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Auch Einer.
Erſter Band.

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Auch Einer.


Eine Reiſebekanntſchaft



Erſter Band.

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Stuttgart und Leipzig.:
Druck und Verlag von Eduard Hallberger.1879.

[][[1]]

Auch Einer

von denjenigen nemlich — — — kurz, man ver¬
ſteht mich.


Wer es darf, hebe den erſten Stein gegen ihn
auf! Ich meinestheils gedenke es nicht zu thun.


Ich traf ihn auf dem Dampfboot, mit dem ich
auf einer Schweizerreiſe über den Zuger See fuhr.
In der bunt zuſammengewürfelten Geſellſchaft, die ſich
auf dem Verdeck umtrieb, hätte ich ihn ſchwerlich be¬
merkt, wenn nicht ein beſonderer Umſtand mein Auge
auf ihn gelenkt hätte. Es befand ſich unter den Paſ¬
ſagieren ein junger Menſch, jeder Zoll ein Geſchäfts¬
reiſender in Baumwolle, Cigarren oder Rothwein, der
ſich durch ſein vorlautes und eitles Weſen läſtig machte.
Er ſchien gekommen, um über Alles zu ſpotten, was
er ſah und genoß; bald gieng es über den Mittags¬
tiſch her, von dem er kam, bald über die Einrichtung
des Boots, bald über den Schweizerdialekt, den er
mit den halb geſtoßenen, halb verſchwommenen Lauten
Viſcher, Auch Einer. I. 1[2] des eigenen Idioms unglücklich genug nachzuahmen
ſuchte; die Berge waren ihm nicht hoch, der See war
ihm nicht breit genug, er vergliech ſie zu ihrem Schaden
mit ſkandinaviſchen, iriſchen, amerikaniſchen, und die
ganze Geſellſchaft mußte hören, wie weit er in der
Welt geweſen ſei. Er ſpielte den Kunſtkenner, ſprach
von Tinten, Laſuren, Clair-obſcur, Konturen, ver¬
ſicherte übrigens, die „Schanga-Malachai“ ſei mehr
ſein „Pangſchang“, als die Landſchaftmalerei. Dabei
wandte er ſich öfters an einen ernſten Mann, den ich
ſchon an der Wirthstafel in Zug bemerkt, der mit uns
das Dampfſchiff beſtiegen hatte und der dem Läſtigen
ein beharrliches Schweigen entgegenhielt. Durch dieſen
Kontraſt wurde meine Aufmerkſamkeit auf die Erſchei¬
nung des ſtillen Fremdlings hingezogen. Man konnte
ſeine Züge nicht eben intereſſant nennen, aber es war
jenes Etwas darin, das man nicht eben häufig findet
und das Wenige zu bemerken pflegen, — jenes Etwas,
wozu man ſagen möchte: wieder einmal ein Menſch.
Allerdings lag auch eine Art von Beſchattung, etwas
wie ein dunkler Flor darüber. Wenn ſein Blick an
den waldigen Ufern, am Rücken und ſteilen Gipfel
des Rigi aufſtieg, oder über die ſchimmernde Fläche
des hellgrünen Sees hinlief, ſo meinte ich ihn öfters
mit einem gewiſſen müden Ausdruck von ſeiner Bahn
zurückkehren zu ſehen, als wollte er ſagen: das Alles
könnte ſchön ſein, wenn nur — Was dem Wenn in
[3] ſeiner Seele folgte, war freilich aus dem Blicke nicht
zu leſen. Der unbeſcheidene junge Menſch ſchien es
auf den Schweigenden gemünzt zu haben und ließ ein¬
mal ziemlich hörbar etwas von catoniſcher Würde fallen,
als derſelbe einem erneuerten Verſuch, ihn in's Ge¬
ſpräch zu ziehen, mit der gewohnten Stummheit be¬
gegnete und ihm etwas auffallend den Rücken kehrte.
In Immenſee ſtieg ich in den Poſtomnibus, der da¬
mals nach Küßnacht führte, ein Theil der Dampfboot¬
geſellſchaft fand ſich hier wieder zuſammen, darunter
der Geſchwätzige, der dem Stummen gegenüber zu ſitzen
kam. Als wir durch die hohle Gaſſe fuhren, ließ er
einige frivole Witze los, deren Wiederholung dem Leſer
billig erlaſſen wird, machte ſich hierauf an die Tell¬
tradition, ſpielte ſich als hiſtoriſchen Kritiker auf, in¬
dem er einige unverdaute Brocken von „bloßer Sage“
vorbrachte, erklärte die Sage für eine pure Erfindung
der ſchweizeriſchen Selbſtgefälligkeit, kam von da auf
die nächſte politiſche Vergangenheit zu ſprechen, ſpottete
über die kriegeriſchen Rüſtungen, die im Jahr 1856
die preußiſche Drohung hervorrief, und ergoß ſich nun
in einen Schwall von höhniſchen und prahleriſchen
Reden, der mir ſolchen Widerwillen erregte, daß ich
im Begriff war, den Schwätzer mit heftigem Wort
anzulaſſen. Dieſer aber wandte ſich plötzlich an den
ſtillen Mann gegenüber und fragte ihn frech: „Nun,
was ſagen Sie dazu?“ Ueber deſſen Geſicht war ſchon
[4] eine Zornröthe gefahren, die Augen funkelten, er erhob
ſich und mit mächtiger Stimme rief er: „Was ich dazu
ſage? Daß Sie nicht unter gebildete Menſchen ge¬
hören, daß es gemein iſt und Ekel erregt, ein ehr¬
würdiges Heldenbild, woran ſeit Jahrhunderten ein
braves Volk hinaufſchaut, mit Schmutz zu beſpritzen;
die verkehrte Politik eines an Macht überlegenen Staates
um ein Nichts“ — hier, mitten im Zug, Schwung und
kräftigen Schall ſeiner Rede überfiel ihn plötzlich ein
krampfhafter Huſtenreiz, die Stimme überſchlug ſich in
lächerliche Fiſteltöne, knirſchend vor Aerger fuhr er in
die Höhe, rieß den Wagenſchlag auf, ſprang hinaus,
blieb am Tritt, hängen und fiel zu Boden in den
dichten Staub des Weges. Die langſame Bewegung
des Wagens aus einer Steigung des Wegs ließ
unſerem Geſchäftsreiſenden Zeit, den Kopf aus dem
Fenſter zu ſtrecken und dem ſo peinlich unterbroche¬
nen Gegner ein ſchallendes Hohngelächter nachzu¬
ſenden, die Mitfahrenden, obwohl ſichtbar theil¬
nahmvoll für Letzteren geſtimmt, konnten des Lachens
ſich doch auch nicht ganz erwehren, und ich ſelbſt, im
Stillen ſchnell ſein Freund geworden, betroffen und
ſtutzend und für ihn beſchämt, konnte ein Zucken der
Lachmuskel nicht unterdrücken. Der Gefallene aber
hatte ſich ſchnell aufgerafft, über und über mit Staub
bedeckt ſtand er und rief uns mit vernehmlicher Stimme
nach: „Amplificatio, Ignoranten, amplificatio!“ —
[5] Der Kondukteur hatte inzwiſchen halten laſſen, er winkte
ihm, weiter zu fahren, dann ſah ich ihn umkehren und
in entgegengeſetzter Richtung forteilen. Das Wort gab
mir zu denken; der nächſte Sinn war unſchwer zu
finden, allein es ſchien auf einen Zuſammenhang ſon¬
derbarer Art, auf eine Klaſſifikation, auf ein Syſtem
zu deuten, gab zu rathen, was für ein Syſtem das
denn ſein möchte, und von da weiter zu rathen über
den ganzen Mann, der mir ſo würdig und ernſt er¬
ſchienen war, den jetzt ein lächerliches Mißgeſchick ereilt,
der deſſen offenbar ſchon viel erlebt hatte und dem das
Erlebte längſt ein Anreiz zu ſeltſamem Denken geworden
ſein mußte. Völliges Licht über den Zuruf ſollte mir
freilich erſt in ſehr ſpäter Zeit werden.


Inzwiſchen gab ſich der Ungezogene ganz dem Ge¬
nuſſe ſeines unverdienten Triumphes hin, unter
gellendem Gelächter machte er ſich in frechen Reden
luſtig über den unglücklichen Gegner. „Wo mag er
nun wohl ſtecken? Ob er nun wohl ſeine Rede als
Monolog hält, ſchreibt und herausgibt?“ In dieſem
Tone ging es fort. Raſch hatte in mir über den
augenblicklichen Lachreiz die Theilnahme den Sieg
gewonnen, die Geduld gieng mir aus und ich fuhr den
Menſchen an: „Herr! nun iſt es genug!“ Alsbald be¬
kam ich Beiſtand von der Geſellſchaft, ein Erſter,
Zweiter, Dritter ſtimmte ein, und als das Subjekt
widerbellte, erklärte man ihm, daß es länger nicht im
[6] Wagen geduldet werde. Da nun wenig Ausſicht vor¬
handen war, daß der Bedrohte freiwillig dieſer Ein¬
ladung oder eigentlich Ausladung folgen werde, ſo
ſtand offenbar Geringeres nicht bevor, als jener thät¬
liche Akt, den man mit dem Ausdruck „an die Luft
ſetzen“ zu bezeichnen pflegt. Unterdeſſen hatte der
Kondukteur vom Bock aus, wo er neben dem Poſtknecht
ſaß, längſt unwillige Blicke durch das offene Wagen¬
fenſter hereingeworfen, er ließ plötzlich wieder halten,
ſprang vom Bock, öffnete den Wagen, rief dem Frie¬
densſtörer zu, ſeine Vorſchrift befehle ihm, ungeſittete
Perſonen, welche die Fahrgeſellſchaft beleidigen, aus
ſolcher auszuweiſen; er habe auch über die Schweiz
geſpottet und ſei „einen unverſchamten Manſch“. Da
nun der „Manſch“ nicht zweifeln konnte, daß der
ehrſame Schirrmeiſter, wenn ſeinem Befehl nicht frei¬
willig Folge geleiſtet würde, in handgreiflichem Ein¬
wirken hinreichende Unterſtützung bei der Geſellſchaft
fände, ſo blieb ihm keine Wahl, als weichen. Er ſtieg
aus, der Kondukteur nahm, einige Worte vor ſich hin¬
murmelnd, aus denen ich das minder gewählte „Laus¬
bub“ herauszuhören glaubte, ſeinen Platz auf dem Bock
wieder ein und bald waren wir in Küßnacht, wo ich
das Dampfboot beſtieg, um nach Luzern zu fahren
und dort zu übernachten.


Der See funkelte im Feuer der Abendſonne, die
Thürme der Stadt leuchteten in ihrem Golde, eine
[7] Roſenwolke kränzte das Haupt des Pilatus. Ich ver¬
gaß das halb ärgerliche, halb lächerliche Abenteuer des
Reiſetags zugleich mit allen Dornen und Neſſeln der
menſchlichen Lebensreiſe. Am andern Morgen fuhr ich
mit dem Dampfer ab, der nach Flüelen führte; meine
Abſicht war, den herrlichen See in ſeiner Ausdehnung
zu beſchauen, dann weiter zu Fuß bis zur Teufels¬
brücke oder bis Andermatt zu gehen, um ruhig die
vielgeprieſene wilde Schönheit des Gotthardpaſſes zu
betrachten. Halb und halb gedachte ich, ſchon in
Brunnen auszuſteigen und auf der kürzlich vollendeten
Axenſtraße nach Flüelen zu wandern. Eine der Sta¬
tionen des Dampfſchiffes iſt, wie Jeder weiß, der den
See befahren oder ſeinen Bädeker ſtudirt hat, Weggis
am rechten Ufer. Ich ſtand am Geländer und ſah
zu, wie die Einen aus-, die Andern einſtiegen. Da
gewahrte ich unter den Letzteren meinen Mann, den
Mann der Tragödie von geſtern. Er ſah heute
ungleich heiterer aus; mit rüſtigen Schritten betrat
er das Verdeck und grüßte mich ganz unbefangen, als
er mir von ungefähr in's Geſicht ſah und den Mit¬
reiſenden vom vorigen Tag erkannte. Dieß ermuthigte
mich, ihn zu fragen, woher er komme. „Vom Rigi
herunter,“ war die Antwort. „Wie? in der kurzen
Zeit?“ — „Will nicht viel heißen; geſtern Abend hinauf,
in der ſchönen Mondnacht herunter.“ — „Wie war's?
Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend.“
[8] — „Wohl, wohl! Nur viel Bildungsvolk oben! Werden
die Berge bald vollends wegätzen. Fehlt ein Ab¬
ſchreckungs-Bädeker, daß es wieder einſam würde und
ſtille Menſchen ein vertrautes Wort mit der Natur
reden könnten oder von ihr anhören. Wollte auch
Morgens den Kerl nicht erleben, der in alter Schweizer¬
tracht den Kuhreigen bläst zum Sonnenaufgang, dann
im Gaſthof ſein Trinkgeld einzieht; daher ab, fort,
weg noch in der Nacht!“ Damit wandte er ſich, flüchtig
grüßend, von mir und hielt ſich ſeitab wie Einer, der
allein ſein will. Er war nun wieder der trüb-ernſte
Mann und ſaß ſo verſunken in ſich wie geſtern. Am
Tiſch auf dem Verdeck entſpann ſich ein lebhaftes Ge¬
ſpräch über eine Umgeſtaltung des Rütli, die damals
im Plane war; es handelte ſich darum, ſaubere Wege
anzulegen, die drei Quellen in irgend einer Weiſe zu
faſſen, und die Meinungen giengen darüber auseinan¬
der, ob es paſſender ſei, nur mit ſchonender Hand die
gegebene Natur einigermaßen zu regeln oder bei Faſſung
der Quellen architektoniſche Kunſtformen anzuwenden,
und wenn dieß, in welchem Styl, klaſſiſch, Renaiſſance,
romaniſch oder gothiſch. Mein Mann wurde auf¬
merkſam, blieb ſtehen und hörte mit ſichtbarem In¬
tereſſe dem wachſenden Eifer zu, womit die verſchiednen
Anſichten ſich ausſprachen, wobei Schweizer und Deutſche,
Herren und Damen in bunter Miſchung ſich betheiligten.
Er nahm Platz am Tiſche, ließ ſich ſogar ein Glas
[9] Wein kommen, zündete eine Cigarre an und man konnte
ſehen, daß er ſich anſchickte, ſich lebhaft in's Geſpräch
zu miſchen. Einer der Herrn erklärte ſich ſoeben für
die Wahl klaſſiſcher Formen, für eine Säulenhalle.
Jetzt begann der Ankömmling von Weggis: „Bitte,
mein Herr, verzeihen Sie — Klaſſiſch? ei, das wäre
ja der reine“ — Der Herr fiel ihm in's Wort, dieſem
ein Zweiter, dem Zweiten eine Frau, es gab ein krauſes
Durcheinander von Stimmen; eine augenblickliche Pauſe
ſchien wieder Luft zu gewähren, er ſetzte wieder an,
das Wort wurde ihm wieder aus dem Munde ge¬
ſchnellt, ſo noch ein drittes Mal, dann fuhr er auf,
mit einigen ſtarken Schritten auf mich los, faßte mich
ziemlich derb am Arm, zog mich hinweg und ſagte:
„Da haben wir wieder das Menſchenvolk! Und dar¬
unter ſind erſt noch Schweizer, Republikaner! Selbſt¬
regierung bei Menſchen, die nicht einmal warten können,
bis ein Mitmenſch ausgeredet hat? Reif für Tyrannen¬
ſtock! Und Sie ſind gewiß ſo klar, nicht zu meinen,
ich ſei bös um meinetwillen; ich empöre mich ganz
gleich für Jeden, der plump unterbrochen wird. Durch
alle Nationen, durch alle Stände geht die Unart!
Wenn die Schwätzſchüſſel aufgeſetzt iſt: wie junge
Hunde ſind ſie, die mit den Pfoten in den Milchnapf
tappen! Wie könnten ſolche Weſen je einen vernünfti¬
gen Staat bilden! Blindes, wirres Pack die ganze
Menſchenheerde! Der Freiheit unwürdig!“ Während ich
[10] ihn befremdet, nach einer Antwort ſuchend, anſah, ſchien
ſein Zorn ſchnell wieder dem ſtärkeren Intereſſe am
Gegenſtand des Geſprächs zu weichen. „Was ſagen
Sie zur Sache?“ fuhr er nach kurzer Pauſe fort. Ich
geſtand, nicht darüber nachgedacht, mir keine Anſicht
gebildet zu haben. Dieß Wort verſetzte ihn ſichtbar
in eine lehrhafte Stimmung. Mit dem Ausdruck und
Ton, womit man zu gründlicher Behandlung eines
Themas auszuholen pflegt, begann er: „Sie haben
mir Zutrauen eingeflößt“ — Ich bewegte die Lippen
zu einer Erwiderung, er ſchien zu merken, daß ich
etwas von redlicher Theilnahme bei dem geſtrigen Vor¬
fall anzudeuten im Begriff war, und ſagte kurz und
ſcharf: „Laſſen wir das,“ dann knüpfte er an ſeine
vorigen Worte wieder an: „Die vorliegende Frage iſt
eigentlich ohne Belang; ich meine im Grund auch,
man ſollte das Rütli laſſen wie es iſt; da aber doch
einmal Hand daran gelegt werden ſoll, ſo drängt ſich
die Stylfrage auf; ich beſchäftige mich gern mit Kunſt¬
geſchichte, insbeſondere Geſchichte der Architektur; ſie
liegt noch ganz im Argen; man hat den Begriff des
Weſens der hiſtoriſchen Hauptſtyle noch nicht entdeckt,
und wie will man einen neuen finden, wenn man
ſolchen nicht aus dem rechten Grunde des Begriffes
ſchöpft? Ich erlaube mir, Ihnen meine Idee vorzu¬
tragen; es macht eben Jeder gern Propaganda für
ſeine Gedanken, ſeine Entdeckungen. Ich unterſcheide
[11] den rein katarrhaliſchen Bauſtyl: dieß iſt der klaſſiſche;
ferner den gemiſcht katarrhaliſchen oder den Katarrh-
und Froſtbeulenſtyl: dieß iſt der gothiſche, mit einer
Vorſtufe, dem romaniſchen, mit deſſen Ergründung
und ſchärferer Begriffsbeſtimmung ich noch beſchäftigt
bin; der Renaiſſanceſtyl, wie er aus dem römiſchen
hervorgegangen, gehört einerſeits noch zur rein katarrha¬
liſchen Form — ſchon wegen ſeiner Vorliebe zu Hallen
und Loggien —, enthält aber andererſeits Keime, um
aus ihm den Zukunftsſtyl, den einzig richtigen, den
abſoluten Styl, das heißt den reinen Segensſtyl zu
entwickeln.“


Ich ſtarrte den eifrig Vortragenden in großer Ver¬
blüffung an; ich mochte unbeſchreiblich dumm ausſehen.
Er ließ ſich nicht ſtören, ſondern fuhr ſehr ernſt fort:
„Sie erkennen doch, daß im klaſſiſchen, das heißt rein
griechiſchen Styl Alles auf den Ausdruck des Satzes
angelegt iſt: hier, auf dieſem windigen Peribolos, hier
in dieſen zugigen Säulenhallen, hier in dieſem kühlen,
lichtloſen oder (wenn der Tempel ein hypäthriſcher iſt)
erſt doppelt zugigen Heiligthum wirſt du, mußt du —
wenigſtens gewiß, wenn du ein Nordländer biſt — dich
verkälten! — Glauben Sie mir, verehrter Herr, der An¬
blick ſolcher Räume in einem Gemälde kann allein ſchon
gefährlich werden. Als ich in Paris zum erſten Mal
die Hochzeit zu Cana von Paolo Veroneſe ſah, als
ich nur in Gedanken mit dieſer glänzenden Geſellſchaft
[12] in der offenen, luftdurchzognen Halle verweilte, habe ich
mir einen meiner böſeſten Schnupfen geholt. Wo ſoll
man die Stimmung herbringen, ein ſolches Gemälde froh
zu betrachten, zu bewundern? — Was wir dagegen
aus dem klaſſiſchen Bauſtyl allerdings entlehnen, wie
das Entlehnte echt ſymboliſch weiterbilden ſollen, dar¬
über nachher, wenn ich in meiner Auseinanderſetzung
zum wahren Ideal- oder Segensſtyl gelange. Um nun
zum gemiſcht katarrhaliſchen oder Katarrh- und Froſt¬
beulenſtyl überzugehen — er iſt für Nordländer ge¬
ſchaffen in einer Zeit der Rohheit, da man nicht wußte,
daß das Geſchloſſene noch nicht genügt, ſo —“


Er hatte ſchon bei den letzten Sätzen begonnen,
langſamer, unterbrochener, zerſtreuter zu reden, die
Stimme ſank, die Züge verfinſterten ſich und es fiel
mir ſeltſam auf, daß er ſtark einwärts ſchielend auf
ſeine Naſenſpitze hernieder ſah. Bei den letztgenannten
Worten hielt er plötzlich inne und ſagte in gedehntem,
tiefem, dumpfem, eigentlich tragiſchem Tone vor ſich
hin, als wiſſe er nicht mehr, daß er im Geſpräch mit
einem Andern begriffen ſei: „Sie glänzt.“


Er lief plötzlich weg, ließ mich ohne alle Ent¬
ſchuldigung ſtehen und wandte ſich dem faſt leeren Platz
zweiter Klaſſe zu. Hier ſah ich ihn heftig auf und
ab gehen, dunkle Worte vor ſich hinmurmelnd, von denen
ich, behutſam mich nähernd, doch einmal deutlich den
Satz heraushörte: „Den haben mir die Ungeheuer, die
[13] Kellner auf Rigi-Kulm hingelaufen; — alſo jetzt zum
alten und halbalten ein neuer!“ —


Ich konnte keinen Verſuch machen, mit dem Manne
noch einmal anzuknüpfen; Alles ſah darnach aus, daß
ich heftig abgewieſen würde. Was der gemiſcht ka¬
tarrhaliſche Bauſtyl, was der reine Segensſtyl ſei,
das ſollte mir im Schooß des ewigen Dunkels ver¬
borgen bleiben, wenn nicht ein glücklicher Zufall mir
noch zum Lichte verhalf. Ich ſtieg in Brunnen aus,
um einen ruhigen Abend in dem freundlichen Dorfe
zuzubringen, das in die Verengung des Sees ſo reizend
ſich einſchmiegt, und entſchloß mich nun gleichzeitig, den
andern Tag bis Flüelen auf der neuen Axenſtraße
zu gehen, nahm ein Zimmer im nächſten Wirthshaus
und ſuchte ſchnell wieder das Freie, um von der Lan¬
dungsſtätte den großen Blick aufwärts und abwärts
über den See, über die wilden und doch am Fuße
ſo anmuthig bekränzten Ufer zu gewinnen. Auf der
Bank vor dem Hauſe ſaß mein Mann; ich hatte nicht
bemerkt, daß er mit mir ausgeſtiegen war. Er ſchien
alles Leid vergeſſen zu haben, denn er ſpielte wie ein
Kind mit zwei jungen Hunden, deren Hanswurſtpoſſen
ihm ſichtbar ein volles, ungetheiltes Vergnügen be¬
reiteten. Ich blieb ſtehen und hatte meinen Spaß
an dem Anblick. „Sind Sie auch ein Hundsfreund?“
fragte er ganz heiter; ich bejahte es, er ergieng ſich in
Bemerkungen über die Raſſe der drolligen Geſellen,
[14] die von mehr als gewöhnlicher Kennerſchaft zeugten,
er zeigte mir an beiden eine Reflexbewegung, von der
er behauptete, ſie komme faſt ohne Ausnahme bei allen
Hunden vor; er kratzte nämlich ſcharf an einer Stelle
der Bruſt, worauf alsbald der eine Hinterfuß in ein
heftiges, unwillkürliches Scharren gerieth; ich meinte,
es ſei dieß keine bloß phyſiologiſche Action, der
Hund meine, ſcharren zu müſſen, weil er durch das
Kratzen gekitzelt werde; er beſtritt es heftig als eine
„ſeicht rationaliſtiſche“ Deutung, und ich bemerke ge¬
legentlich, daß ich nach vielen ſeither gemachten Beob¬
achtungen dieſem Gelehrten Recht geben muß; wir
plauderten dieß und das über den ehrlichen Geſpielen,
Diener, Wächter des Menſchen, und mein Mitfreund
des wackeren Geſchlechts bedauerte ſchließlich lebhaft,
daß er ein prächtiges Paar, einen großen Hatzrüd und
einen Rattenfänger habe zu Haus laſſen müſſen; der
erſte ſei „ganz ein Charakter, der zweite Charakter mit
Frechheit und Humor“. Ich fragte, ob ich ihn nicht
zu einem kleinen Spaziergang einladen dürfe, die
Abendbeleuchtung ſei ſo ſchön; er ſchüttelte lächelnd
den Kopf und ſah mit erklärendem Blick auf ſeine zwei
Hunde. Ich gieng allein.


Später, beim Abendeſſen, ſah ich den ſeltſamen
Kauz nicht; als ich aber nachher im Vorbeigehen einen
Blick in die allgemeine Wirthsſtube warf, entdeckte ich
ihn mitten unter breitſchulterigen Bürgersleuten, grö߬
[15] tentheils in Hemdärmeln; er lauſchte mit glänzenden
Augen den rauhen Rachentönen des lauten Geſprächs
und den wiehernden Jodlern, die es unterbrachen, und
das Durcheinander der Stimmen ſchien ihn dießmal
durchaus nicht zu beläſtigen. Das Bild erſchien mir
ſo heiter naiv, daß ich faſt bedauerte, nicht daſſelbe
Theil erwählt zu haben, denn ich war langweilig ge¬
nug unter einigen ſteifen Theegeſichtern in der „salle
à manger
“ geſeſſen, wozu ich das früher einfache
Landwirthshaus emporgeſchraubt finden mußte.


Ich konnte lang nicht einſchlafen, hörte meinen
Wandnachbar in ſein Zimmer treten, ſich auskleiden
und zu Bett legen. Das Haus war ſo hörſam, daß
ſelbſt das Nagen einer Maus im Nebenzimmer meinem
Ohre nicht entgieng. Den unbekannten Bewohner des¬
ſelben hielt ich für längſt eingeſchlafen, als ich die
Worte vernahm: „Ach, es fängt an.“ Es war die
Stimme meines armen Verkälteten. Was denn auch
wirklich anfieng, war ein ſcharfes Huſten und häufiges
ſtarkes Räuſpern und Spucken, das, von tiefen Seufzern
unterbrochen, zu meiner eigenen Qual wohl eine Stunde
dauerte, dann aber einem fürchterlichen Schnarchen
Platz machte, das im ganzen Regiſter einer Orgel ſich
hin und her bewegte, oft von ſtoßenden, plötzlich ab¬
ſchnappenden Tönen und bangen Pauſen unterbrochen,
worin der muſikaliſche Schläfer nach Athem zu ringen
ſchien. Ich hätte ernſtlich für ſeine Lunge gefürchtet,
[16] wenn nicht ſeine Geſichtsfarbe, gewölbte Bruſt, Energie
der Bewegungen, wie ich ſie während des Tags be¬
obachtet hatte, eine ausdauernde Widerſtandskraft ver¬
bürgt hätten. Endlich ſchlief ich doch ſelbſt ein, freilich
nur, um ſehr früh geweckt zu werden und zwar durch
ein Auf- und Abgehen meines Nachbars, das mit
Geräuſchen wechſelte, aus denen ich auf ein ungedul¬
diges Suchen in Schubladen, auf Tiſchen, in allen
Geräthen des Zimmers ſchließen mußte. Das Laufen,
Stöbern wurde immer heftiger, ein Selbſtgeſpräch, das
dieſe wilden Bewegungen zuerſt leis begleitete, wurde
lauter und lauter und gieng dann in wüthende Aus¬
rufungen, endlich in einen Hagel von Flüchen über,
die in der That nicht chriſtlich, vielmehr türkiſch, ja
heidniſch zu nennen waren und von einem wüthenden
Stampfen und Wettern begleitet wurden. Ich hielt
es nicht mehr aus, der Menſch ſchien mir rein toll
geworden, ich kleidete mich flüchtig an, klopfte an ſeiner
Thüre und trat, in meiner Aufregung die Form ver¬
nachläſſigend, in's Zimmer, ohne auf das „Herein“
zu warten. Mit zornſprühenden Augen, hochroth im
Geſicht, fuhr der Bewohner auf mich zu, er ſchien
mich an der Kehle packen zu wollen; plötzlich aber
faßte er ſich, ſtand unbewegt vor mir, ſah mich mit
durchdringendem Blick an und ſagte ruhig ſtreng:
„Mein Herr, Sie führt ein Bildungsbedürfniß hier¬
herein.“ Das ſchlechte Gewiſſen, das ich über meine
[17] Formverletzung hatte, machte mich wehrlos, ganz klein¬
laut ſagte ich: „Ja,“ und fragte nun, was er denn aber
um's Himmels willen eigentlich habe. A. E. — ſo
wollen wir meinen Reiſebekannten von nun an der
Kürze halber nennen — fiel jetzt wieder in ſeinen
Wuthzuſtand und ſchrie mit Donnerlaut: „Meine Brille,
meine Brille! Die Canaille hat ſich ja wieder einmal
verkrochen, — vom Schlüſſel, dem kleinen Teufel,
vorerſt nicht zu reden!“


„Alſo Ihre Brille ſuchen Sie? Iſt dieß Objekt
es werth, in ſolche Wuth zu gerathen? Kennen Sie
denn auch gar keine Geduld?“


Er wollte gegen mich auffahren, faßte ſich aber
auch dießmal wieder, ſah mich an und ſagte:
„Schraubenſchlüſſel? Pfropfzieher?“


„Was ſoll das?“


„Nun, neulich träumte mir ſchrecklicherweiſe, ich
habe eine Frau; ich lachte ſie aus, daß ſie die Zeitung
unaufgeſchnitten leſe und jahrelang eine Schublade
dulde, die nicht geht. Hierauf hielt ſie mir eine Ge¬
duldpredigt und verlangte, ich ſolle zur Uebung dieſer
Tugend an meinem Rock ſtatt Knopflöcher und Knöpfe
Schrauben und Schraubenmüder tragen, die ſich ja ganz
elegant von blau angelaufenem Metall herſtellen ließen,
oder auch Pfröpfe, und ich könne jedesmal, wenn ich den
Rock öffnen wolle, jene mit einem Schraubenſchlüſſel, dieſe
mit einem Pfropfzieher aufmachen. — O was! ein Weib
Viſcher, Auch Einer. I. 2[18] iſt fähig, über einen Schrank einen Teppich ſo zu legen,
daß er über die oberſte Schublade überhängt und ſo
oft dieſe gezogen und geſchloſſen wird, ſich einklemmt!
Mein Herr, das Weib hat Zeit für den Kampf mit
dem Racker Objekt, ſie lebt in dieſem Kampf, er iſt
ihr Element; ein Mann darf und ſoll keine Zeit hiefür
haben, er braucht ſeine Geduld auf für das, was der
Geduld werth iſt. Ueber die Zumuthung, Beides zu
verwenden gegen das Unwerthe, kann, darf, ſoll er
wüthen! Sie können doch wiſſen, daß die elenden
Objekte, dieſe Igel, dieſe Nickel, ſich nie lieber ein¬
haken, als wenn wir die höchſte Eile haben, etwas
fertig zu bringen, was nöthig und vernünftig iſt!
Elender Bettel, nichtswürdiger Knopf oder Knäuel
eines Bändels, Lorgnettenſchnur, die ſich um meinen
Weſtenknopf wickelt, juſt wenn es auf der Eiſenbahn
auf's Aeußerſte eilt, einen klein gedruckten Fahrplan
nachzuſehen, ich hab' ja keine Zeit, keine Zeit für
euch! Und wenn ich tauſend Blutigel an die Ewigkeit
ſetze, ſie ziehen mir nicht eine Sekunde Zeit für euch
heraus!“


„Was nützt aber die Wuth?“


„O, geiſtlos! Hat es Luther nichts genützt — falls
von Nutzen die Rede ſein ſoll —, wenn er den Teufel
fortſchalt? Wißt ihr denn nichts von Entlaſtung der
armen Seele? Von der köſtlichen Arznei, die im
Fluchen liegt?“

[19]

Der böſe Geiſt kam mit neuer Gewalt über ihn,
er ſchoß wüthend im Zimmer hin und her und ergoß
eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille.
Ich ſuchte inzwiſchen am Boden herum; ich hob ein
paar Hemden weg, die blank, aber zerzaust umherlagen,
und mein Blick fiel auf ein Mausloch in einem Bret¬
terſpalt; ich glaubte darin etwas ſchimmern zu ſehen,
ſtrengte meine Augen an, die ſich einer guten Seh¬
kraft erfreuen, und die Entdeckung war gemacht; ich
nahm den ſchwergeärgerten Mann leicht am Arm und
deutete ſchweigend auf die Stelle. Er ſtierte hin, er¬
kannte die vermißten Gläſer und begann: „Sehen Sie
recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teufliſche
Schadenfreude in dieſem rein dämoniſchen Glasblick?
Heraus mit dem ertappten Ungeheuer!“


Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu
ziehen, die Mühe ſtand wirklich in Mißverhältniß zum
Werthe des Gegenſtands, endlich war es gelungen, er
hielt ſie in die Höhe, ließ ſie von da fallen, rief mit
feierlicher Stimme: „Todesurtheil! Supplicium!“ hob
den Fuß und zertrat ſie mit dem Abſatz, daß das
Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog.


„Ja, jetzt haben Sie aber ja keine Brille,“ ſagte
ich nach einer Pauſe des Staunens.


„Wird ſich finden, dieſe Teufelsbeſtie wenigſtens
hat ihre Strafe für jahrelange unbeſchreibliche Bosheit.
Kommen Sie, da, ſehen Sie!“ Er zog ſeine Uhr
[20] heraus; es war eines der ordinärſten, in der That
gemeinſten Produkte der horologiſchen Induſtrie, ganz
Zwiebel. „Statt dieſes redlichen, treuen Weſens,“
fuhr er fort, „fungirte früher eine goldene Repetiruhr,
die, ich kann es ſagen, ihr Stück Geld gekoſtet hatte;
ſie vergalt dieſes Opfer jahraus jahrein mit Tücken
jeder Art, gieng nie recht, benützte argliſtig jede Ge¬
legenheit, zu fallen, ſich zu verſtecken, Gläſer zerbrachen
ſo viele, daß es mich bald an den Bettelſtab gebracht
hätte, endlich ſetzte ſie ſich mit dem Haken der goldenen
Uhrenkette in Einverſtändniß, in Verſchwörung. Mit
den Haken, mein Herr, hat es nämlich eine eigene
Bewandtniß. Das Tendenziöſe, was im Objekt über¬
haupt liegt — darüber wäre Einiges zu ſagen, mein
Herr, aber das iſt von langer Hand — das Tenden¬
ziöſe ſpricht ſich ſo offenkundig in der Galgenphyſio¬
gnomie der Haken aus, daß man im Umgang mit dieſen
hämiſchen Geſichtern leicht unvorſichtig wird; man
denkt: dich kenne ich ja, dich verräth deine griffige,
vor ſich ſelbſt warnende Bildung, du wirſt mich nicht
überliſten; eben darüber wird man im Gegentheil fahr¬
läſſig. Ganz umgekehrt verhält es ſich bei ſo manchen
anderen Objekten. Wer ſollte zum Beiſpiel einem ſimplen
Knopf ſeine Verruchtheit anſehen? Aber ein ſolcher
Racker hat mir neulich folgenden Poſſen geſpielt. Ich
ließ mich gegen alle meine Grundſätze zur Theilnahme
an einem Hochzeitsſchmaus verleiten; eine große ſilberne
[21] Platte, bedeckt mit mehrerlei Zuſpeiſen, kam vor mich
zu ſtehen; ich bemerkte nicht, daß ſie ſich etwas über
den Tiſchrand heraus gegen meine Bruſt herge¬
ſchoben hatte; einer Dame, meiner Nachbarin, fällt
die Gabel zu Boden, ich will ſie aufheben, ein Knopf
meines Rockes hatte ſich mit teufeliſcher Liſt unter den
Rand der Platte gemacht, hebt ſie, wie ich ſchnell auf¬
ſtehe, jäh empor, der ganze Plunder, den ſie trug,
Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Theil dunkel¬
rothe Flüſſigkeit, rollt, rumpelt, fließt, ſchießt über den
Tiſch, ich will noch retten, ſchmeiße eine Weinflaſche
um, ſie ſtrömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeit¬
kleid der Braut zu meiner Linken, trete der Nachbarin
rechts heftig auf die Zehen, ein Anderer, der helfend
eingreifen will, ſtößt eine Gemüſeſchüſſel, ein Dritter
ſein Glas um — o, es war ein Hallo, ein ganzes
Donnerwetter, kurz ein echt tragiſcher Fall: die zer¬
brechliche Welt alles Endlichen überhaupt ſchien in
Scherben gehen zu wollen; mich ergreift die Stimmung
des Erhabenen, ich faſſe zunächſt eine Champagner¬
flaſche, trete an's Fenſter, öffne es, ſchwinge ſie empor,
der Bräutigam fällt mir in den Arm, ich erzürne mich,
es gibt bös Blut, die Braut war ohnedieß halb ohn¬
mächtig, kurz, — ich mag nicht weiter erzählen, denn
nun wurde die Sache komiſch.“ —


„Ernſt, wollen Sie ſagen?“


Er ſtaunte mich an wie einen Menſchen, der alle
[22] geſunden Begriffe verwirrt; ich verzichtete auf weiteres
Eingehen und bat ihn, das Trauerſpiel von Haken
und Uhr zu vollenden.


„Ja, ſo, ja, alſo: der Haken ſchliech in einer Nacht
über das Tiſchchen, worauf ich die Uhr achtſam gelegt,
leiſe hinüber nach dem Bett, neſtelte ſich in eine Naht
des Kiſſenüberzugs ein, das Kiſſen war mir überflüſſig,
ich hob es raſch und warf es an das Fußende des
Bettes, die Uhr nun natürlich mit; in einem prächtigen
Bogen ſchwang ſie ſich an die Wand und fiel mit
zerſplittertem Glaſe nieder. Es war genug. Ich zer¬
trat ſie feierlich wie dieſe Verbrecherin von Brille, der
Kobold gab dabei einen Ton von ſich, einen Pfiff wie
eine verfolgte Maus, ich kann ſchwören, daß es ein
Laut war, der nicht im Umfang der phyſikaliſchen
Natur liegt. Nun, dann habe ich mir hier dieſe be¬
ſcheidene Zeigerin der Zeit um niederträchtig geringes
Geld gekauft; betrachten Sie die Gute: bemerken Sie
den Ausdruck von Biederkeit in dieſen ſchlichten Zügen;
ſeit zwanzig Jahren dient ſie mir — unberufen, un¬
berufen! — treu und ehrlich, ja ich kann ſagen, nicht
Einen Verdruß hat ſie mir bereitet. Die goldene Uhren¬
kette hat jetzt mein Bedienter, der Haken wurde zu
ſchmachvollem Tod in der Kloake verdammt und ich
trage meine redliche Zwiebel an dieſer ſanftgearteten
ſeidenen Schnur; Johann, der muntre Seifenſieder.“


A. E. war während dieſer Darſtellung, in deren
[23] Breite er ſich zu gefallen ſchien, ganz ruhig geworden
und fuhr gelaſſen fort:


„Jetzt das Uebrige! Die übrige Geſchichte dieſer
ſchwarzen Morgenſtunde!


„Zuerſt ſpringen an drei Hemden die Knöpfchen
ab, da ich ſie anziehen will. Ja, ja, ſo ein Hemd¬
knopf! Ein Bär ſtellt ſich ehrlich zum Kampf; ich
weiß, was ich zu thun, wie ich meine Waffe anzu¬
wenden habe; einen hundertjährigen Eichbaum kann
ich mit Kraft und Ausdauer umhauen; aber der Knirps!
Ich ſoll Kraft anwenden, denn die Beſtie will abſolut
nicht durch's Knopfloch, und ich ſoll ſie zugleich ebenſo
ſehr gar nicht anwenden, ſondern ganz fein und leicht
mit den Fingerſpitzen arbeiten, und indem ich mich
placke, ſchinde, abrackere, foltere, tödte, das Wider¬
ſprechende zu leiſten, — o luſtig! ſpringt die Schmach¬
canaille erſt recht ab! Die Teufel nehmen Beſitz vom
Weibe, uns dieß Scheusliche zu bereiten. Ich habe
es von glaubwürdigen, wahrheitliebenden und beſon¬
nenen Ehemännern: wegen der Hemdknöpfchen heirathet
man und dann iſt es erſt recht nichts damit. — Weiter!
— Nur im Vorbeigehen will ich anführen, daß mich
zuerſt beim Ankleiden ein höchſt ränkeſüchtiges Armloch
gute fünf Minuten lang inſultirt hat, — dabei blieb
ich aber noch ganz ruhig — denn ich kann mich be¬
herrſchen, mein Herr! Nun aber ſehen Sie dieſen
Schlüſſel“ — er zog einen kleinen Schlüſſel hervor,
[24] der wohl zu ſeiner Reiſetaſche gehörte, — „und ſo¬
dann dieſen Leuchter!“ — er hielt mir den metallenen
Leuchter umgekehrt vor's Auge, ſo daß ich in die Höh¬
lung ſeines Fußes ſah; — „was glauben, was denken,
was ſagen Sie?“


„Ja, was weiß denn ich?“


„Stark eine halbe Stunde lang habe ich heute
Morgen dieſen Schlüſſel geſucht, — es war zum
Raſendwerden, da finde ich ihn endlich, ſehen Sie, ſo!“
Er legte den Schlüſſel auf das Tiſchchen am Bett,
ſtellte den Leuchter darauf; der Schlüſſel fand juſt,
wie ausgemeſſen, Platz unter dem Leuchterfuß.


„Wer kann nun daran denken, wer auf die Ver¬
muthung kommen, wer ſo übermenſchliche Vorſicht üben,
ſolche Tücke des Objekts zu vermeiden! Und dazu
lebe ich! An ſolches hündiſche Suchen muß ich meine
arme, koſtbare Zeit verſchwenden! Suchen, ſuchen,
und wieder ſuchen! Man ſollte nicht ſagen: ſo und
ſo lang hat A. oder B. gelebt, nein: geſucht! —
Und ich bin ſehr, ſehr pünktlich, glauben Sie mir
das!“ —


Ja wohl iſt das Leben ein Suchen, ſagte ich
mit einem Seufzer, der ſcheinen konnte den Mühen
des Lebens zu gelten, während er in Wahrheit von
der Langenweile ausgepreßt war, da die breite Be¬
ſchäftigung mit dem Bagatell mich denn doch zu er¬
müden begann. Daher denn auch die flache Bemer¬
[25] kung ſelbſt, die nur um jeden Preis nach einem Inhalt
abzulenken ſuchte.


Ich kam ſchlecht an. „So, mein Herr, ſymboliſch?“
ſagte er. „Und das ſoll dann tiefer ſein! Ah, Oh!“


„Nun, was denn?“


„Sehen Sie, mein Herr, ſuchen im bildlichen Sinn,
darüber, daß das Leben ſo ein Suchen iſt, darüber
klage ich nicht, darüber ſollen Sie nicht ſeufzen. Das
Moraliſche verſteht ſich immer von ſelbſt. Ein rechter
Kerl ſucht, ſtrebt und beſchwert ſich nicht darüber, ſon¬
dern iſt glücklich in dieſem Unglück der aufſteigenden
und nie anlangenden Linie des Lebens. Das iſt unſer
oberes Stockwerk. Aber die Zugabe, die Hundenoth
gleichzeitig im untern Stockwerk des Lebens, — davon
iſt die Rede. Da iſt alſo zum Beiſpiel das Suchen,
das ſo toll, ſo nervös, ſo wahnſinnig macht. Man
verfällt ja dabei immer in den Theismus. Der liebe
Gott, der oben herunterſchaut, der die Haare auf un¬
ſerem Haupte zählt, der mich nun ſtundenlang meine
Brille ſuchen ſieht, — er ſieht ja auch die Brille,
weiß recht gut, wo ſie liegt, — iſt es zum Ertragen,
nun denken zu müſſen, wie er lachen muß? — All¬
gütiges Weſen! Meinen Sie, ein ſolches würde ferner
den Katarrh zulaſſen? Leben — Suchen — Spucken!
Da ſagen die thörichten Menſchen von einem Ausge¬
dienten, von einem Erlöſten, von dem ſie meinen, er
gehe als Geiſt um, er ſpucke! Dummes Zeug, aus
[26] hat er geſpuckt! O, wir ſind geboren, zu ſuchen,
Knoten aufzudröſeln, die Welt mit Hühneraugen anzu¬
ſehen, und ach! zu nieſen, zu huſten und zu ſpucken!
Der Menſch mit ſeines Hauptes gewölbter Welt, mit
dem ſtrahlenden Auge, dem Geiſt, der in die Tiefen
und Weiten blitzt, mit dem Fühlen, das mit Silber¬
ſchwingen zum Himmel aufſteigt, mit der Phantaſie,
die ihres Feuers goldene Ströme ausgießt über Berg
und Thal und ſterblich Menſchenbild zum Gott ver¬
klärt, mit dem Willen, dem blanken Schwert in der
Hand, zu ſchlichten, zu richten, zu bezwingen, mit der
frommen Geduld, zu pflanzen, zu pflegen, zu wachen,
daß der Baum des Lebens wachſe, gedeihe und Himmels¬
frucht jeder ſanften Bildung trage, der Menſch mit
der Engelsgeſtalt des ewig Schönen im ahnenden,
ſehnenden Buſen — ja, dieſer Menſch verwandelt in
einen ſchleimigen Mollusken, zur klebrigen Auſter er¬
niedrigt, ein Magazin, ein Schandſchlauch für vergäh¬
renden Drüſenſaft, eine Schnäuzmaſchine, im Hals ein
zackig Kratzeiſen, ein Neſt von Teufeln, die mit feinen
Nadeln nächtelang am Kehlkopf kitzeln, die Augen
trübe, das Hirn dumpf, ſtumpf, verſtört, der Nerv
giftig gereizt und dabei erſt nicht als Kranker geltend,
noch geſchont — und da ſoll es einen Gott —!“


Hier gerieth mein Gottesleugner in ein Nieſen
und Huſten ſo theilnahmwerther Art, daß ich eine
Bemerkung, die mir auf der Zunge lag: der Ka¬
[27] tarrh ſei denn doch nicht der gewöhnliche Zuſtand des
Menſchen, gern unterdrückte; ich konnte freilich ohnedieß
ahnen, daß ich ſchlecht damit gefahren wäre. Da¬
gegen wollte ich mich doch nicht enthalten, als der
Paroxismus zu Ende war, vorzubringen: „Aber was
machen Sie denn, wenn Sie ernſtlich, ſchwer krank ſind?“


A. E. war inzwiſchen daran, ſich reiſefertig zu
machen, wurde über einem Hinderniß, das ſich an der
Rückſeite ſeiner Beinkleider zu befinden ſchien, noch
einmal ſichtlich aufgeregt, trat plötzlich hart vor mich,
machte ſtraff wie ein Soldat Rechtsumkehrt und ſchrie
ſehr laut und ſchroff: „Hier!“


Ganz verdutzt, als ich nun ſo breit ſeinen Rücken
vor mir hatte, dachte ich, ob denn dieß der Anfang
des verſprochenen Bildungsunterrichts ſein ſolle; er
ließ mir ziemlich Zeit zur Betrachtung, bis der Auf¬
ſchluß kam: „Sehen Sie die Lappen am Hüftgurt?
ſind fünfmal, ſage fünfmal beim Schneider geweſen
vor der Abreiſe; zuerſt zu lang oder zu weit, dann
wieder zu kurz oder zu eng, dann Beides noch einmal
ſo — nun? wie ſteht's mit der Theologie?“


Ich verſtand jetzt, daß ich ſehen ſollte, wie die
Lappen einander zu nah angenäht waren, die Gürtung
alſo nicht genug angezogen werden konnte; er war
zufrieden, als ich mein Verſtändniß kund gab, und
nun ſchien der Sturm ausgetobt zu haben. Meine
vorige Bemerkung fiel ihm jetzt wieder ein.


[28]

„Was haben Sie von recht Krankſein geſagt?
Nun, das iſt ja Geduld werth. Das Moraliſche ver¬
ſteht ſich immer von ſelbſt.“


Er hatte inzwiſchen ſeine Reiſetaſche gepackt, wo¬
bei er, wie ich bemerkte, ſehr geſchickt zu Werke gieng;
es galt, viele Kleinigkeiten in kleinen Raum zuſammen¬
zufügen, und er brachte es ganz nett zu Stande;
Ungeſchicklichkeit, das ſah ich, konnte nicht die Urſache
des Kriegszuſtandes ſein, in dem er mit dem Bagatell
ſich befand. Er ſagte mir nun, er wolle ſeine Reiſe
auf der Axenſtraße am See zu Fuß fortſetzen. Leicht
konnte er ſich denken, daß ich wahrſcheinlich ebendaſſelbe
vorhabe; der Gedanke eines Zuſammenwanderns lag,
da wir denn doch ſchon Bekannte waren, nahe genug,
aber es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Wink zu
geben, der entfernt einer Einladung gleichgeſehen hätte.
Ich dachte, er erwarte, daß ich mich ihm erſt vorſtelle,
und begann: „Erlauben Sie, es iſt doch wohl Zeit,
daß ich mich Ihnen —“


Er unterbrach mich: „Bitte, danke, lieber nicht,
— verzeihen Sie, es iſt nicht Maske, nicht Ge¬
heimthuerei von mir, gewiß nicht, liebe aber, auf der
Reiſe wenigſtens, Alles klar, frei. Name und Stand
macht Nebengedanken, führt auf Namen-Etymologie
und dergleichen, wir ſind eben Jeder ein Ich, eine
Perſon oder, wie Fiſchart ſagt, ſeelhaftes Lebweſen;
wir befinden uns beſſer ſo.“

[29]

Ich war nun ſchon im Zuge, dem wunderlichen
Kauz nichts übel zu nehmen, und da, wie ich geſtehe,
meine Neugierde nach Namen und Stand eben auch
nicht groß iſt, ſo ließ ich mir's unſchwer gefallen, daß
ich auch nicht erfahren ſollte, wen ich eigentlich vor
mir habe. Ich reichte auf der Schwelle die Hand
zum Abſchied und A. E. wollte ſie eben nehmen, als
ihm einfiel, daß er doch erſt frühſtücken ſollte;
dieſes Werk wenigſtens noch gemeinſam zu verrichten,
dagegen ſchien er denn doch nichts zu haben und ſo
ſtieg ich mit ihm in die „salle à manger“ hinab.


Beim Eintreten bemerkte ich, daß er einen ängſtlich
ſuchenden Blick nach den vier Ecken des Saales, und
zwar auf den Fußboden, warf; der Blick kehrte beruhigt
zurück, als er in der vierten ein kleines Geräthe be¬
merkte, das huſtenden Menſchen erwünſcht ſein mag;
mit höchſt gemüthlichem Tone ſagte er: „Der Saal
iſt doch ganz ordentlich möblirt,“ und von da ſchien
eine erträglich gute Laune bei ihm einzutreten. Das
Frühſtück ſtand nach Art der Schweizer-Gaſthöfe in
dieſen Frühſtunden ſtets bereit und A. E. — nach¬
dem er Honig und Butter heftig weggeſchoben hatte
— griff rüſtig zu, ich deßgleichen. Wir waren allein
im Saale, doch bald trat ein dritter Reiſender ein.
Es war ein Mann von geſetzten Jahren, er trug ein
Staubhemd von ungebleichter Leinwand mit einem
kleinen, über die Schultern hängenden Kragen und
[30] auf dem Rücken einen nicht ungewichtigen Leinwand¬
torniſter, auf ſeiner Stirne lag ein bemerklicher Wander¬
ſchweiß, man ſah, er hatte dieſen Morgen ſchon einige
Stunden zurückgelegt; er legte ſeine Laſt ab, ſtellte
den ſoliden, bauſchigen Regenſchirm in eine Ecke, nicht
ohne ihn mit einem Blick zu betrachten, der eine innere
Zufriedenheit mit dem gediegenen und nützlichen Geräth
aufdrückte, begab ſich raſch an den Tiſch, ſetzte ſich an
ſein anderes Ende, rückte ſich den Stuhl recht nahe,
zog eine Brille hervor, beſah ſich, was aufgeſetzt war,
ſchien mit der Vollſtändigkeit der Dinge, die zu einem
engliſchen Frühſtück gehören, ſehr einverſtanden und
begann mit dem vollen Ausdruck einer Seele, die ſich
bewußt iſt, daß ihr Leib ſein Frühſtück redlich verdient
habe, die genußverheißende Arbeit des Schneidens und
Butterſtreichens. Es war leicht zu erſehen, daß der
Mann dem Gelehrtenſtande angehören mußte, und ſeine
etwas bleiche Geſichtsfarbe legte den Schluß nahe, daß
er zu jener Gattung der Gebirgsreiſenden gehören
möge, die durch ſtarke Fußmärſche in Ferien einzu¬
bringen ſuchen, was ſie durch ſitzende Lebensart das
Jahr hindurch ihrem Organismus Leides zufügen
müſſen.


A. E., der inzwiſchen die Eßluſt geſtillt, ſchien
zum Abmarſch keine beſondere Eile zu haben, ſteckte
ſich gemächlich eine Cigarre an und begann zu mir:
„Sie geben alſo zu, daß die Phyſik eigentlich Meta¬
[31] phyſik iſt, Lehre vom Geiſterreich. Das heißt, ich ver¬
muthe, daß Sie es zugeben, wiewohl ich es Ihnen
philoſophiſch eigentlich noch nicht begründet habe, denn
was Sie ſicherlich bereits erkannt haben, das iſt die all¬
gemeine Tendenzioſität, ja Animoſität des Objekts, des
ſogenannten Körpers, was die bisherige Phyſik geiſtlos
mit Namen wie: Geſetz der Schwere, Statik und der¬
gleichen bezeichnet hat, während es vielmehr aus Ein¬
wohnung böſer Geiſter herzuleiten iſt.“


Der Fremde hatte inzwiſchen einen länglichen Brod¬
laib höchſt kunſtgerecht, wie man es wohl im „Kur¬
märker und die Picarde“ vom preußiſchen Landwehr¬
mann verrichten ſieht, der Länge nach entzweigeſchnitten
und war eben beſchäftigt, die Butter ſchön und glatt
wie mit einem Modellirholz aufzuſtreichen; er hielt bei
dieſen Worten einen Augenblick inne, warf unter den
buſchigen Brauen einen ſonderbaren Blick nach uns
herüber und fuhr dann nachdenklich in ſeinem plaſti¬
ſchen Geſchäfte fort, indem er öfters mit einem Aus¬
druck von Staunen und Ironie den Kopf hin und
her wiegte. Es kam mir der Gedanke, ob A. E. auf
ihn berechne. Es ſchien entſchieden nicht. Er hatte
auf den Eintretenden nur einen raſchen Blick geworfen,
freilich einen ſcharf erfaſſenden, denn ſein Auge pflegte
zu blicken, als wäre eine feſt greifende Hand darin,
doch nicht ein Zeichen ließ vermuthen, daß er ſich
weiter um den Unbekannten kümmere.


[32]

„Animos,“ fuhr er fort, — „haben Sie denn
auch nur ſchon beobachtet, wie das fallende Papier¬
blatt uns verhöhnt? Sind ſie nicht wahrhaft graziös,
die Spottbewegungen, womit es hin und her flattert?
Sagt nicht jeder Zug mit blaſirt eleganter Frivolität:
doch noch gewonnen!? O, das Objekt lauert. Ich
ſetze mich nach dem Frühſtück friſch, wohlgemuth an
die Arbeit, ahne den Feind nicht. Ich tunke ein, zu
ſchreiben, ſchreibe: ein Härchen in der Feder, damit
beginnt es. Der Teufel will nicht heraus, ich beflecke
die Finger mit Tinte, ein Flecken kommt auf's Papier,
— dann muß ich ein Blatt ſuchen, dann ein Buch
und ſo weiter, und ſo weiter, kurz, der ſchöne Morgen
iſt hin. Von Tagesanbruch bis in die ſpäte Nacht,
ſo lang irgend ein Menſch um den Weg iſt, denkt das
Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm
umgehen wie der Thierbändiger mit der Beſtie, wenn
er ſich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick
von ihrem Blick und die Beſtie keinen von ſeinem;
was man da von der moraliſchen Gewalt des Men¬
ſchenblickes vorbringt, iſt nichts, iſt Märchen; nein,
der ſtarre Blick ſagt dem Vieh nur, daß der Menſch
wacht, auf ſeiner Hut iſt, und Blick gegen Blick, gleich
fix geſpannt, lauert es denn, ob er ſich einen Augen¬
blick vergeſſe. So lauert alles Objekt, Bleiſtift, Feder,
Tintenfaß, Papier, Cigarre, Glas, Lampe — Alles,
Alles auf den Augenblick, wo man nicht Acht gibt.
[33] Aber um Gottes willen, wer kann's durchführen? Wer
hat Zeit? Und wie der Tiger im erſten Moment, wo
er ſich unbeobachtet ſieht, mit Wuthſprung auf den
Unglücklichen ſtürzt, ſo das verfluchte Objekt: plumper
oder feiner, wie es kommt, diaboliſch fein zum Bei¬
ſpiel das Eiſenfeilſtäubchen, das mir in's Auge flog
am Morgen, als ich eine Fußreiſe antreten wollte,
auf die ich mich lange gefreut, und das mich um's
Auge zu bringen drohte — o, überhaupt: glauben
Sie, wenn ein ordentlicher Menſch reiſen will, halten die
Teufel ein ökumeniſches Konzil, — Vorſchläge — Anträge
— Amendements — zum Exempel: Antrag: Hühner¬
auge, Amendement: unter dem Nagel; oder Antrag:
Grimmen auf der Eiſenbahn, Amendement: in Geſell¬
ſchaft einer Dame; Antrag: ſchlecht Wetter, Amende¬
ment: zerriſſene Schuhe und die neuen zu eng. Doch
nicht immer waltet aggreſſive Form. Das Objekt
liebt in ſeinem Teufelshumor namentlich das Verſchlupf¬
ſpiel. Wie die gute, ſorgende, ſchützende Natur einige
Thiere dem Boden gleich färbt, bildet, auf dem ſie
leben, ſich nähren, damit ſie der Feind ſchwerer ent¬
decke — Raupe, Schmetterling der Baumrinde, dem
Baumblatt, Haſe der Erde gleich —, ſo verfahren
auch gern die Dämonen: zum Beiſpiel rothbraunes
Brillenfutteral verſteckt ſich auf rothbraunem Möbel;
doch Haupttücke des Objekts iſt, an den Rand kriechen
und ſich da von der Höhe fallen laſſen, aus der Hand
Viſcher, Auch Einer. I. 3[34] gleiten, — du vergißeſt dich kaum einen Augenblick
und ratſch —“


Wir hörten in dieſem Augenblick ein kleines Ge¬
räuſch von der Seite des dritten Gaſtes her, ſahen
ihn haſtig unter den Tiſch fahren und mit einem
Körper in der Hand wieder auftauchen, den er mit
großem Schrecken und darauf folgender tiefer Weh¬
muth betrachtete. Es war ſein zuerſt mit Butter,
dann mit Honig ebenſo korrekt geſtrichenes, als korrekt
geſchnittenes Brod, und daſſelbe war — „natürlich“
würde A. E. ſagen — auf die geſtrichene Seite gefallen.


Ich unterdrückte nur nothdürftig einen mächtigen
Lachreiz, denn es war doch auch gerade, als ob das
„Ratſch“ und das Fallen des Brodes in einem geiſter¬
haften Kauſalitätsverhältniß geſtanden wären. A. E.
ſah ganz ernſt hinüber und nickte ſanft mit dem Kopfe,
ohne einen Zug des Spottes, ja eher mit einem Zug
der Theilnahme, als wollte er ſagen: das kennen wir
armen Sterblichen. Der Fremde ſchoß jetzt nicht nur
einen, ſondern eine Batterie von Blicken, grimmigen,
auf uns herüber und machte ſich höchſt verdrießlich an
das Geſchäft, dem unheilbaren Schnitten einen ent¬
ſprechenden Nachfolger hervorzubringen.


A. E. fuhr ruhig fort: „Dann iſt es überhaupt
ſo eine Sache mit dem Ding da, den zwei Dingern,
was Kant die reinen aprioriſchen Anſchauungsformen
nannte.“

[35]

„Raum und Zeit?“


„Eben. Was iſt der Raum denn Anderes, als die
unverſchämte Einrichtung, vermöge deren ich, um den
Körper a hieherzuſetzen (— er zeigte es an Taſſen,
Kannen, Körbchen, Flaſchen, Gläſern, die etwas dicht
auf dem Tiſche ſtanden —), vorher b dort weg, um
Platz für b zu bekommen, wieder c da hinweg ſtellen
muß und ſo mit Grazie in infinitum —? Und die
Zeit? Das iſt dasjenige, was man dazu doch nicht
hat. Denn Donnerwetter und alle tauſend Teufel,
leben wir dazu, um zehn Griffe nöthig zu haben zu
dem, was kaum Eines Griffs werth iſt!“


Der Unbekannte bewegte jetzt ſtärker und ärgerlich
lachend den Kopf hin und her und eine ſichtbare Un¬
ruhe kam ihm in die Beine.


A. E. war nun gut im Zuge. „Ein andermal,“
fuhr er fort, „ſind die Nickel unverſchämt in entgegen¬
geſetzter Richtung. Jetzt will zuſammen, was nicht
zuſammengehört. Kennen Sie eine der verfluchteſten
Formen: das Mitgehen? Wenn ſo ein liebenswürdiges
Blatt, das zum Aktenſtoß Y gehört, beim Ordnen,
Aufbewahren zu unterſt an Fascikel Z hinkriecht und
mit hinein in das Schubfach ſchlüpft und ſich über
Tag, Woche oder Jahr nicht finden, ſich ſuchen läßt
unter Verzweiflung, Wuth, Rennen bis zum Wahnſinn?
Dagegen iſt ſo was, wie das bekannte, ewige Unter¬
ſchlüpfen der Damenkleider unter den Stuhlfuß des
[36] Nachbars nur ein kleiner, zierlich pikanter Spaß des
teufelbeſeſſenen Objekts, doch intereſſant als allein
ſchon hinreichend, unſere dumme Phyſik zu ſtürzen,
denn wer könnte ſo etwas mechaniſch erklären?“


Jetzt fuhr der Fremde auf mit dem Ruf: „Es
wird zuviel!“ ſtieg mit ſtraffen Schritten auf uns los,
pflanzte ſich vor A. E. auf und mit Zornblick rief
er: „Mein Herr! Wiſſen Sie, ich bin Profeſſor der
Phyſik! Sie haben mir aber auch gleichſam mein
Butterbrod hinuntergeworfen!“


A. E. verweilte auf dem Mann mit einem ganz
gelaſſenen, ganz kontemplativen Blick und ſchwieg.
Was werden ſollte, wer konnte es wiſſen? Plötzlich
ſtieg ihm eine flammende Röthe in's Geſicht, ſeine
Augen funkelten, er fuhr auf und ich, da ich meinen
Mann eben doch noch nicht ſo ganz kannte, wurde
ſchon für den Frieden beſorgt, als er mit Sturmſchritten,
ja mit Sätzen wie ein Panther quer über das Zimmer
nach einer Ecke ſchoß, wo das oben zart erwähnte
Geräthe ſtand, und nun gieng ein Huſten, Nieſen mit
untermiſchtem Schlucken, ſeltſamen, wilden Gurgel-
und Schnapptönen, ein ſo ſchreckliches Gluckſen, Kollern,
Fauchen, Raſpeln, Schnarren, Stöhnen, ſchußartiges
Bellen los, als hörte man die raſende Muſik eines
Chors von Höllengeiſtern. Es dauerte ziemlich lange, bis
dieſe furchtbare Naturerſcheinung vorüber war, dann
richtete ſich der leidende Mann matt in die Höhe, griff
[37] nach Hut, Taſche, Stab und ſagte im Abgehen zu
mir mit jammernswerth fiſtulirender Stimme: „Bitte,
haben Sie die Güte, den Herrn zu beruhigen! Guten
Tag beiderſeits.“


Der Herr war im Schrecken zur Seite getaumelt,
als A. E. ſo rapid in die Höhe fuhr: dann ſah und
hörte er mit ſtarrem Staunen den Evolutionen des
erſchrecklichen Gewitters zu und ſchickte dem Abgehenden
einen langen, verwirrten Blick nach. Endlich wandte
er ſich gegen mich, zwinkerte mich mit den Augen an
und deutete mit dem Finger auf ſeine Stirn. Ich
zuckte die Achſeln. Er ſchien dieß für volle Bejahung
zu nehmen, war nun wirklich beruhigt und ſchritt mit
friſchem Eifer an die Erneuerung ſeines Frühſtückwerks.


Ich mochte dem Vorangegangenen nicht ſo ſchnelle
folgen; es hätte ſcheinen können, als wolle ich mich
aufdrängen. Ich war doch etwas ungehalten, daß er
ſo rückſichtslos davongelaufen; indem ich mich beſann,
was ich beginnen ſolle, um meinen Abmarſch ein
halbes Stündchen noch hinzuziehen, fiel mir ein: Halt,
gefunden! Grobian, deine Strafe ſoll nicht ausbleiben,
du ſollſt beſchrieben werden! Ich gieng gleich an die
Vorarbeit, machte mir eine Reihe von Notizen in
mein Tagebuch und brach auf, als ich annehmen
konnte, mein wunderlicher Held habe nun genügenden
Vorſprung.


Ich ſchritt geruhig meines Wegs, beſchaute mir
[38] See, Fels und hohe Bergeshäupter, nicht eben zu ge¬
hobener Naturempfindung geſtimmt, der Himmel war
bedeckt, die Spitzen des Nieder- und Oberbauen, des
Uri-Rothſtocks verhüllt, ein ſchweres Grau lag auf allen
Höhen, Tiefen und Flächen. Dennoch war die Landſchaft
nicht tonlos. Eine eigenthümliche Unruhe ſchien im
See ſich zu rühren, der doch kaum von einem Wind¬
hauch bewegt wurde: kleine Wellen hoben ſich da und
dort, als brennte ein Feuer unter dem großen Becken
und das Waſſer käme in's Kochen; das gedämpfte
Rauſchen mußte ich mit dem Kniſtern einer leis an¬
wachſenden Feuersbrunſt vergleichen. Seltſam blitzte
da und dort ein ſcharfer Lichtſtreifen aus dem Waſſer¬
ſpiegel auf wie ein zorniger Blick aus einem Auge
ſchießt. Es war etwas Geheimnißvolles, dumpf Ver¬
hülltes rings umher, wiewohl alle beſtimmten Anzeichen
nahen Unwetters fehlten. Das verſchleiert Drohende,
das ſich dunkel zu fühlen gab, führte mir doch die
Sturmbilder aus Schiller's Tell vor die Phantaſie.
Verſenkt in dieſe innere Anſchauung gieng ich meines
Wegs und hatte einen Lärm, der in mäßiger Ent¬
fernung ſich hören ließ, mit dem körperlichen Ohre
wohl längſt aufgenommen, ehe mir die Sinnesempfin¬
dung zum Bewußtſein kam. Es war heftiges, zorniges
Geſchrei von Männerſtimmen, Hundegebell dazwiſchen.
Jetzt erſchollen die wilden Laute ſchon ganz nahe und
wie ich um eine Ecke bog, ſah ich eine Szene höchſt
[39] unerwarteter Art, eine Gruppe, die mich in leidiger
Wirklichkeit an die zwei Ringer, die berühmte und
doch unerfreuliche Antike in Florenz, erinnerte. Am
Boden wälzte ſich, ankämpfend gegen meinen Reiſe¬
bekannten, ein Menſch, der offenbar zu dem Hand¬
wägelchen gehörte, welches daneben ſtand. Es war
ein gedrungener, breitſchultriger Kerl von offenbar nicht
geringer Körperkraft, aber die Vortheile, die er vor¬
übergehend im Raufen gewann, halfen ihm nichts;
A. E. war ihm an Stärke gewachſen, an Gewandt¬
heit überlegen, drückte ihn mit gewaltiger Fauſt zur
Erde, kniete über ihm und ſchrie dem Ueberwundenen
wüthende Worte zu: „Willſt du, Thierſchinder, mir
jetzt zugeben, daß es ebenſo grauſam als dumm iſt,
Hunde einzuſpannen? Willſt du begreifen, daß ein
Pfotenthier nicht zum Ziehen gebaut iſt, weil ihm der
Huf fehlt, in den Boden zu greifen? Daß es das
Sechsfache der Kraft aufwenden muß, die ein Hufthier
braucht? Daß der gute arme Hund in ſeinem Dienſt¬
eifer dieß Sechsfache noch überbietet, während ihr
Henkersknechte dieſen Eifer dazu mißbraucht, noch auf¬
zuſitzen, ja, das keuchende Geſchöpf mit der Peitſche in
Trab hetzt? Weißt du nicht, daß nach einem Viertel¬
jahr ſolchen Qualdienſtes der beſte Hund ſtruppirt iſt,
lahm im Kreuz und Sprunggelenk?“ Der Unterworfene
remonſtrirte in rauhen Gurgeltönen mit Fluchen und
Schimpfwörtern, aus denen ich nur das ſonſt ſchon
[40] gelegentlich vernommene „Kaib“ heraushörte. A. E.
holte zu einer Ohrfeige aus, der eingeſpannte Hund
in rührender Treue verſuchte unter raſendem Gebell
ſeinem Dränger und Quäler beizuſtehen, vergeblich,
denn ihn hinderten die Riemen des Geſchirrs; im
tollen Durcheinander beſann ich mich raſch, daß ich
nicht in tadelnswerther Unthätigkeit des Staunens ver¬
harren dürfe, rieß mit vieler Mühe die Raufenden
auseinander, half den wüthenden Fuhrmann, der, be¬
freit, alsbald die Fäuſte brauchen wollte, feſthalten,
und nach langem, langem Reden gelang es mir, ſo
viel Ruhe herzuſtellen, daß ein vernünftiges Wort ge¬
ſprochen werden konnte. Es ergab ſich, daß A. E.
den Fuhrmann in der vorhin von ihm verurtheilten
Situation getroffen hatte: der Hund im Trab, der
Mann mit geſchwungener Geißel auf dem Wagen
ſtehend, der eigentlich dazu eingerichtet war, daß er
mit dem Hunde ziehen ſollte. A. E. hatte ihn an¬
gehalten, vernünftig zu belehren verſucht, der rohe
Treiber hatte ihm alsbald mit Hieben gedroht und ſo
hatte ſich die Szene entſponnen, zu deren Ablauf ich
gekommen war. Ich mußte nun A. E. Recht geben;
der Bote erklärte, er wolle klagen; da er aber be¬
greifen mußte, daß er ſeinem gewaltthätigen Huma¬
nitätslehrer die Nennung ſeines Namens nicht ab¬
zwingen konnte, und da ich ihm auseinanderſetzte, daß
durch die Drohung mit Schlägen das erſte ſtrafwür¬
[41] dige Unrecht auf ſeine Seite gefallen ſei, verlor ſich
ſein Schimpfen allmälig in ein Brummen, dann in
Schweigen. A. E. war ganz ruhig geworden und
ſagte mit einem Tone voll Gutmüthigkeit: „Wollt Ihr
mir verſprechen, einen Eſel ſtatt des Hundes anzu¬
ſchaffen, wenn ich ihn zahle?“ Der Bote ſchwieg und
ſah ihn mit einem Blick an, der zu ſagen ſchien:
Dummer Menſch, wie wollteſt du mich kontroliren,
wenn ich's verſpräche und nicht thäte? „Hört einmal,“
ſagte er, „Ihr ſeid kein reicher Mann, ſonſt würdet
Ihr nicht Botenfahren —“ Der Fuhrmann betheuerte,
er komme ſchwer aus und ſei Vater von vier Kindern.
„Nun,“ fuhr A. E. fort, „ſo will ich Euch einen
Vorſchlag machen. Schafft einen Eſel an, verſprecht
mir, wenn es mit dem Thier gut geht, daß ihr in
der Nachbarſchaft bei den Boten herum —“ — „O, die
lachen mich aus!“ fiel der abgeneigte Mann ein.
„Ah bah! man muß das nur nicht fürchten, man
wird immer ausgelacht, wenn man was gutes Neues
einführt; nun alſo, lobt es den Andern, helft, daß
ſie's nachmachen! Im Frühling komm' ich wieder des
Wegs und ſehe nach Euch, da ſteht am Wagen Euer
Name und Ortſchaft angeſchrieben, ich werde Euch
finden, und wenn Ihr dann einen Eſel habt, bekommt
Ihr das Doppelte, und wenn Ihr einen, auch nur
Einen Nachbar perſuadirt habt, es nachzuthun, das
Dreifache von dem da.“ Er zog einige Goldſtücke
[42] heraus und zeigte ſie dem Boten. „Wollt Ihr mir
Euer Wort geben?“ Der Mann ſchlug ein und die
Goldmünzen glitten in ſeine rauhe Hand. Gerührt
dankte er mit einem zweiten, herzlichen Handſchlag und
nahm Abſchied. Er fuhr langſam weiter, neben dem
Hund ordentlich ziehend, und wir ſahen noch, wie er
das Gold wieder aus der Taſche zog, betrachtete und
wieder einſteckte.


„In der Schweiz,“ ſagte nun mein Begleiter,
„empört mich der Anblick dieſer Rohheit doppelt.
Ich bin nicht zum erſten Mal in dieſem glücklichen Land.
Manches hat mich da gefreut, am meiſten die Scho¬
nung des Thiers; Pferd und Rind wird menſchlicher
behandelt als irgendwo, und gerade da muß nun
dieſer Unfug der Hundefuhren herrſchen, eine der
allerſchnödeſten Formen der Barbarei. — Ach, Herr,
ich komm' halt noch in's Zuchthaus, Sie werden's
ſehen, denn ich lang' eben doch noch einmal einen
Thierſchinder mit dem Stutzen vom Bock herunter —
ſchießen kann ich.“ —


Ich gieng neben ihm fort; eine Einladung zum
Anſchluß glaubte ich nach dem Vorgefallenen und dieſer
einläßlichen Geſprächseröffnung nicht erſt erwarten zu
müſſen. Wir zogen eine gute Weile ſchweigend weiter.


„Es iſt heute ſehr ſchön Wetter,“ fieng A. E.
endlich an.


Ich mochte nichts einwenden, wiewohl das Wetter
[43] war, wie ich es vorhin geſchildert habe, alſo eben nicht
ſchön zu nennen.


„Warmkaltlaukühl. Ganz ſchwacher Nordweſt mit
oberem Föhn, beide noch nicht im Kampf. Heut'
wird's noch halten; morgen ſteh' ich für nichts, ich
denke, er wird herunterkommen.“


Ich kannte den Namen Föhn für Scirocco, wußte
aber nichts von Ober und Unter, und ließ mir gern
auseinanderſetzen, daß die elektriſch warme, zu uns
von Süden kommende Luft häufig in der höheren
Schichte erkennbar herrſcht, während in der unteren
ſogar Oſt- und Nordwind gehen kann.


„Sie ſind ja ordentlich. Draußen — und der
Föhn iſt ja doch überall, in Deutſchland, in ganz
Europa, wie hier — draußen glaubt mir's Niemand,
ſo muß ich immer davon reden und gelte als Narr.
Dem Spott nur etwas vorzukommen, habe ich ſelbſt
mir den Namen Föhn-Phänomenoman aufgetrieben. —
Sind Sie auch ſo ein Freund vom anſpruchloſen
grauen Wetter?“


Ich konnte es glücklicherweiſe ziemlich bejahen.
„Nicht wahr? Doch beſſer, als bei Prachtwetter ſitzen
wie ein armer Teufel an reicher Wirthstafel, dem das
Herz bebt, wenn er an die Zeche denkt? Vollends,
wenn es föhnhell iſt! O, das iſt ein bildſchönes,
wälſches Weib, die Föhnklarheit, wenn ſie da iſt, ein
Weib, das mit der rechten Hand ſchmeichelt und die
[44] linke auf dem Rücken hält mit einem Dolch; — da
meinen die Menſchen, wenn ſo ein unheimlich ſchöner
Sonntagmittag herunterſtrahlt, es ſei gut Wetter,
und laufen und ſtrömen hinaus dem Vergnügen nach,
und ich, Kaſſandra, ſteh' am Fenſter und weiß, daß
ſie wie gebadete Mäuſe Abends heimkriechen.“


„Ach, laſſen Sie ihnen die Täuſchung,“ erwiderte
ich, „ſie bringt den guten Tröpfen doch ein paar
vergnügte Stunden.“


„Ja, ja! das iſt auch wahr! Machen wir's nur
auch ſo, genießen wir dieß philoſophiſche Wetter, ob¬
wohl wiſſend, daß morgen der dumme Lebtag in der
Luft angehen wird, — haben Sie ſchon im Schopen¬
hauer geleſen?“


Der Philoſoph des Nihilismus und Peſſimismus
war damals noch ſehr wenig bekannt. Ich wußte
ungefähr von ihm, nichts aus ihm, hatte ſeine Werke
nie zur Hand gehabt.


„Müſſen doch hineinſehen und genau. — Geiſt¬
reich, aber doch eigentlich nur geiſtreich. Eben doch
nichtig. Sonderbar: Freude, meint er, ſei nur im
Anſchauen der Ideen, in der Kunſt. Aber er muß
doch ſein Buch ſelbſt gemacht haben und das war
Arbeit. Hat er denn da nicht ſpüren müſſen, daß
auch Arbeit froh macht? Der alte Knabe Salomo war
doch nicht dumm, der ſagt: Nichts beſſer, denn daß
der Menſch fröhlich ſei in ſeiner Arbeit, denn das iſt
[45] ſein Theil. Dienſt, mein Herr, Dienſt! Dort liegt's!
Das Moralprinzip müßte lauten: du ſollſt dienen!
Aber wer kann das begreifen, der bloß Gattungen
der Einzelweſen ſieht und hinter ihnen gleich das
Nichts? Der nicht merkt, daß das Thun und Treiben
der Vielen etwas herausgearbeitet hat, das über ihnen
ſteht, ein oberes Stockwerk, bleibende Ordnungen, ewige
Geſetze, denen zu dienen reine Luſt iſt, weil dieß
Dienen den Diener in's Zeitloſe hinaufhebt? Möchte
ſonſt immer ſchimpfen, was das Zeug hält, über die
Qual im unteren Stockwerk! Schwätzt immer von
jenen Uebeln, gegen die es doch der Mühe werth iſt
den Willen aufzubieten, weiß nichts von reiner Luſt
in reinem Kampf — das Moraliſche verſteht ſich doch
immer von ſelbſt —, kennt dagegen die Uebel erſt recht
nicht, die ihm gerade Waſſer auf ſeine Mühle wären.
Meint, ein dummer Teufel (ſogenannter Wille) habe
die Welt gemacht, und er möchte das immerhin, wenn
er nur begriffe, wie dann ein Lichtgott darüber ge¬
kommen iſt, der nur mit der Vaſallenſchaar des Teufels,
mit den Dämonen, nicht mehr ganz hat fertig werden
können; weiß nicht, wo die Dämonen eigentlich ſitzen,
die den Menſchen auf den Tod haſſen dafür, daß er
die Liebe und die vernünftige Arbeit in die Welt ge¬
bracht hat und ihnen damit das Spiel verderbt, kennt
nicht, weiß nicht aufzuzählen all' ihren Schabernack,
ihre nickelhaften Teufeleien.“ —


[46]

Wir waren inzwiſchen an der Stelle angekommen,
wo man zur Tellsplatte hinabſteigt, ich machte ihn
aufmerkſam und führte ihn die Stufen hinunter. Wir
ſtanden bei der Kapelle und ſahen uns das Felsriff an.


„So? Iſt das da das, wo der Schiller die dumme
Komödie drüber geſchrieben hat?“


„Aber, bitte, Sie haben doch vorgeſtern den fri¬
volen Spötter im Omnibus —“


„Nun ja, natürlich! Der Wicht hatte ja den inneren
Werth der Sage mitverhöhnt — das Moraliſche ver¬
ſteht ſich doch immer von ſelbſt, da ſoll mir Keiner
den Schiller antaſten, aber wenn man's als Geſchichte
vorſtellt — als ob's geſchehen wäre — geſchehen
könnte — und weiß es nun nicht zum wahrhaft, zum
allein Tragiſchen zu wenden, weiß nicht, was die böſen
Geiſter treiben, in Wirklichkeit hindern, was ſie gegen
das Kühne, Große und Gute vermögen und wie dar¬
auf, darauf allein die echte Tragödie zu bauen wäre,
darauf, auf den Grund der Wahrheit!“


„Aber ich bitte, was wäre denn hier die Wahr¬
heit?“


„Nun, das ſollte doch klar ſein! Was anders, als
daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm
Tell ſei aus dem Schiff auf die Platte geſprungen,
man nothwendig auch annehmen muß, daß er aus¬
rutſchte und in's Waſſer plumpte. Und nachher vol¬
lends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurück¬
[47] ſtoßen? Im Sturm? Ich bitte! Das iſt keine Kunſt,
ſogenannte Tragödien, Dramen des hohen Styls zu
dichten, wenn man den Zuſchauern Sand in die Augen
ſtreut! Das iſt leichter Idealismus, ſo hoch daher¬
fahren. Sehen Sie, was ich doch aber auch nicht aus¬
ſtehen kann, das iſt, wenn man die Dinge ungenau
nimmt. Die Sage iſt naiv, ſie weiß nicht, wie ſie das
höhere Geſetz umgeht, der Dichter ſoll bewußt handeln,
nicht blind, leichtſinnig über den Punkt weghuſchen,
wo das wahrhaft Tragiſche ruht. Das aber iſt der
Krieg des Menſchen mit den Geiſtern, dort werden
die wahrhaft erhabenen Schlachten und Wunden ge¬
ſchlagen, dort erfolgen die furchtbaren Niederlagen, aus
deren Schauern das tragiſche Grundgefühl, das heißt
das ganze Gefühl unſerer Endlichkeit emporſteigt,“


„Ja, wie würden Sie denn nun aber die Tellſage
behandeln, wenn Sie glauben, daß ſie überhaupt be¬
handelt werden könne?“


A. E. ſchien nur auf dieſe Einladung gewartet
zu haben, es ſchien ihm ſehr zu gefallen, daß ich mich
ſo läßlich und eingehend zu ihm verhielt. „Was vor¬
geht bis zur Einſchiffung Tell's mit Geßler und Ge¬
folge,“ ſo begann er, „das mag im Weſentlichen ſtehen
bleiben, wiewohl zum Styl, zur ganzen Behand¬
lung viel und Weſentliches zu bemerken wäre. Jener
Realismus, welcher überhaupt allein der echte Idea¬
lismus iſt, müßte ja natürlich im Ganzen walten;
[48] dieſe Hirten ſind zu allgemein, zu griechiſch gehalten,
ſind lauter gebildete Redner und das Gute, das
Muthige gelingt ihnen nur ſo, als ob es keine Kobolde
gäbe. Doch das ſei, ich muß zugeben, daß der Dichter
die Ueberfahrt des Baumgarten und den Pfeilſchuß
gelingen laſſen muß, um da anzukommen, wo er das
erhaben tragiſche Mißlingen ſoll eintreten laſſen. Die
Szene des Tellſprungs dürfte nun keineswegs nur
erzählt, müßte dargeſtellt werden, und mit unſeren
theatraliſchen Mitteln wäre das möglich. Alſo: Tell
ſpringt, gleitet aus, fällt in's Waſſer. Wird heraus¬
gefiſcht, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen.
Geßler ruft mit teufliſchem Tone: ‚So, jetzt verklaba¬
ſtert ihm den Sitztheil recht tüchtig!‘ Es geſchieht, und
zwar um ſo wirkſamer, da Tell's Hoſen bereits durch
die Näſſe geſpannt ſind. Erlauben Sie hier eine
kleine Abſchweifung. Ich trage mich mit der Idee,
den antiken Chor in die Tragödie hohen Styls wieder
einzuführen, ſo auch hier. Der Chor ſpricht bekannt¬
lich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur
Verbreitung nützlicher Kenntniſſe verſchiedener Art be¬
nützt werden. Hier nun, an dieſer Stelle, hätte ein
am Lande befindlicher Chor von Kunſtfreunden aus
Geßler's Umgebung — ein Anachronismus, ich gebe
es zu, doch ein poetiſch erlaubter — einige Sätze über
die Bedeutung der ſogenannten naſſen Gewänder in
der Skulptur vorzutragen.“

[49]

Ein ganz leichtes Zucken lief hier über ſeine Züge,
ſo ſchwach und ſo blitzſchnell, daß ich ſchlechtweg keine
Zeit fand, einen deutlichen Schluß darauf zu gründen.


