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Hiſtoriſche Entwickelung
der heutigen
Staatsverfaſſung
des
Teutſchen Reichs


[figure]
Erſter Theil
bis 1558.

Goͤttingen,:
im Verlage der Wittwe Vandenhoeck,
1786.

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An der
Koͤniginn
Sophie Charlotte
von
Großbritannien
gebohrner
Herzoginn zu Mecklenburg

Koͤnigliche Majeſtaͤt.


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Allerdurchlauchtigſte,
Großmaͤchtigſte Koͤniginn,
Allergnaͤdigſte Koͤniginn und Frau.
Eure koͤnigliche Majeſtaͤt
haben allergnaͤdigſt
geruhet, im May des vorigen Jahres ein Buch
von mir begehren zu laßen, das dazu gebraucht
werden koͤnne, die heutige Verfaſſung des Teut-
ſchen Reichs und deſſen Grundgeſetze in Geſtalt
einer Geſchichte, doch mehr in Ruͤckſicht auf
neuere als aͤltere Zeiten, daraus kennen zu lernen.
[] Wie gluͤcklich wuͤrde ich mich ſchaͤtzen, wenn
der Verſuch eines ſolchen Werkes, wie ich hier
den erſten Theil davon liefere, jener Abſicht nur
einigermaßen entſprechen moͤchte!
Ich erſterbe in tiefſter Unterwuͤrfigkeit
Eurer koͤniglichen Majeſtaͤt
Goͤttingen
den 30. Maͤrz 1786.
allerunterthaͤnigſter Knecht
Johann Stephan Puͤtter.


[]

Inhalt.


  • Erſtes Buch von den aͤlteſten Zeiten her
    bis zum Verfall der Carolinger 888. S. 1-98.
  • I. Teutſchlands Zuſtand von den aͤlteſten Zeiten
    her bis in das fuͤnfte Jahrhundert. S. 1-9.
  • I-IV. Von den aͤlteſten Zeiten her waren in Teutſchland
    mehrere von einander unabhaͤngige Voͤlker; S. 1. — V. ob-
    gleich alle Staͤmme eines Hauptvolks. S. 4. — VI. VII.
    Seit dem III. Jahrhundert nach und nach in groͤßeren Ver-
    bindungen. S. 4. — VIII. Seit dem V. Jahrhundert Voͤl-
    ker von zweyerley Herkunft, einige urſpruͤnglich Wendiſche,
    andere urſpruͤnglich Teutſche. S. 6. — IX-XII. Ueberbleibſel
    von beiderley Voͤlker Verfaſſung bis auf den heutigen Tag.
    S. 6.
  • II. Zuſtand desjenigen Theils von Teutſchland,
    wo die Roͤmer bis ins fuͤnfte Jahrhundert Meiſter
    geblieben, und was davon auf andere Teutſche Voͤl-
    ker fuͤr ein Einfluß merklich geworden. S. 10-15.
  • I. Laͤnder am linken Ufer des Rheins und am rechten
    Ufer der Donau unter Roͤmiſcher Herrſchaft. — Staͤdte und
    andere Roͤmiſche Anlagen in dieſen Gegenden. S. 10. — II.
    III.
    Ueberbleibſel und Denkmaͤler davon. S. 11. — IV. Ver-
    breitung einiger Cultur auf benachbarte Teutſche Voͤlker.
    S. 13. — Inſonderheit Saliſches, Ripuariſches und ande-
    rer Teutſcher Voͤlker Geſetze dieſer Zeit. S. 14.
  • III. Aelteſte Geſchichte der Chriſtlichen Religion
    in den Gegenden des Rheines und der Donau.
    S. 16-20.
  • I. Religionsbegriffe der alten Teutſchen. S. 16. — II.
    Ausbreitung der Chriſtlichen Religion mit Roͤmiſchen Legionen
    bis an den Rhein und die Donau. S. 16. — III. Zuſtand
    des Chriſtenthums, wie es unter Conſtantin dem Großen zur
    freyen Uebung gekommen. S. 17. — IV-VII. Erſte Keime
    der Hierarchie in Vorzuͤgen der Biſchoͤfe und Kirchenverſamm-
    lungen. S. 18. — VIII. Damalige Begriffe von der Ein-
    heit der Kirche und von Ketzereyen. S. 21.
  • IV. Urſprung und erſter Fortgang der Fraͤnki-
    ſchen Monarchie. S. 24-38.
  • I-IV. Errichtung der Fraͤnkiſchen Monarchie mit Chlo-
    dowigs Eroberung in Gallien 486. S. 24. — V. VI. Deren
    Ausbreitung auf Teutſchem Boden uͤber Thuͤringen, Rhei-
    niſch und oͤſtlich Franken. S. 26. — VII. Chlodowigs An-
    nehmung der Chriſtlichen Religion. — Sieg uͤber die Weſt-
    gothen. S. 28. — VIII. Patricienwuͤrde. S. 29. — IX.
    Vertilgung anderer Fraͤnkiſcher Nebenkoͤnige. S. 30. — X.
    XI. XII.
    Fortgang und Erweiterung der Monarchie unter
    Chlodowigs erſten Nachkommen. S. 31. — XIII-XV. Wie
    ſich Baiern zur Fraͤnkiſchen Monarchie verhalten habe?
    S. 32. — XVI. XVII. Beſchaffenheit der Herzoge und Gra-
    fen. S. 33. — XVIII. Erſter Keim des nachherigen Lehns-
    weſens. S. 35. — XIX. XX. Dienſte der Biſchoͤfe und welt-
    licher Herren bey Hofe. S. 35. — XXI. Hofhaltung. S. 36. —
    XXII. Kirchenverſammlungen, und Reichstag. S. 37. —
    XXIII. Thronfolge. S. 38.
  • V. Verfall und Sturz des Merovinger Stamms.
    S. 39-51.
  • I. Erſter Grund des Verfalls der Merovinger in Thei-
    lungen und innerlichen Irrungen. — Waͤhrend derſelben
    wird Italien zur Griechiſchen Provinz gemacht, aber auch
    wieder von Longvbarden uͤberzogen. S. 39. — II. Zweyter
    Grund des Verfalls in Minderjaͤhrigkeit einiger Koͤnige und
    Ueber-
    []Inhalt.
    Uebermacht des Majordomus. S. 40. — III-VI. Aufkom-
    men Pipins von Herſtall und Carl Martells. S. 40. — VII-
    IX.
    Staatskluge Protection der Miſſionarien, inſonderheit
    Bonifazens. S. 42. — X-XVI. Damaliger Zuſtand der Re-
    ligionslehren vom Fegefeuer, von guten Werken u. ſ. w. und
    des Kirchenſtaats. S. 44. — XVII. Erſte Unterhandlungen
    uͤber das Patriciat der Roͤmer. S. 48. — XVIII-XX. End-
    lich vollzogener Sturz des Merovinger Stamms, und Thron-
    beſteigung Pipins des Kleinen. S. 49.
  • VI. Carolinger in ihrem Flore, inſonderheit
    Carl der Große. S. 51-74.
  • I. II. Pipins Geſchichte ſeit ſeiner Thronbeſteigung —
    inſonderheit Roͤmiſches Patriciat, und Schenkung an den
    paͤbſtlichen Stuhl. S. 51. — III. Carl der Große. S. 53. —
    IV. Seine Eroberung des Longobardiſchen Koͤnigreichs. S.
    53. — V. Anfang des Sachſenkrieges. S. 55. — VI. Er-
    weiterung der Graͤnzen ſeines Reichs uͤber die Pyrenaͤiſchen
    Gebirge. S. 55. — VII. Kriege und Anſtalten jenſeits der
    Elbe. S. 55. — VIII. IX. Zuͤge und Staatsveraͤnderungen
    in Baiern. S. 56. — X. Verſuch den Rhein mit der Donau
    zu vereinigen. S. 58. — XI-XVI. Erneuerung der Roͤmi-
    ſchen Kaiſerwuͤrde. S. 58. — XVII-XIX. Deren rechtliche
    Wirkungen. S. 62. — XX-XXII. Ende des Sachſenkrie-
    ges, und Friedensbedingungen. S. 65. — XXIII. XXIV.
    Grundlage zu den heutigen Biſthuͤmern in Weſtphalen und
    Niederſachſen. S. 67. — XXV. Feldzuͤge in Boͤhmen. S.
    69. — XXVI. Krieg mit den Normaͤnnern; Eider Graͤnze
    des Reichs. S. 69. — XXVII. XXVIII. Capitularien und
    andere gute Anſtalten Carls des Großen S. 70. — XXIX.
    inſonderheit in Anſehung des Kirchenſtaats. S. 72. — XXX.
    Neues Erzbiſthum zu Salzburg. S. 74. — XXXI. Unter-
    haltung beſtaͤndiger Commiſſarien. S. 74.
  • VII. Abnahme und Verfall des Fraͤnkiſchen
    Reichs unter Ludewig dem Frommen und ſeinen
    Nachkommen. S. 75-98.
  • I. Theilung, die Carl der Große unter ſeinen Soͤhnen
    gemacht hatte. S. 76. — II. Ludewigs des Frommen unzei-
    a 5tige
    []Inhalt.
    tige Nachahmung dieſes Beyſpiels. S. 76. — III. Ueble Fol-
    gen davon ſchon bey ſeinem Leben. S. 77. — IV. Succeſ-
    ſionskrieg nach ſeinem Tode unter ſeinen Soͤhnen bis zum
    Verduͤniſchen Vertrage 843. — Inhalt dieſes Vertrages.
    S. 78. — V. Urſprung des Koͤnigreichs Lothringen. —
    Weitere Vertheilungen und Succeſſionsirrungen. S. 79.
  • VI. Andere auf die Reichsverfaſſung in Beziehung ſte-
    hende Umſtaͤnde dieſer Zeit. — Schwaͤche der Regierung. —
    Zunehmen des Anſehen der Staͤnde. S. 80. — VII. Einbruͤche
    fremder Voͤlker, inſonderheit Normaͤnner und Wenden. S. 80.
    VII. Herſtellung einiger Herzoge und deren groͤßere Ge-
    walt. S. 81. — IX. Vertheidigungsanſtalten in Bergſchloͤſ-
    ſern und mit angenommenen Lehnleuten. S. 82. — X. Ueber-
    handnehmung des Fauſtrechts und Lehnsweſens. S. 84. —
    XI-XIII. Zunehmender Einfluß der Reichsſtaͤnde in die Re-
    gierung des Reichs. S. 84. — XIV. Verfall der Schul-
    anſtalten und Kenntniſſe. S. 87.
  • XV. Geſchichte eines außerordentlich merkwuͤrdigen
    Buches, das unter dem Namen Iſidors von Sevilla aus-
    gebreitet wurde — als eine angebliche Sammlung paͤbſtli-
    cher Briefe und Concilienſchluͤſſe, S. 88. — XVI. deren
    Inhalt die paͤbſtliche Gewalt ſchon vom erſten Jahrhunderte
    her uͤber alles ſetzte — mit erdichteten oder verfaͤlſchten Brie-
    fen und Concilienſchluͤſſen. S. 89. — XVII. XVIII. Wahr-
    ſcheinlicher Verfaſſer dieſes Buchs, und wie es unter die
    Leute gebracht worden. S. 90. — Wie der Betrug zuerſt
    im XVI. Jahrhunderte recht entdeckt worden. S. 91.
    XIX. XX. Einfluß des Iſidoriſchen Buchs auf die Thron-
    folge Lothars des II. S. 93. — XXI. Weitere Erbfolge in
    Lothringen, und deſſen Vereinigung mit dem Teutſchen Rei-
    che. S. 95. — XXII.-XXIV. Urſprung zwey Burgundiſcher
    Koͤnigreiche, und deren Vereinigung. S. 95. — XXV. Wei-
    tere Thronfolgen in Teutſchland und Frankreich. — Streit
    uͤber die Franzoͤſiſche Thronfolge nach Ludewigs des Stamm-
    lers Tode wegen deſſen zweyerley Ehen. — Ausſchließung
    Carls des Einfaͤltigen von der damaligen Thronfolge. —
    Vereinigung der Monarchie unter Carl dem Dicken. S. 97. —
    XXVI. Deſſen Sturz. S. 98.
  • Zweytes Buch. Des mittlern Zeitalters
    erſter Abſchnitt vom Abgang der Carolinger und den
    nachherigen Saͤchſiſchen, Fraͤnkiſchen und Schwaͤ-
    biſchen Kaiſern bis zum Jahre 1235. S. 99-214.
  • I. Vom Abgange der Carolinger bis zum An-
    fange der Saͤchſiſchen Kaiſer 888-919. S. 99-104.
  • I. Arnulfs Thronbeſteigung und Ende der Carolinger
    mit Carl dem Dicken. S. 99. — II. Lothringen bleibt mit
    Teutſchland vereiniget; nur Burgund gehet ab. S. 100. —
    III. IV. Frankreich und Italien ſondern ſich ebenfalls ab.
    S. 100. — V. Weitere Thronfolge in Teutſchland. Lude-
    wig das Kind, und Conrad der I. S. 101. — VI IX. Ver-
    fall des Reichs in dieſem Zeitraume; inſonderheit bey uͤber-
    hand nehmenden Befehdungen und fortwaͤhrenden Einbruͤchen
    fremder Voͤlker. S. 102.
  • II. Von Henrich dem I. 919-936. S. 104-111.
  • I. Baiern und Lothringen in Verbindung mit Teutſchland
    erhalten. S. 104. — II-V. Angefangener Staͤdtebau im
    innern Teutſchlande. S. 105. — VI-IX. Davon in der
    Folge abgehangene Verſchiedenheit der Staͤnde. S. 108. —
    X. Errichtung der Burg Meiſſen und der Marggrafſchaft
    Schleswig. S. 110.
  • III. Von Otto dem Großen 936-974. S. 111-128.
  • I. II. Merkwuͤrdigkeiten bey Otto’s Thronfolge. — Erſte
    Spuhr der Untheilbarkeit des Reichs und des Rechts der
    Erſtgebuhrt. S. 111. — III-V. Erſter Keim der nachheri-
    gen churfuͤrſtlichen Vorrechte der Erzbiſchoͤfe von Mainz,
    Trier, Coͤlln, und vier weltlicher Erzbeamten. S. 113. —
    VI. VII. Erneuerte Verbindung mit Rom und Italien. S. 115.
    VIII XII. Folgen der erneuerten Kaiſerwuͤrde. S. 116. —
    XIII XV. Neue Eroberungen Wendiſcher Laͤnder, und neue
    geiſtliche Stiftungen in dieſen Gegenden, — inſonderheit zu
    Magdeburg, Hamburg, Prag. S. 119. — XVI-XVIII.
    Freygebigkeit gegen Geiſtliche und Befoͤrderung ihrer groͤße-
    ren Aufnahme. S. 121. — XIX-XXI. Verhaͤltniß der dama-
    ligen
    []Inhalt.
    ligen Herzogthuͤmer. S. 123. — XXII. Urſprung der Pfalz-
    grafſchaften. S. 125. — XXIII XXV. Verſchiedene Gruͤnde
    zum nachherigen Verfall des Reichs. S. 126.
  • IV. Von den drey letzten Saͤchſiſchen Kaiſern,
    Otto dem II. und III., und Henrich dem II. 974-1024.
    S. 128-132.
  • I. Unveraͤnderte Verfaſſung dieſer Zeit. S. 128. — II.
    Zwey Herzogthuͤmer in einer Perſon. S. 128. — III. Loth-
    ringen aufs neue in Teutſcher [Verbindung] befeſtiget. S. 129. —
    IV. Otto des III. Minderjaͤhrigkeit und muͤtterliche und groß-
    muͤtterliche Vormundſchaft. S. 129. — V. Realvereinigung
    des Roͤmiſchen Kaiſerthums mit dem Teutſchen Reiche. S. 130.
    VI. Henrichs des II. neue Vertraͤge mit dem paͤbſtlichen
    Stuhle. S. 130. — VII. Errichtung des Biſthums Bam-
    berg. S. 131.
  • V. Von Conrad dem II. 1024-1039. S. 133-137.
  • I. Nach Abgang des Saͤchſiſchen Stammes mußte zwar
    ein neuer Koͤnig gewehlt werden; aber noch war deswegen
    Teutſchland kein Wahlreich. S. 133. — II. Art und Weiſe
    der damaligen Wahl. S. 133. — III. Erhaltene Verbin-
    dung mit Italien. S. 134. — IV. V. Vereinigung des
    Burgundiſchen Reichs mit dem Teutſchen. S. 134. — VI.
    Ganz anderes Verhaͤltniß mit Italien. S. 137. — VII.
    Verluſt von Schleswig und Herſtellung der ehemaligen Graͤn-
    ze der Eider. S. 137.
  • VI. Von Henrich dem III. 1039-1056. S. 138-140.
  • I. Erweiterte Graͤnze gegen Ungarn. S. 138. — II.
    Neue Verſuche die kaiſerliche Hoheit wieder empor zu brin-
    gen. S. 138. — III. Hergeſtellte Abhaͤngigkeit der Pabſt-
    wahlen vom kaiſerlichen Hofe; S. 138. — IV. wie auch der
    Biſchofswahlen. S. 139. — V. Unterbrochene Erblichkeit
    der Herzogthuͤmer. S. 139.
  • VII. Vorbereitungen zu großen Revolutionen
    im Staate und in der Kirche unter Henrich dem IV.
    1056-1106. S. 141-151.
  • I. Unter der Minderjaͤhrigkeit Henrichs des IV. vereinig-
    te Bemuͤhungen des Pabſtes und Teutſcher Mißvergnuͤgten,
    um die kaiſerliche Macht mehr einzuſchraͤnken. S. 141. —
    II. Vorbereitungen hierzu von Hildebrand, nachherigem Gre-
    gor dem VII. S. 142. — III. Untergrabene Abhaͤngigkeit
    der Pabſtwahlen vom Kaiſer. S. 142. — IV. Angriff auf
    das kaiſerliche Recht die Biſchoͤfe mit Ring und Stab zu be-
    lehnen. S. 143. — V. VI. Verbot der Prieſterehe. S.
    144. — VII. In Gang gebrachte Excommunication des
    Kaiſers. — Abſicht Teutſchland in ein freyes Wahlreich zu
    verwandeln. S. 145. — VIII. IX. Zuſammenhang des
    hiebey vor Augen gehabten Entwurfes eines ganz neuen
    Staats- und Voͤlkerrechts; von zwey ſichtbaren Haͤuptern
    der Welt, Pabſt und Kaiſer; aber jener uͤber alles. S. 146. —
    X-XV. Großer Antheil, den an allem dem die um dieſe
    Zeit in Gang gebrachten Kreuzzuͤge bekommen haben. S. 147.
  • VIII. Erfolg großer Veraͤnderungen unter Hen-
    rich dem V., erſtlich in Anſehung der Kirche 1106-
    1125. S. 151-163.
  • I. Concordat zwiſchen Henrich dem V. und Calixt dem
    II., S. 151. — II. vermoͤge deſſen der Kaiſer zwar die
    Belehnung mit Ring und Stab verlohr, S. 152. — III.
    aber doch jeden erwehlten Biſchof mittelſt Scepters belehnen,
    und ſtreitige Wahlen entſcheiden ſollte. S. 153. — IV.
    Doch auch dieſes letztere Recht iſt den Kaiſern nachher aus
    den Haͤnden geſpielt worden. S. 154. — V-VIII. Die
    Biſchofswahlen ſelbſt kamen ausſchließlich an die Domcapi-
    tel, — die inzwiſchen ihr Moͤnchsleben verlaßen hatten, —
    und nach eingefuͤhrter Ahnenprobe meiſt nur aus Adelichen
    beſtanden; S. 155. — IX. jetzt auch anfiengen den Biſchoͤ-
    fen Wahlcapitulationen vorzulegen, und in der Sedisvacanz
    zu regieren. S. 158. — X. So wurden Biſthuͤmer und
    Domherrenpfruͤnden meiſt nur Stiftungen fuͤr hohen und nie-
    dern Adel. S. 159. — XI. Eben ſolche Veraͤnderungen gab
    es in der Kloſterzucht. — Neue Moͤnchsorden. — XII.
    Geiſtliche Ritterorden. S. 159.
  • IX. Erfolg großer Veraͤnderungen unter Hen-
    rich dem V. in der Staatsverfaſſung des Teutſchen
    Reichs. S. 163-176.
  • I. Erblichkeit der weltlichen Reichsſtaͤnde; S. 163. —
    II. inſonderheit der Grafſchaften, in den Niederlanden eher,
    im uͤbrigen Teutſchlande ſpaͤter. S. 164. — III. IV. Ver-
    wandelung der Gaue in Grafſchaften, — mit erblichen Ge-
    ſchlechtsnamen von den Schloͤſſern als Stammſitzen eines je-
    den Hauſes; S. 164. — V. worin nur mit neu gebauten
    Schloͤſſern oder vorgenommenen Todtheilungen zu Zeiten eine
    Aenderung vorgieng. S. 166. — VI. Gebrauch erblicher
    Wappen. S. 168. — VII. Schwierigkeit genealogiſcher Er-
    oͤrterungen uͤber das XII. Jahrhundert hinauf. — Abſtam-
    mung unſerer meiſten fuͤrſtlichen Haͤuſer von ehemaligen graͤf-
    lichen. S. 169. — VIII. Erblichkeit der Herzogthuͤmer. —
    Herkunft der Haͤuſer Lothringen und Braunſchweig-Luͤne-
    burg von dieſen Zeiten her; S. 170. — IX. X. ingleichen
    der Haͤuſer Heſſen und Baden. S. 171. — XI. Art der
    Vererbung in fuͤrſtlichen Haͤuſern auf mehrere Soͤhne, S.
    172. — XII. noch ohne Recht der Erſtgebuhrt. S. 174 —
    XIII. Nachherige vielfaͤltige Veraͤnderungen durch haͤufiges
    Ausſterben vieler Haͤuſer. S. 174. — XIV. Zuſtand der
    Wendiſchen Laͤnder um dieſe Zeit. S. 175.
  • X. Noch weitere Staatsveraͤnderungen unter
    Lothar dem II., Conrad dem III. und Friedrich dem
    I. 1125-1190; inſonderheit Wahlfreyheit und
    Churfuͤrſten; Roͤmiſches und canoniſches Recht;
    und Achtserklaͤrung Henrichs des Loͤwen. S.
    177-194.
  • I. II. Voͤllige Verwandelung des Teutſchen Reichs in
    ein freyes Wahlreich. S. 177. — III. Allmaͤlig zugleich
    entſtandenes ausſchließliches Wahlrecht drey geiſtlicher und
    vier weltlicher Churfuͤrſten. S. 179. — IV. Paͤbſtliche An-
    maßung einer Hoheit uͤber den Kaiſer. S. 180. — V. Auf-
    gekommenes Anſehen des Roͤmiſchjuſtinianiſchen und paͤbſt-
    lichcanoniſchen Geſetzbuches. S. 180. — VI. Beziehung
    frem-
    []Inhalt.
    fremder Univerſitaͤten, und dadurch verſtaͤrkter Gebrauch der
    fremden Geſetzbuͤcher. S. 181. — VII. Vorſorge der Teut-
    ſchen reichsſtaͤndiſchen Haͤuſer ihr bisheriges Erbfolgsrecht
    durch Verzichte der Toͤchter und Geſchlechtsvertraͤge aufrecht
    zu erhalten. S. 182. — VIII. Ueberhandnehmung des
    Fauſtrechts; ſelbſt im kaiſerlichen Landfrieden gebilligte Be-
    fehdungen. S. 183. — IX. Merkliche Zunahme der landes-
    herrlichen Macht der Reichsſtaͤnde. — Gebrauch der Achts-
    erklaͤrungen, und noch zur Zeit beybehaltene Teutſche Ge-
    richtsverfaſſung. S. 184. — X. Beſondere Umſtaͤnde bey
    der Achtserklaͤrung Henrichs des Stolzen; S. 184. — XI.
    und Henrichs des Loͤwen. S. 186. — XII. Widerrechtlich-
    keit der letztern; aber ungluͤcklicher Erfolg fuͤr das Welfiſche
    Haus. S. 187. — XIII. Verluſt des Herzogthums Sach-
    ſen, S. 188. — XIV. nebſt den Wendiſchen Laͤndern Pom-
    mern und Mecklenburg. S. 189. — XV. Schickſal des Her-
    zogthums Baiern; deſſen Ueberlaßung an das Haus Wittels-
    bach. S. 190. — XVI. Uebrig gebliebene Erblande des
    Welfiſchen Hauſes, S. 192. — XVII. woraus das Herzog-
    thum Braunſchweig-Luͤneburg entſtanden. S. 192.
  • XI. Weitere Veraͤnderungen in Italien und
    in der Kirche unter Friedrich dem I., Henrich dem
    VI., Otto dem IV. und Friedrich dem II. 1152-
    1235.; inſonderheit neue Unternehmungen des Pab-
    ſtes Innocenz des III. S. 194-203.
  • I. Vereitelte Entwuͤrfe der Roͤmer, ſich von neuem zum
    Freyſtaate und Sitze der Kaiſerwuͤrde zu machen. S. 194. —
    II. Errungenſchaft von Sicilien fuͤr das Haus Hohenſtau-
    fen. — Deſto wichtigere Unternehmungen des Pabſtes In-
    nocenz des III. S. 195. — III. Unterdruͤckung der Wal-
    denſer. S. 196. — IV-VI. Neue Orden der Franciſcaner,
    Dominicaner und anderer Bettelmoͤnche. S. 197. — VII.
    Stiftung der Inquiſition. S. 201. — VIII. Paͤbſtliche An-
    maßung Biſthuͤmer, Abteyen und Pfruͤnden zu vergeben;
    auch uͤber Kaiſer und Koͤnige ſich zu erheben. — Einfuͤh-
    rung des Interdicts. S. 202. — IX. Abwuͤrdigung der
    Kirchenverſammlungen. — Transſubſtantiation wird zum
    Glaubensartikel. S. 203.
  • XII. Merkliche Abnahme der kaiſerlichen Gewalt,
    und Zuwachs der reichsſtaͤndiſchen landesherrlichen
    Rechte unter Friedrich dem II. 1220-1235. S.
    204-214.
  • I-IV. Zwey Urkunden Friedrichs des II. fuͤr die geiſt-
    lichen und weltlichen Reichsſtaͤnde zu Befeſtigung ihrer lan-
    desherrlichen Rechte. S. 204. — V-VIII. Befoͤrderung
    dieſer landesherrlichen Gewalt von Seiten der Landſchaften.
    S. 206. — IX. So bekam Teutſchland die Geſtalt eines
    zuſammengeſetzten Staatskoͤrpers, der ſich in viele beſondere
    Staaten vertheilte. S. 209. — X. XI. Urſprung und Be-
    ſchaffenheit des kaiſerlichen Hofgerichts, das um dieſe Zeit
    angelegt wurde. S. 210. — XII. Vorzuͤge und Unbequem-
    lichkeiten der damaligen Gerichtsverfaſſung. S. 212. —
    XIII. XIV. Urſprung und Gebrauch der Austraͤge. S. 212.
  • Drittes Buch. Des mittlern Zeitalters
    zweyter Abſchnitt von den letzten Schwaͤbiſchen Kai-
    ſern und den folgenden Kaiſern und Koͤnigen aus
    verſchiedenen Haͤuſern ſeit 1235. bis 1493. S.
    215-306.
  • I. Von den letzten Schwaͤbiſchen Kaiſern und
    den erſten Kaiſern oder Koͤnigen aus verſchiedenen
    anderen Haͤuſern von 1235. bis 1308. S. 215-230.
  • I. II. Angeblich großes Zwiſchenreich, und Folge der
    Kaiſer in dieſer Zeit. S. 215. — III. Beyſpiel einer Ab-
    ſetzung des Kaiſers in der Perſon Adolfs von Naſſau. S.
    217. — IV. Wichtige Veraͤnderungen in verſchiedenen großen
    Haͤuſern und Laͤndern, — als in Oeſterreich, S. 217. — V.
    in Kaͤrnthen, S. 218. — VI. in Thuͤringen, S. 219. —
    VII. in Franken, Schwaben und Elſaß. — Urſprung der
    Reichsſtaͤdte, Reichspraͤlaten und der Reichsritterſchaft in
    Franken und Schwaben. S. 221. — VIII. Vielerley Ver-
    bindungen dieſer Zeit; — inſonderheit der Rheiniſche Bund
    und
    []Inhalt.
    und die Hanſe; S. 222. — IX. wie auch die Schweizer
    Eidgenoſſenſchaft. S. 225. — X. Beſchwerung der Stroͤh-
    me und Straßen mit uͤberhaͤuften Zoͤllen. S. 226. — XI.
    Eingefuͤhrte Nothwendigkeit der churfuͤrſtlichen Einwilligung
    mit ſo genannten Willebriefen. S. 227. — XII. Siebenzahl
    der Churfuͤrſten. S. 228.
  • II. Von Henrich dem VII., Ludewig von
    Baiern, und Carl dem IV. von 1308. bis 1356.,
    inſonderheit von der Churverein. S. 231-237.
  • I. Verlegung des paͤbſtlichen Stuhls nach Avignon. S.
    231. — II. Henrich der VII. S. 232. — III. Zwieſpaͤl-
    tige Wahl Ludewigs von Baiern und Friedrichs von Oeſter-
    reich. S. 232. — IV. Veranlaßung und Inhalt der Chur-
    verein. S. 233. — V. Boͤhmen nahm keinen Theil daran,
    ſondern nur die uͤbrigen ſechs Churfuͤrſten. — Die Rheini-
    ſchen Churfuͤrſten ſchloſſen hernach noch beſondere Vereine. S.
    234. — VI. Reichsſchluß von Unabhaͤngigkeit des Teutſchen
    Reichs. S. 235. — VII. Wahlen Carls des IV. und Guͤn-
    thers von Schwarzburg. — Veranlaßung der goldenen
    Bulle. S. 235.
  • III. Von der goldenen Bulle 1356. S. 237-261.
  • I. Grund der Benennung der goldenen Bulle, und wie
    ſie ſtuͤckweiſe gemacht worden. S. 237. — II. III. Haupt-
    abſicht dieſes Reichsgrundgeſetzes. — Genaue Beſtimmung
    der ſieben Churfuͤrſten; S. 238. — IV. mit Uebergehung
    des Hauſes Baiern wird nur Pfalz auf der fuͤnften Stelle
    benannt; S. 240. — V. desgleichen auf der ſechſten Stelle
    Sachſen-Wittenberg mit Uebergehung des Hauſes Sachſen-
    Lauenburg. S. 241. — VI. VII. Verordnung des Rechts
    der Erſtgebuhrt fuͤr die kuͤnftige Erbfolge in den weltlichen
    Churfuͤrſtenthuͤmern; S. 242. — VIII. IX. mit hinzugefuͤg-
    ter Erforderniß einer rechten ehelichen Gebuhrt, und des
    weltlichen Standes. S. 244. — X-XII. Spaͤtere Einfuͤh-
    rung der Erſtgebuhrtsfolge in nicht churfuͤrſtlichen Laͤndern.
    S. 246. — XIII. Vormundſchaft uͤber minderjaͤhrige Chur-
    fuͤrſten. S. 247. — XIV. Rang der Churfuͤrſten unter ein-
    ander. S. 249. — XV. Ihre Dienſtverrichtungen an feier-
    lichen Tagen des kaiſerlichen Hofes, oder die ſo genannten
    bReichs-
    []Inhalt.
    Reichserzaͤmter. S. 249. — XVI. Davon abhangende
    Reichserbaͤmter. S. 250. — XVII. Art und Weiſe der kai-
    ſerlichen Wahl und Kroͤnung. S. 251. — XVIII. Roͤmiſche
    Koͤnigswahl. S. 252. — XIX. XX. Reichsvicariate, und
    deren Rechte. S. 253. — XXI. Pfaͤlziſches beſonderes rich-
    terliches Vorrecht. S. 254. — XXII. Verbrechen der belei-
    digten Majeſtaͤt gegen Churfuͤrſten. S. 255. — XXIII.
    Andere Vorrechte der Churfuͤrſten. S. 255. — XXIV. XXV.
    Verordnungen der goldenen Bulle gegen das Fauſtrecht; S.
    255. — XXVI. inſonderheit gegen unzeitige Lehnsaufkuͤn-
    digungen; S. 256. — XXVII. XXVIII. ohne daß dem Un-
    weſen des Fauſtrechts damit abgeholfen worden. S. 257.
  • IV. Andere Veraͤnderungen in der Reichsver-
    faſſung unter Carl dem IV. und ſeinen erſten Nach-
    folgern bis 1414. S. 262-278.
  • I. Verſchiedene Keime nachheriger Staatsveraͤnderungen.
    S. 262. — II. Abnahme der kaiſerlichen Hoheitsrechte und
    Cammerguͤter. S. 262. — III. Nothwendigkeit einen Kai-
    ſer zu wehlen, der eigne Erblande hat. S. 264. — IV.
    Kaiſerliche Reſidenz in den Erblanden an ſtatt des ehemaligen
    wandelbaren Hoflagers. S. 264. — V. Anfang eigentlicher
    Standeserhoͤhungen, S. 265. — VI. inſonderheit gefuͤrſte-
    ter Praͤlaten und Grafen, S. 266. — VII. und Erhoͤhung
    graͤflicher Haͤuſer und Laͤnder in herzogliche. S. 269. — VIII.
    IX.
    Wirkungen dieſer Standeserhoͤhungen in Anſehung der
    Stimmen auf dem Reichstage, und zum Nachtheile des Gra-
    fenſtandes. S. 269. — X. Art der Erbfolge in fuͤrſtlichen
    Haͤuſern, ohne noch der Erſtgebuhrt einen Vorzug zu geben.
    S. 271. — XI. Bedenkliche Beyſpiele vom Einfluſſe Roͤmi-
    ſcher Rechtsgrundſaͤtze zum Nachtheile der ſtammsvetterlichen
    Erbfolge. S. 273. — XII. Verdoppelte Vorſicht dagegen
    in fuͤrſtlichen Hausvertraͤgen. S. 274. — XIII. Beſondere
    Vergroͤßerung der Macht des Hauſes Burgund. S. 275. —
    XIV. Univerſitaͤt zu Prag, die erſte in allen Wendiſchen und
    Teutſchen Laͤndern. S. 276. — XV. Nachher mehrere der-
    ſelben zu Wien, Heidelberg, Leipzig ꝛc. S. 277. — XVI.
    Einfluß dieſer hohen Schulen auf mehr verbreitete Aufklaͤ-
    rung. S. 278.
  • V. Veraͤnderungen in der Kirche ſeit dem Auf-
    enthalte der Paͤbſte zu Avignon und dem daraus
    entſtandenen Schisma des paͤbſtlichen Stuhls. S.
    279-286.
  • I. Folgen des Aufenthalts der Paͤbſte zu Avignon. S.
    279. — II. Neue paͤbſtliche Anmaßungen in Vergebung
    geiſtlicher Stellen. S. 280. — III. IV. Vermehrte Geldzu-
    fluͤſſe fuͤr die paͤbſtliche Cammer. S. 281. — V. VI. Auf-
    ſehen uͤber Wiclefs Lehren und uͤber das Schisma zweyer
    Paͤbſte und zweyerley Cardinaͤle. S. 283. — VII. Letzteres
    unterhalten durch eine gleichmaͤßige Zwieſpalt zwiſchen Wen-
    zel und Ruprechten von der Pfalz. S. 284. — VIII. IX.
    Vergebliche Anſtellung einer Kirchenverſammlung zu Piſa.
    S. 285. — X. Nochmalige Zwieſpalt in der Kaiſerwuͤrde,
    bis Sigismund endlich Jobſt von Maͤhren uͤberlebt. S. 286.
  • VI. Kirchenverſammlung zu Coſtnitz, und was
    damit in Verbindung ſtehet. S. 287-294.
  • I. Einrichtung der Kirchenverſammlung zu Coſtnitz in
    der Art ihrer Berathſchlagung. S. 287. — II. Hebung der
    bisherigen paͤbſtlichen Zwieſpalt. S. 288. — III. Wahl ei-
    nes neuen Pabſtes, und deſſen Concordate mit den Nationen,
    inſonderheit der Teutſchen. S. 288. — IV. Vereitelte Hoff-
    nung zur Verbeſſerung der bisherigen Kirchenverfaſſung. S.
    289. — V. VI. Abſchreckendes Schickſal des Johann Huß.
    S. 290. — VII. Neuer Streit uͤber die Herſtellung des
    Kelchs im Abendmahle. S. 291. — VIII. IX. Ausbruch
    und Fortgang des Huſſitenkrieges. S. 292. — X. Guͤtliche
    Unterhandlungen mit der neuen Kirchenverſammlung zu Ba-
    ſel. S. 293. — XI. Andere durch den Huſſitenkrieg veran-
    laßte Veraͤnderungen. — Erſte Reichsmatrikel. — Ver-
    wahrung der Reichsinſignien zu Nuͤrnberg. S. 293.
  • VII. Veraͤnderungen in der Kirche und im Rei-
    che unter Albrecht dem II. und Friedrich dem III.
    1437-1493. S. 295-306.
  • I. Anſchein guter Hoffnungen unter Albrecht dem II., —
    aber vereitelt unter Friedrich dem III. S. 295. — II. Neue
    Trennung in der Kirche, da das Concilium zu Baſel Eugen
    dem IV. Felix den V. entgegenſetzt. S. 296. — III. Al-
    brechts des II. erklaͤrte Neutralitaͤt, und einsweilige Accepta-
    tion der dienſamen Baſeliſchen Concilienſchluͤſſe. S. 296. —
    IV. Friedrichs des III. entgegenſtehendes Betragen bis zu den
    Aſchaffenburger Concordaten. S. 297. — V. Davon bis
    jetzt uͤbrig gebliebene Beſchwerden der catholiſchen Teutſchen
    Kirche. S. 298. — VI. Vergebliche Entwuͤrfe das Fauſt-
    recht abzuſchaffen und eine gruͤndliche Gerichtsverfaſſung ein-
    zufuͤhren. S. 300. — VII. Erzherzoglicher Titel des Hau-
    ſes Oeſterreich. S. 301. — VIII. Deſſen wichtige Errun-
    genſchaft der Burgundiſchen Niederlande. S. 301. — IX.
    Roͤmiſche Koͤnigswahl Max des I. — Errichtung und Ver-
    faſſung des Schwaͤbiſchen Bundes. S. 302. — X. Erfin-
    dung und Ausbreitung der Buchdruckerey. S. 302. — XI.
    XII.
    Einfluß derſelben auf den Zuſtand der Gelehrſamkeit.
    S. 303. — XIII. Landesherrliche Rechte der Reichsſtaͤnde
    in Anſehung der Buchdruckereyen. S. 304. — XIV. Ver-
    geblicher Verſuch, einen kaiſerlichen Generalbuͤcherſuperatten-
    denten zu beſtellen. S. 305. — XV-XVII. Veraͤnderungen
    in der Reichstagsverfaſſung. S. 306.
  • Viertes Buch. Der neueren Zeiten er-
    ſter Abſchnitt vom Kaiſer Max dem I. 1493-1519.
    S. 307-349.
  • I. Landfriede, Cammergericht und Eintheilung
    des Reichs in Kreiſe. S. 307-315.
  • I-III. Landfriede und Cammergericht, als unzertrenn-
    lich, wurden an einem Tage errichtet; S. 307. — IV. der
    erſtere mit allgemeiner und ewiger Aufhebung aller Befeh-
    dungen. S. 309. — V. VI. Das Cammergericht bekam
    gleich eine collegialiſche Verfaſſung mit einem Cammerrichter
    und einer Anzahl beſtaͤndiger Urtheiler oder Beyſitzer. S.
    310. — VII. Wegen der letzteren wurde den Churfuͤrſten
    und Kreiſen ein Praͤſentationsrecht ertheilet. S. 311. —
    VIII. Unterhalt und Matrikel des Cammergerichts. S. 312. —
    IX.
    []Inhalt.
    IX. Erſte Veranlaßung der Viſitation des Cammergerichts.
    S. 313. — X. Anfangs noch mangelhafte Anſtalt in Anſe-
    hung der Huͤlfsvollſtreckung. S. 313. — XI. Endlich haupt-
    ſaͤchlich dazu gewidmete Kreisverfaſſung. S. 314.
  • II. Reichshofrath, Fuͤrſtenrecht und Auſtraͤgal-
    inſtanz. S. 316-323.
  • I. II. Urſprung des Reichshofraths. S. 316. — III.
    Colliſion mit dem Cammergerichte. — Urſpruͤnglich fand
    zwiſchen beiden keine concurrirende Gerichtbarkeit ſtatt. S.
    317. — IV. Das ehemalige Fuͤrſtenrecht konnte hingegen
    noch neben dem Cammergerichte ſtatt finden. S. 319. —
    V. Auch ward der Gebrauch der Austraͤge annoch beybehal-
    ten; S. 320. — VI. VII. und zwar nicht nur gewillkuͤhr-
    ter, ſondern auch geſetzmaͤßiger Austraͤge; S. 320. — VIII.
    nur mit hinzugefuͤgter Eigenſchaft einer kaiſerlichen Commiſ-
    ſion, ſo daß eine foͤrmliche Auſtraͤgalinſtanz daraus gemacht
    worden, S. 321. — IX. die der Regel nach nicht vorbey-
    gegangen werden darf. S. 322. — X. XI. Seitdem hat
    man ſie bald auf einer vortheilhaften Seite, bald als nach-
    theilig angeſehen. S. 323.
  • III. Gerichtsweſen in der Reichsſtaͤnde Laͤndern,
    und befeſtigte Rechtskraft des Roͤmiſchen Geſetzbu-
    ches. S. 324-332.
  • I. Einfluß des Cammergerichts auf das Territorialju-
    ſtitzweſen. S. 324. — II. Errichtung der Hofgerichte nach
    dem Muſter des Cammergerichts. S. 325. — III. Ueber-
    einſtimmung der Hofgerichtsordnungen mit der Cammerge-
    richtsordnung. S. 326. — IV. Aehnlichkeit des Verhaͤlt-
    niſſes zwiſchen Regierungen und Hofgerichten, wie zwiſchen
    dem Reichshofrathe und Cammergerichte. S. 327. — V.
    Neue Einrichtung des Gerichtsweſens in Staͤdten und Aem-
    tern, wie auch in adelichen Gerichten. S. 328. — VI. All-
    gemeine Aufhebung bisheriger kaiſerlicher Evocationen, S.
    329. — VII. auch ſonſtiger Concurrenz kaiſerlicher und lan-
    desherrlicher Hoheitsrechte. S. 330. — VIII. Feſtere Be-
    gruͤndung der Rechtskraft des Roͤmiſch-Juſtinianiſchen Ge-
    ſetzbuchs; S. 330. — IX. zwar ohne daß deswegen alle
    b 3ein-
    []Inhalt.
    einheimiſch gemeine Rechte ihre Kraft verlohren haͤtten; aber
    doch ſo, daß man dieſe aus einem ganz unrichtigen Geſichts-
    puncte anſah. S. 331.
  • IV. Andere Merkwuͤrdigkeiten der Regierung
    Max des I. S. 333-341.
  • I. Unvollkommenheit, worin die Studien auf Univerſi-
    taͤten noch waren; beſonders fuͤr das juriſtiſche Fach. S.
    333. — II. Schwierigkeit, die Laien zum Studieren, und
    den Adel zu beſſeren Sitten zu bringen. S. 334. — III.
    Vermehrter Geldumlauf, und deſſen Wirkung. S. 337. —
    IV. Veraͤnderungen im Kriegsweſen. S. 339. — V. VI.
    Verungluͤckte Kriege Max des I. gegen die Schweizer, und
    in der Lige von Cambray. S. 339. — VII. Einfuͤhrung
    des Titels: erwehlter Roͤmiſcher Kaiſer, ohne zu Rom ge-
    kroͤnt zu ſeyn. S. 340. — VIII. Zweyerley gluͤckliche Wech-
    ſelheirathen, die dem Hauſe Oeſterreich die Thronfolge in
    Spanien und Ungarn und Boͤhmen zuwege bringen. S. 341.
  • V. Anfang neuer Bewegungen in der Kirche
    vom D. Luther. S. 342-349.
  • I. Unerwartet unterbrochene ſtolze Ruhe des paͤbſtlichen
    Hofes S. 342. — II. auf Veranlaßung der Lehre vom Ab-
    laß, S. 343. — III. und der von Rom aus in Gang ge-
    brachten eintraͤglichen Ablaßcommiſſionen, S. 344. — IV.
    deren eine Johann Tetzel in Sachſen zu beſorgen hatte, S.
    346. — V. zu einer Zeit, da D. Martin Luther Profeſſor
    der Theologie zu Wittenberg war. S. 346. — VI. Luthers
    Disputation uͤber den Ablaß, S. 347. — VII. und fernere
    Streitſchriften mit Tetzel. S. 348. — VIII. Von Rom aus
    dagegen angeſtellter Ketzerproceß. S. 348. — IX. Mißliche
    Lage D. Luthers bis zum Tode des Kaiſers und Reichsvica-
    riate des Churfuͤrſten von Sachſen. S. 349.
  • Fuͤnftes Buch. Der neueren Zeiten zwey-
    ter Abſchnitt vom Kaiſer Carl dem V. 1519-1558.
  • I. Carls des V. Wahlcapitulation und Regie-
    rungsantritt. S. 350-353.
  • I. Erſte Wahlcapitulation, die das churfuͤrſtliche Colle-
    gium dem Kaiſer vorgelegt hat, S. 350. — II. ohne daß da-
    mals die uͤbrigen Staͤnde widerſprochen haben. S. 350. —
    III. Errichtung eines Reichsregiments, aber nur von kurzer
    Dauer. S. 351. — IV-VI. Zwey Achtserklaͤrungen, des
    Herzogs von Wuͤrtenberg und des Biſchofs von Hildesheim.
    S. 352.
  • II. D. Luthers Geſchichte, und was damit in
    Verbindung ſteht, bis zum Jahre 1525. S. 354-372.
  • I. Fortgang der Bewegungen uͤber den Ablaß. S. 354. —
    II. Zwingli, Luther, Melanchthon. S. 355. — III. Paͤbſt-
    liche Bulle gegen Luther und fuͤr den Ablaß. S. 356. —
    IV. Nach und nach bey Luthern entſtandene Zweifel uͤber die
    Rechtmaͤßigkeit der paͤbſtlichen Gewalt. S. 356. — V. Luthers
    Ermahnung an den Teutſchen Adel, und Appellation an ein
    Concilium. S. 357. — VI. Auftraͤge an die paͤbſtlichen Le-
    gaten, um die Vollziehung der Ketzerſtrafe an Luthern zu be-
    wirken. S. 358. — VII. Handlungen daruͤber auf dem
    Reichstage zu Worms. — Kaiſerliches Edict gegen Luther.
    S. 358. — VIII. IX. Luthers verborgener Aufenthalt auf der
    Wartburg bey Eiſenach. — Seine Ueberſetzung der Bibel.
    S. 359. — X. Sein Catechismus und ſeine Teutſche Lieder.
    S. 360. — XI. Character ſeiner Schriften. S. 361. —
    XII. Ihr Beyfall und unwiderſtehliche Ausbreitung. S. 361.
    XIII. Bewegungen, ſo hieruͤber an vielen Orten unter den
    Unterthanen entſtanden, die jetzt andere Prediger zu haben
    wuͤnſchten; denen aber meiſt von den Obrigkeiten oder Lan-
    desherrſchaften Schwierigkeiten gemacht wurden. S. 362. —
    XIV-XVI. Unmoͤglichkeit der Beybehaltung der bisherigen
    kirchlichen Gemeinſchaft — bey ſo weſentlich verſchiedenen
    Lehrſaͤtzen; S. 364. — XVII. und bey der Verſchiedenheit
    der Meſſe und des Abendmahls in beyderley Geſtalt; S. 365. —
    XVIII. wie auch in Anſehung der biſchoͤflichen geiſtlichen
    Gewalt, des Moͤnchsweſens, des Coelibats der Geiſtlichkeit
    u. ſ. w. S. 366. — XIX. Daraus erwachſene Nothwendig-
    keit einer Veraͤnderung im oͤffentlichen Gottesdienſte und in
    der ganzen Kirchenverfaſſung. S. 367. — XX. XXI. Alles
    das ergab ſich erſt nach und nach, aber doch ſchon mit ſtarken
    Fortſchritten; S. 368. — XXII. inſonderheit mit Herſtellung
    des Kelchs und Einfuͤhrung der Teutſchen Sprache beym
    Abend-
    []Inhalt.
    Abendmahl, S. 369. — XXIII. und mit der Prieſterehe und
    dem Unwerthe der Geluͤbde. S. 369. — XXIV. Andere aus un-
    aͤchten Quellen gefloſſene Unternehmungen gewaltſamer Bilder-
    ſtuͤrmereyen und Wiedertaͤufer. S. 370. — XXV. Neue
    Erſcheinung D. Luthers zu Wittenberg. S. 370. — XXVI.
    Nunmehrige neue Reichstagshandlungen uͤber Vollziehung des
    Wormſer Edicts. S. 371.
  • III. Religionsbegebenheiten des Jahrs 1525.
    S. 372-385.
  • I. II. Schritte zu einer neuen Kirchenverfaſſung, da
    Landesherren und Unterthanen einerley Sinnes waren, dem
    Pabſte und den Biſchoͤfen, die demſelben zugethan blieben,
    den Gehorſam aufzukuͤndigen; S. 372. — III. IV. inſonderheit
    in Heſſen und Sachſen; S. 374. — V. auch in anderen Laͤn-
    dern und auswaͤrtigen Reichen, S. 375. — VI. ingleichen in
    vielen Reichsſtaͤdten, wie auch in den Niederlanden und in
    der Schweiz. S. 375. — VII. In Staͤdten ward die Kirchen-
    reinigung nicht ſowohl von den Obrigkeiten, als zuerſt von
    der Buͤrgerſchaft begehrt. — An einigen Orten blieb die
    Buͤrgerſchaft getheilt. S. 375. — VIII. Auch in ganzen
    Laͤndern entſtand oft ein vermiſchter Religionszuſtand. S.
    376. — IX-XI. In der neuen Kirchenverfaſſung ward
    außer der Bibel keine allgemeine Vorſchrift zum Grunde ge-
    legt. — Ein Staat benutzte wohl des andern Beyſpiel;
    aber das Hauptwerk wurde nach eines jeden Staats beſonderen
    Umſtaͤnden eingerichtet. S. 377. — XII. Mit Moͤnchs- und
    Nonnenkloͤſtern wurden uͤberall Aenderungen vorgenommen.
    S. 379. — XIII. Man erkannte durchgaͤngig den Unwerth
    der Kloſtergeluͤbde. S. 380. — XIV. Kloͤſter und Stifter
    wurden alſo vielfaͤltig in Hoſpitaͤler oder andere milde Stif-
    tungen verwandelt, oder ihre Einkuͤnfte zu Pfarren, Schu-
    len und Univerſitaͤten verwandt. S. 381. — XV. XVI. Im
    Hochmeiſterthume des Teutſchen Ordens in Preuſſen wurde
    auf den Unwerth der Ordensgeluͤbde die erſte Seculariſation
    eines ganzen Landes gegruͤndet. S. 382. — XVII. Dar-
    uͤber entſtand zu Deſſau der erſte Offenſivbund gegen die
    Proteſtanten; S. 383. — XVIII. und zu Torgau hinwieder-
    um ihr erſtes Defenſivbuͤndniß. S. 384.
  • IV. Reichstagsverhandlungen und andere Vor-
    faͤlle bis zur Augsburgiſchen Confeſſion 1526 ‒ 1530.
    S. 385-394.
  • I. II. In Carls des V. anhaltender Abweſenheit ſtellte
    ein Reichsſchluß 1526. die Religionsſachen auf eines jeden
    Reichsſtandes Gewiſſen. — Damit ward der Fortgang der
    Reformation noch weiter befoͤrdert. S. 385. — III. Ein
    von Otto Pack angezeigter neuer Offenſivbund veranlaßte den
    Landgrafen von Heſſen ſchon ins Feld zu ruͤcken. S. 386. —
    IV. Ein neuer Reichsſchluß 1529. war der Reformation deſto
    mehr entgegen, S. 387. — V. und gab zuerſt Anlaß, die
    Mehrheit der Stimmen in Religionsſachen zu beſtreiten,
    S. 388. — VI. und wider den Reichsſchluß zu proteſtiren,
    wovon der Name Proteſtanten aufgekommen. S. 389. —
    VII. Doch ein anderweites kaiſerliches Reichstagsausſchrei-
    ben macht wieder Hoffnung, — indem ſich die Proteſtanten
    dadurch aufgefordert halten, ihr Glaubensbekenntniß oͤffent-
    lich vorzulegen, S. 390. — VIII-XI. wie in der Augsburgi-
    ſchen Confeſſion geſchehen iſt, S. 391. — XII. unter andern
    mit deutlicher Bemerkung, wie man uͤberall nicht mit Zwang,
    ſondern nach Ueberzeugung zu Werk gehe. S. 393. — XIII.
    Nur in der Lehre vom Abendmahle aͤuſſert ſich ſchon ein
    Streit zwiſchen Luther und Zwingli. S. 393.
  • V. Erfolg des Reichstags 1530. bis zum Jah-
    re 1555. S. 395-405.
  • I. Des Reichsabſchiedes 1530. widriger Inhalt fuͤr die
    Proteſtanten. S. 395. — II. Roͤmiſche Koͤnigswahl Ferdi-
    nands des I. — Ende des Reichsregiments und des Schwaͤ-
    biſchen Bundes. — Hergeſtellter Beſitz des Herzogthums
    Wuͤrtenberg an den Herzog Ulrich. S. 396. — III. Reli-
    gionsvertrag zu Nuͤrnberg 1532. S. 396. — IV. Friede zu
    Cadan. — Vorſchrift fuͤr kuͤnftige Roͤmiſche Koͤnigswahlen. —
    Wuͤrtenbergiſche Afterlehnſchaft von Oeſterreich. S. 397. —
    V. Geſchichte der Wiedertaͤufer zu Muͤnſter. S. 397. —
    VI-VIII. Neue Fortſchritte der Reformation in mehreren
    Laͤndern und Staͤdten; S. 398. — IX. namentlich auch im
    Hochſtifte Naumburg und im Erzſtifte Coͤlln. S. 399. —
    X. Ueberfall, Niederlage und Gefangenſchaft Herzog Hen-
    crichs
    []Inhalt.
    richs des juͤngern von Braunſchweig-Wolfenbuͤttel. S. 400. —
    XI. Schmalkaldiſche Buͤndniſſe und Gegenbuͤndniſſe. — Frie-
    de zu Creſpy. S. 400. — XII. Trennung des Schmalkaldiſchen
    Bundesheeres. — Schlacht bey Muͤhlberg. — Unterwer-
    fung und Gefangenſchaft des Churfuͤrſten von Sachſen und
    des Landgrafen von Heſſen. S. 401. — XIII. Reichstag zu
    Augsburg. — Ein von Carl dem V. den geiſtlichen Staͤn-
    den zugeſtellter Begriff einer Reformation. S. 401. — XIV.
    Interim. — Achtserklaͤrung und Unterjochung der Stadt
    Coſtnitz. S. 403. — XV. Dem Churfuͤrſten Moritz von Sachſen
    aufgetragene Belagerung von Magdeburg. — Deſſen Ver-
    bindung mit Frankreich. S. 404. — XVI. Vertrag zu
    Paſſau und Religionsfriede zu Augsburg. S. 405.
  • VI. Hauptinhalt des Religionsfriedens 1555.,
    das gegenſeitige Verhalten der verſchiedenen Reli-
    gionsverwandten uͤberhaupt betreffend. S. 406-412.
  • I. Ohne noch die Hoffnung zu einer Vereinigung der
    Religionen ſelbſt aufzugeben, ward doch der Friede auf ewig
    geſchloſſen. S. 406. — II. III. Catholiſche und evangeliſche
    Staͤnde ſollten der Religion halber einander nicht verfolgen,
    noch veraͤchtlich halten. S. 407. — IV. Auch in Reichs-
    ſtaͤdten ſollte ein Religionstheil den andern in Ruhe laßen.
    S. 408. — V. Das war der wahre Geiſt des Religions-
    friedeus. S. 408. — VI. Aber beym hierarchiſchen Syſteme
    war es ſchwer, den Geiſt der Duldung und bruͤderlichen
    Betragens einzufuͤhren, S. 409. — VII. und die irrige Vor-
    ſtellung vom Verhaͤltniß einer herrſchenden Kirche zu fremden
    bloß aus Gnaden aufgenommenen Religionsverwandten hier
    zu entfernen. — Hier war ein ganz anderer Fall, da ein
    Theil der Nation ſeine Geſinnungen in Anſehung der Religion
    geaͤndert hatte; S. 409. — VIII. ohne doch den Pflichten
    gegen den Staat Abbruch zu thun. S. 410. — IX. Selbſt
    evangeliſchen Unterthanen catholiſcher Landesherren hatte des-
    wegen eine Erklaͤrung des Roͤmiſchen Koͤnigs ihre Religions-
    uͤbung billig geſichert. S. 411. — X. Aber im Religions-
    frieden ſelbſt war nur der gegenſeitige freye Ab- und Zuzug
    der Unterthanen ausbedungen. S. 412.
  • VII. Verordnungen des Religionsfriedens 1555.
    in Anſehung der geiſtlichen Gerichtbarkeit. S. 413-420.
  • I. Ungleiche Geſinnungen der beiden Religionstheile uͤber
    die geiſtliche Gerichtbarkeit, wie ſie bisher in Uebung war.
    S. 413. — II. III. Im Religionsfrieden wurde ſie uͤber die
    Proteſtanten bis zur Vereinigung beider Religionen aufge-
    hoben; S. 414. — IV. V. zwar noch mit einiger Einſchraͤn-
    kung in Anſehung der Gegenſtaͤnde, die aber nicht von Be-
    ſtand ſeyn konnte. S. 415. — VI. Was aber fuͤr eine neue
    Kirchenverfaſſung unter den Evangeliſchen ſtatt finden ſollte,
    war kein Gegenſtand des Religionsfriedens. S. 416. — VII.
    Evangeliſche Landſchaften ließen jetzt gern ihren Landesherren
    alle die Rechte, welche die paͤbſtliche Hierarchie der hoͤchſten
    Gewalt zur Ungebuͤhr entzogen hatte. S. 417. — VIII. Aber
    auch viele Rechte, die jetzt eine jede Gemeinde collegialiſch
    haͤtte ausuͤben koͤnnen, uͤberließ man gern einem Landesherrn
    von eben der Religion, und ſeinem Conſiſtorium. S. 417. —
    IX. So ſtellten evangeliſche Reichsſtaͤnde jetzt zweyerley Per-
    ſonen vor, eben wie die catholiſchen geiſtlichen Reichsſtaͤnde;
    nehmlich eine andere Perſon, ſofern ſie Landeshoheit, eine
    andere, ſofern ſie biſchoͤfliche Rechte ausuͤbten. S. 418. —
    X. Letztere waren deswegen auch unter den Evangeliſchen keine
    Beſtandtheile der Landeshoheit, daß auch ein catholiſcher Lan-
    desherr uͤber evangeliſche Unterthanen ſie behaupten koͤnnte.
    S. 419. — XI. Auch ward darum den Reichsgerichten keine
    geiſtliche Gerichtbarkeit uͤber Proteſtanten eingeraͤumt. S. 419.
  • VIII. Verordnungen des Religionsfriedens 1555.
    wegen der Kloͤſter und des geiſtlichen Vorbehalts.
    S. 421-430.
  • I. II. Wegen der eingezogenen Kloͤſter wurden billig die
    evangeliſchen Reichsſtaͤnde in Ruhe gelaßen; S. 421. — III.
    IV.
    nur mit Ausnahme ſolcher Kloͤſter, die einem dritten Reichs-
    ſtande zugehoͤrten, — wegen derer man die Zeit des Paſſauer
    Vertrages zum Entſcheidungsziele feſtſetzte. S. 423. — V.
    VI.
    In Anſehung der unmittelbaren Stifter war es uͤberhaupt
    nicht unbillig, daß auch der evangeliſche hohe und niedere
    Adel von der darin zu erwartenden Verſorgung nicht ausge-
    ſchloſſen wuͤrde; S. 424. — VII X. zumal wenn ſowohl Bi-
    ſchof und Domherren als die Unterthanen im Lande ſelbſt in
    Anſehung der Religion andere Geſinnungen bekamen. S. 426. ‒
    XI. Darin wollten aber die Catholiſchen durchaus nicht nach-
    geben. — Alſo ruͤckte Ferdinand, als eine Art von Macht-
    ſpruch,
    []Inhalt.
    ſpruch, den ſo genannten geiſtlichen Vorbehalt in den Reli-
    gionsfrieden; S. 429. — XII. der aber an ſich gleich unver-
    bindlich, und leider nur die Quelle unuͤberſehlicher neuer
    Streitigkeiten war. S. 429.
  • IX. Guͤnſtige und unguͤnſtige Ausſichten auf die
    Zukunft; Gleichgewicht der Religion unter den Chur-
    fuͤrſten; aber Auf kommen der Jeſuiten! S. 431-447.
  • I. II. Gluͤckliches Gleichgewicht fuͤr die Ruhe von Teutſch-
    land in der voͤlligen Religionsgleichheit der ſechs Churfuͤrſten.
    S. 431. — III. IV. Aber unguͤnſtige Ausſichten fuͤr die Zu-
    kunft in dem neu entſtandenen Jeſuiterorden. S. 432. — V-
    VII.
    Deſſen Schulunterricht, Moral und Eingang bey Hoͤfen.
    S. 437. — VIII. IX. Erwerbungsmittel. S. 441. — X.
    Innere Einrichtung des Ordens. S. 442. — XI. Deſſen wahre
    Beherrſchung der Welt. S. 443. — XII. Seine genaue Ver-
    bindung mit dem paͤbſtlichen Stuhle. S. 444. — XIII. Letzter
    Zweck des Ordens ſeine eigne Wohlfahrt. S. 444. — XIV.
    Hauptbemuͤhungen deſſelben gegen die Proteſtanten gerichtet,
    S. 445. — XV. entweder ihnen Haß und Verfolgung zuzuzie-
    hen, S. 445. — XVI. oder ſie zur Roͤmiſchen Kirche zuruͤckzu-
    bringen. S. 446.
  • X. Andere Veraͤnderungen in Reichsſachen unter
    Carl dem V. S. 448-460.
  • I. II. Neue Cammergerichtsordnung 1548. und von neuem
    promulgirt 1555. S. 448. — III. Jaͤhrliche Viſitation des
    Cammergerichts, nebſt der damit verbundenen Reviſion. S.
    450. — IV. Erneuerung des Landfriedens. S. 451. — V-
    VII.
    Verbeſſerte Kreisverfaſſung mit Kreisverſammlungen und
    kreisausſchreibenden Fuͤrſten. S. 451. — VIII. Reichsexecu-
    tionsordnung. S. 453. — IX. Cammergerichts- und Reichs-
    Matrikel. S. 454. — X. XI. Letztere nach ſo genannten Roͤ-
    mermonathen, S. 454. — XII. XIII. und ſeit 1543. mit Be-
    ſteurung der Landſchaften. S. 456. — XIV. Begruͤndung
    der heutigen Verfaſſung der Reichsritterſchaft. S. 457. — XV.
    Muͤnzordnung; peinliche Halsgerichtsordnung; Reichspolizey-
    ordnung. S. 458. — XVI. XVII. Vertraͤge mit Lothringen
    und Burgund uͤber ihr Verhaͤltniß zum Reiche. S. 459.

Erſtes[[1]]
[figure]

Erſtes Buch
von den
aͤlteſten Zeiten her
bis
zum Verfall der Carolinger 888
.


I.
Teutſchlands Zuſtand von den aͤlteſten Zeiten
her bis in das fuͤnfte Jahrhundert.


I-IV. Von den aͤlteſten Zeiten her waren in Teutſchland
mehrere von einander unabhaͤngige Voͤlker —; V. obgleich
alle Staͤmme eines Hauptvolks. — VI. VII. Seit dem
III. Jahrhundert nach und nach in groͤßeren Verbindungen. —
VIII. Seit dem V. Jahrhundert Voͤlker von zweyerley Her-
kunft, einige urſpruͤnglich Wendiſche, andere urſpruͤnglich
Teutſche. — IX-XII. Ueberbleibſel von beiderley Voͤlker
Verfaſſung bis auf den heutigen Tag.


Unter ſo vielen Eigenheiten, wodurch ſich dasI.
Teutſche Reich in ſeiner Staatsverfaſſung
von allen anderen Europaͤiſchen Reichen auszeich-
net, iſt eine der erſten, daß es aus mehreren
AStaa-
[2]I. Alte Zeiten bis 888.
Staaten zuſammengeſetzt iſt, die, wenn man auf
die Verſchiedenheit ihrer Lage, ihrer Groͤße, ihrer
innerlichen Einrichtung und ihres ganzen Verhaͤlt-
niſſes ſieht, einander nichts anzugehen, wenigſtens
in keinem andern Verhaͤltniſſe, als mehrere Euro-
paͤiſche Staaten, gegen einander zu ſtehen ſcheinen.
Dennoch machen ſie zuſammen noch immer ein
Ganzes aus, das einem gemeinſamen Oberhaupte,
einer gemeinſchaftlichen hoͤhern Gewalt unterwor-
fen iſt. Von dieſer ganz beſonderen Verfaſſung
laßen ſich in ſo weit ſchon in der aͤlteſten Geſchichte
die erſten Keime aufſuchen, als von den aͤlteſten
Zeiten her Teutſchland von mehreren Voͤlkern be-
wohnet worden, die zwar von einerley Herkunft,
wie mehrere Staͤmme eines Hauptvolkes, geweſen
ſeyn moͤgen, deren jedes jedoch fuͤr ſich in voͤlliger
Freyheit und Unabhaͤngigkeit ſeine eigne Einrich-
tung hatte.


II.

So gehen die erſten glaubwuͤrdigen Nachrich-
ten, die wir nur Roͤmiſchen und Griechiſchen
Schriftſtellern zu danken haben, bis auf hundert
und vierzehn Jahre vor Chriſti Gebuhrt nach unſe-
rer jetzigen Zeitrechnung zuruͤck. Mit den Angrif-
fen, welche damals von Cimbern und anderen
Teutſchen Voͤlkern gegen die Roͤmer an der Graͤnze
von Illyrien im heutigen Steiermark unternommen
wurden, fieng eine naͤhere Kenntniß dieſer Voͤlker
erſt an den Roͤmern intereſſant zu werden.


III.

Von ſelbigen Zeiten her machen die Roͤmiſchen
Geſchichtſchreiber mehr als fuͤnfzig Teutſche Voͤlker
namhaft. Darunter ſind einige, deren Namen
noch jetzt in eben den Gegenden vorkommen, als
Tre-
[3]1) Teutſchland bis ins V. Jahrhund.
Trevirer um Trier, Ruͤgier in Ruͤgen, und vor-
zuͤglich Frieſen, deren Sitz und Benennung in den
Gegenden, die noch jetzt Oſt- und Weſtfriesland
heiſſen, immer unveraͤndert geblieben iſt. Von
einigen macht die Namensaͤhnlichkeit mit Fluͤſſen,
die noch jetzt bekannt ſind, die Gegend ihres ur-
ſpruͤnglichen Wohnſitzes wahrſcheinlich, als von den
Warinern an der Warne im Mecklenburgiſchen,
von den Foſiern an der Fuſe im Hildesheimiſchen,
von Chaſuariern an der Haſe im Osnabruͤckiſchen.
Anderen laßen ſich mit mehr oder weniger Wahr-
ſcheinlichkeit ihre ehemalige Wohnſitze anweiſen,
nachdem die Nachrichten, welche uns die Roͤmi-
ſchen Schriftſteller davon geben, mehr oder weni-
ger beſtimmt und glaubwuͤrdig ſind, als den Cat-
ten im heutigen Heſſen, den Cheruskern am Harze,
den Tenctern im Bergiſchen, den Bructern an der
Lippe, Ems und Roer, den Chamaven in der Graf-
ſchaft Mark u. ſ. w.


Man darf jedoch nie außer Acht laßen, daßIV.
von jenen Zeiten her, da dieſe Namen der Teut-
ſchen Voͤlker uͤblich waren, dieſelben vielleicht zum
Theil noch wie Horden herumzogen, die nur der
Jagd und Weide nachgiengen, ohne noch das Land
zu bauen, vielweniger in Staͤdten und Doͤrfern
unveraͤnderliche Wohnſitze zu haben. In dieſen
Umſtaͤnden waren ſolche Voͤlker an einen gewiſſen
Grund und Boden nicht ſo gebunden, wie wir
uns jetzt Land und Leute an einander gebunden
vorſtellen. Bey ſo veraͤnderlichem Aufenthalte
ganzer Voͤlker laͤßt ſich kaum gedenken, eine ge-
naue und zuverlaͤßige geographiſche Beſchreibung
der Teutſchen Voͤlker von jenen aͤlteſten Zeiten her
A 2zu
[4]I. Alte Zeiten bis 888.
zu machen. Es iſt aber auch auf unſern heutigen
Zuſtand wenig Einfluß davon zu erwarten. Die
Verſchiedenheit und Abtheilung unſerer Laͤnder, wie
ſie jetzt iſt, laͤßt ſich wenigſtens unmittelbar von
ſelbigen Zeiten nicht herleiten.


V.

Man muß ohnedem alle dieſe verſchiedene Voͤl-
ker nur als Staͤmme eines Hauptvolkes, oder als
verſchiedene Zweige eines Hauptſtammes anſehen.
So theilt ſchon Plinius alle Teutſche Voͤlker in
fuͤnf Hauptſtaͤmme ein; als Vindiler, wozu er
Burgunder, Wariner, Cariner und Guttonen rech-
net; Ingaͤvonen, wozu Cimbrer, Teutonen und
Chaucer gehoͤren ſollen; Iſtaͤvoner, oder Cimbern,
die mehr landwaͤrts von der See entfernt geweſen;
Hermionen, wozu Sueven, Hermunduren, Catten
und Cherusker gehoͤret; und Peuciner oder Baſter-
nen, die an Dacien gegraͤnzet. Oder, wie Taci-
tus verſichert, hat es vier alte wahre Hauptbe-
nennungen der verſchiedenen Teutſchen Voͤlker ge-
geben, Marſen, Gambrivier, Sueven und Vanda-
lier (a); worin ein neuerer Schriftſteller die Spuh-
ren einer urſpruͤnglichen Abtheilung aller Teutſchen
Voͤlker in Sachſen, Franken, Schwaben und
Baiern zu finden glaubt (b).


VI.

Erſt, nachdem die Roͤmer die Cimbern und
Teutonen von ihren Graͤnzen zuruͤckgeſchlagen, nach-
dem Arioviſt eben das Schickſal von Caͤſarn erlit-
ten, und nachdem die Roͤmer ihre Graͤnzen von
Gallien aus bis an den Rhein, und von den Al-
pen
[5]1) Teutſchland bis ins V. Jahrhund.
pen her bis an die Donau erweitert gehabt, tra-
ten mehrere Teutſche Voͤlker in feſtere Verbindun-
gen; wie ſie nach und nach unter den noch jetzt
bekannten Namen Franken, Schwaben (oder Alle-
mannier,) Thuͤringer, Sachſen, in Schriften und
Denkmaͤlern des dritten und vierten Jahrhunderts
nach Chriſti Gebuhrt zum Vorſchein kommen.


Selbſt unter den erſtaunlichen Voͤlkerzuͤgen desVII.
fuͤnften Jahrhunderts, — da mit denen vom Donfluß
und vom ſchwarzen Meere her zuerſt in Bewegung
geſetzten Alanen zwey Teutſche Voͤlker, Vandalen
und Sueven, bis in Spanien, und von da ſo gar
in Africa uͤbergiengen, — da Weſtgothen jene wie-
der in Spanien uͤberwaͤltigten, und zugleich den
mittaͤglichen Theil von Frankreich von den Pyre-
naͤiſchen Gebirgen bis an die Loire beſetzt hielten, —
da Burgunder (ein anderes Teutſches Volk von
der Oſtſee her) an der Saone und Rhone einen
Wohnſitz bekamen, — da Sachſen im heutigen
England feſten Fuß faßten, — da endlich ſelbſt
Hunnen, die von den aͤußerſten Graͤnzen Aſiens
her jene erſte Bewegung dortiger Voͤlker veranlaßt
hatten, die Donau hinauf bis uͤber den Rhein ins
heutige Champagne angezogen kamen, aber bey
Chalons zuruͤckgeſchlagen wurden, — ſelbſt unter
dieſen großen Revolutionen, ſage ich, erhielten ſich
Franken, Schwaben, Thuͤringer, Sachſen und Frie-
ſen da, wo man ſie nach ihren urſpruͤnglichen Sitzen
beſchrieben findet; als namentlich die Schwaben
oder Allemannier im heutigen Schwaben und am
Oberrhein bis nach Mainz zu, und die Franken
am Niederrheine und in den Niederlanden.


A 3Nur
[6]I. Alte Zeiten bis 888.
VIII.

Nur in die von Vandalen, Burgundern
und anderen Teutſchen Voͤlkern an der Oſtſee und
am rechten Ufer der Elbe verlaßenen Plaͤtze ruͤckten
aus Preuſſen, Polen, Rußland, andere Wendiſche
oder Slaviſche Voͤlker ein. Selbige erſcheinen ſeit-
dem unter vielerley Namen, als Moraver in Maͤh-
ren, Czechen in Boͤhmen, Luſitzer in der Lauſitz,
Sorben in Meiſſen, Heveller und Uckern im Bran-
denburgiſchen, Obotriten, Kyziner, Circipaner,
Wilzen, Welataber, Tholenzer, Redarier in
Mecklenburg und Pommern, Polaber im Lauen-
burgiſchen, Wagrier im heutigen Wagerlande im
Holſteiniſchen. Ein jedes dieſer Voͤlker hatte wie-
der ſeine ganz eigne Verfaſſung; doch alle waren
ſie in ſo weit einerley Herkunft, daß ſie in Sprache
und Sitten uͤbereinkamen, wie noch jetzt die Boͤh-
miſche, Polniſche, Ruſſiſche, Slavoniſche Sprachen in
ſolcher Verwandtſchaft ſtehen, daß ſie nur als ver-
ſchiedene Dialecte einer Hauptſprache anzuſehen ſind.


IX.

Hier liegt nun ſchon in ſo weit eine der erſten
Quellen unſerer heutigen Staatsverfaſſung, daß
Teutſchland, was die urſpruͤngliche Herkunft ſeiner
Einwohner anbetrifft, in zweyerley Gattungen von
Laͤndern abzutheilen iſt; — eine Gattung von ſol-
chen Laͤndern, deren Einwohner nicht urſpruͤnglich
Teutſcher, ſondern Wendiſcher Herkunft ſind, als
Mecklenburg, Pommern, Wagrien, Lauenburg,
Brandenburg, Meiſſen, Lauſitz, Boͤhmen, Maͤh-
ren, und ſeit dem VII. Jahrhundert auch Steier-
mark, Kaͤrnthen, Krain; — die andere Gattung
ſolcher Laͤnder, deren Einwohner von je her urſpruͤng-
lich Teutſche [geweſen] ſind, als Niederſachſen, Fran-
ken, Schwaben, und der groͤßte Theil von Weſt-
pha-
[7]1) Teutſchland bis ins V. Jahrhund.
phalen. — Dieſer innere Theil vom urſpruͤngli-
chen Teutſchland hat faſt vor allen Laͤndern von
Europa das voraus, daß nie fremde Voͤlker auf
die Dauer feſten Fuß darin haben faſſen koͤnnen.
Weder den Roͤmern gelang es, dieſſeits Rheins
und der Donau ihre Herrſchaft zu befeſtigen; noch
anderen Voͤlkern, die zwar haͤufig durchgezogen ſind,
und Spuhren der Verwuͤſtung zuruͤckgelaßen ha-
ben, iſt es gelungen, hier Eroberungen von Be-
ſtand zu machen (c).


Jene Wendiſche Laͤnder ſind zwar jetzt ebenfallsX.
groͤßtentheils auf Teutſchen Fuß geſetzt, ſo daß
außer Boͤhmen und der Lauſitz ſelbſt die Wendiſche
Sprache meiſt der Teutſchen Platz machen muͤßen.
Jedoch ſowohl in Sitten des Landmanns als in
der Verfaſſung der Laͤnder ſind noch Spuhren ihres
urſpruͤnglichen Unterſchiedes von anderen Teutſchen
Laͤndern gnug uͤbrig. Inſonderheit kann man mit
Grunde behaupten, daß ſchon von den Zeiten des
fuͤnften Jahrhunderts her hier ein jedes Land ſeinen
eignen Landesherrn, Fuͤrſten oder Koͤnig gehabt
hat, und erſt in der Folge genoͤthiget worden iſt,
die Hoheit des Teutſchen Reichs und deſſen gemein-
ſamen Oberhauptes uͤber ſich zu erkennen. Alſo
in ſo weit ſchon von ſelbigen Zeiten her der erſte
Grund der heutigen Verfaſſung, daß Mecklenburg,
Pommern, Meiſſen, Brandenburg u. ſ. w. von je
her urſpruͤnglich verſchiedene Laͤnder geweſen ſind,
deren
A 4
[8]I. Alte Zeiten bis 888.
deren jedes ſeinen eignen Regenten gehabt hat,
jedoch dem Teutſchen Reiche in der Folge unter-
wuͤrfig gemacht worden iſt.


XI.

Was aber jene urſpruͤnglich Teutſche Voͤlker
betrifft, da mochte zwar ein jedes derſelben im Kriege
gegen einen dritten Feind gemeine Sache machen,
und einem gemeinſamen Heerfuͤhrer folgen, der
alsdann als Herzog (Heertog, Anfuͤhrer des
Heers,) oder als Fuͤrſt (d. i. der Vorderſte, der
Erſte, wie noch jetzt im Engliſchen the firſt, Hol-
laͤndiſch de Voorſt) oder auch unter dem Namen
eines Koͤniges zu befehlen hatte. Allein ſobald der
Krieg ein Ende nahm, hoͤrte auch dieſe Befehls-
habung auf. In Friedenszeiten war jeder Stamm,
ja jedes freye Geſchlecht, oder jeder Gau, (d. i.
jeder nach gewiſſen Graͤnzen von Gebirgen, Gewaͤſ-
ſern, oder Himmelsgegenden abgetheilter Diſtrict
von einer oder etlichen Quadratmeilen,) worin etwa
mehrere freye Geſchlechter in gewiſſer Verbindung
lebten, wieder ganz fuͤr ſich. Selbſt einzelne
Staͤmme oder Gaue konnten wieder mit einander
in Krieg gerathen; alsdann konnte jeder Stamm
oder Gau wieder fuͤr ſich ſeinen eignen Befehls-
haber haben. So machten zwar die Franken ein
Teutſches Hauptvolk aus; aber Salier, Ripua-
rier, Cenomannier, Moriner, waren verſchiedene
Staͤmme derſelben. Auch in Friedenszeiten konnte
ein Gau ſeinen eignen erwehlten Richter haben;
wozu gemeiniglich ein Mann von Jahren und Er-
fahrung genommen wurde, der ſchon, wie wir noch
jetzt ſagen, in Geſchaͤfften grau geworden war,
und daher mit dem Namen Grau, Grave, (Gra-
vio,
[9]1) Teutſchland bis ins V. Jahrhund.
vio, woraus das heutige Wort Graf erwachſen,)
benannt zu werden pflegte.


So koͤnnte man vielleicht glauben, auch inXII.
dem innern Teutſchlande ſchon von den erſten Jahr-
hunderten her den Urſprung unſerer heutigen Her-
zoge, Fuͤrſten und Grafen ableiten zu koͤnnen; wie
freylich die erſte etymologiſche Ableitung dieſer
Worte ſchon bis in ſehr alte Zeiten hinaufgefuͤhret
werden kann. Allein die Sache ſelbſt, und inſon-
derheit der Begriff, den wir jetzt mit unſeren Her-
zogen, Fuͤrſten und Grafen als wahren Landesre-
genten verbinden, wird ſich erſt in weit ſpaͤteren
Zeiten nach und nach entwickeln.


A 5II.
[10]I. Alte Zeiten bis 888.

II.
Zuſtand desjenigen Theils von Teutſchland, wo
die Roͤmer bis ins fuͤnfte Jahrhundert Meiſter
geblieben, und was davon auf andere Teutſche
Voͤlker fuͤr ein Einfluß merklich geworden.


I. Laͤnder am linken Ufer des Rheins und am rechten
Ufer der Donau unter Roͤmiſcher Herrſchaft. — Staͤdte und
andere Roͤmiſche Anlagen in dieſen Gegenden. — II. III.
Ueberbleibſel und Denkmaͤler davon. — IV. Verbreitung
einiger Cultur auf benachbarte Teutſche Voͤlker. — Inſon-
derheit Saliſches, Ripuariſches und anderer Teutſcher Voͤlker
Geſetze dieſer Zeit.


I.

Die am linken Ufer des Rheines und am rech-
ten Ufer der Donau gelegenen Laͤnder, wel-
che von Caͤſar und Auguſt an zu rechnen meiſt
vierhundert Jahre unter Roͤmiſcher Herrſchaft blie-
ben, waren ſchon damals voͤllig auf Roͤmiſchen
Fuß geſetzt. Da ware[n] eine Menge Staͤdte und
Schloͤſſer erbauet, deren Lage nach ihren Benen-
nungen, die noch in heutigen Namen kenntlich
ſind, oder auch nach anderen uͤbrig gebliebenen
Denkmaͤlern ſicher gnug beſtimmt werden kann;
als in den Gegenden des Rheins Moguntiacum
Mainz, Auguſta Treuirorum Trier, Colonia
Agrippina
Coͤlln, Argentoratum Straßburg,
Saletio Selz, Tabernae Rhenanae Rheinzabern,
Altaripa Altrip, Bingium Bingen, Veſalia We-
ſel, Confluentia Coblenz, Antennacum Ander-
nach, Noueſium Neus u. ſ. w., und in den Gegen-
den der Donau Auguſta Vindelicorum Augs-
burg, Regina caſtra Regensburg, Bataua caſtra
Paſ-
[11]2) Romer am Rhein u. an d. Donau.
Paſſau, Celeia Cilley, Lentia Linz, Laureacum
Lorch, Iuuauia Salzburg u. ſ. w. Nur in der Ge-
ſtalt, wie dieſe Staͤdte oder Schloͤſſer von den Roͤ-
mern angelegt waren, hat ſich keine einzige Stadt
ungeaͤndert bis auf unſere Zeiten erhalten. Faſt
ohne Ausnahme ſind ſie zur Zeit der Voͤlkerzuͤge
im fuͤnften Jahrhundert verwuͤſtet, und erſt in
ſpaͤteren Zeiten wieder aufgebauet worden.


Aber an Ueberbleibſeln und Denkmaͤlern fehltII.
es nicht, die uns uͤberzeugen koͤnnen, in welchen
bluͤhenden Zuſtand dieſe Gegenden zu jenen Zeiten
der Roͤmer bereits gekommen waren. Noch fehlt
uns zwar ein ſolches Werk, das zur vollſtaͤndigen
Ueberſicht dieſer Denkmaͤler von allen dieſen Ge-
genden dienen koͤnnte, wie von England ſolche in
einem Werke beſchrieben und in Kupfer geſtochen
ſind (d). Einzelne Nachrichten ſind aber vorzuͤg-
lich von Mainz (e), Straßburg (f), Trier (g),
Salz-
[12]I. Alte Zeiten bis 888.
Salzburg (h), Augsburg (i) und einigen anderen
Orten vorhanden. Im Ganzen thun hier einige
allgemeinere Denkmaͤler gute Dienſte, als unter
andern inſonderheit eine Art von alten Roͤmiſchen
Landcharten, oder vielmehr Wegebeſchreibungen,
deren eine ein Teutſcher Gelehrter Conrad Celtes
zu Anfang des XVI. Jahrhunderts zu Augsburg
entdeckt, und einem andern Gelehrten, Namens
Peutinger, uͤberlaßen hat, von dem ſie den Na-
men Peutingeriſche Tafeln bekommen haben. Dieſe
hat zuletzt der beruͤhmte Prinz Eugen von Savoyen
an ſich gebracht, mit deſſen Buͤchern ſie in die
kaiſerliche Bibliothek zu Wien gekommen ſind. Aus
derſelben hat ſie erſt im Jahre 1753. ein gewiſſer
Herr von Scheib mit Erlaubniß der Kaiſerinn
Maria Thereſia in Kupfer ſtechen laßen.


III.

Dieſe und andere Denkmaͤler belehren uns,
daß die Roͤmer zu Erbauung und Bevoͤlkerung einer
neu angelegten Stadt gemeiniglich ſechs tauſend
Veteranen (altgediente Soldaten) abfuͤhren laßen;
daß ſie in großen Staͤdten ihre Amphitheater,
Baͤder und andere oͤffentliche Anſtalten angelegt;
daß
[13]2) Roͤmer am Rhein u. an d. Donau.
daß ſie Wege und Heerſtraßen mit unglaublichem
Aufwande von Arbeit und Koſten neu gemacht;
daß ſie Ackerbau, Gaͤrtnerey, Weinbau, Kuͤnſte,
Handlung und Gewerbe eingefuͤhrt; daß ſie uͤber-
all ihre Legionen unterhalten; daß ſie ihre Ver-
faſſung von Gerichten und anderen Obrigkeiten,
von Muͤnze, Steuer, Schauſpielen und Gottes-
dienſt uͤberall in Gang gebracht haben. Aber,
wie geſagt, von allem dem iſt nichts, als was
nachherige Verwuͤſtungen uͤbrig gelaßen haben,
auf unſere Zeiten gekommen.


Doch wuͤrde zu bewundern geweſen ſeyn, wennIV.
diejenigen Teutſchen Voͤlker, die zunaͤchſt an dieſe
von Roͤmern eingenommene Gegenden graͤnzten,
oder in der Folge ſelbſt darin feſten Fuß faßten,
nicht einige gemeinnuͤtzige Anſtalten von ihnen ge-
lernt und angenommen haben ſollten. Und ſo
findet ſich freylich, daß Franken, Allemannier,
Burgunder und andere nach und nach den Acker-
bau, Weinbau, Gebrauch der Muͤhlen, Werth
der Schrift, der Muͤnze, der Geſetzgebung, u. ſ. w.
haben ſchaͤtzen lernen. Davon kann inſonderheit
das ſo genannte Saliſche Geſetz, das fuͤr Salier
als einen Theil der Fraͤnkiſchen Nation um das
Jahr 422. errichtet worden, am beſten zur Probe
dienen. Man wuͤrde ſich zwar ſehr irren, wenn
man es einem Roͤmiſchen Geſetzbuche, wie wir es
vom Kaiſer Juſtinian haben, oder einem in unſern
Tagen entſtehenden Preuſſiſchen Geſetzbuche an die
Seite ſetzen wollte. Aber eben das trifft man
darin an, was man von einer jeden Geſetzgebung
eines nur die erſte Stuffe der Cultur betretenden
Volkes erwarten kann; nehmlich die erſten Grund-
zuͤge
[14]I. Alte Zeiten bis 888.
zuͤge des Gerichtszwanges, und uͤbrigens lauter
Strafgeſetze auf alle Gattungen von Diebſtaͤhlen,
Beſchaͤdigungen und anderen gemeinſchaͤdlichen
Verbrechen. Nur eine Stelle des Saliſchen Ge-
ſetzes, worauf die Ausſchließung der Toͤchter von
der Thronfolge in der Krone Frankreich bis auf
den heutigen Tag, als auf ihren urſpruͤnglichen
Grund, gebauet wird, kann, wie ich glaube, mit
noch groͤßerem Rechte als der aͤlteſte Beweis von
dem noch jetzt unter dem hohen und niedern Teut-
ſchen Adel obwaltenden Grundſatze, daß altvaͤterliche
Stammguͤter nur dem Mannsſtamme, nicht den
Toͤchtern zu gute kommen, angeſehen werden. Von
Saliſchen Grundſtuͤcken, ſagt das Saliſche Geſetz,
ſoll kein Erbtheil an das weibliche Geſchlecht, ſon-
dern nur an den Mannsſtamm kommen (k). Oder,
wie ſich das Ripuariſche Geſetz (fuͤr einen andern
Stamm der Franken) ausdruͤckt: So lange
Mannsſtamm vorhanden iſt, ſoll keine Tochter in
Stammguͤtern erben (l). Doch noch ein alt-
teutſches Geſetz von eben dieſen Zeiten her, das
fuͤr die Wariner (an der Warne in Mecklen-
burg) beſtimmt war, druͤckt ſich noch beſtimm-
ter aus: ”Die vaͤterliche Erbſchaft ſollen nur
„Soͤhne, nicht Toͤchter bekommen. Doch wenn
„ein Vater nur Toͤchter und keine Soͤhne hinter-
„laͤßt;
[15]2) Roͤmer am Rhein u. an d. Donau.
„laͤßt; ſoll der naͤchſte Stammsvetter zwar die
„Stammguͤter des Hauſes, die Tochter aber als-
„dann doch die Mobiliarverlaßenſchaft haben.” (m)
Gewiß ein ſchaͤtzbares Denkmaal ſo alter Zeiten,
mit dem noch der jetzige Gebrauch ſo ſichtbar
uͤbereinſtimmt, daß zwar eine Prinzeſſinn z. B.
von Baden oder von Baiern, ſo lange noch ein
Bruder von ihr am Leben iſt, nichts als ihre
Ausſteuer bekoͤmmt, jedoch ſobald der Mannsſtamm
ihrer Linie erloͤſcht, zwar Land und Leute an Ba-
dendurlach oder Pfalz als Stammsvettern fallen
koͤnnen, aber die geſammte Mobiliarverlaßenſchaft
alsdann einer Prinzeſſinn Eliſabeth von Baden oder
einer verwittweten Churfuͤrſtinn von Sachſen, als
Schweſter des letzten Churfuͤrſten von Baiern,
nicht verſagt werden kann.


III.
[16]I. Alte Zeiten bis 888.

III.
Aelteſte Geſchichte der Chriſtlichen Religion in
den Gegenden des Rheines und der Donau.


I. Religionsbegriffe der alten Teutſchen. — II. Aus-
breitung der Chriſtlichen Religion mit Roͤmiſchen Legionen
an den Rhein und die Donau. — III. Zuſtand des Chri-
ſtenthums, wie es unter Conſtantin dem Großen zur freyen
Uebung gekommen. — IV-VII. Erſte Keime der Hierarchie
in Vorzuͤgen der Biſchoͤfe und Kirchenverſammlungen. —
VIII. Damalige Begriffe von der Einheit der Kirche und
von Ketzereyen.


I.

Was unſere erſte Vorfahren von ihrem Zuſtande
nach dem Tode und von ihrer Abhaͤngig-
keit von einem oder mehreren hoͤheren Weſen ge-
dacht und geglaubt haben moͤgen, oder die Reli-
gion der alten Teutſchen kann ich nach meiner ge-
genwaͤrtigen Abſicht anderen zu eroͤrtern uͤberlaßen.
Auf unſern heutigen Zuſtand iſt kein Einfluß da-
von herzuleiten, es muͤßte dann dieſes ſeyn, daß
auch ſchon der alte Teutſche ſeine Prieſter in vor-
zuͤglich hoher Achtung gehalten; wie Tacitus (n)
verſichert, nur von Prieſtern, gleichſam auf goͤtt-
lichen Befehl, habe ſich der Teutſche binden, ſchla-
gen und Stillſchweigen auflegen laßen.


II.

Daß die Chriſtliche Religion bereits in den
erſten Jahrhunderten, da ſie vom Throne noch
entfernt war, und vielmehr von Zeit zu Zeit die
aͤrgſten Verfolgungen auszuſtehen hatte, mit Roͤ-
miſchen Colonien und Legionen auch ſchon bis an
den
[17]3) Chriſtl. Religion bis ins V. Jahrh.
den Rhein und die Donau ſich ausgebreitet, und
daß unter Conſtantin dem Großen, nach deſſen
Religionsaͤnderung, ſchon ganze Chriſtliche Ge-
meinden in den Staͤdten am Rhein und an der
Donau ſich hervorgethan haben, ſind unwider-
ſprechliche Thatſachen. Wenn aber die noch jetzt
in dieſen Gegenden vorhandenen Biſthuͤmer und
Erzbiſthuͤmer zum Theil die Reihe ihrer erſten Bi-
ſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe bis an die Zeiten der Apo-
ſtel anketten, und auch nach Conſtantins Zeiten
ununterbrochen fortfuͤhren wollen; ſo beruhet das
auf Erdichtungen des X. Jahrhunderts, denen jetzt
ſelbſt catholiſche aufgeklaͤrte Schriftſteller keinen
Glauben mehr beylegen (o). Nur einige Um-
ſtaͤnde ſind hier vom Religionszuſtande jener erſten
Jahrhunderte zu merken, ohne welche die Kirchen-
verfaſſung der folgenden Zeiten zum Theil bis auf
den heutigen Tag nicht verſtaͤndlich ſeyn wuͤrde.


Obgleich zu den Zeiten Chriſti und ſeiner Apo-III.
ſtel die Worte Biſchof, Aelteſter (Presbyter, wor-
aus das im Teutſchen zuſammengezogene Wort
Prieſter entſtanden,) oder Lehrer und Aufſeher
einer Gemeinde fuͤr gleichgeltend gehalten, und
nur von Diaconen oder Dienern, die bloß aͤußer-
liche Dienſtleiſtungen zu verrichten hatten, unter-
ſchieden waren; ſo war doch um die Zeit, als das
Chriſtenthum zuerſt auf Teutſchen Boden kam,
ſchon gewoͤhnlich, daß in einer jeden großen Stadt,
wo mehrere Gemeinden in der Stadt und auf dem
Lan-
B
[18]I. Alte Zeiten bis 888.
Lande jede ihre beſondere Prieſter haben konnte,
doch nur ein Biſchof war, mit deſſen Wuͤrde man
bald anfieng eben die Vorzuͤge zu verbinden, wie
ſie nach der Kirchenverfaſſung des alten Teſtaments
das Verhaͤltniß eines Hohenprieſters gegen juͤdiſche
Prieſter und Leviten mit ſich brachte.


IV.

Da es auch oͤftere Veranlaßungen gab, daß
mehrere Biſchoͤfe in einerley Gegend uͤber Gegen-
ſtaͤnde, die ſie gemeinſchaftlich intereſſirten, in Brief-
wechſel oder gemeinſame Berathſchlagungen mit
einander traten, wie ſelbſt zur Zeit der Verfolgun-
gen die Chriſten Urſache hatten, zuſammen zu hal-
ten, und einander mit Rath und That beyzuſtehen;
ſo war es ſchon vor Conſtantins Zeiten inſonderheit
in den oͤſtlichen Gegenden ſeines Reichs etwas
gewoͤhnliches, daß mehrere Biſchoͤfe von Zeit zu
Zeit zuſammen kamen, und uͤber gemeinſchaftliche
Angelegenheiten ihrer Gemeinden Berathſchlagun-
gen anſtellten, oder ſo genannte Kirchenverſamm-
lungen (Synoden, Concilien) bald von groͤßerem,
bald von engerem Bezirke hielten.


V.

Kaum hatte Conſtantin ſich zur Chriſtlichen
Religion bekannt, ſo wurden ſolche Kirchenverſamm-
lungen unter oͤffentlichem Schutze gehalten; wie
inſonderheit eine dergleichen im Jahre 314. zu Arles
in Provence, und 325. die zu Nicaͤa gehalten
wurde, an welchen beiden Orten auch ſchon Bi-
ſchoͤfe von den Gegenden des Rheines und der
Donau mit anweſend waren. Von dieſen Zeiten her
laßen ſich ſchon verſchiedene Folgen dieſer Einrich-
tung ſpuͤhren, deren Einfluß in die folgenden Zei-
ten
[19]3) Chriſtl. Religion bis ins V. Jahrh.
ten zum Theil bis auf den heutigen Tag ſehr merk-
lich wirkſam geblieben iſt.


Bey den Kirchenverſammlungen erſchienen nurVI.
Biſchoͤfe, deren gefaßte Schluͤſſe ihre Gemeinden
gerne gelten ließen. In der Folge wurden aber
ſolche Schluͤſſe bald von ſelbſten als verbindliche
Vorſchriften in Gang gebracht. Man bezog ſich
auf das Beyſpiel im 15. Cap. der Apoſtelgeſchichte,
wo ſchon eine Berathſchlagung der Apoſtel und
Aelteſten vorkoͤmmt, in deren Stelle ſich jetzt die
Biſchoͤfe zu treten duͤnkten; man vergaß aber,
daß der daſelbſt gefaßte Schluß nicht nur von den
Apoſteln und Aelteſten, ſondern auch von der gan-
zen Gemeinde (Apg. 15, 22.) gebilliget, und im
Namen der Apoſtel, Aelteſten und Bruͤder (Apg.
15, 23.) ausgefertiget ward. Jetzt fiengen Bi-
ſchoͤfe an, ihren Schluͤſſen nicht nur fuͤr ihre unter-
geordnete Prieſter und Diener, ſondern auch fuͤr
alle uͤbrige Mitglieder der Gemeinden, kurz fuͤr die
ganze Kirche die Kraft eines verbindlichen Geſetzes
vorzulegen. Vereinigte Biſchoͤfe ſahen ſich alſo
als Repraͤſentanten der ganzen Kirche an. Andere,
die weder Biſchoͤfe, noch Diener der Kirche wa-
ren, mußten ſich gefallen laßen, was als Schluß
einer Kirchenverſammlung bekannt gemacht wurde.
So bildete ſich der große Unterſchied der beiden
Staͤnde, des geiſtlichen und weltlichen Standes,
wie man ſie nannte, oder der Pfaffen und Laien,
wie jede Gattung mit einem Worte genannt wurde;
und zwar ſo, daß in Religions- und Kirchenſachen
der Laie nicht mehr mit zu ſprechen bekam, ſon-
dern nur die Ehre des Gehorſams behielt, wenn
der geiſtliche Stand etwas zu beſtimmen gut fand.
B 2Kam
[20]I. Alte Zeiten bis 888.
Kam nun hinzu, daß der Laie von Kenntniſſen der
Sache immer mehr entfernt wurde, der Geiſtliche
hingegen alles, was nur Gelehrſamkeit hieß, ſich
alleine zueignete, und ſeinen Saͤtzen doch mit Hoff-
nung oder Verluſt der ewigen Seligkeit Nachdruck
geben konnte; ſo laͤßt ſich begreifen, wie der geiſt-
liche Stand uͤber den weltlichen bald zu einem ſol-
chen Uebergewichte gelangen koͤnnen, daß das zur
Vollkommenheit und Wohlfahrt eines jeden Staa-
tes ſo noͤthige Gleichgewicht der verſchiedenen Staͤnde
hier zum Nachtheile des weltlichen Standes bald
unwiederbringlich Noth litt.


VII.

Eine andere Folge der mit den Kirchenverſamm-
lungen verbundenen Einrichtung betraf die verſchie-
denen Stuffen des geiſtlichen Standes ſelber. Nicht
nur gemeine Prieſter und andere Kirchendiener wur-
den als Untergeordnete der Biſchoͤfe angeſehen.
Sondern ſo, wie ſich mehrere Biſchoͤfe aus einer-
ley Gegend verſammleten, richtete ſich ihre Ver-
einigung und ihr Rang in ſo weit nach der poli-
tiſchen Eintheilung der Provinzen, daß Biſchoͤfe,
die zu einer Provinz gehoͤrten, wenn ſie es noͤthig
fanden, beſondere Provincialſynoden anſtellten, und
unter ſich dann demjenigen Biſchofe, der in der
Hauptſtadt des Landes ſeinen Sitz hatte, den Vor-
ſitz und Rang einraͤumten. So war inſonderheit
nach einer neuen Eintheilung des ganzen Roͤmiſchen
Reiches, wie ſie Conſtantin der Große gemacht
hatte, z. B. Trier die Hauptſtadt (Metropolis)
von der prouincia Belgica prima, wo der Praͤ-
ſes dieſer Provinz und zugleich der Vicarius uͤber
die Dioeces von ganz Gallien ſeinen Sitz hatte;
da uͤbrigens die Staͤdte Metz, Tull, Verdun zu
eben
[21]3) Chriſtl. Religion bis ins V. Jahrh.
eben der Provinz gehoͤrten. Nach dieſer politiſchen
Eintheilung bekam auch der Biſchof, der zu Trier
ſeinen Sitz hatte, den Rang und Vorſitz uͤber die
Biſchoͤfe zu Metz, Tull, Verdun, die ihn als
ihren Metropolitan oder nachher ſo genannten Erz-
biſchof verehren mußten; wie noch bis auf den
heutigen Tag dieſe Biſchoͤfe als Suffraganeen un-
ter dem Erzſtifte Trier ſtehen. Auf gleiche Art
ward nach eben dieſer Conſtantiniſchen Eintheilung
Mainz Metropolis uͤber Straßburg, Speier und
Worms; und Coͤlln uͤber Luͤttich. Ueber die
Wuͤrde eines Metropolitans oder Erzbiſchofs erhob
ſich aber auch noch die Wuͤrde eines Primaten jeder
Nation und eines Patriarchen fuͤr jeden Welttheil,
wie die Biſchoͤfe zu Antiochien, Alexandrien und
Rom mit dieſer Wuͤrde beehret wurden; obgleich
an eine paͤbſtliche Wuͤrde in dem Verſtande, wie
wir ſie jetzt nehmen, damals noch nicht gedacht
wurde.


Aber noch eine dritte Folge hatte die Einrich-VIII.
tung, von der hier die Rede iſt, in Verbindung
mit ganz beſonderen Begriffen, die man ſich von
der nothwendigen Einheit der Kirche machte. Man
haͤtte es fuͤglich dabey bewenden laßen koͤnnen,
daß die Einheit der Chriſtlichen Religion darauf
beruhete, daß ein jeder Chriſt den Inhalt der gan-
zen Bibel ſowohl neuen als alten Teſtaments zur
Richtſchnur ſeines Glaubens und Lebens annaͤhme,
und im Glauben an Jeſum Chriſtum als den Sohn
Gottes und Heiland der Welt mit der darauf ge-
gruͤndeten Hoffnung einer ewigen Seligkeit ſich in
der Liebe Gottes und ſeines Naͤchſten thaͤtig erwieſe;
ſo wie die juͤdiſche Religion dadurch, daß ſie bloß
B 3das
[22]I. Alte Zeiten bis 888.
das alte Teſtament und den Talmud, und die Ma-
homedaniſche, daß ſie den Coran zum Grunde ihres
Glaubens legt, ſich von anderen Religionen unter-
ſcheidet; ohne daß ſich nach Beſchaffenheit der
menſchlichen Natur je erwarten laͤßt, daß mehrere
Menſchen, geſchweige in ſo großer Anzahl, wie
die, ſo ſich zu einer Religion halten, uͤber alle
moͤgliche Fragen, die ſich von Gegenſtaͤnden der
Religion aufwerfen laßen, oder uͤber alle einzelne
Stellen der heiligen Schriften, deren Auslegung
ganz genau zu beſtimmen vielleicht einige Schwie-
rigkeit hat, ganz voͤllig einerley denken ſollten.
Aber weit entfernt, das alles zu beherzigen, glaubte
man, daß die, ſo ſich zu einer Religion bekaͤnn-
ten, auch ganz ohne alle Ausnahme uͤber alle Fra-
gen, die ſich von der Religion aufwerfen ließen,
unabfaͤllig gleiche Beſtimmungen annehmen muͤßten.
So deutete man die Ermahnung Pauli an die Ephe-
ſer: ”zu halten die Einigkeit im Geiſte durch das
„Band des Friedens; Ein Leib und Ein Geiſt auf
„einerley Hoffnung des Berufes; Ein Herr, Ein
„Glaube,
Eine Taufe; Ein Gott und Vater un-
„ſer aller ꝛc.” (Eph. 4, 3[:]6.) Und damit verband
man den Ausſpruch Petri: daß ”außer dem Na-
„men Jeſu Chriſti von Nazareth in keinem andern
„Heil, auch kein anderer Name den Menſchen
„gegeben ſey, darin wir ſollen ſelig werden”
(Apg. 4, 10. 12.). Dieſen Ausſpruch Petri ver-
wechſelte man aber mit dem Satze: daß außer
der Chriſtlichen Kirche kein Heil zu finden ſey.
Und nun ſieng man an zu beſtimmen, was uͤber
unzehlige aufgeworfene Fragen die Chriſtliche Kirche
fuͤr eine Entſcheidung annehmen muͤße. War
dieſe aber einmal auf einer Kirchenverſammlung
beſchloſ-
[23]3) Chriſtl. Religion bis ins V. Jahrh.
beſchloſſen, ſo ſollte nur der an der Hoffnung zur
Seligkeit eines Chriſten Antheil haben, der dieſe
Entſcheidung annaͤhme. So wurden alſo Schluͤſſe
einer Kirchenverſammlung den Ausſpruͤchen der
Bibel an die Seite geſetzt, und fuͤr Eingebungen
des heiligen Geiſtes erklaͤret. Wer nicht damit
verſtanden war, oder ſich nicht dazu bekennen
wollte; wurde von der Kirche als ein Ketzer aus-
geſchloſſen. Oder, wenn nun mehrere Gemeinden
oder ihre Repraͤſentanten verſchiedene Entſcheidun-
gen annahmen, ſo ward nunmehr die Frage auf-
geworfen, welches die rechtglaͤubige Kirche ſey?
So gab es natuͤrlicher Weiſe Trennungen unter
den Chriſten, deren eine Parthey die andere ver-
dammte und — verfolgte, wenn ſie konnte. So
lief die vortrefflichſte Religion bald Gefahr, immer
mehr verunſtaltet zu werden. Und in dieſer ſchon
weit von ihrer erſten Lauterkeit entfernten Geſtalt
kam ſie zuerſt in unſere Gegenden!


B 4IV.
[24]I. Alte Zeiten bis 888.

IV.
Urſprung und erſter Fortgang der Fraͤnkiſchen
Monarchie.


I-IV. Errichtung der Fraͤnkiſchen Monarchie mit Chlo-
dowigs Eroberung in Gallien 486. — V. VI. Deren Aus-
breitung auf Teutſchem Boden uͤber Thuͤringen, Rheiniſch
und oͤſtlich Franken. — VII. Chlodowigs Annehmung der
Chriſtlichen Religion. — Sieg uͤber die Weſtgothen. —
VIII. Patricienwuͤrde. — IX. Vertilgung anderer Fraͤnkiſcher
Nebenkoͤnige. — X. XI. XII. Fortgang und Erweiterung der
Monarchie unter Chlodowigs erſten Nachkommen. —
XIII-XV. Wie ſich Baiern zur Fraͤnkiſchen Monarchie verhal-
ten habe? — XVI. XVII. Beſchaffenheit der Herzoge und
Grafen. — XVIII. Erſter Keim des nachherigen Lehnswe-
ſens. — XIX. XX. Dienſte der Biſchoͤfe und weltlicher Her-
ren bey Hofe. — XXI. Hofhaltung. — XXII. Kirchenver-
ſammlungen und Reichstag. — XXIII. Thronfolge.


I.

Mit den Voͤlkerzuͤgen des fuͤnften Jahrhunderts
war nicht nur der groͤßte Theil Galliens
(oder des heutigen Frankreichs), als ein Theil des
uͤber Spanien erſtreckten Weſtgothiſchen Reichs,
und nebſt demſelben das Burgundiſche Reich ſchon
fremden Voͤlkern zu Theil geworden; ſondern ſelbſt
in Italien hatte Odoacer im Jahre 476. dem dor-
tigen Roͤmiſchen Kaiſerthume ein Ende gemacht.
Doch auch Odoacer wurde wieder 489. vom Oſt-
gothiſchen Koͤnige Theodorich angegriffen und 493.
von demſelben uͤberwaͤltiget. Damit nahm von
dieſer Zeit an ein maͤchtiges Oſtgothiſches Reich in
Italien ſeinen Anfang; ſo jedoch der Griechiſch-
kaiſerliche Hof, der noch zu Conſtantinopel ſeinen
Fortgang behielt, fuͤr Uſurpation anſah.


In
[25]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.

In dieſer Lage war zwar noch bis im Jahre 486.II.
ein Roͤmiſcher Befehlshaber Syagrius zu Soiſſons.
Es ließ ſich aber lange vorausſehen, daß dieſer
Ueberreſt des Roͤmiſchen Galliens nicht lange auf
den Fuß wuͤrde erhalten werden koͤnnen. Da die
Allemannier aus Schwaben ſchon bis in Elſaß und
Lothringen, und die Franken unter Anfuͤhrung Chil-
derichs, eines Sohnes Meroveus, ſchon tief bis
in die Niederlande vorgeruͤckt waren; ſo ließ ſich
wohl vermuthen, daß eines dieſer beiden Voͤlker
dieſe Beute davon tragen wuͤrde.


Unvermuthet wagte Childerichs Sohn, Chlo-III.
dowig, als Heerfuͤhrer eines Theils der Fraͤnki-
ſchen Nation, im Jahre 486. dieſe Unternehmung,486
die ihm mit einem Feldzuge und mit einer den
Roͤmern bey Soiſſons beygebrachten Niederlage
gelang. Von dieſer Zeit an nahm er den Theil
von Gallien, den die Weſtgothen und Burgunder
den Roͤmern noch uͤbrig gelaßen hatten, als eine
mit dem Degen in der Fauſt gemachte Eroberung
in Beſitz. Damit ward er der Stifter einer neuen
Monarchie, die nach ſeinem Tode auf ſeine Soͤhne
und Nachkommen vererbet wurde, und bis auf
den heutigen Tag ihren Fortgang behalten hat, nur
daß ſie nachher unter zwey Kronen in Frankreich
und Teutſchland vertheilt worden iſt.


Die urſpruͤnglichen Graͤnzen dieſer neu errichte-IV.
ten Fraͤnkiſchen Monarchie begriffen gleich von An-
fang theils denjenigen Theil vom heutigen Frankreich
in ſich, der den damaligen Ueberreſt des Roͤmiſchen
Galliens ausmachte, theils dasjenige, was Chlodo-
wig und der ihm untergebene Theil der Fraͤnkiſchen
B 5Na-
[26]I. Alte Zeiten bis 888.
Nation vorher ſchon auf Teutſchem Boden und in
den Niederlanden ingehabt hatte. Dieſe Graͤnzen
wurden aber ſchon unter Chlodowig und ſeinen
Soͤhnen durch weitere gluͤckliche Unternehmungen
beynahe uͤber das ganze heutige Frankreich und uͤber
einen betraͤchtlichen Theil von Teutſchland erweitert.


V.

Den erſten Angriff that Chlodowig ſelbſt, nach-
dem er ſeine erſte Eroberung in Gallien nur eini-
489germaßen befeſtiget hatte, ſchon im Jahre 489.
gegen die Thuͤringer. Dieſe mochten die Fraͤnki-
ſche Vorruͤckung in Gallien auf den Fuß genom-
men haben, als ob nach dem Beyſpiele anderer
bisheriger Voͤlkerzuͤge der bisherige Wohnſitz der
Franken auf Teutſchem Boden damit erlediget wer-
den wuͤrde, und alſo von den Thuͤringern, die
nur nachruͤcken duͤrften, in Beſitz genommen wer-
den koͤnnte. Chlodowig belehrte ſie aber bald eines
andern, da er die Thuͤringer in ihre ehemalige
Graͤnzen zuruͤckwies. Ein Thuͤringiſcher Koͤnig
Hermanfried vermaͤhlte ſich hernach 500 mit einer
Schweſtertochter des maͤchtigen Oſtgothiſchen Koͤ-
nigs Theodorichs, deſſen Schutz die Franken vor-
erſt von weiteren Unternehmungen gegen die Thuͤ-
ringer zuruͤckhielt. Als aber Theodorich im Jahre
526. ſtarb, und nur einen unmuͤndigen Enkel hin-
terließ; griffen Chlodowigs Soͤhne noch in eben
dem Jahre die Thuͤringer von neuem an, und brach-
ten ſie nach einem hartnaͤckigen Treffen an der Un-
ſtrut ganz unter ihre Botmaͤßigkeit. Die Sachſen
hatten diesmal in Verbindung mit den Franken
die Thuͤringer zu gleicher Zeit angegriffen. Ein
Theil vom noͤrdlichen Thuͤringen, das ſich bisher
bis Magdeburg und Helmſtaͤdt erſtreckt hatte, kam
dar-
[27]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.
daruͤber am Sachſen. Das uͤbrige Thuͤringen, ſo
jetzt unter Fraͤnkiſche Hoheit kam, hat ſeitdem ſei-
nen Namen nur noch in einem weit engern Be-
zirke behalten, als ſeine ehemalige Graͤnzen giengen.


Den zweyten Krieg hatte Chlodowig ſelbſt nochVI.
mit den Allemanniern zu fuͤhren. Dieſe hatten,
ohne Zweifel aus Eiferſucht uͤber den Fortgang der
Fraͤnkiſchen Eroberung in Gallien, die Ripuarier,
als einen beſondern Stamm der Fraͤnkiſchen Na-
tion, die eigentlich einen andern Koͤnig als Chlo-
dowigen hatten, in ihrem Gebiete mit Krieg uͤber-
zogen. Chlodowig gieng ihnen aber mit ſeiner
ganzen Macht entgegen, und eine Niederlage, die
er ihnen 496. bey Zuͤlpich im Juͤlichiſchen bey-496
brachte, war erſt eine entſcheidende Befeſtigung
ſeiner neu errichteten Monarchie. Er nahm ihnen
gleich Elſaß und die Gegend von Speier, Worms
und Mainz, wo ſie ſchon feſten Fuß gefaſſet hat-
ten. Aus dieſer Rheiniſchen Gegend machte er
eine beſondere Fraͤnkiſche Provinz, die hernach un-
ter dem Namen Weſtfranken oder Rheiniſches Fran-
ken (Francia occidentalis, Francia Rhenana) von
anderen Teutſchfraͤnkiſchen Provinzen unterſchieden
ward (p). Er fuͤhrte aber auch uͤber den Main
bey Frankfurt (das von dieſer Furth der Franken
ſeinen Namen bekommen hat,) eine Fraͤnkiſche Co-
lonie den Allemanniern in den Ruͤcken, die von
jener Weſtfraͤnkiſchen Provinz unter dem Namen
Oſtfranken (Francia orientalis,) unterſchieden
wur-
[28]I. Alte Zeiten bis 888.
wurde, und in der Folge den Namen Franken
(Franconia) ſchlechtweg behalten hat, da der
jetzige Fraͤnkiſche Kreis eigentlich aus urſpruͤnglich
Thuͤringiſchen und urſpruͤnglich Allemanniſchen
Gebieten zuſammengeſetzt iſt. Was außerdem
von dem ehemaligen urſpruͤnglichen Allemannien
oder ſeitdem haͤufiger nur ſo genannten Schwaben
nunmehr in einem weit engeren Bezirke uͤbrig blieb,
ward nunmehr als ein eignes Herzogthum unter
Fraͤnkiſcher Hoheit regiert.


VII.

Eben das Treffen, worin Chlodowig die Alle-
mannier bey Zuͤlpich ſchlug, gab noch den naͤchſten
Anlaß, daß Chlodowig, deſſen zweyte Gemahlinn
Chlotildis, eine Burgundiſche Prinzeſſinn, der
Chriſtlichen Religion zugethan war, auf deren Zu-
reden noch in eben dem Jahre 496. ſich ebenfalls
zur Chriſtlichen Religion bekannte. Und da er ſich
zur rechtglaͤubigen Kirche hielt, welcher die meiſten
Einwohner in Frankreich zugethan waren, an ſtatt
daß die Weſtgothiſchen und Burgundiſchen Koͤnige
Arianer waren; ſo trug das nicht wenig dazu
bey, in den Geſinnungen der Geiſtlichkeit und des
Volkes Chlodowigs neue Eroberung zu befeſtigen,
und ſelbſt noch auf eine betraͤchtliche Art zu erwei-
tern. Der Erzbiſchof Remig von Rheims, der
507Chlodowigen getauft und geſalbt hatte, ſchrieb ihm
507.: ”er moͤchte nur ſeine Prieſter in Ehren
„halten, und ſich ihres guten Rathes bedienen;
„wenn er mit ihnen gut ſtaͤnde, wuͤrden auch alle
„ſeine Sachen beſſer gehen (q) Um eben die
Zeit
[29]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.
Zeit griff Chlodowig die Weſtgothen an, und nahm
ſelbſt davon, daß ſie Arianer waͤren, einen Haupt-
grund, dieſem Kriege den Beyfall ſeines Volkes
zu verſchaffen. Der aͤlteſte Fraͤnkiſche Geſchicht-
ſchreiber fuͤhrt Chlodowigen uͤber dieſen Vorfall
in folgenden Ausdruͤcken redend ein. Er habe zu
ſeinem Volke geſagt: ”Es iſt mir unertraͤglich, daß
„dieſe Arianer noch einen ſo betraͤchtlichen Theil
„von Gallien inne haben; Laßt uns mit Gottes
„Huͤlfe hinziehen, und ihr Land unter unſere Bot-
„maͤßigkeit bringen.” Dieſe Rede, faͤhrt der Ge-
ſchichtſchreiber fort, habe allen gefallen; darauf
ſey Chlodowig mit ſeinem Kriegsheere nach Poitou
zu aufgebrochen (r). In der That ſchlug Chlo-
dowig noch im Jahre 507. die Weſtgothen unter
ihrem Koͤnige Alarich, der dabey umkam, bey Poi-
tiers, und erweiterte dadurch ſein Reich mit Au-
vergne und Aquitaine nebſt der Stadt Toulouſe.
Die Weſtgothen behielten nur noch einen Theil von
Narbonne oder das heutige Languedoc.


Der Sieg uͤber die Weſtgothen brachte Chlo-VIII.
dowigen ſelbſt die Ehre zuwege, daß der dama-
lige Kaiſer Anaſtaſius zu Conſtantinopel ſeine Freund-
ſchaft ſuchte, um auch bey einem Angriffe gegen
die
(q)
[30]I. Alte Zeiten bis 888.
die Oſtgothen in Italien auf ſeinen Beyſtand rech-
nen zu koͤnnen. Anaſtaſius ließ ihm durch eine
eigne Geſandtſchaft die Wuͤrde eines Patricius an-
tragen, die Chlodowig mit Anlegung der damit
verbundenen Kleidung mit einem feierlichen Ritte
in die Kirche uͤbernahm. Es laͤßt ſich zwar nicht
genau beſtimmen, was dieſe Wuͤrde damals be-
deutete; (vielleicht war es etwas aͤhnliches, wie
jetzt oft große Herren unter einander ſich mit ihren
Ritterorden beehren.) Es mag aber doch ſchon
einige entfernte Beziehung darauf gehabt haben,
was zwey hundert Jahre ſpaͤter noch einmal von
der Wuͤrde eines Roͤmiſchen Patricius vorkommen
wird. In der Kirchthuͤre der Abtey St. Germain
in der Vorſtadt dieſes Namens zu Paris ſoll Chlo-
dowig in der Patricientracht in Stein ausgehauen
noch jetzt zu ſehen ſeyn.


IX.

Das letzte, womit Chlodowig ſelbſt noch ſeinem
neuen Reiche die voͤllige Ruͤndung gab, macht ſei-
nem Herzen am wenigſten Ehre. Weil ihn urſpruͤng-
lich nur einer der Fraͤnkiſchen Staͤmme zum Be-
fehlshaber gehabt hatte, ſo waren neben ihm noch
andere zum Theil mit ihm verwandte Koͤnige oder
Befehlshaber anderer Fraͤnkiſchen Staͤmme, als
der Ripuarier zu Coͤlln, der Cenomannier zu Cam-
bray u. ſ. w. Dieſe ließ er insgeſammt durch aller-
ley Mittel und Wege aus der Welt ſchaffen, um
nicht nur ſeine neue Eroberungen, ſondern auch
alle urſpruͤnglich Fraͤnkiſche Gebiete, und alſo das
ganze Fraͤnkiſche Reich fuͤr ſich und ſeine Nach-
kommen ganz alleine zu haben. Der Biſchof von
Tours, dem wir die aͤlteſte Fraͤnkiſche Geſchichte
zu danken haben, ſchreibt davon ganz kaltbluͤtig:
”Chlo-
[31]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.
”Chlodowig habe viele andere Koͤnige und Ver-
„wandte, uͤber die er eiferſuͤchtig geweſen waͤre,
„daß ſie ihm (oder vielleicht ſeinen Nachkommen)
„ſein Reich nehmen moͤchten, umbringen laßen,
„und damit ſeinem Reiche erſt ſeinen voͤlligen Um-
„fang gegeben” (s).


So lange Chlodowig lebte, blieb das Bur-X.
gundiſche Reich noch in ſeinem Beſtande. Aber
unter ſeinen Soͤhnen ward es im Jahre 534. mit
Krieg uͤberzogen, und unter ihre Hoheit gebracht.


Das heutige Provence gehoͤrte damals nochXI.
zum Oſtgothiſchen Koͤnigreiche in Italien, das aber
jetzt ſchon einen Angriff von Seiten der Griechi-
ſchen Kaiſer zu beſorgen hatte. Um in dieſer Ver-
legenheit die Fraͤnkiſchen Koͤnige zu Freunden, we-
nigſtens nicht zu Feinden zu haben, trat der Oſt-
gothiſche Koͤnig Vitiges im Jahre 536. nicht nur
Provence, ſondern auch was er noch auf Teut-
ſchem Boden von Rhaͤtien beſaß, den Fraͤnkiſchen
Koͤnigen ab.


So bildete ſich gleich unter Chlodowig undXII.
ſeinen Soͤhnen die Fraͤnkiſche Monarchie ſowohl
im heutigen Frankreich als in Teutſchland in ihrem
voͤlligen Umfange, wie ſie vorerſt unter dieſem
ganzen regierenden Stamme des Merovinger Ge-
ſchlechtes blieb; obgleich unter mehreren Bruͤdern
verſchiedentlich Theilungen geſchahen, da inſonder-
heit
[32]I. Alte Zeiten bis 888.
heit das heutige Frankreich und Teutſchland mehr-
malen unter den Namen Neuſtrien und Auſtraſien
von einander unterſchieden wurden.


XIII.

Nur uͤber einen betraͤchtlichen Theil von Teutſch-
land, das heutige Baiern, und uͤber deſſen Ver-
haͤltniß zum Fraͤnkiſchen Reiche herrſcht von dieſen
Zeiten her noch eine große Dunkelheit. Unſtreitig
begriff das ehemalige Roͤmiſche Noricum das heu-
tige Baiern mit in ſich, und kam mit der Revolu-
tion, da die Oſtgothen Meiſter von Italien wur-
den, mit unter die Herrſchaft der Oſtgothiſchen Koͤ-
nige. Aber um welche Zeit zuerſt die Baiern in
dieſe Gegend gekommen? von welcher Herkunft
dieſes Volk eigentlich geweſen? von welcher Zeit
her ſie ihre eigne Herzoge gehabt? in welchem
Verhaͤltniſſe dieſe gegen die Oſtgothiſchen Koͤnige
geſtanden? wann und wie ſie endlich unter Fraͤn-
kiſche Herrſchaft gekommen? — das alles ſind
Fragen, die noch von den neueſten Schriftſtellern
ſehr verſchieden, und großentheils nur nach Muth-
maßungen beantwortet werden. Doch ſind ſie we-
gen einiger Schluͤſſe, die fuͤr die folgende Geſchichte
und zum Theil noch bis auf den heutigen Tag
daraus gezogen werden, nicht ganz unerheblich.


XIV.

Nach der bisherigen gemeinen Meynung muͤßte
Baiern ſchon vor 534. unter Fraͤnkiſche Herrſchaft
gekommen ſeyn, weil beſage einer Vorrede der
Fraͤnkiſchen, Allemanniſchen und Bairiſchen Geſetz-
buͤcher des VI. Jahrhunderts der Fraͤnkiſche Koͤnig
Theodorich, der im Jahre 536. verſtorben, dieſe
Geſetzbuͤcher ſoll haben verfertigen laßen. Einige
neuere Schriftſteller behaupten aber, dieſe Vorrede
ſey
[33]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.
ſey 100. Jahre ſpaͤter geſchrieben, und habe aus
Irrthum die Oſtgothiſchen und Fraͤnkiſchen Koͤnige,
welche beide den Namen Theodorich gefuͤhret, mit
einander verwechſelt (t). Von den Oſtgothen ſol-
len die Baiern nach dieſen neuen Bemerkungen erſt
im Jahre 554. unter ihrem Herzog Garibald dem I.
ſich losgemacht, und erſt 628. dem Fraͤnkiſchen
Koͤnige Dagobert dem I., jedoch mit Ausbedingung
vieler Freyheiten, ſich unterworfen haben (u).


Andere halten es nicht fuͤr unwahrſcheinlich,XV.
daß die Noriker und Rhaͤtier, als Oſtgothiſche Un-
terthanen, zu der Zeit, als die Thuͤringer von den
Franken mit Krieg uͤberzogen worden, des Thuͤ-
ringiſchen Koͤniges als eines Oſtgothiſchen Bundes-
genoſſen ſich angenommen, aber nach der Nieder-
lage der Thuͤringer auch mit ſelbigen gleiches
Schickſal erlitten haben moͤchten, daß ſie ſich gleich
damals der Fraͤnkiſchen Hoheit unterwerfen muͤßen;
zumal da ein gleichzeitiger Schriftſteller eines von
den Franken uͤber zweyerley Voͤlker erfochtenen Sie-
ges Erwehnung thut, da ein Volk zuverlaͤßig Thuͤ-
ringer geweſen, das andere alſo wahrſcheinlich
Baiern geweſen ſeyn moͤchte (v).


Soviel iſt allemal gewiß, daß gleich von denXVI.
erſten Zeiten der Fraͤnkiſchen Monarchie her ein
jedes
C
[34]I. Alte Zeiten bis 888.
jedes Land, das vorher ein eignes Volk ausgemacht,
einen eignen Herzog gehabt hat, den der Koͤnig
als ſeinen dem Volke vorgeſetzten Befehlshaber
anſah, und der inſonderheit in Kriegszeiten das
Heer des ganzen Landes zu fuͤhren hatte. Natuͤr-
lich war dabey ein Unterſchied, ob ein ſolches Land
unbedingt erobert worden, oder auf gewiſſe Be-
dingungen ſich unter den Fraͤnkiſchen Scepter er-
geben. So laͤßt ſich begreifen, daß ein Herzog
mehr Gewalt, als ein anderer, haben koͤnnen, und
daß in ein und anderem Lande erbliche Herzoge
ſeyn koͤnnen, da ſonſt der Regel nach ein jeder
Herzog als ein von der Krone abhangender Be-
fehlshaber vom Koͤnige nach Gutfinden beſtellt wor-
den. Wenn alſo ſonſt keine Revolution dazwiſchen
gekommen waͤre, ſo haͤtte es ſich freylich gedenken
laßen, daß ſchon von dieſen Zeiten der erſte Grund
der heutigen beſondern Verfaſſung des Teutſchen
Reichs, da es in ſo viele Laͤnder, deren jedes ſeinen
eignen Regenten hat, eingetheilt iſt, hergeleitet wer-
den koͤnnte. Aber der Erfolg der Geſchichte zei-
get, daß mit den Teutſchen Herzogthuͤmern noch
ganz andere Staatsveraͤnderungen vorgegangen
ſind, von welchen der heutige Zuſtand von Teutſch-
land abhaͤngt.


XVII.

Von Grafen, die einem jeden Gau jetzt als
koͤnigliche Beamten fuͤr die Juſtitz und zu Beſor-
gung der Cammereinkuͤnfte vorgeſetzt waren, iſt es
noch weniger zweifelhaft, daß ihnen damals noch
nicht zugeeignet werden konnte, was wir jetzt Lan-
deshoheit nennen.


Wohl
[35]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.

Wohl aber laͤßt ſich ſchon von dieſen Zeiten derXVIII.
erſte Urſprung des Lehnsweſens, das nachher auf
die Verfaſſung aller Europaͤiſchen Staaten ſo großen
Einfluß bekommen hat, herleiten. Wenn vorher
ſchon Teutſche Voͤlker gewohnt waren, ihre im
Kriege eroberte Laͤndereyen unter diejenigen, die
durch ihre Tapferkeit dazu geholfen hatten, zu ver-
theilen oder zu verlooſen, doch ſo, daß nachher
eben der Beſitz dieſer Guͤter auch die fernere Ver-
bindlichkeit zu National-Kriegsdienſten mit ſich
brachte; ſo laͤßt ſich begreifen, daß Chlodowig
und ſeine Nachfolger von den vertheilten Erobe-
rungen, die auf ihren Antheil kamen, eine Anzahl
Laͤndereyen und Guͤter unter tapfere und angeſehene
Maͤnner, mit der beſondern Obliegenheit, nicht
nur in Nationalkriegen, ſondern auch mit beſonde-
rer Treue fuͤr die Perſon des Koͤnigs zu fechten,
vertheilten. Solche Verleihungen geſchahen zwar
noch nicht erblich, ſondern nur auf Lebenszeit oder
auf Wiederruf ꝛc., und in der Folge ſind noch vieler-
ley Veraͤnderungen und naͤhere Beſtimmungen da-
mit vorgegangen. Sie legten aber doch den erſten
Grund dazu, daß einige Mitglieder der Nation
ihre Guͤter in beſonderer Verbindung gegen den
Koͤnig als deſſen Leute, Lehnleute, Vaſallen, be-
ſaßen, andere Guͤter hingegen freyes Eigenthum
oder ſo genanntes Allodium waren.


Seit Chlodowigs Religionsveraͤnderung lebtenXIX.
die Biſchoͤfe, wo ſie bisher ſchon im Gange wa-
ren, nicht nur von neuem auf; ſondern als die
einzigen, die mit Leſen und Schreiben umzugehen
wußten, wurden ſie bald in Geſchaͤfften des Hofes
und des Volkes unentbehrlich. Wenn Geſchaͤffte
C 2bey
[36]I. Alte Zeiten bis 888.
bey Hofe Vortrag und Ausfertigung erforderten,
konnten ſie nicht anders als von Biſchoͤfen beſorgt
werden, die daher nicht nur als Hofcaplaͤne, ſon-
dern auch als Referendarien und Canzler bey Hofe
angeſetzt und gebraucht wurden.


