esperſtedt brachte nur eines Tags mit
wichtiger Miene die Nachricht, ich ſei berufen, im Palais
in lebenden Bildern mitzuwirken und zwar als Klärchen
mit Egmont-Rebenſtein nach dem bekannten Bilde, als
»Philoſophie« nach Rafaels Wandgemälde im Vatican
und. . .


»Ich als Philoſophie, Herr Hofrath? Ich mit
meinem vollen runden lebensfrohen Geſichte und meinem
unſterblichen Kindskopf als ehrſame geſtrenge Weisheits¬
göttin? das iſt zu komiſch. . .« Und ich ließ meiner leicht
durchgehenden Heiterkeit die Zügel ſchießen. . .


»Nun, man ſieht bei Ihrer Philoſophie ja nur das
Profil und Ihre Naſe iſt . . .«


»Echt philoſophiſch? Wie ſtolz mich das macht,
Herr Hofrath. Wenn die Mutter mich einen Kindskopf
ſchilt — flugs halte ich ihr meine philoſophiſche Naſe
en profil hin und ſie wird von meiner Weisheit über¬
zeugt ſein. Und als Klärchen?«


»Natürlich auch en profil . . .«

[136]

Da war's mit meiner Ernſthaftigkeit vollends vor¬
bei. »Alſo Klärchen hat auch eine philoſophiſche Naſe
gehabt? Armer Egmont! Und wann, Herr Hofrath,
kommt mein armes Geſicht en face zu Ehren?«


»Als Fiſchermädchen in der Verlobung auf Helgo¬
land . . .« polterte Esperſtedt und rannte bei dem neuen
Ausbruch meiner Heiterkeit bitterböſe davon, aller Welt
erzählend, ſolch ein übermüthiger Kindskopf ſei ihm noch
nicht vorgekommen und ich paſſe für die Philoſophie,
wie ſeine Naſe für den Egmont. Ich habe auch wirklich
nie eine furchtbarere Habichtsnaſe geſehen.


Die Proben gingen ganz heiter und gelungen vor¬
über. Aber »die Seufzer und die Thränen, die kommen
hinten nach!« ſagt Heine. Und Hofrath Esperſtedt
ſollte am Abend der Vorſtellungen grauſam gerächt
werden. Mir war als »Klärchen« und als »Philoſophie«
nichts weniger als lachluſtig zu Muth.


Der Vorhang geht auf. . . .


Egmont-Rebenſtein thront wunderſchön im dunklen
Sammetwamſe mit weißen Atlaspuffen auf hohem alter¬
thümlich geſchnitzten, ſtraffgepolſterten Lederſtuhle . . .
Klärchen, im altdeutſchen Gewande, weiß und him¬
melblau, kniet vor dem geliebten Manne, die Ellbogen
auf ſeine Kniee geſtützt und ſchaut ſchwärmeriſch zu
ihm auf. . . . Hinter den Couliſſen klingt's leiſe weh¬
müthig: »Freudvoll und leidvoll . . .« und dann wie
im Herzensjubel: »Glücklich allein iſt die Seele, die
liebt!«

[137]

Ein Ah! der Bewunderung geht durch die Reihen
bei hohen Zuſchauer. . . . Prinzeſſin Karl ſagte mir
ſpäterhin: dies Bild habe am meiſten gefallen.


Aber plötzlich höre ich meinen Egmont angſtvoll
durch die Zähne ziſcheln: Ich rutſche . . . der verdammte
Stuhl mit dem glatten, ſtraffen Leder . . .


Ich — halb todt vor Schreck, ohne jedoch mit den
ſchwärmeriſchen Augen zu zucken, hauche zurück: »Um
Gottes willen, rutſchen Sie nicht! Ich ſtütze Sie!« Und
krampfhaft ſtemme ich meine Ellbogen gegen die Kniee
Rebenſteins . . . Bleiſchwer gleiten die Secunden an uns
vorüber. Will denn der Vorhang in Ewigkeit nicht fallen?
Ich fühle meine Kräfte erlahmen. Auf Egmonts Stirn
perlen Angſttropfen und ſchon rinnt ſolch ein großer
blanker Tropfen langſam die Naſe herab . . . jetzt zittert
er an Egmonts Naſenſpitze . . . Wird er fallen? . . . Und
wohin? . . . O Ihr Götter, Egmont rutſcht ſacht weiter . . .
Wie das Leder knarrt . . . Und meine Arme ſind wie
erſtorben . . . Jetzt fällt auch der große Schweißtropfen
von der Naſenſpitze . . . Wie er an meinen Augen vor¬
über niederflirrt! . . . Und es flirren die Bühne — die
Lichter — Alles! Alles! um mich her vor meinen
Augen . . . Nein, ich kann nicht länger ſchmachtend zu
Egmont aufblicken . . . Und ſtände Todesſtrafe darauf,
ich muß mit den Augen zucken . . . doch! das Schurr!
Schurr! über mir giebt mir neue Lebenskraft . . . Gott
ſei Dank, der Vorhang fällt . . . Aber, ſo entſetzlich
langſam und träge, wie noch nie . . . Endlich hat er den
[138] Boden erreicht — ich darf halb ohnmächtig die Augen
ſchließen, die Arme niederfallen laſſen und den Kopf an
den Stuhl lehnen . . . und Egmont darf rutſchen —
rutſchen . . Welch eine Seligkeit in dieſem »dürfen!«


Rebenſtein nannte mich ſpäter gern ſeine freundlichſte
und tapferſte Stütze.


Und dennoch ſollte ich als »Philoſophie« noch größere
Angſt ausſtehen. Hofrath Esperſtedt ſagte mir ſpäterhin:
»Als gerechte Strafe dafür, daß Sie die Ehre ſo wenig
zu ſchätzen wiſſen, eine philoſophiſche Naſe zu haben und
mit ihr in Rafaels herrlichem Wandgemälde figuriren
zu dürfen. O, wenn ich ſolche Naſe hätte — ich gäbe
mit Hochgenuß zehn von meiner Sorte dafür hin. . .«


Das berühmte Bild war mit echt künſtleriſchem
Geſchmack und großer Pracht arrangirt. Eine goldene
Wand nahm die ganze Bühne ein. In dieſer Wand be¬
fanden ſich vier medaillonförmige Ausſchnitte für die
lebenden Bilder, zwei hoch oben und zwei unten. Mlle.
Kleiſt, eine ſchöne Tänzerin, und ich ſollten in der
Belle-Etage »Muſik und Philoſophie ſitzen,« während
Mad. Unzelmann, als Göttin der Gerechtigkeit, mit der
duftigen Poeſie glücklich Parterre wohnten. Ja, wie
haben wir Hochgeſtellten, Himmliſchen an jenem Abende
das ſolide Parterre beneidet!


Hinter den Himmelsfenſtern des oberen Stockwerkes
waren winzige Sitze angebracht, lange ſchmale Treppen
führten hinauf. Fröhlich ſtieg die Philoſophie hinan
und ſetzte ſich auf ihr Präſentirtellerchen. Meiſter Gropius
[139] ſtieg mir nach und ſchob mir ein großes goldenes Buch
unter den Arm, rückte meine philoſophiſche Naſe in's
reinſte Profil und ſtellte auf meine Stirn, da wo die
Locken begannen, — ein ausgewachſenes diamantenfun¬
kelndes Entenei! Das war der Stein der Weiſen, aber
leider nicht das Ei des Columbus, denn es wackelte trotz
der dünnen Drähte, die von meinem griechiſchen Haar¬
knoten ausgingen und das Ei feſthalten ſollten, bei der
leiſeſten Bewegung bedenklich hin und her. Und ich hatte
keine Stütze für meine Arme, keine Lehne für den Rücken.
Ich kam mir auf meinem luftigen Sitzlein vor, wie der
Vogel auf dem höchſten Blatt eines Baumwipfels. Das
hatte mir in den Proben und auch jetzt anfangs noch,
vor dem Aufrollen des Vorhanges, gar wohl gefallen.
Aber, wie viel Meiſter Gropius heute Abend an den
Falten meines himmelblauen, goldgeſternten griechiſchen
Gewandes, an meinen Locken, meiner Naſe und vor allen
Dingen an dem unglückſeligen Stein der Weiſen auf
meiner Stirn zu arrangiren hatte! Ueberdies ſaß ich
in einem Sternenkranze von blinkenden Lampen, die ihr
volles Licht ſtrahlend, glühend auf mein armes Perſönchen
concentrirten. Mir flirrte es ſchon vor den Augen, noch
ehe der Vorhang aufging — und dann, als auch die Kron¬
leuchter aus dem Saale ihre Kreuzlichter auf die Bühne
ſtreuten und ich ſo viele kritiſche Augen auf mich gerichtet
ſah — als mir der Qualm der Lampen betäubend,
widerlich in meine philoſophiſche Naſe ſtieg und mir über¬
dies noch ein ſchadenfroher Kobold den hölliſchen Gedanken
[140] einblies: Wenn Du in dieſem Augenblick nieſen müßteſt . . . !
da fing die ganze bretterne Welt an, ſich um mich zu
drehen — die Lampen huſchten wie wahnſinnige Stern¬
ſchnuppen durch einander — der Stein der Weiſen auf
meiner Stirn ſchwoll zum Chimboraſſo auf und wackelte,
wie der Narr im Rochus Pumpernickel auf ſeiner Tonne
und ich hörte ſogar des Narren ſchneidende Stimme:
»Rührt mich nicht an, ich bin von Glas . . . oder ich falle
auf die Naſe der Philoſophie nieder und in Scherben
zerbricht der ganze Plunder. . .« Und dann, wie im tiefen
Traume war's mir, als riefe eine andere leiſe ängſtliche
Stimme: »Geſchwind den Vorhang nieder — die Philo¬
ſophie wird ohnmächtig! — Weiter hörte, ſah ich nichts!
Ich kam erſt wieder zum Bewußtſein unten auf der
Bühne. Gropius war die Treppe zu mir hinaufgeſprungen
und hatte mich nach dem Fallen des Vorhanges in ſeinen
Armen aufgefangen und hinabgetragen. Auch die »Muſik«
ſagte mir kläglich, daß ſie keine Secunde länger hätte
ſtillſitzen können, ohne von Schwindel ergriffen zu wer¬
den. Wir beide beſtanden darauf, daß bei den üblichen
Wiederholungen der Bilder im Schauſpielhauſe unſere
luftigen Sitze kleine Rückenlehnen erhielten.


Wenn nach der Vorſtellung im Palais und dem
Souper, — das auch für die mitwirkenden Künſtler in
einem Nebenſaale ſplendid ſervirt wurde, — die hohen
Herrſchaften tanzten, ſah es der König gern, daß die
beſchäftigt geweſenen Damen vom Theater dem glänzenden
Feſte zuſchauten. Da munterte der König freundlich
[141] auf, näher heranzutreten, und er liebte es, wenn ſeine
Gäſte mit uns ſprachen.


Nach dem Rafaelſchen Tableau, deſſen Störung
— Dank dem ſchnell niederrollenden Vorhange! — nur
wenige Zuſchauer bemerkt hatten, trat der König während
des Balles auf mich zu und ſagte leutſelig: Philoſophie
Angſt ausgeſtanden — noch blaß ausſehn — nächſtes
Mal vorſichtiger ſein — immer hübſch an's Wort Philo¬
ſophie denken, beherzigen. . .«


»Aber ich weiß ja gar nicht genau, Majeſtät, was
Philoſophie heißt!«


»Aus dem Griechiſchen, Kind — Weisheit lieben!«


»Darum hat ſich die Philoſophie auch ſo grauſam
an mir gerächt, Majeſtät, — denn ich habe die Weisheit
bis jetzt ſo wenig geliebt!«


Da lachte der König herzlich: »Wird ſchon kommen,
— noch jung ſein — noch Zeit haben!«


Am andern Morgen ſandte mir der Geheimkämmerer
Timm ein reizendes Körbchen Potsdamer Trauben mit
einem Zettelchen: »Der Göttin Philoſophie für die
Erdenangſt!«


Und wie verehrten wir Mitglieder der königlichen
Bühne auch Alle — Alle dieſen leutſeligen, väterlich
wohlwollenden Monarchen aus vollen, dankbaren Herzen,
— ihn, der uns durch ſein zartes achtungsvolles Benehmen
ſtets zeigte: daß er über den Künſtler nicht den Menſchen
vergaß . . . der ſtets ſo großmüthig und — gerecht gegen
uns war! Friedrich Wilhelm der Gerechte ſtand nicht
[142] zu hoch — nicht zu fern da, wenn es galt, die Künſtler
ſeiner Hofbühne gegen Launen und Mißgunſt des
Publikums und der Recenſenten — ja, ſogar gegen die
Willkür der Vorgeſetzten zu ſchützen! Der König nahm
Henriette Sontag nicht nur gegen Rellſtab's Angriffe,
ſondern auf ihre Beſchwerde auch gegen Saphir's Spott
und beißende Satyre in ſeiner »Tagespoſt« in Schutz.
»Kunſtkritik erlaubt — perſönliche Verhältniſſe aus dem
Spiel laſſen!« diktirte er dem käuflichen Witzling. Friedrich
Wilhelm der Gute hatte ſtets ein offenes Herz, eine
offene Hand, wo es hieß, einen durch Krankheit oder
anderes unverſchuldetes Unglück hartbedrängten Künſtler
zu unterſtützen! So machte ſeine Großmuth allein es
dem armen Pius Alexander Wolff möglich, alljährlich
die für ſein Halsleiden ſo nöthigen, koſtſpieligen Bade¬
reiſen zu unternehmen. —


Als Henriette Sontag zum erſten Mal bei einem
Feſt im Palais geſungen und durch die Variationen
von Rode entzückt hatte, ſtand ſie während des Tanzes
im Seitenſaale neben mir, ihre Bemerkungen mir zu¬
flüſternd. Wie eine Sylphide, ſo lieblich und ſchön ſah
ſie im weißen Seidenkleide und dem blauen Aſternkranze
um die Locken aus. Wer ihr damals geſagt hätte:
»1844 wirſt Du als Geſandtin in dieſen Räumen glänzen
. . . und nach faſt einem halben Jahrhundert wird Deine
Nachbarin von Dir — der Unvergeßlichen — erzählen!«


So ſehr es mich Anfangs betrübte, von Henriette
Sontag verdunkelt zu werden, ſo aufrichtig erfreute ich
[143] mich ihrer Triumphe, nachdem ſie durch ihr anſpruchs¬
loſes, herziges Weſen mich erobert hatte. — Jede Eifer¬
ſucht war verbannt; wir bewegten uns in denſelben
Kreiſen, tanzten auf denſelben Bällen und verlebten
beſonders unvergeßlich ſchöne Stunden in dem heiteren,
gaſtlichen Hauſe des Juſtizraths Ludolf im Thier¬
garten. Dort wohnte die Sontag während eines Som¬
mers und nahm fürlieb mit einem kleinen Gaſtſtübchen,
denn ſie fühlte ſich heimiſch bei der liebenswürdigen
Hausfrau.


Da wurden Landpartien arrangirt, große Spazier¬
gänge unternommen, getanzt, Charaden aufgeführt,
lebende Bilder dargeſtellt, und die Sontag war die
Unternehmendſte und Muthwilligſte von Allen. Sie
ritt tollkühn und lief ſogar auf hohen Stelzen im Garten
herum, nicht wenig ſtolz auf die erlangte Fertigkeit.


Meine Mutter ſagte einmal: »Aber, liebes Fräu¬
lein, wenn Sie nun ausgleiten und ſich wehe thun?« —
»Bewahre, Frau Rittmeiſterin!« rief ſie hell lachend,
und ſtand einige Sekunden auf einem Stelzfuß, ſich an
unſerem Staunen wie ein Kind ergötzend. — Eines
milden Abends ſaßen wir vor dem Hauſe traulich
plaudernd, da verſchwand Henriette unbemerkt, und
nach kurzer Zeit öffnete ſich das Fenſter über uns, und
die Arie aus dem »Barbier von Sevilla« tönte flöten¬
gleich in den Garten hinaus. . . Plötzlich unterbrach ſie
ſich — und Mad. Stich täuſchend nachahmend, deklamirte
ſie mit ſüßeſter Stimme: »O Romeo, warum denn,
[144] Romeo ꝛc., und für den Namen, der Dein Selbſt nicht
iſt, nimm Meines ganz —«.


Ich fiel ſogleich ein: »Ich nehme Dich beim Wort,
Geliebte« . . . (Wolff nachſprechend) — und ſo ſpielten
wir die Szene im Thiergarten, als wölbte ſich Italiens
Himmel über uns.


Das war der Sontag harmlos heiterſte Zeit, wie
ſie ſpäter oft verſicherte, und unvergeßlich blieb ihr wie
mir ein Chriſtabend in Ludolf's traulichem Hauſe.


Es wurde am Weihnachtsabende uns und einigen
Stammgäſten Chriſtkindchen beſchert. Unter Blumen
hatte man kleine Geſchenke verſteckt, und unter Lachen
und Scherzen wurden dieſelben geſucht und gefunden.
Als gegenſeitig die niedlichen Sachen bewundert wurden,
ertönte aus dem Nebenſaale: »Kommt a Vögli gefloge,
ſetzt ſi nieder auf mei Fuß!« . . . »Ach, die Tyroler,«
riefen wir freudigſt überraſcht aus, und lauſchten dem
herzigen Geſange.


Der freundliche Wirth hatte die Alpenſänger
kommen laſſen, was nicht leicht zu bewerkſtelligen war,
denn die angeſehenſten Familien Berlins wünſchten ihren
Gäſten die Tyroler zu produziren, welche im Opernhauſe
mit den einfachen Liedern gefallen hatten. Es waren
vier Männer und eine Frau; ſie trugen Volkslieder mit
wahren Prachtſtimmen vor. Nachdem ſie: »Steh nur
auf, ſteh nur auf, ſchöner Schweizerbu'« geſungen, nahm
die Sontag die Tyrolerin an's Klavier, denn ſie wollte
hören, bis zu welcher ſchwindelnden Höhe die Stimme
[145] derſelben reichte. Sie probirten, indem die Sontag Ton
für Ton auf dem Klavier antippte und mitſang . . .
aber bald rief ſie lachend: »Ich komme nicht nach!«
Dann gab ſie den Bitten der Tyroler nach, ſetzte ſich
an's Klavier, auch etwas zu ſingen. Sie wählte Mo¬
zart's göttliches: »Ihr, die ihr Triebe des Herzens
kennt —«. Wir dankten entzückt. Die Tyroler ſagten
mit größter Ruhe, dabei mit den Köpfen nickend, in
ihrem Dialekt: »Du ſingſcht recht artig!« Schallendes
Gelächter antwortete auf dies Lob, und Henriette ſchien
es ſehr zu amüſiren, artig ſingen zu können.


Dann mußten die Tyroler uns ihren Ländler
zeigen, den wirklichen einfachen Ländler. Der Aelteſte
tanzte ihn mit ſeiner Frau, die drei Andern ſangen die
Tanzmelodie dazu; es währte nicht lange, ſo drehten
wir uns ſämmtlich nach der geſungenen Ländlermelodie.
— Juſtizrath Ludolf wollte ſeinem Abgott noch einen
Triumph bereiten und forderte einen Tyroler auf, zu
ſagen, welche von uns Damen den ſchönſten Fuß beſäße.


Wir widerſetzten uns dem Scherz nicht, um dem
liebenswürdigen Wirth nicht die Freude zu verderben,
ſondern ſtellten uns in einen Kreis um unſern Richter,
jede die Fußſpitze zeigend, Henriette ihr Cendrillonfüßchen
äußerſt graziös neben meinen ſtellend.


Der Tyroler faßte aber ſeine Aufgabe ſehr gravi¬
tätiſch auf, betrachtete mit größter Ruhe aufmerkſam
Damen und Fußſpitzen, und, o Entſetzen! ertheilte
meinem, Fuße den Preis.


Erinnerungen ꝛc. 10[146]

Juſtizrath Ludolf rief verlegen: »Herr Tyroler,
Sie haben ſich wohl geirrt! Hier, hier« (auf die
Sontag deutend) »iſt die Dame mit dem kleinſten Fuß!«


Der Herr Tyroler ließ ſich aber nicht beirren und
entgegnete mit vollkommenem Gleichmuth: »Ja, de do
iſcht de Klaanſchte und hat de klaanſchte Fuß! De do
aber« (auf mich zeigend) »iſcht groß und hat doch e
klaane Fuß! Alſo hat de do den Priß!«


Den Jubel zu beſchreiben, der nach dieſem ſalomoni¬
ſchen Urtheil erfolgte, iſt kaum möglich; nur der Juſtiz¬
rath und ich ſtimmten nicht ein, wir waren beide con¬
ſternirt, was der Sontag Fröhlichkeit zu erhöhen ſchien,
denn unter Lachen wiederholte ſie öfters: »Ich nehme
es ja nicht übel, liebes Fräulein, ha, ha, ha! ich bin de
Klaanſchte, und der arme Juſtizrath kommt nicht zu ſich
über: de do!«


Beim Gutenachtſagen verſicherte die Sontag: »So
vergnügt war ich noch nie!« Zugleich lud ſie die Tyroler
auf den andern Morgen zu ſich in ihre Wohnung in
der Königſtadt, dem Theater gegenüber, wo ſie mit ihrer
wenig liebenswürdigen Mutter und der anmuthigen
Schweſter, aber beſcheidenen Sängerin Nina während
ihres Engagements bei der Königſtädter Bühne wohnte,
und gab den fröhlichen Naturſängern ein ſplendides
Frühſtück.


Aber ſchon damals machte ſich bei der liebens¬
würdigen Sängerin eine Leidenſchaft bemerkbar, die ihr
ſpäterhin ſo viele, viele bittere ſorgenvolle Stunden
[147] bereiten ſollte . . . ja, die vielleicht mit die Veranlaſſung
war, daß die Frau Gräfin Roſſi Excellenz wieder —
für Geld ſingen mußte . . . die Leidenſchaft für — —
das Spiel! Während der belebteſten Geſellſchaft —
des rauſchendſten Tanzes konnte ſie ſich mit dem galanten
ruſſiſchen Geſandten Alopeus in einem Nebenzimmer an
den Spieltiſch ſetzen und mit fieberhafter Haſt und oft
20 Spielen Whiſtkarten das damals ſehr beliebte Rabuſche
ſpielen — Stunde auf Stunde!


Nach Henriette Sontag enthuſiasmirten die Berliner
damals am Meiſten durch Geſang und Spiel Anna
Schechner und Mad. Schröder-Devrient. Die Erſtere
feierte ihren größten Triumph als Julia in der Veſtalin,
wie denn überhaupt die Aufführung von Spontini's
Meiſterwerk mit der Schechner die vollendetſte geweſen
ſein ſoll, welche je ſtattgefunden hat.


Beim Anblick der majeſtätiſchen Milder-Hauptmann
als Oberprieſterin, der edlen, ideal-ſchönen, jugendlichen
Julia, dem herrlichen Bader als Licinius, und Heinrich
Blum — mußte man an die Worte Iphigeniens denken:


»Sie zogen aus,

Als hätte der Olymp ſich aufgethan

Und die Geſtalten der erlauchten Vorwelt

Herabgeſendet!«

Selbſt Spontini, der ſonſt ſo ſchlau berechnende,
kaltherzige Maeſtro, wurde durch dieſe Aufführung be¬
geiſtert, und während er dirigirte, rief er unwillkürlich:
»sublime! sublime!«

10 *[148]

Mad. Schröder-Devrient riß beſonders unwider¬
ſtehlich bin durch ihren ſeelenvollen dramatiſchen Vortrag,
und viele Muſikkenner brachen für ſie die Lanze. Ihr
zu Ehren wurde ein Diner mit Muſik, Gedichten, Lorber¬
kränzen und anderen Feſtlichkeiten veranſtaltet. Ich durfte
nebſt anderen Damen die Honneurs machen und be¬
wunderte am Meiſten bei der gefeierten ſchönen Frau
die Mobilität ihrer Züge, den ſeltenen Verein hoher
geiſtiger Begabung mit lieblich naiver Heiterkeit. Von
allen Seiten wurde ſie gebeten, ein Lied vorzutragen.
Sogleich ließ ſie eine Guitarre kommen und begleitete
ſich ſelbſt ein einfach gemüthliches Alpenlied:


»Auf der Alm, bin ich ſo gerne,

Denke Dein! Du ſüßes Lieb . . .«

Welch' ein Zauber lag in dieſem Geſange! Er
lockte uns Thränen in die Augen. Tief bewegt lauſchten
wir dem fein deklamatoriſchen, ſüß innigen Vortrage.
Ein begeiſtertes »Dacapo! Dacapo!« erfüllte ſie gerührt
dankend.


Der luſtige Spitzeder verſtand es aber prächtig, uns
aus der beginnenden Sentimentalität zu reißen . . . Plötz¬
lich begann er in ſeiner urkomiſchen Weiſe ein klaſſiſches
Wiener Volkslied voll des blühendſten Unſinns, von dem
mir nur noch die beiden Verſe erinnerlich ſind:


Mein Madel

Das kocht Knadel,

Die ſind groß als wie mein Kopf. . .

(leiſe)

— — Hat kein Waſſer in dem Topf!
[149]
Dort auf der Birkenſpitz

Sitzt ein alter Stiegelitz,

Der pfeift in guter Ruh . . .

(leiſe)

— — Und hat den Schnabel zu.

. . . Aber, man hätte das liſtige liebe Geſicht Spitz¬
eder's dabei ſehen müſſen, um unſer Lachen — bis zu
Thränen begreifen zu können.


Ich ſah Wilhelmine Schröder erſt nach vielen Jahren
— 1836 — während meines Gaſtſpiels in Breslau
wieder. Als ich die Treppe zu ihr hinaufſtieg, ſang ſie
mir von der oberſten Stufe mit ihren reizendſten Tönen
entgegen:

Dort auf der Birkenſpitz

Sitzt ein alter Stiegelitz . .

— aber wie wehmüthig klang mir das! der arme, liebe
Spitzeder ſang ja jetzt nicht mehr . . . Seit vier Jahren
ruhte er auf dem Kirchhofe zu München . . .


Dann begegneten wir uns 1838 als Mitglieder
der königlichen Bühne in Dresden wieder.


Man gab die Hugenotten. Nach dem erſten Akt
ſprach ich auf der Bühne mit Mad. Schröder und be¬
merkte, daß ſie ernſt, beinahe böſe ausſah. Ich fragte,
was ihr begegnet. »Ach!« erwiederte ſie wie ein trotziges
Kind, »ich bin außer mir! Auf den ausgeſprochenen
Wunſch der Sontag muß ich die Valentine ſingen!
Beobachten Sie nur, wie die Gräfin huldvoll mich
belorgnettiren wird und ſo vornehm thun, als hätte ſie
nie zu uns Theatervolk gehört!« Ich entgegnete: »Da
[150] wird die Gräfin brennende Sehnſucht empfinden, an
Ihrer Stelle ſein zu können, wenn ſie Ihre herrliche
Leiſtung bewundern muß!« — »Sie haben Recht!« rief
die Schröder freundlichſt. »Wer weiß, ob ſie uns nicht
beneidet, frei, unabhängig der göttlichen Kunſt leben zu
können!« Und mich umarmend flüſterte ſie, ganz fröh¬
lich geworden, noch: »Aber ſingen, ſingen will ich —
wie noch nie!« Sie hielt Wort und übertraf ſich ſelbſt.
Ich bemerkte, wie die Sontag aufmerkſam zuhörte,
immer bläſſer wurde, im vierten Akt oft Thränen trocknete
und hingeriſſen applaudirte. Die Schröder vernahm
das mit größter Genugthuung.


Graf Roſſi war als Geſandter von Petersburg
nach Berlin verſetzt. Seine Gattin hielt ſich auf der
Durchreiſe einige Zeit in Dresden auf.


Graf Roſſi hatte der »ſchönen Henriette« ſeine Liebe
in etwas extravaganter Weiſe zu erkennen gegeben.
Als die Sontag eines Abends aus der Oper nach
Hauſe fuhr, öffnete ihr Graf Roſſi — in Kutſcherlivrée
und mit der ſtattlichſten ſeiner ſieben berühmten Perrücken,
deren Haar von verſchiedener Länge war, um das —
Wachſen deſſelben nachzuahmen — den Wagenſchlag.
So wurde ſie die Geſandtin Gräfin Roſſi Excellenz!


Wilhelmine Schröder erlebte es noch, daß Gräfin
Roſſi zum »Theatervolk« zurückkehrte. Man behauptete:
durch Verhältniſſe dazu gezwungen. Wer aber Gelegen¬
heit hatte, ihre Leiſtungen, welche ja ſtets den Stempel
der Begeiſterung trugen, zu bewundern, der war gewiß
[151] überzeugt, daß ſie freudigſt ſich der Kunſt wieder
widmete.


Ihr wurde das ſeltene Glück zu Theil, nach jahre¬
langer Pauſe, in des Lebens Hochſommer noch Triumphe
zu feiern, aber ein trauriges Sterben entriß ſie ihren
Lieben. In Mexiko, fern von Deutſchland, von ihren
Kindern und Geſchwiſtern und Freunden erlag ſie
der Cholera. Nur ihr Gatte war bei ihr. Ihr letztes
Wort nach Deutſchland war: »Der Beifall iſt hier
förmlich tropiſch!« Welche Gefühle mögen ihr Herz
bewegt haben, ehe es brach!


Frau Charles Maier, die Gattin des damals be¬
rühmteſten Klaviervirtuoſen, welche die Gräffin Roſſi
oft in Petersburg gefeiert und im Glanze ihrer Stellung
geſehen, — dieſe Dame ſtand auf der Elbbrücke in
Dresden, als der Sarg, aus Mexiko angelangt, aus¬
geſchifft wurde.


Sie erzählte mir ſpäter, welch' einen wehmüthigen
Eindruck dieſer Leichenzug gemacht, der beinahe unbemerkt,
nur von Wenigen begleitet, durch Dresdens Straßen ſich
bewegte.


Von Dresden wurde die Leiche nach dem letzten
Wunſche der großen Sängerin in das Kloſter St. Marien¬
thal bei Oſtritz übergeführt, wo die Schweſter Nina Sontag
längſt als Nonne lebte. Auch Marie Herold, früher erſte
Liebhaberin im tragiſchen Fach auf der Königſtädter
Bühne und von Kritikern für eine würdige Nachfolgerin
der Stich gehalten, war in ihrer Glanzzeit in's Kloſter
[152] gegangen und lebt heute als Profeſſin im Kloſter St.
Marienſtern bei Bautzen. Beſonders war Marie Herold
in »Drei Tagen aus dem Leben eines Spielers« und
in Wilibald Alexis' Drama: »Mitternacht« gefeiert
worden. Unglückliche Liebe hatte ſie in's Kloſter
geführt. Während meines Dresdener Gaſtſpiels ſah
ich ſie als Nonne wieder. Mit niedergeſchlagenen
Augen und einer Grabesſtimme ſagte ſie mir:
»Denken Sie ſtets daran, daß es Sünde iſt, den
Namen Gottes auf der Bühne auszuſprechen . . .« Die
ehemalige gefeierte Schauſpielerin iſt wegen ihrer Milde
und Frömmigkeit als Profeſſin hochverehrt. — Henriettens
Söhne trugen den Sarg in die Gruft hinab. Eine
erlauchte Hand legte einen goldenen Lorberkranz auf
ihre Gruft, die die Inſchrift trägt: »Der beſten Mutter
— der zärtlichſten Tochter — der treueſten Gattin —
der edelſten Freundin — der größten Sängerin.«


Die Hülle der geliebten Henriette, der Stütze und
Freudenſpenderin der ganzen Familie, wird von der
jüngeren Schweſter bewacht. Sie darf am Sarge der
Verſtorbenen beten, weinen und fromme Weiſen ſingen. . .


Die Catalani hätte anno 1827 nicht mehr gaſtiren
ſollen. Mich hat ſelten etwas ſo unerquicklich an eine
vergangene Größe gemahnt, wie ihr Konzert im Opern¬
hauſe. Die klaſſiſche Methode, die Anklänge einer ehe¬
mals wunderbar gewaltigen Stimme entſchädigten nicht
[153] für die Verzerrungen des Mundes bei der kleinſten Paſſage
— für ihr angſterweckendes Abmühen, Erfolge zu erringen.


Auf dramatiſchem Gebiet ergriff, überwältigte Sophie
Schröder — die größte Tragödin des Jahrhunderts.
Sie trat am 19. September 1826 mit glänzendem Erfolge
als Medea auf.


Sophie Müller, ebenfalls vom Wiener Burgtheater,
zeigte ſich ebenbürtig, bei ihrem Berliner Gaſtſpiel mit
Madame Stich den Lorber zu theilen.


Gefiel die Berliner Künſtlerin mehr als Donna
Diana, Semiramis, Jungfrau von Orleans, ſo bezauberte
die Müller als Julia in Romeo und Julie, in Iſidor
und Olga und in den Nibelungen von Raupach. Vor
Allem erregte ihre blinde Gabriele Senſation.


Noch nicht acht Jahre alt, ſah ich Sophie Müller
in Karlsruhe mit ihrem Vater gaſtiren, einem echten
Komödianten, vortrefflich im komiſchen Fach. Als Schutz¬
geiſt in Kotzebue's Schauſpiel ſchwebte Sophie mir lange
vor Augen, und als Savoyardenknabe eroberte ſie nun
gar mein Kinderherz. Von Karlsruhe reiſte ſie nach
München, blieb einige Jahre im Engagement, und von
da ging ſie nach Wien an's Burgtheater über — um
als Stern erſter Größe zu glänzen. — Auch ihr Privat¬
leben war fleckenlos.


Nach ihrem erſten Debüt als Olga machte ich ihr
meinen Beſuch, die liebe Landsmännin zu begrüßen.


Das große Zimmer war überfüllt von Huldigung
Darbringenden, und ich erſchrak förmlich, Sophie blaß,
[154] die Augen wie träumend — ſchwermüthig in's Weite
ſtarrend — zu finden. Ernſt, reſignirt horchte ſie ſchein¬
bar aufmerkſam auf die ſüßen Worte eines alten, be¬
weglichen Herrchens.


Vater Müller ſonnte ſich in den geſpendeten Lobes¬
erhebungen und antwortete, wie Audienz ertheilend, den
Verehrern.


Ich wollte die Gefeierte nicht auch noch in Anſpruch
nehmen und verſprach wiederzukommen. Sophie zog
mich aber aufs Sopha neben ſich und flüſterte: »O,
kommen Sie mir doch zu Hülfe, meine Kraft iſt er¬
ſchöpft. . .« Dann ſtellte ſie mir den alten Herrn vor:
»Auguſt Wilhelm von Schlegel!« lehnte ſich in die Ecke
des Sophas zurück und ſchloß die Augen. . . während
ich das Glück hatte, mich mit dem Ueberſetzer Shakeſpeare's
unterhalten zu dürfen — — d. h. ihn immer ſprechen
zu hören. . . Dabei konnte ich mir aber den Freund
von Frau von Staël mit Muße betrachten . . . und
mich immer wieder fragen: dieſes zierlich aufgeputzte
Männchen mit der hellblonden Lockenperrücke und ge¬
ſchminkten Wangen, das unabläſſig die runde Tabaks¬
doſe dreht, dabei wohlgefällige Blicke in den auf dem
Deckel angebrachten Spiegel werfend . . . heißt: Auguſt
Wilhelm von Schlegel?! — Dieſe lächerliche Parodie
auf einen Mann konnte Friederike Bethmann ſo reizend
beſingen und Shakeſpeare ſo wunderbar ſchön überſetzen?


Nun glaubte ich aber die mir oft erzählte und nie
für möglich gehaltene Geſchichte, daß er, ein Kind um¬
[155] armend, ausgerufen: »Vergiß nie, daß Auguſt Wilhelm
von Schlegel Dich — küßte!!«


Auf einer kleinen Eva-Schwäche ſollte ich die edle
Sophie Müller auch ertappen. Ich wollte von unſerem
erſten Begegnen in Karlsruhe erzählen und wie ſie —
die Künſtlerin ſchon damals mein Kinderherz erfüllt
hätte. . . Aber faſt heftig unterbrach ſie mich — nahm
mich bei Seite und flüſterte mir zu: »Erzählen Sie die
Geſchichte ja nicht . . . man nachrechnen . . . ich
mache mich immer vier Jahre jünger. . .« Und doch war
Sophie Müller jetzt erſt 28 Jahr! Alſo auch Du,
große Sophie, leideſt an der allgemeinen Mädchenthor¬
heit! — dachte ich verwundert und nahm mir vor,
ſtets des franzöſiſchen Sprichworts eingedenk zu bleiben:
»On a l'âge, qu'on paraît!« — und mein wahres
Alter nie zu verleugnen. . . Und ich hab's bis auf den
heutigen Tag ehrlich gehalten.


Sophie Müller ſtarb einige Jahre nach den Berliner
Triumphen an der Auszehrung. . . Schon beim Beginn
des Gaſtſpiels hatte ſie das Herannahen des Uebels
gefühlt, aber ſich dennoch nach ihrer Rückkehr in Wien
nicht genug geſchont. Ihre zarte Konſtitution war dem
tragiſchen Fach nicht gewachſen — und ſie ſpielte es
mit ſo echter Leidenſchaft . . . bis zum Dahinſtrömen
ihres ſchönen Lebens . . . Der Tod raubte in Sophie
Müller Deutſchlands edelſte jugendliche Künſtlerin!
Nach Ludwig Tieck's Ausſpruch erreichte ſie in manchen
Rollen Mlle. Mars, beſonders in »Menſchenhaß und
[156] Reue«, und in »Gabriele«, in Frankreich »Valerie«
genannt.


Im Januar 1828 wurde mir ein glänzendes Engage¬
ment von der kaiſerlich ruſſiſchen Intendanz für das
Fach der erſten Liebhaberin am deutſchen Theater in
St. Petersburg angetragen. Die junge, ſchöne Mad.
Federſen, der Liebling des deutſchen Publikums, war
plötzlich geſtorben und mußte erſetzt werden. Die Arme
hatte zu viel — Sauerkraut gegeſſen!


So verlockend die neue Stellung war und allen
meinen Wünſchen zu entſprechen ſchien, zögerte ich doch
mit der Zuſage und geſtand unumwunden: daß ich erſt
nach erfolgtem Gaſtſpiel mich binden könne, um zu ſehen,
wie ich — und ob es mir in der Czarenſtadt gefiele.


Unermüdet hatte ich ſeit meinem erſten Auftreten
auf der königlichen Bühne eifrigſt ſtudirt, die ſogenannte
Schulzeit wie ein Soldat »von der Pike auf« durch¬
gemacht. In jeder Woche hatte ich wenigſtens dreimal
geſpielt, jede — auch die kleinſte Rolle willig übernommen
und mir ſo ein ganz hübſches Luſtſpielrepertoir ge¬
bildet. . . Aber die Pforten zu höheren Aufgaben waren
mir nur — ausnahmsweiſe geöffnet.


Wie in Karlsruhe Mad. Neumann, ſo ſuchte Mad.
Stich in Berlin ihre Stellung zu behaupten. Entſchloß
ſich Letztere je, einer Rolle zu entſagen, ſo fiel dieſe
Mad. Unzelmann zu oder Mad. Komitſch, wie denn
[157] überhaupt bei dem königlichen Inſtitut das Recht der
Anciennetät vorwaltete. Für das Ganze ſicher vorzüg¬
lich, iſt dieſe pietätvolle Einrichtung für das Ent¬
falten junger, aufſtrebender Talente im höchſten Grade
hemmend.


Ich hatte Berlin wie eine zweite Heimat lieb
gewonnen und es ſchmerzte mich tief, aus dem herrlichen
Künſtlerkreiſe ſcheiden zu müſſen! — Mit welch' weh¬
müthigem Entzücken ſpielte ich mit den liebenswürdigen
Kollegen, als nach meiner Rückkehr aus St. Petersburg
mein Scheiden von Berlin feſtſtand!


Jede Vorſtellung war für mich ein Abſchiednehmen. . .
Unvergeßlich bleibt mir eine der letzten: Raupach's
»Ritterwort«. Ich trat zuerſt als Page auf — dann
als die Dame des Ritterherzens in weißem Atlas, eine
faſt tragiſche Rolle. Und wie mit ſo ganz eigenen
wehmüthigen Gefühlen ſpielten wir Alle in dieſem Stück!
Hatte doch Raupach die Hauptrolle: einen Ritter, der
ein Gelübde gethan, nicht zu ſprechen. . . für Pius
Alexander Wolff geſchrieben, als deſſen Halsleiden ihm
das Sprechen auf der Bühne unmöglich machte. . . Aber
auch für das pantomimiſche Durchführen der ſchweren
Rolle fehlte dem großen Künſtler ſchon damals die
phyſiſche Kraft. . . Mit Zartſinn wurde das Stück
zurückgelegt — bis nach Wolff's Tode. Dann gab
Rebenſtein, dieſe echt ritterliche Geſtalt, den ſtummen
Helden. . . bis auch er bald darauf für immer ver¬
ſtummte. . .


[158]

Und dann war der Tag des Scheidens da. . . O,
wie ſchwer machten die Freunde — die lieben Kol¬
legen mir gerade in den letzten Tagen dies Fortgehen
von dem ſchönen, unvergeßlichen Berlin! Ich ging
ja freiwillig . . . und doch wollte mir das Herz ſchier
brechen vor dem Weh und Bangen über das ewige,
uralte, troſtloſe Scheiden und Meiden in dieſer armen
Welt. . . .

[[159]]

VII.
Eine aufrichtige Gegnerin.

Als ich im Mai 1824 nach Berlin gekommen war, um
Mitglied des neuen Königſtädter Theaters zu werden,
war Auguſte Stich, die berühmteſte Schauſpielerin der
königlichen Bühne, mit ihrem Gatten auf einer längeren
Kunſtreiſe abweſend von Berlin. Beide ſtudirten in
Paris die dortigen Theaterverhältniſſe — beſonders
Talma und die Mars.


Auch war Beiden Berlin ſehr verleidet — ſeit jener
unglücklichen Kataſtrophe, die dem Schauſpieler Stich
faſt das Leben — ſeiner berühmten Gattin in dieſem
Falle ihre Stellung, die Gunſt des Publikums, und der
Kunſt eine ihrer berufenſten Prieſterinnen gekoſtet hätte.


Mir wurde viel von jener tragiſchen Geſchichte er¬
zählt — und von der furchtbaren Aufregung in ganz
Berlin, als eines Abends im Dezember 1823 durch das
Schauſpielhaus — und ſogleich wie ein Lauffeuer durch
die ganze Stadt die Nachricht erſcholl: der Schauſpieler
[160] Stich iſt ſoeben von dem Anbeter ſeiner Frau, dem
jungen Grafen Blücher, in ſeiner Wohnung nieder¬
geſtoßen worden!


Der König erfuhr die Kunde auch noch im Theater.
Prinz Auguſt theilte ihm dieſelbe ſchonend mit. Er war
tief erſchüttert und befahl die ſtrengſte Unterſuchung.
Dieſe leitete Herzog Karl von Mecklenburg, Bruder der
Königin Louiſe, mit ſeltenem Takte. Er verſtand die
zarteſte Rückſicht auf einen alten, hiſtoriſchen, populären
Heldennamen und auf den bis dahin fleckenloſen Ruf
einer edlen Künſtlerin mit der Würde der Gerechtigkeit
zu verbinden.


Die einfache, traurige Thatſache iſt folgende:


Der Graf Blücher, ein junger, liebenswürdiger
Offizier und Enkel des alten Feldmarſchalls, des popu¬
lärſten Helden der Freiheitskriege, hatte ſchon längſt im
Stillen in Auguſte Stich die große, bezaubernde Künſt¬
lerin verehrt, aber noch nie Gelegenheit gefunden, dieſe
Verehrung ſeinem Idol auszuſprechen. Seine bevor¬
ſtehende Verſetzung von Berlin gab endlich dem feurigen
Anbeter den Muth und die Macht der Ueberredung, von
der Gefeierten ein Abſchiedswort in ihrer Wohnung zu
erbitten und zu erlangen.


Stich war an jenem unglücklichen Abende, den
6. Februar 1823, in einem kleinen Luſtſpiel beſchäftigt.
Am Ende ſeiner Rolle flüſterte ihm ſein Kollege, der
Komiker Gern, zu: in dieſem Augenblick iſt Graf Blücher
bei Deiner Frau. . . .


[161]

Wie wahnſinnig — noch im Theaterkoſtüm ſtürzt
Stich nach Hauſe. . . . Sogenannte gute Freunde hatten
ihn ſchon früher vor dem glühenden, offen zur Schau
getragenen Enthuſiasmus Blücher's gewarnt und ſeine
Eiferſucht geweckt. . . . Auf der Treppe zu ſeiner Woh¬
nung begegnet er einem Manne, ganz in einen langen
Civilmantel gehüllt. »Wer ſind Sie? was haben Sie
hier zu ſuchen?« Statt der Antwort ſucht der Verhüllte
ihn bei Seite zu ſchieben und die Treppe hinabzuſteigen.
. . . Da reißt Stich ihm den Mantel herab . . . und
ſinkt, von einem Dolchſtoß getroffen, mit einem gellen
Hülferuf blutend auf der Treppe nieder. . . . So findet
ihn ſeine Gattin. . . . Auch die Straße hat ſich bereits
mit Neugierigen gefüllt. . . . Nur das Dazwiſchentreten
einiger angeſehener Bürger, die den Grafen Blücher auf
die Hauptwache führen, kann dieſen vor der Wuth des
Volkes retten.


Stich [war nicht] tödtlich getroffen, wie man anfangs
gefürchtet hatte. Er erholte ſich langſam wieder. Graf
Blücher wurde zu mehreren Jahren Feſtung verurtheilt.
Später ſah ich ihn wieder in Berlin: eine ſchlanke, noble
Figur mit blaſſen, edlen Zügen, ſchwärmeriſchen Augen —
eine intereſſante Erſcheinung!


Madame Stich erwartete eine härtere Strafe. Für
die wenigen Minuten Unterredung — denn Schlimmeres
wagten ihr ſelbſt ihre Feinde nicht nachzuſagen — ſah
ſie den Gatten wochenlang mit dem Tode ringen. Sie
pflegte ihn mit Aufopferung und — er dankte ihr durch
Erinnerungen ꝛc. 11[162] ſeine Verzeihung. Inmitten der peinlichſten Verhöre vor
dem Gerichtshofe mußte ſie vor einen weit gefährlicheren
Richter treten: vor das tauſendköpfige erzürnte Publikum
. . . und ſie wußte: Friedrich Wilhelm der Gerechte hatte
befohlen: »Polizei nicht einmiſchen — Publikum richten
laſſen — Recht dazu hat!« Herzog Karl von Mecklenburg
aber hatte dafür geſorgt, daß kein Student für den
Abend ein Billet erhielt und daß faſt alle Offiziere
Berlins im Theater anweſend waren.


Ueber dies erſte, furchtbar ſchwere Wieder-Auf¬
treten der Stich, am 8. Mai, erzählte mir Amalie
Wolff: »Die Stich hatte eine ihrer idealſten, edelſten
Schöpfungen gewählt: die Thekla in Wallenſtein's Tod.
Ich ſtand als Gräfin Terzky neben ihr auf der Bühne«
— und Amalie Wolff's Stimme bebte noch vor Er¬
regung — »als ein minutenlanges Ziſchen, Pfeifen, Hohn¬
lachen und die gröblichſten Schmähworte uns umtoſten.
. . . Ich zitterte ſelber vor Entrüſtung über dieſe Schmach
und war in Verſuchung, die arme Kollegin bei der
Hand zu nehmen und von der Bühne zu ziehen und
gleich der ſeligen Bethmann — als dieſe wie eine ver¬
wundete Löwin ihre ausgeziſchte Tochter hinter die Cou¬
liſſen riß — zu rufen: vor dieſem Publikum ſpielſt Du
nicht wieder!*)


[163]

»In dieſen qualvollen Minuten habe ich die Stich
wahrhaft bewundert, — nur der Gedanke an ihre Kinder
— und an ihre Unſchuld konnte ihr dieſe Seelenſtärke —
Selbſtbeherrſchung geben. Sie ſagte mir ſpäter: in dieſer
Stunde den Kampfplatz verlaſſen, hieße mich ſchuldig
bekennen . . . und ich wäre für immer auf der königlichen
Bühne unmöglich geweſen. . . . Die Hände, wie bittend,
gegen ihre Beleidiger erhoben, harrte ſie bleich — bebend
neben mir aus . . . bis ſich der furchtbare Sturm be¬
*)11 *[164] ruhigt hatte. . . . Sie ſpielte mit einer Tiefe des Gefühls,
wie noch nie . . . und nach der ergreifenden Schlußſzene
des vierten Aktes wurde ihrem meiſterhaften Spiel don¬
nernder Beifall zu Theil. . . .«


Nach wenigen Wochen hatte ſie über ihre Gegner
vollſtändig geſiegt und ſie ſtand wieder feſt in der bewun¬
dernden Gunſt des Publikums. Aber der bittere Stachel
dieſer furchtbarſten Kämpfe, die ein Künſtler zu beſtehen
haben kann, blieb in ihrem Herzen. Im geſelligen Leben
zeigte ſie eine eiſige Zurückhaltung, ſcharfe Ironie und
Verbitterung des Gemüths. Aber in der tragiſchen Kunſt
wußte ſie ſeit dieſer Tragödie in ihrem eigenen Herzen
nur noch ergreifender, erſchütternder, überwältigender
zu wirken!


Ich ſah Auguſte Stich zum erſten Mal, als ſie nach
der Pariſer Kunſtreiſe im Juli 1824 in Romeo und Julie
im dichtbeſetzten Opernhauſe als bezaubernde Julia auf¬
trat und mit Blumen und Jubel empfangen wurde.


In Karlsruhe hatte die Intendanz auch wohl verſucht,
das Publikum für dieſe Schöpfung Shakeſpeare's zu enthu¬
ſiasmiren und ſie nach langer Pauſe mit einer holdſeligen
Julie, Amalie Neumann, wieder in's Repertoir aufzuneh¬
men; aber — die Tragödie mußte nach kurzem Schein¬
leben abermals von der Karlsruher Bühne verſchwinden.


Die nüchternen Süddeutſchen konnten nicht begreifen,
daß die Zeichnung Juliens Norddeutſchland ſo hinzureißen
[165] vermochte, ſie ließen ſich zwar von den Verehrern Shake¬
ſpeare's ſagen: daß in damaliger Zeit andere Sitten
geherrſcht, — Julia von den Eltern nicht geliebt worden
ſei, alſo auch keine Hinneigung, Vertrauen von ihr ge¬
fordert werden durfte, — unter dem glühenden Himmel
Italiens ſchlüge das Herz eines fünfzehnjährigen Mäd¬
chens feuriger, ihr Charakter entwickle ſich ſchneller und
ſelbſtſtändiger, als bei einer dreißig Jahre zählenden
Frau im kühlen Norddeutſchland. . . . Ruhig, aber mit
eigenſinnigem Beharren, entgegneten die guten, ehrlichen
Karlsruher: ein ſittſames Mädchen dürfe doch nach dem
erſten Erblicken des Geliebten, und ſei er ſo hold wie
Romeo, nicht denken — viel weniger ausſprechen:

». . . Iſt er vermählt,

So iſt ein Grab zum Brautbett mir erwählt!«

— und Romeo, nicht Julia, hätte ſagen ſollen:

»Wenn Deine Liebe tugendſam geſinnt

Vermählung wünſcht, ſo laß mich morgen wiſſen

Durch Jemand, den ich zu Dir ſenden will,

Wo Du die Trauung willſt, und wann vollziehen;

Dann leg' ich Dir mein ganzes Glück zu Füßen,

Und folge durch die Welt Dir — dem Gebieter . . .«

— — Das ſchicke ſich nicht!


Nichts natürlicher, als meine Spannung auf die
erſte Aufführung von Romeo und Julie in Berlin.
Madame Stich's Erſcheinen frappirte mich. Julia ſchritt
gleich einer Juno impoſant daher — ſelbſtbewußt —
ſelbſtſtändig. . . . Ihre Feueraugen ſenkten ſich nicht ver¬
ſchüchtert vor den flammenden Blicken Romeo's. Das
[166] ſüße Liebesgeflüſter in der Balkonſzene aber klang ent¬
zückend. Als Julia die Verbannung Romeo's erfährt,
war ich hingeriſſen. Die gigantiſche Aufgabe der Gift¬
ſzene löſte ſie meiſterhaft — Mitleid und Grauen er¬
regend.


Die Tragödie war mit großer Liebe einſtudirt und
in Szene geſetzt. Die ausgezeichnetſten Künſtler der Hof¬
bühne hatten die kleinſten Rollen übernommen. Ludwig
Devrient als Mercutio wirkte zauberiſch belebend. Er
verſtand es, dieſen Mercutio, der ſchon im zweiten Akt
ſtirbt, zu einem der koſtbarſten Edelſteine in ſeiner
Künſtlerkrone zu geſtalten. Jetzt erſt begriff ich, wes¬
halb die Berliner ſtets herbeiſtrömten und nicht müde
wurden, ihre Lieblinge in Romeo und Julie zu bewun¬
dern. Das Karlsruher Publikum würde ſicher bekehrt
worden ſein und die holde Julia um Verzeihung gebeten
haben für das liebloſe Urtheil: »Das ſchickt ſich nicht!«


Madame Stich ſah nicht jugendlich, aber ſchön und
blühend aus. Ihre ausdrucksvollen Züge eigneten ſich zu
vollendeter Mimik, und der etwas zu große Mund ſah
gar anmuthig beim Sprechen aus. Ihre Stimme hatte
einen ſeltenen Wohllaut und wußte ſich im tragiſchen Effekt
zu einer erſchütternden Energie des Tons zu ſteigern.


Andern Morgens, als ich mit der Mutter über die
vortreffliche Vorſtellung ſprach und bedauerte, den Empfeh¬
lungsbrief von Freundeshand während der Abweſenheit
[167] von Madame Stich in ihrer Wohnung gelaſſen zu haben,
und daß wir doch nicht ſo bald abermals anklopfen
könnten . . . . ließen ſich zu unſerer freudigſten Ueber¬
raſchung — Herr und Frau Stich anſagen. Auch Herr
Stich war eine angenehme Erſcheinung und gab mit
Beifall und mit feinem Anſtande Salonliebhaber im
Luſtſpiel. Beide zeigten ſich ſo liebenswürdig, zuvor¬
kommend, ſprachen ſo ohne alle Prätenſion angenehm,
geiſtreich, und ſchienen ſo heiter zu ſein, ſo gegenſeitig
herzlich . . . . daß ich ſchnell in das Urtheil Amalie
Wolff's einſtimmte: nicht Schuld — nur Unvorſichtig¬
keit ſei Auguſte Stich vorzuwerfen.


In Paris ſchien es Stichs ſehr gefallen zu haben.
Sie rühmte das Spiel der Mlle. Mars, und freute ſich,
die Glanzrolle derſelben — Madame Dorville, in Dela¬
vigne's »L'École des Vieillards« — nächſtens in guter
Ueberſetzung in Berlin ſpielen zu können. Sie waren
entzückt von ihrem Empfange bei Talma, und Herr Stich
erzählte mit Genugthuung, wie der große Mime ihnen
zu Ehren eine Soirée gegeben und hierzu die Elite der
Pariſer Künſtler und Schöngeiſter eingeladen hätte, um
die deutſche Künſtlerin deklamiren zu hören. »Nicht wahr,
Auguſte?« frug Stich liebevoll, »das war ein unverge߬
licher Abend! Du wurdeſt reichlich für Dein Herzklopfen
belohnt, als Alle bei Deinen Szenen aus Romeo und
Julie enthuſiaſtiſches Lob ſpendeten. . . .«


Madame Stich erröthete lieblich, und lächelnd, wobei
zwei Grübchen in den Wangen ſie noch reizender erſcheinen
[168] ließen, geſtand ſie ein: daß es ſie anfangs wirklich be¬
ängſtigt hätte, vor Franzoſen in deutſcher Sprache eine
Szene darzuſtellen!


Nein! — ſie ſpielten vor uns keine Komödie, und
die Behauptung war nicht erfunden, daß Stich nach
der Verwundung ſich gegen ſeine Frau noch ergebener
und vertrauensvoller benommen habe.


Ich ſollte Madame Stich nach dieſem heiteren
Morgenbeſuch erſt als Wittwe wieder ſprechen. Ihr
Gatte ſtarb nach einigen Monaten an einem alten Bruſt¬
übel. Die Berliner blieben aber beharrlich dabei: an
den Folgen jenes unglücklichen Dolchſtoßes.


Nach meinem Engagement bei der königlichen Bühne
machte ich der Stich meinen Beſuch. Ernſt-höflich kalt
empfing ſie mich. Unbefangen fragte ich nach dieſem ſo
veränderten Benehmen, — ich bewundere ſie ja doch ſo
aufrichtig und freue mich ſo herzlich darauf, mit ihr
ſpielen, von ihr lernen zu können. . . .


»Ja, das iſt jetzt etwas Anderes,« ſagte ſie mit
derſelben eiskalten Stimme — »damals waren Sie eine
Kollegin auf einer andern Bühne — heute aber ſtehen
wir uns als Gegnerinnen gegenüber . . .«


»Aber Sie ſind ja ſo bedeutend — ich erſt eine
Anfängerin und nur im Luſtſpiel beſchäftigt. . . .«


»Auch in dieſem Fache können Sie mir gefährlich
werden . . .« ſagte lebhaft. »Sie ſind viel jünger
[169] als ich — Sie ſind ſchön — liebenswürdig — talent¬
voll . . . und längſt ein Liebling der Berliner. . . . Nie
werde ich hinterliſtig gegen Sie auftreten, — nie Ihnen
durch Kabalen zu ſchaden ſuchen. . . . Aber ich ſage Ihnen
offen und ehrlich: ich werde meine Stellung — als erſte
Liebhaberin an der königlichen Bühne — mit allen mir zu
Gebote ſtehenden erlaubten Mitteln behaupten . . . denn,
glauben Sie mir, auch ich habe mir dieſelbe erſt durch
jahrelangen beharrlichen Fleiß, durch Entbehrungen — ja,
durch Demüthigungen erkämpfen müſſen. . . . Nicht die
kleinſte Rolle werde ich Ihnen freiwillig abgeben. . . .«


»O, wenn ich dies hätte ahnen können, ich würde
um keinen Preis das Engagement bei der königlichen
Bühne angenommen haben,« klagte ich betrübt — »lieber
wäre ich nach Karlsruhe zurückgekehrt. . . .«


»Mißverſtehen Sie mich nicht, liebes Fräulein,«
ſagte meine »aufrichtige Gegnerin« jetzt freundlicher.
»Ich weiß Ihre neue Stellung von Ihrer Perſönlichkeit
ſehr wohl zu trennen — und letztere iſt mir ſogar ſym¬
pathiſch und werth. Aber ich kann Ihnen doch unmög¬
lich ſelber dazu behülflich ſein, daß Sie am Ende gar
in einzelnen Rollen mehr gefallen, als ich — und mich
ſo verdrängen — verdunkeln? . . . Wehren Sie ſich nach
Kräften gegen mich — ich werde Ihnen darum nicht
böſe ſein — machen Sie Ihre Schule durch, wie ich
die meinige durchgemacht habe . . . ſo werden Sie ſich
mit der Zeit auch Bahn brechen. . . . Und wenn Sie
erſt meine Jahre erreicht haben — (die Stich zählte drei¬
[170] zehn Jahre mehr, als ich) — ſo werden Sie gerechter
über mein jetziges Benehmen denken und ſagen: die
Stich hatte vollkommen Recht — ſie konnte nicht anders
handeln. . . Alſo, ohne Groll, liebes Fräulein!« —
und ſie reichte mir ehrlich die Hand und ich ſchlug
eben ſo ehrlich ein . . . und vermochte ihr ſpäter ihre
Gegnerſchaft nicht nachzutragen — ihre Aufrichtig¬
keit
hatte mich entwaffnet.


Ich ſehe auch heute noch ein, daß die Stich voll¬
kommen Recht hatte, ſo zu ſprechen. . . . Aber ich habe
doch von ihr nicht gelernt, ſpäter — als ich eine ähn¬
liche Stellung auf der Bühne als erſte Liebhaberin ein¬
nahm — ebenſo zu ſprechen . . . noch viel weniger danach
zu handeln. Es iſt eben nicht Jedem gegeben: eiſig kalt
berechnend ſeinen Weg zu verfolgen. . . . Vernunft und
Herz ſind zwei ſo ganz verſchiedene Dinge. . . .


Frau Stich blieb ihrem Wort getreu; ſie intriguirte
niemals gegen mich — — aber ſie überließ mir auch
nur gezwungen für ſie und ihr Alter unpaſſend gewor¬
dene Rollen. Sogar die »Afanaſia« in »Graf Benjowsky«,
deren Rolle ich ſchon in Händen hatte, mußte ich wieder
herausgeben, denn Graf Brühl ſchrieb mir: »Ich kann
nicht anders, mein blonder Schützling — die Stich iſt
außer ſich — und ich darf ſie nicht erzürnen. . . . Seien Sie
ein gutes Kind und geben Sie mir die Rolle wieder . . .«
und ich übergab die geliebte Rolle, auf die ich mich
ſchon ſo lange gefreut, an der ich ſchon ſo fleißig ſtudirt
hatte, mit heißen Thränen in die Hände des alten guten
[171] Theaterdieners Säger, der faſt mit mir weinte und ſtets ſo
furchtbar ſtotterte, wenn das herz ihm auf die Zunge trat.
Und mich hatte er ganz beſonders in ſein altes Herz geſchloſſen.
Erſt als das Publikum über Afanaſia-Stich's Frage:
»Was heißt, das Herz klopft?« laut lachte, verzichtete
Frau Stich gezwungen auf dieſe Rolle . . . und jubelnd
und ſtotternd brachte der alte Säger ſie mir zurück:
»Wir—r ha—ha—ben ge—e—ſiegt — üb—be—r—r
di—die Al—alte. . .«


Auguſte Stich, die bald daraus den Aſſeſſor Cre¬
linger heirathete, war und blieb noch viele Jahre hin¬
durch die Stütze und Zierde der Berliner Hofbühne, der
ſie ſchon als Auguſte Düring ſeit dem Jahre 1812, als
man das unter Iffland's Leitung blühende einzige Theater
Berlins noch mit Stolz »Nationalbühne« nannte, ange¬
hört hatte. Das junge ſechzehnjährige ſchöne Mädchen war
von der Fürſtin Hardenberg, der früheren Schauſpielerin
Langenthal, an Iffland warm empfohlen — und gleich
nach der erſten Probe von Auguſte Düring als »Mar¬
garethe« in den »Hageſtolzen« rief dieſer große Menſchen¬
kenner jubelnd aus: »Die Kleine iſt der ſeltenſte Fund
meines Lebens — eine Perle von Talent. . .« Nach dem
Tode der Bethmann rückte ſie in deren Rollenfach vor
und ſpielte mit immer ſteigendem Beifall die Jungfrau
von Orleans, eine ihrer prächtigſten Rollen, zu der ſie
ihre hohe majeſtätiſche Geſtalt und imponirende Würde,
[172] und die überwältigende Macht ihres wundervollen Organs
ſo ſehr berechtigten. Herrliche Kunſtſchöpfungen, als
Emilie Galotti, Julie, Thekla, Minna von Barnhelm
— dann als Maria Stuart, Adelheid im Götz, Lady
Macbeth, Phädra, Iſabella in der Braut von Meſſina
— vor Allem aber als Iphigenie folgten, und machten
Auguſte Stich-Crelinger zu einer der erſten deutſchen
Schauſpielerinnen ihrer Zeit. Sie durfte auf ihren Gaſt¬
ſpielen in Wien und München ohne Scheu den Wettkampf
mit Sophie Müller und Sophie Schröder wagen — und
kein Kampfrichter hatte den Muth: Einer dieſer drei
herrlichen Tragödinnen den Sieg zuzuſprechen.


Ja, Auguſte Stich-Crelinger war eine durch und
durch großartige tragiſche Natur. Selbſt ihre Donna
Diana war davon angehaucht, und ſie legte den Haupt¬
accent in dieſer Rolle auf den: Kampf des Stolzes mit
der Leidenſchaft. Bürgerliche Rollen — beſonders im
Luſtſpiel — waren nicht ihr Fach. Dazu fehlte ihr die
Warmherzigkeit und Gemüthlichkeit des Tones, die Klein¬
bürgerlichkeit des Auftretens, das herzliche Lachen der
Stimme, des Mundes und der Augen. Ihre in den
tragiſchen Rollen ſo hinreißende ideale Mimik und Plaſtik
— ja ihr Pathos wirkten in kleinbürgerlichen Rollen
nicht ſelten ſtörend. — Von ihrem ſeltenen Fleiße ſpricht
am beſten die Notiz, daß im Jahre 1852 bei ihrem vier¬
zigjährigen Bühnenjubiläum ein Theaterfreund berechnen
konnte: Auguſte Stich-Crelinger hat in dieſer Zeit nicht
weniger als 355 verſchiedene Rollen geſpielt! — Und
[173] alle dieſe und ſeitdem noch mehr Rollen hat ſie auf Einer
Bühne gegeben. Ja, ſie hat nie ein anderes Engagement
angenommen, als an der Berliner Bühne, der ſie faſt 54 Jahre
ununterbrochen angehörte. Mit 70 Jahren war ſie noch eine
impoſante Bühnenerſcheinung, ihre Stimme klang melodiſch
und gewaltig zugleich und ihr Spiel verdunkelte die Jugend.


Ueber ihre Eigenartigkeit als Künſtlerin ſagte ein
Kritiker mit Recht: »Ihre Auffaſſung blieb mehr Seelen¬
forſchung im Dichterwerk, als Menſchenbeobachtung in
der Wirklichkeit des Lebens. Es lag in ihrer Indivi¬
dualität die Neigung zu mehr plaſtiſchem als maleriſchem
Ausdruck, — daher erreichte ſie den höchſten Gipfel ihrer
Kunſt in jener Sphäre, wo die reine Idealität herrſcht: in
Goethe's Iphigenie und in der Antigone des Sophokles. Es
gibt in ihren Darſtellungen mehr große Züge des Seelen¬
zuſtandes, der Leidenſchaft, als Charaktere, die in einem Reich¬
thum verſchiedener Beziehungen ſich vielfältig ausleben. . .«


Dabei war Auguſte Stich-Crelinger die ſorglichſte,
treueſte Mutter und eine muſterhafte Hausfrau. Ihre
zweite Ehe war die glücklichſte.


Nach meinem Scheiden von Berlin ſah ich die Cre¬
linger erſt im Jahre 1834 wieder. Ich gab damals als
kaiſerlich ruſſiſche Hofſchauſpielerin auf der Berliner Hof¬
bühne Gaſtrollen — und Frau Crelinger benutzte dieſe
Zeit zu einem Gaſtrollen-Cyclus von zwölf Vorſtellungen
auf dem Königſtädter Theater — mit der liebenswürdigen
Hauptabſicht: dem Berliner Publikum ihre inzwiſchen
hold erblühten Töchter Klara und Bertha Stich in freund¬
[174] lichſter Weiſe vorzuſtellen. Da ſah ich die berühmte
Mutter und ihre jungen Töchter zuerſt in Minna von
Barnhelm. Bertha gab die Minna, Klara (ſpäter Frau
Hoppé und als Frau Liedtke geſtorben) die Franziska,
während die Mutter die »Dame in Trauer« nicht für
zu gering für ſich hielt. Am zweiten Abend debütirte
Bertha als »Mädchen von Marienburg«, während die
Mutter die »Gräfin Mentſchikoff« ſpielte. Die treffliche
Schule der Mutter war bei den talentvollen Töchtern
nicht zu verkennen, und man glaubte zuweilen die Mutter
in den Töchtern wiederzuerkennen, ſo treu war beſonders
die »Minna« kopirt. Ja, dieſe Minna war nicht in
drei Tagen einſtudirt, wie ich es mußte, um bei der
Königſtädter Bühne Karoline Müller zu ihren Triumphen
als »Franziska« zu verhelfen.


In der Stich-Crelinger iſt die letzte Schülerin Iff¬
land's begraben. Obgleich ſie Schuld an meinem Scheiden
von Berlin trug — denn neben ihr hätte ich nie das erſte
Fach erringen können — ſo weinte ich doch theilnahmsvolle
Thränen, als mich vor wenigen Jahren die Trauerkunde
erreichte: Auguſte Stich-Crelinger iſt nicht mehr!


Auch die freundliche Genugthuung hatte ich noch,
daß Frau Crelinger gegen die tüchtige Oberinſpektorin
des Hamburger Thalia-Theaters, Emilie Faller, meiner
lobend gedachte: »Eine ſo edle, ehrliche Rivalin habe
ich nie wieder neben mir auf der Bühne gehabt. Das
hat mich beſonders ihre Nachfolgerin empfinden laſſen!«

[[175]]

VIII.
Drei Jahre in Petersburg.

Eine Reiſe von Berlin nach Petersburg — — heute
und vor vierzig Jahren!


Heute ſteigt man um elf Uhr Abends in das weiche,
warme Coupé des Kurierzugs, hüllt ſich in Pelz und
Reiſedecken, erwacht zum Morgenkaffee in Dirſchau, früh¬
ſtückt à la fourchette in Königsberg — dinirt um vier
Uhr in Eydtkuhnen und am andern Tage um ſechs Uhr
behaglich in Petersburg. . . .


Heute iſt eine Kunſtreiſe von Berlin nach Petersburg
ein Gedanke — eine Laune. . . . Damals — beſonders
im Winter — war es ein ſchwerer Entſchluß — eine
That . . . ja, ein Opfer, das man ſich ſelber brachte.
Denn welche Anſtrengungen und Geldopfer koſteten nicht
nur die wochenlange Reiſe, ſondern auch die Vorberei¬
tungen dazu. Da mußte für Reiſepelze geſorgt werden,
als ging's nach Sibirien; — da galt es einen bequemen
und ſehr, ſehr dauerhaften Reiſewagen zu erſtehen, der
[176] die ſeltene Eigenſchaft beſaß, die 103 deutſchen Meilen
ſchauerlicher, unchauſſirter, aufgeweichter Wege bis Po¬
langen und die noch ſchauerlicheren 840 Werſt grundloſen
ruſſiſchen Bodens bis Petersburg ſtandhaft zu überwinden.
Da durfte auch ein zuverläſſiger und handfeſter Bedienter
nicht fehlen, der unter Umſtänden den Muth hatte, ein
paar ſchutzloſe Frauen gegen deutſche Galanterien und
gegen ruſſiſche Koſaken, Zollbeamte, betrunkene Bauern
und dergleichen Landſtraßengewächſe zu ſchützen.


Heute koſtet eine Reiſe nach Petersburg 10 . . . da¬
mals faſt 100 Friedrichsd'or!


Und wie ſieht es mit dem goldenen Lohn für ein
ſolches Kunſtmarthyrium aus? — Die Bedingungen, unter
denen heut ein Gaſtſpiel oder ein Engagement in Petersburg
abgeſchloſſen wird, ſind 10 — 20fach günſtiger, als damals.
Wenigſtens in dieſem Punkte lebt man heut im goldenen
Zeitalter der Kunſt. Das ſilberne iſt in die vierziger
Jahre gefallen. Ich hatte das eiſerne durchzukämpfen.


Aber wie? iſt denn die Kunſt in dieſen vierzig
Jahren auch um das 10 — 20fache gewachſen?


Wohl kaum . . . aber das Virtuoſenthum!


Heute iſt die Gaſtſpielreiſe eines erſten Kunſtvirtuoſen
durch Rußland ein Triumphzug. . . Damals war die
Reiſe eines Künſtlers ein Kreuzzug.


Und doch war jene Art zu reiſen viel poetiſcher,
als heute. Wenigſtens für ein junges, fröhliches und
muthiges Herz. Beſonders denke ich noch heute mit
Vergnügen zurück an die ſtillen, klaren Mondſcheinnächte
[177] in der molligen Wagenecke neben der Mutter, wenn
draußen Dörfer und Wälder wie im Traum an uns
vorüberflogen und der Poſtillon dazu den alten Deſſauer
oder das Mantellied ſo hübſch blies. . .


Und was Alles erlebte man auf einer ſolchen lang¬
ſamen, wochenlangen Reiſe!


Anfangs März 1831 verließen wir Berlin, um
gleich nach den Faſten in Petersburg einzutreffen. Zwei
Tage und zwei Nächte fuhren wir, mit Ausnahme eines
kleinen Haltepunktes in Elbing, ununterbrochen weiter,
ſobald nur neue Extrapoſtpferde vor unſern Wagen be¬
ſchafft werden konnten.


Von Königsberg bis Memel ging die Fahrt durch
troſtloſe, öde Gegenden, zum Theil an der Meeresküſte
entlang. Es waren uns ſchaurige Begebenheiten von
dem Verſinken im Triebſande erzählt, — aber wir fuhren
ja mit preußiſchen Poſtillonen: alſo getroſt vorwärts!


Memel machte durch die niedrigen Häuſer, die
drückende Stille, die in dieſem Orte herrſchte, auf mich
einen traurigen Eindruck.


Und dann ging's auf die ruſſiſche Grenze und das
entſetzlichſte aller Mauthhäuſer zu. . .


O, das hatte ich noch im allerfriſcheſten Andenken,
obgleich ich es ſeit drei Jahren nicht geſehen. Dafür
hatten die Herren Ruſſen trefflich geſorgt, daß ich ſie
und ihr Zollweſen ſobald nicht wieder vergaß.


Es war auf meiner Gaſtſpielreiſe 1828, auch im
März, als ich Memel verließ und der ruſſiſchen Grenze
Erinnerungen ꝛc. 12[178] zuſteuerte. Der ruſſiſche Konſul in Memel, an den ich
empfohlen war, hatte mir gerathen, zur Vermeidung
von Unannehmlichkeiten im Mauthhauſe, ſeinen ruſſiſch
ſprechenden Unterſekretär bis Polangen mitzunehmen.
»Indeſſen,« fügte er hinzu, »einige Trinkgelder müſſen
Sie ſchon geben; die Leute ſind darauf angewieſen bei
der kleinen Beſoldung.«


Unter dieſem Schutz machten wir uns denn auch auf
den Weg. Aber bald ſollten wir zu der troſtloſen Einſicht
kommen, daß unſer Ritter für uns das fünfte Rad am
Wagen war, denn es fehlte ihm die allernöthigſte Energie.


»Sie führen doch keine neuen Gegenſtände mit ſich?«
fragte er ängſtlich.


»Allerdings, meinen Reiſebedarf.«


»Schlimm, ſehr ſchlimm!«


»Warum?«


»Man wird ſie chikaniren —«


»Klappern Sie nur mit dem Gelde, dann rechnen
die Beamten auf gute Trinkgelder.«


»Ich habe keines bei mir,« erwiederte der Ritter
etwas verlegen.


»Hier, mein Herr,« ſagte ich, indem ich ihm einige
Rubel einhändigte.


Eine Stunde vor Polangen ſahen wir Reiter auf
uns zukommen. Unſer Schützer ſagte: »Erſchrecken Sie
nicht; es ſind nur Grenzwächter!«


»Und was gehen uns dieſe an? Was wollen ſie?«


»Uns bis zum Mauthhauſe begleiten.«

[179]

»Warum aber das?«


»Um Sie zu eskortiren, wenn Sie verdächtig er¬
ſcheinen oder Contrebande bei ſich führen — in eine
Sicherheit, die Ihnen ſchwerlich gefallen würde. . .«


»Sehr erfreulich!« ſagte ich und betrachtete neugierig
die Reiter, die übrigens ganz hübſch ausſahen, leicht,
graziös auf den kleinen flinken Pferden ſaßen, aus mar¬
tialiſchen, bärtigen Geſichtern gutmüthig hervor blickten
und mit geſchwungenen Lanzen unſern Wagen in die
Mitte nahmen. Als wären wir Kriegsgefangene, hielten
ſie uns umringt und verließen uns nicht eher, bis der
Wagen vor dem Zollgebäude anhielt.


Dante's Wort: »Ihr, die Ihr eintretet, laßt jede
Hoffnung draußen!« hätte als Schild vor der Eingangs¬
thür hängen müſſen, dann wären wir würdig vorbereitet
geweſen auf dieſes Höllenzimmer.


Ein wahrer Qualm von Hitze und verpeſteter Luft
ſchlug uns entgegen. Die Doppelfenſter ließen durch die
trüben Scheiben wenig Tageshelle ein. Eine Menge
Juden ſaßen und ſtanden umher, uns neugierig anſchauend.
Die Beamten empfingen uns mürriſch und gingen langſam
an's Oeffnen der Koffer, welche der Bediente hereintragen
half. Aus aufgedunſenen, graublaſſen Geſichtern traf
uns manchmal ein lauernder Blick, wenn ein Gepäckſtück
ihnen aufzufallen ſchien. Der Sekretär wiſchte ſich den
Angſtſchweiß von der Stirn, als einer der Unterſuchenden
mit den ſchmutzigſten Fingern ihm Atlasſchuhe vorhielt,
eifrigſt dabei ſprechend. Ich trat näher.


