oder
Philosophie
der
lebenden Natur
für
Naturforscher und Aerzte.
bey Johann Friedrich Röwer.
1821.
[[III]]
oder
Philosophie
der
lebenden Natur
für
Naturforscher und Aerzte.
bey Johann Friedrich Röwer.
1822.
[[IV]][[V]]
Inhaltsverzeichniſs
des sechsten Bandes.
- Geschichte des physischen Lebens.
Neuntes Buch. Verbindung des physischen
Lebens mit der intellectuellen Welt. S. 3. - Erster Abschnitt. Gebiet und Stufenfolge des
Beseelten in der lebenden Natur. S. 5. - Zweyter Abschnitt. Verhältnisse der Seelen-
kräfte zu den organischen Kräften der
thierischen Natur. S. 28. - Dritter Abschnitt. Verhältnisse der Seelen-
kräfte zur Form und Mischung des Organi-
schen. S. 64. - Erstes Kapitel. Allgemeine Bemerkungen. S. 64.
- Zweytes Kapitel. Vergleichende Bildungsgeschichte
der Organe des geistigen Lebens. S. 74. - Drittes Kapitel. Versuch einer Bestimmung des Ver-
hältnisses der verschiedenen Hirnorgane zu den
verschiedenen Aeuſserungen des geistigen Le-
bens. S. 110. - Zehntes Buch. Die äuſsern Sinne. S. 171.
- Erster Abschnitt. Allgemeine Bemerkungen
über die äuſsern Sinne. S. 175. - Zweyter Abschnitt. Das Getast. S. 202.
- Dritter Abschnitt. Der Geschmack. S. 225.
- Vierter Abschnitt. Der Geruch. S. 251.
- Erstes Kapitel. Der Geruch im Allgemeinen.
Geruchssiun des Menschen und der Säug-
thiere. S. 251. - Zweytes Kapitel. Geruchssinn der Vögel, Amphi-
bien und Fische. S. 286. - §. 1. Die Vögel. S. 286.
- §. 2. Die Amphibien. S. 292.
- §. 3. Die Fische. S. 297.
- Drittes Kapitel. Geruchssinn der wirbellosen
Thiere. S. 307. - Fünfter Abschnitt. Das Gehör. S. 321.
- Erstes Kapitel. Modifikationen des Schalls und
Empfänglichkeit der verschiedenen Thiere für
hörbare Eindrücke. S. 321. - Zweytes Kapitel. Eintheilung der Thiere nach der
Verschiedenheit ihrer Hörwerkzeuge. S. 342. - Drittes Kapitel. Aufnahme und Fortpflanzung der
hörbaren Eindrücke durch die Werkzeuge des
Gehörs. S. 361. - §. 1. Organische Bedingungen der Gradationen des
Gehörs. Das äuſsere Ohr. S. 368. - §. 2. Der äuſsere Hörgang, das Trommelfell und
die Gehörknöchel chen. S. 36. - § 3. Die Trommelhöhle und die Eustachische
Röhre. S. 382. - §. 4. Das Labyrinth. S. 395.
- Sechster Abschnitt. Das Gesicht. S. 421.
- Erstes Kapitel. Das Sehen im Allgemeinen. Stu-
fenleiter der Ausbildung des Gesichtswerkzeugs
im Thierreiche. S. 421. - Zweytes Kapitel. Das Sehen von der objektiven
Seite. S. 440. - §. 1. Das Sehen in Beziehung auf die Nähe und
Ferne der Gegenstände. S. 440. - §. 2. Schärfe des Gesichts. S. 465.
- §. 3. Einrichtungsvermögen des Auges nach den
verschiedenen Entfernungen der Gegenstände.
S. 496. - §. 4. Richtungsvermögen des Auges nach der ver-
schiedenen Lage der Gegenstände. S. 543. - Drittes Kapitel. Das Sehen von der subjektiven
Seite. S. 554.
Ge-[[1]]
Geschichte
des
physischen Lebens.
Neuntes Buch.
VI. Bd. A
[[2]][[3]]
Neuntes Buch.
Verbindung des physischen Lebens
mit der intellektuellen Welt.
Wir nähern uns wieder einem Gebiet, worüber
tiefe Dunkelheit liegt. Manche suchten dasselbe
bey Betrachtung des physischen Lebens zu um-
gehen. Aber die Seitenwege, die sie einschlu-
gen, führten nicht zum letzten Ziel der Biologie.
Andere drangen, der Dunkelheit und des schwan-
kenden Bodens nicht achtend, rasch und zuver-
sichtlich vor, und geriethen in das Land der
Träume, des Aberglaubens und der Schwärme-
rey. Möge ein günstigerer Stern unsere Schritte
lenken!
Es giebt eine doppelte Ansicht der Verbin-
dung des Physischen mit dem Intellektuellen.
Entweder geistige und materielle Kräfte sind ein-
ander ganz ungleichartig; am Körper des Beseel-
A 2ten
[4] ten ist der Geist als ein fremdartiges Wesen ge-
fesselt. Oder das Geistige und das Körperliche
sind nicht nur mit, sondern auch durch einan-
der. Beyde Hypothesen sind mehrerer Modifika-
tionen fähig. Wir können für jetzt dieselben
unerörtert lassen und uns begnügen, die Voraus-
setzung zum Grunde zu legen, daſs der Cha-
rakter alles Beseelten Bewuſstseyn seiner Exi-
stenz und Freyheit seiner Handlungen ist. Ob
diese Freyheit von moralischer Seite vielleicht
nur scheinbar ist, braucht uns nicht zu küm-
mern. Es reicht für uns hin, wenn die Hand-
lungen in physischer Rücksicht frey genannt
werden können. An jene Voraussetzung knüpfen
sich die Fragen: Wie weit sich das Gebiet des
Beseelten in der lebenden Natur erstreckt? Wel-
che Stufenfolge in diesem Gebiet statt findet?
Und in welchem Verhältniſs die Seele zu den
organischen Kräften der thierischen Natur und
zur Organisation steht? Mit diesen Fragen ist
uns der Weg bey unsern Untersuchungen vor-
gezeichnet.
Erster
[5]
Erster Abschnitt.
Gebiet und Stufenfolge des Beseelten in der
lebenden Natur.
Der Ursprung alles Lebens liegt in einem Prin-
cip, dessen Wesen Selbstthätigkeit ist.
Diese Selbstthätigkeit äuſsert sich ursprüng-
lich als Bildungstrieb und ist blos immanent.
Sie dauert auch an dem schon gebildeten
Organismus fort und äuſsert sich durch fernere
Ausbildung und Erhaltung desselben.
Mit der Entstehung einer individuellen Form
des Lebens treten aber Wirkungen auf die
äuſsere Welt ein, die zugleich Bedingungen der
Fortdauer jener Form sind. Diese Wirkungen
geschehen nicht ohne vorhergegangene äuſsere
Einflüsse. Insofern also das Leben nicht blos
ein immanenter Zustand ist, besteht es nicht in
reiner Selbstthätigkeit.
Jene Einflüsse sind von dreyerley Art:
1) Reitze, Einflüsse, die unmittelbar Reak-
tionen veranlassen, mit deren geringern oder
A 3gröſsern
[6] gröſsern Stärke die denselben zum Grunde lie-
gende Empfänglichkeit des lebenden Körpers für
eben diese Eindrücke (die Reitzbarkeit) zu- oder
abnimmt.
2) Exaltirende und deprimirende Po-
tenzen, Ursachen, welche die Beziehungen der
Reitzbarkeit auf die Auſsenwelt und die Wir-
kungsart der Bildungskraft abändern.
3) Dynamische Einwirkungen. Ein-
flüsse, denen der lebende Körper insofern aus-
gesetzt ist, als er ein Glied in dem Organismus
der ganzen lebenden Natur ist. Gegen diese
reagirt er nicht nach den Gesetzen der Reitzbar-
keit. Alle Thätigkeit, die er in Beziehung auf
sie äuſsert, hat, gleich der des ursprünglichen
Bildungstriebs, den Charakter der Zweckmäſsig-
keit und scheinbarer Selbstbestimmung zum Han-
deln.
Diese Autonomie ist der thierischen Natur
eigen, und das ihr zum Grunde liegende Prin-
cip ist der Instinkt, im allgemeinsten Sinne
genommen. Der Organismus, der sie besitzt,
handelt vermöge derselben mit dem Schein des
Bewuſstseyns und der Freyheit, und doch unbe-
wuſst und nach nothwendigen Gesetzen.
Es läſst sich nicht bestimmen, wie weit sich
dieser Mangel an Bewuſstseyn im Thierreiche er-
streckt.
[7] streckt. Nur in uns selber kennen wir mit vol-
ler Gewiſsheit ein bewuſstes Leben. Bey den
übrigen thierischen Wesen nimmt die Wahr-
scheinlichkeit, daſs sie Bewuſstseyn ihres Daseyns
haben, desto mehr ab, je mehr ihre Lebens-
äuſserungen blos automatischer Art sind, und je
weniger sie ihre instinktartigen Handlungen nach
den äuſsern Umständen zu modifiziren ver-
mögen.
Allenthalben im Thierreiche aber, wo dieses
Modifikationsvermögen zugegen ist, findet eine,
schon von Aristotelesa) anerkannte und für
jeden, der die Natur mit unbefangenen Sinnen
beobachtet, unverkennbare, psychologische Aehn-
lichkeit statt b). Diese Analogie ist die einzige
Grundlage, worauf sich bey Untersuchungen über
das Gebiet und die Stufenfolge des Beseelten im
Thierreiche bauen läſst. Wir finden bey man-
chen Thieren unter ähnlichen Umständen ein
verschiedenes Verhalten, doch nur dann, wenn
die Verschiedenheit ihrer Organisation eine ab-
weichende Handlungsweise nothwendig macht.
Man vergleiche den Affen mit dem Menschen;
man
A 4
[8] man lese die Nachrichten zuverlässiger Beobach-
ter c) von den Geistesfähigkeiten des Orang-Ou-
tang: den Abstand zwischen diesem und dem
Menschen wird man allerdings groſs finden. Aber
den Besitz ähnlicher, wenn auch weit mehr be-
schränkter, geistiger Kräfte, als dem Menschen
verliehen sind, wird man dem Affen nicht ab-
sprechen können.
Das Thier scheint zu suchen und zu mei-
den, zu begehren und zu verabscheuen, zu lie-
ben und zu hassen, wie der Mensch. Diese
Aeuſserungen lassen sich vielleicht ohne Voraus-
setzung einer andern, als einer bewuſstlos wir-
kenden Kraft erklären. Aber das Thier erinnert
sich auch des Vergangenen, welches ohne Be-
wuſstseyn der Existenz nicht möglich wäre, und
handelt da, wo der Instinkt allein dasselbe nicht
leiten kann, mit Ueberlegung und Wahl der Mit-
tel, also mit Freyheit. Die Bienen suchen im
Frühlinge den Ort wieder auf, wo sie im Herbst
mit Honig gefüttert sind d). Beyspiele von einer
Klugheit dieser Thiere, die sich nicht aus dem
bloſsen Instinkt erklären läſst, enthält fast jede
der
[9] der vielen Schriften über die Haushaltung der-
selben. Der Sperling und die Schwalbe bauen
bey uns, wo sie von Affen, Schlangen und an-
dern kletternden und kriechenden Thieren nichts
zu fürchten haben, ihre Nester offen. Im süd-
lichen Afrika umzäunt jener sein Nest mit Dor-
nen, und diese verfertigt unter den Dachrinnen
oder in den Felsenritzen einen röhrenförmigen
Zugang zu ihrem Nest, welcher sechs bis sieben
Zoll in der Länge hat e). Die Bieber richten
ihren Bau nach der verschiedenen Tiefe des
Wassers ein. In einem kleinen Bach, dessen
Zuflüsse durch den Frost leicht erschöpft werden,
ziehen sie in einer gewissen Entfernung von ih-
ren Wohnungen einen sehr festen Damm queer
über das Wasser; in tiefern Gewässern bauen sie
sich blos Wohnungen. Hat das seichte Wasser
wenig Zug, so ist der Damm beynahe gerade;
ist der Strom stärker, so macht der Damm ei-
nen Bogen, dessen convexe Seite der Richtung
des Stroms entgegensteht f).
Was der Mensch vor dem Thiere als den-
kendes Wesen voraus hat, ist das Vermögen,
allge-
A 5
[10] allgemeine Begriffe zu bilden, Wahrheit und
Recht zu erkennen und ein Uebersinnliches zu
ahnen. Nicht die Sprache giebt ihm diesen
Vorzug. Sie ist Folge, nicht Ursache desselben.
Auch der Papagey, die Elster und der Rabe bil-
den artikulirte Töne und doch ist ihnen die
Sprache ein unnützes Werkzeug. Leibnitz sahe
sogar einen Hund, der seinem Herrn Wörter
nachzusprechen gelernt hatte, damit aber nicht
klüger als andere Hunde geworden war g). Der
Mensch würde, wenn ihm das Vermögen zu
sprechen versagt wäre, sich anderer willkührli-
cher Zeichen für seine Begriffe bedienen. Dem
taub und blind Gebornen J. Mitchell hatte
dessen Schwester Zeichen für seine Tastorgane
erfunden, durch die sie ihn zurechtweisen und
sein Betragen leiten konnte. Er drückte dage-
gen seine Wünsche und Gefühle durch Gebehr-
den aus h). Das Thier läſst sich zwar ebenfalls
durch willkührliche Zeichen leiten. Aber seine
Begierden und Gefühle giebt es nur durch un-
willkührliche Bewegungen zu erkennen.
Rora-
[11]
Rorarius schrieb einen Beweis, daſs die
Thiere oft vernünftiger handeln als der Mensch i).
Seine Abhandlung ist das Werk eines guten Red-
ners, aber nicht eines tiefen Denkers. Man würde
ihm Recht geben müssen, wenn er manche
Thiere in Betreff einer gewissen Art von Klug-
heit über den Menschen erhoben hätte. Auch
würde er die Wahrheit auf seiner Seite haben,
wenn er behauptet hätte, unter vielen Tausen-
den des Menschengeschlechts und in vielen Men-
schenaltern würde oft nicht Einer geboren, der
sich aus eigener Kraft zu allgemeinen Ideen zu
erheben vermöchte, der zur klaren Einsicht des
Rechts und der Wahrheit gelangte, in welchem
die Ahnung des Ewigen und Unendlichen er-
wachte. Aber daſs von Zeit zu Zeit in Einzel-
nen der göttliche Funke zur Flamme auflodert,
daſs das Feuer dieser Einzelnen sich Andern
mittheilt, von Geschlecht zu Geschlecht weiter
angefacht wird: eben dies beweist, daſs jeder
Mensch, stehe er auf einer noch so niedrigen
Stufe der geistigen Bildung, ein höheres Etwas,
wenn auch nicht als Kraft, doch als Vermögen
zur Mitgift erhielt.
Unter
[12]
Unter den Individuen des Menschengeschlechts
giebt es eine unendliche Mannichfaltigkeit in
Betreff der Qualität sowohl, als des Grades der
geistigen Kräfte. Bey den Thieren unterschei-
den sich nur die Arten in der verschiedenen
Qualität dieser Kräfte; die Individuen einer und
derselben Art weichen blos in der Verschiedenheit
des Grades derselben von einander ab. Jene
Qualität ist aber auch bey jeder einzelnen Thier-
art weit beschränkter als beym Menschen. Jede
zeichnet sich nur durch Eine der Eigenschaften
aus, deren viele dem Menschen angehören. Dies
war es ohne Zweifel, was Aristotelesk) meinte,
wenn er sagt: die Thiere, deren Sitten wir
näher kennten, schienen eine gewisse, den ein-
zelnen Fähigkeiten der Seele entsprechende Kraft
zu besitzen, wie Klugheit, Einfalt, Muth, Feig-
heit, Sanftmuth, Bosheit u. dergl. Und hierin
liegt der Grund, warum der Mensch einer viel-
seitigen Bildung, das Thier nur einer einseitigen
Abrichtung fähig ist.
Bey den Thieren läſst sich jedoch nicht im-
mer bestimmen, welche Handlungen durch ein
Princip hervorgebracht werden, das sich seiner
Thätigkeit bewuſst ist, und welche von dem
bloſsen Instinkt herrühren. Es hält daher schwer,
sie unter sich und mit dem Menschen in Be-
treff
[13] treff der Seelenkräfte zu vergleichen. Wer z. B.
die Rückkehr der wandernden Vögel nach der
nämlichen Gegend, wo sie im vorigen Jahr ih-
ren Aufenthalt hatten, blos für Wirkung des Ge-
dächtnisses und Erinnerungsvermögens hielte,
würde vielleicht unrichtig urtheilen. Daſs aber
diese mitwirkend bey jener Rückkehr und be-
sonders beym Wiederauffinden des Nestes sind,
leidet auf der andern Seite auch keinen Zwei-
fel l).
Gedächtniſs und Erinnerungsvermögen sind
überhaupt die am weitesten in der thierischen
Natur verbreiteten Seelenkräfte. Selbst die In-
sekten geben deutliche und zum Theil auffal-
lende Beweise von dem Besitz derselben, wie
unter andern die Bienen bey ihrer schon erwähn-
ten Rückkehr im Frühjahr zu den Stellen, wo
sie im Herbste gefüttert wurden.
Erinnerungsvermögen ist nicht ohne repro-
duktive Einbildungskraft denkbar. Diese muſs
daher ebenfalls den Thieren zukommen. Ob sie
auch produktive Einbildungskraft besitzen, ist
eine Frage, die mit einer andern zusammen-
hängt,
[14] hängt, nämlich der, ob die Thiere, welche Kunst-
triebe besitzen, die Werke, die sie hervorbrin-
gen, auszuführen vermöchten, wenn nicht ein
Bild ihres Kunstprodukts mit dem Erwachen des
Triebes in ihnen aufstiege und ihnen bey ihrer
Arbeit vorschwebte? Entweder wir müssen auf
jede Erklärung der thierischen Kunstprodukte
Verzicht thun, oder wir müssen sie aus diesem
Gesichtspunkte betrachten. Entsteht denn auch
auf andere Weise das Werk des Künstlers? Und
ist es nicht erlaubt, aus Aehnlichkeit in allen
Aeuſserungen auf eine analoge Ursache zu
schlieſsen? Mit Recht sagte ein Denker, der
die Selbstthätigkeit des Princips alles lebendigen
Daseyns erkannt hatte: selbst das Regen eines
Wurms, dessen dumpfe Lust und Unlust, könn-
ten nicht entstehen ohne eine, nach den Gesetzen
seines Lebensprincips verknüpfende, die Vorstel-
lung seines Zustandes erzeugende Einbildungs-
kraft m). Zwischen dem thierischen Kunsttrieb
und der schaffenden Kraft des Künstlers bleibt
doch darum ein sehr weiter Abstand. Jener
wirkt unwillkührlich, erschöpft sich an einem
einzigen Produkt, welches für alle gleichartige
Individuen stets das nämliche ist, und vollbringt
nur das Zweckmäſsige. Diese kann der Wille
wecken und lenken; ihre Wirkungen sind dauernd
und der mannichfaltigsten Richtungen fähig, und
in
[15] in ihnen spiegelt sich das Ewige und Unend-
liche.
Jene Bilder der produktiven Einbildungs-
kraft sind in gewisser Rücksicht für das Thier,
was für den Dichter und Künstler dessen Ideale.
Sie flieſsen jenem nicht aus der Sinnenwelt zu,
sondern gehen der Erfahrung vorher und bilden
eine eigene Welt, in deren Anschauung die See-
lenkräfte schon einen gewissen Grad von Uebung
erlangt haben, bevor noch das Thier mit der
äuſsern Natur genau bekannt geworden ist. Da-
her die groſse Sicherheit in allen Handlungen,
die sich auf den Kunsttrieb beziehen, und die
frühe Aeuſserung dieser Sicherheit in einer Le-
bensperiode, wo bey dem Menschen alle geistige
Kräfte noch sehr wenig entwickelt sind.
Bey diesen Bildern, diesen Lebensidealen,
ist mit dem Erwachen des Instinkts zugleich der
Gegenstand desselben im Geiste vorhanden. An-
dere Triebe, z. B. der Geschlechtstrieb, sind auf
ein noch unbekanntes Etwas gerichtet, das aber
als entsprechend demselben gleich erkannt wird,
sobald es in der Wirklichkeit vorkommt, und
dessen Gegenwart in manchen Fällen nicht blos
einen einzigen, sondern jeden der äuſsern Sinne
auf eine dem Triebe angemessene Weise auf-
regt. Einen Beweis für diese Art der Aufregung
geben
[16] geben unter andern die von Higgins im Edin-
burgher Philosophical Journal (1819. Nro. 1.
June p. 171.) mitgetheilten Beobachtungen über
den taub und blind Gebornen David Tate, ei-
nen fünf und zwanzigjährigen, zu Fetlar, einer
der Shetländischen Inseln, lebenden jungen Men-
schen, der auf einer so niedrigen Stufe des
menschlichen Daseyns stand, daſs er selbst die
aufrechte Stellung nicht anders als gezwungen
annahm, und dessen ganze Gemeinschaft mit der
äuſsern Welt nur durch den Tastsinn vermittelt
wurde. Bey ihm geschahe durch diesen Sinn
die Einwirkung auf den Trieb, womit sonst
bey dem Menschen der Sinn des Gesichts, bey
den meisten Säugthieren der des Geruchs, und
bey den Inseken der den Fühlhörnern eigene
Sinn in Beziehung steht n).
In der Befriedigung beyder Arten von Trie-
ben findet das Thier den Zweck seines Daseyns.
Ist
[17] Ist es ihm unmöglich gemacht, die Ideale sei-
nes Lebens auſser sich darzustellen, oder den
Gegenstand seines Instinkts zu erreichen, so
äuſsert sich bey ihm blos noch das sinnliche Be-
gehrungsvermögen im Allgemeinen, und selbst
dieses ist oft dann erstorben. Für die mehrsten
Thiere ist jene Darstellung oder Erreichung an
eine gesellschaftliche Verbindung, oder an Zeiten
und Umstände gebunden. Manche, die im Zu-
stande der Freyheit Klugheit verrathen, sind
deswegen höchst stumpfsinnig in der Gefangen-
schaft. Ein eingesperrter Bartgeyer, über wel-
chen Scheidlin Beobachtungen mitgetheilt hato).
verhielt sich oft wie völlig stupide. Selbst einer
der mächtigsten Triebe bey den Thieren, die
Liebe für die Jungen, hängt bey einigen Arten,
z. B. den Schwalben, von localen Verhältnissen
ab p). Die Wachtel bauet im Käfig kein Nest
mehr, wenn ihr auch aller Stoff dazu gegeben
ist, und läſst ihre Eyer fallen, ohne dafür wei-
ter zu sorgen. Nur der Wanderungstrieb er-
wacht bey ihr zur Frühlings- und Herbstzeit
auch in der Gefangenschaft mit der gröſsten
Heftigkeit q).
Der
VI. Bd. B
[18]
Der Naturtrieb bestimmt ursprünglich, un-
angeregt von noch nicht gefühlter Lust und Un-
lust, ohne Einmischung der Urtheilskraft, die
zur Darstellung oder Erreichung seines Gegen-
standes nöthige Art von Selbstthätigkeit. Sobald
aber Hindernisse eintreten, deren Wegräumung
oder Umgehung zur Ausübung dieser Thätigkeit
nothwendig ist, verräth sich bey den Thieren
auch Urtheilskraft. In solchen Fällen, wo Maaſs-
regeln gegen den Zufall zu nehmen sind, kann
nicht mehr der Instinkt, sondern nur Urtheils-
kraft das Thier leiten. Aber dieses verfährt
dann oft ohne Anleitung und ohne Erfahrung,
und doch ist kein Urtheil ohne allgemeine Be-
griffe möglich. Besitzt also etwa das Thier ur-
sprüngliche, nicht aus der Erfahrung abgeleitete
Begriffe? Ohnstreitig hat dasselbe, so gut wie
das Kind, reine Verstandesbegriffe. Warum wür-
den beyde einem Gegenstande ihres Verlangens
nicht in einer krummen Linie zueilen, wenn
nicht der Begriff der geraden Linie, als der kür-
zesten zwischen zwey Punkten, ihre Bewegun-
gen bestimmte? Aber das Thier hat noch mehr
als das Kind; es besitzt auch ererbte Erfahrungs-
begriffe. Denn von welchen andern Ursachen
als solchen Begriffen ist es abzuleiten, daſs bloſse
Varietäten einer und derselben Thierart, z. B.
der Hühnerhund, das Windspiel, der Dachs-
hund
[19] hund u. s. w. sich unter gleichen Umständen
so ganz verschieden benehmen?
In allen diesen Eigenschaften ist zwar der
Mensch verschieden von dem Thier, doch auch
nicht so verschieden, daſs alle Aehnlichkeit zwi-
schen beyden aufgehoben wäre. Er besitzt,
gleich dem Thier, angeborne Triebe, und diese
äuſsern sich bey ihm um so heftiger, je mehr
das moralische Gefühl bey ihm unentwickelt
bleibt. Es giebt Thiere, welche morden um zu
morden, verwüsten um zu verwüsten, und da-
mit Werkzeuge zu höhern Zwecken der physi-
schen Weltordnung sind. Das Menschenge-
schlecht bringt nicht selten ähnliche Unglückliche
hervor, die, obgleich Auswürfe der moralischen
Welt, doch mit ihren Trieben dem Organismus
der Natur dienen. Diese Fälle gehören zwar
unter die Seelenkrankheiten. Sie beweisen aber
darum nicht weniger eine Aehnlichkeit des Men-
schen mit den Thieren in geistiger Hinsicht.
Ein solches lebendiges und regelmäſsiges Er-
wachen jener Bilder, die wir Lebensideale ge-
nannt haben, wie mit mehrern Trieben der
Thiere verbunden ist, findet zwar beym Men-
schen nicht statt. Doch Jeder wird mit Anlagen
und Neigungen geboren, zwischen welchen und
jenen Trieben der Unterschied nicht so groſs
ist, wie er obenhin angesehen scheinen mag.
B 2Jeder
[20] Jeder empfängt beym Eintritte in das Leben
von der Natur ein Pfund, womit er zu wuchern
hat. Nur Wenige werden sich dieser Gabe in
dem Drange und der Noth des Lebens bewuſst,
und deſswegen ist das Daseyn der Meisten wie
das zwecklose Umherirren einer zerstreuten Bie-
nenschaar. Bey Einigen erwacht das Bewuſst-
seyn ihrer Mitgift vor der Zeit der Reife, und
diese eben zeugen für das Angeborne gewisser
Lebensideale bey dem Menschen wie bey vielen
Thieren, obgleich sonst ihre frühreifen Früchte
selten oder nie des Aufhebens werth sind r)
Ob
[21] Ob übrigens nicht auch in den Träumen der
Jugendzeit Ideale aufsteigen, die uns unbewuſst
den gröſsten Einfluſs auf das ganze künftige Le-
ben haben, ist eine Frage, die sich mit mehr
Wahrscheinlichkeit bejahend als verneinend beant-
worten läſst. Stutzte doch selbst ein so kalter
Forscher, wie Boerhaave war, bey Erwägung
der Beyspiele von Menschen, die ihr Leben an
die Aufsuchung einer Traumgestalt setzten s).
Wie
B 3
[22]
Wie bey dem Thier, so treten ferner auch
bey dem Menschen manche Wirkungen des selbst-
thätigen Princips nur im Zustande des geselligen
Lebens hervor. Der isolirte Mensch würde nie
eine Sprache erlangt haben. Diese kann nur in
gesellschaftlicher Verbindung entstanden seyn, ob-
gleich der gesellige Mensch so wenig als der iso-
lirte sie erfinden konnte und Niemand die Art
ihrer Entstehung anzugeben im Stande ist. Sie
steht in naher Verbindung mit dem moralischen
Gefühl, welches ebenfalls nur in der Gesellig-
keit sich ganz entwickelt und wovon selbst in
die wildesten der Thiere zuweilen Funken von
ihm überzugehen scheinen, sobald sie durch
Wohlthaten an ihn gefesselt sind und Genossen
seiner Wohnung werden t).
Wie
[23]
Wie bey dem Thier, so ist endlich auch bey
dem Menschen die Wirkungsart des selbstthäti-
gen Princips von Zeit und Umständen mehr oder
weniger abhängig. Aretäusu) erzählt von ei-
nem Zimmermann, der ganz vernünftig und ein
geschickter Arbeiter war, so lange er sich in
seiner Werkstätte befand, der aber wahnsinnig
wurde, sobald er diese verlieſs und nach dem
Forum oder einem andern öffentlichen Platz ging.
Marcus Herz, der bekannte Arzt und Schrift-
steller,
t)
B 4
[24] steller, wurde in dem Augenblick von einem
nach einer schweren Krankheit zurückgebliebe-
nen Delirium befreyet, als man ihn in sein Stu-
dirzimmer brachte v). So groſs wie in diesen
Fällen ist der Einfluſs der gewohnten Umgebun-
gen zwar nicht auf den gesunden Menschen.
Aber ganz unabhängig ist davon Keiner. Die
Verhältnisse, in welchen der Mensch aufgewach-
sen ist, verlieren ihre Macht über ihn erst nach
der überstandenen Krankheit des Heimwehs.
Man hat die Stufen, die der Mensch von
seinem Entstehen an bis zu seiner vollendeten
Ausbildung in physischer Rücksicht durchläuft,
mit den allgemeinen Entwickelungsstufen des
Thierreichs von den Infusorien an bis zum Men-
schen verglichen. Es läſst sich eine ähnliche
Vergleichung zwischen jenen und diesen Stufen
auch in Betreff der geistigen Kräfte anstellen.
Das Zoophyt ist in dieser Hinsicht, was der
Mensch vor seiner Geburt ist, und über den Zu-
stand, worin sich seine Seelenkräfte befinden,
ehe er der Sprache mächtig wird, erhebt sich
von gewissen Seiten keines der übrigen Thiere
und selbst nicht derer, die ihm in der Organi-
sation am nächsten stehen.
Diese
[25]
Diese Vergleichung ist indeſs in Betreff des
Geistigen wie des Physischen nur von einer ein-
zigen Seite passend. Es giebt so wenig in je-
nem als in diesem eine einfache Stufenleiter.
Der Abstand zwischen dem Menschen und den
Säugthieren ist noch weit gröſser im Geistigen
als im Körperlichen. Bey den Säugthieren, und
nächst diesen bey den Vögeln, finden wir im All-
gemeinen eine vielseitigere Ausbildung der See-
lenkräfte als im übrigen Thierreiche. Aber ein-
zelne Arten derselben stehen hierin auf einer so
niedrigen Stufe, daſs Niemand Bedenken tragen
wird, sie unter den Bienen und manchen andern
Arten aus der Classe der Insekten herabzusetzen.
Die Amphibien und Fische lassen sich ebenfalls
nicht über die Insekten, und die Raubthiere im
Allgemeinen nicht über die Herbivoren stellen.
Die Classe der Amphibien enthält keine Arten,
die irgend eine hervorstechende, geistige Eigen-
schaft besitzen. Die Schlangen stehen zwar im
Ruf der Klugheit. Sie haben aber ihren Ruhm
wie manche Menschen, ohne daſs jemand sagen
kann, woher und warum. Das Höchste von
Klugheit, was man den Fischen nachgerühmt
hat, ist die Art, wie einige, und namentlich die
Froschfische, sich ihrer Bartfasern bedienen sol-
len, um andere Fische herbeyzulocken. Eine
sehr alte Erzählung w), und doch wohl nur ein
Mähr-
B 5
[26] Mährchen! Unter den Raubthieren der beyden
höhern Thierclassen sind zwar manche durch
List und Schlauheit bekannt. Aber blos diese
Eigenschaften können nur Dem Kennzeichen ei-
ner höhern Intelligenz seyn, welchem Lebens-
klugheit das Höchste in der moralischen Welt
ist. Hingegen gehören in allen Thierclassen die-
jenigen Arten, die sich durch die kunstreich-
sten Werke auszeichnen, meist zu den Herbi-
voren. Ein System der Thiere nach ihren gei-
stigen Kräften ist also sehr verschieden von ei-
nem natürlichen, auf ihrem Körperbau begrün-
deten System. Daher ist es nicht ganz wahr,
was man gesagt hat, das Thier sey durchaus
mit seinem Leibe Eines und Dasselbe, so daſs
Seyn und Bewuſstseyn in ihm auf das voll-
kommenste in einander fallen, und man eher
von ihm sagen dürfe, sein Leib regiere die
Seele, als seine Seele den Leib x). Auch das
Thier besitzt gleich dem Menschen eine Kraft,
die selbstthätig und nicht durchaus abhängig
von der Organisation ist. “Auch im Thiere ist
Weissagung und nur eine höhere im Menschen”.
So schrieb derselbe Weise, der den vorigen
Ausspruch that y), und er übersah, daſs er
hiermit
[27] hiermit seine vorige Behauptung widerlegte.
Doch wir brechen von diesem Gegenstande ab,
um weiter unten an einem passendern Orte
darauf zurückzukommen.
Zwey-
[28]
Zweyter Abschnitt.
Verhältnisse der Seelenkräfte zu den orga-
nischen Kräften der thierischen Natur.
Aus den Untersuchungen, die wir im vorigen
Buche z) über das Verhältniſs des Instinkts zur
bildenden und erhaltenden Kraft des thierischen
Körpers, und im vorigen Abschnitt über das Wir-
ken der Seelenkräfte bey den instinktartigen
Handlungen angestellt haben, geht als Resultat
hervor, daſs es die nämliche Kraft ist, die den
Körper aus formloser Materie bildet, als erhal-
tende und heilende Kraft der Natur nach seiner
Bildung in ihm wirkt, sich als Instinkt äuſsert
und von geistiger Seite als produktive Einbil-
dungskraft die Erzeugerin der Ideen ist. Es
giebt scheinbare Schwierigkeiten bey dieser Hy-
pothese. Man wird fragen: Wo die Beweise für
einen Einfluſs bloſser Ideen auf das Wirken der
bildenden Kraft im Körperlichen sind? Wie
eine Kraft, deren uns bewuſste Wirkungen re-
gellos
[29] gellos und unzweckmäſsig sind, sobald sie nicht
von dem Verstande und der Vernunft beherrscht
werden, ohne unser Bewuſstseyn unendlich
zweckmäſsiger als unter Leitung der höhern See-
lenkräfte wirken kann? Warum Bilder, die sich
auf den innern Zustand des Körpers, oder auf
das Verhältniſs desselben zur äuſsern Welt be-
ziehen und wodurch zweckmäſsige Handlungen
veranlaſst werden, bey dem Thier im gesunden,
bey dem Menschen aber nur im krankhaften Zu-
stande, oder in seltenen Fällen ohne Zuthun der
höhern Seelenkräfte entstehen? Dem, der die
erste dieser Fragen thut, können wir auf die im
vorigen Buche a) enthaltenen Bemerkungen über
Muttermäler verweisen, und für Den, welchem
Beweise für ein geistiges Wirken der Mutter
auf die Bildung der Frucht hier nicht hinrei-
chend sind, führen wir folgende Beyspiele an.
Hoffmann schrieb eine eigene Ahhandlung b)
über einen jungen Menschen, der nach dem ver-
meinten Anblick eines Gespensts Convulsionen
mit Geistesverwirrung bekam, wobey der son-
derbare Umstand statt fand, daſs der Fuſs, woran
er von dem Gespenst ergriffen zu seyn glaubte,
entzündet wurde und in Eiterung überging.
Tissot
[30]
Tissotc) erzählt von einem Bauer, der, als
er von einer Schlange träumte, die sich um
seinen Hals geschlungen hatte, eine heftige Be-
wegung machte und von dieser Zeit an täglich
Zuckungen in dem nämlichen Arm hatte.
Parryd) kannte eine Frau, in deren Brüsten
eine starke Absonderung von Milch eintrat, so
oft sie ein Kind schreyen hörte, obgleich sie
schon lange nicht mehr gestillt hatte.
Eine Frau, die schon dreyzehn mal geboren
hatte, glaubte, wie Klein erzählt e), alle Symp-
tome der Schwangerschaft wieder an sich zu
spüren, litt an allen den Unpäſslichkeiten, die
sie sonst unter diesen Umständen gehabt hatte,
und bekam genau am Ende ihrer Rechnung die
stärksten, mit Convulsionen verbundenen Wehen,
die augenblicklich aufhörten, als zwey Geburts-
helfer ihr erklärten, daſs sie gar nicht schwan-
ger sey.
Wesener versichert f), eine Kranke zu ken-
nen, die am Morgen die deutlichsten Striemen
auf
[31] auf dem Rücken und den Armen zeigte, nach-
dem ihr Nachts geträumt hatte, sie sey heftig
geschlagen worden.
Den nämlichen Grund haben alle sympathe-
tische Curen, die Heilungen schwerer Krankhei-
ten durch Aerzte und Arzneyen, die nichts wä-
ren ohne den festen Glauben der Einfalt, und
der Tod in der festen Erwartung des Sterbens.
Diese und ähnliche Ereignisse sind gewiſs noch
weit häufiger und auffallender unter den Natur-
menschen als den cultivirten Völkern; nur gehen
sie bey jenen meist für den Beobachter verloren.
Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Hearne’s g)
Erzählung von den Wirkungen des unter den
Wilden des nördlichen Amerika herrschenden
Glaubens an die Wunderkraft ihrer Zauberer.
Das Zutrauen zu dem guten Willen der letztern
heilt sie von den schwersten Krankheiten, und
die Furcht vor der Bosheit derselben stürzt sie
in Krankheiten, die oft ihrem Leben ein Ende
machen. Einer der Wilden, Matonabbi, der
auch Hearne’n im Besitz übernatürlicher Kräfte
glaubte, ersuchte diesen, einen Menschen, auf
den er einen Haſs geworfen hatte, durch Be-
zauberung zu tödten. Hearne, um ihm gefäl-
lig zu seyn und ohne übele Folgen zu ahnen,
zeichnete verschiedene Figuren auf ein Papier
und
[32] und gab dieses an Matonabbi mit der Weisung,
dasselbe so bekannt wie möglich zu machen.
Der Feind Matonabbi’s, der sich vollkommen
wohl befand, hatte kaum von dem Papier ge-
hört, als er trübsinnig wurde, sich weigerte Nah-
rung zu nehmen und in wenig Tagen starb. —
Gebt mir einen festen Punkt, sagte Archime-
des, und ich will die Erde bewegen! Gleich
ihm kann der Unwissendste unter den Aerzten
sprechen: Gebt mir eine Handvoll Sand und
den festen Glauben der Menschen, dieser Sand
sey eine Panacee, und ich will mit jedem Korn
desselben eine schwere Krankheit heilen!
Auch bey den Thieren beobachten wir die-
ses Gesetz der physischen Wirkungen fixer Ideen.
Eine Folge desselben ist es, was Aristotelesh)
bemerkte, daſs in manchen Fällen die Neigungen
der Thiere sich nach gewissen Handlungen ver-
ändern, so wie sonst ihre Handlungen sich nach
ihren Neigungen richten, und daſs jene Verän-
derung zuweilen selbst einen Einfluſs auf die
Organisation hat. “Dies”, sagt der Stagirit, “ist
„vorzüglich bey den Vögeln der Fall. Hühner,
„die einen Hahn überwunden haben, krähen,
„und versuchen nach Art der Männchen andere
„Hühner zu besteigen. Auch wächst ihnen der
„Kamm und der Schwanz, so daſs man nicht
„mehr
[33] „mehr leicht unterscheiden kann, ob sie Weib-
„chen sind. Bey einigen sah man sogar kleine
„Spornen entstehen. Man hat auch Hähne beob-
„achtet, die, nach dem Verlust der Mutter, für
„die Jungen mütterliche Sorge trugen, sie her-
„umführten und fütterten, und aufhörten so-
„wohl zu krähen, als sich zu begatten.” Auf
dem nämlichen Gesetz beruht endlich auch die,
durch J. Hunter’s Versuche bestätigte Erfahrung,
daſs bey der Eselin die Absonderung der Milch
nur in Gegenwart ihres Füllens fortdauert, nach
der Wegnahme desselben aber aufhört i).
Die zweyte der obigen Fragen, welche die
Zweckmäſsigkeit des unbewuſsten und das Regel-
lose des bewuſsten, nicht durch Verstand und
Vernunft gezügelten Wirkens der bildenden Kraft
betrifft, läſst sich aus den im vorigen Buche k)
enthaltenen Lehren über die dynamische Wech-
selwirkung, worin alle lebende Organismen ge-
gen einander stehen, beantworten. Wie jene
Kraft als Erzeugerin der Ideen durch den Ver-
stand und die Vernunft beschränkt und geleitet
wird, so ist der dynamische Einfluſs, den die
übrige lebende Natur auf sie äuſsert, das Re-
gelnde und Bestimmende für sie bey ihrem ma-
teriellen
VI. Bd. C
[34] teriellen Wirken. In diesem herrscht um so
mehr Gleichförmigkeit und Beständigkeit, je viel-
seitiger jener Einfluſs ist, wie bey den höhern
Thieren. Die materiellen Produkte der bildenden
Kraft werden den Produkten der ungezügelten
Phantasie um so ähnlicher, je weniger Berüh-
rungspunkte sie mit den übrigen lebenden We-
sen hat, wie bey den Infusorien l).
Frägt
[35]
Frägt man weiter, warum die bildende Kraft
nur bey den Thieren im gesunden Zustande
ohne Zuthun der höhern Seelenkräfte Vorstellun-
gen erzeugt, die sich auf ein zweckmäſsiges
Wirken derselben im Materiellen beziehen, bey
dem Menschen aber solche Vorstellungen selten
anders als in Krankheiten entstehen, so ist die
Antwort, weil das Sensorium des Thiers in ei-
nem andern Verhältniſs zur äuſsern Welt als
das des Menschen steht. Der innere Sinn des
letztern ist im gewöhnlichen Zustande blos durch
die äuſsern Sinne zugänglich für Eindrücke der
Auſsenwelt. Bey dem Thier giebt es in diesem
Zustande einen unmittelbaren, dynamischen Ein-
fluſs der äuſsern Welt auf den innern Sinn; es
wirken Eindrücke auf diesen, wodurch die pro-
duktive Einbildungskraft zur Erzeugung von
Bildern veranlaſst wird, die ihrer äuſsern Ur-
sache entsprechen, denen aber die Objektivität
der Sinnesvorstellungen mangelt. Dem Schla-
fenden entfällt die Decke, und er träumt von kal-
ten Winden, die ihn anwehen, oder von Ver-
sinken in beeistem Wasser. Wie hier zu einem
sinnlichen Eindruck, dessen sich die Seele nicht
bewuſst
l)
C 2
[36] bewuſst ist, die Phantasie sich ein Bild schafft,
das der Ursache des Eindrucks ähnlich ist, so
könnte es auch Fälle geben, wo ein äuſserer,
nicht zum Bewuſstseyn gelangender Eindruck
die Entstehung eines Bildes veranlaſste, das der
einwirkenden Ursache nicht blos ähnlich, son-
dern selbst gleich wäre. Solche Fälle finden im
Schlafwandel statt, und diesem ist der Zustand
des instinktmäſsig handelnden Thiers verwandt.
Dem innern Sinn des Schlafwandlers schweben
seine Umgebungen vor, obgleich seine äuſsern
Sinne verschlossen sind: denn er handelt auf
gleiche Weise und selbst mit gröſserer Sicher-
heit, wie der Hörende und Sehende. So sieht der
Vogel, in welchem der Wanderungstrieb er-
wacht, das ferne Land vor dem innern Auge,
ohnerachtet seine äuſsern Sinne von keinen Ein-
drücken getroffen werden, welche dieses Gesicht
verursachen könnten. Sein Zustand ist der des
Heimwehs, aber des Sehnens nach einer Hei-
math, die er, wenn jener Trieb zum ersten mal
in ihm erwacht, nur aus traumartigen Bildern
kennt. Seine äuſsern Sinne schlafen zwar nicht,
wie die des Schlafwandlers, während er den
ihm vorschwebenden Phantasien gemäſs handelt.
Aber sein Handeln bezieht sich auch nicht, wie
das des letztern, auf die Gegenwart, sondern
auf die Zukunft, und es ist nicht unwahrschein-
lich, daſs auch bey dem Vogel und überhaupt
bey
[37] bey den Thieren die innere Erscheinung, die
den Antrieb zu instinktartiger Thätigkeit aus-
macht, zuerst im schlafenden, oder in einem
schlafähnlichen Zustande vor den innern Sinn
tritt.
Im Schlafwandel findet eine gänzliche Ab-
weichung des Lebensverhältnisses der Organe ge-
gen einander und gegen die Sinnenwelt von
dem gewöhnlichen Zustande statt. Diese ist bey
dem Menschen krankhaft, weil gröſsere Kraft
und Selbstständigkeit des geistigen Princips das
Entstehen derselben im gesunden Zustande ver-
hindert. Bey dem Thiere ist ein periodisches
Eintreten einer solchen Abweichung dem gesun-
den Zustande gemäſs, weil ein weniger mächti-
ges und selbstständiges geistiges Princip ihr ent-
gegenwirkt. Die Abweichung selber tritt vor-
züglich zwischen der Lebensthätigkeit des Sen-
soriums und der Zeugungsorgane ein. Ein Vo-
gel, der sein Nest gebauet und eine gewisse
Zahl Eyer gelegt hat, beschäftigt sich fortan nur
mit dem Ausbrüten und Aufziehen seiner Jun-
gen, ohne in dieser Zeit weiter zu legen. Wird
sein Nest nebst seinen Eyern zerstört, so bauet
er jenes von neuem und fängt wieder an zu
legen, und wiederholt dieses selbst zum dritten
mal, wenn auch die zum zweyten mal gelegten
C 3Eyer
[38] Eyer verloren gehen m). Hier ist ein Wechsel
von Kraftäuſserungen, die theils physischer, theils
geistiger Art sind, ein Wechsel, der die nahe
Verwandtschaft und die enge Verbindung des
körperlichen und geistigen Zeugungsvermögens
auſser Zweifel setzt. So ist auch nur der ge-
schlechtslosen Biene und Ameise Kunsttrieb ei-
gen. Er fehlt gänzlich der Bienenkönigin und
der Drohne, die Zeugungsvermögen und Zeu-
gungstrieb besitzen.
Wir haben das Beyspiel der Schlafwandler
zur Unterstützung unserer Meinung angeführt.
Ehe wir weiter gehen, wird eine Rechtfertigung
der Befugniſs, aus mehrern Erscheinungen des
Schlafwandels Schlüsse in Beziehung auf unsern
Gegenstand herzuleiten, nicht überflüssig seyn.
Es giebt einen von selbst entstehenden, und
einen durch Kunst, vermittelst des sogenannten
thierischen Magnetismus, zu erregenden Schlaf-
wandel. Beyde sind im Wesentlichen nicht ver-
schieden. Man findet bey den Schlafwandlern
der erstern Art die nämlichen Erscheinungen,
welche denen der letztern Art eigen sind, man-
che von diesen aber auch in andern Nerven-
krankheiten wieder. Ich selber habe eine Kranke
zu behandeln gehabt, die, während der Ent-
wickelungs-
[39] wickelungsperiode von Convulsionen befallen,
nach und nach ohne Anwendung des thierischen
Magnetismus in so hohem Grade Schlafwandle-
rin wurde, daſs sie fünf Tage und Nächte in
diesem Zustande zubrachte, ohne weder zu er-
wachen, noch in den natürlichen Schlaf zu ver-
fallen.
In allen diesen Fällen von Somnambulismus
und besonders in denen, die künstlich hervor-
gebracht sind, ist der Mensch mit allen seinen
Schwachheiten, Fehlern und Lastern der Gegen-
stand der Beobachtung. Die Reinheit der letz-
tern wird unfehlbar bald getrübt, indem sich,
vorzüglich beym weiblichen Geschlecht, Eitelkeit
mit ins Spiel mischt. Männer, die durch Be-
schäftigung mit Physik, Chemie und ähnlichen
Wissenschaften, wo Strenge der Beobachtung
unerläſslich ist, die Erfordernisse sicherer Erfah-
rungen kennen gelernt hatten, haben daher die
Realität vieler Erscheinungen des Somnambulis-
mus bezweifelt, und manche ihrer Zweifel sind
allerdings gegründet. Indeſs, die Bedingungen
der Erfahrung sind andere für den Arzt, als für
den Physiker und Chemiker. Dieser kann die
Natur auf die Probe stellen, jener sie nur be-
lauschen. Wer da meint, mit dem Menschen
umgehen zu können, wie mit dem Teufelchen
des Cartesius, das mit dem Kopf oder mit den
C 4Füſsen
[40] Füſsen ins Wasser gesteckt immer wieder auf-
taucht, hat keinen Begriff von der Erfahrung in
der Physiologie. Der Arzt kann nur auf dem
Wege der Induktion zu Resultaten gelangen, und
für die Sicherheit seiner Erfahrungen kann ihm
nur die Beständigkeit der Erscheinungen bey ver-
schiedenen Individuen und unter verschiedenen
Umständen bürgen. Nach diesen Kennzeichen
geprüft, stehen viele Erfahrungen über den Som-
nambulismus so fest, wie irgend eine der Heil-
kunde. Wer die zahllose Menge der vorhande-
nen magnetistischen Beobachtungen gröſstentheils
für leere Spreu erklärt, hat gewiſs das Recht
auf seiner Seite; wer dem thierischen Magnetis-
mus als Heilmittel einen weit eingeschränktern
Werth beylegt, als demselben zugeschrieben ist,
hat ebenfalls wohl nicht Unrecht; wer aber alle
Erscheinungen jenes Zustandes bezweifelt, oder
aus den dürftigen Lehren eines psychologischen
Compendiums erklären zu können glaubt, würde
nicht glauben, wenn er auch selber zum Hell-
seher gemacht würde, oder hat von der physi-
schen und geistigen Natur des Menschen sehr
enge Begriffe. Man hat gemeint, jene Erschei-
nungen erklärt zu haben, wenn man sie für
Wirkungen einer exaltirten Einbildungskraft aus-
gab. Allerdings sind sie dies zum Theil auch,
nur nicht Wirkungen der beschränkten Kraft, die
gewöhnlich Einbildungskraft heiſst, sondern einer
Kraft,
[41] Kraft, welche die Erzeugerin der Ideen im Gei-
stigen, wie des Organischen im Körperlichen ist;
die von der Auſsenwelt durch die Sinnesorgane
Eindrücke empfängt, aber nicht leidend diese
aufnimmt, sondern selbstthätig ein Inneres her-
vorbringt, was dem Aeuſsern entspricht; auf die
es in gewissen Zuständen einen andern, unmit-
telbaren Einfluſs, als durch die äuſsern Sinne,
sowohl der materiellen als der geistigen Auſsen-
welt giebt, und welche bey ihrem, nicht durch
die Sinneswerkzeuge vermittelten Wirken, auf
andere Weise als im gewöhnlichen Zustande ab-
hängig von Zeit und Raum ist.
Diese Sätze machen die Basis einer Psycho-
logie aus, die für die Naturgeschichte des phy-
sischen Lebens Werth hat. Wir werden für jede
derselben unsere Gründe angeben.
1. Die produktive Einbildungskraft
ist das erzeugende Princip der Ideen
im Geistigen wie des Organismus im
Körperlichen.
Ueber diesen Punkt haben wir uns schon
im Vorhergehenden hinreichend erklärt.
2. Diese Kraft wirkt selbstthätig bey
der Aufnahme aller Eindrücke, die sie
aus der Sinnenwelt empfängt.
C 5Wie
[42]
Wie die Einbildungskraft die Bilder der Ver-
gangenheit reproducirt, so schafft sie auch die
der Gegenwart. Daſs wir den letztern Objek-
tivität beylegen, hat seinen Grund in dem
durch eigene Organe vermittelten Ursprung der-
selben. Aber bey dieser Entstehung ist doch Al-
les, was sich als Gemeinschaftliches der Vorstel-
lung mit dem vorgestellten Gegenstande nach-
weisen läſst, blos Gleichheit der Bilder bey
Gleichheit der äuſsern Eindrücke. Die Seele
sieht nicht das Gemählde auf der Netzhaut wie
der Zuschauer die Gestalten in der Camera ob-
scura, empfängt nicht die Vorstellung des Schalls
von den zitternden Bewegungen des Labyrinth-
wassers wie der Zuhörer von den Schwingungen
der Saiten einer Zitter. Oft treten selbst Phan-
tome vor den innern Sinn, die allen Schein der
Objektivität haben und welchen dennoch nichts
Objektives entspricht. Ein Trugbild beschied
den Brutus zum Wiedersehen bey Philippi;
mit einem Trugbilde unterhielt sich Tasso im
Kerker. Warum waren diese und ähnliche Er-
scheinungen Täuschungen? Doch nur, weil die
Vernunft in ihnen die Gesetze der Succession
und der Causalität nicht erkannte, unter welchen
alle Erscheinungen der Sinnenwelt stehen. Also
nur Verstandesbegriffe unterscheiden Wirklichkei-
ten von Truggestalten. Jene sind nicht minder
als diese Erzeugnisse der schaffenden Einbil-
dungs-
[43] dungskraft, aber Erzeugnisse, die nach allgemei-
nen, für alle Individuen gleichen Gesetzen ent-
stehen, dauern, sich verändern, verschwinden,
und von andern veranlaſst, begleitet und ver-
drängt werden. An diese Gesetzmäſsigkeit ist
das Bewuſstseyn einer Auſsenwelt und einer Ob-
jektivität jener Erzeugnisse geknüpft. Die Auſsen-
welt bedingt nur das Schaffen der produktiven
Kraft im Geistigen wie im Körperlichen; sie ist
so wenig Erzeugerin der Vorstellungen, als des
körperlichen Organismus.
3. Nicht alles Wissen von der sinnli-
chen Welt gelangt zum vorstellenden
Princip durch diejenigen äuſsern Sinne,
vermittelst welcher wir ein solches
Wissen im gewöhnlichen Zustande er-
langen. Es giebt Zustände des Men-
schen und der Thiere, wo Sinnesvor-
stellungen, die objektive Gültigkeit ha-
ben, von der produktiven Einbildungs-
kraft erzeugt werden, ohne durch die
ihnen sonst entsprechenden Sinnesein-
drücke erregt zu seyn.
Neue Meinungen, Entdeckungen und Wahr-
heiten, die nicht mit den, Generationen hindurch
herrschend gewesenen Grundsätzen und Ansich-
ten übereinstimmten, hatten immer das Schick-
sal,
[44] sal, lange und von allen Seiten angefochten zu
werden. In diesem Sträuben gegen das Neue
liegt nichts, was der menschlichen Natur zur
Unehre gereicht. Durch dasselbe wird mancher
Irrthum im Entstehen unterdrückt, und der Sieg
der Wahrheit nur aufgehalten, nicht verhindert.
Aber es giebt ein anderes Verfahren gegen das
Neue in den Wissenschaften, das sich nicht so
rechtfertigen läſst: die Gründe des Gegners un-
beachtet lassen, oder sogar diese ohne nähere
Prüfung als widerlegt behandeln. So benahm
man sich gegen die obige Lehre, und so be-
nimmt sich Mancher noch gegen sie. Wien-
holtn) gab Beweise für sie, die nicht umge-
stoſsen sind und denen sich schwerlich erheb-
liche Einwürfe entgegensetzen lassen. Und doch
ist in den meisten physiologischen und anthro-
pologischen Lehrbüchern nicht die Rede von ihr!
In dem sowohl mit, als ohne Hülfe der Kunst
entstandenen Somnambulismus werden Handlun-
gen von dem Schlafwandler vorgenommen, die
den Gebrauch der äuſsern Sinneswerkzeuge, be-
sonders des Auges, vorauszusetzen scheinen,
und wobey doch jede Möglichkeit dieses Ge-
brauchs aufgehoben ist. Er legt weite Wege mit
Um-
[45] Umgehung aller ihm aufstoſsenden Hindernisse,
und oft rascher als im Wachen zurück. Er be-
steigt Mauern, Dächer und andere gefährliche
Oerter, worauf den Wachenden schwindeln würde.
Er macht Sprünge, Tänze und andere Bewegun-
gen mit einer Kraft und Behendigkeit, die weit
gröſser als im natürlichen Zustande sind, und
an Stellen, die er wachend nicht zu betreten
wagen würde. Er unterscheidet Farben, schreibt
Aufsätze, Briefe und Musiknoten, und das nicht
etwa wie der Sehende, dem die Augen verbun-
den sind, mit wankender Hand, sondern gerade,
leserlich und mit Beobachtung des gehörigen
Zwischenraums der Zeilen, sieht die beendigte
Schrift durch und fügt die nöthigen Verbesse-
rungen hinzu. Bey diesen und ähnlichen Hand-
lungen ist das Auge entweder offen, oder ver-
schlossen, aber in beyden Fällen der Augapfel
krampfhaft umgewälzt, so daſs nur der Rand
der Iris unter dem obern Augenliede hervor-
scheint, die Pupille erweitert, und die Netzhaut
unempfindlich selbst gegen die heftigsten Reitz-
mittel. Kehrte auch auf Augenblicke das Sehe-
vermögen zurück, oder fände, wie in der Ver-
zuckung, nur Empfänglichkeit des Sehenerven
für diejenigen Eindrücke statt, die dem jedesma-
ligen Wirkungskreise der Phantasie gerade ent-
sprechen, so würde ein solches Sehen doch zur
Vollziehung so anhaltender, mannichfaltiger und
sicherer
[46] sicherer Handlungen, wie die Schlafwandler wirk-
lich vollziehen, ganz unnütz seyn.
Nicht weniger als im Auge ist bey manchen
Schlafwandlern auch in den übrigen Sinnesorga-
nen alle Reitzbarkeit aufgehoben. Bey andern
verhält es sich zwar nicht so. Aber wenn auch
das Gehör, das Gefühl u. s. w. in allen Fällen
nicht nur ungeschwächt bliebe, sondern selbst
noch so sehr an Feinheit zunähme, so würde
doch keiner dieser äuſsern Sinne den Schlafwand-
ler bey seinen Handlungen leiten können, so
lange jener auf die dem Zustande des Wachens
gemäſse Art wirkte. Ein Sinn läſst sich durch
einen andern bis auf einen gewissen Grad er-
setzen, aber bey dieser Wirkungsart nicht plötz-
lich, sondern nur allmählich und nach langer
Uebung. Der Blinde wird mit dem feinsten Ge-
fühl, Gehör u. s. w. auf unbekannten Wegen
immer tappend gehen. Der Gang des Schlaf-
wandlers aber ist kein Herumtappen, und seine
übrigen Handlungen verrathen nichts Erlerntes.
Alles dies ist schon von Wienholt in sei-
ner angeführten Schrift weitläuftiger ausgeführt.
Ihm schienen auch die Handlungen mancher
Thiere, denen die Augen fehlen, oder welche
dieser beraubt sind, auf einem ähnlichen Grund
wie die des Schlafwandlers zu beruhen. Einige
der
[47] der Beyspiele, die er anführt, lassen wohl eine
andere Erklärung zu o). Manche, auf die wir
im folgenden Buch zurückkommen werden, sind
aber allerdings den Erscheinungen des Somnam-
bulismus verwandt.
Welche Erklärung dieser Thatsachen man
auch aufsucht, bey keiner wird man volle Be-
friedigung finden können. In allen jenen Fällen
ist ein Theil der Wirkungen hyperphysischer
Art, also einem Gebiet angehörig, in welchem
keine Erklärungen möglich sind. Wienholt
glaubte eine solche in der Voraussetzung einer
den lebenden Körpern eigenen Wirkung in die
Ferne, einer Lebenssphäre, gefunden zu haben.
Allein diese Hypothese erklärt nicht mehr, als
was sich auch erklären läſst, wenn man nicht
blos dem lebenden Körper, sondern jeder Materie
einen, sich über ihre körperlichen Gränzen hin-
aus erstreckenden Wirkungskreis zuschreibt. Nur
so viel ist wahrscheinlich, daſs bey jenen Er-
scheinungen das veränderte Gefühl auf eine un-
gewöhnliche Art von sinnlichen Gegenständen
gerührt wird, diese aber nicht der Rührung, son-
dern dem Eindrucke gemäſs, den sie unter an-
dern
[48] dern Umständen auf ein anderes, für sie jetzt
verschlossenes Sinnesorgan hervorgebracht haben
würden, vorgestellt werden. Es können z. B.
Nerven des Getastes Empfänglichkeit für die
Schallschwingungen der Luft erhalten. So lange
das Verhältniſs des Organismus zur äuſsern Na-
tur im Uebrigen nicht verändert ist, wird der
Eindruck des Schalls auf solche Nerven nur als
Rührung des Tastsinns empfunden werden. Fin-
det aber eine Veränderung jenes Verhältnisses
statt, so wird die Seele die Vorstellungen, die
sie auf diesem Wege erhält, von Einwirkungen
auf den Sinn des Gehörs ableiten, ohne sich je-
doch des Ursprungs derselben bewuſst zu seyn.
4. Unter den Thieren besitzen viele
in gewissen Perioden, unter den Men-
schen manche zu einigen Zeiten, vor-
züglich im Schlafwandel, eine Ahnung
des Fernen und des Zukünftigen, und
ein Wissen dessen, was im gesunden
Zustande zu ihrer oder ihrer Nachkom-
men Erhaltung, oder in Krankheiten
zu ihrer Heilung zu suchen und zu
meiden ist.
Niemand hat jene Ahnung und dieses Ge-
fühl den Thieren abzusprechen gewagt. Man
begriff beyde unter dem Worte Instinkt, den
man
[49] man anerkannte, ohne ihn schärfer ins Auge zu
fassen. Aber beym Menschen hielt man das Ge-
biet desselben für so beschränkt, daſs man
kaum seiner in der Naturlehre des menschlichen
Organismus Erwähnung zu thun nöthig fand.
Indeſs gab es doch schon der Beobachtungen
viele von auffallenden Aeuſserungen des Instinkts
in Krankheiten des Menschen, und an diese
reihete sich eine groſse Zahl der wunderbarsten
Erscheinungen seit der Entdeckung des thieri-
schen Magnetismus als eines Mittels zur Hervor-
bringung des Schlafwandels. Es ist jetzt keiner
Widerrede mehr unterworfen, daſs auch im Men-
schen unter gewissen Umständen ein höchst re-
ger Instinkt erwachen kann. Nur über die Grän-
zen dieser Kraft können noch Zweifel statt fin-
den. Man kann fragen: Ob bey dem Erwachen
derselben Empfindungen, Gefühle und Ahnungen
entstehen können, denen nie analoge Erregun-
gen der äuſsern Sinne vorhergingen? Ob Rüh-
rungen des innern Sinns von Gegenständen mög-
lich sind, die sich in einer, weit über die Grän-
zen der äuſsern Sinne hinaus liegenden Ferne
befinden? Ob sich die Möglichkeit wahrer Vor-
empfindungen von künftigen Ereignissen darthun
läſst?
Wenn es wahr ist, daſs es noch einen an-
dern Zugang der äuſsern Welt zum Empfin-
VI. Bd. Ddungs-
[50] dungs- und Vorstellungsvermögen als durch die
äuſsern Sinne giebt, und wenn sich aus der
Thierwelt Beyspiele von einem Wissen ohne vor-
hergegangene Erfahrung, von Empfindungen, die
sich auf Dinge in einer Entfernung beziehen,
wohin das schärfste Sinnesorgan nicht reichen
kann, und von Vorgefühlen des Künftigen an-
führen lassen, so ist die Möglichkeit ähnlicher
Erscheinungen auch bey dem Menschen bewie-
sen, und die Glaubwürdigkeit mancher Beobach-
tungen über diese Phänomene gerechtfertigt. Ein
solches Beyspiel giebt aber der Wanderungstrieb
der Vögel. Das Erwachen dieses Triebes läſst
sich aus den Evolutionsgesetzen des thierischen
Organismus ohne sonstige Voraussetzungen ab-
leiten. Aber daſs derselbe, unangeregt von
Einflüssen aus dem Kreise der Umgebungen des
Thiers, Handlungen verursacht, die sich nicht
nur auf entfernte Gegenstände, sondern auch auf
Ereignisse, welche noch nicht vorhanden sind,
beziehen, läſst sich nicht ohne ein Ahnungsver-
mögen des Fernen und des Künftigen erklären.
Hiernach kann auch über die Möglichkeit
von Empfindungen des den Gränzen der äuſsern
Sinne Entrückten, von Vorstellungen ohne frü-
here analoge Erfahrungen, und von Vorgefühlen
beym Menschen keine Frage mehr seyn. Eine
andere Frage ist: Ob die vielen Erfahrungen,
welche
[51] welche die Wirklichkeit dieser Erscheinungen
beym Menschen beweisen sollen, eine strenge
Kritik aushalten? Zu einer solchen Prüfung ist
hier natürlich der Ort nicht, und ein groſser
Theil jener Beobachtungen verdient dieselbe auch
nicht. Im Allgemeinen scheint mir so viel ge-
wiſs, daſs es keinen zuverlässigen Beweis für
Vorgefühle dessen giebt, was ganz der Sphäre
des Zufälligen angehört. Das Thier hat keine
Vorempfindungen künftiger Ereignisse als nur
solcher, welche durch die Gegenwart schon be-
dingt sind. Bey dem Menschen verhält es sich
wahrscheinlich nicht anders. Doch was zufällig
und nicht zufällig ist, wird freylich immer eine
schwer zu beantwortende Frage seyn, und daher
läſst sich auch nicht jede Erfahrung von Vor-
empfindung des scheinbar Zufälligen für ver-
werflich erklären.
Es ist ferner wahrscheinlich, daſs das Ein-
treffen vieler, den Gang der Krankheit, den Ein-
tritt der Paroxysmen und die Zeit der Heilung
betreffender Vorhersagungen der Schlafwandler
und einiger anderer Kranken aus dem körperli-
chen Einfluſs fixer Ideen zu erklären sind; daſs
das Vorgefühl nicht durch das künftige Ereigniſs,
sondern das letztere durch jenes bestimmt wird.
Diese, schon von Brandisp) geäuſserte Meinung
ist
D 2
[52] ist aber gewiſs nur in vielen, nicht in allen Fäl-
len richtig. Manche körperliche Veränderung
ist zwar von Ideen abhängig; oft kann die Hei-
lung der ganzen Krankheit durch diese gesche-
hen. Aber Manches, worauf sich Vorgefühle in
Krankheiten beziehen, ist so sehr durch äuſsere
Einflüsse bedingt, daſs zwischen der Ahnung
und diesen Einflüssen ein Causalverhältniſs statt
finden muſs.
Es ist endlich auch nicht zu läugnen, daſs
das Wissen gewisser Dinge und der Trieb zu
gewissen Handlungen, wozu es nichts Analoges
unter den Erfahrungen des vergangenen Lebens
giebt, nur aus der Einwirkung des Geistigen
auf das Geistige verschiedener Individuen erklärt
werden kann. Man hat diese Meinung, die
zuerst Villers als einen Erklärungsgrund vieler
psychischer Erscheinungen des künstlichen Schlaf-
wandels benutzte, ausschweifend genannt. Aber
was man auch dagegen einwenden mag, es bleibt
doch wahr, daſs viele Kranke in diesem Zu-
stande bey ihren Vorhersagungen, Verordnungen
und Erklärungen von den Meinungen und dem Sy-
stem dessen geleitet werden, unter dessen Einfluſs
sie stehen, und zwar geleitet werden, ohne jene
aus mündlichen oder schriftlichen Aeuſserungen
kennen gelernt zu haben. Und findet denn
nicht auch etwas Aehnliches bey den Thieren
in
[53] in dem Uebergange der Neigungen, Triebe und
Fertigkeiten der Eltern auf die Jungen statt?
Woher sonst die gänzliche Verschiedenheit der
geistigen Anlagen und Fähigkeiten unter den ver-
schiedenen Hunderaçen bey deren gemeinschaft-
licher Abkunft von einem einzigen Stamm, der
ursprünglich gewiſs ganz andere Naturtriebe
hatte? Der Neufundländische Hund hat eine
nicht zu zähmende Begierde, Schaafe zu wür-
gen und deren Blut zu trinken q). Und doch
waren seine Voreltern die nämlichen, wie die
des treuen Bewahrers der Schaafheerden, des
Schäferhundes. Es läſst sich einwenden, daſs es
in diesen und ähnlichen Fällen nur Anlagen, Nei-
gungen und Fähigkeiten, nicht aber Vorstellun-
gen sind, die von den Erzeugern auf die Er-
zeugten fortgepflanzt werden. Allein es giebt
keine Anlage und Neigung ohne ursprüngliche,
obgleich dunkele Vorstellungen. Der Ente, die
sich beym ersten Anblick des Wassers in dieses
ihr Element stürzt, wenn sie auch von einer
Henne aufgezogen und mit deren Jungen auf-
gewachsen ist, muſs schon, ehe sie noch ihr
Element jemals erblickt hat, ein dunkeles Bild
desselben vorschweben: denn nur das Wahrneh-
men
D 3
[54] men dieses Bildes in der Wirklichkeit kann es
seyn, wovon es herrührt, daſs sie sich nicht
versuchsweise, sondern mit voller Zuversicht ei-
nem, bisher ihr fremdartigen Elemente hingiebt.
5. Aus dem Schlafwandel und jedem
andern Zustande, wo die Seele, von den
äuſsern Sinnen geschieden, in einer
Ideenwelt lebt, findet entweder gar
keine, oder nur eine dunkele Erinne-
rung im gewöhnlichen Sinnenleben statt.
Hingegen ist umgekehrt die Erinnerung
aus dem letztern im Schlafwandel nicht
nur ungeschwächt, sondern selbst oft
erhöhet.
Der Schlafwandel des höhern Grades ist be-
ständig von dem wachenden Zustande so ganz
getrennt, daſs nichts aus demselben in diesen
übergeht. Im Somnambulismus des niedern Gra-
des findet dieser Mangel an Erinnerung nicht
immer statt. Es giebt hier Anomalien, die sich
bis jetzt noch nicht unter ein Gesetz bringen las-
sen. Das Traumleben und der Zustand der Ek-
stase zeigen ähnliche Erscheinungen. Von Ho-
ven erzählt in seinem “Versuch über die Ner-
venkrankheiten” (S. 116.) eine Geschichte von ei-
nem in der Entwickelungsperiode befindlichen
Studirenden, der mehrere Wochen lang, sobald
er
[55] er eingeschlafen war, laut zu reden anfing. Der
Gegenstand seiner Reden war ein zusammenhän-
gender Traum, der in der folgenden Nacht im-
mer da wieder anfing, wo er in der zunächst
vorhergehenden stehen geblieben war. Der junge
Mensch lebte in diesem Traum ein eigenes, von
dem wirklichen ganz verschiedenes Leben. Nach
dem Erwachen wuſste er sich nichts aus dem
Traum zu erinnern. Der Zustand, wobey er
übrigens gesund zu seyn schien, verlor sich
mit dem Aufhören der Entwickelungsperiode.
Wir kommen jetzt auf unsere Hauptlehre zu-
rück, daſs die Kraft, die in uns Ideen erzeugt,
die nämliche ist, welche den Bieber seine Dämme,
den Vogel sein Nest, die Biene ihre Zellen
bauen heiſst, die des Herzens steten Schlag und
des Bluts immerwährenden Kreislauf unterhält,
die den Embryo aus formloser Materie bildet
und denselben nach mannichfaltigen Verwandlun-
gen seiner ursprünglichen Gestalt zur höchsten
Stufe des physischen Lebens erhebt. Aus den
angeführten Thatsachen folgt, daſs die Wirkun-
gen dieser Kraft dreyfacher Art sind: physische,
die sich blos auf den Organismus beziehen und
nicht zum Bewuſstseyn gelangen; physiche, de-
ren sich das denkende Princip bewuſst wird,
und geistige, die der Sphäre des letztern ange-
hören. Auf den Wirkungen der zweyten Art
D 4beruht
[56] beruht der Instinkt. Ob auch jede Wirkung der
ersten Art unter gewissen Umständen Gegenstand
des Bewuſstseyns werden kann, läſst sich weder
bejahen noch verneinen. Auf keine aber, deren
sich das denkende Ich bewuſst wird, hat dieses
einen unmittelbaren Einfluſs. Es läſst sich ein
Zustand als möglich annehmen, wo eine krank-
hafte Funktion des Darmcanals, der Leber u. s. w.
ihrer Art nach der Seele bewuſst wird. Aber
die heilenden Bestrebungen der Natur werden
dennoch in diesem Falle, wie in allen übrigen,
unabhängig von Schlüssen und Urtheilen erfolgen.
Aller unmittelbare Einfluſs des überlegenden,
wollenden, begehrenden und verabscheuenden
Princips auf den Organismus besteht in Reitzun-
gen und in Veränderungen des Grades oder der
Qualität der Reitzbarkeit. In dieser Hinsicht ist
die moralische Welt eben so wohl etwas Aeuſse-
res für den lebenden Körper als die physische.
Doch sind ihre Einwirkungen allerdings in meh-
rern Beziehungen von einer eigenen Art, die
eine nähere Betrachtung verdient.
Jede reitzende Einwirkung des denkenden
Princips auf den Körper geschieht durch den
Willen. Bloſse Vorstellungen haben keinen Ein-
fluſs auf den Organismus, als insofern durch sie
Affekten oder Leidenschaften erregt werden, wel-
che erhöhend, herabstimmend und qualitativ ver-
ändernd
[57] ändernd auf die Reitzbarkeit und auf die Thä-
tigkeit der Bildungskraft wirken, und zwar vor-
züglich oder ausschlieſslich auf die Reitzbarkeit
und Bildungskraft einzelner, für jede Art von
Gemüthsbewegung verschiedener Organe. Dieses
ist das allgemeine Gesetz, nach welchem alles
Wirken des denkenden Ichs auf den Organismus
geschieht.
Als Reitz wirkt der Wille auf ähnliche Art
wie alle übrige Irritamente. Doch besitzt er
das, keinem äuſsern chemischen oder mechani-
schen Reitz eigene Vermögen, die ihm unterwor-
fenen Muskeln in einem bestimmten Grade von
Zusammenziehung r) zu erhalten. Nur gewisse
innere Reitze wirken auf ähnliche Weise im Te-
tanus und der Catalepsie.
Alles willkührliche Wirken auf den Organis-
mus findet nur da statt, wo das Resultat des-
selben als etwas Objektives durch die äuſsern
Sinne zum Bewuſstseyn gelangt. Auf Verände-
rungen, die blos subjektiv und nicht Gegen-
stände der äuſsern Sinne sind, hat zwar der
Wille
D 5
[58] Wille auch einen Einfluſs, doch nur einen mit-
telbaren, indem er Aufmerksamkeit und Erwar-
tung erregt. Diese Spannung des innern Sinns
ist ein Affekt, der in dem Theil, worauf die
Aufmerksamkeit gerichtet ist, eine Erhöhung der
Reitzbarkeit und so eine Veränderung bewirkt,
die zwar in ihrem Erfolg den Schein der Will-
kühr haben kann, aber in ihrer Entstehung von
den eigentlichen willkührlichen Handlungen ver-
schieden ist. Auf diese Weise entstehen alle die
innern Veränderungen der Sinnesorgane, welche
zum Zweck haben, die letztern dem von ihnen
aufzunehmenden Eindrucke anzupassen. Nie-
mand ist sich der Anspannung der Muskeln des
innern Ohrs beym Horchen auf leise oder ent-
fernte Töne, sondern blos des Horchens bewuſst.
Den Vögeln hat man das Vermögen zugeschrie-
ben, ihre Pupille willkührlich zu verengern und
zu erweitern. Das Wahre aber ist, daſs die Iris
dieser Thiere sich in einer beständigen Oscilla-
tion befindet, worauf jeder Affekt einen weit
gröſsern Einfluſs als bey den Säugthieren hat.
Den Affekten und Leidenschaften sind zu-
nächst die Organe des vegetativen Lebens, wie
dem Willen die dem sensitiven Leben dienen-
den Muskeln unterworfen. Jene wirken also auf
Theile, die dem Einfluſs der Nervenreitze durch
Ganglien entzogen sind. Es ist schon aus die-
sem
[59] sem Grunde nicht wahrscheinlich, daſs ihre Ein-
wirkung von reitzender Art ist. Die Umwand-
lungen, die sie in der Stimmung der Empfin-
dungsorgane hervorbringen, beweisen aber auch
deutlich, daſs die Reitzbarkeit selber von ihnen
verändert wird. Von dem Geschlechtstriebe wird
die Reitzbarkeit der Zeugungsorgane, von der
Eſslust die der Zungenwärzchen erhöht. Man
spricht von getrübten Sinnen, und es giebt in
der That eine, zuweilen von körperlichen, öfte-
rer aber von Affekten und Leidenschaften ver-
ursachte Stimmung der Sinneswerkzeuge, worin
kein Schall in seiner Reinheit gehört, kein Ge-
genstand in seiner wahren Gestalt erblickt, kurz
jeder Reitz anders als im gesunden Zustande
empfunden wird.
Jede Gemüthsbewegung wirkt auf den Blut-
umlauf und das Athemholen, und zwar entwe-
der excitirend oder deprimirend. Beyde Wirkun-
gen erstrecken sich entweder auf die Empfäng-
lichkeit für Reitze, oder auf das Reaktionsver-
mögen, und die Depression tritt entweder un-
mittelbar nach dem Affekt, oder als Folge der
vorhergegangenen Excitation ein. Eine dauernde
Excitation beyder Faktoren der Reitzbarkeit wird
von Frohsinn und Hoffnung, eine vorübergehende,
welche Depression nach sich zieht, von über-
mäſsiger Freude und Zorn hervorgebracht.
Schrecken
[60] Schrecken schwächt sowohl die Empfänglichkeit
für Reitze, als das Rückwirkungsvermögen; durch
Furcht, Kummer und Gram wird dieses eben-
falls geschwächt, jene aber oft erhöht. Die Wir-
kungen des Schreckens auf die Bewegung des
Herzens haben eine merkwürdige Aehnlichkeit
mit dem Einfluſs, den das plötzliche Einstoſsen
eines Griffels in das Rückenmark auf diese Be-
wegung äuſsert. Von der erstern sowohl als
der letztern Ursache ist der Erfolg erst Hem-
mung des Herzschlags, und dann Abnahme der
Stärke desselhen.
Nach dieser Analogie zu schlieſsen würde
die Einwirkung der Affekten auf die hämatodi-
schen und anapnoischen Bewegungen von den
Nerven unmittelbar auf die Reitzbarkeit der
zur Hervorbringung dieser Bewegung dienenden
Muskeln geschehen. Zum Theil findet eine sol-
che unmittelbare Veränderung auch wohl statt.
Doch zum Theil scheint jene Einwirkung mit-
telbar als Folge einer Abweichung der bildenden
Kraft des Bluts und der übrigen thierischen Säfte
von ihrer regelmäſsigen Thätigkeit einzutreten.
Diese steht ohne allen Zweifel unter dem di-
rekten Einfluſs der Gemüthsbewegungen. Von
dem Zorn, dem Aerger und Verdruſs wird die
Absonderung der Galle, von der Wuth die des
Speichels, von der Traurigkeit die der Thränen,
und
[61] und von der Furcht die der Darmsäfte ver-
mehrt. Hierauf allein beschränkt sich aber nicht
die Wirkung der Affekten. Auch die abgeson-
derten Säfte selber erleiden Veränderungen, und
zwar nicht blos in ihrer Mischung, sondern
auch in ihren dynamischen Eigenschaften, Ver-
änderungen, bey welchen in manchen Fällen ein
Uebergang des Geistigen in das Materielle nicht
zu läugnen ist. Dieser zeigt sich deutlich bey
der Fortpflanzung der Gemüthseigenschaften des
Vaters auf die Kinder. Eine ähnliche Uebertra-
gung der Idee auf das Körperliche scheint es
aber auch zu seyn, wodurch der Speichel wü-
thender Thiere und selbst des Menschen in ein
Gift verwandelt wird, das in dem Gebissenen
die Wasserscheu zu verursachen geeignet ist s).
Stahl sah in den körperlichen Wirkungen
der Affekten und Leidenschaften Bestrebungen
der thierischen Natur, den nachtheiligen Folgen
der Gemüthsbewegungen vorzubeugen, oder dem
Einfluſs der letztern eine günstige Richtung für
den
[62] den Organismus zu geben. Unter seinen Lehren
ist es vorzüglich diese, die, so allgemein ausge-
drückt, wie sie von ihm vorgetragen wurde, sich
am leichtesten angreifen läſst und auch am häu-
figsten angegriffen ist. Doch, auf gewisse Weise
modifizirt, läſst sie sich rechtfertigen. Viele jener
Wirkungen, die in einigen Thierfamilien für das
Individuum, worin sie vorgehen, zwecklos oder
selbst nachtheilig sind, haben in andern Familien
allerdings eine Beziehung auf die Erhaltung des
Individuums oder der Gattung. Der von Zorn
oder Wuth in ein heftiges Gift verwandelte Gei-
fer mancher Thiere dient ihnen als Mittel, sich
zu vertheidigen, oder ihrer Beute habhaft zu wer-
den. Die Lähmung aller Kräfte, die von der
Furcht verursacht wird, ist bey einigen Thieren
eine Art von Scheintod, wodurch sie sich ihren
Verfolgern entziehen, und vermöge des Einflus-
ses, den eben dieser Affekt auf die vermehrte Ab-
sonderung und Ausscheidung der Darmsäfte hat,
excerniren andere eine Flüssigkeit, die ihnen zum
Schutz und zur Wehr gegen ihre Feinde dient.
Die Wirkung ist also im Thierreiche überhaupt,
aber die Zweckmäſsigkeit derselben nur bey ein-
zelnen Familien oder Gattungen vorhanden. Es
verhält sich mit diesen Erscheinungen auf glei-
che Weise, wie mit vielen andern der lebenden
Natur. Was die bildende Kraft bey gewissen
Formen als Mittel zu bestimmten Zwecken her-
vor-
[63] vorbrachte, ist von ihr in geringerm Grade auch
verwandten Formen verliehen, obgleich oft bey
diesen jene Zwecke dadurch nicht erreichbar sind.
Sie gab auch dem Manne die für denselben
zwecklosen Brustwarzen. Der Grund liegt in
der nothwendigen Beschränktheit alles indivi-
duellen Lebens, womit nur relative Zweckmäſsig-
keit bestehen konnte, und wobey die Hervorbrin-
gung des Zweckmäſsigen dem Gesetz der Bil-
dung und Entwickelung des Organischen nach
gewissen Urformen untergeordnet ist.
Drit-
[64]
Dritter Abschnitt.
Verhältnisse der Seelenkräfte zur Form und
Mischung des Organischen.
Erstes Kapitel.
Allgemeine Bemerkungen.
Jeder ist geneigt, von dem Aeuſsern auf das
Innere zu schlieſsen. Niemand kann sich ent-
halten, über den Charakter und die Fähigkeiten
eines Unbekannten Vermuthungen nach dessen
Gesichtsbildung zu wagen. Wir finden uns oft
in diesen Muthmaſsungen getäuscht, und doch
läſst sich der Hang zu denselben nicht ganz
unterdrücken. Eine Art zu schlieſsen, die unse-
rer Natur so gemäſs ist, muſs auf etwas Wah-
rem beruhen. Aber bey den vielen Irrthümern,
wozu sie verleitet, kann doch die Befugniſs zu
jenem Schluſs nicht anders als sehr beschränkt
seyn. Es wäre Sache einer wissenschaftlichen
Physiognomik, jenes Wahre aufzusuchen, und
diese
[65] diese Beschränkung näher zu bestimmen. Doch
alle Versuche, eine solche zu begründen, waren
bisher fruchtlos und muſsten es seyn, weil Mit-
telglieder zwischen dem Aeuſsern und Innern
vorhanden sind, deren Beziehungen auf beyde
vorher zu bestimmen gewesen wären, aber un-
bestimmt blieben. Unter diesen Mittelgliedern ist
das erste und wichtigste das Gehirn nebst dem
Rückenmark und den Nerven. Giebt es einen
treuen Ausdruck der Kraft in der Bildung des
Organs, so muſs derselbe in diesen unmittelba-
ren Seelenorganen zu suchen seyn. Manche
Gründe unterstützen auch die Hoffnung, ihn
hierin zu finden. In der Form und Mischung,
kann man sagen, offenbart sich jede Kraft ihrer
Art und Energie nach. Das geistige Princip
mag sich gegen den Organismus als Ursache
oder als Wirkung verhalten, so wird doch des-
sen Thätigkeit durch diesen immer bedingt seyn.
Die Neigungen und Anlagen der Eltern gehen
auf die Kinder über, welches ohne eine Abhän-
gigkeit des Geistigen vom Materiellen nicht ge-
schehen könnte. Manche Menschen besitzen An-
lagen und Fähigkeiten, die offenbar mit gewis-
sen Krankheiten, z. B. der Rachitis, in dem Ver-
hältniſs von Ursache und Wirkung stehen. Ver-
änderungen in der Organisation des Gehirns und
der Nerven haben auf das geistige Princip einen
Einfluſs, sie mögen von innern oder von äuſsern
VI. Bd. EUrsachen
[66] Ursachen herrühren. Die Seele entwickelt sich
mit ihren Organen, altert mit denselben und
wird mit denselben zerrüttet. Mit den verschie-
denen geistigen Eigenschaften der verschiedenen
Thierarten sind Verschiedenheiten in der Bil-
dung des Gehirns und Nervensystems verbun-
den. So läſst sich eine Hoffnung rechtfertigen,
deren Erfüllung für die Biologie von hohem
Werthe seyn würde, und von ähnlichen Grün-
den gingen Gall und Spurzheim bey ihrer
Schädellehre aus.
Indeſs, je mehr wir zu hoffen haben, um
so gerathener ist es, die Stützen der Hoffnung
streng zu prüfen, ehe wir dieser ganz vertrauen
und uns den Gefahren der Täuschung hingeben.
Eine nähere Untersuchung jener Gründe wird
also auf jeden Fall ein verdienstliches Werk
seyn, sollte auch der Gewinn mehr in negativen
als in positiven Resultaten bestehen.
Zuvörderst ist bey dieser Prüfung zwischen
dem sinnlich Erkennbaren und Nicht-Erkennba-
ren zu unterscheiden. Wenn man auch ein-
räumt, daſs die Form mit der Mischung, und
die letztere mit der Kraft in genauer Verbindung
steht, so ist doch der Schluſs von dem sinnlich
Erkennbaren in der Form und Mischung auf
die Kraft noch nicht gerechtfertigt. Mehrere
Bey-
[67] Beyspiele stehen dieser Folgerung entgegen.
Selbst in der todten Natur, im Mineralreiche,
entspricht nicht immer der Mischung die Form
und der Kraft die Mischung, und noch mehr
ist dies im Pflanzenreiche der Fall. Unter den
Solaneen und den Schirmpflanzen (Umbelliferae),
zwey Familien, die zu den natürlichsten des Sy-
stems der Vegetabilien gehören, stehen die gif-
tigsten Kräuter neben den mildesten. Ist es hier
schon so unsicher, von dem Aeuſsern auf das
Innere zu schlieſsen, um wie viel gröſser muſs
nicht diese Unsicherheit da seyn, wo es die Be-
stimmung geistiger Kräfte nach der äuſsern Bil-
dung gilt!
Fände aber auch im Mineral- und Pflanzen-
reiche allenthalben eine für uns wahrnehmbare,
enge Verbindung zwischen dem Aeuſsern und
den inwohnenden Kräften statt, so ist doch die
Entfernung der intellektuellen Welt von der leb-
losen Natur und dem Reiche des unbewuſsten
Lebens so groſs, daſs nichts unerlaubter seyn
kann, als darum anzunehmen, die erstere müsse
sich in der Bildung des Gehirns und der Ner-
ven offenbaren. Das Princip des bewuſsten Le-
bens steht nicht in einem leidenden Verhältniſs
gegen die äuſsere Natur. Daſs diese Kraft Ein-
drücke der Sinnenwelt empfängt, und gegen die-
selben zurückzuwirken vermag, ist Folge der
E 2Organi-
[68] Organisation. Aber daſs sie die äuſsern Ein-
drücke nicht aufnimmt und nicht zurückwirft,
wie der todte Spiegel die Strahlen der äuſsern
Gegenstände, ist Folge einer Selbstthätigkeit, die
keine Analogie von der Organisation abzuleiten
gestattet.
Allein auch dies bey Seite gesetzt, so blei-
ben doch noch andere groſse Schwierigkeiten
übrig. Bey den mehrsten der übrigen Organe
auſser dem Gehirn giebt es mechanische Zwecke,
für welche die Form vorhanden ist. Beym Ge-
hirne fehlen diese ganz. Nirgends ist deshalb
die Mischung so sehr das Höhere, und die Form
das Untergeordnete, als bey diesem Eingeweide.
Aber die Mischung desselben kennen wir selbst
im Allgemeinen nur höchst oberflächlich, und
ihre Verschiedenheit bey den verschiedenen Ar-
ten der Thiere und in den verschiedenen Thei-
len des Gehirns dürfen wir kaum hoffen, je so
weit kennen zu lernen, als nothwendig seyn
würde, um irgend ein erhebliches Resultat aus
dieser Kenntniſs abzuleiten. Daher ist die Form
das Einzige, woraus sich beym Gehirn etwas
folgern läſst; aber daher werden auch diese
Folgerungen immer sehr beschränkt bleiben. Es
ist ferner möglich, daſs im Gehirn und Nerven-
system, wie in andern Theilen, gewisse Bildun-
gen bey einigen Thieren Folgen von Verwandt-
schafts-
[69] schaftsgesetzen sind, welchen die bildende Kraft
bey ihrer Thätigkeit unterworfen ist, ohne daſs
diese Formen mit denjenigen Funktionen in ge-
nauer Beziehung stehen, wofür sie bey andern
Thieren bestimmt sind, wie z. B. mit den
Brustwarzen des männlichen Geschlechts der
Fall ist. Die Bestimmung dieses Verhältnisses
muſs weit mehr Schwierigkeiten beym Gehirn
wie bey allen übrigen Theilen haben, und so
wird die physiologische Erforschung des letztern
auch von dieser Seite erschwert seyn.
Wir wissen nichts von den wechselseitigen
Einwirkungen des selbstthätigen Princips ver-
schiedener Individuen. Deswegen läſst sich auch
von dem Angeerbten in den Fähigkeiten und
Neigungen kein Beweis für eine Abhängigkeit
der letztern von der Organisation hernehmen.
Es ist eben so wohl möglich, daſs eine unmittel-
bare Einwirkung der Seele des Vaters und der
Mutter auf die Seele des Erzeugten beym Zeu-
gungsakt, und selbst nach demselben noch statt
findet, als daſs dieser Einfluſs mittelbar, durch
das Materielle, geschieht.
Die frühere und stärkere Entwickelung der
Geisteskräfte in gewissen Krankheiten beweist
ebenfalls nichts für eine enge Verbindung des
Geistigen mit der Materie; sie läſst sich viel-
E 3mehr
[70] mehr zum Beweise des Gegentheils anwenden.
Ist die Psyche nichts ohne den Körper, so kann
sie nur im gesunden Zustande des letztern mit
voller Energie wirken. Besitzt sie eine von
diesem unabhängige Selbstthätigkeit, so läſst sich
einsehen, wie sie da, wo ihre Wirksamkeit we-
niger auf das Organ gerichtet ist, freyer in der
Ideenwelt ihre Flügel schwingen kann.
Wichtiger sind die Gründe, die sich von
der, mit der Ausbildung und dem Altern des
Gehirns in gleichem Verhältniſs fortschreitenden
Zu- und Abnahme der Geisteskräfte, von der
Zerrüttung der letztern bey Verletzungen des
Gehirns, und von der Verschiedenheit der Bil-
dung dieses Eingeweides bey den verschiedenen
Thierarten hernehmen lassen. Indeſs auch diese
Thatsachen lassen sehr verschiedene Folgerungen
zu. Es ist eine Annahme, die keiner Erfahrung
widerspricht, womit sich im Gegentheil manche
Erscheinungen des Schlafwandels in Ueberein-
stimmung bringen lassen, daſs der Mensch in
seinem irdischen Zustande ein zweyfaches Le-
ben führt, ein Leben in der Sinnenwelt wäh-
rend des Wachens, und ein anderes in der
Welt der Ideen während des tiefen, von Träu-
men freyen Schlafs. Die Mittelstufe zwischen
beyden ist das Träumen. Aus dem einen Da-
seyn findet keine Erinnerung in dem andern,
wie
[71] wie aus dem Zustande des Hellsehens der Schlaf-
wandler keine im Wachen, statt. Vor dem Le-
ben in der Ideenwelt hängt eine nie gelüftete
Decke. Vielleicht ist dieses um so reicher, je
mehr sich die Seele im Alter von der Sinnen-
welt zurückzieht. Dieſs ist zwar nur eine Mög-
lichkeit, aber eine solche, der sich nur Möglich-
keiten wieder entgegensetzen lassen, und welche
hinreicht, um die Voraussetzung einer Selbst-
thätigkeit des geistigen Princips zu rechtfertigen,
eine Voraussetzung, womit alle Schlüsse von
der Organisation der Seelenorgane auf die Seele
selber unzuverlässig werden. Den pathologischen
Erscheinungen, die sich weiter anführen lassen,
um die Abhängigkeit der Seele von dem Ge-
hirne darzuthun, stehen eben so viele entgegen,
wo die bedeutendsten Verletzungen dieses Ein-
geweides ohne bedeutende Störung der Geistes-
verrichtungen zugegen waren, so wie andere,
wo bey den schwersten Seelenkrankheiten keine
Veränderungen der Organisation des Gehirns zu
entdecken waren, und noch andere, wo nach
Geisteskrankheiten, die Jahre lang gedauert
hatten und mit den gröſsten organischen Zer-
rüttungen des Gehirns verbunden waren, plötz-
lich vor dem Tode oder allmählig in Fie-
bern Bewuſstseyn und Vernunft zurückkehrten,
von welcher Rückkehr unter andern Scheuch-
E 4zer,
[72]zert), Marshalu) und S. Tookev) Beyspiele
aufgezeichnet haben. Die Form des Gehirns ist
allerdings verschieden bey den verschiedenen
Thierarten. Allein diese Verschiedenheiten ste-
hen in näherm Zusammenhang mit der übrigen
körperlichen Bildung, besonders mit der Struk-
tur der Sinneswerkzeuge, als mit den höhern
geistigen Kräften. Die Aehnlichkeit der Thiere
unter sich von psychologischer Seite ist in man-
cher Hinsicht gröſser, und in anderer geringer,
als man nach der Aehnlichkeit oder Unähnlich-
keit ihres Hirnbaus erwarten sollte.
So wäre denn jedes Forschen nach der Ver-
bindung des Geistigen mit der Organisation ein
eitles Beginnen? Diese Folgerung würde zu
voreilig seyn. Immer bleibt es doch wahr, daſs
gewisse Formen der geistigen Thätigkeit mit ge-
wissen Bildungen des Gehirns und Nervensy-
stems bey den verschiedenen Thiergattungen ver-
bunden sind. Wir können allerdings hoffen, auf
jenem Felde positive Wahrheiten zu entdecken.
Nur ist es nothwendig, nie die Selbstthätigkeit
der Kraft, deren Verhältnisse zur Organisation
wir
[73] wir zu bestimmen wagen, aus den Augen zu
lassen, nie zu vergessen, daſs diese Verhältnisse
nur in so weit bestimmbar sind, als jene Kraft
bey ihrer organischen Thätigkeit von der Sin-
nenwelt abhängig ist, nicht aber in so fern sie
sich selber zur Thätigkeit anzuregen vermag.
Was z. B. der Mensch als Art in Vergleichung
mit den übrigen Thieren nach seiner sinnlichen
Natur ist, wird sich vielleicht aus der Bildung
seines Gehirns und seiner Nerven erklären las-
sen. Aber schwerlich wird es je gelingen, hier-
aus die Stufe zu bestimmen, die er als Indivi-
duum seinen geistigen Anlagen und Fähigkeiten
nach einnimmt; und gelänge auch dies, so würde
es doch nur möglich seyn, anzugeben, was der
einzelne Mensch ist, nicht aber, was aus ihm
werden kann und werden wird. Welches aber
auch das Ziel dieser Forschungen seyn mag, so
wird ihnen immer eine vergleichende Geschichte
der Bildung des Gehirns und Nervensystems auf
den verschiedenen Stufen der thierischen Natur
zur Grundlage dienen müssen.
E 5Zwey-
[74]
Zweytes Kapitel.
Vergleichende Bildungsgeschichte der
Organe des geistigen Lebens.
Die räthselhaften Gestalten der geheimen Kam-
mer, worin die geistigen Kräfte der thierischen
Natur weben und wirken, sind für den Natur-
forscher, was die Hieroglyphen der grauen Vorzeit
sind für Den, der die Dunkelheit des Alterthums
zu erhellen sucht. Dieser steht sinnend vor ei-
ner Schrift, mit deren Entzifferung ein Licht in
der Geschichte der Vergangenheit angezündet
seyn würde; er sucht ihren Schlüssel, und kann
nicht ablassen, ihn zu suchen, wie verborgen
derselbe auch seyn mag. So reitzen auch jene
Gestalten immerfort zu ihrer Betrachtung Den,
der sie ein mal hat kennen gelernt. Auch ich
habe lange und angestrengt nach ihrer Deutung
geforscht. Was mir in Betreff derselben ausge-
macht scheint, werde ich hier so gedrängt mit-
theilen, als es bey der Schwierigkeit des Ge-
genstandes möglich seyn wird. Wegen einiger
Punkte, deren umständliche Auseinandersetzung
mehr Raum erfordern würde, als die Gränzen
dieses
[75] dieses Werks zulassen, sey es mir erlaubt, auf
meine Untersuchungen über den Bau und
die Funktionen des Gehirns, der Ner-
ven und der Sinneswerkzeuge in den
verschiedenen Classen und Familien
des Thierreichsw) zu verweisen; dagegen
werde ich manche andere hier mittheilen, die
ich erst seit der Herausgabe dieses Werks bey
fortgesetzter Zergliederung des Gehirns verschie-
dener Thiere gemacht habe.
Je mehr eine Funktion thierischer Art ist,
desto mehr steht sie mit der Organisation des
Gehirns und Nervensystems in Verbindung. Je
mehr sie dem Gebiet des bewuſsten Lebens an-
gehört, desto weniger genau ist sie mit dieser
verbunden. Von der Beziehung der Organisation
auf die thierischen Funktionen werden daher un-
sere Untersuchungen ausgehen müssen.
Diese Funktionen sind theils vegetativer,
theils sensitiver Art. Die vegetative Sphäre hat
ihre eigenen Nerven, die sensitive ebenfalls.
Das Gehirn gehört gröſstentheils dieser an. Das
verlängerte Mark und das Rückenmark sind die
Verbindungsorgane zwischen dem Nervensystem
der
[76] der vegetativen Sphäre und den Hirnorganen
und Nerven des sensitiven Lebens.
Das Nervensystem der vegetativen Sphäre
hat zwey Hauptstämme. Den einen bildet der
sympathische Nerve, den andern der Stimm-
nerve. Gleichartig mit diesen wirken diejenigen
Nervenzweige, die mit ihnen durch Knoten oder
Geflechte verbunden sind. Zum System des
sympathischen Nerven gehören daher auch alle
mit demselben in organischem Zusammenhange
stehende Zweige der Nerven des fünften, sechs-
ten, siebenten und zwölften Paars, so wie zu
dem des Stimmnerven vorzüglich der Zungen-
schlundnerve und der Beynerve, nächst diesem
aber auch zum Theil der Antlitznerve und der
Zungenfleischnerve. Beyde Systeme sind auch
unter einander durch Knoten und Geflechte ver-
einigt. Die aus diesen Verbindungen entstehen-
den Aeste gehören beyden Systemen gemein-
schaftlich an.
Der sympathische Nerve hat bey den Wir-
belthieren im Rückenmark, der Stimmnerve im
verlängerten Mark seine Wurzeln. Jener ist in
den obersten Classen dieser Thiere ausgebildeter
und weiter verbreitet, als in den niedern Classen.
Dieser ist von gröſserer Ausdehnung bey den
Fischen, als bey den übrigen Wirbelthieren.
Eine
[77]
Eine ganz andere Bildung tritt bey den wir-
bellosen Thieren ein. Die Spinalganglien bey-
der Seiten vereinigen sich hier unter sich und
mit dem Rückenmark, indem sie in Verglei-
chung mit allen übrigen Theilen ein weit gröſse-
res Volumen als bey den höhern Thieren erhal-
ten, das Rückenmark hingegen in einen bloſsen
Verbindungsstrang dieser Knoten verwandelt
wird. Der sympathische Nerve bildet nur noch
im Kopfe und im Vordertheile des Rumpfs ein
eigenes, doch sehr beschränktes System, dessen
Stamm der, zuerst von Swammerdamm bey den
Insekten unter dem Namen des rücklaufen-
den beschriebene Nerve ist. Das Stimmnerven-
system besteht aus mehrern Nervenpaaren des
verlängerten Marks, deren Gröſse und Verbrei-
tung in den verschiedenen Classen und Familien
der wirbellosen Thiere sehr verschieden ist.