XX.

Fuͤr Perſonen vom weltlichen Stande blieben
nur eigentlich ſo genannte Hofdienſte uͤbrig, um
den Koͤnig als Marſchall mit Aufſicht uͤber die
Pferde, als Kaͤmmerer mit Aufſicht uͤber die Gar-
derobbe und was dahin einſchlaͤgt, als Truchſeß
mit Aufſicht uͤber die Kuͤche, als Schenk mit Be-
ſorgung des Kellers, oder auch als Jaͤgermeiſter
u. ſ. w. zu bedienen. Doch hatte es der Koͤnig
allerdings in ſeiner Gewalt, auch Maͤnner in ſol-
chen Poſten, wenn ſie Erfahrung hatten, und ihm
ſeines Vertrauens wuͤrdig ſchienen, zu Rathe zu
ziehen. In ſo weit konnte ſchon fruͤhzeitig geſagt
werden, daß die Fraͤnkiſchen Koͤnige auch ihre Hof-
bedienten, als den Truchſeß, Kaͤmmerer, u. ſ. w.
zu Reichs- und Staatsgeſchaͤfften gebrauchten (w),
und daß ein Großhofmeiſter (Majordomus) das
vorſtellte, was wir jetzt Staatsminiſter nennen.


XXI.

Der Hof war aber von dieſen aͤlteren Zeiten
her, ſo wie faſt das ganze mittlere Zeitalter hin-
durch, nicht an eine gewiſſe Reſidenz gebunden,
ſondern faſt Jahraus Jahrein von einem Orte zum
andern wandelbar. Die meiſte Zeit brachten die
Koͤnige auf ihren Landguͤtern zu, wo ihnen die
Bequemlichkeit zur Jagd und Fiſcherey, wie auch
zum Reiten, Schwimmen und Leibesuͤbungen den
Auf-
[37]4) Merovinger a) Aufkommen 486-561.
Aufenthalt angenehm machte. Nur die großen Feier-
tage Weinachten, Oſtern, Pfingſten, oder Tage, die
zu beſonderen Feierlichkeiten beſtimmt waren, brach-
ten ſie in Staͤdten zu, wo ſie alsdann ihren feier-
lichen Gottesdienſt und feierliches Hoflager (Galla-
tage) hielten. Dabey fanden ſich dann die Vor-
nehmen geiſtlichen und weltlichen Standes aus dem
ganzen Reiche oder doch aus den naͤchſtgelegenen
Gegenden ein, die ſich eine Ehre daraus machten,
den Koͤnig zu bedienen, und ihm den Hof zu ma-
chen. Die Urkunden der Koͤnige ſind deswegen
ſelten lange nach einander an einem Orte, ſondern
bald in dieſer, bald in einer andern Gegend des
Reichs ausgefertiget. Das hinderte jedoch nicht,
daß dieſe oder jene Stadt zur Hauptſtadt des gan-
zen Reichs, oder nach geſchehenen Theilungen die-
ſes oder jenen Theiles deſſelben erklaͤrt ward. So
erklaͤrte Chlodowig ſchon Paris zur Hauptſtadt.
In der Folge erſchien Metz als die Hauptſtadt von
Auſtraſien; Andere Abtheilungen der Koͤnige wur-
den auf ſolche Art nach Orleans, Soiſſons oder
anderen Staͤdten als ihren Hauptſitzen bemerklich
gemacht.


Die Franzoͤſiſchen Biſchoͤfe hat ChlodowigXXII.
ſchon auf einer Kirchenverſammlung’ zu Or-
leans,
noch in dem letzten Jahre ſeines Lebens 511.,
Berathſchlagungen anſtellen laßen, dergleichen in
der Folge mehr geſchehen. Eben ſo wenig laͤßt ſich
bezweiflen, daß gleich die erſten Fraͤnkiſchen Koͤnige
von Zeit zu Zeit nicht ſollten Herzoge, Grafen und
andere Edle in Geſchaͤfften des Reichs zu Rathe ge-
zogen haben. Es finden ſich vielmehr fruͤhzeitige
Spuhren, daß man gewohnt war, alle Fruͤhjahre
C 3eine
[38]I. Alte Zeiten bis 888.
eine Art von Reichsverſammlung zu halten. Allein
ſolche Vorſtellungen, wie wir ſie uns jetzt von un-
ſerm Teutſchen Reichstage machen, und wie wir
uns jetzt die eingeſchraͤnkte kaiſerliche Regierung in
ihrem Verhaͤltniſſe gegen unſere Reichsſtaͤnde den-
ken, muß man von ſelbigen Zeiten noch faſt gaͤnz-
lich entfernen. Eine freye nur kriegeriſch geſinnte
Nation, wie die war, woruͤber die Fraͤnkiſchen
Koͤnige herrſchten, durfte freylich wohl nicht ſehr
despotiſch behandelt werden. Die Staatsklugheit
konnte es von ſelbſten an die Hand geben, die Vor-
nehmſten der Nation bey wichtigen Vorfaͤllen zu
Rathe zu ziehen. Aber als ein Recht darf man es
noch nicht annehmen, daß dem Koͤnige die Einwil-
ligung der Staͤnde nothwendig geweſen waͤre, und
daß er ohne dieſe Einwilligung nicht das Recht ge-
habt haͤtte, Dinge, die zu ſeiner Regierung gehoͤr-
ten, nach ſeinem Gutfinden zu beſtimmen.


XXIII.

Eine der wichtigſten Fragen der urſpruͤnglichen
Fraͤnkiſchen Staatsverfaſſung mußte nothwendig die
Thronfolge betreffen. Die Beſchaffenheit eines
mit dem Degen in der Fauſt errichteten Thrones
ließ es ſchon ganz natuͤrlich erwarten, daß der erſte
Eroberer, da es ihm nicht an Soͤhnen fehlte, ſeinen
Thron auf dieſe vererben wuͤrde. Der Erfolg lehr-
te, daß ſo gar mehrere Bruͤder unter einander das
Reich theilten. Weder von Untheilbarkeit eines
Staates, noch von der damit gemeiniglich verbunde-
nen Thronfolge nach dem Rechte der Erſtgebuhrt
ſchien man noch einige Begriffe zu haben. Nur zu-
faͤllig unbeerbten Todesfaͤllen war es zuzuſchreiben,
daß die mehrmalen getheilte Monarchie von Zeit zu
Zeit doch wieder vereiniget wurde.


V.
[39]5) Merovinger b) Verfall 561-752.

V.
Verfall und Sturz des Merovinger Stamms.


I. Erſter Grund des Verfalls der Merovinger in Thei-
lungen und innerlichen Irrungen. — Waͤhrend derſelben
wird Italien zur Griechiſchen Provinz gemacht, aber auch
wieder van Longobarden uͤberzogen. — II. Zweyter Grund
des Verfalls in Minderjaͤhrigkeit einiger Koͤnige und Ueber-
macht des Majordomus. — III-VI. Aufkommen Pipins von
Herſtall und Carl Martells. — VII-IX. Staatskluge Pro-
tection der Miſſionarien, inſonderheit Bonifazens. — X-
XVI.
Damaliger Zuſtand der Religionslehren vom Fegefeuer,
von guten Werken u. ſ. w. und des Kirchenſtaats. — XVII.
Erſte Unterhandlungen uͤber das Patriciat der Roͤmer. —
XVIII-XX. Endlich vollzogener Sturz des Merovinger
Stamms, und Thronbeſteigung Pipins des Kleinen.


Wiederholte Theilungen unter Chlodowigs En-I.
keln hatten bald den Erfolg, daß unter ihnen
und ihren Nachkommen verderbliche Irrungen und
innerliche Kriege entſtanden, wobey ſchon Meuchel-
morde, Vergiftungen und unerhoͤrte Grauſamkeiten
dieſen Abſchnitt der Geſchichte beflecken. Daruͤber
vergiengen mehr als hundert Jahre, ohne daß an
neue Eroberungen und Erweiterungen des Reichs
oder an irgend andere glorreiche Thaten dieſes Me-
rovinger koͤniglichen Stammes mehr zu denken war.
Nur dadurch zeichnet ſich die Geſchichte dieſer Zeiten
aus, daß endlich dem Oſtgothiſchen Reiche in Italien
von Conſtantinopel aus im Jahre 564. ein Ende564
gemacht, und der Grund dazu geleget wurde, Ita-
lien von nun an als eine mit dem oͤſtlichen Kaiſer-
thume wieder vereinigte Provinz durch Griechiſche
Exarchen regieren zu laßen. Doch wenige Jahre,
nachdem dieſe Eroberung vollbracht war, brachen
C 4wie-
[40]I. Alte Zeiten bis 888.
wieder Longobarden, (ein urſpruͤnglich Teutſches
Volk, das aber ſchon geraume Zeit her in Panno-
nien ſeinen Sitz gehabt hatte,) in Italien ein,
568und faßten ſeit 568. in deſſen oberem und mittle-
rem Theile feſten Fuß. Von dieſer Zeit an ent-
ſtand hier auf zwey hundert Jahre hin ein neues
Longobardiſches Koͤnigreich. Doch konnte weder
Ravenna, wo der Griechiſche Exarch noch ſeinen
Sitz behielt, noch die Stadt Rom, noch der untere
Theil von Italien unter Longobardiſche Botmaͤßig-
keit gebracht werden.


II.

Aber eine ganz andere Revolution gab endlich
auch der Fraͤnkiſchen Geſchichte wieder ein neues
Leben. Die Minderjaͤhrigkeit der Soͤhne und
Thronfolger Dagoberts des I. hatte dem damals
ſchon hoch geſtiegenen Anſehen der Majordomus
noch einen ſolchen Zuwachs verſchafft, daß einer
derſelben ſchon im Jahre 656. einen Verſuch mach-
te, den Merovinger Stamm vom Throne zu ver-
draͤngen; einen Verſuch, der zwar noch fehlſchlug,
aber doch den Erfolg hatte, daß ein Schweſterſohn
eben des Majordomus, Pipin von Herſtall, mit
gleichen Entwuͤrfen umgieng, die unter ihm und
ſeinem Sohne und Enkel endlich zur voͤlligen Reife
gediehen.


III.

Nach mehrmaligen Todesfaͤllen, die ſich kurz
hinter einander in der regierenden Familie zutru-
gen, da ein anderer Majordomus in Neuſtrien,
ein anderer in Auſtraſien war, wollte bald dieſer,
bald jener dem Prinzen, bey dem er die Stelle
eines Majordomus bekleidete, die ganze Monarchie
zuwenden. Daruͤber kam es zwiſchen Pipin von
Her-
[41]5) Merovinger b) Verfall 561-752.
Herſtall, der Majordomus in Auſtraſien war,
und denen, welche dieſe Wuͤrde zu ſeiner Zeit nach
einander in Neuſtrien bekleideten, zu einem blutigen
Kriege, worin endlich Pipin bey Teſtri in Verman-
dois 687. einen entſcheidenden Sieg erfocht.687


Von dieſer Zeit an wurde zwar vorerſt nochIV.
immer einem Prinzen vom Merovinger Stamme der
Koͤnigsname gelaßen; ohne daß doch weitere Ver-
theilungen des Reichs geſchahen, und ohne daß bey
Erledigung des Thrones ein anderer dazu gelangte,
als den der Majordomus dazu beſtimmte. Das
ganze Heft der Regierung fuͤhrte jedoch von dieſer
Zeit an nur Pipin von Herſtall, der ſich auch ſchon
Herzog und Fuͤrſt der Franken (dux et princeps
Francorum
) nannte; und ſo nach ſeinem Tode
auch ſchon ſein Sohn Carl Martell, der ſo gar
737. nach Abſterben des damaligen Koͤniges Theo-
dorichs des IV. den Thron unbeſetzt, und nicht ein-
mal den Namen eines Koͤnigs einen Merovinger
Prinzen mehr fuͤhren ließ.


Das alles wuͤrde in der That kaum begreiflichV.
ſeyn, wenn nicht beide Pipin und Carl Martell
theils durch das Gluͤck der Waffen, theils durch
einige beſondere Umſtaͤnde, die ſie mit der groͤßten
Staatsklugheit zu benutzen wußten, beguͤnſtiget
worden waͤren.


Das Gluͤck der Waffen entſchied nicht nur fuͤrVI.
Pipin von Herſtall in der Schlacht bey Teſtri, ſon-
dern es beguͤnſtigte ihn auch in Zuͤgen, die er
C 5689.
[42]I. Alte Zeiten bis 888.
689. 695. gegen die Frieſen (x) anſtellte, und in
712Ueberfaͤllen, womit er 709. 712. den in Empoͤ-
rungen begriffenen Herzog in Allemannien heim-
ſuchte. Hauptſaͤchlich aber gewann dadurch Carl
Martell einen unſterblichen Namen, und ein un-
verkennbares Verdienſt um ganz Frankreich und
732Teutſchland, als er 732. die Saracenen, die ſchon
ſeit 714. in ganz Spanien Meiſter waren, bey
Tours ſchlug und uͤber die Pyrenaͤiſchen Gebirge
zuruͤcknoͤthigte. Ein Verdienſt, das deſto groͤßer
war, je lebhafter die ganze Nation davon uͤberzeugt
ſeyn mußte, daß ſie jetzt nur dieſem Fuͤrſten ihre
Rettung und zugleich die fernere freye Uebung ihrer
Religion zu verdanken hatte; nicht den Koͤnigen,
die nur in Wolluͤſten und Unthaͤtigkeit lebten, die
die Nation kaum zu ſehen bekam, geſchweige daß
ſie ſich an der Spitze der Kriegsheere oder am
Ruder der Geſchaͤffte haͤtten zeigen ſollen.


VII.

Dazu kam aber noch ein Umſtand, der die Pi-
piniſche Familie von Seiten der Religion in einem
ſehr vortheilhaften Lichte erſcheinen ließ. So aus-
gebreitet das Chriſtenthum in Frankreich war, ſo
lagen doch noch viele Staͤdte am Rheine und an
der Donau, worin ehedem ſchon Chriſtliche Biſchoͤfe
geweſen waren, von den Ueberzuͤgen des fuͤnften
Jahrhunderts her im Schutt. Das innere Teutſch-
land war vollends noch von der Chriſtlichen Religion
ganz entfernt; zu deren Eingang in dieſe Gegen-
den ſchien von der Vorſehung ein anderer Weg, als
von
[43]5) Merovinger b) Verfall 561-752.
von Frankreich oder von der Donau her, beſtimmt
zu ſeyn.


Schon zu Ende des ſechſten JahrhundertsVIII.
hatte der Biſchof Gregor zu Rom mit Verwunde-
rung wahrgenommen, daß von Frankreich aus kein
Schritt geſchehen war, die Chriſtliche Religion nach
England hinuͤber zu bringen. Auf deßen Veran-
laßung war alſo unmittelbar von Rom aus eine
Miſſion von vierzig Geiſtlichen nach England ver-
anſtaltet worden, wo das Chriſtenthum durch Bey-
huͤlfe einer damals ſchon dieſer Religion zugetha-
nen Engliſchen Koͤniginn ſeitdem feſten Fuß faßte.
Aus dieſer Pflanzſchule fanden ſich nun wieder ande-
re Miſſionarien, die aus England und Irland ſich
auf Teutſchen Boden wagten, um hier den Unwiſ-
ſenden das Evangelium bekannt zu machen. Sol-
cher Miſſionarien waren mehrere, die ſchon Pipin
von Herſtall unterſtuͤtzte (y). Hauptſaͤchlich aber
ließ ſichs ein Englaͤnder, Namens Winfried oder
Bonifaz, angelegen ſeyn, der unter Carl Mar-
tells Schutz in Thuͤringen, Franken, Schwaben
und Baiern der Chriſtlichen Religion feſten Fuß
zu verſchaffen ſuchte. Namentlich brachte derſelbe
im Jahre 738. die Biſthuͤmer zu Salzburg, Re-738
gensburg, Freiſingen und Paſſau, wie auch nach-
her noch die zu Wuͤrzburg und Eichſtaͤdt zu Stan-
de. Sodann ſtiftete er, um eine Pflanzſchule
tuͤchtiger Biſchoͤfe fuͤr die Zukunft zu haben, im
Jahre 744. die Abtey zu Fulda. Und am Ende
wehlte
[44]I. Alte Zeiten bis 888.
wehlte er 745. Mainz zu ſeinem beſtaͤndigen Sitze,
wie es ſeitdem der Sitz des erſten Teutſchen Erz-
biſthums bis auf den heutigen Tag geblieben iſt.


IX.

Um eben dieſe Zeit, als Bonifaz ſeine erſten
Verſuche auf Teutſchem Boden machte, waren
die Biſchoͤfe Gregor der II. und III. wegen der
Veraͤnderungen, die der damalige Kaiſer Leo Iſau-
rus mit den Bildern in den Kirchen vornehmen
ließ, mit dem Hofe zu Conſtantinopel in große
Irrungen gerathen. Alſo war es ihnen deſto will-
kommener, als Bonifaz ſich ſelbſt in Rom einfand,
und den Grund dazu legte, daß alle dieſe neue
Stiftungen in Teutſchland in naͤhere Verbindung
mit der Roͤmiſchen Kirche kamen, die ſie natuͤrlich
als ihre Mutterkirche anſehen mußten. Bonifaz lei-
ſtete dem Roͤmiſchen Stuhle ſchon einen ſolchen Eid,
wie ſonſt nur die ihm untergeordneten Biſchoͤfe der
eignen Roͤmiſchen Dioeces zu ſchwoͤren gewohnt
waren. (Nachher iſt dieſer Eid zum Vortheile
des paͤbſtlichen Stuhls noch immer mehr geſchaͤrft,
und zuletzt ſo allgemein eingefuͤhrt worden, daß
noch jetzt alle Biſchoͤfe der catholiſchen Kirche da-
durch zur voͤlligen Unterwuͤrfigkeit unter den Roͤ-
miſchen Stuhl verpflichtet werden.)


X.

Unter ſolchen Umſtaͤnden wurde die Chriſtliche
Religion in Teutſchland auch nur ſo eingefuͤhrt,
wie ſie damals unter Leitung der Roͤmiſchen Bi-
ſchoͤfe beſchaffen war, und ſowohl dieſen als uͤber-
haupt dem geiſtlichen Stande vorzuͤglich zum Vor-
theil gereichte. Schon Gregor der I., oder der
Große, wie ihn ſeine Verehrer nennen, hatte in-
ſonderheit die Lehre vom Fegefeuer gaͤnge und gaͤbe
gemacht;
[45]5) Merovinger b) Verfall 561-752.
gemacht; eine Lehre, die darum von großen Fol-
gen war, weil man zugleich annahm, daß dieſer
Mittelzuſtand zwiſchen Himmel und Hoͤlle fuͤr die
darin leidenden abgeſchiedenen Seelen verkuͤrzt wer-
den koͤnnte, je nachdem Gott durch Fuͤrbitten an-
derer noch lebender Menſchen, oder auch noch mehr
ſolcher Heiligen, die ſchon im Genuß ihres ſeligen
Zuſtandes bey Gott waͤren, ſich dazu bewegen
ließe. In dieſer Vorausſetzung that man natuͤr-
licher Weiſe alles, um ſich der Freundſchaft ſolcher
Heiligen, als inſonderheit der Mutter Chriſti, und
ſeiner Apoſtel, zu verſichern. Man glaubte, daß
bey ihrer nahen Verbindung mit Gott, gleichſam
mittelſt Einſchauens in den Spiegel der goͤttlichen
Allwiſſenheit, ihnen nicht unbekannt bleiben koͤnnte,
was noch lebende Menſchen zu ihrem Vortheile
thaͤten. Daher alſo die ſo genannte Anrufung der
Heiligen; Daher haͤufige zu Ehren dieſes oder jenes
Heiligen erbaute und nach ihren Namen genannte
Kirchen; Daher dazu gewidmete Geſchenke und
Vermaͤchtniſſe; Daher endlich die ſo genannten
Seelmeſſen, die, je zahlreicher ſie jemand fuͤr ſich
veranſtalten kann, fuͤr deſto zutraͤglicher gehalten
werden, — wenigſtens denen, welche ihre Bezah-
lung dafuͤr bekommen, deſto eintraͤglicher ſind.


Auch die Meſſe war ſchon in vielen StuͤckenXI.
von Gregor dem I. auf den Fuß geſetzt, wie ſie
noch jetzt in der catholiſchen Kirche mit vielerley
Lateiniſchen Formeln, Geſaͤngen und anderen Ce-
remonien uͤblich iſt, und als das einzige Weſent-
lichſte des ganzen Gottesdienſtes angeſehen wird.


Man
[46]I. Alte Zeiten bis 888.
XII.

Man war ferner ſchon gewohnt, Menſchen,
die mit Reue ihre Suͤnde bekannten, zu oͤffentli-
chen Bußuͤbungen anzuhalten, oder daß ſie eine
gewiſſe Anzahl Pſalmen leſen, Gebete verrichten,
Almoſen geben, Faſten halten, Wallfahrten vor-
nehmen, oder andere dergleichen vermeyntlich ver-
dienſtliche Werke ausuͤben mußten, da man dann
auf alle ſolche Werke einen großen Werth legte,
um ſich dadurch der Vergebung der Suͤnden geſi-
chert halten zu koͤnnen. Fuͤr Almoſen galten aber
auch Schenkungen oder Vermaͤchtniſſe an geiſtliche
Perſonen oder Kirchen und milde Stiftungen.


XIII.

Die Gegenſtaͤnde milder Stiftungen vermehr-
ten ſich inſonderheit, ſeitdem das Kloſterleben ſich
immer weiter ausbreitete. Erſt Benedict von Nur-
ſia († 544.) hatte demſelben mit einer Vorſchrift,
wie die Zeit in Kloͤſtern mit gottesdienſtlichen Ue-
bungen, Handarbeiten und Unterricht der Jugend
verhaͤltnißmaͤßig vertheilt werden ſollte, eine groͤßere
Stetigkeit zu geben geſucht. Dieſe Regel, wovon
der Benedictinerorden ſeinen Namen bekommen hat,
empfahl vorzuͤglich Gregor der I. Seitdem gab
es der Benedictiner-Abteyen auch im Fraͤnkiſchen
Reiche immer mehrere. Auf einer Fraͤnkiſchen Kir-
chenverſammlung 742. wurde es fuͤr alle Moͤnche
und Nonnen zum Geſetze gemacht, ſich dieſer Re-
gel zu unterwerfen.


XIV.

So laͤßt ſich begreifen, wie durch koͤnigliche
und anderer Großen Freygebigkeit Kirchen und an-
dere milde Stiftungen ſchon fruͤhzeitig zu Reich-
thuͤmern und großen Guͤtern haben gelangen koͤn-
nen.
[47]5) Merovinger b) Verfall 561-752.
nen. Daruͤber konnte ſchon um dieſe Zeit eine ge-
wiſſe Eiferſucht von Seiten der hoͤchſten Gewalt
im Staate uͤber ein zu beſorgendes Uebergewicht des
geiſtlichen Standes erwachen; zumal da ſchon von
Conſtantins Zeiten her auch dazu ein guter Grund
gelegt war, daß geiſtliche Perſonen und Guͤter nicht
nur manche Befreyung von gemeinſamen Laſten,
die jeder buͤrgerlichen Geſellſchaft eigen zu ſeyn
pflegen, zu genießen hatten, ſondern auch Biſchoͤfe
erſt als Schiedsrichter, und in der Folge bald als
ordentliche Richter in Streitigkeiten, die ihnen zu
ſchlichten vorgelegt wurden, eine Art von geiſtlicher
Gerichtbarkeit auszuuͤben bekamen.


Nichts deſto weniger blieben zwar noch Bi-XV.
ſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe wahre Unterthanen der Re-
genten ihrer Voͤlker. Selbſt der Roͤmiſche Biſchof
war eben der hoͤchſten Gewalt, die in Rom ſelbſt
die Herrſchaft fuͤhrte, unterworfen. Er lief ſo gar
Gefahr vom Biſchofe zu Conſtantinopel in ſeinen
bisherigen Vorzuͤgen zuruͤckgeſetzt zu werden. Doch
auch hierin hatte wieder der ſchon oft erwehnte
Biſchof Gregor der I. das Verdienſt, daß er durch
einen Widerſpruch, den er gegen den vom Biſchofe
zu Conſtantinopel angenommenen Titel eines allge-
meinen Biſchofs erhub, den erſten Anlaß dazu gab,
daß Rom als der urſpruͤngliche Sitz des Kaiſer-
thums auch fuͤr ſeinen Biſchof den Vorzug vor
dem in der neuen Reſidenz behielt. Von der Zeit
an neigte ſich zwar alles zu einer Trennung der
Griechiſchen und Lateiniſchen Kirche, die in der
Folge je laͤnger je mehrere Nahrung bekam, und
bis auf den heutigen Tag nicht hat gehoben wer-
den koͤnnen. Allein eben in der Lateiniſchen Kirche
wur-
[48]I. Alte Zeiten bis 888.
wurden jetzt nach und nach alle Umſtaͤnde fuͤr den
Roͤmiſchen Biſchof deſto guͤnſtiger, um immer
hoͤhere Vorzuͤge uͤber alle andere Biſchoͤfe in den
weſtlichen Reichen zu erlangen.


XVI.

Unter andern geſchah es haͤufig, daß der Roͤ-
miſche Biſchof von Biſchoͤfen aus Frankreich, Eng-
land und anderen weſtlichen Laͤndern um ſeine Be-
lehrung, oder gar in ſtreitigen Faͤllen um ſeinen
Ausſpruch gebeten wurde. Solche Belehrungen
und Ausſpruͤche fieng man bald an zu ſammlen,
und aͤhnlichen Sammlungen der Kirchenſchluͤſſe bey-
zufuͤgen. Deren Inhalt ward aber nun ſchon den
Vorſchriften der Bibel an die Seite geſetzt. Folg-
lich war nun wohl zu erwarten, daß die Chriſt-
liche Religion, wie ſie in unſeren Gegenden gelei-
tet wurde, von ihrer urſpruͤnglichen Lauterkeit ſich
noch immer weiter entfernen wuͤrde. Wenigſtens
hatte der geiſtliche Stand, wenn zu ſeinem Vor-
theile ſich noch etwas neues einfuͤhren ließ, es
jetzt ziemlich in ſeiner Gewalt, durch neue Satzun-
gen die Zahl der Glaubens- und Lebens-Vorſchrif-
ten nach Gutfinden von Zeit zu Zeit zu vermehren.


XVII.

Doch, nun erſt wieder auf Carl Martell zuruͤck-
zukommen, wird vorerſt jetzt begreiflicher werden,
wie in ſeiner Lage es Staatsklugheit war, ſowohl
mit der Geiſtlichkeit uͤberhaupt, als inſonderheit
mit dem Roͤmiſchen Biſchofe ein gutes Vernehmen
zu unterhalten. Er hatte alſo gute Urſache, einen
Bonifaz in ſeinen neuen Kirchenanlagen deſto eifri-
ger zu unterſtuͤtzen, je mehr dadurch der vereinigte
Name eines Helden und eines Befoͤrderers der Re-
ligion das Volk ſeinen bisherigen koͤniglichen Stamm
ver-
[49]5) Merovinger b) Verfall 561-752.
vergeſſen machen konnte. Auf der andern Seite
bedurfte aber auch der Roͤmiſche Stuhl die Freund-
ſchaft eines ſolchen Helden, wie Carl Martell war,
um theils gegen den Griechiſchen Hof, theils gegen
die Longobarden geſichert zu ſeyn. In dieſer Ab-
ſicht bekam ſchon Carl Martell den Antrag, den
Titel Patricius der Roͤmer anzunehmen; wahr-
ſcheinlich in dem Sinne, um eine Art von Schutz
der Stadt Rom und der Roͤmiſchen Kirche zu uͤber-
nehmen. Aber mit ihm blieb es nur noch in Tra-
ctaten. Er mochte es wohl nicht gerathen finden,
ſich in Verbindungen einzulaßen, die ihn noͤthigen
koͤnnten, ein Kriegsheer uͤber die Alpen zu fuͤhren.


In der Hauptſache ſchien der Tod Carl Mar-XVIII.
tells den Entwurf der Thronbeſteigung fuͤr ſeine
Familie wieder von der Vollendung zu entfernen.
Seine zwey Soͤhne, Carlmann und Pipin, un-
terließen zwar nicht, den Regententitel, ſo wie er
ihn gefuͤhrt hatte, gleichſam erblich fortzufuͤhren;
aber ſie vertheilten auch das Reich unter ſich wie
eine Erbſchaft; und doch aͤußerte ſich noch man-
ches Mißvergnuͤgen bey den Großen der Nation;
ſelbſt den geiſtlichen Stand nicht ausgenommen,
der uͤber manches, das Carl Martell ohne gnug-
ſame Schonung der geiſtlichen Guͤter vorgenommen
hatte, doch nicht ganz zufrieden war. Durch dieſe
Umſtaͤnde bewogen, ließen beide Bruͤder wieder
einen Merovinger Prinzen Childerich denIII. den
koͤniglichen Titel fuͤhren. Sie ſelbſt beeiferten ſich
aber deſto mehr, ſich dem geiſtlichen Stande ge-
faͤlliger zu machen; wie dann in dieſe Zeit etliche
merkwuͤrdige Kirchenverſammlungen fallen, und
ſelbſt die letzten Hauptverrichtungen Bonifazens,
da er 744. die Abtey Fulda errichtete, und 745.744
Dzu
[50]I. Alte Zeiten bis 888.
zu Mainz ſeinen metropolitiſchen Sitz beſtimmte.
Doch zum Gluͤck fuͤr Pipin gieng ſein aͤlterer Bru-
der Carlmann ſelbſt ins Kloſter; und nun fand
Pipin bald Mittel und Wege, das ſo lange vor
Augen gehabte Ziel zu erreichen.


XIX.

Die groͤßte Schwierigkeit ſchien nur noch darin
zu beſtehen, daß die Nation doch dem Koͤnige gehul-
diget hatte, und daher ſelbſt im Gewiſſen einen
Anſtand finden moͤchte, ihn zu verlaßen. In
Gewiſſensſachen war man aber ſchon gewohnt,
daß Bonifaz ſich von Rom aus Raths erholte.
Es wurden deswegen zwey Praͤlaten, (ein Teut-
ſcher und ein Franzoͤſiſcher, der Biſchof Burchard
von Wuͤrzburg, und der Abt Fulrad von St. De-
nis,) nach Rom geſchickt, um dem Pabſte Zacharias
die Frage vorzulegen: ob es nicht recht und billig
ſey, daß demjenigen, der die Regierung eines Vol-
kes wuͤrklich fuͤhre, und dem das Volk ſeine Er-
haltung und Wohlfahrt zu danken habe, auch der
koͤnigliche Titel gegeben werde; oder ob derſelbe
demjenigen zu laßen ſey, der zwar bisher den
Namen, aber nicht die That gehabt habe?


XX.

Die Anſtalt war ohne Zweifel ſchon zum vor-
aus ſo getroffen, daß dieſe Botſchaft zuruͤckkam,
752als eben im Jahre 752. eine Reichsverſammlung
zu Soiſſons im Werke war. Hier wurde der
paͤbſtliche Ausſpruch, wie er nach Pipins Wunſch
ausfiel, gleich oͤffentlich bekannt gemacht. Und
ſo wie David ehedem ſtatt Sauls vom Propheten
Samuel geſalbet war, ſo ſalbte und kroͤnte jetzt
Bonifaz in Beyſeyn der uͤbrigen Biſchoͤfe Pipin
ſtatt Childerichs, der nebſt ſeinem Sohne in ein
Kloſter geſteckt wurde. So kam die große Revo-
lution,
[51]6) Carolinger im Flor 752-814.
lution, da ein noch bluͤhender koͤniglicher Stamm
einer Miniſters-Familie vom Throne weichen mußte,
jetzt auf einmal zu Stande, ohne daß uͤbrigens
in der Staatsverfaſſung einige Veraͤnderung wei-
ter vorgieng; außer daß natuͤrlicher Weiſe die
Ehrenſtelle eines Majordomus oder auch der Titel
eines Herzogs und Fuͤrſten der Franken von nun
an nicht mehr im Gange blieb.


VI.
Carolinger in ihrem Flore,
inſonderheit
Carl der Große.


I. II. Pipins Geſchichte ſeit ſeiner Thronbeſteigung —
inſonderheit Roͤmiſches Patriciat, und Schenkung an den
paͤbſtlichen Stuhl. — III. Carl der Große. — IV. Seine
Eroberung des Longobardiſchen Koͤnigreichs. — V. Anfang
des Sachſenkrieges. — VI. Erweiterung der Graͤnzen ſei-
nes Reichs uͤber die Pyrenaͤiſchen Gebirge. — VII. Kriege
und Anſtalten jenſeits der Elbe. — VIII. IX. Zuͤge und
Staatsveraͤnderungen in Baiern. — X. Verſuch den Rhein
mit der Donau zu vereinigen. — XI-XVI. Erneuerung der
Roͤmiſchen Kaiſerwuͤrde. — XVII-XIX. Deren rechtliche
Wirkungen. — XX-XXII. Ende des Sachſenkrieges und
Friedensbedingungen. — XXIII. XXIV. Grundlage zu den
heutigen Biſthuͤmern in Weſtphalen und Niederſachſen. —
XXV. Feldzuͤge in Boͤhmen. — XXVI. Krieg mit den Nor-
maͤnnern; Eider Graͤnze des Reichs. — XXVII. XXVIII.
Capitularien und andere gute Anſtalten Carls des Großen —
XXIX. inſonderheit in Anſehung des Kirchenſtaats. —
XXX. Neues Erzbiſthum zu Salzburg. — XXXI. Unterhal-
tung beſtaͤndiger Commiſſarien.


Kaum hatte Pipin den Thron beſtiegen, als erI.
Gelegenheit bekam, dem paͤbſtlichen Stuhle752
einen ſehr betraͤchtlichen Gegendienſt zu leiſten.
D 2Der
[52]I. Alte Zeiten bis 888.
Der Longobardiſche Koͤnig Aiſtulf hatte eben damals
des Exarchats zu Ravenna ſich bemaͤchtiget, und
den Roͤmern ſchon eine Kopfſteuer zugemuthet. Um
hierwider Huͤlfe zu haben, begab ſich der Pabſt
754Stephan der II. 754. perſoͤnlich zu Pipin nach
St. Denis, ſalbte und kroͤnte ihn von neuem, und
bewog ihn, nicht nur den Titel Patricius der Roͤ-
mer anzunehmen, ſondern auch zwey Feldzuͤge nach
einander gegen Aiſtulfen vorzunehmen. Der Aus-
gang dieſes Krieges war, daß Aiſtulf die Roͤmer in
Ruhe laßen, und das Exarchat von Ravenna an Pi-
pin abtreten mußte, der der Roͤmiſchen Kirche ein
Geſchenk davon machte. So bekam das Erbtheil
Petri, das bisher nur aus einzelnen Guͤtern und
Einkuͤnften beſtanden hatte, jetzt die erſte Begruͤn-
dung an Land und Leuten, die wir jetzt mit dem
Namen des Kirchenſtaats zu belegen gewohnt ſind.
Der damalige Griechiſche Kaiſer Conſtantin der VI.
ließ zwar die Ruͤckgabe des Exarchates fuͤr ſich von
Pipin verlangen; bekam aber zur Antwort: Pipin
habe nicht den Griechen, ſondern dem heiligen Pe-
ter zu gefallen, und um Vergebung ſeiner Suͤnde
dadurch zu erlangen, dieſen Krieg unternommen.


II.

Im Fraͤnkiſchen Reiche ſelbſten gab es zwar
hin und wieder noch Bewegungen, da es inſonder-
heit manchen Großen noch hart fiel, einem Koͤnige
zu gehorchen, den ſie vor kurzem noch fuͤr ihres
Gleichen gehalten hatten, und deſſen Herkunft ſie
der ihrigen nicht einmal gleich ſchaͤtzen durften.
Allein das Gluͤck der Waffen ſtand auch hier auf
Seiten Pipins. Er wußte ſowohl die Herzogthuͤ-
mer Schwaben und Baiern als Aquitanien in ſei-
nem Gehorſame zu erhalten. Um auch der Nation
nicht
[53]6) Carolinger im Flor 752-814.
nicht lange Zeit zum Nachdenken zu laßen, griff
er in der Zeit, da ſonſt Ruhe war, die Sachſen
an, die, außer dem, was Wendiſche Voͤlker inne
hatten, noch das einzige Volk in Teutſchland wa-
ren, das ſich noch nicht unter Fraͤnkiſche Herrſchaft
bequemt hatte. Hier brachte er es jedoch noch
nicht weiter, als zum Verſprechen eines Tributes,
wozu ſich die Sachſen anheiſchig machten. Wei-
tere Fortſetzungen aller dieſer Unternehmungen blie-768
ben ſeinem Sohne Carl dem Großen vorbehalten.


Carl der Große wuͤrde die Sachen nicht ſoIII.
weit gebracht haben, wie es in der Folge wuͤrklich
geſchah, wenn nicht ſein Bruder Carlmann, mit
dem er das Reich getheilt hatte, aber in allerley
Mißhelligkeiten lebte, ſchon im December 771.771
geſtorben waͤre. Unmittelbar nach dieſem Todes-
falle ſetzte er ſich in den Beſitz des ganzen Reichs;
und von nun an wagte er lauter große Unterneh-
mungen, ohne daß ihm leicht eine fehlſchlug. Noch
der heutige Zuſtand der Reiche, die unter ſeinem
Scepter ſtanden, haͤngt großentheils von demjeni-
gen ab, was von ihm damals geſchehen iſt.


Das erſte von dieſer Art war die EroberungIV.
des Longobardiſchen Koͤnigreichs, worin der
erſte Grund von der noch jetzt obwaltenden Ver-
bindung des Teutſchen Reichs mit Italien zu ſuchen
iſt, ob es gleich damals nur eine bloß perſoͤnlich
gemachte Eroberung war. Carl hatte ſeine Ge-
mahlinn Sibylla, die eine Tochter des Longobar-
diſchen Koͤnigs Deſiderius war, verſtoßen. Deſi-
derius hatte hingegen Carls Schwaͤgerinn, die
D 3Witt-
[54]I. Alte Zeiten bis 888.
Wittwe Carlmanns, mit ihren Soͤhnen in Verona
aufgenommen, auch anderen aus Carls Reiche ge-
fluͤchteten Mißvergnuͤgten Schutz gegeben. End-
lich rief ſelbſt der Pabſt Hadrian der I. gegen
Feindſeligkeiten, die Deſiderius wider ihn ange-
fangen hatte, Carln als Schutzherrn der Roͤmi-
774ſchen Kirche zu Huͤlfe. Daruͤber zog Carl 774.
mit zwey Kriegsheeren uͤber die Alpen, und be-
maͤchtigte ſich mit einem Treffen zwiſchen Novara
und Pavia, und mit der Eroberung von Verona
und Pavia des ganzen Longobardiſchen Koͤnigreichs.
Zu Pavia fiel ihm ſelbſt Deſiderius in die Haͤnde,
den er in ein Franzoͤſiſches Kloſter ſchickte. Von
dieſer Zeit an nahm er den Titel Koͤnig der Lon-
gobarden an, und machte alſo dieſem bisher 206.
Jahre geſtandenen Longobardiſchen Koͤnigreiche ein
Ende. Adalgis, Deſiderius Sohn, war zwar zu
den Griechen gefluͤchtet, und machte nach Carls
Ruͤckzug in Verbindung mit den Longobardiſchen
Herzogen von Friaul, Spoleto und Benevent neue
Bewegungen. Allein Carl fand ſich 776. bald
wieder perſoͤnlich ein, und behielt uͤberall die Ober-
hand. An ſtatt jener Herzoge ſetzte er hernach
meiſt Fraͤnkiſche Grafen. So befeſtigte er in we-
nig Jahren die Eroberung eines Landes, das we-
gen ſeines fruchtbaren Bodens, und wegen der
vielen Staͤdte, womit es angebauet war, inſonder-
heit der damals beynahe in alleinigem Beſitz der
Handlung bluͤhenden Staͤdte Genua, Florenz, Piſa
und Venedig, als das vorzuͤglichſte in ganz Euro-
pa angeſehen wurde. Unter andern konnte Carl
davon manchen Stoff hernehmen, um auch ſeinen
uͤbrigen Staaten mehr Cultur mitzutheilen.


Ehe
[55]6) Carolinger im Flor 752-814.

Ehe Carl noch den erſten Feldzug in ItalienV.
gethan hatte, griff er ſchon 773. die Sachſen an,
die er durchaus unter ſeine Botmaͤßigkeit und zu-
gleich zu ſeiner Religion bringen wollte. Damit
brachte er aber noch 33. Jahre zu, in welcher Zeit
es ihm 20. Feldzuͤge gegen die Sachſen koſtete,
ehe er ſeinen Zweck erreichte. Zwiſchendurch ward
er aber noch in verſchiedene Kriege in anderen
Gegenden verwickelt, die es nur bewundernswuͤr-
dig machen, wie er in ſo großen Entfernungen
bald an dieſer bald an der andern aͤußerſten Graͤnze
ſeiner Staaten beynahe Jahraus Jahrein mit
großen Kriegsheeren im Felde liegen muͤßen, und
am Ende meiſt uͤberall neue Lorbeeren und Erwei-
terungen ſeines Reichs davon getragen.


Einen ſolchen Zug unternahm er 778. in Spa-VI.
nien, da ein Saraceniſcher Koͤnig Ibinalarabi von778
Saragoſſa, den ein anderer Saraceniſcher Koͤnig,
Abdaram von Cordova, verdraͤngt hatte, bis nach
Paderborn gekommen war, um Carls Beyſtand zu
erflehen. Ein Umſtand, der fuͤr Carln deſto glor-
reicher war, je lebhafter ſeinem Volke noch die
Erinnerung ſeyn mußte, daß noch keine fuͤnfzig
Jahre verfloſſen waren, da eine Saraceniſche Macht
von Spanien aus die ganze Fraͤnkiſche Nation in
die groͤßte Gefahr geſetzt hatte. Carl benutzte dieſe
Gelegenheit, die weſtliche Graͤnze ſeines Reichs
uͤber die Pyrenaͤiſchen Gebirge hinaus bis an den
Ebrofluß zu erweitern.


In dem Kriege mit den Sachſen kam CarlVII.
erſt von der Zeit an etwas mehr vorwaͤrts, als
D 4er
[56]I. Alte Zeiten bis 888.
782er nach einer im Jahre 782. von denſelben erlitte-
783nen Niederlage im folgenden Jahre 783. zwey
Siege, einen bey Detmold, den andern an der
Haſe im Osnabruͤckiſchen, kurz nach einander uͤber
ſie erfocht. Wenn er aber auch dadurch uͤber einen
Theil von Weſtphalen Meiſter wurde, ſo fehlte
doch noch viel, das heutige Niederſachſen bis zum
Ausfluß der Weſer und Elbe unter ſeine Gewalt
zu bringen. Sehr vortheilhaft war es ihm in ſol-
cher Abſicht, daß die Obotriten (im heutigen Meck-
lenburg) ſich in ein Buͤndniß mit ihm eingelaßen
hatten, um an der Niederelbe, wenn es die
Umſtaͤnde erforderten, den Sachſen in den Ruͤcken
zu fallen. Allein bald wurden die Obotriten wie-
der von anderen benachbarten Wendiſchen Voͤlkern
von Pommern aus uͤberfallen. Dieſes noͤthigte
Carln etliche mal uͤber die Elbe zu ziehen, um die
Obotriten gegen ſolche Ueberfaͤlle in Sicherheit zu
ſtellen. Solchen Zuͤgen hat unter andern Dres-
den, und wahrſcheinlich das heutige Hamburg,
jenes an der Oberelbe, dieſes an der Niederelbe,
ſeinen erſten Urſprung zu danken; verſteht ſich in
der erſten Anlage, als befeſtigte Schloͤſſer, die Carl
zur Bedeckung dieſer Gegenden anzulegen noͤthig
fand. Ich ſage, wahrſcheinlich das heutige Ham-
burg; dieſer Name koͤmmt damals noch nicht vor,
ſondern nur der Name Hochbuchi, als ein Schloß
an der Niederelbe; dem jedoch alte Schriftſteller
ſchon den Platz da, wo jetzt Hamburg liegt, an-
weiſen.


VIII.

Einen andern Zug ſah Carl ſich genoͤthiget,
mehr als einmal in Baiern, und auf eben dieſe
Ver-
[57]6) Carolinger im Flor 752-814.
Veranlaßung ſelbſt tief bis in Ungarn vorzuneh-
men. Der damalige Herzog Taſſilo von Baiern
hatte eine Schweſter von der Longobardiſchen Prin-
zeſſinn, die Carl verſtoßen hatte, zur Gemahlinn;
war alſo bey dem Schickſale, das ſein Schwieger-
vater Deſiderius von Carln erlitten hatte, nichts
weniger als gleichguͤltig. Er richtete aber mit
allen Bewegungen, die er deshalb machte, wei-
ter nichts aus, als daß er endlich 788. ſein Her-788
zogthum mit dem Ruͤcken anſehen und ins Kloſter
Lorſch wandern mußte; worauf Carl Baiern nur
unter Grafen vertheilte (z).


Taſſilo hatte bey dieſer Gelegenheit die Hun-IX.
nen mit ins Spiel gebracht. Aber auch dieſe
wurden von Carln nicht nur 788. zuruͤckgeſchla-
gen; ſondern nachdem ſie 791. von neuem mit
Carln gebrochen hatten, wurden ſie endlich 799.799
nach einer großen Niederlage bis an den Raabfluß
zuruͤckgenoͤthiget; wo Carl ſeitdem Fraͤnkiſche Marg-
grafen ſetzte.


Waͤh-
D 5
[58]I. Alte Zeiten bis 888.
X.

Waͤhrend dieſer Zuͤge fiel Carl auf den Gedan-
ken, den Rhein und die Donau mittelſt eines
Canales zu vereinigen. Die Altmuͤhl, ein Fluß,
der im Anſpachiſchen entſpringt, geht durch das
Eichſtaͤdtiſche in die Donau. Ein anderer Fluß
in Franken, die Rednitz, an welchem Bamberg
liegt, ergießt ſich in den Main. Durch Vereini-
gung dieſer beiden Fluͤſſe ließ ſich alſo hoffen, zu
jenem Zwecke zu gelangen. Carl ließ wuͤrklich 793.
den dazu noͤthigen Graben machen, und fuhr ſchon
auf demſelben von Regensburg nach Wuͤrzburg.
Allein die Arbeit war nicht mit der gehoͤrigen
Kunſt und Vorſicht gemacht. Das ganze Werk
wurde alſo wieder ruͤckgaͤngig; ſo deſto mehr zu
bedauren iſt, als nicht nur beide vorbenannte
Hauptſtroͤhme, ſondern ſelbſt das ſchwarze Meer
und das große Weltmeer dadurch in Verbindung
gekommen ſeyn wuͤrden. Von jenem Carlsgraben
hat noch jetzt ein Dorf Graben in der Grafſchaft
Pappenheim in Franken den Namen, wo auch
Ueberbleibſel des Grabens wahrzunehmen ſind.


XI.

Eine der wichtigſten Begebenheiten erlebte
Carl noch mit Ablauf des achten Jahrhunderts,
da die Wuͤrde eines Roͤmiſchen Kaiſers, die ſeit
476. zu Rom erloſchen war, und nur noch zu
Conſtantinopel mit dem oͤſtlichen Theile des Roͤmi-
ſchen Reichs ihren Fortgang behalten hatte, jetzt
auch zu Rom in der Perſon Carls des Großen
erneuert wurde; wovon unſtreitig bis auf den heu-
tigen Tag der erſte Grund der jetzt mit dem Teut-
ſchen Reiche verbundenen kaiſerlichen Wuͤrde her-
zuleiten iſt.


Als
[59]6) Carolinger im Flor 752-814.

Als Patricius der Roͤmer hatte Carl zwar ſchonXII.
den Schutz der Roͤmiſchen Kirche und der Stadt
Rom uͤbernommen. Aber die eigentliche Hoheit
uͤber die Stadt gebuͤhrte doch noch dem Hofe zu
Conſtantinopel. Jedoch als von hieraus je laͤnger
je weniger zu hoffen noch zu fuͤrchten war; wag-
ten die Roͤmer vorerſt im Jahre 796. den Schritt,
daß ſie Carl dem Großen, da er eben in Italien
war, ihre Stadtfahnen feierlich uͤberſchickten, und
ihm damit die Herrſchaft ihrer Stadt uͤbergaben.
Ob nun gleich damit die bisherige Oberherrſchaft
des Griechiſchkaiſerlichen Hofes noch nicht voͤllig
gehoben war, indem vielmehr ſelbſt der Name
Patricius, unter welchem Carl ſeine Rechte in Rom
auszuuͤben hatte, noch immer eine gewiſſe Abhaͤn-
gigkeit vom eigentlichen Roͤmiſchen Kaiſer mit ſich
zu bringen ſchien; ſo durften doch nur einige Jahre
hingehen, da ſich leicht eine Gelegenheit darbieten
mochte, auf den einmal gewagten erſten Schritt
noch mehr andere folgen zu laßen.


Dieſe Gelegenheit ereignete ſich, als der PabſtXIII.
Leo der III. im April 799. von einigen Verſchwor-799
nen zu Rom bey einer Proceſſion uͤberfallen, aber
noch gerettet wurde, um zu Carln, den er deswe-
gen perſoͤnlich zu Paderborn beſuchte, ſeine Zuflucht
nehmen zu koͤnnen. Carl ſchickte erſt etliche Bi-
ſchoͤfe und Grafen als Commiſſarien nach Rom,
um die Sache vorlaͤufig zu unterſuchen. Als er
hierauf ſelber nachkam, und am 15. Dec. 800.800
oͤffentlich in der Peterskirche Gericht hielt, war
das Ende dieſer Sache, daß Leo, nachdem er noch
einen ihm zuerkannten Reinigungseid abgelegt
hatte, von allen wider ihn vorgebrachten Beſchwer-
den
[60]I. Alte Zeiten bis 888.
den und Anſchuldigungen frey geſprochen, ſeine
Gegner und Anklaͤger hingegen ins Exilium geſchickt
wurden. Wie nun zehn Tage hernach das Wei-
nachtfeſt einfiel, da Leo ſelbſt den Gottesdienſt ver-
richtete, und Carl vor ihm am Altare in ſeiner An-
dacht auf den Knieen lag; ſetzte Leo Carln ganz
unerwartet eine Krone auf, und rief zugleich:
Viuat Carolus Imperator Auguſtus; welchen
Ausruf ſogleich ein allgemeiner Wiederhall in der
Kirche mit Frolocken wiederholte. Dieſe Ueberra-
ſchung ließ ſich Carl endlich gefallen, und ſetzte
alſo von nun an vor ſeinen bisher gefuͤhrten Fraͤn-
kiſchen und Longobardiſchen koͤniglichen Titeln noch
den eines Roͤmiſchen Kaiſers.


XIV.

Ob es in der That, oder vielleicht nur dem
aͤußern Scheine nach Ueberraſchung war, und ob
die Sache nicht wohl gar ſchon von langer Hand
her abgeredet geweſen ſeyn moͤge, kann man gerne
dahin geſtellt ſeyn laßen. Soviel iſt gewiß, daß
von dieſem Augenblicke an alles Ueberbleibſel eini-
ger Abhaͤngigkeit vom Griechiſchkaiſerlichen Hofe,
ſo bisher noch die Stadt Rom und ſelbſt Carl als
Patricius der Roͤmer vielleicht haͤtte zu erkennen
gehabt, auf einmal oͤffentlich gebrochen war. In
dieſer Ruͤckſicht war keine uͤble Zeit dazu gewehlet,
da eben ſeit 797. Irene des kaiſerlichen Thrones,
der ihr eigentlich nicht gebuͤhrte, ſich bemaͤchtiget
hatte, und da allenfalls ſelbſt eine Moͤglichkeit ſich
denken ließ, daß Carl und Irene ſich mit einander
vermaͤhlen, und alſo das bisher getrennt geweſene
oͤſtliche und weſtliche Kaiſerthum von neuem ver-
einigen koͤnnten. Die gegenſeitige Beſchickung
durch Geſandten, ſo ſchon zwiſchen beiden erfolgte,
macht
[61]6) Carolinger im Flor 752-814.
macht es glaublich, daß mehr als eine bloße Moͤg-
lichkeit im Werke war. Aber eben damals ward
Irene zu Conſtantinopel geſtuͤrzt. Ihr Nachfolger
Nicephorus war mit dem, was zu Rom geſchehen
war, ſo wenig zufrieden, daß es vielmehr in dem
untern Theile von Italien daruͤber noch zum Kriege
kam. Doch die Hauptſache konnte einmal von Con-
ſtantinopel aus nicht mehr ruͤckgaͤngig gemacht wer-
den. Die Graͤnzen des Gebietes, das den Grie-
chen noch in Italien uͤbrig blieb, wurden in Frie-
densſchluͤſſen beſtimmt, die Nicephorus und ſein
Nachfolger Michael mit Carln machten.


Sobald einmal die Abhaͤngigkeit, worin bis-XV.
her die Roͤmer vom Hofe zu Conſtantinopel geweſen
waren, gehoben war; ſo hatten es allerdings die
Roͤmer in ihrer Gewalt, die Kaiſerwuͤrde, wie ſie
ehedem auf ihrer Stadt und ihrem Gebiete gehaf-
tet hatte, zu erneuern; zumal wenn ſich ein Herr
dazu fand, der der Sache den gehoͤrigen Nachdruck
geben konnte, um auch von anderen Voͤlkern und
Staaten die Anerkennung dieſer neuen Wuͤrde zu
bewirken. In ſo weit liegt der wahre rechtliche
Grund der ganzen Sache in der uͤbereinſtimmen-
den Geſinnung, welche gleich am Weinachtstage
800. das damals in der Kirche verſammelte Volk
an Tag legte. Es ließ ſich wohl vorherſehen,
wie es auch wuͤrklich erfolgte, daß ſowohl die
uͤbrigen Roͤmer, als die Longobarden und Franken
der Sache ihren Beyfall geben wuͤrden, und daß
nicht leicht irgend ein anderes Volk ſich widerſetzen
duͤrfte, Carln in dieſer neuen Wuͤrde anzuerken-
nen; Gerade ſo, wie die erſt im gegenwaͤrtigen
Jahrhunderte neu errichtete Preuſſiſche Krone ihren
wahren
[62]I. Alte Zeiten bis 888.
wahren Rechtsgrund darin hatte, daß die Preuſſi-
ſche Landſchaft mit ihrem Regenten aus dem Hauſe
Brandenburg einig geworden war, daß derſelbe
den koͤniglichen Titel annahm; den nicht nur ſeine
uͤbrige Unterthanen, ſondern auch nach und nach die
anderen Staaten von Europa anerkannten.


XVI.

Was der Pabſt fuͤr ſeine Perſon dazu beytrug,
Carln die Kaiſerwuͤrde zu verſchaffen, war aller-
dings von großer Erheblichkeit, weil ſonſt aus der
ganzen Sache vielleicht nichts geworden waͤre,
wenn nicht der Pabſt den Ton dazu angegeben
haͤtte. Geſetzt aber, an ſtatt des gleich in der
Kirche erfolgten allgemeinen Beyfalls haͤtte es Wi-
derſpruͤche und Laͤrm in der Kirche daruͤber gege-
ben; ſo wuͤrde aller paͤbſtlichen Erklaͤrung und Be-
muͤhung ungeachtet doch nichts daraus geworden
ſeyn. In der That verhielt es ſich alſo damit eben
ſo, wie es in der Geſchichte mehrere Beyſpiele von
Revolutionen und unerwarteten Thronbeſteigungen
gibt, wozu manchmal nur ein Soldat den erſten
Ton angegeben hatte. So wenig alsdann dieſem
ein Recht beygelegt werden kann, das zu bewirken,
was durch die Revolution geſchah; ſo wenig kann
die paͤbſtliche Gewalt als die rechtliche Quelle an-
geſehen werden, welcher die Kaiſerwuͤrde ihren
Urſprung zu danken habe.


XVII.

Was die Wirkungen der fuͤr Carl den Großen
erneuerten Roͤmiſchen Kaiſerwuͤrde anbetrifft, ſo
war derſelbe nunmehr unſtreitig unabhaͤngiger Re-
gent in der Stadt und dem Gebiete von Rom,
und zugleich zu allem demjenigen berechtiget, was
dieſe
[63]6) Carolinger im Flor 752-814.
dieſe Erneuerung der Kaiſerwuͤrde von Seiten der
Roͤmer, und deren Anerkennung von Seiten der
uͤbrigen damaligen Voͤlker und Staaten mit ſich
bringen konnte. Laͤnder, die einmal auf recht-
maͤßige Art von dem ehemaligen Roͤmiſchen Kai-
ſerthume abgekommen waren, konnten darunter
freylich nicht begriffen ſeyn. Viele derſelben hatte
Carl ohnedem ſchon als Koͤnig der Franken und
Longobarden in Beſitz. Auf einige konnte uͤber kurz
oder lang vielleicht einiger Anſpruch gemacht wer-
den. Allemal ſah ſich jetzt Carl nicht ohne Grund
als den erſten Monarchen im Range an.


Doch die Vorrechte der erneuerten KaiſerwuͤrdeXVIII.
und die davon abhangenden Land und Leute moch-
ten nun beſtehen, worin ſie wollten, ſo beſtand
das Verhaͤltniß, worin alles das gegen Carls
uͤbrige Staaten kam, doch offenbar in einer nur
perſoͤnlichen Verbindung, ohne daß weder mit dem
Longobardiſchen noch mit dem Fraͤnkiſchen Reiche,
die Carl vorhin ſchon beſaß, irgend einige Real-
vereinigung geſchehen waͤre; gerade ſo, wie das
Churhaus Brandenburg die koͤnigliche Wuͤrde von
Preuſſen annahm, ohne daß das eigentliche Koͤnig-
reich Preuſſen mit den uͤbrigen Laͤndern des Chur-
hauſes Brandenburg gleichſam in eine Maſſe ge-
ſchmolzen waͤre; oder nach einem andern Beyſpiele
eben ſo, wie das Haus Hannover die Krone von
Großbritannien erhalten hat, ohne daß deswegen
Hannover und England mit einander vermenget
werden darf; keinesweges hingegen ſo, wie die
zwey Koͤnigreiche England und Schottland unter
dem Namen Großbritannien eine Realvereinigung
in
[64]I. Alte Zeiten bis 888.
in Geſtalt eines einigen Reichs unter ſich errichtet
haben.


XIX.

Carl behielt immer ſorgfaͤltig die unterſchiede-
nen Titulaturen 1) als Roͤmiſcher Kaiſer, 2) als
Koͤnig der Franken, und 3) als Koͤnig der Longo-
barden bey. Freylich moͤgen ſchon damals ſeine
Befehlshaber eine Ehre darin geſucht haben, daß
ſie den Kaiſer zum Herrn hatten, ſo wie ſeit 1701.
nicht mehr Churbrandenburgiſche, ſondern koͤniglich
Preuſſiſche Truppen genannt werden, oder wie im
Churbraunſchweigiſchen jeder Beamter an der Ehre
Theil nimmt, ſich koͤniglicher Beamter nennen zu
laßen, ob er gleich nicht von der Krone Großbri-
tannien abhaͤngt, ſondern nur zu des Koͤnigs chur-
fuͤrſtlichen oder herzoglich Bremiſchen und anderen
Laͤndern gehoͤret. Zuverlaͤßig dachte aber zu Carls
Zeiten wohl noch niemand daran, daß ſein Fraͤn-
kiſches Reich oder unſer jetziges Teutſchland durch
den von ihm angenommenen Titel eines Roͤmi-
ſchen Kaiſers gleichſam in das Roͤmiſche Reich ver-
wandelt, oder auch mit dieſem auf den Fuß einer
Realvereinigung verbunden ſeyn ſollte. Wenn
Carl auch vielleicht zu Rom in Sachen, welche die
dortige Regierung betrafen, ſich als Nachfolger der
ehemaligen Roͤmiſchen Kaiſer anſehen konnte; ſo
that er es doch gewiß nicht in Fraͤnkiſchen und
Teutſchen Sachen. Georg der I. war als Koͤnig
von Großbritannien freylich ein Nachfolger der
Koͤniginn Anna; wem wollte es aber deswegen
einfallen, von Parlamentsacten dieſer Koͤniginn
nunmehr in Hannoveriſchen Landesſachen Gebrauch
zu machen? — Und doch hat man in ſpaͤteren
Zeiten
[65]6) Carolinger im Flor 752-814.
Zeiten ſo geurtheilet, Carl der Große ſey Nachfol-
ger Juſtinians geweſen; folglich muͤßte auch das
Juſtinianiſche Geſetzbuch in Teutſchland eben ſo-
wohl als in Rom gelten. Man nahm ſo gar aus
dem Propheten Daniel eine Weiſſagung von vier
Monarchien an, deren letzte, die bis ans Ende
der Welt waͤhren wuͤrde, die Roͤmiſche ſey, wel-
che von den Griechen auf die Franken ſey uͤbertra-
gen worden. Im Grunde war es keine Uebertra-
gung der Kaiſerwuͤrde von Conſtantinopel; denn
die oͤſtliche Kaiſerwuͤrde behielt daſelbſt nach wie
vor ihren Fortgang. Es war nur eine Erneuerung
der weſtlichen Kaiſerwuͤrde, ſo wie ſie ehemals
ſchon in Oſten und Weſten abgetheilt geweſen war.
So hieß es auch auf damaligen Muͤnzen ganz
richtig: Renouatio imperii, nicht translatio.
Dieſen letztern Ausdruck hat man aber in folgen-
den Jahrhunderten zu Rom gebraucht, und nun
noch den großen Satz damit verbunden: der Pabſt
ſey es, der auf goͤttlichen Befehl oder vielleicht gar
nach eignem Gutfinden als Statthalter Gottes das
Reich von Oſten nach Weſten zuruͤckgebracht, und
die Kaiſerwuͤrde von den Griechen auf die Franken
uͤbertragen habe. So dachte man zu Carls des
Großen Zeiten gewiß noch nicht. Es war inzwi-
ſchen der Muͤhe werth, hier einsweilen die Sache
in ihrem wahren Lichte vorzuſtellen, weil in der
Folge ſo ungemein vieles auf ſo irrigen Vorſtel-
lungen doch mit unglaublichem Erfolge gebauet
worden iſt.


Die Kaiſerkrone hatte Carl ſchon etliche JahreXX.
im Beſitz, als er endlich im Jahre 804. mit den804
ESach-
[66]I. Alte Zeiten bis 888.
Sachſen fertig wurde. Seit den oben erwehn-
ten Siegen, die er 783. uͤber ſie erfochten hatte,
bequemten ſich nach und nach diejenigen Staͤmme
der Saͤchſiſchen Nation, die damals unter den
Namen Weſtphalen, Engern und Oſtphalen begrif-
fen waren. Aber die Wihmoder und Nordalbin-
ger, wie man damals die Einwohner der heuti-
gen Herzogthuͤmer Bremen und Holſtein nannte,
waren noch ſchwer unter das Fraͤnkiſche Joch zu
bringen. Noch in den Jahren 796. 797. 798.
ließ Carl hier große Verwuͤſtungen anrichten, ohne
doch ſeinen Zweck zu erreichen. Zuletzt ſchritt er
zu dem gewaltſamen Mittel, zehn tauſend Familien
aus dem Bremiſchen und Holſteiniſchen in andere
Gegenden ſeines Reichs abfuͤhren zu laßen, und
ihre Wohnplaͤtze ſeinen Obotritiſchen Bundesgenoſ-
ſen einzuraͤumen. Die Hauptbedingung, unter
welcher ſich die Sachſen zum Frieden bequemten,
beſtand darin, daß ſie nicht als ein unterwuͤrfiges
Volk dem Fraͤnkiſchen Reiche einverleibt, ſondern
mit demſelben voͤllig gleich gehalten werden ſollten,
um gleichſam als zwey einander gleiche Voͤlker an
Carln nur einen gemeinſamen Oberherrn zu haben.
(Davon ſind durch alle folgende Zeiten bis auf den
heutigen Tag ſichtbare Folgen geblieben, daß
Sachſen immer ſein eignes Recht gehabt hat, wo-
durch es ſich vom uͤbrigen Teutſchlande unterſchie-
den. Selbſt das zweyfache Reichsvicariat, da die
Saͤchſiſchen Lande ihr eignes Saͤchſiſches Vicariat
haben, und alle andere Teutſche Laͤnder unter dem
Rheinpfaͤlziſchen Vicariate ſtehen, ſcheint hier ſeinen
erſten urſpruͤnglichen Grund zu haben.)


Die
[67]6) Carolinger im Flor 752-814.

Die groͤßte Schwierigkeit in den Friedenshand-XXI.
lungen mit den Sachſen machte unſtreitig der Punct
der Religion. So wohlthaͤtig und vortrefflich die
Chriſtliche Religion an ſich iſt, wenn man ſie nach
ihrer urſpruͤnglichen Lauterkeit kennen lernt; ſo be-
denklich mußte es den Sachſen nothwendig vor-
kommen, als ſie ſahen, was fuͤr gewaltſame Mit-
tel angewandt wurden, ſie zu dieſem Glauben zu
zwingen, wenn man z. B. tauſenden auf einmal
die Wahl ließ, entweder ſich taufen zu laßen, oder
ſich in die Weſer geſprengt zu ſehen; oder wenn
Carl in ausdruͤcklichen Geſetzen verordnete: Wer
unter den Sachſen ſich noch verborgen hielte und
ſich nicht taufen laßen wollte, ſollte des Todes
ſterben (a).


Inſonderheit ſchien es den Sachſen laͤſtig, daßXXII.
die Prieſter der Religion, die man ihnen aufdrin-
gen wollte, zugleich einen Zehnten ihrer Fruͤchte
haben ſollten. Ungeachtet Carls Freund, der Eng-
laͤnder Alcuin, ſelbſt Carln rieth, darauf nicht zu
beſtehen, wurde es doch als eine Bedingung des
Friedens mit durchgeſetzt; wiewohl es doch kaum
ſcheint, daß dieſe Zehnten wuͤrklich in allgemeine
Uebung haben gebracht werden koͤnnen (b).


Gleich beym erſten Anfange dieſes Krieges ließXXIII.
Carl ſchon zu Paderborn eine Kirche bauen, und
von dortaus pflegte er jeden Feldzug eine Anzahl
Miſ-
E 2
[68]I. Alte Zeiten bis 888.
Miſſionarien, ſo weit es gehen wollte, zur Aus-
breitung des Chriſtenthums vorruͤcken zu laßen.
Seitdem er hernach vom Jahre 783. an etwas tie-
fer ins Land feſten Fuß gewann, konnte er allmaͤlig
auf feſtere Begruͤndung ordentlicher Biſthuͤmer Be-
dacht nehmen; wie ohne Zweifel auf ſolche Art nach
und nach zu den Biſthuͤmern zu Osnabruͤck (c), Min-
den, Halberſtadt, Verden, Bremen, Muͤnſter der
erſte Grund geleget worden. Zum Sitz des heu-
tigen Biſthums Hildesheim beſtimmte Carl erſt
Elze (einen auf der Straße zwiſchen Hannover und
Eimbeck gelegenen Ort), weil er nicht nur die dor-
tige Gegend vorzuͤglich angenehm fand, ſondern
auch glaubte, daß ein kleiner Fluß, an dem Elze
liegt, der ſich in die Leine ergießt, mittelſt der
Schifffahrt aus der Leine in die Weſer zu einiger
Grundlage zur Handlung dienen koͤnnte.


XXIV.

Ueberhaupt hatte es mit dieſen Biſthuͤmern
eine ganz andere Bewandtniß, als mit denen, die
zu Conſtantins Zeiten in Staͤdten am Rheine und
an der Donau, die ſchon da waren, aufkamen.
Hier gab der Sitz eines jeden Biſchofs erſt ſelbſt
Anlaß dazu, daß derſelbe nach und nach angebauet
und zur Stadt gebildet wurde. Hier war alſo
auch noch an keine geiſtliche Hauptſtadt (Metro-
polis) zu denken. Daher die Erzbiſchoͤfe von
Mainz und Coͤlln ihre erzbiſchoͤfliche Aufſicht auch
uͤber dieſe Gegenden erſtreckten (d). (Erſt 834.
wur-
[69]6) Carolinger im Flor 752-814.
wurde fuͤr die noͤrdlichere Gegenden ein Erzbiſchof zu
Hamburg angeſtellt, deſſen Sitz hernach 849. nach
Bremen verleget wurde.)


Unmittelbar nach geendigtem Sachſenkriege ließXXV.
Carl noch 805. und 806. zwey Feldzuͤge in Boͤh-805
men vornehmen, weil von dortaus ein Einfall in
das heutige Oeſterreichiſche geſchehen war. Die
Boͤhmen mußten ſich bequemen, Carl dem Großen
und ſeinen Nachfolgern jaͤhrlich einen Tribut von
120. fetten Ochſen und 50. Mark Silber zu ent-
richten. Seitdem zehlte Carl auch Boͤhmen unter
die von ihm beherrſchten Laͤnder. Es hielt aber in
der Folge ſchwer, dieſe Unterwuͤrfigkeit zu behaupten.


Der letzte Krieg ſchien Carl dem Großen nochXXVI.
mit den Normaͤnnern bevorzuſtehen. Unter die-
ſem Namen begriff man damals die Voͤlker, die
das heutige Schleswig, Juͤtland, Daͤnemark, Nor-
wegen, und Schweden bewohnten. Dieſe Voͤlker
waren wegen ihrer Schifffahrt und Seeraͤuberey
beruͤhmt und fuͤrchterlich. Sie hatten ſchon mehr-
malen die Franzoͤſiſche Kuͤſte beunruhiget, und da-
mit Carln wegen der Zukunft beſorgt gemacht, ob
er
(d)
E 3
[70]I. Alte Zeiten bis 888.
er es gleich an dienlichen Gegenanſtalten zu Waſſer
und zu Lande nicht fehlen ließ. Seit dem Frieden
mit den Sachſen bekam ſie Carl auch zu Lande an
dieſem nunmehrigen aͤuſſerſten noͤrdlichen Ende ſeines
Reiches zu Nachbaren, ohne daß hier noch eine rich-
tige Graͤnzbeſtimmung vorhanden war. Von beiden
Seiten zogen ſich hier ſchon Kriegsheere zuſammen.
Jedoch eine unvermuthete Veraͤnderung auf dem
Normaͤnniſchen Throne brachte einen baldigen Frie-
densſchluß zuwege, vermoͤge deſſen hier die Eider
zur Graͤnze feſtgeſetzt wurde, wie ſie noch jetzt die
Graͤnze zwiſchen Holſtein und Schleswig, und eben
damit auch die Graͤnze des Teutſchen Reichs in
dieſer Gegend ausmacht.


XXVII.

Auſſer allen dieſen Begebenheiten, deren An-
denken uns die Geſchichte auf behalten hat, haben
wir noch ein ſchaͤtzbares Denkmaal von Carl dem
Großen in ſeinen Geſetzen, die unter den ſo ge-
nannten Capitularien der Fraͤnkiſchen Koͤnige
den groͤßten und wichtigſten Theil ausmachen; Ein
Werk, das zwar ſchon in den Jahren 827. und
845. eigne Sammler beſchaͤfftiget hatte, aber auch
wieder ganze Jahrhunderte hindurch in Vergeſſen-
heit gerathen war, als es in den Jahren 1531.
und 1545, die Aufmerkſamkeit etlicher Teutſchen
Gelehrten zuerſt wieder aus dem Staube hervor-
brachte; worauf ſeitdem erſt mehrere Franzoͤſiſche,
freylich ungleich praͤchtigere Ausgaben davon er-
ſchienen ſind. Dieſe Capitularien kann man nicht
leſen, ohne mit Bewunderung wahrzunehmen, wel-
che Fortſchritte Carl der Große auch mittelſt der
Geſetzgebung that, um die Cultur der ſeinem Sce-
pter
[71]6) Carolinger im Flor 752-814.
pter unterworfenen Voͤlker, inſonderheit der Teut-
ſchen, auf eine hoͤhere Stuffe zu bringen. Der
Geiſt dieſer Geſetzgebung ruhet zwar vorzuͤglich
auf Gegenſtaͤnden, die in das Kriegsweſen ein-
ſchlagen; wie es auch heutiges Tages noch gnug
in die Augen faͤllt, daß in manchen Staaten das
Kriegsweſen den groͤßten Einfluß in die Geſetzge-
bung hat. So beſtimmte damals Carl der Große,
wie nicht nur jeder Lehnmann, ſondern auch jeder
freyer Guͤterbeſitzer, wenn er nur drey Hufen Lan-
des zum Eigenthum habe, ſich ſelbſt zum Kriege
geruͤſtet halten, oder in anderen Faͤllen fuͤnf zuſam-
men einen ſechſten Mann ausruͤſten ſollten (e).
Dieſe Ruͤſtung verſtand man aber ſo, daß ein jeder
auf eigne Koſten nicht nur mit Kleidung und Waf-
fen, ſondern auch mit Lebensmitteln auf drey Mo-
nathe verſehen ſeyn mußte, und zwar letzteres von
einem vorgeſchriebenen Ziele an zu rechnen, wie
z. B. fuͤr Rheinlaͤnder nach Spanien zu von der
Loire an, oder fuͤr Franzoſen nach Teutſchland zu
vom Rheine, oder gegen Sachſen zu gar von der
Elbe an zu rechnen (f), woraus man abnehmen
mag, wie beſchwerlich damals die Kriegszuͤge fuͤr
die ganze Nation geweſen ſeyn muͤßen.


Inzwiſchen ließ Carl es auch nicht an anderenXXVIII.
wohlthaͤtigen Anſtalten fehlen; unter denen wohl
die erſte Stelle verdient, wie er uͤberall Schulen
zu errichten verordnete, damit die Jugend durch-
gaͤn-
E 4
[72]I. Alte Zeiten bis 888.
gaͤngig im Leſen, Schreiben, Rechnen, Singen,
und demnaͤchſt ferner in der Dialectik, Rhetorik,
Geometrie und Aſtronomie unterrichtet werden ſoll-
te. Selbſt die Teurſche Sprache hat Carln in
ſo weit ihre erſte Aufnahme zu danken, als er
zuerſt dieſe Sprache in Regeln faſſen, und ſchreib-
bar machen ließ; wie er dann auch ſelbſt den Win-
den und Monathen Teutſche Namen beylegte, wo-
von jene in den Benennungen Oſtwind, Weſtwind,
Suͤdwind, Nordwind, oder Suͤdoſt, Suͤdweſt,
Nordoſt, Nordweſt u. ſ. w. ſelbſt in mehreren Eu-
ropaͤiſchen Sprachen ſich bis auf den heutigen Tag
erhalten haben.


XXIX.

Ich uͤbergehe, was Carl uͤber Gegenſtaͤnde der
Landespolizey und Landwirthſchaft verordnet, inglei-
chen was er der Handlung fuͤr Aufnahme zu ver-
ſchaffen, und wie er die Zoͤlle und das Muͤnzwe-
ſen einzurichten geſucht hat. Das einzige muß ich
aber noch bemerklich machen, wie er auch in An-
ſehung der Religion und Kirche die Rechte der
Majeſtaͤt noch zu wahren gewußt, wie davon in-
ſonderheit eine Kirchenverſammlung, die er 794.
zu Frankſurt am Main unter ſeinen Augen halten
laßen, zur Probe dienen kann. Unter andern wurde
da verſchiedenes, was den Dienſt der Heiligen be-
trifft, ganz gegen den damals zu Rom herrſchenden
Sinn verfuͤget; obgleich ſonſt Carl von einer Samm-
lung von Kirchenſchluͤſſen, die ihm der Pabſt Hadrian
der I. zu Rom uͤberreicht hatte, manches in ſeine
Capitularien einfließen laßen. Soviel iſt allemal
gewiß, daß Carl alle Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe ſei-
nes Reichs, unter letzteren nur den zu Rom als
den erſten im Range, als ſeine geiſtliche Beam-
ten
[73]6) Carolinger im Flor 752-814.
ten angeſehen, und weder von der Immunitaͤt des
geiſtlichen Standes, noch von der geiſtlichen Ge-
richtbarkeit, ſolche Grundſaͤtze, wie man ſie in der
Folge behaupten wollen, hat gelten laßen (g).
Was ſich von Hoheitsrechten uͤber Religion und
Kirche ſagen laͤßt, war noch vollſtaͤndig gnug in
Carls Haͤnden (h); konnte es auch deſto ſicherer
ſeyn, da er mit ſeinen Unterthanen ſich zu einer-
ley Religion bekannte, und alſo die Vermuthung,
fuͤr ſich hatte, daß er ſeine Gewalt nicht zum Nach-
theil eben der Religion mißbrauchen wuͤrde.


Durch
E 5
[74]I. Alte Zeiten bis 888.
XXX.

Durch Carls Veranſtaltung wurde unter andern
im Jahre 798. auch noch uͤber die uͤbrigen Bairi-
ſchen Biſchoͤfe der bisherige Biſchof von Salzburg
zum Erzbiſchofe erhoben. Auf Carls Befehl gab
demſelben der Pabſt das Pallium und die erz-
biſchoͤfliche Weihe (i).


XXXI.

Allen ſeinen Anſtalten gab endlich Carl dadurch
das rechte Leben, daß er theils ſelbſt in den vielerley
Gegenden ſeines Reichs von Zeit zu Zeit perſoͤnlich
erſchien, und alsdann ſelbſt Gericht hielt und mit
eignen Augen ſah, theils uͤberall, wo er nicht ſelbſt
ſeyn konnte, durch eigne Commiſſarien (miſſos re-
gios)
alles in ſteter Wachſamkeit und Aufmerkſam-
keit erhalten ließ; daher inſonderheit ſeine Capitula-
rien faſt auf allen Blaͤttern genaue Vorſchriften ent-
halten, wie ſolche Commiſſarien uͤberall zu Werk
gehen ſollten.


(h)


VII.
[75]7) Carolinger im Verfall 814-888.

VII.
Abnahme und Verfall des Fraͤnkiſchen Reichs
unter
Ludewig dem Frommen
und ſeinen Nachkommen.


I. Theilung, die Carl der Große unter ſeinen Soͤhnen
gemacht hatte. — II. Ludewigs des Frommen unzeitige
Nachahmung dieſes Beyſpiels. — III. Ueble Folgen davon
ſchon bey ſeinem Leben. — IV. Succeſſionskrieg nach ſei-
nem Tode unter ſeinen Soͤhnen bis zum Verduͤniſchen Ver-
trage 843. — Inhalt dieſes Vertrages. — V. Urſprung
des Koͤnigreichs Lothringen. — Weitere Vertheilungen und
Succeſſionsirrungen.
VI. Andere auf die Reichsverfaſſung in Beziehung
ſtehende Umſtaͤnde dieſer Zeit. — Schwaͤche der Regierung. —
Zunehmendes Anſehen der Staͤnde. — VII. Einbruͤche frem-
der Voͤlker, inſonderheit Normaͤnner und Wenden. — VIII.
Herſtellung einiger Herzoge und deren groͤßere Gewalt. —
IX. Vertheidigungsanſtalten in Bergſchloͤſſern und mit ange-
nommenen Lehnleuten. — X. Ueberhandnehmung des Fauſt-
rechts und Lehnsweſens. — XI-XIII. Zunehmender Einfluß
der Reichsſtaͤnde in die Regierung des Reichs. — XIV. Ver-
fall der Schulanſtalten und Kenntniſſe.
XV. Geſchichte eines außerordentlich merkwuͤrdigen
Buches, das unter dem Namen Iſidors von Sevilla aus-
gebreitet wurde — als eine angebliche Sammlung paͤbſtlicher
Briefe und Concilienſchluͤſſe. — XVI. Deren Inhalt die
paͤbſtliche Gewalt ſchon vom erſten Jahrhunderte her uͤber
alles ſetzte — mit erdichteten oder verfaͤlſchten Briefen und
Concilienſchluͤſſen. — XVII. XVIII. Wahrſcheinlicher Ver-
faſſer dieſes Buchs, und wie es unter die Leute gebracht
worden. — Wie der Betrug zuerſt im XVI. Jahrhunderte
recht entdeckt worden.
XIX. XX. Einfluß des Iſidoriſchen Buchs auf die Thron-
folge Lothars des II. — XXI. Weitere Erbfolge in Lothrin-
gen, und deſſen Vereinigung mit dem Teutſchen Reiche. —
XXII-XXIV. Urſprung zwey Burgundiſcher Koͤnigreiche, und
deren Vereinigung. — XXV. Weitere Thronfolgen in Teutſch-
land und Frankreich — Streit uͤber die Franzoͤſiſche Thron-
folge
[76]I. Alte Zeiten bis 888.
folge nach Ludewigs des Stammlers Tode wegen deſſen
zweyerley Ehen. — Ausſchließung Carls des Einfaͤltigen
von der damaligen Thronfolge. — Vereinigung der Monar-
chie unter Carl dem Dicken. — XXVI. Deſſen Sturz.


I.

Wie bedenklich die Theilung eines Reichs unter
mehreren Bruͤdern ausfallen koͤnne, mußte
Carl dem Großen aus ſeiner eignen Erfahrung
noch lebhaft vor Augen ſchweben, wenn er ſich
der Theilung erinnerte, die ehedem zwiſchen ihm
und ſeinem Bruder Carlmann geſchehen war. De-
ſto mehr iſt es zu bewundern, daß Carl dennoch,
als er drey erwachſene Soͤhne am Leben hatte, im
Jahre 806. eine Theilung unter denſelben verord-
nete. Nur der Tod ſeiner zwey aͤlteren Soͤhne,
Carls und Pipins, machte dieſe Theilung ruͤck-
gaͤngig. Vermoͤge einer neuen Verfuͤgung ſollte
zwar Pipins Sohn Bernhard Italien haben; aber
in allen uͤbrigen Reichen beſtimmte jetzt Carl ſei-
nen nun allein noch uͤbrigen Sohn Ludewig den
Frommen
zum Thronfolger, den er auch nach
dem Beyſpiele der ehemaligen Roͤmiſchen Kaiſer
ſchon bey ſeinem Leben zum Mitkaiſer ernannte.


II.

Carl, der endlich bald darauf als ein Herr
von 72. Jahren die Welt verließ, hatte alle dieſe
Verfuͤgungen wegen ſeiner Thronfolge doch erſt in
ſeinen letzten Jahren und hohem Alter vorgenom-
men. Sein nunmehriger Nachfolger, Ludewig der
Fromme, war aber erſt 36. Jahre alt, als er zur
Regierung kam, und ahmte nur hierin das vaͤter-
liche Beyſpiel ſehr zur Unzeit nach. Schon in
814ſeinem erſten Regierungsjahre 814. ernannte er
ſeinen Sohn Lothar, der eben 18. Jahre alt war,
zum
[77]7) Carolinger im Verfall 814-888.
zum Koͤnige in Baiern (k); und drey Jahre her-
nach, da noch zwey Soͤhne, Pipin und Ludewig,
hinzugekommen waren, ließ der fromme Ludewig
eine feierliche Reichsverſammlung zuſammenberu-
fen, mit deren Zuziehung er unter vielerley Um-
ſtaͤnden von dreytaͤgigen Faſten und Gebeten eine
Verordnung bekannt machte, wie nach ſeinem Tode
ſeine juͤngere Soͤhne Pipin und Ludewig ihm als
Koͤnige in Aquitanien und Baiern folgen, jedoch
Lotharen, dem er die Kaiſerwuͤrde und alles uͤbrige
zudachte, als Erſtgebohrnem in gewiſſer Abſicht
untergeordnet ſeyn ſollten.


Ueber dieſe Theilung bekam Ludewig gleichIII.
damals Verdruß mit ſeinem Neven Bernhard in
Italien, der daruͤber ſeines Geſichts und Lebens
beraubt wurde. Aber noch ungleich groͤßer war
der Verdruß, den Ludewig ferner erlebte, als er
nach Abſterben ſeiner erſten Gemahlinn ſich mit
Judith vom beruͤhmten Welfiſchen Geſchlechte das
zweytemal vermaͤhlte, und zum Vortheile eines mit
derſelben erzeugten Sohnes, Carls des Kahlen,
in der Folge mehrmalige neue Theilungen machte.
Hieruͤber ward die ganze uͤbrige Lebenszeit Lude-
wigs des Frommen nur ein Gewebe von innerli-
chen Cabalen und mehrmalen aufs aͤußerſte getrie-
benen Irrungen bald zwiſchen Vater und Soͤhnen,
bald zwiſchen dieſen unter einander. Der Kai-
ſer gerieth etlichemal in Gefangenſchaft ſeiner
Soͤh-
[78]I. Alte Zeiten bis 888.
Soͤhne, ward genoͤthiget, oͤffentliche Kirchenbuße
zu thun, und ſich der Regierung zu begeben.
Rettete ihn noch der juͤngere Sohn gegen uͤbertrie-
bene Unternehmungen des aͤltern; ſo ward bald
auch jener wider ihn aufgebracht. So ſtarb er
840endlich ſelbſt auf einem Feldzuge, da er ſeinem
juͤngern Sohne Ludewig dem Teutſchen entgegen
gieng.


IV.

Sein Tod ſetzte dennoch weder ſein Haus noch
ſein Reich in Ruhe. Seine Soͤhne geriethen viel-
mehr unter einander (und zwar zuletzt Lothar auf
einer, und Ludewig der Teutſche nebſt Carl dem
Kahlen auf der andern Seite,) in einen verderb-
lichen Krieg, dem nach einer blutigen Schlacht
843bey Fontenai (841. Jun. 25.) erſt im Jahre 843.
ein bruͤderlicher Theilungsvertrag zu Verdun
ein Ende machte. Dieſer Verduͤniſche Vertrag iſt
in ſo weit noch immer, als eines unſerer erſten
Grundgeſetze, merkwuͤrdig, weil darin die Graͤnz-
beſtimmung gemacht wurde, worauf noch jetzt der
urſpruͤngliche Grund der Graͤnzen zwiſchen Frank-
reich und Teutſchland beruhet. Das weſtliche
Fraͤnkiſche Reich oder das heutige Frankreich, das
Carl dem Kahlen zu Theil wurde, bekam gegen
Oſten die vier Stroͤhme Rhone, Saone, Maas
und Schelde zur Graͤnze angewieſen. Was dieſ-
ſeits dieſer Fluͤſſe lag, bekam damals Lotharius
nebſt der Kaiſerwuͤrde und den Fraͤnkiſchen Staa-
ten in Italien; von deſſen Sohne gleiches Na-
mens hernach jene Gegend, nachdem Italien da-
von getrennt war, das Lothringiſche Reich oder
kuͤrzer Lothringen genannt worden. Dieſes Lothrin-
giſche Reich erſtreckte ſich von obigen vier Fluͤſſen
bis
[79]7) Carolinger im Verfall 814-888.
bis an den Rhein, wo Ludewigs des Teutſchen
Erbtheil angieng, außer daß derſelbe auch vom
linken Ufer des Rheines ſich noch die Gegenden
von Speier, Worms und Mainz ausbedungen
hatte. In der Folge iſt aber auch dieſes Lothrin-
giſche Reich mit dem Teutſchen vereiniget worden;
ſo daß ſeitdem nicht mehr der Rhein die weſtliche
Graͤnze von Teutſchland geblieben, ſondern dieſe
bis an jene vier Fluͤſſe ausgedehnt worden iſt;
welche hingegen ſeitdem bis jetzt noch zur Grund-
lage der Franzoͤſiſchen oͤſtlichen Graͤnze dienen muͤßen.


Kaum waren zwoͤlf Jahre nach der zu Ver-V.
duͤn gemachten Theilung des Fraͤnkiſchen Reichs
verfloſſen, als Lothars Erbtheil 855. wieder in855
drey Theile vertheilt wurde, da von ſeinen drey
Soͤhnen der aͤlteſte, Ludewig der II. Italien mit
der Kaiſerwuͤrde, der juͤngſte, Carl, Provence, der
mittlere, Lothar der II., das von ihm eigentlich ſo
genannte Lothringiſche Reich an der Moſel, Maas
und Schelde bekam. Zwanzig Jahre hernach war
aber auch von dieſen drey Bruͤdern, die nach ein-
ander bis dahin ſtarben, keine rechtmaͤßige maͤnn-
liche Nachkommenſchaft mehr uͤbrig. Alſo entſtan-
den an ſtatt der drey Staͤmme, unter welchen das
Fraͤnkiſche Reich ſeit 843. getheilt war, nunmehr
mit dem Jahre 875. deren nur zwey; die aber
uͤber die Art, wie das ſolchergeſtalt erledigte Loth-
ringiſche, Longobardiſche und Roͤmiſche Reich jetzt
mit dem oͤſtlich oder weſtlich Fraͤnkiſchen Reiche
vereiniget werden ſollte, nichts weniger als einig
waren. Ehe ſich inzwiſchen davon der fernere
Verlauf uͤberſehen laͤßt, ſind hier einige Haupt-
umſtaͤnde zu bemerken, die ſowohl auf die dama-
ligen
[80]I. Alte Zeiten bis 888.
ligen Zeitlaͤufte, als auf die Verfaſſung der fol-
genden Zeiten den groͤßten Einfluß gehabt haben.


VI.

Schon die perſoͤnliche Schwaͤche in der Geſin-
nung Ludewigs des Frommen, und die Kette von
haͤuslichen und oͤffentlichen Verwirrungen, worin
er lebte, veranlaßten einen gewaltigen Abfall in
dem Anſehen, das die Krone zur Zeit Carls des
Großen ſowohl einheimiſch als auswaͤrts gehabt
hatte. Im innerlichen Zuſtande des Reichs wurde
es ſchon unter Ludewig dem Frommen ſelbſt merk-
lich, wie das Anſehen der Staͤnde zunahm, da
Ludewig theils in Schenkungen und anderen Gna-
denverleihungen zu freygebig war, theils in Faͤllen,
wo er des Rathes oder Beyſtandes der Staͤnde
benoͤthiget war, bald aus Gutherzigkeit, bald aus
Noth ihnen ungleich mehr, als fuͤr die Krone zu-
traͤglich und bisher gewoͤhnlich war, einraͤumte.
Damit gieng es aber noch weiter, als nach Lude-
wigs Tode ſeine Soͤhne und Nachkommen noch in
Kriege und weitere Irrungen zerfielen, da jedem
Theile damit gedient ſeyn mußte, nur mehrere von
den Großen des Reichs auf ſeiner Seite zu haben,
denen daher gerne groͤßere Freyheiten und Vor-
rechte bewilliget oder nachgeſehen wurden. So
ward es bald merklich, daß die Koͤnige in wich-
tigen Sachen ohne Einwilligung der Staͤnde nichts
unternehmen durften.


VII.

Hiermit verband ſich nun zugleich der aͤuſſer-
liche Verfall des Reichs, da unter anderen Anſtal-
ten Carls des Großen, die nach und nach zu Grun-
de giengen, auch die waren, die er an den Graͤn-
zen
[81]7) Carolinger im Verfall 814-888.
zen gemacht hatte, und da nach Ludewigs Tode
unter deſſen in Streit begriffenen und hernach ab-
getheilten Soͤhnen faſt von allen Seiten Angriffe
auf die Graͤnzen, oder unerhoͤrte Einbruͤche und
Streifereyen bis in das Innerſte des Reichs er-
folgten. So gieng nicht nur das bisherige Fraͤn-
kiſche Gebiet in Spanien verlohren, ſondern auf
der einen Seite wurde jetzt das heutige Frankreich
alle Jahre nach einander von Normaͤnnern heim-
geſucht, die mit leichten, aber deſto zahlreicheren
Schiffen die Seine und Loire hinaufzogen, und ver-
heerten, oder pluͤnderten und mitſchleppten, was
ſie konnten. Auf der andern Seite geſchahen auf
Teutſchem Boden faſt beſtaͤndige Streifereyen der
Wendiſchen Voͤlker, die aus allen Gegenden von
der Elbe her einbrachen, und gleiche Verwuͤſtun-
gen anrichteten; ohne zu gedenken, was von Sa-
racenen an der Kuͤſte von Provence und Italien
geſchah, und was in der Folge noch fuͤr neue Ge-
fahren von Madſcharen oder Ungarn, die ſeit 862.
in Pannonien und 892. bis auf Teutſchen Boden
vordrangen, ſich der Teutſchen Graͤnze naͤherten.


Dieſe Umſtaͤnde gaben erſtlich Anlaß, daß ſol-VIII.
che Provinzen, die dergleichen Einbruͤchen fremder
Voͤlker am meiſten ausgeſetzt waren, wieder groͤ-
ßeren Befehlshabern anvertrauet wurden. An
ſtatt daß Carl der Große die Herzoge nach und
nach hatte abkommen laßen, ward nun ſchon 847.
von Ludewig dem Teutſchen wieder ein Herzog in
Thuͤringen zur Beſchuͤtzung dieſer Graͤnzen gegen
die Sorben-Wenden angeſetzt; und unter eben
dieſer Regierung war auch ſchon wieder ein eigner
Herzog in Sachſen, Namens Ludolf, der ſein An-
Fden-
[82]I. Alte Zeiten bis 888.
denken dadurch verewiget hat, daß er die noch jetzt
bluͤhende Abtey Gandersheim geſtiftet. Solche Her-
zoge waren freylich noch nicht das, was wir uns
heutiges Tages unter Teutſchen Herzogen vorſtellen,
die als erbliche Regenten in ihrem eignen Namen
Land und Leute zu regieren, und in dieſer ihnen
eignen landesherrlichen Macht alle Hoheitsrechte
auszuuͤben haben. Mancher Herzog fieng aber doch
bald an ſich ſo zu fuͤhlen, daß die Koͤnige es nicht
immer in ihrer Gewalt hatten, ſie in den Schran-
ken bloßer Befehlshaber zu halten, oder auch zu
verhuͤten, daß nicht bisweilen eines Herzogs Sohn
das vaͤterliche Herzogthum in Beſitz naͤhme, ohne
erſt die koͤnigliche Ernennung dazu abzuwarten.


IX.

Die Befehlshabung ganzer Provinzen mochte
aber beſtellt ſeyn, wie ſie wollte, ſo lehrte doch
die Noth meiſt jeden Guͤterbeſitzer fuͤr ſeine eigne
Sicherheit ſo gut beſorgt zu ſeyn, als er konnte.
Und wer wollte es ihm verdenken, da ihn der Staat
gegen Ueberfaͤlle fremder Voͤlker, die ihm taͤglich
das ſeinige rauben oder verheeren konnten, keine
Gewaͤhr mehr zu leiſten im Stande war, alle ihm
nur moͤgliche Anſtalten zu treffen, um ſich und die
Seinigen und ſein Eigenthum nur in Sicherheit
zu ſetzen? Wer alſo irgend die Kraͤfte dazu hatte,
der baute ſich eine Burg, oder einen mit Mauern
und Thoren befeſtigten Wohnſitz; wo moͤglich auf
einem Berge, je unzugaͤnglicher je beſſer. War
es ein Biſchof oder Abt, oder ein Graf oder Dy-
naſt, dem es nicht an Guͤtern dazu fehlte, die er
andern verleihen konnte; ſo gab er gerne eine
Anzahl Laͤndereyen an Ritter, die ſich dafuͤr ver-
bindlich machten, ihm als Vaſallen im Felde gegen
jeden
[83]7) Carolinger im Verfall 814-888.
jeden Angriff zu dienen, oder als Burgmaͤn-
ner in Beſatzung einer angegriffenen oder bedro-
heten Burg zu fechten, oder auch ihre eigne
Burge in vorkommenden Nothfaͤllen ihm und ſei-
nen Leuten zu oͤffnen. Durch ſolche Mittel konnte
manche Kirche oder manche große Familie ihr Ei-
genthum und ihren Vorrath an Vieh, Fruͤchten
und anderen Habſeligkeiten unter noch ſo gefaͤhr-
lichen feindlichen Einfaͤllen retten. So darf man
ſich aber auch nicht wundern, wenn Frankreich
und Teutſchland daruͤber nach und nach ſo voll
Bergſchloͤſſer wurde, daß in der Folge wieder
nicht anders als uͤble Folgen davon zu erwarten
waren, wenn es dem Beſitzer eines ſolchen Berg-
ſchloſſes einfiel, ſich obrigkeitlichen Vorſchriften zu
widerſetzen, oder mit Ausfaͤllen und Plackereyen
die oͤffentliche Ruhe und Sicherheit zu ſtoͤhren.
In der That war ein jedes Bergſchloß eine Art
von Feſtung, die wider Willen ihres Inhabers
nicht anders als mit foͤrmlicher Belagerung und
Eroberung bezwungen werden konnte. So billig
nach richtigen Grundſaͤtzen des allgemeinen Staats-
rechts niemanden als der hoͤchſten Gewalt ſelbſten
das Recht geſtattet wird, Feſtungswerke anzule-
gen; ſo maßte ſich dieſes Recht damals ein jeder
an, der nur die Kraͤfte dazu hatte. War es aber
einmal erlaubt, zu ſeiner Vertheidigung Feſtungen
zu bauen, und ſich der Waffen zu bedienen; wie
leicht war nun der Schritt, von beiden auch in
Streitigkeiten mit Nachbaren Gebrauch zu ma-
chen, oder gar Vorbeyreiſende zu uͤberfallen, und
anzugreifen, zu pluͤndern, zu berauben, gefangen
weg zu ſchleppen u. ſ. w.!


F 2So
[84]I. Alte Zeiten bis 888.
X.

So zeigt ſich hier der wahre Urſprung des bar-
bariſchen Fauſtrechts des mittlern Zeitalters, da
nicht nur ein jeder ſich zur Selbſthuͤlfe berechtiget
hielt, um ſich mit eignen Kraͤften Recht zu ſchaf-
fen, ſondern da auch niemand ſicher war, ohne
allen Grund und Schein von einem Maͤchtigern
oder mehreren verbundenen uͤberfallen und berau-
bet zu werden. Dagegen mochten nun Koͤnige in
Geſetzen oder in Vorſchriften auf Veranlaßung
einzelner Faͤlle eifern, wie ſie wollten (l), ſo war
unter ſolchen Umſtaͤnden an keine Aenderung zu
denken.


XI.

Merkwuͤrdig iſt es inſonderheit, wie gleich in
dieſen erſten Zeiten, da die Gefahr und Noth we-
gen der oͤfteren Einbruͤche fremder Voͤlker bald all-
gemein wurde, die damaligen Fraͤnkiſchen Koͤnige,
ihrer Vertheilungen ungeachtet, doch noͤthig fan-
den, gemeine Sache zu machen, und deswegen in
den Jahren 847. und 851. zu Merſen an der Maas,
und 860. zu Coblenz eigne Zuſammenkuͤnfte anzu-
ſtellen. Hier fuͤhlten ſchon die Koͤnige, wie ſehr
ſie Urſache hatten, eben ſo ſehr gegen das einhei-
miſche Fauſtrecht, als gegen die Einbruͤche frem-
der Voͤlker auf ihrer Hut zu ſeyn. Sie eiferten
deswegen gemeinſchaftlich gegen ſolche Raͤubereyen
und
[85]7) Carolinger im Verfall 814-888.
und Gewaltthaͤtigkeiten, die der Adel ſchon anfieng
gleichſam als eine rechtmaͤßig hergebrachte Befug-
niß anzuſehen; wowider ſie ſchon mit goͤttlichem
und koͤniglichem Banne droheten (m). Der Er-
folg hat aber bald gewieſen, daß dieſe Drohungen
unwirkſam geblieben ſind, und nur Uebel aͤrger
geworden iſt. Es kam vielmehr bald dahin, daß
alle Nationaleinrichtungen nur auf kriegeriſche An-
ſtalten, auf Angriff oder Vertheidigung giengen,
und zwar nicht etwa nur zum Behuf ſolcher Krie-
ge, die fuͤr die ganze Nation zu fuͤhren waren,
ſondern zu Vertheidigungen oder Angriffen, die
ein jeder fuͤr ſich zu machen gut fand. Daruͤber
vergaß man bald die weſentlichen Vorrechte der
hoͤchſten Gewalt, der es alleine zukommen ſollte,
Krieg mit Auswaͤrtigen zu fuͤhren, und Streitig-
keiten der Mitbuͤrger unter einander richterlich zu
ſchlichten, durchaus aber keine Selbſthuͤlfe zu ge-
ſtatten. Statt deſſen ward jetzt das Lehnsweſen
beynahe das Hauptwerk aller Voͤlker. Nur der
war maͤchtig und angeſehen, der viele Lehnleute
hatte, und ſeine Burge mit vielen Burgmaͤnnern
beſetzen konnte. Nur der war geachtet, der als
Lehnmann ſeinen Dienſt mit vorzuͤglicher Geſchick-
lichkeit und Tapferkeit zu verrichten wußte. Dar-
auf
F 3
[86]I. Alte Zeiten bis 888.
auf ward alſo die ganze Erziehung gerichtet, der
ganze Sinn geſchaͤrft, und beynahe das ganze Band
der buͤrgerlichen Geſellſchaft gebauet. That der
Lehnmann nur dem Lehnherrn ſeine Dienſte, ſo
hatte einer um den andern ſich weiter nicht zu be-
kuͤmmern. Nun mochte der Lehnmann im Seini-
gen machen, was er wollte; nun mochte er mit
ſeinem Eigenthume, und in ſeinem Hausweſen, in
ſeiner Familie, und inſonderheit mit ſeinen Bauern
oder Eigenbehoͤrigen zu Werk gehen, wie es ihm
gut duͤnkte; daruͤber hatte er keine Einſchraͤnkun-
gen einer hoͤhern Gewalt zu beſorgen.


XII.

In ſo weit ſtieg freylich der Genuß der Frey-
heit fuͤr den Stand, der ſich derſelben zu ruͤhmen
hatte, d. i. fuͤr Fuͤrſten, Grafen und Herren, oder
auch fuͤr jeden freyen Guͤterbeſitzer, oder, nach
unſerer jetzigen Art zu reden, fuͤr den hohen und
niedern Adel, bis zur hoͤchſten Stuffe; aber auch
bis zu unvermeidlichen Mißbraͤuchen; deſto erbar-
menswuͤrdiger mußte hingegen nothwendig der Zu-
ſtand nichtfreyer Leute werden, d. i. gerade des
zahlreichſten und wichtigſten Standes, der Bauern.


XIII.

Die Krone verlohr dabey zuſehends. Jetzt
verſtand ſichs ſchon von ſelbſten, daß ohne Ein-
willigung der Staͤnde von Koͤnigen nichts erhebli-
ches geſchehen durfte. Selbſt auf jenen bruͤder-
lichen Verſammlungen der Fraͤnkiſchen Koͤnige ſahen
dieſe ſich genoͤthiget, einander wechſelsweiſe die
Zuſage zu thun, daß ſie nicht nur ihre Staͤnde,
einen jeden in ſeinen Rechten und Wuͤrden laßen
und ſchuͤtzen, ſondern auch ihren gemeinſchaftlichen
Rath in Geſchaͤfften der Kirche und des Staats
gebrau-
[87]7) Carolinger im Verfall 814-888.
gebrauchen, und ſie als wahre Mitgehuͤlfen und
Beywirker in ihren Reichsgeſchaͤfften anſehen woll-
ten (n). Wegen dieſer Stelle wird deswegen vor-
zuͤglich der Coblenzer Vertrag (pactum Confluen-
tinum
) vom Jahre 860. von vielen als eines der
erſten Reichsgrundgeſetze, zu Begruͤndung der durch
Reichsſtaͤnde eingeſchraͤnkten Teutſchen Reichsver-
faſſung angeſehen; wiewohl dieſe Stelle mit eben
den Worten auch ſchon bey der vorigen Verſamm-
lung zu Merſen im Jahre 851. vorkam, und alſo
ſchon wenigſtens neun Jahre fruͤher in ihrer erſten
Quelle aufzuſuchen iſt.


Unter ſolchen Umſtaͤnden, da inſonderheit Kloͤ-XIV.
ſter und Stifter, die fuͤr den Unterricht der Jugend
beſtimmt ſeyn ſollten, mehr auf Kriegsanſtalten
als auf Schulſachen dachten, war nun freylich an
Aufklaͤrung des Volkes ſo wenig zu denken, daß
vielmehr alle gute Anſtalten, die Carl der Große
auch in der Abſicht gemacht, oder doch zu machen
angefangen hatte, bald ganz ruͤckgaͤngig und frucht-
los wurden. Kaum ließ ſich noch das bewerk-
ſtelligen, daß diejenigen, die ſich dem geiſtlichen
Stande widmeten, ſoviel Unterricht im Leſen und
Schreiben und in der Lateiniſchen Sprache erhal-
ten
F 4
[88]I. Alte Zeiten bis 888.
ten konnten, als es ihre Beſtimmung zur hoͤchſten
Nothdurft erforderte. Und doch trug der Vorzug,
den ſie dadurch vor anderen ganz unwiſſenden
erhielten, nicht wenig dazu bey, daß das Ueber-
gewicht des geiſtlichen Standes uͤber den weltli-
chen von dieſer Zeit an noch ganz außerordentlich
zunahm.


XV.

Ein Umſtand, der gleich damals, aber noch
ungleich mehr, und in der That ganz uͤber alle
Erwartung in der Folge mit dazu wirkte, beſtand
in einem Buche, das in ſeiner Art gewiß das ein-
zige iſt. Schon ſeit mehreren Jahrhunderten hat-
ten ein und andere Gelehrte ſich angelegen ſeyn
laßen, Schluͤſſe aͤlterer Kirchenverſammlungen und
zum Theil auch Briefe Roͤmiſcher Biſchoͤfe in eig-
nen Buͤchern zu ſammlen. Ein gewiſſer Diony-
ſius Exiguus zu Rom hatte ums Jahr 526. in
einer ſolchen Sammlung Briefe vom Pabſte Siri-
cius bis auf den Pabſt Anaſtaſius vom Jahre 385.
an bis zum Jahre 498. geliefert. Eine aͤhnliche
Sammlung hatte in Spanien der Biſchof Iſidor
von Sevilla († 636.) veranſtaltet; ein Mann, der
ſich durch ſeine Gelehrſamkeit und Verdienſte einen
großen Ruhm erworben hatte. Dieſen Namen
mißbrauchte um dieſe Zeit (wahrſcheinlich um die
Mitte des neunten Jahrhunderts) ein Betruͤger,
um eine von ihm geſchmiedete Sammlung in Um-
lauf zu bringen, worin Briefe Roͤmiſcher Biſchoͤfe
nicht erſt von 385. an, ſondern ſchon vom Jahre
93. her enthalten ſeyn ſollten. Deren Inhalt
gieng hauptſaͤchlich dahin, daß der Roͤmiſche Bi-
ſchof des Apoſtel Peters Nachfolger ſey; daß auf
ihm
[89]7) Carolinger im Verfall 814-888.
ihm deswegen die Gewalt der Schluͤſſel und die
Grundfeſte der Kirche ruhe, wie ſolche Peter von
Chriſto erhalten habe; daß alle Biſchoͤfe und Die-
ner der Kirche, nach dem Ausſpruch des Prophe-
ten Zacharias (Zach. 2, 8.) als Gottes Augapfel in
Ehren zu halten ſeyen; daß alle geiſtliche Perſo-
nen und Guͤter von aller weltlichen Macht und vom
allen Abgaben befreyt ſeyn muͤßten; daß die Ge-
richtbarkeit nicht nur uͤber geiſtliche Perſonen, ſon-
dern in Gegenſtaͤnden, wo die Religion Einfluß
habe, als in Eheſachen, Eidesangelegenheiten,
Zehntſtreitigkeiten u. d. g. auch uͤber weltliche Per-
ſonen ſowohl Regenten als Unterthanen nur den
Biſchoͤfen und geiſtlichen Gerichten gebuͤhre; daß
aber alle Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe nur als unter-
geordnete Kirchenvorſteher dem Roͤmiſchen Biſchofe
unterworfen waͤren, und von demſelben ihre ganze
Gewalt bekommen muͤßten; daß von allen Bi-
ſchoͤfen und Erzbiſchoͤfen die Appellation nach Rom
gienge; daß groͤßere und wichtigere Sachen ſelbſt
unmittelbar zu Rom vorgenommen werden koͤnn-
ten; daß der Pabſt allein berechtiget ſey, Biſchoͤfe
und Erzbiſchoͤfe abzuſetzen und andere an ihrer
Stelle zu ernennen, auch Koͤnige und Fuͤrſten mit
dem Banne zu belegen und ihrer Regierung unfaͤ-
hig zu erklaͤren; daß auf ihn der goͤttliche Aus-
ſpruch anzuwenden ſey: ”Sieh ich ſetze dich uͤber
Voͤlker und Koͤnigreiche, daß du ausreißen, zer-
brechen, verſtoͤhren und verderben ſollſt, und bauen
und pflanzen.” (Jerem. 1, 10.)


Alle dieſe Grundſaͤtze wurden ſchon den aͤlteſtenXVI.
Roͤmiſchen Biſchoͤfen in den Mund gelegt, als ob
ſie ſchon damals allgemein anerkannt worden waͤ-
F 5ren.
[90]I. Alte Zeiten bis 888.
ren. Auch Schluͤſſe der Kirchenverſammlungen
wurden hier in ſolcher Geſtalt geliefert, daß mit
Weglaßungen oder Zuſaͤtzen und Einſchiebungen
ungefaͤhr ein gleicher Sinn herauskam, wie er mit
jenen Grundſaͤtzen uͤbereinſtimmte. So hatte z. B.
der 28. Canon einer Kirchenverſammlung zu Car-
thago verordnet: daß von den Africaniſchen Kir-
chen nicht jenſeits des Meeres appellirt werden
ſollte; hier ward aber der Zuſatz beygefuͤgt: es ſey
dann an den Stuhl zu Rom. Zu den Nicaͤi-
ſchen Kirchenſchluͤſſen waren gar 50. falſche Schluͤſſe
hinzugedichtet. Anderen Stellen, worin die Pa-
triarchen zu Alexandrien und Conſtantinopel den
Roͤmiſchen Biſchoͤfen gleich geſetzt waren, wurde
durch eine eingeflickte Verneinung ein ganz gegen-
theiliger Sinn gegeben u. ſ. w.


XVII.

Wahrſcheinlich war der Verfaſſer dieſer Samm-
lung ein Biſchof oder ein Geiſtlicher von einer ge-
ringern Stuffe, dem die damalige Kirchenzucht
nicht anſtand, da oft ein Erzbiſchof fuͤr ſich alleine
oder vollends mit Zuziehung ſeiner Suffraganbi-
ſchoͤfe in Provincialſynoden uͤber Biſchoͤfe und an-
dere geiſtliche Perſonen ſtrenge Verfuͤgungen erge-
hen ließ, wowider keine Rettung und Huͤlfe zu
finden war. Um dazu Rath zu ſchaffen, muß
ihm kein beſſer Mittel geſchienen haben, als den
Roͤmiſchen Biſchof zum allgemeinen oberſten Haupte
der ganzen Chriſtlichen Kirche zu machen, und
dadurch den Weg zu bahnen, daß von allen bi-
ſchoͤflichen und erzbiſchoͤflichen Ausſpruͤchen nach
Rom appellirt, oder auch jede andere Beſchwer-
de uͤber Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe dort angebracht
werden koͤnnte. Die dahin fuͤhrenden Behauptun-
gen
[91]7) Carolinger im Verfall 814-888.
gen waren an ſich nicht ganz neu; ſie waren ein-
zeln ſchon bey manchen Gelegenheiten geaͤußert
worden; aber ſie waren nichts weniger als allge-
meiner Volksglaube. In dieſer Einkleidung und
Verbindung waren ſie neu; ſie waren uͤberdies jetzt
mit Saͤtzen verwebt, die noch weit uͤber jene Ab-
ſichten hinausfuͤhren konnten.


Aber wie ſollte ſo ein Buch in Gang gebrachtXVIII.
werden? wie durfte man nur hoffen, daß das
Publicum, daß das folgende Zeitalter ein ſolch
erdichtetes Werk dafuͤr, wofuͤr man es ausgab,
annehmen ſollte? Freylich zu jeder andern Zeit,
wenn nur etwas mehr Aufklaͤrung geweſen waͤre,
wenn hellſehende Koͤpfe auf Thronen geſeſſen, oder
auch nur aufgeklaͤrte Rathgeber gehabt, und in
Ruhe und Friede regiert haͤtten, ſo ließ ſich kaum
die Moͤglichkeit gedenken, ſolche unaͤchte Waare als
aͤcht in Gang zu bringen, und damit die ganze Ver-
faſſung der Kirche und aller Chriſtlichen Staaten zu
untergraben. Allein fuͤr Nationen, die in der Auf-
klaͤrung ſo weit zuruͤckgeworfen waren, wie die Fraͤn-
kiſche unter Ludewig dem Frommen und ſeinen Nach-
kommen, — fuͤr Regenten, die in ſolchen Verwir-
rungen, wie dieſe lebten, — kurz fuͤr ein ſolches
Zeitalter, wie das neunte und zehnte Jahrhundert, —
da ließ ſich vieles wagen, das unter anderen Umſtaͤn-
den unmoͤglich geweſen waͤre. Der Anſtrich, den man
dem Buche gab, als einem aus entfernten Gegen-
den von Spanien her erſt kuͤrzlich herbeygekomme-
nen Schatze, als einem Werke eines beruͤhmten
noch in großer Achtung ſtehenden Iſidors, als einer
alle bisherige Buͤcher aͤhnlicher Art weit uͤbertref-
fenden Sammlung, — das alles kam dem Vor-
haben
[92]I. Alte Zeiten bis 888.
haben ungemein vortheilhaft zu ſtatten. Wer ſich
kein Gewiſſen daraus machte, die Welt mit einer
ſo untergeſchobenen Gebuhrt zu hintergehen, dem
war es auch nicht zu viel, die beſonderen Um-
ſtaͤnde zu erdichten, daß ein Erzbiſchof Riculf von
Mainz (der ſchon 814. oder 815., allem Anſehen
nach lange vor der Exiſtenz dieſer erſt ſpaͤter geſchmie-
deten Sammlung, geſtorben war,) dieſes Buch
aus Spanien bekommen, und ſeines Beyfalls werth
geachtet habe. Kurz es gelang dem Urheber oder
den Befoͤrderern dieſer Sammlung unter ſolchen
Vorſpiegelungen ſie vorerſt in Gang zu bringen.
Selbſt der Erzbiſchof Hincmar von Rheims, einer
der gelehrteſten und verſtaͤndigſten Praͤlaten ſeiner
Zeit, ſcheint das Vorgeben, daß Riculf die Samm-
lung verbreitet habe, fuͤr wahr angenommen zu
haben (o). Er kam ſelbſt ſchon in den Fall, daß
ein Biſchof von Soiſſons, der in ſeiner Provin-
cialſynode 863. verurtheilet war, davon nach Rom
appellirte, wo man die Appellation in Ruͤckſicht auf
die Pſeudoiſidoriſche Sammlung willig aufnahm.
So kam dieſelbe nicht nur bald nach ihrer Ent-
ſtehung ſchon in practiſchen Gebrauch; ſondern,
ſobald hernach gewiſſe Zeitlaͤufte, welche die Sache
noch auf einige Zeit wieder hemmten, nur vor-
uͤber waren, ſo wurde dieſe Sammlung zuletzt ſo
allgemein als aͤcht fuͤr bekannt angenommen, daß
man das meiſte davon in das paͤbſtliche Geſetz-
buch, das noch jetzt die Quelle des catholiſchen
Kir-
[93]7) Carolinger im Verfall 814-888.
Kirchenrechts iſt, einfließen ließ, und daß ganze
Nationen und allgemeine Kirchenverſammlungen
ſich nicht zu rathen wußten, den unertraͤglichſten
Folgen, die hieraus zur wahren Unterdruͤckung
der Menſchheit gezogen wurden, zu widerſtehen,
wie doch ſonſt ein leichtes geweſen ſeyn muͤßte,
wenn der Welt die Augen uͤber die wahre Beſchaf-
fenheit dieſer truͤben Quellen geoͤffnet waͤren. (Dieſe
Ehre blieb erſt einer Geſellſchaft proteſtantiſcher
Gottesgelehrten vorbehalten, die unter dem Na-
men Magdeburgiſcher Centurien in der Mitte des
XVI. Jahrhunderts ein groͤßeres Werk von der
Kirchengeſchichte ausarbeiteten, und zuerſt die un-
aͤchte Gebuhrt des angeblich Iſidoriſchen Wer-
kes der Welt vor Augen legten. Dawider ergriff
zwar anfangs ein Jeſuit, Franz Turrian, die Fe-
der. Aber nun erſchien 1635. ein eignes Buch
daruͤber von David Blondel, das ohne Widerle-
gung blieb, und ſelbſt catholiſchen Schriftſtellern
das Geſtaͤndniß abnoͤthigte, daß es unaͤchte Waare
ſey (p). Dennoch ſeufzt ein großer Theil des
catholiſchen Teutſchlands noch immer unter einem
Joche von Beſchwerden, die eigentlich nichts als
den Pſeudoiſidor zum Grunde haben.)


Doch, um erſt wieder auf jene Zeiten der Ent-XIX.
ſtehung und erſten Verbreitung des falſchen Iſidors
zuruͤckzukommen, ſo hatte gleich damals die Sache
einen
[94]I. Alte Zeiten bis 888.
einen Einfluß auf einen Vorfall, wovon ſelbſt eine
koͤnigliche Thronfolge und ein großer Theil der gan-
zen folgenden Geſchichte abhieng.


XX.

Der Koͤnig Lothar derII., von dem der Na-
me Lothringen noch jetzt in einem Theile der von
ihm beherrſchten Laͤnder uͤbrig iſt, hatte geglaubt
Urſachen zu haben, ſich von ſeiner Gemahlinn
864Thietberg ſcheiden zu laßen. Die Erzbiſchoͤfe von
Trier und Coͤlln hatten auf einer Synode zu Metz
dieſe Eheſcheidung gebilliget. Darauf nahm der
Koͤnig eine andere Gemahlinn Waldrade, mit der
er einen Sohn Hugo erzeugte, der alſo ſein Thron-
folger geweſen ſeyn wuͤrde, weil von der Thietberg
kein Sohn vorhanden war. Allein die verſtoßene
Koͤniginn wandte ſich nach Rom. Der Pabſt nahm
die Appellation an; vernichtete nicht nur den Aus-
ſpruch der Synode zu Metz, ſondern ſetzte ſo gar
die beiden Erzbiſchoͤfe von Trier und Coͤlln, weil ſie
ſich der Appellation widerſetzten, ab; und noͤthigte
den Koͤnig, die Waldrade wieder zu entlaßen, und
die Thietberg als Koͤniginn wieder aufzunehmen.
Alſo konnte ſein Sohn Hugo, den er mit der
Waldrade erzeugt hatte, auch nicht ſein Erbe ſeyn.
Sondern Lothringen ward mit Lothars des II. Tode
ein erledigtes Erbtheil; an ſtatt, daß, wenn kein
Pſeudoiſidor geweſen waͤre, vielleicht noch jetzt ein
Stamm von nurgedachtem Hugo uͤbrig ſeyn koͤnn-
te, der die dreyfache Vertheilung des Fraͤnkiſchen
Reichs nach dem Verduͤniſchen Vertrage von 843.
fortgefuͤhrt haͤtte, wovon jetzt in den beiden Rei-
chen Teutſchland und Frankreich nur noch zwey
Theile uͤbrig ſind.


Nach
[95]7) Carolinger im Verfall 814-888.

Nach Lothars des II. Tode wurde damals imXXI.
Jahre 870. das ſolchergeſtalt erledigte Lothringiſche870
Koͤnigreich zwiſchen Ludewig dem Teutſchen und
Carl dem Kahlen in zwey Haͤlften nach Oſten und
Weſten zu vertheilet. Es waͤhrte aber nicht lange,
als nach dieſer beiden Herren Tode ihre Soͤhne
in neue Zwiſtigkeiten geriethen, und daruͤber im
Jahre 880. auch die weſtliche Haͤlfte des Lothrin-880
giſchen Reichs durch einen neuen Tractat von
Frankreich an Teutſchland kam, deſſen Graͤnzen
alſo nunmehr uͤber den Rhein bis an die vier
Graͤnzſtroͤhme von Frankreich erweitert wurden.


Nur an der Rhone und Saone gab es umXXII.
eben dieſe Zeit eine wichtige Veraͤnderung, da in
dem Striche Landes von dieſen Stroͤhmen an bis
an die Juraiſchen Gebirge die dortigen geiſtlichen
und weltlichen Staͤnde von den damaligen Fran-
zoͤſiſchen Koͤnigen gegen die Normaͤnniſchen Strei-
fereyen ſich nicht gnug gedeckt hielten, und lieber
879. einen eignen Koͤnig Namens Boſo uͤber ſich
wehlten. Daher dieſe Gegend vom heutigen Pro-
vence und Dauphine damals nicht mit an das Teut-
ſche Reich kam, ſondern ein eignes Burgundi-
ſches Koͤnigreich
ausmachte.


Nicht lange hernach folgten dem BeyſpieleXXIII.
auch die Einwohner an der andern Seite der Ju-
raiſchen Gebirge in dem heutigen Savoyen und in
der Schweiz, und wehlten Rudolfen von der Wel-
fiſchen Familie zu ihrem Koͤnige. So entſtanden
zwey Burgundiſche Koͤnigreiche dieſſeits und jenſeits
der Juraiſchen Gebirge. Sie wurden aber bald
in der Welfiſchen Familie mit einander vereiniget,
und
[96]I. Alte Zeiten bis 888.
und blieben ſeitdem unter dem gemeinſamen Na-
men des Burgundiſchen oder Arelatiſchen Reichs
beyſammen, bis erſt 1033. nach Abgang dieſes
Welfiſch-Burgundiſchen Mannsſtamms das ganze
Koͤnigreich mit der Teutſchen Krone vereiniget
wurde.


XXIV.

Beide Fraͤnkiſche Reiche erlitten nach Abgang
Ludewigs des Teutſchen und Carls des Kahlen in
kurzer Zeit nach einander vielerley Todesfaͤlle, wel-
che große Veraͤnderungen nach ſich zogen. In
Teutſchland hinterließ Ludewig der Teutſche († 876.)
drey Soͤhne, Carlmann, Ludewig den juͤngern,
und Carl den Dicken, die ſich in Baiern, Sach-
ſen und Schwaben theilten; von denen aber der
letztere die beiden erſtern uͤberlebte, ohne daß dieſe
rechtmaͤßige maͤnnliche Nachkommenſchaft hinter-
ließen. In Frankreich folgte Carl dem Kahlen
(† 877.) ſein Sohn Ludewig der Stammler († 879.).
Nach deſſen Tode ereignete ſich aber ein großer
Anſtand wegen der Soͤhne, die aus zweyerley Ehen
von ihm vorhanden waren. Seine erſte Gemah-
linn Ansgard hatte Ludewig der Stammler wider
Willen ſeines Vaters, Carls des Kahlen, genom-
men, aber auf deſſen Verlangen ſie endlich ver-
ſtoßen, und ſich anderweit mit Adelheid vermaͤhlet.
Dieſer verſagte der Pabſt die Kroͤnung, weil jene
Ansgard noch lebte, die er nicht fuͤr rechtmaͤßig
geſchieden anerkannte. Nun waren von der Ans-
gard zwey Soͤhne, Ludewig und Carlmann; und
Adelheid gebahr erſt nach ihres Gemahls Tode
Carl den Einfaͤltigen. War jene Ehe rechtmaͤßig
geſchieden, ſo gebuͤhrte dieſem die Thronfolge. War
hingegen die Eheſcheidung nicht rechtmaͤßig, ſo
blie-
[97]7) Carolinger im Verfall 814-888.
blieben die Soͤhne erſter Ehe zur Thronfolge berech-
tiget, und dann konnte Carl der Einfaͤltige nie dar-
auf Anſpruch machen, weil ſeine Mutter bey Leb-
zeiten der erſten Gemahlinn nicht in guͤltiger Ehe
mit Ludewig dem Stammler leben konnte. Bei-
der Ehen Soͤhnen konnte die Thronfolge unmoͤglich
zugeſtanden werden; wenn der eine Theil ſucceſ-
ſionsfaͤhig war, ſo war es der andere nicht. (Die
Sache iſt ſelbſt fuͤr die Teutſche Geſchichte erheb-
lich, weil davon die Frage abhaͤngt, ob Carl der
Einfaͤltige, der zuletzt alle uͤbrige Carolinger uͤber-
lebt hat, auch auf die Teutſche Krone allenfalls
habe Anſpruch machen koͤnnen? wie noch in ganz
neueren Zeiten manche Schriftſteller ein vermeyntes
Recht der Krone Frankreich an Teutſchland daraus
herleiten wollen.)


Die Franzoͤſiſche Nation entſchied damals ſelbſtXXV.
gaͤnzlich gegen Carl den Einfaͤltigen zum Vortheile
der beiden Soͤhne erſter Ehe, Ludewigs und Carl-
manns, die mit Ausſchließung Carls des Einfaͤlti-
gen, der eben damit fuͤr unaͤcht erklaͤrt wurde,
ganz allein zur Thronfolge gelangten. Ja auch
nach dieſer Herren baldigem unbeerbten Tode unter-
warf ſich Frankreich doch nicht Carl dem Einfaͤl-
tigen, ſondern vielmehr Carl dem Dicken, der auf
ſolche Art ſeit 882. ganz Teutſchland und Lothrin-882
gen, und nunmehr ſeit 884. auch Frankreich, nebſt884
Italien und der Kaiſerwuͤrde, in ſeiner Perſon ver-
einigte; beynahe in eben dem Umfange, wie Carl
der Große die ganze Monarchie beſeſſen hatte,
außer daß die Spaniſche Mark und die Inſeln des
Mittellaͤndiſchen Meers inzwiſchen davon abgekom-
men waren.


GVon
[98]I. Alte Zeiten b. 888. 7) Carol. im Verf.
XXVI.

Von dieſer wieder vereinigten Macht der gan-
zen Monarchie verſprach man ſich damals ſowohl
in Frankreich als in Teutſchland die erwuͤnſchteſten
Wirkungen in den zu Rettung der Nation gegen
die fuͤrchterlichen Einbruͤche der Normaͤnner zu tref-
fenden Anſtalten. In der That kam auch ein
großes Kriegsheer zuſammen, als eben damals die
Normaͤnner die Stadt Trier uͤberfallen und in
Brand geſteckt hatten. Allein an ſtatt ein entſcheiden-
des Treffen zu liefern, ließ Carl der Dicke mit dem
Normaͤnniſchen Fuͤrſten Gottfried ſich in Friedens-
handlungen ein, die ſich mit dem Verſprechen einer
großen Geldſumme und der Anweiſung eines Stuͤcks
Landes in Friesland auf eine ſehr demuͤthigende,
der Erwartung der Nation nichts weniger als ent-
ſprechende Art endigten. Hieruͤber entſtand ein ſo
allgemeines Mißvergnuͤgen, daß ſich alles zu einer
Revolution anließ, da nach einem Wiedervergel-
tungsrechte, wie ehedem die Merovinger vom Ca-
rolinger Stamme geſtuͤrzt waren, dieſem in der
Perſon Carls des Dicken ein gleicher Umſturz be-
vorſtand.


Zwey-
[99]

Zweytes Buch.
Des mittlern Zeitalters erſter Abſchnitt
vom
Abgang der Carolinger

und den nachherigen
Saͤchſiſchen, Fraͤnkiſchen und Schwaͤbiſchen Kaiſern
bis zum Jahre 1235.


I.
Vom Abgange der Carolinger bis zum Anfange
der Saͤchſiſchen Kaiſer 888-919.


I. Arnulfs Thronbeſteigung und Ende der Carolinger
mit Carl dem Dicken — II. Lothringen bleibt mit Teutſch-
land vereiniget; nur Burgund gehet ab. — III. IV. Frank-
reich und Italien ſondern ſich ebenfalls ab. — V. Weitere
Thronfolge in Teutſchland. Ludewig das Kind, und Conrad
der I.VI-IX. Verfall des Reichs in dieſem Zeitraume;
inſonderheit bey uͤberhand nehmenden Befehdungen und fort-
waͤhrenden Einbruͤchen fremder Voͤlker.


Carlmann, Ludewigs des Teutſchen aͤlteſterI.
Sohn, der in der Theilung des Teutſchen
Reichs mit ſeinen Bruͤdern Baiern zu ſeinem An-
theile bekommen hatte, war zwar ohne rechtmaͤßige
Nachkommenſchaft verſtorben; hatte aber einen
natuͤrlichen Sohn Arnulf hinterlaßen, den er zum
Herzoge in Kaͤrnthen beſtellt hatte. Dieſer Arnulf
war bey dem unter Carl dem Dicken gegen die
Normaͤnner zuſammengezogenen Kriegsheere mit
G 2an-
[100]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
anweſend, und ganz anderer Meynung, als daß
man mit den Normaͤnnern auf ſchimpfliche Bedin-
gungen Frieden machen ſollte. Als bald hernach
887887. zu Tribur (einem noch jetzt im Darmſtaͤdti-
ſchen Amte Ruͤſſelsheim zwiſchen Oppenheim und
Mainz gelegenen Orte) eine Reichsverſammlung
veranſtaltet war; erſchien ploͤtzlich Arnulf mit einem
tapfern Gefolge aus Baiern und Kaͤrnthen, und
ward bald als Koͤnig ausgerufen, ohne daß Carl
der Dicke ſich nur entgegenſetzen konnte, wiewohl
er dieſen Unfall auch nicht lange mehr uͤberlebte
888(† 888. Jan. 12.). So endigte ſich zugleich mit
Carls des Dicken Tode der ganze rechtmaͤßige
Carolinger Mannsſtamm; da zwar noch Carl der
Einfaͤltige vorhanden war, dem aber der Vorwurf
wegen Unrechtmaͤßigkeit der Ehe ſeiner Mutter
entgegenſtand; ſo daß nach dem Sturz Carls des
Dicken auch weder in Frankreich noch in Teutſch-
land auf ihn Ruͤckſicht genommen wurde.