Er fuhr fort: „Nun aber macht die Exekution den
armen Heros ſo wüthend, daß er mit der Kraft der
Verzweiflung ſich losreißt und trotz dem Sturm in's
Waſſer ſpringt. In höchſter Spannung erwartet der
Zuſchauer, ob es ihm gelingen wird, ſich zu retten.
Der Dichter darf es annehmen; Tell kann gut ſchwim¬
men und eine flache Uferſtelle erreichen. Darnach iſt
nun in der erſten Szene des vierten Akts die Erzäh¬
lung abzuändern, worin Tell dem Fiſcher ſeine Rettung
berichtet. Folgen die Auftritte wie bei Schiller, auch
der Monolog in der hohlen Gaſſe und das Weitere
bis zu den Worten: ‚Ein neu Geſetz will ich dem
Lande geben, ich will —‘; hier unterbricht ſich Geßler,
aber nicht mit den Worten: ‚Gott ſei mir gnädig,‘
denn ihn hat kein Pfeil getroffen; vielmehr hört man
nur eine Bogenſehne ſchwirren, gleichzeitig ein unge¬
mein ſtarkes Nieſen in einem Buſch und die Worte:
‚Verfluchter Zufall, Liſt und Trug der Hölle!‘ Dieß
kann nicht mißverſtanden werden. Tell hat ſich ja
natürlich verkältet und verniest ſeinen Schuß; Geßler
ruft: ‚Das iſt das Nieſen Tell's, verfolget ihn.‘
Allein Tell hat noch Zeit, ſich aus dem Staube zu
machen. Nun muß ich Ihnen eine Notiz mittheilen. Ich
habe vor ein paar Jahren in Wien auf dem Schild
Viſcher, Auch Einer. I. 4[50] eines Tiſchlers den Namen Tell mit eigenen Augen
geleſen. Das gibt uns den richtigen, den wahrhaft
tragiſchen Schluß an die Hand: echte, höhere Ironie des
Schickſals: Tell gelangt auf ſeiner Flucht nach Wien,
nimmt einen falſchen Namen an, erinnert ſich an ſeine
Geſchicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht
ſeine Familie nach und überläßt es den Enkeln, im
Verlauf der Zeit den richtigen Namen wieder zu
ſchreiben. Die Schlußſzene gäbe ein herrliches, herz¬
lich rührendes Tableau: der gerettete, wehmüthig zu¬
friedene Tell mit Weib und Kind in ſeiner Werkſtätte.“


„Und Geßler? Und die Schweiz?“


„Nun, Donnerwetter, die Schweizer in Maſſe
ſchlagen das Luder todt, das iſt doch gewiß beſſer als
ein Mord, und ich finde es dumm genug, daß ſich die
guten Leute ſo um ihren Tell wehren, um den Einzigen,
da ſie Tauſende von Tellen gehabt haben. Doch weiß
ich nicht, ob ich das darſtellen würde, das Moraliſche
verſteht ſich immer von ſelbſt.“


Ich war nur halb aufgelegt, über dieſen erhabenen
Entwurf zu lachen; es grub und bohrte doch etwas
in mir wie ein feiner Dorn, oder eigentlich ſtachen
zwei Dorne in entgegengeſetzter Richtung. Es war
dort bei der Stelle vom Chor und den naſſen Ge¬
wändern und bei dem flüchtigen Zucken um A. E.'s
Mundwinkel doch etwas in mir vorgegangen, was zum
Bewußtſein heraufdringen wollte. Sollte das nicht
[51] am Ende ein Kapitalſchelm ſein, der dich zum Narren
hat, wie er ja wohl auch den guten Profeſſor der
Phyſik zum Narren gehabt hat? Dem widerſprach nun
freilich ſo Vieles, daß der Verdacht, kaum geboren,
wieder erſtickt wurde; ſtellte ich mich aber auf dieſe
andere Seite, ſo meldete ſich in mir ein Aerger, ein
Verdruß über ſolches Pflegen und Hegen des Pein¬
lichen, das am Ende doch krankhaft, weichlich, wohl
auch ſelbſtgefällig zu nennen war. Da nun mein
Begleiter durch ſeinen Idealentwurf für eine beſſere
Tragödie Wilhelm Tell wieder auf das leidige Katarrh¬
thema kam und daran fortnörgelte, ſo ſteigerte ſich
dieſes zweite Gefühl allgemach zur Entrüſtung. In
der That wurde er nun entſetzlich langweilig, unleidlich
ermüdend. Er klagte die Geſchichtsſchreibung an, daß
ſie, die doch nichts Großes und nichts Kleines im
Gang der Weltgeſchichte zu verſtehen, zu würdigen
vermöge, ohne die Katarrhe, die dabei mitgeſpielt
haben, in ihrem Weſen, Verlauf und ihrer Individua¬
lität gründlich zu kennen, ihre Pflicht verſäume, er
fragte mit Pathos: „Iſt auch je Einer in ſeiner
Geneſis, Verwicklung, Ablauf exakt — was doch allein
hiſtoriſch — zur Darſtellung gelangt? Mein vorletzter
zum Beiſpiel domizilirte zuerſt acht Tage lang im
linken Naſenloch, ich hoffte bereits —“


Ich bat ihn um Gottes willen, abzuſtehen, ich wolle
ja gern Alles glauben, aber er verzichtete nur, um
[52] nun auf's Minutiöſeſte auszumalen, wie ſich juſt, wenn
man keine Hand frei habe, zum Beiſpiel einen Kupfer¬
ſtich mit beiden halte, ein heißes Tröpfchen an der
Naſe ſammle und dann natürlich mitten auf das
Kunſtwerk falle; er verbreitete ſich des Näheren und
Nächſten ſpeziell über den krampfartigen Huſtenreiz,
der gerade nach Löſung eines Katarrhs zurückbleibe;
eine Reihe von Bildern: Kitzeln mit einer feinen Nadel,
einem Roßhaar, Zuſammenſchnüren mit einem Pech¬
faden und dergleichen, wurden verwendet, — und ſo
ſchien es ſich in's Unendliche ziehen zu wollen. Wir
waren jetzt in einen der Tunnels eingetreten, die ſo
kühn durch die Felswände des Axenbergs geſprengt
ſind; A. E. verſtummte im Dunkel, während in mir
der angeſammelte Verdruß zum Zorn anſchwoll. Als
wir heraustraten und mein Begleiter alsbald ſeinen
Pechfaden wieder aufnahm, als ich hinabſah nach dem
See, wie er am Fuß des ſenkrechten Felsabſturzes
anſchlug, ſo war mir, als ſei mein Grimm mit
dieſem Geſtein und dieſer grollenden Flut Ein Ding
und müſſe ich auch ſo trutzig ſein wie der jähe Fels
und ſo brandig wie der Giſcht der anprallenden Woge
aufſchäumen, ich ſtand plötzlich ſtill und ſagte in hartem
Ton: „Herr, jetzt iſt Heu genug hunten!“ Ich wollte
raſch fortfahren, A. E. hätte mich faſt aus dem
Konzepte gebracht, er legte mir bei dieſen Worten die
Hand auf den Arm und fiel ſchnell und munter ein:
[53] „Hunten, Gegenſatz von drunten, das iſt gut, gutes
Wort, kannte es noch nicht, verſteh' es aber;“ jedoch,
einmal im Zuge, fuhr ich fort: „Sie glauben intereſ¬
ſant zu reden und reden nur langweilig; Sie gefallen
ſich darin, die Wahrheit des Lebens auf den Kopf zu
ſtellen; Sie haben einen Palaſt vor ſich und nehmen
zum Standpunkt für Ihr Urtheil die Hinterſeite mit
dem, was ſie verbirgt; was man vergeſſen ſoll, bei
dem halten Sie ſich auf, was des Denkens nicht werth
iſt, darüber ſtudieren Sie, daraus machen Sie ein
Syſtem! Was keiner Zeit werth iſt, dem widmen Sie
Ihre beſte Zeit, was winzig iſt, treiben Sie auf und
vergrößern Sie, um recht närriſch zürnen zu können.
Nicht aufgeſpart, ſondern aufgezehrt wird auf dieſem
Wege die Kraft des Widerſtandes gegen die großen
und ernſten Uebel des Lebens!“


A. E. beſah während dieſer Worte nachläßig ſeine
Cigarre, die dem Ende zuneigte; dieß reizte mich, noch
hinzuzuſetzen: „Uebrigens rauchen Sie auch zu viel! Laſſen
Sie das, und es wird mit den Katarrhen beſſer werden!“


Er hatte eben den Cigarrenſtumpf aus der Meer¬
ſchaumſpitze geblaſen, dieſer blieb an dem anklebenden
Ende des aufgerollten Deckblattes hängen; er ließ den
Klunker hin und her baumeln und ſah dieſen Pendel¬
ſchwingungen ein paar Sekunden zu, ſchickte dann
einen geruhigen Blick auf mich herüber und ſagte:
„So? Tetem? Adjes!“

[54]

Er zog den Hut, eilte hinweg und überließ mich
der vergeblichen Anſtrengung, in dem freilich ſehr ſchwa¬
chen Vorrath meiner Sprachkenntniſſe eine Erklärung des
nie gehörten Wortes zu ſuchen. Es ſchien mir orien¬
taliſch und ich mußte den Verſuch aufgeben, da mein
Wiſſen an dem Gebiete der Sprachen des Morgen¬
landes rein aufhört. Ein Spott mußte jedenfalls
dahinter ſtecken. Dazu kam das „Adjes“. Ich ver¬
langte nicht, daß er Adieu hätte ſagen ſollen, aber
wenigſtens: Adje; das s war grob. — Ich ſuchte
mir den ſchroffen Abbruch aus dem Sinn zu ſchlagen,
um mir die Reiſelaune nicht zu verderben.


Flüelen war erreicht, A. E. aus meinen Augen
verſchwunden. Ich ſchlenderte erſt an der Schifflände,
es unterhielt mich, dem Treiben des Waſſerverkehrs
zuzuſehen. Ein abgehendes Dampfboot nahm Reiſende
auf, die mit der Poſt über den Gotthard gekommen
waren, darunter drei Jeſuiten, die, kaum eingeſtiegen,
ihr Brevier hervorzogen und, auf dem Verdeck wan¬
delnd, ihre Gebete halblaut ablaſen; die Ankunft eines
großen Rachens, der eine als engliſch oder ſchottiſch
leicht erkennbare Familie an's Land ſetzte, zog mich
ab und befreite mich von dem widerlichen Anblick.
Ein würdiger älterer Herr, eine anmuthvolle Frau,
aus deren Schalten mit zwei ſchönen Knaben zu ent¬
nehmen war, daß ſie ihre Mutter ſein mußte, während
ihre ganze Erſcheinung zu jenen gehörte, die ſich in
[55] die reiferen Jahre das Gepräge der Jugendlichkeit, der
Jungfräulichkeit bewahren; eine ältere Dame mit
langem, welkem Geſicht und geſtrengen, eſſigſauren,
puritaniſchen Zügen, offenbar Gouvernante. Alle waren
in Schwarz gekleidet; eigenthümlich wohl ſtand jener
edlen Geſtalt die ernſte Farbe, ihr Wuchs war von
der reinſten Schlankheit, es war, als biege ſich eine
junge Weide, wenn ſie ſich zu den Knaben niederneigte.
Ihre Geſichtsbildung war nicht eben regelmäßig ſchön,
aber durchdrungen und belebt von einem Ausdruck
der rührendſten Güte und Offenheit. Die Geſichtshaut
war blaß ohne Anſchein von Kränklichkeit, überhaucht
von jenem Dufte, der an den weichſten Pfirſichflaum
erinnert, und vollkommen geſtimmt zu dem glanzloſen
Aſchblond der anſpruchslos glatt geſcheitelten Haare.
Man hätte zu dieſer Farbe blaue oder graue Augen
erwartet, ſie waren aber braun, dunkel, ſüdlich, doch
ohne einen Funken der Leidenſchaftlichkeit, die oft aus
ſolchen Augen blitzt, vielmehr lag darüber jenes Etwas,
das durch den Ausdruck: beflort, beſchleiert nur
mangelhaft bezeichnet wird. Es war das nicht bloß
ein Zug von Trauer, wozu man die Erklärung in
ihrem ſchwarzen Anzug finden konnte, es waren die
langen Wimpern und ihre beſchattende Wirkung, die
großen Augenlider, es war der mandelförmige Schnitt
des ganzen Auges, was jene Art träumeriſcher Verhüllung
bewirkte, wie man ſie wohl bei umbriſch-italieniſchen
[56] Frauenaugen trifft, aber bei angelſächſiſchem Blute
nicht zu finden gewohnt iſt. Die Lippen waren nicht
zurückgekniffen, wie man es bei Mann und Weib im
engliſchen Volke ſo häufig bemerkt und aus der Ge¬
wöhnung dieſes Organs bei der Ausſprache des W
ſich leicht erklärt, ſondern geſund, voll, blühend, ath¬
mend, umſpielt von einem Zuge, der mir vor die Seele
führte, was der Edelmann im König Lear zu Herzog
Kent von Cordelia ſagt und ihren „reifen“ Lippen.
Schwer rieß ich mich von dem Anblick los, der mich
mehr und mehr gefangen nahm. Aber mein Reiſe¬
plan ſtand feſt, ich mußte vorwärts, denn ich wollte
heute noch Amſteg erreichen, dort übernachten, morgen
den Gotthardpaß in ſeinen wilden Hauptſtellen mit
Muße beſchauen, etwa bis Andermatt gelangen und
von da die Rückreiſe antreten, denn meine Zeit war
kurz bemeſſen; Alles zu Fuß, um ganz unabhängig der
Betrachtung mich hingeben zu können. Mittag wollte
ich in Bürglen machen, im Schächenthal; ich hatte mir
den kleinen Abſtecher vorgenommen, um doch auch ein¬
mal die Stätte zu ſehen, wohin die Sage Tell's
Heimat verlegt und die durch Uhland's Gedicht über
ſeinen Tod gefeiert iſt. Ich gieng raſch durch Flüelen,
nachdem ich noch geſehen hatte, wie die engliſche Fa¬
milie ſich im ausgeworfenen Netz eines Heeres von
Kutſchern verſtrickte, wobei die ſteife ältere Dame die
Rolle der Dolmetſcherin in den Unterhandlungen um
[57] den Fahrpreis zu ſpielen ſchien. In Altorf wollte ich
erſt kurzen Halt machen und einen Imbiß nehmen. Wie
ich da einem Wirthshauſe zugehe, führt mich der Weg
an einem Trödlerkram vorüber, mein Blick fällt durch's
niedrige Fenſter in die Stube und wen erkenne ich da
drin? Meinen A. E., eben eine Brille prüfend, gegen
das Fenſter haltend; der Trödler, ſichtbar zum Kaufe
zuredend, ſtand neben ihm. Ich blickte ſchnell wieder weg,
hatte aber doch Zeit gehabt, zu bemerken, daß es eine
Brille von gediegen altmodiſcher Geſtalt war, und mich
an die Zwiebel zu erinnern, die mir in Brunnen als
redlichere Nachfolgerin einer zertrümmerten Uhr gezeigt
worden war. Zugleich meinte ich, ſo flüchtig mein
Blick auch geweſen, doch beobachtet zu haben, daß A.
E. mich erkannte und ſich umdrehte.


Ich weiß nicht, welche Rührung in dieſem Mo¬
mente über mich kam. Während der Anblick doch eigent¬
lich komiſch war, fiel mir Alles ein, was mich an den
Mann angezogen, ja, ich muß geſtehen, mir imponirt,
mich ſogar in ein gewiſſes Verhältniß nicht drückender
Unſelbſtändigkeit zu ihm geſetzt hatte; ſeine Schwächen
und Grillen flößten mir nicht mehr Unwillen, ſondern
Theilnahme ein. Es kam mir klarer zum Bewußtſein,
was es doch eigentlich war, das dieſen Menſchen ſo
peinvoll empfindlich, ſo ſchaallos gegen die kleinen
Uebel des Lebens machte. Ja, ich war jetzt ſogar ge¬
neigt, den Ausdruck: Vernunftwuth, den er einmal
[58] von ſeiner durchdachten Leidenſchaft gegen dieſe Dinge
gebraucht hatte, zu verſtehen, zurechtzulegen. Kurz, ich
fieng an, zu bereuen, daß ich ihm unfreundlich be¬
gegnet war, und es tröſtete mich noch ein wenig, daß
ich ein noch härteres Wort, das mir dort am Axen¬
tunnel auf der Zunge lag, unterdrückt hatte, nemlich:
alter Kindskopf! Doch, das half nicht viel; ich ver¬
zehrte in der That mit mehr Hunger als Frohheit
meine paar Schinkenſchnitten und Eier und nahm
ziemlich verdroſſen, mit wenig Sinn für große und
kleine Windgelle und Briſtenſtock, meinen Weg unter
die Füße. Ein Wagen fuhr an mir vorüber, ich
erkannte gleich an einem der Knaben, der neben dem
Kutſcher auf dem Bocke ſaß, die fremde Familie
wieder, ich traute meinen Augen kaum, als mir ſchien,
ich entdecke im Innern neben der anmuthigen Britin
oder Schottin meinen A. E. Das Fahren an ſich
ſchon war es, was mich an ihm wunderte, denn er
hatte auf der Axenſtraße, als ein Reiſewagen an uns
vorüberfuhr, geſagt: „Da hocken ſie wieder drin im
Kaſten, der nach Leder riecht, und haben nicht ein
Fleckchen Raum, um nur auszuſpucken,“ wobei er, ſeiner
Freiheit froh, in ſtolzem, kühnem Bogen die hiemit be¬
zeichnete That verrichtete; er hatte ferner bei derſelben
Gelegenheit das Fahren für die unter allen Umſtänden
unbequemſte, dummſte und anſtrengendſte Art der Fort¬
bewegung erklärt. „Was haben doch die Menſchen
[59] für Begriffe von Freiheit,“ rief er aus, „da meinen ſie,
frei zu ſein, weil ſie die Beine nicht rühren!“ So
nahe es nun lag, den Widerſpruch, in welchen der
leidenſchaftliche Freund freier Bewegung ſich dießmal
begeben, aus einer Bekanntſchaft mit der Familie zu
erklären, der Zuſtand meines Gewiſſens raunte ſtatt
deſſen mir ein, er werde ſich zur Fahrt entſchloſſen
haben, um mit gutem Schick an mir vorüberzukommen;
eine Vorſtellung, die eben nicht geeignet war, meine
Laune zu verbeſſern. Daß mein Reiſeziel der Gott¬
hard ſei, hatte ich A. E. geſagt; daß auch er dahin
ſtrebe, war keine Frage; es ſchien mir ſo die Hoff¬
nung genommen, noch einmal mit ihm zuſammenzu¬
treffen und eine Ausſöhnung zu ſuchen. Da ich nun
doch einmal zum Nachzügler geworden, blieb ich um ſo
mehr bei meinem Vorhaben, die kurze Seitenwendung
von der Hauptſtraße ab nach Bürglen zu nehmen.


Der Kellner im Gaſthof zum „Wilhelm Tell“
ſagte mir, wie ich eintrat, ich könne ſogleich am Mit¬
tagstiſch Platz nehmen, das Eſſen habe begonnen, er
werde mir nachſerviren. Ich lege ab, laſſe meinen
Anzug ſäubern, trete ein und mein erſter Blick begegnet
dem verlorenen Reiſegenoſſen. Er ſaß mitten unter
der engliſchen Familie, dem Alten gegenüber, zu ſeiner
Rechten die junge Frau oder vielmehr ſichtlich Wittwe,
zu ſeiner Linken die Gouvernante. Die Tafel war außer¬
dem von Fremden ſo beſetzt, daß für mich nur Ein
[60] Platz blieb, und zwar neben dem älteren Herrn und den
zwei Knaben, dem Meidenden und Gemiedenen ſchief
gegenüber. Er grüßte nicht unfreundlich, doch formell.
Er war im Geſpräche mit der Mißeß begriffen. Sie
ſprachen italieniſch, wohl in der Vorausſetzung, daß
Wenige der Tiſchgäſte dieſer Sprache kundig ſeien.
Ohne zu horchen konnte ich wohl vernehmen, daß
einige Fragen A. E.'s ſich auf einen Todesfall beziehen
mußten, deſſen Einzelheiten ihm wohl unterwegs ſchon
erzählt worden waren. Ich hörte den Namen Erik.
Aus Ton und Mienen der Dame ließ ſich erkennen,
daß das Geſpräch ſich auf den verlorenen Gatten be¬
ziehen mußte; es war der Ausdruck gehaltenen Schmerzes
einer Seele, die mit der Kraft der Sanftmuth ſchweres
Leiden beherrſcht. Tief bewegt hörte A. E. ihr zu,
man ſah, daß er dieſen Kummer im tiefſten Gemüthe
theilte und ebenſoſehr die Schönheit des Schmerzes
in dieſer anmuthvollen Erſcheinung bewunderte. Mit
Blicken wie Blicke der Andacht ſchaute er zu ihr auf
und wirklich mußte ich mir nun ſagen, daß mir nicht
umſonſt Cordelia in den Sinn gekommen war, denn
niemals wird Wehmuth und ein gewiſſes Lächeln, wie
es auf den Lippen, in den Wangengrübchen wohl¬
wollender Seelen zum bleibenden Zuge wird, ſich
ſchöner auf einem Angeſicht verſchwiſtern. Nicht minder
herzgewinnend war die ſanfte Stimme und der Klang
des Italieniſchen in dieſem Munde. Sie ſprach es
[61] nicht völlig rein; der Vokal a nahm eine Färbung
gegen ae an, aber nur eine ganz leiſe, weit entfernt
von der Quetſchung, die dieſer reine Laut in der eng¬
liſchen Ausſprache ſonſt erfahren muß. Alle übrigen
Buchſtaben kamen ganz lauter und richtig, nur viel
milder, als aus ſüdlichen Organen; es war eine Süßig¬
keit, Zartheit, Keuſchheit in dieſer Miſchung, in dieſem
dämpfenden Liſpeln, wobei doch der Beſtimmtheit und
Klarheit der Laute ihre Geltung blieb, daß ich mir ſagen
mußte, man könnte nicht nur lingua toscana in
bocca romana rühmen, ſondern auch lingua toscana
in bocca inglese. Die ältliche Dame hatte inzwiſchen mit
dem alten Herrn ein Geſpräch über Volk und Natur der
Schweiz begonnen, ſoviel ſie auf dieſer Reiſe bis dahin
geſehen, und wandte ſich jetzt an A. E. mit der Auf¬
forderung, auch ſeine Meinung zu ſagen. Das Volk
fand ſie etwas viereckig und derb. Sie war bei dieſer
Anrede vom Engliſchen in's Deutſche übergegangen und
ſchien gerne zu zeigen, daß ſie dieſer Sprache mächtig
ſei, deren Töne in ihrem Mund allerdings ſtark angel¬
ſächſiſche Trübung annahmen. Die Unterbrechung war
ihm ſichtbar läſtig, es zuckte auf ſeinem Geſicht und
er diente nun der Fragerin mit einer Vergleichung der
ſchottiſchen Hochländer und der Schweizer, die offenbar
zu Gunſten der Letzteren gemünzt war, deren Inhalt
ich aber kaum verfolgen konnte, da ſein ſonderbares
Lippenſpiel meine ganze Aufmerkſamkeit anzog. Er
[62] lenkte nämlich das Geſpräch wieder in's Engliſche und
ſichtbar trieb ihn der Aerger, die engliſche Ausſprache
zu karikiren. Er zog zum Beiſpiel bei den Sylben,
wo w und a zuſammentreffen, wie bei what, die Mund¬
winkel um ein Gutes weiter zurück, als üblich, und
brachte ſo eine Reihe froſchähnlich quackender Laute
hervor, welche die beiden Knaben mit offenem Munde
und ſichtbar gegen Lachreiz ankämpfend beſtaunten,
und mir gieng es nicht beſſer. Jetzt kam die ſäuerliche
Dame, die das in ihrem Eifer nicht merkte, auf die
Landſchaft zu ſprechen und dehnte ihre Vergleichung auch
auf Norwegen aus. A. E. wurde dabei ſichtbar un¬
ruhig und als ſie die Schönheit der Waſſerfälle rühmte,
den Rjukanfoß als den mächtigſten, den Ovſthusfoß
als den eigenthümlichſten erwähnte, fuhr A. E. ſichtbar
zuſammen, erbleichte und das Meſſer entfiel ſeiner Hand.


Jetzt wendete ſich die aſchblonde junge Frau zu
ihm her, näherte ihm mit unausſprechlich ſanfter Beu¬
gung — Johannes auf Leonardo's da Vinci Abend¬
mahl fiel mir ein — ihr liebliches Haupt und begann
zu flüſtern. Ich konnte vernehmen, daß es nicht
engliſch und nicht italieniſch war, was ſie jetzt ſprach;
es mußte, wie ich aus einigen Lauten ſchloß, norwegiſch¬
däniſch ſein.


Der ernſte alte Herr hatte inzwiſchen mit ſeinen
Enkeln — denn das mußten die Knaben ja ſein —
ein Geſpräch über Wilhelm Tell begonnen. „Laßt ſehen,“
[63] ſagte er, „was ihr von Miß Alton gelernt habt,“ und
ich erkannte jetzt, was die ſteife Dame bei der Fa¬
milie zu thun habe. Sie war Lehrerin der Knaben
im Deutſchen und zugleich Reiſemarſchallin in deutſch
redendem Land. Dieſe zeigten ſich nicht nur in der
Sage, ſondern auch in Schiller's Drama wohl bewan¬
dert und die Sprachmeiſterin nahm nun Anlaß, in
volleres Licht zu ſetzen, wie weit ſie es in ihrem
Unterricht gebracht habe, ſie forderte den älteren, etwa
dreizehnjährigen, auf, auch Schiller'ſche Verſe in an¬
tikem Metrum vorzutragen. Er wählte das ſchöne
Diſtichon auf das Diſtichon, und begann, unterſtützt
von der mitſkandirenden Lehrerin:


„Im Hexameter ſteigt des Springquells flüſſige Säule —“


So weit kam er.


Die Geſchichte iſt eine ſtrenge Wiſſenſchaft. Sie
kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird ſie
beobachten, ſo lang es thunlich, ohne ein weſentliches
Stück der Wahrheit zu unterdrücken. Würde dieſe
leiden, wenn ſie jener ſich fügte: ſie wird, wenn auch
mit Wehmuth, unerbittlich ihre Bahn verfolgen. Zarte
Gemüther, denen dieſe Strenge unerträglich: ſie ſind
frei, ſie können die ernſten Blätter der Geſchichte zu¬
klappen, ſie können weiter leſen — nach Belieben.
Es hatte mir geſchienen, A. E. ſei des läſtigen Uebels,
das ihn auf der Reiſe befallen, ungewöhnlich ſchnell
los geworden; doch das war Täuſchung.


[64]

Ein Niesreiz juſt bei jenen Worten — ſchnelle
Seitenwendung von der ſchönen Nachbarin ab —
Taſchentuch — vorſichtige Applikation — trotzdem —
der Ueberraſchte ſchien im Drang des Augenblicks ver¬
ſäumt zu haben, eine doppelte Ringmauer von Lein¬
wandfalten um den kleinen Geyſer der Naſe zu bilden,
— eine ganz dünne Fontäne ſteigt in zierlichem Bo¬
gen und fällt nieder in den ſoeben mit Kappernſauce
friſch verſehenen Teller der geſtrengen Dame zur Linken.
Dieſe zuckt zuſammen und rückt mit dem Stuhl. Die
Freundin zur Rechten bemerkt den Vorgang nicht,
wohl aber der Alte, der ein Lächeln unterdrückt, und
ſehr wohl die zwei Knaben, die ein helles Lachen nicht
unterdrücken, und nicht minder der Kellner, ein Sub¬
jekt mit einem jener Geſichter, die man als ohrfeigen¬
würdig bezeichnen möchte; er ſprach einen abgeriebenen
rheiniſchen Dialekt und war offenbar nur für die
Sommerſaiſon herbeſchrieben, A. E. hatte ihm ab und
zu einen Blick voll Widerwillen zugeworfen; dieſer
nahm grinſend den Teller ſchnell weg und ſchob einen
neuen hin.


A. E. war verſchwunden, als hätte ihn die Erde
verſchlungen. Beklommen ſuchte ich eine Unterhaltung
mit der ſchönen Frau einzuleiten, vermochte aber in
meiner Beunruhigung nicht, ſie fortzuführen, und brach
auf, ehe der Nachtiſch kam. Ich erledigte meine Zeche
und war unten im Hausflur angekommen, als A. E.
[65] die Treppe herabgeraſſelt kam, hinter ihm der Kellner,
der ihm nachrief, er bekomme noch heraus. A. E.
hörte nicht, wollte an mir vorüberſtürzen, blieb aber
plötzlich ſtehen, faßte mich am Arm und zeigte auf
eine Katze, die mit ihrem Jungen auf einem Stroh¬
ſtuhl ſchlief. Es war ein ſchönes Thier, von dem
ſeltenen dreifarbigen Schlage, ſchwarz, rothgelb, weiß,
und ſie hatte beide Vorderfüße um ihr gleichfarbiges
Junges gelegt: eine wirklich rührende Gruppe. „O,
ſehen Sie,“ rief A. E., „aber auch wie eine Raphae¬
liſche Madonna!“ — Das war Sache eines Moments;
im nächſten ſieht A. E. den Kellner vor ſich ſtehen,
der ihm, noch daſſelbe Grinſen auf dem Geſicht, wo¬
mit er vorhin den Teller der Gouvernante gewechſelt
und dadurch die leidige Ungeſchicklichkeit markirt hatte,
nun das übrige Geld hinhält. Ihm verſetzt A. E., die
Fauſt ballend, mit dem Gelenk des Mittelfingers einen
Stoß unter das Kinn und ſtürmt aus dem Hauſe.


Der Kellner war rücktaumelnd auf die Treppe hin¬
geſtürzt, richtete ſich auf, ſtand zuerſt ſprachlos und
brach dann in heftiges Schelten aus. Ich konnte
mich nicht enthalten, dem Menſchen zu ſagen, ihm
geſchehe recht; jetzt fährt er wild gegen mich auf, in
verſpäteter, fehlgehender Rache hebt er die Fauſt und
ich verſetze ihm eine Ohrfeige. Es ſtand nun bedenk¬
lich, denn am Thürpfoſten lehnte der Hausknecht und
der doppelt Geſchlagene rief ihn zu Hülfe; dieſer jedoch
Viſcher, Auch Einer. I. 5[66] verharrte in ſeinem Phlegma und ſagte zu mir: „Schad't
nichts, der Herr iſt immer naſeweiß geweſen, gehört
ihm ſchon lang eins hinter die Ohren.“ So konnte ich
denn ohne weitere Fährlichkeit abziehen und fragte nicht
nach den Schimpfworten, die mir der Beſtrafte nachrief.


So war ich denn wieder allein. Wohl ſagte mir
nun mein Gefühl, daß hier im Grunde etwas Trau¬
riges vorgegangen ſei; mußte an ſich ſchon ein ſo
peinlicher Zufall einen Mann, wie ich A. E. kannte,
höchſt empfindlich treffen, ſo waren hier überdieß offen¬
bar Beziehungen zerriſſen, deren Tiefe und Zartheit
ich gar wohl ahnen konnte. Allein das Mitleid blieb
ganz im Hintergrund, ich verſpürte zunächſt keine Nach¬
wirkung in mir, als eine unbezwingliche Lachluſt,
mehr allerdings über die Prügelſzene am Schluß, als
über die Kataſtrophe bei Tiſch. Ja es wollte mir
kaum gelingen, angeſichts der Begegnenden auf der
Straße die Erſcheinung der Menſchenwürde nothdürftig
aufrecht zu erhalten; einmal, als eben ein paar roth¬
backige Bauernmädchen vorübergiengen, konnte ich mich
ſo wenig beherrſchen, lachte ſo laut auf, daß ich die
eine hinter mir ſagen hörte: „Was hat auch der Herr,
es iſt ja noh niht Suſerzit.“ Der trotzige Ernſt
der furchtbaren Steinpyramiden, Stöcke, Kuppen, der
ſchroffen Wände, die mir näher und näher entgegen¬
ſtarrten, als ich wieder in das Thal der Reuß einge¬
treten war, ſie vermochten nicht, mein muthwilliges
[67] Herz zu bändigen; als ich bei ſinkendem Abend in
der Nähe von Klus dem eilenden Bergfluß näher
trat und ſein Rauſchen mir ſtärker und ſtärker in das
Ohr drang, wurde mein Zuſtand ſtatt ernſter nur
närriſcher. Das dumme, unſinnnige Wort Tetem
kam mir in's Gedächtniß und es war mir angethan,
daß ich den blöden Laut nicht mehr los wurde. Ein
begegnender Bauer grüßte mich und ich antwortete:
„Tetem“. Ich blieb öfters ſtehen und ſtarrte in die
dunkel murrende, dem ſchroffen Felsblock auf ge¬
hemmter Bahn entgegengrollende Flut, ich wollte
an dieſem Bilde mich zum Ernſte zwingen, aber es
half nichts: als hätte ich die kindiſche Wortform in
den Strudeln geleſen, zöge ſie als Reſultat meiner Be¬
trachtung aus der wilden Woge, mußte ich denken, ſagen:
„Richtig, ja, Tetem!“ Die Felshäupter, Zacken, Zinken,
Ecken hatten Mäuler, nickten und blöckten: „Tetem!“,
„Tetem!“ brummte der Briſtenſtock, „Tetem!“ kicherte
der ſchroffe Gitſchen, „Tetem!“ gellten die Windgellen.


Ich wurde mir ſelbſt zum Abſcheu und fieng das
Laufen an, um mir zu entſpringen; was half es?
Nun ſchlug meine Umhängetaſche mit rhythmiſchen
Schlägen mir an die Hüfte: „Tetem! Tetem!“ Ich
rieß ſie von der Schulter, es erſchien mir als das ein¬
zig Rationelle, ſie hoch in der Luft zu ſchwingen und
zur Strafe ſammt ihrem Inhalt an einem Felſen abzu¬
ſchlagen; der Inhalt fiel heraus, und während ich
[68] mich bückte, die ſieben Sachen aufzuleſen, erſchrack ich
über mich ſelbſt in der Tiefe meiner Seele: „Um
Gottes willen,“ rief es in mir, „der Menſch hat dich
angeſteckt, du wirſt verrückt!“ Es zogen mir Wolken,
Wallungen über das Gehirn her, und als ich in die
Wirbel ſah, in denen das Waſſer zwiſchen den Granit¬
blöcken ſich dreht, um dann ſchäumend vor- und hinab¬
zuſtürzen, ſo wurde mir, als wirble und ſchäume es mir
gerade ſo in meinem armen Kopfe. Ja, ja! es iſt nicht
anders, der Menſch hat dir's angethan! Aber während
ich innerlich ſo ſprach: der Menſch! ſtellte ſich frei¬
willig die Vernunft ein: der Menſch! O ja, ein
Menſch! ein menſchlicher Menſch! Die Stimmung
kam wieder, in welcher ich Bürglen zugewandert war:
Reue über mein hartes Anlaſſen dort auf der Axen¬
ſtraße, Rührung, Mitleid, Liebe, und hinter und über
der Liebe Achtung, und je mehr Achtung, um ſo mehr
wieder Mitleid; kreuzweiſe durchbohrt von all' den
widerſprechenden Gefühlen, aufgeregt im Grunde der
Seele und niedergeſchlagen zugleich langte ich in Am¬
ſteg an und nur die Ermüdung brachte mir den er¬
wünſchten Schlaf, tief und traumlos, wie er nach
tüchtigem Marſch den Wanderer erquickt.


Ich ſtand früh auf und gieng rüſtig meiner Straße.
Mein A. E. ſchien dießmal wenigſtens keine Wetter-
Kaſſandra geweſen zu ſein. Die Luft war hell; der
Briſtenſtock ſtieg rein gezeichnet in die Höhe und gönnte
[69] dem Auge, mit Wohlgefallen an ſeinem Kegel empor-
und an dem ſanft geſchwungenen Sattel ſeiner linken
Abdachung niederzuſteigen. Steiler und wilder ſtarrten
die näheren Felſen aus dem bewaldeten Fuße hinan
und ſchauten ernſt auf die ſanften Matten, die fried¬
lichen Dörfer herab. Bald offener fließend, bald in
tiefe Schluchten eingewühlt, dumpf toſend und
trommelnd wälzte die Reuß ihre milchig hellgraublauen
Wogen. Manche Stellen nah' am Wege erzählten
eine grauſe Geſchichte von Zertrümmerung der Fels¬
welt des Hochgebirges. Da lagen ganze Haufen wild
übereinandergeworfener Steinmaſſen, in allen Rich¬
tungen der Stellung verworren hingeſchüttet und auf¬
gethürmt; hier und da aber ragte ein vereinzelter
Felsblock von ungeheurer Größe, bemoost und etwa
von kleinen Tannen bewachſen, die mit den ſeltſam
verkrümmten Wurzeln in die Spalten hineinſuchten,
um kümmerliche Nahrung zu finden. Schaute man
nach den Gebirgswänden auf, ſo konnte man bei dem
einen und andern dieſer niedergeſtürzten Rieſen noch
die Stelle entdecken, wo er einſt oben hieng, da ſich
die Gleichheit ſeiner Form mit den Umriſſen einer
Kluft in dem Felſenkörper, zu dem er gehört haben
mußte, klar erkennen ließ. Mit welchem Donner
mögen einſt dieſe Laſten, Alles rings zerſchmetternd,
nieder in's Thal geſprungen ſein! In der Nähe von
Waſen fand ich einen ſolchen Block am Wege, wohl
[70] fünfzehn Ellen hoch, dem das Alles bezwingende Ge¬
ſchick eine ſeltſame Verknüpfung des Furchtbaren mit
dem Komiſchen beſchieden hatte: er trug ein Kartoffel¬
äckerchen auf ſeinem Rücken. Ich mußte geradezu
lachen; der Gegenſtand ſchien mir ſo ſehr bedürftig,
poetiſch behandelt zu werden, daß ich in Waſen, wo
ich eine Erfriſchung einnahm, trotz allem herzlichen
Verzicht auf den Anſpruch, ein Dichter zu ſein, ein
paar Verſe darauf ſchmieden mußte. Der Leſer wird
erfahren, warum ich ſo unbeſcheiden bin, dieß anzu¬
führen. Als ich weiter gieng, fühlte ich mich über
Erwarten müde. Ich hatte doch erſt dritthalb Stunden
gemacht. Es war eine Schwüle gekommen, die Luft
wurde dunſtig ohne Wolken, der Dunſt nahm einen
ſtrohähnlich fahlgelben Ton an, verdünnte ſich aber
allmälig und wiech einer neuen, ſonderbaren, unheimlichen
Helle, da von den Maſſen im Mittel- und Hinter¬
grund ganz jener bläuliche Duft hinwegſchwand, welcher
doch eigentlich allein der Landſchaft den maleriſchen
Schein verleiht, der ſie vom Stoffartigen entlaſtet, zu¬
gleich aber die Entfernungsgrade klar unterſcheidet und
dadurch unſer Raumgefühl ausweitend lüftet und be¬
glückt. Zufrieden aber, daß man doch deutlich ſehen
konnte, drang ich vorwärts, denn meiner wartete noch
das Größte: die ſtarrſte Felswelt und der wildeſte
Kampf zwiſchen Waſſer und Fels auf der Strecke von
Göſchenen bis zum Urner-Loch, die ſchauerliche Schlucht,
[71] die den Namen der Schöllenen trägt. „Kennſt du
den Berg und ſeinen Wolkenſteg?“ ſang es in mir,
als ich in die Biegung eintrat, welche die Straße bei
dem genannten Dorf links nimmt, — „in Höhlen
wohnt der Drachen alte Brut — es ſtürzt der Fels
und über ihn die Flut.“ — Die Phantaſie läßt ſich
den Zwang nicht anthun, ſich die Art, wie ſich einſt
das Waſſer dieſen Weg bahnte, als einen Jahrhunderte,
Jahrtauſende dauernd langſamen Gang vorzuſtellen,
ſie muß ſich den Durchbruch wie einen fürchterlichen
ſtürmiſchen Gewaltakt denken, ſie wirft ſich ſelbſt in's
unwiderſtehliche Element hinein, ſtürzt ſich tobend mit
ihm auf die trotzenden Rieſen, zertrümmert ſie, ſchleu¬
dert ſich ihre ungeheuren Blöcke in den Weg und
ſchäumt zornig ziſchend, brauſend, brüllend über das
ſelbſtbereitete Hinderniß dahin.


Bei einer der Windungen des Weges bekam ich
plötzlich einen Stoß, der mich faſt zu Boden geworfen
hätte. Auf Geierſittigen war jetzt der Föhn über das
Joch herabgeſchoſſen und ſchrie wüthend auf, da er
ſie an den ſtahlharten Felswänden zerſtieß. Zwiſchen
ſein Aechzen, Pfeifen, Kreiſchen, Heulen miſchten die
klagenden, grollenden Waſſer ihr Weinen, ihr Schelten,
ihren Donner; es war, als ſei die Hölle losgelaſſen.
Die Sinne wurden betäubt, die Augen brannten in
ihren Höhlen, es war, als ſiedete es mir in den Ohren,
als wäre mir hölliſcher Schwefelbrodem durch alle
[72] Poren der Haut in den Leib gepeitſcht, glühte mir
den Schlund herauf und hauchte Flammen aus meinen
heißen Lippen, meine Schritte taumelten und ſchwankten,
als wäre ich betrunken. Und jetzt, — halt, was ſehe
ich? Täuſcht es mir der Schwindel vor? Auf dem
Vorſprung eines der granitenen Felsungeheuer eine
Geſtalt — iſt es möglich? kann ein Menſch dort hin¬
aufgelangen? — und die Geſtalt: ich erkenne ſie —
A. E! Den Rücken an die Felswand geſtemmt, einen
Fuß vorgeſtellt, die Fauſt himmelwärts geballt —
der Sturm wühlt in ſeinen Locken — den leichten
Mantel, den er auf der Wanderung gerollt über die
Schulter getragen, hat er umgenommen, er flattert in
den Stößen und Wirbeln der Windsbraut, und ſie
zaust und zaust, bis er ihm vom Leibe gezerrt iſt,
dort fliegt er, bleibt an einem Dornbuſch hoch an der
Felswand wie eine geſpießte Fledermaus hängen —
aber A. E. ſelbſt — man ſieht: er ſpricht laut —
man kann nicht hören —


Ich ſuchte näher zu kommen, es gelang mir mit
ſchwierigem Klettern ſo weit, daß ich einige zuſam¬
menhängende Worte wenigſtens in den Augenblicken ver¬
nahm, wo der Sturm, in ſeinem Anprall an die
Hinderniſſe der Felsſchlucht wechſelsweiſe nach allen
Richtungen ſtoßend, von der Stelle, wo A. E. ſtand,
nach meiner Seite her blies. Ich ſuche dieſe Bruch¬
ſtücke wiederzugeben. Die Gedankenſtriche, die ich da¬
[73] zwiſchen ſetze, ſollen die Stellen anzeigen, wo das
Getöſe des Windes und das Rauſchen der ſtürzenden,
ſchäumenden Waſſer mir das wilde Selbſtgeſpräch in
Stücke rieß. Ich habe bisher verſäumt, die Erſchei¬
nung des Mannes näher zu ſchildern. Es war mir vom
erſten Moment an eine Aehnlichkeit mit Hölderlin auf¬
gefallen; der Leſer kennt wohl das Titelkupfer in der
Ausgabe der Gedichte von 1843; der unglückliche
Dichter iſt hier im hohen Alter abgebildet; dieſes hat
nicht vermocht, dem faſt regelmäßigen Profil ſeinen
Adel zu nehmen, aber es hat im Bunde mit dem
Wahnſinn die hohe Stirn, die feinen Züge tragiſch
zerfurcht; man verjünge dieſe Züge zu etwa fünfzig
Jahren, denke ſie ſich überhaupt markiger, die Stirne
etwas weniger ſteil, doch hoch, weniger gefaltet, doch
nicht ohne einige Furchen über der Naſenwurzel, man
öffne die Augen etwas weiter, laſſe ſie aber gleich
tiefliegend unter ſtarkem Augenknochen, man ziehe die
Mundwinkel um's Kennen weniger herab, ſo wenig
nur, daß ein Gepräge von Gewohnheit bitteren Be¬
trachtens nicht ganz aus dieſer Linie verſchwindet, halte
aber im Ganzen das wohlgebildete Profil feſt, man
ſetze dieſen Kopf auf eine muskulöſe Geſtalt: ſo kann
man ſich eine Vorſtellung von dem ſeltſamen Reiſe¬
freund machen, um den mich meine Härte gebracht
hatte; ich muß beifügen, daß mir die Rückführung
erleichtert war, da ich Hölderlin ſchon zu einer Zeit
[74] geſehen habe, wo jene zwei Feinde ſeine Erſcheinung
noch nicht ſo ſehr zermürbt und gebrochen hatten.
Leicht erkennt der Leſer aus dem Bisherigen, daß der
Ausgangspunkt der Seltſamkeiten, die er an unſerem
Manne kennen gelernt hat, in einer Grundſtimmung,
einer Ideenrichtung liegen mußte, die dem Geiſte des
früh verdunkelten Dichters verwandt war, aber ebenſo
leicht, daß der ſtärkeren Männlichkeit in der Erſcheinung
des Erſteren etwas im Innern entſprach, was dem
Zweiten ganz fremd war. Hölderlin war humorlos;
ich kann mir nicht denken, daß der unglückliche Dichter
aus dem Ernſte jemals in ſolche Derbheit hätte um¬
ſpringen können, wie A. E. es liebte. Eben an dieſe
Derbheiten, an dieſe Stöße des Zorns und gröblichen
Witze hatte ich ſchon bisher den tröſtlichen Gedanken
geknüpft, A. E. könne nicht der Verzweiflung, nicht
dem Wahnſinn verfallen, wie der wehrloſe ſchwäbiſche
Sänger. Solche Umſprünge, ja Cyniſmen wird man
nun auch mitten aus den Worten des tiefſten Seelen¬
wehs in dieſem verzweifelten Selbſtgeſpräch heraus¬
hören und ich geſtehe, daß ſie in jenen todesbangen
Momenten mir doch eine gewiſſe Beruhigung gaben,
es werde nichts Aeußerſtes geſchehen; ſo betröſtete ich
mich wenigſtens bis zu dem Augenblick, wo —


Doch es iſt Zeit, den raſenden Redner zu ver¬
nehmen, ſo weit das Brüllen des Sturmwinds, das
Donnern der Waſſer es uns vergönnt.


[75]

„Apollo — deine Kinder — Söhne des Lichts
— warum nicht — leichten, rhythmiſchen Aether¬
ſchwingungen — — nicht ſterben dürfen an deinen
tödtlichen Göttergeſchoſſen — oder warum nicht —
Drachen Python — warum — mit Nadeln todtſtechen
— Ameiſenhaufen — zu Tode kitzeln — Nieſen —
Huſten — Schnäuzen — Qualle — Kaulquappe —
widerliche Schnecke — — Und Gott ſprach: es werde!
und der Katarrh ward —“


Täuſchte ich mich nicht, ſo konnte ich in dieſem
Moment von all' den umgebenden furchtbaren Ge¬
räuſchen ein ungeheures Räuſpern unterſcheiden.


„Welt — eine Erkältung des Abſoluten — in
der Einſamkeit — ſpuckte aus und die Welt war —
Die Welt vom Ewigen gehuſtet, geräuſpert —
Schandgallert — Brütneſt der Plagteufel — Trichi¬
nen des Daſeins —“


Jetzt ballte er wieder die Fauſt gegen einen der
Felsrieſen, die ihm gegenüberſtanden.


„— — verhöhnſt du mich? Urkerl — Schö¬
pfungstagen — immer gleich — undurchbohrbar —
Urlümmel — Schweig! — ſelbſt ein alter Rotzler —
Triefnaſe — — Menſch doch wenigſtens Schnupf¬
tuch —“


Er gebrauchte es mächtig.


„Warum — warum, ewiger Gott, der du nicht
biſt — dieß tiefe, ſtarke Bewußtſein der Zwecke —
[76] Zuſammenhangs — daß Etwas, auch nur Etwas ganz
ſei — Durchkreuzung — herrliche Gefühle — Kröten
— über den Weg laufen — Beinſtellen — uns,
deren Adlerſonnenblick — Ganzes — Harmonie —
Freude — einmal — einmal — Blütenkelch —
Feldwanze darin — Geſpenſter-Angſt, Tag und
Nacht — Herzensbangigkeit, tiefe — unſichtbaren
Feind — Furcht? — Nie, — vor keinem ſichtbaren —
Will endlich frei ſein — frei — Angſtband zerreißen
— in Fetzen vor deine Füße! — Ha! Wie? Du auch
da unten im Waſſerſtrudel, Nixe mit den Fiſchaugen?
Kennſt mich noch? Glotzſt herauf? Soll ich kommen?
Fort! fort! Nicht zu dir, nicht dir zulieb! —
— Suwarow — weiß, — Gebrüll der Schlacht —
wie ſo wohl, ſo frei — Gebeine im wüthenden Waſſer¬
ſtrudel bleichen —“


Er that auf der Spanne Raums über dem Ab¬
grund einen Schritt — eine kupferroth glühende Wolke
war über der Schlucht aufgezogen, auf deren Grunde
ſich dunkel die wilde Geſtalt abhob, über ihm flatterte,
gegen die Sturmwirbel mit rudernden Schwingen an¬
ſtrebend und zappelnd, ein Rabe — tödtliche Angſt um
den Unglücklichen malte mir im Nu das Bild vor,
wie er zerſchellt in der Tiefe liege, ein Schmaus den
Vögeln des Himmels, ich mußte ihn retten, ſuchte
weiter aufzuklettern, gelangte mit äußerſter Noth lang¬
ſam um ein paar Schritte vorwärts, aber jetzt wackelte
[77] unter meiner Fußſpitze das ſchmale, kaum zollbreit
ausgeladene Felsſtückchen und unter der greifenden
Hand der kleine Zacken — ein Angſtſchrei — ich fiel,
ich verlor das Bewußtſein.


Ich erwachte und fand mich in A. E.'s Armen
liegend hart am ſteilen Ufer der toſenden Reuß, nahe
der Teufelsbrücke. Er goß mir mit der hohlen Hand
eiskaltes Waſſer über das Haupt. „Wie ſteht's?“
Ich taſtete an mir herum. „Suchen Sie ſich zu
bewegen!“ Ich konnte es, nur in der rechten Hüfte
und linken Schulter fühlte ich ſcharfe Schmerzen;
er unterſuchte und fand nur ſtarke Schürfungen.
Inzwiſchen ſah ich, daß ihm ſelbſt aus einem großen
Riß im Rockärmel das Blut hervorſchoß. Er zog den
Rock aus, ſtreifte den Hemdärmel auf und es zeigte
ſich eine lange Wunde, von einem großen Dorn oder
ſcharfen Felszacken geriſſen. Er wuſch ſich den Arm
mit der niedertriefenden Gletſchermilch einer Runſe,
an der wir uns befanden, und ſagte: „Es iſt nur eine
Fleiſchwunde, aber verbinden!“ Er ſtöberte in ſeinen
Taſchen und ich mußte in allem Elend einen Augen¬
blick lächeln, als neben zwei gebrauchten zwei unge¬
gebrauchte feine Leinwandnastücher zum Vorſchein
kamen. Ich half ihm den Verband anlegen und freute
mich, des Gebrauchs meiner Hände fähig zu ſein.
Bei dieſer Arbeit bemerkte ich eine lange große Narbe,
welche, durchkreuzt von der friſchen Wunde, ſchief über
[78] den rechten Oberarm lief. „Was iſt denn aber das?“
fragte ich. — „Ach,“ ſagte er, „der Lümmel, der däniſche
Dragoner bei Kruſau — ſtill davon! Das Moraliſche
verſteht ſich immer von ſelbſt!“


Ich richtete mich langſam auf, that ein paar
Schritte und fand, daß ich auch leidlich gehen konnte.
„Wir ſchleichen nach Göſchenen hinunter,“ ſagte er,
„kommen Sie.“ — „Warum nicht lieber vorwärts nach
Andermatt?“ — „Nein, nein! dort ſitzt es voll von
Fremden; drunten iſt's ſtill!“ Mit unendlicher Mühe
wurden die Hinderniſſe bis zur Teufelsbrücke über¬
wunden; er ſchob, zog, hielt mich, während ich
weniger kletterte, als auf allen Vieren kroch. Endlich
war die geebnete Straße erreicht, er gab mir den ge¬
ſunden Arm und mit langſamen Schritten begann
die nun etwas leichtere, doch immer noch ſchwierige
Wanderung. „Aber wie iſt's denn gegangen?“ fragte ich.
„Nun, ich hab' Sie auf einmal geſehen, wie Sie hiengen,
dann vorwärts klettern wollten. Wie ich herabgelangt
bin, das weiß der Himmel, ich nicht mehr. — Sehen
Sie dort!“ — Er zeigte nach der Stelle. „Nicht ein
Pfad, nur ein Ritzenzug im Fels, der mir für Gemſen
zu ungangbar ſchien, — es gelang mir, juſt noch im
rechten Augenblick unter Sie zu kommen, — Sie
ſchreien — gleiten mir an die Schulter, ich packe Sie,
— und nun, dann ſind wir eben miteinander herunter¬
gerumpelt, wie's zugieng, weiß ich eben auch nicht
[79] mehr — es iſt ja recht gnädig abgelaufen — nicht
immer können die Geiſter doch das Gute ſtören. Frau
von Vorſehung, geborene Zufall, hat ſich dießmal doch
ganz ordentlich gehalten.“


Wir ſchwiegen lang, dann fieng er, in den Anblick
der ſtürzenden Waſſer vertieft, an: „Wiſſen Sie, wo
die Schönheit liegt in dem Vers: ‚Es ſtürzt der Fels
und über ihn die Flut’? Gar nicht bloß im Klang
der Vokale und Konſonanten und nicht bloß im Kraft¬
ſtoß der einſylbigen Wörter; nein, hauptſächlich in
der Cäſur, die mitten in das Wort ‚über‘ fällt.
Wie die Woge da — ſehen Sie hin — über den glatt
geſpülten Felsblock rinnt, ſo das Wort über den
Vers-Einſchnitt.


Eine ſolche lehrhafte Bemerkung in ſolcher Stunde
wollte mir im erſten Augenblick ſchulmeiſterhaft er¬
ſcheinen, aber ſchnell beſann ich mich, daß ich darin
vielmehr ein Zeugniß ſokratiſcher Geiſteskraft zu achten
hatte; ich fand die Reflexion fein und richtig und die
heilſame Kühle wiſſenſchaftlichen Denkens drang mir be¬
ruhigend in die erſchütterte Seele, ja ich meinte zu
fühlen, daß ſie von innen auf die zerſtoßene, brennende
Haut herausdringe. Ich wollte eben meine Zuſtim¬
mung ausſprechen, als uns ein italieniſches Fuhrwerk
begegnete, gezogen von einem Maulthier, das ganz
nach der wälſchen Art aufgeſchirrt war: rother Feder¬
buſch, roth geſäumter Pelzbeſatz an den Scheuledern,
[80] um den Hals ein klingelndes Schellenband. Wir
freuten uns des Anblicks. „Das Maulthier ſucht im
Nebel ſeinen Weg,“ zitirte ich. „Ja, wie wir Alle,“
ſagte er, „nur ſtolpert es weniger.“


Wir verfielen wieder in langes Schweigen, Jeder
in ſich vertieft und bei der Mühe unſerer Bewegung
doppelt wenig zum Sprechen aufgelegt. Die Straße
war jetzt ganz menſchenleer.


Indem wir ſo dahinſchliechen, begegneten uns ein
paar Kerle, verlumpte Geſtalten, als Landſtreicher
leicht zu erkennen, gaben ſich ein Zeichen, als ſie uns
ſahen, und bettelten uns dann mit einem Tone an,
der auch ohne die unheimliche Erläuterung durch die
derben Stöcke, die ſie führten, nicht mißzuverſtehen
war. Plötzlich war A. E. ganz verändert; bolz¬
gerad aufgerichtet, nicht mehr ein Hölderlin, ſondern
ganz Bild des perſongewordenen Befehls, herrſchte er
die Strolche an, verhörte ſie wie ihr geſetzlicher Richter
nach Namen, Herkunft, Stand, kanzelte ſie dann als
Lumpen ab und ſchloß mit der Drohung, ſie arretieren
zu laſſen, wenn ſie ihm noch einmal unter Augen kämen.
Sie ſtanden überraſcht und verſchüchtert, doch zaudernd.
Jetzt kommandirte A. E. mit lautem und ſtraffem Stoß
der Stimme: „Links um! Vorwärts marſch!“ Es fuhr
ihnen wie ein Blitz in die Beine und ſie gehorchten.
Ich ſah recht, was die Perſönlichkeit allein, auch ohne
Machtmittel, durch das Gewicht des einfachen Im¬
[81] ponirens erreichen kann. „Sie können herrſchen,“ ſagte
ich. — „Es lernt ſich ein wenig,“ war die Antwort, „über
Subjekte immerhin, dagegen über Objekt — kaum, —
nicht — nie. — Uebrigens hatte ich den Kerlen am
Gang angeſehen, daß ſie Soldaten geweſen ſein müſſen.“


Darauf ruhten wir kurze Zeit an einer Stelle
aus, wo wir auf einen der reißendſten Waſſerſtrudel
hinabſahen. Wie wir uns ſchweigend das Schauſpiel
betrachteten, kam ein Gegenſtand hergeſchwommen, in
welchem wir, als er näher war, A. E.'s vom Sturm
geraubten breiten Hut erkannten, obwohl er ſich aller¬
dings in ſehr erſchüttertem Zuſtande befand. Die arme
Filzgeſtalt trieb dem quirlenden Keſſel hart an einem
der Abſtürze zu und ſpielte hier eine Weile im Kreiſe.
„Was mag nun der Filz wohl denken, daß das für
ein raſendes Zeug ſei, was ihn da umwirbelt?“ ſagte
ich. „Und was die wilde Reuß,“ ſetzte er hinzu, „daß
das wohl für ein Ding ſei, das ihr da aufgepackt
iſt?“ — „Nun, was neulich der Mutz im Berner Bären¬
graben dachte; als ein Hut hinunterfiel, hob er ihn
auf, ſah ihn lang an, drehte ihn zwiſchen den Tatzen
um, zerarbeitete ihn gründlich und fraß ihn dann
auf — geben Sie Acht, ſie wird's gleich ebenſo
machen!“ — Im ſelben Moment war das Artefact
vom Stromſturz ergriffen und verſchwand. „Doch
den Jüngling ſah Niemand wieder“ — oder auch:
„Denn die Elemente haſſen das Gebild der Menſchen¬
Viſcher, Auch Einer. I. 6[82] hand,“ zitirte A. E. und ſetzte lachend hinzu: „Und
ſo hätten wir uns denn in aller Trübſal doch noch
mit unſern zwei Klaſſikern beſchäftigt.“ Ich hatte bis
dahin vergeſſen, daß er barhaupt war, und ſuchte
ihm vergeblich meinen [Hut] aufzunöthigen, den ich, in
eine Felsſpalte geklemmt, wieder gefunden hatte. Die
ruhiger gewordene Luft ſpielte mit ſeinem feinen, auf
dem Scheitel etwas ſparſam gewordenen, nur um Stirne
und Hinterhaupt reichlicheren Haare. Es wurde mir
eigenthümlich weich zu Muthe, als ich dem ſo zuſah. —
Wir erreichten nun Göſchenen. Das Dorf kannte noch
nicht die Unruhe, die da herrſcht, ſeit man den Tunnel
gräbt, wir traten in ein ländlich ſolides Wirthshaus
ein, machten dem freundlich und mitleidig fragenden
Wirth etwas von einem unglücklichen Kletterverſuch
vor und A. E. zwang mich nun in's Bett, verſchwand
auf kurze Zeit, kam dann mit einem naſſen, ausge¬
wundenen Leintuch, wickelte mich kunſtgerecht und ſagte:
„So, jetzt ruhen Sie, ſchlafen ein Stündchen, ich will
inzwiſchen nach einem Bader umſchauen.“ Bald mel¬
dete ſich, als er hinweg war, der Schlummer bei mir,
nur ſchickte er ſich, ehe er eintrat, eine Reihe tod¬
banger Traumbilder voraus; ich glaubte von Fels zu
Fels in's Unendliche zu ſtürzen; ſo müßte es einem
Waſſerfall zu Muthe ſein, wenn er fühlen könnte; ich
zerſchellte tauſendmal in einer Minute zu Staub; ich
war der Filzhut, den wir treiben geſehen, ich war zu¬
[83] gleich auch ſein Träger; das Becken der Reuß, auf
dem ich ſchwamm, erſchien mir als Suppenteller, und
ich wurde für ſeine Entweihung verurtheilt, mit den
jäh abſtürzenden Wogen in die Tiefe geſchleudert zu
werden; ich war ein Leichnam, Raben zerhackten mich,
ein Geier ſchlug ſeine Krallen in meine linke Schulter,
ein Adler ſeinen Schnabel in die rechte Hüfte, ein
Felsblock fiel mir auf die Bruſt, das toſende Waſſer
ſchwemmte ihn weg, fuhr mir ziſchend in alle Röhren
des Leibes, mein ganzes Inneres fieng an zu rauſchen, zu
ſchäumen, ich wurde ſelbſt zum raſenden Strudel, löſte
mich in Schaum auf, im Schaum zerſtob der Traum
und ich ſank in das reine Dunkel des ganzen Schlafes.


Ich mochte ein paar Stündchen geſchlafen haben,
als ich, die Augen aufſchlagend, meinen Retter neben
mir ſitzen ſah. Ich erkannte ihn nicht ſogleich, denn er
hatte eine Pelzkappe auf dem Kopf. Er merkte es, zeigte
ſie mir her und erzählte, das Glück habe ihn an einen
ländlichen Kleiderkram geführt, wo er ſie gefunden.
Sie ſtand ihm wirklich ganz gut zu Geſichte. „Nun,“
fieng er dann an, „Sie ſehen ja ganz friſch aus, jetzt
aus der Wickel! und da iſt der Herr Obermedizinal¬
rath von Göſchenen.“ Ein echtes Charakterbild von
ländlichem Chirurgen ſah ich jetzt erſt drüben am Tiſch
ſtehen und Pflaſter ſtreichen. „Es wird dem Herrn
gut thun, wie Ihnen,“ ſagte der ehrſame Künſtler,
legte mir zwei große Pflaſter auf und half mich dann
[84] ankleiden. Doch ich hätte der Hülfe nicht mehr be¬
durft; ich fühlte mich ganz leicht und ſtark, die tobende
Muſik im Kopfe war verſtummt; mich drängte es,
meinem Schickſalsbruder an den Hals zu fallen und
Laute des Dankes zu ſtammeln, aber ich hütete mich
wohl, dieſem Gefühle zu folgen; ich wußte, wie es
mir gegangen wäre: ein Pah! und ein paar Sprach¬
ſpiele von gerettetem Retter und rettendem Gerettetem
wären ſicher nachgefolgt, ja bei einer leidigen Neigung
zum ſchlechten Witz, die ich ſchon an ihm kannte,
hätte er nicht geruht, bis ein gegabelter Retter-Rettig
zum Vorſchein gekommen wäre, und ſo hätte er die
rührende Szene in eine Lachſzene verkehrt.


„Appetit?“


„Ja wohl, ja freilich!“


„Schon beſorgt, kommen Sie zu Tiſch!“


Der Bader wurde, zufrieden mit ſeiner Belohnung,
entlaſſen, wir Zwei traten in ein etwas niedriges Zim¬
mer, das aber mit ſeiner Täfelung und reinlichen Gar¬
dinen einen ganz heimelichen Eindruck machte, der Wirth
erſchien und hinter ihm ein Mädchen mit der Suppen¬
ſchüſſel. Ich bemerkte, daß A. E. ſie in's Aug faßete.
„Ein Töchterchen?“ fragte er den Wirth. „Eine Nichte,“
war die Antwort. „Ein hübſches Kind,“ ſagte ich,
als Beide hinaus waren. „Ich weiß nicht; halb hübſch
oder ſo oder — halt! ſo iſt's: ſie ſieht aus, als hätte
ſie eine ſchöne Schweſter.“ Ich nahm mir keine Zeit
[85] zum Nachdenken über gemiſchte hälftige Schönheit und
über Schließbarkeit auf eine ſchönere Hälfte, denn der
Hunger war groß und ebenſo ergieng es ſichtlich meinem
Tiſchkameraden.


Es begann nach Stillung des erſten Bedürfniſſes
ein wachſend heiteres, belebtes Geſpräch. Ich ſah ihn
zum erſten Mal eigentlich hell in ſeiner Stimmung.
Seine Athmungsorgane erſchienen mir unbeläſtigt, das
ſtarke Ereignis; hatte wohl eine gute Kriſis mit ſich
geführt. Er fieng wie dort am Axen vom Wetter
an: „Der Föhn legt ſich, will ſehen, wann der Regen
kommt; ich glaube, viel wird's nicht ſein, er wird wohl
dießmal die Hauptmaſſe des Feuchten drüben überm
Bodenſee hinunterſchütten. Können Sie denn den
Wind ausſtehen?“ Ich hütete mich wie billig, von
der phyſikaliſchen Nothwendigkeit der Luftbewegung an¬
zufangen, und A. E. fuhr auch fort, ohne Antwort
abzuwarten: „Geduld bei allem andern übeln Wetter,
aber der Wind iſt ſpezifiſch unverſchämt, betäubt die
feinſten Sinne, Auge und Ohr, macht durch den un¬
nöthigen Lärm das Hirn trunken, wild, iſt wie ein Kerl,
der mich mit Ohrfeigenregen begleitet, mir auf Tritt
und Schritt vorheult, der Teufel ſei los, kurz, kann
mich geradezu ganz wüthig machen.“


Dieß war die einzige Andeutung, das einzige,
entfernte, ſehr nur mittelbare Geſtändniß; der Unver¬
nunft der Szene, dir er am Fels aufgeführt. Der
[86] Wink war mir wenigſtens hinreichend, um zu ſchließen,
was übrigens auch ſonſt der Augenſchein zeigte: daß
eine gewiſſe Befreiung eingetreten ſei. Nur nehme
der Leſer die Befreiung nicht für wirkliche Beſſerung:
er würde ſich täuſchen, wie ſich bald finden wird.


Er hatte geſtern den Föhn mit einem böſen ſchönen
Weibe verglichen, jetzt führte ihn das Föhngeſpräch auf
dieſelbe, aber umgekehrte Vergleichung: „Dämoniſch reiz¬
volle Weiber ſind doch wie der Föhn; ſie machen warm,
warm, aber ſchwül, nicht Sonnenwärme, — elektriſch,
bang, — Schönheit des Tigers — geben die Seele
nicht, haben keine — wurzelt nichts — Liebe und
Katarrh wurzelt im Mann tiefer als im Weib, —
aber, aber, mein Herr—“ Hier begannen ſeine Augen
zu funkeln und er fuhr mit der Stimme heraus, als
ſpräche er mit einem Feind — „es gibt Kuren — wenn
erſt ein rechter Katarrh dazu kommt — wild — ſcheus¬
lich —“ Er brach ab, erbleichte, verſank in ein Brüten
und ſprach mit plötzlich erweichtem Tone vor ſich
hin: „O keine Kuren — Heilung erſt vom Himmel —
vom Lichtgeiſt — dann ein geſunder Säbelhieb —“


Er faßte ſich ſchnell, und als wäre ihm mit den
letzten Worten das Stichwort von außen gegeben, auf
ein anderes Thema einzugehen, nahm er die deutſche
Frage auf und trug durch einen ſichtbar künſtlichen
Akt der Seele ſeine Erregung auf dieſen ganz anderen,
ſächlichen Inhalt über: eine Gewaltſamkeit, die ihm
[87] doch ſo völlig gelang, daß die Kunſt zur Natur wurde
und nun die ganz ungeheuchelte Leidenſchaft eines
echten Patrioten zum Vorſchein kam. Er brach in
bittere Klage aus über die Verachtung, die noch auf
der Nation laſte. „Faſt gleichen wir ja,“ rief er aus,
„den Juden, die auf Kohlen ſitzen, wo das Geſpräch
auf ihr Volk führt. Ich hab's Ihnen nicht erzählen
mögen,“ ſagte er; „vorgeſtern Nacht in Brunnen —
ich ſaß eigentlich gern unter den Schwyzer-Mannen,
obwohl ich ſonſt das Schreien nicht leiden kann; Luft¬
ſtimmen, voces non subactae, aber Bruſtſtimmen,
Metall, Korn! Da kommen die Kerle auf die Dinge
zwiſchen Preußen und Oeſterreich“ — (wir ſind im
Spätſommer 1865) — „fängt einer an: ‚ja, die
Dütſchen! 's iſt nüt und wird nüt'; ich fahr' auf,
weiſ' ihn zurecht, man droht mir, aber da ſie ſahen,
daß ich keinen Teufel fürchte, haben ſie mich in Ruhe
gelaſſen. — Inzwiſchen, es kommt jetzt anders, Sie
werden ſehen, aus dieſem Wirrwarr entſteht etwas.
— So gewiß glaub' ich's, meine es ſchon zu ſehen,
daß mir ſchon vor den nächſten Folgen bang iſt, wenn
das deutſche Reich aufgebaut ſein wird.“


„Da ſind Sie doch mehr als eine Wetter-Kaſſandra!
Was für Folgen?“


„Sehen Sie, die Deutſchen können das Glück und
die Größe nicht recht vertragen. Ihre Art Idealität
ruht auf Sehnſucht. Wenn ſie's einmal haben —
[88] vielleicht erleben wir's, geben Sie Acht, — und nun
nichts mehr zu ſehnen iſt, ſo werden ſie frivol werden,
die Hände reiben und ſagen: unſere Heere haben's
ja beſorgt, ſeien wir jetzt recht gemeine Genuß- und
Geldhunde mit ausgeſtreckter Zunge —“


Ich erſchrack, wollte es nicht glauben, und erſchrack
doch.


Und an dieſer Stelle angelangt, erlaube mir der
Leſer eine kurze Unterbrechung. Seit es nach und nach kam,
wie es nun gekommen, ſeit Unehrlichkeit, Betrug, Fäl¬
ſchung, Fäulniß ſo mancher Art tiefer und tiefer in das
Blut unſerer Nation ſich einfrißt, muß ich täglich dieſer
Prophetenworte gedenken. Ja ich bekenne, vielleicht hätte
ich trotz meinem Vorſatz es doch unterlaſſen, den unbe¬
quemen Sonderling zu ſchildern, wenn nicht dieſe Weiſ¬
ſagung zu melden wäre, die ſo leidig eingetroffen iſt.


A. E. legte mir, den er ſehr nachdenklich ſah, jetzt
die Hand auf den Arm und ſagte: „Nehmen wir's
auch nicht zu ſchwer; eine anſtändige Minorität wird
bleiben, eine Nation kann ſo was überdauern; es be¬
darf dann ein großes Unglück und das wird kommen
in einem neuen Krieg, dann werden wir uns aufraffen
müſſen, die letzte Faſer daran ſetzen und dann wird's
wieder beſſer und recht werden.“


Ob auch dieß in Erfüllung gehen wird?


A. E. wurde, als dieſer ſchwer laſtende Ernſt
heraus war, wirklich munter, er gerieth, redſelig auf¬
[89] gelegt wie er war, in ſein altes Fahrwaſſer und ſein
Schiff fuhr ſo mit vollen Segeln, daß ich in meinem
Zuhörerkahne daneben von ganzen Sturzwellen über¬
goſſen wurde. Wie ſollte ich dieſes Sturzbad ſchildern
können! Nur einige Wellen mögen ausgehoben werden.


Die Politik brachte ihn auf die Geſchichtsſchreibung
und nun gieng's an, nun legte er wieder mit ſeinen
Marotten los. Er fordere Gründlichkeit und die Frucht
werde ſein: Billigkeit, Gerechtigkeit, Mitgefühl, Toleranz,
wahre Humanität. Der Geſchichtsforſcher müſſe vor
Allem eine richtige metaphyſiſche Vorbildung genießen,
müſſe ſich gute Kenntniſſe in der Urgeſchichte erwerben.
Ich bekam bei dieſer Gelegenheit etwas mehr vom
philoſophiſchen Syſtem oder vielmehr eigentlich der
Mythologie des ſonderbaren Denkers zu hören, als ich
bisher wußte. Die Natur ſei das Produkt eines Ur¬
weſens weiblichen Geſchlechts. Dieſes höchſt geniale,
reizvolle, höchſt gütige und zugleich höchſt leichtſinnige
und dämoniſche, höchſt grauſame Weib habe ſich mit
Legionen böſer Geiſter verbündet, die ſich im Urſchlamm
erzeugten. Man ſolle zuſehen, ob nicht alles Thun
und Hervorbringen der Natur weib-artig ſei. So
leicht, als die Weiber empfangen, ſchaffe ſie; ſo ohne
alles Nachdenken, wie ein begabtes Weib geiſtvolle Ge¬
danken und Plane entwickle, quellen aus ihrer Hand
die unendlichen Formen hervor; ſo geſchmackvoll und
eitel als das Weib ſich aufputze, ſchmücke ſie ihre
[90] Weſen; man ſolle doch nur zum Beiſpiel die Toilette
der Vögel ſehen, die Büſche, Hauben, Klunker, Krägen,
Schweife in allen Formen, namentlich in ſolchen, die
ſich zu Prachträdern aufſchlagen: man werde doch
nicht meinen, dieſe Dinge ſeien gemacht, damit Nie¬
mand ſie ſehe, es liege ja auf der flachen Hand, daß
das von einer genialen Urkokette ſtamme; dieß Weib
ſei wohl auch gut: ſie nähre, pflege, ſorge, heile, wie
nur ein Weib es könne; dann aber ſei ſie plötzlich
total gedankenlos, abſolut vergeßlich, ganz ſo dumm,
wie oft das geiſtreichſte Weib, ja eine reine Gans.


„Von der Sie auch gelegt ſind,“ fiel ich ein.


„Ja wohl, ja leider wohl,“ ſagte er und fuhr
ungeſtört fort: „So vergißt ſie, daß ſie einen Früh¬
ling voll Blüthenherrlichkeit hat ſproſſen laſſen, macht
den ganzen Spaß mit einem Nachtfroſt hin, vertilgt
ihre eigenen Produkte, läßt ihre geliebten Kinder ver¬
hungern, verſchmachten, verfrieren; ſie flößt der Thier¬
mutter die zärtlichſte Liebe für ihre Jungen ein und
leitet den Bärenvater, den Kater an, ſie zu freſſen;
ſie gibt dem beſten aller Thiere, dem ſehr philoſophiſchen
Thiere, wie Plato es nennt: dem Hunde die Hunds¬
wuth zur Mitgift und macht ihn zum Scheuel und
Greuel der Menſchen, die er liebt und die ihn lieben;
ſie iſt mißlauniſch, widerwärtig juſt wie die Weiber
und wirft neben ihre Künſtlergebilde das Warzen¬
ſchwein, die Kröte, den Bandwurm, die Läuſe, Flöhe,
[91] die Wanzen. Kann dieß Alles noch aus purem Duſel
und Unwirſchſein erklärt werden, ſo iſt ſie nun aber
auch recht eigentlich grauſam, ſo grauſam als gütig,
und hier nun erſt gleicht ſie ganz dem dämoniſchen
Weibe oder vielmehr hier am deutlichſten liegt der
Beweis, daß dieſes Alles nur von einem Weibe her¬
kommen kann, nämlich einem genial boshaften. Ich
habe dieſen Zug oft am Weibe bewundert. Macht
das Weib eine rechte Teufelei und man hält es ihr
nun vor, ſo pflegt ſie zu ſagen, es ſei nicht mit
Ueberlegung geſchehen. Das iſt denn auch ganz wahr:
eine Bosheit, ſo raffinirt, wie ſie der Mann nur mit
angeſtrengtem Denken erſinnen könnte, bringt das
Weib ohne alles Nachdenken im Augenblick fertig, ſa¬
taniſch ſchuldhaft ganz unſchuldig; das Weib führt ein
Gift, das ein moraliſches und doch ebenſo ſehr ein
pures Naturgift iſt, genau wie die Nattern, Skor¬
pionen, Taranteln; ich habe ſchon Briefe geleſen von
erbosten Weibern geſchrieben: kein Mann, ſo lang er
auch grübelte, könnte ein ſolches Arſenal von Nadeln mit
vergifteten Widerhaken zu Stande bringen; den Stich
fühlt man oft im Anfang kaum, dann fängt er an
zu brennen und nach und nach empfindet man ſein
ganzes Weſen bis in's Herz hinein vom hölliſchen
Schierling durchträufelt, durchſickert, durchbeizt. Doch
weiter im Text: inzwiſchen nun hatten ſich im Ur¬
ſchlamm infuſoriſch, unabhängig vom Fortpflanzungs¬
[92] ſyſtem der perſönlichen Urgottheit, nämlich eben jenes
Weibs, in der tropiſchen Hitze der Urwelt Legionen
von böſen Geiſtern erzeugt, ſie boten ſich ihr als Ge¬
hülfen an und mit ihrer Aſſiſtenz erſt iſt nun das
Ganze aller Scheuslichkeiten, die ganze Welt raffinirter
Grauſamkeit fertig geworden, welche die Natur auf¬
weist, die ganze wurſtgiftige Wurſt des Daſeins. Es
iſt viel zu mild, die Natur ein allgemeines Wechſel¬
mordſyſtem zu nennen, man ſoll bedenken, wie die
Thiere ihr Opfer nicht einfach morden, ſondern zum
Ueberfluß, zur reinen Wolluſt ſtundenlang, tagelang
martern; wiſſen Sie, daß die Raben einen feineren
Leckerbiſſen nicht kennen, als die Augen eines jungen
Haſen? — es iſt mir gelungen, einmal einen ſolchen
armen kleinen Tropfen zu retten, hinter dem ſie ſchon
her waren. In Norwegen ſah ich in einem Fjord
einen Walfiſch ſtundenlang wie toll aus dem Waſſer
emporſchnellen, ich erzählte es einem Schiffer, der
fragte mich, ob ich nicht an ſeiner Bruſt zwei ſchwarze
Körper bemerkt habe, ich ſolle Acht geben, wenn ich
dieſe Erſcheinung wieder beobachte; es ſei eine Art kleinerer
Haye, die immer paarweiſe ſchwimmen, denen die
Brüſte des weiblichen Walfiſches die höchſte Delikateſſe
ſeien, die ſich darin feſtbeißen und nicht ablaſſen, bis
das ganze weiche Organ aus ſeinem tiefſten Sitz her¬
ausgenagt ſei; das könne taglang, nachtlang dauern
und da ſpringe denn das wehrloſe Thier vor wüthen¬
[93] dem Schmerz aus der Fluth empor, bis es ermatte
und verende. Und da ſoll man ſingen: Wie groß
iſt des Allmächt'gen Güte!? Nein, nein, das freilich
iſt klar, daß dieß ebenſo pein- als freudenreiche Ganze,
dieß kunſt- und pracht- und teufeleivolle Syſtem nur
von einem höchſt intelligenten perſönlichen Weſen her¬
vorgebracht ſein kann, aber nicht minder klar, daß
dieſes Weſen ebenſo blind, als weiſe, ebenſo bös, als
gut iſt, kurz, daß es nur ein geniales Weib ſein kann.
Uebrigens erhellt dieß auch daraus, daß die Natur
ſchlechterdings nicht mit ſich reden läßt, daß man mit
Gründen abſolut nichts bei ihr ausrichtet, juſt wie die
Weiber, die ſagen: drum eben, wenn man ſie ſtunden¬
lang widerlegt hat.“


„Zu was brauchen Sie aber noch die Geiſter?“


„Bitte, mich nicht zu unterbrechen. Der Natur
war etwas Ausnehmendes gelungen: ſie hatte endlich
den Menſchen gebildet. Mit Hülfe der Geiſter wurde
er die grauſamſte aller Beſtien, denn ihm diente der
Verſtand zur Erfindung ausgeſuchter Qualen für Thiere
und ſeines Gleichen. Allein es geſchah ein Strich durch
die Rechnung. Derſelbe Menſch erfand, geführt von
einer zweiten, höheren Gottheit, einer männlichen, einem
Lichtgeiſt, von dem wir ein andermal noch ſprechen, nach
und nach Dinge, auf welche das Urweib und die Geiſter
nicht gefaßt waren: das Recht, den Staat, die Wiſſen¬
ſchaft, die begierdeloſe Liebe und die Künſte. Das
[94] Weib war mehr nur verwundert, die Natur iſt ja
gut und bös, bös und gut durcheinander; ſie hatte es
in unachtſamen Stunden werden laſſen und machte
nun große Augen, wie es da war. Aber die Geiſter,
das Schandſchlammprodukt, wütheten und beſchloſſen
furchtbare Rache. Sie ſchlüpften in die Objekte. —
Das Weitere wiſſen Sie, wiſſen, wie der Menſch nun
geſchunden wird, was Alles ihm über den Weg rennt,
wenn er mitten im beſten, im vernünftigſten, im zweck¬
mäßigſten Thun begriffen iſt, wiſſen, wie er in Allem
tückiſch durchkreuzt, durchbrochen, das Hackbrett iſt, wor¬
auf kichernd, hohnlachend die böſen Geiſter ſpielen.
Es iſt nur noch beizubringen, daß es ungenau geſprochen
iſt, wenn man das beſeſſene Objekt anſchuldigt, ſtatt
den beſitzenden Dämon. Dieß iſt nur ſprach- und
phantaſiegemäß; man kann nicht allemal zwei nennen.“


„Aber Sie waren eigentlich an der Geſchichte.“


„Ja ſo, ja! Billigkeit, Gerechtigkeit, Mitleid, Hu¬
manität — wenn ſie gründlich geſchrieben würde.
Wenn ein braver, wenn ein geſcheuter, wenn ein
großer Mann unſinnig, zweckwidrig, unrecht handelt,
ſchwächlich unterläßt, wenn ein Redner, wenn ein
Denker ſich in unbegreifliche Widerſprüche verwickelt:
wiſſen wir denn, ob ihm nicht ein Knopf an den
Hoſen geriſſen war? Wer kann Vernunft bewahren
in dieſem Zuſtand? Ob ihm nicht der Katarrh ein
teufliſches Haarſeil durch den Schlund zog, ſein Ge¬
[95] hirn trübte, bewölkte, verſimpelte und nichts ihm zu
denken mehr übrig ließ, als Unſinn, Unrecht, Wider¬
ſinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab
ihm glühende Dolchſtiche von der Zehe aufwärts bis
in's Herz und Mark? O Menſchheit, erkenne dieß,
werde klar und du wirſt verzeihender, wohlwollender,
edler werden! Menſchheit, habe Religion! Ein Held
kann über einen Strohhalm ſtolpern! Ein Halbgott
an einer Gräte erſticken! Und das iſt noch nicht das
Schlimmſte, aber ein Vernünftiger, ein Braver kann
zum Fex, zum Troddel, zum Kinderſpott, zum böſen
Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum
Scheuſal werden. Kurz der Wahnſinn beherrſcht das
Geſchehen: die Schuld der Geiſter, die Schuld der
Teufelsrotte. Und aber trotzdem: ſie können die Menſch¬
heit placken und ſchinden, aber nicht mehr unterkriegen,
den Oberbau: Geſetz, Staat, Liebe, Kunſt nicht mehr
einſtürzen, wir müſſen ſtreben, ringen, kämpfen, als
ob ſie nicht wären. Ja die Geiſter ſelbſt und ihre
böſen Werke, obwohl wir ſie nicht hindern können,
müſſen uns dienen: wir erkennen ſie, wir verwenden
ſie, namentlich in der Kunſt.“


Ich erſchrack, weil ich mir denken konnte, nun
werde er erſt recht in's Zeug gehen. Denn er war
immer aufgeräumter geworden, ließ ſich nicht im ge¬
ringſten verſtimmen durch die ſchwierige Aufgabe, die
uns ein Theil des gediegenen Mittageſſens ſtellte: alles
[96] Fleiſch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber
A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu
und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der
uns gar wohl that nach unſerem Abenteuer. Ich
durfte ihn nicht ſtören in ſeinen Tiſchreden und hörte
denn geduldig weiter.