12*[180]

»Was fragt der Unhöfliche?«


»Warum Sie neue Schuhe mit ſich führen?«


»Soll ich etwa in alten Schuhen vor Ihren Maje¬
ſtäten in Petersburg ſpielen? — oder dort erſt Schuhe
anmeſſen laſſen? Verdolmetſchen Sie ihm das, ich bitte,
Wort für Wort.«


Das half, es wurde weiter ausgepackt, etwas ſchneller,
da hörte ich plötzlich hinter mir Ohrfeigen austheilen und
heftig reden. Ich wandte mich um und ſah einen Knirps
von Beamten, kaum 18 Jahr alt, einen alten, ehr¬
würdigen Bauer mit ſchneeweißem Haar und langem
Bart, der verlegen ſeine Mütze drehte und leiſe Entſchuldi¬
gungen ſtammelte, rechts und links heftig ohrfeigen!
Entrüſtet ſtellte ich mich raſch vor den Greis, und ihn
mit ausgebreiteten Armen ſchützend, rief ich ganz außer
mir, ohne daran zu denken, daß meine Worte nicht ver¬
ſtanden würden: »Hat er gefehlt, ſo wird er geſtraft
werden, aber nicht durch Sie, junger Menſch! Ehren
Sie das Alter! Ohrfeigt man einen Greis, der mit einem
Fuß ſchon im Grabe ſteht?«


Nun wurde es lebendig in dem dumpfen Zimmer.
Die Juden ſchrie'n, die Beamten traten auf uns zu, die
Wache ſtürzte herein und unſer Bedienter rief, Alle über¬
tönend: »Wir ſtehen unter preußiſchem Schutz! Wir ſind
Preußen! Die arme Mutter war auf einen Stuhl ge¬
ſunken, kaum im Stande, unſer Hündchen zurückzuhalten,
welches wie raſend bellte und mich vertheidigen wollte.
Der winzige Beamte ballte die Fauſt und ſuchte dem
[181] Bauern näher zu kommen. Der Sekretär ſagte leichen
blaß und zitternd: »Was thun Sie? Man wird Sie
nicht weiter reiſen laſſen!«


»Deſto beſſer, deſto beſſer!« entgegnete ich immer
hitziger und blieb ſchützend vor dem alten Manne ſtehen.
»Ich will gar nicht weiter, ich will nach Memel zurück,
mir iſt alle Luſt nach näherer Bekanntſchaft mit einem
Lande vergangen, in welches man wie ein Verbrecher
von bewaffneten Reitern eingeführt, wo man wie ein
Schmuggler behandelt wird, und wo uralte arme Leute
geohrfeigt werden. . . Ich will zurück! Verdolmetſchen
Sie das und ſagen Sie, ich würde alles hier Vorgefallene
dem Konſul in Memel mittheilen und ihn erſuchen, mein
Nichteintreffen in Petersburg zu melden, und auch die
Urſache deſſelben. Erfährt dann Fürſt Wolkonski, auf
welche Weiſe die Unterbeamten die Befehle der Vorge¬
ſetzten überſchreiten, ſo wird die Strafe nicht ausbleiben
und der boshafte Knirps da übel wegkommen!«. . .


Endlich ſprach der Sekretär mit Energie. Ich ver¬
nahm öfters das Wort: Knäs (Fürſt) Wolkonski. Die
Beamten befahlen dem Ohrfeigengeber, das Zimmer zu
verlaſſen, und als endlich — leider nur zu ſpät — der
Sekretär vernehmlich mit Geld klapperte, ging das
Unterſuchen der Effekten raſch vorwärts, und bald
konnten wir weiter fahren.


Mein Bauer wiſchte eine Thräne nach der andern
mit ſeinen zitternden Händen ab, ich ſteckte ihm Geld
zu und ſtreichelte ſeine mißhandelten Wangen, ihm
[182] freundlich Troſt zuſprechend, als müſſe er mich verſtehen.
Er dankte mit Blicken, als wollten ſie ſagen: »Glück
und Segen mit Dir, Fremde! Das erſte Weſen, das
ſich meiner annahm!«


Die Juden eskortirten uns, freundlich nickend, an
den Wagen, die Beamten grüßten ſogar, und der Bauer
ſchwenkte ſeine Mütze, wahrſcheinlich glückliche Reiſe
wünſchend. Der Sekretär hatte ſich von allen Altera¬
tionen etwas erholt, verſprach dem Konſul Bericht zu
erſtatten, und wir ſuchten durch ein Geſchenk in klingender
Münze ihm einigermaßen die angſtvolle Stunde zu ver¬
ſüßen. . .


Dieſe Erfahrung hatte uns vorſorglicher gemacht.
Mit den gewichtigſten Papieren von der ruſſiſchen Ge¬
ſandtſchaft in Berlin ausgerüſtet, überwanden wir das
entſetzliche Mauthaus zu Polangen diesmal ſehr leicht.
Vergebens ſah ich mich nach meinem alten Bauer um . . .
Er war nirgends zu ſehen. Vielleicht war er inzwiſchen
auch ſchon geſtorben. . . .


Und weiter ging's der Düna zu — mit dem erſten
ruſſiſchen Poſtillon. Es war ein blutjunger, bildhübſcher
Junge, geſchmeidig und übermüthig wild wie eine Katze.
In einen langen, mit Schafpelz beſetzten Kittel gehüllt,
der um die ſchlanke Taille von einem Ledergürtel gehalten
wurde, auf dem Zottelkopf mit den blanken, wilden
Augen eine Bärenmütze — ſo ſtand er bald auf der
Deichſel, bald ſprang er ab und lief ſchreiend und peitſchen¬
knallend neben den Pferden her, die doch gar keines
[183] Treibens bedurften und wie das wilde Heer über Knüppel¬
dämme, zugefrorene Gräben und Waſſerpfützen mit uns
dahin flogen. Vergebens lud der Bediente den kleinen
Wilden ein, neben ihm auf dem Bock Platz zu nehmen
. . . der wies ihm lachend die blitzenden Prachtzähne und
ſprang übermüthig weiter, daß die langen Haare ihm
um den Kopf flogen. Als ich einige Töne der ruſſiſchen
Nationalhymne ſang und ihm freundlich dabei zunickte,
verſtand er mich ſogleich, ſtimmte hell ein und ſang uns
all' ſeine melancholiſchen ruſſiſchen Volkslieder, daß uns
die vierzehn Werſt (ungefähr zwei deutſche Meilen) bis
zur nächſten Station ſehr ſchnell und angenehm dahin
flogen.


Ich fügte zum ausgemachten Trinkgeld noch ein
Extra-na wodky, zu Schnaps, hinzu; das war mir in
Memel angerathen worden. Da blinkten die weißen
Zähne noch viel luſtiger, er konnte nicht müde werden,
der guten »Matuſchka« (Mütterchen) die Hand zu küſſen.
Lachend zeigte er auch dem nachfolgenden Poſtillon das
Geſchenk und nun waren wir geborgen. Schnell und
vorſichtig wurden wir weiter gefahren bis an das Ufer
der Düna, welche uns noch von Riga trennte.


Als wir vor drei Jahren an der Düna anlangten,
ſtanden Wächter am Ufer und verboten uns das Paſſiren
des ſchon morſchen Eiſes. Jede Stunde könne der Eis¬
gang eintreten. Und doch wurde ich von dem Direktor
Dölle beſtimmt zum Gaſtſpiel in Riga erwartet — und
ſollte morgen auftreten. In dieſer Rathloſigkeit brachte
[184] mir der ſoeben aus Riga angelangte Theaterdiener einen
Brief des geängſteten Direktors, mit den rührendſten
Bitten, ihn nicht im Stich zu laſſen — das Haus ſei
für morgen bereits ausverkauft. Aus beſonderer Rückſicht
habe ihm der theater-enthuſiaſtiſche Gouverneur erlaubt,
die Ueberfahrt und den Transport der Effekten auf kleinen
Schlitten, je mit einem Pferde beſpannt, zu bewerkſtelligen.
Doch müßte mit größter Schnelligkeit Alles vor ſich
gehen: Sattler und Schmied würden das Zerlegen des
Wagens beſorgen. Ich möge es wagen, es ginge noch
gefahrlos. Jeden Augenblick könnten die Kanonenſchüſſe
dröhnen, und dann ſei jedes Paſſiren auf's Strengſte
verboten. Wie lange, ſobald ſich das Eis in Bewegung
geſetzt habe, jede Kommunikation gehemmt bleibe, laſſe
ſich zum Voraus nicht beſtimmen, und wo ich in dieſem
Falle mit der Mutter ein Unterkommen finden würde?. . .


»In Gottes Namen denn vorwärts!« ſprach die
Mutter. Es begann nun um den Wagen von geſchäfti¬
gen Leuten zu wimmeln, die das Gepäck abluden und
den Wagen auseinander nahmen; wir ſahen ergebungs¬
voll dem Zerſtörungswerke zu. Auf einen Schlitten
kamen die Räder, auf den zweiten die Koffer, auf den
dritten und größten der unbehülfliche Wagenkaſten, auf
den vierten die Mutter und ich, das Hündchen Liſinka,
dem das Treiben ſehr zu mißfallen ſchien, zwiſchen uns,
auf den fünften der Bediente mit der Chatoulle. Die
treue Seele gelobte uns zu retten, wenn wir dem Ver¬
ſinken nahe wären. Voraus fuhren der Schmied, der
[185] Sattler und der Theaterdiener, immer rufend und
warnend vor morſchen Stellen.


Wir ſchloſſen die Augen, hielten uns umſchlungen
und fühlten, daß es raſch im Fluge weiter ging. Konnte
nicht das muntere Klingen der Schlittenglocken unſer
Grabgeläute bedeuten? Wir wurden reichlich mit Waſſer
beſpritzt, das ſchon fußhoch auf dem Eiſe ſtand. Oft
glaubten wir zu ſinken. . . o, wie ſchaurig krachte das
Eis! Dann fuhren wir erſchreckt auf und blickten nach
dem rettenden Ufer aus. Endlich war die Schreckens¬
fahrt überſtanden. Direktor Dölle empfing uns mit
ſeinem geſammten Perſonal am Ufer; er war bewegt,
freudig ergriffen. Die Damen umarmten uns unter
Lachen und Weinen; wie alte Bekannte wurden wir be¬
willkommt. Klopfenden Herzens hatten Alle den Windun¬
gen der Schlittenkarawane zugeſehen, und geleiteten uns
nun im Triumph nach Riga hinein zur Stadt London,
wo wir zu unſerer Aufnahme Alles ſorglichſt hergerichtet
fanden.


Eine halbe Stunde darauf dröhnten die verhängni߬
vollen Kanonenſchläge.


Der Erfolg meines Gaſtſpiels war ein in jeder
Hinſicht zufriedenſtellender geweſen. Sämmtliche Reiſe¬
koſten wurden durch die Einnahmen gedeckt. Am meiſten
hatte ich als Agnes im »Mann im Feuer« gefallen, —
eine naive Konverſationsrolle. Fünfmal ſpielte ich die
Agnes, und im Ganzen vierzehnmal in drei Wochen.
Die Mitglieder unterſtützten mich auf ſo freundliche,
[186] herzliche Art, daß ich wirklich wähnte, unter Freunden
zu ſein. Die Stücke waren muſterhaft einſtudirt, ganz
vortreffliche Künſtler hatte Direktor Dölle zu feſſeln ge¬
wußt, und die Rigaer verwöhnten mich förmlich durch
ihre gaſtfreie, liebenswürdige Aufnahme.


Jetzt, Anfangs März 1831, konnten wir die Düna
noch mit unſerem bepackten Reiſewagen paſſiren. Das
Eis war noch ſo feſt, daß man mit Kanonen hätte
darüber fahren können. Kaum waren wir wieder in
der »Stadt London« unter dem gaſtlichen Dache der
liebenswürdigen Madame Seemann angelangt, ſo waren
wir auch ſchon von Bekannten umringt und ſo herzlich
begrüßt, als hätten wir ihnen erſt vor drei Tagen Lebe¬
wohl geſagt.


Wie war die Stimmung in dem frohmüthigen,
theaterluſtigen Riga aber jetzt ſo gedrückt! Man ſprach
nur von dem blutigen Unterdrückungskriege Rußlands
gegen das arme Polen, das immer noch nicht ſterben
wollte und ſich jetzt wieder im Todeskampfe gegen das
Czaarenthum aufgebäumt hatte. . .


Man rieth uns, nicht weiter zu reiſen, bis die
Truppendurchzüge nach Polen beendet wären. Die Wege
ſeien überdies bodenlos von den vielen Kanonen. Reiſende
ſeien von den erſten Stationen wieder zurückgekehrt,
halb todt von den verſchiedenſten Alterationen. —


Wir ruhten gern einige Wochen in dem gaſtlichen
Riga aus, und als die neue Direktrice, Frau von
Tſchernjäwski — mein alter, braver Dölle hatte in¬
[187] zwiſchen die Direktion aufgegeben, um nach Petersburg
überzuſiedeln — mich dringend aufforderte, in einem
größeren Cyclus zu gaſtiren, ſagte ich mit Freuden zu
und benachrichtigte die Petersburger Intendanz von der
Urſache meines verſpäteten Eintreffens, — aber dennoch
könne ſogleich nach den Faſten mein erſtes Debüt ange¬
ſetzt werden. Ich wurde von einer ſehr guten Geſellſchaft
unterſtützt, ſtudirte die »Leonore« von Holtei ein und
ſpielte die »Königin von ſechzehn Jahren« und die
»junge Pathe« zum erſten Mal in Riga. Ich gaſtirte
ſpäter noch dreimal in Riga und ſpielte dort in einem
Zeitraume von 2½ Jahren im Ganzen 72 mal unter
der freundlichſten Theilnahme. Viele von den trefflichen
früheren Mitgliedern der Rigaer Bühne waren nach
Petersburg engagirt worden, und ich hörte überhaupt
zu meiner Beruhigung, daß die deutſche Bühne anders und
viel beſſer organiſirt ſei, wie vor drei Jahren, auch der
neue Intendant, Fürſt Gagarin, als kluger, gerechter
und allgemein beliebter Chef bekannt ſei.


Das Originellſte und zugleich Fatalſte bei dem da¬
maligen Rigaer Theater war: daß es auf einem —
Eiskeller ſtand. Eine eiſige Luft wehte auf der Bühne
und faſt alle Mitglieder waren erkältet und heiſer. So
manche Sängerin hat bei dieſer eigenthümlichen Bauart
ihre Stimme eingebüßt.


Riga hatte ſchwer durch die Kriegsunruhen und bei
den nicht enden wollenden Truppendurchmärſchen durch
Einquartierung gelitten. Und doch waren die Rigaer gut
[188] kaiſerlich geſinnt und am Siege zweifelte Niemand. Nur
in vertrauten Kreiſen hörte man zuweilen fragen: »Wenn
der Aufſtand ſo leicht zu überwältigen iſt, wie die Peters¬
burger Zeitungen ſchreiben — wozu dieſe ungeheuren
Truppenmaſſen nach Polen?« —


Von Mitau kamen auch alarmirende Gerüchte: in
Lithauen ſei es nicht geheuer. Und doch entſchloß ich
mich, auf Wunſch der Mitauer mit der Rigaer Truppe
ſechsmal bei ihnen aufzutreten. Aber ſchon nach der erſten
Gaſtrolle war's vorbei, und auf allgemeinen Rath eilten
wir zurück nach Riga. Man befürchtete in Mitau einen
Ueberfall der Inſurgenten, die ſich ſchon nicht weit von
der Stadt gezeigt haben ſollten. Mitau war völlig wehr-
und ſchutzlos. Die Edelleute trotz ihrer bekannten Bra¬
vour waren nicht zahlreich genug, die Vertheidigung der
Stadt zu übernehmen. Unſere Rückreiſe glich einer Flucht.


Doch bald ſtellte es ſich heraus, daß wir ganz ruhig
hätten fortſpielen können. Es war blinder Lärm ge¬
weſen. Der Durchmarſch eines gerühmten Petersburger
Garderegiments durch Riga bleibt bei mir unvergeßlich.
Dies Regiment hatte nur Rappen, und die höheren Offi¬
ziere beſaßen deren 2-3, jedes im Preiſe von cira
2000 Silber-Rubeln. Kein Wunder, daß nach einigen
Jahren Dienſt bei der Garde die meiſten Offiziere, Liv-
und Kurländer, ihr Vermögen zugeſetzt haben.


Wie wir dem Durchmarſche dieſes Regiments zu¬
ſchauen, kommt athemlos ein Beamter der Krone, und
ruft uns zu: »Viertauſend polniſche Soldaten ſind bei
[189] Warſchau mit dem Eiſe eingebrochen — ſoeben kam die
frohe Botſchaft an den Gouverneur, und ich eilte, ſie
Ihnen zu verkünden. Die Blüte des Adels und der
Jugend ſollen mit verſunken ſein. . . .«


Da mußte ich der polniſchen Studenten und Gutsbeſitzer
gedenken, welche ich in Berlin hatte kennen gelernt. Und
Alle hatten ſich durch feines, liebenswürdiges Benehmen
ausgezeichnet. Bei keinem Balle durften die eleganten
Tänzer fehlen; wer hätte ſonſt wohl die Mazurkas an¬
führen ſollen? Faſt alle dieſe jungen Polen waren beim
Beginne des Aufſtandes nach Warſchau aufgebrochen.
Welche glühenden Patrioten gab es unter ihnen! Wie
begeiſtert hatte gleich nach der erſten Aufführung des »Alten
Studenten« von Baron Maltitz der junge ſchwärmeriſche
Dichter Garcinsky, ſehr mit Maltitz befreundet, uns er¬
zählt: die Aufführung dieſes Stückes hätte die ganze polniſche
Jugend in Berlin förmlich beſeligt . . . und ſie hätten während
der Vorſtellung dieſem Enthuſiasmus Ausdruck geben müſſen,
trotz des öftern mißbilligenden Herausblickens des Königs
aus ſeiner Proſzeniumsloge im Königſtädter Theater. . . .
Dafür waren ſie ja junge, heißblütige Polen!!


»Wie unbeſonnen!« bemerkte meine Mutter, »— und
weshalb den guten König ärgern? — Konnten Sie ſich
denn nicht weniger — bemerkbar freuen? Wenn nun das
Stück verboten wird?«


Und ſo kam es. Nicht allein durfte der »Alte Stu¬
dent« nicht mehr geſpielt werden, — Baron Maltitz,
der Verfaſſer, mußte Berlin verlaſſen.


[190]

»Garcinsky iſt ſicher mit in den Fluten der Weichſel
begraben,« ſagte ich leiſe und traurig zur Mutter.


»Sehen Sie doch nicht ſo nachdenklich traurig aus,
das iſt hier gefährlich!« flüſterte mir ein Landsmann zu,
der Komiker Walter, der berühmte Staberl-Spieler,
ebenfalls in Riga gaſtirend, — »man beobachtet Sie
ſchon. . . . Und: »Hurrah! Hurrah!« rief er laut, —
»Es lebe der Kaiſer! nun werden immer mehr Sieges¬
nachrichten eintreffen. . . .«


Die Weiterreiſe nach Petersburg war ſehr un¬
erquicklich und anſtrengend.


Nichts ermüdet die Sehnerven in dem Grade, als
immerwährende Ebenen. Ein Dorf glich im Ausſehen
dem andern; ſaubere, zierlich gebaute Holzhäuſer, wenig
Leben, Alles ſtill, man möchte ſagen ſchlummerartig!
In den Stationslokalen fanden wir überall große Zimmer
und mit ſchwarzem Leder überzogene Sophas; die Wirths¬
leute und Poſthalter waren höflich, ſprachen auch deutſch,
aber ſie erſchienen mir theilnahmlos, ſtumpf, gleichſam
reſignirt im ewigen Einerlei ohne Wunſch und Klage
dahinvegetirend. Als ein ſchöner Menſchenſchlag zeichneten
ſich die Bauern aus, vor Allem die Männer mit ihren
gutmüthigen, freundlichen Phyſiognomien. Die Frauen,
obwohl auch von blühender Geſichtsfarbe, hatten nicht ſo
regelmäßige Züge, aus den Augen ſprach wenig Intelli¬
genz, auch waren ſie meiſtens zu ſtark, beinahe plump
[191] gewachſen, was um ſo mehr auffiel, da die ruſſiſche
Landestracht der Männer ſehr kleidſam iſt. Der um die
kurzen Ueberröcke oder die bunten Hemden feſtgeſchnallte
Gürtel läßt die Figur ſchlank und nicht ohne Grazie er¬
ſcheinen. Von der allerheiterſten Seite zeigt ſich der
Eingeborene in einem gewiſſen Stadium des Rauſches.
Ein gar fröhlich ausſehender Bauer verbeugte ſich in
einem fort, als ich an ihm vorüberging, ſuchte meine
Hand zu faſſen, küßte ſie und ſagte: »Matuſchka! Ma¬
tuſchka, ſei nicht böſe, daß ich ein kleines Räuſchchen
habe!«


Zuweilen wurde die Einförmigkeit durch einen Kurier¬
wagen, Telega genannt, unterbrochen; es war ein ein¬
ſpänniger Holzwagen ohne Federn mit ſehr hohen Rädern,
welcher in raſendem Tempo vorüberſauſte. Auf meiner
erſten Reiſe war mir ſo die ſchöne Großfürſtin Helene
mit ihrer Suite begegnet, auf ihrer Reiſe nach Deutſch¬
land. Mit Schwindel erregender Schnelligkeit flogen all'
die Telega's an uns vorüber.


Eine Meile vor Petersburg trafen wir auf ſchöne
Landhäuſer, auf großartigere, als im Berliner Thier¬
garten. Die hohen vergoldeten Kirchen-Kuppeln der
ſtolzen Reſidenz, die endloſen breiten Straßen machen
beim erſten Anblick einen eigenthümlichen fremden Ein¬
druck, ebenſo die unzähligen Viergeſpanne mit kleinen
Knaben auf dem Vorderpferde, die hellen Kinderſtimmen
fortwährend rufend: »Padi, Padi!« Aufgepaßt!


Unſer Empfang in Petersburg war diesmal ange¬
[192] nehmer als vor drei Jahren, da wir die ruſſichen Ver¬
hältniſſe noch nicht kannten.


Wir ſtiegen damals in einem großen Hotel ab, das
uns brieflich empfohlen war. Der Direktor des deutſchen
Theaters, Herr von Helmerſen, erwartete uns, begleitet
von ſeinem Faktotum, Herrn Damier, über deſſen Bei¬
hülfe beim Aufſuchen einer Wohnung er uns zu verfügen
bat; »denn,« ſetzte er hinzu, »hier können Sie nicht wohnen.«


»Warum nicht?« fragte ich verwundert. »Wir ſind
ja doch in einem Gaſthofe. . . .«


»Weil die ruſſiſchen Familien ihre Betten und Köche
ſtets mitbringen!«


»Alſo giebts in dieſem Gaſthofe kein Bett für uns
und nichts zu eſſen?«


»Nein!«


»Sehr tröſtlich!«


Helmerſen, um in Rückſicht ſeines Alters ſeinen
völligen Mangel an Energie ſo ſchonend wie möglich zu
bezeichnen, war ein ſanfter, lieber, in dieſem Augenblick
nur von einer Idee beherrſchter Mann, nämlich der
meines Auftretens bei Hofe . . . und das mußte morgen
geſchehen, denn übermorgen reiſte die kaiſerliche Familie
nach der Krim ab.


Und ſo dachte Helmerſen weder an unſere Müdigkeit,
noch an eine Taſſe Kaffee, — ſondern ſobald er mich
ſah, rief er ſchier athemlos:


»Eilen Sie ſchnell zum Fürſten Wolkonski, nein,
erſt zum Oberkammerherrn der Kaiſerin, um den
[193] Empfehlungsbrief des geheimen Kämmerers Timm aus
Berlin abzugeben, dann zum Fürſten Dolgoruki, dann
zu Cutaizow. . . .«


»Um Gottes willen, warum denn zu vier hohen
Herren? Sind Sie nicht Direktor der deutſchen Bühne?«


»Ja wohl! Intendant derſelben aber iſt Fürſt
Cutaizow, Dolgoruki Intendant vom franzöſiſchen Theater,
der zur Vorſtellung bei Hofe auch ſeine Mitglieder in
Kenntniß ſetzen muß, denn dieſe ſpielen nach den Deutſchen.
Der Oberkammerherr muß Ihro Majeſtät der Kaiſerin
Alexandra Ihre Ankunft melden, und Fürſt Wolkonski
dann anfragen, ob noch eine Vorſtellung ſtattfinden wird,
und wann?«


»Hören Sie auf!« rief ich, in's Wort
fallend, »wie ſoll ich das Alles behalten?«


»Es iſt kein Augenblick zu verlieren,« drängte Helmer¬
ſen; »raſch, raſch! ich ſchicke nach einem Wagen.«


»Aber es iſt ja noch nicht ausgepackt,« erwiderte
ich in größter Aufregung; »ich kann mich doch nicht im
Reiſekleid vorſtellen? Meine Wangen glühen, die Augen
brennen mir von Staub, Hitze und Ermüdung.«


»Und vor allen Dingen muß doch meine Tochter
erſt etwas eſſen!« rief die gute Mutter beſorgt.


»Warum?« frug Helmerſen ſehr naiv, indem er
ſeine waſſerblauen Augen groß aufriß.


»Warum? weil ich hungrig bin!« entgegnete ich ent¬
rüſtet. »Denken Sie doch, die ganze Nacht hindurch gefahren
und nicht einmal eine Taſſe Kaffee oder Thee zur Erquickung!«

Erinnerungen ꝛc. 13[194]

»Ja,« ſeufzte Helmerſen, »dann werden Sie nicht
bei Hofe ſpielen. Erläßt man heute nicht noch die Be¬
fehle, ſo iſt das Theater im großen Saal des Winter¬
palaſtes nicht mehr bis morgen herzurichten, und über¬
morgen reiſen die Majeſtäten ab. . . .«


Er verſtummte wehmüthig, — ſeine Weisheit war
zu Ende.


Alſo raſch wurde aus einem Koffer der roſa Atlas¬
überrock zu Tage gefördert, aus dem Hutkaſten das
ſchwarze Sammetbaret geholt, die Locken wurden von
den Wickeln befreit, hoch, deſperat hoch aufgethürmt,
das Baret aufgeſtülpt, und fort ging es. Der Bediente
kam uns athemlos im Korridor entgegen, indem er
triumphirend ein Rebhuhn präſentirte, welches er einem
Koch abgekauft. Stehend aß ich etwas davon, beinahe
erſtickend vor Eile, denn Helmerſen rief verzweiflungs¬
voll: »Wir kommen zu ſpät, zu ſpät!« Athemlos
ſtürzten wir die Treppe hinab in den Wagen und
ſteuerten dem Oberkammerherrn zu — Helmerſen glücklich,
ich halbtodt von der Hetzjagd. Unterwegs fragte mich
der weiſe Direktor, was ich ſpielen wolle, im Fall mir
die Wahl überlaſſen würde? Ich entſchied mich — im
Hinblick auf meine Rigaer Erfolge in dieſer Rolle —
für den »Mann im Feuer«. Helmerſen bewies durch den
Umſtand, daß er keinen Einſpruch erhob, die größte Un¬
kenntniß ſeines Perſonals und Publikums.


Endlich ſtiegen wir aus, es ging treppauf, treppab,
durch unendliche Gänge, bis wir die Gemächer des Ober¬
[195] kammerherrn erreichten. Wir wurden gemeldet und ſo¬
gleich empfangen. Ich verbeugte mich vor einem würdig
ausſehenden Manne und überreichte den Empfehlungsbrief
ſeines Freundes Timm. Nachdem er das Schreiben raſch,
aber aufmerkſam durchflogen, verſicherte er auf ſehr
liebenswürdige Art, daß er ſogleich ſeine Herrin von
meiner Ankunft in Kenntniß ſetzen würde, und er hoffe
ſicher, ich ſei noch zu rechter Zeit angelangt. »Sagen
Sie dies Fürſt Wolkonski,« fügte er ſich empfehlend
hinzu.


Helmerſen durchwanderte wie verjüngt mit mir
abermals endloſe Gangwindungen, es ging wieder trepp¬
auf, treppab. Dann war auch Wolkonski's Wohnung
erreicht. Im Vorzimmer ſaßen und ſtanden eine Menge
hoher Militärperſonen; es blitzte förmlich von Ordens¬
ſternen. Ich wurde mit Staunen angeſehen, und ich
ſelbſt fühlte nur zu ſehr meine Wangen brennen, meine
Augen glühen. Helmerſen mußte zuerſt mit dem Fürſten
ſprechen und kam bald zurück, um mich demſelben vor¬
zuſtellen. Wolkonski's Aeußeres war nicht einnehmend:
klein, alt, häßlich, — aber während des Sprechens ge¬
wann er ſehr, denn neben den Formen des feinſten
Weltmannes wußte er ſich klug und angenehm zu unter¬
halten. Er verſprach ebenfalls, ſogleich mit der Kaiſerin
zu ſprechen, ließ ſich von Helmerſen das Stück »Der
Mann im Feuer« aufſchreiben, und händigte mir einige
Zeilen für Fürſt Dolgoruki ein. Wir fuhren gewiß eine
halbe Stunde, ehe wir zu deſſen Palais gelangten.


13 *[196]

Dolgoruki trat mir entgegen, fuhr aber beinahe zu¬
rück, »denn«, geſtand er ſpäter, »Ihre hochrothen Wangen,
die fieberhaft blickenden Augen, das Baret, ſo verwegen
aufgeſtülpt, — Alles das erſchreckte mich faſt. . . . Nach¬
dem ich aber Wolkonski's Zeilen übergeben und alle
Erlebniſſe und Abhetzereien mitgetheilt hatte, wurde er
ſehr artig, verſprach mir nach Kräften beizuſtehen und
rieth uns, Cutaizow zu beſuchen.


Dieſer war der einſylbigſte von Allen, aber zuvor¬
kommend und artig.


Jetzt war ich aber auch ſo erſchöpft, daß ich ſchluch¬
zend in den Wagen ſank und rief: »Nun zur Mutter!
Spielen oder nicht, — ich bedarf der Ruhe.« Helmerſen
blieb ungerührt bei meinen Klagen, denn ſein ſehnlichſter
Wunſch ſchien erfüllt zu werden, mein Gaſtſpiel brillant
enden zu wollen, indem der Anfang deſſelben bei Hofe
gemacht wurde. Zum Glück war bereits ein hübſches
Logis in Beſchlag genommen worden, der Bediente ge¬
leitete uns in die neue Behauſung, und die Mutter be¬
willkommnete mich mit einem ſehr erwünſchten Souper.
Endlich konnten wir uns einer erquickenden Ruhe hin¬
geben, deren Wohlthat ich, wie noch nie, empfand.


Um acht Uhr anderen Morgens wurde ich zur Probe
abgeholt, Abends ſollte geſpielt werden. Ich bewunderte
den Prachtſaal, in welchem ſich das Theater befand, deſto
weniger die Schauſpieler. Ich erkannte das lebensfriſche
Luſtſpiel kaum wieder bei dieſer Darſtellungsweiſe. In
Berlin hatten wir es in 1½ Stunden geſpielt, hier dehnte
[197] es ſich bis zu 2½ Stunden. Keine Spur von Konver¬
ſationston, kein Humor! Der große, ſtarke Barlow als
General ſprach nicht, er deklamirte. Das »Guten Morgen,
liebe Agnes!« trug er vor wie: »Geh' in ein Kloſter,
Ophelia!« Wiebe, der den jugendlichen Liebhaber gab,
ſpielte ernſt und ſprach monoton langſam, wie ein Büßen¬
der; ſein Lächeln war gezwungen, als koſtete es ihm ent¬
ſetzliche Muskelanſtrengung. Von ſämmtlichen Beſchäftigten
wurde jedes Wort angſtvoll dem Souffleur abgelauſcht. . .
genug, ich kam aus der Probe völlig entmuthigt zu
Hauſe an. Verzweiflungsvoll klagte ich der Mutter meine
Noth und Angſt wegen der Vorſtellung. Die Ueber¬
zeugung, daß die hohen Herrſchaften ſich langweilen
müßten, und das Bewußtſein, daß ich Unglückliche die
Veranlaſſung zu dieſer Aufführung ſei, benahmen mir
Muth und Heiterkeit. Ich wollte ſogar zu Wolkonski
eilen, ihm Alles ſagen und auf die Vorſtellung vor dem
Hofe verzichten. Aber dann hätte ich auch nicht mehr
am deutſchen Theater in Petersburg gaſtiren können,
denn die Schauſpieler hätten ja den Grund meiner jetzigen
Weigerung, vor dem Hofe aufzutreten, erfahren, und
der Zweck der koſtſpieligen und mühſamen Reiſe wäre
verfehlt geweſen. Mit betrübterem Herzen konnte kaum
einer Auszeichnung entgegengeſehen werden.


Ehe die Ouverture begann, ſah ich durch ein Löwen¬
auge des Vorhanges und betrachtete das ſchön und reich
geſchmückte vornehme Publikum. Der Prinz von Preußen
(der jetzige Kaiſer) war zum Beſuche bei ſeiner erlauchten
[198] Schweſter eingetroffen und ſprach eifrigſt mit ihr; die
Kaiſerin-Mutter ſaß neben Nikolaus und ich konnte kaum
begreifen, daß dieſe ſchöne, blühende, kaum 40 Jahre alt
ausſehende Frau ſeine Mutter war. Der ganze Anblick
erinnerte an die Märchen von »Tauſend und Eine Nacht,«
und die unermüdliche Scheherazade hätte keine ſchöneren
Prinzen und Prinzeſſinen ſchildern können.


Mit furchtbarem Herzklopfen trat ich auf die Bühne;
ich hatte das erſte Wort zu ſprechen.


Die Schauſpieler ſchienen das Gedächtniß jetzt völlig
verloren zu haben. Mühſam, unerquicklich ſchläfrig ge¬
langten wir an den Schluß des traurigen Luſtſpiels, und
Barlow, jahrelang ſchon in Petersburg, beging die
Taktloſigkeit, im letzten Akt als General in einem alt¬
fränkiſchen, großgeblumten Schlafrock zu erſcheinen.
Beſchort in Berlin hatte zu dieſer Duellſzene, welche
ohne Licht im Wohnzimmer vor ſich geben ſoll, einen
Ueberrock gewählt, und Barlow ſtolzirt vor den Kaiſe¬
rinnen im ſchlotterigen Schlafrock herum: der dicke, große
Mann auf der kleinen Bühne. ... Es war entſetzlich an¬
zuſehn!


Ich konnte es nicht mehr aushalten; ich verſchwand
hinter dem großen Schirme des improviſirten Garderobe¬
zimmers, der in einer Ecke des weiten Saals hinter der
Bühne angebracht war. Ich fühlte, daß ich blaß unter
der Schminke war, und rang mit einer Ohnmacht. Da
wurde ich gerufen; wankend trat ich aus meinem Verſteck
hervor und ſah Fürſt Wolkonski auf mich zukommen.
[199] Er überreichte nur ein Geſchenk mit den Worten: »De
la part de l'impératrice.«


»Ich danke!» erwiederte ich wehmüthig. »Nicht
wahr, »mein Fürſt, die Herrſchaften haben ſich entſetzlich
gelangweilt? Ich ſie leider mit! Und Barlow's Schlu߬
koſtüm. . . .«


»Ja, das war freilich unerquicklich,« entgegnete
Wolkonski; »aber Sie haben gefallen. Haben Sie nicht
bemerkt, wie die Kaiſerin ſo herzlich lachte, der Kaiſer
applaudirte?«


»Das iſt Balſam für mich; aber — darum iſt doch
nicht weniger ſchrecklich geſpielt worden. Ich bin in
Verzweiflung!«


Wolkonski ſah mich überraſcht an. Dann ſagte er
freundlich: »Deshalb nehmen Sie ein Engagement bei
uns an. Für beſſere Mitglieder ſoll geſorgt werden;
Sie müſſen dem deutſchen Theater hier den Impuls
geben. Durch Ihr Talent, Ihre Thätigkeit und Liebe zur
Kunſt kann viel gebeſſert und die ganze Bühne geboben
werden, und dann wird es Ihnen gut bei uns gefallen.«


Ich verbeugte mich innigſt dankend für die freund¬
lichen Verſicherungen und ſagte aufrichtig, daß ich gern
in Petersburg bleiben würde, um ſo recht nach Herzens¬
luſt in allen Fächern ſpielen zu können, aber erſt müſſe
doch auch das Publikum ſeine Anſicht über mich zu er¬
kennen geben.


Die liebe Frühlingsſonne, ſowie der glänzende Er¬
folg meines Gaſtſpiels hatten meine Betrübniß bald ver¬
[200] ſcheucht. Die Stücke waren beſſer einſtudirt; Barlow
lernte ich im tragiſchen Fach als denkenden und mit Ge¬
fühl ſpielenden Künſtler kennen, und Wiebe, ſowie die
Anderen erſchienen weniger ſteif und kopflos.


Das geſellige Leben Petersburgs gefiel mir ungemein.
Der Engagementsantrag war annehmbar, und ſo unter¬
zeichnete ich denn einen Kontrakt für drei Jahre.


Dieſen zu erfüllen, war ich jetzt in Petersburg an¬
gelangt. Dank unſeren traurigen Erfahrungen und den
Petersburger Freunden erwartete uns eine behagliche Woh¬
nung . . . und kein übereiltes Auftreten im Winterpalais
vor dem Hofe.


Mein Empfang war der freundlichſte, da ich — als
Suschen im »Bräutigam aus Mexiko« am Klöppeltiſch
ſitzend — zum erſten Mal wieder vor den lieben Peters¬
burgern erſchien. Die zweite Rolle war Holtei's »Leo¬
nore«, und das dritte Debüt die Polixena in »Kunſt und
Natur«.


Das Perſonal war bedeutend verſtärkt und verbeſſert.
Als jugendlicher Liebhaber war Herr Weiland recht brav.
Der dicke Barlow hatte das Väterfach übernommen,
Wiebe die Heldenrollen. Die Vorſtellungen gingen —
mit denen vor drei Jahren verglichen — prächtig, und
eine ſehr hübſche Brünette, Fräulein Gerſtel — Schweſter
des jetzt noch am Stuttgarter Hoftheater ſo beliebten erſten
Komikers und Regiſſeurs Gerſtel — ſpielte die zweiten
[201] Liebhaberinnen ganz charmant. Es herrſchte auch mehr
Ordnung, mehr Eifer.


Als Intendant ſtand jetzt ſämmtlichen Theatern
Fürſt Gagarin vor, unter und neben ihm leiteten die
geſchäftlichen Angelegenheiten die Direktoren der ruſſiſchen,
franzöſiſchen und deutſchen Bühnen. Gagarin wußte dem
herrſchſüchtigen Fürſten Wolkonski gegenüber ſeine Würde
zu bewahren, und behandelte die deutſchen Schauſpieler
nicht mehr als Stiefkinder. Gagarin war ſtreng, aber
gerecht und einſichtsvoll. Einzelne Widerſpenſtige, die
den ſeit Jahren gewohnten bequemen Schlendrian ungern
verbannt ſahen, wußte der Fürſt auf feine und liebens¬
würdige Art zu verſöhnen. Er beſtimmte nämlich, daß
bei den vom Frühherbſt bis zur Faſtenzeit in jeder Woche
üblichen Benefizen jede ſolche Vorſtellung in derſelben
Woche wiederholt werden mußte, ehe das nächſte Benefiz
an die Reihe kam. Auf dieſe Art zwang er die Trägen
und Böswilligen, wenn ſie nicht den Vortheil ihres
eigenen Benefizes verſcherzen wollten, mitwirkend ein¬
zugreifen.


Das Publikum hatte auch Vortheil von dieſer Neue¬
rung und war dankbar dafür. Es ſah ſo in jeder Woche
ein neues Stück, oder ein älteres beliebtes gut einſtudirt,
und die Wiederholung deſſelben. Es ging wirklich, wie
die Franzoſen ſagen: »comme sur les roulettes!«


Auch die ruſſiſchen Choriſten und Tänzerinnen, die
in manchen Stücken mitzuwirken hatten, die Maſchiniſten
und ſonſtige ruſſiſche Theaterbeamte zeigten ſich mir
[202] gegenüber gefügiger und liebenswürdiger. Ich hatte vor
drei Jahren manchen Strauß mit ihnen zu kämpfen
gehabt — und ſie in meiner Weiſe überwunden.


»Warum« (ich ſollte damals nun einmal aus den
Warums nicht herauskommen) »lachten die Tänzerinnen,«
frug ich den Balletmeiſter nach dem erſten Akt der Probe
von Prezioſa, »während meines Solos? Wenn in Berlin
daſſelbe nicht ausgelacht wurde, wird es wohl auch vor
dieſen Jüngerinnen Terpſichore's Gnade finden können.«


»Es ſind Ruſſinnen,« entgegnete derſelbe. »Dieſe
unterſtützen nicht gern die Deutſchen.«


»Ah ſo,« bemerkte ich; »deshalb ſehen auch die ruſ¬
ſiſchen Choriſten ſo verdroſſen aus und ſingen Weber's
herrliche Melodien ſo kauderwälſch und rufen ſtets anſtatt:
Heil Prezioſa, Heil der Schönen —: hil Pitschoso, hil
di schnula
! . . .«


Der Kapellmeiſter ſchob die Schuld dem Chordirektor
zu: dieſer verwies den Automaten ihr Kauderwälſch, und
während der Vorſtellung vernahm man kein Ruſſiſch-
Chineſiſch und kein Lachen der Tänzerinnen.


Dann ſchien es dem Maſchiniſten bei der Feuerſzene
im Käthchen von Heilbronn ganz gleichgültig zu ſein,
ob eine Deutſche den Hals bräche oder nicht. Er ließ
die Säule, an welche ſich Käthchen anklammern muß,
auf der Probe ſo blitzſchnell und ruckweiſe fallen, daß
ſie umſchlug. Zum Glück hatte ich mir den Vorgang
zeigen laſſen, und als ich meine Bedenken darüber äußerte,
antwortete der Maſchiniſt kaltblütig: »Nitschewo!«

[203]

»Was ſagt er?« frug ich.


»Nitschewo ſoll ausdrücken: es hat nichts zu be¬
deuten,« wurde mir erklärt.


Ich trat etwas erregt auf den Harmloſen zu:
»Mein lieber Herr Nitschewo, wenn ich dieſen Abend
bemerken ſollte, daß Sie bei der Feuerſzene nicht auf¬
paſſen, ſo gehe ich nicht auf die Brücke, und mit nichts,
d. h. ohne Käthchen, fällt dann die Säule herab. Sie
müſſen ſich dann verantworten. Empfehlen Sie aber
ihren Maſchiniſten Vorſicht an, ſo daß ich mich der Säule
anvertrauen kann, dann erhalten Sie na-wodka
(Trinkgeld zu Schnaps). Das leuchtete dem Nitschewo
ein und charmant gelangte ich von der brennenden Brücke,
ſanft mit der Säule hinabſinkend, in die Arme meines
Wetter von Strahl.


Die gedrückte Stimmung von Riga fand ich auch
in Petersburg wieder — nur in erhöhter Weiſe. Alle
Gardetruppen waren in den unglückſeligen Polenkrieg
gezogen. Viele Familien waren in Angſt um ihre Lieben.
Kaiſer und Volk, Deutſche und alle anderen in Peters¬
burg ſo zahlreich vertretenen Nationalitäten ſehnten ſich
nach dem Ende dieſes unſeligen Feldzugs.


Die Siegesnachrichten langten ſo ſpärlich an, —
und von der Feſtung wollten die Freudenſchüſſe die Ein¬
nahme Warſchau's immer noch nicht verkünden. Es iſt
ruſſiſche Sitte: jeden Erfolg der Armee durch die Kanonen
[204] der Feſtung zu annonciren. Die in dem Polenfeldzuge
ſo oft getäuſchte Erwartung der Siegesnachrichten lähmte
jeden geſelligen Aufſchwung; die ſtolze Czarenſtadt ſchien
wie in dumpfe Trauer verſunken, alles Leben ſchien da¬
raus entflohen zu ſein.


Plötzlich verbreitete ſich überdies noch das Gerücht:
die Cholera iſt ausgebrochen! Daß ſie in Riga wüthete,
war längſt bekannt. Und dann ſahen wir mit Grauſen
große grünangeſtrichene Wagen langſam von verſtört und
ängſtlich blickenden Kutſchern durch die Straßen fahren.
Wimmern, Stöhnen wurde von näher Vorbeigehenden
aus den Wagen vernommen. Man ſuchte die Bevölke¬
rung über die tägliche Zunahme dieſes fremdartigen An¬
blicks durch die ſanitätsſtatiſtiſche Auskunft zu beruhigen:
die gegenwärtige Jahreszeit liefere immer die meiſten
Kranken in die Spitäler. . . . Aber Niemand glaubte
an dieſen Grund des ſtarken Krankentransportes.


Die Theater wurden wenig beſucht, mehr aus trüber
Stimmung, als aus Furcht vor der Cholera.


Da beſuchte uns eines Tages unſer lieber Nachbar,
der deutſche Paſtor Muralt. Er begrüßte uns unge¬
wöhnlich ernſt, beinahe feierlich. Dann ſagte er: »Ich
halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzutheilen, daß die
Cholera hier längſt ausgebrochen iſt. Die Regierung
kann es nicht länger verheimlichen. Nicht nur die unteren
Schichten der Bevölkerung werden hingerafft — die
Seuche klopft bei allen Ständen an. Ich komme ſo
eben vom Sterbebett eines theuren Freundes. Haben
[205] Sie Verfügungen zu treffen? Ich komme, um Ihnen
beizuſtehen und zu rathen: nach Waſſili-Oſtrow zu
ziehen. Die Luft iſt dort reiner und Sie finden viele
Deutſche. . . .«


Plötzlich ſtürzte ein Bekannter todtenbleich in's
Zimmer, und auf dem Sopha wie ohnmächtig zuſammen¬
brechend ſtammelte er ſchaudernd: »Der arme Doktor
Seemann — — ſo zu enden. . . .«


»Was iſt geſchehen? Faſſen Sie ſich, erklären Sie
uns. . . .«


»O, Entſetzliches! Die Bauern, die berauſchten
Muſchiks, haben unter wildem Geſchrei und Toben den
Unglücklichen mit Fäuſten zu Boden geſchlagen, dann
über das Pflaſter geſchleift und in den Kanal geſtürzt
— — immer brüllend: Die Deutſchen vergiften die
Brunnen. . . . Und was war die Veranlaſſung? Doktor
Seemann kam aus dem Spital und roch an einem
Kampherfläſchen. . . .«


Wir verſtummten zum Tode erſchrocken. . . . Und
noch ehe wir Worte finden konnten, hörten wir die auf¬
geregte Stimme des Direktors Helmerſen vor der Thür:
»Der Kaiſer will es aber nicht. . . .«


Dann trat er mit Regiſſeur Barlow leichenblaß
herein und ſagte zitternd: »Zu meinem Leidweſen muß
ich Ihnen mittheilen, daß der Czaar befohlen hat, mit
den Vorſtellungen in gewohnter Weiſe fortzufahren, damit
die Furcht in der Stadt nicht noch durch Schließung der
Theater vergrößert werde.«

[206]

Barlow hatte Thränen im Auge und ſagte ſehr er¬
griffen: »Unſer trefflicher Kapellmeiſter Schreinzer liegt
an der Cholera tödtlich erkrankt; er, der geſtern noch die
Prezioſa dirigirte! Unſere beiden Theaterdiener mußten
ſoeben in's Spital transportirt werden, zwei Angeſtellte
fielen im Büreauzimmer um — — und wir ſollen fort¬
ſpielen? — Dabei ſind, wie immer im Sommer,
40,000 Muſchiks in Petersburg, und die durchziehen jetzt
wüthend die Straßen, Tod den Fremden ſchwörend —
und keine Truppen in der Reſidenz, ſie im Zaum zu
halten! . . . Der Kaiſer iſt mit ſeiner Familie in Zarskoje-
Selo und weiß ſicher nicht genau, was ſich hier zu¬
trägt. . . . Wie ſollen wir ohne Lebensgefahr nur bis
an's Theatergebäude gelangen?«


Muralt hatte aufmerkſam zugehört, dann reichte er
uns haſtig die Hand zum Abſchiede: »Ich eile zu meinem
Freund, dem Miniſter Cancrin, der ſoll ſogleich dem
Kaiſer die Wahrheit mittheilen — ſicher langt der Befehl
zum Schließen der Theater baldigſt an. . . .«


Aber der Befehl blieb aus.


Doch wunderbar gewöhnt ſich der Menſch auch an
das Schrecklichſte, wenn er es täglich vor Augen hat
und weiß: nur Ruhe und Energie kann dich retten!


Ehe man in's Schauſpielhaus fuhr, nahm man
zärtlich, aber gefaßt von den Seinigen Abſchied. Mit
Gebet und Gottvertrauen ſtieg man in den Theaterwagen
— und getroſt ging's durch wilde Bauernhaufen
und heranziehende Truppen. Es wurde nicht einmal
[207] zerſtreut geſpielt. Mit Theilnahme begegneten ſich die
Kollegen, aller Neid und alle kleinliche Kabale ſchien
beſſeren Gefühlen gewichen. Herzlich klang das »Gute
Nacht!« und »Auf Wiederſehen!« am Schluß der Vor¬
ſtellung. Die Rückkehr nach Haus war ein Feſt. . . .
Wie beſeligte die Gewißheit, ſich noch zu beſitzen! . . .


Erſt als auch zwei franzöſiſche Schauſpieler der
Cholera zum Opfer gefallen waren, kam der erſehnte
Befehl zur Schließung ſämmtlicher Bühnen, und wir
zogen hinaus auf's Land.


In Waſſili-Oſtrow lebte es ſich ganz angenehm. Die
meiſten Häuſer ſind von kleinen, ſchattigen Gärten um¬
geben. Aber die ganzen Nächte hindurch — denn bei
Tage durfte nicht mehr begraben werden — fuhren die
nicht enden wollenden Leichenzüge unter unſern Fenſtern
vorbei nach dem großen Friedhofe. Wochenlang ſtarben
in Petersburg täglich ſechs- bis achthundert Perſonen.


Nur einmal ſahen wir dieſe geſpenſtiſche Leichenfahrt
mit an. Vom Mond beleuchtet fuhren ſtolze Karoſſen
vorüber, quer durch die Fenſter ein — Sarg geſtellt. . . .
Elegante Droſchken waren mit Särgen beladen — da¬
zwiſchen plumpe Karren und Möbelwagen mit ganzen
Ladungen von Särgen . . . denn woher ſo viele Leichen¬
wagen nehmen: auf das damals nur zu wüſte, ſchaurige,
große Petersburger Leichenfeld dieſe furchtbar reiche Ernte
des Todes zu führen?! — Popen begleiteten die Ver¬
ſtorbenen, — weiter Niemand: kein leidtragender Ver¬
wandter oder Freund! . . . Kein Tuch trocknete Thränen
[208] — kein Schluchzen unterbrach das dumpfe, eintönige
Rollen der Todtenwagen. . . . Raſch, geheimnißvoll ſchlang
ſich der unüberſehbare Zug dem Kirchhofe zu, und eiligſt
wurden Hohe und Niedrige, Reiche und Arme in weite,
gemeinſchaftliche Gruben verſenkt und mit Kalk über¬
ſchüttet. . . .


Beim erſten Morgengrauen, wie im Hamlet, wenn
ſein Vater das markerſchütternde »Ade! Ade! Gedenke
mein!« ruft, verſtummte das dumpfſchaurige Getön, ver¬
ſchwanden Wagen und Geſtalten. . . . Man konnte andern
Tages wähnen, geträumt zu haben. . . . Man athmete
auf — — bis zur nächſten Mitternachtsſtunde, wo ſich
dieſer grauenhafte Spuk wiederholte. . . .


Und dazu immer vergebliches Hoffen der Ruſſen auf
die Siegesnachricht von der Erſtürmung Warſchau's —
auf Frieden!


Ein noch trüberer Schleier legte ſich über Peters¬
burg, als Großfürſt Konſtantin begraben wurde. Wer
dieſes Leichenbegängniß mit anſah, hat es ſicher nie wieder
vergeſſen. Es regnete; die Popen in den langen Röcken
und plumpen Stiefeln ſchleppten ſich ſchwerfällig dem
Leichenwagen nach. Der Kaiſer erſchien mit ſeiner Suite
zu Pferd; ſein Geſicht war marmorblaß und kalt. Eine
Menge Volks ſah gleichgültig den Bruder ſeines Czaren
beſtatten. . . .


Man hatte Konſtantin in Petersburg nicht geliebt,
darum betrauerte man ihn auch nicht. Er hatte dem
Thron entſagt, um die Erwählte ſeines Herzens heirathen
[209] zu können — die geiſtvolle, zauberſchöne, ſanfte Polin,
Gräfin Johanna Grudczinska, die Kaiſer Nikolaus zur
Fürſtin von Lowicz erhob. Gewiß zeugt dies von Leiden¬
ſchaft und Energie — aber in dieſer Energie und Leiden¬
ſchaftlichkeit war er ein Deſpot — oft bis zur Grauſam¬
keit. Seine angebetete Gemahlin, ſie, die ſich ihm opferte,
um der Schutzengel Polens zu werden, war bitter ent¬
täuſcht. Bald von ihren Landsleuten, bald von den
Ruſſen mißtrauiſch beobachtet, konnte ſie nur ſelten das
Herz ihres Gemahls zur Milde ſtimmen — für das arme,
unglückliche Polen, deſſen Vizekönig er war. Konſtantin
hatte beim Ausbruch des Polenaufſtandes aus Warſchau
fliehen müſſen — nur mit Mühe war er der Gefangen¬
ſchaft entronnen. . . . Und doch war Konſtantin ſtolz auf
die Tapferkeit von Johanna's Landsleuten. Auf ein
ſtolzes ruſſiſches Wort: »Die armſelige polniſche Armee
wird bald zu Paaren getrieben und Warſchau erobert
ſein . . .« antwortete er mit ironiſchem Lachen: »Meint
Ihr? Wartet nur ab, wie meine tapferen Polen
ſich ſchlagen werden. . . .«


Die Polen, dieſe von den Ruſſen ſo gehaßten und ge¬
fürchteten »Rebellen« nannte der Bruder des Czaren ſtolz
»ſeine tapferen Polen«. . . . Welch' eine Aufgabe für
einen Pſychologen, Konſtantin's Charakter zu entziffern!


Nach fünf Monaten ſtarb auch Johanna Grudczinska.
Fern vom geliebten Vaterlande fern von Verwandten
und Freunden, einſam, verlaſſen, vergeſſen, ſtarb ſie dem
Gemahle nach, der ſie trotz aller Tyrannei — — heiß
Erinnerungen ꝛc. 14[210] geliebt hatte! Wohl ihr, daß ſie eine gläubige Chriſtin war,
eine ſtrenge Katholikin, ſonſt hätte Wahnſinn ſie erfaſſen
müſſen — bei all' dem Furchtbaren, was ſie gelitten!


Die Dichter ſuchen ſo oft nach Stoffen für Tra¬
gödien. . . . Sollte das Schickſal dieſer Märtyrerin nicht
eine dankbare Aufgabe für die Feder — die Phantaſie
— — das Herz eines dramatiſchen Schriftſtellers ſein?


Auch das Begräbniß des Großfürſten wurde ver¬
geſſen, die Cholera ließ nach in ihrem Wüthen und die
Theater wurden wieder geöffnet. . . . Und eines Tages
verkündeten Kanonenſalven von der Feſtung aus auch —
die Einnahme Warſchau's! Endlich!


Das geſellige Leben bewegte ſich wieder in gewohnter
froher und geräuſchvoller Weiſe, die Theater wurden
mehr denn je beſucht — — und Ueberraſchung, ja Er¬
ſtaunen erregten die ſonſt ſo wenig beachteten deutſchen
Vorſtellungen! Ein reiches Repertoir wurde entfaltet.
Emilie Galotti, König Enzio, Eliſe von Valberg, Pauline,
Schein und Sein, Der Müller und ſein Kind, Die
Braut vom Kynaſt, Die Lichtenſteiner, Marie Louiſe
von Orleans, Friedrich Auguſt in Madrid, Pfefferröſel . . .
alle damals neuen und gern geſehenen Luſtſpiele wurden
mit Luſt und Leben dargeſtellt. Nach Verlauf eines
Jahres konnte Fürſt Gagarin einen Ueberſchuß aufweiſen,
— den erſten von den kaiſerlichen Bühnen in Petersburg
überhaupt, und zwar — vom deutſchen Theater erzielt.


Hätte der Hof nur einige Male die Vorſtellungen
mit ſeiner Gegenwart beehrt, die vornehmen ruſſiſchen
[211] Familien würden gefolgt und ein noch erfreulicheres
Reſultat erzielt worden ſein. Es ſcheint, daß der Ein¬
druck der früheren Leiſtungen der deutſchen Schauſpieler
die kaiſerliche Familie ſo nachhaltig abgeſchreckt hatte,
daß ſie ſich die Erneuerung eines derartigen Genuſſes gern
verſagte. Niemand fand das begreiflicher, als ich, wenn
ich an den unglückſeligen »Mann im Feuer« von anno
1828 zurückdachte. Ich wurde daher förmlich überraſcht,
als bei meinem zweiten Benefiz der Kaiſer und die Kaiſerin
in der Hofloge erſchienen und Fürſt Wolkonski mir nach
dem erſten Akt von »Friedrich Auguſt in Madrid« ein
reiches goldenes Stirnband, mit einem funkelnden Edel¬
ſtein geſchmückt, im Namen der höchſten Herrſchaften
überreichte. Uebrigens mußte auch ſchon das Lokal allein
den Hof abſchrecken, denn nichts weniger als einladend
war das ſchmutzige, dunkle Circustheater. Die deutſchen
Schauſpieler fühlten ſich wie aus einer Verbannung er¬
löſt, als auch ſie im großen, prachtvollen Alexandra¬
theater und ſpäter im wunderhübſchen, eleganten Michael¬
theater gleich der ausgezeichneten franzöſiſchen Truppe
ſpielen durften.


Die Kaiſerin Alexandra hatte mich gleich nach meinem
erſten Debüt zu ſich rufen laſſen und mich in unvergleich¬
lich huldvoller Weiſe bewillkommt. Es iſt unmöglich,
impoſanter und doch zugleich anmuthiger auszuſehen,
graziöſer zu gehen und zu grüßen, als dieſe Fürſtin da¬
mals erſchien. Wenn ſie tanzte, überſtrahlte ſie, wie
ich einige Mal Gelegenheit hatte zu beobachten, die jüngſten
14 *[212] und blühendſten Schönheiten. Obgleich groß und ſtatt¬
lich, ſchwebte ſie dahin wie eine Feenkönigin. Kaiſerin
Alexandra hatte von ihrer Mutter, der Königin Louiſe,
nicht nur die Majeſtät, auch die bezaubernde Lieblichkeit
geerbt, wie die Berliner mit Stolz von ihrer Königs¬
tochter ſagten. — Ich wagte die Kaiſerin bei jener Au¬
dienz zu fragen: ob nicht auch das arme deutſche Theater
bald auf die hohe Ehre eines Beſuches hoffen dürfe? Da
erwiderte ſie gar holdſelig und echt deutſch gemüthlich:
»Ach! für mein Leben gern würde ich Sie als Käthchen
von Heilbronn ſehen, aber« — fügte ſie lächelnd hinzu
— »die andern Damen ſind in dem Stück gewiß gar zu
komiſch; ich kann nicht vergeſſen, wie dieſelben das Taſchen¬
tuch halten. . .« Dabei ſtreckte ſie den Arm ſteif von ſich,
faßte ihr Batiſttuch zimperlich an, ſchlug die Augen nieder
und machte ein ſo landfräuleinartiges Geſicht und ſchien
ſo vergnügt über ihre Nachahmungskunſt, daß ich alle
Mühe hatte, ernſt zu bleiben, und die Kaiſerin bewun¬
dernd anblickte.


Man erzählte ſich in Petersburg gern und mit Stolz:
Nikolaus ſei ſeiner Gemahlin innigſt und treu ergeben;
er wüßte ihren Charakter, Geiſt und ihre Anmuth zu
würdigen, Alexandra ſei ſeine erſte Liebe und noch immer
ſein angebetetes Ideal. Dabei wurde dann gewöhnlich
herzlich gelacht und geſpöttelt über jene Frauen, die ſich
bemühten, den Kaiſer in ihre Netze zu ziehen. So wurde
mir einſt die ſchönſte Frau Petersburgs, die junge Frau
eines alten Generals, gezeigt und dabei erzählt, die
[213] Generalin habe einſt dem Kaiſer beim Tanzen zärtlich zu¬
geflüſtert: »O, wie glücklich bin ich, Majeſtät, mit dem
ſchönſten Manne des Kaiſerreichs tanzen zu dürfen« . . . und
Nikolaus habe ihr kalt erwidert: »Madame, ich bin nur
für meine Frau ſchön. . .« Wenn auch der Czar ſeine
Huldigungen der Schönheit und Jugend nicht verſagte, ſein
Herz blieb ſeiner Gemahlin, und Eiferſucht ſoll Kaiſerin
Alexandra nie gezeigt haben.


Als Charlotte von Hagn, meine Nachfolgerin an
der Berliner Bühne, die jetzige Frau von Oven, 1833
am deutſchen Theater in Petersburg gaſtirte, beſuchten
der ganze glänzende Hof und die erſten Familien der
Reſidenz die deutſchen Vorſtellungen fleißig, ja, Stock¬
ruſſen bemühten ſich oft vergebens um Plätze.


Um während dieſes Gaſtſpiels die Aufführung einiger
klaſſiſcher Stücke zu ermöglichen, übernahm ich gern ſo¬
genannte zweite Rollen. In Kabale und Liebe ſpielte
Fräulein von Hagn die Louiſe, ich Lady Milfort, in
Don Carlos war ſie Eboli, ich die Königin, ſie gab Eliſe
Valberg, ich die Fürſtin. Sogar in dem kleinen Luſt¬
ſpiel »Die Papageien« ſpielten wir zuſammen. Der
Kaiſer hatte nämlich befohlen, der von der franzöſiſchen
Geſellſchaft gegebenen Tragödie: »Le Duc de Guise«
ſolle ein kleines deutſches Luſtſpiel vorangehen, in dem
Charlotte von Hagn und ich zwei gleich bedeutende Rollen
hätten — es war faſt, als ſollten wir vor den kaiſer¬
lichen Augen ein olympiſches Wettſpiel beginnen. Es
war nicht leicht, in zwei Tagen ein paſſendes Stück zu
[214] wählen und einzuſtudiren. Stücke gab's wohl in Hülle
und Fülle — aber es fehlte entweder die eine oder die
andere kaiſerliche Bedingung: die einaktige Kürze oder
zwei erſte Damenrollen! Da entſchieden wir uns für
Kotzebue's »Papageien« — ein unendlich harmloſes Stück,
das aber — lebendig geſpielt — eine ſehr erheiternde
Wirkung übt. Der Inhalt des jetzt längſt vergeſſenen
Stückes iſt kurz dieſer: Eine Mutter glaubt in ihrem
Leben und in ihrer Ehe große Urſache gefunden zu haben,
die böſen, böſen Männer zu haſſen. Damit nun ihr
Töchterlein nicht dieſelben traurigen Erfahrungen macht,
ſoll ſie die Männer — gar nicht kennen lernen. Zu
dieſem Zwecke hält die Mama das Töchterchen nebſt Ge¬
ſpielin von früheſter Kindheit an hinter Schloß und
Riegel. Die beiden jungen Mädchen verbringen ihre
Tage damit, in einem von hoher Mauer umſchloſſenen
Parke ſpazieren zu gehen, Vögel zu ſchießen und gar
poſſirlich zu plaudern: über die unbekannte Welt hinter
jener Mauer — voll lauter Frauen. Aber eines ſchönen
Tages ſteigen bei Gelegenheit einer Jagd zwei Offiziere
in ihren bunten Röcken über die Gartenmauer — ſehen
die jungen Mädchen und verlieben ſich natürlich ſterblich
in ſie. Entſetzt fliehen die Fräulein vor dieſen unbe¬
kannten Raubthieren — — bis die Offiziere ſich ihnen
als zwei — Papageien vorſtellen. Zum Glück haben die
Dämchen in der Naturgeſchichte gelernt, daß Papageien
ganz unſchuldige Vögel ſind und oft recht ergötzlich zu
plappern verſtehen. Das giebt ihnen Muth, ſich den
[215] hübſchen bunten Papageien zu nähern und. . . bald finden
ſie ſogar recht großen Geſchmack an dem Papageien¬
geplapper und den allerliebſten Thierchen in Röcken von
zweierlei Tuch. . . . Das Uebrige ergiebt ſich von ſelbſt!


Ja, Kotzebue war doch bei aller anſcheinenden Harm¬
loſigkeit ein großer — Satyriker!


Der Kaiſer hatte mit ſeiner Gemahlin die Pro¬
ßeniumsloge im Michaeltheater inne, alſo kaum zwei
Schritte von uns Spielenden entfernt.


Charlotte von Hagn hatte als Partner einen ſehr
hübſchen jungen Papagei, den jugendlichen erſten Lieb¬
haber Weiland, — ich aber mußte mit dem ſchwerfälligen,
dicken Barlow fürlieb nehmen. Weiland trippelte ſehr
graziös vor und bewegte die Arme gleich Flügeln ganz
charmant, — als aber mein Papagei vortrappte — die
kurzen, dicken Arme ſteif ausgeſtreckt — die großen Augen
tragiſch aufreißend. . . da — ſchrie die Kaiſerin vor Lachen
hell auf . . . und ich hörte ſie hinter ihrem Tuche dem
Kaiſer zuflüſtern: »Maisc'est pour en mourir de
rire!
Barlov est par trop comique. . .«


Papagei Weiland nahm das ihm von der Hagn in
den Mund geſtopfte Biscuit ganz zierlich — mein Barlow
riß es mir förmlich aus den Händen und verſchlang es
heißhungrig, heftig mit den Flügelarmen dazu ſchla¬
gend . . . ſo daß unſer Geplauder minutenlanges, hauser¬
ſchütterndes Lachen unterbrach. Die Hagn und ich füllten
die Pauſe ganz ernſthaft mit dem Füttern unſerer Papa¬
geien aus . . . was dann wieder neues Gelächter erregte.


[216]

Der Duc de Guise — empfand die Nachwirkung
dieſer Heiterkeit, — denn das Publikum, das ſo reichlich
Lachthränen geweint, hatte keine Rührungsthränen mehr.


Mlle. Bourbier, erſte franzöſiſche Liebhaberin, ſagte
ſchmollend zu mir: »Ce sont vos perroquets qui nous
ont gâté — notre tragédie.«


Unſere Koſtüme in dieſen Rollen bildeten lange Zeit
das Tagesgeſpräch in Petersburg: kurze, weiße Mouſſelin¬
röcke, hellgrüne Atlasſchuhe mit zierlichen Kreuzbändern,
hellgrüne, enganliegende Amazonenſpenzer mit Stahl¬
knöpfen, weiße Kravatten und Manſchetten, runde, kleine
Baſthüte, mit lang herabwallenden grünen Federn keck
auf einem Ohr; das Haar geſcheitelt, die Zöpfe in griechiſche
Knoten geſchlungen; Jagdtaſchen um und Flinten in der
Hand. — Dazu reizende Walddekoration . . . genug, wir
hatten trotz der kleinen Rollen und des dummen Stückes
Heiterkeit und — Furore erregt.


Eines anderen Gaſtſpiels an unſerer Bühne muß
ich etwas ausführlicher gedenken — wegen ſeiner traurigen
Folgen für den liebenswürdigen Künſtler. Ich ſollte hier
zum erſten Mal in meinem Leben die bange Erfahrung
machen: daß ein zu reiches und zu plötzlich ausgeſchüttetes
Glücksfüllhorn für das trunkene Menſchenherz und den
armen ſchwindelnden Kopf oft gefährlicher iſt, als der
härteſte Schickſalsſchlag!


[217]

Unſer Direktor vom deutſchen Hoftheater Herr v.
Helmerſen überraſchte mich Mitte Mai 1833 mit der
frohen Nachricht: daß einer der berühmteſten Mimen
Berlins, Wilhelm Krüger, im Juni zum Gaſtſpiel ein¬
treffen würde. Helmerſen bat mich zugleich in ſeiner be¬
kannten klettenhaft inſtändigen Weiſe: doch noch vor der
Ankunft des Gaſtes ſo und ſo viele bedeutende Rollen
einzuſtudiren, denn ich müſſe jeden Abend mit ihm auf¬
treten, da die zweite Liebhaberin, Fräulein Gerſtel, trotz
Anmuth und Talent unmöglich in den Trauerſpielen des
hauptſächlich klaſſiſchen Repertoirs die erſten Rollen über¬
nehmen könne.


Das war wirklich für die Mutter und mich eine
frohe Botſchaft! Denn wir ſchätzten Krüger nicht nur
als geiſtvollen, hochbegabten Schauſpieler — ſondern er
war uns in den fünf Jahren meiner Berliner Bühnen¬
thätigkeit ein gar lieber Freund und ich ſogar — ſeine
Gevatterin geworden, die Pathin ſeines Töchterchens!


Schier zum Entſetzen des ſehr pedantiſchen Direktors
jubelte ich in meiner Freude auf: »O, wie will ich meinen
lieben Gevatter unterſtützen! Nun ſollen die Petersburger
erſt ſehen, was ich zu leiſten vermag, mit einem edlen
Künſtler wirkend! Nun kann ich herrliche, längſt erſehnte
Aufgaben löſen — unabhängig von der Laune unſeres
erſten Liebhabers, der bald gut, bald ſchlecht ſpielt und
oft ſo unerquicklich chikanirt. . . O, Herr Direktor, Sie
ſollen mal meinen Gevatter als Wetter von Strahl ſehen
und mich als Käthchen von Heilbronn! Das iſt ein
[218] ander Ding, als mit unſerem Herrn Wiebe, der die
Hollunder-Schlummerſzene mit ſpielt. . .
Und was hatte der geniale Trotzkopf, als er mir nach
vielem Bitten verſprochen, die unglückſeligen eiſernen
Hände das nächſte Mal wegzulaſſen, für dieſes Opfer
auskombinirt? Mit dem Helm auf dem Starrkopf trat
er zum ſchlummernden Käthchen — noch dazu mit einem
Stahlhelm, deſſen Viſir nicht pariren wollte. . .


»Käthchen, ſchläfſt Du?«


»Nein, mein hoher —« klipp — das »Herr« über¬
tönend.


»Und doch haſt Du die Augenlider« — klapp. . .


»Da blinzelte ich ein wenig zum Sprechenden hinauf
und ſah zu meinem Entſetzen: meinen geliebten Wetter
von Strahl mit — geſchloſſenem Viſir über mich gebeugt. . .


Während ich antwortete: »Die Augenlider — hoher
Herr?!« — ſchob Wiebe ganz gelaſſen das rebelliſche
Viſir in die Höhe und fuhr fort:


»Wo biſt Du denn, mein Käthchen . . .« klipp! —
raſſelte es abermals. . .


Verzweiflungsvoll flüſterte ich: »Helm weg!«


»Sie meinen?« wiſperte der Entſetzliche mit größter
Ruhe —


»Helm weg!« wiederholte ich deſperat, »oder ich
erhebe mich und gehe ab!«


Da marſchirte Wiebe langſam — nonchalant, als
ob er ſich in ſeiner Wohnſtube befände, in die Couliſſen
und kehrte gemüthlich ohne Helm zum Hollunderbuſch
[219] zurück, — und auf ſein abermaliges: »Wo biſt Du
denn?« — konnte ich, vor Alteration zitternd und faſt
weinend, kaum erwidern: »Auf einer ſchönen grünen
Wieſe, wo Alles bunt und voller Blumen iſt. . .


»Können Sie es mir verdenken, Herr Direktor, daß
mir das Käthchen ſeitdem verleidet iſt?«


Dann erſt brachte der vor meiner frohen Aufregung
faſt erſtarrte Helmerſen einen Brief der Frau Krüger an
die Mutter zum Vorſchein. Sie las folgende Stelle vor:
»Sie, theure Freundin, ſind ſchon heimiſch in der ſtolzen
Czarenſtadt. Stehen Sie Krüger mit gütigem Rath bei,
und Karoline bitte ich herzlich, etwas von ihrem Froh¬
ſinn auf ihren Gevatter, der ſeit einiger Zeit von quä¬
lenden Grübeleien und Schwermuth bedrückt iſt, zu über¬
tragen. Ich und bewährte Freunde drängten Krüger
zu dieſer Reiſe, in der Hoffnung, ſie werde ihn zerſtreuen
und erfriſchen. Mäßige Anerkennung ſeiner Leiſtungen,
ſo viel Gewinn, um die Koſten zu decken — das iſt
Alles, was Krüger erwartet und was ihm gut thun
würde. . .«


»An den rührend beſcheidenen Anſprüchen erkenne
ich unſern Freund,« rief ich ergriffen, — »und doch
iſt Krüger ein wahrer, edler Künſtler! Nur Geduld,
Herr Gevatter — glänzend ſoll ſich Alles geſtalten, in
jeder Einſicht, nicht wahr, Herr Direktor?«


Der nickte etwas automatenhaft.


»Krüger ſoll mit uns zu Mittag eſſen, Lina,« ſagte
die Mutter, »damit er ſich in den unheimlichen Hotels
[220] nicht verlaſſen fühlt. Du fährſt dann im gleichen Wagen
mit ihm zur Probe und zu den Vorſtellungen . . .«


»O, es wird eine frohe, glückliche Zeit . . .« jubelte
ich fort.


Da trat der Theaterdiener in's Zimmer und über¬
reichte mir ein mächtiges Packet nebſt der Liſte ſämmt¬
licher darin befindlichen neuen Rollen, mit der Bitte, zu
unterſchreiben . . . Signé! — hieß: ich werde gerüſtet ſein!
Doch etwas beklommen gab ich dem Boten die mündliche
Antwort: die Quittung werde Herr von Helmerſen er¬
halten. . .


Meine Beklemmung verminderte ſich auch nicht, als
ich »le revers de la Médaille« erſt vollſtändig erblickt
hatte. . .


»Iphigenie! — Unmöglich, Herr Direktor! In wenig
Wochen ſoll ich die ſchwerſte aller Rollen einſtudiren?
Das überſteigt meine Kräfte!. . .«


»O, nur den zweiten und dritten Akt hat Krüger
zu ſpielen gewünſcht,« beſchwichtigte der alte gute Herr, —
»zugleich mit dem Drama »Der Paria« ſollen dieſe den
Abend füllen . . .«


»Dann iſt es auszuführen« — athmete ich auf.


Im Paria hatte ich Alexander Wolff mit Mad. Stich
in Berlin hinreißend ſpielen ſehen. Wie erſchütterte dieſes
einaktige Drama, — beſonders am Schluſſe, wenn die
Hüttenwand zerſtört iſt und der Bramine erſcheint und
frägt: »Wo iſt das Opfer?!« und die ſchaurige Antwort
lautet: »Zwei für eines! . . . Und dann ſcheint die ſtrah¬
[221] lende Sonne Indiens in die dunkle Hütte und beleuchtet
den Paria mit ſeiner Geliebten. . . Beide todt!


»Ophelie im Hamlet,« las ich weiter von meiner
Liſte. . . .»Nun, die »Ophelia« mag in Gnaden paſſiren,
die erfordert kein übermenſchliches Studium. Hat doch
Tieck ſchon geſagt: »Ob Ophelia ihre Wahnſinnsſzenen
lieblich mit Blumen geſchmückt oder grauſenerregend mit
ſchwarzem Schleier und Strohkranz ſpielt — Beifall
ertönt ſtets. . .« Und in den erſten Akten hat noch keine,
ſelbſt die gefeiertſte Künſtlerin, Lorbern gepflückt . . .
Herr Direktor, iſt Ihnen etwa klar geworden, was
Shakeſpeare meint, wenn er Ophelia ſprechen läßt: »Die
Eule iſt eines Bäckers Tochter? . . .«


»Gott bewahre mich in allen Gnaden,« entſetzte ſich
Helmerſen. . .


»Rrrrr! Eine andere Rolle: Bertha! — Ahn¬
frau! . . . Ah! willkommen traute Erinnerung meines
kindlichen Entſetzens! Wie gefiel dieſes ſo bitter getadelte
Trauerſpiel in Karlsruhe, als Mad. Neumann, kaum
achtzehn Jahre alt, die Bertha ſpielte! Die berühmteſten
Gaſtſpielerinnen in Karlsruhe, ſelbſt Frl. Pfeiffer aus
München (ſpäter Mad. Birch), vermochten nicht die holde
Amalie Neumann zu verdunkeln. . . Bei Charlotte Pfeiffer
ſtörte beſonders die koloſſale Geſtalt, ihr unſchöner Kopf,
ihr tiefes, mächtiges Organ — ſo bei der weichen, ele¬
giſchen Stelle:

Wohin ſeid ihr, gold'ne Tage,

Wohin biſt du, Feenland!
[222]
Wo ich ohne Wunſch und Klage

Lebte an der Unſchuld Hand?