II.

Ganz Teutſchland erkannte jetzt einmuͤthig Ar-
nulfen fuͤr ſeinen Koͤnig; und nach der Verbin-
dung, worin 880. ganz Lothringen mit Teutſch-
land gekommen war, galt das auch von ſelbſten
fuͤr ganz Lothringen, ohne daß auch nur widrige
Bewegungen dagegen entſtanden waͤren. Nur das
Burgundiſche Koͤnigreich, das an der weſtli-
chen Seite der Juraiſchen Gebirge ſchon im Gange
war, und an der oͤſtlichen Seite eben jetzt bey die-
ſer Gelegenheit zu Stande kam, gieng ab.


III.

Die Franzoͤſiſche Nation ließ ſich zwar den
Umſturz Carls des Dicken gefallen; nahm aber
an der Thronbeſteigung Arnulfs keinen Antheil,
woll-
[101]1) Arnulf — Conr. I. 888-919.
wollte auch von Carl dem Einfaͤltigen nichts
wiſſen, ſondern wehlte ſich zum Koͤnige den Gra-
fen Odo von Paris, dem ſie ſchon die Rettung
dieſer Hauptſtadt von den Normaͤnnern, die ſie
belagert hatten, zu danken hatte. So blieben von
dieſer Zeit an bis auf den heutigen Tag Teutſchland
und Frankreich zwey getrennte von einander un-
abhaͤngige Reiche.


Ueber Italien und die Kaiſerkrone ſtritten dieIV.
zwey Herzoge, Berengar von Friaul, und Wido
von Spoleto. Arnulf zog zwar ebenfalls dahin,
und empfieng ſelbſt 895. zu Rom die Kaiſerkrone.
Allein mit ſeiner Ruͤckkehr ward auch alles wieder
ruͤckgaͤngig, da ganz andere Partheyen die Ober-
hand gewannen, und Italien uͤberhaupt in ſolche
Verwirrung gerieth, daß auf mehrere Jahre hin
alle Verbindung der Teutſchen jenſeits der Alpen
auf hoͤrte.


In Teutſchland ſelbſt war uͤbrigens mit dieſerV.
Revolution eigentlich keine Veraͤnderung in der
innern Staatsverfaſſung verbunden. Wenn Ar-
nulf laͤnger gelebt, und erwachſene Soͤhne und
weitere Nachkommen hinterlaßen haͤtte, wuͤrde ohne
Zweifel die Regierungsform und ganze Verfaſſung
geblieben ſeyn, wie ſie zur Zeit der Carolinger
war. Selbſt ſeinem unmuͤndigen Sohne Lude-900
wig dem Kinde wurde deswegen lieber die vaͤ-
terliche Thronfolge zugeſtanden, als daß man von
der bisherigen Erblichkeit des regierenden Stammes
abweichen wollte. Aber mit Ludewigs fruͤhzeitigem
unbeerbtem Tode († 911.) hoͤrte dieſer Stamm
ſchon wieder auf. Und da auch der an deſſen912
G 3Stelle
[102]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Stelle gewehlte Koͤnig Conrad derI. nach einer
nur ſechsjaͤhrigen Regierung unbeerbt abgieng
918(† 918. Dec. 23.); ſo mußte noch einmal eine
freye Wahl geſchehen, bis erſt mit dem nunmehr
919erwehlten Henrich dem I. ein neuer regierender
Stamm von Saͤchſiſcher Herkunft wieder etwas
mehr Feſtigkeit erhielt.


VI.

Schon dieſe Umſtaͤnde, da in einer Zeit von
32. Jahren vier Koͤnige auf einander folgten, de-
ren jeder ſeine Thronbeſteigung einer freyen Wahl
zu danken hatte, worunter uͤberdies ein minder-
jaͤhriger war, und dem einen nur Ruhe, dem an-
dern das Gluͤck fehlte, — dieſe Umſtaͤnde zuſam-
mengenommen machten, daß der Zeitraum nach
dem Sturz Carls des Dicken gewiß nicht der be-
quemſte war, um das herſtellen zu koͤnnen, was
ſeit Carls des Großen Zeiten einen Verfall in ſei-
ner Monarchie ſchon ſo merklich gemacht hatte. Es
traten vielmehr noch manche Umſtaͤnde hinzu, die
das Uebel noch aͤrger machen halfen.


VII.

Dem geiſtlichen Stande verſchafften die Iſido-
riſchen Grundſaͤtze bald merklich immer groͤßere Vor-
theile, bald in koͤniglichen Befreyungen von her-
zoglichen oder graͤflichen Rechten, bald in auſſer-
ordentlichen Gnadenverleihungen, bald in betraͤcht-
lichen Schenkungen von allerley Gattungen. Eben
damit wuchs aber auch die Eiferſucht der weltli-
chen uͤber die geiſtlichen Herren zuſehends. Dar-
uͤber brachen oft namhafte Befehdungen aus, die
zwar noch von Zeit zu Zeit ſelbſt durch Todesſtra-
fen, die der Koͤnig mit Fuͤrſtenrecht darauf er-
kannte, geahndet wurden; aber ohne daß doch das
zuneh-
[103]1) Arnulf — Conr. I. 888-919.
zunehmende Unweſen des Fauſtrechts gehoben oder
gehemmt werden konnte.


Dazu kamen die anhaltenden Streifereyen derVIII.
Normaͤnner, nebſt neuen Unternehmungen Wendi-
ſcher Voͤlker, und noch fuͤrchterlicheren jaͤhrlichen
Einbruͤchen der Ungarn, die jetzt bis ins Herz von
Teutſchland vordrangen. Deſto groͤßere Gewalt
konnten ſich jetzt die Herzoge herausnehmen, auf
deren Vertheidigungsanſtalten meiſt die Rettung
eines jeden Landes ankam. Deſto tiefer mußte
aber auch natuͤrlicher Weiſe das Anſehen der Krone
ſinken.


Am fuͤhlbarſten ward das dem guten KoͤnigeIX.
Conrad dem I., der in ſeiner kurzen Regierung
mit drey Herzogen zu kaͤmpfen hatte, ohne ihrer
Meiſter werden zu koͤnnen. Das Herzogthum
Lothringen ward daruͤber gar auf einige Zeit vom
Teutſchen Reiche abwendig gemacht. In Sachſen
fieng der junge Herzog an eigenmaͤchtig zu regie-
ren. Und Baiern ſchien ſich beynahe vom Teut-
ſchen Reiche los zu reiſſen.


G 4II.
[104]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.

II.
Von Henrich dem I. 919-936.


I. Baiern und Lothringen in Verbindung mit Teutſch-
land erhalten. — II-V. Angefangener Staͤdteban im innern
Teutſchlande. — VI-IX. Davon in der Folge abgehangene
Verſchiedenheit der Staͤnde. — X. Errichtung der Burg
Meiſſen und der Marggrafſchaft Schleswig.


I.

Erſt Henrich demI. ſchien es vorbehalten zu
919ſeyn, dem ſo tief verfallenen Anſehen der
Krone wieder etwas mehr aufzuhelfen. Um Baiern
in der Verbindung mit dem Teutſchen Reiche zu
erhalten, machte er nur ein kleines Opfer, indem
er dem Herzoge von Baiern uͤber die Biſchoͤfe ſel-
biger Gegend die ſonſt nur in der koͤniglichen Ge-
walt begriffenen Rechte zugeſtand. Ob das als ein
bloß perſoͤnliches Vorrecht nur fuͤr den damaligen
Herzog beſtimmt geweſen, oder ob es auch auf alle
folgende Herzoge habe gehen ſollen; daruͤber wird
noch jetzt, inſonderheit zwiſchen Bairiſchen und
Salzburgiſchen Schriftſtellern, geſtritten (q). Das
Band
[105]2) Henrich der I. 919-936.
Band zwiſchen Lothringen und Teutſchland wur-
de 923. und 935. durch wiederholte Vertraͤge mit
den damaligen Koͤnigen in Frankreich auf den vo-
rigen Fuß geſetzt.


Hauptſaͤchlich aber haben wir dieſer RegierungII.
die große Veraͤnderung zu verdanken, die im in-
nern Zuſtande von ganz Teutſchland davon ab-
haͤngt, daß es jetzt mit Staͤdten angebauet iſt,
da bisher auſſer Bergſchloͤſſern und Ritterſitzen
oder Kloͤſtern, die etwa mit Mauern umgeben wa-
ren,
(q)
G 5
[106]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ren, alles uͤbrige nur aus einzelnen Hoͤfen und
Doͤrfern beſtand, oder wo ſich auch etwa bey
einem Schloſſe oder bey einer Kirche nach und nach
einige Leute angebauet hatten, doch alles nur offene
Orte waren.


III.

Eine traurige Erfahrung, wie wenig in einer
ſolchen Lage gegen die immer zunehmende Noth
von Einbruͤchen fremder Voͤlker ſich gruͤndliche Ge-
genanſtalten machen ließen, brachte Henrichen zu-
erſt auf die Gedanken, daß es beſſer gehen wuͤr-
de, wenn Staͤdte, mit Mauern und Thuͤrmen und
Thoren umgeben, vorhanden waͤren, die eine zahl-
reichere Menge Einwohner faßten, und ſowohl ſel-
bigen, als den hereinzufluͤchtenden Habſeligkeiten
der Nachbarſchaft in Nothfaͤllen zur Sicherheit die-
nen koͤnnten. Andere Bewegungsgruͤnde, als wel-
che die Noth an die Hand gab, moͤchten ſchwerlich
die Nation von ihrer urſpruͤnglichen Abneigung von
Staͤdten zuruͤckgebracht haben. In der Folge gab
es ſich von ſelbſten, auch andere Vortheile dieſer
Einrichtung kennen zu lernen, und zur Erbauung
immer mehrerer Staͤdte wirkſam zu machen.


IV.

Aber wie ſollte der erſte Anfang gleich zu
Stande gebracht werden? Da verdient es ge-
wiß allen Beyfall, wie Henrich die Einrichtung
traf, daß je der neunte Mann vom Lande in die
Stadt ziehen, und alle oͤffentliche Verſammlungen
in Staͤdten gehalten werden ſollten. Von ande-
ren Einrichtungen, die gleich damals zu Bevoͤlke-
rung der Staͤdte und zur Befoͤrderung ihres Nah-
rungsſtandes gemacht ſeyn moͤgen, haben wir kei-
ne genaue Nachricht. Viel weniger wiſſen wir,
wie-
[107]2) Henrich der I. 919-936.
wieviel und welche Staͤdte eigentlich gleich da-
mals erbauet ſeyn moͤgen (r).


Wahrſcheinlich ſind manche Staͤdte ſo entſtan-V.
den, daß Orte, wo ſchon mehrere Gebaͤude, etwa
bey einer biſchoͤflichen Kirche oder bey einem Klo-
ſter, oder Schloſſe beyſammen waren, in ver-
groͤßertem Umfange mit Mauern umgeben wurden.
Da hieng die Eintheilung der Straßen natuͤrlicher
Weiſe ſehr vom Zufall ab, wie nach und nach
ein Haus am andern angebauet wurde. Doch wo
auch Staͤdte von Grundaus neu erbauet ſind, darf
man ſich doch nicht wundern, wenn ſo wenige
Regelmaͤßigkeit dabey beobachtet, und von Voll-
kommenheiten einer Stadtpolizey nach den Begrif-
fen, die wir uns jetzt davon machen, ſo wenig in
Anwendung gebracht worden, da dieſe Geſchichte
theils in Zeiten der aͤrgſten Unwiſſenheit faͤllt, theils
nur eine Zeit von neun Jahren, die ſich Henrich
in einem Waffenſtillſtande mit den Ungarn ausbe-
dungen hatte, zur Erbauung der erſten Staͤdte ge-
braucht werden konnte. Unter ſolchen Umſtaͤnden
iſt vielmehr zu bewundern, daß ſchon ſoviel geſche-
hen iſt, und daß die vorher von dieſer Art Lebens
ſo entfernt geweſene Nation noch ſobald in den
Geſchmack des ſtaͤdtiſchen Lebens eingeleitet werden
koͤnnen; wovon die groͤßte Probe war, daß auch
nach
[108]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
nach geendigter Gefahr wegen der Ungarn doch
die Anzahl neuer Staͤdte immer haͤufiger wurde.


VI.

Zwar was die ſtaͤdtiſche Lebensart und die un-
ter andern davon abhangende beſondere Gattung
in der Verſchiedenheit der Staͤnde anbetrifft,
wuͤrde man ſich ſehr irren, wenn man das, was
die jetzige Verfaſſung der Staͤdte mit ſich bringt,
gleich von ihrem erſten Urſprunge an herleiten
wollte. Von den erſten Bewohnern einer jeden
Stadt wußte ein jeder, wes Standes er war, frey
oder nicht frey. In den erſten Generationen hat
auch wahrſcheinlich niemand leicht anders als in
ſeinem Stande geheirathet. Da waͤre dann der
bloße Aufenthalt in einer Stadt noch kein hinlaͤng-
licher Grund geweſen, daraus einen eignen Stand
zu machen; wie daher noch jetzt in mancher alten
Stadt adeliche Geſchlechter ſind, die ſich von un-
denklichen alten Zeiten her in ihrem Stande erhal-
ten haben.


VII.

Erſt in der Folge mehrerer Generationen kam
es dahin, daß Einwohner in Staͤdten, deren Vor-
fahren freye Leute geweſen waren, keinen ſonder-
lichen Anſtoß mehr darin fanden, ſich in Heira-
then mit Perſonen einzulaßen, bey denen man in
Ruͤckſicht auf ihr Vermoͤgen oder andere perſoͤn-
liche Eigenſchaften allenfalls gerne vergaß, daß
ihre Voreltern vielleicht ehedem urſpruͤnglich leib-
eigen geweſen, und zuerſt als Geſinde in die Stadt
gekommen waren.


VIII.

So verlohr ſich auch nach und nach die Ab-
neigung gegen Kaufmannſchaft und Gewerbe der
In-
[109]2) Henrich der I. 919-936.
Induͤſtrie. Nur diejenigen, die ihre Wohnſitze
nach alter Manier auf dem Lande behielten, ſuch-
ten bald einen Vorzug darin, daß ſie auch nach
althergebrachter Lebensart ihrer Vorfahren aus
Jagd und Krieg ihr Hauptgeſchaͤfft machten, und
kein ander Gewerbe als mit den Producten ihrer
eignen Laͤndereyen und Viehzucht trieben. Dazu
kam noch, daß Hof- und Lehnsdienſte nur von ih-
nen, nicht von Einwohnern der Staͤdte geleiſtet
wurden, und daß endlich auch in Stiftern und
bey Turnieren ſo gar Ahnenbeweiſe ſowohl von
muͤtterlicher als vaͤterlicher Seite erfordert wurden.
So wird es begreiflich, wie nach etlichen Jahr-
hunderten der Freye auf dem Lande, dem ſonſt
ſeine Freyheit und Gebuhrt keinen Vorzug vor
gleichfalls freygebohrnen Einwohnern der Staͤdte
gab, ſich als einen vom ſtaͤdtiſchen Buͤrger verſchie-
denen Stand anſah, und dagegen dem Herren-
ſtande, als dem bisherigen wahren Teutſchen Adel,
ſich zu naͤhern ſuchte; obgleich dieſer Herrenſtand
als nunmehriger hoher Adel von jenem Stande
der Freyen, der jetzt den ſo genannten niedern Adel
ausmacht, immer weſentlich unterſchieden blieb.
Auf der andern Seite blieb jedoch der Buͤrger in
der Stadt, vermoͤge ſeiner entweder urſpruͤnglich
von ſeinen Voreltern ererbten, oder ſelbſt durch
das Buͤrgerrecht erlangten Freyheit, vom Bauern,
der entweder noch leibeigen war, oder doch noch
unter Fronen und Abgaben ſeufzte, eben ſo we-
ſentlich unterſchieden. Daher demnaͤchſt die vierer-
ley Staͤnde, des hohen Adels, der Fuͤrſten, Gra-
fen und Herren, des niedern Adels derer, die ehe-
dem keinen weitern Vorzug als die bloße Frey-
heit
[110]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
heit hatten, ſodann des Buͤrger- und Bauern-
ſtandes in Teutſchland zum Vorſchein kommen.


IX.

Der gleichzeitige Geſchichtſchreiber, dem wir
die Nachricht von der von Henrichen veranſtalte-
ten Erbauung der Staͤdte zu danken haben, be-
dient ſich von der erſten Bevoͤlkerung der Staͤdte
durch den neunten Mann vom Lande (s) eines
Ausdrucks, den einige ſo deuten wollen, als ob
die erſten Einwohner der Teutſchen Staͤdte nur
Bauern geweſen waͤren. Aber er nennt ſie aus-
druͤcklich milites agrarios, das man nach der
Sprache der folgenden Zeiten uͤberſetzen muͤßte:
Ritter vom Lande, oder Kriegsmaͤnner, die auf
ihren Landguͤtern wohnen. Der Zuſatz vom Lande
(agrarius) mußte nur dazu dienen, ſolche Ritter
oder freye Guͤterbeſitzer von denen zu unterſchei-
den, die als Vaſallen zu Kriegsdienſten im Felde,
oder als Burgmaͤnner zu Beſatzungsdienſten in
Schloͤſſern, oder als Miniſterialen zu Hofdienſten
verbunden waren; eben ſo, wie noch jetzt ſo ge-
nannte Landjunker von Edelleuten bey Hofe oder
in Kriegsdienſten unterſchieden ſind.


X.

Auſſer dem großen Verdienſte, ſo ſich Henrich
durch Erbauung der Staͤdte erwarb, hatte Teutſch-
land ihm noch zu verdanken, daß er die Graͤn-
zen gegen die Wenden durch Errichtung der Burg
Meiſſen und gegen die Normaͤnner durch eine
Marggrafſchaft, die er jenſeits der Eider in Schles-
wig
[111]3) Otto der Große 936-974.
wig anlegte, fuͤr die Zukunft in groͤßere Sicher-
heit ſetzte. Mit der letztern Marggrafſchaft ward
zugleich die noͤrdliche Graͤnze von Teutſchland noch
uͤber das von Carl dem Großen beſtimmte Ziel
der Eider hinaus erſtrecket. Schade nur, daß
Henrichs Sohn und Nachfolger Otto der Große
ſich durch Ehrbegierde und auswaͤrtige Reizungen
blenden ließ, die weitere Aufnahme des innern
Zuſtandes des Reiches nicht mit gleichem Eifer zu
befoͤrdern.


III.
Von Otto dem Großen 936-974.


I. II. Merkwuͤrdigkeiten bey Otto’s Thronfolge. —
Erſte Spuhr der Untheilbarkeit des Reichs und des Rechts der
Erſtgebuhrt. — III-V. Erſter Keim der nachherigen churfuͤrſt-
lichen Vorrechte der Erzbiſchoͤfe von Mainz, Trier, Coͤlln, und
vier weltlicher Erzbeamten. — VI. VII. Erneuerte Verbin-
dung mit Rom und Italien. — VIII-XII. Folgen der er-
neuerten Kaiſerwuͤrde. — XIII-XV. Neue Eroberungen
Wendiſcher Laͤnder, und neue geiſtliche Stiftungen in dieſen
Gegenden, — inſonderheit zu Magdeburg, Hamburg, Prag. —
XVI-XVIII. Freygebigkeit gegen Geiſtliche und Befoͤrderung
ihrer groͤßeren Aufnahme. — XIX-XXI. Verhaͤltniß der
damaligen Herzogthuͤmer. — XXII. Urſprung der Pfalzgraf-
ſchaften. — XXIII-XXV. Verſchiedene Gruͤnde zum nach-
herigen Verfall des Reichs.


Bey Otto des Großen Thronfolge darf derI.
Umſtand nicht außer Acht gelaßen werden,936
daß dieſes der erſte Fall war, da von mehreren
Soͤhnen eines Koͤniges nur Einer auf den Thron
kam; an ſtatt daß nach der Merovinger und Ca-
rolinger Regierungsform in ſolchen Faͤllen Theilun-
gen
[112]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
gen geſchahen, wie noch Ludewigs des Teutſchen
drey Soͤhne das Teutſche Reich unter ſich in drey
Theile getheilet hatten. Ohne daß ſich Spuhren
eines daruͤber errichteten Grundgeſetzes faͤnden,
ſcheint aus den vier letzteren Regierungen, da Ar-
nulf, Ludewig das Kind, Conrad der I. und Hen-
rich der I. jeder nur alleine ganz Teutſchland re-
gierte, von ſelbſten unvermerkt ein ſolches Herkom-
men ſich gebildet zu haben, daß ſeitdem bis auf
den heutigen Tag an keine weitere Vertheilung des
Teutſchen Reichs gedacht worden.


II.

Gleich damals drang Otto’s juͤngerer Bruder,
Henrich, nicht ſowohl auf eine Theilung, als viel-
mehr darauf, daß ihm in der ganzen Thronfolge
der Vorzug gebuͤhre, weil damals, wie ihn ſein
Vater erzeuget, derſelbe ſchon Koͤnig, hingegen
als Otto zur Welt kam, nur noch Herzog geweſen
war. Dieſen Vorzug ließ zwar die Nation nicht
gelten. Man kann doch aber auch nicht behaup-
ten, daß ſchon ein Recht der Erſtgebuhrt in
der Thronfolge
anerkannt worden waͤre. Es
ergibt ſich vielmehr aus der Folge, daß bey jeder
Thronfolge, wenn ſie gleich wieder nach der alten
Fraͤnkiſchen Staatsverfaſſung dem regierenden
Stamme zugeſtanden ward, dennoch die Nation
in Beſtimmung der Perſon nicht ohne Einfluß blieb;
daher es bald in Gang kam, daß meiſt jeder Va-
ter noch bey ſeinen Lebzeiten ſeinem Sohne die
Thronfolge gelegentlich zum voraus verſichern ließ.
Man kann das zwar noch nicht mit dem, was
wir jetzt Roͤmiſche Koͤnigswahl nennen, in voͤllige
Gleichheit ſetzen. Aber beides ſteht doch unſtrei-
tig in einiger Beziehung auf einander. In Frank-
reich
[113]3) Otto der Große 936-974.
reich kam die Untheilbarkeit der Krone zuerſt 954.
nach dem Tode des damaligen Koͤnig Ludewigs in
Gang, da von deſſen beiden Soͤhnen nur Lotha-
rius auf den Thron kam, deſſen juͤngerer Bruder
Carl doch noch auf eine Theilung zu dringen ſich
berechtiget hielt; wiewohl er nicht nur gegen ſei-
nen aͤltern Bruder und deſſen Sohn, ſondern auch
nach deſſen Abgang gegen Hugo Capet, den Stamm-
vater aller nachherigen Koͤnige in Frankreich, zu-
ruͤckſtehen mußte.


Noch zeichnet ſich Otto’s Thronbeſteigung da-III.
durch aus, daß er nicht, wie ſein Vater gethan
hatte, die Kroͤnung verbat, ſondern allen dabey
uͤblichen Feierlichkeiten ihren vollen Lauf ließ. Da-
von iſt nur deswegen hier etwas zu erwehnen,
weil ſich bey dieſer Gelegenheit ſchon der erſte
Keim der nachher ſo erheblich gewordenen chur-
fuͤrſtlichen Vorrechte, wiewohl freylich noch in einer
großen Entfernung, wahrnehmen laͤßt.


Die Kroͤnung geſchah zu Aachen. Daher be-IV.
gehrte der Erzbiſchof von Coͤlln ſie zu verrichten,
weil Aachen in ſeiner Dioeces lag. Der Erzbi-
ſchof von Trier aber behauptete, ſein Erzſtift ſey
aͤlter, als das zu Coͤlln, und muͤße deswegen bey
dieſer feierlichen Handlung billig den Vorzug haben.
Endlich uͤberließen beide Erzbiſchoͤfe diesmal die
Ehre dem Erzbiſchofe zu Mainz. — Dieſe Ge-
ſchichte iſt nur darum merkwuͤrdig, weil ſie uns
belehret, wie die drey Erzbiſchoͤfe von Mainz,
Trier
und Coͤlln ſchon von ſelbigen Zeiten her
einen Vorzug in der Kroͤnung geſucht haben,
woruͤber ein bis in die neueſten Zeiten fortgeſetzter
HStreit
[114]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Streit erſt 1658. auf den jetzigen Fuß beygelegt
iſt; unter andern ſo, daß bey Aufſetzung der Krone
alle drey Erzbiſchoͤfe Hand mit anlegen; obgleich
die eigentliche Conſecration nur derjenige Erzbiſchof
verrichtet, in deſſen Dioeces ſie geſchieht, oder
außerdem abwechſelnd entweder der Erzbiſchof zu
Mainz oder der zu Coͤlln. Merkwuͤrdig iſt es alle-
mal, daß ſchon bey Otto dem Großen nur die drey
Erzbiſchoͤfe von Mainz, Trier und Coͤlln ſich um
die Ehre der Kroͤnung beeiferten, ohne daß weder
die Erzbiſchoͤfe von Salzburg, noch die von Bre-
men, Biſanz, und andere als Mitwerber oder
Theilnehmer dieſer Ehre erſchienen. Sehr glaub-
lich mag deswegen dieſer Umſtand in der Folge
mit dazu beygetragen haben, daß, wenn hernach
andere von der Wahl und Kroͤnung wegblieben,
dieſe drey nicht wegbleiben konnten, und eben dar-
uͤber zu einem ſo großen Vorzuge gelangten, daß
von geiſtlichen Staͤnden, die bey der Wahl zu
ſprechen hatten, nur dieſe drey Erzbiſchoͤfe uͤbrig
blieben; die freylich auch das fuͤr ſich hatten, daß
ſie als die erſten urſpruͤnglichen Erzbiſchoͤfe des
Teutſchen Reichs angeſehen werden konnten.


V.

Faſt eine gleiche Bewandtniß hatte es mit
den feierlichen Hofdienſten, die ſich Otto an
ſeinem Kroͤnungstage, da er offene Tafel hielt,
leiſten ließ. Da werden vier Herzoge namhaft
gemacht, mit ſolchen Verrichtungen, welche noch
jetzt zu den vier Hofaͤmtern, Marſchall, Kaͤmme-
rer, Truchſeß und Schenk gerechnet werden. Da-
mals waren dieſe Hofaͤmter noch nicht erblich.
Sie wurden es aber in der Folge. Und bald
darauf erſcheinen dieſe vier erſten weltlichen Reichs-
ſtaͤnde
[115]3) Otto der Große 936-974.
ſtaͤnde mit jenen drey geiſtlichen als ſieben Wahl-
fuͤrſten.


Von dem, was Otto waͤhrend ſeiner Regie-VI.
rung ausgerichtet hat, iſt nichts, das auf die fol-
gende Geſchichte und zum Theil bis auf den heu-
tigen Tag ſo wirkſam geweſen waͤre, als die von
ihm erneuerte Verbindung mit Rom und Italien.
Mit dem Abgange der Carolinger hatte dieſe Ver-
bindung gaͤnzlich aufgehoͤret; ſie ſchien nur auf
Carls des Großen Nachkommenſchaft zu beruhen,
und auf keinem ſeiner Reiche zu haften. Seit
Arnulfs Zeiten war kein Teutſcher Koͤnig mehr uͤber
die Alpen gekommen. Nach vielerley Factionen
und Verwirrungen ſpielte zuletzt Berengar der II.
(deſſen Mutter eine Tochter Berengars des I. war,)
in Italien den Meiſter. Wider denſelben bewog
erſt die Koͤniginn Adelheid, des vorigen Koͤnigs
Lothars Wittwe, eine gebohrne Burgundiſche Prin-
zeſſinn, Otto zu einem Zuge nach Italien, wodurch951
ſie, bis dahin in Canoſſa eingeſperrt, ihre Be-
freyung und ſeine Hand erhielt.


Fuͤr dasmal blieb aber noch Berengar Koͤnig,VII.
nur mit der Bedingung, daß er ſein Koͤnigreich
erſt in Teutſchland von Otto zu Lehn empfangen
mußte. Das zweytemal zog Otto auf Betrieb des960
Pabſtes Johannes des XII. nach Italien, in der
Abſicht, Berengarn wegen der wider ihn vorge-
kommenen Beſchwerden zu ſtuͤrzen, und ſich ſelbſt
ſowohl die Kaiſerkrone als die Longobardiſche Krone
zuzueignen. Beides geſchah, indem Otto 961. zu
Mailand vom dortigen Erzbiſchofe und 962.962
H 2(Febr.
[116]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
(Febr. 2.) zu Rom vom Pabſte Johann dem XII.
gekroͤnet, Berengar hingegen, nachdem er ſich noch
einige Zeit vergeblich gewehret hatte, zuletzt nach
Bamberg verwieſen wurde. Auf einem nochma-
ligen Roͤmerzuge ließ hernach Otto auch ſchon ſei-
nen Sohn Otto den II. als Mitkaiſer kroͤnen.


VIII.

So hatte freylich Otto die Ehre, auf aͤhnliche
Art, wie ehedem Carl der Große gethan hatte,
ſowohl die Roͤmiſche Kaiſerwuͤrde als die Longo-
bardiſche Krone auf ſich und ſein Haus zu brin-
gen; ohne daß man doch noch zur Zeit ſagen
konnte, daß eine Realverbindung zwiſchen Italien
und Teutſchland damit auf beſtaͤndig eingegangen
worden waͤre. Nur darin gieng Otto noch einen
Schritt weiter, als Carl der Große gethan hatte,
da er mit Weglaßung ſeiner uͤbrigen Titel zuletzt
ſich nur Roͤmiſcher Kaiſer ſchrieb. Das gab
wenigſtens in der Folge Anlaß, daß man anfieng
zu glauben, das Reich, das ein Roͤmiſcher Kaiſer
beherrſchte, ſey ſelbſt das Roͤmiſche Reich; ohne
zu unterſcheiden, was ein Kaiſer als Beherrſcher
der Stadt Rom und der Lombardey, und was er
eigentlich als Oberhaupt des Teutſchen Reichs zu
ſagen habe; — ſo wie etwa ein Unwiſſender ſich
vorſtellen mag, alle Laͤnder, die der Koͤnig in Preuſ-
ſen beherrſche, machten das Koͤnigreich Preuſſen
aus; ohne daran zu denken, daß das Churfuͤrſten-
thum Brandenburg, die Herzogthuͤmer Schleſien,
Magdeburg, Pommern, Cleve u. ſ. w. mit dem
Koͤnigreiche Preuſſen an ſich weiter nichts zu thun
haben, ſondern ein jedes dieſer Laͤnder ſeine eigne
Verfaſſung hat.


Otto
[117]3) Otto der Große 936-974.

Otto und ſeine Nachfolger glaubten jetzt ohneIX.
Unterſchied auf ſich anwenden zu koͤnnen, was
ehedem nicht nur Carl der Große, ſondern auch
ſonſt irgend jemals einer der alten Roͤmiſchen Kai-
ſer fuͤr Vorzuͤge gehabt haben moͤchte. Unter an-
dern ſcheint man fruͤhzeitig alles das benutzt zu
haben, was in aͤlteren Zeiten von der Stadt Rom
als Beherrſcherinn der Welt und von Roͤmiſchen
Kaiſern als Herren der Welt zum Theil in Ge-
dichten oder in der Sprache der Schmeicheley vor-
gekommen war. Schon die Ottonen ſcheinen ge-
glaubt zu haben, daß ſie als Roͤmiſche Kaiſer eine
gewiſſe Oberherrſchaft ſowohl uͤber auswaͤrtige Koͤ-
nige als uͤber Teutſche Fuͤrſten ausuͤben koͤnnten.
Bald kam noch der Gedanke hinzu, daß die ganze
Chriſtenheit, als eine kirchliche Geſellſchaft betrach-
tet, ein ſichtbares geiſtliches Oberhaupt habe; alſo
auf gleiche Art auch alle Chriſtliche Voͤlker und
Staaten ein weltliches Oberhaupt haben koͤnnten;
wozu wegen des Schutzes, den die Roͤmiſche Kir-
che vom Roͤmiſchen Kaiſer zu erwarten habe,
niemand naͤher als dieſer waͤre. Bald verband
man endlich noch uͤberdies damit eine Deutung
des Propheten Daniels von vier Koͤnigreichen, wo-
von das letztere alle andere zermalmen und zer-
ſtoͤhren, fuͤr ſich aber ewig bleiben wuͤrde (t).


Nach ſolchen Vorſtellungen darf man ſichs weni-X.
ger befremden laßen, wenn von dieſen Zeiten her
anderen Koͤnigreichen und ſonſt unabhaͤngigen Voͤl-
kern zugemuthet wurde, eine gewiſſe Oberhoheit
unſerer Kaiſer uͤber ſich zu erkennen; wie bald nach
einander mit Daͤnemark, Polen, Ungarn der Fall na-
H 3ment-
[118]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
mentlich eintrat, auch bey vorkommenden Gelegen-
heiten die Kaiſer ſich ruͤhmten, daß Spanien, Frank-
reich und England ihre Unterwuͤrfigkeit unter ihnen
nicht verkaͤnnten (u). In der That erwuchs dar-
aus ein ganz beſonderes Voͤlkerrecht des mittlern Zeit-
alters, das alle Chriſtliche Reiche und Laͤnder gegen
den Roͤmiſchen Kaiſer in ein aͤhnliches Verhaͤltniß
ſetzte, wie alle einzelne Chriſtliche Kirchen gegen
die Roͤmiſche Kirche; ſo daß auf eben die Art, wie
Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe vom Pabſte abhiengen,
ſo Fuͤrſten und Koͤnige in gewiſſer Abhaͤngigkeit
unter dem Kaiſer ſtehen ſollten. In einigen Faͤl-
len war das nicht ohne Wirkung, wie ſich in der
Folge zum Theil mehrere Jahrhunderte hindurch
bey den ſo genannten Kreuzzuͤgen und nachherigen
Tuͤrkenkriegen, ingleichen bey allgemeinen Kirchen-
verſammlungen, bey Standeserhoͤhungen, beym
Gebrauche der kaiſerlichen Notarien u. ſ. w. gezei-
get hat. Sehr oft entſtanden aber auch An-
maßungen daraus, wodurch ſich unſere Kaiſer auf
manche ſchwindelnde Hoͤhe fuͤhren ließen, ohne doch
der Sache den gehoͤrigen Nachdruck geben zu koͤnnen.


XI.

Unter andern erneuerte Otto durch einen beſon-
dern Vertrag mit der Geiſtlichkeit und dem Volke
zu Rom auch den ehemaligen Carolinger Grund-
ſatz: daß ohne kaiſerliche Genehmigung kein Pabſt
gewehlt und eingeweihet werden ſollte. Hingegen
ließ er ſich auch ſchon in ein eidliches Verſprechen
ein: die Roͤmiſche Kirche und ihren Regierer nach
ſei-
[119]3) Otto der Große 936-974.
ſeinen Kraͤften zu erhoͤhen, und in Dingen, die
den Pabſt oder die Roͤmer betraͤfen, keine Ver-
ordnung ohne Zuziehung des Pabſtes zu machen.


Endlich mußte ſchon Otto uͤber dieſe neue Ver-XII.
bindung mehr als einmal nach Italien ziehen, und
mehrere Jahre dort verweilen, wie ſeitdem auch
faſt alle ſeine Nachfolger thun mußten. Daruͤber
konnte unſer gutes Teutſchland in ſolcher Entfer-
nung und anhaltenden Abweſenheit ſeines Ober-
haupts nicht anders als in Verwirrung gerathen,
und in Anſtalten, die zur Aufklaͤrung und Auf-
nahme der Nation erforderlich geweſen waͤren, ganz
vernachlaͤßigt zuruͤckkommen; ohne zu gedenken, wie
viel Teutſches Blut ſeitdem in Italien aufgeopfert
werden muͤßen, und was vollends fuͤr neuer Stoff
zu Mißhelligkeiten zwiſchen Staat und Kirche dar-
aus erwachſen, der zuletzt in die ungluͤcklichſten
Folgen fuͤr Teutſchland und fuͤr alle weltliche Maͤchte
ausgebrochen iſt.


Vortheilhafter fuͤr Teutſchland ſchien das, wasXIII.
Otto in Anſehung der Wendiſchen Laͤnder vor-
nahm. Durch Kriege, die er gleich in den erſten
Jahren ſeiner Regierung anfieng, brachte er Boͤh-
men und die Niederlauſitz zum Gehorſam. Zu-
letzt glaubte er auch in den uͤbrigen Wendiſchen
Laͤndern am rechten Ufer der Elbe dergeſtalt feſten
Fuß gefaſſet zu haben, daß er auf eben die Art,
wie Carl der Große ſeine Saͤchſiſche Erobe-
rung mit den in Sachſen errichteten Biſthuͤmern
erſt recht befeſtiget hatte, ſo auch das Band
mit den Wendiſchen Laͤndern dadurch feſter zu
H 4knuͤpfen
[120]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
knuͤpfen hoffte, wenn er ſie mit Biſchoͤfen verſehen
ließ, und unter die Aufſicht eines tuͤchtigen Erz-
biſchofs ſetzte. Zum Sitze dieſes Erzbiſthums be-
ſtimmte er Magdeburg, das wegen ſeiner Lage
an der Elbe ſeiner erſten Gemahlinn Edgid, einer
Engliſchen Prinzeſſinn, einige Aehnlichkeit mit Lon-
don an der Themſe zu haben geduͤnkt, und daher
vielerley Vorzuͤge erhalten hatte. Schon im Jahre
937. war daſelbſt eine Benedictiner-Abtey mit
einer dem heiligen Moritz gewidmeten Kirche an-
gelegt. Eine andere Moritzkirche ward bey Otto’s
erſtem Zuge in Italien verwuͤſtet. Das gab noch
einen Bewegungsgrund mehr dazu, daß Otto da-
mit umgieng, zu Beſaͤnftigung des heil. Moritz
ihm zu Ehren die Moritzkirche zu Magdeburg aus
einer Kloſterkirche in eine erzbiſchoͤfliche Kirche zu
verwandeln. Wegen Widerſpruchs des Erzbiſchofs
zu Mainz und des Biſchofs zu Halberſtadt brachte
Otto die Sache erſt 968. muͤhſam zu Stande.
Den erſten Erzbiſchof ernannte er ſelbſt, ließ ihn
aber zu Rom das Pallium holen, wozu er des-
wegen vom Pabſte Johann dem XII. 962., und
von Johann dem XIII. 967. die Bewilligung er-
halten hatte. Den Benedictinern wurde ein an-
derer Platz in der Naͤhe angewieſen, wo das Klo-
ſter Bergen noch jetzt von dieſer Stiftung her uͤbrig
iſt. Der neue Erzbiſchof zu Magdeburg bekam
gleich ſechs Wendiſche Biſchoͤfe unter ſich, nehm-
lich die zu Meiſſen, Merſeburg, Zeiz, Havelberg,
Brandenburg und Poſen; woraus man zugleich
abnehmen kann, wie weit dieſe Gegenden da-
mals unter Teutſche Botmaͤßigkeit gekommen
waren.


So
[121]3) Otto der Große 936-974.

So erweiterte Otto auch den Umfang des Ge-XIV.
bietes des Erzſtifts Hamburg, da er nach einem
Zuge, den er gegen den Koͤnig Harald von Daͤne-
mark zur Vertheidigung der Marggrafſchaft Schles-
wig unternommen hatte, drey neue Biſthuͤmer zu
Schleswig und zu Ripen und Arhaus anlegte;
die ſowohl als noch ein neues Biſthum zu Alten-
burg im Wagerlande (das nachher nach Luͤbeck ver-
legt worden,) unter das Erzſtift Hamburg kamen. —
Noch errichtete unter dieſer Regierung der Herzog
Boleslav der II. von Boͤhmen ein Biſthum zu
Prag, das unter Aufſicht des Erzbiſchofs zu
Mainz kam.


Alle dieſe neue Stiftungen ließen nicht nurXV.
einen gruͤndlichern Fortgang des Chriſtenthums,
ſondern auch uͤberhaupt mehr Aufklaͤrung und Cul-
tur fuͤr die Wendiſchen Voͤlker hoffen. Sie wur-
den aber in der Folge noch oͤfters unterbrochen.
Die nach der Oſtſee naͤher gelegenen Laͤnder, als
das heutige Mecklenburg und Pommern, hatten
ohnedem an dieſen Stiftungen noch keinen Antheil.


Uebrigens hat auch ſonſt Otto nicht nur geiſt-XVI.
liche Stiftungen mit ausnehmender Freygebigkeit
beſchenkt und mit vielerley Vorrechten begnadiget,
ſondern uͤberall vorzuͤglich Biſchoͤfe und Erzbi-
ſchoͤfe
in Ehren gehalten; wozu ihn mehr als
eine Urſache bewegen konnte. Erſtlich waren ſie
diejenigen, deren er ſich allein in Geſchaͤfften bedie-
nen konnte, wenn Schriften auszufertigen, oder
aus Schriften Vortraͤge zu thun waren. Wie
unwiſſend der weltliche Stand nach der damaligen
H 5Er-
[122]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Erziehung war, laͤßt ſich daraus abnehmen, daß
Otto ſelbſt erſt nach dem Tode ſeiner erſten Ge-
mahlinn etwas Latein, und alſo leſen und ſchrei-
ben lernte (denn man ſchrieb damals nichts als
in dieſer Sprache.) Alle Ausfertigungen geſcha-
hen unter Aufſicht eines Erzbiſchofs, der eben bey
Hofe war, oder in deſſen Dioeces die Sache ein-
ſchlug. So vertrat damals noch nicht allein der
Erzbiſchof von Mainz die Stelle eines Erzcanzlers,
ſondern eben die Stelle bekleideten auch die Erz-
biſchoͤfe von Trier, Coͤlln, Salzburg, wenn ſie
eben bey Hofe waren, oder wenn Geſchaͤffte aus
ihren Gegenden vorkamen. Es hat aber nicht
lange mehr gewaͤhrt, daß dem Erzſtifte Mainz
alleine die Erzcanzlerſtelle in Teutſchen Sachen zu
Theil geworden.


XVII.

Auf der andern Seite fiengen Herzoge und
Grafen an ſich in ihren Gebieten mehr heraus-
zunehmen, als die Eigenſchaft bloßer Befehlsha-
ber, wie ſie nach der Carolinger-Fraͤnkiſchen Staats-
verfaſſung ſeyn ſollte, ihnen zu geſtatten ſchien; in-
ſonderheit begann es ſchon merklich zu werden, daß
ſie damit umgiengen ihre Stellen erblich zu machen,
und Kronguͤter, die ſie nur zur Benutzung haben
ſollten, mit ihrem Eigenthume zu vermengen. In
dieſer Ruͤckſicht konnten die Biſchoͤfe und Erzbi-
ſchoͤfe uͤberall von der Krone zu einem guten Gleich-
gewichte gebraucht werden; auch fuͤhlten das die
Herzoge bald ſo, daß ſie die Biſchoͤfe ihrer Ge-
genden gleichſam wie Spionen des Hofes anſahen.
Dieſe hingegen kamen ſchon ſo empor, daß man
zu Einſchraͤnkung ihres Uebermuthes noͤthig fand
zu verordnen, daß bey Kirchenviſitationen ein Bi-
ſchof
[123]3) Otto der Große 936-974.
ſchof nicht mit mehr als 50. Pferden erſcheinen
ſollte.


Das alles kam der Krone deswegen zu Gute,XVIII.
weil Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe doch meiſt nur Crea-
turen des Hofes waren. Sie ſollten zwar
jedesmal von der Geiſtlichkeit und dem Volke in
jedem Stifte oder Erzſtifte frey gewehlt, und
demnaͤchſt erſt vom Koͤnige mit Ring und Stab
belehnet werden; aber nicht ſelten ward die Be-
lehnung einem verſagt, der nicht nach des Hofes
Sinne war, und mancher wurde ohne vorgaͤngige
Wahl nur von Hofe aus ernannt. Je groͤßer
alſo der Einfluß des Hofes auf die Perſonen war,
die zu den hoͤheren geiſtlichen Ehrenſtellen befoͤr-
dert wurden; je ſicherer konnte der Hof auch auf
ihre Wachſamkeit und Unterſtuͤtzung gegen den
weltlichen Stand rechnen, wenn dieſer zu hoch hin-
aus wollte.


Mit den Herzogthuͤmern ſelbſt giengen un-XIX.
ter dieſer Regierung einige wichtige Veraͤnderungen
vor. Das Herzogthum Sachſen war unter der
vorigen Regierung mit der Perſon des Koͤnigs ver-
einiget geblieben. Otto ſcheint das nach ſeiner
Ehrbegierde fuͤr minder anſtaͤndig gehalten zu ha-
ben. Gleich in den erſten Jahren ſeiner Regie-
rung beſtellte er in Sachſen einen eignen Fuͤrſten,
Hermann Billung, deſſen maͤnnlicher Stamm, ſo
lange er gebluͤhet hat, nachher im Beſitz des Her-
zogthums Sachſen geblieben iſt. Als eignes Erb-
gut beſaß dieſer Stamm zugleich das Schloß und
Gebiet von Luͤneburg, das hernach auf eine Toch-
ter
[124]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ter des Hauſes fiel, die in die Welfiſche Familie
vermaͤhlt wurde, und damit das Luͤneburgiſche zu-
erſt an die Vorfahren des Hauſes Hannover und
Braunſchweig brachte.


XX.

Das Herzogthum Schwaben hatte Otto an
ſeinen eignen Sohn, das Herzogthum Lothringen
an ſeinen Schwiegerſohn vergeben. Beiden nahm
er aber auch wieder ihre Herzogthuͤmer, weil ſie
ſich eine Empoͤrung hatten zu Schulden kommen
laßen. Die Verwaltung des Lothringiſchen Herzog-
thums vertraute er gar einem geiſtlichen Herrn an.
Das war ſein eigner Bruder Bruno, Erzbiſchof
zu Coͤlln, der endlich gut fand, um die Macht
dieſes Herzogthums zu brechen, aus Lothringen zwey
Herzogthuͤmer zu machen; wie ſeitdem Oberloth-
ringen von Niederlothringen immer unterſchie-
den worden iſt, und am Ende jenes nur allein den
Namen Lothringen behalten hat.


XXI.

In Baiern hatte Arnulfs des Boͤſen aͤlteſter
Sohn ſich das Herzogthum erblich anmaßen wol-
len. Otto nahm es ihm aber, und vergab es erſt
an Arnulfs Bruder Berthold, hernach an ſeinen
eignen Bruder Henrich. — So nahm Otto uͤber-
haupt zur Maxime, die groͤßten weltlichen und geiſt-
lichen Stellen ſoviel moͤglich mit Herren ſeines eignen
Hauſes zu beſetzen (v). Inzwiſchen ward allemal
doch
[125]3) Otto der Große 936-974.
doch ſchon eine gewiſſe Criſis merklich, worin ſich
das Verhaͤltniß zwiſchen der Krone und den Her-
zogthuͤmern jetzt fand.


Um die Herzoge nicht zu maͤchtig werden zuXXII.
laßen, ward deswegen um dieſe Zeit noch eine be-
ſondere Veranſtaltung in Gang gebracht, da man
ihnen ſo genannte Pfalzgrafen an die Seite ſetzte.
Unter dieſem Namen verſtand man nach der Caro-
linger Verfaſſung nur ſolche Perſonen, die bey Hofe
die Stelle eines Richters vertraten, und alſo unter
den Augen des Koͤnigs oder an deſſen Stelle zu
Gerichte ſaßen. Jetzt wurden Pfalzgrafen in Pro-
vinzen angeſetzt, zu deren Beſtimmung man angab,
daß ſie in Sachen ſolcher Partheyen, die von der
herzoglichen oder graͤflichen Gewalt befreyet waren,
als koͤnigliche Landrichter das Recht handhaben,
oder auch in Abweſenheit der Herzoge deren Stelle
vertreten, und uͤbrigens die koͤniglichen Cammer-
guͤter verwalten ſollten; Aber auch die Herzoge
wurden angewieſen, ohne ihre Beyſtimmung in
wichtigen Dingen nichts zu unternehmen. Solche
Pfalzgrafen finden ſich ſeitdem in Lothringen, Sach-
ſen, Schwaben und Baiern (w). Sie wurden
aber bald ſelbſt ſo gut, wie die Herzoge, erblich,
und zuletzt in jedem Herzogthume mit der herzog-
lichen
[126]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
lichen Familie ſelbſt vereiniget. Nur die Lothrin-
giſchen oder ſo genannten Rheiniſchen Pfalzgrafen
haben ſich in beſonderen Geſchlechtern oder Linien
erhalten, wovon eines unſerer erſten Haͤuſer noch
jetzt den Namen fuͤhret, obgleich die urſpruͤngliche
Realitaͤt der Pfalzgrafſchaft laͤngſt in Vergeſſenheit
gerathen iſt. Nur Wuͤrde und Rang haben ſich
in ſo weit erhalten, daß der pfalzgraͤfliche Titel,
wie ihn das einzige Haus Pfalz noch jetzt fuͤhret,
dem herzoglichen Titel gleich geſchaͤtzt, und alſo uͤber
den bloß graͤflichen Titel weit erhaben gehalten wird.


XXIII.

So ſehr uͤbrigens alles dieſes dahin uͤberein-
ſtimmend wirken konnte, daß das Hauptwerk von
der Carolinger Staatsverfaſſung noch aufrecht er-
halten, oder wo es in Abnahme gekommen war,
wo moͤglich hergeſtellt werden moͤchte; ſo begreif-
lich wird es, wie ſehr dieſe Zwecke natuͤrlicher Weiſe
verfehlt werden mußten, ſo bald in der Folge die
Mittel, die man dazu veranſtaltet hatte, ſelbſt aus
der Art ſchlugen; wie ich nicht nur von den Pfalz-
grafen eben erwehnt habe, ſondern bald Gelegen-
heit haben werde noch weiter bemerklich zu machen,
wie der Einfluß des Hofes in Anſehung der Biſthuͤ-
mer und Erzbiſthuͤmer nachher ganz eine entgegen-
geſetzte Wendung bekommen hat.


XXIV.

Das groͤßte Ungluͤck war, daß mit dem Ver-
falle der Schulanſtalten, wie ſie Carl der Große
nur zu machen angefangen hatte, die ganze Nation
in die aͤußerſte Unwiſſenheit zuruͤckfiel. Woruͤber
das Fauſtrecht immer tiefere Wurzeln ſchlug, und
unerhoͤrte Sitten allen Wohlſtand verdunkelten.
Selbſt
[127]3) Otto der Große a) 936-974.
Selbſt das, was bey einer wohl geordneten Ge-
richtsverfaſſung nach rechtlichem Gehoͤre beider
Theile und nach unpartheyiſcher Pruͤfung der Be-
weiſe und in Anwendung zu bringenden Geſetze
durch Urtheil und Recht entſchieden werden ſollte,
ward jetzt großentheils auf den Ausſchlag des De-
gens geſetzt. Sogar der Geſetzgebung Stelle ſollte
dadurch vertreten werden. Man ſtritt z. B. uͤber
die Frage: ob Enkel in Beerbung ihrer Großeltern
mit deren noch lebenden Kindern gleichgeſetzt wer-
den ſollten? Es kam in Vorſchlag, zu Pruͤfung
dieſer Frage eine Commiſſion niederzuſetzen Otto
ſelbſt hielt es aber fuͤr anſtaͤndiger, die Sache
durch einen Zweykampf entſcheiden zu laßen; da
dann derjenige, der zum Vortheil der Enkel focht,
den Sieg davon trug (x).


Seiner eignen Tochter Ehre ließ Otto gegenXXV.
uͤble Nachreden eines gewiſſen Grafen auf den Aus-
ſchlag eines Zweykampfs ankommen, der zum Gluͤck
zu ihrem Vortheile ausfiel. Auch in buͤrgerlichen
Rechtshaͤndeln uͤber Geld oder anderes Eigenthum
ließ man lieber mit dem Degen fechten, um Par-
theyen mit Eidesleiſtungen nicht in Gefahr von
Meineid zu ſetzen, wie man ſonſt beſorgte. —
Unter ſolchen Umſtaͤnden darf man ſich wohl nicht
wun-
[128]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
wundern, wenn hernach der Hang zur Selbſthuͤlfe
ſo uͤberhand nahm, daß Gewaltthaͤtigkeiten und
Mordthaten in unerhoͤrter Menge vorgiengen.


IV.
Von den drey letzten Saͤchſiſchen Kaiſern, Otto
dem II. und III., und Henrich dem II. 974-1024.


I. Unveraͤnderte Verfaſſung dieſer Zeit. — II. Zwey
Herzogthuͤmer in einer Perſon. — III. Lothringen aufs neue
in Teutſcher Verbindung befeſtiget. — IV. Otto des III.
Minderjaͤhrigkeit und muͤtterliche und großmuͤtterliche Vor-
mundſchaft. — V. Realvereinigung des Roͤmiſchen Kaiſer-
thums mit dem Teutſchen Reiche. — VI. Henrichs des II.
neue Vertraͤge mit dem paͤbſtlichen Stuhle. — VII. Errich-
tung des Biſthums Bamberg.


I.

Unter den beiden folgenden Regierungen, da
Otto dem Großen Sohn und Enkel gleiches
Namens folgten, wie jeder bey Lebzeiten des Va-
ters ſchon die Verſicherung der Thronfolge erhal-
ten hatte, gieng in der Verfaſſung des Teutſchen
Reichs keine Veraͤnderung vor.


II.

Von Otto demII., der nur neun Jahre
974an der Regierung war, verdient nur das bemerk-
lich gemacht zu werden, daß ſeines Bruders Sohn
Otto, der ſeit 973. Herzog in Schwaben war,
im Jahre 976. auch noch das Herzogthum Baiern
dazu bekam; Ein Umſtand, der deswegen erheb-
lich iſt, weil er zum Beweiſe dient, daß es dem
Staatsrechte ſelbiger Zeiten nicht zuwider war,
daß ein Fuͤrſt zwey Herzogthuͤmer zugleich beſitzen
koͤn-
[129]4) Letzte Saͤchſ. Kaiſer 974-1024.
koͤnne; wie doch in der folgenden Zeit zum Nach-
theile der Welfiſchen Familie behauptet werden
wollen.


Ein Krieg, der zwiſchen Otto dem II. und demIII.
damaligen Koͤnige Lothar von Frankreich von neuem
zum Ausbruch kam, hatte vorzuͤglich wieder die
Abſicht der Krone Frankreich auf Lothringen zum
Gegenſtande; ward aber im Jahre 980. mittelſt
perſoͤnlicher Zuſammenkunft beider Monarchen durch
einen feierlichen Frieden geendiget. Von deſſen
Bedingungen haben wir zwar keine gleichzeitige
beſtimmte Nachrichten. Der Erfolg zeigt jedoch,
daß die Koͤnige in Frankreich nachher bey allen
Gelegenheiten die Teutſchen Koͤnige ferner als recht-
maͤßige Beſitzer von ganz Lothringen anerkannt
haben. In ſo weit iſt hier der Inhalt der vori-
gen Vertraͤge von 843. und 880. von neuem der-
geſtalt befeſtiget, daß die Grundlage der jetzigen
Graͤnzen von dieſer Seite des Teutſchen Reichs
noch immer davon herzuleiten iſt.


Bey Otto demIII. zeigt ſich gleich anfangsIV.
ein von der gegenwaͤrtigen Verfaſſung des Teut-983
ſchen Reichs noch ſehr verſchiedener Umſtand, da
waͤhrend ſeiner Minderjaͤhrigkeit erſt ſeine Mutter
Theophania, und nach deren Tode ſeine Großmut-
ter Adelheid die vormundſchaftliche Regierung fuͤhr-
te; wovon bisher noch kein Beyſpiel in unſerer
Geſchichte vorgekommen war, auch in der Folge
nur noch eines in der Minderjaͤhrigkeit Henrichs
des IV. vorkoͤmmt. Bey der nachher aufgekom-
menen Wahlfreyheit ließ ſich dergleichen in der Folge
Jnicht
[130]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
nicht mehr erwarten. (Unſere neuere Reichsgeſetze
(y) geben den Reichsvicarien die Adminiſtration
des Reichs, im Fall ein minderjaͤhriger Prinz zur
kaiſerlichen Regierung gelangen ſollte, doch ſo,
daß in deſſen Namen die Ausfertigungen geſche-
hen ſollen.)


V.

Allem Anſehen nach iſt uͤbrigens zwiſchen Otto
dem III. und dem Pabſte Gregor dem V. (der ſei-
nes Vaters Schweſter Enkel war,) eine neue Ver-
fuͤgung getroffen worden, daß von nun an jedes
Oberhaupt des Teutſchen Reichs von ſelbſten be-
rechtiget ſeyn ſollte, ſowohl das Longobardiſche
Koͤnigreich als das Roͤmiſche Kaiſerthum fuͤr ſich
in Anſpruch zu nehmen; ohne daß alſo beides,
wie bisher, nur noch an einen gewiſſen Stamm
gebunden ſeyn ſollte. Von dieſer Zeit an wurde
es alſo eine wahre Realverbindung, welche die
Kaiſerkrone auf ewig mit dem Beſitze der Teut-
ſchen Krone vereinigte. In der erſten Zeit gab es
zwar noch einige Bewegungen daruͤber. Allein
die Sache wurde gegen wiederholte Anſpruͤche durch-
geſetzt. — Daß aber Gregor bey dieſer Gelegen-
heit die ſieben Churfuͤrſten zu jedesmaliger Verrich-
tung der Kaiſerwahlen ernannt haben ſollte, iſt eine
offenbare Erdichtung der folgenden Zeiten.


VI.

Schon bey Henrich demII. ereignete ſich ein
1002Widerſpruch in Italien, weil er kein Nachkoͤmm-
ling, ſondern nur ein Seitenverwandter der Ottonen
war,
[131]4) Letzte Saͤchſ. Kaiſer 974-1024.
war, und den Teutſchen Thron durch freye Wahl
beſtiegen hatte. Gegen Arduin von Ivrea, der
ihm die Lombardiſche Krone ſtreitig machte, hatte
er Muͤhe aufzukommen. Nach deſſen Tode kam
er jedoch zum ruhigen Beſitze. Nur mit dem
Pabſte Benedict dem VIII. gieng er deſto nachthei-
ligere Bedingungen ein. Derſelbe uͤbergab ihm
vorerſt einen goldenen Apfel als ein Sinnbild der
Erdkugel, zum Zeichen, daß er als Roͤmiſcher Kai-
ſer ſich ſolle ſchmeichlen koͤnnen, Herr der Welt
zu ſeyn; aber auch zur Erinnerung, daß er die-
ſen Vorzug aus den Haͤnden des Pabſtes empfan-
gen habe. Und dann wurde feſtgeſetzt, daß kein
Fuͤrſt jemals die kaiſerliche Wuͤrde ſich anmaßen
ſollte, wenn ihn nicht der Pabſt erſt dazu tuͤchtig
befunden und gekroͤnt haͤtte. So ſieng ſchon Hen-
rich das Canzleyceremoniel an, daß er bis zum
Empfang der Kaiſerkrone ſich nur Roͤmiſcher Koͤ-
nig, nach der Kroͤnung erſt Roͤmiſcher Kaiſer ſchrieb.
Hingegen an ſtatt, daß ſeit Carls und Otto des
Großen Zeiten keine Pabſtwahl fuͤr rechtmaͤßig an-
erkannt worden war, wenn ſie nicht der Kaiſer
genehmiget hatte, ſo ward jetzt die Pabſtwahl von
dieſer Einſchraͤnkung frey gemacht.


Auch im Teutſchen Kirchenſtaate zeigte ſichVII.
endlich unter dieſer Regierung ein bisher nicht
ſo bemerklich geweſener Einfluß des paͤbſtlichen
Stuhles, da mehr unter deſſelben, als unter des
Kaiſers eignem Anſehen das neue Biſthum Bam-
berg
errichtet wurde; nicht wie bisher unſere
Kaiſer und Koͤnige Biſthuͤmer errichtet hatten, wo
erſt neue Laͤnder von ihnen erobert und zur Chriſt-
lichen Religion gebracht worden waren; ſondern
J 2mit-
[132]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
mitten in Teutſchland, wo ſchon lange die Kirchen-
verfaſſung ihre Einrichtung hatte, und dieſe neue
Dioeces erſt anderen Biſchoͤfen entzogen werden
mußte. Ueberdies bekam aber dieſes neue Bis-
thum ſolche Vorzuͤge und Befreyungen, daß es
als ein dem paͤbſtlichen Stuhle unmittelbar unter-
gebenes Biſthum von aller erzbiſchoͤflichen Gewalt
befreyet, und allen bisherigen Teutſchen Biſthuͤ-
mern im Range vorgeſetzt wurde, wie es bis auf
den heutigen Tag auf unſerem Reichstage ſeinen
Platz unmittelbar nach den Erzbiſchoͤfen behauptet.
Noch ſeltſamer iſt es, daß dieſes Biſthum eben
die Churfuͤrſten, welche ſich eine Ehre daraus ma-
chen, bey der Kaiſerkroͤnung die vier Erzaͤmter
des Reichs auszuuͤben, auch zu ſeinen Erbhof-
aͤmtern hat; wiewohl damit wieder adeliche Fa-
milien von ihnen belehnt ſind.


V.
[133]5) Conrad der II. 1024-1039.

V.
Von Conrad dem II. 1024-1039.


I. Nach Abgang des Saͤchſiſchen Stamms mußte zwar ein
neuer Koͤnig gewehlt werden; aber noch war deswegen Teutſch-
land kein Wahlreich. — II. Art und Weiſe der damaligen
Wahl. — III. Erhaltene Verbindung mit Italien. — IV. V.
Vereinigung des Burgundiſchen Reichs mit dem Teutſchen. —
VI. Ganz anderes Verhaͤltniß mit Italien. — VII. Verluſt von
Schleswig und Herſtellung der ehemaligen Graͤnze der Eider.


Nach Henrichs des II. Tode war vom bisheri-I.
gen Saͤchſiſchen regierenden Stamme kein1024
zur Thronfolge berechtigter maͤnnlicher Nachkoͤmm-
ling mehr vorhanden. Alſo war es eine voͤllig
freye Wahl, die Conrad denII. auf den Thron
erhub; ohne daß jedoch deswegen Teutſchland noch
zur Zeit ein Wahlreich war. Jetzt kam vielmehr
abermals ein regierender Stamm von dieſem her-
zoglich Fraͤnkiſchen Hauſe in Gang. Nur dafuͤr
ward auf eben den Fuß, wie es unter den zwey
erſten Ottonen ſchon geſchehen war, immer von
Vater auf Sohn geſorget, daß dem Sohne ſchon
bey Lebzeiten des Vaters die Thronfolge zugeſichert
wurde; zumal wenn ſonſt etwa die Minderjaͤhrig-
keit oder ein anderer aͤhnlicher Umſtand ein Hinder-
niß haͤtte machen koͤnnen.


Von der Art und Weiſe, wie Conrad der II.II.
gewehlt wurde, iſt nur noch zu bemerken, daß die
Wahl noch nicht von ſieben Churfuͤrſten geſchah,
wie doch haͤtte geſchehen muͤßen, wenn obgedachte
Erdichtung, daß Gregor der V. die Churfuͤrſten
J 3errich-
[134]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
errichtet habe, Grund gehabt haͤtte. Sie geſchah
vielmehr von der ganzen Volksmenge, wie ſie zwi-
ſchen Mainz und Worms an beiden Ufern des
Rheins gelagert war; alſo auch noch nicht zu Frank-
furt am Main. Nur vom Erzbiſchofe von Mainz
wird ſchon erwehnt, daß er die erſte Stimme da-
bey zu fuͤhren gehabt habe.


III.

In Italien fand Conrad der II. wieder aͤhn-
liche Schwierigkeiten, wie ſie Henrich der II. gefun-
den hatte. Er ſetzte aber auch diesmal die Beybe-
haltung der einmal zwiſchen Teutſchland und Italien
eingegangenen Verbindung gegen alle Widerſpruͤche
durch; wobey es hernach bis auf den heutigen Tag
in ſo weit geblieben iſt, daß ſeitdem einem jeden
einmal rechtmaͤßig in Teutſchland erwehlten Koͤnige
das Recht zur Roͤmiſchen und Longobardiſchen Krone
weiter nicht mehr beſtritten worden iſt. Als Conrad
der II. die Einwohner von Pavia, die nach Henrichs
des II. Tode den dortigen koͤniglichen Pallaſt verwuͤſtet
hatten, daruͤber zur Verantwortung zog; ſuchten
ſie darin eine Entſchuldigung, daß ſie nach Hen-
richs Tode keinen Koͤnig gehabt haͤtten, alſo auch
keines Verbrechens einer beleidigten Majeſtaͤt ſchul-
dig erklaͤrt werden koͤnnten. Conrad fuͤhrte ihnen
aber zu Gemuͤthe, wenn gleich der Koͤnig geſtor-
ben, waͤre doch das Reich immer uͤbrig geblieben.
Dieſer Grundſatz findet ſeitdem bis auf den heu-
tigen Tag ſtatt.


IV.

Eine andere Gelegenheit um das Teutſche
Reich ſich verdient zu machen benutzte Conrad vor-
trefflich, als mit dem Koͤnige Rudolf dem III. von
Burgund der Mannsſtamm dieſes Hauſes erloſch.
Auf
[135]5) Conrad der II. 1024-1039.
Auf dieſen Fall waren zwar ſchon unter der vori-
gen Regierung gewiſſe Verabredungen getroffen,
die ſich aber mehr auf die perſoͤnliche Abſtammung
Henrichs des II. von Rudolfs Schweſter, als auf
eine Realverbindung zwiſchen dem Teutſchen und
Burgundiſchen Reiche zu beziehen ſchienen. Con-
rad mußte erſt mit gewaffneter Hand die Erneue-
rung dieſer Verabredung zu ſeinem und des Teut-
ſchen Reichs Vortheile bewirken; war auch gluͤck-
lich gnug, nach eingetretenem Falle den Beſitz zu
ergreifen und ſich wider alle Gegenbemuͤhungen dar-
in zu erhalten. Damit wurde nun die Graͤnze
des Teutſchen Reichs auch von dieſer Seite wieder
bis an die Rhone und Saone, als die ſchon im
Verduͤniſchen Vertrage 843. beſtimmten Graͤnzfluͤſſe
des Weſtfraͤnkiſchen Reichs, erweitert. Alſo wurde
nicht nur die heutige Schweiz nebſt Savoyen, ſon-
dern auch Provence und Dauphine, nebſt der Graf-
ſchaft Burgund, wie auch Moͤmpelgard und an-
dere Gebiete dieſer Gegend von nun an mit dem
Teutſchen Reiche vereiniget. Dieſe Vereinigung
geſchah aber nicht ſo, wie die Lombardey von de-
ren erſter Eroberung her als ein nur unterwuͤrfiges
Land behandelt worden war, ohne an Teutſchen
Reichsverſammlungen und anderen Indigenatsvor-
zuͤgen Theil zu nehmen; ſondern ſo, daß die Staͤnde
des Burgundiſchen Reichs den uͤbrigen Teutſchen
Reichsſtaͤnden wieder voͤllig gleich gehalten, und
ſowohl mit Sitz und Stimme zu ihren Reichs-
verſammlungen als zu allen anderen Nationalvor-
zuͤgen in gleicher Maaße zugelaßen wurden. So
war alſo ſeitdem zwiſchen Burgundiſchen und Teut-
ſchen oder auch ehedem Lothringiſchen Staͤnden kein
Unterſchied. Ueberall ſtanden Biſchoͤfe, Erzbiſchoͤfe
J 4und
[136]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
und andere Praͤlaten, ſodann Herzoge, Marggra-
fen, Pfalzgrafen, und andere Grafen, wie auch
Reichsſtaͤdte oder andere Staͤdte unter einander in
einerley Verhaͤltniſſen.


V.

Wenn man ſelbſt bis auf den urſpruͤnglichen
Umfang der Fraͤnkiſchen Monarchie zuruͤckgehet, ſo
war der Zuwachs ſowohl von Burgund als Lothrin-
gen in der That nur eine Wiedervereinigung meh-
rerer nur von einander abgekommenen Theile eines
Ganzen. Deſto natuͤrlicher war es, daß dieſe
Voͤlker mit den uͤbrigen Teutſchen nur als von
neuem verbruͤdert behandelt wurden. Deſto gruͤnd-
licher waren auch die Vortheile, die ſich von die-
ſer Wiedervereinigung erwarten ließen. Die Vor-
theile waren aber ſelbſt deswegen ungemein be-
traͤchtlich, weil dadurch das Teutſche Gebiet jetzt
nach Suͤden bis an das Mittellaͤndiſche Meer, wie
nach Norden zu an die Nord- und Oſtſee ſich er-
ſtreckte. Toulon und Marſeille wurden jetzt Teut-
ſche Haͤfen. (Schade nur, daß dieſe Vortheile
nicht in ihrer Vollſtaͤndigkeit die folgenden Zeiten
hindurch geblieben ſind, weil die Folge der Zeit
die wichtigſten Laͤnder dieſer Gegend theils in Fran-
zoͤſiſche Haͤnde gebracht, theils in unabhaͤngige Frey-
heit geſetzt hat; wie jenes mit Provence, Dau-
phine und Franchecomte, letzteres mit der Schweiz
der Fall iſt. Doch zehlt die Teutſche Reichsver-
ſammlung noch jetzt den Biſchof von Baſel, das
Herzogthum Savoyen, die gefuͤrſtete Grafſchaft
Moͤmpelgard, ja dem Namen nach ſelbſt den Erz-
biſchof von Biſanz noch unter die Mitglieder un-
ſers Reichsfuͤrſtenraths.)


Mit
[137]5) Conrad der II. 1024-1039.

Mit der Verbindung, worin Italien mit Teutſch-VI.
land ſtehet, hat es uͤberall eine ganz andere Be-
wandtniß. Sie hat ſelbſt in Anſehung der Lage,
des Himmelsſtrichs und der urſpruͤnglichen Verſchie-
denheit der Voͤlker, bey weitem nicht ſoviel natuͤr-
liches, als jene Vereinigung mit Burgund und
Lothringen. Aber auch was das politiſche Ver-
haͤltniß betrifft, iſt unter andern der auffallende Un-
terſchied, daß nie weder ein Erzbiſchof noch ein
Herzog von Mailand, oder irgend ein anderer Ita-
liaͤniſcher Fuͤrſt auf Teutſchen Reichsverſammlun-
gen Sitz und Stimme gehabt hat. Der Koͤnig von
Sardinien kann wegen Savoyen, aber nicht wegen
Piemont einen Comitialgeſandten nach Regensburg
ſchicken, weil dieſes zum Longobardiſchen, und nur
jenes zum Burgundiſchen Reiche gehoͤret.


Gegen eine ſolche Errungenſchaft, wie ConradVII.
der II. mit dem Burgundiſchen Koͤnigreiche gemacht
hat, kann man ihm ſchon eine Einbuße zu gut halten,
wodurch an einer andern Seite den Graͤnzen des
Teutſchen Reichs unter ſeiner Regierung ein engeres
Ziel geſetzt worden. Der damalige maͤchtige Koͤnig
Canut, der die drey Koͤnigreiche, Daͤnemark, Nor-
wegen und England zuſammen beſaß, vermochte Con-
raden dahin, daß er ihm die Marggrafſchaft Schles-
wig
zuruͤckgab, und alſo die Eider, wie ſie es ſchon
zu Carls des Großen Zeiten geweſen war, von neuem
zur noͤrdlichen Graͤnze des Teutſchen Reichs beſtimm-
te. Sie iſt es noch jetzt ſo genau, daß in Rendsburg
dieſſeits der Eider noch im Kirchengebete des Kaiſers
gedacht wird, hingegen in dem Theile der Stadt,
der jenſeits der Eider liegt, nicht mehr.


J 5VI.
[138]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.

VI.
Von Henrich dem III. 1039-1056.


I. Erweiterte Graͤnze gegen Ungarn. — II. Neue
Verſuche die kaiſerliche Hoheit wieder empor zu bringen. —
III. Hergeſtellte Abhaͤngigkeit der Pabſtwahlen vom kaiſer-
lichen Hofe; — IV. wie auch der Biſchofswahlen. — V. Un-
terbrochene Erblichkeit der Herzogthuͤmer.


I.

Ein Vorfall, der Henrich denIII. veranlaßte,
einen Zug in Ungarn vorzunehmen, iſt fuͤr
unſere Zeiten nur noch deswegen merkwuͤrdig, weil
bey dieſer Gelegenheit der Leithafluß zur Graͤnze
zwiſchen Oeſterreich und Ungarn feſtgeſetzt wurde,
womit die oͤſtliche Graͤnze des Teutſchen Reichs an
dem Striche Landes vom Kahlenberge bey Wien
bis an die Leitha doch immer einiges Gebiet gewann.


II.

Am meiſten zeichnete ſich aber dieſe Regierung
dadurch aus, daß ganz andere Entwuͤrfe ſowohl
in Anſehung des Kirchenſtaats als der weltlichen
Hoheit im Werke waren, womit die kaiſerliche
Gewalt wieder ihren hoͤchſten Gipfel zu erreichen
ſchien, wenn anders nicht bald darauf ein voͤlli-
ger Umſchlag der Sachen einen deſto tiefern Sturz
veranlaßt haͤtte.


III.

Im Kirchenſtaate wußte Henrich eine damalige
dreyfache Trennung des paͤbſtlichen Stuhls ſo gut
zu benutzen, daß mit Abſtellung der widrigen Ein-
richtung, die unter Henrich dem II. gemacht war,
die Pabſtwahl wieder auf den vorigen Fuß geſetzt
wur-
[139]6) Henrich der III. 1039-1056.
wurde, daß keine ohne kaiſerliche Genehmigung
gelten ſollte. Nun ward der paͤbſtliche Stuhl ſo
gar viermal nach einander mit Teutſchen Biſchoͤ-
fen beſetzt; ſchien alſo bald ſelbſt in voͤllige Ab-
haͤngigkeit vom kaiſerlichen Hofe zu kommen.


Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe ſollten zwar nachIV.
der bisherigen urſpruͤnglichen Verfaſſung von der
Geiſtlichkeit und dem Volke gewehlt, und vom Kai-
ſer alsdann nur mit Ring und Stab belehnet werden.
Allein die Wahlen geſchahen ſelten anders, als nach
dem Sinne des kaiſerlichen Hofes; meiſt beſtimmte
derſelbe gerade zu, wer alleine die Belehnung zu
erwarten habe. So behielt der Kaiſer es in ſei-
ner Gewalt, die geiſtlichen Stellen nur an ſolche,
die ihm angenehm waren, zu vergeben, und nur
ſolche, die ihm zugethan waren, zu jenen Stellen
zu befoͤrdern, deren Vorzuͤge auf ſolche Art ſelbſt
zu Unterſtuͤtzung der kaiſerlichen Vorrechte und
zum Gleichgewichte gegen weltliche Staͤnde mit
Nutzen gebraucht werden konnten. Doch auch
mit den weltlichen Staͤnden ſuchte Henrich ein ganz
anderes Verhaͤltniß aufzubringen.


Bisher war es ſchon haͤufig geſchehen, daßV.
Herzogthuͤmer von Vater auf Sohn vererbt,
und beynahe als eigenthuͤmliche Laͤnder behandelt
worden waren. Jetzt ließ Henrich ganze Herzog-
thuͤmer nach Gefallen mehrere Jahre unbeſetzt,
wie namentlich mit Kaͤrnthen der Fall war. Oder
er ſetzte ab und ein, wie es ihm gut duͤnkte.
Einem Herzoge von Baiern nahm er ſein Herzog-
thum, und vergab es an ſeinen eignen noch ganz
unmuͤn-
[140]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
unmuͤndigen Prinzen, und nach deſſen Abgang,
was noch unerhoͤrter war, an ſeine eigne Gemah-
linn. Einer, der in Ober- und Niederlothrin-
gen zugleich Herzog war, wuͤnſchte vergeblich,
beide Herzogthuͤmer auf ſeine zwey Soͤhne zu
bringen. In Niederlothringen ſetzte Henrich Frie-
derichen von Luͤxenburg, in Oberlothringen Albrecht
von Elſaß zum Herzoge. (Von des letztern
Bruders Sohne ſtammten hernach alle fernere
Herzoge von Lothringen ab, in gerader maͤnnli-
cher Linie fort bis auf Vater und Sohn, Franz
und Joſeph den II.)


VII.
[141]7) Henrich der IV. 1056-1106.

VII.
Vorbereitungen zu großen Revolutionen im
Staate und in der Kirche
unter
Henrich dem IV. 1056-1106.


I. Unter der Minderjaͤhrigkeit Henrichs des IV. ver-
einigte Bemuͤhungen des Pabſtes und Teutſcher Mißvergnuͤg-
ten, um die kaiſerliche Macht mehr einzuſchraͤnken. —
II. Vorbereitungen hierzu von Hildebrand, nachherigem Gre-
gor dem VII.III. Untergrabene Abhaͤngigkeit der Pabſt-
wahlen vom Kaiſer. — IV. Angriff auf das kaiſerliche
Recht die Biſchoͤfe mit Ring und Stab zu belehnen. —
V. VI. Verbot der Prieſterehe. — VII. In Gang gebrachte
Excommunication des Kaiſers. — Abſicht Teutſchland in
ein freyes Wahlreich zu verwandeln. — VIII. IX. Zuſam-
menhang des hiebey vor Augen gehabten Entwurfes eines
ganz neuen Staats- und Voͤlkerrechts: von zwey ſichtbaren
Haͤuptern der Welt, Pabſt und Kaiſer; aber jener uͤber
alles. — X-XV. Großer Antheil, den an allem dem die
um dieſe Zeit in Gang gebrachten Kreuzzuͤge bekommen haben.


Alles, was Henrich der III. gethan und verſuchtI.
hatte, um die kaiſerliche Gewalt wieder em-
por zu bringen, bekam bald eine ganz entgegen-
geſetzte Wendung, da nach Henrichs des III. nur
zu fruͤhzeitigem Tode ſein Sohn Henrich derIV.
als ein unmuͤndiger Prinz zur Regierung kam, deſ-
ſen muͤtterliche Vormundſchaft nicht im Stande
war, eine Revolution zu verhindern, von welcher
der groͤßte Theil der nachherigen Verfaſſung ab-
haͤngt, wie ſie meiſt noch jetzt iſt. Zwey maͤch-
tige Triebfedern waren es, die auf dieſe Revolu-
tion bald wechſelsweiſe bald zu gleicher Zeit wirk-
ten: eine von Rom aus, eine von einheimiſchen
Miß-
[142]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Mißvergnuͤgten. Beide waren einander gegenſei-
tig befoͤrderlich, und liefen am Ende auf einerley
Hauptzweck hinaus, der kaiſerlichen Macht weit
engere Graͤnzen zu ſetzen.


II.

Zu Rom lebte um dieſe Zeit ein Mann, dem
es vorbehalten zu ſeyn ſchien, die Iſidoriſchen Grund-
ſaͤtze, denen es bisher noch großentheils an ihrer
Ausfuͤhrung fehlte, erſt recht vollkommen, und ge-
wiß noch weit uͤber ihre eigentliche Abſicht hinaus, in
Gang zu bringen. Sowohl den paͤbſtlichen Stuhl
als alle Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe ohne Ausnahme,
ja den geſammten geiſtlichen Stand aus aller Ab-
haͤngigkeit vom Kaiſer und von allen weltlichen
Maͤchten los zu machen; den weltlichen Stand
hingegen, vom Bauern bis zum Monarchen hin-
auf, in voͤllige Unterwuͤrfigkeit unter die geiſtliche
Gewalt zu ſetzen; das war das Hauptziel aller
Entwuͤrfe, die Hildebrand ſchon von langer Hand
machte, da er anfangs nur noch als Rathgeber
anderer Paͤbſte hinter dem Vorhange arbeitete, bis
er zuletzt den paͤbſtlichen Stuhl ſelbſt beſtieg, und
nunmehr als Gregor derVII. erſt uͤberall recht
die letzte Hand anlegte.


III.

Das erſte, was in dieſer Abſicht vorbereitet
werden mußte, betraf ſelbſt die Pabſtwahl. Um
dieſe Wahl erſt bloß in geiſtliche Haͤnde zu brin-
gen, erſchien vorerſt ſchon im Jahre 1059. eine
Verordnung, die den Weg dazu bahnte, daß nicht,
wie bisher, das Volk und die geſammte Geiſtlich-
keit zu Rom, ſondern nur die Cardinaͤle (ſo nannte
man in der Folge diejenigen Praͤlaten, die als Bi-
ſchoͤfe zu der Roͤmiſchen Kirche eignem Sprengel
gehoͤr-
[143]7) Henrich der IV. 1056-1106.
gehoͤrten, oder zu der paͤbſtlichen Hauptkirche in
gleichem Verhaͤltniſſe, wie unſere Domherren zu
den biſchoͤflichen oder erzbiſchoͤflichen Kirchen, ſtehen)
den Pabſt wehlen ſollten. Dabey konnte man die
Vorrechte, die nach der bisherigen Verfaſſung dem
jedesmaligen Kaiſer bey der Pabſtwahl zuſtanden,
nicht ganz verkennen. Man nahm ſie aber auf
den Fuß, als ob ſie ein jeder Kaiſer nur fuͤr ſeine
Perſon in Geſtalt einer beſonderen Begnadigung
vom paͤbſtlichen Stuhle erlangen muͤßte. In der
Minderjaͤhrigkeit Henrichs des IV. und in den uͤbri-
gen damaligen Zeitumſtaͤnden fanden ſich nur zu
viele Reizungen, um ſchon damals den Verſuch zu
machen, den paͤbſtlichen Stuhl ohne Genehmigung
des kaiſerlichen Hofes zu beſetzen; Einen Verſuch,
der ſelbſt im Widerſpruche gleich das erſtemal
gluͤcklich durchgeſetzt wurde, da die verwittwete
Kaiſerinn Agnes zwar dem auf ſolche Art gewehl-
ten Pabſte Alexander dem II. einen andern unter
dem Namen Honorius der II. entgegenſetzen ließ,
dieſer aber jenem weichen mußte, nachdem ſelbſt
der Kaiſerinn inzwiſchen ihr eigner Prinz aus den
Haͤnden geſpielt, und ihre vormundſchaftliche Re-
gierung daruͤber geſtuͤrzt worden war.


Um auch andere biſchoͤfliche und erzbiſchoͤflicheIV.
Stellen von allem Einfluſſe zu befreyen, den bis-
her weltliche Maͤchte auf ihre Beſetzung gehabt
hatten, ward erſt von langer Hand her der Miß-
brauch geruͤget, da ſo haͤufig dergleichen Stellen mit
Geld erkauft waren, dergleichen Simonie bey Ver-
luſt der Pfruͤnde verboten wurde. Bald hernach
ward darauf das allgemeine Verbot aller Inveſti-
tur mit Ring und Stab
gebauet.


Mit
[144]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
V.

Mit allem dem vereinigte ſich endlich das all-
gemeine Verbot der Prieſterehe, das vollends
am wirkſamſten war, um den ganzen geiſtlichen
Stand uͤber alle Verbindung mit dem weltlichen
Stande voͤllig hinauszuſetzen. Bisher thaten nur
Moͤnche und Ordensleute das Geluͤbde eines ehe-
loſen Standes. Mit anderen Geiſtlichen, Biſchoͤ-
fen, Pfarrern, Domherren oder anderen Stifts-
herren hatte es, verſchiedener aͤlteren und neueren
Verordnungen ungeachtet, noch nicht dahin gebracht
werden koͤnnen, daß ſie nicht haͤufig verheirathet
geweſen waͤren, oder doch Beyſchlaͤferinnen gehal-
ten haͤtten. So großen Widerſtand es auch jetzt
fand, als nach dem Hildebrandiſchen Entwurfe allen
Geiſtlichen ohne Unterſchied ein unwiederrufliches
Geluͤbde einer beſtaͤndigen Eheloſigkeit zugemuthet
wurde; ſo gluͤcklich wurde es doch am Ende durch-
geſetzt. Eben damit ward aber auch das große
Gebaͤude der Hierarchie erſt recht zu ſeiner Vollkom-
menheit gebracht, weil nunmehr ein jeder Geiſtlicher,
von welcher Gattung er auch ſeyn mochte, kein groͤßer
Intereſſe in der Welt haben konnte, als das Ueber-
gewicht ſeines Standes nur bey ſeinem Leben moͤg-
lichſt zu benutzen. Fuͤr eigne Familie und recht-
maͤßige Nachkommenſchaft hatte er jetzt weiter nicht
zu ſorgen. Keine weltliche Obrigkeit konnte ihm
nunmehr weiter befoͤrderlich ſeyn. Je hoͤher hin-
gegen die Vorzuͤge des geiſtlichen Standes uͤber-
haupt nun noch hinauf getrieben werden konnten,
je mehr konnte er ſich ſchmeicheln, daß es auch ihm
zu ſtatten kommen koͤnnte. Waren alſo bisher nur
Ordensgeiſtliche der Welt abgeſtorben, und nur
ihrem Orden zugethan, ſo galt eben das jetzt von
allen Geiſtlichen ohne Unterſchied.


Der
[145]7) Henrich der IV. 1056-1106.

Der Erfolg hat nur zu ſehr gezeigt, wie ge-VI.
nau erſt dadurch dieſer geſammte Stand unter ſei-
nem gemeinſamen Oberhaupte unter einander ver-
kettet worden iſt. Nimmt jeder Soldat Theil dar-
an, wenn der Kriegsſtaat in einem Lande vermehrt,
oder mit groͤßerer Achtung behandelt wird; ſo iſt
das noch nichts gegen die Theilnehmung eines jeden
Geiſtlichen an den gemeinſamen Vorzuͤgen ſeines
Standes, dem er in Colliſionsfaͤllen ſelbſt das In-
tereſſe ſeiner Eltern und Verwandten ohne große
Muͤhe aufopfern wird. Sobald er vollends Kirche
und Staat in eben dem Verhaͤltniſſe, wie Seele
und Leib, oder wie das Ewige und Zeitliche, gegen
einander ſchaͤtzen zu muͤßen glaubt; ſo wird er
das Wohl der Kirche noch als einen weit hoͤhern
Grundſatz uͤber das Wohl des Staats gelten laßen.
In der beſten Meynung wird er dann letzteres dem
erſtern aufopfern. Was konnte aber ſicherer eine
ewige Scheidewand zwiſchen Staat und Kirche be-
feſtigen, als die allgemeine Eheloſigkeit des geiſt-
lichen Standes, die ſelbſt das natuͤrliche Band
der Blutsverwandtſchaft reiſſen mußte; geſchweige
dann, daß irgend ein Verhaͤltniß im Staate da-
wider ein Gegengewicht zu bewirken vermoͤgend ge-
weſen waͤre?


Ein wichtiger Schritt, um alles dieſes, undVII.
was ſich noch irgend damit in Verbindung ſetzen
ließ, geltend zu machen, beſtand in dem Kirchen-
bann
, den von allen Teutſchen Kaiſern das erſte-
mal Henrich der IV. uͤber ſich ergehen laßen mußte.
Unter anderen Umſtaͤnden wuͤrde derſelbe vielleicht
wenig Eindruck gemacht haben. Aber Gregor
der VII. nahm hierzu ſeine wohl uͤberlegte Zuflucht
Kgera-
[146]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
gerade um die Zeit, als der groͤßte Theil von Teutſch-
land ohnedem wider ihn aufgebracht war. Theils
hatten uͤberhaupt die Sachſen zu dieſer Fraͤnki-
ſchen Regierung kein rechtes Herz. Theils ſieng
ein gegenſeitiges Mißtrauen ſchon an, in oͤffent-
liche Gaͤhrungen auszubrechen. Daruͤber kam es
zu einem foͤrmlichen buͤrgerlichen Kriege, der ge-
wiſſermaßen damit feierlich eroͤffnet ward, daß un-
ter Anfuͤhrung eines paͤbſtlichen Botſchafters an
ſtatt des mit dem Kirchenbanne belegten und der
Regierung unfaͤhig erklaͤrten Kaiſers Henrichs des IV.
ein anderer Fuͤrſt auf den kaiſerlichen Thron erho-
ben werden ſollte; mit der ausdruͤcklich zugleich
erklaͤrten Abſicht, daß von nun an nicht mehr, wie
bisher, ein regierender koͤniglicher Stamm zur
Krone berechtiget ſeyn, ſondern bey jeder Erledi-
gung des Thrones, wenn derſelbe auch von Va-
ter auf Sohn gehen wuͤrde, dieſer doch nicht aus
einem Erbfolgsrechte, ſondern nur mittelſt freyer
Wahl dazu gelangen ſollte. Kurz: von nun an
ſollte aller Schatten eines Erbreichs aufhoͤren, und
Teutſchland nebſt dem Roͤmiſchen Kaiſerthume in
ein voͤllig freyes Wahlreich verwandelt werden.


VIII.

Wenn ſich das alles durchſetzen ließ, ſo war
auf der einen Seite keine weltliche Macht der geiſt-
lichen Gewalt mehr gewachſen, und auf der andern
Seite ſchien ſelbſt das Intereſſe der Teutſchen
Reichsſtaͤnde, ſowohl der weltlichen als der geiſt-
lichen, in eben dem Verhaͤltniſſe zu gewinnen, wie
die kaiſerliche Macht geſchwaͤcht wurde. In ſo
weit konnte es nicht fehlen, daß dieſe beide
Triebfedern einander freundſchaftlich die Hand
bieten mußten.


Dann
[147]7) Henrich der IV. 1056-1106.

Dann mochte nun immer dem Kaiſer die Ein-IX.
bildung gelaßen werden, daß er als Nachfolger
der ehemaligen Roͤmiſchen Kaiſer, wie ſelbige ſich
hatten ſchmeichlen laßen, Herr der Welt ſey.
So ließ ſich ſelbſt ein ſcheinbares Lehrgebaͤude auf-
fuͤhren, daß zwey ſichtbare Oberhaͤupter der
Welt von Gott angeordnet waͤren, ein geiſtliches,
unter dem alle Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe mit ihren
untergebenen Geiſtlichen ſtaͤnden, und ein weltli-
ches, das uͤber alle Koͤnige und Fuͤrſten gehe. Nur
durfte nicht dabey außer Acht gelaßen werden,
daß alle weltliche Gewalt zur geiſtlichen ſich ſo,
wie der Leib zur Seele, das Zeitliche zur Ewigkeit,
der Mond zur Sonne, verhalte. So vereinigte
ſich doch am Ende der hoͤchſte Gipfel aller menſch-
lichen Gewalt in der uͤber alles erhabenen Macht
des Roͤmiſchen Biſchofs, oder, wie nun ihm al-
leine dieſer Name eigen wurde, des Pabſtes(z).


Wuͤrklich waren alle dieſe Entwuͤrfe zu großX.
und zu weit umfaſſend, als daß ſie auf einmal und
nur durch einerley ganz einfache Mittel haͤtten zur
Vollziehung gebracht werden koͤnnen. War aber
irgend
K 2
[148]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
irgend noch ein Mittel, das zu eben dem Zwecke
mit fuͤhren konnte, fuͤr die dabey intereſſirten Theile
erwuͤnſchlich; ſo kam keines dem gleich, das um
eben dieſe Zeit noch vor dem Beſchluſſe der Regie-
rung Henrichs des IV. mit den bekannten Kreuz-
zuͤgen
in Gang gebracht wurde.


XI.

Kaum laͤßt ſich zwar vom wahren Geiſte der
Chriſtlichen Religion, die Gott nur im Geiſte und
in der Wahrheit angebetet wiſſen will, etwas ent-
fernters gedenken, als daß gottesdienſtliche Hand-
lungen, nachdem ſie an dieſem oder einem andern
Orte ausgeuͤbet werden, Gott wohlgefaͤlliger ſeyn
ſollten, und daß gegen unglaͤubige Voͤlker, nur um
ihnen ſolche Orte, wo Chriſtus ſichtbar gelebt, zu
entreiſſen, die Waffen ergriffen werden ſollten.
Inzwiſchen war das nun einmal ſchon lange ein-
gefuͤhrte Volksgeſinnung, daß Wallfahrten an Orte,
die der Aufenthalt heiliger Perſonen oder das An-
denken geſchehener Wunderthaten ſchaͤtzbar mache,
Gott vorzuͤglich gefallen muͤßten, und daß Men-
ſchen ſich ſelbſt um Gott verdient machen koͤnnten,
wenn ſie ihm zu Ehren das Schwerdt gegen Unglaͤu-
bige zuckten. So laͤßt ſichs begreifen, wie ſchon von
langen Zeiten her Teutſche und andere Europaͤiſche
Chriſten tauſendweiſe vorzuͤglich ihre Wallfahrten
nach Palaͤſtina gerichtet, um zu Bethlehem, Na-
zareth, Jeruſalem, als an den Orten, wo Chri-
ſtus ſelbſt gelebt und gelitten, ihre Andacht zu ver-
richten; und wie zu einer Zeit, da dieſen Wall-
fahrten von einer in ſelbige Gegenden neu vorge-
ruͤckten Nation mehrere Schwierigkeiten in Weg
gelegt worden, ſolche ungeheure Zuͤge in Gang
gebracht werden koͤnnen, daß in weniger als zwey
hun-
[149]7) Henrich der IV. 1056-1106.
hundert Jahren uͤber ſechs Millionen Menſchen,
wovon nur wenige zuruͤckgekommen, ſich dahin
ſprengen laßen.


Wenn man hieruͤber weiter nachdenkt, und tie-XII.
fer auf die Quellen zuruͤckgehet, die ſolche Folgen
ſowohl fuͤr die Teutſche als anderer Europaͤiſchen
Voͤlker Verfaſſung hervorbringen koͤnnen; ſo war
der erſte Grundſatz, wovon man ausgieng, daß
es hier nicht um einen Krieg zu thun ſey, der um
Zwiſtigkeiten dieſer oder jener Voͤlker oder um An-
ſpruͤche auf dieſe oder jene Laͤnder, als bloß welt-
liche und zeitliche Angelegenheiten mehrerer oder
weniger Menſchen gefuͤhret werden ſollte, ſondern
um einen Krieg, worin ſelbſt Gottes und Chriſti
eigene Sache zu verfechten ſey, der alſo unmittel-
bar geiſtliche Gegenſtaͤnde und ewige Belohnungen
zur Abſicht habe. Daraus zog man den Folgeſatz,
daß, wenn die Theilnehmung an dieſem heiligen
und fuͤr Gottes Sache zu fuͤhrenden Kriege mit
irgend bloß menſchlichen Verbindlichkeiten und Ver-
haͤltniſſen in Colliſion kaͤme, allenfalls Gott mehr
als Menſchen zu gehorchen ſey; daß alſo weder
Obrigkeit, noch Lehnherrſchaft, noch Leibeigenſchaft,
noch irgend ein Stand oder Geluͤbde, noch Ver-
haͤltniß zwiſchen Herren und Unterthanen, Eltern
und Kindern, Mann und Frau, Glaͤubiger und
Schuldner, jemanden davon zuruͤckzuhalten mit
Recht vermoͤgend ſey.


Dann hieß es ferner, ein ſolcher Krieg ſeyXIII.
nicht unter Befehlshabung irgend einer weltlichen
Macht, ſondern nur nach Vorſchrift des Statt-
halters Chriſti, unter deſſen oberſter Aufſicht zu
K 3fuͤh-
[150]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
fuͤhren. So bekam der Pabſt das Heft in die
Haͤnde, um allen Chriſtlichen Voͤlkern Geſetze vor-
ſchreiben zu koͤnnen, und um Kaiſer und Koͤnige
und Fuͤrſten und Edle nach Gutfinden zu entfer-
nen, ſo oft ihre naͤhere Anweſenheit nur den Ab-
ſichten des paͤbſtlichen Stuhls im Wege zu ſtehen
ſchien. Was haͤtte aber kraͤftiger wirken koͤnnen,
als auf ſolche Art die Lenkung aller weltlichen Maͤchte
in ſeiner Gewalt zu haben, und auf alle Faͤlle ſo-
wohl die Macht der Koͤnige und Fuͤrſten als den
Kern ganzer Voͤlker und Staaten zu entkraͤften?


XIV.

Freylich hatten dieſe Zuͤge auf der andern Seite
in der Folge wieder heilſame Wirkungen, da eine
ſolche Gemeinſchaft zwiſchen abend- und morgen-
laͤndiſchen Gegenden aus letzteren in jene mehr
Kenntniſſe und Geſchicklichkeiten verbreitete, und
neue Reizungen und Gegenſtaͤnde zur Schifffahrt
und Handlung an die Hand gab. Aber das ent-
ſtand dann doch ganz unabſichtlich daraus, ohne
daß es zum eigentlichen Entwurfe und Hauptzwecke
gehoͤrte. Auch zeigten ſich ſolche heilſame Folgen
meiſt erſt in entfernteren Zeiten, und nach Art der
goͤttlichen Vorſehung, wie ſolche ganz uͤber alle Er-
wartung oft Boͤſes noch zum Guten zu lenken weiß.
Allemal waren es fuͤr diejenigen, denen es zu gute
kam, ſehr theuer erkaufte Vortheile.


XV.

Alles das zeigte nun zwar noch nicht gleich un-
ter Henrich dem IV. ſeine volle Wirkung, auch nach-
her nicht zu gleicher Zeit auf einmal, ſondern ſo,
wie in der Natur die meiſten Veraͤnderungen bey-
nahe unbemerkt und nur ſtuffenweiſe hervorgebracht
werden. Aber die wirkende Kraft blieb doch nie
unthaͤ-
[151]8) Henrich der V. 1106-1125.
unthaͤtig; und ſo kam eine Staatsveraͤnderung nach
der andern zum Vorſchein, ſo wie ſie nach den
Zeitlaͤuften und Umſtaͤnden zur Reife gedeihen
konnten.


VIII.
Erfolg großer Veraͤnderungen unter Henrich dem
V., erſtlich in Anſehung der Kirche 1106-1125.


I. Concordat zwiſchen Henrich dem V. und Calixt dem II., —
II. vermoͤge deſſen der Kaiſer zwar die Belehnung mit Ring
und Stab verlohr, — III. aber doch jeden erwehlten Biſchof
mittelſt Scepters belehnen, und ſtreitige Wahlen entſcheiden
ſollte. — IV. Doch auch dieſes letztere Recht iſt den Kaiſern
nachher aus den Haͤnden geſpielt worden. — V-VIII. Die
Biſchofswahlen ſelbſt kamen ausſchließlich an die Domcapi-
tel, — die inzwiſchen ihr Moͤnchsleben verlaßen hatten, —
und nach eingefuͤhrter Ahnenprobe meiſt nur aus Adelichen
beſtanden; — IX. jetzt auch anfiengen den Biſchoͤfen Wahl-
capitulationen vorzulegen, und in der Sedisvacanz zu regie-
ren. — X. So wurden Biſthuͤmer und Domherrenpfruͤnden
meiſt nur Stiftungen fuͤr hohen und niedern Adel. — XI.
Eben ſolche Veraͤnderungen gab es in der Kloſterzucht. —
Neue Moͤnchsorden. — XII. Geiſtliche Ritterorden.


Den erſten Abſchnitt von dem, was von denI.
bisherigen Entwuͤrfen und daraus erwachſe-1122
nen Streitigkeiten zur Entſcheidung kam, machte
ein Vergleich (Concordat), ſo im Jahre 1122.
zwiſchen dem Kaiſer Henrich dem V. und dem Pabſte
Calixt dem II. uͤber die Inveſtitur der Biſchoͤfe-
geſchloſſen wurde; — ein Vergleich, der von
Rechts wegen noch jetzt zur Richtſchnur des Ver-
haͤltniſſes der kaiſerlichen und paͤbſtlichen Rechte
bey Beſetzung der Teutſchen Biſthuͤmer dienen ſollte.
K 4In
[152]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
In der That iſt dieſes Concordat auch noch immer
als eines der erſten Grundgeſetze anzuſehen, die
noch bis auf den heutigen Tag ihre Wirkſamkeit
behalten haben; eben deswegen noch jetzt der Muͤhe
werth, naͤher erkannt zu werden; obgleich nicht
alles mehr nach dem erſten urſpruͤnglichen Sinne
deſſelben in wuͤrklicher Uebung iſt.


II.

Die Belehnung mit Ring und Stab, als
geiſtlichen Sinnbildern der Vermaͤhlung eines Bi-
ſchofs mit der Kirche und der hirtenmaͤßigen Pflege
derſelben, mußte der Kaiſer gaͤnzlich fahren laſ-
ſen (a); wie bis jetzt weder der Kaiſer noch irgend
eine andere catholiſche weltliche Macht dergleichen
mehr in Uebung hat. Weil aber unſere Teutſche
Praͤlaten zugleich Land und Leute mit Regalien be-
ſitzen, die ſie vom Kaiſer zu Lehn tragen; ſo ſollte
jeder erwehlter Biſchof daruͤber die Belehnung mit-
telſt eines Scepters vom Kaiſer empfangen (b). —
Ich ſage, jeder erwehlter Biſchof. Denn dieſe
Wahlen ſollten jedem Stifte frey bleiben. Nur
ſollte der Kaiſer das Recht behalten, daß die Wah-
len in ſeiner Gegenwart geſchehen muͤßen, (wie
noch jetzt deswegen kaiſerliche Geſandten zu Bi-
ſchofswahlen geſchickt zu werden pflegen.) Und
dann ſollte der Kaiſer, wenn eine Wahl ſtreitig
ausfiele, ſolche Streitigkeiten mit Zuziehung des
Erz-
[153]8) Henrich der V. 1106-1125.
Erzbiſchofs und der uͤbrigen Biſchoͤfe eben der
Provinz zu entſcheiden berechtiget ſeyn (c).


In den Worten: erwehlter Biſchof, lag des-III.
wegen noch ein beſonderer Nachdruck, weil nach
der Wahl ein jeder Biſchof noch einer paͤbſtlichen
Beſtaͤtigung bedurfte, vor deren Empfange er eigent-
lich noch nicht den Titel: Biſchof, ſondern nur
erwehlter Biſchof oder kurz weg: Erwehlter,
(electus) fuͤhren durfte. Indem es alſo hieß:
der erwehlte Biſchof ſollte die Belehnung vom
Kaiſer ſuchen, ſo verſtand ſich das von jedem er-
wehlten noch nicht vom Pabſte beſtaͤtigten Biſchofe.
Alſo mußte nach dem Sinne dieſes Concordates
ein jeder Biſchof unmittelbar nach der Wahl ſich
zuerſt an den Kaiſer, um belehnt zu werden, und
dann erſt an den Pabſt, um die Beſtaͤtigung zu er-
langen, wenden. Folglich war es dann auch ganz
natuͤrlich, daß ſtreitige Biſchofswahlen nicht an
den Pabſt, ſondern an den Kaiſer zur Entſchei-
dung gelangten. Der Pabſt mußte hernach denje-
nigen, den der Kaiſer belehnt hatte, auch in ſeiner
geiſtlichen Wuͤrde beſtaͤtigen. So behielt der Kai-
ſer doch noch immer einen betraͤchtlichen Einfluß in
die Beſetzung der Teutſchen Biſthuͤmer, indem er
nur ſolchen Competenten, die nach ſeinem Sinne
waren, die Belehnung gab, und nicht ſelten noch
immer
K 5
[154]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
immer Biſthuͤmer nur nach ſeinem Gutfinden be-
ſetzte.


IV.

(Doch ſo blieb die Sache kaum noch hundert
Jahre. Da hernach ſelbſt einige Kaiſerwahlen
ſtreitig ausfielen, und von zwey Herren, deren jeder
ſich die Kaiſerwuͤrde zueignete, in ebenmaͤßig vor-
gefallenen ſtreitigen Biſchofswahlen der eine dieſem,
der andere einem andern die Belehnung ertheilen,
und damit die biſchoͤfliche Wuͤrde zuwenden wollte;
ſo trat der Pabſt ins Mittel, und eignete ſich die
Entſcheidung zu; mit ſo gluͤcklichem Erfolge, daß
ſeitdem ein ganz umgekehrtes Herkommen bis auf
den heutigen Tag daraus erwuchs. Denn nun-
mehr hat ein Teutſcher Biſchof nicht unmittelbar
nach ſeiner Wahl, ſondern erſt nach erhaltener
paͤbſtlicher Beſtaͤtigung die Belehnung beym Kai-
ſer zu ſuchen, wozu ſelbſt ein paͤbſtliches Schrei-
ben ihn dem Kaiſer empfiehlt. Wenn alſo jetzt,
wie noch vor einigen Jahren der Fall zu Luͤttich
war, in einer ſtreitigen Wahl ein Theil z. B. einen
Saͤchſiſchen Prinzen, ein anderer einen Grafen von
Outremont wehlet; ſo wird die Entſcheidung nicht
erſt vom Kaiſer, ſondern nur vom Pabſte erwartet.
Derjenige, den der Pabſt beſtaͤtiget, ſieht es jetzt
als ein ausgemachtes Recht an, daß ihm nunmehr
auch die kaiſerliche Belehnung nicht verſagt wer-
den kann. So hat der Pabſt uͤber den Kaiſer,
die geiſtliche Macht uͤber die weltliche, auch in
dieſem Stuͤcke, zwar nicht auf einmal, aber doch
in Gefolg eines von langer Hand gemachten, nie
außer Acht gelaßenen Entwurfs, am Ende den Sieg
davon getragen.)


Da
[155]8) Henrich der V. 1106-1125.

Da ich einmal von Biſchofswahlen ſpreche,V.
kann ich hier am fuͤglichſten bemerklich machen,
daß auch in den Wahlen ſelbſt von dieſer Zeit an
ſich eine Veraͤnderung entſpann, die bis auf den
heutigen Tag ihren Fortgang behalten hat. Nehm-
lich nach der urſpruͤnglichen Beſtimmung eines Bi-
ſchofs, da ihm die Seelſorge oder doch eine Auf-
ſicht uͤber diejenigen, die zur Seelſorge und zum
Gottesdienſte beſtimmt waren, anvertrauet ſeyn
ſollte, war es, der Billigkeit und der Natur der
Sache ſehr gemaͤß, einer jeden Gemeinde oder der
geſammten Geiſtlichkeit und dem ganzen Volke,
woruͤber der Biſchof geſetzt werden ſollte, uͤber-
laßen, einen ihnen anſtaͤndigen Mann, bis zur
Genehmigung der hoͤchſten Gewalt, dazu zu weh-
len. Alſo war es nicht der Clerus alleine, der zu
wehlen hatte, ſondern die Buͤrgerſchaft der Stadt,
worin der Biſchof ſeinen Sitz hatte, und die Rit-
terſchaft des ganzen Sprengels, dem der Biſchof
vorſtehen ſollte, waren berechtiget, an der jedesmali-
gen Biſchofswahl Theil zu nehmen. Selbſt, was
die Geiſtlichkeit betrifft, war nicht, wie jetzt, bloß
eine gewiſſe Anzahl Domherren, die unmittelbar zur
biſchoͤflichen Hauptkirche mit gehoͤrten, ſondern die
ganze Cleriſey der Stadt und des Landes zu glei-
cher Theilnehmung an jeder Wahl berechtiget.


Es war aber vorerſt mit den Domherren nachVI.
und nach in den meiſten Biſthuͤmern eine merk-
liche Veraͤnderung vorgegangen. Seit Ludewigs
des Frommen Zeiten ſollten ſie eigentlich, nach
der von einem gewiſſen Biſchof Chrodogang zu
Metz aufgebrachten Regel, auf aͤhnliche Art, wie
Moͤnche, ein gemeinſames Leben fuͤhren, beyſam-
men
[156]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
men wohnen, an einem Tiſche eſſen, in einem
Hauſe ſchlafen u. ſ. w. Verſchiedene biſchoͤfliche
Kirchen waren ſelbſt urſpruͤnglich mit Benedicti-
ner-Moͤnchen beſetzt (d). Allmaͤlig kam es aber
in einem Biſthume nach dem andern dahin, daß
an ſtatt der gemeinſchaftlichen Wohnung und Ta-
fel ein jeder Domherr ſeine eigne Einkuͤnfte zog,
ſeine eigne Wohnung nahm, ſeine eigne Wirth-
ſchaft fuͤhrte, und alſo ſeine Pfruͤnde nach Gutfin-
den benutzte, auch ſelbſt die ihm obliegenden got-
tesdienſtlichen Handlungen durch andere (Vicarien)
an ſeiner Stelle verrichten ließ. Nur allgemeine
Geſammtangelegenheiten blieben collegialiſchen Zu-
ſammenkuͤnften und Berathſchlagungen vorbehal-
ten, die dann bey verſammeltem Capitel gehal-
ten wurden. In ſolcher Abſicht war von Zeit zu
Zeit die perſoͤnliche Anweſenheit (Reſidenz) eines
jeden Domherrn erforderlich. So entſtand unge-
faͤhr die erſte Grundlage der Verfaſſung unſerer
heutigen Domcapitel.


VII.

Sowohl die Pfruͤnden der Domherren als die
biſchoͤflichen Einkuͤnfte waren in den meiſten Stif-
tern
[157]8) Henrich der V. 1106-1125.
tern ſo betraͤchtlich, daß nicht nur um Biſthuͤmer
und andere Praͤlaturen, ſondern auch um domherr-
liche Pfruͤnden die edelſten Geſchlechter von hohem
und niedern Adel ſich bewarben. Wo es nur
irgend die Umſtaͤnde und Zeitlaͤufte beguͤnſtigten,
wurden bald Stiftsgeſetze (Statute) zum ausſchließ-
lichen Vortheile des Adels errichtet, daß niemand,
als wer eine gewiſſe Anzahl adelicher Ahnen be-
weiſen koͤnne, zu Domherrenſtellen, geſchweige gar
zur biſchoͤflichen Wuͤrde zugelaßen werden ſollte.
Auf ſolche Art vereinigte ſich ein gewiſſes gemein-
ſchaftliches Intereſſe der Domcapitel und der Rit-
terſchaft, um wo moͤglich den Buͤrgerſtand ſowohl
von aller activen als paſſiven Theilnehmung an
den Biſchofswahlen auszuſchließen. Dazu war
aber kein bequemeres Mittel, als dem jetzt ohne-
dem in das hierarchiſche Syſtem eingeflochtenen
Grundſatze nachzugehen, daß es uͤberall unſchick-
lich ſey, weltliche Stimmen an Beſetzung geiſt-
licher Stellen Theil nehmen zu laßen. Fuͤgte
ſichs nun etwa, wie der Fall nicht ſelten war,
daß bey einer Biſchofswahl die Buͤrgerſchaft einen
andern Competenten beguͤnſtigte, als der Clerus
und die Ritterſchaft; ſo vereinigte dieſe ſich lie-
ber mit der Geiſtlichkeit, oder opferte lieber ihre
bisherige Theilnehmung am ganzen Wahlrechte auf,
um nur auch den Buͤrgerſtand deſto eher und
ſicherer ganz von allen Biſchofswahlen zu entfernen.


So kamen alſo die Biſchofswahlen, hier fruͤ-VIII.
her, dort ſpaͤter, meiſt ausſchließlich in die Haͤnde
der Domherren; faſt auf gleiche Art, wie die
Cardinaͤle nach und nach alleine zur Pabſtwahl,
und die Churfuͤrſten zur Kaiſerwahl gelangten.
Auch
[158]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Auch in anderen Ruͤckſichten entſtanden daraus
aͤhnliche Verhaͤltniſſe. Ein Biſchof, dem es nicht
gleichguͤltig war, was er fuͤr einen Nachfolger be-
kam, ſuchte gern die Domherren zu Freunden zu
haben. Sie waren ohnedem gleichſam Beſtand-
theile eines Leibes, da der Biſchof mit ihnen zu-
ſammengenommen die Kirche vorzuſtellen ſchien.
Sie wurden alſo zu Rathe gezogen; bald durfte
ohne ihre Einwilligung nichts wichtiges vorgenom-
men werden.


IX.

Wenn das alles zum Theil ein ſtillſchweigendes
Herkommen zu begruͤnden angefangen hatte; ſo
kam man bald ferner auf die Gedanken, bey der
Wahl eines neuen Biſchofs ihm eine Capitula-
tion
vorzulegen, worin er eidlich verſprechen mußte,
die darin enthaltenen Vorſchriften zu beobachten (e).
So entſtand ein ganz neues Verhaͤltniß zwiſchen
Biſchoͤfen und Domcapiteln, welche letztere waͤh-
render Zwiſchenzeit (Sedisvacanz), wenn der
biſchoͤf-
[159]8) Henrich der V. 1106-1125.
biſchoͤfliche Stuhl durch Todesfall, Reſignation oder
ſonſt erlediget war, ohnedem alle biſchoͤfliche Ge-
rechtſame auszuuͤben bekamen.


So verlohr ſich aber auch beynahe ganz dieX.
urſpruͤngliche Beſtimmung der Biſchoͤfe und Dom-
herren. Beide kamen jetzt in ſolche Umſtaͤnde,
daß man kaum mehr daran dachte, daß Gottes-
dienſt und geiſtliche Verrichtungen ihr Geſchaͤfft
ſeyn ſollten. Biſthuͤmer und Pfruͤnden wurden
jetzt als Stiftungen angeſehen, die zum Vortheile
des hohen und niedern Adels errichtet waren, und
Soͤhnen, die mit Geſchlechtsguͤtern nicht verſorgt
werden konnten, zur Verſorgung dienen mußten.


Eben ſo gieng es mit den Kloͤſtern, derenXI.
Reichthuͤmer ihren Mitgliedern ſovielen Stoff zu
Bequemlichkeiten des Lebens verſchafften, daß ſie
bald von der erſten Abſicht ihrer Stifter und von der
Vorſchrift ihrer Ordensregeln faſt gaͤnzlich abwi-
chen. Dieſem Uebel abzuhelfen, dachte man zwar
hin und wieder auf eine Umbildung des Benedicti-
nerordens, wie im XI. Jahrhunderte inſonderheit
zu Clugny in Bourgogne und zu Hirſchau im
Wuͤrtenbergiſchen geſchah (f); oder es entſtanden
ſelbſt
[160]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ſelbſt neue Orden, wie 1086. die Carthaͤuſer (g),
1098. Ciſtercienſer (h), 1121. Praͤmonſtratenſer (i).
Aber
(f)
[161]8) Henrich der V. 1106-1125.
Aber ſo groß der Ruf dieſer neuen Stiftungen we-
gen ihrer ſtrengeren Einrichtung anfangs war, ſo
bald zog die eben dadurch vermehrte Freygebigkeit
milder Stifter wieder eben die Fehler nach ſich,
die man den vorigen Stiftungen vorgeworfen hatte.
Die aͤltere Kloſterzucht fieng aber vollends an Noth
zu leiden, da erſt einzelne Kloͤſter, hernach gar
ganze Orden durch paͤbſtliche Gnadenbriefe der bis-
herigen Aufſicht der Biſchoͤfe entzogen, und un-
mittelbar dem paͤbſtlichen Stuhle unterworfen wur-
den, und da man endlich durch Aufnahme eigner
Laienbruͤder die Moͤnche von ihren bisherigen nuͤtz-
lichen Beſchaͤfftigungen mit Handarbeiten und Kuͤn-
ſten ganz abbrachte (k), ſtatt deren jetzt Muͤßig-
gang
(i)
L
[162]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
gang mit allen davon zu erwartenden uͤblen Folgen ein-
riß, die ſeitdem dem catholiſchen Theile von Europa
und Teutſchland bis auf den heutigen Tag nicht
anders als zur druͤckenden Laſt gereichen koͤnnen (l).


XII.

Noch eine neue Gattung geiſtlicher Stiftun-
gen eroͤffnete ſich endlich mit den geiſtlichen Rit-
terorden,
wozu die Kreuzzuͤge den Anlaß gaben;
anfangs in der Hauptabſicht, die kranken Pilgri-
me zu Jeruſalem im Hoſpitale zu pflegen; bald
zugleich in der damit verbundenen Abſicht, ſie ge-
gen Anfaͤlle der Unglaͤubigen zu ſchuͤtzen, woraus
am Ende der allgemeine Zweck erwuchs, ſich zu
Kriegen gegen Feinde der Chriſtlichen Religion ge-
brauchen zu laßen. So entſtanden 1099. Johan-
niter,
(k)
[163]9) Henrich der V. 1106-1125.
niter, 1118. Tempelherren, 1190. Marianer oder
Teutſche Ritter; beide erſte ohne Einſchraͤnkung auf
eine Nation, der letztere nur fuͤr Teutſchen Adel;
alle mit unglaublicher Ausbreitung.


IX.
Erfolg großer Veraͤnderungen unter Henrich
dem V. in der Staatsverfaſſung des Teutſchen
Reichs.


I. Erblichkeit der weltlichen Reichsſtaͤnde; — II. inſon-
derheit der Grafſchaften, in den Niederlanden eher, im uͤbri-
gen Teutſchlande ſpaͤter. — III. IV. Verwandelung der Gaue
in Grafſchaften, — mit erblichen Geſchlechtsnamen von den
Schloͤſſern als Stammſitzen eines jeden Hauſes; — V. wor-
in nur mit neu gebauten Schloͤſſern oder vorgenommenen
Todtheilungen zu Zeiten eine Aenderung vorgieng. — VI.
Gebrauch erblicher Wappen. — VII. Schwierigkeit genea-
logiſcher Eroͤrterungen uͤber das XII. Jahrhundert hinauf. —
Abſtammung unſerer meiſten fuͤrſtlichen Haͤuſer von ehemaligen
graͤflichen. — VIII. Erblichkeit der Herzogthuͤmer — Her-
kunft der Haͤuſer Lothringen und Braunſchweig-Luͤneburg von
dieſen Zeiten her; — IX. X. ingleichen der Haͤuſer Heſſen und
Baden. — XI. Art der Vererbung in fuͤrſtlichen Haͤuſern
auf mehrere Soͤhne, — XII. noch ohne Recht der Erſtge-
buhrt. — XIII. Nachherige vielfaͤltige Veraͤnderungen durch
haͤufiges Ausſterben vieler Haͤuſer. — XIV. Zuſtand der
Wendiſchen Laͤnder um dieſe Zeit.


Ein anderer Erfolg der bisherigen StreitigkeitenI.
betraf die Erblichkeit der Grafſchaften und
Herzogthuͤmer,
die man nach ihrer urſpruͤnglichen
Beſchaffenheit als Befehlshabungen, die von der
Krone abhaͤngig und mit jeder Perſon wandelbar
waͤren, behandelt hatte, jetzt aber als erbliches Ei-
genthum eines jeden Geſchlechts, das ſie einmal be-
ſaß, zu behaupten anfieng.


L 2Was
[164]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
II.

Was die Grafſchaften anbetrifft, war es in
den Gegenden, die ehedem zum Herzogthum Ober-
und Niederlothringen gehoͤret hatten, ſchon lange
gewoͤhnlich, daß Flandern, Namuͤr, Luͤxenburg,
Hennegau, Holland, Friesland als erbliche Fami-
lienguͤter angeſehen wurden, und die Geſchlechter,
die in ihrem Beſitze waren, darnach ihren Namen
fuͤhrten. Aber in den uͤbrigen Gegenden des Teut-
ſchen Reichs zwiſchen dem Rheine und der Elbe
gebrauchte man das Wort Grafſchaft (comitia,
comitatus
) vor dem zwoͤlften Jahrhunderte noch
nicht, wie jetzt, im geographiſchen Verſtande fuͤr
einen gewiſſen Strich Landes, ſondern nur zu Be-
zeichnung der graͤflichen Ehrenſtelle und Befehls-
habung um ſie von der herzoglichen, marggraͤfli-
chen, pfalzgraͤflichen u. ſ. w. zu unterſcheiden. Geo-
graphiſch waren die Laͤnder nur in Gaue einge-
theilt. Man ſprach alſo nicht von Guͤtern, die in
dieſer oder jener Grafſchaft gelegen waͤren, ſon-
dern man bezeichnete ſie nach dem Gaue, worin ſie
lagen, und nannte allenfalls nur den perſoͤnlichen
Namen des Grafen, der demſelben vorgeſetzt war;
z. B. ſo und ſoviel Hufen Landes oder das Dorf
N. N. in dem und dem Gaue gelegen, zur Be-
fehlshabung dieſes oder jenen Grafen gehoͤrig.
Dann war aber keine Folge, daß, wenn dieſer
Graf ſtarb, ſein Sohn ſein Nachfolger ſeyn muͤße.
Dem Koͤnige blieb es immer unbenommen, einen
jeden andern zum Grafen in eben dem Gaue zu
ernennen. So gewiß war es, daß Gaue keine
erbliche Geſchlechtsguͤter waren.


III.

Allein mit dem Anfange des zwoͤlften Jahr-
hunderts ward es in ganz Teutſchland merklich,
was
[165]9) Henrich der V. 1106-1125.
was vorher nur in Lothringen und in den heuti-
gen Niederlanden uͤblich geweſen war, daß graͤf-
lichen Geſchlechtern ihr Erbrecht nicht mehr beſtrit-
ten werden konnte. Es kam zwar nicht dahin,
daß man ganze Gaue gerade zu in erbliche Ge-
ſchlechtsguͤter verwandelt haͤtte. Aber ein jeder
Graf hatte ordentlicher Weiſe ſo, wie ein jeder
Dynaſt, ſeinen Wohnſitz in einem Schloſſe, das
vielleicht von ihm oder ſeinen Vorfahren erbauet
war, und deſſen Zugehoͤre nicht bloß aus urſpruͤng-
lichen Lehnguͤtern beſtanden, die eigentlich von der
Krone den Befehlshabern zur Benutzung an ſtatt
ihrer Beſoldung angewieſen waren, ſondern auch
großentheils aus eigenthuͤmlichen Geſchlechtsguͤtern,
die ſich jetzt ſchwer von jenen abſondern ließen.
So mochte leicht ein oder zweymal die Befehls-
habung eines Gaues von Vater auf Sohn gehen;
das drittemal ließ ſich das Gegentheil ſchon ſchwe-
rer durchſetzen; endlich ward es zum Herkommen,
den Sohn eines Grafen in Wiederbeſetzung des
ihm anvertrauten Gaues nicht zu uͤbergehen. So
war die Erblichkeit der graͤflichen Haͤuſer gemacht.


Davon war eine natuͤrliche Folge, daß manIV.
nicht mehr die Gaue nach ihren Namen, und die
ihnen vorgeſetzten Grafen nur perſoͤnlich mit ihren
Taufnamen Henrich, Wilhelm, Conrad u. ſ. w.
nannte. Sondern nun nannte man die Grafen,
wie die Dynaſten, nach den Schloͤſſern, worin ſie
ihren Wohnſitz hatten, z. B. Grafen von Wittgen-
ſtein, von Stollberg, von Tecklenburg u. ſ. w. Und
von eben dieſen Schloͤſſern bekamen die dazu ge-
hoͤrigen Gebiete als Dynaſtien oder Grafſchaften
ihre Namen; die ſich deswegen gemeiniglich mit
L 3der
[166]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Silbe Burg, Berg, Stein, Fels, Heim oder Au
endigten, als Iſenburg, Stollberg, Witgenſtein,
Braunfels, Wertheim, Hanau, Naſſau u. ſ. w.
Die Namen der Gaue verſchwanden hingegen,
beynahe mit dem Jahre 1100., faſt gaͤnzlich (m).
(Nur in einigen Abtheilungen der Reichsritterſchaft
kommen noch ſolche Namen vor, als Creichgau,
oder zu Bezeichnung gewiſſer Gegenden, als Rhein-
gau, Nordgau ꝛc. Von Grafſchaften und Herr-
ſchaften iſt keine, deren Namen ſich mit Gau en-
digte.) Es war aber auch nicht leicht ein Gau,
der ſeinen urſpruͤnglichen Umfang behalten haͤtte.
In den meiſten waren Guͤter geiſtlicher Stiftun-
gen vorhin ſchon von der Gerichtbarkeit der Gra-
fen befreyet. Kurz an ſtatt der ehemaligen Ein-
theilung der Teutſchen Voͤlker in Gaue zeigte ſich
jetzt mit dem zwoͤlften Jahrhunderte eine unuͤber-
ſehliche Menge erblicher Herrſchaften und Grafſchaf-
ten, deren Beſitzer von ihren Stammſitzen nun
auch ihre Geſchlechtsnamen bald voͤllig erblich
machten.


V.

In der erſten Zeit geſchah es nicht ſelten, daß
eine Familie ſo, wie ſie etwa ein neues Schloß
erbaue-
[167]9) Henrich der V. 1106-1125.
erbauete, auch damit ihren Namen veraͤnderte;
wie auf ſolche Art die Grafen von Wittelsbach
vorher Grafen von Scheiern, die Grafen von Nas-
ſau vorher Grafen von Laurenburg, die Herren
von Anhalt vorher Herren von Ballenſtaͤdt hießen
u. ſ. f. Oder wenn zwey Bruͤder etwa in zwey ver-
ſchiedenen Schloͤſſern und dazu gehoͤrigen Gebieten
ſich vertheilten, behielten ſie weder ihre Laͤnder noch
ihre Namen in Gemeinſchaft, ſondern nannten ſich
und ihre Nachkommen jeder nur nach ſeinem Schloſſe;
wie z. B. von zwey Bruͤdern der eine ſich Graf
von Sain, der andere Graf von Sponheim nannte,
ohne einen gemeinſchaftlichen Geſchlechtsnamen
beyzubehalten, wie jetzt die Haͤuſer Iſenburg, Solms,
Hohenlohe, Oettingen u. ſ. w. thun, wenn ſie
gleich in mehrere Linien, als Iſenburg-Birſtein
und Buͤdingen; Solms-Braunfels, Solms-Lau-
bach, Solms-Hohenſolms; Hohenlohe Waldenburg
und Neuenſtein; Oettingen-Spielberg und Waller-
ſtein u. ſ. w. abgetheilt ſind. — Eine Bemerkung,
die deswegen von Wichtigkeit iſt, weil ſie zugleich
auf die urſpruͤnglich Teutſche Art der Erbfolge in
Geſchlechtern des hohen Adels ein großes Licht
wirft. Denn nach ſelbiger mußten zwar Toͤchter
gegen Soͤhne zuruͤckſtehen. Wenn aber ein Vater
mehrere Soͤhne hinterließ, ſo beerbten dieſe einan-
der nur in ſo weit, als ſie die vaͤterlichen Guͤter
in Gemeinſchaft zu beſitzen fortgefahren, oder bey
Theilungen ſich die Gemeinſchaft des Eigenthums
und die kuͤnftige gegenſeitige Erbfolge mit Aus-
ſchließung der Toͤchter vorbehalten hatten. Im
widrigen Falle, wenn zwey oder mehr Bruͤder ſich
gaͤnzlich von einander abſonderten, oder eine ſo
genannte Todtheilung ſchloſſen, wie inſonderheit
L 4bey
[168]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
bey ganz verſchiedenen Guͤtern, die ſie unter ſich
vertheilten, haͤufig geſchah, konnten in nachherigen
Succeſſionsfaͤllen entfernte Stammsvettern vor
Toͤchtern eines erloſchenen maͤnnlichen Stamms
kein Vorzugsrecht, oder vielmehr gar kein Erbfolgs-
recht behaupten. So kam z. B. nach Abgang der
Grafen von Sain ihre Grafſchaft nicht an die
Grafen von Sponheim, ob dieſe gleich ihre wahre
Stammsvettern waren, ſondern durch Toͤchter an
ganz andere Haͤuſer; — (ganz anders, als wie in
unſeren Zeiten nach Abgang des marggraͤflichen
Hauſes Badenbaden das Haus Badendurlach ge-
erbt hat, oder wie auf den Fall, wenn das Haus
Anhalt-Zerbſt abgehen ſollte, die drey uͤbrigen Li-
nien des Hauſes Anhalt zur Erbfolge im Zerbſti-
ſchen Landesantheile berechtiget ſeyn werden. Eben
darum war nach Abgang des Hauſes Baiern im
Jahre 1777. die Frage ſo wichtig, ob zwiſchen den
ehemaligen Stammvaͤtern der Haͤuſer Pfalz und
Baiern eine Todtheilung vorgegangen ſey? wovon
freylich ſowohl aus den Hausvertraͤgen als aus der
beybehaltenen Gemeinſchaft des Geſchlechtsnamens
und Wappens ſich das Gegentheil ergab.)


VI.

Selbſt der Gebrauch der Wappen war des-
wegen von dieſer Zeit an wichtig, weil ſie unge-
faͤhr zu gleicher Zeit mit den von den Schloͤſſern oder
Laͤndern angenommenen Geſchlechtsnamen gleich-
maͤßig erblich wurden. Nur alsdann, wenn meh-
rere Herren eines Hauſes nach erfolgten Todthei-
lungen aufhoͤrten, eine Gemeinſchaft der Stamm-
guͤter und die Befugniß der gegenſeitigen kuͤnfti-
gen Erbfolge unter einander zu unterhalten, hoͤrte
auch die Gemeinſchaft des Wappens auf. Außer-
dem
[169]9) Henrich der V. 1106-1125.
dem war die Beybehaltung eines gemeinſamen Na-
mens und Wappens ein ſicheres Zeichen gleicher
Abkunft und gleichen gegenſeitigen Rechts zur Erb-
folge. In der Folge ſetzten die meiſten Geſchlech-
ter des hohen und niedern Adels faſt ihre ganze
Wohlfahrt darin, Namen und Wappen mit ihren
Geſchlechtsguͤtern auf die ſpaͤteſte Nachkommenſchaft
fortzuſetzen. (Faſt alle unſere fuͤrſtliche und graͤfliche
alte Haͤuſer ſind in dem Falle, daß ſie noch jetzt
eben die Laͤnder beſitzen, und eben die Namen und
Wappen fuͤhren, die ihre Vorfahren vom zwoͤlf-
ten Jahrhundert her gehabt haben. Zuwachs von
mehreren Laͤndern und hoͤheren Wuͤrden haben zwar
viele bekommen. Verluſt haben ſie nicht anders
als durch ganz außerordentliche Faͤlle, etwa von
Achtserklaͤrungen oder Krieg und Frieden, erlitten,
wo Noth kein Geſetz hatte; wie die Beyſpiele von
der Welfiſchen Familie, die auf ſolche Art um Sach-
ſen und Baiern gekommen, bald vorkommen werden.)