Die Organe der sensitiven Sphäre gehören
mehrern Stufen an. Die niedrigste Sphäre be-
greift die Nerven des bloſsen Gefühls und der
willkührlichen Bewegung. Diese gehen gemein-
schaftlich mit den Nerven des vegetativen Le-
bens aus allen Theilen des verlängerten Marks
und Rückenmarks hervor. Eine höhere Stufe
nehmen die, aus dem verlängerten Mark ent-
springenden Nerven der Zunge ein. Einer noch
höhern Sphäre gehören die Nerven des Geruchs,
Gesichts
[78] Gesichts und Gehörs an, deren Entstehungsort
das Gehirn selber ist.
Bey den wirbellosen Thieren entspringen
diese höhern Sinnesnerven mit den übrigen des
Kopfs aus einem Fortsatz des verlängerten Marks,
welcher, als Hirnring, den Schlund umfaſst.
Bey den Würmern und den niedrigern Familien
der Mollusken ist dieses Gehirn eine noch we-
nig ausgebildete und von den Spinalganglien
nur wenig an Gröſse verschiedene Masse. Mehr
ausgebildet zeigt sich dasselbe in der Familie
der Sepien und bey den Insekten. Bey denen
Arten der letztern, die Kunsttriebe besitzen, be-
sonders den Hymenopteren, besteht dasselbe
aus mehrern Anschwellungen von verschiedener
Gröſse und Gestalt, deren jede einem Sinnes-
nerven zum Ursprunge dient, und die sich in
zwey gröſsern Hemisphären vereinigen x). Diese
Halbkugeln flieſsen unmittelbar mit einander zu-
sammen, ohne durch ähnliche Commissuren, wie
die Hemisphären des Gehirns der Wirbelthiere
enthalten, unter sich verbunden zu seyn. Sie
haben keine Ventrikel wie die letztern, und je-
der sinnesnerve empfängt nur einen einzigen
Nerven, der bey einigen Insektenlarven ein
bloſser Zweig eines andern Stamms ist. Es ist
hiernach zu vermuthen, daſs die sämmtlichen
Hirn-
[79] Hirnnerven der wirbellosen Thiere den Zweigen
des fünften Nervenpaars der Wirbelthiere zu
vergleichen sind, welches zum Theil aus dem
Mittelpunkte der niedrigsten Sphäre des sensiti-
ven Lebens, aus dem verlängerten Marke, ent-
springt, und welches bey allen Wirbelthieren
ebenfalls zu den sämmtlichen Sinnesorganen
geht, indem aber hier auſserdem noch jedes von
diesen einen eigenen Hauptnerven aus dem
groſsen Gehirne empfängt y).
In der Lage, Gestalt, Verbindung und Gröſse
der verschiedenen Theile des Nervensystems der
wirbellosen Thiere finden eben so groſse Ver-
schiedenheiten wie in dem Bau ihres ganzen
Körpers statt, und jene stehen immer mit die-
sem in sehr genauer Beziehung. Das Gehirn
ist immer auf beyden Seiten von symmetrischer
Bildung. In der Lage, Verbindung und Gestalt
der Spinalganglien findet ebenfalls Symmetrie
bey den Insekten und Würmern statt, nicht
aber bey den Mollusken. Bey den letztern ha-
ben auch nicht alle, auf beyden Seiten des Ge-
hirns entspringende Nerven, sondern nur dieje-
nigen, die zu symmetrischen Organen gehen,
z. B. in der Familie der Sepien und Schnecken
die Sehenerven, eine gleiche Bildung. Die Lage
und
[80] und Verbindung der Spinalganglien richtet sich
immer nach der Gestalt des Rumpfs. In denje-
nigen Familien der Insekten und Würmer, die
einen cylindrischen, aus gleichartigen Ringen be-
stehenden Rumpf besitzen, machen diese Kno-
ten in ihrer Vereinigung einen geraden Strang
aus, der eben so viele Knoten hat, als es Ringe
giebt. Bey den Spinnen und Phalangien, deren
Körper sich in der Gestalt dem Oval oder der
Kugel nähert, und nicht gegliedert ist, liegen
sie entweder strahlenförmig um einen gemein-
schaftlichen Hauptknoten, oder paarweise zu
beyden Seiten des Körpers. Alle Insekten und
Würmer haben auch Spinalganglien, die gleich
dem ganzen Körper aus symmetrischen Hälften
bestehen. In der Classe der Mollusken hingegen
fehlt auch diese Symmetrie an mehrern jener
Ganglien.
So weit steht die Form des Nervensystems
bey den wirbellosen Thieren mit der Beschaffen-
heit der übrigen Organisation in Verbindung.
Aus der Zahl und Gröſse der Sinnesnerven, der
gröſsern oder geringern Ausbildung und der Ver-
schiedenheit der Anschwellungen des Gehirns,
woraus sie entspringen, dem Verhältniſs dieser
Theile gegen die Centralmasse des letztern, und
des ganzen Gehirns gegen die Knoten und Ner-
ven des Rückenmarks, besonders gegen die Ner-
ven
[81] ven des vegetativen Lebens, läſst sich auch im
Allgemeinen auf die Stufe schlieſsen, die das
Thier in Betreff der sensoriellen Fähigkeiten ein-
nimmt. Aber die Art, wie diese Fähigkeiten
bey jeder Gattung modifizirt sind, ist hieraus
nicht für uns erkennbar.
Bey den Wirbelthieren treten Veränderungen
des ganzen Nervensystems ein, die gröſser als
in einem der übrigen organischen Systeme sind.
Die Spinalganglien sondern sich vom Rücken-
marke ab, und jeder einzelne trennt sich in
zwey verschiedene Knoten, die auſserhalb dem
Canal der Wirbelsäule zu beyden Seiten derselben
ihre Stelle erhalten. Sie bekommen zugleich ein
sehr geringes, dem, welches sie bey den wir-
bellosen Thieren hatten, ganz entgegengesetztes
Verhältniſs gegen das Rückenmark. Dieses wird
zu einem unmittelbaren, von keinen ungleichar-
tigen Theilen unterbrochenen Fortsatz des ver-
längerten Marks, und bekömmt nebst den Spi-
nalganglien seine Lage nicht mehr unterhalb dem
Darmcanal, sondern längs dem Rücken. Der
sympathische Nerve, der bey den wirbellosen
Thieren sich nur bis zum Magen erstreckt und
mit den Spinalganglien des Bauchs keinen Zu-
sammenhang hat, verbreitet sich durch den gan-
zen Rumpf und tritt mit jedem dieser Knoten
in Verbindung. Das Gehirn bildet nicht mehr
VI. Bd. Feinen
[82] einen Ring, durch welchen der Schlund dringt,
sondern liegt ganz oberhalb demselben und be-
steht aus mehrern ungleichartigen Theilen, die
mit einander so verbunden sind, daſs sie Höh-
lungen (Ventrikel) einschlieſsen. Alle Wirbel-
thiere haben wenigstens fünf solcher Haupttheile:
zwey vordere Hemisphären, zwey hintere, und
ein kleines Gehirn. Mit der Basis des Gehirns
ist ein Hirnanhang, mit der obern Seite eine
Zirbel verbunden. Von den gleichartigen Thei-
len beyder Hirnhälften stehen mehrere durch
eigene Verbindungsorgane (Commissuren) mit
einander in Zusammenhang. Jedes Sinnesorgan,
mit Ausnahme der Organe des Getastes, erhält
auſser Zweigen des fünften Nervenpaars noch
einen eigenen, blos für dasselbe bestimmten
Nerven, von welchen der des Geruchs an den
vordern Hemisphären, der des Gesichts an den
hintern Hemisphären, und der des Gehörs in der
Nähe des kleinen Gehirns entspringt.
Diese gemeinschaftlichen Charaktere sind
nach der höhern oder niedrigern Stufe, auf
welcher jede Familie und Gattung der Wirbel-
thiere steht, verschiedentlich abgeändert. Das
verlängerte Mark nimmt in Verhältniſs gegen
das übrige Gehirn desto mehr sowohl an Um-
fang als an Masse ab, je höher diese Stufe ist,
und unter den Dimensionen jener Organe ist es
bey
[](Zu S. 83. Note z)).
Erste Tafel.
Gewichtsverhältnisse der Haupttheile des Gehirns, und des Rückenmarks verschiedener Thiere,
nach des Verfassers Abwägungen.
[][](Zu S. 83. Note z)).
Zweyte Tafel.
Dimensionen der Haupttheile des Gehirns verschiedener Thiere,
nach des Verfassers Ausmessungen.
[][83] bey den meisten die Breite, bey einigen aber
auch die Länge, deren Veränderungen den Ver-
änderungen ihrer Masse vorzüglich entsprechen z).
Mit
F 2
[84] Mit jener Abnahme wird der Fortgang der Hirn-
schenkel in den hintern und vordern Hemisphä-
ren immer mehr unterbrochen. Bey den nie-
drigsten Gattungen der Fische haben diese Halb-
kugeln das Ansehn von bloſsen Seitenanhängen
der Hirnschenkel; bey den Säugthieren sind die
letztern mit denjenigen Organen, welche an die
Stelle jener Hemisphären treten, gänzlich ver-
flochten. Auf den untern Stufen der Wirbel-
thiere hat jeder einzelne Hirntheil eine Höhlung:
aber alle zusammen schlieſsen nicht eine ge-
meinschaftliche Cavität ein; auf den höhern Stu-
fen ist umgekehrt das Einzelne solide, und das
Ganze hat Zwischenräume zwischen den äuſsern
Flächen der einzelnen Theile. Indem diese ge-
meinschaftlichen Zwischenräume entstehen, bil-
det sich zugleich eine gemeinschaftliche, aus
Hirnsubstanz bestehende Decke für die hintern
und vordern Hemisphären. Die Commissuren
beyder Hirnhälften werden vergröſsert und ver-
vielfältigt, und auſserdem treten auch alle un-
gleichartige Theile in immer nähere Verbindung
durch Radiationen (Ausbreitungen der Fasern ei-
ner
z)
[85] ner Anhäufung von Mark), besonders durch
gröſsere Ausbildung und weitere Verbreitung des
Fornix. Die Hirnnerven, vorzüglich die hö-
hern Sinnesnerven, erlangen immer mehr Zu-
sammenhang mit dem ganzen Gehirn, so daſs
jeder in gewissen einzelnen Hirnorganen nur
seinen Hauptursprung hat, keiner aber aus die-
sem allein entspringt.
Jede Classe der Wirbelthiere besitzt ferner
charakteristische Eigenthümlichkeiten in der Bil-
dung des Gehirns und Rückenmarks.
Bey den Fischen finden wir ein sympathi-
sches System, welches weit weniger entwickelt
ist, als bey den höhern Thieren, und woran die
Ganglien entweder ganz fehlen, oder doch sehr
klein sind. Um so gröſser ist hingegen das
herumschweifende Paar, und vorzüglich zeichnet
sich dasselbe durch einen, längs der ganzen Sei-
tenlinie des Körpers fortgehenden Zweig aus,
vermöge welchem der Einfluſs dieser Nerven
nicht blos, wie bey den Säugthieren und Vö-
geln, auf die Eingeweide der Brust und der
Oberbauchsgegend beschränkt ist. Am groſsen
Gehirn haben die hintern Hemisphären an inne-
rer Ausbildung, und häufig auch an Umfang, den
Vorrang vor den vordern. In jenen giebt es
Organe, die mit den Vierhügeln der Säugthiere
F 3eine
[86] eine groſse Aehnlichkeit haben. Die vordern
Hemisphären sind beym Ursprunge der Geruchs-
nerven oft durch Queereinschnitte in mehrere
Anschwellungen getheilt. Doch ist jede Abthei-
lung von einförmigem innerm Bau. Das kleine
Gehirn hat bey vielen Arten eine nicht geringe
Masse in Verhältniſs zum groſsen Gehirn, ist
aber gewöhnlich sowohl im Aeuſsern, als im In-
nern sehr wenig ausgebildet.
Mit den untersten Ordnungen der Amphi-
bien (den Fröschen, den Salamandern, dem Pro-
teus und den Schlangen) haben die Rochen und
die Hayen, wie in mehrern andern Stücken, so
auch in neurologischer Hinsicht eine sehr nahe
Verwandtschaft. Auf der andern Seite gränzt
die Classe der Amphibien durch ihre höhern
Ordnungen (die Crocodile und Schildkröten) in
eben dieser Rücksicht nahe an die Vögel. Der
sympathische Nerve ist hier schon weit gröſser
und entwickelter, der Stimmnerve hingegen in
seiner Verbreitung mehr beschränkt, als bey den
Fischen. Die vordern Hemisphären treten in
Hinsicht auf ihren Umfang und ihre innere
Entwickelung in ein Verhältniſs, welches das
entgegengesetzte von dem ist, worin sie zu die-
sen bey den Fischen stehen. Sie sind hier hohle,
leere, von einer aus Mark und Rinde bestehen-
den Decke umschlossene, unmittelbar in einander
über-
[87] übergehende Blasen. In jeder vordern Hemi-
sphäre hingegen giebt es einen eigenen Kern,
und beyde Halbkugeln sind nicht, wie bey den
Fischen, blos durch einfache, eine vordere Com-
missur ausmachende Fasernstränge, sondern auch
durch eine länglichrunde oder halbmondförmige
Platte, ein Rudiment des Fornix der höhern
Thiere, mit einander verbunden a). Das kleine
Gehirn ist bey vielen Arten in Verhältniſs zum
groſsen Gehirn weit kleiner, bey den übrigen
in dieser Rücksicht nicht gröſser, wie bey vielen
Fischen.
Am Gehirn der Vögel ist ein Hauptcharakter
ein groſses Uebergewicht der vordern Hemi-
sphären über alle übrige Theile dieses Eingewei-
des sowohl an Masse, als an Umfang. In und
an dem Kern, den jene Organe enthalten, giebt
es strahlenförmige Ausbreitungen von Marksub-
stanz, die bey den niedern Thierclassen noch
nicht deutlich bemerkbar sind. Die vordere
Com-
F 4
[88] Commissur ist hier weit stärker und das Ge-
wölbe mehr entwickelt, als bey den Amphibien.
Die strahlige Scheidewand, welche die Decke
beyder vordern Hemisphären mit dem Gewölbe
verbindet, ist die Vorbildung des Balkens der
Säugthiere b). Die hintern Hemisphären bestehen
auswendig aus abwechselnden Schichten von
Mark und Rinde, inwendig aus einem, gröſs-
tentheils markigen Kern. Sie gehen nicht un-
mittelbar in einander über, sondern jede dersel-
ben hat einen soliden Vordertheil, der mit den
Hirnschenkeln und dem Kern der vordern He-
misphären seiner Seite zusammenflieſst. Die Ver-
bindung zwischen beyden geschieht durch eine
breite, zahlreiche markige Queerfasern enthal-
tende Binde, die sich hinten in eine, dem vier-
ten Nervenpaar zum Ursprunge dienende Hirn-
klappe fortsetzt, und unter sich, auf dem Grunde
des Ventrikels, den sie bedeckt, zwey Paar kleine
Hervorragungen hat, die in Verbindung mit ihr
bey den Säugthieren sich zu den Vierhügeln
entwickeln c). Unter oder vor dem vordern
Ende dieser Binde liegt eine einfache oder dop-
pelte hintere Commissur, die den Amphibien und
Fischen noch fehlt. Das kleine Gehirn ist durch
paral-
[89] parallele Queereinschnitte abgetheilt und enthält
inwendig einen Lebensbaum, hat aber statt der
groſsen Seitentheile des kleinen Gehirns der
Säugthiere auf jeder Seite blos eine zapfenför-
mige Hervorragung, worin sich jene Einschnitte
mit spiralförmiger Krümmung endigen, und ist
blos dem Wurm des Cerebellum der Säugthiere
zu vergleichen. An dem verlängerten Mark tre-
ten die Fortsätze zum kleinen Gehirn deutlicher
als bey den Amphibien und Fischen hervor; das
hintere Ende desselben geht nicht so allmählig
wie bey diesen in das Rückenmark über.
Bey den Säugthieren hört der Unterschied
zwischen vordern und hintern Hemisphären des
groſsen Gehirns auf. Die innern Organe dieser
Theile werden von einer gemeinschaftlichen,
auswendig aus Rinde, inwendig aus Mark be-
stehenden Decke umschlossen, und es bildet sich
unter dieser Decke ein groſses Vereinigungsor-
gan beyder Hälften des groſsen Gehirns, der Bal-
ken. Der Kern jeder hintern Hemisphäre des
Vogelgehirns nebst dessen Schenkel geht in den
Sehehügel (Thalamus nervi optici) über d). Aus
dem hintern Theil des Kerns der vordern He-
misphären des Vogelgehirns entsteht bey den Säug-
thieren
F 5
[90] thieren der gestreifte Körper. An der Auſsen-
seite des Sehehügels und des gestreiften Körpers
zeigt sich ein Organ, das in den vorhergehen-
den Thierclassen noch gar nicht, oder nur erst
sehr undeutlich zu erkennen ist, der gerollte
Wulst (Hippocampus, Cornu Ammonis). Das bey
den Vögeln noch sehr kleine Gewölbe wird ein
weit sich verbreitendes und mehrere verschie-
dene Hirntheile, besonders die weiſslichen Hü-
gel (Eminentiae candicantes), die vordern und
hintern Lappen des groſsen Gehirns, den Balken
und die gerollten Wulste mit einander verbin-
dendes Organ. Aus der Queerbinde der hintern
Hemisphären des Vogelgehirns und den, unter
derselben liegenden, vier kleinen Erhöhungen
entwickeln sich die Vierhügel. Das kleine Ge-
hirn bekömmt runde Seitentheile, die bey vielen
Säugthieren das Mittelstück (den Wurm) an
Masse weit übertreffen, und im Innern eine ähn-
liche baumförmige Verzweigung des Marks in
der Rinde wie das letztere enthalten. Mit die-
sen Seitentheilen erscheint auf der Basis des
Gehirns ein besonderes Verbindungsorgan dersel-
ben, die Varolische Brücke, durch welche zu-
gleich die aus dem verlängerten Mark kommen-
den Markbündel dringen. Das verlängerte Mark
besteht aus zahlreichern Faserbündeln, als bey
den Thieren der untern Classen, und bey al-
len Säugthieren lassen sich an demselben Py-
rami-
[91] ramidalstränge und strickförmige Körper erken-
nen.
Wir würden die Gränzen dieses Werks weit
überschreiten, wenn wir die Modifikationen der
sämmtlichen einzelnen Theile des Gehirns und
Nervensystems durch alle Familien jeder Thier-
classe verfolgen wollten. Es würde uns hierzu
auch noch an hinreichenden Beobachtungen feh-
len. Nur für die verschiedenen Ordnungen der
Säugthiere werden wir neurologische Charaktere
anzugeben versuchen. In Betreff der übrigen
Thierclassen müssen wir uns auf einige allge-
meine Bemerkungen einschränken.
Bey den wirbellosen Thieren, wo das Ge-
hirn noch auf einer geringen Stufe der Ausbil-
dung steht, ist dessen Bau zwar in jeder ein-
zelnen Ordnung von eigener Art. Doch bezie-
hen sich die Verschiedenheiten dieses Eingewei-
des vorzüglich nur auf das Verhältniſs der
Masse desselben gegen die der übrigen Theile
des Nervensystems, auf die Zahl der daraus ent-
springenden Nerven, auf die Gröſse der einzel-
nen Anschwellungen, aus welchen diese hervor-
kommen, und auf die Weite der Oeffnung, durch
welche der Schlund geht. Abänderungen im in-
nern Bau sind, wenn auch hier vorhanden, doch
nicht für uns erkennbar. Die meisten und gröſs-
ten
[92] ten Unterschiede des Gehirns finden sich in
den verschiedenen Familien und Geschlechtern
der Insekten. Auffallender als am Gehirn zeigen
sich an den Rückenmarksknoten der wirbellosen
Thiere die Verschiedenheiten der Ordnungen und
Geschlechter. Die Zahl und Gröſse dieser
Ganglien steht immer mit der äuſsern Organisa-
tion in sehr genauer Beziehung.
Es ist merkwürdig, daſs unter den Wirhel-
thieren die Mannichfaltigkeit der Struktur des
Gehirns in den verschiedenen Familien und Ge-
schlechtern jeder Classe nicht von dem Grade
der Ausbildung abhängt, den dasselbe in dieser
Classe besitzt. Jene Mannichfaltigkeit ist gerade
am gröſsten auf der untersten Stufe der Aus-
bildung des Gehirns, bey den Fischen. Selbst
Arten eines und desselben Geschlechts dieser
Thiere weichen oft mehr im Baue des Gehirns
von einander ab, als verschiedene Geschlechter
der höhern Classen.
Die generische Verschiedenheit der Gehirne
ist bey den Amphibien ebenfalls noch groſs,
doch nicht so groſs mehr die specifische. Das
einfachste Gehirn besitzen in dieser Classe die
Amphisbänen. Zusammengesetzter wird es bey
den übrigen Schlangen, mit welchen der Proteus,
die Salamander, die Frösche und Kröten im
Hirn-
[93] Hirnbau zunächst verwandt sind. An die letz-
tern schlieſst sich die Familie der Schildkröten
näher als die der Eidechsen an. Einige Ge-
schlechter von diesen haben zwar ein einfache-
res Gehirn als manche Schildkröten; andere aber,
besonders die Crocodile, kommen in der Struk-
tur des Gehirns sehr nahe mit den Vögeln
überein.
Bey den Vögeln herrscht eine gröſsere Ein-
förmigkeit in diesem Bau als bey allen übrigen
Thieren. Die Verschiedenheit ihres Gehirns be-
ruht fast ganz auf dem verschiedenen Gröſsen-
verhältniſs der Theile desselben. Nur an den
Einschnitten ihres kleinen Gehirns findet auch
ein verschiedenes Zahlenverhältniſs statt. Der
Unterschied des Verhältnisses der Hirnorgane in
Betreff der Masse beträgt selbst bey Arten, die
einander im äuſsern Bau und in der Lebens-
weise sehr unähnlich sind, oft nur einen gerin-
gen Theil des zur Einheit angenommenen Ge-
wichts des verlängerten Marks, und wechselt
weit mehr, als bey den Säugthieren, nach der
Verschiedenheit des Alters und Geschlechts. Es
hält unter diesen Umständen schwer, blos nach
dem Hirnbau die Stufenfolge dieser Thiere an-
zugeben. Im Allgemeinen lassen sie sich indeſs
nach der Gröſse des verlängerten Marks in Ver-
hältniſs zum übrigen Gehirn, und des groſsen
Gehirns
[94] Gehirns zum kleinen Gehirn, ordnen. Das eine
Ende der Reihe, die sie bilden, nehmen die
Raubvögel ein, die ein sehr kleines verlängertes
Mark in Vergleichung mit dem groſsen sowohl,
als dem kleinen Gehirn haben; das andere die
Schwimmvögel, deren verlängertes Mark in die-
ser Beziehung sehr groſs ist. Bey den Raub-
vögeln hat das groſse Gehirn ein groſses Mas-
senverhältniſs gegen das kleine Gehirn. Auf sie
folgen die Klettervögel, die sperlingsartigen Vö-
gel, die Familie der Hühner, und die Sumpf-
vögel. Bey den Wasservögeln nimmt das kleine
Gehirn, verglichen mit dem groſsen, und zu-
gleich das verlängerte Mark in Vergleichung mit
dem ganzen übrigen Gehirn, wieder an Gewicht
zu. Die hühnerartigen Vögel, die Sumpfvögel
und die Schwimmvögel unterscheiden sich auch
von den übrigen Ordnungen noch darin, daſs
bey ihnen das verlängerte Mark allmählig ver-
schmälert in das Rückenmark übergeht, da hin-
gegen bey den übrigen Vögeln das untere Ende
des verlängerten Marks viel breiter als der An-
fang des Rückenmarks ist.
Die Säugthiere lassen sich, wenn man den
Menschen an ihre Spitze stellt, in Rücksicht
auf den Hirnbau in zwey Reihen ordnen, deren
Glieder so übereinstimmend mit ihrem Habitus
und ihrer Lebensweise auf einander folgen, daſs
die
[95] die hohe Wichtigkeit der encephalotomischen
Charaktere bey der Eintheilung der Wirbelthiere
dadurch aufs einleuchtendste bewiesen wird. In
der ersten Reihe folgen zunächst auf den Men-
schen die Affen, und dann die Makis (Lemur).
Diesen steht zunächst der Coati (Nasua Narica
Storr.), dessen naher Verwandter der Waschbär
ist. An den letztern schlieſst sich der Bär, von
welchem der Dachs den Uebergang zu dem
Hunde, dem Fuchs, der Katze, dem Marder und
Iltis macht. Die nächste Stelle nehmen der Igel,
der Maulwurf und die Spitzmaus (Sorex), und
den untersten Platz dieser ersten Reihe die Fle-
dermäuse ein, die eben so im Hirnbau wie in
der äuſsern Gestalt ein Bindungsglied der Säug-
thiere mit den Vögeln sind. In der zweyten
Reihe erhebt sich wieder die Organisation des
Gehirns von niedrigen Stufen zu höhern, auf
denen mehrere Hirntheile ein anderes gegensei-
tiges Verhältniſs als auf den vorigen haben, wel-
che jedoch immer unter den höhern Stufen der
ersten Reihe bleiben. Sie fängt mit den Nage-
thieren an, geht von diesen durch den Hasen
zu den Wiederkäuern und Einhufern über.
Dann folgen die schweineartigen Thiere (Bel-
luae Blumenb. Pachydermata Cuv.), die Robben
und Wallrosse, und endlich die Wallfische.
Welche Plätze in dieser Folge den Beutelthieren,
den Faulthieren, Ameisenbären, Gürtel-, Schup-
pen-
[96] pen- und Schnabelthieren gebühren, werden
künftige Untersuchungen lehren.
Das oberste Glied der ersten Reihe, der
Mensch, besitzt ein gröſseres sowohl groſses als
kleines Gehirn in Verhältniſs zum verlängerten
Mark, als alle übrige Glieder sowohl dieser er-
sten als der zweyten Reihe. Das groſse Gehirn
besteht aus vordern, mittlern und hintern Lap-
pen. Die Windungen desselben sind zahlreicher
als bey allen übrigen Thieren, und in beyden
Hirnhälften unsymmetrisch. Das Innere jeder
dieser Hemisphären enthält mehr Mark in Ver-
gleichung mit der Masse der grauen Substanz,
und die Farbe beyder Substanzen ist mehr von
einander abstechend, als in dem Gehirn eines
andern Thiers. Das kleine Gehirn hat ein gröſse-
res Verhältniſs der Seitentheile zum Wurm in
Betreff des Umfangs und der Masse, so wie
auch ihrer Breite zur Höhe des Ganzen, und
zahlreichere Blätter, als im ganzen übrigen Thier-
reiche. Von den verschiedenen Lappen dessel-
ben sind die Mandeln ein ausschlieſsliches Ei-
genthum des Menschen. Am verlängerten Mark
giebt es nur bey ihm Hervorragungen, die von
wirklicher olivenförmiger Gestalt sind und einen
Kern von ausgezeichneter Gestalt enthalten. Auf
der Basis des Gehirns findet man eine gröſsere
Brücke als bey allen übrigen Säugthieren, dage-
gen
[97] gen aber einen sehr beschränkten Raum zwischen
der Vereinigung der Sehenerven und dem vor-
dern Rand der Brücke; zwey nur kleine, doch
deutlich von einander getrennte und kugelför-
mige, weiſsliche Erhabenheiten, und Geruchs-
nerven, die während ihres ganzen Verlaufs mit
den vordern Hirnlappen in keiner Verbindung
stehen. Von den innern Organen des Gehirns
haben der Balken, die gestreiften Körper und
die Sehehügel, nicht aber die gerollten Wulste
und die Vierhügel, eben so wie das ganze groſse
und kleine Gehirn und wie die Brücke, ein
gröſseres Verhältniſs zum verlängerten Mark als
auf den übrigen Stufen der Säugthierclasse.
Das Gewölbe ist in Vergleichung mit dem gan-
zen Gehirn länger, aber nicht breiter, als bey
den untern Thieren. Die vordere Hirncommis-
sur geht zur Sylvischen Grube, ohne mit den
Wurzeln der Geruchsnerven unmittelbaren Zu-
sammenhang zu haben. Die Sehehügel stehen
auf ihrer ganzen untern Fläche mit den Hirn-
windungen in Verbindung. Die gerollten Wulste
erstrecken sich nicht weiter als bis zur äuſsern
Hervorragung dieser Hügel. Von den Vierhü-
geln ist das hintere Paar von ähnlicher, läng-
lichrunder Gestalt, und fast von demselben Um-
fange, wie das vordere.
VI. Bd. GDiese
[98]
Diese Charaktere des Menschengehirns ver-
ändern sich auf folgende Art bey den übrigen
Gliedern der beyden erwähnten Reihen.
In der ersten Reihe nimmt von dem Men-
schen an bis zu den Fledermäusen das groſse
Gehirn mehr, oder doch eben so sehr, wie das
kleine, in Verhältniſs gegen das verlängerte Mark
an Masse ab. In der zweyten Reihe tritt wie-
der eine Zunahme sowohl des groſsen als des
kleinen Gehirns in Vergleichung mit dem ver-
längerten Mark ein. Doch bleiben beyde in die-
ser Beziehung immer weit kleiner, als bey den
höhern Thieren der ersten Reihe.
Die Abnahme des groſsen Gehirns geschieht
durch Verkürzung desselben nach allen Dimen-
sionen. Indem es in der Länge abnimmt, ver-
schwinden die hintern Lappen desselben, welche
blos noch die Affen mit dem Menschen gemein
haben, und die obere Fläche des kleinen Ge-
hirns wird immer mehr von jenen entblöſst, so
daſs bey den Fledermäusen nicht nur diese
Fläche, sondern auch die Vierhügel unbedeckt
liegen.
Hiermit verändern sich zugleich die Win-
dungen des groſsen Gehirns in Betreff ihrer Zahl
und Symmetrie. Bey den Affen sind sie schon
weit weniger zahlreich als beym Menschen, und
gröſsten-
[99] gröſstentheils in beyden Hemisphären symme-
trisch. Bey allen folgenden Gliedern der ersten
Reihe, nur mit Ausnahme des Bären, der ziem-
lich viele Windungen besitzt, werden sie immer
einfacher und symmetrischer. Das Gegentheil
tritt aber wieder bey den Gliedern der zweyten
Reihe ein. Die Oberfläche des groſsen Gehirns
der meisten Nagethiere ist eben so einfach als
die der Fledermäuse, des Maulwurfs und des
Igels. Bey dem Hasen zeigen sich wieder Spu-
ren von Windungen. Diese nehmen bey den
Wiederkäuern, den Einhufern u. s. w. bis zu den
Wallfischen immer mehr an Ausbreitung und
Menge zu. Sie bleiben bey den Wiederkäuern
noch symmetrisch, verlieren aber ihre Gleichheit
in beyden Hemisphären bey den Wallfischen.
Auſser den Windungen erleiden auch die
gröſsern Abtheilungen des groſsen Gehirns Ab-
änderungen in den verschiedenen Familien, und
diese Veränderungen stehen vorzüglich mit der
Bildung der Riechfortsätze (Processus mammil-
lares) in Verbindung. Die Affen haben ähnliche
Geruchsnerven wie der Mensch. Bey dem Coati,
dem Bären und allen folgenden Thieren der er-
sten und zweyten Reihe, mit Ausnahme der
Robben und Wallfische, giebt es an der Stelle
der Nerven des ersten Paars auf jeder Seite ei-
nen längslaufenden Markstreifen, der mit einem
G 2eigenen
[100] eigenen Hirnlappen innigst verbunden ist. Die-
ser Lappen entsteht über den Wurzeln der Sehe-
nerven aus den mittlern und vordern Hirnlappen,
ist weiterhin von den letztern getrennt, und en-
digt sich mit einer rundlichen Anschwellung, aus
welcher die Aeste der Riechnerven entspringen,
vor der Siebplatte des Riechbeins. Längs seiner
Axe hat er eine Höhlung. Seine Masse besteht
aus abwechselnden Schichten von Mark und
Rinde. Die innern Markfasern seines Vorder-
theils entspringen vorzüglich aus den gestreiften
Körpern und aus der vordern Commissur, wel-
che letztere bey den mit diesen Riechfortsätzen
versehenen Thieren anders als bey dem Men-
schen und den Affen verläuft. Bey dem Igel,
dem Maulwurf, der Spitzmaus, den Fledermäu-
sen und mäuseartigen Nagethieren finden einige
Abweichungen von diesem Bau statt. Es giebt
hier keine vordern Hirnlappen. Die Riechfort-
sätze liegen daher unbedeckt in der vordern
Höhlung des Schädels. Die mittlern Hirnlappen
sind durch eine, rings um sie laufende, dem
Umfange des Balkens entsprechende Furche in
einen obern und untern, und die Riechfortsätze
durch einen ringförmigen Queereinschnitt in ei-
nen vordern und hintern Theil geschieden. Die
letztere Scheidung hört bey dem Hasen wieder
auf, und findet sich auch nicht weiter bey den
Wiederkäuern und dem Schwein. Diese Thiere
bekom-
[101] bekommen zugleich wieder vordere Hirnlappen.
Die Robben besitzen wahre Geruchsnerven, de-
ren vordere Anschwellungen aber mit dem äuſser-
sten Vorderrande der Hemisphären des groſsen
Gehirns verschmolzen sind, und mit diesen ge-
meinschaftlich die in die Nasenhöhlen dringen-
den Nervenfäden abgeben. Bey den Wallfischen
sind die Nerven des ersten Paars zarte, mit
bloſsen Augen kaum sichtbare Fäden.
Am kleinen Gehirn verändern sich ebenfalls
auf den verschiedenen Stufen beyder Reihen der
Säugthiere sowohl die gröſsern als die kleinern
Abtheilungen. Bey den Affen sind statt der ih-
nen fehlenden Mandeln die Flocken sehr ver-
gröſsert. Die übrigen Lappen haben weit we-
niger Blätter, der Wurm aber ist breiter, als
beym Menschen. Am kleinen Gehirn einiger Af-
fen, z. B. des Simia Paniscus, tritt auf jeder
Seite ein kurzer, kegelförmiger Fortsatz hervor,
zu dessen Aufnahme das Felsenbein eine eigene
Höhlung hat. Bey den Raubthieren und den
untersten Gliedern der ersten und zweyten Reihe
werden die Blätter immer weniger zahlreich,
aber durch Queereinschnitte vielfach getheilt. Bey
dem Maulwurf und dessen Verwandten, den Fle-
dermäusen und den Nagethieren, nimmt aber auch
diese Theilung wieder ab, indem dafür zu bey-
den Seiten des kleinen Gehirns ähnliche, jedoch
G 3ver-
[102] verhältniſsmäſsig weit gröſsere Fortsätze, wie
bey einigen Affenarten, hervortreten. In der Fa-
milie der Wiederkäuer und in den folgenden
Ordnungen der zweyten Reihe mehren sich wie-
der sowohl die gröſsern, als die kleinern Abthei-
lungen jenes Eingeweides; die Seitenfortsätze
sind hier nicht mehr vorhanden; der Wurm
macht eine schlangenförmige Krümmung, und das
hintere Ende desselben ist bey einigen Geschlech-
tern so stark nach der einen Seite gebogen, daſs
die beyden Hemisphären des kleinen Gehirns da-
von eine unsymmetrische Lage haben.
Am verlängerten Mark werden auf den nie-
drigern Stufen beyder Säugthierreihen die Oli-
ven immer undeutlicher. Dagegen giebt es von
den Affen an in allen folgenden Familien gleich
hinter der Brücke, zu beyden Seiten des obern
Endes der Pyramiden, einen viereckigen, von
parallelen, zu den Wurzeln der Nerven des sie-
benten und achten Paars gehenden Markfasern
bedeckten Raum, den ich das Trapezium
nenne, und dessen Ausdehnung bey dem Igel,
dem Maulwurf, den Fledermäusen und den
Nagethieren in eben dem Verhältniſs zunimmt,
in welchem die Brücke immer kleiner wird.
Die Länge, Breite und Wölbung der Brücke
steht immer mit der Gröſse der Hemisphären
des
[103] des kleinen Gehirns in Verhältniſs. Sie wird
daher, mit dem ganzen übrigen Gehirn ver-
glichen, in der ersten Reihe von dem Menschen
an immer kleiner, in der zweyten Reihe hinge-
gen von den Nagethieren an bis zu den Wall-
fischen wieder gröſser, wobey sie jedoch in
Verhältniſs gegen das verlängerte Mark stets un-
ter dem bleibt, welches sie zu diesem bey dem
Menschen hat.
Vor der Brücke, zwischen den vordern En-
den der Hirnschenkel und den Wurzeln der
Sehenerven, liegt eine graue Fläche, die graue
Hervorragung des Trichters (Tuber ci.
nereum), von deren Mitte der Trichter herab-
hängt und deren hinteres Ende bey dem Men-
schen die weiſslichen Hügel (Eminentiae candi-
cantes) einnehmen. Diese Fläche hat bey allen
übrigen Säugthieren eine weit gröſsere Ausdeh-
nung, als bey dem Menschen und den Affen-
Besonders groſs ist sie bey dem Igel, dem Maul-
wurf, den Fledermäusen und den Nagethieren.
Bey ihrer Vergröſserung werden die weiſslichen
Hügel immer flacher, und vereinigen sich immer
mehr zu einer einzigen Masse. In der Familie
der Affen giebt es noch zwey derselben, die von
ähnlicher Gestalt und Lage wie beym Menschen
sind. Die meisten Raubthiere haben nur noch
eine einfache Erhabenheit dieser Art. Auf den
G 4unter-
[104] untersten Stufen der Säugthiere ist sie gar nicht
mehr vorhanden. In den höhern Ordnungen
der zweyten Reihe erscheint sie wieder, doch
in sehr veränderter Gestalt, nämlich bey den
Wiederkäuern als eine länglichrunde, an ihrem
hintern Ende durch einen Einschnitt getheilte
Hervorragung.
Diese höhern Thiere der zweyten Reihe be-
sitzen einen groſsen Hirnanhang und eine groſse
Zirbel in Verhältniſs zum groſsen Gehirn. Bey
den Nagern und den niedrigern Gliedern der
ersten Reihe ist die Zirbel sehr klein, der
Hirnanhang breit, aber sehr platt, und einer an
einem dünnen Bande von der Mitte der grauen
Hervorragung des Trichters herabhängenden
Scheibe ähnlich. Auf den höhern Stufen dieser
ersten Reihe bekömmt der Hirnanhang wieder
eine runde Gestalt, und nimmt mit der Zirbel
in Verhältniſs gegen das verlängerte Mark, nicht
aber in Vergleichung mit dem übrigen Gehirn,
an Masse zu.
Bey den erwähnten Veränderungen der Ba-
sis des Gehirns tritt ferner eine nähere Vereini-
gung des Chiasma der Sehenerven mit der hin-
ter ihnen liegenden grauen Hervorragung des
Trichters ein, als bey dem Menschen und den
Affen statt findet. Diese hat auf den untern
Stufen
[105] Stufen der ersten und zweyten Reihe einen
markigen Vordertheil, mit welchem das Chiasma
zusammenflieſst, und worin sich bey einigen
Nagern ähnliche abwechselnde Streifen von Mark
und Rinde, wie in der Verbindung der Gesichts-
nerven bey den Vögeln, zeigen.
Die im Innern des Gehirns unter den
Windungen und dem Balken liegenden Theile
lassen sich in Betreff der Veränderungen, die sie
auf den verschiedenen Stufen beyder Reihen der
Säugthiere erleiden, unter zwey Abtheilungen
bringen. Zur einen gehören die gestreiften Kör-
per und die Sehehügel; zur andern die Vierhü-
gel, die Knollen der Hirnschenkel, die gerollten
Wulste und der Fornix.
Die Organe der erstern Abtheilung nehmen
in der ersten Reihe vom Menschen an bis zu
den Nagethieren in Vergleichung mit dem ver-
längerten Marke an Umfange ab, jedoch in ei-
nem weit geringern Verhältniſs als die Windun-
gen des groſsen Gehirns, der Ealken, die He-
misphären des kleinen Gehirns und die Brücke.
Vergleicht man sie mit diesen Theilen, so fin-
det vielmehr eine Zunahme, als eine Verminde-
rung ihres Umfangs vom Menschen bis zu den
untersten Gliedern der ersten Reihe statt. In
der zweyten Reihe werden sie von den Nage-
G 5thieren
[106] thieren bis zu den Wallfischen in Verhältniſs ge-
gen diese Theile wieder kleiner, hingegen wach-
sen sie wieder etwas in Verhältniſs gegen das
verlängerte Mark. Die äuſsere Gestalt der ge-
streiften Körper verändert sich hierbey nicht be-
deutend. Inwendig aber treten desto stärkere
Bündel von Markfasern aus ihrem Vordertheil
hervor, je gröſser die Riechfortsätze in Verhält-
niſs gegen die übrigen Lappen des groſsen Ge-
hirns sind. Gröſsere Verschiedenheiten finden
in der äuſsern Gestalt der Sehehügel statt. Man
kann an diesen einen vordern und hintern Theil
unterscheiden, von welchen jener auswendig eine
weiſsere Farbe als dieser hat, und die inwendig
durch einen Markstreifen getrennt sind. Der
hintere Theil steht bey allen Säugthieren, die
keine hintere Hirnlappen haben, nicht mehr, wie
bey dem Menschen und den Affen, in Verbin-
dung mit den Hirnwindungen; er ist dabey ku-
gelförmiger, und stärker an der Seite des Gehirns
über dem gestreiften Körper hervorragend, als
bey den letztern Thieren, und nähert sich in
dieser Gestalt und Lage dem Theil, worin er
bey den Vögeln übergeht, der hintern Hemi-
sphäre derselben.
Einem andern Verhältniſs folgen von man-
chen Seiten die Organe der zweyten Abthei-
lung.
Die
[107]
Die Vierhügel und die Hirnschenkelknollen
(unter welchen letztern ich die Organe verstehe,
die man bey dem Menschen sehr uneigentlich
die äuſsern knieförmigen Körper genannt hat)
folgen im Allgemeinen bey ihrem Wachsen und
Abnehmen in den verschiedenen Familien der
Säugthiere demselben Gesetz, nach welchem die
Zu- und Abnahme des verlängerten Marks ge-
schieht.
Die Vierhügel werden, mit der gröſsten
Breite des verlängerten Marks verglichen, länger
in der ersten Reihe der Säugthiere von dem
Menschen an bis zu den Fledermäusen, hinge-
gen kürzer in der zweyten Reihe von den Na-
gethieren bis zu den Wallfischen, während ihre
Breite sehr veränderlich ist. In den einzelnen
Familien der Säugthiere wechselt die Länge des
hintern Paars gegen die des vordern nach einem
festen Gesetz. Von den Raubthieren an bis zu
den Fledermäusen und weiter in der zweyten
Reihe der Säugthiere von den Nagethieren bis
zu den Wiederkäuern verkürzt sich das hintere
Paar gegen das vordere. Die gröſste Kürze er-
reicht jenes bey den Wiederkäuern. Bey dem
Schwein nimmt die Länge des hintern Paars ge-
gen die des vordern wieder zu e). Bey dem
Men-
[108] Menschen und den Affen ist das Verhältniſs der
Länge des hintern Paars gegen die des vordern
fast das nämliche wie bey den Raubthieren f);
in der Gestalt beyder Paare nähern sich jene
mehr den Nagethieren.
Die gerollten Wulste und das Gewölbe wer-
den ebenfalls in gleichem Verhältniſs mit dem
verlängerten Mark gröſser und kleiner in den
ver-
e)
[109] verschiedenen Säugthierfamilien. Jene haben in
den untersten Familien beyder Reihen der Säug-
thiere zusammengenommen nicht viel weniger
Masse als das kleine Gehirn. Sie und das Ge-
wölbe sind zwar, mit der gröſsten Breite des
verlängerten Marks verglichen, nicht so lang bey
den übrigen Säugthieren, als bey dem Menschen
und den Affen, dafür aber desto breiter. Beym
Hippocampus findet diese gröſsere Breite vor-
züglich an dem hintern Theil desselben statt, der
bey allen Säugthieren, die Riechfortsätze haben,
nicht, wie bey denen, welche Geruchsnerven
besitzen, in dem absteigenden Horn der Seiten-
höhle, sondern auf dem Sehehügel liegt, und
in den niedrigern Ordnungen der ersten und
zweyten Reihe nicht nur diesen Hügel, sondern
zum Theil auch den gestreiften Körper bedeckt.
Drit-
[110]
Drittes Kapitel.
Versuch einer Bestimmung des Verhält-
nisses der verschiedenen Hirnorgane
zu den verschiedenen Aeuſserungen
des geistigen Lebens.
Die im vorigen Kapitel erklärten Verschieden-
heiten sind die wichtigsten, die das Gehirn und
die Haupttheile des Nervensystems auf den ver-
schiedenen Stufen des Thierreichs zeigen. Wir
werden jetzt die Folgerungen entwickeln, die
sich daraus in Hinsicht auf die Funktionen der
Hirnorgane ergeben, und mit diesen vergleichen,
was pathologische Erscheinungen, Versuche an
lebenden Thieren und Untersuchungen der Tex-
tur des Gehirns hierüber lehren. Vorher aber
ist es nothwendig, uns über zwey wichtige
Punkte zu erklären, über die Befugniſs, aus die-
sen Erscheinungen und Versuchen Schlüsse in
Betreff der Funktionen des Gehirns zu ziehen,
und über die Frage: Ob die Verbindungen,
worin die Hirnorgane durch die Verbreitung der
Markfasern mit einander gesetzt sind, mit den
Ver-
[111] Verrichtungen derselben in näherer Beziehung
stehen?
Die Schriften der praktischen Aerzte sind
voll von Beobachtungen, wo bald die gröſsten
Zerrüttungen des Gehirns ohne bemerkbare See-
lenstörungen zugegen waren, bald diese in ho-
hem Grade statt fanden, ohne daſs nach dem
Tode bedeutende Veränderungen der Struktur
des Gehirns entdeckt wurden, und bald schon
geringe Verletzungen des letztern schwere Gei-
steskrankheiten nach sich zogen. Eben so ab-
weichend und zum Theil widersprechend sind
die Resultate der bisherigen Versuche an Thie-
ren über den Einfluſs des Gehirns auf den übri-
gen Körper. Wer eine, ohne Kritik gemachte,
Zusammenstellung dieser Erfahrungen liest, muſs
gänzlich an der Möglichkeit verzweifeln, Ein-
heit in ein solches Chaos zu bringen. Wer sie
aber nach richtigen Grundsätzen sichtet, wird
finden, daſs, wenn auch des Unerklärbaren im-
mer Vieles zurückbleibt, dessen doch so viel
nicht ist, wie es beym ersten Anblick scheint.
Ein groſser Theil jener Beobachtungen ist ohne
allen Werth, indem derselbe entweder von blos
praktischen Aerzten herrührt, die nicht genug
den Bau des Hirns kannten und nicht genug in
der Zergliederung desselben geübt waren, um
Abweichungen vom regelmäſsigen Bau gehörig
beur-
[112] beurtheilen zu können, oder von Anatomen, die
zwar angeben konnten, was sie am Leichnam
gefunden hatten, um die vorhergegangene Krank-
heit aber nur vom Hörensagen wuſsten. Die
letztere wurde auch, so weit sie den Geistes-
und Gemüthszustand des Kranken betraf, von
den praktischen Aerzten selten mit der nöthigen
Aufmerksamkeit beobachtet. Man begnügte sich
mit der Bemerkung, und konnte freylich in vie-
len Fällen auch nicht mehr bemerken, als daſs
der Kranke nach einer schweren Verletzung des
Gehirns fortfuhr, sich vernünftig zu benehmen
und in Betreff der Gegenstände des alltäglichen
Lebens keinen Mangel an Gedächtniſs zu ver-
rathen. Wie sich sein Erinnerungsvermögen in
Hinsicht auf Dinge, die auſser seinem gewöhnli-
chen Kreise lagen, wie sich seine Einbildungs-
kraft vor und während der Krankheit verhielt,
blieb unbestimmt und lieſs sich selten bestim-
men. Meist endigte sich auch die Krankheit
früher mit dem Tode, ehe Beobachtungen über
den Einfluſs des Physischen auf das Geistige
möglich waren. Alle Organe, deren Funktionen
nicht blos mechanischer Art sind, ertragen fer-
ner beträchtliche Verletzungen ohne plötzlichen
Stillstand des regelmäſsigen Ganges ihrer Ver-
richtungen. Es läſst sich vermuthen, daſs unter
gewissen Umständen das Gehirn um so mehr
bedeutende Zerrüttungen ohne schnelle Unter-
brechung
[113] brechung der gewöhnlichen Thätigkeit desselben
wird erleiden können, da hier die Duplicität der
meisten Organe, die gänzliche Abwesenheit aller
mechanischen Verrichtungen, ein Haupthinder-
niſs der Reproduktion bey Verletzungen aller
übrigen Theile, und die durch längern und tie-
fern Schlaf erleichterte Restauration der Kräfte
die Fortsetzung dieser Thätigkeit begünstigen.
Auch in der Wandelbarkeit der nach Hirnver-
letzungen eintretenden Symptome liegt nichts,
was nicht das Gehirn mit allen übrigen Organen,
die andern als blos mechanischen Zwecken die-
nen, gemein hätte. Die Form und der Grad
der Krankheit wird in jenen wie in diesen durch
Alter, Geschlecht, Temperament, Idiosynkrasien,
vorhergegangene Krankheiten u. s. w. modifizirt,
und in jenen wie in diesen sind Veränderungen
der Mischung und der feinern Textur aus in-
nern Ursachen oft von weit schwerern Folgen,
als Verletzungen der Form durch äuſsere Kräfte.
Nur die letztern aber zeigen sich dem Zerglie-
derer. Was endlich die bisherigen Versuche am
Gehirn lebender Thiere betrifft, so wird Keiner,
der mit den groſsen Schwierigkeiten derselben
aus eigener Erfahrung einigermaſsen bekannt ist,
sich über die Widersprüche in den Resultaten
derselben wundern. So viel ist also richtig, daſs
es sehr schwer hält, pathologische Beobachtungen
über die Funktionen des Gehirns zu machen,
VI. Bd. Hdie
[114] die den Forderungen einer strengen Kritik genü-
gen, daſs es wenige giebt, welche diesen For-
derungen entsprechen, und daſs sich aus den
meisten der vorhandenen nicht viel mit Sicher-
heit schlieſsen läſst. Demohngeachtet aber sind
manche derselben von Werth und lassen sich,
mit Umsicht benutzt, zur Entwickelung wichti-
ger Sätze anwenden.
In Hinsicht des zweyten Punkts, den wir
zu untersuchen haben, giebt es zweyerley That-
sachen, die uns Aufklärung geben können. Die
erste ist der Eintritt halbseitiger Lähmungen
nach örtlichen Krankheiten des Gehirns und
Rückenmarks.
Es ist eine alte, schon von Hippokrates
und Aretäus erwähnte Beobachtung, daſs Ver-
letzungen der einen Hälfte des Gehirns Lähmun-
gen der entgegengesetzten und Zuckungen der
gleichseitigen, Verwundungen des Rückenmarks
aber Lähmungen der gleichseitigen und Convul-
sionen der entgegengesetzten Hälfte des Systems
der willkührlichen Muskeln des Rumpfs und der
äuſsern Glieder zur Folge haben. Bis auf Val-
salva galt dieser Satz vorzüglich nur von Läh-
mungen, die nach Wunden des Gehirns ent-
stehen. Valsalvag) dehnte ihn auch auf Feh-
ler
[115] ler des Gehirns aus innern Ursachen aus, und
hielt ihn für ein allgemeines Gesetz, das nur
scheinbare Ausnahmen hätte. Morgagnih) sam-
melte in seinem Commentar über die angeführte
Stelle des Valsalva die wichtigsten Beobachtun-
gen der frühern Schriftsteller in Betreff jener
Erscheinung, und fügte mehrere eigene Erfahrun-
gen hinzu; führte aber unter diesen auch einen
Fall an, wo mit einem Fehler in der rechten
Hirnhälfte eine Lähmung der nämlichen Seite
des Körpers ohne alle krankhafte Veränderung
der linken Hirnhemisphäre verbunden war. Nach
Morgagni wurden noch manche andere Fälle
von beyden Arten bekannt gemacht, welche Hal-
leri) und Arnemannk) gesammelt haben; jener
aber, wie überhaupt in dem Theil seiner Phy-
siologie, welcher das Gehirn betrifft, nicht im-
mer mit strenger Kritik. Neuere Beyträge zu
diesen Beobachtungen sind von Caldanil),
Wen-
H 2
[116]Wenzelm), Yellolyn) und Lallemando) ge-
liefert.
Vergleicht man diese Beobachtungen mit ein-
ander, so erhält man folgende Resultate.
Verletzungen eines innern Theils der einen
Hirnhälfte, der oberhalb der Stelle des verlän-
gerten Marks liegt, worin sich die Pyramidal-
stränge kreuzen und zu welchem sich Fortsätze
dieser Stränge erstrecken, sind gewöhnlich mit
Lähmungen der ungleichseitigen Muskeln der
äuſsern Glieder und des Mundes, oft auch, doch
nicht immer p), mit einer Amaurose des ungleich-
seitigen Auges, hingegen mit Paralysen der Mus-
keln nicht des ungleichseitigen, sondern des
gleichseitigen Auges verbunden. In den meisten
Fällen, wo man jene Hemiplegie der entgegen-
gesetz-
[117] gesetzten Hälfte des Körpers beobachtet hat, war
es einer der beyden gestreiften Körper, an wel-
chem die Verletzung statt fand. Dieser war in
allen den Beobachtungen solcher Hemiplegien,
die Peyronnieq) gesammelt hat, der leidende
Theil. Caldanir) nahm bey achtzehn Thieren
einen Theil des gestreiften Körpers der einen
Seite weg, und sah jedesmal hiernach eine
Lähmung der entgegengesetzten Seite erfolgen.
Auch bey fünf Leichen von Menschen, die am
Schlagfluſs gestorben waren, fand er Zerstörun-
gen in dem gestreiften Körper der entgegenge-
setzten Seite. Die Gebrüder Wenzels) beobach-
teten unter acht Fällen von halbseitiger Lähmung
fünf, wo ebenfalls die Ursache der Krankheit
in diesem Organ lag. Unter den in Lalle-
mand’s angeführter Schrift enthaltenen Beobach-
tungen ist keine, wo bey einer halbseitigen Läh-
mung der obern und untern Gliedmaſsen nicht der
gestreifte Körper der entgegengesetzten Seite wäre
krankhaft verändert gefunden worden. Oft war
mit einem der gestreiften Körper auch der Sehe-
hügel
H 3
[118] hügel seiner Seite verletzt. Valsalva machte
eine Beobachtung, wo nach einer Lähmung der
linken Seite und einer intermittirenden Verdun-
kelung des linken Auges die Hauptverletzung
am rechten Sehehügel gefunden wurde t). In
dem von Yelloly beschriebenen Fall war die
rechte Seite des Körpers und der abziehende
Muskel des linken Auges paralytisch, der Mund
etwas verzogen und stammelnd, der Puls an
der gelähmten Seite schwächer als an der ge-
sunden. Der Kranke sah die Gegenstände dop-
pelt, und vor dem Tode traten allgemeine Zuckun-
gen ein. Bey der Leichenöffnung fand man an
der linken Hälfte der Varolischen Brücke eine
Geschwulst von der Gröſse einer Haselnuſs, die
sich bis zu den Pyramidalkörpern dieser Seite
erstreckte, auf den linken Nerven des sechsten
Paars drückte und mit der Basilararterie ver-
wachsen war. Die Substanz des ganzen Gehirns
war fester wie gewöhnlich. Die Hirnhöhlen
enthielten ohngefähr eine halbe Unze Wasser.
Sonst fand sich nichts Krankhaftes in der rech-
ten Hirnhälfte. Hier war also ein Druck auf
die linke Seite der Brücke, auf den linken Py-
ramidalkörper und auf den linken abziehenden
Nerven die Ursache der Lähmung des linken ab-
ziehenden Augenmuskels und der äuſsern Theile
der
[119] der rechten Seite. Dagegen läſst sich aus kei-
ner sichern Beobachtung schlieſsen, daſs orga-
nische Fehler der Windungen des groſsen Ge-
hirns, des Balkens, der Vierhügel, des kleinen
Gehirns, der Zirbel, des Hirnanhangs und des
Trichters ähnliche Lähmungen zur unmittelbaren
Folge haben. Mehée de la Toucheu) behaup-
tet zwar, Verletzungen des kleinen Gehirns hät-
ten auf die entgegengesetzte Seite einen groſsen
Einfluſs. Seine Angabe ist aber von Beobach-
tungen nach Wunden des kleinen Gehirns ab-
geleitet, wobey sich nicht unterscheiden läſst,
was mittelbare und was unmittelbare Folge der
Verletzung ist.
Diese Sätze haben zwar Ausnahmen. Es
giebt allerdings auch Erfahrungen, wo nach Ver-
letzungen des Gehirns oberhalb der gedachten
Durchkreuzungsstelle die gleichseitige Hälfte des
Körpers unterhalb dem Kopf gelähmt war. Aber
die Zahl dieser Beobachtungen ist gering gegen
die der vorigen. Arnemannv) bemerkte bey
seinen Versuchen an Thieren nie andere als un-
gleichseitige Lähmungen. Die meisten jener Er-
fahrungen sind auch keinesweges entscheidend.
Zu den wichtigsten derselben gehören die, wel-
che
H 4
[120] che Forestw), Bonetx), De Haeny), La
Peyronniez) und Morgagnia) aufgezeichnet
haben. Forest versichert ausdrücklich, daſs nur
die rechte Hälfte des Gehirns, auf deren Seite
sich die Lähmung befand, verletzt, die linke
aber völlig gesund war. Indeſs, Forest hatte
bey Lebzeiten des Kranken vorhergesagt, man
würde am Gehirn eine Verletzung auf der rech-
ten Seite finden. Unter diesen Umständen kann
man nicht allen Verdacht unterdrücken, daſs ihn
vielleicht der Wunsch, seine Prognose zu recht-
fertigen, verleitet hat, die linke Hirnhälfte nicht
mit gehöriger Umsicht zu untersuchen. In dem
von Bonet erzählten Fall scheint die Zergliede-
rung des Gehirns nur oberflächlich geschehen zu
seyn. De Haen’s Erfahrung, in welcher bey ei-
ner völligen Lähmung der rechten Seite die
ganze weiche Hirnhaut varikös war und sich al-
lenthalben von der Hirnsubstanz getrennt hatte,
und der rechte Seitenventrikel Wasser enthielt,
ist ganz unentscheidend, da hier ein allgemeines
Leiden des Gehirns statt fand und De Haen
selber zweifelt, ob nicht das Wasser vor dem
Oeffnen
[121] Oeffnen des Gehirns beym Drücken auf die
linke Hemisphäre zum Theil aus dem linken
Ventrikel in den rechten übergegangen sey. Nur
gegen Peyronnie’s und Morgagni’s Beobachtun-
gen lassen sich keine gegründete Einwendungen
machen. Wenigstens so viel bleibt also gewiſs,
daſs die ungleichseitige Lähmung die gewöhn-
liche, die gleichseitige eine seltnere Folge von
Verletzungen der obern Theile des Gehirns ist.
Nach Verletzungen der einen Hälfte des
verlängerten Marks, in der Nähe des Hinter-
hauptlochs, und des ganzen Rückenmarks sind
weder bey absichtlichen Versuchen an Thieren,
noch bey zufälligen organischen Fehlern an Men-
schen andere als gleichseitige Lähmungen wahr-
genommen b), auſser in einem von Portalc)
erzählten Fall, wo nach einer Paralyse des lin-
ken Beins die rechte Hälfte des Rückenmarks
weicher als die linke gefunden wurde. Es zeigte
sich hier aber auch eine Entzündung beyder
Hälften dieses Organs und zugleich der beyden
innern Hirnhäute, weshalb jener Fall nicht ent-
scheidend ist.
Ich
H 5
[122]
Ich glaube jetzt beweisen zu können, daſs in
diesen Erscheinungen nichts enthalten ist, was
sich nicht aus dem Lauf der Markbündel des
Gehirns und Rückenmarks erklären lieſse.
Nachdem zuerst Mistichellid) eine Kreu-
zung der zu den Pyramidalkörpern gehenden
Fasern auf der vordern Seite des verlängerten
Marks beobachtet hatte, fanden einige der ersten
Anatomen seine Entdeckung bestätigt e); Andere
aber sahen entweder die Kreuzung gar nicht f),
oder wollten sie nicht für eine solche gelten
lassen g). Unter den Zergliederern der neuesten
Zeit haben auch noch Chaussierh) und Gor-
doni) sie geläugnet. Alle neuere Anatomen, die
in
[123] in der feinern Zerlegung des Gehirns geübt
sind, namentlich Sömmerringk), Gall und Spurz-
heiml), Rosenthalm), Tiedemannn) und J.
F. Meckelo) haben sie aber als ausgemacht
angenommen. In der That kann auch die Wirk-
lichkeit derselben Keinem zweifelhaft seyn, der
sie einmal gesehen hat und wieder aufzufinden
weiſs. Die, welche sie ganz läugneten, suchten
sie an untauglichen Gehirnen, oder verstanden
nicht sie zu suchen, und Die, welche sie nicht
für eine wirkliche Kreuzung hielten, haben den
Lauf der Fibern nicht weit genug verfolgt, oder
diese durch ein gewaltsames Verfahren in Un-
ordnung gebracht. Man erblickt sie an jedem,
nicht zu weichem Gehirne, wenn man, nach be-
hutsamer Wegnahme der weichen Hirnhaut, die
äuſserste Markschicht auf der vordern Fläche
des verlängerten Marks unter den Pyramiden
ablöst. Man sieht hier die von dem Rückenmark
zu den Pyramiden heraufsteigenden Faserbündel
von der rechten zur linken, und von der linken
zur rechten Seite gehen, und zwar so, daſs sie
sich
[124] sich bey ihrem Uebergange spalten und wech-
selseitig in ihre Spalten aufnehmen. Die hin-
tern Stränge des verlängerten Marks nehmen an
dieser Kreuzung keinen unmittelbaren Antheil.
Die Seitenstränge scheinen mir aber einige Fa-
sern oben aus ihr zu erhalten, und unten an sie
abzugeben.
Die Pyramidalstränge gehen durch die Brücke
und durch die Hirnschenkel in die, von Reil
unter dem Namen des Stabkranzes beschriebene,
groſse Radiation der gestreiften Körper und der
Sehehügel. Aus der Kreuzung jener Stränge
läſst sich also erklären, warum Verletzungen der
gestreiften Körper, der Sehehügel und der
Brücke oft eine Lähmung der entgegengesetzten
Seite nach sich ziehen müssen. Aber mit den
Pyramidalbündeln breiten sich auch zum Theil
die übrigen, sich nicht kreuzenden Stränge des
verlängerten Marks in dem Stabkranze aus. Es
ist daher begreiflich, warum eine solche halb-
seitige Lähmung keine beständige Folge jener
Verletzungen ist. Daraus, daſs die Seitentheile
des verlängerten Marks, woraus die Nerven des
fünften, sechsten und siebenten Paars entsprin-
gen, nur geringen Antheil an der Kreuzung neh-
men, die Nerven des dritten und vierten Paars
aber oberhalb der Kreuzungsstelle erzeugt wer-
den, ergiebt sich ferner, warum die Lähmung
der
[125] der Muskeln des Angesichts und der Augen
nicht auf der entgegengesetzten Seite der Ver-
letzung erfolgt.
Diese Erklärung gab schon Morgagnip).
Da er sich indeſs von der wirklichen Kreuzung
der Pyramidalstränge nicht überzeugt hatte, so
dünkte ihn, eine andere Voraussetzung sey wahr-
scheinlicher, nämlich die, daſs eine Verletzung
der einen Hemisphäre eine Lähmung der gleich-
seitigen Hälfte des Körpers nebst einer organi-
schen Krankheit der andern Hemisphäre verur-
sachen könne, und daſs bey fortdauernder Läh-
mung die erstere Verletzung sich verliere, ohne
sichtbare Spuren zurückzulassen, die letztere
hingegen bis zum Tode immer mehr zunehme.
Aber mit dieser Hypothese ist nicht der Umstand
zu vereinigen, daſs bey Versuchen an Thieren
nach Verletzungen der einen Hemisphäre des
Gehirns die entgegengesetzte Seite nicht erst
nach längerer Zeit, sondern plötzlich gelähmt
wird. Es läſst sich auch gegen sie einwenden,
daſs die nachfolgende Verletzung eben so gut
wie die ursprüngliche eine Lähmung der gleich-
seitigen Muskeln des Körpers verursachen würde,
so daſs nach Verwundungen der einen Hemi-
sphäre erst die gleichseitige und dann auch die
andere Hälfte des Körpers paralytisch werden
müſste,
[126] müſste, welches nicht der Erfahrung gemäſs ist.
Gegen die andere, von der Kreuzung der Pyra-
midalstränge hergenommene Erklärung hingegen
läſst sich kein gegründeter Einwurf machen, als
der, daſs die Zahl und Gröſse der sich kreu-
zenden Faserbündel nicht so beträchtlich ist,
wie man bey dem häufigen Eintritt der un-
gleichseitigen Lähmung erwarten sollte. Indeſs,
wenn man den Fortgang jener Stränge durch
die Brücke und die Hirnschenkel bis zu den
gestreiften Körpern und ihre Verstärkung auf die-
sem Wege betrachtet, so überzeugt man sich,
daſs sie doch die Hauptverbindungsorgane der
gestreiften Körper, also der Theile, nach deren
Verletzung die Lähmung der entgegengesetzten
Seite am häufigsten eintritt, mit dem untern
Ende des verlängerten Marks und des Rücken-
marks sind. Es ist aber auch noch nicht aus-
gemacht, ob es nicht noch eine andere Kreu-
zung unter den Fasern der im Innern der vier-
ten Hirnhöhle liegenden Faserbündel giebt. San-
toriniq) nahm einen Uebergang dieser Fasern
von der einen Seite zur andern an. Girardir)
und alle folgende Anatomen lieſsen hier nur
verbindende, nicht sich kreuzende Fasern gelten.
Allein obgleich es wahr ist, daſs sich die Kreu-
zung
[127] zung nicht wahrnehmen läſst, so macht doch der
Lauf jener Fasern, die divergirend aus der mit-
telsten Spalte des vierten Ventrikels hervorkom-
men, es wahrscheinlich, daſs im Innern des ver-
längerten Marks, oberhalb der Brücke, eine De-
cussation derselben statt findet.
Es ist noch eine zweyte Stelle am Gehirn
vorhanden, in welcher etwas Aehnliches vor-
geht, aus deren innerm Bau sich ebenfalls viele
pathologische Erscheinungen erklären lassen, und
wodurch also auch die Befugniſs, aus dem
Lauf und der Verbindung der Hirnfasern auf die
Funktionen der Hirnorgane zu schlieſsen, ge-
rechtfertigt wird. Diese Stelle ist das Chiasma
der Sehenerven. Man nahm hierin von Ga-
len’s Zeiten her bald gar keine, bald eine gänz-
liche und bald eine partielle Kreuzung der Sehe-
nerven an, und brachte für jede dieser Meinun-
gen Gründe bey. Zu Gunsten der ersten Mei-
nung sprechen Fälle, wo das Schwinden des
einen Sehenerven beym schwarzen Staar sich
durch das Chiasma bis zum Sehehügel der näm-
lichen Seite erstreckte. Aus einer merkwürdi-
gen, von Vesal gemachten Beobachtung, wo
bey unveränderter Sehekraft gar keine Verbin-
dung der Sehenerven vorhanden gewesen war,
lieſse sich sogar auf gänzlichen Mangel an Zu-
sammenhang zwischen beyden Sehenerven schlie-
ſsen.
[128] ſsen s). Diese Folgerung haben indeſs nur We-
nige gewagt. Die Meisten, die auch keine
[Kreuzung] zugaben, nahmen doch, wegen der
genauen, zwischen beyden Sehenerven stattfin-
denden Sympathie, eine Verbindung dieser Ner-
ven im Chiasma an. Den obigen Fällen stehen
aber andere entgegen, wo Veränderungen des
einen Sehenerven sich nicht auf den gleichsei-
tigen Theil desselben hinter der Vereinigungs-
stelle, sondern auf den der entgegengesetzten
Seite fortgepflanzt hatten. Noch andere Erfah-
rungen lehren, daſs bey organischen Veränderun-
gen des einen Sehenerven oft beyde hinter dem
Chiasma in gleichem Verhältniſs, doch in min-
derm Grade als vor dem Chiasma, krankhaft
verändert gefunden werden, auch daſs der
äuſsere Theil des einen Nerven krank, der in-
nere gesund seyn, und die Krankheit jenes Theils
an derselben Seite hinter der Vereinigungsstelle
auswendig am Nerven fortgehen kann t).
Es
[129]
Es giebt nur zwey Wege zur Erklärung
dieser Anomalien. Man muſs entweder voraus-
setzen, daſs bey den einzelnen Individuen des
Menschengeschlechts und der ihm zunächst ste-
henden Thiere eben so groſse Abweichungen in
der Verbindung der Sehenerven herrschen, wie
bey den mancherley Arten der Fische, deren
einige sich über einander hinlegende, andere
sich nicht kreuzende Sehenerven haben; oder es
ist anzunehmen, daſs im Chiasma dieser Ner-
ven einige Fasern mit einander verflochten sind,
andere sich kreuzen, und noch andere durch
das Chiasma ohne Ablenkung von ihrem geraden
Wege zum Auge ihrer Seite gehen. Die erstere
Hypothese läſst sich mit Einschränkung ver-
theidigen. Es ist allerdings möglich, daſs bey
verschiedenen Menschen Abweichungen im Ver-
lauf jener Fasern statt finden. Aber es ist un-
wahrscheinlich, daſs diese Verschiedenheiten be-
deutend seyn können. Durch mikroskopische
Untersuchungen des Innern horizontal durch-
schnittener Verbindungsstellen der Sehenerven an
menschlichen Leichen entdeckte dagegen schon
Vicq-D’Azyru) einen Lauf der Fasern dieser
Ner-
t)
VI. Bd. I
[130] Nerven, welcher der zweyten Hypothese günstig
ist. Er fand, daſs die Markfasern des äuſsern
Randes an der obern und untern Fläche des
Chiasma sich gerades Weges nach dem Auge
der nämlichen Seite begeben, die Mitte der Ver-
einigungsstelle aber ein einförmiges Gewebe ent-
hielt. Noch näher kommen jener Voraussetzung
Caldani’s v) Beobachtungen, nach welchen in
dem Chiasma von Sehenerven, die in Salpeter-
säure gelegen hatten, die äuſsern Markfasern zu
dem gleichseitigen, die innern aber, bündelweise
und ästig getheilt, zum entgegengesetzten Auge
gingen. Die Gebrüder Wenzelw) sahen gleich-
falls die äuſsern Fasern der Wurzel jedes der
beyden menschlichen Sehenerven durch die Ver-
einigungsstelle in den gleichseitigen Nerven über-
gehen, ohne sich mit denen der andern Seite zu
verbinden. Diese äuſsern Fasern machten den
gröſsern Theil der ganzen Masse aus. Der klei-
nere innere Theil der Fasern beyder Wurzeln
bildete im Innern des Chiasma eine Verflechtung;
der Lauf dieser Fasern war von dem der
äuſsern verschieden, und offenbar nach der ent-
gegengesetzten Seite hingerichtet. Eben so zeigte
sich mir der Lauf der Fasern in dem wagerecht
durchschnittenen Chiasma einer Simia Aygula.
Hier aber waren der innern, mit einander ver-
floch-
[131] flochtenen Fasern weit mehr, als der äuſsern,
welche ohne Verbindung mit denen der entge-
gengesetzten Seite zum gleichseitigen Auge fort-
gingen. Diejenigen Fasern, die zunächst unter
den äuſsern lagen, schienen mir eine wirkliche
Kreuzung zu bilden, die innersten aber blos mit
einander verflochten zu seyn x). In allen diesen
Beobachtungen ergab sich also eine Textur der
Sehenerven in der Verbindungsstelle, die mit
dem, was sich aus krankhaften Erscheinungen
mit Wahrscheinlichkeit folgern läſst, so weit
übereinstimmte, als es bey Untersuchungen von
einer solchen Feinheit möglich ist.
Wir wenden uns nach diesen Vorbereitungen
zur Entwickelung der Sätze, die sich aus der
vergleichenden Hirn- und Nervenlehre, aus Beob-
achtungen über die Textur des Gehirns und aus
pathologischen Phänomenen ableiten lassen.
Das erste und wichtigste dieser Resultate
ist, daſs die Organisation des Gehirns und Ner-
vensystems mit der ganzen übrigen Organisation
in enger Beziehung steht, diese ihr äuſserer Ab-
druck ist. Die ganze Organisation wird aber
bey den höhern Thieren vorzüglich durch die
Sinnes-
I 2
[132] Sinnes- und Bewegungsorgane bestimmt. Durch
jene wirkt die äuſsere Natur auf das Thier, und
durch die letztere das Thier auf die Auſsenwelt
zurück. Die Funktionen des vegetativen Lebens
erhalten die Mittel zu ihrer Fortdauer bey je-
nen Thieren vermittelst derer des sensitiven Le-
bens, und das Hauptorgan des letztern ist das
Gehirn. In diesem also müssen die Sinnes- und
Bewegungsnerven ihren gemeinschaftlichen Mit-
telpunkt haben, und in diesen muſs die Form
und Wirkungsart derselben ausgedrückt seyn.
So verhält es sich auch. Die Nerven des Ge-
sichts, Geruchs, Gehöre und Geschmacks sind
unmittelbare Sprossen des Gehirns; die des Ge-
tastes und der Bewegungsorgane gehen unmit-
telbar oder vermittelst des Rückenmarks in das
verlängerte Mark über. Je mehr Ausbildung des
Muskelsystems und körperliche Stärke, desto
gröſser ist das letztere in Verhältniſs zum übri-
gen Gehirn; je mehr Mannichfaltigkeit der höhern
Sinnesvorstellungen, desto gröſser ist umgekehrt
das übrige Gehirn zum verlängerten Mark. Zu
den Bewegungsorganen gehören aber in diesem
Sinne nicht nur die äuſsern Gliedmaſsen, son-
dern überhaupt alle Theile, worauf der Wille
einen Einfluſs hat, also auch die Werkzeuge,
wodurch die Speisen aufgenommen, zermalmt
und verschluckt werden, und die Respirations-
organe, insoweit dieselben der Willkühr unter-
worfen
[133] worfen sind; und unter Sinnesvorstellungen be-
greife ich hier überhaupt alle, die in den äuſsern
Sinnen ihren ersten, obgleich nur entfernten
Ursprung haben, mithin auch die der Erinne-
rung und der Einbildungskraft.
Die Stränge des verlängerten Marks erstrecken
sich fast in gerader Richtung durch die Brücke
und die Hirnschenkel bis in die gestreiften Kör-
per und in den vordern Theil der Sehehügel,
woraus sie, durch eine groſse Menge neuer Fa-
sern verstärkt, sich als Stabkranz in beyden
Hemisphären strahlenförmig ausbreiten. Nach
tiefern Verletzungen der gestreiften Körper hört,
den oben erwähnten Erfahrungen zufolge, die
Herrschaft des Willens über die denselben un-
terworfenen Theile auf y). Man kann das groſse
Gehirn bey lebenden Thieren von den Seiten aus
bis zu einer beträchtlichen Tiefe verletzen, bey
Hunden mehr als funfzehn Gran von der Sub-
stanz der Windungen wegnehmen, ohne daſs
weiter etwas als eine geringe Lähmung entsteht,
die
I 3
[134] die sich zuweilen binnen einigen Tagen wieder
verliert. Erstreckt sich aber die Verletzung bis
zu den Organen der Seitenhöhlen, so erfolgt
völlige Lähmung, und bald nachher der Tod z).
Die gestreiften Körper und die vordern Theile
der Sehehügel sind also die Organe, von wel-
chen der erste Impuls zu willkührlichen Bewe-
gungen ausgehen kann. Daſs derselbe immer
von ihnen ausgeht, folgt aber nicht. Physische
Einwirkungen können auch von jeder andern
Stelle aus, welche in der Ausbreitung der
Stränge des verlängerten Marks liegt, oder mit
diesen in naher Verbindung steht, unwillkühr-
liche Muskelbewegungen und Lähmungen ver-
ursachen. Ueberhaupt scheint bey höherer Reitz-
barkeit jede heftige, örtliche Reitzung, welchen
Theil des Gehirns sie auch trifft, zu den Bewe-
gungsorganen fortgepflanzt zu werden, woraus
sich der so sehr verschiedene Erfolg erklären
läſst, den Reitzungen und Verletzungen der ver-
schiedenen Hirnorgane bey lebenden Thieren
haben.
Aus der Radiation des verlängerten Marks,
die sich aufwärts bis in die gestreiften Körper
und die Sehehügel, und nach unten durch das
Rückenmark erstreckt, entspringen nicht nur alle
Nerven der willkührlichen Bewegung, sondern
auch
[135] auch die Sinnesnerven erhalten aus ihr Wurzeln.
Die Nerven des Getastes kommen vom Rücken-
mark, die des Geschmacks vom verlängerten
Mark. Mit dem letztern steht auch der Gehör-
nerve in Verbindung. Der Gesichtsnerve wird
gröſstentheils von Fasern der Sehehügel gebil-
det, und zum Geruchsnerven gehen Fasern der
gestreiften Körper. So sind die Theile des Ge-
hirns, die in der Ausbreitung der Schenkel des
verlängerten Marks liegen, Organe der willkühr-
lichen Bewegungen und der Sinnesvorstellungen,
und der Uebergang dieser Vorstellungen in jene
Bewegungen, besonders durch die gestreiften
Körper, ist aus anatomischen Gründen so be-
greiflich, daſs er Keinem bey genauerer Unter-
suchung des Gehirns entgehen kann, und auch
schon dem, ungeachtet vieler Hypothesen, wel-
che die Farbe seines Zeitalters tragen, doch um
die Lehre vom Baue und Leben des Gehirns
höchst verdienten Willis nicht entging a).
Auf den niedrigern Stufen des Thierreichs
entsteht jeder Sinnesnerve mehr unmittelbar aus
der Ausbreitung der Faserbündel des verlänger-
ten Marks, und diese ist weniger unterbrochen,
als
I 4
[136] als auf den höhern Stufen. Schon bey den Vö-
geln ist nicht mehr die Brücke vorhanden, wel-
che den Fortgang jener Bündel bey den Säug-
thieren unterbricht. Bey den Amphibien und
Fischen besteht das Gehirn aus Theilen, die
bloſsen Seitenanschwellungen der Schenkel des
verlängerten Marks ähnlich, und weit weniger
eng als bey den Säugthieren unter sich verbun-
den sind. Daher wird das Thier weit mehr von
einzelnen sinnlichen Eindrücken beherrscht, als
der Mensch, und jeder dieser Eindrücke hat um
so schneller willkührliche Bewegungen zur Folge,
die ihm, aber auch blos ihm entsprechen, je
einfacher die Organisation des Gehirns ist.
Die höhere Organisation des Gehirns giebt
sich vorzüglich durch gröſseres Uebergewicht der
Masse des übrigen Gehirns über die des verlän-
gerten Marks, durch zahlreichere und mannichfalti-
gere Hirnorgane und durch vervielfältigte Vereini-
gung aller dieser Organe zu einem einzigen Gan-
zen zu erkennen. In dem Uebergewicht der Masse
des übrigen Gehirns über die des verlängerten
Marks steht der Mensch höher als alle andere
Thiere. Dieses gröſsere Verhältniſs findet aber
bey ihm nicht in allen Theilen seines Gehirns,
sondern vorzüglich nur in den Windungen des
groſsen und den Hemisphären des kleinen Ge-
hirns statt. Es giebt nichts als die in Verglei-
chung
[137] chung mit allen übrigen Hirntheilen so sehr
überwiegende Masse jener Windungen und dieser
Hemisphären, was einigermaſsen den höhern
Geisteskräften des Menschen entsprechen könnte.
Von Manchen sind darum dieselben für die Or-
gane der letztern angesehen worden, und diese
Meinung scheint auch von einigen andern Grün-
den unterstützt zu werden. Beym angebornen
Blödsinn fand man oft eine kleinere Masse der
Windungen des groſsen Gehirns, als im gesun-
den Zustande b). Ich traf bey einem zweyjähri-
gen Kinde, das von der Geburt an aller Thä-
tigkeit der höhern Sinne beraubt gewesen war,
wenig Ueberbleibsel davon an, während die übri-
gen Theile des Gehirns vorhanden waren c).
Die
I 5
[138] Die Hirnwindungen sind auch nicht nur gröſser
an Masse, sondern zugleich zahlreicher beym
Men-
c)
[139] Menschen, als bey allen übrigen Thieren. Ma-
lacarned) will ferner bey geistreichen Menschen
eine gröſsere Zahl Blätter am kleinen Gehirn, als
bey Geistesarmen gefunden haben. Ich fand bey
einer Simia Aygula L. auf der Grundfläche jeder
Halbkugel des kleinen Gehirns nur zwölf gröſsere
Queereinschnitte. Bey dem Menschen giebt es
deren ungefähr dreyſsig. Diese Zahl nimmt mit
der abnehmenden Ausbildung des Gehirns im-
mer mehr ab. Bey den Amphibien und Fischen
hat das kleine Gehirn gar keine Einschnitte
mehr.
Jene Meinung läſst sich indeſs, wenn sie
ohne nähere Bestimmung und ohne Einschrän-
kung vorgetragen wird, mit noch mehr und
wichti-
c)
[140] wichtigern Gründen bestreiten, als beweisen. Der
Abstand zwischen dem Menschen und den Affen
ist in Rücksicht auf die höhern Geisteskräfte
wahrlich weit gröſser, als etwas gröſsere und
zahlreichere Windungen und Blätter des groſsen
und kleinen Gehirns ausfüllen können; hingegen
steht der Affe gewiſs nicht so hoch in Betreff
der Geisteskräfte überhaupt über den untersten
der Säugthiere, als bey jener Meinung der Fall
seyn müſste. Der Affe hat schwerlich im All-
gemeinen mehr Intelligenz als der Fuchs; der
Delphin hat noch weniger, und doch besitzt so-
wohl der Affe als der Delphin mehr Masse der
Hirnwindungen und der Seitentheile des kleinen
Gehirns in Verhältniſs zum verlängerten Mark,
und weit zahlreichere Hirnwindungen, als der
Fuchs. Die Thatsachen, die sich für die obige
Meinung anführen lassen, sind aber auch noch
anderer Deutungen fähig. Es wäre z. B. mög-
lich, daſs der Mensch darum so viel gröſsere
und zahlreichere Hirnwindungen hätte, weil er
bey seiner höchst zusammengesetzten Organisa-
tion doch ein verhältniſsmäſsig starkes, und da-
bey immer reges Zeugungsvermögen besitzt.
Doch dieſs ist eine bloſse Möglichkeit und
soll auch nur für eine solche gelten. Ist sie
wirklich gegründet, so kann doch jenes physi-
sche Verhältniſs nicht das einzige der erwähnten
Theile
[141] Theile seyn, sondern es muſs zugleich geistige
Beziehungen derselben geben. Und so verhält
es sich auch. Die Windungen der mittlern und
hintern Lappen des groſsen Gehirns sind vor-
züglich für den Gesichtssinn gebildet; die der
vordern Lappen beziehen sich auf den Geruchs-
sinn, doch mehr bey denjenigen Thieren, die
Riechfortsätze besitzen, als beym Menschen und
den Affen; die Seitentheile des kleinen Gehirns
sind besonders des Gehörssinns wegen vorhan-
den. Allein es ist nicht so sehr Schärfe dieser
Sinne, als das Vermögen, alle Modifikationen und
alle Abstufungen dieser Modifikationen der Sin-
nesgegenstände wahrzunehmen, die empfangenen
Eindrücke aufzubewahren, sie mit einander zu
verknüpfen und zu reproduciren, wofür gewisse
Hirnorgane der höhern Thiere mehr Masse und
Ausbildung haben. Wir müssen überhaupt, um
über die Funktionen der Hirnorgane mit Erfolg
Untersuchungen anstellen zu können, eine nie-
dere und höhere Sphäre des sensitiven Lebens
unterscheiden. Die Organe der niedern Sphäre
beziehen sich blos auf das Auffassen der Sinnes-
eindrücke, die der höhern aber auf die Modali-
tät, Aufbewahrung und Verknüpfung derselben.
Diese höhere Sphäre steht nicht mit der abso-
luten Gröſse der Nerven in nothwendiger Ver-
bindung; sonst würden manche Fische, deren
Sehenerven sowohl absolut, als in Vergleichung
mit
[142] mit dem übrigen Gehirn und dem Auge, eben
so groſs, oder selbst weit gröſser als die Sehe-
nerven mancher Säugthiere sind, die mit ihnen
einerley Masse des ganzen Körpers haben, weit
reicher an Gesichtsvorstellungen als die letztern
seyn müssen. Eine gewisse Gröſse des Gesichts-
nerven muſs jedoch allerdings auch zum Reich-
thum an diesen Vorstellungen nothwendig seyn,
da im ganzen Thierreiche mit der abnehmenden
oder aufhörenden Verrichtung eines Sinnesorgans
der Nerve desselben kleiner wird und selbst ganz
verschwindet, wie unter andern die Augenner-
ven des Maulwurfs, der Amphisbänen und des
Proteus, so wie die Geruchsnerven des Delphins
zeigen.
Bey denjenigen Thieren nun, wo das Ge-
sicht ein sehr untergeordneter Sinn ist, finden
wir immer eine weit geringere Masse von Win-
dungen des groſsen Gehirns, mit Ausnahme de-
rer, die den Riechfortsätzen angehören, als bey
den verwandten Arten, die mehr in der Welt
des Gesichts leben. So hat der Maulwurf bey
seinen, dem bloſsen Auge kaum bemerkbaren
Sehenerven, statt aller obern Hirnwindungen nur
noch eine dünne, ganz ungefaltene, gröſsten-
theils aus Rinde bestehende Decke der Seiten-
höhlen. Auch bey der Ratze, der Maus, dem
Hamster, dem Igel und den Fledermäusen, Thie-
ren,
[143] ren, die insgesammt sehr dünne Sehenerven be-
sitzen und wenig durch den Gesichtssinn gelei-
tet werden, ist diese Decke noch sehr wenig
gewölbt und auf der obern Seite ohne alle
Windungen, obgleich sie schon mehr Masse und
Wölbung als beym Maulwurfe hat. Hingegen
beym Eichhörnchen, dem Hasen und allen übri-
gen Nagethieren, die gröſsere Sehenerven be-
sitzen und mehr von den Augen Gebrauch
machen, ist sie weit entwickelter, und beym Ha-
sen schon gefalten. Die ganze äuſsere Masse
des groſsen Gehirns ist gröſser und von zusam-
mengesetzterm Bau als im ganzen übrigen Thier-
reiche bey dem Menschen, den Affen und dem
Delphin, also bey denen Geschlechtern der Säug-
thiere, die mehr in und durch Vorstellungen
des Gesichts als des Geruchssinns leben.
Wo sich Riechfortsätze bilden, nimmt die
übrige äuſsere Hirnmasse ab. Doch auch diese
Organe stehen keinesweges ihrem ganzen Um-
fange nach mit der Schärfe des Geruchs in Ver-
hältniſs, sondern es ist vorzüglich die Breite
des auf ihrer untern Fläche an derselben Stelle,
wo der Geruchsnerve des Menschen liegt, be-
findlichen Markstreifen, von dessen Ausdehnung
diese Schärfe abhängt. Was also die Riechkör-
per noch sonst an Hirnmasse enthalten, dient zu
andern
[144] andern Zwecken, als zur unmittelbaren Auffas-
sung der Geruchseindrücke.
Für die Beziehung der Hemisphären des
kleinen Gehirns auf den Gehörssinn ist ein wich-
tiger Beweis der Umstand, daſs sie nur in der
Classe der Säugthiere ausgebildet vorhanden sind,
also bey denen Thieren, deren inneres Ohr eine
Schnecke hat, und daſs von ihnen wie von die-
ser bey den Vögeln nur noch Rudimente vor-
handen sind. Die Masse derselben ist ferner,
wie die der Windungen des groſsen Gehirns,
bey dem Menschen, dessen höhere sensitive
Sphäre sich eben so sehr auf das Hörbare wie
auf das Sichtbare der äuſsern Natur erstreckt,
gröſser in Verhältniſs zur Masse des verlänger-
ten Marks, als bey irgend einem andern Thier.
Sie ist in dieser Hinsicht weit gröſser als die
des groſsen Gehirns, nach Abzug der Riechfort-
sätze, bey dem durch einen groſsen Hörapparat
für die Beschränktheit seines Gesichtssinns ent-
schädigten Maulwurf. Vielleicht wird es noch
einst gelingen, eine nähere Beziehung zwischen
der Bildung der Hemisphären des kleinen Ge-
hirns und der Organisation des Ohrs nachzu-
weisen. Uebrigens ist auch eine organische Ver-
bindung der Hörnerven mit dem kleinen Gehirn
nicht zu bezweifeln. So oft ich bey Säugthieren,
wo die von den Gebrüdern Wenzel unter dem
Namen
[145] Namen der grauen Leisten beschriebenen Anfänge
dieser Nerven sehr hervorragen, zu welchen vor-
züglich mehrere Nagethiere, unter andern das
Meerschwein, gehören, den Ursprung dieser
Leisten verfolgte, sahe ich sie neben dem Ueber-
gang der strickförmigen Körper in das kleine
Gehirn, auf der innern Seite derselben, aus dem
letztern hervorgehen.
Diese Beziehung des Gehörssinns findet aber,
welches nicht zu übersehen ist, nur auf die
Hemisphären des kleinen Gehirns statt. Der
mittlere Theil des letztern (der Wurm) steht mit
keiner Eigenschaft jenes Sinns in Verhältniſs,
hingegen richtet sich die Gröſse desselben nach
der Gröſse der strickförmigen Körper des ver-
längerten Marks, in deren Nähe keine Sinnes-
nerven, wohl aber alle, zum herumschweifenden
System gehörige Nerven entspringen. Aus dieser
Nähe und einigen minder wichtigen Gründen
schloſs Willise) auf eine Abhängigkeit der
Funktionen, welche durch dieses System unter-
halten werden, vom kleinen Gehirn überhaupt.
Seine Meinung läſst sich in dieser Ausdehnung
nicht vertheidigen, besonders nicht gegen den
Einwurf, daſs nicht alle Verletzungen des kleinen
Gehirns von so gefährlichen Folgen sind, wie sie
bey
VI. Bd. K
[146] bey derselben seyn müſsten. Wohl aber sprechen
auſser jener Nähe noch andere Thatsachen für
einen Einfluſs des Wurms auf alle anapnoische
und unmittelbar von den anapnoischen abhängige
Bewegungen. Das Athemholen hat nur einen
festen Rhythmus bey den Säugthieren und Vögeln,
also in den beyden Thierclassen, wo der Wurm
noch ein bedeutendes Verhältniſs zum verlänger-
ten Mark hat und ein baumförmig verzweigtes
Mark enthält, und auch nur diese vermögen
artikulirte oder melodische Töne hervorzubringen.
Alle Amphibien und Fische stehen in der relati-
ven Gröſse und der Ausbildung dieses Organs
tief unter den Säugthieren und Vögeln. Manche
Arten, deren Respiration sehr beschränkt ist,
z. B. die Frösche und Salamander, besitzen nur
noch ein geringes Rudiment desselben.
Nach einem andern Gesetz als die bisher
erwähnten Organe verändern sich auf den ver-
schiedenen Stufen des Thierreichs die Vierhügel.
Sie finden sich am ausgebildetsten bey den
Säugthieren. Sie wachsen oder bleiben unver-
ändert in dieser Thierclasse bey der Verminderung
der ganzen Masse des groſsen und kleinen
Gehirns in Vergleichung mit dem verlängerten
Mark, und verändern sich in ihrer Gestalt und
ihrem wechselseitigen Verhältniſs in den ver-
schiedenen Familien jener Thiere. Bey den Vö-
geln
[147] geln verwandeln sie sich in eine bloſse Queer-
binde, und bey den Amphibien verschwinden sie
ganz. Sie erscheinen von neuem bey manchen
Fischen, doch nur bey wenigen in ähnlicher
Gestalt, wie bey den Säugthieren. Sie gehen
seitwärts in die Sehehügel, hinten in das kleine
Gehirn über. Von der auswendigen Seite des
obern Paars kommen Markfasern, die sich mit
denen verbinden, welche von der Oberfläche der
Sehehügel entstehen, um die Wurzeln der Sehe-
nerven zu bilden. Von der nämlichen Seite des
hintern Paars erstreckt sich zu eben diesen Wur-
zeln ein Markbündel, der sich an dem hintern
Rand derselben bis zum Chiasma verfolgen läſst.
Einen andern Fortsatz sah ich bey mehrern
Thieren von der Oberfläche des hintern Paars
nach dem vordern Rand der Brücke gehen und
sich in der Nähe des Ursprungs der Nerven des
dritten Paars verlieren. Mit dem vordern Paar
steht die Markleiste in Verbindung, welche an
dem innern Rand der Oberfläche des Sehehügels
liegt, und die sich bey dem Menschen und den
Affen bis in die Nähe des Ursprungs der innern
Wurzel des Geruchsnerven, bey den Säugthieren,
die Riechfortsätze besitzen, bis in diese Körper
verfolgen läſst. Aus der mit dem hintern Paar
ein Ganzes ausmachenden Markklappe entstehen
die pathetischen Nerven. Zum Innern beyder
Paare gehen die zu beyden Seiten der Pyrami-
K 2den
[148] den liegenden Bündel, auf welchen die Zungen-
fleischnerven ihre Wurzeln haben, und woraus
zum Theil auch die Nerven des fünften und
sechsten Paars ihren Ursprung nehmen.
Bey diesem, meist unmittelbaren Zusammen-
hang der Vierhügel mit allen am Gehirn ent-
springenden Nerven der Sinneswerkzeuge ist
nicht zu zweifeln, daſs in ihnen gewisse, ent-
weder zur Bildung dieser Nerven beytragende,
oder die Verrichtungen derselben auf irgend eine
Art modifizirende Faserstränge ihren gemeinschaft-
lichen Mittelpunkt haben. Die von ihnen zu den
Augen- und Nasennerven gehenden Stränge ent-
springen aber nur aus ihrer Oberfläche, und
weder von diesen, noch von ihren Fortsätzen
zum kleinen Gehirn kann die Gröſse ihres Ver-
hältnisses zum verlängerten Mark bey den nie-
dern Säugthieren herrühren. Diese läſst sich nur
von ihrer Verbindung mit den Wurzeln der
Zungennerven ableiten. Die Ab- und Zunahme
ihres Volumens überhaupt richtet sich in der
That auch bey den Säugthieren nach der Stärke
der Zungenfleischnerven und der zur Zunge
gehenden Zweige des fünften Nervenpaars, und
aus unsern obigen Untersuchungen über die Ver-
änderung des Verhältnisses der Länge des vordern
Paars dieser Hügel gegen die des hintern in den
verschiedenen Säugthierfamilien ergiebt sich, daſs
die-
[149] dieselbe mit der Nahrungsweise der Thiere, also
mit Eigenthümlichkeiten, die verschiedene Modi-
fikationen des Geschmackssinns voraussetzen, in
naher Beziehung steht. Die Vögel haben eine
weit weniger bewegliche Zunge und einen weit
stumpfern Geschmack, als die Säugthiere. Bey
ihnen besteht deswegen das Vierhügelgebilde fast
nur noch in einer Markbinde. In der Classe
der Amphibien, wo in einigen Familien die
Zunge gar keine Beweglichkeit mehr hat, in
andern bey mehr Bewegungsvermögen schwerlich
noch als Geschmacksorgan dienen kann, und alle
übrige Sinnesorgane auf einer sehr viel niedri-
gern Stufe der Ausbildung als in den beyden
höhern Thierclassen stehen, sind gar keine Vier-
hügel mehr vorhanden. Daſs diese Theile sich
wieder bey den Fischen, doch nur mit einem
sehr geringen Volumen, zeigen, scheint auf
Modifikationen anderer Sinne als des Geschmacks
zu beruhen.
Wie die Vierhügel, so haben auch die Am-
monshörner bey den Säugthieren ein desto gröſse-
res Verhältniſs zum groſsen und kleinen Gehirn,
je kleiner diese beyden Eingeweide zusammen-
genommen gegen die Masse des verlängerten
Marks werden. Sie richten sich aber auch in
ihrem Wachsen und Abnehmen nach der Ab-
und Zunahme der Geruchsnerven oder der Riech-
K 3fort-
[150] fortsätze. Ihr unteres Ende flieſst in der Gegend
der Sylvischen Grube mit der Marksubstanz zu-
sammen, aus welcher diese Nerven oder Fort-
sätze zum Theil entspringen; ihr innerer Rand
geht in den Balken über, und über ihre aus-
wendige Fläche breitet sich eine fasrige Scheide
von den zwischen den gestreiften Körpern und
den Sehehügeln liegenden Fortsätzen des Gewöl-
bes aus.
Beobachtungen an Miſsbildungen sprechen
ebenfalls für diese unsere Meinung von der Be-
ziehung der Ammonshörner auf die Riechnerven
oder Riechfortsätze.
Tiedemann sah, wie er mir schreibt, in
zwey mit Wolfsrachen gebohrnen Kindern die
Riechnerven gänzlich fehlen. Die beyden He-
misphären des groſsen Gehirns waren nach vorn
durch Windungen verbunden, die von einer
Hemisphäre quer zur andern liefen. Die Am-
monshörner und der Fornix waren nicht ausge-
füllt. In einem andern Kinde, das ohne Nase
zur Welt kam und bey welchem die Augen nicht
entwickelt waren, fand er ebenfalls keine Riech-
nerven. Die Sehenerven waren sehr dünn; das
groſse Gehirn hatte keine Furchen und Windun-
gen; die Ammonshörner und der Bogen waren
auch hier nicht ausgebildet.
Rudol-
[151]
Rudolphi hat das Gehirn von einem Kinde
beschrieben f), woran der Riechnerve, der Sehe-
nerve, der Nerve des dritten, vierten und sechs-
ten Paars der rechten Seite ganz fehlte, die
Nerven der linken Seite und die übrigen der
rechten Seite vorhanden und, mit Ausnahme des
linken Riechnerven, der ohne Wurzeln gleich als
ein starker Nerve aus dem Theil des Gehirns,
welcher den gestreiften Körper umfaſst, her-
vortrat, regelmäſsig gebildet waren. Mit dieser
Abwesenheit des Geruchsnerven und der Augen-
nerven der rechten Seite standen folgende Miſs-
bildungen des Gehirns in Verbindung. An der
rechten Hemisphäre des groſsen Gehirns waren
die Windungen viel tiefer wie gewöhnlich einge-
schnitten, so daſs zwischen den Windungen
mehrere groſse Höhlen vorkamen; an der linken
Halbkugel war blos die Sylvische Grube fehler-
haft gebildet und zu klein. Der Balken erstreckte
sich auf der rechten Seite lange nicht so weit
nach hinten als auf der linken. Die rechte Sei-
tenhöhle zeigte sich kleiner als die linke; ihr
vorderes Horn war kürzer; das hintere und das
absteigende fehlten fast ganz. Statt des rechten
Sehehügels fand sich eine starke birnförmige
Masse,
K 4
[152] Masse, die sich in den Anfang des rechten hin-
tern Hirnlappens dieser Seite verlief. Das rechte
Ammonshorn war sehr schwach und versteckt.
Von der sich in diesen Theil ausbreitenden
Tänia und dem rechten vordern Schenkel des
Gewölbes war fast nichts vorhanden. Die graue
Hervorragung des Trichters war auf der linken
Seite gröſser als auf der rechten. Das rechte
Markkügelchen (Eminentia candicans) fehlte. Die
Hirnschenkel, die Vierhügel, die Klappe, das
Marksegel und die Pyramiden hatten den regel-
mäſsigen Bau. Das kleine Gehirn war sehr
klein, allein in den Hälften gleich, die Varolische
Brücke ebenfalls klein und etwas zusammenge-
drückt, aber auch auf beyden Seiten ziemlich
gleich, hingegen der linke Olivarkörper kleiner
als der rechte.