Er bewegte ſich durch das Gebiet der verſchiede¬
nen Künſte. Zunächſt kam die Poeſie daran und zwar
das Drama, die Tragödie. Schiller's Tell fiel ihm
wieder ein und er ſagte: „Wollen Sie dagegen eine
wahre Tragödie, das heißt eine ſolche, die den Kon¬
flikt der Konflikte, den des Menſchen mit den Geiſtern,
behandelt? Eine Tragödie, die aus der Menſchenge¬
ſchichte den wahren Inhalt deſtillirt hat? Eine Tra¬
gödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl
mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Hu¬
manität ſchöpfen ſollen? Eine Tragödie, deren wahre
Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt iſt? Ich
kenne, darf ich ſagen, die ganze Literatur über Shake¬
ſpeare's Othello. Nirgends auch die blaſſe Spur von
Ahnung der eigentlichen Intention des tiefſinnigen
Dichters, zu deren Verſtändniß er uns doch einen ſo
deutlichen Wink gegeben hat! Was ſagt denn Othello
im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona?
‚Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier' und wie
erläutert er dieß deutlicher im vierten? ‚Mich plagt
ein widerwärt'ger böſer Schnupfen.‘ Beiher iſt hier
[97] zu bemerken, wie erbärmlich die Ueberſetzer verflachen:
‚Widerwärt'ger!‘ Salt ſagt Shakeſpeare: ſalzig;
o, Shakeſpeare iſt konkret, nie abſtrakt allgemein! o, der
kennt es! — Nun meinen die ſeichten Köpfe, das ſei
bloß Vorwand von Othello, um herauszubringen, ob
Desdemona das Schnupftuch noch habe. Schnupftuch!
Handkerchief! Worüber die gemeinen Seelen noch
lachen! Als ob Shakeſpeare nicht leicht ſonſt ein Tuch
hätte ſetzen können, wenn nicht tiefere Abſicht gerade
dieß verlangt hätte! Meint man denn, eine Wuth,
eine That wie des Othello ſei aus moraliſcher Ver¬
finſterung allein zu erklären? Nimmermehr! Der
Schauſpieler, der ſich ganz in die Tiefe des Dichter¬
geiſtes verſetzt, wird ſchon im zweiten Akte bei der
Ankunft auf Cypern durch eine gewiſſe Dumpfheit,
eine naſale Färbung des Tons fein andeuten, daß ſich
Othello auf der ſtürmiſchen Seefahrt bedenklich verkältet
hat; nun erwäge man, daß es ihm, ſchon angeſchnupft,
wie er iſt, unmöglich gut ſein kann, daß er bei dem
nächtlichen Skandal auf der Wache ſchnell das Bett
verlaſſen muß; der darſtellende Künſtler wird alſo vom
dritten Akt an die Symptome etwas ſteigern, etwa
auch durch Auftragung von etwas Roth auf dem
Naſenzipfel — (hier fühlte A. E. nachdenklich an
ſeinen eigenen) — oder, als Mohr, — von etwas
Dunkelblau — oder Grün? — er wird beim erſten
Ausbruch von Heftigkeit gegen Desdemona durch
Viſcher, Auch Einer. I. 7[98] ſcharfes, trockenes Huſten dem Zuhörer die Ueberzeu¬
gung einflößen, daß der Katarrh jetzt in den Hals
getreten iſt und allda wie mit einer Nadelſpitze kratzt,
kitzelt und krabbelt. Jetzt tritt das eigentliche Katarrh¬
fieber ein, das Hirn iſt eingenommen, giftig gereizt,
alles Blut im Kopf, nicht nur die Naſe iſt roth oder
blau, auch die Ohren ſind es — Sie wiſſen, mein
Herr, wie wüthend und blutdürſtig der Menſch iſt,
wenn er heiße, rothe Ohren hat —; mit Jago's Schein¬
beweiſen, ſtets erneuten Einflüſterungen ſteigt in gleichem
Schritte dieſer traurige Zuſtand, die Ohnmacht im vierten
Akt, aus bloßer Phantaſieaufregung denn doch nicht
erklärlich, iſt Beweis einer radikalen innern Ver¬
pfropfung, das Uebel iſt offenbar in den Magen
niedergeſtiegen, iſt ganz zur hölliſchen Grippe ge¬
worden; von nun an begleite Räuſpern, Huſten, unend¬
liches Schnäuzen jeden Schritt des Unglücklichen! So
gelangen wir zur Mordſzene; hier leiſte der Künſtler
das Höchſte! Othello iſt jetzt auf dem Gipfel ſeines
Leidens; nicht in kleinlich naturaliſtiſcher Weiſe, nein,
ganz im furchtbar hohen Styl werde dieſes Aeußerſte
des tragiſchen Zuſtands dargeſtellt, es ſeien Huſten¬
anfälle erhabener Art, die wie Kanonenſchüſſe explodiren,
endlich wird der Unſelige blauroth-grünſchwarz im
ganzen Geſicht, er kann mit aller verzweifelten An¬
ſtrengung die im Halſe ſitzenden zähen, ſchmählichen
Hinderniſſe nicht herauswürgen, er kann durch den Mund
[99] nicht genug athmen und die ganz verſchwollene Naſe ver¬
ſagt völlig den Luftdurchgang; er iſt am Erſticken; da,
in der Wuth, in dieſem Krampf des Lebens, dieſem
raſenden Sieden des Gehirns wird er zum Teufel:
ſoll ich erſticken, ſo ſollſt du es auch, ſo denkt er;
das Schnupftuch! das Schnupftuch! Dieſer Ausruf
— (er hat das ſeinige offenbar verlegt) — zeigt an,
mit welchen Objekten ſeine tollgewordene Phantaſie ſich
einzig noch beſchäftigt, und jetzt — erwürgt er Des¬
demona. In dieſem Sinn und in dieſem allein richtig
aufgefaßt, haben wir im Othello die Tragödie aller
Tragödien, die erſte, vollkommenſte, ergreifendſte Dich¬
tung aller Zeiten. Da erſt muß jedes Herz klopfen,
jede Lippe ſeufzen: o, was iſt Menſchengröße, Men¬
ſchenruhm! O, ſehen Sie,“ fuhr er heftiger fort, —
„ich ſelbſt — an wie viel Gutem haben mich die
Katarrh-Teufel verhindert, aber zum Böſen, zum
Grauenhaften — ja dazu — damals — damals —
o man bedarf Nachſicht —“


Er ſtockte, beſann und faßte ſich und fuhr ganz
nüchtern fort, es falle ihm übrigens nicht ein, irgend
Jemand zu vergöttern. Von den bekannten Flecken
Shakeſpeare's — Abſurditäten, Rohheiten — wolle
er jetzt nicht reden, ſondern nur bemerken, daß es ihm
widerfahren könne, gerade in dem Punkte zu fehlen,
worin doch ſeine wahre Größe beſtehe. Er mache
auf eine ſchwere Unterlaſſung im König Lear auf¬
[100] merkſam. Der brave Kent lange nach ſcharfem Ritt
in Cornwall's Schloß an, überreiche den Brief von
Lear, werde alsbald beordert, Cornwall und Regan
nach Gloſter's Schloß zu folgen, und zwar Nachts,
erhitze ſich hierauf wieder ſehr ſtark in der herrlichen
Schimpf- und Prügelſzene mit Oswald, werde dann
von Cornwall in den Block geſpannt, liege nun da,
die Füße eingeklemmt, den Leib auf der feuchten Erde,
ſchlafe ſogar in dieſer Lage und — kriege bei ſolcher
Verkältung keinen Katarrh. Nun wäre es aber ſehr
geiſtlos, zu meinen, dieß ſtehe in keinem Zuſammen¬
hang mit dem ſittlichen Gehalte der Tragödie. Dieſer
Kent, dieſes wackere, herzſtärkende Mannesbild, vergelte
ſeines Königs Ungerechtigkeit mit rührender Diener¬
treue in freiwilligem Stand der Erniedrigung, werde
für ihn beleidigt, ſchmählich beſtraft, aber das größte,
das erhabenſte aller Opfer, daß er für ihn einen
Schnupfen, einen Katarrh auf ſich nehme: das ſei ver¬
geſſen, dieſes Prachtmotiv nicht entwickelt. Von da
an ſprang er zu der Skulptur über. Auch hier
äußerte er ſich leidenſchaftlich gegen das, was er fal¬
ſchen Idealismus nannte, um das Prädikat des
wahren Idealismus dem entſetzlichen Naturalismus
vorzubehalten, den er predigte, von dem er ſich aber
vorſtellte, daß er mit allen hohen Zügen des klaſſiſchen,
hohen Styls vereinbar ſei. So rief er unter An¬
derem aus: „Da ſtellen uns die Zuckerlecker die drei
[101] Grazien dar in holder, marzipanſüßer Umſchlingung!
Es iſt leicht, es iſt wohlfeil, mit ſo butterweichem
Symbole lügen, das Leben verlaufe ſich in unge¬
brochenen Wellenlinien! Man ſtelle die Wahrheit dar,
allerdings in mythiſchem Gewand, in großartiger, geiſter¬
hafter Perſonifikation! Drei furchtbare Weiber, ſchön
und entſetzlich, grauenhaft ſchön, bilden, ſich umarmend,
eine Gruppe, ein Symplegma! —: der Schnupfen,
der Katarrh oder Pfnüſſel (dieß Wort hatte er, wie er
er mir ſagte, in der Schweiz aufgefangen; er unterbrach
hier den Zug ſeiner Rede, verbreitete ſich über deſſen
onomato-poetiſchen Werth und behauptete mit komi¬
ſcher Heftigkeit, das Wort ſei keltiſchen Urſprungs,
was ich ihm doch nicht beſtritt, obwohl ich es für gut
deutſch hielt) — der Pfnüſſel — und die Grippe! Ziel,
des edelſten Künſtlers würdig! Hauptaufgabe: die
Nüancen, die Stufen richtig zu geben, abzutonen! Es
bedarf dabei keiner gemeinen Naturwahrheit, man kann
ganz ideal und doch ganz wahr ſein, der Ausdruck in
Stirne, Augen, Lippen, Haltung und Bewegung des
ganzen Leibes genügt, wenn er mit zartem Ver¬
ſtändniß behandelt wird, vollſtändig, die verſchiedenen
Grundzuſtände, die Stimmung, die Verdüſterungsgrade
der Nerven, des Gehirns höchſt überzeugend auszu¬
prägen; haben doch die Griechen ſelbſt uns den Weg
gezeigt, indem ſie die Meduſe — vielleicht ſelbſt ur¬
ſprünglich eine Perſonifikation des Katarrhs — (er
[102] drohte, die Hypotheſe durch eine mythologiſche Unter¬
ſuchung zu beweiſen, doch glückte es mir, dieß wenigſtens
abzuſchneiden,) — die Meduſe früher als ſcheusliche
Fratze, endlich aber in jenem Wunderwerk aus Palaſt
Rondanini als ein Weib darſtellten, das den Reiz
hoher Schönheit mit den hippokratiſchen Zügen und dem
Ausdruck dämoniſcher Bosheit ſo ſchaurig entzückend
und entzückend ſchaurig in ſich vereinigt!“


Bei den Griechen angekommen, verfiel er auf die
Architektur. Das Räthſel des „reinen Segensſtyls“,
von dem er auf dem Bierwaldſtätterſee geſprochen,
ſollte mir jetzt gelöſt werden. Allein meine Aufmerk¬
ſamkeit war denn doch an der Linie der Ermüdung
angekommen, um ſo mehr, da ich mit Prämiſſen jetzt
reichlich genug verſehen war, um mir eigentlich ſelbſt
vorſtellen zu können, was folgen werde. Dazu kam
aber noch ein beſonderer Umſtand, den ich angeben
werde; zuerſt ſei bloß flüchtig geſagt, daß ich nur
obenhin einige Bemerkungen vernahm, wie in den
neuen Styl aus der klaſſiſchen Architektur ein Syſtem
von kannelirten Pilaſtern für die Dekoration der Schau¬
ſeite, ebenſo zu dem Kranzgeſimſe weſentlich die Hänge¬
platte mit den kleinen Zäpfchen an den mutuli‚ genannt
guttae oder Tropfen herüberzunehmen ſeien, am Sockel
dann eine Reihe ſchön und entgegenkommend ausge¬
breiteter Nastücher auszumeißeln wäre, und ſo weiter
und ſo weiter; kurz, alle Formen müſſen ausſprechen:
[103] hier tritt nur ein, hier ſoll dir's bequem gemacht
werden, hier darfſt du dir normalen „Verlauf“ ver¬
ſprechen und unbehinderte Pflege. — Ich weiß nicht
mehr, wie es ſich gab, daß er noch einmal auf die
Poeſie zurückſprang. Es ſummt mir noch halbdeutlich
im Ohre nach, daß er weiterhin auf das Epos zu
ſprechen kam und ſich rühmte, ſein Syſtem könne es
wieder beleben, da es eine neue, tiefe, herrliche My¬
thologie darbiete, und daß er hierauf noch einmal zum
Drama, zu ſeinem Shakeſpeare übergieng. Er war
eben beim Hamlet angekommen und eifrig beſchäftigt,
auszuführen, wie es doch wieder ein Beleg der Seich¬
tigkeit aller bisherigen Erklärung ſei, daß noch Nie¬
mand die Grundurſache aller Urſachen ſeines Zauderns,
Stockens, ſeiner geiſtigen Obſtruktion als eine phyſio¬
logiſche erkannt habe; alle Hauptſtellen in dieſem
unſterblichen Drama verkünden doch mit Flammen¬
ſchrift: jeder Zoll ein Hämorrhodarius! Er machte
nun Anſtalt, das Geſammtbild der Konſtitution des
Helden in breiter Ausführung aus den Worten der
Königin zu entwickeln: „Hamlet iſt fett und kurz von
Athem“, dieß Alles war eben im Zuge, als das pſy¬
chologiſche Ereigniß in mir eintrat, das ich zu melden
habe. Der Tiſch war faſt voll beſetzt mit Schüſſeln,
Nebenſchüſſeln, Töpfchen, Flaſchen, Gläſern; ein alter,
ſteinerner Krug ſolider Geſtalt enthielt das Waſſer;
ich hatte ihn wohl bald zehnmal anders geſtellt; er
[104] wollte nirgends recht Platz finden: auch A. E., wie ich
wohl bemerkt hatte, war ſchon lang von ihm beläſtigt.
Was kann gleichgültiger, nennensunwerther ſein?
Aber — auf unbewußten Stufen vorbereitet — ſprang
plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewiſſe Art
von zweitem Geſicht, oder wie ſoll ich es nennen?
Der Krug war mir kein Krug mehr, ſondern ein be¬
ſeeltes, unverſchämtes Weſen, ein Geiſterlümmel oder
Lümmelgeiſt; ſeine Schnauze war ein unverſchämtes
Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Geſicht,
der Griff ein trotzig eingeſtemmter Arm, dieſes Weſen
kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für
uns unbequem ſtand. Und das Schlimmſte war, daß
ich über dieſen unſeligen neuen Sinn, der mir ange¬
hext war, nicht einmal erſchrack, wie geſtern über die
andern bedenklichen Symptome, ſondern ganz mit mir
eins, ganz ſicher war und voll Begierde, das un¬
zweifelhaft ſchuldvolle Weſen nach Recht und Gerechtig¬
keit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der
Anſteckung ſich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich
fuhr auf, ergriff den Sünder, ſtürzte an's Fenſter,
rieß es auf, — aber ſchnell fiel A. E. mir in den
Arm: „Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß ſchon, daß
Sie ſchöne Fortſchritte gemacht haben in der Bildung,
aber es iſt noch nicht ganz reif, vielleicht ſogar noch
etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn
es Zeit, werde ich das Zeichen geben!“

[105]

Wir waren beim Nachtiſch angekommen und bei
den aufgetragenen Früchten erinnerte ſich A. E. des ver¬
kohlten Obſtes, das er kürzlich unter den Funden aus
der Pfahldorfzeit geſehen hatte, welche in beſonders
reicher Sammlung die Stadt Zürich bewahrt; wir
ſprachen vom Kulturzuſtande der Steinperiode, wie er
ſich aus den Reſten ergibt, die man nicht lang vorher
in überraſchender Menge da und dort im Grunde des
Bodenſees und der Schweizerſeen ausgegraben hatte,
von den Fortſchritten der Technik, die doch ſchon ge¬
macht waren, als das Metall noch unbekannt war,
von Ackerbau, Brod, Webekunſt, Schnitz- und Töpfer¬
arbeit. Der Wirth hatte auf unſer Geſpräch gemerkt
und ſagte: „Ich hab' ſo etwas, ich bringe Ihnen
zum Nachtiſch ein extrafeines Meſſer.“ Wirklich er¬
ſchien mit den Deſſertbrocken ein derber Meißel aus
Nephrit, ſehr geſchickt in einen Hirſchhorngriff ein¬
gefügt, einer der werthvolleren Funde, da man
begreiflicherweiſe Klinge und Griff ſelten mehr ver¬
einigt findet; A. E., der auf das Thema mit
lebhaftem Intereſſe eingegangen war, zeigte große
Freude an dem Geräth und der Wirth ließ es ſich
abkaufen.


„Ich kann es gut für meine Novelle brauchen,“
ſagte er, als der Verkäufer aus der Thüre war.


Er ſchien einen Moment in Verlegenheit, daß ihm
das Wort entflogen, ergab ſich aber ſchnell in das
[106] einmal Geſchehene und fuhr fort: „Eine Pfahldorf¬
geſchichte. — Die kann ordentlich werden.“


„Ja, ſind Sie denn auch ein Dichter?“


„Nun, das will ich doch glauben! Wen anders
werden denn die Geiſter ſo placken und ſchinden, als
einen Dichter?“


Pauſe. Dann ſagte er mit einem Ausdruck von
großer Freundlichkeit, ja wahrer Herzlichkeit: „Sie
ſollen ſie haben, bald vollends iſt ſie fertig, das Manu¬
ſkript hab' ich im Koffer mit, der nach Airolo voraus¬
geſchickt iſt. Wenn die Arbeit vollendet iſt, ſollen Sie
eine Abſchrift bekommen aus Italien.“


Bei dem Anlaß fiel mir ein, daß ich ſelbſt ein
wenig in Poeſie gepfuſcht hatte. Ich erzählte ihm
von dem kartoffelnährenden Felsblock, zog mein Blatt
heraus und ſchickte mich an, ihm meine Verſe vorzu¬
leſen, nicht ohne erſt verſichert zu haben, daß ich mich
ſehr beſcheide, mich als Kollege in Apollo aufſpielen
zu wollen. Er unterbrach mich bei den erſten Worten
mit der Frage, ob ich auch die Haufwerke ange¬
ſehen habe. Ich erfuhr von ihm, daß man ſo die
wild übereinander geſtürzten Felſtrümmermaſſen nennt.
„Wiſſen Sie auch,“ ſagte er, „wie ſie das Volk hier
zu Lande heißt?“ Ich verneinte. „Dolmen,“ ſagte
er, „das iſt keltiſch und bedeutet Opfertiſch — Sie
wiſſen doch von den uralten, geheimnißvollen Stein¬
malen in der Bretagne, Skandinavien, England —
[107] Dolmen ſollten nur die Gruppen heißen, wo ein
Felsblock wagrecht über ſenkrecht ſtehende hergeſtürzt
iſt, das Gebirgsvolk hier hat das Wort noch, verſteht
es nicht und wendet es auf das ganze Haufwerk an.
— Nun haben Sie die Güte, zu leſen.“ So las
ich denn:


Aus des Felsblocks rauhen Spalten

Tönt ein Aechzen, tönt ein Knurren.

„Das zu bieten einem Alten!“

Hör' ich eine Stimme murren.
Soll der Sohn ſo hoher Ahnen,

Zeuge von der Urzeit Tagen,

Soll der Sproſſe der Titanen

Einen Grundbirnacker tragen?
Wild und frei emporgehoben

An des Hochgebirges Wangen

Bin ich einſt — ſchaut hin, dort oben!

Stolzes Rieſenkind gehangen.
O die Zeit, da um beeiste

Zacken noch der Sturmwind ſauste,

Um mein Haupt der Adler kreiste,

Meinen Fuß ein Meer umbrauste!
Hätt' ich, als herabgewettert

Nieder in das Thal ich krachte,

Deine Hütten gleich zerſchmettert,

Menſchenvolk, bei dem ich ſchmachte!
[108]
Lieber Staub und Splitter werden,

Träg' als Lehm am Boden liegen,

Als ſo ſchmählichen Beſchwerden

Länger mich als Dienſtmann fügen!
Und ſo hebt er an, zu drücken,

Ihn durchzuckt ein Krampf, ein Schüttern,

Daß auf ſeinem breiten Rücken

Die Kartoffelblüten zittern.
Laß das Klagen, laß das Knacken,

Das wird Alles nichts mehr nützen,

Laß geruhig dir im Nacken

Den beſcheid'nen Acker ſitzen!
Denke nur: auch die Kartoffel

Iſt ein Kind der Erdenmutter

Und — erlaub' mir, alter Stoffel —

Schmackhaft namentlich mit Butter.
Mußt dich gar ſo ſehr nicht ſchämen,

Mußt dich, dicker Trotzkopf, eben

Auch dem Praktiſchen bequemen,

Das iſt Loſung jetzt im Leben.
Siehſt du, ſo wird jener, dieſer

Wildfang im geſetztern Alter

Noch ein brauchbarer Acciſer

Oder Kameralverwalter.

Meine Leiſtung wollte mir doch wirklich im Vor¬
leſen gar nicht ſo übel vorkommen und der wartende
[109] Blick, den ich auf A. E. richtete, mochte ziemlich ſelbſt¬
zufrieden ausſehen. „Nun, das iſt ja ganz nett,“ ſagte
er heiter, „aber bitte, werden Sie mir nicht böſe, wenn
ich ſage: eigentlich nur unter heiteren Freunden beim
Weinglas oſtenſibel. Die ironiſchen Abſchnappungen
einer poetiſchen Anſchauung, dieſe proſaiſch negativen
Schlüſſe ſind mehr nur ein Studentenſpaß, als Poeſie,
wobei ich nur nebenbei bemerke, daß das Wort
Stoffel doch etwas zu hemdärmelig iſt. Ich will
Ihnen damit ja nicht weh thun, wenn ich ſage: Heine
hat's angefangen und dann in's Giftige getrieben.
Und was Sie von mir leſen werden, kann ſich auch
nicht hoch rühmen, man wird es zur ironiſchen, ja
vielleicht zur ſatiriſchen Gattung ſtellen, mein Talent
geht nicht weit, ich hab' da vorhin im Eifer etwas
dick gethan. Inzwiſchen bitte ich Sie doch, geben Sie
ein bischen Achtung, ob Sie nicht doch auch Poſitives,
ich meine: ſo etwas, was man“ — „Was man Poeſie
nennt“ half ich nach. — „Nun ja, falls Sie ſo etwas
finden, da und dort wenigſtens, ſo dürfen Sie den
Spaß drucken laſſen, wenn ich einmal ausgehuſtet
habe. Mir iſt immer vor, es währe nicht mehr lang
bis dahin.“


Das Schlußwort ſeiner Rede packte mich ſo, daß
ich, hätte ich überhaupt über ſeine Kritik empfindlich
ſein können, mich und mein Werk ganz vergaß.


Ich drückte ihm dankbar für ſein Vertrauen und
[110] wehmüthig die Hand und glaubte billig jetzt wenig¬
ſtens den Augenblick gekommen, daß wir einander uns
endlich vorſtellten. Ich griff nach meiner Brieftaſche,
um ihm meine Karte zu geben, und hoffte auf die
ſeinige.


„Bitte, bitte,“ ſagte er, „laſſen wir's lieber!
Kommt es Ihnen denn nicht auch hübſch vor, einmal
im Leben nur Menſch zu Menſch?“


Ich verſtand und darf ſagen: mir that wohl, was
ich entnahm. Eine feurige Freundſchaftserklärung hätte
mir ſo viel, ſo Schönes nicht geſagt. Von einem
Andern geübt, hätte die Abwehr und Verſagung alles
Wiſſens um Stand und Namen geſucht und eitel er¬
ſcheinen können; hier wäre nur eine ſtumpfe Seele
einer ſolchen Auffaſſung fähig geweſen.


„Aber wie bekommen?“


„Bitte um eine Chiffre und Wohnort.“ Ich
ſchrieb und die Sache war abgemacht, worauf A. E.
noch ſo weit auf ſein Opus eingieng, daß er ſich ſehr
lebhaft der Originalität ſeiner Erfindung annahm, ja
dafür verwehrte, als hätte ich ſie bezweifelt. Das
Pfahldorf- und Steinzeitthema war damals in Kari¬
katur und Schrift ſchon zu mancherlei Scherzen ver¬
wendet worden. Mit einer Leidenſchaft, als handelte
es ſich um einen wichtigen Ehrenpunkt, rief mein
Freund — ſo darf ich ihn nun nennen, nachdem er
mir Menſchenwerth ohne Rückſicht auf Namen und
[111] geſellſchaftliche Stellung zuerkannt hatte — rief mein
Freund aus: „Glauben Sie mir, ich bin darin
neu und ganz ſelbſtſtändig! Sie werden ſehen, die
ganze Dichtung geht tiefſinnig von einer Entdeckung,
die nur mir gehört, von einer Idee über den wahren,
noch immer nicht erforſchten Grund aus, warum dieſe
Menſchen auf Seen wohnten; denn Sicherheit gegen
wilde Thiere und Feinde? Iſt ja nichts! Fror ja im
Winter zu!“


Der Nachtiſch war inzwiſchen vorüber und der
Wirth brachte Licht zum Cigarrenanzünden. Als
A. E. das Handleuchterchen gefaßt hatte, hielt er es
mir hin mit den Worten: „Da, ſehen Sie: iſt das
nicht wieder, um ſich auf's Tiefſte zu empören!“ Er
zeigte mir, daß dem Geräthe das flache Blättchen am
Griffe fehlte, worauf man den Daumen ſetzen muß,
um es ſicher zu halten; das Metall hatte an dieſer
Stelle eine runde Biegung, die ſo wenig Halt bot,
daß es in jedem Moment vorn überzurutſchen drohte.
Wie ich ihn kannte, ließ ich mich durch das Maß
ſeines Zorns über dieſe Kleinigkeit nicht befremden;
ja, es ſchien mir einen belehrenden Blick in das Innere
dieſes Menſchen zu öffnen. Wer über ſo etwas er¬
grimmen kann, in dem muß das Gefühl der Zweck¬
mäßigkeit von ungewöhnlicher Schärfe ſein. — Uebri¬
gens ſetzte er noch hinzu, ein ſolches Produkt ſei ein
wahres Bild unſerer deutſchen Induſtrie, deren Haupt¬
[112] beſtreben es ja doch ſei, Alles zweckwidrig zu machen.
Man ſollte meinen, ſagte er, was Einer fachgemäß
treibt, das müſſe er doch verſtehen; ja, ja, hübſch um¬
gekehrt! Der Schneider kann erſt recht nicht ſchneiden,
der Sattler nicht polſtern, der Schreiner erſt recht
keinen Stuhl bauen! Der Erſte ſchneidet einen Kaſten
ſtatt eines Rocks, der Zweite bauſcht Matraze und Sitz
ſo, daß du nicht liegen, nicht ſitzen kannſt, der Dritte
baut den Seſſel ſo, daß du dich mit den Füßen
anſtemmen mußt, um nicht unter den Tiſch zu rutſchen.


Inzwiſchen war ihm über Eis und Winter das Ziel
ſeiner Reiſe, Italien, wieder eingefallen. „Und nun will
ich’s alſo eben wieder dort probiren,“ ſagte er, „bei
meinen lieben Zugteufeln! Denn Teufel ſind ſie im
Zugmachen; Fenſter und Thüren auf! anders thun
ſie's nicht! Und die verruchten ſteinernen Böden! Aber
mein Doktor hat doch Recht: er bleibt dort zwar nicht
aus, aber verläuft milder, unſchädlicher. Und eben
dann noch etwas!“


„Was denn?“


„Wiſſen Sie — es eckelt Einem eben oft am
Menſchen, zumeiſt in der nordiſchen Kulturwelt,
die ſo Vieles ſo ängſtlich verbirgt, — Accent durch
Gegenſatz: Sie wiſſen, Sie wiſſen! Dort aber: na¬
turalia non sunt turpia
. Alſo weniger Eckel.“


Er zog nun eine Landkarte hervor, um mir ſeinen
Reiſeplan darauf zu zeigen. Es war nicht Raum auf
[113] dem Tiſch, um ſie ganz auszubreiten, die Karte war
aufgezogen, er öffnete die Blätter zunächſt ſo weit,
als der Tiſch Platz bot, aber die weitere Verfolgung
der Reiſelinie forderte, daß nach und nach die anderen
Abtheilungen aufgeſchlagen wurden, und nun gieng
ein Umſtellen, ein Aufräumen mit den mancherlei
Geräthen an, womit die Fläche beſetzt war. Der
Wirth ſchien gern zu zeigen, daß er einen reichhaltigen
und ſchmucken Service beſitze, und hatte daher manches
entbehrlich gewordene Gefäß nicht abgetragen; auf
einem zweiten Tiſch und einer Kommode ſtanden
Blumenvaſen, Taſſen und Anderes, in derſelben Art
wie jener mit Goldrand und farbigen Muſtern ver¬
ziert, umher; wollten wir auf dem Speistiſch abräumen,
ſo mußte erſt auf einem dieſer Möbel dieſelbe Arbeit
vorgenommen werden, dazu bot aber wieder nur der
Speistiſch Raum, den man doch eben leeren wollte,
und ſo entſtand ein Kreislauf höchſt verwirrender und
bemühender Art, der endlich in ein leidenſchaftlich
wirbelndes Hin und Her übergieng und kein Ende zu
nehmen drohte. Ein Gott ſchien uns mit Blindheit
geſchlagen zu haben, daß uns das einfachſte Mittel
nicht einfiel, nemlich abtragen zu laſſen. Plötzlich hielt
A. E. inne, während ich in dieſem Geſchäfte noch fort¬
fuhr. Daß er bei dieſem Kreiſen der Objekte ſoeben
noch ſelbſt mitthätig geweſen, ſchien er rein vergeſſen
Viſcher, Auch Einer. I. 8[114] zu haben. Mit Stentorſtimme rief er: „Auch gar noch
Fandango? Es iſt genug!“


Er klingelte. Der Wirth erſchien. „Was koſtet
der ganze Service, Alles was hier im ganzen Zimmer
umherſteht?“ Der Wirth fragte: „Wozu?“ und zeigte
ſich auf die ungenügende Antwort von A. E., er
möchte ihn eben haben, wenig geneigt, ſeinen Schatz
zu verkaufen. Doch, da er kaum anders denken konnte,
als, der Gaſt ſei auf dieſe Gegenſtände um ihrer
Schönheit willen erpicht, da ihm dieß ſchmeichelte und
da er ſchließlich wohl kein Geldverächter war, ſo ließ
er ſich beſtimmen und nannte eine Summe, die eben
nicht beſcheiden, doch auch nicht ſo hoch gegriffen war,
als die kundigere Gewinnſucht eines Städters ſie ge¬
ſpannt hätte. Sie wurde ihm rund in Gold ausbe¬
zahlt; er ſtriech ein und fragte: „Soll ich auch die
Verpackung übernehmen?“ A. E. ſah ihn ſonderbar
an, wendete ſich gegen mich und ſprach feierlich, wie
damals im Wirthshaus zu Brunnen: „Supplicium!
Todesurtheil!“


Er gab mir den Krug in die Hand und ſagte:
„Ihnen die Ehre des Vortritts!“


Ich, wie ich nun leider geworden war, gehorchte
mit Pflichtgefühl. Dem Fenſter gegenüber ſtand jen¬
ſeits der Straße ein mächtiger Granitblock, einſt —
wer weiß vor wie viel Jahrhunderten — herabgeſtürzt
von einem der Felsungeheuer und nun als Damm
[115] und Schranke hier aufgepflanzt, Zeuge einer Zeit, da
es Krüge und Service freilich noch nicht gegeben.
Ich zielte nicht ſchlecht und der Krug zerſchellte an ihm
in zahlloſe Scherben und Splitter. A. E. belobte
mich und ergriff eine Obſtvaſe; ihr Schickſal war das¬
ſelbe. Wir wechſelten ab mit Tellern, Platten, Glä¬
ſern, was uns nur in die Hände kam. Unten hatte
ſich ſchnell ein Zuſchauerkreis von Dorfjugend verſam¬
melt und jubelte über das ungewohnte Schauſpiel.
Unter großem Gelächter wurde nach jeder Aktion unſerer
Kriminaljuſtiz gerufen: „G'hei abe! G'hei abe!“ A. E.
hatte eben eine hübſche Karaffe aufgenommen, als dieſer
Ruf zum erſten Mal erſcholl, hatte auch ſchon zum
Wurf ausgeholt, hemmte aber ſeine Bewegung, faßte
mit der einen Hand meinen Rockknopf, während die
andere mit dem Gefäß mitten im Schwung hoch gehoben
verweilte, und hielt mir eine kurze Vorleſung über das
Wort, das die Knaben riefen und das ich, der Aus¬
ſprache folgend, ohne ſeine Belehrung ſchreiben würde:
Keien. „G'heien,“ ſo dozirte er in der geſchilderten
Stellung, — „ſchreibe G, Apoſtroph, HEI — alſo
eigentlich geheien — von heien mit Vorſchlagſylbe ge
— heißt:


  • a) Werfen;
  • b) beläſtigen (‚laß mi ung'heit' — ſagen Oberſchwaben
    und Schweizer), auch dämoniſch verfolgen (‚der
    Teufel geheit mich’, ſagt Luther);
  • c) äußerſt feine Modifikation des Sinns, die ich
    in Schwaben gelernt: es g'heit mich, heißt: ich
    habe das Mißgefühl, etwas Angenehmes ver¬
    ſäumt, verſcherzt zu haben.

„Ob noch eine andere Bedeutung zu Grunde liege,
darüber habe ich lange vergeblich geforſcht, glaube
aber jetzt auf der rechten Spur zu ſein. Davon ein
andermal.“


Nach dieſem Vortrage befreite er den gehobenen
Arm aus ſeinem Banne, holte noch einmal aus, die
Karaffe flog den Weg ihrer Geſchwiſter und zerplatſchte
am Granitblock.


Ich wollte nun in rhythmiſcher Abwechslung als¬
bald wieder folgen, als er, den Blick auf unſern Zu¬
ſchauerkreis geheftet, mir plötzlich in den Arm fiel und
ſagte: „Halten Sie inne, bis ich wieder komme.“ Er
eilte hinaus und hinab, ich ſah ihn mitten durch den
Haufen der Dorfjungen dringen auf eine Frau zu,
die hinter ihren Reihen ſtand, ein Kind auf dem Arme.
Sie war dürftig gekleidet, ihr und dem Kind ſah der
Hunger aus den Augen. A. E. hatte mit ſeiner
ſcharfen Sehkraft offenbar von oben bemerkt gehabt,
daß ſie dem tollen Schauſpiel mit vorwurfsvollen
Blicken zuſah; man konnte ſchließen, daß ſeine Anrede
an das Weib etwas darauf Bezügliches enthielt. Ihre
Antwort ließ ſich deutlich hören, da der ganze Haufen
mäuschenſtill geworden war: „Ja, Herr, wie das Ge¬
[117] ſchirr ſo flog, dachte ich: wenn ich nur in meiner ir¬
denen Schüſſel zu Haus ein paar Schübchen gute
Suppe hätte.“ Ich ſah, daß Geldſtücke in ihre Hand
glitten, er flüſterte ihr Einiges zu, das ſichtbar be¬
ruhigend wirkte, wohl aber zugleich eine Bitte enthalten
mochte, nicht weiter zuzuſehen; denn ſie gieng hinweg
und mit ſichtbar aufgeheiterter Miene.


A. E. eilte wieder herauf und ſagte ſehr munter:
„Vereinbar! vereinbar! ſo, nun kann es wieder fort¬
gehen!“ Ich holte wieder aus und zum großen Troſte
der Verſammlung auf der Straße lief denn die Aktion
weiter.


Hinter uns ſtand der Wirth und ſah zu, ſtarr,
ſprachlos, „zur Statue entgeiſtert“.


„Hoffnungslos

Weicht der Menſch der Götterſtärke;

Müßig ſieht er ſeine Werke

Und bewundernd untergeh'n.“

Unſer Eifer nahm zu, als ſich unſere Arbeit dem
Ende nahte, die Bogen, in denen wir warfen, wurden
immer kühner, der Wurf immer ſicherer; im Feuer
dieſes Thuns bemerkten wir nicht, daß außer dem
Mädchen, das mit dem Wirth uns bedient hatte, noch
Jemand zu ihm getreten war; es war mir nur vor,
als hörte ich hinter mir ein helles Lachen und Klat¬
ſchen, ich hatte keine Zeit, darauf zu achten. Jetzt
[118] war der feierliche Akt vollendet und wie wir uns zurück¬
wenden, ſteht bei jenen Zweien eine dritte Geſtalt,
ein hohes, bildſchönes Mädchen, mit großen, dunklen,
von Freude leuchtenden Augen, in die Hände klatſchend
und lachend, wie Kinder im höchſten Jubel lachen.
Schwarze Locken, von ſilberner Nadel gehalten, fielen
um ihr braunes Antlitz, gefüllt und ſtolz geſchwungen
ſtieg der Nacken und hielt aufrecht das Haupt mit
ſeinem reinen Profil empor; man ſah wieder eine
Wölbung des Bruſtbaus, wie ſie in unſern nördlichen
Ländern ſo ſelten iſt: frei, kräftig, ein wohlgebildeter
Raum für das Organ des Athmens.


Wie ich ſie näher anſah, tauchte mir erſt von
ferne, dann deutlicher eine Erinnerung auf. Um
dieſe ſchönen Augen ſpielte etwas Weiches, man konnte
nicht ſagen, in welchen Formen der Augenhöhle und
ihrer Umgebung es lag, nicht wenig trugen die großen
Lider und die langen Wimpern dazu bei; nach kurzem
Suchen kam mein Gedächtniß bei der Dame an, die
ich erſt geſtern in Bürglen geſehen hatte. Die Aehn¬
lichkeit in dieſem Zuge war ſo ſtark, daß man leicht
das Unähnliche in Gedanken ausſchied; man konnte
ſagen: es war dieſe Erſcheinung aus Blond in Schwarz
und Braun, aus dem fein Schlanken in's Vollere, aus dem
zart Durchgebildeten in's kräftig Volksmäßige überſetzt.


A. E. ſtand erſtaunt, in Schauen verloren. „Come
vi chiamate
?“ fragte er.


[119]

Cornelia.“


Siete da Perugia?“


No, Signore.“


Da Assisi?“


No, Signore.“


Da Arezzo?“


No, Signore.“


No, Signore. Io sono da Bellinzona.“


Fa niente,“ rief er jetzt, ſchloß ſie in die Arme
und drückte der Ueberraſchten, die kaum ſich ſträubte,
einen feurigen Kuß auf die Lippen. Der Wirth ſah
verwundert, halb ärgerlich, halb lachend zu dieſer
Szene, ließ jedoch geſchehen. Man konnte ihm auf
dem Geſichte leſen, daß in ſeinem Gemüthe zwei
Mächte ſich eine ordentliche Schlacht lieferten: das Ge¬
fühl der Zweckwidrigkeit des erſt Vorgefallenen, der
Unmuth über ſo verkehrtes Handeln und über die jetzige
Dreiſtigkeit auf der einen und auf der andern Seite
der Reſpekt vor Fremden, die ſich eine ſo großartige
Verſchwendung erlaubten, und die Luſt am Spaße,
den eine Szene, wie die letzte, denn doch jedem Zu¬
ſchauer bereiten mußte. A. E. wandte ſich jetzt mit
der Geberde eines Mannes, dem etwas Vergeſſenes
einfällt, plötzlich zu ihm, nahm ihn beiſeite, fragte
ihn leiſe etwas, die Antwort des Wirths, der ſeine
Stimme zum Flüſtern nicht gebildet hatte, verrieth,
[120] von was die Rede war: er nannte den Namen einer
Frau mit dem Zuſatz einiger weiteren Perſonalien; es
konnte nur das arme Weib ſein, deſſen Erſcheinung
das kurze Zwiſchenſpiel im großen Töpfedrama her¬
beigeführt hatte. A. E. machte ſich eine Notiz in's
Tagebuch. Der Wirth war jetzt ſichtbar ſo ausge¬
ſöhnt, daß er unſeres Wohlgefallens an dem Mädchen
einfach ſich erfreute; er ſagte freundlich: „Meines
Bruders Kinder, der eine Italienerin zur Frau hat
und in Bellinzona wohnt.“


A. E. ſtand noch einige Augenblicke, die Hand des
ſchönen Mädchens haltend, fragte, ob er Grüße nach
der Heimat bringen dürfe, ſie wurden ihm gern auf¬
getragen, dann wandte er ſich zu mir und ſagte: „So,
jetzt laſſen Sie uns ſcheiden und gehen; nach dem
Vernunftakte, nach der religiöſen Opferhandlung, die
wir vollzogen, könnte uns ein ſchöneres Punktum
nicht mehr werden.“ Er nahm ſeine Sachen um
und an, gab dem Wirth und ſeinen Nichten noch
herzlich die Hand und gieng voran und ich folgſam
ihm nach. Während er die Treppen hinabſtieg, blieb
ich noch bei Cornelia, die mir vor die Thüre folgte,
ſtehen und ſah ſie fragend an; ſie verſtand meinen
Blick, ſie las ſchnell darin, daß er forſchte, wie ihr
der Herr gefalle, und ſie ſagte: „È pazzo, ma pur
simpatico. Pazzi siete tutti e due
.“ Es drängte
mich, ſie dafür nun meinerſeits auch zu küſſen, ich
[121] bedachte aber ſchnell, daß ſie „pazzi“ in den Plural
verwandelt hatte, „simpatico“ aber nicht, auch wider¬
ſprach ein Etwas in mir der Nachahmung in dieſem
Fall, kurz ich bezwang die Anwandlung und drückte
ihr nur zum Abſchied die Hand.


Ich trat zu A. E. vor die Hausthüre. Der Föhn
hatte ſich gelegt, ſein Glutſturm ſchien die Waſſer¬
maſſen, die er mit ſich zu führen pflegt, hinter uns
auf die Flächen Deutſchlands gejagt zu haben; hier
im Gebirg war nur ein leichter Regen gefallen und
hatte die Luft mäßig gekühlt.


„Ich wollte eigentlich bis Andermatt,“ ſagte ich,
doch ſetzte ich alsbald hinzu: „Nein, es iſt wahr, es
iſt beſſer, wir ſcheiden nun.“ — „Nicht wahr?“ ſagte
A. E. mit herzlichem Tone und grundfreundlichem
Blick; — „das Weitere würde nur nachhinken und
beiſammen bleiben wir ja doch nicht; den Reſt des
Paſſes mit Teufelsbrücke können Sie ja morgen oder
ſonſt einmal ſehen. Die Novelle alſo kommt. Addio!“
Er ſchüttelte mir die Hand, ſchwenkte mit raſcher
Wendung und gieng dahin.


Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, auch
nur ein Wort zu ſagen, eine Bewegung zu machen,
wodurch ich dem Gefühl Ausdruck gab, das im Augen¬
blick dieſes Abſchieds über mich kam, obwohl es nach
aller Wahrſcheinlichkeit ein Abſchied für immer war.
Ich kannte ihn zu gut, um nicht zu wiſſen, wie wenig
[122] Glück ich mit einem Anlauf zärtlicher Art gemacht
hätte; ich erwiderte ſtumm den Handdruck und gieng
gleichfalls meines Weges.


Im nächſten Moment fiel mir ein, daß ich nicht
dazu gelangt war, nach dem Sinn des ſeltſamen
Wortes zu fragen, das mich am vorigen Tage wie
ein Geiſt verfolgt hatte. Schnell aber wurde ich mir
bewußt, daß dieß darum unterblieben war, weil ich
einen paſſenden Moment zu der Frage nicht fand,
und weiter wurde mir klar, daß noch etwas Anderes
zu Grunde lag; ich war eigentlich doch nicht dazu
aufgelegt. Alsbald vergieng mir daher auch die augen¬
blickliche Luſt, zurückzulaufen und das Verſäumte nach¬
zuholen. Ich wäre vor A. E. ſchlecht beſtanden, wenn
ich, vollends nach dem Abſchied, einen beſondern Schritt
gethan hätte, um zu erfahren, was ein Humorwort
bedeute, das irgend einer geringfügigen Anekdote ſeinen
Urſprung verdanken mochte. So reſignirte ich denn
darauf, jemals noch im Dieſſeits das Räthſel des
Tetem gelöst zu ſehen.


Ich war etwa zwanzig Schritte entfernt, als ich
ſeine Stimme rufen hörte: „Sie!“


Ich kehrte mich um: A. E. war ſtillgeſtanden
und rief mit einem Tone, woraus die helle Froh¬
heit klang, mir zu: „Und ſie hat's erſt nicht abge¬
wiſcht!“ Dann wandte er ſich und ich ſah ihn mit
nervigen Schritten die Straße hinanſteigen. Zugleich
[123] erkannte ich am Fenſter das dunkle Lockenhaupt Cor¬
neliens; ſie ſah ihm nach, bis er an der nächſten
Biegung der Straße verſchwand.


Ich wanderte langſamen Schrittes bergab. Warum
ſollte ich nicht geſtehen dürfen, daß mir das Auge
feucht wurde, und warum nicht, daß ich zu fühlen
meinte, dieſer Tropfen gelte gar nicht allein dem Ab¬
ſchied, ſondern wohl mehr noch gerade dem letzten,
komiſchen Wort und dem, was es mir zu denken gab,
zu denken nicht bloß über den einen Menſchen, der
dort über das wilde Gebirgsjoch in die Ferne zog.


[[124]][[125]]

Es war etwa zwei Monate ſpäter, als ein Packet
an mich kam mit dem Poſtſtempel Venedig. Ich
öffnete ſehr begierig und da hatte ich nun die Pfahl¬
dorfgeſchichte — in ſauberer Reinſchrift, da und dort
mit Korrekturen von anderer Hand, welche die des
Verfaſſers ſein mußte. Ein Zettel lag bei; ich werde
nachbringen, was darauf geſchrieben ſtand. Es iſt ein
gewiſſes Gefühl von Bedürfniß der Abwechslung, was
mich beſtimmt, meinem ferneren Berichte den Abdruck
der Novelle vorangehen zu laſſen; ich habe ſo lang
ſelbſt geredet, daß es Zeit iſt, unſern Freund — ich
hoffe, das ſei er trotz alledem — ganz zu Worte
kommen zu laſſen.

[[126]][[127]]

Der Beſuch.
Eine Pfahldorfgeſchichte
von
A. E.


Wir blicken durch eine kleine Fenſteröffnung in
eine Hütte, die uns gar dürftig erſcheinen müßte,
wenn wir uns nicht Bau, Ausſtattung, Schmuck un¬
ſerer Räume aus dem Sinne ſchlagen wollten. Die
Wände bildet ein Flechtwerk, das mit Lehm bekleidet
iſt, daran läuft ein Bord, der einen Hausrath von
äußerſter Einfachheit trägt, ein roher Tiſch in einer Ecke,
einige Stühle von nicht feinerer Arbeit ſind zu ſehen
und auf dem Eſtrich, der eben nicht aus Parkettafeln,
ſondern aus einem Guß von Thon und Kohlenſtaub
über einer einfachen Lage von Planken beſteht, erhebt
ſich ein Herd, deſſen Form auf ſo höchſt urſprüng¬
liche Zuſtände hinweist, wie Alles, was wir erblicken.
Und dieß Alles gehört keinem armen Manne; die
Matte dort aus Binſengeflecht ſcheidet das Ganze des
Bodens in eine Schlaf- und eine Wohnſtube, die frei¬
lich zugleich als Küche dient, und das iſt ein Raum-
Luxus, den nicht jede dieſer Hütten aufweist. Der
wohlhabende Beſitzer iſt ein ehrſamer Pfahlbürger
[128] des Dorfes, das ſich über dem Spiegel des Sees
Robanus, wenige Meilen entfernt von der größeren
Waſſergemeinde Turit, erhebt. Er heißt Odgal und
iſt augenblicklich abweſend; einige hundert Schritte
entfernt ſitzt er in einem Einbaum auf dem Waſſer
und iſt mit ſeinen Fiſchernetzen beſchäftigt. Dem Ge¬
mach aber fehlt es nicht an einem lebendigen Schmuck.
Eine rüſtige, rothbackige Dirne, von munteren Kindern
umgeben, hantirt mit einem ſchweren runden Stein
auf einer größeren Steinplatte, auf welche ſie einen
Haufen von Waizenkörnern geſchüttet hat: ſie mahlt.
Die Arbeit iſt nicht leicht, ſchwerlich würde auch eine
ſtarke Bauerntochter unſerer Zeit die Laſt des Korn¬
quetſchers ſo leicht heben, ſo geſchickt und leicht hand¬
haben, und wir bewundern dabei ein paar prächtige
Arme, die aus den aufgeſtreiften Aermeln des ein¬
fachen Baſtkleids ebenſo wohlgebildet als muskulös
hervorglänzen. Etwas Sonderbares erblicken wir frei¬
lich auf dem linken Oberarm: ein ſeltſames Bild, das
ebenſowohl einen Kuhkopf, als einen Halbmond vor¬
ſtellen kann, iſt hier mit blauer Farbe eingeritzt und
längſt mit der Haut verwachſen. Niemand jedoch
wird ſagen, daß es den ſchönen Arm entſtellt! es
ſieht eben aus, als hätten die blauen Aederchen, die
dieſe ſchimmernd klare Haut durchrieſeln, den Ein¬
fall gehabt, ſich gelegentlich zu einer Art von Ver¬
zierung zu geſtalten. Alſo laſſen wir uns die täto¬
[129] wirte Schöne gefallen und ſehen uns weiter um in
dieſem Raume. Drei Kinder, ein Knabe und zwei
Mädchen, treiben ihr Spiel mit einem Eichhörnchen;
das kleinere iſt ſeit einem Jahr erſt aus den Windeln
und erfreut ſich jetzt zugleich ſeiner Freiheit; neben
ihm liegt ein Ding, etwas wie ein eigenthümliches
Zaumgebilde, am Boden: es iſt der Halfter, womit
der arme Wurm an einem Pfoſten feſtgebunden wird,
wenn die Fallthüre offen iſt, die wir jetzt niederge¬
laſſen ſehen; ſie deckt eine Oeffnung, die ſich ein¬
fach über dem Seeſpiegel befindet und urſprünglich
zum Fiſchfang beſtimmt war. Man ließ durch ſie
einen Korb in's Waſſer hinab und durfte ſicher
ſein, daß er zappelnde Beute mitbrachte, wenn man
ihn nach einiger Zeit aufzog. Seit die Gemeinde ſtark
über zweihundert Bürger zählt, iſt der See ſo er¬
giebig nicht mehr, die Oeffnungen aber ſind geblieben,
eine Treppe führt hier in's Waſſer, um ſchneller
zum Kahn zu gelangen, als durch die ſpärlichen und
engen Durchgänge zwiſchen den Häuſern, die man mit
wenig Recht Gaſſen zu nennen beliebt, und über die
einzige Brücke des Dorfes. Einen eigenthümlichen
Gegenſatz zu den Erſcheinungen der blühenden Kinder
und der ſchönen, rüſtigen Jungfrau bildet eine un¬
heimliche Alte, runzlich, von gelber Farbe, die grauen
Haare hängen ihr faſt ungeordnet über die Stirne;
ſie ſitzt in einer Ecke und ſpinnt. Dazu ſingt ſie
Viſcher, Auch Einer. I 9[130] in eintöniger Weiſe — man kann es kaum Melodie
nennen, es iſt nur wie ein dumpfes Murmeln — ein
dunkles, uraltes Lied.


„Helft mir ſpinnen, ſpinnen,

Heil'ge Spinnerinnen,

Die ihr ſchwebt im Schilf!

Selinura, hilf!
Faden kam geronnen,

Haſt die Welt geſponnen,

Du und deine Feen,

Geiſter in den Seen!
Tanze, Spindel, tanze

Fäden, feine, ganze!

Wirtel mit Geſumm

Wirble um und um!
Leiſe rauſcht's im Riede

Mir zum Spinnerliede,

Flüſtert Zauberſang

Mir zum Spindelklang.“

Dazu hörte man die Welle unter dem hohlen
Bau an den Pfählen plätſchern und den Abendwind
raſchelnd durch den nahen Uferſchilf wehen: eine Be¬
gleitung, die gar wohl zu dem geiſterhaften Geſange
ſtimmte.


Ein friſcherer, hellerer Klang, von ferne her ver¬
nehmbar, unterbrach dieſe düſtere Muſik. Es war
ein Jodeln, ganz daſſelbe Spiel wechſelnder ſtarker Fiſtel¬
[131] und Baßtöne, wie man es heute noch in den Schweizer-
und Tiroler-Alpen oft und gern vernimmt. Das
Mädchen ſtriech ſich die braunen Locken aus, die ihr
bei der ſtarken Arbeit über die Stirne gefallen waren,
und aus ihren dunkelblauen Augen, die bisher nach¬
denklich, träumeriſch unter den langen Wimpern darein
geſchaut hatten, blitzte die helle Schalkheit hervor. Wie
ein morgendlicher Strahl fuhr jetzt ihre glockenhelle
Stimme durch die nebligen Laute der geſpenſtiſchen
Alten:


„Und mein Schatz der kann ſingen

Und jodeln dazu,

Wenn er auſi thut treiben

Sein Kalb und ſein' Kuh.

Ju!
Und e ſchwarzbrauner Jager,

E luſtiges Blut,

Der wär' mir ſchon lieber,

Mit em Gamsbart uf'm Hut!

Ju! Ju!“

Das Ju denke man ſich mit jenem durchdringen¬
den, gezogenen Jodelton geſungen, der fernhin durch
Berg und Thal ausklingt. Man ſollte meinen, der
entfernte Sänger werde ihn erwidern, aber von dorther
ließ ſich kein Laut mehr vernehmen. Ueber die Züge
der Alten gieng ein Schatten, ihre finſteren Augen
ſchickten einen ſtechenden Blick nach dem Mädchen,
[132] ihre Spindel ſtand ſtill und ſie ſagte nur die zwei
Worte: „Wieder das?“ „O was iſt's denn weiter
auch?“ erwiderte das Mädchen und wandte ſich nun
zu den Kindern, die nach Abendbrod verlangten. Nicht
ſo zierlich wie Werther's Lotte theilte ſie mit einem
Steinmeißel einen dunkeln Brodlaib, deſſen Rinde in
der That ziemlich kohlich und deſſen Subſtanz eben
nicht ſo weiß und porös ausſah wie bei unſerem
leichtverdaulichen Brod, in wenig regelmäßige Schnit¬
ten; der Leſer begreift, daß Meſſerklingen von ge¬
nügender Länge aus Stein nicht herzuſtellen waren, ſo
mußte denn bei Körpern, die für ein Holzmeſſer zu
hart waren, der Meißel die Stelle verſehen; man darf
übrigens zugeben, daß Sigune den Druck oder Stoß
von oben, womit er gehandhabt wird, mit ſo viel Grazie
ausübt, als irgend mit dieſer gröberen Bewegung ver¬
einbar iſt. Sie nimmt hierauf mit einem Holzlöffel
Butter aus einem thönernen Napf, deſſen Hals einige
aufgemalte Zickzack-Linien einfach genug verzieren,
ſtreicht ſie mit dem ſpatelförmigen Stiele zierlich auf
die Brode und ſagt dann: „Wartet, weil ihr ordent¬
lich brav geweſen, ſollt ihr einen Vorſchmack vom
Feſt haben.“ Sie holt noch einen andern Topf vom
Borde und ſchöpft daraus einen braunen Stoff, bei
deſſen Anblick die Kinder jubeln: es iſt ein Mus
von verkochten Apfelſchnitzen mit etwas Zuſatz von
Honig. „Gſälz! Gſälz!“ riefen die Kinder und konnten
[133] kaum erwarten, bis die Butterlage mit dem wohl¬
ſchmeckenden Ueberzuge bedeckt war. Sigune — denn
ſo hieß die erwachſene Schweſter der Kleinen, die ihnen
getreulich ſeit einem Jahr die todte Mutter erſetzte —
vergaß ſich ſelber nicht; der Alten wurde dann ein
Becher Meth gereicht und auch das Eichhörnchen nicht
vergeſſen, ihm wurden einige Haſelnüſſe geſpendet, und
ſo ließ ſich denn die ganze Geſellſchaft ihr Veſperbrod
ſchmecken.


„Hixi, Hixi“ rief jetzt das ältere Schweſterchen
Sigunens, „komm' ſing mit uns das Märchenlied von
Coridwen einmal wieder!“ Der Knabe ſtimmte mit
ein, die Alte — ihr Name nicht abgekürzt hieß Ur¬
hixidur — war inzwiſchen munterer geworden und ſtellte
nur die Bedingung, daß die Kinder ordentlich ein¬
fallen; ſie verſprachen eifrig und ſo begann denn der
Geſang, wobei der Leſer zu merken hat, daß bei den
fünf erſten Strophen je die zweite Zeile vom Knaben,
die vierte vom Mädchen übernommen wird, das Uebrige
aber mit näſelndem und zugleich hohlem Tone die
Alte vorträgt.


„Gwyon, dieſer kleine Tropf —

Was thut der?

Hat geſchleckt vom Zaubertopf.

Wer kommt her?

Kommt hinzu, o weh! o weh!

Coridwen, die ſtarke Fee!
[134]
Gwyon, dieſes Zwergelein,

Was wird er?

Wird ein flinkes Häſulein.

Wer kommt her?

Coridwen als Hündin ſchnell

Will zerzauſen ihm das Fell.
Daß ſie ihn nicht packt am Wiſch,

Was thut er?

Gwyon wird im Nu ein Fiſch.

Wer kommt her?

Coridwen als Otterthier

Jagt ihn und erhaſcht ihn ſchier.
Gwyon, Gwyon, jetzt ſei flink!

Was thut er?

Er wird flugs ein Diſtelfink.

Wer kommt her?

Coridwen ſtößt auf den Schalk

Gleich herab als Finkenfalk.
Zu entfliehn des Falken Zorn,

Was thut er?

Er wird raſch ein Waizenkorn.

Wer kommt her?

Coridwen wird eine Henn'

Und verſchluckt ihn, Coridwen.“

Von ihrer gelungenen Geſangleiſtung faſt noch
mehr, als von dem gern gehörten Märchen beglückt,
jubelten und klatſchten die Kinder, während die Alte,
ohne weiter auf ſie zu achten, mit verändertem, tiefem,
[135] finſterem Tone den Schluß vor ſich hinſang, um den
ſich die Kleinen niemals bekümmert hatten:


„Das Korn hat gegoren

Im heiligen Leib,

Da hat ſie geboren,

Das Wunderweib,

Die Strahlenſtirne, den Talieſin,

Der da ſchauet allen geheimen Sinn,

Der da blicket hinaus in die Ewigkeit,

Der da iſt und war in aller Zeit,

Der Druiden Vater und Geiſter-Haupt.

Verflucht, wer nicht an Talieſin glaubt!“

Ein Huhn flog herein und pickte die Waizen-
Körner auf, die bei der Mahlarbeit zu Boden gefallen
waren. Dieß ſteigerte den Jubel der Kinder und
eins um's andere riefen ſie: „Schluck' das Körnchen,
Henn, Henn, Henn! Coridwen, Coridwen!


Inzwiſchen iſt an der Fenſteröffnung ein unbe¬
merkter Zuſchauer erſchienen, ein Burſch im beſten
Jugendalter. Er betrachtet ſich mit ſichtbarem Wohl¬
fallen die Gruppe und verweilt mit innigen Blicken
auf der mütterlichen Schweſter der Kleinen. Nachdem
er manche Minute ſo ohne Regung geſtanden, zieht
er eine Binſe hervor und kitzelt mit ihrem Ende Si¬
gunen hinter dem Ohre; ſie ſpringt auf, „wart' nur,
wart' Alpin, ich brech' dir den Finger ab,“ ruft ſie,
faßt ſeine Hand und drückt auf das Zeigfingergelenk,
als wollte ſie die Strafe vollziehen. Der Burſche grillt
[136] auf und lacht, tritt ſchnell in die Hütte ein, gefolgt
von einem zottigen Schäferhund, der mit luſtigen
Sätzen, wedelnd, bellend, leckend Sigunen und die
Kinder begrüßt, nimmt die Thäterin um den Hals
und klemmt ſie in's Ohrläppchen, daß nun das Auf¬
ſchreien an ſie kommt. Dann wird er plötzlich ernſt,
ſetzt ſich auf den Herd und ſieht ſie ſchweigend an.
„Haſt wieder das Gſatzli vom Jäger geſungen oder
nicht?“ „Ja, ja, ſie hat's,“ miſcht ſich mit an¬
geberiſchem Ton die Alte in's Geſpräch, ſetzt ein
„aber“ ohne Wortfolge hinzu und bricht mit ihrem
Spinnrocken auf, nachdem ſie den Wirtel ſorgfältig
eingepackt und eingeſchoben hat; denn es iſt einer von
den koſtbaren: nur von Thon, aber niedliche Verzie¬
rungen, dazwiſchen ſeltſame Runenzeichen ſind darauf
eingegraben. Im Abgehen klopft ſie mit ihrem Kunkel¬
ſtecken noch leiſe an den größten der Kochtöpfe, die
auf dem Bord am Herd ſtehen, und ſieht Sigunen
mit einem Blick dabei an, als wollte ſie ſagen: „Da
hab' ich zu Haus einen andern!“ Dieſe lacht und ver¬
ſetzt ſpöttiſch: „Na, ich bin dir nicht neidig auf deinen
alten Krauthafen!“


„Und hab' dir grad wollen eine Freud' machen,
— ſo etwas für's Feſt — aber ich weiß, es g'freut
dich erſt nicht,“ ſagt jetzt Alpin. Er handelt jedoch
ſeinem eigenen Worte zuwider und zieht unter ſeinem
Schafpelz, deſſen Wolle nach außen gekehrt iſt, eine
[137] Schnur von glänzenden Körpern hervor. „Ah! Ei!
Je, wie nett!“ ruft das Mädchen, das ohne viel Um¬
ſtände darnach gegriffen hat und dem der freundliche
Geber das koſtbare Geſchenk leicht in die Hand fallen
läßt. Es iſt ein Halsband von aufgereihten Stückchen
aus Bergkryſtall; ſie ſind nicht eben ganz gleich an
Form, aber man ſieht, ſehr ſorgfältig nach annähern¬
der Aehnlichkeit zuſammengeleſen; ſie zu ſchleifen, bis
ſie in ihrer Durchſichtigkeit hell leuchteten, mag müh¬
ſam genug geweſen ſein, noch viel mühſamer jedoch
das Durchbohren. Sigune weiß wohl, was das Ar¬
beit koſtet, mit einem ſpitzen Splitter von Quarz oder
Feuerſtein einen, noch dazu kleinen, harten Körper zu
durchlöchern, ohne ihn zu zerbrechen, und ſie kann ſich
gar wohl vorſtellen, wie manche lange Stunde, beim
weidenden Vieh ſitzend, der zärtliche Hirte daran gear¬
beitet haben mag. Und daß ſie Sinn dafür hat, am
Feſte, ſtatt mit ihrer alten Schnur von farbigen Thon¬
perlen mit ſolchem Schmuck zu erſcheinen, bedarf keiner
Verſicherung. Sie iſt nun wohl herzlich gerührt, reicht
auch dem Geber mit den Worten: „Biſt immer gut!“
einen Schmatz, der aber ſpürt, daß er etwas kurz
und oberflächlich iſt, er weiß gar wohl: hätte er Si¬
gunen einen Auerhahn oder Gemsbock zu Füßen ge¬
legt und erzählt, wie er ihn auf gefahrvollen Wegen
erſchnappt habe, da hätte ſie ihn an den Locken ge¬
packt und anders geküßt. Es trat wieder eine Pauſe
[138] ein und Alpin, als wäre geſprochen, was er ſoeben
nur gedacht hat, ſagt mit weicher Stimme: „Ich mag
halt eben die ordentlichen Thierli nicht umbringen,
ſie wollen halt auch leben; und weißt, neulich wieder
— wie ich den angeſchoſſenen Rehbock im Wald ge¬
funden, mit dem Pfeil im Leib, langſam verendet,
aber noch lebig von Hunden angefreſſen, — ſeitdem
mag ich ſchon gar nicht mehr jagen; ja, wenn's auf
ein recht ſchädliches wildes Thier geht — hab' ich je
den Wolf gefürchtet? — ſoll ich dick damit thun, daß
ich jüngſt den Bären —“ Hier veränderte ſich der
Ausdruck ſeiner milden, hellblauen Augen, er richtete
ſich ſtolz und ſteil auf und fuhr fort: „Man hat dir's
erzählt — nicht ich — ich mag mich nicht brüſten —
heut ſag' ich dir's: ſieh, ſo ſtand das Ungethüm,
nahm den Kampf an, will mich umarmen — mein
Speer war keiner von den ſtarken — ſonſt eben gut
genug zur Schippe — ich wag's darauf und ganz
nah' heran, — die Spitze richtig in den Rachen —
ſchnell nachgebohrt mit aller Kraft — 's war grad
keine Kleinigkeit —“


Er erzählte nicht weiter, ſondern rief heftig: „Wer
das kann, der nimmt's auch noch mit manchem Jäger
auf! Komm, Ryno, wir gehen! Gut' Nacht!“ Und
er war hinweg, begleitet von ſeinem Thiere, das ſich
eben nicht gerne von der munteren Geſellſchaft zu
trennen ſchien.


[139]

Sigune ſaß nachdenklich, die Halsſchnur in der
Hand wiegend. Es war eben ſo eine Sache. Alpin
war ihr lieb, aber — Man wußte damals noch nichts
von Ideal und Bauernmädchen pflegen heute noch
nichts davon zu wiſſen, ſonſt würden wir ſagen: es
ſchwebte ihr eben ein anderes Ideal vor. Sie hatte
dem guten Alpin noch nie beſtimmten Anlaß zur Eifer¬
ſucht gegeben, aber ſo viel neckiſche Bosheit war aller¬
dings in ihr, daß ſie ihn oft genug in ihre Gedanken
hineinſehen ließ, und dieſe lauteten: ſchlank, behend,
ſchwarzbraun, blitzende dunkle Augen, Kraushaar,
hübſcher Schnurrbart, wo möglich an den Spitzen in
die Höhe geſtrichen, überhaupt keck, flott, jägerartig.
Alpin aber war ſtämmig, langſam, hatte Augen, die
wir als hellblau ſchon kennen und die gewöhnlich ſanft
und nachdenklich blickten, glattes Flachshaar und —
was ihm beſonders im Wege ſtand und allerdings ihm
ſelbſt auch Kummer machte: der Schnurrbart wollte,
obwohl es längſt, längſt Zeit war, nicht recht kommen,
ſondern beharrte darauf, dem dünn bewachſenen Korn¬
feld nach langer Trockenheit gleich zu ſehen. Man
hörte jetzt unten einen Kahn anfahren, anlegen, der
Vater kam zurück, brachte in einem Schaff ſeinen
Fang, einen fetten Karpfen und ein Prachtexemplar
der Forelle-verwandten Aſche nebſt einigem Volke niedri¬
geren Schlags; Sigune halte nicht Zeit, ihren Gedanken
nachzuhängen, Odgal mochte ſich den Karpfen heut
[140] Abend ſchmecken laſſen und die Tochter machte ſich
ungeſäumt an's Geſchäft der Zubereitung. Dem Vater
wurde das Geſchenk nicht verheimlicht und er ſchien
es nicht ungern zu ſehen.


Wir überlaſſen ſie ihrer Arbeit und folgen dem
aufgeregten Alpin durch ein paar Zwiſchengänge des
Pfahldorfs nach der Hütte ſeines Vaters. Es iſt kein
guter Abend heute für unſern jungen Freund. Er
findet den Vater öfters nieſend und huſtend, dazwiſchen
fluchend über einem Steine ſitzen, der ſeiner bearbei¬
tenden Hand ſichtbare Schwierigkeit entgegenſetzt. Es
iſt ein ovaler Kieſel von der Größe einer ſtarken (da¬
maligen) Männerhand und der alte Ullin iſt beſchäftigt,
ihn der Länge nach zu durchſägen. Seine Säge be¬
ſteht aus einem nur zwei Zoll langen Stück Flins,
das heißt Feuerſtein, mit unregelmäßig gezahntem
Rande. Der Kieſel ſoll zwei Aexte geben, aber die
Säge ſtößt auf eine Verhärtung und kann nicht vor¬
wärts kommen. Schon zwei Tage lang hat ſich Ullin
daran abgemüht; jetzt, eben wie der Sohn eintritt,
hat er die Geduld verloren, ſchleudert den Stein auf
den Eſtrich und flucht unter einem neuen Nies- und
Huſtenanfall: „Hol' euch der hölliſche Grippo, Stein,
Säge und Naſe!“ Dabei ſtößt er eine Schale voll
Meth um, die er ſich eben friſch eingeſchenkt hat.
Mit dem ſüßen und eben nicht ſchwachen Getränke hat¬
er ſich unter der ſauern Arbeit geſtärkt und zugleich
[141] das Kratzen im Halſe zu beſchwichtigen geſucht. Die
Schale iſt ungleich feiner, als andere Arbeiten der
Pfahlbewohner, und aus einem Stoffe geſchnitzt, der
dort ſelten genug war, dem Holze des Buchsbaums,
Erzeugniſſes einer wärmeren Sonne. Ullin hatte das
Geräth von einem Freund am Podamurſee, wohin es
ein Händler aus fernem Lande gebracht, um die Bälge
von zwölf Edelmardern erſtanden. Wer der hölliſche
Grippo iſt, werden wir erfahren; für jetzt müſſen wir
dem Geſpräche folgen, das zwiſchen Vater und Sohn
beginnt. Sie hatten eben auch einen Spahn mitein¬
ander und nicht erſt von geſtern her. Der Vater
wollte mit dem Sohn höher hinaus, als dieſer mochte.
Das unzureichende Werkzeug, das ihm den Kampf mit
dem ſpröden Stein erſchwerte, brachte ihn jetzt wieder
auf dieſes Thema. Gieng es nach ſeinem Willen, ſo
ſollte der Sohn Fabrikant werden und längſt hatte er
ihm vorgeſchlagen: entweder ſollte er ſich in einem
Schnur- und Fadengeſchäft, das ſich in der großen
Waſſergemeinde Turik aufgethan, oder in der weitbe¬
kannten Werkzeug- und Waffenfabrik am See Poda¬
mur zum Meiſter ausbilden, um ſeiner Zeit ein eigenes
Anweſen hier auf dem See von Robanus zu gründen.
Der Leſer möge nicht zu ſehr ſtaunen, wenn wir von
Fabriken reden in einer Zeit, wo die menſchliche Bil¬
dung auf einer Stufe ſtand, wie wir hier ſie darzu¬
ſtellen haben. Wo ein Volk doch ſchon ſo weit iſt,
[142] wie wir hier ſehen, da hat immer auch ſchon eine
Theilung der Arbeit und mit ihr eine Vervollkomm¬
nung durch Maſſenbetrieb Einer Gattung von Arbeit
begonnen. Wohl iſt der Bauer auch Fiſcher, kann
Netze ſtricken und flicken, iſt Zimmermann, ſpitzt ſeine
Pfähle ſelbſt mit der Steinaxt, treibt ſie mit dem
ſchweren Holzſchlägel in den Seegrund und errichtet
darüber ſeine vier Wände, iſt Wagner, baut ſich einen
ſchwerfälligen Pflug mit hölzerner Pflugſchaar, einen
Wagen mit Rädern aus einer, durch ſchwere Leiſten
kümmerlich gefeſtigten Holzſcheibe, wohl kann Frau
und Tochter nicht nur melken, kochen, ſondern auch
mahlen, ſpinnen, mit beinerner Nadel oder mit Fiſch¬
gräte nähen und auf ſehr einfachem Webſtuhl, dem
Kegel und Kugeln von Thon als Netzſtrecker dienen,
vermag ſie Stoffe zu weben, nicht nur einfache, ſon¬
dern ſogar gemuſterte von ganz niedlicher Zeichnung;
aber neben ſolcher Vereinigung von Fertigkeiten in
Einer Hand haben ſich doch ſchon die Anfänge des
Handwerks eingeſtellt, denn bereits mußte man erkennen,
daß Vervollkommnung Zeit braucht und daß nicht
Jeder Zeit hat, von dem Vielerlei, das er treibt, Jeg¬
liches recht zu lernen. Unternehmende und kluge
Männer haben da und dort ſogar einen weiteren
Schritt gethan: ſie haben begriffen, wie erſprießlich es
iſt, wenn man ſich zuſammen thut zu einerlei Geſchäft,
viele Hände in ſeinen Dienſt zieht und in der Thei¬
[143] lung wieder eine Theilung vornimmt, indem man je
eine der Arbeiten, die das Ganze in ſich begreift, einer
Anzahl dieſer Hände zuweist, ſo daß ſie darin eine
ausnehmende Fertigkeit erlangen. So iſt drüben am
Podamurſee aus kleinen Anfängen ein Anweſen er¬
wachſen, das weit hinein die Lande dieſſeits und jen¬
ſeits dieſes großen Waſſers mit Werkzeugen von Feuer¬
ſtein und anderem hartem Mineral verſorgt; viele
Arbeiter ſind beſchäftigt und theilen ſich, wie gemeldet,
in die Arbeit; die Einen fertigen Pfeil- und Speer¬
ſpitzen, die Anderen Meißel verſchiedener Stärke und
Breite, wieder Andere, und zwar die Geſchickteſten,
ſind Sägenſchläger und es war eines ihrer Produkte,
das wir in Ullins Hand geſehen haben; ſie wiſſen ein
Stück Feuerſtein durch wenige geſchickte Schläge zuerſt
in längliche Splitter zu theilen und dann den Rand
eines Splitters ſo zu ſprengen, daß ſeine Zacken un¬
gefähr den Dienſt der Zähne einer metallenen Sägen¬
klinge verrichten können. Dieſe kannte man ja noch
nicht, und ſo hielt man große Stücke auf ein Werk,
das uns gar dürftig erſcheinen muß; man muß auch
bedenken, daß kein metallener Hammer, ſondern nur
ein kleiner Steinſchlegel zu Gebote ſtand, um die
ſchwierige Spaltung vorzunehmen. Wie ſehr man
doch die Unzulänglichkeit des Geräthes zu fühlen bekam,
haben wir aus Ullin's Geduldermüdung geſehen. Er
wußte aber von einem neuen, großen Fortſchritt, der
[144] in dieſer Fabrik gemacht worden: die durch Schlagen,
Sprengen hervorgebrachte Form wurde durch Schleifen
auf Granit, auf harten Quarzen geglättet, regel¬
mäßiger gebildet, die Zähne der Säge wurden durch
feilenartige Handhabung deſſelben Geſteins geſchärft,
Alles bekam eine Präziſion und Brauchbarkeit, die man
bis dahin bitter vermißt hatte, doch länger konnte
man freilich die Säge, härter Waffe und Meißel nicht
machen. Unbeſtimmte Ahnungen von künftigen, noch
größeren Fortſchritten ſchwebten aber Ullins denkendem
Kopfe vor und es war ſein Lieblingsgedanke geworden,
ſeinen Sohn in dieſe große Bahn einzuſchieben. Mit
der Schnur- und Fadenfabrik in dem näheren Turik
ſchien es ihm weniger Ernſt zu ſein, denn ſein Alpin,
obwohl eine ſtille Natur, hatte bei früheren Anläufen
eine noch ſtärkere Abneigung gegen dieſe Art von Ar¬
beit an den Tag gelegt und der Vater ſelbſt dachte
ſich in Wahrheit ſeinen Sohn lieber in einem luſtigen
Schlag- und Klopfwerk, als in einem dumpfen Gemache
voll Flachsgeruch und ſurrenden Häſpeln. Aber auch
gegen den andern Vorſchlag ſträubte ſich der Sohn
heute wie immer, ja heftiger als jemals. Denn, ge¬
reizt wie er von Sigunen herkam, war er ſich eben
jetzt recht bewußt, daß ſein Stand auch ſeine Ehre
habe, und wollte ein Fabrikant ſo wenig werden wie
ein Jäger. Stand dürfen wir ſagen, denn allerdings
war auch das Viehhüten in jener Zeit ſchon zum be¬
[145] ſondern Geſchäfte geworden wie überall, wo ein Volk
zum Ackerbau vorgeſchritten iſt. Und da wollte es
einen Mann auf dem Platze; das haben wir aus Al¬
pin's Bärenkampf erſehen, und außer den Bären gab
es nicht nur Wölfe, ſondern noch andere, nicht die
Heerde, aber den Hirten bedrohende ſchreckliche Feinde,
deren einer uns im Verlauf dieſer Geſchichte begegnen
wird. Schon darum konnte der Hirtenſtand nicht
verachtet ſein, aber er war es ohnedieß nicht, ſondern
etwas Ehrwürdiges. Und Alpin war ein kleiner König.
Er ſelbſt hatte ſich das ernſthafte, geruhige, genährige,
ſtille Rind vorbehalten, unter ihm ſtand ein Roßhirt,
ein Schafhirt, ein Ziegenhirt und ein Schweinshirt,
den zwar kein Homer den göttlichen Sauhirt Eumaios
nannte, den aber die Welt doch nicht minder in Ehren
hielt, als ſeine Kollegen, und dieſe untergeordneten
Herrſcher hatten ſich wie der Regent ſelbſt noch Hülfs¬
kräfte in Form von anſtelligen Buben herbeigezogen.
Die erwähnte Gefahr brachte es mit ſich, daß der
Hirte oft in den Jäger übergieng, aber darum war
er nicht Jäger von Handwerk. Auch die Jagd, ob¬
wohl Jedermann nebenher auch jagte, forderte ſchon
einen beſondern Stand. Der gelegentliche Kampf
gegen die vielen ſtarken und wilden Feinde im Thier¬
reich konnte nicht ausreichen, ſie mußten verfolgt wer¬
den und da bedurfte es ausdrücklich zu dieſem Zwecke
geübter Liſt und Kraft; auch liebte man ſehr das
Viſcher, Auch Einer. I. 10[146] Wildpret, das wird uns gründlich der Feſtſchmaus
bezeugen, von dem ſpäterhin zu berichten iſt.


Wir kehren zum einredenden Vater und ablehnen¬
den Sohne zurück.


„Ach, laß, Vater! Wenn ich ſo bei meinen Thier¬
lein ſitze und denke ſo allerhand über ihre Art und
Thun und kenne ſie aus einander und wundere mich,
wie ſie doch verſchieden ſind, und wenn ich ſo weiter
denke und kommt mir als großmächtig Geheimniß vor,
wie Alles das ſo ſein mag, auch Gras und Laub und
die großen Berge und die Sterne, und wenn ich dann
nicht weiter weiß und blaſe oder jodle oder blättle — —“


Der Vater unterbrach ihn: „Was nützt mich das
Jodeln und Blätteln!“ Aber Alpin war ſtolz auf ſein
Jodeln und noch mehr auf ſein Blätteln und dieß
mit Grund: er entlockte dem Buchenblatt zwiſchen ſeinen
Lippen Töne und Melodieen, wie ſie jetzt ein Virtuos
auf Klarinette oder Fagot bezaubernder nicht hervor¬
bringen könnte. Und nun war das Geſpräch natür¬
lich ſchon im unebenen Geleiſe. „Und blättle,“ nahm
Alpin in gereiztem Tone wieder auf, „und denke da¬
gegen, ich ſollte zu Zwanzigen klopfen und hämmern
an dem, todten Geſtein und mein eigen Wort nicht
hören vor dem Lärm — und ſo immer das Gleiche
den ganzen Tag — und dann der Herr oder die
Herren — ich arbeite ja dann nicht für mich —
was krieg' ich von denen?“

[147]

Geld gab es dazumal, in jenen Gegenden wenig¬
ſtens, noch keins. Der Vater konnte nichts nennen,
als die Tauſchmittel: Geräthe, Kleider, Schmuck,
Vieh, Felle, Wolle, Getreide.


„Und wer hilft mir, wenn ich zu wenig krieg',
und mit dem, was ich krieg', was ſoll ich anfangen?“


Der Vater fand ſich in einige Konfuſion verſetzt
und antwortete nach einer Pauſe: „Wieder tauſchen
oder aufſparen und Land kaufen.“


„Wozu brauch' ich aber ſo viel Zeug? Und Land
haben wir ja genug!“


Man war an einem Punkt angekommen, wo kein
Theil weiter wußte. In beiden Köpfen bohrte etwas,
wollte ein Gedanke zur Geburt drängen, der doch un¬
möglich geboren werden konnte. Zwei Pfahlbauern¬
gehirne, Gehirne, wie ſie organiſirt ſein konnten vor
etwa ſechs Jahrtauſenden, an dem Punkte einer Vor¬
ſtellungsreihe angekommen, der ſie in logiſcher Linie
hätte auf die Perſpektive weiſen müſſen: die Ar¬
beiterfrage! Geld! Geldſpekulation, Geldhandel, Geld
aus Geld! Banken! Gründungen! —


In der That machten Beide jetzt ſo unkluge Ge¬
ſichter, daß ein moderner Zuſchauer ſich des Lachens
nicht hätte enthalten können. Der Vater nahm zur
Beruhigung ſeiner ſo ungewohnt arbeitenden Central¬
nervenſtränge wieder einen langen Schluck Meth. Der
Sohn, dem Schwindel zu entgehen, den ihm das
[148] Stieren in dieſen kohlrabenſchwarzen Abgrund erregen
mußte, packte jetzt die Sache von einer andern Seite,
die ihm ein klein, ein ganz winzig klein wenig deut¬
licher vorſchwebte:


„Und dann — mithelfen ſoll ich, daß das Zeug
aufkommt? Und ſo fortwächst, daß am End’ kein Thal
in dieſen ganzen Landen vor dem Pick-, Klopf- und
Hämmer- und Haſpelweſen mehr ſicher iſt? Kein Bäch¬
lein lauter und lieblich mehr gehen kann, weil ſie's
verſchmutzen mit Waſchereien und — mit“ (man er¬
kennt, daß er Mühlwerke und Fabriken mit Waſſer¬
trieb ahnt und nicht nennen kann, daher ſetzt er nur
hinzu:) — „und daß am Ende der ver¬
ſtummen muß?“


Mit dem Wort wurde ihm ganz erbärmlich zu
Muthe. Er war Meiſter auf dem langen Hirtenhorn
ſo gut, wie im Jodeln und auf dem Buchenblatt. Er
konnte blaſen, daß es in die innerſte Seele gieng.
Ihm kam in dieſem Augenblick das Heimweh, als ob
er ſchon weit, weit weg in dem ſteinklappernden
Hämmerwerk wäre. Sein See, ſeine Schafe, ſeine
Rinder, voran die Pracht- und Staatskuh, die graue
Liſel, die ſo ſanft blinzte, wenn er ſie hinter dem Ohr
kratzte, ſeine Berge, die fernen ſilberblitzenden Gletſcher
— Alles kam ihm vor, als ſehe er es bereits kaum
noch nur ganz ferne — und ebenſo ferne Sigunen. —


Auch ſeine gute Mutter Minona fiel ihm ein, die
[149] draußen am Lande ſeit einem Jahr im ſtillen Eichen¬
haine den ewigen Schlummer ſchlief. Sie hatte frei¬
lich ihrem Alpin auch manchmal eine ſchwere Stunde
bereitet, da ſie ihm mit einem Lieblingsplan anlag,
der dem braven Sohne ſo wenig einwollte, als die welt¬
mäßigen Ideen des Vaters. Sie wünſchte, er ſolle
ſtudieren. So dürfen wir wohl ſagen, da es etwas
dem ganz Aehnliches, was wir ſo nennen, ſchon
in jenen Zeiten allerdings gab. In Turik war nicht
bloß die große Schnur- und Fadenfabrik, ſondern unter
Anderem auch ein Druidenorden mit ſeiner Pflanzſchule,
einem großen Seminar, und neben ihm eine Barden¬
ſchule, die zuſammen das bildeten, was wir jetzt eine
Univerſität nennen. Der Druidenorden mit ſeiner
klöſterlichen Lehranſtalt entſpricht dem, was jetzt theo¬
logiſche Fakultät heißt; die Bardenſchule daneben um¬
faßt als große, weltliche Fakultät manche Zweige, die
jetzt an mehrere ſich vertheilen, als da ſind: die juri¬
ſtiſche, kameraliſtiſche, mediziniſche, philoſophiſche, mit
Kathedern für Naturwiſſenſchaften, Geſchichte, nament¬
lich Kulturgeſchichte, Metaphyſik, Aeſthetik, insbeſondere
Poetik, die jedoch mit der Muſik auch praktiſch gelehrt
wird, alſo mit einer Dichterſchule und einem Konſer¬
vatorium verbunden iſt. Wenn wir uns hiemit einiger
moderner Namen bedienen, ſo wollen wir andurch dem
Leſer nicht verwehren, ſich den Zuſtand bemeldeter
Wiſſenſchaften noch etwas primitiv, gewiſſermaßen ſtei¬
[150] nern vorzuſtellen. Die Barden waren im Grund
eigentlich ein Zweig des Druidenordens, wir werden
aber im Verlaufe noch Allerhand vernehmen von be¬
denklichen Spannungen zwiſchen dieſem Zweig und
ſeinem urſprünglichen Stamme. — Der ſtolzeſte Traum
von Alpin's Mutter war denn, ihr Sohn ſollte in
Turik ſtudieren und zwar Theologie: ſie hoffte, ihn
einſt als Druiden zu ſehen, und da ſtieg ihre Phan¬
taſie von Sproſſe zu Sproſſe; wir würden ſagen:
Pfarrer, Diakonus, Superintendent, Prälat, aber dar¬
über gab es noch eine Spitze, zu der ſie in ihren kühnſten
Phantaſiegebilden ſchwindelnd emporklomm: Coibhi-
Druid! Druidenhaupt! Und das war keine Kleinigkeit,
denn der war Oberprieſter und Fürſt in Einer Perſon,
da es Könige zu ſelbiger Zeit noch keine gab. Der
Coibhidruid war zudem unfehlbar und vernichtend wirkte
ſein Bann, der den Getroffenen von den Opfern ausſchloß.
So hoch nun aber die gute Minona träumte, Unmög¬
liches träumte ſie nicht. Denn der Coibhidruid wurde
(auf lebenslänglich) von ſeinem Orden gewählt, und
wenn es denn bei der Wahl nur auf Würdigkeit
ankam, warum ſollte nicht einſt möglich ſein, daß — ?


All' dieſe Hoffnungen gründete ſie auf Alpin's
ſtille und ſinnige Gemüthsart. Aber der ſonſt ſo lenk¬
ſame Sohn ſtemmte ſich, wie ſchon erwähnt iſt, da¬
gegen nicht minder feſt, als gegen die Pläne des
Vaters. Alpin hatte mehr als Einen Grund gegen
[151] das Geiſtlichwerden. Der erſte, allein ſchon entſchei¬
dende, war: er mochte überhaupt nicht. Warum?
Das konnte er nicht ſo recht erklären. Das eine Mal
ſagte er, der lange weiße Rock ſei ihm zu vornehm,
er bleibe lieber in ſeiner Juppe von Schafpelz; das
andere Mal: die geiſtlichen Herren wiſſen Alles ſo
gar gewiß, davor ſei ihm bange. Kurz, er reſpektirte
die Prieſter, mochte aber keiner werden. Nun kam
aber freilich noch ein Grund, den er ſelbſt der lieben
Mutter nicht geſtehen mochte. Die geiſtlichen Herren
durften nicht heirathen. Die Mutter aber fieng an,
zu merken, und als ſie deutlicher und deutlicher merkte,
ſtand ſie ſanft von ihrem Zureden ab, denn ſie war
Sigunen gut, ſie mochte das friſche Mädchen gar gerne
leiden. Der Sohn merkte, daß ſie merkte und nicht
ungern ſah, und als ſie ſtarb, betrauerte er in ihr
nicht nur die Mutter, ſondern auch eine Stütze für
den Wunſch ſeines Herzens.


Davon konnte er nun dem Vater, wie er ihn
kannte, kein Wörtchen ſagen. Der Mann, der ſo weit
hinaus wollte mit dem Sohn, was war von dem zu
erwarten, wenn er ihm ſein Herz eröffnete! Es mußte
freilich um jene Zeit auch dem Vater ſchon zugetragen
ſein, was in der Gemeinde kein Geheimniß mehr war.
Er hatte nicht darauf geachtet, weil er nicht hatte achten
wollen; er hatte beſchloſſen, es für eine Jugendſpielerei
anzuſehen und todtzuſchweigen.