Von allem dem werden die hiſtoriſchen undVII.
genealogiſchen Eroͤrterungen dadurch ungemein er-
leichtert, weil bis zum zwoͤlften Jahrhundert hin-
auf die erblichen Geſchlechtsnamen eines jeden Hau-
ſes zum ſicherſten Leitfaden dienen. Hoͤher hinauf
ſind jene Eroͤrterungen deſto ſchwerer, weil da in
Urkunden einerley Zeit oft mehrere Perſonen mit
einerley Namen benannt vorkommen, ohne daß es
immer mit Zuverlaͤßigkeit zu beſtimmen iſt, z. B.
welcher von mehreren, die zu gleicher Zeit den
Namen Wilhelm oder Conrad gefuͤhret, zu den
Vorfahren dieſes oder jenen Hauſes gehoͤret habe.
Nur die zugleich etwa benannten Kloͤſter, oder
Schloͤſſer, Ritterguͤter und Doͤrfer, moͤgen allen-
L 5falls
[170]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
falls Spuhren an die Hand geben, von welchem
Geſchlechte ihr Beſitzer geweſen ſey. So hat
das Haus Habsburg-Oeſterreich noch ganze Jahr-
hunderte uͤber das zwoͤlfte hinauf ſeine Ahnen
glaublich beybringen koͤnnen. Und ungefaͤhr eben
der Fall zeigt ſich bey den Vorfahren der jetzigen
Haͤuſer Pfalz, Sachſen, Brandenburg in Nach-
forſchung ihrer Abſtammung von den ehemaligen
Grafen von Wittelsbach, Wettin und Zollern, und
deren hoͤherer Stammvaͤter, ehe ſie noch dieſe erb-
liche Geſchlechtsnamen fuͤhrten — Uebrigens ſon-
derbar gnug, daß die Vorfahren dieſer unſerer
groͤßten Haͤuſer, als der vier urſpruͤnglichen welt-
lichen Churfuͤrſten im zwoͤlften Jahrhunderte nur
noch als Grafen erſcheinen, deren Nachkommen
erſt ſpaͤter in die Stelle der damaligen nachher
erloſchenen Churhaͤuſer getreten ſind.


VIII.

Mit den alten Herzogthuͤmern oder anderen
weltlichen Fuͤrſtenthuͤmern hielt es weit haͤrter, als
mit den Grafſchaften, ehe ihnen die Erblichkeit
zugeſtanden wurde. Aber auch das war endlich
eine Frucht des ungluͤcklichen Verlaufs der Unru-
hen, worin ſich Henrich der IV. verwickelt ſah.
Eben die Geſchlechter, die in ſeinen letzten Jahren
und unter den folgenden beiden Regierungen un-
ſere Herzogthuͤmer und Fuͤrſtenthuͤmer beſaßen, ha-
ben ſie auch in der Folge behalten, ſofern ſie nicht
etwa ſelbſt ausgeſtorben, oder durch ſolche Revo-
lutionen, wie Achtserklaͤrungen und Kriege, um
ihre Laͤnder gekommen ſind. Namentlich iſt das
Herzogthum Oberlothringen immer von Vater
auf Sohn bey den Nachkommen eben des Herzogs
Gerhards geblieben, der ſchon unter Henrich dem III.
(1048.)
[171]9) Henrich der V. 1106-1125.
(1048.) daſſelbe beſaß, bis erſt Franz Stephan,
der Vater Joſephs des II., im Wiener Frieden
1735. genoͤthiget wurde, es gegen Toscana zu
vertauſchen. So wuͤrden auch die Vorfahren des
Hauſes Braunſchweig-Luͤneburg vom Welfi-
ſchen Stamme das Herzogthum Baiern von 1070.
her, und das Herzogthum Sachſen von 1137.
her behalten haben, wenn nicht die Achtserklaͤrun-
gen Henrichs des Stolzen 1138. und Henrichs des
Loͤwen 1180. ſie darum gebracht haͤtten.


Dieſen beiden Haͤuſern kann uͤbrigens in An-IX.
ſehung ihrer altherzoglichen Herkunft von ſo hohen
Zeiten hinauf von allen jetzt bluͤhenden Haͤuſern
keines an die Seite geſetzt werden; außer daß
das Haus Heſſen von den ehemaligen Herzogen
von Brabant, und das Haus Baden von ehema-
ligen Herzogen von Zaͤhringen abſtammt. Doch
dieſes Zaͤhringen war nur ein Schloß, das nur
den Stammſitz eines graͤflichen oder dynaſtiſchen
Geſchlechts im Breisgau ausmachte, und nur da-
durch das Praͤdicat eines Herzogthums bekam, weil
die Beſitzer dieſes Schloſſes eine Zeitlang (1060-
1073.) Herzoge in Kaͤrnthen geweſen waren, und
nachher das Verſprechen erhalten hatten, Herzoge
in Schwaben zu werden, ohne doch dazu zu ge-
langen; da ſie dann den herzoglichen Titel zwar
fortgefuͤhrt haben, jedoch nur in Verbindung mit
ihrem Stammſitze, — ungefaͤhr eben ſo, wie jetzt
im gemeinen Leben Herzoge von Weimar, Gotha,
Hildburghauſen, und Landgrafen von Darmſtadt
u. ſ. w. genannt werden, ungeachtet dieſes an ſich
keine Fuͤrſtenthuͤmer und Laͤnder, ſondern nur Reſi-
denzſtaͤdte ſind, deren Beſitzer wegen der Wuͤrde
des
[172]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
des Hauſes, zu welchem ſie gehoͤren, den herzog-
lichen oder landgraͤflichen Titel fuͤhren.


X.

Die Vorfahren des heutigen Hauſes Heſſen
waren ſeit 1106. Herzoge von Niederlothringen,
oder, wie ſie ſich in der Folge nach ihren meiſt
im Brabantiſchen Gaue gelegenen Erbguͤtern ſchrie-
ben, Herzoge von Brabant, und wuͤrden es noch
jetzt ſeyn, wenn nicht der Mannsſtamm von der
Linie, welche Brabant beſaß, im vierzehnten Jahr-
hundert erloſchen waͤre. Durch eine Prinzeſſinn
von Thuͤringen, welche an einen Herzog von Bra-
bant vermaͤhlt war, kam inzwiſchen im dreyzehn-
ten Jahrhundert Heſſen an eine andere Linie die-
ſes Hauſes, die zwar jenen Brabantiſchen Manns-
ſtamm uͤberlebet, aber die Erbfolge in Brabant
ſelbſt nicht erhalten hat, weil man die Abtheilung
der beiden Bruͤder, wovon der eine Brabant, der
andere Heſſen erhielt, als eine Todtheilung anſah.
So geſchah es uͤberhaupt nicht ſelten, daß von
zwey Bruͤdern, deren einer von vaͤterlicher, der
andere von muͤtterlicher Seite her, oder ſonſt aus
verſchiedenen Rechtsquellen, jeder ein beſonderes
Land bekam, zwey Staͤmme gebildet wurden, die
ſich nicht anders, als wie zwey ganz verſchiedene
Familien gegen einander verhielten (ſo wie in un-
ſeren Tagen wieder beynahe ein aͤhnlicher Fall mit
dem Hauſe Oeſterreich und Toſcana ſich ereignet.)


XI.

Noch haͤufiger geſchah es in der erſten Zeit,
daß, wenn auch von mehreren Soͤhnen eines Her-
zogs oder Marggrafen, Pfalzgrafen, oder anderen
Grafen einer, wie gemeiniglich der aͤlteſte, die
vaͤterlichen Lande und Wuͤrden bekam, dennoch die
juͤn-
[173]9) Henrich der V. 1106-1125.
juͤngeren Soͤhne nicht eben die Wuͤrde erhielten;
ſondern ein Sohn Herzog, der andere Marggraf,
ein dritter Graf, ein vierter Dynaſt wurde, (wie
noch jetzt in Frankreich von mehreren Bruͤdern
oft einer Duc, der andere Marquis, der dritte
Comte, der vierte Chevalier heißt) (n). Es
kam aber bald mit der Erblichkeit der weltlichen
Laͤnder dahin, daß mehrere Soͤhne eines Fuͤrſten
oder Grafen ſowohl an dem vaͤterlichen Lande, als
am Titel gleichen Antheil bekamen; (wie noch jetzt
die Titel Herzog, Pfalzgraf, Marggraf, Landgraf
und Graf auf alle Soͤhne eines Vaters, der ſol-
che Titel fuͤhret, forterben.) Ja man vergaß die
urſpruͤngliche Eigenſchaft der ſonſt mit ſolchen Ti-
teln verbunden geweſenen Befehlshaberſtellen der-
geſtalt, daß Herzogthuͤmer oder andere Fuͤrſtenthuͤ-
mer und Grafſchaften, die als Befehlshaberſtellen
ſo, wie z. B. ein Franzoͤſiſches Gouvernement, ihrer
Natur nach untheilbar haͤtten ſeyn ſollen, dennoch
zuletzt, wie vaͤterliche Erbſchaften, unter mehreren
Soͤhnen vertheilet, oder doch in Gemeinſchaft bey-
behalten wurden; außer daß etwa ein oder ande-
rer Sohn im geiſtlichen Stande ſeine Verſorgung
erhielt, und dann dem wuͤrklichen Mitbeſitze und
Genuſſe ſeiner vaͤterlichen Guͤter zum Beſten der
weltlich bleibenden und gemeiniglich alsdann ſich
vermaͤhlenden Bruͤder entſagte.


An
[174]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
XII.

An ein Recht der Erſtgebuhrt dachte man
ſo wenig, daß vielmehr haͤufig ſelbſt dem Erſtge-
bohrnen und mehr aͤlteren Soͤhnen der geiſtliche
Stand angewieſen, und ſoviel Pfruͤnden als moͤg-
lich zugewandt wurden, um dem juͤngern, den man
alsdann zum Stammhalter zu beſtimmen pflegte,
die vaͤterliche Erbfolge deſto vortheilhafter zu ma-
chen, (wie noch jetzt in catholiſchen graͤflichen und
adelichen Haͤuſern auf aͤhnliche Art haͤufig geſchieht.)


XIII.

Was aber endlich den ehemaligen Zuſtand des
Teutſchen Reichs in Anſehung der weltlichen Reichs-
ſtaͤnde und Laͤnder in den folgenden Zeiten haupt-
ſaͤchlich geaͤndert hat, beſtehet in dem ſonderba-
ren Umſtande, daß unglaublich viele fuͤrſtliche und
inſonderheit noch weit mehr graͤfliche und dynaſtiſche
Haͤuſer in dem großen Zeitraume vom zwoͤlften Jahr-
hundert bis auf unſere Tage ausgeſtorben und erlo-
ſchen ſind. Die Anzahl graͤflicher und dynaſtiſcher
Haͤuſer, die ehedem geweſen, und jetzt nicht mehr
ſind, geht gewiß in tauſende; wovon die meiſten
das Schickſal gehabt haben, daß ihre Laͤnder durch
Lehnsconſolidationen, oder Anwartſchaften, Vermaͤh-
lungen, Erbverbruͤderungen oder andere Mittel und
Wege an fuͤrſtliche Haͤuſer gekommen ſind, und
von denſelben entweder noch jetzt als beſondere
Grafſchaften oder Herrſchaften beſeſſen werden,
oder als Aemter groͤßeren Laͤndern einverleibet ſind.
Dadurch hat ſich nicht nur die perſoͤnliche An-
zahl der weltlichen Reichsſtaͤnde nach und nach
ungemein verringert, ſondern auch ein ganz ver-
aͤndertes Verhaͤltniß in dem urſpruͤnglichen Gleich-
gewichte ſowohl zwiſchen Kaiſer und Staͤnden,
als
[175]9) Henrich der V. 1106-1125.
als dieſen unter einander gebildet. So lange
Fuͤrſtenthuͤmer unter mehreren Bruͤdern oder
Stammsvettern vertheilt zu werden pflegten, und
der Grafſchaften ſo unzehlig viele waren, war
vors erſte der Unterſchied zwiſchen Fuͤrſten und
Grafen und Herren bey weitem ſo groß nicht,
als er in der Folge geworden iſt. Wenn die
Herzogthuͤmer Baiern, Pommern, Mecklenburg,
u. ſ. w. oft unter vier, ſechs und mehr Staͤmmen
vertheilet waren, und hingegen Hanau, Hohen-
lohe, Solms u. ſ. w. jedes nur einen Herrn hat-
te; ſo konnte der Abſtand zwiſchen dieſen und
jenen ſo groß nicht ſeyn. Oder wenn man das
Gewicht der Staͤnde fuͤr ganz Teutſchland in An-
ſchlag brachte, ſo konnte die uͤbergroße Anzahl
Grafen gegen die weit mindere Anzahl Fuͤrſten
leicht ein gewiſſes Gegengewicht halten. Aber
auch bey ſo gar vielen Theilen, worin ganz
Teutſchland unter ſo vielen Fuͤrſten und Grafen
zerſtuͤckelt war, konnte die kaiſerliche Macht leicht
noch immer ein gewiſſes Uebergewicht behaupten,
das hingegen zuſehends in eben dem Verhaͤltniſſe
abnehmen mußte, wie nach und nach mehrere
Laͤnder einigen wenigeren Haͤuſern zu Theil wur-
den, und dieſe durch das Recht der Erſtgebuhrt
und andere Mittel ſich noch mehr zu vergroͤßeren
wußten.


Von den Wendiſchen Laͤndern habe ichXIV.
ſchon oben bemerklich gemacht, daß es da mit
der Landesherrſchaft urſpruͤnglich eine ganz andere
Bewandtniß gehabt hat, als mit dem Urſprunge
der Landeshoheit der uͤbrigen Fuͤrſten des Teut-
ſchen
[176]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ſchen Reichs (o). Indeſſen bekamen auch hier
im XII. Jahrhundert haͤufig einzelne Landſchaften
ihren Namen nach Staͤdten oder Schloͤſſern, un-
ter deren Schutz ſie lagen, z. B. das Land Meck-
lenburg, das Land Ilow, das Land Werle (p).
So ſieng man auch ſchon an die Obotritiſchen
Fuͤrſten Herren von Mecklenburg zu nennen, und
den Pommeriſchen Fuͤrſten den Beynamen von Dem-
min zu geben (q).


X.
[177]10) Lothar. II — Fried. II. 1125-1235.

X.
Noch weitere Staatsveraͤnderungen unter Lothar
dem II., und deſſen Nachfolgern bis auf Friedrich
den II. 1125-1235.; inſonderheit Wahlfreyheit und
Churfuͤrſten; Roͤmiſches und canoniſches Recht;
und Achtserklaͤrung Henrichs des Loͤwen.


I. II. Voͤllige Verwandelung des Teutſchen Reichs in
ein freyes Wahlreich. — III. Allmaͤlig zugleich entſtande-
nes ausſchließliches Wahlrecht drey geiſtlicher und vier welt-
licher Churfuͤrſten. — IV. Paͤbſtliche Anmaßung einer Hoheit
uͤber den Kaiſer. — V. Aufgekommenes Anſehen des Roͤmiſch-
juſtinianiſchen und paͤbſtlichcanoniſchen Geſetzbuches. — VI.
Beziehung fremder Univerſitaͤten, und dadurch verſtaͤrkter
Gebrauch der fremden Geſetzbuͤcher. — VII. Vorſorge der
Teutſchen reichsſtaͤndiſchen Haͤuſer, ihr bisheriges Erbfolgs-
recht durch Verzichte der Toͤchter und Geſchlechtsvertraͤge
aufrecht zu erhalten. — VIII. Ueberhandnehmung des Fauſt-
rechts; ſelbſt im kaiſerlichen Landfrieden gebilligte Befehdun-
gen. — IX. Merkliche Zunahme der landesherrlichen Macht
der Reichsſtaͤnde. — Gebrauch der Achtserklaͤrungen, und
noch zur Zeit beybehaltene Teutſche Gerichtsverfaſſung. —
X. Beſondere Umſtaͤnde bey der Achtserklaͤrung Henrichs des
Stolzen, — XI. und Henrichs des Loͤwen. — XII. Wider-
rechtlichkeit der letztern; aber ungluͤcklicher Erfolg fuͤr das
Welfiſche Haus. — XIII. Verluſt des Herzogthums Sach-
ſen — XIV. nebſt den Wendiſchen Laͤndern Pommern und
Mecklenburg. — XV. Schickſal des Herzogthums Baiern;
deſſen Ueberlaßung an das Haus Wittelsbach. — XVI. Uebrig
gebliebene Erblande des Welfiſchen Hauſes, — XVII. wor-
aus das Herzogthum Braunſchweig-Luͤneburg entſtanden.


Noch ein wichtiger Erfolg der Staatsirrungen,I.
die ſich unter Henrich dem IV. entſponnen
hatten, zeigte ſich darin, daß Teutſchland voͤllig
in ein Wahlreich verwandelt, und ſelbſt aller
Schein eines Erbrechts, wie es bisher immer ein
koͤniglicher Stamm gehabt hatte, aufgehoben und
Mver-
[178]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
vermieden wurde. Die Zeitumſtaͤnde kamen da-
bey gluͤcklich zu ſtatten, da mit Henrich dem V.
der bisherige regierende Stamm wieder erloſch,
und alſo ohnedem eine neue Wahl geſchehen mußte.
Dieſe wurde mit gutem Bedacht auch nicht auf
weibliche Nachkommen des vorigen Stamms gelen-
ket, obgleich Henrichs des V. Schweſterſoͤhne (erſt
Friedrich von Schwaben, hernach Conrad von
Franken,) ſich alle Hoffnung dazu gemacht hatten.
1125Man wehlte vielmehr Lotharn von Sachſen,
der wieder nur eine Tochter hinterließ; deren Ge-
mahl, Herzog Henrich der Stolze von Baiern und
Sachſen, hernach abermals uͤbergangen, und jetzt
1137vielmehr Conrad derIII., auch nach deſſen Tode
wieder nicht ſein Sohn, ſondern ſein Vetter
1152Friedrich derI. durch voͤllig freye Wahl auf den
Thron erhoben wurde. Durch dieſe drey nach
einander erfolgte voͤllig freye Wahlen gedieh die-
ſes Stuͤck der Teutſchen Staasverfaſſung zu einem
ſo feſten Herkommen, daß an der Richtigkeit des
Satzes, daß Teutſchland, oder, wie man damals
ſprach, das Roͤmiſche Reich kein Erbreich, ſondern
ein voͤllig freyes Wahlreich ſey, ſeitdem nicht mehr
gezweifelt wurde.


II.

Friedrich der I. ließ zwar ſchon im Jahre 1169.
ſeinen damals erſt vierjaͤhrigen Prinzen Henrich
den
VI. zum Roͤmiſchen Koͤnige wehlen. Und
dieſer wagte (1196.) ſchon einen Verſuch, das
Reich wieder voͤllig erblich zu machen. Allein er
mußte ſich wieder nur mit der Roͤmiſchen Koͤnigs-
wahl ſeines Sohnes Friedrichs desII. begnuͤ-
gen. Deſto eifriger ward aber nunmehr von Rom
aus dagegen gearbeitet, da nach der zwiſtigen
Wahl
[179]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
Wahl Philipps und Otto desIV. der paͤbſtliche
Stuhl immer groͤßern Einfluß in die Kaiſerwah-
len bekam, und bald anfieng, Kaiſern, die nicht
nach ſeinem Sinne waren, Gegenkaiſer entgegen-
zuſetzen, als Otto dem IV. erſt Friedrich den II.,
hernach dieſem Henrich von Thuͤringen, Wilhelm
von Holland u. ſ. w.


Mit der voͤlligen Wahlfreyheit ſtand aber auchIII.
nunmehr die Begruͤndung eines ausſchließlichen
Wahlrechts einiger weniger Wahlfuͤrſten in ge-
nauer Verbindung. Bey der Wahl Lothars er-
ſchien zwar noch auf eben den Fuß, wie es ehe-
dem in aͤhnlichen Faͤllen, wenn nach Abgang eines
regierenden Stamms eine neue Wahl geſchah, ge-
woͤhnlich war, die ganze Menge geiſtlicher und
weltlicher Reichsſtaͤnde mit ihrem Gefolge, mehr
in Geſtalt eines gelagerten Kriegsheeres, als einer
Wahlverſammlung. Aber das Geſchaͤfft ſelbſt kam
ſchon durch eine Art von Compromiß, oder wenig-
ſtens unter der Geſtalt einer Vorberathſchlagung,
in die Haͤnde einiger weniger Fuͤrſten, die hernach
nur die Zuſtimmung der uͤbrigen erwarteten. Die
Veraͤnderungen, die ſeit kurzem ſowohl mit der
Pabſtwahl als mit den Biſchofswahlen angeſtiftet
waren, ſchienen ſelbſt ein gutes Beyſpiel abzuge-
ben, wie auch bey den Kaiſerwahlen mehr Ord-
nung zu erwarten ſeyn wuͤrde, wenn man die Be-
rathſchlagungen daruͤber auf weniger Perſonen an-
kommen ließe. Bey der Wahl Friedrichs des I.
wird ſchon ausdruͤcklich erwehnt, daß ſie von ſechs
bis acht Reichserzbeamten geſchehen ſey. Unter
eben dieſer Regierung erſcheinen aber auch ſchon
Boͤhmen als Erzſchenk, Pfalz als Erztruchſeß,
M 2Sach-
[180]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Sachſen als Erzmarſchall und Brandenburg als
Erzkaͤmmerer, wie dieſe Haͤuſer ſeitdem bis auf
unſere Tage bey dieſen Erzaͤmtern und den damit
verbundenen Vorrechten geblieben ſind. In einer
Urkunde, die das Haus Oeſterreich im Jahre
1156. von Friedrich dem I. erhalten hat, koͤmmt
ſchon ausdruͤcklich der Name Churfuͤrſt (electo-
res
) vor, indem gedachtem Hauſe der naͤchſte Platz
unmittelbar nach den Churfuͤrſten zugeſtanden wird.
Auch wird ſeitdem ſchon fuͤr bekannt angenommen,
daß die Stadt Frankfurt am Main die eigentliche
Wahlſtadt ſey; ſo wie es ſchon gewoͤhnlich war,
daß der neu gewehlte Kaiſer die Teutſche Kroͤnung
zu Aachen empfieng, und hernach den Roͤmerzug
antrat, um ſowohl die Longobardiſche Krone zu
Mailand, als die Kaiſerkrone zu Rom zu empfan-
gen, welche letztere erſt das Recht zu Annehmung
des kaiſerlichen Titels mit ſich brachte.


IV.

Die Verbindung des Teutſchen Reichs mit dem
Longobardiſchen und Roͤmiſchen war jetzt außer
allem Streite, aber auch von ganz ſonderbaren
Folgen. Zu Rom ſprach man nun ſchon ganz
laut, daß die Teutſche Nation die auf ſie geſche-
hene Uebertragung des Roͤmiſchen Reichs nur dem
paͤbſtlichen Stuhle zu danken habe. Es fehlte
nicht viel, daß man nicht ein paͤbſtliches Lehn
daraus machte, da man die Kroͤnung gleichſam
als eine Belehnung anſah, und den Kaiſer vor-
her einen Eid ſchwoͤren ließ, der einem Vaſallen-
eide nicht ſehr unaͤhnlich war.


V.

Auf der andern Seite ward der Gedanke von
der mit der Kaiſerwuͤrde verbundenen Beherrſchung
der
[181]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
der Welt immer lebhafter; damit ward aber auch
der Wahn, daß das Roͤmiſche Geſetzbuch wenig-
ſtens unter Chriſtlichen Voͤlkern allgemein verbind-
lich ſey, immer tiefer gewurzelt. Nur den Ge-
ſetzen, deren Verbindlichkeit auf dem Anſehen des
Pabſtes beruhete, ward nach dem nunmehr ein-
mal angenommenen Verhaͤltniſſe zwiſchen Pabſte
und Kaiſer, gleich dem zwiſchen Seele und Leib,
noch der Vorzug zugeeignet. Ein Moͤnch, Namens
Gratian, machte von neuem eine Sammlung
davon, die bis auf den heutigen Tag einen Haupt-
beſtandtheil unſers paͤbſtlich canoniſchen Geſetzbu-
ches ausmacht. So boten ſeitdem die beiden Ge-
ſetzbuͤcher, das paͤbſtliche und kaiſerliche, oder geiſt-
liche und weltliche, einander die Hand; zumal da
vieles aus dem letztern ins erſtere aufgenommen
wurde, das deswegen ohne jenes nicht gruͤndlich
zu verſtehen war; obgleich im Widerſpruche das
paͤbſtliche uͤber dem kaiſerlichen immer den Vor-
zug behielt.


Zur Kenntniß und Anwendung des in dieſenVI.
beiden Geſetzbuͤchern enthaltenen Rechts wurde nicht
nur eine Bekanntſchaft mit der Lateiniſchen Sprache,
worin ſie geſchrieben waren, ſondern auch ſonſt
ungleich mehr Wiſſenſchaft und Geſchicklichkeit er-
fordert, als ſonſt nach der Teutſchen Gerichtsver-
faſſung noͤthig war, ſo lange man nur nach ein-
heimiſchen Gebraͤuchen und der natuͤrlichen Billig-
keit zu urtheilen brauchte. Eben deswegen machte
jetzt auf den ſo genannten hohen Schulen oder
Univerſitaͤten, die nunmehr in England, Frank-
reich und Italien immer in groͤßere Aufnahme ka-
men, die Rechtswiſſenſchaft nach den beiden Ge-
M 3ſetz-
[182]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ſetzbuͤchern einen Hauptgegenſtand der damaligen
allgemeinen Studien aus. Und von dieſen hohen
Schulen aus verbreitete es ſich hinwiederum zuſe-
hends immer mehr, daß man ſich unvermerkt ge-
woͤhnte, jene beide Geſetzbuͤcher als die einzigen
Quellen aller Rechte in der Welt, oder doch im
ganzen Umfange des Roͤmiſchen Reichs zu ſchaͤtzen,
wovon man Teutſchland als einen Theil, und alle
uͤbrige Europaͤiſche Laͤnder als untergeordnete De-
pendenzen anſah.


VII.

Nach den haͤufigen Zuͤgen, die Studierens hal-
ber inſonderheit aus Teutſchland nach Bologna ge-
ſchahen, mag wohl mit einigem Unterſchiede in
den nach den Alpen zu naͤher gelegenen Laͤndern
eher, als in entfernteren Gegenden, die Wir-
kung von dem allem ſich gezeiget haben. Un-
glaublich aber iſt es, wie fruͤhzeitig, wie haͤufig,
und wie maͤchtig die beiden an ſich fremden Ge-
ſetzbuͤcher auf Teutſchland zu wirken, und deſſen
einheimiſche Gewohnheitsrechte zu verdunkeln und
zu verdraͤngen angefangen haben. Unter andern
kamen die uralthergebrachten Grundſaͤtze des
Erbfolgsrechts,
vermoͤge deren ererbte Stamm-
guͤter zum Nachtheile der Nachkommen des erſten
Erwerbers nicht veraͤußert werden ſollten, und der
Mannsſtamm Toͤchter ausſchloß, beynahe in Ge-
fahr, von den ganz entgegengeſetzten Verordnun-
gen des Roͤmiſchen Rechts, das jedem Beſitzer die
freye Dispoſition uͤber ſeine Guͤter geſtattet, und
Toͤchter mit Soͤhnen gleich erben laͤßt, verdraͤnget
zu werden; womit ein großer Theil der Teutſchen
Verfaſſung, der in der Aufnahme unſerer großen
Haͤuſer beruhet, bald eine ganz andere Wendung
genom-
[183]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
genommen haben wuͤrde. Doch eben deswegen
finden ſich auch uͤber alle Erwartung fruͤhzeitige
Spuhren, daß graͤfliche und fuͤrſtliche Haͤuſer ihre
Toͤchter ausdruͤckliche Verzichte auf alle Erbfolge
leiſten laßen, und uͤberhaupt durch Geſchlechts-
vertraͤge
das zu befeſtigen geſucht haben, was
ſich vorher von ſelbſten verſtand, und nur durch
Einfuͤhrung Roͤmiſcher Rechtsgrundſaͤtze Noth zu
leiden ſchien. Dennoch hat in manchen Faͤllen
nicht verhuͤtet werden koͤnnen, daß man zu Zeiten
uͤbel angewandten Roͤmiſchen Rechtsſaͤtzen nachge-
gangen iſt. Selbſt jene Verzichte und Geſchlechts-
vertraͤge konnten nach ſolchen Grundſaͤtzen nicht
unangefochten bleiben, wenn nicht eine paͤbſtliche
Geſetzgebung noch damit geholfen haͤtte, daß we-
nigſtens eine eidliche Beſtaͤrkung ſolcher Vertraͤge
ſie wider alle Anfechtung ſichern koͤnnte. Wovon
die natuͤrliche Folge war, daß man ſeitdem alle Erb-
folgsvertraͤge und Verzichte mit einem koͤrperlichen
Eide betheuern ließ; obgleich in der That ein ſol-
cher Eid von Rechts wegen nicht erforderlich war.


Ganz natuͤrlich hatte der Begriff, den manVIII.
ſich von der Verbindlichkeit des Roͤmiſchen und
canoniſchen Rechts machte, auch ſeinen großen Ein-
fluß auf die ganze Gerichtsverfaſſung. Doch dieſe
war durch das nun ſchon ſeit Jahrhunderten ein-
gewurzelte Fauſtrecht mit dem Gebrauche der Selbſt-
huͤlfe
ſo verunſtaltet, daß Streitigkeiten ungleich
haͤufiger durch Befehdungen, oder allenfalls dazwi-
ſchen gekommene Austraͤge, als durch richterliche
Ausſpruͤche unter kaiſerlichem Anſehen abgethan
wurden. Selbſt ein Landfriede, den der Kaiſer
Friedrich der I. noch in ſeinen letzten Jahren (1187.)
M 4als
[184]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
als ein feierliches Grundgeſetz bekannt machen ließ,
war ſo eingerichtet, daß zwar Mordbrenner und
Stoͤhrer der oͤffentlichen Ruhe in die Acht erklaͤrt
werden ſollten; jedoch mit der ausdruͤcklichen Aus-
nahme, daß es einem jeden vorbehalten blieb, ſein
Recht gegen den andern mit Gewalt auszumachen,
wenn er es ſeinem Widerſacher nur drey Tage vor-
her verkuͤndigen, und ihm alſo den Frieden abſa-
gen ließe.


IX.

Daneben enthielt dieſer Landfriede die merk-
wuͤrdige Clauſel, daß ſowohl Herzoge als Marg-
grafen, Pfalzgrafen, Landgrafen und andere Gra-
fen diejenigen, die ſich eine widerrechtliche Stoͤh-
rung der oͤffentlichen Ruhe zu Schulden kommen
ließen, nicht nur im Namen des Kaiſers, ſondern
auch aus ihrer eignen herzoglichen oder fuͤrſtlichen
und graͤflichen Befugniß in die Acht erklaͤren ſoll-
ten. (Woraus ſich theils die damalige Einthei-
lung der weltlichen Staͤnde, wie ſie meiſt noch jetzt
iſt, theils ſchon der große Fortſchritt zur landes-
herrlichen Gewalt derſelben abnehmen laͤßt.) In-
zwiſchen verſtand ſichs, daß Achtserklaͤrungen und
aͤhnliche Verurtheilungen nicht anders, als vor
feierlich gehegtem Gerichte, geſchehen konnten. Und
darin erhielt ſich noch lange die Altteutſche Ge-
richtsverfaſſung,
daß ein jeder durch ſeines Glei-
chen, und zwar unter dem Vorſitz des Regenten
oder eines von demſelben dazu ernannten Richters,
aber mit Zuziehung und nach dem Ausſpruche meh-
rerer Beyſitzer oder ſo genannter Schoͤppen, geur-
theilt werden mußte.


X.

Eines der wichtigſten Beyſpiele dieſer Art fand
ſich in den Achtserklaͤrungen, welche unter den
bei-
[185]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
beiden erſten Schwaͤbiſchen Regierungen (in den
Jahren 1138. und 1180.) wider die damaligen
Haͤupter des noch jetzt bluͤhenden Welfiſchen Hau-
ſes nach einander ergiengen. Ohne hier aus der
Geſchichte ſelbiger Zeiten alle perſoͤnliche Verhaͤlt-
niſſe zu wiederholen, worin die beiden Henriche,
Vater und Sohn, deren Andenken die Geſchichte
unter den Beynamen, der Stolze und der Loͤwe,
erhalten hat, gegen die damaligen Oberhaͤupter des
Teutſchen Reichs, Conrad den III. und Friedrich
den I., ſtanden, kann ich nur ſoviel als bekannt
vorausſetzen, daß die große Uebermacht des Wel-
fiſchen Geſchlechts, ſeitdem Henrich der Stolze
nebſt dem Herzogthume Baiern und ſovielen Erb-
guͤtern, die er in Baiern, Schwaben und Sachſen
beſaß, von ſeinem Schwiegervater Lothar auch das
Herzogthum Sachſen erhalten hatte, unſtreitig der
groͤßte politiſche Bewegungsgrund war, warum
die regierende Staufiſche Familie die erſte beſte
Gelegenheit hervorſuchte, um wo moͤglich durch
das Mittel einer Achtserklaͤrung die Macht des
Welfiſchen Hauſes zu brechen. Bey der erſten
Achtserklaͤrung, die wider Henrich den Stolzen er-
gieng, wußte man kaum einen anderen Vorwand zu
nehmen, als daß zwey Herzogthuͤmer, wie die von
Baiern und Sachſen, nicht in einer Perſon vereiniget
ſeyn koͤnnten; ungeachtet ſchon mehrere unangefochten
gebliebene Beyſpiele das Gegentheil bewaͤhret hat-
ten (r). Auch bey der Art und Weiſe, wie man mit
dieſer Achtserklaͤrung zu Werke gieng, fand Henrich
der Stolze ſoviel zu erinnern, daß er ſichs getroſt
zu gute hielt, der Vollziehung dieſer Acht ſich mit
gewaffneter Hand zu widerſetzen. Mitten im Zuge
M 5des
[186]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
des Gluͤcks, womit dieſe ſeine Unternehmungen
begleitet waren, unterbrach ſolche zwar ein uner-
warteter Tod, der ihn nur mit Hinterlaßung eines
minderjaͤhrigen Sohnes wegraffte. Es ſey aber,
daß man das Widerrechtliche dieſer Achtserklaͤrung
erkannte, oder daß man wenigſtens fuͤr unrecht
hielt, wenn der unſchuldige Sohn und weitere
Stamm darunter leiden ſollte, ſo erfolgte 1156.
die Herſtellung Henrichs des Loͤwen nicht nur im
Herzogthume Sachſen, deſſen Beſitz ſein Vater
noch mit den Waffen behauptet hatte, ſondern auch
im Herzogthume Baiern, das ſchon dem damaligen
Marggrafen von Oeſterreich in Beſitz gegeben wor-
den war; nur daß dieſer dagegen zur Schadlos-
haltung aus einem Marggrafen in einen Herzog
von Oeſterreich verwandelt, und mit außerordent-
lichen Vorzuͤgen begnadiget ward, wovon ich ſchon
oben geſprochen habe.


XI.

Deſto ungluͤcklicher war hernach der Erfolg
1180der zweyten Achtserklaͤrung, die (1180.) Henrich
der Loͤwe
ſelbſt uͤber ſich ergehen laßen mußte.
Deren wahre Staatsurſache war wohl keine an-
dere, als die man wegen der Uebermacht dieſes
Hauſes ſchon bey ſeinem Vater vor Augen gehabt
hatte, zumal da nach ſeiner Scheidung von der
erſten Gemahlinn, die ihm nur eine Tochter ge-
bohren hatte, ſeine zweyte Ehe mit mehreren Soͤh-
nen geſegnet war, und alſo die Hoffnung, daß
ohnedem mit ſeinem Tode die Macht des Hauſes
gebrochen werden wuͤrde, auf einmal vereitelt
wurde. Zur Einleitung nahm man aber diesmal
einen andern Vorwand, da nach Friedrichs un-
gluͤcklich abgelaufenem Feldzuge in Italien, deſſen
uͤblen
[187]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
uͤblen Erfolg man einer Verunwilligung zwiſchen
Henrichen und dem Kaiſer zuſchrieb, verſchiedene
Klagen wider jenen gefuͤhret wurden, zu deren
Eroͤrterung Henrichen mehrere Tagfahrten nach ein-
ander angeſetzt wurden, auf denen er aber nicht
erſchien; daher die Acht als eine Strafe des Un-
gehorſams wider ihn erkannt wurde. Je gewoͤhn-
licher es war, daß eine ſolche Ungehorſams-Acht
wieder aufgehoben wurde, wenn binnen Jahr und
Tag dagegen Vorſtellungen geſchahen; je weniger
mochte Henrich wegen der Folgen dieſer Acht be-
ſorgt ſeyn, zumal da er ſich des Ungrundes der
Beſchwerden, die man wider ihn vorbrachte, be-
wußt war, und da er ſich uͤberzeugt hielt, daß
ſelbſt in der Art und Weiſe, wie man das Ge-
richt beſtellt, und die Acht wider ihn erkannt hat-
te, manches widerrechtliche vorgegangen war.


Die Beſetzung des Gerichts ſchien zwar inXII.
ſo weit ihre verfaſſungsmaͤßige Richtigkeit zu ha-
ben, als eine Anzahl Fuͤrſten dazu gezogen waren,
und alſo dem Grundſatze ein Gnuͤge geſchah, daß
niemand anders, als durch ſeines Gleichen, ver-
urtheilet werden koͤnne. Aber das verſtand ſich
doch von ſelbſten, daß ein Gericht auch nicht an-
ders, als mit unpartheyiſchen Richtern, nicht mit
ſolchen, die ſelbſt Widerſacher des zu verurtheilen-
den waren, beſetzt ſeyn mußte. Darum war un-
ſtreitig die Beſchwerde Henrichs des Loͤwen ſehr
gegruͤndet, da der Erzbiſchof Philipp von Coͤlln
und andere, die ſchon als Anklaͤger und Widerſa-
cher gegen ihn aufgetreten waren, jetzt auch als
Mitglieder des Gerichts erſchienen, vor welchem
er zur Verantwortung gezogen werden ſollte. Da-
neben
[188]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
neben berief ſich Henrich auf ein Herkommen, ver-
moͤge deſſen uͤber einen Teutſchen Fuͤrſten an kei-
nem andern Orte, als in dem Lande, wo er geboh-
ren ſey, Gericht gehalten werden duͤrfe. Er war
aber in Schwaben gebohren, hielt ſich alſo nicht
fuͤr ſchuldig, außerhalb Schwaben vor irgend ei-
nem Gerichte zu erſcheinen. Kurz Henrich glaubte
das Recht auf ſeiner Seite zu haben, und er
hoffte, mit eben dem Erfolge, wie es ſeinem Va-
ter gelungen war, ſeine Sache mit den Waffen
auszumachen. Allein dieſe Hoffnung ſchlug fehl.
Nach einem zwar in der erſten Zeit nicht ungluͤck-
lich gemachten Anfange mußte er endlich der Ueber-
macht weichen, da Friedrich 1182. mit einer aus
einem großen Theile von Teutſchland vereinigten
Macht wider ihn anzog, und ihn zu Luͤbeck ſich
zu unterwerfen noͤthigte.


XIII.

Darauf erfolgte jetzt eine gaͤnzliche Verthei-
lung der bisherigen Staaten des Welfiſchen Hau-
ſes, die ſeitdem bis auf den heutigen Tag in mehr
als einerley Betracht ihre wichtige Folgen behal-
ten hat. Das Herzogthum Sachſen, das Al-
brechts des Baͤren Sohne, Bernharden von Anhalt,
zugedacht war, kam zwar ſo, wie es bisher ge-
weſen war, demſelben nicht zu gute. Der Weſt-
phaͤliſche Theil des Herzogthums kam groͤßtentheils
an das Erzſtift Coͤlln, wie es von dieſer Zeit her
noch jetzt das Herzogthum Weſtphalen beſitzet.
Andere einzelne Stuͤcke kamen an Mainz, Magde-
burg, Bremen, Paderborn, Hildesheim, Verden,
Minden. Vieles war Welfiſches Erbgut oder
Lehn von anderen Stiftern, das mit der kaiſer-
lichen Achtserklaͤrung nicht verlohren gieng. Bern-
hard
[189]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
hard von Anhalt nahm jedoch, wiewohl mit Wi-
derſpruch der Welfiſchen Familie, den Titel: Her-
zog in Sachſen, an, der eben damit auf ganz
andere Gegenden uͤbertragen wurde. Denn er
baute an der Stelle des Schloſſes Erteneburg, das
Henrich der Loͤwe zerſtoͤhrt hatte, das Schloß
Lauenburg, und in dem heutigen Churkreiſe, den
ſein Vater Albrecht der Baͤr ſchon den Wenden
entriſſen hatte, die Stadt Wittenberg. Von die-
ſen beiden Orten kamen hernach fuͤr ſeine Nach-
kommen, die ſich in zwey Linien theilten, die Be-
nennungen von Sachſen-Lauenburg und Sachſen-
Wittenberg. An ſich waren beides urſpruͤnglich
Wendiſche Laͤnder, auf die nun nur von der Wuͤrde
ihrer Beſitzer der herzoglich Saͤchſiſche Titel kam.


Die Pommeriſchen Fuͤrſten, die Henrich derXIV.
Loͤwe unter ſeiner Botmaͤßigkeit gehalten hatte, er-
klaͤrte der Kaiſer 1181. zu Herzogen, und die Stadt
Luͤbeck 1182. zur Reichsſtadt. Auch die Meck-
lenburgiſchen Fuͤrſten,
die Henrich als ſeine
Vaſallen behandelt hatte, und die nach ſeinem
Fall beynahe unter Daͤniſche Hoheit gekommen waͤ-
ren, erhielten 1225. ihre Reichsunmittelbarkeit
wieder, die durch die Daͤniſche Niederlage bey
Bornhoͤvede (1227.) vollends befeſtiget wurde (s).
Von dieſer Zeit an behielt dieſer alte Fuͤrſten-
ſtamm (t), nur in mehrere Linien vertheilt, ſeinen
noch
[190]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
noch jetzt bluͤhenden Fortgang; durch den herzog-
lichen Titel, den hernach (1348. Jul. 8.) der Kai-
ſer Carl der IV. dieſem Hauſe verlieh, ward deſ-
ſen Band mit dem Teutſchen Reiche noch feſter
geknuͤpft (u).


XV.

In Baiern gelang es der Wittelsbachiſchen
Familie beſſer zum voͤlligen Beſitze des ganzen Her-
zogthums zu kommen, wie dieſelbe bis auf den
heutigen Tag dabey geblieben iſt; außer daß in
Tirol ein neues Herzogthum Meran entſtand, und
die Stadt Regensburg zur Reichsſtadt erklaͤret wur-
de. Hier hatte auch das neue herzogliche Haus
Wittelsbach von Henrich dem Loͤwen und ſeiner
Nachkommenſchaft nicht ſoviele Anfechtung, als
das Haus Anhalt wegen des Herzogthums Sachſen.
Zum Vortheile Herzog Ludwigs und ſeiner Nach-
1208kommen ließ ſich ſchon Otto der IV. bewegen 1208.
eine Verzichtsurkunde auszuſtellen (v); die jedoch
eben
(t)
[191]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
eben deswegen, weil ſie nicht unbeſchraͤnkt, ſon-
dern nur zum Vortheile des Wittelsbachiſchen
Stammes gefaſſet iſt, noch immer zum unwider-
leglichen Rechtsgrunde dienen kann, daß, wenn das
Haus Braunſchweig-Luͤneburg das Haus Wittels-
bach uͤberleben ſollte, die ehemaligen Rechte des
Welfiſchen Hauſes wieder aufleben, und deſſen Nach-
kommen alsdann immer naͤher, als irgend ein an-
deres Haus, zum Herzogthum Baiern berechtiget
ſeyn wuͤrden (w).


Bey

(v)


[192]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
XVI.

Bey allem dem behielt Henrich der Loͤwe die
von ſeinen muͤtterlichen und großmuͤtterlichen Vor-
fahren auf ihn vererbten Laͤnder Braunſchweig,
Nordheim und Luͤneburg. Er hoͤrte auch nie auf
den herzoglichen Titel zu fuͤhren. Eben das tha-
ten ſeine Soͤhne, Henrich, Otto und Wilhelm,
die anfangs, wie es unter Bruͤdern damals haͤu-
fig geſchah, in Gemeinſchaft ihrer Guͤter blieben,
bis ſie ſich im Jahre 1203. in Zelle, Braun-
ſchweig und Luͤneburg abtheilten. Henrich der
Loͤwe erlebte auch noch die Hoffnung, daß zu eini-
ger Entſchaͤdigung ſeines Hauſes die Pfalz am
Rhein demſelben zu Theil werden wuͤrde, da ſein
aͤlteſter Sohn Henrich mit einer Staufiſchen Prin-
zeſſinn Agnes, deren Vater Conrad Pfalzgraf am
Rheine war, vermaͤhlet wurde, auch wuͤrklich her-
nach zum Beſitz der Pfalz gelangte. Allein auch
dieſer gerieth nachher 1215. in die Acht, und mit
ſeiner Tochter Agnes, die an den Herzog Otto von
Baiern vermaͤhlt ward, kam auch die Pfalz wieder
vom Welfiſchen Hauſe an das Haus Wittelsbach.


XVII.

Endlich wurde erſt im Jahre 1235. die ganze
1235Sache damit auf den heutigen Fuß geſetzt, daß
vermoͤge eines zwiſchen dem Kaiſer Friedrich dem II.
und Henrichs des Loͤwen einzig uͤbrig gebliebenem
Enkel von ſeinem juͤngern Sohne Wilhelm, Otto
dem Knaben, feierlich errichteten Vergleichs, die-
ſer Otto ſeine Braunſchweig-Luͤneburgiſche Erblaͤn-
der dem Kaiſer zu Lehn auftrug, und als ein Her-
zogthum,
das auf der Stadt Braunſchweig und
dem Schloſſe Luͤneburg haften ſollte, zuruͤck
empfieng. An ſtatt, daß urſpruͤnglich Herzogthuͤ-
mer von ganzen Voͤlkern, wie von Baiern, Sach-
ſen,
[193]10) Lothar. II. — Fried. II. 1125-1235.
ſen, Schwaben, Franken, benannt waren, hatte man
ſchon die Beyſpiele der Herzoge von Zaͤhringen und
Meran vor ſich, die nur von Schloͤſſern den Namen
fuͤhrten. Jetzt ſchien es uͤberhaupt ein Grundſatz zu
ſeyn, daß ein fuͤrſtliches Lehn wenigſtens auf einer
Stadt und auf einem Schloſſe haften muͤße (wie
hernach 1292. auch die Stadt Eſchwege und das
Schloß Boineburg als der Sitz der Landgrafſchaft
Heſſen angegeben worden). So erlaͤutert ſich vor-
erſt die von den beiden Orten Braunſchweig und
Luͤneburg zuſammengeſetzte Benennung dieſes her-
zoglichen Hauſes. Man wuͤrde ſich aber ſehr irren,
wenn man das, was 1235. deshalb vorgieng,
als eine Standeserhoͤhung, wie viele graͤfliche Haͤu-
ſer nachher in Fuͤrſtenſtand erhoben worden, an-
ſehen wollte. Hier war die Sache in einer ganz
andern Lage. Die Herren des Welfiſchen Hauſes
behaupteten, daß ihnen der herzoglich Saͤchſiſche
Titel mit Unrecht genommen ſey, und noch immer
vielmehr ihnen, als den Herren vom Hauſe Anhalt,
die im eigentlichen Sachſen keinen feſten Fuß hat-
ten, zukaͤme. Sie hatten ſich auch immer im
Beſitz des herzoglichen Titels erhalten, und es
ward ihnen nie beſtritten, daß ſie nach wie vor
von Gebuhrt zum Fuͤrſtenſtande gehoͤrten. Jetzt
ward nur verglichen, daß ſie nur nicht von Sach-
ſen, ſondern von ihren Braunſchweig-Luͤneburgi-
ſchen Erblaͤndern den herzoglichen Titel fuͤhren ſoll-
ten. Ein Allodial-Herzogthum, das nur auf Erb-
guͤtern, nicht auf Lehnguͤtern beruhete, ward aber
damals noch als etwas widerſprechendes angeſehen.
Darum mußte das Erbgut erſt in Lehn verwan-
delt werden. Das war nichts weniger als eine
Standeserhoͤhung. So war es auch den Umſtaͤn-
Nden
[194]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
den gemaͤß, daß noch manche Vortheile dabey aus-
bedungen wurden, als daß, der Lehnseigenſchaft
ungeachtet, nach Abgang des Mannsſtamms auch
Toͤchtern die Erbfolge zu gute kommen ſollte; und
daß die Zehnten von den Harzbergwerken, welche
ſonſt die Koͤnige gehabt hatten, den Herzogen als
Landesherren uͤberlaßen wurden.


XI.
Weitere Veraͤnderungen in Italien und in der
Kirche unter Friedrich dem I., Henrich dem VI.,
Otto dem IV. und Friedrich dem II. 1152-1235.;
inſonderheit neue Unternehmungen des Pabſtes
Innocenz des III.


I. Vereitelte Entwuͤrfe der Roͤmer, ſich von neuem
zum Freyſtaate und Sitze der Kaiſerwuͤrde zu machen. —
II. Errungenſchaft von Sicilien fuͤr das Haus Hohenſtaufen. —
Deſto wichtigere Unternehmungen des Pabſtes Innocenz
des III.III. Unterdruͤckung der Waldenſer. — IV-VI.
Neue Orden der Franciſcaner, Dominicaner und anderer
Bettelmoͤnche. — VII. Stiftung der Inquiſition. — VIII.
Paͤbſtliche Anmaßung Biſthuͤmer, Abteyen und Pfruͤnden
zu vergeben; auch uͤber Kaiſer und Koͤnige ſich zu erhe-
ben. — Einfuͤhrung des Interdicts. — IX. Abwuͤrdigung
der Kirchenverſammlungen. — Transſubſtantiation wird
zum Glaubensartikel.


I.

So ſehr das alles, was mit der Achtserklaͤrung
Henrichs des Loͤwen vorgieng, den Staats-
abſichten des Hohenſtaufiſchen kaiſerlichen Hauſes
entſprach; ſo widrig war der Erfolg der Unter-
nehmungen dieſes Hauſes in Italien. Der Kai-
ſer Lothar hatte ſchon in Herabſetzung der kaiſer-
lichen Wuͤrde unter der paͤbſtlichen Anmaßung einer
Art
[195]11) Fried. I.II. 1152-1235.
Art von Lehnshoheit einen uͤblen Grund gelegt,
den Conrad vielleicht noch haͤtte herſtellen koͤnnen,
wenn nicht der eben deswegen deſto eifriger be-
triebene Kreuzzug dazwiſchen gekommen waͤre.
Derſelbe hielt ihn ab, einer Einladung der Roͤ-
mer zu folgen, welche eben damals damit umgien-
gen, mit Errichtung eines Senates die Herrſchaft
in Rom dem Pabſte zu entreiſſen und auf den
ehemaligen republicaniſchen Fuß, jedoch mit Vor-
behalt der kaiſerlichen Hoheit, zu ſetzen. Friedrich
der I. verkannte den Vortheil dieſer Neuerung,
und ließ ſich wieder auf dem vorigen Fuß mit
dem paͤbſtlichen Stuhle ein. Er verunwilligte ſich
jedoch bald ſowohl mit dem Pabſte, als mit den
Staͤdten in der Lombardey. Doch konnte er mit
aller Haͤrte, die er die Mailaͤnder empfinden ließ,
in mehreren Feldzuͤgen weiter nichts ausrichten, als
daß er am Ende demjenigen Pabſte, dem er in
einer ſtreitigen Wahl ſich entgegengeſetzt hatte, ſich
(1176.) wider ſeinen Willen unterwerfen mußte.
Auch mit den verbundenen Staͤdten in der Lom-
bardey mußte er hernach (1183.) zu Coſtnitz einen
Frieden eingehen, der ihnen ihre Republikenmaͤßige
Einrichtung groͤßtentheils gewaͤhrte, und der kaiſer-
lichen Hoheit nur wenige Rechte uͤbrig ließ.


Dagegen legte zwar noch Friedrich der I. denII.
Grund dazu, daß die Krone von Sicilien, wie ſie
zu Lothars Zeiten zu Stande gekommen war, auf ſei-
nen Sohn Henrich den VI. fiel, und nach deſſen Tode
auch wieder auf deſſen Sohn Friedrich den II. fort-
erbte. Allein dieſer ward eben daruͤber auch wie-
der in deſto mehr Haͤndel verwickelt, an welchen
vorzuͤglich der damalige Pabſt Innocenz derIII.
N 2großen
[196]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
großen Antheil hatte. Derſelbe wußte nicht nur
bald abzuſtellen, was Henrich der VI. ſchon zu
Rom und im Kirchenſtaate zum Nachtheile der
paͤbſtlichen Hoheit unternommen hatte, ſondern in
den achtzehn Jahren, da er auf dem paͤbſtlichen
Stuhle ſaß, kamen noch ganz andere Dinge in
Gang, die auf den Zuſtand der Kirche und der
Staaten ſeitdem den groͤßten Einfluß hatten.


III.

Peter Waldus, ein Kaufmann zu Lion, hatte
zu Ende des zwoͤlften Jahrhunderts in der bis-
herigen Kirchenverfaſſung einen Anſtoß gefunden,
und verſchiedene Verſuche neuer Einrichtungen ge-
macht. Er glaubte in der Bibel weder die Vor-
zuͤge des Pabſtes und der Biſchoͤfe, noch die Leh-
ren vom Fegefeuer, vom Ablaße, von Seelmeſſen,
von Anrufung der Heiligen, vom Verbote der
Prieſterehe u. ſ. w. gegruͤndet zu finden. Er hielt
nicht dafuͤr, daß man den Laien den Kelch im
Abendmahle entziehen ſollte. Er ſah hingegen die
Bibel als die einzige Quelle der ganzen Chriſt-
lichen Religion an, und ließ einige Hauptbuͤcher
derſelben, inſonderheit die vier Evangeliſten, ins
Franzoͤſiſche uͤberſetzen, und half ſie unter das
Volk verbreiten. Er glaubte nicht, daß nur ge-
weihete Prieſter Gottes Wort verkuͤndigen duͤrften;
da nicht abzuſehen ſey, warum nicht ein jeder Bru-
der den andern daraus belehren koͤnnte. Er ſelbſt
verkaufte ſein Hab und Gut, vertheilte es unter
Arme, und gieng als Lehrer aus. Sein Anhang,
der von ihm den Namen Waldenſer bekam, ver-
breitete ſich bald unglaublich ſowohl in Italien
als in Frankreich. Unter andern bot der damali-
ge Graf von Toulouſe dieſen Neuerungen die Hand,
indem
[197]11) Fried. I.—II. 1125-1235.
indem er den Waldenſern alle oͤffentliche Uebung
geſtattete. Dawider ließ nun Innocenz der III.
nicht nur ſeine Bannfluͤche ergehen, ſondern auch
das Kreuz, wie bisher gegen Tuͤrken und Unglaͤu-
bige geſchehen war, predigen, und zwar mit ſol-
chem Erfolge, daß Simon Graf von Montfort
(1215.) mit einem Kriegsheere von 500. tauſend
Mann ſich der ganzen Grafſchaft bemaͤchtigte.


Sehr gelegen kamen um dieſe Zeit zwey Stif-IV.
ter neuer Moͤnchsorden, die nicht, wie die bis-
herigen Moͤnchsgeſellſchaften, Andachtsuͤbungen
nur zu eigner hoͤherer Vollkommenheit, ſondern
vielmehr Thaͤtigkeit unter dem Volke mit Predi-
gen, Unterweiſen und Ketzerbekehren zu ihrer
Hauptabſicht nahmen (x). Den bisherigen Moͤn-
chen ſchien ſelbſt der Reichthum an liegenden Gruͤn-
den und Einkuͤnften, womit bald jede Stiftung
uͤberhaͤuft wurde, ihre Betriebſamkeit unter dem
Volke zu benehmen. Beide Stifter dieſer neuen
Orden, der eine, ein vornehmer Spanier, Domi-
nicus Guzmann, der andere, eines Italiaͤniſchen
Kaufmanns Sohn Franz von Aſſiſſi, die beynahe
zu gleicher Zeit von einerley enthuſiaſtiſchem Triebe
belebt wurden, machten ſich und ihren Ordensbruͤ-
dern es zur Pflicht ihren Unterhalt nur zu erbet-
teln. Ein Kloſter von dieſer Art zu ſtiften, wur-
de alſo weiter nichts erfordert, als nur fuͤr den
Bau des Kloſters und der Kirche zu ſorgen. So
gab Innocenz gern ſeine Einwilligung zur Errich-
tung dieſer beiden Orden, der Dominicaner oder
Prediger, und der Franciſcaner, oder wie ſie
ſich hernach aus Demuth nannten, der Minori-
N 3ten
[198]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ten (y); welchen in der folgenden Zeit unter dem
Namen Auguſtiner und Carmeliter bald noch meh-
rere Orden aͤhnlicher Bettelmoͤnche, wie man ſie
nachher insgeſammt nannte, folgten.


V.

Dieſen Bettelmoͤnchen gaben die Paͤbſte die Er-
laubniß uͤberall zu predigen, Beichte zu hoͤren, Meſſe
zu leſen, und Ablaß zu ertheilen, ohne an irgend
einen Sprengel gebunden zu ſeyn. Bald benutzten
ſie die Meynung, die ſchon andere Moͤnchsorden
dem Volke beygebracht hatten, daß ſie vom Ueber-
fluſſe der guten Werke eines ganzen Ordens ande-
ren Chriſten, von denen ſie zeitliche Wohlthaten
erhielten oder zu erhalten hofften, etwas abgeben
koͤnnten; welches durch ſo genannte Affiliations-
briefe
[199]11) Fried. I.—II. 1152-1235.
briefe geſchah, dergleichen ſich faſt jede adeliche
Familie und jeder wohlhabender Buͤrger geben
ließ (z). Das alles verſchaffte den Bettelorden
bald ſolchen Zulauf, daß faſt alle Pfarrkirchen dar-
uͤber leer wurden (a), hingegen nicht leicht eine
Stadt von einigem Belange uͤbrig blieb, wo nicht
ein oder ander Kloſter von Dominicanern, Fran-
ciſcanern, oder auch von den hernach noch hinzu-
gekommenen Auguſtinern und Carmelitern errichtet
worden waͤre (b). Auch unterſchieden ſich dieſe
Kloͤ-
N 4
[200]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Kloͤſter von den aͤlteren Moͤnchsorden darin, daß
ſie nicht Einoͤden und Waldungen oder unbearbei-
tetes Land, ſondern gleich bewohnte Staͤdte zu
ihrem Sitze wehlten.


VI.

Jeder Bettelorden bekam nun ſeinen General, der
zu Rom ſeinen Sitz hatte, durch den der paͤbſtliche
Stuhl unmittelbar, wo er es gut fand, in allen
Laͤndern den wirkſamſten Einfluß haben konnte; ohne
daß von den Verhaͤltniſſen, worin Biſchoͤfe und be-
guͤterte Kloͤſter wegen ihrer Guͤter gegen weltliche
Obrigkeiten ſtanden, weiter einige Hinderniſſe zu
beſorgen waren (c). Selbſt bey Univerſitaͤten,
“welche ſonſt als geſchloſſene privilegirte Geſell-
ſchaften ſich bald fuͤhlen gelernt haͤtten, und bey der
gluͤcklichen Unabhaͤngigkeit, welche ihnen theils ihr
Ruf, theils die ganze Art ihrer Einkuͤnfte ſicherte,
ent-
(b)
[201]11) Fried. I.—II. 1152-1235.
entſchloſſene Gegner des paͤbſtlichen Deſpotiſmus
geworden waͤren,” kamen die Bettelmoͤnche dem
paͤbſtlichen Stuhle zu ſtatten, da ſie ſich in die
theologiſche und philoſophiſche Facultaͤten eindran-
gen, jede Facultaͤtsſtatute aber nur mit Vorbehalt
ihrer Ordensregel und des darin begriffenen Ge-
horſams gegen den Pabſt beſchworen, und dann
jedem Schluſſe, der gegen eine paͤbſtliche Uſurpa-
tion gefaſſet werden ſollte, ſich maͤchtig widerſetz-
ten (d). Das hatte aber auch bald auf den Zu-
ſtand der ganzen Gelehrſamkeit den Einfluß, daß
ſie faſt uͤberall nur in caſuiſtiſche Disputirſucht aus-
artete, hingegen Volksaberglaube von allen Gat-
tungen deſto allgemeiner unterhalten wurde (e).


Nichts konnte dem allem noch einen groͤßerenVII.
Nachdruck geben, als da vollends noch die In-
quiſition
in Gang gebracht wurde, indem die
Dominicaner zu Tilgung der im ſuͤdlichen Frank-
reich noch uͤbrig gebliebenen Ketzereyen anfangs
den Auftrag erhielten, jeden Ketzer, den ſie ver-
geblich zu bekehren ſuchten, der weltlichen Obrig-
keit zur Beſtrafung anzuzeigen, und, da weder
das, noch ein bald hernach in jeder betraͤchtlichen
Stadt mit einem Praͤlaten und drey weltlichen
Perſonen beſetztes eignes Inquiſitionscollegium der
Sache ein Gnuͤge zu thun ſchien, endlich (1233.)
der Dominicanerorden ſelbſt die unbeſchraͤnkte Macht
erhielt, uͤberall Ketzer auszuſpaͤhen und ohne alle
Weitlaͤuftigkeit eines geſetzmaͤßigen Verfahrens auf
den Scheiterhaufen zu bringen (f).


N 5Noch
[202]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
VIII.

Noch bediente ſich Innocenz der III. des Vor-
wandes, damit nicht ketzeriſche Hirten in den Schaaf-
ſtall der Kirche ſich einſchleichen moͤchten, um ſo-
wohl Biſthuͤmer und Abteyen als andere Pfruͤn-
den unmittelbar von Rom aus zu vergeben. Selbſt
uͤber Kaiſer und Koͤnige hielt er ſich nicht weniger
berechtiget, ihre Wuͤrdigkeit erſt genau zu unter-
ſuchen, ehe ſie ſich im Beſitz ihrer Kronen geſichert
halten koͤnnten. Schien es aber nicht hinlaͤnglich,
einzelne Perſonen mit dem Kirchenbanne zu bele-
gen, um ſeinen Verfuͤgungen den noͤthigen Nach-
druck zu geben; ſo brachte er das fuͤrchterliche
Interdict in Gang, wodurch ganzen Staͤdten
oder Laͤndern und Voͤlkern der oͤffentliche Gottes-
dienſt unterſagt wurde (g).


So
[203]11) Fried. I.—II. 1152-1235.

So erſtieg die paͤbſtliche Gewalt von Inno-IX.
cenz dem III. an noch eine weit hoͤhere Stuffe,
als ſie unter Gregor dem VII. erreicht hatte.
Selbſt Kirchenverſammlungen, die Gregor zu
Befoͤrderung ſeiner Abſichten noch in einiger Ach-
tung erhalten hatte, wurden jetzt kaum einer Be-
rathſchlagung gewuͤrdiget. Dem Namen nach
hielt zwar Innocenz noch 1215. eine allgemeine
Kirchenverſammlung im Lateran; aber die ver-
ſammelten Biſchoͤfe mußten unterſchreiben, was
er ihnen vorſchrieb (h). Unter andern ward hier
noch die Transſubſtantiation zum Glaubensartikel
gemacht.


XII.
[204]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.

XII.
Merkliche Abnahme der kaiſerlichen Gewalt, und
Zuwachs der reichsſtaͤndiſchen landesherrlichen
Rechte unter Friedrich dem II. 1220-1235.


I-IV. Zwey Urkunden Friedrichs des II. fuͤr die geiſt-
lichen und weltlichen Reichsſtaͤnde zu Befeſtigung ihrer lan-
desherrlichen Rechte. — V-VIII. Befoͤrderung dieſer landes-
herrlichen Gewalt von Seiten der Landſchaften. — IX. So
bekam Teutſchland die Geſtalt eines zuſammengeſetzten Staats-
koͤrpers, der ſich in viele beſondere Staaten vertheilte. —
X. XI. Urſprung und Beſchaffenheit des kaiſerlichen Hofge-
richts, das um dieſe Zeit angelegt wurde. — XII. Vor-
zuͤge und Unbequemlichkeiten der damaligen Gerichtsverfaſ-
ſung. — XIII. XIV. Urſprung und Gebrauch der Austraͤge.


I.

Wenn ſoviele Mittel zuſammen wirkten, der
paͤbſtlichen Gewalt und dem Uebergewichte
des geiſtlichen Standes noch einen betraͤchtlichen
Zuwachs zu verſchaffen; ſo ward hingegen immer
merklicher, wie ſehr die kaiſerliche Macht zuſehends
abnahm, aber das Anſehen der Teutſchen Reichs-
ſtaͤnde deſto mehrere Fortſchritte machte. Zwey
Urkunden, die daruͤber der Kaiſer Friedrich der II.
im Jahre 1220. den geiſtlichen, und im Jahre
1232. den weltlichen Reichsſtaͤnden gab, koͤnnen
als die erſten Grundfeſten angeſehen werden, wo-
mit von Seiten des Kaiſers die landesherrlichen
Rechte
, die nur durch Herkommen nach und nach
bis auf dieſen Punct gebracht waren, zuerſt aus-
druͤcklich bekraͤftiget wurden (i).


Beide
[205]12) Friedrich der II. 1220-1235.

Beide Urkunden machen ſchon einen großenII.
Unterſchied zwiſchen Staͤdten des Kaiſers und der
Fuͤrſten. Auch in den letzteren werden zwar noch
kaiſerliche Hoheitsrechte zur Ausuͤbung geſtattet, ſo-
fern ein feierliches kaiſerliches Hoflager daſelbſt ge-
halten wuͤrde, wie gewoͤhnlicher Weiſe damals der
kaiſerliche Hof noch immer von einem Orte zum an-
dern herumzog, und alsdann ſowohl waͤhrend eines
feierlich angeſagten Hoflagers, als acht Tage vorher
und acht Tage nachher, alles unter kaiſerlicher
Hoheit ſtand. Auſſerdem aber ſollte beſage der
erſtern Urkunde kein kaiſerlicher Beamter in einer
biſchoͤflichen Stadt irgend einiges Recht haben;
ſondern ihr Fuͤrſt und Herr ſollte ſich der voͤlligen
Gewalt darin zu erfreuen haben (k). So hieß
es auch in der anderen Urkunde fuͤr die weltlichen
Staͤnde: daß ein jeder Fuͤrſt alle Freyheiten und
Gerichtbarkeiten nach Gewohnheit ſeines Landes in
ruhiger Uebung haben ſolle, er moͤge damit belehnt
ſeyn, oder es als Eigenthum beſitzen (l); ohne was
noch von beſonderen Verordnungen in beiden Ur-
kunden enthalten war, als daß eines geiſtlichen
Fuͤrſten Verlaßenſchaft nicht dem Kaiſer, ſondern
dem Nachfolger des Fuͤrſten heimfallen ſollte; daß
im Gebiete der Kirchen weder Schloͤſſer noch Staͤdte
vom Kaiſer erbauet werden ſollten; daß keine neue
Zoͤlle
[206]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
Zoͤlle und Muͤnzen in ihren Laͤndern angelegt, die-
jenigen aber, ſo ihnen einmal geſtattet worden,
unverbruͤchlich gehalten werden ſollten ꝛc.


III.

Dieſe kaiſerliche Verſicherungen enthielten zwar
manches, das ſchon vorher einzeln hergebracht oder
ausdruͤcklich zugeſtanden war. Im Ganzen war
es aber doch ein wichtiger Vortheil fuͤr die Reichs-
ſtaͤnde, daß ſie jetzt eine ſo allgemeine ausdruͤck-
liche kaiſerliche Erklaͤrung fuͤr ſich hatten. Bey
weltlichen Reichsſtaͤnden dachte jetzt niemand mehr
daran, daß ſie ihrem Urſprunge nach nur koͤnig-
liche Beamten waͤren. Nebſt ihrer jetzt unbeſtrit-
tenen Erblichkeit war ein jeder Fuͤrſt oder Graf
und Herr nunmehr ein wahrer Regent in ſeinem
Lande. So war es auch ein jeder Biſchof und
Abt in dem Gebiete, das zu ſeinem Stifte gehoͤrte.


IV.

War nun vorher der jedesmalige Kaiſer der
einzige Regent in ganz Teutſchland geweſen, ſo
konnte freylich ohne deſſen Einwilligung keine ſol-
che neue Einrichtung, die nicht anders als mit
Abbruch der kaiſerlichen Gewalt den Reichsſtaͤn-
den ſoviel einraͤumte, als voͤllig rechtsgeſichert zu
Stande kommen. Es gehoͤrte alſo ſehr dazu, daß
die kaiſerliche Gewalt durch die bisherigen Zeit-
laͤufte in ſolche Umſtaͤnde war geſetzt worden, daß
von ihrer Seite kein Widerſpruch die Sache laͤnger
aufhalten konnte. Es war jedoch auch nicht von
Seiten des Kaiſers alleine, daß die Sache ihren
voͤlligen Rechtsbeſtand erlangen konnte.


V.

Es galt um eine veraͤnderte Regierung uͤber
Kloͤſter, Ritterſchaft und Staͤdte, die ſonſt nur
den
[207]12) Friedrich der II. 1220-1235.
den Kaiſer als ihren Regenten verehret hatten, jetzt
aber Fuͤrſten und Grafen zu Landesherren bekom-
men, und den Kaiſer nur als Oberherrn behalten
ſollten. Dazu wuͤrde nach aͤchten Grundſaͤtzen eines
allgemeinen Staatsrechts eine bloße Erklaͤrung des
Kaiſers nicht hinlaͤnglich geweſen ſeyn. Kloͤſter,
Ritterſchaft und Staͤdte haͤtten mit Recht behaupten
koͤnnen, daß auch ihre Einwilligung dazu noͤthig
waͤre, ſo wie kein freyes Volk ſchuldig iſt, eine
andere Regierungsform, als in die es gewilliget
hat, ſich gefallen zu laßen. Ohne ihr Zuthun
wuͤrde auch ſchwerlich aus der Sache was gewor-
den ſeyn, da in ihnen ſelbſt zugleich die vollzie-
hende Gewalt beruhete, ſo lange der Soldat kei-
nen beſonderen Stand ausmachte.


Allein eben das befoͤrderte hauptſaͤchlich denVI.
Fortgang der ganzen Sache, weil die Landſchaf-
ren
ſelbſt ihren Vortheil dabey fanden, ihre
Landesregierung lieber in den Haͤnden ihres Fuͤr-
ſten oder Grafen, als in den Haͤnden des Kai-
ſers zu ſehen. Ganz Teutſchland war in ſei-
nem Umfange zu groß, als daß nach der da-
maligen Art, Regierungsgeſchaͤffte zu behandeln,
die kaiſerliche Regierung einer jeden Landſchaft glei-
che Vorſorge und Schutz haͤtte gewaͤhren koͤnnen.
Fuͤr den Umfang einer oder einiger Quadratmei-
len, auf die ſich etwa eine Landſchaft erſtreckte,
war es eher moͤglich, von einem Landesherrn wahre
landesvaͤterliche Vorſorge zu erwarten.


Umgekehrt konnte die kaiſerliche Macht, wennVII.
ſie abſichtlich oder zufaͤllig einer gewiſſen Landſchaft
zur Laſt fiel, derſelben unwiderſtehlich fuͤrchterlich
wer-
[208]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
werden, wie z. B. Henrich der IV. den Sachſen,
inſonderheit in der Gegend um Goslar, mit ſei-
nem dortigen Aufenthalte, und den damit ver-
knuͤpften Beſchwerden von Dienſten und Lieferun-
gen zur Laſt fiel. Das war von einer landesherr-
lichen Macht eines Fuͤrſten oder Grafen weniger
zu beſorgen; nicht nur, weil ſie an ſich maͤßiger
war, ſondern auch weil es den Landſchaften nicht
an Mitteln fehlte, einem Landesherrn, wenn er
deſpotiſch regieren wollte, ſich mit Nachdruck ent-
gegen zu ſetzen, und allenfalls ſelbſt beym Kaiſer
als Oberherrn noch Huͤlfe wider ihn zu ſuchen.
An deſpotiſche oder auch nur unbeſchraͤnkte Regierung
war ohnedem nicht zu denken. Denn ſo, wie man
gewohnt war, daß Kaiſer und Koͤnige in wichti-
gen Dingen mit ihren Reichsſtaͤnden zu Rathe gien-
gen; ſo gab es ſich von ſelbſten, daß Fuͤrſten und
Grafen, wenn ſie nun ihre Laͤnder aus eigner Macht
regieren wollten, dennoch Praͤlaten, Ritterſchaft
und Staͤdte mit ihrem guten Rathe hoͤren mußten.
Widrigenfalls fehlte es nicht nur den Landesherren
an Zwangsmitteln, um wider Willen ihrer Land-
ſchaften etwas durchzuſetzen, ſondern dieſe hatten
vielmehr mit dem Rechte der Selbſthuͤlfe auch die
Waffen in ihren Haͤnden. So kamen daher mit
dem Urſprunge der landesherrlichen Gewalt auch
Landſtaͤnde und Landtage in Gang.


VIII.

Das alles befoͤrderte aber noch vorzuͤglich der
Umſtand, daß ſowohl Biſchoͤfe und Praͤlaten, als
weltliche Fuͤrſten und Grafen und Herren, jene von
wegen ihrer Stiftungen, dieſe an dem, was ſie
von Familienguͤtern als Lehn oder Eigen beſaßen,
Einkuͤnfte gnug hatten, ohne daß ihnen erſt die
Land-
[209]12) Friedrich der II. 1220-1235.
Landſchaften Guͤter oder Einkuͤnfte anweiſen durften.
In ſo weit behielten beide Theile, ſowohl die Landes-
herren als die Landſchaften, jede ihre Guͤter und
Einkuͤnfte fuͤr ſich. In eben dem Verhaͤltniſſe, wor-
in der Landesherr zu den Bauern in ſeinen Cam-
merguͤtern ſtand, hielt ſich auch meiſt der Praͤlat
und der Edelmann gegen ſeine Bauern. Aus Staͤd-
ten zogen die Landesherren gewiſſe jaͤhrliche Abgaben
unter dem Namen der Urbede. Sonſt aber war
an Landſteuern, oder Geldbeytraͤgen, die von den
Unterthanen oder ihren Guͤtern zu erheben waͤren,
gar nicht zu denken, wenn nicht ein Landtagsſchluß
ſolche bewilligte. Nur ganz außerordentliche Um-
ſtaͤnde konnten zu Zeiten Anlaß geben, Bittweiſe
eine kleine Auflage von Seiten der Landſchaften zu
bewilligen.


Auf ſolche Art kam nun Teutſchland zu der beſon-IX.
deren Verfaſſung, die es noch jetzt von allen anderen
Europaͤiſchen Reichen unterſcheidet. Es blieb zwar
im Ganzen genommen ein Reich, aber nunmehr
als ein zuſammengeſetzter Staatskoͤrper, deſ-
ſen einzelne Glieder wieder eigne Staaten ausmach-
ten, die nur als Theile des Ganzen noch demſelben
untergeordnet waren. So mancher Erzbiſchof,
Biſchof oder anderer Praͤlat, und ſo mancher Her-
zog, Pfalzgraf, Marggraf, Landgraf oder Graf
und Herr nur Land und Leute hatte; ſo manche
beſondere Staaten bildeten ſich jetzt, die nur noch
in ſo weit zuſammen einen Staat ausmachten, als
ſie ihre vorige Verbindung unter einem gemeinſa-
men Oberhaupte beybehielten. Das einzige kam
dieſem damals noch zu gute, daß es Staͤdte gab,
die keinem andern Reichsſtande unterworfen waren,
Oſon-
[210]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
ſondern nur noch den Kaiſer als ihren Landesherrn
verehrten, und daß auch ſonſt der Kaiſer noch
eigne Cammerguͤter und Einkuͤnfte hatte, die aber
theils durch Freygebigkeit, theils durch Verſilbe-
rungen mittelſt Verkaufs oder Verpfaͤndung immer
weniger wurden.


X.

Von Hoheitsrechten, die dem Kaiſer in ganz
Teutſchland auszuuͤben blieben, war das wichtig-
ſte die Handhabung der Gerechtigkeit in der Reichs-
ſtaͤnde eignen Sachen, oder ſofern von ihren Aus-
ſpruͤchen Appellationen oder andere Berufungen an
den Kaiſer ergiengen. Fuͤr dieſe in des Kaiſers
Namen auszuuͤbende Rechtspflege ward auf eben
dem Reichstage zu Mainz, auf welchem Friedrich
der II. im Jahre 1235. das Herzogthum Braun-
ſchweig-Luͤneburg errichtete, eine neue Anſtalt ge-
troffen, wovon einige den heutigen Reichshofrath
herleiten, wiewohl ohne Grund, da vielmehr die
nachherige Errichtung des heutigen Cammergerichts
damit in einiger Verbindung ſtehet. Es ward
nehmlich feſtgeſetzt, daß beſtaͤndig ein gewiſſer
Hofrichter ſeyn ſollte, der an des Kaiſers Stelle
alle Tage zu Gericht ſitzen, und uͤber alle Klagen,
die bey ihm angebracht wuͤrden, in des Kaiſers
Namen Recht ſprechen ſollte. Dieſe Anſtalt kam
wuͤrklich zu Stande. Man hat aus Urkunden meiſt
die ganze Folge der Hofrichter ausfuͤndig gemacht,
wie ſie vom Jahre 1235. an bis in die Haͤlfte
des XV. Jahrhunderts im Gange geblieben ſind (m).
Es verſtand ſich, daß dieſe Hofrichter Perſonen vom
hohen
[211]12) Friedrich der II. 1220-1235.
hohen Adel ſeyn mußten, weil ſie uͤber Perſonen
von eben dem Stande Urtheile ſprechen ſollten.
Die Urtheile durften ſie aber nicht nach eignem
Gutduͤnken ausſprechen, ſondern nach dem Aus-
ſpruche einer gewiſſen Zahl Urtheiler oder Beyſitzer,
die jedesmal dazu gezogen wurden. Darin war
bey der damaligen Einrichtung noch ein Unter-
ſchied von der jetzigen Gerichtsverfaſſung, da
man damals noch kein beſtaͤndiges Juſtitzcolle-
gium hatte, deſſen ſaͤmmtliche Mitglieder immer
einerley geweſen waͤren; ſondern nur die Perſon
des Richters war beſtimmt, die Beyſitzer waren
veraͤnderlich, wie ſie zur Beurtheilung einer jeden
Sache eben bey der Hand waren. Die collegia-
liſche Gerichtsverfaſſung iſt hernach erſt mit Errich-
tung des noch jetzt beſtehenden Cammergerichts in
Gang gekommen.


Mit dem heutigen Cammergerichte hatte uͤbri-XI.
gens jenes Hofgericht noch dieſes gemein, daß es
die kaiſerliche Gerichtbarkeit doch nicht ganz unbe-
ſchraͤnkt in allen und jeden Sachen auszuuͤben
hatte. Wo es Fuͤrſten und anderen hohen Leu-
ten an ihren Leib, ihre Ehre, an ihr Recht, au
ihr Erbe, an ihr Lehn gieng; das behielt der
Kaiſer ſich vor ſelber zu richten. Nehmlich da
ſollte das gewoͤhnliche Fuͤrſtenrecht unter des Kai-
ſers eignem Vorſitze gehalten werden. (So ſoll
auch das Cammergericht nicht ſprechen in Sachen
ganze Fuͤrſtenthuͤmer und Grafſchaften betreffend.
Vom Reichshofrathe iſt von allem dem nichts
ausgenommen. Alſo kann eher das Cammerge-
richt, als der Reichshofrath in Beziehung auf jenes
Hofgericht geſetzt werden.)


O 2Der
[212]II. Mittlere Zeiten a) 888-1235.
XII.

Der Umſtand, daß nach der Gerichtsverfaſ-
ſung des mittlern Zeitalters ein jeder nur von ſei-
nes Gleichen, alſo Fuͤrſten nur von Fuͤrſten oder
doch nur von Perſonen des hohen Adels, geur-
theilt werden konnten, war ganz unvergleichlich.
Man konnte immer hoffen, daß ein jeder das,
was unter Perſonen ſeines Standes gewoͤhnlich
war, am beſten wiſſen wuͤrde; und keiner durfte
leicht beſorgen, daß Perſonen von eben dem Stan-
de, die vielleicht wieder in den Fall kommen koͤnn-
ten, von ihm verurtheilet zu werden, ohne Grund
zu ſeinem Nachtheile ſprechen duͤrften. Auch war
es ein großer Vortheil, daß alles kurz und gut
gieng, ohne große Weitlaͤuftigkeiten zu machen,
und ohne viele Subtilitaͤten ins Spiel zu bringen.
Es hatte aber auch ſeine Unbequemlichkeiten, daß
man bey dem wandelbaren Aufenthalte des Kaiſers
ihn immer erſt aufſuchen und oft lange nachreiſen
mußte, ehe ſichs thun ließ, ein Fuͤrſtenrecht zu
Stande zu bringen. Und dann blieb ſowohl beym
Fuͤrſtenrechte als beym Hofgerichte noch immer
eine wichtige Frage: wie ein Rechtsſpruch, wenn
er an einem oder andern Orte ergieng, nun zur
Huͤlfsvollſtreckung gebracht werden ſollte?


XIII.

Dieſen Maͤngeln der damaligen Gerichtsver-
faſſung war es wohl mit zuzuſchreiben, daß die
meiſten Streitigkeiten der Fuͤrſten mehr durch Be-
fehdungen und Selbſthuͤlfe, als durch kaiſerliche
Rechtsſpruͤche, ausgemacht wurden. Wie aber
Kriege ſelten geendiget werden, ohne daß eine
dritte Macht den Frieden vermitteln hilft; ſo ge-
ſchah es auch haͤufig in den Fehden Teutſcher Fuͤr-
ſten, daß ein dritter Fuͤrſt ſich ins Mittel legte,
und
[213]12) Friedrich der II. 1220-1235.
und den Streit zum guͤtlichen Austrag zu bringen
ſuchte. Nicht ſelten ließen ſich ſtreitende Par-
theyen, wenn ſie der Thaͤtlichkeiten muͤde waren,
oder ſolchen auch lieber vorbeugen wollten, den
Austrag eines dritten Freundes gefallen. Damit
war dann gemeiniglich mehr gewonnen, als mit
dem mißlichen Ausgange einer ans Fuͤrſtenrecht
oder an den Hofrichter gebrachten Rechtsſache.
Daher ward der Gebrauch ſolcher Austraͤge bald
ſo gemein, daß man weit haͤufiger dergleichen Aus-
tragsvermittelungen oder auch Austragsweiſe er-
theilte Rechtsſpruͤche, als kaiſerliche oder Hofge-
richts-Erkenntniſſe ſelbiger Zeiten findet.


Viele Reichsſtaͤnde trafen in ihren VertraͤgenXIV.
eigne Abreden daruͤber, daß, wenn unter ihnen
oder ihren Nachkommen Streit entſtehen wuͤrde,
derſelbe weder mit Gewaltthaͤtigkeiten, noch mit
Klagen beym Kaiſer oder beym kaiſerlichen Hof-
richter, ſondern mittelſt Austrages eines dritten
Standes oder auch beider Theile dazu zu ernen-
nender Vaſallen geſchlichtet werden ſollte. Man
nannte das gewillkuͤhrte Austraͤge(n). Da-
durch wurde der Gebrauch ſolcher Austraͤge ſo
gaͤng und gaͤbe, daß auch Partheyen, die keine
Vertraͤge daruͤber errichtet hatten, doch darauf
anzutragen pflegten. Man hielt es beynahe fuͤr
unanſtaͤndig, einen Fuͤrſten beym Kaiſer zu ver-
klagen, wenn man ihn nicht vorher erſucht hatte,
ob er ſich nicht den Austrag eines dritten Fuͤrſten
wollte gefallen laßen. Noch uͤbler nahm man es
einem Fuͤrſten, den man auf ſolche Art um Aus-
O 3trag
[214]II. Mittl. Zeiten a) 888-1235. 12) Frdr. II.
trag der Sache erſucht hatte, wenn er ſich nicht dar-
auf einlaſſen wollte. War aber einmal die Sache
wuͤrklich zum Austrag gediehen, ſo wuͤrde man es
beynahe fuͤr ehrlos gehalten haben, wenn man als-
dann den Austragsweiſe erfolgten Spruch nicht befol-
gen wollte. So laͤßt ſichs begreifen, wie daraus
ein Recht erwachſen koͤnnen, das bis auf den heu-
tigen Tag als ein Kleinod des Fuͤrſtenſtandes und
derer, die es hergebracht haben, angeſehen wird;
daß nehmlich ein ſolcher Beklagter ordentlicher
Weiſe nicht gleich bey einem der hoͤchſten Reichs-
gerichte belanget werden kann, ſondern erſt vom
Klaͤger erſucht werden muß, vor einem von bei-
den Theilen zu vergleichenden dritten Fuͤrſten oder
andern Schiedsrichter zu Recht zu ſtehen. Das
heißt noch jetzt das Recht der Austraͤge oder
Auſtraͤgalinſtanz Teutſcher Fuͤrſten.


Drit-
[215]

Drittes Buch.
Des mittlern Zeitalters zweyter Abſchnitt
von
den letzten Schwaͤbiſchen Kaiſern
und

den folgenden Kaiſern und Koͤnigen aus verſchie-
denen Haͤuſern
ſeit 1235. bis 1493.


I.
Von den letzten Schwaͤbiſchen Kaiſem und den
erſten Kaiſern oder Koͤnigen aus verſchiedenen
anderen Haͤuſern von 1235. bis 1308.


I. II. Angeblich großes Zwiſchenreich, und Folge der
Kaiſer in dieſer Zeit. — III. Beyſpiel einer Abſetzung des
Kaiſers in der Perſon Adolfs von Naſſau. — IV. Wichtige
Veraͤnderungen in verſchiedenen großen Haͤnſern und Laͤn-
dern, — als in Oeſterreich, — V. in Kaͤrnthen, — VI. in
Thuͤringen, — VII. in Franken, Schwaben und Elſaß. —
Urſprung der Reichsſtaͤdte, Reichspraͤlaten und der Reichs-
ritterſchaft in Franken und Schwaben. — VIII. Vielerley
Verbindungen dieſer Zeit; — inſonderheit der Rheiniſche
Bund und die Hanſe; — IX. wie auch die Schweizer Eid-
genoſſenſchaft. — X. Beſchwerung der Stroͤhme und Straßen
mit uͤberhaͤuften Zoͤllen. — XI. Eingefuͤhrte Nothwendig-
keit der churfuͤrſtlichen Einwilligung mit ſo genannten Wille-
briefen. — XII. Siebenzahl der Churfuͤrſten.


Von dem Reichstage, den Friedrich derII.I.
1235. zu Mainz gehalten hatte, war er
kaum nach Italien zuruͤckgekehrt, als er mit dem
Pabſte Gregor dem IX. in neue Haͤndel verwickelt
O 4ward,
[216]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
ward, die am Ende ſo weit giengen, daß Inno-
cenz der IV. im Jahre 1245. auf einer Kirchen-
verſammlung zu Lion durch einen foͤrmlichen Pro-
ceß den kaiſerlichen Thron fuͤr erledigt erklaͤrte.
Von dieſer Zeit an wird von paͤbſtlich geſinnten
Schriftſtellern ein ſo genanntes großes Zwiſchen-
reich (interregnum magnum) bis zur Wahl Ru-
dolfs von Habsburg (1273.) behauptet. Inzwi-
ſchen wurden ſelbſt auf paͤbſtlichen Betrieb vorerſt
am 22. May 1246. der Landgraf Henrich Raſpo
von Thuͤringen († 1247. Febr. 16.), und nach
deſſen Tode im October 1247. Graf Wilhelm von
Holland,
zu Roͤmiſchen Koͤnigen erwehlt; Gegen
die jedoch nicht nur Friedrich der II., ſo lange er
lebte († 1250. Dec. 13.), ſondern auch deſſen
Sohn Conrad der IV. († 1254. May 23.) ihre
Krone behaupteten. Letztern uͤberlebte zwar noch
Wilhelm von Holland, doch nur auf kurze Zeit
(† 1256. Jan. 28.). Worauf 1257. wieder eine
zwiſtige Wahl Richards von Cornwall und Al-
fonſens von Caſtilien erfolgte; bis endlich nach des
erſtern Tode (1272. Apr. 2.) im Jahre 1273. Ru-
dolf
Graf von Habsburg zum Kaiſer erwehlt
wurde, und bis 1291. Jul. 15. an der Regierung
blieb.


II.

Unter dieſer Regierung bekam die Kaiſerwuͤrde
wieder einen ſolchen Glanz, daß es ſeitdem der-
ſelben nie an Bewerbern fehlte. Rudolf ſelbſt
wuͤnſchte ſchon durch das ehemalige Mittel der
Roͤmiſchen Koͤnigswahl ſeine Krone auf ſeinen
Sohn zu bringen. Allein eben das, daß man
nicht wuͤnſchte, die Regierung unmittelbar von Va-
ter auf Sohn kommen zu laßen, war ein Haupt-
grund
[217]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.
grund mit, daß nach Rudolfen erſt der Graf Adolf
von Naſſau,
und erſt nach demſelben wieder
Rudolfs Sohn Albrecht auf den Thron erhoben
wurde.


Adolf von Naſſau verfehlte aber nicht nur dieIII.
Vortheile, die er ſich nach dem Beyſpiele ſeines
Vorgaͤngers von der Teutſchen Krone verſprochen
hatte; ſondern ſeine Achtung ſank zuletzt ſo tief,
daß ſein eigner Befoͤrderer und Verwandter, der
damalige Churfuͤrſt Gerhard von Mainz, der jetzt
in Teutſchland das, was der Roͤmiſche Fuͤrſtbiſchof
in Anſehung der ganzen Chriſtenheit, zu ſeyn glaub-
te, auf eine Art, die noch ohne Beyſpiel war,
ihn vom Throne wieder zu entfernen ſuchte. Mit
Zuziehung der Churfuͤrſten von Sachſen und Bran-
denburg, und der Geſandten von Coͤlln und Boͤh-
men hielt der Churfuͤrſt von Mainz ein foͤrmliches
Gericht, wovor Adolf vorgeladen, und, als er
nicht erſchien, wegen der wider ihn vorgebrachten
Beſchwerden ſeiner Krone verluſtig erklaͤret wurde.
Doch bey den uͤbrigen Churfuͤrſten und Reichs-
ſtaͤnden fand dieſes Verfahren nicht ſolchen Bey-
fall, daß man daraus ein rechtliches Herkommen
zur Abſetzung eines regierenden Kaiſers haͤtte be-
gruͤnden koͤnnen. Nur das Gluͤck der Waffen ent-
ſchied diesmal gegen Adolfen, da er im Treffen
mit Albrecht von Oeſterreich ſein Leben einbuͤßte,
und damit erſt Platz machte, daß Albrecht derI.
nunmehr einmuͤthig auf den Thron erhoben wurde.


Waͤhrend dieſer Zeit ereigneten ſich nun vorerſtIV.
in verſchiedenen großen Haͤuſern und Laͤndern eini-
ge wichtige Veraͤnderungen. Mit dem Herzoge
O 5Frie-
[218]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Friedrich dem Streitbaren von Oeſterreich († 1246.
Jun. 25.) erloſch der bisherige Bambergiſch-Oeſter-
reichiſche Mannsſtamm. Seine aͤlteſte Schweſter
Margarethe war an den Roͤmiſchen Koͤnig Henrich
den VII., K. Friedrichs des II. Sohn, vermaͤhlt
geweſen, und hatte in dieſer Ehe zwey Soͤhne ge-
bohren. Dieſe waren zwar ſchon geſtorben. Der
Kaiſer Friedrich der II. wollte aber doch einen Vor-
wand davon nehmen, Anſpruch auf Oeſterreich zu
machen. Eine andere Schweſter Conſtantia war
an den Marggrafen Henrich von Meiſſen vermaͤhlt,
den die Oeſterreichiſchen Landſtaͤnde durch Abgeord-
nete ihres Mittels zu ſich einladen ließen. Dieſe
Abgeordneten ließ Ottocar von Boͤhmen anhalten,
vermaͤhlte ſich mit jener verwittweten Roͤmiſchen
Koͤniginn Margarethe, und nahm Oeſterreich nebſt
Steiermark und Krain eigenmaͤchtig in Beſitz. Als
aber Ottocar hernach Rudolfen von Habsburg we-
gen ſeiner Kaiſerwahl Schwierigkeit machte, ließ
dieſer jene Laͤnder fuͤr erledigte Reichslehne erklaͤ-
ren, und noͤthigte Ottocarn ſie herauszugeben;
worauf Rudolf ſeinem Sohne Albrecht anfangs die
Reichsſtatthalterſchaft, bald darauf aber die erb-
liche Belehnung daruͤber verſchaffte.


V.

Auch das Herzogthum Kaͤrnthen hatte Otto-
car 1269. vermoͤge eines mit dem letzten Herzoge
Ulrich geſchloſſenen Kaufs in Beſitz genommen.
Aber auch darin mußte er auf Rudolfs Veranſtal-
tung Mainharden von Tirol weichen, mit deſſen
Tochter Eliſabeth Rudolfs Sohn Albrecht vermaͤhlt
wurde, und kraft einer dabey genommenen Abrede
nach Abgang des Tiroliſchen Mannsſtamms, der
ſchon in der erſten Generation erfolgte, auch die-
ſes
[219]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.
ſes Herzogthum an ſein Haus brachte. — So
hatte Rudolf von Habsburg von der Kaiſerwuͤrde
uͤber alle Erwartung den Vortheil, daß er alle
dieſe Laͤnder, Oeſterreich, Steiermark, Kaͤrnthen
und Krain ſeinem Hauſe verſchaffte, das ſeitdem
bis auf den heutigen Tag hier ſeinen Hauptſitz
behalten hat.


Ein anderer Erledigungsfall ereignete ſich mitVI.
dem Tode des oben als Gegenkoͤnig aufgefuͤhrten
Landgrafen Henrichs von Thuͤringen († 1247.
Febr. 16.), der ebenfalls der letzte vom Manns-
ſtamm ſeines Hauſes war. Hieruͤber kam es zu
einem Succeſſionskriege zwiſchen den Vorfahren
der jetzigen Haͤuſer Sachſen und Heſſen. Marg-
graf Henrich von Meiſſen (eben der, der auch in
der Oeſterreichiſchen Succeſſionsſache vorkam, und
von dem uͤbrigens das heutige Haus Sachſen ab-
ſtammt,) hatte in Betracht deſſen, daß ſeine Mut-
ter Jutha eine Schweſter des letzten Landgrafen
von Thuͤringen war, auf die Reichslehne, die der-
ſelbe beſeſſen hatte, als namentlich auf die Land-
grafſchaft Thuͤringen und Pfalzgrafſchaft Sachſen
eine kaiſerliche Anwartſchaft erhalten. Von des letz-
ten Landgrafen Bruder Ludewig war aber eine Toch-
ter Sophia an den Herzog Henrich von Brabant
vermaͤhlt, mit dem ſie einen Sohn Henrich geboh-
ren, von dem das jetzige Haus Heſſen abſtammt.
Dieſe Sophia von Brabant nahm eigentlich alles,
was Allodial war, in Anſpruch, wozu ſelbſt die
Stadt Eiſenach und mehr Orte in Thuͤringen ge-
rechnet wurden. Als ſolche der Marggraf Henrich
nicht herausgeben wollte, kam es daruͤber ſeit
1256. zum Kriege, der erſt 1264. ſo beygelegt
wurde,
[220]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
wurde, daß Sophia von Brabant nebſt ihrem
Sohne auf alles, was in Thuͤringen lag, Ver-
zicht thun, und ſich mit Heſſen begnuͤgen mußte.
Zum Heſſiſchen Landesantheile wurde aber noch
ein Strich Landes an der Werre geſchlagen, den
das Haus Braunſchweig bey dieſer Gelegenheit ein-
buͤßte. Herzog Albrecht von Braunſchweig hatte
der Sophia von Brabant und ihrem Sohne, mit
dem er doppelt verſchwaͤgert war, Huͤlfe geleiſtet,
ward aber (1263. Oct. 28.) von Marggraf Hen-
richs Soͤhnen bey Wettin gefangen, und mußte,
um ſeine Befreyung zu erhalten, dieſes Opfer ma-
chen (o). Der Titel Landgraf von Thuͤringen
blieb noch einige Zeit in Streit, bis im Jahre
1292. hernach Adolf von Naſſau Heſſen ſelbſt zur
Landgrafſchaft erklaͤrte; ungefaͤhr eben ſo, wie
Braunſchweig und Luͤneburg 1235. zum Herzog-
thum erklaͤrt worden war. Henrich von Heſſen
trug ſein Land, das bis dahin allodial war, dem
Reiche zu Lehn auf, und bekam es vom K. Adolf
als eine Landgrafſchaft zuruͤck, die eigentlich auf
dem Schloſſe Boineburg und der Stadt Eſch-
wege haften ſollte. An Brabant behielt das Haus
Heſſen keinen Antheil. Ein aͤlterer Sohn, den
Henrich der II. von Brabant mit ſeiner erſten
Gemahlinn gezeugt hatte, Henrich der III., ver-
erbte es auf ſeinen Mannsſtamm. Dieſer iſt zwar
hernach 1355. erloſchen; daher noch in neueren
Zei-
[221]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.
Zeiten von Anſpruͤchen des Hauſes Heſſen auf Bra-
bant die Rede geweſen. Man hat aber die Ab-
theilung der beiden Bruͤder, Henrichs von Bra-
bant, und Henrichs von Heſſen, als eine Todthei-
lung angeſehen, die kein gegenſeitiges Erbrecht fuͤr
die Zukunft begruͤnden koͤnnte.


Das widrigſte Schickſal erlitten die drey Her-VII.
zogthuͤmer Franken, Schwaben und Elſaß,
die zuletzt des Roͤmiſchen Koͤnigs Conrads des IV.
Sohn Conradin zuſammen beſaß. Als aber der-
ſelbe, um ſein vaͤterliches Erbkoͤnigreich Neapel
Carln d’Anjou zu entreiſſen, nach Neapel gezogen,
und nach der verlohrnen Schlacht bey Palenza
(1268. Aug. 23.) als der Letzte ſeines Hauſes zu
Neapel enthauptet worden war (1269. Oct. 29.);
bekam er in obigen Herzogthuͤmern keinen Nach-
folger. In einem jeden derſelben benutzte alſo
jeder anderer dieſe Revolution, ſo gut er konn-
te. Inſonderheit kamen daruͤber die Haͤuſer Ba-
den, Wuͤrtenberg und andere zu mehreren Kraͤf-
ten. Auch die Biſchoͤfe in dieſen Gegenden hat-
ten ihren Vortheil davon; wiewohl der Titel:
Herzog in Franken, den der Biſchof von Wuͤrz-
burg fuͤhrt, erſt weit ſpaͤter, und auf eine ſehr
zufaͤllige Weiſe (p) aufgekommen iſt. Der Vor-
theil
[222]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
theil ſolcher groͤßeren geiſtlichen und weltlichen
Staͤnde wuͤrde noch betraͤchtlicher geweſen ſeyn,
wenn nicht die mindermaͤchtigen Staͤnde und Guͤ-
terbeſitzer in gemeinſchaftlichen Verbindungen ihr
Heil gefunden haͤtten. Eben dadurch geſchah es
aber, daß hauptſaͤchlich nur in dieſen drey Laͤndern
ſoviele Reichsſtaͤdte und Reichspraͤlaturen auf-
kamen, und daß ſelbſt der Adel ſich von aller lan-
desherrlichen Gewalt frey hielt, und zu dem dar-
aus erwachſenen Syſteme der unmittelbaren Reichs-
ritterſchaft
in Franken, Schwaben und am Rheine
den erſten Grund legte.


VIII.

Aehnliche Verbindungen waren zu Erhaltung
der oͤffentlichen Ruhe auch in anderen Gegenden
inſonderheit von Staͤdten ſchon mehrmalen geſchloſ-
ſen worden, als namentlich unter Wilhelm von
Holland (1254.) von 70. Rheiniſchen Staͤdten.
Doch keine von der Art war fuͤr die folgenden Zei-
ten wichtiger, als im noͤrdlichen Teutſchland ein
Bund, den die Staͤdte Luͤbeck und Hamburg im
Jahre 1241. ſchloſſen, um mittelſt einiger auf
gemeinſchaftliche Koſten auszuruͤſtender Kriegsſchiffe
das Gewaͤſſer von Hamburg bis in die Nordſee,
und mit der noͤthigen Mannſchaft zu Lande die
Landſtraße zwiſchen der Elbe und Trave in Sicher-
heit zu ſetzen. Dieſe Verbindung erreichte ihren
Zweck,
(p)
[223]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.
Zweck, der damals fuͤr alle handelnde Staͤdte das
groͤßte Beduͤrfniß war, ſo gluͤcklich, daß ſie in kur-
zem durch den Beytritt mehrerer Staͤdte (q) maͤch-
tig vergroͤßert wurde (r), und unter dem Namen
der Teutſchen Hanſe(s) etliche Jahrhunderte hin-
durch ſich in dem vorzuͤglichſten Beſitz der Schiff-
fahrt
[224]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
fahrt (t) und Handlung (u) befand, bis endlich
mit dem Ausgange des XV. Jahrhunderts mehrere
Urſachen zuſammentrafen, die nach und nach ihren
Untergang befoͤrderten (v); ſo daß jetzt von den
drey Staͤdten Luͤbeck, Bremen und Hamburg nur
noch
[225]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.
noch das Andenken dieſes ehedem ſo maͤchtigen
Bundes einigermaßen erhalten wird (w).


Ein anderer Bund, der anfangs unbedeutendIX.
ſcheinen konnte, aber in der Folge ſich bis zu ei-
ner der unabhaͤngigen Europaͤiſchen Maͤchte empor
geſchwungen hat, und in dieſer Geſtalt unter dem
Namen der Schweizer Eidgenoſſenſchaft noch
jetzt bluͤhet, entſtand zuerſt in den drey ſo genan-
ten Waldſtaͤdten Uri, Schwitz und Unterwalden,
wo am 17. Oct. 1307. eigentlich nur drey Bieder-
maͤnner, Walther Fuͤrſt von Uri, Werner von
Staufachen von Schwitz, und Arnold von Melch-
thal von Unterwalden ſich verbanden, um ihre
bisherige Freyheit und Rechte gegen neue Anmaßun-
gen des Hauſes Habsburg zu vertheidigen. Nach
einem Treffen bey Murgarten im Gebiete von Un-
terwalden (1315. Nov. 16.), wo Herzog Leopold
von Oeſterreich den kuͤrzern zog, ward dieſer Bund
zuerſt (1315. Dec. 9.) auf beſtaͤndig erneuert, und
vom damaligen Kaiſer Ludewig von Baiern, der
ſelbſt uͤber die Kaiſerwuͤrde mit einem Oeſterreichi-
ſchen
P
[226]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
ſchen Prinzen ſtritt, auf einer Reichsverſammlung
zu Nuͤrnberg (1316. Maͤrz 23.) beſtaͤtiget. Wor-
auf in der Folge noch 1332. die Stadt Lucern,
1351. die im Range oben an geſetzte Stadt Zuͤ-
rich, 1352. die Landſchaft Glarus, ingleichen die
Stadt und das Amt Zug, und 1353. die Stadt
Bern hinzutraten, welche ſeitdem vorerſt 130. Jah-
re ohne weitern Beytritt dieſe Eidgenoſſenſchaft
gluͤcklich unterhielten, bis hernach noch fuͤnf neue
Orte hinzukamen, von welchen jene als die acht
alten Orte in der Benennung ſich unterſchieden.
Die Abſicht dieſer Eidgenoſſenſchaft war von An-
fang nichts weniger als auf eine Unabhaͤngigkeit
oder Losreiſſung vom Teutſchen Reiche gerichtet,
ſondern ſie ſollte den verbundenen Staͤdten nur ge-
gen die Uebermacht des Hauſes Habsburg und ge-
gen den Adel zur Schutzwehr dienen. Aber der
ungluͤckliche Erfolg eines Krieges, den der Kaiſer
Max der I. (1499.) gegen ſie unternahm, konnte
ihnen freylich den Gedanken einfloͤßen, ſich zu
einer voͤllig unabhaͤngigen Macht umzubilden.


X.

Sowohl in der Schweiz als fuͤr alle Teutſche
Staͤdte beſtand eine der groͤßten Beſchwerden, und
zugleich eines der groͤßten Hinderniſſe fuͤr den Han-
del in den Zoͤllen, womit beſonders die großen
Stroͤhme, als der Rhein, die Weſer, die Elbe,
die Oder und die Donau uͤberladen waren, weil
faſt ein jeder Reichsſtand, deſſen Gebiet ein ſolcher
Strohm beruͤhrte, einen oder mehrere Zoͤlle erhob.
Manche derſelben waren durch kaiſerliche Gnaden-
briefe bewilliget; manche mochten aber auch eigen-
maͤchtig in Gang gebracht worden ſeyn.


Mit
[227]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.

Mit kaiſerlichen Verleihungen von der Art er-XI.
eignete ſich jedoch um dieſe Zeit eine wichtige Ver-
aͤnderung. Der vorzuͤgliche Einfluß, den die Chur-
fuͤrſten ſeit ihrem ausſchließlichen Rechte den Kaiſer
zu wehlen, nach und nach auch auf andere Geſchaͤffte
bekamen, gab bald Anlaß, daß in Faͤllen, wo der
Kaiſer nicht noͤthig hatte, das ganze Reich zu Ra-
the zu ziehen, doch die Einwilligung der Chur-
fuͤrſten
nicht fuͤr uͤberfluͤſſig gehalten wurde (wie
z. B. ſchon vom Roͤmiſchen Koͤnige Henrich dem VII.
ein im Jahre 1228. dem Herzoge Leopold von Oeſter-
reich ertheilter Gnadenbrief vorhanden iſt, worin
ausdruͤcklich angefuͤhrt wird, daß er mit gutem
Rathe und Willen der Churfuͤrſten ertheilt wor-
den ſey.) (x) Doch bey der Belehnung, die
Ottocar von Boͤhmen von Richard von Cornwall
uͤber Oeſterreich erhalten hatte, waren die Chur-
fuͤrſten nicht zugezogen worden. Eben das nahm
hernach Rudolf von Habsburg als den Hauptgrund
an, warum dieſe Belehnung nicht zu Recht beſte-
hen koͤnne. Davon war aber ferner eine natuͤr-
liche Folge, daß nunmehr ein allgemeiner Grund-
ſatz daraus wurde, daß in wichtigen Dingen keine
kaiſerliche Gnadenverleihung ihren voͤlligen Rechts-
beſtand erhielt, wenn ſie nicht mit der churfuͤrſt-
lichen Einwilligung verſehen war. So koͤnnen
alſo kaiſerliche Gnadenbriefe uͤber Anwartſchaften,
Zoͤlle oder aͤhnliche wichtige Gegenſtaͤnde ſchon
von dieſer Zeit an nicht fuͤr vollguͤltig angeſehen
werden, wenn nicht die Churfuͤrſten ihre Einwil-
ligung dazu gegeben haben. Dieſe pflegte aber
P 2da-
[228]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
damals nicht ſowohl durch einen gemeinſchaftlich
gefaßten Collegialſchluß ertheilt zu werden, als
durch einzelne Willebriefe, um die man ſich bey
jedem Churfuͤrſten beſonders bewarb. So finden
ſich z. B. im Heſſiſchen Archive uͤber die Urkunde
Adolfs von Naſſau vom Jahre 1292. zugleich die
Willebriefe ſaͤmmtlicher Churfuͤrſten.


XII.

Was die Zahl der Churfuͤrſten betrifft, ſchien
es nicht bloß zufaͤllig zu ſeyn, daß nur die drey
erſten Erzbiſchoͤfe, welche die Kroͤnung verrichteten,
und vier weltliche Fuͤrſten, welche die vier Reichs-
erzaͤmter zu verſehen hatten, alſo zuſammen an der
Zahl ſieben, deren Gegenwart bey jeder Wahl
und Kroͤnung weſentlich war, an der Churwuͤrde
Anſpruch machen konnten. Vielleicht war die
Siebenzahl auch hier deſto angenehmer, da hin
und wieder in der Bibel ſieben Leuchter, ſieben
Saͤulen u. ſ. w. gedacht werden, und da auch
an der Pabſtwahl urſpruͤnglich vorzuͤglich die ſie-
ben Cardinalbiſchoͤfe des Roͤmiſchen Kirchſpren-
gels Antheil hatten. Wenigſtens finde ich zuerſt
in einem Schreiben, das der Pabſt Urban der IV.
(1263.) an den Roͤmiſchen Koͤnig Richard erließ,
namentlich ausgedruͤckt, daß der Fuͤrſten, die ihre
Stimme zur Kaiſerwahl zu geben haͤtten, ſieben an
der Zahl waͤren (y); an ſtatt daß ſie vorher zu Zeiten
an der Zahl ſechs oder acht (z) oder auf unbeſtimmte
Art
[229]1) Fried. II. — Alb. I. 1235-1308.
Art angegeben werden (a). Die Siebenzahl kam
gerade auf den nachherigen Fuß heraus, wenn man
dabey zum Grunde legt, daß unter dem Kaiſer Fried-
rich dem I. im Jahre 1184. Boͤhmen als Erz-
ſchenk, Pfalz als Erztruchſeß, Sachſen als Erz-
marſchall, Brandenburg als Erzkaͤmmerer vorge-
kommen ſind, und daß ſeit 1215. der Herzog in
Baiern zugleich zum Pfalzgrafen am Rheine er-
nannt worden war. Außerdem laͤßt ſich kaum
begreifen, wie der Herzog in Baiern nicht auch
zugleich unter der Zahl der urſpruͤnglichen Chur-
fuͤrſten begriffen geweſen ſeyn ſollte. Wohl aber
ſcheint gleich von Anfang einiger Zweifel wegen
der Boͤhmiſchen Chur geweſen zu ſeyn, da den
Beſitzern von Boͤhmen als Wendiſchen Fuͤrſten des-
halb Streit erreget worden (b). Inzwiſchen hat
Rudolf von Habsburg (1290.) der Krone Boͤh-
men ſowohl wegen der Churwuͤrde als wegen des
Erzſchenkenamts eine neue Verſicherung gegeben (c),
nach-
P 3
[230]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
nachdem er vorher ſchon (1275.) erklaͤrt hatte,
daß zwar ſowohl Pfalz als Baiern an der Chur-
wuͤrde Antheil haben, aber nur fuͤr eine Stimme
gelten ſollten (d). Dieſe Frage mußte natuͤrlicher
Weiſe zur Sprache kommen, da nicht nur ſeit
1253. das Haus Baiern in zwey Staͤmme von
Ober- und Niederbaiern abgetheilt war, wovon
nur der erſte zugleich die Pfalz am Rheine beſaß,
ſondern ſeit 1294. auch in jenem Stamme wie-
der Pfalz von Baiern ganz abgeſondert wurde (e).


II.
[231]2) Henr. VII. — Carl IV. 1308-1356.

II.
Von Henrich dem VII., Ludewig von Baiern,
und Carl dem IV. von 1308. bis 1356., inſon-
derheit von der Churverein.


I. Verlegung des paͤbſtlichen Stuhls nach Avignon. —
II. Henrich der VII.III. Zwieſpaͤltige Wahl Ludewigs von
Baiern und Friedrichs von Oeſterreich — IV. Veranlaßung
und Inhalt der Churverein. — V. Boͤhmen nahm keinen
Theil darau, ſondern nur die uͤbrigen ſechs Churfuͤrſten. —
Die Rheiniſchen Churfuͤrſten ſchloſſen hernach noch beſondere
Vereine. — VI. Reichsſchluß von Unabhaͤngigkeit des Teut-
ſchen Reichs. — VII. Wahlen Carls des IV. und Guͤnthers
von Schwarzburg. — Veranlaßung der goldenen Bulle.


Aus anderen Theilen der Geſchichte muß ich hierI.
als bekannt vorausſetzen, wie die uͤbertriebe-
nen Grundſaͤtze, welche der Pabſt Bonifaz der VIII.
zur Behauptung der paͤbſtlichen Gewalt uͤber welt-
liche Maͤchte auch in politiſchen Gegenſtaͤnden, in-
ſonderheit gegen Frankreich durchſetzen wollen, den
unerwarteten Erfolg veranlaßet, daß Bonifaz dar-
uͤber um Freyheit und Leben gekommen, und der
hernach auf Franzoͤſiſche Veranſtaltung gewehlte
Pabſt Clemens der V. in Frankreich bleiben muͤßen.
Unter dieſen Umſtaͤnden ſchien die Krone Frankreich
das Uebergewicht, das die paͤbſtliche Gewalt bis-
her uͤber alle Maͤchte erlanget hatte, zu ihrem Vor-
theile benutzen zu koͤnnen, da ſie den Pabſt jetzt
in ihrer Gewalt hatte, und alles ſich dazu anließ,
als ob der Sitz des paͤbſtlichen Stuhls und der
geſammten Cardinaͤle jetzt auf beſtaͤndig zu Avignon
bleiben wuͤrde.


P 4Nur
[232]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
II.

Nur zu fruͤh ſuchte der Koͤnig Philipp von
Frankreich durch Einfluß des Pabſtes Clemens des V.
ſchon an Albrechts des I. Stelle ſeinen Bruder Carl
von Valois auf den kaiſerlichen Thron zu bringen.
Eben das war vielmehr dazu befoͤrderlich, daß
die Churfuͤrſten, da ſie insgeheim von den Fran-
zoͤſiſchen Abſichten benachrichtiget waren, die Kaiſer-
wahl beſchleunigten, und, ohne weder auf Albrechts
Sohn noch auf andere damalige Competenten Ruͤck-
ſicht zu nehmen, den Grafen Henrich von Luͤxen-
burg
einmuͤthig zum Kaiſer erwehlten. Demſel-
ben gluͤckte es wieder, was ſeinen letzten beiden
Vorfahren nicht ſo hatte gelingen wollen, die Kai-
ſerwuͤrde zur Vergroͤßerung ſeines Hauſes zu be-
nutzen, indem er nach Abgang des bisherigen
Wendiſch-Boͤhmiſchen Mannsſtamms, an ſtatt der
Verſuche, die theils das Haus Oeſterreich, theils
Henrich von Kaͤrnthen, der des letzten Koͤnigs
Schweſter Anne zur Gemahlinn hatte, auf die
Krone Boͤhmen gemacht hatten, bald Mittel und
Wege fand, ſeinen Sohn Johannes mit einer an-
dern Schweſter des letzten Koͤnigs zu vermaͤhlen,
und ihm damit dieſe Krone zuzuwenden.


III.

Doch der Streit, der uͤber das Recht zur
Krone Boͤhmen zwiſchen Henrich von Kaͤrnthen und
Johann von Luͤxenburg vorerſt noch uͤbrig blieb,
und ein anderer Zwiſt, der nun noch hinzukam,
da im Hauſe Sachſen vom Aſcaniſchen Stamme
die beiden Linien Sachſen-Lauenburg und Sach-
ſen-Wittenberg um die Churwuͤrde ſtritten, —
dieſe Umſtaͤnde, ſage ich, veranlaßten nach dem fruͤh-
zeitigen Abſterben Henrichs des VII. († 1313.
Aug. 24.) eine zwieſpaͤltige Wahl, da eine Par-
they,
[233]2) Henr. VII. — Carl IV. 1308-1356.
they, worunter Coͤlln, Pfalz, Sachſen-Witten-
berg und Henrich von Kaͤrnthen begriffen waren,
den Herzog Friedrich von Oeſterreich wehlte,
eine andere Parthey aber den Herzog Ludewig
von Batern
, auf deſſen Seite nebſt Mainz, Trier
und Brandenburg der Herzog von Sachſen-Lauen-
burg und Johann von Luͤxenburg als Koͤnig in
Boͤhmen ſtanden. Dieſem Zwiſte ſchien zwar
der Ausſchlag der Waffen die Entſcheidung zu ge-
ben, da Ludewig von Baiern nach einem ſieben-
jaͤhrigen Kriege das Gluͤck hatte, (1322. Sept. 28.)
bey Muͤhldorf ſeinen Gegner nicht nur zu ſchla-
gen, ſondern auch gefangen zu bekommen. Aber
da nunmehr Ludewig in Italien die Gegenparthey
des Pabſtes unterſtuͤtzte, nahm Clemens des V.
Nachfolger Johann der XXII. ſolche Maßregeln,
daß er wegen der ſtreitigen Kaiſerwahl den kaiſer-
lichen Thron fuͤr ledig erklaͤrte, und ſich den rich-
terlichen Ausſpruch daruͤber zueignete. Er befahl
Ludewigen, die Regierung niederzulegen, und that
ihn ſeines angeblichen Ungehorſams wegen nicht
nur in Bann, ſondern er belegte auch ganz Teutſch-
land daruͤber mit einem Interdicte. Waͤhrend der
Zeit ſtarb Friedrich von Oeſterreich. Und Johan-
nes des XXII. Nachfolger Benedict der XII. machte
Hoffnung Ludewigen wieder mit dem paͤbſtlichen
Stuhle ausſoͤhnen zu laßen. Aber nunmehr ward
es merklich, daß ſelbſt die Krone Frankreich den
Pabſt von der Ausſoͤhnung zuruͤckhielt.


Das alles machte endlich den Churfuͤrſten fuͤhl-IV.
bar, wie ſehr ihre Vorrechte darunter litten, wenn
einem Kaiſer, den ſie einmal gewehlt und dafuͤr
anerkannt hatten, von irgend einer auswaͤrtigen
P 5Macht
[234]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Macht noch Zweifel erreget oder etwas in Weg
gelegt werden ſollte. Sie giengen deswegen von
einer allgemeinen Reichsverſammlung, die Ludewig
dieſer Umſtaͤnde wegen zu Frankfurt veranſtaltet
hatte, noch erſt bey Seite nach Renſe, und ſchloſ-
ſen hier (1338. Jul. 15.) die ſo genannte Chur-
verein,
die ſeitdem bis auf den heutigen Tag eine
wichtige Grundfeſte der churfuͤrſtlichen Vorrechte
geblieben iſt. Sie erkannten, daß mit dem Betra-
gen des paͤbſtlichen Stuhles und der Krone Frank-
reich in Anſehung des Kaiſer Ludewigs ſowohl das
ganze Reich, als inſonderheit das churfuͤrſtliche
Collegium, jenes an ſeiner Unabhaͤngigkeit, dieſes
an ſeiner Wahlfreyheit, angegriffen ſey. Sie ver-
einigten ſich deswegen, zu Vertheidigung ihrer
churfuͤrſtlichen Rechte bey jeder Gelegenheit gemeine
Sache zu machen, und nach aller ihrer Macht
einander beyzuſtehen. Auch befeſtigten ſie den
Hauptgrund ihrer collegialiſchen Verfaſſung damit,
daß ſie ſich ausdruͤcklich vereinbarten, die Mehr-
heit der Stimmen unter ihnen gelten zu laßen.
(Dieſe Churverein iſt ſeitdem von Zeit zu Zeit er-
neuert, und verſchiedentlich erweitert worden; in-
ſonderheit noch zuletzt 1559., von welchem Jahre
ſie noch jetzt zum Grunde gelegt wird, wie ſie
noch 1745. und 1764. von allen und jeden Chur-
fuͤrſten beſchworen worden iſt.)


V.

An der erſten Churverein nahm nur der Koͤ-
nig in Boͤhmen keinen Antheil, weil derſelbe
damals ſelbſt mit dem Kaiſer Ludewig zerfallen,
und vielmehr mit der Krone Frankreich in eigner
Verbindung war. Es waren alſo nur die ſechs
Churfuͤrſten Mainz, Trier, Coͤlln, Pfalz, Sach-
ſen,
[235]2) Henr. VII. — Carl IV. 1308-1356.
ſen, Brandenburg, ſo die erſte Churverein ſchloſ-
ſen. Zufaͤlliger Weiſe war Boͤhmen auch in den
naͤchſtfolgenden Churvereinen nicht begriffen, wo-
mit ſchon fruͤhzeitig der Grund dazu gelegt wur-
de, daß Boͤhmen endlich beynahe ganz aus dem
Beſitze der churfuͤrſtlichen Vorrechte kam, und die
nachherigen Reichsgeſetze, ſo oft von wuͤrklicher
Ausuͤbung churfuͤrſtlicher Vorrechte die Rede iſt,
immer nur von ſechs Churfuͤrſten ſprechen. Viere
derſelben, deren Laͤnder meiſt am Rheine gelegen
ſind, oder, wie man ſie deswegen zu nennen pflegt,
die Rheiniſchen Churfuͤrſten, von Mainz, Trier,
Coͤlln und Pfalz, haben nachher oft noch beſondere
Vereine geſchloſſen, um uͤber ſolche Gegenſtaͤnde,
worin ſie ein eignes gemeinſames Intereſſe haben,
einander gemeinſchaftlich beyzuſtehen.


Jene erſte Churverein machte gleich damalsVI.
dem ganzen Reiche Muth, daß nach der Ruͤck-
kunft der Churfuͤrſten von Renſe zu Frankfurt
(1338. Aug. 8.) ein allgemeiner Reichsſchluß ge-
faſſet wurde, der die Erklaͤrung enthielt: daß der-
jenige, der von den Churfuͤrſten einmuͤthig oder
durch Mehrheit der Stimmen dazu erwehlt ſey,
bloß vermoͤge dieſer Wahl fuͤr den wahren Roͤmi-
ſchen Koͤnig und Kaiſer zu halten ſey, ohne weder
einer paͤbſtlichen oder irgend jemand anders Be-
ſtaͤtigung oder Einwilligung zu beduͤrfen; und
daß ein jeder, der ſich hierwider etwas zu Schul-
den kommen laße, des Verbrechens der beleidig-
ten Majeſtaͤt ſchuldig erklaͤrt werden ſolle.


Ludewig, vielleicht in zu großer Zuverſicht aufVII.
dieſe von den Churfuͤrſten und vom ganzen Rei-
che
[236]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
che gefaßte Schluͤſſe, und zugleich unterſtuͤtzt von
einigen Schriften, die einige wider den paͤbſtli-
chen Stuhl aufgebrachte Mitglieder des Franciſca-
nerordens damals herausgaben, that nur zu auf-
fallende neue Schritte, da er nunmehr gar unter-
nahm eine Eheſcheidung zu erkennen, und uͤber
verbotene Grade zu dispenſiren, um ſeinem Sohne
mit der Vermaͤhlung mit einer von einem Boͤh-
miſchen Prinzen geſchiedenen Erbtochter von Ti-
rol die Hoffnung zur Vererbung dieſes Landes auf
ſeine Nachkommen zu verſchaffen. Aber eben da-
durch gab er Anlaß, daß Benedicts des XII.
Nachfolger Clemens der VI. nicht nur alle vorige
paͤbſtliche Ausſpruͤche gegen ihn erneuerte, ſondern
auch fuͤnf churfuͤrſtliche Stimmen vermochte, in
der Perſon des damaligen Boͤhmiſchen Kronprin-
zen, der in unſerer Geſchichte hernach unter dem
Namen Carl derIV. erſcheint, ihm einen Ge-
genkaiſer entgegenzuſetzen. Derſelbe konnte zwar
gegen Ludewigen, ſo lange derſelbe lebte, noch
nicht aufkommen. Und ſelbſt nach Ludewigs
Tode ward von anderen Churfuͤrſten ihm noch
Graf Guͤnther von Schwarzburg entgegenge-
ſetzt, den er erſt uͤberleben mußte, ehe er ſich eines
ruhigen Beſitzes der Kaiſerkrone getroͤſten durfte.
Da aber an allen dieſen unter den Churfuͤrſten
entſtandenen Trennungen und daraus erwachſenen
zwieſpaͤltigen Kaiſerwahlen die noch immer fort-
waͤhrenden Zwiſtigkeiten uͤber einige Churſtimmen
großen Antheil hatten; ſo gab eben das Carl dem IV.
ohne Zweifel den groͤßten Bewegungsgrund, auf
Beylegung und kuͤnftige Verhuͤtung ſolcher Strei-
tigkeiten Bedacht zu nehmen, wie ſolches in dem
beruͤhmten Reichsgrundgeſetze geſchah, das unter
dem
[237]3) Goldene Bulle 1356.
dem Namen der goldenen Bulle bekannt iſt, und
nun noch eine beſondere Beſchreibung verdienet.


III.
Von der goldenen Bulle 1356.


I. Grund der Benennung der goldenen Bulle, und wie
ſie ſtuͤckweiſe gemacht worden. — II. III. Hauptabſicht die-
ſes Reichsgrundgeſetzes. — Genaue Beſtimmung der ſieben
Churfuͤrſten; — IV. mit Uebergehung des Hauſes Baiern
wird nur Pfalz auf der fuͤnften Stelle benannt; — V. des-
gleichen auf der ſechſten Stelle Sachſen-Wittenberg mit Ueber-
gehung des Hauſes Sachſen Lauenburg. — VI. VII. Ver-
ordnung des Rechts der Erſtgebuhrt fuͤr die kuͤnftige Erb-
folge in den weltlichen Churfuͤrſtenthuͤmern; — VIII. IX.
mit hinzugefuͤgter Erforderniß einer rechten ehelichen Gebuhrt,
und des weltlichen Standes. — X-XII. Spaͤtere Einfuͤh-
rung der Erſtgebuhrtsfolge in nicht churfuͤrſtlichen Laͤndern. —
XIII. Vormundſchaft uͤber minderjaͤhrige Churfuͤrſten. —
XIV. Rang der Churfuͤrſten unter einander. — XV. Ihre
Dienſtverrichtungen an feierlichen Tagen des kaiſerlichen Hofes,
oder die ſo genannten Reichserzaͤmter. — XVI. Davon
abhangende Reichserbaͤmter. — XVII. Art und Weiſe der
kaiſerlichen Wahl und Kroͤnung. — XVIII. Roͤmiſche Koͤnigs-
wahl. — XIX. XX. Reichsvicariate, und deren Rechte. —
XXI. Pfaͤlziſches beſonderes richterliches Vorrecht. — XXII.
Verbrechen der beleidigten Majeſtaͤt gegen Churfuͤrſten. —
XXIII. Andere Vorrechte der Churfuͤrſten. — XXIV. XXV.
Verordnungen der goldenen Bulle gegen das Fauſtrecht; —
XXVI. inſonderheit gegen unzeitige Lehnsaufkuͤndigungen; —
XXVII. XXVIII. ohne daß dem Unweſen des Fauſtrechts da-
mit abgeholfen worden.


Bey kaiſerlichen Ausfertigungen von vorzuͤglicherI.
Wichtigkeit iſt es von alten Zeiten her uͤb-
lich geweſen, ſie dadurch vor anderen auszuzeich-
nen, daß nicht bloß waͤchſerne, oder auch in Cap-
ſeln verwahrte auf Wachs abgedruckte Siegel, ſon-
dern
[238]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
dern ſo genannte goldene Bullen angehaͤnget wer-
den, wo das Siegel ſelbſt in Gold gearbeitet iſt,
in zwey in Geſtalt einer Medaille vereinigten gol-
denen Platten, die inwendig hohl und mit Wachs
ausgefuͤllt ſind, wodurch die Schnuͤre gehen, wo-
mit ſie an der Urkunde befeſtiget iſt. Von ſol-
chen angehaͤngten Bullen hat man die damit be-
feſtigten Urkunden ſelbſt oft goldene Bullen ge-
nannt, (wie auf gleiche Art die Benennung der
paͤbſtlichen Bullen gewoͤhnlich iſt.) So hat auch
dieſes Reichsgrundgeſetz, deſſen Ausfertigungen mit
der goldenen Bulle verſehen worden, den Namen
der goldenen Bulle erhalten (f). Eigentlich
beſteht ſie aus fuͤnf Verordnungen, die Carl der IV.
auf zweyerley nach einander gehaltenen Reichs-
verſammlungen, zu Nuͤrnberg vom 10. Jan. 1356.
an, und zu Metz vom 25. Dec. 1356. an, mit
Zuthun der Churfuͤrſten und zum Theil mit Zuzie-
hung des ganzen Reichs errichtet hat; die hernach
in 30. Hauptſtuͤcke abgetheilt zuſammen in ein
ganzes Werk gebracht ſind. Jeder Churfuͤrſt hat
damals eine Originalausfertigung davon erhalten;
der Stadt Frankfurt hat man ebenfalls ein authen-
tiſches Exemplar gegeben, das noch jetzt jedem
Fremden daſelbſt gezeiget wird.


Die
[239]3) Goldene Bulle 1356.

Die Hauptabſicht, die Carl der IV. bey Er-II.
richtung dieſes Grundgeſetzes hatte, gieng unſtrei-
tig dahin, daß er die Anſtaͤnde, die ſich bisher
in Anſehung der Churſtimmen geaͤußert hatten, wie
er ſie bey ſeiner eignen Wahl noch erfahren hatte,
zu heben ſuchte, um fuͤr die Zukunft die Kaiſer-
wahl, und alles, was damit in Verbindung ſtand,
auf feſtern Fuß zu ſetzen. Alle bisherige Strei-
tigkeiten mußten deswegen entſchieden werden; und
fuͤrs kuͤnftige galt es darum, gewiſſe beſtimmte
Grundſaͤtze fuͤr beſtaͤndig feſtzuſetzen. In beiden
Ruͤckſichten wurde fuͤr bekannt angenommen, daß
nicht mehr und nicht weniger als ſieben Chur-
fuͤrſten
ſeyn koͤnnten; daher in der goldenen
Bulle die Anſpielung auf die heilige Siebenzahl
der ſieben Saͤulen und ſieben Leuchter nicht ver-
geſſen wurde. Auch nahm man fuͤr bekannt an,
daß unter dieſen ſieben Churfuͤrſten drey geiſtliche
und vier weltliche zu verſtehen waͤren.