Wo ein Hänfling meine Freude,

Eine Blume meine Luſt. . .

Wenn nur, Herr Direktor. . .«


»Nun?« — frugen Helmerſen's waſſerblaue, ſtets
verwunderungsvoll blickende Augen.


»Ja, wenn nur unſer dicker Barlow als Graf Bo¬
rotin ſich nicht etwas Ungeheuerliches ausdenkt, beſonders
während des Todeskampfes!. . . Wahrhaftig, ich würde
ihn nicht wieder vom Erſticken retten, wie vor drei Jahren
in Romeo und Julie. . . Ich habe zu furchtbare Angſt
ausgeſtanden. . .«


Barlow und ich hatten nämlich verabredet, nach dem
Vorgang von Mad. Stich und Alexander Wolff in Berlin,
im letzten Akt eine Gruppe nach einem berühmten Ge¬
mälde zu bilden. Julia ruht im Sarge, welcher auf
einer Erhöhung von ſieben oder acht Stufen ſteht. Nach¬
dem Romeo die Geliebte zum letzten Male umarmt hat,
tritt er einige Stufen zurück, nimmt das Gift und ſtürzt,
unter Qualen ſeine Seele aushauchend, den letzten Blick
auf ſeine Gattin geheftet, am Sarge nieder, ſo daß der
ſich anlehnende Körper von demſelben geſtützt wird. Die
erwachte Julia kniet dann nach der Flucht Lorenzo's bei
ihm hin, erſticht ſich und ſtirbt, ihr Haupt an Romeo's
Bruſt geneigt. Die Väter erſteigen die Stufen und
reichen ſich zur Verſöhnung die Hände über der Gruppe
Romeo's und Julia's.


[223]

Nach dem über Erwarten gelungenen vierten Akt,
der großen Aufgabe der Giftſzene (ich ſpielte die Rolle
zum erſten Male), lag ich ganz vergnügt in der Nähe
des grimmigen Thybald in der Gruft, mit ſtiller Vor¬
freude auf die Wirkung des maleriſchen Schlußtableaus.


Romeo nahm Abſchied, ich hörte ihn die Stufen
hinabſteigen, — wunderte mich aber, daß, wie in der
Probe, das Gerüſt nicht vom fallenden Körper Barlow-
Romeo's erzitterte. Lorenzo kommt, ich erwache mit der
Frage: »Und wo iſt mein Gemahl?« ꝛc. und vernehme
die Schreckenskunde: »Dein Gatte liegt zu Deinen Füßen
todt!« . . . Ich ſoll als Julia aufſchreien, ihn entſeelt
erblickend; — ich ſchreie, ſehe aber keinen Romeo. Ich
bemerkte wohl, daß Lorenzo mich die Stufen herabziehen
wollte, hielt es aber für ein fein kombinirtes Spiel, um
mich dem Schreckensort des Todes zu entreißen . . . Lorenzo
flieht. Ich fahre fort: »Geh' nur, entweich'! denn ich
will nicht von hinnen!« und »Was iſt das? ein Fläſchchen
feſt in meines Liebſten Hand? Gift, ſeh' ich wohl, war
ſein voreilig Ende.« Ich ſuche den Gatten, er iſt nir¬
gends zu erblicken — nicht rechts, nicht links, nicht auf,
noch vor den Stufen. . . Ich muß ihn aber doch ſehen,
muß mich mit dem an ſeinem Gürtel befeſtigten Dolche
tödten, wenn das Stück enden ſoll. . .


Ich ſteige alſo die Stufen hinab, gehe einen, zwei
Schritte vorwärts, nach Romeo überall umherblickend,
indem ich die Pauſe mit verzweiflungsvollem Händeringen
auszufüllen ſuche . . . kein Romeo zu ſehen! Ich trete ver¬
[224] wirrt noch einige Schritte vorwärts — und erblicke endlich
den Geliebten nicht weit vom Souffleurkaſten auf dem
Rücken liegend, Kopf abwärts und die Füße mir zuge¬
wendet, mit weit aufgeriſſenen Augen und purpurrothem
Geſicht. . . Der ganze Hergang wurde mir augenblicklich klar.


Barlow hatte (unſere Verabredung verſchmähend),
um größeren Effekt hervorzubringen, der Länge nach kopf¬
über ſtürzen wollen, dabei aber total vergeſſen, daß der
Fußboden, wie bei jeder Bühne, ziemlich abſchüſſig iſt. Der
dicke, um ſchlanker zu erſcheinen, ſtark geſchnürte Mann
lag, dem Erſticken nahe, da, und ich kam noch gerade
rechtzeitig, um dieſe Strafe von ihm abzuwenden, oder
ihn zu zwingen, durch ſein Aufſtehen die herrliche Tra¬
gödie als Luſtſpiel enden zu laſſen. — Einen Augenblick
ſtarrte ich dieſen furchtbaren Romeo wie das Haupt der
Meduſa an, warf mich dann neben ihm nieder, ſeinen
Kopf aufhebend und ihn zärtlich im Arm behaltend.
»Sie retten mich vom Tode!« — flüſterte er mir in
dem ihm eigenen tragiſchen Pathos zu. Es war keine
leichte Aufgabe für mich, den ehrlichen dicken Jovis- —
oder richtiger Boviskopf ſo lange zu ſtützen, bis die lieben
Väter ſich verſöhnt hatten — denn man muß gütigſt
berückſichtigen, daß ich mich inzwiſchen ſelber erdolcht hatte.
Und dabei wollte mir mein Romeo während dieſer Schlu߬
ſzene und in dieſer verzweifelten Situation ſeine Todes¬
qualen ſchildern — aber meine Geduld und meine —
Ernſthaftigkeit waren zu Ende. Ich kniff den todten
Romeo nicht gerade ſanft in den fetten Hals und flüſterte
[225] donnernd: »Still! oder ich laſſe Ihren Kopf fallen . . .«
Das half augenblicklich. Romeo verſtummte. —


Doch kehren wir zu unſerem echauffirten Direktor
zurück!


»In Erinnerung der ausgeſtandenen Qualen von
anno 28 wird Barlow diesmal hoffentlich ohne Prä¬
tenſion ſterben,« meinte lächelnd die Mutter.


»Sicher!« ſtimmte Helmerſen bei; »um ſo mehr,
da Ihro Majeſtät die Kaiſerin ſchon geäußert: ſie wolle
der Vorſtellung beiwohnen.«


»Dann — ſind wir verloren!« klagte ich, »denn
Barlow wird auf noch nie Dageweſenes erſinnen, um die
Kaiſerin zu überzeugen, daß er Größeres zu ſchaffen
weiß, als der gefeierte ruſſiſche Mime — Karatygin. . .«


Leider ſollte ich — um dies hier gleich vorweg zu
nehmen — richtig geahnt haben. Im vierten Akt, als
Borotin zum Tode getroffen auf einer Tragbahre ruht
und vom alten Räuber erfährt, daß der Bruder Bertha's,
ſein verloren geglaubter Sohn, ihn verwundete . . . richtet
der ſterbende Barlow ſich zur lauten Verwunderung
des ganzen Hauſes hoch auf, und — wie der Koloß von
Rhodus — auf der Bahre ſtehend ruft er mit Donner¬
ſtimme: »Widerrufe!« — und beim zweiten »Widerrufe!«
ſtürzt er gleich der vom Blitz getroffenen Eiche zuſammen.


Durch die Schwere ſeines Körpers kippte die Trag¬
bahre ſammt dem Letzten des Stammes vollſtändig um —
— und das ſchallende, anhaltende Gelächter des beluſtigten
Publikums zwang mich, erſt nach mehreren Minuten aus
Erinnerungen ꝛc. 15[226] der Ohnmacht zu erwachen. Sogleich bemerkte ich zu
meiner Beruhigung, daß man meinen Vater klugerweiſe
wieder auf die Tragbahre placirt hatte, und ich den
Monolog ohne Gelächterbegleitung zu Ende bringen konnte.
Nebenbei gewahrte ich auch, wie Helmerſen hinter der
Szene neben dem erſtarrten Gevatter Jaromir verzweif¬
lungsvoll die Hände rang, — denn er hatte von ſeinem
Platz aus ſehen können: — wie die Kaiſerin das Taſchen¬
tuch vor's Geſicht hielt und vom Lachen überwältigt —
die Loge verließ.


Nachdem uns Helmerſen verlaſſen, fing ich an zu
memoriren; — ich ſtudirte, repetirte mit eiſernem Fleiß,
— faſt Unmögliches hatte ich zu leiſten. Doch die Vor¬
freude: bald den lieben Freund begrüßen und mich ihm
als tüchtigere Künſtlerin im Fach der erſten Liebhaberin
zeigen zu können, half mir alle Anſtrengungen und Be¬
denken überwinden.


Krüger's erſtes Debüt war der Hamlet — ich gab
die Ophelia nach Tieck's Auffaſſung . . . und der rauſchende
Beifall des enthuſiasmirten Hauſes wollte kein Ende neh¬
men. Krüger hatte geſiegt und ſein ferneres Gaſtſpiel
ging nun mit merkwürdiger Friſche und über alle Er¬
wartung glänzend von ſtatten. Selbſt die plötzlich ein¬
getretene Hitze hielt die Petersburger nicht ab, Krüger's
Darſtellungen beizuwohnen; viele deutſche Familien ver¬
ſchoben das Ueberſiedeln in die reizenden Sommerwohnungen.


[227]

Die Kaiſerin erfreute einige Male durch ihre Gegen¬
wart Schauſpieler und Publikum. Aber die Anſtrengung
ging faſt über meine Kräfte: jeden Vormittag Probe, —
viermal wöchentlich in neu einſtudirten Rollen ſpielen . . .
und dabei die entnervende Hitze, wie man ſie ſelbſt in
den heißeſten Monaten in Deutſchland nicht kennt. Doch
die allgemeine Begeiſterung, die Beweiſe von der Dank¬
barkeit des Publikums, das Zuſammenwirken mit dem
vortrefflichen Künſtler und Freunde — ſtählten und er¬
friſchten meine Geiſtes- und Körperkräfte. Sämmtliche
Mitglieder ſchienen metamorphoſirt zu ſein, ihre ſonſt
von mir ſo oft empfundene Gleichgültigkeit war dem
regſten Eifer gewichen, — und ſelbſt unbedeutende Talente
thaten ihr Möglichſtes, um ein erquickendes Enſemble zu
ſchaffen. Ja, dieſe Epoche des deutſchen Theaters in
Petersburg war ſchön und wird mir unvergeßlich ſein.


Krüger's Benefiz: »Kaiſer Friedrich« brachte nach
Abzug aller Koſten 4000 Rubel reinen Gewinn und dem
beglückten Künſtler ein reiches Geſchenk vom Hofe. Das
große Alexandratheater war überfüllt und die Darſtellung
ſelbſt nannte Krüger — tadellos!


Die Rolle Kaiſer Friedrich II. galt als Krüger's
Triumph. — Im zweiten Benefiz: »Die Räuber« er¬
zielte Krüger gleiche Einnahme und gleichen Beifall als
Karl Moor. —


Krüger fuhr mit uns nach Hauſe zu einer Taſſe
Thee, wie gewöhnlich nach der Vorſtellung. Er war ſehr
erregt. Schon am Schluß der Räuber, als ich zu Karl
15 *[228] Moor zu ſprechen hatte: »Ich kann von Dir Engel nicht
laſſen . . .« und Karl mich erdolchen mußte, da zitterte
Krüger ſo heftig, daß er mich nicht in ſeinen Armen zu
Boden gleiten — ſondern fallen ließ.


Seine Lippen bebten konvulſiviſch — und markdurch¬
dringend klangen die letzten Reden.


Im Wagen bemerkten wir, daß er die Chatoulle
nicht, wie nach dem erſten Benefiz, neben ſich ſtellte, —
er hielt ſie in den Armen und drückte ſie krampfhaft an
ſich wie ein geliebtes Kind. Er ſprach wenig, reichte
uns aber öfters die Chatoulle hin, damit wir fühlen
ſollten, wie ſchwer ſie ſei.


Mein Bruder, der mir und der Mutter zu Liebe
Gouverneur bei dem jüngſten Sohn des Fürſten Waſſiltſchi¬
koff geworden war, um uns nahe zu ſein, bewillkommte
uns beim Ausſteigen. Er beglückwünſchte Krüger zu dem
neuen glänzenden Erfolge und theilte ihm mit, daß viele
vornehme ruſſiſche Familien im erſten Rang geweſen
ſeien, — da werde der dritte Gaſtrollencyclus ſicher ebenſo
brillant ausfallen. . .


Aber Krüger, ſonſt ſo dankbar für ſolche Beweiſe
der Theilnahme, hörte zerſtreut zu und nahm ſogar beim
Thee immer wieder das Geldkäſtchen in ſeine Arme, ſo
eigen wehmüthig lächelnd . . . und plötzlich fing er an
bitterlich zu weinen. . . »Was iſt Ihnen, liebſter Freund,
— was erfaßt Sie?« riefen wir erſchrocken. — »Ich
werde bald ſterben,« ſchluchzte Krüger, — »meine arme
Frau, meine unglücklichen Kinder. . .«

[229]

Bruder Louis winkte uns in's Nebenzimmer und
flüſterte: »Krügers Nerven haben gelitten — die mora¬
liſchen und körperlichen Aufregungen und Anſtrengungen
waren zu groß. Ich will ihn in ſeine Wohnung be¬
gleiten, für einen Wärter ſorgen und morgen in aller
Früh unſern Hausarzt, den deutſchen Doktor, zu ihm
ſchicken. . .«


Krüger ließ ſich willig fortgeleiten und reichte uns
die Hand zur guten Nacht! — O, wie unſäglich traurig
klang dieſes »Gute Nacht!« — Faſt taumelnd faßte er
des Bruders Arm, welcher die Chatouille trug.


Andern Morgens klingelte es heftig an der Zimmer¬
glocke, und — herein ſtürzte Krüger und überreichte uns,
in einen Foulard gebunden, Briefe von ſeiner Frau. . .
»Nehmen Sie! nehmen Sie! — es wird mich beruhigen,
dieſe koſtbaren Papiere in Ihren Händen zu wiſſen. . .« —
»War denn kein Doktor bei Ihnen?« fragte die Mutter.


»Ja wohl! er hat mich eben verlaſſen — gab mir
Pulver — forderte mich auf, in den nächſten Tagen nicht
aufzutreten . . . aber ich kann ſeinem Rath nicht nach¬
kommen, ich muß morgen Abend im Winterpalaſt den
Eckenſteher Nante ſpielen, heute die Rolle memoriren. . .«


»Um Gottes willen — melden Sie ſich unwohl,«
ſagte ich, — »mit Ihrer Gemüthsſtimmung die niedrig
komiſche Partie ſpielen — — das muß Ihre angegriffenen
Nerven vollends zerrütten. . .«


»Ich kann nicht anders — die Kaiſerin wünſcht den
Berliner Jargon zu hören, will lachen — ich muß es
[230] möglich machen. . .« Und fort ſtürzte er: blaß, verſtört,
in furchtbarer Aufregung.


Die hohen Herrſchaften amüſirten ſich wirklich ſehr
über den luſtigen Eckenſteher Nante. Krüger zeigte uns
bei Tiſch als Geſchenk des Hofes einen prachtvollen
Brillantring, vermochte aber nichts zu genießen. Er
ſprach nur — von ſeinem nahen Tode.


Wir ſchrieben nach Berlin, erwieſen ihm die ſorg¬
lichſte Pflege, konſultirten die berühmteſten Aerzte. . .
Deren Ausſpruch lautete: nur Ruhe im Kreiſe der Sei¬
nigen kann ihn retten.


Nach trübſeligen acht Tagen, die Krüger — zuſammen¬
gekauert in der Sophaecke liegend — durchweinte und
durchſeufzte, kein Troſteswort verſtehend, — mit roth¬
geweinten Augen in's Leere ſtarrend — wurde er von
einem ſicheren Manne nach Berlin begleitet.


Mir händigte er beim Abſchiednehmen ein Zettel¬
chen ein und liſpelte geheimnißvoll: »Lina — Pathin
meiner Tochter — veranſtalten Sie nach meinem Tode
hier ein Benefiz — zum Vortheil der Meinigen — und
ſagen Sie den guten Petersburgern Dank — mit meinen
Worten, die hier auf dem Zettel ſtehen. . .« Mit welcher
Wehmuth las ich dieſen Dank: »Das holde Blümlein
Vergißmeinnicht erblühet auf meinem Grabe. — Ich ſende
es Euch als Dank! Ich rufe noch von Jenſeits: —
Vergeßt mein nicht!«. . .


. . . Und Krüger iſt nie wieder ganz geneſen, ob¬
gleich er nach einer längeren Kur in Kiſſingen wieder
[231] die Bühne betrat, in den folgenden Jahren noch einmal
mit glänzendem Erfolge in Petersburg und dann in
Wien gaſtirte. In Wien befiel ihn 1836 die alte Schwer¬
muth wieder — und ſo heftig, daß er ſich penſioniren
laſſen mußte. Mit ſeiner Penſion von 1400 Thalern
ging er erſt nach Weimar und dann zu ſeinen Töchtern
nach Manheim. Obgleich er hier in den angenehmſten
geſelligen und glücklichſten Familienverhältniſſen lebte, ſo
— gab er ſich doch bei einem neuen Ausbruch unbeſieg¬
barer Melancholie 1840 ſelber den Tod.


Ich bin noch heute der Anſicht, daß Krüger — der
liebenswürdige, beſcheidene Künſtler — ein Opfer des in
Petersburg zu plötzlich, zu berauſchend über ihn ausge¬
ſchütteten Ruhms und Goldregens geworden iſt. Einen
ähnlichen Erfolg hatte er — ja hat ſelbſt Ludwig De¬
vrient nie auf ſeinen Gaſtſpielen erlebt.


Stets ſoll Krüger auch mit Dankbarkeit, mit Ent¬
zücken der Petersburger Epoche gedacht haben. Dieſe Er¬
innerung beſeligte ihn bis wenige Tage vor ſeinem Tode.


Wir haben uns nie wiedergeſehen — aber ich be¬
wahre noch heute treu und pietätvoll ſein »Vergißmein¬
nicht!«. . . und wie ich ſeiner gedenke, erzählten dieſe
Zeilen.


Welch' ein Lebenskontraſt, wenn ich jetzt hier noch
eines anderen deutſchen Kollegen gedenke, mit dem ich
in Petersburg in Berührung gekommen bin!


Im Januar 1834 herrſchte in der Czarenſtadt eine
Kälte, wie man ſich ſeit Jahren nicht zu erinnern wußte.
[232] Die ſonſt ſo belebte Reſidenz ſchien wie in Schlummer
verſunken. Sämmtliche Theater waren auf kaiſerlichen
Befehl geſchloſſen worden; Konzerte und Bälle wurden
verſchoben, denn die Vornehmen und Reichen, ſonſt
Kutſcher und Pferde nicht eben ſchonend, fühlten doch
jetzt ein menſchliches Rühren und wollten bei der grim¬
migen Kälte die Equipagen nicht ſtundenlang ihrer im
Freien harren laſſen.


Unvermeidliche Ausfahrten der Militairs, Beamten,
Geſchäftsleute u. ſ. w. wurden in bedeckten, ſorglich ge¬
ſchloſſenen Schlitten eiligſt abgemacht. Gar zu komiſch
nahmen ſich die Fußgänger mit den enormen Cache-nez
aus, und wagten ja Befreundete bei der feindlichen Tem¬
peratur uns zu beſuchen, währte das Entpuppen aus
den ſchützenden Hüllen ſtets einige Minuten. Erſchienen
dabei die Naſenſpitzen verdächtig weiß, ſo wurde, unter
Lachen, der erfrorene Theil mit Schnee eifrigſt gerieben,
um ihn wieder zu beleben.


Bruder Louis beſuchte uns, trotz der Kälte, eines
Sonntags Nachmittags. In gar gemüthlicher Stim¬
mung ſetzten wir uns zum Kaffee, denn es war gut ſein
im warmen, behaglichen Zimmer, von keiner Sorge be¬
läſtigt in der für Viele ſo ſchweren Zeit. Wir ſprachen
von der Noth der ärmeren Klaſſen. »Zum Glück iſt das
Holz in Petersburg wohlfeil und die Menſchen ſind hülf¬
reich,« ſagte die Mutter, — »hier wird Niemand ver¬
hungern noch erfrieren.« Kaum war das letzte Wort
geſprochen, als die Thürklingel heftig gezogen wurde, und
[233] nach einigen Augenblicken ſtürzte das Kammermädchen
aufgeregt mit den Worten herein: »Ein verſtört aus¬
ſehender Mann will das Vorzimmer nicht verlaſſen! Er
ſtarrt das gegebene Almoſen verwirrt an, dabei ſtam¬
melnd: »Frau geſtorben — Fräulein — Hülfe!«


Louis erhob ſich, um nach dem Eindringling zu
ſehen. Wir hörten ſprechen, ſchluchzen, aufſchreien, und
eilten dem Bruder nach. Da ſahen wir ihn, wie be¬
täubt vom Gehörten, vor einem älteren Manne ſtehen,
der auf einen Stuhl geſunken war, mit geſchloſſenen
Augen und ſchlaff herabhängenden Armen, von Beſin¬
nung und Kraft verlaſſen.


Doch wie mußte ich ſtaunen, in dem Unglücklichen
den Schauſpieler Brede zu erkennen. Im Spätherbſt
war er auf's Gerathewohl mit ſeiner Familie nach Pe¬
tersburg gekommen, auf ein Engagement nach geglücktem
Gaſtſpiel hoffend. Er mißfiel, und zweimal ſteuerten
ſämmtliche deutſche Theatermitglieder zuſammen, damit
er die Rückreiſe antreten konnte. Niemand hatte ihn
ſpäter geſehen, und man wähnte ihn bereits vor Aus¬
bruch des Winters in Deutſchland angelangt.


Der Bruder wiederholte uns, was der Unglückliche
ihm mitgetheilt: Brede wohne zur Zeit in der äußerſten
Vorſtadt, unter Stockruſſen niedrigſter Klaſſe, ſeine Frau
war niedergekommen und die Abreiſe mußte verſchoben
werden. Nach und nach habe Brede Alles verkauft und
zugeſetzt, indem er nicht gewagt, ſeine Kollegen zum
dritten Mal um Hülfe zu bitten. Geſtern ſei die Frau
[234] geſtorben, der Säugling ruhe an der erſtarrten Bruſt,
die Knaben ſchrieen vor Verzweiflung und Hunger, die
ältere Tochter ſei heute ohnmächtig zuſammengeſunken —
kein Feuer, kein Brod, kein Geld. . . . Da ſei er fort¬
geſtürzt, die deutſche Kollegin aufzuſuchen und ihr ſein
Leid zu klagen. . . . »Was iſt zu thun? Der arme
Mann verliert noch den Verſtand.«


Wir führten Brede in's Wohnzimmer, erquickten
ihn mit Kaffee und ſuchten ihn zu tröſten und zu be¬
ruhigen. Eiligſt wurde Wein, Thee, Brod, Zucker in
ein Körbchen gepackt. Louis ſuchte einen Schlitten auf¬
zutreiben und fuhr mit dem Unglücklichen nach der Woh¬
nung des Jammers, uns baldige Rückkehr verſprechend.


Ich hielt mit der Mutter Kriegsrath, was zu thun
ſei, denn oberflächliche Hülfe konnte Brede nicht retten.
Der Mann mußte die Mittel erhalten, um nach Deutſch¬
land zurückreiſen zu können. Da erfaßte mich der Ge¬
danke, unſerm lieben deutſchen Paſtor Muralt, an den
ſich jeder Hülfsbedürftige vertrauensvoll wenden durfte,
dem Schutzengel der Ausländer, Alles mitzutheilen.
»Thu' es, Lina,« rief die Mutter, »man weiß ja, daß
Muralt zu jeder Stunde bei den höchſten Herrſchaften
und den erſten Familien wie beim Bürgerſtande als
Fürſprecher willkommen iſt. Er iſt überdies unſer Freund,
er ſteht uns gewiß bei, nur raſch an ihn geſchrieben!«


Mit wenig Worten ſchilderte ich die Lage der Fa¬
milie. Ich ſchrieb, wie mein Herz es mir diktirte, und
trotz der Kälte trug unſer Mädchen den Brief zum
[235] Paſtor; er wohnte nicht weit entfernt. Nach einer hal¬
ben Stunde kam ſie beinahe erſtarrt zurück und berich¬
tete, der Herr Paſtor hätte gerade nach dem Winter¬
palais fahren wollen, den Brief aber geleſen und ge¬
ſagt: »Morgen Vormittag werde ich perſönlich antwor¬
ten.« Wir athmeten ſchon freier, aber ſehnlichſt harrten
wir des Bruders Zurückkunft. Die Nacht war ange¬
brochen und die Kälte ſchien noch zugenommen zu ha¬
ben. Waſſiltſchikoffs ließen fragen, ob dem Gouverneur
etwas begegnet ſei, da er, ganz gegen ſeine Gewohnheit,
nicht zum Souper heimgekehrt. Fieberhaft aufgeregt
horchten wir auf jedes Schlittenglöckchen. Nach qual¬
vollen Stunden langte der Bruder endlich an; er war
blaß und angegriffen.


»So etwas Herzzerreißendes möchte ich nie wieder
erblicken,« rief er. »Ueber einen großen, düſtern Hof
führte mich Brede nach einer Art Remiſe; in einer kleinen
feuchten Kammer lag die Leiche der armen Mutter auf
— Stroh! Der Säugling, an die ſtarre, ſtumme Bruſt
geſchmiegt, ſuchte umſonſt nach Nahrung. Zwei Knaben
von ſechs bis ſieben Jahren, wahre Jammergeſtalten,
weinten laut; die ältere Tochter kniete bei der Mutter
Leiche, war aber ſelbſt zu ſchwach, um das Kindchen in
die Arme zu nehmen. Grabeskälte herrſchte in dem
ſchrecklichen Raume. Ich rief im Vorderhauſe nach dem
Dwornik (Hausknecht), der mürriſch und langſam zum
Vorſchein kam, und gab ihm Geld, um einzufeuern;
mein Bischen Ruſſiſch that mir dabei gute Dienſte. Er
[236] wurde dienſtfertiger nach Empfang des Geldes, brachte
Holz und Thee und nahm den Säugling, um ihn einſt¬
weilen ſeiner Frau zur Pflege zu bringen. Dann half
ich die Leiche aus der Kammer tragen, vertheilte die
Lebensmittel, kaufte Stroh und ließ das alte fortſchaffen.
Ich verließ die Familie ſatt und in einem durchwärmten
Raume. Doch nun gute Nacht!«


Des andern Morgens um 11 Uhr kam Paſtor
Muralt und rief freudeſtrahlend: »Alles nach Wunſch
gegangen! Seht nur!« und ſo ſprechend legte er eine
Reihe blanker Goldſtücke auf den Tiſch. »Ja, Ihr
Brief, der hat geholfen. Wie ſchön und rührend haben
Sie mit wenig Zeilen das Unglück geſchildert; ich möchte
in meinem Zürcher Dütſch ſagen: Das iſcht prächti
g'ſi! (Das iſt prächtig geweſen!)« — Unſere Gegenrede
unterbrach er mit den Worten: »Nur ſchnell das Nö¬
thigſte, ich habe Eile! Die Frau muß begraben, die
Söhne bei braven Leuten untergebracht, das Kleine ver¬
ſorgt werden. Ich komme eben aus der Höhle — denn
ſo nur iſt die Wohnung zu benennen. Für den Vater
iſt es beſſer, er kehrt mit der Tochter in die Heimat zu¬
rück, die Buben können hier gut erzogen werden.«


«Herrlicher Menſchenfreund!« konnten wir endlich
ausrufen. »Aber woher das viele Geld?«


»Woher? Vom Kaiſer, von der Kaiſerin und den
drei lieblichen Großfürſtinnen . . . Als ich Ihren Brief
empfing, wollte ich eben in das Winterpalais fahren,
um den Prinzeſſinnen Nachricht von einer geliebten Leh¬
[237] rerin zu geben, welche zu einer Reiſe in ihr Vaterland,
Kanton Genf, Urlaub erhalten hat. Nachdem ich mei¬
nen Auftrag ausgerichtet und die holden Weſen gar lieb
mit mir plauderten, ſagte ich: »Wollen Ew. Hoheiten
leſen, wie es Fremden in der ſchönen Reſidenz ergeht?
— Wollen Sie den Armen beiſtehen?« — »Gewiß!« rie¬
fen drei frohe, helle Stimmen. Ich las alſo Ihren
Brief vor. Die älteſte Großfürſtin, Marie, nahm ihn
mir aus der Hand, rufend: »Das muß Mama auch
leſen!« und eilte davon. Die Anderen gingen an
ihre Ripptiſchchen und zogen zierliche Beutelchen hervor,
tauchten die Händchen hinein und brachten mir mit kind¬
licher Freude blanke Goldſtücke. Nicht lange währte es,
ſo öffnete ſich die Thür des Nebenſaales, und wer trat
zu uns? — der Kaiſer, die Großfürſtin Marie an der
Hand führend! — »So recht!« rief er huldvoll. »So
recht, Paſtor! Sie haben meinen Töchtern Gelegenheit
gegeben, Gutes zu thun, und ich freue mich herzlich,
daß es meine Kinder beglückt!«


»O, wenn Sie die Gruppe gleich mir hätten be¬
wundern können!« rief Muralt begeiſtert, »der majeſtä¬
tiſche Vater und die reizenden Töchter. Großfürſtin
Marie hielt den Kaiſer umſchlungen, Olga ruhte an ſeine
Bruſt gelehnt, die Jüngſte, Alexandra, hielt ſeine Hand
und küßte ſie zärtlich — es war ein entzückender An¬
blick!«


»Bei der Fahrt zu Brede,« ſagte der Paſtor,
mußte ich an Hebels »Winter« denken. Sie wiſſen ja,
[238] er iſt mein Lieblingsdichter. Bitte, ſprechen Sie die
Schlußverſe — zum Lohn für mein Bemühen!«


»O wie gern, prächtiger Herr Pfarrer!« rief ich,
und mit Andacht las ich die unvergleichliche Dichtung.
Wie trefflich paßten die Worte zu dem Erlebten —


»'s mueß wohr ſy, wie 's e Sprüchli git:

Sie ſeihe nit und ernde nit!

ſie hen kei Pfluegg und hen kei Joch,

und Gott im Himmel nährt ſie doch'«

»Und nun eilen Sie zu unſerm Kröſus, Baron
Stieglitz, wenn dieſer Matador unter Ihren Brief eine
Summe zeichnet, folgen die erſten Häuſer ſeinem Bei¬
ſpiel.«


Und auch dieſer Schritt wurde reich belohnt.


Nach acht Tagen ſagte Brede ſeinen Söhnen Lebe¬
wohl; ein Uhrmacher und ein Sattler hatten die Knaben
zu ſich genommen und bebandelten ſie wie die eigenen
Kinder. Das Kleinſte war einer braven Amme anver¬
traut worden und ſollte von einigen deutſchen Müttern
überwacht werden. Der Vater mit der Tochter, beſtens
ausgeſtattet und mit Reiſegeld reichlich verſehen, kehrten
in die deutſche Heimat zurück. Nach Abzug aller Koſten
blieben 3000 Rubel als Kapital. Das Geld wurde gut
angelegt, um ſo vermehrt einſtens den erwachſenen Kindern
eingehändigt zu werden.


[239]

Und nun zum Abſchiede von der prächtigen Czaren¬
ſtadt einige frohmüthigere Bilder aus dem geſelligen
Leben.


Auf liebenswürdigere Weiſe habe ich, nirdends Gaſt¬
freundſchaft ausüben ſehen und nie wohlwollendere
Menſchen getroffen, als in Petersburg. Da war von
den ſonſt ſo verbreiteten Dornen und Dörnchen der Ge¬
ſelligkeit: von Neid, Klatſcherei, Verleumdung keine Spur!
Die ominöſen »on dit« wurden nicht boshaft oder unbe¬
ſonnen erzählt, oder gar entſtellt — nein! ſtets klang
eine Entſchuldigung zwiſchendurch, und die circonstances
attenuantes
wurden taktvoll hervorgehoben. Wie oft
mußte ich, nach Deuſchland zurückgekehrt, vernehmen,
wenn ich dieſe Tugend der Petersburger, der echten
Ruſſen wie der Angeſiedelten, lobend erwähnte: dies Be¬
gütigen beruht mehr auf Gleichgültigkeit, man hat nicht
Zeit, an Andere zu denken, beſchäftigt ſich nur mit dem
geliebten Ich. . . O, wie bitter oft ſollte ich noch Ur¬
ſache haben, bei mir zu denken: wie gut, wie erquickend
wäre es, wenn auch anderwärts ſolche Gleichgültigkeit
ſich einbürgern wollte! — Wie würde der geſellige Ver¬
kehr ſich gemüthlicher, erfriſchender geſtalten, wenn man
nicht durch neugieriges Ueberwachtwerden, durch nadel¬
ſtichartige Bemerkungen gezwungen würde, ſich ſtets auf
der Defenſive zu halten! . . .


Selbſt der Sommer bot in Petersburg reiche ge¬
ſellige Annehmlichkeiten. Befreundete Familien, welche
ihren Wohnſitz in der Nähe der Stadt auf dem Lande
[240] genommen, luden wie im Winter ein, Aber ohne Equi¬
page waren wir oft gezwungen, dieſer Erholung zu ent¬
ſagen, da die Villas und Landhäuſer, auch das reizende
Beſitzthum von Baron Stieglitz, ein bis zwei Stunden
von Petersburg entfernt liegen. Ueberdies koſtete ein
gewöhnliches Fuhrwerk für den halben Tag 20 Rubel,
Sonntags auch 30 bis 40. Als einzige Reſſource, friſche
Luft zu ſchöpfen, blieb den in die Reſidenz Gebannten
nur der Sommergarten. Der war damals aber ſo ein¬
förmig, ſo unbelebt, wie in tiefſte Melancholie verſunken.
Die Vögel wagten nicht laut zu zwitſchern — — und
gerade in dieſem Sommergarten erfaßte mich das Heim¬
weh nach Deutſchlands lieblichen Gärten, den öffentlichen
ſchattigen Sommerlokalen mit herrlich dirigirtem Or¬
cheſter und dem traulichen Geplauder fröhlicher Menſchen
am heftigſten, wenn wir die regelmäßigen, ſtillen Alleen
nach kurzer Promenade in trübſeliger Stimmung baldigſt
wieder verließen.


Was in Petersburg die tanzliebende Welt zu leiſten
im Stande iſt, grenzt an's Unglaubliche! — und der
Lenz des blühendſten Mädchens, der ſchönſten jungen
Frau iſt nach wenigen Saiſons vorüber.


Ich will nur ſchildern, was ich während einer ein¬
zigen Woche mitzumachen verſuchte. Dann mußte ich
mich aber etwas zurückziehen, um mich nicht in kurzer
Zeit um meine Geſundheit, — ja um meine Künſtler¬
laufbahn, die ſo viel geiſtige und körperliche Friſche er¬
forderte, gebracht zu ſehen.


[241]

An einem hellglänzenden Wintervormittag fuhr bei
uns ein eleganter Schlitten vor. Die ſehr geſchätzte und
gefeierte Gattin des reichen Kaufmanns Pleske begrüßte
die Mutter gleich mit den Worten: »Erlauben Sie mir,
Frau Rittmeiſterin, Ihre liebe Tochter zu entführen, ſie
ſoll unſere Rutſchberge kennen lernen, ein entzückendes
Vergnügen. . .«


»Aber morgen,« ſchob ich etwas kleinlaut ein, »ſoll
die erſte Probe von König Enzio ſtattfinden, übermorgen
die Benefizvorſtellung, wenn ich nun heiſer würde,
nicht ſpielen könnte — der arme Pollert käme um ſeine
Einnahme. . .«


»Sie und krank werden!« lachte Mad. Pleske, —
»Sie blühend Starke! Wir wollen Sie ſchon ſorgfältig
in Pelze hüllen; dann ſpeiſen wir en petit comité bei
meiner Schwägerin, Mad. Ritter. Jetzt iſt es 11 Uhr
— um 3 Uhr kehren Sie zur Mama zurück.«


»Meine Tochter muß auch die neue Rolle noch durch¬
gehen!« meinte die Mutter beſorgt.


»Das kann ſie Abends zur Genüge!« erwiederte
Mad. Pleske. »Bitte! verderben Sie uns nicht die
Freude. . .«


Alſo warf ich mich in Eile in's Winterkoſtüm und
ſauſte bald in dem pelzgefütterten Schlitten mit dem ſil¬
bernen Glockengeläute durch die Straßen dahin. . . und
dann waren wir draußen bei den Rutſchbergen, dem
reizendſten — ja berauſchenden Nationalvergnügen der
Petersburger.


Erinnerungen ꝛc. 16[242]

Zwei hohe, ſpiegelglatte Eisberge, mit Treppen ver¬
ſehen, ſtehen ſich auf weiter Ebene gegenüber. Ein win¬
ziger Schlitten, von einem ſicheren Führer geleitet, nimmt
uns auf der Höhe des einen Berges auf — — und pfeil¬
ſchnell fliegt der Schlitten herab, die ebene Bahn ent¬
lang — dem gegenüberliegenden Eisberge zu. . . Dann
wird der Schlitten verlaſſen, die hohe Treppe dieſes Eis¬
berges erſtiegen, um abermals von der Höhe mit der
Windsbraut in die Wette zu ſauſen . . . und ſo geht es
ohne Raſt immer zu, wie eine chaine anglaise. — Iſt
aber der Leiter des Schlittens nicht gewandt und kalt¬
blütig, dann kann er ſammt ſeiner Dame leicht Arme
und Beine, auch wohl den Hals brechen. Das Kühne,
Gefahrvolle erhöht aber gerade den eigenthümlich auf¬
regenden Reiz des Vergnügens. Es iſt der höchſte Ehr¬
geiz eines eleganten Petersburger Herrn, den Ruf eines
geſchickten Rutſchbahnführers ſich errungen zu haben. Dieſen
Ruf hatte der ritterlich ſchöne Kaiſer Nikolaus mit vollſtem
Recht, und die Petersburger und ich konnten nie müde
werden, bewundernd zuzuſchauen, wenn der Czar den
kleinen Rutſchbahnſchlitten der Kaiſerin Alexandra ſo
elegant und ſicher lenkte.


Um 1 Uhr waren wir ſämmtlich nicht mehr roth¬
wangig, ſondern vom Druck der eiſigen Luft bläulich
angelaufen, und die erſtarrten Lippen vermochten nur
noch mit Anſtrengung zu ſprechen und zu lächeln. Bei
den gaſtlichen Ritters erholten wir uns bald von den
Vergnügungsſtrapazen — und im Nu war 3 Uhr mah¬
[243] nend da. Ich wollte zur harrenden Mutter und zu
meiner zu memorirenden Rolle aufbrechen, da rief der
liebenswürdige Wirth: »Sie entkommen uns noch nicht!
Ein Klavierſpieler iſt beſtellt, Tänzer und Tänzerinnen
eingeladen, — ich habe den Ball zur Ueberraſchung
meines Frauchens improviſirt.«


»Aber — in Winterkleidern kann ich doch nicht
tanzen?«


»Auch dafür iſt geſorgt,« triumphirte Herr Ritter,
— »ich hatte vor dem Eſſen noch Zeit, Ihre Frau
Mutter zu beſuchen, ihr Alles vorzuſtellen und — die
Balltoilette harrt Ihrer ſchon ſehnſüchtig, — ich half
ſie in den Karton packen. . .«


»Aber — — König Enzio!«


»Ach was — Enzio! Sie ſprechen dem Souffleur
nach — und ſiegen doch . . .« erſchallte es von allen Sei¬
ten. So mußte ich mich denn metamorphoſiren und
tanzte fröhlich bis 10 Uhr.


Obwohl ſehr ermüdet, lernte ich noch fleißig an der
Rolle, — fühlte während der Probe die heranrückende
Heiſerkeit — ſagte aber nichts, um den Benefizianten
Pollert nicht zu beunruhigen. Nun wurde Bruſtthee zu
Hülfe genommen, das Bett gehütet und das Benefiz
ging glücklich vorüber.


Andern Tages wurde ich zu einer Soirée musicale
entführt, den dritten Tag Repetition des Enzio, den
vierten Morgens Probe einer Quadrille zu einem Ball
costumé — ich ſtellte Flora vor, mein Tänzer den
16 *[244] Winter, — fünfter Abend Käthchen von Heilbronn,
ſechſter der koſtümirte Ball — ſiebenter Morgens Probe
von der Braut vom Kynaſt, Abends Benefizvorſtellung
vom Tyran domestique der franzöſiſchen Truppe, den
achten Tag Vorſtellung der Kynaſtbraut, eine hochtra¬
giſche, anſtrengende Rolle: ich ſehe meine Freier ganz
ruhig von der Ringmauer ſtürzen, bis der wirklich Ge¬
liebte den Ritt wagen will. . . Genug, ich war total
erſchöpft und ließ mich nicht mehr überreden, an allen
Vergnügungen Theil zu nehmen


Doch alle Zerſtreuungen, alle Kunſtgenüſſe ver¬
mochten nie das lebhafte Intereſſe der Petersburger an
der kaiſerlichen Familie zu verdrängen. Dieſe enthuſiaſtiſche
Verehrung bildete das eigentliche Lebensprinzip der Peters¬
burger. Unwillkürlich ſchloſſen wir uns dieſem Kultus
an und lauſchten bald jeder Anekdote, jeder Mittheilung
über die hohen Herrſchaften mit gleichem Intereſſe.


Da vernahm man, wie Bildhauer Wichmann aus
Berlin, der die lebensgroße Statue der Kaiſerin aus¬
führte, gerührt, entzückt erzählte: der Kaiſer habe bei
Beſichtigung der Arbeit ausgerufen: »Ja, ja, das ſind
die edlen Züge meiner Matuſchka (Mütterchen) — das
iſt das klaſſiſche Profil meiner Alexandra, der herrliche
Nacken. . . So recht, Wichmann, Sie ſchaffen ein erhabenes
Kunſtwerk!« . . . und wie dann die Kaiſerin fröhlich über
das geſpendete Lob die Wangen ihres Gemahls geſtreichelt,
er ſie iu des Künſtlers Gegenwart echt bürgerlich an's Herz
gedrückt und zärtlich wie ein Bräutigam geküßt habe.


[245]

Dann wieder hieß es: »Haben Sie ſchon vernommen,
daß das hohe Paar Alles ſelbſt zur Chriſtbeſcherung
anordnete, — geſchäftig von einem Tiſch zum andern
ſchwirrte und die Geſchenke zurechtlegte?«


Wit Lachen wurde erzählt, Nikolaus habe zu einem
fremden Architekten geſagt, dabei auf Fürſt Wolkonski
deutend: »Verlangen Sie nur viel, denn dieſer für mich
ſparende Geizkragen wird ſchon abhandeln —!«


Beſonders bei den Damen machte es Senſation, wie
der Kaiſer ſo zart, ſo liebevoll die Kaiſerin auf den bal¬
digen Tod ihrer älteſten, vertrauteſten Kammerfrau vor¬
bereitet hätte, und wie ſie gleich einem Kind an ſeiner
Bruſt geweint und ruhiger geworden ſei.


Voll Intereſſe beſichtigten wir die Herrlichkeiten der
kaiſerlichen Reſidenz und der Eremitage, ich hörte auch
die koloſſale Spieluhr die Ouverture aus »Don Juan«
exekutiren.


Mit eigenen Gedanken betrachtete ich das lebensgroße
Bild der Kaiſerin Katharina II. Eine ſchöne Geſtalt,
von weißem Atlas umfloſſen, mit himmelblauem Ordens¬
band geſchmückt, mit imponirend majeſtätiſcher Haltung,
den einen Arm wie zum Befehlen ausgeſtreckt. Das
ganze Leben dieſer merkwürdigen Herrſcherin und ent¬
zückend ſchönen Frau tritt beim Anblick des Bildes leb¬
haft vor unſere Seele. Die dunkelblonden, wellenartig
zurückgeſchlungenen Haare, wie bei Marie Antoinette,
mit Perlen durchzogen, die blauen, bedeutenden Augen,
die edle Stirn, die fein geformte Naſe, der liebliche Mund
[246] feſſeln unwiderſtehlich. Dabei ein edel geſchwungener
Nacken, ſchön geformte Arme und Hände — genug: man
begriff, daß dieſe Perſönlichkeit, verbunden mit Scharf¬
ſinn, hohen Geiſtesgaben, bezaubernder Liebenswürdigkeit,
Alles — wagen durfte.


Neben dem Gemälde ſaß auf einem Papageigeſtelle
ein großer, uralter Kakadu. Unter ſeinen Augen mit
unheimlich verſtändigem Blick hingen große Falten nie¬
der. Ich frug, wie dieſer Vogel in dieſen Prachtſaal
käme? und bekam zur Antwort, daß die Kaiſerin Katharina
den Liebling immer um ſich gehabt habe. Aus Pietät
gegen ſie werde er ſorgfältig gepflegt, und da er nur in
dieſem hellen, von Beſuchenden ſelten leer werdenden
Saale und vor dem Bilde ſeiner ehemaligen Herrin ruhig
ſei, ſo gönne man dem gewiß achtzig Jahre alten Kakadu
ſein Lieblingsplätzchen.


Auch an meinen Urgroßvater, den einſt berühmten
Chirurgen Ramdor in Braunſchweig, mußten wir bei
dem Bilde der Kaiſerin denken. In ihrer letzten Krank¬
heit hatte Katharina ihn nach Petersburg rufen laſſen.
Leider traf er zu ſpät ein; die Operation konnte nicht
mehr gewagt werden; aber reich beſchenkt wurde der Ur¬
großvater entlaſſen, und nie konnte er müde werden,
von der Huld und Gnade der Kaiſerin zu erzählen.


Auf dem Porträt meiner Urgroßmutter iſt noch eine
Brillant-Rivière zu ſehen, welche die Kaiſerin dem
Chirurgen für ſeine Frau hatte einhändigen laſſen . . . und
die Urenkelin, von den Nachkommen der Kaiſerin auch
[247] durch ein ſchönes Sévigné erfreut, bewunderte die pracht¬
vollen Räume, welche der Urgroßvater einſtens durch¬
wandert hatte. . .


Noch ergreifender für mich war aber die Audienz,
die Herzog Paul von Württemberg mir und Bruder
Louis in ſeinem Palais in Petersburg gewährte — er
wollte die Kinder ſeines lieben Oberſtſtallmeiſters Bauer,
der dem Prinzen einſt das Leben gerettet hatte, indem
er ihn mit eigener Gefahr und Dank ſeiner Rieſenkraft
aus einem tiefen Sumpf zog, kennen lernen. War doch
auch Herzog Paul zugleich die Urſache, daß der Vater
unſere Mutter fand — als er im Auftrage des Prinzen
nach Koburg kam, um der zauberſchönen Prinzeſſin
Helene die Brautjuwelen zu überreichen!


Aber trotz der nie wankenden Gunſt des Publikums
und trotz der herzlichſten Aufnahme in den liebenswür¬
digſten Familienkreiſen dachten wir doch längſt an's
Scheiden. Die Mutter konnte das Klima nicht vertragen
und fing an zu kränkeln. Auch ich ſpürte die Wirkung
der entnervenden Sommer — der anſtrengenden Winter.


Fürſt Gagarin legte zu Aller Bedauern die Inten¬
danz nieder, Herr von Gedeonoff wurde ſein Nachfolger.


Wie derſelbe ſeine Aufgabe auffaßte und zu löſen
ſuchte — davon hier nur ein Beiſpiel.


Während des Don Carlos — ich gab die Eboli —
und während der großen herrlichen Szene zwiſchen König
[248] Philipp und Marquis Poſa, aber noch vor den Worten:
»Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!« trat Herr von
Gedeonoff auf den Regiſſeur Barlow zu und befahl ihm,
den König und Poſa ſogleich abtreten zu laſſen, indem
das Geſchwätz den Hof langweile. . .


Der ehrliche Barlow ſtand wie eine Salzſäule da
und wußte ſich keinen Rath, wie er ohne großen Eclat
die beiden unliebſamen Schillerſchen »Schwätzer« von der
Szene verſchwinden laſſen könne.


Da ſprühte mein gutes deutſches Schiller-Herz über:


»Nun, Herr Barlow, ſo treten Sie doch als Re¬
giſſeur vor und machen dem Publikum eine Verbeugung
und ſagen: »Allons, König Philipp, allons, Marquis
Poſa mit dem demokratiſchen Kopfe und dem Herzen voll
ſtolzer Weltbeglückungsträume — marſch von der Bühne,
Se. ruſſiſche Majeſtät langweilt Euer Geſchwätz — lang¬
weilt die Gedankenfreiheit. . .«


Der Intendant ſah mich giftig an und trat dann
faſt aus den Couliſſen heraus und ſchrie dem verdutzten
König Philipp und Marquis Poſa zu: »Sogleich ab¬
treten, oder ich laſſe Euch durch Soldaten von der Bühne
holen. . .«


Und ſie traten ab.


Mein geflügeltes Wort war aber nicht zwiſchen den
Couliſſen verklungen. Bei meiner Abſchiedsrolle blieb
allein die kaiſerliche Loge — leer!


Mein Kontrakt war zu Ende und trotz der günſtig¬
ſten Bedingungen lehnte ich ſeine Erneuerung ab. Der
[249] Hauptzweck meines Engagements: in allen Fächern zu
ſpielen, auch im tragiſchen Fach ein reiches Repertoir zu
bilden, war vollkommen erreicht worden.


Ich ſchied von Petersburg mit dankbarem Herzen,
den mir wahrhaft ergebenen Familien beim Lebewohl
ſagend: »Auf Wiederſehen im ſchönen Deutſchland!« — Ich
gedachte eine große Kunſtreiſe anzutreten, und dann zu
bleiben, wo ich — und wo mir es am beſten gefallen
würde.


Als mein letztes Auftreten ſtattfinden ſollte, waren
alle Plätze ſchon Morgens 9 Uhr verkauft, und am
Abend der Vorſtellung mußten Hunderte zurückgewieſen
werden, — und doch fand die Vorſtellung im großen
Alexandratheater ſtatt und die Petersburger hatten mich
wenigſtens 300mal ſpielen ſehen! —


Ich gab die Elsbeth im Tournier zu Kronſtein, und
zum Schluß die Roſa in der Operette: »Zwei Worte,
oder die Herberge im Walde.« — Roſa hat eine liebliche
Melodie am Schluß zu ſingen, da wählte ich Worte des
Dankes und des Abſchiedes dazu, — vermochte ſie auch
zu ſingen, wenn gleich mit bebender, thränenverſchleierter
Stimme, Stürmiſch rief das ganze Haus: »Noch ein¬
mal ſpielen! noch einmal!« . . . Und ſo wurde andern
Abends die Vorſtellung im Michaeltheater wiederholt.
Das war Mitte Januar 1834, deutſchen Styles.


Viele Freunde und Bekannte begleiteten uns bis zur
erſten Station, auch ruſſiſche Familien. Ich lernte eine
gar ſchöne Volksſitte kennen, — daß man vor dem letzten
[250] Lebewohl ein ſtilles Gebet verrichtet. Mit Rührung ge¬
dachte ich während dieſer feierlichen Stille nur — des
Guten, das mir in Petersburg ſo reich zu Theil ge¬
worden war. . .


Und darf ich hier den originellen Reiſepaß, den das
kalte Rußland mir in ſeinem Enthuſiasmus mit auf den
Weg gab, einfügen?


Ja, eine alte Frau — die längſt in ſtiller Zurück¬
gezogenheit lebt, die des Herzens Eitelkeit überwunden
hat — die darf es.


So klebe ich denn das Stückchen einer alten Zeitung
hier her:


»Reiſepaß unſerer hochgefeierten Karoline Bauer.


Dem erſten Engel der deutſchen Bühne in St. Pe¬
tersburg, Demoiſelle Karoline Bauer, wird hiermit die
Bewilligung zur Rückreiſe ertheilt. Zu näherer Kennt¬
lichkeit fügen wir folgende Perſonalbeſchreibung bei:
Heimat: Ueberall zu Hauſe. Charakter: Alle Abend einen
neuen, — jeder vortrefflich. Stand: Anſtand. Figur:
Poetiſch. Alt: In der Kunſt, ſonſt jung. Angeſicht:
Maiblume. Augen: Laſſen Alles blau anlaufen. Haare:
Locken (natürliche). Zähne: Dreimal zehne und zwei.
Unterſchreibt gewöhnlich: Alles Schöne und Gute. Mit
ihr reiſen von hier ab: Die Kunſt, ihre ſtete Geſell¬
ſchafterin, — Thalia, Euphroſyne und Aglaja, ihre
Kammermädchen, — die Anmuth, ihre Erzieherin, —
der Geſchmack, ihr Garderobier, — der Frohſinn, ihr
Leibarzt. Beſondere Kennzeichen: Hat auf der linken
[251] Seite ein rechtes Herz und ſpielt in Trauerſpielen mit
Luſt; ſie iſt ſanft und doch hinreißend; ſie iſt in allen
Rollen zu Hauſe und giebt doch, immer viel Gaſtrollen;
ſie iſt eine ausgelernte Spielerin, und doch gewinnt Der,
der mit ihr ſpielt; ſie iſt die ſanfteſte Perſon und hat
doch viele Auftritte, die allgemeine Senſation erregen;
ſie hat einen kleinen Fuß und macht doch große Fort¬
ſchritte. Es beſtrebte ſich Alles, ſie nicht vom Orte zu
laſſen, und doch rief man ſie immer heraus; ihr Ruf
iſt feſt gegründet und fliegt doch durch ganz Europa.
Nach dieſem Signalement werden alle Behörden erſucht,
ſie auf ihrer Reiſe freundlich aufzunehmen und ſchmeichel¬
haft zu empfangen. Alle Erdenleiden und Uebel ſind
auf's Strengſte angehalten, ihr kein Hinderniß in den
Weg zu legen. Alle Herzen ſind beordert, ſie auf ihr
Verlangen frei ein- und auspaſſiren zu laſſen und ihr
mit Huldigung und Verehrung den gebührenden Vorſchub
zu leiſten.«

[[252]]

IX.
„Es giebt nur a Kaiſerſtadt.“

Petersburg — Rußland lagen hinter uns . . . und ob¬
gleich mir das Scheiden bitterſchwer geworden war und
ich mit dem innigſten Danke auf die vielen lieben Freunde
und ein meinem Bühnenwirken drei Jahre hindurch treu¬
gebliebenes, herzlich wohlwollendes Publikum an der
ſtolzen Newa zurückblicken durfte — — ſo waren die
Mutter und ich doch glücklich und fröhlich, wie Kinder:
wieder daheim in unſerem wunderſchönen, traulichen
Deutſchland zu ſein. . .


Es war auf der erſten größeren Gaſtſpielreiſe nach
der Heimkehr. . .


Der Vormittagsgottesdienſt war ſoeben beendet.
Unter dem hellen Geläute der Kirchenglocken fuhren wir
an einem ſonnigen Sonntage Ende Mai 1834 zum erſten
Mal in die ſchöne, fröhliche Kaiſerſtadt an der blauen
Donau ein. Eine Menge feſtlich geputzter Leute, auf
deren wohligen Geſichtern ein herzfröhliches Vergnügtſein
[253] ſtrahlte, wogte auf den ſauberen Straßen. Fiakers und
prächtige Equipagen rollten vorüber und elegante, kecke
Reiter ſteuerten durch das Gewühl. . . Das war ein ſo
frohmüthiges Lachen und Plaudern und Grüßen und
Winken um unſere landſtraßenſtaubige und auch ſchon
recht landſtraßenmüde Kutſche, wie ich's noch nie geſehen
hatte. Und ich wurde bald ſelber fröhlich mit den
Fröhlichen und ſorglos mit dem lieben närriſchen, ſorg¬
loſen Völkchen um mich her — — und doch fuhr ich
dem verhängnißvollſten aller Gaſtſpiele entgegen: an dem
ſtolzen, in der ganzen Bühnenwelt tonangebenden Burg¬
theater! Und zuletzt ſummte ich gar in das bienenfröhliche
Summen hinein, — aus Holtei's köſtlichen »Wienern in
Berlin«, — das Lied, mit dem Amalie Neumann 1824
die Berliner im Sturm eroberte:


»Es giebt nur a Kaiſerſtadt,

's giebt nur a Wien. . .«

Auch die Mutter lächelte in der Wagenecke wie der
ſonnige Frühlingstag, und unſere gute Laune wurde
nicht mal getrübt, als wir von einem Gaſthof zum
andern fahren mußten und überall die Antwort bekamen:
»Kein Platz mehr!«


»Nun, Ihro Gnaden, da fahren mer in die
»golden Anden«, ſagte der Poſtillon, »da iſt ſicher
noch Platz, und a paar Tage wird's dort halt ſchon
geh'n!«


»Goldene Anden«, ſagte ich verwundert, »was iſt
das für ein Ding?«

[254]

»Nu — a Anden — Ihro Gnaden, dös ſchmeckt
halt, wenn's geback'n, gar prächti!«


»Backhandl — Backhandl«, lachte ich, »Mutter,
wir ſind in der Stadt der Backhandl. . .«


»A Anden iſt aber halt a Biſſel größer als a
Handl«, ſagte treuherzig der Poſtillon,— und fuhr uns
nach der »Goldenen Ente«.


Die Anden war nicht ſchön, — außen und innen,
aber artige Wirthsleute und der poſſirlichſte aller Lohn¬
bedienten ließen ein Unbehagen über das unfreundliche
Quartier gar nicht aufkommen.


Schon wenn man den ehrlichen Sepperl in dem
ausgewachſenen zeiſiggrünen Frack und den gelben Ran¬
kingnen und der hohen ſchäbig-gentilen Angſtröhre auf
dem fuchſigen, unciviliſirten Tituskopf anſah, mußte
man ihm heiter zugethan werden.


Meine erſte Frage an Sepperl war natürlich nach
dem Burgtheater. . . »Was wird heut' Abend gegeben,
Sepperl?«


»Das Feſt in Knillwurſt, Ihro Gnad'n!«


»Knillwurſt — Knillwurſt . . .« rief ich lachend —
»auch ſo a Ding zum Eſſen, wie die goldne Anden?«


Aber ſchon hatte Sepperl einen zerknillten Theater¬
zettel aus ſeiner Angſtröhre hervorgeſucht und auf den
Rankingnen glatt geſtrichen . . . und ich glaubte, ich ſollte
ſterben vor Lachen, als ich las: »Das Feſt in Kenil¬
worth. . .« Aber dann jubelte ich auf: »Eliſabeth —
Amalie Wolff — als zweite Gaſtrolle. . . Sieh, Mütterchen,
[255] wir haben Glück — meine theuerſte Kollegin und unſere
herzliche Freundin aus Berlin finden wir jetzt gleich bei
unſerem Entrée in Wien wieder — welch' frohe Ueber¬
raſchung . . . Geſchwind, Sepperl, Billets zur Knillwurſt
. . . und dann dieſen Brief an den Hofſchauſpieler
Schwarz — und dieſen an den Schriftſteller Dr.
Witthauer . . .«


Und Sepperl ſteckte die Briefe zierlich in das Leder
ſeines Himmelſtürmers und ſtürzte fort, daß die Zeiſig¬
flügel flatterten . . . und nach kaum einer Stunde flatterte
er athemlos wieder in die Anden und meldete: Herr von
Schwarz, 'n charmanter alter Herr, folgt mi auf dem
Fuße — hat mi auf Seel halt ſehr gut g'fall'n . . . und
auch der Herr von Witthauer wird gleich da ſein, —
der hat mi aber halt nit ſo gut g'fall'n, — ſchaut ſo
finſter drein . . .«


»Und die Billets, Sepperl?« unterbrach ich den
Redſeligen . . .


»Ja — ja — die Billets . . . die Billets . . . ach,
Ihro Gnad'n — die hab' i bei mei Seel partout ver¬
ſchwitzt. . .«


»Aber die Billets waren ja gerade die Hauptſache,
— wie konnten Sie die nur vergeſſen?« klagte die
Mutter.


»Ja — ja — weil i halt a großer Eſel bin, Ihro
Gnad'n«, — und dabei ſah Sepperl ſo ehrlich aus, daß
wir ihm dies auf's Wort gern glaubten, und in das
unauslöſchlichſte Gelächter ausbrachen, — und immer
[256] unauslöſchlicher lachten, je verdutzter Sepperl ſeine
großen waſſergrünen Augen aufriß. . .


»Nun, das nenn' ich einen guten Anfang in unſerer
luſtigen Kaiſerſtadt«, rief eine fröhliche Stimme, und
ein liebes, gutes, altes Geſicht lächelte uns an. Es war
der Hofſchauſpieler Schwarz. Er brachte uns Grüße
von Frau Brede, der innigſten Freundin von Rahel
Varnhagen, und verſprach, während unſeres Wiener
Aufenthalts unſer treuer Steuermann durch alle Ver¬
gnügungen und Gaſtſpielgeſchäfte zu ſein.


»Womit beginnen wir heute?« fragte der liebens¬
würdige Greis — »Beſuche bei Deinhardſtein, — oder
bei dem Intendanten, — oder. . .«


»Heut' nichts von Geſchäften, theurer Freund, —
heut' wollen wir rechtſchaffen fröhlich ſein mit den
Fröhlichen«, unterbrach ich übermüthig, »heute heißt's:


Was macht denn der Prater,

Sag', blüht er recht ſchön?«

Da fiel Schwarz ebenſo ein:


»'s ſein Leut drin, man kann faſt

Vor Menſchheit nit geh'n. . .«

»Nun, für uns wird auch wohl noch ein Plätzchen
übrig ſein, wo wir Kaffe trinken, Kipfel eſſen, und
Strauß und Lanner ihre herrlichen Tänze ſpielen hören
können. . . Ja, mein Herr von Schwarz, ich darf mir
dergleichen Allotria heute wohl erlauben. Seit Mitte
Februar habe ich in Riga, Königsberg, Danzig, Poſen,
Brünn 50 Mal geſpielt und — die Kaſſette iſt noch
[257] ganz hübſch gefüllt. Alſo, wenn unſer Berliner
Freund Witthauer hier iſt, geht's hinaus in den
Prater. . .«


»Ah! Sie kennen den liebenswürdigen und geiſt¬
vollen Schriftſteller? Er wird es nicht bereut haben,
von der Spree an die Donau übergeſiedelt zu ſein.
Seine Feder hat ſich eine ſehr geachtete, — ja unter
Umſtänden gefürchtete Stellung errungen. Seine Kunſt-
und Literaturkritiken in der Wiener Modenzeitung ſind
tonangebend. Und wenn er zuweilen einige allzu kühne
Seitenſprünge auf das politiſche oder perſönliche Terrain
wagt — ſo hat ihm Metternich nicht ſelten über die
ſtrenge Cenſur hinweggeholfen. Der Miniſter will ihm
ſehr wohl!«


»Ja, ich erinnere mich mit Vergnügen aus Berlin
ſeines blendenden Witzes, ſeiner überſprudelnden Heiter¬
keit. . .«


»Hm! hm! — heiter — haben wir Wiener ihn
ſchon lange nicht mehr geſehen. Er lebt ſehr zurückge¬
zogen und hat ſich hier bereits den Ruf eines argen
Hypochonders erworben. . .«


»Unglückliche Liebe?« rief ich erſtaunt, — neugierig.
»Wer iſt die Unglückliche, die dieſen edlen Mann nicht
glücklich machen will?«


»Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen«, und Schwarz
kopirte den Wachtmeiſter aus Minna von Barnhelm,
»darf es auf der Welt denn gar kein Leiden geben, als
nur durch Euch?. . . Die unglückliche Liebe des Dr.
Erinnerungen ꝛc. 17[258] Witthauer ſitzt im — Magen — — ſchlechte Verdauung
ergo Hypochondrie — ergo . . .«


»Herr Dr. Witthauer«, meldete Sepperl und ſeine
Angſtröhre gab zugleich triumphirend zwei Billets zur
Knillwurſt her.


Und der geſchätzte Jugendfreund aus Berlin ſtand
vor uns. Aber war das derſelbe blühende, lebensfriſche,
fröhliche Witthauer, — vor neun Jahren das belebende
Element aller Geſellſchaften in der Stadt der Intelligenz
und der äſthetiſchen Thees? Er ſah blaß, müde, ſchwer¬
müthig aus. Er freute ſich ſichtbar unſeres Wiederſehens,
aber der alte heitere Herzenston wollte nicht wieder an¬
klingen.


Da ſagte ich betrübt über dieſe Veränderung: »Und
muß ich Sie denn daran erinnern, daß heute der 28. Mai
iſt . . . und daß mich heute vor neun Jahren unter der
Ueberfülle von Geſchenken, Blumen und Gedichten nichts
ſo ſehr erfreute, als ein Roſenſtock mit hundert Blüthen
und Knoſpen und einem Roſablättchen mit den Worten:
»Ein armer Gelehrter hat auf Ihren Lebensweg nur
Blumen zu ſtreuen. . .«


»Iſt's möglich — heut Ihr Geburtstag — und
ich konnte den vergeſſen . . .« und ſein Auge war
feucht.


Da wußte ich, daß der Sitz ſeiner Schwermuth
doch nicht im Magen war. . .


Armer Freund! Er iſt nie wieder froh geworden,
wie damals, als wir mit einander die hundert Knoſpen
[259] und Blüthen an jenem Roſenſtock zählten, der meinen
erſten Berliner Geburtstagstiſch ſchmückte.


Friedrich Witthauer ruht ſeit 1846 auf dem Fried¬
hofe zu Meran.


Sepperl hatte den eleganteſten Wagen beſorgt, den
er hatte finden können, und als wir drin ſaßen, drehte
er ſich mit verklärtem Geſicht vom Bock zu uns um und
ſagte, als hätten wir ſchon ein Dutzend Jahre Salz
und Brod mit einander gegeſſen: »I freu mi närriſch
auf den Prater, da wird's auch Ihna ſchon g'fallen,
Ihro Gnaden . . . es giebt nichts Luſtigers auf der Welt,
als unſern lieben Prater.«


Und hinaus ging's in den luſtigen Prater, und ich
wurde faſt wieder zum Kind, da wir durch die glück¬
ſtrahlenden, jubelnden, ſonntäglich geputzten Spazier¬
gänger dahinrollten, und beim Beſuch der »Buden« mit
Wunderthieren und tanzenden Zwergen, Rieſendamen,
Panoramas, Haſen, die Piſtolen abfeuerten, und Hunden
und Affen in den Koſtümen der Pompadour und ihres
Hofſtaats, den Frohſinn, die Harmloſigkeit und beneidens¬
werthe Naivetät des Wiener Völkchens: Bürger und
Soldaten, Kindermädchen und Studenten, Geſellen und
Meiſterinnen, — Alles bunt durch einander und gleich
entzückt von den gebotenen Genüſſen, — in vollſter
Natürlichkeit und Freiheit genießen konnten.


17 *[260]

Und dann ſaßen wir unter den frühlingsgrünen
Praterbäumen an zierlich ſervirten Tiſchchen und tranken
bei Lanner's entzückenden Walzern echten Wiener Kaffee
mit Obers (Sahne) — — und endlich konnte ich mein
langjähriges Sehnen nach Wiener — Kipfeln ſtillen!
Ja, erſt jetzt begriff ich ganz jene Kipfel-Anekdote, die
mir in Petersburg ein öſterreichiſcher Geſandtſchafts-
Attaché erzählt hatte, und die ich jetzt wieder zum Beſten
gab: »Die Donau war über ihre Ufer getreten, und
einzelne Dörfer waren von allem Verdienſt abgeſchnitten.
Regierungskommiſſäre beſuchten in Kähnen die einzelnen
Hütten, um — wo's Noth that — Lebensmittel zu
ſpenden. Eine Frau erhielt reichlich Brod und Mehl
und Kaffee, — als aber Kommiſſäre weiter ruderten,
da rief ſie ihnen nach: »Ah! Herr Kommiſſär — —
und nicht a anzigs Kipfel haben's mi mitbracht? Dös
iſt ſchändlich. . . Nu, i bitt ſchön, vergeſſen's das
nächſte Mal nicht die Kipfel, — das iſt mei anzig
Leidenſchaft. . .«


Und ſchon jetzt theilte ich die einzige Leidenſchaft der
guten Frau.


Wir ſprachen über das Gaſtſpiel von Amalie Wolff.
Sie hatte bereits Frau Feldern in Töpfer's »Hermann
und Dorothea« gegeben — ohne ſonderlichen Erfolg.


»Das begreif ich nicht, — Amalie Wolff's Feldern
entzückte ſtets ganz Berlin durch die Lebensfriſche und
Lebenswahrheit . . . Sie ſchuf ein wahres Genrebild aus
dieſer dankbaren Rolle. . .«

[261]

»Gewiß — nur für den Rahmen unſeres Burg¬
theaters zu — treu nach dem Leben kopirt. Hier liebt
man Alles idealiſirt, geſchminkt und aufgeputzt. So
konnte ganz Wien es nicht begreifen, daß eine Berliner
Hofſchauſpielerin ſo wenig Toilettengeſchmack entwickelte
und als Frau Feldern in Klapp- Pantoffeln, großblumi¬
gem Kattunkleide mit Schößen, Schürze und altmodiſcher
Haube auf die Bretter des Burgtheaters zu treten wagte. . .«


»Aber — Frau Wolff wählte das Koſtüm ja nach
Goethe's Dichtung?« rief ich erſtaunt.


»Thut nichts«, ſagte Witthauer trübe lächelnd,
»unſern Wienern gefällt ihre Burgtheater-Feldern, die
Frau von Weißenthurn, weit beſſer in ihrem ſtattlichen,
braunſeidenen Kleide, ſchwarzen Atlasſchuhen mit Kreuz¬
bändern und Blondendormeuſe. . . Unſere Bühne iſt
überhaupt augenblicklich ſtark in der Modeepoche. . .«


»Modeepoche?«


»Leider werden Sie das bald nur zu leicht verſtehen,
wenn Sie erſt einigen Vorſtellungen im Burgtheater
beigewohnt — oder gar ſelber einige Male aufgetreten
ſind. Das trefflichſte Spiel unſerer Damen genügt heute
nicht mehr, wenn es nicht in neuer, glänzender und
überraſchender Toilette vor dem kritiſchen Publikum
erſcheint. Karoline Müller iſt die Modelöwin unſerer
armen klaſſiſchen Bretter und des ganzen eleganten
Wiens . . . und ich würde mich gar nicht wundern, wenn
es nächſtens bei jeder Rolle der Müller auf dem Theater¬
zettel heißt: die Dame wird ſich dem geehrten Publikum
[262] heute Abend in vier — fünf — ſechs funkelnagelneuen
Toiletten — direkt per Kurier aus Paris bezogen —
präſentiren. . . Und ich — der Kritiker, ſoll dann ſtets
all' dieſe Kleiderpracht in meinen Rezenſionen aufzählen
und haarklein beſchreiben und »kritiſiren«, — ſonſt finden
die guten Wiener meine Kritiken ledern und langweilig. . .
Wundern Sie ſich alſo nicht, meine Damen, wenn Sie
die Kritiken über das alte herrliche Burgtheater nächſtens
von dem berühmten Bär, dem »göttlichſten« Damen¬
ſchneider Wiens, oder von Madame Roſa, unſerer
»genialſten« Pariſer Modiſtin unterzeichnet finden. . .«


So bitter hatte ich unſern ſonſt ſo milden, liebens¬
würdigen Witthauer noch nie reden hören. . . Und plötzlich
ging mir ein trübes Licht auf: ſeine tiefe Schwermuth
hatte nicht ihren Sitz im Magen, nicht im Herzen . . .
nein: in der Mode-Epidemie des Burgtheaters!


»Ah! dann verſtehe ich es auch, warum die herrliche
Julie Rettich das Burgtheater verließ und nach Dresden
ging . . . und warum man die edle Tragödin gehen ließ. —
O, Mutter«, fügte ich tragi-komiſch hinzu, »wie wird
Deiner Lina es ergehen mit ihren armen Fähnchen, die
keine Ahnung haben von Paris!«


»Wenn Sie mit Karoline Müller nicht in der Toilette
rivaliſiren, — ſo fallen Sie durch«, ſagte Witthauer
melancholiſch, »ja, Sie können Gott und den Wienern
danken, wenn Sie nicht ausgepfiffen werden. . .«


»Und keine Rettung — keine?« klagte ich mit den
Tönen einer Iphigenie.


[263]

»Keine — als dem Moloch Bär zu opfern, —
rothes — rothes Gold — viel Gold!« ſtimmte Schwarz
in demſelben Ton ein.


»Das Opfer ſei gebracht . . .« und meine gute Laune
war mit dieſem Entſchluß wieder zur Stelle.


Ein eleganter Reiter auf prächtigem Schimmel
ſprengte kühn und graziös vorüber. . .


»Welch' herrliches Thier — und wie würdig ſeiner
der Reiter!« rief ich entzückt aus. Das Rittmeiſtersblut
meines lieben, ſeligen Vaters, der ein berühmter Reiter
war, regte ſich in mir.


»Le cavalier à la mode — der tollkühnſte Reiter
der Welt — der populärſte Mann Wiens — — Graf


Moriz Sandor!« ſagte Witthauer. Doch da iſt er ſchon
wieder, ich werde ihn begrüßen, und dann können die
Damen den berühmten Wundermann mit Muße be¬
trachten.«


Der arabiſche Schimmel hielt im Fluge neben unſerem
Tiſche an und ſcharrte feurig ſchnaubend mit den feinen
Hufen. Der Reiter grüßte graziös zu uns herüber und
plauderte mit Witthauer, der ihm entgegen gegangen
war. Voll Intereſſe betrachtete ich den originellen Grafen,
deſſen Reiterſtückchen ihm bereits einen europäiſchen Ruf
erworben hatten. Graf Sandor war damals 29 Jahre
alt, kaum mittelgroß, aber von ſeltener Eleganz und
geſchmeidiger Kraft in allen Bewegungen. Er ſaß wie
angegoſſen auf dem Schimmel, ſich graziös in den Hüften
wiegend. Sein mehr intereſſantes als hübſches Geſicht
[264] war tiefbraun, von einem kurzen ſchwarzen Bart umrahmt,
und ſeine dunklen Augen blitzten in Lebensluſt und neckiſchem
Muthwillen. Das Ganze — Pferd und Reiter — boten
das Bild übermüthigen Jugendfeuers, Grazie mit Kraft
verſchmolzen. Seine Feueraugen huſchten zu uns herüber,
— und dann ließ er ſich uns vorſtellen. Er plauderte
gewandt, ſprudelnd, — aber für meine Gewohnheiten
doch etwas zu — — Wieneriſch cavalièrement. Kaum
hatten wir zwei Minuten mit einander geplaudert, ſo
bat er, uns morgen im Prater ſpazieren fahren zu
dürfen. Als ich etwas kühl für dieſe Ehre dankte, ſahen
mich die brennenden Augen ſchier verwundert an, als
wollten ſie ſagen: »Graf Sandor bietet ſeine prachtvolle
Equipage und ſeine noch prachtvollere Perſon als Kutſcher
einer — Schauſpielerin an — — und dieſe lehnt Alles
ab. . . das iſt wirklich neu in Wien. . .« Aber, ſein
ganzes Benehmen — ſein Ton, ſein Blick, ſein Gruß
nahmen doch gleich eine andere Färbung an — und ſo oft
wir uns auch wieder in Wien begegneten, ſtets bezeugte
er mir ſeinen Reſpekt — im beſten Sinne des Worts.


Im Prater konnte man den Grafen täglich ſehen.
Ja, der Wiener konnte ſich ſeinen Prater gar nicht mehr
ohne den luſtigen, übermüthigen, wilden und ſo überaus
erfindungsreichen Grafen Sandor denken, der ſo prächtig
für das Amüſement der guten Wiener ſorgte. Wo er
ſich zeigte, wurde er von der Menge mit Jubel und
Händeklatſchen begrüßt, und auf allen Geſichtern zuckte
die größte Spannung: ob der Graf denn nicht heute
[265] wieder etwas Hübſches, Luſtiges, Halsbrechendes losließe,
das ſie dann in den Kaffeehäuſern oder den Nachbarn mit
Wichtigkeit als ein Erlebnis weiter erzählen könnten . . .