Dieser letztere Fall beweist zwar für sich
nichts in Betreff der Beziehung des Hippocampus
auf den Geruchsnerven; aber in Verbindung mit
den übrigen Gründen ist er ebenfalls beweisend.
Er enthält zugleich mehrere Umstände, wodurch
die übrigen unserer obigen Sätze bestätigt und
erläutert werden. Auf der nämlichen Seite, wo
die Nerven des ersten Paars und die der Augen
fehlten, waren die Windungen des groſsen Ge-
hirns, der Sehehügel und der Hippocampus in
ihrer Entwickelung zurückgeblieben. Aber Ueber-
bleibsel
[153] bleibsel von diesen Theilen waren doch noch
zugegen. Beyde Hirnhälften müssen daher in
einer wechselseitigen Abhängigkeit stehen. Daſs
das kleine Gehirn nicht die gewöhnliche Gröſse
hatte, jedoch in beyden Hälften gleichmäſsig ent-
wickelt war, ist ein Beweis für eine Wechsel-
wirkung desselben mit dem groſsen Gehirn,
wobey aber keine nähere Gemeinschaft der einen
Hälfte desselben mit der gleichseitigen Hälfte des
letztern statt findet. Wenn übrigens Rudolphi
an den Vierhügeln keine Abweichung vom ge-
sunden Bau bemerkt zu haben versichert, so
spricht auch dies für unsere Meinung, daſs die-
selben sich vorzüglich auf das Geschmacksorgan
beziehen, dessen Nerven in dem obigen Fall
den regelmäſsigen Bau hatten. Da indeſs von
ihnen wenigstens zu den Sehenerven deutliche
Markstreifen gehen, welche dort auf der linken
Seite gefehlt haben müssen, so ist es doch un-
wahrscheinlich, daſs nicht auch an ihnen die
linke Hälfte etwas kleiner als die rechte gewesen
seyn sollte.
Merkwürdig ist, daſs der linke Olivarkörper
an der Miſsbildung der rechten Hälfte des groſsen
Gehirns Theil nahm. Wären diese Körper, gleich
den übrigen Theilen des verlängerten Marks, auf
beyden Seiten gleich groſs gewesen, so würde
sich eine Verbindung derselben mit den Tast-
organen
[154] organen vermuthen lassen, denjenigen Sinnes-
werkzeugen, bey denen sich eine Wechselwirkung
mit dem verlängerten Mark annehmen läſst, und
in deren Ausbildung der Mensch eben so sehr
von den übrigen Thieren, als in der Bildung
jener Körper, verschieden ist. Bey dieser Bezie-
hung würden aber wahrscheinlich die Bildungs-
fehler der einen Hälfte des groſsen Gehirns kei-
nen Einfluſs auf die eine der beyden Oliven ge-
habt haben. Daſs der kleinere dieser Körper
sich auf der entgegengesetzten Seite der übrigen
Miſsbildungen befand, deutet auf eine noch
unbekannte organische Verbindung jeder Olive mit
der entgegengesetzten Hemisphäre des groſsen
Gehirns hin.
In Rudolphi’s Fall hatte der Mangel an
Entwickelung der Geruchs- und Augennerven der
rechten Hirnhälfte und der mit jenen Nerven
in Gemeinschaft stehenden Hirnorgane dieser He-
misphäre auch auf die Ausbildung der gleichsei-
tigen Hälfte sowohl des Balkens als des Ge-
wölbes Einfluſs gehabt, und in den von Tie-
demann gemachten Beobachtungen war mit dem
Mangel an beyden Geruchsnerven ein unent-
wickelter Zustand des ganzen Gewölbes verbun-
den. Hiernach müssen auch diese Theile, vor-
züglich derjenigen Hirnfunktionen wegen, die
von dem Geruchs- und Gesichtssinn erzeugte
Vorstel-
[155] Vorstellungen betreffen, vorhanden seyn. Ihrem
Bau nach sind sie Verbindungsorgane, und zwar
vereinigt der Balken meist gleichartige, das Ge-
wölbe ungleichartige Theile. Durch jenen ist ein
Zusammenhang der Hirnwindungen und der ge-
streiften Körper beyder Hemisphären vermittelt.
Von dem grauen, zwischen den Vordertheilen der
gestreiften Hügel liegenden Körper des Gewölbes
gehen Markfortsätze nach vorne zu dem Ursprung
der Geruchsnerven, oder bey den vierfüſsigen
Säugthieren in die Riechfortsätze, nach unten zu
den weiſslichen Erhabenheiten; seitwärts erstrek-
ken sich aus ihnen die Tänien theils zum An-
fange der Sehenerven, theils zu den Ammons-
hörnern; hinten sind sie durch die Leyer, und
oben vermöge der durchsichtigen Scheidewand
mit dem Balken verbunden. Zur Vereinigung
gleichartiger Theile beyder Hirnhälften dienen
mit dem Balken auch die Brücke, die vordere
und hintere Commissur, und, wie durch die
Fortsätze des Gewölbes, so sind auch durch
Markfortsätze, die sich von einer über der
grauen Hervorragung des Trichters liegenden An-
sammlung von Mark nach mehrern Richtungen
erstrecken, ungleichartige Theile des Gehirns mit
einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt verbunden.
Diese Verbindungstheile sind aber nur im
Allgemeinen als vereinigende Organe einander
ähnlich.
[156] ähnlich. In ihrer Bildung und gewiſs auch in
ihren Funktionen finden groſse Verschiedenheiten
unter ihnen statt. Der Balken enthält in seinem
mittlern Theil längslaufende Fasern, welche das
hintere Ende der Hemisphären des groſsen Ge-
hirns mit dem vordern verbinden. Diese machen
aber nur einen geringen Theil seiner Masse aus.
Er besteht gröſstentheils aus parallelen, gedrängt
an einander liegenden, von seiner Mittellinie in
die Hirnwindungen und in den äuſsern Rand
der gestreiften Körper übergehenden Markplatten.
Die übrigen Commissuren haben nicht eine sol-
che blättrige Textur und eine weit geringere
Masse. Der Balken scheint daher mehr als
bloſses Verbindungsorgan zu seyn. Reil fand
bey der Untersuchung des Gehirns einer Frau
von dreyſsig und einigen Jahren, die sonst ge-
sund, aber stumpfsinnig war, doch von dem
Dorfe, wo sie wohnte, für Andere in die Stadt
gehen und gewöhnliche Aufträge ausrichten
konnte, und plötzlich am Schlagfluſs gestorben
war, daſs der mittlere und freye Theil des Bal-
kens in seinem ganzen Verlauf fehlte, die Sehe-
hügel blos lagen, und die beyden Hirnhälften nur
durch die vordere und hintere Commissur, die
Haube der Hirnschenkel vor der Brücke und die
Vierhügel zusammengehalten wurden. Das Ge-
wölbe entsprang und verlief auf die gewöhnliche
Art; nur floſs es zu beyden Seiten über der
vordern
[157] vordern Commissur mit der Decke der Hirnhöhle
zusammen, die unmittelbar unter den Längen-
windungen fortgeht, und bildete mit ihr einen
glatten, abgerundeten Rand g). Wäre der Bal-
ken seiner ganzen Masse nach blos eine Com-
missur, so würde in diesem Falle wohl nicht
so sehr Armuth an Ideen, als Verwirrung des
Geistes statt gefunden haben.
Nach allen mir bekannten Beobachtungen
über die Folgen von Verletzungen des Balkens
zu schlieſsen, ist das Gedächtniſs von keinem
Hirnorgan so abhängig, als von diesem. Plater
fand bey einem Mann, der zwey Jahre lang an
Störung der Geistesthätigkeit litt, in den letz-
ten sechs Monaten seines Lebens völlig stumpf-
sinnig wurde, fast beständig schlief, aufgeweckt
und befragt Worte ohne Zusammenhang ant-
wortete, und selbst Nahrung nur gezwungen zu
sich nahm, eine runde Geschwulst von der
Gröſse eines mittelmäſsigen Apfels auf dem Bal-
ken h). Auf eben diesem Theil traf Panarolus
bey einem Priester, der plötzlich blödsinnig wur-
de
VI. Bd. L
[158] de und zuletzt am Schlagflusse starb, runde,
weiſse, mit einer schleimigen Flüssigkeit ange-
füllte Blasen an i). La Peyronnie führt aus-
drücklich den gänzlichen Verlust des Gedächtnis-
ses in zwey Fällen von Verletzung des Balkens
an. In dem einen Fall, wo bey einem Mann
von zwey und dreyſsig Jahren fast der ganze
obere Theil des Balkens in Eiterung übergegan-
gen und die Organisation des übrigen Theils
desselben höchst zerrüttet, sonst aber kein Feh-
ler, als starke Anhäufung des Bluts in den
Hirngefäſsen, zu entdecken war, trat dieser
Verlust nach einem halbjährigen Kränkeln sechs
Monate vor dem Tode ein. In dem andern
Fall verlor ein funfzigjähriger Mann das Ge-
dächtniſs schon zwey Jahre vor dem Tode. Bey
der Leichenöffnung fand sich in der rechten
Hirnhemisphäre unter der Vereinigung der Pfeil-
nath mit der Kronnath ein Geschwür, das sich
bis in den Balken erstreckte, dessen gröſster
Theil, besonders auf der rechten Seite, zugleich
bleich und schlaff war k). Bey allen diesen
Kranken wurden keine paralytische und andere
Zufälle bemerkt, die ein Leiden der gestreiften
Körper und der übrigen, unmittelbar mit dem
verlän-
[159] verlängerten Mark verbundenen Hirnorgane an-
zeigen. In andern Fällen von organischen Krank-
heiten des Balkens waren noch andere geistige
und körperliche Funktionen verletzt l). Aber
hier litten mit dem Balken mehrere andere Theile
des Gehirns. Nimmt man zu diesen Gründen
noch, daſs auch nicht etwa die Sinnesnerven
Organe des Gedächtnisses seyn können, indem
Atrophie und Lähmung derselben keinen noth-
wendigen Einfluſs auf diese Kraft hat, und
selbst ein Wechsel zwischen Lähmung der Or-
gane des Gedächtnisses und der Sinnesnerven
eintreten kann m). so wird man die Vermuthung
dessen nicht verwerflich finden, der in den
zahllosen Markplatten des Balkens die Blätter
eines Buchs sieht, bezeichnet mit den Hiero-
glyphen des Empfundenen, Gedachten und Ge-
wollten, der Leiden und Freuden des irdischen
Daseyns der Psyche.
Wie durch den Balken die Hemisphären des
groſsen Gehirns, so sind durch die Brücke die
Seiten-
L 2
[160] Seitentheile des kleinen Gehirns mit einander
vereinigt. Hierauf beschränkt sich aber auch alle
Aehnlichkeit dieser beyden Organe. Die Brücke
geht nicht, wie der Balken, blos mit ihren
Rändern in die Hirnsubstanz über, sondern wird
auch ihrer ganzen Ausdehnung nach von den
zu den Hirnschenkeln gehenden Strängen des
verlängerten Marks durchkreutzt, bey welchem
Durchgange dieselben zugleich einen Zuwachs an
Masse erhalten. Vermöge dieses Zusammenhangs
stehen jene Stränge unter dem Einfluſs nicht
nur des groſsen, sondern auch des kleinen Ge-
hirns, und zwar scheint das letztere vorzüglich
insofern, als es Organ der Vorstellungen von
hörbaren Eindrücken ist, auf den vordern Theil
des verlängerten Marks, der sich in alle Nerven
der willkürlichen Bewegung durch das Rücken-
mark fortsetzt, mit einzuwirken.
Die vordere und hintere Commissur können
nach ihrer einfachen, blos fasrigen Struktur und
der ganz isolirten Lage ihrer Mittelstücke nur
Verbindungsorgane seyn. Jene erstreckt sich bey
den Thieren, die Riechfortsätze besitzen, ganz
bis in die äuſsersten Enden dieser Theile; bey
dem Menschen verliert sie sich auf jeder Seite
zwischen dem vordern Theil der Radiation des
gestreiften Körpers in der Gegend des Ursprungs
der Riechnerven. Diese vereinigt die innern
Theile
[161] Theile der Sehehügel. Beyde haben ein weit
gröſseres Verhältniſs zum ganzen Gehirn bey
den niedern Wirbelthieren, als bey den höhern.
Sie sind daher bey jenen von gröſserer Wich-
tigkeit als bey den letztern, und wahrscheinlich
Surrogate für die bey den Vögeln, Amphibien
und Fischen ganz fehlenden, oder doch weniger
ausgebildeten, übrigen Verbindungsorgane beyder
Hirnhälften der Säugthiere.
Die innige Vereinigung aller ungleichartigen
Hirnorgane unter sich und mit der im Innern
der Hirnmasse über der grauen Hervorragung
des Trichters liegenden Ansammlung von Mark
vermittelst des Gewölbes und der sich nach
allen Seiten erstreckenden Fortsätze dieser Masse
giebt einen Grund zur Erklärung der Einheit
des Bewuſstseyns bey aller Mannichfaltigkeit der
Empfindungen und zur Beantwortung der Frage:
Wie ein Eindruck auf einen einzelnen Sinnes-
nerven Erinnerungen, Gefühle und willkürliche
Handlungen veranlassen kann, die sich auf Ge-
genstände von ganz verschiedener Beschaffenheit
beziehen? Die übrigen Säugthiere haben jene
Organe mit dem Menschen gemein. Bey den
niedrigern Wirbelthieren aber verschwinden die-
selben immer mehr, und in eben dem Maaſse
wird auch die Vereinigung der gleichartigen
Organe beyder Hirnhälften immer schwächer.
L 3Hier
[162] Hier findet deshalb nicht immer Einheit der
Empfindung bey der Thätigkeit gleichartiger Sin-
nesorgane statt, wie viele Vögel, Amphibien
und Fische beweisen, die nach der Lage und
Bewegung ihrer Augen häufig mit diesen ver-
schiedene Gegenstände zu gleicher Zeit sehen
müssen. Daher auch die um so geringere
Fähigkeit der Thiere, sich von dem Menschen
zu dessen Zwecken abrichten zu lassen, je ent-
fernter sie von ihm in der Organisation des
Gehirns stehen.
An der Stelle der Basis des Gehirns, über
welcher die erwähnte, sich nach allen Seiten
fortsetzende Ansammlung von Mark liegt, ist
der Hirnanhang befestigt, und ihr gegenüber,
auf der obern Seite des Gehirns, hängt die
Zirbel mit einer Stelle zusammen, an welche
das vordere Paar der Vierhügel gränzt, un-
ter der die Sehehügel durch die hintere Com-
missur mit einander verbunden sind, und die
der Ursprungsort der beyden, den innern Rand
der Sehehügel begränzenden, sich bis in den
Vordertheil des Gehirns erstreckenden Marklei-
sten, so wie der von der Oberfläche der Sehe-
hügel zum Ursprung der Sehenerven gehenden
Markfasern ist. Wir finden beyde Organe in
allen Classen der Wirbelthiere, aber mit man-
nichfaltigen Abänderungen ihrer Gestalt, in ver-
schie-
[163] schiedenem Verhältniſs ihrer Gröſse gegen die
übrigen Hirntheile, und ohne daſs sich ein
Gesetz angeben läſst, nach welchem diese Abän-
derungen erfolgen. Sie erleiden in Krankheiten
häufige und groſse Umwandlungen ihrer Form
und Textur. Man hat selbst in einigen Fällen
die Zirbel ganz vermiſst n). Allein diese Ab-
weichungen vom gesunden Bau sind nicht auf
gewisse Krankheiten beschränkt. Beyde Organe
waren im Wahnsinn, im Blödsinn und bey der
Fallsucht oft krankhaft verändert; doch oft lieſs
sich in eben diesen Krankheiten keine Unregel-
mäſsigkeit an ihnen entdecken, wohl aber in
andern, bey denen keine Störung der Hirn-
funktionen statt gefunden hatte. Was sich in
Betreff ihrer Verrichtungen mit einiger Wahr-
scheinlichkeit angeben läſst, beschränkt sich nur
darauf, daſs sie das zu einer gewissen Art
von Thätigkeit des Gehirns erforderliche Blut
vorbereiten und in Bereitschaft halten, und daſs
hiermit bey dem Menschen die Absonderung einer
steinigen Materie in Verbindung steht, die zwar
vorzüglich an der Zirbel statt findet und auf
derselben den Hirnsand bildet, welche aber auch
am Hirnanhang bemerkt ist o), und von deren
Stö-
L 4
[164] Störung vielleicht die bey vielen Geisteskran-
ken vorkommende Verdickung des Schädels, so
wie die zu den seltenern Erscheinungen ge-
hörende Erzeugung von erdartigen Concretionen
im Innern des Gehirns, abzuleiten ist p).
Eine Vorbereitung des Bluts zu gewissen,
in der Marksubstanz sich ereignenden, organi-
schen Processen scheint überhaupt in aller Rinde
des Gehirns, des Rückenmarks und der Nerven-
knoten statt zu finden. Es hält aber schwer
zu bestimmen, von welcher Beschaffenheit diese
Processe sind. Die Rinde fehlt an markigen
Theilen, durch welche blos Fortpflanzung empfan-
gener Eindrücke geschieht, und welche während
ihres Verlaufs nicht an Masse zunehmen. Sie
findet sich daher nicht an der vordern und
hintern Commissur, und nicht an den Bewegungs-
und Sinnesnerven, mit Ausnahme des Geruchs-
nerven. Auch dem Balken ist sie in geringer
Menge beygemischt. Hingegen scheint der sym-
pathische Nerve nicht nur in seinen Knoten,
sondern
[165] sondern auch in seinen Zweigen allenthalben
graue Substanz zu enthalten. Im Gehirn steht
ihre Quantität nicht immer mit der des Marks
in Verhältniſs. In den vordern Hemisphären des
Gehirns der Vögel giebt es sehr wenig Mark
bey sehr viel Rinde; hingegen in den hintern
Hemisphären derselben ist eben so viel, wo
nicht mehr, Mark als Rinde befindlich. Mechani-
sche Verletzungen und örtliche organische Fehler
der letztern haben keinen, weder extensiv, noch
intensiv so groſsen Einfluſs auf das übrige Ge-
hirn und auf den ganzen Körper, als ähnliche
Verletzungen und Fehler des Marks. In allen
den Fällen, wo Wunden und Vereiterungen so-
wohl innerer, als äuſserer Theile des Gehirns
ohne bedeutende Störung einer Funktion vor-
handen waren und selbst wieder geheilt wurden,
erstreckte sich die Verletzung wohl nur auf eine
gewisse Masse von grauer Substanz. Hingegen
glaube ich nicht, daſs eine allgemeine krankhafte
Veränderung der ganzen Rinde des Gehirns ohne
ein Mitleiden der Marksubstanz und ohne groſse
Störung der Geistesthätigkeit möglich ist. Bey
allen Wahnsinnigen und Blödsinnigen, deren Ge-
hirn ich zu untersuchen Gelegenheit gehabt
habe, fand ich immer, was auch Rosenthalq)
und
L 5
[166] und Marshalr) als ein Hauptresultat ihrer
Leichenöffnungen von Menschen, die an Ge-
müthskrankheiten verstorben waren, angeben, die
Rinde von bleicherer und das Mark von nicht
so weisser Farbe, wie im natürlichen Zu-
stande.
Ich glaube, die Rinde ist Bedingung jeder
Selbstthätigkeit des Gehirns und Nervensystems
überhaupt und der einzelnen Theile desselben.
Je reiner sie vom Mark abgesondert ist, und je
gröſser der Gegensatz zwischen beyden Substan-
zen ist, desto mehr ist diese Selbstthätigkeit
objektiver Art; je mehr hingegen beyde mit ein-
ander vermischt sind, desto mehr ist die letztere
subjektiv. Da alle instinktartige Handlungen ei-
nen mehr subjektiven als objektiven Grund haben,
und da der Instinkt ein allgemeineres Princip
der Selbstthätigkeit bey den Vögeln, Amphibien
und Fischen als bey den Säugthieren, und bey
diesen mehr herrschend als beym Menschen ist,
so läſst sich hieraus erklären, warum das Gehirn
bey den Wirbelthieren der drey niedern Classen
mehr Rinde in Verhältniſs zum Mark als bey
den Säugthieren, und bey den letztern mehr als
beym Menschen enthält. Auch ist aus dieser
Hypothese begreiflich, weswegen alle Nerven des
sym-
[167] sympathischen Systems, dessen Wirkungen in
einer blos subjectiven Selbstthätigkeit zu bestehen
scheinen, eine grauere Farbe als die übrigen
haben.
Zu einer nähern Bestimmung der Funktionen
des Marks und der Rinde würde eine tiefere
Kenntniſs der Wirkungen des Bluts bey der
Thätigkeit der Hirnorgane und des Nervensy-
stems nothwendig seyn, als wir bis jetzt besitzen.
Diese fehlt uns noch so sehr, daſs selbst der
Grund der ausgezeichneten Organisation mancher
Blutgefäſse des Gehirns uns noch dunkel ist.
Von einer solchen Bildung ist vorzüglich das
Adergeflechte. Ich finde dieses Gefäſsnetz bey
den Säugthieren, den Vögeln und den höhern
Geschlechtern der Amphibien, z. B. bey der
Midasschildkröte. Bey den Schlangen, Fröschen
und den Fischen sind nur noch schwache Spuren
davon übrig. Aher unter den Säugthieren sind
auch nicht alle Arten damit versehen. Bey dem
Maulwurf und mehrern Nagethieren liegt an der
Stelle desselben in den Seitenhöhlen des Gehirns
ein Strang von Gefäſsen, der keine netzartige
oder verschlungene Bildung hat. Dagegen be-
sitzen alle Vögel ein Adergeflecht von sehr aus-
gezeichneter Struktur. Bey den gröſsern Arten,
z. B. dem Schwan, sieht man deutlich mit
Hülfe des Vergröſserungsglases, daſs die Venen
dessel-
[168] desselben sich allenthalben während ihres Verlaufs
zu blinden Säcken erweitern, indem die sich
neben den Venen hinschlängelnden Arterien keine
ähnliche Erweiterungen zeigen. An dem Ader-
netz des Menschen und mehrerer Säugthiere
haben diese Ausdehnungen das Ansehn von Bläs-
chen, die krankhaft ausgeartet in Wasserblasen
oder in drüsenförmige Körper übergehen. Die
Bildung dieses Netzes ist im Wesentlichen über-
einstimmend mit der, welche die Blutgefäſse der
fachigen Körper (Corpora cavernosa) und ande-
rer, einer Turgescenz fähigen Theile besitzen,
und so scheinen in demselben ebenfalls zum
Behuf gewisser Thätigkeiten des Gehirns, die
eine partielle Anhäufung des Bluts erfordern,
Anschwellungen einzutreten.
Einige Aehnlichkeit mit dem Adergeflecht hat
das Wundernetz mehrerer Säugthiere. Wie jenes
mit der Zirbel, so steht dieses mit dem Hirn-
anhang in näherer Verbindung. Bey dem Wun-
dernetz ist indeſs ein mechanischer Zweck nicht
zu verkennen. Vieussenss) bemerkte schon,
daſs diejenigen Thiere dasselbe besitzen, die mit
herabhängendem Kopfe gehen, und daſs diesen
die Blutbehälter fehlen, die beym Menschen im
Keilbein unter dem Türkensattel liegen. Der
Zweck
[169] Zweck des Wundernetzes ist also Brechung des
Andrangs des Bluts bey der durch die Wirkung
der Schwere beschleunigten Bewegung desselben.
Es besteht dasselbe aber auch blos aus Arterien,
statt daſs die Haupttheile des Adergeflechts Venen
sind, und an den Gefäſsen des Wundernetzes
giebt es keine solche Erweiterungen, wie an
den Adern dieses Geflechts vorhanden sind. Die
Funktionen beyder Theile müssen also sehr ver-
schieden seyn.
[[I]][[II]]
Biologie,
oder
Philosophie
der
lebenden Natur
für
Naturforscher und Aerzte.
Sechsten Bandes zweyte Abtheilung.
Göttingen,
bey Johann Friedrich Röwer.
1822.
[[170]][[171]]
Geschichte
des
physischen Lebens.
Zehntes Buch.
[[172]][[173]]
Zehntes Buch.
Die äuſsern Sinne.
Erster Abschnitt.
Allgemeine Bemerkungen über die
äuſsern Sinne.
Vermöge der äuſsern Sinne besitzt jedes Indi-
viduum des Menschengeschlechts und der Thier-
welt ein Bewuſstseyn von andern Naturen als
der seinigen und von der Qualität dessen, was
auf die seinige einwirkt. Alle Sinnesempfin-
dungen sind objektiv. In dieser Objektivität
allein besteht indeſs noch nicht das Unterschei-
dende derselben. Das bloſse Lebensgefühl be-
ruht ebenfalls auf dem Bewuſstseyn eines Gegen-
satzes zwischen dem Innern und dem Aeuſsern,
ohne jedoch unmittelbar von Empfindungen der
M 2auſsern
[174] äuſsern Sinne abzuhängen. Ein anderer Cha-
rakter der Sinne ist auch das Vermögen, die
Beschaffenheit der äuſsern Dinge willkührlich
durch sie zu erforschen. Daher lassen sich
jene nicht blos nach den verschiedenen Quali-
täten der äuſsern Einwirkungen eintheilen. Für
gewisse Eindrücke der Aussenwelt sind eigene
Sinneswerkzeuge gebildet. Jedes dieser Organe
besitzt aber zugleich Empfänglichkeit für ver-
wandte Eindrücke. Man kann nicht für jeden
der letztern einen eigenen Sinn annehmen, ohne
die eigentliche Bedeutung dieses Worts ganz
zu verändern. Bey dem Menschen sind nur die
fünf Sinne vorhanden, die man von jeher als
solche anerkannt hat. Vielleicht besitzen manche
Thiere für einige Eindrücke besondere Organe.
Wir können aber hier, wie in vielen andern
Theilen der Biologie, nur von der menschlichen
Organisation ausgehen, und nach der Aehnlich-
keit oder Unähnlichkeit der Bildung und der
Handlungen mit dem Menschen die übrige
Thierwelt beurtheilen.
Der sowohl im Thierreiche, als auf der
Oberfläche jedes Thiers am weitesten verbreitete
Sinn ist der des Getastes. Dieser unterrich-
tet im Allgemeinen von der mechanischen Ein-
wirkung der Körper. Bey dem Menschen und
einigen Thieren verschafft er auch Vorstellungen
von
[175] von der Gestalt der äuſsern Gegenstände und
der Beschaffenheit ihrer Oberfläche. Man setzt
aber dem Gebiet desselben viel zu enge Gren-
zen, wenn man ihn nur da annimmt, wo er
blos diese Verrichtung ausübt. Mit mehr Recht
lassen sich die Grenzen des Getastes erweitern.
Jede mechanische Wirkung hat andere physi-
sche oder chemische Wirkungen zur Folge, die
wir ebenfalls und auch da, wo sie ohne vor-
hergegangene mechanische Eindrücke statt fin-
den, durch die Nerven des Getastes wahrneh-
men. Vorzüglich wirkt auf diese Nerven Wär-
me und Kälte. In gewissem Grade aber be-
sitzen sie auch Empfänglichkeit für den Einfluſs
des Lichts und des Schattens. Die Armpolypen,
die Actinien und Asterien haben das feinste
Gefühl für das Licht und gehen demselben
nach, obgleich nichts an ihnen aufs Entfernteste
Augen zu vergleichen ist a). Die Regenwürmer
fliehen dagegen das Licht, wofür sie doch eben-
falls kein eigenes Organ haben. Configlia-
chib) fand, daſs wenn sich diese Würmer zur
Hälfte
M 3
[176] Hälfte auſserhalb der Erde des Gefäſses, worin
er sie erhielt, befanden und er die Fensterladen
ohne alles Geräusch öffnete, sie sich sogleich
unter die Erde zurückzogen *). Digbyc) er-
zählt von einem Blinden, auf dessen Augen das
hellste Sonnenlicht keinen Eindruck machte,
daſs derselbe durch eine feine Empfindung am
ganzen Körper wahrnehmen konnte, ob das
Wetter helle oder trübe war. So ist auch bey
Taubstummen oft der ganze Körper, besonders
die Magengegend, gegen Geräusch sehr empfind-
lich d). Ich kenne ein Frauenzimmer, die in
den Jahren des Mannbarwerdens völlig taub ge-
worden und an beyden Füſsen gelähmt ist, und
welcher doch jedes stärkere Geräusch sehr un-
angenehme Empfindungen verursacht.
Auf
[177]
Auf ähnliche Art besitzen die übrigen Sin-
neswerkzeuge ebenfalls auſser der Empfänglich-
keit, die jedem von ihnen ausschlieſslich eigen
ist, zugleich Receptivität für Nebeneindrücke,
und bey allen läſst sich eine Abstammung von
dem Tastsinne bemerken. Die Zunge und die
Nase verschaffen uns Empfindungen von der
chemischen Einwirkung der im Wasser und in
der Luft aufgelösten Körper. Aber die Zunge
ist zugleich Tastorgan. Der blind- und taub-
geborne J. Mitchell, dessen Geschichte von
Wardrop beschrieben ist e), untersuchte alles,
was ihm vorkam, durch das Getast und den
Geruch. Groſse Gegenstände überstrich er mit
den Fingern, kleine und solche, die seine Neu-
gierde mehr rege machten, brachte er an die
Zähne, oder berührte sie mit der Zungenspitze.
Auf das Innere der Nase wirkt auſser den
riechbaren Materien auch der mechanische Ein-
druck der eingezogenen Luft. Das Ohr ist
ebenfalls für eine Art von mechanischer Ein-
wirkung empfanglich, insofern es im Allgemei-
nen von den Schwingungen der Luft gerührt
wird und blos die quantitative Verschiedenheit
des Schalls wahrnimmt. Nur die Empfindung
der Qualität des letztern ist Folge einer specifi-
schen
M 4
[178] schen Erregbarkeit dieses Organs. Die Ge-
sichtsempfindungen lassen sich gleichfalls als
Folgen einer mechanischen Einwirkung gewisser
Schwingungen auf die verschiedenen Punkte der
Netzhaut denken, in so weit sie blos den Grad
des Lichts, die Gröſse und den Umriſs der
sichtbaren Dinge betreffen. Eigenthümlich dem
Auge ist nur die Empfänglichkeit desselben für
den Unterschied der Farben.
Man hat von dem Getast das Vermögen,
wodurch die Seele den Zustand ihres Körpers
wahrnimmt, unter dem Namen des Gemein-
gefühls unterschieden f), aber ohne hinrei-
chenden Grund. Was Reil unter diesem Na-
men begriff, gehört entweder dem allgemeinen
Lebensgefühl an, oder ist Folge des mechani-
schen Einwirkens der Organe auf das Nerven-
system, (wie z. B. das Gefühl von Leichtigkeit
und Schwere der Glieder; die mit den Muskel-
bewegungen verbundenen Empfindungen u. d. gl.).
Mit mehr Recht läſst sich ein allgemeiner
Sinn annehmen, welcher allen übrigen zum
Grunde liegt, der jeden von diesen unter ge-
wissen Umständen einigermaaſsen ersetzen kann
und bey gewissen Thieren wirklich ersetzt, und
woraus sich diese in der Reihe der Thiere von
den
[179] den untersten Stufen an entfalten. Mit dem-
selben aber ist der Tastsinn einerley, voraus-
gesetzt, daſs man den letztern in der Allge-
meinheit nimmt, worin wir ihn oben bestimmt
haben. Um indeſs Miſsverständnissen vorzu-
beugen, wollen wir uns im gegenwärtigen Ab-
schnitt jener Benennung des allgemeinen Sinns
für denselben bedienen.
Ersatz eines besondern Sinns ist durch die-
sen allgemeinen Sinn immer nur dann möglich,
wenn er Empfänglichkeit für die Art von Ein-
drücken, wofür jener organisirt ist, besitzt oder
erhält. Ersatz wird auch nur dann statt finden,
wenn diese Art von Eindrücken durch Vermitt-
lung des allgemeinen Sinns als verschieden von
allen andern Eindrücken empfunden wird. Daſs
aber die Empfindung die nehmliche Form habe,
die sie besitzt, wenn sie durch jenen besondern
Sinn erregt wird, ist nicht nothwendige Be-
dingung des Ersatzes. Es bedarf z. B. vielleicht
zur Empfindung eines sichtbaren Gegenstandes
als eines solchen eines Sehenerven, der seinem
Ursprunge und Verlauf nach dem menschlichen
ähnlich ist, und welcher sich in einem zur
Darstellung des Bildes dieses Gegenstandes or-
ganisirten Theil ausbreitet. Es giebt aber kei-
nen Grund, anzunehmen, daſs nicht auch jede
andere, dem Lichte zugängliche Nervenausbrei-
M 5tung
[180] tung empfänglich für die von sichtbaren Din-
gen zurückgeworfenen Strahlen seyn, und von
diesen auf eine eigenthümliche Art gerührt
werden könnte. Die zusammengesetzten Augen
der Insekten sind im Wesentlichen nichts anders
als ähnliche, nur mit einer durchsichtigen Ober-
haut bedeckte Nervenpapillen, wie man an den
Fingerspitzen und auf der Zunge des Menschen
findet.
Aus dieser Voraussetzung lassen sich, wie
schon im vorigen Buche gezeigt ist, die den
äuſsern Verhältnissen entsprechenden Handlun-
gen der Schlafwandler bey verschlossenen Augen
zum Theil erklären. In einigen Fällen von
Blindheit scheint ebenfalls ein vicariirender Sinn
zu erwachen. Man nimmt hier gewöhnlich nur
Verfeinerung des Getastes an, und oft ist es
auch wohl nur diese, welche die Stelle des
fehlenden Gesichts einigermaaſsen ersetzt. So
erzählen Boyleg) und Pechlinh) von einem
blinden Organisten aus Amersfort, der, wenn
er nüchtern und die Luft nicht zu trocken war,
die Farben durch das Getast zu unterscheiden
vermochte. Die schwarze Farbe erkannte er
an der Rauhheit. Dann folgten Weiſs, Grün,
Blau und Roth, welches letztere ihm am glätte-
sten
[181] sten schien. Auf ähnliche Weise vielleicht er-
kannte ein anderer Blinder, dessen Grimaldii)
gedenkt, die verschiedenen Farben eines bunten,
doch allenthalben gleichförmig gewebten Seiden-
zeugs. Aber H. Sloane’s in der Encyclopaedia
britannica mitgetheilte Beobachtungen an einem
Frauenzimmer, welches in spätern Jahren Ge-
hör und Gesicht verlor, lassen sich nicht blos
aus Verfeinerung des Tastsinns erklären. Diese
unterschied nicht nur die Hauptfarben, sondern
auch Varietäten einer und derselben Farbe. Sie
beschäftigte sich gewöhnlich mit der Nadel und
arbeitete mit bewundernswürdiger Feinheit und
Genauigkeit. Das Sonderbarste und ein Beweis,
daſs hier nicht blos gröſsere Feinheit der übri-
gen Sinnesorgane das Gesicht ersetzte, sondern
daſs etwas Aehnliches von Gesichtsempfindungen
statt fand, war, daſs sie entdecken konnte, ob
sie einen Buchstaben ausgelassen hatte, und daſs
sie ihn genau über die Stelle, wo er stehen
muſste, mit einem beygefügten Zeichen setzte.
Aehnliche Beyspiele giebt es von Taubhei-
ten, wobey, die des Gehörs Beraubten hörbare
Eindrücke durch andere Theile als das Ohr
vernehmen. Schon oben ist erwähnt worden,
daſs auf Taube überhaupt ein stärkerer Schall
oder
[182] oder Ton erschütternd wirkt. Pfingstenk)
hatte eine Taubstumme unter seiner Aufsicht,
die jedesmal anzeigte, wenn die Hausthür ge-
öffnet und wieder zugemacht wurde, und selbst,
wenn dies noch so leise geschahe, ohngeachtet
sie gegen das Geklingel der Thürglocke ganz
unempfindlich war. Bey näherer Untersuchung
fand sich, daſs der Stuhl, worauf sie saſs, durch
das Oeffnen und Verschlieſsen der Thür eine
gewisse Erschütterung bekam, die von ihr in
den Schenkeln empfunden wurde. Noch weit
feiner war dieses Gefühl bey einer andern
Taubstummen, die mit einer Magd, mit der sie
in Einer Kammer schlief, des Abends im Dun-
keln lange Gespräche führte, indem sie durch
ihre, auf die bloſse Brust der letztern gelegte
Hand deren Worte vernahm. Als Pfingsten,
um sich von dieser Art der Mittheilung bey
einem Mädchen, von deren völligen Taubheit
er hinreichende Beweise hatte, zu versichern,
den Versuch in seiner Gegenwart machen lieſs,
wurde von der Taubstummen jedes Wort der
Magd richtig widerhohlt.
Die Schlüsse, die sich aus diesen Erfah-
rungen ergeben, werden durch Thatsachen der
vergleichenden Anatomie unterstützt, wo Zweige
der
[183] der Nerven des fünften Paars die eigentlichen
Sinnesnerven zum Theil, oder selbst ganz er-
setzen.
Zum Innern des sehr kleinen, doch im
Uebrigen eben so wie überhaupt bey den Säug-
thieren gebauten Auge des Maulwurfs geht
ein so dünner, fadenförmiger Sehenerven mit
einem so starken Zweige des fünften Hirnner-
ven, daſs der letztere nothwendig eine weit
wichtigere Funktion beym Sehen jenes Thiers
als der erstere haben muſs *).
Hier
[184]
Hier läſst sich indeſs dem eigentlichen Sehe-
nerven einiger Antheil an der Funktion des
Sehens noch nicht absprechen. Beym Proteus
anguinus fehlen aber die Nerven des zweyten
Paars ganz. Das Auge dieses Thiers ist blos
eine sehr kleine, kugelförmige, in einer sehnen-
artigen Kapsel unmittelbar unter der Oberhaut
liegende Crystalllinse, auf deren hintern, mit
einem schwärzlichen Pigment bedeckten Fläche
sich ein Zweig des fünften Hirnnerven aus-
breitet l).
Eben
[185]
Eben diese Abwesenheit eines Sehenerven
findet nach meinen Untersuchungen bey einer,
von Hemprinm) unter dem Namen Amphis-
baena scutigera beschriebenen, Brasilianischen
Amphisbäne statt. Die Augen derselben liegen
auch, wie beym Proteus anguinus, unter der
Oberhaut. Sie sind etwas gröſser und zusam-
mengesetzter als bey dem letztern, indem sich
eine Sclerotica, eine Hornhaut und eine Pupille
daran unterscheiden läſst. Dennoch aber habe
ich keine Spur von Nerven des zweyten Paars
bey jener Schlange entdecken können.
Die Nerven, welche in diesen Fällen die
Stelle der Sehenerven vertreten, sind die nehm-
lichen, wovon auch bey allen übrigen Wirbel-
thieren die Organe des Gehörs, des Geschmacks
und Geruchs Hülfszweige erhalten. Sie haben
bey allen jenen Thieren an den Funktionen des
Geschmacks und Geruchs einen unmittelbaren,
an denen des Gehörs und Gesichts wenigstens
einen mittelbaren Antheil. Sie ersetzen in den
obigen Fällen die Stelle der Sehenerven nicht
nur in anatomischer, sondern auch in physio-
logischer Rücksicht. Der Proteus anguinus ist
so empfindlich gegen das Licht, daſs ihn schon
ein schwacher, bey Oeffnung des Deckels seines
Behäl-
[186] Behälters auf ihn fallender Lichtstrahl fliehen
macht n). Diese Empfindlichkeit scheint bey
ihm zwar nicht blos auf das Auge beschränkt,
sondern über den ganzen Körper verbreitet.
Doch ist es ohne Zweifel mit das Auge, wo-
durch seine Bewegungen geleitet werden. Zweige
des fünften Nervenpaars gehen auch zu den
Barthaaren der meisten Säugthiere, zu den
Cirrhen, vieler Fische und zu mehrern andern
Theilen, die Organe entweder des wirklichen
Getastes, oder doch eines dem Getaste ver-
wandten Sinnes sind.
Alle diese Thatsachen leiten auf den Schluſs,
daſs vorzüglich die Nerven des fünften Paars
der Sitz jenes Sinns sind, den wir den allge-
meinen genannt haben, und hieran schlieſst sich
der im vorigen Buche o) aus anatomischen
Gründen gefolgerte Satz, daſs bey den wirbel-
losen Thieren die sämmtlichen Hirnnerven den
Zweigen des Trigeminus der Wirbelthiere ana-
log sind. Die meisten jener Thiere äuſsern
Handlungen, die ohne Geruch und Gehör nicht
vor sich gehen könnten, und doch giebt es bey
keinem derselben ein ähnliches Geruchsorgan,
wie bey den Thieren der höhern Classen, und
bey wenigen eigene Hörwerkzeuge, die aber
sehr
[187] sehr einfach sind. Die mehrsten besitzen zwar
Augen, und selbst zahlreichere als irgend eines
der Wirbelthiere. Allein diese Theile sind meist
im Wesentlichen blos mit einer durchsichtigen
Haut bedeckte Nervenenden. Sie würden dem
Aeuſsern nach Tastorgane seyn, wenn ihre
Bedeckungen undurchsichtig wären. Sie gehen
wirklich auch bey verwandten Geschlechtern in
Werkzeuge über, welche zu einem Tasten ohne
unmittelbare Berührung dienen. Die Weinberg-
schnecke (Helix Pomatia L.) trägt an dem Ende
jedes der beyden gröſsern Fühlfäden ein Auge,
worin sich ein eigener Sehenerve auf der hin-
tern Fläche einer mit einer Hornhaut bedeck-
ten Crystalllinse ausbreitet. Bey der schwarzen
Wegschnecke (Limax ater L.), die ebenfalls
vier Fühlfäden, zwey gröſsere und zwey klei-
nere, besitzt, fand ich in jedem der gröſsern
einen Nerven, der seinem Ursprunge, seinem
Verlauf und seiner Gestalt nach mit dem Sehe-
nerven der Weinbergschnecke ganz übereinkam,
sich aber nicht hinter durchsichtigen Theilen
endigte, sondern in einer undurchsichtigen Haut,
einem Fortsatz derselben Membran, welcher
die Seitentheile der Fühlfäden überzieht. Mit
diesen zum Sehen ganz unfähigen Werkzeugen
kundschaftet die Wegschnecke beym Kriechen
alle ihr vorkommende Gegenstände eben so ohne
unmittelbare Berührung, wie die Weinberg-
VI. Bd. Nschnecke
[188] schnecke mit ihren Augen, aus. Sie bewegt
dieselben nach allen Seiten hin und zieht sie
schon in der Entfernung eines halben Zolls von
Körpern, denen sie nahe kommen, zurück. Auf
eben diese Thiere wirken, wie Bonvincini
bemerkte *) und wie ich gleichfalls beobachtet
habe, in noch gröſsern Entfernungen stark rie-
chende Sachen, z. B. Kampher, Alcohol u. d. gl.
Sie zogen ihre gröſsern Fühlfäden schon
ein, wenn ich diesen die flüchtige Valeriana-
Tinktur bis auf zwey Zoll näherte.
Organe, die ihrer äuſsern Bildung nach zum
Tasten bestimmt scheinen, finden wir überhaupt
bey den wirbellosen Thieren um so mehr ver-
vielfältigt, je weniger Spuren von Sinneswerk-
zeugen ähnlicher Art, wie die Wirbelthiere be-
sitzen, bey ihnen übrig sind, und diese Theile
zeigen sich nicht nur bey den Wegschnecken,
sondern auch bey mehrern jener Geschöpfe als
empfindlich gegen andere als gröbere mechani-
sche
[189] sche Eindrücke. Manche Insekten, z. B. die
Ichneumoniden, verrathen deutlich durch die
Art, wie sie ihre Fühlhörner immerfort nach
allen Seiten hinkehren, ohne einen Gegenstand
wirklich damit zu betasten, daſs sie aus der
Ferne damit fühlen p). Die zu Pagurus Fabr.
gehörigen Krebse halten ihre Fühlhörner und
Palpen in immerwährender Bewegung, sie mö-
gen sich im Wasser oder auſserhalb demselben
befinden q). Ueberhaupt sind bey allen Insekten
die Fühlhörner in gröſserer Thätigkeit, wenn
das Thier sich bewegt, als wenn es in Ruhe
ist r). Sie würden sich anders damit verhalten,
wenn sie nicht mit denselben von Ferne kund-
schafteten *). Hierzu kömmt, daſs, nach Hu-
ber’s
N 2
[190]ber’s s) Versuchen, die Bienen bey ihren Hand-
lungen durch die Fühlhörner auf eine Art ge-
leitet werden, wie der bloſse Tastsinn sie zu
leiten nicht hinreichen würde. Die Biene, sagt
Huber, bauet ihre Zellen im Dunkeln, gieſst
ihren Honig in die Magazine, ernährt ihre
Jungen, beurtheilt deren Alter und Bedürfnisse,
erkennt ihre Königin, alles dies vermittelst der
Fühlhörner, deren Gestalt doch weit weniger
als die unserer Hände zum Tasten eingerichtet
ist. Durch die Antennen benachrichtigen sich
die Bewohner eines Bienenstocks von dem Ver-
lust ihrer Königin. Sie machen vorzüglich zur
Nachtzeit von diesen Organen Gebrauch. Sie
verlieren das Vermögen, ihre Gliedmaaſsen
zweckmäſsig zu gebrauchen, hören auf zu ar-
beiten, suchen das Licht auf und verlassen
ihren Schwarm, wenn ihnen beyde Fühlhörner
ganz abgeschnitten sind.
Der allgemeine Sinn ist, wie wir gezeigt
haben, vorzüglich den Nerven des fünften Paars
eigen. Er kömmt ihnen aber nur vorzüglich,
keineswegs allein, bey den Thieren überhaupt
und besonders bey denen der niedern Classen
zu. Viele Insekten und die zweyschaaligen
Mollusken tragen in der Nähe der Geschlechts-
theile
[191] theile oder des Afters Organe, die ihrer Bil-
dung nach mit Fühlhörnern und Fühlfäden
übereinkommen und auch wohl nur als solche
dienen können, deren Nerven aber nicht aus
dem Gehirn, sondern aus einem der letzten
Ganglien des Bauchstrangs entspringen. Von dem
Besitz jenes allgemeinen Sinns finden wir selbst
Beweise an mehrern Lebensäuſserungen der un-
tersten Arten des Reichs der Zoophyten, bey
welchen nichts Nervenähnliches zu unterscheiden
ist. Alle diese Wesen empfinden nicht nur die
Gegenwart des Lichts, und diejenigen, die das
Vermögen haben, ihren Ort zu verändern, gehen
nicht nur dem Lichte nach, sondern die Hydern
und Actinien erkennen auch die Gegenwart von
Substanzen, die ihnen zur Nahrung dienen,
schon in einer beträchtlichen Entfernung, wenn
nicht zwischen ihnen und diesen eine Scheide-
wand liegt. Olivit) senkte in einem Gefäſs
mit Meerwasser, worin sich eines dieser Zoo-
phyten befand, ein Insekt oder ein Stück von
irgend einem Thier mit der gröſsten Behutsam-
keit herab. Die Thierpflanze brachte dann den
Strudel, wodurch sie ihre Beute an sich zieht,
schon hervor, wenn der Gegenstand noch 6 bis
8 Zoll weit von ihr entfernt war. War aber
das Gefäſs durch eine Scheidewand von dem
rein-
N 3
[192] reinsten Crystall in zwey Abtheilungen geschie-
den, und befand sich die Thierpflanze in der
einen, die ihr zur Nahrung dienende Substanz
in der andern Abtheilung, so blieb jene immer
in Ruhe, wenn diese ihr auch noch so nahe
lag. Olivi wiederholte den Versuch mit klei-
nen Thieren, welche Augen besitzen, und fand,
daſs diese ihre Beute in einer viel geringern
Entfernung als die Zoophyten wahrnahmen.
Es läſst sich nicht für unmöglich erklären;
daſs nicht die Thierpflanze durch ein höchst
feines Getast [...][d]ie Nähe ihrer Nahrungsmittel,
vermöge der Undulationen, welche diese im
Wasser erregen, wahrnimmt. Allein die letz-
tern finden doch nur statt, wenn die Beute des
Zoophyts ein lebendes Thier ist; sie fehlen
ganz, wenn der Polyp nach leblosem Fleische
hascht. Die Hydern wissen auch zu unter-
scheiden, ob eine leblose Substanz ihnen zur
Nahrung dienen, oder nicht dienen kann. Sie
strecken, wenn sie auch sehr ausgehungert sind,
häufig ihre Arme nach einem Gegenstande der
letztern Art gar nicht aus u). In Purchas’s
Pilgrims, so wie in Forster’s und Spren-
gel’s Beyträgen zur Völker- und Länderkunde
(Th. 1. S. 54.) wird von einer Thierpflanze er-
zählt, die auf Sumatra in dem flachen Wasser
san-
[193] sandichter Buchten wachsen und sich, wenn
man sie anzurühren versucht, sogleich in den
Sand zurückziehen soll. Gehört diese Nachricht
nicht zu den Märchen, so läſst sich vermuthen,
daſs jedes andere Zoophyt ebenfalls sowohl aus-
serhalb als innerhalb dem Wasser bey der
Näherung fremder Körper Zeichen von Wahr-
nehmung derselben durch Ausstrecken oder Zu-
sammenziehen geben würde, wenn die übrigen
Thierpflanzen auſserhalb dem Wasser ihre Or-
gane gebrauchen könnten.
Wir können nach allen diesen Thatsachen
jetzt weiter schlieſsen, daſs Thiere und Thier-
pflanzen Handlungen zu äuſsern vermögen, die
ähnliche Empfindungen voraussetzen, wie wir
durch unsere Sinneswerkzeuge erhalten, ohne
daſs ihre Empfindungen darum wirklich mit den
unsrigen einerley sind und von Organen, die
mit den unsrigen übereinkommen, hervorge-
bracht werden. Sie können sehen, hören, rie-
chen und schmecken, ohne Augen, Ohren, eine
Nase und Zunge zu besitzen. Doch ihr Sehen,
Hören u. s. w. muſs allerdings von dem unsri-
gen sehr verschieden seyn und kann sich nur
auf eine Sphäre erstrecken, die in Rücksicht
auf die Mannichfaltigkeit der Sinnesempfindun-
gen weit beschränkter ist als die unsrige, wenn
gleich einzelne Eindrücke lebhafter auf jene
Thiere als auf uns wirken.
N 4Durch
[194]
Durch diese gröſsere Beschränktheit unter-
scheiden sich auch die den unsrigen ähnlichen,
aber einfachern Sinnesorgane der niedern Thiere
in ihren Funktionen von den unsrigen. Wir
werden unten zeigen, daſs es bey mehrern In-
sekten Theile giebt, worin sich der Sitz eines
Gehörsinns vermuthen läſst. Diese Organe sind
von sehr einfachem Bau. Allein ihre Empfäng-
lichkeit für hörbare Eindrücke erstreckt sich
auch nur auf Töne, die mit dem Instinkt der
Insekten in einer gewissen Verbindung stehen.
Schlägt man auf die Tafel, worauf ein Bienen-
korb steht, so bewegen gleich alle Bienen die
Flügel. Bläst man in eine Oeffnung des Kor-
bes, so hört man einige Bienen ununterbrochene,
scharfe Töne hervorbringen, und gleich darauf
sieht man andere Arbeitsbienen in Bewegung
gerathen und nach der Oeffnung, worin die
Luft eingedrungen ist, hineilen. Ueberhaupt
geben diese Insekten verschiedenartige Töne von
sich, wodurch sie sich unter einander verständ-
lich zu machen scheinen. Aber auf eben diese
Thiere macht das Getöse des Donners und der
Knall eines abgeschossenen Feuergewehrs gar
keinen Eindruck v).
Diese
[195]
Diese Beschränktheit nimmt von den wirbel-
losen Thieren an bis zum Menschen immer
mehr ab und mit ihrer Abnahme erhalten die
Sinnesorgane, besonders die höhern, immer
mehr Ausbildung. Die zusammengesetzten Au-
gen der Insekten bestehen aus Hornhäuten,
hinter welchen sich die Sehenerven endigen,
und haben keine, oder nur eine sehr geringe Be-
weglichkeit. Die einfachen Augen dieser Thiere
und die Augen mehrerer Schnecken enthalten
zwischen der Hornhaut und dem Sehenerven
auch eine Linse. Bey den Schnecken ist das
Auge beweglich, doch nur vermittelst des Stiels,
worauf es sich befindet, nicht innerhalb seiner
Höhle. Die Sepien besitzen auſser einer Horn-
haut und einer Linse auch einen Glaskörper,
doch noch keine wäſsrige Feuchtigkeit, keine
Iris und keine Augenmuskeln. Diese Theile
zeigen sich bey den Fischen. Aber die Iris ist
noch keiner Zusammenziehung und Erweiterung
fähig, und der Augapfel, seiner Muskeln ohn-
geachtet, wenig beweglich. Nicht viel höher
als die Fische stehen in der Bildung des Aug-
apfels die meisten Amphibien. Doch sind die-
ser Thierclasse äuſsere Bedeckungen des Auges
eigen, die den mehrsten Fischen noch fehlen.
Bey den Vögeln findet Beweglichkeit des Auges
bey ausgebildetern Ciliarfortsätzen als in den
beyden vorigen Classen und eine höhere Aus-
N 5bil-
[196] bildung der Augenlieder statt. Allein die Bewe-
gungen des Augapfels in seiner Höhle sind noch
sehr beschränkt. Bey den Säugthieren verhalten
sich alle Theile des innern und äuſsern Auges
in ihrer Bildung und in ihren Funktionen auf
ähnliche Art wie beym Menschen. Die Pupille
verengert sich mit groſser Schnelligkeit nach
dem Grade des Lichts; der Augapfel ist ver-
möge seiner Muskeln jeder Richtung fähig und
durch Augenlieder vollständig bedeckt.
Die erste Bildung des Ohrs fängt bey den
Insekten mit einer bloſsen gespannten Haut an.
Bey den Krebsen und Sepien gesellt sich hierzu
eine Blase, die bey den erstern blos eine
wäſsrige Flüssigkeit, bey den letztern auch eine
steinige Materie enthält. Dieser Steinsack bleibt
noch den Fischen und den Amphibien eigen;
aber es verbinden sich mit ihm in diesen Thier-
classen halbcirkelförmige Canäle. Bey den
Amphibien entsteht auſserdem eine Eustachische
Röhre, ein Vorhof mit einem Gehörknöchel-
chen, und bey einigen auch ein Rudiment einer
Schnecke. Die Steinsäcke verschwinden bey den
Vögeln; die Schnecke bleibt hier ein noch wenig
ausgebildetes Organ; die höhere Stufe des Ge-
hörssinns zeigt sich bey ihnen in der Andeutung
eines äuſsern Ohrs, in einem Spannungsapparat
des Trommelfells und in einer mit vielen und
groſsen
[197] groſsen Höhlungen des Schädels zusammenhän-
genden Trommelhöhle. Die Ausdehnung dieser
Höhlen verminderte die Natur bey den Säug-
thieren. Sie gab diesen dafür eine Schnecke
von sehr zusammengesetzter Bildung, drey Ge-
hörknöchelchen, die beweglich durch eigene
Muskeln sind, und ein äuſseres, zur Auffassung
und Leitung des Schalls eingerichtetes Ohr.
Die Stufenfolge in der Ausbildung des Ge-
ruchsorgans äuſsert sich vorzüglich in der zu-
nehmenden Ausdehnung der Fläche, worauf sich
die Geruchsnerven verbreiten, und in dem
Grade des Vermögens, dem Medium der Ge-
rüche Zugang zu dieser Fläche zu verschaffen.
Bey den Fischen besteht jenes Organ in einer
wenig geräumigen, mit einer gefaltenen Riech-
haut bedeckten Höhle, die das Thier vermittelst
einer Klappe gegen das eindringende Wasser
verschlieſsen kann, worin dasselbe aber nicht
willkührlich das Wasser aufzunehmen vermag.
Vermöge dieser willkührlichen Einwirkung auf
das Medium der Gerüche, die von dem Athmen
durch Lungen und von der Verbindung des
Geruchswerkzeugs mit den Respirationsorganen
abhangt, stehen die Amphibien, Vögel und
Säugthiere auf einer höhern Stufe der Vollkom-
menheit. Auſserdem nimmt in diesen Thier-
classen auch die Fläche, die den Geruchsnerven
zur
[198] zur Ausbreitung dient, beträchtlich an Ausdeh-
nung zu; sie ist, einzelne Ausnahmen abge-
rechnet, gröſser bey den Säugthieren als bey
den Vögeln, und gröſser bey den letztern als bey
den Amphibien.
Die Zunge ist ein weit allgemeiner im
Thierreiche verbreiteter Theil, als die dem
Gesicht, Gehör und Geruch dienenden Werk-
zeuge. Allein der Hauptsitz des Geschmacks ist
sie in keiner ganzen Thierclasse als in der
der Säugthiere. Sie wirkt in den übrigen Clas-
sen eben so sehr, oder mehr für das Getast,
als für den Geschmack, und dieser scheint in
objectiver Hinsicht vom Menschen abwärts im-
mer stumpfer zu werden.
An dem Tastsinn läſst sich diese Stufen-
folge nicht mehr in jeder Beziehung nachwei-
sen. Betrachtet man ihn von Seiten des Ver-
mögens, die Gestalt der Körper zu erforschen,
so stehen in Rücksicht auf denselben der Mensch
und die Affen über allen übrigen Thieren. Sieht
man aber dabey im Allgemeinen auf das Ver-
mögen, die Gegenwart äuſserer Gegenstände,
vermittelst ihrer mechanischen Einwirkungen auf
denselben, wahrzunehmen, so besitzen viele
Thiere der untersten Stufen und die meisten
Zoophyten einen feinern Tastsinn als die höhern
Thiere und selbst als der Mensch.
Eine
[199]
Eine ähnliche höhere Ausbildung für ein-
zelne Zwecke fehlt jedoch auch nicht bey den
übrigen Sinneswerkzeugen. Die Vögel z. B.
besitzen in ihrem Auge den schwarzen Fächer,
ein Organ, vermittelst welchem sie von ihrem
Gesichtswerkzeug unter Umständen Gebrauch
machen können, worunter der Mensch und die
Säugthiere am Sehen verhindert sind, und man-
che Grätenfische haben, bey allen übrigen
Unvollkommenheiten ihrer Gehörswerkzeuge,
doch verhältniſsmäſsig gröſsere halbcirkelförmige
Canäle als die höhern Thiere und, nach We-
ber’s Entdeckung, auch Gehörknöchelchen. Es
läſst sich deswegen so wenig in Betreff der
Sinnesorgane, als in Hinsicht auf alle übrige
organische Systeme, eine gleichmäſsige und un-
unterbrochene Stufenfolge im Thierreiche ange-
ben. Der Unterbrechungen einer solchen Reihe
und der Abweichungen von derselben werden
desto mehrere und desto gröſsere, je mehr man
nicht nur den Grad der körperlichen Ausbil-
dung des Sinnesorgans, sondern auch die Funk-
tionen desselben in Anschlag bringt. Die letz-
tern hängen eben so sehr von dem Grade der
Empfänglichkeit des Sinnesnerven für äuſsere
Eindrücke, als von der Entwickelungsstufe der
Theile ab, worin sich der Nerve ausbreitet,
und sie sind auſserdem noch durch die Stufe
der geistigen Kräfte des Thiers bedingt. Der
Mensch
[200] Mensch steht auf der höchsten dieser Stufen,
und er kann darum einen weit mannichfaltigern
Gebrauch von seinen Sinnen als irgend ein
Thier machen. Aber es ist nicht wahr, was
einige Schriftsteller w) behauptet haben, er be-
sitze einen Vorzug vor den Thieren in Rück-
sicht auf die Schärfe jedes einzelnen Sinns.
Man setzt, um diese Meinung zu beweisen,
Vorzüge des Menschen auf Rechnung seiner
Sinne, die Folgen seines höhern Vermögens
sind, Vergleichungen anzustellen, Aehnlichkei-
ten zu entdecken, zu urtheilen und zu folgern.
So beweist z. B. Metzgerx) die gröſsere
Schärfe des Gesichts beym Menschen daraus,
daſs derselbe eine Strecke von vielen tausend
Schritten mit geometrischer Genauigkeit zu be-
stimmen im Stande ist. Diesen Vorzug aber
besitzt der Mensch nicht wegen gröſserer Voll-
kommenheit seiner Augen, sondern wegen der
höhern Urtheilskraft, die er vor den Thieren
voraus hat. Manche Thiere, besonders alle
Raubthiere, die ihre Beute fliegend oder sprin-
gend erhaschen, haben ein eben so gutes und
von manchen Seiten noch besseres Augenmaaſs
als
[201] als der Mensch. Vespertilio proterus Kuhl.
(V. Noctula d’Aubent.) stürzt sich oft, nach
Kuhl’s Beobachtung, mit der gröſsten Schnel-
ligkeit und Gewandtheit zwanzig Fuſs und noch
höher herab, um ein Insekt zu fangen, wobey
diese Fledermaus ihren Flug immer so genau
zu lenken weiſs, daſs sie selten ihr Ziel ver-
fehlt y). Nur so viel läſst sich annehmen, daſs
zwar viele Thiere den Menschen an Schärfe
des Gesichts, Gehörs u. s. w. von gewissen Sei-
ten übertreffen, doch bey keinem alle Sinne mit
so gleichmäſsiger Schärfe wie bey ihm entwik-
kelt sind.
Zu diesen Schwierigkeiten bey der Aufstel-
lung eines Systems der Thiere nach der Voll-
kommenheit der Sinne kömmt noch, daſs einige
Thiere Sinne zu besitzen scheinen, die von
eigener Art und den fünf Sinnen des Men-
schen nicht vergleichbar sind. Einem solchen
eigenen Sinn dienen ohne Zweifel die im 5ten
Bande der Biologie, S. 177, erwähnten Organe
der Rochen und Hayen, worüber wir im Fol-
genden noch einige weitere Bemerkungen mit-
theilen werden.
Zwey-
[202]
Zweyter Abschnitt.
Das Getast.
Der Tastsinn ist seiner ursprünglichen Bedeu-
tung nach der Sinn für mechanische Eindrücke.
In dieser Bedeutung wird er auch von uns hier
genommen und zuerst betrachtet werden. Von
ihm hängt ohne Zweifel im ganzen Thierreiche
zugleich das Empfindungsvermögen für Wärme
und Kälte ab, welches daher ebenfalls hier mit
zu untersuchen seyn wird. Auſser den mecha-
nischen Eindrücken im Allgemeinen sind auch
Gegenstände desselben alle Modifikationen dieser
Einwirkungen, die von der verschiedenen Ge-
stalt der Körper, der Beschaffenheit ihrer Ober-
fläche, ihrer Cohärenz, ihrer Schwere und Be-
weglichkeit herrühren.
Nicht immer läſst sich dieser Sinn von
denen unterscheiden, durch welche das Thier
ohne unmittelbare Berührung Empfindungen von
entfernten Gegenständen durch andere als me-
chani-
[203] chanische Wirkungen erhält. Wo sich indeſs
annehmen läſst, daſs die Gegenwart von Kör-
pern durch mechanische Reitzung gewisser Ner-
ven wahrgenommen wird, da sind die Arten
der Mittheilung des Eindrucks: unmittelbare
Berührung, Erschütterungen fester Körper, Be-
wegungen der Luft, oder Erschütterungen des
Wassers.
Zur Empfindung der unmittelbaren Be-
rührung eines Körpers bedarf es blos der
Ausbreitung von Nerven unter der Oberhaut des
Thiers. Der Regenwurm, der Blutigel, mehrere
andere Würmer und Insekten sind höchst em-
pfindlich für Berührungen, obgleich sie entweder
gar keine Hautwärzchen und ähnliche, den höhern
Thieren zum Tasten gegebene Organe haben,
oder diese doch nicht an allen, für mechanische
Eindrücke empfänglichen Theilen ihres Körpers
vorhanden sind z). Den meisten Thieren aber
hat die Natur Theile verliehen, die entweder
für sich unempfindlich, jedoch an ihrer Basis
von nervenreichen Häuten umgeben und von
starrer Textur, jede Erschütterung zu diesen
Häuten fortpflanzen, oder welche selber ver-
möge
VI. Bd. O
[204] möge Nerven, die sich in ihnen zerästeln,
Empfänglichkeit für Reitzungen besitzen.
Theile der erstern Art sind die Haare,
Federn, Schuppen und Hörner. Besonders zei-
gen sich die Barthaare vieler Säugthiere als
deutliche Empfindungswerkzeuge. Bey dem
Maulwurf finde ich auf dem vordern, behaarten
Ende des Rüssels gröſsere und kleinere, kegel-
förmige, von einer dicken, zähen Haut gebildete
Kapseln, die auf der Oberhaut hervorragen und
eine weiche Substanz enthalten, in deren Mitte
die Wurzel eines Barthaars enthalten ist. Ein
ähnlicher Bau scheint beym Robben statt zu
finden a). Nur ist hier die Kapsel des Barthaars
hornartig.
Aeuſsere harte, gegen Berührungen empfind-
liche Theile, in welchen sich Nerven verbrei-
ten, sind der Schnabel der Vögel und die Fühl-
hörner der Insekten.
In den Schnabel der Vögel, besonders der
Sumpf- und Wasservögel, dringen durch eigene
Canäle des Schädels Zweige der Nerven des
fünften Paars und endigen sich gröſstentheils
auf
[205] auf der äuſsern Haut des Schnabels. Bey der
Ente, der Cans und den verwandten Vögeln
dienen die drey Hauptäste des Trigeminus, die
hier von auffallender Dicke sind, fast ganz den
Schnabelnerven zum Ursprung; ihre übrigen
Zweige sind in Vergleichung mit diesen nur
sehr klein und es entstehen deren nur wenige
aus ihnen.
Daſs die Hauptfunktion der Fühlhörner der
Insekten ein unmittelbares Tasten ist, läſst sich
zwar nach den im vorigen Abschnitte ange-
führten Thatsachen bezweifeln. Sehr empfäng-
lich für mechanische Eindrücke sind sie indeſs
allerdings. Sie zeigen diese Reitzbarkeit vor-
züglich bey sterbenden Insekten, wo sie nach
Berührungen noch in Bewegungen gerathen,
wenn alle übrige Theile kein Leben mehr
äuſsern b). Doch können sie diese Empfäng-
lichkeit nur für die Erschütterungen besitzen,
die ein solcher Reitz in ihren hornartigen Be-
deckungen hervorbringt. Ich habe viele Insek-
ten aus allen Familien in dieser Hinsicht so-
wohl lebend, als nach dem Eintauchen in heiſses
Wasser, worin sonst turgescirende Theile der
Insekten hervorzutreten pflegen, untersucht, aber
nie
O 2
[206] nie an den Fühlhörnern derselben andere wei-
che Theile, als die Verbindungshäute der ein-
zelnen Glieder, entdecken können. Basterc)
erzählt zwar, daſs bey lebenden Hummern aus
Oeffnungen der längern Fühlhörner kleine weiſse
Fäden hervortreten, und nach Knochd) sollen
überhaupt an den Fühlhörnern der Insekten
Nervenwärzchen zugegen seyn. Ich kann aber
nicht anders, als die eine Angabe für eben so
irrig als die andere erklären *).
Ver-
[207]
Vermittelst ihrer Haare und Federn sind
viele Thiere sehr reitzbar gegen jede Bewegung
der Luft. Betrachtet man die äuſserst zarten und
höchst beweglichen Haare an den Fühlhörnern
mancher Insekten, besonders aus der Familie der
Zweyflügler, so kann man nicht zweifeln, daſs
schon ein sehr leiser Luftzug auf diese Thiere
wirken muſs, und nimmt man hierzu noch,
daſs die Haare und Federn auch für hygro-
metrische und elektrische Einwirkungen sehr
empfänglich seyn müssen, so läſst es sich eini-
germaaſsen erklären, wie manche Thiere auf
eine blos physische Art Vorgefühle oder Empfin-
dungen aus der Ferne von Eindrücken haben
können, die von unsern Sinnesorganen nicht
wahrgenommen werden.
Mit
O 3
[208]
Mit Organen von anderer Art sind die
Wasserthiere zur Empfindung der Bewegungen
ihres Elements versehen. Die meisten besitzen
zu diesem Zwecke zarte, im Wasser schwim-
mende Häute, die entweder unmittelbar am
Körper in der Gestalt von gefranzten Anhängen
befestigt sind, oder Fortsätze äuſserer, willkühr-
licher Bewegungen fähiger Theile ausmachen.
Jene Anhänge finden sich unter andern häufig
am Saume des Mantels vieler Mollusken. Zu
den Organen der letztern Art gehören die
Cirrhen vieler Fische. Bey dem Stöhr, an
welchem ich diese Theile näher untersucht habe,
hängen sie als vier lange, dünne, von der Basis
zur Spitze allmählig verschmälerte Fortsätze zu
beyden Seiten der untern Kinnlade vor dem
Munde herab. Inwendig enthalten sie eine von
Muskeln umgebene Sehne und Zerästelungen von
Zweigen des fünften Nervenpaars; auswendig
sind sie an der Basis mit Nervenwärzchen,
nach oben mit höchst zarten, ausgezackten Häu-
ten gedrängt besetzt.
Bey den Rochen und Hayen, die keine
Bartfasern besitzen, und bey welchen, wie beym
Stöhr, die Augen eine solche Lage haben, daſs
sie Gegenstände, die sich unterhalb ihrem Kör-
per vor dem Munde befinden, nicht sehen kön-
nen, geschieht vielleicht die Wahrnehmung der
Bewe-
[209] Bewegungen des Wassers durch die, schon von
Malpichie) entdeckten, im 5ten Bande der
Biologie (S. 177.) erwähnten und umständlicher
von mir im 5ten Bande der Vermischten Schrif-
ten (von G. R. und L. C. Treviranus S. 141.)
beschriebenen, mit einer gelatinösen Materie
angefüllten Röhren, in deren Basis Zweige der
Nerven des fünften Paars dringen und deren
äuſseres Ende offen auf der Oberfläche des
Körpers liegt. Daſs die Gallerte dieser Röhren
der Erzitterung von jeder leisen Bewegung des
Wassers fähig ist und daſs ihre Oscillationen
sich zu den Nerven des innern Endes der
Röhre fortpflanzen können, leidet keinen Zwei-
fel. Ob indeſs die Funktion jener Organe sich
nur auf ein solches Tasten beschränkt, ist eine
Frage, zu deren Beantwortung es an Erfah-
rungsgründen fehlt.
Zur Erforschung der Formen der Kör-
per ist der Tastsinn vorzüglich bey dem Men-
schen und den Affen organisirt. In Beziehung
auf diesen Punkt hatte Buffonf) Recht, wenn
er behauptete, daſs nicht darum die Finger-
spitzen der Hauptsitz des Tastorgans sind, weil
sie mehr Nervenwärzchen und ein zarteres Ge-
fühl
O 4
[210] fühl als die übrigen Theile haben, sondern weil
sie eine Verbindung von mehrern Theilen aus-
machen, die, insgesammt beweglich und bieg-
sam, alle zu gleicher Zeit wirken und dem
Willen gehorchen. Allein mit Unrecht glaubte
er, daſs wenn die Hand in eine noch gröſsere
Anzahl von Fingern getheilt wäre und jeder
Finger eine noch gröſsere Anzahl von Gelenken
und Bewegungen hätte, der Tastsinn noch weit
vollkommener seyn müſste, als er jetzt ist.
Wir würden bey einer solchen Bildung in ein-
zelnen Fällen die Gestalt eines Körpers viel-
leicht schneller, doch nicht vollkommener als
bey unserer jetzigen Organisation erforschen
können, und in manchen Fällen würde jene
gröſsere Zahl die Betastung mehr hindern als
fördern.
In minderm Grade besitzen diese Modifika-
tion des Tastsinns auch einige andere Thiere.
Aber es sind nicht Thiere aus einer der höhern
Classen, sondern die Insekten, bey denen wir
dieselbe finden. Ihnen sind die Freſsspitzen
(Palpen) deutliche Tastorgane. Das äuſsere
Ende dieser Organe ist von der hornartigen
Oberhaut entblöſst, und bey solchen Insekten,
die man lebend in heiſses Wasser getaucht hat,
zeigt sich hier ein weicher, hervorragender
Ballen, der gewöhnlich von weiſser, bey eini-
gen,
[211] gen, z. B. den Heuschrecken, von bräunlicher
Farbe ist, der angeschwollenen Eichel eines
männlichen Gliedes einigermaaſsen gleicht, meh-
rere Zweige von zwey Hirnnerven erhält g)
und sich, nach Knoch’sh) Beobachtungen, bey
dem lebenden Insekt hebt und senkt. Jedes mit
Kauwerkzeugen versehene Insekt betastet mit
diesen Organen die Substanz, die es verzehren
will, vor dem Anbeiſsen und während dem
Nagen i). Es kann seyn, daſs in denselben
auch ein Sinn vorhanden ist, vermittelst wel-
chem das Thier nicht nur die äuſsere, sondern
auch die innere Beschaffenheit einer solchen
Substanz zu prüfen vermag k). Allein die Art,
wie sich die Insekten dieser Theile bedienen,
indem sie damit den zu untersuchenden Gegen-
stand
O 5
[212] stand drehen, wenden und von allen Seiten be-
rühren, beweist, daſs sie auch das Aeuſsere
eines solchen Körpers dadurch auskundschaften.
Mau hat von dieser, zur Erforschung der
Gestalt der Körper dienenden Modifikation des
Tastsinns geglaubt, daſs sie mit dem Grade der
geistigen Bildung in naher Beziehung stehe und
daſs mit darum der Mensch nebst den Thieren,
die Hände besitzen, die geistreichsten Geschöpfe
seyen, weil ihnen der Sinn für Formen ver-
liehen ist l). Soviel ist zwar richtig, daſs die
Thiere, die keine Hände oder Surrogate der
Hände haben, sich nicht so deutliche Begriffe
von der Gestalt der Körper machen können,
als die, welche mit solchen Tastorganen ausge-
stattet sind. Aber die mit vier Händen versche-
nen Affen haben doch im Allgemeinen nicht
mehr Geist, sondern nur Geist von anderer
Art, als der Hund, der Fuchs, der Bieber
u. s. w.
An den erwähnten fleischigen Enden der
Insektenpalpen habe ich keine Nervenwärzchen
entdecken können. Die Richtigkeit der Beob-
achtung Knoch’sm), der die Haut dieser Theile
unter starken Vergröſserungsgläsern aus Papillen
zusam-
[213] zusammengesetzt will gefunden haben, muſs ich
sehr bezweifeln. Auch fand ich sie nicht, wie
sie Marcel de Serresn) beschreibt, durch-
löchert. Hiernach zu urtheilen sind also Ner-
venwärzchen nicht nothwendig zur Erforschung
der Gestalt der Körper. Hingegen zu der
Modifikation des Tastsinns, wodurch die Be-
schaffenheit der Oberfläche eines Ge-
genstandes geprüft wird, scheint ihre Gegen-
wart allerdings erforderlich. Sie sind bey dem
Menschen vorzüglich an den Fingerspitzen, den
Lippen und der Zunge zugegen. Bey vielen
Säugthieren finden sie sich auf dem unbehaarten
Theil der Schnauze. Besonders deutlich und in
regelmäſsigen Reihen gestellt zeigen sie sich
hier beym Maulwurf. Nach Cuviero) sind
sie auch auf dem Rüssel des Elephanten und
auf dem Schwanz der Didelphis cancrivora vor-
handen. Ruyschp) fand sie an den Brüsten
des Wallfisches. Unter den Vögeln besitzen die
Enten und Papageyen groſse Nervenwärzchen
unter den Fuſssohlen. An dieser Stelle giebt es
solche Papillen auch bey mehrern der eidech-
senartigen Amphibien. Hingegen habe ich eben
so wenig als Hellmannq) ahnliche Organe
auf
[214] auf der Zunge der Schlangen angetroffen, wel-
che doch bey diesen Thieren ein Tastwerkzeug
zu seyn scheint r). Bey der Amphisbaena
scutigera Hempr., wovon ich oben bemerkt
habe, daſs ihren, unter der undurchbohrten
Oberhaut liegenden Augen der Sehenerve fehlt,
entdeckte ich auf der Zunge ähnliche häutige
Säume, wie an den Cirrhen des Stöhrs. Sie
waren von halbmondförmiger Gestalt und lagen
dachziegelförmig über einander. Etwas Aehn-
liches, kleine gelbliche, gefranzte und nach
hinten gebogene häutige Anhänge, bemerkte
Hellmanns) an beyden Seiten der Zunge einer
Boa Constrictor. Diesen Schlangen scheint also
die Zunge, so wie dem Stöhr die Cirrhen, zur
Empfindung der Erschütterung des Wassers
organisirt zu seyn. Vorzüglich in diesem Ele-
ment ist es auch, wo mehrere Schlangen sich
der Zunge als Tastorgan bedienen t). Auſser-
halb dem Wasser kann sie ihnen nur Empfin-
dungen von der Gegenwart eines Körpers ver-
schaffen, ohne die Beschaffenheit der Oberfläche
desselben anzugeben. Unter den Fischen besitzt
die Meerlamprete (Petromyzon marinus) faden-
förmige Tastorgane auf ihrer ringförmigen Lippe
und auf der ganzen Fläche ihres Vorderkopfs.
Die
[215] Die Lippe ist allenthalben mit solchen Papillen,
die ohngefähr eine Linie lang sind, dicht be-
setzt. Am Vorderkopfe kommen sie erst nach
behutsamem Abstreifen der Oberhaut zu Ge-
sichte.
Obgleich aber die Anwesenheit von Nerven-
wärzchen nothwendig ist, um die Beschaffenheit
der Oberfläche eines Gegenstandes zu erforschen,
so läſst sich doch nicht umgekehrt von der
Gegenwart solcher Papillen auf das Vorhanden-
seyn dieser Art des Tastsinns in dem damit
versehenen Theile schlieſsen. Auch die Eichel
des männlichen Gliedes ist mit denselben besetzt
und hier dienen sie blos, um die Empfindlich-
keit im Allgemeinen zu erhöhen. Sie sind aber
selbst hierzu nicht unumgänglich nothwendig.
In Narben, die nach Wunden oder Geschwüren
zurückbleiben, ist ohne sie die Empfänglichkeit
der Haut für Eindrücke des Tastsinns oft sehr
erhöht. Marshallu) führt sogar ein Beyspiel
von einem Menschen an, bey welchem der
Stumpf des demselben weggeschossenen männ-
lichen Gliedes die eigenthümliche Empfindlich-
keit der Eichel erhielt. Es läſst sich daher
nicht mit Sicherheit annehmen, daſs in dem
Rüs-
[216] Rüssel, dem Wickelschwanz und andern Theilen
mancher Thiere, auf welchen Nervenwärzchen
zugegen sind, die nehmliche Modifikation des
Tastsinns wie in unsern Fingerspitzen statt
findet.
Die Struktur jener Wärzchen giebt hierüber
keinen Aufschluſs. Wir wissen von dieser noch
nicht mehr, als was Ruysch und B. S. Albin
mit einigen seiner Schüler daran entdeckten.
Ruyschv) untersuchte sie an den Brüsten des
Wallfisches und fand, daſs jede durch Macera-
tion in einen Büschel feiner Fäden aufgelöst
wird. Mir erschienen ebenfalls die fadenförmigen
Papillen am Vorderkopfe und der Lippe des
Petromyzon marinus nach der Maceration als
Büschel weiſser Fäden. Albin’s Schüler,
Kaauw-Boerhaavew), verfolgte an mensch-
lichen Leichen die Enden der Hautnerven bis
zu den Hautwärzchen; ihre Ausbreitung in die-
sen konnte er aber nicht entdecken. Albin
selber fand auch beym Menschen in den Wärz-
chen der hohlen Hand, der Fingerspitzen und
der Fuſssohle solche Fäden, wie Ruysch beym
Wallfisch. Er erkannte aber so wenig diese,
als ähnliche, die er in den Wärzchen der
Zunge entdeckte, für Nervensubstanz an, und
nicht
[217] nicht mit Unrecht, da sie weder so zerreiblich,
noch so leicht auflöslich durch Maceration wie
das Nervenmark sind x). Neben jedem der
Fäden lief dessen Länge nach ein Blutgefäſs,
und aus den Enden dieser Gefäſse drang ge-
färbte Injektionsmaterie mit Zurücklassung des
Färbestoffs unter der Oberhaut hervor. Jene
Papillen der hohlen Hand, der Fingerspitzen
und der Fuſssohlen sind fadenförmig, die der
übrigen Haut mehr rundlich, und die letztern
erscheinen nach Einsprützung der Arterien auf
der Oberfläche blos mit röthlichen Punkten be-
setzt y). Fadenförmig sind aber auch die unter
den Nägeln längs der Fläche derselben liegenden
Papillen z), welche doch bey der Art von
Betastung, wodurch wir die Rauhheit und Glätte
der Körper zu erforschen suchen, nicht unmit-
telbar mitwirken. Es läſst sich also von der
Gestalt der Nervenwärzchen nicht mit Sicher-
heit auf ihre Funktion schlieſsen.
Wie andere der schon gedachten Modifika-
tionen des Tastsinns, so ist auch das Gefühl
für die Schwere und Beweglichkeit der
Körper unabhängig von der Gegenwart der
Nervenwärzchen. Bedingung dieses Gefühls ist
aber
[218] aber ein Apparat von Muskeln, welcher dem
einwirkenden Körper entgegenwirkt. Nach dem
Aufwande von Muskelkraft, der hierbey erfor-
derlich ist, schätzen wir jene Eigenschaften der
Körper. Nur dann aber ist eine nähere Schät-
zung möglich, wenn die Gegenwirkung von
unserer Seite durch willkührliche Bewegungs-
organe geschieht. Auch ein innerer, krankhaft
beschaffener Theil bringt durch seinen Druck
auf die benachbarten Muskeln ein Gefühl von
Schwere, doch nur ein dunkles und unbestimm-
tes, hervor. Zur genauern Abwägung leichter
Körper bedürfen wir der äuſsern Gliedmaaſsen,
und bey leichtern Körpern der äuſsersten Glie-
der der mittlern Finger. Die Feinheit des
Sinns für Schwere steht also mit der Zahl der
Glieder eines äuſsern Bewegungsorgans und der
Länge desselben in einem gewissen Verhältniſs.
Der Elephant, der in seinem weit hervorste-
henden, höchst beweglichen Rüssel, und die
Spinne, die in ihren langen, vielfach geglieder-
ten Beinen diese Erfordernisse in einem höhern
Grade als die meisten der übrigen Thiere be-
sitzen, haben daher gewiſs ein sehr feines Ge-
fühl für die Schwere und Leichtigkeit der
Körper. Auch in den langen, aus zahlreichen
Artikulationen bestehenden Fühlhörnern der In-
sekten muſs dieses Gefühl sehr zart seyn. Kein
Insekt macht zwar von seinen Antennen einen,
auf
[219] auf die Untersuchung der Schwere äuſserer
Gegenstände abzweckenden, willkührlichen Ge-
brauch. Aber bey denen Arten, deren Fühl-
hörner mit vielen und langen Haaren besetzt
sind, z. B. den Mücken und manchen Phalänen,
müssen diese als hygrometrische Körper nach
dem Feuchtigkeitsgrade der Luft ihr Gewicht
ändern und so auf die Empfindlichkeit des
Thiers einen verschiedenen Eindruck machen,
von welchem vielleicht das verschiedene Beneh-
men derselben bey Aenderungen der Witterung
zum Theil abhängt.
Vermittelst dieses Sinns für die Beweglich-
keit und Schwere der Gegenstände unterscheidet
auch das Thier in so weit tropfbar flüssige
Substanzen von festen Körpern, als die Flüssig-
keit in der leichtesten Verschiebbarkeit der klein-
sten Theile besteht. Das Gefühl für Nässe
und Trockenheit aber beruht hierauf nicht
allein, sondern auch theils auf einer chemischen
Reitzung der Hautnerven von dem die Ober-
haut durchdringenden Wasser, theils auf der
verschiedenen Temperatur, die eine flüssige,
feuchte, oder trockene Substanz diesen Nerven
mittheilt. In der Wasserscheu ist dasselbe krank-
haft erhöht und oft auf einen solchen Grad,
daſs schon die geringste Berührung der Haut
von Wasser Convulsionen verursacht. Die
VI. Bd. PDurch-
[220] Durchdringlichkeit der Oberhaut von flüssigen
Substanzen zeigt sich bey der Resorbtion des
Wassers im Bade und äuſserlich eingeriebener,
flüssiger Arzneymittel. Nach den Versuchen
eines gewissen Miel wird selbst der Schmelz
der Zähne von Flüssigkeiten durchdrungen, und
es rührt hiervon das Gefühl von Stumpfheit der
Zähne nach dem Genuſs von zusammenziehen-
den Säuren her a). Aus dem Durchgange, den
die Oberhaut der Nässe gestattet, ist es auch zu
erklären, warum die Empfindung von Wärme
oder Kälte nach der Berührung einer Flüssigkeit
nicht gleich nach dem Abtrocknen der Haut,
wie nach dem Aufhören der Berührung eines
festen Körpers, sich verliert.
Der Sinn für die Temperatur der
Körper ist mit der allgemeinste unter den
Modifikationen des Tastsinns. Alles Leben ist
vorzüglich durch einen gewissen Grad von
Wärme bedingt, und für jede der äuſsern Bedin-
gungen des Lebens hat das Thier einen Sinn
empfangen, der dasselbe in den Stand setzt,
diese aufzusuchen und sich anzueignen. Einer
gewissen Temperatur bedürfen auch alle Theile
des Thiers ohne Ausnahme. Daher ist jener
Sinn nicht nur allgemein im Thierreiche, son-
dern
[221] dern auch allgemein im Körper jedes einzelnen
Thiers verbreitet. Doch sind die Nerven des
sympathischen Systems im gesunden Zustande,
wie gegen alle mechanische und chemische Ein-
wirkungen, so auch gegen den Einfluſs der
Wärme und Kälte weniger empfindlich, als die
übrigen und vorzüglich die Hautnerven, wie
man unter andern beym Verschlucken heiſser
Speisen bemerkt, die im Magen weit weniger
das Gefühl von Hitze als an den Lippen und
im Munde erregen.
Die Oberfläche des Körpers ist um so
empfänglicher für die Eindrücke der Tempera-
tur, je dünner und nackter die Oberhaut auf
ihr ist. Kein Thier fühlt deswegen auf jedem
Punkt dieser ganzen Fläche so leicht jeden
Wechsel der Temperatur als der Mensch. Nur
an einzelnen Stellen, wo die Oberhaut dünn
und unbedeckt liegt, z. B. an der Nase, werden
vielleicht manche Thiere von diesem Eindruck
eben so sehr oder noch stärker als der Mensch
gerührt. Es ist selbst möglich, daſs einige
Thiere vermöge der Empfänglichkeit einzelner
ihrer Organe für Wärme und Kälte die innere
Beschaffenheit der Körper unterscheiden und die
Gegenwart derselben aus einer gewissen Ent-
fernung wahrnehmen können, indem jeder Kör-
per seine specifische Temperatur hat, deren
P 2Sphäre
[222] Sphäre sich über die Grenzen desselben hinaus
erstrecken muſs. Indeſs hierüber, so wie über-
haupt über die Feinheit des Sinns für Wärme
und Kälte, hält es schwer, bey den Thieren
nach den Aeuſserungen derselben zu urtheilen.
Thiere der heiſsen Climate sind gegen Kälte,
so wie Thiere der Polargegenden gegen Wärme
empfindlicher als der Mensch. Es kann aber
demohngeachtet bey beyden jener Sinn stumpfer
als beym Menschen seyn und ihr Uebelbefinden
in einer andern, als der ihnen angemessenen
Temperatur, eben so wohl von ihrem Unver-
mögen, in einer zu kalten oder zu warmen
Luft Athem zu holen, als von dem Eindruck
der Wärme und Kälte auf ihre Hautnerven
herrühren.
Kein Sinn täuscht aber leichter als der Sinn
für die Temperatur. Man hat ohnlängst, und
mit Recht, Wärme nach dem Gefühl und Wär-
me nach dem Thermometer unterschieden. Jene
hängt theils von dem Wärmeleitungsvermögen
des Medium, worin wir uns befinden, theils
von dem Zustande des Nervensystems ab. Die
Luft kann bey einerley Wirkung auf den
Wärmemesser nach ihrem verschiedenen Gehalt
an Feuchtigkeit, nach ihrer chemischen Ver-
schiedenheit und je nachdem die Hautausdün-
stung durch sie befördert oder zurückgehalten
wird,
[223] wird, dem thierischen Körper mehr oder weni-
ger Wärme entziehen, und im ersten Fall das
Gefühl von Kälte, im letztern die Empfindung
von erhöhter Temperatur hervorbringen b).
Luft von gleicher Wärme nach dem Thermo-
meter scheint uns kalt, wenn sie viel Feuch-
tigkeit enthält, warm, wenn sie trocken ist.
Vielleicht erregen auf diese Art das kohlensaure
Gas, Stickgas und Ammoniakgas das Gefühl
von Wärme c).
Alle diese Ursachen wirken indeſs noch
auf andere Art als blos durch ein chemisches
Verhältniſs. Sie verändern den Zustand des
Nervensystems und mit diesem den der Lebens-
thätigkeit, von welchem der Sinn für Tempera-
tur abhängig ist. Wir können Hitze und Kälte
ohne alle äuſsere Erhitzung und Abkühlung,
blos vermöge einer Umstimmung der Nerven-
thätigkeit empfinden und dieses Gefühl selbst in
einzelnen Nerven haben. Ein solches ist unter
andern die Aura epileptica, ein scheinbarer
kalter Luftzug, der bey einer Art der Fallsucht
von dem äuſsern Ende eines Nerven längs dem
Stamme desselben bis zum Gehirn hinaufsteigt
und,
P 3
[224] und, sobald er dieses erreicht hat, den epilepti-
schen Anfall nach sich zieht. In einer Schrift
meiner Jugendzeit d) stellte ich die Vermuthung
auf, daſs die Täuschung, wo wir Kälte und
Frost ohne äuſsere Veranlassung empfinden, von
einer Zusammenziehung der Nervenscheiden
herrühre. Ich glaube auch jetzt noch, daſs sich
die epileptische Aura, wovon ich Beyspiele in
jener Schrift (S. 132 fg.) gesammelt habe, das
Schauern von innern Ursachen, und ähnliche
Gefühle befriedigend aus dieser Voraussetzung
erklären lassen, für welche auſserdem noch dies
spricht, daſs Zusammenziehung in den häutigen
Theilen der Oberfläche des Körpers immer das
Gefühl von Kälte, und umgekehrt das letztere
jene zur Folge hat.
Drit-
[225]
Dritter Abschnitt.
Der Geschmack.
Das Geschmacksorgan ist das feinste aller
Reagentien gegen jede Substanz, die der Auf-
lösung im Speichel fähig ist. Die Empfänglich-
keit desselben für den Eindruck solcher Materien
ist so groſs, daſs selbst die am schwersten
auflöslichen Körper, z. B. Steine und Metalle,
nicht ohne Wirkung auf die Zunge sind. In
dieser Feinheit ist der Geschmackssinn Prü-
fungsmittel der nährenden Substanzen. Als sol-
cher dient er aber blos dem Menschen, der,
vermöge der Bildung und Beweglichkeit seiner
Lippen und seiner Zunge, das Gekostete, das
ihm widrig ist, durch willkührliches Auswerfen
wieder von sich zu entfernen vermag. Die
übrigen Thiere scheinen bey der Auswahl ihrer
Speisen mehr durch den Geruch, als durch den
Geschmack geleitet zu werden, und den letztern
vorzüglich nur als eine Quelle angenehmer
Empfindungen zu besitzen. Aus ihren Hand-
P 4lungen
[226] lungen allein läſst sich darum nur selten auf die
Gegenwart dieses Sinns, und noch seltener auf
den Grad der Feinheit desselben bey ihnen
schlieſsen. Das einzige Mittel, hierüber Aus-
kunft zu erhalten, ist, sie nicht nur in Betreff
ihres Verhaltens bey der Einwirkung verschie-
dener Substanzen auf das Geschmacksorgau,
sondern auch in Rücksicht der Bildung dieses
Sinneswerkzeugs, mit dem Menschen zu ver-
gleichen.
Der Hauptsitz des Geschmacks bey dem
Menschen ist bekanntlich die Zunge. Sie ist
aber nicht einziges Organ dieses Sinns. A.
Jussieue) erzählt von einem Mädchen, die
den Geschmack der Nahrungsmittel unterschei-
den konnte, obgleich sie statt der Zunge blos
einen fleischigen Knollen besaſs. Ein anderes
Mädchen, deren Geschichte von Bredotf) be-
schrieben ist, unterschied ganz ohne Zunge, die
sie in ihrem siebenten Lebensjahr bey den
Blattern verloren hatte, sehr gut den Geschmack
sowohl der Speisen, als anderer Substanzen,
z. B. des Salmiaks. Doch schien sie langsamer
und nicht so scharf als Personen, die im Besitz
der
[227] der Zunge sind, zu schmecken. Blumenbachg)
beobachtete einen Menschen, welcher, ohne
Zunge geboren, dennoch vermittelst des Gau-
mens den Geschmack verschiedener Auflösungen
bey verbundenen Augen unterschied und jedes-
mal nachher schriftlich angab h). Es läſst sich
also aus der Abwesenheit der Zunge bey gewis-
sen Thieren nicht auf die Abwesenheit des Ge-
schmackssinns schlieſsen.
Umgekehrt beweist aber auch die Gegen-
wart einer Zunge nicht die Gegenwart dieses
Sinns. Bey dem Menschen ist die Zunge nicht
nur Geschmackswerkzeug, sondern auch Tast-
organ, und auſserdem dient sie zur Ingestion
der Nahrungsmittel und zur Bildung der Stim-
me. Die letztere Funktion hat sie bey den
Thieren zwar nicht, oder doch nur in geringem
Grade. Aber bey den meisten ist sie deutlich
zur Aufnahme und Fortbewegung der Speisen,
bey vielen auch zum Tasten gebildet.
Die Zunge besitzt indeſs vielleicht als Sitz
des Geschmacks Eigenthümlichkeiten, aus deren
Gegen-
P 5
[228] Gegenwart oder Mangel Folgerungen in Hinsicht
auf die Verbreitung jenes Sinns bey den Thie-
ren abzuleiten sind. Ob dies der Fall ist, wer-
den wir zuvörderst zu untersuchen haben.
Seit Bellini’s Schrift über das Geschmacks-
organ i) erschien, ist es eine fast allgemein
angenommene Meinung, daſs der Hauptsitz des
Geschmacks die Nervenwärzchen der Zunge sind,
deren man gewöhnlich drey Arten annimmt:
kleinere, kegelförmige, die auf der ganzen
Oberfläche der Zunge zerstreut stehen; mittlere,
pilzförmige, die aus einem cylindrischen
Stiel mit einem breitern, rundlichen Oberende
bestehen und zwischen den kegelförmigen liegen,
und gröſsere, abgestumpfte, die sich von
ihrer Basis in der Gestalt eines umgekehrten,
abgestumpften Kegels erweitern und die hintere
Gegend des Rückens der Zunge einnehmen,
jedoch nur in geringer Zahl vorhanden sind.
Hallerk) hat gegen diese Eintheilung erinnert,
daſs viel Willkührliches darin ist, indem ein
allmähliger Uebergang der einen Art jener
Wärzchen in die andere statt findet, und daſs
manche Papillen sich zu keiner derselben rech-
nen lassen. Sie verdient aber doch beybehalten
zu
[229] zu werden, da die Formen der meisten Zun-
genwärzchen unter ihr begriffen sind, nur mit
Ausnahme der fadenförmigen, welche sich
zwischen den conischen finden und sowohl ihrer
Einfachheit als ihrer Gestalt wegen für eine
eigene, vierte Art von Sömmerringl) mit Recht
angenommen sind.
B. S. Albinm) fand in allen diesen Wärz-
chen neben einander liegende Fäden, die eine
von einer weiſsen Substanz umgebene Arterie
enthielten. Aus dem Ende der Arterie drang
die Einsprützungsmaterie hervor, ohne in eine
Vene überzugehen. Die gröſsern Wärzchen be-
standen aus einer gröſsern Zahl solcher Fäden;
in den einfachsten schien sich nur ein einziger
zu befinden. Bis zu den Papillen erkannte
Albin den Fortgang der letzten Nervenfäden;
ob aber die weiſse Substanz, die in ihnen neben
den Arterien lag, Nervensubstanz war, ver-
mochte er nicht zu unterscheideṅ. Sömmerring’s
Abbildungen und Beschreibungen n) weichen
von diesen Beobachtungen Albin’s darin ab,
daſs jedes fadenförmige Zungenwärzchen eine
Arterie enthält, die sich an der Spitze der
Papille
[230] Papille umbiegt und zur Basis der letztern zu-
rückkehrt; daſs die Arterien der einfachen
Fäden, woraus die pilz- und kegelförmigen
Wärzchen bestehen, mehr geschlängelte Bogen
als die der kegelförmigen machen, und daſs die
abgestumpften Wärzchen nicht aus einfachen
Fäden zusammengesetzt scheinen. Mehr als dies
sahe Keiner, dessen Aussage von Gewicht ist.
Aber eben dies und weiter nichts fand man
auch in den Nervenwärzchen der Haut. Man
hat also eben so viel für sich, die Zungen-
wärzchen für Tastorgane anzusehen, als den
Sitz des Geschmacks in ihnen anzunehmen.
Erwägt man alle Umstände näher, so er-
scheint am wahrscheinlichsten, daſs, wie Per-
raulto) schon vermuthete, die Zungenwärz-
chen nur zur Erhöhung des Geschmackssinns
beytragen, ohne nothwendige Bedingung dessel-
ben zu seyn, und daſs sie sich im Allgemeinen
mehr auf das Getast als auf den Geruch be-
ziehen. Zur gehörigen Zermalmung der Spei-
sen, zur Unterscheidung des Zermalmten von
dem Ungekäuten, und zur Verhütung des Ver-
schluckens von Substanzen, die den Verdau-
ungsorganen auf mechanische Art nachtheilig
seyn könnten, war dem Menschen und solchen
Thieren, deren Magen keine bedeutende reibende
Kraft
[231] Kraft besitzt und deren gastrischer Saft zur
Auflösung unzerkäuter Substanzen nicht gemacht
ist, ein zartes Tastvermögen der Zunge noth-
wendig. Es ist nach der Analogie der übrigen,
mit Nervenwärzchen versehenen Tastwerkzeuge
begreiflich, in welchem Verhältniſs gegen dieses
Getast die Zungenwärzchen stehen. Hingegen
ist nicht einzusehen, welches nothwendige Ver-
hältniſs dieselben als Nervenwärzchen gegen den
Geschmack haben können. Dieser kann nicht
auf der äuſsersten Oberfläche der Zunge vor
sich gehen. Die schmeckbaren Substanzen müs-
sen, um als solche empfunden zu werden, auf-
gelöst diese Oberfläche durchdringen. Zu dem
letztern Zweck besteht die Zunge aus einem so
lockern, schwammigen Gewebe. Aber Nerven-
wärzchen sind für denselben keine nothwendige
Bedingung. Wohl würde freylich die Durch-
dringung beschleunigt werden und sich über
einen gröſsern Raum ausbreiten, wenn die Pa-
pillen einsaugende Organe wie die Flocken des
dünnen Darms wären. Als solche sind sie in
der That auch zu betrachten. Diejenigen von
ihnen, die wir unter dem Namen der faden-
förmigen als eine eigene Art unterschieden
haben und aus welchen, als den einfachsten, die
übrigen zusammengesetzt sind, kommen in ihrer
Gestalt sehr mit den Darmzotten überein. Im
ganzen Thierreiche findet auch zwischen der
Schleim-
[232] Schleimhaut der Zunge und der einsaugenden
Haut des dünnen Darms eine groſse Ueberein-
stimmung statt, wie sich vorzüglich bey meh-
rern Amphibien zeigt, wo die Zunge statt der
Wärzchen mit einem ähnlichen Netzwerk, wie
die innere Wand des dünnen Darms statt der
Zotten, besetzt ist. Die Zungenwärzchen dienen
also als einsaugende Organe dem Geschmack.
Sie sind aber darum nicht eigentliches, oder
wenigstens nicht erstes Geschmackswerkzeug.
Eine zweyte Eigenthümlichkeit, worin viel-
leicht der unterscheidende Charakter der Zunge
als Geschmacksorgans zu finden wäre, sind die
Nerven derselben. Bey dem Menschen und den
verwandten Thieren erhält sie diese von drey
verschiedenen Paaren der Hirnnerven: vom
fünften Paar, von den Zungenschlundkopf- und
den Zungenfleischnerven. Der gewöhnlichen,
schon von Galenp), Vesalq) und Vieus-
sensr) vertheidigten Meinung nach, hängt der
Geschmack von dem Unterkinnladenzweig des
Trigeminus, die willkührliche Bewegung und
das Tastvermögen der Zunge aber von den
Nerven des neunten und zwölften Paars ab.