[152]

Und nun wollen wir zu dem Geſpräche zurückkehren,
das wir nur zu lang unterbrochen haben. Die weh¬
müthigen Worte vom Kuhreigen hatten den Alten nicht
im geringſten gerührt. Daß dem Sohne vor Weh
die Stimme brechen wollte, merkte er gar nicht. Er
griff eben wieder nach ſeiner Methſchale, hielt ſie be¬
trachtend in der Hand und begann, ſeinem Sohne noch
einen andern Plan zu empfehlen: er ſolle ſich dahin
ausbilden, daß er ſeiner Zeit eine große Holzſchnitz¬
anſtalt errichten könne. Es ließe ſich, meinte er, wohl
die Quelle erkunden, woher die Schale einſt gekommen,
ein ergiebiger Verkehr mit dem fernen Land einleiten,
man könnte geſchickte Hände heranbilden, um Geräthe
verſchiedener Art mit ſo zierlichen Gliedern, wie ſie
den Rand dieſes Runds einfaßten, zu einträglichem
Verkaufe zu ſchnitzen. Inzwiſchen kam dem gequälten
Sohn die liebe Natur ſelbſt zu Hülfe. Der Alte hatte
des wirkſamen Getränkes nachgerade doch ſtark über
Durſt geſchluckt und es kam ein gewiſſer milder Nebel
über ihn, der ſich in der Erſcheinung des Lallens oder
ſogenannten Zungenſchlags äußerte. Er wollte ſagen,
er vermuthe oder muthmaße, daß ſich mit Schnitzereien
aus Buchsmaſer etwas Tüchtiges anfangen, ein gutes
Geſchäft gründen ließe. Die Aehnlichkeit der Sylben
in: Muthmaßen, Vermuthen und Buchsmaſer wurde
ihm zur Klippe, woran er ſcheiterte. Er produzirte
Wortmiſchungen wie Verbuchsmaſerung, Vermasmuth¬
[153] buchserung, Buchsvermuthmaſerung, Muthverbuchsma¬
ſerung, Masverbuchsmutherung und ähnliche. Dem
Sohne war es nicht darnach zu Muth, daß er hätte
lachen können, aber er nahm die Zeit wahr, ſagte
gute Nacht und gieng.


Am Ende des Pfahldorfs ſtanden drei große Ställe
für die Heerden, die untergeordneten Hirten ſchliefen
auf Heu- und Strohlagern bei dem Gethier, Alpin,
der Oberhirt hatte ſeine beſondere kleine Hütte daneben.
Dorthin ſchliech er nun in ſeines Herzens Weh und
ſtreckte ſich auf ſeine Felle nieder. Lange wollte ſich
der Schlaf nicht einſtellen, als aber endlich die Natur
ihr Recht in Anſpruch nahm, ließ ſie ſich auch durch
ein ſonderbares Geräuſch, das ringsherum anhub und
immer ſtärker wuchs, nicht aus ihrer wohlthätigen Ord¬
nung bringen, um ſo weniger, da dem Schläfer dieſe
Erſcheinung nichts Neues war.


Ehe wir den Urſprung derſelben aufſuchen, müſſen
wir uns erſt nach einer andern Stelle umſehen. Wir
laſſen die Nacht bis zum Morgengrauen verſtreichen,
begeben uns an's Land und ſehen in der Dämmerung
einen ſchlanken Burſchen dem See zuſchreiten. Eine
Pelzmütze bedeckt ſein dunkles Lockenhaupt; ſie iſt mit
einer Spielhahnfeder geſchmückt, die aus einem Kreiſe
von Gemshaaren aufſteigt, und ſie iſt breit verbrämt
mit einer Borte aus zuſammengefügten rothen Federn
vom Kopfe des Steinhuhns. Er trägt einen Gürtel,
[154] vorn mit einer großen Erzplatte geſchmückt, deren dünne
Fläche mit einer reichen Zuſammenſtellung von Linien
und kleinen, getriebenen Buckeln verziert iſt, — wer
weiß, ob nicht das Urbild des breiten Mittelſchilds
am Ledergurt, der heute noch in den benachbarten Gebirgen
Tirols getragen wird und an deſſen weiß eingeſtickten
Verzierungen man ganz ähnliche Zeichnung bemerken
will, wie an jenen uralten Muſtern; bei Arthur
aber iſt in der Mitte der Ornamente ein Kreis und
im Kreiſe ein Dreieck zu ſehen; an dieſem Gürtel
hängt links ein ehernes Schwert in eherner Scheide
und rechts ein breiter, ſtark kegelförmig in die Spitze
zulaufender Dolch von demſelben Metalle. Ein Sack
aus Rehfell hängt auf ſeinem Rücken, mit einer Schnur
zuſammengezogen, der jetzt noch übliche Ruckſack unſerer
Gebirgsbewohner. Er iſt ſichtbar gefüllt und wird wohl
nicht leicht ſein, doch der Träger erſcheint von ſeiner
Laſt ſo wenig als von ſeinem Marſch ermüdet, das
Haupt hängt ihm nicht vor, ſondern ſteht aufrecht auf
dem ſchwungvoll aufſteigenden Halſe, und raſch, mit
elaſtiſchem Schritte bewegt er ſich vorwärts nach
dem Seeufer, es iſt ein Gang, wie man ihn jetzt
nur noch bei Völkern ſieht, deren Füße nicht Schuh
und Stiefel, nur Sandalen kennen. Ein Hund be¬
gleitet ihn, ein großer braungeſtriemter Hatzrüd;
er mochte die Wachſamkeit, den Beiſtand des treuen
Thieres wohl bedurft haben auf der gefährlichen
[155] Wanderung, die er heute ſchon mehrere Stunden vor
Tag angetreten.


Das erwähnte Geräuſch iſt inzwiſchen zu gewal¬
tiger Stärke angewachſen. Es erinnert bald an das
gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man
ſchmetternde Poſaunentöne, bald das ſchrille Kreiſchen
großer Sägen zu vernehmen — ein Durcheinander
von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten,
geiſterhaften Ungeheuern.


Der Burſche lächelt und ſtreicht ſich den Schnurr¬
bart. Er kennt das. — Auch das wachſame Thier
wird nicht ſtutzig, ſcheint längſt Gewohntes zu ver¬
nehmen.


Nahe dem Ziele führt unſern Wanderer ſein Weg
an vier grauen, dunklen Steinmalen vorüber. Sie
ſcheinen gottesdienſtliche Bedeutung zu haben. Eines
derſelben beſteht in einer rohen, mächtigen Granitplatte,
die wagrecht auf vier ebenſo rohen ſteinernen Stützen
ruht. Es wird wohl ein heiliger Tiſch, ein Altar ſein.
Rechts davon, etwas rückwärts, befindet ſich, ſenkrecht
als hochragender Steinpfeiler aufgeſtellt, ein zweiter
Granitblock, unbehauen wie jener; auf ſeinem Gipfel
erſcheint ein Gebilde des Meißels, ſo unbeholfen, als
es herzuſtellen iſt, wo alle Geräthe ſelbſt noch aus
Stein beſtehen und nur der härtere in weicherem ar¬
beitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens
Arm eingeritzt geſehen haben: zwei aufgebogene Hörner
[156] ſtellen wohl einen Halbmond vor, ſcheinen aber auch
an den Stirnſchmuck des Rindes erinnern zu wollen.
Links vom Steintiſch, ebenfalls etwas zurücktretend,
ragt ein zweiter Pfeiler, gleich maſſig und roh, nur
etwas niedriger; er trägt auf ſeiner Spitze ein Bild,
ſo ungeſchlacht wie jenes, nur etwas erkennbarer; es
iſt offenbar ein Molch, was es darſtellt. Unbekrönt
dagegen ſteht in gerader Richtung hinter dem Altare,
tiefer zurückgeſtellt, als die beiden Seitenpfeiler, ein
dritter, der größte, er beſonders altersgrau, rauh und
gemahnend, als ſchwebten uralte Ahnungen der Völker,
die in unvordenklicher Zeit ſolche Felſen aufgerichtet,
um ſeine moosbewachſenen Hüften.


Arthur — ſo heißt der Wanderer — geht mit
gleichgültigem Blicke vorüber. Er unterläßt es, die
Steinmale mit einem Zeichen der Ehrfurcht zu be¬
grüßen; er beſchreibt nicht, wie es der fromme Brauch
verlangt, mit drei Fingern einen Kreis, dann eine
Schlangenlinie auf ſeiner breiten, wohlgewölbten Bruſt.
Nach den fernen Gebirgsſtöcken, Gräten und Spitzen
iſt ſein Auge gekehrt. Der breite Glärniſch, der ſteile
Reiſeltſtock, der ſtolze Tödi, die ſchimmernden Klariden
tauchen ihre Rücken, Jacken und Häupter in den erſten
Strahl der Morgenſonne; jene Firnfläche, die jetzt
Vreneli's Gärtli heißt und ſchon damals von alten
Sagen umwoben ſein mochte, leuchtet in rein bläu¬
lichem Weiß herüber; weit ſind Arthur's Augen ge¬
[157] öffnet und ein Ausdruck iſt in ihrem feuchten Glanz
zu leſen, der zu ſagen ſcheint, daß ſchon die Seele
eines Pfahlbewohners im Bilde beſtrahlten Hochgebirges
mehr zu fühlen fähig war, als nur Stein, Erde, Schnee
und Eis.


„Halt, wer da?“ ſchrie eine rauhe Stimme.


„Gut Freund!“


Der Wächter oben an der Pfahlbaubrücke hatte
bei ſeinem Anruf den Eibenbogen von der Schulter
genommen, einen Pfeil aufgeſetzt und lag im Anſchlag.
Es war herkömmliche Form, ſo oft ein Bewaffneter
ſich der Brücke näherte, aber dießmal zielte er ſo ſcharf,
daß es faſt ausſah, als könnte es Ernſt werden, denn
er hatte die ungewöhnlichen Waffen geſehen; das Erz
ſchimmerte in der Morgenſonne.


„Sag' an, was willt du ſchaffen

Mit deiner Wehr und Waffen?“ —
‚Will euch laſſen in Frieden!‘ —
„Sollſt ſie wieder haben beim Druiden.“

Man erkennt auch aus dieſem Anruf und der Ant¬
wort einen beſtehenden Brauch, der dem Ankömmling
geläufig ſein muß. Er löſte Schwert und Dolch von
dem ſchimmernden hohen Hüftgurt, von dem ſie an
zierlichen Ketten niederhiengen, und legte beide Waffen
vor ſich nieder. Der Wächter ließ jetzt das bewegliche
Stück der Brücke herab, nahm die Waffen auf und
[158] führte ihn zum Druiden. Wir begleiten die Zwei zu
ſeiner Wohnung. Sie war inmitten der übrigen
Häuſer der geräumigſte Bau des Dorfes, eine Art
von Apſis, ein halbkreisrunder Anbau befand ſich an
der hintern Seite des Vierecks, man ſah ſchon von
Außen, daß darin mehr Bequemlichkeit ſein müſſe,
mehr Theilung für verſchiedene Zwecke des Thuns
und Laſſens, als in den gewöhnlichen Bauernhütten.
Während der Wächter dreimal an der Thüre klopfte,
zog eben Alpin mit ſeiner Heerde vorüber; es war
die Stunde, wo er austrieb. Er maß den Fremden
mit erſtaunten Blicken; als er auf der Mütze die
Spielhahnfeder und den Gemsbart bemerkte, verdunkelte
ſich das Licht in ſeinen weitgeöffneten Augen und zog
ſich eine Falte über ſeine Brauen. Zögernd und noch
ein paarmal ſich umſehend trieb er weiter.


„Herein.“ Der Druide ſaß eben, während im
Hinterraum das Waſſer zum Kaffee ſiedete, behaglich in
ſeinem pelzverbrämten Schlafrock, und hinter ihm ſtand
ſeine alte Hauſerin, beſchäftigt, ihm die Haare zu ordnen.
Er pflegte den noch reichlichen Naturſchmuck ſeines
Hinterhauptes in Anſpruch zu nehmen, um die Kahlheit
ſeines Vorderhauptes nach Möglichkeit anſtändig zu
decken. Die Alte wußte die herübergezogenen Stränge
zierlich mit ausgeſucht zartem, höchſt geläutertem
Tannenharz feſtzukleben. Der Wächter meldete den
Fremdling. Angus, ſo hieß der Druide, gebot, ihn
[159] einzuführen, ſtand auf, nahm ſeine hohe, ſpitze Pelz¬
mütze vom Ende eines Hirſchgeweihs, das, zum Zweck
eines Aufhängegeräths ſehr bequem zugerichtet, an der
Wand angebracht war, ſetzte ſie auf und gab ſich eine
Poſitur, wie ſie ſeinem dreifachen, ja vierfachen
Amte entſprach. Denn er vereinigte in ſeiner Perſon
den Prieſter, Polizeibeamten, Richter und dazu den
Schatzmeiſter des aus den Abgaben ſchön ſich mehren¬
den Kirchenguts, das in viel Vorrath an Getreide,
Fellen, Wolle und anſehnlicher Rinderzahl beſtand.
Der Wächter führte jetzt Arthur herein, dieſer ſtellte
ſich ſchweigend vor dem Druiden auf in geneigter
Haltung und die Hände über der Bruſt kreuzend, denn
dieß war die Begrüßungsform, wie die Würde des
Seelenhirten ſie forderte. Der ernſte Beamte ließ
ſich nun vom Wächter Bericht erſtatten, die nie ge¬
ſehenen Waffen näher vorzeigen und eröffnete dann
das Verhör mit einem Huſtenanfall. Es war etwas
in dieſer Aktion, wodurch ſie ſich fühlbar von einem
bloßen Naturereigniß unterſchied; es war Takt und
Tempo, es war Rhythmus, es war etwas Feierliches,
Erhabenes darin. Arthur kannte das und verharrte
in ſeiner ehrerbietigen Stellung. „Woher, o Fremd¬
ling?“ begann nach dieſer muſikaliſchen Einleitung
der Druide. — „Vom See Nuburik“ (— er meint
den See, den wir jetzt den Neuenburger nennen).
— „Was willſt du hier bei uns?“ — „Den Bürger
[160] Odgal beſuchen, meines Vaters Geſchwiſterkind.“ —
„Willſt du Urfehde ſchwören, daß du nichts Feind¬
liches willſt beginnen?“ Der Druide nahm das Schwert
auf, beſann ſich einen Augenblick, ob er es für die
Steinſtreitaxt, worauf ſeine Bürger zu ſchwören pflegten,
wolle gelten laſſen, bot es dann Arthur hin und dieſer
legte drei Finger auf die Klinge und ſchwor. Jetzt
erſt erlaubte ſich der Prieſter, ſeiner neugierigen Ver¬
wunderung über die Erzwaffen Ausdruck zu geben und
Frage auf Frage darüber zu ſtellen. Er hatte vor¬
längſt ganz dunkel etwas ſagen hören von Geräthen
aus einem neuen, harten, gelbglänzenden Stoffe, die
man in Turik geſehen haben wollte; er hatte es kaum
aufgefaßt und bald vergeſſen; der Verkehr mit der
Pfahlſtadt war eben kein ſehr häufiger; jetzt feſſelte
der Augenſchein nicht wenig ſeine Aufmerkſamkeit.
Arthur gab ihm alle gewünſchte Erläuterung. Vor
Jahr und Tag ſei ein Fremdling fernher über das
Alpengebirge gekommen zur Gemeinde Nuburik, ein
Handelsmann aus dem Lande, wovon alte dunkle
Kunde gehe, daß da eine wärmere Sonne ſcheine
und Menſchen wohnen, die in allerhand Kunſt denen
des Alpenlandes weit vorausſeien; der habe Beile,
Hämmer, Meißel und manches Andere aus dieſem
blinkenden Stoffe gebracht und gegen Felle, Rinder,
Schafe und Wolle eingetauſcht. Dann nach Jahres¬
friſt ſei ein Zweiter eingetroffen und habe kunſtreichere
[161] Werke aus derſelben Miſchung zum Verkauf geboten:
Schwerter, Dolche, wie die, welche der Druide hier
ſehe, Speer- und Pfeilſpitzen, auch Töpfe, Schalen
und außerdem gar feine Dinge, Fiſchangeln, hübſche
Schmuckſachen, zierliche Kämme, Armringe, Heftnadeln,
Halsſchnüre aus Kügelchen und Kettchen, die den
Frauen gar wohl gefallen haben. Das ſei noch immer
Tauſchwaare geblieben, dann ſeien Männer gekommen,
die auf Saumthieren ganze Laſten der Stoffe gebracht
haben, wie man ſie aus den Bergen grabe, ſchmelze
und aus der Miſchung des weißen und rothen, des
Zinns und Kupfers dieß blinkende harte Erz bereite.
Aber auch Gußformen haben ſie mit ſich geführt und
gezeigt, wie man verfahre, und nun habe man das
gelernt und verfertige ſelbſt alle dieſe nützlichen und
ſchönen Dinge. Dann habe man angefangen, in den
eigenen Bergen zu graben, die Metallſtoffe gefunden
und ſeitdem ſei nun ein ganz neues Leben dort auf
dem See zu Haus, es komme da den Menſchen Alles
leichter vor und ſie ſeien geweckter, beweglicher geworden.
Auf dem großen Nachbarſee Leman und dann in Turik
habe man in den letzten Zeiten dieſen wichtigen neuen
Zeug auch kennen gelernt und mit Eifer ergriffen.
Ihm, dem Herrn Druiden aber beehre er ſich hiemit
eine beſcheidene Gabe für ſeinen Haushalt demüthigſt zu
überreichen mit der Bitte, ſie in Gnaden anzunehmen.


Er zog aus ſeinem Ruckſack ein zierliches Meſſer
Viſcher, Auch Einer. I. 11[162] hervor, die Klinge hübſch yataganförmig geſchwungen,
zierliche Ornamente auf ihrer Fläche, das Heft un¬
gleich feiner, als bei den ſchweren Steingeräthen, aus
Hirſchhorn gebildet.


Der Druide hatte bei jenen Erläuterungen nach¬
denklich den Kopf hin und her gewiegt. Er zögerte
ebenſo nachdenklich, nach dem ſchimmernden Geſchenke
zu greifen. Ein Schatten glitt über ſein dickes Ge¬
ſicht, ſeine kleinen, tiefliegenden, ſonſt behaglich glitzern¬
den Augen.


Inzwiſchen war hinten im Anbau das Frühſtück
fertig geworden. Wir haben es als Kaffee bezeichnet
und es war auch Kaffee, nur nicht aus der arabiſchen
Bohne, ſondern aus geröſteten und gemahlenen Eicheln,
ein recht gutes und geſundes Getränke, wie man weiß.
Die Bereiterin dieſes Labſals iſt daſſelbe Weſen, das
wir im Anfang ſpinnend und ſingend bei Sigunen
und ſoeben als Haarkünſtlerin gefunden haben, es iſt
Urhixidur, die geſchäftige Pflegerin, Hausverwalterin
des Druiden und von Geburt ſeine Baſe; ſie hat ſich
bei Arthurs Eintritt zurückgezogen, unter der Arbeit
an der Matte gelauſcht, hervorgeſchielt und trägt jetzt
auf hölzernem Runde das duftende Getränk herein,
mehr als dieß, ein Ganzes, von dem man ſagen
kann, es wetteifre mit der Vollſtändigkeit eines engli¬
ſchen Frühſtücks; denn nicht nur ein Topf herrlichen
Rahmes voll geſellt ſich zum Kaffeegefäß, ſondern nebſt
[163] einem Brodlaib auch geſottene Eier, Butter, Honig
und ein Bärenſchinken, ein Theil des Thieres, welches
Alpin kürzlich in ſo muthigem Kampfe getödtet hat. Sie
iſt in dem Moment eingetreten, wo Arthur dem Druiden
das Meſſer hinbeut, und die ehrſame Schaffnerin findet
es paſſend, ohne Zögern und mit ſcharfem Tone zu
bemerken: „Dieß iſt auch wieder ſo eine von den gefähr¬
lichen Neuerungen. Soll denn alles gute Alte zu Grunde
gehen?“ Der Druide ſtriech ſich verlegen ſeinen mit
Grau durchſchoſſenen Bart, Widerſprechendes gieng in
ihm vor: er ſchämte ſich des Pantoffels, deſſen Herr¬
ſchaft die kecke Einmiſchung ſo klärlich an den Tag
legte, die Waffen gefielen ihm eigentlich und noch
mehr das hübſche Meſſer, zugleich aber mußte er im
Innern der Hauſerin Recht geben, denn von Anfang
an, beim Anblick der Waffen ſchon, hatte ihm ſo etwas
vorgeſchwebt, wie es die vorlaute Alte nun in Worte
faßte. Dieſe ergriff jetzt ein ſauberes, glattes Holzmeſſer,
trennte damit ein Stück von der Butterform ab und
lobte die guten alten Werkzeuge. Arthur hatte ſchon
vorher den Schinken in's Auge gefaßt; er war ange¬
ſchnitten oder vielmehr angemeißelt, was wir ja be¬
reits kennen; man ſah deutlich die rohen einzelnen
Eingriffe des unzureichenden Werkzeugs und zum Ueber¬
fluß lag ein ſolches daneben. Arthur trat hinzu und
ſchnitt mit ſicherem Druck und Zug ſeines Erzmeſſers
eine dünne Scheibe des röthlichen Fleiſches herunter.
[164] Der Alten funkelten die ſchwarzen Augen in ihren
tiefen Höhlen, ihre gelbe Haut wurde blaß, das heißt
hellgelb, dann grünlich, dann roth, richtiger orange¬
gelb, ſie rieß Arthur das Meſſer weg, ſchleuderte es
zu Boden und rief: „Man wird uns auch noch unſere
gute alte Religion zerſchneiden.“ Arthur ſtand ſchwei¬
gend, lächelnd über die raſche Logik und ſah den
Druiden an mit einem Blicke, der deutlich ſagte:
„Was wirſt du nun dazu ſagen?“ Der Druide zog
einen mittleren Weg vor — das liebte er — mit ge¬
wiſſen Ausnahmen — überhaupt. Er fühlte, daß
dem Weibe, deſſen vorſtürzende Leidenſchaft ihn vor
dem Fremden beſchämte, ein Verweis gebühre, allein
er kannte ihre Wehrhaftigkeit, und zudem, wenn denn
einmal ſein ahnendes Gefühl den Beſorgniſſen der
Alten beiſtimmte, ſo konnte er auch nicht umhin, die
ſo weit gedehnten Folgerungen gutzuheißen. Er be¬
ſchloß in dieſer Verwicklung, der geſtrengen Herrſcherin
ſeines Hauſes ſowohl Unrecht als Recht, das heißt
dem Ankömmling ſowohl eine Artigkeit, als auch einen
ernſten Wink zukommen zu laſſen. Die Artigkeit lautete:
„Ich nehme die Gabe an, o Fremdling, und gebe dir
deine Waffen zurück.“ Eigentlich fragte er ſich, ob er
nicht zu Ehren höflicher Sitte, auch ſchärferer Be¬
ſtrafung ſeiner unbotmäßigen Schaffnerin ihn zum
Kaffee einladen ſollte, aber dieſe las ihm das aufrüh¬
reriſche Vorhaben aus den Augen ab und ein ſtrenger
[165] Blick aus den ihrigen genügte, es nicht zur Ausführung
gedeihen zu laſſen. Der Wink aber beſtand in den
Worten: „Ich hoffe, daß du unſere heiligen Gebräuche
achteſt, und erwarte, daß du heute Abend bei dem
erſten Vorakte des großen Feſtes, der Betuchung
unſerer frommen Jugend, erſcheineſt.“ Arthur bejahte,
verabſchiedete ſich und der Druide machte ſich an ſeinen
Kaffee. Er trank mit wenig Behagen dießmal; er
hätte ſich ſogar faſt unterſtanden, einen an der Beharr¬
lichkeit Urhixidur's längſt erlahmten Widerſtand heute
nach langer Zeit wieder zu eröffnen: ſie ließ ſich's
nicht nehmen, dem redlichen Getränk eine Beimiſchung
von der Wurzel einer Pflanze, genannt Wegeluge, zu
geben: demſelben Vegetabil, das wir jetzt Cichorie
benennen; ſie behauptete, es gebe dem Kaffee eine
beſſere Farbe und Konſiſtenz; der Druide meinte:
aber keinen guten Geſchmack; es hatte darüber ſchon
Szenen gegeben; die ſtärkſte, als der würdige Mann
einmal ſich ſo weit vergeſſen hatte, aufzuſtellen: die
kleinſte Doſis von dieſer gemeinen Pflanze gebe dem
Kaffee einen Geſchmack von Jauche; darüber war die
Verfechterin guter alter Sitte ſo wild geworden, daß
von nun an der Muth des Widerſtrebenden gebrochen
war. Schweigend, mitunter zwiſchen den Zähnen
murmelnd, trank und aß er und ebenſo die Alte. Einen
giftigen Blick auf ſie werfend ſchnitt er ſich mit dem
Erzmeſſer ein Stück vom Schinken ab, mit einem noch
[166] giftigeren meißelte ſie ſich einen derben Schnitz davon
herunter und ſchmatzte zum Eſſen etwas ſtärker als
ſonſt, denn ſie wußte, daß der Druide das nicht leiden
konnte.


„Der Fremdling beſucht Odgal?“ fragt die Alte.


„Ja,“ antwortet der Druide.

„Kann Sigunen gefährlich werden.“


„Ah bah!“


Doch ließ es einen Stachel in ihm zurück; er
hatte daran noch nicht gedacht. Er war ein entfernter
Vetter von Ullin wie von Urhixidur, die alſo das
lebendige verwandtſchaftliche Band zwiſchen beiden Häu¬
ſern vorſtellte. Daß dieſe dem frommen Hirtenjüngling,
wie ſie Alpin nannte, wohl gewogen war und ihn bei
Sigunen eifrig unterſtützte, haben die Leſer ſchon aus
dem Anfang unſerer Geſchichte erſehen. So war
ihm auch ihr Hausherr freundlich geneigt, nicht nur
als Verwandter, ſondern insbeſondere als Freund des
Hirtenſtands, in welchem er einen Träger der guten,
gläubigen, alten Sitte und Geſinnung ſah. Sigunen's
Muthwille machte ihm weniger Sorge als der Alten,
er ſcherzte ſelber manchmal mit der munteren Maid
und mochte dem braven Burſchen wohl gönnen, daß
es ihm mit ihr gut werde.


Alpin war inzwiſchen eine Strecke weit in tiefen
Gedanken mit ſeiner Heerde hinausgezogen; plötzlich
hielt er, ſagte dem Rinderbuben, er ſolle nur zufahren,
[167] und gieng zurück, anfangs langſam, dann ſchneller,
dann ward der Gang ein Laufen, endlich ein keuchen¬
des Jagen, ſo kam er an bei Odgals Hütte und
ſtand an demſelben Fenſter, durch das er geſtern Si¬
gunen belauſcht, geneckt, herzlich begrüßt hatte.


Was mußte er ſehen! Arthur ſaß neben Sigunen,
den Arm um ihren Nacken und ſah mit glänzenden
Augen zu, wie ſie einen blinkenden Gegenſtand in der
Hand wiegte. Es war eine Halsſchnur, wie er ſie
noch nie geſehen; ein zartes Geflechte von gewundenen
Erzfäden wechſelte mit Kugeln fein gegliederter und
verzierter Geſtalt von demſelben Metall und von Stelle
zu Stelle mit ebenſolchen Formen aus durchſichtigem
Bernſtein. Entzückt betrachtete ſie den wunderneuen
Schmuck und ließ ſeinen Glanz in der Morgenſonne
ſpielen. Und was dem Armen noch einen rechten
Stich in's Herz geben mußte: daneben auf dem Tiſch
lag unbeachtet das Werk ſeines Fleißes, ſeines Schweißes,
die Halskette aus Bergkryſtall. Zugleich bemerkte er,
daß der Geber des Geſchenks einen ähnlichen Schmuck
ſelbſt trug; zwar einfacher: ein Erzgeflechte ohne Zu¬
that, doch vornehm und prächtig ſchimmernd auf der
bräunlichen Haut des ſchlank geſchwungenen Halſes.
Es war allgemeine Sitte der Männer, einen Halsring
zu tragen, aber um den Hals Alpin's zog ſich nur
ein Reif aus geſchlungenen gelben Wollfäden: ein
Schmuck, der ihm jetzt gar trocken und ärmlich vor¬
[168] kam trotz dem Klunker von Bärenzähnen, den er kürz¬
lich daran gehängt hatte. Die Kinder jubelten laut
auf, auch ſie hatten herrliche Gaben bekommen; das
ältere Mädchen Ohrenringe: da baumelten an feinen
Kettchen durchbrochene Kugeln, in jeder eine kleinere ein¬
geſchloſſen, — wie es nur möglich war, dieſe in das
gegitterte Gelaß hineinzubringen! Und wie allerliebſt
mußte das immer ſpielen, klingen, glöckeln, wenn
man's nun im Ohrläppchen trug! Der Knabe war
beſchäftigt, einen Boug, will ſagen einen Armring an
ſeinen Arm zu ſtreifen, in deſſen ſchimmernde Ober¬
fläche gar anmuthige Ordnungen ſpielender Linien
eingegraben waren, ein Gebilde faſt ſo ſchön wie jenes,
das an Arthur's eigenem Arme funkelte. Das kleinere
Mädchen ſchüttelte ein Spielzeug von Erzringen, die
an einem Zinnring hiengen, und ergötzte ſich an ihrem
Raſſeln. Der Vater aber ſtand unbeweglich, ſprachlos
über ein winziges Objekt gebeugt, das er in der Hand
hielt und das ihm wie ein Weltwunder erſcheinen
mußte: eine Fiſchangel, die ihm von nun an die
kümmerlichen Aushülfen von Bein erſetzen ſollte; und
was ſein Glück bis zur Höhe des Verſtummens ſtei¬
gerte, das war eine Gußform für daſſelbe Geräthe,
die er in der Linken hielt.


Alpin blieb unbemerkt; er wollte ſich ſtill zurück¬
ziehen, aber ſein Ryno war ihm gefolgt, er ſchnüffelte
an der Thüre, ihn hörte und witterte Tyras, der ge¬
[169] ſtrenge Begleiter Arthur's, ſtieß die Thüre auf und im
Nu waren ſich beide Hunde in den Haaren. Ein
wildwüthendes Raufen gieng los, während die Familie
und der Gaſt herausſtürzten. Der große Bulle war
dem braven Schäferhund nicht an Tapferkeit, aber an
Kraft überlegen, das zottige Fell des Feindes bot
ſeinen Zähnen Anhalt und er verbieß ſich nach Art
ſeines Schlages ſo in deſſen Genick, daß Alpin nicht
zaudern durfte: er packte das ſtarke Thier um den
Hals und ſchleuderte es mit einem mächtigen Schwung
über die Bruſtwehr des Pfahldorfs; erſt der Flug
durch die Luft vermochte die feſtgeklemmte Zange ſeiner
Zähne zu löſen, ſo war Ryno mitgeriſſen worden und
fielen beide Hunde zuſammen in das Gewäſſer des
Sees. Mit rollenden Augen ſtanden Arthur und
Alpin einige Minuten ſich gegenüber, Odgal ſuchte
ſeinen Gaſt zu beſchwichtigen, auf Alpin fiel ein Blick
von Sigunen, ſeltſam gemiſcht aus Unwillen und zugleich
aus Mitgefühl, und dann doch auch aus Furcht und
Scheu, wie ein Weib ſie wohl fühlen mag vor einem
Mann, den ſie als gutmüthig kennt, von dem ſie
aber weiß, daß er doch auch einmal ſchrecklich werden
könne. Mitten in ſeinem Zorn und Jammer ſchöpfte
Alpin aus dieſem Anblick unbewußt eine gewiſſe Ge¬
nugthuung, die ihm ſo viel Halt gab, daß er ſich
durch Arthur's drohende Blicke zu keinem Ausbruch
hinreißen ließ. Auch dieſer nahm ſich zuſammen und
[170] ſchien nachgerade doch zu bedenken, daß hier kein Un¬
recht geſchehen war.


„Auf Wiederſehen!“ ſagte Alpin, freilich in einem
dumpfen Tone, der nichts Gutes verſprach, wandte
ſich und gieng hinweg. Er ſchritt der Brücke zu, erſt
jenſeits derſelben fiel ihm ſein Ryno wieder ein, er
that einen ſchrillen Pfiff, nach kurzer Zeit erſchien das
treue Thier, keuchend, pudelnaß, ganz erſchöpft, wollte
am wiedergefundenen Herrn hinaufſpringen und mußte,
elend zugerichtet, am Nacken blutend, von dem Ver¬
ſuche abſtehen. „Armes Thier!“ er ſagte das mit
wenig feſter Stimme und es war ihm, als käme ihm
die Näſſe aus dem zottigen Fell in die Augen. Lang¬
ſam zog er mit dem matten Begleiter hinaus ſeiner
Heerde zu; als er ſie erreicht hatte, war ſein Erſtes,
eine Kuh zu melken und die Wunde des Thieres mit
warmer Milch zu waſchen, dann mit welkem Moos
ſein Fell zu trocknen; als dieß geſchehen, legte er es
wie ein krankes Kind auf ein Rehfell und nun —
dachte er an ſich. An wen? An den armen, ver¬
laſſenen, verrathenen Alpin. Er ſchliech weg ins Dunkel
eines Gehölzes, warf ſich in's hohe Gras, wälzte ſich
links und rechts, wie glühende Nadeln arbeitete es in
ihm, ein Schweiß brach ihm aus, er fuhr in Wuth
empor, warf ſich wieder zu Boden, betrachtete ſich
ſelbſt, wie er ſo hingeſtreckt lag, und zu neuer Qual
tauchte jetzt plötzlich das Erinnern einer Wahrnehmung in
[171] ihm auf, die er ſich vorher nicht zum Bewußtſein gebracht
hatte. Er ſah ſeine Hoſen an, ſie waren von grobem
Lodenſtoff und eben nicht geeignet, die Geſtalt ſeiner
Beine, die ſich eigentlich gar wohl ſehen laſſen konnte,
vortheilhaft zu zeigen, und nun fiel ihm ein, daß Ar¬
thur's Beine doch ganz anders ſich ausnahmen; da
ſah zwiſchen Lederhoſe und gemuſtertem Stutzſtrumpf
das nackte Knie hervor und unbehindert von knorrigen
Falten erſchien die ſichere Zeichnung des wohlge¬
ſchaffenen männlichen Bewegungsorgans in ihrer Kraft
und Schönheit. Jetzt erſt wurde es ihm ſiedend heiß
und abermals warf er ſich zu Boden. „Ja! ja! ich
bin ja nur ein ſtiller, zahmer, dummer Hirte! Ich
hab' keine ſo gewellten Tanzbeine, trag' ja auch keine
Spielhahnfeder und Gemsbart, nur ein paar blaue
Häherfederl und einen Wiſch von Luchsohren-Borſten
an der Pelzkappe, und bin nicht wie ein Mädel mit
glitzernden Ringen aufgeputzt.“ Die Ironie half ihm
nichts, die Kraft des Stolzes brach, eine Flut von
Thränen ſtürzte hervor; Ryno kam ihm zugekrochen,
wie er ſo lag; „Komm' her, gutes Vieh,“ ſagte er,
„wir ſind ja wohl zwei unglückliche Kerle mit¬
einander,“ er duldete ihn neben ſich, ja legte den
Arm über ihn, verſank nach und nach in ein ſtumpfes
Brüten und endlich kam über die beiden Verwundeten,
den einen, der im Nacken, und den andern, der tief in
der Seele getroffen war, die Wohlthat des Schlafes.


[172]

Der Hirtenbub weckte ihn, es mußte heute früher
eingetrieben werden, denn Alpin durfte bei der abend¬
lichen Feier nicht fehlen. Der Hunger ſtellte ſich ein,
er machte ſein einfaches Hirtenmahl kurz ab und
fuhr heim mit ſeiner Heerde, entſchloſſen, Arthur für's
Erſte zu vermeiden, — und Sigunen? Er wollte ſie nie
wieder ſehen, ja er dachte gar, dem Vater nachzu¬
geben, ſei es, daß er Feuerſteinſchmied werde, ſei es,
daß er zu den Druiden oder Barden nach Turik in die
Lehre gehe; was dachte er Alles, und hinter dem Allem
dachte wieder etwas Anderes in ihm, eine dunkle Stimme,
die er nicht recht verſtand, nur daß ihm ſchien, ſie
ſage, aus all' den trotzigen Vorſätzen werde nichts
werden. Er fand die Gemeinde in verworrener Auf¬
regung, das Dorf gliech einem Bienenſchwarm; Alles
lief durcheinander, der Plankenboden der engen Gaſſen
polterte von tauſend Schritten derb auftretender Man¬
nen. Kurz nach dem unheimlichen Auftritt am frühen
Morgen war die Neuigkeit von der wunderbaren Er¬
findung, deren Erzeugniſſe Arthur mitgebracht, wie ein
Lauffeuer durch die Hütten geſprungen. Man kam,
man ſah, man ſtaunte an, man verſuchte die Waffen an
Fleiſch und Holz, man war entzückt und man ſchüttelte
doch auch die Köpfe. Das Staunen nahm einen eigen¬
thümlichen Charakter an, als Arthur nun etwas vor¬
zog, was er in Odgal's Hauſe noch nicht gezeigt
hatte. Es war ein kleines Stückchen Erz, flach, vier¬
[173] eckig, es zeigte auf einer Seite das Bild einer Kuh, um¬
geben von einem Syſtem ſehr kunſtreich in einander ver¬
ſchlungener Linien. Er ſuchte den ſonderbaren Gegen¬
ſtand zu erklären, er ſagte geheimnißvoll, es ſei ein neues
Tauſchmittel; er nahm einen Anſatz, die Bedeutung
auseinanderzuſetzen, allein er ſtieß auf ſolches ſtummes
Stieren, verdrießliches Kopfſchütteln, ärgerliches Lachen,
daß er ſein Erzſtückchen wieder einſteckte mit einem
Geſicht, das ſagte: das iſt noch nicht für euch. Einige
der Mannen, denen er es gezeigt, ſahen ihn von da
an mit gewiſſen Blicken an, die zu fragen ſchienen:
Narr oder verdächtiges Subjekt? Es kam noch etwas
dazu, den Luftkreis, der den Fremdling umgab, in
eine gewiſſe Geſpanntheit zu verſetzen. Es entfielen
ihm, wenn er ſo von Neugierigen umringt war, ab
und zu Reden, Andeutungen, die zu denken gaben,
als zum Beiſpiel: es könne ſonſt auch noch Manches
anders werden, — es ſei nicht gerade Alles für die
Ewigkeit, was jetzt felſenfeſt ſcheine, — die Welt ſei
weit und wohl nicht überall kommen den Menſchen die
Dinge ſo vor, wie hier zu Land. Der Wächter
wollte bemerkt haben, daß der Ankömmling die Stein¬
bilder am Ufer nicht begrüßt habe, wie jeder ordent¬
liche Heidenmenſch doch thue. Noch eine andere bedenk¬
liche Erſcheinung gab viel zu raunen und zu munkeln:
Niemand hatte Arthur huſten gehört; ein Punkt, deſſen
Erläuterung wir allerdings dem Leſer noch ſchuldig,
[174] aber auch mit Nächſtem zu geben bereit ſind. Darauf
legten beſonderes Gewicht ein paar Alte, an deren
Athmungswerkzeugen dieſe Art von organiſcher Er¬
ſchütterung allerdings in regelmäßiger Wiederholung
von Pauſe zu Pauſe zu bemerken war: ſie liefen zum
Druiden und gaben ihm Alles an, was unheimliche
Bedenken über den Ankömmling erregte, und mit wichtig
aufgezogenen Augenbrauen betonten ſie vor Allem
das letztere bedeutungsſchwere Phänomen oder viel¬
mehr Nichtphänomen. Der Druide hatte heut keinen
guten Tag, er war ſchlecht bei Laune zum Voraus:
nicht bloß, weil er ſich am frühen Morgen ſchon bei
ſeinem Kaffee hatte ärgern müſſen — eine Erfahrung,
die uns bekanntlich den ganzen Tag zu vergällen ge¬
eignet iſt —; nein, es war da noch ein beſonderer
Umſtand, der ihm die Laune verderbte: die alten
Denunzianten brachten ihm zugleich die Nachricht, daß
auf morgen die zwei Barden angeſagt ſeien, die man
von Turik hergebeten habe, und ſie trugen das vor
mit Kopfſchütteln und mit Vorwurf in Blick und
Ton. Wir müſſen in der Zeit etwas zurückgehen,
dem Leſer Licht zu geben.


Die ungewöhnliche Hitze dieſes Sommers hatte
einen Theil des Sees trocken gelegt. Ein Pfahlbürger
mit Namen Maſſikomur, der wie Andere öfters den
Weg zu ſeinen Aeckern der Abkürzung wegen über
dieſen Seegrund nahm, meinte einmal, als er in die
[175] Spalten des gedörrten und geborſtenen Schlamms
hineinſah, etwas wie Thonſcherben, ein andermal etwas
wie eine rohe Axtklinge von Stein zu bemerken. Er
war ein nachdenklicher, wißbegieriger Mann; er fieng
an, zu graben. Er hackt und hackt und ſtößt, nach¬
dem er einige Schuh in die Tiefe gelangt, auf größere
Scherben von Töpfen, denen gleich, die man jetzt ge¬
brauchte, aber weit roher an Form, ohne verzierendes
Glied, und wo ſich ein ſolches findet, beſteht es nur
in einer Reihe von Vertiefungen am Halſe, die ſicht¬
bar mit dem Nagel eingedrückt ſind; der Thon gröber,
unverarbeiteter und viel ſchlechter gebrannt, als der
jetzige, die Rundung unförmlicher, als man ſie heut¬
zutage herzuſtellen verſteht: jetzt, heutzutage, das heißt
dazumal, als Maſſikomur lebte, wo die Glaſur und
die Töpferſcheibe auch noch nicht bekannt, aber doch
die Brennung ſorgfältiger, Augenmaß und Hand in
der Formung ungleich ſicherer und feiner geworden
war. Ferner finden ſich Geräthe und Waffen aus
Holz, Stein, Bein, aber weit nicht ſo vielfältig und
weit roher als man ſie jetzt zu bereiten weiß: die
Pfeil- und Lanzenſpitzen aus Feuerſtein durchaus nur
geſpalten, nicht nach allerneueſter, zwar noch ſeltener
Axt geſchliffen; was aus weniger hartem Stein ge¬
bildet war, Aexte, Kornquetſcher, Meißel von ſo
plumper Form, daß leicht erſichtlich: wo man den
Schleifſtein anwandte, da fehlte die Geduld zu
[176] pünktlichem Gebrauch. Mit Hämmern, Schlegeln muß
es dürftig ausgeſehen haben; es finden ſich mehrere
Unterkiefer von dem gewaltig großen Bären jener Zeit,
dem Höhlenbären, die ſichtbar die Stelle jener Schlag¬
geräthe verſehen mußten. Man entdeckt Küchenabfälle:
Fiſchgräten, Körner von Himbeeren, Erdbeeren, aller¬
hand Knochen; hier ein ungeheurer Rückgratwirbel!
Den kennt man: er ſtammt vom Ur, der wohl ſeltener
geworden, aber noch nicht ausgeſtorben iſt; noch ge¬
lingt es wenigſtens einmal im Jahr, einen dieſer
Rieſenochſen in der Grube zu fangen und (langſam
und grauſam genug mit den doch immer noch höchſt
unvollkommenen Waffen) zu tödten. Stangenſtücke
vom Schelch, die Zeugen der Ausgrabung bedurften
keiner Ueberſetzung des Worts, noch konnte man,
wiewohl nicht oft, die Wälder vom ſtreifenden
Geweihe des Rieſenhirſches rauſchen hören; hier ein
Ende zu einem Dolche verarbeitet: „Wir machen
das jetzt feiner,“ ſagte der Finder. Aber halt!
was mag das ſein: ein ungeheures Stück von glat¬
tem Bein, rund, es kann nur Zahnbein ſein; dort
noch ein Stück, beide gehörten ſichtbar zuſammen und
ergeben, da ſie Maſſikomur an einander fügt, das
Bruchſtück eines rieſenhaften Zahns, der hauerartig
aus dem Rachen eines Thiers herausgeragt haben
muß, und zwar zuerſt abwärts gebogen, dann nach
oben gekrümmt; das muß ein Thier von fabelhafter
[177] Größe geweſen ſein! Man ſtaunte, man rieth ver¬
gebens, denn man wußte nichts mehr vom Mammuth.
Nun tauchten mancherlei Knochen auf von nicht ſo
über alles bekannte Maß großen, doch ſichtbar auch
ſehr anſehnlichen Thieren, die man durchaus nirgends
hinzuthun wußte. Unſere Pfahlbürger waren ſo weit
ganz exakte Oſteologen, daß ſie genau beſtimmen konnten,
ob ein Theil eines Knochengerüſtes einem der ihnen
bekannten Thiere angehörte; das Verarbeiten des Beins
zu ſo mancherlei Geräthen und das beliebte Spalten,
um die Kraft- und Leckerſpeiſe des Marks zu gewinnen,
hatte ihnen eine große Sicherheit des Blicks verliehen.
Aber wer noch kein Nashorn, noch keinen Löwen geſehen
und geſchlachtet hatte, wie ſollte er das Ganze ihres thie¬
riſchen Baus ſich denken, wie ihre Gattung und Art
feſtſtellen können, wenn er Reſte ihrer Knochen fand?


Es war eine willkommene Abſpannung von den
Anſtrengungen des Staunens, des vergeblichen Rathens,
Sinnens, als man wieder zu Lagen gelangte, woraus
Geläufiges, Wohlbekanntes an's Tageslicht trat. Auf
Getreidebau hatten ſchon die plumpen Kornquetſcher
gewieſen, und nun: ſiehe da! ein Brodlaib, freilich
nicht ſo gefällig rund, wie Sigune ſie zu kneten wußte.
Und endlich: „Donnerwetter! komm' her, Gwalchmai!“
rief Maſſikomur ſeinem Nachbar zu, der ſoeben auch
den kürzeren Weg über den vertrockneten Seegrund zu
ſeinem Acker gieng; „ſieh' her!“ Gwalchmai eilt herbei
Viſcher, Auch Einer. I. 12[178] und er hebt ihm eine Schaufel voll verkohlter, kleiner,
halbrundlicher Gegenſtände unter die Augen. „Hagel
auch, Schnitzli!“ rief Gwalchmai, denn es waren ja
unzweifelhaft Schnitze von Aepfeln und Birnen, wie
ſie heute noch, ſo und ſo verkocht, mit würzigen Körnern,
mit Meth angeſetzt, die große Rolle des beliebteſten
aller Gemüſe, des allgemeinen Nachtiſchs, des allge¬
meinen Veſperbrods ſpielten! Das hieng, um an der
Sonne gedörrt zu werden und Vorrath für den Winter
zu bilden, an allen Dachgeſimſen und Fenſtern in
Bündel gefaßt herum, wie heutzutage (das heißt die߬
mal: in den Tagen des Verfaſſers dieſer Geſchichte
und ſeiner Leſer) die Maiskolben, das wurde dann in
großen Holztruchen aufbewahrt und die Schnitztruche
war den Kindern eines Hauſes das wichtigſte aller
Geräthe. Es ſammelte ſich ein Kreis von Neugierigen;
Zweifler waren darunter, die meinten, das Zeug werde
eben vom jetzigen Dorf einmal hinabgeſunken ſein; ſie
ſtutzten, als man ihnen die Tiefe wies, aus welcher
der Fund kam, ſie verſtummten ganz und ſperrten
weit den Mund auf, als Maſſikomur, vor ihren Augen
weiter grabend, zu ſeiner eigenen Verwunderung auf
Stümpfe von Pfählen ſtieß in derſelben Tiefe, das
obere Ende kohlicht, alſo das Holz herabgebrannt bis
auf den noch im alten Seegrund feſtſteckenden Stummel.
Alſo kein Zweifel mehr: ein altes Pfahldorf! Alt,
wer konnte wiſſen, wie viele Jahrhunderte! Abgebrannt,
[179] wie einſt vielleicht — — man ſchauderte, denn man
kannte dieſe Gefahr, wie ſie nicht bloß vom Feinde
drohte; ſtrenge Geſetze hüteten ängſtlich das Feuer;
wenn Föhn kam, gieng der Bittel um und ſah ſtrenge
nach, ob es auf jedem Herd richtig ausgethan ſei.
Doch viel größer als der Schauer war das Staunen,
das Gefühl des Dunkels, der Reiz, die Begierde, es
gelichtet zu ſehen. Zwar könnte man meinen, es ſei
doch keine ſchwere Aufgabe für die Faſſungskraft der
Verwunderten geweſen, ſich vorzuſtellen: der Seegrund
lag einſt tiefer, ein Pfahldorf ſtand darauf, brannte
ab, der Seegrund ſtieg mit der Zeit durch neue
Schlammſchichten und in der neueſten ſtehen die Pfähle
der jetzigen Gemeinde. Aber man verſetze ſich billig
in den Kopf eines Pfahlbewohners! Dann verſenke
man ſich in den Gedanken: Kulturperioden! Ungeheure
Zeiträume! Ewiger Wechſel! Man werfe nur einen
Blick in die Perſpektive der Betrachtungen, die ſich
daran knüpfen, und man wird begreiflich finden, daß
die Geiſter gründlich verwirrt, beunruhigt, ja durch¬
ſchauert waren. — Dem Druiden hatte man gleich
im Beginn Anzeige von dieſen Fünden gemacht: er
verhielt ſich abweiſend, verdrießlich; er kam nicht zur
Ausgrabung; er wollte nichts davon wiſſen. Auch
die geregelten alten Huſter, die wir erwähnt haben,
ſchüttelten mißlauniſch, mißtrauiſch die Köpfe zu der
räthſelhaften Entdeckung. Das ärgerte nach und nach
[180] die aufgewecktere Minderzahl der Bürger, man ſaß beim
Meth zuſammen, man murrte, man grübelte, man
berieth. Eine ſo geſtimmte Gruppe von Pfahlmännern
finden wir eines Abends bei Alpin's Vater Ullin im
Geſpräche beiſammen. „Von dem, was vorher ge¬
weſen, will unſereins eben auch was wiſſen,“ brummt
der hagere Griffith. — „Ja,“ fällt Nachbar Gwalchmai
mit den kleinen, klugen Augen ein, „wir wollen nicht
ſo ganz im Dunkeln wandeln,“ — „Und in der Zukunft,
was kann da vielleicht Alles noch werden?“ bemerkt
der fortſchrittliebende Hausherr und fährt fort: „Wenn
der Druide uns nichts ſagen will oder am End' wirklich
ſelber nichts weiß —.“ — „Gerade das glaub' ich,
daß er ſelber nichts weiß, er hat ja doch nichts
als Theologie ſtudiert,“ meint der dickbackige Karmor
und lacht. — „So verlangen wir,“ ſchließt Ullin, „er
ſolle einen Seanacha aus Turik herberufen; ich weiß
gleich einen, den hat man mir hoch gerühmt, als ich
neulich drüben war, um Häute gegen Meißel zu ver¬
kaufen, — Feridun Kallar heißt er —, der wiſſe mehr
von alten Geſchichten, auch von Sonne und Mond, Erde,
Waſſer, Feuer, Bäumen und Thieren und Menſchen¬
weſen, als irgend Einer. Verſteht ſich, daß er ein
Meiſter, ein Pencerdd iſt.“


Griffith: „Aber die Barden kann unſer Herr nicht
leiden.“


Gwalchmai: „Ja freilich nicht, weil ſie mehr
[181] wiſſen als er! Drum ſagt er immer, von Turik wehe
ein ſchlechter Wind herüber.“


Griffith: „So verlangen wir's erſt gerade recht.
Wir wählen eine Deputation, die ſoll morgen gleich
zu ihm: der Barde muß her!“


„Nehmt mich in die Deputation,“ ruft Karmor,
„ich freue mich ſchon jetzt drauf, was der alte Haus¬
drach Urhixidur für Augen macht, wenn wir unſern
Willen vortragen.“


„Ja, ja,“ lachte Gwalchmai, „die gelbe Bohnen¬
ſtange möchte eben immer für eine Gwyllion gelten,
und ihr Herr läßt es ihr ſo hingehen, läßt manchmal
ſelbſt ſo einen Wink fallen, als ob was dran wäre!“


Wir müſſen hier einen Augenblick ungern die
Redner unterbrechen. Der Leſer wird nicht wiſſen,
warum Gwalchmai nicht ſagt, Urhixidur möchte für
eine Druidin gelten, ſondern für eine Gwyllion. Die
Druiden leiteten ſich, wie man aus unſerer Geſchichte
des Weiteren erſehen wird, von Talieſin, als dem
Gründer ihres Ordens, ab, den Druidinnen wollte
man ſo hohe Abkunft, Erleuchtung von ſo hoher Licht¬
quelle nicht zugeſtehen und nicht abſprechen; man gieng
daher einen Mittelweg: ſie ſollten ſich auf ihn zurück¬
führen dürfen, aber auf ihn nur, als er noch Gwyon
war, der eben aus dem Zaubertopf genippt hatte. So
nannte man ſie denn Gwyonkind, Gwyonchen, denn
das bedeutet Gwyllion.


[182]

Wir kehren zu unſerem Geſpräch zurück.


„Als ob!“ verſetzt Griffith.


„Ja, als ob,“ fährt Gwalchmai fort, „als ob wir
nicht wüßten, daß ſie im Examen durchgefallen iſt!“


„Ja,“ erläutert jetzt Karmor, „und ich weiß,
warum? Ich hab' mir's neulich in Turik ſagen laſſen:
ſie iſt im Prophezeien ſchlecht beſtanden, und da hat
ſie nun aber den alten Hafen und ſagt, es ſei der
Weisheits- und Zauberhafen der Fee Coridwen, und
ſie habe ihn von ihr geerbt nebſt dem Wirtel, denn
ſie ſei ihre Ur-Ur-Ur-Urenkelin. Der Pfaff nickt
dazu, als ob er's glaubte, ſie hat ihn ganz in ihrer
Gewalt, ja, ja, wir wollen Beide recht ärgern.“


Maſſikomur, bisher ſtummes Mitglied dieſer Ge¬
ſellſchaft, nahm jetzt das Wort: „Müßt nicht ſo ſpotten,
ihr Burger; wir müſſen geſetzte Mannsleut ſein; ihr
könnt's im Großen doch nicht anders machen, als es
iſt, und im Kleinen werden die Druiden eben immer
auch ſo ihre ſchwachen Seiten haben. Gegen dieſe
mögt ihr euch, wenn's der Müh' werth iſt, feſt hin¬
ſtellen, aber ohne Bosheit. Wählen wir alſo Boten,
ſie ſollen ordentlich und ruhig vorbringen, was wir
für eine vernünftige Forderung halten; es wird ja
gehen.“


Auch Alpin fehlte nicht im Kreiſe, ſchon darum
nicht, weil man in der Stube ſeines Vaters tagte; die
Fünde gaben auch ihm viel zu denken, die ſcharfen
[183] Reden waren gerade nicht ſehr nach ſeinem Geſchmack,
ohne daß er ſich übrigens darüber empört fühlte; er
liebte ſich eben eine gewiſſe Ruhe und Stille, daher
gefiel ihm die Geſinnung Maſſikomur's, und da ſeine
Worte ſichtbar wirkten, ſo wagte er ſich in der Pauſe, die
entſtanden war, ſeinerſeits mit einem Vorſchlag heraus.


„Ich meine,“ ſagte er, „wir könnten bei der Ge¬
legenheit auch einen Filea, natürlich auch einen Meiſter,
einen Pencerdd, bitten, daß er uns zum Feſt ein recht
ſchönes Lied dichte. Ich kenne einen aus der edlen
Sängerzunft der Barden, er heißt Guffrud Kullur, iſt
erfahren in allen Weiſen der Dichtkunſt und Muſik,
er baut gar ſo ſchöne Lieder, die ſchönſten Reimge¬
ſetzel und ſingt ſie mit Cwlwm und Mwchwl, daß es
eine Pracht iſt!“ Seine Zuhörer wußten beſſer, als
unſere Leſer, daß die zwei niedlichen Wörter muſika¬
liſche Sätze und Weiſen bedeuteten; Alpin fuhr fort:
„Die Mädel hier ſingen auch gar ſo ein ſchönes Lied
von ihm; ihr müßt's ſchon gehört haben.“ Es machte
ihm kein Beſchwer, zu wiſſen, daß die Zuhörer gleich
auf Sigunen rathen mußten, denn Keine ſang ſo ſchön.
Er war verſchämt mit ſeiner Liebe und doch auch ſtolz
darauf; wir ſind ja, wie ſich der Leſer erinnert, um
einige Wochen zurückgegangen, es ſtand noch harmloſer
zwiſchen den Beiden. Alpin hörte denn nicht ungern,
daß Maſſikomur ſagte: „Ja, Sigune ſingt ſo etwas
gar Schönes, hab's öfter gehört; iſt das von dem
[184] berühmten Barden Kullur? Den wollen wir uns er¬
bitten. Alpin fieng jetzt an, eine Melodie zu ſummen,
und aufgemuntert von Zeichen des Wohlgefallens,
gieng er in Geſang über, begann wieder von vorn
und ſang hell bis zu Ende:


„Im Kahne, im Kahne,

Wenn er am Röhricht leiſe ſtreift,

Das Auge weit und weiter ſchweift,

Was ſtill ich ahne,

Ich weiß es nicht;

Im Mondenlicht,

Im Nebelſchein

Gedenk' ich dein.
Die Welle, die Welle,

Wenn ſie ſo flüſtert und ſo raunt

Zum Herzen, das ſo träumt und ſtaunt,

So dunkel helle,

Ob ſie es weiß?

Ich ſinge leis:

Im Nebelſchein

Gedenk' ich dein.
Im Walde, im Walde,

Im Schatten dort ſchläft Baum an Baum

Und rauſchet auf als wie im Traum;

Dort in der Halde

Ein ferner Klang —

Wie wohl und bang!

Im Nebelſchein

Gedenk' ich dein.
[185]
Vom Eiſe, vom Eiſe,

Vom reinen Schnee, vom hellen Firn

Dort auf des Rieſenberges Stirn

Wie Sangesweiſe

Zieht's in die Bruſt

In ſtolzer Luſt,

Beim hochher blitzenden Silberſchein

Gedenk' ich dein.“

Die Männer faßten ſchnell die angemeſſene, ohr¬
gerechte Melodie auf, ſangen die letzten Verſe kräftig mit,
hielten bis zum letzten Vers die Schlußzeilen gedämpft,
wie ſich ziemte, ließen ſie aber am Ende mit laut vor¬
brechendem Jubel erſchallen, ſo daß die Tonwelle mäch¬
tig und prächtig über die Waſſer des Sees hinaus in's
Weite ſchwoll und im Wiederhall der nahen Berge verklang.


Maſſikomur, Ullin und Karmor wurden gewählt,
zogen ihre beſten Röcke an, verfügten ſich zu dem
Druiden und trugen ihm geſetzt und höflich ihr Sprüch¬
lein vor.


Der Prieſter machte ein ſaures Geſicht, als er den
Antrag vernommen. Wir wiſſen bereits, daß er dem
Winde, der von Turik wehte, nicht zu trauen geſtimmt
war, müſſen uns aber die Sachen jetzt etwas näher
anſehen. Die Barden waren, wie der Leſer ſich er¬
innert, eigentlich eine Zunft im Orden der Druiden.
Man ſollte meinen, dieſe hätten ſich mit ihren Kollegen
friedlich in die Wiſſenſchaften ſo getheilt, daß ſie den
[186] Barden das Weltliche überließen, während ſie ſelbſt
dem Geiſtlichen oblagen. Zunächſt haben wir zur Ver¬
vollſtändigung des früher Vorgebrachten hinzuzufügen,
daß in der Körperſchaft der Barden auch ein Fach
für Erfindung beſtand; ein Barde, der ſich hiemit
beſchäftigte, hieß Priveirdd und da für den Unterricht
in dieſen Dingen eine eigene Schule errichtet war, ſo
können wir ſagen: es beſtand neben der Hochſchule in
Turik ein Polytechnikum. Aus dieſer Anſtalt waren
die Köpfe hervorgegangen, denen die große neue Garn¬
fabrik in Turik und das große Anweſen für neue
Feuerſteinbearbeitungsmethode am Padamurſee, von
denen wir Alpin's Vater ſprechen hörten, ihre Grün¬
dung verdankten. Nicht genug. Unlängſt hatte man
bemerkt, daß ein paar unruhige Geiſter dieſer Schule
mit einem Manne, der vom See Leman herüberge¬
kommen, viel zuſammenſtacken und munkelten und daß
ſie dann mit ihm hinüberreisten. Man ſah es nicht
gern, denn die Stämme, die dort wohnten gegen
Untergang, galten als leichtfertig und neuerungsſüchtig.
Das ſagte man zunächſt beſonders den Leuten vom
See Nuburik nach und wollte wiſſen, ſie üben neuer¬
dings einen ſchlimmen Einfluß auf die am See Leman,
wo es bis dahin den Druiden gelungen war, mit
Hülfe eines Anhangs frommer Bürger das leichtblütige
Völkchen in guter Zucht zu halten. Nun brachten die
Reiſenden mancherlei Geräth aus dem wunderbaren
[187] Stoffe, dem Erz, mit herüber. Heftiger Streit begann
in der Waſſerſtadt Turik, als man die Neuerung kennen
lernte. Man begriff, daß ſie die Welt faſt auf den
Kopf ſtellen würde. Die Einen ſahen darin den
Untergang aller guten Sitte und Ordnung, und zu
dieſen gehörten die Druiden, die Andern eine unend¬
liche Wohlthat, zu dieſen gehörten alle Freunde des
Neuen und ſo auch die Barden; dieſe warfen ſich mit
Feuer auf die Aneignung und Fortbildung der durch¬
greifenden Errungenſchaft.


Nun war es aber eine ſchwierige Sache zunächſt
um die Theilung überhaupt in geiſtliche und weltliche
Wiſſenſchaft. Die Druiden nämlich beſchäftigten
ſich auch mit den weltlichen Zweigen und behaup¬
teten, ſie ſeien deren ſo kundig wie die Barden; die
Barden aber beſchäftigten ſich auch mit dem Geiſt¬
lichen, mit Fragen vom Urſprung und von der Regie¬
rung des Weltalls, und behaupteten, das gehe ſie ſo
gut an wie die Druiden. Dieſelben waren aber zu¬
dem in dieſen und jenen Dingen ſo rückſichtsloſe
Forſcher, daß den letzteren die Sache anfieng, nach
allen Seiten ſehr bedenklich zu werden. Eben um
jene Zeit hatte es ein großes Aergerniß gegeben. Es
verlautete, ein Barde habe auf dem Lehrſtuhl Aeuße¬
rungen fallen laſſen, welche ſehr geeignet ſeien, den
Glauben an Selinur, ein anderer Aeußerungen, nicht
minder geeignet, den Glauben an Grippo zu erſchüttern:
[188] göttliche Weſen, die wir bald näher werden kennen
lernen. Ja noch mehr: mit Schauder erzählte man ſich,
ein beſonders kühner junger Meiſter habe ſich erfrecht,
Zweifel an der Vernünftigkeit des Wohnens auf Seen,
obwohl nur andeutungsweiſe, vorzubringen: einer Sitte,
die doch im tiefſten Zuſammenhang mit der Religion
ſtand. Die Druiden wußten aber doch ganz gewiß,
daß dieſe Götter exiſtirten und dieſe Wohnweiſe geboten
hatten; deßwegen gewiß, weil der Oberdruide, der
Coibhidruid, es gewiß zu wiſſen befahl, er, der ja
nicht irren konnte. Dazu waren denn überdieß die
genannten umwälzeriſchen Bewegungen in der Abthei¬
lung der Erfinder gekommen: Stoff genug, um zu
befürchten, zu ſchauern, zu haſſen. Gieng das ſo fort,
verbreitete ſich dieſer neuerungsſüchtige Geiſt, ſo war
zu beſorgen, daß bald den Menſchen nichts mehr heilig
ſein und die ſcharfe Waffe gegen Ungläubige, der
Bann, der Fluch ſich abſtumpfen werde. Man mußte
ſich daher nach einem Rückhalt umſehen, der geeignet
wäre, dieſem geiſtlichen Schwert im Nothfall mit welt¬
lichen Mitteln den gehörigen Nachdruck zu geben. Es
war der Adel, der vorzugsweiſe kriegeriſche Stand,
bei dem man dieſe Anlehnung ſuchte. Allein der Adel
war in ſeinen Geſinnungen ſelbſt getheilt. Die Einen
hielten ſtark zu den Druiden; denn ihre Anſicht war,
ein Orden, der die Götter ſtütze, ſtütze auch den Adel,
indem der feinere Menſchenteig, aus welchem derſelbe
[189] beſtehe, mit demjenigen feinſten Teig, aus welchem die
Götter beſtehen, auf eine ganz beſondere Weiſe ver¬
wandt ſei. Die Andern hielten zwar auch große
Stücke auf ihren feineren Teig, doch dünkte es ihnen
löblich, dieſe Feinheit durch Wiſſenſchaften und Künſte
weiter zu verfeinern, und dieſe hielten zu den Barden
und machten ſich weiter nicht allzu viel aus ihrem Un¬
glauben. Bald hatten die Einen, bald die Andern
das Uebergewicht, und ſo war denn auf die Stütze
des Adels nicht eben ſtets ein ſicherer Verlaß für den
höchſten, den Druidenſtand. Nun war noch das
Volk da. Es hatte freilich ſeinen Namen von: Gefolg,
aber ſo ſtark auch das Gefolge der adeligen Herrn,
es war doch natürlich nicht alles Volk Gefolg, und die
Zahl der noch übrigen Fäuſte ſtellte eine Macht vor,
groß genug, um als drohendes Mittel in den Händen
einer Partei zu erſcheinen und in äußerſten Fällen den
Ausſchlag zu geben. Druiden- wie Bardenſtand ſah
bei der Aufnahme ſeiner Schüler nicht auf die Geburt,
nur auf Talent und Fleiß, der erſtere allerdings auf
noch etwas: auf den Sinn unbedingten Gehorſams;
wen er umklammert hatte, der wurde durch ſtrenge
Beherrſchung zum ſtrengen Herrſchen erzogen. Hie¬
durch gelangte der Orden wohl zu großer Macht über
die zu den Volksfäuſten gehörigen Volksgemüther, aber
die aufgeweckten Bardenſchüler und ihre Meiſter hatten
eben auch Eltern, Verwandte, Freunde, gar mancher
[190] einfache Mann ſpürte wohl, daß man mit den nütz¬
lichen Erfindungen, die man dieſer Zunft verdankte,
nicht ſchlecht fahre, und an dieſem Theil der Volks¬
menge hatte denn jene zweite Adelspartei einen Rück¬
halt von beträchtlicher Kraft und Breite. In dem
Zeitpunkt nun, auf welchem unſere Geſchichte vorgeht,
bewegte ſich das Zünglein der oft ſchwankenden Wage
merklich nach dieſer Seite hin. Der Oberdruide, der
ſich den ſtolzen Namen Mac-Talieſin beigelegt hatte,
war alt und etwas bequem geworden, die alte Rührig¬
keit des Ordens aus Mangel an Trieb von oben er¬
ſchlafft und von der jugendlichen Beweglichkeit der
Gegner überholt.


Daß dieſer Stand der Dinge ſich auch im Dorfe
Robanus verſpüren ließ, haben wir ja eben aus den
ziemlich unehrerbietigen Reden erkannt, deren Ergebniß
die Deputation an den Druiden Angus war, und es
begreift ſich nun nicht nur ganz, warum er den Boten
ein ſaures Geſicht machte, ſondern zugleich auch, war¬
um er nicht genug Sicherheit in ſich fühlte, der un¬
willkommenen Zumuthung zu widerſtehen. Er beſann
ſich kurz und ſagte dann: „Nun ja, meinetwegen!“
Wir werden ſogleich noch einen beſtimmteren, einzelnen
Grund erfahren, der ihm die Einwilligung erſchweren
mußte. Die Deputation zog ab, dieſelben Männer
bekamen den Auftrag, ſich zur Einladung der Barden
nach Turik zu begeben, die berühmten Meiſter gaben
[191] freundlich ihr Jawort und auf morgen alſo, den
zweiten der drei Feſttage, vor denen wir ſtehen, wird
ihre Ankunft erwartet.


Wir haben zurückſchreiten müſſen, um das Kopf¬
ſchütteln zu erklären, womit jene frommen Alten dem
Druiden dieſe Nachricht mittheilten; wir begeben uns
wieder auf die Zeitſtelle, von der aus wir dieſen
kurzen Abſtecher angetreten haben. Angus hat den
Ankömmling aufgefordert, heute Abend nicht beim
Betuchungsfeſte zu fehlen, womit die dreitägige Feier
beginnt. In wenig roſiger Stimmung finden wir ihn
beſchäftigt, mit Hülfe Urhixidur's ſeinen Ornat anzu¬
legen. Er hat ihr die verdrießliche Neuigkeit nicht
vorenthalten. „Mich dauern nur die ſchönen Verſe,
die jetzt in's Waſſer fallen,“ ſagt die Alte. Er hatte
ihr noch etwas vertraut, früher, ehe von der Berufung
der Barden die Rede war. In der gehobenen Stim¬
mung, womit er dem Feſt entgegenſah, hatte ſich eine
lyriſche Ader, die einſt in den Tagen ſeiner Jugend
öfters ſich verſpüren ließ, merkwürdigerweiſe wieder
geregt, Vers um Vers war ein prächtiger neuer Feſt¬
hymnus aus ſeinem Geiſt hervorgequollen, ſo oft einer
fertig, hat er ihn der getreuen Schaffnerin vorge¬
tragen und ſie hat jedesmal eine ſehr günſtige Kritik
abgegeben; wie wohlwollend hat er ihr noch vor wenig
Tagen dafür die welke Wange getätſchelt und geſagt:
„Biſt eben mein gutes altes Durli!“ Und nun war
[192] ein Fremder berufen, wahrſcheinlich ein moderner,
phantaſtiſcher Dichterling, der ihn um die ſchöne Frucht
ſeiner Weiheſtunden bringen ſollte! — „Nein, ich
weiche nicht,“ rief Angus, ſchwieg eine kurze Weile,
preßte dann den untern Kiefer feſt an den obern und
ſetzte hinzu: „Ich laſſe mich nicht verdrängen! Ich werde
mein Werk trotzdem zur Geltung bringen! Wirſt ſchon
ſehen!“ Die Alte nickt zufrieden, neſtelt weiter am
weißen Mantel und ſagt, während ſie die Theile mit
einem fein geglätteten Dorn an der Schulter zuſammen¬
heftet: „Sollte der Fremdling mit den neuen, unheim¬
lichen Waffen, der heute gekommen, auf ſeiner Reiſe nicht
in Turik eingekehrt ſein? Der Weg führte ihn doch
darüber!“ — Der Druide ſchrillte auf; er hatte bei
der Bemerkung einen ſo heftig zuckenden Ruck gethan,
daß ihm der Dorn in die Haut ſeiner Achſel fuhr.
Das war eine Fernſicht, die zu denken gab. Gar
vielleicht ein Sendling der Bardenpartei, als Wühler
vorausgeſchickt und mit den Gäſten fortzuwühlen be¬
ſtimmt?


Sein Anzug war vollendet und während Urhixidur
im Nebenraum hinter der hängenden Matte ihr Feſt¬
kleid anlegte, gieng er mit großen Schritten auf und
nieder. Es wollte ihm ſcheinen, der Boden ſchwanke
unter ſeinen Füßen. Freilich war derſelbe immer
etwas wacklig geweſen, aber heute kam er ihm wack¬
liger vor als ſonſt. Eines ſtand ihm als Ergebniß
[193] ſeiner Betrachtungen feſt: auf den Fremdling wollen
wir ein ſcharfes Auge haben.


Urhixidur war ebenfalls fertig, ſeine Begleitung
ſtand draußen bereit und er ſchritt hervor, nicht ohne
beim Austritt feierlich zu huſten. Alle Kinder der
Gemeinde, die das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten,
ſtanden, zu zwei und zwei geordnet, in ihren Feſtkleidern
bereit; über bunt gewürfelten Röcken trugen ſie kurze
weiße Mäntelchen um die Schultern. Zunächſt ihnen
ſehen wir die Perſonen aufgeſtellt, die von Amtswegen
auf dieſem Gang nicht fehlen dürfen; die übrige Ge¬
meinde befindet ſich ſchon am Lande drüben auf dem
heiligen Platz und harrt auf die Ankunft der Feſt¬
ſchaar. Der Zug ſetzt ſich in Bewegung. Voran
ſchreitet der Weibel, das iſt der Amtsdiener des Drui¬
den, zugleich der Opferdiener. Er trägt ſenkrecht einen
langen Stab von Buchenholz, worauf fremdartige
Zeichen eingeſchnitten ſind. Darauf folgen zwei Bittel,
das heißt Amtsdiener des Gemeinderaths, zugleich
Polizeimänner. Einer derſelben iſt außerdem Ehegoumer.
Was ein Ehegoumer ſei, weiß man in jenen Gegenden
noch heutzutage ſehr wohl, die ehrwürdige Sitte, das
ernſte Gemeindeamt hat ſich bis heute erhalten; es iſt
ein Mann, der ein wachſames Auge auf ſämmtliche
Ehen der Gemeinde hat, nachſpürt, wo Uneinigkeit in
einem Hauſe aufkommt, den ſchuldigen Theil erkundet,
warnt, ermahnt, zurechtweist, und wenn er durchaus
Viſcher. Auch Einer. I. 13[194] gegen Beſſerung verſtockt iſt, tüchtig durchhaut. Dem
großen deutſchen Dichter, als er die Figur des Mittler
in ſeine Wahlverwandtſchaften einführte, hat ohne
Zweifel dieſe uralte Form vorgeſchwebt, er hat das
Motiv benützt, veredelt und ſo denn auch den letzteren,
draſtiſchen Zug paſſenderweiſe ausgeſchieden. Das
Wort kommt von goumen, ein wachſames Auge auf
etwas haben, hüten. Man begreift, daß dieſes Amt
eine anſehnliche und muskelſtarke Perſönlichkeit ver¬
langte: Eigenſchaften, die dem Ehegoumer von Robanus
nicht abgiengen und die ihn auch ganz befähigten,
zugleich als zweiter Bittel die Polizei zu unterſtützen.
Jetzt folgt, feierlich ſchreitend, der Druide. Weiß wie
ſein Mantel iſt ſein Unterkleid, ſein Haupt ziert eine
hohe, kegelförmige Pelzmütze, feſtlicher als jene, die
wir als ſeine häusliche Kopfbedeckung ſchon kennen:
ſie iſt von Biberfell und mit handbreitem Aufſchlage
von Hermelin geſchmückt. In der Hand trägt er einen
Stab mit einem ſzepterähnlichen Knauf, an dem jenes
Mittelding zwiſchen Halbmond und Kuhhörnern aus¬
geſchnitzt iſt, dem wir ſchon mehrfach begegnet ſind.
Hinter ihm ſchreitet Urhixidur und neben ihr ein noch
kräftiger Greis mit langem weißem Barte. Sie hat
heute öffentlichen Dienſt und iſt — man ſieht es ihr
an — ſich deſſen ſehr bewußt. Ein langer ſchwarzer
Mantel mit rothem Gürtel umwallt ihre hageren
Glieder, ein rothes Tuch iſt turbanartig um ihr Haupt
[195] geſchlagen; die grauen Haare hat ſie heute ſorgfältig
geflochten, ſie hängen ihr in langen Zöpfen über die
Bruſt. Ihr Antlitz iſt heute bemalt: ſie hat ſich mit
Röthel (Rothſtein) Figuren darauf gezogen, Linien,
die von den Schläfen vorlaufend über die Wangen
ſich verbreiten und abwärts als in ſich gezogene Kreiſe
endigen; ob ſie bloße Ornamente oder von geheimni߬
voller Bedeutung, eine Art Runen ſind, wiſſen wir nicht
zu ſagen. Die Stelle unter den Augen hat ſie dunkel¬
blau gefärbt, wie heute noch die Orientalinnen es
lieben; ihr Auge lag zwar tief und blitzte ſtechend
genug, um ſolcher hebenden Folie nicht zu bedürfen.
Das Bemalen des Geſichts war eine eben abkommende
Sitte, wenige alte Weiber hiengen ihr noch an; daß
ſie einſt geherrſcht haben müſſe, beweiſt die Menge
von Rothſteinſtückchen, die Maſſikomur damals unter
den Zeugen der Vergangenheit im alten Seegrund
gefunden hat. Der rechte, hinter das Haupt zurück¬
gebogene Arm der unheimlichen Alten hält den Hand¬
griff eines großen Topfes, zwiſchen deſſen Zickzackver¬
zierungen man daſſelbe Zeichen eingegraben ſieht, das
wir ſoeben wieder am Stabe des Druiden erblickt
haben: eine Gefäßträgerin, freilich nicht ſo anmuthig
wie die Kanephoren auf dem Fries des Parthenon,
nicht ſo ſchön bewegt in Linien, wie wir im Orient
und in Sizilien Waſſerträgerinnen, ihren Krug auf der
linken Achſel haltend, wandeln ſehen; eine ſeltſame,
[196] wildfremde, geſpenſtiſche Erſcheinung. Der Greis neben
ihr trug an einer blauen Schnur einen Holznapf, in
ſeinem Gürtel ſteckte eine Art von Futteral, ungefähr
jenem gleich, worin unſere Schnitter den Senſenwetz¬
ſtein tragen. Hinter den Zweien ſah man ſechs Ge¬
meindeälteſte ſchreiten, auf ſie folgte der Zug der Knaben
und Mädchen und ihn beſchloſſen zwei Wächter mit
Bogen und Speer. Draußen auf dem Platze ſtanden
Männer und Frauen getrennt, doch nicht durch ſo
ſtarke Zwiſchenräume, daß die äußerſten Flügel der
Burſche und der Dirnen nicht Fühlung miteinander
gehabt hätten. Da gab es Geplauder, Spaß, Necke¬
reien. Alpin mied Sigunen; er mußte ſie in mun¬
terem Geſpräch mit Arthur ſehen; es tröſtete ihn
wenig, daß ſie doch ſeine kryſtallene Halskette trug,
denn er dachte, die koſtbarere Gabe des ſchrecklichen
Nebenbuhlers werde für's Hauptfeſt geſpart ſein; er
wollte es ſich abzwingen, nicht weiter hinzublicken und
that es doch; ihm war, wie es Verdammten ſein mag,
wenn ihnen Teufel die himmliſche Seligkeit vormalen,
denn wie ſchön war ſie heute! wie leuchtend hob ſich
Hals und Kopf aus dem feinen Marderpelz, der ihr
blau und roth geſtreiftes Gewand verbrämte! Die
Kugeln und Würfel des Schmuckes aus ſeiner Hand
kamen ihm vor wie Thränentropfen, die er an ihrem
Halſe weinte. Inzwiſchen machte ſich Gwennywar,
Gwydyr's Tochter, in ſeine Nähe, ſein Drittenkind¬
[197] bäschen. Es war der zierlichen Maid etwas mehr im
Herzen als Verwandtenliebe; ſie ſah, wie Alpin nach
dem Paare hinſtarrte. Ihr gab der Teufel ein hölli¬
ſches Wort ein: „Du, Alpin, weißt, was Sigune heut
im Herausgehen zur Nachbarin Daura geſagt hat?“
— „Will's nicht wiſſen,“ aber es war ihm gut anzu¬
ſehen, daß er's doch wiſſen wollte. „Der Arthur hat
gar ſo ein ſchönes, liebes Genick; es ſteigt ſo ſchön
auf und das dunkle Lockenhaar ſchwebt gar ſo ſchön
wie angeflogen daran hinauf.“ — Sie zupfte, wäh¬
rend ſie das ſagte, ſchelmiſch an dem Kragen von
Schwanenpelz, der über ihrer feinen Bruſt und Schulter
lag. Die ſchlimme Kröte! In Alpin ziſchte es auf,
als wäre ihm ſiedender Schwefel aus der Gluteſſe
des Höllenpfuhls in die Seele geſpritzt. Er ward ſich
plötzlich und zum erſten Mal einer äußerſt unvor¬
theilhaften Partie in ſeiner Erſcheinung bewußt. Er
trug wie die andern Burſche des Pfahldorfs, was
man im heutigen Süddeutſchland einen Hausknecht
oder Johann nennt, das heißt einen Kranz von länge¬
ren Locken im Nacken, während die Haupthaare kurz
geſchnitten, oder vielmehr, da es damals nur Scheeren
von Bein gab, grauſamlich abgezwickt waren. Er
griff ſich mit der Hand da hinten hin; ihm blitzte
Selbſterkenntniß auf, ein entſetzliches Licht. In Ar¬
thur's Heimat ſchnitt man ſich die Haare aus dem
Nacken; dort wußte man, wie das die Linie der Ge¬
[198] ſtalt herausnimmt, hebt, ihr etwas Ausgewickeltes, Freies
gibt. Noch einmal: ein Giftwort! Den armen Bur¬
ſchen, den ſie doch heimlich liebt, ſo ſtechen, verſpotten,
martern! Und wer weiß, ob ſie nicht erſt noch lügt?


Der Zug hat inzwiſchen die Brücke überſchritten
und iſt am Feſtplatze angekommen. Wir haben uns
dieſe Stelle mit ihren geheimnißvollen Steinmalen
ſchon betrachtet, als Arthur daran vorüberſchritt.
Hinter ihr dehnt ſich ein Eichenhain aus, vor ihr ein
freier Platz. Die rohe Steintafel, die auf ebenſo
rohen Stützen ruhte, haben wir als einen Altar an¬
geſehen und darin nicht geirrt; ſein Name iſt Dolmen
(Steintiſch). Vor ihm pflanzt der Bittel, wie der
Zug angekommen, den Stab mit den eingeſchnittenen
Runen auf. Der Zug wendet ſich inzwiſchen nach
rechts, bleibt vor dem Pfeiler mit dem Halbmondbilde
ſtehen, der Prieſter verneigt ſich tief und beſchreibt
dieſelbe Linie, die das Bild darſtellt, mit dem Daumen
auf ſeiner Bruſt, die Kinder folgen ſeinem Beiſpiel.
Der Zug geht weiter zum rückwärts ſtehenden maſſigen
Steinpfeiler. Ihn müſſen wir jetzt näher in's Auge
faſſen als damals, wie wir mit Arthur vorüber¬
giengen: er ſteht ſchief, er neigt ſich über, ſein Fuß
ruht in einem Felsblock, in deſſen Höhlung er wie
in einen Sattel eingelaſſen iſt. Der Zug ſteht wieder
ſtill, der Druide winkt, alle männlichen Mitglieder,
die drei Diener, die ſechs Gemeindeälteſten, die zwei
[199] Wächter, treten vor und ſtemmen mit äußerſter Kraft
die Schultern an eine Seite des Pfeilers, jedoch nicht
in rechtem, ſondern in ſpitzem Winkel, ſie drücken und
drücken und ſiehe, er ſchwankt! Er ſchwankt nicht nur,
ſondern er dreht ſich auch! Jetzt wiederholen ſie den
Druck, er dreht ſich weiter und ſo fort, bis eine
Kreisbewegung vollendet iſt und, da der Druck nicht
wiederholt wird, die Felslaſt in ihre Ruhe zurückkehrt.
Ehrfurchtvoll ſpannen ſich alle Blicke auf dieſe Er¬
ſcheinung, alle Lippen vereinigen ſich zu einem mur¬
melnden Gebet, ſo lang ſie dauert, dann umwandelt
der Zug dreimal den ungeheuern Block und ſchreitet
linkwärts weiter.


Was will, was ſoll dieſes räthſelhafteſte unter den
Malen, was bedeuten die heiligen Bräuche, die wir
vor und an ihm vollziehen ſahen? Niemand weiß es,
Niemand ſelbſt unter eben dem Geſchlechte, bei dem
wir uns hier befinden, es müßte denn eine dunkle
Sage Grund haben, die in unſerer und rings in
mancher Dorfgemeinde umgieng: es leben in den
größeren Niederlaſſungen, den Waſſerſtädten, wo ſich
die Druiden- und Bardenſchulen befanden, im Schooße
dieſer Zünfte noch Männer, welche uralte Erinnerungen
und mit ihnen den Schlüſſel des Geheimniſſes be¬
wahren. Der Name dieſer Pfeiler war Menhir und
der beſagt nichts als: Steinſetzung, Steinmal. Am
Ufer bei Turik ſtanden deren zwölf, einen Kreis um
[200] den Dolmen bildend, dunkle Gerüchte giengen um,
daß ſie bei verwandten Völkern gegen Abend in ganzen
langen Doppelreihen, bis zu hunderten, ja zu tauſenden
ſtehen. Einige meinten, ſie ſeien zum Andenken tapferer
und verdienter Männer einſt hergewälzt und geſetzt,
Andere bezweifelten das und riethen auf dunkle Reli¬
gionsgeheimniſſe, die Meiſten dachten gar nichts, Alle
aber betrachteten ſie mit dunkler Scheu und Ehrfurcht.


Der Zug verweilt jetzt vor dem Pfeiler mit der
unförmlichen Molchgeſtalt; der Druide betrachtet dieß
Gebilde mit Schauder, macht mit beiden Händen eine
Geberde, die ein Abweiſen, eine Scheue ausdrückt, be¬
ſchreibt hierauf mit dem Daumen eine Schlangenlinie
auf der Bruſt, verbeugt ſich dann tief und auch dieſe
Bewegungen werden von ſämmtlichen Theilnehmern
des Zuges nachgeahmt. Hierauf ſchwenkt derſelbe links¬
um in der Richtung des Dolmen ab, auf ihn ſtellt
Urhixidur feierlich ihren großen Topf, ſein Inhalt
muß hochbedeutend ſein, wenn er an dieſem Orte
ruhen darf; ihr gegenüber ſetzt der Greis, der im
Zuge neben ihr gieng, ſeinen Napf auf das andere
Ende des Steintiſchs, zieht das Holzhalfter aus dem
Gürtel und nimmt daraus einige dünne, kurze, ſpitze
weiße Beinchen, die er pünktlich nebeneinander auflegt.
Beide bleiben neben dem Altare ſtehen, die Kinder
ſtellen ſich ihm gegenüber in einem Halbkreis auf und
inmitten des freien Raums ernſt und feierlich der
[201] Druide. Ringsherum ſteht die Gemeinde; zu ſitzen
gibt es nichts, nur zum großen Feſtmahl übermorgen
ſind Bänke und Tiſche, ſehr einfache Zimmerarbeit,
im Hain errichtet, der an den Dolmen ſtößt.


Der Druide räuſpert ſich und huſtet, gemeſſen,
feierlich. Die Gemeinde folgt ſeinem Beiſpiel, ebenſo
die Kinder, mit Nachdruck die Knaben, ſchwächer und
unzulänglicher die Mädchen. Der Druide intonirt einen
Geſang, ein kurzes geiſtliches Lied, deſſen Text wir
nicht herſetzen, weil er in poetiſcher Kürze nur enthält,
was wir jetzt aus Fragen und Antworten ausführlicher
entnehmen werden.