Graf Sandor, einer der reichſten, altadeligen Fami¬
lien Ungarns angehörend, hatte den prächtigſten Marſtall
in Wien. Täglich zeigte er ſich auf einem andern wunder¬
ſchönen, wildfeurigen Pferde, die er alle daheim auf den
weiten ungariſchen Steppen — er ſelber in dem male¬
riſchen, flatternden Mantel eines Pferdehirten — zuge¬
ritten und gebändigt hatte. Nicht ſelten ritt er im Prater
die wildeſten Renner ohne Sattel, Zaum und Steigbügel
. . . und nur die Eingeweihten wußten, daß er ſie an
einem kaum ſichtbaren ſeidenen Schnürchen lenkte. Das
war gar nichts Seltenes, daß der Reitergraf über einen
dahin rollenden Fiaker, über eine Hökerin mit ſammt
ihrem hochgethürmten Töpferkram plötzlich hinwegſprengte
und dann den Erſchrockenen eine Handvoll Gulden hin¬
warf — als Schmerzensgeld für den kleinen Schreck,
denn Schaden richtete er nie an. Auch ſeine Wetten
bildeten das Tagesgeſpräch und füllten die Spalten der
Zeitungen. So gewann er einſt eine Wette: die Treppen
in ein drittes Stockwerk hinaufzureiten, und dort oben
auf ſchmalem Balkon ſein Pferd zu wenden — auf den
Hinterfüßen, die Vorderfüße hoch in der Luft!


Von dem Exerzirplatze am Fuße der Baſtei zu
Ofen ſprengte er oft plötzlich die ſteilen Treppen des
Schloßberges hinan nach dem Schloß ſeiner Väter . . .
und dann ſahen die Soldaten mit Jubel Chef und
[266] Pferdekopf gemüthlich aus den höchſten Fenſtern des
Schloſſes niederblicken.


Selten benutzte er einen Thorweg, um in den Hof
eines Gaſthofes oder Gutes zu reiten, — er ſetzte über
die Mauer hinweg.


Als ſpäter die Eiſenbahn von Wien nach Peſt er¬
öffnet wurde, ritt er in Folge einer Wette die Strecke
in ſechs Stunden und kam zwei Stunden früher an,
als der zugleich mit ihm abgegangene Poſtzug.


Auch liebte Graf Sandor es, ſich den guten Wienern
zuweilen zu Wagen zu zeigen, — aber wo möglich jedes
Mal in einem andern Bauwerk ſeiner Erfindung. Heute
ſaß er in einem römiſchen Triumphwagen à la Julius
Cäſar, morgen mit ſeinen Freunden auf einem haushohen
Geſtell, übermorgen lag er zwiſchen zwei Rieſenrädern
gleichſam in einer Hängematte faſt auf der Erde, und
dann wieder kutſchirte er auf drei Rädern einher. Wäre
Graf Sandor nicht ein zu großer Pferdefreund geweſen,
unſer modernes Velociped wäre ſicher ſchon 40 Jahre
früher von ihm erfunden und im Wiener Prater exekutirt.
Aber die Wagen waren für ſeine Pferde ja nur Staffage.
Heute fuhr er mit ſechs Schecken lang vom Bock, morgen
ſpannte er Schimmel, Rappen, Fuchs und Braunen zu¬
ſammen, übermorgen drei Schimmel einſpännig vorein¬
ander, — heute ruſſiſch — morgen engliſch — über¬
morgen magyariſch geſchirrt!


Damals ſprach ganz Wien von der glühenden, ro¬
mantiſchen Liebe des intereſſanten Grafen zur Prinzeſſin
[267] Leontine Metternich-Winneberg, — der Tochter des
allmächtigen Staatskanzlers. Man zweifelte aber faſt
allgemein, daß der Fürſt ſeine ſchöne Tochter einem ſo
tollen Wagehalſe anvertrauen werde. Und doch war im
Februar 1835 bereits die glanzvolle Hochzeit, — und
die Prinzeſſin hat es auch nie bereut, den ritterlichſten
Kavalier Wiens gewählt zu haben. Das junge Paar
wohnte nun theils in Wien, theils in Ofen, auf dem
prächtigen und zugleich romantiſchen Stammſitz der
Sandors. Als Metternich's Stern unterging, brachte
die erregte Menge eines Abends vor Sandor's Palais
eine entſetzliche Katzenmuſik. Plötzlich tauchte aus dem
lärmenden Volkshaufen ein Mann auf, der ſich auf die
Rampe des Palais poſtirte, und am lauteſten ſchrie,
pfiff, trommelte . . . es war Graf Sandor! Kaum hatte
die Menge ihn erkannt, ſo ſtutzte ſie und verſtummte. . .
Dann brach auf allen Seiten ein homeriſches Gelächter
aus . . . es war ja auch zu komiſch und originell, daß
ein Mann begeiſtert in die Katzenmuſik einſtimmte, die
vor ſeinem eigenen Hauſe gebracht wurde. . . Und dann
rief eine Stimme: »Hoch! hoch! Sandor — dem leut¬
ſeligſten Grafen Wiens — dem Mann, der Sinn und
Herz für's Volk hat. . . Hoch der Gräfin Sandor . . .
nur dem Vater Metternich gilt dieſe Demonſtration!«
— und die Menge ſtimmte jubelnd mit ein. Der Sturm
war vorüber und ſingend, lachend zog der kurz vorher
noch ſo erregte Haufen davon.


[268]

Und dieſer liebenswürdige, geiſtvolle Mann muß ſo
traurig enden! Bei einem unglücklichen Sturz mit dem
Pferde zog er ſich eine Gehirnerſchütterung zu. Düſtere
Schatten — ja oft tiefe Nacht verhüllen den einſt ſo
heiteren Geiſt. —


Als ich 1824 der erſten Vorſtellung im Berliner
Schauſpielhauſe beiwohnte, war mir gar wunderbar
feierlich — ja andächtig zu Muth, und das junge ſieben¬
zehnjährige Herz blühte mir ſo ſelig auf, wie am erſten
ſonnigen Frühlingsmorgen im knoſpenden, duftigen
Walde. Die herrlichen Künſtler erſchienen mir als höhere
Weſen und mein Auge und Herz hingen gläubig an
ihrem Munde und an jeder ihrer Bewegungen. Das
Publikum exiſtirte für mich nur in den Zwiſchenakten.
Das Haus war nichts weniger als brillant erleuchtet.
Von ſogenannten großen Toiletten war ſelbſt im erſten
Range nichts zu ſehen. In der königlichen Loge ſaß
die holde Kronprinzeſſin in einfachſter Toilette neben dem
Kronprinzen. Nirgends ein Sichvordrängen der Mode
oder der Koketterie. Das Publikum war der Vorſtellung
wegen gekommen — und nicht: um geſehen zu werden!


Wie anders zehn Jahre ſpäter im Wiener Burg¬
theater! Das hohe, nicht gerade architektoniſch ſchöne,
aber ariſtokratiſch geſchmückte Haus ſtrahlte im hellſten
Licht. Der erſte, zweite und dritte Rang wogte und
flimmerte von den eleganteſten, auffallendſten — ja ge¬
wagteſten Toiletten. Modiſche Herren gingen von einer
Loge in die andere und machten den Damen den Hof.


[269]

. . . Ueberall Lachen, Kokettiren und die lauteſte, un¬
genirteſte Unterhaltung — und nicht nur in den Zwiſchen¬
akten. Fächer und Lorgnette manövrirten, weiße ſchöne
Frauenarme präſentirten ſich auf den rothſammtenen
Logenbrüſtungen möglichſt vortheilhaft . . . man ſah: Jeder
und noch mehr Jede wollte geſehen werden und ſuchte
ſich in das glänzendſte Licht zu ſtellen. Die Bühne
war Nebenſache.


Die arme »Knillwurſt« ging ſpurlos vorüber. Der
feurige, geniale Ludwig Löwe, die anmuthige Fournier,
und ſelbſt Goethe's genialſte Schülerin — meine theure
Amalie Wolff, vermochten nicht zu enthuſiasmiren.
Eliſabeth's in Berlin ſo berühmtes ſanftes: »Leiceſter, ich
befehle!« — und ihr herrſchendes, hartes: »Burleigh,
ich bitte« — dieſe fein pſychologiſchen Nuancen wurden
in Wien gar nicht beachtet. Kein Wunder alſo, daß
Amalie Wolff's Spiel immer befangener wurde. Sie
ſagte mir ſpäter ſelber: »Ich bin ſchwer dafür geſtraft,
daß ich meinem Vorſatze: nach meines Mannes Tode
nicht mehr zu gaſtiren! — untreu wurde. Und dann
irrte ich in der Wahl der Rollen. In Wien dominirt
heute das Luſtſpiel. Ich hätte nur im humoriſtiſchen
Fache auftreten ſollen und wäre hier auch der wirkſamſten
Unterſtützung ſicher geweſen.


Und Amalie Wolff hatte Recht. Im heiteren,
graziöſen Genre des Luſtſpiels und Konverſationsſtücks
bewährte das Burgtheater ſeinen in den zwanziger Jahren
unter Schreyvogel's trefflicher Leitung begründeten Ruf:
[270] neben dem Théàtre français das liebenswürdigſte und
vollendetſte Enſemble zu bieten! — auch in den erſten
Jahren unter Deinhardſtein's ſchwächlicher Direktion
noch. Als Liebhaber wechſelten ab: der elegante, noble
Korn, der feuerſprühende Ludwig Löwe, der witzſprudelnde,
liebenswürdige Fichtner. Anſchütz war ein Heldenvater
zum Staunen, Wilhelmi ein komiſches Väterchen zum
Küſſen, und Coſtenoble ein lieber, närriſcher Charakter¬
komiker zum Todtlachen! Karoline Müller war eine
glänzende Salondame, die kleine hübſche Peche eine
reizende naive Liebhaberin, der ſogar ihr prononcirter
böhmiſcher Dialekt allerliebſt ſtand — — und die guten,
luſtigen Wiener gaben dazu das dankbarſte Luſtſpiel¬
publikum her. Freilich, mit dem Berliner Schau- und
Trauerſpiel durfte das Wiener Burgtheater ſich trotz
ſeiner großen Tragödin Sophie Schröder nicht meſſen,
die lange Jahre mit Sophie Müller im klaſſiſchen
Trauerſpiel als ſeltenſter Stern am Burgtheater geglänzt
hatte. Aber ſeit Sophie Müller's heißes Künſtlerherz
ſich an der Kunſt verblutet hatte — und Sophie Schröder
und Julie Rettich grollend ausgewandert waren, ſtand
das tragiſche Fach verlaſſen da, wenn auch Antoinette
Fournier eine ſehr anmuthige und verſtändige Schau¬
ſpielerin in ſentimentalen Rollen des Trauerſpiels war.


Bauernfeld's Luſtſpiele waren die Lieblinge der
Wiener. Scherzend wurde darüber geſtritten: ob Bauern¬
feld den Wienern geſchenkt ſei, für ihre Burgtheater¬
lieblinge dankbare Rollen zu ſchreiben . . . oder ob Karo¬
[271] line Müller und die Peche, Anſchütz, La Roche und Löwe,
Korn und Fichtner expreß dazu geboren ſeien, Bauern¬
feld's Stücke ſo zu ſpielen, wie ſie geſpielt werden
mußten.


Ich lernte Bauernfeld in Geſellſchaften kennen und
freute mich, ein ſo ſeltenes Talent, reiches Wiſſen und
bezaubernde Liebenswürdigkeit durch die größte perſönliche
Beſcheidenheit nur noch gehoben zu ſehen.


Für den dritten Abend meiner Anweſenheit in Wien
war eine Novität angekündigt: »Der Traum ein Leben«,
von Grillparzer. Ganz Wien war in fieberhafter Auf¬
regung — und das überfüllte ſtrahlende Haus vor Er¬
wartung faſt im Delirium. Und dann, als der Vorhang
endlich — endlich aufrollte und die tiefpoetiſche Dichtung
»unſeres Grillparzer's« durch »unſeren Löwe« und »unſeren
La Roche« ſo würdig verkörpert an dem ſtrahlenden
Auge der Zuſchauer vorüberzog . . . da brach ein förm¬
licher Sturm von Jubel und Begeiſterung los, abwechſelnd
mit Pauſen athemloſer Spannung. Ja, das Publikum
ſpielte förmlich mit, wie ich es ſonſt nur im Théâtre
français
geſehen hatte. Die Geiſtesfunken, die von der
Bühne ſprühten, blitzten zündend wieder in den Augen,
den belebten Phyſiognomien und in den einzelnen be¬
geiſterten Ausrufen der enthuſiasmirten Zuſchauer. Wie
einſt in den Pariſer Theatern die jungen Heißſporne des
Quartier latin, ſo intereſſirte mich hier im Wiener
Burgtheater jetzt auch unter den Zuſchauern am meiſten
die akademiſche Jugend, die Kopf an Kopf im Parterre
[272] ſtand und ihrer himmelſtürmenden Begeiſterung oft in
draſtiſchſter Weiſe Luft machte.


Beſonders ergriff die Schlußſcene: als der Hirt
(Ludwig Löwe) in ſeiner beſcheidenen Hütte erwacht —
ein reiner, gottvertrauender Menſch, arm und unbekannt
— — aber ſo froh und dankbar, daß er allen Glanz
und Reichthum . . . und den Verrath und Mord, durch
die er ſein Sehnen nach Macht und Glück geſtillt —
nur geträumt hatte. Daß der Zuſchauer erſt in dieſem
Augenblick erfährt: es war Alles nur ein Traum —
das bekundet die Meiſterſchaft des Dichters. —


Im Theater an der Wien ſah ich zum erſten Mal
den bezaubernden Raimund und ſeine entzückenden Zauber¬
märchen. Eine neue Welt ging mir hier auf den Brettern
auf. Ich wurde wieder zum lachenden und weinenden
Kinde — — und gut und gläubig und hoffnungsſelig
wie ein Kind, das des Lebens Dornen und Giftblumen
noch nicht kennt.


Im »Alpenkönig« bildeten Direktor Karl, Raimund
und der Komiker Scholz das köſtlichſte Enſemble, und
im »Verſchwender« war Raimund ein wundernärriſcher
lieber Valentin.


Ja, in Raimund als Dichter und Schauſpieler
lebte den Wienern ein Stück deutſchen Shakeſpeare's:
ſo körnig, ſo urſprünglich und naturwüchſig iſt in ſeinen
gemüthvollen Dichtungen Alles. Wenn Shakeſpeare
aber in ſeinen finſterſten Tragödien oft heitere Bilder
aufblitzen läßt und durch dieſen jähen Kontraſt gerade
[273] die erſchütterndſten Wirkungen erzielt — — ſo mahnt
Raimund uns in ſeinen luſtigſten Zaubermärchen plötzlich
durch ein tiefſchmerzliches Antlitz an des Lebens bitterſten
Ernſt. O, ich liebe dieſen Humor, der mit dem einen
Auge lacht — mit dem anderen weint!


Und dieſer herzfröhliche Dichter — dieſer urnärriſche
Komiker . . . war ſchon damals im bürgerlichen Leben
ein finſterer Hypochonder — ein Schwarzſeher. Die
fixe Idee von ſeinen lieben Wienern nicht verſtanden,
nicht gewürdigt zu werden, trübte ſeinen ſonſt ſo
klaren Blick. Gepeinigt von ſolchen düſteren Gedanken
verbarg er ſich oft tagelang auf ſeiner hübſchen Villa
Gutenſtein vor aller Welt Augen. Vor einigen Jahren
war es ſeiner langjährigen Freundin, der genialen
Thereſe Krones, doch noch oft gelungen, ihn aus ſeinen
Grübeleien zu reißen — — aber Thereſe Krones war
jetzt ſchon ſeit vier Jahren todt. Die Wiener ſagten:
das zehre auch an ſeinem Herzen. . . . Und nach
zwei Jahren — 1836, in einer finſteren Stunde — in
dem Wahne, von einem tollen Hunde gebiſſen und
unrettbar der Hundswuth preisgegeben zu ſein . . . da
warf er dies verdüſterte Leben von ſich — und Wien,
das luſtige Wien, das ſo oft über ſeinen Liebling Rai¬
mund und ſeine Zauberpoſſen aus vollem Herzen bis zu
Thränen gelacht hatte, — das weinte jetzt aus ebenſo
vollem Herzen bei ſeinem Leichenbegängniß.


Wie mich 1836 in Dresden die Nachricht erſchütterte:
Ferdinand Raimund hat ſich erſchoſſen! — — und wie
Erinnerungen ꝛc. 18[274] mich in dieſen Tagen ein Buch entzückte — als Zeichen,
daß Raimund trotz unſerer ſo ſehr vergeßlichen Zeit doch
noch unvergeſſen iſt! Ich meine das Trauerſpiel Julius
Reuper's: »Ferdinand Raimund«. Der Dichter zeichnet
uns hier mit Wärme und Pietät die Kämpfe, welche
Raimund zu beſtehen hatte, ehe er — der arme Conditor¬
lehrling — ſich der vergötterten Bühne widmen durfte —
die Dornen ſeines Künſtlererdenwallens — und ſeinen
Tod. Es wäre eine intereſſante und dankbare Aufgabe
unſerer Bühnen, durch dies Trauerſpiel das Andenken
Ferdinand Raimund's neu zu beleben.


Zur großen Betrübniß unſeres zeiſiggrünen Sepperl
hatten wir die ungemüthliche »Goldene Anden« ſchon
den dritten Tag mit dem comfortablen »Erzherzog Karl«
vertauſcht.


Ich mußte nun auch ernſtlich daran denken, mich
den Gewalthabern des Burgtheaters vorzuſtellen und das
Nöthige wegen meines Gaſtſpiels Anfangs Auguſt zu be¬
ſprechen. Ich beſuchte zuerſt den artiſtiſchen Direktor
Deinhardſtein und fand einen liebenswürdigen, jovialen
Herrn, der es gewohnt zu ſein ſchien, das Leben und die
Kunſt und ſeine Stellung möglichſt bequem und leicht auf
die Achſeln zu nehmen. Er war in Wien als paſſionirter
Angler bekannt und ließ ſich dann nicht gern durch Direk¬
tionsgeſchäfte ſtören. Ueber ſeinen Chef, den Oberſt¬
kämmerer und Intendanten Grafen Czernin, der eines
[275] ſchönen Tags den verdienſtvollen, aber ziemlich kurz an¬
gebundenen Direktor Schreyvogel sans façons in Un¬
gnaden »fortgejagt« und den Verfaſſer von »Hans Sachs«
und »Garrick in Briſtol« zu deſſen Nachfolger ernannt
hatte, ſprach er ziemlich ungenirt — ja unvorſichtig,
und ſchob alle Verwaltungs- und Direktionsſünden des
Burgtheaters dem Herrn Grafen lachend in die Oberſt¬
kämmererſchuhe. Ich weiß nicht, ob es Deinhardſtein's
Ernſt war, daß er ſelber die ſtiefmütterliche Behandlung
des Trauerſpiels mir gegenüber bedauerte, oder ob er
glaubte, ſich mir — die ich mit Begeiſterung von der
klaſſiſchen Berliner Zeit ſprach — dadurch im günſtigſten
Lichte zu zeigen.


Den Intendanten mußte ich in Schönbrunn auf¬
ſuchen. Wie war ich enttäuſcht von dieſer berühmten —
jetzt ſo öden, traurigen, vernachläſſigten kaiſerlichen
Sommerreſidenz — — und der Graf Czernin erſchreckte
mich förmlich beim erſten Anblick. Ich hatte an einen
ſtattlichen, liebenswürdigen und geiſtvollen Grafen Brühl
gedacht, der mir von Berlin her unvergeßlich als Inten¬
dant war — — und fand ein uraltes, vertrocknetes
Männchen mit tauſend Runzeln in dem winzigen Geſicht¬
chen, erloſchenen, faſt blöden Augen — und geſchminkt
und geputzt wie ein franzöſiſcher Marquis des ancien
régime
. Damit harmonirte auch ſein ganzes Auftreten
und ſein — künſtleriſches Urtheil.


Ebenſo ungenirt, wie Deinhardſtein ſich gegen
die Fremde über ſeinen Chef ausgeſprochen hatte,
18 *[276] plauderte dieſer über ſeinen Direktor und über die
Schauſpieler.


»Frl. Peche iſt die Perle unſerer Bühne in naiven
und kindlich elegiſchen Partien. . . . Die Königin von
ſechzehn Jahren ſpielt ſie unvergleichlich, obgleich Anſchütz
ſie durch ſein langſames Sprechen ſchlecht unterſtützt, ſo
daß die arme kleine Königin während ſeiner endloſen
Rede am Schluß des Stücks nicht mehr weiß, wo ſie
ein wirkſames Mienenſpiel hernehmen ſoll. . . .«


»Aber Excellenz, Anſchütz iſt doch ein Meiſter aus
der klaſſiſchen Schule. . . .«


»Mag ſein« — ſagten Excellenz nachläſſig — »ich
kümmere mich um die klaſſiſchen Stücke wenig, Drama
und Trauerſpiel langweilen mich zum Sterben. . . . Und
wenn nicht das Luſtſpiel wäre, möchte der Henker den
ganzen Theaterkram holen. . . .«


Etwas neugierig klopften Excellenz an: ob ich wohl
Engagementspläne für das Burgtheater hege.


Unbefangen und aus voller Seele ſagte ich: »Nein,
Excellenz! Mein Fach iſt hier reichlich beſetzt, und ehe
ich in Norddeutſchland wieder ein Engagement annehme,
möchte ich noch einige Zeit gaſtiren. Wenn die Wiener
mich aber bei meinem bevorſtehenden Debüt freundlich
aufnehmen, ſo wird es mich glücklich machen, hin und
wieder auch am Burgtheater zu gaſtiren.«


Da floſſen Excellenz faſt über vor Süßigkeiten —
aus der Galanterie-Bonbonniere des ancien régime.
[277] Er hatte gefürchtet, ich wolle ſeine liebe kleine Peche
verdrängen.


Auch die Wiener Geſelligkeit ſollte ich kennen und ſchätzen
lernen. Baron d'Andlaw, erſter Geſandtſchaftsſekretär bei
der badiſchen Geſandtſchaft, brachte der Mutter und mir den
landsmannſchaftlichen Gruß ſeines Chefs, des Grafen Tetten¬
born, und die Einladung zum Diner am nächſten Tage.
»Sie werden auch den Prinzen Guſtav Waſa ſehen. . . .«


»O, ich habe mit ſeinen Schweſtern Cäcilie und
Amalie einſt ſo fröhlich auf den Kinderbällen getanzt,
die von der Frau Markgräfin häufig auf dem Schloß in
Karlsruhe gegeben wurden, weil die Kaiſerin Eliſabeth
ſolche kleine Feſte ſehr liebte. . . . Und auch des ſchwe¬
diſchen Kronprinzen Guſtav Waſa erinnere ich mich noch
ſehr gut, wie er ſo blaß und ſchmächtig und melancholiſch
durch die Straßen von Karlsruhe ritt und wir Kinder
ihm nachſchauten und uns geheimnißvoll wichtig zu¬
flüſterten: Sein Vater war ein König — und weil die
böſen Schweden dem die Krone genommen und ihn und
die Königin und die armen Kinder aus ihrem Königreich
getrieben haben — darum iſt Prinz Guſtav ſo traurig
und blaß und mager. . . .«


»Nun traurig und blaß und mager iſt Guſtav Waſa
heute gerade nicht mehr« — lachte Baron d'Andlaw —
»man gewöhnt ſich im Leben mit der Zeit an Alles —
ſogar an eine verlorene Königskrone!«


[278]

»Aber ſein Vater hat es doch ſein Leben lang nicht
verwinden können. . . . Es muß auch zu troſtlos ſein: erſt
die Krone und die Heimat — und dann noch die Gattin
und die Kinder zu verlieren. . . . Armer Oberſt Guſtav¬
ſon!«


Graf und Gräfin Tettenborn hatten den ſeligen
Vater gekannt und zeigten in herzlichſter Weiſe ſeiner
Wittwe und Tochter, wie ſehr ſie ihn ſchätzten. Ihr
liebenswürdiges Haus wurde uns während unſeres Aufent¬
halts in Wien bald ein Stück badiſcher Heimat.


In dem runden, rothwangigen, echt Wieneriſch lebens¬
luſtigen Prinzen Guſtav Waſa hätte ich freilich den armen,
blaſſen, melancholiſchen Königsſohn ohne Land und Krone
aus Karlsruhe nicht wiedererkannt.


Gräfin Fikelmont in Petersburg hatte mir ein Em¬
pfehlungsſchreiben an die franzöſiſche Geſandtin, Marquiſe
St. Aulair, gegeben und mit feinem Lächeln hinzugefügt:
»Sie werden Legitimiſten pur sang kennen lernen!«


Ich wurde anfangs etwas enttäuſcht! Die ganze
Geſandtſchaft war mir zu — koloſſal gebildet, zu über¬
irdiſch ſanftmüthig und weltverachtend — und ſelbſt die
jungen, hübſchen Töchter gemeſſen und zugeknöpft, wie
Puritanerinnen. Alle ſchienen einen geheimen Schauer
vor dem helläugigen, lebensluſtigen Weltkinde zu em¬
pfinden, das noch obendrein den gottverlaſſenen Brettern
angehörte. Aber nach und nach entſchauerten und knöpften
ſie ſich einer nach dem Andern auf. Wir plauderten über
Petersburg, Paris, die Mars . . . und ich fand zuletzt
[279] ſo ſehr Gnade vor den Weltluſt verachtenden Augen,
daß die Frau Marquiſe mir die Hand drückte und ver¬
ſicherte: ſie würde alle meine Debüts beſuchen. . . »Ah,
vous jouerez la jeune maraine? On dit: une char¬
mante pièce . . . mais la jeune maraine — est elle
bien éleevée?«


Ich konnte mit gutem Gewiſſen ſagen, daß die junge
Pathin eine ſehr wohlerzogene Perſon ſei.


Bei dem berühmten Orientalen Hammer-Purgſtall
fühlte ich mich dagegen gleich heimiſch. Hier lernte ich
alle Größen der Kunſt und Wiſſenſchaft des damaligen
Wien kennen. Mit dein feinſten Takt und unermüdlicher
Liebenswürdigkeit verſtanden Wirth und Wirthin es,
alle Gäſte des vielgeſuchten gaſtfreien Hauſes mit einander
bekannt zu machen.


Fürſt Gortſchakoff, erſter Attaché der ruſſiſchen Ge¬
ſandtſchaft, machte mir auf den Empfehlungsbrief des
Fürſten Wolkonſki in Abweſenheit ſeines Chefs in feinſter
und zuvorkommendſter Weiſe die Honneurs ſeines Landes,
dem ja auch ich drei Jahre hindurch mit Vergnügen an¬
gehört hatte. Ein echter Kavalier, mit den eleganteſten
Manieren, rundem, behaglichen Geſicht, ſanften Zügen,
gütigem Lächeln, großen klugen Augen, geiſtvoller, ja
bezaubernder Unterhaltung — machte der Fürſt ſchon
damals den Eindruck einer bedeutenden Perſönlichkeit. . .
Aber er ſelber ahnte wohl noch nicht, daß er berufen
ſei, als Diplomat eine ſo große und für ganz Europa ſo ein¬
flußreiche Rolle auf dem politiſchen Welttheater zu ſpielen!


[280]

»En d'autres villes on mange – ce n'est qu'à
Paris qu'on dine«
— ſagt Alexander Dumas, der
größte Epikuräer an der Seine, irgendwo. Als er dies
niederſchrieb, kannte er die luſtige Kaiſerſtadt an der
Donau noch nicht, ſonſt hätte er zu Gunſten Wiens ſicher
eine Diner-Ausnahme gemacht. Ich wenigſtens habe
ſelbſt in Paris nicht ſo köſtlich und ſo angenehm dinirt,
wie in Wien ſogar in den öffentlichen Lokalen. Schon
daß es im »Erzherzog Karl« keine langen und langweiligen
tables d'hôte gab, an denen man mit wildfremden und
oft recht unerquicklichen Leuten, von der Laune des Kellners
bunt zuſammengewürfelt, pflichtſchuldigſt die lange Speiſe¬
karte abhaſpelt, gefiel mir außerordentlich. Wir ſaßen
da mit guten Freunden nach unſerer Wahl an kleinen,
elegant und appetitlich ſervirten Tiſchen zuſammen, und
nach unſeren Wünſchen war das reizendſte kleine Diner
ſchnell zuſammengeſtellt. Häufig »dinirten« wir mit
unſeren Freunden auch in irgend einem der ſchönen Gärten
im Prater oder in den Vorſtädten Wiens unter den kühlen
Bäumen und unter den entzückenden Melodien von Strauß
und Lanner an ſolchem Tiſchchendeckdich.


Beſonders eins von dieſen kleinen improviſirten Diners
iſt mir unvergeßlich. Unſere Tiſchgenoſſen waren der liebens¬
würdige Dichter der »Todtenkränze« — der »nächtlichen Heer¬
ſchau« und des »Sterns von Sevilla«: der Kammerherr
des Kaiſers Joſeph Freiherr von Zedlitz, die Herren von
Dalberg und Varnhagen, Dr. Witthauer und Frau Brede.
Die Nord- und Süddeutſchen ſprühten bald im brillan¬
[281] teſten Witzkreuzfeuer: pro et contra Berlin oder Wien!
Jeder wußte einen Vorzug ſeiner Stadt in das beſte
Licht zu ſtellen. Als ich an die Reihe kam, meine Lanze
zu werfen, ſagte ich: »Von Politik verſtehe ich nichts
und bin auch herzlich froh darüber. Aber ſo viel ich in
dieſer kurzen Zeit vom Wiener Leben geſehen habe, ſo
hat Berlin einen Vorzug vor Wien: — den der —
äſthetiſchen Verehrer von uns Künſtlerinnen!«


»Ah! — wie ſo? — wie ſollen wir das verſtehen?«


»In Berlin giebt es ſolche Verehrer zu Dutzenden,
die den Künſtlerinnen Abends nach dem Theater am
Wagen eine zierliche, anbetende Verbeugung machen —
und ſchon für unendlich kühn gelten, wenn ſie Sonntag
Mittags nach der Kirche in feinſter Tournüre ihren
Angebeteten eine Stutzviſite machen, ein Bouquet über¬
reichen oder ein Gedicht auf roſa Seidenpapier durch die
Poſt überſchicken. . .«


»Und« — fiel Witthauer faſt wehmüthig ein —
»unendlich glücklich ſind, wenn ſie auf den Geburtstags¬
tiſch einer verehrten Künſtlerin einen blühenden Roſen¬
ſtock ſtellen dürfen. . .«


Gerührt reichte ich dem treueſten der Freunde die
Hand.


Schon lange hatte ich bemerkt, daß ein ſchlanker,
blonder und auf's Zierlichſte herausgeputzter Jüngling,
der am Tiſchchen neben uns ſaß und uns durch Baron
Zedlitz als Graf B. L. vorgeſtellt war, dieſem Geſpräch mit
der größten Spannung — ja Verwunderung gefolgt
[282] war. Schon mehr als einmal hatte er ſein duftendes
Lockenköpfchen bedenklich geſchüttelt — jetzt hielt er ſich
nicht länger, trat an unſeren Tiſch und ſah mich mit
ſeinen weitaufgeriſſenen grünlichen Augen ſchier entſetzt
an: »Erlauben's, meine Herrſchaften, daß i auch a Wörtl
mitſchwätz — denn die Lieb iſt mei Paſſion. . . Wie
mi aber ſcheint, iſt die Red von der romantiſchen Lieb?«


Wir lachten herzlich und Witthauer flüſterte mir zu:
»Ein berühmter Wiener beau


»Ja, Herr Graf,« ſagte ich — »von der einzig
wahren — ewigen Liebe. . .«


»Jetzt laſſen's mi aus, mei Gnäd'ge« — lachte der
beau — »die langweil'ge Geſchicht' von der ewigen Lieb
hab' i auch ſchon a mal mitgemacht, bin aber bald gründ¬
lich davon kurirt word'n. . . I war in die allerliebſte
kleine Peche ſterblich verliebt, hab' g'ſeufzt und g'ſchmacht
zum Erbarmen, Blumen und G'dicht geſchickt. . . bis i
vor Lieb ganz blaß und mager g'worden bin. . . Abers
nach drei Wochen hab i g'ſehn, daß dieſe romantiſche
ewige Lieb a groß Dummheit iſt und mi vorgenommen,
nie mehr romantiſch und ewig zu lieben. . .«


Ich mußte ſo unaufhaltſam lachen, daß der beau
faſt verlegen wurde und nicht recht wußte, ob er meine
Heiterkeit übel nehmen oder einſtimmen ſollte. Zum
Glück zog er vor, das Letztere zu thun. Die Mutter
lenkte auf ein weniger gefährliches Thema ein — wir
ſprachen über die Vorzüge von Strauß und Lanner.


Ich hatte Beide oft im Prater gehört. Es war eine
[283] Luſt, Strauß ſeine Tänze dirigiren zu ſehen: den kleinen,
beweglichen Mann mit der kleinen Zaubervioline in der
Hand: er hüpfte, nickte, geigte, wiegte ſich in zitternder
Aufregung nach den berauſchenden Tönen. Das Orcheſter
leiſtete Vorzügliches, Oberon's Horn konnte nicht zaube¬
riſcher zum Tanzen einladen.


»Wer g'fällt Ihna halt beſſer — der Strauß oder
der Lanner?« fragte mich unſer beau.


»Ich höre Beide gleich gern — aber tanzen
möchte ich mit dem beſten Tänzer nach Strauß — mit
dem liebſten nach Lanner. Die Walzer von Strauß
ſind frohſinniger — die von Lanner poetiſcher — gefühl¬
voller. . .«


Der beau ſah mich an, als wollte er ſagen: »Ihr
Norddeutſchen ſeind doch halt a närriſch Volk mit eurer
romantiſchen ewigen Lieb und poetiſchen gefühlvollen
Muſik — i freu mi ſehr, daß i a luſtig Wiener bin.« —


Es war die höchſte Zeit, an mein kontraktlich ver¬
ſprochenes Gaſtſpiel in Peſt zu denken. So hieß es
denn auf einige Wochen von der luſtigen Kaiſerſtadt an
der ſchönen Donau ſcheiden. An einem flimmernden
Junimorgen rollten wir alſo zum Thore hinaus —
Ungarn zu. Die Mutter und ich, Hündchen Cora und
Papagei Coco ſaßen im Wagen, der Diener neben dem
Poſtillon auf dem Bock. Die ungariſchen Poſtillone
ſind flink und ſehen in ihren maleriſchen Koſtümen gar
ſchmuck aus. Sie fahren faſt ebenſo toll, wie die
ruſſiſchen, nur daß dies auf der ſchmalen, hochgewölbten
[284] Chauſſee, zu beiden Seiten tiefe Gräben, ſpärlich mit
melancholiſchen alten Weiden eingefaßt, viel gefahrvoller
für uns war, als auf den ruſſiſchen Ebenen. Da half
kein Bitten und Befehlen — wie die wilde Jagd ging's
weiter, oft mit zwei Rädern ſchon im Graben. Aber
wirklich lebensgefährlich wurde dieſe Fahrt, als uns
einige Meilen vor Peſt auf dieſer ſchmalen Straße eine
Heerde von 5—600 ungariſchen Ochſen entgegenkam.
Es waren große, prächtige Thiere, ſchneeweiß, mit
geraden, abſtehenden Hörnern, jedes wohl eine Elle lang.
Anfangs ergötzte mich dies weißwogende lebende Meer
um uns her, wenn die ſchönen Thiere den Kopf mit den
großen, feuchtglänzenden Juno-Augen neugierig in den
Wagen ſteckten. . . Aber Cora und Coco ſchienen weniger
Geſchmack an den Fremdlingen zu finden — ſie bellten
und ſchimpften nach Kräften auf die Gehörnten ein und
zur Abwechslung pfiff Coco ſein Bravourſtück — das
Jägerlied aus dem Freiſchütz. . . Da ſtutzten die Schlepp¬
füßler und wie ein Palliſadenzaun ſtarrten uns die
Hörner entgegen. . .


»Still — zudeck — muckſtill — oder wir ſein
kaput!« ſchrie der Poſtillon in ſeinem gebrochenen Deutſch
und griff nach einem Weidenaſt, als wolle er ſich hinauf¬
ſchwingen. Zum Glück für uns konnte er dieſen Zu¬
fluchtsort nicht erreichen — der Gute hätte uns ſicher
unſerem Schickſal und den Gehörnten überlaſſen. Der
Diener ſaß halb ohnmächtig auf dem Bock. Ich deckte
geſchwind ein Tuch über Coco's Käfig. Die Mutter
[285] beruhigte Cora. . . und die Ochſen öffneten uns gro߬
herzig eine ſchmale Gaſſe. Ich hörte ſpäterhin erſt,
welch' einer großen Gefahr wir entgangen ſeien. Denn
wär mir ein einziger Ochſe wild geworden und hätte
uns mit ſeinen Hörnern attaquirt, ſo wären ſeine lieben
Kollegen unzweifelhaft ſeinem Beiſpiele gefolgt — und
mit meinen Kunſtreiſen wäre es wohl auf immer vor¬
bei geweſen.


Die Schweſterſtädte Peſt-Ofen gefielen mir ungemein;
beſonders Ofen liegt ſehr maleriſch auf dem Berge. Die
Straßen machen einen freundlichen, großſtädtiſchen Ein¬
druck und ſind mit den ſchönſten, ſtolzen, feurigen
Menſchen belebt. Sogar die Juden ſehen hier weniger
— jüdiſch aus, als in Poſen.


Aber welch' einen Schreck bekam ich, als ich bei der
erſten Probe das Peſter deutſche Theater betrat! Die
Bühne iſt über nochmal ſo breit und tief, als im Berliner
Opernhauſe, das Proſzenium wie ein troſtlos kahler
Exerzirplatz und der Zuſchauerraum kaum zu überſehen.
Dabei iſt das Haus ſo gegen alle Regeln der Akuſtik
gebaut, daß, wenn der Schauſpieler nicht mit ganzer
Lungenkraft ſchreit, er von vornherein darauf verzichten
muß, auch nur vom erſten Parterre verſtanden zu werden.
Darum dominirten anno 1834 in Peſt auch die Oper,
Spektakelſtücke und Lokalpoſſen.


Von meinem erſten Auftreten als Donna Diana
ſchweige ich am beſten. Wie verrathen und verloren
kam ich mir auf der Rieſenbühne vor und geiſterhaft
[286] klang mir meine eigene Stimme in dieſem weiten, öden
Raum. Ich hätte keine unglücklichere Wahl treffen
können, als dies graziöſeſte, feinſte aller Luſtſpiele. Alle
poeſieduftigen, zarten Nüancen verflogen ſpurlos in der
Leere und Hohlheit des Raumes und — der Augen,
Ohren und Herzen des ungariſchen Publikums, obgleich
die deutſchen Zuſchauer mir redlich ihre Theilnahme
zeigten, Verzweiflungsvoll griff ich zu ſtärkeren Mitteln
— und zwar zum »Letzten Mittel« der Frau von Weißen¬
thurn. Ich gab die Baronin Waldhüll . . . und mußte
das lieblich verſchämt zu mir ſelber geſprochene: »Er
kommt — er kommt gewiß!« laut in's Parterre hinab¬
ſchreien, um nur dort wenigſtens verſtanden zu werden
. . . und er, der Geliebte, der es doch nicht hören ſollte,
ſtand wenige Schritte von mir. . . Mich wundert heute
noch, daß ihm das Trommelfell nicht geſprungen.


Mir war das Weinen längſt näher, als das Lachen.
In dieſer Stimmung erklärte ich dem Direktor, daß ich
auf dieſer Bühne auf poetiſche Liebhaberinnen und
zarte Salondamen verzichten müſſe. . .


»Aber was dann, mein Fräulein?«


»Probiren wir einmal »Kartoffeln in der Schale«
— da kann Ihr werthes Publikum mich doch ſentimental-
naiv Kartoffeln ſchälen und kindlich hüpfen ſehen, wenn
es auch keine Sylbe verſteht« . . . ſagte ich mit wahrem
Galgenhumor.


Aber auch ſogar das »Hüpfen« ſollte mir in Peſt
verleidet werden und mir faſt meine Lunge koſten.


[287]

Es ging mit dem kartoffelſchälenden, kindlich naiven
Suschen Anfangs über Erwarten gut. Bis zur Fenſter¬
ſzene hatte ich mich glücklich durchgearbeitet und —
durchgeſchrieen. . . Nun ging das Hüpfen los und ich hüpfe
auch mit Bravour und ſeelenvergnügt, daß ich die ſeidene
Schürze, mit der ich ſpäter meinen geliebten Alonſo be¬
zaubern will, glücklich in den Spitzenkarton hineinpraktizirt
habe, unter jubelndem Beifall des Hauſes auf die Thür
zu — weiter und immer weiter. . . Endlich, nach einer
wahren Reiſe, habe ich die Thüre erreicht und ſchöpfe
draußen tief Athem, froh, daß auch dies Martyrium
glücklich überſtanden iſt. . . Aber, o weh! Suschens
Hüpfen hat vor den feurigen Augen und martialiſchen
Schnauzern der edlen Magyaren Gnade gefunden. . .
Sie rufen und rufen Eljen! und klatſchen und trampeln
und klatſchen — und das arme Suschen muß wieder
auf die Bühne hüpfen und ihren Dank knixen und
hüpft dann wieder ab . . . und ſo noch ein halb Dutzend
Mal von vorn an, bis meine arme Lunge ihren letzten
Hauch Athem geopfert hat. . . Und als die Tante Suschen
dann auffordert, im Zimmer zu bleiben und ihren Traum
zu erzählen . . . ja, da kann ſie nicht »jappen« und muß
die Tante und das hochgeehrte Publikum erſt panto¬
mimiſch um Geduld bitten, bis ſie ein wenig Athem
geſchöpft hat . . . und dann geht das in infini¬
tum
wieder von vorn an und die tapferen Magyaren
rufen wieder Eljen und Dacapo und klatſchen und trampeln,
und Suschen muß wieder fünf bis ſechs Mal vorhüpfen
[288] und knixen. . . Endlich liegt Suschen halb todt in ihrem
Garderobezimmer auf dem Divan und hat Weinkrämpfe
und wünſcht ſich ſelber tauſend Meilen fort — und wär's
in das Land, wo der Pfeffer wächſt — gleichviel, nur
fort. . .


Als ich mich dann bitter darüber beklagte, daß die
Hinterwanddekoration ſo unendlich weit zurückgehängt ſei
— ſagte der Maſchiniſt ganz ruhig und harmlos: »O,
Ihnen zu Liebe haben wir die Dekoration heut viel
näher vorgerückt, als ſonſt. . .«


»So? — Da wundere ich mich auch nicht mehr,
daß die Schauſpielerinnen hier nur noch lispeln können. . .
Schade nur, daß Dante die Peſter deutſche Bühne nicht
gekannt hat, er hätte ihr in ſeiner »Hölle« ſicher den
hervorragendſten Platz als Marterort für ſündige Schau¬
ſpieler angewieſen. . .«


Naive Hüpfrollen wollte ich nun auch nicht mehr
riskiren. Bereitwillig ging der Direktor ſein ganzes
Repertoir mit mir durch. Als ich auch »Waiſe und
Mörder« fand — da jubelte ich auf: »Ich ſpiele den
ſtummen Viktorin — da brauche ich weder zu ſprechen
noch zu hüpfen . . . o, wenn ich auf Ihrer Bühne doch
nur in ſolchen Rollen auftreten könnte!«


Der Gute lächelte verlegen. Er fühlte die Miſère
des deutſchen Theaters in Peſt nur zu gut, aber er
wußte keinen Rath.


Ich ſpielte den ſtummen Viktorin mit aller Luſt
und Leidenſchaft — und obgleich das feinere Mienenſpiel
[289] natürlich faſt ganz für das Publikum verloren ging, ſo
zeigte es ſich doch ſehr freundlich gegen die arme Waiſe.


Dann trat ich noch in einigen Birch-Pfeiffer'ſchen
Stücken auf, die damals auf der Höhe ihrer Beliebtheit
ſtanden. In den »Günſtlingen« amüſirte mich und das
ganze Haus ein komiſches Intermezzo, wie es aber auch
nur in — Peſt vorkommen konnte. Die Herren Studenten
und Offiziere brachten nämlich ganz familièrement ihre
vielgeliebten Hunde mit in's Theater. Daß ſie ihre
noch vielgeliebteren Pferde zu Hauſe ließen, erkenne ich
noch heute als ungemein rückſichtsvoll mit großem Dank
an. Plötzlich — im zweiten Akt der »Günſtlinge«, bei
einer ſehr ſentimentalen Szene, höre ich in weiter Ferne
einen Hund bellen . . . und ſehe gleich darauf etwas
Weißes durch die Luft fliegen. . . . Es war auch ein
»Günſtling« — ein großer Pudel. Er war im Zwiſchen-
Akt ſeinem Herrn, einem Studenten, aus dem Parterre
in den zweiten Rang gefolgt; ſolche Viſiten gab's
auch während des Spiels. Dort hatte der vierbeinige
Günſtling ſich ſo gut mit einem anderen Pudel unter¬
halten, daß er nicht bemerkte, wie ſein Herr fort¬
ging. Erſt während meiner Szene auf der Bühne war
es ihm eingefallen, ſich nach ſeinem Herrn umzuſehen.
Er fand ihn nicht mehr in der Loge und die Thür ver¬
ſchloſſen. Heulend ſtellte er ſich mit den Vorderfüßen
auf die Logenbrüſtung — da rief ihm ſein Gönner aus
dem Parterre ein helles, ermuthigendes »Ici, Caro, ici!«
zu — — und Caro ſprang kurz entſchloſſen unter dem
Erinnerungen ꝛc. 19[290] großen Jubel des ganzen Hauſes aus dem zweiten Range
in's Parterre hinab und ſo geſchickt auf den Kopf einer
alten fetten Jüdin, daß er ihre Dormeuſe und ihren
ganzen Schatz falſcher Rabenlocken mit ſich fortriß. . .
Das ganze Haus brach natürlich vor Entzücken in einen
raſenden Beifallſturm aus.


Aber ich ſollte in Peſt noch reichere Bühnen¬
erfahrungen machen und zum erſten Mal mit einem —
geprügelten Liebhaber ſpielen.


Schon in der Probe von »Maria Petenbec« bemerkte
ich, daß mein feuriger Verehrer ſtets die linke Seite des
Geſichts mit ſeinem Taſchentuch bedeckt hielt.


»Haben Sie Zahnſchmerzen, Herr Grohmann?«
fragte ich theilnehmend.


»Das gerade nicht,« ſagte er etwas verlegen und
lüftete ein wenig das Tuch. Ich ſah große blaugrüne
Flecken.


Noch immer arglos ſagte ich: »Sie hätten ſich die
Augen aus dem Kopf fallen können — gewiß iſt dieſe
entſetzliche Bühne Schuld daran. . .«


Da lächelte er — über meine Unſchuld. »Auch
das nicht! Ich gerieth nur geſtern Abend in einer Wein¬
ſtube mit einigen Studenten in Streit über Deutſchthum
und Magyarenthum . . . und zuletzt blieb es nicht bei
Worten. Aber Bruder Studio hat auch ſeine Püffe
bekommen. . .«


»O weh! — Da werden Sie ſicher heute Abend
ausgepfiffen und — ich mit Ihnen. . . Es muß entſetzlich
[291] ſein, einem pfeifenden Hauſe gegenüberzuſtehen — voll¬
ſtändig machtlos. . .«


»Haben Sie ſich das noch nicht verſucht, liebes
Fräulein?« fragte Grohmann wie erſtaunt. »Mir iſt
das ſchon oft paſſirt und ich bin nicht daran geſtorben. . .
Aber ſeien Sie ganz ruhig,« fügte er faſt mitleidig
lächelnd hinzu — »bis heute Abend iſt Alles wieder in
beſter Ordnung. Gleich nach der Probe feiern wir
ein kleines Friedensfeſt in feurigem Ungarwein!«


»Nur nicht zu feurig, wenn ich bitten darf« —
rief ich, ſchon wieder an eine neue Gefahr denkend: daß
aus dem geprügelten auszupfeifenden Liebhaber ein ſtark
angeſäuſelter werden könne! Ja, man mußte in Peſt
auf Alles gefaßt ſein.


Doch es ging über Erwarten gut. Der Blau¬
geprügelte war nur ein wenig — angeheitert. Er wurde
von den zahlreich im Stehparterre anweſenden Studenten
glänzend empfangen und mit mir nach jeder Szene gerufen.
»Sehen Sie,« ſagte er triumphirend zu mir, »daß ein
paar blaue Flecken auch ihr Gutes haben und daß man
in Peſt zu leben verſteht — leben und leben laſſen!«


Aber nicht alle Mitglieder der deutſchen Bühne
ſahen das Peſter Leben in ſo roſigem Licht und lebten
es ſo leichtlebig mit, wie Herr Grohmann. Ich hatte
mich gefreut, eine Tochter meiner guten alten Berliner
Freundin, Frau Krikeberg, bei der Rahel ſo gern Lebens¬
weisheit ſuchte und fand, als Frau Dehni in Peſt zu
finden. Sie war für das Charakterfach und Anſtands¬
19 *[292] damen engagirt — und ſeufzte die Zeit herbei, wo ihr
Kontrakt zu Ende und ſie nach Deutſchland zurückkehren
könne. »Selbſt nach Jahren fühlt der Deutſche ſich hier
— ſtets in der Fremde. Gemüthliche Geſelligkeit iſt in
Peſt nicht zu finden, nur ein wildes Jagen nach Ver¬
gnügen.«


»Aber ſchön iſt dieſe Race« — ſagte ich. »Wie
impoſant und feurig elaſtiſch ſchreitet die Jugend einher,
die ſchlanken, graziöſen Geſtalten durch maleriſch kleid¬
ſames Koſtüm noch gehoben — dazu dieſe ideal ſchönen
Züge — blitzenden Augen — über dem zierlich gewölbten
Munde mit den lachenden Zähnen das keckſte Bärtchen. . .«


»Und wenn dieſes reizende Mündchen ſich öffnet
und der koſtbare Schnauzer ſich kräuſelt . . . dann ent¬
fliehen dem Gehege dieſer lachenden Zähne die geiſtvollen
Worte: Pferde — Frauen — Hunde — Pfeifen . . . und:

»Rückwärts! rückwärts! Don Rodrigo,

Rückwärts! rückwärts! edler Eid!«

. . . Pfeifen — Hunde — Frauen — Pferde. . .«


Frau Dehni mußte traurige Erfahrungen mit dieſen
ſchönen kühnen Schnurrbärten gemacht haben!


Mir gegenüber entkräuſelten ſie ſich nur in liebens¬
würdigſter, achtungsvollſter Weiſe. Mein Gaſtſpiel in
Peſt gehört zu den beifallrauſchendſten, die ich kennen
lernte. Vierzehn Mal ſpielte ich vor dichtbeſetztem Hauſe
— und doch war ich überfroh, als ich mich endlich
glücklich durch dieſe Herkulesaufgabe durchge—ſchrieen
hatte.


[293]

Käthchen von Heilbronn war meine letzte Rolle.
Ob das Publikum von der poetiſchen Traumſzene unter
dem Hollunderbuſch auch nur ein Säuſeln gehört hat —
ich glaube es kaum. Mir war zuletzt Alles furchtbar
egal geworden.


»Mutter« — ſagte ich nach der Vorſtellung auf¬
athmend — »nachdem ich dies Gaſtſpiel überwunden
habe, muß mir jede Aufgabe der bretternen und der
erdigen Welt leicht werden!«


Gleich nach der Vorſtellung fing ich an zu packen.
Schon in der Frühe wollten wir Peſt verlaſſen. Da
ertönte unter meinem Fenſter die herrlichſte Militair¬
muſik. Die Offiziere, denen ihre weiß-grünen Uniformen
gar ſchmuck ſtanden, brachten mir ein Ständchen. Das
ſtimmte mich ſehr fröhlich — aber es mußte doch weiter
gepackt werden. Nach den brauſenden Klängen eines
Galopps chaſſirte ich mit Käthchens altdeutſcher Haube
nach dem Hutkaſten — ihr Brautkleid wurde in den
Koffer gewalzt. Die Gulden, mit denen ich die Gaſthof¬
rechnung bezahlte, hüpften nach den ſprühenden Tönen
eines feurigen Cſardas. Mein dankendes Grüßen vom
Fenſter aus brachte mir deutſche Vivats und ungariſche
Eljens ein.


Ich habe Peſt nie wieder geſehen, aber mich herzlich
gefreut, als ich kürzlich in den Zeitungen las: das deutſche
Theater in Peſt wird abgebrochen, obgleich Felicitas von
Veſtvali, dieſer moderne Hamlet und Romeo, eine ſehr
bedeutende Pachtſumme darfür geboten hat.


[294]

Was aber wohl Ludwig Devrient und Pius Alex¬
ander Wolff — oder Auguſte Stich und Amalie Wolff
dazu geſagt hätten, wenn ihnen ein weiblicher Hamlet
hätte über ihre liebe, ſo hoch gehaltene Bühne ſtolziren
wollen. . . oder gar William Shakeſpeare?


Ja, die Zeiten ſind ſehr — ſehr anders geworden!


Meine Ferien bis zu meinem Wiener Gaſtſpiele
verlebten wir in dem reizenden Baden bei Wien. Das
war ſo recht ein grünes, friedliches Plätzchen, das Peſter
Martyrium zu vergeſſen und davon auszuruhen. Durch
das liebliche Thal mit den ſauberen Bauernhäuschen
und zierlichen Villen führt ein anmuthiger Promenaden¬
weg. Sonntags war hier das ganze luſtige und glän¬
zende Wien zu ſehen: an der Spitze Kaiſer Franz mit
den Prinzen und Prinzeſſinnen. Auch in der Woche
kam der leutſelige Monarch manchmal nach Baden.
Er war hier, wie in Wien, die populärſte Figur, und
ſah ſo recht väterlich wohlwollend aus. Und doch er¬
zählte man ſich lachend, daß er ſich von ſeinen Miniſtern
— ſeine Faſſerl nicht aufſchlagen ließ.


Die Miniſter waren nämlich, wie gerade nicht
ſelten, in der größten Geldklemme. Sie ſtellten ſogar
Staatsbankerott in Ausſicht, wenn der Kaiſer nicht mit
ſeinem großen Privatvermögen, das in Fäſſern in den
Gewölben der Burg lagerte, zu Hülfe käme.


[295]

Doch der Kaiſer hatte auf alle Bitten und Vor¬
ſtellungen nur die eine Antwort: »Machen's was Sie
wollen — aber mei Faſſerl laß i nit aufſchlag'n!«


Der gute Franz hatte überhaupt ſeine eigene Art,
ſich aus der Affaire zu ziehen. Als der kleine Herzog
von Reichſtadt – der unglückliche König von Rom, der
Sohn Napoleon's und Marie Louiſens von Oeſtreich,
der nun auch ſchon ſeit zwei Jahren in der kaiſerlichen
Gruft bei den Kapuzinern in Wien von ſeinen Königs¬
träumen und Erdenſchmerzen ausruhte — als Knabe
ſeinen Großvater einſt fragte: »Warum haſt Du denn
meinen lieben Papa auf die häßliche Felſeninſel geſchickt,
daß ich ihn gar nicht ſehen kann?« — da antwortete
ihm Kaiſer Franz ſehr ruhig: »Weil dein Papa nit gut
'than hat — und wenn Du nit gut thuſt, kommſt auch
nach St. Helena!«


Als aber der Knabe ihn mit ſeinen großen, ſchönen,
traurigen Augen anſah und ernſthaft ſagte: »Gro߬
papa, ſag' mir, wie ich's mach', ich will auch nit gut
thun — daß ich zu meinem Papa komme, der hat mich
doch viel lieber gehabt, als ihr Alle. . .« Da ging dem
guten Franz doch die Weisheit aus — und er ſagte
ehrlich: »Da frag' Dei Mutter, die weiß das, wie's
g'macht wird — die will halt auch nit gut thun!«


Ich ſchrieb damals von Baden aus an meinen
Bruder:


»Der Thronerbe (der ſpätere Kaiſer Ferdinand I.)
iſt unſchön. Seine kleine plumpe Geſtalt mit dem großen
[296] Kopf fällt neben ſeiner ideal ſchönen Gemahlin — einer
rührenden Erſcheinung mit feinen, blaſſen, milden Zügen
— nur noch mehr auf. Aber er ſchaut ſo gutmüthig
und wohlwollend darein, daß ich mich redlich bemühe,
ſeine Unſchönheit gar nicht mehr zu ſehen. — Fürſt
Metternich hat die Haltung eines Königs und die Augen
eines klugen Miniſters. Die Fürſtin, ſeine zweite Frau,
iſt jung, blühend und ſehr graziös — aber ſie ſieht
ſtolz und ſelbſtbewußt aus. Dazu paßt prächtig die
kleine Geſchichte, die mir hier erzählt wird: Der Marquis
St. Aulair, der Geſandte des Bürgerkönigs Louis Philipp,
machte der Fürſtin einſt das Kompliment: »Welch' ein
prachtvolles Diadem ſchmückt Ihre ſchöne Stirn!«


Stolz antwortete ihm die Fürſtin: »Es iſt wenig¬
ſtens kein — geraubtes, wie das mancher Könige!«


Sogleich eilte der Marquis zum Fürſten Metternich,
erzählte ihm das Vorgefallene und ſagte: »Mein Fürſt,
nach einer ſolchen Beleidigung meines Königs von der
Gattin des öſtreichiſchen Staatskanzlers werde ich nach
Paris ſchreiben müſſen und um meine Abberufung bitten!«


Wie diplomatiſch fein war Metternich's Antwort!
Dem Marquis die Hand reichend, ſagte er mit milder
Würde: »Mon cher Marquis! J'ai aimé ma femme,
je l'ai choisie, mais — je ne l'ai pas élevée!«


Und der Marquis war beſänftigt.*)


[297]

Metternich's Töchter ſind ſchlank, blond, und mehr
anmuthig lieblich, als ſchön. Graf Sandor iſt ſtets an
der Seite ſeiner Angebeteten. Im Uebrigen betet der
hohe Adel hier in — ungenirteſter Weiſe an.


»Wer iſt die ſchöne, glänzende Amazone, die dort
mit dem jungen, eleganten Kavalier reitet?« fragte ich.


»Die Gräfin P. . . .«


»Sicher ein ſehr glückliches junges Ehepaar. Sie
ſind unzertrennlich, wie zwei Turteltäubchen!« ſagte ich
theilnehmend.


»Ja, ja, glücklich wohl — und ein Turteltäubchenpaar
auch — aber kein Ehepaar. . . Er iſt der Fürſt Tr. . .«


[298]

»Und Graf P. . . was ſagt der dazu?«


Dort fährt er die Tänzerin G . . ſpazieren!«


Ja, man lebt, promenirt, liebt und — badet hier
wunderbar gemüthlich in dem Wieneriſchen Baden. Ich
habe die Mutter heute Morgen in ihrem warmen Bade¬
ſalon beſucht und bin faſt geſtorben vor Lachen. Denke
Dir ein großes, luxuriös ausgeſtattetes Baſſin, in das
natürlich-warmes Waſſer fortwährend aus dem Boden
emporquillt. In dem Baſſin promeniren oft 20—30
Männlein und Weiblein, in lange, weite Bademäntel
gehüllt und bis an's Kinn im heißen Waſſer. Da hier
der Toilettenluxus natürlich ſehr erſchwert iſt, iſt alle
Kunſt auf die Friſur verwendet. Damen und Herren
ſind auf's Schönſte und Modernſte friſirt — als wollten
ſie zu Ball gehen. Und dabei die heiterſte und lebhafteſte
Unterhaltung zwiſchen den Badenden und den Gallerie¬
beſuchern. — Noch viel ungenirter geht es bei den kalten
Flußbädern zu. Die Schwimmlehrer, die auch bei den
Damenbädern das Regiment führen, erinnern mich an
das Wort jener Dame, die eine junge Freundin, als dieſe
ſich in Oſtende ſträubte, von dem Bademeiſter ſich in's
Meer tragen zu laſſen, damit beruhigte: »Kind, weißt
Du denn das noch nicht? Doktoren, Kammerdiener,
Friſeure, Schneider und Bademeiſter ſind für uns gar
keine Männer!« Unſere Schwimmlehrer behandeln die
ſtattlichſten und hochſommerlichſten Madams, wenn die
ſich noch an die Schwimmleine wagen, wie Kinder.
Eine ſolche Szene werde ich nie vergeſſen. Eine ſehr,
[299] ſehr dicke, mittelalterliche Jüdin war zum erſten Mal
an der Leine und geberdete ſich überaus zimperlich.
Von der Leine gehalten, lag ſie zappelnd auf dem Waſſer.


»Jetzt ſchaun's zu, Ihro Gnad'n — jetzt laß i
los . . .«


Kaum hatte die Gute jedoch die Naſe in's Waſſer
geſteckt, ſo ſchrie ſie mörderlich: »Halt! halt! i erſauf'
— i erſauf'. . .«


»Warum net gar! Bei mi iſt erſt a anzigs erſauft,
un die hat net parirn woll'n un war mager wie die
magerſte von Pharao's Kühen — und Ihro Gnad'n
ſeind fett, wie i no kane g'habt hab, und das Fett hält
Ihna ſchonſt allain oben. . . So, nun müſſen's ſich auch,
bewegen wie'n Fröſchli, erſt Handerl, dann Füßerl —
ſo, Ihro Gnad'n. . . Schaun's? Das Fett ſchwimmt
ganz allein — eins — zwei — drei — recht ſo, mei
Krötli, patſcherln ſchon panz paſſabel. . .«


Und die Hochſommerliche glänzte vor Stolz über
dies Lob und vor — Fett. . .«


Soweit jener alte Brief.


Intereſſant war ein ländlicher Ball, den die Fürſtin
Metternich als Dame patronesse in Baden zu einem
wohlthätigen Zweck veranſtaltete. Das ganze vornehme
und elegante Wien war dazu herausgekommen. Die
Patronin ſtrahlte im weißen, duftigen Spitzenkleide mit
friſchen Granatblüthen als Ballkönigin, ihre Stieftöchter
im weißen Muſſelin blühten wie liebliche Blumen. Lange
engliſche Locken waren die beliebteſte Frisur — und nach
[300] wenigen von Strauß und Launer abwechſelnd geſpielten
Tänzen glichen alle Tänzerinnen — der armen Ophelia
in der letzten Szene. Es wurde nicht getanzt — ſondern
geraſt. Davon zeugten auch die abgetretenen Schleppen,
verlornen Blumen und — ſogar einen weißen ſeidenen
Schuh ſah man fliegen.


Aber es ſollte nicht nur für die Armen getanzt,
ſondern für ſie auch Komödie geſpielt werden. Die
Burgſchauſpieler wirkten alljährlich bei dieſer von dem
Ortsvorſtande veranſtalteten Vorſtellung mit, und der
geniale Charakterkomiker Korn bat auch mich um meine
Unterſtützung. Ich ſagte gern zu — war es doch gleich¬
ſam eine Art Vorſpiel zu meinem Gaſtrollencyclus am
Burgtheater. Ich wählte die Salondame in dem feinen,
aus dem Franzöſiſchen überſetzten Luſtſpiel: »Zwei Jahre
verheirathet!« — und die letzten Akte der »Hageſtolzen«.
War doch die »Margarethe« in dieſem liebenswürdigen
Iffland'ſchen Stück mein erſtes und mich ſo glückbe¬
rauſchendes Debüt zu Karlsruhe, und ich durfte ja ſo
dankbar auf die zwölf Jahre Bühnenleben zurückblicken,
die zwiſchen der erſten kindlichen Margarethe und der
jetzigen lagen. Vielleicht brachte mir dieſe Glücksrolle
jetzt bei den Wienern auch ein freundliches Geſicht ein!


Ich ſollte nicht fehlgegriffen haben.


Kaiſer Franzerl ſagte nach den »Hageſtolzen« zu ſeiner
Tochter Marie Louiſe, die einſt Kaiſerin der Franzoſen war,
und deren Oberhofmeiſterin mit uns in demſelben Hauſe
wohnte und mir das hübſche Wort gleich wieder erzählte:

[301]

»Schau, Louiſerl, das war an ganz herzig's Mar¬
garethe! . . .« und nach den »Zwei Jahren verheirathet«
hatte der Kaiſer kritiſirt: »I hab' das Fräulein gern
g'ſehn — ſie ſpielt ſo comme il faut


Anſchütz war in den Hageſtolzen aber auch ein
herziger Hofrath, ſo treu und innig und wahr, ganz
wie meine verehrten Meiſter aus der alten Schule, —
und beſſere Partner als Korn und Herzfeld . . . und
einen genialeren Schneider, als den Herrn VON Bär
hätte ich nur für das Salonſtück nicht wünſchen können.


Ja, ich hatte mir die Winke über die jetzige »Mode-
Epoche« am Wiener Burgtheater wohl gemerkt, und
der ewig hungrigen Göttin Mode und ihrem mammon¬
dürſtenden Oberprieſter Bär, wenn auch mit ſchwerem
Herzen, meine ſo mühſelig in Peſt erſchrieene Gaſtſpiel¬
gage bis auf den letzten Heller zu Füßen gelegt für —
drei »himmliſche« Salondamen-Anzüge zu den »Zwei
Jahren verheirathet«.


Der Herr von Bär hatte ſich in Wien längſt den
Ruf eines Zauberers erworben, in deſſen Kleidern Hä߬
liche ſchön — Bucklige »wie eine Tanne ſo ſchlank« —
und Schöne wie — Engel ausſähen . . . und neben dieſer
Berühmtheit auch natürlich ein ganz anſtändiges Ver¬
mögen. Dies Wunder von Schneidermeiſter beſuchte
ſeine Kunden in eleganteſter Equipage, verſammelte
Sonntags in ſeinem glänzend eingerichteten Hauſe ein
Quartett und ſpielte ſelber dabei »zu ſeiner Erholung«
die erſte Geige. Nicht ohne Herzklopfen machte ich dieſem
[302] Wundermann meine Viſite. Er ſah mich mit ſcharf
prüfendem Blick von oben bis unten an und lächelte
wohlgefällig. Als ich ihm beſcheiden meine »Wünſche«
über Farbe und Stoffe mitgetheilt hatte, fing er ein —
Kunſtgeſpräch an. Endlich mußte ich mir doch erlauben,
den Herrn von Bär in zarteſter Weiſe zu bitten, ob er
nicht die Güte haben wolle, mir nun auch Maß zu
nehmen. . .


Da richtete er ſich würdevoll auf, ſah mich noch
einmal mit dem unfehlbaren Blick eines Imperators
von oben bis unten an und ſagte: »Mein gnädiges
Fräulein, ich nehme nie Maß — nie!«


»Aber — aber wie,« — ſtotterte ich, denn ich
glaubte unbewußt ein Kapitalverbrechen gegen den großen
Mann begangen zu haben.


»Mein gnädiges Fräulein, ich ſehe die Damen nur
einmal an — ich habe auch Sie bereits angeſehen und
ich garantire Ihnen: die Kleider ſitzen wie angegoſſen. . .«


Ich war vernichtet!


Aber der Herr von Bär rächte ſich nicht für meinen
Frevel, daß ich ihn in eine Ideenverbindung mit einem
ganz ordinären Schneidermaß bringen konnte — — die
drei Toiletten ſaßen »wie angegoſſen« und machten
Furore.


Wenn ich aber an dieſe und andere Bären-Rechnungen
denke — ſo fühle ich noch heute einige Gewiſſensbiſſe über
den Leichtſinn: die Wiener Burgtheater-Mode-Epoche mit¬
gemacht zu haben. —


[303]

Da ſaßen wir denn wieder wohlbehalten und traulich
im hübſchen »Erzherzog Carl« zu Wien und die Vorbe¬
reitungen für mein Gaſtſpiel begannen. Zunächſt machte
ich den Kollegen vom Burgtheater meinen Beſuch.


Es war damals freilich und iſt auch leider noch heute
Sitte, daß die gaſtirenden Künſtler ſich ſolchen Höflich¬
keitsbeſuchen durch Ueberſendung der Viſitenkarte gern
entziehen und die Kollegen, mit denen ſie auftreten, erſt
in der Probe begrüßen. Ich habe dieſe kühle Höflichkeit
nie mitgemacht und ſtets den größten Genuß davon ge¬
habt und auch nicht wenig Weltweisheit — nicht nur
der bretternen Welt — dabei gelernt. Das waren meine
lieben Privat-Gaſtreiſen — und noch heute erinnere ich
mich mit dem treuen Gedächtniß des Herzens dankbar
jener frohmüthigen, belehrenden, Geiſt und Herz er¬
friſchenden Beſuchsſtunden bei den alten, werthen Kollegen
an den bedeutendſten Theatern Deutſchlands, Rußlands
und Frankreichs. . . Aber unter faſt allen jenen einſt ſo
volltönigen Namen ſteht ſchon ein ſchwarzes Kreuzchen!


Ich wurde in Wien von allen Kollegen ſehr freundlich
aufgenommen — ſogar von Karoline Müller, mit der ich
vor neun Jahren an der Königſtädter Bühne in Berlin
jenes Rencontre hatte, das mir ſo viel Thränen gekoſtet.
Jetzt lachten wir herzlich über die alten Scharmützel
wegen meiner geliebten Gräfin Elsbeth, die auf dem
Tournier von Kronſtadt einen ſo herrlichen blinden
Theaterſchimmel reitet. . . und dieſen Schimmel, der mir
nach meiner Meinung allein gebührte, mußte ich von
[304] dem gaſtſpielenden Fremdling mir vor der Naſe weg¬
kapern ſehen. Ja, das that meinem ſiebenzehnjährigen
kunſtglühenden, ehrgeizigen Herzen bitter weh!


»Und nicht wahr, jetzt ſehen Sie ſelber ein, daß
ich Ihnen den theuren Schimmel nicht laſſen konnte?«
ſagte Karoline Müller. »Ruhe iſt die erſte Bürger- —
Selbſterhaltung aber die erſte Künſtlerpflicht!«


»Nun, wenn auch gerade nicht die erſte Künſtlerpflicht
— ſo doch leider Gottes eine bittere Nothwendigkeit, wie
ich ſeitdem auch ſchon erfahren habe«, ſeufzte ich. »Ja, Vol¬
taire hat nicht ſo Unrecht, wenn er behauptet: Il faut
pour réussir, qu'un artiste ait le diable au corps . . .
«


Ich wollte als »Suſchen« debütiren, weil ich gerade
in dieſer Rolle ſo glänzende Erfolge hatte, ſogar auf
dem öden Exerzirplatz des Peſter Theaters.


Nicht brillant genug für Wien — keine Toiletten-
Effekte!« ſagte Karoline Müller bedenklich.


Ich ſollte ſpäterhin bereuen, ihrer Welt- und be¬
ſonders Wien-Erfahrung nicht vertraut zu haben und
meinem eigenen Kopfe gefolgt zu ſein.


Einen intereſſanten Beſuch glaubte ich bei Frau von
Weißenthurn, deren allerliebſten Stücken ich als Pauline
— Baronin Waldhüll — Julie in »Beſchämte Eiferſucht«
u. ſ. w. ſo hübſche Erfolge verdankte, machen zu können.
Sie wohnte in einer reizenden Villa vor den Thoren
Wiens und lebte in ſehr behaglichen, ja ſogar glänzenden
Verhältniſſen. Eines Koblenzer Schauſpielers Kind, hatte
Veronika Grünberg mit ihren Geſchwiſtern ſchon in den
[305] 70ger und 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts die
jetzt längſt vergeſſenen Kinderkomödien aus Weiße's
Kinderfreund geſpielt. Auch ſie war, wie ich, ſchon mit
vierzehn Jahren als jugendliche Liebhaberin engagirt,
und zwar 1787 am Hoftheater in München. Drei Jahre
darauf kam ſie an's Wiener Burgtheater, heirathete, den
Herrn von Weißenthurn und ſpielte viele Jahre — die
böſe Welt ſagte ſogar: viel zu viele Jahre erſte Lieb¬
haberinnen. Auch jetzt, trotz ihrer Erfolge als Schau¬
ſpieldichterin und trotz ihrer 61 Jahre, war ſie dem
Theater noch treu und ſpielte ältere Charakterrollen —
bis zum Jahre 1841. Sechs Jahre darauf iſt ſie ge¬
ſtorben und ihre Stücke ſind auch faſt vergeſſen.


Frau von Weißenthurn empfing mich ſehr freundlich
— aber furchtbar elegiſch.


Schon ihre Begrüßung und Bitte: »Liebes Fräulein,
wollen Sie nicht Platz nehmen?« — klang wie Thekla's
Schmerz:

»Was iſt das Leben ohne Liebesglanz?«


— und dann: »Es freut mich, daß es Ihnen bei uns
in Wien gefällt. . .« wie Desdemona's Lied von der
Weide. . .


Als Frau von Weißenthurn mich ſchließlich noch
bat, eine Taſſe Kaffee mit ihr zu trinken . . . da zerfloß
ſie faſt in Wehmuth und in Luſt und ich zog es vor,
ſchleunigſt aufzubrechen, um ihrer völligen zerſchmelzenden
Auflöſung nicht beiwohnen zu müſſen und — um meine
Erinnerungen ꝛc. 20[306] nicht allzu zuverläſſigen Lachmuskeln nicht auf eine zu
harte Probe zu ſtellen. . .


Johanna ging — und kehrte nimmer wieder!

Aber, wie ich draußen in meinem Fiaker gelacht
habe — und dann, als ich der Mutter und Freund
Witthauer dramatiſch und vor allen Dingen elegiſch von
meinem Beſuche Bericht erſtattete — davon darf ich
wohl ſchweigen.


Und dann gab Witthauer auch ein Hiſtörchen von
der ſtadtbekannten, in den alltäglichſten Dingen über¬
ſchwenglichen Sentimentalität der Frau von Weißenthurn
zum Beſten — und unſere kaum ein wenig eingedämmte
Heiterkeit brach wieder wolkenbruchartig hervor. Ja, die
Feder entfällt noch heute vor Lachen meiner Hand, wenn
ich mir die Situation ſo recht lebensvoll vor's Auge
zaubere.


Es regnet nämlich in Wien und Frau von Weißen¬
thurn ſteigt mit graziöſem Storchſchritt hochgeſchürzt
durch die Waſſerfluten, elegiſch ihren Parapluie balan¬
cirend. Zu ihrem Unglück muß ſie an einer Fiakerreihe
vorüber.


»Fahr'n mer, Ihro Gnad'n?« ſagt der erſte Kutſcher.


»Ich danke, mein Freund, ich habe einen Schirm!»
entgegnet Frau von Weißenthurn ſchmachtend, mit ele¬
giſchem Augen- und Parapluie-Aufſchlag, als deklamirte
ſie mit Johanna:


»Kurz iſt der Schmerz und ewig iſt die Freude!«

[307]

Der Kutſcher ſtarrt ſie ſprachlos an. Fiaker Nr. 2
wiederholt die ſtehende Fiakerfrage: »Fahr'n mer, Ihro
Gnad'n?«


Unermüdlich antwortet Frau von Weißenthurn auch
Nr. 2:


»Ich danke, mein Freund, ich habe einen Schirm!«
— doch noch um einige Herzenstöne ſchmachtender und
mit elegiſchem Augen- und Schirm-Aufſchlag im Kom¬
parativ, — etwa wie Gretchen haucht:


»Ach neige,

Du ſchmerzensreiche,

Dein Antlitz gnädig meiner Noth!«

Länger hält nun aber auch der bekannte übermüthige
Wiener Fiakerwitz nicht ſeine Schleuſen zu — und Fiaker
Nr. 2 macht eine Geſte, als wolle er vor Schreck vom
Bock fallen, und haucht dann noch elegiſcher im Sonntags-
Hochdeutſch:


»Aber, mein Gott, Ihro Gnad'n, — warum denn
ein ſo hingebendes Weſen?«


»Wer wollt' ſo dumm fragen, Tonerl, Du hörſt
ja doch: ſie hat einen Schirm!!!« iſt die klaſſiſche
Antwort von Fiaker Nr. 1.


Das iſt das Signal und von Fiaker zu Fiaker
geht es:


»Hörſt, Kaſperl, ſie hat 'nen Schirm. . .«


»No! no! wir fahr'n net, ſie hat 'nen Schirm. . .«


Frau von Weißenthurn ſagt nichts mehr, ſie ſeufzt
nur leiſe vor ſich hin, huſcht ſo ſchnell als möglich vor¬
20 *[308] über und wirft nur hin und wieder einen Blick auf die
Rotte Korah — wie etwa Eliſabeth in Don Carlos bei
den Worten:


»Ich achte keinen Mann mehr!«


Die Wiener nahmen mich als »Suschen« freundlich
auf — aber doch, als wären ſie etwas enttäuſcht. Das
war meine Strafe dafür, daß ich nicht Karoline Müller's
Rath folgte und mich in einer glänzenden Toilettenrolle
den hierin ſehr verwöhnten Wienern präſentirte. Meine
»Madame Danville«, die ich in Paris nach dem Vor¬
bilde der herrlichen Mars ſtudirt hatte, gefiel noch weniger.
Man fand meine »Danville« zu gemeſſen, nicht pikant
genug zugeſpitzt. Aber am meiſten verdachten mir die
guten Wiener es, daß Madame Danville es wagte, vor
ihnen in demſelben — wenn auch »entzückend ſchönen« —
(jedenfalls aber bärenmäßig theuren) Ballkleide zu er¬
ſcheinen, in dem ich ſchon zu Baden in »Zwei Jahre
verheirathet« paradirt hatte.