Wil-
[233]Williss) wich von dieser Theorie ab und
nahm an, daſs die Zungenfleischnerven gemein-
schaftlich mit den Nerven des fünften Paars
dem Sinne des Geschmacks dienten, weil es
ihm sonst nicht erklärbar war, weshalb die
ganze Masse der Zunge mit so vielen Zweigen
des Zungenfleischnerven durchwebt ist. Boer-
haavet) schrieb die Geschmacksempfindung
blos dem zwölften Nervenpaare zu, doch nur,
weil diese Nerven zu keinen andern Theilen als
zur Zunge gehen. Dumasu) vermuthete, die
Nervenzweige, die sich in den Muskeln der
Zunge verlieren, dienten zur Bewegung, die
aber, welche in die auſsere Substanz der Zunge
dringen, zum Geschmack, sie mögen vom fünf-
ten, neunten oder zwölften Paar herrühren.
Autenriethv) sieht den Zungenschlundkopf-
nerven und den Zungenast des fünften Paars
für die Geschmacksnerven an und schreibt den-
selben Empfanglichkeit für entgegengesetzte Ge-
schmackseindrücke zu. Er erklärt aus dieser
Voraussetzung, warum der Eindruck des Süſsen
und Sauren schon mit der Zungenspitze, der
des Bittern und Alkalischen mehr nach der
Zun-
[234] Zungenwurzel hin empfunden wird, und warum
der durch den positiven Pol der Galvanischen
Elektricität erregte Geschmack vorzüglich nur
auf der Spitze der Zunge sauer ist, hingegen
weiter hinten, auf der Zungenwurzel, ange-
bracht, manchen Menschen sogar alkalisch zu
seyn scheint.
Hier sind der Streiter um den ächten Ring
mehr als in Nathan’s Erzählung, und doch
besitzt vielleicht auch hier Keiner das ächte
Kleinod. Für die Funktion des Zungenzweigs
vom Trigeminus als Geschmacksnerven sprechen
allerdings wichtige Gründe. Parryw) führt
einen Fall an, wo das Vermögen, zu sprechen
und zu schlucken, ohne äuſsere Ursache sehr
vermindert war, und einen zweyten, wo diese
Verminderung nach einem Sturz auf den Kopf
eintrat, während in beyden der Geschmack un-
geschwächt fortdauerte. Hiernach ist also der
letztere unabhängig von dem Bewegungsvermögen
der Zunge. Daſs aber der Geschmack von dem
Zungenast des fünften Hirnnerven abhangt, er-
giebt sich aus einem dritten, von Parry beob-
achteten Fall, wo der Geschmack in der einen
Hälfte der Zunge von einem Druck, den jener
Nervenzweig auſserhalb der Schädelhöhle erlitt,
verlo-
[235] verloren gegangen, hingegen die willkührliche
Bewegung und das Tastvermögen unverändert
geblieben war.
Diesen Erfahrungen steht indeſs eine von
Heuermannx) gemachte Beobachtung entgegen,
wo der Geschmack zum Theil verloren ging,
nachdem der Zungenfleischnerve bey der Ex-
stirpation einer scirrhösen Drüse durchschnitten
war. J. F. Meckely) hat zwar gegen den
Schluſs, der sich aus diesem Beyspiel in Betreff
der Mitwirkung des Zungenfleischnerven beym
Schmecken ziehen läſst, eingewendet: die Ver-
letzung habe hier blos wegen der Verbindung
des Hypoglossus mit dem Trigeminus störend
auf die Geschmacksverrichtung wirken können,
und die Beobachtung beweise zu viel, da der
Zungenfleischnerve seiner und des Zungenasts
vom fünften Paar Verbreitung nach nicht allein
Geschmacksnerve seyn könne, was aus Heuer-
mann’s Erfahrung folgen würde, wenn man
sie als einen Beweis für die Geschmacksver-
richtung jenes Nerven ansähe. Mit dem erstern
Grund läſst sich aber eben so gut die Beweis-
kraft der Fälle, wo der Geschmack nach Ver-
letzung des Zungennerven vom fünften Paar
verlo-
VI. Bd. Q
[236] verloren ging, entkräften. Der letztere Einwurf
ist ungültig, weil Heuermann nicht gänz-
lichen Verlust des Geschmacks nach der
Durchschneidung des Zungenfleischnerven beob-
achtete, und sich also freylich aus seiner Erfah-
rung nur schlieſsen läſst, daſs dieser Nerve
Antheil an der Funktion des Schmeckens hat,
nicht aber, daſs derselbe einziger Geschmacks-
nerve ist. Für diese Folgerung spricht auch die
Verbindung der Aeste des Zungenfleischnerven
mit den Zungennerven vom fünften Paar, ein
Umstand, der bey allen Nerven, wobey er statt
findet, auf Gleichartigkeit der Verrichtungen
hindeutet. Es ist hier um so mehr verstattet,
aus dieser Verbindung auf einen Antheil beyder
Nerven an jener Funktion zu schlieſsen, da in
den Organen des Geruchs, Gehörs und Gesichts
die Zweige des fünften Hirnnerven offenbar
blos Hülfsnerven sind, der sonstige Hülfsnerve
also in der Zunge aller Analogie zuwider ein-
ziger Sinnesnerve seyn würde, wenn nicht
gleichartig mit ihm der Zungenfleischnerve
wirkte.
Meckel beruft sich zur Unterstützung sei-
ner Meinung auf einen von Columbus erzähl-
ten Fall, wo angeborner Mangel des Geschmacks
vorhanden gewesen seyn soll, weil sich der
Zungenast vom fünften Paar nicht in der Zunge,
son-
[237] sondern am Hinterhaupte verbreitet habe. Er
hat hiermit aber eine Stütze ergriffen, die schon
Hallerz) mit groſsem Recht als unzuverläſsig
verwarf. Hallera) führt dagegen als Beweis
für die Verrichtung des Schmeckens durch jenen
Zungenast an, daſs nur Zweige des Trigeminus
bis zur Spitze der Zunge gelangen, wo der
schärfste Geschmack ist, und daſs nur diese sich
bis in die Nervenwärzchen verfolgen lassen.
Mit dieser Angabe stimmen zwar auch Söm-
merring’s b) Beobachtungen überein. Allein
es läſst sich dagegen erinnern, daſs es bey der
Vereinigung des Zungennerven vom fünften
Paar mit dem Zungenfleischnerven ungewiſs ist,
welchen Beytrag der letztere zu den Nerven-
fäden der Zungenwärzchen liefert c), und daſs
es, wenn man auch annimmt, es gehen zu den
Papillen der Zungenspitze blos vom fünften
Ner-
Q 2
[238] Nervenpaar entspringende und blos unter dessen
Einfluſs stehende Fäden, doch zweifelhaft bleibt,
ob solche Fäden nicht Nerven des Tastsinns der
Zunge sind, von dem sich mit mehr Recht als
von dem Geschmackssinn behaupten läſst, daſs
er vorne an der Zunge am zartesten ist.
Es läſst sich also nach allen bisherigen
Gründen der Sitz des Geschmacks in keinen
der beyden gedachten Nerven allein setzen.
Aber auch dem Zungenschlundkopfnerven läſst
sich eine unmittelbare Funktion beym Schmek-
ken nicht absprechen. Sömmerringd) verfolgte
ihn beym Menschen bis in die abgestumpften
Zungenwärzchen. Bey den Vögeln giebt, wie
Tiedemanne) bemerkt und wie ich ebenfalls
bey der Gans und bey der Ente gefunden habe,
der dritte Ast des fünften Nervenpaars über-
haupt keinen Zweig an die Zunge, sondern blos
an die Gaumenwärzchen. Der Zungenschlund-
kopfnerve aber läuft bey dem Specht, dem
Wendehals und ähnlichen Vögeln, die ihre
Zunge weit aus dem Munde hervorstrecken, in
der häutigen Scheide, welche dieses Organ um-
giebt, bis zur pfeilartigen Spitze desselben fort,
wo er sich in der Haut endigt, indem er zu-
gleich während seines Verlaufs feine Fäden an
die
[239] die Scheide abgiebt f). Daſs diese Nervenendi-
gung nicht zum Schmecken, sondern blos zum
Tasten diene, läſst sich nicht mit Wahrschein-
lichkeit annehmen, da bey allen Vögeln schon
der Schnabel ein deutliches Tastwerkzeug ist.
Hiernach wäre denn unter den obigen Mei-
nungen über den eigentlichen Geschmacksnerven
die von Dumas geäuſserte in so weit die richti-
gere, als in ihr die sämmtlichen, zur Zunge
gehenden Nerven für mitwirkend beym Schmek-
ken angenommen werden. Unrichtig aber ist
es, wenn Dumas blos die zu den Zungen-
wärzchen gehenden Zweige für Geschmacksner-
ven erklärt. Ob nun alle jene Nerven auf
gleiche Weise zur Geschmacksverrichtung bey-
tragen, oder ob jeder Zungennerve einer eige-
nen Modifikation dieser Funktion vorsteht, ist
eine Frage, zu deren Beantwortung es noth-
wendig ist, den Geschmack in einen subjek-
tiven und objektiven zu unterscheiden. Der
subjektive Geschmack beruht auf dem Gefühl
des Hungers und Durstes, und ist ein bloſser
Sinnenkitzel bey der Ingestion dessen, was auf
angemessene Art zur Stillung dieser Gefühle
dient. Der objektive Geschmack unterscheidet
ohne Beziehung auf ein körperliches Bedürfniſs
die
Q 3
[240] die Qualitäten der im Speichel aufgelösten Sub-
stanzen. Der letztere ist wohl durch die Ver-
bindung der Zunge mit dem fünften Hirnner-
venpaar bedingt, welches der höhern sensitiven
Sphäre des Gehirns naher als das neunte und
zwölfte Paar entspringt und mit den Nerven
der Verdauung nicht in unmittelbarer Verbin-
dung steht. Der subjektive Geschmack hingegen
scheint mehr von dem Zungenschlundkopfnerven
und dem Zungenfleischnerven abzuhängen, wel-
che ihren Entstehungsort näher dem Ursprunge
der Nerven des vegetativen Lebens haben und
mit dem System sowohl der herumschweifenden
Nerven, als des sympathischen Nerven durch
Verbindungszweige unmittelbar verflochten sind.
Möglich ist es auch, daſs, nach Autenrieth’s
Vermuthung, der Glossopharyngæus für andere
Geschmackseindrücke als der Zungenast des
Trigeminus organisirt ist. Doch finde ich in
der Empfänglichkeit der verschiedenen Stellen
der Zunge für verschiedenartige Einwirkungen
so wenig Uebereinstimmung bey verschiedenen
Menschen, daſs ich den Erfahrungen, worauf
sich Autenrieth zum Beweise seiner Meinung
beruft, wenig Gewicht beylegen kann. Ueber-
haupt geben alle Versuche über den Einfluſs
verschiedener Substanzen auf einzelne Stellen
der Zunge unsichere Resultate, wenn man sie
bey geöffnetem Munde auf der ausgestreckten
Zunge
[241] Zunge anstellt, weil durch die hierbey statt
findende Spannung der letztern ihre Reitzbarkeit
sehr vermindert wird.
So giebt es denn von der Gegenwart des
Geschmackssinns im Allgemeinen keine andere
organische Kennzeichen, als die Gegenwart
einer am Eingange des Nahrungscanals befind-
lichen, von einer hier abgesonderten Flüssigkeit
leicht zu durchdringenden, schwammigen Fläche,
unter welcher sich Nervenzweige endigen, die
analogen Ursprungs wie die Zungennerven des
Menschen sind; Aehnlichkeit jener Flüssigkeit
mit dem Speichel in Rücksicht auf die auflö-
sende Kraft und die indifferente Mischung der-
selben, und unmittelbare Berührung der zu
schmeckenden Substanz mit der nervenreichen
Fläche nach vorhergegangener Befeuchtung der
Substanz mit dem speichelartigen Saft. Diese
Merkmale sind aber freylich so unzureichend
und die Aeuſserungen der Thiere sowohl im
natürlichen Zustande, als bey Versuchen, denen
man sie unterworfen hat, oft so zweydeutig,
daſs in vielen Fällen nicht mehr als bloſse
Vermuthungen über die Verbreitung des Ge-
schmackssinns in den verschiedenen Classen
und Familien des Thierreichs möglich sind.
Am wenigsten läſst sich über das Verhältniſs
des Speichels zum Geschmackssinn bey den
Q 4Thie-
[242] Thieren urtheilen. Gerade dieses aber würde,
wenn es erkennbar wäre, ein wichtiges Kenn-
zeichen der Gegenwart und Beschaffenheit des
Sinns für schmeckbare Substanzen abgeben.
Der menschliche Speichel reagirt oft alkalisch g),
und dieser alkalischen Beschaffenheit desselben
ist es vielleicht zuzuschreiben, daſs Laugensalze
nicht so heftig als Säuren auf die Zunge der
meisten Menschen wirken. Jene Reaktion ist
aber immer nur schwach und oft fehlt sie ganz.
In dieser Indifferenz der Mischung des mensch-
lichen Speichels liegt wahrscheinlich mit ein
Grund der Zartheit des Geschmacks beym Men-
schen.
Ein gewisser Grad des subjektiven Ge-
schmacks läſst sich keinem Thier, von dem
Menschen an bis zu dem untersten der Wür-
mer, ganz absprechen. Wie weit sich der
objektive Geschmack vom Menschen abwärts im
Thierreiche erstreckt, ist auf keine Weise zu
bestimmen. Daſs aber überhaupt der Geschmack
in der Zunge bey allen Säugthieren weit stum-
pfer als beym Menschen seyn muſs, erhellet
daraus, weil auf ihr unter der Oberhaut in den
Zwischenräumen der Wärzchen ein fibröses
Gewebe liegt, das von den letztern durchbohrt
wird, abgelöst von der Zunge die Gestalt eines
Netzes
[243] Netzes hat und nicht geeignet zu seyn scheint,
Flüssigkeiten durchzulassen. Bey vielen Ge-
schlechtern und selbst ganzen Familien dieser
Thierclasse können auch viele der Zungenpapil-
len, ihrer hornartigen Beschaffenheit wegen,
keine Empfänglichkeit für Geschmackseindrücke
besitzen. Solche hornartige Papillen giebt es
bey mehrern Fledermäusen, den sämmtlichen
Arten der Katzenfamilie, den Beutelthieren und
den Wiederkäuern. Bey den katzenartigen
Thieren sind die hornartigen Spitzen der Zun-
genwärzchen den menschlichen Nägeln sehr
ähnlich, so daſs sich hier eine nahe Verwandt-
schaft mit den Tastorganen des Menschen zeigt.
Noch weniger Empfänglichkeit für Geschmacks-
eindrücke läſst sich in der langen, dünnen und
glatten Zunge der Gürtel- und Schuppenthiere
und der Ameisenbären annehmen. Diese Thiere
verschlucken aber auch ihr Futter ungekäuet,
und mit dem Grade der Zermalmung des letz-
tern steht die Organisation der Zunge als Sitzes
des Geschmackssinns bey allen Thieren, die
sich von festen Substanzen nähren, in Ver-
hältniſs. Sie ist darum von ähnlicher, zum
Schmecken wenig geeigneter Beschaffenheit bey
den meisten Vögeln, besonders den körnerfres-
senden. Nur die, welche von saftigern Früch-
ten leben, besonders die Papageyen, haben eine
breitere, mehr schwammige, mit gröſsern, wei-
Q 5chen
[244] chen Papillen besetzte Zunge h). Indeſs ist bey
allen Vögeln und vielleicht auch bey denen
Säugthieren, die ihnen im Bau der Zunge ähn-
lich sind, der weiche Gaumen und der Eingang
zum Schlunde ebenfalls ein Sitz des Geschmacks-
sinns. An jenem vertheilen sich bey den Vö-
geln Fäden vom dritten Ast des fünften Ner-
venpaars und am Schlundkopfe Zweige des
Zungenfleischnerven i). Es ist selbst nicht un-
wahrscheinlich, daſs bey manchen Säugthieren
die Backentaschen und bey vielen Vögeln der
diesen Taschen analoge Kropf empfänglich für
den Geschmack der Nahrungsmittel sind, die in
diesen Behältern erweicht und zum Theil auf-
gelöst werden.
Unter den Amphibien, und selbst auch unter
den Fischen, stehen vielleicht einige Arten in
Betreff des subjektiven Geschmackssinns der
Zunge höher als manche Vögel. Viele jener
Thiere
[245] Thiere verschlucken zwar auch wie diese ihr
Futter, ohne es zu käuen; aber von mehrern
wird dasselbe doch vor dem Verschlingen zer-
malmt, so daſs der Saft der thierischen oder
vegetabilischen Substanzen, wovon sie sich näh-
ren, auf die Geschmackswerkzeuge wirken kann,
und selbst diejenigen, die in der Wahl ihrer
Kost keine Auswahl zeigen und diese unzer-
malmt verschlingen, z. B. die Frösche, äuſsern
demohngeachtet Zeichen von Geschmacksempfin-
dung, indem sie die ihnen unpassenden Dinge
wieder auswerfen k). Die Zunge hat zwar bey
den meisten Amphibien keine Papillen mehr.
Doch ist sie bey vielen weich, schwammig,
zur Durchdringung von Flüssigkeiten geeignet
und statt der Wärzchen oft mit einem ähnlichen
Netzwerk, wie die innere Fläche ihres dünnen
Darms, bedeckt. Unter den Fischen giebt es
nur wenig Arten, deren Zunge die Organisation
eines Sinneswerkzeugs hat. Aber hinten am
Gaumen beym Eingang des Schlundes liegen bey
ihnen zwey lange, sehr weiche und blutreiche
Anhänge, woran ich beym Schellfisch, bey dem
ich sie näher untersucht habe, zwar keine
Wärzchen, doch auch keinen drüsenartigen Bau
fand, und zu welchem Zweige des Nerven
gingen, der bey den Fischen die Stelle des
Glossopharyngæus vertritt. Ich glaube nicht zu
irren,
[246] irren, wenn ich in diesen, schon von A. Mon-
rol) bemerkten und mit den Mandeln der
Säugthiere verglichenen Organen den Sitz des
Geschmackssinns vermuthe.
Kein Theil, der der Sitz eines Sinns ist,
hat eine so weite Verbreitung im Thierreiche
als die Zunge. Sie findet sich nicht nur bey
den meisten Mollusken, Insekten und Würmern,
die Kauwerkzeuge haben, sondern auch bey
manchen Wesen der untersten Stufen dieses
Reichs, deren Mund keine hornartige Theile
enthält, z. B. beym Regenwurm. Bey dem
letztern entdeckte ich eine weiche, cylindrische
Zunge in einer Vertiefung der innern Wand
des Schlundes, die von einer wulstförmigen
Hervorragung umgeben und auf ihrer inwendi-
gen Fläche mit der Substanz des Schlundes
verwachsen, also unbeweglich ist. Der letztere
Umstand beweist. daſs sie keine Verrichtung
bey der Ingestion der Nahrungsmittel, sondern
nur die eines Sinneswerkzeugs haben kann.
Bey manchen Mollusken und Insekten hat die
Zunge vielleicht blos mechanische Funktionen.
Aber sie ist gewiſs auch bey vielen Werkzeug
des Geschmacks. Nur darf man bey den In-
sekten
[247] sekten nicht das für die Zunge ansehen, was
von den Entomologen und selbst von manchen
Anatomen so genannt wird *). Wo sie in die-
ser Thierclasse vorhanden ist, nimmt sie die
Stelle über dem Eingauge des Schlundes ein.
Bey den Wespen, Hornissen und andern Hy-
menopteren giebt es zwey Zungen, eine äuſsere
und eine innere. Die äuſsere ist knorpelartig
und kann blos mechanische Zwecke haben.
Die innere hingegen ist fleischig, weich, mit
einer zarten Haut überzogen und in jeder Rück-
sicht zum Schmecken organisirt m). Jene Insek-
ten
[248] ten verrathen aber auch unzweydeutig durch
ihre Handlungen den Besitz des Geschmacks-
sinns, indem sie Honig, Zucker und Syrup
lieben, den süſsesten Früchten in den Obstgär-
ten nachgehen, das reife Obst dem unreifen
vorziehen und von dem Genuſs ihrer Lieblings-
speisen nach einmaligem Kosten gleich wieder
abstehen, wenn diese verdorben, oder mit wi-
drigen Sachen vermischt sind n). Eine so
fleischige Zunge wie bey diesen Thieren findet
man zwar in den meisten der übrigen Insek-
tenfamilien gewöhnlich nicht. Sie ist aber auch
in diesen häufig zugegen, nur oft unter einer
veränderten Form *). Bey mehrern Arten ist
sie
m)
[249] sie zwar vorne knorpel- oder hornartig; doch
hinten fand ich sie immer fleischig *). Eben
diese fleischige Beschaffenheit hat ihr hinterer
Theil auch bey den Mollusken o), wo sie vorne
mit hornartigen Spitzen oder hervorragenden
Rippen besetzt ist.
Eine andere Meinung von dem Sitz des
Geschmackssinns bey den Insekten hat Knochp)
geäuſsert. Dieser hält die Lippenpalpen dersel-
ben für das Geschmacksorgan. Es ist allerdings
wahr, daſs die mit Freſswerkzeugen versehenen
Insekten während dem Fressen ihre Speise da-
mit betasten. Allein Heuschrecken, bey wel-
chen man die Bewegungen dieser Theile am
deutlichsten beobachten kann, sahe ich Zucker,
woran ich sie nagen lieſs, damit berühren,
ohne denselben vorher befeuchtet zu haben,
während sie mit der Oberlippe die Speise fest-
hielten und beym Verschlucken lenkten. Die
Pal-
*)
[250] Palpen können ihnen also nur zum Tasten
dienen, wozu auch ihre Bildung weit passender
als zum Schmecken ist. Soviel ist aber wohl
richtig, daſs schon bey den Insekten der Ge-
schmack und das Getast weit weniger verschie-
dene Sinne als bey den höhern Thieren sind,
und bey den Mollusken und Würmern einander
noch gleichartiger werden, bis sie bey den
Zoophyten zu einem einzigen allgemeinen Sinn
sich vereinigen.
Vierter
[251]
Vierter Abschnitt.
Der Geruch.
Erstes Kapitel.
Der Geruch im Allgemeinen.
Geruchssinn des Menschen und der
Säugthiere.
Wie alles Schmeckbare nur in tropfbar flüssi-
ger Auflösung als solches wahrgenommen wird,
so wirkt jede riechbare Substanz nur in gas-
förmiger Auflösung auf den Geruchssinn. Man
sagt zwar, für die Wasserthiere sey das Medium
der Gerüche das Wasser. Ob sich dies aber
wirklich so verhält, ist eine Frage, die noch
eine nähere Prüfung verdient. Findet in der
That eine Wirkung der nämlichen Stoffe, die
durch die Luft auf die Geruchsorgane der
Landthiere wirken, durch Vermittelung des
VI. Bd. RWas-
[252] Wassers auf die Fische statt, so ist der Sinn,
den diese dafür besitzen, nicht Geruchs-, son-
dern Geschmackssinn.
Vermuthlich sind alle Körper von einer
riechbaren Atmosphäre umgeben. Selbst Metalle
und Steine werden riechbar durch Reiben. Viele
Dinge, die für uns geruchlos sind, wirken auf
die Geruchsnerven der Thiere. Linnéq) stellte
zahlreiche Versuche an, um auszumitteln, wel-
che Kräuter von den Ochsen, Ziegen, Schaafen,
Pferden und Schweinen gefressen werden und
welche von ihnen unberührt bleiben. Unter
den letztern sind sehr viele, die auf unsern
Geruchssinn gar keinen Eindruck machen. Die
Ziege unterscheidet sogar den einer Weintraube
anhängenden Hauch eines Menschen und wählt
unter einem Haufen Trauben, wovon einige
angehaucht sind, die unangehauchten r). Selbst
schon in weiter Entfernung wird die riechbare
Atmosphäre solcher Körper, die für uns wenig
oder gar keinen Ceruch haben, von manchen
Thieren empfunden. Das Reh wittert einen
Menschen schon auf dreyhundert Schritte s).
Ein
[253] Ein Thier, das jeden Körper durch den Geruch
wahrzunehmen und von andern zu unterschei-
den vermöchte, würde schon durch diesen Sinn
allein im Handeln geleitet werden.
Von einer solchen Schärfe ist wahrschein-
lich der Geruchssinn bey keinem Wesen. Wir
finden nie, daſs, bey groſser Empfänglichkeit
dieses Sinns für mannichfaltige Gerüche, zu-
gleich die riechbaren Ausflüsse der Körper, aus
weiten Entfernungen kommend, oder schwach
wirkend, auf ihn Eindruck machen. Indeſs
giebt die Thatsache, daſs viele Dinge, die auf
unsere Riechnerven keinen Einfluſs haben, für
manche Thiere riechbar sind, einen Schlüssel
zur Erklärung mehrerer, sonst schwer zu er-
klärender Erscheinungen, z. B. des geselligen
Lebens einiger Arten und der Ungeselligkeit
anderer; der engen Grenzen des Aufenthalts
verschiedener Gattungen, worin sie weder durch
Hindernisse, die ihnen Berge, Flüsse, Meere
u. d. gl. entgegensetzen, noch dadurch, daſs
innerhalb derselben eine eigene Temperatur der
Luft herrscht, oder besondere Nahrungsmittel
vorhanden sind, gehalten werden; des plötz-
lichen Auswanderns mancher Thiere, die sonst
nicht zu den wandernden gehören, und des
Stillstandes derselben auf ihren Zügen. Die
Geselligkeit und Ungeselligkeit der Individuen
R 2sowohl
[254] sowohl einer und derselben Art, als verschie-
dener Gattungen, hängt wohl nicht in allen
Fällen, doch wahrscheinlich in manchen, von
dem wechselseitigen Einfluſs der Individuen auf
ihren Geruchssinn, so wie das Verhalten eini-
ger Arten in Hinsicht auf ihre Verbreitung
von der Einwirkung riechbarer Ausflüsse des
Bodens ab.
Der Mensch besitzt mehr Empfänglichkeit
für mannichfaltige, das Thier mehr für einzelne
Gerüche. Man hat zwar behauptet, der Mensch
stehe den Thieren an Schärfe des Geruchs
überhaupt nur darum nach, weil der Geruchs-
sinn von ihm nicht geübt werde, und zur
Unterstützung dieser Meinung Sagen von einzel-
nen Menschen und selbst von ganzen Nationen
angeführt, die das Spürvermögen der Hunde
sollen besessen haben. Allein die Gewährs-
männer für diese Erzählungen verdienen wenig
Zutrauen. Neuere, zuverlässige Reisende er-
wähnen nur eines scharfen Gesichts und Ge-
hörs, nicht aber einer besondern Feinheit des
Geruchs mancher Völker *). Gewisser ist es,
daſs
[255] daſs der Mensch Fleischgerüche feiner zu un-
terscheiden vermag als die pflanzenfressenden
Thiere,
*)
R 3
[256] Thiere, wenn er diesen auch in der Unter-
scheidung mancher Pflanzen vermittelst des
Geruchs nachsteht, und daſs er einen feinern
Sinn für Pflanzengerüche als die fleischfressen-
den
*)
[257] den hat, obgleich er nicht die dem Spürhunde
und andern dieser Thiere eigene Empfindlich-
keit gegen die schwächsten thierischen Gerüche
besitzt.
Mit dem Menschen ist wohl der Affe in
Rücksicht auf den Geruchssinn am nächsten
verwandt. Bey den übrigen Säugthieren, mit
Ausnahme der Cetaceen, über deren Riechver-
mögen es ganz an Beobachtungen fehlt, äuſsert
sich dieser Sinn als das Vermögen entweder zu
spüren, oder zu wittern. Der Geruchssinn
als Vermögen zu spüren wird von riechbaren
Stoffen nur in der Nähe, doch hier schon von
der bloſsen, einer Materie anhängenden, riech-
baren Atmosphäre eines andern Körpers aufge-
regt. Als Vermögen zu wittern empfindet er
riechbare Ausflüsse schon in groſser Entfernung
von der Substanz, wovon diese ausgehen, doch
nur, wenn die Bewegung der Luft von dem
ausdünstenden Gegenstande zum Thier, das
dieses Vermögen besitzt, gerichtet ist. Eine ent-
gegengesetzte Bewegung der Luft, so wie Nebel
und Regen, hindern die Ausübung des letz-
tern t); durch Durst wird dasselbe erhöhet u).
Der
R 4
[258]
Der Unterschied zwischen diesen beyden
Vermögen ist tief in der Natur der Thiere
gegründet. Alle katzenartige Thiere z. B. sind
unfähig, ihre Beute oder ihre Feinde in der
Ferne zu riechen. Der Löwe geht andern
Thieren nicht mit Hülfe des Geruchs nach v).
Doch ist er im Stande, die Spur eines Men-
schen durch den Geruch sehr weit zu verfol-
gen w). Hingegen alle Wiederkäuer und
schweineartigen Thiere riechen nicht die Spur
eines Menschen, der sie verfolgt, oder von
ihnen verfolgt wird, desto schärfer aber die
ihnen von dem Winde zugeführte Ausdünstung
desselben. Dem Winde entgegen kann ihnen
der Jäger sehr nahe kommen, ohne von ihnen
bemerkt zu werden x).
Bey allen Landthieren geschieht das Riechen
vermittelst des Einathmens durch die Nase.
Nur der Mensch athmet zugleich durch die Nase
und
[259] und durch den Mund, jedes der übrigen Land-
thiere blos durch die Nase. Die Funktion des
Geruchssinns ist daher mit einer zur Fortdauer
des Lebens unumgänglich nothwendigen und
stets fortdauernden Verrichtung aufs engste ver-
bunden, und noch enger bey den Thieren als
beym Menschen damit verknüpft. [...]s giebt
unter den mit einer Nase versehenen Säug-
thieren keine, welche das Eindringen der Luft
in dieses Organ willkührlich verhindern können,
als die Robben, denen wegen ihres, oft langen
Verweilens unter dem Wasser ein Mechanismus
zum Verschlieſsen der Nasenlöcher nothwendig
war.
Ohne Einathmen durch die Nase findet auch
kein Riechen, oder doch nur ein sehr schwa-
ches, statt. Perraulty) und Lowerz) be-
merkten bey Hunden, denen, nach Unterbin-
dung der Luftröhre, in dieser eine Oeffnung
unter dem Bande gemacht war, wodurch die
geathmete Luft eindrang, ohne durch die Nase
zu gehen, keine Zeichen von Fortdauer des
Geruchs. In Lower’s Versuchen soll das
Riechvermögen so ganz verloren gegangen seyn,
daſs
R 5
[260] daſs auch die stärksten Gerüche keinen Eindruck
auf das Thier weiter machten. Von dieser
Angabe ist vielleicht etwas abzurechnen. Der
Versuch, worauf man sich oft berufen hat, um
die Nothwendigkeit des Einathmens zum Riechen
zu beweisen, daſs beym Anhalten des Athems
keine Gerüche mehr auf die Nasennerven wir-
ken, ist, wie schon Casseriusa) mit Grund
eingewandt hat, von keinem Gewicht, da alles
Anhalten des Athems aus kurzen Inspirationen
und Exspirationen besteht, wobey die kaum in
die Nase gedrungene Luft gleich wieder ausge-
stoſsen wird. Doch soviel ist allerdings gewiſs,
daſs nur eine schwache und langsame Wirkung
der mit riechbaren Stoffen geschwängerten Luft
auf den Geruchssinn möglich ist, wenn diese
nicht durch Einathmen in die engen Canäle der
Nase getrieben wird.
Durch stärkeres Einathmen, Aufnahme einer
gröſsern Menge Luft, als beym ruhigen Athem-
holen in die Nase tritt, wird der Geruch ver-
stärkt. Die Respirationsorgane der Säugthiere
aber gestatten kein stärkeres Einathmen ohne
unangenehme Empfindungen, und was hierbey
von denselben mehr an Luft aufgenommen wird,
als das gewöhnliche Maaſs beträgt, ist so groſs
nicht, daſs der Geruch dadurch bedeutend ver-
mehrt
[261] mehrt werden kann. Ueberhaupt würde die
Luft bey jedem Athemzug viel zu schnell durch
die Nasencanäle strömen, als daſs ihre riech-
baren Stoffe gehörig auf das Geruchswerkzeug
wirken könnten, wenn nicht Organe vorhanden
wären, wodurch ein Theil der eingezogenen
Luft von dem geraden Wege nach den Lungen
abgeleitet würde. Solche Organe sind die Höh-
lungen und Zellen der Gesichtsknochen. Die
Mündungen, wodurch diese sich in die Nase
öffnen, liegen an den innern Enden der in
den Muschelbeinen und den Fortsätzen des
Siebbeins enthaltenen Canäle, also an Stellen,
die jener Ableitung ganz entsprechen. Sie feh-
len, wie wir unten sehen werden, den Thier-
classen, die entweder andere Organe zu diesem
Zwecke besitzen, oder deren Geruchswerkzeuge
wenig ausgebildet sind. Einige von ihnen man-
geln zwar auch manchen Säugthieren, z. B. die
Stirnhöhlen der Ratze, der Maus, dem Haasen,
der Fledermaus u. s. w. Aber bey diesen sind
die Sinus mit den Nasenhöhlen selber vereinigt
und die letztern in Verhältniſs gegen den ganzen
Kopf geräumiger, als bey den meisten derer,
welche Sinus besitzen. Zum Theil werden auch
bey allen, mit zitzenförmigen Fortsätzen des
Gehirns versehenen Thieren die Sinus schon
durch die vielen und verwickelten Canäle der
Muschelbeine und der Fortsätze des Siebbeins
ersetzt,
[262] ersetzt, und es ist auffallender, daſs die mehr-
sten dieser Thiere hierbey dennoch Neben-
höhlen der Riechorgane besitzen, als daſs man-
che derselben damit nicht ausgestattet sind.
Vielleicht giebt es auſser der obigen Bezie-
hung noch andere Nebenzwecke der Sinus. Die
in sie eindringende Luft erleidet gewiſs auf der
gefäſsreichen Haut, womit sie inwendig über-
zogen sind, einem unmittelbaren Fortsatz der
Schleimhaut der Nase, ähnliche Veränderungen
wie in den Lungen, und diese Respiration hat
vielleicht einen Einfluſs auf das Gehirn. Wris-
bergb) fand in den Stirnhöhlen eines Hundes,
der seit einem halben Jahr Zeichen von Stupi-
dität geäuſsert hatte, drey Würmer, die er für
Blutegel hielt. Diese Beobachtung läſst sich
nicht ohne Voraussetzung eines Einflusses der
in den Stirnhöhlen befindlichen Blutgefäſse auf
das Gehirn erklären: denn Nerven giebt es in
diesen Höhlen nicht, die auf das Gehirn hätten
wirken können c). Hingegen daſs die Stirn-
höhlen, nach Blumenbach’sd) Vermuthung,
ver-
[263] vermöge der wäſsrigen Feuchtigkeit, die in
ihnen abgesondert werde und in die Nase ab-
flieſse, mit dem Geruchssinn in Beziehung ste-
hen, ist nicht wahrscheinlich. Die Schleimhaut
der Nase sondert selber schon so stark ab, und
auſserdem liefern die Sekretionsorgane der
Thränen so viele in die Nase sich ergieſsende
Flüssigkeit, daſs es keiner weitern Quellen zur
Befeuchtung der Nasenhöhlen bedurfte. Auch
haben einige Thiere, z. B. der Igel, eine immer
feuchte Nase, ohne Stirnhöhlen zu besitzen, und
die Wände dieser Sinus sind an frischen Men-
schenköpfen immer glatt und feucht e). Eine
unmittelbare Funktion beym Riechen läſst sich
übrigens den Höhlungen der Gesichtsknochen
auf keinen Fall zuschreiben. Niemand empfin-
det den Eindruck riechbarer Stoffe in diesen
Höhlen, und bis in die Stirnhöhlen lassen sich
keine Nerven verfolgen f).
Die eingezogene Luft wirkt zunächst auf
die Schleimhaut der innern Nase, eine bey allen
luftathmenden Wirbelthieren vorhandene, die
Canäle
[264] Canäle der letztern auskleidende Membran, die
sehr reich an Nerven, Blutgefäſsen und Schleim-
bälgen ist, auf ihrer auswendigen Oberfläche
einen Ueberzug von kurzen, höchst zarten
Flocken hat, und sowohl von dem Schleim
ihrer Schleimbälge, als von der Flüssigkeit der
Thränendrüsen, die ebenfalls bey allen jenen
Thieren zugegen sind, immer feucht erhalten
wird. Diese Feuchtigkeit ist ein nothwendiges
Erforderniſs zum Riechen. Der für ihre
Nothwendigkeit oft angeführte Grund, daſs bey
der Trockenheit der Nase im Catarrh der Ge-
ruch abgestumpft ist, läſst sich zwar nicht für
gültig annehmen, da schon blos die Entzün-
dung der Schleimhaut, ohne das sie begleitende
Symptom der Trockenheit dieser Haut, Ursache
der Abstumpfung seyn kann. Aber wahr ist es,
daſs die in der Luft aufgelösten riechbaren
Stoffe nur durch feuchte Körper angezogen wer-
den, und daſs bey vielen luftathmenden Wir-
belthieren die in die Nase abflieſsenden Thränen
in gröſserem Maaſs abgesondert werden, als
wahrscheinlich der Fall seyn würde, wenn die
Absonderung derselben nicht eben so sehr, oder
noch mehr, des Geruchsorgans als der Augen
wegen geschähe.
Die zahlreichen, sich unmittelbar unter der
Schleimhaut verzweigenden Nerven der innern
Nase
[265] Nase kommen theils vom ersten, theils vom
fünften Paar. Beym Menschen breiten sich jene
auf der Scheidewand der Nase und den obern
Muschelbeinen aus. Die sich zur Scheidewand
begebenden Fäden entspringen auf der innern,
die zu den obern Muscheln gehenden auf der
äuſsern Seite der Riechnerven. Bis zu den
untern Muscheln lassen sich keine Fortsätze der-
selben verfolgen. Hierzu begeben sich blos
Zweige des fünften Paars, von welchem andere
auch zum untern Theil der obern Muschel und
der Scheidewand gehen, und sich mit den von
den Nerven des ersten Paars herrührenden
letzten Fäden verbinden. Diese Zweige des
Trigeminus entstehen von dem ersten und zwey-
ten Hauptast desselben. Die Nasenhöhlenzweige
des erstern dringen von vorn, die Gaumen-
zweige des letztern von hinten in das Innere
der Nase, und beyde umschlieſsen mit ihren
Verzweigungen die von den Nerven des ersten
Paars bedeckten Flächen.
Man hat von den verschiedenen Zungen-
nerven die vom fünften Paar entspringenden
für die eigentlichen und einzigen Geschmacks-
nerven angenommen, doch, wie oben gezeigt
ist, nicht mit hinreichendem Grunde. Für die
eigentlichen Sinnesnerven des Geruchs hat man
umgekehrt die des ersten Paars mit Ausschluſs
der
[266] der Nasenzweige des fünften Paars erklärt.
Daſs jene beym Menschen die Hauptorgane sind,
wodurch Gerüche auf das Sensorium wirken,
läſst sich nicht leugnen. Wer aber den übrigen
Nasennerven alle Empfänglichkeit für riechbare
Eindrücke abspricht, hat keinen andern Grund
für sich, als einen von Loderg) beschriebe-
nen Fall, wo sich in der Leiche eines Men-
schen, der des Geruchs völlig beraubt gewesen
war, die Nerven des ersten Paars durch einen
auf dem Siebbeine liegenden Knoten fast ganz
zerstört fanden, die Nasenzweige des fünften
Nervenpaars hingegen keine krankhafte Verän-
derungen zeigten. Eben so sehr als dieser Fall
für jene Meinung, spricht indeſs für das Gegen-
theil eine Beobachtung Mery’s von callösen
und zerstörten Nerven des ersten Paars bey
einem Menschen, dessen Geruch ungeschwächt
gewesen seyn soll h). Blos aus Erfahrungen
solcher Art wird sich überhaupt die Frage über
den Antheil der Nasennerven des fünften Paars
an der Geruchsfunktion schwerlich je entschei-
dend beantworten lassen. Wir werden, um
hierüber Aufschluſs zu erhalten, die Resultate
vergleichender Zergliederungen der Geruchs-
organe in Betrachtung ziehen müssen.
Bey
[267]
Bey allen Sängthieren, die zitzenförmige
Fortsätze des Gehirns besitzen, dringen die
Fäden derselben nach ihrem Durchgange durch
die Oeffnungen der Siebplatte des Riechbeins in
hohle Fortsätze dieser Platte, die von den Zel-
len des menschlichen Riechbeins ihrer Lage,
Gestalt und Verbindung nach sehr verschieden
sind. Sie fehlen bey den Affen wie beym
Menschen. Sie zeigen sich beym Robben, bey
welchem es noch keine wahre Riechfortsätze
giebt, jedoch die Riechnerven an ihrem vordern
Ende mit dem vordern Ende des Gehirns in-
nigst verbunden sind i). Doch bilden sie hier
nur erst wenig zahlreiche und enge Canäle k).
Bey allen Raubthieren, Nagern, Wiederkäuern,
Einhufern und schweineartigen Thieren nehmen
sie den ganzen hintern Raum der innern Nase
ein und stellen im frischen Zustande entweder
cylindrische, geschlängelte und ästige Canäle,
deren Aeste divergirend fortgehen, oder becher-
förmige, gerade, parallel und gedrängt neben
ein-
VI. Bd. S
[268] einander liegende Behälter vor *). Ihre Zahl
und Gröſse richtet sich nach dem Volumen des
vordern Endes der Riechfortsätze. Bey den
meisten Nagethieren sind sie in weit geringerer
Anzahl als bey den Raubthieren, Wiederkäuern
und schweineartigen Thieren vorhanden. Bey
jenen ist aber auch das an die Siebplatte des
Siebbeins stoſsende Ende der zitzenförmigen
Fortsätze verhältniſsmäſsig kleiner, als bey den
letztern, wie man sieht, wenn man die vordere
Höhlung des Schädels, worin dieses Ende liegt,
bey Thieren der erstern und letztern Art, die
ohn-
[269] ohngefähr von gleicher Gröſse sind, z. B. bey
der Ratze und dem Maulwurf, oder beym Ha-
sen und Igel, vergleicht.
In nicht so genauem Verhältniſs stehen mit
der Gröſse der Riechfortsätze die obern Mu-
scheln. Diese haben bey allen Säugthieren die
Gestalt einer Platte mit umgerollten Seitenthei-
len. Bey mehrern Raubthieren, wo die Fort-
sätze des Siebbeins sehr entwickelt sind, z. B.
beym Fuchs, machen sie blos die längsten die-
ser Fortsätze aus. Hingegen bey den Wieder-
käuern und schweineartigen Thieren, wo diese
Fortsätze in Verhältniſs gegen den ganzen Ap-
parat der Riechwerkzeuge nicht sehr groſs sind,
haben die obern Muscheln eine groſse Ausdeh-
nung. Ihre Entwickelung scheint also mit der
Ausbildung jener Fortsätze in einem gewissen
Antagonismus zu stehen.
Die untern Muscheln entwickeln sich nach
andern Gesetzen als die obern und als die
Fortsätze des Siebbeins. Man kann sie mit
Harwood in gewundene und ästige ein-
theilen, wenn man den Ausdruck gewunden
in weiterer Bedeutung nimmt und auch die
prismatische Form darunter begreift, die sie bey
den Ameisenbären und Makis (Lemur) haben.
Aber ihre gewundene Form ist nicht, wie
S 2Har-
[270]Harwoodl) glaubte, ein allgemeiner Charakter
der pflanzenfressenden Thiere, und ihre ästige
Gestalt kein ausschlieſsliches Kennzeichen der
Carnivoren. Sie sind auch ästig beym Hasen,
der sich blos von Kräutern nährt, und ge-
wunden bey dem Alles fressenden Schwein.
Manche Thiere, die untere Muschelbeine von
ästiger Gestalt haben, gehen eben so wohl
vegetabilischer, als thierischer Nahrung nach.
Beyspiele geben der Bär, der Dachs, der Fuchs
und der Marder. Bey eben diesen Thieren sind
die untern Muscheln gröſser und ästiger als
beym Löwen, der Katze und ähnlichen, blos
von thierischer Kost lebenden Gattungen.
Soviel ich nach meinen eigenen Beobach-
tungen und den Beschreibungen Anderer urthei-
len kann, bilden die Säugthiere mit gewunde-
nen untern Muscheln folgende Stufenfolge: Der
Mensch; die Affen; die Makis; die zahnlosen
Säugthiere (Bradypus, Dasypus, Manis u. s. w.);
die Wiederkäuer; die Einhufer; die schweine-
artigen Thiere (Pachydermata Cuv.); das Sta-
chelschwein; die mäuseartigen Nager.
In dieser Reihe hat der Mensch die ein-
fachsten untern Muscheln. Bey den Affen sind
sie in Verhältniſs gegen die obern Muscheln
länger als beym Menschen, doch übrigens von
ähn-
[271] ähnlicher Bildung. Bey den Makis und den
zahnlosen Säugthieren nähert sich ihre Gestalt
der, die sie bey den Wiederkäuern und Einhu-
fern haben. In den beyden letztern Familien
sind sie von sehr verwickeltem Bau. Sie be-
stehen hier aus zwey Blättern, die mehrere
male umgerollt, inwendig mit Queerscheidewän-
den besetzt und bey den Einhufern allenthalben
durchbrochen sind. Bey dem Pferde sind mit
ihnen die obern Muscheln fast von gleicher
Länge, und beyde haben hier eine gröſsere
Ausdehnung als bey allen übrigen Säugthieren.
Bey den folgenden Gliedern jener Reihe wird
der Bau der untern Muscheln wieder einfacher,
und bey den mäuseartigen Thieren bekommen
die obern Muscheln über die untern das Ueber-
gewicht.
Zwischen dieser und der folgenden Reihe
stehen die Fledermäuse, der Maulwurf und der
Igel in Rücksicht auf die Riechwerkzeuge über-
haupt, und vorzüglich auf den Bau der untern
Muscheln, in der Mitte. Es giebt hier, wie
bey den Thieren der vorigen Reihe, ein um-
gebogenes Hauptblatt dieser Muscheln. Aber
die Biegung, die dasselbe macht, ist nur ein-
fach, und die davon eingeschlossene Höhlung
enthält längslaufende Scheidewände. Bey dem
Maulwurf hat das Hauptblatt allenthalben Durch-
S 3löche-
[272] löcherungen, wie die untere Muschel des Pfer-
des. Bey der Fledermaus ist in Beziehung auf
den ganzen Apparat der Riechwerkzeuge die
obere Muschel gröſser, die untere hingegen
kleiner als bey allen übrigen Säugthieren. Der
Igel steht in der Bildung der Riechmuscheln
den Thieren der folgenden Reihe sehr nahe.
Die obere Muschel macht bey ihm den gröſsten
der Fortsätze des Siebbeins aus. Die untere
besteht aus schmalen, länglichen, über einander
liegenden Blättern, welche längslaufende Canäle
einschlieſsen.
Indem diese Canäle sich verzweigen, ent-
stehen die ästigen untern Muschelbeine der
übrigen Säugthiere, die sich nach der Ausdeh-
nung dieser Knochen auf folgende Art ordnen
lassen: Der Hase; das Eichhörnchen; der
Bieber; die sämmtlichen Raubthiere; die Robben
und die Wallrosse.
Bey allen Thieren dieser Reihe, die Robben
und Wallrosse ausgenommen, sind die Fortsätze
des Siebbeins und die untern Muschelbeine die
Haupttheile der Geruchswerkzeuge, und die
obern Muscheln von geringer Ausdehnung. Bey
den Robben und Wallrossen fehlen die letztern
fast ganz; die Fortsätze des Siebbeins sind aber
hier ebenfalls wenig ausgebildet, die untern Mu-
scheln hingegen desto gröſser.
Man
[273]
Man sieht, daſs in den Reihen, worin sich
die Thiere nach der verschiedenen Gestalt ihrer
Riechwerkzeuge ordnen lassen, mehrere Glieder
ganz andere Stellen einnehmen, als in denen,
worin sie nach der Gestalt ihres Gehirns und
nach ihrer äuſsern Form auf einander folgen.
Dieser Reihenfolge entsprechen keine andere
Eigenthümlichkeiten der Thiere so genau, als
das Vermögen aus der Ferne zu wittern, oder
in der Nähe zu spüren. Das Vermögen zu
wittern ist den Säugthieren eigen, deren untere
Riechbeine muschel- oder schneckenförmig ge-
wunden sind. Spürend gehen diejenigen ihrer
Beute nach, die ästige untere Muscheln be-
sitzen.
Diese Sätze gelten freylich nur so weit, als
die Säugthiere in Hinsicht auf den Geruchssinn
näher bekannt sind. Ich glaube aber, daſs sie
sich auch bey denen, die wir noch nicht von
Seiten des letztern kennen, bey weitern Be-
obachtungen bestätigen werden, vorausgesetzt,
daſs man diese umsichtiger machen wird, als
manche der bisherigen gemacht sind. In eini-
gen Schriften ist z. B. den Robben das Vermö-
gen zu wittern zugeschrieben. Liest man aber,
was Steller, O. Fabricius und Péron über
diese Thiere geschrieben haben, so findet
man, daſs es nicht der Geruch, sondern das
S 4Gehör
[274] Gehör ist, wodurch sie Eindrücke aus der Ferne
empfangen *).
Bey allen vierfüſsigen Landthieren beyder
Reihen sind die untern Muscheln weit wichti-
gere Theile des Apparats der Riechwerkzeuge
als beym Menschen und den Affen; bey den
Robben und Wallrossen sind sie die Haupt-
organe
[275] organe des Geruchs. Gehen zu ihnen bey den
übrigen Säugthieren, wie beym Menschen, blos,
oder auch nur vorzüglich, Aeste des fünften
Paars, so läſst sich nicht zweifeln, daſs diese
nicht nur einen unmittelbaren Antheil an der
Funktion des Geruchs haben, sondern auch bey
einigen Thieren Hauptnerven des Geruchs sind.
Es fehlte hierüber bisher ganz an Untersuchun-
gen. Ich habe in dieser Hinsicht das Seekalb
(Phoca vitulina) untersucht und gefunden, daſs
in den Canälen der untern Muscheln desselben
sich sehr starke Zweige des fünften Nervenpaars
ausbreiten, welche bey ihrer Vertheilung den
Zerästelungen jener Knochen folgen. Ich kann
nicht behaupten, daſs mit ihren Endigungen
nicht Zweige der Nerven des ersten Paars in
Verbindung stehen. Aber der Raum, den sie
einnehmen, ist so groſs, daſs sie auf jeden Fall
für die Hauptnerven der untern Muscheln ange-
sehen werden müssen.
Die Geruchsnerven der Säugthiere zeigen
aber noch eine andere Verschiedenheit des Baus,
die eine Verschiedenheit ihrer Verrichtungen
vermuthen läſst. Bey einigen sind es bloſse
Nerven, bey andern unmittelbare Fortsätze des
Gehirns, die sich im Innern der Nase ausbrei-
ten. Zu den erstern gehören der Mensch, die
Affen und die Cetaceen. Den letztern hat man
S 5in
[276] in neuern Lehrbüchern der vergleichenden Ana-
tomie die Geruchsorgane ganz abgesprochen.
Man hat sogar behauptet, das Riechbein der-
selben sey ganz undurchlöchert. Camperm)
hatte indeſs schon ausdrücklich bemerkt, daſs
bey den Wallfischen das Siebbein viele kleine
Löcher hat. Ich fand eben diese Oeffnungen
sowohl an dem Siebbeine des Delphins, von
dessen Geruchsnerven ich im 5ten Bande der
Biologie (Tab. IV.) eine Abbildung geliefert
habe, als an zwey andern Schädeln dieser
Thierart. Seit nun beym Delphin auch die
Geruchsnerven entdeckt sind, kann es nicht
mehr zweifelhaft seyn, daſs auſser sehr starken
Zweigen des fünften Nervenpaars, deren Ver-
breitung in dem der Nase analogen Theil der
Cetaceen Hunter und Campern) untersucht
haben, auch Nerven des ersten Paars zu der
von Ray, Tyson, Monroo) und Camperp)
beschriebenen und abgebildeten Riechhaut dieses
Organs gehen, welche hier, zahlreiche Falten
bildend, auf ähnliche Art in drey Säcken, wie
die
[277] die Riechhaut des Menschen in drey muschel-
förmigen Höhlungen, enthalten ist.
Riechfortsätze (Corpora mammillaria) des
Gehirns besitzen alle vierfüſsige Säugthiere. Die
Fäden dieser Fortsätze dringen auf eben die
Art, wie die der Riechnerven, durch die Löcher
des Siebbeins in das Innere der Nase. Weit-
brechtq) erneuerte zwar die schon von Pic-
colhomini, Hoffmann und Spiegel behaup-
tete Meinung, und auch Scarpar) stimmte
ihm darin bey, daſs blos der auf der Basis
dieser Fortsätze befindliche Markstreifen der
eigentliche Riechnerve sey, und daſs die Riech-
fortsätze diesem blos zur Befestigung und Stütze
dienen. Allein wer die Gehirne mehrerer
Säugthiere aus verschiedenen Familien genau
untersucht, wird finden, daſs dieser Markstrei-
fen keineswegs abgesondert von den Riechfort-
sätzen durch die Oeffnungen der Siebplatte
geht, sondern nur bis zur vordern Anschwel-
lung der Riechfortsätze, die bey mehrern
Thieren, vorzüglich dem Maulwurf, von der
hintern durch einen sehr tiefen Einschnitt ge-
trennt ist, sich als ein besonderer Theil ver-
folgen läſst, mit jenem Vordertheil aber sich aufs
innigste zu einer gleichartigen Substanz ver-
bindet,
[278] bindet, aus welcher die in die Oeffnungen
der Siebplatte übergehenden Fäden entspringen.
Bey mehrern Säugthieren, z. B. dem Bären,
Dachs und Fuchs, ist auch der Markstreifen auf
seinem ganzen Verlauf von der umliegenden
Substanz der Riechfortsätze nicht so scharf ab-
gesondert, daſs man ihn mit dem Geruchsnerven
des Menschen vergleichen kann.
Soviel ist allerdings wahr, daſs die Schärfe
des Geruchs mehr mit der Breite dieses Strei-
fens, als mit dem Volumen der Riechfortsätze
überhaupt, in Verhältniſs steht. C. V. Schnei-
ders) führt als einen merkwürdigen Umstand
an, daſs die Spürhunde wohl zahlreichere und
mehr gewundene Riechbeine, aber keine gröſsere
Riechfortsätze, als andere Hunde haben. Ich
finde die Riechfortsätze des Fuchses, der doch
von vielen Seiten einen schärfern Geruch als
das Schaaf hat, von denen des letztern in
Verhältniſs zum übrigen Gehirn nicht sehr an
Gröſse verschieden; hingegen finde ich den
Markstreifen dieser Fortsätze beym Fuchs viel
breiter, obgleich nicht so deutlich von der um-
liegenden grauen Substanz geschieden, als beym
Schaafe. Auch der Mensch steht nicht so tief
unter den übrigen Säugthieren in Hinsicht auf
die Schärfe des Geruchssinns, als vermuthlich
[279] der Fall seyn würde, wenn bey den letztern
die ganze Masse der Riechfortsätze zum bloſsen
Auffassen der Geruchseindrücke gemacht wäre.
Wenn jener das Vermögen zu spüren und zu
wittern gar nicht, oder nur in geringem Grade
besitzt, so hat dafür sein Geruchssinn mehr
Empfänglichkeit für Mannichfaltigkeit der Ge-
rüche, als der der Thiere.
Bemerkenswerth ist es ferner, daſs zu den
Fortsätzen des Siebbeins, die eine Eigenthüm-
lichkeit der mit Riechkörpern des Gehirns ver-
sehenen Säugthiere sind, und in welchen sich
ein groſser Theil der Nervenfäden dieser Kör-
per zu endigen scheint, die eingeathmete Luft
erst nach Umwegen und langsam gelangt. Jene
Fortsätze sind von den vordern Nasenhöhlen
durch eine eigene, in vertikaler oder schiefer
Richtung von oben nach unten herabsteigende
Queerscheidewand gesondert, worin es nur
wenig Oeffnungen giebt, durch welche die Luft
zu ihnen gelangen kann. Sie werden also von
der durch die Nase eingeathmeten Luft erst
berührt, nachdem diese ihre riechbaren Stoffe
schon an die Schleimhaut der Nasenscheide-
wand und der Muschelbeine gröſstentheils abge-
setzt hat.
Das Resultat aller der bisherigen Unter-
suchungen ist, daſs die Zweige der innern Nase
vom
[280] vom fünften Paar, die Nerven des ersten Paars
und die Riechkörper, insoweit diese mehr als
bloſse Geruchsnerven sind, verschiedene Funk-
tionen beym Riechen haben. Die ersten und
zweyten dieser Nerven beziehen sich unmittelbar
auf den Geruch. Ihre Beziehung ist gewiſs
verschiedener Art. Worin aber diese Verschie-
denheit besteht, ob vielleicht beyderley Nerven
für entgegengesetzte Gerüche gebildet sind,
wage ich nicht zu entscheiden. Hierüber wird
sich dann erst etwas bestimmen lassen, wenn
genane Beobachtungen über den Geruchssinn der
Cetaceen gemacht seyn werden, hey welchen
die Nerven des ersten Paars so klein, die
Nasenzweige des fünften Paars hingegen so
groſs sind, daſs bey ihnen nur diese die Haupt-
nerven jenes Sinns seyn können. Die Riech-
körper sind ohne Zweifel Organe, vermittelst
welcher alle Gerüche für die Thiere einen
hohen Grad von subjektiver Wirkung, einen
weit höhern als für den Menschen, haben, und
wodurch auf das Gehirn der Thiere eine eigene,
von dem Gehalt an riechbaren Stoffen unabhän-
gige Wirkung der atmosphärischen Luft statt
findet.
Vermöge jener subjektiven Wirkung ist für
das Thier der Geruchssinn die vornehmste und
unmittelbarste Triebfeder der Handlungen des-
selben.
[281] selben. Sie wird bey den meisten Thieren noch
dadurch erhöhet, daſs die riechbaren Ausflüsse
der Körper, indem sie die Geruchsnerven reit-
zen, zugleich auf einen andern, sehr subjekti-
ven Sinn, auf den des Geschmacks, Eindruck
machen. Dieser Einfluſs geschieht durch den
Stensonschen, von der Nase zum Munde füh-
renden Canal. Auf dem Grunde der Nasen-
höhle, zu beyden Seiten des Kamms dieser
Fläche (Crista nasalis), liegt die Oeffnung eines
Canals, der sich an der Gaumennath hinter den
Schneidezähnen öffnet, nachdem er sich entwe-
der, beym Menschen und einigen andern Thie-
ren, mit dem der andern Seite zu einem ge-
meinschaftlichen Gang verbunden hat, oder auch
von diesem getrennt bleibt. Die beyden Canäle
enthalten eine knorpelige Röhre, welche in-
wendig mit einem sehr schwammigen Fortsatz
der Nasenschleimhaut überzogen ist, und in
diesem Fortsatz vertheilt sich sowohl ein Fa-
den des von Scarpa unter dem Namen des
Nasopalatinus beschriebenen Zweiges vom zwey-
ten Hauptast des fünften Nervenpaars, als einer
von denen Zweigen der Riechkörper, welche
auf der Nasenscheidewand fortgehn, und zwar
ein Zweig, der sich durch die gelbliche oder
bräunliche Farbe seines Ursprungs, durch seine
Länge und Dicke vor den übrigen auszeichnet.
Beyde Röhren haben ihren Ausgang am Gau-
men
[282] men in einer Papille, welche ebenfalls Fäden
von den Nasengaumennerven empfängt und eine
solche Lage hat, daſs sie beständig von der
Zungenspitze berührt wird.
L. Jacobson, der Entdecker des eigentli-
chen Baus jener Röhren, fand sie beym Men-
schen und Pferde immer verschlossen, bey allen
übrigen Säugthieren aber offen t). Santorini
und Andere wollen sie auch beym Menschen
offen gefunden haben. Mir scheinen die Beob-
achtungen der Letztern das meiste Zutrauen zu
verdienen. Man trifft wohl Canäle, die wäh-
rend des Lebens offen waren, an der Leiche
verschlossen an; es entstehen aber nicht an
Stellen, wo Verwachsungen im Leben vorhan-
den waren, nach dem Tode Oeffnungen. Auf
wessen Seite aber auch das Recht seyn mag, so
bleibt doch soviel gewiſs, daſs der Ausgang der
erwähnten Röhren bey den meisten Thieren,
besonders den Nagethieren und den Wieder-
käuern, eine beträchtliche Weite hat. Sten-
sonu), der diese Weite beym Schaaf und
Ochsen bemerkte, glaubte mit Recht, daſs die
Feuchtigkeit der Nase durch die Röhren in den
Mund abflieſse. Die Lage und Richtung der
Canäle spricht ganz für diese Meinung und ganz
gegen
[283] gegen Jacobson’s Vermuthung, in ihnen werde
eine zur Befeuchtung der Nase dienende Flüs-
sigkeit abgeschieden. Stenson irrte aber gewiſs
auch, wenn er die Canäle für bloſse Ausfüh-
rungsgänge ohne weitere Beziehung ansah. Ihr
eigentlicher Zweck ist offenbar Verbindung des
Geschmacks- und Geruchssinns. Die Nasen-
feuchtigkeit, welche der Luft riechbare Stoffe
entzogen hat, erregt, indem sie bey ihrem
Eintritt in die Röhren die Nerven des ersten
und fünften Paars reitzt, Geruchsempfindung,
und wirkt unmittelbar nachher auch auf die
Geschmacksnerven des Gaumens und der Zunge.
Vorausgesetzt, daſs auch beym Menschen die
Ausgänge der Stensonschen Canäle im Munde
offen sind, so ist es jetzt erklärbar, wie, nach
Schneider’sv) Erzählung, ein Mann, der seit
vielen Jahren den Geruch verloren hatte, die
Ausflüsse stark riechender Substanzen auf der
Zunge empfinden konnte, und woher Jeder,
der bey verschlossenem Munde sehr fein ge-
pulverten Wermuth in die Luft stäubt, erst den
Geruch dieses Krauts in der Nase und dann
auch den Geschmack desselben auf der Zunge
fühlt w). Es ist ferner erklärbar, wie die
pflan-
VI. Bd. T
[284] pflanzenfressenden Thiere giftige Kräuter von
heilsamen, ohne Berührung derselben, durch
den Geruch und zugleich durch den Geschmack
zu unterscheiden im Stande sind. Diese Unter-
scheidung kann indeſs nicht, wie Tenon, La-
cepede und Cuvierx) vermutheten, ohne ihre
Vermuthung aus der Bildung der Stensonschen
Canäle zu beweisen, erster, sondern nur unter-
geordneter Zweck dieser Canäle seyn. Ihre
Haupthestimmung bleibt Erhöhung des subjekti-
ven Eindrucks der Geruchsempfindungen durch
gleichzeitige Rührung des Geschmackssinns, und
in dieser Beziehung dienen sie auch den fleisch-
fressenden Thieren, die so wenig giftige, als
heilsame Kräuter berühren.
Durch die zweyte der beyden oben ge-
dachten Wirkungen der Luft auf die Riechfort-
sätze des Gehirns steht das Thier in näherer
Verbindung mit der Beschaffenheit des Luft-
kreises, als der Mensch, und wird auch durch
bevorstehende Veränderungen der Atmosphäre
im Handeln geleitet. Das Vorempfinden der
Witterung ist es jedoch keineswegs allein,
worauf sich diese Funktion der Riechkörper
beschränkt. Es giebt noch andere Erscheinungen
im Thierreiche, die sich von keinen andern,
als
[285] als atmosphärischen oder cosmischen Einflüssen
ableiten lassen, und doch auch nicht von Ge-
ruchsempfindungen entstehen können. Hear-
ney) erzählt, daſs in den kalten Gegenden von
Nordamerika die Rehe in beständiger Bewegung
von Osten nach Westen und von Westen nach
Osten sind. Vom November bis in den Mai
bleiben die Männchen westwärts in den Gehöl-
zen; um diese Zeit sprossen ihre Hörner und
nun ziehen sie ostwärts, und die Weibchen,
die sich den ganzen Winter in den östlichen
Gegenden aufgehalten haben, eilen ihnen nach
Westen entgegen, um ihr Geschlecht fortzu-
pflanzen. Bey diesen Wanderungen können
jene Thiere nicht von dem gewöhnlichen Ge-
ruchssinn geleitet werden, der unmöglich auf
so weite Entfernungen, wie hier zwischen den
Männchen und Weibchen liegen, wirken kann
und zu dessen Wirksamkeit eine entgegenge-
setzte Richtung des Windes nöthig seyn würde,
die einem der beyden wandernden Geschlechter
immer fehlen muſs. Was hier indeſs die wir-
kende Ursache ist, bleibt künftigen Zeiten zur
Entdeckung vorbehalten.
T 2Zwey-
[286]
Zweytes Kapitel.
Geruchssinn der Vögel, Amphibien und
Fische.
§. 1.
Die Vögel.
Bis auf Scarpaz) schrieb man den Vögeln
bald einen sehr stumpfen, bald einen sehr
scharfen Geruch zu. Dieser stellte hierüber
Versuche an, indem er Vögeln von verschiede-
nen Familien in verdeckten Gefäſsen, deren
Deckel durchlöchert waren, Futter vorsetzte,
wovon Einiges mit riechenden Substanzen ver-
mengt, das andere ohne Zusatz war, und das
Benehmen der Vögel in Hinsicht auf diese ver-
schiedenen Speisen beobachtete. Der Erfolg
war, daſs die hühner- und sperlingsartigen
Vögel den stumpfsten, die Klettervögel, beson-
ders der Papagey, einen feinern, die Raub-
und Schwimmvögel einen noch schärfern, und
die Sumpfvögel den schärfsten Geruch ver-
riethen.
Alle
[287]
Alle Vögel scheinen zu wittern. Darum,
und nicht, wie Azaraa) glaubt, damit der
Wind ihr Gefieder nicht in Unordnung bringe,
fliegen alle Vögel so viel wie möglich gegen
den Wind und halten ruhend ihren Schnabel
der Richtung desselben und des Regens entge-
gen b). Die Enten und andere Wasservögel
machen zwar mit ihrem Schnabel Bewegungen,
die bey flüchtiger Ansicht auf die Vermuthung
bringen können, daſs sie das Vermögen zu
spüren besitzen. Bey näherer Beobachtung wird
man aber finden, daſs diese Bewegungen auf
ein Tasten mit dem Schnabel abzwecken, indem
sie denselben mit den zu untersuchenden Gegen-
ständen in unmittelbare Berührung bringen c).
Wie stark das Vermögen zu wittern bey man-
chen Vögeln ist, beweist der Umstand, daſs
Raubvögel aus meilenweiten Entfernungen durch
faulende Leichname herbeygelockt werden d).
Dieses Vermögen läſst sich selbst den sperlings-
artigen Vögeln nicht absprechen, die keinen
schar-
T 3
[288] scharfen Geruch für nahe Gegenstände verrathen:
denn was kann es seyn, als der Geruchssinn,
wodurch sie veranlaſst werden, sich aus ent-
fernten Gegenden da schaarenweise zu versam-
meln, wo sie ihre Lieblingsspeise finden, z. B.
die Sperlinge Kirschen, die Kernbeisser Nüsse
u. s. w.? Daſs die meisten dieser Früchte für
uns wenig oder gar keinen Geruch haben, er-
laubt nicht zu schlieſsen, daſs sie auch für die
Vögel geruchlos sind. Selbst die für uns ge-
ruchlosen Ausdünstungen des Wassers müssen
auf die Riechnerven der Wasservögel sehr stark
wirken, da sie diesem ihrem Element aus so
weiter Ferne zueilen.
Jener Modifikation des Geruchssinns gemäſs
sind die Riechwerkzeuge der Vögel organisirt.
Die den Muschelbeinen des Menschen ver-
gleichbaren Riechknorpel derselben sind bey
allen, in Betreff der Nase bisjetzt untersuchten
Vogelarten gewunden. Die Vertheilung der
Nerven des ersten und fünften Paars ist im
Wesentlichen die nehmliche bey den Vögeln,
wie bey den Säugthieren. Die Hauptnerven der
innern Nase sind hier immer die Nerven des
ersten Paars, die sich, ohne durch eine Sieb-
platte zu dringen, in die Nase begeben. Die
Nerven der innern Nase vom fünften Paar sind
bey keinem Vogel verhältniſsmäſsig so groſs,
wie
[289] wie bey mehrern Säugthieren. Man kennt die
Bildung dieser Theile und der übrigen Geruchs-
organe der Vögel vorzüglich aus Scarpa’s
Meisterwerke über das Gehör und den Geruch,
dessen Beschreibungen nur Zusätze, nicht Ver-
besserungen von Erheblichkeit gestatten, über
dessen Deutungen verschiedener von jenen Thei-
len und Vergleichungen derselben mit andern
sich jedoch einige Bemerkungen machen lassen.
Scarpae) nennt die Höhle der innern Nase
bey den Vögeln, nach Verhältniſs der Gröſse
ihres Körpers, weiter und geräumiger, als bey
den Thieren irgend einer andern Classe. Weit
und geräumig ist sie allerdings. Daſs sie es
aber mehr als bey allen Säugthieren ist, läſst
sich eben so wenig behaupten, als Malacarne’s
Meinung f), daſs bey den meisten Vögeln weder
die Geruchsnerven so groſs, noch die Organe,
über welche sich diese verbreiten, so ausgedehnt
sind, als selbst bey den kleinsten der Säug-
thiere, so allgemein ausgedrückt zu vertheidi-
gen ist.
Nach Scarpa’s Schilderung giebt es obere,
mittlere und untere Riechfortsätze bey den
Vögeln
T 4
[290] Vögeln wie beym Menschen, von welchen die
untern nur klein, die mittlern die gröſsten
sind. Seine Beschreibungen dieser Theile sind
ganz der Natur gemäſs. Allein wenn er an-
nimmt g), daſs die obere Muschel nebst der
Nasenscheidewand die vornehmsten, und selbst
die einzigen Riechorgane der Vögel seyen, weil
nur auf ihnen sich die Riechnerven verbreiten,
so muſs ich dagegen erinnern, daſs nach mei-
nen, vorzüglich am Falco aeruginosus gemach-
ten Beobachtungen, die Fäden des Riechnerven
bis zur mittlern Muschel zu reichen scheinen.
Erhielte diese Muschel keine Zweige vom ersten
Paar, so würde sie, die nächst der Nasen-
scheidewand die gröſste unter den innern Ge-
ruchswerkzeugen ist, und deren Gröſse mit der
Schärfe des Geruchssinns der Vögel in Ver-
hältniſs steht, das am wenigsten nervenreiche
unter diesen Organen seyn, indem die gröſsten
der Nasenzweige des fünften Paars nicht zu ihr,
sondern zur untern Muschel gehen.
Die obere Muschel enthält einen Canal, der
sich in eine unter den Backenmuskeln befind-
liche, beym Einathmen anschwellende Höhlung
öffnet. Scarpa erwähnt keiner Nervenzweige,
die sich zu diesem Canal begeben, und ich habe
keine Zweige der Nerven des ersten Paars zu
den-
[291] denselben verfolgen können. Der Canal und
die Höhlung ist also für ähnlich den Riech-
beinzellen und den Oberkieferhöhlen des Men-
schen anzusehen. Weitere Höhlen zur Auf-
nahme einer gröſsern Menge Luft beym stär-
kern Einathmen bedurfte es bey den Vögeln
nicht, da ihre Lungen mit Säcken in Verbin-
dung stehen, die eines verschiedenen Grades von
Ausdehnung fähig sind.
Die Schleimhaut der innern Nase bey den
Vögeln wird von Scarpah) mit Recht tomen-
tos genannt. Sie ist von dieser Beschaffenheit
mehr noch in dieser Thierclasse, als bey den
Säugthieren, und scheint dadurch zur schnellern
Aufnahme der riechbaren Stoffe geeignet.
Die beyden, auf der Grundfläche der Riech-
fortsätze liegenden Markstreifen, die bey vielen
Säugthieren bis zum Anfange des vordern Theils
dieser Fortsätze an den Seiten scharf begränzt
sind, zeigen sich bey den Vögeln weit weniger
genau von der umliegenden grauen Substanz
abgesondert. Sie gehen eben so wenig bey den
Vögeln, als bey den Säugthieren, getrennt von
der letztern, sondern innigst mit ihr vermischt,
in die Nase über. Bey mehrern Vögeln, z. B.
dem
T 5
[292] dem Psittacus Erithacus, erstreckt sich auch auf
beyden Seiten der Mittellinie der Basis des
Gehirns noch ein anderer hervorragender Mark-
fortsatz zum vordern Ende der Riechkörper,
der ebenfalls zur Bildung der Geruchsnerven
beyträgt. Es ist also nicht zu billigen, wenn
Scarpai) behauptet, jener Streifen habe mit
den Riechkörpern bey den Vögeln, wie bey den
Säugthieren, nichts weiter gemein, als daſs er
mit ihr von der weichen Hirnhaut umschlos-
sen ist.
§. 2.
Die Amphibien.
Die Amphibien sind in Betreff der Aeuſse-
rungen des Geruchssinns noch sehr wenig beob-
achtet. Die Frösche verschlingen Alles, was
sich bewegt und was sie zu verschlingen im
Stande sind k). Sie scheinen also bey der
Auswahl ihrer Speisen wenig oder gar nicht
durch jenen Sinn geleitet zu werden. Doch
verrathen sie den Besitz desselben in der Paa-
rungszeit, während welcher die Männchen von
dem Geruch einer in das Wasser getauchten
Hand, womit man ein Weibchen berührt hat,
aus der Ferne angelockt werden. Der Geruchs-
sinn ist daher bey diesen Thieren stumpf in
Bezie-
[293] Beziehung auf ihre Nahrungsmittel, hingegen
scharf in Betreff dessen, was mit ihrer Ge-
schlechtsfunktion in Beziehung steht, und so
bestätigt sich hier, was von allen Sinnen gilt,
daſs sie eine weniger vielseitige, aber für
einzelne Einwirkungen gröſsere Empfänglichkeit
bey den niedern als bey den höhern Thieren
besitzen. Da die Ausdünstungen der Frösche
für uns geruchlos sind, so giebt diese Erfahr-
rung zugleich einen neuen Beweis unserer,
schon öfter im Obigen gemachten Bemerkung,
daſs der Wirkungskreis der thierischen Sinne
von manchen Seiten sehr verschieden von dem
unsrigen ist.
Der Typus, nach welchem die Geruchs-
werkzeuge der Amphibien gebildet sind, ist
mit wenigen Ausnahmen der nehmliche, wie bey
den Säugthieren und Vögeln. Die Hauptnerven
der innern Nase sind auch hier die des ersten
Paars, und ähnliche Zweige des fünften Paars,
wie bey den letztern Thieren, gehen bey ihnen
zu den Geruchsorganen. Bey den meisten
Amphibien findet sich auch eine Scheidewand
der Nase und etwas Aehnliches von den Riech-
knorpeln der Vögel. Diese sind indeſs noch
einfacher bey jenen, als bey den Vögeln, und
der Grad ihrer Ausbildung entspricht sehr
nahe dem Grade der Verwandtschaft, den das
Ge-
[294] Gehirn der Amphibien mit dem der Vögel
zeigt. Sie sind sehr ähnlich den Muscheln der
Vögel bey den Crocodilen l), einfacher bey den
Schildkröten und Schlangen, und nur noch
bloſse Hervorragungen bey den Fröschen und
Salamandern. Das Hauptorgan des Geruchs-
sinns ist hier die Scheidewand der Nase. Auf
dieser verbreitet sich der gröſsere Theil des
Geruchsnerven, der sich bey den Fröschen
darin auszeichnet, daſs er schon bey seiner
Trennung vom Gehirne aus abgesonderten Fäden
besteht. Bey den Schildkröten, die nur zwey
Riechmuscheln haben, breitet sich auf der obern
gröſsern der übrige Theil dieses Nerven mit
einem Zweig des Ethmoidalnerven vom fünften
Paar aus; die untere empfängt einen andern
Zweig dieses Nasennerven, ohne mit den Ner-
ven des ersten Paars in Verbindung zu ste-
hen m).
Verschieden von diesem Bau des Geruchs-
organs der meisten Amphibien fand ich den-
selben beym Proteus anguinus. Jedes der bey-
den sehr kleinen, an der Oberlippe liegenden
Nasen-
[295] Nasenlöcher dieses Thiers führt zu einem häu-
tigen, cylindrischen, etwas gewundenen, am
hintern Ende verschlossenen, durch eine Oeff-
nung seiner untern Wand in den Rachen über-
gehenden Schlauch, dessen obere Wand paral-
lele, in gleichen Zwischenräumen von einander
entfernte, spiralförmige Einschnitte hat, wel-
chen auf der entgegengesetzten, innern Seite
Hervorragungen entsprechen, wodurch die in-
nere Fläche desselben vergröſsert wird. Von
der untern Seite dringen in ihn die verhältniſs-
mäſsig groſsen Geruchsnerven, nachdem sie sich
vorher in mehrere Aeste getheilt haben, und
mit ihnen Zweige der Nerven des fünften
Paars n).
Das Geruchsorgan der Amphibien hat im
Aeuſsern noch das Merkwürdige, daſs der
Zugang zum Innern desselben durch Muskeln
verschlossen werden kann. Unter den Säug-
thieren besitzen die Robben einen ähnlichen
Mechanismus, dessen Zweck kein anderer seyn
kann, als den Zugang des Wassers zur innern
Nase beym Untertauchen zu verhindern. Es
ist hiernach unwahrscheinlich, daſs, wie Scar-
pa
[296]pao) vermuthet, die Amphibien sowohl im
Wasser, als in der Luft riechen können.
Scarpa führt zur Unterstützung seiner Meinung
die erwähnte Erfahrung von dem Anlocken der
männlichen Frösche durch die Ausdünstungs-
materie der Weibchen an. Allein es ist nicht
bewiesen, daſs die Männchen diese Materie im
Wasser riechen. Scarpa findet auch eine
Aehnlichkeit des Geruchsorgans der Amphibien
mit dem der Fische. Ich kann diese aber bey
keinem andern jener Thiere als beym Proteus
erkennen.
Von den Sinus und Zellen der Kopf-
knochen, womit die Nasenhöhlen bey den Säug-
thieren in Verbindung stehen, giebt es noch
weniger Ueberbleibsel bey den Amphibien, als
bey den Vögeln, und diese würden hier auch
überflüssig seyn, da die Respirationsorgane der
Amphibien zur Aufnahme einer bald gröſsern,
bald geringern Menge Luft gebildet sind. Es
verdient indeſs untersucht zu werden, ob die
zu beyden Seiten des Kopfs liegenden Blasen,
wodurch die männlichen Frösche ihren Gesang
hervorbringen p), nicht von den häutigen
Säcken, worin sich die obern Muschelbeine der
Vögel öffnen, abzuleiten sind.
§. 3.
[297]
§. 3.
Die Fische.
Es giebt einige Fische, z. B. die Lampreten
und die Hayfische q), welche faulendem Fleische
nachgehen; andere werden vorzüglich durch
gebratene thierische Substanzen angelockt, und
für noch andere sind frische Insekten und
Würmer, oder blutiges Fleisch die beste Lock-
speise r). Schon Aristoteless) schloſs aus
mehrern dieser Thatsachen auf einen Geruchs-
sinn der Fische, und bis auf, die neuesten
Zeiten trug man kein Bedenken, ihm beyzu-
stimmen. Man wollte auch beobachtet haben,
daſs, wenn die Fische stärker riechen wollen,
sie sich erst von dem Strome forttreiben lassen
und dann demselben wieder entgegenschwim-
men t). Aber in diese Erfahrung und manche
ähnliche hatte man etwas gelegt, was nicht
reine Beobachtung war. Ein wichtigerer Grund
für
[298] für die Gegenwart eines Vermögen, Eindrücke
aus der Ferne durch die Riechfortsätze des
Gehirns zu erhalten, bey den Fischen, wie bey
den höhern Thieren, ist die Thatsache, daſs
manche Zugfische, die im Winter ein und
dasselbe Meer bewohnen, im Sommer ganz
verschiedene Flüsse zu ihrem Aufenthalte wäh-
len u). Der Sinn des Gehörs und Gesichts
kann
[299] kann sie bey dieser Wahl nicht leiten, und der
Geschmackssinn ist wegen seiner geringen Aus-
bildung bey den Fischen hierzu noch weniger
tüchtig. Durch den Tastsinn können sie sich
nur in ihrer Wahl bestimmen lassen, wenn die
Temperatur der verschiedenen Flüsse, die sie
im Sommer besuchen, sehr verschieden ist. In
einigen Fällen mag darunter ein Unterschied
statt finden; aber allgemein ist dieser gewiſs
nicht, und wo er vorhanden ist, hat er doch
wohl keinen groſsen Einfluſs auf die Verbrei-
tung der Fische, die den Nachtheilen der
Wär-
u)
VI. Bd. U
[300] Wärme und Kälte immer dadurch ausweichen
können, daſs sie sich weiter in die Tiefe des
Wassers begeben, oder mehr der Oberfläche
desselben nähern v).
Die Annahme des Geruchssinns bey den
Fischen schien allen Naturforschern um so
mehr begründet, nachdem bey diesen Thieren
auch Organe entdeckt waren, welche ganz die
Erfordernisse von Geruchswerkzeugen hatten.
Casseriusw) fand sie zuerst beym Hechte,
hielt sie aber unrichtig zugleich für das Trom-
melfell der Gehörorgane und erkannte nicht
ihre Nerven. Stensonx) entdeckte ihren Zu-
sammenhang mit den Nerven des ersten Paars
bey einem Hayfisch, und Morgagniy) zeigte,
daſs bey allen Fischen eine solche Verbindung
vorhanden ist. Unrichtig aber nahm dieser
keinen Uebergang der Nerven des fünften Paars
zu ihnen an, obgleich schon Schneiderz)
glaubte wahrgenommen zu haben, daſs noch
andere Nerven als die des ersten Paars zu den
Geruchswerkzeugen der Fische gehen. Col-
lins
[301]linsa) sah die Ethmoidalzweige des fünften
Paars, beging aber den Fehler, sie für zuge-
hörig zu den Nerven des ersten Paars anzu-
nehmen. Monrob) und Camperc) bemerkten
den eigentlichen Ursprung jener Nasenzweige.
Doch schrieb der letztere d) dem Kabljau noch
doppelte Nerven des ersten Paars zu. Scarrae)
berichtigte und bestimmte endlich in diesem,
wie in vielen andern Theilen der vergleichen-
den Anatomie, was bis auf ihn oberflächlich
untersucht war, und durch seine Beobachtungen
wurde die Aehnlichkeit der Geruchsorgane der
Fische mit denen der höhern Thiere noch mehr
bestätigt. Bey allem dem blieb es räthselhaft,
wie das Wasser ein Medium der Gerüche seyn
könne. Dumerilf) erwog diese Frage näher
und behauptete mit Recht, daſs Stoffe, die im
Wasser aufgelöst sind, nicht auf den Geruch,
sondern nur auf den Geschmack, als Gegen-
stände
U 2
[302] stände eines Sinnesorgans wirken können. Ihm
schienen daher Geschmacksorgane, was man für
Geruchswerkzeuge der Fische gehalten hatte.
Seine Meinung fand indeſs wenig Beyfall, weil
ihr der, allerdings wichtige Grund entgegen-
stand, daſs diese Theile eine nicht zu leugnende
und groſse Analogie mit denen der höhern
Thiere haben. Die Wahrheit liegt hier ohne
Zweifel, wo sie bisher nicht gesucht ist. Um
sie zu finden, werden wir zuvörderst die Struk-
tur jener Organe näher in Betrachtung ziehen.
Ich habe die Geruchswerkzeuge mehrerer
Rochen- und Hayenarten, des Stöhrs, des
Lumps (Cyclopterus Lumpus), des Nadelfisches
(Syngnathus Acus), der Flufs- und Meerlam-
prete, des Aals, Hechts, Schellfisches und
Schollen (Pleuronectes Platessa) näher unter-
sucht. Nach diesen meinen Zergliederungen und
den Beobachtungen meiner Vorgänger enthalten
folgende Sätze das Wichtigste dessen, was bisjetzt
von der Struktur jener Theile bekannt ist.
Bey allen Fischen sind die Geruchswerk-
zeuge in einer einfachen oder doppelten Höh-
lung des Kopfs enthalten. Einfach ist sie blos
bey den Lampreten, und hier liegt sie auf dem
Gipfel des Kopfs. Bey allen übrigen Fischen
giebt es auf jeder Seite des letztern, zwischen
dem Munde und den Augen, eine solche Cavi-
tät,
[303] tät, die entweder nur eine einzige äuſsere Oeff-
nung, wodurch das Wasser sowohl aufgenom-
men, als ausgestoſsen wird, oder eine beson-
dere Mündung zum Auslassen des Wassers hat.
Einen einfachen Ausgang dieser Höhle giebt es
unter andern bey den Rochen, den Hayen und
dem Aal, einen doppelten bey dem Stöhr,
dem Lump, dem Nadelfisch und Schellfisch.
Beyderley Fische besitzen Muskeln der Geruchs-
höhle. Die, welche eine einfache Mündung
dieser Höhle haben, können dadurch sowohl
den Eintritt, als den Austritt des Wassers ver-
hindern. Bey denen, wobey es zwey Mündun-
gen giebt, ist blos die zum Auslassen des
Wassers dienende Oeffnung der Verengerung
und Erweiterung fähig. Beym Schellfisch finde
ich den zum Auslassen des Wassers dienenden
Canal von der Geruchshöhle durch eine Klappe
getrennt, die den Rückgang des Wassers ver-
hindert. Etwas Aehnliches ist wohl bey allen,
mit einem solchen Canal versehenen Fischen
zugegen. Bey mehrern dieser Thiere ragt die
eine der beyden Mündungen des Geruchsorgans
in der Gestalt einer cylindrischen, oder coni-
schen Röhre hervor, die bey einigen, z. B.
beym Lophius piscatorius, ziemlich lang ist.
Bey keinem Fisch findet eine Verbindung der
Geruchshöhle mit dem Schlunde, wie bey den
höhern Thieren, statt. Man hat zwar eine
U 3solche
[304] solche bey den Lampreten gefunden zu haben
geglaubt g). Allein bey der Meerlamprete, die
ich in Hinsicht auf diesen Bau untersucht habe,
traf ich zwar auf jeder Seite der Geruchshöhle
einen Canal an, der aus ihr zu entstehen
schien. Dieser öffnete sich aber nicht in den
Schlund, sondern ging hinter der Augenhöhle
in einen unter der äuſsern Haut liegenden
blinden Sack über, der vielleicht ein Rudiment
der Nebenhöhlen ist, worin sich die Geruchs-
organe der höhern Thiere öffnen. Etwas Aehn-
liches schienen mir auch beym Schellfische
Zellen, die sich in einem sehnigen, gleich hin-
ter der Geruchshöhle liegenden Gewebe befinden.
Die Geruchshöhlen enthalten bey allen Fi-
schen häutige Blätter, welche mit einer ähnli-
chen schleimabsondernden Haut, wie die Riech-
beine der höhern Thiere, bedeckt sind. Bey
den Lampreten liegen diese Lamellen parallel
neben einander, der Länge des Fisches nach.
Bey den Rochen und Hayen, dem Aal. dem
Schellfisch u. s. w. giebt es zwey Reihen paral-
leler Blätter, die mit dem einen Ende an der
innern Wand der Geruchshöhle, mit der andern
an einer Scheidewand, wodurch die letztere in
zwey Fächer abgetheilt wird, befestigt sind.
Bey dem Stöhr, dem Lump, dem Froschfisch
(Lo-
[305] (Lophius), dem Hecht, Karpfen u. s. w. gehen
sie, wie die Radii eines Cirkels, von einer in
der Geruchshöhle befindlichen Hervorragung
nach dem Umkreise dieser Cavität aus. Ihre
Zahl steht mit der Gröſse der Nasennerven in
Verhältniſs, und ihre Ausdehnung wird bey
einigen Fischen noch durch Fortsätze vergröſsert.
Bey den Rochen und Hayen bildet die Schleim-
haut auf jedem Blatt Verdoppelungen, die sich
von der Mitte des untern Randes jeder Lamelle
strahlenförmig auf derselben ausbreiten, und
beym Schellfisch ist der obere Rand jedes Blatts
in einen dreyeckigen, frey im Wasser schwe-
benden Fortsatz verlängert. Unter der Schleim-
haut dieser Blätter verzweigen sich die Nasen-
nerven. Die Fäden der Nerven des ersten
Paars gelangen zu ihnen aus dem Grunde der
Geruchshöhle, die Nasenzweige des fünften
Paars von den Seiten dieser Cavität. Die
Stämme der erstern bilden bey den meisten
Fischen vor ihrem Eintritt in die Nasenhöhle
eine Anschwellung, die dem aschfarbigen Kno-
ten des menschlichen Geruchsnerven nicht un-
ähnlich ist. Auſser Nerven breiten sich zugleich
auf den Blättern, und zwar auf beyden Seiten
derselben, sehr zahlreiche Blutgefäſse aus, bey
manchen Fischen so zahlreiche, daſs die ganze
Oberfläche der Blätter, gleich den Kiemenblät-
tern, roth gefärbt ist.
U 4Nach
[306]
Nach dieser Schilderung läſst sich eine
groſse Aehnlichkeit der Geruchswerkzeuge der
Fische mit den Respirationsorganen derselben
nicht verkennen. Jene haben, wie diese, einen
blättrigen Bau und einen groſsen Reichthum an
Blutgefäſsen, und das Wasser wird durch jene,
wie durch die Kiemenhöhlen, aufgenommen
und wieder ausgeleert. Vermittelst der Kiemen
aber athmen die Fische nicht das Wasser,
sondern die im Wasser enthaltene Luft. Etwas
Aehnliches geschieht wahrscheinlich auch durch
die Nase dieser Thiere. Es giebt keinen Grund,
anzunehmen, daſs es die im Wasser selber
aufgelösten Stoffe sind, wodurch die Riech-
nerven der Fische gereitzt werden. Ihre Nase
würde, wenn dies der Fall wäre, nicht Ge-
ruchs-, sondern Geschmacksorgan seyn, dann
aber nicht einen Bau haben, der zwar in man-
cher Rücksicht von der Bildung des Geruchs-
werkzeugs der höhern Thiere verschieden,
doch auch in andern dieser so ähnlich ist, daſs
die Voraussetzung einer Verschiedenheit des
Elements der Gerüche bey den Fischen von
dem der luftathmenden Thiere keine Wahr-
scheinlichkeit hat.
Drittes
[307]
Drittes Kapitel.
Geruchssinn der wirbellosen Thiere.
Die Aeuſserungen des Geruchssinns werden
bey den Thieren der niedrigern Stufen immer
undeutlicher, während das Organ dieses Sinns,
die Zunge, bis zu den Würmern herab vor-
handen bleibt. Mit dem Geruchssinn und des-
sen Organen verhält es sich umgekehrt. Die
Gegenwart dieses Sinns giebt sich durch un-
zweydeutige Zeichen bey vielen wirbellosen
Thieren zu erkennen; aber der Sitz desselben
läſst sich bey vielen nur vermuthen.
Blos bey den krebsartigen Thieren sind
Theile vorhanden, die mit den Riechwerkzeu-
gen der Wirbelthiere Aehnlichkeit haben.
Gerade bey diesen Crustaceen aber fehlt es noch
an Beobachtungen über die Aeuſserungen des
Geruchssinns. Man weiſs nur, daſs sie gleich
manchen Fischen Aesern nachgehen, sich auch
wie diese mit Lockspeisen von rohem Fleisch
fangen lassen, und wenn sie aus dem Wasser,
worin sie geboren und aufgewachsen sind, in
U 5ein
[308] ein anderes versetzt werden, dieses bald wieder
verlassen h).
Organe des Geruchssinns entdeckte Rosen-
thal beym Krebs und Hummer i). Er fand
auf der obern, hornartigen Wand des ersten
Gliedes der mittlern Fühlhörner des Fluſskreb-
ses eine von Haarborsten umgebene Oeffnung,
die zu einer Höhlung mit einem muschelförmi-
gen Körper führte. Die untere, inwendige
Fläche dieser Muschel enthielt eine bogenför-
mige Vertiefung, von deren Rändern feine
Striche ausgingen, und in der Vertiefung lag
ein Nerve, der sich in den Strichen über die
Muschel zu verbreiten schien. Der nämliche
Bau zeigte sich noch deutlicher beym Hummer.
Ich habe mehrere Exemplare des letztern
in Betreff jenes Organs untersucht und Rosen-
thal’s Entdeckung bestätigt gefunden. Die er-
wähnte Höhlung ist beym Hummer sehr ge-
räumig. Sie nimmt mehr als die Hälfte des
innern Raums der Röhre ein, welche das erste
Glied der mittlern Fühlhörner ausmacht. Unter
ihr liegen in dem übrigen Raum der Nerve,
die
[309] die Muskeln und die Gefäſse der folgenden
Glieder dieser Antennen. Ihrer Gestalt nach
ist sie der innern Höhlung eines Muschelbeins
der höhern Thiere ähnlich. Sie ist inwendig
mit einer zarten, weiſslichen Haut bedeckt, die
das Ansehn einer Schleimhaut hat. Der zu
ihr gehende Nerve, ein Ast des nämlichen
Stamms, wovon die Muskeln jener Fühlhörner
Zweige erhalten, verbreitet sich in ihr auf die
von Rosenthal angegebene Art. Als ich sie
unter Wasser öffnete, drangen aus ihr Luft-
blasen hervor.
Alles dies sind Umstände, die den Sitz des
Geruchssinns in jenem Organ sehr wahrschein-
lich machen. Es ist aber auch nicht zu ver-
kennen, daſs dasselbe blos zum Riechen in der
Luft dienen und auch für diesen Zweck nur
von sehr beschränktem Gehrauche seyn kann.
Die äuſsere Oeffnung der Höhle ist sehr eng,
und die Luft kann von dem Thier nicht will-
kührlich eingelassen und wieder ausgestoſsen
werden. Ich fand auch bey einem der von
mir untersuchten Hummer die untere Fläche
der Höhle, auf welcher sich der Nerve aus-
breitet, mit feinem Sande ganz bedeckt, woraus
folgt, daſs es an der Oeffnung der Cavität nicht
einmal eine Valvel, oder eine sonstige Einrich-
tung giebt, welche andern Materien als der
Luft
[310] Luft den Eintritt in das Organ ganz verwehren
könnte.
Wenn indeſs bey einem Thier, dessen
eigentliches Element das Wasser ist, Organe
zum Riechen in der Luft vorhanden sind, so
darf man um so mehr bey demselben auch
Geruchswerkzeuge, die für das Wasser gebildet
sind, anzutreffen erwarten. Theile dieser Art
von gleicher Gestalt, wie die Fische besitzen,
giebt es bey dem Krebs und Hummer zwar
nicht. Aber Theile, die mit den blättrigen
Riechorganen der Fische einerley Verrichtungen
haben, scheinen mir bey den krebsartigen Thie-
ren die Lamellen zu seyn, die zwischen den
Freſswerkzeugen und den Kiemen liegen. Hier
findet man auf jeder Seite des Halses eine
Vertiefung, worin ein Glied befestigt ist, mit
dessen äuſserm Ende platte, dreyeckige Lamel-
len artikuliren, die sich unter dem Vergröſse-
rungsglase als sehr gefäſsreich und mit einem
schleimigen Ueberzuge bedeckt zeigen. Sie lie-
gen vor der vordern Kiemenöffnung und bilden
vor dieser, zusammengefalten, eine Art Klappe.
Bey lebenden Hummern und Krebsen sind sie
in beständiger Bewegung und treiben, wenn die
Thiere sich auſserhalb dem Wasser befinden,
einen, viele und groſse Luftblasen enthaltenden
Schaum hervor. Sie unterscheiden sich zwar
in
[311] in ihrer Lage und Befestigungsart von den
Blättern des Geruchsorgans der Fische. Aber
diese Unterschiede sind unwesentlich und lassen
sich darauf zurückführen, daſs bey den Fischen
das Wasser auf das Geruchswerkzeug, bey den
krebsartigen Thieren umgekehrt dieses auf jenes
wirkt.
Bey den übrigen Crustaceen und den In-
sekten lassen sich ähnliche Organe nicht nach-
weisen. Aber desto deutlicher äuſsert sich bey
diesen die Gegenwart des Geruchssinns durch
ihr Benehmen gegen riechbare Substanzen, und
vorzüglich sind es die mit Saugwerkzeugen
versehenen geflügelten Insekten, also die Lepi-
dopteren, Dipteren und Hymenopteren, welche
den Besitz dieses Sinns zu erkennen geben.
Die männlichen Lepidopteren verrathen ein
scharfes Vermögen, ihre Weibchen zu wittern.
Spallanzanik) wurde von einem Männchen
des Schmetterlings der Ulmenraupe auf dem
Felde verfolgt, als er ein Kleid trug, das bey
einem Kasten gelegen hatte, worin er einige
Weibchen jenes Schmetterlings aufbewahrte.
Rösell) sah ein Männchen des Papilio cra-
taegi zu einer verschlossenen, vor dem Fenster
stehen-
[312] stehenden Schachtel fliegen, in welcher sich
Weibchen dieses Schmetterlings befanden, im-
mer zu derselben zurückkehren, obgleich er
einige mal verjagt wurde, und, nachdem die
Schachtel geöffnet war, sich mit einem der
Weibchen paaren.
Die Dipteren und Hymenopteren werden
vorzüglich durch Gerüche von Substanzen, die
ihnen oder ihrer Brut zur Nahrung dienen,
angelockt. Faulendes Fleisch zieht die Fliegen
herbey, wenn es auch noch so sehr versteckt
ist. Eben diese Thiere legen ihre Eyer auf
das Arum Dracunculus L., durch den fauligen
Geruch desselben getäuscht. Als Perraultm)
einen Löwen zergliederte, sammelte sich um
das todte Thier eine unzählbare Menge Fliegen
von einer eigenen Art, die mehrere Meilen
weit hergekommen seyn muſsten. Die Bienen,
Wespen und mehrere andere Insekten gehen
begierig dem Geruch des Honigs nach n). Hu-
bero) setzte Honig auf ein Fenster, dessen
Laden nur so weit offen waren, daſs Bienen
hereinkommen konnten, in die Nachbarschaft
eines Bienenstocks. Binnen weniger als einer
Viertelstunde hatten sich vier Bienen, ein
Schmet-
[313] Schmetterling und mehrere Stubenfliegen bey
dem Honig eingefunden. Der Versuch wurde
auf die Art abgeändert, daſs der Honig in
Schachteln von verschiedener Farbe und Gestalt
verschlossen wurde, deren Deckel Oeffnungen
hatten, worunter sich Klappen von Kartenblatt
befanden, und daſs man diese Schachteln zwey-
hundert Schritt von dem Bienenstocke hinstellte.
Nach einer halben Stunde hatten sich bey den-
selben Bienen versammelt, welche die Zugänge
zu dem Honig suchten, diese auch bald fanden
und die Klappen öffneten. So wurde auch,
nach Christ’s p) Erzählung, eine sehr sorg-
fältig versteckte Bienenkönigin von den Arbeits-
bienen entdeckt, welches ebenfalls nur durch
den Geruch möglich war und mit ältern, schon
von Aristotelesq) erwähnten Erfahrungen
übereinkömmt. Verscheucht werden hingegen
die Bienen durch jeden Rauch, besonders Ta-
backsrauch, und durch den Dunst des Terpen-
tinöls, der mineralischen Säuren, des Ammo-
niakgas und des Camphers. Weniger scheint
ihnen der Geruch des Moschus, und noch we-
niger der der Asa foetida zuwider. Den Wi-
derwillen gegen den Campher überwiegt bey
ihnen der Reitz des Honigs. Durch den Ge-
ruch des Safts ihres Giftbeutels, und vielleicht
auch
[314] auch durch die Ausdünstungen mancher Men-
schen, werden sie in Wuth gesetzt r).
Unter denjenigen Insekten, die blos Kau-
werkzeuge haben, sind es wohl nur die Dung-
käfer und die übrigen, sich von fauligen Sub-
stanzen nährenden Arten, deren Handlungen
auf einen scharfen Geruch schlieſsen lassen s).