Mit freundlich väterlichem Tone beginnt nun der
Prieſter: „Ihr ſollt heute zeigen, liebe Kinder, ob ihr
im Glauben feſt ſeid und wohl vorbereitet, aus dem
Kindesalter überzutreten in das Alter des Jünglings
und der Jungfrau, auf daß ihr nicht erlieget den
Verſuchungen der Jugend, den Gefahren der Welt,
ſondern wandelt als ehrſame Glieder dieſer frommen
Heidengemeinde, bis ihr einſt das Irdiſche ſegnet und
aufgenommen werdet in das Paradies, das da iſt im
lichten blauen Zelt über den Sternen.“


Es beginnen nun die Fragen, deren wichtigſten
Theil wir mit den Antworten ihrer Reihe nach herſetzen.


1. Warum wohnen wir auf den Seen?


Weil es Selinur befohlen hat.


[202]

2. Woher weißt Du das?


Es ſtehet geſchrieben.


3. Wo ſtehet es geſchrieben?


Auf dem heiligen Buchſtab.


Wobei das Kind zu dem oben erwähnten Stab auf¬
ſchaut und hindeutet.


4. Hat Selinur uns geoffenbart, warum ſie
es befohlen hat?


Ja.


5. Hat ſie es befohlen aus weltlichen Grün¬
den?


So meinen die thörichten Weltmenſchen.


6. Was meinen denn die thörichten Welt¬
menſchen?


Sie meinen, wir wohnen auf den Seen, um Schutz
zu haben vor wilden Thieren und vor Feinden.


7. Warum iſt dieſes thöricht?


Weil unſere Seen im Winter zufrieren, ſo daß uns
böſe Thiere und Menſchen leicht erreichen könnten,
wenn wir ſie nicht anders abwehrten.


8. Was iſt der wahre Grund, aus welchem
Selinur es befohlen?


Zum Heil unſeres Leibes und unſerer Seele.


9. Wer iſt denn Selinur?


Die große Mutter aller Dinge, die da wohnet im
[203] Monde, die da geſponnen hat auf heiliger Spindel
Erde und Waſſer und Luft und Gras und Bäume
und Thiere und Menſchen und dieſen oft erſchienen
iſt als weiße Kuh.


10. Was that ſie, als ſie den Menſchen ge¬
ſponnen?


Sie blies ihm den lebendigen Odem durch die Naſe.


11. Was that der Menſch hierauf?


Er nos.


Richtig, liebes Heidenkind, aber man ſagt
nicht: er nos, ſondern: er nieste.


Der Knabe, ein allerliebſter Lockenkopf, wurde feuer¬
roth. Der Druide ſtreichelte ihm freundlich die Wange.
In dieſem Augenblick mußte der Junge ſelbſt nieſen.
Ein wohlwollendes Nicken und Lächeln gieng durch die
Gemeinde. Der Druide fragt weiter, den nächſten Knaben.


12. Was bedeutete es aber, daß der Menſch
nieſen mußte?


Es bedeutete, daß er ſolle leben und ſich bewegen und
eine Seele haben und aber auch unterworfen ſein
dem ſchlimmen Reize, denſelbigen aber ausſtoßen und
ſich läutern, auf daß er werde rein, klar und gut.


13. Wer hat Solches bemerket und zum Uebel
gewendet und will den Menſchen damit
verderben?


Der böſe Grippo.

[204]

14. Wer iſt Grippo?


Der Geiſt der Finſterniß, der große Molch, der da
erzeuget iſt im Urſchlamm, der Drache aus dem
Pfuhl, der furchtbare Entzünder.

Das Kind blickt mit Schauer nach der Molchgeſtalt
auf dem hohen Blocke links vom Dolmen.


15. Sollen wir ein ſo finſteres Weſen haſſen
und verachten?


Scheuen ſollen wir es und begütigen durch Opfer.


16. Was für Opfer?


Lämmer, Böcke, Stiere.


17. Sind nicht in ſchweren Fällen noch andere
Opfer nöthig?


Ja.


18. Was für?


Menſchenopfer.


19. Wozu ſind Menſchenopfer außerdem noch
gut?


Wahrzuſagen aus den Zuckungen des Sterbenden.


20. Aus welchem beſonderen Grunde ſollen
wir Grippo ſcheuen und ihm opfern?


Weil der große Grippo auch iſt der Gott des Kriegs
und dem Volke, dem er gnädig, aus dem Hirnreize
des Pfnüſſels entzündet die Aergawydd, das heißt
die Schlachtwuth, den Feind aber ſchläget mit
[205] Stumpfheit und Dumpfheit, die da iſt eine Frucht
deſſelbigen Uebels.


21. Was aber iſt dieß für ein Uebel, ſofern
es nicht alſo dienet, ſondern uns verderbet?


Es beginnet in der Naſe und im Hals und will
nicht heilen und gehet hinab in den Magen und in
alle Gedärme und wird Stockſchnupfen, bleibende
Verſchleimung, jahrelanger Huſten, ſei es einfacher
oder Keuchhuſten, Glutgift, das da dringet durch alle
innere Haut und Fleiſch, Blut, Mark und Knochen,
und tödtet öfters ſchmachvoll den Menſchen im
Wuſt, der da gleichet dem Urſchlamm, woraus
Grippo erzeuget iſt.


22. Welchen Schaden nimmt dadurch die Seele
des Menſchen?


Sie wird zuerſt dumpf und ſtumpf, hierauf erzeuget
ſich, wenn die Augen brennen und die Ohren blau¬
roth werden, Erbitterung, Zorn, Grimm, Wuth,
ſteigen auf arge Gedanken, Haß, Bosheit, Mord,
Raub und alle Laſter, kurz die Sünde.


23. Können wir uns davor ſchirmen und
retten durch uns ſelbſt?


Ach, nein!


24. Warum nicht?


Weil vor dem Feuerqualm des Gottes ſich nicht
gehütet hat Urnar der erſte Menſch und hat ver¬
[206] erbet auf alle ſeine Kinder und Kindskinder den
böſen Hang zum giftigen Pfnüſſel.


25. Wer allein kann uns helfen?


Die große Göttin, welche liebet die Menſchen, die
Weltmutter Selinur.


26. Was hat die große Gottheit gethan zu
unſerem Heile?


Sie hat ſich unſer erbarmet und uns geoffenbaret,
wir ſollen wohnen auf den Seen, als da geſchrieben
ſtehet Buchſtab Zeile 2.


27. Kann uns die große Mutter ganz be¬
wahren vor dem Uebel?


Nein, es iſt zu ſpät. Aber ſie kann das Uebel ſelbſt
zum Guten wenden.


28. Sage mir dieſes nun deutlicher.


Wir ſollen wohnen auf den Seen, weil allda der
feuchte Nebel über dem Waſſer den Pfnüſſel zu
regelmäßigen Friſten hervorbringt und aber der
Mondſchein, der da ausgehet von der Göttin Selinur
und im Nebel dämmert und wallet, ebendenſelbigen
Pfnüſſel geſetzmäßig ausbrütet, auskocht, ausheilet.


29. Welches ſind dieſe Friſten?


Vier im Jahre: Anfang März, Anfang Juni,
Anfang September, Anfang Dezember.


30. In welchem Zeitpunkte befinden wir uns jetzo?
[207] Im Anfang der dritten Heilwoche des September,
da in der letzten großen Huſt- und Niesnacht das
Uebel ſich erſprießlich gelöſet hat.


31. Was iſt die Frucht ſolcher Auskochung
und Ausſchüttlung?


Leib und Seele wird geläutert und der Geiſt wird
offen, Selinur zu erkennen, zu verehren und ihr
zu dienen mit guten Werken und viel Gebet.


32. Wen würdiget Selinur beſonders ſolcher
ordentlicher Erkältung und folgender Läu¬
terung?


Fromme Menſchen.


33. Wodurch äußert ſich der Beginn der jedes¬
maligen Läuterung?


Durch kräftiges, helles, geſundes und biederes Huſten.
Es läuft hier durch die verſammelte Gemeinde eine
geordnete Reihe ſolcher ſtoßenden Kehlvorgänge, wobei
jene Männer, die wir ſchon unter dem Namen alte
Huſter aufgeführt haben, ſich durch beſonders feierliche
Aktion auszeichnen.


34. Wer ſtehet der großen Göttin in dieſem
heilſamen Werke noch insbeſondere bei?


Die heiligen Feen, ihre Dienerinnen, die ſchönen,
die weißen.


35. Wo ſind dieſe?
[208] Sie ſchweben und weben mit den Strahlen des Mon¬
des in den Lüften überall und beſonders im Schilf,
im Röhricht der Seen, und ſingen geheimnißvolle
Lieder und nieſen ſanft.


36. Hat der wilde Grippo auch Gehülfen?


Ja, die Korrig, das ſind die böſen ſchwarzen Zwerge.


37. Wo wohnen ſolche?


In der Zugluft.


38. Welche Waffen führen ſie?


Feine Binſen, Diſtelſtacheln, Schneidgrasſpitzen,
Dorne, Brennneſſeln, Büſchel aus Raupenhaaren,
Bärte der Gerſtenähre, womit ſie in der Naſe kitzeln,
im Schlunde kratzen und ſtechen und hinablangen tief
in's Innere des Menſchen, Fläſchchen voll brennen¬
den Giftes, das ſie in die Blutadern ſpritzen,
Bretter, die ſie dem Menſchen vor die Stirne
nageln, daß er wird verſtöret und ſeine Seele ver¬
finſtert und verblendet, daß ſie nicht mehr kann
unterſcheiden recht und unrecht, gut und böſe.


Der Druide hielt nun einige Minuten inne und man
ſah ihm an, daß es ein ſchwieriger Punkt ſein müſſe,
zu dem er zaudere überzugehen; dann fragt er weiter:


39. Sind mehr als nur die zwei großen Götter?


Ja, es iſt noch ein Gott.


40. Wie heißt er?


Der unbekannte Gott.


[209]

41. Was wiſſen wir von ihm?


Nichts.


42. Woher wiſſen wir, daß er iſt?


Es ſteht auf dem heiligen Buchſtab Zeile 7.


43. Wie ſollen wir ihm dienen?


Wir ſollen ſagen am Schluß aller unſerer Gebete:
Sei auch du uns gnädig, unbekannter Gott!
Nachdem dieß letztere Thema in ſolcher Kürze abſolvirt
war, wandte ſich der Fragende, ſichtbar erleichtert, zu
einem andern, das ihm weniger peinlich zu ſein ſchien.


44. Wie erlangen wir Gehör bei den Göttern?


Allein durch die Druiden, welche ſind die Mittler
zwiſchen der Gottheit und dem Menſchen und welche
zweierlei Gewalt haben: den Frommen die göttliche
Gnade zu öffnen, den Gottloſen zu verſchließen.


45. Wer hat den heiligen Orden der Druiden
geſtiftet?


Talieſin oder Strahlenſtirn, der als Zwerg Gwyon
genoſſen aus dem Wundertopfe der Fee Coridwen,
von ihr verſchluckt worden iſt als Waizenkorn und
aus ihr geboren als Grundbeſitzer aller Gnaden¬
gaben des Geiſtes und ſolche verliehen hat dem
heiligen Orden, den er gegründet.


Bei Erwähnung des Zwergs Gwyon zuckte etwas
wie verhaltenes Lächeln in den Zügen des antworten¬
den Kindes und die Gemeinde ſchien ähnlich geſtimmt,
Viſcher, Auch Einer. I. 14[210] doch alle Geſichter wurden wieder ſehr ernſt bei dem
Schlußſatze von der Gründung des ehrwürdigen Drui¬
den-Ordens.


46. Was iſt die größte Gottloſigkeit?


Zu leugnen, daß Selinur ſei und ihre heiligen Feen,
und zu leugnen, daß Grippo ſei und ſeine ſchwarzen
Zwerge, und nicht zu gehorchen dem Willen der
Götter, der da ſpricht aus den Druiden.


47. So ein Menſch ſich alſo verhärtet und
verſtocket, was ſoll ihm geſchehen?


Die Antwort auf dieſe Frage war an ein Mädchen
gekommen. Es fieng an:


Er ſoll werden gepfählet oder —
Hier ſtockte es, zuckte zuſammen und zitterte. Der
Druide nahm es freundlich an der Hand und ſagte:
„Wart', liebes Kind, ich helfe dir, ſprich nur zugleich
mit mir.“ Geſtützt und getragen von der Stimme des
Prieſters brachte nun das Kind mühſam die Worte hervor:
oder gekreuzigt oder ſoll ihm mit Horndolch auf¬
geſchlitzt werden die Bruſt oder der Bauch und
wann der Druide hat geweiſſagt aus dem Zucken
ſeiner Glieder oder Eingeweide, ſoll er verbrannt
werden vor dem Bilde Grippo's.


48. Was wird aus ihm werden nach ſeinem Tode?


Er wird verdammt ſein in Ewigkeit, ſich zu wälzen
im Pfuhle des Schlammes und der Flammen, darin
[211] hauſet der böſe Grippo, der Wurm der Hölle, und
ſoll ihm dennoch das Feuer nicht ausglühen den
ewigen Pfnüſſel, damit er iſt behaftet und geſtrafet.


49. Was aber wird werden aus den Gläubigen
und Frommen nach ihrem Tode?


Sie werden wohnen in Ewigkeit im blauen Gezelte
Selinur's und tanzen und ſingen mit ihren Feen.


Es ſei uns erlaſſen, den Fragen und Antworten
weiter zu folgen; die fernere Reihe derſelben beſchäftigt
ſich mit den Einzelheiten des Gottesdienſtes, deren
intereſſanterer Theil durch unſere Erzählung dem Leſer
vor Augen geführt wird. Es waren ſiebenzig Kinder
und ebenſoviele Fragen. Den Schluß machte ein
Gebet, das der Druide vorſprach und die Kinder
nachſprachen. Hierauf tritt der Druide an den Dol¬
men und ſpricht: „Ihr ſollt nun, geliebte Kinder, das
Zeichen empfangen, daß ihr jetzo gewürdigt ſeid, ein¬
zutreten in die Heilsordnung der großen Mutter Seli¬
nur, reif und mündig, zu wandeln durch die Pforten,
die ſie geſetzet hat und die da führen zur Läuterung
des Leibes und der Seele.“ Die Kinder, ihm folgend,
ſtellen ſich am Dolmen auf. Jetzt nimmt Urhixidur feier¬
lich den Deckel von ihrem Topf und reicht dem Prieſter
ein viereckiges Stück feinen Linnens, blau mit weißen
Tupfen; in der einen Ecke iſt mit gelbem Zwirn das
Halbmondzeichen der Selinur eingeſtickt: eine mühſame
[212] Arbeit der Alten, unter Mithülfe einiger geſchickter
Mütter vollzogen. Der Prieſter reicht die Gabe dem
erſten Kinde und ſo geht die Handlung der Reihe nach
fort, bis das letzte beſchenkt iſt. Angus zog, als die
Vertheilung zu Ende war, ſein eigenes, ebenfalls blaues
und weißgetupftes Tuch und gebrauchte es kräftig und
feierlich. Die Kinder folgten ihm auch in dieſem
Akte, doch die Mädchen faſt nur ſcheinbar. Der
ſymboliſche Akt dieſer erſten Verwendung war eigent¬
lich feſtſtehendes Herkommen, bei den Mädchen hielt
man aber nicht eben ſtrenge darauf und ſah es gerne,
wenn ſie das Angebinde nur vergnügt anſahen, kaum
zum Näschen führten und dann einſchoben. Das
Weib war, wir dürfen es nicht verſchweigen, von den
Pfahlbewohnern nicht eben hoch geachtet; daß es von
der Entzündung der Schleimhäute, welche der Glaube
dieſes Volks in ſo ſonderbare Verbindung mit der
Religion brachte, ſeltener befallen wird und daß ſie
bei ihm viel leichter zu verlaufen pflegt, darin ſah
man eine gewiſſe Oberflächlichkeit, um deren willen
man ſich berechtigt glaubte, es als ein niedrigeres
Weſen zu betrachten. Nicht daß es unter dieſem
verwerflichen Fehlſchluße viel gelitten hätte; heim¬
lich im Innern der rauhen Männerbruſt fällte das
Gefühl ein zarteres Urtheil, als im Kopfe der dog¬
matiſch beengte und erſtarrte Verſtand: ſelbſt der
Pfahlbürger ſah es denn doch natürlich nicht ungern,
[213] daß das ſchöne Geſchlecht bei Verkältungen von der
Natur milder und ſchonender behandelt wird als der
Mann, ſelbſt er fühlte, daß er für die Gründlichkeit,
womit die Natur im ſtarken Geſchlechte dieſen Prozeß
durchzuführen pflegt, denn doch auch ſehr der Lang¬
muth und Nachſicht jener bedurfte, die ſie ihrerſeits
darin nicht ebenſo bedürfen. Und ſo verweilten denn
nicht nur die Mütter, ſondern auch die Väter mit
wohlgefälligen Blicken auf den anmuthigen Mädchen,
wie ſie der ſäuberlichen Gabe ſich nur als einer Art
von neuem Garderobeſtück erfreuten.


Jedes beſchenkte Kind war, die vorige Ordnung ein¬
haltend, auf ſeine alte Stelle zurückgetreten, der Halb¬
kreis war wieder gebildet, der Druide trat wieder vor
und redete die Kinder an: „Und jetzo empfanget mit
Andacht an eurem Leibe das heilige Zeichen der Weihe!“


Die Kinder wurden unruhig, mehreren ſah man
Spannung und Angſt an, ſie wurden dafür von den
andern geneckt, die Miene des geſtrengen Prieſters
ſelbſt zeigte eine gewiſſe Erheiterung, es zuckte in ſeinen
Mundwinkeln, durch die Gemeinde, namentlich durch
die Schaar der Dirnen, zog ein anwachſendes Kichern.
Der erſte Knabe ſchritt ſtolz entſchloſſen zum andern
Ende des Dolmen, wo der bärtige Alte ſtand, und
bot ihm den entblößten Arm. Der Greis hatte bereits
eines ſeiner ſpitzen Beinſtäbchen in den Napf getaucht,
die Spitze erſchien nun blau, er faßte den Arm des
[214] Knaben, ritzte ihm die Haut und verweilte einige
Sekunden drehend in der Wunde, der Junge bieß die
Zähne übereinander und verharrte lautlos. Nicht alle
Kinder hielten ſo feſt, wie ſie nun nacheinander dran
kamen, unter den Mädchen waren kaum ein paar, die
nicht aufquickten und weinten, worauf jedesmal ein
helles Lachen durch das junge Volk in der Gemeinde
lief. Auch dieſe Handlung war endlich zum Schluſſe
gelangt, das Halbmondzeichen war auf dem letzten
Mädchenarm — noch nicht fertig, aber angelegt. Es
wäre nicht ſo heiter, nicht mit ſo wenig Schmerzen
abgegangen, wenn das Ritzgeſchäft mit dieſem Einen
Mal ganz durchgeführt worden wäre. Die Kinder
mußten in den folgenden Wochen noch mehrmals daran,
dann that es weher, denn für jetzt wurden nur die
Endpunkte des Bildes eingegraben, ſpäter erſt ward
das Blau, der Saft aus der Pflanze Waid, mit
ätzender Flüſſigkeit gemiſcht und ſo in die friſche Wunde
eingeführt, um ſich inniger mit der Haut zu verbinden,
und dann erſt zugleich das ganze Bild fertig punktirt,
um nachher auch an dieſem neuen Theil die Wieder¬
holung vorzunehmen. Doch die Opfer dieſer harten
chirurgiſchen Einwirkung ſtanden ja in dem glücklichen
Alter, wo man nicht an die Zukunft denkt, jetzt hatten
ſie nur noch ein kurzes heiliges Lied zu ſingen, dann
wartete ihrer zu Hauſe ein wohlbeſetzter Tiſch, und
vergnügt ſuchte nun jedes ſeine Eltern auf, als nach
[215] Vollendung der Ceremonien Alles nach dem Dorfe
zurückgieng.


Arthur hatte dem zweiten Theile der Handlung keine
Aufmerkſamkeit zugewendet, dem erſten aber von An¬
fang an mit gehaltenem Ernſte, zugleich mit einem Aus¬
druck von Trauer zugeſehen und bei den Fragen und
Antworten finſter den Kopf geſchüttelt. Wir haben
längſt geſagt, daß er das Alles kennt; er kennt es
und doch iſt es ihm bei dieſem Anblick wieder neu
geworden und drückt ihm ſichtbar die Seele nieder.
Zu ſpotten über Dinge, die Andern heilig ſcheinen,
war nicht ſeine Art. Einen gewiſſen Blick, den ihm
der Druide zuſandte an jenen Stellen der Fragen, wo
von ſchweren Fällen, verſtockten Leugnern und Menſchen¬
opfer die Rede war, hatte er in ſeiner Unbefangenheit
gar nicht bemerkt. Nun aber kam ein Moment, wo
er ſich des Lächelns nicht ganz erwehren konnte. Als
die ſingenden Kinder gleichzeitig und anhaltend alle
den Mund weit öffneten, fiel ihm auf, daß er in
lauter blauſchwarze Höhlen ſah. Es war die Heidel¬
beerenzeit, die Kinder ſämmtlich hatten ſich's Vormit¬
tags im Walde ſchmecken laſſen, und Nachmittags die
Eltern wohl daran gedacht, ſie hübſch herauszuputzen,
aber nicht daran, daß ſich die Kleinen den Mund aus¬
ſpülen ſollten. Das Kosmetiſche war eben in dieſer
Richtung ſehr wenig ausgebildet. Die Erſcheinung
fiel auch keinem Menſchen außer Arthur auf: um ſo
[216] mehr wurde ſein Lächeln von den Vielen mißdeutet,
die es bemerkten. Das hätte man vielleicht vergeſſen,
als aber die Gemeinde mit den Kindern heimzog, ent¬
fiel ihm ein ſehr unbedachtes Wort; die Bruſt war
ihm zu voll, er konnte nicht ſchweigen. Gwalchmai
gieng gerade neben ihm, den er als einen der aufge¬
weckteren Köpfe des Pfahldorfs ſchon kannte. „Arme
Kinder!“ ſagte er zu ihm, „ich denke, die Heidelbeeren
werden ihnen geſünder ſein, als der Blödſinn! Wie
iſt es nur möglich, daß er noch beſteht! Kann man
damit noch ein Volk erziehen? Iſt dieß ein Stab und
Schild für den Eintritt in die Welt? Und es wär'
ſo ein ſchöner Brauch, einen ſtarken Einſchnitt in die
junge Seele zu machen an dieſem Wendepunkt!
Was hätt' ich drum gegeben, hätt' mir Einer zu der
Zeit eindringlich, aber einfach geſagt, wo das wahre
Glück zu ſuchen iſt! Und der unbekannte Gott, nun,
was den betrifft —“ Er brach ab, er wußte wohl
nicht weiter. Er gieng vorwärts, ohne eine Antwort
abzuwarten, ſtill vor ſich niederblickend wie ein Mann,
in welchem Gedanken gähren und langſam reifen.
Wer außer Gwalchmai ſeine Worte noch vernommen,
hatte er nicht bemerkt. Es war Alpin, zugleich
aber noch ein Anderer, von dem wir hören werden.


Jetzt kam mit einem Trupp Kamerädinnen Sigune
vorüber, ohne Alpin gewahr zu werden; ſie holten
Arthur ein, Sigune nahm ihn an der Hand und
[217] ſagte: „Komm' jetzt zu uns, Vetter, wirſt einen langen
Magen haben, laß dir gefallen, was unſer Tiſch bietet.“
Alpin's guter Wille war geweſen, abzuzwingen, was
in ihm ſtach, bohrte, brannte, trotz alledem wieder in
Odgal's Haus einzutreten und mit breiter Bruſt ſich
vor Sigunen zu ſtellen auf Gefahr, daß er den tief
Gehaßten dort träffe. Jetzt gab er es auf und rannte
weg, hinaus und dahin, wo er am frühen Morgen
ſchon Troſt geſucht: in die Berge, in die Wälder,
um ihnen auf's Neue ſein Leid zu klagen. Er war
da zu fern, um einen Auftritt mitanzuſehen, der die
Gemeinde Abends noch einmal aus ihren Wohnungen,
von ihren feſtlich beſetzten Tiſchen in's Freie trieb.


Ein Verwundeter war im Walde gefunden worden,
ohnmächtig, man trug ihn herein; als er zu ſich kam
und die Sprache wieder fand, berichtete er in abge¬
riſſenen Lauten, ein Wiſent habe ihn beim Holzſchlagen
überraſcht, angegriffen, mit einem Stoß in die Seite
niedergeworfen, und nur dem Umſtand, daß ein zweites
Wild derſelben furchtbaren Gattung herbeigekommen
und alsbald ein Kampf zwiſchen beiden Stieren ſich
entſponnen habe, verdanke er ſeine Rettung; er wäre
ſicher in die Luft geſchleudert und dann zerſtampft
worden; er ſei dann fortgekrochen, ſo weit er konnte,
bis ihn das Bewußtſein verlaſſen habe. Er hatte
eine breite Wunde unter der linken Bruſt, das Blut
floß noch immer. Man brachte ihn zum Druiden.
[218] Als wir die Aemter dieſes Mannes aufzählten, erſchien
es nicht nothwendig, auch die Funktion des Arztes
mitzunennen. In größeren Gemeinden war allerdings
ein beſonderer Arzt, ein Barde, ein Naturkundiger
und Mediziner vom Fach. Für kleinere Gemeinden,
wie die unſrige, verſah der Druide dieſe Stelle;
es wurden in Turik von den Barden beſondere Vor¬
leſungen für künftige Druiden gehalten, die ihnen das
Nöthigſte aus der Medizin und Chirurgie zu eigen
machten. Der Leſer iſt bereits gewarnt worden, ſich
den Stand dieſer Wiſſenſchaften in jener Zeit nicht
als einen allzu rationellen zu denken. Immerhin
waren neuerdings bedeutende Fortſchritte gemacht wor¬
den; die Studienzeit unſeres ſechzigjährigen Druiden
war aber vor dieſelben gefallen. Er hatte zudem, die
Wahrheit zu geſtehen, die paſtoral-mediziniſchen und
chirurgiſchen Vorleſungen etwas unregelmäßig beſucht,
indem er dachte, er könne ſeine Zeit beſſer anwenden
mit Erwerbung von Kenntniſſen ſolcher Heilungsmiltel,
von denen kräftigere Wirkung zu hoffen ſei. Wie dieſe
Mittel beſchaffen waren und wen er hierin zu getreuer
Beihülfe herangezogen, das werden wir nun erſehen.


Alpin kam ſpät Abends nach Hauſe. Als er
Ruhe ſuchen wollte — mit wenig Hoffnung, ſie zu
finden —, hörte er in geringer Entfernung einen Ein¬
baum löſen, ſtand auf, ſah hinaus und erkannte Arthur
aufwärts rudernd im See. Jetzt hörte er auch eine
[219] weibliche Stimme fernher vom Saume des Gewäſſers,
wo der helle Mond in den Nebel über dem Röhricht
ſchien. Augenblicklich löſte er den eigenen Kahn, der
angebunden unter dem Hauſe lag, fuhr ſchnell und leiſe
am Geſtrüppe des Ufers hin und hielt im dichteren,
höheren Schilfe, als er ſo nahe war, daß er deut¬
licher ſehen und hören konnte. In kurzen Kreiſen ſah
er langſam einen Kahn ſich drehen, darin eine dunkle
weibliche Geſtalt. Sie ſang oder ſchleppte vielmehr
durch wenige Töne dumpf, einförmig, hohl, einen
uralten Zauberſegen:


„Unſer Herr Grippo fuhr über Land,

Im Brande ein Brand.

Brand, du ſollſt nicht hitzen,

Brand, du ſollſt nicht ſchwitzen,

Brand, du ſollſt nicht ſchwären,

Noch über dich begehren,

Bis der Weltenmutter die Spindel bricht,

Bis erliſcht des ewigen Mondes Licht.“

Nach je zwei Zeilen wurde kurz pauſirt und Alpin
glaubte zu ſehen, daß die weibliche Geſtalt über einem
undeutlichen Gegenſtand, der ausgeſtreckt im Kahne lag,
mit der Rechten, worin ſie etwas hielt, das ſich im
Helldunkel nicht erkennen ließ, ſeltſame Handbewegun¬
gen machte, ſenk- und wagrechte und kreisförmige
Linien in der Luft zog. Was es für ein Körper
war, der ſich im Einbaum befand und dem dieſe Ge¬
[220] bärden galten, darüber konnte er nicht im Unklaren
bleiben, als er in dieſen Pauſen ein ſchwaches Aechzen
vernahm. Er ſah Arthur jetzt ganz nahe fahren,
Kahn an Kahn drängen, ſich hinüberbücken, die ſich
Widerſetzende gewaltſam beiſeite drücken, etwas Dunkles
in die Höhe richten. „Soll das ein Verband ſein?“
hörte er ihn rufen. „Zauber thut mehr denn Ver¬
band.“ — „Gieb ihn her, du mordeſt ihn.“ — „Hin¬
weg, Gottloſer!“ — „Du mußt!“ Er iſt in den andern
Kahn hinübergeſprungen, ſie packt ihn an und rauft
mit ihm, ein ſchnellender Ruck und das hexenhafte Weib
iſt beiſeite geſchleudert, fällt in's Waſſer, Arthur hebt
mit der Sicherheit gewandter Kraft den Verwundeten in
ſeinen Kahn und fährt mit pfeilſchnellen Ruderzügen
hinweg. Alpin ließ unthätig Alles geſchehen, ſah zu,
wie von Geiſtern gebannt und gefeſſelt. Jetzt rückt
er hervor aus dem Röhricht. „Hix, Hix!“ ruft er,
„ich komme.“ — „Biſt du's, Alpin! Hilf! Hilf!“
Der Alten iſt es nach einigem Umplätſchern gelungen,
den Rand ihres Kahnes zu erfaſſen, er hilft der
Zappelnden hinein, läßt die Durchnäßte auf das Fell
nieder, auf welchem vorher der Verwundete gelegen,
und zuckt das Ruder, ſie fortzubringen. „Halt, halt!
mein heiliger Miſtelzweig, in heiliger Herbſtmondnacht
geſchnitten mit der heiligen Sichel, dort ſchwimmt er,“
ächzte die Alte. Alpin gab dem Kahn ein paar
Stöße, fiſchte ihn heraus und ruderte weiter, dem
[221] Pfarrhauſe zu. Er trat in etwas Hartes und Scharfes,
das ihm in die große Zehe ſchnitt, griff hinab und
zog eine Scherbe herauf. Urhixidur ſtieß einen Schrei
der Verzweiflung aus: „Coridwen! Coridwen! mein
Zauberhafen hin! O hin, hin!“ Sie wälzte ſich vor
Jammer im Boot und weinte lautauf, daß es fern¬
hin hallte. Alpin erinnerte ſich jetzt, daß er bei dem
Kampfe zwiſchen Arthur und dem unheimlichen Weib
ein gellendes Schüttern gehört hatte, wie wenn ein
irdener Körper zerbricht. Sie hatte geglaubt, den
Schwingungen des Miſtelzweigs mehr Zauberkraft zu
verleihen, wenn ſie ihn in dem geheimnißvollen Ge¬
fäße mitnahm, und unvorſichtig genug das Heiligthum
einer Waſſerfahrt anvertraut. Endlich ſchwieg ſie er¬
ſchöpft vom Stöhnen und lag ſtumm, auf einen Arm
geſtützt, im Kahne. Auf einmal fuhr ſie mit einer
zuckenden Bewegung in ihre Rocktaſche und ein neuer
Aufſchrei folgte dieſer Bewegung: „Auch das, auch
das! Mein Wirtel auch dahin! Heilige Erbſtücke! O,
Urururahnmutter Coridwen, du, die aus der Welten¬
ſpinnerin eigener Hand die göttlichen Gaben empfangen,
ſchau' nieder aus den Wolken und hilf rächen, ſtrafen!“
Endlich verſtummte auch dieſe Klage und man legte
an dem Stiegchen an, das in das Haus des Druiden
hinaufführte. Dieſer lag ſchon in ſo feſtem Schlafe,
daß das Geräuſch ihn nicht weckte, das überdieß von
ſeinem gewaltigen Schnarchen übertönt wurde. Er
[222] hatte ja ſein Amt als Heilkünſtler mit ſo voller Ueber¬
zeugung an Urhixidur abgegeben, ihr den Verwundeten
mit ſo vollem Vertrauen überantwortet, daß er ſich,
als ſie mit ihm abfuhr, mit ganzer Seelenruhe zum
Schlummer niederlegen konnte, und der pflegte bei ihm
tief und geſund zu ſein. — „Es gibt ein kaltes Bad,
aber auch ein heißes,“ murmelte die Alte, als ſie
ausſtieg. „Ein gefährlicher Ketzer,“ ſagte Alpin, „er
hat auch über unſere Religion geſpottet,“ mit dieſen
Worten löste er den Wiedring, an dem er ſeinen
eigenen Kahn nachgezogen hatte, und fuhr heim.


Er mußte wiſſen, was er that, als er in ſo ge¬
häuften Brennſtoff die Brandfackel dieſer Angeberworte
warf, es war ihm gar wohl bekannt, was die Baſe
bei dem Druiden galt, und er war nicht ſo blind,
das verborgene ſehr Gefährliche in dieſem Manne nicht
wenigſtens dunkel zu ahnen. Aber er kam ſich ganz
zufrieden mit ſich vor, ſein Gemüth ſchien ihm ruhig
wie der See, deſſen Spiegel kein Lüftchen bewegte.
Es war nur in dem Einbaum ſo eine ſonderbare Un¬
ruhe, er wollte in keine regelmäßige Gangart kommen,
er ſchwankte, und das Vordertheil fuhr manchmal ſo
eigenthümlich wie ein Ausruf in die Höhe. Das
Waſſer gluxte am Holze wie ſonſt eben auch, aber es
klang heute ſo ſeltſam; einmal meinte der Ruderer
gar flüſtern zu hören: „Alpin, das war nicht recht!“
Dann kamen dumpfe Töne, die murmelten etwas wie:
[223] krumm, oder: Lump! dann ſpitze, die thaten wie:
Wicht! Wicht!


Er dachte: dummes Zeug! und legte ſich ſchlafen;
er ſagte ſich, er habe nun endlich doch einen ruhigen
Schlaf verdient. Kaum lag er auf dem Ohre, ſo fiel
ihm ſiedend heiß ein: jetzt pflegt Arthur den Ver¬
wundeten ſicherlich mit Hülfe Sigunens. Er warf
ſich auf das andere Ohr, da fragte plötzlich etwas in
ihm: Alpin, was hätteſt du thun ſollen? Entweder
glaubſt du, die Hexe könne mit Zauberſpruch und
Miſtel beſſer heilen, dann durfteſt du ihr den Ver¬
wundeten nicht abjagen laſſen; oder Arthur mit den
Mitteln, die er anwenden wird, dann mußteſt du ihm
beiſtehen. Ueber das Entweder-Oder in den beiden
Vorderſätzen hatte er nun freilich noch niemals nach¬
gedacht und er konnte ſich betröſten: wenn man zweifelt,
wenn man nicht weiß, was thun von Zweien, ſo thut
man am beſten nichts. Dennoch wollte der Troſt
nicht vorhalten und — auf einmal ſprang er auf, und
— etwas haſt du ja doch gethan: Pfui! Pfui! und
noch einmal Pfui! Er rief es laut, ſo laut, daß der
Rinderknecht im Nebenraum aus ſeinem tiefen Schlaf
emporfuhr und rief: „was gibt's?“ Doch legte ſich der
wieder zurück und ſchlief alsbald weiter, auch Alpin
ſtreckte ſich wieder hin, verhielt ſich ſtill und blieb ſo
liegen auf ſeinem Bärenfell, das nur jetzt kein Fell
mehr war, ſondern ein Ameiſenhaufen.


[224]

Mit dem erſten Morgendämmern gieng er aus dem
Hauſe. „Auch ſo früh ſchon auf?“ grüßte er den
Bittel, dem er begegnete. — „Das trifft ſich gut,
Alpin, ich ſoll dich zum Druiden beſtellen.“ Er ſagte
das nicht im Befehlton, ſondern freundlich und mit
einem gewiſſen Zwinkern der Augen. — „Später,
ſpäter, hab' augenblicks nicht Zeit, der Schafhirt hat
ein paar huſtenkranke Hämmel, muß nach dem Vieh
ſehen.“ Die Ausrede war nicht ſo grob, als ſie es heut¬
zutage wäre, doch immerhin auffällig und der Bittel
blieb verdutzt ſtehen. Alpin begab ſich in ſeinen Heerde¬
ſtadel; es ſchien ihm, ſein Vieh begrüße ihn nicht ſo
herzlich wie ſonſt, und ſeine Lieblingskuh, die Liſi, bog
gar den Kopf zur Seite, als er zu ihr trat; er gab ihr
einen Fauſtſchlag und rief: „Willſt auch du mich ver¬
achten?“ Das Thier, ſo rohe Behandlung nicht gewohnt,
ſah ihn mit den großen Augen traurig vorwurfsvoll
an, als fragte es: wohin iſt's mit dir gekommen?


Er trat heraus, bleich, unſchlüſſig, gieng wieder
hinein, ſtreichelte die Kuh, dann fuhr er ſchnell wieder
aus der Thüre. Es muß etwas geſchehen! es muß
durchgebrochen werden! rief es in ihm, dunkel, aber
ſtark. Mit ſtraffen Schritten gieng er nach Odgal's
Haus; er wußte, daß Sigune früh aufſtand. Da ſitzt
ſie auch, das Herdfeuer iſt ſchon angezündet, aber ſie
macht ſich nichts dabei zu thun; ſie hält ein Ding in
der Hand, auf das ihre Augen mit großer Spannung
[225] gerichtet ſind, während alle Mienen von einem
Gefühle lebhaften Wohlgefallens zeugen. „Darf man
herein?“ fragt Alpin durch's Fenſter. — „Ja, komm'
nur; ſieht man dich einmal wieder? Du ſiehſt bleich.“
Sie gab ihm die Hand. „Heut' Nacht hätteſt dabei
ſein ſollen drüben im Freihof —“


Wir müſſen ſie hier einen Augenblick unterbrechen,
um dem Leſer ein Wort vom Freihof zu ſagen. Wir
befinden uns natürlich in Zeiten allgemeiner Gaſtfreund¬
ſchaft, aber auf Pfahldörfern iſt eben kein Ueberfluß an
Raum und wenige Familien ſind in der Lage, zu
beherbergen. Die wohlhabenderen Gemeinden beſitzen
daher ein Haus zur Aufnahme von Fremden, die eine
andere Unterkunft nicht finden können oder nicht wün¬
ſchen. An Ausſtattung, Bedienung iſt begreiflich nicht
zu denken, einige Pelze zum Lager ſind Alles, für das
Uebrige muß ein Gaſtfreund ſorgen. Hotel können
wir das alſo nicht wohl nennen; damals ſagte man
Freihof. In dieſen ſeinen Wohnraum hat Arthur den
Unglücklichen gebracht, dem im eigenen Hauſe die
richtige Pflege gefehlt hätte.


Alſo — „drüben im Freihof,“ ſagt Sigune.
„Wir haben,“ fährt ſie fort, „den Wunden gepflegt,
Arthur und ich; ſollteſt ſehen, wie der verbinden kann,
und ein Glück, er hat auf ſeiner Reiſe, die ihm ſelbſt
Anfall und Wunden bringen konnte, gute, kühlende
Salben mitgebracht, aus der Pflanze Selago und Verbena,
Viſcher, Auch Einer. I. 15[226] und hat ſie aufgelegt; der Kranke liegt jetzt in erquicken¬
dem Schlaf auf Fellen und weicher Streu.“ — „Gut,
ganz recht,“ ſagte Alpin, einen Stich verarbeitend, der
ihm durch die Seele gieng. „Was haſt denn aber da?“
Sie hatte den Gegenſtand beiſeite gelegt. „Da ſchau'
her,“ rief ſie jetzt, „was Neues, Wunderbares! Vetter
Arthur hat uns zu den ſchönen Sachen geſtern Abend
noch das gebracht, nun guck'! Nachher will ich den
neuen Schmuck anziehen und mich ſo da drin ſehen.“
Es war eine ovale Scheibe von Erz mit zierlichem
Griff; Sigune drückte ſie ihm in die Hand. „Was
ſoll's?“ — „Nun, ſieh' doch ſtät auf die Fläche.“ Alpin
ſchaute und ſchaute, er ſah ſich ſelbſt. Verglieche man
dieß Bild mit dem, das unſere jetzigen Spiegel uns
zeigen, ſo müßte es freilich nur als ein verſchwomme¬
nes erſcheinen; das wäre aber ſehr unrichtig, wir haben
das Bild im Erzſpiegel mit dem ungleich verſchwom¬
menern auf dem Waſſerſpiegel zu vergleichen, dem
einzigen, das unſerem Alpin bekannt iſt, und ſo kommt
es ihm deutlich in einem Maße vor, das alle ſeine
Begriffe überſteigt. Er läßt den Spiegel fallen,
geiſterhaft wird ihm zu Muthe. Er ſteht ſo und ſtarrt
vor ſich hin, hinaus in's Leere, wie in eine tiefe
Finſterniß. Allmälig taucht ein ſchwaches Licht in
dieſer Finſterniß auf: „Alſo — alſo ſo — von nun
an wird der Menſch ſich ſelbſt ſehen — zweimal da¬
ſein — und dann — wenn er von dem Bild weg¬
[227] geht, wird es doch in ihm bleiben — und er wird
inwendig ſich ſelbſt ſehen — wird nicht mehr einfach,
nicht mehr ein Einfacher ſein — wird ſich zugleich
immer auch inwendig fragen, wie er wohl anderen
Menſchen vorkomme — und dann — wenn er etwas
denkt oder ſagt oder thut, wird man nicht mehr wiſſen,
ob er's nicht denkt oder ſagt oder thut, weil er ſich
vorſtellt, wie er dabei ausſehe, ſich ausnehme —“


Er ſtockte — wie hätte der Pfahlhirte für das,
was ihm in dunkler Ahnung aufdämmerte, die Begriffe
finden können und die Worte für die Begriffe! Wir
Jetzigen freilich könnten ihm gut nachhelfen, wir,
denen ſo leicht erſichtlich iſt, daß mit der Erfindung
und Vervollkommnung des Spiegels eine gründliche
Veränderung in das Seelenleben, in alle Zuſtände der
Menſchheit getreten iſt. Verſchärfung des Selbſtbe¬
wußtſeins, aber auch eitle Selbſtbeſpieglung und eitle
Beſpieglung in Anderen: wie ſollte der arme Alpin
dieſe Bezeichnungen aufbringen und wie all' das Unab¬
ſehliche ermeſſen, das ſich aus einer ſolchen Wendung im
Bewußtſeinsſtande des Menſchen ergeben, entwickeln
mußte! Ihm wurde ſchwindlig vor dem Bilde der
künftigen Jahrhunderte, das ihm dunkel vorſchwebte
und das er nicht erfaſſen konnte. Er fand noch das
Wort: ſchillern — ihm ſcheine, da ſchillere Alles.
Weiter reichte es nicht. Und nun bedenke man noch
dazu, daß er nicht in der Lage war, mit freiem Ge¬
[228] müthe über dieß Räthſel zu forſchen, denn ach! der
Spiegel gehörte Sigunen, war ein Geſchenk Arthur's!
Ob ſie ihm gefalle, wird ſie den Spiegel fragen, und
dann wohl auch, wie Dem und Jenem und einem
Dritten — und wie wird ſie dann werden? Nun, den
Namen Kokette lieferte ihm wahrhaftig ſein Sprach¬
vorrath eben auch nicht, aber die Sache flimmerte ihm
vor dem innern Blick. Wir werden alſo billig ſein:
es kommt Vieles zuſammen, was jetzt in dieſem Herzen
umwühlt. Grauen überrieſelte ihn, dann kochte ein
Grimm, eine Wuth auf. Mit wilden Blicken fuhr
er in die Höhe, hinaus zur Thüre und ſchleuderte
den Spiegel in's Waſſer. Wie er ſich umkehrt, ſteht
Arthur vor ihm. Er packt ihn an der Kehle und
ruft: „Giftſchenk!“ Arthur legt die Hand an ſein
Schwert und zuckt es halb aus der Scheide. Alpin
fällt ihm in den Arm: „Nicht ſo! nicht hier!“ Sigune
war herbeigeſtürzt, flehte Arthur, hieng an Alpin's
Knieen: „Laßt, laßt!“ Die beiden Feinde vereinigten
ſich, ſie zu beruhigen, ihr die Vorſtellung beizubringen,
als könnte vielleicht mit Worten ausgeglichen werden,
führten ſie mit freundlicher halber Gewalt in ihre vier
Wände zurück, eilten hinweg und mit wenigen Sylben
war verabredet, was in ſchweigendem Einverſtändniß
ſchon innerlich beſchloſſen war. „Steinaxt und Hirſch¬
horndolch gegen Erzſchwert und Erzdolch, ſoll's gelten?“
— „Gut,“ ſagte Arthur, „es ſoll.“ — „Draußen im
[229] Fichtenwald, wo die kleine Lichtung iſt, dreihundert
Schritte in gerader Richtung hinter dem Dolmen- und
Eichenhain! Ich hab' erſt noch einen Gang zu thun,
in einer Stunde bin ich da!“ — „Du triffſt mich.“


Alpin war es ſo leicht und frei zu Muth, als
wären ihm Centnergewichte von der Bruſt gefallen.
Er that einen Jauchzer, als er zu Hauſe ſeine Steinaxt
genau unterſuchte, ob der Stiel auch feſt genug ſitze,
und unter zwei Dolchen den ſtärkeren und ſchärferen
wählte. Aber ein leiſer Seufzer folgte dem Jubel¬
ruf. Sigune! — doch das war nicht das Schwerſte;
Zorn, Grimm war zwar verflogen und die Seele hatte
zum Sorgen und Bangen um ſie wohl wieder Raum,
aber das mußte jetzt zurückſtehen, denn jetzt galt es
nur Eines: Mann gegen Mann; ſie iſt Weib, Schick¬
ſal iſt Schickſal, ſie ſoll's tragen, wie es fallen mag.
Aber, aber! da hieng noch ein böſes Gewicht; wie es
abſchneiden? Da ſaß noch ein böſer Flecken; was auf
der weiten Welt thun, ihn abzuwaſchen? Er war ja
zum Druiden gerufen, nicht eigentlich befohlen, er
konnte wegbleiben, aber das wäre feig, ſagte er ſich;
heut' wollte er gut machen als gerader Mann,
was er geſtern Nacht ſchlecht gemacht als krummer
Angeber, aber der Vorſatz, der Entſchluß zur That,
zum Zweikampf, genügte ja nicht und die gethane
That doch auch nicht, der Flecken der Verdächtigung
ſtand für ſich da, kohlrabenſchwarz, er wollte für ſich
[230] behandelt, ausgelöſcht ſein, er blieb ſonſt hängen, klebte
ſeinem Gewiſſen an, wenn er lebte, ſeinem Namen,
wenn er fiel. Was thun, was thun? — Halt! —
ihm kam Licht — die Wahrheit! Die Wahrheit: ſonſt
gibt's hier nichts!


Er gieng zum Druiden, ausgerüſtet, wie er war,
mit ſeinen Waffen. Vor der Thüre hörte er drinnen
einzelne Huſtlaute von verſchiedenen Stimmen. Er
trat ein. Urhixidur war — gottlob! rief es in ihm
— nicht da, ſie lag in der Hinterſtube tief in einen
Berg von Wolfsfellen verſteckt, da ſie, für ihre eigene
Perſon doch mehr auf natürliche Mittel als auf Magie
vertrauend, eine Schwitzkur auf das nächtliche kalte
Bad für gut befunden hatte. Dagegen ſtanden zu
den Seiten des Druiden fünf ältere Männer; ſie ge¬
hörten zu dem Schlage der „alten Huſter“. Der
Druide hatte ein Geſicht, ſo hart und geſpannt, als
wäre es gefroren, man ſah auf den erſten Blick: das
war ein Verhörgeſicht! Der Schluß: ein Zeugenver¬
hör, und die Huſter haben ſchon deponirt, ergab ſich
von ſelbſt. „Es liegen,“ begann Angus, „gegen den
Fremdling Arthur mehrere ſehr beſchwerende Inzichten
vor als gegen einen Religionsſpötter, gegen einen
Götterleugner; von dir, Alpin, iſt mir zu Ohren
gekommen, du müſſeſt als Zeuge gegenwärtig geweſen
ſein, als er das eine oder andere giftböſe Hohnwort
über unſern heiligen Glauben und ehrwürdige gottes¬
[231] dienſtliche Handlung fallen ließ; dieß wird beſtätiget
durch die Bemerkung, die du in dieſer Nacht gegen
Urhixidur gemacht haſt, als ſie von dem Uebelthäter
ruchlos geſtöret worden in dem Heilwerke, das ſie in
meinem Auftrag vornahm, als der Frevler ſich ſogar
erfrecht hatte, dieſe achtbare Perſon in's Waſſer zu
werfen, als dabei der heilige Coridwentopf zerbrach,
als er ihr den wunden Pflegling raubte und als dich
die Gottheit zu ihrem Retter auserſehen; ſag' an,
ſprich, was weißt du? Zuerſt wiederhole mir die
Worte, die du zu meiner Hausmeiſterin geſprochen.“


„Hochwürdiger Vater!“ ſagte Alpin, „erlaube mir,
zu ſchweigen. Mich drückt mein Gewiſſen, denn ich
habe aus Haß geſprochen, was ich zu Urhixidur über
den Mann geſagt; ich haſſe ihn aber nicht, weil ich
nachgedacht hätte über die göttlichen Dinge und mir
zutraute, das zu verſtehen, und überzeugt wäre, daß
er darin ein Frevler iſt, ſondern ich haſſe ihn, weil
ich ihn haſſe, und nicht der Strafe Anderer will ich
ihn übergeben, ſondern ich ſelbſt will ihn ſtrafen, will
es verſuchen, ob mir Grippo, der Herr und Gott des
Krieges, vergönnt, ihn zu bezwingen und zu vertilgen.“


„Warum haſſeſt du ihn? Ich will es wiſſen!“


Alpin ſtockte. Doch da in einer Gemeinde, die
ſo eng zuſammenwohnt, eine Bewerbung um die Liebe
eines Mädchens, die ſo beharrlich war wie die ſeinige,
ohnedieß kein Geheimniß geblieben ſein konnte, ſo ver¬
[232] mochte er es, ſein inneres Widerſtreben zu bezwingen,
und ſagte: „Weil er eine Tochter unſeres Volks hinweg¬
führen will zu dem ſeinigen, wo Alles fremd und an¬
ders iſt und —“


Die Sprache lieh ihm auch hier kein Wort, der
Satz blieb unvollendet. Auch ſeine Zuhörer hätten
ihn nicht zu ergänzen vermocht mit Worten; woher
ſollten er und ſie Bezeichnungen ſchöpfen wie: Ueber¬
bildung, von der Natur abweichende Kultur, Raffinirt¬
heit, Frivolität und dergleichen? aber ſehr leicht und
gern ergänzten ſie ihn mit erahnenden Vorſtellungen,
mit helldunklen Schlüſſen, die, von der Prämiſſe:
Erzwaffen ausgehend, durch eine Kette von unbeſtimmt
vorſchwebenden Mittelgliedern raſch bei der Folgerung:
Gottloſigkeit anlangten. So war denn Alpin's Wort
ganz Waſſer auf ihre Mühle, ja mehr Waſſer, als er
eigentlich wollte, da gerade dieß ein Punkt war, den
er ſeinerſeits, obwohl geſtern noch Angeber, lieber
dahingeſtellt ſein ließ; wir werden ihn in dieſer letzteren
Richtung noch näher kennen lernen.


„Was haſt du eigentlich vor?“


„Zweikampf; der Fremdling iſt einverſtanden.“


Die umſtehenden Zeugen riefen: „Es ſei ſo! Ver¬
hindert es nicht, ehrwürdiger Vater! Es ſei Gottes¬
urtheil! Gottesurtheil auch über die Waffen: ob beſſer
das gute Alte, Stein und Horn, oder der tückiſch
ſchimmernde neue Stoff!“

[233]

Angus wiegte bedenklich das Haupt hin und
her; es mochten einige Zweifel ſehr realen, phyſika¬
liſchen Inhalts durch dieſes Haupt gehen. Er ver¬
ſchwieg ſie und faßte die Frage von einer andern
Seite: „Gottesurtheil,“ ſprach er, „muß öffentlich und
feierlich ſein; Alpin muß anklagen vor der verſam¬
melten Gemeinde auf Götterleugnung, Kampfrichter
müſſen aufgeſtellt ſein und ich muß vorſitzen.“


„Die Anklage erheb' ich nicht,“ fiel Alpin raſch ein.


Es war noch eine andere Schwierigkeit: Arthur
hatte in der kurzen Zeit doch manche Gemüther gewonnen;
daß es in der Gemeinde das gab, was wir eine Linke
nennen, haben wir aus den Verhandlungen erſehen,
aus denen die Berufung der Barden von Turik her¬
vorgieng. Es war zu befürchten, daß die Einleitung
eines Gottesurtheils auf ſo ſchwere Anklage großen
Widerſpruch fände. Derſelbe Grund aber mußte dem
Druiden ſtarke Zweifel erwecken, ob er einen Prozeß
mit der einfachen Folge der Verurtheilung Arthur's als
Ketzers auch durchzuführen vermöge, ohne ſeine Auto¬
rität und Beliebtheit bei der Gemeinde zu untergraben.


„Kein Geſetz hindert,“ ſagte jetzt Morbihan, einer
der fünf Zeugen, „daß Zweikampf auch geheim ſtatt¬
finden könne und doch ſein Ausgang als Gottesurtheil
gelte; unſer altes Geſetz iſt für den öffentlichen, keines
beſteht gegen den geheimen.“ Die Bemerkung wurde
beifällig aufgenommen und unterſtützt.


[234]

Nach einer Pauſe ſagte, leicht zum Ja bekehrt, der
Druide: „Es ſei! Biete deine Waffen!“


Alpin hielt Axt und Dolch hin, ungern allerdings,
denn, was er vorhatte, das meinte er doch eigentlich
nicht in dem Sinn, in welchem ſeine Waffen nun ein¬
geſegnet werden ſollten. Der Prieſter beſchrieb das
Schlangenzeichen Grippo's in die Luft und ſprach halb¬
ſingend in hohldumpfem Beſchwörerton:


„Gieb, o

Grippo,

Alter Rohrmolch,

Das; der Horndolch

Sicher ſteche!
Gieb, o

Grippo,

Urweltsſchlammwurm,

Daß im Kampfſturm

Axt nicht breche!
Gieb, o

Grippo,

Lurch im Urſtrupp,

Daß Hirnſtockſchnupp

Feind's Kraft ſchwäche!

„Und nun zeuch hin, mein Sohn, und ſchlag' und
ſtoß' zu in Gottes Namen!“ ſchloß der Prieſter.


Alpin trat ſeinen Gang an. Er war ſchon einige
Schritte entfernt, als ihm Angus nachrief, er ſolle erſt
[235] ſeinem ältern Gaisbuben noch aufgeben, daß er heute
noch einmal zu ihm komme. Alpin beſorgte dieß noch;
der Druide machte ſich mit dem Jungen ſeit ein paar
Wochen alltäglich zu thun; was? war ein Geheimniß;
doch bemerkte man, daß es muſikaliſcher Art ſein müſſe;
der Burſche war ein ſehr gelehriger Schüler Alpin's
auf dem Hirtenhorn.


„Er ertobte des Muotes,“ heißt es im Nibelungen¬
liede, da Rüdiger von Bechlarn nach ſchwerem innerem
Kampfe und herzerſchütternden Wechſelreden das Schwert
zückt, gegen ſeine Freunde, die Nibelungen, zu ſtreiten.
Der letzte Auftritt hatte Alpin's Seele wieder be¬
ſchwert; er war eben doch unheimlich geweſen, und
es wollte ſich nun etwas in ihm regen, was wider
den Kampf ſprach, aber er nahm ſich ſtraff zuſammen,
ſpannte ſeine ganze Seele auf den Gedanken der Ent¬
ſcheidung, die nun einmal dieſer Schwüle ein Ende
machen müſſe, der Kampfgeiſt fuhr in ihm auf, er
beſchleunigte ſeine Schritte, und dieß um ſo mehr, da
er befürchtete, er habe über die Zeit gezögert und
dieß könnte ihm falſch ausgelegt werden. Er war
eingetreten in den dunklen Fichtenwald; er hörte von
fern ein Geräuſch wie ein Praſſeln, Wiſchen, Streifen,
kurze Rufe einer Menſchenſtimme dazwiſchen, der Wald
gab dieſe Töne mit dem eigenthümlich verklingenden
Nachhall wieder, als riefe Baum dem Baum eine
Kunde zu, die ſo fortlaufe bis in unbekannte Fernen.
[236] Aber halt! Was iſt dieß? ein brummender, gezogener
Laut iſt nun deutlich zu unterſcheiden, finſter, furcht¬
bar, tief wie aus den Höhlungen der Erde herauf¬
grollend, — Alpin kennt ihn, es iſt das Brummen
des Wiſents, er eilt vorwärts, ſo ſchnell es nur der
Wald erlaubt, erreicht die Stelle und erblickt —


Wir wenden uns in der Zeit um ein Weniges
zurück. Arthur hatte ſich beeilt, den verabredeten
Kampfplatz zu erreichen. Er ſteht in Gedanken ver¬
loren, den Gegner erwartend; auch in ihm ſpricht
etwas gegen den Kampf und gegen dieſes Etwas
wieder die Ehre und der Zorn. So in ſich verſunken
hört er nicht, daß nahe im niedern Holze ſich etwas
erhebt und gegen ihn herbewegt, bis ein dumpfes
Brüllen ihm die furchtbare Gefahr verräth. Es war
der Wiſent, der geſtern den Bürger des Pfahldorfs
verwundet hatte; Arthur trug — unvorſichtigerweiſe,
denn er konnte vermuthen, daß das ſchreckliche Thier
noch um den Weg ſei — ſein rothes Bruſttuch offen.


Der wilde Stier, den unſere Ahnen Wiſent nannten,
deſſen amerikaniſcher Vetter Biſon dem Leſer wohl
bekannt ſein wird und der nur an Einem Ort in
Europa durch Hut und Hegung ſich noch erhalten hat,
im Walde von Bialowicza in Littauen: der Wiſent
iſt zwar weit nicht ſo groß, wie der längſt ausge¬
ſtorbene, damals ſchon äußerſt ſeltene Stammvater
unſeres Rinds, der Ur, der Auerochs, von dem er
[237] jetzt fälſchlich den Namen trägt, doch weist eine Höhe
von ſieben und eine Länge von dreizehn Fuß, unter
welche freilich ſeine heutigen Nachkommen ſtark herab¬
geſunken ſind, eben auf kein geringes Kraftmaß hin.
Schwerlich war ſelbſt der rieſenhafte Ur ein ſo gefähr¬
licher Feind des Menſchen wie dieſes unzähmbar wilde
Geſchöpf. Sein Element iſt Wuth; man kann nie
wiſſen, wann ſie ausbricht, am ſicherſten geſchieht es
beim Anblick rother Farbe. In jähem Sprunge fährt
das Ungethüm auf Arthur los, er vergißt im ſchreck¬
lichen Drange des Moments, daß ſein Schwert eine
unmächtige Waffe gegen ſolchen Feind iſt, zieht, ſtößt,
die Klinge trifft ſchief, ſchlitzt nur die Haut unter der
wolligen Halbmähne, die den Wiſentſtier bis in die
Mitte des Leibs umkleidet, er wird von der Wucht
des Anpralls niedergeworfen, ſchnellt auf und nun
beginnt eine Jagd von Thier auf Menſch, die den
Tapferſten endlich betäuben, lähmen, entſeelen müßte.
Es gelingt Arthur, einen jungen Baum im Sprung
zu erfaſſen, aufzuklettern, der wüthende Feind führt
einen Stoß dagegen, daß der ſchenkeldicke Stamm
abknallt und der Hingeſchleuderte abermals nur ſeiner
pfeilſchnellen Behendigkeit die augenblickliche Rettung
verdankt. Er beſinnt ſich, daß man vor einem Stier
in ſcharfen Zickzackbewegungen fliehen muß, weil es
dem Thiere ſchwer wird, raſch umzuwenden: ein
Mittel, das vielleicht vorhält, ſo lang ihm die Geiſtes¬
[238] gegenwart bleibt; aber kein Augenzeuge der verzweifelten
Hetze könnte das hoffen. Fürchterlich an ſich ſchon der
Anblick eines Thieres, an deſſen breitgeſtirntem Haupte
durch den krauſen Haarwald die ohnedieß groben
organiſchen Formen ſo verdeckt ſind, daß es einfach
bloß zur ungeſchlachten, blöckiſchen Stoßwaffe gebildet
erſcheint. Tiger- und Löwenkopf hat bei ſchöner Bil¬
dung grundfalſche, blutdürſtige Katzenzüge, da mag
dem Schrecken des Angegriffenen noch die Seelenqual
ſich beimiſchen, ſo viel Wildheit mit ſolcher thieriſchen
Schönheit verbunden zu ſehen, aber er ſieht doch Züge,
das Entſetzen iſt nicht ſo dumpf, wie beim Anblick
dieſes Stierkopfs, der wie ein Stück roher Maſſe aus¬
ſieht, von dem langen Leibe wie ein Mauerbrecher
vorwärts geworfen, um zu Brei zu zermalmen, was
nicht hart wie Fels und Eiſen iſt, oder mit Hülfe
der kurzen, nah an den Schläfen aufwärts ſtehenden
Hörner, was da Lebendiges begegnen mag, und wäre
es der ſchwere Körper eines Bären, wie einen Ball
in die Luft zu ſchleudern. Und doch verkünden furcht¬
bare Zeichen, daß eben in dieſem formloſen Blocke der
dumpfwilde Geiſt wohnt, der ihn als ſeinen Sturm¬
bock, ſeine Schleuder regiert: Feuerqualm ſcheint aus
den ſchnaubenden Nüſtern zu ſprühen, das tiefe, wie
aus langem Gewölb heraufgeholte Brummen iſt nur
noch ſchrecklicher als Brüllen des Löwen, des Bären,
dämoniſche Wuth funkelt in dem großen, dunklen Auge,
[239] bei ſeinem Schwellen und Rollen zeigt ſich die Binde¬
haut, die als weißer Grund dem menſchlichen Augen¬
ſtern ſeine edle, reine, hebende Umrahmung gibt, als
roth durchäderte Folie und erhöht ſo mit ihrer Blut¬
farbe das ſcheusliche Wuthbild, aus dem Maule hängt
die blaurothe Zunge und ein dunkler Bart ſchwankt
am Unterkiefer, als hätte der teufliſchen Maske noch
ein Stück vom Kopfe des Ziegenbocks gefehlt. Vom
mächtigen langen Leibe wird dieß Haupt in ungeheuren
Galopprucken zum Stoß vorgeworfen und mit der
geſchwungenen Zottel des Schweifes ſcheint ſich das
Unthier zu immer erneuter, wachſender Furie zu peit¬
ſchen. Das war, muß man geſtehen, ein Anblick
beſinnungraubender Art; Arthur ſtand auf dem Punkte,
ſie zu verlieren, und ſobald er ſie verlor, mußte ſeine
Behendigkeit ſelbſt ſein Untergang ſein, denn eine
einzige ſeiner blitzſchnellen Kehrungen verfehlt — und
ſie mußte ihn gerade in die Stoßlinie des fürchter¬
lichen Feindes hineinführen. Bereits iſt ihm dieß
widerfahren, er blutet aus einer Streifwunde an der
Stirne, ſein Auge umflort ſich, er ſchwankt, er beginnt
zu taumeln. In dieſem Augenblick unendlicher Gefahr
iſt Alpin erſchienen, ein Gedanke wie ein zuckender
Strahl erleuchtet ihn, er nimmt einen Anſatz, ſpringt
dem Ungeheuer auf den Rücken, auf den höckerartigen
Wulſt des Widerriſtes, klammert ſich mit mächtigen
Schenkeln feſt und ſtößt mit der Rieſenkraft und mit
[240] den ſichern Sinnen des Naturſohns den ſtarken, äußerſt
glatt polirten und ſpitzen Dolch aus dem Ende eines
Hirſchgeweihs, ungehindert von der bauſchigen Mähne,
der dicken Haut, den ſtahlharten Sehnen, zwiſchen den
Hinterhauptknochen und den erſten Halswirbel hinein,
daß er mit Blitzesſchnelle die Verbindung von Gehirn
und Rückenmark zerreißt. Das ſchwere Thier bäumt ſich
empor wie ein Hirſch, ſchnellt mit einer unwiderſteh¬
lichen Schüttelbewegung den tödtlichen Reiter weit weg,
ſtürzt auf den Rücken, zappelt und verendet. Arthur
ſah nur wie durch einen Schleier dieſe That der Ret¬
tung, ein ſtarrer, in allen Nerven gelähmter Zuſchauer
ſtand er wie in den Boden gewurzelt, an einen Baum
gelehnt, und ſtatt dem Retter, der nun bewußtlos
am Boden lag, zu Hülfe zu eilen, ſank er jetzt ſelbſt
zuſammen und blieb ſo liegen wie ein Träumender mit
offnen Augen, bis auch ihm die Lider ſich ſchloßen.


Jetzt hört man ein Bellen, kurze, kläffende Laute,
wie die Hunde ſie hören laſſen, wenn ſie einer Spur
nachjagen. Schnell dringt es näher und mit einem
Sprunge, heulend vor Freude, wirft ſich Tyras auf
ſeinen Herrn und leckt ihm die Hände, die blutende
Stirne. Kurz darnach rauſcht es wieder durch das
Gehölz und aus den Büſchen taucht Sigunens hohe
Geſtalt hervor, ihre Haare fliegen, ihre Gewänder
ſauſen noch von der Heftigkeit athemloſer Bewegung,
ihre ſchönen Arme ſind von ſcharfen Fichtenzweigen,
[241] Stechpalmdornen blutig geritzt, das Bruſttuch hat ſich
im ſtürmiſchen Rennen durch dieſe dichten Hinderniſſe
herabgeſtreift; ſo ſteht ſie nun, ſchaut, ſieht die zwei
Betäubten am Boden und — wirft ſich über Alpin.


Er erwachte, das Antlitz an ihrem weißen, warmen
Buſen, von ihren braunen Locken überſchattet, benetzt
von ihren reichlichen Thränen.


„Biſt du es?“ fragt er.


„Ich bin's,“ antwortet Sigune.


„Ja, haſt du mich denn lieb?“


Jetzt verfiel ſie in ein tiefes, lautes Schluchzen
und als ſie die Sprache wieder fand, da brach es
hervor: „Vergieb! vergieb! gequält, gepeinigt, gefoltert
hab' ich dich im wilden Muthwill, in der grundböſen
Schelmenlaune — Liebe war's — Liebe gegen ſich
ſelbſt verkehrt — dein will ich ſein — mein ſollſt du
ſein — beiſammen, beiſammen, treu bis in den Tod!“


Und ſie wußte noch nicht, daß er Arthur gerettet.
Alpin wußte es auch nicht mehr, das Geſchehene war
ihm rein entſchwunden, er kannte nur die Gegenwart
und preßte wie in ſeligem Traume, auch er nun in
einen Strom von Thränen ergoſſen, das ſchöne, reuige
Weib an ſeine Bruſt. Mit ſanfter Hand ſchob Sigune
jetzt ſein Haupt beiſeite, ſie erröthete, ſie beſann ſich
auf ſich, verhüllte ihren keuſchen Buſen und ſchaute
ſich nach Arthur um. Ihn hatte nicht eine ſchöne
Menſchenerſcheinung, nur das treue Thier aus ſeiner
Viſcher, Auch Einer. I. 16[242] Betäubung geweckt; er ſah um ſich. Wenige Schritte
neben ihm lag das braune Ungeheuer auf dem Rücken,
geiſterhaft aufſtarrend mit den erloſchenen großen
ſchwarzen Augen. Er entſann ſich. Jetzt ſah er auch
die Zwei; ſeine und Sigunens Blicke begegneten ſich,
er nickte, raffte ſich auf, trat hinüber, legte die Hand
auf Alpin's blondes Haupt und ſagte, mit der Linken
auf die Leiche des grimmen Feindes deutend: „Von
Jenem hat mich Dieſer gerettet.“ Nun kam auch
Alpin das Gedächtniß wieder, doch mit ihm eine Er¬
innerung, deren Herbe und Bitterkeit ihm plötzlich die
erſchlafften Lebensgeiſter ſammelte, ſpannte, um Einen
peinvollen Gedanken zuſammenzog. Er ſchnellte vom
Boden auf: „Danke mir nicht,“ rief er, „von Dem
dort habe ich dich gerettet, aber an einen Schlimmeren
dich verrathen; o Götter, Götter! was habe ich gethan!“
Er erzählte mit wenigen Worten, ſetzte ebenſo kurz
die Lage, die Gefahr, die vom Druiden und ſeinem
Anhang drohte, in's Licht, ſtarrte dann vor ſich hin,
einem Menſchen gleichend, der eben im Begriff iſt, ſich
in grenzenloſen Jammer zu verlieren, faßte ſich aber
plötzlich im Bewußtſein, daß hier keine Zeit zum Klagen
ſei, ſann und ſann und hatte ſchnell einen Rettungs¬
plan entworfen. „Es iſt,“ ſagte er, „nicht weit ent¬
fernt eine tiefe Höhle mit mehreren Nebenkammern;
hier kannſt du dich den Tag über verbergen; Abends
wird alles Volk um die Barden verſammelt ſein,
[243] Niemand deine Abweſenheit bemerken, und Nachts
hole ich dich ab und bringe dich fort.“ Raſch über¬
ſchlug er ſich das Weitere. Wohin den gefährdeten
Gaſt zunächſt bringen? Am beſten nach Turik; denn
bei dem Stande der Dinge in der großen Waſſer¬
gemeinde, wie wir ihn ſchon kennen, war ſchwerlich zu
erwarten, daß es der Druide verſuchen werde, ihn dort
mit einer Anklage zu belangen. Wie aber auf dem
Wege bis dahin vor etwaiger Verfolgung ſichern? Es
galt, ihn auf Richtpfaden zu führen. Auf einem Theil
des Weges konnte er dieſen Dienſt ſelbſt übernehmen,
aber er durfte nicht zu lang abweſend ſein. Er ge¬
dachte eines treuen, zuverläſſigen Freundes auf dem
nahen Gripinſee, ſeine Hütte war die nächſte am Ufer;
zu dieſem wollte er ihn am Aaflüßchen hin, das ſich
in den Robanusſee ergießt, ſelber begleiten; er ſollte
den Flüchtling noch in derſelben Nacht über den See
ſetzen; alle nur Hirten bekannten Wege, die von da
durch Dick und Dünn nach Turik führten, waren dem
Manne bekannt und Alpin durfte vertrauen, daß der
längſt Bewährte, durch manche Dienſte und Gegen¬
dienſte verbundene ſich gerne bereit finden werde, ſeinen
Schützling auf dieſen geheimen Pfaden ſicher zum
Ziele zu geleiten. Den Tag über mußte er den theuern
Neugewonnenen leider allein laſſen, man durfte ihn
im Dorfe nicht vermiſſen, die Bezwingung des Wiſents
konnte nicht lang geheim bleiben, eine Fabel mußte
[244] erfunden, dem wartenden, auf Kunde vom Ablauf des
Zweikampfs höchlich geſpannten Druiden mußte weiß
gemacht werden, der Gegner ſei nicht zu finden geweſen,
dafür plötzlich der gefährlichere Feind erſchienen und
glücklich beſiegt worden. Einen Schutz, der nicht zu
verachten war, verſprach inzwiſchen der ſtarke, muthige
Tyras und Abends hoffte er doch auf ſo lang wenig¬
ſtens abkommen zu können, um dem Einſamen die
nöthige Erfriſchung zu bringen. Die Drei wandelten
zur Höhle.


„Kannſt du mir verzeihen?“ ſagte Alpin.


„Du haſt's ja,“ erwiderte Arthur, „mannhaft
wieder gut gemacht, vor dem Druiden und dann im
Walde. Biſt bös geweſen, ja wohl, aber ich kenne
die Eiferſucht; hab's auch einmal durchgemacht und
noch anders als du, hätte faſt einen Mord auf meine
Seele geladen.“ Ein Schatten lief über ſeine Züge;
er fuhr fort: „Ich hab' in heißer Zeit erſter Jugend
ein bildſchön Mädchen geliebt aus frommem Hauſe,
meine Seele war wie ein Sturm, die Jungfrau ſchwur
mir Lieb' und Treue und am Tag darauf find' ich
ſie in den Armen eines jungen Druiden, der eben
von der Schule kam und jüngſt geweiht war, ein
hübſch, glatt Bürſchchen mit geſcheitelten Locken, faſt
einer Fee im Mondſchein gleich. Und wie ich den
Scheinheiligen einſam finde am Ufer des Sees, pack'
ich ihn an der Bruſt und halt' ihm ſeine Sünde vor.
[245] Der entgegnet frech, heuchleriſch und ſpitzfindig. Ich
ſtoß' ihn in's Waſſer, wie ich aber den Tropf zappeln
ſehe, ſpring' ich nach und zieh' ihn heraus. Das
Mädel hat noch Manchen betrogen, ich aber hab' mich
auf die Jagd geworfen, ſie zu vergeſſen, und wie ich
einmal auf einen Wolf laure, kommt mir der junge
Pfaff in den Schuß, der eben zum heiligen Haine
gieng. Ich hatte die Finger an Pfeil und Sehne und
will ſchon drücken, erſchrecke aber an mir und ſetze ab.
Bin ein wilder Menſch geweſen, ſeither hab' ich mich
beſonnen und bin ſtiller. Du aber, Alpin, biſt ein
Narr geweſen, wir ſind ja Vetter und Baſe; iſt dir
doch auch ein wenig recht geſchehen, daß ſie dich ge¬
plagt hat.“


„Und a ſchwarzbrauner Jager mit'm Gamsbart
auf'm Hut,“ ſagte halbſingend Alpin und deutete
auf den Schmuck an Arthur's Mütze.


„Gefällt mir ſchon recht,“ ſcherzte Sigune, „aber
du ſteckſt jetzt einen Büſchel von Wiſentbart auf die
deine.“


„Komm', Baſe,“ ſagte Arthur, „gieb mir die Hand!“
er ergriff dazu Alpin's Rechte, legte ihnen die Hände
zuſammen und darüber ſeine eigene Rechte. Die Blicke
des braven Paares weilten ruhig und ſtill ineinander,
kein Wort und kein Kuß wurde gewechſelt. „Ich
kann's jetzt ſchon ſagen.“ fuhr Arthur fort; „es hätte
meinen Vater gefreut, wenn ich das Bäschen heim¬
[246] gebracht hätte, aber —“ Er nahm ſeine Erzählung
wieder auf, als hätte er ſie nicht unterbrochen gehabt:
„Es träumte mir in der Nacht nach der Wolfsjagd,
ich ſtehe wieder im Wald und ziele und wolle eben
abſchnellen auf den jungen Prieſter, da fühle ich meine
Hand gehalten und ſehe einen Glanz um mich und
neben mir ſteht Talieſin, der Glanz geht von ſeiner
Stirn aus und er ſpricht: ‚Dieſe ſoll nicht Pfeil
niederſtrecken, ſondern neuer Talieſin.‘ Es kam dann
das Erz zu uns und ich erfreute mich noch eine Zeit
der Jagd mit den neuen Waffen, aber der Traum
kehrte öfters wieder, Gedanken wie Blitze ſind mir in
manchen Stunden aufgeſtiegen, unſer alter Götterglaube
und Dienſt wollte mir vorkommen glanzlos, zerbrech¬
lich, matt, wie Bein und Stein gegen das gediegene
glänzende Metall, das Jagen fieng an, mir zu entleiden —
und nun auf der Reiſe — drüben in Turik — bei den
Barden — es wurde heller und heller — ſchicken thut
mich Niemand, als mein Vater zu Odgal, die Ver¬
wandten einmal wieder zu begrüßen und nach der
Baſe zu ſchauen, aber jetzt, ſeitdem es mir ſo wetter¬
leuchtet im Kopf und jetzt ſeit dem Feſte da, wo der
alte Wuſt mir wieder ſo gröblich vor Augen geplatzt
iſt, jetzt muß ich wandern, wandern, es läßt mir keine
Ruhe, und dann — ja, ich ſpür's, mir ſchwant's,
von dieſen Tagen, von geſtern, von heute an wird mein
Leben — wenn ich's rette — eine Jagd werden —
[247] eine Jagd — ich werde jagen, nach Menſchen jagen
und gejagt werden — und —, glaub' mir, Alpin,
zur Liebe hab' ich keine Zeit mehr, auch wenn ich
wollte.“ Die Worte blieben unerläutert und waren
dem Sprecher vielleicht ſelbſt nicht ſo klar, daß er die
Erklärung dazu hätte geben können. Und nun war
unter all' dem das übervolle Herz noch nicht dazu
gelangt, die Hauptſache, den Dank auszuſprechen. Es
geſchah erſt, als man am Eingang der Höhle ange¬
langt war. Nur erwarte der Leſer keinen ſtürmiſchen
Gefühlsauftritt. Daß auch Männer ſich umarmen
und küſſen können, war den Pfahlbewohnern noch rein
unbekannt; hätten ſie ſehen können, wie das betrieben
wurde zu den Zeiten Vaters Gleim und wie noch
heutiges Tags da und dort Männer ſich abſchmatzen:
man darf wohl annehmen, ſie hätten ſich mit Scham
und Schauer abgewendet. Arthur ſagte einfach: „Ich
danke dir, dem Feind, mein Leben!“ und begleitete
die Worte mit einem Druck der Rechten, worüber unſer¬
einem das Blut aus den Fingern ſpritzen würde und
den nur eine Hand aushielt, die fähig war, einen
Wiſent mit einem Horndolchſtoß niederzuſtrecken.


Die Höhle war tief und weit und enthielt Neben¬
höhlen in ſich, die ausſahen, als hätte Menſchenhand
nachgeholfen, ſie zu Wohnungsſtätten herzuſtellen.
Einzelne Thierknochen und Scherben lagen umher; es
gieng eine alte Sage, dort hätten einſt Menſchen ge¬
[248] wohnt. — „Langweilig wird's ſchon ſein,“ ſagte
Alpin. Arthur ſah an der hohen, dunkelgrauen Wöl¬
bung hinauf; „ich bin gern allein,“ verſetzte er dann.
„Da haſt nun recht Zeit zum Brüten,“ meinte Alpin.
Arthur nickte lächelnd und ſtriech ihm mit der Hand
über die blühende Wange. Eine dunkle Sorge kam
über Alpin, als man ſich trennte, obwohl es für ihn
vorerſt nicht auf lang war. Ungleich ſchwerer noch
lag es auf Sigunen. Wer weiß, wann im Leben man
ſich wiederſehen wird? Ja wer weiß, ob? Es kamen
ihr Thränen. „Gieb ihm einen Kuß,“ ſagte Alpin. Sie
reichte ihn, die gegenſeitigen Lippen verweilten nicht
heiß, aber innig in ſanfter Berührung. Man trennte
ſich, der verſöhnte Tyras ſah wie fragend zu, als die
Beiden hinweggiengen.


Arm um Hüfte, Arm um Schulter geſchlungen,
giengen Alpin und Sigune heimwärts durch den
Fichtenwald bis an die Lichtung des Eichenhains.
Jetzt erfuhr Alpin, wie die Dinge gekommen. Die
Herausforderung war aus Blick und dunklem Wort
leicht zu erſchließen, Ort und Zeit blieben ihr ver¬
borgen. Was litt ſie nun! Wie zerwühlte die Reue,
die Liebe, die Todesangſt, die Höllenqual des Schuld¬
gefühls ihre Seele! Jetzt, jetzt fand ſie Worte, und
doch weit, weit nicht genug Worte für die Ewigkeit
dieſer fürchterlichen Stunde. Sie rennt im Dorf um,
ſie fragt Alt und Jung, ob Niemand Alpin und
[249] Arthur habe hinausziehen ſehen und in welcher Rich¬
tung; Niemand weiß Auskunft, zu Viele darf ſie nicht
fragen, denn ſie muß Aufſehen vermeiden; da ver¬
breitet ſich die Kunde von der nahen Ankunft der
Barden aus Turik; zwei Gemeindeälteſte ſind ihnen
entgegengeritten, ſie werden, vom Druiden feierlich
empfangen, in den Freihof geleitet. Die Thüre dieſes
Gelaſſes wird kaum geöffnet, ſo ſtürzt Tyras heraus
und fort über die Brücke an's Land. Sigune hat
einen Führer gefunden! Das Schnobern nach der Spur
ſeines Herrn hemmt die Schnelligkeit ſeines Laufes,
Sigune kann ihm folgen und — das Uebrige wiſſen
wir. Sie ſtanden am Waldſaum, als ſie ihre Er¬
zählung — nicht Erzählung, ihr in abgebrochenen
Sätzen geſtammeltes Bild vollendet hatte. Alpin ſchwieg,
ſie ſahen ſich lang in die Augen. „Darf ich bald vier
Pfähle hauen?“ fragte Alpin. Sie drückte ihm die
Hand, die in ihrer Rechten lag, erröthete, zupfte ihn
mit der Linken an ſeinem Nackenhaar und entſprang.


Alpin, als er im Dorf ankam, wünſchte ſich Glück,
daß aller Welt Aufmerkſamkeit von den zwei berühmten
Fremden hingenommen war. Der Druide, in deſſen
Haus ein Feſtmahl für die Ankömmlinge bereitet wurde,
hatte keine Zeit, Alpin ausführlich zu verhören; es
war alſo glücklicherweiſe nicht nöthig, die bereit ge¬
haltene Nothlüge lang anzuſpinnen. Urhixidur, die
natürlich ſchnell erfragt hatte, was im Werke geweſen,
[250] war unſichtbar, ganz, wiewohl ungern, Köchin für
das große Bewirthungswerk, und den Leuten der Ge¬
meinde gegenüber durfte Alpin doch wenigſtens nur
ein Stück der Thatſache weglaſſen, brauchte kaum
eigentlich zu lügen. So völlig hatte man nun aller¬
dings nicht bloß für die Barden Sinn und Ohr,
daß man nicht mächtig aufgeſchaut hätte bei der
Kunde von der Erlegung des gefährlichen Wilds
und daß ſie nicht wie ein Lauffeuer ſich verbreitete.
Zwar der Genickſtich war keine unbekannte Tödtungs¬
art, zufällige Erfahrung erſetzte die anatomiſche Kennt¬
niß, aber man wußte nicht anders, als daß ſo ge¬
waltige Thiere wie Ur und Wiſent erſt in Gruben
gefangen, mit Stricken geknebelt ſein müßten, ehe an
der Stelle der langſamen Vernichtung ihres zähen
Lebens durch Axtſchläge und Speerſtiche dieſe raſche
Abſchneidung ſeines Fadens durch eine ungewöhnlich
ſtarke Fauſt mit Nachhülfe eines Schlegels zum Ein¬
treiben des Horndolchs verſucht werden könnte. Alpin
wurde angeſtaunt; „da haben wir ja zum Voraus den
Schützenkönig für morgen, ſo trifft doch Keiner in's
Schwarze!“ hieß es, denn der Morgen des erſehnten
hohen Freudentags war dem jährlichen Schützenfeſte
beſtimmt. Für Sigunen aber war der allgemeine
Jubel kein kleiner Zuwachs zu dem innern, mit Angſt
um Arthur wunderbar verwobenen Jubel ihrer Seele;
wohl kein Jäger, aber doch ein von der ganzen Ge¬
[251] meinde bewunderter Jagdheld! Und wir heiter glänzten
Vater Odgal's Augen! Sigune wußte ſchon lang, daß
er nichts gegen die vier Pfähle hätte, aber nun: ein
Wiſenttödter zum Eidam! Er rühmte ſich, einmal
einen Wels mit ſeinem Flinsſpeer geſpießt zu haben,
einen hundertpfündigen! Zwei ſtolze Mannen! Für
die Gemeinde aber erſtand noch ein Hebel zur Mehrung
der allgemeinen Freude nicht ſowohl aus der Seele,
als aus dem Magen: ein ſeltener Feſtbraten für morgen!
Man machte Anſtalten, das Wild zu holen; Alpin
beeilte ſich, ſie zu leiten, damit ja Niemand nach Ar¬
thur's Zufluchtsſtätte ſich verlaufe; im Walde wurde
ſchnell eine Tragbahre aus jungen Stämmen gefügt,
die man mit ſtarken Wiedſchlingen verband, und nicht
weniger als zwölf ſtarke Männer ſchleppten laut jauch¬
zend die Laſt des Thieres hinüber in's Pfahldorf.
Mit Augen, die von Stolz und Freude leuchteten,
ſtand Vater Ullin an der Brücke, als man die ſeltene
Beute herauftrug. Das war nicht der kleinſte Gewinn,
daß Alpin jetzt aus dieſen Blicken leſen durfte, der
Papa werde ihn künftig mit ſeinen Feuerſtein-, Faden-
und Buchsmaſerſchnitzfabrik-Ideen in Ruhe laſſen.


Wir werden morgen einem größeren Schmauſe
zuſehen, als dem, welcher heute die zwei Barden mit
den Gemeindeälteſten im Hauſe des Druiden vereinigt,
der es — mit wenig Luſt — ehrenhalber hat über¬
nehmen müſſen, ſie zu bewirthen; wir wollen uns
[252] daher nicht dabei aufhalten, wollen die Reiſemüden
ruhig ihrem Nachtiſchſchlummer überlaſſen, noch einige
weitere Stunden überſpringen und uns am Abend
nach dem Dolmen begeben, wo bereits die Gemeinde
verſammelt iſt und dem Prieſter zu beiden Seiten die
Barden ſitzen. Blaue Talare ſind ihr ſtattliches Feſt¬
kleid, ihre Häupter unbedeckt, mit Eichenkränzen ge¬
ſchmückt. Die Pfahlbürger ſind bewaffnet; das war,
ausgenommen die heilige Betuchungsfeier, unzertrenn¬
lich von der Feſttracht bei allen Volksverſammlungen.
Der lange Bogen von Eibenholz hieng über die Schulter,
der Köcher über den Rücken, der Horndolch ſtack im
Gürtel, nur der Speer, die ſchwere Steinaxt war zu
Hauſe geblieben. Die Frauen und Töchter waren
nicht zu ſehen. Zwar verbot keine hergebrachte Sitte
ihre Zulaſſung, das Weib war nur von der politiſchen
Verſammlung, der Landsgemeinde, ausgeſchloſſen; allein
das ſchöne Geſchlecht hatte damals noch wenig Luſt,
belehrende, bildende Vorträge anzuhören, mit rührender
Offenherzigkeit wurde vielmehr geſtanden, man finde
dergleichen langweilig.