Wegen der geiſtlichen Churfuͤrſten war garIII.
kein Zweifel, daß nur die Erzbiſchoͤfe von Mainz,
Trier und Coͤlln auf dieſe Ehre Anſpruch machen
koͤnnten; denen insgeſammt zugleich der Vorſitz
vor den weltlichen Churfuͤrſten zugeſtanden wurde.
Unter den weltlichen behielt der Koͤnig in Boͤh-
men
(ſo damals Carl der IV. ſelbſt war,) vor
allen uͤbrigen den erſten Platz. Außer dem, was
in der goldenen Bulle davon vorkam, mußte Chur-
mainz ſowohl uͤber die Boͤhmiſche Churſtimme, als
uͤber das damit verknuͤpfte Erzſchenkenamt, jedoch
ſo, daß der jedesmalige Koͤnig von wuͤrklicher Aus-
uͤbung des Dienſtes befreyet ſey, noch eine beſondere
Urkunde ausſtellen (g).


Die
[240]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
IV.

Die wichtigſte bisher ſchon beſtrittene Frage
war nun: ob die zweyte weltliche Chur auf der
Pfalz am Rheine oder auf dem Herzogthume
Baiern haftete? Dieſe Frage ſchien ſchon von
Rudolf von Habsburg ihre Erledigung dahin er-
halten zu haben, daß beide Haͤuſer Pfalz und Baiern
fuͤr einen Mann ſtehen, und an der Churſtimme
gleichen Antheil haben ſollten. Seitdem hatte
ſelbſt ein feierlicher Vertrag, den Ludewig von
Baiern 1329. zu Pavia mit ſeines Bruders Soͤh-
nen gemacht hatte, eine Abwechſelung in Ausuͤbung
der Churſtimme zwiſchen beiden Haͤuſern feſtge-
ſetzt (h). Nichts deſto weniger geſchieht in der
goldenen Bulle des Hauſes Baiern gar keine Mel-
dung. Nur Pfalz alleine wird als der zweyte
weltliche Churfuͤrſt namhaft gemacht. Wenn man
bedenkt, daß Carl der IV. anfangs gegen Ludewig
von Baiern als deſſen Gegenkaiſer gewehlt war,
und daß er hingegen eine Tochter des Churfuͤrſten
von der Pfalz zur Gemahlinn gehabt hatte; ſo
kann man ſich kaum zuruͤckhalten auf die Vermu-
thung zu kommen, ob nicht eine Partheylichkeit,
die Carl der IV. perſoͤnlich fuͤr Pfalz gegen Baiern
haben konnte, in dieſem Stuͤck auf die goldene
Bulle einen Einfluß gehabt haben moͤchte? Lude-
wig von Baiern hatte zwar als Kaiſer Gelegen-
heit gefunden, die Mark Brandenburg 1322. als
ein durch den damaligen Abgang des Aſcaniſch-
Bran-
[241]3) Goldene Bulle 1356.
Brandenburgiſchen Stamms erledigtes Reichslehn
einzuziehen, und einem ſeiner Soͤhne zu vergeben,
der jetzt als Marggraf von Brandenburg im Be-
ſitz der Churwuͤrde war. Konnte das aber einen
hinlaͤnglichen Rechtsgrund abgeben, einen andern
Bruder derſelben als Herzog von Baiern von der
Churwuͤrde auszuſchließen? Oder ſollte auch bey
der Colliſion, die nach vorausgeſetzter Siebenzahl
zwiſchen Boͤhmen und Baiern hier einzutreten ſchien,
mit dazu beygetragen haben, das Uebergewicht ge-
gen letzteres zu bewirken? Doch dem allem ſey,
wie ihm wolle, in der goldenen Bulle wurde nun
einmal an Baiern als ein Churfuͤrſtenthum gar nicht
gedacht. Das Haus Baiern erſcheint auch in der
folgenden Geſchichte bis auf den dreyßigjaͤhrigen
Krieg nicht als ein churfuͤrſtliches Haus, ſondern
nur als herzoglich.


Ein anderer Streit, der bisher zwiſchen Sach-V.
ſen-Lauenburg und Sachſen Wittenberg wegen
der Saͤchſiſchen Churſtimme obgewaltet hatte, ward
ebenfalls ſo entſchieden, daß es ſchwer faͤllt, Carl
den IV. vom Verdacht eines perſoͤnlich partheyi-
ſchen Einfluſſes frey zu ſprechen. So lange Carl
noch mit Ludewig von Baiern und Guͤnthern von
Schwarzburg uͤber die Kaiſerwuͤrde zu ſtreiten hatte,
war immer nur Sachſen-Wittenberg auf ſeiner
Seite, Sachſen-Lauenburg gegen ihn geweſen.
Nun wird in der goldenen Bulle Sachſen-Lauen-
burg gar nicht genannt; Sachſen-Wittenberg aber
als unbeſtrittener Churfuͤrſt fuͤr bekannt angenom-
men. In der Folge iſt zwar noch einmal (1437.)
von Sachſenlauenburgiſchen Anſpruͤchen auf dieſe
QChur-
[242]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Churſtimme Anregung geſchehen (i); aber ohne
alle Wirkung. So ſehr hat die Beſtimmung der
goldenen Bulle in Anſehung deſſen, was bisher
beſtritten worden war, durchgegriffen und ihren
voͤlligen Zweck erreicht.


VI.

Mit den Grundſaͤtzen fuͤr die Zukunft war
ſie nicht weniger gluͤcklich. Sie ſetzte jetzt ein vor
allemal feſt, daß, ſo wie die drey geiſtlichen Chu-
ren auf den Erzſtiftern Mainz, Trier, Coͤlln haf-
teten, ſo die vier weltlichen Churen von nun an
unveraͤnderlich auf dem Koͤnigreiche Boͤhmen, der
Pfalz am Rheine, dem Churkreiſe Sachſen-Witten-
berg, und der Mark Brandenburg haften ſollten.
Ein jedes von dieſen vier Churfuͤrſtenthuͤmern ſollte
von nun an untheilbar ſeyn, und immer nur auf
den Erſtgebohrnen vererbt werden. Folglich konnte
nunmehr weder Theilung noch Gemeinſchaft noch
Abwechſelung in einer Churwuͤrde mehr in Frage
kommen.


VII.

Das einzige hat nur in der Folge noch einer
etwas naͤhern Beſtimmung bedurft, wie die Erb-
folge nach der Erſtgebuhrt
unter Seitenver-
wandten zu verſtehen ſey. Die goldene Bulle hatte
ſich nur ſo erklaͤret: wenn der Erſtgebohrne ohne
ſucceſſionsfaͤhige Soͤhne verſtuͤrbe, ſollte ſein aͤlte-
ſter Bruder zur Erbfolge in der Chur gelangen (k).
Nicht
[243]3) Goldene Bulle 1356.
Nicht lange hernach ereignete ſich der Fall, daß
der Churfuͤrſt Rudolf der II. von Sachſen (1371.)
unbeerbt ſtarb, deſſen Bruder Otto ſchon 1350.
mit Hinterlaßung eines Sohns Albrechts geſtorben
war, der dritte Bruder Wenzel aber noch lebte.
Hier ſprach ſelbſt Carl der IV. fuͤr den dritten
Bruder, mit Zuruͤckſetzung des Sohnes von dem
vorher verſtorbenen aͤlteren Bruder; vermuthlich,
weil man ſich buchſtaͤblich an die Worte: aͤlte-
rer Bruder, hielt, und daher dem Bruder, der
aͤlter an Jahren war, als des vorher verſtorbenen
aͤltern Bruders Sohn, den Vorzug gab. Auf
gleiche Art iſt es noch einmal im XVI. Jahrhun-
dert mit einem Falle in der Pfalz gehalten wor-
den, da nach Ludewigs des V. Tode nicht deſſen
vorher verſtorbenen Bruders Ruprechts Sohn Otto
Henrich, ſondern der dritte Bruder Friedrich der II.
Churfuͤrſt wurde. (Jetzt hat man aber von der
Erbfo[i]gsordnung nach dem Rechte der Erſtgebuhrt
richtigere Begriffe, daß nicht das natuͤrliche Alter,
als worauf nur bey Senioraten zu ſehen iſt, ſon-
dern die Ordnung der Gebuhrt und der davon ab-
hangenden Linien den Ausſchlag gibt; daß alſo
nie ein Nachgebohrner, oder wer davon abſtammt,
zur Succeſſion gelangen kann, ſo lange noch ein
Vorhergebohrner oder ein davon abſtammender
ſucceſſionsfaͤhiger Nachkoͤmmling vorhanden iſt.
Sonſt haͤtte nach jenen Beyſpielen auf den Fall, wenn
der jetzige Koͤnig in Preuſſen abgehen wird, nicht
der
(k)
Q 2
[244]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
der jetzige Prinz von Preuſſen, ſondern des Koͤnigs
noch lebender dritter Bruder Prinz Henrich zur
Succeſſion beſtimmt werden muͤßen. Das wird
aber jetzt keinem churfuͤrſtlichen oder andern das
Recht der Erſtgebuhrt beobachtenden Hauſe mehr
einfallen.)


VIII.

Als eine naͤhere Beſtimmung, wie ein jeder
Nachfolger in der Chur beſchaffen ſeyn muͤße, fuͤgt
die goldene Bulle noch hinzu, daß er rechter ehe-
licher Gebuhrt
und weltlichen Standes ſeyn
muͤße. Einen unehelich gebohrnen Sohn, wenn
er auch nachher durch prieſterliche Trauung ſeiner
Eltern legitimirt waͤre, wuͤrde man, ohne der gol-
denen Bulle Gewalt anzuthun, nie zur Churfolge
laßen koͤnnen. Gemeiniglich wuͤrde dabey noch
ein Hinderniß eintreten, das zwar die goldene Bulle
nicht ausdruͤcklich erwehnet, das ſie aber als eine
ſchon nach dem Herkommen bekannte Sache vor-
ausſetzen konnte; nehmlich daß auch nicht anders
als aus ſtandesmaͤßigen Ehen gebohrne Kinder
nach uralthergebrachten Rechten des Teutſchen ho-
hen Adels zur Erbfolge in Land und Leuten berech-
tiget ſind. Unter Perſonen von gleichem Stande
wird ſich aber der Fall nicht leicht ereignen, daß
ihre Kinder erſt eine nachherige Legitimation noͤthig
haͤtten.


IX.

Was aber den andern Beyſatz vom weltlichen
Stande anbetrifft, oder, wie ſich die goldene Bulle
ausdruͤckt, daß der Churfolger ein Laie ſeyn muͤße,
das verdient noch wohl eine naͤhere Erlaͤuterung.
In catholiſchen Haͤuſern geſchieht es noch jetzt ſehr
haͤufig, daß von mehreren Soͤhnen die aͤlteren
fruͤh-
[245]3) Goldene Bulle 1356.
fruͤhzeitig dem geiſtlichen Stande gewidmet wer-
den, um einsweilen deſto reichlicher mit Pfruͤn-
den ſich verſorgen zu koͤnnen, waͤhrend daß einem
oder mehreren juͤngeren Soͤhnen die kuͤnftige Erb-
folge in den Guͤtern des Hauſes und zugleich die
Beſtimmung als Stammhalter das Haus fortzu-
pflanzen zugedacht wird. In der Vorausſetzung,
daß eben das in churfuͤrſtlichen Haͤuſern geſchehen
koͤnnte, ward in der goldenen Bulle ſehr zweck-
maͤßig geordnet, daß alsdann, wenn etwa der
erſtgebohrne Sohn eines Churfuͤrſten den geiſtli-
chen Stand erwehlt haͤtte, nicht derſelbe, ſondern
nur derjenige Erſtgebohrne oder darauf in der Reihe
folgende Prinz, der Laie ſeyn wuͤrde, zur Succeſ-
ſion gelangen ſollte. Damit war jedoch nicht ge-
ſagt, daß ein Prinz, der im geiſtlichen Stande
lebte, ganz und gar nicht in weltlichen Laͤndern zur
Erbfolge gelangen koͤnnte. Nur bey den weltli-
chen Churfuͤrſtenthuͤmern hatte man vorzuͤglich Ur-
ſache darauf zu ſehen, daß zu deren Beſitz keiner
gelangte, der durch ſeinen Stand abgehalten wuͤr-
de, ſein Geſchlecht fortzuſetzen. Vielleicht kam
auch das dabey in Betrachtung, daß ohnedem ſchon
drey Churen in geiſtlichen Haͤnden waren. So
lange es alſo in einem Churhauſe nicht an welt-
lichen Herren fehlte, wurden billig geiſtliche zu-
ruͤckgeſetzt. Wenn ein ganzes Haus bis auf einen
einzigen Herrn geiſtlichen Standes abgegangen waͤ-
re; ob alsdann dieſer nicht dennoch ſuccediren
koͤnnte? wuͤrde noch eine andere Frage ſeyn. In
fuͤrſtlichen Haͤuſern wuͤrde es wenigſtens kein Be-
denken haben. Daß fuͤr einen evangeliſchen Prin-
zen die biſchoͤfliche und churfuͤrſtliche Wuͤrde nicht
mit einander in Widerſpruch ſtehe, hat ſchon das
Q 3Bey-
[246]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Beyſpiel des erſten Churfuͤrſten von Braunſchweig-
Luͤneburg gelehret (l).


X.

Uebrigens verſtand ſich die Erbfolge nach dem
Rechte der Erſtgebuhrt vermoͤge der goldenen Bulle
nur von jedem eigentlichen Churfuͤrſtenthume, nicht
von anderen Fuͤrſtenthuͤmern oder Grafſchaften, die
ein churfuͤrſtliches Haus noch neben her haben
moͤchte. So ward lange nach der goldenen Bulle
nicht nur das Haus Baiern (ſo doch immer als
ein Nebenſtamm des Pfaͤlziſchen Churhauſes anzu-
ſehen war,) noch in drey Linien von Ingolſtadt,
Landshut und Muͤnchen abgetheilt, ſondern auch
ſelbſt im Hauſe Pfalz geſchahen noch mehrere Ab-
theilungen von Pfalz-Simmern, Pfalz-Lantern,
Pfalz-Neuburg, Pfalz-Zweybruͤcken, Pfalz-Vel-
denz u. ſ. w. Auch im Hauſe Sachſen entſtanden
noch lange nachher die verſchiedenen Linien von
Weimar, Eiſenach, Gotha, Altenburg, Coburg,
Meinungen, Hildburghauſen u. ſ. w.


XI.

Die erſte Verordnung in ihrer Art uͤber die-
ſen Gegenſtand war diejenige, die der Churfuͤrſt
Albrecht Achilles von Brandenburg im Jahre
1473. errichtete. Vermoͤge derſelben ſollten von
ſeinen Nachkommen zwey juͤngere Herren in Anſpach
und Bayreuth
regieren. Alles uͤbrige aber, was
das Haus Brandenburg ſchon beſaß oder noch kuͤnf-
tig erlangen wuͤrde, ſollte unzertrennlich dem jedes-
maligen Churfuͤrſten zufallen. So ward zwar fuͤr
das Churhaus das Recht der Erſtgebuhrt mit allen
davon
[247]3) Goldene Bulle 1356.
davon zu erwartenden Vortheilen eingefuͤhrt, aber
doch auch in den zwey Nebenlinien von Anſpach
und Bayreuth dafuͤr geſorgt, daß außer dem re-
gierenden Churfuͤrſten noch immer zwey andere
regierende Fuͤrſten vom Hauſe waren, die ſich ſtan-
desmaͤßig vermaͤhlen konnten, um deſto weniger
den Abgang des Hauſes beſorgen zu duͤrfen. Und
doch ſcheint jetzt ſchon das zweytemal der Fall be-
vorzuſtehen, daß das Churhaus beide Nebenlinien
uͤberlebt.


Augenſcheinlich hat inzwiſchen dieſes Erſtge-XII.
buhrtsrecht, wie es das Haus Brandenburg vor
den uͤbrigen Churhaͤuſern zuerſt eingefuͤhrt hat,
den eigentlichen Grund dazu gelegt, daß ſeitdem
dieſes Haus in ſeiner Groͤße ſo merklich geſtiegen
iſt, da nie von keiner weitern Vertheilung mehr
die Frage ſeyn konnte, ſondern ein jeder neuer
Zuwachs von Land und Leuten immer nur dem
regierenden Churfuͤrſten zu gute kam. Nichts deſto
weniger haben andere Haͤuſer dieſes Beyſpiel erſt
weit ſpaͤter nachgeahmt. Manche fuͤrſtliche Haͤu-
ſer haben noch im XVI. Jahrhunderte einen Fluch
darauf gelegt, wenn auch einer ihrer Nachkommen
das Recht der Erſtgebuhrt einfuͤhren wollte. Man
hielt es zum Theil der Religion zuwider, wenn
man es nicht bey dem Spruche laßen wollte:
Sind wir dann Kinder, ſo ſind wir auch Erben.


Ein Umſtand, der mit dem Rechte der Erſt-XIII.
gebuhrt verbunden zu ſeyn pfleget, daß oͤfters Min-
derjaͤhrige an die Regierung kommen, iſt bey Ab-
faſſung der goldenen Bulle nicht unbemerkt geblie-
ben. Fuͤr dieſen Fall enthaͤlt ſie die ausdruͤckliche
Q 4Vor-
[248]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Vorſchrift, daß alsdann der aͤltere Bruder des
verſtorbenen Churfuͤrſten uͤber deſſen minderjaͤhrigen
Sohn bis zu ſeinem zuruͤckgelegten achtzehnten Jah-
re die Vormunoſchaft fuͤhren ſolle; (wie auf
ſolche Art noch, als das neueſte Beyſpiel, der
Prinz Xavier von Sachſen uͤber den jetzigen Chur-
fuͤrſten von Sachſen einige Jahre die Vormund-
ſchaft gefuͤhret hat.) Vermuthlich hatte es damit
die Meynung, die Sache dergeſtalt anzuordnen,
damit auch auf den Fall, wenn ein Vater, ohne
eine Verordnung uͤber die Vormundſchaft ſeiner Kin-
der zu hinterlaßen, ſtuͤrbe, es doch nie an einem geſetz-
lich beſtimmten Vormunde fehlen moͤchte. Daß ein
Vater nicht befugt bleiben ſollte, wie es allen ge-
meinen Rechten gemaͤß iſt, ſeinen Kindern ſelbſt
einen Vormund auszuerſehen, mag wohl nicht die
Abſicht der goldenen Bulle geweſen ſeyn. Den-
noch iſt nachher im Churhauſe Pfalz zweymal nach
einander Streit daruͤber geweſen, da einmal ein
Lutheriſcher teſtamentariſcher Vormund zuruͤckſtehen
muͤßen, ein andermal ein reformirter teſtamenta-
riſcher Vormund vor einem Lutheriſchen naͤhern
Stammsvetter den Vorzug behalten hat (m). Vie-
le behaupten deswegen noch jetzt, daß in chur-
fuͤrſtlichen Haͤuſern keine teſtamentariſche Vormund-
ſchaft ſtatt finde. Daß nicht des Minderjaͤhrigen
Mutter oder Großmutter, ſondern ein Stamms-
vetter die Vormundſchaft fuͤhren ſolle, ſcheint frey-
lich eine Hauptabſicht bey dieſer Verordnung der
goldenen Bulle geweſen zu ſeyn.


Den
[249]3) Goldene Bulle 1356.

Den Rang der Churfuͤrſten unter einanderXIV.
nimmt die goldene Bulle in folgender Ordnung
als bekannt an: Mainz, Trier, Coͤlln, Boͤhmen,
Pfalz, Sachſen, Brandenburg. In eben dieſer
Reihe ſollen ſie auch nach einander ihre Stimmen
ablegen, außer daß Mainz, nachdem es die uͤbri-
gen Stimmen erſt aufgefordert, die ſeinige zuletzt
geben ſoll; wie das auch noch heutiges Tages
uͤblich iſt. Ueber die Plaͤtze aber, wo bey Anweſen-
heit des Kaiſers ſich ein jeder ſetzen ſollte, war ein
Streit unter den geiſtlichen Churfuͤrſten, den die
goldene Bulle ſo beylegt, daß Churtrier allemal
dem Kaiſer gegen uͤber ſitzen ſoll, von Mainz und
Coͤlln aber immer derjenige dem Kaiſer zur Rech-
ten, in deſſen Dioeces oder Erzcanzlers-Gebiete
der Kaiſer ſich eben aufhaͤlt, der andere zur Lin-
ken. Dann ſollten ferner zur Rechten des Kaiſers
Churboͤhmen und Churpfalz, zur Linken Churſach-
ſen und Churbrandenburg ſitzen. Von dieſer Vor-
ſchrift ruͤhrt noch bis auf den heutigen Tag eine
zweyfache Einrichtung her, wie die Churfuͤrſten
entweder nach der Reihe (ſecundum lineam) oder
nach beiden Seiten (ſecundum latera) ihren Sitz
nehmen. In Proceſſionen geht immer unmittelbar
nach dem Kaiſer Churboͤhmen, an beiden Seiten
des Kaiſers Mainz und Coͤlln, unmittelbar vor ihm
Churtrier, und vor demſelben die uͤbrigen Chur-
fuͤrſten Paarweiſe. Nur wenn die Inſignien vor-
getragen werden, geht Churtrier ganz voran, und
unmittelbar vor dem Kaiſer der Erzmarſchall oder
Erbmarſchall mit dem Schwerdte.


Die Dienſtverrichtungen, wie ſie bey feier-XV.
lichen kaiſerlichen Hoflagern geſchehen ſollen, wer-
Q 5den,
[250]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
den, als damals ſchon althergebracht, in der gol-
denen Bulle ſo beſchrieben, wie ſie noch jetzt bey
der Kaiſerkroͤnung uͤblich ſind. Die geiſtlichen
Churfuͤrſten ſollen das Gebet bey der Tafel ver-
richten, und die Siegel, deren ſie ſich bey ihren
Erzcanzlersausfertigungen zu bedienen haben, be-
kommen. Der Churfuͤrſt von Sachſen, als Erz-
marſchall, ſoll in einen Haufen Haber reiten, und
ein ſilbernes Maaß voll Haber ſchoͤpfen. Der
Churfuͤrſt von Brandenburg als Erzkaͤmmerer ſoll
dem Kaiſer, um die Haͤnde zu waſchen, ein ſilbern
Waſchbecken nebſt einem feinen Handtuche, dar-
reichen. Der Churfuͤrſt von der Pfalz ſoll vier
ſilberne Schuͤſſeln mit Speiſen auf die kaiſerliche
Tafel ſetzen. Der Koͤnig in Boͤhmen ſoll dem
Kaiſer einen ſilbernen Becher mit Wein und Waſ-
ſer zum Trinken reichen.


XVI.

Bey dieſen Dienſtverrichtungen ſoll einem jeden
Erzbeamten ein von ihm belehnter Reichserb-
beamter
zur Hand gehen, und dafuͤr das dabey
gebrauchte Pferd und Silbergeſchirr zum Geſchenke
haben, oder auch in Abweſenheit oder Verhinde-
rung des Churfuͤrſten das Erzamt ſelbſt verrich-
ten. Dieſe Erbbeamten muͤßen deswegen auch vom
Herrenſtande ſeyn. Zur Zeit der goldenen Bulle
war ſchon das freyherrliche jetzt graͤfliche Haus
Pappenheim in Beſitz des Reichserbmarſchallamts,
das es noch jetzt mit vielen Vorzuͤgen in Mit-
beſorgung der Polizey und anderen Anſtalten in
voͤlliger Uebung hat; wie deswegen bisher noch
bey allen Kaiſerwahlen ein Graf von Pappenheim
in Perſon gegenwaͤrtig geweſen, und beym Reichs-
tage noch immer eine Reichserbmarſchallamtscanz-
ley
[251]3) Goldene Bulle 1356.
ley von ihm unterhalten wird. Die Beſitzer der
uͤbrigen Erbaͤmter haben ſich ſeit der goldenen Bulle
alle geaͤndert. Damals waren Reichserbſchenken
die Herren und Grafen von Limburg in Franken,
jetzt ſind es (ſeit 1713.) die Grafen von Althann.
An ſtatt der Erbtruchſeſſe von Nortenberg ſind erſt
die von Seldeneck, hernach 1594. die Reichserb-
truchſeſſe von Waldburg in Schwaben gekommen;
An ſtatt der Erbkaͤmmerer von Weinsberg erſt die
von Falkenſtein, und ſeit dem Anfange des XVI.
Jahrhunderts die Grafen, jetzt Fuͤrſten von Ho-
henzollern.


Die Art und Weiſe, wie es mit einer jedes-XVII.
maligen Kaiſerwahl gehalten werden ſoll, wird
mit allen dabey zu beobachtenden Feierlichkeiten
aufs genaueſte beſchrieben. Der Churfuͤrſt von
Mainz ſoll binnen Monathsfriſt nach Erledigung
des kaiſerlichen Thrones Botſchafter und Briefe an
alle und jede Churfuͤrſten ſchicken, um ſie zur Wahl
binnen drey Monathen einzuladen. Jeder Chur-
fuͤrſt ſoll in Perſon, oder durch Botſchafter, die
mit einer Vollmacht, wie ſie die goldene Bulle
vorſchreibt, verſehen ſind, erſcheinen. Die Buͤr-
ger der Wahlſtadt, wozu eigentlich Frankfurt am
Main beſtimmt iſt, ſollen einen feierlichen Sicher-
heitseid ſchwoͤren, damit kein Churfuͤrſt oder deſſen
Gefolg waͤhrenden Aufenthalts daſelbſt etwas zu
beſorgen habe. Ehe zur Wahl ſelber geſchritten wird,
muͤßen die Churfuͤrſten oder ihre Wahlbotſchafter
einen vorgeſchriebenen Eid ſchwoͤren, daß ſie einen
Kaiſer nach ihrem beſten Verſtaͤndniß wehlen wollen.
Ein jeder muß auch noch die Verſicherung von
ſich geben, daß er denjenigen, der die meiſten Stim-
men
[252]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
men bekommen werde, als rechtmaͤßig erwehlten
Kaiſer erkennen wolle. Die Stimmen ſelbſt wer-
den hernach im Conclave (in der Sacriſtey) bey
verſchloſſenen Thuͤren abgegeben; wobey eines der
wichtigſten Stuͤcke der goldenen Bulle in den
Verordnungen beſteht, daß hier ſchlechterdings die
Mehrheit der Stimmen gilt, ohne daß auch die
Abweſenheit oder Entfernung eines Churfuͤrſten der-
ſelben Abbruch thun kann, und hingegen ſo, daß
auch die Stimme mitgerechnet wird, die ſich ein Chur-
fuͤrſt ſelber geben kann. Auch die Kroͤnung, wel-
che vermoͤge der goldenen Bulle eigentlich zu Aachen
geſchehen ſoll, aber jetzt eben da, wo die Wahl
geſchehen, vollzogen zu werden pflegt, hat ihre
althergebrachte Feierlichkeiten; wie ſie zur Ehre
des Alterthums ſoviel moͤglich bis auf den heuti-
gen Tag beybehalten werden.


XVIII.

Zu bewundern war es, daß Carl der IV. bey
Abfaſſung der goldenen Bulle nicht auch darauf Be-
dacht genommen hatte, wie noch bey Lebzeiten eines
regierenden Kaiſers ein Roͤmiſcher Koͤnig zum
Thronfolger erwehlt werden koͤnne. Sollte er viel-
leicht beſorgt geweſen ſeyn, daß er mehr Schwie-
rigkeiten finden moͤchte, wenn er die Sache rege
machte, als wenn er ſie mit Stillſchweigen uͤber-
gienge, und, wie bisher, dem Herkommen, oder
kuͤnftigen guͤnſtigen Zeitlaͤuften uͤberließe? Fuͤr das
Herkommen vergangener Zeiten konnten ſchon die
Beyſpiele der Roͤmiſchen Koͤnigswahlen zur Zeit der
Schwaͤbiſchen Kaiſer Buͤrge ſeyn. Carln gelang
es auch nach der goldenen Bulle fuͤr ſeinen Sohn
Wenzel die Roͤmiſche Koͤnigswahl zu Stande zu
bringen. Hernach vergiengen zwar uͤber hundert
Jah-
[253]3) Goldene Bulle 1356.
Jahre, ehe wieder eine ſolche Wahl geſchah. Aber
daß doch eine geſchehen koͤnne, war nun, des Still-
ſchweigens der goldenen Bulle uͤber dieſen Punct
ungeachtet, eine ausgemachte Sache.


Bey Gelegenheit deſſen, was in der goldenenXIX.
Bulle von der Kaiſerwahl geordnet wurde, war
es ſehr natuͤrlich, daß Carl der IV. auch auf die
Frage kam, wie es waͤhrender Erledigung des kaiſer-
lichen Throns bis zur vollzogenen Wahl mit einswei-
liger Regierung des Reichs gehalten werden ſollte.
Hier beſtimmt die goldene Bulle, daß der Chur-
fuͤrſt von der Pfalz in den Rheiniſchen, Schwaͤ-
biſchen und denen Laͤndern, wo Fraͤnkiſch Recht
gelte, der Churfuͤrſt von Sachſen hingegen in Laͤn-
dern, wo Saͤchſiſche Rechte gelten, Reichsverwe-
ſer
ſey. Wahrſcheinlich mag die pfalzgraͤfliche
Wuͤrde, die urſpruͤnglich einer Richtersſtelle an-
klebte, zuerſt Anlaß gegeben haben, daß die Ver-
waltung der Juſtitz, die am wenigſten Aufſchub
oder Unterbrechung leidet, auch waͤhrender Erledi-
gung des kaiſerlichen Thrones vom Pfalzgrafen
erwartet wurde, und damit dann auch mehrere
ſolche Rechte, die auch im Zwiſchenreiche nicht fuͤg-
lich ruhen konnten, nach und nach in Gang ka-
men. Dieſe Pfaͤlziſche Reichsverweſung wuͤrde ſich
nun eigentlich auf ganz Teutſchland erſtreckt haben.
Aber das beſondere Vorrecht, das den Sachſen
gleich bey ihrer erſten Vereinigung mit der Fraͤn-
kiſchen Nation zugeſtanden war, hat vermuthlich
den Grund dazu hergegeben, daß die Sachſen, oder,
wie die goldene Bulle ſagt, die Orte (oder Laͤnder)
in welchen Sachſenrecht beobachtet wird, nicht un-
ter der Pfaͤlziſchen Reichsverweſung, ſondern lieber
unter
[254]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
unter ihrem eignen Herzoge ſtehen wollen. (Die
eigentlichen Graͤnzen der beiden Reichsvicariate ſind
erſt den 9. Jun. 1750. unter den damaligen Vi-
cariatshoͤfen verglichen worden. Das Saͤchſiſche
Vicariat ſoll in Franken noch Henneberg unter
ſich haben, und in Weſtphalen Paderborn, Osna-
bruͤck, Corvey, Oldenburg, Delmenhorſt, Hoya,
Diepholz, Pyrmont, Lippe, Schaumburg und
Rittberg. Zum Rheiniſchen Vicariate ſoll nicht
nur das Erzſtift Coͤlln gehoͤren, ſondern auch das
Herzogthum Weſtphalen, das Hochſtift Muͤnſter,
das Fuͤrſtenthum Minden, die Abtey Hervorden,
ſodann Oſtfriesland, Ravensberg, Tecklenburg
und Bentheim. Dieſer Vergleich iſt jedoch noch
nicht vom Reichstage beſtaͤtiget.)


XX.

Beide Reichsvicarien behaupten zwar als Reichs-
verweſer (prouiſores imperii, wie die goldene
Bulle ſie nennt,) der Regel nach alle Rechte der kai-
ſerlichen Regierung ausuͤben zu koͤnnen. Allein
die goldne Bulle eignet ihnen nur einige benannte
Rechte zu, als Gericht zu halten, geiſtliche Pfruͤn-
den zu vergeben, Einkuͤnfte zu erheben, und Be-
lehnungen, nur nicht uͤber Fahnenlehne (d. i. uͤber
ganze Fuͤrſtenthuͤmer, deren Belehnung dem zu er-
wehlenden Kaiſer vorbehalten bleiben ſoll,) zu er-
theilen. Sie verbietet ihnen hingegen alle Ver-
aͤußerungen.


XXI.

Dem Churfuͤrſten von der Pfalz wird uͤberdies
noch das beſondere Vorrecht zugeſtanden, daß er
uͤber Beſchwerden, die gegen den Kaiſer angebracht
wuͤrden, an deſſen Hoflager Gericht halten koͤnne.
(Vermuthlich ſo, wie auch andere Monarchen und
Teut-
[255]3) Goldene Bulle 1356.
Teutſche Fuͤrſten geſchehen laßen, daß in ihren
Cammerſachen Klagen bey ihren eignen Gerichten
wider ſie angebracht werden.)


Uebrigens werden alle Churfuͤrſten mit derXXII.
Perſon des Kaiſers fuͤr ſo genau verbunden erklaͤ-
ret, daß einer, der ſich an der Perſon eines Chur-
fuͤrſten vergreife, eben ſo angeſehen werden ſolle,
als wenn er ſich an der Perſon des Kaiſers ver-
griffen haͤtte.


Von anderen Vorrechten werden endlichXXIII.
namentlich der Krone Boͤhmen, aber auch in glei-
cher Maße allen uͤbrigen Churfuͤrſten, die beſonde-
ren Rechte zugeeignet, daß in erſter Inſtanz einer
ihrer Unterthanen weder an kaiſerliche oder andere
Gerichte gezogen (evocirt), noch auch in hoͤherer In-
ſtanz von ihren Rechtsſpruͤchen an den Kaiſer oder
deſſen Gerichte appellirt werden ſolle; nur mit Vor-
behalt des Falles, wenn uͤber verzoͤgertes oder ver-
ſagtes Recht geklaget wuͤrde. Auch ſollen alle Chur-
fuͤrſten berechtiget ſeyn, in ihren Laͤndern Gold- und
Silberbergwerke, ingleichen Zinn, Kupfer, Eiſen,
Bley, oder jede andere Metalle, wie auch Salzwerke
zu haben, desgleichen Gold- und Silbermuͤnzen zu
praͤgen, Zoͤlle zu haben und Juden in Schutz zu
nehmen. Lauter Rechte, die von anderen Fuͤrſten
erſt durch eigne kaiſerliche Verleihungen erworben
werden mußten.


Das alles machte einen Haupttheil der golde-XXIV.
nen Bulle aus, der in ſo weit in genauem Zu-
ſammenhange ſtand, als alles dahin abzweckte,
die Kaiſerwahl, und was damit in Verbindung
ſtand,
[256]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
ſtand, ſoviel moͤglich auf ſichere Beſtimmungen zu
ſetzen. Damit hat auch Carl der IV. ſeinen Zweck
meiſt voͤllig erreicht, da dieſe Vorſchriften der
goldenen Bulle groͤßtentheils bis auf den heutigen
Tag ihren Gebrauch erhalten haben. Außerdem
gieng bey Abfaſſung dieſes Reichsgrundgeſetzes auch
noch eine Hauptabſicht dahin, dem damaligen Un-
weſen des Fauſtrechts Einhalt zu thun. Da-
mit gelang es aber nicht zum Zwecke zu kommen,
weil man die Sache nicht an der Wurzel angriff,
ſondern nur einige Zweige beſchneiden wollte.


XXV.

Kein Mittel ließ ſich erdenken, hierin gruͤndlich
zu helfen, als man haͤtte das ganze Fauſtrecht, d. i.
allen Gebrauch der Selbſthuͤlfe, ſchlechterdings auf-
heben und abſchaffen muͤßen. Statt deſſen blieb
man aber bey dem, was ſchon Friedrich der I. und
Rudolf von Habsburg geordnet hatten, daß nur
dann Befehdungen unerlaubt ſeyn ſollten, wenn
ſie nicht drey Tage vorher erweislich angekuͤndiget
waͤren. So wenig damit bisher Ordnung und
Ruhe im Reiche hatte beſtehen koͤnnen, eben ſo
gewiß konnte man wohl vorausſehen, daß es auch
kuͤnftig nicht beſſer gehen wuͤrde, ſo lange man
dieſes Recht der dreytaͤgigen Ankuͤndigung der Fehde
beybehielt. Alle beſondere Verordnungen, die uͤbri-
gens die goldene Bulle hieruͤber enthielt, verrie-
then an ſich ſchon, wie wenig auch fuͤr die Zu-
kunft zu hoffen war, da ſchon ſolche Mißbraͤuche
eingeriſſen waren, woruͤber die goldene Bulle ſelbſt
zu klagen hatte.


XXVI.

So geſchah es, um nur ein Beyſpiel anzu-
fuͤhren, haͤufig, daß Edelleute ihre eigne Lehnherren
befeh-
[257]3) Goldene Bulle 1356.
befehdeten, ohne ſich dadurch abſchrecken zu laßen,
daß nach den Lehnrechten der Verluſt des Lehns
darauf ſtehet, wenn ein Vaſall gegen ſeinen Lehn-
herrn Gewalt braucht. Um dieſem Vorwurfe aus-
zuweichen, ſchickte ein ſolcher Lehnmann ſeinem
Herrn erſt einen Boten, durch den er ihm ſein
Lehn aufkuͤndigen ließ, mit der Nachricht, daß er
das Lehngut mit den Seinigen verlaße, und dem
Lehnherrn heimſtelle, es in Beſitz zu nehmen. Er
zog alsdann auch wuͤrklich mit ſeiner ganzen Hab-
ſeligkeit von ſeinem Gute weg; ſchickte aber dann
gleich einen zweyten Boten mit Fehdebriefen an
den Lehnherrn. Und nun machte er damit den
Anfang ſeiner Feindſeligkeit, daß er ſein kaum ver-
laßenes Schloß, ehe der Lehnherr von der Auf-
kuͤndigung des Lehns Gebrauch machen konnte,
wieder einnahm. So verwandelte er ſich aus
einem Lehnmann in einen Feind, ohne ſein Lehn
dabey aufs Spiel zu ſetzen. Wider dieſen und
andere aͤhnliche Mißbraͤuche eiferte nun zwar die
goldene Bulle mit Androhung der Ehrloſigkeit und
Achtserklaͤrung. Allein der Erfolg lehrte, daß
noch immer Uebel aͤrger wurde, bis man ſich erſt
nach beynahe anderthalb hundert Jahren angelegen
ſeyn ließ, mit gaͤnzlicher Aufhebung aller Befeh-
dungen die Quelle des Uebels ganz zu verſtopfen.


Unglaublich iſt es faſt, was ſelbſt zu CarlsXXVII.
des IV. Zeiten noch fuͤr Dinge im Schwange gien-
gen. So iſt z. B. nur aus einer einzigen
Urkunde vom Jahre 1362. zu erſehen, wie die
Grafen von Schwarzburg mit Beyſtand des Chur-
fuͤrſten von Mainz gegen die Marggrafen von
Meiſſen und gegen die Stadt Erfurt Krieg gefuͤh-
Rret,
[258]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
ret, aber wohl 40. Ritter und Knechte verlohren,
die jene zu Gefangenen gemacht; wie hingegen
der Mainziſche Hauptmann von Virneburg in die-
ſem Kriege den Meißnern und Erfurtern wiederum
wohl 50. Ritter und Knechte abgefangen, die er
ihr Gefaͤngniß zu Arnſtadt angeloben laßen. Sel-
bige haͤtten dem Churfuͤrſten von Mainz, ſo heißt
es ferner in dieſer Urkunde, wohl zwey tauſend
loͤthige Mark Silbers geben muͤßen; Die Grafen
von Schwarzburg haͤtten aber ohne des Churfuͤr-
ſten Vorwiſſen die Gefangenen losgelaſſen, und
die ihrigen damit frey gemacht. In einer Fehde
mit denen von Hanſtein waͤren die Grafen von
Schwarzburg in ein Mainziſches Dorf eingefallen,
und haͤtten darin des Churfuͤrſten eigne Leute, die
mit denen von Hanſtein nichts zu thun gehabt,
zum Theil mit ihren Pferden todt gebrannt; auch
ſonſt haͤtten ſie wohl zehn Kirchhoͤfe abgebrannt
und niedergebrochen, und die Leute darin todt ge-
brannt. Desgleichen haͤtten die Grafen von Ho-
henſtein vier Mainziſche Burgmaͤnner aufhaͤngen
laßen. Auch, heißt es in eben der Urkunde,
”kamen ſie wohl mit 200. Pferden bey Nacht vor
Duderſtadt, und fiengen da zwey Buͤrger, und
hiengen die ohne Gericht und ohne Recht” (n).
So kann man ſicher behaupten, daß in dieſen Zei-
ten des XIV. und folgenden Jahrhunderts kaum
ein bewohnter Strich Landes von etlichen Quadrat-
meilen zu finden geweſen, wo nicht beynahe un-
aufhoͤrlich ſolche Plackereyen und Befehdungen vor-
gefallen waͤren.


Zu
[259]3) Goldene Bulle 1356.

Zu bewundern iſt es, wie unter ſolchen Um-XXVIII.
ſtaͤnden Handlung, Gewerbe und Bevoͤlkerung noch
ſo in Aufnahme kommen und ſich erhalten koͤnnen,
wie es ſich doch von dieſen Zeiten her noch findet.
Doch dazu dienten hauptſaͤchlich ſolche Verbindun-
gen der Staͤdte, wie die Hanſe und die Schweizer
Eidgenoſſenſchaft. Andere Verbindungen waren
aber auch der oͤffentlichen Ruhe wieder eben ſo
nachtheilig; inſonderheit ſolche, deren zahlreiche
Mitglieder einzelne Ritter waren, die ſich nach
gewiſſen Zeichen oder Sinnbildern benannten, wo-
mit ſie ſich unter einander zu erkennen gaben, und
gegen jede angebliche Beleidigung oder gemeinig-
lich vielmehr in eigentlichen Angriffsentwuͤrfen bald
gegen Staͤdte und deren Einwohner, bald gegen
Fuͤrſten und Grafen gemeine Sache machten. Von
der Art waren z. B. die ſo genannten Hoͤrner,
Sterner, Schlaͤgeler, die mit den rothen Ermeln (o)
u. ſ. w. Eine ſelbſt in der goldenen Bulle wider
alle unerlaubte Verbindungen mit vielem Eifer ge-
faßte Stelle (p) war ohne Zweifel ganz eigentlich
gegen ſolche Geſellſchaften gemeynet. Die Ge-
ſchichte ſelbiger Zeiten enthaͤlt aber Beyſpiele gnug,
wie
R 2
[260]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
wie unwirkſam dieſe Verordnung noch geblieben
iſt (q).
[261]3) Goldene Bulle 1356.
(q)


R 3IV.
[262]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.

IV.
Andere Veraͤnderungen in der Reichsverfaſſung
unter Carl dem IV. und ſeinen erſten Nachfol-
gern bis 1414.


I. Verſchiedene Keime nachheriger Staatsveraͤnderun-
gen. — II. Abnahme der kaiſerlichen Hoheitsrechte und
Cammerguͤter. — III. Nothwendigkeit einen Kaiſer zu weh-
len, der eigne Erblande hat. — IV. Kaiſerliche Reſidenz
in den Erblanden an ſtatt des ehemaligen wandelbaren Hof-
lagers. — V. Anfang eigentlicher Standeserhoͤhungen, —
VI. inſonderheit gefuͤrſteter Praͤlaten und Grafen, — VII.
und Erhoͤhung graͤflicher Haͤuſer und Laͤnder zu herzoglichen. —
VIII. IX. Wirkungen dieſer Standeserhoͤhungen in Anſehung
der Stimmen auf dem Reichstage, und zum Nachtheile des
Grafenſtandes. — X. Art der Erbfolge in fuͤrſtlichen Haͤu-
ſern, ohne noch der Erſtgebuhrt einen Vorzug zu geben. —
XI. Bedenkliche Beyſpiele vom Einfluſſe Roͤmiſcher Rechts-
grundſaͤtze zum Nachtheile der ſtammsvetterlichen Erbfolge. —
XII. Verdoppelte Vorſicht dagegen in fuͤrſtlichen Hausver-
traͤgen. — XIII. Beſondere Vergroͤßerung der Macht des
Hauſes Burgund. — XIV. Univerſitaͤt zu Prag, die erſte
in allen Wendiſchen und Teutſchen Laͤndern. — XV. Nach-
her mehrere derſelben zu Wien, Heidelberg, Leipzig ꝛc. —
XVI. Einfluß dieſer hohen Schulen auf mehr verbreitete
Aufklaͤrung.


I.

Außer dem, was die goldene Bulle enthielt,
und doch zum Theil ſelbſt nur aus Herkom-
men in ein ſchriftliches Grundgeſetz verwandelt
hatte, blieb die Teutſche Reichsverfaſſung im uͤbri-
gen meiſt, wie ſie war. Nur einige Umſtaͤnde,
die ſich in der Folge noch immer mehr entwickel-
ten, fiengen ſchon hier an in ihren erſten Kei-
men merklich zu werden.


II.

Wie von der Zeit her, da Teutſchland ſo ent-
ſchieden die Eigenſchaft eines Wahlreichs angenom-
men
[263]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.
men hatte, die Reichsſtaͤnde nicht nur in ihrer
Theilnehmung an wichtigen Reichsgeſchaͤfften, ſon-
dern auch in ihrer Eigenſchaft, als Landesherren
oder wahre Regenten in ihren Laͤndern, ungefaͤhr
in eben dem Verhaͤltniſſe geſtiegen waren, als die
kaiſerliche Gewalt in Abnahme gerieth; haͤtte man
vielleicht erwarten koͤnnen, daß nunmehr ein jeder
Kaiſer den Ueberreſt der kaiſerlichen Hoheitsrechte
und Einkuͤnfte deſto ſorgſamer in Acht nehmen
wuͤrde, um ſie nicht noch in tiefern Verfall gera-
then zu laßen. Allein gerade im Gegentheile
ſchien es jetzt noch weniger Ueberwindung als vor-
her zu koſten, wenn ein Kaiſer um Begnadigun-
gen angeſprochen wurde, deren nachtheilige Folgen
er ſelbſt eben nicht zu erleben beſorgen durfte.
Ungewiß, ob die Kaiſerwuͤrde bey ſeinem Hauſe
bleiben wuͤrde, nahm er an den Folgen entfernte-
rer Zeiten weniger Antheil. So laͤßt ſichs wenig-
ſtens einigermaßen begreiflich machen, wie von die-
ſen Zeiten her eine ſo uͤbermaͤßige Anzahl kaiſerlicher
Begnadigungen von allen Gattungen aufgekommen.
Man konnte jetzt merklich wahrnehmen, daß ein jeder
Kaiſer, der ſeiner Wuͤrde nur fuͤr ſeine Perſon, nicht
fuͤr ſeine Nachkommen geſichert war, den Genuß
derſelben ſoviel nur moͤglich zu ſeinem und der
Seinigen Vortheile zu benutzen ſuchte. Gab es
alſo Gelegenheit ganze Cammerguͤter oder eintraͤg-
liche Hoheitsrechte durch Verkauf oder Verpfaͤn-
dung zu verſilbern, ſo mußte es einem Kaiſer, der
nicht wußte, ob er ſeinen Sohn zum Nachfolger
bekam, angenehmer ſeyn, auf ſolche Art den gan-
zen Werth davon auf einmal in die Haͤnde zu be-
kommen, als mit der ſich nur noch auf ungewiſſe
Zeit zu hebenden Nutzung zu begnuͤgen. So wur-
R 4den
[264]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
den immer haͤufiger eintraͤgliche Cammerguͤter und
Rechte verpfaͤndet oder ſonſt veraͤußert; ſo, daß
am Ende, ſo zahlreich und ergiebig ſie vorher ge-
weſen waren, ſchon im XIV. Jahrhunderte wenig
mehr davon uͤbrig blieb.


III.

Davon zeigte ſich bald eine Wirkung, die ſich
bis auf den heutigen Tag erhalten hat, und immer
weſentlicher geworden iſt. An ſtatt daß ſonſt ein
Kaiſer von ſeinen Cammerguͤtern und Einkuͤnften
uͤberfluͤſſig zu leben hatte, und, wenn er vorher
Herzog geweſen war, nach ſeiner Thronbeſteigung
das Herzogthum meiſt abzugeben pflegte, ſo wa-
ren jetzt ſchon die Umſtaͤnde ſo, daß man nicht
wohl einen Kaiſer wehlen konnte, der nicht eigne
Erblande
hatte, um aus ſelbigen zu erſetzen, was
die Kaiſerwuͤrde zu ihrer eignen Unterhaltung nicht
mehr hinlaͤnglich abwarf.


IV.

So war es auch ganz natuͤrlich, daß die ehe-
malige Wandelbarkeit des kaiſerlichen Hoflagers
unvermerkt aufhoͤrte, da der Kaiſer nicht mehr uͤber-
all ſolche Cammerguͤter fand, wie ehedem ganz
Teutſchland voll davon geweſen war. Schon bey
Ludewig von Baiern ward es merklich, daß er ſich
großentheils in Muͤnchen aufhielt, und noch mehr
bey Carl dem IV., daß man Prag als ſeine eigent-
liche Reſidenz anſehen konnte; wie ſeitdem immer
ſeltener die Kaiſer die Reſidenz, die ein jeder nun
in ſeinem Erblande hatte, verließ, um etwa einer
Reichsverſammlung oder einem Reichsfeldzuge bey-
zuwohnen. Ganz natuͤrlich war es aber auch, daß
unter ſolchen Umſtaͤnden einem Kaiſer meiſt ſeine
Erblande noch naͤher am Herzen lagen, als die
Regie-
[265]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.
Regierung des Teutſchen Reichs, das nun ſchon
meiſt in lauter beſondere Staaten vertheilet war,
wovon er nur die Ehre hatte, das hoͤchſte Ober-
haupt zu ſeyn. Wer wollte es alſo Carl dem IV.
verdenken, wenn er ſeine groͤßte Aufmerkſamkeit
auf ſein Koͤnigreich Boͤhmen wandte? Wie war
es zu verhuͤten, daß nicht ein Kaiſer ſeines Hau-
ſes und Landes Vortheil auch durch die Kaiſer-
wuͤrde zu befoͤrdern ſuchen ſollte, um z. B. aus
ſeinen Haus- und Landeskriegen, wenn ſichs thun
ließ, Reichskriege zu machen? Oder wie war es
zu aͤndern, daß, wenn die Ruͤckſicht auf die Kai-
ſerwuͤrde mit dem Staatsintereſſe der Erblande in
Colliſion kam, dieſes nicht oft das Uebergewicht
bekommen ſollte? (Auch von anderen Nationen und
neueren Zeiten kann es zwar Faͤlle geben, daß z. B.
ein Koͤnig in Polen zugleich Churfuͤrſt von Sachſen
war. Aber da war es doch bloß zufaͤllig, indem
die Polniſche Nation ihrem Koͤnige doch noch Kron-
einkuͤnfte anweiſen kann, die ihm eigne Erblaͤnder
entbehrlich machen. Aber fuͤr das Teutſche Reich
iſt es in der Folge noch immer weſentlicher gewor-
den, daß es kein anderes Oberhaupt wehlen kann,
als einen Herrn, der eigne Kraͤfte hat, um ſeine
Wuͤrde behaupten zu koͤnnen.)


Ein anderer Umſtand, der jetzt anfieng merk-V.
lich zu werden, und in der Folge noch groͤßere
Veraͤnderungen hervorgebracht hat, beſtand in
Standeserhoͤhungen, die aus kaiſerlicher Ge-
walt, wie man ſie als die hoͤchſte Quelle aller
Wuͤrden anſah, jetzt immer haͤufiger in Gang ka-
men. Von aͤlteren Zeiten her waren eigentlich
R 5kei-
[266]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
keine andere Standeserhoͤhungen uͤblich, als was
in der That Befoͤrderungen zu hoͤheren Ehrenſtel-
len oder Erwerbungen eines mit einer hoͤheren
Wuͤrde verbundenen Landes waren, wie z. B. ein
Graf von Wettin Marggraf von Meiſſen, ein
Marggraf von Oeſterreich Herzog von Baiern wur-
de. Als ein ganz außerordentlicher Fall war es
nur anzuſehen, daß Oeſterreich ſelbſt, da deſſen
Beſitzer das der Welfiſchen Familie mit der Achts-
erklaͤrung Henrichs des Stolzen entzogene Herzog-
thum Baiern derſelben zuruͤckgeben mußte, aus
einer Marggrafſchaft in ein Herzogthum verwan-
delt wurde. So waren es auch ganz beſondere
Umſtaͤnde, wie den Haͤuſern Braunſchweig und
Heſſen die Fortfuͤhrung ihrer ſchon vorher gehabten
herzoglichen oder landgraͤflichen Titel nur mit Be-
nennung von anderen Laͤndern zugeſichert wurde.
Auch hatte es endlich noch eine andere Bewandt-
niß, wenn der Kaiſer etwa einen Wendiſchen Fuͤr-
ſten zum Herzoge ernannte, um ihn dadurch gleich-
ſam des Indigenats eines Teutſchen Reichsfuͤrſten
naͤher theilhaftig zu machen, wie Pommern auf
ſolche Art von Friedrich dem I., und Mecklenburg
(1349.) von Carl dem IV. die herzogliche Wuͤrde
erhielt. Jetzt zeigte ſich ein ganz anderer Begriff
von Standeserhoͤhungen, da es darum galt, die
fuͤrſtliche Wuͤrde als eine hoͤhere Stuffe des Her-
renſtandes jemanden angedeihen zu laßen.


VI.

Dem Stande nach waren Herzoge und Grafen
eigentlich nicht von einander unterſchieden; ein
Herzog konnte, ohne ſich an ſeinem Stande etwas
zu vergeben, eine Graͤfinn zur Gemahlinn nehmen,
oder ſeine Tochter einem Grafen zur Gemahlinn
geben.
[267]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.
geben. Aber der Vorzug, der am Reichstage ſo-
wohl Herzogen, wie auch Pfalzgrafen und Marg-
grafen, uͤber bloße Reichsgrafen, als Biſchoͤfen
und Erzbiſchoͤfen uͤber Aebte und andere Reichs-
praͤlaten zugeſtanden wurde, hatte zuerſt die allge-
meine Benennung der Fuͤrſten aufgebracht, um
eben den Vorzug anzudeuten, den Herzoge und
Biſchoͤfe in Anſehung ihres beiderſeitigen Ranges
uͤber Grafen und Praͤlaten mit einander gemein
hatten. Nun konnte es freylich geſchehen, daß z. B.
ein Graf von Wettin, indem ihn der Kaiſer zum
Marggrafen von Meiſſen ernannte, eben damit
auch dem Kaiſer die fuͤrſtliche Wuͤrde zu danken
hatte. Aber nicht ſo hatte es der Kaiſer in ſeiner
Gewalt, einen Abt zum Biſchofe zu machen, um
ihn dadurch zur fuͤrſtlichen Wuͤrde zu erhoͤhen.
Doch eine und andere Abtey, namentlich inſon-
derheit Fulda, wurde wegen der Groͤße ihres Ge-
bietes und anderer Vorzuͤge beynahe urſpruͤnglich
ſchon als eine fuͤrſtliche Abtey behandelt (r). Das
mag vielleicht den erſten Anlaß gegeben haben, daß
nach und nach mehr Aebte nur die fuͤrſtliche Wuͤrde
durch kaiſerliche Begnadigung zu erlangen geſucht
haben (s). Die nannte man hernach gefuͤrſtere
Praͤ-
[268]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Praͤlaten(t). Konnten aber auf ſolche Art Praͤ-
laten vom Kaiſer gefuͤrſtet werden, was hinderte ihn
dann, nicht auch Grafen zu fuͤrſten? So entſtan-
den demnach vorerſt gefuͤrſtete Grafen von Flan-
dern (u), Henneberg (v), Naſſau (w) u. ſ. w.
Beide Gattungen von gefuͤrſteten Grafen und Praͤ-
laten bekamen hernach wieder einen gemeinſchaft-
lichen Namen, da man ſie als Fuͤrſtenmaͤßige
von
(s)
[269]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.
von Churfuͤrſten und Fuͤrſten unterſchied, aber doch
uͤbrigens ſie mit denſelben in eine Claſſe ſetzte (x).


Nun gieng die Sache bald noch einen SchrittVII.
weiter, da der Kaiſer Ludewig von Baiern den
bisherigen Grafen von Geldern zum Herzoge von
Geldern, und Carl der IV. die Grafen von Luͤxen-
burg, Bar, Juͤlich und Berg zu Herzogen eben
dieſer Laͤnder umſchuf; worauf unter den folgenden
Regierungen bald noch mehrere ſolche herzogliche
Standeserhoͤhungen
der bisher graͤflichen Haͤu-
ſer und Laͤnder Savoyen, Cleve, Holſtein, und
Wuͤrtenberg, nachfolgten. Durch dieſe Standes-
erhoͤhungen wurde der Name eines Herzogthums,
der vorher nur von ganzen Voͤlkern, als Baiern,
Schwaben, Franken, Sachſen, Lothringen, ge-
braͤuchlich geweſen war, nunmehr auch auf bis-
herige bloße Grafſchaften und deren Stammſitze
uͤbertragen. Wenn alſo mit der in Schwaben und
Franken vorgegangenen Zerruͤttung ein Paar ur-
ſpruͤngliche Herzogthuͤmer abgegangen waren, ſo
oͤffnete ſich jetzt ein neuer Weg, wie die Zahl der
Herzogthuͤmer ſich kuͤnftig immer noch weiter er-
gaͤnzen und vermehren ließ.


Nach der Reichstagsverfaſſung dieſer ZeitenVIII.
wurden wohl die Stimmen noch nicht ſo genau
berechnet, wie jetzt. Es laͤßt ſich wenigſtens noch
nicht ſo ganz zuverlaͤßig beſtimmen, was eigent-
lich fuͤr ein Verhaͤltniß zwiſchen graͤflichen und
herzoglichen Stimmen
obgewaltet haben moͤge.
Doch
[270]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Doch wahrſcheinlich moͤgen ſchon damals mehrere
Grafen aus einer Gegend zuſammengenommen
kaum hinlaͤnglich geweſen ſeyn, einem der urſpruͤng-
lichen Herzoge, z. B. die Schwaͤbiſchen Grafen
dem Herzoge von Schwaben u. ſ. w. das Gegen-
gewicht zu halten. Dem ſey aber wie ihm wolle,
dieſen erſten Standeserhoͤhungen, wodurch Grafen
in Herzoge verwandelt wurden, hat man alle moͤg-
liche Wirkungen angedeihen laßen. Nicht nur im
Range ſind dieſe Herzoge den aͤlteren gleich geſetzt,
und uͤber alle Grafen erhoben worden, ſondern
auch in der Art am Reichstage zu ſtimmen, in
der Art ihre Belehnung vom Kaiſer zu empfangen,
im Canzleyceremoniel ſowohl als in allen uͤbrigen
Ceremonielſachen hat man ſie ohne Anſtand den uͤbri-
gen Herzogen gleich gehalten.


IX.

Fuͤr diejenigen, die noch im Grafenſtande blie-
ben, konnte es nicht anders als von nachtheiligen
Folgen ſeyn, wenn ſoviele anſehnliche bisherige
graͤfliche Haͤuſer ihren Stand jetzt verließen, und
ſich den Herzogen zugeſellten; zumal da noch hin-
zukam, daß viele graͤfliche Haͤuſer nach einander
ausſtarben, deren Laͤnder nicht eben wieder an
andere Grafen, ſondern haͤufig an Fuͤrſten kamen;
es ſey nun, daß ſie ihnen als Lehnherren zufielen,
oder durch Vermaͤhlungen mit graͤflichen Erbtoͤch-
tern, oder Abſtammung von graͤflichen Stamm-
muͤttern, oder auch durch Vertraͤge in fuͤrſtliche
Haͤnde geriethen. Durch dieſe Umſtaͤnde wurde
der Unterſchied zwiſchen Fuͤrſten und Grafen in
Teutſchland immer merklicher. Wenn auch vor-
mals die Anzahl der Grafen und Herren, die etwa
einer Reichsverſammlung beywohnten, leicht die
Anzahl
[271]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.
Anzahl der Fuͤrſten uͤbertraf, und nach dem Um-
fange ihrer Laͤnder auch wenigſtens ein gewiſſes
Gleichgewicht ausmachte; ſo fieng jetzt die Schale
der Grafen an merklich zu ſinken. (Die Grafen
dachten ſich nachher durch Vereine zu helfen, wo-
zu ihnen die Churverein vielleicht zum Beyſpiele
dienen mochte. Allein der Sache war ſchwer zu
helfen. Eben die Grafenvereine gaben vielmehr
Anlaß, daß es zuletzt eine ganz ausgemachte Sache
wurde, daß man mehrere Grafen, die in einer
Verein begriffen waren, auf dem Reichstage nur
fuͤr eine Stimme rechnete; an ſtatt daß ein jeder
Fuͤrſt fuͤr ſeine Perſon gezehlt wurde. Sobald die-
ſer Unterſchied zwiſchen graͤflichen Curiatſtimmen
und fuͤrſtlichen Virilſtimmen ſeine voͤllige Richtig-
keit hatte, war es noch erheblicher, wenn eine
kaiſerliche Standeserhoͤhung vermoͤgend war, einem
Grafen an ſtatt ſeiner bisherigen Theilnehmung an
einer graͤflichen Curiatſtimme zu einer herzoglichen
Virilſtimme zu verhelfen. Eben darum fieng man
aber auch in der Folge an, darauf Bedacht zu
nehmen, dieſem Rechte der kaiſerlichen Standes-
erhoͤhungen etwas engere Graͤnzen zu ſetzen.)


In Anſehung des Fuͤrſtenſtands war nur nochX.
der beſondere Umſtand, daß nicht, wie ehedem,
von mehreren Soͤhnen eines Herzogs nur Einer
wieder Herzog, ein anderer vielleicht Graf, ein
dritter Freyherr wurde; ſondern nunmehr war es
ſchon durchgaͤngig eingefuͤhrt, daß alle Titel von
Herzog, Marggraf, Pfalzgraf u. ſ. w., eben ſo-
wohl als der graͤfliche Character, von jedem Va-
ter auf alle ſeine Soͤhne
fortgiengen. Dieſes
diente in ſo weit noch den Fuͤrſtenſtand einiger-
maßen
[272]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
maßen zu ſchwaͤchen, als ein Fuͤrſtenthum, das
zur Zeit nur einen Beſitzer hatte, nach deſſen Tode
oft mehreren Soͤhnen, und in der Folge oft meh-
reren in verſchiedene Zweige ausgebreiteten Staͤm-
men zu Theil wurde. Selbige hatten alsdann zwar
den Vortheil, daß, wenn ſie alle auf einen Reichs-
tag kamen, auch ihrer ſoviel Stimmen als Koͤpfe
gezehlt wurden. Aber die Beziehung eines Reichs-
tages in ſo großer Anzahl war auch dann deſto
koſtbarer, und geſchah deswegen ſeltener. Das
Gewicht eines jeden Fuͤrſten, der nun nach Ver-
haͤltniß der Zahl ſeiner Bruͤder oder Stammsvet-
tern an Land und Leuten nur ſeinen Antheil hatte,
war auch deſto geringer, wo nicht etwa auf an-
dere Art geholfen wurde. Gemeiniglich bekam
man dadurch einige Huͤlfe, daß von mehreren Bruͤ-
dern verſchiedene den geiſtlichen Stand erwehlten,
und alſo in Pfruͤnden und Biſthuͤmern oder Rit-
terorden, einige auch wohl in Dienſten bey groͤße-
ren Hoͤfen ihre Verſorgung ſuchten, oder auch ſonſt
doch unvermaͤhlt blieben, ohne daß auf ſolche Art
das Haus mit Verſorgungen mehrerer fuͤrſtlichen
Wittwen und Kinder uͤbermaͤßig belaͤſtiget wurde.
Uebrigens war zwar das Recht der Erſtgebuhrt,
außer dem, was die goldene Bulle von Churfuͤr-
ſten verordnete, noch gar nicht gaͤng und gaͤbe.
Man ſchritt aber doch deswegen nicht immer zu
foͤrmlichen Theilungen eines ganzen Landes, ſon-
dern half ſich, wo es nur irgend thunlich war,
mit gemeinſchaftlichen oder von gewiſſen Jahren
zu Jahren abwechſelnden Regierungen, dergleichen
Einrichtung man Mutſchierung zu nennen
pflegte.


Am
[273]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.

Am nachtheiligſten fuͤr die Aufnahme der fuͤrſt-XI.
lichen Haͤuſer ſchien jetzt der Gebrauch zu ſeyn,
den man je laͤnger je mehr vom Roͤmiſchen Rechte
machte, womit unter andern die demſelben unbe-
kannten Grundſaͤtze von Unveraͤußerlichkeit geerbter
Guͤter und vom Vorzuge des Mannsſtamms vor
Toͤchtern, als die Hauptſtuͤtzen des unerſchuͤtterli-
chen Glanzes unſerer hohen Haͤuſer, ſchon merklich
wankend gemacht wurden. Auffallend waren in-
ſonderheit die Beyſpiele, wie die Mark Branden-
burg
in weniger als einem halben Jahrhundert
durch unternommene freye Dispoſitionen vom Hauſe
Baiern an das Haus Luͤxenburg, und von dieſem
an das Haus Hohenzollern kam (y); und die
Herzogthuͤmer Luͤneburg(z) und Lothringen(a)
durch
S
[274]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
durch Toͤchter mit Zuruͤckſetzung noch vorhandener
Stammsvettern beynahe an andere Haͤuſer gekom-
men waͤren.


XII.

Solche Beyſpiele konnten unſere hohe Haͤuſer
deſto mehr bewegen, ſich durch Hausvertraͤge
und Erbeinigungen oder auch Erbverbruͤderungen
noch naͤher zuſammen zu ſetzen, um ihren Nach-
kommen ihre Laͤnder deſto zuverlaͤßiger zu verſichern,
und Toͤchtern bey fortwaͤhrendem Mannsſtamm alle
Anſpruͤche zu benehmen. Je haͤufiger dergleichen
Zuſammenſetzungen mit vorbehaltener kuͤnftigen
gegenſeitigen Erbfolge geſchahen, je ſeltener wur-
den von dieſer Zeit an die ehemaligen ſo genann-
ten Todtheilungen. Jetzt kann man es wenigſtens
fuͤr ausgemacht annehmen, daß die Abtheilungen,
die z. B. im Hauſe Baiern zwiſchen dem Pfaͤlzi-
ſchen und Bairiſchen Stamme, und in dieſem wie-
der zwiſchen Ober- und Niederbaiern, wie auch
ferner zwiſchen den Linien von Ingolſtadt, Lands-
hut, Muͤnchen gemacht waren, und ſo wohl alle
Abtheilungen mehrerer Staͤmme in anderen fuͤrſt-
lichen Haͤuſern, nicht die Abſicht einer Todtheilung
hatten.


Ein

(a)


[275]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.

Ein in ſeiner Art einziges Haus, das umXIII.
dieſe Zeit anfieng uͤber alle andere fuͤrſtliche Haͤu-
ſer in Teutſchland und Frankreich hervorzuragen,
war das Haus Burgund. Deſſen Stammvater,
Philipp der Kuͤhne, hatte nach dem Tode des Koͤ-
nigs Johannes von Frankreich († 1364.), als deſ-
ſen juͤngerer Sohn, das eigentlich zur Krone Frank-
reich gehoͤrige Herzogthum Burgund, deſſen vorige
Beſitzer vom Capetinger Stamm 1361. erloſchen
waren, von neuem von der Krone abgeſondert be-
kommen. Durch ſeine Vermaͤhlung mit der Graͤ-
finn Margarethe von Flandern (1369.) brachte er
hernach noch die Grafſchaft Burgund, nebſt Flan-
dern. Artois, Mecheln, Antwerpen, Nevers und
Rethel an ſein Haus. Dazu kam ferner unter
ſeinem Enkel, Philipp dem Guͤtigen, 1428 Na-
mur, 1430. Brabant und Limburg, 1433. Hol-
land, Seeland, Hennegau, Friesland, und 1444.
Luͤxenburg; ſo wie unter deſſen Sohne, Carl dem
Kuͤhnen, 1473. endlich auch noch Geldern und
Zuͤtphen. Dieſe Niederlaͤndiſche Provinzen und
die Grafſchaft Burgund gehoͤrten unſtreitig zum
Teutſchen Reiche; deſſen Hoheit aber das Haus
Burgund nicht achtete. Daher handelte man ſchon
auf einem Reichstage zu Frankfurt 1435.: ”von
des Herzogs von Burgund wegen, der viel Landes
inne hat, die dem Reiche zugehoͤren, wie dem zu
thun ſey.” Es ergieng auch eine Kriegsankuͤn-
digung vom K. Sigismund an Philipp den Guͤ-
tigen von Burgund; aber freylich ohne Wirkung.
Die Sache blieb noch weit groͤßeren Revolutionen
fuͤr die Zukunft aufbehalten.


S 2An
[276]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
XIV.

An dem, was ich hin und wieder von groͤße-
rer Aufnahme und weiterer Ausbreitung des Roͤ-
miſchen Rechts geſagt habe, hatte nicht geringen
Antheil, daß Carl der IV. unter anderen neuen
Einrichtungen in ſeinem Erbkoͤnigreiche Boͤhmen
auch eine Univerſitaͤt zu Prag angelegt hatte; die
erſte in ihrer Art auf Wendiſchem und Teutſchem
Boden. Vorher waren in ganz Europa nur die hohen
Schulen zu Oxford, Bologna und Paris im Gan-
ge. Von der letztern nahm Carl der IV. zunaͤchſt
das Muſter. Nach der damaligen Art, die Uni-
verſitaͤten in Nationen einzutheilen, machte Carl
die Abtheilung der Prager Univerſitaͤt in vier Na-
tionen, Boͤhmen, Baiern, Sachſen, Polen (b).
Nach dieſer Eintheilung waren ſowohl die Stipen-
dien als die Stimmen in der Wahl des Rectors
und anderen Angelegenheiten der Univerſitaͤt ver-
theilt. Carl ließ ſich ſehr angelegen ſeyn, alle vier
Facultaͤten mit geſchickten Maͤnnern zu verſehen,
die er zum Theil von Paris und aus Italien nach
Prag berufen ließ. In kurzer Zeit gelang es ihm,
die Univerſitaͤt in ſolche Aufnahme zu bringen, daß
die Anzahl der Studierenden bald auf viele Tau-
ſende anwuchs. Auch ſein Nachfolger Wenzel
wuͤrdigte dieſe hohe Schule noch ſeines Schutzes.
Doch beguͤnſtigte er eine neue Einrichtung, die
der Univerſitaͤt einen Stoß gab, von dem ſie ſich
nie
[277]4) Carl IV. — Sigism. 1356-1414.
nie wieder voͤllig erholen konnte. Bey der Wahl
eines neuen Rectors, da bisher die Boͤhmen von
den drey uͤbrigen Nationen immer waren uͤber-
ſtimmt worden, ſollten von nun an die Stimmen
der Boͤhmiſchen Magiſter mehr gelten, als der uͤbri-
gen. Daruͤber giengen in kurzem meiſt alle Teut-
ſche, viele tauſend an der Zahl, von Prag weg,
zum unwiederbringlichen Nachtheile dieſer neuen
Univerſitaͤt.


Die Vortheile, die Carl ſeiner Reſidenz mitXV.
Anlegung der dortigen Univerſitaͤt verſchafft hatte,
hatten inzwiſchen ſchon mehrere Teutſche Fuͤrſten be-
wogen, dieſem Beyſpiele zu folgen. Zu Wien
hatte der Herzog Albrecht der III. von Oeſterreich
im Jahre 1365., zu Heidelberg der Churfuͤrſt
Rupprecht der I. von der Pfalz 1386. eine Univer-
ſitaͤt errichtet. Nunmehr benutzte Marggraf Fried-
rich von Meiſſen den Unfall, der ſich 1409. zu
Prag ereignete, um ebenfalls eine hohe Schule zu
Leipzig anzulegen. Zu allen dieſen gelehrten An-
ſtalten hielt man damals nur eine paͤbſtliche Ver-
leihung noͤthig, womit gemeiniglich dem Biſchofe,
in deſſen Dioeces der Sitz der Univerſitaͤt war,
die Canzlerwuͤrde mit der Gerichtbarkeit uͤber die zur
Univerſitaͤt gehoͤrigen geiſtlichen Perſonen, und mit
der Aufſicht uͤber die zu ertheilenden academiſchen
Wuͤrden, vorbehalten wurde. Das uͤbrige wurde
durch landesherrliche Privilegien beſtimmt. Von
der Univerſitaͤt zu Leipzig koͤmmt es zuerſt vor, daß
nebſt der paͤbſtlichen Begnadigung auch eine kaiſer-
liche Beſtaͤtigung derſelben geſchehen iſt. Von
ſpaͤter errichteten Univerſitaͤten werden nur kaiſer-
liche Privilegien namhaft gemacht, als von Greifs-
S 3wal-
[278]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
walde vom 16. Oct. 1456., und von Marburg vom
16. Jul. 1541. Ueberhaupt ward die Zahl der
Teutſchen Univerſitaͤten bald anſehnlich nach ein-
ander vermehrt (c).


XVI.

Alle dieſe hohe Schulen ſowohl in Teutſchland
als auswaͤrts zeigten bald in mehreren Stuͤcken ge-
wiſſe Wirkungen, die nur von einer vereinbarten
Kraft aus gemeinſchaftlichem Intereſſe erwartet
werden konnten. Zwar herrſchten uͤberall noch un-
gemein eingeſchraͤnkte Einſichten, beſonders aus
Mangel philologiſcher und hiſtoriſcher Kenntniſſe,
und aus Mangel einer geſunden Philoſophie. Auch
waren viele Lehrſtuͤhle nur mit Geiſtlichen, und zwar
großentheils mit Ordensgeiſtlichen beſetzt, von denen
aus mehreren Urſachen ſchwerlich große Aufklaͤrung
zu erwarten war. Inzwiſchen gab es doch nun ein-
mal ſchon an allen den Orten, wo hohe Schulen
waren, mehrere Maͤnner, deren Beruf es war, ſich
bloß mit Wiſſenſchaften und Kenntniſſen zu beſchaͤff-
tigen, und deren Lage ihnen eine andere Stimmung
und Denkungsart, als bloßen Moͤnchen, gab. Da-
von war allemal eine vortheilhafte Folge, daß etwas
mehr Aufklaͤrung und mehr Freyheit im Denken,
Lehren, Schreiben, nach und nach an mehreren Or-
ten ſich hervorthat.


V.
[279]5) Carl IV. — Sigism. 1376-1414.

V.
Veraͤnderungen in der Kirche ſeit dem Aufent-
halte der Paͤbſte zu Avignon und dem daraus
entſtandenen Schisma des paͤbſtlichen Stuhls.


I. Folgen des Aufenthalts der Paͤbſte zu Avignon. —
II. Neue paͤbſtliche Anmaßungen in Vergebung geiſtlicher
Stellen. — III. IV. Vermehrte Geldzufluͤſſe fuͤr die paͤbſt-
liche Cammer. — V. VI. Aufſehen uͤber Wiclefs Lehren
und uͤber das Schisma zweyer Paͤbſte und zweyerley Cardi-
naͤle. — VII. Letzteres unterhalten durch eine gleichmaͤßige
Zwieſpalt zwiſchen Wenzel und Ruprechten von der Pfalz. —
VIII. IX. Vergebliche Anſtellung einer Kirchenverſammlung zu
Piſa. — X. Nochmalige Zwieſpalt in der Kaiſerwuͤrde, bis
Sigismund endlich Jobſt von Maͤhren uͤberlebt.


War je ein Gegenſtand, auf den AufklaͤrungI.
und Denkfreyheit ihrem wirkſamen Einfluß
haben, und ſich in ihrem vollen Werthe zeigen
konnte, ſo war es der Zuſtand der Religion und
Kirchenverfaſſung im XIV. Jahrhunderte. Schon
der Umſtand, daß der erſte Biſchof und das ſicht-
bare hoͤchſte Oberhaupt der Chriſtlichen Kirche von
dem eigentlichen Sitze ſeiner Kirche entfernt lebte,
mußte mehreren Biſchoͤfen und Erzbiſchoͤfen zur
Rechtfertigung dienen, wenn ſie die Orte, die zum
Sitze ihrer Kirchen beſtimmt waren, verließen, und
nach ihrer Convenienz ſich einen andern Aufenthalt
wehlten, oder in fremde Laͤnder reiſeten, und die
ihnen zur geiſtlichen Obſicht anvertrauten Laͤnder
ohne Aufſicht ließen, oder wieder anderen Mieth-
lingen Preis gaben. Aber dem Pabſte ſelbſt muß-
ten in der Entfernung, worin er nun von Rom
lebte, nothwendig manche Einkuͤnfte und andere
S 4Vor-
[280]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Vortheile entgehen, die ein zu Rom anweſender
Pabſt als Regent der Stadt und des ganzen Kir-
chenſtaats genießen konnte, aber in der auf die
Laͤnge anhaltenden Abweſenheit nicht im Stande
war, gegen alle Gattungen von Uſurpatoren und
boͤſen Zahlern zu retten. Dieſen Abgang zu er-
ſetzen waren die Paͤbſte zu Avignon gluͤcklich gnug,
mehrere neue Quellen fuͤr ihre Einnahmen ergie-
big zu machen. Vorausgeſetzt, was ſich auf die
jetzt uͤber allen Widerſpruch erhobenen und fuͤr alle
critiſche Unterſuchungen geſicherten Iſidoriſchen
Grundſaͤtze, in Fortfuͤhrung der ſchon von Gregor
dem VII., Innocenz dem III. und Bonifaz dem
VIII. darauf errichteten Gebaͤude, noch weiter dar-
auf bauen ließ, war es freylich ein leichtes, der
einmal zum Gehorſam unter der Kirche und ihrem
Oberhaupte gewohnten Welt neue Vorſchriften zu
geben, und das ſchon tragende Joch nur noch mit
einigen neuen Laſten zu beſchweren.


II.

War es doch ſchon ſeit der Waldenſer Zeiten
in Gang gekommen, daß zur Vorſorge, damit
nicht Ketzer als reudige Schafe in den Schafſtall
der Kirche eindringen moͤchten, das Oberhaupt der
Kirche es uͤbernommen hatte, erledigte Biſthuͤmer
und Erzbiſthuͤmer mit zuverlaͤßigen Maͤnnern zu
beſetzen; was war es jetzt anders, als ein aus
eben der Quelle herfließender preiswuͤrdiger Eifer,
wenn Johann der XXII. jetzt (1317.) verordnete:
daß niemand zwey Pfruͤnden mehr beyſammen ha-
ben, ſondern, wo dergleichen Mißbrauch eingeriſ-
ſen, ein jeder Beſitzer mehrerer Pfruͤnden dieſelben
bis auf eine reſigniren ſollte, da dann fuͤr die
Wiederbeſetzung der ſolchergeſtalt erledigten geiſt-
lichen
[281]5) Carl IV. — Sigism. 1376-1414.
lichen Stellen der heilige Vater ſchon getreulich
ſorgen wollte? Welche vaͤterliche Vorſorge war es
nicht ferner, wenn Benedict der XII. (1335.) ſich
vorbehielt, alle Stellen, deren Inhaber waͤhrend
ihres Aufenthalts beym paͤbſtlichen Stuhle abgien-
gen, ſelbſt wieder beſetzen zu wollen, ohne daß
ſich die auf ſolche Art verwaiſeten Kirchen oder
Stifter deshalb Sorge und Muͤhe machen duͤrften?
Wie billig war es, wenn hernach auf gleiche Art
der paͤbſtliche Stuhl es uͤbernahm, die Stellen de-
rer, die etwa vom Pabſte abgeſetzt oder anders-
wohin verſetzt waͤren, oder die auch nur auf der
Hin- und Herreiſe zum oder vom paͤbſtlichen Stuhle
mit Tode abgiengen, wieder zu beſetzen, oder in
Faͤllen, wenn Cardinaͤle, die zugleich Biſchoͤfe oder
Erzbiſchoͤfe waͤren, abgiengen, nicht nur ihre Car-
dinalsſtellen, ſondern auch ihre erledigte Kirchen
wieder mit tuͤchtigen Maͤnnern zu verſehen? Ja
wenn endlich das unbeſchraͤnkte und untruͤgliche
hoͤchſte Oberhaupt der Kirche gerade zu erklaͤrte,
daß es aus hoͤchſter Machtvollkommenheit Biſthuͤ-
mer und Pfruͤnden zum Beſten der Kirche dieſem
oder jenem zugedacht habe; wer wollte ſich unter-
ſtehen, dagegen etwas zu erinnern?


Hatte nun aber jemand das Gluͤck, aus den Haͤn-III.
den des goͤttlichen Statthalters ſelbſt eine geiſtliche
Wuͤrde zu bekommen; ſollte er dann gegen ſeinen
Wohlthaͤter, deſſen bisherige Unterhaltungsquellen
ohnedem zum Theil eben verſieget waren, nicht
auch billig ſich erkenntlich bezeigen? Verſteht ſich,
daß die der Canzley fuͤr die Ausfertigungen zukom-
menden Gebuͤhren ohnehin ihren Gang giengen; —
aber zur unmittelbaren Erkenntlichkeitsbezeigung
S 5gegen
[282]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
gegen den Wohlthaͤter ſelbſt war es da nicht billig,
noch etwas mehreres zu thun? Fand man doch
ſchon von aͤlteren Zeiten Spuhren, daß man in
aͤhnlichen Faͤllen eines Jahres Einkuͤnfte dem uͤber-
laßen hatte, dem man die Erhebung derſelben fuͤr
die unbeſtimmte Zukunft verdanken mußte! Alſo
Annaten! — eine Erkenntlichkeit von den Ein-
kuͤnften des erſten Jahres, die man der paͤbſtlichen
Cammer zufließen ließ, — die ließ ſich der hei-
lige Vater gefallen, die glaubte er von jedem dank-
baren Sohne mit Recht erwarten zu koͤnnen. Das
vorzuͤgliche Ehrenzeichen der Erzbiſchoͤfe und exi-
mirten Biſchoͤfe, das ſo genannte Pallium, mußte
ſo ſchon mit betraͤchtlichen Geldſummen geloͤſet werden.


IV.

Nun dazu gerechnet, was von geiſtlichen und
weltlichen Haͤnden, und zwar nicht nur aus einem
Reiche, ſondern aus allen Chriſtlichen Reichen und
Staaten, aus Teutſchland, Frankreich, Spanien,
England, Italien, Polen, Daͤnemark, Schwe-
den u. ſ. w. fuͤr Dispenſationen, Gnadenbriefe,
rechtliche Erkenntniſſe, und fuͤr den bey mehr als
einer Gelegenheit leicht in allgemeinen Umlauf zu
bringenden Ablaß erhoben werden konnte; ſo wird
es vielleicht einigermaßen begreiflich, wenn man
nun hoͤret oder lieſet, daß auch zu Avignon die
Paͤbſte an gewoͤhnlichem und außerordentlichem
Aufwande ſich nichts abgehen ließen, und doch
noch ſolche Schaͤtze ſammelten, daß z. B. Johann
der XXII. († 1334.) nicht weniger als 18. Mil-
lionen Goldgulden an baarem Gelde nebſt 7. Mil-
lionen an koſtbaren Geraͤthſchaften hinterließ (d).
Wel-
[283]5) Carl IV. — Sigism. 1376-1414.
Welcher Monarch konnte ſolche Schaͤtze aufweiſen,
oder ſo vielerley reichhaltiger Quellen ſich ruͤhmen!
Wie druͤckend mußte es aber auch bald allen Voͤl-
kern vorkommen, denen, bey ohnedem noch ſo
geldloſen Zeiten, ſolche Geldſummen unaufhoͤrlich
und ohne alle Wiederkehr entzogen wurden! Fuͤhl-
bar mußte es bald auch ohne großes Nachdenken
werden; mit irgend einiger Aufklaͤrung und Denk-
freyheit war es gar nicht zu vermeiden, daß end-
lich laute Beſchwerden ganzer Nationen daraus er-
wachſen mußten.


Mußte ſichs nun gerade fuͤgen, daß ein Engli-V.
ſcher Univerſitaͤtsgelehrter, Johann Wiclef, tiefer
auf den wahren Grund der ganzen Religion for-
ſchend, die Augen noch weiter oͤffnete, um Hierar-
chie und Moͤnchsweſen von einer andern Seite,
als es bisher der große Haufe gethan hatte, an-
zuſehen; — Und kam nun vollends hinzu, daß
eine von Gregor dem XI. (1376.) von Avignon
nach Rom verſuchte Ruͤckkehr nach deſſen Tode den
unerwarteten Erfolg hatte, daß ein zu Rom an
deſſen Stelle erwehlter Pabſt Urban der VI. zwar
zu Rom blieb, aber ein anderer Pabſt Clemens
der VII., den bald hernach eben die Cardinaͤle zu
Fondi unter dem Schutze der Krone Neapel erwehlt
hatten, in Begleitung dieſer Cardinaͤle nach Avi-
gnon zuruͤckgieng, jedoch auch Urban zu Rom ſich
wieder ein Cardinalscollegium ſchuf, alſo jetzt ſo-
wohl Rom als Avignon, jedes ſeinen eignen Pabſt,
und jedes ſein eignes Cardinalscollegium hatte —;
ſo mußten fuͤr jeden nachdenkenden Kopf ſich ge-
waltige Anſtaͤnde aͤußern, deren Hebung nieman-
den gleichguͤltig ſeyn konnte. Und doch ließ ſich
gar
[284]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
gar nicht abſehen, wie dieſes Schisma (ſo nannte
man dieſen uͤber die paͤbſtliche Wuͤrde ſelbſt ent-
ſtandenen Zwiſt,) je gehoben werden ſollte, da ſelbſt
die Nationen nichts weniger als einig waren, wel-
chem von beiden Paͤbſten ſie ihren Beyfall geben,
oder nach damaliger Art zu reden, Obedienz leiſten
ſollten. So waren natuͤrlich Frankreich und Neapel,
wie auch außerdem noch Spanien und einige Teut-
ſche Reichsſtaͤnde, von der Obedienz Clemens des
VII., auf Urbans des VI. Seite hingegen der Kai-
ſer nebſt den meiſten Teutſchen und Italiaͤniſchen
Staͤnden und die Kronen England, Ungarn, Por-
tugall, nebſt den Nordiſchen Reichen.


VI.

Wiclef gab zwar den guten Rath, wenn Ur-
ban mit Tode abgehen wuͤrde, an deſſen Stelle
keinen andern Pabſt wehlen zu laßen, da er glaub-
te, eine jede Nation koͤnne mit ihrer kirchlichen
Einrichtung ſchon fuͤr ſich fertig werden, ohne daß
man ein allgemeines ſichtbares Oberhaupt der Chriſt-
lichen Kirche noͤthig haͤtte. Doch dazu ſchien die
Welt noch nicht reif zu ſeyn; am wenigſten war
das nach dem Sinn der Cardinaͤle. So wie alſo
zu Rom oder Avignon ein Pabſt ſtarb, ſaͤumte das
dortige Cardinalscollegium nicht, einen andern an
ſeiner Stelle zu wehlen. Alſo folgten Urban dem
VI. († 1389.) zu Rom nach einander Bonifaz der
IX. († 1404.) und Gregor der XII., und zu Avi-
gnon Clemens dem VII. († 1394.) Benedict der XIII.


VII.

Endlich beſchloſſen doch einige weltliche Maͤchte,
beiden Paͤbſten ihre bisherige Obedienz aufzukuͤndi-
gen, um zu einer einmuͤthigen neuen Pabſtwahl
ſchreiten zu koͤnnen. Benedict erhielt auch ſchon
eine
[285]5) Carl IV. — Sigism. 1376-1414.
eine ſolche Aufkuͤndigung (im Jul. 1398.) Allein
Bonifaz der IX. wußte es vielmehr dahin zu brin-
gen, daß der Churfuͤrſt von Mainz nebſt einigen
ſeiner Mitchurfuͤrſten ſelbſt dem damaligen Kaiſer
Wenzel den Gehorſam aufkuͤndigte, und der Chur-
fuͤrſt Ruprecht von der Pfalz an deſſen Stelle
zum Kaiſer erklaͤret wurde. Alſo war nunmehr
uͤber beide ſichtbare Oberhaͤupter der Chriſtenheit,
ſowohl das weltliche als das geiſtliche, ein ſo ge-
nanntes Schisma, wovon eines dem andern die
Hand zu bieten ſchien.


Nun blieb nichts uͤbrig, als die Zuflucht zuVIII.
einem Mittel, das ſchon viele Jahrhunderte hin-
durch nicht mehr im Gange geweſen war, jetzt aber
von vielen fuͤr das einzige gehalten wurde, wo-
durch der Sache noch geholfen, und zugleich zu
Abthuung jener Beſchwerden, die uͤber Mißbraͤuche
des paͤbſtlichen Stuhls und der Kirche uͤberhaupt
ſo laut und allgemein zu werden anfiengen, viel-
leicht noch Rath geſchafft werden koͤnnte. Man
dachte nehmlich auf eine Kirchenverſammlung, wo-
von man glaubte, daß bey der gegenwaͤrtigen Lage
der Sache eine Anzahl vereinigter Cardinaͤle von
beiden Obedienzen die noͤthige Anſtalt dazu machen
koͤnnte.


Die Rirchenverſammlung kam gluͤcklichIX.
(1409.) zu Piſa zu Stande, entſetzte auch beide
Paͤbſte, ſowohl Gregor den XII. als Benedict den
XIII., ihrer paͤbſtlichen Wuͤrde, und ernannte
(1409. Jun. 26.) Alexander den V. († 1410. Apr.),
hernach Johann den XXIII. zum neuen Pabſte.
Allein jene beide Paͤbſte wollten ſich nicht dazu ver-
ſtehen,
[286]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
ſtehen, der Kirchenverſammlung zu gehorchen. Sie
mußten zwar ihre bisherige Wohnplaͤtze verlaßen,
fanden aber noch anderwaͤrts Unterſtuͤtzung, Gre-
gor zu Rimini von der Krone Neapel, Benedict
zu Perpignan von der Krone Spanien. Was
außerdem von der Reformation der Kirche und Ab-
helfung der Beſchwerden uͤber den paͤbſtlichen Stuhl
zu Piſa vorkam, ward bald abgebrochen, und allen-
falls auf eine anderweite neue Kirchenverſammlung
ausgeſetzt.


X.

Zum Gluͤck endigte ſich indeſſen die auch uͤber
die Kaiſerwuͤrde zwiſchen Wenzel und Ruprecht ent-
ſtandene Trennung, da der letztere (1410. May 19.)
ſtarb, und Wenzel endlich geſchehen ließ, daß ſein
Bruder Sigismund, der anfangs ſeinen Vetter
Jobſt von Maͤhren, vermoͤge einer von einigen
Churfuͤrſten (am 1. Oct. 1410.) auf ihn gerichte-
ten Kaiſerwahl, noch gegen ſich gehabt hatte, nach
deſſen Tode von neuem gewehlt wurde, und nun-
mehr die kaiſerliche Regierung allein zu fuͤhren
uͤbernahm. Doch der Erfolg von dieſer Regierung
verdient nun noch eine beſondere Eroͤrterung.


VI.
[287]6) Sig. 1414-1437. Coſtn. Concil.

VI.
Kirchenverſammlung zu Coſtnitz, und was damit
in Verbindung ſtehet.


I. Einrichtung der Kirchenverſammlung zu Coſtnitz in
der Art ihrer Berathſchlagung. — II. Hebung der bisheri-
gen paͤbſtlichen Zwieſpalt. — III. Wahl eines neuen Pabſtes,
und deſſen Concordate mit den Nationen, inſonderheit der
Teutſchen. — IV. Vereitelte Hoffnung zur Verbeſſerung der
bisherigen Kirchenverfaſſung. — V. VI. Abſchreckendes Schick-
ſal des Johann Huß. — VII. Neuer Streit uͤber die Her-
ſtellung des Kelchs im Abendmahle. — VIII. IX. Ausbruch
und Fortgang des Huſſitenkrieges. — X. Guͤtliche Unter-
handlungen mit der neuen Kirchenverſammlung zu Baſel. —
XI. Andere durch den Huſſitenkrieg veranlaßte Veraͤnderun-
gen. — Erſte Reichsmatrikel. — Verwahrung der Reichs-
inſignien zu Nuͤrnberg.


Sigismund machte ſich ein rechtes Geſchaͤfft dar-I.
aus, eine neue allgemeine Kirchenverſamm-
lung zu Coſtnitz
zu Stande zu bringen. Vier
Nationen, die Teutſche, Italiaͤniſche, Franzoͤſiſche
und Engliſche, nahmen gleich anfangs Theil dar-
an, und vermoͤge eines vorlaͤufig gefaßten Schluſ-
ſes wurden die Berathſchlagungen ſo eingerichtet,
daß nicht die Mehrheit jeder einzelnen Stimmen
zuſammengerechnet wurde, (worin ſonſt die Ita-
liaͤniſchen Praͤlaten an der Zahl das Uebergewicht
gehabt haben moͤchten;) ſondern die Mehrheit der
Stimmen ſollte nur nach den Schluͤſſen der Na-
tionen gerechnet werden, deren jede deswegen un-
ter ihrem eignen Praͤſidenten ihre Berathſchlagun-
gen anſtellte. Dieſe Einrichtung hatte ihren guten
Einfluß darauf, daß nach einem anderweiten Con-
eilienſchluſſe alle drey damalige Paͤbſte in gleiche
Ver-
[288]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
Verbindlichkeit geſetzt wurden, ihre Wuͤrde nieder-
zulegen, um das anſtoͤßige Schisma damit zu heben.


II.

Gregor der XII. bequemte ſich in Guͤte. Jo-
hann der XXIII. ſuchte zwar durch ſeine heim-
liche Entfernung von Coſtnitz ſich zu retten, und
vielleicht das ganze Concilium zu ſprengen. Er
ward aber eingeholt, und nach einem foͤrmlichen
Proceß, worin ihm unter andern 54. geheime Ar-
rikel vorgehalten wurden, ward er abgeſetzt und
gefangen gehalten. Eine Reiſe, die Sigismund
von Coſtnitz aus ſelbſt nach Spanien that, bewirkte
zwar, daß die Spaniſche Nation als die fuͤnfte
noch zur Kirchenverſammlung beytrat. Aber Be-
nedict der XIII. war ſo wenig zu bewegen, ſich
den Coſtnitzer Schluͤſſen zu unterwerfen, daß ſo-
gar nach ſeinem Tode († 1424.) die bey ihm ge-
weſenen Cardinaͤle noch Clemens den VIII. an ſei-
ner Stelle zum Pabſte ernannten, wiewohl derſelbe
endlich (1429. Jul. 26.) auch nachgab, und da-
mit auch dieſes Ueberbleibſel der bisherigen Tren-
nung des paͤbſtlichen Stuhles ein Ende nahm.


III.

Nun waͤre die rechte Zeit geweſen, nach der
foͤrmlichen Abſetzung Johannes des XXIII. erſt die
Materie von der Kirchenreformation und die
Beſchwerden der Nationen vorzunehmen, ehe man
einen neuen Pabſt wehlen ließe. Allein jetzt hieß
es, ohne Oberhaupt koͤnne die Kirche nicht fuͤg-
lich Schluͤſſe machen. Man wehlte alſo (1417.
Nov. 11.) Martin den V. Derſelbe verſchob aber
nun jene wichtigen Gegenſtaͤnde auf eine ander-
weite Kirchenverſammlung, die er in fuͤnf Jahren
zu halten verſprach. Einsweilen ſuchte er ſich aber
mit
[289]6) Sig. 1414-1437. Coſtn. Concil.
mit jeder einzelnen Nation in eignen Vertraͤgen
(Concotdaten) zu ſetzen, die jedoch weit entfernt
waren, irgend einige der bisherigen Beſchwerden
aus dem Grunde zu heben, oder auch nur zu
gruͤndlicher Hebung ſovieler allgemein erkannter Miß-
braͤuche den Weg zu bahnen. In den Concorda-
ten, die Martin der V. (1417.) mit der Teutſchen
Nation eingieng, war kein Gedanke, die Haupt-
beſchwerden uͤber die Vergebung der Pfruͤnden und
vielerley Geldabgaben zu heben, geſchweige dann
den Klagen uͤber den Verfall der Kirchenzucht ab-
zuhelfen. Die Annaten ſollten nur auf gewiſſe
Taxen geſetzt werden, wie ſie ſich in den Buͤchern
der paͤbſtlichen Cammer angeſchrieben faͤnden. We-
gen des Ablaßes ſollte der Pabſt nur ſorgen, daß
man nicht zu verſchwenderiſch damit umgienge, um
ihn nicht zu gemein und veraͤchtlich zu machen.
Dabey ward zwar ausbedungen, daß die dem Pab-
ſte von neuem zugeſtandenen Vortheile nur auf
fuͤnf Jahre guͤltig ſeyn ſollten. Allein zu Rom fand
man ſchon Mittel, den Beſitz fortzufuͤhren. Hin-
gegen manches, das zu Rom vermoͤge dieſer Con-
cordate haͤtte geſchehen ſollen, kam gar nicht zur
Ausfuͤhrung; als inſonderheit der gleich anfangs
ausbedungene Umſtand, daß nicht uͤber 24. Cardi-
naͤle, und zwar von jeder Nation in verhaͤltniß-
maͤßiger Anzahl ſeyn ſollten u. ſ. w. (e).


So kam man alſo mit der Coſtnitzer Kirchen-IV.
verſammlung, nach der großen Erwartung, die man
fuͤr eine verbeſſerte Kirchenverfaſſung davon gehabt
hatte,
T
[290]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
hatte, nicht um einen Schritt weiter. Ein ande-
rer Umſtand, der ſich zu Coſtnitz ereignete, machte
vielmehr, daß man in Anſehung alles deſſen, was
ſo allgemeine Wuͤnſche, von dem uͤbertriebenen
Joche unter dem paͤbſtlichen Stuhle und deſſen
ſo genannten Curialiſten los zu kommen, hatten
hoffen laſſen, jetzt noch ungleich weiter zuruͤckge-
worfen wurde, als vorher.


V.

Nach dem Beyſpiele, das Wiclef als ein aca-
demiſcher Gelehrter in England gegeben hatte, war
zu Prag ein dortiger Lehrer der Theologie, Johann
Huß,
aufgetreten, der es ebenfalls wagte, mit
mehr als bisher gewoͤhnlicher Freymuͤthigkeit den
Verfall der Kirchenzucht und des geiſtlichen Stan-
des in ſeinen Lehren und Schriften aufzudecken.
Eine Veraͤnderung, die auf ſeine Veranlaßung in
der innerlichen Einrichtung der Prager Univerſitaͤt
vorgieng, hatte zwar bey der Univerſitaͤt ihm ein
gewiſſes Uebergewicht verſchafft, da nicht mehr die
Boͤhmiſche Nation nach der bisherigen erſten Ein-
richtung nur fuͤr eine Stimme gegen drey andere
gelten, ſondern nach dem Beyſpiele der Pariſer Uni-
verſitaͤt fuͤr uͤberwiegend uͤber alle Auslaͤnder ge-
rechnet werden ſollte. Allein vom Erzbiſchofe zu
Prag und allen denen, die mit dieſer neuen aca-
demiſchen Einrichtung nicht zufrieden waren, hatte
Huß jetzt deſto mehr Verfolgung auszuſtehen.


VI.

So wurde Huß mit ſeinen Lehren und Schrif-
ten einer der erſten Gegenſtaͤnde der Coſtnitzer Cou-
cilienberathſchlagungen, aber auch ein ungluͤckliches
Opfer der Hierarchie, die ſich wider ſolche Auf-
tritte nicht anders, als mit Feuer und Schwerdt
zu
[291]6) Sig. 1414-1437. Coſtn. Concil.
zu retten wußte. Eines vom Kaiſer erhaltenen
ſichern Geleites ungeachtet wurde Huß gefangen
geſetzt und (1415. Jul. 6.) zu Coſtnitz verbrannt, —
weil er ein Ketzer ſey. — Und ſeine ganze Ketze-
rey beſtand nur darin, daß er die Sitten des geiſt-
lichen Standes, inſonderheit des Pabſtes, der Car-
dinaͤle, der Biſchoͤfe, Erzbiſchoͤfe, Domherren und
Moͤnche, ſo, wie ſie waren, geſchildert hatte. Wer
wollte es nun noch wagen, von ſolchen Dingen
nur laut zu ſprechen? Wer wollte nun noch hof-
fen, daß je eine Kirchenverſammlung ſolchen Kla-
gen abhelfen moͤchte? Was blieb dann uͤbrig, als
das Joch, deſſen man ſich nicht entſchuͤtten konnte,
das man ſelbſt ohne Lebensgefahr nicht mit einem
Finger ruͤtteln durfte, nur ferner gedultig zu tragen?


Ein von Huſſens Sache eigentlich unabhaͤngi-VII.
ger Zufall war es, daß in der Zeit, da Huß ſchon
nach Coſtnitz abgegangen war, ein gewiſſer Johann
von Mieß zu Prag die Entdeckung machte, daß
erſt durch einen Mißverſtand neuerer Zeiten den
Laien der Kelch beym Abendmahle entzogen ſey.
”Mit einer Gierigkeit, womit man ſich gewoͤhnlich
fuͤr lange Unterdruͤckung raͤcht, fieng er ſo gleich
ſelbſt an, den Laien den Kelch auszutheilen. Neu-
heit und allgemeinfuͤhlbare Wahrheit verſchafften
ihm alsbald einen großen Anhang, und ſeine Par-
they, ſelbſt durch Huſſens Schickſal gewarnet,
wollte den offenbaren Mißbrauch der Kirche nicht
erſt auf die Beurtheilung der Coſtnitzer Synode
ausgeſetzt ſeyn laßen” (f). Zu Coſtnitz verwarf
man
T 2
[292]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
man inzwiſchen auch dieſe Abweichung von dem
nun einmal eingefuͤhrten Gebrauche, dem man vor
den klaren Worten der Stiftung des Abendmahls,
wie ſie mit Brod und Wein geſchehen war, den
Vorzug gab.


VIII.

Nun gab freylich ferner ein Wort das andere,
und die Boͤhmen, deren viele immer tiefer in der
Bibel forſchten und immer weniger ſich verbunden
hielten, ihre Gewiſſen den Ausſpruͤchen einer ver-
ſammelten Anzahl Irrthumsfaͤhiger Menſchen zu
unterwerfen, warteten nicht erſt auf Erlaubniß von
Coſtnitz her, um ihren Gottesdienſt nach ihrer
Ueberzeugung einzurichten. Selbſt Wenzel war
ihnen darin nicht entgegen. Als aber die Coſt-
nitzer Kirchenverſammlung jetzt 24. Artikel unter
dem Namen Huſſitiſcher Ketzerey verdammte, und
ſchon 400. Boͤhmen namentlich dieſer Ketzerey hal-
ber in Bann that, zu deſſen Vollziehung der Car-
dinal Julian ſich nach Boͤhmen verfuͤgen mußte;
ſo kam es bald zu oͤffentlichen Thaͤtlichkeiten, die
dadurch noch vermehret wurden, als in deren erſtem
Ausbruche Wenzel ſtarb (1419. Aug. 16.), und
nunmehr Sigismunden ſelbſt die Boͤhmiſche Thron-
folge ſtreitig gemacht wurde.


IX.

In dem hieruͤber ausgebrochenen ſo genannten
Huſſitenkriege unternahm Sigismund ſechs Feld-
zuͤge, zu deren Behuf nicht nur das Teutſche Reich
ihm beyſtand, ſondern der Pabſt ſo gar das Kreuz
gegen die Huſſiten predigen ließ. Allein alles das
war vergeblich. Kein Feldzug gegen die Boͤhmen
wollte gelingen. Sie hingegen wurden durch
mehr-
[293]6) Sig. 1414-1437. Coſtn. Concil.
mehrmalige gluͤckliche Ausfaͤlle allen Nachbaren
fuͤrchterlich.


Sigismund mußte alſo endlich den Weg guͤt-X.
licher Handlungen einſchlagen. Da es aber hie-
bey auf Dinge ankam, welche die Religion und
Kirchenverfaſſung betrafen, und da beym Schluſſe
der Coſtnitzer Kirchenverſammlung ohnedem eine
andere verabredet worden war; ſo bewirkte end-
lich Sigismund, daß ein neues Concilium zu
Baſel
zu Stande kam. Durch deſſen Vermitte-
lung gelangte er auch in ſo weit zu ſeinem Zwecke,
daß vorerſt (1433.) ein Theil der Boͤhmen durch
gewiſſe Compactate gewonnen wurde, worin man
ihnen hauptſaͤchlich den Gebrauch des Kelches zu-
geſtand. Man nannte ſelbige hernach Calixtiner,
von welchen andere ſo genannte Taboriten zwar
noch getrennt blieben. Endlich mußten aber auch
dieſe nach einer von den Calixtinern erlittenen Nie-
derlage nachgeben. So kam es erſt (1436.
Jul. 5.) zu einem allgemeinen Vergleiche, ver-
moͤge deſſen Sigismund nun nur noch kurz vor
ſeinem Ende zum ruhigen Beſitz der Krone Boͤh-
men gelangen konnte.


In dem Huſſitenkriege kam zuerſt der GebrauchXI.
von Pulver und Bley mehr, als vorher, in Gang.
Die Verwilligungen, die von Reichs wegen dazu
geſchahen, gaben den erſten Anlaß, daß durch
beſondere Verzeichniſſe, die man hernach Reichs-
matrikeln
genannt hat, jedesmal beſtimmt wur-
de, was ein jeder Reichsſtand zu einem jeden
Zuge fuͤr Beytraͤge an Volk oder Geld zu liefern
T 3haͤtte.
[294]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
haͤtte. Auch gab der Huſſitenkrieg Anlaß, daß die
Reichsinſignien, die noch immer bey der Kai-
ſerkroͤnung gebraucht werden, die ſonſt ein jeder
Kaiſer in ſeiner Verwahrung hatte, im Jahre 1424.
aus dem Boͤhmiſchen Schloſſe Carlſtein vorerſt
nach Ungarn gebracht, hernach aber mittelſt be-
ſonderer kaiſerlicher und paͤbſtlicher Gnadenbriefe
der Stadt Nuͤrnberg auf beſtaͤndig zur Verwah-
rung anvertrauet wurden. Seit dem muͤßen dieſe
Kleinodien, wenn ſie anderwaͤrts gebraucht wer-
den ſollen, jedesmal erſt von Nuͤrnberg aus ge-
liefert werden; ſo wie einige andere Stuͤcke von
Aachen, wo ſie das Marienſtift in ſeiner Ver-
wahrung hat.


VII.
[295]4) Alb. II. u. Fried. III. 1437-1493.

VII.
Veraͤnderungen in der Kirche und im Reiche
unter Albrecht dem II. und Friedrich dem III.
1437-1493.


I. Anſchein guter Hoffnungen unter Albrecht dem II., —
aber vereitelt unter Friedrich dem III. — II. Neue Tren-
nung in der Kirche, da das Concilium zu Baſel Eugen dem IV.
Felix den V. entgegenſetzt. — III. Albrechts des II. erklaͤrte
Neutralitaͤt, und einsweilige Acceptation der dienſamen Ba-
ſeliſchen Concilienſchluͤſſe. — IV. Friedrichs des III. entge-
genſtehendes Betragen bis zu den Aſchaffenburger Concor-
daten. — V. Davon bis jetzt uͤbrig gebliebene Beſchwer-
den der catholiſchen Teutſchen Kirche. — VI. Vergebliche
Entwuͤrfe das Fauſtrecht abzuſchaffen und eine gruͤndliche
Gerichtsverfaſſung einzufuͤhren. — VII. Erzherzoglicher Ti-
tel des Hauſes Oeſterreich. — VIII. Deſſen wichtige Errun-
genſchaft der Burgundiſchen Niederlande. — IX. Roͤmiſche
Koͤnigswahl Max des I. — Errichtung und Verfaſſung des
Schwaͤbiſchen Bundes. — X. Erfindung und Ausbreitung
der Buchdruckerey. — XI. XII. Einfluß derſelben auf den
Zuſtand der Gelehrſamkeit. — XIII. Landesherrliche Rechte
der Reichsſtaͤnde in Anſehung der Buchdruckereyen. — XIV.
Vergeblicher Verſuch, einen kaiſerlichen Generalbuͤcherſuper-
attendenten zu beſtellen. — XV-XVII. Veraͤnderungen in
der Reichstagsverfaſſung.


Unter Sigismunds Regierung war man wederI.
in Beruhigung des Reichs von dem Unweſen
des Fauſtrechts, noch in der Kirchenverfaſſung zu
Hebung der bisherigon Beſchwerden und Mißbraͤu-
che weiter vorwaͤrts gekommen. Zu beiden war
unter ſeinem Nachfolger Albrecht demII. weit
naͤhere Hoffnung; ſie wurde aber nach deſſen nur
zu kurzer Regierung unter Friedrich demIII.,
der hernach deſto laͤnger an der Regierung blieb,
nur deſto empfindlicher vereitelt.


T 4Das
[296]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
II.

Das Concilium zu Baſel ſchien die Refor-
mation der Kirche in Haupt und Gliedern mit Ernſt
anzugreifen. Schon mehrere Schluͤſſe waren uͤber
erhebliche Gegenſtaͤnde gefaſſet worden. Der paͤbſt-
liche Hofſtaat, die Zahl der Cardinaͤle, die Aus-
uͤbung der hoͤchſten Gerichtbarkeit ſollte merkliche
Einſchraͤnkungen leiden. Annaten, Palliengelder,
Proviſionen, u. ſ. w. ſollten abgeſchafft werden, und
was dergleichen mehr war. Aber ungluͤcklicher
Weiſe entſtand ein neuer Zwiſt zwiſchen dieſer
Baſelſchen Kirchenverſammlung und dem Pabſte
Eugen dem IV. Dieſer beſtand darauf, die Ver-
ſammlung nach Ferrara zu verlegen, wo er wuͤrk-
lich eine von neuem eroͤffnen ließ. Das Conci-
lium zu Baſel verlangte hingegen, Eugen ſollte
auf ihre Vorladung bey Strafe der Abſetzung zu
Baſel erſcheinen. Eugen kam nicht. Das Con-
cilium ſetzte ihn wuͤrklich ab, und an ſeine Stelle
Felix den V. (vorher Amadeus Herzog von Sa-
voyen). So entſtand von neuem ein Schisma
nicht nur zwiſchen zwey Paͤbſten, ſondern auch
zwiſchen zweyerley Kirchenverſammlungen, deren
eine die andere verdammte.


III.

In dieſer Lage ergriff Albrecht der II. die kluͤgſte
Parthey. Fuͤr ſich und das Teutſche Reich erklaͤrte
er ſich vorerſt in Anſehung der neuen Trennung
zwiſchen beiden Paͤbſten und beiden Concilien neu-
tral; nahm aber einsweilen diejenigen Schluͤſſe,
die das Concilium zu Baſel, wie es noch unbe-
ſtritten war, gemacht hatte, durch eine feierliche
Acceptationsurkunde (1439. Maͤrz 26.) an (g).
Die
[297]7) Alb. II. u. Fried. III. 1437-1493.
Die Churfuͤrſten beharrten auch nach ſeinem Tode
ganz ſtandhaft in dieſen Geſinnungen. Sie er-
klaͤrten ſich noch 1440., einmuͤthig darauf beſte-
hen zu wollen, daß derjenige Pabſt, dem man uͤber
kurz oder lang beypflichten wuͤrde, erſt ſich anhei-
ſchig machen ſollte, von den bisherigen Anmaßun-
gen der Pfruͤndenvergebungen und Geldforderun-
gen fuͤr Confirmationen, Proviſionen, Pallium u. ſ. w.
abzuſtehen, und die Teutſche Nation mehr als irgend
eine andere in Ehren zu halten.


Allein Friedrich der III. war ganz anderes Sin-IV.
nes. Unzufrieden in der bisherigen Ungewißheit,
wer der rechte Pabſt ſey, von dem er ſich ohne
Anſtand kroͤnen und nach ſeinem Wunſche zugleich
mit ſeiner Gemahlinn trauen laßen koͤnne, leiſtete
er ſchon ins geheim Eugen dem IV. Obedienz. Deſ-
ſen Muth wuchs daruͤber ſo ſehr, daß er die zwey
Churfuͤrſten von Trier und Coͤlln, denen er Schuld
gab, daß ſie ihm vorzuͤglich zuwider waͤren, ab-
ſetzte, und andere an ihrer Stelle ernannte. Nun
bewirkte zwar eine ſtandhafte Verein der Chur-
fuͤrſten (1446. Maͤrz 21.) (h), daß der Pabſt
nicht nur davon abſtehen, ſondern vielmehr zu
ganz anderen Concordaten, die auf einer allgemei-
nen Reichsverſammlung zu Frankfurt (1446. Sept.)
entworfen wurden, in vier verſchiedenen Bullen
(1447. Febr. 5. 7.) ſeine Einwilligung geben muß-
te;
(g)
T 5
[298]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
te; welche vier Bullen nebſt obiger Acceptations-
urkunde eigentlich die ſo genannten Fuͤrſtencon-
cordate
(concordata principum) ausmachen (i).
Aber da nun noch die letzte Hand angelegt werden
ſollte, ein und andere Puncte hinwiederum zum
Vortheile des paͤbſtlichen Stuhls zu beſtimmen;
ſo bewilligte der Kaiſer den Legaten des Pabſtes
Nicolaus des V. zu Aſchaffenburg (1448. Maͤrz
19.), wiewohl nicht ohne Widerſpruch von Sei-
ten der Staͤnde, ſolche uͤbermaͤßige Vortheile, daß
das catholiſche Teutſchland unter dem Druck dieſer
Aſchaffenburger Concordate bis auf den heuti-
gen Tag leidet, und hingegen jene Fuͤrſtencon-
cordate wenig oder gar nicht in ihre Erfuͤllung ge-
gangen ſind (k), obgleich zu Aſchaffenburg ihre
Verbindlichkeit nicht aufgehoben, ſondern vielmehr
ausdruͤcklich beybehalten worden (l).


V.

So blieben demnach die Hauptbeſchwerden we-
gen der Annaten, Palliengelder und anderer Ab-
gaben nicht nur ungehoben, ſondern es blieb auch
bey den bisher gebrauchten Vorwaͤnden Biſthuͤmer
und Erzbiſthuͤmer von Rom aus zu beſetzen; und
die Vergebung anderer Pfruͤnden uͤberließ man dem
Pabſte,
[299]7) Alb. II. u. Fried. III. 1437-1493.
Pabſte, wenn ſie in den abwechſelnden Monathen
Jenner, Maͤrz, May u. ſ. w. erlediget wuͤrden.
Nur in einigen Stiftern hat man ſich von Anfang
an der Einfuͤhrung dieſes Rechtes widerſetzt, und
einigen Biſchoͤfen oder Erzbiſchoͤfen wird das Recht
der paͤbſtlichen Monathe in ihren Laͤndern durch be-
ſondere Indulte uͤberlaßen, dergleichen ſelbſt dem
Hauſe Baiern zugeſtanden worden. Solche In-
dulte hatten ſich inſonderheit die drey geiſtlichen
Churfuͤrſten ſelbſt bey Errichtung der Aſchaffenbur-
ger Concordate auf beſtaͤndig ausbedungen. Sie
wurden aber nachher nur auf fuͤnf Jahre einge-
ſchraͤnkt, und in der Zwiſchenzeit, da die jedesma-
lige Erneuerung oft geraume Zeit zuruͤckblieb, wur-
den dann doch die Pfruͤnden zu Rom vergeben.
Auch wollte man denen, die von den Erzbiſchoͤfen
damit verſehen waren, durch Clauſeln, die man
den Indulten einruͤckte, zumuthen, daß ſie ſich in
ſechs Monathen nach erhaltener Proviſion doch noch
von neuem zu Rom melden, und auch da die Stel-
len mit neuen Abgaben loͤſen ſollten. Daruͤber
beſchweren ſich noch jetzt die drey geiſtlichen Chur-
fuͤrſten (m). Das Erzſtift Salzburg findet ſich in
eben den Umſtaͤnden, hat aber ſchon 1764. erklaͤ-
ret, daß es allenfalls gar keines Indultes beduͤr-
fe (n). Dieſes Erzſtift hat noch das beſondere
Vorrecht, daß es ſo gar vier Suffraganbiſchoͤfe
zu Gurk, Chiemſee, Seckau und Lavant, ohne daß
ſolche von Capiteln gewehlt werden, ſelbſt zu ver-
geben hat, wiewohl das erſtere nur abwechſelnd
mit dem Hauſe Oeſterreich (o).


Zur
[300]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
VI.

Zur Verbeſſerung des politiſchen innerlichen
Zuſtandes des Teutſchen Reichs hatte Albrecht eben-
falls einen vortrefflichen Zuſchnitt gemacht, wie das
Fauſtrecht ganz abgeſchafft, an ſtatt deſſen eine
ſolide Gerichtsverfaſſung eingefuͤhrt, und zu deren
Unterſtuͤtzung Teutſchland in ſechs Kreiſe eingetheilt
werden koͤnnte. Auch fehlte es deshalb nicht an Ent-
wuͤrfen, die Friedrich dem III. vorgelegt wurden; wie
unter andern inſonderheit auf ſeinem erſten Reichs-
tage zu Mainz 1441. in Vorſchlag kam, in ganz
Teutſchland 1. Cammergericht, 4. Hofgerichte, 16.
Landgerichte, 64. Freygerichte anzulegen, und den
Gebrauch des Roͤmiſchen Rechts ganz abzuſchaf-
fen. Aber in den 53. Jahren, die Friedrich der III.
an der Regierung blieb, konnte nichts von der Art
zu Stande gebracht werden. Daruͤber gieng es
nun auch mit dem Unweſen des Fauſtrechts ſo weit,
als es noch nie gegangen war; und ganz Teutſch-
land gerieth in Verwirrungen, die gar ihres Glei-
chen nicht hatten. Nicht nur Herren, die Land
und Leute zu regieren hatten, zogen gegen einander
zu Felde, oder hatten bald mit Staͤdten, bald mit
dem Adel zu kaͤmpfen; ſondern jeder Unterthan,
jedes Handwerk hielt ſich jetzt berechtiget, an ſolchen
Kriegen durch eigne Fehdebriefe Antheil zu neh-
men, die uns jetzt kaum glaublich vorkommen (p).
So
[301]7) Alb. II. u. Fried. III. 1437-1493.
So wenig uͤbertrieben war es, wenn Schriftſteller
ſelbiger Zeiten ganz Teutſchland als eine Moͤrder-
grube ſchildern (q).


Um ſein Haus machte ſich Friedrich ein nochVII.
fortwaͤhrendes Verdienſt, da er als Kaiſer demſel-
ben den erzherzoglichen Titel verlieh, der bis jetzt
noch dem Hauſe Oeſterreich allein eigen iſt. Er hat
zwar den Zweck nicht damit erreichen koͤnnen, daß
nunmehr auch das herzogliche Haus Baiern ſeinen
bisherigen erſten Sitz auf der weltlichen Fuͤrſten-
bank dem jetzt erzherzoglichen Hauſe Oeſterreich
uͤberlaßen ſollte. Aber eben das hat doch den An-
laß gegeben, daß der Oeſterreichiſche Stimmfuͤh-
rer, wie er den erſten Platz auf der weltlichen
Bank nicht erhalten koͤnnen, zur geiſtlichen Bank
hinuͤber getreten iſt, und daſelbſt abwechſelnd mit
Salzburg bald den erſten, bald den zweyten Platz
erhalten hat.


Ueberdas erlebte Friedrich fuͤr ſein Haus dieVIII.
glaͤnzende Ausſicht, daß ſein Sohn Max die Her-
zoginn Maria von Burgund zur Gemahlinn,
und damit die Hoffnung bekam, die ſaͤmmtlichen
Niederlande an ſein Haus zu bringen; wiewohl
auch gleich damals die Kette der Kriege ihren An-
fang nahm, worin ſeitdem bis zum Aachner Frie-
den (1748.) das Haus Oeſterreich mit der Krone
Frankreich verwickelt worden.


Max
[302]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
IX.

Max wurde auch noch im Jahre 1486. zum
Roͤmiſchen Koͤnige erwehlet, in der Hoffnung,
daß durch ihn vielleicht zu Stande gebracht wer-
den moͤchte, was vom Kaiſer nicht zu erhalten
war. Allein die Entwuͤrfe von Cammergerichts-
ordnung und Landfrieden, die in ſolcher Abſicht in
eben dem Jahre von den Staͤnden gemacht wa-
ren, blieben unvollzogen. Nur noch ein Landfriede
auf 10. Jahre ward 1486. von neuem errichtet.
Und mit deſſen Empfehlung an die Reichsſtaͤnde
in Schwaben gab Friedrich der III. noch Anlaß zu
einem Bunde, der 1488. unter dem Namen des
Schwaͤbiſchen Bundes, doch nicht bloß unter
Schwaͤbiſchen, ſondern auch mit Beytritt einer
betraͤchtlichen Anzahl mehr anderer Staͤnde gluͤck-
lich zu Stande kam, und in der Folge doch noch
auf geraume Zeit (bis 1533.) eine wichtige Stuͤtze
ſowohl der inneren Ruhe des Reichs als des kai-
ſerlichen Anſehens wurde. Die Wichtigkeit und
Macht dieſes Bundes laͤßt ſich daraus abnehmen,
da er beſtaͤndig uͤber 1000. Mann zu Pferde und
8. bis 9000. Mann zu Fuß auf den Beinen hielt,
um die oͤffentliche Ruhe und Sicherheit zu erhal-
ten. Ein beſonderer Bundesrath mußte uͤber alles
das die Aufſicht fuͤhren, und ein eigenes Bundes-
gericht entſchied die Rechtsfaͤlle, die etwa unter
den Bundesverwandten vorkamen.


X.

Eine der wichtigſten Veraͤnderungen veranlaßte
unter dieſer Regierung die Erfindung der Buch-
druckerey,
wie ſie nach mehreren Verſuchen, die
ſchon ſeit 1436. von Lorenz Kuͤſtern zu Harlem,
und von Johann Gaͤnſefleiſch und Johann Gutten-
berg
[303]7) Alb. II. u. Fried. III. 1437-1493.
berg zu Mainz gemacht waren, hauptſaͤchlich vom
Jahre 1459. an durch Peter Schoiffer zu Mainz
mit gegoſſenen Buchſtaben in Gang gebracht war.
Von dieſer Zeit an ward es anfangs als eine ge-
heime Kunſt nur zu Mainz behandelt, bis im Jahre
1462. eine Belagerung von Mainz Anlaß gab,
daß von dieſen Kunſtverſtaͤndigen viele fluͤchteten,
und hernach an anderen Orten ihre Kunſt fortſetz-
ten. So wurden ſeitdem nicht nur in auswaͤrti-
gen Laͤndern zu Rom, Venedig, Paris, Neapel
u. ſ. w. Buchdruckereyen zuerſt von lauter Teut-
ſchen angelegt (r), ſondern auch nach und nach
mehrere Teutſche Staͤdte damit verſehen.


Durch dieſe Anſtalt konnten jetzt von einerXI.
Schrift in kurzer Zeit mit wenigen Haͤnden viele
tauſend Abdruͤcke gemacht werden, die ſonſt eben
ſoviel tauſend Abſchreiber beſchaͤfftiget oder ſoviel
tauſend mal mehr Zeit und Muͤhe erfordert haben
wuͤrden. So konnte eine Schrift in kurzer Zeit
in viel tauſend Haͤnde gebracht werden, und fuͤr
die Zukunft war kaum jemals mehr zu beſorgen,
daß ein einmal gedrucktes Buch leicht ſeinen Un-
tergang finden wuͤrde; wie es von Handſchriften
hingegen beynahe zu bewundern iſt, daß von aͤl-
teren Zeiten her noch ſoviele bis auf unſere Zeiten
ſich haben erhalten koͤnnen. Natuͤrlicher Weiſe
mußte das bald auch einen Einfluß auf den Preis
der
[304]III. Mittl. Zeiten b) 1235-1493.
der Buͤcher haben. Wenn Abſchriften groͤßerer
Werke ehedem oft gegen liegende Gruͤnde vertauſcht
wurden, und wenn daher ſelten andere, als Koͤ-
nige oder reiche Kloͤſter, nur einigermaßen betraͤcht-
liche Buͤchervorraͤthe hatten; ſo kam es jetzt bald
dahin, daß ein jeder Privatmann fuͤr ein maͤßiges
Geld ſich eine große Anzahl Buͤcher anſchaffen konnte.


XII.

Was hierdurch die Ausbreitung der Gelehr-
ſamkeit und groͤßerer Aufklaͤrung gewinnen muͤßen,
laͤßt ſich bald uͤberſehen. Auch waren die Folgen
in der Teutſchen Litteratur bald merklich, zumal
da wegen des Unfalls von Conſtantinopel noch hin-
zukam, daß viele Gelehrte von dortaus ſich nach
Italien begaben, und von da her auch auf Teutſch-
land mehr Licht in philologiſchen und anderen Kennt-
niſſen ausbreiteten.


XIII.

Auf der andern Seite haͤtte man freylich auch
vorausſehen koͤnnen, daß nicht nur im gelehrten,
ſondern auch im politiſchen Fache eine ſo ſchnelle
und vervielfaͤltigte Ausbreitung gewiſſer Schriften
oder Nachrichten uͤber kurz oder lang von großen
Folgen gemeinnuͤtzig oder auch gemeinſchaͤdlich ſeyn
koͤnnte. Man haͤtte deswegen eine nicht unerheb-
liche Rechtsfrage daruͤber aufwerfen koͤnnen, ob
die Anlegung und der Gebrauch einer Buchdrucke-
rey eines jeden natuͤrlicher Freyheit zu uͤberlaßen
ſey; und ob und wie weit inſonderheit in Teutſch-
land die kaiſerliche hoͤchſte Gewalt oder eines jeden
Reichsſtandes Landeshoheit hier eintreten koͤnne.
Allein in der erſten Zeit ſah man Abdruͤcke meiſt
nur wie Abſchriften an, dachte alſo eben ſo wenig
an Einſchraͤnkung anzulegender Buchdruckereyen,
als
[305]7) Alb. II. u. Fried. III. 1437-1493.
als man je daran gedacht hatte, Abſchreibern in
Treibung ihrer Kunſt Ziel und Maaß zu ſetzen,
oder erſt eine obrigkeitliche Conceſſion fuͤr noͤthig
zu halten, um als Abſchreiber anderen zu dienen,
oder damit ſeine Nahrung zu treiben. Alſo trieb
von Anfang ein jeder die Kunſt, wo er die Gele-
genheit dazu fand. Das hoͤchſte war, daß es nicht
ganz ohne Vorbewußt der Obrigkeit geſchah, es
mochte nun unter den Augen einer landesherrlichen
oder reichsſtaͤdtiſchen Obrigkeit, oder auch nur in
einer Landſtadt unter deren Obrigkeit geſchehen.
Viel weniger wurde von Anfang daran gedacht,
ein kaiſerliches Regal daraus zu machen; wobey
nunmehr auch ſchon mehr zu erinnern war, wenn
ein jetzt neu in Gang kommendes Regal mit Aus-
ſchließung der landesherrlichen Gewalt der Reichs-
ſtaͤnde dem Kaiſer zugeeignet werden ſollte.


Vom Jahre 1496. her finden ſich zwar Spuh-XIV.
ren, daß unter der folgenden kaiſerlichen Regierung
ein gewiſſer Doctor Jacob Oeßler zu Straßburg
als kaiſerlicher Generalſuperattendent im Roͤmiſchen
Reiche verordnet geweſen. In einigen Buͤchern,
die in den Jahren 1496. — 1517. zu Straßburg
gedruckt worden, finden ſich ſo gar Privilegien
wider den Nachdruck von ihm ausgefertiget. Außer
Straßburg ſcheint ſich aber ſein Wirkungskreis nicht
erſtreckt zu haben. Ueberall war es wenigſtens in
der Folge nicht von Beſtand (s).


Von
U
[306]III. Mittl. Zeit. b) 1235-1493. 7) Frd. III.
XV.

Von dem, was ſonſt unter der langwierigen Re-
gierung Friedrichs des III. in Reichsſachen vorgegan-
gen, das noch bis jetzt ſeine Wirkung erhalten hat,
iſt vorzuͤglich noch ein und andere Veraͤnderung in
unſerer Reichstagsverfaſſung zu bemerken. Die
haͤufigen Reichsverſammlungen, die Friedrich nach
einander ausſchrieb, machten es beynahe zur Gewohn-
heit, daß weder der Kaiſer noch die Staͤnde ſo haͤu-
fig mehr in Perſon erſchienen, als beides in vori-
gen Zeiten geſchehen war. Die kaiſerlichen Bevoll-
maͤchtigten erſchienen unter dem Namen kaiſerlicher
Commiſſarien; die reichsſtaͤndiſchen unter dem Na-
men Sendboten, Raͤthe, Botſchafter, Abgeordnete.


XVI.

Bevollmaͤchtigte von der Art hatten ſchon mehr
darauf zu ſehen, daß keiner ſeinem Herrn etwas
vergaͤbe; daher jetzt ſchon genauer auf Rang und
Ordnung im Sitzen und Stimmen geſehen wurde,
als wenn Fuͤrſten perſoͤnlich verſammelt waren.
Daruͤber mag der Reichstag in vielen Dingen erſt
in die jetzige Verfaſſung gekommen ſeyn, wie ich
ein Beyſpiel von Sitz und Stimme des Hauſes
Oeſterreich ſchon bemerklich gemacht habe.


XVII.

Unter andern findet ſich auch unter dieſer Re-
gierung das erſte Beyſpiel, daß die Abgeordneten
der Reichsſtaͤdte (1474.) das erſtemal auf zwey
Baͤnken ſich ſo geſetzt haben, wie ſie noch jetzt in
die Rheiniſche und Schwaͤbiſche Bank vertheilet
werden.


Vier-
[307]

Viertes Buch.
Der neueren Zeiten erſter Abſchnitt
vom
Kaiſer Max demI.
1493—1519.