Bey den übrigen finden sich weniger deutliche,
und bey den meisten Larven keine andere
Zeichen desselben, als daſs einige die ihnen
angemessene Nahrung unter andern Substanzen
ausfinden, z. B. die Wolfsmilchraupen Euphor-
bienblätter untern andern Kräutern t).
Daſs nach diesen Thatsachen die Insekten
den Sinn des Geruchs besitzen müssen, läſst
sich nicht in Zweifel ziehen. Die Frage, wo
die Organe desselben zu suchen sind? ist aber
auf so verschiedene Weise beantwortet worden,
daſs
[315] daſs es auſser den Beinen und Flügeln wenig
Glieder am Körper der Insekten giebt, worin
man nicht den Sitz jenes Sinns angenommen
hat. Röselu), Reaumurv), Lyonnetw)
und mehrere Andere suchten ihn in den Fühl-
hörnern; Bonsdorfx) nahm die Palpen über-
haupt, Knochy) die hintern, an der Lippe
sitzenden Freſsspitzen für die Organe desselben
an; Marcel de Serresz) schränkte Knoch’s
Meinung blos auf die Orthopteren ein; Ba-
stera), Reimarusb) und Dumerilc) ver-
setzten ihn in den Eingang der Tracheen;
Rosenthald) glaubte bey der Musca carnaria
in einer braunröthlichen Haut, die ihm nach
Zurück-
VI. Bd. X
[316] Zurücklegung des Gehirns und der Sehenerven
zu Gesicht kam, sich an der Basis des Schild-
chens da, wo die Fühlhörner mit ihren Wur-
zeln befestigt sind, in vielen zarten Falten an-
heftete, und von der Spitze des Gehirns zwey
dünne Nerven erhielt, eine Riechhaut zu er-
blicken; ähnliche Häute scheinen es gewesen
zu seyn, was Comparettie) bey mehrern
Insekten für Riechhäute erklärte; Ramdohr
äuſserte in einem frühern Aufsatze f) die Mei-
nung, daſs gewisse häutige Säcke, worin der
innere Canal des Rüssels der Biene übergeht,
Geruchswerkzeuge seyen, widerrief aber in der
Folge diese Hypothese, nachdem er jene Säcke
für Speicheldrüsen erkannt hatte g).
Für keine dieser Vermuthungen giebt es
entscheidende Beweise. Auf mehr als bloſse
Vermuthungen führen Huber’s h) Erfahrungen
au Bienen, in Verbindung mit den Resultaten
meiner Untersuchungen über die Saugwerkzeuge
der Insekten. Die Bienen fürchten sehr den
Geruch des Terpentinöls. Wenn Huber einen
mit dem letztern bestrichenen feinen Pinsel den
Stig-
[317] Stigmaten oder irgend einem andern Theil ihres
Körpers, mit Ausnahme des Mundes, näherte,
so lieſsen sich Bienen, die Honig verzehrten,
nicht im mindesten dadurch stören. Sobald er
aber der unter dem Rüssel befindlichen Mund-
höhle damit nahe kam, wichen sie gleich zu-
rück, verlieſsen ihr Essen und schickten sich
zum Wegfliegen an. Die Folgerung aus diesem
Versuche, daſs der Geruchssinn in oder an
ihrem Munde befindlich ist, wurde noch da-
durch bestätigt, daſs, nach Verklebung des
Mundes mit Kleister von Stärkemehl, der Ge-
ruch des Terpentins und anderer, stark riechen-
der Sachen keinen widrigen, so wie der des
Honigs keinen angenehmen Eindruck mehr auf
die Bienen machte.
Ganz übereinstimmend mit diesen Huber-
schen Beobachtungen ist ein Gesetz, welches
ich bey meinen Insektenzergliederungen ent-
deckte und woraus ich schon früher, ohne die
Versuche Huber’s zu kennen, auf den Sitz des
Geruchssinns im Munde oder im Schlunde der
meisten Insekten schloſs, daſs nämlich alle mit
Saugwerkzeugen des Mundes versehene Insek-
ten, also diejenigen, bey welchen sich die
Gegenwart jenes Sinns am deutlichsten äuſsert,
eine Saugblase besitzen, die entweder (bey den
Hymenopteren) einen Theil des Nahrungscanals
X 2aus-
[318] ausmacht, oder (bey den Dipteren und Lepi-
dopteren) mit der Speiseröhre durch einen Canal
verbunden ist, und wodurch sowohl Luft, als
tropfbare Flüssigkeiten eingesogen werden i).
Es ist hiernach glaublich, daſs sich bey diesen
Insekten in der Höhle des Mundes oder des
Schlundes die Werkzeuge des Geruchs und
Geschmacks zugleich befinden, und daſs jener
beym Einsaugen von Luft, dieser bey der
Aufnahme tropfbarer Materien erregt wird.
Vielleicht stehen mit jenen Höhlungen Neben-
höhlen in Verbindung, zu welchen eigene
Riechnerven gehen, und möglich ist es, daſs
die von Rosenthal bey der Musca carnaria
bemerkte, gefaltete Haut eine solche Neben-
höhle einschlieſst. Bey den übrigen. Insekten,
die keine Saugwerkzeuge haben, giebt es nichts
im Baue des Nahrungscanals, was der Annahme
widerspricht, daſs sie Luft zu verschlucken
vermögend sind, und daſs auch bey ihnen die
Organe des Geruchssinus, wo diese vorhanden
sind, am Eingange des Nahrungscanals ihre
Stelle haben.
Eben diese Sätze würden auf die luftath-
menden Mollusken und Würmer anwendbar
seyn, wenn es bewiesen wäre, daſs alle diese
Thiere
[319] Thiere den Geruchssinn als einen eigenen
Sinn besitzen. Unter den Würmern giebt es
bekanntlich viele, die durch den Mund einsau-
gen. Einige sind auch mit einer ähnlichen
Saugblase, wie die saugenden Insekten, ver-
sehen, z. B. die von A. G. Ottok) unter dem
Namen Siphostoma Diplochaitus beschriebene
Wurmart. Obgleich aber manche Lebensäuſse-
rungen dieser Thiere aus Geruchsempfindungen
zu entstehen scheinen, so ist es doch sehr
wohl möglich, daſs der Geruchssinn bey ihnen
bloſse Modifikation desjenigen ist, den wir im
ersten Abschnitt des gegenwärtigen Buchs den
allgemeinen Sinn genannt haben. Mehrere
Mollusken hingegen geben deutliche Beweise
von der Gegenwart des Geruchssinns. Schnek-
ken ziehen, wie schon oben erzählt ist, ihre
Fühlfäden ein und lenken von ihrem Wege ab,
wenn man ihnen, während sie kriechen, Cam-
pher und andere stark riechende Sachen ent-
gegenhält; sie kommen aber oft schnell aus
ihrem Gehäuse hervor, wenn man die Nahrungs-
mittel, die sie lieben, in ihre Nähe bringt l).
Diese Thiere nähren sich zwar nicht durch
Ein-
X 3
[320] Einsaugen. Allein sie besitzen eine Art von
Rüssel, den sie hervorstrecken und wieder ein-
ziehen können, und bey dessen Einziehung
wohl immer eine gewisse Quantität Luft mit
verschluckt wird. Mehrere Schnecken, z. B.
Planorbis Purpura Müll. und Buccinum palustre
M., öffnen und verschlieſsen auch beym Krie-
chen beständig den Mund, als ob sie Luft da-
durch aufnähmen. Wenn daher bey diesen
Mollusken der Geruchssinn ein eigener Sinn ist,
so läſst sich bey ihnen, wie bey den Insekten,
das Innere des Mundes für den Sitz desselben
annehmen.
Fünfter
[321]
Fünfter Abschnitt.
Das Gehör.
Erstes Kapitel.
Modifikationen des Schalls und Empfäng-
lichkeit der verschiedenen Thiere für
hörbare Eindrücke.
Wir kennen ziemlich genau die Gesetze des
Schalls. Allein die Erklärung der Natur des
Gehörssinns ist darum nicht weniger schwierig
und führt selbst auf noch mehr Räthsel, als die
Lehre vom Leben der übrigen Sinneswerkzeuge.
Der Grund der Schwierigkeiten liegt vorzüglich
in unserer Unbekanntschaft mit der Ursache
der verschiedenen Qualitäten des Schalls. Wir
wissen nur, daſs Töne überhaupt von zittern-
den Bewegungen elastischer Körper entstehen,
und daſs die Höhe und Tiefe derselben von
X 4der
[322] der Geschwindigkeit dieser Bewegungen abhängt.
Hingegen über die Entstehung des Lauts, der
verschiedenen Modifikation jedes Tons nach der
Verschiedenheit des tönenden Körpers, sind wir
im Dunkeln. Und doch ist es vorzüglich mit
die Unterscheidung des Lauts, wofür die Hör-
werkzeuge der höhern Thiere gebildet sind.
Diese Schwierigkeiten sind von einigen Schrift-
stellern m) noch vermehrt worden, indem sie
auch die Artikulationen der Töne für eine
besondere Modifikation des Schalls angenommen
haben, indeſs mit Unrecht. Die menschliche
Sprache würde sich nicht durch künstliche
Werkzeuge nachahmen lassen, wenn dies der
Fall wäre. Artikulirte Töne sind ungleichartige
hörbare Schwingungen, deren Ungleichartigkeit
aber nicht von innern Beschaffenheits-Verände-
rungen der Materie, wodurch sie hervorgebracht
werden, sondern von gewissen Gestalts-Verän-
derungen dieser Materie abhängt.
Daſs die Empfänglichkeit des Gehörssinns
für die verschiedenen Modifikationen der Töne
mit der Erregbarkeit desselben durch den Schall
überhaupt nicht immer in genauer Verbindung
steht, finden wir schon beym Menschen. Man
hat bey manchen Personen Empfänglichkeit für
gewisse
[323] gewisse Töne bey gänzlicher Unempfänglichkeit
für andere beobachtet. F. Hoffmann hat ein
Beyspiel von einem jungen Menschen, der
weiter keinen Schall als von einem Kuhhorn
vernahm n). Rosenthalo) kannte einen
Musiker, der nur bey sehr verstärkter Stimme
des Sprechenden dessen Worte deutlich ver-
nahm, dagegen in einem vollständig besetzten
Concert jeden falschen Ton sogleich bemerkte.
Er war Virtuose im Violinspiel und ertheilte
auch darin sehr guten Unterricht. Mir ist
ebenfalls ein junges Frauenzimmer bekannt, das,
obgleich so harthörig, daſs es sich nur ver-
mittelst eines Hörrohrs mit Andern unterhalten
kann, doch ein sehr musikalisches Gehör hat
und sehr gut das Clavier spielt. Manche Per-
sonen, von denen alle mittlere und tiefe Töne
sehr gut vernommen werden, hören hohe
Töne, z. B. das Singen der Heuschrecken und
das Pfeifen der Fledermäuse, gar nicht. Man
kann diese Unempfindlichkeit gegen hohe Töne
auf einen Augenblick künstlich bey sich her-
vorbringen, wenn man bey zugehaltener Nase
und
X 4
[324] und verschlossenem Munde Anstrengungen zum
Athemholen macht p).
Es läſst sich daher sowenig in Hinsicht auf
den Sinn des Gehörs, als auf jeden der übrigen
Sinne, eine einfache Stufenleiter der Thiere
angeben. Das Gebiet desselben wird zwar von
dem Menschen an bis zu den Würmern immer
beschränkter und verliert sich bey den letztern
in den allgemeinen Sinn. Aber in den engern
Sphären hat er für manche Eindrücke eine
gröſsere Empfänglichkeit, als auf dem weitern
Gebiet.
Die Verhältnisse des Gehörssinns sind theils
objektiver, theils subjektiver Art. Jene beziehen
sich auf das Medium, durch welches der Schall
zum Ohre fortgepflanzt wird, die Verschieden-
heit des Lauts, die Stärke und Schwäche, Nähe
und Entfernung des Schalls, die Höhe und
Tiefe der Töne, die Nähe und Entfernung des
Schalls, die Richtung, in welcher der Schall
zum Ohre gelangt, und die Unterscheidung
gleichzeitiger Schallschwingungen. Subjektiv
sind die Wirkungen, welche gewisse Töne oder
gewisse Verbindungen von Tönen auf das Gei-
stige oder Körperliche haben.
Das
[325]
Das Medium der hörbaren Eindrücke
ist für die Landthiere vorzüglich die Luft, für
die Fische und die übrigen unter dem Wasser
lebenden Thiere das Wasser. Erfahrungen, die
das Hörvermögen der Fische beweisen, findet
man schon bey Aristotelesq), Aelianr)
und Pliniuss). Der Letztere erzählt unter
andern, und die Wahrheit seiner Erzählung
wird durch ähnliche, von spätern Schriftstel-
lern t) angeführte Beyspiele gerechtfertigt, es
gäbe Fische in den Kaiserlichen Teichen zu
Rom, die, einzeln bey Namen gerufen, her-
beykämen. Der Hayfisch (Squalus Carcharias)
zeigt sich, wie O. Fabriciusu) berichtet, in
den Grönländischen Meeren an der Oberfläche
des Wassers, wenn er das Geräusch von Men-
schen hört: die Fischer hüten sich daher, über
tiefen Stellen des Meers, wo er seinen Aufent-
halt hat, zu schreien, damit ihnen die Fische
nicht von ihm verjagt werden.
Auſser-
[326]
Auſserhalb den Classen der Wirbelthiere
äuſsert sich das Vermögen, von Schallschwin-
gungen der Luft und des Wassers gerührt zu
werden, noch als ein eigener Sinn bey den
Krebsen, mehrern geflügelten Insekten und den
Sepien. Die Krebse werden, nach Aelian’s v)
Erzählung, durch Musik angelockt. Das Näm-
liche versichert ein späterer Schriftsteller, Val-
vasorw). Man hat sogar eigene Melodieen,
welche diesen Thieren vorzüglich gefallen sol-
len x). Dies sind indeſs Sagen, denen es an
Glaubwürdigkeit fehlt. Zuverlässiger sind Mi-
nasi’s y) Beobachtungen. Dieser fand, daſs
Krebse (Paguri), die am Ufer ihrer Beute
nachgingen, bey einem Geräusch gleich um-
kehrten und sich ins Wasser stürzten. Einige
derselben, die er in einem Gefäſs mit Meer-
wasser unterhielt und welche darin des Nachts
sehr unruhig waren, hörten gleich auf sich zu
bewegen, wenn eine Glocke angeschlagen wurde.
Uebereinstimmend mit diesen Erfahrungen ist
es, was der Prinz Maximilian von Wied-
Neuwiedz) von einer in Brasilien unter dem
Namen Guayamù bekannten Krabbenart erzählt:
sie
[327] sie wären schwer zu fangen, denn schon bey
dem leisesten Geräusch zögen sie sich in ihre
Höhlen zurück. Ich habe ebenfalls bey meh-
rern Hummern bemerkt, daſs sie bey einem
Schall, der mit keiner Erschütterung des Ti-
sches, worauf sie lagen, verbunden war, zu-
sammenfuhren, obgleich sie schon mehrere
Tage auſserhalb ihrem Element, dem Seewas-
ser, gewesen und sehr abgemattet waren.
Für das Hörvermögen vieler Insekten spre-
chen tägliche Erfahrungen. Fliegen werden durch
Geräusch, nicht aber durch eine Erschütterung
der Luft, die von keinem Schall begleitet ist,
verscheucht a). Von den Grashüpfern (Locusta
viridissima Fabr.) ist es bekannt, daſs sie ihren
Gesang auf dem Felde gleich unterbrechen,
sobald sie ein Geräusch hören. Brunellib)
stellte mehrere Versuche über das Gehör dieser
Thiere an, woraus sich ergab, daſs die Männ-
chen, die allein mit Singorganen versehen sind,
antworten, wenn man ihren Gesang nachahmt,
aber gleich schweigen, wenn sie einen fremd-
artigen Schall hören. Ein Männchen, das er
an
[328] an dem einen Ende seines Gartens eingeschlos-
sen hielt, lockte durch seinen Gesang ein
Weibchen herbey, das er an dem andern Ende
ins Freye gesetzt hatte. Eben diese Wirkung
der Töne des Männchens auf das Weibchen
hat man an Gryllus c), Cicada d), Termes pul-
satorius und Hemerobius pulsatorius e) beob-
achtet. Sehr deutliche Aeuſserungen von dem
Besitz des Gehörssinns geben auch die Bienen.
Huber’s Bemerkungen hierüber haben wir
schon im ersten Abschnitt dieses Buchs ange-
führt. Nach Christ’s f) Erfahrungen rufen
sich diese Insekten durch gewisse Töne zu
Hülfe, wenn es nöthig ist, sich gemeinschaftlich
gegen einen Feind zu vertheidigen g).
Ueber das Hörvermögen der Sepien fehlt
es noch an Beobachtungen. Daſs sie aber das-
selbe besitzen, ist nicht zu bezweifeln, da sie,
wie wir unten sehen werden, mit deutlichen
Hör-
[329] Hörwerkzeugen ausgestattet sind. Bey den übri-
gen Mollusken scheint dieses Vermögen nicht
mehr zugegen zu seyn. Swammerdammh) und
Lehmanni) bemerkten keinen Eindruck von
einem Geräusch oder einem starken Schall auf
Schnecken.
Auſser der Luft ist auch jeder feste, elasti-
sche Körper fähig, den Schall zum mensch-
lichen Ohre fortzupflanzen. Jeder aber modi-
fizirt den Schall bey der Fortleitung desselben
auf eine eigenthümliche Weise, und einige
verstärken, andere, z. B. der Marmor, schwä-
chen dessen Intensität k). Auf dieser Eigen-
schaft solcher Körper beruht das, schon von
Ingrassiasl) beobachtete und in neuern Zei-
ten von mehrern Schriftstellern m) untersuchte
Hören in einigen Arten von Taubheit durch
Ansetzung eines Stabs an die Zähne. Der
Schall gelangt hierbey von dem Stab durch die
Kopf-
[330] Kopfknochen unmittelbar zu den Hörnerven.
Man hat geglaubt, auch die Schallschwingungen
der Luft könnten zum Theil durch diese
Knochen auf ähnliche unmittelbare Weise zu
den Hörnerven geleitet werden n). Allein beym
Menschen findet eine solche Leitung gewiſs
nicht statt. Bey völlig verstopften Gehörgängen
müſste, wenn jene Meinung wahr wäre, nicht
alles Hören aufgehoben seyn, welches doch
allerdings der Fall ist. Wohl aber ist es mög-
lich, daſs die Thiere, die unter der Erde leben,
oder welche bey ihren Bewegungen mit dem
Kopfe die Erde berühren, z. B. der Maulwurf
und die Schlangen, auf eine solche Art von
Schallschwingungen der Luft gerührt werden.
Nicht jeder Schall aber wirkt als solcher
auf jede Thierart. Zur Wahrnehmung aller
Verschiedenheiten des Lauts und der feinern
Abstufungen desselben scheint nur das mensch-
liche Hörwerkzeug vollkommen gebildet. Ohne
das Vermögen, diese zu unterscheiden, würde
keine Mittheilung der Gedanken durch artiku-
lirte Töne unter den Menschen statt finden
können. Auch die Thiere unterscheiden zwar
den Laut; auch sie lassen sich im gezähmten
Zustande durch Worte regieren und manche
lernen
[331] lernen artikulirte Töne nachsprechen. Allein
immer bleibt die Zahl der Worte, die für sie
Bedeutung erhalten, oder die sie nachzuahmen
fähig sind, sehr gering. Möglich und selbst
wahrscheinlich ist es indeſs, daſs es Töne giebt,
wofür nicht unsere Hörwerkzeuge, wohl aber
die einiger Thiere Empfänglichkeit besitzen,
und die Wirkung solcher Töne auf sie kann
sie zu Handlungen veranlassen, deren Grund
für uns verborgen ist. Bey allen den chemi-
schen und physischen Veränderungen, die un-
aufhörlich in jeder Materie vor sich gehen,
finden ohne Zweifel auch schwingende Bewe-
gungen statt. Diese sind viel zu schwach für
unser Ohr. Es läſst sich aber die Möglichkeit
denken, daſs es weit schärfere Hörwerkzeuge
als die unsrigen gäbe, welche dieselben wahr-
zunehmen vermöchten. Einem Wesen, das ein
so feines Gehör besäſse, würde jeder Gegen-
stand erklingen, und dieser Sinn würde ihm
die Stelle des Gesichts ersetzen können. Ein
solcher Ersatz würde sich bey geblendeten
Fledermäusen annehmen lassen, die sich, nach
Spallanzani’s bekannten Versuchen o), eben
so benehmen, als hätten sie noch den Gebrauch
der
VI. Bd. Y
[332] der Augen, und Jurine’s Erfahrung, daſs der
Flug dieser Thiere unsicher wird, wenn ihnen
mit dem Gesicht auch das Vermögen zu hören
geraubt ist p), würden mit dieser Vorausset-
zung übereinstimmen, lieſsen Jurine’s gewalt-
same Versuche einen sichern Schluſs zu und
läge nicht die Voraussetzung selber zu sehr
auſserhalb den Grenzen der Wahrscheinlichkeit.
Doch soviel bleibt gewiſs, daſs manche Vibra-
tionen hörbar für gewisse Thiere sind, die für
unser Ohr verloren gehen. Durch das schwa-
che Geschrey des Weibchens der Wachtel, das
wir nur in einer geringen Entfernung hören,
wird das Mäunchen derselben aus der Entfer-
nung von mehr als einer halben Französischen
Meile (demi-lieue) herbeygelockt q). Auf alle
Thiere, die unter der Erde leben, besonders
den Maulwurf, oder welche beym Kriechen die
Erde mit dem ganzen Körper berühren, und
auf die Wasserthiere wirken Schallschwingungen
des Erdbodens oder des Wassers ohne Zweifel
ebenfalls aus sehr weiten Entfernungen.
Bey einigen Thieren scheint das Gehör
mehr für hohe, bey andern mehr für tiefe
Töne empfänglich zu seyn. Die äuſserste
Grenze
[333] Grenze des Sinns für hohe Töne erstreckt sich
beym Menschen nicht weiter als bis auf sechs
Octaven über dem mittlern E des Pianoforte.
Von manchen Personen werden schon Töne
nicht mehr vernommen, die um vier Octaven
höher als dieses sind r). Ueber den Eindruck
hoher und tiefer Töne auf das Gehör der
Thiere hat Kerners) Versuche angestellt,
aus welchen folgen würde, daſs die Katze, der
Hund, der Igel, die Hausmaus und das Ka-
ninchen empfindlicher gegen hohe als tiefe
Töne sind, das Schwein, die Kuh, das Schaaf
und das Pferd von beyden gerührt werden,
wenn nicht der Einwurf gültig wäre, daſs alle
solche Versuche nur den Schluſs zulassen,
dieses oder jenes Thier werde von gewissen
Tönen auf eine angenehme oder unangenehme
Art aufgeregt, oder bleibe dagegen gleichgültig,
nicht aber, dem Gehör desselben fehle über-
haupt dafür die Empfänglichkeit.
Die Richtung, in welcher der Schall zu
uns gelangt, erkennen wir an dem verschiede-
nen Eindruck, den derselbe auf beyde Ohren
hervorbringt, oder, wenn wir uns nur des
einen Ohrs bedienen, an der veränderten Stärke
dessel-
Y 2
[334] desselben bey veränderter Richtung des Ohrs.
Nach Venturi’s sehr richtigen Erfahrungen t)
läſst sich, wenn man beyde Augen verbunden
hat, den Kopf unbeweglich hält und beyde
Ohren offen sind, nicht entscheiden, ob ein
Schall, der gerade vor oder hinter uns erregt
wird, von vorne oder von hinten kömmt,
solange man den Kopf nicht bewegt. Sobald
man diesen dreht, wirkt er auf das eine Ohr
stärker als auf das andere. Wenn man bey
verbundenen Augen das eine Ohr verstopft hat
und den Kopf nicht bewegt, so scheint der
Schall immer von der Seite des offenen Ohrs
zu kommen. Wendet man das letztere nach
allen Richtungen, während der Schall mit
gleicher Stärke fortdauert, so wird dieser um
so stärker gehört, je mehr sich die akustische
Axe der geraden Linie nähert, die von dem
Ort der Entstehung des Schalls zum Innern
dieses Ohrs geht. Ob ein Ton von oben oder
von unten kömmt, beurtheilen wir ebenfalls
nach dem verschiedenen Eindruck desselben
auf eines der beyden Ohren bey verschiedener
Stellung des Kopfs, doch zugleich auch nach
der verschiedenen Wirkung, die er in dem
einen und dem andern Fall auf beyde Ohren
hervorbringt. Was die Entfernung betrifft,
von
[335] von welchem ein Schall ausgeht, so schätzen
wir dieselbe blos nach der verschiedenen Stärke
des letztern. Diese Bestimmung ist nur bey
Tönen, die uns schon aus längerer Erfahrung
bekannt sind, oder, wo dies nicht der Fall ist,
nach ihrer Verwandtschaft mit verwandten Tö-
nen möglich. Ueberhaupt also wird die Rich-
tung, worin sich der Schall fortpflanzt, und
die Entfernung, aus welcher er kömmt, nicht
unmittelbar empfunden, sondern beurtheilt.
Man hat die Meinung geäuſsert, Schall-
schwingungen der Luft könnten auch, indem
sie durch die Schädelknochen zu den Hörnerven
fortgepflanzt würden und bey dieser Fortpflan-
zungsart in verschiedenen Richtungen zu den
letztern gelangten, eine unmittelbare Empfin-
dung von der Richtung der Schallstrahlen er-
regen u). Allein wir haben schon oben er-
innert, daſs die hierbey zum Grunde gelegte
Voraussetzung irrig ist. Wäre sie aber auch
richtig, so würde doch, da der Schall durch
die Schädelknochen nicht in einer einzigen
geraden Linie fortgepflanzt werden könnte, son-
dern sich nach allen Seiten über diese Knochen
verbreiten müſste, im Grunde nichts weiter
geschehen, als was ohnehin auch geschieht,
daſs
Y 3
[336] daſs wir mit dem, der geraden Richtung des
Schalls nähern Ohr ihn schärfer als mit dem
andern hören. Kernerv) führt zur Unter-
stützung jener Meinung an, daſs, als er auf
einem stillen und einsamen Felde bey verbun-
denen Augen einen Andern, welcher seinem
rechten Ohr gegenüber stand, die Flöte blasen
hörte, der Schall bey allmähliger Verstopfung
des rechten Ohrs gleichsam in einem halben,
um das Hinterhaupt beschriebenen Cirkel auf
die entgegengesetzte linke Seite zu wandern,
nie aber diesen Halbkreis um die Stirn herum
zu beschreiben schien. Der Erfolg dieses Ver-
suchs läſst sich aber ohne die Voraussetzung
einer Fortpflanzung des Schalls durch die Kopf-
knochen schon daraus hinreichend erklären,
daſs die Hörwerkzeuge mehr nach dem Hinter-
haupte, als nach der Stirn hin liegen. Ferner
sagt er w): es zeige sich eine beträchtliche Ver-
schiedenheit zwischen der Fortpflanzung der
Schallerschütterungen durch den Vorkopf nach
hinten und der Fortpflanzung eben dieser Er-
schütterungen durch das Hinterhaupt nach vorn
schon dadurch, daſs wir bey bedeckten Augen,
aber offenen Ohren, immer unterscheiden kön-
nen, ob unter den angegebenen Umständen der
Flötenbläser sich vor oder hinter uns gestellt
habe.
[337] habe. Bey dieser Erfahrung aber vermischen
wir, wie bey vielen ähnlichen, Urtheil und
Empfindung. Der Schall wird anders empfun-
den, wenn er von vorne kömmt, als wenn er
von hinten zu uns gelangt, doch nur, weil er
im erstern Fall anders als im letztern zum
Gehörgang reflektirt, und durch diese verschie-
dene Zurückwerfung auf verschiedene Art mo-
difizirt wird. Das Weitere hierbey ist Urtheil,
nicht Empfindung. Auf ähnliche Art täuschen
wir uns, wenn wir beym leisen Streichen über
den Rand eines auf dem Kopfe befindlichen
runden Huts die Stelle der Berührung durch
das Gehör zu unterscheiden glauben x). Das
Gehör wird in diesem Falle gerührt, indem die
Erschütterung des Huts durch die Schädelkno-
chen auf die Hörnerven wirkt. Aber zugleich
mit diesen Nerven erleiden auch die Haut-
nerven des Schädels eine Erschütterung, und
wir glauben die berührte Stelle durch das
Gehör wahrzunehmen, da es in der That doch
der Tastsinn ist, der uns davon unterrichtet.
Auch die Thiere zeigen, indem sie beym
Auffassen eines von der einen Seite kommen-
den Schalls das eine Ohr nach dieser Seite
hin-
Y 4
[338] hinwenden, daſs sie die Richtung des Schalls
nach dem verschiedenen Eindruck desselben bey
veränderter Stellung des Kopfs beurtheilen y).
Diese Bestimmung wird ohne Zweifel durch die
verschiedene Stellung und Bildung der äuſsern
Ohren erschwert oder erleichtert. Nach Ker-
ner’s Versuchen z) scheinen die Kuh, das
Pferd, das Schwein und das Kaninchen wenig
Gefühl für die Richtung der Töne zu besitzen.
An dem Hund bemerkte er, was auch mit
meinen Erfahrungen übereinstimmt, ebenfalls
weniger Unterscheidungsvermögen dieser Rich-
tung, als dem Menschen eigen ist. Die Katze
hatte nur Sinn für die Richtung hoher Töne.
Der Fuchs merkte auch bey tiefen Tönen mehr
auf die Richtung derselben als die Katze. Ein
Maulwurf zeigte sich auſserhalb der Erde wenig
durch Töne erregbar, doch vielleicht nur wegen
der Angst und Betäubung, worin er sich unter
diesen Umständen befand; unter der Erde aber,
in einem flachen, mit Erde angefüllten Gefäſs,
konnte man ihn vollkommen in seinem Gange
leiten, je nachdem man von der einen oder der
andern Seite auf einem musikalischen Instru-
ment einen Ton angab.
Ein Vermögen, das dem Hörsinn des Men-
schen, aber wahrscheinlich auch nur diesem
zu-
[339] zukömmt, ist endlich noch das Unterschei-
dungsvermögen gleichzeitiger Schall-
schwingungen verschiedener Art. Auf
diesem beruhet der Sinn für Harmonie, den
kein anderes Thier mit dem Menschen gemein
hat, so viele auch gleich ihm Sinn für Melodie
besitzen. Jeder Vogel singt nur für sich; nie
hörte man mehrere zugleich einen harmoni-
schen Gesang anstimmen. Wie weit die Em-
pfänglichkeit für Melodie noch bey andern
Thieren als dem Menschen und den Singvögeln
vorhanden ist, läſst sich nicht bestimmen. Die
Alten erzählten viel von dem Eindruck der
Musik auf manche Thiere, deren Hörwerkzeuge
von den unsrigen sehr verschieden sind, z. B.
auf den Delphin und, wie schon oben bemerkt
ist, auf gewisse Seekrebse. Man hat auch
neuere Beyspiele von Hunden und andern
Hausthieren, die Wohlgefallen an einigen Arten
von Musik zu finden scheinen. Buffona) hat
mehrere derselben gesammelt, denen sich noch
eine spätere Beobachtung von R. Archer bey-
fügen läſst, wo eine Maus durch Flötenspiel
deutlich angezogen seyn soll b). Allein es
läſst sich hieraus nicht schlieſsen, was Buf-
fon
Y 5
[340]fonc) daraus schloſs, daſs die Empfindung des
Vergnügens, welches die Musik gewährt, ein
Eigenthum aller, mit dem Gehörsinn begabter
Wesen sey. Den meisten Thieren erregt Musik
mehr unangenehme, als angenehme Gefühle.
Nur von einzelnen Tönen, oder von einer
Folge weniger einzelner Töne scheinen manche
angezogen zu werden.
Die meisten, für uns wohllautenden Töne
wirken ganz anders auf viele Thiere. Bey
Kerner’s Versuchen d) schienen den Hunden
die hohen Töne einer Violine, eines Zinken,
einer Flöte, eines mit nassem Finger gestriche-
nen Glases und eines kleinen Metallglöckchens
unerträglich zu seyn. Sie flohen dieselben theils
mit dem gröſsten Geheule, theils zitterten sie
krampfhaft am ganzen Leibe, oder bewegten
den Kopf immer hin und her, oder gähnten
dabey beständig. Doch war hierin bey den
verschiedenen Individuen eine Verschiedenheit,
die beweiset, daſs auch bey den einzelnen
Thieren einer und derselben Art, wie bey den
Menschen, die subjektiven Wirkungen der Töne
sehr verschieden sind. Andere Thatsachen
lassen nicht zweifeln, daſs für die Thiere man-
che Töne höchst anziehend seyn müssen, die
auf
[341] auf unser Ohr den widrigsten Eindruck machen.
Ein alltägliches Beyspiel giebt das Geheul der
Katzen zur Brunstzeit. Ueberhaupt wirkt gewiſs
die lockende Stimme der Individuen des einen
Geschlechts auf das Innerste derer des andern
Geschlechts zur Zeit der Paarung, und für
jedes Thier giebt es Töne, wodurch unmittelbar
Affekten und Leidenschaften in demselben erregt
werden. So versetzt das Brüllen des Löwen
alle Hausthiere, und selbst solche, die diesen
Feind noch gar nicht kennen gelernt haben, in
die äuſserste Unruhe e). Man hat von einer
Sprache der Thiere gefabelt. Aber der unmit-
telbare Ausdruck der Gemüthsbewegungen durch
Töne ist noch sehr weit von jeder Sprache
entfernt. Diese besteht aus Symbolen; jene hat
nichts mit Symbolen gemein. Doch hiervon
werden wir in der Folge umständlicher zu reden
Gelegenheit haben.
Zwey-
[342]
Drittes Kapitel.
Eintheilung der Thiere nach der Verschie-
denheit ihrer Hörwerkzeuge.
Es liegt für jetzt nicht in unserm Plan, alle
Verschiedenheiten, welche die Hörwerkzeuge
auf den verschiedenen Stufen der thierischen
Organisation zeigen, zu erklären. Wir werden
hier nur die allgemeinern Unterschiede dersel-
ben zu bestimmen suchen, die Veränderungen
aber, welche jeder einzelne Theil der Organe
des Gehörs in den verschiedenen Thierclassen
zeigt, bey Untersuchung der Funktionen dieser
Theile betrachten, und auch hiervon nur dieje-
nigen berücksichtigen, die für die Biologie von
Wichtigkeit sind.
Die erste und wichtigste Verschiedenheit
der Thiere in Betreff der Hörwerkzeuge beruht
auf der Gegenwart und Abwesenheit der halb-
cirkelförmigen Canäle. Einige besitzen diese
nebst einer Schnecke oder einem Surrogat einer
Schnecke; andere sind blos mit einem Theil
ausgestattet, welcher die Stelle der Schnecke
ver-
[343] vertritt. Zu den erstern würden alle Wirbel-
thiere gezählt werden können, wenn nicht die
Lampreten (Petromyzon) eine Ausnahme mach-
ten; zu den letztern gehören auſser diesem
Fischgeschlecht alle wirbellose Thiere, bey wel-
chen bisjetzt Hörorgane entdeckt sind.
Die Unterabtheilungen dieser Classen lassen
sich von der Bildung der Schnecke oder des
Surrogats derselben hernehmen. Es giebt
1) Thiere, die mit dem Menschen eine wahre
Schnecke gemein haben. Diese sind die sämmt-
lichen Säugthiere.
2) Bey andern finden wir statt einer gewun-
denen Schnecke einen kegelförmigen, inwendig
hohlen Körper, dessen Höhlung durch eine
Scheidewand abgetheilt ist. In Besitz eines sol-
chen Organs sind die Vögel und die Crocodile.
3) Die übrigen Amphibien und die Fische
haben statt einer Schnecke häutige Säcke, die
entweder bey diesen Amphibien, den Rochen,
Hayen und einigen andern Knorpelfischen eine
weiche, kalkartige Materie, oder bey den Grä-
thenfischen Steine enthalten.
Mit der Gegenwart einer gewundenen
Schnecke oder eines schneckenartigen Kegels ist
der Besitz eines äuſsern Hörgangs und meist
auch
[344] auch eines äuſsern Ohrs verbunden. Jenen
haben alle Säugthiere und Vögel. Dieses fehlt
unter den Säugthieren nur dem Maulwurf,
einigen Spitzmäusen, einigen Geschlechtern aus
der Familie der Zahnlosen, den Robben, Wall-
rossen und Wallfischen, also nur einem kleinen
Theil jener Thiere und nur solchen, die unter
der Erde oder im Wasser leben. Den meisten
Vögeln ist zwar kein häutiges äuſseres Ohr
verliehen. Aber die um die äuſsere Oeffnung
des Gehörgangs stehenden Federn ersetzen die
Stelle desselben.
Bey allen diesen, mit einem äuſsern Gehör-
gang versehenen Thieren führt derselbe zu einer
Trommelhöhle, die im Schläfenbein befindlich
und nach auſsen mit einem Trommelfell be-
deckt ist. Das Vorhandenseyn einer solchen
Trommelhöhle ist indeſs nicht blos auf die
Säugthiere und Vögel beschränkt; sie findet sich
auch ohne einen äuſsern Gehörgang und ohne
eine wahre Schnecke, oder einen schnecken-
förmigen Kegel bey den Schildkröten, Eidech-
sen, Fröschen, Kröten und einigen Schlangen,
z. B. der Blindschleiche. Diese Thiere athmen
insgesammt durch Lungen. Aus ihrer Trom-
melhöhle geht immer eine Eustachische Röhre
in den Rachen, und zwischen dem Trommel-
fell und dem ovalen Fenster des Vorhofs findet
eine
[345] eine Verbindung durch ein einfaches Gehör-
knöchelchen, oder durch eine Kette mehrerer
solcher Knochen statt. Jenes ist bey den Vögeln
und den mit einem Trommelfell versehenen
Amphibien, dieses bey den Säugthieren der
Fall. Ein Uebergang von jener Art der Ver-
bindung zu dieser zeigt sich bey den Schnabel-
thieren und dem Känguruh. Die Schnabelthiere
haben statt des Steigbügels ein ähnliches cylin-
drisches Gehörknöchelchen (Columella) wie die
Vögel, das jedoch nicht wie bey den letztern
durch einen Knorpel, sondern durch ein Rudi-
ment eines Hammers mit dem Trommelfell
zusammenhängt. Beym Känguruh ist der Steig-
bügel durch die Länge und cylindrische Gestalt
seines obern Theils dem einfachen Gehör-
knöchelchen der Vögel ebenfalls sehr ähnlich.
Doch hat dieses Thier auch einen Hammer und
Amboſs e*).
Aus dem Vorhandenseyn einer Eustachi-
schen Röhre läſst sich umgekehrt auch be-
ständig auf die Gegenwart einer Trommelhöhle
schlieſsen, zu deren Trommelfell die äuſsere
Luft unmittelbar oder durch einen äuſsern Ge-
hörgang Zutritt hat. Gehörknöchelchen hin-
gegen giebt es auch bey Thieren, die keine
Trommelhöhle haben. Die meisten Schlangen
besit-
[346] besitzen einen Vorhof ohne Trommelhöhle, an
dessen ovales Fenster ein Gehörknochen be-
festigt ist, der mit dem entgegengesetzten Ende
die Kinnladen berührt. Mehrere Fische, na-
mentlich alle Arten von Cyprinus, Silurus
Glanis, Cobitis fossilis und Cobitis Barbatula,
haben, nach E. H. Weber’s f) Entdeckung,
drey Gehörknöchelchen, die zu beyden Seiten
der drey ersten Halswirbel in einer Höhlung
derselben liegen und sowohl unter sich, als mit
diesen Wirbeln artikuliren. Der dem Steig-
bügel zu vergleichende Knochen ist an eine
knöcherne Platte befestigt, die den Eingang zu
einer Cavität des ersten Halswirbels (Atrium
sinus imparis Web.) verschlieſst. Diese Höh-
lung vereinigt sich mit der der andern Seite
zu einem einfachen, in der Mittellinie des
Hinterhauptknochens liegenden Gang (Sinus
impar W.), und der letztere theilt sich nach
vorn in einen rechten und linken, zum Laby-
rinth jeder Seite gehenden Canal. Das entge-
gengesetzte Ende dieser Reihe von Gehör-
knöchelchen stöſst aber nicht an ein nach
auſsen liegendes Trommelfell, sondern der
Hammer ist mit der Schwimmblase verbunden,
welche die Stelle dieser Membran vertritt.
Alle
[347]
Alle übrige Wirbelthiere haben blos einen
Vorhof ohne Trommelhöhle und ohne Gehör-
knöchelchen. Bey einigen derselben gelangt der
Schäll zum Labyrinth durch eine an der
Oberfläche des Schädels liegende, mit einer Haut
bedeckte Oeffnung, welche dem runden Fen-
ster der höhern Thiere zu vergleichen ist. Zu
diesen gehören unter den Amphibien die Sala-
mander und der Proteus, unter den Fischen
die Rochen und Hayen. Bey den Rochen liegt
auf jeder Seite des Schädels gleich unter der
Oberhaut ein mit einem weiſsen Saft ange-
füllter Sack (Sinus auditorius externus Web.),
welcher sich durch einen weiten membranösen
Canal in das häutige Labyrinth öffnet, und
woraus zugleich mehrere Ausführungsgänge je-
nes Safts zur Auſsenseite des Kopfs gehen.
Auſserdem giebt es hier auf jeder Seite des
Hinterkopfs noch eine zweyte Oeffnung, über
welche ebenfalls eine Haut ausgespannt ist, die
aber nicht unmittelbar zum Labyrinth, sondern
zur Schädelhöhle führt *). Die Hayen besitzen
bloſs den letztern dieser Zugänge.
Bey
VI. Bd. Z
[348]
Bey den meisten Fischen wird der Schall
ohne Vermittelung eines solchen äuſsern Zugangs
zum Labyrinth fortgepflanzt. Es giebt aber
unter diesen Thieren mehrere, deren Schwimm-
blase mit dem Labyrinth so in Berührung steht,
daſs Schallschwingungen derselben dem letztern
unmittelbar mitgetheilt werden. Bey Sparus
Salpa und Sparus Sargus theilt sie sich, nach
Weber, vorne in zwey Canäle, deren Enden
an dem Rand zweyer ovaler, auf der rechten
und linken Seite des Schädels liegender, durch
eine Haut verschlossener Canäle befestigt sind.
Einen ähnlichen Bau habe ich beym Schellfisch
gefunden. Beym Hering dringen zwey enge
Röhren, worin die Schwimmblase vorne über-
geht, auf beyden Seiten des Hinterhauptsbeins
in zwey knöcherne Gänge; jeder von diesen
spaltet sich in einen doppelten Canal, der sich
in einer vordern und hintern knöchernen Kapsel
endigt; in die Canäle und beyde Kapseln ge-
langen die Fortsätze der Schwimmblase; in
jeder vordern Kapsel ist zugleich ein Anhang
des häutigen Labyrinths enthalten, der in der-
selben mit dem Fortsatz der Schwimmblase
zusammenstöſst, und verêinigt mit diesem eine
häutige Scheidewand bildet. Bey dem nämlichen
Fisch
*)
[349] Fisch hängt auch das häutige Labyrinth der
einen Seite mit dem der andern durch eine
häutige, quer unter dem Gehirn weggehende
Röhre so zusammen, daſs ein freyer Uebergang
von dem einem zum andern statt findet g).
Mit der Vereinfachung der übrigen Organe
des Gehörs werden auch die Muskeln des innern
Ohrs immer einfacher. Nur bey den Säug-
thieren, und vielleicht auch nicht einmal bey
allen diesen, giebt es vier Theile in der Trom-
melhöhle, die man gewöhnlich für Muskeln
hält. Drey derselben gehören dem Hammer an;
einer bewegt den Steigbügel. Die Vögel haben
nur einen einzigen innern Hörmuskel, der
theils an dem obern Fortsatz des Gehörknöchel-
chens befestigt ist, theils sich über das Trom-
melfell ausbreitet h). Am Gehörknöchelchen
der grünen Eidechse, des Frosches und des
Chamäleon glaubte Comparettii) Muskelfasern
bemerkt zu haben. Er fand aber keine am
Gehörknochen der Viper k). Scarpal) gedenkt
blos
Z 2
[350] blos eines Ligaments an diesem Knochen, und
er erinnert ausdrücklich m), keine Muskelfasern
in der Trommelhöhle der Schildkröte ange-
troffen zu haben. An den Gehörknöchelchen
der Fische sind ebenfalls noch keine Muskeln
entdeckt worden. Auf der innern Wand der
Höhlung, worin diese Knochen bey den Cy-
prinusarten liegen, giebt es zwar Muskeln, die
vom Hinterhauptknochen nach dem zweyten
und dritten Halswirbel gehen n). Sie haben
aber mit den Gehörknöchelchen keine Verbin-
dung, und es scheint mir zweifelhaft, ob ihnen,
wie Weber glaubt, eine Funktion beym Hören
zukömmt. In näherer Beziehung hiermit müs-
sen Muskelfasern an den Gehörorganen der
Rochen und des Schellfisches stehen, auf die wir
im folgenden Kapitel zurückkommen werden.
Die Ausbreitung des eigentlichen Hörnerven
und des Antlitznerven im Ohre wird ebenfalls
in demselben Verhältniſs beschränkter, je ein-
facher die innern Hörorgane werden. Indeſs
zeigen sich bey allen Thieren der drey obern
Classen der Gehörnerve und der Antlitznerve
als eigene Hirnnerven, und bey allen geht nur
jener zu den halbcirkelförmigen Canälen, zu
dem Gehörkegel oder dem Gehörsack, während
dieser
[351] dieser die Muskeln der Gehörknöchelchen mit
Zweigen versorgt, wo solche Muskeln vorhan-
den sind, und einen andern, der Saite des
Trommelfells (Chorda tympani) analogen Ast
bey den Säugthieren und Vögeln abgiebt *).
Bey den Fischen zeigen sich manche Ab-
weichungen von dieser Bildung. Die Nerven
des siebenten Paars sind zwar auch hier immer
noch eigene Hirnnerven und nicht, wie Scar-
pao) glaubte, blos Zweige der Nerven des
fünften Paars p). Der Antlitznerve hingegen
hat bey den verschiedenen Fischgeschlechtern
nicht einerley Ursprung. Bey vielen Fischen,
z. B. beym Stöhr, ist er ein Zweig eines Ner-
ven, von welchem ein Verbindungszweig zu
den Kiemennerven geht und der ohne Zwei-
fel
Z 3
[352] fel dem Glossopharyngaens verglichen werden
muſs q). Bey andern, z. B. dem Aal, Hecht,
Wels und der Quappe, entspringt er dicht
neben dem Hörnerven. Doch giebt es bey dem
Hecht und dem Wels auch zwischen ihm und
den Kiemennerven einen verbindenden Zweig.
Bey der Quappe hingegen hat er mit dem letz-
tern keine Gemeinschaft. Bey dem Karpfen und
der Karausche entsteht er aus einem groſsen,
auf der Grundfläche des Schädels liegenden
Knoten eines dicken Zweiges des Trigeminus r).
Hierbey ist zugleich der Umstand bemerkens-
werth, daſs der Antlitznerve der Fische sich
mit dem Hörnerven in die unmittelbaren Or-
gane des Gehörs ausbreitet, wobey jedoch auch
Verschiedenheiten in dieser Thierclasse statt
finden. Gewöhnlich geht der eigentliche Hör-
nerve zu dem vordern und horizontalen halb-
cirkelförmigen Canal und zum mittlern Theil
des Steinsacks, der Antlitznerve zum hintern
halbcirkelförmigen Canal und zum vordern
Theil des Steinsacks, oder, wenn deren zwey
vorhanden sind, beyder Säcke. Bey Scorpaena
Scropha, Sparus Salpa, Sparus Sargus und
Gadus Lota hingegen empfängt, nach Webers),
der
[353] der hintere halbcirkelförmige Canal und der
hintere Steinsack Zweige vom Hörnerven, der
vordere vom Antlitznerven. Beym Zitterrochen,
dem Hayfisch und den Neunaugen ist es blos
der Hörnerve, der sich im innern Ohr aus-
breitet t). Bey diesen Verschiedenheiten haben
aber alle Fische dies mit einander und mit den
sämmtlichen Thieren der höhern Classen ge-
mein, daſs die Nerven der halbcirkelförmigen
Canäle sich in den Erweiterungen dieser Röh-
ren scharf begränzt endigen, ohne sich weiter
in denselben zu verbreiten, die der Schnecke
oder der Hörsäcke hingegen sich büschel- oder
netzförmig verzweigen *).
Die Lampreten (Petromyzon), bey welchen
es blos Hörsäcke ohne halbcirkelförmige Canäle
giebt, sind die Uebergangsstufen von den Wir-
belthieren zu den Crustaceen und Mollusken in
Be-
Z 4
[354] Betreff der Hörwerkzeuge. Wir kennen bisjetzt
nur bey wenig wirbellosen Thieren Organe,
die sich für Sitze des Gehörssinus mit Wahr-
scheinlichkeit annehmen lassen. Wo aber bey
den Thieren dieser Classen solche Theile am
ausgebildetsten vorhanden sind, bestehen sie in
bloſsen, unter einer elastischen Haut, oder in
einer hornartigen Kapsel liegenden Säcken.
In der Gestalt eines Schlauchs, über wel-
chem eine elastische Haut ausgespannt ist,
zeigt sich das Ohr der krebsartigen Crustaceen.
J. C. Fabriciusu) und Minasiv) entdeckten
dieses Organ bey Cancer Maenas L. und Cancer
Pagurus L. Cavoliniw) fand nach ihnen
dasselbe bey Cancer Phalangium Fabr. Scar-
pax) und Webery) beschrieben dasselbe ge-
nauer vom Fluſskrebs. Ich habe es bey Cancer
Gammarus L. und Cancer Maenas L. unter-
sucht und bey diesen Arten im Wesentlichen
den nämlichen Bau wie beym Fluſskrebs ange-
troffen. Bey allen diesen Thieren liegen auf
der untern Seite des Kopfs, hinter den Wur-
zeln der gröſsern Fühlhörner, zwey hohle,
war-
[355] warzenförmige Hervorragungen, die aus einer
sehr harten, steinartigen Substanz bestehen und
eine, mit einer festen, elastischen, nach auſsen
convexen Haut bedeckte äuſsere Oeffnung haben.
Unmittelbar unter dieser Membran, in der
Höhlung der Warzen, liegt ein häutiger Schlauch,
welcher eine wäſsrige Flüssigkeit enthält und in
dessen inneres Ende der, gemeinschaftlich mit
den Nerven der gröſsern Fühlhörner aus dem
Gehirn entspringende Hörnerve dringt *).
Zwey ähnliche, in knorpelartigen Kapseln
eingeschlossene häutige Säcke, von welchen jeder
einen eigenen Nerven aus dem Gehirn empfängt,
sind die, von J. Hunterz) entdeckten und
von A. Monroa), Scarpab), Cuvierc),
Pohl
Z 5
[356]Pohld) und Webere) an Sepia Loligo,
Octopus und officinalis weiter untersuchten Hör-
organe der Sepien. Die beyden Kapseln be-
finden sich in dem ringförmigen Knorpel, der
das Gehirn und den Oesophagus umgiebt. Sie
haben keine äuſsere Oeffnung. In jedem der
Säcke, die sie enthalten, giebt es ein ähnliches
Steinchen, wie in den Hörsäcken der Gräthen-
fische. Der kleine und kurze Hörnerve ent-
springt aus dem Vordertheile des Gehirns zwi-
schen den Nerven der Füſse und der Bauch-
eingeweide.
Daſs diese Organe der Krebse und der
Sepien wahre Hörwerkzeuge sind, hat alle
Wahrscheinlichkeit für sich. Nicht so sicher
ist es, ob in einigen Theilen anderer wirbel-
loser Thiere, woran sich Bedingungen jener
Werkzeuge nachweisen lassen, wirklich der
Sitz des Hörsinns angenommen werden darf.
Bey der Biene glaubt Ramdohrf) das
Organ des Gehörs in den Kinnbacken gefunden
zu haben. Die Kinnbacken der Biene, sagt er,
sind hohle Röhren, an ihrem äuſsern, abge-
stumpf-
[357] stumpften Ende mit einer ziemlich dicken Haut
überspannt, über deren Mitte ein starkes, her-
vorstehendes Hornband geht. Vor ihrer innern
Oeffnung erhebt sich eine eyförmige, blasen-
artige Erhöhung von der Länge der Kinnbak-
ken, aber in der Dicke stärker als diese. Sie
wird von einer sehr elastischen, an sich durch-
sichtigen, aber inwendig mit einer undurch-
sichtigen Masse bekleideten Haut bedeckt und
enthält einen Tropfen einer wasserhellen, ein
wenig gelblichen, auf dem Wasser schwimmen-
den Flüssigkeit. An ihrem obern Ende ist
diese allenthalben verschlossene Haut zugewölbt;
ihr unteres Ende geht in die innere Bekleidung
der Kinnladen über. Der Nerve, den Ram-
dohr für den Gehörnerven hält, ist ein Ast
der Nerven der Kinnbackenmuskeln. Er theilt
sich bandförmig in vier Zweige, die, wie Ram-
dohr glaubt, die Gehörhaut durchboren.
Ich muſs gestehen, daſs ich bey meinen
Zergliederungen der Biene in den gedachten
Theilen der Kinnbacken die Aehnlichkeit mit
einem Hörorgan, die Ramdohr darin sieht,
nicht habe finden können. An dem dicken vor-
dern Ende der Kinnbacken sahe ich eine Ver-
tiefung, die freylich in der Mitte ein hervor-
stehendes Hornband und an den Seiten dieses
Bandes eine etwas dünnere Haut als an andern
Stellen
[358] Stellen hatte. Aber das Hornband schien mir
blos zum Zerreiben der Nahrungsmittel, und die
Vertiefung zur Aufbewahrung der zerriebenen
Substanzen bestimmt. Im Innern der Kinn-
backen konnte ich nur die Muskeln derselben
und die zu diesen Muskeln gehenden Nerven,
nicht aber die Blase und den Gehörnerven, die
Ramdohr darin entdeckt zu haben versichert,
bemerken. Das Hörorgan der Biene würde
aber auch bey Ramdohr’s Meinung in ein
Organ verlegt seyn, das immerfort in Bewe-
gung, beständigen Reibungen ausgesetzt, und also
zum Vernehmen aller, von auſsen kommenden
Schalleindrücke sehr wenig geeignet ist.
Ich fand dagegen bey der Schabe (Blatta
orientalis) einen Theil, der mir seiner Gestalt
und Lage nach den Erfordernissen eines Hör-
werkzeugs besser zu entsprechen scheint. Hier
liegt auf der obern Seite des Kopfs, in dem
Winkel zwischen den groſsen halbmondförmi-
gen Augen und der Oeffnung, in welcher sich
die Wurzeln der Antennen befinden, eine an-
dere runde Oeffnung, worüber eine weiſse,
elastische, in der Mitte vertiefte Haut ausge-
spannt ist, und unter der letztern eine Her-
vorragung des Gehirns, welche mit ihr in Be-
rührung zu stehen scheint g). Diese Haut ist
ganz
[359] ganz zur Ausfassung von Schallschwingungen
gemacht und kann schwerlich zu einem andern
Zweck als hierzu bestimmt seyn.
Etwas Gleiches habe ich zwar bey keinem
andern Insekt angetroffen. Etwas Aehnliches
aber besitzen auch andere Insekten. Bey der
Libellula vulgata traf ich über der Stirn, in
dem Zwischenraum zwischen den beyden zu-
sammengesetzten Augen, den drey einfachen
Augen und den Fühlhörnern eine runde, mit
Haaren besetzte Erhöhung an, auf deren Gipfel
zu beyden Seiten eine, sich durch ihre bräun-
liche Farbe auszeichnende runde Stelle liegt, die
mit einer weichern Haut als die übrige Her-
vorragung bedeckt ist. Die letztere enthält eine
Höhlung, aus welcher, als ich sie öffnete,
eine wäſsrige Feuchtigkeit hervordrang, und an
deren Seiten die Nerven der einfachen Augen
zu diesen hinlaufen. Bey der Biene fand ich
unter der ganzen obern Wölbung des Schädels
eine Höhlung, die durch eine mittlere, längs-
laufende Scheidewand in eine rechte und linke
Hälfte getheilt ist, und auf deren Boden sich
eine glänzende weiſse Haut befindet, unter wel-
cher Luftsäcke liegen. Ob sich in diesen Höh-
lungen der Libelle und der Biene eigene Ner-
ven ausbreiten, habe ich nicht entdecken kön-
nen. Giebt es solche in ihnen, so haben sie
die
[360] die Erfordernisse von Hörwerkzeugen der ein-
fachsten Art. Es ist übrigens nicht glaublich,
daſs allen Insekten besondere Organe des Ge-
hörs verliehen sind. Die meisten sind wohl
nur empfänglich für Schallschwingungen durch
den allgemeinen, im ganzen Nervensystem ver-
breiteten Sinn, welcher vermöge ihrer äuſsern
hornartigen Bedeckungen und des Zugangs, den
die Luft zu jedem Punkt ihres Innern hat,
mehr bey ihnen, als bey allen übrigen Thieren,
von diesen Schwingungen gerührt zu werden
fähig ist.
Drittes
[361]
Drittes Kapitel.
Aufnahme und Fortpflanzung der hörbaren
Eindrücke durch die Werkzeuge des
Gehörs.
§. 1.
Organische Bedingungen der Gradationen des Gehörs.
Das äuſsere Ohr.
Nach den uns bekannten Gesetzen der Fort-
pflanzung des Schalls würde das einfachste Hör-
werkzeug eine gespannte Haut, eine horn- oder
knorpelartige Platte seyn, unter welcher sich
ein Hörnerve ausbreitete. Die am Schluſs des
vorigen Kapitels mitgetheilten Beobachtungen
lassen vermuthen, daſs durch Organe von sol-
cher Einfachheit mehrere Insekten Empfindungen
von Schallschwingungen erhalten. Bey dieser
Bildung kann indeſs das Gebiet des Hörsinns
nur sehr beschränkt seyn. Feste Körper sind
nicht fähig, bey unveränderter Spannung ver-
schiedenartige Schallschwingungen der Luft un-
verändert fortzupflanzen, und die Rührung eines
Nerven, der mit einem solchen Körper in un-
mittelbarem Zusammenhange steht, kann nicht
sehr
[362] sehr verschieden von einer Empfindung des
bloſsen Getasts seyn. Damit jene sich hiervon
ganz unterscheide, muſs der Nerve in einer
Flüssigkeit schwimmen, die von einem festen,
des Vibrirens fähigen Körper berührt wird.
Aber jeder sowohl feste, als flüssige Körper
setzt die Schwingungen, in die er von einem
einfachen Schall versetzt wird, noch eine Zeit-
lang fort. Das Gehör wird also immer noch
sehr unvollkommen seyn, wenn es nicht einen
Mechanismus giebt, wodurch dieses Fortschwin-
gen verhindert wird, und auch hierbey wird
demselben Feinheit mangeln, wenn nicht über-
dies eine Einrichtung vorhanden ist, wodurch
die zur Aufnahme des Schalls dienende Haut
nach der Verschiedenheit desselben in einen
verschiedenen Grad von Spannung versetzt
wird. Zum leisen Gehör wird es endlich noch
eines äuſsern Organs bedürfen, welches die
Schallschwingungen auffängt, concentrirt und
nach den innern Hörwerkzeugen zurückwirft.
Diese Erfordernisse finden wir an dem Ohr
der höhern Thiere. Was dasselbe noch auſser-
dem vor dem Ohr der niedern Thiere voraus
hat, steht theils mit den gedachten Funktionen,
theils wohl mit der Empfänglichkeit für die
Verschiedenheit des Lauts in Beziehung. Wir
werden, um uns hierüber näher zu erklären,
die
[363] die einzelnen Werkzeuge des Gehörs nach ein-
ander betrachten und dabey von dem äuſsern
zum innern Ohr fortgehen.
Der Zweck des äuſsern Ohrs, die Schall-
schwingungen zu sammeln und sie concentrirt
in den äuſsern Gehörgang zu reflektiren, ist bey
vielen Säugthieren, z. B. dem Pferde, den Fle-
dermäusen, den Nagethieren u. s. w. so klar,
daſs darüber kein Zweifel statt finden kann.
Diese Thiere haben ein sehr leises Gehör und
ihr äuſseres Ohr hat ganz die Form eines
Hörrohrs. Sie vernehmen ohne Zweifel den
Schall aus desto gröſserer Ferne, je weiter die
äuſsere Mündung und je gröſser die Höhlung
dieses Organs ist. Bey der entgegengesetzten
Bildung kann sich der Wirkungskreis des Ge-
hörssinns nur auf Schallschwingungen der Luft,
die in der Nähe erregt sind, erstrecken. Die,
zum Theil mit so ungeheuern Ohren begabten
Fledermäuse müssen bey ihrer Lebensweise die
Insekten, die ihre Hauptnahrung ausmachen,
schon aus der Ferne an deren Tönen ent-
decken; ein enges äuſseres Ohr hingegen haben
die Maki (Lemur) und die mehrsten zahnlosen
Säugthiere, welche ebenfalls gröſstentheils von
Insekten leben, diesen aber nur aus der Nähe
nachgehen können.
VI. Bd. A aBey
[364]
Bey vielen Thieren sieht man auch eine
Uebereinstimmung der Stellung des äuſsern
Ohrs mit ihrem Charakter und ihrer Lebens-
weise. Der Hase und das Kaninchen, wehr-
lose, flüchtige Geschöpfe, tragen die Oeffnungen
ihrer äuſsern Ohren gewöhnlich nach hinten
gerichtet; hingegen der Löwe, die Katze, die
Fledermäuse und andere Raubthiere, die ver-
folgend umherstreifen, halten sie meist nach
vorne gekehrt h). Diese Richtung ist freylich
wohl nicht bey allen Thieren Folge eines be-
sondern Baus des Ohrs: denn die meisten kön-
nen dasselbe auch nach jeder andern Richtung
bewegen i). Aber es kömmt hier nicht darauf
an, wie die Haltung dieses Theils seyn kann,
sondern wie sie im gewöhnlichen Zustande ist.
Bey einigen Thieren, z. B. bey Vespertilio
Spasma, wo die Ohren mit ihrem innern Rand
unter sich zusammenhängen, hat sie allerdings
auch einen anatomischen Grund k).
Die Bestimmung des äuſsern Ohrs verräth
sich ferner bey einer Vergleichung mehrerer
Hausthiere mit deren ungezähmten Verwandten
in Hinsicht auf diesen Theil l). Diejenigen,
deren
[365] deren Gehör in der langen Knechtschaft, worin
sie sich fortgepflanzt haben, nicht mehr geübt
worden ist, z. B. die Schaafe, haben lange,
schlaff herabhängende, die dem Schaaf sehr
verwandten, aber freyen Arten, der Muflon und
Argali, hingegen weit kürzere, zugespitzte und
aufrecht stehende Ohren m).
Bey dem Menschen scheinen die Muskeln
des äuſsern Ohrs gar keine bewegende Kraft zu
haben. Man führt zwar Beyspiele von Personen
an, welche die Ohren bewegen konnten n).
Perraulto) hat aber erinnert, und seine Be-
merkung scheint gegründet zu seyn, daſs in
diesen Fällen die Bewegung des Ohrs nicht
durch die Ohrmuskeln, sondern durch den an
seinen Seitentheilen sehr fleischigen Hautmuskel
des Kopfs bewirkt wurde. Meines Wissens
lassen sich auch keine zuverläſsige Nachrichten
von
A a 2
[366] von ganzen, im Zustande der Wildheit lebenden
Völkern mit beweglichen Ohren aufweisen *).
Das äuſsere Ohr hat jedoch nicht allent-
halben, wo es vorhanden ist, oder wenigstens
nicht in allen seinen Theilen die bloſse Be-
stimmung eines Hörrohrs. Wozu die Leisten,
Hervorragungen, Furchen und Höhlungen des
äuſsern Ohrs beym Menschen? Nach Boer-
haavep) ersetzen dieselben die, den übrigen
Thieren eigene Beweglichkeit dieses Organs.
Er lieſs das Ohr eines scharfhörenden Mannes
in Wachs abdrucken und fand, daſs, wenn er
von irgend einem tönenden Punkt eine gerade
Linie zu irgend einem Punkt einer der knorpe-
ligen Hervorragungen dieses Ohrs zog und
einen Reflektionswinkel abmaaſs, der dem Ein-
fallswinkel gleich war, der reflektirte Schall-
strahl endlich nach mehrern Zurückwerfungen
in den äuſsern Hörgang gelangte, so daſs in
diesem der gemeinschaftliche Focus aller der
krummen Linien lag, welche die Windungen
des äuſsern Ohrs bilden. Der Versuch wäre
einer
[367] einer Wiederholung werth. Ich weiſs aber
nicht, ob das Resultat ganz übereinstimmend mit
Boerhaave’s Angabe ausfallen würde. Daſs
die auf die Ohrmuschel fallenden Schallschwin-
gungen in den äuſsern Gehörgang reflektirt
werden, ist freylich einleuchtend. Daſs aber
die, welche die kahnförmige Grube und die
ungenannte Vertiefung treffen, zum innern Ohr
kommen, leuchtet mir nicht ein. Verhallet etwa
in diesen Vertiefungen ungehört ein Theil der
zum ganzen äuſsern Ohr gelangenden Schwin-
gungen, der, wenn er in den Gehörgang
dränge, die Reinheit des Tons oder Lauts trü-
ben würde? Auf jeden Fall ist soviel gewiſs,
daſs der Mensch und mit ihm alle die Thiere,
deren äuſseres Ohr dem Kopfe platt anliegt,
bey einerley Bildung des innern Ohrs zwar
kein so scharfes Gehör für leise und ferne Töne
haben können, als diejenigen, bey welchen
jenes trichterförmig hervorragend ist, daſs sie
aber die verschiedenen Abstufungen und den
Laut stärkerer Töne besser als die letztern müs-
sen unterscheiden können, indem solche Töne
auf das innere Ohr der letztern eben so wirken
müssen, wie ein blendendes Licht auf das Auge
bey offener Pupille. Auch ist klar, daſs die
erstern Thiere weit fähiger seyn müssen, die
Richtung des Schalls gleich beym ersten Ein-
druck zu unterscheiden, als diejenigen der letz-
A a 3tern,
[368] tern, deren äuſseres Ohr nicht sehr beweg-
lich ist.
§. 2.
Der äuſsere Hörgang, das Trommelfell und die Gehör-
knöchelchen.
Der von der Muschel des äuſsern Ohrs zu-
rückgeworfene Schall gelangt durch den äuſsern
Gehörgang zum Trommelfell. Wenn man nach
dem urtheilen darf, was mit dem Schall in
Hörröhren geschieht, so läſst sich annehmen,
daſs nur die Weite, nicht aber die Länge und
Krümmung dieses Gangs auf das Gehör Einfluſs
haben kann. Was sich über jenen Punkt nach
den bisherigen Beobachtungen sagen läſst, ist
aber zu wenig, um etwas Sicheres daraus zu
schlieſsen *). Das Mehr oder Weniger jener
Weite kann auch nicht für sich, sondern nur
in
[369] in Beziehung auf die Ausdehnung des Trommel-
fells von Wichtigkeit seyn, dessen Funktion
also zuvörderst zu untersuchen ist.
Welchen Zweck hat das Trommelfell? Die
Antwort bey der bisherigen Theorie des Hörens
war: die Schallschwingungen aus dem Gehör-
gange aufzufangen. Aber wozu dieses Auffan-
gen? Um, sagt man, nach dem verschiedenen
Grade der Spannung desselben die deutliche
Wahrnehmung des Unterschieds der Töne mög-
lich zu machen. Allein eben dies hätte sich
durch stärkere und schwächere Spannung der
Häute beyder Fenster des Vorhofs möglich ma-
chen lassen. Hier ist offenbar eine Lücke in
der bisherigen Erklärung des Wirkens der in-
nern Gehörwerkzeuge, zu deren Ausfüllung es
nöthig seyn wird, diese Theorie näher zu
prüfen.
Von dem Trommelfell kann die Fortpflan-
zung der Schallschwingungeni zum Labyrinth
entweder blos durch die Kette der Gehörknö-
chelchen, oder durch die Luft der Trommel-
höhle, oder durch beyde zugleich geschehen.
Daſs sie allein durch die Gehörknöchelchen, ver-
mittelt wird, läſst sich auf keinen Fall anneh-
men: denn wozu wäre das, mit dem Trommel-
fell in keiner Verbindung stehende runde Fen-
ster gemacht, als um von den Schwingungen
A a 4der
[370] der Luft in der Trommelhöhle gerührt zu
werden? Und wie wäre dann möglich gewesen,
was doch nach vielen Erfahrungen oft der Fall
war, daſs nach aufgehobener Verbindung der
Gehörknöchelchen, oder selbst nach gänzlichem
Verlust des Hammers und Ambosses, das Gehör
doch noch fortdauerte? q). Die Gehörknöchel-
chen können höchstens nur mitwirkend bey
jener Fortpflanzung seyn. So wurden sie von
Coiterr) und nach ihm von vielen andern
Physiologen betrachtet. Allein es gilt gegen
diese Ansicht mit vollem Recht, was schon zum
Theil Fabricius ab Aquapendentes) erin-
nerte, daſs alle hörbare Schwingungen leichter
durch die Schädelknochen, als durch die Kette
der Gehörknöchelchen, dem Labyrinth mitge-
theilt werden müſsten, wenn sie ohne Vermitt-
lung der Luft der Trommelhöhle zu diesem
gelangen könnten, weil mehrere feste Körper,
die durch weiche Substanzen mit einander ver-
bunden sind, den Schall bey weitem nicht so
gut leiten, als er durch einen einzigen, nicht
unterbrochenen Körper geleitet wird. Selbst
bey
[371] bey denjenigen Fischen, mit deren Labyrinth
die Schwimmblase durch Gehörknöchelchen in
Verbindung steht, hängt diese eben so wohl mit
der Wirbelsäule, als mit den Gehörknöchelchen
zusammen, und der Schall wird gewiſs leichter
durch die erstere, als durch die letztern fort-
gepflanzt. Die Schwierigkeiten jener Meinung
sind auch nicht gehoben, wenn man mit Val-
salvat) annimmt, daſs die Gehörknöchelchen
bey der Leitung der Schalleindrücke als eine
Verbindung von Hebeln wirken, in welcher
durch die leiseste Bewegung des einen zugleich
die übrigen bewegt werden. Eine solche me-
chanische Bewegung ist sehr verschieden von
den Schwingungen, welche den Schall aus-
machen. Für diese kann eine Kette von Hebeln
kein besserer Leiter als jede andere Kette seyn.
Wenn es zuverläſsig ist, was Homeu) gefunden
zu haben versichert, daſs beym Dugong der
Steigbügel mit dem eyförmigen Loch des Vor-
hofs nicht in Verbindung steht, so wird sich
auch hiervon ein Grund gegen die obige Mei-
nung hernehmen lassen. Mir kömmt jedoch
diese, an einem trocknen Schädel gemachte Be-
obachtung sehr verdächtig vor. Uebereinstim-
mend
A a 5
[372] mend mit meinen Untersuchungen und ein eben
so wichtiger Grund gegen jene Meinung ist aber
P. F. Meckel’s v) Bemerkung, daſs beym Ha-
sen die sehr kleinen Gehörknöchelchen in einer
häutigen Blase eingeschlossen und darin von
einer röthlichen, gelatinösen Flüssigkeit umge-
ben sind. Man kann eine Fortpflanzung der
Schwingungen des Trommelfells durch diese
Flüssigkeit, aber nicht durch die Gehörknöchel-
chen, bey einer solchen Umgebung derselben,
annehmen.
Eine Funktion bey der Fortpflanzung des
Schalls zum Labyrinth kann also den Gehör-
knöchelchen nicht zukommen, wenigstens nicht
bey den Thieren, die ein Trommelfell haben.
Hingegen daſs sie als Spannungsapparat des
Trommelfells dienen, ist so klar, daſs es kei-
nes ausführlichen Beweises dafür bedarf. Doch
eben so klar ist auch, daſs dieser Zweck durch
den Hammer allein zu erreichen gewesen seyn
würde, und daſs gleichzeitig mit jener Span-
nung eine Wirkung auf die Haut des ovalen
Fensters eintreten muſs w). Aber worin besteht
diese Wirkung? Ist sie, wie Duverneyx)
und Morgagniy) meinten, eine bloſse Span-
nung,
[373] nung, so läſst sich fragen: Wozu es denn noch
der Spannung einer zweyten Haut, des Trom-
melfells, bedarf, und wozu denn überhaupt das
Trommelfell vorhanden ist?
Die Lösung dieses Problems hängt mit einer
andern Frage zusammen, die ich bey keinem
Schriftsteller auſser Cotunniz) beachtet finde.
Die Luft der Trommelhöhle und das Wasser
des Labyrinths können nicht dem Gesetze ent-
zogen seyn, unter welchem alle übrige feste
und flüssige Körper bey ihren Vibrationen ste-
hen, daſs die Schwingungen nach aufhörender
Einwirkung der ersten Ursache, wodurch sie
erregt wurden, noch eine Zeitlang fortdauern,
wenn sie nicht durch eine gegenwirkende Ur-
sache gehemmt werden. Demohngeachtet findet
im gesunden Zustande kein Nachklingen statt.
Welche Kraft wirkt im Ohre diesem entgegen?
Cotunni glaubte, die Weichheit der Hörner-
ven und die Flüssigkeit, wovon sie umgeben
sind, verhindere dasselbe. Aber eben diese
Flüssigkeit pflanzt ja die Schallschwingungen zu
den Hörnerven fort und die Erzitterungen des
Labyrinthwassers sind doch gewiſs ohne eine
Gegenwirkung eben so wenig momentan, als
die jedes andern Wassers. Ich sehe nicht,
worin eine solche Wirkung anders zu suchen
ist,
[374] ist, als in einem, durch die Anziehung des
Steigbügels vermittelten Druck der Haut des
eyförmigen Fensters gegen jenes Wasser, und
ich glaube, daſs aus dieser Voraussetzung meh-
rere Umstände in der Organisation des innern
Hörwerkzeugs erklärbar sind, wovon sonst
schwerlich eine Erklärung möglich ist, wie sich
bey der weitern Betrachtung der einzelnen Theile
dieses Organs zeigen wird.
In Betreff des Trommelfells ist vorläufig
zu bemerken, daſs dieses nur Bedingung zum
feinern Gehör, nicht zum Gehör im Allgemei-
nen ist. Zahlreiche Erfahrungen kommen darin
überein, daſs Verletzungen dieser Haut bald
wieder heilen, daſs aber oft das Gehör unmit-
telbar nach der Verwundung, wenn noch keine
Heilung eingetreten seyn konnte, und selbst
wenn die Verletzung sehr bedeutend und blei-
bend war, fortdauerte. Wo das Gegentheil statt
fand, lag wahrscheinlich die Ursache der Taub-
heit nicht so sehr an der Verletzung des Trom-
melfells, als an andern, bey oder nach dersel-
ben eingetretenen Veränderungen der Organisa-
tion des innern Ohrs, z. B. Blutergieſsungen
in der Trommelhöhle, Zerreiſsung der Haut des
ovalen Fensters u. d. gl. a).
Das
[375]
Das Trommelfell würde vielmehr ein zweck-
loses Hinderniſs beym Hören, als ein Beförde-
rungsmittel desselben seyn, wenn es nicht die
Bestimmung hätte, das Hören einzelner Töne
vor andern dadurch möglich zu machen, daſs
es durch den Hammer, und, wenn die Fasern,
die bey mehrern Thieren in jener Haut von
dem Befestigungspunkt des Handgriffs dieses
Knöchelchens strahlenförmig ausgehen, in der
That Muskelfasern sind a *), auch durch diese
angespannt wird. Ein gewisser Grad von An-
spannung muſs bey jedem Hören statt finden,
weil keine Vibration des Trommelfells und der
Luft der Trommelhöhle eintreten kann, ohne
daſs zugleich die Saite des Tympanum gerührt
wird, mit welcher der Nerve, durch welchen
die Spannung geschieht, in unmittelbarem Zu-
sammenhange steht. Diese Saite geht auch nur
bey den Säugthieren und Vögeln, also blos bey
denjenigen Thieren, die einen vollständigen
Apparat zum Spannen des Trommelfells haben,
durch die Mitte der Trommelhöhle. Die Span-
nung ist ganz automatisch. Sie wird verstärkt
durch
a)
[376] durch das Horchen auf gewisse Töne. Doch
auch in diesem Fall ist sie nicht unmittelbare
Wirkung der Willkühr, sondern des Affekts
der Aufmerksamkeit. Sie geschieht, indem die
Mitte des Trommelfells durch den mit ihr
verbundenen Handgriff des Hammers nach innen
gezogen wird. Für die bewegende Kraft bey
dieser Anziehung hat man, und ohne Zweifel
mit Recht, die Zusammenziehung des innern
Hammermuskels (Tensor tympani) angenom-
men. Weniger richtig scheint es mir, die bey-
den übrigen, Muskeln ähnlichen Anhänge des
Hammers für Erschlaffer des Trommelfells zu
halten. Ich sehe nicht, wozu es hier eigener
Erschlaffer bedarf, da schon auf das Nachlassen
der Zusammenziehung des innern Hammermus-
kels eine Erschlaffung dieser Membran folgen
muſs. Es ist auch nicht bewiesen, daſs die
sogenannten Erschlaffer wirkliche Muskeln sind.
Valsalva, Morgagni, Cassebohm, P. F.
Meckel und Haller konnten keine Muskel-
fasern darin entdecken, und der kleinere dersel-
ben ist vielleicht nicht einmal bey allen Men-
schen vorhanden b). Mir scheinen diese Theile
blos zur Befestigung des Hammers bey der
Drehung zu dienen, die von dem Spanner
des Trommelfells an ihm hervorgebracht wird.
Ohne
[377] Ohne sie würde er von dem letztern herabge-
zogen, nicht aber gedrehet werden, und die
Folge würde eine ungleichförmige Spannung des
Trommelfells seyn. Sie wirken ohne allen
Zweifel auf diese Weise bey den Vögeln, wo
sie offenbar bloſse Ligamente sind.
Es giebt mehrere Verschiedenheiten im Bau
dieser Membran und in ihrem Verhältniſs zu
den übrigen Hörwerkzeugen bey den verschie-
denen Thierarten, die ohne Zweifel mit der
Verschiedenheit des Hörsinns in Beziehung ste-
hen. Sie ist bey dem Menschen und den mei-
sten Säugthieren nach auſsen concav, bey dem
Pferde, dem Maulwurf, den Schildkröten und
Fröschen flach, bey den Vögeln und den Eidech-
sen nach auſsen convex, doch weniger bey den
Raub- und Sumpfvögeln, als bey den Hühnern
und Sperlingen c). Die Gestalt ihrer Ober-
fläche scheint also von der Länge oder Kürze
des äuſsern Gehörgangs und von dem Element,
durch welches der Schall zu ihr fortgepflanzt
wird, abzuhängen.
Eine andere Verschiedenheit des Trommel-
fells besteht in der mehr kreisförmigen oder
mehr
[378] mehr ovalen Gestalt desselben und darin, daſs
bey einigen Thieren die äuſserste Hervorragung
dieser Haut, mit welcher der Handgriff des
Hammers verbunden ist, ihrem Mittelpunkt
mehr oder weniger nahe liegt. Kreisförmig,
oder wenigstens der Form des Kreises sehr
nahe kommend, ist ihre Gestalt bey dem Men-
schen, dem Ameisenbär, dem Maulwurf, der
Gavia Cobaya und Paca, und dem Schwein;
oval oder elliptisch bey dem Hunde, der Katze,
dem Igel, der Maus, dem Kaninchen, den
Wiederkäuern, dem Elephanten, den Vögeln
und Eidechsen d). Nach Autenrieth’s und
Kerner’s Meinung e) hängt von dieser Gestalt
das Vermögen der Wahrnehmung hoher und
tiefer Töne ab. Sie setzen voraus, daſs die
Theile des Trommelfells, die zwischen dessen
Peripherie und den Seitenrändern des Handgriffs
vom Hammer liegen, eine Reihe von Saiten
vorstellen, welche bey Trommelfellen von ver-
schiedener Gestalt eine verschiedene Länge ha-
ben und nach der Verschiedenheit ihrer Länge
eine höhere oder niedere Octave eines und
desselben Tons durch ihre Schwingungen er-
zeugen.
[379] zeugen. Je kreisförmiger das Trommelfell eines
Thiers ist, ein desto gröſserer Theil desselben
wird nach dieser Ansicht durch seine Schwin-
gungen tiefen Tönen entsprechen; je elliptischer
es ist, desto mehr wird es in Einklang mit
höhern Tönen stehen. Mit dieser Meinung
finden jene Schriftsteller auch ihre, im ersten
Kapitel des gegenwärtigen Abschnitts erwähn-
ten Versuche über die Empfänglichkeit des Ge-
hörs mehrerer Thiere für hohe und tiefe Töne
übereinstimmend. Gegen die Voraussetzung,
daſs es verstattet sey, die Radii des Trommel-
fells als eben so viele gespannte Saiten anzu-
sehen, läſst sich indeſs schon Manches erinnern.
Cooperf) erzählt ein Beyspiel von einem
jungen Manne, dem das Trommelfell beyder
Ohren durch Eiterung sehr verletzt war, und
welcher zwar nicht in solcher Ferne wie Per-
sonen mit gesundem Ohr hörte, aber dennoch
sehr gut die Flöte blies und sogar in Concerten
mitspielte. Nach diesem Fall ist also das
Trommelfell nur Bedingung des Vermögens,
ferne Töne zu vernehmen, nicht aber der Em-
pfänglichkeit für hohe und niedere Töne. Wenn
man aber auch jene Annahme gelten läſst, so
ist doch bey der obigen Folgerung auſser Acht
gelassen, daſs der Hammer nicht bey allen
Thie-
VI. Bd. B b
[380] Thieren auf einerley Art mit dem Trommelfell
verbunden ist. Das letztere kann kreisförmig
seyn, und doch können viele der, zwischen der
Peripherie desselben und dem Handgriff des
Hammers liegenden Theile weniger Länge als
bey einem elliptischen Trommelfell von glei-
chem Flächeninhalt haben, wenn der Handgriff
eine mehr excentrische Befestigung an dem
kreisförmigen als an dem elliptischen Trommel-
fell hat. Bey vielen Vögeln liegt das äuſsere
Ende der Columella auſserhalb dem Mittelpunkt
des Trommelfells g), und jene hat hier drey
knorpelartige, mit dem letztern verwachsene
Fortsätze. Diese und ähnliche Bildungen müs-
sen Verschiedenheiten in der Spannung der
Theile des Trommelfells verursachen, die nicht
von der Form des Umfangs desselben allein ab-
hängen und schwer zu bestimmen sind. Daſs
übrigens Kerner’s Versuche an Thieren wenig
entscheidend sind, ist schon oben (S. 333.) be-
merkt worden.
Verschieden ist endlich bey den verschiede-
nen Thieren die Neigung der Ebene, worin
sich der Umfang des Trommelfells befindet,
gegen den Horizont. Cuvierh) nimmt als
Gesetz an, daſs ein Thier desto schärfer hört,
je
[381] je gröſser diese Neigung und je ausgedehnter
die Fläche des Trommelfells ist. So allgemein
ausgedrückt läſst sich aber dieser Satz nicht
vertheidigen. Der Neigungswinkel jener Ebene
steht mit der Lebensweise jedes Thiers in Be-
ziehung. Bey Thieren, die vorzüglich auf Töne
zu horchen haben, welche von unten kommen,
oder sich längs dem Erdboden fortpflanzen,
liegt das Trommelfell mehr horizontal als bey
andern; ihr Gehör ist aber darum nicht immer
feiner als bey den letztern. Durch ein gröſseres
Trommelfell kann die Schärfe des Gehörs nur
insoweit bedingt seyn, als damit ein weiterer
äuſserer Gehörgang verbunden ist. Mehr Ein-
fluſs auf das Gehör hat die Neigung der Ebene
des Trommelfells gegen die Axe des äuſsern
Gehörgangs. Bey einerley Weite des letztern
und einerley Gröſse jener Haut wird der näm-
liche Schall einen desto stärkern Eindruck ma-
chen, je mehr sich der Einfallswinkel der
Schallschwingungen auf das Trommelfell dem
rechten Winkel nähert. Die Natur hat jedoch
Einrichtungen getroffen, vermöge welcher da,
wo jener Winkel sehr spitz seyn muſste, der
Eindruck des Schalls erhöht wird. Beym Maul-
wurf z. B., dessen Trommelfell sehr schief
gegen die Axe des äuſsern Gehörgangs liegt,
erweitert sich dieser Gang nach innen zu einer
knöchernen Blase, wodurch die Schallschwin-
B b 2gun-
[382] gungen auf das Trommelfell zurückgeworfen
werden.
§. 3.
Die Trommelhöhle und die Eustachische Röhre.
Die von einem Schall erregten zitternden
Bewegungen theilen sich der Luft der Trom-
melhöhle mit, und, unsern obigen Bemerkungen
zufolge, ist es blos diese Luft, nicht aber die
Kette der Gehörknöchelchen, wodurch der Schall
auf das Labyrinth wirkt. Damit diese Wir-
kung ungeschwächt bleibe, oder auch verstärkt
werde, ist die Trommelhöhle mit Nebenhöhlen,
mitklingenden knöchernen Platten und Säulen,
reflektirenden Cavitäten und einem Ableitungs-
canal der in ihr befindlichen Luft versehen.
Beym Menschen sind die einzigen Neben-
höhlen, womit die Trommelhöhle in unmittel-
barer Verbindung steht, die Zellen des zitzen-
förmigen Fortsatzes. Hingegen bey vielen an-
dern Säugthieren, z. B. den Nagethieren, dem
Maulwurf, dem Elephanten i) und Hippopota-
mus i *), sind die Wände der Trommelhöhle an
mehrern Stellen durchbrochen, und die Durch-
brechungen führen zu einer Menge kleiner
Zellen und Sinus. Am Maulwurf habe ich
beob-
[383] beobachtet, daſs der Hammer und Amboſs aus
einer sehr dünnen Knochenplatte bestehen, die
eine nach auſsen offene Höhlung einschlieſsen.
Die gröſsten Nebenhöhlen der Trommelhöhle
besitzen unter allen Thieren die Vögel, beson-
ders die Raubvögel, und unter diesen die Eulen.
Nur ein kleiner Theil des hinter dem Trom-
melfell liegenden Raums führt hier zum Laby-
rinth. Der Zugang zu dem letztern besteht in
einem knöchernen Tubus, Antivestibulum von
Galvanik) genannt, in dessen Grund das
runde und das eyförmige Fenster liegt. Neben
der Mündung dieses Tubus (Porta antivestibuli
Galvan.) giebt es eine eben so groſse obere
und eine noch weit gröſsere untere Oeffnung
der Trommelhöhle, welche zu den vielen, in
der obern, hintern und untern Wand des Schä-
dels enthaltenen Zellen führen. Ein ähnliches
Antivestibulum ist auch den Schildkröten eigen.
Bey diesen öffnet sich aber die Trommelhöhle
nur in eine einzige Nebenhöhle.
Wer die Gestalt betrachtet, welche die
Trommelhöhle der mit jenen Zellen und Sinus
versehenen Thiere hat, wird sich überzeugen,
daſs bey manchen der letztern alle von dem
Trommelfell ausgehenden Schallschwingungen,
die
B b 3
[384] die nicht das runde Fenster treffen, und welche
zurückgeworfen einen Wiederhall verursachen
würden, in jenen Höhlungen sich ungehört
verlieren müssen. Diese Verhütung eines Wie-
derhalls ist wohl einziger Zweck der Zellen
des zitzenförmigen Fortsatzes beym Menschen,
wo sie entfernt vom Labyrinth liegen und ihre
Wände mit diesem in keiner nähern Verbin-
dung stehen. Hingegen bey den Vögeln nehmen
die Nebenhöhlen der Trommelhöhle eine so
groſse Menge Schallschwingungen auf, ihre Aus-
dehnung ist so beträchtlich und es liegen zwi-
schen ihnen so viele und so elastische, sich
bis zum Labyrinth erstreckende Platten und
Säulen, daſs hier noch ein anderer Zweck statt
finden muſs, der kein anderer seyn kann, als
den Schall durch Resonanz zu verstärken. Eben
diese Bestimmung scheinen auch die offenen
Höhlungen des Hammers und Amboſses beym
Maulwurfe zu haben.
Hiervon verschieden ist die Funktion einer
halbkugelförmigen Erweiterung, welche die
Trommelhöhle bey den meisten Säugthieren mit
Ausnahme des Menschen und der Affen, und
bey mehrern Schildkröten, z. B. bey Testudo
clausa Gmel., bildet. Untersucht man diese
knöcherne Blase z. B. beym Hasen, so findet
man sie inwendig regelmäſsig gekrümmt, glatt
und
[385] und in einer solchen Stellung, daſs alle durch
den Gehörgang zum Trommelfell gelangende
Schallschwingungen von ihr aufgenommen und
gegen das Labyrinth zurückgeworfen werden
müssen. Der knöcherne Gehörgang ragt zu
dem Ende ziemlich weit in ihr hinab. Neben
dem Labyrinth liegen auch noch mehrere groſse
Zellen, welche diejenigen Schallschwingungen,
die nicht zum häutigen Labyrinth dringen kön-
nen, aufnehmen und verschlucken. Bey meh-
rern Raubthieren, Wiederkäuern und noch eini-
gen andern Säugthieren ist die Höhlung der
Blase inwendig nicht glatt, sondern durch dünne
knöcherne Scheidewände in Fächer abgetheilt,
und zwar so, daſs diese Fächer insgesammt mit
ihren Oeffnungen sowohl gegen das Trommelfell,
als gegen das Labyrinth gerichtet sind. Hier
geschieht nicht nur eine Zurückwerfung des
Schalls, sondern auch ein Mitklingen der Schei-
dewände. Alle diese Verstärkungsmittel des
Schalls müssen jedoch die Stärke desselben auf
Kosten seiner Deutlichkeit, besonders der Un-
terscheidbarkeit des Lauts, erhöhen. Keines der
Thiere, die wir näher kennen, kömmt daher
dem Menschen im Unterscheidungsvermögen des
Lauts gleich, wenn sie ihn auch in anderer
Rücksicht an Schärfe des Gehörs übertreffen.
Hunde auf dem Lande beantworten oft in stil-
len Nächten das Bellen anderer Hunde in Ent-
B b 4fer-
[386] fernungen, wobey dasselbe für unser Ohr kaum
vernehmlich ist. Aber eben diese Thiere er-
kennen nicht immer ihren Herrn in der Dun-
kelheit, solange sie blos seine Stimme hören
und der Geruch ihnen nicht zu Hülfe kömmt.
Auf noch andere Art wirkt zum Behuf des
Gehörs die Eustachische Röhre. Der Zweck
dieses Canals kann kein anderer seyn, als die
Luft der Trommelhöhle mit der äuſsern At-
mosphäre in Verbindung zu setzen, und diese
Verbindung auf eine solche Weise zu bewerk-
stelligen, daſs nur eine Luft, welche die Tem-
peratur des Körpers angenommen hat, in die
Trommelhöhle dringen kann. Ohne einen sol-
chen Zugang würde die Luft der letztern sehr
bald in eine Mischung von Stickgas und koh-
lensaurem Gas ausarten, Gasarten, wodurch der
Schall gedämpft wird *). Bey den warmblüti-
gen
[387] gen Thieren würde diese Luft auch von der
Wärme des Körpers ausgedehnt werden und
einen dem Hören sehr nachtheiligen Druck auf
das Trommelfell sowohl, als auf die Haut des
runden und eyförmigen Fensters verursachen,
wenn es nicht für sie einen ableitenden Canal
gäbe. Es läſst sich hieraus erklären, wie Ver-
stopfung der Eustachischen Röhren Harthörig-
keit verursachen muſs. Oft ist selbst völlige
Taubheit damit verbunden. Diese rührt dann
aber wohl nicht unmittelbar von der Verstopfung
her. In allen Fällen, wo mehr als Harthörig-
keit dabey statt fand, waren Polypen, Ge-
schwulste des Gaumens, Entzündungen der
Mandeln und ähnliche Uebel zugegen, von de-
nen sich voraussetzen läſst, daſs sie noch andere
krankhafte Veränderungen als blos jene Ver-
stopfung nach sich gezogen haben. Saundersl)
glaubt, und wohl mit Recht, die nach der Ver-
schlieſsung der Eustachischen Röhre in der
Trommelhöhle eingeschlossene Luft werde ein-
geso-
*)
B b 5
[388] gesogen und durch Schleim ersetzt. Eine solche
Schleimanhäufung fand er in zwey Leichen, in
welchen diese Röhren verstopft waren.
Die letztere der beyden obigen Bestimmun-
gen schrieb schon Boerhaavem) der Eusta-
chischen Röhre zu. Er verband aber mit die-
ser Meinung noch eine zweyte, die, obgleich
auch von manchen spätern Schriftstellern wie-
derholt, sich doch keineswegs vertheidigen läſst,
indem er annahm, durch die Eustachische Röhre
würden auch die Schallschwingungen, die in
die Mundhöhle gelangen, zum innern Ohr ge-
leitet. Die einfache Thatsache, daſs man bey
vollig verstopften Ohren das Schlagen einer
Taschenuhr nicht hört, die man in den offenen
Mund hält, ohne die Zähne damit zu berühren,
würde allein schon das Gegentheil beweisen,
wenn auch nicht der ganze Bau der Eustachi-
schen Röhre, besonders der Umstand, daſs ihre
Mündung nicht nach der Mundhöhle hin ge-
richtet ist, ihr geringer Durchmesser und der
schleimige Ueberzug ihrer innern Fläche, jener
Meinung widersprächen n). Man hat sich auf
die Thatsache berufen, daſs Kinder, Ungebildete
und Harthörige beym aufmerksamen Hören den
Mund
[389] Mund offen halten o). Allein es giebt andere
Ursachen dieser automatischen Bewegung als
das Zulassen von Schallschwingungen zu den
Eustachischen Röhren. Durch das Offenhalten
des Mundes wird die Concha des äuſsern Ohrs
weiter aus einander gezogen und in den Stand
gesetzt, mehr Schallschwingungen aufzuneh-
men p). Zugleich wird die Schärfe des Gehörs
durch die Erschlaffung der Gesichtsmuskeln be-
fördert, wie daraus erhellet, daſs man bey hef-
tigem Zusammenziehen der Augenlieder ein
Trommeln und bey festem Zusammendrücken
der Zähne ein Sausen hört.
Die eben erwähnten Gründe streiten auch
gegen die von Bressa vorgetragene Modifika-
tion der Meinung Boerhaave’s, nach welcher
das Hören durch die Eustachischen Rohren auf
die eigene Stimme beschränkt seyn soll q). Man
hört freylich seine eigene Stimme noch, wenn
beyde Ohren verstopft sind; aber die Fortpflan-
zung des Schalls geschieht in diesem Falle blos
durch die festen Theile des Körpers, denen
sich die zitternden Bewegungen des Kehlkopfs
beym Sprechen mittheilen. Wäre hierbey die
Luft
[390] Luft der Eustachischen Röhren das leitende
Medium, so würde auch bey dem erwähnten
Versuch mit einer Taschenuhr das Schlagen
derselben noch einigen Eindruck auf die Hör-
nerven machen müssen. Unter den Thatsachen,
die Bressa für seine Meinung angeführt hat,
sind übrigens keine, die nicht eine andere Er-
klärung, als die von ihm gegebene, zulassen.
Giebt es noch eine sonstige Verrichtung der
Eustachischen Röhre auſser den beyden obigen,
so wird diese nur in der Ableitung der von
einem sehr heftigen Schall erschütterten Luft
der Trommelhöhle bestehen können r). Für die
Annahme einer solchen Ableitung scheint der
Kitzel im Schlunde zu sprechen, den der nahe
Knall abgebrannter Feuergewehre bey manchen
Menschen im Schlunde hervorbringt s). Doch
läſst sich diese Thatsache auch eben so befrie-
digend aus dem unmittelbaren Eindruck eines
solchen Schalls auf die Saite des Trommelfells
und aus deren Verbindung mit den Schlund-
muskeln erklären. Jene Verrichtung wird, wenn
sie statt findet, immer nur für eine unterge-
ordnete gelten können.
Ehe wir die Trommelhöhle verlassen, ver-
dienen noch die in ihr befindlichen Nerven eine
Be-
[391] Betrachtung. Zu diesen gehört zuerst die ge-
dachte Saite des Trommelfells nebst den Ner-
ven der Muskeln des innern Ohrs. Jene ent-
springt mit den letztern aus dem Antlitznerven,
und alle diese Nerven haben in der Trommel-
höhle eine solche Lage, daſs jede schwingende
Bewegung des Trommelfells und der Luft der
Trommelhöhle mit auf sie wirken muſs. Der
Nervenstamm, woraus sie ihren Ursprung ha-
ben, steht unmittelbar oder durch die zwischen
ihm und den Nerven des fünften und zehnten
Paars statt findenden Anastomosen mit der gan-
zen Oberfläche des Gesichts, mit den Zähnen
und mit den Respirationsorganen in Verbindung.
Er vereinigt sich auch mit dem groſsen sym-
pathischen Nerven, und die Saite des Trommel-
fells geht, nachdem sie die Trommelhöhle ver-
lassen hat, in den Zungenast des Trigeminus
über. Auſser dieser Saite und den Nerven der
Muskeln des innern Ohrs läuft auch noch frey
durch die Trommelhöhle ein Nerve, der eine
Verbindung zwischen dem Oberkinnladenast des
Trigeminus, dem Zungenschlundnerven und dem
sympathischen Nerven ausmacht t).
Hieraus erklären sich einige Thatsachen, die
sich zum Theil nicht befriedigend aus andern
Ursa-
[392] Ursachen ableiten lassen. Köllneru) erzählt
von einem Schwerhörenden, daſs derselbe deut-
licher hörte, wenn man zu ihm gegen den
Mund, und, bey Zunahme seines Uebels, gegen
die auf einander gesetzten, entblöſsten Zähne re-
dete. Jener hält für den Grund dieser Er-
leichterung des Hörens die Fortpflanzung der
Schallschwingungen durch die Zähne und von
diesen weiter durch die Nerven des fünften
Paars und den Antlitznerven zum Gehörner-
ven, welche beyde letztern, wie er glaubt,
mit einander verbunden sind v). Allein eine
solche Verbindung hat das Zeugniſs aller Ana-
tomen gegen sich. Es lieſse sich in jenem Falle
eine Fortpflanzung des Schalls durch die Kopf-
knochen zum Hörnerven vermuthen. Aber in
andern Fällen war es der Scheitel w), die hin-
tere Seite des Kopfs x), oder eine der beyden
Wangen y), gegen welche geredet werden
muſste, um sich Tauben verständlich zu machen.
J. Swanz) fand, daſs bey regelmäſsiger Fort-
pflan-
[393] pflanzung des Schalls durch den äuſsern Gehör-
gang und regelmäſsigem Bau des Schädels, des
Antlitzes u. s. w. der Schall einer Uhr nach
Verstopfung der Ohren bey einigen Menschen
nur von gewissen Stellen des Kopfs, bey andern
von keiner aus vernommen wurde. Ein Taub-
stummer hörte den Schlag einer Uhr, wenn
diese die linke Seite seines Gesichts berührte,
nicht aber, wenn man sie an die rechte Seite
hielt. Ein Mann, der auf dem linken Ohre
taub geworden war, hörte bey verstopftem
rechten Ohr deutlich den Schlag bey Anlegung
der Uhr an die rechte Wange; hingegen hörte
er ihn kaum, wenn die linke Wange damit be-
rührt wurde. Swan bemerkt mit Recht, daſs,
wäre hier der Schall blos mechanisch durch das
Fleisch und die Knochen zum Ohr geleitet, die
Verschiedenheit in der Leitung nicht so groſs
hätte seyn können, wie sie bey diesen Erfah-
rungen war. Er nimmt aber, um die Ver-
schiedenheit zu erklären, mit Unrecht zu der
Annahme einer Verbindung des Antlitznerven
mit dem Hörnerven seine Zuflucht. Die Lei-
tung geschieht ohne Widerrede durch Nerven-
verbindungen zum Antlitznerven. Es ist aber
hinreichend, vorauszusetzen, daſs die von dem
Schall bewirkte Reitzung des letztern sich auf
die Nerven der Muskeln des innern Ohrs fort-
pflanzt, und daſs diese Muskeln, hierdurch auf-
geregt,
[394] geregt, eine stärkere Spannung des Trommel-
fells und der Haut des eyförmigen Fensters
hervorbringen.