Nachdem Stille geboten war, erfolgte nun durch
Angus die feierliche Vorſtellung der Barden bei der
Gemeinde und an den Seanacha Feridun Kallar die
Einladung, ſeinen Vortrag zu beginnen. Er ſchlug
den Vortritt aus. „Nicht ich,“ ſprach der freundliche
Mann, „der Sänger ſei gebeten, voranzugehen! Es iſt
[253] billig, daß die helle, jugendliche Dichtung den Reigen
führe, daß ſie in den Seelen den ſchönen Stimmungs¬
grund für die ernſten Wahrheiten lege, welche die
Wiſſenſchaft vorzutragen hat.“ Nach kurzem Wider¬
ſtreben gegen die Ehre, die ihm der ältere Freund
erwies, trat ein jugendlicher Mann vor und beſtieg
die Kanzel. Sie war vor dem Dolmen errichtet, ihre
Brüſtung mit Tannenreiſern geſchmückt, darin war eine
Oeffnung gelaſſen für eine Harfe. Ein Diener trug
das hochgebaute Inſtrument, die Telyn, hinauf und
ſtellte ſie zurecht. Mit feierlicher Verbeugung, die
Hand auf die Bruſt gelegt, begrüßte der Dichter die
Verſammlung. Erwartungsvolles Flüſtern gieng durch
die Reihen. „Groß iſt er nicht,“ ſagte Bürger Porrex
zum Nachbar Ferrex. „Aber ſieh', was für ein edles
Haupt,“ erwiderte dieſer und hatte Recht, denn unter
der klaren Stirne wölbten ſich in feinem Bogen die
Brauen über den lichtvollen dunklen Augen, die Adler¬
naſe deutete auf Feuer und Schwung, und auf die
ſüße Gabe des rhythmiſchen Wortes die wohlgeformten,
nur leicht geſchloſſenen Lippen. „Und wie ſchön er den
Kopf trägt,“ ergänzte Bürger Liwarch die beiden An¬
dern, denn ungeſucht ſtolz aufrecht ſtand das bärtige
Haupt auf dem ſchwungvoll gezeichneten Halſe. Der
Mond war jetzt über dem See aufgegangen und warf
ſeinen erſten, noch matten Schein auf den Filea, den
Sänger-Barden, Guffrud Kullur. Er griff einige
[254] einleitende Töne auf der Harfe und begann ſeinen
Vortrag. Seine Dichtung war auf eine uralte Melodie
geſetzt, die nur den Aelteren in den Gemeinden noch
geläufig war; im muſikaliſchen Geſchmack war ſeit
einiger Zeit eine Wandlung eingetreten, man liebte
bewegtere Weiſen, doch bedurfte der Sinn für den
Werth der alten ernſten Gangart nur einer Weckung und
der Barde war der Mann, ſolche in's Werk zu ſetzen:


„Sehe dich im Dunkeln leuchten,

Sehe dich im grauen, feuchten

Nebel ſanft und ſtille brüten,

Samen alles Werdens hüten:

Willkommen, Auge du der Nacht,

Die auf den Waſſern träumend liegt,

Gegrüßt im Kranz der Sternenpracht,

Die ſpielend ſich im Weltraum wiegt!
Weiße Schleier ſeh' ich wehen,

Liſpeln hör' ich heil'ge Feen,

Tauchen auf und tauchen nieder,

Singen dunkle, alte Lieder:

Sie wiſſen, was da iſt und war,

Eh' noch ein Menſchenkind gelebt,

Dem Geiſterblick iſt offenbar,

Was werdend in den Nebeln ſchwebt.
Urgebirge ſeh' ich ragen,

Aus der Schöpfung erſten Tagen,

Felſenkämme breit geſchichtet,

Hörner himmelan gerichtet:
[255]
Das ſchimmert von der Ferne her

Tiefſchweigend wie ein Nachtgebet,

Dahinter höre ich das Meer

Im Geiſt und wie die Brandung geht.“

Hier griff der Sänger gewaltig in die Saiten
denen er bis dahin am Schluſſe der Strophen nur
leiſe, zitternde Akkorde entlockt hatte; eine ſtürmiſche
Tonflut brauste durch die ſtille Nacht und durch die
erſchütterten Seelen der Zuhörer, die noch tiefer
ſchwiegen, als der kaum bewegte Spiegel des Sees im
Strahle des Mondes. Der Barde ließ die mächtigen
Laute noch fortrollen, während er die nächſte Zeile
ſang, dann gieng er wieder in die zart gegriffenen
Töne über, denen er Pauſen ließ, um noch hörbar
unter dem gleich ſanften Plätſchern der Wellen im Röh¬
richt und dem leiſen Rauſchen des nahen Haines zu
verſchweben und zu verhauchen:


„Brauſen hör' ich's allerwegen

Einem neuen Tag entgegen,

Durch die weiten Geiſterbahnen

Geht ein Träumen, geht ein Ahnen.

Wir ſinnen, wo in weiter Welt

Die Thore wohl geöffnet ſind

Und wann wohl ſeinen Einzug hält

Das längſt erſehnte Heldenkind.
Brüte, Nebel, wärme, brüte

Dunkler Keime Wunderblüte!

[256]
Einſt gelangt die Welt zum Worte

In der Göttin keuſchem Horte:

Schon weicht der letzte, leiſe Spott

Und Zweifel aus des Herzens Grund;

Es iſt, als thät' der alte Gott

Mir endlich ſeinen Namen kund.“

Es folgte eine lange Pauſe allgemeiner Stille,
nachdem die letzten Töne der Harfe fernhin verzittert
waren. Dann begann ein Flüſtern und man hörte
aus demſelben da und dort ein tief aus der Bruſt
geholtes: „O!“, das nicht nach Schmerzlaut klang oder,
wenn nach einem ſolchen, dann war es der Seufzer,
der ſich der Bruſt entringt, wenn ſie in ihren Tiefen
von Sehnſucht und Ahnung erregt iſt. Dagegen auf
einer Seite des Halbkreiſes begannen andere Töne
hörbar zu werden, Laute von jener Gattung, die man
ein Munkeln nennt. Dieſe Töne mehrten ſich, wuchſen,
man bemerkte dann eine Bewegung unter den Leuten,
man ſah, wie ſie, auf den Druiden weiſend, einander
anſtießen, hierauf ſammelten ſich Einige um ihn und
das Ergebniß war, daß er die Rednerbühne beſtieg.


Der Hymnus war eigentlich der Gemeinde zur
Entſcheidung darüber vorgelegt, ob er ihr gefalle und
ſie ihn am Feſte gern ſingen möge. Daß der Druide
ſie als ihr Sprecher vertrat, war nur natürlich, da¬
gegen immerhin etwas vom Zaun gebrochen, daß er
nun die Stimmen der Bürger, die ihn da umſtanden,
[257] nur ſo ohne Weiteres für den Ausdruck der Meinung
Aller nahm, wiewohl übrigens ſtreng parlamentariſche
Formen der Abſtimmung allerdings noch nicht im
Gebrauche waren; kurz, der ziemlich parteiiſche Ob¬
mann betrat nun die Kanzel und ſprach:


„Hochgeachtete Gäſte, insbeſondere hochgeachteter Herr
Bardenſänger! Ich weiß, daß ich im Sinne der ganzen
Gemeinde ſpreche, wenn ich erkläre, daß ſie in Eurem
Feſtgedichte ein Erzeugniß ſowohl der religiöſen Ge¬
fühlsbegeiſterung, als auch der tiefen poetiſchen Stim¬
mung begrüßt, im Inhalt höchſt bedeutend, in der
Form fließend, korrekt, meiſterhaft. Nur ganz un¬
maßgeblich, weit entfernt von aller Abſicht, dieſe Blüte
der Dichterphantaſie irgend verkleinern zu wollen, möchte
ich mir einige beſcheidene kritiſche Bemerkungen erlauben.
Dürfte es nicht vielleicht denkbar ſein, daß ein Feſt¬
geſang als Hymnus mehr ausdrückliche verherrlichende
Anrede an die Gottheit, zugleich auch und eben im
Zuſammenhang damit mehr eigentlichen religiöſen
Glaubensgehalt in ſich ſchlöße? Nicht als Dichter darf
ich mich für befugt erachten, dieſe leiſen Ausſtellungen
vorzubringen, ich rühme mich nicht, mit der Gabe der
Poeſie geſegnet zu ſein; jedennoch ſind in dieſen Tagen
weihevoller vorfeſtlicher Stimmung Augenblicke für mich
gekommen, wo es mir war, als fühle ich ein Wehen
von oben, vom Geſtirn Selinur, und wieder ein Wehen
von den Waſſern her, und vernehme eine Stimme, die
Viſcher, Auch Einer. I. 17[258] da rief: ‚Wage es, mein Knecht Angus, dichte, dichte
mir ein hohes Lied auf's Feſt!‘ — Ich habe gehorcht,
ich habe es verſucht. Ich bin bereit, die Frucht dieſer
ſchüchternen, doch innigen und muthigen Befliſſenheit
dem Urtheil der Gemeinde zu unterbreiten, nicht als
gehäſſiger Nebenbuhler des geiſtvollen Barden, den ich
verehre, ſondern in der Meinung, es dürften vielleicht
zwei Feſtgedichte in lieblicher Eintracht nebeneinander
beſtehen können und es wäre nicht unpaſſend, das eine
zum Beginn, das andere zum Schluß der heiligen
Handlung des Opfers zu ſingen.“


Barde Kullur ſprang ſogleich, als Angus herab¬
geſtiegen, auf die Bühne und betheuerte in ganz hei¬
terem Tone, daß er gern bereit ſei, ganz zurückzutreten,
er ſei durchdrungen von der Ueberzeugung, daß ein
Druide beſſer wiſſen müſſe, was in einem geiſtlichen
Feſtliede zu ſagen ſei, als ein Laie, ein Barde; auch
glaube er im Sinne der ganzen achtbaren Verſamm¬
lung zu handeln, wenn er ihn ergebenſt und dringlich
bitte, das Erzeugniß ſeiner Inſpiration nicht länger
den geſpannt Harrenden vorzuenthalten, ſondern un¬
verweilt vorzutragen.


Jetzt ſtieg wieder der Druide empor und ver¬
ſicherte, das laſſe einestheils ſeine Beſcheidenheit nicht
zu, daß er mit ſeinem ſchlichten Werke ſich ſo un¬
mittelbar neben den berühmten Dichter dränge, und
anderntheils bedürfe es zum Vortrag noch einiger
[259] Vorbereitung. Im Bewußtſein nämlich, daß man in
gegenwärtiger Zeit an der Poeſie einen gewiſſen träu¬
meriſchen Charakter liebe — (er ſandte bei dieſen
Worten dem Barden einen Blick zu, Kullur bemerkte
ihn und lächelte leicht) — und im Bewußtſein, daß
ſein Produkt dagegen durch einen gewiſſen deutlichen,
mehr nur verſtändigen, weil dogmatiſch klaren Charakter
in ſeiner Wirkung verlieren könnte, habe er für gut
erachtet, dieſen Mangel durch eine größere Fülle muſi¬
kaliſchen Schmuckes zu erſetzen; in der That, er lege
faſt mehr Werth auf dieſe Begleitung, als den Text,
indem er — hierin vielleicht faſt unbeſcheiden — ſich
ſchmeichle, durch ſeine Kompoſition möglicherweiſe eine
neue Aera in der Muſik hervorzurufen. Die Exeku¬
tion ſei aber nicht leicht, fordere noch weitere Ein¬
übung, und es ſei jedenfalls noch eine Generalprobe
vorzunehmen.


Niemand widerſprach und ſo blieb denn dieſer
Genuß vorbehalten. Angus ſtellte jetzt den älteren
der zwei Ehrengäſte, Feridun Kallar, den Verſammel¬
ten vor und bat ihn, die Kanzel zu beſteigen.


Ernſt und doch freundlich ließ der Mann, wie er
nun oben ſtand, die Augen auf der harrenden Ge¬
meinde verweilen, ein mildes Lächeln ſpielte um ſeine
Mundwinkel, die hohe, von krauſen grauen Locken
umgebene Stirne verkündigte einen Mann des Sinnens
und Forſchens, die etwas gelbliche Geſichtsfarbe ſtörte
[260] nicht im mindeſten den Ausdruck von Güte und feiner
Laune, der auf dieſen Zügen lag, ſondern ließ nur
ſchließen, daß anhaltende Geiſtesarbeit die Verrichtung
der Leber etwas beeinträchtigt haben dürfte.


Er begann: „Hochwürdiger Herr Druide! Hochacht¬
bare Gemeindeälteſten, achtbare und ehrſame Mannen!
Pfahlbürger! Pfahlkerle! Pfahlekarlier! (Bravo!) Ihr
habt mir die Ehre erwieſen, mich zu einem Vortrag
über die merkwürdigen Fünde einzuladen, die euer
Seegrund zu Tage gefördert hat. Glücklicherweiſe bin
ich nun in der Lage, euch melden zu können, daß an
unſerem See, nur ein paar Stunden von Turik ent¬
fernt, gerade dieſelbe Entdeckung gemacht worden iſt;
nämlich an der Stelle, wo jetzt die ehrenwerthe Ge¬
meinde Milun auf ihren Pfählen wohnt, legte die
große Dürre einen Theil des Grundes trocken, man
ſah uralte ſchwarze Stümpfe hervorragen, Kinder fan¬
den Scherben von Töpfen, brachten ſie nach Hauſe,
die Alten wurden aufmerkſam auf die rohe Form, die
arme und ungeſchickte Art der Verzierung — es waren,
wie ihr es hier gefunden, bloße Reihen von Eindrücken
mit Fingernägeln während man jetzt doch einige feinere
Linien, ein Zickzackornament einritzt oder aufmalt —,
ebenſo auf den zerbrechlichen Thon, der nicht mit feinem
Staub aus hartem Geſtein verdichtet war, wie man
es jetzt thut: man grub weiter, fand in Milun wie
in Robanus Knochen von unbekannten ungeheuren
[261] Thieren, insbeſondere einen Stoßzahn von einem fürch¬
terlichen Geſchöpf, das wie ein trampelnder Berg aus¬
geſehen haben muß; Enden vom Geweih des Rieſen¬
hirſches Schelch, Wirbel und Schenkelknochen des Ur
fehlten ſo wenig, daß man leicht ſah, die beiden ge¬
waltigen Thiere müſſen damals weniger ſelten geweſen
ſein als jetzt, wo man ihre Gehörne und Köpfe, bringt
einmal das Glück die rare Beute, an die Rathhaus¬
thüre nagelt, wie man das in Turik thut und ich
heut auch hierorts geſehen habe. Die menſchliche Kunſt,
— das konnte man leichtlich ſchließen, — muß damals
noch weit zurück geweſen ſein; wir haben jetzt ange¬
fangen, unſere Flinswaffen glatt zu ſchleifen; deren
fanden ſich nur roh geſpaltene; man entdeckte keine
Spur von Weberei, die Leute von damals werden
wohl nur das Gerben verſtanden haben, alſo in lauter
Pelz und Leder dahergeſtiegen ſein, und da das Zeug
im Sommer doch arg heiß gibt, ſo mußten ſie ent¬
weder ſehr ſchwitzen oder ſie giengen um dieſe Jahres¬
zeit eben faſt nur ſo um, wie Selinur den Menſchen
erſchaffen hat. Doch ohne Putz müſſen ſie nicht ge¬
weſen ſein, denn von jenem Röthel, womit ſich jetzt
nur noch wenige alte Leute das Geſicht malen —“
(Gelächter — man hört leiſer, dann lauter den
Namen Urhixidur nennen — Angus blickt finſter) —
„von jenem Röthel hat man auch dort gar viele Stück¬
chen entdeckt. Und das läßt ſchließen, daß es an
[262] allerlei anderem Schmuck, wie Federn auf dem Kopf,
buntem Pelzbeſatz an Kleidern und Mützen nicht werde
gefehlt haben. Nähen und ein bischen Steppen und
Sticken konnte man ſchon, aber man ſieht aus den
Stichen, daß die Nadeln, die wir jetzt aus Vogel- und
Mausbeinchen, aus Fiſchgräten ſo fein herzuſtellen und
handzuhaben wiſſen, noch ſehr grob geweſen ſein müſſen.
Auch Halsſchnurkugeln und Wirtel aus Thon hat man
gefunden, ſogar mit eingeritzten, freilich ſehr uran¬
fänglichen Verzierungen. Man hat keine Wagenreſte
entdeckt, ſie werden nur grobe Schlitten zum Laſtführen
gebraucht haben; daß aber keine Trümmer von Pflügen
vorkamen, das kann nicht beweiſen, daß jene unſere
Ahnen kein Getraide bauten, kein Brod aßen, das wißt
ihr, denn auch bei euch hat man ja die groben Pum¬
pernickel gefunden, wie dort. Und endlich führte man
im alten Milun kein ſo armſeliges Leben, daß es nicht
ſo gut wie im alten Robanus ſchon Schnitzli gegeben
hätte. (Heiterkeit.)


„Nun aber, hochwürdige, hochachtbare und achtbare
Zuhörer, iſt das eigentlich kein ſo gar beſonderer,
ſondern ein ganz einfacher Fall und hättet ihr keines
auswärtigen Gelehrten bedurft, ihn euch zu erklären,
wenn ſonſt nichts dabei wäre. Ich kann euch weiter
nichts Neues ſagen, als daß wir in Turik durch unſere
vergleichenden Knochenmeſſungen herausgebracht haben,
die Hausthiere: Rind, Ziege, Schwein, Hund, müſſen
[263] dazumal dieſelben geweſen ſein wie jetzt. Es haben
eben vor uns Menſchen mit allerhand Gethier wie wir
auch zuſammengelebt, Menſchen, die aber nicht ſo weit
waren wie wir; daran iſt ja nichts Wunderbares.
Wie lang es her iſt, wer weiß es? So eine See¬
ſchlammſchichte von drei, vier und mehr Fuß Dicke,
die braucht ſchrecklich lang, bis ſie fertig iſt. Viel
Hunderte von Jahren kann's her ſein, daß das alte
Pfahldorf tief unter dem jetzigen über dem damaligen
Seeſpiegel ſtand. Es muß verbrannt ſein, vielleicht
durch Zufall, vielleicht durch Feindeshand. Still
flutete dann der See darüber und ungezählte Zeit¬
läufe lang ſchien die flammende Sonne und der ſanfte
Mond auf ſeine Waſſer, und ſtill war Alles und ſtumm
und öde, während in der Tiefe langſam, langſam eine
dünne Lage Schlammes um die andere ſich anſetzte
und tiefer und tiefer die Zeugen eines untergegangenen
Lebens begrub. Da kamen einmal Leute, die ſuchten
ſich — wir wiſſen nicht warum: vielleicht war denen
auch irgendwo ihr Pfahldorf abgebrannt — ſuchten
ſich einen ſtillen, guten, fiſchreichen Platz zum Wohnen,
und wählten die Stelle von Milun und wußten nicht,
was da unten begraben ſei, und ſchlugen Pfähle und
vermehrten Jahr um Jahr ihre Familien und Häuſer,
und gaben ſich Mühe, ihre Geräthe, Waffen, Kleider
immer beſſer und feiner, ihre Speiſen immer ſchmack¬
hafter zu bereiten, und lernten auch von Mannen aus
[264] andern Städten und Dörfern, mit denen ſie im Ver¬
kehr waren, und ſo iſt es hier in Robanus auch ge¬
gangen und in Turik ſelbſt wohl auch und anderwärts
auch, und ſo ſind wir nun miteinander auf der Höhe
der Bildung angekommen, auf der wir ſtehen.


„Nun aber hier kommt der Punkt. Die Sache iſt
eben nicht wichtig, aber das iſt wichtig, was ſie zu
denken gibt, und hievon zu reden iſt nun freilich der
Mühe werth und will ich's verſuchen, ſo gut ich kann.


„Auf der Höhe der Bildung, habe ich geſagt. Ja,
wir glauben, darauf zu ſtehen, ihr glaubt's auch, nicht
wahr? So recht auf der Spitze, dem Giebel, Gipfel,
Wipfel der Bildung, und lächelt über die Geſchlechter,
deren arme Ueberbleibſel wir nun zu Geſicht bekom¬
men haben?


„Seid verſichert: genau daſſelbe glaubten jene Ge¬
ſchlechter auch und ſie ſtanden auch auf dem Gipfel,
denn die Höhe, worauf ſie ſtanden, war für ſie Gipfel.
(Stimmen: ‚Oho!')


„Ihr ſtutzt. Jetzt wartet, jetzt wollen wir einmal
vorwärts ſchauen! Vor kurzer Zeit haben wir unſere
Webſtühle ungleich kunſtreicher als früher gebildet, wir
weben die ſchönen gemuſterten Stoffe. Feiner ſchleifen
wir den Flinsſtein für unſere Aexte, Speer- und Pfeil¬
ſpitzen. Noch viel Wichtigeres hat ſich ereignet. Wir
haben durch Austauſch und Verkehr mit den Seen
der Nachbarſtämme vor Kurzem den neuen Stoff, das
[265] Erz, kennen gelernt, von dem ihr ſeit geſtern erſt wißt,
da Odgal's Vetter Sachen davon hergebracht hat. Es
wird nicht mehr lang anſtehen, ſo wird man alles
Geräthe, Schmuck, Waffen daraus bilden. Ein anderes,
ganz abſonderliches Ding hat euch wohl der Gaſt auch
ſchon gezeigt: die kleinen Erzſtückchen, die künftig im
Handel und Wandel für Tauſchwaare gelten ſollen.
(Lachen rechts und im Centrum, Stimmen: ‚Lumpen¬
zeug! Windige Bröcklein!')


„Man lacht; aber ich bitte: möchtet ihr nicht die
Güte haben, darüber nachzudenken, welche Umſtändlich¬
keiten euch dadurch erſpart werden? Stier, Ochs, Kuh,
Kalb dahertreiben, um ſo und ſo viel Getraide, gegerbte
Häute, Waffen dafür zu bekommen; geht's nicht kürzer
und leichter mit Stückchen Erz, deren Einer leicht ein
paar Hundert im Ruckſack trägt? (Stimmen: ‚Thür
und Thor für Betrug! Werden leicht nachmachen ſein!‘)
Ei, habt ihr nicht geſehen, daß man den Stückchen
ſehr künſtliche Stempel gibt, die nicht leicht Jemand
nachmacht? Und noch dient zu wiſſen: die fremden
Männer haben geheimnißvoll herumgeflüſtert, daß ſie
noch ganz andere Wunderdinge bald bringen werden:
Tauſchſtücke aus einem weiß und aus einem hochgelb
glänzenden Körper, der aus den Tiefen der Erde ge¬
graben wird, aber ſo ſelten, daß ein Stückchen davon,
in Form gebracht, wirklich ganz wohl ſo viel Werth
hat, als ein Hammel, eine Kuh, die man dagegen
[266] eintauſcht. — Nun, ich ſehe wohl, daß euch das Ding
noch zu fremd iſt, überlaſſen wir's der Zukunft, aber
noch etwas Anderes laßt mich erwähnen. Denkt!
ſchon haben die wandernden Männer von jenſeits der
Alpen, die uns das Erz gebracht und gezeigt haben,
wie man es aus Kupfer und Zinn bereitet, uns er¬
zählt, man ſei auf einen andern, noch beſſern Stoff
gekommen, der ſich fertig in den Bergen finde, nur
mit allerhand Erde vermiſcht, ſo daß er durch Feuer
aus dieſen Zuſätzen herausgeſchieden werden müſſe;
der gebe, wenn man ihn tüchtig ſchmiede, Waffen und
Geräthe, die noch weniger leicht brechen als die von
Erz, er ſei zäher und laſſe ſich doch auf's Aeußerſte härten.
Er ſehe nicht ſo ſchön gelb aus, nur ſchlicht grau, blinke
aber doch, wenn er geglättet ſei, in einem Glanze, daß
man ihm ſeine Tugend wohl anſehe. Sein Name ſei
Eiſen. Bereits haben auch die fremden Händler Sachen
aus dieſem Stoffe an den See Leman gebracht, deren
einige zu uns herübergelangt ſind. Ich hab' etwas hier.“


Er winkte ſeinem Freunde Kullur und dieſer ließ
ihm einen bereit gehaltenen Korb reichen. „Was meint
ihr, daß das ſei?“ rief er, indem er einen Gegenſtand
herauszog und emporhielt, deſſen Geſtalt den Zuhörern
ein reines Räthſel war. Er trat an die nächſte Eiche,
ſtemmte ein Brettchen, das er aus dem Korbe nahm,
gegen ihren Stamm, fieng an zu bohren, griff dann
einen Nagel und eiſernen Hammer heraus, nagelte
[267] das durchbohrte Brett an den Baum und ſprach, indem
er das erſtere Werkzeug wieder vorzeigend in die Höhe
hielt: „Seht, meine lieben Pfahlemannen, das nennt
man einen Bohrer; das ließe ſich von Erz nicht ſo
gut herſtellen, es bräche zu leicht; das Uebrige, Nagel
und Hammer, kennt ihr, ihr habt es bis jetzt von
Holz und Horn gehabt, aber das da — was meint
ihr? — das battet doch anders! Denkt nun, was
man Alles wird machen, was Alles aneinander be¬
feſtigen können, nachdem man dieſe Sachen hat! Mir iſt
unter Andrem der Gedanke gekommen, um wie viel halt¬
barer man die Wägen machen könnte, wenn man auf
die Stirnſeite der Räder, mit der ſie am Boden laufen,
ein Beſchlag von derſelben Maſſe, einen Reif nagelte;
mit einem ſolchen Geſtell könnte man doch wohl ſicherer
fahren, als mit unſern Rumpelkarren auf den wackligen,
zuſammengeflickten Rädern! Und alſo wie viel ſchneller!
Da wird's gehen! Das wird hinſauſen! Und ſo in
tauſend Dingen! Denkt euch nur zum Beiſpiel das
Sägen! Stellt euch vor: Sägen von dieſem hartzähen
Stoff, richtig und ſcharf gezahnt! Braucht nicht jetzt
ein Mann drei Wochen, bis er aus einem Stamm
ſechs Bretter geſpalten hat? Das werden Leute ſein,
die das Alles erfinden, was ſich aus dem Zeug noch
machen läßt! In den Köpfen wird's ausſehen! Und
wenn's weiter und immer weiter getrieben wird,
wenn's am Ende gar blitzſchnell geht —“

[268]

Er ſtockte und ſeine Augen ſtarrten aufgeriſſen,
glänzend in's Weite. Dann lächelte er, er ſchien ſich
durch einen Spaß aus der Wirrniß vorſchwebender
und doch unvollziehbarer Bilder befreien zu wollen.
„Zeit,“ fuhr er fort, „Zeit — Zeit — o, das wird
ein Geſchlecht ſein, da wird man meinen, noch Zeit
herausbekommen zu müſſen, wenn man von Robanus
nach Turik fährt! — Ueberhaupt: Zeit! — Was iſt
Zeit? (Stimme: ‚Zeit iſt eben Zeit!‘) — Nein!
mir ſcheint: Zeit iſt eigentlich — doch halt, daran
kommen wir nachher noch einmal. Jetzt denkt euch
erſt, verſetzt euch in die unglaublich ſchnellen, hand-
und gedankenſchnellen Menſchen, die es dann geben
wird, an all' die kunſtreichen Sachen, die ſie hervor¬
bringen, treiben, haben werden, und fragt euch: wie
müſſen wir denen vorkommen, wenn unſere Städte
und Dörfer einmal drunten im Seeſchlamm liegen
und ſie ausgraben, was von unſern Sachen noch
erhalten ſein wird, und ſinnen und grübeln und unge¬
fähr herausbringen, wie es bei uns ausgeſehen haben
mag?“


Er ſchwieg. Es wurde eine lange Stille. Die
Zuhörer ſahen etwas verblüfft vor ſich nieder.


„Grämt euch nicht viel darum! Braucht euch nicht zu
ſchämen! Die Leute, die uns herausſcharren: wir, unſere
Geiſter werden ſie nicht allzu gelb und grün beneiden!
Ueberklug werden ſie ſein, dieſe ſpäten Enkel, haſtig,
[269] unruhig, fahrig, immer eilig, immer gedrängt. Wie
gemüthlich iſt unſer Abſchiedsgruß, wenn Einer geht:
Laſſen's Zeit! Wie ſchrecklich iſt das Preſſiren, das
Preſſirtſein! So ein Menſch wird nichts mehr geruhig
betrachten, bei nichts mehr mit ſtillem Sinnen ver¬
weilen! Sein Leben wird ein Jagen ſein! Er wird
raffen und raffen, um zu genießen! Was für Köche,
was für Zuckerbäcker wird's dann geben! Und es wird
den Menſchen dann erſt nichts recht ſchmecken, weil ſie
ja doch immer auf's Folgende ſpannen! Sie werden
endlich nicht mehr raffen, um zu genießen, ſondern
um zu raffen! Es wird keine Gegenwart mehr für
ſie geben! Und wenn ſie ſich vormachen, ſie haben
eine Freud' am Mädel, ſo werden ſie ſich nur anlügen,
denn auch da wird ihnen nichts genug ſein! Und
Schneider wird's geben! Denkt euch: die Kleider! Die
Klunker! das Geflunker! O, die Kerle werden kleine
Thürme auf den Kopf ſetzen, und wenn ihnen der
runde Thurm nicht mehr gefällt, viereckige Schubladen!
Die Weiber werden ſich Haarhörner in die Höhe auf¬
ſtappeln, wie drüben der Tödi, der Titlis und der
Glärniſch mit Breneli's Gärtli. Und werden noch
ganze getrocknete Vögel drauf ſetzen und Fuchsſchwänze,
Schinken und Haſenſchlegel! Röcke werden ſie tragen,
bald weit wie das runde Haus unſerer vornehmen
Herren, bald ſo eng, daß ſie gehen wie in Knieſchellen,
und am Ende gar noch ein Gebauſch und Gerauſch
[270] auf den Hintern neſteln wie einen raſend gewordenen
Hahnenſchwanz, denn die Scham wird zum Grippo
ſein! (Stimmen: ‚O! O! Pfui!‘ Gelächter.) Aber
halt! halt! Nun ſeht noch einmal, noch weiter vor¬
wärts, und fragt euch, wenn dann dieſe Menſchen¬
geſchlechter auch hinunter ſein werden und noch viel
Spätere graben ihre Trümmer aus (— wer weiß:
vielleicht nicht mehr aus den Seen, denn es werden
ſich ja die Lebweſenſchaaren ſo vermehren, daß da kein
Platz mehr iſt, und übrigens — übrigens — nein,
laſſen wir das!) — graben alſo die Künftigen ihre
Trümmer aus und buchſtabiren ſich daraus zuſammen,
wie's wohl ausgeſehen haben möge dazumal in der
Menſchenwelt: wie blind und dumm muß dann dieſe
verſunkene Zeit derjenigen erſcheinen, welche ſie an's
Tageslicht zieht! Und zwar doppelt und dreifach, denn
man kann ſich doch wohl denken, daß dieſe ganz Späten
wieder ernſthafter geworden ſind und gern gründlich
nachdenken. Wie und was Alles werden dieſe Men¬
ſchen denken! Wer weiß, ob nicht tauſend Dinge
geradezu umgekehrt, wie wir ſie uns vorſtellen! Wer
weiß, was bis dahin Alles erfunden iſt, daß die
Menſchen leichter von einander lernen und mehr von
der Ferne erfahren! O, ich hab' da ſchon öfters einen
gar ſonderbaren Einfall gehabt. Da droben, die großen
Lichter am Himmel: ſie müſſen arg weit von uns weg
ſein, und da die entfernten Dinge kleiner ſcheinen als
[271] ſie ſind, wie groß mögen ſie ſein! Und, ja — wie?
Sind ſie nicht vielleicht eigentlich etwas Dichtes, das
durch die große Macht und Kunſt der Gottheit ohne
Stützen ſo im Freien ſchwebt? Und was meint ihr,
wär's am End' nicht gar auch möglich, daß auf dieſen
großen, beleuchteten Kuchen auch eine Art Leute lebten?
Und gar auch noch, da die Leute hier auf unſerem
Kuchen gar ſo viel Mittel erfunden haben werden,
von einander und von der Ferne zu wiſſen und zu
erfahren, — was meint ihr, wär's nicht gedenkbar,
daß Die hier und Die dort — was weiß ich, wie und
auf welchen Wegen! — auch von einander erführen
und in eine Art Gemeinſchaft mit einander träten!
(Stimmen: ‚Verrückt! Er iſt ein Narr!‘) Nicht ver¬
rückter, meine Lieben, als denen, deren Zeug ihr kürzlich
ausgegraben, der erſchienen wäre, der ihnen geſagt
hätte, was wir jetzt Alles können! — Seht, meine
theuren Mitheiden, und ſo geht's nun fort und fort
und immer fort. Die Zeit und die Leute bleiben nie
ſtehen und immer die Folgenden haben die Augen weiter
offen und kommen ihnen die Vergangenen vor wie
junge Katzen, die noch nicht ſehen. Und ſo haben
wir immer neue Gipfel der Bildung, und weil es immer
neue gibt, ſo gibt es keinen. Dazu hab' ich aber noch
etwas zu ſagen. Es iſt gar wohl möglich, daß vor
vielen tauſend Jahren da oder dort Geſchlechter gelebt
haben, die in allen Künſten ſchon ſo weit waren, als
[272] man von jetzt an in vielen tauſend Jahren ſein wird,
und daß all' ihr Reichthum und ihre Pracht und feinen
Werke dann in Wildniß verſunken ſind, und daß über
dem Schutt die Menſchen wieder haben vorn anfangen
müſſen. Wär' es ſo gegangen, ſo hätten wir alſo
einen Weg, auf dem die Weſen ziehen und wandern,
der gienge nicht immer bergauf, ſondern auch bergab
und bergauf. Aber hin wie her, es iſt eben ein Weg,
eine Bahn, eine Bewegung!


„Und jetzt laßt mich auf die Zeit zurückkommen
und noch einmal fragen: was iſt die Zeit? Die Zeit
geht weiter. Sie läuft immer, immer fort. Wir haben
das Wort Zeit erfunden dafür, daß Alles immer wech¬
ſelt. Wenn Alles immer wechſelt, iſt ſich im Wechſeln
Alles gleich. Iſt alſo eigentlich nur Eines, das immer
wechſelt. (Gähnen. Eine Stimme: ‚Er wird lang¬
weilig.‘ Eine andere: ‚Sehr unverſtändlich.‘) Ja, ja!
habt Recht! Es iſt mir eigentlich ebenfalls langweilig.
(Er gähnt). Die Zeit iſt eben langweilig. Darum
ſollte man in der Zeit aus der Zeit hinaus! Ich will
mich verbeſſern. Es findet da etwas Eigenes ſtatt,
was mir natürlich eben auch ſehr unverſtändlich iſt.
Denkt euch einen Zapfen, woran eine Schnur mit
einem Steingewicht hängt. Treibt die Schnur, daß
ſie auf und ab ſchwingt, endlich in ganzem Kreiſe.
Denkt euch nun, ſie brauche nicht getrieben zu werden,
ſondern ſchwinge von ſelbſt immer fort. Das iſt die
[273] Zeit oder ſind die Dinge, deren ſteter Wechſel Zeit
heißt. Auf und nieder, nieder und auf, links rechts,
rechts links, hinum, herum, ſo heißt's fort und fort in
Ewigkeit. Oder halt! Ich weiß ein deutlicheres Bei¬
ſpiel. Ihr habt doch ſchon euch ſelbſt oder Einer
dem Andern einen Finger an's Geäder dort am Hand¬
knöchel gelegt? Ihr wißt, da pickt, da ſchlägt etwas.
(Bejahende Gebärden.) Wir ſind nicht ſo dickfeſt, als
wir meinen, nicht Fleiſch und Bein durch und durch,
es läuft etwas Flüſſiges in uns um, das uns jeden
Augenblick erſt webt, flicht, ſtrickt. Es iſt ſonderbar,
man ſollt's nicht glauben, wenn man ſo einen Hand¬
druck bekommt, wie ich geſtern vom Gwalchmai, daß
ich meinte, meine Hand ſei zwiſchen zwei Balken ge¬
quetſcht. (Gelächter. Stimmen: ‚Ja, der kann's.‘)
Nun gut, wieder zur Sache! Nun haben unſere Natur¬
gelehrten in Turik herausgebracht, daß dieß das Blut
ſein muß, welches in immer gleich wiederkehrenden
Stößen vom Herzen aus, das da liegt (er legte die
Hand unter die linke Bruſt), nach den Adern gepumpt
wird. Das iſt nun eine viel künſtlichere Sache, als
die Schnur und der Zapfen, aber wir haben beidemal
etwas, was ſich bewegt, und etwas, von dem die Be¬
wegung abhängt oder ausgeht. Gut. Nun wollen
wir das Gleichniß anwenden und ſagen: die Schnur
mit dem Gewicht und das Blut in der Schlagader,
das ſind die Dinge der Welt und vorzüglich die
Viſcher, Auch Einer. I. 18[274] Menſchen. Es paßt und paßt auch nicht. Die Weſen
der Welt, die da leben und empfinden, ſind doch keine
bloße Schnur mit Gewicht, keine bloße Blutwelle,
darum paßt das Gleichniß nicht. Aber ſie hängen
ab wie die Schnur vom Zapfen und die Blutwelle
vom Herzen, darum paßt es. Sie hängen ab, weil
ſie ſich das Leben ja nicht ſelbſt geben und dem Tod
nicht entrinnen, ſie hängen ab von etwas, das mitten
in der Bewegung, alſo in der Zeit feſt bleibt, das
zeitlos iſt. Ihr ſeht, ich mühe mich ab, ein Bild zu
finden. Unſere Urahnen haben ſich auch drum abge¬
müht. Da ſchaut hinüber! (Er wandte ſich und zeigte
nach dem Menhir.) Da ſteht der Wagſtein, ihr habt
geſtern wieder geſehen, wie er ſchwankt und ſich dreht!
Und ſo oft ein Sturm geht, ſeht ihr ihn ſchwanken,
und kommt ein Wirbelwind, ſo bewegt er ſich im Kreiſe.
Und nie fällt er, immer kehrt er in ſeine ſichere Ruhe
zurück. Ihr wißt, in Turik ſtehen deren zwölf, und
Männer, die weither gekommen vom fernen Lande,
haben erzählt, ſie haben die Menhir ſtehen ſehen zu
Hunderten und Aberhunderten in langen, mehrfachen
Reihen. Was muß das eine Arbeit geweſen ſein,
auch nur Einen herzuſchleppen und aufzuſtellen, als
die Werkzeuge noch ſo arm waren, wie die Fünde im
Seegrund erweiſen! Und warum, wofür hat man ſich
ſo viel Mühe gegeben? Was haben denn jene Alten
in grauer Vorzeit ſich ſelbſt und der Mitwelt und der
[275] Nachwelt ſagen wollen, als ſie ſo in ihrem dunklen,
ahnenden Weſen dieſe ungeheuern Blöcke heranwälzten
und ſie mit unendlichem Sinnen und Schweiß in
einen rund gehöhlten Sattel oder überdieß auf eine
Steinkugel in dieſem Sattel ſo ſtellten, daß ſie ſchwanken
und kreiſen und nicht ſtürzen? Nun, ich denke, das
haben ſie ſagen wollen: die Welt ſchwanke, ſchwebe,
kreiſe und es bleibe doch ſicher und unentrückt in ſich
der Mittelpunkt, der ſie trägt, das ewig Eine, das ſie
zuſammenhält. Gewiß hätten ſie's gern beſſer gezeigt
und ein Gebild erfunden, das immer, jeden Augenblick
ſich bewegt, um ſich ſelbſt kreiſt, denn das thut ja
die Welt, aber ſie haben es eben gemacht, ſo gut ſie
konnten. Und predigen wollten ſie damit: merk' dir's,
o Menſch! Du biſt ein Körnchen im Wagſtein der
Welt, du biſt nichts ohne den Mittelpunkt, halt an
ihm, denn er allein trägt dich, in ihm allein iſt Ruhe,
Grund und Halt. Wolle nicht etwas ſein ohne ihn,
löſeſt du dich ab, ſo verweht dich der Wind!


„Was folgt? Nun, es iſt ja ſchon geſagt! Die
feinſten unter den Körnchen im Geſtein des kreiſenden
Felsblocks, im Gewichte, das am Zapfen ſchwebt, die
zarteſten Kügelchen in der Blutwelle, die das Weltherz
treibt, die vorzüglichſten unter den Lebweſen, ſie, die
eine Seele haben und ihrer ſelbſt inne werden, ſollte
denn nicht ihr Sinn dahin gehen, daß ſie ſich ver¬
ſenken in das, was zeitlos iſt und ſich ſelbſt gleich und
[276] außer dem ſie nichts ſind und ohne das ſie verſiegen,
verwehen, hineinfallen in den Rachen der Alles ver¬
ſchlingenden Zeit? Aber wie Wenige thun es! Wie
treiben es denn die Meiſten? Sie haſten und hetzen
dem vermeintlichen Gipfel zu, der doch keiner iſt, weil
viele Gipfel heißt: kein Gipfel, und vergeſſen das Eine,
an oder aus dem ſie ſchwingen, und das doch immer
Eins und daſſelbe bleibt. Es ſollen ja freilich wohl
immer neue Gipfel ſein, mit andern Worten: der
Menſch ſoll immer heller und geſcheuter werden. Aber
man kann hell und geſcheut werden auf zweierlei Art.
Man kann ſinnen und ſinnen, entdecken und entdecken,
Neues auf Neues erfinden, Alles, nur um immer be¬
quemer zu leben, mehr und feinere Luſt zu haben.
Das führt zu den Gipfeln, die ja doch immer wieder
nur Niederungen ſind. Die andere Art aber, die iſt
ein Sinnen, das geht nach dem Weſen der Dinge und
tiefer und tiefer nach dem Einen in Allem, das nicht
größer, nicht kleiner, nicht höher, nicht niedriger wird,
ſondern immer gleich es ſelbſt iſt. Und obwohl man
es nie ganz erforſcht, ihm nie ganz auf den Grund
ſieht, ſo kühlt doch dieß Sinnen und Forſchen die
Seele gar heilſam aus, nimmt ihr die falſche Hitze
und durchwärmt ſie dafür mit der Liebe zu dem Einen,
und ſie fängt an, auf das, was da wechſelt in der
Zeit, herabzuſehen wie von einem hohen Berg. Oder
mit andern Worten, da wird man ſelbſt ein Menhir.
[277] Ich glaube, daß in allen Zeiten Männer, die ſich alſo
begründet haben, daſtehen wie die gewaltigen Wag¬
ſteine zwiſchen den kleinen Menſchlein, die ſich an
ihrem Fuß herumtreiben, und daher wohl haben unſere
Urahnen da und dort der beweglichen und doch un¬
entwegten Wagſäulen ſo viele geſetzt, weil ſie wünſch¬
ten und hofften, daß es viele ſolche Männer gebe.


„Laßt mich auch ein Wörtlein vom Glück reden.
Glück, denk' ich, iſt nur, wenn man alſo feſtſteht und
auf dieſe Weiſe hell und geſcheut wird. Es iſt ja
nur aus Blindheit und Gleichgewichtsmangel und Los¬
ſprung vom Mittelpunkt, daß die Menſchen Thoren
werden und wilde Narren, und lügen, betrügen, ſtehlen,
ehebrechen, rauben und morden, im Rauſch, im Taumel
leben, nach Glück haſchen und das Elend erhaſchen.


„Gute, brave Stein-, Bein-, Horn- und Holzge¬
müther! Wackere Seeſeelen! Nehmt mir nicht übel, ihr
ſolltet ein bischen weniger ſteinern, beinern, holzig und
hornig ſein! Der See macht noch nicht ſelig! Ihr
ſolltet ein bischen mehr bohren, ich meine mit dem
Bohrer, der da hoben iſt. (Er deutete mit dem Bohrer,
den er immer noch in der Hand hielt, nach der Stirn.)
Ihr wollt zu wenig harte Brettchen bohren!


„Ich bitt' euch, wozu iſt man denn eigentlich? Wo¬
zu braucht es denn eigentlich die Seinerei, die Exiſti¬
rerei? Als, damit Weſen ſeien, welche das Weſen
wiſſen? Das Weſen wiſſen heißt dann auch das Rechte
[278] wiſſen und thun. Es thut Niemand gut, der nicht
nachdenkt; recht thun heißt, gemäß der Wahrheit han¬
deln, nachdem man ſie durch ordentliches Denken heraus¬
gebracht. Wer nicht nachdenkt, kommt herunter. Man
findet aber die Wahrheit nicht im Schlaf, da muß
man arg geſchüttelt werden. Aller guten Dinge ſind
drei. Drei gute Dinge ſind: ſtrenge Erziehung, heil¬
ſame Stöße des Schickſals und Durſt nach Wahrheit.
Man darf wohl fröhlich ſein; drei Dinge ſind ſchön:
ein wohlgethaner Mann, ein wohlgethan, hold Weib
und der blaue, lichte Himmel. Drei Dinge ſind
ſchöner: Geſang, edle Sitten und gutes Geſpräch.
Drei Dinge ſind die ſchönſten: Erkenntniß, Thätigkeit
und ſelbſtloſe Liebe. Drei Dinge ſind klein: ein Floh,
ein Zwerg und der Menſch, der nicht ſterben will den
Tod des Ich. Drei Dinge ſind häßlich: eine Kröte,
die dumpfe Luſt und die Angſt vor dem Geiſtlicht.


„Und jetzt laßt mich ein Wörtlein ſagen vom hä߬
lichen Knirps Gwyon und von der Fee Coridwen.“


(Gelächter. Man hört Summen von mehreren
Stimmen: — Gwyon, dieſer kleine Tropf — dieſes
Zwergelein — Häſulein — Hündin ſchnell — im
Nu ein Fiſch — Otterthier — Finkenfalk — Waizen¬
korn — wird eine Henn', Coridwen, Coridwen —.)


„Weiß ſchon, daß ihr's gern ſingt, ihr Kindsköpfe!
Ein Kindermärchen iſt euch die heilige Ueberlieferung
geworden, was ſie will, habt ihr rein vergeſſen und
[279] den Schluß des alten Liedes laßt ihr weg, oder wenn
ihr ihn einmal ſingt, ſingt ihr ihn falſch, denn wo es
heißt, daß Coridwen gebiert die Strahlenſtirn, Talieſin,
da ſingt ihr: verflucht, wer nicht an Talieſin glaubt.
Selig, heißt es, ſelig, wer ihn verſteht und glaubt!


„Wer iſt denn der kleine Tropf, der häßliche Knirps
Gwyon? Der Erdenmenſch iſt er. Was hat er ver¬
ſchmeckt, als er aus dem Zaubertopf naſchte? Den
Geiſt, denn im Topf war ein Brei aus Kräutern, die
da geben das Schauen, das Durchſchauen. Was iſt
das für eine Jagd und Hatz, die dann angeht, da
ihn Coridwen verfolgt im Haſen als Hündin, im
Fiſch als Otter, im Finken als Falk, im Waizenkorn
als Henne? Nun, was wird's beſagen? Den Geiſt
kriegt man nicht umſonſt, der läßt ſich nicht nur ſo
ſchlecken, da muß man gejagt, geängſtet, gebeutelt, ge¬
trillt, geworfelt werden, da muß man ſich durch alle
Formen durchwürgen, hat ſich ja vor der erſten Ge¬
burt ſchon durchwürgen müſſen als Has, Fiſch und
Fink, da muß man die Todesangſt der Kreatur nicht
viermal, nein viermillionenmal ſchmecken, da muß man
endlich gar verſchluckt werden und, wie das Samen¬
korn abſtirbt im Erdſchoß, um Aehre zu werden,
abſterben dem erſten, friſchen, luſtigen, bunten Leben,
um aufzuſtehen als Talieſin, als Strahlenſtirn, als
Geiſtmenſch und ſo im Leben das zweite Leben zu
leben. Wer wird denn die Fee Coridwen eigentlich
[280] ſein? Die Erdmutter iſt ſie, die aber geſcheuter iſt
als ihre Kinder, die da weiß, wo es hinaus will und
ſoll mit den Erdweſen, die ſie darum mit Plagen und
Jagen durch und durch ſchüttelt und dann gar ver¬
zehrt und neu gebiert als Lichtweſen in der ſtrahlenden
Schönheit der Geiſtgeſtalt. Strahlenſtirn hat ja frei¬
lich wohl geſtiftet den Druidenorden, das iſt ihm aber
nicht eingefallen, daß er irgend Jemand zu blindem
Anſehen verhelfe, ſondern er hat ihn geſtiftet, daß er
euch zur Vernunft befreie, indem er euch die wahre
Bedeutung des Ackerbaus zu bedenken anhält. Da iſt
nemlich noch etwas hinter dem Waizenkorn. Talieſin
hat auch den Ackerbau erfunden und eingeführt und
damit hat er Geſetz und Ordnung gegründet. Denn
ihr ſeht doch ein, daß ihr noch Wilde wäret, wenn
ihr keine Aecker hättet, darauf ihr Getreide pflanzt.
Ehe der Mann ſeinen Acker hatte, konnte er nichts
recht ſein eigen nennen und war ein ewiges Prügeln
und Morden um die Früchte des Baumes und die
Beute der Jagd; wie aber die Menſchen anfiengen,
den Boden zu bauen, ein Stück Feld zu umgrenzen,
da fieng das Eigenthum an und mußte Geſetz und
Recht geſchaffen werden, es zu ſchützen. Nun aber
ſeht, wie das wieder zuſammentrifft mit dem, was
ich vorher geſagt vom Erſterben und Neuerſtehen.
Denn erſt ſeit es auf Grund des Eigenthums Geſetz
und Ordnung gibt, hat es auch andere feinere Dinge
[281] können geben, als da ſind die Runen und die edle
Dicht- und Tonkunſt und das Nachdenken und Lehren
über das Weſen der Dinge. Wie das Waizenkorn
aus dem Boden vorſproßt und als Aehre in Luft und
Licht hinaufſteigt, ſo iſt aus dem Ackerbau emporge¬
keimt all' die gute Erfindung und Anſtalt, dem Menſchen
aufzuhelfen, daß er als Gwyon erſterbe und aufſtehe
als Strahlenſtirn. Das Alles hat Talieſin geſtiftet
und mit dem Allem will er euch geſcheut und gut
machen. Er meint's wohl und freundlich und hat
Niemand mit Fluch bedroht, als die, welche ſich ſelbſt
verfluchen, weil ſie Holzköpfe und ſteinhart und horn¬
dumm bleiben wollen, und wahnſinnig, ſchändlich und
ſcheuslich iſt es, zu glauben, er halte die Menſchen
an, den ſchrecklichen Gott der Kriegswuth und Pfnüſſel¬
verſtörung zu ehren mit Menſchenopfern, und nun
ſagt einmal, ihr Pfahlmanen, ihr Pfählmannen, die
ihr Ketzer und Kriegsgefangene pfählt, kreuzigt, metzget,
lebendig verbrennt, wo ſteht ihr, auf welcher Höhe
befindet ihr euch, daß ihr glaubt herabzuſehen auf die
Ahnen, deren Reſte ihr ausgegraben und bei denen
vielleicht, wie roh ſie auch waren, doch die grauſe
Sitte der Menſchenopfer noch nicht aufgekommen war?
Iſt das der Spitzgipfel, Gipfelſpitz, Giebel, Zwiebel
und Gipfel eurer Aufklärung?“


Er konnte nicht enden. Der Druide war ſchon
an jener Stelle ſehr unruhig geworden, wo der Roth¬
[282] ſtein als Geſichtsfärbemittel erwähnt wurde und das
Geflüſter der Zuhörer die Sylben des Namens ſeiner
guten Haushälterin an ſein Ohr trug. Dann als
von möglichen künftigen Hüten thurmartiger Geſtalt
die Rede wurde, glaubte er eine Anſpielung auf ſeine
Zipfelpelzmütze, dieß Hauptſtück ſeiner Feſtamtstracht
entnehmen zu müſſen und am unfreiwilligen Schluſſe
das Wortſpiel mit Gipfel der Aufklärung ſchien ihm
dieſen Verdacht nur ganz zu beſtätigen. Es bedurfte
freilich nicht erſt dieſer perſönlichen Stiche, die er mit
Unrecht zu erleiden glaubte, ſie verſchärften nur die
Empörung, die jeder Theil des Inhalts in ihm an¬
fachen mußte. Immer unruhiger rückte er auf ſeinem
Ehrenſtuhl hin und her und endlich das Wort von
den Menſchenopfern ſchlug dem Faß den Boden aus,
er fuhr auf, Kallar ſah ihn nach der Rednerbühne
herſtürzen und ſagte ruhig: „Ich bin eigentlich fertig
und trete dem würdigen Oberhirten meinen Platz ab“;
ſo ſtieg er herunter und Angus ſtürmte hinauf.


Er nahm ſich zuſammen, ſetzte ſich in Rednerpoſitur
und ſtellte das linke Bein vorwärts, daß der Fuß in
der Oeffnung hervorſah, die für Kullur's Harfe in
der Brüſtung gelaſſen war. Auf dem Schuh war ein
Druidenfuß ſo zierlich, als man es mit Fiſchgräte
oder beinerner Nadel vermag, aus den weißen Kiel¬
faſern von Gänſeflugfedern eingeſtickt, eine Kunſtleiſtung
Urhixidur's. Die Bauern ſahen mit ehrfurchtvoller
[283] Scheue nach dem heiligen Zierrat hin; er ließ ihnen
Zeit dazu und begann dann mit merkbarem Willen,
ſich zu mäßigen! „Hochachtbarer Seanacha! Wir ſind
Euch edlem Gaſte äußerſt dankbar für die Aufklärung,
die uns Eure Gelehrſamkeit über den merkwürdigen
Fund hat zu Theil werden laſſen. Nicht minder für
einen Theil der tiefſinnigen Betrachtungen, die Ihr an
Eure Aufſchlüſſe geknüpft habt. Ohne dem hochedeln
Stande der Barden das Kleinſte entziehen zu wollen
von der Ehre, die ſeinem profunden Wiſſen gebührt,
möchte ich nur rückſichtsvoll andeutend darauf hin¬
weiſen, daß das Volksgemüth aus einem andern Theil
dieſer Betrachtungen den ſcharfen, äzenden, Schwärung
zeugenden Saft des Aergerniſſes, des höchſt bedenk¬
lichen Anreizes ziehen könnte. Es wurde ſich gegönnt
(Kallar lächelte über die koſtbare Wendung), die Ver¬
muthung fallen zu laſſen, daß künftige Menſchenge¬
ſchlechter nicht mehr auf den Seen wohnen würden;
dieß iſt aber ein Hauptſtück unſerer ehrwürdigen Reli¬
gion. Der werthzuſchätzende Vorredner hat ferner
einige ſehr neue Bemerkungen über die Geſtirne vor¬
gebracht; er hat dabei zwar jenes herrlichſte aller Lichter,
das wir ſogar höher als die brennende Sonne ver¬
ehren, — er hat jenes Lichtes nicht gedacht, worin
ſelbſt das blödeſte Auge die ſanften und vollen Züge
des Angeſichts der Weltmutter Selinur erkennt; aber
ſollte die Folgerung zu kühn ſein, daß er ſie nicht
[284] ausnimmt von der — ich darf ſagen: phantaſtiſchen
und doch zugleich trivialen Vorſtellung, daß die
Himmelslichter eine Art von ſchwebenden Scheiben
ſeien, auf welchen gar vielleicht menſchenähnliche Weſen
wohnen dürften? Da nun unſere altersheilige Sitte,
auf Seen zu wohnen, und der Dienſt der erhaben¬
ſanften Selinur ſo unzertrennlich zuſammenhängen, ſo
erlaube ich mir die Frage: Was ergibt ſich?“ Er
wurde roth und röther, fieng an heftiger zu geſtikuliren
und ſchlug mit der Fauſt auf das Brüſtungsbrett der
Rednerbühne. „In den übrigen Lichtern verehren wir
die Geiſterſchaar der Urmutter, der ganze Himmel iſt
entweiht, entgöttert! Die Altäre werden ſtürzen! Die
Vorſtellungen der Menſchengeſchlechter wechſeln, hat es
geheißen; ſo wird ja wohl auch die Grundvorſtellung
wechſeln, es wird eine Zeit geben, wo unſer heiliger
Glaube, der beſtanden hat, ſo lang die Welt beſteht,
nicht mehr beſteht! Entſetzlich! Nichts iſt mehr feſt,
Alles wankt und ſchwankt! Grauenhaft, eine Zeit zu
denken, wo es keine Heiden mehr gibt! — Zeitloſigkeit?
Ewigkeit? — Leeres Wortgetändel! Sich gleich blei¬
bendes Eines, Zapfen mit Hängegewichtſchnur, pochen¬
der Herzklumpen ſtatt Götter? — Spitzfindige, un¬
erbauliche Menhirdeutung! Gezwungene, bodenloſe
Sinnklauberei aus Coridwen's Zaubertopf und leicht¬
fertige Dehnung des erhabenen Inhalts, der dem Geburts¬
wunder Talieſin's innewohnt, armer Verſuch, in ihm
[285] etwas Anderes zu ſehen, als den Gottmenſchen, durch
den unſer heiliger Orden ſein Anſehen an die Gottheit
knüpft! Auch das iſt höchſt verdammliche Irrlehre, daß
Coridwen die Erdmutter ſei; denn dadurch wird ſie
ja an die Stelle der allwebenden Selinur gehoben.
Sie iſt nur eine der Feen der Weltmutter geweſen,
allerdings von ihr gewürdigt, einen Strahl ihrer
Schöpferkraft in ſich zu tragen und dem Waizenkorn
geheimnißvoll einzuverleiben. Sie iſt öfters freundlich
unter Menſchen gewandelt; es leben noch Menſchen,
die durch Verwandtſchaft mit dem von ihr geborenen
Talieſin mit ihr ſelbſt verwandt ſind. Sie hat ihren
Zaubertopf vererbt; dieſe Gemeinde weiß, wo er ſich
befand, er iſt nicht mehr, Frevlerhand hat ihn zer¬
ſchlagen. Alles wird zertrümmert, Menſchliches ver¬
göttert, die Gottheit geſtürzt. Die alte Urnacht kehrt
wieder! Leere! Unendliches Hohl! Nichts! Nichts! Ich
ſehe den Fürſten der Nacht, den finſtern Grippo lauern
— ſeine Augen glühen wie Feuerräder — ſein Kamm
ſteigt und brennt feuerroth — Schwefelglut haucht
ſein Rachen — ſein Drachenſchweif ringelt ſich — ihm,
dem Schrecklichen, und ihm, dem gottgeſandten Ordens¬
haupte ſollen die Menſchenopfer verſagt ſein? Entſetz¬
lich! Nein, nie, nie ſoll —“


Er hatte ſtärker und ſtärker auf das Geſimsbrett
zu trommeln und zu ſchlegeln angefangen, dann ver¬
ſucht, auf der Bühne ſich heftig hin- und herzubewegen;
[286] ſie war zu eng, die Leidenſchaft erlaubte ihm nicht,
den Bewegungsdrang zu hemmen, er vergaß in ſeinem
Eifer die offene Stelle in der Reiſigbrüſtung der Redner¬
bühne, die ihm doch gedient hatte, ſeinen Druidenfuß
ſo bewußt vorzuzeigen, — bei einem zornigen Vorſtoß
durchbrach ſein dicker Körper die ſchmale Spalte des
biegſamen Tannenzweiggeflechts, er fiel hinaus und
purzelte zu Boden, fünf Fuß tief etwa.


Die zwei Barden waren die Erſten, die herbeieilten,
ihn aufzuheben, raſch drang ihnen die Gemeinde nach,
ſchnell umdrängte den unglücklichen Redner ein dichter
Knäuel von Menſchen, die ſichtbar nicht von Einem
Gefühle getrieben waren, in dem Wirrwarr von Tönen
konnte man Stimmen des Mitleids, frommes Seufzen,
rauhes Murren und Fluchen und nur halb unter¬
drücktes Lachen wohl unterſcheiden, die Aufregung wuchs
und es ſah ganz darnach aus, als müſſe es hier zu
einem wilden Handgemenge kommen; da erſcholl plötz¬
lich eine helle, ſtarke Stimme von oben, von unbe¬
kannter Höhe herab:


„Hört, hört! Hört mich! Mich hört!“


Alles ſchaute empor. Auf dem Wagſteine ſteht
eine dunkle Geſtalt. Jetzt erſcheint noch ein Weſen
neben ihr, man hört das Bellen einer mächtigen Hunds¬
ſtimme. ‚Schweig, Tyras!‘ ruft es jetzt wieder aus
Menſchenkehle, in dieſem Augenblicke tritt der Mond
aus den verfinſternden Wolken und man erkennt Arthur.


[287]

Wie er den Wagſtein erklommen, wer konnte es
wiſſen, denn noch kein Menſch hatte es verſucht, der
Stein war hochheilig, aber wäre er es auch nicht ge¬
weſen, der hängende, doch ſteile Felsblock hätte als
unerſteiglich erſcheinen müſſen. Wie dem Frevler die
große, ſchwere Dogge folgen konnte, das ließ ſich nur
durch die bekannte Stemmkraft der Fußmuskeln, die
im ſtarken Anſprung dieſem Hundeſchlag ſogar ein
Klettern möglich macht, zur Noth erklären. Zerfurcht
und bleich von der tiefen Erregung des Augenblicks
und der letzten Erlebniſſe erſchienen Arthur's Züge noch
bleicher im blaſſen Lichte des Mondes. Wie ein Geiſt
ſtand er da oben, aber ſchön, hochgewachſen, ſchlank,
mit großen, weit offenen, leuchtenden Augen. Schauer
feſſelte die Herzen, Niemand wagte den Mann anzu¬
taſten, deſſen Fuß doch ſo empörend die geweihte Stelle
entheiligte. Stumm blickte Alles nach ihm hinauf,
tiefe Stille trat ein. Nun hebt er wieder an: „Zer¬
reißt mich, zerhackt mich, ſiedet oder bratet mich leben¬
dig, aber ſprechen muß ich, hören müßt ihr mich,
hören!“


Er ſtockte, er ſchien ſchwer den Anfang zu finden
und fuhr dann fort, zuerſt im verlegenen, ſchüchternen,
naiven Tone eines Neulings im Ordnen der Gedanken
und im öffentlich Reden, doch allmälig erwarmend, die
Worte wie in einem Strom rollend, den Ton zum
Donner anſchwellend.


[288]

„Das kann ſchon ſein, das iſt ſchon möglich, daß
die Sachen da herum um uns, Licht, Luft, Erde,
Bäume, Thiere und Menſchen ein Weib geſchaffen
hat. Es ſieht ſchon darnach aus, denn da iſt ſchön
und häßlich, gut und grauſam, ſanft und wild, ordent¬
lich und wieder ſo unordentlich durcheinander, wie in
Weibes Leben und Weibes Seele, die launiſch iſt und
ſich nicht gleich bleiben kann. Aber nachher iſt ein
Manngott drüber gekommen und hat's zu ordnen an¬
gefangen. Nur etwas verſpätet hat er ſich, weil
Männer langſamer ſind, und ſo hat er nicht mehr ganz
fertig werden, hat's nichts mehr ganz richten können.
Ein Manngott, ein herrlicher, ein ſtrahlender. Wo
iſt er? Hauſet er in der Sonne, von deren Majeſtät
euer blaſſer Mondsdienſt nichts weiß, nichts wiſſen
will? Mannheit und Macht iſt er, er brauſet im
Sturm, er iſt der große Athem der Welt, auf der
Donnerwolke fährt er daher. Das iſt der unbekannte
Gott, den eure Prieſter nennen und von dem ſie doch
nichts hören wollen!“


Ein Gewitter zog inzwiſchen am nächtlichen Himmel
auf, ſchwarze Wolkenberge thürmten ſich im Weſten.
Man hörte eben bei den letzten Worten das erſte ferne
Grollen des wirklichen Donners. Die Männer er¬
bleichten, der Redner erſchien ihnen verſchworen mit
der geheimnißvollen Naturmacht und die Scheue, die
ſich ihrer bemächtigte, ſchützte ihn vor den Leidenſchaften,
[289] die ihn in jedem Augenblick zu unterbrechen drohten.
So fuhr er fort:


„Aber nein, nein! Nicht dunkle, dumpfe Macht
iſt er, er iſt hell, offen, ganz offen. Licht iſt er, er
ſcheinet durch Alles und in Alles, da iſt Alles durch¬
ſichtig. Er hat vielleicht auch gar kein Haus, die
Sonne iſt nur ſein Glanz- und Prachtbild. Er iſt
vielleicht, obwohl Mannesart in all' ſeinem Thun,
doch eigentlich auch kein Mann, denn er iſt überall.
Er iſt Einer und auch Keiner, er iſt Einer und auch
Drei. Drei Dinge iſt er: das Sein, der Tod und
der Geiſt. Er zeuget Alles, wandelt Alles und ſteigt
auf aus Allem. Darum iſt er ein Feuergeiſt, denn
er brütet aus, verzehret und leuchtet. Die Menſchen
ſuchen ſeinen Namen und verwirren ſich. Es ſind
Männer an unſere Seen gekommen von drüben her,
vom weiten Lande gegen Untergang der Sonne, ſie
haben ſich Gaels oder Gadhelen genannt, die haben
berichtet vom Glauben ihres Volkes, da werde als
oberſter aller Götter verehrt Eſus, der Schauerliche,
deſſen Odem zu vernehmen im ſtillen, geheimnißvollen
Walde, der aber webe und wehe durch das ganze
Weltall und deſſen heiliges Zeichen der Kreis ſei, weil
er aus ſich lauft und in ſich zurück und keinen Anfang
hat, noch Ende. Aber dieſer Gott iſt ein dunkler Gott
und ein Abgrund. Und es ſind andere Männer ge¬
kommen noch weiter her von einem breiten Eiland im
Viſcher, Auch Einer. I. 19[290] großen Waſſer, und ſie hießen ſich Kymren und haben
Wunderbares geſagt von einem Gott, den nannten
ſie Hu Gadarn, das iſt Hu der Gewaltige. Sie
glaubten, er ſei auch die Sonne, und ſprachen von
ihm: Licht iſt ſein Weg und ſein Rad, Sonnenſchein
ſein Wagen und mit Geiſterſchwingen ſchwebet er über
den Waſſern, groß iſt er in Land und Meeren, der
größte in allen Welten. Er habe die große Flut ge¬
theilt und die Menſchen den Ackerbau gelehrt und er
wolle den Frieden und nur, um ihn zu ſchaffen, den Krieg,
Geſetz und Ordnung habe er geſtiftet, den Geſang, die
Künſte den Menſchen herabgebracht, und er ſei Geber
alles Guten. Als das hörten die Gaels, ſprachen
ſie, Hu ſei nicht der Gott ſelbſt, er ſei ein Gottſohn
oder Göttinſohn wie Talieſin, den wir verehren wie
ſie, Eſus habe die Welt geſchaffen und ſei eingeboren
in den Hu und habe ſie durch ihn geordnet und durch¬
leuchtet. Dieſer Hu iſt ein Lichtgeiſt nach meinem
Sinn, aber die Menſchen wollen den Geiſt fangen in
Namen und göttliche Leiber und verdunkeln ihn und
tappen umher in krauſem Dickicht. Arm iſt die Sprache,
in Banden der Sinn, ich weiß kein Wort, als: der
Geiſtgott, obwohl er nicht Mann ſein kann wie ein
Menſch. Er iſt Geſetz, Ordnung, Klarheit. Er iſt
in uns, er iſt die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die den
Frieden ſchützt, die Güte, das Mitleid, das Wiſſen,
die Weisheit. Er iſt ſie. Wo Dumpfes, wo Wildes
[291] bezwungen wird, da iſt er. Er bezwingt auch die
Zeit. Morgen und Abend, Tag und Nacht, Mond
und Jahr ſind gleich vor ihm. Da gibt es kein Vor¬
her und Nachher. Er iſt das ewig Bewegende in
aller Bewegung. Wer ihn liebt, ſchüttelt es ab, das
Albgewicht der ſchrecklichen, gähnenden Zeit und tauchet
auf in das Urlicht, das da zeitlos iſt, wie euch der
weiſe Barde geſagt hat. Wir ſind Wellen im unend¬
lichen Zeitmeer, wir ſind Nichts, wo wir uns nicht
heben in den Strahl der Ewigkeit. O ſüßes Zittern,
wenn berührt von der Weltenſonne unſer Scheitel blitzt!
Wenn ſie unſer kaltes Wogenherz durchwärmt, unſer
Eis ſchmelzt! Es ſchmilzt, wenn wir gut ſind! Es
ſchmilzt, wenn wir laſſen vom Dumpfen, vom Arm¬
ſeligen, von all' dem, um deſſen willen es nicht der
Mühe werth iſt zu leben. In was lebt ihr? Im
Schund um Eſſen und Trinken und ſchöne Kleider,
um Rinder und Ziegen und Häute, im Zank um nichts!
Wo ſchwebt ihr? wo ſchwimmt ihr? Im blitzenden
Weltmeer des Lichts? Ihr ſchwebt nicht, ihr klebt, im
Sumpfe klebt ihr, im Schlamm zwiſchen Binſen und
Röhricht — ſchleimige Schneckenſeelen ſeid ihr! Eckeln
ſollte es euch an euch ſelbſt!“ —


Jetzt begann und wuchs ein Murren unter den
Zuhörern, aber nur heftiger ſchalt er fort:


„Der milde Barde hat's euch ſanft und leis ge¬
ſagt, laut und ſcharf will ich es euch ſagen! Da habt
[292] ihr euch einen Glauben zurecht gemacht oder zurecht
machen laſſen, der ein blöder Wahn iſt um und um,
von wo man ihn auch mag anſehen. Ihr glaubt,
daß Selinur durch den feuchten Seedunſt euch die
Pfnüſſel ordne? Nein, ihr glaubt es erſt recht nicht.
Thut nicht ſo! Ihr wißt wohl, daß euch das ſchnöde
Uebel nur viel hundertmal öfter und ärger heimſucht
in euren feuchten Neſtern! Nicht geregelt huſtet und
nieſet ihr, ſondern durcheinander kraus, wirr und
wüſt! Klebrige Schalthiere werdet ihr! Die Zähne
frißt euch der Nebel an und im Winter habt ihr die
Fußböden ſo kalt, daß euch die jückenden Froſtbeulen
an den Zehen herumhängen wie Klumpen von Wald¬
beeren und daß euch vor Fußfroſt alles Blut in Kopf
ſteigt, was eben eine Haupturſache iſt, daß ihr nichts
Geſcheutes denken könnt! — Die Seele, den Geiſt
nieſet und huſtet ihr euch aus dem Leibe! — Wißt
es, ſchon iſt's im Werk, daß wir wegziehen vom See
auf's Land! Feſt ſoll's ſein unter uns, auf's Trockene
wollen wir! Man wird dumm über den trüben Waſſern,
verſchnuppt, hirnverſtört, abergläubiſch, fürchtet Ge¬
ſpenſter, fürchtet den Grippo. Wozu braucht ihr ihn
noch? Wozu noch den ſchnöden Wurm? Den gibt's ja
nicht, kann's nicht geben. Iſt's nicht an der Weib¬
gottheit und an Regimentern von nickelhaften Erd¬
geiſtern, die ſie in ihrem Leichtſinn walten läßt, iſt's
daran nicht genug, um allen Schabernack zu erklären,
[293] mit dem das Leben uns zwickt und zwackt? Brauchen
die böſen Zwerggeiſter noch ein Oberhaupt, das am
Ende mächtiger wäre, als der Lichtgott, der unter
eurem unbekannten Gotte ſteckt? Aber all' das dumme
Zeug, ich weiß, warum ihr's euch vormacht. Ihr
ahnt gar wohl, daß noch ein anderer Pfnüſſel im
Menſchen ſitzt, jener, der im Herzen drückt und kratzt
und bohrt. Die Faulheit iſt's und der wüſte böſe
Wille, der nichts wiſſen mag von der oberen Ordnung,
die der Geiſtgott gebaut, der Burg, wider welche die
böſen Geiſter nicht aufkommen. Aber darüber huſcht
ihr hinweg und macht's euch leicht, indem ihr's zu¬
ſammenbringt mit dem Uebel in Hals und Naſe und
euch ein flüchtig ſeichtes Wort vorſchwätzt vom Läutern!
Wohl hängt's auch zuſammen, aber nicht, wie ihr euch
vormacht. Arger Pfnüſſel entſchuldigt manche böſe
Zornthat, aber nicht jede, das Reich des Guten ſteht
feſt auf eigenen, ewigen Säulen und hängt nicht ab
von den Häuten und Drüſen im Leib, und das Böſe
ſteigt nicht in ihnen auf und läßt ſich nicht weghuſten.
Die Schuld wegſchieben, dem Grippo in die Schuhe,
und das Gut- und Vernünftigwerden von der Selinur
im helldunklen Seenebel erwarten — das iſt eure
Eſelsbrücke! Eure Sünden nicht redlich ausbüßen, ſon¬
dern an den Prieſter hinüberhuſten, der ſie dann weiter¬
huſten ſoll und befördern zur Vergebung, das iſt euer
Selinurdienſt! Nicht kennen wollt ihr euch ſelbſt, fremd
[294] wollt ihr bleiben euch ſelbſt! Alles ertragt ihr eher,
als Wohl und Weh eurer armen Seele mit euch ſelbſt
auszumachen! Weiber ſeid ihr, nicht Männer, darum
wollt ihr nichts wiſſen vom Lichtgott, vom Manngott,
vom mannhaften Geiſtgott, denn der verlangt, nicht
nur um euch herumzuſcheinen, ſondern in euch hinein¬
zuſcheinen, zu durchleuchten den harten Stein, euer
Herz, daß es licht werde, lind und gut und vernünf¬
tig und ſtark in aller Milde und Weichheit! Auf! auf!
heraus aus dem Klebeſchleim und Stankſchlamm eures
alten Wahns! Er iſt gottlos! In euch iſt keine Gottes¬
liebe, ihr habt keinen Gottesdienſt!“


„Es iſt genug!“ rief jetzt der Druide, der von
ſeinem Falle keinen Schaden genommen, vom Schrecken
ſich ſchnell erholt und mit großer Spannung zugehört
hatte; „es iſt genug! Herab mit dem Läſterer!“ Das
Murren in der Gemeinde hatte ſich etwas gelegt, als
Arthur von der nicht zu leugnenden Unregelmäßigkeit,
von der ganz rhythmusloſen Häufigkeit des katarrha¬
liſchen Uebels und von der Heimſuchung mit Froſt¬
beulen ſprach. Die Wahrheit ſeiner Worte war zu
ſchlagend, als daß ſie nicht ein gewiſſes Inſichgehen
der Gemüther bewirkt hätte. Nun aber, da der Eiferer
mit ſeinen unzulänglichen Sprachmitteln Anſtalt machte,
die ſittliche Welt in ihrer Strenge aus der Vermengung
mit dem phyſiſchen Uebel zu ſcheiden, als er zur un¬
bequemen Zumuthung der Selbſterkenntniß und inneren
[295] Umkehr übergieng, wurden die Leute wieder bös, zürnten
ſich ſelbſt, daß ſie ſo lange geduldig zugehört, und
warfen — nach Menſchenart — dieſen Zorn verdoppelt
auf den Urheber der innern Unbehaglichkeit. Die er¬
neuerten Scheltworte des heftigen Strafredners thaten
das Ihrige und der Zuruf des Druiden traf daher
auf eine Stimmung, die reif war, zum Handeln
überzugehen.


„Bogen gerichtet, Pfeil auf, legt an!“ befahl
der Prieſter. Im Nu lagen jetzt mit wenigen Aus¬
nahmen die Männer der Gemeinde im Anſchlag, alle
nach dem verwegenen Jüngling zielend. Sein Hund
verſtand, brach in ein wüthendes Bellen aus, er mußte
ihn am Halsband halten, gebot ihm Stille und ſchrie
dann mit Donnerſtimme:


„Halt, halt, halt ſag' ich! noch Eines müßt ihr
hören!“


Die Männer ſahen fragend den Druiden an, der
ſich wie ein Kriegsbefehlshaber an ihre Front geſtellt
hatte. „Abſetzen!“ kommandirte er. Es konnte nichts
ſchaden, wenn der Verbrecher durch Weiterreden ſeine
Schuld noch vergrößerte.


„Wißt ihr denn auch, was die drei Hauptſtücke
des wahren Frommſeins ſind? Die Gemeinde mehr
lieben als ſich, die vielen Gemeinden mehr als die
eigene, und alle Gemeinden des Volks, das Eine Sprache
ſpricht, ſo lieben, daß man Gut und Blut für ſie
[296] zu opfern all' Stund von Herzen bereit iſt. Drei
ſind der Sümpfe, darin man nicht leben ſoll: der
Sumpf der Seen, der Sumpf der Schlaffheit und der
Sumpf des engen Pfahlſinns, der von keinem Vater¬
land weiß. Wißt ihr denn von einem Vaterland?“


Die guten Leute hörten das Wort wirklich zum
erſten Mal. Dem Druiden war es in ſeiner Studien¬
zeit nicht unbekannt geblieben, aber er hatte ſich wohl
gehütet, ſolchen weltlichen Gegenſtand jemals in ſeinem
Glaubensunterricht und ſeiner Seelſorge vorzubringen.
Die Männer ſtutzten und für Arthur war dadurch
eine Pauſe zum Weiterreden geſichert.


„Nun, ich will's euch ſagen. Die fremden Män¬
ner, die uns über's Gebirg her die neuen Waffen und
Geräthe gebracht, darunter iſt mir der Ein' und Andere
gut Freund geworden, weil ich gern von ihnen hörte
und lernte und auch von ihrer Sprache mir Einiges
merkte, ſo daß ich über mehr als nur den Kram mit
ihnen verkehren konnte. Die haben mir vertraut, daß
das Volk, von dem ſie kommen, ein gar mächtiges
und reiſiges Volk ſei und ringsum weithin ſchon alle
Völker bekriegt und in ſeine Botmäßigkeit gebracht
habe, und daß es, trunken von ſeinen Siegen, weiter
und weiter ſeine Hand ſtrecken und nun gar über die
Alpen herübergreifen und unſer Land, das unſere Väter
uns vererbt, bekriegen und bewältigen wolle vom großen
Gebirg hinwärts bis zum Podamurſee und weiter, viel
[297] weiter in die Gelände hinein, wo die breiten Ströme
durch Berg und Thal fließen, und links weithin bis
an den Leman- und meinen geliebten Nuburikſee und
weiter und weiter bis über das große Waſſer zum
Eiland, wo die Kymren wohnen. Sie werden kommen,
die Unerſättlichen, die da meinen, ſie müſſen die Welt
verſchlingen! Und ihr? Was ſind eure Kriege geweſen
bis heute? Untereinander um nichts und wieder nichts
habt ihr euch zerfleiſcht! Eure Gefangenen gepfählt,
gekreuzigt, auf jede ſcheusliche Art gemartert als Opfer
für euer Scheuſal von Grippo! Jetzt droht euch allen
der Fremdling! In eure ſchwebenden Holzhütten wird
er die Brandfackel ſchleudern, mit ſeinen Erzwaffen,
ſeiner Ueberzahl, ſeiner Kriegsordnung und feſtem Halt
ſeiner Schaaren euch zu Tauſenden in die Sümpfe
eurer Seen hineinwürgen, eure Weiber und Töchter
ſchänden und in die Knechtſchaft abführen, eure Kinder
wie Zicklein abſchlachten! Schon ſeh' ich im Geiſte die
Feuerſäulen, höre den Schlachtruf der Feinde, das
Aechzen und Winſeln der Sterbenden, der ſchmachvoll
Mißhandelten! Auf! auf, ſo lang es Zeit iſt! Einen
feſten Bund ſtiftet von Gemeinde zu Gemeinde, von
Stamm zu Stamm! Dem unbekannten Gotte — o,
bei allen Himmeln, er iſt auch der Gott des Vater¬
lands! — ihm an ſeinem Altare ſchwört Treue dem
Bunde bis auf den letzten Athemzug! Und fort mit
den Steinwaffen! Meint ihr, ich ſei gekommen, mit
[298] dem kleinen Plunder von Schmuck, Spielzeug, Tiſch¬
meſſer euch Spaß zu machen? Waffen! Waffen! Greift
zum Erze! Hier ſeht mein gutes Schwert! Es funkelt in
der Nacht, ein feurig Bild und Zeichen ſei es euch! O, bei
dem Bilde ſchwört, ſchwört euch zu eigen dem ſchwer
bedrohten Vaterland! O, heilig, heilig iſt das Vaterland!“


Das Gewitter hatte inzwiſchen den Himmel mit
Nacht bedeckt, wilde Blitze zuckten aus den überſatten
Wolken, mit greller Helle wechſelte rabenſchwarzes
Dunkel; ſoeben erſcholl aus unſichtbarem Munde die
mächtige, klangvolle Bruſtſtimme des jugendlichen Red¬
ners, jetzt fuhr wieder ein Blitz über ihn hin, wie er
ſtolz und hoch ſich ſtreckend das gezückte Schwert in
der Rechten emporhielt, und wunderbar glühte die
ſchlanke, ragende, wachſende Geſtalt aus dem Schooße
der Finſterniß heraus, daß ſie von innerem Feuer zu
lodern ſchien.


Den Druiden erſchütterte nicht dieß große, geiſter¬
hafte Bild, die Rede vom Vaterland war es, die ihn
mehr empörte, als alles Andere, ſo daß er jetzt be¬
ſchloß, den Augenblick für gekommen zu erklären. Mit
durchdringender Stimme rief er: „Vaterland? Wißt
ihr, wo es iſt? Im Himmelszelt bei Selinur und ihren
Feen! Er leugnet das himmliſche Vaterland wie die
Götter! Die himmliſche Seligkeit dem Schützen, der
ihn herunterſchießt! Halt, nein, noch höhere Wonne
im Himmelsſaal dem, der ihn lebendig fängt! Her
[299] mit dem Läſterer, dem Götterleugner, dem Grippoſohn,
dem — dem —“ Er drückte und preßte, das ſtärkſt¬
mögliche Schimpfwort zu erſinnen und hervorzuſtoßen,
endlich entrang es ſich ſeinen Lippen: „dem Erz¬
ketzer!“ *)


Wie aber ſollte man den Uebelthäter lebendig
fangen? Woher die Zeit nehmen, Aeſte zu einer Leiter
zu fügen? denn am Wagſtein hinaufzuturnen, getraute
ſich Niemand. Ein Theil der Schützen beſchloß ſo zu
zielen, daß er nur verwundet herabfiele. Als der nächſte
der ſchnell ſich folgenden Blitze ihnen ihre lebendige
Scheibe und dem Bedrohten ſeine Gegner wieder zeigte,
ſah Arthur auf's Neue die ganze Männerſchaar im
Anſchlag. Es war ſchon ein Bild, das Furcht ein¬
flößen konnte. Gegen dreihundert große Bogen, die
Sehnen gezogen bis zum Halſe der Schützen, die
Pfeile aufgelegt: zwar nur rohe Feuerſteinſpitzen, aber
Arthur wußte gar wohl, welche Wunden ſie reißen —
dieſe Waffen haarſcharf auf ihn, den Einen, gerichtet:
gar Manchem wäre wohl zu Muth geworden wie dem
Verbrecher vor der Hinrichtung. „Das Schwert her!“
rief der Druide, ihm nach die nächſten Schützen; der
Ruf pflanzte ſich wie ein Lauffeuer ſchnell durch die
Reihen fort; obwohl ſo überlegen und ſo aus der
[300] Ferne den Einen bekämpfend, fühlten ſie doch Grauen
vor der Waffe und eine Art Bedürfniß, dem Ver¬
brecher, ehe er gerichtet würde, erſt ſeine Ehre, die
Mannesehre des Waffentragens abzuſprechen.


„Fürchtet ihr mein Schwert, ihr Tröpfe? Ich
fürchte keinen von euch, auch ohne Schwert! Ringt
mit mir! Hier bin ich!“ Mit dieſem Rufe ſchleudert
der Ueberkühne ſein Schwert hinab und ſpringt in
einem weiten Satz ihm nach mitten unter die Männer
hinein, mit ihm ſein ſtarker Hund, der wilde Tyras.
Augenblicklich entſteht ein fürchterliches Raufen, Schreien,
Fluchen, dazwiſchen das Geknurr und Gebell des
wüthend um ſich beißenden Thiers, man ſchlägt, man
zerrt, man ſticht mit Horndolchen zu, deren Stöße
glücklicherweiſe fehlen oder am ehernen Gürtelſchild des
ſchwer gefährdeten Jünglings abgleiten, mit über¬
legener Kraft hat er Mehrere zu Boden geſchleudert,
aber lange kann der ungleiche Kampf nicht dauern;
ſchon taumelt Arthur, da iſt es dem Druiden gelungen,
durch den raſenden Knäuel ſich durchzuarbeiten und
ſeine Stimme hörbar zu machen: „Die Hände, die
Fäuſte weg! Mir gehört er, mir, mich laßt ſorgen!
Die Bittel und Wächter her!“ Es gelang ihm, den
ſchon ſo gut als Verlorenen zu befreien, um ihn —
aufzuſparen. „Feſſelt ihn mit Stricken!“ Vergeblich
ſträubte ſich der tollkühne Ringer noch mit ſeinen letzten
Kräften. „Fort in's Verließ!“ Er wurde abgeführt.
[301] „Erzketzer! Erzketzer!“ ſcholl es aus hunderten von
Kehlen hinter ihm her, während die Schergen ihn
über die Brücke zum Blockhaus führten, das als Ge¬
fängniß diente. Die Eifrigſten der Gemeinde beglei¬
teten ſie, Angus ſelbſt gieng mit und ihnen nach
wälzte ſich der ſchreiende Schwarm. In ſchwerer Lage
waren jene wenigen klarer denkenden Bürger, deren
wir früher Einige beiſammen gefunden, um die Be¬
rufung der Barden zu beantragen. Sie waren nach¬
denklich geworden bei Kallar's Rede, Arthur's Feuer¬
worte ergriffen ſie, wie er heftiger und heftiger ſprach,
wurde es auch ihnen zu viel, ſie erhoben ihre Bögen
zwar nur läßig und zum Scheine, aber ſie erkannten,
daß ihm nicht zu helfen ſei. Rathlos ſtanden die
beiden Barden. Kallar hatte voll Theilnahme ſorglich
oft den Kopf geſchüttelt, während Arthur ſprach, Kul¬
lur's Augen hatten geblitzt und ſich wieder verdunkelt,
Beide hatten im Gemenge vergebliche Verſuche gemacht,
abzuwehren, Beide ſahen nun kummervoll dem wilden
Haufen nach, der ſich hinter den Wächtern herdrängte.
„Was thun?“ ſagte Kullur. „Laß uns nachdenken,“
erwiderte Kallar, „es iſt noch eine Friſt; ganz raſch
und auf eigene Fauſt kann der Druide nicht handeln.“
Er faltete gedankenvoll die Stirne, plötzlich ſchien ihm
Rath aufzutauchen, er flüſterte ſeinem Genoſſen einige
Worte zu, ſie eilten nach den Sitzen, die ſie vor und
nach ihrem Auftreten eingenommen hatten, ſchienen
[302] einen Gegenſtand zu ſuchen, aufzugreifen und ver¬
ſchwanden dann im Dunkel.