Als »wohlerzogene« junge Pathe und als Marga¬
rethe hatte ich die glänzendſten Erfolge, wurde applaudirt
und gerufen — — aber ich glaube kaum um einen
Herzſchlag wärmer, als wenige Tage darauf Karoline
Müller's »engelhaftes« Hütchen und »himmliſches« neues
Kleid.


Ich ſaß im Parket, das mir noch unbekannte Stück:
»Die Folgen einer Mißheirath« kennen zu lernen. Die
[309] hübſche Peche gab die ſentimentale Rolle mit warmen
Herzenstönen und rührender Naturwahrheit und ſah als
arme Sergeantentochter in ihrem weißen, einfachen
Mouſſelinkleide liebreizend aus. Keine Hand rührte ſich
— ich ſah nur Achſelzucken und hörte wohl gar: »Wie
geſchmacklos — wie gewöhnlich — deßwegen braucht
man nicht für ſein ſchweres Geld in's Burgtheater zu
gehen — ſolche Toiletten kann man alle Sonntage in
der Au und im Prater zu Hunderten ſehen. . .«


Ich war empört und zitterte vor Erregtheit. Die
Mutter hatte genug zu thun, meine Zunge zu zügeln.


Und dann trat Karoline Müller im zweiten Akt
auf — und wurde rauſchend — anhaltend empfangen.
»Nun, ſie hat gewiß eine große, ſchwere Rolle — «
dachte ich bei mir.


Mais point du tout — nichts von alledem —
nach einigen unbedeutenden Phraſen rauſchte ſie unter
dem jubelnden Applaus des ganzen Hauſes wieder ab —
und das liebe Publikum ruhte nicht, bis ſie wieder und
wieder ſich präſentirte. . . Und ich hörte meine Nach¬
barinnen, welche vorhin die arme Peche ſo ſcharf mitge¬
nommen hatten, in Ekſtaſe einmal über das andere aus¬
rufen: »Charmant — ja, Karoline Müller überſtrahlt
doch alle Andern — ſie iſt hinreißend — welch' Erfin¬
bungstalent. . .«


»Was hat ſie denn erfunden?« fragte ich, noch immer
unſchuldsvoll, meine Nachbarin — »ihre Rolle iſt doch
bis jetzt ſehr unbedeutend. . .«

[310]

Da ſah mich die dicke Wienerin mit großen, runden,
fetten Augen faſt mitleidig ſtaunend an, als bewegte ihr
liebes Herz der furchtbare Gedanke: »Armes Kind, biſt
Du denn blind — oder aus der Polakei?« — Dann
entrollte es grollend dem Gehege ihrer kunſtvollen Zähne:
»Ach, was — Rolle! Sehen Sie denn nicht, wie reizend
ſich die geniale Kombination von Weiß und Grün ihres
Kleides ausnimmt? Es erinnert an Schottiſch — iſt aber
doch viel origineller, pikanter — und dies neue Koſtüm
hat Karoline Müller erfunden. Uebermorgen können
Sie es ſchon im Prater in den verſchiedenſten Variationen
ſehen. . . Und wie entzückend ihr dazu der kleine, zarte
Baſthut mit den Moosroſen ſteht — ein wahres Modebild!«


»Ach ſo!« ſeufzte ich ziemlich zornmüthig — »ich
vergaß, daß wir am Burgtheater jetzt die — Mode-
Epoche haben!«


Als ich dann 1837 zu meinem zweiten Gaſtſpiel
nach Wien kam, war ich — leichtſinnig genug, auch in
der Toilette den Kampf mit Karoline Müller aufzu¬
nehmen. Ich trat elfmal auf und erhielt für die Vor¬
ſtellung 20 Dukaten Honorar — damals ungeheuer
viel — heute eine Bagatelle. Dies ganze Honorar
opferte ich mit ſchwerem Herzen dem Modemoloch Bär,
deſſen Wunderruf bei den gläubigen Ammonitern Wiens,
zu dem aber auch Hebräer, Chriſten und Türken ſchwuren,
noch grauenhaft gewachſen war. Herr von Bär nahm
mein beſcheidenes Opfer huldvoll lächelnd an und ver¬
ſprach mich »himmliſch« zu ſchmücken.


[311]

Nach dem Urtheil aller Ammoniter hat der Moloch
glänzend Wort gehalten. Sie ſtrömten in unüberſehbaren
Schaaren Abend für Abend in den Tempel »Burgtheater«
und huldigten mir — das heißt dem Werk ihres großen
Götzen Bär — nach Kräften mit Hand und Mund und Fuß.


Am meiſten Furore machten wir — nämlich Herr
von Bär in erſter und Karoline Bauer in zweiter Reihe
— als »Marie, oder: Die drei Epochen«. Zuerſt bekamen
die entzückten Ammoniter an der Donau ein junges
Mädchen im reizenden, poeſieduftigen Koſtüm zu ſehen,
dann dieſelbe Marie als Frau in feenhafter Balltoilette
— und zuletzt die junge Wittwe Marie in ſirenenhaft
beſtrickendem Putz, ihren zweiten Freier erwartend. . .


Aehnlichen Erfolg hatten »wir« im »Ball zu Eller¬
brunn« und in »Bürgerlich und romantiſch« von Bauernfeld.


Solche Erfolge machten mich übermüthig — unvor¬
ſichtig — ich ging trotz aller treugemeinten Abmahnung
auf's Glatteis. . . und ich kann noch heute von Glück
ſagen, daß ich ſo gut davon kam.


Zu gleicher Zeit mit mir gaſtirte an der Burg
mein trefflicher Dresdener Kollege Pauli, ſehr geſchätzt
und beliebt in Elb-Athen. Wir waren oft mit einander
in Albini's Luſtſpiel: »Die gefährliche Tante« aufge¬
treten und hatten große Erfolge gehabt. Ich habe
ſpäterhin überhaupt nur einen »Freiherrn von Emmer¬
ling« kennen gelernt, der Pauli's fleißig und geiſtvoll
bis in's Detail ausgearbeitetes, ſcharf und meiſterhaft
gezeichnetes Charakterbild in dieſer Rolle verdunkelte.
[312] Das war der »Emmerling« von Theodor Döring, jetzt
die größte Zierde des Berliner Schauſpielhauſes. Döring
hat mich ſtets lebhaft an Ludwig Devrient erinnert und
ich halte ihn für den würdigſten Nachfolger des großen
Todten. Auch Ludwig Tieck ſchätzte Döring ſehr und
nannte ſeinen Adam in Kleiſt's »zerbrochenem Krug« ein
vollendetes Meiſterwerk.


Pauli und ich verabredeten alſo ſchon in Dresden,
am Burgtheater zuſammen in der »gefährlichen Tante«
zu gaſtiren. Ausnahmsweiſe wurde mir von der Dres¬
dener Intendanz geſtattet, mein ſchönes, antikes Tanten¬
koſtüm mitzunehmen. Das ſtammte ſicher aus dem
vorigen Jahrhundert und war altmodiſch und koſtbar,
wie die Urgroßmütter es getragen. Das ſchwere braun
und gelb geſtreifte Atlaskleid war mit Blumen durch¬
wirkt, dazu eine koloſſale, reich getollte und hochge¬
thürmte weiße Haube.


Pauli debütirte als Jago in »Othello«, fand glän¬
zenden Empfang und wurde nach jedem Akt gerufen.
Meiſter Anſchütz war ein unübertrefflicher Othello, und
Julie Rettich, die ſeit einem Jahre mit lebenslänglichem
Engagement wieder dem Burgtheater angehörte, entzückte
und rührte wunderbar als Desdemona.


Alles ließ ſich prächtig an. Graf Fürſtenberg, der
Nachfolger des Grafen Czernin als Intendant, gab den
beiden Dresdener Gäſten zu Ehren ein gemütliches
Künſtlerdiner, und Pauli und ich waren ſeelenvergnügt.
Der Intendant, ein freundlicher, zuvorkommender Herr
[313] von etwa 40 Jahren, machte einen angenehmen Wirth
— bis zum Deſſert, wo er plötzlich in ſeine, mir ſchon
bekannte, ſeltene — — Aufrichtigkeit verfiel.


»Wann treten Sie mit Herrn Pauli in der »gefähr¬
lichen Tante« auf?« wurde ich von einem Gaſt gefragt.


»Morgen Abend!«


»O, unſere Karoline Müller und Wilhelmi ſind
unübertrefflich — unerreichbar als gefährliche Tante und
als Emmerling!« — dachten Seine Execllenz der Herr
Intendant mit einem Male laut.


Pauli's Augen ſchoſſen Blitze und um ſeine Mund¬
winkel zuckte ein bitter-ſarkaſtiſcher Zug.


Ich verſuchte ein anderes Thema anzuſchlagen —
vergeblich: Excellenz dachten immer begeiſterter weiter:


»Welche Bühne wollte ſich mit dem Burgtheater
meſſen? Unſere Künſtler ſind die leuchtendſten — die
einzig wahren Sterne am Theaterhimmel der Jetztzeit. . .«


»Aber, Excellenz, warum werden denn ſo oft die
Mitglieder anderer Bühnen zu Gaſtſpielen aufgefordert?«
unterbrach Pauli nicht ohne Schärfe.


»Um — um auch andere Talente kennen zu lernen. . .«
ſagten Excellenz doch etwas verlegen und hoben gewandt
die Tafel auf, ſo weitere unerquickliche Erörterungen
vermeidend.


Wir nahmen den Kaffee im Salon. Pauli war
furchtbar aufgeregt — und dann immer ſehr zerſtreut.
Er lehnte neben mir in der Fenſterecke und ich ſah nicht
ohne Heiterkeit, wie er in ſeiner Zerſtreuung ein Stück
[314] Zucker nach dem andern in ſeine Taſſe warf, bis dieſe
überquoll und der Diener ſchon die Augen ſoweit auf¬
geriſſen hatte, als es ihm nur irgend möglich war.


Ich flüſterte dem vor Aufregung zitternden und
vor verbiſſenem Ingrimm puterrothen Kollegen zu: »Er
hat's ſicher nicht ſo böſe gemeint — es iſt nun mal
ſeine Art ſo, laut zu denken. Und dann iſt es doch ſehr
hübſch von einem Intendanten, wenn er die Künſtler
ſeiner Bühne Fremden gegenüber ſo hoch hält. Ich
wünſchte, wir könnten das von unſerer Dresdener
Excellenz auch ſagen.


»Ja, ja, die macht's leider oft umgekehrt. . . Aber,
ſo furchtbar klaſſiſch aufrichtig ſollte ein Intendant doch
nicht ſein — beſonders an großer Mittagstafel und in
ſeinem eigenen Hauſe. . .«


»O, mit uns hat er's noch gnädig gemacht«, lachte
ich — »da ſollten Sie erſt hören, wie es dem armen
Pollert, meinem Petersburger Kollegen, hier in Wien
beim Grafen Fürſtenberg ergangen iſt.«


»Wie ſo?« fragte Pauli neugierig — »bitte, erzählen
Sie!«


»Pollert hat mir in Dresden ſeine Szene bei Sr.
Excellenz ſelber geſchildert — ja, dramatiſch dargeſtellt.
Den ſonſt ſo beſcheidenen Künſtler hatte — er wußte ſpäter¬
hin ſelber keine andere Entſchuldigung dafür — hier in Wien
plötzlich ein hämiſcher Hochmuthsteufel geritten, auf dem
Burgtheater als König Enzio, Kaiſer Friedrich's ideal¬
ſchöner, tief-poetiſcher Sohn, zu debütiren — und doch
[315] fehlte ihm nicht mehr als Alles zu dieſer Rolle: Adel
und Schönheit der Geſtalt, ſeelenvolles Organ und
poetiſcher Geiſtesſchwung. Der arme Pollert hatte wirk¬
lich eins der flachſten, alltäglichſten Semmelgeſichter, die
mir vorgekommen ſind. Das Fiasko blieb auch nicht aus
— König Enzio-Pollert fiel mehr als glänzend durch,
und nur der Gutmüthigkeit der Wiener hatte er es zu
danken, daß er ſeine Partie zu Ende ſpielen durfte.


»Doch — laſſe ich Freund Pollert jetzt ſelber ſeine
Geſchichte weiter erzählen. Er begann ſtets mit einem
tiefen Seufzer: Der Intendant ließ mich am Morgen
nach dieſem qualvollſten Abende meines Lebens zu ſich
bitten. Mir war nicht allzu gut dabei zu Muth, als
ich das Empfangzimmer betrat. Graf Fürſtenberg ſtand
in der Mitte des Zimmers — kerzengerade, und meine
tiefe Verbeugung nicht durch das kleinſte Kopfnicken
erwidernd. Dabei ſah er mich ſo ſtarr an, als
hätte ich die verſteinernde Eigenſchaft des Gorgonen¬
hauptes.


»Excellenz haben befohlen . . .« ſtotterte ich nach
einer peinlichen Minute.


»Keine Antwort — Excellenz ſtarrten mich nur noch
ſteinerner an.


»Mir wurde ganz unheimlich zu Muth. Sollten
Excellenz an momentanem — Nachtwandeln leiden?
Dann nahm ich mein Herz in beide Hände und begann
von Neuem: Excellenz hatten die Gewogenheit zu
befehlen . .«

[316]

»Da öffneten ſich die ſteinernen Lippen und im
Nachtwandlertone entglitt es ihnen: »Wie iſt's nur mög¬
lich — mit ſo einem Geſicht — mit ſo einem Geſicht. . .«


»Was befehlen Excellenz?« ſtammelte ich, nun ganz
aus dem Häuschen.


»Jetzt — endlich belebten ſich die ſteinernen Züge —
aber furchtbar für mich Aermſten. Und mit Donner
und Blitz brach das Unwetter über mich los. . . Excellenz
packten mich am Arm und zerrten mich vor den hohen
Spiegel und ſchrieen förmlich wie außer ſich:


»Mit ſo einem Geſicht den Enzio ſpielen wollen —
auf unſerem Burgtheater . . . Herr, waren's denn nicht
bei Troſt — mit ſo einem Schuſterbub'ngeſicht? Haben's
denn nie in einen Spiegel g'ſchaut . . . Jeſes! Jeſes! Mit
ſo einem Fratzerl, das kein anſtändiger Menſch aufnimmt,
wenn er's auf der Straß' liegen ſieht . . . König Enzio
mit ſo einem Fratzerl. . . .


»Doch — als wenn er jetzt plötzlich ein Verſtändniß
dafür hätte, was in meinem armen Kadaver vorging —
in gutmüthigerem Tone fuhr der Intendant fort: »Nun
— nun — war nit ſo bös gemeint, aber ſein's g'ſcheidt,
laſſen's ſich Honorar zahlen, reiſen's nach Haus, aber
nehmen's Rath an und ſpielen's nie mehr den König
Enzio, denn mit ſo einem Geſicht — mit ſo einem
Schuſterbub'ngeſicht. . .«


Da lachte Pauli herzlich mit mir in der Salon-
Fenſterniſche dieſes aufrichtigſten aller Intendanten:
»Nun, da können wir ja von Glück ſagen, wenn wir
[317] von Sr. Excellenz nicht noch ſchlimmere Dinge zu hören
bekommen, als heute Mittag!« Mein Zweck war erreicht
— das Gewitter in der arbeitenden Bruſt des verwun¬
deten, ehrgeizigen Künſtlers hatte ſich ohne Donner und
Blitz verzogen und wir gingen am andern Morgen
wohlgemuth in die Probe zur »gefährlichen Tante«.
Aber ich ſollte ſie nicht verlaſſen, ohne neue Erfahrungen
gemacht zu haben.


In der Pauſe fragte mich Frl. Reichel, welche die
Kammerjungfer ſpielte: »Sie werden doch in dem präch¬
tigen rothen Sammetmantel, mit echtem Hermelin be¬
ſetzt, auftreten, wie Karoline Müller? Der nimmt ſich
zu dem weißen Atlaskleide prächtig aus!«


»Nein, ich werde mich bemühen, wie »Adele Müller«
zu erſcheinen, die bei einem kleinen Provinztheater ange¬
ſtellt iſt und ſchwerlich einen Hermelinmantel beſitzt,
um in demſelben nach der Vorſtellung nach Hauſe zu
fahren.«


»Dann — werden Sie nicht beim Auftreten applau¬
dirt werden, wie Karoline Müller ſtets. . .«


»Aber Adele Müller hätte ja für ſolch' einen koſt¬
baren Mantel mehr als eine ganze Jahresgage opfern
müſſen, — und ſie iſt doch nur Schauſpielerin, um ihre
arme Familie zu erhalten?«


Die Reichel zuckte die Achſeln: »Danach fragt unſer
Publikum nicht!«


Das war der erſte Stachel — aber es ſollten noch
mehr dazu kommen.


[318]

Nach der Probe trat der gute alte Theaterfriſeur
Weber geſchäftig auf mich zu: »Mein Fräulein — ein
Wort — von größter Wichtigkeit. . .«


Weber war wirklich eine ſehr bedeutungsvolle Per¬
ſönlichkeit für das Burgtheater und der Liebling Aller.
Er hatte in den vielen Jahren ſeiner Thätigkeit an den
Burgtheaterköpfen reiche Erfahrungen geſammelt und war
eine lebende Chronik aller Theaterverhältniſſe und Er¬
eigniſſe. Dabei ſah er ſtets wie die gute Stunde aus,
war mit Leib und Seele bei ſeiner »Kunſt«, klug, ver¬
ſchwiegen, dienſtfertig — — aber er hatte doch auch
ſeine Sympathien und Antipathien und empfand jede
kleine Kränkung ſehr tief, noch tiefer aber jede Freund¬
lichkeit. Mich hatte der gute Alte noch von meinem
erſten Gaſtſpiel her feſt in's Herz geſchloſſen und nahm
an meinen Erfolgen wirklich rührenden Antheil — konnte
aber auch »furchtbar wild« ſein, wenn ich nach ſeiner
Meinung mal zu wenig applaudirt wurde.


Und wenn ich dann neckend ſagte: »Wie kommt's
nur, lieber Weber, daß Sie an der Fremden ſo herz¬
lichen Antheil nehmen?«


Dann konnte er ſo gar eigen lächeln und ſeine großen
braunen Augen ſchauten mich dabei ſo treuherzig an und ge¬
heimnißvoll flüſterte er mir zu: »Mi ſind Sie keine Fremde!
I kann's Ihna nur nit ſo ſag'n, wie's mi hi um's Herz
iſt, aber i hab Ihna lieb wie a Töchterli. Das Fräulein
hab'n a rechtſchaffen gut's G'müth, ſeind nit hoffährtig wie
die Andern — i ging halt gleich für Ihna durch's Feu'r. . .«

[319]

»Wo ſoll i die kleinen Lockerl für das g'fährliche
Tanterl ordnen? Hier in der Garderob oder im Hotel?«
fragte er mich jetzt voll Wichtigkeit.


»Gar nicht nöthig, lieber Weber. Ich hab' meine
Dresdener graue Haartour wohl verpackt mitgebracht —
Alles in beſter Ordnung!«


»Graue Haartour unter dem feinen Spitzenhäuberl?«
rief er entſetzt.


»Nein, kein Spitzenhäuberl — ſondern eine recht¬
ſchaffene alte derbe Tantendormeuſe!«


»Aber das wird ja ſchreckli ausſchaun zu dem koſt¬
baren weißen Atlaskleid mit der ſtolzen langen Schleppen!«


»O, ſein Sie unbeſorgt — die Haube paßt zu
meinem gelb und braun geſtreiften hundertjährigen Kleide
vortrefflich. . .«


»Gelb und braun geſtreift — hundertjährig —
graue Haartour — Urahnen-Dormeuſe . . . mi rührt der
Schlag!« ſchrie der kleine bewegliche Alte förmlich auf.


Ich mußte trotz dieſes zweiten Stachels herzlich
lachen, beſonders als Weber ſentimental fortfuhr:


»Und Fräulein Karoline Müller ſchaut gerade als
Tante ſo ſchön und zart aus wie a Zuckerpupp'n —
wie a Zuckerpupp'n zum Anbeiß'n. . .«


»Aber, Weber, die gefährliche Tante darf ja gar
nicht wie a Zuckerpupp'n zum Anbeiß'n ausſehen — ſie
ſoll vielmehr durch ein recht ehrwürdiges tantenhaftes
Ausſehen dem eigenſinnigen Emmerling Vertrauen ein¬
flößen. . .«

[320]

»Wahr — leider wahr«, klagte der gute Alte ver¬
zweiflungsvoll weiter — »was nutzt uns aber das Ehr¬
würdige, wenn wir damit durchfallen — glänzend durch¬
fallen. . . Geben's Acht, was d'raus wird!«


Und mir war ob all' dem Unkengeſchrei wirklich
ſelber ganz bänglich zu Muth geworden, — und ſolche
zweifelvollen Stunden vor einer Gaſtrolle gehören zu
den peinlichſten des Bühnenlebens.


Beim Friſiren zum erſten Akt ſeufzte Weber ganz
erbärmlich und beſchwor mich, mir noch ſchnell den
rothen Sammet-Hermelinmantel geben zu laſſen. Doch
ich blieb feſt, ſelbſt als die mitwirkenden Damen mein
Tantenkoſtüm anſtarrten wie Frau Lot die Salzſäule.


Pauli trat zuerſt auf — keine Hand rührte ſich.
Ich folgte im grauen Mantel . . . Todtenſtille! — Dann
ein grauſig anſchwellendes A—a—ah der Enttäuſchung
. . . für mein allerdings etwas verwöhntes Liebhaberinnen¬
ohr gleich den Poſaunenſtößen beim Weltuntergange.
Doch ich nahm mich zuſammen und ſpielte muthig weiter.
Die hübſche Szene mit dem Kammermädchen gab mir
Gelegenheit, einen kleinen feinen Stich anzubringen. Ich
änderte einige Worte und rezitirte:


»Auch ich ſah den Himmel offen

Und der Sel'gen Angeſicht —

Doch in dieſem Bühnenleben

Fand ich, ach! den Himmel nicht. . .«

Stürmiſcher Applaus — der ſimple graue Mantel
war überwunden!


[321]

Der arme Pauli ging noch immer leer aus.


Als ich mich meinen Verehrern im reizenden, koſt¬
baren Negligee präſentirte — wurde dies funkelnagelneue
Zauberwerk des Herrn von Bär nach Gebühr beklatſcht.


Der Hauptmoment nahte. Mit Herzklopfen und
unter Aſſiſtenz von reichlichen Weber'ſchen Seufzern
ſtülpte ich die unglückſelige Dormeuſe auf die graue
Haartour, warf das gelb und braun geſtreifte hundert¬
jährige Tantenkleid über. . . und die Todtenſtille, die
mich empfing, war wo möglich noch todtenſtiller, als
vorhin — und das Enttäuſchungs-A—a—a—ah ſchwoll
zum Drommetenton an.


Pauli hatte ganz den Kopf verloren — und fand
ihn den Abend über auch nicht mehr wieder. Erſt als
wir die kleine Marie ſorglich-zärtlich zu Bett brachten
. . . leiſe — leiſe . . . um das geliebte Kind nicht auf¬
zuwecken . . . da erwärmten ſich die Wiener Herzen und
Hände und rauſchender Beifall und Hervorruf lohnte
den armen Dresdener Gäſten.


Weber ſtand wie vom Alpdruck befreit da und drückte
mir ſogar herzlich die Hand, was er ſonſt nie gewagt
hatte, und flüſterte: »Können von Glück ſagen — hätt's
nimmer gedacht, daß es noch ſo gut abgehen würd' —
— mit einem ſolchen Kleidel und ſolchem Ungethüm von
Haub' und ſolchen erbärmlichen grauen Lockerl. . . Aber
wie würd's erſt gegangen ſein, wenn's ſich ſo ſchön ge¬
macht hätten, wie. . .«


»Wie an Zuckerpupp'n zum Anbeiß'n!« fiel ich lachend
Erinnerungen ꝛc. 21[322] ein. Aber im Grunde war mir gar nicht luſtig zu
Muth — und am Schluß, als Emmerling, der Tante
Koſtüm am Boden liegen ſehend, ſagt: »Gottlob, da
liegt die Tante!« — da erfaßte mich ein förmlicher
Ingrimm gegen das einſt ſo geliebte Gelbbraun-Ge¬
ſtreifte, und auch die arme Haube hat's leider erfahren,
als ich ſie in den Karton warf.


Als ich dann nach einigen Abenden mit vor Erwar¬
tung gerötheten Wangen und klopfendem Herzen im
Parterre ſaß, um Karoline Müller als »gefährliche
Tante« zu ſehen — als dann das »Zuckerpupp'n« wirklich
entzückend ſchön im purpurſammtnen Hermelinüberwurf
und Federbarett — und ſpäter im weißen Atlaskleide
mit Halbſchleppe, reich mit Spitzen garnirt, und in
reizender Spitzenhaube à la Maintenon und koketten
Löckchen von ſchier überſchnappendem Jubel des Hauſes
empfangen wurde . . . da ſagte ich zu mir: »Sie hat
Recht, erſt ſchön — dann wahr! . . . Aber ich werde
doch bei meinem Künſtlermotto bleiben:
Erſt wahr — dann ſchön!«
Und ich hab's nach Kräften gehalten und es auch nie
bereut.

»Vergoldung vergeht — Schweinsleder beſteht!«


— ſagt der Zinnſoldat in Anderſen’s Märchen.



Von dem Burgtheaterfieber geneſen, kehrte ich fröh¬
lich nach meinem lieben Dresden zurück, jetzt erſt recht zu
[323] ſchätzen wiſſend, welch' eine beneidenswerthe Stellung ich
an der dortigen Bühne und — in den Herzen der guten,
herzigen Dresdener mein nannte.


Auf unſern Wunſch durften Pauli und ich in der
»gefährlichen Tante« wieder auftreten. Es war uns,
als wären wir uns dieſe kleine Genugthuung ſchuldig.
Und wie empfingen uns die Dresdener!! Es war ein
Freudenfeſt, als wären wir Jahre fort geweſen. Und
doch trug ich nur eine garſtige alte Haube und graue
Locken und ein hundertjähriges unſchönes Kleid. . . Die
Dresdener vermißten keinen Purpurhermelin, — kein
»Zuckerpupp'n zum Anbeiß'n« — ihnen war das Bild
mehr werth, als der Rahmen, der geſunde Kern
lieber, als die vergoldete taube Nußſchale. . .


Und ich könnte wirklich von Wien ſcheiden, ohne
von ſeiner wahrſten und größten Künſtlerin zu ſprechen
— von Sophie Schröder?


Dieſen Genuß habe ich mir bis zuletzt aufgeſpart.


Ich kannte Sophie Schröder ſchon ſeit 1826 und
ſpielte damals mit ihr auf der Berliner Hofbühne in
verſchiedenen klaſſiſchen Stücken. Sie war ſeit 1815 am
Wiener Burgtheater engagirt und damals auf einer
Gaſtſpielreiſe. Ihr Ruf als tragiſche Heldin und Helden¬
mutter war längſt ein europäiſcher. Sie trat zuerſt als
Sappho in Grillparzer's Trauerſpiel auf. Ich war in
dem Stück nicht beſchäftigt und erwartete im Parket des
21*[324] dichtgefüllten Opernhauſes in glühender Spannung das
Erſcheinen der berühmten Kollegin. Ich werde nie den
überwältigenden Eindruck vergeſſen, als Sappho, im
weißen Gewande mit Purpurmantel und Lorberkranz,
auf goldenem Triumphwagen, unter dem nicht enden
wollenden Jubel des ganzen großen Hauſes — impoſant,
majeſtätiſch wie eine Königin des idealen klaſſiſchen
Griechenthums — edel, berauſchend, anbetungswürdig,
wie ein hohes reines Weib und eine gottbegnadete, be¬
geiſterte Dichterin auf der prächtigen Szene erſchien. . .
Wie Sonnen leuchteten Sappho's wunderbare große Augen
im Kreiſe umher und von ihren Lippen klang es wie
Muſik:

»Dank, Freunde, Dank!

Um Euretwillen freut mich dieſer Kranz. . .«

— Dann ſchwoll ihre herrliche ſonore, ſo überaus mo¬
dulationsfähige Stimme, wie ich keine zweite gehört
habe, gleich Orgelton an, bis ſie in voller, ſeltener
Kraft und Klangfülle das ganze große Haus durch¬
rauſchte. Und wie erſchütternd — überwältigend klang
dann ihr Schmerzensgrollen:


»Undank! Undank!

Wißt Ihr, was Undank zu bedeuten hat?!«

Wer da nicht ſein Herz in allen Fibern erbeben
fühlte — der hatte eben kein Herz!


Ja, ihr Vortrag war ihre Hauptſtärke; ſie hatte
aus der edlen Redekunſt ihr ganzes Bühnenleben lang
ein ernſtes, unermüdliches Studium gemacht und es
[325] hierin zu einer Meiſterſchaft gebracht, wovon unſere
heutige Theaterwelt keine Ahnung mehr hat. Sie ſtammte
aus der alten klaſſiſchen, ernſthaften Schule von Ludwig
Schröder in Hamburg und hat dieſe nie verleugnet.
Jedes Wort, jede Betonung war bei ihr überlegt, erprobt
und — vollberechtigt. Und daß doch das Ganze in
reinſter Harmonie dahinquoll und der Hörer von Ab¬
ſichtlichkeit und langem, mühſamen Studium nichts
merkte, — — das war eben die nie übertroffene Kunſt
von Sophie Schröder. Mit dieſem wunderbaren Vor¬
trage gingen ihre ſeelenvolle Mimik und klaſſiſche Plaſtik
Hand in Hand. Und doch hatte Mutter Natur dieſem
Lieblinge der Muſen und Grazien ſo bitterwenig Hülfs¬
mittel und Zehrung mit auf die Reiſe über die bretterne
Welt gegeben. Als ich am andern Morgen die damals
ſchon 45jährige Schröder in der Probe zur »Medea« zum
erſten Mal mitten im alltäglichen Leben ſah, erſchrak
ich förmlich. War dieſe kleine, dicke, ſtarkknochige Frau
mit dem robuſten Geſicht und der kurzen ſtarken Naſe,
— im jugendlichen, kurzen Indiennekleide und koketten
Häubchen, zierliche Kreuzbänder an den Schuhen . . . die
königliche, ideale, berauſchende Sappho von geſtern Abend?
Nichts erinnerte mehr an die — Auferſtandene des ſchönen
Griechenthums, als das ſeelenvolle, große, leuchtende Auge.


Freund Krüger, der den Jaſon geben ſollte, ſah mein
Erſtaunen. Er lächelte: »Nur Geduld — Sie werden
trotz der Kreuzbänder bald in der Medea eine würdige
Schweſter der Sappho wiederfinden. Als er mich dann
[326] der Schröder als ihre »Kreuſa« vorſtellte, reichte ſie mir
herzlich die Hand und ein mildes, wohlwollendes Lächeln
verſchönte ihre unregelmäßigen Züge, indem ſie, meine
Befangenheit bemerkend, mir ſagte, wie viel Schönes ſie
ſchon über mein Talent gehört habe.


Und Krüger hatte Recht. Schon nach meiner erſten
Szene mit Medea hatte Kreuſa — die Kreuzbänder, das
kurze Indiennekleid, das kokette Häubchen und die ganze
Unſchönheit ihrer Medea total vergeſſen. Und das war
gerade der Zauber ihrer Kunſt. Wie wenig äußerliche
Schönheit ſie in die Theater-Garderobe mitbrachte, ſpricht
ſich am deutlichſten in dem bekannten Wort König Lud¬
wig's I. von Bayern aus: »Schröder, Ihre ganze Grazie
liegt in Ihrem griechiſchen Oberarm!«


Ein ſolcher Beifallsſturm, wie am Abend der Vor¬
ſtellung nach den Worten:

»Zurück, wer wagt's Medeen zu berühren!«


losbrach, ſoll im Berliner Opernhauſe noch nie gehört
ſein, und noch heute ſteht die grauenhaft ſchöne, dämo¬
niſche Zauberin Medea lebensvoll vor meinen Geiſtesaugen.


Sie gab die »Iſabella« in der »Braut von
Meſſina« — ich die »Beatrice« — und in dieſem Augen¬
blicke, wo mein erinnerungswehmüthiges, altes Herz
ſehnſüchtig in jene Zeiten zurücktaucht, höre ich Iſa¬
bella's markdurchdringenden, herzerſchütternden Schrei
im letzten Akt:


»Er iſt mein Sohn!«

[327]

Auch in dem kleinen Drama »Fluch und Segen«
und beſonders durch den damit verbundenen Vortrag
von Schiller's »Glocke« hatte ſie während ihres zwölf¬
maligen Gaſtſpiels in Berlin den größten Erfolg.


Und doch hatte dieſe große Künſtlerin eine
Schwäche — als Weib! Die hat ſie oft und ſchwer
büßen müſſen.


Sie hatte in ihrer Jugend naive und ſentimentale
Liebhaberinnen gegeben. Es ward ihr ſchwer, ſich von
der »Jugend« zu trennen.


Einſt erſchien ſie in Müller's »Schuld« als Elvira
vor den Wienern. Zu ihrem Unglück hat Graf Hugo
von dem Gürtel zu ſprechen, den er um »Elvira's
ſchlanken Leib« legen will . . . und da lachten die lach¬
luſtigen Wiener laut über die kleine, dicke, unſchöne Elvira.


Und auch in Berlin ſollte Sophie Schröder dieſe
Weiberſchwäche büßen.


Sie hatte darauf beſtanden, die Maria Stuart zu
ſpielen und nicht die Königin Eliſabeth. In Berlin
gab die ſchöne Auguſte Stich ſonſt die Maria Stuart —
und ſie war eine bezaubernde Schottenkönigin. Nun
trat eine kleine, dicke, unſchöne Maria, die überdies in
der großen Stuartshaube noch um zehn Jahre älter aus¬
ſah, als ſonſt, vor die verwöhnten Berliner, Amalie
Wolff als Eliſabeth erſchien dagegen jung und ſchön.
Und als dann zum Ueberfluß Mortimer begeiſtert zu
Maria Stuart ſagt:

»Du biſt das ſchönſte Weib auf dieſer Erde!«


[328] — da lachte auch das große Berliner Publikum, und
ſelbſt die enthuſiaſtiſchſten Verehrer der großen Künſtlerin
— lächelten.


Ob denn Frau Schröder nie davon gehört hatte,
daß nach Goethe's Beſtimmung in Weimar Mad. Vohs
als ſchönſte Schauſpielerin die Maria und Frau von
Heigendorf als geiſtreichſte die Eliſabeth ſpielte?


Aber auch die »Eliſabeth« hatte ihre Klippen für
Sophie Schröder — und als anno 1840 die Wiener
bei den Worten Leiceſter's zu Eliſabeth:

»Ja, wenn ich jetzt die Augen auf Dich werfe,

Nie warſt Du, nie zu einem Sieg der Schönheit

Gerüſteter, als eben jetzt. . .«

über die jungfräuliche Königin der 59jährigen Sophie
Schröder lachten — da zog ſie ſich tiefgekränkt und
grollend von der Bühne nach München zurück.


Schon als ich 1834 nach Wien kam, war Sophie
Schröder ebenſo ſehr als Weib verletzt, wie als
Künſtlerin trauernd über den Verfall der Tragödie auf
dem Burgtheater, tiefgrollend von Wien gegangen.


Ihr trotz zweier unglücklicher Ehen und reicher
trauriger Liebeserfahrungen ungebändigtes, wild glühen¬
des Herz hatte ſich mit blinder Leidenſchaft in den faſt
um die Hälfte jüngeren, blühend ſchönen Heldenſpieler
Kunſt verliebt. Der talentvolle, aber geiſtig rohe und
gemüthloſe Mann ließ ſich die Huldigungen der berühmten
Künſtlerin gern gefallen und glaubte als Gatte von
Sophie Schröder des brillanteſten Engagements ſicher zu
[329] ſein. Frau Schröder hatte beim Kaiſer Franz Audienz
und ſtellte als Bedingung ihres Bleibens in Wien: ein
Engagement ihres Bräutigams Kunſt für erſte Rollen. . .


Da ſagte ihr Kaiſer Franzerl, der es herzlich gut
mit ihr meinte, in ſeiner Weiſe:


»Schröder, ſein's g'ſcheidt, bleiben's bei uns und
laſſen's die dummen Heirathsg'ſchicht'n außi — bedenken's
doch: ſo an alt's Weiberl und ſo an jung's Mannerl. . .«


»Ich an alt's Weiberl? — noch nicht ganz 48,
Majeſtät«, war die entrüſtete Antwort, in den Tönen
einer Lady Macbeth.


»Nu — nu — i mein ja nur im Verhältniß zu
dem jung'n Mannerl — könnt' ja halt faſt zwei Mal
Ihr Sohn ſein . . .« begütigte Franzerl.


Das war zu viel für das liebende Herz von Sophie
Schröder. Sie kündigte, heirathete den ſchönen Kunſt
— — und drang nach ſechs Wochen ſelber auf Scheidung
dieſer unglückſeligen Ehe, die jedoch erſt 1859 durch den
Tod von Kunſt wirklich getrennt wurde, obgleich der
junge Ehemann ſeine Frau und Wien bereits vier Wochen
nach der Hochzeit heimlich verlaſſen hatte.


Im Jahre 1843 ſah ich Sophie Schröder in Dresden
beim Beſuch ihrer genialen Tochter, Wilhelmine Schröder-
Devrient wieder. Die hatte von der Mutter das große
dramatiſche Talent — aber auch das unglückſelige, leiden¬
ſchaftheiße Herz geerbt. Ob aber Mutter und Tochter
ohne dieſe wilde Glut der Leidenſchaft ſo große Künſt¬
lerinnen geworden wären? — Ich glaube kaum.


[330]

Auf den Wunſch des Hofes trat Sophie Schröder
noch einige Mal in Dresden auf. Durch ihre erſchütternde
Tragik erhob ſie als »Claudia« in »Emilia Galotti« den
dritten Akt zu dem bedetendſten.


Im kleinen, geiſtig angeregten Kreiſe bei Wilhelmine
Schröder lernte ich die perſönliche Liebenswürdigkeit,
Geiſtesfriſche und die gediegene Bildung ihrer Mutter
erſt recht kennen. Dabei war ſie heiter, witzig — und
oft übermüthig, als hätten die vielen dornigen Herzens¬
erfahrungen ihres Lebens ſie nicht tiefer berührt.


Einſt war von der ſüßen — böſen Liebe die Rede. . .


Da erhob ſich Sophie Schröder — die zweiund¬
ſechzigjährige, erregt und rief mit der Geſte und in den
tiefſten Tönen der Medea:


»Dieſer niederträchtigen Leidenſchaft habe ich entſagt
— auf ewig — auf ewig. . .!«


Erſt ſahen wir Jungen ſie ſprachlos an — dann
fragte ein kleines luſtiges Fräulein Naſeweis:


»Seit wann haben Sie dieſer — niederträchtigen
Leidenſchaft entſagt?«


Mit dem größten Ernſt und in den alten tiefen
Herzenstönen antwortete die Tragödin:


»Seit zwei Jahren!«


Dieſer kleine Zug charakteriſirt das Weib Sophie
Schröder.


Ich habe ſie nie wieder geſehen aber mit herzlicher
Theilnahme geleſen, wie die faſt achtzigjährige Greiſin
1859 an Schiller's hundertjährigem Geburtstage auf den
[331] Wunſch ihres alten Gönners, des Dichter-Königs Ludwig
von Bayern, noch einmal die Münchener Bühne betrat
und durch den Vortrag der »Glocke« das ganze Haus
tief rührte und in ihrer ewig jungen Begeiſterung mit
fortriß — und wie ſie neun Jahre darauf in München
geſtorben iſt.


Ich weiß mit keinem beſſern Wort von Sophie
Schröder Abſchied zu nehmen, als den Zeilen, die Grill¬
parzer ſeiner von Wien ſcheidenden Sappho in's Album
ſchrieb:


»Zwei Schröder, Frau und Mann,
Umgrenzen unſers Dramas höhern Lauf;


Der Eine ſtand in Kraft, als es begann,

Der Andre ſchied — da hört's wohl, fürcht' ich, auf!«
[[332]]

X.
Vier Tage in Dresden.

Im Oktober 1834, nach einer ſehr ermüdenden Reiſe
von Wien über Prag, ſtiegen wir eines Nachmittags im
Hotel de Saxe in Dresden ab. Während meiner ganzen
Kunſtreiſe waren wir von keinem zuvorkommenderen
Wirth empfangen worden, und die eleganten wohnlichen
Zimmer verſetzten uns gleich in die behaglichſte Stimmung.


Meine Freude war groß beim Erblicken des Theater¬
zettels! »Taſſo's Tod« von Raupach ſollte mit Emil
Devrient und Julie Rettich gegeben werden. Ich ſollte
Beide als vollendete Künſtler wiederſehen. Devrient hatte
mich ſchon in Berlin während ſeines Gaſtſpiels beſonders
als Don Carlos entzückt, und Mad. Rettich hatte ich
vor einigen Jahren auf dem Wiener Burgtheater als
Fräulein Glay bewundert.


Mein Herz klopfte vor Ungeduld, und ſchon um
halb ſechs Uhr ſaß ich mit der Mutter in einer Parterre¬
loge des häßlichen Kunſttempels. Es war ein kleines,
[333] uraltes Haus, das erſt 1841 durch Semper's herrliches
architektoniſch prächtiges Theater — heute auch ſchon
eine Brandruine! — erſetzt wurde. Etwas Schmuck¬
loſeres kann man ſich kaum denken, als dies alte Dresdener
Hoftheater. Es hatte eine melancholiſche, trübe grüne
Farbe und von Luxus keine Spur. Dabei war es kaum
nothdürftig beleuchtet. Das Poſener, Grazer, ſelbſt das
Linzer Schauſpielhaus, in denen ich kürzlich gaſtirt hatte,
ſchauten frohmüthiger darein.


Das Publikum nahm geräuſchlos Platz und erſchien
einfach, gar nicht aufgeputzt. Es fehlten die glänzenden
Uniformen Petersburgs, die eleganten Damen Wiens,
die ſchönen Prinzen und Prinzeſſinnen Berlins in den
Hoflogen. Aber wie ſympathiſch wurde mir während
der Vorſtellung dieſes Publikum! Wie heimelte es mich
an, — ja, wie rührte mich das aufmerkſame, faſt
andächtige Lauſchen, mich an die Blütezeit klaſſiſcher
Kunſt in Berlin erinnernd, wenn Ludwig Devrient,
Alexander Wolff, Rebenſtein, Lemm, Auguſte Stich,
Amalie Wolff, Louiſe v. Holtei die Zuſchauer entzückten,
rührten, erhoben!


Der Beifall zeigte ſich nicht überlaut. Nur hin und
wieder, bei beſonders ergreifenden Stellen, brach er
los — unaufhaltſam — aus vollem Herzen!


Als Taſſo bei der wieder erlangten Freiheit aufjubelt
— da jubelte das bewegte Publikum ſtürmiſch mit. Aber,
wie gab Emil Devrient auch dieſen Taſſo! Alles war
ideal ſchön — harmoniſch — edel an dem Künſtler: der
[334] Schwung und Klang der Rede, die geiſtige Auffaſſung
der Rolle, das Beherrſchen der Szene, die plaſtiſchen
Bewegungen, die ganze edle, hohe, ſchlanke, jugendſchöne
Erſcheinung!


Emil Devrient hatte über ein wundervolles, jeder
Modulation fähiges, klangvolles Organ zu gebieten, ſeine
Züge waren wie nach der Antike geformt, und verſtanden
es, die leiſeſte Seelenregung wiederzuſpiegeln.


Beſonders ergriff mich der letzte Akt. Als endlich
Taſſo, vor dem erſchütternden Erlöſchen, von Leonoren
vernimmt: daß auch ſie ihn liebe aber ihre Neigung
nicht geſtehen durfte — da traten mir Thränen in's
Auge. Unnachahmlich rief Devrient aus:

»Mein wahrhaft Herz, Du haſt mir nicht gelogen!«


nach dem liebevoll bangen Wort der Prinzeſſin:

»Was iſt Dir, Taſſo? Du wirſt ſo bleich!«


— wie zerfloß da förmlich ſein ſchönes Sein in dem
letzten Hauch:

»O ſinge, ſüßer Schwan, Du ſingſt

Der Seel' ein holdes Abſchiedslied!«

Der Aufſchrei Leonorens machte das Haus erbeben, Wahr¬
haft groß ſprach Julie Rettich auf des Herzogs Wort

»Er iſt dahin!«


mit ſeelenvollem Schmerzenston und doch mit erhebender
Zuverſicht:

»— Er iſt nun zwiefach!

Auf Erden ſtirbt er nicht, ſo lang ein Herz

Noch für das Edle ſchlägt . . .

Und Jenſeits hat ſein Leben nun begonnen!«

[335] — und während ſich Leonore über den Theuren neigt,
ſeine Hand erfaßt und flüſtert:

»Leb' wohl, mein Freund, auf wenig flücht'ge Stunden!«


rollt der Vorhang langſam nieder — die herrliche Gruppe
den Blicken entziehend.


Ich wünſchte wohl, ein Maler hätte dies Schlu߬
bild verewigt: Italieniſche Landſchaft, im Hintergrund
der impoſante Herzog Antonio, und ein Mönch im weißen
Ordenskleide, in dem der alte Werdy ehrwürdig-pracht¬
voll ausſah. Im Vordergrunde der todte Taſſo, mit
dem Lorber geſchmückt, den Leonore von ſeiner auf dem
Kapitol bekränzten Büſte genommen hat. Die ſchöne Prin¬
zeſſin, in fürſtlichem Glanze prangend, mit Julie Rettich's
ſüdlichen, ausdrucksvollen Zügen — über Emil Devrient's
blaſſes, edles Antlitz ſich beugend. . . Mir wird dies
Bild unvergeßlich ſein.


. . . Von dieſer herrlichen Künſtlergruppe leben heute
nur noch Taſſo-Devrient, der aber auch ſchon der Bühne
Lebewohl geſagt hat, — und Antonio-Porth, der noch
bis vor Kurzem mit jugendlicher Kraft und echtem Kunſt¬
feuer die Dresdener von der Bühne herab durch ſein
maßvolles, durchdachtes Spiel entzückte und ſich jetzt
eines frohen Lebendsabends in wohlverdienter Ruhe erfreut.
Der Herzog, Herr Weimar, ein gewiſſenhafter, ſehr be¬
liebter Mime, ſtarb im ſchönſten Mannesalter.


Leonore — Julie Rettich, dieſe wahre Prieſterin
der Kunſt, mußte im Zenith ihres Ruhmes und nach
[336] langen Leiden ſcheiden, — und auch der mich ſo be¬
zaubernde Mönch, Werdy, ſchläft längſt. —


In gehobener Stimmung verließen wir das häßliche,
uns ſo lieb gewordene Haus, und die Mutter und ich
geſtanden uns gegenſeitig unſern ſehnlichen Wunſch: ich
möchte bei dieſer Bühne ein dauerndes Engagement finden.


Wir Beide hatten die damals ja noch ſehr ermüdenden
und wenig einträglichen Gaſtſpielreiſen herzlich ſatt und
ſehnten uns nach Ruhe — nach echt deutſcher Gemüthlich¬
keit im geſelligen Leben und nach einem Wirkungskreiſe
für mich, wie ich ihn nach dieſer Vorſtellung in Dresden
zu finden hoffen durfte. Die Mutter war ganz bezaubert
von Emil Devrient und nannte es ihr ſtolzeſtes Hoffen,
mich mit dem herrlichen Künſtler ſpielen zu ſehen: als
Donna Diana und Don Cäſar. Dieſer mütterliche
Wunſch ſollte in Erfüllung gehen.


Mein erſter Beſuch galt am andern Morgen dem
berühmten Kunſthiſtoriker Hofrath Böttiger, dem ich
bereits das Schreiben eines ehemaligen Schülers, jetzt
ſehr geſchätzten Profeſſors in St. Petersburg, geſendet
hatte. Dieſer hatte mir beim Abſchiede geſagt:


»Befolgen Sie in Dresden nur den Rath meines
herrlichen Lehrers. Sie werden einen wohlwollenden,
klugen Greis finden, der mit den Zuſtänden der dortigen
Bühne genau bekannt iſt.«

[337]

Der Hofrath wohnte ſehr hoch, die Treppen nahmen
gar kein Ende. Böttiger bewillkommte mich wie eine
liebe Bekannte. Er bot das Bild eines vollkommen
glücklichen Greiſes. Er hatte gutmüthige Züge, ein
immerwährendes mildes Lächeln auf den Lippen und kleine,
helle Aeuglein, welche klug, manchmal forſchend blickten;
Böttiger war damals bereits 74 Jahre alt.


»Waren Sie ſchon bei Tieck?« war eine ſeiner erſten
Fragen, als er hörte, daß ich in Dresden gern ein Enga¬
gement annehmen würde.


»Nein, Herr Hofrath, ich wollte erſt Hofrath Wink¬
ler (Theodor Hell) beſuchen, den ich bei Clauren in Berlin
kennen lernte, und ihn bitten, mich bei Tieck einzuführen!«


Da machte der alte Herr ein kurioſes Geſicht, das
ich ſpäter erſt verſtehen ſollte. Er ſagte aber harmlos:


»Es trifft ſich augenblicklich ſehr günſtig für Ihre
Wünſche. Die Rettich will nicht hier bleiben; ihr Mann
kann Karl Devrient nicht erſetzen, das Publikum behandelt
ihn mit eiſiger Kälte, und — — mit Tieck hat die
Freundſchaft auch längſt aufgehört! Er lobt ſie gar nicht
mehr!«


»Seine ſo geliebte Schülerin? wie iſt das möglich?«
rief ich verwundert.


»Hm! Die Schülerin iſt ſelbſtſtändig geworden,
keine geiſtige Sklavin mehr, kann auch nicht mehr zwei-
bis dreimal in der Woche vorleſen hören. . .«


»Dreimal in einer Woche? Herr Hofrath! wie wird
es dann meiner armen Mutter ergehen? Bei Holtei's
Erinnerungen ꝛc. 22[338] vortrefflichen Vorleſungen in Berlin hatte ſie ſtets mit
dem Einnicken zu kämpfen, und mehrere Damen ent¬
ſchlummerten ſanft, ſich gegenſeitig entſchuldigend: Der
Geiſt ſei willig geweſen, aber die Nerven zu ſchwach!«


Böttiger lächelte nicht ganz ſo harmlos, wie vorhin!


So iſt es ſchon Manchem bei Tieck ergangen. Als
die berühmte Sophie Müller und ihr Vater Tieck's Vor¬
leſung von Macbeth hörten, ſaß die Tochter zu entfernt,
um den Vater munter erhalten zu können. Da — am
Schluß beim Stühlerücken erwacht der alte Müller,
klatſcht überlaut in die Hände und ruft: »Bravo, bravo!
köſtlicher Humor!. . .« — Das Entſetzen der Gäſte können
Sie ſich vorſtellen. Sophie Müller fiel beinahe in Ohn¬
macht, und ſoll den andern Morgen auf der Probe noch
ganz alterirt geweſen ſein.« Ich lachte herzlich mit und
beſchloß, die Mutter zu bitten: nur — Luſtſpiele bei
Tieck zu hören.


Böttiger fuhr fort:


Der Dramaturg wird alſo Alles thun, daß Sie für
unſere Bühne gewonnen werden, erſtens, weil Sie ein
vortrefflicher Erſatz für die Rettich ſind. . .«


»Nicht für's Trauerſpiel, Herr Hofrath,« fiel ich ein.


»Aber deſto mehr für's Luſtſpiel,« — ſagte Böttiger
äußerſt artig — »wenigſtens nach dem, was mein ehe¬
maliger Schüler ſchreibt. Nun, und dann wird Tieck
Sie auch aus Rache gegen die Rettich protegiren. Wer
Tieck's Eigenliebe verletzt, wird verbannt! Doch Sie
waren ja nicht ſeine Schülerin. Seien Sie alſo getroſt,
[339] ſo bald wird keine Spannung eintreten; Tieck kann be¬
zaubernd liebenswürdig ſein und lieſt unübertrefflich vor!
Sie können viel bei ihm lernen. Ueberdies treffen Sie
in ſeinem Hauſe intereſſante Perſönlichkeiten, alle bedeu¬
tende Fremden ſtellen ſich ihm vor, und die Frau und
Töchter ſind wahrhaft liebenswerthe Charaktere. Die
bleiben Denen, die ſie einmal in ihr Herz geſchloſſen haben,
treu und vertheidigen ſelbſt die bei Tieck in Ungnade Ge¬
fallenen gegen den Alten nach Kräften. Suchen Sie
Dorothea's, der älteſten Tochter, Freundſchaft zu ge¬
winnen; ſie iſt ein ſelten begabtes und herzensgutes
Mädchen. Gegen die Gräfin Finkenſtein müſſen Sie aber
beſonders artig ſein. . .«


»Wer iſt denn das?« fragte ich neugierig.


»Die Freundin Tieck's, und auch der Familie. Seit
vielen Jahren exiſtirt dies eigenthümliche Verhältniß. Die
Gräfin ſteht aufopfernd dem Hausweſen vor und iſt das
Echo Tieck's, und Diejenigen, welche von ihm mit Kälte
behandelt werden, ſind auch für die Gräfin nicht mehr
auf der Welt. Alſo hübſch klug ſein, mein liebes Fräu¬
lein, und es wird Ihnen bei uns ſchon gefallen. Ich
bedaure aufrichtig, Sie bei Tieck nicht einführen zu können,
aber ich — bin ein wenig geſpannt mit dem Hofrath. . .«


»Die Rettich iſt mit Tieck geſpannt — und nun Sie
auch?«


Ganz freundlich nickend lächelte Böttiger:


»Ja wohl, wie ſo Viele! Doch, daß Sie zu den
Verbannten gehören, werde ich ſicher nicht mehr erleben
22 *[340] — ich bei meinen vierundſiebenzig Jahren. Aber ich hoffe,
Sie werden auch jetzt, ſo lange die Sonne der Gnade
über Ihnen ſcheinen wird, mit den Verſtoßenen in Freund¬
ſchaft leben!«


Ich dankte dem liebenswürdigen, wohlwollenden
Greiſe herzlich für ſeine Theilnahme und ſeinen Rath
und verſprach, ihn treu zu befolgen. Ich bat ihn die
Mutter zu beſuchen, die noch viel von ſeinem jungen
Petersburger Freunde zu erzählen hätte, und gelobte,
trotz der verheißenen Tieck'ſchen Gnadenſonne, noch recht
oft die vielen Treppen zu dem alten in Ungnade Ge¬
fallenen hinaufzuklettern, wenn ich — in Dresden ein
Engagement fände. Das habe ich auch gehalten. Aber
es war mir nur ein Jahr vergönnt. Da ſtarb der liebens¬
würdige Böttiger — und er hat es richtig nicht mehr
erlebt, daß auch ich bei Tieck — in Ungnade fiel.


Von Böttiger ging ich zunächſt zum Hofrath Winkler,
Theater-Intendant unter dem ruſſiſch-preußiſchen Gouver¬
nement, jetzt Herausgeber der »Abendzeitung« und unter
dem Pſeudonym »Theodor Hell« gewandter Ueberſetzer
der beliebteſten franzöſiſchen Theaterſtücke. Er wohnte
auf dem Altmarkte in einem Eckhauſe, Tieck gegenüber.


Die ſchöne Frau Hofräthin empfing mich auf die
zuvorkommendſte Weiſe. Sie hatte ſchon vernommen,
daß ich im Theater geweſen war und ſo aufmerkſam zu¬
gehört hatte, daß die Mutter ſo mild und vornehm aus¬
ſähe, ſogar: daß ich einen wunderhübſchen Hut mit wei¬
ßen Roſen aufgehabt. . .


[341]

Ich mußte lächeln über mein liebes kleinſtädtiſches
Deutſchland! Aber es that mir ſo recht anheimelnd wohl
nach den drei Jahren in der Fremde — in dem großen,
ſtolzen, glänzenden Petersburg!


Da trat Theodor Hell herein und hieß mich ſo trau¬
lich willkommen, — als ob wir geſtern erſt fröhlich mit
einander bei Clauren in Berlin dinirt hätten. Im ſäch¬
ſiſchen Dialekt fuhr er mit großer Volubilität fort:


»Ei, meine Beſte, das trifft ſich ja herrlich, daß
Sie gerade jetzt unſere Stadt beſuchen, — ich will Sie
heute noch bei Seiner Excellenz anmelden, denn ich hoffe,
Sie ſind nicht abgeneigt, die Unſrige zu werden, da
Madame Rettich nach Wien überſiedelt?«


Ganz aufrichtig gab ich zu: »Wenn ich bei meinem
Gaſtſpiel gefalle, bleibe ich gern! Dresden heimelt mich
und die Mutter ſo echt deutſch bürgerlich an, und der
geſtrige Theaterabend hat in mir den Wunſch geweckt,
mit Dresdens Künſtlern weiter wirken zu können. Nur
werde ich die Rettich ſchwerlich erſetzen können. Mein
Feld iſt das Luſtſpiel: Salon-Damen, naive und ſenti¬
mentale Rollen. Für hochtragiſche fehlt mir die Kraft
der Stimme, ſelbſt das impoſante Aeußere. Auch will
ich mich in dies Fach nicht hineinzwängen . . .«


»Das wird ſich finden, meine Beſte! Da würden
Sie vielleicht auch nicht ungern in meinen Ueberſetzungen
aus dem Franzöſiſchen auftreten?«


»Mit Entzücken!« rief ich. »In Paris habe ich
[342] Mlle. Mars gerade in dieſen Rollen bewundert, — ja
ſtudirt und mir Manches anzupaſſen geſucht.«


»Vortrefflich, charmant!« rief Winkler freudeſtrahlend
. . . »Aber Tieck müſſen Sie bald beſuchen,« ſetzte er
bedächtiger hinzu — »wer geleitet Sie aber zu Tieck?
Es iſt wirklich recht fatal, daß ich augenblicklich mit
ihm — geſpannt bin . . .«


»Sie auch?« rief ich, jetzt wirklich erſchrocken . . .
»Sie ſind ſchon der Dritte, von dem ich heute Morgen
höre, daß er mit Tieck auf geſpanntem Fuße ſteht —
erſt die Rettich — dann Hofrath Böttiger und . . .«


»Und noch ſo Viele, Viele!« lachte er bitter. »Emil
Devrient, Pauli, Werdy wohnen auch keinen Vorleſungen
Tieck's mehr bei — und das iſt ſtets das ſicherſte Zeichen,
daß der alte Dramaturg grollt — oder daß ſeine Günſt¬
linge ein Haar in — den ewigen Vorleſungen gefunden
haben. . . Doch, davon erzähle ich, Ihnen ſpäter einmal
ausführlicher. . .«


Winkler, damals faſt ſechzig Jahre alt, war ſeit
Berlin womöglich noch häßlicher geworden. Aber man
vergaß dieſe Häßlichkeit ſogleich über ſeiner heiteren
Liebenswürdigkeit. Er erblickte Alles im roſenfarbenſten
Lichte.


Bei der Mutter traf ich einen alten Freund aus
Karlsruhe, Baron Sternberg. Seine Tochter war meine
Duzfreundin; in ſeinem Hauſe hatte ich manche frohe
Stunde verlebt. Als früherer Intendant des vortreff¬
lichen Manheimer Theaters intereſſirte er ſich noch im¬
[343] mer für die Bühne. Ich mußte ihm in Karlsruhe
manchmal vorleſen. Er war einmal außer ſich, daß ich
die Marianne in den »Geſchwiſtern« von Goethe ſo ge¬
fühllos auffaßte, und beſonders die Worte: »Wilhelm!
was war das für ein Kuß?« — geſprochen hätte, wie:
»Wilhelm! — wie viel Uhr iſt es?«


Ich begrüßte ihn mit der heiteren Frage: »Haben
Sie mir jetzt verziehen, was ich als Marianne ge¬
ſündigt?«


»Immer noch ſo muthwillig?« lächelte Sternberg.
»Aber laſen Sie wirklich nicht abſichtlich ſo gefühllos?«


»Die Hand auf's Herz, Herr Baron, nein! Noch
jetzt will mir die Phraſe nicht gelingen, und ſtammt ſie
auch aus Goethe's Feder. Ueberhaupt iſt mir die Ma¬
rianne nie recht ſympathiſch geworden. Und — ſeien
wir mal ehrlich: Würden »die Geſchwiſter« heute
noch lebensfähig auf der Bühne ſein, wenn nicht der
Name Goethe auf dem Zettel ſtände?«


»Aber Kind, woher haben Sie nur dieſe gottloſen
revolutionären Ideen? Aus dem böſen Peterburg?«


Lachend zeigte ich auf meine Stirn.


»Ja, Herr Baron, ſie hat immer noch ihren un¬
vorſichtigen Kindskopf!« ſeufzte die Mutter.


Zu meiner Freude erfuhr ich, daß Sternberg mit
Tieck traulich verkehre. Er verſprach, mich dem Dra¬
maturgen vorzuſtellen.


Bei Tiſch hatten wir einen lieben Gaſt: Baron von
Maltitz, der wegen ſeines Stücks: »Der alte Student«
[344] aus Berlin verbannt war. Nach einem kurzen Aufenthalt
in Hamburg hatte er ſich jetzt in Dresden niedergelaſſen.
Er zeigte ſich im Innern und Aeußern unverändert.
Sein Witz war noch ebenſo ſchneidig ſcharf und ſein
Feuer verzehrend, aber eine reine Flamme. Der aus¬
drucksvolle Kopf mit den tiefblickenden Augen ſaß auf
einer dürftigen, verwachſenen Geſtalt, und die langen,
langen Arme warf er im Eifer des Geſprächs weit
herum, ganz wie früher. Die Welt gefiele ihm gar
nicht mehr! verſicherte er ernſthaft — aber plötzlich er¬
heiterten ſich ſeine Züge und das fröhliche Lachen, das
mich in Berlin ſo angeſprochen hatte, riß mich unwider¬
ſtehlich mit ſich fort. Auch das alte, ehrliche, gute
Herz war daſſelbe geblieben. Er ſprach mit liebevollſter
Begeiſterung von Tiedge, dem Dichter der Urania.


»Iſt es nicht erhebend,« rief er in ſeiner flammen¬
den Weiſe aus — »daß ein achtzigjähriger Greis noch
mit voller Glut des Herzens ſein Mitgefühl für Polens
Kampf und Geſchick in einem Gedicht ausſprechen konnte?
Sie müſſen ihn kennen lernen! Bei ihm fühle ich mich
heimiſch und empfinde, daß mein Gemüth noch der in¬
nigſten Anhänglichkeit fähig iſt . . .«


Und wir verabredeten einen gemeinſchaftlichen Be¬
ſuch bei Tiedge am andern Tage.


[345]

— Hofrath Winkler war ſo artig, mich Theater-
Intendanten, Herrn von Lüttichau, zu geleiten, blieb
aber nur zu Anfang des Geſpräches.


Herr von Lüttichau gewann ſehr, im Vergleich mit
dem Petersburger und Wiener Intendanten. Er ſprach
nicht ohne würdevollen Stolz von ſeinem Inſtitut, und
— das gefiel mir. Er zeigte im Laufe der Unterhand¬
lung Sinn und Verſtändniß für wahre Kunſt und ein
warmes Herz für ſeine Aufgabe und ſeine Künſtler.
Als wir aber zu den Bedingungen meines Gaſtſpiels
kamen und Excellenz von 30 Thalern für die Rolle ſprach
. . . da erſtarrte ich doch ein wenig, obgleich wir Künſt¬
ler anno 1834 nicht ſo verwöhnt waren, wie heute eine
Lucca und Patti, eine Ziegler und Wolter auf ihren
Gaſtreiſen. Aber ein Honorar von 30 Thalern für die
Rolle, wodurch die damals noch koſtſpieligeren Reiſen
mit Extrapoſt, der Aufenthalt im Hotel und der
Garderobe-Aufwand nicht gedeckt werden konnten, war
mir bis dahin ſelbſt von einer Provinzbühne nicht zuge¬
muthet. Etwas vorwitzig ſagte ich: »Excellenz ſcheinen
die Dresdener Bühne für eine ſo erhabene zu halten,
daß fremde Künſtler ſich glücklich ſchätzen müſſen, hier
nur der Ehre halber ſpielen zu dürfen.«


Der feine Hofmann lächelte, erröthete aber doch und
antwortete mit Würde:


»Nennen Sie mir einen zweiten Emil Devrient,
eine Wilhelmine Schröder, eine Doris-Devrient! Julie
Rettich haben Sie bewundert, — Pauli, Porth, Werdy
[346] werden Sie ſchätzen lernen. — Nennen Sie mir einen
Dramaturgen von Tieck's Bedeutung . . . Sie werden
eingeſtehen müſſen, daß ich ſtolz auf unſere Bühne ſein
darf!«


Da war denn die Röthe in meine Wangen geſtie¬
gen. Ich war beſtraft. Ich erhob mich und meine
ſchönſte Verbeugung ausführend, ſagte ich:


»Sowie mein Berliner Gaſtſpiel beendet iſt, treffe
ich ein. Aber, nicht wahr, Excellenz? achtmal trete ich
wenigſtens auf, ſonſt würden ja die Reiſekoſten nicht
herauskommen, und Donna Diana iſt meine Debüt¬
rolle?« —


Freundlich lächelnd bewilligte Herr von Lüttichau
Alles.


»Mit Emil Devrient die Donna Diana ſpielen zu
dürfen,« rief die Mutter bei meiner Heimkehr entzückt,
»Lina, das iſt für Dich ja ein künſtleriſches Ereigniß,
daß dies Glück auch ganz ohne Honorar noch berauſchend
wäre . . .«


Maltitz kam, mich zu Tiedge abzuholen. »Begleiten
Sie uns nicht, Frau Rittmeiſterin?« — ſagte er, als
ich mich allein zum Ausgehen rüſtete.


»Nein, nein,« meinte die Mutter kläglich, »Baron
Sternberg hat uns ſchon darauf vorbereitet, daß wir
heute Abend bei Tieck einer Vorleſung beiwohnen müſſen.
. . . Und dazu muß ich mich ruhen — Kräfte ſammeln!
[347] O, wenn ich nur wenigſtens wüßte, was für ein Stück
er wählt! . . . Ich ſchwebe ſchon jetzt in Todesangſt,
daß er einen Shakeſpeare'ſchen Heinrich oder gar den
entſetzlichen Richard leſen wird. . . . Dann ſind meine
Nerven verloren. . . .«


»Trinken Sie nur kurz vorher recht ſtarken ſchwar¬
zen Kaffee,« rief Maltitz ernſthaft, — »der hält wach
und erfriſcht die Nerven — wenigſtens für einige Zeit.
Mir hat der Kaffee bei Tieck ſchon manches Mal durch¬
geholfen. Mit der Zeit bin ich aber ſo nervös gewor¬
den, daß auch dies Mittel nicht mehr wirkt. Meine
langen Arme geriethen zuletzt in ſo bedenkliche Zuckungen,
daß in den Vorleſungen Niemand mehr neben mir ſitzen
wollte — der lieben Selbſterhaltung wegen!«


Wir lachten. Mit tragikomiſchem Seufzen ſetzte die
Mutter hinzu:


»O Lina, wenn wir doch ſchon in Berlin das
Rettungsmittel gekannt und vor dem Leſen von »Alexan¬
der und Darius« ſchwarzen Kaffee getrunken hätten . . .«


Maltitz ſah uns fragend an. Ich erklärte, nicht
ohne Pathos und mimiſch-plaſtiſches Zubehör:


»Ich war noch nicht lange bei der königlichen Bühne
in Berlin engagirt, als mein Kollege und Gevatter, Hof¬
ſchauſpieler Krüger, die Mutter und mich einlud, der
Vorleſung des neuen, ſoeben der Intendanz zur Auf¬
führung eingereichten Trauerſpiels des Baron Uechtritz:
»Alexander und Darius« in ſeiner Wohnung beizuwoh¬
nen. Es ſollte zugleich auf Wunſch des Grafen Brühl
[348] eine Art Probe für die Bühnenfähigkeit des Stückes
ſein, und der Intendantur-Sekretair Teichmann, Brühl's
rechte Hand, würde auch eine Rolle leſen. . . . »Das
kritiſche Publikum werden ſein: die Frau Rittmeiſterin,
Saphir und meine Frau. . . . Alſo auf Wiederſehen
zu Thee und Butterbrod und — äſthetiſchem Kunſt¬
genuß!«


Die Art, wie die Berliner »Butterbrod« ausſprechen,
iſt wirklich gar zu allerliebſt. Sie ſchnarren das R noch
bedeutender, als ſonſt, faſt lieutenantsartig, und geben
ſich beim Einladen das Ausſehen rührendſter Beſcheiden¬
heit, doch können ſie nicht umhin, eine gewiſſe ſanfte,
ſelbſtbewußte Würde durchblicken zu laſſen. Ich bat den
Kollegen noch ſcherzend, Sorge zu tragen, die »But¬
terrrbrrödchen« nicht gar zu klein und niedlich ſchneiden
zu laſſen! denn Vorleſen und Zuhören erweckten rieſen¬
haften Appetit!


Der Plauder-Thee und die wirklich nicht zu ätheri¬
ſchen Butterrrbrrödchen gingen auch ſehr vergnügt vor¬
über. Saphir, der damals die gefürchtete »Schnellpoſt«
und den giftigen »Berliner Courier« herausgab, ſprudelte
über von Witz und — Bosheit. Selbſt Frau Krüger
wurde ganz muthwillig, und ich hatte bald meine Be¬
fangenheit: daß ich vor ſo großen Kennern und geſtrengen
Kritikern eine mir ganz unbekannte Rolle leſen ſollte,
— von Herzen fortgelacht. Daß der gute Teichmann
immer elegiſcher und überſchwänglicher wurde, obgleich
wir auch ſonſt ſchon ein gut Theil Sentimentalität an
[349] ihm gewohnt waren, ſtimmte unſere Heiterkeit nicht
herab — im Gegentheil!


Das war die Einleitung zu dem äſthetiſchen Kunſt¬
genuß: — Alexander und Darius.


Dann ſaßen wir leſefertig und möglichſt feierlich
um den großen, runden Sophatiſch. Das kritiſche Pu¬
blikum: die Mutter und Frau Gevatterin Krüger thron¬
ten auf dem Sopha, der ſchadenfrohe Saphir hatte ſich
mir gerade gegenüber geſetzt und ſchnitt ſeine unmög¬
lichſten Geſichter. Er iſt ja bekanntlich ſtolz auf die
wirklich abnorme Häßlichkeit ſeiner Viſage.


Krüger machte den Regiſſeur und vertheilte die
Rollen:


  • Alexander der Große . . . . Krüger.
  • Darius . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter, Baron Uechtritz.
  • Vertraute des Königs . . . Dr. Wilke.
  • Statira, Gemahlin des
    Königs . . . . . . . . . . . . Sekretair Teichmann.
  • Tänzerin . . . . . . . . . . . . . . Karoline Bauer.

Und die Qual begann. . . .


Schon nach dem erſten Akt hätten die Mutter und
ich uns klüglich entfernen ſollen — Naſenbluten — Zahn¬
weh — Schwindel oder dergleichen kleine unſchuldige ge¬
ſellſchaftliche Aushülfemittel vorſchützend. . . . Ja, ſogar
eine Ohnmacht wäre unter dieſen Verhältniſſen Tugend
— Pflicht der Selbſterhaltung geweſen.


Der Dr. Wilke deklamirte mit ungeheurer Energie
und hatte die Manie: nach jedem Satz ſämmtliche An¬
[350] weſende der Reihe nach herausfordernd anzuſehen, als
wollte er fragen: »Habt Ihr gehört und verſteht Ihr
auch zu würdigen, wie bewundernswürdig ich leſe?«
Und dabei ſein Geſicht mit den ſtarren, runden, glanz¬
loſen Augen — wie ein Wachskopf mit weit offenen
Glasaugen im Schaufenſter eines Friſeurs!


Baron Uechtritz las ſeinen Darius mit großem Ge¬
fühl und Ausdruck. Seine angenehme Stimme würde
ihn auch wirkſam unterſtützt haben, wenn er nicht die
leidige Angewohnheit gehabt hätte, jeden Satz mit hoher
Stimme anzufangen und nach und nach immer tiefer
hinabzuſteigen . . . bei langen Perioden zuletzt ſo tief
hinab — wo's, nach Schiller, anfängt fürchterlich zu
werden. So ſchloß er ſelten ohne jenes an Sommer¬
abenden aus der Ferne recht anheimelnd zu uns herüber¬
tönende Quoax, Quoax, das Schönwetter verkünden ſoll.
Zum Unglück fielen mir bei dieſem Gequacke auch noch
die Fröſche des Ariſtophanes ein — und Wieland's Ab¬
deriten.


Der gute Teichmann ſchien ſich bei dem Liebes¬
flüſtern der zärtlichen Statira förmlich auflöſen zu wol¬
len — »in Wehmuth und in Luſt« zerfließend! Seine
großen, wäſſerigen Augen ſchauten perpetuirlich zur
buntbemalten Zimmerdecke hinauf, als bekäme er von
dort ſeine Inſpiration und ſein Liebesfeuer. In ſeiner
Verzückung kniff er heute noch mehr, als ſonſt, die
Zähne auf die Unterlippe, dabei nach allen Seiten reich¬
lich begeiſterungziſchenden Schaum ſprühend!


[351]

Dies Alles wäre ſchon hinreichend geweſen, ein
junges lachluſtiges Mädchen aus der Faſſung zu brin¬
gen. . . . Aber zu meinem Unglück mußte ich auch noch
für die arme Mutter fürchten, die bereits zuſammen¬
gekrümmt in ihrer Sophaecke kauerte und — das Taſchen¬
tuch gegen die Lippen gepreßt — am unnatürlichſten
Huſten zu erſticken drohte . . . dabei jedoch es für ihre
mütterliche Pflicht hielt, mir zwiſchendurch die verzweif¬
lungsvollſten Blicke zuzuwerfen, die mir ſagen ſollten:
»Lina, Du wirſt mir doch nicht das Herzeleid anthun
und losplatzen?!« Die Frau Gevatterin Krüger kam
aus dem erſchütterndſten Nieſen und aus ihrem Schnupf¬
tuche gar nicht mehr heraus und ich ſah nicht ohne Ge¬
nugthuung, wie ſie bald roth, bald blaß wurde — im
qualvollſten aller geſellſchaftlichen Kämpfe gegen den
Dämon: Lachkitzel!


Immer tiefer und tiefer ſank das Haupt Krügers
auf ſein Manuſcript und ſeine ſonſt ſo klangvolle Stimme
tönte gepreßt, wie aus der Unterwelt. Er hatte wenig¬
ſtens die Kraft der Selbſtrettung: Niemanden mehr
eines Blickes zu würdigen. Seine Hände umklammerten
zitternd und zerknitternd das unſelige Manuſcript, als
hinge Leben und Seligkeit davon ab.


Noch hatte ich mich mit übermenſchlicher Kraft ge¬
halten . . . da begegneten meine armen Augen den teuf¬
liſch blitzenden Brillengläſern Saphirs. . . . Wie ein Sa¬
tyr ſaß er da, vor Vergnügen förmlich glänzend und
ſich ſchadenfroh an unſeren Qualen weidend. . . . Und
[352] wenn Statira-Teichmann im ſchmelzenden Flöten ſich
faſt verhauchte . . . dann rief der Schändliche mit ſeinen
entzückteſten Tönen: »Bravo! meiſterhaft geleſen! — ſo
gemüthvoll! ſo poeſieduftig . . .« — uns Armen noch
den Reſt von Selbſtbeherrſchung raubend.


Ich habe in meinem Leben nie ähnliche Qualen aus¬
geſtanden, wie in dieſem zweiſtündigen Kampfe gegen
das Lachen. Eine Tortur in den Gefängniſſen der ſpa¬
niſchen Inquiſition ſoll ja darin beſtanden haben, daß
die armen Opfer ſo lange gekitzelt wurden, bis ſie ge¬
ſtanden oder — ſich zu Tode gelacht hatten. . . . Von
dieſem Abende an verſtand ich erſt das Furchtbare dieſer
Tortur! Und doch möchte ich faſt behaupten: Wir haben
bei »Alexander und Darius« noch mehr gelitten . . .
denn wir wurden zwei Stunden lang gekitzelt und —
durften doch nicht lachen! Ich glaube, ich hätte mit
Vergnügen eine ganze Monatsgage dafür gegeben, wenn
die Mutter und ich uns hätten nur drei Minuten lang
ſo recht von Herzen frei auslachen dürfen! — — Ich
nahm meine ganze Kraft zuſammen, ſtemmte die Füße
wie Atlas gegen den Fußboden, biß die Zähne auf die
arme Zunge und ſtammelte — beſinnungslos meine
Rolle weiter. . . .