In dem Uebergang der Saite des Trommel-
fells zu den Zungennerven vom fünften Paar
und der weitern Verbindung des Antlitznerven
mit dem Zungenschlundnerven, dem Stimm-
nerven und dem sympathischen Nerven liegt
vielleicht mit ein Grund sowohl der genauen
Verbindung zwischen dem Gehör und der Stim-
me, als des unmittelbaren Einflusses mancher
Töne auf das ganze Nervensystem. Findet
dieser Grund wirklich statt, so wird die Reak-
tion der Stimmwerkzeuge und des Nervensy-
stems gegen Eindrücke des Gehörs zum Theil
ohne Vermittlung des Gehirns auf eine blos
automatische Art geschehen können, und es
werden sich hieraus die von mehrern zuver-
lässigen Aerzten beobachteten Fälle von Wurm-
kranken erklären lassen, die bey jeder Musik
Bangigkeit, Angst und Zittern bekamen a). Auf
jeden Fall wird man annehmen dürfen, daſs
durch die Saite des Trommelfells jeder Schall
unmittelbar auf die Muskeln der Gehörknöchel-
chen wirkt und daſs die Spannung, welche
diese beym Hören erleiden, zwar durch Rück-
wir-
[395] wirkungen des Gehirns erhöhet werden kann,
aber auch ohne Mitwirkung des letztern eintritt.
§. 4.
Das Labyrinth.
Wir betrachten jetzt die Wirkung des
Schalls auf die im Labyrinth befindliche Aus-
breitung des eigentlichen Hörnerven. Wenn
keine Leitung des Schalls durch die Gehör-
knöchelchen zum Vorhof geschieht, so wird das
runde Fenster der Hauptzugang seyn müssen,
durch welchen die Schallschwingungen der Luft
zum Hörnerven gelangen. Das, von der Basis
des Steigbügels gröſstentheils verschlossene ovale
Fenster ist wegen dieser Verschlieſsung zur
Aufnahme und Fortpflanzung der Schallein-
drücke weniger geeignet. Bey den meisten
Säugthieren und Vögeln ist auch das runde
Fenster gröſser und deswegen ebenfalls hierzu
passender, als das eyförmige *). Aller Antheil
an
VI. Bd. C c
[396] an jener Leitung läſst sich dem letztern aber
nicht absprechen. Durch die Haut desselben
kann wenigstens an den Stellen, wo sie nicht
von der Knochensubstanz des Steigbügels bedeckt
ist, der Schall fortgepflanzt werden **). Die
Haupt-
*)
[397] Hauptbestimmung dieser Membran ist jedoch,
unsern obigen Bemerkungen zufolge, bey jeder
Anspannung und Erzitterung des Trommelfells
von dem Steigbügel gegen das Labyrinthwasser
gedrückt zu werden, um das Fortschwingen des
letztern nach einem Impuls desselben und das
Nachklingen der Töne zu verhindern. Diese
Meinung ist freylich für jetzt nur hypothetisch.
Sie hat aber nichts wider sich; hingegen spricht
für sie, daſs sich aus ihr erklären läſst, was
sonst keine Erklärung zuläſst, das Nachtönen
und das Klingen vor den Ohren unter Umstän-
den, wobey wahrscheinlich die Muskeln des
innern Ohrs geschwächt sind oder unregelmäſsig
wirken. Zur Entscheidung über die Richtigkeit
unserer Ansicht würden Beobachtungen erfor-
derlich seyn, die uns fehlen, über die Modifi-
kation des Gehörs bey Unbeweglichkeit des
Steigbügels, oder bey Verknöcherung der Haut
eines der beyden Fenster des Labyrinths, Val-
salvat) hat zwar einen Fall, wo das ovale
Fen-
**)
C c 2
[398] Fenster verknöchert war, und Cotunniu) ein
Beyspiel von Verschlieſsung des runden Fensters
durch einen Knochen, wobey zugleich die Ge-
hörknöchelchen doppelt so groſs wie gewöhnlich
waren. Aber in Valsalva’s Fall fand wäh-
rend des Lebens völlige Taubheit statt, die
vielleicht noch andere Ursachen als blos jene
Verknöcherung hatte, und Cotunni giebt nicht
an, wie in dem von ihm beobachteten Fall das
Gehör beschaffen gewesen war.
Durch den Druck des Steigbügels auf die
Haut des ovalen Fensters wird zugleich eine
Anspannung der Membran des runden Fensters
hervorgebracht. Nach Cuvier’sv) Meinung
geschieht diese Spannung, indem von jenem
Druck das Labyrinthwasser gegen die Haut des
runden Fensters gedrängt wird. Ein solches
Drängen kann hierbey aber nicht in bedeuten-
dem Grade eintreten. Die Natur hat dasselbe
verhütet, indem sie allen, mit einem Spannungs-
apparat des ovalen Fensters versehenen Thieren
die Wasserleitungen des Labyrinths gab, deren
Bestimmung ist, das Labyrinthwasser bey dessen
Zusammendrückung abzuleiten *). Die Anspan-
nung
[399] nung der gedachten Haut wird wahrscheinlich
durch dasselbe Mittel bewirkt, wodurch die Be-
wegung der Haut des ovalen Fensters nach in-
nen geschieht, durch den Druck des Steigbü-
gels. Diese Vermuthung hat die Analogie des
Baus der Vögel für sich, bey welchen die
Membran des runden Fensters mit dem Steig-
bügel so zusammenhängt, daſs sie von diesem,
bey seiner Bewegung nach innen, ausgedehnt
wird.
Bey den meisten Thieren, die keine Gehör-
knöchelchen besitzen, kennen wir keinen, dem
gedachten ähnlichen, auf das Labyrinth wirken-
den Apparat, und auch bey denjenigen Gat-
tungen der Amphibien und Fische, welche mit
diesen Knochen versehen sind, scheinen die
letztern doch weniger durch eigene Muskeln,
als durch den Druck anderer Organe, womit
sie verbunden sind, z. B. bey den Fischen durch
die Ausdehnung der Schwimmblase, in Bewe-
gung gesetzt zu werden. Einige Fische sind
indeſs
*)
C c 3
[400] indeſs mit Muskeln ausgestattet, wodurch der
nämliche Zweck erreicht wird, für welchen die
Gehörknöchelchen mit ihren Muskeln bey den
Säugthieren und Vögeln gemacht sind. We-
berw) entdeckte bey den Rochen einen Muskel,
der am Umfange des runden Fensters ent-
springt, und bey Raja Torpedo und R. Aquila
an dem von jenem Fenster zum Labyrinth
führenden Sinus, bey R. Miraletus und R. cla-
vata an der den Sinus bedeckenden Haut befe-
stigt ist. Die Bestimmung dieses Muskels ist
die nämliche, wie die des Steigbügels, den
Sinus zusammenzudrücken und dessen Flüssig-
keit nach dem häutigen Labyrinth hinzutreiben.
Einen andern Mechanismus zu einem ähnlichen
Zweck hat der Sehellfisch. Hier fand ich auf
der von der Basis des Schädels geöffneten
Höhle der Geruchswerkzeuge, an der nach
innen gerichteten Wand dieser Cavität, einen
längslaufenden Muskel, dessen Fasern zur Haut
des Steinsacks gingen, und der keine andere
Funktion haben kann, als bey seiner Zusam-
menziehung den innern Raum des Steinsacks zu
verengern. Auf die nämliche Art wirkt viel-
leicht auch der von Camperx) am Steinsack
des Hechts bemerkte und mit dem Namen des
Tensor bursae belegte Muskel. Wo es weder
solche
[401] solche Muskeln, noch einen sonstigen Span-
nungsapparat giebt, scheint der Steinsack selber
ein Zusammenziehungsvermögen zu besitzen,
welches durch die Erschütterung der in ihm be-
findlichen Steine in Thätigkeit gesetzt wird.
Von den Häuten der beyden Eingänge des
Labyrinths der höhern Thiere werden die
Schallschwingungen durch das Wasser desselben
dem sich darin ausbreitenden Hörnerven mit-
getheilt. Dies lehrt der Bau des Labyrinths.
Was man bisher weiter über die Verrichtung
der verschiedenen Theile des letztern vorgetra-
gen hat, sind Vermuthungen, die meist auf sehr
schwachen Gründen beruhen. Vielleicht werde
ich die Zahl derselben vermehren. Ich werde
indeſs Gesichtspunkte anzugeben versuchen,
woraus jene Theile noch nicht betrachtet sind.
Der Hörnerve breitet sich bey den höhern
Thieren theils in der Schnecke, theils im Vor-
hof und in den halbcirkelförmigen Canälen
aus. Er vertheilt sich zwischen den beyden
Blättern der Schnecke strahlenförmig und mit
büschelförmigen Enden, hingegen als eine mehr
zusammenhängende, ungefaserte Substanz in den
Anschwellungen (ampullae) der halbcirkelför-
migen Canäle, und mit divergirenden, doch
unter einander verbundenen Filamenten in den
C c 4Blasen
[402] Blasen des Vorhofs. Diese Verschiedenheit
herrscht auch da noch, wo es keine Schnecke
mehr giebt, bey den Amphibien und Fischen.
Mit ihr ist eine Verschiedenheit in der Farbe
der Zweige des Hörnerven verbunden, die man
vorzüglich bey den Vögeln wahrnimmt, wo
sich diese Zweige im frischen Zustande leichter
als bey den Säugthieren untersuchen lassen.
Bey jenen sind die Nerven der Schnecke viel
weiſser y) als die der halbcirkelförmigen Canäle.
Diese Unterschiede der Zweige des Hörner-
ven und die ganz verschiedene Bildung der
Theile, worin sie sich ausbreiten, deuten auf
eine Verschiedenheit ihrer Funktion bey der
Aufnahme der Schalleindrücke hin. Jede sinn-
liche Empfindung, die sich auf qualitative Un-
terschiede der Sinneseindrücke bezieht, wird
durch das gemeinschaftliche Wirken ungleich-
artiger Nerven hervorgebracht. So gehen bey
den Wirbelthieren drey verschiedene Nerven-
stämme zu den Werkzeugen des Geschmacks
und zwey zu den Organen des Geruchs. Eben
dieses Gesetz werden wir am Auge bestätigt
finden, und unter demselben steht auch die un-
gleichartige Beschaffenheit der Nerven des in-
nern Ohrs und deren Verbreitung in verschie-
denen Organen. Die quantitative Verschieden-
heit
[403] heit des Schalls aber ist der Laut. Das Ohr
hat also einen Vorhof, eine Schnecke und halb-
cirkelförmige Canäle, und es begeben sich zu
diesen Theilen Nervenzweige von verschiedener
Beschaffenheit, um die Empfindung des Lauts
möglich zu machen. Je deutlicher der Laut
empfunden wird, desto leichter ist es auch,
gleichzeitige, aber ungleichartige Töne als un-
gleichartig wahrzunehmen. Diese Wahrneh-
mungsvermögen sahe auch Scarpaz) für eine
Folge der verschiedenen Ausbreitungen des
Hörnerven an. Er nahm dasselbe aber nicht
an, wofür es zu halten ist, für Nebenwirkung
den Unterscheidung des Lauts. Es gilt übrigens
gegen unsere Meinung nicht der Einwurf, daſs
den Vögeln, unter welchen viele doch ein so
musikalisches Gehör besitzen, nur eine sehr
unvollkommene Schnecke eigen ist. Sie haben,
wie schon oben gezeigt ist, zwar Sinn für Me-
lodie, aber gewiſs sehr wenig für Harmonie.
Nur dieser aber, nicht jener, steht in genauer
Verbindung mit dem Unterscheidungsvermögen
des Lauts.
Scarpaa) äuſserte noch eine andere Mei-
nung über die Funktionen der verschiedenen
Ner-
C c 5
[404] Nerven des Labyrinths. Er glaubte, die Nerven
der halbcirkelförmigen Gänge würden leichter
von Schalleindrücken gerührt, als die der
Schnecke. Gründe für seine Meinung waren
ihm die Voraussetzungen, daſs jene Nerven schon
blos von den Bewegungen des Steigbügels auf-
geregt werden, diese hingegen den Eindruck
des Schalls sowohl von dem Steigbügel, als von
der Haut des runden Fensters empfangen. Wir
haben indeſs bewiesen, daſs keine Fortpflanzung
des Schalls durch die Gehörknöchelchen mög-
lich ist. Wenn man aber auch diese Möglich-
keit gelten läſst, so ist doch nicht einzusehen,
warum die Nerven der Schnecke nicht eben
sowohl mittelbar von den Bewegungen des Steig-
bügels, als die Nerven der halbcirkelförmigen
Canäle von den Schwingungen der Haut des
runden Fensters sollten gerührt werden. Hierzu
kömmt noch, daſs die Schwingungen des runden
Fensters den Nerven der Schnecke geradezu
durch das Labyrinthwasser mitgetheilt werden
können, hingegen der Zugang von dem ovalen
Fenster zu den Nerven der halbcirkelförmigen
Canäle durch die Säcke des Vorhofs unterbro-
chen ist.
Mir scheint bey dem jetzigen Stande unsers
Wissens von der Fortpflanzung des Schalls und
dem Wirken der Nerven nur dies sich aussagen
zu
[405] zu lassen, daſs die Nerven der halbcirkelförmi-
gen Gänge mehr für die Empfindung des Schalls
überhaupt, die der Schnecke mehr für die
Wahrnehmung der Modifikationen desselben be-
stimmt sind. Daſs mit dieser verschiedenen
Bestimmung der Zweige des Hörnerven der Bau
der Schnecke und der Bogengänge in Beziehung
steht, leidet keinen Zweifel. Aber diese Bil-
dung ist so ausgezeichnet, daſs man eben so
wenig zweifeln kann, es müssen noch andere
Geheimnisse hinter derselben verborgen seyn.
Die Schnecke mit den, zwischen ihren
Spiralblättern sich strahlenförmig ansbreitenden
und von ihrer Basis bis zum Gipfel allmählig
an Länge abnehmenden Nerven hat eine nicht
zu verkennende Aehnlichkeit mit einem Saiten-
instrument. Für ein solches wurde sie auch
von Duverneyb) und Valsalvac) angenom-
men, und mehrere spätere Schriftsteller traten
dieser Meinung bey. Le Catd) meinte, es
gebe keinen Ton, der nicht mit einem Theil
des Spiralblatts der Schnecke in Einklang stehe.
Den Einwurf, der sich gegen seine Meinung
von der Unvollkommenheit der Schnecke bey
den Vögeln hernehmen läſst, suchte er durch
die
[406] die Voraussetzung zu heben, daſs der ganze,
nicht mit so vielen Muskeln wie bey den Säug-
thieren bedeckte Kopf der Vögel wiedertönend
wie eine Pauke sey, und, wenn sie hierbey
noch eine vollkommene Schnecke erhalten hät-
ten, ihre Empfänglichkeit für harmonische Mo-
dulationen bis zur Leidenschaft gesteigert seyn
würde. Gegen diese sehr unbefriedigende Aus-
flucht sind Gründe von Gall und Spurz-
heime) angeführt worden, und es war sehr
leicht, solche aufzufinden. Jener Einwurf aber
läſst sich doch sehr wohl beantworten. Wir
können das Gehör der Vögel nur nach ihrer
Stimme und nach ihrem Gesange beurtheilen.
So melodisch auch der Gesang vieler unter ih-
nen ist, so beschränkt ist doch ihre Tonleiter.
Man kann Vollkommenheit des Gehörs inner-
halb gewisser Grenzen bey einer weit weniger
vollkommenen Schnecke, als die menschliche ist,
gelten lassen, und doch behaupten, daſs eine
gleichförmige Empfänglichkeit sowohl für nie-
drige, als für hohe Töne nur bey dem Grade
von Ausbildung, den die Schnecke des Men-
schen hat, möglich ist. Indeſs Le Cat’s Mei-
nung erklärt nur die Beziehung der Schnecke
gegen die quantitative Verschiedenheit der Töne,
nicht aber, worauf es hier doch vorzüglich an-
kömmt,
[407] kömmt, ihr Verhältniſs zu dem Vermögen der
Unterscheidung des Lauts.
Die halbcirkelförmigen Canäle kannte man
ihrem innern Bau nach vor Scarpa zu wenig,
als daſs man früher eine einigermaaſsen befrie-
digende Deutung ihrer Bestimmung zu geben im
Stande war. Scarpaf) hielt für den Zweck
derselben, Aufnahme der durch die Schädel-
knochen fortgepflanzten Schallschwingungen.
Autenrieth und Kernerg) faſsten diese
Muthmaſsung auf und schmückten sie weiter
aus, indem sie voraussetzten, jeder Schall würde
zum Theil durch die Schädelknochen fortge-
pflanzt, die Bogengänge nähmen diesen Theil
auf und wir erhielten durch sie eine unmittel-
bare Empfindung von der Richtung des Schalls.
Der Bau der halbcirkelförmigen Gänge ent-
spricht, ihrer Ansicht nach, ganz der Bestim-
mung, die Richtung des Schalls bemerklich zu
machen. Es giebt, sagt Kernerh), bey allen
Thieren drey derselben, welche so gelagert
sind, daſs sie den drey Dimensionen des Cubus
entsprechen und daſs jeder, in einer dieser drey
Dimensionen ankommende Schall immer den
einen
[408] einen Canal senkrecht auf seiner Axe, den an-
dern nach der Länge derselben trifft; zugleich
liegen die Canäle so, daſs die, welche sich auf
beyden Seiten des [Kopfs] entsprechen, doch in
keiner Hinsicht einander ganz parallel sind,
daſs also jeder Schall, der in irgend einer
Richtung den Kopf trifft, doch immer nur vor-
züglich stark auf einen halbcirkelförmigen Canal
der einen Kopfhälfte auffällt. Mit dieser Mei-
nung steht eine zweyte Hypothese jener Schrift-
steller über die Bestimmung der Schnecke in
Verbindung. Sie glauben, die Ursache des Lauts
bestehe in rotirenden Bewegungen der Theil-
chen des schallenden Körpers, und diesen Be-
wegungen entspreche die Schraubenform der
Schnecke i).
Die letztere Meinung gründet sich auf einer
Hypothese, wofür es durchaus keine Beweise
giebt. Jene würde, wenn diese auch dargethan
wäre, damit doch keine festere Stütze haben,
indem der Schluſs auf ein Causalverhältniſs zwi-
schen den drehenden Bewegungen, worin die
Ursache des Lauts liegen soll, und der Schrau-
benform der Schnecke sehr gewagt seyn würde.
Der Vermuthung, daſs die halbcirkelförmigen
Canäle zur Aufnahme von Schallschwingungen
bestimmt seyen, welche durch die Kopfknochen
zum
[409] zum Hörnerven gelangen, läſst sich die Frage
entgegensetzen: Warum die Fortpflanzung sol-
cher Schwingungen zum Hörnerven nicht eben
so gut durch die Spindel der Schnecke, als
durch die Bogengänge geschehen kann? Es ist
wahr, die letztern sind mit dem Schädel ge-
nauer als die Schnecke verbunden und von der
steinartigen Masse des Felsenbeins ganz umge-
ben k). Allein durch diese Umgebung wird
vielleicht der unmittelbare Uebergang der Schall-
erschütterungen durch die Schädelknochen zum
Labyrinth mehr verhindert als befördert. Der
Marmor ist bey seiner Härte doch einer der
schlechtesten Leiter des Schalls l). Vielleicht
kömmt jene Masse mit dem Marmor in diesem
geringen Leitungsvermögen überein, und es ist
dann sehr wahrscheinlich, daſs Schallschwin-
gungen, die durch die Schädelknochen fortge-
pflanzt werden, nicht gerades Weges zum La-
byrinth gehen, sondern eben so wie die zittern-
den Bewegungen der äuſsern Luft erst durch
Vermittlung des Tympanum dem Labyrinth
mitgetheilt werden. Aber auch jene unmittel-
bare Fortpflanzung zugegeben, so läſst sich doch,
wie schon oben gezeigt ist, kein Fortgang des
Schalls aus der Luft durch die Kopfknochen zu
den
[410] den Hörnerven annehmen, welcher statt finden
müſste, wenn die halbcirkelförmigen Canäle auf
die von Autenrieth und Kerner angegebene
Weise zur Wahrnehmung der Richtung des
Schalls dienen sollten. Und auch einen solchen
Fortgang eingeräumt, so läſst sich hier, wo
man Endursachen als Beweise für eine Meinung
anführt, noch einwenden, daſs eine passendere
Organisation zu dem angeblichen Zweck als die
vorhandene möglich gewesen wäre. Eine Aus-
breitung des Hörnerven in vielen, strahlen-
förmig nach allen Seiten gerichteten Canälen
würde allem Anschein nach demselben besser
entsprochen haben, als die Verbindung dieses
Nerven mit drey bogenförmigen Röhren, deren
Enden in einander übergehen und von welchen
keine eine Erschütterung erleiden kann, wo-
von nicht auch die übrigen mittelbar getroffen
werden.
Ich glaube nicht, daſs bey unsern geringen
Kenntnissen von der Fortpflanzung des Schalls
durch Flüssigkeiten und bey unserer gänzlichen
Unbekanntschaft mit der Natur des Lauts eine
ganz genügende Beantwortung der Fragen,
wozu die so eigene Gestalt der Bogengänge vor-
handen ist und welche Bedeutung die dreyfache
Zahl der letztern hat? möglich ist. Einige
Aufklärung hierüber scheint mir jedoch die
Vor-
[411] Voraussetzung zu geben, daſs ein Mittel vor-
handen seyn muſste, wodurch das Fortschwin-
gen des Labyrinthwassers nach jedem, von
einem einfachen Schall bewirkten Eindruck ver-
hindert wird, und daſs dieses in dem Druck
des Steigbügels gegen die Haut des eyförmigen
Fensters zu suchen ist. Die Schallschwingungen
der Luft des Tympanum, welche die Haut des
runden Fensters treffen, werden durch diese
dem Wasser mitgetheilt, das in dem untern
Gang der Schnecke (Scala tympani) enthalten
ist; den Schwingungen dieses Wassers wirkt die
Bewegung entgegen, welche das im Schnecken-
gang des Vorhofs befindliche Wasser von dem
Druck des Steigbügels empfängt, und diese Be-
wegung hebt jene Schwingungen in dem Zu-
sammenfluſs beyder Schneckengänge auf. In
dem Vorhof und den Bogengängen kann keine
solche Gegenwirkung zwischen den Bewegungen
des Labyrinthwassers, die von den Schallschwin-
gungen entstehen, und denen, die von dem
Steigbügel verursacht werden, eintreten. Die
häutigen halbcirkelförmigen Canäle und die Säcke
des Vorhofs werden, indem der Steigbügel das
Labyrinthwasser nach innen drängt, durch das-
selbe von allen Seiten zusammengedrückt. Die
Pressung ist von allen Seiten gleichförmig wegen
der Verbindung, worin alle, sowohl knöcherne,
als häutige Theile des Vorhofs und der Bogen-
VI. Bd. D dgänge
[412] gänge unter einander stehen. Sie erfolgt aber
gleichzeitig mit jeder Schallschwingung. Diese
wird also von ihr verändert, und daher können
die Nerven des Vorhofs und der Bogengänge
keine so reine Empfindung der Qualitäten des
Schalls, als die der Schnecke, hervorbringen.
Das Wesentliche der Schnecke überhaupt
besteht hiernach in zwey Canälen, von welchen
der eine dem runden, der andere dem eyför-
migen Fenster zugekehrt ist, und deren ersterer
Zweigen des Hörnerven zur Ausbreitung dient.
In dieser einfachen Gestalt finden wir sie bey
den Vögeln. Ihre spiralförmige Gestalt ist im
Allgemeinen nichts Wesentliches, sondern dient
nur, den beyden Canälen in dem kleinsten Raum
eine so groſse Länge und Breite wie möglich zu
geben.
Für die halbcirkelförmigen Canäle ist ohne
Zweifel die dreyfache Zahl derselben wesentlich.
Worin diese aber ihren Grund hat, gestehe
ich, nicht angeben zu können. Ich habe hier-
über Aufklärung bey der vergleichenden Anato-
mie gesucht, aber nicht gefunden. Selbst über
die Beziehung, worin die verschiedene Gröſse
der Schnecke und der Bogengänge und das
verschiedene Verhältniſs beyder gegen ihre Um-
gebungen zum Gehör steht, giebt diese nur
wenig
[413] wenig Aufschluſs. Was sich aus den hisherigen
Untersuchungen dieser Theile folgern läſst,
scheint mir in folgenden Sätzen enthalten zu
seyn.
1. Mit der Vollkommenheit des Gehörs, die
in vielseitiger Empfänglichkeit für hörbare Ein-
drücke besteht, ist Gleichheit der Capacität der
Schnecke und der halbcirkelförmigen Canäle
verbunden.
Jene Vollkommenheit dürfen wir bey dem
Menschen voraussetzen. Bey ihm nähert sich
aber auch das Verhältniſs dieser Capacitäten
weit mehr dem der Gleichheit als bey einem
der übrigen Thiere m).
2. Bey einseitiger Vollkommenheit des Gehörs
ist die Schnecke auf Kosten der halbcirkelför-
migen Canäle vergröſsert, oder die letztern sind
es auf Kosten der Schnecke, und diese einseitige
Ausbildung steht mit dem Element, worin sich
das Thier aufhält, in einer gewissen Verbin-
dung; auch v[er]hindert sich hiernach die Be-
schaffenheit der Substanz, in welcher die Bogen-
gänge und die Schnecke eingeschlossen sind.
Unter den Säugthieren hat die gröſsten
halbcirkelförmigen Canäle in Verhältniſs gegen
die
D d 2
[414] die Schnecke der Maulwurf, die kleinsten die
Fledermaus. Bey beyden Thiergattungen liegen
diese Organe, wie bey den Vögeln, fast ganz
frey auf der innern Fläche des Felsenbeins.
Die Cetaceen haben, wie die Fledermaus, sehr
kleine halbcirkelförmige Canäle in Vergleichung
mit der Schnecke. Bey ihnen aber ist das La-
byrinth von einer härtern Masse als bey allen
übrigen Thieren umgeben. Von jenen Thier-
gattungen hat gewiſs jede für ihre Lebensweise
ein sehr vollkommenes Gehör. Aber die Voll-
kommenheit erstreckt sich nur auf Schallein-
drücke einer gewissen Art.
5. Bey vielen Säugthieren ist auch die Zahl
der Windungen, welche die Schnecke macht,
so wie das Verhältniſs des Durchmessers ihrer
Basis zu ihrer Höhe, und bey allen Thieren
das Capacitätsverhältniſs der halbcirkelförmigen
Canäle gegen deren Erweiterungen (ampullae)
und gegen die Säcke des Vorhofs, das Gröſsen-
verhältniſs jedes einzelnen C[an]als gegen die
beyden übrigen, und die Art, wie die häutigen
Bogengänge unter sich und mit den Säcken des
Vorhofs verbunden sind, verschieden von dem,
welches beym Menschen statt findet, und ver-
schieden nach der Organisation des ganzen übri-
gen Körpers.
Die
[415]
Die Schnecke macht bey den Säugthieren
anderthalb bis drey Windungen. Jene Zahl
findet sich beym Maulwurf, diese beym Fuchs
und Hunde. Dem Maulwurf zunächst steht in
dieser Rücksicht die Fledermaus, deren Schnecke
zwey Windungen hat; dann folgt das Pferd,
bey welchem die Zahl der letztern zwey und
ein Viertel beträgt, und hierauf der Mensch,
der Ochse, das Schwein, das Kaninchen und
die Katze, welche drittehalb Schneckenwindun-
gen haben n). Die halbcirkelförmigen Canäle,
sowohl die knöchernen, als die häutigen, sind
weit kleiner, hingegen die Erweiterungen der-
selben eben so groſs beym Ochsen und Pferde
als beym Menschen o). Die längsten Bogen-
gänge bey den kleinsten Säcken des Vorhofs
fand ich beym Cyclopterus Lumpus; hingegen
sind jene sehr kurz und diese von beträchtlicher
Länge beym Hering.
Es ist zu vermuthen, daſs auch diese Ver-
schiedenheiten auf gewisse Modifikationen des
Gehörs Bezug haben. Frägt man, auf welche?
so gestehe ich, keine befriedigende Antwort zu
haben. Wer es wagt, hierauf zu antworten,
dem
D d 3
[416] dem liegt zugleich ob, zu erklären, warum
manche andere Thiere, die in Rücksicht auf das
Gehör gewiſs sehr verschieden sind, doch keine
so groſse Verschiedenheit im Bau der Schnecke
und der Bogengänge zeigen. Ich habe die
Nachtigall und die Sprehe in Betreff dieser
Organe verglichen und den Unterschied dersel-
ben dem Sinn für Musik, den man bey der
Nachtigall voraussetzen darf, und der Abwesen-
heit desselben bey der Sprehe so wenig ent-
sprechend gefunden, daſs ich nicht zweifele,
dieser Sinn müsse nicht so sehr in der Bildung
der Theile, worin sich der Hörnerve verbreitet,
als in einer eigenen Stimmung des Hörnerven
begründet seyn.
4. Es giebt an den Bogengängen und wahr-
scheinlich auch an der Schnecke nicht nur
generische und specifische, sondern auch indivi-
duelle Verschiedenheiten. Hingegen zeigen diese
Organe in beyden Ohren eines und desselben
Individuum die gröſste Uebereinstimmung.
Valsalvap) stellte viele Untersuchungen
an, um das wechselseitige Verhältniſs der halb-
cirkelförmigen Canäle beym Menschen zu be-
stimmen. Er traf aber keine zwey Individuen
an, bey welchen dasselbe einerley war. Co-
tun-
[417]tunniq) fand diese Beobachtung bestätigt.
Autenrieth und Kernerr) bemerkten auch
Verschiedenheiten der halbcirkelförmigen Canäle
in Hinsicht auf deren Weite bey den verschie-
denen Hunderaçen. Valsalvas) entdeckte fer-
ner, daſs bey einem und demselben Menschen
die drey Canäle nicht nur in beyden Ohren
genau das nämliche Verhältniſs gegen einander
haben, sondern auch einzeln in dem einen Ohr
genau so groſs als in dem andern sind, ja daſs
eine angebohrne Abweichung des Canals der ei-
nen Seite von der gewöhnlichen Form sich
auch an demselben Canal der andern Seite zeigt.
Diese letztere Beobachtung enthält vielleicht
einen Grund zur Erklärung der Einheit der
Empfindung bey der Einwirkung des Schalls auf
beyde Ohren. Die individuellen Verschieden-
heiten der Bogengänge stehen wahrscheinlich
mit individuellen Verschiedenheiten des Gehörs
in Verbindung, aber mit welchen? diese Frage
läſst sich bisjetzt um so weniger beantworten,
da wir noch nicht einmal die Beziehung der
Unterschiede des Gehörs mit den generischen
Verschiedenheiten der Hörorgane anzugeben im
Stande sind.
5.
D d 4
[418]
5. Die Gröſse der Schnecke oder des Theils,
der die Stelle der Schnecke vertritt, hat weder
zur Gröſse der übrigen Hörwerkzeuge, noch
zur Gröſse des ganzen Thiers ein beständiges
Verhältniſs. Es giebt für jede Thierclasse ge-
wisse Grenzen, worin jene eingeschlossen ist,
und innerhalb dieser Grenzen erleidet sie bey
den verschiedenen Thierarten Veränderungen,
die nicht durch die übrige Organisation bedingt
sind.
Wer von der Gröſse des ganzen Körpers
oder des äuſsern Ohrs bey dem Pferde, vielen
Wiederkäuern u. s. w. auf die Gröſse der
Schnecke und der Bogengänge schlösse, würde
sich sehr getäuscht finden. Die Wallfische ha-
ben bey ihrer groſsen Trommelhöhle doch kei-
neswegs eine groſse Schnecke und noch weniger
groſse Bogengänge. Bey der Nachtigall finde
ich diese Canäle nicht kleiner als bey dem, so
sehr viel gröſsern Holzheher (Corvus glanda-
rius).
Diese Thatsachen sind sehr der Beachtung
werth. Sie beweisen, daſs jeder Schalleindruck
durch das Labyrinthwasser nur intensiv und in
einzelnen Punkten auf den Hörnerven wirkt,
woraus sich weiter folgern läſst, daſs die Ver-
änderung des Nervenmarks, welche die Empfin-
dung
[419] dung des Schalls hervorbringt, nicht etwa eine
chemische Wirkung ist. Wäre sie dies, so
würden chemische Analysen des Labyrinthwas-
sers der verschiedenen Thierarten vielleicht
einige Aufklärung in der Theorie des Gehörs
geben können. So aber ist wenig Belehrung
von diesen zu erwarten. In der That haben
auch W. Krimer’s t) Versuche mit dem La-
byrinthwasser einiger Säugthiere kein weiteres
Resultat geliefert, als was schon nach P. F.
Meckel’s u) Erfahrungen zu erwarten war, daſs
diese Flüssigkeit aus Wasser und etwas Eyweiſs-
stoff besteht, eine Säure enthält, die Kohlen-
säure zu seyn scheint, und leicht ammoniaka-
lisch wird.
6. Ein gewisses Causalverhältniſs zum Gehör
hat die Quantität der in der Schnecke und
den halbcirkelförmigen Canälen sich verbreiten-
den Nervenmasse. Sie richtet sich nach der
Dicke des Hörnerven bey seinem Eintritt in den
innern Gehörgang, und diese Dicke ist, absolut
genommen, im Allgemeinen beträchtlicher bey
den gröſsern als bey den kleinern Thierarten.
Bey jenen muſs also von einer gewissen Seite
das Gehör schärfer als bey den letztern seyn.
Wahr-
D d 5
[420] Wahrscheinlich besteht diese gröſsere Schärfe
in dem Vermögen, von dem Schall aus weitern
Entfernungen gerührt zu werden. Das Weib-
chen des Elephanten hört die Stimme ihres
Jungen aus einer Entfernung, worin von dem
menschlichen Ohr nichts vernommen wird v).
Hierbey kann sich indeſs jede andere Modi-
fikation des Gehörs auf einer sehr niedrigen
Stufe befinden. Für diese übrigen Modifikatio-
nen ist nur die relative Gröſse des Hörnerven
und derjenigen Hirnorgane, die zunächst mit
dem Sinn des Gehörs in Beziehung stehen,
gegen die des verlängerten Marks und der übri-
gen Hirnorgane, ein Maaſsstab. Die Zahl mei-
ner Beobachtungen über diese Punkte ist aber
noch nicht hinreichend, um sichere Schlüsse
daraus zu ziehen, und denen, die Krimerx)
darüber bekannt gemacht hat, kann ich keinen
Werth beylegen *).
Sechster
[421]
Sechster Abschnitt.
Das Gesicht.
Erstes Kapitel.
Das Sehen im Allgemeinen.
Stufenleiter der Ausbildung des Gesichts-
werkzeugs im Thierreiche.
Wie jeder der übrigen Sinne, so läſst sich
auch der des Gesichts von einer gewissen Seite
auf
*)
[422] auf das Getast zurückführen. Sehen ist Tasten
aus der Ferne, vermittelt durch das Licht.
Dieses
*)
[423] Dieses Tasten beschrankt sich indeſs nur auf
die Erkennung der räumlichen Verhältnisse der
Körper. Die Unterscheidung der Farben ge-
schieht durch einen höhern Sinn als den des
bloſsen Getastes. Beyde sind nicht nothwendig
mit einander verbunden. Es giebt mehrere
Beyspiele von Menschen, denen die Empfäng-
lichkeit für den Eindruck der verschiedenen
Farben ganz oder zum Theil fehlte, ohngeachtet
sie die Gestalten der Gegenstände sehr gut zu
erkennen vermochten y). Die von Turberville
und Huddart beobachteten Personen unter-
schieden blos Schwarz und Weiſs, Hell und
Dunkel. In den übrigen, zahlreichern Beyspie-
len
*)
[424] len dieser Art, die bisjetzt aufgezeichnet sind,
erstreckte sich aber der Mangel an Unterschei-
dungsvermögen nur auf gewisse Farben. Das
Auge sahe nur Blau, Gelb und zuweilen auch
Roth auf ähnliche Art wie ein gesundes Auge.
Alle übrige Farben erschienen als Abänderungen
oder Abstufungen von diesen. In dem einen der
beyden Fälle, die Nichols beschrieben hat,
erkannte ein eilfjähriger Knabe durch ein Prisma
nur drey Farben: Roth, Gelb und Purpur. In
dem andern erschien einem Manne von neun
und vierzig Jahren der Regenbogen als eine
Mischung von Gelb und Blau; die Mitte war
ihm gelb; gegen die Ränder zu sahe er ihn
blau. In den meisten dieser Beyspiele war die
unvollkommene Beschaffenheit des Gesichts ein
Familienfehler.
Unter den räumlichen Verhältnissen der
Körper sind die Gröſse, Gestalt, Lage, Entfer-
nung und Bewegung derselben begriffen. Wir
sehen diese Attribute der Körper als Attribute
derselben; aber wir erkennen sie als Verhältnisse
nur, indem wir sie zugleich auf unsere übrige
Sinne, besonders auf den des Getastes, bezie-
hen. Dieses Beziehen geschieht durch Urtheile,
jedoch durch Urtheile, die Resultate eines ange-
bohrnen, bewuſstlos und bey allen Individuen
auf gleiche Art wirkenden Vermögens sind.
Der
[425] Der völlig blind Gebohrne, der in spätern Jah-
ren das Gesicht erhält, wird in den ersten
Augenblicken des Sehens jene Verhältnisse als
solche nicht zu erkennen im Stande seyn. Die-
ses Unvermögen zeigte sich auch bey dem
Knaben, der, ohne einen Begriff von sichtbaren
Gegenständen zu haben, im dreyzehnten Jahre
seines Alters durch Cheselden’s Kunst plötz-
lich in die sichtbare Welt versetzt werde z).
Ein vorhergegangenes, sehr unvollkommenes
Sehen wird aber den, welcher zum völligen
Gebrauch der Augen gelangt, schon fähig ge-
macht haben können, in den ersten Augen-
blicken des aufgeschlossenen Sinns die räum-
lichen Verhältnisse der Dinge zu begreifen, in-
dem er sich vorher schon Begriffe von sicht-
baren Gegenständen bilden und diese mit dem,
was ihn der Sinn des Getastes lehrte, in Ue-
bereinstimmung bringen konnte. So war der
Fall bey dem siebenjährigen Knaben, den Ware
durch die Staaroperation sehend machte, nach-
dem derselbe seit seinem ersten Lebensjahr
zwar nicht die Umrisse, doch die Farben der
Gegenstände hatte unterscheiden können a).
Cheselden’s Knaben waren zwar auch bey
sehr starkem Lichte Farben erkennbar gewesen.
Er war aber ohne allen Zweifel weit blinder
und
[426] und vielleicht weniger eitel als Ware’s Kran-
ker, der gleich nach der Operation die Bedeu-
tung der ihm vorgezeigten Dinge häufiger erra-
then als erkannt zu haben scheint.
Locke, von Molyneux befragt, ob ein
sehend gewordener Blinder eine Kugel von
einem Würfel durch das Gesicht zu unterschei-
den im Stande seyn werde, wenn er auch ihren
Unterschied durch das Getast kennen gelernt
hätte? verneinte diese Frage. Molyneux
stimmte ihm bey und Jeder wird ihm beystim-
men müssen, vorausgesetzt, daſs die Unterschei-
dung der Kugel von dem Würfel sich auf das
Verhältniſs dieser Körper gegen den Sinn des
Getastes und des Gesichts zugleich beziehen soll.
Der Sehendgewordene wird zwar durch das
Gesicht einen Unterschied zwischen der Kugel
und dem Würfel entdecken. Aber was Kugel
und was Würfel ist, wird er erst nach Unter-
suchung derselben durch das Getast bestimmen
können. Vor Vergleichung der Empfindungen
des Gesichts mit denen des Getasts und der
übrigen Sinne ist die sichtbare Welt für ihn
ein Buch voll unbekannter Charaktere, die er zu
unterscheiden, aber nicht zu deuten vermag.
Auch der verwandelte Schmetterling verräth in
den ersten Stunden des neuen Daseyns durch
seine Betäubung, seine langsamen Bewegungen
und
[427] und seinen unsichern Flug, daſs ihm die Be-
deutung des Sichtbaren noch nicht klar gewor-
den ist. Es giebt eine prästabilirte Harmonie
jedes Sinns mit allen übrigen. Aber durch sie
kann nicht das nie Gekannte unmittelbar be-
griffen, sondern nur bewuſstlos auf schon Er-
kanntes bezogen werden. Diese Operation setzt
den ursprünglich ungeschwächten Gebrauch der
Geisteskräfte voraus. Haslama) erzählt von
einem siebenjährigen Knaben, der von seiner
Geburt an verrückt war, daſs derselbe die Ent-
fernungen der Dinge, vorzüglich derer, die sich
in der Höhe befanden, nicht zu schätzen im
Stande war, und z. B. nach einem Nagel an
der Decke, oder nach dem Monde griff.
Wie bey manchen Menschen, so kann es
auch bey den Thieren ein vollkommeneres
und unvollkommeneres Sehen geben. Der nie-
drigste Grad wird das bloſse Wahrnehmungs-
vermögen des Lichts seyn. Auf den höhern
Stufen wird der Gesichtssinn diejenigen Eigen-
schaften der Körper, woraus deren räumliche
Verhältnisse erkannt werden, und auf noch
höhern mit diesen auch die Farben derselben
vorstellen. Sind wirklich solche Abstufungen
im Thierreiche vorhanden, so muſs ihnen eine
voll-
VI. Bd. E e
[428] vollkommenere oder unvollkommenere Organi-
sation der Sehewerkzeuge entsprechen. Eine
Gradation in der Ausbildung dieser Theile be-
merken wir allerdings auch, und die Beziehung,
worin die Bildung zur Funktion steht, ist beym
Gesichtssinn auf den meisten der niedrigern
Stufen sehr einleuchtend, da es sich bey den
übrigen Sinnen nicht so verhält.
Die Grundbedingung des Sehens im Allge-
meinen ist Zutritt des Lichts zu den äuſsern
Enden von Nerven, die Empfänglichkeit für die
Einwirkung des Lichts besitzen. Wo die Haut-
nerven diese Empfänglichkeit haben und die
Oberhaut durchsichtig genug ist, wird die ganze
Oberfläche des Körpers Gesichtsorgan seyn. Auf
solche Art sind vielleicht die Zoophyten zum
Sehen organisirt, doch aber nur zu dem un-
vollkommensten Sehen, das sich blos auf die
Unterscheidung von Licht und Farben erstrecken
kann.
Wahrnehmung von Gegenständen kann nur
durch eine durchsichtige Fläche geschehen, deren
inwendige Seite mit einer Nervenausbreitung
bedeckt ist, auf welcher letztern jeder einzelne
Punkt entweder nur von Einem der sämmtlichen
Strahlen, die jeder Punkt eines erleuchteten
Gegenstandes nach allen Seiten aussendet, oder
von einer Vereinigung aller dieser Strahlen ge-
trof-
[429] troffen wird. Die erstere Art des Sehens ist
nur durch eine durchsichtige Bedeckung der
Nervenausbreitung, die eine solche Gestalt hat,
daſs blos senkrechte, oder von dem senkrechten
Einfall wenig abweichende Strahlen von ihr
durchgelassen, alle übrige aber reflektirt werden,
die letztere blos vermittelst Durchlassung der
Strahlen zur Nervenausbreitung durch ein bi-
convexes, durchsichtiges, dem Linsenglase einer
Camera obscura ähnliches Organ möglich. Diese
Stücke, eine eigene Nervenausbreitung (eine
Netzhaut) und eine convexe oder polyedrische
Bedeckung derselben (eine Hornhaut), oder
eine vor ihr liegende biconvexe Linse, sind
die allgemeinsten und einfachsten Erfordernisse
eines eigenen Sehewerkzeugs. Wo dieselben sich
finden, dürfen wir ein solches Organ anneh-
men. Da diese Bedingungen in den meisten
Fällen ohne groſse Schwierigkeiten zu entdecken
sind, so können wir beym Untersuchen der
Verbreitung des Sehewerkzeugs im Thierreiche
einen Weg gehen, welcher sich bey den übri-
gen Sinnesorganen, deren eigenthümliche Cha-
raktere schwerer zu bestimmen sind, nicht ein-
schlagen läſst und dasselbe von den untersten
der Thiere bis zum Menschen verfolgen.
Die ersten Rudimente eines solchen Organs
zeigen sich bey den Würmern. Doch giebt es
E e 2nur
[430] nur zwey Thiere dieser Classe, die von Ran-
zanic) unter dem Namen Phyllodoce maxillosa
beschriebene Art und Otto’s Aphrodite hepta-
cera c*), wobey man Augen annehmen darf,
die bey beyden gestielt sind. Man hat zwar
auch die glänzenden Punkte, die man nicht nur
bey den Blutegeln. Naiden und Nereiden, son-
dern selbst bey mehreren Cercarien, bey Enche-
lys Pulvisculus und den Furcularien findet d),
für Augen gehalten. Ich habe aber gegen diese
Meinung schon im 1ten Bande der Biologie
(S. 385.) Einwendungen gemacht, deren Gewicht
durch neuere Versuche und Beobachtungen von
Braune) und Kunzmannf) noch verstärkt
wird. Braun setzte unter andern mehrere
Blutegel in ein Glas voll Wasser und verfin-
sterte dasselbe soviel wie möglich. Durch eine
kleine Oeffnung bemerkte er, wann die Wür-
mer sich beruhigt und an welcher Stelle sich
die
[431] die meisten festgesogen hatten. Hier stellte er
ein Licht daran und nahm dann schnell die
Bedeckung weg. So oft dies ohne Stoſs oder
ohne Bewegung des Glases geschahe, äuſserten
alle Egel nicht die mindeste Empfindung. Eben
so wenig wurden sie in einem verfinsterten
Zimmer durch angezündetes Schieſspulver, wel-
ches rings um das Glas, worin sie sich befan-
den, gestreuet war, beunruhigt. Wurde aber
durch eine solche Explosion irgend eine Stelle
des Glases, an welcher sich ein Egel befestigt
hatte, erwärmt, so entfloh derselbe augenblick-
lich. Kunzmann wiederholte diese Versuche
und fand sie völlig bestätigt.
Sehr allgemein sind dagegen wahre Augen
bey den Insekten vorhanden. Sie zeigen sich
hier in doppelter Gestalt: entweder als einfache
Augen (stemmata), oder als zusammengesetzte g).
Das einfache Insektenauge kannte man sonst
nur als eine einfache Hornhaut, unter welcher
sich ein kurzer, einfacher, mit einem farbigen
Pigment bedeckter Fortsatz des Gehirns befindet.
D. W. Sömmerringh) entdeckte bey Libellula
grandis und Aranea avicularia zwischen jener
Haut
E e 3
[432] Haut und diesem Pigment eine fast kugelför-
mige Linse. Dieses Auge ist also der erste
Anfang der Werkzeuge des Sehens vermöge
Brechung der Lichtstrahlen durch eine biconvexe
Linse. Das zusammengesetzte. Auge ist eine
polyedrische Hornhaut, hinter deren einzelnen,
höchst zahlreichen, aber sehr kleinen Flächen
sich eben so viele Sehenerven endigen, die bey
den nächtlichen Insekten blos an den Rändern,
bey denen aber, die am Tageslichte ihrer Nah-
rung nachgehen, auch vorne einen farbigen
Ueberzug haben. Bey der Schabe (Blatta orien-
talis) und vielleicht auch bey den übrigen nächt-
lichen Insekten liegt zwischen jeder Fläche der
Hornhaut und deren Sehenerven noch eine
durchsichtige, gallertartige Materie. Die Sehe-
nerven jedes dieser Augen haben einen gemein-
schaftlichen Ursprung aus dem Gehirne. Nach-
dem sie durch eine, der Hornhaut gegenüber
liegende, häutige Scheidewand gedrungen sind,
die viele Tracheen enthält und von der sie
einen Ueberzug zu bekommen scheinen, zeigen
sie sich als einzelne Fäden. Was man noch
weiter am innern Bau dieser Augen beobachtet
haben will i), habe ich nicht bestätigt gefunden.
Beyderley Augen sind immer unbedeckt und in
der
[433] der Regel unbeweglich. Nur bey den krebs-
artigen Crustaceen haben die zusammengesetzten
Augen vermöge des Stiels, worauf sie sitzen,
einen geringen Grad von Beweglichkeit, und
bey den Daphnien ist das aus mehrern ein-
fachen Augen bestehende Gesichtsorgan der Zu-
rückziehung durch vier Muskeln fähig k). Der
zusammengesetzten Augen giebt es stets zwey,
und sie liegen immer zu beyden Seiten des
[Kopfs]. Die Zahl und Stellung der einfachen
Augen ist verschieden in den verschiedenen
Familien der Insekten l). Sie nehmen, in viel-
facher Zahl gedrängt an einander liegend, bey
mehrern flügellosen Insekten die sonstige Stelle
der zusammengesetzten Augen ein.
Weit weniger allgemein als bey den Insek-
ten ist die Gegenwart des Gesichtswerkzeugs
bey den Mollusken. Wir finden dasselbe nur
in der Familie der Schnecken (Gasteropoden)
und der Sepien (Cephalopoden), und auch in
jener Familie sind bey weitem nicht alle Ge-
schlechter damit versehen. Der Bau des Schnek-
kenauges kömmt dem der einfachen Insekten-
augen am nächsten. Das Wesentliche desselben
ist eine gallertartige Linse, die vorne von einer
Horn-
E e 4
[434] Hornhaut bedeckt, hinten von einer becherför-
migen Ausbreitung des Sehenerven umfaſst und
am Seitenrande von einem dunkelfarbigen Pig-
ment umgeben ist m). Eigenthümlich diesem
Auge ist dessen Verbindung mit dem Kopf
durch einen hohlen, fleischigen, nach allen
Seiten beweglichen Cylinder, worin dasselbe
durch Muskeln zurückgezogen wird. Der letz-
tere tritt hierbey zu gleicher Zeit ungestreift in
den Körper der Schnecke n). Beym Nachlaſs
der Muskeln streckt er sich durch eine Tur-
gescenz wieder aus, die vielleicht durch Ein-
dringen von Luft in seine Höhlung vermöge
eines noch unbekannten Mechanismus unterstützt
wird.
Bey den Sepien beginnt die Bildung des
Auges der Wirbelthiere. Es giebt hier auſser
einer Hornhaut und einer Linse noch eine dritte,
zwischen dieser und der Ausbreitung des Sehe-
nerven liegende durchsichtige Substanz, einen
Glaskörper; eine Sklerotika, die den ganzen
Augapfel umfaſst und zu einem isolirten Gan-
zen macht; ein Rudiment einer Choroidea,
welche die Ausbreitung des Sehenerven, die
Reti-
[435] Retina, von der Sklerotika scheidet, und einen
ähnlichen, um den Eintritt des Sehenerven lie-
genden rothen Körper, wie die Fische besitzen.
Aber es fehlen noch die wäſsrige Feuchtigkeit,
die Iris, die Ciliarnerven, das Gefäſsnetz der
Choroidea, das Pigment dieser Aderhaut, statt
dessen hier, wie bey den Insekten, die Retina
nach Innen einen farbigen Ueberzug hat, und
die sechs Muskeln des Augapfels, für welche
hier blos ein oberer und unterer fleischiger
Strang vorhanden ist o).
Der Besitz dieser, dem Sepienauge fehlen-
den Stücke in Verbindung mit dem, was das-
selbe vor den Augen der übrigen wirbellosen
Thiere voraus hat, charakterisirt das Auge der
Wirbelthiere, und die Zunahme in der Ausbil-
dung desselben giebt sich vorzüglich dadurch zu
erkennen, daſs die den sämmtlichen wirbello-
sen Thieren fehlende wäſsrige Feuchtigkeit an
Masse zunimmt, indem die Crystalllinse statt
der Kugelform eine flachere Gestalt erhält, der
ganze Augapfel hingegen immer mehr sphärisch
wird.
Die Stufenfolge beruhet aber blos auf Ver-
schiedenheiten dem Grade nach. Gegensätze
zeigen
E e 5
[436] zeigen sich in derselben besonders an der Ge-
genwart oder Abwesenheit von Absonderungs-
werkzeugen der Thränen. Alle Säugthiere, die
Cetaceen ausgenommen, alle Vögel und die
meisten Amphibien besitzen diese Organe. Die
Gegenwart derselben ist Kennzeichen der grö-
ſsern Beweglichkeit des Augapfels und der hö-
hern Ausbildung des Gesichtsorgans.
Wo diese Drüsen zugegen sind, giebt es
zugleich eine, der Zusammenziehung und Er-
weiterung fähige Iris und in der Regel auch
bewegliche Augenlieder. Einige Fische haben
zwar, obgleich ihnen Thränendrüsen fehlen,
doch eine gespaltene Augendecke, deren Oeff-
nung sich erweitern und verengern läſst. Aber
es fehlt ihnen die Beweglichkeit der Iris.
Wo die Iris diese Eigenschaft hat, ist fer-
ner stets auch ein Strahlenkranz am Umfange
der Linse, eine Verbindung dieses Kranzes und
der Iris mit Ciliarnerven, und eine ihrer ganzen
Ausbreitung nach völlig geschlossene Retina
vorhanden. Es finden sich zwar auch bey eini-
gen Fischen Ciliarfortsätze, doch nur als Rudi-
ment des Strahlenkranzes der höhern Thiere.
Die Unterbrechung des Zusammenhangs der
Netzhaut zeigt sich im Auge der Fische als eine
von dem Eintritt des Sehenerven bis zur Linse
gehende
[437] gehende Spalte dieser Haut, (die sehr uneigent-
lich so genannte sichelförmige Falte, pro-
cessus falciformis) in welcher das schwarze Pig-
ment der Choroidea von ihr unbedeckt liegt.
Bis hieher hat also das Gesichtsorgan nur
auf den höhern Bildungsstufen positive Charak-
tere. Doch fehlen diese auch an dem Auge der
Fische nicht. Sie bestehen in der Gegenwart
eines rothen Körpers zwischen der Sklerotika
und der Choroidea, der in Gestalt eines Huf-
eisens um den Sehenerven liegt; einer silber-
farbenen Haut, welche unter der Sklerotika
diesen Körper und die Choroidea bedeckt, und
eines eigenen, in dem sichelförmigen Ausschnitt
der Retina liegenden Nerven. Der letztere ist
vorzüglich eine merkwürdige Eigenthümlichkeit
des Fischauges. Man hat ihn für einen Fort-
satz des Sehenerven gehalten und ich habe ihn
auch sonst dafür angesehen. Es ist mir aber
zweifelhaft geworden, ob er nicht eigentlich ein
Ciliarnerve ist, der mit dem Sehenerven eine
gemeinschaftliche Scheide hat. Er erstreckt sich
bis zur Linse, und schwillt neben derselben zu
einem kegelförmigen Knoten, welcher mit dem
nämlichen schwarzen Pigment wie die innere
Seite der Choroidea bedeckt ist, und mit diesem
Ueberzug die sogenannte Campanula des Fisch-
auges ausmacht.
Diese
[438]
Diese positiven Charaktere fehlen dem
Auge der sämmtlichen Amphibien, welches im
Uebrigen bey einigen Geschlechtern dem Auge
der Fische, bey andern dem der Vögel ver-
wandt ist.
Das Auge der Vögel hat sehr unterschei-
dende positive Merkmale an der Gegenwart des
schwarzen Fächers (pecten plicatum), verbunden
mit groſser Beweglichkeit des untern Augen-
lieds. Die letztere ist zwar auch den Crocodilen
und Schildkröten eigen. Allein der schwarze
Fächer fehlt den Schildkröten ganz und ist bey
den Crocodilen blos angedeutet. Ein weniger
allgemein gültiges positives Kennzeichen des
Vogelauges ist der knöcherne Ring, der den
Theil desselben, in welchem sich die Linse be-
findet, so weit, als sich die Ciliarfortsätze er-
strecken, von auſsen umgiebt. Bey den krähen-
artigen Vögeln findet man statt dessen blos eine
Verdickung des vordern Theils der Sklerotika,
wie es auch bey dem Bären, dem Dachs und
mehrern andern Säugthieren giebt.
Wie bey den Vögeln das untere, so ist bey
den Säugthieren das obere Augenlied das be-
weglichere und mit mehr Muskelfasern als das
obere versehen. Dieser Gegensatz macht den
einzigen, allgemein gültigen, positiven Unter-
schied zwischen den Augen der beyden ober-
sten
[439] sten Thierclassen aus. Alle übrige Verschie-
denheiten zwischen ihnen sind entweder blos
negativer Art, z. B. die Abwesenheit des gefal-
tenen Kamms bey den Säugthieren, oder be-
stehen in Abänderungen des Verhältnisses von
Theilen, die beyden gemein sind. Wäre die
Mannichfaltigkeit der Theile eines Organs allein
ein richtiger Maaſsstab für die Vollkommenheit
der Funktion desselben, so würden die Vögel
in Rücksicht auf den Gesichtssinn über den
Säugthieren und selbst über dem Menschen ste-
hen. Allein nicht bey allen Organen und vor-
züglich nicht bey dem Sehewerkzeug läſst sich
von dem zusammengesetztern Bau auf eine hö-
here Stufe der Thätigkeit desselben in jeder
Beziehung schlieſsen. Schon von der objektiven
Seite hat jener Sinn Modifikationen, die sich
nicht auf bloſse quantitative Verschiedenheiten
zurückführen lassen, und sehr verschieden ist
auch das Verhältniſs seiner subjektiven Thätigkeit
gegen die objektive. Diese sind bey dem Ge-
sichtssinn schärfer als bey den übrigen Sinnen
zu sondern, und ihre Trennung ist bey jenem
auch leichter als bey den übrigen möglich. Wir
werden zuerst das Sehen von der objektiven
Seite betrachten und hierbey weiter ausführen,
was wir bisher nur in Umrissen entworfen haben.
Zwey-
[440]
Zweytes Kapitel.
Das Sehen von der objektiven Seite.
§. 1.
Das Sehen in Beziehung auf die Nähe und Ferne der
Gegenstände.
Das einfachste Sehen ist das, welches durch
das zusammengesetzte Auge der Tages-Insekten
geschieht. Dieses geht, wie schon Swammer-
dammp) mit Recht behauptete, zum Theil nach
catoptrischen Gesetzen vor sich. Nur diejenigen
Strahlen der Objekte werden zum Sehenerven
durchgelassen, die senkrecht auf eine von den
vielen Flächen der vieleckigen Hornhaut fallen,
alle übrige aber von dem glänzenden Pigment,
welches sich unmittelbar unter dieser Haut be-
findet, zurückgeworfen. Jeder Punkt eines
Objekts wird daher nur durch Einen Strahl des
ganzen Büschels, der von ihm zum Auge geht,
sichtbar gemacht. Es kann also nur eine
schwache Reitzung des Sehenerven, besonders
von entfernten Gegenständen, statt finden, und
alle Objekte, von welchen parallele Strahlen
eine
[441] eine gröſsere Fläche der Hornhaut treffen, müs-
sen dem Insekt an ihrem Umfange verkürzt
und undeutlich erscheinen. Auch ist wegen des
farbigen Pigments, welches die Ausbreitung des
Sehenerven bedeckt, keine Unterscheidung der
Farben für das Insekt möglich. Der einzige
Vortheil, der für die Unvollkommenheit des
Sehens bey diesem Augenbau einigen Ersatz
giebt, ist die sehr weite Ausdehnung des Ge-
sichtsfeldes.
Diese Sätze lassen sich zwar nicht unmittel-
bar durch Erfahrungen darthun. Die bisherigen
Versuche über das Sehen der Insekten, wobey
man die zusammengesetzten Augen derselben
entweder abschnitt q), oder mit undurchsichti-
gen Materien bestrich r), lehren entweder gar
nichts, indem das Verhalten der Thiere nach
der Operation eben so wohl von dem heftigen
Eindruck der Durchschneidung des Sehenerven
auf das ganze Nervensystem, als von dem Ver-
lust des Gesichts herrühren konnte; oder sie
beweisen nur im Allgemeinen, daſs jene Augen
wirklich Sehewerkzeuge sind. Die tägliche Er-
fah-
[442] fahrung zeigt indeſs, daſs selbst diejenigen In-
sekten, welche die gröſsten zusammengesetzten
Augen haben, z. B. die gröſsern Tagschmetter-
linge und Neuropteren, nicht weitsehend seyn
können. Auch die scheuesten dieser Thiere
entfliehen nicht, wenn man sich ihnen nähert,
ohne ihnen seinen Schatten zuzuwerfen und
ohne Geräusch zu machen, solange man ihrer
Vorderseite nicht bis auf 10, höchstens 15 Fuſs
nahe kömmt. Manche Beobachtungen lassen
vermuthen, daſs sie oft mehr durch den bloſsen
Unterschied von Licht und Schatten, als durch
das Wahrnehmen wirklicher Gegenstände bey
ihren Handlungen geleitet werden *). Die mei-
sten geflügelten Insekten würden auch nicht
neben den zusammengesetzten Augen noch Ge-
sichtswerkzeuge anderer Art besitzen, wenn ih-
nen jene zum Nahesehen hinreichend wären.
Organe
[443]
Organe der letztern Art sind die einfachen
Augen der Insekten und Schnecken. Das Sehen
geschieht durch diese nach dioptrischen, wie
durch die zusammengesetzten Augen nach ca-
toptrischen Gesetzen. Durch sie gelanget nicht
blos ein einfacher Strahl von jedem Punkt des
Objekts zur Netzhaut, sondern der ganze, von
diesem Punkt auf das Auge fallende Strahlen-
kegel wird durch die Linse so gebrochen, daſs
alle Strahlen desselben sich hinter der letztern
zu Einem Punkte wieder vereinigen. Da auf
diese Weise alle Strahlen jedes sichtbaren Punkts
die Netzhaut rühren, so wird der Eindruck auf
dieselbe weit stärker und das Sehen weit deut-
licher als bey der erstern Art seyn. Wegen
der groſsen Convexität sowohl der Hornhaut als
der Linse des einfachen Auges ist aber die
Vereinigung der gebrochenen Strahlen auf der
Netzhaut nur bey sehr nahen Gegenständen
möglich und der Gebrauch dieses Auges nur
auf das Nahesehen und auf sehr kleine Objekte
beschränkt. Darum sind die ungeflügelten Insek-
ten, die des Weitsehens nicht bedürfen, denen
aber das Gesicht für die Nähe von desto grö-
ſserm Werthe ist, blos mit einfachen Augen,
mit solchen aber auch in sehr groſser Zahl
versehen, und darum kann man sich allen die-
sen Insekten weit mehr als den geflügelten
nähern, ohne sie zu verscheuchen, wenn man
VI. Bd. F fnur
[444] nur vermeidet, sie durch Geräusch, Luftzug
oder plötzliche Beschattung aufzuschrecken. Daſs
sie aber zum Theil ein gutes Gesicht für nahe
Gegenstände und ein scharfes Augenmaaſs haben
müssen, beweisen die wandernden Spinnen, die
ihre Beute mit Einem Sprunge erhaschen und
nie verfehlen s).
So konnte indeſs das Auge nur bey Thie-
ren organisirt seyn, deren übrige Bildung eine
groſse Ausdehnung oder Vervielfältigung des
Auges gestattete, für die aber kein genaues
Unterscheidungsvermögen der Farben und des
Umrisses der Gegenstände nothwendig war. Wo
hingegen das Gesichtswerkzeug auf einen klei-
nern Theil des Kopfs eingeschränkt werden
muſste, um Raum für die höhere Ausbildung
der übrigen Sinnesorgane und des Gehirns zu
erhalten, und wo bey dieser Beschränkung doch
das Vermögen, in verschiedenen Entfernungen,
nach verschiedenen Richtungen und bey ver-
schiedenem Lichte zu sehen und die Farben zu
unterscheiden, zugegen seyn sollte, bedurfte es
einer andern Bildung des Auges. Die Natur
erreichte diese Zwecke, indem sie dem letztern
eine runde Gestalt gab und dasselbe mit Augen-
liedern, einem eigenen Apparat von Muskeln,
einer der Erweiterung und Verengerung fähigen
Pu-
[445] Pupille, und durchsichtigen Theilen von sehr
regelmäſsiger Gestalt und von verschiedener
strahlenbrechender Kraft ausstattete.
Die erste und wichtigste unter diesen Ei-
genthümlichkeiten des Auges der Wirbelthiere
ist die Zusammensetzung des durchsichtigen
Theils derselben aus Flüssigkeiten von ver-
schiedener Dichtigkeit und Häuten von verschie-
dener Ründung. Soweit der Zweck dieser Bil-
dung sich auf die Darstellung von Bildern der
äuſsern Gegenstände im Innern des Auges wie
in einer Camera obscura bezieht, ist derselbe
schon in frühen Zeiten, nachdem die Grund-
gesetze der Dioptrik entdeckt waren, von Kep-
ler und Scheiner erkannt worden. Man hat
auch ohne Schwierigkeiten und befriedigend aus
der verschiedenen Ründung der Cornea und der
Cristalllinse das Vermögen, die Gegenstände in
gröſsern oder geringern Entfernungen zu unter-
scheiden, erklärt. Bey den Thieren sind ähn-
licher Erklärungen noch nicht viele versucht
worden und es giebt hierbey auch gröſsere
Schwierigkeiten als bey der Theorie des mensch-
lichen Sehens. Beym Menschen ist blos die
Gestalt der Theile des Auges zu berücksichti-
gen; die Dichtigkeit der verschiedenen Flüssig-
keiten des letztern ist bey den verschiedenen
Individuen des Menschengeschlechts so verschie-
F f 2den
[446] den nicht, daſs es nöthig wäre, sie mit in
Anschlag zu bringen. Bey den verschiedenen
Thierarten aber finden sich groſse Abweichungen
in dieser Dichtigkeit, die schwer zu bestimmen
und schwer mit in Rechnung zu bringen sind.
Soviel ist gewiſs, daſs unter den Thieren
ein ähnlicher Unterschied in Rücksicht auf den
Wirkungskreis des Gesichts herrscht, wie in
Betreff der Sphäre, über welche sich der Ge-
ruch und das Gehör erstreckt. Um hierüber
etwas Näheres auszumachen, wird es nothwen-
dig seyn, die Gröſse und Gestalt des Auges
und das gegenseitige Verhältniſs der durchsichti-
gen Theile desselben bey den verschiedenen
Thieren im Einzelnen zu untersuchen.
Die Gröſse des Augapfels steht mit der
Gröſse des Thiers in einem gewissen Verhältniſs,
das jedoch in den verschiedenen Thierclassen
verschieden ist. Den gröſsten Augapfel haben
in jener Beziehung die Vögel, den kleinsten der
Mautwurf, der Igel, die Fledermäuse und die
mäuseartigen Nagethiere.
Bey den meisten Thieren ist der Durch-
messer des Augapfels gröſser als die Axe.
Ausnahmen hiervon machen manche Schlangen,
die Fledermäuse, der Igel, der Waschbär, der
Dachs, der Fuchs, der Luchs, die Robbe, die
Affen
[447] Affen und der Mensch. Bey dem Menschen
und den Affen ist die Gestalt des ganzen Aug-
apfels mehr kugelartig, als bey allen übrigen
Thieren.
Die Hornhaut ist verschieden in Betreff ih-
rer Convexität, Gröſse und Dicke. Die flachste
Cornea besitzen viele Fische, z. B. die Gadus-
arten. In der Classe der Amphibien ist sie bey
mehrern Schlangen ebenfalls sehr flach. Die
Vögel haben eine Hornhaut von mittlerer Con-
vexität. Am gröſsten ist in dieser Thierclasse
der Radius derselben bey dem Strauſs und den
gröſsern Raubvögeln, doch bey keinem dersel-
ben so flach, als bey den gröſsern Arten der
Säugthiere. Diese letztern machen in Rücksicht
auf die Ründung ihrer Hornhaut eine Reihe
aus, an deren einem Ende die Cetaceen, die
schweineartigen Thiere, die Wiederkäuer und
die Einhufer stehen, Thiere, bey welchen die
Cornea sehr flach ist. Eine etwas gröſsere
Ründung hat sie bey den Robben und den
meisten Raubthieren. Runder wird sie bey den
Nagern, und am convexesten findet man sie
bey den Fledermäusen, dem Igel und dem
Maulwurf.
Mit der Ründung der Hornhaut steht das
Verhältniſs ihrer Gröſse zu der des ganzen
Augapfels in keiner festen Beziehung. Ver-
F f 3gleicht
[448] gleicht man ihren Durchmesser mit dem des
Augapfels, so findet man sie von geringerer
Breite als im ganzen übrigen Thierreiche beym
Wallfische. Etwas breiter ist sie bey dem Men-
schen, den Affen, dem Elephant, dem Pferde,
den meisten Vögeln, den Schildkröten und
Eidechsen. Die gröſste Breite gegen die des
Augapfels hat sie bey den Nagethieren, dem
Dachs, den Fledermäusen, dem Maulwurf, dem
Igel und den Schlangen.
Eine nähere Beziehung auf die Convexität
der Cornea als jenes Verhältniſs hat das Ver-
hältniſs des Kugelabschnitts, welchen sie bildet,
zur ganzen Kugel, wozu dieser gehört. Klein
ist dieser Abschnitt bey den Fischen und den
meisten Amphibien, besonders den Schlangen,
hingegen eine völlige Halbkugel bey dem Dachs,
dem Igel und der Fledermaus. Eine Abwei-
chung von dieser Regel zeigt sich indeſs bey
dem Menschen und den Vögeln. Jener hat eine
Hornhaut von mittlerer Convexität, die aber
einen kleinern Kugelabschnitt als bey allen
übrigen Säugthieren ausmacht. Unter den Vö-
geln ist selbst bey denen, die eine ziemlich
flache Cornea haben, z. B. den Raubvögeln,
dieser Theil ein groſses Kugelsegment *).
Die
[449]
Die Dicke der Hornhaut hat man bey der
Schätzung der strahlenbrechenden Kräfte des
menschlichen Auges immer vernachlässigt, und
bey diesem kann sie freylich auch auf die Re-
fraktion keinen groſsen Einfluſs haben. Aber
bey vielen Thieren ist sie so beträchtlich, daſs
sie keinesweges unbeachtet gelassen werden darf.
Ich fand unter andern ihre Dicke in Theilen
der = 1 gesetzten Axe des innern Auges
- bey dem Dachs . . . . = 0,17.
- — — Bär . . . . . = 0,05.
- — — Fuchs . . . . = 0,10.
- — — Eichhörnchen . . . = 0,15.
- — der Rostweyhe (Falco aeruginosus) = 0,09.
- — dem Bussard (Falco Buteo) . = 0,05.
Die Dicke der Hornhaut macht also beym
Dachs mehr als ein Sechstel der ganzen Axe des
innern Auges aus, und ist nicht nur groſs bey
die-
*)
F f 4
[450] diesem unterirdischen Thier, sondern auch bey
mehrern Säugthieren, die eine ganz andere
Lebensweise als der Dachs haben, und selbst
bey den in den Lüften schwebenden und weit
sehenden Falken.
Bey der Crystalllinse ist das Verhaltniſs ih-
rer Axe zu ihrem Durchmesser, die gröſsere
oder geringere Rundung ihrer vordern und hin-
tern Fläche, das Verhältniſs ihrer Gröſse und
Gestalt zu der der Cornea und des Augapfels,
und ihre Entfernung von der Hornhaut und
dem Hintergrunde des innern Auges zu be-
trachten.
Aus dem Verhältniſs des Durchmessers der
Linse zu ihrer Axe allein läſst sich wenig
schlieſsen. Die Convexität ihrer vordern und
hintern Fläche und ihre Gestalt können dabey
sehr verschieden seyn. Bey jenem Verhältniſs
ist zugleich die Gröſse des Radius der vordern
und hintern Krümmung dieses Organs in An-
schlag zu bringen.
Den gröſsten Durchmesser in Vergleichung
mit der Axe hat die Linse im ganzen Thier-
reiche beym Menschen. Diesem stehen hierin
die Affen, der Strauſs, mehrere Falken, der
Psittacus Aracanga und der Seidenschwanz am
nächsten. Hierauf folgen das Pferd, das Mur-
melthier, der Wallfisch, die Nebelkrähe, der
Sper-
[451] Sperber, die Midasschildkröte und Lacerta Mo-
nitor. Mehr nähern sich jene Dimensionen
dem Verhältniſs der Gleichheit bey den meisten
Raubthieren, Nagern, Wiederkäuern. hühner-
artigen Vögeln, Sumpf- und Wasservögeln.
Am nächsten kommen sie der Gleichheit bey
dem Dachs, dem Robben, den specht- und
sperlingsartigen Vögeln, vielen Amphibien, be-
sonders den Schlangen, und den Fischen. Bey
den letztern Thieren ist zugleich der Radius
der vordern Fläche der Linse dem der hintern
fast gleich und dieses Organ fast kugelförmig.
Diese geringe Verschiedenheit in der Länge
beyder Radien, doch bey einer nicht immer
sphärischen Gestalt, finden wir überhaupt bey
den im Wasser, im Wasser und in der Luft
zugleich, oder unter der Erde lebenden Thie-
ren *). Bey den meisten Thieren aber hat die
vor-
F f 5
[452] vordere Fläche der Linse einen gröſsern Ra-
dius, also eine geringere Krümmung, als die
hintere. Der Unterschied zwischen beyden
Halbmessern ist am gröſsten bey dem Menschen
und dem Strauſs, nächst diesem bey den Affen,
welchen letztern in dieser Rücksicht der Stein-
adler, die gröſsern Säugthiere aus den Familien
der Schweine und der Wiederkäuer folgen. Die
absolute Gröſse beyder Halbmesser und die
Convexität der ganzen Linse steht im Allge-
meinen mit der Gröſse des Thiers in Verhält-
niſs. Eine wenig convexe Linse haben daher
der Wallfisch, der Elephant, das Pferd und die
gröſsern Raubvögel, eine sehr convexe die Fle-
dermaus, der Maulwurf, der Igel, die meisten
Nagethiere, die sperlingsartigen Vögel und der
Frosch.
Von dem Verhältniſs der Gröſse der Cornea
gegen die der Kugel, wovon sie einen Theil
ausmacht, hängt die Gröſse des Gesichtsfeldes
ab. Es wird diese zwar auch durch die tiefere
oder mehr hervorragende Lage der Augen,
durch
*)
[453] durch die Weite der Pupille und durch das
Verhältniſs der Hornhaut zu den übrigen durch-
sichtigen Theilen des Auges modifizirt. Jenes
Verhältniſs ist jedoch ein Hauptfactor, nach
welchem sich auch diese übrigen in gewissem
Grade richten. Ein kleines Gesichtsfeld haben
daher die Fische und die meisten Amphibien,
besonders die Schlangen, ein sehr groſses die
meisten Vögel, besonders der Kreutzschnabel,
die Krähen und der Bussard, ferner die Fle-
dermäuse, der Igel, die Nagethiere, mehrere
Raubthiere und Wiederkäuer, vorzüglich der
Bär und der Dachs. Beschränkter als bey den
übrigen Säugthieren ist die Sphäre des Gesichts
beym Menschen, in so weit dieselbe durch die
Gröſse der Cornea bestimmt wird.
Die Convexität der vordern Fläche der
Linse und der Hornhaut, und das Verhältniſs
der Axe der Linse zu ihrem Durchmesser sind
die Hauptmomente, welche zusammengenommen
das Vermögen des Nahe- und Fernsehens be-
stimmen. Auſserdem kommen hierbey aber auch
noch die Beschaffenheit des Medium, worin sich
das Thier aufhält, und das Brechungsvermögen
der verschiedenen durchsichtigen Theile des
Auges mit in Anschlag.
Für die unter dem Wasser lebenden Thiere
ist die Crystalllinse das Hauptorgan, wodurch
die
[454] die Brechung der Lichtstrahlen geschieht. Die
Hornhaut und die wäſsrige Feuchtigkeit haben
bey ihnen hierauf keinen so groſsen Einfluſs
wie bey den Landthieren und Vögeln, weil die
Dichtigkeit dieser Flüssigkeit von der des Was-
sers, besonders des Meerwassers, nicht so ver-
schieden als von der Dichtigkeit der Lust ist.
Ihnen muſste daher die Hornhaut und die wäſs-
rige Feuchtigkeit durch eine mehr kugelförmige
Linse ersetzt werden. Bey den Land- und
Lustthieren ist die Hornhaut und die wäſsrige
Flüssigkeit von gröſserer Wichtigkeit. Ihnen
kann für eine geringere Convexität und Dich-
tigkeit der Linse eine gröſsere Ründung und
Dicke der Hornhaut und eine gröſsere Dichtig-
keit der wäſsrigen und gläsernen Feuchtigkeit
Ersatz geben, und das Vermögen des Nahe-
und Fernsehens kann bey ihnen, einer ver-
schiedenen Gestalt und Brechungskraft der
durchsichtigen Theile des Auges ohngeachtet,
doch von gleicher Beschaffenheit seyn.
Die verschiedene Dichtigkeit der durchsich-
tigen Theile des Auges in den verschiedenen
Thierclassen zeigt sich vorzüglich an der Linse.
Diese ist bey allen Thieren aus concentrischen
Schichten zusammengesetzt. Bey vielen Vögeln
sind dieselben mehr gleichartig, als bey den
übrigen Thieren, und sowohl nach innen als
nach
[455] nach auſsen aus einer weichen, fasrigen Sub-
stanz gebildet. Bey den übrigen Thieren macht
diese weiche Substanz blos den äuſsern Theil
der Linse, eine Art von Schaale, aus, die
einen weit härtern, in Branntwein die Farbe
des Bernsteins annehmenden Kern enthält. In
der Mitte dieses Kerns ist bey den Fischen t),
und nach meinen Beobachtungen auch beym
Wallfisch und Narhwal, noch eine dritte, sehr
harte Substanz enthalten, die bey den Fischen
nicht wie die bey den übrigen Thieren in Wein-
geist und Säuren ihre Durchsichtigkeit verliert,
hingegen bey jenen Cetaceen, in Branntwein
erhärtet, auf dem Durchschnitt eine Perlmut-
terfarbe und einen muschlichen Bruch zeigt.
Die zweyte Substanz nimmt bey den meisten
Thieren von Auſsen nach ihrer Mitte hin, bey
einigen hühnerartigen Vögeln, z. B. dem Puter,
aber umgekehrt von Innen nach Auſsen, an
Härte zu und steht bey den verschiedenen
Thieren in sehr verschiedenem Verhältniſs ge-
gen die weiche Schaale. Auch wird sie bey
manchen Thieren auf ihrer vordern oder hin-
tern Fläche von einer weit dickern Lage der
weichen, auſsersten Substanz bedeckt. Die Licht-
strahlen erleiden also durch die Linse eine sehr
vielfache Brechung. Ihr Weg durch diesen
Kör-
[456] Körper ist eine krumme oder gebrochene Linie,
und ihre Brechung nach dem Perpendikel hin
ist desto stärker, je näher zur Axe der Linse
sie einfallen, am stärksten bey den Fischen.
Ueber das verschiedene Brechungsvermögen
der wäſsrigen und gläsernen Feuchtigkeit bey
den verschiedenen Thieren fehlt es noch sehr
an Beobachtungen. La Billardiere und Pé-
ronu) fanden indeſs die Glasfeuchtigkeit der
Phoca proboscidea Peron., so wie auch die
Crystalllinse dieses Thiers, auffallend dicht bey
einem sehr platten Auge. Daſs die Dichtigkeit
des Glaskörpers im Thierreiche ebenfalls sehr
verschieden seyn muſs, erhellet aus der ver-
schiedenen Masse und Dichtigkeit der Glashaut
und dem verschiedenen Grade der Zusammen-
ziehung, welche dieselbe in Weingeist erleidet.
In manchen Thieraugen, die eine längere Zeit
in Weingeist gelegen haben, findet man nur
eine sehr geringe Quantität derselben; in andern
füllt sie die Höhlung des innern Auges hinter
der Linse gröſstentheils aus. Was mir an
Resultaten von zuverläſsigern Versuchen über
die Dichtigkeit der verschiedenen Feuchtigkeiten
des Menschen- und Thierauges bekannt gewor-
den ist, enthält die nebenstehende Tafel, worin
die
[457]Dichtigkeit der Feuchtigkeiten des Auges bey dem
Menschen, dem Ochsen und dem Kabljau.
[458] die Zahlen auf die von Brewster bestimmte
Dichtigkeit des Wassers (= 1,5358) reducirt sind.
Bey dieser Tafel ist aber nicht zu übersehen,
daſs das Brechungsvermögen der Feuchtigkeiten
des Auges nicht mit ihrer Dichtigkeit allein in
Verhältniſs steht. A. Monrov) fand, daſs der
kugelförmige Kern der Linse des Kabljau sei-
nen Brennpunkt um wenig mehr als ⅙ seines
Durchmessers hinter sich hatte; wäre der Kern
von Glas gewesen, so würde die Entfernung
des Brennpunkts von der hintern Fläche dessel-
ben ¼ seines Durchmessers betragen haben. Da
nun die sämmtlichen, bisher aufgezählten Um-
stände auf den Grad des Vermögens jeder
Thierart, nahe oder entfernte Gegenstände wahr-
zunehmen, Einfluſs haben, und doch diese zum
Theil völlig unbestimmt, zum Theil keiner ge-
nauen Bestimmung fähig sind, so läſst sich der
Grad jenes Vermögens aus ihnen nicht berech-
nen. Es giebt aber eine, leicht zu messende
Gröſse, nach welcher dasselbe geschätzt werden
kann, nämlich die Entfernung der Linse von
der in der Axe des Auges liegenden Stelle der
Netzhaut. In dieser Gegend der Retina müssen
beym deutlichen Sehen alle, von Einem Punkt
eines
[]Zu S. 459.
Dimensionsverhältnisse der Haupttheile des Auges in den ver-
schiedenen Classen und Familien der Wirbelthiere.
Erste Tafel.
[][]Zu S. 459.
Dimensionsverhältnisse der Haupttheile des Auges in den ver-
schiedenen Classen und Familien der Wirbelthiere.
Zweyte Tafel.
[][459] eines Gegenstandes ausgehende Strahlen sich
wieder vereinigen.
Nach dieser Voraussetzung sind in den bey-
den, zur gegenwärtigen Seite gehörigen Tafeln
die Wirbelthiere jeder Classe, deren Augen
theils von D. W. Sömmerringw), theils von
mir in Rücksicht auf die Dimensionen des
Auges untersucht sind, geordnet. Man findet
hier für jede Thierart in der ersten senkrechten
Reihe die Gröſse des, zwischen der hintern
Fläche der Linse und der Retina enthaltenen
Theils der Augenaxe in Pariser Maaſs. Die
folgenden Reihen enthalten in demselben Maaſs
den Radius des gröſsten Bogens beyder Flächen
der Linse und der Hornhaut, das Verhältniſs
der Axe der Linse und des Augapfels zu deren
Durchmessern, so wie der Sehne des gröſsten
Bogens der Hornhaut zum Durchmesser des
Augapfels, und die Gröſse dieses Bogens der
Cornea in Graden und Minuten. Diese Zahlen
geben die Belege zu dem, was im Obigen über
den Einfluſs der einzelnen durchsichtigen Theile
des Auges auf das Sehen bemerkt ist. Es er-
giebt sich zugleich daraus, daſs es vorzüglich
die Gröſse des Radius der vordern Fläche der
Linse
VI. Bd. G g
[460] Linse ist, womit der Grad des Fern- und
Nahesehens in Verhältniſs steht, daſs aber auch
viele Ausnahmen hiervon sind, in welchen sich
dieser Grad als eben so abhängig von der
hintern Krümmung der Linse und der Convexi-
tät der Cornea zeigt, oder wo die Dichtigkeit
und Mischung der Feuchtigkeiten des Auges
einen nicht weniger groſsen Antheil, als die
Formen der festen Theile desselben, an der
Brechung der Strahlen haben müssen. Jene
Zahlen können nicht auf mathematische Ge-
nauigkeit Anspruch machen. Wer mit den
Schwierigkeiten der Ausmessung des innern
Auges einigermaaſsen bekannt ist, und bedenkt,
daſs man die meisten Thiere zu dergleichen
Untersuchungen nehmen muſs, wie sie der
Zufall giebt, wird eine solche auch nicht er-
warten. Zu Vergleichungen, um allgemeine
Resultate zu ziehen, bedarf es ihrer aber auch
nicht. Indeſs habe ich keine Messungen mit
aufgenommen, in deren Richtigkeit ich Miſs-
trauen zu setzen Ursache hatte *).
Die
[461]
Die Stufenleiter der Thiere in den obigen
Tafeln gilt von der Entfernung, in welcher die
von jedem Punkt eines Gegenstandes ausgehen-
den Strahlen auf der Netzhaut wieder vereinigt
werden, die kleinern Theile des Objekts also
dem Auge deutlich erscheinen. Je kürzer diese
Ent-
*)
G g 2
[462] Entfernung ist, desto kurzsichtiger muſs das
Auge seyn. Es läſst sich zwar einwenden: eine
gröſsere Empfänglichkeit der Netzhaut für sicht-
bare Eindrücke könne ersetzen, was diesen
Eindrücken an absoluter Stärke abgeht. Allein
die reitzbarere Retina kann nur von dem Ein-
druck des Lichts und der Farben überhaupt
leichter als die weniger erregbare gerührt wer-
den; zur deutlichen Unterscheidung der Formen
und räumlichen Verhältnisse der Gegenstände
wird immer eine vollkommnere Organisation
des äuſsern Auges die erste Bedingung seyn.
Jene gröſsere Empfänglichkeit wird bey hellem
Lichte diese Unterscheidung vielmehr hindern,
als befördern. Das reitzbarere Auge vermag
nur in der Dämmerung oder in der Dunkelheit
die Gegenstände deutlich wahrzunehmen, und,
da unter diesen Umständen von fernern Gegen-
ständen keine Wirkung auf das Auge möglich
ist, so muſs es immer kurzsichtig seyn. In den
vorstehenden Tafeln nehmen daher auch die
zur Nachtzeit ihrer Nahrung nachgehenden, oder
in einem wenig erleuchteten Element lebenden
Thiere die Stellen der Kurzsichtigen ein. Nur
die Eule macht hiervon eine merkwürdige Aus-
nahme. Sie bedarf zu ihrer Lebensweise der
Presbyopie. Sie wird aber immer nur in der
Dämmerung oder beym Mondlichte Gebrauch
davon machen können, und nur zu dieser Zeit,
nicht
[463] nicht bey gänzlicher Dunkelheit, sucht sie auch
ihren Unterhalt x). Alle übrige weitsehende
Thiere hingegen leben in der freyen Luft und
am Tageslichte, und gehen bey diesem ihrer
Nahrung nach.
Nicht alle Stufen, welche die Thiere in den
obigen Tafeln einnehmen, lassen sich in der Er-
fahrung nachweisen, weil es uns hier, wie über-
haupt in der ganzen vergleichenden Lebenslehre
der Sinneswerkzeuge, zu sehr an Beobachtungen
gebricht. Soweit diese aber reichen, stimmen
sie mit der Folge in jenen Tafeln überein. So
steht in denselben das Murmelthier, dessen
Verwandten, die mäuseartigen Thiere, insge-
sammt sehr kurzsichtig und nächtliche Thiere
sind, über dem gemeinen Bär und dem Wasch-
bär. Man weiſs aber auch, daſs das Murmel-
thier am Tage seiner Nahrung nachgeht und
wegen seines guten Gesichts schwer von den
Jägern zu beschleichen ist, der Bär hingegen,
sowohl der gemeine, als der Eisbär, und der
Wasch-
G g 3
[464] Waschbär, nur ein stumpfes Gesicht hat y).
Die weitsichtigsten Thiere sind nach unsern
Tafeln der Strauſs, das Pferd, der Ochse, die
Raubvögel und der Mensch. Ueber das Gesicht
des Strauſses sind mir keine Beobachtungen be-
kannt. Es ist aber wahrscheinlich, daſs er bey
der weiten Entfernung seiner Augen von dem
Erdboden, worauf er seine Nahrung zu suchen
hat, und bey seinem Herumirren in weiten
Sandmeeren, zu den sehr weitsichtigen Thieren
gehört. Für einen hohen Grad von Pres-
byopie des Pferdes und des Ochsens kann ich
ebenfalls keine Beweise anführen. Zwey nahe
Verwandten des Pferdes, den Dsiggetai (Equus
Hemionus) und den wilden Esel (Equus Ona-
ger), kennt man aber als sehr weitsehend z).
Die Raubvögel, deren Presbyopie keinen Zwei-
fel leidet und die derselben auch nicht entbeh-
ren konnten, stehen in unsern Tafeln eine
Stufe niedriger, als der Strauſs und das Pferd.
Ihnen wird aber das Wahrnehmen entfernter
Gegenstände durch die gröſsere Reinheit der
Luft, aus welcher sie herabsehen, erleichtert.
Sie können daher mit Augen, die weniger als
die Gesichtsorgane der letztern Thiere für das
Weitsehen gebildet sind, Gegenstände in gröſsern
Entfernungen als diese erkennen. Daſs auch
das
[465] das Gesicht des Menschen, solange er dem
Naturzustande näher lebt, in sehr weite Fernen
reicht, beweisen die im vorigen Abschnitt (S.
254. dieses Bandes) angeführten Zeugnisse. Was
übrigens den Wallfisch und die Robbe betrifft,
die nach der ersten Tafel mit zu den weit-
sichtigen Säugthieren gehören, so können diese,
als Wasserthiere, mit den neben ihnen stehen-
den Landthieren freylich nicht ohne groſse Ein-
schränkung verglichen werden.
§. 2.
Schärfe des Gesichts.
Von dem Vermögen des Nahe- und Fern-
sehens ist die Schärfe des Gesichts zu unter-
scheiden, die zwar bey dem erstern wie bey
dem letztern in einem gewissen Grade statt
finden muſs, doch bey beyden einen höhern
und niedern Grad haben kann. Sie besteht in
dem genauen Wahrnehmungsvermögen aller
Theile eines Gegenstandes in Rücksicht sowohl
auf die Gestalt, als auf die Farben derselben.
Bedingung dieser Schärfe ist völlig genaue Dar-
stellung des Gegenstandes auf der Retina, wozu
erfordert wird, daſs alle, von jedem Punkt des
letztern ausgehende Strahlen sich in einerley
Punkt der Netzhaut wieder vereinigen. Eine
solche Vereinigung wurde aber, wenn das Auge
blos die Einrichtung der Camera obscura hätte,
G g 4nur
[466] nur bey denjenigen Strahlenbüscheln möglich
seyn, die in der Nähe der Augenaxe auf die
Hornhaut fallen; alle übrige würden sich schon
vor der Retina vereinigen. Wir nehmen nun
freylich auch von jedem Gegenstande nur den
Theil, welcher zunächst der Augenaxe liegt,
deutlich wahr. Allein die übrigen Theile wür-
den uns noch weniger deutlich erscheinen, als
wirklich der Fall ist, wenn nicht die concentri-
schen Schichten, woraus die Linse besteht,
nach dem Mittelpunkte dieses Körpers an Dich-
tigkeit zunähmen. Hierdurch geschieht es, daſs
die der Augenaxe zunächst einfallenden, mitt-
lern Strablenbüschel stärker, als durch eine
Linse von gleichförmiger Dichtigkeit, gebrochen
werden, und in ihrer Vereinigung früher, als
sonst geschehen würde, die Netzhaut treffen,
während die entferntern dem dichtern Mittel-
punkt vorbeyfahren und verhältniſsmäſsig weni-
ger als die mittlern Strahlen von ihrem Wege
abgelenkt werden a). So tritt eine Ausgleichung
ein, die nur gering bey dem Menschen und
den übrigen weitsehenden Thieren, welche mit
ihm eine flache Hornhaut und eine flache Linse
besitzen, weit gröſser bey den kurzsichtigen
Thieren, deren Hornhaut und Linse eine grö-
ſsere Convexität haben, ist und seyn muſs. Bey
diesen
[467] diesen enthält deswegen die Linse noch einen
Kern, und bey den Fischen sogar einen doppel-
ten Kern, der eine weit gröſsere Dichtigkeit als
die Schaale hat und durch welchen die Bre-
chung der mittlern Strahlen noch um Vieles
vermehrt wird.
Eben diesem Zwecke entspricht auch die
Gestalt des von der Retina bedeckten Hinter-
grundes des innern Auges. Bey allen Thieren,
die eine flache Crystalllinse ohne einen dichten
Kern haben, z. B. bey dem Menschen, den
Affen, dem Pferde, dem Strauſs, den Raub-
vögeln, ist die hintere Fläche der Linse in der
Augenaxe weiter als in jedem andern Punkte
von dem, diesem gegenüber liegenden Punkte
der Retina entfernt. Hingegen nimmt jene
Entfernung um so mehr ab, während die letz-
tere wächst, je kugelförmiger die Linse wird
und je mehr deren Kern nach dem Mittelpunkte
hin an Härte zunimmt. Daher ist bey den
meisten Fischen das Verhältniſs der Axe des
Augapfels gegen dessen Durchmesser das um-
gekehrte dessen, worin jene gegen diese bey
den höhern Säugthieren und den Raubvögeln
steht. Bey den kurzsichtigen Thieren der höhern
Classen nähert sich dieses Verhältniſs mehr dem
der Gleichheit. Doch giebt es auch schon unter
den Vögeln manche, die in demselben den
G g 5Fischen
[468] Fischen nahe stehen, z. B. den Storch, bey dem
ich das Verhältniſs des Durchmessers des Aug-
apfels zu dessen Axe = 1: 0,73 fand, da das-
selbe beym Capuzineraffen = 1: 1,03 ist, indem
sich zugleich die Entfernung der Linse von der
Netzhaut in der Axe des Auges gegen die
Entfernung des Randes der Linse von dem
nächsten Punkt der Retina beym Storch wie
1: 1,67, beym Capuzineraffen wie 1: 0,55 verhält.
Der Undeutlichkeit des Bildes auf der Netz-
haut, verursacht von Strahlenbüscheln, die sich
nicht auf der Retina zu Einem Punkte wieder
vereinigen, ist noch auf eine andere Art vor-
gebeugt, der ähnlich, die wir bey Ferngläsern
und Vergröſserungsgläsern anwenden. Den Rand
der Linse umgiebt der auf beyden Seiten mit
schwarzem Pigment bedeckte Ciliarkörper, und
zwischen der Hornhaut und der Linse befindet
sich die Iris, die auf ihrer hintern, von der
Traubenhaut gebildeten Wand ebenfalls mit ei-
nem solchen Pigment überzogen und zum Durch-
gange für die Lichtstrahlen mit der Pupille ver-
sehen ist.
Der Ciliarkörper ist in seiner einfachsten
Gestalt, worin er bey den Fischen vorkömmt,
nebst dem Strahlenblättchen (Zonula Zinnii)
offenbar Befestigungsorgan der Linse, Scheide-
wand
[469] wand zwischen der vordern, mit der wäſsrigen
Feuchtigkeit angefüllten Höhlung des Auges und
der hintern, welche die Glasfeuchtigkeit ein-
nimmt, und, vermöge seines schwarzen Pig-
ments, Mittel zur Absorbtion der in schiefer
Richtung nach dem Seitenrand der Linse ge-
langenden Lichtstrahlen, die sonst zurückgewor-
fen werden und die Deutlichkeit des Bildes auf
der Netzhaut vermindern würden. In den hö-
hern Classen der Wirbelthiere, wo er die, eine
so ausgezeichnete Struktur zeigenden Ciliarfort-
sätze besitzt, muſs ihm noch eine sonstige
Funktion eigen seyn. Insofern er zu der er-
wähnten Absorbtion dient, steht seine Gröſse
mit dem Verhältniſs der Cornea zur Linse und
der Gestalt beyder in Verhältniſs. Er ist in
Vergleichung mit dem Augapfel sehr groſs bey
der Robbe b) und den Eulen c), die eine groſse
Cornea bey einer fast kugelförmigen Linse ha-
ben, hingegen bey dem Menschen und einigen
Affen, deren Hornhaut einen kleinen Theil des
Augapfels ausmacht und deren Linse sehr flach
ist, kleiner als bey den mehrsten der übrigen
Thiere d).
Von
[470]
Von der hintern Wand der Iris ist es eben-
falls nicht zu bezweifeln, daſs sie vermittelst
ihres schwarzen Ueberzugs das Licht, das der
Schärfe des Sehens nachtheilig seyn würde,
absorbirt. Sowohl dieses Pigment, als das,
welches den Ciliarkörper bedeckt, ist im ganzen
Thierreiche und auch da, wo die vordere Wand
der Iris und die innere Fläche der Aderhaut
anders gefärbt sind, von schwarzer Farbe e).
Die Iris ist aber nicht blos in dieser Eigenschaft
Hülfswerkzeug beym Sehen; sie wirkt in den
höhern Classen der Wirbelthiere hierbey auch,
indem sie vermittelst einer lebendigen Thätigkeit
die Pupille nach dem Grade des einfallenden
Lichts erweitert und verengert. Bey den Säug-
thieren geschieht ihre Zusammenziehung und
Ausdehnung gleichförmig. An der Iris der
Vögel nimmt man einen steten Wechsel von
wellenförmigen Zusammenziehungen und Er-
weiterungen ihres innern Randes wahr f). Bey
den Amphibien sind die Bewegungen dieses
Organs weit schwächer. Doch fehlen sie auch
bey ihnen nicht ganz. Ich habe zwar bey
Fröschen und bey einer Testudo clausa Gmel.
nicht finden können, daſs das Licht Einfluſs
darauf hatte; auch sah Hallerg) keine Wir-
kung
[471] kung dieses Agens auf die Augen des Frosches.
Petith) bemerkte jedoch, daſs die runde Pu-
pille des Frosches sich zu einer dreyeckigen
Oeffnung zusammenzog, wenn er das Auge
desselben berührte; Röseli) beobachtete bey
der Rana bombina L eben diese Veränderung
der Pupille bey der Einwirkung des Lichts,
und nach D. W. Sömmerring’s k) Erfahrungen
am Laubfrosche ist dessen Pupille sehr ver-
engert, wenn das Thier sich in völliger Ruhe
befindet, hingegen erweitert sie sich selbst bey
verstärktem Lichte, so oft der Frosch aufgeregt
wird, erst zu einer dreyeckigen, dann zu einer
runden Oeffnung. Es giebt also eine beweg-
liche Iris bey allen Thieren, deren Ciliarkörper
wirkliche Ciliarfortsätze hat, und es ist daher
eine Verbindung zwischen dem Vorhandenseyn
dieser Theile und der Beweglichkeit der Iris
anzunehmen, welche letztere mit denselben in
der That auch einerley Gebilde ausmacht. Die
Ciliarfortsätze finden sich freylich auch bey ei-
nigen Fischen l). Es ist aber nicht ausgemacht,
ob
[472] ob nicht die Iris einiger Fische ebenfalls einige
Beweglichkeit hat *).
Auſser dem Lichte wirken auf die Iris auch
Gemüthsbewegungen, chemische Einflüsse und
andere, das Nervensystem erregende Agentien.
Die Abhängigkeit ihres Zusammenziehungsver-
mögens von Gemüthsbewegungen ist vorzüglich
sichtbar bey den Vögeln, wo sie überhaupt eine
groſse Beweglichkeit hat. Daſs sie, wie man
gesagt hat, bey diesen Thieren unter der Herr-
schaft der Willkühr stehe, ist eine unbewiesene
und unerweisliche Behauptung. Daſs sie sich
aber bey einerley Lichte bald verengert, bald
erweitert, je nachdem Furcht, Schrecken, Zorn
u. s. w. auf den Vogel Einfluſs haben, läſst sich
vorzüglich bey Papageyen leicht beobachten.
Eben diese Ursachen wirken auf sie auch bey
dem Menschen und den Säugthieren. Fonta-
na
[473]nam) sah die bey hellem Lichte sehr ver-
engerte Pupille einer Katze sich plötzlich aus-
dehnen, als das Thier heftig erschreckt wurde.
Hiervon ist es abzuleiten, daſs sich die Pupille
bey angestrengter Betrachtung naher Gegen-
stände erweitert n). Purkinjeo) versichert,
er habe durch Uebung die Fertigkeit erlangt,
ohne bestimmten Gegenstand ins Leere hinse-
hend, diese Verengerung willkührlich hervor-
zubringen. Aus seiner Beschreibung der Art,
wie er sich die Fertigkeit erworben hat, er-
hellet, daſs er sich im leeren Raum einen na-
hen Gegenstand gedacht und darauf seine Auf-
merksamkeit geheftet hat. Daſs auf solche
Weise der Wille einen Einfluſs auf die Bewe-
gung der Iris erlangen kann, ist freylich sehr
wohl möglich. Aber dieser Einfluſs ist doch
kein unmittelbarer, wie bey den eigentlichen
willkührlichen Handlungen; er geschieht nur
durch willkührliche Erregung des Affekts der
Aufmerksamkeit.