Das Schloß des Gefängniſſes war ein ſchwerer
Holzriegel, der durch einen kunſtreichen Knoten aus
dem ſtärkſten Seile ſo befeſtigt wurde, daß er als un¬
lösbar gelten konnte. Nur durch Hiebe eines ſcharfen
Steinbeils hätte ein Unkundiger ihn entfernen können;
dagegen war durch die Wächter geſorgt, denen die
ſtrengſte Hut eingeſchärft wurde. Die karge Koſt wurde
durch eine enge Dachöffnung hinabgelaſſen; der Bittel,
der hiezu den Auftrag hatte, war auf ſtrenge Wach¬
ſamkeit beſonders beeidigt.


Wo aber war denn Alpin? Er hatte ſich während
Kallar's Rede, das eintretende Dunkel benützend, hin¬
weggeſchlichen, hatte einen Korb voll Speiſe und Trank
aufgenommen, den ihm Sigune an einem verabredeten
Platz im Haine bereit geſtellt, und war der Höhle
zugegangen, den einſamen Freund beſſer zu laben,
als ein Stück Brod, das er morgens beim Abſchied
ihm aus ſeiner Taſche gereicht, und die Beeren
des Waldes es vermochten. Als er nach ängſtlichem
Suchen ihn nicht fand, befiel ihn zuerſt die ſchreckliche
Sorge, er möchte entdeckt, in den Wald fortgeſchleppt,
ermordet ſein, aber eine ſchlimme, dunkle und dennoch
beſtimmte Ahnung trieb ihn zurück nach dem Feſtplatz;
ſchon von Weitem hörte er Arthur's gewaltige Stimme
von der Höhe herſchallen, ſtellte ſich unbemerkt bei den
[303] hinterſten Zuhörern auf und mußte nun, unfähig,
dazwiſchenzutreten, Zeuge der tödtlichen Gefahr ſein,
in die den Freund ſeine wilde Begeiſterung tiefer und
tiefer hineinrieß. Als Arthur herabgeſprungen, drängte
er ſich mit verzweifelter Gewalt in den Menſchenknäuel
hinein; was konnte er ausrichten mit aller Kraft ſeiner
Arme? Nur Eines: mitten im Stoßen, Zerren, Rin¬
gen, Stampfen ſieht er das Erzſchwert am Boden
auffunkeln, da eben ein neuer Blitz über die tobende
Menge hinzuckt. Man hatte es, als Arthur ſo plötz¬
lich der hinabgeſchleuderten Waffe nachſprang, in der
Wirrniß vergeſſen. Ein Geiſt gab ihm ein, es ſchnell
aufzunehmen, unter ſeinem faltigen Feſtrocke zu ver¬
bergen und, während man den Ueberwältigten fort¬
führte, mit ſeiner Beute Sigunen zuzueilen, die bei
der Glut ihres Herdes ſaß, einſam, tief in Gedanken.
Die Kinder ſchliefen, Vater Odgal war draußen in
der Verſammlung; ſie hielt Alpin's Geſchenk, die Hals¬
ſchnur aus Bergkryſtallen in der Hand, und ließ ſie
im röthlichen Scheine ſpielen und voll herzlichen Glücks
redete ſie mit ihr, als wäre ſie ein belebtes Weſen.
Alpin ſtürzt herein, mit wenigen Worten iſt Alles
erzählt, „— und nun, wie helfen? wie helfen?“
ſchließt er und wirft ſich ſchluchzend an den Hals der
Geliebten. In allem Unglück, in allem peinvollen
Drange des Augenblicks, welch' ein Glück, ſich nun
ganz Eins zu wiſſen im glühenden Wunſche, den Jüng¬
[304] ling, der ohne ſeinen Willen die beiden Herzen ſo
düſter entzweit hatte, zum andern Male zu retten!
„Du biſt gut, o, du biſt gut,“ rief unter Thränen
das entzückte Mädchen und legte, als er ſich unter
erneuten Klagen über die Rathloſigkeit der Lage auf
den Sitz am Herde niederfallen ließ, vor ihn knieend
das lockige Haupt in ſeinen Schooß. Schweigend ver¬
weilten ſie manche Minute in dieſer Stellung; auf
einmal ſtand Sigune ſchnell auf, nahm die Berg¬
kryſtallſchnur vom Herde, hielt ſie Alpin vor Augen
und ſagte: „Wer das machen, die Kryſtalle ſchleifen,
durchbohren konnte, der kann auch“ — Wir ziehen
vor, nicht zu verrathen, was ſie weiter ſagte, noch
was Alpin nach einigem Sinnen erwiderte; nur das
Wort ſei angeführt: „Ihr Weibsleute ſeid doch öfters
geſcheuter als wir.“ Er nahm das Schwert, der
Abſchied war ſo kurz als zärtlich, und dann eilte er
nach Haus mit den Schritten eines Mannes, der keine
Zeit zu verlieren hat.


Das Gewitter hatte ſich verzogen, die Menge vom
Feſtplatze ſich verlaufen, Alles war zur Ruhe gegangen
und der Mondſchein lag ſtill auf dem ſchimmernden
See. In der kleinen Gemeinde — wie viele und
verſchiedene heftige Bewegungen wühlten bei ſtiller
Nacht in den Gemüthern der Schlafloſen und der
träumenden Schläfer! Arthur war übel gebettet in
ſeinem „Ungemach“ (wie das Nibelungenlied den Kerker
[305] nennt), ſein Lager war ein Haufen alten Strohs,
ſterbensmüde ſtreckte er ſich nieder; Waſſer und ein
Brodlaib war ihm verabreicht; er aß einen Brocken,
nahm einen Schluck, legte ſich wieder zurück, ſtarrte
eine Zeitlang zur Strohdecke des Raums hinauf, ſprach
dann vor ſich hin: „Nicht klagen, Schickſal iſt Schick¬
ſal, bleib' feſt, Herz!“ Dann ſeufzte er noch: „Armer!
Armer!“ Das galt aber nicht ihm ſelbſt, ſondern ſeinem
Hunde Tyras, den er im Getümmel verloren hatte. Die
einförmige Muſik der Schritte der Wächter, die draußen
polternd auf und nieder giengen, und die grenzenloſe
Ermattung halfen zuſammen, die verſtörten Nerven zu
beſchwichtigen und er ſank in tiefen, feſten Schlaf.


Der Morgen des feierlichen Tages brach an. Auf
den Vormittag war der erſte Theil des Feſtes, das
Pieisſchießen, angeſetzt. Alpin durfte um ſo weniger
fehlen, da auf ihn als den großen Jagdhelden des
vorigen Tages Aller Augen warteten. Ihm zu Ehren,
zum Ruhme der Gemeinde, die einen ſolchen Jäger
hervorgebracht, und zum Sporn für Alle, ihm nach¬
zuſtreben, hatte der kunſtfertige Bürger Bappabuk die߬
mal eine Feſtſcheibe von ungewöhnlicher Pracht her¬
geſtellt. Auf eine große Fläche, die mühſam genug
aus einigen rauh gehauenen Holztafeln gefügt war,
hatte er das Bild eines Wiſent gemalt. Das Braun
des Fells war freilich dunkler gerathen, als die Natur¬
wahrheit erlaubte; er hatte einfach ein Schwarz ver¬
Viſcher, Auch Einer. I. 20[306] wendet, das er ſich aus Kohlenſtaub zurecht gemacht;
ein Kenner hätte den amerikaniſchen Biſon, nicht ſeinen
lichtern europäiſchen Verwandten zu ſehen geglaubt.
Aber mit entſchiedener Sicherheit des Blicks und der
Hand war nicht nur die Geſtalt, ſondern mehr noch
die Bewegung erfaßt. Man ſah das Thier in wildem
Anſprung, den Kopf zum Stoße geſenkt; daß dieſer
von vorn, der Körper aber von der Seite genommen
war, darüber durfte man billig wegſehen; man kannte
und forderte Verkürzungen dortzulande ſo wenig wie
im alten Egypten und ſpäter in Byzanz; übrigens
kam die Kühnheit daher, daß es das Abſehen des
Künſtlers war, die Augen beide in ihrer ganzen
Schrecklichkeit wiederzugeben. Mit dem röthſten Röthel,
den er auftreiben konnte, hatte er die blutrünſtige
Bindehaut, mit der ſchwärzeſten Miſchung von Kohlen¬
ſtaub und Kienruß die Augenſterne aufgetragen und
in dieſes Schwarz je ein Stück des findbar reinſten
Bergkryſtalls eingelaſſen. Mit Staunen und Grauen
wurde das Meiſterwerk begrüßt, als es aufgeſtellt war.
Die Senkung des Kopfes erlaubte auch, das Centrum
der Scheibe an der Stelle anzubringen, auf welche
Alpin den tödtlichen Stoß geführt hatte: es war ein
rundgeſchnittenes Blatt von rothem Zeug, das zwiſchen
Kopf und Nacken ſaß. Der erſte Feſtpreis, von Alpin
ſelbſt gewidmet, war das koſtbare große Fell des er¬
legten Thiers. Man ſäumte nach Betrachtung des
[307] Bilds und dieſer erſten aller Ehrengaben nicht länger,
den Ueberwinder des Ungethüms, den edlen Schenker
durch eine Abordnung in ſeinem Hauſe abzuholen, auf
dem Feſtplatz wurde er als Schützenkönig in spe von
jubelnden Stimmen begrüßt. Er ſollte den erſten Schuß
haben, er trat zurück, den Aelteren ſollte die Ehre
bleiben. Endlich half kein Zögern mehr; Alpin legte
an, zielte unſicher, die Nachbarn ſchüttelten die Köpfe,
Einer flüſterte: „O je, er verwackelt's!“ Alpin ſetzte ab,
zielte wieder, ſchnellte ab und das Geſchoß — ſaß in
der Zottel des kurzen Schwanzes. Der Zeiger, der
ſich ſchon darauf geſpannt hatte, zuerſt mit närriſchen
Sprüngen dreimal um die Scheibe zu tanzen, dann
mit ſeiner Kelle auf das durchſchoſſene Centrum zu
zeigen, hierauf gegen den Schützen drei grundtiefe
Bücklinge zu machen, er war, als er vorſprang, in
keiner kleinen Verlegenheit; ganz verblüfft ſtand der
arme Burſch in ſeiner bunten Hanswurſtjacke — denn
ſo trugen ſich die Zeiger ſchon damals — und ſeiner
Mütze aus Fellſtücken des weißen Berghaſen und einem
Fuchsſchweif, er konnte ſich nicht zu den Spottgebärden
entſchließen, die bei ſchlechten Schüſſen üblich waren,
zeigte wehmüthig nach dem Pfeil im Schwanzende und
ſchliech mit trübſeliger Miene hinter ſeine Schutzwand
zurück. Alpin hatte ſich zum Voraus nichts Gutes
verſprochen; er beſann ſich aber ſchnell, ſich über ſein
Ungeſchick viel mißmuthiger zu ſtellen, als er war,
[308] ſchüttelte wie in einem Anfall grimmigen Verdruſſes
den Köcher aus, ſchleuderte den Bogen von ſich und
rannte hinweg. Man wollte ihn zurückzerren, gab es
aber bald auf, denn die Mannen wußten als richtige
Schützen gar wohl, daß man's nicht verzwingen ſoll,
wenn man nicht ſeinen Tag hat, und ſo war für
Alpin gewonnen, was er brauchte: Zeit und Verborgen¬
heit. — Billig enthalten wir uns, den Verlauf des
Schützenfeſtes zu beſchreiben; es genüge, zu berichten,
daß den erſten Preis ein Schütze jener Gattung her¬
ausſchoß, die wir jetzt Kommißſchützen zu nennen lieben,
ein Mann, der des Gewinnes wegen auf alle Schützen¬
feſte lief und deſſen handwerkmäßig ſicheres Auge und
Hand nie eine innere Aufwallung irrte. Den zweiten
Preis, ein Trinkhorn, aus der mächtigen Stoßwaffe
des ſeltenen Ur mit der ſauberſten Glättung hergeſtellt,
gewann ein Normalhuſter, welchem Niemand ein Glück
gönnte, das ihm ſo wenig anſtand. Die weiteren
Ehrengaben beſtanden in Pfeilen, Köchern, Speeren,
Aexten, auch lebendes Gethier, Gänſe, Hühner, ein
Schwein, Kalb, Ziege ſtanden in einer Hürde als
Gewinnſte bereit. Der Preiſe waren viele, denn Jung
und Alt ſchoß mit; Schützen waren Alle vom ſieben¬
zehnten Jahr an und zwar pflichtmäßig. Dieſe Ver¬
pflichtung war ein Stück der Religion und zwar, wie
der Leſer vielleicht mit uns findet, kein ſchlechtes.


Vom nahen Haine ließ während der Schießbe¬
[309] luſtigung ein Geſang heller Knabenſtimmen, begleitet
von Harfentönen und geführt von einer Mannsſtimme,
anfangs ſchüchtern, ungelenk und oft unterbrochen, dann
melodiſcher und zuſammenhängender ſich vernehmen.
Dort übte der Barde Kullur die Knaben des Dorfes
zum Vorſingen ſeines Hymnus ein. Er war zwar,
wie ſchon erwähnt, auf eine alte, heilige Melodie
geſetzt, aber die Verbindung derſelben mit einem neuen
Texte wollte gelernt ſein und zudem hatte der Dichter,
vornämlich an den Schlüſſen der Strophen, gewiſſe
höchſt ſtimmungsvolle neue Tonfiguren angefügt. Bei
Feſtgeſängen pflegte ein Knabenchor der Gemeinde vor¬
zuſingen und dießmal war denn hiezu eine beſonders
gründliche Einſchulung vonnöthen. Dem Sänger Kullur
aſſiſtirte bei dieſem Geſchäfte der Gelehrte Kallar und
Beide wußten die Knaben mit ſo viel Liebe und Humor
zu behandeln, daß ſie höchſt willig und heiter ſich leiten
ließen. Gleichzeitig aber hörte man von einer ent¬
fernteren Stelle des Hains mannigfache und verworrene
Laute von eigenthümlich ſonderbarer Beſchaffenheit,
theils Vokal-, theils eine Inſtrumentalmuſik, wie man
ſie niemals vernommen. Woher dieſe Töne kamen,
wußte man: es war der Druide, der geheimnißvoll
mit den ſtändigen Muſikern des Dorfes und einigen
jüngeren Dilettanten ſich an einen entlegeneren Ort
zurückgezogen hatte, um den andern Hymnus einzu¬
üben, den er gedichtet und neu komponirt hatte, aber
[310] welche neue Tonwelt den Ohren bevorſtand, das wußte
man nicht, das konnte man aus den verlorenen Klängen
noch lange nicht entnehmen.


Das Schießen wurde ſonſt mit einem ſtarken Früh¬
ſtück und Trunk beſchloſſen, wobei das Volk der Pfahl¬
männer mit ſchönen Trinkſprüchen in gemüthlichem
Selbſtlob nicht Geringes zu leiſten pflegte. Dießmal
begnügte man ſich mit einem kürzeren Frühtrunk, denn
man wollte die Kraft der Kiefer und den Vorrath
von Rednergeiſt auf den abendlichen Feſtſchmaus ſparen,
der den Gäſten zu Ehren noch viel großartiger als
ſonſt ausfallen ſollte. Man verfügte ſich alſo, nach¬
dem das große Trinkhorn einige Male gekreist hatte
und den beſten Schützen Hoch ausgebracht war, ſolid
nach Hauſe und ließ ſich zum Mittagimbiß gefallen,
was die einzelne Küche vermochte. Was vereinigte
Kräfte und ausgebildete Technik der Kochkunſt zu leiſten
im Stande waren, das gedenken wir pflichtſchuldig
in's Licht zu ſetzen, wenn wir dieſer bedeutenderen
Entfaltung zuſehen werden.


Die erſten Nachmittagsſtunden brachten — nichts;
ſie blieben leer. Ein Theil der Mannen legte ſich
auf's Ohr und ſchnarchte, ein Theil und beſonders
die ledigen Burſche liebten es, wie heute noch unſere
Bauern und das italieniſche Volk, am Sonntag Nach¬
mittag einfach den Häuſern entlang ſich aufzupflanzen,
zu gaffen und gar nichts zu denken. Es war reiner
[311] Genuß des Seins ohne jeglichen Zuſatz, vollendete
Poeſie der Langweile, gründliches Erſchöpfen alles
göttlich Schönen, was im reinen Blödſinn liegt. Da
jedes Beſtimmte endlicher Art iſt, jedes Intereſſe den
Geiſt in's Bedingte führt, ſo ergab ſich hier dem
regungslos brütenden Gemüthe ein reines Weben und
Wiegen im Unendlichen und Unbedingten. Nur die
Jüngeren waren ſolcher idealen Erhebung noch nicht
ganz fähig. Eine Nelke hinterm Ohr ließ merken,
daß ſie gern geſehen wären. Sie zogen den inneren
Gaſſen den Corſo oder Jungfernſtieg vor. Wohl¬
habendere Dörfer ſparten ſich nämlich einen freien Gang
an der Seeſeite längs einer Reihe der äußerſten Hütten
aus, den nach außen ein Geländer begrenzte; ein ſolcher
Spazierweg fehlte auch in Robanus nicht, und hier
lehnten ſich denn die jungen Burſchen gern an die
Schranken oder ſetzten ſich darauf, gampelten mit den
Beinen und guckten, und die blühenden Töchter der
Gemeinde waren nicht ſo pfahlhaft trocken von Ge¬
müth, daß ſie mit ihrer Erſcheinung unbarmherzig
gegeizt und nicht ihrerſeits auch geguckt hätten.


Wo mochte wohl der Druide ſtecken in dieſer ſchwülen,
ſtillen Zeit nach Tages Mitte? Er war an einem
Orte, wo er nach herkömmlich heiligem Brauch in der
Stunde vor einer Opferhandlung zu verweilen pflegte,
an einer Stätte der Schauer, die kein Fuß eines Un¬
geweihten je betreten durfte. In der Mitte des Eichen¬
[312] hains, der ſich hinter dem Dolmen ausdehnte, war in
Kreisform ein Graben gezogen, der vom übrigen Ge¬
hölz einen dichteren Theil abſonderte, einen Hain im
Haine, worin die älteſten Eichen ſtanden und ihre
knorrigen Aeſte zu einem ſo verſchlungenen Dach in¬
einanderſchoben, daß kein Strahl der Sonne das
geiſterhafte Dunkel durchdringen konnte. Der allge¬
meine Glaube war, hier wehe der Odem der Gottheit
vernehmlicher, als draußen in der offenen Welt, und
verrathe Urgeheimniß dem Ohre des Prieſters; nur
ſcheue Blicke wagte das Volk von Weitem in das ver¬
botene Heiligthum zu werfen und eine dunkle Rede
gieng um, man könne die weiße Geſtalt der Selinur
und die gräuliche Unform des Grippo erkennen, wenn
es einem Mondſtrahl gelinge, ſich in dieſe Schatten¬
welt zu ſchleichen. An Feſten, wo Menſchenopfer fielen,
trat der Druide mit einem heiligen Eimer in dieß
Dunkel und beſchüttete die uralten Stämme mit dem
Blute der Geſchlachteten als dem edelſten, den Göttern
beſonders wohlgefälligen Safte. Es war lange her,
daß die Gemeinde kein Feſt gefeiert hatte, wo dieſe
werthvollſten aller Opfer gebracht wurden; ſie war im
Grunde mehr frieden- und erwerb-, als kriegliebend;
zwanzig Jahre waren verfloſſen, ſeit ſie an einem
Kampfe mit Nachbarſtämmen theilgenommen und ihre
wenigen Gefangenen dem Grippo dargebracht hatte.
Angus war damals noch auf einem Anfangsdienſte
[313] und ſeit er zu der hieſigen ſtillen Gemeinde verſetzt war,
hatte ſich kein Kapitalverbrecher finden laſſen, der an
der Stelle von Kriegsgefangenen hätte bluten können.
Es war theure Zeit geweſen für den Durſt der Götter.


„Hochwürdiger Herr,“ flüſterte eine rabenartige
Stimme. Der Prieſter trat aus dem Schatten näher
an den Graben. „Biſt du's, Hixi,“ ſagte er, „du
darfſt herein, Niemand ſieht es jetzt.“ Er ſchob das
Brett herüber, das ſeinem prieſterlichen Fuß als Brücke
des Einfaſſungsgrabens diente, und führte die Alte
an der Hand in's Dickicht. Sie erſchrack vor einem
Baumgerippe, das wirklich Grauen einflößen konnte;
es war eine faſt abgeſtorbene Eiche, deren Aeſte ſo
wild verkrümmt waren, daß ſie wie im Wahnſinn um¬
herzugreifen ſchienen, und an deren Stamm ein paar
Riſſe und Aſtlöcher ſich ſo zuſammenfanden, daß man
eine ſcheußliche Fratze zu ſehen glaubte. Die Rinde
war unten am Stamm kohlſchwarz. „Das iſt der
Grippo,“ ſagte gemüthlich der Druide, „das Schwarze
kommt von altem Opferblut; iſt lang nicht gegoſſen
worden.“ Aber kaum beruhigt fuhr Hixi auf's Neue
zuſammen: „Dort, dort — ein Geiſt!“ rief ſie. „Und
das iſt Selinur,“ ſchmunzelte der Druide, „ſieh' dir's
an!“ Es war eine Birke, die ſich als Gaſt zwiſchen
den Eichen befand und deren weiße Rinde ein ſchwacher
Lichtſtreifen traf, der ſich durch das dichte Laubdach
hereinſtahl. „Nun ſieh' auch dorthin,“ fügte er hinzu,
[314] indem er auf eine Stelle im tieferen Dunkel hinwies,
wo das Scheinholz eines verwesten Eichenſtumpfes
ſchimmerte: „da iſt auch Strahlenſtirn Talieſin.“ Sie
ſah ſich jetzt beruhigt, neugierig ſtaunend um wie ein
Kind in einer hübſchen Puppenſtube. Angus führte ſie
hierauf an einen mit ſtarken Farrenkräutern und Buſch¬
werk bewachſenen Platz; „da ſuch'!“ ſagte er. Sie
ſtreifte die Stauden auseinander und fand einen großen
Topf, auf's Haar gleich dem zertrümmerten Erbſtück
der Coridwen. Sie jubelte auf wie ein Kind, dem
der Haſe gelegt hat. — Es wurde verabredet, wie es
einzuleiten ſei, daß die Wundergabe gleich heut Abend
beim Feſt figuriere. Aber Urhixidur's Freude war
flüchtig, ſie wurde auf einmal ſehr traurig und begann
zu weinen. „Was iſt dir, Durli?“ — „Ich möcht'
eben weiſſagen lernen, ich bin ja nie dazugekommen.“
— „Noch kurze Geduld,“ ſprach er, „bald iſt Gelegen¬
heit: er ſoll hübſch zucken und ich werde dich kunſt¬
gerecht informieren.“


Sie flüſterten noch Einiges, was der Leſer aus
den folgenden Ereigniſſen ſo klar erkennen wird, daß
es für jetzt Geheimniß bleiben mag. Die Unterredung
durfte nicht lange dauern, der Prieſter brachte die ge¬
tröſtete Alte zurück, bei der Fratzeneiche vorübergehend
ſagte ſie: „Sollſt bald wieder einmal begoſſen werden.“
Angus half ihr über den Graben zurück und ſie ſchliech
auf Umwegen bis zur Dorfbrücke.


[315]

Endlich kam der Spätnachmittag und der Abend,
auf den alle Welt ſich freute. Wir geben vorerſt in
Kürze das Programm der Herrlichkeiten, die in Aus¬
ſicht ſtanden.


  • Erſtens. Das Opfer. Zum Beginn: Singung des
    Hymnus, vielmehr der zwei Hymnen, denn es ſollte
    ja nach dem Dichtwerke des Barden auch das Er¬
    zeugniß des Druiden zur Aufführung gelangen.
  • Zweitens. Ballet. Das Nähere wird uns ſeiner
    Zeit der Herold, dann der Anblick ſelber ſagen.
  • Drittens. Großer Feſtſchmaus mit Tafelmuſik und
    Extrabeleuchtung.

Vom Aufzug am vorletzten Abend unterſcheidet ſich
der heutige dadurch, daß an der Spitze die Muſik geht.
Sie iſt ungewöhnlich ſtark vertreten, wir haben bereits
gemeldet, daß zu den Künſtlern vom Fach noch manche
Kräfte beigezogen waren, welche das Spiel der Töne
ſonſt nur zum Zeitvertreib übten und welche man in
der Schnelligkeit noch etwas gründlicher durchzubilden
geſtrebt hatte.


Voraus ſchritten die größeren Blaswerkzeuge. Da
marſchirt ſelbſtbewußt der ſchon berührte Gaisbub, der
Virtuos auf dem langen Hirtenhorn. Es war zwar
nicht Sitte, der Ziegenheerde den Kuhreigen vorzublaſen,
aber der Burſche hatte ſich ſo begierig gezeigt, dieß
Inſtrument zu lernen, und in Alpin's Unterricht ſo
viel Eifer und Begabung entwickelt, daß man gern
[316] darüber hinwegſah, wenn er nicht nur außeramtlich
ſeinen Uebungen ſich hingab, ſondern auch ſeine Heerde
eines muſikaliſchen Genuſſes würdigte, der eigentlich
dem ungleich vornehmeren Rinde vorbehalten war.
Neben ihm ſtolziert ein Bläſer auf dem Stierhorn;
der größte Bullenſtirnſchmuck, den man auftreiben
konnte, war zum Tonwerkzeug ſo glatt als möglich
verarbeitet. Der dritte Mann in dieſer erſten Reihe
iſt ein Trompeter, wobei zu wiſſen, daß dieß Inſtru¬
ment, ehe das Metall bekannt war, aus dickem Leder
gebildet wurde.


Es folgen drei Pfeifer, doch nicht mit gleichen
Werkzeugen: der eine bläst die kurze Querpfeife, die
man Schwegel nannte; der zweite das Inſtrument,
das bei den Griechen Syrinx, bei den Pfahlbewohnern
Bündelpfeife hieß: Rohrpfeifen, nach der Tonleiter zu
einer Gruppe geordnet; der dritte weiß einem ungleich
entwickelteren, doch immer noch urſprunghaft unſchuldigen
Inſtrument eine Welt von etwas näslichen, doch innig
rührenden Tönen zu entlocken: es iſt der Dudelſack.


Die nächſte Reihe bilden drei Krottler. Krott
(der) hieß das Streichinſtrument jener Völker: eine
Geige mit drei bis vier Saiten. Kräftig führten
die heiteren Künſtler ihre derben Fidelbögen auf und
nieder und ließen dem gezogenen Anſtrich ſcharf ge¬
rupfte Riſſe folgen, die ſo recht mächtig an das Ohr
der erbauten Hörer ſchlugen. Nicht daß dieſe biedere
[317] vorgeſchichtliche Fidel dem weichen Elemente verſchloſſen
geweſen wäre, aber die Saiten waren immerhin etwas
dick und die Roßhaarſtränge des Bogens auch; ein
ſchmelzendes Adagio, das doch wohl nicht fehlen wird,
wäre für ſie freilich eine ſchwierige Aufgabe geweſen.
Da man ſich zudem die Töne der Pfeifen auch nicht
ſehr flötenhaft vorſtellen darf, ſo fühlte allerdings
auch der Pfahlbewohner, daß das zärtere Tonreich
einer doppelt ſtarken Vertretung bedürfe.


So folgten denn zwei Reihen, alſo ſechs Mann
Blättler. Ihre Kunſt war es, die in ſchönem Bunde
dem Starken und Strengen das Weiche und Milde
paarte, denn wirklich, ſie wußten dem zwiſchen den Lippen
erzitternden Buchenblatt Tonwellen abzugewinnen, denen
der Nerv des Gehörs in der zarteſten Schwingung
nachzittern mußte. Dieſe Töne gliechen dem Summen
und Surren ſchwärmender Bienen, aber wie arm iſt
dieſe zufriedene Muſik der emſigen Thierchen gegen
die melodiſchen Wechſel des lachenden Scherzes und
ſanften langen Weinens, wozu der ſeeliſche Menſchen¬
athem die grüne Pflanzenfaſer bewegte! Alpin, den
wir als Meiſter aller Blättler ſchon gerühmt haben,
konnte ſich dießmal der Mitwirkung nicht entziehen,
er mußte vielmehr die führende Stimme übernehmen;
es war ihm leid und lieb; wer gewußt hätte, was in
ihm vorgieng, hätte ſich leicht erklärt, warum heute
ſein Blättchen ſo beſonders ergreifend, ſo bange und
[318] wieder ſo wonnevoll erbebte, wenn man es zwiſchen
den andern Stimmen und Klängen heraushören konnte.


Etwas auffallend war es, daß man in der Anord¬
nung des Zuges dieß Weiche und Milde ſo unmittel¬
bar neben das Stärkſte des Starken geſtellt hatte, denn
hinter den Blättlern kamen, mit ziemlich behindertem
Schritte, die Trommler geſtiegen, vielmehr zwei
Trommler und ein Pauker. Die Eſelshäute waren
natürlich nicht über Meſſing, ſondern über ein Rund
gezogen, das von Schefflerhand aus reinlich weißen
Dauben gebildet und mit rothgefärbten Reifen um¬
ſpannt war. Die Pauke muß man ſich nicht wie die
doppelte Keſſelpauke unſerer Orcheſter, ſondern wie den
gewaltigen Bau vorſtellen, der bei der türkiſchen Muſik
quer wie ein Faß auf dem Bauche geſchleppt und auf
der einen Seite mit einem großen Schlegel, auf der
andern mit einem Wedel bearbeitet wird. Eine Schaar
Dorfknaben, die ſehr fröhlich die Muſikbande begleiteten
und ſich ihrem Geſchmacke gemäß namentlich zu den
Trommlern hielten, drängte ſich am dichteſten um
den ſtarken Mann, der mit derben Fäuſten auf dieß
Ungethüm einwirkte. Sie ſchliechen ſich ihm nahe, es
gelang etwan einem der Schelmen, mit ſeinem Stecken
auf das Paukenfell zu ſchlagen, er bekam einen Klaps
mit dem Wedel und das gab denn nicht wenig zu
lachen.


Zuletzt kam, einzeln für ſich ſchreitend, ein Mann,
[319] der ganz ausnahmsweiſe dießmal eine Rolle bei der
Muſik übernommen hatte. Es war der Dorfrätſcher,
das heißt das Gemeindemitglied, welches mit jenem
Inſtrument, das man in einigen Gegenden Deutſch¬
lands eine Schnarre, in andern aber vermöge uralter
Ueberlieferung aus der damaligen Zeit eine Rätſche
nennt, zweierlei Verrichtungen vollzog. Als Ausrufer
kündigte dieſer nützliche Mann die öffentlichen Bekannt¬
machungen durch die Klapperlaute ſeines Werkzeuges
an, wie ſeine Nachfolger in neuerer Zeit mit der Schelle,
als Flurſchütz verſcheuchte er durch ſein Geräuſch die
Vögel aus Obſtpflanzungen und Aeckern. Die Rätſche
war gewaltig groß, gut zwei Ellen lang; er hätte
keinen Raum gehabt, ſie zu drehen und zu treiben,
wenn er zu Dreien gegangen wäre, ſo beſchloß er den
Zug als ungerader neunzehnter Mann. Er blickte
ſtolz, er fühlte die Ehre, dießmal durch beſondere Ein¬
ladung des Druiden zur Kapelle gezogen zu ſein.
Bei der Einübung hatte er ſich ſehr gelehrig erwieſen
und erprobte dieß ſchon jetzt durch richtiges und kräf¬
tiges Einfallen bei den ſtärkeren Stellen der uralten
Marſchmelodie, unter deren Klängen in gleichem Schritt
und Tritt die Bande daher- und voranzog.


Nicht wenig reizte es die Neugierde der Knaben,
die den Zug umſchwärmten, daß einige der Muſiker,
namentlich die Bläſer, ſtattliche, von unbekanntem In¬
halt ſtrotzende Taſchen an der Seite trugen. Dieſe
[320] lächelten zu den fragenden Blicken, der Gaisbub that
beſonders geheimnißvoll und ſchlug manchmal mit eigen¬
thümlichem Augenzwinkern auf ſein gefülltes Umhängſel.


Den Muſikern ſchloſſen ſich, zunächſt unthätig, die
Singknaben an und hinter dieſen gieng in dem Feſt¬
anzuge und mit dem ſzepterähnlichen Stabe, den wir
ſchon kennen, der Druide, ſehr feierlich wandelnd, mit
ſcharfgeſchloſſenen Lippen wie ein Mann, der eines
Vorſatzes voll iſt. Die ſechs Gemeinderäthe fehlten
auch heute nicht im Zuge, ſie waren ſeine Aſſiſtenten
und Zeugen bei der Opferſchau. Die Ehrenſtelle nach
dieſer Reihe nahmen die zwei Gäſte, die Barden, ein;
erſt nach ihnen folgte dießmal der Weibel, der wieder
dem Bittel und Ehegoumer vorangieng; ihm war jetzt
das Amt zugefallen, dem Sängerbarden die große
Harfe nachzutragen. Und nun erſchien jenes Weſen,
das ſchon im erſten Zuge nicht gefehlt hat: Urhixidur.
Vor Jahr und Tag ſchon hatte der Druide ſeiner
werthen Hausmeiſterin auch das Ehrenamt einer Opfer¬
thierführerin, einer Opfernorne zuzulegen gewußt; nun
war es verjährt und galt wie ein Brauch, der nicht
anders ſein könnte. Sie führte mit der Rechten ein
ſchneeweißes Lamm an einem Roſaband, mit der Linken
an ſchwarzer Leine ein ſchwarzes Böckchen. Beide
Thiere waren mit einer Art von Schabraken geſchmückt
in denſelben Farben und mit einem Saume von gelben
Thonperlen und Franſen eingefaßt. Die Züge der
[321] Greiſin hatten heut etwas Entwölktes, ſanft Heiteres,
ſie wendete ſich mit weicher Beugung öfters zu den
Thierchen, wenn ſie nicht weiter wollten oder Sprünge
machten, redete ſie mit Koſenamen an und ſtreichelte
ſie, namentlich das Böckchen, das, anfangs ganz munter,
bald in eine Trägheit verfiel, ja ſo matt wurde, daß
es ſich zu Boden legen wollte. Die Alte konnte zwar
nichts von klaſſiſcher Idylle wiſſen, wir aber, die wir
davon wiſſen, können anders nicht ſagen, als: ſie fühlte
und trug ſich, ihr Alter ſchön vergeſſend, hold wie
eine arkadiſche Schäferin. Ihr folgte, eine blutrothe
Schürze angethan, der heilige Metzger: der Schlächter
der Opferthiere. Auf der Schulter hielt er die Stein¬
axt, im Gürtel ſteckte ein ſcharfer, ſchmaler Meißel mit
Hirſchhorngriff. Die Klinge beſtand aus einem Stein
von ungewöhnlicher Farbe: grün mit graulichen Wolken
durchzogen. Man fand dieſen Stein nirgends im
Lande, eine dunkle Sage gieng um, ſolche Opfermeſſer
ſeien kein Naturerzeugniß, ſondern eine Wundergabe
der Götter ſelbſt; er hieß daher heiliger Grünſtein,
während unſere profane Sprache ihm den Namen
Nephrit gegeben hat. Der Gemeinde voraus, die die߬
mal, Männer und Frauen, Alt und Jung, am Zuge
theilnahm, giengen heute die neu betuchten und durch
Ritzung beſiegelten Knaben und Mädchen, zu vier und
vier marſchierend wie die Gemeinde, und fleißig, ob¬
wohl meiſt unnöthig ihre friſchen Tüchlein in Gebrauch
Viſcher, Auch Einer. I. 21[322] ſetzend. So wallte denn der Zug dahin. Als er
über die Brücke war, fanden Alpin's Blicke in einer
Gruppe von Mädchen am Ufer endlich die Eine, die
ſie ſuchten. Inniger und heißer hauchte er auf ſein
Blatt und entzückt ſah Sigune herüber.


Der Zug langte am Opferplatz an; ein Flüſtern
des Staunens gieng durch die Reihen, je die Vorderen,
am Dolmen Angelangten deuteten, rückgewendet zu den
Folgenden, auf einen Gegenſtand hin, der ſich auf dem
Steintiſch befand. Es war Vielen aufgefallen, daß der
heilige Metzger heute nicht wie ſonſt den Kübel trug,
der das Opferblut aufzunehmen beſtimmt war. Nun
ſah man auf dem Altar einen Topf ſtehen, zum Ver¬
wechſeln ähnlich dem Coridwenhafen, dem Gegenſtande
ſcheuer Ehrfurcht nicht eben für Alle, doch für die
Meiſten in der Gemeinde. Der Prieſter hat, wie ſich
der Leſer erinnert, die Zerſtörung dieſes geheimnißvollen
Gefäßes „durch Frevlerhand“ öffentlich in der Ver¬
ſammlung beklagt. Unter den Vorbereitungen zum Feſt¬
zuge hatten ſich nun verſchiedene Stimmen vernehmen
laſſen, man werde ein Wunder vorfinden, wenn man
am Steinmal anlange. Sie giengen von einigen alten
Männern aus, Mitgliedern des Gemeinderaths, und
dieſe beriefen ſich wieder auf ein paar alte Weiber
und Kinder. Eine weiße Geſtalt, hieß es, ſei wie ein
Nebelſtreif aus dem heiligen Haine her zum Dolmen
geſchwebt und habe ein undeutliches Etwas auf ihn
[323] niedergeſetzt, das man, als ſie verſchwunden, als
Coridwentopf erkannte. Eine Frau habe es gewagt,
ihr hinkendes Kind naher zu führen, und ihm erlaubt,
den Finger an die Wand des Gefäßes zu legen: kaum
gethan, ſei das Kind fröhlich aufgeſprungen, das lahme
Bein ſei geheilt. Man zeigte das Kind, es war dem
wirklich ſo. Und nun denn ſah man wirklich den
Topf da ſtehen! Als der Druide bei dem Altar an¬
langte, ſchien er zu ſtutzen, hemmte einen Augenblick
ſeinen Schritt, betrachtete mit weit offenen Augen das
Geräthe, gieng dann vorwärts und trat, nachdem der
ganze Zug in der Ordnung eines Halbkreiſes aufge¬
ſtellt war, feierlich vor den Pfeiler mit dem Stein¬
bilde der Selinur. Er ſprach ein uraltes Gebet, das
die Weltenmutter anflehte, ſich das Opfer gnädig ge¬
fallen zu laſſen, und dem er heute mit tiefbewegter
Stimme Dankesworte für das Wunder beifügte, das
hier ſichtbarlich den Augen des Volkes erſcheine. „Du
haſt,“ ſprach er, „o Göttin, das Gefäß neu geſchaffen,
in welchem einſt jener geiſterfüllte Brei gekocht wurde,
durch deſſen Genuß nach wunderbaren Wandlungen
der Zwerg Gwyon zum Talieſin wurde, der unſern
heiligen Orden geſtiftet. Du ſelbſt haſt uns gewür¬
digt, in Lichtwolkengeſtalt dieſe Neuſchöpfung als
Göttergabe herbeizubringen und hier auf deinen Altar
zu ſtellen, ja noch mehr, du haſt ſeine Wunderkraft
an einem unglücklichen Erdenwurm bethätigt!“
[324] In dieſem Augenblick führte die Mutter das ge¬
heilte Kind hervor.


„Tanze und ſpringe, du beglücktes Weſen!“ rief
der Prieſter und das Mädchen umtanzte in rhythmiſchen
Galoppſprüngen den Altar.


Er vollendete ſein Gebet und jetzt führte Urhixidur
das Lamm vor, es wurde am Altare feſtgebunden und
fiel unter dem ſicheren Hiebe des Schlächters. Das
abfließende Blut wurde in dem Coridwentopf aufge¬
fangen. Als das Thier ausgezuckt hatte, öffnete er mit
dem Nephritmeißel ſeinen Bauch, zog die Eingeweide her¬
aus, der Druide prüfte ſie mit ſtrengem Einblick, nickte
dann mit froher Miene und beſagte dadurch, daß das
Opfer tadellos, glückverkündend und der Göttin will¬
kommen ſei. „Nimm es gnädig hin,“ rief er, „dieß
zarte, geſunde Lammesherz! In ihm ſind dir geweihet
alle frommen Herzen dieſer Gemeinde!“ Jetzt wurden
die Eingeweide auf das Holz gelegt, das auf der
Dolmenplatte gehäuft war, und das Feuer angezündet.
Als es praſſelte, hob der Schlächter den Topf auf
und überreichte ihn feierlich dem Druiden. Langſam
ſchritt dieſer mit ſeiner heiligen Laſt hinweg, dem
Haine zu und verſchwand in deſſen Dunkel. Lautloſes
Schweigen herrſchte im Kreiſe. Alles Volk wußte,
daß jetzt im Heiligſten des Waldes der Baum der
Selinur mit dem Opferblute begoſſen wurde. Nach
kurzer Zeit kam der Prieſter zurück, das Feuer brannte
[325] noch und jetzt begann der Geſang des neuen Hymnus.
Zur Begleitung hatte Kullur nur die Pfeifer und
Blättler und für einige Stellen das Hirtenhorn bei¬
gezogen. Anfangs ſchüchtern, dann voller und freier
folgte die Gemeinde der führenden Muſik, den tragen¬
den Stimmen der Knaben und älteren Männer, denen
die Weiſe noch in Erinnerung war, das Gefühl des
Ahnungsvollen in den traumhaft tiefen Worten ergriff
ſie ſtärker und ſtärker und bald ſchwoll ein Maſſengeſang
heran, ſo mächtig wogend, wie er aus Stimmen der
heutigen Menſchenwelt nimmermehr zu erzeugen wäre.


Als der Geſang ausgeklungen, trat der Druide
vor und begann: „Ich erlaube mir nun, hochgeachtete
Gäſte und achtbare Gemeinde, euch den beſcheidenen
Verſuch vorzuführen, deſſen ich vorgeſtern Erwähnung
zu thun mir die Ehre gab. Der Urheber eines Werkes
iſt ein parteiiſcher Zeuge für ſeinen Werth. Hört an,
urtheilt, ich unterwerfe mich eurem Ausſpruch! Nur
die kurze Bemerkung ſchicke ich der Produktion noch
vorauf, daß mir wohlbewußt iſt, wie dieſelbe vielleicht
etwas länglich erſcheinen dürfte. Dieß rührt daher, daß
ich glaubte, ein Ganzes zunächſt aus zwei Gliedern
bilden und bauen zu müſſen: das erſte mehr lehrhaft,
um dem Inhalt unſeres heiligen Glaubens klaren, ver¬
ſtändigen und verſtändlichen Ausdruck zu geben, das zweite
Glied aber echt lyriſch, um dann auch der Empfindung
ihr volles Recht zu gönnen, denn das Erſte iſt, daß die
[326] Religion als ſtrenge und deutliche Wahrheit feſtſtehe,
das Zweite, daß dieſe Wahrheit, nachdem ſie den
Menſchen ganz durchdrungen, nun auch ganz in Ge¬
fühlsleben ſich umſetze und verwandle. Uebrigens er¬
wartet, wenn jemals, ſo gewiß auch dießmal, der
große, furchtbare Grippo ſeinen beſondern Feſt- und
Lobgeſang. Dieſer Pflicht wird mein Hymnus ent¬
ſprechen und ſich ſo zu einem dreigliedrigen geſtalten.
Noch bemerke ich, daß ich die achtbare Gemeinde für
jetzt noch nicht zum Mitſingen aufzufordern für paſſend
halte. Dem erſten Glied meiner Dichtung zwar iſt
eine alte ſtrenge Weiſe zu Grunde gelegt, in welche
die ehrenwerthen älteren Bürger ſchnell ſich wieder ein¬
finden werden; anders aber verhält es ſich mit den
folgenden Gliedern, wo Dicht- und Tonkunſt zu un¬
gewohnten Höhen kunſtreicherer Bewegung ſich auf¬
ſchwingt und unter dem Mitgeſang Ungeübter leicht
die Feinheiten, insbeſondere der Inſtrumentalbegleitung,
leiden könnten. Ich ſchlage vor, ich rathe: ſingen
wir gemeinſchaftlich das erſte, größere, einfachere Glied
meiner Trilogie heute Abend zum Beginn des Feſt¬
ſchmauſes und überlaſſen wir es der Zukunft, ob nach
öfterem Vernehmen das Gehör der Gemeinde auch in
die ſchwierigeren, kunſtvoller wechſelnden Weiſen der
folgenden zwei Glieder ſich ſo eingewöhne, daß ſie zum
Volksgeſange werden können.“


Es erfolgte ein beifälliges Nicken, er hob die Hand
[327] wie ein Kapellmeiſter, gab mit den erſten Worten den
Ton an, die Knabenſtimmen ſetzten hell und ſicher ein,
nur die Krottler begleiteten die erſten drei Strophen,
bei der vierten und fünften wirkten die Trommler, der
Pauker und der Rätſcher mit, bei der letzten fielen
die Blättler ein und ein Finale von Pfeifern und
Hornbläſern ſetzte das Punktum. Da wir noch ganz
andere Leiſtungen zu erwarten haben, ſo genüge es,
zu bemerken, daß ohne Fehl und Mangel der Strom
des Hochgeſangs in Ohr und Gemüth der andächtig
lauſchenden Gemeinde ſich ergoß.


Niemand ſoll die Naſe rümpfen,

Daß wir zwiſchen Moor und Sümpfen,

Zwiſchen Schilf und Weidenſtümpfen

Auf den Seen ſeßhaft ſind!

Die du webſt in Nebelhüllen,

Sanft erhaben in dem ſtillen

Mondſchein throneſt, deinem Willen

Folget fromm das Menſchenkind.
Doch du haſt uns auch belehret,

Deinen Willen uns erkläret,

Deine Gnade ſei verehret,

Große Weltenſpinnerin!

Du erlaubſt, daß in die Zwecke

Unſre Einſicht ſich erſtrecke,

Zeigſt uns, wo verborgen ſtecke

Deiner Vorſchrift tiefer Sinn.
[328]
Menſchen pfleget zu befallen

Oft ein Uebel, das vor allen

Sie erfaßt mit ſcharfen Krallen,

Welches Pfnüſſel iſt benannt;

Kommt und wächst es ohne Regel,

Ueberſteiget es den Pegel,

So wird davon Kind und Kegel

Bitterbös und wuthentbrannt.
Wenn es ſchleichet durch die Glieder,

Beißt und kitzelt hin und wieder,

Wenn es von der Naſe nieder

Steigt bis in des Magens Schacht,

Aufwärts wieder dann erbrauſet

Zum Gehirn, das gährt und ſauſet,

Dann im ganzen Menſchen hauſet

Grippo's finſtre Herrſchermacht.
Es erwachen, es entzünden

Sich dann in der Seele Schlünden

Alle Tücke, alle Sünden,

Bös Gelüſte, dumpf und taub,

Wolluſt toll und ohne Schranken,

Zorn und Luſt zu wüſtem Zanken,

Mörderiſche Haßgedanken,

Diebſtahl, Lug und Trug und Raub.
Dieſem Uebel nun gebietet

Selinur, die uns behütet,

Die im grauen Seedunſt brütet,

Ordnung, Ziel und Mäßigung;

[329]
Regelmäßig ſoll es kommen

Und, iſt es einmal entglommen,

Klar verlaufen und uns frommen

So ſogar zur Läuterung.

Die Gemeinde hatte ſich doch nicht ganz nur lau¬
ſchend verhalten; einige geſetzte ältere Bürger und
ſogar einige alte Frauen hatten es ſich nicht nehmen
laſſen, nachdem ſie ſich in die alterthümliche Choral¬
melodie wieder eingehört, bei der zweiten Strophe ein¬
zufallen, die Weiber nicht ohne den gewiſſen Näſel¬
ton, der didaktiſchen Kirchenliedern im muſikaliſchen
Vortrag ſo gut anſteht, auch nicht ohne die Wagniß,
bei gewiſſen Uebergängen angenehme Koloraturen an¬
zubringen. Die übrige Geſellſchaft aber verharrte
allerdings in der Rolle des bloßen Zuhörers, der ge¬
ſetztere Theil mit Gebärden und Mienen, die eine
große Genugthuung kund gaben, ganz das Gefühl,
wie wir es dem höchſt einleuchtend Klaren gegenüber
empfinden. Auf den jüngeren Geſichtern dagegen er¬
ſchien ein gewiſſer Ausdruck, den man in Süddeutſch¬
land mit dem Worte zu bezeichnen pflegt: er hat den
Glotzer. Dieſer Ausdruck war ſo weit als möglich
entfernt von irgend einem Zeichen des Urtheils, wir
würden ſagen: unbeſchreiblich dumm, wenn wir geneigt
wären, über gewiſſe Zuſtände, worin wir unfähig ſind,
zu irgend einem Gegenſtand in ein inneres Verhältniß
zu treten, ein herbes Gericht zu halten. Der Druide hatte
[330] unausgeſetzt die zwei Barden fixirt; ſie kamen ihm jetzt
entgegen mit ſehr aufgeweckten Geſichtern, in denen ſich
zwar einige Verlegenheit ſpiegelte, wie ſie zwiſchen Wahr¬
heit und Höflichkeit durchkommen ſollten, ohne doch allzu
ironiſch zu werden. Er erſparte ihnen die Schwierigkeit,
indem er leuchtenden Auges bat, ſie möchten ihr Urtheil
noch zurückhalten und vorerſt auch den poetiſcheren,
lyriſch und muſikaliſch bewegteren Nachſatz hören, oder
ſozuſagen den feineren Giebel ſeines Aufbaus betrachten.


Er wandte ſich, gab wieder ſein Zeichen. Ein
Theil der Muſiker war inzwiſchen beſchäftigt geweſen,
aus den mitgebrachten Säcken auf eine Schranne, die
ſie ſich hatten hinſtellen laſſen, kleinere und größere
Körper, Artefakte ganz unbekannter Art, ſorgſam und
geordnet hinzulegen. Wir geben zuerſt den Text:


Sende, o Nebliche,

Mondenſcheinſchwebliche!

Sende das kitzliche,

Prickelnde, bitzliche,

kratzende, kritzliche

Uebel uns nur!

O Selinur!

Pfiſala, Pfniſala, Pfeia!
Gleitende, Wehende!

Spindelumdrehende!

Hüte vor Stopfungen,

Stockungen, Pfropfungen,

Raſigen Knopfungen

[331]
Gnädig uns nur!

O Selinur!

Pfuiſala, Pfuiala, Pfuia!
Schenke, o Schimmernde,

Röhrichtdurchflimmernde!

Läſtigen Fließungen,

Huſtigen Nieſungen

Läuternde Schließungen,

Schenke ſie nur!

O Selinur!

Leiala, Fleiala, Fleia!

Die Muſik begann je bei den zwei erſten Zeilen
dieſer drei Strophen mit einigen ſtimmungsreichen
melodiſchen Sätzen, wobei die Blättler ihr Beſtes
thaten und nur von den Pfeifern unterſtützt wurden.
Das gewiſſe Helldunkle, Schwebende, Flüſternde, zart
Geiſterhafte in dieſen Stellen kam wirklich zu gefühlter
muſikaliſcher Geltung. Bei den folgenden Zeilen aber
ſprang die Muſik in ein Element über, welches die
Welt bis dahin noch nicht gekannt hatte. Statt ſich
im Melodiſchen gedankenlos zu wiegen, wurde ſie ganz
nur ausdrucksvoll. Nicht nur, was jedes Wort, nein,
was jede einzelne Sylbe, ja jeder Buchſtab ſagte, kam
in Tönen, Tonbewegungen, Klangfarben zu unnachahm¬
lich charakteriſtiſcher Offenbarung. Zu dieſem Zweck
nun bedurfte es auch neuer inſtrumentaler Mittel; in
einer Reihe geheimgehaltener Berathungen mit dem
Druiden hatte der Gaisbub unter ſeiner Anleitung
[332] und inſpirirt von ſeinem eigenen eminenten Talent
eine Anzahl ungekannter Zuthaten zu den Tonwerk¬
zeugen, kleine Kunſtwerke für ſich, geſchaffen; für die
Trommler hatte er verſchiedene, feinere und gröbere,
rund- und ovalköpfige Schlegelpaare zierlich hergeſtellt,
die Syrinxpfeifen hatten Anſatzſtücke nach Höhe und
Tiefe aus Schilfrohr erhalten, die mittelſt feiner Horn¬
haften ſchnell angefügt werden konnten; die Löcher der
Schwegeln waren vermehrt, jede hatte zum Abwechſeln
drei neue Einſatzſtücke bekommen; da es noch keine
Drehbank, alſo auch keine Schrauben gab, ſo hatte es
keine kleine Mühe gekoſtet, es zu bewerkſtelligen, daß
dieſe neuen Theile durch fein geſchnitzte, wohl gerun¬
dete und geglättete Nüſſe und Zapfen dem ſchnellen
Wechſel mitten in der Produktion bequem und hand¬
lich dienten; ſo hatten ferner die Dudelſackpfeifen, das
Stierhorn und die Ledertrompete verſchiedene Mund¬
ſtücke von breiterer oder ſchmälerer Oeffnung erhalten;
die größte Sorgfalt aber hatte der junge Tauſend¬
künſtler auf ſein eigenes Inſtrument, das lange Kuh¬
reigenhorn verwendet: hier waren die Zuthaten am
reichſten und die Arbeit die feinſte, nicht nur verſchie¬
dene Mundſtücke von ungleicher Weite der becherför¬
migen Oeffnung, ſondern auch Endſtücke von verſchie¬
denem Durchmeſſer der Mündung waren beſtimmt, als
Mittel zu vielſagenden Tonſchattirungen zu dienen. Nun
begann dieſe Wunderwelt von neuen Bereicherungen
[333] der Mechanismen ihre ganze Kraft und Fülle zu ent¬
wickeln bei den drei gleichreimigen Zeilen in der
Mitte der Strophen, und noch unendlich mehr bei den
aus der Tiefe des Weſens der Sache und der Sprache
mit dunkelgewiſſer Symbolik des Klanggefühls geholten
Lautfiguren je in der letzten Zeile. Dieſem Schluſſe
gieng aber in jeder Strophe wieder eine Leiſtung der
ſanften Blättler voraus, denn ihnen war vorherrſchend
die Begleitung der Anrufungen der Göttin in der
dritt- und vorletzten Zeile übergeben, ſchön lösten ſie
die Aufgabe, an dieſer Stelle in die weichen Modula¬
tionen der Versanfänge zurückzulenken, und ſo bewegte
ſich denn die volle, mächtige Orcheſterentfaltung zwei¬
mal in jeder Strophe durch eine Welt lebendiger
Kontraſte zum ſeelenvollen Schluß. Wie ſollte man
nun mit den Mitteln der Sprache ſagen können, welchen
Ausdruck das gewiſſe Spitzſcharfe der I und Z in
dem: „kitzliche, bitzliche, kritzliche“ durch die neuen Ton¬
mittel fand! Mehrere Zuhörer mußten unmittelbar
nieſen und huſten, es fuhr ihnen, wie vom Ohr in
die Seele, ſo von der Seele flugs in die Naſe. Be¬
kannt iſt, daß bei den ſchnuppigen Vorgängen in Naſe,
Rachen und Lippen neben anderen akuteren auch ge¬
wiſſe blaſende Töne erſcheinen; dieſe höchſt feine Nüance
kam in der Exekution des „Pfiſala, Pfniſala, Pfeia“ zu
ungeahnter, geradezu hinreißender Geltung. Im fol¬
genden Vers das dumpf Verſchloſſene, Luftſuchende in
[334] den Reimen „Stopfungen, Pfropfungen, Knopfungen“
— es erdrückte den Hörern faſt den Athem, der horn-
und lederdunkle Ton des Stierhorns und der Trompete
verſetzte das Gemüth mitten in den Engpaß der bang
verſperrten Naſenhöhle, und wohlangebrachte Pauken¬
ſchläge mit den größeren Schlegeln vermehrten die
finſteren Schrecken dieſer Gefangenſchaft; knarrende
Rätſchenlaute, ſchrille Pfeifentöne, ſcharfe Fidelbogen¬
riſſe, näſelnde Dudelſackſchnarrungen dazwiſchen gaben
den momentanen Oeffnungen der Einpreſſung, dieſen
kargen Befreiungen ihr wohlverdientes Recht. Jetzt
folgte das mächtig beredte: „Pfuiſala, Pfuiala, Pfuia!“
Hier that das lange Hirtenhorn ſein Beſtes, nicht ohne
daß Stierhorn und Trommel wieder großartig mitge¬
wirkt hätten; breite, fagotartige Klänge zogen ſich mit
gehaltener Energie zu geſtreckter Dehnung aus, die
Krottler giengen von ihren kurzen Rupfen zu lang
getragenen Strichen über, Paukenſchläge beſagten ein
Etwas wie verwerfenden Abſcheu, aber gleichſam mit
geiſtreicher Frivolität wurde dieſes Pathos umſpielt
von kurzen, neckiſch tanzenden Blatt- und Pfeifen¬
tönen. Dann nahmen dieſe weicheren Tonwerkzeuge
einen Uebergang in's Schmelzende und Rührende, wo¬
mit ſie die letzte Strophe, dieſen ſtimmungsvollen
Ausdruck der Löſung, der Befreiung einleiteten. Zwar
nicht ſogleich erfolgte dieſer Uebergang, gewiſſe rinnende
und rieſelnde Töne, bei den „läſtigen Fließungen“
[335] hervorſchlüpfend, hatten noch etwas Gehemmtes,
Stockendes, Aengſtliches, dann wieder Heftiges; als
die „huſtigen Nieſungen“ folgten, wurde mit kurzen
Paukenwirbeln, Knarrgeräuſchen, punktuellem Pizzicato¬
ſpiele auf den Fideln, mit einzelnen Hornſchmetterungen
noch einmal das nun fernab ſchwebende Uebel angedeutet,
aber bei den „Schließungen“ begann nach einer Ruhe¬
pauſe ein himmliſch ſanftes Adagio flötenartiger Moll¬
klänge, das für ſeine völlige Entwicklung ſich an den
finalen Sylben-Ausklang: „Leiala, Fleiala, Fleia“ wun¬
dermild anlehnte; jetzt wurden ja nicht nur die hellen
Vokale ei und a, ſondern auch die weichen Konſonanten
L und F aus Buchſtaben zu muſikaliſchen Tönen und
offenbarten erſt ſo den geheimnißtiefen Sinn ihrer
Wahl; innige, ſeligmüde Auflöſung, das war das Grund¬
gefühl; die Mehrheit der Zuhörer, der Frauen insbe¬
ſondere, ergoſſen ſich in wehmüthig ſanfte Thränen, ein
kurzer Paukenſchlag — und die Aufführung war geſchloſſen.


Langes Stillſchweigen, dann ein gezogenes, tief¬
geholtes „Ah!“ und hierauf brach ein Jubelſturm los
ohnegleichen, — zwar nicht allſeitig; einige Zuhörer
verharrten in Schweigen, andere brummten, etliche
wenige grunzten, aber dieſe Verſtockten wurden über¬
flutet vom Stimmengewoge der jauchzenden Menge.
Man eilte auf den Schöpfer des Wunderwerks zu,
man umarmte ihn, man rief: „Ueberweltlich!“ Aber er
erwehrte ſich; als er zu Worte gekommen, ſagte er
[336] ſehr ernſt: „Wir haben des ernſten Gottes Grippo
noch nicht gedacht! Zuerſt das Opfer! Dann das
letzte Glied des Hymnus, den Schluß der poetiſch¬
muſikaliſchen Triade!“


Er trat vor den Pfeiler mit dem Molchbild. Er
ſchaute lang die rohe Steingeſtalt an mit bedenklich
ernſten Blicken. Er ſprach feierlich das Gebet an den
Gott und rief dann Urhixidur zu: „Führe das Opfer
vor!“ Sie ſtand bei dem Böcklein und ſchien es mit¬
leidig anzuſehen, denn es lag matt am Boden. Sie
zog es in die Höhe, es ſtand ſchwank auf den Füßen,
der heilige Metzger that wieder ſeine Pflicht, dann
ward der Bauch des getödteten Thierchens aufgeſchnitten,
der Druide ſah hinein und ſchüttelte bedeutungsvoll
trüb den Kopf. „Der Magen entzündet! Milz und
Leber geſchwollen!“ ſagte er in dumpfem Tone und
erklärte: „Grippo verſchmäht das Opfer, das Opfer¬
holz wird nicht angezündet! Der heilige Baum muß
unbegoſſen bleiben!“


Eine bange Stille lag über allem Volk. „Seinen
Hymnus aber wird er nicht verſchmähen, tretet aber¬
mals vor, ihr Sänger und Muſiker!“ Sie folgten,
ſichtbar erſchöpft, am meiſten der Gaisbub. Ehe ſie
begannen, ſprach der Druide: „Ich erſuche die hoch¬
achtbare und achtbare Geſellſchaft, zu bemerken, daß
ich für angemeſſen erachtet habe, bei dieſem dritten
Gliede meines Dreigeſangs, das ebenſoſehr auch als
[337] ſelbſtändiger Hochgeſang zu gelten hat, die uralt ge¬
wichtige Form des Stabreims anzuwenden, und zwar,
was ich nicht zu überſehen bitte und was nicht ſehr
leicht war, in dreizeiliger, zum Theil ſelbſt vierzeiliger
Durchführung. Was ihre Klangverhältniſſe ausdrücken,
werdet ihr fühlen, wenn ihr mit offnen Sinnen hören
wollt. Hebet an!“


„Du aber, Grippo!

Grimmiger Greifer,

Grunzender Lindwurm,

Dräuender Drache!

Jegliche Dumpfheit,

Dickung und Dämmung,

Die das Gehirn drückt,

Wenn ſich der Pfnüſſel

Sperret und pferchet,

Spare dem Pfahlmann,

Pfropfe dem Feind ein,

Daß er in Stumpfſinn

Stocke und ſtarre,

Sticke und ſtiere!

Uns aber laſſe,

Liegen im Krieg wir,

Läſtigen Uebels

Einziges Gute,

Glühenden Wuthbrand,

Grinſende Zornwuth!

Laß von dem Schnupfen

Uns nur das Schnauben,

Schäumende Toben,

Viſcher, Auch Einer. I. 22[338]
Daß unter Streichen,

Stichen und Stößen

Sterbe der Feind! —

Wähle dein Opfer!

Wir bringen's willig!

Wär' es das Höchſte:

Heiß ſchlagend Manns Herz,

Heiſche es immer!

Wir zucken Meſſer

Zwiſchen die Rippen,

Ziehen es zerrend

Raſch aus des Feinds Bruſt,

Wildfrechen Frevlers;

Feuer ſoll flammen,

Blutrothe Zacken

Hoch aus der Beuge

Brennender Scheiter!

Und in die Lohe

Werfen das leckre

Liebliche Mahl wir

Loblieder ſingend.

Griffolo, Griolo, Grio!

Gruffulu, Grugulu, Gruffu!“

Wir müſſen hier jeden Verſuch aufgeben, in Worten
zum Ausdruck zu bringen, was bei dieſer dritten
Leiſtung nun noch den Singſtimmen zugemuthet war
und welches ſchäumende Meer von dumpfen, drohenden
murrenden, aufziſchenden, ſchrillen, zum Theil auch
vermittelſt grellen Pfeifens durch die Finger hervor¬
gebrachten, dann donnernden, brüllenden, wirbelnden,
[339] dann gedehnt anſchwellenden oder wellig geſchlängelten,
dann wieder aufſchreienden, bellenden, grellrätſchenden
Inſtrumentaltönen losgelaſſen wurde. Es war dem
Dichter und Komponiſten gelungen, ein hölliſches Kon¬
zert, einen Hexenſabbath zu entfeſſeln, dem in jetziger
Zeit kaum der Gehörsnerv eines Ochſen gewachſen wäre.
Das Unmögliche war wirklich gemacht: dieſe Muſik
erſt war ganz und wahrhaft nicht nur entwickelter
Vokal, ſondern — wie es der Stabreim mit ſich brachte
— ſogar entwickelter Konſonant. Die G, die D, die
Pf, die St, die L, wieder die G, die Sch, von
Neuem die St, die W, die H, die Z, die F, die B,
die abermaligen L, endlich noch einmal die G als
Gr wurden — weiß der Himmel, vermöge welcherlei
unausſprechlicher Verwendung der aufgeführten Inſtru¬
mente mit ihren neuen Zuſätzen, wozu noch klappernde
Büſchel von Hölzchen, Säckchen voll kleiner Steine und
aus dem Reiche der Fauna getrocknete Gansgurgeln
mitwirken mußten, — alle dieſe Laute wurden bis zu
vollendeter Charakteriſtik ihres tiefen Sinnausdrucks
reproduzirt. Die wilde Muſik der ungariſchen Zigeuner
ſei, ſagt man, in Noten nicht darzuſtellen — von
ſolcher Schwierigkeit war der große Künſtler Angus
durch den Umſtand befreit, daß es damals noch keine
gab; — ſagen wir aber nicht: Noten, ſondern: Geſetz —:
nur ein Prophet, der das Senkblei ſeines Geiſtes in den
Abgrund noch verhüllter Weltordnungen niederzulaſſen
[340] vermag, wäre fähig geweſen, dieſer ungeheuren Tonwelt
in die Tiefen ihres verborgenen Melodie- und Harmonie¬
geſetzes nachzutauchen. Das Höchſte war nun aber auch
hier wieder in den Ausklangſylben geleiſtet. Die Muſik
war wilder und wilder geworden, als ſich der Text
zu der Stelle vom Menſchenopfer fortbewegte, das dem
Grippo, wenn er es verlange, bereitwillig geweiht ſein
ſolle. Dumpfe Trommelwirbel kündigten das Schreck¬
liche an, ein plötzlicher Schlag ſchien zu ſagen: jetzt
wird dem Feind das Herz aus dem zerſchlitzten Leibe
geſchnitten! Dann meinte man ein ziſchendes Reißen
zu hören, tief, dunkel, todesbang klang es hervor, wo
die Worte „wildfrechen Frevlers“ betont wurden, —
dann fieng es an zu lohen, zu praſſeln, es war, als
würden Töne zu leckenden Flammenzacken, zu wirbelndem
Rauch, plötzlich bei den Worten: „Das leckere liebliche
Mahl wir, Loblieder ſingend“ drang, von den Blättlern
und Schweglern vorgetragen, eine weiche Melodie
dazwiſchen, doch nur um dem Grauſen Platz zu machen,
das nun eben bei den ſo bedeutungsvoll unſprachlichen
Schlußlauten in die Seele des Hörers gepreßt wurde.
In der erſten Reihe derſelben, wo der Vokal I herrſcht,
ſprangen aus dem ſchwarzen Hintergrunde der geblaſe¬
nen Tieftöne der zweierlei Hörner und der Trompete
noch eigenthümlich ſcharfſpitze Klänge der höchſten
Pfeifenregiſter hervor, ſtärker und ſchwerer intonirten
dieſe Blaswerkzeuge, als in der zweiten Reihe (Gruffulu
[341] u. ff.) nun das U in ſeine tiefſinnige Rolle eintrat.
Schauriger und ſchauriger wuchſen dieſe Töne, jetzt
miſchten ſich in anſchwellenden Wirbeln wieder die
Trommeln ein, dann furchtbar knarrend und ſchnarrend
die Rätſche, nach und nach alle Inſtrumente und end¬
lich ſchien der Höllenſchlund ſelbſt — „beſinnungraubend,
herzbethörend, des Hörers Mark verzehrend“ — alle
ſeine Schrecken, ſeine Dämonen, ſeine Furien auszu¬
ſpeien. Der Barritus, das Kriegsgeheul der Cimbern
und Teutonen, vor dem die Legionen des Marius
bebten, war ein Spaß dagegen. Ein langer, centner¬
ſchwer ahnungsvoller Stierhornton ließ als Finale alle
Welt der Todesbangigkeit, die in dieſen muſikaliſchen
Schreckniſſen zum Durchbruch gekommen, zukunftdrohend
in's Unendliche hinüberdröhnen.


Als die Zuhörer nach und nach zu ſich kamen,
war es, als ob man auf ein Schlachtfeld ſähe. Die
Sänger und Muſiker lagen halb ohnmächtig am
Boden, der Rätſcher wirbelte taumelnd im Kreis, der
Gaisbub wälzte ſich, mit Todesſchweiß bedeckt, in epilep¬
tiſchen Krämpfen, der Arme hatte ſich des Guten zu
viel zugemuthet. In ähnlichem Zuſtand befanden ſich
die Hörer und noch mehr die Hörerinnen. Nur ganz
wenige unter den Männern waren ruhig geblieben und
ſchienen einfach zu denken, was denn eigentlich das
nun ſei, was ſie gehört hatten. Weit die Mehrzahl
war außer ſich. Von den Weibern lag ein Theil
[342] von Weh und Entzücken geſchüttelt halbtodt zappelnd
an der Erde. Andere, im Verein mit der empfänglichen
Mehrzahl der Männer, jubelten, jauchzten, klatſchten
ſich die Hände faſt blutig, ſchrieen, tobten, weinten,
Einige waren vom St. Veitstanz ergriffen, Andere
tanzten Figuren, die mehr dem Saltarello und der
Tarantella gliechen, die Mehrzahl ſtürzte, von heiliger
Wuth ergriffen, auf den Meiſter zu, ihn zu umarmen.
Er aber ſtand ruhig, hielt ſie ab und als er ſich noth¬
dürftig Stille geſchafft, ſprach er: „Ihr habt nun ge¬
hört, was wir können! An euch liegt es, ob es künftig
eine Pfahlvolkmuſik geben ſoll!“


Dieſes große Wort brachte die Nerven zur Ruhe,
indem es vor das innere Auge ein Zukunftsbild hin¬
ſtellte, an welchem die Geiſter ſtill hinaufſtaunten. Als
ſie, ſo beſchwichtigt, nach Möglichkeit zu ſich gekommen
waren, ſtieg in der Gemeinde die Erinnerung an
das von Grippo verſchmähte Opfer und hiemit die
Frage auf, was nun in dieſer Rückſicht geſchehen ſolle.
Die Frage wurde laut, durchlief die Reihen und ge¬
langte durch einen Gemeindeälteſten an den Prieſter.
Er ſchwieg mit geheimnißvollem Ausdruck im Blick
und, als hätte er gar nicht gehört, rief er dann in
ganz gemüthlichem Tone: „Wir haben unſere Seelen
zu tiefem, andachtsvollem Ernſte geſammelt, haben ſie
hoch, höchſt, zum Höchſten empor angeſpannt, laßt ſie
uns nunmehr abſpannen! Laßt uns Kinder ſein, uns
[343] wie Kinder freuen! Dem Erhabenen folge das heitere
Spiel. Auf zum Haine!“


Gern begleitete ihn die Schaar in eine Lichtung
des Haines, wo ſie eine einfache Bühne aufgeſchlagen
fand. Die Einfaſſung war aus Laubwerk, einem Ge¬
flechte blattreicher Zweige, hergeſtellt. Ueber das wenig
erhöhte Podion weg ſah man in den natürlichen
Wald, deſſen Boden hier etwas aufſtieg, ſo daß ſich
der künſtliche der Bühne an ihn anlehnte und das
Waldſtück bequem für die Handlung verwendet werden
konnte. Ein paar Felsblöcke zwiſchen den Bäumen
konnten dabei ſo oder ſo ganz gut mitbenützt werden.
Was von Muſikanten ſich wieder emporgerafft hatte,
war vor der Bühne als Orcheſter aufgepflanzt. Es
war gut, daß eine Trauerkunde, die langſam ſich ver¬
breitete, erſt gegen Ende der Aufführung das Ohr der
Künſtler erreichte: der Gaisbub war gerettet, hatte
aber einen Leibſchaden genommen. — Ein Hornſignal
gab das Zeichen zum Anfang. Ein Herold trat auf
die Bühne, lebendiger Theaterzettel; er blies auf ſeiner
Ledertrompete eine Fanfare und ließ ſechs ſonderbare
Töne folgen, zwei ſpitze und einen ſtarkdumpfen, dann
wiederholte er ſolche in umgekehrter Ordnung: ein Vor¬
bild deſſen, was der folgende Titel mit Worten beſagte;
er ſetzte ab und rief: „Wir werden heute die Ehre
haben, unſeren hochachtbaren und biederen Gönnern
vorzuführen das Tanzſpiel:

[344]

Hu — hu — brum — brum — hu — hu!
oder
Entbehrung iſt Entbärung,

erfunden und in Szene geſetzt


von


Tanzmeiſter und Tanzdichter Hopp-Hoppodur.


Das Spiel begann. Ein mächtig großer Bär
trat auf, in jeder Bewegung noch plumper, als Bären
ſonſt ſind. Er ſetzt ſich auf einen Felsblock, ſtreckt
die Vorderfüße ſehnſuchtsvoll in die Luft, drückt auf
jede Weiſe das ſchmerzliche Gefühl des Alleinſeins aus
und ergießt ſich in Thränen. In Ermanglung eines
Sacktuchs wiſcht er ſich die Augen und ſofort auch die
vom Weinen hörbar affizirte Naſe mit den Tatzen,
welche er hierauf an ſeinem Pelz abreibt. Heftiger
wird das Weinen, es geht in Gebrüll über, heftiger
werden die genannten Wiſchbewegungen. Plötzlich hält
er inne, ſtarrt in's Weite und verſchwindet mit ſchwer¬
fälligen Sprüngen von der Bühne.


Nach kurzer Zeit erſcheint eine Bärin, ungewöhn¬
lich glatt von Pelz, von rundlicher Hüftbildung und
weich von Bewegungen. Hinter ihr Petz. Sie ſetzt
ſich mit vornehmem Anſtand auf den Felsblock.
Petz wartet vor ihr auf, ringt die Vorderfüße, fällt
dabei ungeſchickt um und wälzt ſich wild brummend
am Boden, die Bärin lacht. — Es war wie im italie¬
[345] niſchen Maskenſpiel erlaubt, mit einzelnen Lauten die
Stummheit der Pantomimen zu unterbrechen. — Petz
richtet ſich auf, bricht in Thränen aus, wiederholt
die unanſtändige Art des Abwiſchens und will die
ſo gebrauchte 'Pfote der Bärin reichen. Er erhält eine
große Ohrfeige. Geht ab mit traurigem Grunzen.


Die Bärin drückt durch Gebärden aus, daß dieſer
Verehrer denn doch an ſich eine brave, künftiger Tröſtung
nicht unwerthe Natur, vielleicht ein nur noch unge¬
ſchliffener Edelſtein ſein dürfte. Langſam, ſchüchtern,
ganz niedergedrückt erſcheint Petz wieder vor dem ſüßen
Bilde. Sie fordert ihn auf, zu tanzen. Er verſucht
ein Solo auf den Hinterbeinen. Fällt wieder öfters
und überkugelt ſich mehrmals, läßt ſich durch das
Lachen der Dulcinea nicht verſtimmen und verſucht
eine neue Methode. Er fängt an, ſich wie in einem
Menuet einfach, aber in durchaus reizender Weiſe nach
der Angebeteten vorwärts und zurückzubewegen und bei
jeder Annäherung, aufgerichtet, eine zierliche Verbeugung
zu machen. Wir müſſen hier einſchalten, daß der
darſtellende Künſtler dieſe Weiſe, den Hof zu machen,
gründlich der Bärennatur abgeſehen hatte und mit
vollendeter Virtuoſität wiedergab. Petz war unermüd¬
lich in dieſen Pas, wohl fünfzigmal bewegte er ſich
auf ſeinen rutſchenden Sohlen hin und wieder. End¬
lich ſpiegelt ſich Erweichung in den Zügen des ſo
ſchmelzend angeſchmachteten Weibs. Aber jetzt ereignet
[346] ſich leider eine Ungebührlichkeit. Der Bär muß vor
Rührung nieſen. Er fällt in ſeine Unbildung zurück
und gebraucht wie vorhin die Pfoten. Petzin will zu
einer zweiten unſanften Behandlung ausholen, beſinnt
ſich aber, trabt plötzlich hinweg und erſcheint nach
einer Pauſe, in welcher ſich der Verlaſſene troſtloſer
Verzweiflung hingegeben, unter dem Jubel der Zu¬
ſchauer mit einem ſchneeweißen, roth geſäumten Tüchlein.
Mit Grazie zeigt ſie ihm den Gebrauch, mit Grazie
reicht ſie es hin, ſinnend betrachtet es Petz, man ſieht,
daß ein radikaler Prozeß in ſeinem Geiſt und Gemüth
vor ſich geht und — zum erſten Mal im Leben —
ſchnäuzt er ſich — kräftig, vernehmlich, laut!


Lebhafter Beifall. Der erſte Akt iſt vorüber. Mit
kühnem Geiſtesfluge nimmt der Tanzdichter an, eine ge¬
raume Zeit, Monate, Jahre ſeien in der kaum viertel¬
ſtündigen Pauſe verſtrichen. Hornſtöße verkünden den
Anfang des zweiten Aktes; ihnen folgt eine luſtige
Melodie von Pfeifen und Blättlein, unter deren Klängen
eine glückliche Bärenfamilie auf die Bühne tritt. Vier
muntere Kinder folgen dem zärtlichen Elternpaar. Der
kleine Bruder und das Schweſterchen Sigunens mit
zwei Nachbarkindern ſtacken in den Pelzen. Wer je den
Galopp von Bärenjungen geſehen und bemerkt hat,
wie drollig ſie dabei mit dem rechten Hinterbein nach¬
ſchieben, der mußte ſtaunen, mit welcher Meiſterſchaft
die klugen Kinder das vorſtellten; ſchon in ihrem
[347] Alter zeigte ſich die Schärfe der Beobachtung, die Ge¬
ſchicklichkeit der Nachahmung charakteriſtiſcher Thiertypen,
wie ſie Naturvölkern eigen iſt; man weiß, mit welch'
treffender Wahrheit die Indianer in ihren Tänzen
dieſe naive Kunſt üben; kein moderner Pantomime, der
den Joko ſpielt, wird dieſe Kinder erreichen. Nun ent¬
wickelte ſich in dieſem Familienkreiſe ein herzgewinnen¬
des Bild von ſorgſamer Erziehung. Die Jungen wurden
von Vater und Mutter gelehrt, das Tüchlein richtig
zu brauchen, einer der Söhne, als er ein Schweſterchen
zauste, vom Papa mit einer Ruthe geſtrichen, wobei
er ihn elegant zwiſchen die Beine nahm und ihm
hinten aufmaß; ein Sturm von Gelächter brach im
Publikum, namentlich unter den Frauen und Mädchen
los, als in einem kritiſchen Moment die Mama hinaus¬
trabte, mit einem Topfe wiederkam und die kleinere
Tochter zierlich darauf ſetzte. Nach ſolchen Handlungen
erziehender Thätigkeit erfolgte orcheſtiſcher Unterricht, der
nach einigen drolligen Vorübungen ſo beſchleunigte Früchte
trug, daß die Familie zu einem ordentlichen Tanze ſchrei¬
ten konnte. Es war ein Landler, was ſie aufführten, das
heißt jener Tanz, wovon unſer Walzer nur ein geiſt¬
los weggebrochenes Stück iſt: zuerſt walzte Papa mit
Mama, dann je ein Brüderchen mit einem Schweſter¬
chen, hierauf löſten ſich die Paare, jeder Tänzer ſchien
ſich mit der Tänzerin zu entzweien, eilte ihr nach,
fieng ſie, faßte ſie an beiden Händen, hielt ihr die
[348] eine hoch und ſie ſchlüpfte, während Beide ſich zugleich
drehten, unter den gehobenen Armen durch, dann ließ
er ſie wieder los, Tänzer und Tänzerin kreisten jetzt
jedes ſelbſt wieder wirbelnd, umeinander, dazwiſchen
machten die Tänzer allerhand Kunſtſtücke, ſprangen
hoch, patſchten ſich in der Luft mit den Händen auf
die Fußſohlen, juchzten dazu, ergriffen ihr Diendl wie¬
der und endlich wurde die allgemeine Wiederfindung
und Beglückung mit einem raſenden Schlußwalzer be¬
ſiegelt. Inzwiſchen hatten ſich aber nach und nach
auf der Bühne ſelbſt Zuſchauer eingefunden: ein Wolf,
ein Fuchs, ein Dachs, ein Füllen, ein Wildſchwein,
eine Gemſe, ein Steinbock, ein wilder Kater, ein
Murmelthier, ein Auerhahn und noch mehreres Wald¬
volk; ſie ſchienen die Feindſchaft unter ſich zu vergeſſen,
fiengen an, das Tanzen nachzuahmen, anfangs täppiſch,
unglücklich, dann geſchickter, behender, die Muſiker waren
längſt wieder erwarmt, blieſen und ſchlugen, was das
Zeug hielt, die Thiere wurden ſämmtlich ſo charaktertreu
geſpielt wie die Bären und fügten ſich unbeſchadet dieſer
Beſonderheit immer glatter in das Geſetz, das die Tanz¬
verſchlingungen beherrſchte. Endlich vereinigte ſich Alles
zu einem großen — Cotillon würden wir ſagen, Voll¬
tanz ſagten die Pfahlleute, und dieſer Volltanz ſchloß
mit einer höchſt korrekt und zierlich durchgeführten
Schnupftuchtour.