Da kam aber noch die ſchwerſte Prüfung. Statira-
Teichmann ſieht im letzten Akt im Geiſt, wie eine Viſion,
das furchtbare Schlachtgewühl. . . . Sie ſchildert in
Ekſtaſe, wie ihr geliebter Darius flieht — verfolgt wird
und . . . wird ohnmächtig. . . . Eine ſolche Prachtauf¬
[353] gabe ließ ſich der ſentimentale Teichmann natürlich nicht
entgehen. . . . Er ziſchelte ſo gefühlvoll durch die Zähne,
daß das Naß wie ein Sprühregen um den Tiſch flog
und Saphir ſich in ſeiner Akklamations-Begeiſterung
faſt überſchlug. . . . Endlich! endlich! — o Rettungsſecunde!
— brannte Perſepolis — König Darius hauchte ſeinen
Todesſeufzer aus . . . und ich ſtürzte fort, wie wahn¬
ſinnig, gefolgt von der Mutter, daß Teichmann und der
Dichter Uechtritz uns entſetzt nachſtarrten. . . .


Aber — und hätte mein Leben davon abgehangen
— ich hätte jetzt, wo die Aufmerkſamkeit der Haupt¬
betheiligten von Alexander und Darius und Statira ab¬
gezogen und auf mich armes, ſchwaches Menſchenkind
gerichtet war, nicht noch zwei Minuten in nur einiger¬
maßen ſchicklicher Ernſthaftigkeit bleiben können . . .
darum that ich, was ich ſchon längſt hätte thun ſollen:
ich entfloh den ſtarren Wachspuppenaugen des Dr. Wilke,
dem Vaterſtolz des Dichters, der ſprühenden, weichmüthi¬
gen Begeiſterung der guten Statira, den dämoniſchen
Brillengläſern Saphir's und — vor allen Dingen mir
ſelber! Ich ließ Hut und Mantel im Stich . . . nur
fort! nur fort! hinaus in die ſtille, verſchwiegene Nacht!
. . . Und unten auf der Straße preßte ich die entſetzte
Mutter krampfhaft in die Arme und lachte auf
— endlich — ſo tief, ſo laut, ſo herzerleichternd und
markdurchdringend, wie noch nie in meinem Leben . . .
und die Mutter lachte mit. . . . So taumelten wir förm¬
lich vor Lachen nach Hauſe, daß die Leute auf der
Erinnerungen ꝛc. 23[354] Straße uns ängſtlich aus dem Wege gingen und uns
bedenklich nachſahen . . . und zu Hauſe ſetzten wir uns
Jede in eine Sophaecke und — weinten bitterlich vor
Nervenabſpannung und — Scham über mein rückſichts¬
loſes und für Uechtritz und Teichmann ſo verletzendes
kindiſches Benehmen . . . bis der Lachdämon wieder über
mich kam und auch die Mutter mit fortriß, wenn ich
an die verſchiedenen hochkomiſchen Einzelheiten des Abends
erinnerte und Darius und Statira und den wachsäugi¬
gen Vertrauten kopirte.


Die Nacht verbrachten wir im Fieber und am an¬
dern Morgen mußte der Arzt kommen und die zerrütte¬
ten Nerven beruhigen, ſonſt hätte ich unmöglich am
Abende als Strudelköpfchen auftreten können.


Zu unſerem Troſt kam Gevatter Krüger und war
liebenswürdig, wie immer, und anſtatt mich wegen
meines Benehmens zu ſchelten, bedauerte er uns wegen
der ausgeſtandenen Qualen . . . ſeine Frau liege auch
noch vor Nervenabſpannung, mit kalten Umſchlägen um
den Kopf, auf dem Sopha.


»Und Uechtritz — und Teichmann?« fragte die
Mutter beklommen.


»O, wir haben unſer Möglichſtes gethan, ſie über
die Urſache der nicht mehr zu verbergenden Heiterkeit
und Ihrer Flucht im Unklaren zu laſſen. . . . Sie wer¬
den ſchon wieder gut werden. . . .«


Aber ſie wurden nicht wieder gut. Für den ver¬
letzten Dichter exiſtirte ich nicht mehr und Teichmann
[355] ſeufzte ſtets ſo erbärmlich auf, wenn er mich ſah — wie
über eine verlorene Seele.


Bei der Aufführung von Alexander und Darius
erhielt ich ſtatt der mir ſonſt ſicher zu Theil gewordenen
Glanzrolle der Tänzerin — — die entſetzliche Strafrolle
»Vertraute der Statira«, die nur die ſieben Worte zu
ſagen hat: »Mein Geliebter todt? — — dann ſterb' ich
auch!« — Sprach's und thut's! —«


So, in die heiterſte Laune verſetzt, traten Maltitz
und ich unſere Wanderung zu Tiedge an — er wie in
Siebenmeilenſtiefeln ausſchreitend, die langen Arme in
den bedenklichſten Pendelſchwingungen. . . .


»Aber, Baron, bedenken Sie doch, daß wir Komö¬
diantinnen ſtets auf der Szene ſind und vom lieben
Publikum angeſtarrt und bekrittelt werden, — wenn
wir auch nur über die Dresdener Elbbrücke im Erynnien-
Pas ſchreiten . . .« ſagte ich athemlos und ſchloß pa¬
rodirend:


»So ſchreiten nicht Theater-Damen —

Da heißt's: hübſch zierlich — demi-pas!

Was Dresden »klaſſiſch« nennt in Dramen,

»Emancipirt« heißt's auf der Straß . . .

»Bitte! bitte! nur immer langſam voran — ich er¬
rege wirklich bei den Vorübergehenden ſchon Aufſehen. . .«


»Weil ein ſo auffallender, lächerlicher Kavalier neben
Ihnen hertrabt« — ſagte Maltitz, ohne die geringſte
Bitterkeit auf ſeine kleine, verkümmerte, verwachſene
Figur anſpielend. . . . »Aber ich bin nun einmal ſo eine
23 *[356] unglückſelige Queckſilbernatur, in der es fortwährend
gährt, treibt, ſprüht und die gar nicht über das junge,
feurige achtzehnjährige Blut hinauskommen kann. . . .
Und doch habe ich ſchon die Freiheitskriege mitgemacht. . .«


»Sie — Soldat?« rief ich unwillkürlich.


»Ja, nicht wahr, in Uniform können Sie ſich den
armen buckligen Maltitz gar nicht denken? Ob mir da¬
mals wohl Jemand nachfühlte, welch' großes Opfer ich
meinem theuren Vaterlande brachte, als ich die Uniform
anzog und in die Reihen der jungen, ſchönen, ſchlanken
Krieger trat? Es iſt wirklich kein kleines Opfer, ſich
mit vollem Bewußtſein der — Lächerlichkeit preiszu¬
geben. . . .«


Ich wußte dem Edlen nicht beſſer darauf zu ant¬
worten, als daß ich ſtillſchweigend ſeinen Arm nahm.
Er führte in ſtummem Dank meine Hand an ſeine Lip¬
pen — er hatte mich verſtanden! —


Mild und liebevoll ſprach Maltitz von Tiedge und
dem ſeltenen Freundſchaftsbündniſſe, das den Dichter der
Urania ſo viele, viele Jahre mit der Freiin Eliſa von
der Recke verband, bis dieſe vor einem Jahre in Dres¬
den geſtorben. »Aber ſelbſt über das Grab hinaus, das
ſie auf ihren Wunſch, nur in Leintücher gehüllt, ohne
Sarg, in der mütterlichen Erde gefunden, geht die ſor¬
gende Freundſchaft für den verehrten Dichter. Sie hat
ihm nicht nur ihr ganzes Vermögen vermacht, ſondern
auch dafür geſorgt, daß Tiedge in dem alten freund¬
lichen Hauſe und ganz in der gewohnten Weiſe, als ſei
[357] Eliſa noch bei ihm, friedlich ſeinen Lebensabend be¬
ſchließen kann. Stets ſind ein alter Freund oder eine
Freundin bei ihm, die ihn pflegen und an Geburts- und
anderen feſtlichen Erinnerungstagen kleine Geſellſchaften
veranſtalten — ganz wie zu Lebzeiten Eliſa's. . . .«


Und ſo fand ich auch das alte Haus und in einem
altmodiſchen, freundlichen Zimmer eine Geſellſchaft von
uralten, verſchollenen Herren und Damen und in einem
Lehnſtuhl den 82jährigen Dichter. Er wollte ſich erhe¬
ben — aber ich hielt ihn ſanft in ſeinem Seſſel zurück
und küßte gerührt ſeine Hand und ſchaute innig in ſein
gutes, altes wehmüthig-freundliches Geſicht und in ſein
mildes, kindliches, braunes Auge auf. Sanft ſtreichelte
er mir die Locken — ich hielt ſtumm ſeine andere Hand
— ſo ſaß ich zu ſeinen Füßen.


Es war mir faſt zu Muth, als erlebte ich ein Mär¬
chen. In dem Zimmer war es feierlich ſtill; nur die
Uhr an der Wand tickte leiſe und der Sonnenſchein und
die Schatten der Baumblätter vor den Fenſtern ſpielten
auf dem Fußboden und an den Wänden auf den Por¬
träts von der todten Eliſa und den todten Jugendfreun¬
den: Göcking, Gleim, Clamer-Schmidt, Hölty, Voß,
Bürger und den Stolbergen . . . und auf den verſtaub¬
ten Wachsfiguren-Geſichtern der altmodiſchen Herren
und der alten, vergilbten Damen in den engen Keil¬
röcken mit breiten Gürteln und großen Schnallen, win¬
zigen ſilbernen Löckchen unter koloſſalen weißen Hauben
und mit verblaßtem Lächeln und farbloſen Augen. . . .
[358] Es war, als wäre die ganze Geſellſchaft vom Todes¬
engel hier unten vergeſſen worden . . .


Erſt als ich auf Tiedge's Wunſch aus meinem
Bühnenleben, von meinen Engagements in Berlin und
Petersburg, meinen Gaſtſpielen in den größeren Städten
Deutſchlands erzählte, die der Dichter ja einſt als Reiſe¬
begleiter ſeiner Eliſa beſucht hatte, und als ich ſo nach
und nach meine alte ſprudelnde Lebhaftigkeit wiederfand
und allerlei luſtige Erlebniſſe und Theateranekdoten aus¬
kramte — da kam ſogar etwas Leben in die Schatten¬
geſellſchaft, wenn die alten Herren auch jetzt noch nur
ſchattenhaft lächelten und ihr Flüſtern wie ein Todes¬
hauch klang und Alle zuſammenſchraken, wenn mein
Kaffeelöffel gegen die kleine zierliche Meißner Taſſe ein
wenig klirrte. Selbſt der alte, weißköpfige Diener, der
den Kaffee präſentirte, ging wie auf Sammetſohlen.
Das waren ſie Alle noch ſo gewohnt aus den Tagen
der ſeligen Eliſa, die meiſt an nervöſem Kopfweh litt.


Tiedge war noch der Lebhafteſte und intereſſirte ſich
beſonders für meinen dreijährigen Aufenthalt in Peters¬
burg, wo ja ſeine Eliſa einſt auch hochgeehrt am Hofe
Katharina's gelebt hatte. Eine geborene Kurländerin,
Gräfin Eliſabeth von Medem und Stiefſchweſter der be¬
rühmten Herzogin Dorothea von Kurland, hatte ſie mit
17 Jahren 1771 den Freiherrn von der Recke geheirathet.
Dieſe unglückliche Ehe, die nach ſieben Jahren wieder
getrennt wurde, der Tod ihrer geliebten Tochter und
ihres Bruders, Friedrich von Medem, der ſie mit rüh¬
[359] render Liebe erzogen und gebildet hatte, führte die reli¬
giöſe Schwärmerin dem damals ſtark Mode gewordenen
Myſticismus in die Arme. Zu ihrem Unglück lernte
ſie in Mietau den Gaukler Caglioſtro kennen, der ihre
geliebten Todten vor ihr erſcheinen ließ und — ihre
Kaſſe in unverſchämteſter Weiſe plünderte. Sie war
die begeiſtertſte Jüngerin ſeiner Lehre — — bis ſie
den verehrten Großkophta zu ihrem Schmerz als — ge¬
meinen Dieb und Betrüger entlarvt ſah. Mit Takt und
Würde trat ſie in ihrer Schrift über Caglioſtro den
vielen häßlichen Gerüchten über ihr Verhältniß zu dem
Abenteurer entgegen — und dies Buch machte ſo großes
Aufſehen, daß die Kaiſerin Katharina es in's Ruſſiſche
überſetzen ließ und die Verfaſſerin an ihren Hof einlud
und für die Plünderungen Caglioſtro's durch ein Gut
in Kurland entſchädigte, wo Eliſa ganz in der Stille
der Erziehung armer Mädchen lebte . . . bis ihre Nerven¬
reizbarkeit ſie auf Reiſen nach Deutſchland führte, an
das die ideale Freundſchaft mit Tiedge ſie bis an ihren
Tod feſſelte.


Beim Erzählen und Plaudern wurde Tiedge immer
lebhafter und freundlicher und ſein Händedruck ſo wohl¬
thuend warm, als hätten wir uns ſchon jahrelang ge¬
kannt. Selbſt die Schattengeſtalten um uns her nahmen
ein wenig Fleiſch und Blut und Stimme an — — und
nicht ſelten konnten ſie ſich auf einem ganz menſchlichen
Kichern ertappen. Und als Tiedge mich beim Abſchiede
herzlich bat, doch recht bald und recht oft wiederzukommen
[360] — es ſei ihm heut wie ein lachender Frühlingstag aus
ſeiner ſchönen, goldenen Jugendzeit geweſen . . . da ſtimm¬
ten die verſtaubten, verſchollenen Schatten ganz herzhaft
laut mit ein.


»Welch' ein glücklicher, ſonniger Lebensabend!« —
ſagte Maltitz beim Nachhauſegehen. . . . »Wer doch auch
mit ſo klarem, friedlichen Auge — lächelnd ſchon auf
den nahen Sonnenuntergang warten dürfte! Tiedge hat
bald überwunden — aber wir? Gott weiß, welche Kämpfe
und Stürme uns noch beſchieden ſind! Sie Glückliche,
der es ſo leicht wurde, dort im Spätherbſt fröhlich
klingenden, duftig blühenden, ſonnigen Frühling hervor¬
zuzaubern und ſelbſt den Mumien Leben und Herzen
einzuhauchen! Möge auch Ihnen — auch uns dereinſt,
wenn's ſtill und einſam um uns geworden iſt, die Jugend
— die frohe, lachende, ſtrahlende Jugend nicht fehlen,
die uns verſteht und — für uns ein wenig liebenswürdig
ſein will. . . . Wir wollen noch oft zu Tiedge hinaus¬
gehen. . . . Und wenn Sie zuletzt noch allein übrig ge¬
blieben ſind dann laſſen Sie in Ihrem Abendtraum
auch ein freundlich Bild vorübergleiten von dem armen,
närriſchen Maltitz und von dieſer Minute auf der Dres¬
dener Elbbrücke. . . .«


Und noch oft ſind wir mit einander hinausgewandert
über die Elbbrücke in das Haus von Tiedge. . . . »Sie
kommen, wie das Mädchen aus der Fremde!« — ſagte
der liebenswürdige Greis ſcherzend. — Nach drei Jahren
ging ich den Weg allein. Maltitz war geſtorben, kaum
[361] 43 Jahre alt — gern! Er war nicht glücklich — trotz
des beſten, reichſten, liebevollſten Herzens und ſeiner Er¬
folge als Schriftſteller. Er fühlte ſich einſam in der
Welt und unverſtanden. Tiedge überlebte den jungen
Freund noch vier Jahre. Die meiſten der Schattenfiguren
aus ſeiner Umgebung mußte er noch vorher ganz er¬
bleichen ſehen, bis ich auf den Sarg des faſt neunzig¬
jährigen Greiſes meinen friſchen Blüthenkranz legen
konnte.


Daß ich jene Minute auf der Elbbrücke — daß ich
der goldenen Worte des edlen Maltitz nicht vergaß . . .
dafür ſpricht dies wehmüthig-frühlingsduftige Er¬
innerungsblatt. —


Auf dem Wege nach dem Altmarkt zu Ludwig Tieck
klopfte mir das Herz doch etwas unruhig: wie wird der
vielgerühmte und — vielgetadelte Dichter, der große
Dramaturg dich empfangen? Ich fühlte, daß von dieſer
erſten Begrüßung mein Bleiben in Dresden — oder mein
Weiterwandern nach kurzem Gaſtſpiel abhängen werde.


Zu meiner Beruhigung diente es durchaus nicht,
was mein Begleiter, Baron Sternberg, mir unterwegs
über die Urſache der Spannung — die man aber längſt
richtiger »Feindſchaft« nennen müſſe — zwiſchen Tieck
und Winkler und Bötticher erzählte:


»Es war eines Abends bei Tieck Geſellſchaft. Der
Mittelpunkt der Unterhaltung war ein junger, talent¬
voller Maler, der erſt kürzlich aus Italien zurückgekehrt
war und eine reiche Mappe voll intereſſanter Skizzen und
[362] einen ganzen Sack voll luſtiger Geſchichten, Abenteuer
und — Windbeuteleien mitgebracht hatte. Tieck ging wie
ein grollender Löwe umher, denn er kann es nicht gut
vertragen: einen Andern, wenn auch nur vorübergehend
in ſeiner Gegenwart die erſte Geige ſpielen zu hören.
Er hat ſich und die liebe, weihrauchopfernde Welt hat
ihn im Kreislauf der Jahre zu ſehr daran gewöhnt: alle
Solis gebühren »dem erſten Romantiker, Vorleſer und
Dramaturgen« ſeiner Zeit — dem Herrn Hofrath Tieck!


»Aber an jenem Abende wurde ſogar ſein Grollen
wenig beachtet. Beſonders die junge, neugierige, lach¬
luſtige, plauderhafte Welt fand zu großen Geſchmack an
den Geſchichten des Italieners.


»Natürlich haben ſie auch die Bekanntſchaft der
Herren Banditen gemacht, — ſonſt hätte Ihrer Römer¬
fahrt ja Pfeffer und Salz gefehlt, mein Herr Maler!«
rief eine übermüthige junge Schauſpielerin.


»Ei ſicher, Signora — mehr als einmal, — wie
hätte ich es ſonſt wagen dürfen, vor Ihre ſchönen Augen
zu treten? In Italien geweſen und den Herren Banditen
nicht in die Hände gefallen zu ſein, heißt im lieben
Deutſchland ja ebenſoviel wie: in Rom den Papſt nicht
geſehen zu haben. . .«


»Alſo, Signor Paolo?«


»Alſo — es war in den Abruzzen. Ich war mutter¬
ſeelenallein mit meiner Malertaſche ſchon zwei Tage lang
in den wilden Bergen umhergeklettert, um Naturſtudien
zu machen und nebenbei, einen zerlumpten Hirtenknaben
[363] mit ſeiner Ziegenheerde oder gar — da ich ja ein Sonntags¬
kind im Erleben von Abenteuern bin — ein ganzes Ban¬
ditenneſt zu malen. . . Hirtenknaben hatte ich ſchon ein
ganzes Dutzend in meiner Mappe — aber noch nicht
einen einzigen Signor Räuber abcontrefeit, . . . ja, nicht
einmal eine einzige Banditenkugel im Leibe. Schon wollte
ich melancholiſch die tugendhaften Berge verlaſſen — als
endlich — endlich ein halbes Dutzend blaue Bohnen um
mich her pfiffen und ein Dutzend der kapitalſten ſchwarz¬
haarigen, ſonnverbrannten Kavaliere der Abruzzen mich
umzingelt hatten und meine Taſchen — vergebens nach
einigen Scudis durchſuchten. . .«


»Und da wurden Sie natürlich grauſam gemeuchelt. . .«


»Bitt' um Vergebung, meine Grauſamſte, doch nicht
ganz! Schon waren die zwölf Banditenmeſſer ſymmetriſch
auf mich gezückt — da donnerte ihnen der Signor Haupt¬
mann ein fröhliches: Halt! zu. Er hatte einen neu¬
gierigen Blick in meine Malertaſche gethan und eine —
Inſpiration der lieben Eitelkeit erhalten. . .


»Alſo ich wurde ſäuberlich in das eigentliche Räuber¬
neſt geführt — natürlich mit verbundenen Augen — und
dort hatte ich das Vergnügen, der »Sonne der Abruzzen«
la bella Signora Annunziata — der Banditenbraut
vorgeſtellt zu werden . . . kurz und gut, den Herrn
Hauptmann und die ganze Bande und die ſchönſte der
Banditenbräute malen zu dürfen. Acht Tage weilte ich
porträtirend in dieſem originellen Maler-Atelier, auf's
Beſte mit dem zähſten Ziegenfleiſch und Knoblauch und
[364] halbverbrannter Polenta und kleiſterartigen Maccaronis
gefüttert und zärtlich von zwei Karabinerläufen bewacht,
Endlich war das große Werk vollbracht und die Banditen-
Galerie in der rauchigen Felſenhöhle ſymmetriſch auf¬
gehängt. Ich hoffe, die Modelle ſind ihr inzwiſchen nach¬
gefolgt — was das Hängen anbetrifft. Die ganze Bande,
und beſonders la bella Annunziata waren ſehr befriedigt
von meinem Talent. Nun, die Farben hatte ich nicht
geſpart. So wurde ich endlich mit heiler Haut an die
friſche Luft der Abruzzen geſetzt, mit der freundlichen
Mahnung: in Zukunft nicht das Revier honetter Leute
unſicher zu machen. In Rom holte ich triumphirend zwei
kleine Kopien des Räuberhauptmanns und der ſchönen
Banditenbraut, die ich in unbewachten Augenblicken zum
Andenken für mich und zur Beglaubigung meines Aben¬
teuers gemacht hatte, aus dem Verſteck meines Stiefel¬
ſchaftes — der auch ſo treulich meine Reiſekaſſe verborgen
hatte — hervor. . . und hier ſind ſie: Signor Giuseppe
und la bella Annunziata. . .«


»Es waren zwei kleine Aquarelle: der Räuber wüſt,
wilder, ſchwarzer Bart, blutgierige Augen, — die Sig¬
nora üppig, rothwangig, glutäugig, ſchwarzlockig. . .


»Kinderchen, was habt ihr da?« — ſagte Böttiger,
der mit einem fremden Profeſſor in der Fenſterecke ge¬
ſprochen und von der ganzen Geſchichte kein Wort gehört
hatte, mit ſeinem freundlichſten Lächeln herantretend.


»Zwei Portraits,« — meinte Winkler in ſeiner
neckiſchen Weiſe, uns Andern einen Blick zuwerfend, der
[365] bedeutete: Aufgepaßt — laßt mich nur machen das
giebt einen Hauptſpaß! »Sie erkennen doch die Originale,
Herr Hofrath?«


»Ei! ei! natürlich — wie ſollte ich denn nicht!«
ſagte der gute Böttiger, der ſehr kurzſichtig iſt, die beiden
Bilder dicht vor das Auge haltend. . . »Dies hier iſt
ja unſer verehrter Tieck und dies — ei! — allerliebſt
getroffen unſere theure Gräfin Finkenſtein. . .«


»Das welterſchütternde Lachen der ganzen Geſellſchaft
läßt ſich nicht beſchreiben: man muß es mit erlebt haben
— — ebenſo Tieck's verdutztes Geſicht, das nicht wußte,
ob es mitlachen, oder grob werden ſollte. Schließlich
bequemte es ſich zu einem mitleidigen, weltverachtenden
Lächeln und fand auch den ganzen Abend nicht mehr
aus demſelben heraus. Aber inwendig grollte es furcht¬
bar! Ihn mit einem italieniſchen Banditen und ſeine
Freundin, die arme alte, elegiſche Gräfin Finkenſtein
mit einer frechen, gottloſen Banditenbraut zu verwechſeln . . .
das war für ſeine liebe Eitelkeit zu viel. Ueberdies
glaubt er noch heutigen Tags, die Geſchichte ſei von dem
gottloſen Theodor Hell ſchlau eingefädelt worden, um
ihn lächerlich zu machen. Und Tieck vergiebt nie —
denken Sie daran, mein liebes Fräulein! — nie eine Be¬
leidigung — eine Vernachläſſigung. Er rächte ſich auch
an Theodor Hell und an dem guten, ganz unſchuldigen
Böttiger auf jede Art. . . Ja, zuletzt griff er ſogar zur
Feder und ſchrieb die beißendſten anonymen Schmäh¬
ſchriften gegen Winkler und Böttiger, — und daß der
[366] ſatyriſche Winkler dieſe nicht geduldig einſteckte, ſondern
in gleicher Münze erwiderte, können Sie ſich denken.«


Das war der Prolog zu meiner erſten Vorſtellung
bei Ludwig Tieck. Ich lachte wohl Anfangs über die
poſſirlichen Situationen jener Banditenbildergeſchichte, die
Sternberg mir mit ſo vieler Laune und draſtiſcher Mimik
gezeichnet hatte — aber dann wurde mir doch das Herz
etwas ſchwer bei dem Gedanken: wie wird Dir es mit
deiner Lachluſt und übermüthig ungezügelten Zunge bei
dieſem empfindlichen Dramaturgen ergehen?!


Nicht ohne Herzklopfen betrat ich das durch Tieck
ſo berühmt gewordene Eckhaus am Altmarkt.


Eine alte, freundliche Magd empfing uns mit den
Worten: »Der Herr Hofrath erwartet Sie!«


»Ein gutes Omen!« flüſterte mir Sternberg zu,
der meine Befangenheit bemerkte, »Nicht Jeder darf ſich
eines ſolchen Empfanges rühmen. Sie ſind ihm ſehr
willkommen!«


Wir traten in einen geräumigen Salon. Zugleich
öffnete ſich die Thüre des Nebenzimmers und — vor mir
ſtand der berühmte Dichter in ſeiner ganzen bezaubernden
Liebenswürdigkeit.


Tieck war damals bereits 61 Jahre alt, hatte aber
in ſeiner Perſönlichkeit und beſonders in ſeinem Weſen
etwas ungemein Friſches, anmuthig Jugendliches. Er
trug einen langen ſchwarzen, talarartigen Sammetrock
mit weiten Aermeln à la Raphael und ein ſchwarzes
Sammetkäppchen, welches ein wenig kokett ausſah, dem
[367] Dichter aber allerliebſt ſtand. Der ſchwarze Sammet
hob die Marmorbläſſe des ſchönen, edel geformten Ge¬
ſichts mit den großen, tiefen, dunklen Augen und die
alabaſterartig ſchimmernden kleinen, wohlgepflegten Hände
ſehr vortheilhaft hervor. Und wie verſtand er es, daß
Geſpräch durch wenige graziöſe Handbewegungen zu be¬
leben! Ein bezauberndes Lächeln umſpielte den fein ge¬
ſchnittenen, faſt jugendlich knospenden Mund, als er mich
im reinſten norddeutſchen Dialekt und wohlklingender
metalliſcher Stimme in Dresden willkommen hieß. »Ich
habe ſchon viel Hübſches und Rühmliches von Ihrem
Talent und Ihrem Streben gehört und freue mich auf
Ihr Gaſtſpiel, das« — fügte er mit anmuthiger Ver¬
beugung hinzu — »hoffentlich zu einem dauernden En¬
gagement führen wird. . . Zunächſt alſo gehen Sie,
wie ich höre, nach Berlin, um auf den alten Brettern
neue Lorbern zu ernten?«


»Ich würde für einige freundliche Blumen der Er¬
innerung und des Willkommens ſehr dankbar ſein, —
die Lorbern, Herr Hofrath, gönne ich herzlich gern den
unſterblichen Geiſtern!« ſagte ich mit Beziehung auf den
mir gegenüberſitzenden Dichter.


»Nun, die Blüthen werden Ihnen nicht fehlen« —
lächelte er, den Tribut, wie ihm gebührend, in Empfang
nehmend. »Sie werden überall Erfolg haben, wo Sie
ſich nur zeigen — — Sie ſind jung — ſind ſchön. . .«


»Die Schwägerin von Rahel Varnhagen, die wunder¬
bar ſchöne Frau von Ludwig Robert Torno, die ge¬
[368] feierte Schwäbin, meinte: Ich ſei hübſch — nur hübſch
. . . und deren Ausſpruch galt in Schönheitsangelegen¬
heiten damals in Berlin als Orakel. . . Und dieſe ſchönſte
Frau, die ich je geſehen habe, mußte ſo jung ſterben.
Man erzählte mir nach meiner Heimkehr aus Petersburg,
ſie ſei vor zwei Jahren in Baden ihrem Gatten nach
wenigen Tagen aus Gram nachgeſtorben. . .«


»Ludwig Robert hatte ein ſchönes Talent für das
Drama. Sind Sie je in ſeinem Trauerſpiel: »Die
Macht der Verhältniſſe« aufgetreten?«


»Ja, in Berlin. Es war ein vortreffliches Enſemble:
Ludwig Devrient in einer ſeiner Meiſter-Rollen — Be¬
ſchort als Vater erſchütternd — dann Rebenſtein, Lemm,
die ideale Komitſch — die ſchöne Schröckh mit der ſeelen¬
vollen Flötenſtimme . . . Ich hatte nur eine kleine Rolle,
die »Gräfin« . . .


»Aber eine ſehr ſchwere, die nicht nur geſpielt,
ſondern bis in die feinſten Falten des Seelenlebens ſtudirt
und nachgefühlt ſein will.«


»Und dieſer kleinen Partie verdanke ich das erſte,
mich hochbeglückende Lob von Alexander Wolff in tra¬
giſchen Rollen, während er im Luſtſpiel meiſtens mit mir zu¬
frieden war. In der Tragödie bekam ich ſonſt immer
von ihm zu hören: »Recht hübſch geſpielt — aber man
glaubt Ihnen nicht, daß Sie wirklich ſo tief leiden,
wie Ihre Worte ſagen!« — Nach meiner »Gräfin« kam
Wolff expreß zu mir in die Garderobe, um mir herzlich
die Hand zu drücken und zu ſagen: »Heute, Fräulein
[369] Luſtſpiel, haben Sie mich wahrhaft überraſcht. Das
war ja eine Tragödie, wie ſie im Buche ſteht: edel, tief
empfunden — und nicht geſpielt, ſondern gelebt


»Ein herrlicher Künſtler und Menſch!« ſagte Tieck
gedankenvoll, wie in Erinnerung verſunken. »Nach dem
genialen Fleck und meiner großen Bethmann bewunderte
ich in Berlin das Wolff'ſche Ehepaar am meiſten. Das
waren noch echte Komödianten aus der guten alten
Schule — mit Leib und Seele ihren ſo hochgehaltenen
Brettern angehörend. Alexander Wolff's Tod iſt ein
unerſetzlicher Verluſt, nicht nur für Berlin — ſondern
für das ganze deutſche Theater.«


»Und doch, Herr Hofrath, ſeit ich Ihren herrlichen Emil
Devrient als Taſſo geſehen habe. . . .« Aber ich blieb ſtecken,
Tieck ſah mich mit ſo eigenen, großen Cäſar-Augen an, als
wollte er ſagen: »Auch Du, Brutus — und jetzt ſchon?«


Zugleich mahnte mich ein freundſchaftliches Ellbogen-
Memento Sternberg's daran, daß Emil Devrient in
dieſen Räumen eine persona ingrata.


»Haben Sie jemals Sophie Müller geſehen, die ſo
früh von der Kunſt und von uns ſcheiden mußte?« —
fragte Tieck plötzlich, die peinliche Pauſe endend. »Wer
hätte gedacht, als ſie hier in Dresden die blinde Valerie
ſo rührend, ſo innig, ſo erſchütternd . . . und ſo einfach
wahr gab, daß ſich dieſe ſchönen, klugen, ſeelenvollen
Augen ſo bald auf immer ſchließen ſollten. . .«


»Ich ſah ſie als Kind in Karlsruhe und dann in
Berlin. Sie hat ſich zu Tode geſpielt. Sie gab ſich mit
Erinnerungen ꝛc. 24[370] verzehrender Inbrunſt ihrer Aufgabe hin — und hauchte
ihre große, ſchöne Seele ganz ihren Geſtalten, ihren
Schöpfungen ein. Das konnte eine ſo zart und reich
beſaitete Natur nicht lange ertragen. Aber es lebt augen¬
blicklich noch eine geiſtige Schweſter von Sophie Müller. . .«


»Und auf welcher deutſchen Bühne?« fiel Tieck ge¬
ſpannt ein. »Wie heißt ſie?«


»Auf keiner deutſchen Bühne, Herr Hofrath. Ich
meine die Mars vom Théâtre français. Ich habe ſie
oft — ſehr oft in Paris ſpielen ſehen und jedesmal er¬
innerte ſie mich lebhaft an unſere Sophie Müller: durch
die Innigkeit des Gefühls, holde Weiblichkeit, ſüßes
Organ und das Maßvolle, Lebenswahre in ihrem ganzen
Auftreten und Spiel. Ja, die Mars iſt die einzige
franzöſiſche Schauſpielerin, die — echt deutſch ſpielt und
von ihren Landsmänninnen nur die unnachahmliche Grazie
und das Mouſſirende des Esprit adoptirt hat. Die guten
Pariſer bewundern in ihrer »göttlichen Mars« — freilich
ohne es zu ahnen, denn ſonſt würde der Stolz der grande
nation
dieſe Bewunderung nicht zulaſſen — deutſche Kunſt,
deutſche Seele, deutſches Spiel! — Beſonders erinnerte
mich auch die »blinde Valerie« der Mars erſchütternd
an die blinde Gabriele unſerer Sophie Müller. Und ich
ſah die Mars fünfmal in dieſer ſchweren Rolle. Beide
gaben die Blinde — im Gegenſatz zu der ſonſtigen lang¬
weiligen Auffaſſung, die uns durch das Monotone,
Schleppende, Sentimentale des Spiels die Unglückliche
wohl bemitleiden, aber nicht ſo recht herzlich liebgewinnen
[371] läßt — jugendlich anmuthig: friſch wie ein ſonniger
Frühlingstag und fröhlich wie ein Waldvögelein. . . Und
wie erſchüttert bei dieſem holden, liebenswürdigen Ge¬
ſchöpf gerade die Blindheit! Das ſeelenvolle »Ich war¬
tete« unſerer deutſchen Gabriele klingt mir eben ſo ge¬
waltig im Herzen nach, wie das berühmte: »J'attendais«
der Franzöſin. Nur am Schluß, wenn die Mars ihr
»J'existe!« zum Himmel aufjubelt, entzückt und ent¬
zückend, daß es den Hörer elektriſch durchzuckt — — dann
muß das »Ich lebe!« von Sophie Müller erbleichen. . .«


Tieck hörte mir mit ſichtlichem Intereſſe zu. Er
bat mich ſogar, beide Szenen gleichſam als Kopien der
Mars und der Müller dramatiſch wiederzugeben, und
lobte die feinen Nüancen meiner Nachahmung.


Wir waren ſehr lebhaft geworden, und ich mußte
dann noch zur großen Beluſtigung von Tieck und Stern¬
berg erzählen, wie auf dem Théàtre français Kotzebue's
»Menſchenhaß und Reue« gegeben wurde.


»Der herrliche Armand erſcheint als Meinau wie
ein Vermummter: langer, weiter, grauer Ueberrock, aus
dem nur die Spitzen ſeiner Stiefel und viertelellenlange
Sporen vorgucken — ſein edles Haupt verbirgt eine rie¬
ſige Zopfperrücke und fußhohe Halsbinde. — Unwillkürlich
rief ich beim erſten Erblicken dieſer Vogelſcheuche aus:
»Oh, comme Armand est laid dans ce costume!«
— und nicht wenig beluſtigte es mich, als meine fran¬
zöſiſche Nachbarin mich, die deutſche Schauſpielerin, mit
ſtrafendem Blick belehrte: »Mais, c'est ainsi, que l'on
24 *[372]se met en Allemagne. . .« Die gute Mars ſah in ihrem
grauen, engen, hohen Kleide und dem ſchmuckloſen weißen
Häubchen aus wie eine verkümmerte Pfarrerswittwe.
Als dann die Gäſte kamen, ſchmückte ſie ſich mit einem
blauen Bande. Aber wie ſpielten Armand und die Mars
in dieſem lächerlichen Koſtüm! Man vergaß über dem
Spiel alles Andere — ſogar die 45 Jahre der Mars.
Beſonders in der Schlußſzene, da hätten deutſche Schau¬
ſpielerinnen von dieſer Franzöſin deutſch denken, fühlen,
ſpielen lernen können. Ich ſelber weinte und lachte mit
ihr, wie ein Kind, als ſie nach dem erſchütternden Ab¬
ſchiede von Meinau ſich abwendend ihren Knaben erblickt,
unter Thränen aufjauchzt und — Alles um ſich her ver¬
geſſend — vor dem Kinde niederkniet und mit ſeinen
Locken ſpielt. . . Da erſt verſtand man, warum Meinau
jetzt — plötzlich ausruft — ausrufen muß: »Eulalie,
ich verzeihe Dir!« — Und wie die Mars dann das Kind
an die Bruſt reißt und ſo in Meinau's Arme taumelt
— im überwältigenden Glück. . .«


»Gerade ſo ſpielte meine große Bethmann dieſe
Szene!« ſagte Tieck lebhaft. Das war das höchſte Lob,
das er einer Schauſpielerin zu ſpenden vermochte.


Nachdem der Dramaturg mich noch über mein Repertoir
befragt hatte, ſagte er: »Ich hoffe, Sie in Dresden mit der
Zeit auch noch in hochtragiſchen Rollen zu ſehen. Sie haben
Leidenſchaft, ein ſympathiſches Organ, edle Geſten. . .«


»Aber kein tragiſches Geſicht, Herr Hofrath!« fiel
ich tragikomiſch ein.


[373]

Tieck lächelte fein: »Der Geiſt überwindet auch das!
Ich wünſchte, Sie verſuchten einmal die Maria Stuart.
Ich werde die Rolle gern mit Ihnen durchgehen — wie
ich ſie einſt mit Friederike Bethmann durchging. Die glaubte
Anfangs auch, nur für naive und ſentimentale Rollen ge¬
ſchaffen zu ſein — und ſie wurde die größte Maria Stuart
ihrer Zeit. Sie ſollen jetzt durch mich von der Beth¬
mann lernen — auch, wie man in der Gartenſzene
königlich ſtolz auf die Eliſabeth zuſchreiten kann: denn
ich bin Euer König!« — ohne zu thun, als wollte
man ihr — Eins verſetzen, wie manche modernen be¬
rühmten Maria Stuarts dieſe Szene ſo gern ſpielen,«
ſchloß er ſcherzend, aber doch ein wenig verächtlich.


Ich dankte dem Meiſter von Herzen, verſprach Alles,
auch mit der Mutter am Abende zur Vorleſung zu
kommen — und ging bezaubert nach Hauſe. Tieck's
ganze bedeutende und ſo hinreißend liebenswürdige Per¬
ſönlichkeit, das Magnetiſche ſeiner Augen, das Be¬
rauſchende ſeiner Sprache, der Zauber ſeines Lächelns
hatten mich ganz gefangen. Wie weggeweht war Alles,
was ich über ſeine Eitelkeit, Herrſchſucht, Ungerechtigkeit,
Empfindlichkeit und kleinliche Rachſucht gehört und was
mir das Herz ſelber ſo ſchwer und mißtrauiſch gemacht
hatte.


Als Sternberg über meine Begeiſterung lächelte:
»So iſt es ſchon Vielen bei Tieck's erſtem Sehen ergangen,
aber ſie ſind nur zu ſchnell furchtbar abgekühlt worden!«
— da rief ich faſt unartig: »So gönnen Sie mir doch
[374] dieſen Traum, er beglückt mich ja ſo ſehr! Und an mir
ſoll es ſicher nicht liegen, daß ich ſo bald daraus erwache,
wie Andere. Es wird ſtets mein Stolz ſein, von Ludwig
Tieck belehrt und berathen zu werden. Ich will redlich
verſuchen, die größte Geduld mit ſeinen Eigenheiten und
kleinen Schwächen zu haben, ohne mir ſelber untreu zu
werden . . . und ſollte ich nach Jahren dennoch in Un¬
gnade fallen, in Tieck's Hauſe Enttäuſchungen und
Kränkungen erfahren haben — ſo werde ich mich doch
ſtets dankbar dieſer heutigen und — ſo Gott will — noch
vieler ſolcher Gnadenſtunden bei Ludwig Tieck erinnern. . .«


Wir befolgten den Rath des Baron Maltitz und
tranken vielen ſtarken ſchwarzen Kaffee, — zur Nerven¬
ſtärkung vor der gefürchteten erſten Vorleſung bei Tieck.
Schönſtens geputzt gingen wir gegen Abend nach dem
Altmarkt. Der Mutter hatten der ſchwarze Kaffee und
die Angſt vor der Vorleſung rothe Bäckchen gemacht,
und die ſtanden ihr zu dem weißen Tüllhäubchen mit den
ſchon ſeit Jahren gewohnten blaßgelben Bändern aller¬
liebſt. Ich war ſtolz auf die ſchöne Mutter und gefiel
mir in dem modiſchen Wiener Staate des Herrn von
Bär auch nicht übel. Als wir die Treppe hinaufſtiegen,
bat ich die Mutter noch himmelhoch, während der Vor¬
leſung nicht einzunicken und mich auch nicht durch den
kleinſten Blick an das Elend von Alexander und Darius
zu erinnern. Wir gaben uns die Hand darauf, uns
[375] gegenſeitig keine Schande zu machen. »Lina, wenn es
doch ein Luſtſpiel wäre!« — dieſer Seufzer der Mutter
klang ſchon in das bunte Summen hinein, das uns
beim Ablegen der Ueberkleider im Entree durch die Saal¬
thür umrauſchte. »Wohl große Geſellſchaft?« fragte ich
die alte, freundliche Dienerin. »O, nur dreißig Perſonen!«
war ihre würdevolle Antwort. Es lag in dieſen »nur«
der echte, prächtige Dienſtbotenſtolz: »Ja, aufgeſchaut
und allen Reſpekt! Wir ſind ſehr geſuchte, berühmte
Leute!«


Der Saal war brillant erleuchtet. Stattlich, freund¬
lich trat uns Ludwig Tieck im ſchwarzen Frack und weißen
Halstuch entgegen. Er führte uns zu einem Sopha am
Ende des Saales und ſtellte uns einer winzigen alten
Dame vor, deren ſchmales Geſichtchen vor lauter Tüll¬
rüſchen und weißen Spitzentüchelchen vollends verſchwand:
— Gräfin Finkenſtein. Die Mutter mußte neben ihr
Platz nehmen. Mich führte der Hofrath zu ſeinen Töchtern
Dorothea und Agnes, zwei liebenswürdigen Mädchen
mit ſanften, klugen Augen und herzenswarmem Hände¬
druck. Dann kam mein bei meinen Freunden ſo be¬
rühmtes und bei andern Leuten auch wohl etwas be¬
rüchtigtes Spießruthen-Vorſtellungs-Halbkompliment zur
vollſten Geltung: »Baronin Frieſen — Frl. von Brunnow
— Frau von Bülow — Frl. Reinhold — Hofrath Ca¬
rus — Herr von Bandiſſin nebſt (bildſchöner) Tochter«
. . . und ſo ging es noch eine Weile fort, bis Dorothea
mich in einen ſtillen Winkel zu ihrer Mutter und zu
[376] Julie Rettich führte. Die Hofräthin ſah leidend aus und
lehnte in einem hohen Lehnſeſſel — ſo ergeben, eine
Dulderin in der frohen Geſellſchaft! Aber es wurde mir
gleich heimiſch in dieſem ſtillen Winkel, und ich dachte
wie Hebel's Haferkörnle: »Do blieb i! was no us mer
will werde!«


Als ich der Rettich mein Entzücken über ihre vollen¬
dete Kunſtleiſtung in »Taſſo's Tod« ausdrückte . . . als
mir das Herz immer lebendiger auf die Zunge trat —
— da ſahen mich Mutter und Tochter Tieck wie erſtaunt
an, als wollten ſie ſagen: »Es giebt alſo doch noch
Wunder: eine Schauſpielerin, die gerecht gegen ihre
Rivalin iſt!« Und ſie wurden immer zutraulicher . . .
und ehe noch das Klappern der Theetaſſen aufgehört
hatte, ſagte ich mir mit Freude: »Der gute Böttiger
hat Recht! Die Beiden bleiben Dir treu — wenn des
Dramaturgen Gnadenſonne auch dereinſt für Dich unter¬
gegangen iſt!«


Inzwiſchen hatte ich aber auch Auge und Ohr für
die übrige Geſellſchaft offen gehabt. Wie ein Grand
Seigneur
wandelte Tieck unter ſeinem Hofſtaate umher,
bald hier ein freundlich Wort, bald dort ein Lächeln
ſpendend. Bei aller Liebenswürdigkeit hatte dies »ar¬
tiger Wirth ſein« doch einen kleinen Anflug von Herab¬
laſſung. Wenn er nur den Mund aufthat, ſah ich die
Tüllrüſchen der Gräfin nebſt Zubehör vor Bewunderung
und Entzücken förmlich vibriren. Dabei herrſchte eine
tropiſche Hitze in dem Saal und die vielen Lampen waren
[377] ohne Schirm und thaten dem Auge weh. »Hierzu nun
noch ein Richard III. oder einer von den vielen Hein¬
richen — und die Mutter iſt trotz Maltitz's Kaffee-Extrakt
verloren!« Dieſer Gedanke beunruhigte mich nicht wenig.


Endlich ſollte ich aber aus dieſer Unruhe erlöſt
werden. Auf einen königlichen Wink Tieck's ſtellte die
Dienerin ein Tiſchchen mit zwei Wachskerzen in die Mitte
des Saals, gegenüber den drei großen, berühmten Vor¬
leſungs-Sophas. Noch ein wenig Stuhlrücken — dann
lautloſe, faſt angſtvolle Stille . . . und aus dem Polſter¬
ſeſſel hinter den beiden Kerzen ertönte es:


»Prinz von Homburg, Trauerſpiel von Heinrich v.
Kleiſt.«


Es war faſt, als ginge ein Athmen der Erleichterung
durch den Saal. Frau Rettich flüſterte mir zu: »Eine
glückliche Wahl — das Stück iſt nicht ſo furchtbar lang
und Tieck lieſt es herrlich vor.« Die Hofräthin hatte
ſich reſignirt in ihren Sorgenſtuhl zurückgelehnt und die
Augen geſchloſſen — die Tüllrüſchen ſtrahlten — mein
armes Mütterlein hatte ergeben die Hände über ihrem
Schnupftüchlein im Schooße gefaltet und ſchien ein letztes
Stoßgebetlein an den namenloſen Gott der Nerven zu
richten — (die alten Heiden kannten ja noch keine Nerven)
— und ich lauſchte in athemloſer Spannung.


Der Prinz von Homburg hatte mich ſtets ganz be¬
ſonders gefeſſelt — ergriffen. Es war zu meiner Ber¬
liner Zeit viel darüber geſtritten: ob Homburg ein Held
ſei — oder das Gegentheil! Ich legte ſtets eine Lanze
[378] für den »Helden« ein, denn ich liebte ihn — trotz des
Todesgrauens, das er zeigt, als er an ſeinem offenen
Grabe ſteht. In offener Schlacht würde Prinz Hom¬
burg keine Todesfurcht gekannt haben. . . Und wie dem
armen Kleiſt wohl zu Muth war, als er ſein Leben fort¬
warf? War das Heldenmuth oder Feigheit? — So oft
wir im Theaterwagen nach Potsdam zur Vorſtellung
fuhren und an den Gräbern von Heinrich v. Kleiſt und
Henriette Vogel vorüberkamen, wurde von der unſeligen
That in Wehmuth geſprochen. Wir liebten ja Alle den
Dichter von Käthchen von Heilbronn und Prinz von
Homburg. Und Kleiſt hatte es nicht erlebt, daß ganz
Deutſchland von ſeinem Käthchen hingeriſſen wurde!
Iffland wies das Stück als »unſpielbar« von der könig¬
lichen Bühne zurück. Als ich Rahel Varnhagen fragte:
»Warum hat der arme Kleiſt ſich nur erſchoſſen? — aus
Liebe?« Da ſagte ſie mit Thränen in den ſchönen Augen:
»Nein, Kind, der Mann, der den Wetter von Strahl
und den Homburg geſchaffen, erſchießt ſich nicht um einer
Weiberlaune willen. Er wurde von ſeinem Vaterlande
nicht verſtanden — nicht anerkannt. Er hatte mit Noth
und Sorgen zu kämpfen. Und als ihn die Kraft zum
Leben verließ, da wählte er den Tod. . .«


An dies Alles mußte ich denken, da Ludwig Tieck
an jenem Abende den Homburg las. Und wie las er
ihn — wie ich nie wieder vorleſen hörte!


Zuerſt nannte er die Perſonen — dann nur bei
einer neuen Szene. Aber bei Tieck's wunderbarer Leſe¬
[379] kunſt glaubte man die verſchiedenen Akteure vor ſich auf
der Bühne reden zu ſehen. Vor Allem aber entzückte
mich die edle Einfachheit im Vortrage. Da war keine
Spur von hohlem Deklamiren oder Stelzen-Pathos.
Goethe's Wort bewährte ſich auch hier: »Die höchſte
Kunſt iſt die veredelte Natur!«


Tieck las ſchnell. In der ergreifenden Szene, wo
den Prinzen die Angſt vor dem offenen Grabe, vor der
ſchimpflichen Hinrichtung martert, da jagten ſich ſeine
Worte förmlich in Haſt und Fieberglut — wie Gewitter¬
wolken! Um ſo größer war die Wirkung, als der Himmel
ſich klärte — als der Prinz gefaßt iſt, auch ſein Leben
dahinzugeben für ſeine Ueberzeugung. Das floß wie er¬
quickender Sonnenſchein von des Leſers Lippen.


Köſtlich, wie Thaugefunkel auf Frühlingsblumen,
glänzte die Szene zwiſchen Natalie und dem Kurfürſten:


»O, dieſer Fehltritt, blond, mit blauen Augen« . . .

und dann wie kräftig und fröhlich friſch das Wort des
prächtigen Kurfürſten:


»Wenn ich der Bey von Tunis wär'!«

Ja, da verſtand man, daß der tapfere Kottwitz für
ſolch' einen Fürſten freudig in den Tod geht.


. . . Als ich dem Hofrath für dieſen genußreichen
Abend meinen aufrichtigen, begeiſterten Dank ſagte,
drückte er mir mit ſeinem bezaubernden Lächeln die
Hand: »Beweiſen Sie mir, daß Sie den alten Tieck
[380] öfter leſen hören möchten — und kommen Sie mit den
erſten Schwalben wieder nach Dresden — für immer!


Und noch vor den Schwalben waren wir wieder in
dem ſchönen, heiteren Elb-Florenz. Mein Gaſtſpiel in
Berlin war über Erwarten und Hoffen glänzend und
wohlthuend ausgefallen. Publikum und Kollegen zeigten
mir in liebenswürdigſter Weiſe, daß ich unvergeſſen ſei.
Sogar Hofrath Teichmann hatte inzwiſchen ſeinen Groll
über die Lachtragödie »Alexander und Darius« vergeſſen
und empfing mich bei unſerer Ankunft mit den übrigen
Freunden in unſerem, in einen wahren Blumengarten
umgewandelten Abſteigequartier. Dann ging's nach
Magdeburg, da Freund Bethmann mich in ſeiner aller¬
liebſten tragikomiſchen Verzweiflung gebeten hatte: »ihn,
den unglückſeligſten aller abgebrannten Direktoren, mal
wieder rechtſchaffen flott zu machen. . .« Er verſicherte
mir bei meiner Abreiſe, daß meinem Gaſtſpiele dies
glänzend gelungen ſei . . . »aber wie lange wird's dauern,
ſo ſitze ich wieder knietief im Sumpf!« fügte er ſeufzend
hinzu. »Lieber Berliner Droſchkengaul, als Magdeburger
Theaterdirektor — aber ein geborner Komödiant kann's
nun mal nicht laſſen!« Dann wurde noch ein Abſtecher
nach Braunſchweig, Hannover und Poſen gemacht, wo
Direktor Vogt auch »knietief im Sumpfe ſteckte« — und
Anfang April 1835 hielten die Mutter und ich wieder unſern
hoffnungsfröhlichen Einzug im Hotel de Saxe in Dresden.


Ich gaſtirte mit immer ſteigendem Beifall als Donna
Diana, Blinde Gabriele, Junge Pathe, Goldſchmieds
[381] Töchterlein, Käthchen von Heilbronn, in der Schule der
Alten, Menſchenhaß und Reue und in den Hageſtolzen.
Dann kam der Probirſtein für tragiſche Rollen: Maria
Stuart, bei Tieck und nach den Traditionen von Frie¬
derike Bethmann einſtudirt. Der Dramaturg war ſehr
mit meiner Leiſtung zufrieden, die Dresdener beglückten
mich durch Beifall — und ſo unterſchrieb ich nach der
Vorſtellung von Maria Stuart fröhlichen Herzens den
Engagements-Kontrakt, den Herr von Lüttichau mir vor¬
legte und der mich zunächſt auf vier Jahre an Dresden
feſſelte. Und ich habe es auch nie zu bereuen gehabt.

[[382]]

XI.
Beim alten Dramaturgen.

Ludwig Tieck erbot ſich bei meinem Engagement in
Dresden im Frühjahr 1835 freundlich, jede Rolle als
Dramaturg mit mir durchzugehen, und erlaubte mir,
nach jedem erſten Auftreten in einer neuen Rolle, ſein
kritiſches Urtheil darüber einzuholen. »Auch ſonſt werden
Sie mir immer herzlich willkommen ſein, und meine alte
Komödiantenerfahrung und mein väterlicher Rath ſtehen
Ihnen jede Stunde offen. Ihr glückliches Geſicht, Ihr
frohes Lachen erquicken mich. Alſo auf baldiges und
oftmaliges Wiederſehen und gute Freundſchaft!« — ſagte
er mit ſeinem bezaubernden Lächeln und hielt mir ſeine
ſchöne, alabaſterweiße Hand hin.


Und ob ich einſchlug? O, von Herzen gern, und
mein ganzes volles, jubelndes Herz legte ich zugleich in
dieſe liebenswürdige Hand. Ich war bezaubert von
Ludwig Tieck. Ich liebte, ich bewunderte ihn, ich ſchwärmte
für ihn. Und wie oft, wie unzählige Male bin ich über
den Dresdener Altmarkt geeilt und in das liebe, alte
[383] Eckhaus mit dem finſteren Hausflur und die genick¬
brecheriſche Treppe hinauf geſtürmt — und dort oben
in dem büchertraulichen Gelehrtenſtübchen habe ich un¬
vergeßlich reiche Stunden verlebt und bin von Ludwig
Tieck belehrt, berathen, gelobt und geſcholten worden,
ganz wie eine gute Tochter vom guten Vater. Die
milde Hofräthin, die ihre ſchmerzhafte Krankheit, die
Waſſerſucht, ſtill und ergebungsvoll trug, die Töchter,
die geiſt- und gemüthvolle Dorothea, der wir ſo manche
treffliche Ueberſetzung Shakeſpeare's verdanken, und die
heitere Agnes, waren mütterlich und ſchweſterlich lieb
und gut zu mir und ſelbſt die Gräfin Finkenſtein, die
langjährige Freundin der Familie und der ſorgende Haus¬
geiſt, ſchüttete das Füllhorn ihrer Gunſt reich über mich
aus, ſo lange — ihres vergötterten Freundes Tieck
Gnadenſonne freundlich über mir lachte.


Ich fehlte bei keiner Vorleſung im Eckhauſe des
Altmarktes, und ſelbſt die Mutter brachte mir das
Opfer, wenigſtens einmal wöchentlich eine Sophaecke vor
dem hiſtoriſchen Tiſchchen mit den beiden Wachslichten
einzunehmen. Oefter erlaubten ihr das die Nerven nicht.
Tieck zeichnete mich bei den Vorleſungen und an den
geſelligen Abenden in ſeinem Hauſe und in ſeiner
Stellung als Dramaturg an der Hofbühne freundlich
aus und die Dresdener ſagten: »Der alte Dramaturg
hat einen neuen Liebling gefunden; er will zeigen, daß
Julie Rettich auf der Bühne und in ſeinem Herzen
vollſtändig erſetzt iſt und daß ihn ihr Abgang nach
[384] Wien nicht ſchmerzt. . . . Aber wie lange wird's
dauern?«


Nun, es dauerte ſchöne, lange, glückliche Jahre,
und dafür bin ich noch heute dem viel gelobten und
viel geſchmähten großen Todten von Herzen dankbar.


Unvergeßlich theuer ſind mir auch die ſeltenen Abend¬
ſtunden, die ich in Tieck's engſtem Familienkreiſe ver¬
leben durfte. Gewöhnlich waren dann außer der Hof¬
räthin, den Töchtern, der Gräfin Finkenſtein nur noch
zugegen die treue Hausfreundin Fräulein Reinhold, die
begabte Verfaſſerin von König Sebaſtian und Irrwiſch
Fritze, meine Mutter und ich. Tieck zog für dieſen kleinen
traulichen Kreis nicht mit dem eleganten Frack den be¬
rühmten, gefeierten Dichter an. Er blieb in ſeinem
kleidſamen talarartigen ſchwarzen Sammetrock und in
ſeinem ganzen Auftreten und Sprechen ungeſchmückter,
menſchlicher, liebenswürdiger. Und wie heiter gemüthlich
konnte er dann erzählen von ſeiner ärmlichen Kindheit,
ſeiner ſtürmiſchen Jugend, ſeinen bunten Manneserleb¬
niſſen und Erfahrungen und ſeinen liebſten »Komö¬
dianten«! Wie verſtand er es, uns in dem engen, düſteren
Hinterſtübchen der Berliner Roßſtraße heimiſch zu machen,
in dem er am 31. Mai 1773 geboren war. Er führte
den Vater, den praktiſch klugen, weit umher gewanderten
und vermöglichen Seilermeiſter und die milde, fromme
Mutter, die ihn aus der Bibel und dem verehrten Porſt'¬
ſchen Geſangbuche leſen lehrte, ſeine zwei Jahre jüngere,
poetiſch hochbegabte Schweſter Sophie, und den kleinen
[385] Bruder Friedrich, den ſpäter ſo berühmten Bildhauer,
mit dem ihm wunderbar eigenen Stimmnachahmungs¬
talent lebhaft bei uns ein. Er ſchilderte uns ſein Kinder¬
entzücken, wie er als erſtes Buch nach der Bibel und
dem Porſt den »Götz von Berlichingen« geleſen und
zum erſten Mal eine Aufführung im Berliner Schauſpiel¬
hauſe anſehen — nein, mitleben durfte. Da waren all'
ſeine Gedanken für's Theater gefangen. Er zimmerte
und kleiſterte ſich ein Puppentheater zurecht und führte
den Götz von Berlichingen und die Räuber auf, und
die Geſchwiſter und Dienſtboten und Nachbarkinder gaben
andächtige Zuſchauer ab. Die fromme Mutter ſchüttelte
den Kopf zu ſolchem gottloſen Teufelsſpuk. Und welche
glänzende Träume träumte der kleine Puppenſpieler bei
dem Jubel ſeines Publikums in ſeinem Herzen! Er
wollte einſt, wenn er nur erſt groß genug dazu ſei,
ſelber unter die geliebten Komödianten gehen — etwas
Beneidenswertheres gab es für ihn auf Erden nicht.
Aber der Vater wollte einen Gelehrten und die Mutter
einen Kanzelredner aus dem begabten Knaben machen
— und ſo kam Ludwig auf das berühmte Gymnaſium
des alten Gedike. Er lernte fleißig Latein und Griechiſch,
aber das Komödienſpielen konnte er doch nicht laſſen.
Nur genügten ihm die dummen Papierpuppen nicht mehr.
Mit den Geſchwiſtern und den Schulfreunden Wilhelm
Heinrich Wackenroder und Wilhelm von Burgsdorff
wurde überall Komödie geſpielt, wo ſich gerade ein
Plätzchen dazu fand: im Seilerſchuppen oder in verſteck¬
Erinnerungen ꝛc. 25[386] ten grünen Winkeln des Thiergartens. Und welche
Aufgaben ſtellten ſich ſchon die kleinen Komödianten:
Shakeſpeare, Goethe, Schiller, Leſſing — Alles, was
ihnen vor die Finger kam! Mit beſonderer Vorliebe
und Leidenſchaft ſpielten ſie die grauſigen Hungerſzenen
in Gerſtensberg's »Ugolino«. In eine geordnete Bahn
kam dies Komödienſpiel, als der liebenswürdige Kom¬
poniſt von Goethe's Liedern, Reichardt, durch ſeinen
Stiefſohn mit unſeren Komödianten bekannt wurde und
ſie aufmunterte, in ſeinem Hauſe vor einem größeren
und kunſtverſtändigeren Publikum und unter ſeiner An¬
leitung zu ſpielen, und als Reichardt's junge Schwä¬
gerinnen vor und hinter den Couliſſen die Liebhaberinnen¬
rollen übernahmen. . . Hiebei warf Tieck ſeiner Frau
ſtets einen ſchalkhaften Blick zu, denn ſie war ja eine
jener Liebhaberinnen, Reichardt's Schwägerin, Amalie
Alberti, Tochter eines bekannten Hamburger Predigers.
Einſt ſpielte die kleine Truppe auf Einladung der Baronin
Rietz in ihrem prunkvollen Hauſe ſogar vor dem Könige
und ſeinem vertrauten Hofe, und der dicke Wilhelm und
ſeine Favoritin waren ſehr erbaut davon — der geſtrenge
Direktor Gedike aber ſchnitt ſein grimmigſtes Geſicht
über ſolche allotria ſeiner Gymnaſiaſten.


Wie herzlich, wie übermüthig konnte Tieck lachen,
wenn er von ſeinen erſten poetiſchen, ſelbſtſchöpferiſchen
Federarbeiten erzählte — auf dem Gymnaſium! Sein
Lehrer Rambach füllte ſeine Mußeſtunden und ſeine
faſt immer leere Kaſſe damit, daß er nach dem Geſchmack
[387] des damaligen Publikums auf Buchhändlerbeſtellung und
nach der Elle Schauerromane, Spuk-, Räuber-, Ritter-
und Mordgeſchichten ſchrieb, ſo auch einſt für eine
Sammlung von »Thaten und Freiheiten renommirter
Kraft- und Kniffgenies« die Hiſtorie vom bayeriſchen
Hieſel, dem berüchtigten Wilddiebe und Räuber Mathias
Kloſtermayer. »Pah!« dachte Rambach eines faulen
Tages — »wie wär's, wenn Du Dir für dies Geſchäft
einen Lehrling zulegteſt? Da hätteſt Du die halbe
Arbeit und verdienteſt doch doppelt ſo viel liebes ſchnell¬
rollendes Geld. . . . Verſuchen wir es einmal mit der
gewandten und in ſeinen deutſchen Arbeiten ſo abenteuer¬
reichen Feder von dem Scholar Ludwig Tieck und geben
ihm den bayeriſchen Hieſel als Kraft- und Kniffgenie
zu verherrlichen. . . .« Und der Verſuch wurde gemacht
und fiel über Erwarten des glücklichen Präzeptors goldig
glänzend aus und der Lehrling überflügelte den Meiſter
bald in allen Ausſchweifungen einer wilden Schauer¬
phantaſie und entzückte ihn beſonders durch das Höllen¬
gebräu von Blut und Sünde und Verzweiflung und
Wahnſinn in dem entſetzlichen Gräuelroman: »Die
eiſerne Maske«. In ähnlicher Weiſe arbeitete Ludwig
Tieck auch ſchon auf dem Gymnaſium für ſeinen hoch¬
begabten, aber zerfahrenen Lehrer Bernhardi, der ſpäter¬
hin ſeine geliebte Schweſter Sophie als Gatte ſo un¬
glücklich machen ſollte. . . .


Aber dieſe Ausſchweifungen einer unreifen Phantaſie
zerrütteten Tieck's Nervenſyſtem bedenklich. »Halb verrückt«
25 *[388] — wie er ſelber ſagte — ging er im Frühjahr I792 nach
Halle, um Theologie zu ſtudiren, So glaubte die gute
Mutter wenigſtens. Er gab ſich aber jetzt nur noch
ungebundener ſeiner wilden Phantaſie und Feder hin,
und las und ſchrieb und trieb Spuk über Spuk, ſo daß
er ſich oft ſelber vor den Fleiſch und Blut und Schrecken
gewordenen Ausgeburten ſeiner Phantaſie entſetzte. . . .
In Halle und Göttingen beendete er ſo das ſchaurige
Phantaſieſtück »Abdallah« und arbeitete an dem »Lovell«,
beide bereits auf dem Gymnaſium begonnen.


Mit draſtiſchem Humor malte er uns die Szene
aus, wie er, gegen Oſtern 1793 mit ſeinem Freunde
Wackenroder auf der Wanderſchaft nach Erlangens Uni¬
verſität begriffen, bei Fürth in die bunte Geſellſchaft
von wandernden Komödianten und lagernden Reichs¬
ſoldaten gerieth, und wie die alte tolle Knabenleidenſchaft
wieder über ſie kam und er und Wackenroder mit den
Komödianten unter freiem Himmel vor den Reichsſoldaten
Komödie ſpielten . . . und wie ſchließlich die Soldaten auch
mitſpielen wollten und eine allgemeine Verwirrung und
Balgerei draus wurde, und der feurige Student wegen
ſeiner derben norddeutſchen Hiebe am Ende wohl gar
von den Reichsſoldaten füſilirt worden wäre, wenn nicht
der General ein freundlich Macht- und Gnadenwort ge¬
ſprochen hätte. . . . Und in derſelben Nacht verirrte er
ſich noch im Walde in ein buntes Zigeunerlager . . . .
Noch immer bedauerte er faſt ernſthaft, daß am Ende
ſeiner Studentenzeit der tolle Plan: mit Wackenroder
[389] und Burgsdorff in das romantiſche Land Italia zu ent¬
fliehen, dort ein genial poetiſches, abenteuerliches Leben
zu führen und nur als Berühmtheiten nach dem ſpie߬
bürgerlichen Deutſchland zurückzukehren, nicht zur Aus¬
führung kommen konnte — aus Mangel an goldenen
Sohlen. . . .


Kein Wunder, dachte ich bei ſolchen Erzählungen
ſtill für mich, daß jetzt der alte »Romantiker« vor Dir
ſitzt.


Launiſch und ſpöttiſch erzählte Tieck gern von
ſeinem Beſuch bei Klopſtock in Hamburg, wie er eine
ideale Dichtergeſtalt zu ſehen erwartet und einen echten
vertrockneten deutſchen Profeſſor im zerriſſenen Schlaf¬
rock mit der Tabakspfeife zwiſchen den Zähnen gefunden
habe, deſſen erſte Frage an die Studenten war: »Nun,
hat ſich denn der tolle Goethe immer noch nicht todt¬
geſchoſſen?« — wie ergötzlich der alte Stimmkünſtler die
ſchneidend hohen Fiſteltöne des göttlichen Sängers der
Meſſiade nachmachen konnte!


In Berlin begann im Herbſt 1794 für den jungen
21jährigen Poeten ein neues, wunderſames Leben. Für
den bekannten Buchhändler Nikolai bearbeitete er aus
dem Franzöſiſchen eine Reihe damals beliebter ſatyriſch¬
moraliſcher Geſchichten, und dieſer lieferte ihm dafür die
Mittel, mit der Schweſter Sophie und dem jungen Bild¬
hauer Friedrich Tieck einen eigenen genialiſchen Künſtler-
Hausſtand zu führen, in dem ſich auch der große Mime
Fleck oft wohl fühlte. »Der alte Nikolai aber wurde
[390] einſt fuchswild, als ich ihm auf all' ſeine fragen immer
nur wiederholen konnte, ich habe »die beiden merkwürdigen
Tage aus Sigmund's Leben« keinem franzöſiſchen Ori¬
ginale nachgebildet, ſondern einfach meinem eigenen Hirn
entſpringen laſſen — bis der Alte mit den Worten fort¬
rannte: Junger Mann, für ſo eitel hätte ich Sie doch
nicht gehalten — — und mir wollen Sie das weiß
machen, mir, dem alten Nikolai? — Er hat's mir auch
nie geglaubt, der alte Nikolai, daß ich die wunderliche
Hiſtorie allein zu Stande gebracht. . . .«


Iſt's mir doch, als hörte ich noch heute Tieck's be¬
hagliches Lachen über dieſen Jugendtriumph und über
den alten Nikolai.


Oft las Tieck uns dann im engen traulichen Kreiſe
auch ſeine reizenden Volksmärchen vor: Blaubart — die
Haimonskinder — die Magelone — der blonde Eckbert
— — und wie wunderbar märchenhaft ſüß und zau¬
beriſch und dann auch wieder wie erſchütternd und
grauenerregend verſtand er ſie zu leſen! Und gern knüpfte
er an dieſe Jugendarbeiten (1797) die glücklichen Er¬
innerungen, wie ihm gerade dieſe Märchen die Freund¬
ſchaft Auguſt Wilhelm von Schlegel's erworben und ſo
beide Dichter ſpäterhin zur gemeinſamen Ueberſetzung
von Shakeſpeare's Werken verbunden hatten und auch
die Freundesherzen von Novalis und Schelling ihm zu¬
führten. Dieſe Freunde zogen ihn im Herbſt 1799 mit
der jungen Frau und der kleinen Dorothea nach Jena,
aber ſchon am Neujahrstage 1801 ſollte ihm Novalis
[391] durch den Tod entriſſen werden, wie ſchon wenige Jahre
früher der treue und geniale Freund Wackenroder.


Mit großer Erregung ſprach Tieck ſtets von ſeinen
literariſchen und perſönlichen Federkämpfen jener Tage
mit dem Satyriker Falk, dem Kritiker Gottlieb Merkel,
mit Soltau, der gleich ihm den Don Quixote überſetzte,
und mit Iffland, der ſich für eine bittere Kritik Bern¬
hardi's durch das in Berlin aufgeführte ſatyriſche Luſt¬
ſpiel des Schauſpielers Beck: »Chamäleon« an der ganzen
neuen Tieck'ſchen romantiſchen Schule rächte.


Ueber meinen vergötterten Schiller, den er damals
auch in Jena kennen gelernt hatte, äußerte der alte
Romantiker ſich zu meinem Schmerz und Verdruß ſtets
ſehr vornehm ablehnend und herablaſſend, und nannte
ihn wohl achſelzuckend einen »ſpaniſchen Seneca« —
oder gar einen »guten Menſchen«.


Goethe konnte er nie die eigenthümliche Kritik über
ſein religiös-myſtiſches Trauerſpiel »Genovefa« vergeben,
als der Altmeiſter nach Tieck's Vorleſung deſſelben im
Jenaiſchen Schloß nur ſeinem kleinen Wolfgang fein
lächelnd die Locken aus der Stirne ſtrich und ſagte:
»Nun, mein Söhnchen, was ſagſt Du zu all' den Farben,
Blumen, Spiegeln und Zauberkünſten, von denen unſer
Freund uns vorgeleſen hat? Iſt das nicht recht wunder¬
bar?. . . .«


Ja, leider war Tieck nicht groß genug, ſeine Empfind¬
lichkeit gegen gekränkte Eitelkeit zu verbergen. Er zeigte
dann nur zu gern die Schärfe ſeiner Zunge und Feder.


[392]

Auch mit dem armen Kleiſt war er in Berührung
gekommen. Bei der Verſchiedenartigkeit ihrer menſchlichen
und dichteriſchen Anlagen konnten ſie ſich aber nicht näher
treten. Tieck ſprach, bei aller Anerkennung von Kleiſt's
großem dramatiſchen Talent, nur zu gern von des un¬
glücklichen Dichters fixen Ideen, die ſich ſogar ſo krank¬
haft ſteigerten, daß Kleiſt einſt im Ernſt verſucht habe,
Adam Müller von der Dresdener Elbbrücke zu ſtoßen,
weil er ſich einbildete, deſſen Frau wahnſinnig zu lieben
und ohne ihren Beſitz nicht leben zu können.


Köſtlich parodirte er dagegen den windigen Klemens
Brentano, der ſich beſonders darin gefiel, zarten Frauen
ſeine Seelenleiden vorzuſeufzen und ſie durch ſeine welt¬
ſchmerzliche Zerriſſenheit und Verlorenheit bis zu Thränen
des Mitgefühls oder wohl gar des Erbarmens zu rühren.
. . . »Als Brentano dieſe Höllenkünſte auch in meinem
Hauſe probiren wollte, ſagte ich ihm ernſthaft: lügen
Sie meinen Frauenzimmern ſo viel vor, wie Sie wollen,
— nur eine Bedingung hab' ich, lieber Freund: laſſen
Sie es heiter ſein! — und die poetiſche Zwiebel gelobte
alles mögliche Gute und Beſte. Aber als ich dann eines
Tags nach Hauſe komme, was find' ich? — meine Frau
und die Gräfin Finkenſtein und die Dorothea und die
Reinhold ſämmtlich in Thränen ſchwimmend — und
mitten unter ihnen meinen ſeufzenden, zerriſſenen Fuchs
Brentano. Aber ich hab' meine Frauenzimmer kurirt
und dem Schalk im Thränenkleide heimgeleuchtet, indem
ich ihm zurief: »Plagt Sie der Teufel? Sie haben mir
[393] ja die Hand darauf gegeben, meinen Frauen nur Luſtiges
vorzulügen!«


»Meinen Frauen!« Ich muß heute darüber lächeln,
wie harmlos patriarchaliſch dies Wort von Tieck's Lippen
klang — und wie ſcharf, wie ſpöttiſch die böſen Zungen
Dresdens es betonten. Die nannten Tieck oft nur den
»Grafen von Gleichen unſeres Jahrhunderts«.


Es war allerdings ein wunderliches Verhältniß,
das ſich im Lauf der Jahre zwiſchen dem alten Roman¬
tiker und ſeiner Frau und der Freundin Gräfin Finken¬
ſtein gebildet hatte. Aber es war auch eine andere,
romantiſchere Zeit, als unſere Tage.


Tieck hatte, wie ſeine Lieblingshelden, lange Jahre
eine Art fahrendes Künſtlerleben geführt — zum Theil
mit Weib und Kind. Seine geniale, abenteuerliche
Jugendzeit gährte fort und fort in ihm und ließ ihn
nicht zu einem feſten Lebenshalt kommen und auch nicht
zu einem feſten Wohnſitz. Und da ſeine pekuniären
Verhältniſſe nie die glänzendſten waren, lebte er bald
hier, bald da — und oft jahrelang bei Freunden als
Gaſt, am liebſten und am längſten in Ziebingen, erſt
auf dem Gute ſeines Freundes v. Burgsdorff und dann
im Hauſe des Grafen Finkenſtein. Hier finden wir die
Familie Tieck in den erſten achtzehn Jahren dieſes Jahr¬
hunderts faſt jeden Sommer. Von hier aus machte er
ſeine Reiſe nach Italien, um in den Bädern von Piſa
und unter dem milden Himmel von Rom Geneſung von
ſeinem heftigen Gichtleiden zu ſuchen, das den erſt
[394] 22jährigen Dichter befiel und zeitweiſe ganz des Ge¬
brauchs ſeiner Glieder und ſeiner Feder beraubte. Leider
war die Heilung keine dauernde und in Dresden fand
ich den Armen oft von Gicht ganz zuſammengekrümmt
in ſeinen Lehnſeſſel gebannt. Von Ziebingen aus ging
er mit dem treuen und ſtets hülfreichen Burgsdorff nach
England und machte in Londons Bibliotheken und Theatern
Studien zu einem wiſſenſchaftlichen Werk über Shakeſpeare,
das aber kaum über Notizen hinausgekommen iſt. Als
Graf Finkenſtein im Frühjahr 1818 ſtarb, ging die
Gräfin mit Tieck und deſſen Familie nach Dresden und
gründete dem vergötterten Dichter mit ihren reichen
Mitteln ein behagliches, ſorgenfreies Daheim. Sie leitete
und beſtritt den Hausſtand, ſie machte an den Beſuchs-
und Vorleſeabenden die Honneurs, ſie pflegte den von
Gicht Geplagten unermüdlich, ſie begleitete den Theater¬
freund und ſpäteren Dramaturgen in's Theater . . .
und Tieck's Jugendliebe, ſeine Gattin Amalie, ging mit
wunderbarer Milde und zartfühligem Takt in dies ſelt¬
ſame Verhältniß ein. Ja, ich habe nie einen ernſten
Mißton zwiſchen den beiden Frauen unſeres Grafen
Gleichen bemerkt; auch die Töchter Dorothea und Agnes
verkehrten auf's Freundlichſte mit der Gräfin Finken¬
ſtein, und der alte Romantiker ſchien ſich als Graf
Gleichen II. ſehr behaglich zu fühlen.


Als ich die Gräfin Finkenſtein kennen lernte, hatte
ſie den Freund ſchon über dreißig Jahre mit rührender
Treue verehrt, gepflegt, ſich in jede ſeiner vielen Launen
[395] gefügt, ihm mit Aufopferung ihres Vermögens jeden
Wunſch ſeiner koſtſpieligen Bücherliebhaberei zu erfüllen
geſucht und ihn — o Wunder! — ſicher zehntauſendmal
vorleſen gehört — ja, was noch mehr ſagen will: hundert¬
mal gehörte Shakeſpeares und Spanier mit gleichem Ent¬
zücken, mit verklärtem Geſicht, mit ſprudelndem Enthu¬
ſiasmus!