I.
Landfriede, Cammergericht und Eintheilung des
Reichs in Kreiſe.


I-III. Landfriede und Cammergericht, als unzertrenn-
lich, wurden an einem Tage errichtet; — IV. der erſtere
mit allgemeiner und ewiger Aufhebung aller Befehdungen. —
V. VI. Das Cammergericht bekam gleich eine collegialiſche
Verfaſſung mit einem Cammerrichter und einer Anzahl be-
ſtaͤndiger Urtheiler oder Beyſitzer. — VII. Wegen der letz-
teren wurde den Churfuͤrſten und Kreiſen ein Praͤſentations-
recht ertheilet. — VIII. Unterhalt und Matrikel des Cam-
mergerichts. — IX. Erſte Veranlaßung der Viſitation des
Cammergerichts. — X. Anfangs noch mangelhafte Anſtalt
in Anſehung der Huͤlfsvollſtreckung. — XI. Endlich haupt-
ſaͤchlich dazu gewidmete Kreisverfaſſung.


Unter Max demI. erfolgte endlich die wich-I.
tigſte und laͤngſt gewuͤnſchte Veraͤnderung fuͤr
die innere Wohlfahrt des ganzen Teutſchen Reichs,
daß auf einmal das bisherige Fauſtrecht mittelſt
eines ewigen allgemeinen Landfriedens gaͤnzlich auf-
gehoben, und zu gleicher Zeit unter dem Namen
des Cammergerichts ein Tribunal errichtet wurde,
von dem man hoffen durfte, daß es die Stelle
U 2der
[308]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
der Selbſthuͤlfe erſetzen, und uͤber Aufrechthaltung
des Landfriedens mit Nachdruck wachen wuͤrde.


II.

Beides, Landfriede und Cammergericht,
waren in der That unzertrennliche Dinge. So lange
es einem jeden erlaubt war, ſich mit eignen Kraͤf-
ten Recht zu ſchaffen, ſo war an keine Aufnahme
irgend einer Gerichtsſtelle zu denken. Wer ſich
auf ſeine Kraͤfte verlaßen kann, wird, wenn man
ihm die Wahl laͤßt, immer lieber davon Gebrauch
machen, als erſt die Frage: ob er auch Recht
habe? auf die Entſcheidung eines Gerichts ankom-
men laßen. Wo alſo Fauſtrecht gilt, da werden
immer Gerichte muͤßig ſtehen. Fehlt es aber an
Gerichten, oder ſind dieſe nicht in dem gehoͤrigen
Anſehen, oder nicht mit der noͤthigen vollziehenden
Gewalt verſehen; ſo haͤlt es ſchwer der Selbſt-
huͤlfe zu wehren, weil doch Mittel zum Rechte zu
gelangen einmal ſeyn muͤßen. Und wenn Selbſt-
huͤlfe auch fuͤr Verbrechen erklaͤret wird, wer ſoll
uͤber Beſtrafung des Verbrechens halten, wenn
kein Gericht dazu in Ordnung iſt?


III.

Von allem dem enthielt die bisherige Teutſche
Geſchichte die trifftigſten in Erfahrung beruhenden
Beweiſe. Alle Bemuͤhungen das Unweſen des
Fauſtrechts zu heben waren bisher vergeblich, ſo
lange nicht zugleich das Gerichtsweſen auf beſſern
Fuß kam. An letzteres war nicht zu denken, ſo
lange Fauſtrecht galt. Endlich begriff man den
bisherigen Fehler, eines ohne das andere machen
zu wollen. Landfriede und Cammergericht wurden
alſo vom Kaiſer Max durch Unterzeichnung der uͤber
beides entworfenen Ordnungen an einem Tage
(1495.
[309]1) Landfriede, Cammergericht ꝛc.
(1495. Aug. 7.) errichtet. Max ſelbſt bezeigte
zwar nicht viel groͤßere Neigung dazu, als ſein
Vater bezeigt hatte. Seine Vortraͤge auf dem
Reichstage zu Worms giengen erſt nur auf Huͤlfe
an Volk und Geld gegen Frankreich und die Tuͤr-
ken. Allein die Staͤnde machten es ihm erſt zur
Bedingung, eher die innerliche Ruhe Teutſchlandes
zu befeſtigen, ehe an auswaͤrtige Huͤlfe zu denken
ſey. Max mußte alſo nunmehr die von den Staͤn-
den ſchon 1486. gemachten Entwuͤrfe von Land-
frieden und Cammergerichtsordnung vornehmen,
und allenfalls erklaͤren, was er noch dabey zu er-
innern fand. So kamen endlich dieſe beiden wich-
tigen Dinge zu Stande, und zwar ohne daß Max
mit ſeinen Erinnerungen viel ausrichtete, ſon-
dern ſo, daß das Gewicht bey dieſer neuen Geſetz-
gebung mehr auf Seiten der Staͤnde als des Kai-
ſers war.


Was den Landfrieden anbetrifft, ſchien manIV.
doch endlich zu begreifen, daß es nicht hinlaͤnglich
ſey, wie man bisher verſucht hatte, nur beſondere
Landfrieden fuͤr dieſe oder jene Gegenden, und nur
auf eine gewiſſe Anzahl Jahre zu errichten, oder
gar die Freyheit einer dreytaͤgigen Vorherverkuͤndi-
gung zur Befehdung auszubehalten. Dieſes letz-
tere Unding mußte nothwendig ganz gehoben wer-
den, und alles, was man in der Abſicht machte,
mußte auf ewig und auf ganz Teutſchland gerich-
tet ſeyn. So war alſo erſt ein erſprießlicher Er-
folg davon zu hoffen, wenn nunmehr Kaiſer und
Reich durch dieſen ewigen allgemeinen Landfrieden
ihre geſetzgebende Gewalt dahin vereinigten: daß
von nun an niemand den andern befehden, bekrie-
U 3gen,
[310]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
gen, berauben, uͤberziehen und beſchaͤdigen, auch
keinen, der dergleichen thaͤte, beherbergen, unter-
ſtuͤtzen oder dulden ſolle; ſondern wer an den
andern Anſpruch zu haben vermeyne, ſolle es in
Gerichten ſuchen; und das alles bey Strafe der
Reichsacht, und ſo, daß das Cammergericht beſon-
ders darauf halten ſolle.


V.

Das Cammergericht, wie es jetzt errichtet
wurde, unterſchled ſich von den bisherigen Gerichts-
anſtalten hauptſaͤchlich dadurch, daß nicht nur die
Perſon des Richters, der an ſtatt des Kaiſers hier
zu Gericht ſitzen ſollte, ſondern auch alle uͤbrige
Mitglieder des Gerichts, deren Stimmen eigent-
lich die Entſcheidung der Sachen anvertrauet wur-
de, oder, wie man ſie damals ſehr ſchicklich nann-
te, die Urtheiler, (in der Folge hat man ſie auf
gut Roͤmiſch Aſſeſſoren oder Beyſitzer des Gerichts
genannt,) ein vor allemal auf beſtaͤndig ernannt
wurden. Damit gewann man den Vortheil einer
immer fortgehenden collegialiſchen Berathſchlagung,
wie jetzt faſt alle Juſtitzcollegia mit gluͤcklichem
Fortgange auf den Fuß angelegt ſind, damals aber
das Cammergericht das erſte in ſeiner Art war.


VI.

Den ehemaligen Grundſatz: daß uͤber niemand
anders als durch ſeines Gleichen geurtheilet werden
koͤnne, behielt man nur in ſo weit bey, daß der
Cammerrichter, als unter deſſen Vorſitz auch
uͤber Fuͤrſten und Grafen geſprochen werden ſollte,
nicht anders als eine Perſon von hohem Adel ſeyn
koͤnne. Man wuͤnſchte auch, daß unter den Ur-
theilern Prinzen und Grafen ſeyn moͤchten. Die
Haͤlfte der Urtheiler ſollte zum wenigſten aus der
Rit-
[311]1) Landfriede, Cammergericht ꝛc.
Ritterſchaft genommen werden, zur anderen Haͤlfte
ſollten es der Rechten gewuͤrdigte (beider Rechte
Doctoren oder Licentiaten) ſeyn. So ſchien ſchon
das Cammergericht die Einrichtung zu bekommen,
die noch jetzt bey vielen Gerichten iſt, daß zwey
Baͤnke, die adeliche und gelehrte Bank, von ein-
ander unterſchieden ſind. Hier hat man ſich aber
im Erfolge begnuͤgen muͤßen, wenn nur ein jeder
Aſſeſſor entweder von gutem Adel, oder Doctor iſt.
In beiden Faͤllen werden doch von einem jeden
gleiche Studien erfordert, inſonderheit die noͤthigen
Kenntniſſe des Roͤmiſchen Rechts, und aller uͤbri-
gen in Teutſchland geltenden gemeinen Rechte.


Bey der erſten Errichtung des CammergerichtsVII.
machte es nicht geringe Schwierigkeit, eine Anzahl
Maͤnner, die hierzu tuͤchtig waren, und ſich dazu
verſtehen mochten, zu finden. Man kieſete ſie gleich
damals auf dem Reichstage, konnte aber an ſtatt
ſechzehn, worauf man die Anzahl in der Cammer-
gerichtsordnung beſtimmt hatte, nur zehn zuſam-
menbringen. Bald hernach wurde die ganze An-
zahl den Churfuͤrſten, den kaiſerlichen Erblanden
und den uͤbrigen in ſechs Kreiſe vertheilten Staͤn-
den zur Praͤſentation zugetheilt, um auf gleiche
Art, wie bey Praͤſentationen zu Pfruͤnden und
geiſtlichen Stellen, Maͤnner zu dieſem Poſten vor-
zuſchlagen. Durch dieſes Mittel konnte man hoffen,
Maͤnner aus allen Gegenden des Teutſchen Reichs
zu bekommen, die der verſchiedenen Rechte kundig
ſeyn wuͤrden, deren Mannigfaltigkeit in Teutſch-
land beynahe ſo groß, als die Zahl der beſonderen
Staaten iſt, woraus das Teutſche Reich beſtehet,
uͤber die doch das Cammergericht zur hoͤchſten In-
U 4ſtanz
[312]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
ſtanz beſtimmt ſeyn ſollte. Zugleich erwuchs dar-
aus das wichtige Vorrecht der Staͤnde, daß ſie es
in ihrer Gewalt haben, tuͤchtige und rechtſchaffene
Maͤnner zu Cammergerichtsbeyſitzern zu praͤſenti-
ren. — Ein Umſtand, der allein hoffen ließ, daß
ſich hier allezeit eine rechte Auswahl von ruͤchtigen
Maͤnnern finden wuͤrde, da man wohl erwarten
konnte, daß ein jeder Reichsſtand zu der Gerichts-
ſtelle, wo uͤber ihn und ſein Land in der hoͤchſten
Inſtanz geſprochen werden ſollte, den tuͤchtigſten
Mann, den er nur haben koͤnnte, ſchicken wuͤrde.
Und doch ward auch dafuͤr geſorgt, daß ein jeder,
der praͤſentirt wird, vom Cammergerichte ſelbſt
noch eine Pruͤfung ſeiner Geſchicklichkeit und Recht-
ſchaffenheit auszuſtehen hat, und, im Fall er nicht
tuͤchtig befunden wird, abgewieſen werden kann.


VIII.

Eine der groͤßten Schwierigkeiten bey Errich-
tung des Cammergerichts beſtand in den Mitteln,
demſelben ſeinen Unterhalt zu verſchaffen, bis
endlich (1500.) die Reichsſtaͤnde ſich bequemten,
denſelben zu uͤbernehmen. Dazu ward gleich da-
mals ein beſonderer Anſchlag verfertigt, was ein
jeder Reichsſtand zu ſeinem Antheile jaͤhrlich in
zwey Terminen oder ſo genannten Cammerzielen zu
bezahlen habe, womit noch bis auf den heutigen
Tag fortgefahren wird, nur, daß von Zeit zu Zeit
betraͤchtliche Erhoͤhungen haben vorgenommen wer-
den muͤßen, nachdem theils die Zahl der Beyſitzer,
theils ihre Beſoldung, um mit den ſteigenden Prei-
ſen im Verhaͤltniß zu bleiben, nach und nach ver-
mehrt worden iſt. Das Cammergericht hat alſo
ſeine eigne Matrikel, ſo zugleich die einzige fortwaͤh-
rende Reichsanlage iſt, die Jahraus Jahrein ihren
Gang fortgehet.


Die
[313]1) Landfriede, Cammergericht ꝛc.

Die Berechnung hieruͤber iſt jetzt ſo eingerich-IX.
tet, daß alle Jahre ein gedrucktes Verzeichniß,
was ein jeder Reichsſtand bezahlet hat oder noch
ruͤckſtaͤndig iſt, nebſt einer Berechnung der Aus-
gabe, an den Reichstag eingeſchickt wird. Da-
mals glaubte man aber, daß die Berechnung nicht
wohl anders als an dem Orte des Cammergerichts
ſelbſt geſchehen koͤnnte. Man beſann ſich auch,
daß es bey einem Gerichte, das an Ort und Stelle
keine Oberen hatte, an Maͤngeln und Gebrechen
nicht fehlen duͤrfte, wegen deren es nicht uͤbel ſeyn
moͤchte, wenn von Zeit zu Zeit von Kaiſer und
Reichs wegen Maͤnner hingeſchickt wuͤrden, um
daruͤber Einſehen thun zu koͤnnen. Man beſchloß
alſo ſchon im Jahre 1507., daß alle Jahre eine
Commiſſion von Kaiſer und Reich ſich am Cammer-
gerichte einfinden ſollte, um ſowohl vorgefallene
Gebrechen und Nothdurft des Gerichts zu verhoͤren
und nach Befinden daruͤber zu verfuͤgen, als Rech-
nung zu empfangen. Das war der erſte An-
fang der Viſitation des Cammergerichts, die ſeit-
dem noch manche Beſtimmungen erhalten hat, und
noch immer ein wichtiger Gegenſtand der Teutſchen
Reichsverfaſſung iſt.


Was bey Errichtung des Cammergerichts undX.
Landfriedens einem jeden, der daruͤber nachdenkt,
am meiſten auffallen muß, iſt dieſes, daß man ſo
wenig dabey bedacht war, zur Huͤlfsvollſtreckung
deſſen, was am Cammergerichte erkannt werden,
oder zu Unterſtuͤtzung des Landfriedens erforderlich
ſeyn moͤchte, die noͤthigen zweckmaͤßigen Anſtalten
zu treffen. An das, was jetzt deshalb durch die
Kreisverfaſſung ausgerichtet wird, und was ſchon
U 5mehr-
[314]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
mehrmalen, namentlich unter Wenzel und Albrecht
dem II., in gleicher Abſicht in Vorſchlag gekommen
war, ſchien diesmal bey Errichtung des Cammer-
gerichts und Landfriedens noch nicht gedacht zu
werden. Ein Gluͤck war es, daß der Schwaͤbi-
ſche Bund noch im Gange war, der auf Erſuchen
des Cammergerichts allenfalls dazu gebraucht wer-
den konnte, deſſen Erkenntniſſe zur Vollziehung zu
bringen.


XI.

Ein Reichsregiment, das man als einen be-
ſtaͤndigen Rath (ungefaͤhr wie in Polen das conſeil
permanent
) dem Kaiſer an die Seite ſetzen woll-
te, gab nur Anlaß, daß man außer den Chur-
fuͤrſten und den kaiſerlichen Erblanden Oeſterreich
und Burgund, von deren jedem ein Repraͤſentant
zu ſothanem Reichsregimente hergegeben werden
ſollte, alle uͤbrige Staͤnde in ſechs Kreiſe vertheilte,
deren jeder ebenfalls einen Mann zum Reichsregi-
mente ſtellen ſollte. Dieſes Reichsregiment war
nun zwar nicht von Beſtand; man behielt aber
eben dieſe Einrichtung bey, um darnach auch die
Praͤſentationen zu den Beyſitzerſtellen am Cammer-
gerichte einzurichten. Zuletzt beſann man ſich doch,
daß dieſe Eintheilung in Kreiſe auch zu Erhal-
tung des Landfriedens und Vollziehung cammerge-
richtlicher Spruͤche moͤchte gebraucht werden koͤnnen.
Alſo verordnete noch Max im Jahre 1512., daß
ein jeder Kreis einen Hauptmann wehlen ſollte,
um benoͤthigten Falls ein von den Staͤnden des
Kreiſes zuſammenzubringendes Heer ins Feld fuͤh-
ren zu koͤnnen. Und nunmehr wurde das ganze
Teutſche Reich, mit Inbegriff der Churfuͤrſten und
der kaiſerlichen Erblande, von neuem in zehn Kreiſe
ein-
[315]1) Landfriede, Cammergericht ꝛc.
eingetheilt. Dieſe Eintheilung, wie ſie noch bis
auf den heutigen Tag beſteht, genauer kennen zu
lernen, iſt deswegen gleich von ihrem Urſprunge
an zu merken, wie anfangs nur ſechs Kreiſe wa-
ren, wozu weder die Churfuͤrſten noch die kaiſer-
lichen Erblande Oeſterreich und Burgund gehoͤrten.
Man nennt ſie fuͤglich die ſechs alten Kreiſe; das
waren Franken, Schwaben, Baiern, Oberrhein,
Niederrhein oder Weſtphalen, und Sachſen. Ein
jeder dieſer Kreiſe beſtand aus mehreren geiſtlichen
und weltlichen Fuͤrſten, Praͤlaten, Grafen und
Reichsſtaͤdten. Kein Churfuͤrſt war darunter be-
griffen, ſo wenig als die beiderley benannten kai-
ſerlichen Erblande, bis erſt im Jahre 1512. dar-
aus die vier neuen Kreiſe gemacht wurden, nehm-
lich der Oeſterreichiſche und Burgundiſche Kreis,
und der Churrheiniſche Kreis fuͤr die vier Churfuͤr-
ſten von Mainz, Trier, Coͤlln, Pfalz, und der
Oberſaͤchſiſche Kreis fuͤr Churſachſen und Churbran-
denburg, nebſt den herzoglich Saͤchſiſchen und ei-
nigen anderen dazu geſchlagenen benachbarten Laͤn-
dern, als Pommern, Anhalt, wie auch den Stif-
tern Quedlinburg, Gernrode, Walkenried, und
den Grafſchaften Schwarzburg, Mansfeld, Stoll-
berg, Barby, Reuß und Schoͤnburg, die man
ſeitdem vom Niederſaͤchſiſchen Kreiſe getrennt hat.
Unter dem Namen des Burgundiſchen Kreiſes er-
kannte Max in der That die Verbindung der Nieder-
lande mit dem Teutſchen Reiche. In Anſehung der
Krone Boͤhmen war aber dieſes Verhaͤltniß damals
ſchon ſo ſchwach, daß Boͤhmen weder unter den Chur-
fuͤrſten, deren man immer nur ſechs nannte, noch
unter die Kreiſe mitgerechnet wurde; wie es dann zu
letztern auch jetzt noch nicht gehoͤrt.


II.
[316]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.

II.
Reichshofrath, Fuͤrſtenrecht und Auſtraͤgal-
inſtanz.


I. II. Urſprung des Reichshofraths. — III. Colliſion
mit dem Cammergerichte. — Urſpruͤnglich fand zwiſchen
beiden keine concurrirende Gerichtbarkeit ſtatt. — IV. Das
ehemalige Fuͤrſtenrecht konnte hingegen noch neben dem Cam-
mergerichte ſtatt finden. — V. Auch ward der Gebrauch
der Austraͤge annoch beybehalten; — VI. VII. und zwar
nicht nur gewillkuͤhrter, ſondern auch geſetzmaͤßiger Aus-
traͤge; — VIII. nur mit hinzugefuͤgter Eigenſchaft einer kai-
ſerlichen Commiſſion, ſo daß eine foͤrmliche Auſtraͤgalinſtanz
daraus gemacht worden, — IX. die der Regel nach nicht
vorbeygegangen werden darf. — X. XI. Seitdem hat man
ſie bald auf einer vortheilhaften Seite, bald als nachtheilig
angeſehen.


I.

Die Art, wie am Cammergerichte die Geſchaͤffte
in collegialiſchen Berathſchlagungen behan-
delt wurden, und gluͤcklich von ſtatten giengen,
mag wahrſcheinlich den Kaiſer Max zuerſt auf die
Gedanken gebracht haben, aͤhnliche Collegien zu
Behandlung der Geſchaͤffte an ſeinem Hofe anzu-
legen. So errichtete er im Jahre 1501. zu Wien
ein Regierungscollegium, ein Cammercollegium,
und fuͤr alle Sachen, die an ſeine Perſon gelan-
gen ſollten, einen Hofrath, oder ein Collegium
von Raͤthen, das ihm uͤber alle ſolche Sachen mit
ſchriftlichen Gutachten an die Hand gehen ſollte.
Dieſer Hofrath war ſowohl fuͤr Reichsſachen als
fuͤr Angelegenheiten aus den Erblanden beſtimmt.
Vermoͤge einer neuen Verordnung, die Max noch
am 24. May 1518. daruͤber machte, ſollten des-
wegen unter 18. Perſonen, woraus der Hofrath
beſte-
[317]2) Reichshofrath u. Auſtraͤge.
beſtehen ſollte, deren fuͤnf aus dem Reiche von Adel
und Doctoren, die uͤbrigen aus den Erblanden ge-
nommen werden. Nachher hat man aber, wegen
Haͤufung der Geſchaͤffte, die Oeſterreichiſchen Sa-
chen von den Reichsſachen abgeſondert, und den
Hofrath nur zu dieſen gelaßen; daher er dann den
Namen Reichshofrath bekommen hat, wie eben
das Collegium noch jetzt unter dieſem Namen be-
kannt iſt (t).


Viele wollen zwar den Urſprung deſſelben vonII.
weit aͤlteren Zeiten herleiten, da freylich, ſo lange
Teutſchland ſeine Kaiſer und Koͤnige gehabt hat,
dieſelben wohl mit Maͤnnern an ihrem Hofe Rath
gepflogen haben. Allein das waren entweder
Reichsſtaͤnde, die eben am Hofe anweſend und
im Vertrauen des Kaiſers waren, oder einzel-
ne Maͤnner von Hofe oder von Geſchaͤfften, als
inſonderheit der Canzler oder Vicecanzler u. ſ. w.
Ein Collegium von Raͤthen, wie der Reichshofrath
iſt, wird man vor dem Jahre 1501. am kaiſerli-
chen Hofe nicht finden. Von dieſem Jahre her
iſt es durch Urkunden erwieſen.


Sofern nun der Kaiſer eine Anzahl HofraͤtheIII.
fuͤr ſich annahm und beſoldete, und ſie in den
Sachen, die ihm fuͤr ſeine Perſon vorkamen, als
inſonderheit in Staatsſachen, Gnadenſachen, Be-
lehnungsgeſchaͤfften u. d. g. zu Rathe zog, konnte
wohl niemand etwas dabey zu erinnern haben.
Aber
[318]III. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
Aber gar bald machten Partheyen den Verſuch,
auch in Juſtitzſachen ſich hieher zu wenden. So
geſchah es ſchon im Jahre 1502., daß auf Be-
gehren der Stadt Coͤlln der Churfuͤrſt von Coͤlln
eine vom Hofrath erkannte Ladung erhielt, um am
kaiſerlichen Hofe zu erſcheinen und auf die Be-
ſchwerden der Stadt zu antworten. Da entſtand
natuͤrlicher Weiſe die Frage: ob außer dem Cam-
mergerichte, das einmal von Kaiſer und Reich als
das einzige hoͤchſte Gericht in ſeiner Art angelegt
war, auch noch am kaiſerlichen Hofe vor einem
vom Kaiſer alleine angelegten Hofrathe Rechtsſachen
vorgenommen werden koͤnnten? und ob alſo ein
Reichsſtand ſchuldig ſey, auf eine aus ſothanem
Hofrathe erkannte Ladung uͤber einen Rechtshandel
vor demſelben zu erſcheinen? (In der That war es
eben der Fall, als wenn in hieſigen Landen außer
dem Tribunale zu Zelle noch Rechtsſachen an das
Miniſterium zu Hannover oder gar an das Cabi-
net zu London zugelaßen werden ſollten.) Auf
Veranlaßung des Churfuͤrſten von Coͤlln nahmen
ſich gleich damals (1502.) alle Churfuͤrſten, auch
bald hernach alle Fuͤrſten der Sache an. Sie
baten den Kaiſer ”um Abſchaffung neuerlichen Ge-
„richts, ſo Ihre Majeſtaͤt alleine angeſtellt, mit
„Begehren es bey der verglichenen Cammerge-
„richtsordnung zu laßen” (u). Seit dem unter-
blieb es zwar nicht, daß Partheyen, deren Sachen
vor das Cammergericht gehoͤrten, doch allerley Ge-
ſuche bald um Empfehlung ihrer Sachen zur Be-
foͤrderung, bald um Inhibition, bald um Commiſ-
ſionen u. ſ. w. am kaiſerlichen Hofe anbrachten;
wie der Reichsabſchied 1512. ausdruͤcklich erweh-
net,
[319]2) Reichshofrath u. Auſtraͤge.
net, daß ”taͤglich der Partheyen Haͤndel und Sa-
„chen am kaiſerlichen Hofe angewachſen” (v). Es
blieb aber doch in der Hauptſache dabey, daß ei-
gentliche Proceſſe nicht anders als am Cammer-
gerichte verhandelt werden konnten. Die Reichs-
geſetze ſprachen immer nur vom Cammergerichte,
als dem einzigen hoͤchſten Reichsgerichte. Daß der
Reichshofrath eine mit demſelben concurrirende Ge-
richtbarkeit haben ſollte, und daß es alſo zwey hoͤch-
ſte Reichsgerichte gaͤbe, unter denen ein jeder Klaͤ-
ger die Wahl habe (wie es jetzt iſt,) ließ ſich nach
der Verfaſſung und den Reichsgeſetzen des ganzen
XVI. Jahrhunderts unmoͤglich behaupten.


Eine andere Frage war es: ob mit Errich-IV.
tung des Cammergerichts das ehemalige Fuͤrſten-
recht
ganz aufgehoben ſey? Da war eher zu
behaupten, daß in Sachen, welche einen Fuͤrſten
fuͤr ſeine Perſon, Ehre und Leben, oder ein gan-
zes Fuͤrſtenthum betraͤfen, auf gleiche Art, wie es
ehedem bey dem im Jahre 1235. angeordneten kai-
ſerlichen Hofgerichte gehalten war, dem Kaiſer vor-
behalten bliebe, außer dem Cammergerichte noch
ſelbſt zu Gericht zu ſitzen, aber nicht mit einer
Anzahl nur von ihm abhangender Raͤthe, ſondern
mit Zuziehung unpartheyiſcher Churfuͤrſten oder Fuͤr-
ſten und Grafen, ſolche Rechtsſachen zu entſchei-
den. In der Cammergerichtsordnung ſelbſt ward
zwar nichts davon gedacht. Aber es ließ ſich doch
nach Analogie und Herkommen behaupten. Das
letztere bewaͤhrte ſelbſt Max noch durch ſein Beyſpiel,
da er im Jahre 1504. in einer Succeſſionsſtrei-
tig-
[320]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
tigkeit zwiſchen den Haͤuſern Pfalz und Baiern uͤber
den erledigten Antheil von Baiern-Landshut noch
perſoͤnlich mit Zuziehung mehrerer Churfuͤrſten und
Staͤnde Gericht hielt.


V.

Noch eine Art, wie Churfuͤrſten und Fuͤrſten
einander zu Recht fordern, oder von anderen be-
langet werden koͤnnten, wurde, ebenfalls von aͤlte-
ren Zeiten her, ausdruͤcklich in der Cammergerichts-
ordnung ſelbſt namhaft gemacht. Nehmlich bey
der Art, wie ſelbſt in den truͤben Fauſtrechtszeiten
mancher Fuͤrſten Streitigkeiten durch den Austrag
eines dritten Fuͤrſten gluͤcklich gehoben wurden,
hatte man bisher ſich ſo wohl befunden, daß es
bey Errichtung des Cammergerichts bedenklich ſchien,
jenes Mittel, zu ſeinem Rechte zu gelangen, ganz
fallen zu laßen, und alles Heil kuͤnftig nur auf
das Cammergericht zu ſetzen, da man doch von
deſſen Fortgange und Dauer zum voraus doch nicht
ganz geſichert ſeyn konnte, (wie dann wuͤrklich ſchon
in den erſten Jahren 1500. und 1502. das Cam-
mergericht etliche mal ins Stecken gerieth.)


VI.

Viele Vertraͤge waren ohnedem ſchon darauf
gerichtet, daß kuͤnftige Streitigkeiten der paciſciren-
den Theile durch dergleichen Austraͤge geſchlichtet
werden ſollten. Solche Vertraͤge aufzuheben oder
auch nur eine allgemeine Aenderung darin zu ma-
chen, war allemal bedenklich. Alſo wurde das
gleich als der erſte Grundſatz angenommen und in
die Cammergerichtsordnung eingeruͤckt: Welche
Fuͤrſten gewillkuͤhrte Austraͤge unter einander
haben, deren ſollen ſie ſich ihren Vertraͤgen gemaͤß
gegen einander bedienen.


Aber
[321]2) Reichshofrath u. Auſtraͤge.

Aber auch andere, unter welchen keine Ver-VII.
traͤge hieruͤber obwalteten, hatten ſich gut dabey
befunden, daß eine Art von Herkommen jedem Be-
klagten, der vom Klaͤger darum erſucht war, es
zur Schuldigkeit machte, die Hand dazu zu bieten,
daß ihre Rechtsſache einem dritten Austrag heim-
geſtellt wurde. Dieſes bisherige bloße Herkom-
men verwandelte man jetzt in eine geſetzliche Vor-
ſchrift, daß ein beklagter Fuͤrſt auf des Klaͤgers
Antrag in vier Wochen zu antworten ſchuldig ſeyn
ſolle. Man machte nur einigen Unterſchied, ob
ein Fuͤrſt von ſeines Gleichen, oder von einem ge-
ringern belanget wuͤrde. In jenem Falle ſollte der
Beklagte dem Klaͤger vier Fuͤrſten vorſchlagen,
woraus dieſer einen zu wehlen haͤtte. Im andern
Falle ſollte der beklagte Fuͤrſt von ſeinen eignen
Raͤthen fuͤnf adeliche und vier gelehrte zur Eroͤr-
terung der Sache niederſetzen, und deshalb ihrer
Pflichten gegen ihn entlaßen. So wurden alſo
aus dem, was bisher bloße Gewohnheit war, jetzt
geſetzmaͤßige ſo genannte Legal-Austraͤge, wie
man ſie ſeitdem von jenen gewillkuͤhrten oder Con-
ventional-Austraͤgen unterſcheidet. Beide Gattun-
gen duͤrfen aber jetzt gegen keinen Beklagten, der
einmal das Recht dazu hat, uͤbergangen werden.


Nur die einzige Hauptbeſtimmung hat manVIII.
nun noch hinzugefuͤget, daß ein jedes Auſtraͤgal-
gericht jetzt zugleich als eine kaiſerliche Commiſſion
angeſehen werden ſolle, vermoͤge eines auf beſtaͤn-
dig geltenden allgemeinen Auftrages, den der Kai-
ſer gleich in der erſten Cammergerichtsordnung allen
kuͤnftigen Austraͤgen jetzt ein vor allemal ſchon zum
voraus ertheilte. Damit erhielt man den Vortheil,
Xdaß,
[322]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
daß, da ſonſt die Austraͤge als Schiedsrichter eigent-
lich nicht appellabel geweſen waͤren, jetzt von einem
jeden Auſtraͤgalgerichte an das Cammergericht, ſo
wie von jedem andern Commiſſarien an ſeinen Com-
mittenten, appellirt werden konnte. Alſo ward es
nunmehr zu einer foͤrmlichen Auſtraͤgalinſtanz,
die ſich auf ſolche Art in das mit Errichtung des
Cammergerichts aufgeſtellte neue Syſtem der ganzen
Gerichtsverfaſſung ganz wohl einpaſſen ließ. Das
Cammergericht wurde nach dieſer Einrichtung ein
Tribunal, das ordentlicher Weiſe nur in der hoͤchſten
und letzten Inſtanz urtheilen ſollte; uͤber mittelbare
Mitglieder des Reichs, ſofern ein Unterthan durch
ſeine Landesgerichte ſich beſchwert faͤnde; uͤber un-
mittelbare, wenn von der Auſtraͤgalinſtanz appellirt
wuͤrde. In erſter Inſtanz wurden dem Cammer-
gerichte bey ſeiner erſten Errichtung nur die Land-
friedensbruchs-Sachen vorbehalten.


IX.

Dergleichen Ausnahmen, da ein Fuͤrſt auch in
erſter Inſtanz gleich beym Cammergerichte belanget
werden kann, ſind in folgenden Zeiten noch einige
mehrere hinzugekommen. Außerdem aber iſt es
noch immer die Regel, daß Fuͤrſten und Churfuͤrſten
von niemanden gerade zu beym Cammergerichte be-
langet werden koͤnnen, ſondern immer erſt die Aus-
traͤgalinſtanz erlediget ſeyn muß. In ſo weit iſt es
jedesmal fuͤr beide Theile vortheilhaft, daß ſie ſich
nicht mit einer einzigen Inſtanz begnuͤgen muͤßen,
ſondern wenn auch ein Spruch widrig ausfaͤllt der-
jenige, der ſich beſchwert haͤlt, die Sache noch in
einer zweyten Inſtanz aufs neue durchfechten kann,
wo vielleicht die Sache der Parthey oder ihrem
Schrift-
[323]3) Reichshofrath u. Auſtraͤge.
Schriftſteller noch in einem andern Lichte erſcheint, als
es in der erſten Inſtanz noch erſehen werden konnte.


Ehedem hielten es ſelbſt mindermaͤchtige KlaͤgerX.
noch fuͤr vortheilhaft, daß ihnen jeder auch noch ſo
maͤchtiger Beklagter doch vor der Auſtraͤgalinſtanz
zu Recht ſtehen mußte. Jetzt wird es gemeiniglich
als ein Kleinod der Fuͤrſten angeſehen, wenn ſie in
den Fall kommen, von anderen belanget zu werden;
zu Zeiten vielleicht, um einem Klaͤger die Betreibung
ſeiner Rechtsſache zu erſchweren. Daher jetzt deſto
haͤufiger darauf gedacht wird, wie man die Auſtraͤ-
galinſtanz vorbeygehen koͤnne, wozu freylich in neue-
ren Reichsgeſetzen ein und andere Wege eroͤffnet ſind.
Doch das gibt wieder haͤufig Gelegenheit zu Be-
ſchwerden, deren ſchon viele am Reichstage vorge-
kommen ſind, daß die Auſtraͤgalinſtanz widerrecht-
lich uͤbergangen werde.


Schon Carl der V. gieng damit um, das ganzeXI.
Auſtraͤgalwerk abzuſchaffen; konnte es aber nicht
durchſetzen (w). Ein Recht, das von ſo vielen Jahr-
hunderten her auf unſere Zeiten gekommen, und durch
ſoviele Vertraͤge und Geſetze befeſtiget iſt, werden
freylich die Reichsſtaͤnde ſchwerlich ſich nehmen laßen.
Es kann auch noch immer, richtig gebraucht, ſeinen
Nutzen haben, und ſelbſt ohne große Weitlaͤuftigkei-
ten bewerkſtelliget werden, wenn die Auſtraͤgalinſtanz
einem reichsſtaͤndiſchen Gerichte aufgetragen wird,
wo jeder Theil an Ort und Stelle nur ſeinen Anwald
halten darf, um den Schriftwechſel zu beſorgen.


X 2III.
[324]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.

III.
Gerichtsweſen in der Reichsſtaͤnde Laͤndern,
und befeſtigte Rechtskraft des Roͤmiſchen Geſetz-
buches.


I. Einfluß des Cammergerichts auf das Territorialjuſtitz-
weſen. — II. Errichtung der Hofgerichte nach dem Muſter
des Cammergerichts. — III. Uebereinſtimmung der Hofge-
richtsordnungen mit der Cammergerichtsordnung. — IV.
Aehnlichkeit des Verhaͤltniſſes zwiſchen Regierungen und Hof-
gerichten, wie zwiſchen dem Reichshofrathe und Cammerge-
richte. — V. Neue Einrichtung des Gerichtsweſens in Staͤd-
ten und Aemtern, wie auch in adelichen Gerichten. — VI.
Allgemeine Aufhebung bisheriger kaiſerlicher Evocationen, —
VII. auch ſonſtiger Concurrenz kaiſerlicher und landesherr-
licher Hoheitsrechte. — VIII. Feſtere Begruͤndung der Rechts-
kraft des Roͤmiſch-Juſtinianiſchen Geſetzbuchs; — IX. zwar
ohne daß deswegen alle einheimiſche gemeine Rechte ihre
Kraft verlohren haͤtten; aber doch ſo, daß man dieſe aus
einem ganz unrichtigen Geſichtspuncte anſah.


I.

Allemal war jetzt viel damit gewonnen, daß
ſowohl mit genauer Beſtimmung der Auſtraͤ-
galinſtanz als mit Errichtung des Cammergerichts
es nunmehr ſeine gewieſene Wege hatte, wie man
gegen einen jeden maͤchtigen oder mindermaͤchtigen
Reichsſtand zu ſeinem Rechte gelangen koͤnnte.
Aber noch ein nicht minder erheblicher Vortheil
von Errichtung des Cammergerichts zeigte ſich auch
darin, daß nunmehr ein jeder Reichsſtand in ſei-
nem Lande das Gerichtsweſen auf einen gewiſſen
Fuß ſetzen konnte. Bisher war nicht nur das
Fauſtrecht, das auch unter mittelbaren Mitgliedern
des Reichs die Selbſthuͤlfe unterhielt, daran hin-
derlich geweſen, ſondern es war auch ganz natuͤr-
lich,
[325]3) Territorialjuſtitzweſen.
lich, daß alle Gerichtsverfaſſung der niederen
Inſtanzen
ihren Zweck nicht erreichen konnte, ſo
lange die hoͤchſte Inſtanz nicht in Ordnung war,
an welche doch die Appellation niemanden verſagt
werden konnte. Was half es alſo, wenn ein Reichs-
ſtand in ſeinem Lande noch ſo gute Gerichtsanſtal-
ten traf, ſeinen Rechtsſpruͤchen aber durch eine
Appellation, der es am geſetzmaͤßigen Ausgange
fehlte, alle Kraft benommen werden konnte? Ohne
Zweifel war das mit eine von den Betrachtungen,
welche den meiſten Reichsſtaͤnden den Wunſch eines
allgemeinen Landfriedens und hoͤchſten Reichsgerichts
zuletzt immer dringender gemacht hatten, zumal
da ſie die Vortheile, die ihnen ſelbſt das Fauſt-
recht gewaͤhren konnte, einsweilen zur Gnuͤge ge-
nutzt hatten. Kurz die Erfahrung lehrte bald, daß
das Gerichtsweſen, wie eine Inſtanz der andern un-
tergeordnet ſeyn muß, ſich nicht ſowohl von unten
herauf, als vielmehr von oben herunter in Ord-
nung bringen laße.


Sobald das Cammergericht einmal in OrdnungII.
war, ſo konnte ein jeder Reichsſtand mit beſſerem
Erfolge daran denken, nunmehr auch in ſeinem
Lande eine gruͤndliche Gerichtsverfaſſung anzuord-
nen. Um dem Cammergerichte die moͤglichſt groͤßte
Vollkommenheit zu geben, hatte gewiß kein Reichs-
ſtand unterlaßen, bey ſeiner Theilnehmung an der
daruͤber ausgeuͤbten Geſetzgebung das ſeinige mit
dazu beyzutragen, weil ein jeder es als dasjenige
Gericht anſehen mußte, das uͤber ihn ſelbſt und
uͤber ſeine Unterthanen in der hoͤchſten und letzten
Inſtanz urtheilen wuͤrde. Was war natuͤrlicher,
als daß ein jeder Reichsſtand, der ſich jetzt an-
X 3gele-
[326]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
gelegen ſeyn ließ, das Gerichtsweſen in ſeinem
Lande auf einen gewiſſen Fuß zu ſetzen, vom Cam-
mergerichte, das er ſich als das vollkommenſte
Muſter in ſeiner Art vorſtellte, das Beyſpiel nahm,
um ein aͤhnliches hoͤchſtes Gericht in ſeinem Lande
zu errichten? Faſt in allen Teutſchen Churfuͤr-
ſtenthuͤmern, Fuͤrſtenthuͤmern und Grafſchaften war
das der Fall, daß in einem eher, im andern ſpaͤ-
ter ein ſo genanntes Hofgericht angelegt wurde,
das beynahe als eine Copie vom Cammergerichte
angeſehen werden konnte. Letzteres war mit Zu-
thun der Reichsſtaͤnde errichtet worden; an den
Hofgerichten hatten die Landſtaͤnde ungefaͤhr aͤhn-
lichen Antheil, nicht nur mit ihrer Einwilligung
zu der daruͤber abzufaſſenden Gerichtsordnung, ſon-
dern auch großentheils mit Beytraͤgen zu Unter-
haltung des Gerichts und mit Beſetzung ein oder
anderer Stellen der Beyſitzer. Das Cammergericht
beſtand aus einem Cammerrichter und mehreren
Urtheilern oder Beyſitzern; ſo ein jedes Hofgericht
aus einem Hofrichter und mehreren Hofgerichts-
aſſeſſoren. Der Cammerrichter ſollte von hohem
Adel, ein Hofrichter wenigſtens vom niedern Adel
ſeyn u. ſ. w.


III.

Viele Hofgerichtsordnungen ſtimmten faſt
woͤrtlich mit der Cammergerichtsordnung uͤberein (x).
Auch
[327]3) Territorialjuſtitzweſen.
Auch in der Folge wurden meiſt jede Verbeſſerun-
gen der letzteren auch in jene uͤbertragen. Man-
che Reichsſtaͤnde ſchaͤtzten ſich gluͤcklich, wenn ſie
Maͤnner, die eine Zeitlang am Cammergerichte als
Urtheiler oder auch nur als Sachwalter gedienet
hatten, in ihre Dienſte bekommen konnten, um
ihnen bey Abfaſſung ihrer Gerichtsordnungen und
naͤherer Einrichtung des Gerichtsweſens nach der
in der hoͤchſten Inſtanz ſchon gemachten Erfahrung
behuͤlflich zu ſeyn. So ward z. B. ein beruͤhmter
Cammergerichtsbeyſitzer, Joachim Mynſinger, 1555.
zum Canzler vom Hauſe Braunſchweig angenom-
men, wo er den groͤßten Einfluß in die damaligen
Geſetzgebungen bekam, die noch jetzt die Grundlage
des Juſtitzweſens der hieſigen Lande ausmachen.


So gar darin, daß nebſt dem CammergerichteIV.
am kaiſerlichen Hofe noch ein Hofrath angelegt war,
zeigte ſich an den meiſten reichsſtaͤndiſchen Hoͤfen
eine Aehnlichkeit. Man fand auch da gerathener
ſowohl Regierungs- als Cammer-Sachen, nicht
mehr, wie bisher, bloß durch einzelne Maͤnner
bearbeiten zu laßen, ſondern auch dazu eigne Hof-
raths- oder Regierungs- und Cammer-Col-
legien,
in Nachahmung deſſen, was zu Wien ge-
ſchehen war, zu errichten. Auch davon war fer-
ner eine Folge, daß an manchen Orten das Hof-
raths- oder Regierungs-Collegium nach und nach
auch Juſtitzſachen annahm, wie verſchiedentlich noch
jetzt ein ſolche zweyfache concurrirende Gerichtbar-
keit
(x)
X 4
[328]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
keit der Hofgerichte und Regierungen wahrzuneh-
men iſt. Wo Hofgerichte ganz allein im Beſitz
der Gerichtbarkeit geblieben ſind, iſt es gemeinig-
lich ein Zeichen, daß die Landſtaͤnde zu rechter Zeit
auf ihrer Hut geweſen ſind, um die Hofgerichte,
an denen ſie mehr Antheil haben, nicht durch an-
dere bloß vom Landesherrn abhangende Collegien
verdunkeln zu laßen.


V.

Hofgerichte waren endlich auch darin dem Cam-
mergerichte aͤhnlich, daß ſie eigentlich zur erſten
Inſtanz fuͤr Landſtaͤnde beſtimmt waren, zugleich aber
zur Appellation von allen niederen Gerichten, die
uͤber Buͤrger und Bauern zu urtheilen hatten. Aber
auch mit dieſen Gerichten gieng jetzt eine große
Veraͤnderung vor, da nicht nur in Staͤdten der
Proceß nach Vorſchrift der beiden Geſetzbuͤcher des
paͤbſtlichen und Roͤmiſchen gemeinen Rechts ein-
gefuͤhrt wurde, ſondern eben das auch auf dem Lan-
de geſchah, wo ſonſt nur Bauerngerichte nach dem,
was Gewohnheit und geſunder Menſchenverſtand
an die Hand gaben, geurtheilt hatten, oder auch
der Gutsherr, perſoͤnlich oder durch ſeinen Beam-
ten oder Verwalter, Streitigkeiten der Bauern
geſchlichtet oder ihre Vergehungen geahndet hatte.
In ihren Aemtern und Cammerguͤtern ſetzten jetzt
Fuͤrſten nur ſolche Amtmaͤnner, die ſtudiert hat-
ten, und der Rechte kundig waren. Dem Bey-
ſpiele zu folgen ſahen ſich bald auch adeliche Guts-
herren genoͤthiget, ſtudierte Gerichtshalter anzu-
nehmen, wenn ſie anders nicht geſchehen laßen
wollten, daß ſonſt auch landesherrliche Beamten
in adelichen Doͤrfern die Gerichtbarkeit auszuuͤben
anfiengen. So ward aber zum großen Vortheile
des
[329]3) Territorialjuſtitzweſen.
des Teutſchen Adels ein Recht, das bisher nur
einen Theil ihrer gutsherrlichen Gewalt ausgemacht
hatte, in eine foͤrmliche Gerichtbarkeit verwandelt,
die nunmehr ihren Guͤtern anklebt, und unter dem
Namen einer Erbgerichtbarkeit (Patrimonial-
Jurisdiction) von dem, was man ſonſt Gericht-
barkeit nennt, die man ſich nur als einen Theil
der hoͤchſten Gewalt oder als ein von derſelben auf-
getragenes Recht vorſtellt, zu unterſcheiden pfleget.


Fuͤr alle dieſe Gerichtsanſtalten in der Reichs-VI.
ſtaͤnde Laͤndern war noch eine wichtige Verord-
nung, da gleich in der erſten Cammergerichtsord-
nung ausgemacht wurde, daß alle und jede Unter-
thanen bey ihren ordentlichen Gerichten gelaßen
werden ſollten. Bis dahin war es eigentlich Rech-
tens geweſen, daß, wenn auch ein Reichsſtand
uͤber ſeine Unterthanen den Gerichtszwang hatte,
ſolcher doch nicht mit Ausſchließung der kaiſerlichen
Gerichtbarkeit zu verſtehen war. Einem jeden Klaͤ-
ger hielt man es vielmehr frey geſtellt, ob er ſei-
nen Gegner, wenn derſelbe eines Reichsſtandes
Unterthan war, bey deſſen landesherrlichen Ge-
richten, oder beym Kaiſer und deſſen Gerichte be-
langen wollte. Dawider hatten zwar verſchiedene
Reichsſtaͤnde ſich ſchon nach und nach durch kai-
ſerliche ſo genannte Evocationsprivilegien (pri-
vilegia de non euocando
) zu helfen geſucht;
und den Churfuͤrſten insgeſammt hatte ſchon die
goldene Bulle ein allgemeines Befreyungsrecht (ius
de non euocando
) dawider zugeſtanden. Außer-
dem war es aber doch bisher die Regel geweſen,
bis erſt jetzt durch vorgedachte Stelle der Cammer-
X 5ge-
[330]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
gerichtsordnung daraus ein allgemeines Vorrecht
aller und jeder Reichsſtaͤnde gemacht wurde.


VII.

In der Folge hat man ſelbſt noch weiter, als
bloß im Gerichtsweſen, davon Gebrauch gemacht.
Denn nach der bisherigen Reichsverfaſſung des
mittlern Zeitalters verſtand ſichs auch von anderen
reichsſtaͤndiſchen Hoheitsrechten, daß ſie die kai-
ſerliche Concurrenz
nicht ausſchloſſen; wie z. B.
man allenfalls die Wahl hatte, uͤber Steuerfrey-
heit oder jeden andern Gegenſtand vom Landes-
herrn oder vom Kaiſer ein Privilegium auszuwir-
ken. Nachdem aber einmal im Gerichtsweſen, als
einem der wichtigſten Gegenſtaͤnde der hoͤchſten
Gewalt, die kaiſerliche Concurrenz gehoben war;
ſo hat man, ohne weiter eigne ausdruͤckliche Ge-
ſetze daruͤber zu erwarten, nach und nach auch
alle uͤbrige Theile der landesherrlichen Gewalt von
der kaiſerlichen Concurrenz frey zu machen gewußt,
ſo daß jetzt in allem, was aus landesherrlicher
Macht geſchieht, ordentlicher Weiſe keine kaiſerliche
Concurrenz mehr ſtatt findet.


VIII.

Endlich war von Errichtung des Cammerge-
richts auch das noch eine wichtige Folge, daß nun-
mehr der Gebrauch des Juſtinianiſchen Geſetz-
buchs,
als eines kaiſerlichen gemeinen Rechts, ganz
außer allen Zweifel geſetzt wurde. — Nicht, wie
viele glauben, daß es nunmehr erſt von Kaiſer
und Reich recipirt worden ſey, wie etwa Luͤbiſch
Recht auch außer Luͤbeck von mancher andern Stadt
angenommen worden iſt, oder wie es einem jeden
Staate unbenommen ſeyn wuͤrde, das Preuſſiſche
neue
[331]3) Territorialjuſtitzweſen.
neue Geſetzbuch wegen ſeines innern Werthes auch
in ſeinem Gebiete aufzunehmen. — Nein, man
ſah die Sache gar nicht von der Seite an, als
ob das Roͤmiſche Recht noch erſt einer Aufnahme
in Teutſchland beduͤrfte, ſondern man hielt Teutſch-
land ſelbſt fuͤr das Roͤmiſche Reich, oder doch fuͤr
einen Theil deſſelben, und den Kaiſer Juſtinian
fuͤr einen der Vorfahren in der Regierung ſowohl
vom Kaiſer Max als von den ehemaligen Kaiſern,
die nach Juſtinianen zu Conſtantinopel oder zu
Rom regiert hatten. Da man alſo in der Eides-
formel, die den Beyſitzern des Cammergerichts vor-
geſchrieben wurde, einfließen ließ, daß ſie nach ge-
meinen Rechten urtheilen ſollten; ſo erklaͤrte man
dadurch nicht eine jetzt erſt zu bewerkſtelligende
Aufnahme des Roͤmiſchen Rechts, ſondern man
nahm es ſchon als bekannt an, daß die beiden
Geſetzbuͤcher, die Paͤbſten und Kaiſern ihr Anſehen
zu danken haͤtten, des Roͤmiſchen Reichs, und alſo
auch Teutſchlandes gemeine Rechte waͤren.


Eigentlich ſchloß man damit noch nicht aus,IX.
daß daneben nicht auch noch einheimiſche gemei-
ne Rechte
ſtatt finden koͤnnten; wie dann mit
aller Gewalt, die das Roͤmiſche Recht in Teutſch-
land bekommen hat, doch nicht alles, was vorher
ſchon allgemeines Recht in Teutſchland war, hat
verdraͤnget werden koͤnnen, als z. B. daß doch
bloße Vertraͤge ohne die Feierlichkeit der Roͤmi-
ſchen Stipulation gelten, und daß Erbvertraͤge nicht
fuͤr unerlaubt zu halten ſind. Doch das ſah man
damals nur als beſondere Gewohnheiten der Teut-
ſchen Nation an, ſo wie von je her im Roͤmiſchen
Reiche
[332]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
Reiche einzelne Laͤnder oder Orte ihre eigne Gewohn-
heitsrechte haͤtten haben koͤnnen. Oder wenn neue
Reichsgeſetze etwas verordneten, das vom Roͤmi-
ſchen Rechte abwich, ſo dachte man ſich davon
eben das Verhaͤltniß, wie zwiſchen aͤlteren Roͤmi-
ſchen Geſetzen und neueren, die erſt Juſtinian ge-
macht hatte. Dieſes Verhaͤltniß trieb man in der
Vorſtellung, die man ſich damals davon machte,
ſo weit, daß man ſelbſt in wichtigen Fragen des
Teutſchen Staatsrechts kein Bedenken trug, bis
auf die Zeiten der ehemaligen Kaiſer zu Rom und
Conſtantinopel zuruͤckzugehen, und alles, was ſel-
bige zu thun befugt geweſen waren, auch auf un-
ſere Teutſche Kaiſer, als der erſteren Nachfolger in
der Regierung, anzuwenden.


IV.
[333]4) Aufklaͤrung, America ꝛc.

IV.
Andere Merkwuͤrdigkeiten der Regierung Max
des I.


I. Unvollkommenheit, worin die Studien auf Univerſi-
taͤten noch waren; beſonders fuͤr das juriſtiſche Fach. — II.
Schwierigkeit, die Laien zum Studieren, und den Adel zu
beſſeren Sitten zu bringen. — III. Vermehrter Geldumlauf,
und deſſen Wirkung. — IV. Veraͤnderungen im Kriegswe-
ſen. — V. VI. Verungluͤckte Kriege Max des I. gegen die
Schweizer, und in der Lige von Cambray. — VII. Ein-
fuͤhrung des Titels: erwehlter Roͤmiſcher Kaiſer, ohne zu
Rom gekroͤnt zu ſeyn. — VIII. Zweyerley gluͤckliche Wech-
ſelheirathen, die dem Hauſe Oeſterreich die Thronfolge in
Spanien und Ungarn und Boͤhmen zuwege bringen.


Was ich von der mit Errichtung des Cammer-I.
gerichts uͤberhand genommenen unrichtigen
Anwendung des Roͤmiſchen Rechts und der damit
verbundenen gaͤnzlichen Zuruͤckſetzung unſerer ein-
heimiſch vaterlaͤndiſchen Rechte geſagt habe, war
beides unſtreitig eine Folge des damaligen Zuſtan-
des der Gelehrſamkeit
. Denn ſo ſehr ſich auch
ſchon die Anzahl Teutſcher Univerſitaͤten vermehret
hatte (y), ſo war doch fuͤr die, welche ſich den
Rech-
[334]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
Rechten widmeten, auch auf den Teutſchen Uni-
verſitaͤten nichts, als was in den beiden Lateini-
ſchen Geſetzbuͤchern ſtand, zu lernen; und zwar
ohne die geringſte hiſtoriſche Kenntniß damit zu
verbinden, und ohne alle Begriffe, die nur eine
geſunde Philoſophie und ein richtiges allgemeines
Staats- und Voͤlkerrecht haͤtten an die Hand geben
koͤnnen. Etwas mehrere Bekanntſchaft mit Roͤ-
miſchen und Griechiſchen Schriftſtellern fieng zwar
hin und wieder an, einige Koͤpfe heller zu ma-
chen (z). Aber eine unertraͤgliche ſcholaſtiſche Phi-
loſophie und eine gar zu große Vernachlaͤßigung
der vaterlaͤndiſchen Geſchichte verhinderten alle Auf-
klaͤrung im juriſtiſchen Fache, inſonderheit wo es
darauf angekommen waͤre, einer uͤbel angebrachten
Anwendung fremder auf unſern Boden nicht paſ-
ſender Rechte das Gegengewicht zu halten.


II.

Den Laien hielt es uͤberall noch ſchwer zum
Studieren zu bringen. Inſonderheit beym Adel
war die Lebensart, mit Jagen, Reiten, Turnie-
ren, Kriegshaͤndeln und ſolchen ritterlichen Uebun-
gen die Zeit hinzubringen, viel zu tief eingewur-
zelt (a), als daß der Geſchmack an Studien unter
dem
(y)
[335]4) Aufklaͤrung, America ꝛc.
dem Teutſchen Adel haͤtte allgemeiner werden koͤn-
nen (b). Selbſt der Landfriede fand deswegen in
ſeiner Vollziehung noch unglaubliche Schwierigkei-
ten (c). Man darf nur die Lebensbeſchreibung
eines Goͤtz von Berlichingen leſen (d), um ſich
zu
(a)
[336]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
zu uͤberzeugen, wie hart es dem Teutſchen Adel
angekommen, ſich der Plackereyen des Fauſtrechts
zu enthalten (e). Auch die damit verbundenen
rohen Sitten(f), inſonderheit in Anſehung des
uͤber-
(d)
[337]4) Aufklaͤrung, America ꝛc.
uͤbermaͤßigen Trinkens, zu aͤndern, fieng zwar
Max an, einen Verſuch zu machen (g); aber eben-
falls noch mit geringem Erfolge (h).


Etwas half es hernach auf Veraͤnderung derIII.
Lebensart mitwirken, daß mit der Entdeckung von
America und der vorzuͤglichen Ergiebigkeit der
Bergwerke im Saͤchſiſchen Erzgebirge (i) der Luxus
nach
(f)
Y
[338]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
nach und nach ſtieg (k), und mehr Geld in Um-
lauf brachte. Eben das hatte aber auch auf Er-
hoͤhung der Preiſe in der Folge augenſcheinlichen
Einfluß (l). Waͤre nur nicht auch mit der Ent-
deckung von America die Geſchichte einer Krank-
heit verbunden geweſen, die mit ihrer natuͤrlichen
Strafe weder Pabſt und Cardinaͤle, noch Fuͤrſten
und gekroͤnte Haͤupter ſchonte (m)!


Im

(i)


[339]4) Aufklaͤrung, America ꝛc.

Im Kriegsweſen kam unter Maxen zuerſt dieIV.
Eintheilung der Soldaten in Regimenter auf. Je-
des Regiment beſtand aus 3. bis 4. tauſend Mann,
und hatte ſeinen Oberſten und Nachoberſten, auch
ſeine eigne Gerichtbarkeit, die ein ſo genannter
Feldſchulz zu beſorgen hatte. Die Regimenter
waren wieder in mehrere Faͤhnlein oder Haupt-
mannſchaften, und dieſe in Corporalſchaften abge-
theilt. Alles das ward durch die neue Kriegsart
veranlaßt, worin nunmehr der Gebrauch des Pul-
vers nach und nach die Oberhand gewann. Doch
mußte noch zur Zeit jede Flinte mit einer brennen-
den Lunte abgebrannt werden. In Treffen wurde
das Fußvolk noch 30. bis 40. Mann tief geſtellt,
(ſo erſt Carl der V. auf 15. bis 20., Guſtav Adolf
auf 10., Friedrich bis auf 3. heruntergebracht hat.)


Die Unternehmungen, die Max ſelbſt im KriegeV.
machte, waren ſelten von erwuͤnſchtem Erfolge.
Inſonderheit zwey, die ihm vorzuͤglich mißlangen,
haben bis auf den heutigen Tag ihre Wirkung
erhalten. Nehmlich mit einem Kriege, den er
1499. gegen die Schweizer Eidgenoſſen unter-
nahm, verfehlte er nicht nur den Zweck, dem Hauſe
Oeſterreich ſeinen bisher in der Schweiz erlittenen
Verluſt wieder zu erſetzen, ſondern auch die Ab-
ſicht, die er zugleich als Kaiſer hatte, ſie in Ge-
horſam gegen Kaiſer und Reich zu erhalten, und
dem neu errichteten Cammergerichte auch hier ſein
Anſehen zu verſchaffen. Die Eidgenoſſen blieben
vielmehr in ihrem Weſen, und kamen in der That
in Beſitz einer voͤlligen Unabhaͤngigkeit vom Teut-
ſchen Reiche, obgleich noch kein Friedensſchluß das
Siegel darauf druͤckte.


Y 2Nicht
[340]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
VI.

Nicht gluͤcklicher war Max im Erfolge des
Trutzbuͤndniſſes, das er im Jahre 1508. zu Cam-
bray mit mehreren Maͤchten gegen Venedig ge-
ſchloſſen hatte. Nach der Abſicht dieſer Lige von
Cambray haͤtte die Republik Venedig ganz zu
Grunde gerichtet werden ſollen. Sie fand aber
Mittel, die Bundesgeneſſen von einander zu tren-
nen, und blieb am Ende, was ſie war. Seitdem
iſt ſie nur deſto eifriger darauf bedacht geweſen,
ſich im Beſitze ihrer voͤlligen Unabhaͤngigkeit zu
erhalten; unter andern hat ſie deswegen ſeitdem
beſtaͤndig einen Botſchafter vom erſten Range am
kaiſerlichen Hofe unterhalten.


VII.

In die Lige von Cambray hatte uͤbrigens Max
hauptſaͤchlich deswegen ſich mit eingelaßen, weil
die Venetianer bey ſeinem vorgehabten Roͤmerzuge
ihm den Durchzug durch ihr Gebiet verſagt hatten.
Mit dieſem ruͤckgaͤngig gewordenen Roͤmerzuge ſtand
noch etwas in Verbindung, das bis auf den heu-
tigen Tag ſeinen Fortgang behalten hat. Der da-
malige Pabſt Jul der II. wuͤnſchte ſelbſt, daß Max
dieſen vorgehabten Zug nicht ins Werk ſtellen moͤch-
te. Weil es dabey vornehmlich um die kaiſerliche
Kroͤnung zu Rom zu gelten ſchien, ohne welche
nach dem bisherigen Gebrauche der kaiſerliche Titel
nicht gefuͤhret werden konnte; ſo gab der Pabſt
die Erklaͤrung von ſich, daß Max und ſeinen Nach-
folgern, auch ohne noch in Rom gekroͤnet zu ſeyn,
kuͤnftig unverwehrt ſeyn ſolle, den kaiſerlichen Titel
zu fuͤhren, nur mit dem Beyſatz: erwehlter Roͤ-
miſcher Kaiſer.
Dieſe Erklaͤrung nahm Max an,
und machte es gleich darauf bekannt, daß er von
nun an den Titel: erwehlter Roͤmiſcher Kaiſer und
in
[341]4) Aufklaͤrung, America ꝛc.
in Germanien Koͤnig, fuͤhren wuͤrde; wobey es
ſeitdem bis auf den heutigen Tag geblieben iſt.


Wenn Maxen ſeine kriegeriſche Unternehmun-VIII.
gen nicht gelangen, ſo war er deſto gluͤcklicher in
Unterhandlungen, wodurch er ſich angelegen ſeyn
ließ, fuͤr ſeine Nachkommenſchaft vortheilhafte Ver-
maͤhlungen auszumachen. Eine Wechſelheirath
ſeines Sohns Philipps mit der Spaniſchen In-
fantinn Johanna, und des Infanten Johanns
mit ſeiner Tochter Margarethe (1496. Oct.) brachte
ſeinem Enkel Carl ſchon fruͤhzeitig die Ausſicht zur
Spaniſchen Thronfolge zuwege, deren Erfuͤllung
(1516.) Max ſelbſt noch erlebte. Nicht minder
gelang es ihm 1515., fuͤr ſeinen andern Enkel
Ferdinand einen gleichen Vortheil zu bewirken, da
Uladislaus, Koͤnig von Ungarn und Boͤhmen, mit
demſelben ſeine Tochter Anna, und mit Maxens
Enkelinn ſeinen Sohn Ludewig verloben ließ. So
entfernt die daraus zu ſchoͤpfende Hoffnung damals
noch angeſehen werden mußte; ſo ereignete ſich
doch ſchon 1526. der Fall, daß die beiden Kronen
Ungarn und Boͤhmen durch dieſe Vermaͤhlung dem
Hauſe Oeſterreich zu Theil wurden.


Y 3V.
[342]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.

V.
Anfang neuer Bewegungen in der Kirche vom
D. Luther.


I. Unerwartet unterbrochene ſtolze Ruhe des paͤbſtlichen
Hofes — II. auf Veranlaßung der Lehre vom Ablaß, — III.
und der von Rom aus in Gang gebrachten eintraͤglichen
Ablaßcommiſſionen, — IV. deren eine Johann Tetzel in
Sachſen zu beſorgen hatte, — V. zu einer Zeit, da D. Mar-
tin Luther Profeſſor der Theologie zu Wittenberg war. —
VI. Luthers Disputation uͤber den Ablaß, — VII. und fer-
nere Streitſchriften mit Tetzel. — VIII. Von Rom aus
dagegen angeſtellter Ketzerproceß. — IX. Mißliche Lage
D. Luthers bis zum Tode des Kaiſers und Reichsvicariate
des Churfuͤrſten von Sachſen.


I.

Alles ſchien bey der Regierung Max des I. dahin
uͤbereinzuſtimmen, daß viele große Sachen
ins Werk kamen, die aber, ſo lange er lebte, meiſt
nur noch in einer gewiſſen Unvollkommenheit oder
gar in einer mißlichen Lage blieben, jedoch fuͤr die
Zukunft noch wichtige Revolutionen erwarten lie-
ßen. — Von dieſer Art war noch das allerwich-
tigſte, was in den letzten Jahren dieſer Regierung
vorfiel, da es ſich zu ganz unerwarteten Bewe-
gungen in der Kirche
anließ. Zu einer Zeit,
da der paͤbſtliche Hof nach dem Siege, den er uͤber
alle Kirchenverſammlungen des vorigen Jahrhun-
derts davon getragen hatte, die Fruͤchte der unein-
geſchraͤnkteſten geiſtlichen Monarchie in ſtolzer Ruhe
genoß, und Huſſens Beyſpiel alleine vermoͤgend
war, durch das ſchreckliche Bild des Scheiter-
haufens jeden Bekenner der Wahrheit zuruͤckzuhal-
ten, wagte es ein einzelner Moͤnch einen Mißbrauch
zu
[343]5) D. Luther 1517-1519.
zu ruͤgen, den zwar ein jeder, wer nur mit eini-
ger Aufklaͤrung daruͤber nachdachte, fuͤr Miß-
brauch erkennen mußte, von dem aber vorauszu-
ſehen war, daß ihn der paͤbſtliche Hof und alle,
die bisher damit zu thun gehabt hatten, ungern
wuͤrden fahren laßen, weil er — uͤber alle Maaßen
eintraͤglich war.


Schon ſeit mehreren Jahrhunderten war manII.
darauf gefallen, daß Kirchenbußen, die ein Beicht-
vater ſeinem Beichtkinde aufgelegt hatte, z. B.
auf eine gewiſſe Anzahl Tage zu faſten, ſoviel
Gebete zu verrichten u. d. g. nach Befinden von
Biſchoͤfen oder Paͤbſten in eine Auflage anderer
guten Werke verwandelt, oder gar nachgelaßen wer-
den koͤnnten. Biſchoͤfen ſollte eigentlich nur geſtat-
tet werden, bey Kirchweihfeſten Ablaß von 40. Ta-
gen zu verkuͤndigen (n). Die Paͤbſte eigneten ſich
aber auch hierin eine unbeſchraͤnkte Machtvollkom-
menheit zu, auf mehrere Jahre, oder gar ins un-
endliche, ganz vollkommenen Ablaß zu ertheilen.
Inſonderheit hatten ſie es bey den Kreuzzuͤgen in
Gang gebracht, daß denen, die auch nur mit
huͤlfreicher Handleiſtung durch Geldbeytraͤge (manus
adiutrices
) Theil daran naͤhmen, ein ungemeſſe-
ner Ablaß zu gute kommen ſolle. Urſpruͤnglich
mochte das alles allerdings nur auf Nachlaß aͤußer-
licher Kirchenbußen gemeynt ſeyn. Allein der ge-
meine Mann nahm es bald fuͤr Nachlaß der Suͤn-
denſchuld ſelbſt. Endlich ward ſelbſt aus folgen-
den Saͤtzen ein ganz neues Lehrgebaͤude aufgeſtellet:
Zur
Y 4
[344]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
Zur Verſoͤhnung der Menſchen mit Gott wuͤrde es
ſchon hinlaͤnglich geweſen ſeyn, wenn Chriſtus auch
nur einen Tropfen Blutes vergoſſen haͤtte. Mit
ſeinem Leiden und Tode habe er ungleich mehr,
als erforderlich geweſen waͤre, geleiſtet. Damit ſey
die Abſicht geweſen, der Chriſtlichen Kirche einen un-
erſchoͤpflichen Schatz anzulegen, der durch den Werth
der Verdienſte und guten Werke ſo vieler Heiligen
noch immer vermehrt worden ſey. Dieſer Schatz
verdienſtlicher Werke ſey dem Statthalter Chriſti
zur Vertheilung unter den Chriſten anvertrauet,
um einem jeden davon ſoviel anzuſchreiben, als ihm
ſonſt an eignen guten Werken abgehen wuͤrde, oder
an Suͤnden von dem, was in jenem Schatze ſchon
gut gemacht ſey, ſoviel als noͤthig ſey, abzuſchrei-
ben und abzulaßen (o).


III.

Man glaubte alſo, der Pabſt habe es in ſei-
ner Gewalt, nicht nur aͤußerliche Strafen der Kir-
chenzucht zu erlaßen, ſondern auch unter voraus-
geſetzter Reue und Buße auf gewiſſe Bedingungen
mehr oder weniger Ablaß der Suͤnden zu erthei-
len. Solche Bedingungen waren ehedem bald
Kreuzzuͤge, bald Wallfahrten zu Jubelfeſten nach
Rom, bald Geldbeytraͤge zu Kriegen gegen die Tuͤr-
ken,
[345]5) D. Luther 1517-1519.
ken, zu Erbauung neuer Kirchen, oder anderen
aͤhnlichen Zwecken. Endlich war man in der Mitte
des XV. Jahrhunderts darauf gefallen, eigne paͤbſt-
liche Commiſſarien in Laͤndern herumzuſchicken, die
mit einem jeden nach ſeinem Beduͤrfniß uͤber den
ihm zu ertheilenden Ablaß handeln koͤnnten, und
dann entweder das Geld nach Rom zu berechnen,
oder pachtweiſe eine gewiſſe Summe dafuͤr zu be-
zahlen hatten (p). Solche Ablaßcommiſſarien
oder auch von ihnen wieder bevollmaͤchtigte After-
commiſſarien zogen nun von Stadt zu Stadt, von
Land zu Land, herum; hielten an jedem Orte ſehr
feierliche Einzuͤge; eroͤffneten ihr Gewerbe mit einer
den Werth des Ablaßes anpreiſenden Predigt; ließen
alsdann in ihren Haͤuſern Mann vor Mann vor,
um uͤber die Bedingungen mit ihm einig zu wer-
den, und gaben nun einen Ablaßbrief, wozu zuletzt
gedruckte Formulare gebraucht wurden, worin man,
wie in gedruckten Paͤſſen, nur die Namen und
beſonderen Umſtaͤnde jeden Falles einzuſchreiben
brauchte. Kam hernach derjenige, der mit einem
ſolchen Ablaßbriefe verſehen war, zur Beichte, und
wollte ihm ſein Beichtvater noch dieſe oder jene
Poe-
Y 5
[346]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
Poenitenzen von ſo vielen Gebeten, Faſten u. d. g.
auflegen, oder ihm ſonſt ſein Gewiſſen ſchwer ma-
chen; ſo wies er ihm, gleichſam ſtatt Quitung,
ſeinen Ablaßbrief, womit er ſich fuͤr alles das ge-
deckt hielt.


IV.

So hatte Jul der II., um Geldbeytraͤge zu
Erbauung der praͤchtigen Peterskirche zu Rom zu
erhalten, Ablaßcommiſſionen ertheilt. Und ein
Prinz von Brandenburg, der ſchon Erzbiſchof zu
Magdeburg und Biſchof zu Halberſtadt war, und
nun auch noch Erzbiſchof zu Mainz wurde, aber
dafuͤr 30. tauſend Ducaten nach Rom zu bezahlen
hatte, die ihm einsweilen die Fugger zu Augsburg
vorſchoſſen, — dieſer Churfuͤrſt Albrecht, ſage ich,
erhielt von Leo dem X. eben eine ſolche Ablaßcom-
miſſion, deren weitere Beſorgung in Sachſen er
einem Saͤchſiſchen Dominicaner Johann Tetzel
uͤbertrug.


V.

Auf der neuen Univerſitaͤt, die der Churfuͤrſt
Friedrich der Weiſe von Sachſen erſt im Jahre
1502. zu Wittenberg errichtet hatte, war unter
andern ein Auguſtiner Moͤnch, Doctor Martin Lu-
ther,
den das Oberhaupt der Saͤchſiſchen Auguſti-
ner erſt kuͤrzlich von Erfurt dorthin verſetzt hatte,
als oͤffentlicher Lehrer der Theologie angeſetzt. Ein
Mann, der nebſt einem hellen Kopfe einen ganz
auſſerordentlichen Muth beſaß, und jetzt in ſeinem
34. Jahre noch ſein volles Feuer hatte; — der
zehn Jahre vorher in Geſchaͤfften ſeines Ordens
eine Zeitlang zu Rom geweſen war, und daſelbſt
manches in der Naͤhe geſehen hatte, was er ſich
in der Entfernung kaum vorgeſtellt haben moͤchte; —
der,
[347]5) D. Luther 1517-1519.
der, mit der noͤthigen Kenntniß der gelehrten Spra-
chen ausgeruͤſtet, die Bibel, inſonderheit das neue
Teſtament, und vorzuͤglich die Pauliſchen Briefe
zu ſeinem Lieblingsſtudium gemacht hatte, aber
ganz wider alle ſcholaſtiſche Philoſophie eingenom-
men war; — ein Mann endlich, deſſen ganzer
Character etwas offenes hatte, und weder Furcht
noch Zuruͤckhaltung kannte.


Nun kam Tetzel mit ſeiner AblaßcommiſſionVI.
in die Gegend von Wittenberg nach Zerbſt und
Juͤterbock, wo ſchon Leute aus Wittenberg hingien-
gen, um ſich Ablaßbriefe zu holen. Luther, dem
jetzt ſolche Ablaßbriefe im Beichtſtuhle vorgezeigt
wurden, konnte ſich nicht zuruͤckhalten, ſeine Beicht-
kinder zu warnen, darauf kein Vertrauen zu ſetzen,
noch zu glauben, daß ſie damit ihrer Suͤnden-
ſchuld vor Gott los ſeyn wuͤrden. Kaum erfuhr
das Tetzel, ſo verſchrie er Luthern als einen Ketzer,
und pries ſeinen Ablaß nur deſto hoͤher. Da-
durch gereizt ſchrieb Luther, wie wir jetzt ſagen
wuͤrden, eine Disputation, oder nach damaliger
Art Theſes vom Ablaß in Lateiniſcher Sprache,
die er als Profeſſor zu Wittenberg am letzten Octo-
ber 1517. zur oͤffentlichen Vertheidigung aufs Ca-
theder brachte. Hier behauptete Luther in 95.
Saͤtzen: Gott allein koͤnne Suͤnden vergeben; das
koͤnne weder der Pabſt noch ſonſt ein Geiſtlicher.
Dabey fordere auch Gott weder Pein noch Stra-
fe, viel weniger Geldbeytraͤge, ſondern einen geaͤn-
derten Sinn und Glauben an Chriſti Verdienſt.
Der Pabſt koͤnne allenfalls nur Kirchenſtrafen nach-
laßen; er habe aber nichts in ſeiner Gewalt,
was noch nach dem Tode helfen koͤnne. Waͤre
es
[348]IV. Neuere Zeit. Max I. 1493-1519.
es auch, daß der Pabſt aus dem Fegefeuer helfen
koͤnnte, ſo ſey es billig, daß er es ohne Geld da-
fuͤr zu fordern aus Liebe thue ꝛc.


VII.

Bey Abfaſſung dieſer Schrift dachte Luther
noch nicht daran, als ein Reformator in der Kir-
che aufzutreten, und eine allgemeine Kirchenrei-
nigung zu veranlaßen. Er ſchmeichelte ſich, daß
der Pabſt ſelbſt den von ihm geruͤgten Mißbrauch
des Ablaßes abſtellen wuͤrde. Noch war er ent-
fernt, eine Volksſache daraus zu machen; er hatte
wohlbedaͤchtlich die Sache als eine gelehrte Strei-
tigkeit in Lateiniſcher Sprache behandelt. Tetzel
hingegen hielt gleich Predigten gegen Luthern.
Darauf hielt nun auch Luther einen Sermon vom
Ablaß, wiewohl ohne ſeinen Gegner noch zu nen-
nen, nur ſo, daß er dem Volke nuͤtzliche Wahr-
heiten vorzutragen ſuchte, wie er ferner in einer
Erklaͤrung der ſieben Bußpſalme und des Vater
unſer that. Durch Huͤlfe der Druckereyen wur-
den dieſe Schriften in kurzer Zeit in ganz Teutſch-
land und in einem großen Theile von Europa be-
kannt, und haͤufig mit Beyfall geleſen. Jeder-
mann war froh, daß einmal ein Mann Muth
gefaſſet hatte, ſolche Wahrheiten laut zu ſagen.
Man war begierig, wie man zu Rom die Sache
anſehen wuͤrde.


VIII.

Leo der X. ließ ſich bereden, die Sache gleich
auf den Fuß zu nehmen, daß man mit einem
Retzerproceß derſelben kurz und gut ein Ende
machte. Ein hierzu delegirtes Gericht wurde ſchon
zu Rom ernannt, wovor Luther zu erſcheinen vor-
geladen ward. Doch einer ſolchen Evocation eines
Wit-
[349]5) D. Luther 1517-1519.
Wittenbergiſchen Lehrers widerſetzte ſich der Chur-
fuͤrſt von Sachſen. Die Sache wurde vielmehr
ſo eingeleitet, daß der Pabſt dem Cardinal Caje-
tan, der zu einem von Max nach Augsburg ange-
ſetzten Reichstage als paͤbſtlicher Botſchafter abge-
hen ſollte, den Auftrag gab, zu Augsburg auch
Luthern zu verhoͤren. Zu dieſem Verhoͤre ſtellte ſich
Luther, wollte ſich aber zu keinem Wiederrufe, den
man ihm zumuthete, bequemen, und erhielt darauf
einen widrigen Ausſpruch des paͤbſtlichen Botſchaf-
ters. Doch davon ſtand ihm nun noch eine Inſtanz
offen, da er von demſelben als Commiſſarien an den
Pabſt als Committenten appelliren konnte.


Gluͤcklich kam Luther noch nach WittenbergIX.
zuruͤck. Allein ſchon am 9. Nov. 1518. erfolgte
eine paͤbſtliche Bulle, die alles das, was Luther
noch als unentſchieden von der Kirche angegeben
hatte, zum Vortheile des Ablaßes entſchied. So
war leicht vorauszuſehen, was ſeine Appellation fuͤr
ein Schickſal haben wuͤrde. Und was ſollte dann
Luthern retten, da Max in ſeinen letzten Jahren dem
paͤbſtlichen Stuhle nur zu ergeben war, und der Chur-
fuͤrſt von Sachſen deſſen Befehlen auf die Dauer
nicht wuͤrde haben widerſtehen koͤnnen? Wuͤrklich
ſtand Luther ſchon im Begriff, von Wittenberg nach
Paris abzugehen, als die Nachricht von des Kaiſers
Tode kam, die zugleich Friedrich den Weiſen als
nunmehrigen Reichsverweſer in den Saͤchſiſchen Laͤn-
dern in Stand ſetzte, ſeinem Wittenbergiſchen Pro-
feſſor vorerſt Schutz angedeihen zu laßen. So blieb
die weitere Entwickelung auch dieſer Geſchichte erſt
der folgenden Regierung vorbehalten.


Fuͤnf-
[350]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.

Fuͤnftes Buch.
Der neueren Zeiten zweyter Abſchnitt
vom
Kaiſer Carl demV.
1519 — 1558.


I.
Carls des V. Wahlcapitulation und Regie-
rungsantritt.


I. Erſte Wahlcapitulation, die das churfuͤrſtliche Colle-
gium dem Kaiſer vorgelegt hat, — II. ohne daß damals
die uͤbrigen Staͤnde widerſprochen haben. — III. Errichtung
eines Reichsregiments, aber nur von kurzer Dauer. —
IV-VI. Zwey Achtserklaͤrungen, des Herzogs von Wuͤrten-
berg und des Biſchofs von Hildesheim.


I.

Bey der Kaiſerwahl Carls des V. ereignete ſich
vorerſt ein wichtiger neuer Umſtand in der
Teutſchen Reichsverfaſſung. Auf Vorſchlag des
Churfuͤrſten Friedrichs des Weiſen von Sachſen
vereinigten ſich die Churfuͤrſten, Carl dem V. bey
ſeiner Wahl die Beſchwoͤrung gewiſſer Puncte, die
man in ſolcher Abſicht entwarf, zur Bedingung zu
machen. Man hoffte dadurch den Beſorgniſſen
vorbeugen zu koͤnnen, die ſonſt Carls große Macht
und vorauszuſehende mehrmalige Entfernung in
fremden Reichen an die Hand geben konnte. Man
beſann ſich zugleich auf alles, was bisher nur
noch
[351]1) Wahlcap. u. Anfang der Regier.
noch auf bloßem Herkommen beruhete, und, ein-
mal in ein ſchriftliches Grundgeſetz verwandelt,
fuͤr die Folge mehr Feſtigkeit hoffen ließ. So ent-
ſtand das erſtemal das Reichsgrundgeſetz, das un-
ter dem Namen der kaiſerlichen Wahlcapitula-
tion
ſeitdem bey jeder neuen Wahl eines Kaiſers
oder Roͤmiſchen Koͤnigs wiederholet worden iſt,
und zur Abſicht hat, die ganze Regierungsverfaſ-
ſung fuͤr jeden Kaiſer vertragsweiſe zu beſtimmen.


In vorigen Zeiten hatte ſchon mehrmalen Chur-II.
mainz von einigen Kaiſern ſich verſchiedene Ver-
ſprechungen geben laßen. Diesmal geſchah es aber
zuerſt, daß das ganze churfuͤrſtliche Collegium mit
dem neu erwehlten Kaiſer einen foͤrmlichen Ver-
trag uͤber die Art ſeiner kuͤnftig zu fuͤhrenden Re-
gierung ſchloß. Da man nichts hineinſetzte, als
was entweder ohnedem im bisherigen Herkommen
ſchon ſeinen guten Grund hatte, oder doch ſonſt
fuͤr das ganze Reich von gemeinem Nutzen war; ſo
betrugen ſich die Churfuͤrſten in der That hier als
nuͤtzliche Geſchaͤfftsfuͤhrer (negotiorum geſtores)
fuͤr das ganze Teutſche Reich. In ſolchem Be-
trachte verdienten ſie und fanden auch den Beyfall
des ganzen Reichs, obgleich ſonſt allerdings eine
Frage haͤtte aufgeworfen werden koͤnnen, ob den
Churfuͤrſten alleine, ohne Zuthun der uͤbrigen
Staͤnde, das Recht zuſtehe, ein ſolches Reichs-
grundgeſetz abzufaſſen? wie in der Folge doch
dieſe Frage entſtanden iſt.


Unter andern war Carl dem V. in ſeiner Wahl-III.
capitulation vorgeſchrieben, daß ein Reichsregi-
ment
errichtet werden ſollte, das in ſeiner Abwe-
ſen-
[352]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
ſenheit die vorfallenden Reichsſachen einsweilen be-
ſorgen koͤnnte. Auf ſeinem erſten Reichstage zu
Worms wurde es auch wuͤrklich errichtet, und ſeit-
dem bis 1530. im Gang erhalten. Mit dieſem
Jahre nahm es ein Ende, da Carl ſeinen Bruder
Ferdinand zum Roͤmiſchen Koͤnige wehlen ließ, der
hernach, wenn der Kaiſer abweſend war, meiſt
alle Geſchaͤffte beſorgte. Inzwiſchen kann verſchie-
denes, was in Anſehung jenes Reichsregiments da-
mals verhandelt worden, wenigſtens zu analogiſchen
Folgerungen noch jetzt mit Nutzen gebraucht werden.


IV.

Noch ehe Carl ſeine Regierung angetreten hatte,
hatten ſich zweyerley kriegeriſche Vorfaͤlle in Teutſch-
land ereignet, die gleich ſeine Aufmerkſamkeit auf
ſich zogen, und zwey wichtige Achtserklaͤrungen
veranlaßten.


V.

Der Herzog Ulrich von Wuͤrtenberg, der
ſchon unter der vorigen Regierung, wegen Ermor-
dung eines Herrn von Hutten, ſich eine Achtser-
klaͤrung zugezogen hatte, und uͤbrigens wegen uͤber-
maͤßig gemachter Schulden mit ſeiner Landſchaft in
Unwillen lebte, hatte die Reichsſtadt Reutlingen,
wegen eines daſelbſt erſchlagenen Wuͤrtenbergiſchen
Forſtknechts, uͤberfallen, und zur Huldigung ge-
zwungen; war aber daruͤber vom Schwaͤbiſchen
Bunde ſeines Landes entſetzt worden. Dieſes uͤber-
nahm hernach der Kaiſer, indem er dem Schwaͤ-
biſchen Bunde die aufgewandten Kriegskoſten er-
ſtattete. Den Herzog that er aber am 5. Jun.
1521. von neuem in die Acht, und das Herzog-
thum uͤberließ er in der Abtheilung der Oeſterreichi-
ſchen Laͤnder ſeinem Bruder Ferdinand. Der Her-
zog
[353]1) Wahlcap. u. Anfang der Regier.
zog mußte ſich alſo mit der Grafſchaft Moͤmpel-
gard und der Feſtung Hohentwiel begnuͤgen, und
ſeine uͤbrige Lande mit dem Ruͤcken anſehen, ohne
daß der Kaiſer ſeinen Vorſtellungen und anderer
Fuͤrbitten Gehoͤr gab.


Ein aͤhnliches Schickſal traf den Biſchof JohannVI.
von Hildesheim, aus dem herzoglichen Hauſe Sach-
ſen-Lauenburg. Derſelbe hatte in einer Fehde mit
Burchard von Saldern, deſſen ſich die Herzoge von
Braunſchweig-Luͤneburg Calenbergiſcher und Wol-
fenbuͤtteliſcher Linie angenommen hatten, denſelben
am Wahltage des Kaiſers auf der Soltauer Heide
ein Treffen geliefert, und bezeigte ſich auf die hernach
an ihn ergangenen kaiſerlichen Verordnungen unge-
horſam. Daruͤber ward er ebenfalls am 24. Jul.
1521. zu Gent vom Kaiſer in die Acht erklaͤret.
Mit deren Vollziehung verlohr der Biſchof faſt ſein
ganzes Land, bis durch einen am 14. May 1523. zu
Quedlinburg vermittelten Vergleich noch die Stadt
Hildesheim und die Aemter Peina, Steuerwald und
Marienburg unter dem Namen des kleinen Stifts
fuͤr ihn gerettet wurden; das uͤbrige blieb in den
Haͤnden des Hauſes Braunſchweig-Luͤneburg. Die-
ſer Vergleich ward hernach vom Kaiſer am 20. Oct.
1523., und den 17. Dec. 1537. auch vom Pabſte
Paul dem III. beſtaͤtiget. (Nur im dreyſſigjaͤhrigen
Kriege wurde das Haus Braunſchweig genoͤthiget,
in Gefolg eines zu Goslar 1542. geſchloſſenen Ver-
gleiches die Hildesheimiſchen Stiftslande wieder
zuruͤckzugeben.)


ZII.
[354]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.

II.
D. Luthers Geſchichte, und was damit in Ver-
bindung ſteht, bis zum Jahre 1525.


I. Fortgang der Bewegungen uͤber den Ablaß. — II.
Zwingli, Luther, Melanchthon. — III. Paͤbſtliche Bulle ge-
gen Luther und fuͤr den Ablaß. — IV. Nach und nach bey
Luthern entſtandene Zweifel uͤber die Rechtmaͤßigkeit der paͤbſt-
lichen Gewalt. — V. Luthers Ermahnung an den Teutſchen
Adel, und Appellation an ein Concilium. — VI. Auftraͤge
an die paͤbſtlichen Legaten, um die Vollziehung der Ketzer-
ſtrafe an Luthern zu bewirken. — VII. Handlungen daruͤber
auf dem Reichstage zu Worms. — Kaiſerliches Edict gegen
Luther. — VIII. IX. Luthers verborgener Aufenthalt auf
der Wartburg bey Eiſenach. — Seine Ueberſetzung der Bi-
bel. — X. Sein Catechismus und ſeine Teutſche Lieder. —
XI. Character ſeiner Schriften. — XII. Ihr Beyfall und
unwiderſtehliche Ausbreitung. — XIII. Bewegungen, ſo
hieruͤber an vielen Orten unter den Unterthanen entſtanden,
die jetzt andere Prediger zu haben wuͤnſchten; denen aber
meiſt von den Obrigkeiten oder Landesherrſchaften Schwie-
rigkeiten gemacht wurden. — XIV-XVI. Unmoͤglichkeit der
Beybehaltung der bisherigen kirchlichen Gemeinſchaft, —
bey ſo weſentlich verſchiedenen Lehrſaͤtzen; — XVII. und
bey der Verſchiedenheit in Anſehung der Meſſe und des Abend-
mahls in beiderley Geſtalt; — XVIII. wie auch in Anſehung
der biſchoͤflichen geiſtlichen Gewalt, des Moͤnchsweſens, des
Coelibats der Geiſtlichkeit u. ſ. w. — XIX. Daraus erwach-
ſene Nothwendigkeit einer Veraͤnderung im oͤffentlichen Got-
tesdienſte und in der ganzen Kirchenverfaſſung. — XX.
XXI.
Alles das ergab ſich erſt nach und nach, aber doch
ſchon mit ſtarken Fortſchritten; — XXII. inſonderheit mit
Herſtellung des Kelchs und Einfuͤhrung der Teutſchen Sprache
beym Abendmahl, — XXIII und mit der Prieſterehe und
dem Unwerthe der Geluͤbde. — XXIV. Andere aus unaͤch-
ten Quellen gefloſſene Unternehmungen gewaltſamer Bilder-
ſtuͤrmereyen und Wiedertaͤufer. — XXV. Neue Erſcheinung
D. Luthers zu Wittenberg. — XXVI. Nunmehrige neue
Reichstagshandlungen uͤber Vollziehung des Wormſer Edicts.


I.

Von allem, was ſonſt unter Carl dem V. vor-
gieng, hatte nichts ſo allgemeinen und ſo
wichtigen Einfluß auf die ganze Reichsverfaſſung
und
[355]2) D. Luther bis 1525.
und ſelbſt auf den Zuſtand von ganz Europa, als der
Fortgang der Bewegungen, die nun einmal uͤber den
paͤbſtlichen Ablaß in der Kirche entſtanden waren.


Faſt um eben die Zeit, als Luther zu Witten-II.
berg dieſen Mißbrauch zu beſtreiten angefangen
hatte, war auch Ulrich Zwingli zu Zuͤrch dawider
aufgetreten, und noch um manchen Schritt weiter,
als Luther, gegangen, um noch mehrere damalige
Mißbraͤuche in der Kirche zu ruͤgen. Luther ſelbſt
hatte uͤber eine andere gelehrte Streitigkeit, worin
er unabhaͤngig von dem Streite mit Tetzel, ſchon
vorher mit einem Doctor Eck von Ingolſtadt ge-
rathen war, mit dieſem ſeinem Gegner nach des
Kaiſer Maxens Tode noch einen gelehrten Kampf
in einer perſoͤnlich von beiden zu Leipzig gehaltenen
Disputation uͤbernehmen muͤßen, wo doch ſchon
manches ſich hinein verflocht, was in jene Strei-
tigkeit uͤber den Ablaß Einfluß hatte, und inſon-
derheit die Graͤnzen der paͤbſtlichen Gewalt zur
naͤhern Pruͤfung ſtellte. Auch fuhr er fort, in
einer jedem faßlichen Schreibart in Teutſcher Spra-
che uͤber einzelne Stuͤcke der Bibel, als inſonder-
heit uͤber den Brief an die Galater, zu ſchreiben,
und immer nur den eigentlichen Kern des Chriſten-
thums einem jeden ans Herz zu legen. Noch
bekam er vorzuͤglich an ſeinem Collegen, Philipp
Melanchthon, einen Gehuͤlfen, der, was Luthers
Muth und Hitze betraf, von ganz entgegengeſetz-
tem furchtſamen und gelinden Character war, aber
an Gelehrſamkeit und Scharfſinn ihn noch uͤbertraf.
Wer aber auch ſonſt nur mit einiger Aufklaͤrung und
Freyheit dachte, gab Luthern und denen, die mit ihm
gemeine Sache machten, in dem, was er noch zur Zeit
behauptet hatte, Recht.


Z 2Na-
[356]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
III.

Natuͤrlich vermehrte das alles die allgemeine
Erwartung, was auf Luthers Appellation vom Aus-
ſpruche des Cardinal Cajetans von Rom aus fuͤr
ein Urtheil erfolgen wuͤrde. Und nun erfolgte eine
den 15. Jun. 1520. zu Rom datirte Bulle, wor-
in Leo der X. Luthern als einen Ketzer verdammte,
ſeine Schriften zu leſen verbot, zu verbrennen be-
fahl, und gleiche Strenge ſeinen Gehuͤlfen und
Anhaͤngern drohete. — Was mußte das auf Lu-
thern ſelbſt, und auf alle, die ihn bisher ihres
Beyfalls gewuͤrdiget hatten, fuͤr einen Eindruck
machen? Bloß darum, weil Luther den Ablaßhan-
del geruͤget hatte, den die ganze Welt fuͤr Miß-
brauch erkannte, ſollte Luther verdammt und ver-
folget werden; jeden, der eben ſo daͤchte, ſollte
gleiches Schickſal drohen. Was konnte man da
anders fuͤr Entſcheidungsgruͤnde annehmen, als die
Geldvortheile, die dem paͤbſtlichen Hofe und allen,
die mit dem Ablaßhandel zu thun hatten, davon
zufloſſen? Was war natuͤrlicher, als daß Luther,
den jetzt freylich die Sache zunaͤchſt angieng, dar-
uͤber noch auf weitere Nachforſchungen, zuletzt auf
ganz andere Gedanken von Unfehlbarkeit des Pab-
ſtes und von der Rechtmaͤßigkeit der ganzen paͤbſt-
lichen Gewalt gerieth?


IV.

Sollte derjenige, der an Chriſti Stelle das ſicht-
bare Oberhaupt ſeiner Kirche zu ſeyn behauptete,
einen ſo klar am Tage liegenden Mißbrauch, nach
ſo vielen daruͤber entſtandenen Bewegungen, durch
einen ſo feierlichen Ausſpruch billigen? Sollte es
mit dieſer bisher behaupteten Statthalterſchaft Chri-
ſti auch wohl ſeine voͤllige Richtigkeit haben? Sollte
es ſelbſt noͤthig ſeyn, ſollte es ſich aus der Bibel
bewei-
[357]2) D. Luther bis 1525.
beweiſen laßen, daß die ganze chriſtliche Kirche
ein gemeinſames ſichtbares hoͤchſtes Oberhaupt haben
muͤße? Dieſe und andere aͤhnliche Gedanken
mußten ſich Luthern nothwendig darſtellen. So
ſchwer es ihm auch ankam, von den Vorurtheilen,
worin er gebohren und erzogen war, ſich zu entfer-
nen, (wie es noch jetzt faſt allen Catholiſchen Muͤhe
macht, uͤber die Saͤtze von der Einheit der Kirche
und von der Nothwendigkeit eines ſichtbaren Ober-
haupts derſelben ſich hinwegzuſetzen;) ſo kann
man doch, wenn man Luthern in ſeinen Schriften
und Briefen nach der Zeitordnung folget, ganz
deutlich wahrnehmen, wie nach und nach ein Ge-
danke nach dem andern ſich bey ihm aufgeklaͤrt hat,
um endlich zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß
die paͤbſtliche Gewalt uͤberhaupt nicht von Gott ſey,
und um nun Muth zu faſſen, dieſe und andere
nach einander erkannte Wahrheiten ohne alle Men-
ſchenfurcht in oͤffentlichen Vortraͤgen und Schriften
auszubreiten und zu vertheidigen.


Da galt es alſo nicht mehr bloß um den Miß-V.
brauch des Ablaßhandels; ſondern nun fieng Luther
an zu zweiflen, ob die paͤbſtliche Gewalt auch recht-
maͤßig, ob der Pabſt nicht vielmehr ſelbſt der in
einigen Stellen der Bibel angedeutete Antichriſt
ſey? Er fieng an, ſeine Zweifel erſt ſeinen Ver-
trauten zu offenbaren. Von Zweifeln gieng er zur
Ueberzeugung vom Gegentheil uͤber. Nun ſchrieb
er (im Jun. 1520.) auf Veranlaßung verſchiede-
ner Edelleute, namentlich Franz von Sickingen und
Ulrichs von Hutten, die zuerſt an ihn geſchrieben
hatten, eine Ermahnung an den Chriſtlichen Adel
Teutſcher Nation, worin er zuerſt ſeine nunmeh-
Z 3rige
[358]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
rige Gedanken vom Ungrunde der ganzen paͤbſtlichen
Hierarchie aͤußerte. Dann appellirte er von der
wider ihn ergangenen paͤbſtlichen Bulle an ein all-
gemeines Concilium, und ſchrieb jetzt mehrere
Schriften gegen dieſe Bulle, worin er dem Pabſte
allen Gehorſam feierlich aufkuͤndigte.


VI.

Zu Rom dachte man auf dem einmal ange-
fangenen Wege mit dem der Ketzerey ohnehin ſchon
ſchuldig erklaͤrten Auguſtinermoͤnche bald fertig zu
werden. Ein paͤbſtlicher Botſchafter war dazu
beſtimmt, dem Churfuͤrſten von Sachſen anzuſin-
nen, der ergangenen Bulle zufolge Luthers Schrif-
ten verbrennen zu laßen, und an Luthern entwe-
der ſelbſt die ihm zuerkannte Strafe zur Vollzie-
hung zu bringen, oder ihn doch zu des Pabſtes
Dispoſition auszuliefern. Ein anderer Botſchaf-
ter des Pabſtes betrieb eben dieſes Anliegen beym
Kaiſer, in deſſen Niederlaͤndiſchen Erblaͤndern auch
ſchon nach des Pabſtes Wuͤnſchen verfahren wurde.


VII.

Doch derer, die Luthers Schriften laſen, ſie
ſelbſt mit Beyfall laſen, und ihn oder ſeine Schuͤ-
ler, die ſich nach und nach von Wittenberg faſt
in alle Gegenden ausbreiteten, in muͤndlichen Vor-
traͤgen gerne hoͤreten, waren ſchon ſo viele, ſchon
ſo viel tauſende, daß es beynahe unmoͤglich war,
der Bulle ein Gnuͤge zu thun. Der Kaiſer und
der Churfuͤrſt von Sachſen wurden endlich daruͤber
eins, daß nach den Grundſaͤtzen, wie einer um
Huͤlfsvollſtreckung von geiſtlichen Gerichten erſuch-
ten weltlichen Obrigkeit unbenommen iſt, den Ver-
dammten ſelbſt noch erſt zu hoͤren, Luther auf Carls
erſtem Reichstage zu Worms noch einmal zum
Ver-
[359]2) D. Luther bis 1525.
Verhoͤre gezogen werden ſollte. So ungern das
auch der Pabſt ſehen mochte, und ſo auffallend
es vielen vorkam, daß einer, der ſchon zu Rom
als Ketzer verdammt war, auf einer weltlichen
Reichsverſammlung noch von neuem Gehoͤr finden
ſollte; ſo blieb es doch dabey, ohne daß es die
paͤbſtlichen Botſchafter ruͤckgaͤngig machen konnten.
Der Erfolg war inzwiſchen widrig gnug, da man
auch zu Worms Luthern nur zumuthen wollte,
ſeine bisherige Behauptungen zu wiederrufen, und
da, weil Luther ſich nicht dazu verſtand, am 26.
May 1521. ein kaiſerliches Edict ergieng, wo-
durch derſelbe in die Acht erklaͤrt, und jedermann
ſowohl ihn aufzunehmen, als ſeine Schriften zu
leſen und zu verbreiten verboten wurde.


Jedoch ein ſicheres Geleit, das Luther von CarlVIII.
dem V. erhalten hatte, ward diesmal beſſer, als
ehedem das vom Kaiſer Sigismund fuͤr den guten
Huß, in Ehren gehalten. Luther ward noch mit
eben dem Geleite, wie er nach Worms eingeho-
let war, von dorten wieder entlaßen, unterweges
aber auf geheime Veranſtaltung des Churfuͤrſten
von Sachſen aufgehoben und nach Wartburg bey
Eiſenach gefuͤhret, wo er bis ins folgende Jahr
verborgen blieb, und ſeine Zeit vortrefflich anzu-
wenden wußte. Wie haͤtte er ſie beſſer anwenden
koͤnnen, als daß er hier an ſeiner Teutſchen Ueber-
ſetzung der Bibel
arbeitete, wovon das neue
Teſtament zuerſt im Sept. 1522., und im Decem-
ber eben des Jahrs ſchon in der zweyten Auflage
im Druck erſchien. (Die Buͤcher des alten Te-
ſtaments folgten hernach in den Jahren 1523-
1532. erſt ſtuͤckweiſe, bis endlich 1534. das erſte-
Z 4mal
[360]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
mal die ganze Bibel nach Luthers Ueberſetzung
folgte, woran er bey jeder neuen Auflage bis 1545.
noch immer neuen Fleiß verwandte.)


IX.

Wenn Luther um ſeine Zeitgenoſſen und Nach-
kommen ſonſt auch kein Verdienſt gehabt haͤtte;
ſo verdiente er bloß dafuͤr unſterblichen Dank, daß
er von nun an jedem Teutſchen, der nur ſeiner
Mutterſprache kundig war, den Zutritt zur Quelle
der Chriſtlichen Religion eroͤffnete, um jetzt mit
eignen Augen ſehen, pruͤfen und benutzen zu koͤn-
nen, was dieſes goͤttliche Buch einem jeden zu
ſeiner Beruhigung und Belehrung an die Hand
gibt. In einzelnen Stellen mag immer ſeitdem
ein weiterer Fortſchritt in philologiſchen, critiſchen
und anderen Kenntniſſen ein und andere Verbeſſe-
rung bewirket haben, und kuͤnftig vielleicht noch
weiter hoffen laßen. Indeſſen wird jeder Kenner
und unpartheyiſcher Beurtheiler doch Luthern gewiß
die Gerechtigkeit widerfahren laßen muͤßen, daß
ſeine Ueberſetzung im Ganzen an Treue und Rich-
tigkeit noch von keiner uͤbertroffen iſt, und daß
ſie, nach den Umſtaͤnden damaliger Zeit betrachtet,
in vielem Betrachte ein bewundernswuͤrdiges Mei-
ſterſtuͤck war.


X.

Was Luther auch ſonſt ſchrieb, war meiſt unmit-
telbar aus der Bibel gezogen, oder ſtand auch ſonſt
in Beziehung auf dieſes goͤttliche Buch, woraus er
immer ſein Hauptſtudium machte, und das er bey
allen Gelegenheiten zu eignem taͤglichen Gebrauche
empfahl. Seine Schreibart war zugleich ſo hell,
ſo nachdrucksvoll, ſo eindringend, ſo zweckmaͤßig
jeder Abſicht und jeder Gattung von Leſern ange-
meſſen,
[361]2) D. Luther bis 1525.
meſſen, daß es nicht fehlen konnte, ſeine Schrif-
ten mußten Beyfall finden. Inſonderheit wußte
er ſich auch dem gemeinen Manne ſo faßlich zu
machen, daß durch einige ſeiner Schriften, als
vorzuͤglich ein ſo genanntes Les- und Betbuͤchlein,
oder durch ſeinen kleinen und groͤßern Catechis-
mus,
und durch einige von ihm abgefaßte Teut-
ſche Lieder,
auch der einfaͤltigſte Mann ſich und
die ſeinigen belehren und erbauen konnte.


Noch kam hinzu, daß in allem, was LutherXI.
ſchrieb und unternahm, fuͤr ihn keine nur Eigen-
nutz verrathende Triebfeder hervorleuchtete; wie
hingegen jedem in die Augen leuchten mußte, daß
das ganze paͤbſtlich hierarchiſche Syſtem ſowohl an
deſſen Quelle zu Rom ſelbſt, als bey allen, die
daſſelbe vertheidigten, auf ſolchen Stuͤtzen beruhete,
da es fuͤr hohe und niedere, die daran Theil nah-
men, um Reichthum, Ehre und Bequemlichkeit
galt. Von allem dem hatte Luther vielmehr das
Gegentheil zu erwarten. Seinen Schriften ſah
man es deswegen bald an, daß es nicht Heuche-
ley war, wenn er behauptete, daß er es Gott und
der Wahrheit ſchuldig zu ſeyn glaube, was er
unternaͤhme, und daß nur der Gedanke, daß in
ſolchen Faͤllen Gott mehr als Menſchen zu gehor-
chen ſey, ihm Muth und Standhaftigkeit einfloͤße.


Das alles zuſammengenommen kann es begreif-XII.
lich machen, wie ſowohl Luthers Schriften, als ſeine
und ſeiner Schuͤler und Anhaͤnger muͤndliche Vor-
traͤge in kurzem ſo allgemeinen Eingang finden koͤn-
nen, daß in ganz Teutſchland kein Land, keine
Stadt, kein betraͤchtliches Dorf zu finden war,
Z 5wo
[362]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
wo nicht von dem Jahre 1521. an mit Begierde
aufgenommen waͤre, was von Luthern zu ſehen oder
zu hoͤren war. Es bedurfte gewiß keiner obrig-
keitlichen Befehle oder Ermunterungen ſowohl fuͤr
den gemeinen Mann als fuͤr Gelehrte und Vor-
nehme, um Luthers Schriften zu leſen, oder Vor-
traͤge, die nach ſeiner Lehre gebildet waren, zu hoͤ-
ren. Nicht anders, als mit gewaltſamen Mitteln
konnten Leute davon zuruͤckgehalten werden. Wo
Obrigkeiten ihre Unterthanen nur zulaßungsweiſe
gewaͤhren ließen, war bald deren einmuͤthige Stim-
me fuͤr Luthern vereiniget. Die meiſten Obrigkei-
ten durften aus Furcht vor Kaiſer und Pabſt oder
aus anderen Ruͤckſichten nur kaum ſich getrauen,
die Unterthanen gewaͤhren zu laßen. Einige ver-
ſagten es den Unterthanen durchaus, wenn ſie dar-
um anhielten, ihnen nicht nur Luthers Schriften
zu leſen, ſondern auch Prediger nach Luthers Lehre
zu geſtatten. Hin und wieder ließ man es ſelbſt
an gewaltſamen Zwangsmitteln dagegen nicht fehlen.


XIII.

Auf der andern Seite glaubten aber auch viele,
daß hier ein Fall eintraͤte, wo man ſeinem Gewiſ-
ſen zufolge und in der wichtigen Sache, die eines
jeden Menſchen Verhaͤltniß gegen Gott betreffe,
allenfalls Gott mehr als Menſchen zu gehorchen
habe. In manchen Staͤdten entwichen die Ein-
wohner an benachbarte Orte, um Gottes Wort,
wie ſie ſagten, lauter predigen zu hoͤren. Man-
che Obrigkeiten wurden genoͤthiget, ihren Unter-
thanen ſolche Prediger zu geſtatten. So weit war
es entfernt, daß die große Veraͤnderung in der
Kirche, die ſich jetzt immer mehr entwickelte, ihren
erſten Urſprung nur Teutſchen Fuͤrſten zu verdan-
ken
[363]2) D. Luther bis 1525.
ken gehabt haben ſollte, die nur darum das Kir-
chenweſen in ihren Laͤndern auf einen andern Fuß
geſetzt haͤtten, um die Vortheile von eingezogenen
Kloͤſtern und eine groͤßere Gewalt in Kirchenſachen
ſich zu eigen zu machen. (Nach dem wahren Ver-
laufe der Geſchichte war die Kirchenreformation,
wie ſie nach ſo vielen vergeblichen Concilien jetzt
wuͤrklich in Gang kam, nicht Befehlsweiſe von
Landesfuͤrſten und Obrigkeiten, ſondern auf Ver-
langen und eignen Betrieb der Unterthanen, alſo
nicht von oben herunter, ſondern von unten hin-
auf, in Gang gebracht. Ganz irrig iſt alſo die
Vorſtellung, wie ſie von vielen gemacht wird, als
ob der Churfuͤrſt von Sachſen, der Landgraf von
Heſſen, und andere, die ihren Beyſpielen gefolgt
waͤren, nur durch ihr Intereſſe geleitet, gut gefun-
den haͤtten, Luthers Lehre anzunehmen und in ihren
Laͤndern einzufuͤhren; daß alſo mit gleichem Rechte
auch nachher catholiſche Landesherren evangeliſcher
Laͤnder und Unterthanen dieſe wieder catholiſch zu
machen befugt geweſen waͤren und noch ſeyn muͤß-
ten. Nein, nicht Landesherren, nicht Obrigkeiten
waren es, welche zu den damaligen Veraͤnderun-
gen in der Kirche den Ton gaben, oder ſie Be-
fehlsweiſe vorſchrieben. Die Unterthanen waren
es, die jetzt nach veraͤnderten Einſichten und Ge-
ſinnungen von dem Joche, das ſie bisher gedruͤckt
hatte, in Freyheit zu kommen, und den Gottes-
dienſt ihrer nunmehrigen Ueberzeugung nach ein-
gerichtet zu haben wuͤnſchten. Wo nun Obrigkei-
ten und Landesherren dieſen Wuͤnſchen Gehoͤr ga-
ben, da kam die Sache zu Stande. Nur da fand
ſie Hinderniß, wo die Obrigkeit den Unterthanen
nicht nachgeben wollte.)


Frey-
[364]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
XIV.

Freylich blieb es jetzt nicht bloß beym Predi-
gen und Schreiben uͤber theoretiſche oder etwa bloß
problematiſche Religionsfragen. Sondern nun-
mehr zeigte ſich ſelbſt in den weſentlichſten Lehren
der Religion, und zugleich in der ganzen Kirchen-
verfaſſung, zwiſchen dem, was bisher obgewaltet
hatte, und dem, was nun aufkam, ein ſolcher
Unterſchied, daß es nicht mehr moͤglich war, daß
beide Theile einerley kirchliche Gemeinſchaft ferner
mit einander beybehalten konnten.


XV.

Luther behauptete, meiſt mit eignen Worten
der Bibel, inſonderheit mit dem Apoſtel Paulus,
daß nicht unſere eigne Gerechtigkeit, ſondern das
vollguͤltige Verdienſt Chriſti uns vor Gott gerecht
und ſelig mache; daß alſo nicht in unſeren Wer-
ken, ſondern in dem Glauben an das Verdienſt
Chriſti
der wahre Grund unſers Heils zu ſuchen
ſey. Damit hatte es nicht die Meynung, daß es
gnug ſey, bloß hiſtoriſch zu glauben, oder zu glau-
ben, wie die Teufel glauben und zittern, und den
Glauben nur im Munde zu fuͤhren, ohne ihn in
Werken zu zeigen; ſondern es verſtand ſich, einen
lebendigen in der Liebe und rechtſchaffener Uebung
der Tugend thaͤtigen Glauben zu haben. Allein
darin gieng doch dieſe Lehre von der bisherigen
gemeinen Lehre der catholiſchen Kirche weſentlich
ab, daß ein Menſch ſich nicht auf ſeine Werke
berufen koͤnne, um damit als gerecht vor Gott zu
beſtehen, und eine ewige Seligkeit als eignes Ver-
dienſt von Gott begehren zu koͤnnen. Viel weni-
ger hielt man ſich jetzt uͤberzeugt, daß nach dem
Tode zwiſchen Seligkeit und Verdammniß noch ein
ſolcher Mittelzuſtand, wie man ihn unter dem Na-
men
[365]2) D. Luther bis 1525.
men des Fegefeuers vorſtellte, ſich aus der Bibel
beweiſen ließe, oder daß fuͤr abgeſchiedene Seelen
noch von Ueberlebenden Gebete oder Opfer etwas
helfen koͤnnten. Man glaubte auch nicht, daß es
von Nutzen und mit der allein Gott ſchuldigen An-
betung zu vereinbaren ſey, Engel oder Heilige im
Himmel um Huͤlfe und Beyſtand oder Fuͤrſprache
anzurufen.


Das alleine waren ſchon ſo weſentliche StuͤckeXVI.
der Religion, die ſelbſt auf das Thun und Laßen
eines jeden Menſchen ſolchen Einfluß hatten, daß
diejenigen, die hieruͤber verſchieden dachten, un-
moͤglich einerley Glaubensbekenntniß annehmen
konnten. Viele andere Dinge ſtanden damit noch
in Verbindung, die jedem nachdenkenden Chriſten
deſto bedenklicher vorkommen mußten, je weniger
es zu verkennen war, daß alle die Folgen von Al-
moſen, milden Stiftungen, Wallfahrten, Kirchen-
bußen, Ablaßbriefen, Seelmeſſen u. ſ. w., die aus
jenen Lehrſaͤtzen gezogen wurden, am meiſten in
ſeiner Bloͤße darſtellten, was bisher dem ſo weit ge-
triebenen Uebergewichte des geiſtlichen Standes und
ſowohl deſſen Eigennutze, als der ganzen paͤbſtlichen
Hierarchie zur groͤßten Unterſtuͤtzung gedienet hatte.


Hierzu kam nun noch im aͤußerlichen Gottes-XVII.
dienſte der bisherige Gebrauch der Meſſe, die
man jetzt mit ganz anderen Augen anzuſehen an-
fieng. Man erkannte zwar aus den Schriften des
neuen Teſtaments, daß Chriſtus zum Andenken ſei-
nes Todes ein Gedaͤchtnißmahl von Brod und
Wein eingeſetzt habe. Aber da Chriſtus durch
ſeinen uͤbernommenen Kreuzestod ein vor allemal
ſein
[366]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
ſein Leben zum Opfer fuͤr die Menſchen dahin ge-
geben, und damit allen bisher nur zum Vorbilde
hierauf gerichteten Opfern des alten Teſtaments ein
Ende gemacht hatte; ſo hielt man es fuͤr einen der
eingeriſſenen Mißbraͤuche, daß man das Abendmahl
als ein jedesmaliges Opfer vorgeſtellt, auch eben
deswegen die Lehre von jedesmaliger wuͤrklicher
Verwandelung der Hoſtie in den wahren Leib
Chriſti oder die ſo genannte Transſubſtantiation
aufgebracht, und endlich den Laien auch den Kelch
oder den Genuß des Weins beym Abendmahle ent-
zogen hatte. Wo hierin einer Gemeinde, die ſo
dachte, ihre Geiſtlichkeit oder Obrigkeit nicht nach-
geben wollte, um an ſtatt der Meſſe eine andere
Einrichtung jenes Gedaͤchtnißmahls mit Herſtellung
des Kelchs, und mit dem Gebrauche der Teutſchen,
an ſtatt der bisherigen Lateiniſchen Sprache, ein-
zufuͤhren; da war vollends nicht moͤglich, die bis-
herige kirchliche Gemeinſchaft beyzubehalten.


XVIII.

Endlich hatte man zwar nichts dawider, daß
einer jeden Gemeinde, oder auch mehreren Gemein-
den eines Landes ein Biſchof oder Erzbiſchof zur
Aufſicht uͤber die Kirchenzucht vorgeſetzt werden
koͤnnte. Allein man fand nicht zutraͤglich, daß
das Herren ſeyn muͤßten, die eigne ganze Laͤnder
beſaͤßen, und daß ihnen eine Gewalt uͤber die Ge-
wiſſen, oder ein Recht vorzuſchreiben und zu be-
fehlen, was geglaubt oder nicht geglaubt werden
ſollte, zuzugeſtehen ſey; viel weniger daß alle Bi-
ſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe wieder unter der hoͤchſten
Gewalt des Roͤmiſchen Biſchofs ſtehen, und hin-
gegen nebſt allen Perſonen geiſtlichen Standes von
aller weltlichen Obrigkeit befreyet, und ſelbſt ſolche
Rech-
[367]2) D. Luther bis 1525.
Rechte, die nur Obrigkeiten zukaͤmen, ſich anzu-
maßen berechtiget ſeyn ſollten. Auch erkannte
man nunmehr, wie das Moͤnchsweſen und der
Coelibat des ganzen geiſtlichen Standes nur dahin
abzweckte, die ganze Kette der Hierarchie deſto fe-
ſter in einander zu ſchließen, und Unwiſſenheit und
Aberglauben deſto ſicherer zu erhalten.


Alſo waren es nicht etwa nur ein oder andereXIX.
Puncte, und nicht etwa nur zufaͤllige oder gleich-
guͤltige Nebendinge, ſondern eine ganze Menge wich-
tige in das ganze Lehrgebaͤude der Religion und
in die ganze Einrichtung ſowohl des oͤffentlichen
gemeinſchaftlichen Gottesdienſtes als der ganzen
kirchlichen Verfaſſung weſentlichen Einfluß habende
Dinge, worin man jetzt anders dachte, als bis-
her der gemeine Haufe gedacht hatte, und Pabſt
und Clerus gedacht haben wollte. In ſo weit galt
es freylich um eine Aenderung in der Religion und
Kirchenverfaſſung, die man die alte nennen konnte,
ſo fern man es bey dem, was bisher im Gange
war, ließ; oder neu, ſofern man darin eine Aen-
derung zu treffen noͤthig fand; obgleich in der
That die Frage nur davon war, ob man die Chriſt-
liche Religion in ihre urſpruͤngliche Lauterkeit, wie
ſie zu Zeiten Chriſti und ſeiner Apoſtel geweſen,
herſtellen, oder ob man es bey den Zuſaͤtzen, die
ſie erſt in neueren Zeiten meiſt aus ſehr truͤben
Quellen erhalten hatte, laßen ſollte. In dieſem
Betrachte enthielt die catholiſche Religion unſtrei-
tig ungemein viel neues, das ſie von der alten
aͤcht evangeliſchen Religion, deren Herſtellung jetzt
ins Werk kam, allerdings ſehr unterſchieden machte.


Alle
[368]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
XX.

Alle dieſe Dinge kamen nun freylich nicht auf
einmal in ihr voͤlliges Licht. Es gehoͤrten fortge-
ſetzte und von mehreren vereinigte Nachforſchun-
gen dazu, um eine Wahrheit nach der andern an
den Tag zu bringen. Wie viele Vorurtheile, de-
nen Erziehung, Anſehen, Zeitalter und andere
Verhaͤltniſſe ſo tiefe Wurzeln gegeben hatten, muß-
ten dabey uͤberwunden werden? Was fuͤr Schwie-
rigkeiten legten ſich noch in den Weg, wo bald
paͤbſtliche und biſchoͤfliche Gewalt, bald fuͤrchter-
liche Vereinigung ganzer Orden, bald Widerſetzung
weltlicher Obrigkeit, bald Colliſion in Familien,
Freundſchaften, Verſorgungsausſichten u. ſ. w. in
die Quer kamen? Alſo war es allerdings zu be-
wundern, wie in ſo wenigen Jahren vor und nach
dem Jahre 1521. eine ſo allgemeine Verbreitung
der evangeliſchen Religionsſaͤtze hatte geſchehen koͤn-
nen. Beynahe ließ ſich die unwiderſtehliche Macht
der Wahrheit ſelbſt in dieſem ihren bewunderns-
wuͤrdigen Fortſchritte nicht verkennen.


XXI.

Doch nun kam die Sache auch bald in eine
ſolche Lage, daß es nicht gnug war, daß derglei-
chen in Schriften und Schul- oder Kirchenlehren
vorgetragene Wahrheiten bekannt, und mit Bey-
fall aufgenommen wurden. Sondern nun kam es
auch darauf an, ſie in der Ausuͤbung geltend zu
machen, und die dazu noͤthigen Aenderungen im
Gottesdienſte
und in der ganzen kirchlichen Ver-
faſſung zu bewirken. Auch hierin kam man nun
erſt nach und nach zu einem gewiſſen Ziele. Und
wie in dieſer Welt in menſchlichen Dingen nichts
ganz vollkommenes zu erwarten iſt, ſo gieng es auch
hier nicht ohne daß menſchliche Unvollkommenhei-
ten
[369]2) D. Luther bis 1525.
ten dazwiſchen kamen; jedoch ſo, daß Spuhren
gnug uͤbrig blieben, auch hierin die Wege der goͤtt-
lichen Vorſehung bewundern zu muͤßen, wie ſie oft
Maͤngel und Unvollkommenheiten doch in der Folge
und im Zuſammenhange des Ganzen zum Beſten
zu lenken weiß.


Vom Abendmahle hatte Luther ſchon zu EndeXXII.
des Jahrs 1519. in einer Predigt mit vieler Be-
ſcheidenheit den Wunſch geaͤußert, daß es unter
beiderley Geſtalt ausgetheilt werden moͤchte. In
ſeiner Abweſenheit thaten im Jahre 1521. die Au-
guſtiner zu Wittenberg zuerſt den Schritt, daß ſie
das Abendmahl mit Brod und Wein hielten, und
ſtatt der bey der Meſſe bisher gewoͤhnlichen Latei-
niſchen Formeln ſich der Teutſchen Sprache bedienten.


Ein anderer Schritt geſchah zuerſt in eben demXXIII.
Jahre, da der Probſt Bartholomaͤus Bernhardi
zu Kemberg ohnweit Wittenberg ſich in die Ehe
begab, welches Luther billigte. Ob auch Moͤnche
und andere, die freywillig einem eheloſen Stande
ſich gewidmet, ihres Geluͤbdes ungeachtet heirathen
duͤrften, war Luther vorerſt noch zweifelhaft, bis
er in der Folge auch dem Unwerthe ſolcher Ge-
luͤbde erſt naͤher auf den Grund ſah. Ueberhaupt
war Luther, ſo wenig es ihm auch an Muth und
Unternehmungsgeiſt fehlte, doch ſehr behutſam in
ſolchen Fortſchritten, die den Schein einer gewalt-
ſamen Aenderung haben moͤchten, oder vor der
Ueberzeugung ſchon vorangehen ſollten. Er glaubte
immer, wenn erſt das Volk mehr von der Wahr-
heit belehret waͤre, wuͤrde ſich manche Veraͤnde-
rung von ſelbſten geben, oder doch in guter Ord-
A anung
[370]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
nung mit allerſeitiger Genehmigung bewirken laßen.
Das war auch der Geſinnung des Churfuͤrſten
Friedrichs des Weiſen ſehr gemaͤß, der ſich meiſt
nur leidend und zulaßungsweiſe bey der Sache
verhielt; zu Schritten, die Aufſehen machen konn-
ten, war er weniger zu bewegen.


XXIV.

Nicht ſo dachten einige andere, die an dem Auf-
ſehen, das jetzt ſchon Luthers Sache machte, und an
dem Ruhme, den er ſich ſchon ſo allgemein erwor-
ben hatte, auch ihres Orts Theil zu nehmen, und
ſich auf eben die Art, wie Luther, wo nicht noch
uͤber ihn und mit ſeiner Verdunkelung, einen Na-
men zu machen hofften. So machte Luthers zu
Wittenberg zuruͤckgebliebener College, Doctor An-
dreas Carlſtadt, waͤhrend der Zeit, als Luther auf
der Wartburg war, ſchon Buͤrger und Studenten
rege, daß ſie unter ſeiner Anfuͤhrung Bilder aus
den Kirchen ſtuͤrmten, und mit Ungeſtuͤm den gan-
zen Gottesdienſt aͤndern wollten. Bald thaten
auch anderwaͤrts wahre Schwaͤrmer ſich hervor,
als ein Tuchmacher Nicolaus Storch zu Zwickau,
und ein Prediger Thomas Muͤnzer, die goͤtt-
liche Eingebungen vorgaben, und unter dem Vor-
wande, daß nicht Kinder, ſondern nur Erwachſene
und zuvor Belehrte getauft werden muͤßten, mit
Behauptung der Nothwendigkeit einer anderweiten
Taufe ſich einen Anhang unter dem Volke zu ver-
ſchaffen ſuchten.


XXV.

Eben daruͤber geſchah es, daß Luther, beſorgt
wegen der davon zu erwartenden Folgen, ſchon am
6. Maͤrz 1522. auf einmal unvermuthet wieder
zu Wittenberg
erſchien, wo er vorerſt mit acht
Tage
[371]2) D. Luther bis 1525.
Tage angehaltenen Predigten das Volk beruhigte,
und nun nach ſeinen Grundſaͤtzen zu handeln fort-
fuhr. Inſonderheit ſchrieb er im Jahre 1523. von
Ordnung des Gottesdienſtes in der Gemeinde, wie
zu predigen und zu ſingen ſey. Worauf an meh-
reren Orten mittelſt guͤtlicher Uebereinkunft zwiſchen
Obrigkeit und Unterthanen ſchon manche Veraͤn-
derungen im oͤffentlichen Gottesdienſte in guter
Ordnung vorgenommen wurden.


Auf der andern Seite ward zwar nun deſtoXXVI.
eifriger auf Vollziehung des gegen Luthern zu Worms
ergangenen Edicts gedrungen. Aber man nahm
jetzt auch bald ſchon die Unmoͤglichkeit wahr, ein
Edict geltend zu machen, das ganze Laͤnder, viel-
leicht den groͤßten Theil von Teutſchland gegen ſich
hatte, zumal da der Pabſt Hadrian derVI. ſelbſt
durch ſeinen Botſchafter bey der Teutſchen Reichs-
verſammlung ein offenherziges Geſtaͤndniß ablegen
ließ, daß allerdings die Kirche in Haupt und Glie-
dern vom hoͤchſten bis zum geringſten einer großen
Reformation beduͤrfte. — Ein Umſtand, der da-
mals die ſelbſt Luthern nicht gewogenen Reichs-
ſtaͤnde bewog, davon Anlaß zu nehmen, dem Pab-
ſte von neuem hundert Beſchwerden der Teutſchen
Nation vorzulegen. Nun machte es zwar dieſer
Pabſt, der in ſeiner Art der letzte war, ſeitdem
nicht lange mehr, und jene Beſchwerden ließ man
nachher zu Rom gern an ihren Ort geſtellt ſeyn.
Man konnte aber doch unter dieſen Umſtaͤnden we-
der auf dem Reichstage, der noch bey Lebzeiten
Hadrians 1522. zu Nuͤrnberg gehalten wurde, noch
auf dem folgenden 1524. weiter kommen, als daß
dem Wormſer Edicte ſoviel moͤglich nachge-
A a 2lebt
[372]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
lebt werden ſollte. Dieſe Moͤglichkeit wurde aber
auch nach der Zeit noch immer eher vermindert
als vermehret.


III.
Religionsbegebenheiten des Jahrs 1525.


I. II. Schritte zu einer neuen Kirchenverfaſſung, da
Landesherren und Unterthanen einerley Sinnes waren, dem
Pabſte und den Biſchoͤfen, die demſelben zugethan blieben,
den Gehorſam aufzukuͤndigen; — III. IV. inſonderheit in
Heſſen und Sachſen; — V. auch in anderen Laͤndern und
auswaͤrtigen Reichen, — VI. ingleichen in vielen Reichsſtaͤd-
ten, wie auch in den Niederlanden und in der Schweiz. —
VII. In Staͤdten ward die Kirchenreinigung nicht ſowohl von
den Obrigkeiten, als zuerſt von der Buͤrgerſchaft begehrt. —
An einigen Orten blieb die Buͤrgerſchaft getheilt. — VIII.
Auch in ganzen Laͤndern entſtand oft ein vermiſchter Reli-
gionszuſtand. — IX-XI. In der neuen Kirchenverfaſſung
ward außer der Bibel keine allgemeine Vorſchrift zum Grunde
gelegt. — Ein Staat benutzte wohl des andern Beyſpiel;
aber das Hauptwerk wurde nach eines jeden Staats beſon-
deren Umſtaͤnden eingerichtet. — XII. Mit Moͤnchs- und
Nonnenkloͤſtern wurden uͤberall Aenderungen vorgenommen. —
XIII. Man erkannte durchgaͤngig den Unwerth der Kloſter-
geluͤbde. — XIV. Kloͤſter und Stifter wurden alſo vielfaͤl-
tig in Hoſpitaͤler oder andere milde Stiftungen verwandelt,
oder ihre Einkuͤnfte zu Pfarren, Schulen und Univerſitaͤten
verwandt. — XV. XVI. Im Hochmeiſterthume des Teut-
ſchen Ordens in Preuſſen wurde auf den Unwerth der Ordens-
geluͤbde die erſte Seculariſation eines ganzen Landes gegruͤn-
det. — XVII. Daruͤber entſtand zu Deſſau der erſte Of-
fenſivbund gegen die Proteſtanten; — XVIII. und zu Tor-
gau hinwiederum ihr erſtes Defenſivbuͤndniß.


I.

Ein Gluͤck fuͤr die Reformation war es, daß
Friedrichs des Weiſen Nachfolger in der Chur
Sachſen, Johann der Standhafte, mit mehre-
rer Entſchloſſenheit zu Werke gieng, und nunmehr
auch
[373]3) Religionsbegebenheiten 1525.
auch der Landgraf Philipp von Heſſen ſich oͤffent-
lich fuͤr die Reformation erklaͤrte. In beiden Laͤn-
dern war es von Seiten der Unterthanen, wenig-
ſtens vom ungleich groͤßten Theile derſelben, ſchon
der allgemeine Wunſch, daß eine andere Kirchen-
verfaſſung gemacht werden moͤchte. Von den bis-
herigen geiſtlichen Oberen, Pabſte, Biſchoͤfen und
Erzbiſchoͤfen war dergleichen nicht zu erwarten.
Ohne Zuthun der Landesobrigkeit konnte in guter
Ordnung und mit zu hoffendem Beſtande nichts
fuͤglich unternommen werden. Jetzt aber, da Lan-
desherrſchaft und Landſtaͤnde und Unterthanen un-
ter einander gleiche Geſinnungen wahrnahmen, was
konnte ſie da laͤnger zuruͤckhalten, ſowohl dem
Pabſte als den demſelben zugethan bleibenden Bi-
ſchoͤfen und Erzbiſchoͤfen den Gehorſam, mit dem
ſich ihr Gewiſſen nicht mehr vereinigen ließ, auf-
zukuͤndigen, und unter ſich einer neuen Kirchen-
verfaſſung ſich zu vereinbaren?