Von mechanischen Reitzungen der Iris sahen
Haller und mit ihm mehrere Andere keinen
Ein-
[474] Einfluſs auf die Iris p). Doch zieht sie sich
bey Reitzungen mit dem Skalpell allerdings
krampfhaft zusammen, obgleich freylich auf an-
dere Art als die willkührlichen Muskeln q).
Einen beständigern Einfluſs haben auf die Be-
weglichkeit dieses Theils alle Ursachen, die auf
das Gehirn, auf das sympathische System und
auf die Ciliaruerven wirken. Die Pupille er-
weitert sich sowohl bey der äuſserlichen An-
wendung, als beym innerlichen Gebrauche nar-
kotischer Substanzen, bey gastrischen Reitzen,
bey dem Wasserkopfe, dem Schlagfluſs und in
Ohnmachten. Die Wirkung, welche narkotische
Substanzen, äuſserlich angewandt, auf sie haben,
ist blos auf das damit bestrichene Auge ein-
geschränkt; die Pupille des andern Auges scheint
dabey vielmehr kleiner als gröſser zu werden r).
Verengert wird die Pupille von Entzündungen
des innern Auges, vom elektrischen Funken
und vom Galvanischen Reitz s). Sie durchläuft
verschiedene Stadien der Erweiterung und Ver-
enge-
[475] engerung vom Todeskampf an bis zum völligen
Erlöschen des Lebens t).
Die Bewegung der Iris hängt also von Rüh-
rungen der Ciliarnerven ab. Sie steht daher
mit der Vertheilung dieser Nerven in Verbin-
dung. Bey den Säugthieren, wo sie als eine
gleichförmige Ausdehnung und Zusammenzie-
hung des ganzen innern Randes dieser Haut
erscheint, vertheilen sich die Ciliarnerven auf
der letztern divergirend; bey den Vögeln hin-
gegen, wo sie wellenförmig von einer Stelle
des innern Randes der Iris zur andern fort-
geht, umfassen diese Nerven den Umfang der
letztern und bilden, indem sie sich mit einander
verflechten, auf derselben einen kreisförmigen
Plexus u).
Aber ein Lichtkegel wirkt nicht auf die
Ciliarnerven, solange er blos die äuſsere Fläche
der
VI. Bd. H h
[476] der Iris trifft v). Die Zusammenziehung der
Pupille tritt nur dann ein, wenn das Licht
durch diese in das Innere des Auges dringt.
Hier giebt es nur zweyerley Nerven, worauf
dasselbe wirken kann: den Sehenerven und die
Ciliarnerven. Man hat bisher fast allgemein
jenen für den Theil des Nervensystems ange-
nommen, welcher von dem einfallenden Lichte
unmittelbar gerührt würde, und vorausgesetzt,
die Verengerung der Pupille erfolge erst mittel-
bar durch eine Rückwirkung des von der
Rührung des Sehenerven erregten Sensorium auf
die Ciliarnerven. Die Hauptgründe für diese
Hypothese sind: die Abhängigkeit der Ausdeh-
nung und Zusammenziehung der Iris von dem
Zustande der Erregung des Sensorium und die
völlige Unbeweglichkeit derselben bey Lähmung
der Retina. Der erste dieser Gründe würde
indeſs nur dann beweisend seyn, wenn die
letztere Erfahrung allgemein gültig wäre, wel-
ches aber nicht der Fall ist. Es giebt Beyspiele
von vollkommenem schwarzem Staar, wobey die
Beweglichkeit der Iris fortdauerte w). Man hat
diese
[477] diese Fälle mit der gewöhnlichen Meinung zu
vereinigen gesucht, indem man annahm, der
Sehenerve könne seine Empfänglichkeit für Ein-
drücke von sichtbaren Gegenständen verlieren
und doch fortfahren, den Eindruck des Lichts,
wodurch die Bewegung der Iris verursacht wird,
zum Sensorium fortzupflanzen. Allein es ist
eine sehr unwahrscheinliche Voraussetzung, daſs
der Sehenerve und durch ihn das Sensorium
vom Lichte gerührt werden und doch das Be-
wuſstseyn dieser Rührung fehlen könne. Mit
der obigen Hypothese ist aber auch der Umstand
nicht zu vereinigen, daſs beym grauen Staar
die Beweglichkeit der Pupille ebenfalls noch
fortdauert, wenn nur dabey die Linse nicht mit
der Traubenhaut verwachsen, oder so ange-
schwollen ist, daſs die Bewegung der Iris durch
sie gehindert wird. Es mag hierbey immer
noch etwas Licht zur Retina gelangen, so steht
hier doch die Ursache mit der Wirkung nicht
in dem Verhältniſs, worin sie stehen müſste,
wenn die Zusammenziehung der Pupille ganz
abhängig von Reitzungen der Netzhaut wäre.
Diese Thatsache beweist hingegen, daſs der
Eindruck des Lichts auf Theile, die sich in der
hin-
w)
H h 2
[478] hintern Augenkammer befinden, die Ursache der
Zusammenziehung ist. Hier liegen aber nur die
vom schwarzen Pigment entblöſsten Ciliarfort-
sätze, worauf das Licht als solches wirken kann.
Die übrigen, hier vorhandenen Theile, mit
welchen die Iris durch Nerven in Verbindung
steht, sind mit schwarzem Pigment bedeckt und
meist auch dem Zugange des Lichts ganz entzo-
gen. Einen Durchgang des Lichts durch die
Retina und Choroidea zu den Ciliarnerven in
der Nähe des Sehenerven, wie Troxlerx)
annahm, wird Keiner einräumen, der den Bau
des Auges nicht blos beym Menschen untersucht
und sich überzeugt hat, daſs bey den mehrsten
Thieren die Choroidea eben so dick und das
Pigment derselben eben so dunkel an jener
Stelle, als an den übrigen ist. Gegen diese
Hypothese streitet auſserdem die erwähnte Fort-
dauer der Beweglichkeit des Augensterns beym
grauen Staar. Mit unserer Voraussetzung hinge-
gen ist zugleich der bisher so räthselhafte Zweck
der Ciliarfortsätze erklärt und die Frage beant-
wortet: Warum diese Fortsätze nur bey denen
Thieren, die eine bewegliche Iris haben, vor-
handen sind?
Es läſst sich gegen diese Meinung, wovon
ich das Wesentliche schon in einer frühern
Schrift
[479] Schrift y) vorgetragen habe, einwenden, und
man hat dagegen auch eingewandt: es seyen
Fälle beobachtet, wo die Iris, obgleich unbe-
weglich, doch mit den Ciliarnerven unverletzt,
die Sehenerven aber krankhaft verändert gewe-
sen wären; der Ciliarkörper liege zu versteckt
hinter der Iris und zu weit entfernt von der
Augenaxe, als daſs die Lichtstrahlen ihn er-
reichen könnten; bey einer Amaurose, die blos
das eine Auge betreffe, ziehe sich die Pupille
desselben zusammen, wenn Licht in das ge-
sunde Auge falle, sie bleibe aber unbeweglich,
wenn bey Verschlieſsung des letztern blos das
kranke Auge dem Lichte ausgesetzt sey z).
Der erste dieser Einwürfe beruhet auf einer
Angabe Zinn’s a), der es an aller Beglaubigung
fehlt. Mir ist kein Fall von Unbeweglichkeit
der Iris bey unverletzten Ciliarnerven bekannt,
und gäbe es einen solchen, so würde ich bey
den Schwierigkeiten, die eine genaue Unter-
suchung dieser zarten Nerven hat, nicht viel
Gewicht darauf legen können. Die Antwort auf
den
H h 3
[480] den zweyten Einwurf ist, daſs nur die freyen
Enden der Ciliarfortsätze vom Lichte erreicht
zu werden brauchen, und auch diese nur von
den, unter sehr schiefen Winkeln durch die
Pupille gehenden Strahlen, um die Verengerung
der letztern hervorzubringen. Einen solchen
Zutritt des Lichts zu denselben wird aber Nie-
mand, der den Bau des Auges und die Gesetze
der Verbreitung des Lichts kennt, bezweifeln
können. Die Erfahrung, von welcher der dritte
Einwurf hergenommen ist, beweist blos, daſs
die Regenbogenhäute beyder Augen in ge-
nauer Sympathie stehen, und daſs die Ciliar-
nerven eines amaurotischen Auges, dessen Pu-
pille sich nicht anders als gemeinschaftlich mit
dem Stern des gesunden Auges verengert, an
der Krankheit des Sehenerven jenes erstern in
der Unempfänglichkeit für den Eindruck des
Lichts mit Theil genommen haben muſs. Das
Weitere hierbey erklärt sich eben so befriedi-
gend bey unserer Meinung aus der analogen
Thatsache, daſs in gelähmten Gliedern die Em-
pfänglichkeit für äuſsere Reitze verloren ge-
gangen seyn kann, während Eindrücke des
Sensorium fortwährend auf sie wirken, als aus
der gegenseitigen Hypothese. Einige andere,
gegen jene Meinung erhobene Einwürfe übrigens
treffen nur die Art, wie ich sie in dem er-
wähnten frühern Aufsatze vorgetragen habe,
wo
[481] wo ich eine Rührung der Nerven des Augen-
sterns von dem, vermittelst der Ciliarfortsätze
zur hintern Fläche der Iris zurückgeworfenen
Lichte annahm. Ich glaube nicht mehr, daſs
eine solche Zurückwerfung statt findet. Die
Voraussetzung derselben ist aber auch unnöthig,
da die Ciliarfortsätze Nerven von einerley Ur-
sprunge mit denen der Iris besitzen und eine
Rückwirkung jener auf diese eben so wohl hier,
als bey vielen andern, aus einerley Stamm ent-
springenden Nervenzweigen, vorgehen kann.
Vielleicht bestätigt sich noch einst Kepler’s
Vermuthung a*), daſs die unbefestigten, in der
wäſsrigen Feuchtigkeit schwimmenden Enden
der Ciliarfortsätze Ausdehnungen und Zusam-
menziehungen äuſsern, die mit denen der Iris
gleichzeitig sind.
Welche bewegende Kraft in der Iris selber
die durch Reitzungen der Ciliarnerven verau-
laſsten Veränderungen der Form dieses Theils
hervorbringt, ist eine von Vielen untersuchte
Frage b). Die Beantwortung derselben beruhet
auf
H h 4
[482] auf der Vorfrage: Ob die Ausdehnung oder die
Zusammenziehung Wirkung einer lebendigen
Kraft jener Haut ist? *). Erwägt man alle, bey
diesen Bewegungen vorkommende Umstände, so
wird man sowohl die eine, als die andere für
eine Lebensthätigkeit annehmen müssen. Die
Erschlaffung der Iris ist weder Ausdehnung,
noch Zusammenziehung, sondern ein mittlerer
Zustand zwischen beyden. Sie erscheint in die-
sem am Leichnam nach dem gänzlichen Erlö-
schen alles Lebens, und sie hat dann eine ganz
andere, welkere Beschaffenheit als im Leben.
Ihre Ausdehnung ist gewiſs eine Wirkung der
Vitalität: denn sie geräth darin durch den Ein-
fluſs des Lichts, des elektrischen Funken, des
Galvanischen Agens und mechanischer Reitzun-
gen, also durch Einflüsse, die nicht Erschlaf-
fung
b)
[483] fung verursachen. Ihre Zusammenziehung ist
es eben so wenig: denn diese begleitet den
Starrkrampf, wo alle contraktile Organe in
Zusammenziehungen begriffen sind. Es giebt
aber nur zwey Formen der lebendigen Bewe-
gung fester Theile: Turgescenz, die mit ver-
mehrtem Zufluſs der Säfte verbunden ist, und
Verkürzung durch Verminderung der Dimensio-
nen. Die Zusammenziehung der Iris läſst sich
blos auf die letztere Form zurückführen. Ihre
Ausdehnung kann sowohl Turgescenz, als Ver-
kürzung seyn. In Verkürzung wird dieselbe
bestehen, wenn die Iris an ihrem innern Rande
ringförmige Fasern hat, die nach Art der
Schlieſsmuskeln wirken. Ich glaube nicht, daſs
alle bisherige Beobachtungen hinreichend sind,
um in dieser Sache einen entscheidenden Aus-
spruch zu thun. Für ein Anschwellen der Iris
bey ihrer Ausdehnung spricht der Grund, daſs
da, wo die Wirkungen des Lichts auf das Le-
ben am deutlichsten erscheinen, im Pflanzen-
reiche, Turgescenzen immer die Folgen von
dessen Einflusse sind. Dagegen läſst sich frey-
lich einwenden, daſs sich von den Erscheinun-
gen der Pflanzenwelt nicht unbedingt auf die
des Thierreichs schlieſsen läſst. Doch ist we-
nigstens der Einwurf nicht gültig, daſs sich nach
einigen Erfahrungen kein vermehrter Andrang
des Bluts zu den Gefäſsen der Iris bey der
H h 5Aus-
[484] Ausdehnung derselben bemerken läſst c). Findet
hierbey eine Turgescenz statt, so ist es wohl
nicht rothes Blut, sondern farbenloses Serum,
was der Iris stärker zuflieſst. Die Annahme
einer Zusammenziehung der Iris bey ihrer Aus-
dehnung durch ringförmige Fasern, nach Art
der Schlieſsmuskeln, scheint durch die Beob-
achtungen vieler der ersten Anatomen gerecht-
fertigt zu werden. Es fehlt indeſs der Beweis,
daſs die von ihnen wahrgenommenen Fasern
wahre Muskelfasern waren, ein Beweis, der
sich nur aus dem Vorhandenseyn der den or-
ganischen Elementen der Muskelfasern eigenen
Struktur an den Elementartheilen jener Fasern
führen läſst. Ich fand diese Bildung an Fasern
der Iris des Thurmfalken d). Allein bey der
starken Vergröſserung, deren ich mich dabey
bedienen muſste, war es mir nicht möglich, zu
bestimmen, ob die Theilchen, die ich sahe, ge-
raden oder ringförmigen Fasern angehörten.
Von der Form der Iris und ihrer Bewe-
gungsart hängen die Gestalt und die Verände-
rungen der Pupille ab. Es läſst sich eine vier-
fache Verschiedenheit dieser Oeffnung anneh-
men. Bey den meisten Thieren hat sie eine
runde
[485] runde Gestalt. Bey den Thieren des Katzenge-
schlechts und dem Crocodil ist sie ebenfalls im
Zustande der Erweiterung rund; bey ihrer Ver-
engerung aber verwandelt sie sich in eine ver-
tikale Spalte. Die Wiederkäuer, die Einhufer,
in minderm Grade auch einige Nagethiere, z. B.
das Eichhörnchen, und die Wallfische haben
eine länglichrunde Pupille, deren gröſsere Axe
horizontal liegt. Eckig ist sie im Zustande der
Verengerung bey den Fröschen und Kröten.
Man hat eine Beziehung dieser verschiedenen
Gestalten auf die Lebensweise der Thiere ange-
nommen e); man hat behauptet, die horizontal-
ovale Pupille sey ein Charakter der Tages-
thiere, unter welchen die Wiederkäuer und
Einhufer die oberste Stelle einnehmen, die
perpendikulär-ovale ein Charakter der Nacht-
thiere, deren Reihe mit dem Katzengeschlecht
anfange f). Ich zweifele zwar nicht an einer
Verbindung der Form und Bewegung des Au-
gensterns mit der Form und den Lebensverhält-
nissen des ganzen Organismus. Ich glaube aber
nicht mit Porterfield, daſs die Pupille senk-
recht bey der Katze gespalten ist, weil dieses
Thier mehr aufwärts als seitwärts zu sehen
bestimmt ist, horizontal bey den Wiederkäuern
und
[486] und Einhufern, weil deren Blicke mehr nach
den Seiten als aufwärts gerichtet seyn sollen.
Alle Raubthiere haben eben so sehr rechts und
links, als oberwärts zu spähen, um ihre Beute
zu entdecken und zu verfolgen; die Blicke der
Gemse und des Steinbocks müssen, so oft diese
Thiere steile Felsen erklimmen, mehr aufwärts
als nach den Seiten gerichtet seyn. Eine Be-
ziehung der vertikalen und horizontalen Pupille
auf das Sehen in der Dunkelheit und beym
Lichte scheint mir ebenfalls nicht statt zu fin-
den. Die meisten Thiere des Katzengeschlechts
rauben so gut am hellsten Mittage als um
Mitternacht; für das Pferd, den Esel, den Och-
sen u. s. w. ist der Tag um nichts mehr die
Zeit des Aufsuchens der Nahrung als für die
Affen, den Bär, den Hund u. s. w. Das Wahre
ist, daſs alle Säugthiere eine, der Verengerung
zu einer engen Spalte fähige Pupille haben, die
im vollsten Sonnenlichte, oder auf Ebenen, wo
ihre Augen einem blendenden, reflektirten Lichte
ausgesetzt sind, ihre Nahrung suchen müssen.
Die Thiere des Pferdegeschlechts und das Camel
leben ursprünglich in schattenlosen Steppen und
Sandwüsten, viele Wiederkäuer der kalten Zo-
nen auf Eis- und Schneefeldern, die meisten
Katzenarten zwar an schattigen Plätzen, aber
in sonnige Gegenden nach Beute hinblickend.
Hingegen rund ist die Pupille bey den Mäuse-
arten,
[487] arten, den Fledermäusen, dem Igel, dem Maul-
wurf und dem Dachs, deren Augen für die
Dunkelheit bestimmt sind, und rund ist sie auch
bey dem Menschen und den Affen, die das
volle Sonnenlicht nicht ohne Blendung ertra-
gen. Uebrigens steht die Gestalt der Pupille
mit der Gestalt des ganzen Augapfels und des-
sen Bewegung in Verbindung. Sie ist der
Queere nach oval bey den Wiederkäuern, wie
der ganze Augapfel dieser Thiere, der sich
nur langsam nach den Seiten bewegen kann g).
Bey den Vögeln ist die Pupille rund, wie
bey denjenigen Säugthieren, deren Augen sehr
empfindlich gegen das Licht sind. Die Vögel
sind aber unter allen Thieren gerade die, welche
das blendendste Licht müssen ertragen können,
um ihre Nahrung aufzusuchen und ihren Raub
zu erbeuten. Ihre Augen sind dem von Schnee-
und Eisfeldern, von dem weiſsen Sande bren-
nender Wüsten, oder von dem Spiegel der
Meere, Seen und Flüsse zurückgeworfenen
Lichte beständig ausgesetzt. Viele Vögel fliegen
selbst der Sonne gerade entgegen. Sie müssen
dieses heftige Licht lange und ununterbrochen
ertragen, und immer dabey ein weites Sehefeld
behalten, um ihre Beute nicht aus den Augen
zu verlieren. Diese Zwecke waren nicht durch
einen
[488] einen höhern Grad von Verengerung der Pupille
zu erreichen. Jenen Thieren gab die Natur
ein Organ, das ihnen als durchsichtiger Schirm
bey der Einwirkung des Lichts dient, den
schwarzen Fächer (Pecten plicatum), eine dünne
Haut, die gleich einem Fächer der Länge nach
in mehr oder weniger zahlreiche Falten zu-
sammengelegt, bey den meisten Vögeln rauten-
förmig, mit der Basis unmittelbar an der Ein-
trittsstelle des Sehenerven, mit der entgegen-
gesetzten Seite entweder auch unmittelbar, oder
durch einen dünnen Fortsatz an der hintern
Fläche der Linse befestigt, von schwärzlicher
Farbe und im ausgedehnten Zustande durch-
sichtig ist. Bey allen Vögeln hat dieser Theil
eine solche Stellung, daſs er einen Theil der
untern und hintern, von der Netzhaut bedeck-
ten Fläche des innern Auges beschattet. Das
Verhältniſs seiner Länge und Höhe gegen die
Axe und den Durchmesser der hinter der
Linse liegenden Höhlung des innern Auges
richtet sich nach dem Grade des Lichts, dem
die Vögel ausgesetzt sind. Am kleinsten ist er
in jener Beziehung bey den Eulen, am gröſsten
bey denjenigen Tagesvögeln, die ihre Nahrung
im Wasser suchen, während dessen Oberfläche
das Sonnenlicht zurückwirft, z. B. den Mewen.
Bey Larus canus ist sein oberer Rand so breit
als die Linse, mit der er unmittelbar zusam-
men-
[489] menhängt. Nicht ganz so breit in Vergleichung
mit dieser, doch auch mit einem groſsen Theil
derselben zusammenhängend, ist er beym Storch.
In dem Auge des letztern fand ich auſser dem
Fächer noch ein zweytes, diesem verwandtes
Organ, eine, parallel mit demselben durch den
Glaskörper von der Linse zur Retina gehende,
cylindrische Falle der Ciliarfortsätze. Per-
raulth) glaubte, die Farbe des Fächers sey
desto schwärzer, je höher die Vögel fliegen und
je weiter ihr Gesicht reicht. Mir schien frü-
her ebenfalls dieser Satz allgemein gültig i).
Später habe ich indeſs mehrere Beobachtungen
gemacht, die nicht damit übereinstimmen. Ich
fand z. B. den untern Theil des Fächers von
sehr wenig schwarzer, fast grauer Farbe bey
Falco aeruginosus, Corvus Cornix, Corvus glan-
darius, Ardea stellaris und Picus viridis, also
bey Vögeln aus ganz verschiedenen Familien
und von sehr verschiedenem Bau. Der Fächer
entfaltet sich übrigens an seinem mittlern Theil,
wenn man den Augapfel in dessen Axe gelinde
zusammendrückt.
Ich halte nach den angeführten Thatsachen
den schwarzen Fächer für eine Art von Schleyer,
durch
[490] durch welchen der Vogel auch bey einem Lichte,
wodurch sonst das Auge zum Sehen unfähig
gemacht werden würde, zu sehen vermögend
ist. Dieser Zweck war nicht durch die Nick-
haut zu erreichen, welche durchsichtig wie
die Hornhaut ist und das Licht nur bricht,
ohne dessen Stärke bedeutend zu vermindern.
Wäre sie von schwärzlicher Farbe, so würde
zwar der Eindruck des Lichts durch sie ge-
schwächt, aber auch das Vermögen, mit der
einen Hälfte des Auges die Gegenstände in vol-
ler Erleuchtung zu sehen, während die andere
der unmittelbaren Einwirkung des Lichts aus-
gesetzt ist, verloren gegangen seyn. Man wird
übrigens voraussetzen müssen, daſs immer, wenn
ein deutlicheres Sehen durch den Fächer statt
finden soll, eine Entfaltung desselben vorherge-
hen muſs, die nur durch eine Turgescenz die-
ses Organs hervorgebracht werden kann. Ohne
Durchsichtigkeit würde er bloſses Mittel zur
Absorbtion des Lichts seyn k), zu einem Zweck,
wozu es keines so künstlichen Baus bedurft
hätte, und wobey der hinter ihm liegende Theil
der Netzhaut ganz unfähig zum Sehen seyn
würde.
In
[491]
In einem ähnlichen Verhältniſs gegen das
Licht wie die Augen der Vögel stehen die
Sehewerkzeuge mehrerer Amphibien aus der
Familie der Eidechsen. Diese leben gleichfalls
an sehr sonnigen Plätzen und sind noch weniger
als die Vögel durch bewegliche Augenlieder und
eine bewegliche Pupille gegen den Eindruck
eines heftigen Lichts geschützt. Bey Lacerta
vulgaris, Lacerta Monitor und Lacerte Iguana
ist daher ebenfalls ein vollständiger schwarzer
Fächer l), und beym Crocodil ein Rudiment
desselben, ein runder schwarzer Fleck auf der
Eintrittsstelle des Sehenerven m), vorhanden.
Auf eine einfachere Weise, aber weit un-
vollständiger, ist die Funktion des schwarzen
Fächers bey den wirbellosen Thieren durch Be-
deckung der Endigung des Sehenerven mit ei-
nem farbigen Pigment ersetzt. Diesen Ueberzug
giebt es, wie schon oben bemerkt ist, in den
zusammengesetzten Augen der Insekten und im
Auge der Sepien. In dem letztern fand Cu-
viern) auf der inwendigen Fläche der Netz-
haut
VI. Bd. I i
[492] haut eine braune Substanz, bey’ deren Dicke
ihm das Sehen der Sepien ein schwer zu lösen-
des Räthsel ist. Nach meinen Untersuchungen
besteht diese Materie aus Fäden, die dicht an
einander liegend auf der innern Wand der
Retina senkrecht stehen und nur an ihren
äuſsern Enden mit einem braunen Pigment be-
deckt sind. Wahrscheinlich sind diese Fäden
Fortsätze der Netzhaut, und bey dieser Voraus-
setzung ist es erklärbar, wie das Licht doch
auf die letztere wirken kann. Für alle Thiere,
deren Netzhaut einen solchen Ueberzug hat, ist
aber helles Licht Bedingung des Sehens, und es
giebt für sie keinen Unterschied der Farben.
Eine Wirkung von entgegengesetzter Art
wie der schwarze Fächer und dieses Pigment
verursacht die glänzende Tapete, die in dem
Auge mehrerer Wirbelthiere hinter der Netz-
haut liegt. Bey dem Menschen, den Affen,
dem Känguruh o), den Nagethieren, den meisten
Vögeln und Fischen, den Schildkröten, den
mehrsten Eidechsen p) und den Fröschen ist
der Zwischenraum zwischen dieser Haut und
der Choroidea allenthalben mit einem schwarzen
oder schwarzbraunen Pigment überzogen. Hin-
gegen
[493] gegen bey den Raubthieren, den Wiederkäuern,
den Einhufern, mehrern Thieren der Schweine-
familie, den Robben, den Wallfischen, den
Eulen, dem Crocodil q), den Schlangen und
mehrern Knorpelfischen, z. B. dem Stöhr, den
Hayen und Rochen, fehlt dieses Pigment ent-
weder ganz, oder doch auf der Seite im Hin-
tergrunde des Auges, die verschieden von der
Eintrittsstelle des Sehenerven ist, und das un-
ter dem Namen der Ruyschischen Haut be-
kannte Blatt der Choroidea liegt hier unbedeckt
und mit metallischen Farben schimmerd. Bey
dem Ochsen und andern Wiederkauern lassen
sich alle Farben des Regenbogens an dieser
Tapete unterscheiden; ihre Hauptfarbe ist
jedoch blau oder grün. Bey den übrigen Thie-
ren ist sie am häufigsten gold- oder silberfarben.
Bey den Säugthieren erstreckt sie sich nur über
einen Theil der Choroidea, hingegen bey den
Schlangen, dem Stöhr, den Rochen und Hay-
fischen über den ganzen, von der Retina be-
deckten Hintergrund des Auges. Zinnr) glaubte,
nach seinen Beobachtungen annehmen zu müs-
sen, der Glanz dieser Tapete sey um so leb-
hafter, je besser das Thier bey Nacht sehe.
Es lassen sich aber die mäuseartigen Nagethiere,
der
I i 2
[494] der Igel und der Maulwurf als Beyspiele von
Thierarten anführen, die sich im Dunkeln als
sehend benehmen und deren Augen doch die
Tapete fehlt. Man wird zwar erwiedern kön-
nen, daſs es ungewiſs ist, ob diese Arten nicht
mehr durch andere Sinne, als durch das Ge-
sicht, in der Finsterniſs geleitet werden. So-
lange es uns aber hierüber an Gewiſsheit fehlt,
kann die Gegenwart der Tapete nicht für eine
nothwendige Bedingung des nächtlichen Sehens
gelten; es läſst sich nur voraussetzen, daſs die-
ses Sehen durch sie erleichtert wird, indem sie
gleich einem Hohlspiegel das von den äuſsern
Körpern ausströhmende Licht auf den in der
Augenaxe liegenden Gegenstand zurückwirft.
Diese Reflektion wird noch unterstützt durch
den, bey vielen Thieren und auch bey manchen,
welchen die Tapete fehlt, metallisch glänzenden
Ueberzug der vordern Fläche der Iris. In dem
Zurückstrahlen des Lichts von beyden Theilen
liegt gewiſs mit eine Ursache des nächtlichen
Leuchtens der Augen mehrerer Thiere. Daſs
diese Erscheinung aber zum Theil auch phos-
phorischer Art ist, muſs ich nach dem, was
ich im 5ten Bande der Biologie (S. 118 fg.)
darüber gesagt habe, der von Rudolphis)
dagegen erhobenen Einwürfe ohngeachtet, für
wahrscheinlich halten, da die Fälle von Men-
schen,
[495] schen, die unter gewissen Umständen das, ge-
wiſs nicht blos von Zurückstrahlen abzuleitende
Vermögen besaſsen, im Finstern zu sehen, nur
aus einem phosphorischen Glanze ihrer Augen
erklärbar sind *).
Hier würde noch der Ort seyn, die Mittel
zu untersuchen, durch welche die Zerstreuung
der Farben im Auge verhindert ist. Allein
bey der sehr geringen Summe dessen, was wir
von dem Grund der achromatischen Eigenschaft
strahlenbrechender Materien wissen, läſst sich
hierüber nichts Gewisses bestimmen. Man hat,
durch eine von Euler herrührende Theorie
verführt, die Zusammensetzung des Auges, vor-
züglich der Crystalllinse, aus Substanzen von
verschiedenem Brechungsvermögen für die Ur-
sache der achromatischen Beschaffenheit dieses
Organs gehalten. Spätere Erfahrungen aber
haben bewiesen, daſs schon blos eine bestimmte
Mischung einer durchsichtigen Materie die Far-
benzerstreuung verhindern kann. Solange nicht
aus-
I i 3
[496] ausgemacht ist, ob nicht die durchsichtigen
Theile des Auges eine solche Mischung haben,
können Untersuchungen über diesen Gegenstand
zu keinen sichern Resultaten führen.
§. 3.
Einrichtungsvermögen des Auges nach den verschiedenen
Entfernungen der Gegenstände.
Bey allen den bisher aufgezählten Hülfs-
mitteln würde doch völlige Schärfe des Sehens
nur in der Entfernung des Gegenstandes mög-
lich seyn, wo die von jedem Punkte desselben
ins Auge fallenden Strahlen sich wieder zu
Einem Punkte vereinigen, wenn eine solche ge-
naue Vereinigung nothwendige Bedingung des
deutlichen Sehens wäre, oder wenn es nicht
Mittel gäbe, wodurch das Brechungsvermögen
der durchsichtigen Theile des Auges nach den
Entfernungen der Gegenstände abgeändert würde.
Wir kommen hiermit auf eine Materie, die so
reichhaltig und zugleich so schwierig ist, daſs
wir sie zu erschöpfen bey den Grenzen unsers
Werks nicht versprechen dürfen, auf das
Problem von den innern Veränderungen des
Auges beym Nahe- und Fernsehen. Die Lö-
sung dieser Aufgabe beruhet zum Theil auf
subjektiven Erfahrungen. Wir werden deshalb
unsere Untersuchungen beym menschlichen Auge
anfangen müssen.
Der
[497]
Der eigentliche Sinn der Aufgabe ist: Wie
es geschieht, daſs wir einen und denselben Ge-
genstand in einer Entfernung, wobey die von
jedem einzelnen Punkt desselben auf die Horn-
haut fallenden Strahlen nicht für parallel gelten
können, doch bey bedeutenden Veränderungen
dieser Entfernung mit gleicher Deutlichkeit er-
blicken? Wird der Gegenstand über das Maxi-
mum dieser Entfernung vom Auge weggerückt,
so werden alle Strahlen, die von jedem Punkt
desselben ausgehen, zwar nicht genau auf der
Netzhaut, sondern vor derselben zusammentref-
fen; aber die Zunahme des Abstands ihres Ver-
einigungspunkts von der Retina wird sehr ge-
ring seyn und mit zunehmender Entfernung
des Gegenstandes immer geringer werden, weil
sich die Strahlen bey dieser Zunahme dem völ-
ligen Parallelismus immer mehr nähern. Wird
hingegen das Objekt von jenem Maximum aus
dem Auge zugerückt, so kommen die Strahlen
hinter der Retina zusammen, und bey zuneh-
mender Näherung des Gegenstandes entfernt sich
ihr Vereinigungspunkt von der Netzhaut in
einer weit stärkern Progression als im erstern
Falle t).
Aber
I i 4
[498]
Aber was heiſst völlige Deutlichkeit beym
Sehen? Die unvollständige Beantwortung dieser
Frage ist eine Quelle vieler Irrthümer in der
Lehre vom Sehen gewesen Soviel lehrt die
Erfahrung jedes Augenblicks, daſs wir zur Zeit
immer nur Einen physischen Punkt völlig scharf
begrenzt und in seiner lebhaftesten Farbe wahr-
nehmen, und daſs die Entfernung, worin wir
ihn betrachten müssen, um ihn in der schärf-
sten Begrenzung und in der lebhaftesten Farbe
zu erblicken, desto engere Schranken hat, je
kleiner derselbe ist. Rücken wir ihn über diese
Entfernung hinaus vom Auge weg, so erschei-
nen sein Umriſs und seine Farbe immer nebli-
ger; er flieſst, wenn er an mehrere gleichartige
Punkte auf einerley Linie oder Ebene grenzt,
erst mit den nächsten und dann mit den ent-
ferntern zusammen; weiterhin erscheint die
ganze, von solchen Punkten bedeckte Linie oder
Ebene als ein einziger Punkt, und endlich ver-
schwindet auch diese dem Auge. Die näm-
liche Abnahme der Schärfe des Umrisses und
der Lebhaftigkeit der Farbe tritt ein, wenn wir
den Punkt von der erwähnten Entfernung an
dem Auge immer mehr nähern; nur ver-
schwindet er hierbey, ohne mit den benach-
barten Punkten zu einem einzigen zusammen-
zuflieſsen.
Diese
[499]
Diese Thatsachen sind ohne Annahme inne-
rer Veränderungen des Auges blos aus der Vor-
aussetzung erklärbar, daſs es zu einer gewissen
Breite des deutlichen Sehens nicht des Zusam-
mentreffens aller Strahlen von jedem mathemati-
schen Punkt eines Gegenstandes in einem sol-
chen Punkt auf der Netzhaut bedarf. Eine
Vereinigung dieser Art würde selbst bey dem
vollkommensten Bau des Auges unmöglich seyn.
Sie ist auch von Keinem derer, welche die
Gesetze des Sehens zu bestimmen gesucht haben,
angenommen worden; es läſst sich im Gegen-
theil beweisen, daſs eine gewisse Breite des
Vereinigungspunkts der Deutlichkeit des Sehens
keinen Eintrag thut u). Nun aber giebt es kein
Mittel, zu bestimmen, ob die Veränderungen
dieser Breite innerhalb der Grenzen des deut-
lichen Sehens so groſs sind, daſs das letztere
aufgehoben seyn würde, wenn nicht in der
Organisation des Auges Veränderungen einträten,
wodurch jene Veränderungen beschränkt wür-
den. Es läſst sich daher blos aus den Bre-
chungsgesetzen der Lichtstrahlen die Nothwen-
digkeit solcher Veränderungen des Auges nicht
beweisen, und es frägt sich nur, ob sonstige
Gründe dafür sprechen.
Man
I i 5
[500]
Man hat gesagt: Jeden überzeuge das
schmerzhafte Gefühl, das mit der anhaltenden
Besichtigung feiner Gegenstände verbunden ist,
von einer Anstrengung des Auges, welche der
von angestrengter Muskelbewegung herrühren-
den Empfindung ähnlich sey; hieraus lasse sich
auf innere Veränderungen des Auges beym
Nahesehen schlieſsen. Diese Thatsache findet
aber schon eine hinreichende Erklärung in der
Schwierigkeit, einen kleinen und nahen Gegen-
stand in die Axen beyder Augen zu bringen
und darin festzuhalten, und in dem Andrange
des Bluts nach dem Auge, einer Congestion,
die jedesmal eintritt, so oft wir die Empfäng-
lichkeit eines Sinnesnerven für einen gewissen
Reitz willkührlich über ihre gewöhnliche Grenze
erhöhen.
Wir sehen, sagt man weiter, einen Gegen-
stand nur dann so deutlich, als es dessen Ent-
fernung vom Auge zuläſst, wenn wir ihn ins
Auge fassen; jeder andere, der hinter oder vor
ihm liegt, erscheint uns hierbey unvollkommen
begrenzt und neblig v). Dieses Faktum ist aber
ebenfalls aus andern Gründen erklärbar, die
zum Theil schon von De la Hirew) ange-
führt, von den Vertheidigern der gegenseitigen
Mei-
[501] Meinung aber meist unbeachtet geblieben sind.
Nämlich:
1) Wir nehmen immer nur den, gerade in
der Augenaxe befindlichen Punkt deutlich wahr.
Jedem andern, der vor oder hinter diesem ge-
sehen wird, geht die Augenaxe vorbey; er
würde sonst denselben bedecken, oder davon
bedeckt werden. Ein solcher muſs also schon
deswegen undeutlich erscheinen.
2) Wir besitzen das Vermögen, die Empfäng-
lichkeit der Retina für den Eindruck von Strah-
len, die von einem gewissen Punkt kommen,
willkührlich zu erhöhen, wobey sie für die
Einwirkung anderer Strahlen unempfänglicher
wird. Ein ähnliches Erhöhungsvermögen findet
auch bey allen übrigen Sinnesorganen statt.
Ohne dasselbe würden wir nicht können, was
uns doch möglich ist, von Gegenständen, die
so entfernt sind, daſs die von ihnen kommen-
den Strahlen für parallel gelten können, und
daſs keine Aenderung in den brechenden Häu-
ten und Flüssigkeiten des Auges ihrer Undeut-
lichkeit abhelfen kann, uns durch schärferes
Ansehen ein bestimmtes Bild zu verschaffen.
5) Die Pupille verengert sich bey der Be-
trachtung naher, und erweitert sich beym Sehen
ferner Gegenstände. Sie hat innerhalb der
Gren-
[502] Grenzen des nicht parallelen Auffallens der
Strahlen auf das Auge für jede bestimmte Ent-
fernung eines Objekts einen bestimmten Durch-
messer. Bey einem Abstand des Gegenstandes
von einigen Ellen hört ihre Erweiterung, und
bey einer zu groſsen Nähe desselben ihre Zu-
sammenziehung auf. Im letztern Fall entsteht
selbst wieder Erweiterung x). Olbers fand
zwar diese Veränderungen geringer, als seiner
Meinung nach der Fall seyn müſste, um mit
De la Hirey), Le Roiz) und Hallera)
blos in ihnen das Mittel suchen zu dürfen,
wodurch die Deutlichkeit des Sehens in ver-
schiedenen Entfernungen erreicht wird *). Allein
sie würden nur dann hierzu nicht hinreichen,
wenn das Auge ganz die Einrichtung der Ca-
mera
[503] mera obscura hätte. Zwischen jenem und dieser
sind aber die wichtigen Unterschiede, daſs die
Lichtstrahlen auf die Linse der Camera obscura
unmittelbar aus der Luft und ungebrochen, auf
die des Auges hingegen aus der wäſsrigen Flüs-
sigkeit und erst nach vorhergegangener Bre-
chung auffallen; daſs eine Ebene die Bilder der
Camera obscura, eine hohle, kugelförmige Flä-
che die des Auges auffängt, und daſs in dem
letztern vor der Linse nicht nur die bewegliche
Pupille liegt, sondern daſs es hier auch die
Ciliarfortsätze giebt, deren Enden vielleicht sich
gemeinschaftlich mit der Iris ausdehnen und
zusammenziehen. Die Folgen dieser Verschie-
denheiten lassen sich schwerlich durch Rech-
nung bestimmen. Die Veränderungen des Ge-
sichts bey der widernatürlichen Erweiterung der
Pupille, sowohl der krankhaften, als der künst-
lichen, die von der Anwendung des Hyoscya-
mus, der Belladonna u. s. w. entsteht, beweisen
aber, daſs der Iris eine wichtige Funktion beym
Nahe- und Fernsehen zukommen muſs. Es
dauert hierbey das Vermögen des Fernsehens
fort, während das Vermögen, nahe Gegenstände
deutlich zu erkennen, aufgehoben ist b), und
die
[504] die Gegenstände erscheinen dabey kleiner, als
im gesunden Zustande c).
4) Die Ausdehnung und Verengerung der Pu-
pille wird noch unterstützt durch eine gleich-
mäſsige, automatische Zusammenziehung und
Erweiterung der Augenlieder, und diese Bewe-
gungen in Verbindung mit dem erwähnten Ver-
mögen, die Empfänglichkeit der Netzhaut für
einen bestimmten Gesichtseindruck zu erhöhen,
scheinen mir zur Erklärung der obigen That-
sache hinreichend.
Als ein dritter Grund für die Annahme
innerer Veränderungen des Auges beym Nahe-
und Fernsehen ist der Umstand geltend ge-
macht, daſs uns, nach anhaltender und ange-
strengter Betrachtung eines Gegenstandes in einer
bestimmten Entfernung, Objekte in andern Ent-
fernungen anfangs undeutlich erscheinen, und
daſs eine Erhohlung und Accommodation des
Auges nöthig ist, um uns dieselben deutlich
darzustellen d). Diese Thatsache bedarf aber
keiner andern Ableitungsgründe als der Erfah-
rungs-
[505] rungssätze, daſs mit angestrengtem Nahesehen
immer eine starke Congestion der S[e]ite zum
Auge, besonders zur Iris, verbunden ist, wo-
durch die zum deutlichen Sehen nöthige Ver-
änderung der Pupille erschwert wird, und daf,
nach jeder erhöhten Thatigkeit eines Theils,
der dem sensitiven Leben dient, erst ein Zu-
stand der Abspannung und Erhohlung eintreten
muſs, bevor dieser Theil wieder zu einer an-
dern Thätigkeit fähig ist.
Porterfielde) gab einen Beweis für die
Modifikation der innern Theile des Auges nach
der Verschiedenheit der Entfernung des Objekts,
der den Schein geometrischer Strenge zu haben
scheint und gegen den auch nichts einzuwenden
seyn würde, wenn die Erfahrungen, worauf
derselbe beruht, richtig wären. Er behauptet,
daſs, wenn man mit dem einen Auge durch
zwey Oeffnungen eines Kartenblatts, die in ge-
ringerer Weite, als der kleinste Durchmesser
der Pupille ausmacht, von einander entfernt
sind, einen Gegenstand doppelt sieht, während
das Auge einer andern Entfernung als dem
Abstande dieses Objekts angepaſst ist, und die
eine Oeffnung verschlossen wird, das Bild auf
der Seite dieser Oeffnung verschwindet, falls der
Abstand des Gegenstandes mehr beträgt, als
die
[506] die Entfernung, worauf das Auge eingerichtet
ist, auf der entgegengesetzten Seite, falls jener
Abstand innerhalb dieser Entfernung liegt.
Porterfield hat diese Erfahrung durch geo-
metrische Construktionen erläutert, die allerdings
zeigen, daſs in beyden Fällen zwey Bilder des
Gegenstandes entstehen müssen, wovon sich das
einfache Bild im erstern Falle hinter, im letz-
tern vor der Netzhaut befindet. Nach meinen
Versuchen ist indeſs die Erfahrung selber kei-
neswegs so zuverläſsig, wie sie Porterfield
angiebt. Nur ein Gegenstand, der nicht breiter
ist, als der Zwischenraum der beyden Oeff-
nungen, wodurch man ihn betrachtet, erscheint
doppelt, und diese Erscheinung tritt nur dann
ein, wenn man ihn gegen eine helle Fläche,
oder bey einer gewissen Erleuchtung so hält,
daſs er mit jenem Zwischenraum in der Axe
des Auges liegt, und daſs er über die Grenze,
wo die auſsersten, von ihm kommenden Strah-
len sich auf der Netzhaut vereinigen, dem Auge
genähert, oder von demselben weggerückt wird.
Auf dieser Grenze erblickt man nur ein ein-
faches Bild. Je näher er von derselben dem
Auge kömmt, desto weiter entfernen sich die
beyden Bilder von einander. Sehr nahe dem-
selben verschwinden sie. Ueber die Grenze
hinaus bleibt für mein Auge in jeder Entfernung
ein einfaches Bild, wenn der Gegenstand nicht
leuch-
[507] leuchtend ist. Ein leuchtender Punkt erscheint
mir wieder doppelt. Bey einer convexern
Hornhaut und einer weitern Pupille, als die
meinigen sind, tritt auch bey einem dunkeln
Gegenstand unter diesen Umständen Verdoppe-
lung ein f). Das eine Bild ist immer deutlicher
als das andere, wenn die eine Oeffnung näher
der Augenaxe als die andere liegt. Jenes wird
durch die Strahlen, welche durch die erstere
Oeffnung gehen, das andere durch die, welche
durch die zweyte Oeffnung in schiefer Richtung
auf das Auge fallen, hervorgebracht. Beym
Verschlieſsen der einen Oeffnung scheint mir
immer das nämliche Bild zu verschwinden, ich
mag vor dem Versuch einen nähern oder fer-
nern Punkt fixiren, wenn die Stellung des Aug-
apfels, der Oeffnungen und des Gegenstandes
unverändert bleibt und das Licht einerley Fall
auf den Gegenstand, die Oeffnungen und das
Auge behält. Es ist aber unmöglich, beym
Verschlieſsen der einen Oeffnung den Augapfel
ganz unverrückt zu halten. Von der Bewegung
desselben entstehen Anomalien in dem Erfolg
dieses Versuchs, wodurch Porterfield’s Er-
fahrungen ganz unzuverläſsig gemacht werden.
Wenn
VI. Bd. K k
[508] Wenn übrigens Porterfield zum Gelingen des
Versuchs etwa verlangt hat, man solle während
demselben das Auge auf die Bilder und zu-
gleich auf einen nähern oder entferntern Gegen-
stand richten, welches sich aus seinen Worten
nicht deutlich ergiebt, so ist es eine noch
gröſsere Unmöglichkeit, dieser Forderung Ge-
nüge zu leisten, als den Augapfel immer un-
beweglich zu halten, da allein schon das un-
verwandte Betrachten der Bilder alle Thätigkeit
des Auges in Anspruch nimmt.
Porterfieldg) beruft sich zur Begrün-
dung seiner Meinung noch auf einen zweyten
Versuch. Wenn man, sagt er, einen Gegen-
stand mit beyden Augen doppelt sieht, weil
dessen Entfernung kleiner oder gröſser ist, als
die eines andern Gegenstandes, auf welchen die
Augen gerichtet sind, so verschwindet nach
Verschlieſsung des einen Auges das eine Bild
im ersten Falle auf der entgegengesetzten, im
zweyten auf der gleichnamigen Seite des offe-
nen Auges. In dieser Erfahrung ist aber gar
nichts enthalten, was für innere Veränderungen
des Auges beym Nahe- und Fernsehen spricht.
Es läſst sich weiter nichts damit beweisen, als
was sich von selber versteht, daſs beym Sehen
auf
[509] auf nahe und ferne Gegenstände die Richtung
der Axen beyder Augen sich verändert.
Einen andern Beweis für die Einrichtung
des innern Auges nach dem Abstande des Ge-
genstandes hat man von dem Beyspiel der
Thiere hergenommen, die sowohl in der Luft
als im Wasser leben. Man hat vorausgesetzt,
das Auge derselben sey zum Sehen in beyden
Elementen gebauet, und es müsse beym Ueber-
gang aus dem einen in das andere eine innere
Veränderung in demselben eintreten. Was man
aber hierbey annahm, ist von Niemandem be-
wiesen. Es ist im Gegentheile wahrscheinlich,
daſs die Thiere, deren Augen für das Sehen
unter dem Wasser gemacht sind, nur ein
stumpfes Gesicht in der Luft, und die Land-
thiere kein scharfes Gesicht unter dem Wasser
haben. Man weiſs z. B. aus Péron’s h) Er-
zählung, daſs die Phoca proboscidea Per. auſser-
halb dem Wasser die Gegenstände nur ganz in
der Nähe unterscheiden kann. Zum Schnabel
der Wasservögel, die untertauchend sich ihre
Nahrung hohlen, würden nicht so groſse Zweige
des fünften Nervenpaars gehen, wie wirklich
der Fall ist, wenn diese Thiere unter dem
Wasser durch ein scharfes Gesicht geleitet wür-
den.
K k 2
[510] den. Wäre aber auch die obige Voraussetzung
richtig, so würde damit doch nichts für die
Annahme bewiesen seyn, daſs die Thiere, die
nur ein einziges Element bewohnen, besonders
der Mensch, ihre Sehkraft nach den Entfer-
nungen verändern können.
Man kann sich endlich, um diese Annahme
zu rechtfertigen, noch auf die Analogie der
übrigen Sinneswerkzeuge, besonders derer des
Gehörs, berufen, in welchen Veränderungen
vorgehen, die dem Grade des äuſsern Eindrucks
entsprechen. Aber ähnliche Veränderungen im
Auge sind das Oeffnen und Schlieſsen der
Augenlieder, die Richtung der Augenaxe nach
dem Gegenstande, die Erweiterung und Ver-
engerung der Pupille nach dem Grade des
Lichts und der Entfernung des Objekts. Daſs
sich im Auge noch etwas Weiteres beym Nahe-
und Fernsehen ereigne, läſst sich aus jener
Analogie nicht schlieſsen.
Wir sehen uns also genöthigt, der Meinung
beyzutreten, wozu sich schon P. De la Hirei)
bekannte, daſs sich, wenigstens beym Menschen,
keine innere Veränderungen des Auges, die
ausgenommen, welche die Pupille erleidet, als
noth-
[511] nothwendig beweisen lassen. Mit den bisherigen
Gründen ist indeſs nicht dargethan, daſs solche
Veränderungen nicht statt finden. De la Hire
gründete seine Meinung vorzüglich auf die, schon
in Scheiner’s Werke über das Auge k) ent-
haltene Erfahrung von der Vereinigung des
doppelten, durch zwey kleine, einander nahe
Oeffnungen sich zeigenden Bildes zu einem ein-
zigen bey einer bestimmten Entfernung des
Gegenstandes. Er nahm diese Entfernung für
den Punkt des deutlichen Sehens an, und meinte,
daſs, wenn der letztere veränderlich wäre, der
Vereinigungspunkt der beyden Bilder sich eben-
falls verändern müſste, welches nach seinen
Versuchen nicht der Fall sey. Perraultl)
erinnerte dagegen, und Porterfiedm) führte
diesen Gegengrund weiter aus, daſs die Ein-
richtung des Auges nach der Verschiedenheit
der Entfernungen beym Sehen durch eine enge
Oeffnung wegfalle. Mir scheint diese Einwen-
dung ungegründet. Man sieht durch eine enge
Oeffnung die Gegenstände bey verschiedenen
Entfernungen in dem nämlichen Verhältniſs der
Deutlichkeit wie mit dem bloſsen Auge, nur
mit
K k 3
[512] mit mehr Anstrengung. De la Hire’s Beweis
ist aber von einer andern Seite nicht haltbar.
Der erwähnte Vereinigungspunkt hat nach mei-
nen Versuchen keinen so bestimmten Abstand
vom Auge, wie er haben müſste, wenn De la
Hire’s Folgerung gültig seyn sollte. Seine
Entfernung verändert sich nach der verschiede-
nen Erleuchtung des Objekts und des Auges.
Sie ist bestimmter bey leuchtenden, als bey
dunkeln Gegenständen. Diese Verschiedenheiten
können von der verschiedenen Erweiterung der
Pupille herrühren. Sie können aber auch in
Veränderungen der strahlenbrechenden Kräfte
des Auges ihren Grund haben.
Es giebt nur zwey Wege, worauf es mög-
lich ist, über unsere Streitfrage etwas Gewisses
auszumachen: man muſs entweder Veränderun-
gen der gedachten Art in der Erfahrung nach-
weisen, oder Umstände angeben, die nicht statt
finden könnten, wenn nicht ein Theil des
Auges sich beym Nahe- und Fernsehen verän-
derte. Jeuen Weg schlugen Olbersn), Ho-
meo) und Th. Youngp) ein. Olbers be-
merkt blos im Allgemeinen, daſs er keine Ver-
änderungen der Hornhaut an lebenden Menschen
habe
[513] habe wahrnehmen können. Home beobachtete,
unterstützt von Englefield und Ramsden, in
einer ersten Reihe von Versuchen die Hornhaut
eines Menschen, den er bald auf nähere, bald
auf entferntere Gegenstände sehen lieſs, durch
ein Vergröſserungsglas, das mit einem Mikro-
meter versehen war q). Eine zweyte Reihe
von Versuchen stellte er auf die Art an,
daſs er die Veränderungen eines von der
Hornhaut zurückgeworfenen Bildes beym Nahe-
und Fernsehen durch das Mikrometer eines
Mikroskops zu messen suchte r). Er überzeugte
sich auf beyderley Art von einer Zu- und
Abnahme der Krümmung der Hornhaut beym
Richten des Auges auf nähere und fernere
Objekte. Er versichert, daſs, als Englefield
sich zum Gegenstande der Untersuchung machte,
und dieser vorsätzlich die Richtung seines Auges
nach verschiedenen Objekten schnell und un-
regelmäſsig veränderte, ohne dem Beobachter,
Ramsden, ein Zeichen davon zu geben, der
letztere ihm doch jede Veränderung, die er mit
dem Auge vorgenommen hatte, auſs bestimm-
teste anzeigen konnte.
Ich zweifele, daſs Jeder diese Erfahrungen
so überzeugend finden wird, als sie für Home
selber
K k 4
[514] selber waren. Sie würden es seyn, wenn sich
dabey das beweglichste aller Organe hätte un-
beweglich machen lassen. Home schätzt bey
einem seiner Versuche den Raum, durch wel-
chen sich die Cornea bewegte, wenn das Auge
von einem entfernten Gegenstand auf einen
nähern gerichtet wurde, auf 1/800 eines Engli-
schen Zolls. Was berechtigte den Beobachter,
diesen geringen Bruch nicht vielmehr von der
Veränderung in der Richtung der Augenaxe,
die bey dem Hinblicken von dem einen Gegen-
stand auf den andern unvermeidlich war, und
wobey bald ein höherer, bald ein niedrigerer
Punkt der Hornhaut in die Theilungslinien des
Mikrometers treten muſste, als von einer ver-
änderten Krümmung der Cornea abzuleiten?
Konnte nicht schon die mit jeder Bewegung
der Augenmuskeln verbundene Bewegung des
Kopfs die Ursache der Differenz seyn? Gesteht
doch Home selber, er und Ramsden hätten
bey einem der Versuche, wobey er sein eigenes
Auge von dem letztern beobachten lieſs, anfangs
die Ursache der Veränderung am Mikrometer
in der Bewegung des Kopfs nach vorne gesucht,
weil sie eine ähnliche Veränderung durch eben
diese Bewegung eines Spiegels, worin ein Bild
mit dem Vergröſserungsglase am Mikrometer
betrachtet wurde, hervorbringen konnten. Er
setzt zwar hinzu, daſs in diesem Falle die
Bewe-
[515] Bewegungen häufiger, und eher bey ermüdetem
Auge und Kopfe, als im Anfange des Versuchs
hätten erfolgen müssen. Aber dieser Grund ist
nicht von Gewicht. Die Bewegungen des
Kopfs traten nicht häufiger ein, weil Home oder
Englefield die Richtung des Auges nicht häu-
figer veränderte, und sie wurden nicht so sehr
vermehrt durch die Ermüdung des Kopfs und
Auges, als durch die Spannung und gezwun-
gene Lage, worin sich jener bey dem Versuche
befand.
Young wiederhohlte die letztere Reihe der
Homeschen Versuche, indem er sie noch auf
verschiedene Weise abänderte s). Bey seinen
Beobachtungen erlitt die Hornhaut keine be-
merkbare Zu- oder Abnahme ihrer Krümmung.
Ob dieses Resultat mehr Zutrauen verdient als
das, welches Home erhielt, können wir dahin
gestellt seyn lassen. Daſs aber eine an-
dere Erfahrung, die Young gegen Home an-
führt, auf Zuverläſsigkeit Anspruch machen
kann, muſs ich sehr bezweifeln. Er füllte eine
kurze Röhre, die an dem einen Ende durch
ein doppeltes Convexglas verschlossen war, zum
Theil mit Wasser an, zwängte in das andere
Ende die Hornhaut eines seiner Augen und
beob-
K k 5
[516] beobachtete dann durch die Röhre nahe und
ferne Gegenstände. So will er gefunden haben,
daſs der Grad des Nahe- und Fernsehens un-
verändert bleibt, man mag durch Wasser oder
durch die Luft sehen, und daſs also die Cornea
auf das Nahe- und Fernsehen keinen Einfluſs
hat. Ich gestehe, nicht zu begreifen, wie
Young es angefangen hat, den Ausfluſs des
Wassers aus der Röhre beym Hineindrücken
des Augapfels und beym Richten des Auges
nach einem Gegenstande zu verhindern, und
noch weniger will es mir einleuchten, wie man
glauben kann, das Auge lasse sich so gewalt-
same Versuche ohne Stöhrung seiner Verrich-
tungen gefallen.
Auf eine noch härtere Probe stellte Young
sein Auge, um ausfindig zu machen, ob die
Augenaxe bey veränderter Entfernung der Ge-
genstände des Sehens verlängert oder verkürzt
werde t). Er preſste, während das Auge so
weit wie möglich nach innen gedreht war,
einen eisernen Ring an die äuſsere und einen
andern an die innere Seite des Augapfels, und
richtete seine Aufmerksamkeit auf den Kreis,
der sich unter diesen Umständen am innern
Augenwinkel zeigt, um zu bestimmen, ob sich
dessen Ausdehnung beym Richten des Auges
auf
[517] auf Gegenstände von verschiedener Entfernung
ändere. Die Gestalt blieb unverändert, und
Young ist nun überzeugt, daſs die Länge der
Augenaxe unwandelbar sey. Ich halte es für
überflüssig, sowohl über den Versuch, als über
die Folgerung etwas zu sagen. Nur die allge-
meine Bemerkung möge hier eine Stelle finden,
daſs mir jeder Versuch ohne beweisende Kraft
scheint, wobey man einen Gegenstand fest ins
Auge faſst und zu gleicher Zeit ein anderes
Objekt dem nämlichen Auge gegenwärtig zu er-
halten sucht.
Statt mit Home Veränderungen des Radius
der Hornhaut und der Augenaxe anzunehmen,
hält Young Verlängerungen und Verkürzungen
der Axe des Crystallkörpers für das Mittel,
wodurch die vorausgesetzten Accommodationen
des Auges bewirkt werden. Er glaubt, seine
Meinung werde durch die Veränderungen, die
man an dem in einem Hohlspiegel sich darstel-
lenden Bilde eines Lichts durch mehrere, ein-
ander nahe Löcher eines Kartenblatts in ver-
schiedenen, doch nahen Entfernungen erblickt,
fast mit mathematischer Strenge bewiesen u).
Zu einer unständlichen Darstellung und Prüfung
seines Beweises ist hier nicht der Raum. Es
wird hinreichend seyn, dagegen zu bemerken,
daſs
[518] daſs von Young weder auf die sehr beträcht-
liche Veränderung der Pupille, die nicht fehlen
kann, wenn man das Auge dem von einem
Hohlspiegel zurückgeworfenen Lichte in der
Nähe aussetzt, noch auf die Beugung, welche
die Lichtstrahlen am Rande der Pupille erleiden
müssen, noch auf den Einfluſs, den bey einem
solchen Versuch die an der vordern Seitenfläche
der Pupille in der wäſsrigen Flüssigkeit frey
schwimmenden Enden der Ciliarfortsätze auf
die Lichtstrahlen haben können, Rücksicht ge-
nommen ist.
Eine Erwähnung verdient übrigens noch,
daſs von beyden Vertheidigern entgegengesetzter
Meinungen Jeder Thatsachen einer und dersel-
ben Art zum Beweise seiner Meinung angeführt
hat. Homev) schloſs aus Versuchen mit zwey
Personen, denen an dem einen Auge der graue
Staar operirt war, daſs auch nach Wegnahme
der Crystalllinse das Auge noch in einem ge-
wissen, doch geringern Grade als im gesunden
Zustande, das Vermögen besitze, die Gegen-
stände in verschiedenen Entfernungen deutlich
zu sehen. Youngw) machte ähnliche Versuche
mit einem Manne von 63 Jahren, dem ebenfalls
an dem einen Auge der Staar einige Jahre
vor-
[519] vorher operirt war, und folgerte daraus gerade
das Gegentheil. Home’s Schluſs ist dem ge-
mäſs, was man für wahrscheinlich halten muſs,
wenn man auch kein Accommodationsvermögen
der durchsichtigen Theile des Auges nach den
Entfernungen annimmt, und mit manchen Er-
fahrungen älterer Augenärzte übereinstimmend x).
Young’s Erfahrungen enthalten, näher betrach-
tet, eben so viel, was dem Resultat der Ver-
suche Home’s gemäſs ist, als was diesen wider-
spricht, und es gilt auſserdem gegen sie, was
Well’s y) erinnert hat, daſs bey den meisten
Menschen das Vermögen des deutlichen Sehens
in verschiedenen Entfernungen mit den Jahren
immer eingeschränkter wird, und daſs der
Mann, woran Young’s Erfahrungen gemacht
wurden, vielleicht auch, wenn er nicht den
Staar bekommen hätte, nicht viel anders als
nach der Ausziehung der Linse gesehen haben
würde.
Es sind also auf dem Wege der Beobach-
tung des lebenden menschlichen Auges keine
Gründe zur Entscheidung unserer Streitfrage zu
finden. Der zweyte Weg, der uns noch offen
steht, ist die Untersuchung der Theile des
Auges in Beziehung auf ein, möglicher Weise
durch
[520] durch sie vermitteltes Accommodationsvermögen
desselben. Wir können hierbey als ausgemacht
voraussetzen, daſs kein Theil am Auge des
Menschen und keiner von denen, welchen die
übrigen Thiere mit ihm gemein haben, als eige-
nes für das letztere bestimmt sich aufweisen
läſst. Von jedem dieser Theile wissen wir mit
Gewiſsheit, daſs er auf andere Weise heym
Sehen wirksam ist. Wir würden also einen
oder mehrere derselben nur dann als thätig bey
der Accommodation des Auges annehmen dür-
fen, wenn diese als nothwendig dargethan wäre.
Wie viel hieran aber noch fehlt, ergiebt sich
aus den obigen Bemerkungen. Es ist mithin
auch auf diesem Felde nichts für uns zu
erndten.
Wer indeſs jene Nothwendigkeit auch als
bewiesen gelten läſst, wird doch nach unbefan-
gener Prüfung gestehen müssen, daſs keines
der Mittel, welches man für wirkend bey der
Accommodation des Auges gehalten hat, dem
Zwecke entsprechend ist. Als solche hat man
Zusammenziehungen der Ciliarfortsätze oder der
Ciliarkrone, wodurch die Gestalt oder die Lage
der Linse verändert würde, Ausdehnungen des
Petitschen Canals, welche eben dies bewirken
sollten, Contraktionen eines angeblichen ring-
förmigen Muskels der Traubenhaut, der die
Horn-
[521] Hornhaut convexer machte, Gestaltsveränderun-
gen der Linse vermöge einer innern Muskel-
kraft derselben, Verlängerungen oder Verkür-
zungen der Axe des ganzen Auges oder des
Krümmungshalbmessers der Hornhaut durch Zu-
sammenziehungen der Augenmuskeln, eine Zu-
nahme der Dichtigkeit des Crystallkörpers nach
dem Hintergrunde des Auges hin, und Dichtig-
keitsveränderungen der strahlenbrechenden Theile
des Auges angenommen.
In den Ciliarfortsätzen, der Ciliarkrone,
dem Petitschen Canal und einem Schlieſsmus-
kel der Traubenhaut suchten Viele das Mittel,
wodurch sich das Auge nach den Entfernungen
einrichtet, schon von Kepler’s Zeit an bis zur
Herausgabe der Hallerschen Physiologie. Man
findet diese Hypothesen in dem letztern Werke z)
und in Olber’s Abhandlung De oculi mutatio-
nibus internis a) umständlich dargestellt und
geprüft. Wer die Zartheit, die Schwäche aller
jener Theile in der Natur näher kennen gelernt
hat, und den Widerstand erwägt, den sie zu
überwinden haben würden, wenn sie entweder
die Linse aus ihrer Stelle rücken und gegen
die gläserne oder wäſsrige Feuchtigkeit pressen
müſsten, oder wenn die Substanz der Linse
sel-
[522] selber durch sie zusammengedrückt werden
sollte, wird sie schon aus diesem Grunde allein
höchst unwahrscheinlich finden. Die Anhänger
dieser Meinungen, Kepler, Scheiner, Sturm,
Descartes, Hartsoeker, Musschenbroeck,
S’Gravensande, Porterfield, Jurin, waren
auch Mathematiker oder Physiker, die den Bau
des Auges mehr aus Beschreibungen, als aus
der Natur kannten. Auf ihrer Seite standen
freylich auch Perrault, Camper und Zinn.
Aber Perrault, soviel er zergliedert hat,
scheint sich doch nach dem feinern Bau des
Auges wenig umgesehen zu haben. Camper
trug seine Hypothese von der Wirkung der
Ciliarkrone und des Petitschen Canals in einer,
zwar schätzbaren, doch jugendlichen Schrift b)
vor, wobey er selber gesteht, daſs sie ihm
nicht auszureichen scheine c). Zinn wieder-
hohlte die seinige nicht in seinem spätern,
vollendeten Werke über das Auge, nachdem er
sie in einem frühern Programm De ligamentis
ciliaribus geäuſsert hatte. Wenn noch einige
neuere Physiologen auf ähnliche Meinungen zu-
rück-
[523] rückgekommen sind d), so überzeugt man sich
beym Lesen ihrer Schriften bald, daſs sie Er-
klärungen zu gehen gewagt haben, die von ih-
nen selber bey hinreichender Kenntniſs der Ar-
beiten ihrer Vorgänger sehr unzureichend wür-
den befunden seyn.
Daſs die Crystalllinse durch eine, ihr selber
eigene Muskelkraft in ihrer Gestalt verändert
werde, ist ein Gedanke, dem vorzüglich Pem-
berton im Anfange des vorigen Jahrhunderts
nachhing, seit durch Leeuwenhoeck die Zu-
sammensetzung der Linse aus fasrigen Blättern
entdeckt war. In neuern Zeiten wurde diese
Idee durch J. Huntere) und Th. Youngf)
vertheidigt. Gründe hat man keine weitere für
sie angegeben, als jene fasrige Struktur und die
Analogie mehrerer Theile bey den Würmorn,
Mollusken und Zoophyten, die sich kräftig zu-
sammenziehen, obgleich sie ebenfalls, wie die
Crystalllinse, farbenlos und durchsichtig sind.
Allein einen ähnlichen innern Bau wie dieser
Theil hat auch jeder Knorpel, und die Muskeln
wirken ganz anders, als die Linse bey der Vor-
aus-
VI. Bd. L l
[524] aussetzung, daſs sie ein Zusammenziehungsver-
mögen besitze, wirken müſste. Die Contrak-
tionen der Muskeln sind beständig mit Palpita-
tionen ihrer Fasern verbunden g); dieses Er-
zittern nimmt um so mehr zu, je länger jene
in einerley Spannung bleiben, und in den
durchsichtigen Bewegungsorganen der erwähnten
Thiere ist dasselbe noch weit bemerkbarer als
in den Muskeln der Wirbelthiere. Die Linse
gehorcht dabey nicht mechanischen Reitzen,
nicht dem Einfluſs der Elektricität, kurz keiner
der Einwirkungen, von denen jeder Muskel er-
regt wird. Nur Säuren, Weingeist und Naph-
ten, die auch den leblosen Eyweiſsstoff gerin-
nen machen, bringen einige, und doch nur ge-
ringe Zusammenziehung in ihr hervor.
Weit triftigere Gründe, als die bisher er-
wähnten Meinungen, hat unter gewissen Ein-
schränkungen die für sich, welche die Verände-
rungen des Augapfels aus Zusammenziehungen
der Augenmuskeln erklärt. Sie hatte zu Urhe-
bern Rohault und Bayle, zu Vertheidigern
Boerhaave, Petit, Santorini, Hambercer
u. s. w. vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts,
Olbersh), Hosacki) und Homek) in neuern
Zei-
[525] Zeiten, und sie wird in den meisten neuern
Lehrbüchern der Physiologie als ausgemacht
vorgetragen. Was für sie gesagt werden kann,
ist von Olbers gesagt worden. Home hat die
Gründe, die für sie sprechen, nur durch un-
unzuverläſsige Beobachtungen vermehrt, und
Hosack’s Abhandlung ist nicht viel mehr, als
ein Beweis der literarischen Unkunde ihres
Verfassers. Man hat jene Hypothese auf ver-
schiedene Weise modifizirt vorgetragen, indem
man bald blos die geraden, bald auch die
schiefen Augenmuskeln bey der Veränderung
des Auges als wirkend annahm l). Olbers
leitete mit Recht diese blos von einer gleich-
zeitigen Verkürzung der vier geraden Augen-
muskeln ab. Seiner Meinung nach wird durch
den Druck, den diese Zusammenziehung auf
den Umfang des Augapfels hervorbringt, der
Glaskörper nach hinten und nach vorne ge-
drängt, die Linse gegen die wäſsrige Flüssigkeit
und diese gegen die Hornhaut gepreſst, und auf
solche Weise sowohl der Abstand der Linse
von der Netzhaut, als gleichzeitig die Krüm-
mung der Hornhaut vergröſsert. Berechnungen,
die
L l 2
[526] die er über die Entfernung des Vereinigungs-
punkts der Lichtstrahlen im Auge gemacht,
beweisen, daſs das Maximum der Veränderungen
dieser Entfernung nur 0,06 Theile eines Pariser
Zolls zu betragen braucht, damit das Auge
einer unendlichen Entfernung des Objekts und
einem Abstande desselben von nur 5 Zoll ange-
paſst wird. Mit der Vergröſserung und Ver-
ringerung des Radius der Hornhaut steht hier-
bey immer die Vermehrung und Verminderung
des Abstands der Linse von der Netzhaut in
geradem Verhältniſs, so daſs die Lichtstrahlen
sich bey jeder Veränderung des Auges nach der
Entfernung des Gegenstandes auf der Retina
vereinigen müssen.
Alles dies ist von Olbers mit groſsem
Scharfsinn weiter ausgeführt, und es sind man-
che Schwierigkeiten, die seiner Meinung ent-
gegenstanden, sehr glücklich gehoben. Indeſs,
es sind doch noch Gründe gegen sie übrig, die
ich nicht wegzuräumen weiſs. Olbers setzt
voraus, der Druck der geraden Augenmuskeln
geschehe von allen Seiten so gleichförmig auf
den Augapfel, daſs der Glaskörper nur nach
hinten und nach vorne ausweichen könne.
Allein diese Muskeln umfassen den ganzen
Umfang des Augapfels nur nach vorne, nicht in
der Mitte, und gegen die letztere muſs doch
der
[527] der Druck eigentlich gerichtet seyn. Es kann
also keine gleichförmige Pressung auf jeden
Punkt der Seiten des Augapfels entstehen, und
der Glaskörper wird nicht blos nach vorne und
nach hinten, sondern auch nach den Zwischen-
räumen der Augenmuskeln hingedrückt werden.
Der Druck muſs ferner beym Menschen durch
die sphärische Gestalt des Augapfels sehr ver-
mindert werden. Dieser ist zwar nicht bey
allen, doch bey vielen Menschen eine vollkom-
mene Kugel m), und bey den meisten weicht er
von der völligen Kugelgestalt nur wenig ab.
Olbers nimmt weiter an, der Druck brauche
nur sehr sanft zu seyn, um die nöthigen Ver-
änderungen der Augenaxe hervorzubringen.
Aber wegen der Seitenausdehnung des Aug-
apfels und der sphärischen Gestalt desselben
beym Menschen wird jener schon nicht so ge-
ring seyn dürfen. Wie stark er aber auch seyn
mag, so bleibt noch die Frage, ob er hinrei-
chen wird, die Hornhaut auch nur um 0,06
Theile eines Zolls auszudehnen. Daſs diese
contraktil ist, zeigt freylich die Erfahrung; daſs
sie sich aber durch einen mäſsigen Andrang
der wäſsrigen Flüssigkeit über den Grad von
Spannung, den sie unmittelbar nach dem Tode
hat, ausdehnen läſst, muſs ich nach meinen
Er-
L l 3
[528] Erfahrungen bezweifeln. Durch einen Druck
auf den Augapfel, der diese Spannung zu über-
winden vermögte, würde die Netzhaut in Falten
gelegt, der Sehenerve und jeder der übrigen
Augennerven gegen den Grund der Augenhöhle
gedrängt und das Sehen gestöhrt werden. Noch
mehr: Kann wirklich die gleichzeitige Zusam-
menziehung der geraden Augenmuskeln einen
Druck auf den Augapfel hervorbringen? Mir
scheint dies nur möglich, wenn entweder bey
der Verkürzung dieser Muskeln der Augapfel
durch eine gegenwirkende Kraft zurückgehalten
würde, oder wenn sie dabey eine Starrheit
erhielten, die den Widerstand des Augapfels
überwinden könnte. Eine solche gegenwirkende
Kraft giebt es aber an dem Auge des Menschen
und der ihm verwandten Thiere nicht, und zu
diesem Grade von Starrheit sind die Augen-
muskeln nicht geeignet. Die letztern gerathen
ohne Zweifel, wie alle übrige willkührliche
Muskeln, nach dem Tode in Erstarrung, und
doch wird dadurch das Einsinken der Hornhaut
nicht verhindert. Diese Einwürfe gelten nur
gegen die obige Theorie, insofern dadurch das
Vermögen des Nahe- und Fernsehens des
Menschen und der Thiere, die mit diesem einer-
ley Augenbau haben, erklärt werden soll. Ob
es bey andern Thieren nicht ein solches Ver-
mögen giebt, und ob an dessen Ausübung die
Augen-
[529] Augenmuskeln nicht Antheil haben, werden wir
unten sehen.
Nachdem J. F. C. Grimm in einer Abhand-
lung über das Sehen n) die Zahl der bisher
erwähnten Meinungen noch durch die Hypothese
vermehrt hatte, daſs Dichtigkeitsveränderungen
der Augenfeuchtigkeiten das Mittel seyen, wo-
durch die Einrichtung des Auges nach dem
Abstande der Gegenstände bewirkt würde, einen
Einfall, den Olberso) mit Recht keiner Wi-
derlegung werth fand, hat einer der neuesten
Schriftsteller über das Auge, Valléep), die-
sen Gedanken dahin modifizirt: der Glaskörper
habe eine so starke brechende Kraft, daſs die
von einem Punkt kommenden Lichtstrahlen sich
schon in einer gewissen Entfernung vor der
Retina vereinigen; jene Kraft nehme von der
Linse an bis zum Hintergrunde des Auges im-
mer zu; diese Strahlen beschreiben folglich bey
ihrem Durchgange durch den Glaskörper krum-
me Linien, und gehen, nachdem sie sich vor
der Netzhaut vereinigt haben, in einer und
derselben Linie zur letztern fort. Bey dieser
Vor-
L l 4
[530] Voraussetzung würde also das Auge schon ver-
möge seines Baus, ohne innere Veränderungen,
den verschiedenen Entfernungen der Objekte
angepaſst seyn. Aber Jedem wird gleich ein-
leuchten, daſs, wenn sie gültig seyn sollte, der
hintere Theil des Glaskörpers noch eine weit
stärkere brechende Kraft als die Linse selber
haben müſste, indem die Radii eines Strahlen-
büschels nach ihrer Vereinigung im Glaskörper
weit stärker, als vor ihrem Eintritt in die
Linse, divergiren. Gründe für seine Meinung
hat Vallée bisjetzt nicht bekannt gemacht, und
ich wüſste keinen, der sich dafür anführen
lieſse, als etwa Magendie’s q) angebliche Er-
fahrung, daſs die Bilder auf der Netzhaut
weiſser Mäuse, von deren Augen man die Skle-
rotika abgesondert hat, bey verschiedenen Ent-
fernungen des Gegenstandes keine Veränderung
der Deutlichkeit erleiden.
Wenn wir nun unbefriedigt von allen bis-
herigen Versuchen, die Art, wie eine Accom-
modation des menschlichen Auges nach den
Entfernungen der Objekte geschehen könne, zu
erklären, auf unsere obigen Sätze, daſs die
Nothwendigkeit einer solchen Einrichtung unbe-
wiesen und die Voraussetzung derselben un-
nöthig sey, zurückkommen, so wird es uns
erlaubt
[531] erlaubt seyn, ein Vermögen zu dieser Accom-
modation bey dem Menschen und den Thieren,
deren Augenbau mit dem menschlichen überein-
kömmt, als gar nicht vorhanden zu betrachten.
Hiermit sey aber nicht behauptet, daſs es nicht
andere Thiere giebt, die ihr Auge nach den
verschiedenen Entfernungen der Gegenstände
verändern können. Es lassen sich allerdings
Eigenheiten im Augenbau mancher Thiere auf-
weisen, die eine Beziehung auf innere Ver-
änderungen des Gesichtswerkzeugs zu haben
scheinen. Ich glaube indeſs nicht, daſs die
meisten derer, welche bisher von den Natur-
forschern hierauf bezogen sind, wirklich damit
in Verbindung stehen.
Man hat geglaubt, die verschiedene Dicke
der Zonen, woraus die Sklerotika mancher
Thiere besteht, diene, um das Zusammendrücken
des Augapfels durch die Augenmuskeln zu er-
leichtern, und so nicht nur in verschiedenen
Entfernungen, sondern auch durch das Wasser
und durch die Luft sehen zu können. Tysonr)
und Blumenbachs) sahen diese Bestimmung
im Bau der Augen des Delphius und der Rob-
ben.
L l 5
[532] ben. Rudolphit) wandte dagegen ein. daſs
ein ähnlicher Bau auch dem Pferde, Ochsen,
Hasen und Schweine, besonders dem letztern,
eigen sey, Thieren, die doch blos in der Luft
leben. Tyson’s Meinung wurde wieder von
Albersu), der den Augenbau der Robben auch
beym Wallroſs fand, und von Lobsteinv),
der ihn bey der Phoca Monachus Gm. unter-
suchte, gegen Rudolphi vertheidigt. Was
Rudolphi bemerkte, und noch mehr als dies,
wurde schon von Morgagniw) gegen Tyson
erinnert und von Zinnx) bestätigt gefunden.
Morgagni lehrte der Wahrheit ganz gemäſs,
daſs bey allen Säugthieren, und man kann hin-
zusetzen, auch bey allen Vögeln, der hintere
und vordere Theil der Sklerotika dicker als der
mittlere ist, daſs die Verdickung blos von der
Anheftung der Augenmuskeln herrührt, und
daſs der Unterschied der Dicke viel geringer in
den Zwischenräumen dieser Muskeln, als unter
deren Mitte ist. Wie die Verdickung mit der
Accommodation des Auges durch die Augen-
mus-
[533] muskeln etwas gemein haben kann, sehe ich
nicht ein. Diese soll ja in Verlängerung der
Augenaxe bestehen. Das hintere Segment der
Sklerotika würde also bey solchen Thieren,
denen eine solche Verlängerung vorzüglich von
Nutzen wäre, vielmehr dünner als dicker seyn
müssen, um dem Druck, den dasselbe bey der
Zusammenziehung der Augenmuskeln erleiden
soll, desto leichter nachgeben zu können.
Bey den Vögeln ist zu einer Zusammen-
drückung des Auges durch die geraden Augen-
muskeln gar keine Möglichkeit, weil bey ihnen
der Durchmesser des Augapfels durchgängig
gröſser als die Axe ist, der von jenen Muskeln
umgebene hintere Theil der Sklerotika höch-
stens nur eine halbe Kugel, bey manchen Gat-
tungen, z. B. den Eulen, noch weniger als eine
Halbkugel ausmacht, und am vordern Theil der
Sklerotika der hier liegende knorpelige oder
knochenartige Ring jede Pressung verhindert.
Albersy) glaubte zwar, die einzelnen Stücke,
woraus dieser Ring besteht, lieſsen sich ziemlich
stark über einander schieben und von einander
entfernen, und Homez) behauptet, der vordere,
dün-
[534] dünnere Theil des Reifs könne sich von ein-
ander geben. Beydes geht freylich an, wenn
man den Ring von allen seinen Umgebungen
getrennt hat, aber nicht, wenn er noch mit der
Sklerotika und Cornea fest verbunden ist. Mit
der letztern hängt er durch ein kreisförmiges
Ligament von einer Festigkeit zusammen, die
jedes Auseinanderweichen seines vordern Ran-
des unmöglich macht.
Eher als durch die geraden oder schiefen
Augenmuskeln würde bey den Vögeln eine
Zusammenpressung des Augapfels durch die
Muskeln und Sehnen, vermittelst welcher die
Nickhaut bewegt wird, möglich seyn, wenn
nicht eine solche Pressung von der Natur ver-
hindert wäre. Das Hervorziehen dieser Mem-
bran aus dem innern Augenwinkel über die
Hornhaut geschieht durch zwey, auf der hin-
tern Fläche des Augapfels liegende Muskeln.
Der eine läuft mit seiner Sehne in einem
Winkel um den Sehenerven, und diese geht in
das obere, bewegliche Ende der Nickhaut über.
Der andere, sogenannte viereckige Muskel
nimmt jenen in einer Rinne da auf, wo der-
selbe einen Winkel macht. Beyde ziehen,
gleichzeitig wirkend, die Sehne des erstern nach
einer mittlern Richtung, und die Nickhaut brei-
tet sich, der Sehne folgend, über das Auge
aus
[535] aus a). Bey einer noch stärkern Verkürzung
beyder Muskeln müſste durch sie der Augapfel
von hinten und durch die gespannte Nickhaut
von vorne gepreſst werden. Aber es giebt
nichts, woraus sich schlieſsen läſst, daſs diese
Muskeln einer stärkern Zusammenziehung fähig
sind, und gerade zum Abhalten des Drucks,
den sie auf den Augapfel verursachen könnten,
scheint der knöcherne Ring des Vogelauges mit
zu dienen. Ich fand bey allen Vögeln, deren
Auge ich näher untersuchte, die Stärke dieses
Reiſs immer der Stärke der Nickhaut und ihrer
Muskeln proportional. Bey den Eulen, wo
diese Theile sehr stark sind, ist noch auſserdem
die unmittelbare Wirkung jener Muskeln auf
den Augapfel durch einen eigenen kleinen, mit
dem Knochenreif zusammenhängenden Knochen
verhindert b).
Stände einer Zusammendrückung des Aug-
apfels durch die Muskeln der Nickhaut nichts
entgegen, so würde dadurch die Hornhaut fla-
cher gemacht, die Augenaxe verkürzt, und das
Auge zum Sehen in die Ferne eingerichtet wer-
den. Eine solche Einrichtung ist nun zwar der
gangbaren Meinung, nach welcher eine Accom-
moda-
[536] modation des Auges nur für nähere Objekte
nöthig seyn soll, deren Strahlen nicht parallel
auf die Hornhaut fallen, entgegen. Allein für
die meisten Thiere würde jene Art der Ein-
richtung weit zweckmäſsiger als diese seyn.
Viele derselben, besonders diejenigen, die sich
von Gräsern und Insekten nähren, bedürfen
zwar des Vermögens, die Gegenstände in der
Nähe zu erblicken. Allein hierzu ist ihnen
schon ein Wahrnehmungsvermögen des bloſsen
Umrisses und der Farben derselben hinreichend.
Mikroskopische Augen können wenig Säugthieren
und Vögeln von Nutzen seyn. Desto wichtiger
aber ist es für die Herbivoren, ihre Feinde, für
die Carnivoren, ihren Raub in einer so groſsen
Entfernung zu erkennen, als die Gröſse und der
Bau ihrer Augen nur immer zuläſst.
Man könnte jene Hypothese noch weiter
ausschmücken und damit das Organ der Vögel
in Verbindung setzen, das von Cramptonc)
als ein ringförmiger, um den Rand der Horn-
haut liegender Muskel beschrieben ist. Bestände
dieser Theil wirklich aus Muskelfasern, so
würde durch ihn bey seiner Verkürzung die
Hornhaut convexer gemacht werden müssen,
da die Fasern desselben strahlenförmig nach der
Mitte der Cornea gerichtet und mit dem einen
Ende
[537] Ende an den Ciliarring, mit dem andern an das
innerste Blatt der Hornhaut befestigt sind. Er
lieſse sich also als antagonistisch gegen die
Muskeln der Nickhaut wirkend betrachten. Ich
kann ihn indeſs nicht für einen Muskel aner-
kennen. Ich habe ihn bey mehrern Vögeln aus
verschiedenen Familien untersucht und immer
seine Fasern den Muskelfasern sehr unähnlich,
überhaupt aber so schwach gefunden, daſs ich
eine Wirkung derselben auf die Spannung der
Hornhaut, besonders bey den Falkenarten,
deren Cornea eine Dicke von mehr als einer
halben Pariser Linie hat, geradezu für unmög-
lich erklären muſs. Ueber die eigentliche Be-
stimmung dieses Theils kann ich mir noch
nicht ein Urtheil erlauben. Daſs übrigens bey
den Vögeln durch eine Zusammenpressung des
Augapfels, sie geschehe auf welche Weise sie
wolle, keine Einrichtung des Auges nach den
Entfernungen hervorgebracht werden kann, er-
giebt sich auch noch daraus, weil bey vielen
dieser Thiere der schwarze Fächer mit der
Linsenkapsel sehr fest und in einer beträchtli-
chen Ausdehnung, jedoch nicht in der Augen-
axe, sondern seitwärts verbunden ist, die Linse
also bey jeder Veränderung sowohl des Durch-
messers, als der Axe des Augapfels in einer
schiefen Richtung zurückgezogen oder hervor-
gedrückt werden muſs. Diesen Umstand haben
Mala-
[538]Malacarned) und Homee) nicht erwogen,
als sie die Meinung äuſserten, die Linse des
Vogelauges könne durch Zusammenziehungen
des Fächers, vermöge einer vermeinten musku-
lösen Beschaffenheit desselben, dem Grunde des
Auges zum Behuf des Nahesehens genähert
werden.
Was indeſs bey den Säugthieren und Vögeln
im Allgemeinen nicht als nothwendig und als
im Bau des Auges gegründet nachzuweisen ist,
findet vielleicht bey einzelnen Arten der Thiere
dieser Classen und bey manchen Fischen statt.
L. Thomasf) entdeckte im Auge des Rhi-
noceros, zwischen der Sklerotika und Choroidea,
vier muskelnähnliche Bänder, deren Sehnen auf
der innern Fläche des hintern Theils der Skle-
rotika in gleichen Zwischenräumen vom Sehe-
nerven entsprangen und sich, allmählig breiter
werdend, in der Gegend, wo der Durchmesser
des Augapfels am gröſsten ist, mit der Choroi-
dea vereinigten. Vielleicht dienen diese Theile,
wenn sie in der That Muskeln sind, zur Ein-
richtung des Auges auf sehr nahe Gegenstände,
indem sie die Linse der Netzhaut näher brin-
gen.
[539] gen. Haben sie aber wirklich diese Funktion,
so läſst sich gerade daraus, daſs dem Rhino-
ceros eigene Organe hierzu verliehen sind, mit
gröſserm Rechte auf die Abwesenheit, als auf
die Gegenwart des Vermögens zu einer ähnli-
chen Veränderung des innern Auges bey den
übrigen Säugthieren schlieſsen.
Die meisten Fische sind wegen der kugel-
förmigen Gestalt ihrer Linse und wegen der
geringen Durchsichtigkeit des Medium, worin
sie leben, sehr kurzsichtig. Aber diese Durch-
sichtigkeit wechselt nach der Höhe und Tiefe
des Wassers, wozu sie heraufsteigen oder sich
herablassen, und hiermit verändert sich zugleich
sehr der Druck des Wassers auf ihre sehr
flache Hornhaut. Bey den meisten Gattungen
derselben ist von den Augenmuskeln keine Wir-
kung zum Behuf einer Einrichtung des Auges
nach dieser Aenderung ihrer äuſsern Verhält-
nisse möglich. Ihre Sklerotika ist gerade am
hintern Theil des Augapfels, über welchen die
geraden Augenmuskeln sich erstrecken, von
einer solchen Dicke und Härte, daſs noch weit
stärkere Muskeln als diese keine Biegung in ihr
würden hervorbringen können. Ich vermuthe,
daſs hier eine Accommodation des Auges durch
Veränderungen im gegenseitigen Verhältniſs des
Volumen und der strahlenbrechenden Kräfte der
VI. Bd. M mdurch-
[540] durchsichtigen Flüssigkeiten des Auges geschieht,
und daſs der rothe, blutreiche, auf der Choroi-
dea um den Sehenerven liegende Körper das
Organ ist, wodurch diese Abänderungen ver-
mittelt werden. Man hat dieses Organ für
einen Muskel g), für eine Drüse h), oder für
einen bloſsen Blutbehälter erklärt i). Das Wahre
ist, daſs er, unter dem Vergröſserungsglase be-
trachtet, auſser einem Netz von groſsen und
zahlreichen Blutgefäſsen faserähnliche Bestand-
theile zeigt, die schwach vergröſsert Muskel-
fasern ähnlich scheinen, unter einem stärkern
Mikroskop aber sich als hohle Röhren darstel-
len k). Er ist hiernach ein Sekretions- oder
Absorbtionsorgan. Doch kann er schwerlich,
wie Rosenthall) glaubt, zur Absonderung
des Pigments zwischen der Choroidea und Netz-
haut bestimmt seyn, das sich ja auch im übri-
gen
[541] gen Thierreiche findet und hier ohne ein sol-
ches Organ secernirt wird. Vermöge seiner
vielen Blutgefäſse und seines schlaffen Baus ist
er aber auch einer Anschwellung fähig, wo-
durch der auf ihm liegende Theil der Choroidea
und Retina gegen die Linse gedrängt werden
muſs. Er ist in der Gegend der Augenaxe am
dicksten. Die Netzhaut wird also von ihm bey
seiner Turgescenz gerade da am meisten der
Linse genähert, wo die Näherung bey der Ac-
commodation des Auges auf geringere Entfer-
nungen geschehen muſs. Wirkt er hierbey zu-
gleich als einsaugendes Organ auf die gläserne
Flüssigkeit, so wird sich deren Volumen in
eben dem Maaſse vermindern, wie der innere
Raum der hintern Augenhöhle durch seine An-
schwellung verengert wird. Nimmt man ferner
an, daſs er den waſsrigen Theil der Glas-
feuchtigkeit mit Zurücklassung ihrer öligen Be-
standtheile absorbirt, so wird sich bey der
Aenderung des Verhältnisses dieser gegen jene
auch die brechende Kraft des Glaskörpers än-
dern müssen. Hierbey wird die äuſsere Fläche
der Choroidea mit der innern der Sklerotika
von dem Eintritt des Sehenerven an bis zum
Ciliarkörper nicht so eng wie bey den höhern
Thieren zusammenhängen dürfen, weil sonst
beym Anschwellen des rothen Körpers das
Hervortreten der Choroidea und der Retina da-
M m 2durch
[542] durch gehindert werden würde. Dieser Zusam-
menhang ist in der That auch bey den Fischen
sehr schwach. Um die Choroidea und den
rothen Körper möglichst zu isoliren, sind beyde
von auſsen mit einem silberfarbenen Ueberzug
bedeckt.
Diese Einrichtungsart des Auges kann aber
nicht allen Fischen eigen seyn. In keiner
Thierelasse hat sich die Natur für ähnliche
Zwecke so verschiedener Mittel bedient, als in
dieser. Die Aale, die Lampreten und noch
mehrere andere Fische besitzen an der Choroi-
dea ihrer Augen keinen rothen Körper. Mit
dieser Abwesenheit eines Theils, den die mei-
sten Fische besitzen, die eine dicke, knorpel-
artige Sklerotika haben, sind noch andere Ei-
genheiten in dem Augenbau jener Arten ver-
bunden. Ihre Sklerotika ist sehr dünn, die der
Aale so dünn, daſs sie schon dem geringsten
Drucke weicht. Diese Haut ist zugleich von
den Augenmuskeln weit enger als bey den
vorigen Fischen umschlossen. Bey den Fluſs-
neunaugen bilden dieselben einen muskulösen
Ueberzug um den ganzen hintern Theil der
Sklerotika m). Ferner ist hier die Oberhaut
nicht, wie bey den höhern Thieren, als eine
schlaffe
[543] schlaffe Bindehaut um den Rand der Hornhaut
zurückgeschlagen, sondern sie geht ausgespannt
über den Augapfel weg, ist vor dem Auge
durchsichtig und an dieser durchsichtigen Stelle
mit dem Rand der Hornhaut verbunden. Hier
giebt es also eine Gegenwirkung des durch die
Oberhaut zurückgehaltenen Augapfels gegen die
sich verkürzenden Augenmuskeln, und hier
können daher Veränderungen des innern Auges
nach der Verschiedenheit der Entfernungen oder
des Medium sich ereignen, wozu bey den hö-
hern Thieren wegen des Mangels an einer
solchen gegenwirkenden Kraft keine Möglichkeit
und auch kein Bedürfniſs ist.
§. 4.
Richtungsvermögen des Auges nach der verschiedenen Lage
der Gegenstände.
Die Gegenwart eines Accommodationsver-
mögens des Auges nach der Entfernung der
Objekte durch innere Veränderungen desselben
ist nach den vorstehenden Bemerkungen viel-
mehr ein Zeichen einer niedern, als einer hö-
hern Bildungsstufe des Gesichtsorgans. Anders
verhält es sich mit dem Vermögen des Auges,
sich nach der verschiedenen Lage der Gegen-
stände durch eigene Kräfte zu richten. Dieses
ist dem menschlichen Auge in höherm Grade
als dem der übrigen Thiere eigen, und nächst
M m 3ihm
[544] ihm stehen die Säugthiere in Rücksicht auf die
Beweglichkeit des Augapfels über den Vögeln,
Amphibien und Fischen.
Man weiſs, daſs der Mensch vier gerade
und zwey schiefe Augenmuskeln besitzt, und
jedes anatomische Handbuch lehrt, wie diese
Muskeln, einzeln oder paarweise wirkend, den
Augapfel nach jeder Richtung ziehen, drehen
und wälzen. Die nämlichen Muskeln sind allen
wirbellosen Thieren mit Ausnahme der Frösche
und Kröten eigen; bey den übrigen Säugthie-
ren, die Affen ausgenommen, den Schildkröten
und Crocodilen ist sogar die Zahl derselben
gröſser als beym Menschen: dennoch hat der
Augapfel aller übrigen Thiere nicht nur keine
gröſsere, sondern bey den Vögeln, Amphibien
und Fischen eine geringere Beweglichkeit als
der des letztern. Woher diese Verschiedenheit
der Funktion bey einerley Organen?
Bey dem Menschen und den Affen läuft der
obere schiefe Augenmuskel über eine Rolle, die
allen übrigen Thieren an diesem Muskel fehlt.
In dieser Einrichtung, in der kugelförmigen
Gestalt des Augapfels, der horizontalen Lage
desselben und der Abwesenheit einer Nickhaut
liegt der Grund der groſsen Beweglichkeit des
Augapfels bey dem Menschen und den Affen,
beson-
[545] besonders des höhern Vermögens, ihn zu rollen
und zu wälzen. Bey den Säugthieren, die mit
gesenktem Haupte gehen, wirkt diesen Muskeln
die Schwere des Augapfels entgegen. Jene er-
hielten deswegen noch andere Muskelfasern, die
entweder, bey den Wiederkäuern und Einhufern
zu einem einzigen, trichterförmigen Organ
(Musculus bulbosus, s. suspensorius. Muscle cho-
anoïde Petit.) vereinigt, oder bey den übri-
gen Säugthieren mehrere Bündel ausmachend,
zwischen dem Sehenerven und den übrigen
Augenmuskeln zur hintern Fläche des Augapfels
gehen. Die Stelle dieser Organe würden aber
schon bloſse Ligamente vertreten haben, wenn
sie nicht auch als Rückzieher des Augapfels
wirkten. Daſs sie auf solche Art thätig sind,
zeigen vorzüglich die Frösche und Kröten, die
auſser ihnen nur noch Einen geraden und Einen
schiefen Augenmuskel haben, und bey welchen
die Hauptbewegung des Augapfels in einer
Zurückziehung desselben besteht. Hierbey tritt
immer die Blinzhaut dieser Thiere hervor,
deren Muskel bey der Verkürzung der Rück-
wärtszieher mit angespannt wird n). Bey den
Säugthieren steht zwar der Muskel der Blinz-
haut mit dem suspensorius nicht in Verbindung.
Es
M m 4
[546] Es ist aber doch zu vermuthen, daſs auch hier
dieser sich verkürzt, während durch jenen die
Nickhaut hervorgezogen wird.
Bey den Vögeln und mehrern Amphibien wird
die Blinzhaut durch den im vorigen §. beschrie-
benen Mechanismus auf eine solche Art bewegt,
daſs beym Hervor- und Zurückziehen dieser
Haut der Augapfel nicht nach vorne und nach
hinten, wohl aber nach den Seiten ausweichen
kann. Sie bedurften daher keiner andern, als
der nämlichen Augenmuskeln, welche der
Mensch und die Affen haben. Diese würden
ihnen jedoch auch bey einer noch geringern
Beweglichkeit ihres Augapfels, als derselbe wirk-
lich besitzt, nothwendig gewesen seyn, um ihn
bey den Bewegungen der Nickhaut zu befesti-
gen. Den Fischen aber fehlt eine Blinzhaut
ganz, und der Augapfel vieler von ihnen scheint
ganz unbeweglich zu seyn. In dieser Thier-
classe kann sich daher die Funktion der Augen-
muskeln nur darauf beschränken, den Augapfel
in der gehörigen Lage zu erhalten und bey
einigen Arten Veränderungen des innern Auges
nach den Entfernungen der Gegenstände, oder
nach der verschiedenen Beschaffenheit ihres
Elements hervorzubringen.
Eine Folge der geringern Beweglichkeit des
Auges der Vögel, Amphibien und Fische ist,
daſs
[547] daſs sie in vielen Fällen, oder selbst immer,
einerley Gegenstand nur mit dem einen Auge
sehen, und diesen nur durch Wendungen des
Halses oder auch des ganzen Körpers in die
Augenaxe bringen können. Bey allen Vögeln
und Amphibien, deren Augen seitwärts liegen,
geschieht nur dann das Sehen durch beyde Au-
gen zugleich, wenn das Objekt in der Axe des
[Kopfs] und in einer solchen Entfernung liegt,
daſs die Strahlen von demselben zu beyden Au-
gen gelangen. Sie erblicken dann aber dasselbe
nie in den Axen beyder Augen. Nähere Ge-
genstände nehmen sie immer nur mit dem
einen Auge wahr, und sie drehen den ganzen
Kopf, um ihn in die Axe dieses Auges zu
bringen. Bey manchen Amphibien, besonders
dem Chamäleon, wirken beyde Augen so wenig
harmonisch, daſs sie das eine nach einem an-
dern Gegenstande als das andere zu richten
vermögen o).
Porterfieldp) glaubte, den Vögeln werde
durch Beweglichkeit der Crystalllinse ersetzt,
was ihrem Augapfel an Beweglichkeit abgehe,
und das Organ, wodurch die Lage ihrer Linse
nach dem verschiedenen Fall des Lichts verän-
dert
M m 5
[548] dert werde, sey der schwarze Fächer vermöge
einer muskulösen Beschaffenheit desselben. Diese
Meinung läſst sich, so ausgedrückt und auf alle
Vögel ausgedehnt, nicht vertheidigen. Bey man-
chen dieser Thiere, z. B. den Eulen, ist das
obere Ende des Fächers so entfernt von der
Linse, und dessen Zusammenhang mit der letz-
tern durch so schwache Fäden von Zellgewebe
vermittelt, daſs er auf keine Weise die Linse
verrücken kann. Auch lassen sich nicht Zu-
sammenziehungen des Fächers, deren dieser
seinem ganzen Baue nach gewiſs nicht fähig ist,
für das Mittel annehmen, wodurch derselbe auf
die Linse wirken kann. Wohl aber sind Bewe-
gungen dieses Theils vermittelst des Fächers
bey denen Vögeln, bey welchen der letztere
fester mit der Linse verbunden ist, entweder
durch Anschwellungen desselben, oder durch
eine, zwischen ihm und der Linse befindliche
muskulöse Substanz möglich. Auf jene Art
kann der Fächer die Linse bey den Wasser-
und Singvögeln bewegen, wo er diese unmittel-
bar in einer beträchtlichen Ausdehnung umfaſst.