Ich ſprach einſt mit Amalie Wolff, die zum Beſuch
zu Verdys, ihren werthen Kollegen aus der alten glänzen¬
den Blüthezeit des Weimariſchen Theaters unter Goethe's
Sonne, nach Dresden gekommen war und eine — nur
eine einzige Shakeſpeare-Vorleſung bei Tieck mit angehört
hatte. Ich fand die liebe Berliner Freundin am andern
Morgen über Nervenkopfweh klagend auf dem Sopha
liegen. In ihrer humoriſtiſchen Art ſchilderte ſie mir
ihre verbiſſenen Gähnkrämpfe, unterdrückten Nerven¬
zuckungen während Tieck's Vorleſung von Richard III. . . .
»Er lieſt ja meiſterhaft vor, wie kein anderer Sterb¬
licher, entzückend ſchön — aber eine Tantalusqual bleibt's
doch, in dieſer Backofenhitze drei Stunden lang wie eine
egyptiſche Sphinx daſitzen zu müſſen vor dieſen beiden
müden Wachslichten, ſich nicht rühren, nicht zucken, nicht
räuſpern, nicht gähnen, ja nicht einmal ein wenig
ſchlafen zu dürfen, denn dieſe ſchreckliche Mumie von
Gräfin beobachtete unter ihrem grünen Augenſchirm
hervor jeden beglückten Zuhörer mit Argusaugen, ob er
ſich auch nicht ein Kapitalverbrechen gegen ihren Abgott
zu Schulden kommen ließ — ich glaube, kein Schlummer¬
[396] auge wäre vor ihren gräflichen Nägeln ſicher. Und dieſe
kleine, alte, zarte, kränkliche Gräfin, die ausſieht, als
könnte man ſie umblaſen, als müßte ſie Krämpfe be¬
kommen, wenn eine Stricknadel auf die Erde klirrt —
dies Schattenweſen hört nun ſchon ſeit dreißig Jahren
Abend für Abend Heinriche, Richarde, Othellos und erſt
die furchtbaren Spanier ohne ein Wimperzucken heroiſch
mit an, während mich der eine Richard ſchon beinahe
umbrachte. . . Räthſelhaft! unfaßlich! Wahrhaftig, die
Gräfin Finkenſtein verdiente das achte Weltwunder —
das Nervenwunder genannt zu werden. . .«


»Aber Tieck verehrt, ſchätzt Sie ſo hoch, theure
Freundin. . .«


»Ich ihn ja auch — aber hübſch in der Ferne,
oder wenn er keine Richarde lieſt. Ein kleines Luſt¬
ſpiel hält meine Verehrung auch noch aus — doch
bei einem fünfaktigen Shakeſpeare ſchlagen die Nerven
ſie todt!«


Ich mußte herzlich lachen. »Auch mein Bruder,
der Rittmeiſter, der Nerven wie Stahl hat und den
ich eines heißen Auguſtnachmittags mit zu Tieck vor
ſein Richard-Tribunal ſchleppte und der Zucken in Händen
und Füßen bekam und große Angſttropfen ſchwitzte, wäh¬
rend die Gräfin ihm ihre triumphirendſten Blicke zuwarf,
als wollte ſie ſagen: Nicht wahr? ſo haſt Du noch nie
vorleſen hören! . . . mein Bruder ſagte mir beim Nach¬
hauſeſchwanken: »Alles kann ich Dir verzeihen, Lina,
daß Du unter die Komödianten gegangen biſt und mit
[397] Deiner Gage ſo oft meine Lieutenantsſchulden bezahlt
haſt — — aber, ich fürchte, Richard-Qualen nie!«


Jeder Dresdener Bekannte, jeder gebildete Fremde
hatte Zutritt zu dieſen halb öffentlichen Vorleſungen.
Ein Empfehlungsgruß, ja eine einfache Selbſteinführung
genügte, um von Tieck liebenswürdig empfangen zu
werden. Und kein durchpaſſirender Gelehrter, Kunſt¬
freund, Neugieriger, Raritätenliebhaber verſäumte es,
einen Vorleſeabend bei Ludwig Tieck kennen zu lernen.
Der alte Romantiker wurde dabei halb und halb als
Sehenswürdigkeit Dresdens betrachtet. Zuletzt fragten
die Lohnbedienten und Fremdenführer der Hotels ganz
ungenirt Morgens bei Tieck's alter Dienerin an, ob am
Abende Vorleſung ſei — ſie hätten ſo und ſo viel Fremde
hinzuführen. Und es that Tieck's lieber Eitelkeit wohl,
ſo aufgeſucht und als Dresdener Sehenswürdigkeit an¬
geguckt zu werden.


Dabei war er aber unerbittlich pünktlich mit dem
Beginn ſeiner Vorleſungen. Mochten ihn die bedeutend¬
ſten, vornehmſten Gäſte in die intereſſanteſten Geſpräche
verflochten haben: — Punct 7 Uhr gab er ſeinem
alten weiblichen Faktotum das Zeichen und das berühmte
Tiſchchen mit den Wachskerzen ſtand plötzlich in der
Mitte des Zimmers, Tieck dahinter. . . Athemloſe, bange
Stille im Zimmer: Was wird er heute leſen? Einen der
nervenzerrüttenden Heinriche? den furchtbaren Richard III.
oder gar ſeine geliebten Spanier: »Das öffentliche Ge¬
heimniß« oder »Der Richter von Zalamea«? Dieſe
[398] angſtvollen Fragezeichen ſtanden auf den Geſichtern aller Ein¬
heimiſchen zu leſen und gewöhnlich auch daneben ein herz¬
liches Ausrufungszeichen: Möchte es doch heute ein kurzes
Luſtſpiel ſein! — Und wenn Tieck dann mit ſeiner herrlichen
volltönenden Stimme ſagte: »Der Richter von Zalamea,
Drama aus dem Spaniſchen des Lopez. . . . !« ſo fielen
wir Eingeweihten mit ſtillen Seufzern und lammfrommen
Duldermienen in die möglichſt bequemſte Ergebungspoſition
zurück und ließen den Richter von Zalamea über uns er¬
gehen und, wem's gegeben war, an uns vorübergehen.
Tönte es jedoch zwiſchen den beiden Lichten hervor:
»Der zerbrochene Krug, Luſtſpiel von Heinrich von
Kleiſt!« — oder: »Minna von Barnhelm, vaterländiſches
Luſtſpiel von Leſſing!« — da ging ein Aufathmen der
Erleichterung, der Genugthuung durch den Saal, und
wenn der Vorleſer am Schluß noch ſeine kleinen be¬
liebten Epiloge hielt, wie: »Der zerbrochene Krug! welch'
kerniger, friſcher Humor in dieſem Prachtluſtſpiel!« —
oder: »Eine Muſter-Proſa in der Minna von Barnhelm!
Welch' ein Genuß, ſie nachzuſprechen! Und welche Fein¬
heit des Witzes und meiſterhafte Zeichnung der Charaktere!
Ja, es iſt noch immer unſer unerreichtes deutſches Muſter¬
luſtſpiel!« — dann nickten wir dem Redner und uns
gegenſeitig vergnügt zu. Die kurzen Luſtſpiele hatten
uns mobiliſirt, die langen Spanier hätten uns halb
todt gemacht.


War Tieck beſonders guter Laune, ſo fragte er
auch wohl ſchon während des Theetrinkens: »Was
[399] wünſchen die werthen Gäſte heute zu hören?« — und
von allen Seiten wurden mir, dem verzogenen Günſt¬
lings, flehentliche Blicke zugeworfen und gelinde Ell¬
bogenſeufzer eingebohrt, und ich gab dem allgemeinen
Geſumm Worte: »Bitte, goldigſter Herr Hofrath, ein
Luſtſpiel, wenn's ſein kann Holberg's »Wochenſtube« —
ich habe ſo lange nicht recht von Herzen gelacht. . .«
Dann drohte er wohl mit ſeinem köſtlichen Lächeln
ſchalkhaft mit dem Finger: »Wer Ihnen das glaubte,
Uebermuth! Wie die Blume nicht ohne Sonnenſchein,
ſo können Sie ja keinen Tag ohne Lachen exiſtiren.
Nun denn, Sie ſollen heut Abend einmal lachen, ſo
recht friſch und herzfröhlich hell, hör' ich's doch ſelber
ſo gern. . .« Wir waren vor den Heinrichen und den
Spaniern gerettet und er las uns ein tolles Luſtſpiel
und in kleinem Kreiſe auch wohl »Die Wochenſtube«.


Das närriſche Stück, ein echtes prächtiges Bild
aus der lieben deutſchen Kleinſtädterei, iſt leider ganz
von der Bühne verſchwunden und hat unſauberem
Poſſenkram und Offenbach's Frivolitäten Platz gemacht.
Auch der Inhalt wird ſchwerlich vielen meiner Leſer
bekannt ſein.


Eine Wöchnerin empfängt die erſten Staatsviſiten
und muß Alle liebenswürdig begrüßen, unterhalten und
traktiren — ſo verlangt es der gute Ton des Städtchens.
Den Reigen eröffnet eine ſehr ſchüchterne Dame, die
kaum ein Wort herausbringt, — dann folgt eine Klatſch¬
ſchweſter, wie ſie im Buche ſteht, daß der armen jungen
[400] Mutter dabei ganz ſchwindlig wird, — eine Pleureuſe
läßt ihren butterweichen Gefühlen und ſalzigen Thränen
freieſten Lauf, — eine ſolide Buchdruckersfrau hat nur
die praktiſche Seite des Lebens im Auge und auf der
Zunge, — eine Schulmeiſterin docirt Lebensweisheit . . .
und zuletzt, als Knalleffekt, treten drei Schweſtern ein,
die ſtets zu gleicher Zeit auf die Wöchnerin einſprechen. . .
Wie Tieck das fertig brachte, daß man wirklich drei ver¬
ſchiedene Stimmen und zu gleicher Zeit zu hören glaubte,
das iſt mir noch heute ein Räthſel. Hier wurde aus
dem Stimmkünſtler faſt ein Stimmzauberer. Aber die
Wirkung war auch eine glänzende. Wir lachten nicht
mehr, wir ſchrieen förmlich wie übermüthige, glückſelige
Kinder, und ſelbſt die kranke Hofräthin ſtimmte herzlich
mit ein. Das kleine, vertrocknete Geſicht der Gräfin
Finkenſtein aber ſtrahlte aus ihren tauſend Tüllrüſchen
hervor, wie eitel Sonnenſchein. Ihr Tieck hatte ja
dieſe Wirkung hervorgebracht. Alles Andere war ihr
Nebenſache.


Wollte Tieck aber aus ſeinen eigenen Dichtungen
vorleſen, ſo wurden alle Stammgäſte ſchon einige Tage
vorher förmlich dazu eingeladen, und im Saal, Neben-
und Vorzimmer verſammelten ſich gewöhnlich gegen
50 Perſonen. Es wurde im Eckhauſe des Altmarkts
übel notirt, wenn man ſich entſchuldigen ließ. Mit einer
gewiſſen Feierlichkeit wurden wir empfangen, mit Thee
und feſtlicheren Kuchen bewirthet. Die Wachslichte
waren dicker, Tieck trug ſeinen beſten Frack und feier¬
[401] lichſten Knoten im hohen weißen Halstuch, und die
Gräfin hatte zur Feier des Abends einige Dutzend Tüll¬
rüſchen mehr um ihr altes Geſichtchen zittern.


Hinreißend las Tieck ſeinen Fortunat, Octavian, die
Genovefa, den geſtiefelten Kater und vor allen den Blau¬
bart vor. Der war beſonders der Liebling, das Ent¬
zücken der Gräfin Finkenſtein, und wie ein Kind freute
ſie ſich immer auf den Hauptmoment — den größten
Effekt, den wohl je ein einziges Wort erzielt hat. Es
iſt die Szene, wo Agnes, des Blaubart's Frau, mit
Angſt die Heimkehr des Tyrannen erwartet, denn ſie
hat ſein Gebot übertreten und einen Blutfleck am gol¬
denen Schlüſſel. Die alte Magd Mechtilde erzählt
den Schweſtern ein Märchen, ihre Unruhe einzulullen. . .
»Es wohnte ein Förſter in einem dicken, dicken Walde. . .
Einen Tag in der Woche verbietet der Vater den Kindern
aus der Hütte zu gehen. Da der Vater weg iſt, wagt
es dennoch das Mädchen. Nicht weit vom Hauſe lag
ein grauer, ſtillſtehender See. Das Mädchen ſetzt ſich
an den See und indem ſie hinein ſieht, iſt es ihr, als
wenn ihr fremde bärtige Geſichter entgegenſchauen; da
fangen die Bäume an zu rauſchen, da iſt es, als wenn
es in der Ferne gehe, da kocht das Waſſer und wird
ſchwarz und immer ſchwärzer — mit einem Mal, ſiehe,
ſpringt es in der trüben Woge wie Fiſchlein oder Fröſche,
und drei blutige, ganz blutige Hände tauchen hervor und
weiſen mit dem rothen Zeigefinger nach dem Mädchen
hin. . . .«

Erinnerungen ꝛc. 26[402]

Agnes: »Blutig? Schweſter, um Gotteswillen,
ſieh' die alte Hexe! Wie ſie ihr Geſicht verzogen hat!
Sieh', Schweſter!«


Mechtilde: »Kind, was iſt Dir?«


Agnes: »Blutig, ſagſt Du? Ja, blutig, Du
wildes Scheuſal, Blutig iſt euer Leben, ihr Schlächter,
ihr gräßlichen Mörder, Fort, ich mag Dein grinſendes
Antlitz nicht mir gegenüber.«


Mechtilde: »Das ſind ja ganz beſondere Einfälle.«
(Geht.)


Anna: »Schweſter, mäßige Dich doch!«


Agnes: »Du haſt es nicht geſehen, wie ſie ſich
unter der Erzählung verwandelte!«


Anna: »Du biſt erhitzt, das ſind Einbildungen.«


Agnes: »Nun, warum ſpricht ſie auch von Blut?
Ich kann das Wort nicht hören, ohne toll zu werden. . .«


Beim Beginn der Märchenſzene lüftete die Gräfin
Finkenſtein ſtets ihren grünen Augenſchirm und ſchaute
die unglücklichen, ahnungsloſen Fremden mit ſiegesſicheren
Falkenblicken an. . . O, ſie konnte der armen Opfer
auch ſicher ſein. Denn dem entſetzten Aufſchrei von
Agnes: »Blutig?« aus Tieck's Munde hat kein Ohr,
kein Herz widerſtanden, Und welch' ein Entzücken,
welch ein Triumph ſtrahlte dann zwiſchen den zitternden
Tüllrüſchen, wenn ihre Opfer, wie von einer Todtenhand
geſchüttelt, zuſammenfuhren und ein Fröſteln ſelbſt durch
die Reihen der gewohnten Zuhörer lief. . . Aber als ich
dann dies »Blutig?« ein Dutzend Mal ſchauernd gehört
[403] hatte — ja, dann ging es mir faſt wie der guten
Gräfin: ich freute mich auch ſchon vorher auf das ent¬
ſetzliche »Blutig?«, um die Fremden zuſammenfahren
zu ſehen.


Ja, Tieck war einzig groß als Vorleſer, und ſicher
wäre er als Schauſpieler der größte Mime ſeiner Zeit
geworden. Nie hat mich z. B. die Iphigenie auf der
Bühne ſo ergriffen, wie vor dem kleinen Leſepulte im
Eckhauſe des Dresdener Altmarkts. Wenn er nach Oreſt's
wilder grauenerregender Verzweiflung:

Zerreiße dieſen Buſen und eröffne

Den Strömen, die hier ſieden, einen Weg!

verſöhnend fortfuhr:

Welch' ein Geliſpel hör' ich in den Zweigen?

So bin auch ich willkommen? Und ich darf

In Euren feierlichen Zug mich miſchen?

— wie verklärten ſich förmlich bei den weichen Tönen
der herrlichen Stimme die ausdrucksvollen Züge des
Vorleſers, wie leuchtete ſeine Stirn!


Im kleinen Kreiſe las Tieck uns auch hin und
wieder Bruchſtücke aus ſeinem märchenhaften Novellen-
Cyklus »Phantaſus« und aus ſeinen Novellen vor, die
damals gerade bei Brockhaus erſchienen. Beſonders
feſſelte mich ſein »junger Tiſchlermeiſter«, weil man
wußte, daß der Dichter Vieles aus ſeinem äußeren und
inneren Leben hineingewoben. Aus »Accorombona«
hörte ich ihn nie leſen. Dorothea liebte das Buch nicht
und ſprach das auch freimüthig aus. Als die Gräfin
26 *[404] einſt ihr überſchwängliches Entzücken über dieſe Dichtung
äußerte, ſagte Dorothea einfach, ernſt: »Ich wünſchte,
mein Vater hätte Accorombona nie geſchrieben.«


Trat Tieck aus ſeinem Arbeitszimmer unter die
ſtets zahlreich verſammelten Gäſte, ſo glaubte man,
trotz der Gicht, einen Grand Seigneur zu ſeinem Hof¬
ſtaat herabſteigen zu ſehen. Bei aller Würde und Artig¬
keit, mit der er Fremde empfing, lag doch in ſeinem
ganzen Weſen ein wenig Herablaſſung, ſelbſt gegen Vor¬
nehme und Berühmtheiten. Prächtig aber gefiel es mir,
wenn der geiſtvolle Ueberſetzer von Shakeſpeare, der in
alle Feinheiten der Sprache ſo tief eingedrungen war,
und der das Franzöſiſche ſo elegant zu plaudern ver¬
ſtand, auf die Anſprache der Engländer und Franzoſen
in ihrer Mutterſprache ſtets mit ſeinem Lächeln antwor¬
tete: »Ich ſpreche nur deutſch!« — und die Verdutzten
durch den Blick ſeiner großen, klugen Augen dann
vollends verblüffte.


Unter den oft wiederkehrenden fremden Gäſten des
Eckhauſes am Altmarkt war mir der liebſte: Friedrich
von Raumer, der berühmte Geſchichtſchreiber der Hohen¬
ſtaufen. Wie geiſtreich und unterhaltend und dabei doch
ſo einfach, beſcheiden und gemüthlich plauderte er mit dem
jungen luſtigen Volk! Auch die ernſte, ſinnige Dorothea
wurde heiterer, theilnehmender, wenn Raumer bei ihnen
weilte.


Tieck, von der Gicht immer mehr zuſammengekrümmt,
verließ ſeine traute Dichterburg ſelten. Nur wenn er
[405] als Dramaturg — ſeit 1825 nahm er dieſe Stellung
bei der Dresdener Bühne ein und bezog dafür das be¬
ſcheidene Gehalt von 800 Thalern — im Theater Proben
oder Vorſtellungen beiwohnen mußte, oder wenn er zum
Vorleſen nach Hofe berufen war, ſtieg er mühſam die
Treppen hinab und ließ ſich in einer Portechaiſe an ſein
Ziel tragen, Geſellſchaften beſuchte er nie mehr, außer
zweimal im Jahre bei dem Intendanten, Herrn von
Lüttichau, deſſen Frau für den alten Romantiker ſchwärmte.
Auch Beſuche machte er nie, empfing ſie aber um ſo
häufiger und lieber. Nur ſeine Bücherleidenſchaft ließ
ihn oft die Gicht vergeſſen — und auch das mäßige
Budget eines deutſchen Dichters. Hörte er, daß irgend¬
wo ein ſeltenes Buch, beſonders eine uralte Shakeſpeare-
Ausgabe zu kaufen ſei, dann ließ er Beſuche, Arbeiten,
Theaterproben — Alles im Stich, eilte mit jugendlicher
Lebhaftigkeit die Treppe hinab, verſprach den Porte¬
chaiſenträgern ein Extratrinkgeld, wenn ſie raſch aus¬
ſchritten, und zahlte mit der ihm eigenen Sorgloſigkeit
in Geldſachen, was ihm für das geliebte Buch abverlangt
wurde. Triumphirend brachte er den Schatz nach Hauſe,
und wenn die Hofräthin über den hohen Preis ſeufzte,
konnte er ihr wie ein Kind ſchmeicheln, und nicht müde
werden, uns Allen auseinanderzuſetzen, daß für dies
Spottgeld das koſtbare einzige Buch ja faſt geſchenkt
ſei. Und die Gräfin ſtrahlte mit dem ſtrahlenden
Freunde um die Wette, und hatte immer noch ein
Kapitälchen aufzunehmen, das durch den Bücherkauf
[406] geriſſene große Loch im Hausbudget heimlich wieder
zuzuſtopfen.


Tieck verſtand es überhaupt, wie kein anderer
Sterblicher, des Lebens Sorgen leicht abzuſchütteln, alle
Schattenſeiten roſig zu beleuchten, Schmerzliches möglichſt
wenig tief zu empfinden und ſich und Anderen einzureden:
»o, es hätte noch viel ſchlimmer kommen können! —
Was man nicht ändern kann, darüber muß man auch
nicht klagen!« war einer von den Lieblingsſprüchen
ſeiner Lebensweisheit. So fürchte ich auch, hat er nie
ernſtlich, ſchmerzlich über irgend ein Unrecht nachgedacht,
das er in ſeiner leicht reizbaren, gekränkten Eigenliebe
leider ſo oft Anderen zufügte, und ſich nie reuevoll ge¬
ſagt: »Du irrteſt, du ließeſt dich fortreißen — mache
es wieder gut!« — Ich habe nie wieder einen Menſchen
gefunden, der ſo aufrichtig mit ſich zufrieden war,
und ſelbſt in ſeinem gebrechlichen Alter behauptete: er
fühle ſich ſo aufrichtig, ſo ungetrübt glücklich, wie in
ſeiner blühendſten Jugend. Altwerden ſei überhaupt
ein Vorurtheil. Das Herz könne ſtets mit jugendlicher
Friſche empfinden, und vor den Augen der wahren
Liebe gäbe es weder Runzeln noch graue Haare. . .


Und ich ſollte den Beweis erhalten, daß Tieck
und der Schatten ſeiner Gefühle, das Echo ſeiner Worte:
die Gräfin Finkenſtein, in allem Ernſt ſo dachten und
handelten.


Es war an einem herrlichen Mainachmittage. Tieck
wollte eine neue Rolle mit mir durchgehen, und ich ging
[407] in die Zauberburg am Altmarkt und überreichte dem
alten Romantiker einen Strauß Lilas mit Maiblumen.
Solche kleinen Aufmerkſamkeiten erfreuten ihn ſtets ſehr.
Er war in heiterſter Laune und lobte mein blühendes
Ausſehen, fand meine neue Frühlingstoilette von hell¬
grüner Mouſſeline mit weißem, maiblumengeſchmückten
Baſthute ſehr hübſch und kleidſam und lächelte: »Sie
mögen auch oft in den Spiegel geguckt haben, über¬
müthiges Weltkind!« — was ich gar nicht verneinte.
Dann gingen wir an die Arbeit. Ich rezitirte meine
Rolle, als plötzlich während meiner pathetiſchſten Stelle
die Bibliothekthür mir gegenüber ſich öffnete und eine
lange, hagere Geſtalt im weißen Percal–Ueberrocke mit
roſa Gürtel und weißem Tüllhäubchen mit zierlichen roſa
Schleifen gleich einer verſchollenen Ahnfrau herein¬
ſchwebte. . . Mir ſtockte die Rede, als ich die alte, faſt
ſiebenzigjährige Gräfin Finkenſtein ſo geſchmückt ſah.
Sie grüßte zierlich und durchſchritt den kleinen Raum
bis zu der Saalthür auffallend langſam, — in der
Thür ſchaute ſie ſich noch einmal um und nickte dem
geliebten Freunde kokett lächelnd zu, als wollte ſie ſagen:
»Nicht wahr, ſo gefalle ich Dir doch?« Tieck nickte ihr
mit zärtlichem, wohlgefälligen Lächeln wieder zu und
ſagte nach dem Verſchwinden der Ahnfrau: »Nun, iſt
die Gräfin nicht noch höchſt anmuthig? Die Gute hat
ſich ſchön herausgeputzt, um mit nur heute Abend
Mozart's herrliche Zauberflöte zu hören!« — Zum
erſten Mal fehlte meiner flinken Zunge eine Antwort.
[408] Ich ſtarrte Tieck an, als traute ich meinen Ohren nicht.
Mich hatte dieſe Schattengeſtalt in dem engen, altmo¬
diſchen weißen Ueberrock, der kokette roſa Gürtel, dies
kleine vertrocknete Mumiengeſicht zwiſchen den roſigen
Bändern förmlich entſetzt — und er, der Dichter, fand
dieſe Karrikatur auf die Jugend »höchſt anmuthig«
. . . und ſaß doch mir jungem, friſchroſigen Geſchöpf
gegenüber.


Und es war Tieck voller Ernſt mit dieſem Wort,
wie auch der Gräfin mit ihrem Flügelkleide. Dieſe
beiden ſeltſamen Menſchen hatten wirklich nicht gemerkt,
daß ſie alt und altmodiſch geworden waren. Sie be¬
merkten auch nicht, daß — als ſie Abends neben ein¬
ander auf ihren gewohnten Plätzen im zweiten Range
ſaßen: die Gräfin, wie eine aufgeputzte Mumie, ihr
alter Freund zuſammengekrümmt von der Gicht, und
in heiterſter Laune mit einander plauderten und lachten
und oft mit den Köpfen den Takt der Muſik nickten —
ja, daß ſie allgemeine Aufmerkſamkeit erregten, daß man
über das wunderliche Paar lachte und ſpöttelte.


Mir that das weh, denn dieſe Jugendtraumſeligkeit
der alten Freunde hatte etwas Rührendes für mich.


Die Gräfin aber hatte auch ihre trüben Stunden
voll Heimweh nach entſchwundenen Jugendtagen und
auch wohl voll Selbſterkenntniß über ihre eigenthümliche
ſchiefe Stellung neben des Dichters Gattin. Vor dem
Freunde verbarg ſie dieſe dunklen Stunden ſorgfältig.
Als ich aber einſt in eine ſolche Stunde hineinlauſchen
[409] durfte, empfand ich inniges Mitgefühl mit der alten
Dichterfreundin.


Ich kam eines Tages, bald nach jener Aufführung
der Zauberflöte, zu ungewohnter Stunde in Tieck's
Wohnung. Die alte Dienerin ſagte mir, daß Nie¬
mand außer der Gräfin zu Hauſe ſei. Zugleich hörte
ich aus dem Zimmer der Gräfin ein altes, harfenartig
klingendes Spinett und dazu eine traurige, zarte, zitternde
Sopranſtimme nach einer alten, wehmüthigen italieniſchen
Kirchenmelodie leiſe ſingen:

Lacrimosa,

Dum pendebat filius . . . .


Schluchzen unterbrach den Geſang oft und beim Weiter¬
ſingen klang die Stimme thränenverſchleiert.


Die alte Dienerin erzählte mir: »Der Herr Hofrath
hat's auch nicht gern, wenn die Gräfin ſingt, da ſie
immer dabei an ihre frohen Mädchentage und an viele
todte Lieben denken und ſo ſchmerzlich weinen muß.
Doch wenn ſie allein zu Hauſe iſt und ſich unbelauſcht
glaubt, eilt ſie an's Klavier und ſpielt und ſingt die
alten Stücke, die ſie vor vielen Jahren im Hauſe ihres
Vaters geſungen hat — und weint ſtill vor ſich hin. . .«


Der Schlußakkord verhallte langſam, leiſe, gar zu
traurig. Dann hörte ich unterdrücktes Schluchzen. . .
Ich bat die Dienerin, der Gräfin nicht zu ſagen, daß ich
ihrem Geſange zugehört habe und eilte tiefergriffen fort.


Arme Gräfin! welches Weh mag oft Dein Herz
durchzittert haben — ein Weh, um ſo tiefer und ſchmerz¬
[410] licher, weil Du es vor der Welt und ſelbſt vor Deinem
geliebteſten Freunde verbergen mußteſt!


Die Gräfin ſtammte aus einer vornehmen, hochge¬
bildeten Familie. Ihr Vater liebte und übte beſonders
alte italieniſche Kirchenmuſik. Seine Söhne und Töchter
wirkten bei dieſen von ihm dirigirten Hausaufführungen
mit. Unſere Gräfin ſang mit ſüßer Stimme und großem
muſikaliſchem Verſtändniß hohe Sopranpartien — und
was ich hörte, waren die wehmüthigen Nachklänge dieſer
glücklichen Mädchenjahre. —


Als Politiker rühmte ſich Tieck gern, ein einge¬
fleiſchter Konſervativer zu ſein, ja oft nannte er ſich
lachend: »un rétrogade par excellence!« Aber
eigentlich war er gar kein Politiker, und die Strömun¬
gen der Zeit, die franzöſiſche Revolution, die Demago¬
genhetze, ja ſelbſt die Freiheitskriege waren ziemlich ſpur¬
los an dem »Romantiker« vorübergegangen. Wurde von
den neuen Bewegungen in Berlin beim Beginn der Re¬
gierung Friedrich Wilhelm's IV. geſprochen, ſo ſagte er
wohl herablaſſend: »War es nicht auch zu meiner Zeit
ſchon ganz gut in Berlin, in der Welt? Was will denn
eigentlich der ſogenannte Fortſchritt? Wir lebten früher
auch ohne ihn zufrieden, glücklich!« — worauf ihm einſt
Dr. Witthauer aus Wien lachend antwortete: »Ihre
Welt, Herr Hofrath, war freilich herrlich, vollkommen,
denn Sie fanden dieſe im Theater, wenn Fleck und
Friederike Bethmann ſpielten!« — und vergnügt nickte
Tieck dazu. — Wurde Napoleons Feldherrntalent ge¬
[411] rühmt, ſo ſagte er achſelzuckend: »Dem tollen Menſchen
iſt Vieles geglückt!« — Suchte man ihm aus den Blättern
der Geſchichte irgend ein Gegentheil zu beweiſen, ſo lehnte
er es vornehm ab: »Spätere Geſchichtſchreiber werden
es richtiger zu beurtheilen verſtehen!« Trieben ihn
Raumer, Steffens, Humboldt aber dennoch gar zu ſehr
in eine politiſche Sackgaſſe hinein und er vermochte ſich
nicht anders zu retten, ſo wußte er eine ſo ſprechende
Miene der Langenweile und Zerſtreutheit anzunehmen,
daß die Freunde gern auf Fortſetzung des politiſchen
Turniers verzichteten.


Für junge, feurige Dichter unſerer Zeit hatte der
alte Romantiker kein Herz, kein Verſtändniß und keine
freundlich führende und helfende Hand. Er wurzelte zu
tief in einer ſtrahlenden Vergangenheit, in ſeinen Träumen
und Vorurtheilen und in dem Bewußtſein ſeiner eigenen
Unfehlbarkeit und Größe. Er ſchien total vergeſſen zu
haben, daß er einſt den »geſtiefelten Kater« geſchrieben.


Verſuchten wahre Freunde, ihn auf ſtrenge, aber
gerechte Kritiken und ſo auf leicht zu beſeitigende Mängel
in ſeinen Werken oder in ſeiner dramaturgiſchen Thätig¬
keit aufmerkſam zu machen, ſo antwortete er ſicher mit
überlegenem ironiſchen Lächeln und einer vornehm ab¬
lehnenden Handbewegung: »Beſter Freund, wozu erzählen
Sie mir ſolche Geſchichten?«


Beſonders die gute Dorothea, die den Vater ſo ſehr
liebte und ſchon ſeit vielen Jahren ſeine Studien und
Arbeiten treu theilte, hatte ein tiefes, ſchmerzliches
[412] Verſtändniß für ſolche Eitelkeitsſchwächen und verſuchte
oft, aber faſt immer vergebens, dem Vater die Sache
im wahren Lichte zu zeigen. Sie hatte dann ſtets einen
harten Stand mit der Gräfin Finkenſtein, die völlig
blind war für die Schwächen ihres Idols und nach ſolch'
einer kleinen häuslichen Szene ſich doppelt bemühte, ihren
gekränkten Abgott mit ihren ſüßeſten Schmeicheleien zu
umſpinnen und einzulullen. . . Und das hat ihr
das nie ſchwer gemacht!


Der Vergangenheit, wie ſie ſich im Laufe der Jahre
in ſeinen Träumen und in ſeinem Urtheile geſtaltet hatte,
blieb Tieck unwandelbar treu, der Gegenwart ſelten.
Sein Urtheil über Fleck und Friederike Bethmann lautete
noch ebenſo enthuſiaſtiſch, wie vor dreißig Jahren. Wir
Künſtler der Gegenwart aber ſollten den Wankelmuth
und die Parteilichkeit des alten Dresdener Dramaturgen
erfahren — Alle, denn ich wüßte nicht eine einzige Aus¬
nahme zu nennen.


Wurde ein Stück, welches er vorgeſchlagen hatte,
trotz des oft einſtimmig ausgeſprochenen Zweifels ſämmt¬
licher erſten Schauſpieler an deſſen Bühnenwirkſamkeit,
aufgeführt und fiel entſchieden durch — ſo zuckte der
Dramaturg ſtets mitleidig die Achſel: »Allerdings hab'
ich mich geirrt, ich traute unſern Schauſpielern mehr
Talent zu. . . Mein Fleck und meine Bethmann hätten
in dem Stück glänzende Triumphe gefeiert und für die
Dichtung erzielt. . .«


Das that weh, das verſtimmte, erkältete, entfrem¬
[413] dete. . . Das ſollte auch ich im Wechſel der Jahre und
der Launen Ludwig Tieck's erfahren.


Wie manches Mal bin ich nach der erſten Aufführung
eines ſolchen Unglücksſtückes klopfenden Herzens die düſtere
Treppe zu meinem Richter hinaufgeſtiegen und habe die
Runzeln ſeines alten weiblichen Faktotums ſtudirt, —
denn treuer als ein Wetterglas ſpiegelten ſie ab, ob mich
drinnen in der Bibliothek Regen oder Sonnenſchein oder
gar Donnerwetter erwartete.


Tieck liebte die Stücke der Birch-Pfeiffer nicht.
Aber ſie ſtanden damals in der höchſten Blüthe der
Gunſt beim Publikum und wir Schauſpieler ließen uns
die dankbaren, oft glänzenden Rollen gern gefallen.


So mußte der Dramaturg 1837 den Wünſchen des
Publikums, des Intendanten und auch der erſten Schau¬
ſpieler nachgeben und dem Schauſpiel »Guttenberg« einen
Platz auf der Dresdener Hofbühne gönnen — aber er
prophezeite uns ein glänzendes Fiasko. Doch der
Guttenberg wurde mit rauſchendem Beifall vor aus¬
verkauftem Hauſe gegeben und ich in der dankbaren Rolle
des »Käthchen« nach dem dritten Akte gerufen, — was da¬
mals noch als eine Auszeichnung angeſehen werden durfte.


Ein wenig triumphirend trat ich am andern Morgen
in die Bibliothek vor den Dramaturgen. Er war beſter
Laune und rief mir ſchnell entgegen: »Nur nicht zu ſtolz,
daß Sie diesmal mit dem Erfolge der Birch-Pfeifferiade
Recht hatten, denn Sie ſollten doch wiſſen, daß der
Beifall des Publikums nie maßgebend für mich iſt. . .«
[414] Und wie bitter vermißte gerade Tieck dieſen Beifall,
wenn er gegen ſeine Erwartung und Prophezeiung mal
ausblieb! . . . »Auch glauben Sie wohl beſonders Großes
als Käthchen geleiſtet zu haben, weil Sie ſogar im
Zwiſchenakt gerufen wurden?«


»Denk' nicht d'ran«, — lachte ich heiter — »denn
als Käthchen muß jede nur einigermaßen hübſche und
gewandte Anfängerin Triumphe feiern: ihrer Opferfreudig¬
keit für Guttenberg kann kein hochgerührtes, thränen¬
reiches Publikum widerſtehen. . .«


»Laſſen Sie das unſere guten Dresdener nicht
hören«, — lächelte Tieck freundlich verſöhnt. Ernſter fuhr
er fort: »Aber Sie werden mich verſtehen, daß mich bei
dieſem raſenden Beifallsjubel über — ſolch' ein Machwerk
tiefe Entmuthigung und Wehmuth ergreifen mußte, als
ich daran dachte, daß kaum acht Tage vorher in den¬
ſelben halbleeren Räumen während der Muſtervorſtellung
von Kleiſt's gewaltigem »Prinzen von Homburg« keine
Hand ſich rührte, kein Laut des Beifalls, der Erſchütte¬
rung, der Rührung ertönte. . . Und doch, wie großartig
gab Emil Devrient den Prinzen, wie trefflich der alte
Verdy den Kottwitz, wie edel Weimar den Kurfürſten,
und Sie . . .«


»Bravo! Nicht wahr, eine recht anmuthige Natalie,
die überdies das Glück gehabt hatte, daß Dresdens be¬
rühmter Dramaturg die Rolle mit ihr durchging!«


»Meinen Sie, liebe Eitelkeit?« — lächelte der Alte
jetzt immer freundlicher. »Nun ja, die Schülerin hat
[415] dem alten Dramaturgen große Ehre gemacht als Natalie.
Aber Kind, wo gerathen wir und die Kunſt hin, wenn
Kleiſt's Meiſterwerk kalt, gleichgültig läßt, langweilt —
und gehaltloſe, effekthaſcherige Stücke wie »Guttenberg«
Furore erregen?«


»Aber die Birch-Pfeiffer ſchreibt uns Komödianten
gar prächtige Rollen, elle est du metier, Madame
l'artiste
— und Sie werden ſehen, daß auch die »Günſt¬
linge« glänzend reuſſiren. . .«


»Das will ich zur Ehre unſeres Dresdener Publi¬
kums nicht hoffen! Denken Sie doch nur an dieſen er¬
bärmlichen modernen Jaſon Mamanoff und an dieſe
tolle Katharina II., welche die Stirn hat zu ſagen:
meine erſte, einzige Liebe war Rußland. . .«


»Und mich verdammen Sie, dieſe tolle Czarin zu
ſpielen? Nein, meine erſte, einzige Liebe iſt nicht Rußland.
Aber im Ernſt, Herr Hofrath, bitte, entbinden Sie
mich von der Rolle der Kaiſerin. Mir fehlen wirklich
die Bühnenmittel, im vierten Akt als weiblicher Dämon
über die Bretter zu raſen. Was hilft da alle innere
Leidenſchaft, wenn Stimme und ſelbſt das Mienenſpiel
mich im Stich laſſen!«


»Der Intendant wünſcht aber von Ihnen die Katha¬
rina geſpielt, und ich muß ihm Recht geben, daß die
erſten Akte wichtiger ſind, und daß Sie für dieſelben
Alles beſitzen: Anſtand, Feinheit, Eleganz des Konver¬
ſationstons, Mobilität und Intrigue für die ſpannende
Billetſzene mit Potemkin. . .«

[416]

»Ah! wie freundlich zergliedert da der Herr Drama¬
turg ſelber die Kunſt der Birch-Pfeifferin, feſſelnde und
ſpannende Rollen zu ſchreiben!« lachte ich übermüthig. —
Da trat der Intendant ein, Herr von Lüttichau. Ich
wollte gehen, aber er bat mich, zu bleiben. Er komme
wegen der Aufführung des »Glöckners von Notre-Dame«
und ob ich auf ſeinen Wunſch die Rolle der Esmeralda
geleſen habe und die Partie übernehmen wolle?


»Und der Herr Hofrath iſt mit der Aufführung
dieſer neuen — Birch-Pfeifferiade einverſtanden?« paro¬
dirte ich ein wenig.


»O ja«, — ſagte Tieck kleinlaut — »ich finde den
Glöckner hoch über Guttenberg und den Günſtlingen
ſtehend und das Sujet großartig, intereſſant. Viktor
Hugo's Genie durchſtrahlt, erhebt, durchgeiſtigt die
Theatermache von Madame l'Artiſte. Die Feder der
Birch-Pfeifferin hat den großen Romantiker an der
Seine wirklich nicht ganz umzubringen vermocht — und
das genügt.«


»Aber wird das große melodramatiſche Stück nicht
in dem kleinen Rahmen unſerer Bühne eher lächerlich,
als erſchütternd wirken, da der grauſige Roman zu be¬
kannt iſt? Denken Sie nur an das Davonlaufen mit
dem Geldſack — auf unſerer winzigen Bühne! Und dann,
wie kann ich noch als fünfzehnjähriger Backfiſch über die
Bretter hüpfen? Ganz Dresden weiß, daß mein Vater
in der Schlacht von Aspern fiel, und kann mir ſo be¬
quem meine Jahre an den Fingern nachzählen!«

[417]

»Und doch ſind die pathetiſchen Szenen der Esme¬
ralda einer gereiften erſten Liebhaberin würdig. Die
kann kein Neuling ſpielen!« ſagte Tieck entſchieden —
und ſo ſtudirte ich ſchweren Herzens im Eckhauſe des
Altmarktes die Esmeralda ein. Der alte Dramaturg
hatte einmal für den »Glöckner« Partei ergriffen, ging
mit allen Hauptperſonen die Rollen durch, wohnte den
Proben pünktlich bei und hatte wunderbarer Weiſe mit
ſeinem Enthuſiasmus die Kollegen angeſteckt. Pauli
ſchwärmte für Quaſimodo, Weimar deklamirte enthu¬
ſiaſtiſch den Frollo, Mlle. Feldheim jammerte und fluchte
als Gervaiſe aus ihrem Kerkerloch zum Steinerbarmen
herauf. Die Volksſzenen wurden ſorgfältig eingeübt,
glänzende neue Dekorationen und charakteriſtiſche Koſtüme
angeſchafft. . . Kurz, der Glöckner wurde auf's Beſte in
Scene geſetzt.


An einem Sonntage, bei brechend vollem Hauſe,
fand die erſte — einzige Vorſtellung des »Glöckner von
Notre-Dame« ſtatt. Zu Anfang machte ſich die Geſchichte
ganz hübſch, mein Tanz wurde mit Beifall aufgenommen
. . . aber gleich darauf, als die unglückſelige Gervaiſe aus
ihrem Mauſeloch von Kerker zu jammern, ſtöhnen, fluchen
anfängt und ihre wilden Verwünſchungen in's Lampen¬
licht hinauf ſchleudert — da begann unſere hochnoth¬
peinliche Tortur — man lachte! Und ſo ging es cres¬
cendo
fort bis zum Schluß. Die berühmte Gruppe,
als Esmeralda Quaſimodo den Krug reicht, erweckte
Heiterkeit wegen Pauli's vorgeſchriebener gräßlicher Maske:
Erinnerungen ꝛc. 27[418]ein Auge und zwei Höcker; Frollo's Lamentiren in der
Kerkerſzene wurde ausgelacht, und dem Haupteffekt, dem
Rufe Quaſimodo's: »Aſyl! Aſyl!« antwortete als Echo
Lachen aus dem Zuſchauerraum. Der arme Pauli hatte
Unglück. In den Proben trug er ſeine Esmeralda ſo
ſtattlich vom Scheiterhaufen in's »Aſyl« auf die Stufen
von Notre-Dame. Bei der Vorſtellung aber hemmte
ihn das enge Quaſimodokoſtüm und die Angſt, die beiden
Höcker möchten ſich bewegen oder gar verſchieben, und er
ließ mich nach drei Schritten aus den Armen gleiten.
Da mußte allerdings das Aſylrufen komiſch wirken.


Nach dem Aktſchluß klagten wir uns gegenſeitig
unſere Noth, unſere tiefe Beſchämung, unſere Muth¬
loſigkeit, weiter zu ſpielen. Die arme Gervaiſe weinte
vor Angſt: was noch kommen könne! Ich fing in meiner
Verzweiflung ein wenig Krakehl mit Phöbus (Herr
Stölzel) an, weil er ſo phlegmatiſch drein ſchaute, als
ginge die Heiterkeit des lieben Publikums ihn nicht das
Geringſte an. Vergebens ſchaute ich mich nach dem alten
Dramaturgen und dem Intendanten um. Es hätte mir
unendlich wohl gethan, ihnen in dieſer Stimmung in's
Geſicht zu ſagen: »Nun, wie gefällt Ihnen die Heiterkeit
des Hauſes? Ja, ja, der Glöckner von Notre-Dame hat
eine glänzende Wirkung. . .« Aber Hr. v. Lüttichau und
Tieck waren vom Theaterboden wie weggeweht.


Wir unglücklichen Komödianten verabredeten, dem
Schluß ein wenig entgegen zu galoppiren, und ſprachen
ſo ſchnell wie nur irgend möglich. Das Erkennen der
[419] Mutter ging ſpurlos vorüber und vor dem Fallen des
Vorhanges erregte das Fortſchleppen des großen Geld¬
ſackes über die kleine Bühne die ungeheuerſte Heiterkeit
des lieben Publikums.


Am andern Morgen fand ich Tieck wie verlegen in
ſeiner Bibliothek. Er begann ein gleichgültiges Geſpräch
und ſchien Erörterungen über den unglückſeligen Glöckner
ausweichen zu wollen. Aber herzhaft ſagte ich: »Nicht
wahr, Herr Hofrath, unſer Spiel war am geſtrigen
Fiasko nicht ſchuld?«


Da zuckte er auf: »Doch! doch! Sie — ſowie alle
Anderen ſpielten nicht kühn, nicht großartig romantiſch
genug. Niemand verſtand es, das Publikum zu packen,
zu überwältigen. . .«


»Herr Hofrath!« — rief ich aufflammend, außer
mir: »Nicht uns Schauſpieler hat das Publikum aus¬
gelacht, ſondern das jammervolle, lächerliche Stück.
Aber Sie — Sie ſind ungerecht. . . . Und Sie wiſſen,
daß ich mit Uebernahme der Esmeralda ein Opfer
brachte, um Ihrem und des Intendanten Wunſch zu
entſprechen. . . und dies iſt mein Dank!« — Ich brach
in Thränen aus.


Dorothea war in die Bibliothek getreten. Sie nahm
mich in den Arm, zog mir ſanft die Hände von den
Augen — und ſagte herzlich: »Sehen Sie doch nur den
Vater an — er hat Sie ja ſo lieb. . .« Und richtig,
Tieck lächelte mich gütig an: »Bravo, Kind! Wie das
echte Komödiantenblut aufſchäumt! Die Esmeralda ſpielt
27 *[420] noch nach. So lieb' ich meine Komödianten. Aber nun
Frieden, Brauſeköpfchen. . .«


Ja, wenn Tieck ſolche Töne anſchlug, dann war er
unwiderſtehlich.


Aber ſie wurden immer ſeltener, als ich nicht immer
und immer wieder gegen meine Ueberzeugung ihm ſolche
Esmeralda-Opfer bringen wollte, um meiner Selbſtachtung
als Künſtlerin willen nicht bringen durfte.


Das größte Opfer brachte ich dem alten Drama¬
turgen, als ich auf ſeinen immer wiederkehrenden drin¬
genden Wunſch die Lady Macbeth zu ſpielen übernahm
— ich, mit meinem Luſtſpielgeſicht, mit meiner fröh¬
lichen Stimme, mit meinem Konverſationston die ent¬
ſetzliche blutige Lady Macbeth!


»Pah! nichts leichter, als dem abzuhelfen!« — ſagte
Tieck leichthin. »Die Stimme, die Töne muß eine echte
Komödiantin ganz nach Bedürfniß aus ihrem Innern
heraufzaubern können, und was das Luſtſpielgeſicht an¬
belangt, ſo laſſen Sie ſich eine ſchwarze Perrücke machen,
färben die Augenbrauen ſchwarz, ſchminken ſich grau¬
weiß und ſparen die Energielinien an den Mundwinkeln
und zwiſchen den Augenbrauen nicht . . .«


Da aber erklärte ich feſt: »Nein, Herr Hofrath,
als Karrikatur ſoll mich Dresden denn doch nicht ſehen.
Ihnen zu Liebe will ich die Rolle übernehmen und an
Studium und Fleiß es nicht fehlen laſſen — aber ich
weiß es nur zu gut: ich habe nicht das Zeug zu einer
Lady Macbeth — ich falle durch . . .«

[421]

Und wenn ich auch nicht durchgefallen bin, ſo blieb
das Publikum doch bei all' meinem Eifer: Grauen, Ent¬
ſetzen einzuflößen! ziemlich ungerührt. Noch heute freue ich
mich über das Urtheil, das der gelehrte Prinz Johann,
jetzt Sachſens König, zu Tieck über meine Lady Mac¬
beth äußerte: »Ich erkenne den Studienfleiß der Bauer
und ihre tiefe geiſtige Auffaſſung dieſes gräßlichſten Shake¬
ſpeare'ſchen Frauencharakters an, aber — man glaubte
dieſer Lady Macbeth nicht all' das Furchtbare, Grauſige,
Blutige, was ſie ſagte und that!«


Tieck erzählte mir das wieder, fügte aber kühl
bis an's Herz hinzu: »Sie haben allerdings meinen
Erwartungen nicht entſprochen und mit einer ſchwarzen
Perrücke hätten Sie ganz andere Wirkungen erzielt. . .«


Das glaube ich wohl. Man hätte mich einfach aus¬
gelacht.


Als ich Tieck fragte, warum er nicht den Macbeth
nach Schiller's Arrangement aufführen ließe, wie die
Berliner Bühne, da ſagte er vornehm: »Der gute Menſch
hat ſich zu viel gegen Shakeſpeare herausgenommen! Ich
will kein Mitſchuldiger an dieſem Verbrechen Schiller's
ſein.«


Tief konnte es Tieck verſtimmen, wenn man der bei
ihm bereits in Ungnade Gefallenen in ſeiner Gegenwart
rühmend erwähnte, wie: Theodor Hell, Julie Rettich
und Emil Devrient. Als ich ihm mein Entzücken darüber
ausſprach, in dem von Hell aus dem Franzöſiſchen über¬
ſetzten Stück: »Maria, oder die drei Epochen« die Titel¬
[422] rolle der Mars, die ich in Paris darin bewundert hatte,
nachſpielen zu können, ſagte er grämlich: »Zu meinem
Schmerz muß ich ſehen, daß auch Sie nur gefallen und
in Effektrollen applaudirt werden wollen — die wahre
Flamme der Kunſt glüht nicht in ihrer Seele!« Und
Tieck kam nicht in dieſe Vorſtellung und ſuchte das Stück
überhaupt todtzuſchweigen.


Selbſt ſeine liebſte und begabteſte Schülerin, Julie
Rettich, die auf ſeinen Wunſch mit ihrem Gatten von
Wien nach Dresden berufen war, konnte der alte Drama¬
turg mit verletzender Gleichgültigkeit wieder nach Wien
ziehen ſehen, als die Künſtlerin ihm ſelbſtſtändiger ent¬
gegentrat, unpaſſende Rollen zurückwies und nicht mehr
regelmäßig vor ſeinem Leſepulte ſaß. Kalt konnte er
ſagen: »Julie Rettich iſt nicht mehr das einfach edle
Talent, wie vor ihrem Wiener Engagement. Sie hat
ſich zu ſehr nach dem Geſchmack des Wiener Publikums
gerichtet und trägt die Farben zu ſtark auf. Ich habe
mich in ihr geirrt!« — Und doch war die holde Künſt¬
lerin als Julie Gley jahrelang Tieck's Liebling und lebte
mit der Familie wie ein Kind vom Hauſe.


Emil Devrient, der herrliche Hamlet, Egmont,
Poſa, Taſſo, gehörte auch ſchon zu den bei Tieck in Un¬
gnade Gefallenen, als ich nach Dresden kam. In den
erſten Jahren ſeiner langjährigen Bühnenthätigkeit am
Dresdener Hoftheater, als der junge Emil noch pflicht¬
ſchuldigſt bei keiner Vorleſung Tieck's fehlte und neue
Rollen unter den Augen und Lippen des alten Drama¬
[423] turgen einſtudirte, war Emil Devrient in Tieck's Augen
und Munde der größte Mime ſeiner Zeit. Als aber
Devrient des Gängelbandes und der ewigen, hundertmal
gehörten Vorleſungen müde und immer müder wurde
und immer ſeltener als Schüler und als Gaſt das Eck¬
haus am Altmarkte beſuchte, als er dem alten Drama¬
turgen mehr und mehr als ſelbſtſtändig denkender, ſchaffen¬
der, handelnder Künſtler gegenübertrat . . . da ward Tieck
kühler und kühler und ſuchte auch Emil Devrient todt¬
zuſchweigen. Daß ihm das in den Augen des Publikums
und in den Augen aller echten Kunſtfreunde und
Künſtler nicht gelang, verſtimmte, erkältete, reizte Tieck
nur noch mehr. Er hielt ſich ſogar nicht frei von Chi¬
kanen. Er ſtudirte einem jungen, unreifen Anfänger eine
von Devrient's liebenswürdigſten Charakterrollen ein, den
»Landwirth« in dem gleichnamigen Stücke der Prinzeſſin
Amalie von Sachſen, nur um den alten Landwirth zu
kränken. Aber mit ſolchen kleinlichen Chikanen hatte
Tieck ſelten Glück, auch diesmal nicht. Das Publikum
lehnte den jungen Landwirth entſchieden ab und forderte
ſeinen alten, lieben, köſtlichen Landwirth Devrient ſtür¬
miſch zurück. In meiner Gegenwart ſprach Tieck den
Namen Emil Devrient ſelten aus, weder tadelnd, noch
lobend. Er wußte, daß ich eine der enthuſiaſtiſchſten
Bewunderinnen von Devrient's Genialität und Liebens¬
würdigkeit war und ſtets eine Lanze für ihn bereit hatte.
Nur zuweilen ging das alte, echte, kunſtſchwärmende
Komödiantenherz mit Tieck durch und überwand kühn
[424] alle häßlichen Hinderniſſe der verletzten Eigenliebe. Dann
konnte er auch — gerecht gegen den »Abtrünnigen« ſein.


So iſt mir eine kleine Unterredung mit Tieck unver¬
geßlich. Ich hatte zum erſten Mal den »Konradin« ge¬
ſpielt und war auch recht mit mir zufrieden. Als ich
dann aber am andern Morgen zum alten Dramaturgen
kam, um mir ſeinen Urtheilsſpruch zu holen, empfing er
mich mit den Worten: »Sie haben ſich alle Mühe ge¬
geben, Gutes zu leiſten, und das Meiſte gelang Ihnen
auch vortrefflich — aber, Kind, wann werden Sie dem
Devrient ſein »Beherrſchen der Szene, ablauſchen? —
Dieſe edle Sicherheit, das durch und durch Fertige,
Vollendete ſeines Spiels? Ja, auch geſtern überſtrahlte
er in der kleinen Nebenrolle des Schwiegerſohnes vom
Herzog von Anjou Alle — Alle, ſelbſt den lieblichen
Konradin.«


Als aber ich einſt in einer böſen Stunde Tieck's
meiner Bewunderung für Emil Devrient's Künſtlerſchaft
feurige Worte lieh und anfangs nicht bemerkte, daß der
Dramaturg immer einſylbiger, kühler, verſtimmter wurde,
da ſahen mich ſeine großen, ſprechenden Augen zuletzt
ſchier wie die des Blaubart an und er ſagte kopfſchüttelnd:
»So werden auch Sie bald treulos werden . . .«


»Ich — treulos? — und gegen Sie?« fiel ich er¬
ſchrocken ein. — »Darf ich denn nicht das Verdienſt
Anderer anerkennen?«


Aber es traten doch immer tiefere Schatten zwiſchen
uns. Ich war kein Kind mehr auf der Bühne und im
[425] Leben. Ich konnte, ich wollte, ich durfte mich nicht
immer und immer wieder den Launen des Dramaturgen
opfern. Die Mutter war bei all' den Heinrichen, Richards
und Spaniern zuletzt ſo nervös geworden, daß ich ſie nach
einigen Jahren auch nicht mehr zu kleinen Luſtſpielen auf
den Opferſtuhl vor Tieck's Leſepult führen durfte. Ich
ſelber war verſchiedene Male von den grünbeſchirmten
geheimen Polizeiaugen der Gräfin Finkenſtein bei einem
Gähnkampf auf Leben und Tod gegen einen nicht umzu¬
bringenden ſpaniſchen Don ertappt worden. Ja — ich
muß es geſtehen — ich benützte im Kreislauf der Jahre
und der wiederkehrenden Vorleſungen immer öfter und
lieber Gelegenheiten, dem Leſepult hinter die Schule zu
gehen, ſo daß ich manche Woche nur einmal als getreue
Zuhörerin notirt werden konnte. Im Eckhauſe des Alt¬
marktes ging die Gnadenſonne täglich trüber für mich
nieder. Tieck wurde kühler, einſylbiger, die Gräfin ge¬
reizter, kampfluſtiger. Und dann tauchte eines Tages
in Dresden ein junges Mädchen aus Graz auf und Herr
v. Lüttichau, Tieck, die Gräfin Finkenſtein und die Zahl
ihrer Nachbeter wurden nicht müde, täglich zu Ehren
dieſes jungen, glänzenden Schauſpieltalentes lauter in die
Lobpoſaunen zu blaſen — um mir bange zu machen, die
Debütantin würde mich verdunkeln. Tieck ſtudirte ihr
eifrig meine liebſten Rollen ein. Schon ſprach man von
dem »neuen Liebling« des Dramaturgen und daß der
alte nun endlich auch in Ungnade gefallen ſei. Und
dann trat die Grazerin auf und — fiel mit Glanz durch.
[426] Sie ſprach nicht mal richtig deutſch. Dieſer geſcheiterte
Plan, mir wehe zu thun und mich in der Gunſt der
Dresdener zu verdrängen, verſtimmte den launiſchen Tieck
nur noch tiefer gegen mich. Er, der ſich ſonſt immer
gefreut hatte, wenn meine Fröhlichkeit etwas Sonnen¬
ſchein in ſein melancholiſches Studirſtübchen brachte, ließ
ſich ſogar bei meinen Beſuchen einige Male verleugnen.
Da kam ich dann nicht wieder. Und ſo wurden die
Schatten zwiſchen uns dunkler und dichter und länger.
Zu einer Szene, zu einem Ausſprechen iſt es nie zwiſchen
uns gekommen, auch nie zu einem offenen, ehrlichen
Bruch. Ich gehörte einfach zu den vielen, vielen »in
Ungnade Gefallenen«, von denen mir der alte, liebens¬
würdige Böttiger ſchon bei meinem Gaſtſpiel in Dresden
geſagt hatte. Aber mir hat im Leben ſelten etwas ſo
weh gethan, wie dieſe Ungnade meines trotz all' ſeiner
Schwächen und Launen doch bis auf den heutigen Tag
hochverehrten, geliebten Ludwig Tieck.


Ob dieſe Schatten, dies kühle, fremde Auseinander¬
gehen dem alten Dramaturgen auch wohl ein wenig wehe
thaten?


Ich glaube es kaum. Ich fürchte, Ludwig Tieck iſt
nie wahrer, uneigennütziger, ſelbſtloſer Freundſchaft und
Liebe fähig geweſen.


Als er 1837 ſeine Gattin, ſeine erſte Knabenliebe
und langjährige treue, milde Gefährtin, verloren hatte
und ich einen Kranz auf den Sarg legte und mit Thränen
ni den Augen von ſeinem, von unſerem großen Verluſte
[427] ſprach — da ſah Tieck wohl bläſſer, ernſter als ſonſt
aus, aber er antwortete mir mit größter Ruhe: »Ihr
Uebel war nicht zu heilen. Sie hat viel gelitten und iſt
gern geſtorben. Das beruhigt mich


Aber dies ſelbſtſüchtige Herz ſollte bald noch ſchmerz¬
licher auf die Probe geſtellt werden. Im Frühjahr 1841
ſtarb plötzlich nach kurzem Krankenlager am Nervenfieber
ſeine älteſte Tochter Dorothea, die ihm zugleich die treueſte
Freundin im Leben, die berufenſte Gehülfin in ſeinen
Arbeiten geweſen war. Mit ihr ſank ein tiefinnerliches,
reiches Leben in's Grab. Sie hatte nur für den Vater
und ſeine Kunſtſchöpfungen gelebt. Mit ſeinem Ver¬
ſtändniß und treuem Fleiß lieferte ſie dem Vater für
ſeine Herausgabe des alt-engliſchen Theaters und für
den Tieck-Schlegel'ſchen Shakeſpeare viele treffliche Ueber¬
ſetzungen. Zugleich war ſie eine tief religiöſe, wahre,
offene Natur. Sie litt ſtill unter dem Weihrauchnebel,
in den die Gräfin Finkenſtein und andere blinde Verehrer
den großen Romantiker fortwährend hüllten und in den
der eitle Mann ſich nur zu gern hüllen ließ, bis es ihm
ſelber oft nebelhaft vor den ſonſt ſo klaren Augen wurde.
Sie durfte es wagen, mit kühler Hand dieſen Nebel zu
zertheilen und dem geliebten Vater die Welt und ihre
Geſtalten und viele ſeiner eigenen Schwächen im klaren
Tageslichte zu zeigen. Dorothea hat den Vater vor
mancher Thorheit und Ungerechtigkeit bewahrt. Und
doch hatte ſie nur zu oft den Schmerz, den Nebelgeiſt
Gräfin Finkenſtein die Uebermacht gewinnen zu ſehen.
[428] Auch ſie »iſt gern geſtorben«. Eine rührende Szene von
ihrem Sterbebette ſchilderte mir Theodor Hell. Ihre
junge Schweſter Agnes ſank in der letzten Stunde ſchluch¬
zend an ihrem Bett nieder: »Dorothea, Du darfſt mich
nicht verlaſſen, wie ſoll ich ohne Dich leben?« — und
Dorothea flüſterte ſanft, mit mildem, verklärten Lächeln:
»Kind, lerne von mir ſterben!«


Unter dieſem Schlage wollte Tieck doch faſt zuſammen¬
brechen. Daß auch Dorothea gern geſtorben, hat ihn
diesmal wenig zu beruhigen vermocht. Er verſchloß ſich
in ſeine Bibliothek und wollte Niemanden ſehen. Dort
ſaß er ſinnend, ſtumm, thränenlos. . . .


Und auch des Lebens Sorgen drohten an ihn heran¬
zu treten. Der Gräfin Vermögen war zerronnen und der
alte Romantiker war müde: zu ſchreiben, zu arbeiten,
zu erwerben. In dem Eckhauſe am Altmarkt ward es
immer ſtiller, düſterer, trauriger. Die Gräfin klagte
über ihre Geſundheit und war faſt ganz erblindet. Der
Kreis der Verehrer war in den letzten Jahren bedenklich
dünn geworden, und vor dem geliebten Leſepulte gab es
ſchon mehr leere, als beſetzte Stühle. Auch Agnes dachte
an's Scheiden, um einem geliebten Manne als Gattin
nach Schleſien zu folgen. Immer ſtiller wurde es um
die beiden alten Bewohner der romantiſchen Zauberburg.


Da fiel es wie ein Sonnenſtrahl in die düſteren
Schatten des verödeten traurigen Eckhauſes hinein, — der
Ruf Friedrich Wilhelm IV. von Preußen an den alten
Romantiker: mit einem Jahrgehalt von 3000 Thalern
[429] nach Berlin überzuſiedeln und die Sommermonate im
Park von Sansſouci zu verleben und den König durch
ſein Talent als Vorleſer zu erfreuen!


Tieck's wahre Freunde in Dresden athmeten auf.
Dieſe königliche Gnade war der beſte Balſam für das
wunde Herz des Vaters. Und auch der alte Dramaturg
ſollte in Berlin noch eine hohe Freude erleben: der König
ließ durch ihn die Antigone mit Mendelsſohn's Muſik auf¬
führen! Das war ſeit Jahren ein Lieblingswunſch Tieck's
geweſen. Nach Berlin wurde die Antigone auch in Dresden
und anderen großen deutſchen Theatern aufgeführt.


Was der alte Dramaturg für Dresden geweſen war,
empfanden wir erſt bei ſeinem Scheiden. Dresden hatte
mit Tieck einen anziehenden Mittelpunkt für das geiſtige
Leben verloren. Die intereſſanten Fremden und die be¬
deutendſten Träger der einheimiſchen Kunſt und Wiſſen¬
ſchaft fanden im Eckhauſe des Altmarktes nicht mehr das
lockende Irrlicht, das es ſo hübſch verſtand, die Geiſter
im brillanten Farbenſpiel aufeinander platzen zu laſſen.
Und Dresdens Bühne — hat ſie je eine glänzendere
Zeit gehabt, als unter der Herrſchaft Ludwig Tieck's?
War dieſer Herrſcher auch oft launenhaft, eigenwillig,
ungerecht — ſo überwogen doch die belebenden, leuchtenden
Strahlen ſeines Genies und ſeiner Liebenswürdigkeit. Und
wer herrſchte nach Tieck's Scheiden auf Dresdens Bühne?
Zunächſt ein äſthetiſcher Theeklub von zartbeſaiteten,
ſogenannten kunſtſinnigen Damen, deren Einfluß der In¬
tendant von Lüttichau ſich nicht zu entziehen vermochte.


[430]

Mein letztes Geſpräch mit Tieck war ein freundliches,
wehmüthiges. Ich kam von meiner Gaſtſpielreiſe aus
Wien (1839) zurück und brachte dem Dramaturgen und
ſeinen Töchtern die herzlichſten Grüße von Julie Rettich.
Ihre Worte waren: »Sagen Sie dem Hofrath, ich würde
nie vergeſſen, daß ich einſt ſeine liebſte Schülerin war
und ihm die Kunſt der Rede ablauſchen durfte. Ich
werde ſtets ſeine dankbare Schülerin bleiben. Umarmen
Sie für mich Dorothea. Ich liebe ſie wie eine Schweſter.«


Dorothea weinte. Tieck war tief ergriffen. Fühlte
er in dieſem Augenblick, wie ungerecht er gegen dieſe
liebſte Schülerin geweſen war? Er ſprach es nicht aus.
Er ſagte auch nicht das kleine, freundliche Wort, das
mich jetzt noch wieder in dankbarer Verehrung zu ſeinen
Füßen zurückgeführt hätte. Wir ſahen uns fortan nur
noch auf der Probe.


Aber dennoch, obgleich Tieck mir oft und mit vollem
Bewußtſein tief weh gethan hat, habe ich ihm ſtets ein
warmes, dankbares Herz bewahrt, und im Jahre 1853,
als die Nachricht von ſeinem Tode aus Berlin zu mir
in meinen ſtillen Erdenwinkel am Züricher See drang,
habe ich ihm Thränen der Erinnerung und der Wehmuth
nachgeweint.


Die Gräfin Finkenſtein war wenige Jahre vorher
geſtorben, nachdem ſie in Berlin noch eine ſchmerzhafte
und gefährliche Augenoperation überſtanden hatte. Man
ſagte, ſie habe ſich die Augen blind geweint. Der alte
Romantiker ſtand nun ganz einſam da in dem bunt¬
[431] bewegten Leben ſeiner Vaterſtadt. Im Jahre 1850 bezog
er zum letzten Mal ſeine Sommerwohnung im Park
von Sansſouci, in der Nähe ſeines königlichen Freundes.
Dort beſuchte ihn mein lieber alter Kollege aus Dresdens
froher Kunſtzeit, Herr Porth, und ſchrieb mir darüber:
». . . Ich fand unſern alten Dramaturgen noch voll¬
kommen geiſtesfriſch und ſo bezaubernd liebenswürdig,
wie in ſeinen beſten Dresdener Stunden. In ſeinen
Urtheilen aber war er milder, gerechter geworden. Der
ſeltene Mann wird mir trotz aller Schwächen und Eigen¬
heiten unvergeßlich theuer bleiben. So oft ich am Eck¬
hauſe des Altmarkts vorübergehe, erfaßt's mich wie
Heimweh nach den dort verlebten ſchönen, frohen, lehr¬
reichen Stunden. Zu den Zeiten des alten Dramaturgen
hatte Dresden doch ſeine herrlichſte Kunſtepoche. . . .«


Mit wehmüthigem Entzücken und voll Heimweh
ſtimme ich bei.

[[432]]

XII.
Das letzte Engagement.

Das zweite alte Haus Dresdens, an das ſich meine
liebſten heimatfröhlichſten Lebens- und Kunſterinnerungen
knüpfen, iſt ſeit jetzt gerade dreißig Jahren von der Erde
verweht. Ging ich vom Eckhauſe des Aktmarktes in die
Theaterprobe oder Vorſtellung — und wie oft und wie
fröhlich habe ich dieſen Weg gemacht! — ſo kam ich bald
an einen freien Platz am Elbufer der Altſtadt, und hier,
links von der Elbbrücke, ſtand das alte »Komödienhaus«.
Ich muß wiederholen, es war keine Schönheit, kein
glänzender architektoniſcher Schmuck für Dresden; es
konnte nicht mal auf ein wenig Heiterkeit und Anmuth
Anſpruch machen. Ich wüßte kaum, daß ich jemals ein
häßlicheres altes Komödienhaus geſehen hätte. Es ſah
von außen aus wie eine unförmliche, grau-grün ange¬
ſchimmelte Rieſenpaſtete, und im Innern, als ob die
Mäuſe die Paſtete ausgehöhlt hätten und die Decke
würde in der nächſten Minute einſtürzen. Wie dunkel
[433] es in der Paſtete war, ſah man erſt, wenn die wenigen
Lichtchen angezündet waren. Aber wie ſpielte es ſich in
dieſem kleinen, engen, ſchmuckloſen Hauſe! So traulich,
ſo natürlich, ſo ungeſchminkt! Wir waren da mit dem
ungeputzten Publikum gleichſam unter uns, im Haus¬
kleide und wie zu Hauſe. Jede Unnatur, jedes manie¬
rirte Pathos, jede Effekthaſcherei wären in dieſem engen
Rahmen geradezu lächerlich geworden. Nur ein einfaches,
edles Spiel war hier am Platze, und das hatte ſich auch
ſchon ſeit Jahren in dem alten Hauſe eingebürgert und
wurde mit Pietät vererbt und gepflegt. Den Namen
»Komödienhaus« verdiente es, wie kaum ein anderes
Haus. Es war ſo recht die Bühne, der gemüthliche
Tummelplatz für Komödien, für Luſtſpiele und Konver¬
ſationsſtücke. Die wurden hier auch meiſterhaft gegeben,
wie: »Stille Waſſer ſind tief« — »Die gefährliche Tante«
— »Das letzte Mittel« von Frau von Weißenthurn —
»Die Geſchwiſter« von Raupach — »Rubens in Madrid«
— »Die Schule des Lebens« — »Chevalier St. George«
— »Noch iſt es Zeit« — und die Stücke der Prinzeſſin
Amalie: »Der Majoratsherr« — »Der Landwirth« u. a.


Köſtlich war Emil Devrient als Majoratsherr, be¬
ſonders in der Szene, wo er mit Bärmann im Neben¬
zimmer ein Duo geigt und Beide geigend aus der Seiten¬
thür auf die Bühne treten und der Majoratsherr erregt
ausruft: »Aber Bärmann, Ihr geigt ja beſinnungslos
immer fort, immer fort . . .« bis er mich plötzlich vor
ſich ſieht und in reizender Verlegenheit Entſchuldigungen
Erinnerungen ꝛc. 28[434] ſtammelt. Wie lag da in Devrient's Mienen ſchon das Ge¬
ſtändniß, daß er nahe daran ſei, ſich der ſtill Geliebten
endlich auf Gnade und Ungnade gefangen zu geben! Und
der alte, liebe Meiſter Pauli, — war er nicht ein Bärmann
zum Küſſen? Er war ein echter Komödiant mit Leib und
Seele. Mit welcher rührenden Hingabe und Gewiſſen¬
haftigkeit ſpielte er ſelbſt die kleinſten, undankbarſten
Rollen, er, der ſo Großes leiſtete als Jago und Franz
Moor! Die Mitwelt hat dem Künſtler wenig gelohnt
und die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze. Wer
erinnert ſich heute noch daran, welche köſtlichen Charakter¬
rollen Pauli ſchuf als lieber närriſcher Emmerling in der
»Gefährlichen Tante«, als brummiger Vater im »Tem¬
pora mutantur»
, als Allerweltsdoktor im »Ball zu
Ellerbrunn« und als Iffland'ſcher Vater in Eduard
Devrient's »Verirrungen«? Darum gönnt es der alten
Kollegin, dem wackeren, beſcheidenen Künſtler dieſe we¬
nigen Lorberblätter wehmuthduftig, erinnerungsgrün auf
das vergeſſene Grab zu legen. . .


Eduard Devrient's »Verirrungen« wurden überhaupt
im alten Komödienhaus prächtig geſpielt. Tieck protegirte
das Stück, ſtudirte es fleißig ein und kam ſogar zu allen
drei Proben, während er ſich ſonſt gewöhnlich auf die
Generalprobe beſchränkte. Ich ſehe im Geiſte den alten
Dramaturgen während der Proben in ſeiner kleinen Pro¬
ſzeniumsloge ſitzen und uns Mitſpielern auf der Bühne
freundlich zunicken, und höre noch ſein lobendes: »Bravo!
[435] Charmant! Vortrefflich!« Er hatte zum erſten Mal kein
Wort des Tadels für uns.


Emil Devrient war in dem Stücke ſeines Bruders
wie immer der edle, liebenswürdige, warmherzige Mittel¬
punkt. Und was ſchuf Doris Devrient aus der kleinen
Rolle des Lenchen! Pauli und Frau Werdy gaben mit
köſtlichem Humor das überzärtliche Elternpaar, Hellwig
den närriſchen Chriſtel und Heckſcher den flotten, leicht¬
ſinnigen Vetter. — Auch Eduard Devrients »Treue Liebe«
ſpielten Emil Devrient, Frl. Bayer und ich (Gräfin)
mit großer Liebe und beſtem Erfolge.


In Gutzkow's »Werner« war Emil Devrient der
begeiſterte Künſtler, der große, edle, ſtarke Mannescharakter.
Auguſte Anſchütz war eine reizende Marie: brünett,
mit griechiſchem Profil und dunklen Prachtaugen. Ihre
weiche, modulationsfähige Stimme ſprach zum Herzen,
weil ſie vom Herzen kam. Ihr einfaches, natürliches
Spiel feſſelte ungemein. Daß Dresden die liebenswürdige
Künſtlerin ſobald verlieren mußte! Sie ging nach Wien
an's Burgtheater, als Gattin des Malers Koberwein.
An ihre Stelle trat die junge, ſchöne und glänzend
begabte Bayer, die noch heute als Frau Bayer-Bürk
eine Zierde der Dresdener Bühne iſt. Und der froh¬
müthige Porth, der ſo gern und herzlich mit mir lachte
und die Kunſt beſaß, die Welt immer im roſigſten Lichte
zu ſehen — was für einen ſchleichenden Hallunken ver¬
ſtand der fleißige, gewiſſenhafte Künſtler aus dem falſchen
Hausfreund zu machen!


28 *[436]

Unter den klaſſiſchen Stücken wurde Kleiſt's »Prinz
von Homburg« zu einer Muſtervorſtellung. Bei Emil
Devrient vereinigte ſich Alles: edle, idealſchöne Erſchei¬
nung, wundervolles Organ und tiefes, geiſtiges Auffaſſen,
Durchdringen und Wiedergeben des wunderſamen Cha¬
rakters, um aus der Titelrolle etwas Großes, Vollendetes
zu ſchaffen. Ich habe keinen zweiten Prinzen von Hom¬
burg geſehen, der ſich mit Emil Devrient vergleichen
könnte. Wie verklärt erſchien er mir in der Briefſzene,
als ich ihm geſtand: »Du gefällſt mir!« Und einen
prächtigeren Kottwitz konnte man ſchwerlich finden, als
unſern Werdy, dieſen ehrwürdigen Veteranen mit dem
ſchönen Apoſtelkopf, der herzenstiefen Stimme und der
einfach-edlen Sprache nach Schröder's Schule!


Ich könnte noch lange fortplaudern von den lieben
alten und in meinem Herzen ſo herrlich fortgrünenden
Kunſtzeiten und Kunſtſchöpfungen und den werthen, alten,
großen Kunſtgenoſſen. . . Aber wer kennt, wer verſteht,
wer liebt ſie heute noch? Sie ſind verweht wie das alte
Haus, und nur noch in der Erinnerung weniger alter
Kunſtfreunde leben ſie — leben wir fort. Verweht! ver¬
geſſen! — das iſt ja Erdenlos!


Nur aus dem Zuſchauerraume möchte ich noch eine
Loge hervorheben — die königliche! Wie that es uns
Komödianten ſo wohl, wenn wir die Theilnahme ſahen,
mit der die königliche Familie faſt allabendlich unſeren
Kunſtbeſtrebungen folgte. Da waren zuerſt der leutſelige
achtzigjährige König Anton und ſein nicht viel jüngerer
[437] Bruder Max. Das laute Denken des alten Monarchen
hat uns manches Lächeln entlockt. Als ich (1834) in der
Wahnſinnſzene der Ophelia ſang:

»Wie erkenn' ich dein Treulieb

Vor den andern nun?

An dem Muſchelhut und Stab

Und den Sandelſchuh'n. . .«

— da ſagte der König, dem dies Singen neu war, denn
meine Vorgängerin in der Rolle hatte die Worte ge¬
ſprochen, ganz laut vor ſich hin: »Ich glaube gar, ſie
ſingt. . .«


»Pſt! Pſt! Pſt!« rief das Parterre.