Ganz natuͤrlich war es, daß in einem jedenII.
Lande, wo Herren und Unterthanen ſich zu glei-
chen Religionsgeſinnungen bekannten, alles unter
Anfuͤhrung und Aufſicht des Landesherrn geſchah.
In vielen Dingen, wo man bisher gewohnt ge-
weſen war, nur paͤbſtliche und biſchoͤfliche Befehle
zu befolgen, hatte es keine Schwierigkeit, jetzt vom
Landesherrn Vorſchriften anzunehmen. In ſo weit
konnte ein evangeliſcher Landesherr mit guter Ein-
willigung ſeiner Landſtaͤnde und Unterthanen jetzt
zum Beſitze bisheriger biſchoͤflicher und paͤbſtlicher
Rechte gelangen, ſo weit ſolche ohne Gewiſſens-
zwang ſtatt finden konnten, oder gar nur unrecht-
maͤßig bisher der weltlichen hoͤchſten Gewalt ent-
A a 3zogen
[374]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
zogen waren. Die evangeliſchen Fuͤrſten waren
aber auch weit entfernt, ſich eine eigenwillige un-
beſchraͤnkte Gewalt in dieſen Sachen uͤber ihre Un-
terthanen anzumaßen. Sie thaten nichts als mit
Zuziehung gelehrter angeſehener Theologen und mit
ausdruͤcklicher oder ſtillſchweigender Einwilligung
ihrer Landſchaften und Unterthanen.


III.

So ließ der Landgraf von Heſſen in ſeinem
Lande eine Synode halten, wo berathſchlaget wurde,
wie jetzt die Kirchenverfaſſung in Heſſen der Bibel
gemaͤß am beſten einzurichten ſeyn moͤchte. Der Land-
graf ſelbſt war dabey zwar anweſend, ſchrieb aber
nichts vor, ſondern genehmigte nur die Schluͤſſe der
Synode. Dieſe gab ſelbſt ihre Schluͤſſe nicht
fuͤr Befehle, ſondern fuͤr ſolche Rathſchlaͤge aus,
wie ſie jetzt glaubte, daß ſie dem Worte Gottes am
gemaͤßeſten waͤren, ohne daß man ſie fuͤr unver-
aͤnderlich zu halten begehrte.


IV.

In Sachſen gab der Churfuͤrſt Johann bald
nach Antritt ſeiner Regierung uͤber einige ſchon vor-
genommene Veraͤnderungen ſeinen Beyfall zu erken-
nen, und ließ jetzt ferner geſchehen, daß evangeli-
ſche Prediger unter ſeinem landesfuͤrſtlichen Anſe-
hen ordinirt wurden, und mit Abſchaffung der
Meſſe das Abendmahl in Teutſcher Sprache hielten.
Er ließ eine Kirchenordnung abfaſſen, und eine
Kirchenviſitation durch mehrere geiſtliche und welt-
liche Raͤthe im ganzen Lande veranſtalten, die be-
ſonders dafuͤr ſorgen mußte, daß an allen Orten
ſoviel moͤglich tuͤchtige Pfarrer und Schullehrer
angeſtellt wurden, und der Gottesdienſt in gehoͤ-
rige Ordnung kam. Zuletzt wurde ein eignes Con-
ſiſto-
[375]3) Religionsbegebenheiten 1525.
ſiſtorium von geiſtlichen und weltlichen Raͤthen an-
geſtellt, an welches nachher alles gelangte, was in
Kirchenſachen vorgieng, und unter den Catholiſchen
bisher von biſchoͤflicher oder paͤbſtlicher Gewalt we-
gen geſchehen war.


Eben ſo wurde es nach und nach in mehrerenV.
Teutſchen Laͤndern gehalten. Bald gaben auch
Daͤnemark und Schweden das erſte Beyſpiel,
wie ganze Koͤnigreiche auf ſolche Art von dem bis-
herigen paͤbſtlichen Joche befreyet, und auf einen
dem Worte Gottes gemaͤßeren Fuß in der Religions-
und Kirchenverfaſſung geſetzt werden konnten.


Noch mit einiger Verſchiedenheit giengen der-VI.
gleichen Veraͤnderungen an ſolchen Orten vor, wo
nicht ſowohl eine monarchiſche oder landesherrliche,
als republicaniſche Regierungsform obwaltete, als
inſonderheit in den Teutſchen Reichsſtaͤdten oder
auch in ſolchen Staͤdten, die zwar einen Landes-
herrn uͤber ſich erkannten, aber doch beynahe mit
voͤlliger Freyheit ihre eigene Regierung zu beſorgen
hatten. Selbſt die Niederlaͤndiſchen Provinzen
und Staͤdte, und die ganze Schweiz konnte man
damals noch hieher rechnen, da ihre Verbindung
mit dem Teutſchen Reiche wenigſtens noch durch
keinen Reichsſchluß gehoben war.


An allen ſolchen Orten kam es hauptſaͤchlichVII.
darauf an, in welchem Verhaͤltniſſe die Obrigkeit
und Buͤrgerſchaft gegen einander ſtand, und ob
letztere auch unter ſich von einerley Geſinnung war.
Wenn die Obrigkeit fuͤr ſich alleine der evangeli-
ſchen Religion zugethan geweſen waͤre, und die
A a 4Buͤr-
[376]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
Buͤrgerſchaft Befehlsweiſe zu eben der Religion
haͤtte zwingen wollen; wuͤrde es gewiß vergeblich
geweſen ſeyn. Das war aber auch nirgend der
Fall. Umgekehrt war an vielen Orten, wo die
Buͤrgerſchaft eine Reformation der Kirche wuͤnſchte,
die Obrigkeit derſelben entgegen. Alsdann kam es
darauf an, ob die Buͤrgerſchaft Mittel fand, die
Obrigkeit auf andere Geſinnungen zu bringen; ſonſt
blieb es dann beym catholiſchen Gottesdienſte, zu-
mal wenn etwa ein Biſchof oder ein Capitel oder
Kloſter die Obrigkeit unterſtuͤtzte. Oder wo end-
lich vielleicht ſelbſt die Obrigkeit einer Stadt, oder
auch die Buͤrgerſchaft unter ſich nicht einig, ſon-
dern ein Theil der Obrigkeit und Buͤrgerſchaft fuͤr,
ein anderer wider die Reformation war, da kam
an manchen Orten ein vermiſchter Zuſtand heraus;
es ſey nun, daß ein Religionstheil dem andern,
wo nicht voͤllig, doch ungefaͤhr das Gleichgewicht
hielt, oder daß ein Theil zwar der uͤberwiegende
oder herrſchende blieb, aber dem andern doch die
Duldung mit mehr oder weniger Einſchraͤnkungen
zu geſtatten ſich genoͤthiget ſah.


VIII.

So war zum Theil der Fall auch in ganzen
Laͤndern, die ſonſt in Verbindung mit einander ſtan-
den, wie in der Schweiz und in den Niederlanden,
da einige Cantons oder Provinzen ſich zur evan-
geliſchen Religion bekannten, andere bey der catho-
liſchen blieben. Auch in auswaͤrtigen Reichen war
der Fall haͤufig, daß ein großer Theil der Unter-
thanen, wie z. B in Frankreich mehrere Millionen,
die evangeliſche Religion annahmen, aber die ca-
tholiſche Religion doch bey dem regierenden Hauſe
und dem groͤßern Theile der Nation die Oberhand
behielt.
[377]3) Religionsbegebenheiten 1525.
behielt. Gluͤcklich war die evangeliſche Religion,
wo ganze Reiche, Laͤnder und Staͤdte ſich einmuͤ-
thig dazu bekannten, und dann mit beiderſeitiger
Einwilligung von Landesherrſchaften oder Obrig-
keiten und Unterthanen nach eines jeden Landes
oder Ortes Umſtaͤnden die noͤthigen neuen Einrich-
tungen getroffen werden konnten.


Auf dieſen Fuß kam nun auch die evangeli-IX.
ſche Kirchenverfaſſung an einem Orte und in
einem Lande nach dem andern zu Stande. Ueber-
all war man darin uͤbereinſtimmend, daß man ſich
nur an der Bibel und inſonderheit an den Schrif-
ten des neuen Teſtamentes hielt, und weder Tra-
dition noch menſchliche Befehle in Glaubensſachen
gelten ließ. Auch pflegte man wohl in einem Lan-
de das Beyſpiel eines andern, wo ſchon aͤhnliche
Einrichtungen getroffen waren, zu benutzen; in
der natuͤrlichen Hoffnung, unter aͤhnlichen Umſtaͤn-
den gleichen Erfolg davon erwarten zu duͤrfen.
Auf gleiche Art ſind in vielen anderen Faͤllen, z. B.
uͤber das Wechſelgeſchaͤfft, Aſſecuranzweſen u. d. g.
von mehreren ſonſt von einander unabhaͤngigen
Europaͤiſchen oder Teutſchen Staaten manche gleich-
foͤrmige Geſetzgebungen entſtanden, da immer einer
den Vorgang des andern ſich zu Nutze zu machen
geſucht hat, ohne jedoch ſich abhalten zu laßen,
da, wo es dienlich ſchien, nach den beſonderen
Umſtaͤnden eines jeden Reiches oder Landes einzel-
nen Abweichungen Platz zu geben. So wenig aber
deswegen in ganz Europa oder auch nur in ganz
Teutſchland ganz einerley Wechſelrecht oder Aſſecu-
ranzrecht ſtatt findet; ſo wenig entſtand in allen
evangeliſchen Staaten voͤllig einerley Kirchenverfaſ-
A a 5ſung.
[378]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
ſung. In Daͤnemark wurde manches anders als
in Schweden eingerichtet, in England wieder an-
ders. Noch verſchiedener war ferner die Einrich-
tung in der Schweiz und in den Niederlanden.
Und ſo gieng auch in Teutſchland jedes Fuͤrſten-
thum, jede Grafſchaft, jede Reichsſtadt ihren eige-
nen Weg.


X.

Gewiſſe Artikel wurden zwar zu Schmal-
kalden
unter den Teutſchen evangeliſchen Staͤnden
vereinbaret. Aber man war weit entfernt, jedem
beſonderen Staate in den genaͤueren Einrichtun-
gen, die eines jeden eigne Umſtaͤnde erfordern moͤch-
ten, vorzugreifen. Hierin behielt alſo jedes Land
und jede Reichsſtadt die voͤllige Freyheit, ihre
beſondere Beſtimmungen zu machen. Und wozu
waͤre es noͤthig geweſen, durchaus eine ganz gleich-
foͤrmige Kirchenverfaſſung zu treffen, da Chriſtus
und die Apoſtel ſelbſt keine beſtimmte Vorſchriften
daruͤber gegeben hatten, ſondern jede Gemeinde,
oder jede vereinigte Gemeinden eines Landes ihrer
natuͤrlichen Freyheit uͤberließen? Hatte doch die
Erfahrung von mehreren Jahrhunderten her geleh-
ret, wie mißlich es ſey, die Einheit der Kirche da-
hin auszudehnen, daß auch die aͤußere Einrichtung
derſelben nach einerley willkuͤhrlich beſtimmten Vor-
ſchriften irgend einer menſchlichen Gewalt ſich rich-
ten muͤßte; es moͤchte nun dieſe Gewalt in den
Haͤnden eines einzigen Oberhaupts ſeyn, oder von
einer verſammelten Anzahl Mehrerer ausgeuͤbet wer-
den! Gnug, wenn nur Obrigkeit und Untertha-
nen in jedem Staate uͤber das, was zur Gleichfoͤr-
migkeit des oͤffentlichen Gottesdienſtes noͤthig war,
ſich vereinigten, und uͤbrigens nur die Bibel zur
Richt-
[379]3) Religionsbegebenheiten 1525.
Richtſchnur ihres Glaubens annahmen, als worin
nur das wahre Kennzeichen der Einheit der Reli-
gion zu ſuchen war.


Fuͤr mehrere Gemeinden eines Landes oder einerXI.
Stadt war es freylich angenehm und von man-
chem Nutzen, wenn auch im oͤffentlichen Gottes-
dienſte eine gewiſſe Gleichfoͤrmigkeit eingefuͤhrt wer-
den konnte, z. B. einerley Geſangbuch, einerley
liturgiſche Formeln, u. ſ. w. Sobald es aber dar-
um galt, mehrere Laͤnder oder gar alle evangeliſche
Staaten darunter einerley Vorſchriften zu unter-
werfen; ſo ließ ſich mit gutem Grunde annehmen,
daß der Vortheil einer ſolchen allgemeinen Gleich-
foͤrmigkeit leicht Gefahr laufen moͤchte von den
Nachtheilen uͤberwogen zu werden, welche von einer
jeden Art allgemeine Vorſchriften abzufaſſen, man
mochte ſie auch einrichten, wie man wollte, uͤber
kurz oder lang zu beſorgen waren.


Eben deswegen paßte in das Syſtem der evan-XII.
geliſchen Kirchenverfaſſung weder Pabſt noch
Moͤnchsorden, weil beide das mit ſich brachten,
daß in Dingen, welche die Religion betrafen, und
ſelbſt in vielen anderen mehr oder weniger davon
abhangenden Verhaͤltniſſen, kein Staat dafuͤr ſicher
war, daß ſich nicht eine auswaͤrtige hoͤhere Ge-
walt darein mengte. Moͤnchs- und Nonnen-
Orden
konnten daher in evangeliſchen Laͤndern
und Reichsſtaͤdten nicht beybehalten werden. So-
fern ſie ſich in Stiftungen fuͤr gebrechliche und
unverſorgte Perſonen verwandeln ließen, ohne wei-
ter von irgend einer auswaͤrtigen Gewalt abzuhan-
gen; ſo war weniger dabey zu erinnern. Aber
dazu
[380]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
dazu bedurfte es an den meiſten Orten nicht ſo-
viele und ſo reiche Kloͤſter, als wuͤrklich vorhanden
waren. Das uͤbrige konnte ſelbſt der wahren Ab-
ſicht der Urheber ſolcher Stiftungen gemaͤßer ange-
wandt werden, wenn man ſich angelegen ſeyn ließ,
Kirchen und Schulen in Staͤdten und Doͤrfern deſto
beſſer zu beſetzen. Von dem bisherigen Kloſter-
leben ſah man ohnedem je laͤnger je mehr ein, daß
man demſelben in Anſehung der damit angeblich
verbundenen Heiligkeit des Lebens und Verdienſt-
lichkeit in Abſicht auf die ewige Seligkeit einen
ganz ungegruͤndeten Werth beygelegt hatte.


XIII.

Was die Kloſtergeluͤbde, inſonderheit in An-
ſehung des eheloſen Standes, und deren Unauf-
loͤslichkeit auf Zeitlebens anbetraf, da beſann man
ſich endlich ebenfalls, daß ſolche Geluͤbde unmoͤg-
lich Gott gefaͤllig und alſo rechtsbeſtaͤndig ſeyn
koͤnnten, nicht nur weil ſie großentheils mehr aus
Zwang und Beſtimmung der Eltern oder Ver-
wandten, als aus eigner Wahl und Ueberlegung
geſchahen, ſondern auch darum, weil ein jedes
ſolches Geluͤbde in der That ein Vorgriff in die
Wege der Vorſehung war, von deren Leitung bil-
lig jeder Menſch erſt in der Folge ſeines Lebens
Veranlaßung gnug erwarten kann, ob er heirathen
oder ob er im eheloſen Stande bleiben ſoll; ohne
zu gedenken, was bey Perſonen, die nur durch
ſolche Geluͤbde von Heirathen zuruͤckgehalten wer-
den, fuͤr Unmuth, Verzweiflung, und wer weiß
was fuͤr entgegengeſetzte Abwege daraus erwachſen
koͤnnen, und was auf der andern Seite durch ſo-
viele der Bevoͤlkerung entzogene und aus aller ſo-
wohl dem Staate als der Kirche nuͤtzlichen Thaͤtig-
keit
[381]3) Religionsbegebenheiten 1525.
keit geſetzte Perſonen dem gemeinen Weſen fuͤr
jetzige und kuͤnftige Zeiten entgieng. Aus ſolchen
und anderen Gruͤnden fieng man nun nach und
nach an, den voͤlligen Ungrund der Kloſtergeluͤbde
zu behaupten. Hatte bisher der Pabſt ſich doch
vorbehalten, allenfalls Dispenſation daruͤber zu er-
theilen, ſo hielt ſich jetzt jede Obrigkeit berechtiget
zu erklaͤren, daß ein jeder es auf ſein Gewiſſen neh-
men koͤnne, ſich eines ſolchen Geluͤbdes zu entſagen.


Wer wollte es nun einem Landgrafen PhilippXIV.
verdenken, wenn er in ſeinem ganzen Lande alle
Kloͤſter oͤffnete; Moͤnchen und Nonnen, die her-
ausgehen wollten, ihre Freyheit gab; diejenigen,
die zu nuͤtzlichen Dienſten ſich gebrauchen laßen
wollten und konnten, ſoviel ſich thun ließ, ihren
Umſtaͤnden gemaͤß anſetzte; andern auf Zeitlebens
Gnadengehalte anwies; und nun fuͤr die Zukunft
ganz andere Einrichtungen machte? Denn nun
wurden vors erſte fuͤr ganz Heſſen vier Hoſpitaͤler
fuͤr gebrechliche und unverſorgte Perſonen (zu Hei-
na, Marxhauſen, Hofheim und Grunau) geſtiftet.
Sodann wurde zu Marburg eine neue Univerſitaͤt
errichtet. Und das uͤbrige wurde zu Beſoldungen
fuͤr Pfarrer und Schullehrer verwandt. Auf glei-
che Art gieng man in Sachſen und nach und nach
in mehr evangeliſchen Laͤndern, wie auch in vielen
Reichsſtaͤdten zu Werke. Alſo kein Gedanke, die
eingezogenen Kloſterguͤter in Cammerguͤter zu ver-
wandeln, oder zu Ausgaben der Hoͤfe, zum Krie-
ge, zur Jagd, zum Staate u. ſ. w. anzuwenden!
So wenig beſteht mit dem wahren Verlaufe der
Geſchichte der Vorwurf, den manche der ganzen
Reformation machen wollen, als ob große Herren
durch
[382]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
durch die Begierde nach den Reichthuͤmern der Kloͤ-
ſter, und Geiſtliche durch den Trieb zu Heirathen
zu allen dieſen Unternehmungen gereizt worden
waͤren!


XV.

Doch ein Vorfall, der durch die behauptete
Unverbindlichkeit der Geluͤbde noch veranlaßt ward,
und als der erſte in ſeiner Art noch bedenklichere
Folgen beſorgen ließ, machte deſto groͤßeres Auf-
ſehen; als nehmlich im Jahre 1525. der Marg-
graf Albrecht von Brandenburg, der als Hoch-
meiſter des Teutſchen Ordens in Preuſſen
mit
der Krone Polen in Krieg verwickelt war, ſich zur
evangeliſchen Religion bekannte, und mit dem Koͤ-
nige Sigismund, der ſeiner Mutter Bruder war,
auf dieſe Bedingungen Frieden ſchloß, daß er ſeine
Ordensgeluͤbde ſammt ſeiner bisherigen Verbindung
mit dem Teutſchen Orden aufrief, und das halbe
Preuſſen von nun an als ein weltliches Herzog-
thum fuͤr ſich und ſeine Nachkommen von der Kro-
ne Polen zu Lehn zu empfangen uͤbernahm, auch
bald darauf mit einer Daͤniſchen Prinzeſſinn ſich
vermaͤhlte.


XVI.

Dieſes erſte Beyſpiel einer wahren Seculari-
ſation
konnte allerdings die Beſorgniß erregen,
daß es mehrere Nachfolger finden moͤchte. Und
was ſollte dann daraus werden, wenn mit der
Zeit ein oder anderer Erzbiſchof von Mainz, Trier,
Coͤlln, Magdeburg, Salzburg, Bremen, oder ein
Biſchof nach dem andern andere Geſinnungen in
der Religion, und zugleich den Einfall bekaͤme, ſich
zu vermaͤhlen, und ſeinen Nachkommen zum Be-
ſten ſein Erzſtift oder Hochſtift gar in ein welt-
liches
[383]3) Religionsbegebenheiten 1525.
liches Fuͤrſtenthum zu verwandeln! Sehr begreif-
lich iſt es, daß nicht nur der Pabſt und die ganze
catholiſche Hierarchie ſchon bey dem Gedanken nur
einer ſolchen Moͤglichkeit erzittern mußte, ſondern
daß auch alle Domherren, die noch Hoffnung hat-
ten, kuͤnftig Biſchoͤfe oder Erzbiſchoͤfe zu werden,
dabey nicht gleichguͤltig ſeyn konnten, ſo wenig als
der Adel, dem allein dieſer Weg zum Fuͤrſtenſtande
noch offen war, und ſelbſt reichsſtaͤndiſche Haͤu-
ſer, die bisher an den geiſtlichen Ehrenſtellen und
Wahlfuͤrſtenthuͤmern ſo ergiebige Mittel zur Ver-
ſorgung ihrer nachgebohrnen Herren gehabt hatten.


Was Wunder alſo, wenn man nun anfieng,XVII.
Himmel und Erde zu bewegen, um ſo weit aus-
ſehenden Neuerungen Einhalt zu thun! So ent-
ſtand ſchon im Jahre 1525. zu Deſſau ein Bund
einiger mit der Reformation unzufriedener Fuͤrſten,
namentlich der beiden damaligen Churfuͤrſten von
Mainz und Brandenburg und des Herzogs Hen-
richs des juͤngern von Braunſchweig-Wolfenbuͤt-
tel. — Ein Bund, der hoͤchſtens nur in ſo weit
ſich rechtfertigen ließ, wenn die Abſicht deſſelben
ſich darauf einſchraͤnkte, daß kein Bundesgenoſſe
genoͤthiget werden ſollte, wider ſeinen Willen in
ſeinem eignen Lande Neuerungen aufkommen zu
laßen. Aber unmoͤglich ließ es ſich rechtfertigen,
wenn ſie ſich verbanden, auch andere Reichsſtaͤn-
de, die in ihren Laͤndern das Wort Gottes lauter
zu predigen geſtatteten, mit Krieg zu uͤberziehen.
Oder haͤtte etwa auch Frankreich und Spanien mit
Recht ein Buͤndniß machen koͤnnen, um Daͤne-
mark und Schweden bloß wegen der in dieſen Koͤ-
nigreichen vorgegangenen Veraͤnderungen in der
Kir-
[384]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
Kirchenverfaſſung mit Krieg zu uͤberziehen? Mehr
Recht hatten aber auch Teutſche Reichsfuͤrſten nicht,
einer um das, was in des andern Lande vorgieng,
ſich zu bekuͤmmern.


XVIII.

Es war alſo ein wahres Offenſivbuͤndniß, wo-
mit damals von Seiten des catholiſchen Religions-
theils in Teutſchland der Anfang gemacht wurde. Ein
Buͤndniß, das den damaligen evangeliſchen Reichs-
ſtaͤnden deſto mehr Beſorgniß erwecken mußte, je
mehr die catholiſchen Reichsſtaͤnde damals noch an
Zahl und Macht den evangeliſchen uͤberlegen waren,
und je ſicherer ſich vorausſehen ließ, daß jene uͤber-
das die ganze Macht des Kaiſers auf ihrer Seite
haben, und durch Betrieb des paͤbſtlichen Stuhls von
allen Seiten her benoͤthigten Falls noch mehr Unter-
ſtuͤtzung finden wuͤrden. Den evangeliſchen Reichs-
ſtaͤnden blieb nichts uͤbrig, als entweder ihre und
ihrer Unterthanen Gewiſſensfreyheit ungerechtge-
waltthaͤtigen Angriffen Preis zu geben, oder, in
Vertrauen auf Gott, ſo gut ſie konnten, ſich zur
Gegenwehr gefaßt zu machen. Auf dieſen Fuß
ſchloſſen alſo der Churfuͤrſt von Sachſen und der
Landgraf von Heſſen zu Torgau 1525. ihr erſtes
Defenſivbuͤndniß dahin: ”Weil ſie merkten, daß
ihre Feinde Buͤndniſſe machten, und groß Geld
darſtreckten, um die alten Mißbraͤuche in der Kir-
che zu erhalten, und die, ſo das Wort Gottes in
ihren Landen zu predigen geſtatteten, mit Krieg zu
uͤberziehen; So verbaͤnden ſie ſich, niemanden zum
Verdruß noch zuwider, nur ihre Unterthanen fuͤr
unbilligen Krieg zu ſchuͤtzen, und einander beyzu-
ſtehen, im Fall ſie der Religion und deren anhaͤn-
giger Sachen halber angegriffen werden ſollten.”
Zu
[385]4) Reichstage bis zur A. C. 1526-1530.
Zu dieſem Buͤndniſſe erfolgte hernach zu Magdeburg
noch der Beytritt von den Herzogen von Braun-
ſchweig-Luͤneburg und Mecklenburg, den Fuͤrſten
von Anhalt, den Grafen von Mansfeld und der
Stadt Magdeburg.


IV.
Reichstagsverhandlungen und andere Vorfaͤlle
bis zur Augsburgiſchen Confeſſion 1526-1530.


I. II. In Carls des V. anhaltender Abweſenheit ſtellte
ein Reichsſchluß 1526. die Religionsſachen auf eines jeden
Reichsſtandes Gewiſſen. — Damit ward der Fortgang der
Reformation noch weiter befoͤrdert. — III. Ein von Otto
Pack angezeigter neuer Offenſivbund veranlaßte den Landgrafen
von Heſſen ſchon ins Feld zu ruͤcken. — IV. Ein neuer Reichs-
ſchluß 1529. war der Reformation deſto mehr entgegen, —
V. und gab zuerſt Anlaß, die Mehrheit der Stimmen in
Religionsſachen zu beſtreiten, — VI. und wider den Reichs-
ſchluß zu proteſtiren, wovon der Name Proteſtanten aufge-
kommen. — VII. Doch ein anderweites kaiſerliches Reichs-
tagsausſchreiben macht wieder Hoffnung, — indem ſich die
Proteſtanten dadurch aufgefordert halten, ihr Glaubensbe-
kenntniß oͤffentlich vorzulegen, — VIII-XI. wie in der Augs-
burgiſchen Confeſſion geſchehen iſt — XII. unter andern mit
deutlicher Bemerkung, wie man uͤberall nicht mit Zwang,
ſondern nach Ueberzeugung zu Werk gehe. — XIII. Nur
in der Lehre vom Abendmahle aͤuſſert ſich ſchon ein Streit
zwiſchen Luther und Zwingli.


Waͤhrend alles deſſen, was ſeit dem ReichstageI.
zu Worms in Teutſchland vorgieng, war
der Kaiſer immer abweſend, und mit Frankreich
in Krieg verwickelt. Er brachte es zwar dahin,
daß der in ſeine Gefangenſchaft gerathene Koͤnig
Franz von Frankreich am 17. Febr. 1526. zu Ma-
drid einen von ihm vorgeſchriebenen harten Frieden
B bunter-
[386]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
unterzeichnen mußte; ward aber bald gewahr,
daß dieſer Friede nicht von Beſtand war, und er-
lebte uͤberdies, daß ſein Bruder Ferdinand bey eben
der Gelegenheit, als ihm mit dem Tode des bey
Mohacz 1526. gebliebenen Koͤnig Ludewigs von
Ungarn und Boͤhmen dieſe beiden Koͤnigreiche zu-
fielen, zugleich in einen weit ausſehenden Krieg
mit Johann von Zips und den Tuͤrken verwickelt
wurde.


II.

Unter dieſen Umſtaͤnden wurde vorerſt noch im
Jahre 1526. auf einem in Abweſenheit des Kaiſers
zu Speier gehaltenen Reichstage nur ſoviel beſchloſ-
ſen: daß ein jeder Reichsſtand des Wormſer Edicts
halber ſich ſo halten ſollte, wie er es gegen Gott
und den Kaiſer zu verantworten gedaͤchte. Damit
waren in der That die Religionsſachen, wie bil-
lig, eines jeden Reichsſtandes eignem Gewiſſen
heimgeſtellt. Alſo gewann die Reformation unter
dem Schutze dieſes Reichsſchluſſes nicht nur in
Laͤndern, wo ſie ſchon im Gange war, ſondern auch
in verſchiedenen, wo ſie erſt neu eingefuͤhret wur-
de, noch immer weiteren Fortgang; als, was letz-
tere anbetrifft, namentlich in den Fuͤrſtenthuͤmern
Brandenburg-Anſpach und Baireuth, in den Graf-
ſchaften Moͤmpelgard, Diepholz, Hanau, in den
Staͤdten Goslar, Hamburg, Goͤttingen, Braun-
ſchweig u. ſ. w.


III.

Aber einer der ſtaͤrkeſten Widerſacher der Re-
formation war der Herzog Georg von Sachſen,
der zu Dresden ſeine Reſidenz hatte, und des Land-
grafen Philipps Schwiegervater war. Derſelbe
hatte nebſt verſchiedenen anderen Fuͤrſten im May
1527.
[387]4) Reichstage bis zur A. C. 1526-1530.
1527. zu Breslau dem nunmehrigen Koͤnige Fer-
dinand von Ungarn und Boͤhmen zu dieſen neu
erhaltenen Kronen Gluͤck gewuͤnſcht. Bey dieſer
Gelegenheit ſoll damals von neuem ein Offenſiv-
buͤndniß gegen die evangeliſchen Reichsſtaͤnde und
gegen den weitern Fortgang der Reformation ge-
ſchloſſen ſeyn; wie wenigſtens nach dem Eifer,
den die Fuͤrſten, die zu Breslau zuſammen gewe-
ſen waren, fuͤr die catholiſche Religion bezeigten,
und nach den Grundſaͤtzen der Roͤmiſchen Kirche,
gegen Ketzer und Abtruͤnnige ſich zu allen Gewalt-
thaͤtigkeiten berechtiget, wo nicht gar verpflichtet
zu halten, gar nicht unwahrſcheinlich war. Von
dieſem Buͤndniſſe gab Otto von Pack, ein Rath
Herzog Georgs, zu Dresden dem Landgrafen Phi-
lipp zuerſt geheime Nachricht, und ſelbſt eine mit
des Herzog Georgs Ringpitſchaft verſehene Ab-
ſchrift. Der Landgraf hielt ſich fuͤr verlohren,
wenn er den ihm zugedachten Angriff abwartete.
Er entſchloß ſich alſo zu einem zuvorkommenden
Angriff, und ruͤckte gegen Franken zu ins Feld,
indem er zugleich die von Otto Pack ihm zugekom-
mene Nachricht als den Grund ſeines Unterneh-
mens bekannt machte. Nun wurde dieſe ganze
Nachricht von denen, die ſie betraf, fuͤr erdichtet
ausgegeben. Darauf zog Philipp ſich zuruͤck.
Doch mußten Mainz, Wuͤrzburg und Bamberg
ihn der Kriegskoſten halber mit 100. tauſend Gul-
den entſchaͤdigen.


Dieſer Vorfall hatte ohne Zweifel ſchon ſeinenIV.
Einfluß auf die Verhandlungen des Reichstages,
der im Jahre 1529. noch in Abweſenheit des Kai-
ſers zu Speier gehalten wurde. Der Kaiſer ließ
B b 2gleich
[388]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
gleich in der Propoſition darauf antragen: Weil
die Clauſel des letztern Reichsſchluſſes vom Jahre
1526.: ”wie ein jeder es bey Gott zu verantwor-
ten gedenke,” vielen Mißbrauch veranlaßt habe;
ſo moͤchte man dieſen Reichsſchluß wieder aufhe-
ben, und der Religion halber eine andere neue
Verfuͤgung machen. Darauf wurde erſt von einer
Reichsdeputation, hernach von der geſammten
Reichsverſammlung, jedoch nur durch Mehrheit
der Stimmen, der Schluß gefaſſet: ”Wo bisher
das Wormſer Edict gehalten worden, da ſollte fer-
ner niemand Luthers Lehre annehmen. (Wie war
es moͤglich, der innern Ueberzeugung durch ein
Reichsgeſetz Schranken zu ſetzen?) Wo aber Lu-
thers Lehre ſchon eingefuͤhrt ſey, und ohne Aufruhr
nicht abgewandt werden moͤchte; ſollte man ſich
doch hinfuͤro aller weiteren Neuerungen enthalten,
und inſonderheit die Meſſe nicht abſtellen.” (Wie
ließ ſich das mit der Freyheit eines jeden Staats,
wo Obrigkeit und Unterthanen uͤber eine nur ſie
betreffende neue Einrichtung einig ſind, dergleichen
Einrichtungen nach ihrer Convenienz zu treffen,
vereinbaren?)


V.

Dieſer Reichsſchluß gab zuerſt natuͤrlichen An-
laß, daß von Seiten der evangeliſchen Staͤnde die
Frage aufgeworfen wurde: ob in Sachen, die
ihrer und ihrer Unterthanen Seelen Heil betraͤfen,
ihnen zugemuthet werden koͤnne, ſich der Mehr-
heit der Stimmen
einer Reichsdeputation oder
auch des ganzen Reichstages zu unterwerfen?
(Mich duͤnkt, keine hoͤchſte Gewalt in der Welt
iſt berechtiget, das Recht uͤber ihre Unterthanen
auch auf das, was ſie von Religionslehren anneh-
men
[389]4) Reichstage bis zur A. C. 1526-1530.
men oder nicht annehmen ſollen, auszudehnen.
So weit laͤßt ſich das Band der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft, das nur ihre gemeinſame Wohlfahrt, ſo
fern die dazu fuͤhrenden Mittel eines Zwanges faͤ-
hig ſind, zum Gegenſtande hat, mit Recht wohl
nicht erſtrecken. Viel weniger konnte nach dem
Verhaͤltniſſe, worin die Teutſchen Reichsſtaͤnde als
wahre Regenten eben ſo vieler beſonderer Staaten
mit ihren reichstaͤglichen Stimmen unter einander
ſtehen, die Mehrheit dieſer Stimmen den uͤbrigen
in ſolchen Dingen Geſetze vorſchreiben.)


Den evangeliſchen Staͤnden blieb in dieſer LageVI.
nichts uͤbrig, als gegen dieſen durch die Mehrheit
der Stimmen ihnen ſo nachtheilig gemachten Reichs-
ſchluß zu proteſtiren. Außer dem Churfuͤrſten
Johann von Sachſen, dem Marggrafen Georg von
Brandenburg-Anſpach, den Herzogen Ernſt und
Franz von Braunſchweig-Luͤneburg, dem Landgra-
fen Philipp von Heſſen und dem Fuͤrſten Wolfgang
von Anhalt waren es vierzehn Reichsſtaͤdte, welche
dieſe Proteſtation unterſchrieben, (die nachher 1544.
auf Veranlaßung des damaligen paͤbſtlichen Bot-
ſchafters den Evangeliſchen den Beynamen der
Proteſtanten zugezogen hat.) Die Proteſtation
wurde durch einen Buͤrgermeiſter von Memmin-
gen, einen Anſpachiſchen Secretaͤr und einen Nuͤrn-
bergiſchen Syndicus (haͤtte man nicht lieber Per-
ſonen von Stande zu dieſer Abſendung wehlen ſol-
len?) dem Kaiſer nach Italien, wo er ſchon auf
dem Wege nach Teutſchland begriffen war, ent-
gegengeſchickt. Sie fand aber nicht die gewuͤnſchte
Aufnahme. Die Abgeordneten wurden ſo gar ge-
faͤnglich eingezogen.


B b 3Doch
[390]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
VII.

Doch das Ausſchreiben, das der Kaiſer noch
von Bologna aus unterm 21. Jan. 1530. zu ei-
nem Reichstage nach Augsburg erließ, floͤßte den
Proteſtanten neuen Muth ein, da der Kaiſer in
gar gnaͤdigen Ausdruͤcken ſich erklaͤrte: ”Er ſey
geſonnen, perſoͤnlich zu erſcheinen, eines jeglichen
Gutduͤnken der Religion halber in Liebe und Guͤt-
lichkeit zu hoͤren, und allen Fleiß anzuwenden, um
die unterſchiedenen Meynungen zu vergleichen.”
Die evangeliſchen Reichsſtaͤnde ſahen dieſes als eine
Aufforderung an, dem Kaiſer ihr Glaubensbe-
kenntniß
vorzulegen. Sie folgten dem Winke
deſto williger, je mehr ſie ſchon erfahren hatten,
daß faſt keine Art von Ketzerey zu erdenken war,
die man ihnen nicht zur Laſt gelegt haͤtte. Man
hatte, inſonderheit in entfernteren Gegenden, die
Proteſtanten haͤufig als Leute beſchrieben, die we-
der Gott, noch Himmel und Hoͤlle glaubten. Alſo
war dieſe Gelegenheit ganz erwuͤnſcht, um durch
ein ſo feierlich als moͤglich abzulegendes Glaubens-
bekenntniß ſowohl Kaiſer und Reich als die ganze
Welt in Stand zu ſetzen, den eigentlichen Inhalt
ihrer Lehre naͤher und zuverlaͤßiger erkennen zu
koͤnnen. Inſonderheit hatten die Evangeliſchen
Urſache, der Welt zu zeigen, wie ſie alle in der
Bibel gegruͤndete Lehren des Chriſtenthums, zu
welchen ſich auch die Catholiſchen bekannten, voͤl-
lig beybehielten, damit man ſie nicht ferner, wie
bisher vielfaͤltig geſchehen war, mit anderen Secten
vermengen, oder gar fuͤr Uncatholiſche oder Un-
chriſten achten moͤchte. Dann aber mußten ſie
freylich auch zu erkennen geben, in welchen Stuͤcken
und aus welchen Gruͤnden ſie ſich genoͤthiget ſaͤhen,
von den bisherigen Lehren und Grundſaͤtzen der
Roͤ-
[391]4) Reichstage bis zur A. C. 1526-1530.
Roͤmiſchcatholiſchen Kirche abzugehen, und war-
um ſie in dieſer kirchlichen Gemeinſchaft nicht blei-
ben koͤnnten.


Nach dieſer Abſicht wurden nun von Melanch-VIII.
thon mit Zuziehung Luthers und anderer Theologen
21. Artikel des Glaubens und der Lehre, beynahe
vom ganzen Umfange der Chriſtlichen Religion ent-
werfen, und 7. Artikel, ”von welchen Zwieſpalt
iſt, da die Mißbraͤuche erzehlt werden, die geaͤn-
dert ſind,” als ”von beider Geſtalt des Sacra-
ments, vom Eheſtande der Prieſter, von der Meſſe,
von der Beichte, vom Unterſchiede der Speiſe, von
Kloſtergeluͤbden, und von der Biſchoͤfe Gewalt.”
Alles ſo zweckmaͤßig kurz, beſtimmt, deutlich, und
in moͤglichſter Beſchraͤnkung auf den unmittelbaren
Inhalt der Bibel, daß man ſich nicht ohne Urſa-
che ſchmeichlen konnte, dieſes Glaubensbekenntniß
ſelbſt werde vielen Eindruck machen, und manche
widrige Begriffe, die man ſich bisher von Prote-
ſtanten gemacht hatte, entfernen und berichtigen.


Merkwuͤrdig war inſonderheit der Schluß desIX.
letzten Artikels, der zugleich von der Schreibart,
die im Ganzen herrſcht, zu einiger Probe dienen
kann. ”Unſere Kirchen begehren nicht, (heißt es
da) ”daß die Biſchoͤfe mit Nachtheil ihrer Ehre
„und Wuͤrde wiederum Friede und Einigkeit ma-
„chen, (wiewohl ſolches den Biſchoͤfen in der Noth
„auch zu thun gebuͤhret;) Allein bitten ſie darum,
„daß die Biſchoͤfe etliche unbillige Beſchwerungen
„nachlaſſen, die doch vorzeiten auch in der Kirche
„nicht geweſen, und angenommen ſind wider den
„Gebrauch der chriſtlichen gemeinen Kirche, welche
B b 4„viel-
[392]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
„vielleicht im Anheben etliche Urſachen gehabt, aber
„ſie reimen ſich nicht zu unſern Zeiten. So iſt es
„auch unleugbar, daß etliche Satzungen aus Unver-
„ſtand angenommen ſind. Darum ſollten die Biſchoͤ-
„fe der Guͤtigkeit ſeyn, dieſelben Satzungen zu mil-
„dern, ſintemal eine ſolche Aenderung nicht ſchadet,
„die Einigkeit Chriſtlicher Kirchen zu erhalten. Denn
„viele Satzungen, von den Menſchen aufgekommen,
„ſind mit der Zeit ſelbſt gefallen, und nicht noͤthig
„zu halten, wie die paͤbſtlichen Rechte ſelbſt zeugen.
„Kanns aber je nicht ſeyn, es auch bey ihnen nicht
„zu erhalten, daß man ſolche menſchliche Satzungen
„maͤßige und abthue, welche man ohne Suͤnde nicht
„halten kann; ſo muͤßen wir der Apoſtel Regel
„folgen, die uns gebietet: wir ſollen Gott mehr
„gehorſam ſeyn, dann den Menſchen.”


X.

Das ganze Werk wurde noch mit einer Vor-
rede und einem Beſchluß verſehen, wo die evan-
geliſchen Reichsſtaͤnde den Kaiſer anreden und ihre
Unterſchrift hinzufuͤgen; damals nur noch der
Churfuͤrſt von Sachſen und vier ſchon mehr be-
nannte Fuͤrſten von Anſpach, Luͤneburg, Heſſen
und Anhalt, und die beiden Reichsſtaͤdte Nuͤrn-
berg und Reutlingen.


XI.

Offenbar war bey der ganzen Sache damals
nicht die Abſicht, ein ſymboliſches Buch in dem
Verſtande zu entwerfen, daß ſolches außer dem,
was die Bibel ſelbſt enthaͤlt, zur Richtſchnur oder
Vorſchrift des Glaubens dienen ſollte. Die wahre
Abſicht war nur, der Welt vorzulegen, was die
damaligen Bekenner der evangeliſchen Religion fuͤr
Saͤtze annaͤhmen und nicht annaͤhmen. Das ge-
ſchah
[393]4) Reichstage bis zur A. C. 1526-1530.
ſchah zugleich mit ſolcher Beſcheidenheit und uͤber-
all mit ſolcher Beziehung nur auf den Inhalt der
Bibel, daß noch jetzt ein jeder aufrichtiger evan-
geliſcher Chriſt eben dazu ſich gern mit Herz und
Mund bekennen wird.


Inſonderheit verdient hier noch bemerkt zuXII.
werden, wie nach dem Geiſte, der in dieſer gan-
zen Confeſſion herrſcht, auch darin keine Spuhren
anzutreffen ſind, als ob die evangeliſchen Fuͤrſten
und Reichsſtaͤnde Urheber dieſer Lehre und der
damit verbundenen Veraͤnderung in der Kirche ge-
weſen waͤren. Die Staͤnde, die hier redend ein-
gefuͤhrt werden, ſagen nicht, daß ſie etwa aus
landesherrlicher Macht und Gewalt die in der Kirche
bemerkten Mißbraͤuche abgeaͤndert haͤtten, oder
daß ſie dieſe Aenderung veranſtaltet und befoh-
len
haͤtten; ſondern ſie ſprechen nur von ſolchen
Mißbraͤuchen, wie ſie in ihren Kirchen geaͤndert
ſeyen, und wie ſie als Landesherren und Obrig-
keiten nur durch ihre Ueberzeugung, daß ſolche Aen-
derung dem Worte Gottes gemaͤß ſey, ſich gedrun-
gen gefunden, ſolche Aenderung zu dulden und zu
geſtatten. So ſehr beſtaͤrkt auch dieſes Denk-
maal, was ich oben aus dem Verlaufe der Ge-
ſchichte bemerkt habe, daß die Reformation nicht
von oben herunter, ſondern von unten hinauf in
Gang gebracht worden. Nur das war ganz natuͤr-
lich, daß jetzt auf dem Reichstage die evangeliſchen
Reichsſtaͤnde fuͤr ſich und im Namen ihrer gleich
geſinnten Unterthanen das Wort fuͤhrten.


Bey Abfaſſung dieſes GlaubensbekenntniſſesXIII.
war nur ein einiger Anſtand uͤber die Verſchieden-
B b 5heit
[394]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
heit der Meynungen, wie die von Chriſto bey Ein-
ſetzung des Abendmahls gebrauchten Worte:
Das iſt mein Leib, das iſt mein Blut, zu ver-
ſtehen ſeyen. Zwingli und mehrere Theologen in
der Schweiz behaupteten, der Verſtand der Worte
ſey nur ſo zu nehmen, daß das Brod im Abend-
mahl den Leib, und der Wein das Blut Chriſti
bedeuten und vorſtellen ſolle. Luther wollte hingegen
ſchlechterdings beym buchſtaͤblichen Sinne der Worte
bleiben. Eine Unterredung, die auf des Landgra-
fen Philipps Veranſtaltung im Jahre 1529. Luther
und Zwingli zu Marburg gehalten hatten, war
fruchtlos geblieben. Dieſe Verſchiedenheit der
Meynungen gab ſchon Anlaß, daß auf dem Reichs-
tage zu Augsburg, wo jene Confeſſion nun uͤber-
geben wurde, vier Reichsſtaͤdte eine beſondere Con-
feſſion uͤbergaben. Wie ſehr waͤre es zu wuͤnſchen
geweſen, daß es hieruͤber nicht zu weiteren Tren-
nungen der Evangeliſchen unter einander gekommen
waͤre! Moͤchte man ſich doch nur in dem, was
der aͤußerliche Gottesdienſt weſentlich erforderte,
vereiniget, und den Verſtand der Worte, die hier
in Frage waren, eines jeden eigner Pruͤfung und
Ueberzeugung uͤberlaßen haben! — Doch der
Erfolg war damals uͤberhaupt nicht ſo, wie man
ihn gehofft hatte.


V.
[395]5) Erfolg d. Reichstags 1530. bis 1555.

V.
Erfolg des Reichstags 1530. bis zum Jahre 1555.


I. Des Reichsabſchiedes 1530. widriger Inhalt fuͤr die
Proteſtanten. — II. Roͤmiſche Koͤnigswahl Ferdinands des I.
Ende des Reichsregiments und des Schwaͤbiſchen Bundes. —
Hergeſtellter Beſitz des Herzogthums Wuͤrtenberg an den
Herzog Ulrich. — III. Religionsvertrag zu Nuͤrnberg 1532. —
IV. Friede zu Cadan. — Vorſchrift fuͤr kuͤnftige Roͤmiſche
Koͤnigswahlen. — Wuͤrtenbergiſche Afterlehnſchaft von Oeſter-
reich. — V. Geſchichte der Wiedertaͤufer zu Muͤnſter. —
VI-VIII. Neue Fortſchritte der Reformation in mehreren
Laͤndern und Staͤdten; — IX. namentlich auch im Hochſtifte
Naumburg und im Erzſtifte Coͤlln. — X. Ueberfall, Nie-
derlage und Gefangenſchaft Herzog Henrichs des juͤngern von
Braunſchweig-Wolfenbuͤttel. — XI. Schmalkaldiſche Buͤnd-
niſſe und Gegenbuͤndniſſe. — Friede zu Creſpy. — XII.
Trennung des Schmalkaldiſchen Bundesheeres. — Schlacht
bey Muͤhlberg. — Unterwerfung und Gefangenſchaft des
Churfuͤrſten von Sachſen und des Landgrafen von Heſſen. —
XIII. Reichstag zu Augsburg. — Ein von Carl dem V. den
geiſtlichen Staͤnden zugeſtellter Begriff einer Reformation. —
XIV. Interim. — Achtserklaͤrung und Unterjochung der
Stadt Coſtnitz. — XV. Dem Churfuͤrſten Moritz von Sachſen
aufgetragene Belagerung der Stadt Magdeburg. — Deſſen
Verbindung mit Frankreich. — XVI. Vertrag zu Paſſen
und Religionsfriede zu Augsburg.


Im Reichsabſchiede 1530. wurde den Prote-I.
ſtanten nur noch eine Friſt bis zum 15. Apr.
1531. geſtattet. Zwingli mit ſeinem Anhange
ſollte ſchlechterdings ausgeſchloſſen werden. Am
Cammergerichte ſollte der Fiſcal wegen eingezoge-
ner Kloͤſter Spolienklagen anſtellen. Noch an dem
Tage, da der Churfuͤrſt Johann von Sachſen von
Augsburg abreiſete, that der Churfuͤrſt Joachim
von Brandenburg im Namen des Kaiſers und der
catholiſchen Staͤnde die Erklaͤrung: ”Sie haͤtten
ſich
[396]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
ſich zuſammen geſchworen, vereidet und verbunden,
ſo weit ihr Gut und Blut, Leib und Leben, Land
und Leute waͤndten, bey einander zu ſetzen, um
Luthers Lehre auszurotten.” Die Abſicht, den
Churfuͤrſten wankend zu machen, wurde jedoch
nicht damit erreicht. Er blieb der Standhafte, und
erwarb dadurch mit Recht dieſen Beynamen in der
Geſchichte.


II.

Die Umſtaͤnde wurden noch bedenklicher, als
Carl der V. unmittelbar nach dem Reichstage zu
Augsburg die Roͤmiſche Koͤnigswahl ſeines Bru-
ders Ferdinands (zu Coͤlln 1531. Jan 5.) durch-
ſetzte, womit das bisherige Reichsregiment ein
Ende nahm, und als auf der andern Seite nach
der mit vieler Staatsklugheit bewirkten Erloͤſchung
des Schwaͤbiſchen Bundes der Landgraf Philipp im
Jahre 1533. die rechte Zeit abſah, den Herzog
Ulrich von Wuͤrtenberg wieder in Beſitz ſeines
Landes zu ſetzen. Nur die fortwaͤhrende Kette von
Kriegen mit den Tuͤrken und Franzoſen verſchaffte
den Proteſtanten noch einen Religionsvertrag im
Jahre 1532. zu Nuͤrnberg, und 1534. einen Frie-
den zu Cadan in Boͤhmen.


III.

Den Vertrag zu Nuͤrnberg konnte man ſchon
als einen vorlaͤufigen Religionsfrieden anſehen.
Die Cammergerichtsproceſſe ſollten ſuspendirt, und
am Cammergerichte ſelbſt evangeliſche Beyſitzer nicht
ausgeſchloſſen werden. Ueber die Ausgburgiſche Con-
feſſion ſollten aber die Evangeliſchen bis auf ein zu hal-
tendes Concilium keine Neuerung vornehmen, auch
den Zwingliſchen nicht anhangen, und der andern Par-
they Unterthanen in Glaubensſachen nicht ſchuͤtzen.


Im
[397]5) Erfolg d. Reichstags 1530. bis 1555.

Im Cadaniſchen Frieden 1534. wurde erſtIV.
der Widerſpruch, den nicht nur Churſachſen und
Heſſen, ſondern auch die Herzoge von Baiern ge-
gen die Roͤmiſche Koͤnigswahl erhoben hatten, da-
mit beygelegt, daß fuͤrs kuͤnftige ausgemacht wur-
de: keine Roͤmiſche Koͤnigswahl ſolle vor ſich ge-
hen koͤnnen, wenn nicht zuvor uͤber die Frage:
ob ſie noͤthig ſey? ein churfuͤrſtlicher Collegialſchluß
gefaßt worden ſey. Dem Herzoge von Wuͤrten-
berg wurde hingegen auch der wieder erlangte Be-
ſitz ſeines Landes gewaͤhret, nur mit der harten
Bedingung, daß das Herzogthum Wuͤrtenberg kuͤnf-
tig ein Afterlehn von Oeſterreich ſeyn ſolle. (Doch
nachher iſt im Jahre 1599. dieſe Afterlehnſchaft in
eine dem Hauſe Oeſterreich zugeſicherte Anwart-
ſchaft auf Wuͤrtenberg verwandelt worden; wovon
nun nur noch die Frage uͤbrig iſt, ob ſie noch ſtatt
finden koͤnne, da das Haus Oeſterreich eher, als
Wuͤrtenberg, erloſchen iſt, oder ob ſie auch auf
die weibliche Oeſterreichiſche Nachkommenſchaft fort-
gehe?)


Noch waren bey dem Frieden zu Cadan beideV.
Theile einig, daß die Wiedertaͤufer, welche noch
immer vielen Unfug machten, darunter nicht be-
griffen ſeyn ſollten. Aufs hoͤchſte ſtieg der Unfug
dieſer Leute zu Muͤnſter, wo ſie Biſchof, Dom-
capitel und Stadtobrigkeit verdraͤngt, und mit ra-
ſenden Schwaͤrmereyen die unerhoͤrteſten Grauſam-
keiten verbunden hatten. Solche Dinge, die Obrig-
keiten und alle gute Ordnung ſtoͤhrten, waren weit
entfernt vom Geiſte der evangeliſchen Religion.
Die evangeliſchen Reichsſtaͤnde waren daher gerne
mit dazu behuͤlflich, daß dem Muͤnſteriſchen Un-
weſen
[398]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
weſen ein Ende gemacht werden konnte. Es gien-
gen jedoch noch bey 16. Monathe hin, ehe man
mit Eroberung der Stadt Muͤnſter fertig wurde (q).


VI.

Waͤhrend dieſer Zeit hatte der evangeliſche Re-
ligionstheil doch wieder einen betraͤchtlichen Zuwachs
erhalten. In Pommern erklaͤrte ſich der Herzog
Barnim 1532. in ſeinem Antheile fuͤr die Reforma-
tion; bald hernach ließen die Herzoge insgeſammt
1534. durch Bugenhagen eine Kirchenordnung
aufſetzen und einfuͤhren. Zu Verden bekannte ſich
1532. der Biſchof Georg aus dem Hauſe Braun-
ſchweig zur evangeliſchen lehre, und ließ ſie im
ganzen Stifte predigen. Der Herzog Johann von
Juͤlich, Cleve und Berg erklaͤrte ſich 1533. ge-
gen das Pabſtthum. In Fuͤrſtenthum Calenberg
bediente ſich Herzog Philipp 1534. Nicolaus Ams-
dorfs zur Einrichtung des evangeliſchen Kirchenwe-
ſens. Dazu kamen, was Reichsſtaͤdte und andere
betraͤchttiche Staͤdte betrifft, der evangeliſchen Re-
ligion guͤnſtige Veraͤnderungen zu Luͤbeck 1530.,
zu Ulm 1531., zu Schweinfurt, Bremen, Osna-
bruͤck 1532., zu Augsburg und Hannover 1534.


VII.

Noch weiter gieng das alles nach dem Cadani-
ſchen Frieden, da der Herzog Ulrich von Wuͤrten-
berg
ungebundene Haͤnde hatte, nunmehr in ſei-
nem ganzen Lande der Reformation freyen Lauf zu
geſtat-
[399]5) Erfolg d. Reichstags 1530. bis 1555.
geſtatten, wie von dem Jahre 1535. an geſchah;
und da ferner in Churbrandenburg 1537. dem
Churfuͤrſten Joachim dem I. ſein Sohn Joachim
der II. folgte, der ſchon ſeit 1532. ſich der Re-
formation gewogen erklaͤrt hatte, und nach dem
Beyſpiele ſeines Bruders, des Marggrafen Johan-
nes von Cuͤſtrin, der ſchon 1538. zu Cuͤſtrin da-
mit den Anfang machte, 1539. der Reformation
in ſeinem ganzen lande den Lauf ließ.


In eben dieſem Jahre 1539. fiel mit dem TodeVIII.
Herzog Georgs von Sachſen, deſſen Soͤhne ſchon
vor ihm geſtorben waren, ſein Land an ſeinen Bru-
der Henrich, der ſchon ſeit 1537. ſich evangeliſch
erklaͤrt hatte, und nun auch in dieſem Theile der
Saͤchſiſchen Lande der bisher daſelbſt unterdruͤckten
Lehre zur großen Freude der Unterthanen Platz
gab (r). Eben das geſchah auch vom Pfalzgra-
fen Otto Henrich von Neuburg, ingleichen von der
Abtiſſinn zu Quedlinburg, und in den Staͤdten
Halberſtadt, Magdeburg, Halle in Sachſen und
Regensburg.


Noch groͤßer Aufſehen machte es, als der Chur-IX.
fuͤrſt von Sachſen im Jahre 1541. in dem eben
damals erledigten Hochſtifte Naumburg nicht zu-
geben
[400]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
geben wollte, daß der vom Domcapitel gewehlte
neue Biſchof Julius von Pflug zum Beſitz kommen
ſollte, ſondern ſtatt deſſen den von Magdeburg be-
rufenen Superintendenten, Nicolaus Amsdorf, in
Beſitz ſetzen ließ, und als vollends im Jahre 1545.
der Churfuͤrſt Hermann von Coͤlln, gebohrner Graf
von Wied, ſich oͤffentlich zur evangeliſchen Religion
bekannte, und dieſelbe in ſeinem Lande und Erz-
ſtifte einfuͤhren wollte.


X.

Alles das wurde aber noch weitausſehender, als
im Jahre 1542. Herzog Henrich der juͤngere von
Braunſchweig-Wolfenbuͤttel
wegen geheimer
Anſchlaͤge, die er gegen Churſachſen und Heſſen,
wie man durch gewiſſe Zufaͤlle entdeckt hatte, ge-
faßt haben ſollte, ploͤtzlich ſelbſt uͤberfallen, und
ſein Land mit dem Ruͤcken anzuſehen genoͤthiget
wurde, auch, da er es ſelbſt wieder zu erobern
gedachte, nach einer am 20. Oct. 1545. bey Nord-
heim erlittenen Niederlage gar in Gefangenſchaft
nach Ziegenhayn gerieth.


XI.

Schon damals, als im Jahre 1530. der Reichs-
tag zu Augsburg ſo uͤbel ablief, hatten die Prote-
ſtanten noch in eben dem Jahre zu Schmalkalden
ein neues Vertheidigungsbuͤndniß unter ſich
errichtet, das 1531. von neuem auf 6. Jahre,
und 1536. wieder auf 10. Jahre weiter geſchloſſen
wurde. Demſelben ward aber auch am 10. Jul.
1538. von einigen catholiſchen Staͤnden zu Nuͤrn-
berg ein ſo genannter heiliger Bund entgegen-
geſetzt; ohne daß es jedoch noch zur Zeit, außer
den Braunſchweigiſchen Haͤndeln, zu weiteren Thaͤt-
lichkeiten kam, weil ſowohl der Kaiſer als der Roͤ-
miſche
[401]5) Erfolg d. Reichstags 1530. bis 1555.
miſche Koͤnig noch immer in weitausſehende aus-
waͤrtige Kriege verwickelt waren. Endlich ſchien
jetzt der Kaiſer im Jahre 1544. durch einen Frie-
den zu Creſpy
mit Frankreich und durch einen
Stillſtand mit den Tuͤrken ſich und ſeinem Hauſe
erſt auswaͤrts Ruhe zu verſchaffen, um nunmehr in
Teutſchland ſelbſt mit deſto groͤßerem Nachdruck zu
Werke gehen zu koͤnnen.


Die Schmalkaldiſchen Bundesverwandten glaub-XII.
ten wiederum, die Vollendung der großen Zuruͤſtun-
gen, die der Kaiſer machte, und den erſten Angriff
von ſeiner Seite nicht abwarten zu duͤrfen. Sie
ruͤckten im Julius 1546. mit mehr als 80. tauſend
Mann ins Feld. Es gelang aber dem Kaiſer durch
eine Diverſion, die dem Churfuͤrſten von Sachſen
zur Vollziehung der vom Kaiſer wider ihn erkannten
Achtserklaͤrung von ſeinem Vetter, dem Herzoge
Moritz von Sachſen, in ſeinem Lande gemacht
ward, den Churfuͤrſten dahin zu bringen, daß er um
ſein land zu retten das Bundesheer verließ; wor-
auf daſſelbe ohne Schwerdtſtreich getrennt wurde.
Gegen den Herzog Moritz ſchien zwar der Chur-
fuͤrſt ſeinen Zweck zu erreichen. Allein nun uͤber-
fiel ihn der Kaiſer ſelbſt bey Muͤhlberg (1547.
Apr. 24.), ſchlug ihn, und bekam ihn gefangen;
eroberte ferner Wittenberg durch Capitulation
(May 18.), und ließ zu Halle auch den Landgrafen
Philipp, der, um ſich dem Kaiſer zu unterwerfen,
dahin zu kommen vermocht war, gefangen nehmen.


So war der Kaiſer Meiſter uͤber den Schmal-XIII.
kaldiſchen Bund, und in der That uͤber ganz Teutſch-
land, als er nunmehr auf einem Reichstage zu
C cAugs-
[402]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
Augsburg den Herzog Moritz mit der dem geaͤch-
teten Churfuͤrſten Johann Friedrich genommenen
Saͤchſiſchen Chur belehnte, und meiſt alles nach
ſeinem Sinne durchſetzen konnte. Wegen der Re-
ligionsſachen war inzwiſchen am 13. Dec. 1545.
ein Concilium zu Trient eroͤffnet worden. Es war
aber nicht ſo zu Werke gegangen, wie es der Kai-
ſer gewuͤnſcht hatte (s); und im Maͤrz 1547. war
es durch Sebaſtian Schertels Einbruch in Tirol
unterbrochen worden. In dieſer Ruͤckſicht beſtand
der Kaiſer auf Wiedereroͤffnung dieſer Kirchenver-
ſammlung. Inzwiſchen ſchlug er einsweilen auf
dieſem Reichstage zweyerley Wege ein, um nach
ſeiner Abſicht die Sachen auf einen gewiſſen Fuß
zu ſetzen. Einmal, in der bisherigen catholiſchen
Kirchenverfaſſung einige noͤthige Aenderungen zu
treffen, ließ er den geiſtlichen Churfuͤrſten, Fuͤrſten
und Staͤnden einen Begriff einer Reformation
zuſtellen, den ſie ſeinem Wunſche gemaͤß gleich
annahmen, und kuͤnftig in ihren biſchoͤflichen Syn-
oden oder Provincialkirchenverſammlungen ihren
untergeordneten Geiſtlichen und Capiteln ebenfalls
annehmlich zu machen verſprachen (t), wie ſolches
auch
[403]5) Erfolg d. Reichstags 1530. bis 1555.
auch unmittelbar hernach haͤufig geſchah (u), nach-
her aber doch wieder beynahe in Vergeſſenheit ge-
kommen iſt.


Hernach ließ er eine Erklaͤrung bekannt machen,XIV.
wie es ſeiner Meynung nach bis zum Austrage
der Kirchenverſammlung mit der Religion in Teutſch-
land gehalten werden ſollte. Dieſes nachher
ſo genannte Interim geſtattete unter andern die
Herſtellung des Kelchs und die Prieſterehe; alles
uͤbrige wurde meiſt auf den bisherigen Fuß ge-
laßen. Damit waren jedoch weder Proteſtanten,
noch Catholiſche zufrieden; letztere nicht, weil der
Kaiſer als ein weltlicher Monarch ſich einer Ver-
fuͤgung in Religionsſachen unterzogen und ſo wich-
tige Puncte nachgegeben habe; jene nicht, weil ſie
bey
(t)
C c 2
[404]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
bey dieſen nachgegebenen Puncten alleine ſich noch
nicht beruhigen koͤnnten. Viele evangeliſche Laͤnder
und Staͤdte ſahen ſich inzwiſchen genoͤthiget, das
Interim, wie es ihnen vom Kaiſer zugemuthet
wurde, anzunehmen, wenn ſie anders nicht ein aͤhn-
liches Schickſal erwarten wollten, wie die Schwaͤbi-
ſche Reichsſtadt Coſtnitz, die wegen verweigerter
Annehmung des Interims in die Acht gerieth,
und mittelſt deren dem Roͤmiſchen Koͤnige als Erz-
herzoge von Oeſterreich aufgetragener Execution aus
einer Reichsſtadt in eine Oeſterreichiſche Landſtadt
verwandelt wurde.


XV.

Die Stadt Magdeburg widerſetzte ſich der
auch wieder ſie des Interims halber ergangenen
Achtserklaͤrung in ſo weit mit gluͤcklicherem Er-
folge, indem der Churfuͤrſt Moritz erſt von Reichs-
wegen eine weitausſehende Belagerung derſelben
(vom 16. Sept. 1550. bis zum 9. Nov. 1551.)
unternehmen, und am Ende doch eine leidliche
Capitulation nachgeben mußte. Davon hieng
aber noch ein ganz anderer Umſchlag der Sachen
ab, da Moritz inzwiſchen am 5. Oct. 1551. zu
Friedewald mit dem Koͤnige Henrich dem II. von
Frankreich einen zu Chambort den 15. Jan. 1552.
genehmigten Bund geſchloſſen hatte, und nun im
Maͤrz 1552. ploͤtzlich gegen den Kaiſer ſelbſt los-
brach; zu einer Zeit, da zugleich Henrich der II.
von Frankreich aus in Lothringen einbrach, und
einsweilen Metz, Tull, Verdun beſetzte, in der
Meynung, hernach auch der Stadt Straßburg ſich
zu bemaͤchtigen, und dann dieſſeits Rheins mit
Moritzen zuſammen zu ſtoßen.


Die-
[405]5) Erfolg d. Reichstags 1530. bis 1555.

Dieſes letztere wurde nun zwar nicht ins WerkXVI.
gerichtet. Aber der Roͤmiſche Koͤnig, dem nun-
mehr einsweilen Carl die Teutſchen Sachen uͤber-
ließ, ſah ſich doch genoͤthiget, zu Paſſau mit dem
Churfuͤrſten Moritz einen Vertrag zu ſchließen,
vermoͤge deſſen nicht nur ſein Schwiegervater der
Landgraf Philipp ſeine Freyheit wieder bekam, (die
der Kaiſer dem gefangenen Churfuͤrſten Johann
Friedrich ſchon vorher gegeben hatte,) ſondern
auch den Proteſtanten ihre Religionsfreyheit zuge-
ſtanden wurde. Der Kaiſer ſelbſt belagerte noch
im Spaͤtjahre 1552. vergeblich Metz, und begab
ſich hernach in die Niederlande, endlich ganz nach
Spanien. Der Roͤmiſche Koͤnig hielt aber nun-
mehr einen Reichstag zu Augsburg, wo endlich
am 25. Sept. 1555. zwiſchen beiden Religions-
theilen ein foͤrmlicher Friede geſchloſſen und in
den Reichsabſchied mit eingeruͤckt wurde.


C c 3VI.
[406]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.

VI.
Hauptinhalt des Religionsfriedens 1555., das
gegenſeitige Verhalten der verſchiedenen Reli-
gionsverwandten uͤberhaupt betreffend.


I. Ohne noch die Hoffnung zu einer Vereinigung der
Religionen ſelbſt aufzugeben, ward doch der Friede auf ewig
geſchloſſen. — II. III.[Catholiſche] und evangeliſche Staͤnde
ſollten der Religion halber einander nicht verfolgen noch
veraͤchtlich halten. — IV. Auch in Reichsſtaͤdten ſollte ein
Religionstheil den andern in Ruhe laßen. — V. Das war
der wahre Geiſt des Religionsfriedens. — VI. Aber beym
hierarchiſchen Syſteme war es ſchwer, den Geiſt der Duldung
und bruͤderlichen Betragens einzufuͤhren, — VII. und die
irrige Vorſtellung vom Verhaͤltniß einer herrſchenden Kirche
zu fremden bloß aus Gnaden aufgenommenen Religionsver-
wandten hier zu entfernen. — Hier war ein ganz anderer
Fall, da ein Theil der Nation ſeine Geſinnungen in Anſe-
hung der Religion geaͤndert hatte; — VIII. ohne doch den
Pflichten gegen den Staat Abbruch zu thun. — IX. Selbſt
evangeliſchen Unterthanen catholiſcher Landesherren hatte des-
wegen eine Erklaͤrung des Roͤmiſchen Koͤnigs ihre Religions-
uͤbung billig geſichert. — X. Aber im Religionsfrieden
ſelbſt war nur der gegenſeitige freye Ab- und Zuzug der
Unterthanen ausbedungen.


I.

Bey Schließung des Religionsfriedens ließ man
zwar den Gedanken noch nicht ganz fahren,
daß durch ein Generalconcilium, oder auch allen-
falls nur durch eine Nationalverſammlung, oder
durch Colloquien oder Reichshandlungen noch eine
Moͤglichkeit ſeyn moͤchte, uͤber die Religion und
Kirchengebraͤuche ſelber noch zu einer Vereinigung
zu gelangen. Wenn das aber auch nicht geſchaͤ-
he; ſollte es doch bey dieſem Frieden in alle
Wege, als einem beſtaͤndigen, beharrlichen, unbe-
dingten, fuͤr und ewig waͤhrenden Frieden bleiben.


Es
[407]6) Relig. Fr. 1555. a) uͤberh.

Es wurde alſo hauptſaͤchlich feſtgeſetzt, wie zumII.
Theil ſchon im Paſſauer Vertrage geſchehen war,
daß kein Stand des Reichs von wegen der Augs-
burgiſchen Confeſſion,
und deren Lehre, Reli-
gion und Glaubens halber uͤberzogen, beſchaͤdiget,
vergewaltiger, oder in andere Wege wider ſein
Gewiſſen von dieſer Religion, Glauben, Kirchen-
gebraͤuchen, Ordnungen und Ceremonien, ſo ſie
aufgerichtet oder nachmals aufrichten moͤchten, in
ihren Fuͤrſtenthuͤmern, Laͤndern und Herrſchaften
gedrungen, oder durch Mandate oder in einiger
anderer Geſtalt beſchweret, oder verachtet werden
ſollten. Sondern man ſollte ſie ſowohl bey ſol-
cher Religion, Glauben, Kirchengebraͤuchen, Ord-
nungen und Ceremonien, als auch bey ihrem Hab
und Gute, Land und Leuten, Obrigkeit und Gerech-
tigkeiten ruhig und friedlich bleiben laßen.


Dagegen ſollten auch die Augsburgiſchen Con-III.
feſſionsverwandten Staͤnde den Kaiſer und die
Staͤnde, ſo der alten Religion anhaͤngig blieben,
ſowohl geiſtliche als weltliche, ſammt ihren Capi-
teln und anderen Perſonen geiſtlichen Standes,
ungeachtet ob und wohin ſie ihre Reſidenzen ver-
ruͤckt haben moͤchten, gleichergeſtalt bey ihrer Re-
ligion, Glauben, Kirchengebraͤuchen, Ordnungen
und Ceremonien; auch ihrem Hab und Gute,
Land und Leuten, Obrigkeit und Gerechtigkeiten,
Renten, Zinſen und Zehenden, unbeſchwert bleiben,
und ſich derſelben ruhig und friedlich gebrauchen,
und unweigerlich folgen laßen, und nichts mit der
That oder ſonſt in Ungutem vornehmen.


C c 4Auch
[408]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
IV.

Auch in Frey- und Reichsſtaͤdten, wo bisher
beide Religionen im Gange geweſen, ſollten die-
ſelben hinfuͤro auch alſo bleiben. Buͤrger und
andere Einwohner derſelben, geiſtlichen oder welt-
lichen Standes, ſollten friedlich und ruhig bey ein-
ander wohnen. Kein Theil ſollte ſich unterſtehen,
des andern Religion und Kirchengebraͤuche abzu-
thun oder ihn davon zu dringen; ſondern jeder
Theil ſollte den andern ſowohl bey ſeiner Religion
und Kirchengebraͤuchen als bey ſeinem Hab und
Gute und allem andern ruhig und friedlich blei-
ben laßen.


V.

In der That war das der einzige rechte Weg,
der hier eingeſchlagen werden konnte. Da ein-
mal ein ſo großer Theil der Nation ſeine Geſin-
nungen in der Religion geaͤndert hatte, ein ande-
rer Theil aber bey dem, wie es bisher geweſen
war, beharrte; ſo blieb nichts uͤbrig, als daß
ein jeder den andern bey ſeiner Geſinnung ließ,
und uͤbrigens das Band, worin alle Reichsſtaͤnde
als Mitglieder eines Reiches unter einander ſtan-
den, in ſeinem Weſen gelaßen wurde. Aller Re-
ligionszwang war ohnedem der Natur zuwider.
Und der Teutſchen Reichsverfaſſung war es voͤllig
angemeſſen, daß der Religionsfriede reichsſtaͤndiſche
Laͤnder und Reichsſtaͤdte als zweyerley verſchiedene
Gegenſtaͤnde behandelte. Von jenen war ein jedes
fuͤr ſich. Sobald da Herr und Land einig waren,
Kirchengebraͤuche und Ceremonien nach ihrem nun-
mehrigen Glauben einzurichten, ſo hatte billig kein
Dritter dabey etwas zu erinnern. In Reichs-
ſtaͤdten ließ ſich ein vermiſchter Zuſtand gedenken,
da
[409]6) Relig. Fr. 1555. a) uͤberh.
da ein Theil der Buͤrgerſchaft und Obrigkeit die-
ſer, ein anderer der andern Religion zugethan blieb.
Da war das vernuͤnftigſte, daß ein jeder den an-
dern bey ſeiner Gewiſſensfreyheit ließ. Das war
alſo auch der wahre Geiſt dieſes Religionsfrie-
dens
. Fuͤr Teutſchland im Ganzen betrachtet,
ſollten catholiſche und evangeliſche Reichsſtaͤnde mit
ihren Laͤndern einander ſowohl in ihrer Religion
als in ihrem ganzen uͤbrigen Zuſtande ungeſtoͤhrt
laßen, und ferner alle Pflichten als Mitglieder
eines Reichs gegen einander beobachten. In jeder
Reichsſtadt, wo beiderley Religionsverwandten waͤ-
ren, ſollten dieſe als Mitglieder einer Republik ſich
auf gleiche Art gegen einander betragen.


Das ſchlimmſte war, daß das catholiſch hierar-VI.
chiſche Syſtem immer von dem Grundſatze der
Einheit der Kirche ausgieng, um allen anderen,
die ſich nicht dazu hielten, die Seligkeit abzuſpre-
chen, und ſich hingegen ein Verdienſt daraus zu
machen, einen jeden von Verlaßung dieſes Syſtems
nicht nur zuruͤckzuhalten, ſondern auch durch alle
moͤgliche Mittel, wenn er es ſchon verlaßen haͤtte,
wieder dahin zuruͤckzubringen. Mit dieſem Sy-
ſteme war es ſchwer den Geiſt der Duldung und
bruͤderlichen Betragens gegen andere Religionsver-
wandten zu vereinbaren.


Dazu kam eine unrichtige Vorſtellung vomVII.
Verhaͤltniſſe der beiden Religionen, die bis auf den
heutigen Tag bey vielen ſich kaum heben laͤßt.
Man glaubte nehmlich, und glaubt es haͤufig noch
jetzt, die Roͤmiſchcatholiſche Religion ſey die einmal
im Teutſchen Reiche eingefuͤhrte herrſchende Reli-
C c 5gion,
[410]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
gion, auf deren guten Willen es angekommen ſey,
die evangeliſche als eine erſt neu aufgekommene
Religion in Teutſchland aufzunehmen, oder nicht.
So wuͤrde etwa der Fall geweſen ſeyn, wenn das
ganze Teutſche Reich in Anſehung der Religion
einerley Geſinnung gehabt und behalten haͤtte, und
nun eine Anzahl Auslaͤnder von einer andern Re-
ligion den Eintritt auf Teutſchen Boden verlangt
haͤtte; ſo wie etwa in Spanien von Aufnahme
fremder proteſtantiſcher Colonien die Frage ſeyn
koͤnnte. Allein ſo war der Fall hier ganz und gar
nicht. Ein Theil der Nation ſelbſt, Reichsſtaͤnde
und Unterthanen, die ſchon da waren, hatten ihre
Geſinnungen in der Religion geaͤndert; hielten ſich
jetzt uͤberzeugt, im bisherigen Umfange derſelben
Irrthuͤmer und Mißbraͤuche wahrzunehmen, bey
denen ſie ohne Gefahr ihrer Seligkeit und ohne
Zwang ihres Gewiſſens nicht bleiben koͤnnten; ver-
langten alſo nicht erſt als neue Ankoͤmmlinge auf-
genommen zu werden, ſondern nur zu bleiben, was
ſie waren, ohne ihrer veraͤnderten Religionsuͤbung
wegen bedraͤngt oder beſchwert zu werden. Da
war gar nicht in Frage fremde Religionsverwand-
ten aufzunehmen und zu dulden, oder nicht auf-
zunehmen und nicht zu dulden; ſondern ob ein
Theil der Nation den andern darum, weil der-
ſelbe jetzt andere Religionseinſichten und Geſin-
nungen bekommen hatte, verfolgen, verdraͤngen,
verachten koͤnne?


VIII.

Freylich wenn veraͤnderte Religionsgeſinnun-
gen zum Vorwande dienen ſollten, ſich den Pflich-
ten gegen den Staat
zu entziehen, Obrigkeiten
zu ſtuͤrzen, das gemeine Weſen in Unordnung zu
brin-
[411]6) Relig. Fr. 1555. a) uͤberh.
bringen, wie der Fall mit den Wiedertaͤufern war;
da hatte ein jeder Staat, da hatte das ganze
Teutſche Reich Urſache, dawider gemeine Sache
zu machen; wie deswegen auch der evangeliſche
Religionstheil kein Bedenken trug, dazu die Hand
zu bieten, daß ſolche Secten im Religionsfrieden
ausdruͤcklich ausgeſchloſſen wurden. Aber ohne
daß das buͤrgerliche Verhaͤltniß darunter litt, war
die evangeliſche Religion ſo, wie ſie auf Teutſchem
Boden ſelbſt entſtanden war, nicht in dem Falle,
daß ihre Bekenner in Laͤndern oder Reichsſtaͤdten
bloß ihrenthalben mit Recht unterdruͤckt, verfolgt,
oder veraͤchtlich gehalten werden durften. In ſo
weit war ſelbſt der Begriff der herrſchenden Re-
ligion fuͤr die catholiſche in Abſicht auf ganz Teutſch-
land nicht mehr paſſend.


Aber deſto ſchwerer hielt es nun noch uͤberIX.
die Frage ſich zu vereinigen, wie es gehalten wer-
den ſollte, wenn Unterthanen in einem Teutſchen
Fuͤrſtenthume oder andern reichsſtaͤndiſchen Lande
eine andere Religionsuͤbung zu haben wuͤnſchten,
aber der Landesherr ſich dagegen widerſetzte. Hier-
uͤber hatte der Roͤmiſche Koͤnig den Tag vorher,
ehe der Religionsfriede geſchloſſen wurde, (den
24. Sept. 1555.) eine Erklaͤrung von ſich ge-
ſtellt, vermoͤge deren auch evangeliſchen Ritter-
ſchaften, Staͤdten und Gemeinden unter catholi-
ſchen Landesherren
ihre freye Religionsuͤbung
geſichert ſeyn ſollte. Ader die Guͤltigkeit dieſer
Erklaͤrung ward nachher vom catholiſchen Religions-
theile mit aller Macht beſtritten.


In
[412]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
X.

In dem Religionsfrieden ſelbſt wurde nur das
verordnet: wenn catholiſche oder evangeliſche Unter-
thanen ihrer Religion wegen mit Weib und Kin-
dern aus einem Lande in ein anderes ziehen wollten;
denen ſollte ſolcher Ab- und Zuzug, auch Verkau-
fung ihrer Hab und Guͤter ungehindert zugelaßen
und bewilliget, auch an ihren Ehren und Pflichten
allerdings unentgolten ſeyn; nur gegen Abtrag der
Leibeigenſchaft und Nachſteuer, wo und wie ſolche
an jedem Orte von Alters hergebracht (v), und ſo,
daß den Obrigkeiten an ihren Gerechtigkeiten und
Herkommen, ihre Leibeignen ledig zu zehlen oder
nicht, dadurch nichts benommen ſeyn ſollte. Uebri-
gens ſollte kein Stand weder den andern, noch deſ-
ſelben Unterthanen zu ſeiner Religion dringen, ab-
practiciren, oder wider ihre Obrigkeit in Schutz und
Schirm nehmen; doch ohne daß denen, die von
Altersher Schutz- und Schirmherren anzunehmen
gehabt, dadurch etwas benommen ſeyn ſollte.


VII.
[413]7) Relig. Fr. 1555. b) geiſtl. Gerichtb.

VII.
Verordnungen des Religionsfriedens 1555. in
Anſehung der geiſtlichen Gerichtbarkeit.


I. Ungleiche Geſinnungen der beiden Religionstheile uͤber
die geiſtliche Gerichtbarkeit, wie ſie bisher in Uebung war. —
II. III. Im Religionsfrieden wurde ſie uͤber die Proteſtanten
bis zur Vereinigung beider Religionen aufgehoben; —
IV. V. zwar noch mit einiger Einſchraͤnkung in Anſehung
der Gegenſtaͤnde, die aber nicht von Beſtand ſeyn konnte. —
VI. Was aber fuͤr eine neue Kirchenverfaſſung unter den
Evangeliſchen ſtatt finden ſollte, war kein Gegenſtand des
Religionsfriedens. — VII. Evangeliſche Landſchaften ließen
jetzt gern ihren Landesherren alle die Rechte, welche die
paͤbſtliche Hierarchie der hoͤchſten Gewalt mit Unrecht entzo-
gen hatte. — VIII. Aber auch viele Rechte, die jetzt eine
jede Gemeinde collegialiſch haͤtte ausuͤben koͤnnen, uͤberließ
man gern einem Landesherrn von eben der Religion, und
ſeinem Conſiſtorium. — IX. So ſtellten evangeliſche Reichs-
ſtaͤnde jetzt zweyerley Perſonen vor, eben wie die catholiſchen
geiſtlichen Reichsſtaͤnde; nehmlich eine andere Perſon ſofern
ſie Landeshoheit, eine andere, ſofern ſie biſchoͤfliche Rechte
ausuͤbten. — X. Letztere waren deswegen auch unter den
Evangeliſchen keine Beſtandtheile der Landeshoheit, daß auch
ein catholiſcher Landesherr uͤber evangeliſche Unterthanen ſie
behaupten koͤnnte. — XI. Auch ward darum den Reichs-
gerichten keine geiſtliche Gerichtbarkeit uͤber Proteſtanten ein-
geraͤumt.


Eine große Schwierigkeit zeigte ſich bey Abfaſ-I.
ſung des Religionsfriedens in Anſehung der
geiſtlichen Gerichtbarkeit, wie ſie nach paͤbſt-
lichen Grundſaͤtzen bisher im Gange geweſen war,
und von evangeliſchen Reichsſtaͤnden fuͤr ſich und
ihre Unterthanen nicht mehr anerkannt wurde. Ein
jeder Biſchof, deſſen Dioeces uͤber Laͤnder oder
Reichsſtaͤdte, die jetzt evangeliſch waren, ſich er-
ſtreckt hatte, ſah die geiſtliche Gerichtbarkeit, wie
er
[414]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
er ſie bisher ausgeuͤbt hatte, als ein Recht an,
das ihm ohne ſeine Einwilligung, oder wohl gar
ohne Zuthun des paͤbſtlichen Stuhls und der gan-
zen Roͤmiſchen Kirche, nicht genommen werden koͤnn-
te. Evangeliſche Reichsſtaͤnde ſahen hingegen die
ganze geiſtliche Gerichtbarkeit, wie ſie den welt-
lichen Maͤchten ſchlechterdings entriſſen, und in die
Haͤnde der Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe unter der paͤbſt-
lichen hoͤchſten Inſtanz gekommen war, ſo wie das
ganze hierarchiſchpaͤbſtliche Syſtem, als einen wi-
derrechtlichen Mißbrauch an, der weder mit den
Rechten der hoͤchſten Gewalt einer jeden weltlichen
Obrigkeit, noch mit der Gewiſſensfreyheit, die jetzt
ein jeder evangeliſcher Reichsſtand fuͤr ſich und ſeine
Unterthanen zu behaupten ſich berechtiget hielt,
beſtehen koͤnnte.


II.

Sehr begreiflich war es, daß, wenn die Evan-
geliſchen ihre Religionsfreyheit haben ſollten, ſie
keine Oberen uͤber ſich erkennen konnten, die ſich
berechtiget hielten, in Glaubensſachen ihnen Vor-
ſchriften zu geben, und deren ganzes Religions-
ſyſtem mit dem ihrigen in weſentlichen Stuͤcken in
Widerſpruch ſtand. Alſo blieb kein anderer Aus-
weg uͤbrig, als den der Religionsfriede wuͤrklich
ergriff, nehmlich die geiſtliche Gerichtbarkeit, wie
ſie bisher in Uebung war, in Anſehung der Pro-
teſtanten aufzuheben.


III.

Weil man noch immer eine Vereinigung der
Religionen fuͤr moͤglich hielt, ſo ward auch hier
noch die Clauſel eingeruͤckt, daß die geiſtliche Ge-
richtbarkeit gegen die Augsburgiſchen Confeſſions-
verwandten, ”bis zur Vergleichung der Religion,”
nicht
[415]7) Relig Fr. 1555. b) geiſtl. Gerichtb.
nicht geuͤbt werden, ſondern bis dahin ruhen,
eingeſtellt und ſuspendirt ſeyn und bleiben ſollte.
So wie aber vorauszuſehen war, daß eine ſolche
Vereinigung der Religionen nicht geſchehen wuͤrde,
wie ſie auch nicht erfolget iſt; ſo war der Wir-
kung nach eine ſolche Suspenſion oder gaͤnzliche
Aufhebung der bisherigen geiſtlichen Gerichtbarkeit
in Anſehung der Proteſtanten in der That einerley.


Die Gegenſtaͤnde, worin die Aufhebung derIV.
geiſtlichen Gerichtbarkeit ſich aͤußern ſollte, wurden
ſo beſtimmt: daß ſie ”wider der Augsburgiſchen
Confeſſion Religion, Glauben, Beſtellung der
Miniſterien, Kirchengebraͤuche, Ordnungen und
Ceremonien, ſo ſie aufgerichtet oder aufrichten moͤch-
ten, nicht ausgeuͤbt werden, ſondern allem dem
ſeinen Gang laßen, und kein Hinderniß oder Ein-
trag darin geſchehen ſolle.” Aber ”in andern Sa-
chen und Faͤllen, hieß es, obige hier namentlich
wiederholte Stuͤcke nicht anlangend, ſolle und moͤge
die geiſtliche Jurisdiction durch die Erzbiſchoͤfe, Bi-
ſchoͤfe und andere Praͤlaten, wie deren Exercitium
an einem jeden Orte hergebracht, und ſie deren
in Uebung und Beſitz ſeyen, hinfuͤr wie bisher
unverhindert ausgeuͤbet werden.” (Ueber dieſen
Vorbehalt haͤtte man wohl vorausſehen koͤnnen,
daß es neue Irrungen geben wuͤrde, da nicht ab-
zuſehen war, was das fuͤr Sachen und Faͤlle ſeyn
koͤnnten, worin die Evangeliſchen ihrer Religions-
freyheit unbeſchadet der bisherigen geiſtlichen Ge-
richtbarkeit unterworfen bleiben ſollten.)


Noch ward bey dieſem Artikel ausbedungen,V.
daß ”den geiſtlichen Churfuͤrſten, Fuͤrſten und Staͤn-
den,
[416]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
den, auch Collegien, Kloͤſtern und Ordensleuten
an ihren Renten, Guͤlten, Zinſen und Zehenden,
weltlichen Lehnſchaften, auch anderen Rechten und
Gerechtigkeiten” durch vorgedachte Aufhebung der
geiſtlichen Gerichtbarkeit nichts benommen ſeyn
ſollte. Doch ſollte ”einem jeden Stande, unter
dem die Renten oder Guͤter gelegen, an denſelben
ſeine weltliche Obrigkeit, ſo er vor Anfang dieſes
Streites in der Religion daran gehabt, vorbehal-
ten ſeyn; und ſollten dennoch von ſolchen obbe-
nannten Guͤtern die nothduͤrftigen Miniſterien der
Kirchen, Pfarren und Schulen, auch die Almoſen
und Hoſpitalien, die ſie vormals beſtellt, ſo auch
ferner beſtellt werden, ungeachtet was Religion die
ſeyen” (w).


VI.

Uebrigens war in dieſer ganzen Stelle des
Religionsfriedens wohlbedaͤchtlich nur von Aufhe-
bung der bisherigen geiſtlichen Gerichtbarkeit in
Anſehung der Evangeliſchen die Rede, nicht aber
was an deren Stelle treten ſollte. Jene Aufhe-
bung war allerdings ein Gegenſtand des Religions-
friedens, der fuͤglich nicht anders als vertrags-
maͤßig zwiſchen beiden Religionstheilen abgeredet
werden konnte. Waren aber nun einmal durch
dieſen reichsgrundgeſetzmaͤßigen Vertrag die Pro-
teſtanten von der bisherigen geiſtlichen Gerichtbar-
keit der Biſchoͤfe und Erzbiſchoͤfe los; ſo war es
jetzt ihre eigne Sache, was ſie fuͤr eine neue Kir-
chenverfaſſung
an ſtatt der bisherigen zu errich-
ten gut fanden. Daruͤber hatte der catholiſche
Religionstheil ſo wenig mit zu ſprechen, als der
evangeliſche Religionstheil begehrte ſich darum zu
bekuͤm-
[417]7) Relig. Fr. 1555. b) geiſtl. Gerichtb.
bekuͤmmern, wie es die Catholiſchen unter ſich fer-
ner mit ihren Einrichtungen halten moͤchten.


Da die Proteſtanten das ganze hierarchiſcheVII.
Syſtem, als einen Mißbrauch, und als ein Hin-
derniß, die Kirchenverfaſſung nach dem wahren
Geiſte des Chriſtenthums einzurichten, anſahen;
ſo galt es fuͤr ſie nur um Wegraͤumung dieſes Hin-
derniſſes, um jetzt ihrer natuͤrlichen Freyheit ſich
zu bedienen. Sie hatten auch nicht noͤthig, dar-
uͤber fuͤr alle evangeliſche Staaten und Laͤnder eine
voͤllig gleichfoͤrmige Einrichtung zu treffen. Son-
dern ſie konnten, wie ich oben ſchon bemerkt habe,
die genauere Beſtimmung davon jedem Staate
oder Lande nach ſeiner eignen Convenienz uͤberlaſ-
ſen. In den meiſten Teutſchen Laͤndern ließen
Landſchaften und Unterthanen gerne geſchehen, daß
ſolche Rechte, die bisher von Biſchoͤfen unter paͤbſt-
licher Gewalt nach Grundſaͤtzen, die ſie ihrem Ge-
wiſſen zuwider hielten, ausgeuͤbt waren, jetzt von
Landesherren, die mit ihnen einerley Religions-
grundſaͤtze annahmen, ausgeuͤbt wurden; zumal
da manche Rechte, welche Pabſt, Biſchoͤfe und
Erzbiſchoͤfe an ſich gezogen hatten, ſelbſt nach rich-
tigen Grundſaͤtzen des allgemeinen Staats- und
Kirchenrechts einer jeden hoͤchſten Gewalt von
Rechtswegen zukommen.


Aber auch ſolche Rechte, die an ſich nicht derVIII.
buͤrgerlichen hoͤchſten Gewalt, ſondern der kirchli-
chen Gewalt einer jeden kirchlichen Geſellſchaft zu-
kaͤmen, und allenfalls collegialiſch ausgeuͤbt wer-
den koͤnnten, uͤberließ man in den meiſten Laͤndern
gerne der Beſorgung der Landesherren, weil man
D dein-
[418]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
einmal gewohnt war, auch in ſolchen Dingen Vor-
ſchriften der Oberen anzunehmen, jetzt aber auch
alle Urſache zum Mißtrauen wegfiel, da Herr und
Land in ihren Religionsgeſinnungen uͤbereinka-
men. Doch bekamen nach Verſchiedenheit der
Verfaſſung der Laͤnder theils Landſtaͤnde mehr oder
mindern Antheil an dieſen Geſchaͤfften, theils wur-
den gemeiniglich beſondere Conſiſtorien errichtet,
die aus geiſtlichen und weltlichen Raͤthen beſtan-
den, und meiſt das zu beſorgen bekamen, was in
catholiſchen Laͤndern nur von der biſchoͤflichen, erz-
biſchoͤflichen oder paͤbſtlichen Gewalt beſorget wurde.


IX.

Was alſo auch irgend ein evangeliſcher Reichs-
ſtand ſeitdem in Kirchenſachen in ſeinem Lande mehr
Gewalt hatte, als ein catholiſcher weltlicher Reichs-
ſtand, das hatte er nicht vermoͤge der Landesho-
heit; denn dieſe blieb bey catholiſchen und evange-
liſchen Reichsſtaͤnden einerley. Sondern es wa-
ren beſonders erworbene Rechte, die ihm von ſei-
ner Landſchaft, weil er mit derſelben ſich zu glei-
cher Religion bekannte, zugeſtanden waren. Ein
jeder evangeliſcher Reichsſtand ſtellte ſeitdem
zweyerley Perſonen vor; gerade wie die catholi-
ſchen geiſtlichen Reichsſtaͤnde. Was dieſe mit welt-
lichen Staͤnden gemein haben, ſind Teutſche Lan-
deshoheitsrechte; was ſie aber nicht als Teutſche
Reichsfuͤrſten, ſondern in ihrer anderen Eigen-
ſchaft als Biſchoͤfe fuͤr Rechte haben, das ſind kei-
ne Rechte der Landeshoheit. So uͤbt ein evange-
liſcher Reichsſtand aus Landeshoheit nur eben die
Rechte, die ein catholiſcher weltlicher Reichsſtand
ausuͤbt. Was er in der Kirchenverfaſſung ſeines
Landes zu ſagen hat, das iſt eigentlich kein Theil
der
[419]7) Relig. Fr. 1555. b) geiſtl. Gerichtb.
der Landeshoheit, ſondern der ihm von ſeiner
Landſchaft ausdruͤcklich oder ſtillſchweigend uͤber-
tragenen kirchlichen Gewalt.


Von demjenigen, was auf ſolche Art ein evan-X.
geliſcher Landesherr uͤber ſeine Unterthanen von
eben der Religion auszuuͤben hat, kann deswegen
kein Schluß gemacht werden, daß nach evangeli-
ſchen Grundſaͤtzen einer jeden hoͤchſten Gewalt von
ſelbſten alle die Rechte zukaͤmen. Viel weniger
kann ein catholiſcher Landesherr, der evangeli-
ſche Unterthanen hat, begehren, daß ſolche Unter-
thanen, die nicht mit ihm gleicher Religion ſind,
eben ſolche Rechte auch ihm geſtatten ſollen.


Aus eben der Urſache koͤnnen auch dem KaiſerXI.
und den Reichsgerichten dergleichen Rechte uͤber
evangeliſche Reichsſtaͤnde und Unterthanen nicht
beygelegt werden. Weder durch den Religions-
frieden noch ſonſt ſind ihnen weitere Rechte beyge-
legt worden, als die ſie vor der Religionstrennung
hatten. Da war aber an eine kaiſerliche oder
reichsgerichtliche geiſtliche Gerichtbarkeit gar nicht
zu denken. Man kann auch nicht ſagen, daß ſie
in Anſehung der Proteſtanten von ſelbſten wieder
aufgelebt waͤre, wie ſie etwa ehedem Carl der Große
gehabt haben moͤchte. Denn Carl der Große
hat doch nie dergleichen Rechte anders als uͤber
ſeine eigne Glaubensgenoſſen auszuuͤben gehabt.
Hier iſt die Frage, was ein catholiſcher Kaiſer uͤber
evangeliſche Mitglieder des Reichs fuͤr Rechte be-
gehren koͤnne? Ueberhaupt iſt bey einer Revi-
viſcenz ſolcher Rechte, die von mehreren Jahrhun-
derten her wieder herbeygeholet werden ſollen, nach
D d 2einer
[420]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
einer inzwiſchen ſo ſehr veraͤnderten Staatsverfaſ-
ſung natuͤrlicher Weiſe vieles zu erinnern. Wegen
des Cammergerichts waͤre es vollends noͤthig gewe-
ſen, daß ein neuer ausdruͤcklicher Auftrag von Kai-
ſer und Reichs wegen, alſo mit Uebereinſtimmung
beider Religionstheile haͤtte geſchehen muͤßen, wenn
es eine neue Gattung von Gerichtbarkeit haͤtte er-
langen ſollen, wie der Fall geweſen ſeyn wuͤrde,
wenn es uͤber die evangeliſchen Mitglieder des
Reichs eine geiſtliche Gerichtbarkeit haͤtte bekommen
ſollen. Daran iſt aber beym Religionsfrieden und
in allen damaligen Reichsgeſetzen kein Gedanke
geweſen.


VIII.
[421]8) Relig. Fr. 1555. c) Kloͤſter ꝛc.

VIII.
Verordnungen des Religionsfriedens 1555. we-
gen der Kloͤſter und des geiſtlichen Vorbehalts.


I. II. Wegen der eingezogenen Kloͤſter wurden billig die
evangeliſchen Reichsſtaͤnde in Ruhe gelaßen; — III. IV. nur
mit Ausnahme ſolcher Kloͤſter, die einem dritten Reichsſtan-
de zugehoͤrten, — wegen derer man die Zeit des Paſſauer
Vertrags zum Entſcheidungsziele feſtſetzte. — V. VI. In
Anſehung der unmittelbaren Stifter war es uͤberhaupt nicht
unbillig, daß auch der evangeliſche hohe und niedere Adel
von der darin zu erwartenden Verſorgung nicht ausgeſchloſ-
ſen wuͤrde; — VII. X. zumal wenn ſowohl Biſchof und
Domherren als die Unterthanen im Lande ſelbſt in Anſehung
der Religion andere Geſinnungen bekamen. — XI. Darin
wollten aber die Catholiſchen durchaus nicht nachgeben. —
Alſo ruͤckte Ferdinand, als eine Art von Machtſpruch, den
ſo genannten geiſtlichen Vorbehalt in den Religionsfrieden; —
XII. der aber an ſich gleich unverbindlich, und leider nur die
Quelle unuͤberſehlicher neuer Streitigkeiten war.


Noch ein wichtiger Gegenſtand des Religions-I.
friedens war endlich der Streit, der wegen
der geiſtlichen Stiftungen zwiſchen beiden Reli-
gionstheilen entſtanden war. Die meiſten evan-
geliſchen Reichsſtaͤnde hatten nunmehr ſchon ſeit
mehreren Jahren nach dem Beyſpiele des Landgra-
fen von Heſſen die unter ihrer Landeshoheit gelege-
nen Stifter und Kloͤſter eingezogen, und zu Kir-
chen, Schulen und milden Sachen oder anderen
Anſtalten verwandt; — in der That nach Grund-
ſaͤtzen, die ſelbſt unter den Catholiſchen nicht ver-
kannt werden, ſofern ſowohl die Wohlfahrt des
Staates, als der wahre Vortheil der Religion
dabey gewinnt, wenn die zu ausgearteten uͤblen
Zwecken verwandten Reichthuͤmer der Kloͤſter zu
D d 3heil-
[422]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
heilſameren und gemeinnuͤtzigeren Abſichten ver-
wandt werden, wie nicht nur in unſeren Tagen,
ſondern auch ſchon von langen Zeiten her catholi-
ſche Maͤchte und ſelbſt geiſtliche Staͤnde in ihren
Laͤndern dergleichen Veraͤnderungen haͤufig vorge-
nommen haben. An manchen Orten war es ſelbſt
mit Zufriedenheit der Ordensleute oder Stiftsper-
ſonen, oder wenigſtens mit ihrer hinlaͤnglichen bil-
ligmaͤßigen Verſorgung geſchehen. Oder Fuͤrſten
und Landſchaften waren doch daruͤber einſtimmig
geweſen. Was hatte alſo im Grunde ein Dritter
dabey zu erinnern?


II.

Hatten die Kronen Frankreich, Spanien, Por-
tugall kein Recht ſich darum zu bekuͤmmern, wenn
in Daͤnemark, Schweden, England mit den Kloͤ-
ſtern und geiſtlichen Stiftungen Aenderungen vor-
genommen wurden; — oder konnten die catholi-
ſchen Cantons in der Schweiz nicht verhindern,
wenn dergleichen Veraͤnderungen in den evangeli-
ſchen Cantons vorgiengen —; und haben endlich
in unſeren Tagen andere Reichsſtaͤnde ſo wenig als
der Kaiſer etwas dabey zu erinnern gehabt, noch
haben koͤnnen, wenn im Hildesheimiſchen, Muͤn-
ſteriſchen, Mainziſchen und Oeſterreichiſchen Kloͤ-
ſter aufgehoben und zu anderen Zwecken verwandt
worden ſind; — was war dann dagegen zu ſagen,
wenn im XVI. Jahrhunderte evangeliſche Staͤnde
ſich angelegen ſeyn ließen, ſchon damals ſolche Ver-
aͤnderungen vorzunehmen, die erſt nach 200. und
mehr Jahren noch jetzt von catholiſchen Maͤchten
und Reichsſtaͤnden geſchehen? — Doch damals
wurde es den evangeliſchen Reichsſtaͤnden, wo
nicht als ein Sacrilegium, doch als ein Spolium,
an-
[423]8) Relig. Fr. 1555. c) Kloͤſter ꝛc.
angerechnet. Verſchiedentlich war deswegen ſelbſt
der Reichsfiſcal am Cammergerichte mit Klagen ge-
gen evangeliſche Reichsſtaͤnde eingekommen. Haͤu-
fig hatte auch das Cammergericht ſchon Mandate
und andere Erkenntniſſe dagegen erlaßen. Jetzt
erhielten die Evangeliſchen es erſt im Religionsfrie-
den, daß es bey der Verordnung, wie es ein jeder
Stand mit den eingezogenen geiſtlichen Guͤtern ge-
macht, gelaßen werden, und dieſelben Staͤnde we-
der inn- noch auſſerhalb Rechtens deshalb beſpro-
chen noch angefochten werden ſollten. Dem Cam-
mergerichte wurde zugleich befohlen, ſolcher Guͤter
halber keine Citation, Mandate oder andere Pro-
ceſſe zu erkennen.


Nur noch eine Beſtimmung wurde in dieſerIII.
Stelle des Religionsfriedens hinzugefuͤget, die
nachher verſchiedentlich zu Mißdeutungen und
Streitigkeiten Anlaß gegeben hat. Hin und wie-
der hatte ſichs gefuͤget, daß Kloͤſter oder andere
geiſtliche Stiftungen in einem evangeliſchen Lande
lagen, aber einem andern Reichsſtande, z. B. als
Zugehoͤre einer reichsſtaͤndiſchen Abtey oder andern
Praͤlatur, eigenthuͤmlich zugehoͤrten. Wenn mit
ſolchen Kloͤſtern oder Stiftungen ein evangeliſcher
Reichsſtand, unter deſſen Landeshoheit ſie gelegen
waren, eine Veraͤnderung vornehmen wollte; ſo
hielt ſich der Reichsſtand, der die Stiftung als
ſein Eigenthum anſah, berechtiget, dagegen Wi-
derſpruch einzulegen und reichsgerichtliche Huͤlfe zu
ſuchen. Hieruͤber wurde die Auskunft getroffen:
Was von ſolchen Kloͤſtern oder Stiftungen ſchon
zur Zeit des Paſſauer Vertrages eingezogen war,
dabey ſollte es verbleiben. Was aber davon zur
D d 4Zeit
[424]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
Zeit des Paſſauer Vertrages oder ſeither noch in
catholiſchen geiſtlichen Haͤnden geweſen, das ſollte
ferner darin bleiben. Im Religionsfrieden wurde
alſo die Sache ſo gefaſſet: daß ſolche eingezogene
geiſtliche Guͤter, ”welche denjenigen, ſo dem Rei-
„che ohne Mittel unterworfen und reichsſtaͤndig
„ſind, nicht zugehoͤrig, und deren Poſſeſſion die
„Geiſtlichen zur Zeit des Paſſauer Vertrages oder
„ſeither nicht gehabt,” in dieſem Friedſtand mit-
begriffen ſeyn ſollten.


IV.

In der Folge wollte man davon eine ſolche
Auslegung machen, daß uͤberall nur ſolche Kloͤſter
und Stiftungen, welche von den Evangeliſchen
ſchon vor 1552. eingezogen waͤren, denſelben ge-
laßen werden ſollten. Allein jene Einſchraͤnkung
gieng offenbar nur auf ſolche Kloͤſter, welche an-
deren unmittelbaren Reichsſtaͤnden zugehoͤrten.
Die landesherrlichen Rechte auch auf andere Kloͤ-
ſter und Stiftungen, die keinem dritten Reichs-
ſtande zugehoͤrten, einzuſchraͤnken, war gar nicht
die Abſicht (x). Evangeliſche Reichsſtaͤnde ließen
ſich daher nicht abhalten, auch nach dem Religions-
frieden aͤhnliche Veraͤnderungen in ihren Laͤndern
vorzunehmen.


V.

Das alles galt inzwiſchen nur von mittelbaren
unter eines evangeliſchen Reichsſtandes Landesho-
heit gelegenen geiſtlichen Stiftungen. Nun blieb
noch eine andere große Frage uͤbrig: wie es in
un-
[425]8) Relig. Fr. 1555. c) Kloͤſter ꝛc.
unmittelbaren Stiftern gehalten werden ſollte,
wenn ein Biſchof oder Erzbiſchof oder anderer Praͤ-
lat, oder auch nur ein Domherr ſich zur Augsbur-
giſchen Confeſſion bekaͤnnte? Auch hier beſtand
der evangeliſche Religionstheil darauf, daß eine
allgemeine Gewiſſensfreyheit ſtatt finden, und alſo
einem jeden frey geſtellt werden muͤßte, ob er bey
der catholiſchen Religion bleiben, oder zur evan-
geliſchen hinuͤbergehen wolle.


Freylich wenn man bloß auf die biſchoͤflicheVI.
Wuͤrde, als ein Kirchenamt, ſehen wollte, ſo ſchien
es dem erſten Anblick nach eben ſo unthunlich,
daß ein catholiſcher Biſchof, wenn er evangeliſch
wuͤrde, ſeine Stelle behalten koͤnnte, als ein evan-
geliſcher Paſtor, wenn er catholiſch wuͤrde, bey ſei-
ner Pfarre bleiben koͤnnte. In ſo weit hatte es
allerdings ſeine gute Richtigkeit, daß ein Proteſtant
kein catholiſcher der paͤbſtlichen Hierarchie unter-
worfener Biſchof ſeyn konnte. Allein wie unſere
Teutſche Biſthuͤmer und Erzbiſthuͤmer nun einmal
beſchaffen waren, da ihre Beſitzer zugleich als
Teutſche Reichsfuͤrſten Land und Leute zu regieren
hatten, ſo war vors erſte in der doppelten Eigen-
ſchaft, die ein jeder Biſchof eines Theils als Bi-
ſchof, aber andern Theils zugleich als Teutſcher
Reichsfuͤrſt und Landesherr in ſeiner Perſon mit
einander verband, unſtreitig das Verhaͤltniß ſo
ungleich, daß, wenn man die Sache aufrichtig
nehmen will, wie ſie iſt, die biſchoͤfliche Wuͤrde
in Teutſchland in der fuͤrſtlichen und landesherr-
lichen Wuͤrde ſich beynahe gaͤnzlich verliehrt. Nicht
jene, ſondern dieſe iſt es, die unſern hohen und
niedern Adel reizt, ſich darum zu bewerben. Selbſt
D d 5die
[426]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
die der biſchoͤflichen Wuͤrde eigentlich anklebenden
Verrichtungen gehen durch Weyhbiſchoͤfe, Vica-
riate und Officialen oder andere Stellvertreter ihren
Gang fort, wenn der Teutſche Biſchof ſich mehr
um ſeinen Hofſtaat und ſeine Landesregierung, als
um die ihm anvertrauten Kirchenſachen bekuͤmmert.
Beynahe kann man es als Ausnahmen von der
Regel anſehen, wenn Biſchoͤfe perſoͤnlich ſich ſol-
chen geiſtlichen Verrichtungen unterziehen, die ſie
durch andere thun laßen koͤnnen. Unter dieſer
Vorausſetzung iſt es ſelbſt ſo widerſprechend nicht,
wenn auch ein Biſthum der catholiſchen Hierarchie
nicht entzogen wird, und doch einen evangeliſchen
Biſchof hat, der nur das beſorgt, was ihm als
Reichsfuͤrſten und Landesherrn obliegt, und die
eigentlich biſchoͤflichen Geſchaͤffte anderen uͤberlaͤßt.


VII.

Aber wie wenn nun vollends in dem Lande,
das dem Biſchofe als Landesfuͤrſten anvertrauet war,
ſich veraͤnderte Geſinnungen in der Religion her-
vorthaten, und nun der Biſchof gleiche Ueberzeu-
gung bekam, wohl gar auch das Capitel, oder doch
ein Theil deſſelben damit uͤbereinſtimmte! Was
ſollte da einen ſolchen geiſtlichen Fuͤrſten zuruͤckhal-
ten, ſeiner Ueberzeugung zu folgen und ſeiner Un-
terthanen Wuͤnſchen zu willfahren? Wie ſich ein
Biſchof von Luͤbeck ſchon in dem Falle gefun-
den hatte, daß er in gleicher Geſinnung mit ſeiner
Landſchaft und ſelbſt mit dem groͤßten Theile des
Domcapitels ſich zur Augsburgiſchen Confeſſion be-
kannte, und alſo dem Pabſte den Gehorſam auf-
kuͤndigte; ſollte er deswegen aufhoͤren, Biſchof
zu Luͤbeck zu ſeyn, und die damit verbundenen
Vorzuͤge eines Teutſchen Reichsfuͤrſten und Landes-
herrn
[427]8) Relig. Fr. 1555. c) Kloͤſter ꝛc.
herrn zu genießen? Oder ſollte er etwa die bi-
ſchoͤfliche Wuͤrde erſt in die Haͤnde des Pabſtes
zuruͤckgeben, und demſelben heimſtellen, die An-
ſetzung eines andern catholiſchen Biſchofs zu ver-
anſtalten? War doch das Land ſelbſt nicht mehr
catholiſch, war auch keine Dioeces mehr da, wo
ein catholiſcher Biſchof noͤthig geweſen waͤre; wo-
zu ſollte dann wieder ein catholiſcher Biſchof an-
geſetzt werden?


Auf der andern Seite war darum auch nochVIII.
keine Folge, daß das Biſthum, das jetzt einen
evangeliſchen Biſchof hatte, nothwendig aufhoͤren
muͤßte, ein Biſthum zu ſeyn, oder daß es aus
einem geiſtlichen in ein weltliches Fuͤrſtenthum ver-
wandelt, mit einem Worte, ſeculariſirt werden
muͤßte. Nein, es konnte, wie bisher, ein geiſt-
liches, ein Wahlfuͤrſtenthum bleiben. Es konnte
ſeine Domherren, mit ihren Activ- und Paſſiv-
Wahlſtimmen behalten. Die damit verbundene
ganze Verfaſſung konnte bleiben, wenn gleich Bi-
ſchof und Domherren nun nicht mehr catholiſch,
ſondern evangeliſch waren.


Das alles war deſto billiger, wenn es damitIX.
nach den Grundſaͤtzen einer voͤlligen Freyſtellung
ohne allen Zwang zugieng, und nunmehr evange-
liſchen adelichen oder hoͤheren Standesperſonen der
Zutritt zu ſolchen biſchoͤflichen oder domherrlichen
Wuͤrden und Einkuͤnften, die auch von Stiftun-
gen ihrer Vorfahren herruͤhrten, eben ſo gut, wie
catholiſchen, zugeſtanden wurde. Wenn auch nicht
ganz Teutſchland daruͤber einig war, was konnte
gleichwohl z. B. Baiern dabey zu erinnern haben,
wenn
[428]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
wenn in einem Niederſaͤchſiſchen Stifte Biſchof und
Domherren ihrer Ueberzeugung von anderen Reli-
gionsſaͤtzen folgten? Oder ſollte der Niederſaͤchſiſche
hohe und niedere Adel den Vortheil in der biſchoͤfli-
chen Wuͤrde oder in Domherrenſtellen ihre Verſor-
gung zu finden, wegen ihrer veraͤnderten Religions-
geſinnungen nun etwa dem Bairiſchen Adel uͤber-
laßen, da doch jene Vortheile urſpruͤnglich gewiß
von ihren eignen Vorfahren, nicht von Vorfahren
des Bairiſchen Adels geſtiftet waren? Mit eben
dem Rechte haͤtten dann auch die Catholiſchen in
Spanien, Portugall u. ſ. w. darauf dringen koͤn-
nen, daß biſchoͤfliche und andere geiſtliche Ehren-
ſtellen in Daͤnemark, Schweden, England, nur
ihnen zu gute kommen muͤßten.


X.

Warum ſollte alſo in Luͤbeck, Magdeburg,
Halberſtadt, Bremen, Verden u. ſ. w., wo das
Land ſelbſt, und großentheils auch das Capitel
ſchon evangeliſch war, nicht auch ein evangeliſcher
Biſchof oder Erzbiſchof gewehlt werden koͤnnen?
Oder wenn einer, der noch als catholiſch Bi-
ſchof oder Domherr geworden war, jetzt mit ver-
aͤnderten Religionsgeſinnungen ſich zur evangeli-
ſchen Religion bekannte, ſollte er darum ſeine bi-
ſchoͤfliche Stelle oder ſeine Pfruͤnde verliehren? —
alſo nur darum, weil er die Augsburgiſche Con-
feſſion annahm, mit dem Verluſte ſeiner Verſor-
gung geſtrafet werden? So waͤre es dann ein
Verbrechen, ſich zur evangeliſchen Religion zu be-
kennen! Das war doch dem evangeliſchen Religions-
theile auf keine Weiſe zuzumuthen, bis in ſolche
Grundſaͤtze mit ihrer Nachgiebigkeit hineinzugehen.


Der
[429]8) Relig. Fr. 1555. c) Kloͤſter ꝛc.

Der catholiſche Theil wollte ſeines Orts eben-XI.
falls nichts weniger als nachgeben. Alſo war
eine Vereinigung uͤber dieſen wichtigen Punct nicht
zu bewirken. So blieb nichts uͤbrig, als dieſen
Punct unentſchieden zu laßen, und auf den Er-
folg kuͤnftiger Zeiten heimzuſtellen. Allein was
geſchah? Im Religionsfrieden wurde zwar ſelbſt
geſagt: uͤber die Frage, wie es in dem Falle, wenn
ein Geiſtlicher von der alten Religion abtreten wuͤr-
de, mit deſſen inngehabten Praͤlaturen oder Bene-
ficien gehalten werden ſollte, haben bey Verglei-
chung dieſes Friedens beider Religionen Staͤnde
ſich nicht vergleichen koͤnnen. Aber an ſtatt es
nun dabey zu laßen, gab der Roͤmiſche Koͤnig mit
Beziehung auf die vom Kaiſer ihm gegebene Voll-
macht und Heimſtellung die Erklaͤrung von ſich:
daß, ”wo ein Erzbiſchof, Biſchof, Praͤlat, oder
ein anderer geiſtlichen Standes von der alten Re-
ligion abtreten wuͤrde, derſelbe ſein Erzbiſthum,
Biſthum, Praͤlatur und andere Beneficien, auch
damit alle Fruͤchte und Einkommen, ſo er davon
gehabt, alsbald ohne einige Verweigerung oder
Verzug, jedoch ſeiner Ehre unnachtheilig, verlaßen
ſollte. Auch ſollte den Capiteln, oder wem es von
Rechtswegen zukomme, alsdann zugelaßen ſeyn,
eine Perſon, die der alten Religion zugethan, zu
wehlen, welche auch ſammt den Capiteln bey den
dazu gehoͤrigen Gerechtigkeiten und Guͤtern gelaßen
werden ſollten; jedoch kuͤnftiger Chriſtlicher Ver-
gleichung der Religion unvorgreiflich” (y).


Dieſe Erklaͤrung bekam ſeitdem den Namen desXII.
geiſtlichen Vorbehalts (reſeruatum eccleſiaſti-
cum),
[430]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
cum), und ward unter den Artikeln, die den ver-
glichenen Religionsfrieden enthielten, in den Reichs-
abſchied vom 25. Sept. 1555. mit eingeruͤckt. Es
ergab ſich aber von ſelbſten, daß dieſer unvergli-
chene Artikel in einem Frieden, worin nichts, als
woruͤber beide Theile ſich wuͤrklich verglichen hatten,
verbindlich ſeyn konnte, von keiner Rechtskraft war.
Denn wenn eine kaiſerliche oder Roͤmiſchkoͤnigliche
Erklaͤrung die Stelle eines Vergleichs haͤtte er-
ſetzen koͤnnen, ſo haͤtte es der ganzen Vergleichs-
handlung nicht bedurft, ſondern eine Erklaͤrung
von der Art haͤtte alles entſcheiden koͤnnen. Allein
eine ſolche Machtvollkommenheit fand hier aller-
dings keine Anwendung. Der geiſtliche Vorbehalt
war und blieb alſo unverbindlich. — Traurig
gnug, daß im Frieden ſelbſt ein ſo wichtiger Punct
unverglichen blieb, und uͤber kurz oder lang einen
neuen Ausbruch weit ausſehender Irrungen beſor-
gen ließ! Natuͤrlicher weiſe ſuchte ſich hernach
jeder Theil ſo gut zu helfen, als er konnte. Manche
geiſtliche Laͤnder, wo ſchon die Landſchaften meiſt
evangeliſch waren, bekamen wuͤrklich evangeliſche
Prinzen, Grafen und Edelleute zu Biſchoͤfen und
Domherren. Wo der catholiſche Religionstheil mit
Beyſtand des kaiſerlichen Hofes es hintertreiben
konnte, da ließ man es nicht dazu kommen.


IX.
[431]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.

IX.
Guͤnſtige und unguͤnſtige Ausſichten auf die Zu-
kunft; Gleichgewicht der Religion unter den
Churfuͤrſten; aber Auf kommen der Jeſuiten!


I. II. Gluͤckliches Gleichgewicht fuͤr die Ruhe von Teutſch-
land in der voͤlligen Religionsgleichheit der ſechs Churfuͤr-
ſten. — III. IV. Aber unguͤnſtige Ausſichten fuͤr die Zukunft
in dem neu entſtandenen Jeſuiterorden. — V-VII. Deſſen
Schulunterricht, Moral und Eingang bey Hoͤfen. — VIII.
IX.
Erwerbungsmittel. — X. Innere Einrichtung des Or-
dens. — XI. Deſſen wahre Beherrſchung der Welt. —
XII. Seine genaue Verbindung mit dem paͤbſtlichen Stuhle. —
XIII. Letzter Zweck des Ordens ſeine eigne Wohlfahrt. —
XIV. Hauptbemuͤhungen deſſelben gegen die Proteſtanten ge-
richtet, — XV. entweder ihnen Haß und Verfolgung zuzu-
ziehen, — XVI. oder ſie zur Roͤmiſchen Kirche zuruͤckzubringen.


Sowohl bey Errichtung des ReligionsfriedensI.
als fuͤr deſſen Aufrechthaltung in der folgen-
den Zeit war es ein großes Gluͤck, daß das chur-
fuͤrſtliche Collegium
in gleicher Anzahl catholi-
ſche und evangeliſche
mitſtimmende Glieder hatte.
Die Boͤhmiſche Stimme wurde in den churfuͤrſt-
lichen Berathſchlagungen nun ſchon nicht mehr
zugezogen. In Reichsgeſetzen ſprach man immer
nur von ſechs Churfuͤrſten. Von dieſen waren die
drey geiſtlichen Mainz, Trier, Coͤlln, catholiſch;
die drey weltlichen Sachſen, Brandenburg, Pfalz,
evangeliſch; alſo beiderley Religionen in voͤllig glei-
cher Anzahl Stimmen. Und wenn man dieſe ſechs
Churfuͤrſten nicht bloß nach ihrer Anzahl, ſondern
nach ihrem Gewichte an Macht und Laͤndern mit
einander verglich; ſo war das Uebergewicht offen-
bar
[432]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
bar ungleich ſtaͤrker auf der evangeliſchen als catho-
liſchen Seite.


II.

Wenn nun gleich im Reichsfuͤrſtenrathe der
groͤßere Theil der Staͤnde catholiſch blieb, und dieſe
Mehrheit der Stimmen zum Nachtheil der Pro-
teſtanten geltend zu machen ſuchen wollte; ſo hielt
das churfuͤrſtliche Collegium, ohne deſſen Beytritt
kein Reichsſchluß gemacht werden konnte, doch im-
mer noch dagegen ein gluͤckliches Gleichgewicht.
So lange dieſes ſtatt fand, beſtand darin noch die
groͤßte Schutzwehr fuͤr die Proteſtanten, und die
Grundfeſte der innerlichen Ruhe des Teutſchen
Reichs. Sonſt wuͤrde des Friedens ungeachtet
wenig Ruhe zu erwarten geweſen ſeyn. Denn die
meiſten Catholiſchen konnten ſich der Gedanken nicht
entſchlagen, daß ihre Religion die herrſchende,
die proteſtantiſche nur neu aufgenommen, und nach
den Grundſaͤtzen einer ungleichen Duldung zu be-
handeln ſey. Vielen, und natuͤrlicher Weiſe haupt-
ſaͤchlich dem paͤbſtlichen Stuhle war der ganze Re-
ligionsfriede etwas aͤußerſt verhaßtes und unleid-
liches. Mit den bisherigen hierarchiſchen Grund-
ſaͤtzen ließ ſichs kaum vereinigen, daß ohne Zu-
thun des Pabſtes und der Kirche ein ſolcher Ver-
trag fuͤr rechtsbeſtaͤndig gehalten werden ſollte.
Doch das alles wuͤrde weniger zu bedeuten gehabt
haben, wenn um eben die Zeit, da die paͤbſtliche
Hierarchie einen ſo großen Stoß bekam, dieſelbe
auf der andern Seite nicht auch wieder eine maͤch-
tige neue Stuͤtze bekommen haͤtte.


III.

Die Stuͤtzen, welche der paͤbſtliche Stuhl am
Moͤnchsweſen und inſonderheit an den Bettelorden
bis-
[433]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.
bisher gehabt hatte, waren ziemlich wankend und
baufaͤllig geworden. Seitdem mit Erfindung der
Buchdruckerey und Herſtellung der alten Litteratur
ſich mehr Aufklaͤrung verbreitet, und ſeitdem vol-
lends Luther ſo laut, ſo nachdruͤcklich und ſo deut-
lich geſprochen und geſchrieben hatte, waren die
unwiſſenden Moͤnche mehr ein Gegenſtand des
Spottes als der Hochachtung geworden. Jetzt
entſtand aber ein Orden von ganz entgegengeſetzter
Art; eine Geſellſchaft ausgeſuchter Koͤpfe (z), die
ſich uͤber den bisherigen zweckloſen Zwang der
Moͤnche in ihren Zellen und an gewiſſe Stunden
bey Tag und bey Nacht gebundenen gottesdienſtli-
chen Handlungen hinausſetzten, und ſich zu einem
deſto thaͤtigern Leben mit Unterricht der Jugend,
Predigen und Beichtſitzen, Ausbreitung der Re-
ligion unter Unglaͤubigen und Widerſtand gegen
weitere Trennungen von der Roͤmiſchen Kirche
widmeten. Auch ihre innere Verfaſſung war von
der Einrichtung der uͤbrigen bisherigen Orden darin
ſehr unterſchieden, daß ſie unter ſich eine voͤllig
abſolutmonarchiſche Regierungsform einfuͤhrten,
mit der ſtrengſten Unterwerfung unter ihrem Ge-
nerale und den davon wieder abhangenden Provin-
cialen und anderen Oberen.


Der
E e
[434]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
IV.

Der paͤbſtliche Stuhl fand erſt ſelbſt Bedenken
dieſen neuen Orden zu beſtaͤtigen; er mochte nicht
ohne Grund beſorgen, daß ein ſolcher Orden dem
Pabſte ſelbſt uͤber den Kopf wachſen koͤnnte. An-
fangs (1540.) erhielt der Orden nur die Genehmi-
gung fuͤr eine Anzahl von 60. Perſonen, doch end-
lich erfolgte (1543. Maͤrz 14.) deſſen unbeſchraͤnk-
te Beſtaͤtigung. Und nun wuchs die Anzahl die-
ſer Geſellſchafter Jeſu oder Jeſuiten, wie ſie ſich
nannten, noch vor Ablauf des XVI. Jahrhunderts
bis auf 10. tauſend, die ſich in der Folge noch bis
uͤber 20. tauſend vermehrten, und in alle catholi-
ſche Staaten und alle Welttheile verbreiteten (a).
Sie
[435]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.
Sie uͤbernahmen uͤberall den Unterricht der Ju-
gend, ohne daß ſie eine eigne Bezahlung dafuͤr
ver-
(a)
E e 2
[436]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
verlangten. Ihre Lehrart war in ihrer Art neu;
zwar mehr handwerksmaͤßig und zum aͤußern
Schein, als mit aͤchtem Geſchmack und zur wah-
ren Aufklaͤrung zweckmaͤßig eingerichtet; aber doch
ſo, daß ihre Zoͤglinge ſcheinen und glauben konn-
ten etwas zu wiſſen. — Was haͤtte fuͤr ein beſſe-
res Mittel erdacht werden koͤnnen, um ſich aller
Orten Eingang zu verſchaffen, da fuͤr Eltern nichts
wichtiger ſeyn kann, als den Unterricht ihrer Kin-
der in guten Haͤnden zu wiſſen? Wie weit ausſe-
hend konnte auf der andern Seite der Umſtand be-
nutzt werden, daß der Orden den Unterricht der
Jugend ſowohl in hoͤheren als niederen Schulen
bald uͤberall beynahe ausſchließlich ſich zu eigen zu
machen wußte; daß er es dann in ſeiner Gewalt
hatte, uͤberall gleichfoͤrmig zu Werke zu gehen;
wenn er wollte, Ziel und Maaß zu halten, wie
weit die Aufklaͤrung ſich erſtrecken ſollte; uͤberall
gewiſſe Grundſaͤtze, wie ſie der Orden ſeinem Sy-
ſteme dienlich fand, einzufloͤßen; und Faͤhigkeit
und Neigungen kuͤnftiger Buͤrger und Staatsleute
kennen zu lernen, fuͤr ſich aber in Zeiten die beſten
Koͤpfe auszuſuchen und zum Eintritt in ihre Ge-
ſellſchaft aufzumuntern? (b)


Ihr
[437]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.

Ihr Schulunterricht beſchraͤnkte ſich meiſt aufV.
mechaniſche Kenntniß der Lateiniſchen Sprache
und
(b)
E e 3alles,
[438]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
und erkuͤnſtelte Beredtſamkeit, auf ſcholaſtiſche in
zahlloſe Kunſtwoͤrter und ſpitzfindige caſuiſtiſche
Fragen verwickelte Philoſophie und Theologie, al-
lenfalls auch auf Phyſik und Mathematik. Aechte
Philologie und Geſchichte, und was davon auf
Bildung wahrer Gelehrſamkeit fuͤr Einfluß zu er-
warten iſt, war nicht das, was ſie zu cultiviren
und auszubreiten ſuchten.


VI.

Ihre Grundſaͤtze waren fuͤrchterlich, wo es
darauf ankam, diejenigen, die ihnen zuwider wa-
ren, zu unterdruͤcken, oder Verfolgung und Rache
auszuuͤben. Geſchmeidig war ihre Moral, wenn
ſie es zutraͤglich fanden, ihre Beichtkinder glimpf-
lich zu behandeln. Ein Grundſatz, den ſie annah-
men, daß es keine Suͤnde ſey, was man aus
wahrſcheinlichen Gruͤnden thue, und daß eine gute
Abſicht auch boͤſe Handlungen rechtfertigen koͤnne,
war ſehr dazu behuͤlflich, Leidenſchaften nachzuſe-
hen,
(b)
[439]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.
hen, und nach Befinden Fehler und Vergehungen
bis zu den groͤbſten Laſtern und Verbrechen zu be-
ſchoͤnigen. Ihr eignes Betragen war manierlich.
Sie kleideten ſich reinlich und mit Anſtand. Ihr
ganzes aͤußerliches Weſen ſchien Sittſamkeit, Be-
ſcheidenheit und eine ſtrenge Tugendliebe anzuzei-
gen (c).


So
E e 415)
[440]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
VII.

So war es kein Wunder, daß ſie bey Hoͤfen,
und in großen Staͤdten bey erhabenen, vorneh-
men, reichen und angeſehenen Perſonen beiderley
Geſchlechts vor allen anderen Geiſtlichen bald den
allgemeinſten Zutritt erlangten. Es vergiengen
wenige Jahre, ſo hatten ſie ſowohl die Canzeln
in den meiſten und wichtigſten Kirchen, als die
Beichtſtuͤhle großer Herren und aller Perſonen
von Stande faſt gaͤnzlich an ſich gezogen. Andere
Ordensleute, die ſonſt dieſen Vorzug genoſſen,
mußten ihnen bald Platz machen. Doch wußten
ſie auch die Moͤnchskunſtgriffe, das gemeine Volk
mit Wundererzehlungen und Andaͤchteleyen zu un-
terhalten, zu ihrem Vortheile wohl zu benutzen (d).


Das

(c)


[441]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.

Das Geluͤbde der Armuth, das ſie nebſt demVIII.
Geluͤbde des Gehorſams und eheloſen Standes
gleich anderen Orden ablegten, geſtattete zwar ein-
zelnen Jeſuiten nicht auf Reichthuͤmer zu denken.
Aber die ganze Geſellſchaft und ein jedes Collegi-
um konnte Guͤter beſitzen und Einkuͤnfte haben,
die vorzuͤglich auf praͤchtige Gebaͤude, koſtbare
Kirchengeraͤthe, Buͤcherſammlungen, Gaͤrten u.
d. g. oder wo es ſonſt die Oberen der Geſellſchaft
gut fanden, verwandt wurden. In ſolcher Ab-
ſicht waren ihnen Schenkungen und milde Stif-
tungen nichts weniger als gleichguͤltig. Selbſt in
der Wahl ihrer Mitglieder kam Reichthum und
vornehme Gebuhrt darum eben ſo ſehr in Betrach-
tung, als Faͤhigkeit des Kopfes, worauf ſie ſonſt
vorzuͤglich ſahen. Wo Wittwen oder andere Perſo-
nen von großem Vermoͤgen keine oder nur entfernte
Erben hatten, da war ihnen kein Mittel zu ſchwer
oder bedenklich, um ſie zu milden Stiftungen zu
ihrem Beſten zu bewegen.


Doch

(d)


E e 5
[442]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
IX.