Der dritte Akt trat ein ohne eigentliche Pauſe, doch
[349] nicht ohne nachdrücklichen Einſchnitt. Man vernahm
plötzlich ein furchtbares Grunzen, ein eigenthümliches
Schnarchen, Speien, Pruſten. Der Tanz ſtand augen¬
blicklich ſtill. Aufgerichtet horchten die ſämmtlichen
Thiere. Ein Drachenungethüm wackelte auf die Bühne,
es ſpie Feuer, glutroth funkelten ſeine Augen, ein rother
Kamm bekrönte ſchrecklich ſeinen krokodilähnlichen Kopf,
kurze Flügel ſchwankten auf ſeinem Rücken, lang hin
ſtarrte ſein ſchuppiger Schwanz. Die Thiere ſtieben
auseinander, der Drache wirbelt auf der leeren Bühne
um ſeine Axe, zuerſt die Bären ſind es, die vorſichtig
wieder den Kopf hereinſtrecken, ſie wagen ſich herbei,
der Petz wirft ſich dem Ungethüm rittlings auf den
Hals und bearbeitet ſeinen Kopf mit den Tatzen, die
Bärin, ermuthigt, ſteigt auf ſeinen ſtachligen Rücken,
die Jungen ſetzen ſich auf ſeinen Schwanz, in wilderen
und wilderen Kreiſen wirbelt das Scheuſal. Jetzt ge¬
ſchieht ein kleiner Unſchick. Die Drachenmaske war
mühſam und ſinnreich genug, doch eben nicht allzu
haltbar aus Leinwand und Baſt zuſammengeſtoppelt
und mit dem Nöthigen ausgeſtattet, um Feuer zu
ſpeien, — der Künſtler war derſelbe Bappabuk, der
die Feſtſcheibe erbildet hatte. Bis dahin war es nun
ganz ordentlich gegangen, jetzt aber fieng der Drache
auf einmal an, ganz menſchlich zu huſten, gleichzeitig
fiel ein Kohlenbecken aus ſeinem Rachen, und eine
Hand fuhr heraus und griff darnach. Dank der Höhe,
[350] auf welcher die Bildung der Pfahlbewohner angekom¬
men war, hatten ſie bereits das Bärlappenmehl er¬
funden; der eine der zwei in dem Balg verborgenen
Burſche, der vordere, deſſen Beine in den Vorderfüßen
ſtacken, hatte neben dem Pruſten, Brüllen, Grunzen,
das er im Verein mit ſeinem Hintermann beſorgte,
das Feuerſpeien in's Werk zu ſetzen; er blies den
genannten Staub aus einem Federkiel über die Kohlen;
jetzt verſchluckte er ſich im Einathmen des Rauchs und
ſtieß den ſchwachbefeſtigten Kohlentopf hinaus. Der
hintere Burſche, unbequem auf dem Bauch liegend,
um dem Rumpfe des Unthiers mit ſeinem Leib eine
Füllung zu geben, hatte überdieß zwiſchen ſeinen Füßen
hindurch, welche die Hinterbeine vorſtellten, nach rück¬
wärts ein ſchwankes, ſchlankes Weidenſtämmchen zu
regieren, das den Grat des Schwanzes bildete; es
war keine Kleinigkeit, dieſe Stange feſtzuhalten, als
die Bärchen ſich darauf ſetzten, ſie entfiel ihm, zerrieß
die Wandung der künſtlichen Form, der Schwanz brach
ab, die kleinen Petze kugelten um. „Thut nichts,
thut nichts!“ ſchrieen ein paar muntere Burſche aus
der Mitte der Zuſchauer, hemdärmelig, die Wämſer
reſolut über die linke Schulter geworfen; „nur luſtig
weiter, kleiner Meilyr, kleiner Cynddelw!“ Man ordnete
den Schaden mit Schnüren ſo gut es gieng, die zwei
munteren Grippoſpieler halfen ſich weiter ſo gut ſie
konnten, die übrigen Thiere erſchienen, nun ebenfalls
[351] ermuthigt, wieder auf der Bühne und es erfolgte ein
raſendes Zauſen zwiſchen dem Drachen und der ganzen
Geſellſchaft, dem jedoch gewiſſe Töne ein ſo plötzliches
Ende ſetzten, wie vorhin die Erſcheinung des Drachen
dem Rundtanz. Die Töne waren nicht ſtark, es war
ein feines, hochſtimmiges Wimmern; man erkannte den
klagenden, weichen Laut des Kibitzes. Ein paar er¬
legte Exemplare der Gattung wurden über die Bühne
ſo geworfen, daß ſie fliegend ſcheinen konnten; das
Wimmern wußte ein Meiſter im Nachahmen aller
Vogelſtimmen, wie Hopp-Hoppodur, hinter der Szene
täuſchend genug hervorzubringen. Jetzt aber läßt ſich
ein Ton ganz anderer Art vernehmen, ein Ton, der
ſchwer zu beſchreiben iſt. War es ein Heulen, ein
Schnarren, Bellen, ein Brüllen? Gewiß war nur,
daß der Ton eine Stärke hatte, als käme er aus dem
Hals eines großen Vierfüßlers. Die Laute waren, in
Sylben dargeſtellt: „Hu! Hu! Brum!“ Dann folgte
zuerſt „Brum“ und die „Hu, hu“ wurden jetzt zum aus-
und nachtönenden Schlußklang. Das waren denn die
Töne, welche den Titel des Tanzſpiels bildeten, wo ſie
nur zugleich nebenher dem Brummen des Bären galten.
Die Thiere ſtanden wie verſteinert, der Drache ſaß auf¬
recht auf der Wurzel ſeines nothdürftig wieder befeſtigten
Schwanzes, der vordere Inſaße hatte ſich auf die
Schultern des hinteren geſetzt, des letzteren Beine trugen
und hielten mühſam das Ganze und der Schwanz
[352] legte ſich zwiſchen ihnen hervor wie ein langer Frack
über die Bühne. Im damaligen Publikum gab es
keinen Zuſchauer, der den Ton nicht ganz gut kannte;
von unſern heutigen Leſern kennen wohl nur wenige
den Ruf der Rohrdommel ſo gut, ſie hätten erſt warten
müſſen, bis dieſer Waſſervogel, der Selinur heilig,
nun in Perſon auf der Bühne erſchien und ſeinen
unheimlichen Geiſterruf wiederholte, nicht in Einem
nur, ſondern in ſechs Exemplaren, die gravitätiſch wie
Soldaten eintraten, ſich in drei und drei theilten und
nun wie beorderte Leibwachen freien Raum für eine
noch unſichtbare, ehrfurchtsvoll erwartete Perſönlichkeit
herſtellten. Die übrigen Thiere drängten ſich willig hinter
dieſen lebendigen Spalieren zuſammen. Die gelben,
ſchwarzgefleckten Bewohner des Röhrichts ließen hier¬
auf wieder ihren ſeltſamen Brüll- und Klageruf ver¬
nehmen, reckten dabei die dicken Hälſe lang vorwärts,
zogen ſie dann ein und ſtellten die Köpfe, die jetzt
halslos auf dem Rumpfe zu ruhen ſchienen, ſteil auf¬
wärts, daß der Schnabel zum Himmel ſah, und ſo
ſtanden ſie nun als unbewegte Schildwachen, aller¬
dings nur auf Einem Bein oder vielmehr „Ständer“,
wie der ſchulgerechte Jäger ſagt. — Stumme, erwar¬
tungsvolle Pauſe. Da wandelt aus dem Wald eine
ſchneeweiße Kuh hervor und ſtellt ſich mitten in die
Oeffnung der zwei von hier in die Breite der Bühne
auslaufenden Spalierradien. Sie blickt ſanft und groß.
[353] Alle Thiere ſtehen jetzt tief gebückt, der Drache kriecht
vor ſie hin und winſelt. Sie brüllt weich, lieblich, mit
mütterlichem Tone. Auf einmal erſcheint ein munteres
Kalb, ein Scheck; es vergnügt ſich in ſchwerfälligen,
ungeregelten Sprüngen. Das wurde wiederum ganz
meiſterlich agirt; der Künſtler wußte ſich mit ganzer
Seele in das gründlich Unvermittelte, jedes runden
Uebergangs Entbehrende der Scherzbewegungen des
Kuhſöhnchens zu verſetzen; bei der Herſtellung der
Maske hatte Bappabuk ſogar nicht vergeſſen, in der
Mitte des Schwanzes jenen knopfigen Bug anzubringen,
vermöge deſſen dieß Organ des jungen Rinds wie
halbgebrochen ausſieht. Wie ward der Sinn dieſer
Erſcheinung von den Zuſchauern verſtanden! Da war
keiner ſo gedankenlos, daß er nicht begriffen hätte, der
Scheck ſei die Welt und die plumpen Sprünge ſeien
die noch bildungsloſen Urzuſtände der Menſchheit.
Nun aber richtete ſich die Kuh auf, trat auf den
Hinterfüßen hervor, faßte mit dem einen Vorderhuf
ihr Kind am Ohr, mit dem andern den Drachen am
Kamm, ſtellte ſie in die Mitte, bedeutete ihnen, wohl
aufzumerken, holte dann zwei der jungen Bären her¬
vor und forderte ſie auf, eine Galoppade zu beginnen,
indem ſie ihnen die Tanzſchritte vormachte. Die Bär¬
chen machten ihre Sache ſo hübſch ordentlich, daß nun
die Kuh ſie dem Drachen und Kalb als Muſter em¬
pfehlen durfte. Das neue Paar umfieng ſich mit den
Viſcher, Auch Einer. I. 23[354] Vorderfüßen, trat an und verſuchte ſeine Kunſt. Es
gieng zuerſt holperig, das Paar fiel ſogar zu Boden,
aber es raffte ſich auf, ſchliff glatter und glatter, gieng
in einen Hopswalzer über, jetzt begannen die übrigen
Thiere mit den Beinen zu zappeln, konnten ſich nicht
länger halten, faßten ſich zum Tanz an und die ganze
Geſellſchaft umkreiſte nun die aufrecht thronende Kuh;
raſcher und feuriger erſcholl die Muſik, die Thiere
fiengen an, den Tanz mit den verſchiedenen Rufen
ihrer Gattung zu begleiten: der Wolf heulte, der Fuchs
ließ ſein heiſeres Bellen hören, der Dachs knurrte, das
Füllen wieherte, das Wildſchwein grunzte, Gemſe und
Steinbock miſchten zwiſchen Mäckern ihren pfeifenden
Warnlaut, der Kater rallte, das Murmelthier pfiff
ganz fein, der Auerhahn gab geſtoßene, tiefe Krächz¬
töne von ſich wie beim Balzen, die Rohrdommeln
blieben nicht zurück, tanzten mit und ließen ihre durch¬
dringenden U-Laute wieder vernehmen, die Bären
brummten, der Drache fauchte, das Kalb muhte und
ſelbſt die ehrwürdige Mutter ſtimmte anmuthvoll in
das allgemeine Konzert mit ein; die Jugend unter
den Zuhörern ſang Schnaderhüpfel dazu, es war luſtig.
Es war nun aber auch genug. Bis zur Sättigung
der Geiſter war es begriffen, daß hier die Unbildung,
ja das Böſe dargeſtellt war, zuerſt als Störenfried
der in ſchöner Entwicklung begriffenen Humanität, dann
überwunden, ja zum dienenden Moment herabgeſetzt
[355] von der Weltordnung ſelbſt, die ſchon durch ihre
Inkarnation als Kuh es erklärt hat, daß ſie mit der
Grundlage aller Geſittung, dem Ackerbau, auch die
Bildung, die ſanfte, ſchöne Menſchlichkeit gewollt hat.
Ein Paukenſchlag bezeichnete wiederum das Finale,
alle Thiere ſtanden plötzlich ſtill, jedes, die heilige Kuh
voran, ſchlug zuerſt eine Pirouette und ließ dieſer
Kreiſelbewegung eine rein wagrechte Ausſtreckung des
einen Beines folgen. Ungeheurer Jubel, als das eigent¬
liche Punktum der Handlung, erlöſte nun die Müden
aus dieſer Stellung. Stürmiſch wurde der ſinnreiche,
liebenswürdige Urheber der Schöpfung, der Tanzdichter
Hopp-Hoppodur gerufen. Mit ein paar luſtigen Tanz¬
ſprüngen hüpfte der philoſophiſche und doch ſo heitere
Künſtler aus den Büſchen des Hintergrundes auf die
Bühne, ließ ſich hochpreiſen, war mit einem Satz unter
den Zuſchauern, ergriff die hübſche Gwennywar, die wir
ſchon kennen als die Schelmin, welche Alpin das
ſchweißaustreibende Wort Sigunens von Arthur's
ſchönem Nacken hinterbracht hatte; er zog die gern
Folgende auf die Bühne, führte ſie zu einem Landler
auf, das ſchlanke Fratzenmädel war die erſte Tänzerin
des Dorfes und entſprach den Künſten des Meiſters
mit reizenden Wendungen, Schritten und Beugungen,
Alles folgte, was junge Beine hatte, ja ſelbſt ein
paar Graubärte konnten nicht widerſtehen, ein Tanz¬
lebtag gieng los, wie ihn Dorf Robanus noch ſelten
[356] geſehen, die müden Thiere wurden jetzt aus Spielern
Zuſchauer und unter behaglichem Gucken erlabten ſie
mit kräftigen Methzügen die durſtige Kehle und die
vielgebrauchten Glieder; der Drache ſoff beträchtlich.


„Wo ſteckt denn Alpin?“ fragte ein Burſche Sigu¬
nen, die theilnahmlos, gedankenvoll unter den Mädchen
ſtand. „Weiß nicht,“ verſetzte ſie, „er wird beim Tiſch¬
zurichten helfen.“ — „Nun, komm' her, ſo tanz' mit
mir,“ ſagte der Frager und bot ihr den Arm, bekam
aber einen Korb und unter dem Vorwand, nach dem
kleinen Schweſterchen ſehen zu müſſen, gieng ſie nach
Hauſe. Auch Gwennywar hatte lang nach dem Ver¬
mißten umgeſchaut, jetzt aber vergaß das junge Queck¬
ſilber Alles im Arm ihres bewunderten Tänzers.


Die Greiſe, mit Ausnahme der erwähnten paar
luſtigen alten Knaben, auch die Mehrzahl der Männer
hatte ſich nach dem Ende der Aufführung verlaufen,
und dieſe Müßigen hatten zuerſt wieder Zeit, des
Gefangenen zu gedenken, den man unter Schützenfeſt,
Morgenimbiß und Tanzſpiel faſt vergeſſen hatte. Der
Druide, der ſonſt an Feſten beim Schauſtück auf ſeinem
Ehrenſitze ſo behaglich lachend bis zum Schluß ver¬
weilte, wie wohl einſt der hohe Prieſter des Dionyſos
auf ſeiner Marmorbank im Theater zu Athen, er war
dießmal bald nach Beginn verſchwunden. Heimgekehrte
fanden ſein Haus geſchloſſen. Es hieß, man habe
die Gemeindeälteſten hineingehen ſehen. Man munkelte
[357] von einem unbekannten Etwas, das gegen den Erz¬
ketzer im Werk ſein müſſe. Was ſollte es mit ihm
werden? Strafen bis zu einer gewiſſen Höhe zu ver¬
fügen, lag in der Macht des Oberhirten. Sollte aber
— weiter gegangen werden, ſo war, wenn es ſich nicht
um Kriegsgefangene handelte, aus denen das Loos
die Opfer für Grippo beſtimmte, die Gemeinde zu
befragen. Nun — es war Feſttag; man ſchlug ſich's
aus dem Kopfe; es hatte ja weiter keine Eile, auf
alle Fälle konnte es um den Sünder nicht viel Schade
ſein, wenn er in ſeinem Käfig einige Tage oder Wochen
tüchtig brummte.


Inzwiſchen waren vereinigte Kräfte längſt beſchäf¬
tigt, den Feſtſchmaus vorzubereiten. Tiſche und Bänke
waren im nahen Haine ſchon aufgeſchlagen, Köche und
Köchinnen an einer Reihe von Feuern in voller Thätig¬
keit. Wir glauben uns verpflichtet, den Speiszettel
zu geben; menu dürfen wir ja nicht ſagen, die Pfahl¬
männer hätten ſich geſchämt, das wälſche Wort zu
gebrauchen, wenn ſie es gekannt hätten, ſie verabſcheuten
alle unnöthige Entlehnung aus fremden Sprachen.
„Speiszettel“ iſt natürlich auch nur poetiſche Licenz;
das Kunſtwerk der Kompoſition dieſes Schmauſes ſtand
klar entfaltet nur vor dem Geiſte des Oberkochs Sidu¬
top, minder klar, in gewiſſem Helldunkel vor dem
Innern ſeines Gefolges von Köchen und Köchinnen,
und das Publikum befand ſich in blindem Autoritäts¬
[358] glauben, man wartete, man vertraute unbedingt und
dachte, es werde ſchon recht werden; nur Angus, der
Druide, hatte durch Hülfe Urhixidur's einen hellen Ein¬
blick in das wohlgegliederte Ganze gewonnen. Dieſes
Ganze überblicke man nun und man wird nicht mehr
glauben, daß die Pfahlbewohner ſchlecht gegeſſen haben!
Dieſe irrige Vorſtellung zu widerlegen, das iſt es,
was wir für Pflicht halten, darum geben wir in
formell präziſirter Ordnung hiemit die Gedankenreihe
Sidutop's, wie ſich ſolche an jenem Abend in der
Körperwelt verwirklichte. Um dieſen logiſchen Zu¬
ſammenhang nicht zu unterbrechen, laſſen wir die
Beleuchtung einzelner Punkte, die vielleicht dem Leſer
dunkel ſein dürften, in Anmerkungen folgen.


Zuvor iſt nur noch von der Beleuchtung zu melden.
In dieſer Feſtnacht ſollte es nicht an den Pechfackeln
genügen, die rings um die Tiſche, in hohe Pfähle
eingelaſſen, ihr röthliches Licht verbreiteten; zwiſchen
je zweien derſelben loderte in irdenem Becken eine
zartere Flamme von Kienholz und an den Stämmen
der nächſten Eichen hiengen Kränze von Schüſſelchen,
worin ölgetränkte Döchte brannten. Knaben waren
aufgeſtellt, ſorgſam dieſe dreierlei Lichtquellen zu unter¬
halten, deren Harzgerüche ſich angenehm mit dem Dufte
miſchten, der aus den Kochkeſſeln emporſtieg. — Und
nun mag denn die Beſchreibung ihres reichen Inhalts
folgen.


[]
[][[359]]

Anmerkungen.

Ad I, 2. Daß die Menſchen der Steinzeit große Lieb¬
haber von Mark waren, geht aus der Menge geſpaltener
Knochen hervor, die man in ihren Niederlaſſungen findet.
In der Kunſt des Spaltens hatte zwar Jedermann Uebung,
doch auch hier war bereits eine gewiſſe Theilung der Arbeit
eingedrungen. So exakt, ſo glattweg verſtand es nicht Jeder
zu machen, wie der Techniker in dieſem Fach, der Knochen¬
ſchlitzer, der hinten in der Feldküche ſchon ſeit ein paar Stunden
ſeine Virtuoſität in dieſem Zweige der feineren Arbeit ent¬
faltete. Den Knochen ſenkrecht ſtellen, den Feuerſteinmeißel
haarſcharf auf die Axe anſetzen, einen mathematiſch geraden
Schlag mit dem Holzhammer darauf führen: es gieng wie
gehext; wer ihm zuſah, konnte nur wünſchen, es möchten
verwickelte politiſche Fragen einen ſolchen Schlitzkünſtler finden,
wie es der wackere Meiſter Binuſchnidur war.


Ad I, 2, e. Elch oder Ellen (nicht: „Elenn“, noch
weniger „Elend“; Ellen hieß Kraft, alſo: das Kraftthier, der
beſonders ſtarke Hirſch) war nicht ſelten, obwohl weit ſeltener,
als der gewöhnliche Hirſch und das Reh, die auf unſerer Liſte
fehlen, weil ſie für ein Feſteſſen zu gewöhnliche Speiſe waren.
Das Thier iſt von ochſenartig ſtarkem Leibe, auch der Geſchmack
ſeines Fleiſches ſchwebt in einer feinen Mitte zwiſchen ochſen¬
haft und hirſchähnlich.


Ad I, 3. Die Beliebtheit des edlen Gerichts Kuttel¬
fleck erkennt der geneigte Leſer daraus, daß es nicht nur hier,
[360] ſondern auch unter II, 2, A, e, ferner II, 2, B, d auftritt.
Eine der Gaſſen von Robanus hieß zu Ehren dem Hauſe,
worin die Gekröſe kochfertig zubereitet wurden, Kuttelgaſſe.
Starke Spuren dieſer Beliebtheit bemerkt man noch heutzutage
bei den Enkeln der Pfahlbewohner jener Gegenden, wie ſich
der Durchreiſende bei Leſung der Speiſezettel ſelbſt feinerer
Garküchen überzeugen kann.


Ad I, 4. Das Früchte-Einmachen verſtand zwar auch
die Hausfrau, aber auch in dieſem Gebiete gab es ſchon
Techniker, gab es Fachmänner. Wir werden den Künſtler
nennen, wenn unſere Erläuterungen erſt bei ſeinem Meiſter¬
werk angelangt ſein werden. Nicht genannt iſt die damals
höchſt beliebte Speiſe Haſelnuß, denn ſie trat nicht eingemacht
auf, ſondern wurde einfach im Naturzuſtand immer mit dem
Brod aufgetragen und mit ihm gegeſſen, um ihm feineren
Beiſchmack zu geben. — Eine Zeile ohne Eintheilungszeichen
nennt als begleitendes Getränke des Voreſſens: Methbock.
Es war ſehr ſtarker Doppelmeth, beſtimmt, in zierlichen Holz¬
kelchen zum Voreſſen nur genippt zu werden, um den Appetit
zu ſchärfen; eine diätetiſche Bemeſſung, an die man ſich doch
nicht ängſtlich zu halten pflegte.


Ad II, 1, d. e. Es mag Verwunderung erregen, daß
außer Forellen und Aal keine Fiſche auftreten. Die Erklärung
iſt einfach: die Pfahlbewohner aßen jahraus jahrein ſo viel
Fiſche jeder Sorte, daß ſie bei Feſtmahlzeiten wenig Werth
auf dieſe Speiſe legten. Nur die Forelle und der Aal ge¬
noſſen ein Vorrecht, jene nicht bloß wegen der Feinheit ihres
Geſchmacks, ſondern wegen der großen Schwierigkeit, ſie zu
fangen. Dieſes blitzſchnelle und höchſt vorſichtige Floßenthier
ließ ſich ja durch die plumpe beinerne Angel nicht täuſchen,
in die Reuſen, ſo grob wie ſie damals waren, äußerſt ſelten
verlocken, gleich ſelten mit der Hand fangen, wenn ſie ſchlum¬
[361] mernd in den Höhlungen am Ufer ſchwamm, und nur ab
und zu gelang es einem ſehr geſchickten Schützen, — nicht,
den Fiſch zu treffen, aber den Pfeil ſo unter ihm durchzu¬
ſchießen, daß er aus ſeinem Waldbach an's Ufer geſchnellt
wurde. Den Aal mit Salbei umwickelt zu braten, war eine
neue Erfindung und man wußte den Werth dieſer leckeren
Zubereitung allerdings zu würdigen.


Ad II, 2, A, b, δ. Boragen: Borago officinalis,
mit bläulichen Blumen, haarigen Blättern, jetzt faſt für
Unkraut geltend, hat einen ſehr angenehm häringähnlichen
Geſchmack. Durch ihren Genuß gaben ſich die Pfahlmänner
die Vorahnung der Gaumenfreude, die der ihnen noch unbe¬
kannte Meerfiſch im eingepöckelten Zuſtande uns ſpäteren
Geſchlechtern bereitet.


Ad II, 2, A, d, α. Es darf nicht unterdrückt werden,
daß die Bohnen unentfaſert auf den Tiſch kamen. Die Schüſſeln
mit dieſem Gerichte ſahen daher aus wie eine borſtige Perrücke.
Pietät gegen die Altvordern hat dieſen Brauch bis heute in
der bürgerlichen Küche jener Gauen fromm erhalten.


Ad II, 2, A, d, β. Erbſen mit Landjägern: Die Erbſen,
wie man ſich denken kann, nicht zerrieben, große gelbe Gat¬
tung, hart wie Bleikugeln. Die Verdauung war eben eine
vortreffliche. „Mit Landjägern.“ Der Verfaſſer bedarf Nach¬
ſicht. Dieſe Würſte hießen damals wegen ihrer gediegenen
Härte Lederwürſte; er hat den modernen Namen vorgezogen,
um dem Kenner das Objekt raſcher zu vergegenwärtigen.
Der Urſprung der letzteren Benennung iſt von der Philologie
noch nicht erforſcht. Schreibt man den Landjägern etwa
beſonders gute Zähne zu? Oder vergleicht man die länglich
hagere, flache Geſtalt der Wurſt mit der Dürrheit, welcher
die Figur der Landjäger durch ihre Streifſtrapazen wohl
häufig verfällt?


[362]

Ad II, 2, A, d, γ. Rüben mit Schübling. Schübling
heute noch in ganz Süddeutſchland bekannte Wurſt, nahe Ver¬
wandte der Knackwurſt. Fiſchart beehrt ſie mit Aufführung,
wo er Gargantua's Speiſekammer beſchreibt.


Ad II, 2, A, d, δ. Daß das beliebte Sauerkraut ſchon
jenen Zeiten bekannt war, ergibt ſich keineswegs nur aus
dem ſicheren Schluß, den man aus der Gemüthlichkeit der
Zuſtände ziehen darf, ſondern auch aus verbürgter Ueber¬
lieferung. „Blunſe“: was wir jetzt Blutwurſt nennen, war
unbekannt; in die Blutwurſt gehört außer Blut Gewürze mit
Speckwürfeln; dieß wäre jenen körnigen Menſchen zu künſtlich
erſchienen, auch wenn ſie Gewürze gekannt hätten. Die Blunſe,
ein Darmhautrund einfach mit Blut gefüllt, entſprach beſſer
der Biederkeit ihres Weſens. Doch verſchmähten ſie nicht,
durch Hinzunahme geräucherten Murmelthierfleiſchs der Zunge
gleichzeitig einen ſchärferen Reiz zu bieten.


Ad II, 2, B, a, δ. Geſulzte Spanſau: beſonders beliebt,
hatte einen gebratenen Apfel zierlich im Maul ſtecken.


Ad II, 2, B, b, α. Wir haben nur hier die Brühe erwähnt,
weil ſie bei dieſer Speiſe extrafein war, und fügen bei dieſer
Gelegenheit eine ſprachliche Bemerkung bei. Wir ſagen jetzt
Sauce, weil wir uns des guten Worts Brühe dadurch beraubt
haben, daß wir es verächtlich von unſauberer Flüſſigkeit ge¬
brauchen. Dieſe Einſchränkung hatten ſich die Pfahlbewohner
noch nicht beikommen laſſen, daher ſich auch nicht in die Lage
gebracht, für ein ganz ausreichendes eigenes Wort ein Fremd¬
wort zu entlehnen.


Ad II, 2, B, b, β. Haſe, geſpickt. Es war nur Einer.
Lampe war damals außerordentlich ſelten; er hatte zu viele
Feinde, deren nicht die geringſten die Adler und Geier waren,
die auch als Räuber der kleinen Lämmer den Hirten nicht
wenig zu ſchaffen machten. Das Exemplar, in einer Schlinge
[363] gefangen, war etwas alt, deſto neuer die Kunſt des Spickens,
die ſich am zähen Stoff ſiegreich bewährte. Der ſeltene Biſſen,
der nicht für Alle ſein konnte, war den Gemeindeälteſten
vorbehalten.


Ad II, 2, B, b,γ. Wir geſtehen, daß der Wiſentbraten,
obwohl von einem Stier in den beſten Jahren, ziemlich hart
war, allein das andere Fleiſch war nicht viel weicher. Die
Pfahlbürger liebten das Weiche, Kätſchige nicht, die präch¬
tigen Zähne jener Geſchlechter hatten Jahrhunderte hindurch
den ſchädlichen Einflüſſen der Seenebel bis dahin noch feſt
widerſtanden und inſofern war Arthur's Behauptung in ſeiner
Rede ein Vorgriff. Zu ββ iſt zu wiſſen, daß die Pfahlleute
den Namen: Cotelette noch nicht kannten. Hat doch der Bericht¬
erſtatter mitzutheilen, daß manches Jahrtauſend ſpäter, näm¬
lich in ſeiner Knabenzeit, noch kein Menſch Cotelette, alle Welt
nur Ripplein ſagte. Jenes waren nun freilich keine Ripplein,
ſondern Rippen. Sie waren mit Speckſtückchen und Peterſilie
höchſt appetitlich belegt, und wurden zuerſt nur als Schau¬
ſtücke, dann zerlegt zum praktiſchen Gebrauch ausgeſetzt. Der
Wiſentſchwanz (γγ) galt als großer Leckerbiſſen; auf ein genu߬
reiches Benagen folgte ein genußreicheres Ausſaugen. Das
war denn natürlich nicht für Alle, ſondern Vorrecht des
Druiden; dieß Hauptſtück wurde alſo ihm allein vorgeſetzt
und kunſtgerecht machte er ſich an die Arbeit.


Ad II, 2, B, c,δ. Armer Arthur! Niemand gedachte
deiner bei den zwei Schnepfen! So ſind die Menſchen! Wäh¬
rend der Geber im Gefängniß ſchmachtet, wird unter Scherzen
ſeine Gabe herausgeknöchelt und mit Schmatzen von den
Gewinnern verzehrt! Arthur hatte auch einige Pfeilſpitzen von
Erz mitgebracht, in Robanus auf Schäfte geſetzt, war mit ein
paar Burſchen auf den Schnepfenſtrich gegangen und hatte
den einen Vogel durch den Kopf, den andern unter dem Flügel
[364] in die Seite getroffen. So etwas war mit Steinpfeilſpitzen
begreiflicherweiſe nicht, aber auch ſo nur einem Falkenauge wie
dem ſeinen und einer Hand ſo flink und zugleich ſo ſtet wie die
ſeine möglich. Schnepfen wurden ſonſt, und natürlich ſchwer und
ſelten genug, wie auch die Rebhühner, nur in Netzen gefangen.


Ad III, 2. „Schnitzli“ war ein Lieblingsgericht, wie
ſchon früher angedeutet. Das Wort wurde in engerer und
weiterer Bedeutung gebraucht, in jener bedeutete es Apfel¬
ſchnitze, gedämpft mit Speckwürfelchen, und ſo iſt der Ausdruck
hier gemeint. Es darf nicht verſchwiegen werden, daß die
Schnitze nicht geſchält waren. Auch dieſe Speiſe pflegen in
Ehrfurcht vor alter Sitte heute noch die ſpäten Enkel der
Pfahlbürger als Nachtiſch gern auf ihre Tafel zu ſetzen.


Ad III, 3, a. Riniturleckerli. Leckerli ſind die heute noch
wohlbekannten Leb- oder Honigkuchen. Sie wurden beſonders
ſchmackhaft in der Stadt Rinitur, dem jetzigen Baſel, bereitet.
Die Pfahlniederlaſſungen waren nicht ſo außer Verkehr, daß
nicht wandernde Händler ein Produkt der Küche, worin eine
Gemeinde die andere überflügelt hatte, weit ringsum ver¬
breitet hätten. Bald aber wurde dieſes Backwerk nachgeahmt
und der Name bezeichnete nicht mehr die Herkunft, nur die Güte.


Ad III, 3, b. Hutzelbrod. Welcher Kenner der deut¬
ſchen Literaturgeſchichte weiß nicht, daß Schiller noch in ſpäten
Jahren dieß Gebäck aus gedörrten Birnen, Mehl, Cibeben,
Mandeln von einer ſchwäbiſchen Köchin ſich bereiten ließ,
Gäſten zu verſuchen gab und verlangte, daß ſie es loben?
Man ſieht nun aus unſerem Berichte, daß es uralt iſt und
ſich von jenen Gegenden über den Podamurſee nach Schwaben
verbreitet haben muß. Die Stelle der Mandeln vertraten
damals Haſelnüſſe, die der Cibeben Brombeeren.


Ad III, 3, c. „Wähen“: uralter Name für Kuchen;
Ableitung dunkel.


[365]

Ad III, 3, e, α. Der Leſer hat wohl längſt die Frage
auf den Lippen, wo denn das Zahmgeflügel bleibe? Hier,
bei dieſem Gipfel der Küchenkunſt, bei der Paſtete, hat er
die Antwort. Im Bauche dieſes Prachtgebäudes befanden
ſich butterweich gebettet die Mäglein, Leberlein, Herzlein von
Hühnern, Enten, Gänſen, nicht minder Flügel, Schlegel, Pfaffen¬
ſchnitze, und zwar vereinigt mit „Milken“ (was wir jetzt
Brieschen nennen, die drüſenartigen Knollen am Halſe des
Kalbs) und mit Mausſchlegeln. Mausbraten wird jetzt infolge
thörichten Vorurtheils vernachläſſigt. Warum ſollte eine Maus
unappetitlicher ſein als eine Ente, eine Sau? Mausfleiſch,
insbeſondere Schlegelſtück, verbindet in feiner Einheit Wild¬
fleiſchgeſchmack mit dem zarten Geſchmacke des Nußkerns.
Etwas ſalzig Prickelndes enthält dagegen der Eidechſenſchwanz,
man möchte ſagen, er bewirke ein gewiſſes wuſeliges Gefühl
auf der Zunge. — Zu β: „Form“, nämlich zu der plaſtiſchen
Gruppe, welche den Deckel des reichen und wohlgefälligen
Ganzen bildete, haben wir nur die Eine Bemerkung, und
auch dieſe nur für Kenner der Kunſtgeſchichte: Die Styl¬
gebung des Künſtlers ſtand auf einer Stufe ganz parallel
mit dem Style der Metopen von Selinunt.


Der Name des Künſtlers darf ſo wenig im Dunkel
bleiben, als der des Kochs und des Knochenſpalters. Er
hieß Schababerle und nannte ſich Hofzuckerbäcker. Es gab
freilich in Robanus keinen Hof, aber der Mann ſchuf und
bildete an feſtlichen Tagen für die Tafel des Druiden und
dieſer ließ es gerne zu, daß er ſich darum den Titel beilegte.
Es iſt nachzubringen, daß auch Sidutop auf denſelben Grund
hin ähnlich verfuhr; er nannte ſich Hofkoch oder Hochwürd¬
licher Koch; den Knochenſpalter Binuſchnidur nicht zu vergeſſen:
er betitelte ſich gern Hofknochſpalter oder Seiner Hochwürden
Leibſchlitzer.


[366]

Zur beſtimmten Zeit erſchien pünktlich der Druide
mit den Gemeindeälteſten und den Singknaben. Er
lud die Gemeinde feierlich ein, ſeinen Hymnus nun
vollſtimmig als Tiſchgebet zu ſingen, — nur das erſte
der drei Glieder, wobei der einfacheren Melodie wegen
die Vorſänger genügten. Die Muſiker waren ſchlecht¬
weg zu ſehr erſchöpft, das zweite und dritte Glied
vorzutragen, und ohne ihre Mitwirkung war es un¬
möglich, dieſe kunſtreichen Gefüge mit ganzer Gemeinde
zu ſingen. Alles Volk hatte ſich die alte Weiſe ſchnell
wieder im Gedächtniß aufgefriſcht und mit wenig An¬
ſtoß wurde das ebenſo verſtändige als fromme Feſt¬
lied abgeſungen. Gern ſetzte man ſich jetzt und hob
zum leckeren Mahle die Hände.


Wir überlaſſen nun die thatluſtige Geſellſchaft im
Glanze dreifacher Beleuchtung dem Genuſſe dieſer Herr¬
lichkeiten. Es iſt luſtig, im grünen Haine umſtrahlt
von feenhaftem Lichte zu ſpeiſen, und unſere Pfahl¬
männer bedrängte es wenig, daß die drei langen
Tafeln eigentlich keine Tafeln, ſondern aus querge¬
legten Prügeln nicht allzu eben hergeſtellte Flächen
waren; lagen doch Baſtdecken darüber gebreitet, welche
das ſo ziemlich ausgliechen und den Schüſſeln einige
Standfeſtigkeit gönnten. Nur die Männer ſehen wir
vereinigt; das Frauenvolk mußte zu Hauſe bleiben;
ihnen wurden je nach einem Gang des Feſtſchmauſes
die übrig gebliebenen Brocken zugetragen, woraus ſich
[367] denn auch die Frage beantwortet, ob denn der Speis¬
zettel für die bloße Hälfte der Gemeinde nicht zu reich¬
lich ſei. Die ſchönere ſaß in den geräumigeren Häuſern
des Dorfes zuſammen, unter heiteren Geſprächen auf
die willkommenen Abhübe wartend, und zwar an
ſolchen Abenden beim Thee. Chineſiſcher war das frei¬
lich nicht, vielmehr ein Sud aus Schlüſſelblumen-,
Holder- und Schlehblüte, der mit Meth ausreichend
verſüßt wurde. Da war denn der Genuß der ſchwatzen¬
den Zunge faſt gleich hoch geſchätzt, wie der ſchmecken¬
den, das Geſpräch fiel ſchnell auf dankbare Stoffe,
wie die halb bekannten, halb geahnten Vorgänge in
Odgal's Haus, Sigune, Alpin, der eingethürmte
Fremdling, und man kann ſich denken, daß ſchnell
genug der Mythus ſich beeilte, aus dem Einfachen
und dem Dunklen ſein buntes und glänzendes Gewebe
zu ſpinnen. In einem dieſer Theezirkel erwartete
man vergeblich die Nachbarin Sigune. Eine Frau
gieng in ihr Haus, ſie herbeizuholen, und fand ſie
mit Packen beſchäftigt; ſie wickelte eben einige Speiſen:
Schinken, Wurſt, Brod mit einer wohlgepfropften
Holzflaſche zu einem Päckchen zuſammen. „Was
machſt?“ ſagte die Nachbarin, „was packſt da?“ —
„Es iſt für Alpin,“ erwiderte ſie, „der morgen weit hin¬
aus in den Wald gehen muß nach einem verlaufenen
Rind ſuchen, auch nach den Wolfsgruben ſehen will,
ob keiner ſich gefangen hat.“ Auf die Einladung,
[368] gleich zur Geſellſchaft mitzugehen, ſagte ſie mit be¬
fangener Stimme, das Kleine ſei ſo unruhig, ſie
fürchte, der Scharlach breche aus; wenn das Kind
ruhig werde und ordentlich ſchlafe, komme ſie wohl nach.
Mit einem fragenden Blick entfernte ſich die Nachbars¬
frau. — Wer nicht nachkam, war Sigune.


Bei den Männern draußen kam über der ernſteren
ſächlichen Thätigkeit nur langſam das Geſpräch in
Fluß; erſt als man beim Mittelpunkte, ja eigentlich
erſt als man bei deſſen zweitem Abſchnitt, dem Braten¬
ſtadium, angekommen, wurde es warm und lebhaft,
dann aber ſchnell anwachſend ſo mächtig laut wie die
brüllende See; denn die Pfahlbewohner hatten gar
kräftige Stimmen; man hätte ſie Luftſtimmen heißen
können, weil ſie in der That für geſchloſſene Räume
nicht angethan waren; ſprachen hier auch nur Zwei
oder Drei, ſo hätte ein Menſchenkind unſerer Zeit mit
ſeinem gezähmten Organ nicht mehr daneben auf¬
kommen können und bei dem bloßen Anhören der tief
geholten Rachentöne einen Huſtenanfall erlitten. Die
Getränke thaten das Ihrige, die Seelen und Kehlen
zu befeuern, und da jegliches Ding, das ſich ohne
Einhalt ſteigert, einen Grad erreichen muß, wo es
umſpringt und überſchlägt, ſo trat nun eine Erſchei¬
nung ein, die wir am paſſendſten ſchildern, wenn
wir am Bilde von der bewegten See feſthalten.


Wenn man dem Spiele der Meereswogen zuſchaut,
[369] ſo wird das Auge beſonders von der Art gefeſſelt, wie
ſie, auf ihrer Höhe angekommen, ſich auflöſen. Die
Welle hat zuerſt einfache ſtumpfe Kegelform, dann
wächſt ſie auf der Seite, woher der Wind weht oder
die Flutbewegung geht, zu einem Schwanenhals an
und bildet auf der entgegengeſetzten eine Hohlkehle;
jetzt, wenn ſie reif iſt, fällt der Kamm des Halſes
ſchäumend über dieſe Hohlkehle herunter und die furcht¬
bare Tönewelt eines Seeſturms rührt nicht zum ge¬
ringſten Theile von dem Donner dieſer niederbrauſen¬
den Waſſerfälle. Die Auflöſung der Wogen beginnt
bald an einer Stelle, die dem Auge des Zuſchauers
ſo entfernt liegt, daß ſie ihm als das Ende erſcheint,
bald in der Mitte, bald aber auch an zwei Enden
und ſo, daß die Bewegungen des Zerſchäumens nach
der Mitte zugehen und hier zuſammentreffen.


So nun begann am einen Ende des mittleren der
drei Tiſche, an welche die Geſellſchaft vertheilt war,
das Geſpräch der Männer, auf der Höhe ſeiner Kraft
angekommen, ſich in eine Kraftäußerung anderer und
zwar jener thätigen Art aufzulöſen, welche wir durch
das Wort Keilerei zu bezeichnen pflegen; gleichzeitig
nahm derſelbe Umſprung ſeinen Ausgang am andern
Ende, beide Bewegungen wälzten ſich fort nach der
Mitte, wo der Druide ſaß und neben ihm die zwei
Barden die Ehrenplätze einnahmen, und rießen auch
dieſe würdigen Perſonen in ihre Wirbel. Die Urſache
Viſcher, Auch Einer. I. 24[370] des Umſprungs war eine andere am obern, eine
andere am untern Ende. An jener Stelle hatte ſich
ein Geſpräch über den Werth der beiden Hymnen zum
Zank erhitzt. Dort ſaß Gwalchmai, den wir bereits
als ein Mitglied jenes Kreiſes kennen, welcher vom
Druiden die Einladung der zwei Barden von Turik
erwirkte. Er kam mit einem Normalhuſter, der ihm
gegenüberſaß, einem alten, aber heftigen Manne, in
Streit über den Hochgeſang Kullur's. Dieß war Mor¬
bihan, den wir als einen der Zeugen wider Arthur
ſchon im Hauſe des Druiden gefunden haben. Der¬
ſelbe nahm ſich eifrig des dreigliedrigen Dichtwerks
von Angus an und ließ ſich von der Leidenſchaft hin¬
reißen, ſeinen Gegner einen Narren und Schwindel¬
kopf zu ſchelten, Gwalchmai gab es heim mit: lang¬
weiliger und doch dazu giftiger Normalhuſter. Dieſes
Wort, das wir bisher ohne Fährde gebraucht haben,
war in der damaligen Gegenwart ein gar hartes und
hatte oft genug die Loſung zu Schlägereien gegeben;
der Beleidigte ballte die Fauſt und ſchlug den Gegner
derb über den Kopf, der war nicht faul und gab es
mit einer Maulſchelle heim. Die Zwei ſaßen ſich ſchief
gegenüber; nun wollte es das Unglück, daß neben
Morbihan Griffith ſaß, ebenfalls einer aus jener
Gruppe, die wir als eine Art Linke bezeichnen, und
wiederum dieſem ſchief gegenüber Avagddu, ein Mann
der Partei, die wir nun folgerichtig als Rechte be¬
[371] ſtimmen dürfen; wir werden ihn wie Morbihan in
unſerer Geſchichte noch weiterhin betheiligt finden.
Dieſe Zwei hatten ſich über die Rede Kallar's ereifert,
Griffith hatte ihn einen zweiten Merlin genannt, was
Avagddu ſo empörte, daß er den Barden einen tuck¬
mäuſeriſchen Grippodiener ſchimpfte, hier war der
Mann der Linken der zornigere Theil, ſchlug mit der
knochigen Fauſt hinüber und Avagddu blieb den Schlag
nicht ſchuldig. Nun hatte es aber bei dieſer Aktion
zweier Paare, die ſich über's Kreuz ſchlugen, nicht
ſein Bewenden, die Nachbarn wollten zuerſt Einhalt
thun, bekamen dabei Püffe weg, wurden darüber aus
Friedensſtiftern Mitprügler und ſo lief es denn fort
wie der ununterbrochene Schaumſtreifen der überſtür¬
zenden Woge.


Am andern Ende war der Urſprung deſſelben
Aufruhrs nicht ebenſo geiſtiger Art. Hier war einem
biedern Holzhauer ein Unſchick begegnet. Wir müſſen
eine kulturhiſtoriſche Bemerkung voranſchicken. Das
Fleiſch wurde zerſchnitten aufgeſetzt. Es gab ja, wie
wir längſt wiſſen, keine ordentlichen Meſſer und von
faſſenden Gabeln konnte ohnedieß nicht die Rede ſein.
Ein Vorſchneider nahm in der Küche die Zerlegung
vor mit einer der äußerſt ſeltenen Klingen, die
beim Zerſchlagen des Feuerſteins lang und ſcharf
genug ausgefallen war, um dieß Geſchäft damit
zu verſehen; auch ſo bedurfte es noch beſonderer
[372] Kunſt und demnach gab es denn auch in dieſem Ge¬
biete Techniker. Auf großen Holztafeln wurde die
Flucht der Vorſchneidarbeit aufgeſetzt und jeder Gaſt
nahm ſich ſeinen Biſſen mit dem Naturwerkzeuge der
Hand. Löffel aber gab es, aus Horn und feinem
Holze gar nicht übel geſchnitzt, wiewohl etwas groß.
Man bedurfte ſie doch zu Suppe und Gemüs; ge¬
wöhnlich holte ſich Jeder ſeinen Schub aus der ge¬
meinſchaftlichen Schüſſel und führte ihn geradlinig zu
Munde. Bei Feſtſchmäuſen aber hatte ausnahmsweiſe,
um die würzreiche Brühe, die zu den auserleſenen
Fleiſchſpeiſen gehörte, mit Ruhe und Verſtand genießen
zu können, auch der Einzelne ſeinen Teller, d. h.
ſeine mit ſchwerer Schnitzkunſt erträglich konkav ge¬
bildete Holzſcheibe. Das Abtropfen des Fetts, wenn
der Eſſer ſeinen Biſſen aus der gemeinſchaftlichen
Schüſſel zum Mund herüberhob, hatte zu dieſer Neue¬
rung den Anlaß gegeben. Nun aber kam es überdieß
auf, daß man ſich auch den Fleiſchbrocken erſt auf
eine eigene kleinere Holzplatte nahm und nach per¬
ſönlichem Geſchmack noch etwas mehr in's Spezielle
bearbeitete, als der vielbeſchäftigte Vorſchneider es ge¬
than. Dieß geſchah mit dem Steinmeißel, den Jeder
ſich mitbrachte. Ueber das Verfahren haben wir unſern
modernen Leſer bereits aufgeklärt: das Werkzeug wurde
am Hirſchhorngriff gefaßt, auf das Fleiſchſtück aufgeſetzt
und die Hand war hart genug, um als Hammer zu dienen.


[373]

Leicht wird man jetzt den Zufall begreifen, der
dem guten Holzhauer begegnete. Seine ſchwere Fauſt
ſchlug etwas zu ſtark, ſtieß Meißel und Fleiſchklumpen
über den Teller hinaus und die Brühe ſpritzte dem
Nachbar Zimmermann in's Geſicht. Der fuhr auf
und ſchrie: „Kaib!“.


Der reißend ſchnelle Hergang muß einen Augen¬
blick mit einer erläuternden Bemerkung unterbrochen
werden, die der Leſer billig erwartet. Das Wort
Kaib war Entſtellung eines hohen Ehrennamens. Der
oberſte Druide hieß, wie man ſich erinnert, Coibhi-
Druid, Druidenhaupt. Es kam auf, dieß Wort ironiſch
anzuwenden, ſo daß es das Gegentheil ſeines Sinns
bezeichnete; um den Frevel zu mindern, ſprach man
es unrichtig aus, wie wir heute noch mit Wörtern
heiligen Sinns verfahren, wenn wir ſie zu Fluch oder
Schimpf mißbrauchen. Man begreift, daß es in einer
Zeit, wo dieſer ſein Urſprung noch bekannt war, für
ein ſehr ſtarkes Scheltwort galt. Kein Wunder denn,
daß dem beſpritzten Zimmermann zu der Brühe als¬
bald noch eine Ohrfeige in's Geſicht flog. Des Zim¬
mermanns nahm ſich thatkräftig der Nachbar Fleiſcher
an, des Holzſchlägers der nicht ſo leibſtarke, aber
behende Schneider und das Weitere ergibt ſich durch
Vergleichung mit dem Hergang am andern Ende: die
Handlung war im Gang und bewegte ſich mächtig in
der entgegengeſetzten Richtung.


[374]

Wir können alſo ſagen: die Wogenſchäumung gieng
von zwei Polen aus, dort einem idealen, hier einem
realen. Noch ehe aber dieſe zwei Sturzbewegungen
die Mitte erreicht hatten, wurden ſie durch zuwachſende
ſeitliche Strömungen noch weſentlich verſtärkt. An dem
einen der zwei übrigen Tiſche ſaßen die ledigen Burſche.
Sie waren bereits nicht beſonders nüchtern zum Schmauſe
gekommen und hatten ſich dennoch den Meth und Obſt¬
ſuſer tüchtig ſchmecken laſſen. Die Unterhaltung galt
den Ereigniſſen des Schützenfeſtes, den beſten Schüſſen,
den Gewinnen. Manches Hoch wurde ausgebracht, man
rühmte ſich gegenſeitig in blühenden Trinkſprüchen;
das Andenken ſagenhafter Schützen aus der Vorzeit
wurde gefeiert, in deren Ruhm die ſpäten Enkel gerne
ſich ſonnten. Aber man neckte ſich auch mit verfehlten
Schüſſen und der Neid um glückliche gloſtete als ver¬
borgenes Feuer in manchen Gemüthern. Dabei ent¬
zündete ſich anderweitiger Brennſtoff: Eiferſucht um
Mädel, die unter der Decke glimmte und gelegentlich
zum Ausbruch kam. Einer der Burſche, Dubrach mit
Namen, hatte gar ungern geſehen, wie der Tanzdichter
Hopp-Hoppodur die reizende Gwennywar zum Tanz
aufzog, denn ſie war ſeine Flamme. Der heitere
Künſtler hatte ſich als Junggeſelle zu den Burſchen
geſetzt, obwohl er um etliche Jahre über ſie hinaus
war. Dubrach fieng an, mit Scherznamen wie Tän¬
zerling, Hüpfmeiſter, Flederwiſch herauszurücken, bei
[375] letzterem Wort ſprang der behende Mann auf, war
mit einem Satz über dem Tiſch, mit einer flinken
Schwenkung ſaß er dem breiten Spötter auf den
Schultern, hatte die Hände an ſeinen Ohren, und
zog und zwickte ihn ſcharf in die Läppchen. Man
lachte, aber es blieb nicht lang beim Scherz, Dubrach
wurde wild, da er den feſteingeklemmten Reiter nicht
abzuſchütteln vermochte, fand Bundesgenoſſen, andere
ſprangen dem Tänzer bei, die Aufregung pflanzte ſich
auf die Uebrigen fort, es gab ein Gezerre und ſchnell
gieng der Spaß in Ernſt, in Thaten über. Nun
brach es aber auch hier noch auf einem zweiten Punkte
los. Zwei Jägdler, ſchon bejahrtere Hageſtolze, die
ſich aber ebenfalls zu den Burſchen geſetzt hatten, er¬
eiferten ſich in einem Geſpräch über die Frage, was
als weſentliches Merkmal der Hirſchloſung zu beſtim¬
men ſei. Der rothhaarige Caractac behauptete, das
weſentliche Kennzeichen ſei die Geſtalt, beſtehend in
einer Reihe verbundener nußförmig runder Körper,
wogegen der ſpitznaſige, ſchwarze Llywelin feſthielt,
das wichtigere Merkmal ſei der weißliche Schleim,
womit dieſes Gebilde netzartig wie mit Spinnwebe
überzogen ſei. Man ſieht, es war eigentlich ein Gegen¬
ſatz von plaſtiſcher und maleriſcher, oder eigentlich
zeichneriſcher Auffaſſung. Da Keiner den Andern über¬
zeugte und Keiner nachgab, ſo war der Streit zwiſchen
dem Plaſtiker und dem Pittoresken oder Skizziſten bald
[376] nahe daran, zu ſchließen wie der Disput der Völker zu
ſchließen pflegt, wenn die Gründe und Gegengründe
erſchöpft ſind. Auf dieſem Punkte ſtanden denn eben
die beiden Gruppen, als das Brauſen der Schlacht
am mittleren Tiſch anhub. Beide vergaßen augen¬
blicklich den eigenen Spahn, dort verlor der Reiter
den Schluß, ſprang ab, hinüber mitten in's Gewühl,
nicht minder beeilten ſich die Nächſten, die geballte
Kraft vielmehr dorthin zu entladen, die zwei Jägdler
machten es ebenſo, dann nacheinander, wie Eiſen vom
Magnet angezogen, flogen ſämmtliche jugendliche An¬
ſaßen dieſer Tafel ebenfalls nach der Mitte hinüber
und ſchlugen blind darauf, wo es nur hingieng.


Am dritten Tiſch ſaßen Verheirathete, ſo viel ihrer
am mittleren Tiſche nicht Platz hatten, ältere, jüngere
durcheinander. Hier hatten ſich, kühn genug, einige
Stimmen des Mitleids mit Arthur vernehmen laſſen;
zuerſt der verſtändige Maſſikomur, der Finder der ur¬
alten Pfahlzeitreſte im Seegrund, hatte es gewagt,
den vermeſſenen Redner mit ſeiner Jugend zu ent¬
ſchuldigen; er hatte in ein Weſpenneſt geſtochen, eine
milde Rede hatte eine wilde, eine wilde eine wildere
gegeben und ſo ſtand auch hier Alles in Feuer und
Flammen, als der Krieg am mittleren Tiſch ausbrach
und ſchnell den zweiten in ſeinen Krater hineinrieß.
Da war denn auch für Geſetztere kein Widerſtehen
mehr und in wenigen Augenblicken die ganze Geſell¬
[377] ſchaft aller drei Tiſche nur ein ungeheurer Knäuel
wild bewegter, klopfender und klatſchender Glieder,
worin eine deutliche Form, ein deutlicher Ton nicht
mehr zu unterſcheiden blieb. Man ſah gehobene Arme,
man ſah auftauchende Köpfe, in der Luft baumelnde
Beine, man ſah breite Rücken und darüber dreſchende
Fäuſte, aber jegliches Gebilde verſchwand blitzſchnell
vor dem ſchwindelnden Auge, das in die Schlünde
der Charybdis zu ſehen glaubte.


„Weſſen Auge? Da gab es ja keinen Zuſchauer!“
O ja, doch! — Wir haben noch keinen Augenblick
gefunden, des Näheren zu erzählen, wie die Wirbel
der Doppelbewegung am mittleren Tiſche nun deſſen
Mitte ergriffen, wo zwiſchen den zwei Barden der
Druide ſaß. Der würdige Mann war nicht ſo über¬
zart, nicht gegenzuwirken, als er von links und rechts
Püffe erhielt; in der That erfreute ſich jenes ganze
Zeitalter noch eines hinreichend friſchen Naturſinnes,
um es nicht gar ſo fürchterlich zu finden, wenn ein
Druide oder Barde einmal in die Wechſelwirkungen
einer Prügelei hineingeriſſen wurde. Es konnte als
Zufall gelten, daß der Barde Kullur einen ſeiner erſten
Hiebe zu fühlen bekam, dieſer jedoch nahm es — aus
Irrthum oder nicht, bleibe dahingeſtellt — als Ab¬
ſicht, zog mit der gedrungenen Kraft ſeiner kurzen,
ſtämmigen Glieder den großen, etwas fetten und eben
nicht abgehärteten Mann über die Bank herüber und
[378] bearbeitete gründlich ſeinen breiten Rücken, gründlicher
ſeinen fetten Sitzmuskel. Es geſchah eigentlich nicht aus
Ummuth wegen der Hymnenkonkurrenz, vielmehr im
Grund einfach, weil er ihn und ſeinesgleichen überhaupt
nicht leiden konnte. Des Weiteren aber verſchwanden
Beide in die allgemeinen Wogen des Getümmels und
waren als einzelne Wellen nicht mehr zu unterſcheiden.
Anders der Barde Kallar. Er wußte ſich mit großer
Gewandtheit nach den erſten Zerrungen und Stößen
aus dem Gewirre zu entwinden, beiſeite zu treten,
ſtand, da Niemand Zeit hatte, ihn zu bemerken, ganz
ruhig an einem Eichſtamm und beobachtete mit über¬
geſchlagenen Armen, gelaſſen lächelnden Lippen das
Schauſpiel wie ein merkwürdiges Naturereigniß. Das
iſt die Ruhe, welche die Wiſſenſchaft gibt! Er genoß
ſie rein, wolkenlos, ohne den geringſten Verdruß über
das heißere Blut ſeines Collegen.


Jedes Drama hat ſein Anſteigen, ſeine höchſte
Verwicklung, aber auch ſeinen Ablauf, ſeinen Schluß.
Die Kämpfer ſättigten ſich, wurden müde, die Schläge
fielen ſeltener, Ausruf und Schrei begann ſich zu
legen und endlich trat Meeresſtille ein.


Koch, Knochenſchlitzer, Vorſchneider mit ihren Ge¬
hülfen traten jetzt aus der Schußweite der Küche her¬
vor; ſie hatten ein ſolches Schauſpiel nicht zum erſten
Mal geſehen und beeilten ſich nun, die zerzauſte Matte
wieder zu ordnen, die zerbrochenen Schüſſeln und
[379] Krüge wegzunehmen, neue aufzutragen, inzwiſchen ver¬
ſchnauften die Kämpfer und ſetzten ſich dann geruhig
wieder an ihre Plätze. Sie hatten eine Erfriſchung
genoſſen, die zum jährlichen großen Opferſchmaus in
Wahrheit niemals fehlen durfte. Wer möchte ſie ver¬
dammen? Iſt nicht das Eſſen eine träge Art von
Genuß, der es gar wohl anſteht, in einer Beigabe
mannhafter und aktiv bewegter Art ihre Ergänzung,
ihren höheren Schmuck zu finden? Auch waren ſich
die Pfahlbewohner wohl bewußt, daß dieſer bewegungs¬
reiche ornamentive Zuſatz zugleich ein Erſatz ſei für
eine Einrichtung, die ihnen fehlte: gymnaſtiſche Uebung;
ihr Speiſeplatz wurde ſo ihr Turnplatz; ihre Körper, eckig
und ſchwerfällig von harter Arbeit, wurden durch dieſe
Knetungen (jetzt: massage) geſchmeidigt; die Schlägerei
hatte eine muskelbildende — ſage griechiſch: myopla¬
ſtiſche — nebenbei zu erwähnen auch eine entſchieden ver¬
dauungsfördernde Wirkung; man darf hinzuſetzen: ſie
vertrat durch den geſunden Schweiß, den ſie mit ſich
brachte, die Stelle von römiſch-iriſchen Bädern, welche
die Pfahlmänner noch entbehrten; ſie badeten in ihren
Seen, aber der Menſch bedarf von Zeit zu Zeit auch
ein Dampfbad. Ja ungleich Höheres noch dürfen wir
behaupten: die Wirkung war auch eine ſeelenbildende,
denn ein gewiſſer ſanfter Friede, ein calmo di mare
pflegte nach dieſen Stürmen auch auf die Gemüther
ſich zu ſenken, und dagegen kamen ein paar Schrammen
[380] und Beulen doch wirklich nicht in Anſchlag. Unbe¬
dingt war freilich ſolcher Ruhe des Meeres nicht zu
trauen. Oft folgt ja auf einen Sturm ganz uner¬
wartet ein zweiter; eine müde, ſcheinbar erſtickte
Granatkugel fährt oft noch einmal empor, zerplatzt
und tödtet rings, was ihr begegnet. Nicht bei allen
Mitgliedern der Geſellſchaft hatte ſich Einnahme und
Ausgabe in der Prügelrechnung befriedigend ausge¬
glichen. Wer konnte wiſſen, ob es nicht da und dort
unter der Aſche noch unheimlich nachglimme!


Vorerſt ſollte ſich zeigen, daß dieß wenigſtens beim
Druiden der Fall war.


Körperlich war zwar auch ihm die Motion im
Allgemeinen ganz gut bekommen. Wir wollen nur
verrathen, was wir bisher noch rückſichtsvoll verſchwiegen
haben: ſein letzter war nicht ſo muſterhaft verlaufen,
wie es für einen voranleuchtenden Druiden ſich ziemte;
er hatte ihm einen rheumatiſch krummen Hals zurück¬
gelaſſen. Die Durcharbeitung, die gründliche Walkung
hatte ihn jetzt kurirt: ſein Kopf ſtand wieder gerade
auf ſeinem Rumpf. Aber ſein Inneres war nicht
gerade, nicht ſtill und weich geworden. Er hatte vor
der motoriſchen Epiſode wenig geſprochen, ſtarr vor
ſich hin geſehen; jetzt, obwohl er die paſſive und aktive
Theilnahme an der Kraftäußerung der Gemeinde im
Ganzen als eine wohlthuende nachfühlte, verhielt es
ſich doch anders mit einem Bruchſtück derſelben: im allge¬
[381] meinen Durcheinander hatte es ſich doch ſeiner Wahr¬
nehmung nicht entzogen, wer es war, der ihm auf
ſeine Sitzgegend ſo tüchtig aufmaß; das brannte nun
empfindlich nach, eine prickelnde Glut ſtieg aus dem
untern Theil ſeines Organismus empor und traf oben,
in Herz und Hirn, mit dem verhalten gährenden Grolle
zuſammen. „Wartet, ihr Barden,“ dachte er, „Schlag
gegen Schlag! Kann ich euch nicht treffen, euern Freund,
euern Geſinnungsgenoſſen werde ich zu erreichen wiſſen!“
Er ſchwieg, bis Alles wieder ſaß; er ſelber zog vor
— wie ihm dieß ohnedem der eben bemerklich gemachte
Zuſtand der Baſis ſeiner Perſönlichkeit anrieth —
ſich nicht niederzulaſſen. So ſtand er, nicht ſchmun¬
zelnd wie ſonſt. Die kleinen Augen waren in die
Höhlen zurückgeſunken, erſt wie erloſchen, dann fiengen
ſie an, ſich krebsaugenartig hervorzutreiben und wieder
zu funkeln. Die Haarſtränge, die von hinten über
ſeine Glatze herübergezogen und feſtgeklebt waren,
hatten ſich losgemacht und ragten unter der hohen
Pelzmütze, die nach den Körperübungen Morbihan
wieder aufgeleſen und ihm aufgeſetzt hatte, lang und
fetzig, ein verrückter Zackenkranz, hervor. Er hatte
ſich das große Trinkhorn mit Methbock füllen und
reichen laſſen; es war ein altes Erbſtück der Gemeinde
aus der Stirnwaffe eines Urs, das an hohen Feſten
umgieng. Er hob es, er rief: „Der großen Göttin!“
ſtieß ringsum an und that einen tiefen Trunk. „Den
[382] zweiten dem großen, finſteren und heilig zu ſcheuenden
Urwurm Grippo!“ Er that einen zweiten, noch tieferen
Zug, reichte das Horn weiter und ſah dann, als ſtörte
ihn etwas im Fortſprechen, hinter ſich nach der Feld¬
küche. Hier gab es eine Bewegung, der Koch Sidutop
kam jetzt herbei und flüſterte ihm etwas in's Ohr.
„Er komme und melde!“ ſagte Angus, der Koch eilte
zurück und gleich darauf trat ein Mann vor, todes¬
bleich, zitternd an allen Gliedern, in voller Bewaffnung,
der Speer ſchwankte hin und her in ſeiner ſchlottern¬
den Rechten. „Sprich!“ befahl Angus. Es war
einer der zwei Wächter an Arthur's Gefängniß. Er
ſtammelte daher: „Seit einer ſtarken Stunde — dort
— unten — oben — neben — in den Lüften —
wo? was? ein Ton — Töne — entſetzlich — ein
Fauchen — Pruſten — Schnarren — Rumpeln —
Krähen — lautes Heulen — Brüllen — dumpfes
Murren — o! o! au!“ Die Sprache verſagte ihm,
er taumelte an einen Eichenſtamm, preßte den Rücken
daran und hielt mühſam ſo die lummelnden Glieder
aufrecht. Einige kritiſche Augen meinten zu bemerken,
es ſei nicht bloß Entſetzen und Angſt, was ſeine
Organe lähme. Der Druide ließ dieſen Zweiflern
keine Zeit zu näherer Prüfung. Er richtete ſich ſteiler
auf und begann feierlich:


„Ihr habt es gehört. Die finſtere Gottheit zürnt,
verlangt ihr Recht, ſchwebt grollend um den Kerker
[383] des Frevlers! Der gewaltige, dunkle Grippo hat zu
lang ein Menſchenopfer entbehrt. Darum hat er unſer
Böcklein verſchmäht. Wunderbares Wehen und Rauſchen
habe ich verſpürt, Geiſterſtimmen habe ich vernommen
heut Abend im heiligen Innerſten des Haines. ‚Geuß
mich mit Sünderblut!‘ rief hohler Tiefton aus den
Aeſten des Räthſelgebildes. ‚Verſöhne ihn!‘ liſpelte es
aus zitterndem Birkenlaub. Fromme Mitheiden! ein
Unheiliger, ein Götterfeind, ein Läſterer weilt in unſerer
Mitte. Ihr kennt mich, ihr wißt, ich bin eigentlich
ein Mann der Billigkeit. Ich laſſe der denkenden
Vernunft einen Spielraum. Zweifel iſt bis an ge¬
wiſſe Grenzen erlaubt. Wir haben Köpfe in der Ge¬
meinde, welche an den heiligen Zahlen fünfunddreißig
und neunundvierzig zu rütteln wagen, betreffend die
Feen der Göttin Selinur und die Zwerggeiſter des
Grippo. Ich habe dieſe Grübler nie verfolgt, nur
ſanft gewarnt. Ich ſelbſt habe mich durch Zweifel
zum Glauben durchgekämpft. Aber zu viel iſt zu
viel. Es darf nicht an den Kern, an die Wurzel,
nicht an die Hauptkapitel gehen. Dieſer Fremdling
hat aber unſere allerheiligſte Religion in ihren Grund¬
wahrheiten verſpottet, ſchon ehe er in die wildfrechen
öffentlichen Reden ausbrach. Er hat unſere ehrwür¬
dige, hochwichtige Betuchungs- und Ritzungsfeier belacht;
er hat giftſcharfe Worte fallen laſſen, dahin zielend,
daß unſer Glaube keine Kraft mehr habe, die Völker
[384] zu erziehen; ſie ſind mir von treuen Seelen hinter¬
bracht worden. Ich weiß mehr: er hat einem ehr¬
ſamen Jüngling der Gemeinde nach dem Leben geſtrebt
in hölliſcher Eiferſucht, da er eine Tochter unſerer Ge¬
meinde zu verführen, zu entführen trachtete, die dieſer
edle, gottesfürchtige Sohn Odgal's lieb hat und freien
will.“ —


Man ſchaute umher, Aller Augen ſuchten Alpin.
Stimmen ließen ſich hören: „Wo iſt er?“ Die ledigen
Burſche riefen: „Er fehlt ſchon den ganzen Abend.“
— „Ja, ſeit dem Feſtſchießen ſchon.“ — „Halt, er wird
ermordet ſein!“ rief eine ſpitze Stimme aus der Männer¬
ſchaar. Ein Murren, ein Flüſtern gieng durch die
Verſammelten, das ſich zu tumultuariſcher Unruhe
ſteigerte. Vergebens rief Odgal: „Mein Sohn iſt ge¬
ſund und wohl vom Schützenfeſt zurückgekommen und
hat zu Hauſe gegeſſen um Mittag; wer ſollte ihn
denn in der Zwiſchenzeit ermordet haben, Arthur iſt
ja gefangen!“ — „Der Gauner kann verborgene
Helfershelfer haben,“ ſchrie eine heiſere alte Kehle.
Kurzes allgemeines Stillſchweigen, dann neues Flüſtern,
dumpfer, dunkler, unheimlicher als das vorige; Wechſel¬
blicke des Verdachts, gehäſſige Aufregung von Nachbar
gegen Nachbar, anzügliche Reden unter einander, Alles
zu einem Getöſe anſchwellend, worin die Mahnungen
einiger Nüchternen, namentlich der Barden, man ſolle
doch erſt nach dem Vermißten ſuchen gehen, rein über¬
[385] hört wurden. Ein ruhiger Zuſchauer hätte bemerken
können, daß eine zuſammenhaltende Anzahl von Hetzern
geſchäftig war, zu ſchüren und durch wiederholte Aus¬
rufe: „Mörder! Mörder!“ die aufgeſcheuchte Phantaſie
noch wilder in das dunkle Bild eines vorgeſtellten
Verbrechens, einer geheimen, ſchleichenden, böſen Macht
hineinzuverwickeln. Schon fiengen die Vernünftigeren
an, ſelbſt beirrt zu werden, ſonſt hätte ſich doch müſſen
eine Minderheit zuſammenthun, die ſtark genug war,
durchzuſetzen, was die Barden verlangt hatten: daß
nach Alpin geſucht werde.


Es war der Druide, dem es gelang, mit gebiete¬
riſchem Befehl ſich eine Stille zu erzwingen. „Viel¬
leicht auch Mörder!“ rief er, „aber er iſt gerichtet
auch ohne das! Er hat in ſeiner ſchamlos frechen
Rede, den heiligen Wagſtein ſchändend, indem er ihn
zu ſeiner Kanzel machte, unſere Obergöttin zwar gelten
laſſen, aber nur in bedenklichem, hinterhältiſchem Sinn.
Den furchtbaren Grippo hat er geleugnet. Die Lehre
vom unbekannten Gott hat er wahnſinnig ausgedeutet,
ſich vermeſſen, uns eine undenkbare neue Gottheit auf¬
drängen zu wollen. Und das Abſcheulichſte: wißt ihr
noch, was er geſprochen von drohendem Ueberfall
fremden Volkes, das unſere Hütten plündern, ſengen,
unſere Kinder niedermetzeln, unſere Weiber und Töchter
ſchänden, in Gefangenſchaft führen werde? Da ſprach
Viſcher, Auch Einer. I. 25[386] er von Widerſtand durch Menſchenkraft ohne Grippo's
Hülfe! Was? Wie? Wer iſt der, der uns des Bei¬
ſtands der Gottheit entblößen will, wenn unſer Hab
und Gut und Leben und das Leben von Weib und
Kind bedroht iſt? Nicht nur ein Ketzer, ein Hochver¬
räther iſt er! Ihn, ihn fordern wie die Geiſtertöne
im heiligen Hain, ſo die furchtbaren Laute, die über
den Waſſern um ſein Gefängniß Luft und Ohr
erſchüttern!‚ Gebt ihn mir' ruft Grippo, gebt ihn
uns,' ſeine Geiſter! Verloren ſeid ihr, wenn ihr das
Opfer weigert, gerettet, wenn ihr es bringt! Ihr
wißt, daß aus eurem Seelenhirten nicht Leidenſchaft
ſpricht, der Verbrecher iſt in aller Form abgeurtheilt;
reiche mir, Dyfuwal, du rechtgläubig Frommer, der
du mir zuerſt jene Hohnworte des Erzketzers getreulich
hinterbracht haſt!“


Einer der Alten in ſeiner Nähe erhob ſich, ein
hohläugiger Greis, groß und dürr, vom Alter ge¬
krümmt, mit langem, doch ſparſamem weißem Barte,
der in zwei Strängen vom ſpitzen Kinn niederhieng;
er trat an einen hohen Buſch, über den eine Baſtmatte
gebreitet war, hob ſie, wollte hineingreifen, fuhr aber
wie von Scheu überwältigt zurück, denn aus dem
Buſche erhob ſich eine Geſtalt, ganz in Schwarz ge¬
kleidet, ein Weib mit gelbem Geſicht, mit ſtarr, weit
aufgeriſſenen Augen, hoch in der Hand einen weißen
Stab haltend. Geheimnißvolle Zeichen, eingeſchnitten,
[387] mit Roth bemalt, waren darauf zu ſehen. Es war
Urhixidur. Dyfuwal überließ ihr ohne Widerrede,
was eigentlich ſein Geſchäft war. Sie reichte den
Stab dem Druiden, zog eine der Fackeln aus der
Klamme, die ſie am Pfahle feſthielt, und beleuchtete
den Stab in Angus' Hand. Man konnte jetzt ſehen,
daß das Roth der Zeichen aus Blut beſtand.


„Hier iſt das Urtheil!“ rief der Druide, den Stab
hoch emporſtreckend. „Wer ſind die Richter?“ riefen
gleichzeitig die zwei Barden, „nur ein Beſchluß der
Volksgemeinde kann Todesurtheil fällen.“ — „Das
iſt nicht Geſetz, nur Brauch“, rief Angus. „Ererbt,
verjährt, durch die Jahre geheiligter Brauch!“ ent¬
gegnete Kullur. Jetzt trat ſchnell Sigunens Vater,
Odgal, vor und ſprach: „Er war mein Gaſt, ver¬
klage ihn, wenn du willſt, förmlich vor der Gemeinde,
er ſoll nicht ungehört, nicht unvertheidigt gerichtet
werden!“


„Das gemeinſchaftliche Amt,“ erwidert der Druide,
„iſt befugter Vertreter der Gemeinde, ich habe zu den
zwei Aelteſten, die mir in Sachen des Gottesdienſtes
zur Seite ſtehen, vier weitere beigezogen, die vom
Volke gewählten, dem oberſten Haupt und Richter,
dem Druiden, an die Hand gegebenen Berather und
Verwalter der weltlichen Dinge — lies, Urhixidur!
lies das Urtheil, das nun dem Verbrecher ſoll ver¬
kündigt werden!“
[388] Sie ſagte zuerſt in trockenem, litaneiartigem Ton¬
fall das Urtheil her, als läſe ſie es vom Runenſtabe
herunter; in der That war ſie ſehr ſchwach in der
Kunde dieſer Schriftzeichen, konnte aber Eingelerntes
ſehr gut auswendig behalten.


„Im Namen des Coibhi-Druid und kraft der
von Seiner Heiligkeit uns übertragenen Gewalt, zu
herrſchen und zu richten, und auf Grund genauer
und geſetzlicher, unter Mitwirkung der für Be¬
rathung geiſtlicher und weltlicher Dinge uns bei¬
gegebenen Aelteſten unſerer Gemeinde Robanus vor¬
genommener Unterſuchung, auch in Uebereinſtimmung
mit dem Wahrſpruch dieſer unſerer Beiſitzer erkennen
wir dich, Arthur von Nuburik, ſchuldig der Läſte¬
rung unſerer heiligen Religion, der Leugnung der
Götter und zugleich des Hochverraths, und ſprechen
das Urtheil, daß du alsbald nach Verkündigung aus
dem Kerker an den heiligen Dolmen ſollſt geführet
und zu Ehren der furchtbaren Gottheit Grippo und
gemäß dem bejahenden Willen der Weltgöttin Seli¬
nur vermittelſt Aufſchlitzung der Bruſt und des
Bauches vom Leben zum Tode gebracht werden,
und es ſoll aus den Zuckungen deiner Eingeweide
die Zukunft unſerer Gemeinde Robanus geweiſſagt
und es ſoll hierauf dein Leib, todt oder noch lebendig,
zu Aſche verbrennet werden.


[389]

„So beſchloſſen in der Gemeinde Robanus und
gezeichnet mit Blut des Böckleins.


Gemeinderath:


  • Dyfuwal.


    Morbihan.


    Avagddu.


    Gueyrydd.


    Gwrtheyrn.


    Galgak.“

Angus, Druide,


Pfarrer.


Die Vorleſerin verſtärkte jetzt ihre Stimme und
gieng in einen andern Ton über, denn ſie gelangte
an die poetiſche Faſſung des Urtheils, die nach da¬
maliger Sitte und Geſetz der proſaiſchen folgen mußte.
Die Anſtrengung trieb ihre Stimme in die Höhe, laut
und grell wie ein krächzender Nachtvogel kreiſchte ſie
in geſangartig gezogenen Tönen:


„Feſt ſteht Stabſpruch:

Sterbe Frevler!

Steche, ſchlitze

Scharfe Schneide

Langen Leibſchnitt,

Daß man Lung und

Herz und Leber

Zukunftkündend,

Zeichenbringend

Zucken ſehe!

Züngle, Flamme!

Ziſche, zehre

Ihn zu Aſche!

Wehe! Wehe! Wehe!“
[390]

Dieſe drei Ausrufe, den hergebrachten Schluß eines
Todesurtheils, ſtieß ſie mit einem Laute aus, ſo wild
grauſig gellend, wie man ſich den Schrei des blutigen
Kindes im „Macbeth“ denken muß, das aus dem Hexen¬
keſſel ſteigt; es ruft dreimal ſeinen Namen ſo entſetzlich,
daß er ſagt: „Hätt' ich drei Ohren, hört' ich dich!“


Kaum war ſie zu Ende, ſo rieß Angus, den
Augenblick benützend, wo Schauer alle Zungen band,
eine Fackel vom nächſten Pfahl, ſchwang ſie, rief:
„Vorwärts!“ ſetzte ſich in Bewegung, ihm nach das
geiſterhafte Weib, in der einen Hand den Runenſtab,
in der andern die Fackel, die ſie vorhin ergriffen
hatte und nun in Kreiſen über dem Haupte drehte;
an ſie ſchloſſen ſich raſch die Gemeindeälteſten und
hinter dieſen drängte ſich Alles, was ſtreng und
feindlich gegen Neuerungen geſinnt war; dagegen die
Barden, die Männer, die wir als eine Art von Linker
ſchon kennen, die Unentſchiedenen, die ſich gern einige
Nüchternheit bewahrten: ſie Alle bedurften nur wenige
Minuten, ſich vom lähmenden Grauſen zu erholen,
dann ſtürzten ſie ſich nach, abmahnend, klagend, heftig
bemüht, die vorwärts Stürmenden aufzuhalten. Durch¬
einander ſchreiend, ziehend und ſtoßend, zerrend und
gezerrt, wälzte ſich der wirre Menſchenknäuel über
die Opferſtätte hin, wo vor Grippo's Bild ein Scheiter¬
haufen aufgerichtet ſtand und röthlich im Fackel¬
licht aufglühte, wo auf dem Dolmen ſchon der Corid¬
[391] wentopf bereit ſtand, das Blut des Menſchenopfers zu
empfangen, dann weiter der Brücke zu, worüber zuerſt
Urhixidur hinraſte, die ſich auch vor Angus den Vor¬
tritt errafft hatte. Mit ſauſenden Flechten ſtürmte ſie
über die polternden Planken, immer die Fackel ſchwin¬
gend, deren Flamme nun auf den dunkeln Spiegel
des Sees ihren feuerrothen Schein umherſtreute —
eine Eumenide, ein hölliſcher Dämon —, ihr nach
der Druide, die ſechs Aelteſten, dumpf erkrachte unter
der wild bewegten, ſtampfenden Laſt des nachdrängen¬
den Gewühles der ganze hohle Unterbau des Waſſer¬
dorfes, von fern hörte man das Geheul eines Wolfes,
aufgeſcheuchte Nachtvögel umflatterten krächzend das
wilde Heer; — jetzt ſind die Vorderſten am Gefäng¬
niß angelangt, der eine der zwei Wächter, der auf
ſeinem Poſten geblieben, liegt ſchnarchend am Boden,
Angus ſchwingt eine Steinaxt, die ihm unterwegs
ſchnell gereicht worden, zerhaut den Knoten am Riegel,
reißt die Thüre auf, rennt hinein, ihm folgt augen¬
blicklich Urhixidur und die Aelteſten. —


Ein dumpfes, klatſchendes Geräuſch wird vernom¬
men, es wiederholt ſich ſchnell und öfters und raſch
vereinigen ſich dieſe ſchlagartigen Laute zu einer dunkeln,
verworrenen Maſſe von Gehörseindrücken, die nur von
zappelnden, heftigen Bewegungen im plätſchernden,
ſchäumenden, ſpritzenden Elemente des Waſſers her¬
rühren können. Dazwiſchen erſchallt mehrſtimmiges Ge¬
[392] ſchrei, verzweifeltes Hülferufen; die Nächſten, die den
Eindringenden hatten folgen wollen, machen wohlweis¬
lich Halt, drehen ſich um, ſchreien nach Kähnen, die
Nachdrängenden, die noch nicht wiſſen, was vorgegangen,
ſchieben und ſtoßen vorwärts, ſo erleiden noch mehrere
Perſonen das Schickſal der Zugführer; nach und nach
lichten ſich die Geiſter zum Verſtändniß, man eilt nach
Einbäumen, kann ſie nicht ſchnell genug löſen, Dieſer
und Jener ſpringt aus freien Stücken in's Waſſer, um
ſchwimmend die Hineingeſtürzten zu retten, Andere
wirft im Gedräng und der Haſt um die Kähne der
Zufall in die Wellen und endlich befindet ſich der
ganze männliche Theil der Gemeinde in dem wogenden
See, die Frauen ſind inzwiſchen aus den Hütten ge¬
ſtürzt, wehklagen wie ein antiker Chor an den Gelän¬
dern, eines derſelben bricht vom Drucke der Menge
und ein Haufen von Müttern und Töchtern ſtürzt
hinab, weit und breit iſt nun die Waſſermaſſe bedeckt,
durchſchoſſen, durchrauſcht von einem dunkeln Getümmel
ſchwimmender, kähnerudernder, drängender, zappelnder,
lautſchreiender Geſtalten; aus dem Schlaf aufgeſchreckt
flattern ſchneeweiße Möven über dem tollen Schauſpiel
und ſagen durch Wimmern und fahrige, verrückte Zick¬
zackflüge ihr Erſtaunen über den unbekannten Anblick.
Nur drei Menſchen ſtehen unbemerkt ganz ruhig oben
und ſchauen auf das Getrieb hernieder; es ſind die zwei
Barden und ein Jüngling, der ſich ſo eben erſt, ſtark er¬
[393] hitzt wie von raſchem Marſche, zu ihnen gefunden hat
und den wir nicht zu nennen brauchen. Sie flüſtern;
kaum vernimmt man die Worte: „— und Tyras hat
ſich auch eingeſtellt, iſt mit.“


Anderswo liegt in ihrem Kämmerchen eine Jung¬
frau mit geſchloſſenen Augen, mit dem innern Auge
Alles ſehend, was ſich begibt, und Alles verſtehend
und von Luſt und von Bangen zitternd zieht ſie die
Decke ihres Lagers über ſich her und verſteckt darin
ihr ſchönes Lockenhaupt.


Nach und nach wird die Fläche des Sees wieder
ſichtbar und ruhig, Lärm und Menſchengedräng zieht
ſich in's Dorf hinauf, hier beginnt ein Laufen, Poltern,
Herbeiſchleppen wärmender Pelze, in den Küchen ein
Waſſer- und Methſieden, auch dieſe Unruhe legt ſich
allmälig und endlich iſt es ſtille.


Ruhig ſcheint der Mond auf den befreiten glatten
Waſſerſpiegel. Nichts iſt mehr zu ſehen von all' der
Menge von Menſchen und Dingen; nur eine Zipfel¬
pelzmütze, der Hauptſchmuck des Druiden, treibt einſam,
träumeriſch auf den Wellen dahin. —


Drei Jahre ſind ſeit dem Ereigniß vorübergegangen.
Am Ufer ſitzt ein junger Mann, neben ihm ein bild¬
ſchönes Weib. Sie ſehen einem Kinde zu, einem
kräftigen Knaben, welcher im Graſe mit Blumen ſpielt
[394] und abwechſelnd einen alten Schäferhund an Fell
und Ohren zaust, der es geduldig ſich gefallen läßt.
Er hat des Vaters blonde Locken, aber ganz die dunkel¬
blauen Augen und das ſchelmiſche Lächeln der Mutter.


Die Beiden ſitzen lange ſchweigend beiſammen.


„Wo er wohl ſein mag, was wohl aus ihm ge¬
worden iſt?“ ſagt endlich, in Gedanken verloren, Alpin.


„Ach,“ antwortet Sigune, „es iſt beſſer, ich ſage
dir's, als daß du es durch Andere erfährſt. Geſtern
kam mir ein Gerücht zu Ohren, Männer vom Poda¬
mur-See, die mit Waaren zu uns gekommen, haben
es herübergebracht; ſie ſagen, ihnen ſelbſt ſei es auch
durch waarentauſchende Leute zugetragen und dieſen
ebenſo aus weiterer Ferne. Es lautet traurig.“


„Sag' nur, ich ahn' es wohl.“


„Weit, weit weg in einem wilden Lande ſei er, ſo
heißt es, von grauſamen Menſchen erſchlagen worden,
weil er ihnen ihre Götter nehmen wollte. Ach, wenn's
ſo iſt, du haſt ihn umſonſt gerettet!“


Alpin ließ das Haupt ſinken, zog dann ſein Weib
an ſeine Bruſt und unterdrückte ein Schluchzen. Dann
hob er ſich und ſagte: „Doch nicht umſonſt, lieb
Herz! Was er ausgeſtreut, wird aufgehen. Iſt ja
bei uns auch aufgegangen; nicht zu viel, doch Manches.
Der neue Druide haßt und verfolgt die Leute nicht, die
nicht gerad' Alles ſo glauben.“


„Dem Alten hat doch noch etwas geſchwant, als
[395] er an der argen Verkältung mit ſeiner Alten ſo hin¬
ſtarb und ich die Beiden eben doch pflegen mußte; er
richtete ſich im Fieber einmal auf, blickte ſtarr nach
oben und ſtöhnte: ‚Schau' nicht ſo ſchwer auf mich her¬
nieder, Geiſt! vergieb mir.’ Die Alte aber ſtarb unter
Flüchen, die hat mich nicht gedauert.“


„Mich Beide nicht.“


„Du biſt im Herzen doch eigentlich auch für's Neue.“


„Weißt, ich kann freilich die Steckköpfe und Mucker
nicht leiden. Was Arthur gemeint, hat mir ſtückweis
wollen einleuchten, ja ſind mir auch ſchon faſt ähnliche
Gedanken gekommen, wenn ich ſo auf meine Schippe ge¬
ſtützt in's Weite hinaus ſchaue oder wenn ich im Regen
unterſtehe dort in der Höhle, wo Arthur ſich verbarg.
Da fällt mir immer ein, was er geſagt hat in der
Nacht, als ich ihn über den See ſetzte. ‚Warum biſt
du denn eigentlich aus deinem Verſteck heraus?’ frag'
ich ihn. ‚Ich weiß ſelbſt nicht recht,’ ſagt er, ‚und doch,
ich weiß. Als ich in der hohen dunklen Höhle ſo da¬
ſaß, da kam es über mich; es wehte mich an; es rief
etwas über mir hoch herab vom grauen Felsgewölbe
und doch in mir: drüben am Dolmen reden ſie jetzt,
rief es, gehe hin, zeuge vom neuen Gott, den du
nicht kennſt und doch kennſt, ſprich, zeuge laut vor
allem Volk! Da ließ es mich nicht; ich brach aus’
Sieh',“ fuhr Alpin fort, „wenn ich nun in der Höhle
ſitze, da muß ich dieſer Worte gedenken, da meine
[396] dann auch ich ein Rauſchen, ein Klingen zu hören und
eine Stimme, die da ſagt: eure Götter ſind nicht die
rechten und euer Sinn und Leben ſoll erneuet werden,
wie die Welt erneuet iſt, ſeit dunkle, wilde Menſchen¬
geſchlechter gewohnt und gehauſet in dieſen Kammern.
Aber mein Geſchmack iſt eben nicht, zu ſchieben und
zu treiben an ſolchen neuen Gedanken. Ich denk'
halt: manches Alte iſt doch auch gut und ſtille Hirten
muß es doch immer geben, und ich denk' halt: wer
immer Recht behalten mag, es iſt immer gut, wenn ein
Theil Leute noch ſtät, aber ohne Gift am Alten hängt.“


„Ja, drum hältſt du's auch mit denen, die ſich ſo
ſtark gegen die Einführung des Erzes ſperren“. Si¬
gune lächelte zu dieſen Worten; nachdem Alles gut
geworden, hatte ſie, ſchelmiſch wie ſie war, ihren
Alpin öfters mit der bewußten Szene geneckt.


Alpin ſtand auf, hob das Kind auf ſeine Arme,
beugte ſich zu Sigunen nieder, hielt ihr das kleine
Haupt nah unter die Augen und ſagte: „Lieb Weib,
iſt das nicht ein ſchönerer Spiegel?“


Sigune bedeckte das Kind und dann den geliebten
Mann mit Küſſen.


Als ſie wieder aufſchauten, ſahen ſie im Hinter¬
grund den Ehegoumer eilig über die Wieſe laufen.


„Gelt du,“ ſagte Sigune, „den brauchen wir nie
und nimmer!“


[397]

Die Fundſtücke, die man aus dem Robanus-See¬
grund ausgegraben hat, gehören der Steinzeit an, doch
befinden ſich auffallenderweiſe zwei Ausnahmen dar¬
unter: ein Erzſchwert, deſſen Schärfe ſo gezahnt iſt,
daß es offenbar als Säge gedient haben muß, und
ein großer eiſerner Bohrer, beide ſtark vom Roſt an¬
gefreſſen, doch mit Sicherheit noch beſtimmbar. An
einigen Dielen, die man an einer Stelle noch ziem¬
lich erhalten beiſammen fand, laſſen ſich Spuren von
Bohrlöchern und von da auslaufend ſtarke Eingriffe
eines rauhdurchſchneidenden Werkzeugs erkennen.

[][]

Appendix A Berichtigung.


  • Seite 82, Zeile 5 von oben lies Hut ſtatt Haut.

[][][][][][]
Notes
*)

Hiemit iſt die einzig wahre Ableitung unſerer Vorſatz¬
ſylbe „Erz“ den Leſern, namentlich den philologiſchen, zur Kennt¬
niß gebracht. Anm. d. Verf.

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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Auch Einer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bq86.0