Und da hörte ich den alten Herrn in ſeinem lieben
ſächſiſchen Dialekt wiederum ganz laut, halb ärgerlich,
halb humoriſtiſch, zu der Prinzeſſin Auguſte ſagen: »Na!
na! man werd' doch noch redden derfen!«


Es ſoll aus ſeinem ſächſiſchen Munde auch ſehr hübſch
geklungen haben, als der alte Herr die Prinzeſſin Marie
von Baden, jetzige Marquiſe Douglas, in die Polonaiſe
führte mit den Worten: »Prinzeſſin, Sie müſſen nun
ſchon mit dem jüngſten Tänzer fürlieb nehmen!«


Prinz Johann, der jetzige König, der mir meine
Lady Macbeth ſo hübſch und geiſtvoll kritiſirt hatte, be¬
ſuchte mit ſeiner Gemahlin meiſtens nur klaſſiſche Stücke.
Ein Lob aus dem Munde dieſes gütigen Kunſtfreundes
und geiſtreichen Kenners und Gelehrten war unſer Stolz.


Es rührte mich tief, als ich (1840) Halm's Griſeldis
gab und die Königin Marie, Friedrich Auguſt's Gemahlin,
weinen ſah.


[438]

Die Prinzeſſinnen Auguſte und Amalie waren
Stammgäſte im alten Komödienhauſe. Wir vermißten
ſie ſogleich, wenn ihre Plätze mal leer blieben. Beſonders
trat uns Prinzeſſin Amalie näher als talent- und ge¬
müthvolle Verfaſſerin vieler trefflicher bürgerlicher Schau-
und Luſtſpiele. Und Jeder von uns that redlich das
Seine, dieſe Schöpfungen der beſcheidenen Prinzeſſin
auch bühnenwirkſam zu geſtalten. Jeder Beifall des
Publikums freute uns für die fürſtliche Dichterin. Vor
Kurzem iſt ſie ſtill geſtorben, wie ſie ſtill gelebt hatte.


Und dann kam ein wehmütiger Abend. Es war
der 31. März 1841. Es wurde zum letzten Mal auf
der kleinen, häßlichen — lieben Bühne geſpielt. Das
alte Komödienhaus war mit der Zeit doch zu eng, zu
unſchön, zu altmodiſch für die fröhliche, glänzende Welt-
und Kunſtſtadt Dresden geworden. Schon im Jahre
1838 war der Grundſtein zu einem neuen Schauſpiel¬
hauſe gelegt, wenige hundert Schritt von dem alten
entfernt, und in drei Jahren hatte Meiſter Semper
den prächtigen, großen, ſchönen Kunſttempel erbaut, der
28 Jahre lang Dresdens Stolz und Freude und — —
am 21. September 1869 ein Opfer der Flammen wurde.


Minna von Barnhelm war das letzte Stück. Dann
ſprach unſer Veteran Burmeiſter einen ergreifenden Epilog
in dem alten Hauſe. Uns Mitſpielenden war zu Muth,
wie Kindern beim Abſchied aus dem lieben Vaterhauſe.


Und bald darauf, am 12. April 1841, fand
die feſtliche Eröffnung des neuen Hauſes ſtatt. Ganz
[439] Dresden war auf den Beinen. Ueber 7000 ſchriftliche Billet¬
wünſche waren eingegangen. Nicht 2000 konnten erfüllt
werden. Aber wer keinen Platz im Hauſe fand, wollte doch
wenigſtens die glänzende Beleuchtung ahnen, die Muſik rau¬
ſchen hören, das Publikum ſtrömen ſehen. Auf dem Theater¬
platz wogte es beſonders den Abend Kopf an Kopf. Als der
König und der Hof in die Loge traten, brach im Hauſe ein ju¬
belndes Hoch aus und die Menge draußen ſtimmte fröhlich ein.


Die Feſtvorſtellung begann mit einem wirkſamen
Prolog von Theodor Hell. Alle erſten Schauſpieler und
Sänger traten darin auf. Pauli als Baumeiſter erklärte
das Werk vollbracht, die Bühne verwandelte ſich aus
einer Halle in eine freie Gegend, und in dieſe traten
folgende allegoriſche Geſtalten ein, von den neuen Räumen
Beſitz nehmend, einer nach dem andern:


  • Die Liebe — Dem. Bauer.
  • Der Glaube — Hr. Schöpe †.
  • Die Tapferkeit — Dem. Berg.
  • Der Scherz — Franziska Schöler.
  • Ein Hirtenmädchen — Dem. Anſchütz.
  • Die Romanze — Mad. Schröder-Devrient †.
  • Der Dichter — Hr. Emil Devrient.

Dann folgten die Hauptgeſtalten unſerer größten
Dichter und Opernkomponiſten:


  • Mephiſtopheles und Marthe — Hr. Koch † und Mad.
    Drewitz †.
  • Tell und ſeine Frau — Hr. Dittmarſch und Mad.
    Dor. Devrient.
  • Falſtaff und Prinz Heinrich — Hr. Keller † und
    Hr. Böhme.
  • Nathan der Weiſe und Tempelherr — Hr. Porth
    und Hr. Hellwig †.
  • Oberförſter und Oberförſterin (Iffland) — Hr. und
    Mad. Werdy †.
  • Nikolaus Staar und ſeine Mutter (Kotzebue) — Hr.
    Burmeiſter † und Mad. Hartwig †.
  • Iphigenia und Oreſtes — Mad. Wächter und Hr.
    Mitterwurzer.
  • Fidelio und Floreſtan (Beethoven) — Dem. Wüſt und
    Hr. Aſcher.
  • Don Juan und Zerline — Hr. Wächter † und Mad.
    Schubert.
  • Oberon und Puck (Weber) — Hr. Schuſter und Dem.
    Pecci.
  • Ivanhoe und Rebekka (Marſchner) — Hr. Tichatſcheck
    und Mad. Mitterwurzer.
  • Cortez und Amazili (Spontini) — Hr. Babnigg und
    Dem. Marx.

Die eigentliche Feſtvorſtellung, Goethe's »Torquato
Taſſo«, wurde durch Weber's Jubelouverture eingeleitet.
Ich gab die Leonore von Eſte, Frl. Berg die andere
Leonore, Heckſcher den Alphons, Emil Devrient den
Taſſo, Porth den Antonio. »Die Namen der Dar¬
ſtellenden verbürgten den Werth der Vorſtellung. Die
in jeder Beziehung ſplendide und geſchmackvolle Aus¬
ſtattung, die in ähnlicher Schönheit und Illuſion noch
[441] nie geſehenen Dekorationen — die erſte des Prologs,
dann die des zweiten, dritten und fünften Aktes von
den franzöſiſchen Malern Desplechin, Dieterle, Feuchere
und Séchan, die zweite des Prologs und die des vierten
Aktes vom Hoftheatermaler Arrigoni — ernteten die leb¬
hafteſte Bewunderung« — ſagt der »Dresdener Omnibus«
vom 14. April 1841 kurz und bündig darüber.


Seit jenem Abende ſind jetzt gerade 30 Jahre hinab¬
gerauſcht. . . und von einem frühlingsgrünen Berge der
Schweiz ſinnt eine alte Frau zurück. . .


Ihr werthen Gefährten,

Wo ſeid ihr zur Zeit mir

Ihr Lieben geblieben?

Ach! Alle zerſtreut . . .

Die Einen, ſie weinen,

Die Andern, ſie wandern,

Die Dritten noch mitten

Im Wechſel der Zeit,

Auch Viele am Ziele,

Zu den Todten entboten. . .

Ja, manches, manches kleine Todtenkreuzchen hat die
Hand, die einſt — damals Taſſo-Devrient den Lorber
reichte, auf den alten, vergilbten Theaterzettel gezeichnet. . .


Von all' jenen Theaternamen nennt der heutige
Dresdener Theaterzettel nur noch Frl. Berg, Hrn. Böhme,
Hrn. und Mad. Mitterwurzer. Mehrere Collegen leben
als Penſionäre in Dresden, darunter Tichatſcheck und
Hofrath Emil Devrient als Ehrenmitglieder des Hof¬
theaters. Aſcher iſt jetzt Direktor des Karltheaters in Wien.
Auguſte Anſchütz-Koberwein wurde kürzlich penſionirt.


[442]

Jüngſt, am 2. September 1871, feierte ich in meinem
Herzen ein ſchönes Dresdener Bühnenfeſt mit: den Jubel¬
tag, an dem meine einſtige liebe und geniale Collegin,
Franziska Berg, vor 40 Jahren als »Königin von
16 Jahren« die Dresdener Hofbühne zum erſten Mal
mit glänzendem Erfolge betrat. Wie rangen wir Beide
ſo begeiſtert und neidlos Jahre hindurch neben einander
als erſte Liebhaberinnen um die Palme! Und wie freute
ich mich, kürzlich von Augenzeugen zu hören, daß Fran¬
ziska Berg noch immer eine der geachtetſten Stützen des
Hoftheaters in Dresden iſt und als Mutter im »Fechter
von Ravenna« und Marfa in Schiller's Tragödie »De¬
metrius«, nach Guſtav Kühne's trefflicher Bearbeitung,
die wohlverdienteſten Triumphe feierte. Möchte es der
Künſtlerin vergönnt ſein, in Dresdens neuem Theater,
das Meiſter Semper augenblicklich in unvergleichlicher
Schöne aufwachſen läßt, noch lange Jahre die klaſſiſche
Zeit des alten Komödienhauſes zu repräſentiren.


Am Morgen nach der Eröffnung des neuen Hauſes,
in der Frühe ging ich noch allein in das kleine, alte
Komödienhaus, einen ſtillen, wehmüthigen Abſchied zu
nehmen von der ſchmuckloſen Bühne, auf der ich meine
reichſten ſieben Jahre hindurch ſo blüthenfröhlich und ſo
fruchtbeglückt geſpielt — nein, gelebt hatte! Ich nahm
Abſchied von meinem traulichen Garderobenzimmerchen,
das ſonſt von Blumenopfern duftete und Abends ſo oft
von übermüthigem Lachen erklang, wenn die liebens¬
würdige Obergarderobiere, Frl. Bertha Heyſe, mir bei
[443] der Toilette ihre verſchönende Hand und die bretterne
Welt hinter den Couliſſen und die andere Welt vor den
ſelben uns immer neuen Heiterkeitsſtoff liehen — und
das heute ſo ſtill und kahl und traurig ausſah. Ich
nahm auch wehmüthigen, dankbaren Abſchied von der
kleinen vergitterten Proſzeniumsloge, aus der mich des
alten Dramaturgen herrliche Augen in der guten alten
Gnadenzeit ſo oft und ſo väterlich lieb angeleuchtet hatten.
Und auch ſpäter wirkte das Bewußtſein: Tieck blickt jetzt
auf dich! — ſo wunderbar poetiſch anregend, hebend auf
mich — auf uns Alle in den Proben und Vorſtellungen.


Aber auch mit beklommenem Herzen nahm ich Ab¬
ſchied von dem alten Hauſe. Ich konnte das Bangen
nicht los werden: mit dem alten Hauſe zerbröckelt auch
Dresdens einfach edle, gemüthvolle, ungekünſtelte Schau¬
ſpielkunſt! In dieſem engen Rahmen war die herzlichſte
Natürlichkeit zu Hauſe. In dem großen Prachtgebäude
wird — muß ein brillantes Virtuoſenthum ſich mehr
und mehr an's Lampenlicht drängen, das beſcheidene,
herzinnige Zuſammenwirken um der Sache willen wird
einem Wetteifer der Perſonen: ſich neben- und vor¬
einander geltend zu machen! weichen — auf Koſten der
wahren Kunſt!


Leider ſollte ich nicht ſo ganz Unrecht mit dieſen
Befürchtungen haben, obgleich ich die glänzenden Vor¬
züge des neuen Hauſes für große klaſſiſche und handlungs¬
reiche Stücke, wie »Tell«, »Jungfrau von Orleans«,
»Maria Stuart« u. a. bald anerkennen lernte. Auch
[444] war die Akuſtik des neuen Hauſes eine ſo vorzügliche,
daß wir nur deutlich, nie mit Anſtrengung zu ſprechen
brauchten, um in den großen Räumen überall leicht ver¬
ſtanden zu werden. Ueberdies war die Beleuchtung eine
ſo günſtige, daß wir auf den Brettern wie verjüngt er¬
ſchienen, im Vergleich zu dem alten, düſteren Hauſe.


Eine meiner liebſten, dankbarſten Aufgaben in dem
neuen Hauſe war die »Beate« in Gutzkow's reizender
Schöpfung! »Ein weißes Blatt«. Gutzkow wurde wenige
Jahre darauf Dramaturg in Dresden und leiſtete Hervor¬
ragendes, gab die Stellung aber nach zwei Jahren wieder
auf. Er fühlte ſich nicht wohl in den engen Verhältniſſen.
Ihm folgte als Dramaturg: Eduard Devrient, aber auch
nur für kurze Zeit. Was Eduard Devrient als Leiter
einer Bühne zu leiſten vermochte, durfte er erſt in Karls¬
ruhe beweiſen.


Zweier Theaterabende in dem »neuen Hauſe« möchte
ich etwas ausführlicher gedenken.


Der erſte war der Abſchiedsabend, das letzte Auf¬
treten überhaupt der großen dramatiſchen Sängerin Frau
Ungher-Sabatier. Zuerſt war ich der Künſtlerin bei
meinem Gaſtſpiel in Wien 1839 begegnet und hatte ſie lieb¬
gewonnen und war ihr lieb geworden. Meine Freude
war groß, als Herr und Frau Sabatier bald darauf
nach Dresden überſiedelten. Es ſchien eine der glücklichſten
Künſtlerehen zu ſein, obgleich Frau Sabatier bedeutend
[445] älter war, als ihr Gatte. Allerliebſt fand ich es von
ihr, daß ſie ganz offen über dies Mißverhältniß der
Jahre ſprach, und nichts klang herziger, als wenn ſie
im Wiener Dialekt erzählte: »I han mei'm Mannerl
oft vorg'ſtellt, i ſei halt a Biſſel zu alt für ihn — bah!
— er wollt's nit glaub'n und ſo mußt' i ihn zuletzt nur
nehmen. Wir Beid' haben's auch nit bereut. . .«


Das ſah man deutlich in der heiteren, gemüthlichen
Häuslichkeit des liebenswürdigen Paares und an den
intereſſanten größeren Geſellſchaftsabenden, an denen die
Wirthin ihre reizenden Lieder ſang und wo ſelten her¬
vorragende Fremde fehlten.


Dresden hatte die Künſtlerin auf der Bühne und
im Salon ſtets verehrt und ausgezeichnet. In Dresden
wollte die Sängerin, die auf ihren vielen Gaſtſpielreiſen
in aller Herren Ländern glänzende Triumphe gefeiert
hatte, von der Bühne Abſchied nehmen. Mit richtiger
Selbſterkenntniß ſagte ſie zu mir: »Es iſt Zeit — es
iſt die höchſte Zeit! Ich könnte vielleicht mit demſelben
Recht, wie andere Sängerinnen, noch einige Jahre ſin¬
gen und auf den geliebten Brettern Gold- und Lorber-
Ernten halten. . . aber es muß ein trauriges Gefühl ſein,
die Rudera alter, glänzender Kunſtzeiten um dieſer Ver¬
gangenheit willen vom Publikum geduldet zu ſehen.
Die größte Kunſt des Künſtlers iſt es, zur richtigen
Stunde der öffentlichen Kunſtübung zu entſagen. . .«


An einem traulichen Abende waren wir näheren
Freunde bei Sabatiers, um über die Abſchiedsrolle der
[446] künſtlerin zu berathen. Die meiſten Stimmen waren
für die Frau in »Beliſario«. — »Aber warum wollen
Sie zum letzten Mal in einer ſo grauſigen Rolle, als
Büßerin und mit ſchmerzzerriſſenen Zügen vor ein
Publikum treten, das Sie liebt? Ich würde die lieb¬
liche Lucia von Lammermoor wählen!« wagte ich ein¬
zuwenden. — »Nicht effektvoll, nicht großartig genug für
die gerade ſo hervorragende dramatiſche Schöpfungsmacht
unſerer Freundin!« — ſagten die Verehrer der Künſtlerin.
Sie wählte die unſelige Frau Beliſario's und leider als
vorletzte Rolle Norma — dieſe Glanzpartie unſerer
Schröder-Devrient. Dieſe ſaß während der Norma-
Aufführung unter den Zuſchauern, und die Freunde der
Sabatier verübelten es ihr ſehr, daß ſie unter den Bei¬
fallsſtürmen des Publikums allein wie theilnahmlos ge¬
blieben, mit keiner Wimper gezuckt, keine Hand zum
Beifall gerührt habe.


Aber Wilhelmine Schröder-Devrient war eine zu
ehrliche, aufrichtige Natur. Sie hätte an dem Abende
heucheln müſſen. Norma's Stimme klang ſcharf und
reichte einige Mal nicht mehr aus für die hohen Töne.
Sie überſchlug ſich.


Daß aber Niemandem Mißgunſt oder gar kleinlicher
Neid ferner liege, als Wilhelmine Schröder-Devrient,
ſollten die Dresdener im Beliſario erfahren. Die glän¬
zendſten Ovationen waren vorbereitet, die Sabatier wurde
den ganzen Abend in ihrer wirklick großartigen drama¬
tiſchen Geſtaltung von Beliſario's Frau mit Beifall,
[447] Blumen, Gedichten überſchüttet, zierliche Brieftauben
flatterten auf die Bühne — aber Wilhelmine Schröder
und ich hatten der ſcheidenden Künſtlerin eine noch
größere Huldigung als Ueberraſchung vorbereitet. Am
letzten Aktſchluß trat ich vor auf die Bühne, im wei߬
roſigen Muſengewande, Blumen im Haar, und ſprach
zu dargebotenen Blumen bewegt Abſchiedsverſe. Der
Sängerin traten Thränen in die Augen — da lockte ſie
eine melodiſche Stimme auf der anderen Seite: es war
Wilhelmine Schröder, ebenfalls als Muſe, der Kunſt¬
ſchweſter mit innigen Worten einen vollen Lorberkranz
reichend. . . Erſchüttert ſank die ſcheidende Sängerin der
noch berühmteren Nebenbuhlerin in die Arme und ich
hörte ſie ſchluchzend flüſtern: »Und daß Sie — gerade
Sie, mein Scheiden ſo herrlich verſchönen . . . wie beglückt
es mich!« — »Dürfte auch ich einſt ſo der Bühne Lebe¬
wohl ſagen!« war die Antwort Wilhelmine Schröder's.


Das überraſchte Haus nahm gerührt und entzückt
den innigſten und ſtürmiſchſten Antheil an dieſer Scheide¬
ſzene im Jahr 1841. Es jubelte jetzt nicht nur der
ſcheidenden Sabatier, es jubelte jetzt auch der großherzigen
Schröder zu.


Im folgenden Jahre ſollten die Dresdener ein ganz
anderes Bild auf ihren geliebten Brettern ſehen — eine
ſpaniſche Tänzerin. Die damals noch wenig berühmte
und noch weniger berüchtigte Lola Montez war in Dresden
[448] angekommen, um auf der Hofbühne ſpaniſche National¬
tänze zu tanzen. Sie ſollte gewichtige Empfehlungen
an den Hof haben, aus vornehmer ſpaniſcher Familie
ſtammen, wunderſchön ſein und den Hof in Pillnitz durch
ihren Geſang ſpaniſcher Nationallieder zur Guitarre ent¬
zückt haben. Kein Wunder, daß die intereſſante Tänzerin
das Dresdener Theaterpublikum ſchon vor ihrem Auf¬
treten lebhaft beſchäftigte. Ich hatte die Heldin noch
nicht geſehen, aber der Theaterdiener kam eines Morgens
ganz echauffirt zu mir und machte ſeinem Herzen Luft:
»Heute iſt wieder die Spanierin los und erſt geſtern hat
ſie uns Allen den Kopf heiß gemacht. Nein, was die
für Raupen im Kopf hat! Sie verlangt ganz apart
für ſich Draperien, Beleuchtung, Dekorationen. Sie
will ſich erſt in der Tiefe der Bühne unter rothen Dra¬
perien und von vielen Extra-Lampen von oben herab
beleuchtet als lebendes Bild in phantaſtiſcher Stellung
bewundern laſſen, ehe ſie vorchaſſirt. Und Niemand konnte
es ihr zu Dank machen, und ſelbſt unſer Balletmeiſter
kann ihr närriſches Franzöſiſch nicht recht verſtehen. Da
blitzen denn ihre Augen und ſie ſtampft mit dem Fuß
auf, wie ein ungezogener Junge. Ich aber ſage, wer
ſo viel Hokuspokus angiebt, muß kurios tanzen. Ich
ſollte auch nur ſagen, daß das Fräulein heute nicht um
9 Uhr auf die Probe zu kommen braucht, ſondern erſt
um 10 Uhr. Denn bis dahin nimmt die Spanierin noch
allein die Bühne mit ihren Faxen in Anſpruch. Empfehle
mich gehorſamſt. . . «

[449]

Kaum war der Alte fuchswild fortgerannt, ſo ließ
unſer Hausgenoſſe, Herr von Bülow, der Vater des
ſpäter ſo berühmt gewordenen Klaviervirtuoſen Hans
von Bülow, bitten, trotz der frühen Morgenſtunde ſeinen
Beſuch machen zu dürfen — in wichtiger, unaufſchieb¬
barer Angelegenheit. Es mußte allerdings etwas Wich¬
tiges ſein, was den gelehrten Herrn, den Tieck ſehr be¬
vorzugte, ſo früh ſchon aus ſeiner etwas pedantiſchen Ruhe
und aus dem Schlafrock herausgebracht hatte. Er, der
ſonſt ſo leiſe und langſam bedächtig ſprach und einher¬
ſchritt, trat mir in größter Aufregung, mit gerötheten
Wangen entgegen und ſein erſtes geflügeltes Wort war:
»Lola Montez!«


»Alſo auch Sie, Graf Oerindur? Wer löſt mir die¬
ſen Zwieſpalt der Natur?« unterbrach ich ihn lachend.


»Lola Montez möchte Sie näher kennen lernen, Sie
haben geſtern Abend als »Donna Diana« das feurige
Kind Spaniens im Sturm erobert. Die ſchöne Lola
ſaß neben mir und ſchlug wie ein Kind jubelnd in die
Hände und rief ein Mal über das andere faſt etwas zu
laut für unſere Dresdener Gewohnheiten aus: »Oh,
la bella Donna! Je voudrais la connaître!«


»Sehr ſchmeichelhaft! Aber wer und was iſt denn
eigentlich dies »Mädchen aus der Fremde?«


»Das entzückendſte, holdeſte, liebenswürdigſte We¬
ſen. . .«


»Und das ſagen Sie mir in's Geſicht — der bella
Donna
?« unterbrach ich neckend den Enthuſiaſten.


Erinnerungen ꝛc. 29[450]

»Pardon! ich wollte hinzuſetzen: das unter Spaniens
Sonne erglühte! Sie iſt die Tochter eines tapferen Ge¬
nerals, der für Don Carlos fiel. Sie mußte aus der
Heimat fliehen — mittellos, ſchutzlos. Aber ſie hatte
Muth, Energie und reiche Talente. Ihre angeborene
graziöſe Tanzkunſt entwickelte ſich wunderbar unter einem
franzöſiſchen Balletmeiſter; dazu ſingt ſie entzückend ſpa¬
niſche Nationallieder zur Guitarre. Frei und glänzend
wie ein Schmetterling flattert das bezaubernde Weſen
durch die Welt und . . .«


»Bezaubert unſere ernſthafteſten Gelehrten und
Dichter!« lachte ich dazwiſchen. »Aber ſo ganz allein
— ohne Schutz flattert dieſer gefährliche Schmetterling
durch die Lande?«


»O, ſie iſt tugendhaft — tugendhaft und ſtolz und
tapfer, wie Jeanne d'Arc. Als meine Frau, die auch
von Lola Montez entzückt, bezaubert iſt, wie Alle, die
ſie kennen, ſahen, leiſe an die Gefahr ihrer Schutzloſigkeit
erinnerte, da zog ſie mit ſtammenden Augen einen kleinen
nadelſpitzen Dolch hervor, machte eine entzückende Bravo-
Geſte damit und ſagte ſtolz: »Voilà mon protecteur!«
— Iſt das nicht koſtbar?«


»Und wie Viele hat die edle Donna denn ſchon er¬
dolcht? Es müßte ſich doch reizend ausnehmen, wenn
ſie zugleich mit dem Dolch eine Art Leporello-Tagebuch
hervorgezogen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin zu¬
geſungen hätte: »Schöne Donna, dies kleine Regiſter
nennt ſie Alle, die ich abgemurkſet. . .«

[451]

»Spotten Sie nur. Auch Sie werden bald von
Lola Montez bezaubert ſein. Und wie ehrlich, wie naiv
offenherzig ſie iſt! Als ich ſie geſtern durch unſere Ge¬
mäldegalerie führte, ſagte ſie: Raphael und Correggio
langweilten ſie durch ihre ewigen rothhaarigen Madonnen
— dagegen blieb ſie mit leuchtenden Augen vor den nur
mittelmäßig gekleckſten Bildern eines ſpaniſchen »Stier¬
kampfes« und eines »Fandango« auf offener Straße von
Toledo ſtehen und klatſchte vor Entzücken in die Hände
— und vorgeſtern Abend gähnte ſie laut bei der herr¬
lichen Tenorarie Moriani's und ſagte: Lucia von Lammer¬
moor ſei zum Einſchlafen. . .«


»Und das bewundern Sie — der Dichter?«


»Ja, ich bewundere die reine, unverfälſchte Natur
in dieſem Mädchen. Sie iſt noch nicht von unſeren
äſthetiſchen Thees angekränkelt. Ich finde das originell,
frappant, kühn. . .«


»Aber Dresden!«


»Ja, in unſeren lauwarmen Lebensanſchauungen
könnte das Alleinſtehen, die Selbſtſtändigkeit, die ganze
freimüthige, kühne Originalität der ſchönen Lola nicht
ganz ſo beurtheilt werden, und da komme ich, Sie zu
bitten, das holde Kind ein wenig unter Ihre Flügel zu
nehmen. . .«


»Mit anderen Worten, ich ſoll die Theater-Tante
der ſchönen Spanierin machen? Ich, bis heute noch
immer Dresdens erſte jugendliche Liebhaberin? Wirklich eine
eigenthümliche neue Rolle, die Sie mir da zuertheilen. . .«

29 *[452]

Als ich aber das verdutzte, verlegene Geſicht unſeres
Enthuſiaſten ſah, mußte ich doch lachen. Und meine alte
Gutmüthigkeit überwog wieder. Ich reichte dem Beſuch
die Hand und ſagte: »Ich will verſuchen, Lola's Theater-
Tante zu ſpielen. Ich will ſie heute noch auf der Probe
anſprechen — ſo recht ehrbar, würdevoll und tanten¬
haft. . .«


Ich ging um 10 Uhr in die Probe des Luſtſpiels:
»Die Waſſerkur«. Aber ich kam noch viel zu früh.
Lola Montez war immer noch nicht fertig mit ihren
neuen Arrangements und Draperien und Attitüden.
Endlich fiel die Beleuchtung ſtrahlend genug auf ihr
»lebendes Bild« und ſie konnte zum ſpaniſchen National¬
tanze hervorchaſſiren. Ihr Tanzen war eigenthümlich.
Sie tanzte weder kunſtvoll, noch elegant und graziös.
Ihre Pas kamen ruckweiſe, queckſilbern hervor, wie mit
Hemmſchuhen. Aber ihre Sprünge waren kühn, über¬
raſchend, feurig — und ſie ſah wunderbar ſchön beim
Tanzen aus. Ich hatte Muße, ſie von der Couliſſe aus
anzuſchauen. Ihre Geſtalt war zu hager, um voll¬
kommen ſchön zu ſein, aber ihr feiner, mädchenhafter
Kopf mit dem rabenſchwarzen, glänzenden Haar, die
durchſichtige, zarte Bläſſe des jungen Geſichts mit den
regelmäßigen edlen Zügen, und vor Allem ihre Augen
— ihre großen, tiefblauen, leuchtenden Augen und ihr
liebliches Lächeln waren berauſchend ſchön. Und dies
wunderbare Gemiſch von Kindlichkeit, Uebermuth, auf¬
blitzender Glut und ungebändigtem Trotz in ihrem ganzen
[453] Auftreten, im Ausſprechen immer neuer toller Forderun¬
gen gegen den Balletmeiſter und den Maſchinenmeiſter,
ja ſelbſt ihr kurioſes Franzöſiſch hatten etwas dämoniſch
Berückendes. Jetzt erſt war mir der momentane Wahn¬
ſinn des ſonſt ſo ehrbaren Herrn von Bülow verſtändlich.
Feſſelte mich doch ſelber ſchon dies tolle, verzogene, ſchöne
Kind unwiderſtehlich.


Als der Tanz zu Ende war, trat ich aus der Couliſſe
vor, ſie als Theater-Tante anzureden. Aber kaum hatte
ſie mich erblickt, ſo ſtürzte ſie mir jubelnd an den Hals
und rief: Enfin! ma bella Donna. Çe vous aime,
nous nous préçenterons çe çoir ensemble! moi çe
dançerais, vous parlerez, çe çera çarmant
. . .« und
weiter ſchwirrte es ſinnverwirrend in ihrem Idiom: »Ich
liebe die Schönheit und den Tanz. Ich will auch berühmt
werden, wie Sie — aber als Tänzerin. Ich tanze
leidenſchaftlich. Wir Beide ſind ſchön — ich wie der
Süden, Sie wie der Norden. Ich liebe Sie und Sie
müſſen mich wieder lieb haben. O! Sie ſollen mich
heute Abend nur erſt im Koſtüm ſehen . . .« und fort¬
hüpfend rief ſie mir noch mit ihrer hellen, klingenden,
fröhlichen Stimme, mit ihrem kindlichen Lächeln zu: »au
revoir, ma bella Donna — à çe çoir, à çe çoir!
«


Aber merkwürdiger Weiſe blieb das Publikum am
Abende bei der Attitüde der ſchönen Spanierin und bei
ihrem tollen Queckſilbertanze kühl. Keine Hand rührte
ſich, keine Blume flog. Wo waren denn nur die Ver¬
ehrer? Ich hatte doch ſchon am Nachmittage Kränze
[454] und Bouquets geſehen, die für Lola Montez beſtimmt
waren. Durften die Herren Ehemänner der Tänzerin
nicht öffentlich huldigen? Ich erfuhr, daß die Blumen
für den zweiten Tanz aufgeſpart waren. Aber — Lola
Montez wollte nicht mehr tanzen vor ſo undankbaren
Barbaren! Das ſagte mir der Intendant v. Lüttichau
ſehr aufgeregt. Ich war auf dem Wege nach dem
Konverſationszimmer und trug meine beiden kleinen
Wachtelhunde auf dem Arm, mit denen Fräulein Berg
im zweiten Akt als überſchwengliche Hundefreundin er¬
ſcheinen ſollte. »Sie müſſen mir beiſtehen, den Trotzkopf
zur Raiſon zu bringen!« fuhr der Intendant fort.
»Mein Latein iſt zu Ende und an Ihnen hat der Kobold
ja einen Narren gefreſſen. Mußte ich ihr doch verſprechen,
morgen ſchon wieder ein Luſtſpiel zu geben, in dem Sie auf¬
treten. Nein, ſo ein unerzogenes, ungezogenes Fräulein
iſt mir auf den Brettern noch nicht vorgekommen — —
da ſehen Sie ſelber . . .« und damit öffnete Herr von
Lüttichau die Thür zur Garderobe der Tänzerin.


Das war allerdings ein urkomiſches Bild, das ſich
uns im Rahmen der Thür bot. In der Mitte ſtand
Lola Montez in ihrem winzigen ſpaniſchen Balletkoſtüm;
die Hände auf den Toilettentiſch geſtützt, hüpfte ſie mit
beiden Füßen zugleich wild in die Höhe, wie ein Schul¬
kind, und ſchlug dabei trotz des mobilſten jungen Fohlens
hintenaus . . . und im Halbkreiſe und reſpektvollſter
Entfernung — von wegen des Hintenausſchlagens —
umſtanden ſie mit trübſeligen, rathloſen Mienen die
[455] Konzertmeiſter Lipinski und Reiſſiger, zwei ſehr bekannte
Hofräthe und noch ein halb Dutzend anderer glühender
Kunſtenthuſiaſten, während Lola bei ihrer Gymnaſtik
fortwährend ſchrillte! »Non! çe ne dance plus! on
n'a pas applaudi quand çe faiçais ça
— (Pantomime
des Kußhandwerfens) — çe ne dance plus devant un
tel publique..«


Ich hatte Mühe, nicht hell in dieſe Szene hinein¬
zulachen, beſonders als die Verehrer mich mit verlegenen
Geſichtern pantomimiſch baten, ihnen zu Hülfe zu kommen,
Ich trat in die Garderobe. Kaum hatte Lola mich und
meine Hündchen geſehen, ſo ſtellte ſie ihre tollen Sprünge
ein, machte einen kühnen Salto mortale auf mich zu
und jubelte: »Oh, ma bella Donna! Oh! çes çolis
petits çiens! oh! çes bijoux ... mais, çe ne dance
plus devant un tel publique méconnaissant
—«
und das Aufſtemmen, Hüpfen, Hintenausſchlagen ſollte
wieder luſtig losgehen.


»Und was ſoll mit den vielen ſchönen Blumen werden,
die ſchon durch das Haus duften?« ſagte ich franzöſiſch.


»Blumen? — Blumen im Theater? Ich hab' keine
geſehen, mir hat man keine geworfen, obgleich ich meine
ſchönſte Kußhand warf ...«


»Die Blumen ſollen Ihnen ja auch erſt nach dem
zweiten Tanze huldigen. So iſt es in Dresden Sitte.«


»Pas possible!«


»Und es ſind Kränze darunter mit langflatternden
Altlasbändern und darauf gedruckten Gedichten ...«


[456]

„Çe dançerais! çe dançerais! Quel bonheur!
de çolis bouquets, des rubans, des vers — çe
dançerais! çe dançerais!“
. . . und mir ein Hündchen
entreißend und daſſelbe hoch in die Luft werfend und
wieder auffangend piruettirte Lola Montez wie ein Quirl
in der kleinen Garderobe umher, daß die Verehrer ſich
ſcheu in die Ecken drückten.


Aus dem trotzigen Kinde war ein fröhlich jauchzen¬
des geworden. So tanzte ſie den zweiten Tanz und
wurde ein wenig applaudirt und von ihren Verehrern
hervorgerufen und Kränze und Bouquets und Gedichte
flogen zu ihren Füßen. . . Glückſtrahlend raffte ſie die¬
ſelben auf und konnte nach dem Fallen des Vorhangs
nicht müde werden, uns ihre Schätze zu zeigen und zu
rufen: „Oh! que çe çuis heureuse! voyez donc çes
fleurs, çes rubans et çes vers!“


Und dies Entzücken hatte etwas ſo Kindliches, Auf¬
richtiges, Ungekünſteltes, daß Alle ihr dieſen kleinen
Triumph gern gönnten und kein ſpöttisches Lächeln
ihn trübte.


Lola Montez trat 1842 in Dresden nur noch ein¬
mal als Ballerina auf, denn das Publikum konnte ſich
nicht für ihre queckſilbernen Pas erwärmen. Die Zahl
ihrer perſönlichen Verehrer mehrte ſich aber von Tag zu
Tage und Lola Montez ſchwamm vierzehn Tage lang
von einem glänzenden Weihrauchfeſt zum andern, und die
tugendſtolzeſten, prüdeſten Damen Dresdens verſchmähten
es nicht, der ſchönen »carliſtiſchen Generalstochter» die
[457] Honneurs zu machen. Bei einem ſolchen Zauberfeſte
mußte Lola Montez im vollen Tänzerinnenkoſtüm er¬
ſcheinen. Vom Hofe erhielt die »ſpaniſche Sängerin«
ein ſchönes Armband als Andenken. Genug, Lola Montez
konnte mit ihrem Dresdener Debüt, wenn auch nicht als
Tänzerin, ſo doch als ſchöne Abenteurerin zufrieden ſein.
Und ſie ſpielte ihre Rolle als carliſtiſche Generalstochter
mit vielem Takt und Glück zu Ende.


Doch — als Lola Montez nach einem Jahre wieder
nach Dresden kam, da war ihr — Tugendnimbus er¬
blichen. Auch an die carliſtiſche Generalstochter glaubte
Niemand mehr. Bei Hofe wurde ſie nicht empfangen.
Selbſt ihre früheren Gönnerinnen und Anbeter mieden
ſie und bekamen faſt Verlegenheitskrämpfe, wenn ihr
Name nur genannt wurde. Nur in Geſellſchaft einiger
kühner Herren wurde — die ſchöne Abenteurerin noch
geſehen.


Welche Rolle Lola Montez bald darauf in Berlin
und München ſpielte, iſt bekannt.


Und dann — nach vielen Jahren las ich mit tiefer
Bewegung in einer Zeitung: »Lola Montez iſt in New-
York geſtorben, arm und verlaſſen, in der Hütte einer
iriſchen Quäkerfamilie, — und nach furchtbaren Kämpfen.
Gewiſſensbiſſe verzehrten ſie, daß ſie einen jungen Fran¬
zoſen verführt hatte, Weib und Kinder zu verlaſſen
und ihr nach Auſtralien zu folgen. Als ſie den mit
wilder Leidenſchaft geliebten Mann dann vor ihren
Augen vom Meer verſchlungen ſah, kehrte ſie kraftlos,
[458] müde, gebrochen nach New-York zurück. Ihr ganzes
Vermögen gab ſie der verrathenen Wittwe. Sie ſelbſt
verbarg ſich bei der armen iriſchen Quäkerfamilie und
ergab ſich in ihrer Angſt und Verzweiflung einer myſtiſchen
Frömmigkeit. Sie hat viel gefehlt, aber ſchwer gebüßt. . .«


Eine intereſſante Gemälde-Galerie iſt bei dem
Brande am 21. September 1869 mit dem neuen Hauſe
zu Grunde gegangen: die Portraits der erſten Künſtler
in ihren bedeutendſten Rollen! So auch das wunder¬
volle Bild von Wilhelmine Schröder-Devrient. Ich
wurde gewürdigt, in meinen beliebteſten Dresdener Rol¬
len dieſer Theatergalerie einverleibt zu werden: als Or¬
ſina in »Emilia Galotti«, Kaiſerin Katharina II. in
den »Günſtlingen«, Elene in »Rubens in Madrid« und
als Camilla im »Bild« von Houwald. Sämmtliche Ori¬
ginale ſind mit verbrannt.


Lallemand zeichnete mich in der Gartenſzene der
Donna Diana, und der liebenswürdige Hanfſtängl litho¬
graphirte das Bild für den Kunſthandel.


Profeſſor Hanfſtängl und ſeine ſchöne, junge, gra¬
ziöſe Frau machten damals eines der angenehmſten und
gaſtfreieſten Häuſer Dresdens. Dort habe ich viele
frohe, genußreiche Stunden verlebt. Wenn an den be¬
rühmten Tieck-Abenden das kleine Leſepult doch immer
einen gewiſſen Schatten in die Geſellſchaft warf, ſo
herrſchte bei Hanfſtängls ſprudelnder Frohſinn vor.
Und Alles, was Dresden an ſchimmernder Jugend und
Schönheit, an Geiſt und Kunſt und an intereſſanten
[459] Fremden zu bieten hatte, durfte auf den gemüthlichen
Bällen bei Hanfſtängls nicht fehlen.


Mir iſt beſonders ein ſolcher Ball unvergeßlich, im
Winter 1838, weil ich an dieſem Abende zuerſt Julius
Moſen's perſönliche Bekanntſchaft machte. Denn zu
Tieck's Vorleſeabenden kam er ſchon längſt nicht mehr.
Auch er gehörte deswegen bereits zu den in Ungnade
Gefallenen. Moſen ſagte mir ſpäter oft, wie um mich
über die untergehende Gnadenſonne des alten Drama¬
turgen zu tröſten: »Tieck iſt ein großer Dichter — aber
er hat kein Herz. Nennen Sie mir einen jungen Dich¬
ter, dem er die Hand zum Beiſtande reichte, ja, den er
nur neben ſich duldete? Er iſt der größte Egoiſt, den
ich kenne, und förmlich von ſeinen Vorurtheilen einge¬
ſponnen. Auch ich habe redlich verſucht, als Schüler zu
ſeinen Füßen zu ſitzen, von ihm zu lernen und bewun¬
dernd zu ihm aufzuſchauen. Aber ich bin nicht blind
und keine herzloſe Sprechmaſchine, kein Automat wie
die Gräfin Finkenſtein, die nach Tieck's aufziehendem
Schlüſſel tanzt und weint und lacht und Ja oder Nein
ſagt. Ich kann, ich will nicht gegen meine Ueberzeu¬
gung ſprechen. Darum habe ich lieber das Eckhaus am
Altmarkt gemieden, um eine bittere Erfahrung reicher. . .«


Emil Devrient und ich kamen als die letzten Ball¬
gäſte, denn wir hatten an dem Abende mit einander in
»Noch iſt es Zeit« Komödie zu ſpielen. Als der ſchöne
erſte Liebhaber in den Saal trat, ging es wie ein Flüſtern
der befriedigten Erwartung durch die Reihen der Tänze¬
[460] rinnen. Mich aber intereſſirte ſogleich ein Tänzer mit
geiſtvollem ſüdlich dunklen Geſicht, blitzenden Augen und
ſehr beweglichen Zügen, der die graziöſe Wirthin mit
einem Feuer ſchwenkte, daß ſeine dunklen Locken ſich
bäumten. Es war der Dichter des »Nußbaums« und
des »Liedes vom Ritter Wahn« — Julius Moſen, da¬
mals 35 Jahre alt.


Er ließ ſich mir vorſtellen und wir tanzten viel,
plauderten aber noch mehr mit einander. Ich fühlte
mich bald ungemein durch die ſeltene Vereinigung von
Geiſt, Gemüth und Begeiſterung für ſeine poetiſchen
Aufgaben, ſowie durch ſeine rührende Beſcheidenheit zu
dem Dichter hingezogen. Moſen ſagte mir, daß er näch¬
ſtens der Intendanz ein neues Trauerſpiel einreichen
werde: »Die Bräute von Florenz«, in dem er für Emil
Devrient den Helden, für Fräulein Berg und mich die
»Bräute« geſchrieben habe. »Sie aber müſſen leider an
Gift ſterben!« fügte er lächelnd hinzu. Ich verſprach
ihm heiter, dies auf's Rührendſte und Beſte zu beſorgen.
Wir konnten um ſo ungezwungener mit einander plau¬
dern und ſcherzen, da Moſen damals ſchon für's Leben
gewählt hatte: — ein liebenswürdiges, ſanftes und geiſt¬
volles Mädchen, das bald darauf ſeine Frau wurde.
Wir ſchieden wie gute alte Bekannte, denn bei aller Un¬
ruhe und Leidenſchaftlichkeit ſeines Weſens hatte der
Dichter doch etwas ungemein Vertrauenerweckendes und
aus ſeinen Worten und aus ſeinen Zügen ſchimmerte
ein edles, kindlich heiteres Herz.


[461]

Die »Bräute von Florenz« gingen erſt 1841 in
Dresden über die Bretter; Moſen's »Bernhard von
Weimar« kam zwei Jahre darauf in Dresden zur Auf¬
führung. Faſt hätte die erſte Vorſtellung meinetwegen
verſchoben werden müſſen. Nach der zweiten Probe
mußte ich zum erſten Mal in Dresden zu unſerem alten,
gutmüthigen Theaterdoktor Rolank ſchicken. Mein linker
Arm war plötzlich wie gelähmt und ſchmerzte, wie von
glühenden Nadeln durchſtochen.


»Rheumatismus — fliegender Rheumatismus!«
ſagte der Doktor bedächtig. »Ruhe, Ruhe iſt die erſte
Bürgerpflicht. . . .«


»Aber, lieber, guter Herzensdoktor — ich muß,
muß morgen in Moſen's »Bernhard von Weimar« ſpie¬
len, ſonſt iſt ja die Vorſtellung nicht möglich und der
Dichter und ſeine junge Frau und alle Freunde haben
ſich ſchon ſo lange darauf gefreut. . . .«


Der Doktor zuckte die Achſeln.


Da wurde Moſen gemeldet und trat gleich darauf
in's Zimmer. Er ſah meine Beſtürzung. Der Doktor
meldete ihm mediziniſch gelehrt das Eintreffen des
»fliegenden Rheumatismus«, der im Fluge komme,
meiſtens auch im Fluge wieder gehe, aber ſchwerlich bis
morgen. . . .


Ich las in des Dichters Geſicht die Beſtürzung.
Entſchloſſen reichte ich ihm die geſunde rechte Hand:
»Sein Sie ruhig, Eliſabeth von Heſſen wird ſpielen!«


»Nein! nein!« rief Moſen aus — »ich nehme Ihr
[462] Opfer nicht an. Ich eile zum Intendanten, daß die
Vorſtellung abbeſtellt wird. . . .«


»Halt! Halt! erſt noch eine Künſtlerpetition bei un¬
ſerem Doktor Eiſenbart, kurirt die Leut' nach ſeiner
Art. Sicher hat er irgend eine Parforcekur in Petto,
die den Fliegenden bis morgen Abend — wenn auch
nicht gründlich, ſo doch ein wenig in die Flucht ſchlagen
wird. Liebſter, goldenſter Doktor, laſſen Sie die ganze
Armee Ihrer Kunſt anrücken, ich will ja geduldig die
garſtigſten Mittel hinabſchlucken, unter Opodeldoc und
ſpaniſchen Fliegen Ihr Loblied ſingen — habe ich doch
ſchon einmal ſiedenden Talg getrunken, um am andern
Abend nur ſpielen zu können. . . .«


»Talg — ſiedenden Talg getrunken?« riefen der
Dichter entſetzt und der Doktor ungläubig aus.


Und ich erzählte:


»Es war in Riga. Ich hatte verſprochen, am fol¬
genden Abend zum Benefiz eines wackeren Kollegen und
überreichen Familienvaters die »Precioſa« zu ſpielen, zu
tanzen und — ſingen. Und ich war am Morgen
nach einer winterlichen Tanzgeſellſchaft mit einer totalen
Heiſerkeit aufgewacht. Kein klares Wort wollte über
meine Lippen. Ich ließ ſogleich den Direktor Dölle und
den Benefizianten von dieſem wortloſen Hinderniß be¬
nachrichtigen. Beide ſtürmten mit einander heran. Der
arme Benefiziant war mehr todt als lebendig. Er hatte
nicht nur die meiſten Logen- und Parketplätze ſchon glück¬
lich verkauft, ſondern auch mit der ungewöhnlich reichen
[463] Einnahme ſeine ſchlimmſten Gläubiger bezahlt. »Und
woher nun das Geld nehmen, um es dem Publikum
zurückzuzahlen? Solch' eine Einnahme hatte ich noch nie
zu meinem Benefiz. Ich geh' ins Waſſer — aber dann
meine armen, armen elf Waislein. . . .« Ich konnte
nur traurig ſtumm den Kopf ſchütteln. »Wenn Sie ſich
entſchließen könnten, mein altes Künſtlerhausmittel zu
gebrauchen?« ſagte Dölle kleinlaut. »Probatum est
aber es iſt für eine zarte Dame doch wohl zu furchtbar
ruſſiſch. . . .« Für mein Leben gern hätte ich aus dem
»Feſt der Handwerker« geſungen: »Das wird ja den
Ha—als nicht koſten!« aber ich hatte keinen Ton in
der Kehle. Ich mußte mich darauf beſchränken, panto¬
mimiſch zu ſagen: Nur heraus mit Eurem ruſſiſchen
Mittel, ich bin zu Allem bereit!« — Zagend fing Di¬
rektor Dölle an: »Sie müſſen einen Schoppen ſiedend
heißes Braunbier langſam, ohne abzuſetzen, durch die
heiſere Kehle gleiten laſſen.« — Ich, wieder pantomi¬
miſch, mit vergnügtem Lächeln: »Pah! wenn's weiter
nichts iſt? Tant de bruit pour une omelette. . . .«
»Aber, es iſt noch weiter Etwas, verehrtes Fräulein,«
ſagte Dölle immer kleinlauter. »Sie müſſen nämlich
vor dem Trinken ein ganzes Talglicht ſo lange in das
heiße Braunbier halten, bis ſie nur den Docht heraus¬
ziehen — und zwar ein Talglicht, ſo dick und ſo lang,
daß vier von der Sorte ein Pfund geben. . . .« Da ſchau¬
derte ich denn doch. Aber als ich den armen Benefi¬
zianten mit gefalteten Händen und angſtvollen Augen
[464] daſtehen ſah, ſchluckte ich erſt das Grauſen und hernach
das hölliſche Koſackengebräu hinunter — und am Abend
ſang ich als Precioſa meines theuren Pius Alexander
Wolff's ſchwärmeriſche Worte:

Einſam bin ich nicht alleine,

Denn es ſchwebt ja ſüß und mild

Um mich her beim Mondenſcheine

Dein geliebtes, theures Bild!

— mit klarer, talgglatter Stimme den guten Rigaern
zu. — »Sie ſehen, Doktorchen, ich vermag das Meinige
zu thun, nun thun Sie das Ihrige!«


Und der Doktor bepinſelte mir den Arm und wickelte
ihn in Watte, ſo daß Eliſabeth von Heſſen ihn wirklich
am andern Abend zu einigen fürſtlichen Geſten gebrauchen
konnte. Der gute Dichter und die Dresdener ahnten
aber nicht, welche glühenden, ſtechenden Schmerzen mich
jede dieſer Geſten koſtete.


Noch Eins knüpfte das Freundſchaftsband zwiſchen
Julius Moſen und mir feſter — das war unſere ge¬
meinſame Verehrung für die Großherzogin Cäcilie von
Oldenburg. Ich mußte dem Dichter und ſeiner Gattin
oft von meinen Begegnungen mit der ſchönen und liebens¬
würdigen Fürſtin erzählen:


»Es war im Januar 1814. Ich war 6½ Jahr alt.
Eine Freundin meiner Mutter hatte mich von Bruchſal
auf einige Wochen zu ſich nach Karlsruhe eingeladen, um
mit ihrem Töchterchen bei dem Tanzmeiſter Richard die
Tänze à la mode einzuüben. Des guten Tanzmeiſters
[465] Fiedel war wohl noch nie ſo ſehr von kleinen Tänzerinnen
in Anſpruch genommen worden, wie zu dieſer Zeit. Es
ſtand ein ſeltenes Kinderfeſt bevor. Die Frau Markgräfin
gab auf Wunſch ihrer Tochter Eliſabeth, Kaiſerin von
Rußland, die in Karlsruhe zum Beſuch und eine große
Kinderfreundin war, ihren lieblichen Enkelinnen, Prin¬
zeſſinnen Cäcilie und Amalie von Schweden, Töchter des
unglücklichen vertriebenen Schwedenkönigs, der damals
als Oberſt Guſtafsſon ſtill und faſt vergeſſen in Deutſch¬
land lebte, im Schloſſe einen fröhlichen Kinderball. Alle
4–10jährigen Töchterchen von Offizieren, höheren Staats¬
beamten und ſonſtigen Honoratioren von Karlsruhe waren
eingeladen. Die größeren Mädchen übten die Tänze als
Herren ein. Durch die Generalin von Freiſtedt erging
noch in den letzten Tagen vor dem Feſt auch an mich
eine Einladung. Wer war glücklicher als ich! »Aber
Linchen hat ja kein Ballkleid!« — dies Bedenken hätte faſt
meine ganze Freude zerinnen laſſen. Doch ich wußte Rath.
»Ich habe zu Hauſe ein wunderhübſches Jungen-Koſtüm,
denn bis zum vorigen Sommer kleidete mich die Mutter
gleich den Brüdern. Der Kittel iſt von grünem Percal,
dazu weiße Höschen und eine lange grüne Atlas-Schärpe
— das wird mir die Mutter ſchicken. Da bin ich der
einzige Herr unter den Tänzern und Herr Richard ſagt,
ich tanze am beſten von allen kleinen Mädchen als Herr. . . .«
Und die Mutter ſchickte mein Jungen-Koſtüm und dazu
funkelnagelneue grüne Atlasſchuhe. Ich war ſelig. Etwas
Schöneres auf der Welt, als dieſe kleinen Schuhe, gab
Erinnerungen ꝛc. 30[466] es für mich nicht. Ich küßte die reizenden Grünen,
nahm ſie zärtlich in den Arm, wie eine Puppe, und
tanzte ſo jubelnd durch's Zimmer. Wenn die andern
kleinen Tänzerinnen in den letzten Tanzſtunden bei Richard
mit ihren reizenden neuen Ballkleidern prahlten, dann
ſagte ich wohl triumphirend: »Wer hat grüne Atlas¬
ſchuhe? Ich! Ich!«


Endlich war der köſtliche Ballabend da. Die fürſt¬
lichen Damen ſaßen im lichtfunkelnden Tanzſaale des
Reſidenzſchloſſes auf einer Eſtrade. Die kleinen Tänzerinnen
mußten zuerſt paarweiſe bei ihnen vorbeidefiliren und
ihre Verbeugung machen, wie Herr Richard es uns ge¬
lehrt hatte. Ich, in meinem Jungen-Koſtüm und in
den geliebten grünen Atlasſchuhen, den blonden Tituskopf
mit friſchen Epheuranken geſchmückt, führte gravitätiſch
meine kleine, weißgerockte Tänzerin und machte den
fürſtlichen Damen meinen ſchönſten Diener. Da rief
ein kleines, elfenhaftes Mädchen im roſa Tüllkleidchen
neben der Kaiſerin Eliſabeth: »Tante, mit dem reizenden
Knaben möchte ich tanzen!« Es war Prinzeſſin Cäcilie
von Schweden.


Ein Kammerherr führte mich zu der Prinzeſſin und
flüſterte mir zu, ich müſſe meine Tänzerin Hoheit und
Sie anreden. Das kam mir kurios vor, einem ſo kleinen
Mädchen gegenüber. Blöde ſtand ich da. Als aber der
erſte Tanz geſpielt wurde und meine Tänzerin mir die
Hand reichte — da war alle Blödigkeit und Hoheit ver¬
geſſen und fröhlich und flink ſchwenkte ich Prinzeſſin
[467] Cäcilie durch den Saal. Dann tanzte ich mit der jüngeren
Prinzeſſin Amalie und bald wollten beide kleinen Prin¬
zeſſinnen nur noch mit mir tanzen. Ich hielte ſie am
beſten und ſchwenkte ſie am leichteſten — ſagten ſie.
Scherzend nannten ſie mich den guten Waldelfen, von
dem ſie im Märchen geleſen, denn der habe auch Epheu¬
ranken im Haar und tanze ſo luſtig im Mondenſchein.
Nach der großen Françaiſe mit Solo des Messieurs et
des Dames
wollte ich auch die Kuchenfreuden des Balles
ein wenig genießen und delektirte mich gerade an einem
ſüßen Fruchttörtchen da ſtand wieder der Kammerherr
vor mir, nahm mir die Süßigkeit aus der Hand und
ſagte freundlich: »Kleine, die Kaiſerin will Dich ſprechen.
Zu der mußt Du immer Majesté! ſagen!« Damit faßte
er meine Hand und führte mich zu der Kaiſerin Eliſabeth
von Rußland. Die lächelte gütig zu mir nieder und
ſagte dann ſanft:


»Ma petite, parlez-vouz français?«


Verſchüchtert ſchlug ich die Augen nieder. Denn ich
verſtand von dieſer Anrede weiter nichts, als daß es fran¬
zöſiſche Worte ſeien. Aber ich konnte ja auch zwei fran¬
zöſiſche Worte ſagen — oui und non! Alſo ich faßte
mir ein Herz und ſagte auf gut Glück friſch drauf los:


»Oui, Majesté!«


»Le bal est charmant, n'est-ce pas


Da mußte ich doch auch mein anderes franzöſiſches
Wort anbringen und ſo wechſelte ich hübſch ab:


»Non, Majesté!«


30*[468]

»Mes nièces vous ont joliment fatigué?«


»Oui, Majesté!«


»Aimez-vous la danse?«


»Non, Majesté!«


»Vous êtes un enfant charmant!«


»Oui, Majesté!«


Warum lachten die Umſtehenden? Das trieb mir
die Thränen in die Augen. Die Kaiſerin aber lächelte
gütig, zog mich an ſich, küßte mich auf die Stirn und
ſagte deutſch: »Du biſt ein gutes Kind!« Mit über¬
ſtrömendem Gefühl küßte ich die ſanfte Hand und ſchluchzte
dabei mein: »Oui, Majesté! Non, Majesté!«


Als ich im Jahre 1828 in Petersburg gaſtirte, war die
gütige Kaiſerin Eliſabeth bereits von dieſer Erde geſchieden.


Die Prinzeſſinnen Cäcilie und Amalie von Schweden
ſah ich ſpäter öfter, als die Mutter mit mir und den
Brüdern nach Karlsruhe überſiedelte. Auf einem Jugend¬
balle bei der Generalin Freiſtedt erinnerten ſie ſich und
mich freundlich an ihren erſten Tänzer, den epheu¬
bekränzten Waldelfen aus dem Märchen, und wir lachten
herzlich miteinander über das närriſche Oui und Non.


Als ich dann wiederum nach einigen Jahren in
Karlsruhe die Bühne betrat, und mit Glück als »Mar¬
garethe« in den Hageſtolzen und als »Precioſa« debütirt
hatte, ließ mich die Königin von Schweden in ihr Palais
bitten. Die Prinzeſſinnen hatten meinem Debüt bei¬
gewohnt und wollten ihrem »ehemaligen Kavalier« ihren
Glückwunſch ausſprechen.


[469]

Beide Prinzeſſinnen waren lieblich erblüht. Amalie,
zart, blaß, blondgelockt, mit tiefblauen, wehmüthigen
Augen, war eine ätheriſche Erſcheinung. Cäcilie dagegen
glühte wie eine friſche Roſe; lange, braune Locken um¬
floſſen glänzend das edelſchöne Geſicht, und ihre wunder¬
vollen Augen leuchteten bald auf wie die eines fröhlichen
Kindes, bald blickten ſie ſinnend mild wie bei Murillo's
Madonnen. Und Beide waren gut und lieb zu der kleinen
Komödiantin, wie einſt zu ihrem kindlichen Tänzer. Sie
verſäumten auch nie eine Vorſtellung, wenn ich in einer
neuen Rolle auftrat, und nickten mir ſogar oft aus ihrer
Loge auf die Bühne ermuthigend zu. Und als ich im
Mai 1824 Abſchied von Karlsruhe und auch im ſchwediſchen
Palais nahm, um in mein neues Engagement nach Berlin
zu gehen, da waren beide Prinzeſſinnen ſichtbar betrübt.


»Wann werden wir Sie wiederſehen?« fragte Cäcilie.


»Wenn ich den Namen Künſtlerin verdiene!«


»Und wenn wir Sie dann rufen?« ſagte Cäcilie.


»So fliege ich herbei!« war meine thränenerſtickte
Antwort.


Die Königin von Schweden ſollte ich nicht wieder¬
ſehen. Sie ſchloß bald darauf die ſchönen Augen, die
ſo viel geweint haben, wie wohl keine anderen Augen,
über denen einſt eine Königskrone ſtrahlte. Aber nach
vierzehn Jahren, als ich in Bremen gaſtirte, ließ Cäcilie,
Großherzogin von Oldenburg, die »Künſtlerin« zu einem
Gaſtſpiel nach Oldenburg einladen und mir ſchreiben:
»Der Weg von Bremen hierher iſt langweilig, die
[470] pekuniären Vortheile des Gaſtſpiels können nicht bedeutend
ſein, aber die Großherzogin hofft, die Künſtlerin kommt
gern, ihrer Jugendtänzerin Cäcilie wegen . . .«


Und wie gern kam ich! Welch' ein Wiederſehen war
das — zwiſchen Fürſtin und Künſtlerin! Die Großher¬
zogin Cäcilie war eine edel-ſchöne, königliche Erſcheinung,
aber herzlich und freundlich, wie in den alten Oui- und
Non-Tagen. Davon erzählte ſie auch einfach bürgerlich
»ihrem Mann«, wie ſie den bedeutend älteren Großherzog
nannte, der mir viel Treffendes und Geiſtvolles über
meine »Donna Diana« ſagte. — Nach zwei Jahren folgte
ich gern einer neuen Einladung zu einem längeren Gaſt¬
ſpiel nach Oldenburg. Die Maria Stuart ſpielte ich
vor geräumtem Orcheſter, etwas Unerhörtes für die kleine
Reſidenz. Es ſpielte und lebte ſich hübſch in Oldenburg.
Ein gutes, fein gerundetes Enſemble entzückte mich. Die
Schauſpieler hielten freundlich zuſammen, wie eine große
Familie. Herr von Starklof war ein geiſt- und gemüth¬
voller Intendant, ein feiner Kunſt- und Menſchenkenner
und ein noch größerer Kunſt- und Menſchenfreund. Er
war dem Hofe und ſeinem Kunſtinſtitut wahrhaft ergeben,
und für die Schauſpieler ſorgte er wie ein guter Vater.
Er hatte nur über beſcheidene Mittel zu verfügen, aber
da keine koſtſpielige Oper, kein Luxus-Ballet davon zehrten,
ſo vermochte er für das Schauſpiel Bedeutendes zu leiſten.
Beſonders entzückte mich an dem Intendanten ſein köſt¬
licher Humor . . . und dennoch, nach wenigen Jahren
ſchon ſollte er das Opfer einer finſteren Stunde werden.
[471] Er ertränkte ſich. Erſt ſo lebensmuthig, ward er plötzlich
ſo lebensmüde — wie Raimund! Ja, es giebt bitter¬
ſchwere Menſchenräthſel hier unten.


Es fehlte 1840 an einer erſten Liebhaberin, da die
ſchöne und talentvolle Mad. Moltke plötzlich geſtorben
war. Halb im Scherz hatte ich ſchon oft zu der Mutter
geſagt: »Wenn mein Kontrakt in Dresden abgelaufen iſt,
wollen wir nach Oldenburg überſiedeln. Ich glaube, die
Großherzogin würde ſich auch freuen, das alte Karlsruher
Oui und Non hier zu haben!« — »Ich habe auch ſchon
daran gedacht, Lina,« ſagte die Mutter ernſthaft. »In
Oldenburg möchte auch ich wohl leben und ſterben.«


Und dann ſchlug die Großherzogin eines Tages ſelber
dieſe Saite an. Es war nach meiner ſo glänzend auf¬
genommenen »Maria Stuart«. Die Großherzogin ſprach
echt weiblich über meine Auffaſſung dieſer Rolle. Dann
ſagte ſie plötzlich: »könnte Schottlands Königin ſich wohl
entſchließen, über die Herzen des kleinen Oldenburgs —
das meine mit inbegriffen — dauernd zu herrſchen?«


Ich ſagte gerührt, daß es ſchon lange ein ſtiller,
lieber Wunſch von mir ſei, eine treue Unterthanin Cäciliens
von Oldenburg zu werden.


»Aber unſere Bühne iſt klein und nicht reich« —
ſagte ſie leiſe, wie verlegen.


»Der längere Urlaub, der wohlfeilere Aufenthalt
hier ſtellt das Gleichgewicht ſicher wieder her!« ſagte ich
feſt — und unter Thränen lächelnd fuhr ich fort: »und
ſollte wirklich noch ein wenig am Goldgewicht fehlen, ſo

[472] legt Oui und Non ſein verehrendes Herz und die theuerſten
Kindheitserinnerungen mit dazu. . .«


Herzlich reichte mir die Fürſtin ihre ſchöne Hand.
Ich küßte ſie.


Da trat der Großherzog ein. Freudig, wichtig rief
die holde Frau ihm entgegen: »Fräulein Bauer will
wirklich die Unſrige werden — unſerer Kinderzeit zuliebe!«


»Das freut mich herzlich, am meiſten um Deinet¬
willen, Cäcilie, Kind, Du biſt ja ganz Feuer und
Flamme. . . Und wann können Sie zu uns kommen?« wen¬
dete der Fürſt ſich zu mir.


»In zwei Jahren bin ich frei!«


Die Großherzogin hatte aus einem Käſtchen eine
reizende Broche genommen. Eine Biene, kunſtvoll aus
Edelſteinen gebildet, ſitzt auf Blumen mit Diamantthau¬
tropfen. Die reichte ſie mir mit den Worten: »Dieſe
kleine Biene erinnere die Künſtlerin an dieſe Stunde und
an die Blumen, die in Oldenburg ihrer warten!« —


Als ich nach meiner ſechſten Gaſtrolle mich im
Schloß zu Oldenburg verabſchiedete, fand ich die ſchöne
Fürſtin niedergeſchlagen, müde und traurig. »Faſt könnte
ich Sie um Ihr frohes, friſches Künſtlerherz und ewig
ſchaffendes, buntbewegtes Leben beneiden!« ſagte Sie mit
wehmüthigem Lächeln. Und als ich Cäcilie von Olden¬
burg, die von dem Gatten und ihrem Volk geliebt und
auf Händen getragen wurde, ſtaunend anſah, fuhr ſie noch
trauriger fort: »Ich habe vorhin mal wieder meiner
beiden lieben kleinen Knaben gedenken müſſen, die geſtorben
[473] ſind. Dann fühle ich mich unter allem Glanz ſo recht
arm und allein. Und auch mein Mann ſehnt ſich ſo ſehr
nach Kindern. . .«


Ihr »Lebewohl!« und »Auf Wiederſehen!« klingt
mir noch heute traurig durch's Herz. . .


. . . Davon ſprach ich mit Julius Moſen und ſeiner
Gattin ſo gern. Hatte Moſen doch gerade damals einen
ſehr ehrenvollen Ruf als Dramaturg nach Oldenburg
erhalten. Und wir waren hoffnungsfröhlich, uns bald
in Oldenburg wieder zu begegnen und unter Cäciliens
Augen künſtleriſch mit einander wirken zu können. . .


Da kommt Moſen eines Tags todtenbleich zu mir:
»Unſere Großherzogin iſt plötzlich geſtorben. . .«


Ich weinte viele Thränen um die edle Fürſtin. Und
nach Oldenburg bin ich nie wieder gegangen. Cäcilie
erwartete mich ja nicht mehr.


Auch Julius Moſen wurde in Oldenburg zu Grabe
getragen, nachdem er dort zwanzig Jahre lang an's
Schmerzenslager gekettet war. Aber der Geiſt und das
Herz lebten, glühten, ſchafften göttlich frei und rein in
dem gefeſſelten Prometheus.


Ich ſollte Moſen nach jenen Dresdener Tagen nicht
wiederſehen. Aber wir blieben Freunde bis an's Grab.
Moſen war groß als Dichter, aber noch größer als
Dulder. Doch auch an des Lebens leuchtendſten Blumen
fehlte es dieſer ſchmerzensreichen Krankenſtube nicht. Ein
Engel der opferfreudigſten Liebe und Milde wachte, ſorgte
tröſtete, linderte die vielen, vielen bangen Jahre hindurch
[474] an dem Siechenlager des vollſtändig gelähmten Dichters
— ſeine Gattin, Minna Moſen. Hoffnungsvolle Söhne
blühten am Krankenbett des Vaters auf. Der älteſte iſt
vor wenigen Monaten dem Vater gefolgt — in's beſſere
Land. Erich Moſen hatte vom Vater das große, freiheit¬
glühende, echt deutſche Herz. Schon 1866 ging er mit
Preußen für die deutſche Sache begeiſtert freiwillig in
den Kampf, und jetzt wieder gehörte er zu den erſten
Freiwilligen, die gegen den deutſchen Erbfeind — Frank¬
reich — ſiegesfröhlich, ſterbensmuthig in's Feld zogen.
Bei Mars la Tour hat er ſein Herzblut dahingegeben für
ſein theures, großes, herrliches Vaterland. Die arme,
arme Mutter ſandte der alten Freundin aus frohen Jugend¬
tagen das Bild ihres Heldenſohnes. Er iſt ſo recht das
Abbild eines ſchönen, reinen deutſchen Jünglings! Und
wie es mich an den Vater und an die alten guten Dres¬
dener Tage erinnerte! Wehmüthig!


Ja, ſchon manches, manches Blatt ſah ich um mich
niederfallen — frühlingsgrüne und herbſtesmüde. Und
wie Viele — — nein, wie Wenige ſind noch übrig aus
den alten lenzfrohen Tagen? Und es geht immer tiefer
in den Herbſt hinein. Im Walde wird's ſtiller und
ſtiller und öder und öder. Wie müde die wenigen Blätter
an den Zweigen zittern — und wie welk! Nur die
Erinnerung grünt fort und fort, wie der Epheu um die
winterlichen Bäume. . .


[475]

Der Tod meiner guten Mutter, die mir 22 Jahre
hindurch in meinem Bühnenleben die treueſte Gefährtin
und Freundin, Stütze und Beſchützerin geweſen war, be¬
wog mich, der Bühne zu entſagen und einer theuren
Hand in ein zurückgezogenes Stillleben zu folgen. In
Gutzkow's »Werner«, als Armand, Richelieu im »Erſten
Waffengang« und Franziska in »Mutter und Sohn«
nahm ich im März 1844 von meiner lieben Bühne und
dem freundlichen Dresden Abſchied — für immer. Es
war mir ein Herzensbedürfniß, in dieſer ſchmuckloſen Auf¬
zeichnung meiner Bühnenerinnerungen den goldenen
Jugendtraum noch einmal an mir vorüberziehen zu laſſen
— durch meinen ſchönen ſtillen Abendtraum. Es hat
mich tief gerührt und beglückt, daß dieſe Erinnerungen
bei ihrem erſten vereinzelten Erſcheinen einen ſo freund¬
lichen Wiederhall in ſo vielen jungen und alten Herzen
gefunden haben — — daß Karoline Bauer nicht ver¬
geſſen iſt. Herzlichen Dank dafür, innigen Gruß meinem
theuren deutſchen Vaterlande, ein gerührtes Lebewohl
allen Freunden — und, ſo Gott will, hin und wieder
ein freundliches Zuſammenklingen unſerer Herzen in ſpä¬
teren Erinnerungsblättern.

[]

Appendix A

Berlin, gedruckt in der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei
(R. v. Decker).


[][][]
Notes
*)

Später beim Burgtheater in Wien viele Jahre hindurch ſehr
gern geſehen im Fach der Koketten und ſcharf gezeichneten Luſtſpiel-Rollen.
*)
Der ſpäter ſo berühmte, kürzlich verſtorbene Augenarzt Albrecht
v. Gräfe. — Wer uns damals vorhergeſagt hätte, daß unſer berühm¬
ter, glückſtrahlender und lebensfroher Wirth ſchon nach 16 Jahren
ein ſo furchtbares Ende nehmen würde! Gräfe war 1840 nach Han¬
nover berufen, den erblindeten Kronprinzen (den jetzigen Ex-König)
*)
zu operiren. . . . Die Operation glückte nicht . . . und Gräfe glaubte
dies nicht ertragen zu können. In finſterer Melancholie warf er ſein
Leben fort. Nur als Leiche kehrte er von Hannover zurück.
*)

Die Tochter wurde eine beliebte Sängerin. Der Sohn Louis
iſt der frühere Hofſchauſpieler und Verfaſſer reizender Luſtſpiele, wie
»Der Kurmärker und die Pikarde«, und der jetzige Geheime Hofrath
und Vorleſer des Kaiſers Wilhelm I.
*)

Siehe Rahel's Briefe.
*)

Es fehlte auch Niemand im nächſten Jahre. Aber heute —
bin ich allein nur noch übrig aus jenem heiteren Kreiſe.
*)

Der eine iſt der durch die letzten Kriege ſo berühmte General
Herwarth v. Bittenfeld.
**)
Ludolfs Freundſchaft büßte Rellſtab durch ſein ſatyriſches Buch:
»Henriette, die ſchöne Sängerin« ein, das 1826 anonym in Leipzig
erſchien und der Sontag viele Thränen koſtete. Es geißelt das da¬
malige Sontagfieber in Berlin, enthält aber auch eine Menge der
unwahrſten und boshafteſten Angriffe gegen Henriette Sontag und
**)

ihre Verehrer, beſonders gegen den alten Commandanten v. Brauchitſch
und den engliſchen Geſandten Clanwilliam. Auf Befehl des Königs
wurde das Buch ſogleich verboten. — Auch Spontini hatte viel von
Rellſtab's kritiſcher und ſatyriſcher Feder zu leiden.


D. Herausgb.


*)
Dies Wort hätte der berühmten Künſtlerin faſt ihre Stellung
in Berlin gekoſtet. Das Publikum war tief beleidigt und verlangte
öffentliche Abbitte. Ganz Berlin war in fieberhafter Aufregung: wie
Friederike Bethmann dieſe Abbitte leiſten würde, ohne ihrer Künſtler¬
*)
würde etwas zu vergeben. Als Lady Macbeth ſollte ſie dieſe Feuer¬
probe beſtehen — zum erſten Mal wieder vor die Berliner treten.
Was hatte die geniale Frau erſonnen? Ein Murmeln der Erwartung
— ein Drohen des kommenden Sturmes zittert durch das überfüllte
Haus. . . . Lady Macbeth ſoll ja im nächſten Augenblick auf die
Bühne treten und — zum erſten Mal in ihrem Leben ausgeziſcht
werden. . . . Aber ſie tritt nicht aus der Couliſſe vor — ſie ſteckt
nur ihren ſchönen Kopf mit dem unwiderſtehlichen Lächeln — den
bittenden Augen eines verzogenen Kindes heraus und ſagt mit ihrer
ſüßeſten, bezauberndſten Stimme: »Darf ich?« . . . Das war neu,
überraſchend: — das Haus verharrt in athemloſer Stille — die ſchon
zum Pfeifen geſpitzten Lippen bleiben ſtumm vor Erſtaunen . . . und
Lady Macbeth-Bethmann benutzte dieſe Pauſe aufs Beſte. Mit edler
Würde tritt ſie vor und ſagt: »Verzeihen Sie der gekränkten Mutter,
was die Künſtlerin an Ihnen verſchuldete. . . .« Das war zu viel
für die leicht enthuſiasmirten Berliner — Alles war vergeben und
vergeſſen — raſender Jubel erſchallt ſtatt des Ziſchens . . . und Berlin
war fortan noch ſtolzer auf ſeine vergötterte geiſtreiche Friederike Beth¬
mann. — Bei der Stich'ſchen Kataſtrophe ging der Name Friederike
Unzelmann-Bethmann wieder in Berlin von Mund zu Mund — in
einem witzigen Bonmot ihres erſten Gatten, des alten leichtlebigen
Komikers Unzelmann. Er hatte geſagt: »Wenn alle Verehrer meiner
Friederike mir auch nur einen Stich verſetzt hätten, wie dem armen
Stich — — ich wäre längſt zum Sieb geworden. . . .«
*)
Dies erinnert mich an eine hübſche kleine Geſchichte, die
ſpäter Franz Liszt mit der ſtolzen Fürſtin Metternich paſſirt iſt. —
Liszt war an die Fürſtin empfohlen und machte ihr in Wien ſeinen
*)
Beſuch. Er wurde angenommen und in einen Salon geführt, in dem
die Fürſtin ſich mit einer andern Dame lebhaft unterhielt. Ein
vornehmes Kopfnicken erwiderte den Gruß des damals ſchon welt¬
berühmten Künſtlers — eine graziöſe Handbewegung lud ihn ein,
Platz zu nehmen. Aber vergebens wartete der ſtolze und verwöhnte
Mann darauf, daß ihm der Beſuch vorgeſtellt und ihm Gelegenheit
geboten werde, an der Unterhaltung Theil zu nehmen. . . Die Fürſtin
unterhielt ſich mit der Dame ruhig weiter, als ob Franz Liszt gar
nicht auf der Welt, — am wenigſten in ihrem Salon vorhanden
ſei. . . und beehrte ihn endlich mit der kühlen, nachläſſig hingeworfenen
Frage: »Sie gaben in Italien Konzerte — haben Sie gute Geſchäfte
gemacht?«

»Fürſtin, ich mache Muſik und keine Geſchäfte,« war die ſtolze
Antwort des Künſtlers — eine kühle Verbeugung — und er verließ
den Salon.


Auch hier zeigte ſich Fürſt Metternich als vollendeter diplomatiſch
feiner Weltmann. Bei dem erſten Konzert Liszt's in Wien ging er
zu ihm auf die Muſikbühne, drückte ihm herzlich vor aller Welt die
Hand und bat leiſe, mit einem graziöſen Lächeln: »Ich hoffe, Sie
werden meiner Frau eine Flüchtigkeit der Sprache verzeihen. . . Sie
wiſſen ja, wie die Frauen nun einmal ſind. . .«

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Aus meinem Bühnenleben. Aus meinem Bühnenleben. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq96.0