Doch kein Mittel von der Art war ſo ergiebig,
als dasjenige, wozu ein viertes Geluͤbde Anlaß
gab, wodurch ſie ſich anheiſchig machten, zu allen
Miſſionen in auswaͤrtige Laͤnder und andere Welt-
theile auf Befehl des Pabſtes und zum Vortheile
der Roͤmiſchen Kirche ſich gebrauchen zu laßen,
ohne einen paͤbſtlichen Geldbeytrag dazu zu ver-
langen. Nur die Erlaubniß hatte die Geſellſchaft
ſich ausbedungen, daß ſie zu Unterhaltung ihrer
Miſſionarien bey entfernten Voͤlkern, an deren Be-
kehrung ſie arbeiteten, Waaren umſetzen duͤrften.
Das gab ihnen fruͤhzeitig Gelegenheit in Oſt- und
Weſtindien einen vortheilhaften Handel zu treiben,
den ſie nach und nach ſo ausbreiteten, daß ihnen
dadurch eine Quelle zu unermeßlichen Reichthuͤ-
mern geoͤffnet wurde. Mit dem Anfange des
XVII. Jahrhunderts bekamen ſie den Zutritt zu
Paragay, einer fruchtbaren Provinz im mittaͤgli-
chen Theile des feſten Landes von America. Deren
Einwohner, die bisher kuͤmmerlich von Jagd und
Fiſcherey lebten, lehrten ſie zuerſt Feldbau, Vieh-
zucht und die Vortheile des geſelligen Lebens mit
den dazu noͤthigen Kuͤnſten und Geſchicklichkeiten.
Daruͤber bildete ſich aber auch die Geſellſchaft hier
einen eignen Staat, wo ſie mehr als 100. tauſend
Unterthanen beherrſchte, und mit kluger Entfernung
von allen benachbarten Spaniern und Portugieſen
in ſolchen Stand ſetzte, daß ſelbſt ein Kriegsheer,
das mit allem verſehen und in Waffen geuͤbt war,
ihr zu Gebot ſtand, wenn ſich der Fall ereignen
ſollte, eines gewaltſamen Schutzes hier zu beduͤrfen.


X.

Die innere Einrichtung der Geſellſchaft war
uͤbrigens ſo, daß niemand eher, als im 33. Jahre
ſei-
[443]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.
ſeines Alters und nach einem 13. jaͤhrigen Novi-
tiate, mithin nach einer beiderſeitigen hinlaͤnglichen
Pruͤfung zur Profeſſion gelaßen wurde. Und
dann ward doch noch ein großer Unterſchied unter
den Mitgliedern der Geſellſchaft gehalten, nachdem
man ſie mehr oder weniger in den wahren Ge-
heimniſſen des Ordens einzuweihen gut fand.
Ihre Subordination war aber ſo ſtrenge, daß
ein jeder Jeſuit gaͤnzlich ſeinem eignen Willen ent-
ſagen, und dem unbeſchraͤnkteſten Gehorſame gegen
ſeine Oberen ſich unterwerfen mußte. So ſtand
ſtuffenweiſe jeder Jeſuit unter ſeinem Rector, die-
ſer unter dem Provinciale, und die ganze Geſell-
ſchaft unter dem Generale des Ordens, der zu
Rom ſeinen Sitz, und daſelbſt etliche Aſſiſtenten
zum Beyſtande hatte. Dieſer General bekam zu
beſtimmten Zeiten, oder ſo oft er es verlangte,
ſchriftliche Berichte aus allen Provinzen, worin
ſowohl der innere Zuſtand der Geſellſchaft und ihrer
Mitglieder als andere die Geſellſchaft intereſſirende
Perſonen und Vorfaͤlle aufs genaueſte geſchildert
wurden. Dadurch war der General im Stande,
aus allen Laͤndern und Welttheilen Nachrichten ein-
zuziehen, und Einfluͤſſe des Ordens geltend zu
machen.


So hatte dieſer Orden, ehe man ſichs verſah,XI.
in der That die Herrſchaft der Welt an ſich ge-
zogen. Kein Cabinet war ihm undurchdringlich;
keine Angelegenheit ſo groß oder klein, wo er ſich
nicht einen Zugang und Einfluß zu verſchaffen wuß-
te, wenn es ihm darum zu thun war. — Und
nun wehe dem, wer in den Umſtaͤnden war, daß
ihn der Orden ſeine Uebermacht, ſeinen Haß, ſeine
Rachſucht konnte fuͤhlen laßen!


Bey
[444]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
XII.

Bey allem dem hielt ſich der Orden immer an
den paͤbſtlichen Stuhl angelehnt, deſſen Hoheit
deswegen von ſeinen Mitgliedern aufs aͤußerſte
getrieben und vertheidiget wurde. Im Grunde
geſchah das aber nur, um unter dem Schutze der
paͤbſtlichen Hierarchie ſelbſt alle Gewalt ausuͤben
zu koͤnnen, und in der Zuverſicht, daß der Pabſt
ſelbſt den Orden nicht entbehren, und ſelten anders,
als nach der Abſicht und Einleitung des Ordens
zu Werke gehen konnte.


XIII.

So nahm der Orden uͤberall dem Namen nach
das Heil der Kirche und den Willen des ſichtbaren
Oberhaupts derſelben zum Schilde ſeiner Unter-
nehmungen. Aber die wahre Triebfeder, und
der letzte Zweck, worauf alles abzielte, beſtand in
der Wohlfahrt und immer groͤßeren Aufnahme
der Geſellſchaft.
Das gab aber auch derſelben
im Ganzen und in allen ihren Gliedern eine ſolche
Feſtigkeit, einen ſolchen Zuſammenhang, einen ſol-
chen immer aufs Ganze gerichteten Geiſt (Eſprit
de Corps)
, daß ſchwerlich jemals ein aͤhnliches
Beyſpiel zu finden ſeyn wird. Ein Geiſt, eine
Seele ſchien die ganze Geſellſchaft zu beleben.
Ein Mitglied derſelben ſprach, wie das andere.
Ihre Geſinnungen, ihre Gedanken, ſchienen, wie
nach einer Form, gemodelt zu ſeyn. Wie haͤtte
aber auch nicht jedes einzelne Mitglied einer ſol-
chen Geſellſchaft an der Wohlfahrt des Ganzen
Theil nehmen ſollen, da ein jeder in ſeiner Stelle
auch den Vortheil des allgemeinen Uebergewichts
des Ordens mit zu genießen hatte, und ſelbſt im
Orden von einer Stuffe zur andern immer weiter
zu kommen ſich ſchmeichlen durfte?


Nur
[445]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.

Nur Ein Hinderniß, das dem Orden in Aus-XIV.
uͤbung einer allgemeinen Herrſchaft uͤber die Welt,
oder auch nur uͤber ganz Europa, im Wege ſtand,
fand ſich in den Laͤndern und Staaten, die ſeit
Luthers Zeiten dem Roͤmiſchen Stuhle und allen
damit in Verbindung ſtehenden Ordensgeſellſchaf-
ten den Gehorſam aufgekuͤndiget hatten. Zwar
hielt ſich der Orden auch das zu gute, an Orte,
wo ſeine Mitglieder in ihrer gewoͤhnlichen Geſtalt
keinen Zutritt hatten, entweder Leute ihres Mittels
unter anderen Namen, in anderen Charactern und
Kleidungen zu ſchicken, oder mit Geld oder ande-
ren Vortheilen ſich Freunde, von welcher Religion
und Gattung ſie auch ſeyn mochten, zu verſchaffen
und zu ihrem Vortheile in Bewegung zu ſetzen.
Inzwiſchen war doch allemal den meiſten proteſtan-
tiſchen Reichen und Laͤndern mit unmittelbaren Ein-
wirkungen zu ſchwer beyzukommen. Auch war
uͤberhaupt dem ganzen Ordensſyſteme nichts ſo ſehr
entgegen, als das evangeliſche Religionsweſen,
nicht nur wegen deſſen gaͤnzlicher Abweichung von
der paͤbſtlichen Hierarchie, ſondern auch wegen der
Freyheit und Aufklaͤrung, die in proteſtantiſchen
Schriften und hohen und niederen Schulen herrſchte.


Eben deswegen war auch von allen Bemuͤ-XV.
hungen der ganzen Geſellſchaft und eines jeden
einzelnen Jeſuiten keine allgemeiner und eifriger,
als die dahin abzielte, dieſes Hinderniß aus dem
Wege zu raͤumen, oder doch ſoviel nur moͤglich
zu vermindern, und eben dadurch das, was an
ihrem allgemeinen Wirkungskreiſe abzugehen ſchien,
noch zu erſetzen und wo moͤglich voͤllig zu ergaͤn-
zen. In dieſer Abſicht war keine Lehre, die in
jeſui-
[446]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
jeſuitiſchen Schulen, Predigten, Beichtſtuͤhlen und
Schriften eifriger betrieben wurde, als die von
der Einheit der Kirche, von der Verdammung aller
nicht zur Roͤmiſchen Kirche gehoͤrigen Menſchen,
und vom Verbrechen der Ketzerey. Nichts wurde
ſo abſcheulich geſchildert, als das, was Luther
gelehrt habe. Kein Mittel wurde geſpahrt, jedem
catholiſchen Chriſten von der fruͤheſten Jugend an
einen wahren Haß und Abſcheu, und wo moͤglich
den aͤußerſten Verfolgungsgeiſt gegen alle Pro-
reſtanten
einzufloͤßen (e). Damit ward vorerſt
der Zweck ziemlich erreicht, daß von nun an, wer
einmal catholiſch war, und jeſuitiſchen Unterricht
genoſſen hatte, ſo leicht nicht mehr ſich beykom-
men ließ, ſich zur evangeliſchen Religion zu be-
kennen.


XVI.

Aber nun war man auch darauf bedacht,
vielmehr umgekehrt Proteſtanten wieder in den
Schoß der catholiſchen Kirche zuruͤckzubringen.
Hier wurden keine Mittel unverſucht gelaßen, wo
nur einige Moͤglichkeit ſchien, proteſtantiſchen Koͤ-
nigen und Regenten beyzukommen, und inſonder-
heit
[447]9) Ausſicht wegen d. Churf. u. Jeſuit.
heit den Bewegungsgrund geltend zu machen,
daß ſelbſt nach proteſtantiſchen Grundſaͤtzen einem
Catholiſchen die Moͤglichkeit ſelig werden zu koͤn-
nen nicht abgeſprochen werde, wohl aber umge-
kehrt; und daß alſo doch am ſicherſten ſey, den
catholiſchen Glauben anzunehmen, (und alſo ſich
denen zuzugeſellen, die das dem Geiſte der Religion
Chriſti, die nichts ſo ſehr als allgemeine Menſchen-
liebe einſchaͤrft, fuͤr gemaͤß halten, daß alle, die
ſich nicht zu ihrer kirchlichen Gemeinſchaft halten,
verdammt, gehaßt und verfolgt werden muͤßten!)
Hauptſaͤchlich galt es darum, in Teutſchland nicht
nur dem weiteren Fortgange der bisherigen Refor-
mation entgegen zu arbeiten, ſondern wo moͤglich
ganze Laͤnder durch eine Gegenreformation wie-
der zur catholiſchen Kirche zu bringen. Das alles
gibt erſt den wahren Aufſchluß zur ganzen fol-
genden Geſchichte. — Doch ehe ich den Faden
dieſer Geſchichte weiter verfolge, muß ich nun
noch verſchiedene andere Dinge nachholen, die ſonſt
noch die Regierung Carls des V. fuͤr alle folgende
Zeiten, inſonderheit in Anſehung unſerer noch jetzt
dauernden Staatsverfaſſung unvergeßlich machen.


X.
[448]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.

X.
Andere Veraͤnderungen in Reichsſachen unter
Carl dem V.


I. II. Neue Cammergerichtsordnung 1548. und von
neuem promulgirt 1555. — III. Jaͤhrliche Viſitation des
Cammergerichts, nebſt der damit verbundenen Reviſion. —
IV. Erneuerung des Landfriedens. — V-VII. Verbeſſerte
Kreisverfaſſung mit Kreisverſammlungen und kreisausſchrei-
benden Fuͤrſten. — VIII. Reichsexecutionsordnung. —
IX. Cammergerichts- und Reichs-Matrikel. — X. XI. Letz-
tere nach ſo genannten Roͤmermonathen, — XII. XIII.
und ſeit 1543. mit Beſteurung der Landſchaften. — XIV.
Begruͤndung der heutigen Verfaſſung der Reichsritterſchaft. —
XV. Muͤnzordnung; peinliche Halsgerichtsordnung; Reichs-
polizeyordnung. — XVI. XVII. Vertraͤge mit Lothringen
und Burgund uͤber ihr Verhaͤltniß zum Reiche.


I.

Eines der wichtigſten Stuͤcke der Teutſchen Reichs-
verfaſſung, das unter Carl dem V. neue Be-
ſtimmungen erhielt, und worauf auch das Reli-
gionsweſen nicht ohne Einfluß blieb, betraf das
unter der vorigen Regierung errichtete Cammerge-
richt. Gleich auf dem erſten Reichstage, den Carl
1521. zu Worms hielt, wurden demſelben verſchie-
dene neue Vorſchriften gegeben. Aber eine vollſtaͤn-
dige ganz neue Geſetzgebung veranlaßte der Kaiſer
durch einen Auftrag an zwey Beyſitzer des Cammer-
gerichts, Doctor Braun und Doctor Viſch. Dieſe
beiden Maͤnner entwarfen eine ganz ausfuͤhrliche
Cammergerichtsordnung in drey Theilen, wo-
von der erſte die Verfaſſung des Gerichts, der
zweyte die Gerichtbarkeit deſſelben, der dritte den
Proceß betraf; Ein Werk, das in ſeiner Art nach
der
[449]10) Veraͤnderungen in Reichsſachen.
der damaligen Zeit fuͤr ein Meiſterſtuͤck gelten
konnte, und bis auf den heutigen Tag nicht nur
als ein im Ganzen noch jetzt dem Cammergerichte
zur Richtſchnur dienendes Reichsgeſetz ſeinen Werth
behalten hat, ſondern auch zur Quelle faſt aller
darauf gefolgten Proceßordnungen in Teutſchen
Laͤndern geworden iſt, und da, wo keine beſondere
reichsſtaͤndiſche Proceßordnungen vorhanden ſind,
auch noch jetzt als gemeines Recht ſeine geſetzliche
Kraft hat.


Auf dem Reichstage, den Carl im Jahre 1547.II.
nach der Schlacht bey Muͤhlberg beynahe mit un-
beſchraͤnkter Macht zu Augsburg hielt, ließ er dieſe
Cammergerichtsordnung den Reichsſtaͤnden vorle-
gen, und 1548. mittelſt Drucks promulgiren. Ver-
moͤge des Religionsvertrages vom Jahre 1532.
ſollten auch evangeliſche Raͤthe vom Cammerge-
richte nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Allein jetzt wurde
feſtgeſetzt, daß keine andere als catholiſche Mitglie-
der am Cammergerichte geduldet werden ſollten.
Jedoch eben deswegen kam es nach dem Umſchlag
der Sachen, der ſich mit dem Paſſauer Vertrage
1552. und dem Religionsfrieden 1555. ereignete,
auch in Anſehung des Cammergerichts dahin, daß
jene Stelle der Cammergerichtsordnung dahin abge-
aͤndert werden mußte: ”daß Cammerrichter und
Beyſitzer, desgleichen alle andere Perſonen des
Cammergerichts von beiden der alten Religion und
dann der Augsburgiſchen Confeſſion praͤſentirt und
geordnet werden moͤchten, und deswegen nicht aus-
zuſchließen ſeyen.” Woruͤber die ganze Cammer-
gerichtsordnung nun erſt 1555. mit dieſer Abaͤnde-
rung neu promulgirt wurde.


F fVon
[450]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
III.

Von dieſer Zeit an kam das Cammergericht,
nachdem es vorher ſchon mehrmalen unterbrochen
worden war, erſt recht in Aufnahme. Unter an-
dern kam auch das in Gang, daß alle Jahre eine
Viſitation des Gerichts geſchah, wozu jedesmal
ein kaiſerlicher Commiſſarius und nebſt Churmainz,
noch ein Churfuͤrſt, ein geiſtlicher Fuͤrſt, ein welt-
licher Fuͤrſt, ein Praͤlat, ein Graf, und eine
Reichsſtadt nach der Ordnung, wie ſie auf dem
Reichstage ſaßen, beſtimmt waren, um ihre ſubde-
legirte Raͤthe dazu zu ſchicken. Dieſe fanden ſich
dann mit dem Anfange des Maymonaths am Orte
des Gerichts ein, und ſtellten nicht nur uͤber den
Zuſtand des Gerichts in Anſehung der etwa einge-
riſſenen Real- oder Perſonalgebrechen die noͤthigen
Unterſuchungen an, um ſelbigen nach Befinden ſelbſt
abzuhelfen, oder an Kaiſer und Reich daruͤber zu
berichten; Sondern ſie waren auch bemaͤchtiget,
einzelne Rechtsſachen, worin das Cammergericht
geſprochen hatte, von neuem zu eroͤrtern, wenn
Partheyen mit Beobachtung der deshalb vorgeſchrie-
benen Erforderniſſe um Reviſion nachgeſucht hat-
ten. So konnte ſowohl Partheyen, wenn ſie ſich
durch Urtheile des Cammergerichts beſchwert hielten,
als dem Gerichte, wenn es ohne Grund beſchuldi-
get wurde, Gerechtigkeit widerfahren. Und mit
eben dem Mittel war dafuͤr geſorgt, daß das Ge-
richt unter beſtaͤndiger Aufſicht erhalten wurde, und
jede noͤthig befundene Verbeſſerung von Zeit zu Zeit
gruͤndlich angebracht werden konnte. Man kann
mit Grunde behaupten, daß das Cammergericht
nie bluͤhender geweſen, als ſo lange dieſe Anſtalt
der jaͤhrlichen ordentlichen Viſitation in ihrem ge-
ſetzmaͤßigen Gange erhalten wurde.


Nach
[451]10) Veraͤnderungen in Reichsſachen.

Nach der genauen Beziehung, welche dasIV.
Cammergericht und der Landfriede auf einander
hatten, war es ſehr zweckmaͤßig, daß Carl der V.
mit der neuen Cammergerichtsordnung auch den
Landfrieden von neuem promulgirte. Auch dies ge-
ſchah nicht ohne einige Zuſaͤtze, als inſonderheit
daß niemand auch einige verbotene Conſpiration
oder Buͤndniß wider den andern machen, daß das
Cammergericht uͤber Haltung des Landfriedens zu
wachen nach genau beſtimmten Vorſchriften alle
Gewalt haben, und daß auch wider ſolche, die
des Friedbruchs, oder daß ſie Friedbrechern heim-
lich Zuſchub gethan, verdaͤchtig ſeyen, gerichtlich
verfahren werden ſolle.


Beide ſowohl das Cammergericht als der Land-V.
friede wurden durch die Kreisverfaſſung unter-
ſtuͤtzt, wie ſie unter dem Kaiſer Max ſchon in Gang
gebracht war, aber jetzt erſt recht zweckmaͤßig ein-
gerichtet wurde. Ein Umſtand, der doppelte Auf-
merkſamkeit verdiente, ſeitdem mit Erloͤſchung des
Schwaͤbiſchen Bundes eine andere Stuͤtze, die
bisher beiden Anſtalten zu ſtatten gekommen war,
aufgehoͤret hatte.


Weil ſich beym Antritt der Regierung CarlsVI.
des V. hervorthat, daß nicht alle Kreiſe ſo, wie es
unter Max dem I. verfuͤgt worden war, ihre Kreis-
oberſten gewehlt hatten; ſo ſchlug das Reichsregi-
ment im Jahre 1522. das erſtemal den Weg ein,
eine kaiſerliche Erklaͤrung, die fuͤr alle Staͤnde be-
ſtimmt war, in jedem Kreiſe an den erſten Fuͤrſten
im Range zu ſchicken, oder, wo geiſtliche und welt-
liche Fuͤrſten waren, die uͤber den Rang ſtritten,
F f 2wie
[452]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
wie in den ſechs alten Kreiſen, an die zwey erſten
Fuͤrſten von der geiſtlichen und weltlichen Bank,
mit dem Auftrage daruͤber mit ihren Kreismitver-
wandten zu handeln. Hernach hieß es im Reichs-
abſchiede 1530. §. 103.: ”Die Oberen eines jeden
Kreiſes ſollten die andern Mitglieder deſſelben zu-
ſammen berufen.” So kamen nach und nach ei-
gene Kreisverſammlungen in einzelnen Kreiſen
in Gang. Und jene Fuͤrſten, die den damaligen
Auftrag anfangs nur fuͤr dasmal erhalten hatten,
bekamen unvermerkt einen fortwaͤhrenden Vorzug,
als die Fuͤrſten, die bisher die Kreistage ausge-
ſchrieben (wie ſie in den Reichsabſchieden 1542.
und 1544. genannt werden,) oder, wie hernach
der Ausdruck gewoͤhnlich geworden, der zuerſt im
R. A. 1555. §. 57. vorkoͤmmt, als kreisaus-
ſchreibende Fuͤrſten.


VII.

Dieſes Kreisausſchreibamt hat in der Folge
ſich nicht nur auf das Ausſchreiben der Kreisver-
ſammlungen oder ſchriftliche Mittheilung an die
uͤbrigen Kreismitſtaͤnde eingeſchraͤnkt, ſondern in
den meiſten Kreiſen auch die Direction ſowohl auf
den Kreistagen als uͤberhaupt in allen Kreisange-
legenheiten in ſich begriffen, und zuletzt das Kreis-
oberſtenamt beynahe in Vergeſſenheit gebracht, oder
doch deſſen Vorzuͤge auch meiſt mit ſich vereiniget;
ſo, daß heutiges Tages die Vorrechte der kreis-
ausſchreibenden Fuͤrſten faſt die wichtigſten ſind,
die ein Reichsſtand vor anderen Staͤnden haben
kann. In einem jeden der vier neuen Kreiſe iſt
nur ein kreisausſchreibender Fuͤrſt, als in Oeſter-
reich und Burgund nur das Haus Oeſterreich, im
Churrheiniſchen Kreiſe nur Churmainz, im Ober-
ſaͤch-
[453]10) Veraͤnderungen in Reichsſachen.
ſaͤchſiſchen Kreiſe nur Churſachſen. In den ſechs
alten Kreiſen, deren erſte Staͤnde urſpruͤnglich nur
geiſtliche und weltliche Fuͤrſten waren, fuͤhrte ein
geiſtlicher und ein weltlicher das Kreisausſchreib-
amt, als in Franken Bamberg und Anſpach, in
Baiern Salzburg und Baiern, in Schwaben
Coſtnitz und Wuͤrtenberg, in Oberrhein Worms
und Pfalz-Simmern, in Weſtphalen Muͤnſter und
Juͤlich, in Niederſachſen Magdeburg und Bremen
und Braunſchweig-Luͤneburg.


Die wichtigſte Veraͤnderung, die in der Kreis-VIII.
verfaſſung ſelber vorgieng, veranlaßte die Unruhe,
die der Marggraf Albrecht von Brandenburg-
Culmbach erregte, da er den Paſſauer Vertrag
nicht annehmen wollte, ſondern noch die folgenden
Jahre unter den Waffen blieb, und mehrere Kreiſe
nach einander beunruhigte. Dadurch fanden ſich
die vier Kreiſe, Churrhein, Franken, Schwaben
und Oberrhein bewogen im Auguſt 1554. den Ent-
wurf einer naͤhern Verbindung und innerlichen
Kriegsverfaſſung zu machen. Dieſer Entwurf
ward im Nov. 1554. von allen zehn Kreiſen ge-
nehmiget, und ſo erwuchs daraus die ſo genannte
Reichsexecutionsordnung, die hernach dem
Reichsabſchiede 1555. einverleibet wurde. Ver-
moͤge deren wird ein jeder Reichsſtand angewieſen,
ſich gefaßt zu halten, um bey entſtehenden Unru-
hen oder Widerſetzlichkeiten gegen cammergericht-
liche Erkenntniſſe in jedem Kreiſe mit den uͤbrigen
Mitſtaͤnden unter Anfuͤhrung der Kreisoberſten zu-
ſammentreten zu koͤnnen; und im Fall eines Krei-
ſes Macht nicht hinlaͤnglich ſeyn ſollte, ſollen
F f 3meh-
[454]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
mehrere, allenfalls endlich alle Kreiſe mit ihrer
vereinigten Macht zuſammentreten.


IX.

Noch ward die Kreisverfaſſung unter Carl dem
V. dazu benutzt, daß die Unterhaltung des Cam-
mergerichts,
als eine immer fortgehende Beſteu-
rung, auf ſaͤmmtliche Reichsſtaͤnde nach ihrer Ein-
theilung in zehn Kreiſe vertheilet blieb. Mit ande-
ren Beytraͤgen an Volk und Geld, die etwa in
Kriegs- oder Friedenszeiten von Reichs wegen er-
fordert werden, kam unter dieſer Regierung eine
ganz andere ſehr zufaͤllig veranlaßte Einrichtung in
Gang. Gleich auf Carls erſtem Reichstage zu
Worms ward zum Behuf eines Roͤmerzuges, den
Carl damals vor hatte, eine gewiſſe Anzahl Mann-
ſchaft zu Pferde und zu Fuß bewilliget, und zu dem
Ende ein Verzeichniß der Staͤnde oder eine ſo ge-
nannte Reichsmatrikel entworfen, worin genau
beſtimmt war, wie viel Mann zu Roß und zu Fuß
ein jeder Reichsſtand ſtellen ſollte. Jedem Chur-
fuͤrſten waren z. B. 60. Mann zu Roß, und 277.
zu Fuß angeſetzt (nur Boͤhmen 400. zu Roß, und
600. zu Fuß), und ſo verhaͤltnißmaͤßig den geiſtli-
chen und weltlichen Fuͤrſten, Praͤlaten, Grafen
und Reichsſtaͤdten; unter andern Lothringen, Heſ-
ſen, Wuͤrtenberg, Holſtein eben ſoviel wie den
Churfuͤrſten; Baiern, Oeſterreich, Burgund,
Braunſchweig-Luͤneburg noch mehr; anderen deſto
weniger.


X.

Der damalige Roͤmerzug gieng nun nicht vor
ſich. Als aber im Jahre 1535. zur Belagerung
der von Wiedertaͤufern beſetzten Stadt Muͤnſter
eine Reichshuͤlfe in Frage kam; beſchloß der Reichs-
ab-
[455]10) Veraͤnderungen in Reichsſachen.
abſchied 1535., daß ein jeder Stand den ganzen
Anſchlag des Roͤmerzuges, wie er auf dem
Reichstage zu Worms 1521. bewilliget worden,
ſofern ſich der auf 1. Monath an Geld erſtrecke, und
noch dazu ¼ eines Monaths an Geld erlegen ſollte.
Auf eben die Art wurde hernach im Reichsabſchiede
1541. zur eilenden Huͤlfe gegen die Tuͤrken ein hal-
ber Anſchlag an Geld auf drey Monathe, und im
Fall der Noth auch auf den vierten bewilliget, da
man jeden Monath fuͤr einen Mann zu Pferde zu
12. Fl., fuͤr einen Fußknecht zu 4. Fl. rechnete.


Hieraus erwuchs in der Folge eine Art derXI.
Reichsbeſteurung, die ſich bis auf den heutigen
Tag erhalten hat. Nehmlich ſo oft es der Reichs-
tag gut findet, wird eine gewiſſe Anzahl ſo ge-
nannter Roͤmermonathe bewilliget, wobey noch
immer die Matrikel vom Jahre 1521. den Maß-
ſtab abgibt, daß ein jeder Reichsſtand ſo vielmal
12. oder 4. Gulden zu einem Roͤmermonathe geben
muß, als er in der Matrikel an Mannſchaft zu
Pferde oder zu Fuß angeſetzt iſt. Da aber die
Matrikel im Jahre 1521. gar nicht in der Ab-
ſicht, einen ewigen Steuerfuß abzugeben, gemacht
worden, auch ſeitdem die Vermoͤgensumſtaͤnde vie-
ler Staͤnde ſich gar ſehr geaͤndert haben; ſo war
natuͤrlich, daß viele Reichsſtaͤnde um Moderation
ihres Anſatzes in der Reichsmatrikel nachgeſucht,
auch zum Theil ſolche erhalten haben. Ueberall
aber hat daruͤber das Reichsſteuerweſen noch nie
zu einiger Vollkommenheit gelangen koͤnnen. Doch
ſind die Roͤmermonathe keine immer fortwaͤhrende
Steuern, wie die Cammerzieler; ſondern ſie er-
fordern eine jedesmalige reichstaͤgige Bewilligung,
F f 4die
[456]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
die in Friedenszeiten immer ſeltener wird, auch
ſelbſt in Kriegeszeiten ihre Schwierigkeit hat.


XII.

Die erſte Schwierigkeit ereignete ſich ſchon un-
ter Carl dem V., da bis zum Jahre 1543. ein
jeder Reichsſtand fuͤr ſchuldig gehalten wurde, die
Steuern, die der Reichstag bewilligte, aus ſeinen eig-
nen Cammerguͤtern zu bezahlen, ohne daß die Land-
ſchaften etwas dazu beytrugen. Dieſes letztere
wurde aber im Reichsabſchiede 1543. zur Schul-
digkeit gemacht, und damit der Grund dazu ge-
legt, daß von dieſer Zeit an auch das Steuer-
weſen in den Laͤndern
nach und nach eine ſehr
veraͤnderte Geſtalt bekam.


XIII.

In vorigen Zeiten hatte kein Landesherr Geld-
beytraͤge von ſeinen Unterthanen zu erwarten, als
was von Landſtaͤnden etwa bittweiſe bewilliget
war. Wo das auch hin und wieder ſchon zu einer
beſtaͤndigen Abgabe geworden war, betrug es doch
nur ſehr wenig, und wurde nur von Buͤrger- und
Bauernguͤtern bezahlet. Adeliche bezahlten von
ihren eigenen urſpruͤnglichen Ritterguͤtern ordent-
licher Weiſe nichts. Auch Praͤlaten, und die
Staͤdte im Ganzen waren ſteuerfrey. Seit den
letzteren Zeiten des XV. Jahrhunderts hatten die
veraͤnderten Umſtaͤnde der Kriegsart, des Hofle-
bens, und der Landesbedienungen zuerſt viele Fuͤr-
ſten veranlaßt Schulden zu machen, welche nach
und nach großentheils von Landſtaͤnden uͤbernom-
men wurden, aber meiſt auch mit Vorbehalt der
hergebrachten Steuerfreyheit der eignen Guͤter der
Praͤlaten und des Adels, und gegen ausdruͤckliche
Reverſe der Landesherren, daß die Bewilligung
der
[457]10) Veraͤnderungen in Reichsſachen.
der Landſteuern nur aus freyem guten Willen
ohne Schuldigkeit geſchehen ſey. Jetzt wurde im
Reichsabſchiede 1543. das erſtemal eine Schuldig-
keit daraus gemacht, indem einer jeden Obrigkeit
das Recht gegeben wurde, zu den damals bewil-
ligten zwey Roͤmermonathen ihre Unterthanen mit
Steuern zu belegen. Dieſes wurde bald bey meh-
reren Gelegenheiten wiederholt, und alſo reichs-
verfaſſungsmaͤßig, daß ein jeder Reichsſtand die
auf dem Reichstage bewilligten Steuern von ſeiner
Landſchaft zu erheben berechtiget iſt.


In der Reichsſteuer entſtand noch eine beſon-XIV.
dere Luͤcke, da derjenige Theil des Teutſchen Adels,
der unter keiner Landeshoheit ſtand, ſondern von
den unruhigen Zeiten des XIII. Jahrhunderts her
ſich in einer Reichsunmittelbarkeit behauptet hatte,
in Faͤllen, wenn ihm Geldbeytraͤge zu Reichskrie-
gen zugemuthet wurden, ſich darauf bezog, daß
ein jeder Reichsritter mit perſoͤnlichen Dienſten
ſeiner Schuldigkeit ſich entledigte, und deswegen
in keine neue Laſt zu ziehen ſey. Dieſe unmittel-
bare Reichsritterſchaft war auch weder in der
Eintheilung des Teutſchen Reichs in zehn Kreiſe,
noch in der Reichsmatrikel vom Jahre 1521. be-
griffen. Doch brachte es Carl der V. zuerſt in
Gang, daß ſie, zwar gegen einen Revers, daß
es nicht aus Schuldigkeit geſchehe, von Zeit zu
Zeit dem Kaiſer nach Art eines freywilligen Ge-
ſchenkes ſo genannte Charitativſubſidien bezahlten.
Ihre Verfaſſung bekam zugleich eine neue Feſtig-
keit, da nach Erloͤſchung des Schwaͤbiſchen Bundes
der Schwaͤbiſche Adel, der ſchon als ein Mitglied
dieſes Bundes in vier Viertheile vertheilt geweſen
F f 5war,
[458]V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
war, im Jahre 1543. eine neue geſellſchaftliche
Verbindung errichtete, und 1545. den Creichgau
als das fuͤnfte Viertel dazu nahm. Worauf her-
nach noch weitere Vereinigungen ſowohl dieſer
Schwaͤbiſchen (f), als der Fraͤnkiſchen und Rhei-
niſchen Reichsritterſchaft erfolget, und mit kaiſer-
lichen Beſtaͤtigungen und Gnadenbriefen verſehen
ſind (g).


XV.

Sonſt machte Carl der V. um die Verfaſſung
des Teutſchen Reichs ſich noch durch verſchiedene
Geſetzgebungen verdient, als durch eine Muͤnz-
ordnung
im Jahre 1524., die jedoch noch in
großer Unvollkommenheit blieb; durch eine pein-
liche Halsgerichtsordnung
1532., die deſto all-
gemeiner in Gang kam; und durch eine Reichs-
polizeyordnung
1548., die zwar vieles noch ſehr
nur aus dem Rohen bearbeiten mußte (h), jedoch
zu
[459]10) Veraͤnderungen in Reichsſachen.
zu mehr genauer bearbeiteten Landespolizeyordnun-
gen den Weg bahnte, und manche nuͤtzliche Verfuͤ-
gungen fuͤr ganz Teutſchland gaͤng und gaͤbe machte.


Endlich wurde unter dieſer Regierung auchXVI.
das bisher zweifelhafte Verhaͤltniß zwiſchen dem
Teutſchen Reiche und den Herzogthuͤmern Ober-
und Niederlothringen wenigſtens auf einen gewiſ-
ſen Fuß geſetzt. Mit dem Herzoge von Lothrin-
gen
brachte Carl im Jahre 1542. einen Vertrag
zu Stande, vermoͤge deſſen derſelbe von wegen der
Marggrafſchaften Nomeny und Pontamouſſon
und einiger anderer benannten Stuͤcke ferner die
Lehn vom Reiche zu empfangen, auch zwey Drit-
tel von dem, was ein Churfuͤrſt bezahlte, zu den
Reichsbeſchwerden beyzutragen verſprach, uͤbrigens
aber Lothringen fuͤr ein freyes und dem Teutſchen
Reiche nicht einzuverleibendes Herzogthum erklaͤret
wurde. Von dieſer Zeit an hat im Reichsfuͤrſten-
rathe das Haus Lothringen unter dem Namen No-
meny wieder Sitz und Stimme gefuͤhret.


Vom

(h)


[460]V. N. Z. C. V. 1519-1558. 10) Veraͤnd.
XVII.

Vom ehemaligen Herzogthume Niederlothrin-
gen hatte ſich zwar der Name ſchon laͤngſt meiſt
verlohren, da die Beſitzer deſſelben ſich nur Her-
zoge von Brabant ſchrieben, und die dazu gehoͤ-
rigen Laͤnder, nachdem ſie an das Haus Burgund
gekommen waren, nur Burgundiſche Laͤnder ge-
nannt zu werden pflegten, wie der Kaiſer Max
auch bey der Eintheilung des Reichs in zehn Kreiſe
denſelben den Namen des Burgundiſchen Kreiſes
gegeben hatte. Das eigentliche Verhaͤltniß zum
Teutſchen Reiche war aber auch hier noch unbe-
ſtimmt geblieben, bis Carl der V. auf dem Reichs-
tage, den er in den Jahren 1547. 1548. zu Augs-
burg hielt, von wegen dieſer Niederlande den Ver-
trag mit dem Reiche eingieng, daß ſie allerdings
den Schutz des Reichs genießen, aber auch einen
doppelten churfuͤrſtlichen Anſchlag uͤbernehmen, und
in Anſehung dieſer Zahlung auch der kaiſerlichen
Gerichtbarkeit unterworfen, ſonſt aber ganz davon
befreyt ſeyn ſollten.

Appendix A

Druckfehler.
S. 19. Z. 21. an ſtatt vorzulegen iſt zu leſen: beyzulegen.


[][][]
Notes
(a)
Tacitvsde morib. Germ. cap. 2.
(b)
Olenſchlagers Erlaͤuterung der goldenen
Bulle (Frankf. 1766. 4.) S. 43. Note 3.
(c)
Hieruͤber verdient vorzuͤglich geleſen zu wer-
den des Preuſſiſchen Miniſters von Herzberg Ab-
handlung von der Ueberlegenheit der Teutſchen uͤber
die Roͤmer ꝛc. (Leipz. 1780. 8.) S. 23.
(d)
Britannia Romana, or the Roman antiquities
of Britain
, by John Horsley. Lond. 1732. fol.
(e)
P. Joſeph Fuchs alte Geſchichte von
Mainz, Mainz 1771. 8. (1½ Alph. und 26 Kupfer-
blaͤtter.) Der Verfaſſer war ein gelehrter Bene-
dictiner. Der Churfuͤrſt Emerich Joſeph gab die
noͤthigen Koſten zu dieſem Buche. Es ſollten vier
Baͤnde werden, bis zu Ende des VII. Jahrhun-
derts. Es iſt aber beym erſten Bande geblieben
von Erbauung der alten Feſtung Maguntiacum bis
zu den Zeiten Trajans.
(f)
Io. Dan. SchoepflinAlſatia illuſtrata,
tom. I. Colmar 1751., II. 1761. fol.
(g)
Nic. ab Hontheimhiſtoria Treuirenſis
diplomatica
, Aug. Vind. et Herbip. 1750. fol,

und prodromus hiſtoriae Treuirenſis, 1757. fol.
(h)
Nachrichten vom Zuſtande der Gegenden
und Stadt Juvavia vor, waͤhrend und nach Be-
herrſchung der Roͤmer bis zur Ankunft des heiligen
Ruperts, und von deſſen Verwandelung in das
heutige Salzburg, Salzb. 1784. Ein ſtarker
Foliant, wovon ein Drittel aus einem diploma-
tiſchen Anhange beſteht, der eine ſchaͤtzbare Samm-
lung von Urkunden enthaͤlt. Der gelehrte Verfaſſer
hat ſich nicht genannt, aber weit mehr geleiſtet,
als der Titel nur zu verſprechen ſcheint.
(i)
Pauls von Stetten Geſchichte der Stadt
Augsburg, Frkf. u. Leipz. 1743. 4.
(k)
Lex Salica tit. 62. §. 6. (in Geor-
gisch
corp. iur. Germ. p. 124.): ”De terra Sali-
ca nulla portio hereditatis mulieri veniat, ſed ad
virilem ſexum tota terrae hereditas pertineat.”
(l)
Lex Ripvariorvm tit. 56. §. 4. (ap.
Georgischl. c. p. 167.): ”Quum virilis ſexus
exſtiterit, femina in hereditatem auiaticam non
ſuccedat.”
(m)
Lex Angliorvm et Warinorvm
tit. 6. §. 1. (ap. Georgischl. c. p. 448.):
”Hereditatem defuncti filius, non filia ſuscipiat.
Si filium non habuit, qui defunctus eſt; ad
filiam pecunia et mancipia, terra vero ad proxi-
mum paternae generationis conſanguineum per-
tineat.”
(n)
de moribus Germ. cap. 5. et II.
(o)
z. B. Hontheimhiſt. Treuir. diplom.
tom 1. diſſ. praelim., HansitzGermania ſacra
tom. 1. p.
17.
(p)
Dieſe Gegend iſt erſt neuerlich recht ins
Licht geſetzt in Chriſtoph Jacob Kremers Geſchichte
des Rheiniſchen Franziens, herausgegeben von
Andr. Lamey, Manheim 1778. 4.
(q)
”Sacerdotibus tuis honorem debebis de-
ferre, et ad eorum conſilia ſemper recurrere.

Quod-
(r)
Gregor. Tvron. lib. 2 cap. 37.:
”Chlodouaeus rex ait ſuis: Valde moleſte fero,
quod hi Ariani partem teneant Galliarum. Ea-
mus cum Dei adiutorio, et ſuperatis redigamus
terram in ditionem noſtram. Quumque placuiſ-
ſet omnibus hic ſermo, iam commoto exercitu
Pictauiam dirigit.”
(q)
Quodſi tibi bene cum illis conuenerit, prouin-
cia tua melius poteſt conſtare.” Nic. Coleti
concilia tom. 5. p.
539.
(s)
Greg. Tvr. lib. 2. cap. 42.: ”Interfe-
ctisque et aliis multis regibus et parentibus ſuis,
de quibus zelum habebat, ne ei regnum aufer-
rent, regnum per totas Gallias dilatauit.”
(t)
Buathiſtoire ancienne tom. 12. p. 97.
(u)
Joh. Ge. von Lori chronologiſcher Aus-
zug der Geſchichte von Baiern (Muͤnch. 1782. 8.)
S. 66. 78. 108.
(v)
Nachrichten von Juvavia S. 90.
(w)
Albericvs monachus trium fontium
ad a.
696.
(x)
Mit einem Treffen, worin der Frieſen Her-
zog Poppo ſelber blieb, ward nachher 734. ganz
Friesland von Carl Martell unter Fraͤnkiſche Bot-
maͤßigkeit gebracht.
(y)
Columban und Gallus in Schwaben; Ki-
lian († 687.) in Franken; Emeran († 625.) und
Ruprecht († 718.) in Baiern; Wilibrod († 739.)
in Friesland.
(z)
Doch verlohr Baiern nicht voͤllig die bishe-
rige Eigenſchaft eines beſondern Herzogthums.
In Urkunden wurden noch oft die Regierungsjahre
in Baiern mitgezehlt, und zu Zeiten die Worte
gebraucht: in regno Francorum et in ducatu
Baioariorum
. Carl ernannte einen, Gerold aus
Schwaben, der ſein Schwager war, zum Statt-
halter in Baiern. Verſchiedene Franken ſchickte
er als Grafen in die Bairiſche Gaue, und an den
Graͤnzen gegen die Sorben, Boͤhmen, Hunnen
und Slaven ſetzte er Marggrafen. So ſchienen
von nun an die Fraͤnkiſchen Koͤnige ſelbſt zugleich
Herzoge in Baiern zu ſeyn. Lori Geſchichte von
Baiern S. 128. 130.
(a)
Capitul. de partibus Saxoniae cap. 8.
(b)
Moͤſers Osnabruͤckiſche Geſchichte Th. 1.
(Aufl. 2. Berl. 1780.) S. 224. 238. 321.
(c)
Moͤſer am a. O. S. 275.
(d)
”So vortheilhaft auch dieſe Einrichtung
fuͤr das Anſehen der beiden Rheiniſchen Metropo-
liten zu ſeyn ſchien, die dadurch Provinzen beka-
men,
(d)
men, dergleichen keine in der ganzen Chriſtenheit
waren; ſo lag doch in eben dieſer weiten Entfer-
nung ihrer untergebenen Biſthuͤmer eine der Haupt-
urſachen, warum die Rechte der Erzbiſchoͤfe, die
hauptſaͤchlich in der Direction der Wahl, der Con-
ſecration, und der Aufſicht uͤber die Biſchoͤfe be-
ſtanden, in Teutſchland nie in eine ſo genaue Er-
fuͤllung gekommen ſind, wie in anderen Laͤndern.”
Schmidts Geſchichte der Teutſchen Th. 1. S. 571.
(e)
Capitulare Car. M. 807. in Georgisch
corp. iur. Germ. p. 733. ſq.
(f)
Capitulare Car. M. 812. cap. 8. Geor-
gisch
l. c. p.
764.
(g)
Doch ward in den Capitularien ſchon eine
Verordnung aufgenommen, die Conſtantin dem
Großen zugeſchrieben, aber untergeſchoben war,
vermoͤge deren Biſchoͤfen nicht nur geſtattet werden
ſollte, als Schiedsrichter mit gutem Willen beider
Theile, ſondern auch nur auf Anſuchen des einen
Theils, Rechtsſachen zu entſcheiden. Capitularia
reg. Francor. lib. 6. cap.
366. in Georgisch
corp. iur. Germ. p.
1585. Auch war den Biſchoͤ-
fen eine allgemeine Aufſicht uͤber die Sitten anver-
trauet. Capitulare 755. c. 3. Georgischl. c.
p.
515. Woraus bey den Viſitationen, welche die
Biſchoͤfe jaͤhrlich in ihren Kirchenſprengeln anzuſtel-
len hatten, eine Art von Sittengerichte unter dem
Namen Send (Synode) erwuchs. Schmidts
Geſchichte der Teutſchen Th. 1. S. 577. u. f.
(h)
Sowohl unter Carl dem Großen als den
vorigen Fraͤnkiſchen Koͤnigen war es uͤblich, daß
der Koͤnig die Biſchoͤfe meiſt ſelbſt ernannte; daß
er die vollkommene Gerichtbarkeit uͤber Biſchoͤfe,
Aebte und andere Geiſtliche ausuͤbte; daß er ihre
Beſchwerden annahm, wenn ſie von ihren Oberen
Unrecht zu leiden glaubten; daß er Buß- und Bet-
tage anſetzte; daß ohne beſondere koͤnigliche Er-
laubniß kein freygebohrner in geiſtlichen Stand
treten durfte; daß Kirchenverſammlungen nur vom
Koͤni-
(i)
So ſchrieb Leo der III. hieruͤber ſelbſt an Carl
den Großen: — ”intonuit nobis, quod veſtra —
regalis excellentia mandaſſet nobis, — quod Ar-
noni epiſcopo pallium tribueremus — et — li-
benti ſecundum veſtram regalem demandationem
accommodauimus animo, et praefato — Arnoni
— vſum pallii conceſſimus, et in prouincia Baioa-
riorum eum canonice ordinauimus archiepiſcopum.”
etc.
Nachrichten von Juvavia im Urkundenbuche
Num. 11. S. 52.
(h)
Koͤnige veranſtaltet wurden; daß ihre Schluͤſſe nur
von der koͤniglichen Beſtaͤtigung ihre Kraft erhiel-
ten u. ſ. w. Schmidt am a. O. S. 338. 605. u. f.
(k)
”Von dieſer Zeit an kommen in Bairiſchen
Urkunden die Unterſchriften vor: anno II. Ludoui-
ci Imp. et anno I., ex quo rex Hlodarius Baioaria
feliciter intrauit;
oder: Hlothario dominante
rege Baiuariorum I.;
oder: anno I. Hlotharii re-
gis in Baioaria.
Lori Geſch. v. Baiern S. 140.
(l)
So hieß es z. B. in einem capitulari Ca-
roli calui in Balvziicapitul. reg. Franc.
tom. 2. p. 195.: ”expreſſe mandamus, vt, quicum-
que iſtis temporibus caſtella et firmitates et hajas
ſine noſtro verbo fecerunt, Calendis Auguſti
omnes tales firmitates disfactas habeant, quia vi-
cini et circum manentes exinde multas depraedatio-
nes et impedimenta ſustinent.”
etc.
Struben
Nebenſtunden Th. 5. S. 158.
(m)
Conuentus I. apud Marsnam a. 847. c. 6.
Balvz. tom. 2. p. 42.: ”vt rapinae et depraeda-
tiones
, quae quaſi iure legitimo hactenus factae
ſunt, penitus interdicantur.” etc. Adnunciatio
pacti Confluentini
860. c. 6., Balvz. tom. 2.
p. 143.: ”De iſtis rapinis et depraedationibus, quas
iam quaſi pro lege multi per conſuetudinem tenent,
ab hoc die de Dei banno et de noſtro verbo ban-
nimus.” etc.
(n)
Conuentus II. apud Marsnam 851. cap 6.,
Balvz. tom. 2. p. 46.,
und Pactum Confluenti-
num
860. cap. 10., Balvz. tom 2. p. 141.: ”vt
noſtri fideles, vnusquisque in ſuo ordine et ſtatu
veraciter ſint de nobis ſecuri — et illorum communi
conſilio
— ad reſtitutionem eccleſiae et ſtatum
regni adſenſum praebebimus, in hoc vt illi — etiam
ſint nobis fideles, et obedientes ac veri adiutores
atque cooperatores
” etc.
(o)
Hincmarvs Rhemensis opusc. 33.
cap. 24. ”De libro collectarum epiſtolarum, quem
de Hiſpania illatum Riculphus epiſcopus Moguntinus,
in huiusmodi ſicut et in capitulis regiis ſtudio-
ſus, obtinuit, et iſtas regiones ex illo repleri fecit.”
(p)
Am leſenswuͤrdigſten uͤber dieſe ganze
Sache iſt (Spittlers) Geſchichte des canoniſchen
Rechts bis auf die Zeiten des falſchen Iſidors,
Halle 1778. 8.; und was um eben die Zeit ein
catholiſcher claſſiſcher Schriftſteller davon geſchrie-
ben, Mich. Ign. Schmidt in der Geſch. der Teut-
ſchen Th. I. (Ulm 1778.) S. 614. u. f.
(q)
Einige hieher gehoͤrige Stellen gleichzeitiger
Geſchichtſchreiber habe ich ſchon im Hauptfaden
der Reichsgeſchichte S. 131. y. angefuͤhrt. Die
Bairiſchen Schriftſteller berufen ſich auf Urkunden
von 926. und folgenden Jahren, da Biſchoͤfe von
Freiſingen und Erzbiſchoͤfe von Salzburg ihre
Tauſch- und Kaufhandlungen vom Herzoge von
Baiern haben beſtaͤtigen laßen. Als der Koͤnig
Henrich im Jahre 932. eine Synode zu Erfurt
halten ließ, hielt Arnulf eine aͤhnliche zu Regens-
burg und noch eine zu Dingelfingen wegen Her-
ſtellung der von den Hunnen verwuͤſteten Kirchen,
wo
(q)
wo zugleich den Biſchoͤfen und anderen Geiſtlichen
Vorſchriften ihres Lebenswandels gegeben wurden.
Arnulf hatte erſt ſelbſt den koͤniglichen Titel ange-
nommen; aber nach dem Frieden mit Henrich
dem I. ſchrieb er ſich: diuina clementiad v x Ba-
ioariorum et etiam adiacentium regionum.
Noch
ward Baiern ſelbſt zu Zeiten regnum genannt:
regni huius principibus. Von Arnulf und ſeinem
Nachfolger Berthold ſind auch noch Muͤnzen vor-
handen mit der Aufſchrift: Arnulfus, oder Ber-
tholdus, dux,
und auf der Gegenſeite: Regina
ciuitas;
die erſten fuͤrſtlichen Muͤnzen in Teutſch-
land, vielleicht auch die aͤlteſten von jetzt regie-
renden Haͤuſern in Europa; und zwar nicht aus
kaiſerlicher beſonderer Begnadigung, ſondern aus
eigner landesherrlicher Macht. Otto der Große
fieng zuerſt an den herzoglichen Vorrechten Ein-
halt zu thun, und die Biſchoͤfe naͤher an ſich zu
ziehen, um die koͤnigliche Macht dadurch zu erhoͤ-
hen. Doch in einer Chronik vom XI. Jahrhundert
(Chron. Tegernſ. bey Petz tom. 3. part. 3. p. 494.)
heißt es noch: ”Geraldus, cuius ſucceſſores vsque
hodie
regni habent iura praeter coronam. — Hen-
ricus (Arnulpho) pro pace epiſcopatus terrae ſuae
et abbatias regio iure iuxta antiquum conceſſit.”

Lori Bair. Geſch. S. 246. 261. 263. 264.
(r)
Wahrſcheinlich iſt Soeſt in Weſtphalen
eine der erſten von Henrich erbauten Staͤdte. We-
niaſtens findet ſich ſchon eine Urkunde von Otto
dem Großen von 062., wo es heißt: Actum in
Suoſacz. Schaten. annal. Paderborn. tom. 1. p.

266. Sonſt nennt man auch noch Quedlinburg,
Nordhauſen, Duderſtadt, Merſeburg ꝛc.
(s)
Witichind. Corb. lib. 1.: ”ex agra-
riis militibus
nonum quemque eligens in vrbibus
habitare fecit.”
(t)
Dan. 2, 31-45.
(u)
So ſchrieb wenigſtens der Kaiſer Conrad
der III. an den Griechiſchen Kaiſer. Otto Fri-
sing
. de Fried. I. lib. 1. cap.
23. in Mvratori
ſcriptor. Ital. tom. 6. p.
657.
(v)
Auch ſeine Tochter Mathildis (geb. 955.)
verſorgte Otto ſchon 966. mit der im Anfange ſei-
ner Regierung geſtifteten Abtey Quedlinburg.
Sowohl dieſe als die Abtey Gandersheim kamen
auch in der Folge noch an Enkelinnen von Otto
dem Großen. Hannoveriſches Magazin 1785.
S. 737. u. f.
(w)
In Baiern ernannte Otto nach Arnulfs
des Boͤſen Tode († 937. Jun. 12.) deſſen zweyten
Sohn Arnulf zum Pfalzgrafen, nicht nur als ober-
ſten Landrichter, ſondern auch als Oberaufſeher
uͤber die Cammerguͤter in Baiern, die er großen-
theils damals dem Herzog Berthold entzog, und
ſich zueignete. Dieſe Pfalzgrafen in Baiern haben
hernach fortgewaͤhrt bis 1249. Lori Geſch. von
Baiern S. 264.
(x)
Den Ausſchlag eines ſolchen Kampfes hielt
man fuͤr Gottes Urtheil. Eben ſo gut haͤtte Otto
die Sache auf das Loos ankommen laßen koͤnnen.
Nach der damaligen Denkungsart ſchien das alle-
mal weniger bedenklich, als einem willkuͤhrlichen
Ausſpruche zu folgen, der zum Abbruche der her-
gebrachten Autonomie gereichen konnte. So recht-
fertiget Moͤſer dieſes Verfahren Otto des Großen
in der Berliner Monathsſchrift 1785. Oct. S. 289.
(y)
Wahlcapitulation Joſephs des I. (1690.)
Art. 7. Wahlcap. Carls des VII. und Joſephs des II.
Art. 13. §. 9.
(z)
”Vorher war der Name Pabſt gemeiner
Name aller Biſchoͤfe. Gregor nahm ſich denſelben
ganz eigenthuͤmlich; und ein Schriftſteller des
damaligen Zeitalters braucht ſchon den Ausdruck:
das Wort Pabſt in der mehreren Zahl ſey eben
ſo gotteslaͤſterlich, als den Namen Gottes in der
mehreren Zahl zu gebrauchen.” Spittlers Geſch.
der Chriſtl. Kirche (Aufl. II. 1785.) S. 220. Ein
leſenswuͤrdiger Vorſchlag, den Titel: Fuͤrſtbiſchof
zu Rom
, gaͤng und gaͤbe zu machen, findet ſich
in Schloͤzers Staatsanzeigen B. 5. Heft 19.
S. 265-273.
(a)
Ego Henricus — dimitto — (hieß es)
omnem inueſtituram per annulum et baculum, et
concedo in omnibus eccleſiis — fieri electionem
et liberam conſecrationem
.
(b)
Electus — regalia per ſceptrum a te re-
cipiat.
” So erklaͤrte ſich hinwiederum Calixt ge-
gen Henrich den V.
(c)
Ego Calliſtus — concedo electiones epi-
ſcoporum et abbatum
Teutonici regni — in prae-
ſentia tua
fieri, — vt, ſi qua discordia emerſerit,
metropolitani et prouincialium conſilio vel iudi-
cio ſaniori parti aſſenſum et auxilium praebeas.

Das ſind die Hauptworte dieſes Concordats.
Schmaußcorp. iur. publ. S. 2.
(d)
In Teutſchland kann man wenigſtens ſie-
ben Domkirchen zehlen, deren Geiſtliche erſt Moͤn-
che waren, nehmlich Freiſingen, Salzburg, Uetrecht,
Eichſtaͤdt, Wuͤrzburg, Bremen und Regensburg.
Abele Magazin fuͤr Kirchenrecht und Kirchenge-
ſchichte St. 1. (Lpz. 1778. 8.) S. 80. Auch ”dem
Biſchofe zu Ratzeburg ward eine Congregation von
12. regulaͤren Capitularen zugeordnet, welcher Pabſt
Hadrian der IV. (1157.) die Regel des heil. Auguſtins
nebſt dem Praͤmonſtratenſer-Habit vorſchrieb, und
das freye Wahlrecht ertheilte.” Fried. Aug. Rud-
loffs
pragmatiſches Handbuch der Mecklenburgi-
ſchen Geſchichte Th. 1. (Schwerin 1780. 8.) S. 161.
(e)
Schon vom XIII. Jahrhunderte finden ſich
Urkunden, worin neu erwehlte Biſchoͤfe ihren Dom-
capiteln gewiſſe Vorrechte zuſichern, z. B. vom
Biſchof Bechtold von Paſſau 1252. in Hansitz
Germ. ſacra tom. 1. p.
391. Von foͤrmlich be-
ſchwornen Capitulationen iſt eine der erſten vom
Erzbiſchof Albrecht zu Magdeburg 1383. in Lv-
dewig
reliqu. MStor. tom. 12. p.
471. Andere
vorzuͤgliche Beyſpiele ſind hernach die von Wuͤrz-
burg 1411. und von Bamberg 1422., jene in
Luͤnigs Reichsarchiv ſpicil. eccl. tom. 2. p. 969.,
letztere in der Pruͤfung der Schriften des Bamber-
giſchen Domcapitels (1745.) Th. 2. §. 23. Adolf
Felix Henr. Poſſe uͤber die Rechtsbeſtaͤndigkeit der
Wahicapitulationen catholiſch geiſtlicher Teutſcher
Fuͤrſten (Goͤttingen 1784. 4.) S. 36. 38.
(f)
Den Anfang machte der Abt Odo zu Clu-
gny,
deſſen Moͤnchszucht gegen das Ende des
XI. Jahrhunderts ſich in ganz Europa verbreitete.
Zu Hirſchau fuͤhrte der Abt Wilhelm zwiſchen
1069. und 1091. eine neue Zucht ein. Er war ein
gebohrner Baier, erſt Religios zu St. Emmeran.
Nach ſeiner Vorſchrift mußten beſtaͤndig 12. Moͤn-
che die Buͤcher der heiligen Schrift und verſchie-
dene Tractate der aͤlteren Kirchenvaͤter abſchreiben,
die
(g)
Carthaͤuſer entſtanden zu Chartreuſe bey
Grenoble in Dauphine, auf Veranſtaltung eines
Teutſchen, Namens Bruno aus Coͤlln, der Chor-
herr in Rheims war. Erſt 1174. kamen ſie nach
Baiern. Lori Bair. Geſch. S. 659.
(h)
”Der Ciſtercienſerorden breitete ſich in
Teutſchland bald aus, und ſeine Glieder bekamen
Antheil an kirchlichen Bedienungen. Schon im
Jahre 1122. rief ſie der Erzbiſchof Friedrich von
Coͤlln in ſein Land, und ſtiftete ihnen das Kloſter
Altkampen (Camp), deſſen Abt ſich noch jetzt Pri-
mas der Ciſtercienſer in Teutſchland ſchreibt. Un-
ter die aͤlteſten und erſten Kloͤſter dieſes Ordens in
Teutſchland gehoͤren auch Ebrach (1126. oder 1127.),
Walkenried (1129.), Volkerode (1131.), Heils-
brunn (1133.), Michelfeld (1133.), Kaiſersheim,
deſſen Moͤnche von Lucelle kamen (1134.), Maul-
born (1139.) und noch mehr andere. Verſchie-
dene Ciſtercienſer bekamen auch bald Biſthuͤmer;
z. B. Otto von Oeſterreich das von Freiſingen
(1139.), und ſchon vorher (1133.) Benno das
von Mecklenburg, der ſeine Ordensbruͤder ſtatt der
Domherren einfuͤhrte, und dadurch anderen Kir-
chen in der Folge Anlaß gab, regulirte Chorher-
ren des Ciſtercienſerordens bey ſich einzufuͤhren.”
Manriquezannales Ciſtercienſes ad a. 1122.
1133. cap.
3. Abele Magazin fuͤr Kirchenrecht ꝛc.
St. 1. S. 84. Lori Bair. Geſch. S. 658.
(i)
Norbert, ein Niederrheiniſcher Edelmann,
nachheriger Erzbiſchof zu Magdeburg, kam zuerſt
auf den Gedanken, die Regel des heil. Auguſtins
mit einigen ſtrengen Geſetzen zu vermehren, und
in der Wuͤſte zu Praͤmonſtrat im Biſthum Laon
1120.
(f)
die er hernach in die Kloͤſter austheilte. Die Congre-
gationen von Clugny und Hirſchau wurden hernach
beruͤhmte Namen. Lori Bair. Geſch. S. 656.
(k)
”Nach der erſten Einrichtung in den Kloͤſtern
wurden alle Handarbeiten durch die Moͤnche ver-
richtet; ſie waren Zimmerleute und Maurer, und
Becker, und ſorgten fuͤr alles, was zur Erhal-
tung der Kloſteroͤconomie noͤthig war. Vielleicht
Bequemlichkeit, vielleicht Liebe zum ungehinderteren
Studieren veranlaßte im Anfange des elften Jahr-
hunderts erſt nur in einigen Kloͤſtern die Veraͤnde-
rung, daß Laien ins Kloſter aufgenommen wur-
den, deren Fleiſſe der vornehmere Moͤnch alle dieſe
niedrige Verrichtungen uͤberließ, die er dafuͤr mit
dem Brudertitel beehrte, und mit dem reicheſten
Segen ſeiner Kloſtergebete und ſeiner Kloſtermeſſen.
Zu Hirſchau in Schwaben hatte ein redlichgeſinn-
ter Abt einen Anfang dieſer Art gemacht. Aber
in kurzem wurde es allgemeine Kloſterſitte, weil
das
(i)
1120. einen neuen Orden von regulirten Chorher-
ren aufzurichten, welche man Praͤmonſtratenſer,
auch weiſſe Canonicos nannte. Wegen ihrer ſchar-
fen Kloſterzucht wurden ſie bald in ganz Europa
eingefuͤhrt; unter andern in Baiern 1127 — 1147.
an ſechs Orten. Lori Bair. Geſch. S. 655.
(l)
Man ſehe z. B. nur die Menge der Kloͤſter,
die nur in Baiern in den Jahren 1074 — 1156.
nach einander geſtiftet wurden, bey Lori am a. O.
S. 656. Auch die Nonnenkloͤſter wurden von
allerley Orden ſo vermehrt, daß ſchier neben jedem
Mannskloſter eines derſelben erbauet wurde. Lori
eben daſ. S. 659.
(k)
das neue Inſtitut den Stolz und die Bequemlich-
keit der Moͤnche zu ſehr beguͤnſtigte, und fuͤr die
Kloſteroͤconomie eine Ausbreitung erlaubte, welche ſie
nach der alten Einrichtung nie haͤtte erhalten koͤnnen.”
Spittlers Geſch. der Chriſtl. Kirche (Aufl. 2.)
S. 298. Der Abt Wilhelm zu Hirſchau unterhielt
150. Moͤnche, die dem Chore gewidmet waren;
dann 60. Laienbruͤder oder fratres conuerſos, wie
man ſie nannte, die zwar den Ordenshabit tru-
gen, aber arbeiten mußten; und uͤberdas noch 50.
andere Bruͤder (oblatos) in weltlichen Kleidern, die
alles nothwendige zum Kloſter bringen mußten,
damit auch jene Laienbruͤder nicht Urſache haͤtten,
außer dem Kloſter herumzuſchweifen. Lori Bair.
Geſch. S. 657.
(m)
Die Societaͤt der Wiſſenſchaften zu Man-
heim hat eine Preisfrage hieruͤber aufgeſtellt. Den
Preis gewann der Badiſche Regterungsrath Hector
Wilh. von Guͤnderrode. S. deſſen Preisſchrift
von den vornehmſten Urſachen, welche den Verfall
der Eintheilung Teutſchlandes, beſonders der Rhei-
niſchen Provinzen, in Gaue veranlaßt haben, in
ſeinen Beytraͤgen zur Rechtsgelehrſamkeit, Geſchich-
te ꝛc. (Gieſſen 1778. 8.) S. 1-26. S. auch 10.
Dan. Henr. Mvsaevsde cauſis praecipuis, cur
diuiſio Germaniae in pagos ſenſim deſierit?
Kil.

1778. 4.
(n)
Noch 1333. hieß es in einer graͤflich
Bentheimiſchen Urkunde: ”Nos Ecbertus nobilis
de Benthem — a dilecto nobis quondam Iohanne
comite in Benthem fratre noſtro.” Ivnghiſtor.
Benthem.
diplom. p.
149.
(o)
Oben S. 7. Wilh. Aug. Rudloffs allge-
meine Anmerkungen uͤber die Verſchiedenheit der
Laͤnder Teutſchlandes, deren aͤltere Bewohner
Slaviſchen Urſprunges, und derjenigen, deren
alte Einwohner Teutſche geweſen, in den gelehr-
ten Beytraͤgen zu den Schweriniſchen Anzeigen
1771. St. 4. Fried. Aug. Rudloffs Handbuch
der Mecklenburgiſchen Geſchichte Th. 1. S. 240.
(p)
Rudloffs Mecklenb. Geſch. Th. 1. S. 151.
(q)
Rudloff eben daſelbſt S. 156.
(r)
Z. B. oben S. 128.
(s)
Rudloffs Mecklenb. Geſch. Th. 1. S. 237.
(t)
Von der Abſtammung dieſes Hauſes von
Niclot († 1161.) und deſſen von den ehemaligen
Obotritiſchen Koͤnigen wahrſcheinlich abzuleitender
Herkunft S. Thom. Nugent’shiſtory of Van-
dalia
(u)
Rudloffs Meckl. Geſch. Th. 2. S. 298.
(v)
Der Hauptinhalt dieſer im Archive zu
Muͤnchen auf bewahrten Urkunde von 1208. war
folgender: ”Otto quartus D. G. Rom. rex et ſem-
per Auguſtus. Notum facimus — quod nos in-
ſpecta deuotione, quam circa promotionem no-
ſtram illuſtris vir Lodevicus dux Bawarorum
erit omni tempore habiturus, — confirmamus
tam ipſi quam vniuerſis ſuis ſucceſſuris heredibus
ducatum Bawariae cum vniuerſis terris et poſſeſ-
ſionibus, quas idem dux adhuc viuente anteceſ-
ſore noſtro in manu ſua et poſſeſſione tenuit —
Et cum fratribus noſtris, H. Palatino comite Rhe-

ni,
(t)
dalia tom. 1. (Lond. 1766.) append. 1. p. 435-
440., und andere, die in Rudloffs Meckl. Geſch.
Th. 1. S. 99[.] angefuͤhret ſind.
(w)
Im Roͤmiſchen Geſetzbuche iſt eine be-
kannte Stelle L. 7. §. 8. D. de pactis, wo es der
Natur der Sache ſehr gemaͤß heißt: ”Pactorum
quaedam in rem ſunt, quaedam in perſonam.
In rem ſunt, quoties generaliter paciſcor: ne
petam;
In perſonam, quoties, ne a perſona pe-
tam, id eſt, ne a Lucio Titio petam.”
Dieſe ganz
richtige Unterſcheidung zweyerley Gattungen von
Vertraͤgen trifft inſonderheit auch Verzichtleiſtun-
gen, wo es bald in die Augen faͤllt, daß es ſehr
unterſchieden iſt, ob ich mich eines Rechts ſchlech-
terdings und unbeſchraͤnkt begebe, oder ob ich nur
gewiſſen Perſonen und deren Nachkommen zum
Beſten Verzicht leiſte. Hier iſt die Anwendung
offenbar. Die Vorfahren des Hauſes Braunſchweig-
Luͤneburg haben ſich 1208. erklaͤrt, wegen ihres
Rechts auf Baiern an den damaligen Herzog Lu-
dewig und deſſen Erben keinen Anſpruch machen
zu wollen. Dieſe Verzichtleiſtung muß allerdings
ihre Kraft verliehren, ſobald keine Nachkommen
von gedachtem Herzoge mehr da ſind.
(v)
ni, et W. duce taliter ordinauimus, quod de
bonis et hominibus quondam incliti patris noſtri
aduerſus ducem Bawariae et heredes eius numquam
actionem habebunt.” — Orig. Guelf. tom. 3.
praef. §. 11. p. 33.
(x)
Spittlers Kirchengeſch. (Aufl. 2.) S. 307.
(y)
Franz, der 1182. zu Aſſiſſi im Herzog-
thume Spoleto gebohren war, und nach einer
Krankheit, die er ſich durch jugendliche Ausſchwei-
fungen zugezogen, im Jahre 1208. ſich entſchloſſen
hatte, ein frommes Leben zu fuͤhren, und einen
neuen Orden zu ſtiften, erhielt von Innocenz dem III.
1215. die paͤbſtliche Beſtaͤtigung. Zur Ausbrei-
tung ſeines Ordens that er theils ſelbſt große Rei-
ſen, theils verſchickte er andere in dieſer Abſicht.
Schon 1216. ſchickte er 60. von ſeinen Moͤnchen
nach Teutſchland, die aber wegen Unkunde der
Landesſprache nicht zu recht kamen. Der zweyte
Verſuch 1221. war gluͤcklicher. Von dieſer Zeit
an finden ſich Franciſcaner 1221. zu Trident,
1222. zu Wuͤrzburg, Worms, Speier, 1223. zu
Freyburg, Hildesheim, Braunſchweig, Goslar,
Halberſtadt, 1224. zu Nuͤrnberg, Coͤlln, Mainz,
Erfurt, Lindau, Prag, 1225. zu Eiſenach, Go-
tha, Nordheim, Muͤhlhauſen u. ſ. w. Abele
Magazin fuͤr Kirchenrecht St. 1. S. 87-98. Do-
minicaner
finden ſich ſchon 1219. zu Metz, 1220.
zu Frieſach in Kaͤrnthen, und zu Brixen, 1251.
zu Coͤlln ꝛc. Abele am a. O. S. 86.
(z)
Beyſpiele ſolcher Affiliationsbriefe von
1302. 1308. 1341. finden ſich in Steph. Alex.
Würdtweinſubſidiis diplomaticis iuris eccle-
ſiaſt
. tom. 1. p. 396. 404., tom. 5. p.
227.
(a)
“So verlohren die Biſchoͤfe als Seelſorger
ihrer Gemeinden, und jeder Dorfprieſter in ſeinem
kleinen Sprengel alle Liebe und alles Zutrauen,
und endlich ſelbſt auch alle Kenntniß der einzelnen
Mitglieder ihrer Gemeinden. Alles eilte dem Pa-
ter Franciſcaner zu, wenn er ins Dorf kam. Das
rohe Volk lachte der Seelſorge und der Ermah-
nung ſeines Pfarrers; der Pater Franciſcaner
abſolvirte fuͤr leichtere Strafen, oder man beich-
tete wenigſtens lieber bey dem, der als ein Frem-
der im Orte uͤber die Vollſtaͤndigkeit und Wahrheit
der Beichte minder gewiß urtheilen konnte.” Spitt-
ler
am a. O. S. 309.
(b)
In der Folge kamen noch die ſo genann-
ten Bruͤderſchaften hinzu, da die darin vereinig-
ten Bruͤder und Schweſtern unter Direction eines
der vier Bettelorden ſich einander ihrer guten Werke
theilhaftig machten. So entſtanden die Roſenkranz-
bruͤderſchaft bey den Dominicanern, die Scapulier-
bruͤderſchaft bey den Carmelitern, die Guͤrtel-
bruͤderſchaft bey den Auguſtinern, die Kordelbruͤ-
derſchaft bey den Franciſcanern, wodurch die Laien
zu Beytraͤgen an Wachs oder Geld und Geldeswerth
zu
(c)
“Wollte von dieſer Zeit an ein Pabſt in
irgend einem Reiche Unruhen anrichten; wer war
ihm dazu geſchickter, als dieſe Bettelmoͤnche?
Kein anderer Geiſtlicher und kein anderer Moͤnch
kam ſo unter dem niedrigſten Volke und ſo weit
und breit herum, als Franciſcaner und Dominica-
ner. Biſchoͤfe und reiche Benedictinermoͤnche konn-
ten bey ſo vielen liegenden Gruͤnden, die ſie hat-
ten, gegen die Gnade und Ungnade der Koͤnige
nicht ganz gleichguͤltig ſeyn. Sie wagten es alſo
nicht, nach jeder Laune des Pabſtes ſich zu empoͤ-
ren. Aber der Moͤnch, deſſen ganzes Vermoͤgen eine
braune Kutte oder ein Bettelſack war, konnte
nichts verliehren; er konnte trotzen, wie Diogenes
in ſeiner Tonne.” Spittlers Kirchengeſch. S. 309.
(b)
zu den Kloͤſtern und ihren Kirchen angelockt wur-
den. Zweytes Sendſchreiben eines Laien uͤber das
waͤhrend der Jeſuiter-Epoche ausgeſtreute Unkraut.
(Frkf. und Lpz. 1786.) S. 12.
(d)
Spittlers Kirchengeſch. S. 309. u. f.
(e)
Spittler eben daſ. S. 310.
(f)
Spittler eben daſ. S. 311. u. f.
(g)
“Ein ſchauervoller Anblick, wenn ein gan-
zes Land mit dem Interdicte beleget wurde.
Aller aͤußere Gottesdienſt mußte auf einmal auf-
hoͤren; die Altaͤre wurden entkleidet; alle Statuͤen
der Heiligen, alle Kreuze wurden zu Boden gewor-
fen; keine Glocke koͤnte mehr; kein Sacrament
wurde ausgetheilt; kein Todter kam auf die heilige
Erde des Gottesackers, er wurde ohne Gebet und
Geſang in unheiliges Land eingeſcharrt. Ehen
wurden nicht vor dem Altare, ſondern in dem
Todtengarten eingeſegnet. Niemand durfte den
andern auf der Straße gruͤßen; jeder Anblick
ſollte verkuͤndigen, daß das ganze Land ein Land
des Fluches ſey. Welchen unausloͤſchlichtiefen
Eindruck mußte das nicht auf ein Zeitalter voll
Aberglaubens machen, welches den ganzen Got-
tesdienſt in jene aͤußere Ceremonien ſetzte? Wie
mußte ein Volk nicht ſeinen Regenten verfluchen,
der durch ſeine Suͤnden ein ganzes Land auf ſol-
che Art um zeitliche und ewige Gluͤckſeligkeit
brachte?” Spittlers Kirchengeſch. S. 305.
(h)
Spittler am a. O. S. 306.
(i)
Schmaußcorp. iur. publ. S. 4-8. Mein
Hauptfaden der Reichsgeſchichte S. 276-279.
(k)
“Princeps et dominus eius (ciuitatis) ple-
na in ea gaudeat poteſtate.” Corp. iur. publ.
P. 5. §. 9.
(l)
“Vnusquisque principum libertatibus, iu-
risdictionibus, comitatibus, centis, ſiue liberis
ſiue infeodatis, vtatur quiete, ſecundum terrae
ſuae conſuetudinem approbatam.” Corp. iur.
publ
. p.
7.
(m)
Henr. Balth. Blvmde iudicio curiae
imperialis Germanico
, Frf. 1745. 4.,
Harpprechts
Staatsarchiv des Cammergerichts Th. 1. S. 24-46.
(n)
Cammergerichtsordnung 1495. Tit. 24.
(o)
Namentlich traf es folgende Orte: Eſch-
wege, Allendorf, Witzenhauſen, Fuͤrſtenſtein,
Arenſtein, Bielſtein, Wannfried, Ziegenberg und
Sontra, die damals vom Hauſe Braunſchweig
an das Haus Heſſen kamen. Saͤchſiſche Merk-
wuͤrdigkeiten S. 305.
(p)
Bis auf den am 20. Jan. 1440. erwehl-
ten Biſchof Sigismund, der ein gebohrner Prinz
von Sachſen war, fuͤhrten alle vorige Biſchoͤfe
nur den Titel: Biſchof zu Wuͤrzburg, ohne wei-
tern Zuſatz. Sigismund verband zuerſt mit dem
biſchoͤflichen Titel den Titel Herzog zu Sachſen,
und fuͤhrte auch das Saͤchſiſche Schwerdt in ſei-
nem Wappen. Sein Nachfolger, Gottfried aus
dem
(p)
freyherrlichen, nachher graͤflichen Geſchlechte der
Schenken von Limburg, behielt hernach nicht nur
das Schwerdt im Wappen, ſondern fuhr auch
fort ſich Herzog zu ſchreiben, nur nicht von Sach-
ſen, ſondern Herzog in Franken; welches ſeitdem
die folgenden Biſchoͤfe beybehalten haben. S. meine
Rechtsfaͤlle B. 1. Th. 2. S. 328. und die daſelbſt
angefuͤhrten Schriftſteller.
(q)
Schon 1247. trat die Stadt Braunſchweig
hinzu, wo damals die Hauptniederlage der aus
Italien und dem Reiche nach Norden beſtimm-
ten Waaren war. Dann folgten nach einan-
der Wismar, Roſtock, Stralſund, Greifswalde,
Colberg, Stolpe, Stettin, Anclam, Wisby,
Riga; ferner 1280. Bremen, 1284. die Nieder-
laͤndiſchen Staͤdte Groͤningen, Kampen, Stavern;
1289. Luͤneburg, 1293. Elbingen, 1294. Stade.
Magdeburg, Halle, Goslar; und ſo nach und
nach immer mehrere; nicht bloß Seeſtaͤdte, ſon-
dern auch andere, die theils zur Factorey gebraucht
wurden, theils ihre Manufacturwaaren durch den
Bund vortheilhaft vertreiben konnten. Die we-
nigſten waren Reichsſtaͤdte, hatten aber an dem
Bunde zum Theil ſelbſt gegen ihre Landesherren
ſolche Stuͤtze, daß ihnen an der voͤlligen Freyheit
wenig abgieng.
(r)
Wie der Bund in ſeiner voͤlligen Conſiſtenz
war, beſtand er aus 64. Staͤdten, die zu Unter-
haltung der Bedienten und anderen gemeinſchaft-
lichen Unkoſten jaͤhrlich das ihrige beytrugen. An-
dere nur zugewandte Staͤdte mitgerechnet, waren
ihrer zuſammen uͤber 80. Sie waren insgeſammt
in vier Quartiere vertheilt, unter den vier Haupt-
ſtaͤdten Luͤbeck, Coͤlln am Rhein, Braunſchweig
und Danzig.
(s)
Der Name Hanſe war ſchon vorher von
Handlungsgeſellſchaften gebraͤuchlich. Jetzt wurde
er dieſer Verbindung eigen, die nebſt der Hand-
lungsverbindung zugleich ein wahres Staats- und
Kriegs-Buͤndniß wurde.
(t)
Mit der Schifffahrt erhob ſich die Hanſe
bis zur betraͤchtlichſten Seemacht. Noch 1428.
ward von Wismar aus eine Flotte von 260. Schif-
fen mit 12. tauſend Mann ausgeruͤſtet, um Cop-
penhagen anzugreifen.
(u)
Zur Handlung waren vier allgemeine
Marktplaͤtze fuͤr die Hanſe beſtimmt; fuͤr England,
Schottland, Irland London; fuͤr Daͤnemark, Nor-
wegen, Schweden Bergen; fuͤr Polen, Preuſſen,
Liefland, Rußland, Kleinaſien, Perſien Novogrod
nachher Narva; fuͤr die Niederlande und Ober-
teutſchland, Frankreich, Spanien, Portugall,
Italien und Ungarn Bruͤgge, nachher Antwerpen.
Der groͤßte Vortheil der Hanſe war, daß ſie in
fremden Laͤndern ſolche Begnadigungen zu erlan-
gen gewußt hatte, daß ihre Bundesverwandten
uͤberall als einheimiſch behandelt wurden, und an
Zoͤllen und anderen Abgaben weniger als andere
entrichten durften. Moͤſer von den wahren Urſa-
chen des Steigens und Fallens der hanſeatiſchen
Handlung in ſeinen Phantaſien Th. 1. (Berl. 1775.
8.) S. 269. Fried. Chriſt. Jon. Fiſchers Geſchichte
des Teutſchen Handels Th. 2. (Hannov. 1785. 8.)
S. 1. 126. u. f.
(v)
Die Urſachen und die Geſchichte des Ver-
falls der Hanſe finden ſich in der Kuͤrze am gruͤnd-
lichſten entwickelt in Buͤſch Geſchichte der Welt-
haͤndel (Aufl. 2. Hamb. 1783. 8.) S. 136-140.
Auf einem Hanſetage 1630., da faſt alle andere
Staͤdte ausblieben und die uͤbrigen ihre Abneigung
erklaͤrten, ward der Bund nur von den drey Staͤd-
ten Luͤbeck, Hamburg und Bremen erneuert, die
ſeitdem den Namen Hanſeſtaͤdte allein fortfuͤhren.
(w)
Im Weſtphaͤliſchen Frieden Art. 10. §. 16.
ward noch den Hanſeſtaͤdten die Freyheit ihrer
Schifffahrt und Handlung, wie ſie ſolche vor dem
dreyßigjaͤhrigen Kriege gehabt hatten, von der Kro-
ne Schweden ferner ausbedungen. Darauf bezieht
ſich auch noch eine Stelle in den neueren Wahl-
capitulationen (1742.) Art. 7. §. 2.: ”die Hand-
lung treibenden Staͤdte, inſonderheit die vor an-
dern zum gemeinen Beſten zur See trafiquirenden
Staͤdte Luͤbeck, Bremen und Hamburg bey ihrer
Schifffahrt und Handlung, Rechten und Freyheiten
zu erhalten und kraͤftigſt zu ſchuͤtzen.”
(x)
Luͤnigs Reichsarchiv ſpicileg. eccleſ. part.
ſpec. cont. 1. p.
6.
(y)
Pfeffingerad Vitriar. tom. 1. p. 159.
(z)
Amandvsde primis actis a Friederico I.
in imperio peractis
, apud Gewoldvmde ſeptem-
viratu
cap. 6. p. 78. n.
69.
(a)
Innocenz der III. ſchrieb noch: ”tot vel plu-
res ex his, ad quos principaliter ſpectat imperato-
ris electio
.” Steph. Balvz.epiſtolae Innocentii III.
epiſt.
29. Von der Wahl Conrads des IV. heißt
es in einem fragmento hiſtorico ad a. 1237. in
Vrstisiiſcript. rer. Germ.: ”quem elegerunt
Moguntinus et Treuirenſis et rex Bohemiae, et
dux Bauariae, qui et Palatinus Rheni, conſentien-
tibus ceteris
, qui aderant, tamen paucis.” Pfef-
finger
ad Vitriar. tom. 1. p.
156.
(b)
Albertvs Stadensis ad a. 1240.:
”Rex Bohemiae non eligit, quia non eſt Teuto-
nicus.” Pfeffingerl. c. p.
613.
(c)
Goldastconſtit. imp. tom. 2. p. 85.
Hertde renouato Bohemiae nexu fect.
2. §. 10.
(d)
Gewoldde ſeptemuiratu p. 756. Tol-
ner
cod. diplom. Palat. n. 107. p.
75.
(e)
Verſchiedene hier einſchlagende Umſtaͤnde
finden ſich noch genauer entwickelt in Fried. Chriſt.
Jon. Fiſchers Abhandlung von dem herzoglich
Bairiſchen und Pfalzgraͤflich Rheiniſchen Churrechte,
in ſeinen kleinen Schriften B. 1. (Halle 1781. 8.)
S. 17. und in eben deſſelben Abhandlung uͤber die
Bairiſche Churwuͤrde und die damit verknuͤpfte
Untrennbarkeit der Pfalzbairiſchen Laͤnder, Berlin
1785. 8. (2. B.)
(f)
Dieſe hat nur den Vorzug, daß ſie ſchlecht-
weg goldene Bulle genannt wird, an ſtatt daß
ſonſt eine naͤhere Beſtimmung, z. B. Brabantiſche
goldene Bulle gewoͤhnlich iſt. Die Bulle ſelbſt
ſtellt auf einer Seite Carl den IV. mit den In-
ſignien auf dem Throne ſitzend vor mit Beyfuͤgung
ſeiner Wappen und der Umſchrift ſeiner Titel;
auf der andern Seite das Bild der Stadt Rom,
mit den Worten aurea Roma, und mit der Um-
ſchrift: Roma caput mundi regit orbis fraena
rotundi.
(g)
Gvdenvscod. diplom. tom. 3. p. 411.
(h)
Dieſer Vertrag von Pavia iſt erſt in un-
ſeren Tagen recht ins Licht geſetzt worden in F.
C. J. Fiſchers Geſchichte des Bairiſch-Pfaͤlziſchen
Hausvertrages von Pavia aus Archivalurkunden
beleuchtet, 1779. 4., und in deſſen kleinen Schrif-
ten Th. 2. S. 403-720.
(i)
Senkenbergs Sammlung ungedruckter
und rarer Schriften Th. 1. (1745.) S. 28.
(k)
Goldene Bulle Cap. 7. §. 3.: ”Si prime-
genitus — absque heredibus masculis — ab hae

luce
(k)
luce migraret; — poteſtas electionis — ad ſenio-
rem fratrem
laicum per veram paternalem lineam
deſcendentem, et deinceps ad illius primogenitum
laicum deuoluatur.”
(l)
Ernſt Auguſt der I. (geb. 1629.) ward
1662. Biſchof zu Osnabruͤck, 1692. Churfuͤrſt zu
Hannover † 1698.
(m)
Mein Handbuch von den beſonderen Teut-
ſchen Staaten S. 390. 394.
(n)
Gvdenvscod. diplom. tom. 3. p. 456-458.
(o)
So findet ſich z. B. eine Urkunde vom
Jahre 1331. bey Gvdenvs tom. 2. p. 1048.,
worin die Churfuͤrſten von Trier und Coͤlln, und
die mit den rothen Ermeln an einer Seite,
und Simon von Kempenich und Johann von El-
zen an der andern Seite, nebſt ihren Helfern
von beiden Seiten einen foͤrmlichen Frieden ſchlie-
ßen.
(p)
Goldene Bulle Cap. 15. §. 1. 2.
(q)
Ich kann mich nicht enthalten, hier
einen recht nach dem Leben geſchilderten Zug von
der Art aus Spittlers Wuͤrtenbergiſcher Geſchichte
S. 30. 31. einzuruͤcken. ”Ungefaͤhr um das Jahr
1367. vereinigten ſich viele Schwaͤbiſche Ritter,
kuͤnftig in guter Geſellſchaft ihre ritterliche Thaten
auszufuͤhren, einander Nachricht zu geben, wo ein
guter Fang zu thun ſeyn moͤchte, und aller Welt
das ihrige abzujagen. Martinsvoͤgel oder Schlaͤg-
ler nannte ſich die loͤbliche Genoſſenſchaft, denn
ihre ſilberne Keulen (Schlaͤgel) waren das Zeichen
ihres Ritterbundes, und am Tage Martini hatten
ſie die große Allianz geſchloſſen. Gleich in der
erſten Zeit zeigte ſich eine gute Gelegenheit einen
luſtigen Ritt mit einander zu thun. Graf Eber-
hard (von Wuͤrtenberg) mit ſeiner ganzen Familie
war ohne allen Argwohn im Wildbad, und genoß
hier die Ruhe von ſo vielen bisher erduldeten
Kriegsbeſchwerden. Denn auch ſein altes Schwerdt
von Stahl und Eiſen fieng an bruͤchig zu werden,
es wurde gar zu ſtreng abgenutzt. Den Martins-
voͤgeln fiel ein, daß hier ſtattliche Ranziongelder
zu holen ſeyn wuͤrden, und es war ſchon Ritter-
ſpaß gnug, einen ſolchen zu fangen, wie Eber-
hard war. Angefuͤhrt von dem Grafen von Eber-
ſtein, umringten ſie ploͤtzlich das Staͤdtchen Wild-
bad, und alles, was Wuͤrtenbergiſcher Graf oder
Graͤfinn war, wuͤrde ihnen wahrſcheinlich zur
Beute geworden ſeyn, wenn nicht ein Hirte Eber-
harden und ſeiner Familie einige Fußpfade zwiſchen
Waͤldern und Felſen hindurch gezeigt und ſie gluͤck-
lich gerettet haͤtte. So abgeſagt feind konnte Eber-
hard den Reichsſtaͤdten nicht werden, als er jetzt
dieſen Martinsvoͤgeln gram war; den verwuͤnſch-
ten Raubvoͤgeln, die, ohne vorher einen Abſagbrief
zu ſchicken, wie Schelme ihn uͤberfallen hatten,
die ihn gerade ſo angegriffen, daß er ſich ent-
weder ohne Schwerdtſtreich ergeben, oder wie
eine
(q)
eine Memme hinwegſtehlen mußte. Eberhard bot
alles auf, ſich blutig an ihnen zu raͤchen; aber
die Rache war nicht ſo gar leicht zu vollbrin-
gen. Denn Pfalzgraf Rupert und Marggraf
Rudolf von Baden waren in gutem Verſtaͤndniß
mit den Schlaͤglern, und lachten mit heimlicher
Freude des uͤberraſchten Eberhards; nur Schade,
daß der Vogel nicht gefangen worden war. Selbſt
die Schwaͤbiſchen Reichsſtaͤdte mußten auf kaiſer-
lichen Befehl Eberharden zu Huͤlfe ziehen, das
Reichspanier wurde aufgeworfen, Carl (der IV.)
ſelbſt unterſtuͤtzte ſeinen Lehnmann. Aber der Eifer
dieſer Bundsgenoſſen erkaltete ſehr fruͤhe, und Eber-
hard allein war nicht ſtark gnug, dieſe Feinde zu
ſtrafen. Noch vier Jahre nachher machte er es
zu einem Artikel ſeines Buͤndniſſes mit der Stadt
und dem Biſchof von Straßburg, daß ſie ihm
gegen ſeine Wildbader Feinde helfen ſollten.”
(r)
In einer Urkunde Kaiſer Conrads des II.
wird Fulda ſchon principalis abbstia genannt.
Browerantiquit. Fuldenſ. lib. 3. cap. 17.
(s)
So findet ſich eine Urkunde vom K. Ru-
dolf von Habsburg vom Jahre 1274. in Herr-
gott
origin. Habsburg.
wo es heißt: ”abbatem
monaſterii Heremitarum in principum S. R. I. con-
ſortium
adſciſcimus.”
In einer andern Urkunde
von eben dieſem Rudolf vom Jahre 1290. heißt
es vom Abte zu Murbach und Luͤder: ”ipſum tam-
quam
(t)
In einer Urkunde vom K. Sigismund heißt
es: gefuͤrſtete Aebte.Limnaeiius publ.
lib. 2. cap. 9. n. 25.
(u)
Meierannal. rer. Belgicar. p. 91.: ”Eo-
dem anno (1262) Richardus Caeſar petente Mar-
garetha (comitiſſa Flandriae) Guidonem filium
eius recepit in fidem, et principem ſalutauit S.
imperii.
Gebauers Leben Richards S. 50.,
Gebhardi genealogiſche Geſchichte der Reichsſtaͤn-
de B. 1. S. 220.
(v)
Von Henneberg heißt es in der Urkunde
K. Henrichs des VII. von 1310.: ”conferimus
eidem Bertholdo ac ſuis heredibus omnia iura
principum
, — quod ipſe comes et liberi ſui de-
beant iure et more aliorum principum noſtrorum
et imperii coruſcare.Meibomſcriptor. rer.
Germ.
tom. 3. p. 208.
(w)
Von Naſſau hieß es in der Urkunde K.
Carls des IV. 1366.: — ”illuſtres principes co-
mites
creamus, — et in collegio principum co-
mitum, qui vulgari Teutonico
gefuͤrſtete Grafen
dicuntur, computemini.”Luͤnigs Reichsarchiv
part. ſpec. 4. Abth. 22. S. 458.
(s)
quam noſtrum et imperii principem — admit-
tentes regalia feuda principatus abbatiae, quem
obtinet” etc.
Luͤnigs Reichsarchiv ſpicil. eccleſ.
contin. p. 978.
(x)
Ge. Fried. Car. Robert diſſ. de ſtatu
corum, qui ſecundum leges imperii dicuntur
Fuͤrſten-
maͤßige, Marb. 1785.
(y)
Im Jahre 1373. brachte Carl der IV. die
Mark Brandenburg von ihrem damaligen Beſitzer,
Otto aus dem Hauſe Baiern, kaͤuflich an ſich.
Im Jahre 1415. uͤberließ ſie Carls Sohn Sigis-
mund ſchon wieder an Friedrich den I. Burggrafen
von Nuͤrnberg aus dem Hauſe Hohenzollern, den
Stammvater des Hauſes Brandenburg, wie es
noch jetzt bluͤhet.
(z)
Da der Herzog Wilhelm von Luͤneburg
1369. als der letzte ſeiner Linie geſtorben war,
machte deſſen Tochter Sohn Albrecht von Sachſen
den Stammsvettern des Hauſes Braunſchweig die
Succeſſion ſtreitig, erhielt auch einen guͤnſtigen
Ausſpruch von Carl dem IV., und kam zum Theil
ſchon in Beſitz. Erſt ein Treffen bey Winſen an
der Aller im Jahre 1388. entſchied zum Vortheile
der Braunſchweigiſchen Stammsvettern.
(a)
Nach Abgang des Herzogs Carls des Kuͤh-
nen von Lothringen († 1430.) wurde deſſen
Bru-
(a)
Bruders Sohne Anton die Succeſſion von des erſtern
Tochtermanne Renat von Anjou ſtreitig gemacht.
Auch hier ſprach ſo gar das Baſeliſche Concilium,
und darauf auch Sigismund, fuͤr den Tochter-
mann. Erſt eine Vermaͤhlung zwiſchen Antons
Sohne Friedrich und Renats Tochter Jolantha
(1444.) leitete die Sache wieder in die Wege,
daß in der Nachkommenſchaft aus dieſer Ehe das
Herzogthum Lothringen bey ſeinem alten Manns-
ſtamme blieb.
(b)
Zur Boͤhmiſchen Nation rechnete man noch
Maͤhren und Ungarn; zur Bairiſchen Oeſterreich,
Schwaben, Franken und die Rheinlaͤnder; zur
Saͤchſiſchen Ober- und Niederſachſen, Daͤnen und
Schweden; zur Polniſchen Schleſier, Litthauer,
Ruſſen. Pelzels Geſchichte der Boͤhmen (Aufl. 3.
Prag 1782.) S. 244.
(c)
Als 1388. zu Coͤlln, 1403. zu Wuͤrzburg,
1409. zu Leipzig, 1415. zu Roſtock, 1426. zu Loͤ-
wen, 1457. zu Greifswalde, 1459. zu Baſel, 1460.
zu Freyburg, 1472. zu Ingolſtadt, 1477. zu Tuͤ-
bingen, 1482. zu Mainz, 1502. zu Wittenberg,
1506. zu Frankfurt an der Oder ꝛc. Pfeffin-
ger
ad Vitriar. tom. 3. p. 233. ſq.
(d)
Schmidts Geſchichte der Teutſchen Th. 3.
S. 529.
(e)
Sammlung der Reichsabſchiede (Frkf. 1747.
Fol.) Th. 1. S. 112. u. f.
(f)
Spittlers Kirchengeſch. (2. Ausg. 1785.)
S. 349.
(g)
Dieſe Acceptationsurkunde iſt das erſtemal
zu Mainz 1763. in Druck erſchienen unter dem
Titel:
(h)
Gvdenvscod. diplom. tom. 4. p. 290.
300.
(g)
Titel: Concordata nationis Germanicae integra
p. 21-61.; edit. II. Frf. et Lipſ. 1771. 8. p.
38-134.
(i)
Sammlung der Reichsabſchiede Th. 1.
S. 177., Concordata nat. Germ. integra p. 61. ſq.
(edit. II. p. 135-147.)
(k)
Schon ſeit Carl dem V. wird ein jeder Kaiſer
in der Wahlcapitulation verpflichtet, beym Pabſte
ſein beſtes Vermoͤgen anzuwenden, daß die con-
cordata principum
und andere Vertraͤge gehalten
werden moͤchten. Wahlcap. (1519.) Art. 14. §. 1.
(l)
Concord. N. G. §. 8. in Schmaußcorp.
iur. publ. p.
51.
(m)
Le Bret Magazin Th. 8. S. 4. 5.
(n)
Nachrichten von Juvavia S. 280-283.
(o)
Nachrichten von Juvavia S. 246-278.
(p)
So finden ſich Fehdebriefe der Becker und
Buben des Marggrafen von Baden an die Reichs-
ſtaͤdte Eslingen, Reutlingen und andere, vom Jahre
1450.; ingleichen der Becker des Pfalzgrafen Lude-
wigs an Augsburg, Ulm, Rothweil von 1462.;
und eines Eppenſteiniſchen Kochs mit ſeinen Kuͤchen-
knaben, Viehmaͤgden, Schuͤſſelwaͤſchern ꝛc. an den
Grafen Otto von Solms von 1477. Mein Haupt-
faden der Reichsgeſchichte S. 373.
(q)
Hauptfaden der Reichsgeſchichte S. 374.
Schmidts Geſch. der Teutſchen Th. 4. S. 514. u. f.
(r)
Als zu Rom 1467. von Conrad Schwein-
heim und Arnold Pannarz; zu Venedig 1469. von
Johann von Speier; zu Paris 1470. von Ulrich
Gering und Michael Freyburger; zu Neapel 1471.
von Sixt Rieſſinger u. ſ. w. Mein Hauptfaden der
Reichsgeſch. S. 378.
(s)
Meine Abhandlung vom Buͤchernachdruck
(Goͤttingen 1774. 4.) S. 173. u. f.
(t)
Meine Beytraͤge zur Lehre vom Urſprunge
des Reichshofraths in den Hannoveriſchen gelehrten
Anzeigen 1750. S. 169., und in meinen opuscu-
lis p.
361.
(u)
Londorpsacta publ. Th. 1. S. 20.
(v)
Sammlung der Reichsabſchiede Th. 2.
S. 148. §. 8.
(w)
Meine Litteratur des Staatsrechts Th. 1.
S. 119. Anmerk. a.
(x)
Einzelne Ausfuͤhrungen hieruͤber liefern fol-
gende Schriften: 1) Jac. Gottl. Sieber von der
Nutzbarkeit der Erlernung des C. G. Proceſſes aus
verſchiedenen Hofgerichtsordnungen gezeiget, Goͤt-
tingen 1760. 4.; 2) Wilh. Aug. Rudloff von der
Aehnlichkeit der Teutſchen Hofgerichte mit dem k. u.
R. C. G., Buͤtzow 1770. 4.; 3) Bernh. Gottl.
Huldr.
(x)
Huldr. Hellfelds Geſchichte der Hofgerichte in
Sachſen, beſonders des Hofgerichts zu Jena, Jen.
1782. 8.
(y)
Mit Inbegriff der beiden neueſten Univer-
ſitaͤten zu Wittenberg und Frankfurt an der Oder
konnte man damals ſchon 13. Teutſche Univerſitaͤ-
ten zehlen. S. oben S. 278. Anm. c. Wie ein
ſonderbarer Streit uͤber die veneriſche Krankheit
zu Stiftung gedachter beiden neuen Univerſitaͤten
den erſten Anlaß gegeben, und wie die zu Witten-
berg 1502. nach dem Muſter der Tuͤbingiſchen, ſo
wie dieſe nach der Bononiſchen, die zu Frankfurt
hingegen 1506. nach der Leipziger und alſo nach
der
(z)
Als Conrad Celtes, Conrad Pentinger,
Deſiderius Erasmus, Johann Trithem, Johann
Aventin u. ſ. w. Meine Litteratur des Staatsr.
Th. 1. S. 91-98.
(a)
In einer im Jahre 1531. gedruckten ſo
genannten ”Laiiſchen Anzeigung ꝛc.” gibt jemand
einem
(y)
der Prager und Pariſer Univerſitaͤt eingerichtet
worden, beſchreibt Moehſen in der Geſchichte der
Wiſſenſchaften in der Mark Brandenburg (1781.)
S. 365-372.
(b)
Nur noch ſeltene Beyſpiele waren Johann
von Dalberg († 1503.), Ulrich von Hutten († 1523.),
Hermann Graf von Nuenar († 1530.), Sebaſtian
von Rotenhan († 1532.) Meine Litteratur des
Staatsr. Th. 1. S. 91.
(c)
Aus Furcht fuͤr das Cammergericht und
fuͤr die Strafe des Landfriedensbruchs wurden viele
Fauſtrechtshaͤndel nur deſto heimlicher, aber auch
deſto gefaͤhrlicher getrieben. So klagt der Reichs-
abſchied 1512. uͤber unerhoͤrte Mißhandlungen,
wie einer den andern heimlich fahe, verblende,
wegfuͤhre, in Gefaͤngniſſen heimlich halte, oder
anderen verkaufe, heimlich mordbrenne u. ſ. w.
Samml. der R. A. Th. 2. S. 142.
(d)
Leben Goͤtz von Berlichingen, Nrnb. 1731. 8.
Vom Jahre 1513. koͤmmt in Meuſels Geſchicht-
forſcher Th. 4. von ihm noch eine beſondere Fehde
gegen die Stadt Nuͤrnberg vor, da er mit 170.
Pferden den Kaufleuten, die von Leipzig zuruͤck-
kamen, aufpaßte, ihnen alles abnahm, und ſie
zum Theil gefangen ſchleppte. Vom Cammerge-
richte ergieng zwar darauf eine Achtserklaͤrung und
die
(a)
einem Freunde von Adel den Rath ſich auf Stu-
dien zu legen, um ſich zu Bedienungen im Lande
geſchickt zu machen. Da kommen unter andern fol-
gende Stellen vor: ”So du aber bisher als einer
von Adel der Kriegshaͤndel, des Weidwerks und
anderer Kurzweil mehr, denn ſolcher Vernunft-
haͤndel befliſſen ꝛc.” — ”Laß dir ſolche Schreibe-
rey nicht zuwider ſeyn. Denn willſt du große
Soͤlde, Aemter und Gerichte haben, ſo fleiß dich
dem. — Es iſt dir wohl ſo ehrlich, als wenn
du dem Fuchs und Haſen nachreiteſt.”
(e)
Noch in einem ums Jahr 1620. von einem
Mitgliede der Reichsritterſchaft ausgefertigten Be-
denken wird mit einer Art von Wehmuth in Erin-
nerung gebracht, wie das Fauſtrecht ehedem das
beſte gethan habe, ſo lange ſich theils adeliche
Haͤuſer feſt zuſammengehalten, theils auch an-
dere mittelmaͤßige Staͤnde, als naͤchſtgeſeſſene Bi-
ſchoͤfe, Praͤlaten und Grafen, durch gegenſeitige
Huͤlfsvertraͤge Beyſtand geleiſtet haͤtten. Wie
aber nachfolgends allerley Mißverſtaͤnde einge-
riſſen, ”und die alten redlichen Fehden etlicher
„Mißbraͤuche halber oder vielmehr ad aemulato-
„rum artificioſas inſtantias
durch den Landfrieden
„aufgehoben ſeyen;” — da habe es angefangen
zu hinken. F. C. Moſers kleine Schriften B. 2.
(Frf. 1752. 8.) S. 32.
(f)
Man erſchrickt, wenn man nur lieſet,
was ſelbſt in Reichsgeſetzen des XVI. Jahrhunderts
von Gotteslaͤſterungen, Fluͤchen und Schwuͤren
vorkoͤmmt, ſo gar nach beſonderen Abtheilungen
von Fluͤchen und Schwuͤren des Adels, der reiſigen
Knechte u. ſ. w. Samml. der R. A. Th. 2. S. 590.
Und was ſoll man von den Sitten eines Zeitalters
denken, da es noch gewoͤhnliche Strafen waren,
lebendig zu begraben, lebendig in Oel zu ſieden,
Augen auszuſtechen, durch die Backen zu bren-
nen u. ſ. w., wie dergleichen in Silbermanns
Geſchichte von Straßburg noch von den Jahren 1510.
1515. vorkommen, oder da noch ein Herzog Ul-
rich von Wuͤrtenberg ”einen ſeiner Raͤthe aus einer
„ſehr
(d)
die Verurtheilung zur Schadenserſetzung mit 14.
tauſend Gulden. Dazu trug aber ſelbſt der Biſchof
von Wuͤrzburg 7000. Fl. mit bey. Und darauf
erfolgte auch die Entbindung von der Acht.
(g)
Auf dem Reichstage 1495. wurde unter
andern verordnet: daß der Kaiſer allen Churfuͤr-
ſten, Fuͤrſten und Staͤnden ſchreiben und gebieten
ſolle, an ihren Hoͤfen ihren Dienern, auch ſonſt
allen Unterthanen das Trinken zu gleichen,
vollen und halben
nicht zu geſtatten, ſondern
das ernſtlich zu ſtrafen; ”und iſt gerathſchlaget,
„daß Se. Majeſtaͤt ſolches an Dero Hofe zu
„verbieten und zu handhaben anfange.” Samml.
der R. A. Th. 2. S. 26. §. 38.
(h)
Noch 1524. ſchloſſen verſchiedene geiſtliche
und weltliche Churfuͤrſten und Fuͤrſten eine beſon-
dere Verbindung unter einander: ſich fuͤr ihre
eigne Perſonen der Gotteslaͤſterung und des Zu-
trinkens ganz oder halb zu enthalten; und doch
mit ausdruͤcklicher Ausnahme, wenn ſie in Laͤn-
der kaͤmen, wo Zutrinken noch Gewohnheit waͤre,
als in den Niederlanden, in Sachſen, in der Mark,
in Mecklenburg und in Pommern. Mein Haupt-
faden der Reichsgeſch. S. 391.
(i)
Mein Hauptfaden der Reichsgeſch. S. 380.
Gmelins Geſchichte des Teutſchen Bergbaues
(Halle 1783. 8.) S. 278. u. f. Nach den von letz-
terem angefuͤhrten Nachrichten wurden von 1542.
bis
(f)
„ſehr anſehnlichen Familie bey einem Kohlenfeuer
„an Armen und Beinen braten, den Leib mit
„Branntewein uͤberziehen und ſo anzuͤnden ließ?”
Spittlers Wuͤrtenb. Geſch. S. 112.
(k)
Bey der Vermaͤhlung des Churfuͤrſten Jo-
hannes des Standhaften von Sachſen im Jahre
1500. wurden taͤglich bey 11. tauſend Menſchen
geſpeiſet, und auf 7. tauſend Pferde Futter vom
Hofe gereicht. Glafey Saͤchſ. Geſch. S. 135.
(l)
In Nordholland koſtete 1500. eine Kuh
5 Fl., die jetzt mit 100. Fl. bezahlt wird. Goͤtt.
gel. Anz. 1780. S. 1293. Unter Herzog Henrich
von Sachſen bekam 1512. ein Canzler 100. Fl. Be-
ſoldung. Glafey Saͤchſ. Geſch. S. 112. Ums
Jahr 1515. bekam Richard Crocus, erſter Lehrer
der Griechiſchen Litteratur zu Leipzig, jaͤhrlich 10.
Ducaten Gehalt. Franz Lambert zu Wittenberg be-
kam fuͤr halbjaͤhrige Vorleſungen ein Honorarium
von 15. Groſchen. Goͤtt. gel. Anz. 1779. S. 134.
(m)
Leſenswuͤrdig ſind hievon die Nachrichten
aus einem zu Rom 1500. gedruckten Buche von
Pet. Pintor, einem Spanier von Gebuhrt, Leib-
arzte des Pabſts Alexanders des VI. de morbo
fardo his temporibus adfligente,
in Moͤhſens
Geſch. der Wiſſenſch. in Brandenb. S. 368-371.
Unter andern ſoll auch der Churfuͤrſt Berthold von
Mainz 1504. an dieſer Krankheit geſtorben ſeyn.
Spangenbergs Henneb. Chron. S. 159.
(i)
bis 1616. in das Churſaͤchſiſche Zehendamt jaͤhrlich
gegen 80. Centner Silber und etliche hundert bis
tauſend Centner Kupfer geliefert.
(n)
Cap. 14. X. de poenitentiis et remiſſionibus
von Innocenz dem III. 1214.
(o)
Eine paͤbſtliche Bulle Clemens des VI. vom
Jahre 1342. machte das alles zu Glaubensartikeln.
Geſchichte des proteſtantiſchen Lehrbegriffs (von
Gottl. Jac. Plank) B. 1. S. 30. u. f. (ein claſſi-
ſches Buch, das inſonderheit von denen, die nur
die hieher gehoͤrigen Theile von der uͤbrigens vor-
trefflichen Schmidtiſchen Geſchichte der Teutſchen,
oder gar nur Maimbourghiſtoire du Luthe-
ranisme
geleſen haben, unpartheyiſch damit ver-
glichen zu werden verdienet.)
(p)
”Da uͤberhaupt die Verpachtung in gewiſ-
ſen Umſtaͤnden viele Vortheile hat, beſonders wenn
der Herr zu weit entfernt iſt, und die Einkuͤnfte
nicht genau uͤberſehen kann; ſo fieng man auch
endlich von Seiten des Roͤmiſchen Hofes an die-
ſes als das bequemſte Mittel anzuſehen, die Ab-
laͤße hinlaͤnglich zu benutzen. Die Hauptpaͤchter,
die ganze Provinzen uͤbernommen hatten, nahmen
wieder ihre Unterpaͤchter an; und dieſe hatten
wieder ihre Leute, die ſich dabey zu bereichern
ſuchten.” Schmidts Geſch. der Teutſchen Th. 5.
S. 47.
(q)
Dieſe ganze Geſchichte iſt erſt neuerlich
unter dem Titel: ”Neujahrsgeſchenk aus Weſtpha-
len fuͤr einen Teutſchen Knaben Stuͤck I. Geſchichte
des Schneider- und Schwaͤrmer-Koͤnigs Jan von
Leiden in Muͤnſter 1535., Goͤttingen 1784. 12.
(von A. L. Schloͤzer) auf eine leſenswuͤrdige Art
neu bearbeitet worden.
(r)
Alſo weit entfernt, daß dieſes Beyſpiel
zum Gegenbeweiſe dienen ſollte, daß die evangeli-
ſche Religion von Landesherren ohne Beyſtimmung
ihrer Unterthanen eingefuͤhrt worden ſey, wie Joh.
Ant. Mertens vom Religionsverhaͤltniſſe der Teut-
ſchen Reichstagsſtimmen (Wien 1784. 8.) S. 60. 61.
mit einer zugleich bezeigten Verwunderung, wie
ich meinen Freunden ”eine ſo offenbare Unwahrheit
„vorpfeifen moͤge,” zu erkennen gibt.
(s)
Des Kaiſers Meynung war geweſen, das
Concilium ſollte mit einer Reformation der Kir-
chenzucht den Anfang machen, und dann erſt die
Glaubenslehren vornehmen. Das Concilium fieng
aber mit letzteren an, und ſetzte gleich das Anſe-
hen der apocryphiſchen Buͤcher, der Vulgata und
der Tradition feſt.
(t)
R. A. 1548. §. 12. Der darin angefuͤhrte
Begriff einer Chriſtlichen Reformation war in La-
teiniſcher Sprache abgefaſſet, und gleich gedruckt,
unter dem Titel: Formula reformationis per cae-
ſarcam
(u)
Von den in ſolcher Abſicht noch in den
Jahren 1548. und 1549. gehaltenen Synoden zu
Coͤlln, Paderborn, Mainz, Wuͤrzburg, Augsburg,
Luͤttich, Trier, Straßburg, und von ferneren Pro-
vincialverſammlungen der Erzſtifte Mainz, Trier,
Coͤlln, Salzburg ꝛc. gibt ausfuͤhrliche Nachricht
Andr. Bravbvrgerde formula reformationis
eccleſiaſticae ab Imp. Carolo V. in comitiis Auguſta-
nis a.
1548. ſtatibus eccleſiaſticis oblata, (Mog.
1782. 8.) p. 29. ſq.
(t)
ſaream maieſtatem ſtatibus eccleſiaſticis in comitiis
Auguſtanis ad deliberandum propoſita, et ab eis-
dem
, vt paci publicae conſulerent, et per eam
eccleſiarum ac cleri ſui vtilitati commodius pro-
viderent, probata et recepta, Mogunt. excud.
Iuo Schoeffer,”
und Colon. per Iaſpar Gennep.
1548. Andere Abdruͤcke davon finden ſich auch
in Goldastconſtit. imperial. tom 2. p. 235.,
in Luͤnigs Reichsarch. part. gen. contin. p. 850.,
und in Harzheimconcil. Germ. tom 6. p. 472.
(v)
Zum Vortheile catholiſcher Unterthanen,
die aus evangeliſchen Laͤndern oder Staͤdten weg-
ziehen wollten, hatte der R. A. 1530. §. 60. vor-
her verordnet gehabt, daß ihnen der freye Ab-
und Zuzug ”ohne Beſchwerde einiger Nachſteuer
oder Abzug ihrer Guͤter” zugelaßen ſeyn ſollte.
Jetzt ward aber gegenſeitig feſtgeſetzt, daß es bey
den ſonſt gewoͤhnlichen Abzugsrechten auch in die-
ſen Faͤllen gelaßen werden ſollte.
(w)
R. A. 1555. §. 21.
(x)
Ein Beyſpiel eines hieruͤber entſtandenen
Streites wegen des Kloſters Kemnade, das zur
Abtey Corvey gehoͤrte, aber im Herzogthum Braun-
ſchweig gelegen war, findet ſich in meinen Rechts-
faͤllen B. 2. Th. 2. S. 299. u. f.
(y)
Corp. iur. publ. S. 161. §. 18.
(z)
Der erſte Urheber war bekanntlich ein Spa-
niſcher Edelmann Ignaz von Lojola, dem ſich
gleich anfangs noch acht Maͤnner von verſchiedenen
Nationen zugeſellet hatten: nehmlich Peter Faber,
Jacob Laynez, Claudius Jajus, Paſchaſius Broet,
Franz Xavier, Alfonſus Salmeron, Simon Ro-
derich, Johann Coduri und Nicolaus von Bobabilla.
(a)
Ein Buch, das der erſten hundertjaͤhrigen
Jubelfeier der Geſellſchaft zu Ehren geſchrieben
ward, (Imago primi ſeculi ſocietatis Ieſu a prouin-
cia Flandro-Belgica eiusdem ſocietatis repraeſentata,

Antwerp. 1640 fol.
) enthaͤlt S. 237-248. ein aus-
fuͤhrliches Verzeichniß vom Jahre 1626., in wie
viele Provinzen damals ſchon in Italien, Spa-
nien, Frankreich, Teutſchland, in der Tuͤrkey,
in Oſtindien in Goa, Malabar, in den Philippi-
niſchen Inſeln, in China, Japan, in America
in Mexico, Peru, Chili, Paragay, Braſilien
und Canada, der ganze Jeſuiterorden ſich ausge-
breitet hatte, und wie viel Profeßhaͤuſer, Colle-
gien, Seminarien, Probationshaͤuſer, Reſidenzen,
und Miſſionen uͤberall damals waren. Teutſch-
land war in fuͤnf Provinzen vertheilt, Niederrhein,
Oberrhein, Oberteutſchland, Oeſterreich und Boͤh-
men. Die Niederlande waren noch beſonders in
zwey Provinzen unter dem Namen der Flandri-
ſchen und Franzoͤſiſchen Niederlande vertheilt. Der
Geſchichte der Jeſuiten in der Oberteutſchen Pro-
vinz iſt ein eignes Werk gewidmet: Ign. Agri-
cola
S I. hiſtoria prouinci[a]e ſocietatis Ieſu Ger-
maniae ſuperioris quinque primas annorum complexa

deca-
(a)
decades, Aug. Vind. 1727. 1728. zwey Folianten.
Beide Werke geben ſowohl uͤber die Geſchichte als
uͤber den Geiſt des ganzen Ordens manchen Auf-
ſchluß, der zu weiterem Nachdenken Anlaß geben
kann. Einige kurzgefaßte Auszuͤge und Bemerkun-
gen daraus finden ſich in den Sendſchreiben eines
Laien uͤber das waͤhrend der Jeſuiterepoche ausge-
ſtreuete Unkraut, Frf. u. Lpz. 1785. 4. Von dem
Einfluſſe, den die Jeſuiten in Teutſchen Sachen
gehabt, finden ſich ſchon ſehr fruͤhzeitige Spuhren.
Als im Jahre 1540. zu Worms ein Religions-Col-
loquium gehalten werden ſollte, ward dem kaiſer-
lichen Agenten Peter Ortitz ſchon der Jeſuit Peter
Faber als geheimer paͤbſtlicher Geſchaͤfftstraͤger
beygeordnet. Dem Cardinale Moronus, den der
Pabſt zum Kaiſer ſchickte, gab er die zwey Jeſui-
ten Jajus und Bobadilla mit; letzterem gelang es
zu Innſpruck und Wien bey Hofe wohl aufgenom-
men zu werden. Im Jahre 1541. ward Faber
abermals nach Teutſchland geſchickt, wo er bey den
Biſchoͤfen zu Speier und Worms, und vorzuͤglich
beym Churfuͤrſten zu Mainz ſtarken Eingang fand.
Hier warb er unter andern 1542. den Peter Cani-
ſius an, der hernach als erſter Jeſuiter-Provin-
cial in Teutſchland große Rollen ſpielte, und deſſen
Catechismus mit Ausſchließung aller anderen 1555,
in den kaiſerlichen Erblanden, und nachher uͤberall
im catholiſchen Teutſchlande eingefuͤhrt wurde.
Die erſten Orte, wo in Teutſchland Jeſuiter-Col-
legien errichtet wurden, und alſo der Orden feſten
Fuß faßte, waren 1552. Wien, 1555. Prag, 1556.
Ingolſtadt, Loͤwen, Antwerpen, 1559. Muͤnchen,
1560. Mainz, 1563. Dillingen, 1567. Wuͤrzburg,
1571. Fulda und Speier, 1574. Heiligenſtadt ꝛc.
Ignaz als Stifter und erſter General des Ordens
lebte bis 1556. Deſſen Nachfolger Jacob Laynetz
gab erſt vollends dem Orden ſeine rechte Conſiſtenz
und noch mehr verfeinerte Einrichtung.
(b)
Eine Stelle in Mich. Ign. Schmidts
neuerer Geſchichte der Teutſchen B. 1. (Wien
1785. 8.) S. 313-315. verdient ihrer ſehr treffen-
den Reflexionen wegen, daß ich ſie ganz hieher
ſetze: ”Was ſollte — einem Corps, das ganz
Thaͤtigkeit, ganz von einem Geiſte beſeelt war,
das ganz zu einem Zwecke raſtlos und mit verein-
ten Kraͤften hin arbeitete, und noch dazu bey ſei-
ner Ergaͤnzung jedes mal die Auswahl der beſten
Koͤpfe vor ſich hatte, unmoͤglich geweſen ſeyn!
Was haͤtte man nicht fuͤr Wiſſenſchaften, und
alles,
(b)
alles, was es nur angriff, erwarten ſollen! — —
Man hatte aber doch dabey eine Menge Sachen
vergeſſen mit in Anſchlag zu bringen. Wird eine
ſolche Erziehung nicht zu einſeitig, nicht dem In-
tereſſe dieſes Corps, wo nicht gaͤnzlich, doch mei-
ſtens angemeſſen ſeyn? Wird nicht das Intereſſe
des Staates daruͤber entweder vergeſſen, oder doch
erſterem untergeordnet werden? Werden einzelne
Glieder hinlaͤngliche Freyheit haben, ohne welche
nichts oder wenig gedeiliches bey Wiſſenſchaften zu
erwarten iſt? Laͤuft der Staat nicht zuletzt Ge-
fahr, daß das gefaͤhrlichſte Monopol juſt aus dem-
jenigen werde, was ihm am ſchaͤtzbarſten ſeyn muß?
Und muß endlich, wenn man die Sache auch in
oͤconomiſchen Ruͤckſichten betrachtet, derſelbe nicht
allemal zehn Menſchen ernaͤhren, bis einer oder
der andere wuͤrkliche Dienſte leiſtet? Wenn vol-
lends ein ſolches Corps Volksaufklaͤrung nicht zu-
traͤglich fuͤr Religion oder ſeine uͤbrigen Abſichten
haͤlt; wenn es einen gewiſſen Grad von Unwiſſen-
heit gefliſſentlich unterhaͤlt, und ſelbſt auch in den
Wiſſenſchaften hoͤchſtens ſo viel thut, als ihm noͤ-
thig iſt, diejenigen, die um ſelbes unmittelbar
herum ſind, zu uͤberſehen; wenn die Moͤnchs-Mo-
ral und Anhaͤnglichkeit an Ordensregeln und her-
gebrachte Maximen alle wahre Philoſophie bey
ihm, und eben dadurch auch den Keim davon bey
ſeinen Zoͤglingen erſtickt; wenn ſo gar Ordensre-
geln den einzelnen Mitgliedern vorſchreiben, ſich
nicht zu unterſtehen, etwas neues und von den
uͤbrigen verſchiedenes zu lehren, gerade als haͤtten
die Vorgaͤnger derſelben bereits alles erſchoͤpft;
wenn es mit dem Geiſte zu herrſchen behaftet iſt,
und ſchon glaubt ein Unbild zu leiden, wenn es
nicht alles in allem iſt; wenn es ſich mehr ſucht
fuͤrchten als lieben zu machen; wenn es mehr durch
Nebenwege, als durch wahre Verdienſte das Ver-
trauen des Publicums zu erhalten ſucht; wenn es
(b)
alles, was ihm entgegen ſteht, durch ſein Gewicht
und Anſehen oder auch durch geheime Kunſtgriffe
vielmehr unterdruͤcken, als durch Belehrung und
beſcheidenes Betragen gewinnen will; wenn ſein
Eifer fuͤr Religion mit Feindſeligkeit und Verfol-
gungsgeiſt vergeſellſchaftet iſt; wenn es im Grun-
de alles auf ſich zuruͤckzieht, und noch dazu durch
Geluͤbde an auswaͤrtige Hoͤfe oder Oberen gebunden
iſt, deren Intereſſe nichts weniger als mit dem
des eigenen Vaterlandes in gewiſſen Faͤllen uͤber-
einſtimmt; mag es auch noch ſo gelehrte und ge-
ſchickte einzelne Mitglieder haben, ſo wird doch
kaum die wahre Abſicht einer wohl eingerichteten
National-Erziehung durch daſſelbe erreicht wer-
den.” — Schwerlich hat noch je eine catholiſche
Feder ſo gruͤndlich uͤber dieſen Gegenſtand geſchrie-
ben, wie hier einer unſerer erſten jetzigen catholi-
ſchen Schriftſteller!
(c)
Bey Gelegenheit der neueren Unterſuchun-
gen, welche in Frankreich in den Jahren 1761.
1762. uͤber die Jeſuiten ergiengen, ward unter
andern folgendes Buch gedruckt: Extraits des aſ-
ſertions dangereuſes et pernicieuſes
en tout genre,
que les ſoi-diſans Jeſuites ont, dans tous les temps
perſévéramment, ſoutenues, enſeignées et publiées
dans leurs Livres, avec l’approbation de leurs Su-
périeurs et Généraux;
vérifiés et collationnés par
les Commiſſaires du Parlement, en execution de
l’Arrêté de la Cour du 31. Août 1762., et Arrêt
du 3. Septembre ſuivant, ſur les Livres, Theſes,
Cahiers compoſés, dictés et publiés par les ſoi-
diſans Jeſuites, et autres Actes authentiques, dé-
poſés au Greffe de la Cour par Arrêts des 3. Sep-
tembre 1761. 5. 17. 18. 26. Fevrier et 5. Mars
1762. à Paris, chez Pierre Guillaume Simon, Im-
primeur du Parlement, rue de la Harpe, à l’Her-
cule.
1762. 4. (3. Alph.) In dieſem Buche wa-
ren lauter Stellen aus jeſuitiſchen Schriften unter
gewiſſen Rubriken zuſammengetragen, um daraus
ihre moraliſche Grundſaͤtze und den Geiſt des Or-
dens kenntlich zu machen. Die Rubriken waren:
1) Unité de ſentimens et de doctrine de ceux qui
ſe diſent de la ſocieté de Jeſus;
2) Probabiliſme;
3) Peché philoſophique, ignorance invincible, con-
ſcience erronée, etc.;
4) Simonie et confidence;
5) Blasphême; 6) Sacrilege; 7) Magie ou malefice;
8) Aſtrologie; 9) Irreligion; 10) Idolatrie, Chi-
noiſe et Malabare;
11) Impudicité; 12) Parjure,
fauſſeté, faux temoignages;
13) Prévarication de
Juges;
14) Vol, compenſation occulte, recelé etc.;
(d)
So findet man z. B. in jeſuitiſchen Schrif-
ten, wie Ignaz die Einrichtung ſeiner Geſellſchaft
unmittelbar von Chriſto erhalten habe, mit der
goͤttlichen Verſicherung, daß in den erſten drey hun-
dert Jahren keiner, der darin bis an ſein Ende
beharren wuͤrde, verdammt werden ſollte; wie
die Jungfrau Maria ihm mehr als 13. mal mit
dem
(c)
15) Homicide; 16) Parricide et homicide; 17)
Suicide et homicide; 18) Leze-majeſté et regicide.

Dagegen erſchien aber auch: Réponſe au livre
intitulé:
Extraits des aſſertions etc. — I. partie.
Infidelité du Redacteur prouvée par les falſifications
en tout genre contenues dans les Extraits,
1763.

(3. Alph.) — II. partie. Mauvaiſe doctrine du Re-
dacteur des Extraits prouvée par les aſſertions qu’
il denonce,
1764.
4. (16. Bog.) Darin wurde
behauptet, von den Schriften ein oder anderer
Jeſuiten, beſonders in Italien, koͤnne man nicht
auf Grundſaͤtze des ganzen Ordens ſchließen; in
einigen Stellen der angefuͤhrten Schriften habe
man auch verſchiedenes ausgelaßen; andere habe
man wenigſtens unrichtig uͤberſetzt u. ſ. w.
(d)
dem Jeſuskinde erſchienen ſey, und es ihm in die
Arme gegeben habe; wie Ignaz durch die Luft ge-
flogen und in einem Augenblick von Rom nach Coͤlln
gekommen ſey, um von einem ſterbenden Freunde
Abſchied zu nehmen; wie er oͤfters mit glaͤnzen-
dem und beſtrahltem Angeſichte, auch in der Luft
ſchwebend, geſehen worden; wie er Todte erweckt,
Geſpenſter verjagt habe u. ſ. w. und wie viele an-
dere Mitglieder des Ordens aͤhnliche Wunder ge-
than ꝛc., wovon in obigem Sendſchreiben eines
Laien ꝛc. S. 13. u. f. aus dem Buche: Imago pri-
mi ſeculi,
und aus anderen Buͤchern, die von
Jeſuiten ſelber geſchrieben worden, noch mehr
Beyſpiele geſammlet ſind.
(e)
In dem mehr erwehnten Sendſchreiben
eines Laien S. 10. wird aus der Schrift eines Je-
ſuiten, Paul Windeckde exſtirpandis haereti-
cis
antith.
2. folgende Stelle angefuͤhrt: ”Luthe-
rani mortis ſupplicio exterminandi, interficiendi,
propulſandi, reprimendi, delendi, vſtionibus et
ſectionibus exſcindendi, tollendi, explodendi, vi-
riliter exſtirpandi, trucidandi, internecione de-
lendi;”
mit der hinzugefuͤgten Aeuſſerung, die der
Geſinnung dieſes rechtſchaffenen catholiſchen Laien
wahrhaft Ehre macht: ”Gott behuͤte ſeine Kirche
„fuͤr ſolche Liebe des Naͤchſten, fuͤr ſolche ſchinder-
„knechtiſch geſinnte Apoſtel.”
(f)
Die Schwaͤbiſche Reichsritterſchaft beſtellte
ſchon 1559. gemeinſam Rath und Diener. Ihre
heutige Verfaſſung ward aber doch erſt eigentlich
durch eine neue Vereinigung berichtiget, die ſie
den 5. Aug. 1560. zu Munderkingen ſchloß, deren
Beſtaͤtigung hernach am 30. Jun. 1562. vom K.
Ferdinand dem I. erfolgte.
(g)
Die Ritterordnung der Fraͤnkiſchen Reichs-
ritterſchaft iſt den 3. Sept. 1590. errichtet, und
den 27. Sept. 1591. vom K. Rudolf dem II. beſtaͤ-
tiget; die Rheiniſche iſt 1652. errichtet, und 1662.
vom K. Leopold beſtaͤtiget. Allgemeine kaiſerliche
Privilegien fuͤr die Reichsritterſchaft ſind inſonder-
heit von den Jahren 1605. 1609. 1717.
(h)
Zum Beyſpiele, wie die Polizey ſelbſt da,
wo Kaiſer und Reich verſammelt waren, unter
Carl dem V. beſchaffen war, kann folgende Be-
ſchrei-
(h)
ſchreibung dienen, die jemand 1521. von dem
damaligen Reichstage zu Worms machte. ”Es iſt
allhier zu Worms (ſchrieb er,) bey der Nacht
nicht gut gehen; iſt ſelten eine Nacht, da nicht
3. oder 4. Menſchen ermordet werden. Der Kai-
ſer hat einen Profos, der hat uͤber 100. Menſchen
ertraͤnkt, gehangen und ermordet. Es geht hier
ganz auf Roͤmiſch zu, mit Morden, Stehlen, und
ſchoͤne Frauen ſitzen alle Gaſſen voll. Es iſt keine
Faſten bey uns; — und iſt ein ſolch Weſen, wie
in Frau Venus Berg. — Auch wiſſet, daß viele
Herren und fremde Leute hier ſterben, die ſich hier
alle zu Tod trinken in dem ſtarken Weine.” Gol-
daſts
polit. Reichshaͤndel S. 940., Moſers Teut-
ſches Staatsrecht Th. 50. S. 159. §. 2.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq78.0