Auf die andere Weise wirkt er vielleicht bey
den Reihern. Hier erstreckt sich der Fächer
zwar nicht bis zur Linse. Er hängt aber doch
mit ihrer Kapsel sehr fest zusammen, und bey
der Rohrdommel fand ich zwischen beyden Or-
ganen in der Substanz des Glaskörpers, auf
der
[549] der Seite, wo der Sehenerve in den Augapfel
tritt, eine röthliche Substanz von muskelartigem
Ansehen. Auch in unsern Augen läſst sich
durch einen Druck auf den Augapfel die Linse
verrücken, wodurch dann das harmonische
Wirken beyder Augen, nicht aber das Sehe-
vermögen in dem gedrückten Auge aufgehoben
wird. Die Möglichkeit jener Bewegung läſst
sich also nicht bestreiten. Sie kann indeſs nur
bey den Vögeln gelten. In den übrigen Thier-
classen giebt es kein Organ, das als bewegend
auf die Linse wirken kann.
Mit dem Vermögen, dem Auge willkühr-
liche Richtungen zu geben, steht noch eine
andere willkührliche Bewegung an diesem Organ
in einer gewissen Beziehung. Nur den Thie-
ren, die jenes Vermögen besitzen, sind in der
Regel auch Organe verliehen, wodurch sie den
Zutritt des Lichts willkührlich abhalten können;
mit Unbeweglichkeit des Augapfels hingegen ist
Unvermögen, das Auge zu schlieſsen, verbun-
den. Jene Unbeweglichkeit findet in der ganzen
Classe der Insekten statt, und bey allen diesen
Thieren giebt es auch nichts Aehnliches von
Augenliedern. Den wenig beweglichen Augen
der meisten Fische fehlen sie ebenfalls. Sie
sind zwar bey den Schollen- und Lachsarten
vorhanden. Ob sie aber wirklich, wie Por-
ter-
[550]terfieldq) angiebt, bey den Schollen der
Schlieſsung fähig sind, bedarf noch näherer
Untersuchung. Bey den Lachsen sind sie unbe-
weglich. Nur bey dem Mondfische (Tetrodon
Luna) giebt es einen Ueberzug des Auges mit
einer Spalte vor der Pupille, die durch einen
Sphinkter verschlossen und durch strahlenför-
mige Muskeln geöffnet werden kann r). Die
Schnecken hingegen können ihre gestielten Au-
gen willkührlich richten und zugleich diese,
durch Zurückziehung derselben, dem Lichte
willkührlich entziehen. In den drey obern Clas-
sen der Wirbelthiere haben mit wenigen Ein-
schränkungen alle Arten Augenlieder, wodurch
sie die durchsichtige Hornhaut nach Willkühr
bedecken und entblöſsen können. Nur bey den
Wallfischen sind sie unbeweglich wegen des
vielen, unter ihnen liegenden Fetts, und bey
den Schlangen machen sie eine einzige durch-
sichtige, den Augapfel bedeckende Haut aus s).
Bey jenen, mit beweglichen Augendecken
versehenen Wirbelthieren ist das bewegliche
Augenlied entweder das obere, oder das untere,
und diese Verschiedenheit beruht vorzüglich auf
der Gegenwart oder Abwesenheit einer Blinz-
haut und auf der Beschaffenheit des Mechanis-
mus,
[551] mus, wodurch dieselbe in Bewegung gesetzt
wird. Dem Menschen und den Affen fehlt eine
solche Haut. Für ihr unteres Augenlied giebt
es keinen Muskel, als den ringförmigen, den
dasselbe mit dem obern Augenliede gemein-
schaftlich hat. Nur das letztere besitzt einen
eigenen Aufhebemuskel. Bey den Säugthieren,
die mit einer Blinzhaut ausgestattet sind, hat
das untere Augenlied ein gröſseres Verhältniſs
zum obern, als bey dem Menschen und den
Affen, und auſser dem ringförmigen Muskel gehen
zu demselben auch Fleischfasern von der Mus-
kelhaut (Panniculus carnosus). Bey den Vögeln,
den Schildkröten und Crocodilen hat das untere
Augenlied mehr Beweglichkeit als das obere.
Für dieses giebt es keine andere Muskeln als
den Ringmuskel, für jenes hingegen einen eige-
nen Auf- und Niederzieher, deren Wirkungen
durch einen am Rande desselben liegenden
Knorpel erleichtert werden. Hier ist aber auch
eine Blinzhaut zugegen, die den ganzen Aug-
apfel bedeckt und durch einen zusammengesetz-
tern Muskelapparat als bey den Säugthieren in
Bewegung gesetzt wird. Am Auge der Midas-
schildkrote steht der Muskel der Blinzhaut durch
einen Fortsatz mit dem untern Augenliede in
unmittelbarer Verbindung t). Hier ist also die
Ab-
[552] Abhängigkeit der Augenlieder von der Nickhaut,
in Rücksicht auf die Beweglichkeit derselben,
unverkennbar. In der Familie der Eidechsen
wird die Bildung der Augenbedeckungen wieder
einfacher, indem das obere und untere Augen-
lied zu einer einzigen, der Queere nach ge-
spaltenen Decke verwächst; hier bleibt auch von
einer Blinzhaut nur noch ein Rudiment zurück.
Bey den Bewegungen des Augapfels und
der Augenlieder entstehen zwischen diesen und
jenem Reibungen, deren nachtheilige Folgen zu
verhüten bey allen Thieren, die bewegliche
Augapfel und Augenlieder haben, aber auch
nur bey diesen, zwischen denselben lubricirende
Säfte abgesondert werden. Die Sekretionsorgane
der letztern sind beym Menschen die Thränen-
drüsen, die Meibomischen Talgdrüsen und die
Thränencarunkel. Eben diese Organe sind nicht
nur den übrigen Säugthieren eigen, sondern es
kömmt bey mehrern Arten auch noch die Har-
dersche Drüse, das Absonderungswerkzeug eines
dicken, weiſslichen Saftes, hinzu, die nach der
unter der Blinzhaut befindlichen Lage ihres Aus-
führungsgangs vorzüglich für die Bewegungen
dieser Haut bestimmt seyn muſs. Die letztere
Drüse findet sich daher auch bey den mit
einer so ausgedehnten und so beweglichen Nick-
haut versehenen Vögeln, und sie hat in dieser
Thier-
[553] Thierclasse ein gröſseres Verhältniſs gegen die
übrigen Augendrüsen, als bey den Säugthieren.
Den Vögeln fehlt dagegen die Thränencarunkel,
und die Meibomischen Drüsen sind bey ihnen
nur noch durch das Vergröſserungsglas zu erken-
nen u). Die von Jacobsonv) und Nitzschw)
beschriebene Nasendrüse liegt zwar bey einigen
in der Augenhöhle. Nach dem Verlauf ihres
Ausführungsgangs kann sie aber blos mit dem
Geruchsorgan in Beziehung stehen. Die Thrä-
nendrüsen sind endlich auch bey den Amphi-
bien, und selbst noch bey den Schlangen x),
vorhanden. Bey der Midasschildkröte zeichnen
sie sich durch eine ästige Verzweigung ihres
Ausführungsganges aus x*).
Drittes
[554]
Drittes Kapitel.
Das Schen von der subjektiven Seite.
Wäre die Netzhaut blos ein leidender Spiegel
und empfinge der Geist die Bilder dieses Spie-
gels ohne Gegenwirkung, so würden unsere
Untersuchungen über das Sehen jetzt schon be-
endigt seyn. Aber jene gaukeln uns auch im
Traume vor, unerregt von äuſsern Gesichtsein-
drücken. Wir bilden sie selbstthätig im Wachen
wie im Traume, nur im Wachen nach den Ge-
setzen einer äuſsern Welt. Sie gehen selbst bey
dem Wachenden in bloſse Erzeugnisse seiner
Organe über, wenn das Auge durch lebhafte
Eindrücke gereitzt ist. Der Anblick einer um-
geschwungenen feurigen Kohle, oder einer um-
gedreheten Scheibe mit einer Oeffnung, hinter
welcher ein Licht steht, giebt im Finstern die
Empfindung eines feurigen Kreises, wenn die
Zeit des Umschwungs nicht mehr als acht
Tertien beträgt y). Während dieser Zeit repro-
ducirt
[555] ducirt der Sehenerve die in ihm erregte Ver-
änderung blos durch eigene Thätigkeit. Er
scheint selbst jeden schwächern Eindruck so
lange festzuhalten, als die Zeit des Blinzens der
Augen beträgt; er würde sonst von dieser Be-
wegung im Sehen gestöhrt werden müssen z).
Sieht man einen Fleck von einer lebhaften
Farbe auf einem weiſsen Grunde lange und un-
verwandt an, so entsteht nach und nach um
denselben eine Krone von einer Farbe, welche
der des Flecks entgegengesetzt ist, und blickt
man hierauf von ihm weg auf den weiſsen
Grund, so erscheint auf diesem ein Fleck, der
mit dem erstern einerley Gröſse und Figur hat,
dessen Farbe aber die nämliche entgegengesetzte
ist, von welcher der erstere vorher umgeben
war. Auf diese Weise geht Roth in Grün,
Gelb in Violet, Grün in Purpur, Blau in
Orange, Schwarz in ein glänzendes Weiſs,
Weiſs auf schwarzem Grunde in ein noch dunk-
leres Schwarz über. Der Sehenerve erhält sich
also nicht nur die Urbilder; er verwandelt auch
ihre Farben nach gewissen Gesetzen. Betrachtet
man ein Viereck von hohem Roth auf weiſsem
Grunde noch anhaltender als im vorigen Ver-
such, so entsteht auf demselben nach einiger
Zeit
VI. Bd. N n
[556] Zeit ein Kreutz von noch höherm Roth, und
bey noch längerm Anblicken tritt auch an die-
ser Erscheinung Stelle eine neue, ein Rechteck
von so brennendem Roth, daſs das Auge davon
angegriffen wird a). Mithin werden unter ge-
wissen Umständen auſser den Farben auch die
Gestalten der Urbilder durch die Thätigkeit des
Sehenerven verändert.
Es giebt gewiſs ein Gemeinschaftliches aller
Empfindungen und auch derer, die das Auge
verschafft, bey allen thierischen Wesen. Aber
es finden ohne Zweifel auch Modifikationen die-
ser Empfindungen bey den Thieren jeder Classe,
Familie und Art statt, die nicht nur durch die
Verschiedenheit des Baus der Sinnesorgane, in-
sofern davon die Wirkungsart des sinnlichen
Eindrucks abhängt, sondern auch durch die
verschiedene Bildung des Sinnesnerven und der
Ausbreitung desselben bestimmt werden. Wir
finden im Bau des Sehenerven und der Netz-
haut bey allen Thieren Aehnlichkeiten, aber
auch Abweichungen. Was sich in dieser Hin-
sicht
[557] sicht über den Sehenerven bemerken läſst, haben
wir schon im vorigen Buche mitgetheilt. Die
Netzhaut besteht bey den Wirbelthieren aus
drey Blättern: einem äuſsern serösen b), einem
mittlern markigen und einem innern fibrösen.
Diese Lamellen sind schwer beym Menschen,
leichter bey den meisten Thieren von einander
zu trennen. Die fibröse Lamelle ist im Allge-
meinen von festerer Textur und deutlicher ge-
fasert bey vielen Vögeln und den meisten Fi-
schen, als bey den Säugthieren. Ihre Stärke
steht mit der Dicke des Markblatts und diese
mit der Dicke, die der Sehenerve in Verglei-
chung mit dem Gehirne hat, in Verhältniſs.
Beyde sind daher weit dicker bey vielen Vögeln
und Fischen, als bey den Säugthieren, und das
Markblatt ist am schwächsten bey den, mit
einem sehr dünnen Sehenerven begabten mäuse-
artigen Nagethieren. Das letztere hört bey al-
len Thieren am Anfange des Ciliarkörpers mit
einem verdickten Rande auf. Die fasrige La-
melle aber geht über den vordern Rand des
Glaskörpers fort, umfaſst die Crystalllinse und
hilft das Strahlenblättchen (Zonula Zinnii) bil-
den. Diese Ausbreitung des innersten Blatts
läſst sich zwar schwer bey dem Menschen, doch
leicht bey den gröſsern Fischen und Vögeln,
nach
N n 2
[558] nach vorhergegangener Erhärtung des Auges in
Weingeist, beobachten. Sie findet aber bey dem
Menschen ebenfalls statt. Mehrere Zergliederer,
die einen Fortgang der Netzhaut bis zur Linse
annahmen c), haben für die ganze Retina an-
gesehen, was in der That die fibröse Lamelle
war d).
Auſser den Verschiedenheiten in der Textur
der Netzhaut sind auch die verschiedene Ent-
stehungsart dieser Membran aus dem Sehener-
ven, der gelbe Fleck, die Falte und die durch-
sichtige Stelle derselben bey dem Menschen und
den Affen, und ihre sichelförmige Spalte bey
den Fischen Umstände, die auf verschiedene
Modifikationen des Sehens schlieſsen lassen. Wie
die Netzhaut aus dem Sehenerven entspringt,
darüber geben uns indeſs alle bisherige Zer-
gliederungen keinen genügenden Aufschluſs.
Sobald die Fasern des Sehenerven durch die
Choroidea getreten sind, ist keine fibröse Tex-
tur an der markigen Ausbreitung desselben wei-
ter zu bemerken. Wir wissen blos, daſs beym
Menschen und den ihm verwandten Säugthieren
diese
[559] diese Fasern, nach vorhergegangener Vermin-
derung der Dicke des Sehenerven, bündelweise
durch eine Siebplatte der Choroidea, hingegen
bey den Fischen ohne eine solche Zertheilung
in das Innere des Auges treten; daſs bey eini-
gen Nagethieren, z. B. dem Hasen, bey den
Vögeln und Fischen der Sehenerve zwischen der
Sklerotika und Choroidea einen Fortsatz macht,
von dessen Rändern die zur Bildung der Netz-
haut dienenden Fasern ausgehen, und daſs bey
mehrern Fischen dieser Fortsatz eine knoten-
artige Anschwellung hat.
Die Retina ist aber nicht das einzige Organ,
wodurch die subjektiven Wirkungen der Ge-
sichtseindrücke bestimmt werden. Auch die
Choroidea hat an dieser Bestimmung einen
Antheil. Nach der bekannten Beobachtung Ma-
riotte’s wird ein Objekt, welches eine solche
Gröſse, Lage und Entfernung vom Auge hat,
daſs dessen Bild eine gewisse Stelle der dem
innern Augenwinkel zugekehrten Hälfte der
Netzhaut bedeckt, dem Auge unsichtbar. Man
hat den Versuch, worauf diese Erfahrung be-
ruhet, auf verschiedene Weise angestellt e), und
es lassen sich leicht noch neue Abänderungen
des-
N n 3
[560] desselben auffinden. Die einfachste Art ihn zu
machen ist, auf einem weiſsen Papier zur Rech-
ten und zur Linken zwey schwarze Punkte zu
zeichnen, den Punkt rechts etwas tiefer als den
andern und beyde in einer geringern Entfernung
von einander, als der Abstand der Pupille des
einen Auges von der des andern beträgt, den
Punkt zur Linken bey geschlossenem linken
Auge mit dem rechten zu fixiren, ohne jedoch
den Punkt zur Rechten unbeachtet zu lassen,
und dann das Papier dem Auge langsam so zu
nähern oder von demselben so wegzuziehen,
daſs die Fläche desselben gegen die Axen bey-
der Augen senkrecht bleibt. Der Punkt zur
Rechten wird hierbey dem offenen Auge in
einem geringern oder gröſsern Abstande des
Papiers verschwinden, je nachdem man die bey-
den Punkte auf demselben einander näher, oder
weiter von einander entfernt gezeichnet hat.
Mariotte vermuthete, und seine Muthmaaſsung
wurde durch D. Bernoulli’s Versuche und
Berechnungen bestätigt f), daſs die Stelle der
Netzhaut, wo das Bild des Gegenstandes dem
Auge entrückt wird, die Eintrittsstelle des
Sehenerven ist. Jener schloſs hieraus, nicht die
Retina, sondern die Choroidea sey das eigent-
liche unmittelbare Organ des Sehens. Diese
Folgerung wurde aber mit Recht verworfen.
Wäre
[561] Wäre auch sonst nichts, was sich mit ihr nicht
vereinigen läſst, so würde sie doch schon durch
den Grund widerlegt werden, den Hallerg)
gegen sie anführte und der in neuern Zeiten
von Troxlerh) weiter hervorgehoben ist, daſs
beym Auffallen des Bildes auf die Eintrittsstelle
des Sehenerven der Gegenstand zwar verschwin-
det, aber nicht, wie bey Mariotte’s Schluſs
der Fall seyn müſste, ein schwarzer Fleck,
sondern die Farbe der Fläche, die den Gegen-
stand umgiebt, an dessen Stelle tritt. Die
natürlichste Erklärung dieser Thatsache ist die,
welche auch Haller schon gab, daſs der Sehe-
nerve an seiner Eintrittsstelle zwar nicht selbst-
thätig, doch wohl insofern er von den Theilen
der Netzhaut, welche diese Stelle umgehen, in
Mitwirkung gezogen wird, Gesichtsempfindungen
hervorbringen kann. An dieser Stelle aber fehlt
die Choroidea. Die Gegenwart der letztern ist
daher allerdings Bedingung des selbstthätigen
Wirkens der Netzhaut, und es ist anzunehmen,
daſs mit den Verschiedenheiten ihrer Bildung im
Thierreiche ebenfalls groſse Verschiedenheiten
des subjektiven Sehens in Verbindung stehen.
Das
N n 4
[562]
Das Pigment, welches die Choroidea be-
deckt, ist aber hierbey von nicht so groſser
Wichtigkeit, als die Art, wie sich die Gefäſse
in ihr verbreiten, und das Verhältniſs der La-
melle, welche die letztern bilden, gegen das
innerste Blatt derselben, gegen die Ruyschische
Haut. Jenes fehlt in den Augen der Albinos,
die doch blos in der Empfindlichkeit gegen das
Licht, nicht in andern Funktionen, von regel-
mäſsig gebauten Augen abweichen. Die Ver-
theilung der Gefäſse in der Choroidea kennen
wir inzwischen blos näher beym Menschen. In
Betreff der Ruyschischen Haut läſst sich nur
angeben, daſs sie leichter von der eigentlichen
Gefäſshaut trennbar bey den mehrsten der
Thiere als beym Menschen ist, und daſs ihre
Stärke mit der der Netzhaut in Verhältniſs zu
stehen scheint. Zur Bestimmung ihrer Funktion
giebt es keine hinreichende Data. Das einzige
Moment in der Struktur der unmittelbaren Or-
gane des Sehens, woraus sich Folgerungen in
Hinsicht auf die Verrichtungen dieser Theile
ziehen lassen, ist das verschiedene Verhältniſs
der Insertion des Sehenerven in das Auge gegen
die Augenaxe. Wir sehen mit jedem Auge nur
den Punkt deutlich, welcher in der Augenaxe
liegt, und diese trifft bey uns die Netzhaut in
ziemlich weiter Entfernung von der Eintritts-
stelle des Sehenerven. Hingegen bey dem Bär,
dem
[563] dem Dachs und dem Waschbär geht sie durch
die letztere. Diese Thiere sind also in der
Augenaxe stumpfsichtig. Der Theil eines Ge-
genstandes, worauf dieselbe gerichtet ist, wird
von ihnen gar nicht wahrgenommen.
Die Ursache des deutlichern Sehens in der
Augenaxe beym Menschen kann von doppelter
Art seyn: entweder die Retina ist in der Au-
genaxe am empfindlichsten; oder sie reagirt in
dieser stärker, weil sie in derselben von weni-
ger schiefen Strahlen getroffen wird. Der letz-
tere Grund ist vielleicht nicht der einzige, doch
der vorzüglichste: denn daſs auch jede andere,
nicht in der Augenaxe liegende Stelle der Netz-
haut die Gegenstände deutlich vorstellen kann,
erhellet aus der Fortdauer des deutlichen Sehens
bey einer solchen Verschiebung des Augapfels
durch einen äuſsern Druck, daſs ein Objekt,
welches sich vorher in der Augenaxe befand,
aus dieser weggerückt wird. Welche jener Ur-
sachen aber auch statt finden mag, sie hat auf
das Sehen des Menschen einen sehr groſsen
Einfluſs. Sein Auge ist in immerwährender
Bewegung, um jede Sache, die seine Aufmerk-
samkeit erregt, in die Augenaxe zu bringen.
Diese folgt derselben, wie die Magnetnadel dem
Eisen, und die Thätigkeit der ganzen Netzhaut
concentrirt sich bey steigender Aufmerksamkeit
N n 5immer
[564] immer mehr da, wo die Seheaxe sie trifft.
Aller Bilder, die sich auſserhalb dieser Axe
darstellen, sind wir uns um so weniger be-
wuſst, je stärker und unverwandter der Blick
auf den in ihr befindlichen Punkt geheftet ist.
Sie entschwinden dem innern Sinne gänzlich,
wenn die Gegenstände derselben durch ihre Ge-
stalt und Farbe von dem Objekt der aufmerk-
samen Beobachtung wenig abweichen. Von
zwey Punkten, die sich auf einer weiſsen Flä-
che befinden, entzieht sich der eine bey anhal-
tender Heftung des Blicks auf den andern nicht
weniger dem Gesicht, als bey dem Mariotte-
schen Versuch, wenn auch ihre Stellung gegen
den Beobachter ganz anders als bey dem letz-
tern ist. Sind es Figuren von gleicher Farbe,
aber verschiedenen Umrissen, von denen die
eine unverwandt angesehen wird, so schwinden
dem Auge die, welche von der letztern am wei-
testen abstehen, früher als die nähern, und die
nach auſsen liegenden früher als die der entge-
gengesetzten Seite. Kömmt Verschiedenheit der
Farben hinzu, so wird auch dadurch das Ver-
schwinden modifizirt, und die Nebenbilder ver-
lieren sich um so früher, je weniger abstechend
ihre Farben gegen die des Hauptbildes sind i).
Durch dieses Uebergewicht der Sehkraft im
Axen-
[565] Axenpunkte der Netzhaut über die Sehkraft
aller übrigen Punkte derselben ist das Gesicht
des Menschen mehr zur Betrachtung des Ein-
zelnen, als zum gleichzeitigen Auffassen des
Mannichfaltigen gemacht. Bey den Thieren,
deren Eintrittsstelle des Sehenerven in der Au-
genaxe liegt, und wo dieses Uebergewicht nicht
vorhanden ist, muſs das entgegengesetzte Ver-
hältniſs statt finden. Ihrem Auge erscheint zwar
das Einzelne weniger deutlich, aber dafür auch
das gleichzeitig gesehene Mannichfaltige weniger
undeutlich als dem Menschen.
Das menschliche Sehen unterscheidet sich in
subjektiver Rücksicht von dem thierischen noch
auf eine andere Art, die in der verschiedenen
Richtung der Gesichtsaxen bey dem Menschen
und den Thieren begründet ist. Wir betrach-
ten jeden Gegenstand gleichzeitig mit beyden
Augen, und die Axen derselben bleiben dabey
einander parallel, wenn nicht der Gegenstand
dem Auge so nahe ist, daſs er nur mit An-
strengung erkannt wird, in welchem Falle eine
Convergenz der Axen nach dem Gegenstande
hin und ein Schielen eintritt. Beym ungezwun-
genen Sehen ist von einer solchen Verdrehung
der Augen nichts zu bemerken, und auch jene
Convergenz der Seheaxen ist nie so stark, daſs
der gesehene Punkt von beyden Axen gleich-
zeitig
[566] zeitig getroffen wird. Wir bringen ihn immer
nur in die Axe des einen Auges, und sehen ihn
mit diesem deutlicher als mit dem andern. Bey
Menschen, deren eines Auge viel schwächer
als das andere ist, ruhet oft das schwächere
beym gleichzeitigen Gebrauch des andern ganz;
bey solchen entsteht leicht Unabhängigkeit der
Bewegung des einen Auges von der des andern
und Schielen k). Sind beyde Augen gleich
stark, oder doch in der Stärke nicht sehr ver-
schieden, so wird ein Gegenstand, den man
anhaltend betrachtet, bald in die Axe des einen,
bald in die des andern gebracht, indem beym
Ermüden des einen das andere dessen Funktion
übernimmt, und hieraus entsteht das Wanken
der Objekte beym gemeinschaftlichen und an-
gestrengten Wirken beyder Augen.
Diese gemeinschaftliche Thätigkeit ist wich-
tig bey der Schätzung der räumlichen Verhält-
nisse der Gegenstände. Wir können die Ent-
fernung, Gröſse, Lage, Gestalt und Bewegung
der Dinge sowohl mit Einem, als mit beyden
Augen, doch auf die erstere Art nur unvoll-
kommen beurtheilen. Die Schätzung der Ent-
fernung geht immer jedem Urtheil über die
übrigen jener Verhältnisse vorher. Sie läſst
sich beym Gebrauche des einen Auges allein
nur
[567] nur aus Vergleichungen der Bilder auf der
Netzhaut abnehmen. Bey dem Gebrauche bey-
der Augen zugleich dient uns auch als Mittel
zur Schätzung die Gröſse des Winkels, den die
Linien, in welchen der Gegenstand von beyden
Augen gesehen wird, mit einander einschlieſsen.
Die Neigung dieser zwey Linien gegen die vor-
dere Fläche des Antlitzes, oder gegen die Ebene,
durch welche das letztere der Länge nach halbirt
wird, bestimmt zugleich die Lage des Objekts
in Beziehung auf unsern Standpunkt. Vermit-
telst des einen Auges allein lernen wir nur den
Winkel kennen, den die eine beyder Linien mit
einer dieser Flächen macht. Daher in dem
Versuch, den schon Mallebranchel) zum Be-
weise der gemeinschaftlichen Thätigkeit beyder
Augen bey der Beurtheilung des Abstandes und
der Lage eines Gegenstands anführt, die Schwie-
rigkeit, bey Verschlieſsung des einen Auges das
Ende eines gekrümmten Stabes durch einen, drey
bis vier Schritte entfernten Ring zu stecken,
welcher so gestellt ist, daſs man dessen Oeff-
nung nicht sieht, und die Leichtigkeit, ihn
durch den Ring zu bringen, wenn man sich
beyder Augen dabey bedient. Zur Beurtheilung
der Gröſse eines Objekts dienen uns als Data:
die Entfernung desselben, die Gröſse des Win-
kels, worunter er gesehen wird, und der Grad
der
[568] der Deutlichkeit, den er in Vergleichung mit
andern, schon bekannten Objekten zeigt. Da
nun die Entfernung durch beyde Augen genauer
als durch eines erkannt wird, so ist schon die-
ser Ursache wegen zur schärfern Bestimmung
der Gröſse einer Sache das gemeinschaftliche
Wirken beyder Augen nothwendig. Beym Sehen
entfernterer Gegenstände kömmt hierzu noch,
daſs der Grad ihrer Deutlichkeit sich genauer
mit beyden Augen, als mit Einem schätzen läſst.
Es bedarf übrigens keiner weitern Auseinander-
setzung, wie unsere Urtheile über die Gestalt
und Bewegung der Dinge ebenfalls von der Be-
stimmung der Entfernung und Lage abhängig
sind, und wie also auch dabey das Sehen mit
beyden Augen wichtig ist.
Diese Art, die räumlichen Verhältnisse zu
beurtheilen, ist aber nur dem Menschen, den
Affen und überhaupt denjenigen Thieren mög-
lich, die einen und denselben Gegenstand in die
Axen beyder Augen bey unveränderter Stellung
des Kopfs bringen können. Bey vielen Thieren
haben die Augen eine solche Lage, daſs die Ge-
sichtsaxen ein Objekt, welches sich vor dem
Thier in der Axe des Körpers befindet, nicht
erreichen. Gerade nach der Richtung dieser Axe
aber richten die Thiere ihren Lauf, ihre Sprün-
ge, kurz die meisten ihrer willkührlichen Be-
wegun-
[569] wegungen, und viele von ihnen, besonders die,
welche ihre Beute im Sprunge oder im Fluge
erhaschen, verrathen ein eben so gutes und
selbst noch ein schärferes Augenmaaſs als der
Mensch. Die Frage, wie das Vermögen, die
Lage und Entfernung der Gegenstände in Be-
ziehung auf die Axe des Körpers zu schätzen,
mit jener Lage der Augen bestehen kann? ist
eine der schwierigsten in der Lehre vom Sehen.
Mir scheint die Beantwortung derselben nur
unter der Voraussetzung möglich, daſs bey jenen
Thieren der Eindruck von einem in der Axe
des Körpers, aber auſserhalb der Gesichtsaxen
befindlichen Gegenstand auf beyde Augen zu-
gleich den überwiegt, oder wenigstens dem
gleichkömmt, der unterdeſs auf jedes einzelne
Auge von dem in dessen Axe befindlichen Ob-
jekt gemacht wird. Diese Annahme wird da-
durch gerechtfertigt, daſs nach optischen Geset-
zen Strahlen, die in schiefer Richtung auf die
Linse fallen, bey den meisten Thieren wegen
ihrer convexern Linse verhältniſsmäſsig stärker
als beym Menschen auf die Netzhaut wirken
müssen. Hiernach wird das Thier die Lage
einer Sache in Beziehung auf deren Umgebun-
gen genauer als der Mensch schätzen können,
indem dasselbe beym Sehen eines Gegenstandes
mit beyden Augen das in der Axe jedes Auges
liegende Objekt gleichzeitig und bey unverwand-
tem
[570] tem Blick zu einem Vergleichungspunkt hat, der
Mensch hingegen den Blick immer verändern
muſs, um den Hauptgegenstand mit den neben-
liegenden Objekten zu vergleichen.
Allen unsern bisherigen Bemerkungen liegt
der Satz zum Grunde, daſs, so zahlreich auch
die Sehewerkzeuge eines Thiers seyn mögen,
jeder Gesichtseindruck, von welchem alle gleich-
zeitig getroffen werden, immer nur eine ein-
fache Empfindung hervorbringt. Diese Voraus-
setzung bedarf keiner Rechtfertigung. Das Leben
des Thiers, wofür sie nicht Gültigkeit hätte,
wäre ein zerrissenes Daseyn. Aber woher die
Einfachheit der Anschauung jedes Objekts, da
doch jedes Auge von demselben besonders ge-
rührt wird? Diese Frage ist das zweyte groſse
Problem in der Lehre vom subjektiven Sehen.
Die Beantwortung derselben läſst sich nicht in
der Ursache finden, worin sie von einigen
Schriftstellern gesucht ist, daſs immer nur das
eine Auge sieht m). In der Regel sehen beyde
Augen zugleich. Das rechte überschauet zur
Rechten, das linke zur Linken einen Abschnitt
des ganzen Gesichtskreises, der von dem andern
nicht wahrgenommen wird. Ruhete das eine
beym gewöhnlichen Sehen ganz, so würde die-
ser Abschnitt dem andern entschwinden müssen,
wel-
[571] welches doch nicht der Fall ist. Trennt man
die Gesichtskreise beyder Augen durch einen
flachen Körper, den man in der Mitte zwischen
ihnen vor dem Gesichte hält, so bleiben, indem
man das eine auf einen Gegenstand heftet, der
dem andern nicht sichtbar ist, dem letztern die
Dinge in dessen Gesichtskreise doch fortwährend
gegenwärtig, und jenes Objekt erscheint weniger
deutlich, als mit beyden Augen gesehen. Diese
geringere Deutlichkeit beym Gebrauche des ei-
nen Auges allein wird man auch gewahr, wenn
man einen Gegenstand erst mit beyden Augen
zugleich und dann blos mit dem einen nach
Schlieſsung des andern betrachtet. Doch ist es
bey dem letztern Versuch zweifelhaft, ob die
Veränderung der Deutlichkeit nicht von einer
Veränderung der Pupille des offenen Auges her-
rührt, die durch das Schlieſsen des andern ver-
ursacht wird.
Die obige Frage läſst sich auch nicht blos
aus der Voraussetzung, daſs ähnliche Eindrücke
nicht unterschieden werden n), beantworten.
Drückt man den Augapfel auf die Seite, so
zeigen sich die Gegenstände doppelt, obgleich
die Eindrücke auf beyde Augen nach wie vor
einander ähnlich sind. Dieses Doppeltsehen un-
ter
VI. Bd. O o
[572] ter Umständen, wo eine Disharmonie in der
Thätigkeit beyder Augen statt findet, ist über-
haupt eine der räthselhaftesten Erscheinungen
beym Sehen.
Briggso) glaubte eine Erklärung des Ein-
fachsehens in der Annahme gefunden zu haben,
daſs die linke Hälfte des einen Auges der rech-
ten Hälfte des andern und umgekehrt gleich-
artig sey, und daſs die Rührung gleichartiger
Stellen beyder Netzhäute durch ähnliche Ein-
drücke Einfachheit der Empfindung zur Folge
habe. Bey dieser Hypothese läſst sich zwar von
der Verdoppelung des Bildes beym disharmoni-
schen Wirken beyder Augen ein Grund ange-
ben; hingegen läſst sich aus ihr nicht die Frage
beantworten: Warum Doppeltsehen auch beym
Schwindel, in der Trunkenheit und in Krank-
heiten statt findet, wo doch die harmonische
Bewegung beyder Augen nicht aufgehoben
ist? p).
Der wahre Grund des einfachen Wirkens
beyder Augen ist in der Selbstthätigkeit des
Sen-
[573] Sensorium bey der Aufnahme der Gesichtsein-
drücke zu suchen. Die Sinnesorgane sind nicht
blos den Worten nach, sondern in der That
Werkzeuge, Mittel für den Geist zu dessen
Zwecken. Er schauet nicht leidend durch sie
die äuſsere Welt an, sondern assimilirt sich die
Eindrücke, die ihm durch sie gegeben werden.
Bedingungen dieser Assimilation sind: unbe-
schränkte Herrschaft des Geistes über jene Or-
gane und ungeschwächte Selbstthätigkeit dessel-
ben. Ist jene aufgehoben, entweder weil eine
äuſsere Gewalt den Willen hindert, sich des
Auges seinen Absichten gemäſs zu bedienen,
oder weil dieses Organ krankhafte Veränderun-
gen erlitten hat, so tritt Doppeltsehen ein.
Aber dieselbe Duplicität entsteht auch, wenn
die Selbstthätigkeit des Sensorium in der Trun-
kenheit, beym Schwindel, oder in Gemüths-
krankheiten geschwächt ist, oder wenn das
Auge, unbeherrscht vom Geiste, hinstarret, ohne
einen einzelnen Gegenstand zu fixiren, während
der innere Sinn in sich selber zurückgezogen
ist. Ist die Selbstthätigkeit an sich ungeschwächt,
aber durch eine Unvollkommenheit des Auges
beschränkt, so vermag sie sogar die Beschrän-
kung, die anfangs Doppeltsehen verursachte,
nach und nach wieder aufzuheben. So findet
beym Schielen in der ersten Zeit oft Duplicität
der Bilder statt; aber in der Folge werden die
O o 2Gegen-
[574] Gegenstände wieder einfach gesehen, obgleich
das Schielen fortdauert q).
Es ist hiernach glaublich, daſs sich der
Schenerve des einen Auges nicht unthätig ver-
hält, wenn dasselbe auch bey der Anwendung
des andern geschlossen ist. Man kann sich von
dieser gemeinschaftlichen Wirkung beyder Sche-
nerven überzeugen, wenn man nach Schlieſsung
des einen Auges mit dem andern eine Scheibe
von lebhafter Farbe auf einem weiſsen Grunde
lange und unverwandt ansieht. Schlieſst man
dann auch das andere, so erscheint das zurück-
bleibende Farbenbild nicht vor dem letztern,
sondern in der Mitte zwischen beyden, und es
hängt von unserer Willkühr ab, dasselbe durch
stärkeres Zusammendrücken des einen Auges vor
das andere zu bringen. Bey Personen, deren
eines Auges schwächer und fernsichtiger als das
andere ist, tritt diese Theilnahme des einen an
der Thätigkeit des andern auch ein, wenn das
stärkere bedeckt ist, während das schwächere
einige Minuten lang gegen eine leichte Fläche
gerichtet bleibt. Vor jenem erscheinen dann
kleine runde weiſse Punkte, die nahe an ein-
ander gedrängt auf einem schwarzen Grunde
sich wirbelnd durch einander bewegen r).
Von
[575]
Von dieser gemeinschaftlichen Thätigkeit der
Sehenerven enthält wahrscheinlich die Vereini-
gung derselben im Chiasma einen anatomischen
Grund. Diese Verbindung ist nur da vorhan-
den, wo beyde Augen ein gemeinschaftliches
Gesichtsfeld haben, nicht aber bey denjenigen
Fischen, deren Augen so liegen, daſs keines
derselben in den Wirkungskreis des andern mit
eingreifen kann. Aus ihr allein läſst sich aber
freylich nicht die Einfachheit des Gesichtsein-
drucks bey der Richtung beyder Augen auf
einerley Gegenstand erklären, wie Porter-
fields) gegen Galen gezeigt hat.
Nach den Brechungsgesetzen der Licht-
strahlen bilden sich die Gegenstände verkehrt
auf dem Grunde des Auges ab. Die rechte
Seite des Bildes entspricht der linken des Ob-
jekts, die obere des erstern der untern des letz-
tern, und umgekehrt. Ohne diese Umkehrung
würde es nicht möglich seyn, die Augenaxe
vermittelst bloſser Drehung des Augapfels nach
allen Seiten zu richten t). Warum uns hierbey
doch nicht die Gegenstände umgekehrt erschei-
nen, ist ebenfalls eine Frage, an deren Beant-
wortung Viele ihren Scharfsinn versucht haben.
Ber-
O o 3
[576]
Berkeleyu) glaubte die Auflösung dieses
Problems darin zu finden, daſs die Lage der
Gegenstände etwas Relatives ist und keine Sache
uns umgekehrt erscheinen kann, wenn es nicht
eine andere giebt, die wir in gerader Stellung
sehen, alle Bilder im Innern des Bildes aber
umgekehrt sind. Gegen diese Erklärung würde
sich nichts einwenden lassen, wenn uns blos
das Auge von der Lage und Stellung der Ge-
genstände unterrichtete. Aber warum stehen
die Vorstellungen, die wir hiervon durch unsere
übrigen Sinne, besonders durch das Getast em-
pfangen, mit denen, die uns das Gesicht giebt,
nicht in Widerspruch? Wie entsteht bey dem
Insekt, in dessen einfachen Augen die Gegen-
stände sich ebenfalls verkehrt darstellen müs-
sen, während in den zusammengesetzten Augen
desselben keine solche Umkehrung vorgehen
kann, Uebereinstimmung zwischen den Empfin-
dungen, die es von diesen verschiedenen Ge-
sichtswerkzeugen erhält?
Diese Schwierigkeiten, von welchen die
letztere bisher unbeachtet geblieben ist, werden
durch keine der sonstigen Erklärungen, die man
von der obigen Thatsache gegeben hat, gehoben.
Sie läſst sich nicht, wie die Einfachheit der
Empfindung bey der Doppeltheit der Gesichts-
ein-
[577] eindrücke, von der Selbstthätigkeit des Senso-
rium ableiten: denn bey ihr sind nicht gleich-
artige Eindrücke zu vereinigen, sondern Gegen-
sätze aufzuheben. Die Macht der Gewohnheit
kann diese Aufhebung nicht bewirken. Bey
keinem Blindgebornen, der in spätern Jahren
den Gebrauch der Augen erhielt, bemerkte
man eine Disharmonie zwischen dem Gesicht
und Getast. Diese würde sich aber gewiſs ge-
zeigt haben, wenn man einen solchen gleich
nach erlangtem Gesicht die Gegenstände durch
optische Vorrichtungen in der entgegengesetzten
Stellung, worin sie dem bloſsen Auge erschei-
nen, hätte sehen lassen. Gegen zwey neuere
Erklärungen des Sehens, von welchen die eine
voraussetzt, nicht die Netzhaut, sondern die
Hornhaut, auf welcher sich die Bilder der
äuſsern Gegenstände aufrecht spiegeln, sey das
wahre Organ des Sehens v), die andere das
auf die Oberfläche des Gegenstandes durch die
“glatte” Membran des Glaskörpers zurückge-
worfene Bild für das eigentliche Objekt des
Sehens annimmt w), läſst sich zwar nicht ein-
wenden, daſs durch sie diese Schwierigkeit
nicht gehoben wird, wohl aber, daſs es schwer
hält
O o 4
[578] hält zu sagen, welche von beyden die unge-
reimteste ist.
Eine befriedigende Lösung des obigen
Problems ist schwerlich möglich, wenn man
nicht einen solchen Lauf der Fasern des Sehe-
nerven annimmt, daſs jeder Eindruck auf ir-
gend eine Stelle der Netzhaut von Fasern der
entgegengesetzten Seite des Sehenerven fortge-
pflanzt wird. Von der Kreutzung der Fasern
im Chiasma läſst sich dieser Gegensatz nicht
ableiten. Sie findet bey dem Menschen und
den höhern Thieren nur an einem Theil bey-
der Sehenerven statt x). Die Umbiegung der
Fasern zur entgegengesetzten Seite, worauf sich
hier eine Erklärung bauen läſst, kann erst beym
Durchgange des Sehenerven durch die Choroi-
dea eintreten. Man muſs voraussetzen, daſs die
Fasern vom obern Theil des Sehenerven in den
untern der Netzhaut, von der linken Seite des
erstern zur rechten dieser Haut übergehen. Es
giebt freylich keinen anatomischen Grund für
diese Annahme. Es läſst sich aber auch keiner
gegen sie anführen, und sie hat also bey dem
Mangel an einem andern befriedigendern Grunde
als Hypothese Gültigkeit.
Dies
[579]
Dies sind die Hauptpunkte, die sich bey der
Betrachtung des durch das Auge vermittelten
Wirkens der äuſsern Natur auf das thierische
Leben darbieten. Wären wir in Besitz hinrei-
chender Erfahrungen, so würden wir noch die
verschiedenen Verhältnisse, worin die Sinne von
subjektiver Seite bey den verschiedenen Thier-
arten gegen einander stehen, untersuchen. Aber
aus dem, was uns von den Aeuſserungen des
geistigen Lebens der Thiere bekannt ist, läſst
sich in Hinsicht auf diesen Punkt sehr wenig
schlieſsen, und die vergleichende Hirnlehre, die
uns Auſschlüsse geben könnte, ist hierzu noch
bey weitem nicht reich genug an Beobachtungen
und Resultaten.
[[580]]
Appendix A Druckfehler.
- S. 16. In der Anmerkung: n). Z. 4. Statt adhaerent
l. m. adhaererent. - S. 183. Z. 7. St. Sehenerven l. m. Sehenerve.
- S. 213. Z. 21. St. Enten. l. m. Eulen.
- S. 230. Z. 20. St. Geruch l. m. Geschmack.
- S. 307. In der Ueberschrift. St. Drittes Kapitel.
l. m. Zweytes Kapitel. - S. 307. Z. 1. St. Geruchssinns l. m. Geschmacks-
sinns. - S. 325. Z. 11. St. gäbe l. m. gebe.
- S. 339. Z. 20. St. scheinen l. m. schienen.
- S. 346. Z. 12 u. 13. St. eine knöcherne Platte l. m.
einer knöchernen Platte. - S. 347. Z. 20. St. welche l. m. welcher.
- S. 355. In der Anmerkung: *). Z. 5. Nach will setze
man hinzu: Die Richtigkeit dieser Be-
obachtungen läſst sich mit Recht be-
zweifeln, doch nicht geradezu vor-
werfen. - S. 378. Z. 9. St. Gavia l. m. Çavia.
- S. 390. Z. 17. Nach Menschen sind die Worte im
Schlunde zu durchstreichen. - S. 441. In dem Citat: q). Z. 2. St. Schnecken l. m.
Schnaken. - S. 480. Z. 19. St. muſs l. m. müssen.
- S. 550. In dem Citat r) l. m. Cuvier a. a. O. u. s. w.
- S. 558. In dem Citat c). Nach anat. setze man hinzu:
oculi.
[][][]
demann’s Archiv für Zoologie und Zootomie. B. 3.
St. 1. S. 225.
nat. T. XVI. p. 46. und Tilesius’s in Krusenstern’s
Reise um die Welt. Th. 3. S. 109.
T. II. p. 375.
den J. 1797 u. 1798. (Leipz. 1801.) S. 399.
von M. C. Sprengel. S. 157.
Octav-Ausgabe.
deaf etc. by J. Wardrop. Edinb. 1813. Stewart
in den Transact. of the royal Society of Edinburgh.
Vol. VII. p. 1.
utantur melius homine libri II. Helmstadii 1729.
Nestern zurückkehren, beweisen Frisch’s und An-
derer, in Buffon’s Hist. nat. des oiseaux (T. XII.
p. 265. 275. der Octav-Ausgabe) angeführte Beob-
achtungen.
lichen, solito ampliora videbantur … Mater confite-
tur, se saepius admiratam esse, qua cupiditate ma-
nus ejus muliebribus cruribus adhaerent, et quanta
maxima celeritate per summam omnem cutem, haud
vestimentis earumdem contectam tactuique ideo sub-
jectam, digiti aberrarent; interea in miseri corpore
notae veneris mare desideratae (scilicet priapismus)
in oculos parentis vel adstantium sese manifestas
darent.
sammte Naturk. B. IV. S. 109.
das musikalische, und Zarah Colburn, das arith-
metische Wunderkind. Jenes (geboren am 5. July
1775) äuſserte an einem Abend im August 1776,
als es die Orgel spielen hörte, eine ungewöhnliche
Unruhe, die nicht eher aufhörte, als bis man es
zur Orgel trug, deren Claves es mit einer Art von
Entzücken schlug. Als es am folgenden Tage wie-
der davor hingesetzt war, spielte es zum Erstaunen
der Eltern ganze Verse aus Liedern, die es von
Andern hatte spielen hören. Nach dem Antritt des
zweyten Jahrs spielte es fast täglich, lernte mehrere
Stücke und fing an, mitunter etwas von seinen ei-
genen Compositionen einzumischen (Lichtenbero’s
vermischte Schriften. B. IV. S. 433.). Zarah Col-
burn, ein amerikanisches Kind, welches 1812 in
London lebte und damals acht Jahre alt war, be-
saſs,
homines dormientes impressionem acceperint ima-
ginationis pulchrae foeminae, quam adeo deperie-
bant, ut non potuerint sanari, nisi inventa foemina,
isti imagini quam simillima. Boerhaave praelect.
de morbis nervorum. p. 342.
zu haben, ja ohne nur die Zeichen der Zahlen zu
kennen, die merkwürdige Gabe, die schwersten
arithmetischen Fragen beantworten zu können. Es
wuſste keinen Bescheid von seiner Rechnungsweise
zu geben, sondern erklärte, daſs ihm die Antwor-
ten unmittelbar, wie durch Inspiration zukämen. In
Nicholson’s Journal of natur. Philosophy (Januar.
1813.) sind auffallende Beyspiele von der Fertigkeit
des Kindes angeführt und mehrere achtungswürdige
Gewährsmänner für die Wahrheit der Erzählung ge-
nannt. Man vergleiche auch Schweigger’s neues
Journal für Chemie und Physik. B. XI. H. 1. S. 96.
das Gehör erhielt und dessen Geschichte in der Hi-
stoire de l’Acad. des sc. de Paris (A. 1703. p. 22.
der Octav-Ausgabe) von Felibien erzählt ist, be-
mächtigten sich gleich, nachdem seine Genesung be-
kannt geworden war, die Geistlichen und prüften
ihn über Gott, die Seele, die Moralität der Hand-
lungen u. dergl. Man fand aber bald, daſs er gar
keine Begriffe von diesen Sachen hatte, obgleich
es ihm nicht an Geist fehlte und die Gebräuche
der katholischen Kirche von ihm mechanisch mit-
gemacht waren.
Der
Menschen zugethan wurden und Dankbarkeit gegen
diese zu äuſsern schienen, giebt es viele, denen es
aber zum Theil sehr an Beglaubigung fehlt. Zu-
verlässiger und mit mehr Umsicht gemacht sind
die in Buffon’s Histoire natur. des oiseaux, T. XI.
p. 86. der Octav-Ausgabe, mitgetheilten Beobachtun-
gen über einen zahmen Bussard (Falco Buteo), ei-
nen Vogel, den man der Anhänglichkeit au den
Menschen und des Begriffs von fremdem Eigenthum
nicht für fähig halten sollte, und welcher doch
deutliche Zeichen von beyden äuſserte, indem er zu
seinem Herrn immer zurückkehrte, obgleich ihm
die Freyheit nicht genommen war, auf dessen Pfei-
fen hörte und dieses beantwortete, nie dem Feder-
vieh desselben schadete, wohl aber oft die Haus-
vögel fremder Höfe tödtete, und keinen andern
Raubvogel in der Gegend seines Hofes duldete.
mus. S. 82.
fenbarung. S. 163.
p. 284.
Heilkunde. 1815. St. 9. S. 65.
der sich in seinen Exercitat. de subtilitate als den
Vorgänger Stahl’s zeigt, indem er die Seele zur
wirkenden Ursache aller körperlichen Veränderun-
gen macht, und, um die unbewuſsten und doch
zweckmäſsigen Handlungen dieses Princips zu er-
klären, zwischen Ratio und Ratiocinatio unterschei-
det. Einen ähnlichen Unterschied nahm Stahl
zwischen λόγος (Intellectus simplex, simplicium,
imprimis autem subtilissimorum) und λογισμὸς (Ra-
tiocinatio atque comparatio plurium et insuper qui-
dem per crassissimas circumstantias sensibiles, vi-
sibiles atque tangibiles notorum) an (Theoria me-
dic. vera. p. 266.). Gegen diese dunkele Unterschei-
dung läſst sich aber erinnern, daſs von Vernunft
(Ratio, λόγος) so wenig als von Urtheilen (Ratio-
einatio, λογισμὸς) die Rede seyn kann, wo nicht
Bewuſstseyn zugegen ist, daſs indeſs wohl eine
von der Vernunft verschiedene, jedoch gemeinschaft-
lich mit dieser wirkende Kraft unabhängig von
der Vernunft Wirkungen hervorbringen kann, die
den
dem sie nur das Zweckmäſsige hervorzubringen
ihrer Natur oder ihren äuſsern Verhältnissen nach
gezwungen ist.
Heilkraft des thierischen Magnetismus. Th. 3. Ab-
theil. 1. S. 1.
Auge des Maulwurfs nach meinen Untersuchungen
eine undurchsichtige, einfache Masse sey, ist eine
auf einem Miſsverständniſs beruhende Angabe.
p. 473.
musculaires vivantes von Barthez (Nouveaux Elé-
ments de la science de l’homme. T. I. p. 77.) ge-
nannt.
in heftigem Zorn gebissen habe, der darauf wasser-
scheu geworden sey, und die Philosophical Trans-
actions enthalten einen Fall von einem Menschen,
der an der Wuth starb, nachdem er sich nach ei-
nem Spiel, worin ihm Alles verloren gegangen
war, aus Verzweifelung in die Hand gebissen hatte.
der Wasserscheu. Uebers. von Romberg S. 99.
Nasse. 1820. 3tes Viertelj. S. 677.
mischen und physiologischen Inhalts von G. R.
und L. C. Treviranus.
Tr. Th. 3. S. 57.
über das Verhältniſs der verschiedenen Hirntheile
und des Rückenmarks zum verlängerten Mark noch
weiter bemerken werde, enthalten die beyden, zur
gegenwärtigen Seite gehörigen Tafeln. In beyden
ist bey allen Thieren das Hinterhauptsloch für die
hintere, und bey den Säugthieren ein senkrechter,
durch den hintern Rand der Brücke gemachter
Durchschnitt für die vordere Gränze des verlänger-
ten Marks angenommen. Ferner ist bey den Säug-
thieren die Brücke mit zum groſsen Gehirn gerech-
net, und das Gewicht aller Theile nach möglichst
sorgfältiger Absonderung ihrer Hänte und der aus
ihnen entspringenden Nerven bestimmt. Die Thiere
sind darin nach ihren Classen, und in jeder Classe
nach dem Gewichtsverhältniſs des verlängerten Marks
zum übrigen Gehirn geordnet, doch mit einigen
Ausnahmen bey den Vögeln, wo dieses Verhältniſs
nach dem Alter und Geschlecht sehr wechselt. Die
erste senkrechte Zahlenreihe der ersten Tafel ent-
hält das absolute Gewicht des verlängerten Marks
in Granen Nürnberger Apothekergewichts. In den
acht folgenden Reihen ist, zur Ersparung des
Raums, blos das relative Gewicht der übrigen Hirn-
organe in Decimaltheilen des = 1 gesetzten Ge-
wichts des verlängerten Marks angegeben. In den
eilf ersten, senkrechten Zahlenreihen der zweyten
Tafel
für die Einheit angenommen, und unter den drey
Dimensionen jedes Organs sind diejenigen zu Ver-
hältniſszahlen ausgewählt, deren Veränderungen mit
den Veränderungen der Masse des Organs am näch-
sten übereinstimmen.
nix sey auf die Säugthiere und Vögel beschränkt
(Verm. Schriften. Th. 3. S. 38.). Bey Untersuchun-
gen des Crocodilgehirns fand ich aber das obige
Organ, das mit dem Fornix des Vogelgehirns ganz
übereinkömmt, und dessen Stelle bey den übrigen
Amphibien eine halbmondförmige Platte einnimmt.
S. 25. 26.
S. 26 fg.
ten
hältniſs groſse Abweichungen statt, wie sich aus
den von Haller (Elem. Physiol. T. IV. L. X.
S. 1. §. 13. p. 63.) gesammelten und von Greding
(Verm. med. u. chirurg. Schriften, S. 183.) aus eige-
ner Erfahrung mitgetheilten Beobachtungen ergiebt.
vordern Paars der Vierhügel = 100 setzt, das Ab-
nehmen und Wachsen der Länge des hintern Paars
gegen jene Länge bey dem Fuchs, dem Coati, Igel
und Maulwurf, der Ratze, dem Hasen, Schaaf und
Chinesischen Schwein durch folgende Zahlen aus-
gedrückt wird: 120, 88, 82, 76, 67, 29, 23, 64.
Diese Verhältnisse, die ich erst seit der Heraus-
gabe meiner Untersuchungen über den Bau
und die Funktionen des Gehirns u. s. w.
in Zahlen genau zu bestimmen Gelegenheit gefun-
den habe, dienen mit zur nähern Bestimmung des-
sen, was ich dort (S. 71 fg.) über die Veränderun-
gen der Vierhügel in den verschiedenen Säugthier-
familien bemerkt habe.
et causis morb. L. I. Epist. 11. Edit. 2. p. 164.
173 fg.
med. and chirurg. Soc. of London. Vol. I. p. 183.
phale et ses dépendances. Paris 1820.
l’ Apoplexie von Lallemand (a. a. O. p. 60.) ange-
führten Fall, wo, bey einer Erosion des gestreiften
Körpers der rechten Seite, das Auge der nämlichen
Seite amaurotisch war, die Lähmung aber auf der
linken Seite statt fand.
Obs. 4. p. 282. Obs. 5. p. 294. Obs. 12. p. 295. Obs. 14,
der Octav-Ausg.
Hailer a. a. O. p. 334. Arnemann a. a. O. S. 175.
Yelloly a. a. O. p. 198.
Roi. I. p. 14. Winslow, in Palfyn’s Anat. chirurg.
T. IV. no. 110. Lieutaud, Essais anatom. p. 399.
Santorini, Observat. anat. p. 61. Ejusd. Septende-
cim tabulae. p. 28.
Girardi, in Santorini’s Septend. tabul. XVII.
p. 29, 30. Boyer, Traité compl. d’ Anat. T. IV. p. 63.
d’ Anat. et de Physiol. p. 110. Sabatier, Mém. de
l’ Acad. des sc. de Paris. A. 1783. p. 68.
p. 143.
192.
Foetus. S. 95.
p. 348.) führt eine ähnliche Beobachtung aus Loe-
sel’s Schrift De renibus mit den Worten an: Ne-
que credo serio Loeselium vidisse nervos opticos
non conjunctos. Vesal’s Erfahrung muſs ihm beym
Niederschreiben dieser Worte entfallen gewesen seyn;
er würde sonst über Loesel milder geurtheilt haben.
Erfah-
Meckel’s Handb. der menschl. Anatomie, Th. 3.
S. 745 fg. gesammelt.
ranus. Th. 3. S. 168.
ralysi et gravissima nervorum resolutione defuncto-
rum, aperuerim, deprehendi semper corpora striata
prae aliis in cerebro minus firma, instar amorcae
discolorata et striis multum obliteratis. Willisii
Anat. cerebri. C. 13. Opp. p. 43.
motuum localium spontaneorum primos instinctus
suscipiunt. Willis l. c.
Willis (a. a. O. p. 14. fig. 4.) eine Abbildung ge-
liefert hat.
des Schädels und über einander geschobenen Schä-
delknochen geboren. Es sog indeſs, und die Schä-
delknochen erhoben sich allmählig, so daſs einige
Monate nach der Geburt, wo ich dasselbe sah, die
Gestalt des Kopfs der natürlichen ziemlich nahe
kam. Aber weder in der ersten Lebenszeit, noch
späterhin, zeigte sich irgend eine Spur von Empfäng-
lichkeit der Sinnesnerven des Gehirns für äuſsere
Eindrücke. Die Augen waren völlig amaurotisch.
Das Gehör schien ebenfalls ganz zu fehlen. Die
Un-
sich durch das Verschlingen aller in den Mund
gebrachten Substanzen, ohne Zeichen von Wohlge-
fallen oder Widerwillen. Ueber die Beschaffenheit
des Geruchssinns habe ich mir keine Nachrichten
verschaffen können. Bey alle dem gingen das
Athemholen, die Verdauung und die Ernährung un-
gestört vor sich. Einige Monate vor dem Tode
brachen drey Schneidezähne hervor. Sowohl mit
den obern als den untern Gliedmaſsen machte das
Kind häufige Bewegungen, die zwar blos automa-
tisch seyn konnten, doch die Abwesenheit von
Lähmung in diesen Theilen bewiesen. In den letz-
ten Lebenswochen zeigte sich Wasseranhäufung im
Gehirn mit den gewöhnlichen Zufällen. Bey der
Untersuchung des Gehirns, wozu ich die Gelegen-
heit der Güte des Herrn Dr. Töpken in Bremen
verdanke, fand ich das kleine Gehirn, die Brücke,
das verlängerte Mark und die aus dem letztern ent-
springenden Nerven natürlich gebildet. Die übri-
gen Hirnnerven waren ebenfalls vorhanden, die Ge-
ruchsnerven aber ungewöhnlich weich, und die Ge-
sichtsnerven etwas dünner wie im regelmäſsigen
Zustande. Von dem groſsen Gehirn traf ich blos
Bruchstücke an. Auf der obern Seite desselben wa-
ren nur die Hirnschenkel, die Vierhügel, die hin-
tere und die mittlere Commissur zu unterscheiden.
Der Balken, das Gewölbe, die gestreiften Körper
und
drückte, einförmige, mit den Hirnhäuten fest ver-
wachsene Masse aus. Auf der untern Seite zeigte
sich die Höhlung des Trichters sehr erweitert, und
dieser mit den Markkügelchen zu einer einfachen
Hervorragung ausgedehnt. Von den Windungen
waren nur noch in den vordern und hintern Lap-
pen einige Bruchstücke mit einem Rest des rechten
Ammonshorns vorhanden. Die Stelle der übrigen
Hirnmasse nahm Wasser ein, umschlossen von der
weichen Hirnhaut, die auf ihrer innern Fläche ei-
nen dünnen Ueberzug von Rinde hatte.
schen Akad. der Wissensch. aus den J. 1814—15.
S. 185.
S. 341.
289 der Octav-Ausg. Obs. 8 et 9.
und den folgenden. A. a. O. p. 290.
einen Mann, der lange an groſser Schwäche des
Gedächtnisses und der Einbildungskraft litt, und
von dieser Krankheit genas, als er blind wurde.
rino (Spicil. anatom. Obs. 35. p. 76.) beschriebe-
ner Fall, wo bey einem Blödsinnigen ein 13 Gran
schwerer Stein in einer der Seitenhöhlen des Ge-
hirns gefunden wurde, und keine Zirbel vorhanden
war.
Erfahrungen. B. I. S. 412.
de Polype etc. p. 66. Baker Nat. Hist. of Polype.
p. 68. No. 81. Dicqulmare, Philos. Transact. Y. 1775.
Tiedemann in J. F. Meckel’s Archiv f. d. Physiol.
B. 1. S. 175.
nat. T. I. p. 243. 247.), nach welchen ein sehr helles
Licht keinen Eindruck auf den Regenwurm macht,
wenn nicht der Zutritt desselben mit einer Erschüt-
terung des Erdbodens verbunden ist, scheinen zwar
hiermit nicht übereinzustimmen. Allein Montegre
stellte seine Versuche mit diesem Wurm zur Zeit
der Paarung desselben an, in welcher jedes Thier
sehr unempfänglich für alle äuſsere Einwirkungen
ist, die nicht mit dem Geschlechtstriebe in unmittel-
barer Beziehung stehen.
Bouviers-Desmortiers. Paris. An. VIII.
By J. Wardrop. Edinb. 1813.
fendit C. F. Hubner. Halae. 1794.
n. 59.
Taubstummen. Kiel. 1802. S. 32.
mischte Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus.
B. 3. S. 137. Seit der Herausgabe der an diesen
Stellen enthaltenen Beobachtungen habe ich den Ur-
sprung und Verlauf der Hirnnerven noch weiter an
mehrern Maulwürfen mit aller mir möglichen Ge-
nauigkeit untersucht, und gefunden, daſs der zum
Auge des Maulwurfs gehende, dem Augenast des
fünften Hirnnerven der übrigen Wirbelthiere analoge
Zweig des Trigeminus sich ohnweit dem Auge in
mehrere Fäden theilt, welche die Sclerotica in der
Nähe des Ursprungs der Retina durchbohren. Ob
diese Ciliarnerven aber zur Bildung der Netzhaut
mit beytragen, oder ob dieselbe auf die gewöhnliche
Art blos von dem Sehenerven abstamme, habe ich
nicht entdecken können. Ein Knoten, worin, wie
ich sonst mit Carus vermuthete, der Sehenerve mit
jenem
Beschreibung dieses Baus enthält meine Abhandlung
De protei anguini encephalo et organis sensuum im
4ten Bande der Commentat. Soc. Reg. scient. Gotting.
recent.
Netzhaut verbände, zeigte sich mir nirgends. In
Betreff der übrigen Augennerven muſs ich meine
frühere Behauptung, daſs sie zum Theil beym Maul-
wurfe vorhanden seyen, zurücknehmen. Die Ner-
ven des dritten, vierten und sechsten Paars fehlen
allerdings, wie Carus richtig angegeben hat, dem
Maulwurfe ganz. Die kleinere Portion der Nerven
des fünften Paars ist hier aber von der gröſsern so
scharf abgesondert, daſs man einige ihrer getrennten
Fäden leicht für Nerven des dritten und vierten
Paars halten kann, und diese müssen es auch ge-
wesen seyn, die ich früher dafür angesehen habe.
de in Berlin, B. 1. S. 129.
B. X. St. 4. S. 175. Unrichtig aber ist es, wenn
Bonvincini im Allgemeinen angibt, die Weinberg-
schnecken wichen erst dann von ihrem Wege ab,
wenn sie an Körper, die ihnen in den Weg gelegt
wären, mit den Fühlfäden stieſsen. Dies ist nur
dann der Fall, wenn sie geängstigt werden und zu
entfliehen suchen.
and W. Spence. Vol. II. p. 312.
p. 54.
S. 36.
das Fühlhorn eines Ptinus Fur in Bewegung gerieth,
so oft der Spitze desselben ein Haarpinsel bis auf
eine Viertellinie genähert wurde. Bey dieser Beob-
achtung war aber so leicht Täuschung möglich, daſs
ich nicht darauf bauon mag.
394.
gazin der Gesellsch. naturf. Freunde zu Berlin.
Jahrg. 5. S. 388.
Bandes seiner Vermischten medicinischen Schriften
“über die körperlichen Vorzüge des Menschen vor
„den Thieren.”
sammte Naturk. B. IV. H. 1. S. 16.
Lyonnet (Traité de la chenille du saule p. 68.)
ausdrücklich, daſs sie keine Nervenwärzchen hat.
Königl. Preuſsischen Akad. der Wissensch. J. 1814—15.
S. 175.
S. 37.
C. G. Lehmann (De antennis insector. diss. prior.
Londin. et Hamburg. 1799. §. 28.) Erinnerungen ge-
macht. — Mir zeigten sich an den längern Fühl-
hörnern des Hummers keine Spuren von Oeffnungen,
wohl aber sahe ich an dem vordern Rande jedes
ihrer ringförmigen Glieder eine Reihe kleiner horn-
artiger, bräunlicher Wärzohen. Aus jeder Papille der
hintern, gröſsern Glieder ragt ein einfaches Haar
hervor; die Wärzchen der vordern, kleinern Glieder
tragen Büschel von mehrern Haaren. Auf diesen
vordern Gliedern giebt es auch noch an andern Stel-
len als am Rande solche Wärzchen. Das Innere der
Fühlhörner besteht aus einem Gewebe von Fasern,
Gefäſsen und Nerven, welches unter der Schaale mit
einer ähnlichen, auf ihrer äuſsern Fläche roth ge-
färbten Schleimhaut, wie der übrige weiche Körper
des
Fühlhorns theilt sich, nachdem er in dasselbe einge-
treten ist, in mehrere Zweige, die parallel neben
einander fortgehen, sich bey ihrem Fortgange noch
weiter in gleichlaufende, dünnere Zweige spalten
und auf ihrem Wege Seitenfäden an die vordern
Reihen der Glieder, auf welchen die erwähnten
Papillen befindlich sind, abgeben. Wahrscheinlich
waren es diese Wärzchen, was Baster für Oeffnun-
gen hielt, und die kleinen Haare, womit die Wärz-
chen besetzt sind, was er für weiſse Fäden ansahe.
XVII. p. 437.
Leipz. 1778. S. 14.) und Knoch (A. a. O. S. 32.)
an verschiedenen Käfern, Ramdohr (Magaz. der
Gesellsch. naturf. Freunde in Berlin. Jahrg. 4. S. 287.)
an den Bienen bemerkten und wie ich ebenfalls an
mehrern Insekten beobachtet habe.
die Theile, mit welchen die Bienen die Fruchtbarkeit
ihrer Königinnen auskundschaften.
der Wasserscheu. Uebers. von Rombero. Berlin.
1820. S. 163.
151.
p. 398.
Th. 1. S. 105.
Octav-Ausg.
Miscell. Acad. Nat. Curios. Dec. 1. A. 3. 1672. p. 559.
und in Le Cat’s Traité des sens. p. 225.
1665.
u. der Stimme. S. 3. 7.
Th. 3. S. 112.
London. 1815. p. 254.
die Anastomosen der Zungenzweige vom fünften
Paar und der Aeste des Zungenfleischnerven in der
ganzen Ausdehnung der Zunge so zahlreich, daſs er
es für unentschieden hält, welcher Nerve den mei-
sten Antheil an der Bildung der zur Oberfläche der
Zunge gehenden Fäden hat.
der Zungenwärzchen bey den Säugthieren und Vögeln
muſs ich auf Cuvier’s Leçons d’Anat. comp. T. II.
p. 686. 691., auf die Citate in Blumenbach’s Handb.
der vergl. Anat. §. 230., aus welchen Cuvier’s Be-
schreibungen zum Theil geschöpft sind, und Tiede-
mann’s Anat. und Nat. Gesch. der Vögel, B. 1. S. 114.,
verweisen.
Fische u. s. w. Uebers. von Schneider. Tab. XVII.
f. 1. 2. J. S. 126.
Coleopteren, den Orthopteren und den Odonaten
unter den Neuropteren ein der Zunge der Säugthiere
analoges Organ zu, obgleich gerade bey diesen
Insekten die Zunge weit weniger ausgebildet ist,
als bey den Hymenopteren, für deren Zunge er mit
den Entomologen unrichtig den Rüssel ansieht, da
doch schon Reaumur (Mém. pour servir à l’ Hist.
des Ins. T. V. P. I. Mém. 6. p. 317.) die wahre Zunge
bey der Biene erkannt hatte.
halts von G. R. u. L. C. Treviranus Th. 3., wo
ich S. 125. Tab. XIII. fig. 1. 4. 7., und Tab. XIV. fig. 1.
bey L, die innere Zunge der Erd- und Moosbiene,
und Tab. XV. fig. 5. 7. 8. 9. bey L’, L, beyde Zungen
der Hornisse näher beschrieben und abgebildet habe.
Von der Zunge mehrerer anderer Insekten habe ich
in
exsangnium. Gotting. 1798. p. 35.
auf der inwendigen Fläche der Oberlippe, vor dem
Anfang des Schlundes, auf jeder Seite einen zitzen-
förmi-
den innern Bau der Arachniden, Beschreibungen und
Figuren geliefert, namentlich von der Zunge des
Phalangium Opilio (Verm. Schr. Th. 1. S. 27. 28.
Tab. III. fig. 14. 15. l.), des Skorpions (Ueber den
innern Bau der Arachn. S. 5. Tab. I. fig. 2. l.) und
der Spinne (Ebendas. S. 23. Tab. II. fig. 15. u. 24. h.).
Die Zunge der Melolontha vulgaris Fabr. hat Knoch
(A. a. O. Th. 1. S. 32. Tab. I. fig. 30.) vorgestellt.
pelartigen Spitze. Diese Theile scheinen bey jenem
Käfer die Stelle der Zunge zu vertreten, die bey ihm
nicht vorhanden ist, obgleich es hier, wie über-
haupt bey den Käfern, ein Zungenbein giebt, woran
der Schlund befestigt ist.
Uebers. von Wiedemann. S. 48.
thiere, von Römer u. Schinz. S. 305.
Menschen haben Haller (Elem. Physiol. T. V. L.
XIV. S. 3. §.4. p. 179.) und Wiedemann (in seinen
Zusätzen zu Harwood’s System der vergl. Anat.
S. 94.)
bornen von Canada, obgleich sie Hunde haben, sich
doch seltener auf diese, als auf ihren eigenen Ge-
ruchssinn beym Aufspüren des Wildes verlassen.
Carver (Reisen durch die innern Gegenden von
Nordamerika. A. d. Engl. Hamburg. 1780. S. 209.)
erzählt zwar auch von der groſsen Fertigkeit der
Nordamerikanischen Wilden im Aufspüren von Men-
schen und Thieren. Er schreibt ihnen aber nicht
eine ausgezeichnete Feinheit des Geruchs, sondern
nur Schärfe der Sinne im Allgemeinen zu. “Sie er-
„langen”, sagt er von ihnen, “durch Uebung und
„scharfe Beobachtung viele Vollkommenheiten, die
„den Europäern fehlen. So gehen sie z. B. durch
„einen Wald oder eine Ebene von 200 Meilen Breite
„und kommen genau an den Punkt, den sie sich
„vorgesetzt hatten, ohne irgend einen beträchtlichen
„Umweg zu machen, und es ist ihnen völlig gleich-
„gültig dabey, ob das Wetter heiter oder dunkel
„ist. Eben so genau können sie die Stelle be-
„stimmen, wo die Sonne am Himmel ist, wenn
„sie auch völlig von Wolken oder Nebel verdeckt
„wird. Sie können mit eben so groſser Fertigkeit
„die Spuren von Menschen oder Thieren auf
„Laub oder auf Grase ausfindig machen, und da-
„her entgeht ihnen auch ein fliehender Feind nichts
„leicht. Sie haben diese Eigenschaften
„nicht blos der Natur, sondern einer
„auſser-
„zu danken, die sie blos durch eine un-
„aufhörliche Anstrengung und Aufmerk-
„samkeit erlangen.” Auch Sparrmann und
Barrow bemerken nichts von einer ausgezeichneten
Schärfe des Geruchssinns bey den Eingebornen des
südlichen Afrika. Der letztere aber erzählt, daſs die
Hottentotten eine auſserordentliche Geschicklichkeit
im Nachspüren von Menschen und Thieren vermit-
telst Unterscheidung der Fuſsstapfen durch das
Gesicht besitzen. “Es giebt”, sagt Barrow,
“kein dem Hottentotten bekanntes Thier, dessen
„Fuſsstapfen er nicht unterscheiden könne. Die Fuſs-
„stapfen irgend eines seiner Gefährten würde er
„unter Tausenden ausfindig machen.” (Barrow’s
Reisen in das Innere von Südafrika in den J. 1797.
u. 98. Leipz. 1801, S. 452.). Azara (Voyages dans
l’ Amérique méridionale, T. II.) sagt von den Char-
ruas, einer Nation des südlichen Amerika: “Sie
„haben ohne Widerrede ein doppelt so weites und
„besseres Gesicht als die Europäer. Auch sind sie
„uns in Betreff des Gehörs weit überlegen.” Des
Geruchssinns erwähnt er ebenfalls nicht, und eben
so wenig finde ich in der Reise des Prinzen
Maximilian von Wied-Neuwied nach Brasilien
etwas über diesen Sinn bey den Botocuden und an-
dern Brasilianischen Wilden.
Aequinoctialgegenden des neuen Continents. Th. 3.
S. 274.
Hoffn. Uebers. von Groskurd. S. 373.
Wiederkäuern und dem Schweine ist allgemein be-
kannt. Sparrmann (A. a. O. S. 292. 423. 559.) be-
obachtete sie auch beym Elephanten, Nashorn und
Fluſspferd.
domestiques der das Innere der Nase bedeckenden
Haut eine dem Athmen ähnliche Verrichtung zuge-
schrieben.
inanis est, nec ullum humorem coercet, sed est ad-
modum tersa et splondida. C. V. Schneider de osse
cribriformi. p. 117. 118.
p. [5]0. 65.
Jenae. 1779.
B. 3. S. 5. F. Tiedemann Icones cerebri simiarum
et quorundam mammalium rariorum. p. 17. Tab. II.
f. 8.
Tab. VIII. f. 2. D.
dem Fuchs, Schweine, Pferde und Reh findet man
in Harwood’s angeführtem Werke, doch blos nach
trockenen Knochen, nach dem vertikalen Durch-
schnitt und zum Theil unrichtig gezeichnet. Deut-
licher zeigt sich die Bildung derselben an frischen
Köpfen nach Wegnahme der Nasenknochen und des
Nasenfortsatzes des Stirnbeins. Auf diese Art zube-
reitet hat sie Casserius (Pentaesthes. L. III. Tab 5. 6.)
von einigen Thieren abgebildet. — Nach Cuvier’s
Angabe (Leçons d’ Anat. comp. T. II. p. 645.) besitzt
der Hase statt der Fortsätze des Siebbeins blos ein
unregelmäſsiges, den Ethmoidalzellen des Menschen
ähnliches Zellgewebe. Ich finde beym Hasen die
nehmlichen Fortsätze, wie bey den ihm verwandten
Säugthieren. Nur sind sie bey ihm von unregel-
mäſsiger Weite und zum Theil durch Queerscheide-
wände unterbrochen.
thieren) gedenkt des Geruchssinns der Robben gar
nicht. Péron (Entdeckungsreise nach den Südlän-
dern. Uebers. von Hausleutner. B. 2. S. 39.) er-
wähnt ebenfalls nichts von einem Vermögen zu
wittern bey der von ihm beobachteten Phoca pro-
boscidea. Fabricius (Schriften der naturf. Gesellsch.
zu Kopenhagen. B. 1. Abth. 1. S. 73. Abth. 2. S. 69.)
bemerkt ausdrücklich bey mehrern der Grönländi-
schen Phoken, daſs sie vermittelst des Gehörs und
Gesichts aus der Ferne kundschaften, was aber in
Betreff des Gesichts wohl irrig ist. Wenn übrigens
Steller (A. a. O. S. 187.) von der Meerotter er-
zählt: “sie halte, weil sie auf dem festen Lande
„wenig sehen könne, die Nase gegen alle umlie-
„gende Gegenden, ehe sie schlafen gehe, um durch
„den Geruch zu erfahren, ob nicht etwa Menschen
„in der Nähe seyen”, so leitet er gewiſs unrichtig
von dem Geruch her, was Folge des Gehörs ist,
indem kein witterndes Thier mit der Nase nach
allen Richtungen, sondern blos gegen den Wind,
spähet.
Baus u. der Physiol. der Fische u. s. w. S. 153.
squelette de plusieurs espécas de Cétacées. p. 149.
A. a. O. p. 423.
M. C. Sprencel. S. 139.
§. 20. 21.
S. 147.
silien des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied.
B. 1. S. 55. der 8. Ausg.
der Russischen Samml. für Naturwissensch. u. Heil-
kunde. Von Crichton, Reiimann und Bojanus.
B. 2. H. 4.
encephalo etc. in Commentat. Soc. reg. scient. Got-
ting. recentior. Vol. IV.
B. 1. St. 1. S. 143.
in Südamerika, halten sich im Grunde des Wassers
auf; sobald aber einige Blutstropfen sich ins Wasser
ergieſsen, sammeln sie sich zu Tausend auf der Ober-
fläche. Von Humboldt’s u. Bonpland’s Reise in
die Aequinoctialgegenden des neuen Continents. Th. 3.
S. 382.
in Pallas’s Reise durch verschiedene Provinzen des
Russischen Reichs. Th. 3. S. 79. u. 289. In dem
Siberischen Flusse Ob, so erzählt Pallas, giebt es
verschiedene Fische, besonders Weiſsfische, die man
sonst nirgends antrifft; dagegen aber werden solche
Lachs- und Forellenarten, die in andere Siberische
und zum Theil auch Russische Gewässer aus der
See heraufkommen, im Obflusse nicht gefunden.
Der Omul (Salmo autumnalis Pall.) ist durch den
Jenisei und die Angara bis in den Baikal, und
durch die Tuba bis in den Gebirgsee Medshar ge-
drungen; aber im Ob wird dieser Fisch nie be-
merkt, ohngeachtet er im Eismeere gemein ist und
in den Karischen und andere Meerbusen, welche
steinige Gebirgbäche aufnehmen, häufig zum Laichen
eindringt. Der kleine Lachs (Salmo Eriox) wird
an der Ingrischen Küste häufig gefangen und tritt in
den Petschorafluſs ein; aber weder dieser, noch der
Rothlachs, hält sich im Ob auf. Der Tschir oder
Kegchull (Salmo Nasus Pall.) ist ein gemeiner
Fisch
Strohm herauf. Es fohlen diesem Fluſs auch die im
Jenisei, der Lena und dem Amur so häufigen
Weiſsforellen, welche im östlichen Siberien bekannte
Fische sind. Jedoch ist dieser Fisch einzeln durch
den Ob und Jenisei bis in die steinigen Bäche am
altaischen Gebirge gerathen, wo er sich erhält und
vermehrt. — — Diejenigen Omuln (Salmo autum-
nalis), die den Baikal bewohnen, besuchen häufig
den Dschida, gehen in den Tschikoi bis über Urluk
und in Selenga bis an den Orchon hinauf, und keh-
ren gegen den Eisgang entkräftet und erschöpft zum
Baikal zurück. Aber nie gehen sie in den Uda, so
wenig wie in den Chilok, obgleich sie an deren
Mündungen häufig gefangen werden, und nie kom-
men sie in die von Norden her in den Baikal
rinnenden Bäche und in die untere Angara.
Th. 1. S. 10.
S. 51.
p. 34. Journal. de la Soc. des Pharmaciens de Paris.
T. I. p. 18.
T. VII. p. 361. 392. 382.
S. 433.
schenleben und Vorsehung. Th. 2. S. 131.
ra’s (Voyages daus l’Amérique mérid. T. I. p. 210.)
eine Art von Mistkäfern, die so scharf wittern,
qu’avant qu’une personne ait achevé de faire ses
besoins en plein champ, plusieurs de ces insectes se
sont déja rendus sur le lieu.
S. 51.
D. XII. p. 612.
1797. No. 5.
S. 436.
Jahrg. 5. S. 386.
B. 2. S. 153.
plochaito, vermibus duobus marinis. Vratislav. 1820.
p. 14.
p. 447.
ausgegeben von Nicäus. S. 2.
Erfahrung. J. 1820. July. S. 18.
Philos. Works. P. III. p. 41. Rondelet in Wil-
lughbey’s Hist. pisc. p. 228. Klein Hist. pisc. Miss.
I. §. 9.
Reimarus über die Triebe der Thiere. 3te Ausg.
S. 308. Smellie’s Philosophie der Nat. Gesch. Th. 1.
S. 106.
D. 2. p. 376.
te Haarlem. D. XII. p. 163.
Gehör der Insekten hat schon Lehmann (De sensib.
extern, animal. exsang.) gesammelt.
p. 97. edit. Panorm. 1603.
methodus, surdos reddendi audientes. Halae. 1757.
I. II. Winkler progr. de ratione audiendi per dente.
Lips. 1759.
Archiv f. d. Physiol, B. IX. S. 360.
senso nei Pipistrelli 1794. Gren’s Journal der Physik.
B. 1. S. 399.
brücker Ausg.
B. 2. St. 1. S. 1.
B. 2. S. 118.
1818. No. 1. p. 18.
Lips. 1820.
Versicherung A. Monro’s entgegen, daſs noch ein
zweyter, unmittelbarer Zugang zum Labyrinth vor-
handen sey, für die einzige äuſsere Oeffnung des
Gehör-
Waber (A. a. O. p. 95.) fand aber Monro’s Ent-
deckung bestätigt.
219.
geln. Nach Scarpa (A. a. O. §. 14.) verläuft auch
bey den Schildkröten der Antlitznerve nach seiner
Trennung vom Hörnerven quer durch die Trommel-
höhle. Bojanus (in der Russischen Samml. für
Naturwissensch. u. Heilk. von Crichton u. s. w.
B. 2. H. 4.) hingegen fand, daſs er bey der Testudo
lutaria nicht durch das Tympanum, sondern an
demselben vorbey geht.
B. 3. S. 62. Weber a. a. O. p. 17. 83.
52. 53.
die Nerven der halbcirkelförmigen Canäle von denen
der Steinsäcke auch darin, daſs jene härter als diese
sind. Mir scheint dieser Unterschied nicht bey allen
Fischen und noch weniger bey den übrigen Thieren
statt zu finden. Scarpa (A. a. O. S. 2. C. 4. §. 14.)
nennt die Endigungen der Nerven in den halbcirkel-
förmigen Canälen: mollissimam pulpam, re [...]inae
oculi perquam similem.
von Muskeln und von zuckenden Bewegungen, die
er an und in dem häutigen Schlauch des Gehör-
organs beym Cancer Phalangium gesehen haben
will. Daſs aber, wie Weber (A. a. O. p. 107.) er-
innert hat, Alles, was Comparetti über das Ohr
der Krebse geschrieben hat, aus lauter Unrichtig-
keiten besteht, muſs allerdings Jedem einleuchten,
der dieses Organ untersucht hat.
J. 5. S. 388.
sammte Naturk. B. 1. H. 2. S. 170.
Ammon L.) in Pallas Spicil. Zoolog. Fasc. XI. Tab. I.
Transact. Y. 1800. p. 156. Der Letztere sahe die
äuſsern Ohren bey einem jungen Menschen beweg-
lich werden, dem das Trommelfell beyder Ohren
verletzt war.
Funktion der Muskeln des äuſsern Ohrs bestehe beym
Menschen nicht in Zusammenziehungen, sondern in
tonischen Bewegungen. Was er sich hierunter aber
dachte, hat er nicht näher erklärt.
Einzige, der die Weite des Gehörgangs bey seinen
Ausmessungen berücksichtigt hat, bemerkt blos, daſs
dieser Gang bey mehr Kürze eine gröſsere Weite bey
dem Hunde, der Katze und Maus, als beym Kalbe,
Pferde und Schaaf, und eine noch gröſsere als beym
Hasen und Kaninchen hat. Cuvier (A. a. O. p.
513.) hat über die beyden minder wichtigen Punkte,
über die Länge und Krümmung des Gehörgangs,
mehrere Beobachtungen gesammelt, die Weite dessel-
ben aber ganz übergangen.
tract. de aure. C. V. §. 5. (Opp. p. 64.). Calda[d]i
in Epistol. ad Hallerum script. Vol. VI. p. 142. 145.
Torraca, Giorn. di Medic. p. 321.
Wil-
Valsalva hat Morgaoni (A. a. O. §. 11. 12.) ge-
sammelt. Uebereinstimmend mit diesen sind im
Wesentlichen neuere Beobachtungen von A. Cooper.
(Philos. Transact. Y. 1800. p. 151. Y. 1801. p. 435.).
218 sq.
paretti de aure interna comp. p. 161. Home a. a. O.
p. 6.
d’ Anat. comp. T. II. p. 497. 498. Home a. a. O. p. 4. 6.
Autenrieth u. Kerner in Reil’s u. Autenrilth’s
Archiv f, d. Physiol. B. IX. S. 357 fg.
gas um einen halben Ton, in kohlensaurem Gas um
eine groſse Terze tiefer als in der atmosphärischen
Luft. (Chladni’s Akustik. S. 226. der 1ten Ausg.).
Perolle’s Versuche beweisen, daſs der Schall in
kohlensaurem Gas etwas tiefer und dumpfer und
nicht so weit hörbar als in gemeiner Luft ist.
(Mém. de l’ Acad. de Turin. A. 1786—87.). Priest-
iey (Vers. u. Beobacht. über versch. Theile der
Na-
Henke’s Archiv für medic. Erfahrung. B. 1. S. 433.
Gas für lauter als in der atmosphärischen Luft an.
Seine Beobachtung verdient aber nicht das Zutrauen
als die Resultate jener neuern, sorgfältiger angestell-
ten Versuche.
S. 67.
292.
Castro u. C. Schott angeführt in Lentin’s Beytr.
zur ausübenden Arzneywissensch. B. 2. S. 116.
p. 242.
Scarpa (De structura fenestrae rotundae auris. p.
94 sq.) nennt den Hasen, den Maulwurf und die
Fledermaus als Säugthiere, bey denen das runde
Fenster kleiner als das eyförmige ist. Er glaubt,
daſs die Gröſse des erstern mit dem Umfange der
Schnecke und die des letztern mit der Gröſse der
halbcirkelförmigen Canäle in Verhältniſs steht. Allein
bey
zwischen den Schenkeln des Steigbügels eine Haut
ausgespannt ist, die mit der Membran des eyförmi-
gen Fenst[ers] zusammenhängt, so würde jene ebenfalls
von
zum runden Fenster führt, und bey dem Maulwurf
fehlt der Vorhof fast ganz. Beyde lassen sich wegen
dieser Abweichungen mit den übrigen Säugthieren
nicht vergleichen. Ob bey der Fledermaus wirklich
das runde Fenster dem ovalen an Gröſse nachsteht,
muſs ich dahin gestellt seyn lassen. Nach Cuvier’s
Angabe (Leç. d’Anat. comp. T. II. p. 489.) soll gerade
das Gegentheil statt finden. Ist Scarpa’s Beobach-
tung die richtige, so hat die Fledermaus ein rundes
Fenster von einem geringen Umfang in Vergleichung
mit dem eyförmigen bey einer sehr groſsen Schnecke
in Verhältniſs gegen die halbcirkelförmigen Canäle,
und diese Thatsache widerspricht dann dem obigen,
von ihm aufgestellten Gesetz, wogegen sich auſser-
dem auch das Beyspiel der Vögel anführen läſst, bey
denen durchgängig das runde Fenster gröſser als
das ovale ist, obgleich bey den meisten die halbcir-
kelförmigen Canäle ein groſses Uebergewicht über die
Schnecke haben.
höhle gerührt und dieser Haut ihre Vibrationen mit-
theilen können. Carlisle (Philos. Transact. Y. 1805.
p. 202.) fand aber Duverney’s Wahrnehmung nicht
bestätigt. Er vermuthete, daſs es Schleim war, was
dieser für eine Haut ansahe.
tung des Vorhofs bey allen Säugthieren vorhanden,
bey
ausgenommen, so groſs als beym Menschen; hinge-
gen fehlt dieselbe den Vögeln. Comparetti (A. a. O.
p. 201.) fand jedoch beyde Wasserleitungen auch bey
den Vögeln, so wie Cuvier (A. a. O. p. 477.) bey
allen Säugthieren, unter andern auch beym Delphin.
S. 350 fg.
A. a. O. S. 350 fg.
Arnemannschen Gehörmesser bey mehrern Thieren
an, verglich mit den Resultaten, die er durch dieses
Mittel erhielt, die Länge, Breite, Schwere und
Härte des Hörnerven, von dessen Austritt aus dem
Gehirn
gang, so wie die Länge des ganzen Gehirns, und
folgert aus dieser Vergleichung eine “ziemlich ge-
naue” Uebereinstimmung der relativen Dicke, Länge
und Masse, und der Härte jenes Nerven mit der
Schärfe des Gehörs. Allein jene Versuche mit dem
Gehörmesser sind sehr unzuverläſsig; sie würden, wie
Kerner’s ähnliche Erfahrungen, nur etwas beweisen,
wenn
Art oft und unter sehr verschiedenen Umständen
angestellt wären, und doch auch dann nur einen
Schluſs auf gröſsere oder geringere Empfänglichkeit
für den Ton des Schallmessers allein zulassen. Aus
der Länge des Hörnerven, sowohl der absoluten, als
der relativen, läſst sich nichts schlieſsen; diese Di-
mension ist bey keinem Sinnesnerven, der nicht
während seines Verlaufs Seitenzweige abgiebt, von
Wichtigkeit. Das Verhältniſs der Dicke des Hörner-
ven zur bloſsen Länge des Gehirns lehrt ebenfalls
nichts: denn bey einerley Länge des letztern können
die übrigen Dimensionen desselben sehr verschieden
seyn. In der Härte der verschiedenen Nervenpaare
finden zwar Abstufungen bey einem und demselben
Individuum statt; aber bey verschiedenen Individuen
wechselt die Härte eines und desselben Nerven so
sehr, daſs eine sehr groſse Zahl von Beobachtungen
erforderlich seyn würde, um die Unterschiede, die
es in dieser Hinsicht unter den Arten der Thiere
giebt, mit einiger Zuverlässigkeit auszumachen. Das
Gewichtsverhältniſs des Hörnerven zum ganzen Ge-
hirn giebt eben so wenig Aufschlüsse über die Be-
schaffenheit des Gehörs; jedes einzelne Hirnorgan
kann bey einerley Exponenten dieses Verhältnisses
auf die mannichfaltigste Weise abgeändert seyn. Ue-
brigens finde ich auch, wenn ich aus den von
Krimer angegebenen Ausmessungen und Abwägun-
gen
Huddart, ebendas. Y. 1777. p. 260. Scott, ebendas.
Y. 1778. p. 611. Nicholl, Med. chirurg. Transact.
publ. by the med. and chirurg. Soc. of London. Vol.
VII. p. 477. Derselbe ebendas. Vol. IX. p. 359. War-
drop Essays on the morbid anat. of the hum. eye.
Vol. II. p. 196.
schlag bringe, daſs bey Abwägungen der Nerven und
des Gehirns Unterschiede von ¼, ¾ und ⅜ Gran, wie
er gefunden haben will, sich auf keine Weise be-
stimmen lassen, zwischen der aus seinen Versuchen
folgenden Stufenleiter der Gehörfähigkeit und jenen
Zahlen nicht einmal eine ziemlich genaue, sondern
eine sehr geringe Uebereinstimmung.
ritimorum, nondum editorum P. I. Vratislav. 1821.
p. 16.
Trochet, Ann. du Mus. d’Hist, nat. T. XIX. p. 355.
Blutegel. S. 11 fg.
zontali. p. 73. 74.
yeux lisses des Insectes. Montpellier. 1813.
S. 296.
Annales du Mus. d’Hist. nat. T. VII. p. 153.
B. 3. S. 154.
stigung. Th. 2. Mücken u. Schnecken. S. 51.
pour servir à l’Hist. des Ins. T. V. p. 287 der Ausg.
in 410.
meln, die in einem dunkeln Hinterhause ihr Nest
hatten, alle an der Grenze des Schattens der Thüre
davonflogen, und zwar mehrere Fuſs weit von der
Stelle, wo sie gewöhnlich ihren Aufflug zu nehmen
pflegten, als die Thüre dieses Hauses zufällig offen
stand. Er veränderte die Oeffnung der Thüre und
fand, daſs die Grenze des Schattens immer die Stelle
blieb, wo sie aufflogen, auch daſs das Oeffnen die
Hummeln beständig in Verwirrung setzte. (The
Edinburgh philosoph. Journ. No. V. p. 67.).
der
wird durch das Verhältniſs der Sehne ihres gröſsten
Bogens zum Durchmesser der Kugel, wozu sie ge-
hört, diese durch die absolute Gröſse ihres Radius
bestimmt. Ich muſs gestehen, daſs ich mich selber
durch Haller’s (Opp. min. T. I. p. 249.) Authorität
habe verleiten lassen, im 1ten Bande der Biologie
(S. 237.) den Raubvögeln unrichtig eine sehr convexe
Hornhaut zuzuschreiben.
fisch von dieser Regel nicht so sehr ab, als nach
D. W. Sömmerring’s Angabe (in dessen Commen-
tatio de oculorum hominis animaliumque sectione
horizontali. Götting. 1818.) der Fall seyn würde. Ich
finde bey demselben den Unterschied zwischen den
Halbmessern der vordern und hintern Fläche der
Linse nur = 0,13; nach der Tafel in Sömmerring’s
Schrift würde er = 0,9 seyn. Ich muſs um so
mehr die Richtigkeit der Sömmerringschen Ausmes-
sung
sehr geringen. Unterschied zwischen den Halbmes-
sern beyder Flächen der Linse bemerkt habe. Unsere
übrigen Ausmessungen des Wallfischauges stimmen
ziemlich nahe überein. An der Verschiedenheit der
von uns untersuchten Arten kann also die obige
Abweichung nicht etwa liegen.
Physiol. B. X. S.409.
Hausleutner B. 2. S. 39.
S, 78.
zontali.
Schwanenauges von der meinigen so abweichend,
daſs ich beyde unterdrücken zu müssen geglaubt
habe. Petit’s Ausmessungen (in den Mém. de l’Acad.
des sc. de Paris. A. 1730. p. 4. der Octav-Ausg.)
scheinen mir meist genau. A. Monro’s Einwurf ge-
gen
möglich, mit den von Petit angegebenen Halb-
messern Linsen von der Breite und Dicke zu be-
schreiben, wie sie nach den Tafeln dieses Anatomen
seyn sollen, ist sehr ungegründet. Die Linsen der
meisten Thiere bestehen im Umriſs nicht aus zwey,
sondern aus vier Bogen, einem vordern, einem hin-
tern und zwey seitwärts gelegenen. Petit gab mit
Recht nur den Halbmesser des vordern und hintern
Bogens, und das Verhältniſs der Axe zum Durch-
messer der Linse an, weil vorzüglich von diesen
Gröſsen die brechende Kraft der Linse abhängt. Mit
mehr Grund läſst sich einwenden, daſs bey den
meisten Thieren die Bogen der Linse nicht Kreis-
bogen, sondern krumme Linien anderer Art sind,
und daſs es unmöglich ist, den Anfang und das
Ende jedes Bogens genau zu bestimmen. Dieser
Einwurf trifft aber nicht blos die Ausmessungen
Petit’s, sondern auch aller übrigen Schriftsteller.
Ich habe indeſs die von Petit gefundenen Zahlen
nicht mit aufgenommen, weil sie blos die Linse be-
treffen und keine Vergleichung mit den Dimensio-
nen der übrigen Theile des Auges gestatten.
brücker Ausg.
thiere, von Römer u. Schinz. S. 55. 215. O. Fabri-
cii Fauna Groenl. p. 23. D. G. Kieser de anamor-
phosi oculi. p. 51.
p. 256.
8. Ausg.
Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus.
B. 3. S. 162.
Esper. (p. 28.), nach welcher sich beym Zitterrochen
die Pupille zusammenziehen soll. In der Lateini-
schen Uebersetzung dieses Werks (Experimenta circa
varias res naturales. Amstel. 1685.) finde ich zwar
gesagt, daſs die Pupille des Zitterrochens sich
schlieſse, wenn der convexe Theil der Iris in den
Ausschnitt derselben tritt, nicht aber, daſs Redi das
Schlieſsen wirklich am lebenden Fisch beobachtet
hat.
Hinsicht. Prag. 1819. S. 123.
motu. Götting. 1786. In Commentat. Soc. scient.
Göttingens. Vol. 7. P. 1. p. 31. F. Muck de ganglio
ophthalmico et nervis ciliaribus. Landshuti. 1815.
p. 81.
p. 351 der 8. Ausg. Zinn, Commentat. societ. Reg. sc.
Gotting. antiqu. T. I. ad ann. 1778. p. 56 sq. A. C.
Mayer in Hufeland’s und Harles’s Journ. der
prakt. Heilk. J. 1816. August. S. 81. 82.
Nat. Gesch. der Vögel. B. 1. S. 69.
P. IV. C. 2. §. 830.
observat. sur l’oeil. p. 371. Schmucker’s verm.
chi-
thek. B. 4. S. 63. Himly’s ophthalmolog, Beobachtun-
gen. H. 1. S. 101.
St. 2. S. 44.
S. 215.
Troxler a. a. O. B. 1. St. 1. S. 27 fg.
des sc. de Paris. T. 2. p. 586. Weitbrecht, Com-
mentar. Acad. Petropol. T. 13. p. 349. Zinn a. a. O.
p. 55. Fontana a. a. O. Blumenbach a. a. O. p.
29.
ich, daſs ich unter Ausdehnung der Iris die Ver-
änderung derselben, wodurch die Pupille verengert
wird, unter Zusammenziehung derselben den entge-
gengesetzten Vorgang verstehe.
Dömlino in Reil’s Archiv f. d. Physiol. B. 5. S. 335.
Caldani, Mem. della Società Italiana. T. XIV. P. 2.
p. 101. Kluge in Wolfart’s Asklepieion. J. 1812.
H. 4. S. S. Guttentag de iridis motu. Vrastislav.
1815. Litleton, London med. and physic. Journ.
Vol. 36. p. 89.
B. 3. S. 166.
267.
S. 163.
l’Acad. des sc. de Paris. A. 1735. p. 197. 198 der
8. Ausg.
pel u. Liboschitz H. 1. S. 28. D. W. Sömmerring
de oculorum et c. commentatio. p. 60. Tab. III.
ques.
ring ebendas. p. 60.
sammelten Fällen dieser Art gehört auch noch ein
Beyspiel, das Briggs (Ophthalmogr. C. 5. §. 12. p.
102.) von einem Manne erzählt, der Briefe in einer
Dunkelheit las, worin Briggs das Papier derselben
kaum erkennen konnte.
von Kästner. S. 485.
Ausg. in 4to.
tationibus internis. p. 11 sq.) an seinem eigenen Auge
anstellte, erweiterte sich bey ihm der Durchmesser
der Pupille in dem Verhältniſs von 100: 136, wenn
die Entfernung des Objekts sich von 4 bis 28 Pariser
Zoll veränderte.
lison, Annals of Philosophy. Y. 1817. Decbr. p.
432.
Serm. 2. c. 52. Pauli Aeginetae de re med. L. III.
c. 22. Demours in den Medic. Vers. u. Bemerk. einer
Gesellsch. in Edinburgh. B. 6. S. 201.
Versuchen u. Abhandl. der naturf. Gesellsch. in Dan-
zig. Th. 2. S. 209.
différens accidens de la vue. Paris. 1694.
1619.
partibus. Lugd. Bat. 1746.
anat. select. Vol. IV. p. 301.
u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. 9. S. 230.
Meinung wurde in neuern Zeiten auch noch von
Autenrieth (Handb. der empirischen menschl. Phy-
sielogie. B. 3. S. 150. 152.) angenommen.
Avril. p. 144.
der vorgl. Anatomie. 1te Ausg. S. 384.
Physikal. medic. Societät zu Erlangen. B. 1. S. 460.
S. 105.
Gesch. der Vögel. S. 78.
p. 76. Cuvier Leçons d’ Anat. comp. T. II. p. 403.
Rosenthal in Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d.
Physiol. B. 10. S. 400.
[...] 8. S. 85.
B. 5. S. 157.
156.
p. 215 der 8. Ausg.
S. 351.
S. 86.
T. III. p. 267.
p. 439.
jektiver Hinsicht. S. 166.
p. 151 der Ausg. in 4to. Wiederhohlungen und Ab-
änderungen dieser Versuche Buffon’s enthalten D. F.
W. Darwin’s und Himly’s Abhandlungen in den
Philos. Transact. Y. 1786. p. 313., und in Himly’s u.
Schmidt’s ophthalmol. Bibliothek. B. 1. St. 2. S. 1.
(Elem. Phys. T. V. L. XVI. S. 2. §. 15. p. 683 sq.)
habe ich ganz übereinstimmend mit der Natur ge-
funden.
a. a. O. p. 70.
S. 1.
bey nur zuweilen und blos als Folge dieses Zustan-
des, Schielen eintrat, hat Buffon a. a. O. p. 245.
S. 45.
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- TextGrid Repository (2025). Treviranus, Gottfried Reinhold. Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bq5z.0