Einleitung
zu der
Vernunfft-Lehre/
Worinnen durch eine leichte/ und allen
vernuͤnfftigen Menſchen/ waſerley Standes
oder Geſchlechts ſie ſeyn/ verſtaͤndliche Manier
der Weg gezeiget wird/ ohne die Syllogiſticâ das
wahre/ wahrſcheinliche und falſche von einander
zu entſcheiden/ und neue Warheiten zu
erfinden.
Nebſt einer Vorrede
Jn welcher der Autor ſein Vorhaben

deutlicher erklaͤret/ und die Urſachen anzeiget/
warum er dem Autori Speciminis Logicæ
Claubergianæ
nicht antworten
werde.

Halle/:
Gedruckt bey Chriſtoph Salfelden/ Churfuͤrſtl.
Brandenb. Hoff-und Regierungs Buchdr.
1691.
[][]

An
Seine
Magnificenz
Herrn
Buͤrgemeiſter

ADRIAN
Stegern/
Jn Leipzig.


Hoch-
[]
Hoch-Edler/
Magnifice,
Hochgeehrteſter Herr und
Patron.

GEgenwaͤrtige Einlei-
tungzu der Vernunfft-
Lehre iſt meine letzte
Schrifft die ich zu Leip-
zig verfertiget; maſſen
denn allhier in Halle
nicht mehr als das letzte
Capitel darzu gemacht worden; weßwe-
gen
[] gen ich auch dafuͤr gehalten/ daß ich nichts
unfoͤrmliches begehen wuͤrde/ wenn ich
gleichſam an ſtatt des letzten Abſchiedes
aus meinem Vaterlande daſſelbige ie-
mand aus dieſer beruͤhmten Stadt zu-
ſchriebe. Bey dieſer Bewandniß aber
habe ich nicht lange nachdencken doͤrffen/
an wem ich meine Zuſchrifft abgehen laſ-
ſen ſolte. Es hat EureMagnificenz
ehedeſſen gegen meinen ſeeligen Vater
Dero beſtaͤndiges Patrocinium und hoch-
ſchaͤtzbare Freundſchafft bey vielfaͤltiger
Gelegenheit bezeuget. Und wiewohl ich
damahls in meiner Jugend zimlich ohn-
faͤhig geweſen/ die rechte Weißheit von der
Namengelahrheit zu entſcheiden; ſo kan
ich doch nicht laͤugnen/ daß ich nicht all-
bereit fuͤr vielen Jahren beobachtet haͤt-
te/ daß EureMagnificenz unter die
ſehr kleine Zahl hochgelehrter Leute zu
rechnen waͤre/ die dieſen Titel in der
That verdienen/ ob Sie gleich denſelben
durch Erkauffung der darzu gehoͤrigen
Wuͤrden nicht affectiren. Und wuͤrde
ich gewißlich dieſen Satz recht auszufuͤh-
* 3ren
[] ren gnugſame materie zu einem voͤlligen
Panegyrico haben/ wenn nicht mein
temperament und inclination mich zu
dieſer Schreibart gantz ungeſchickt ge-
macht haͤtte. Jch will alſo nur dieſes
ſagen/ daß in EurerMagnificenz
Hochwerthen Perſon ich allezeit einen
rechtſchaffenen Weltweiſen/ einen
voꝛtreflichen FCtum, und einen unge-
meinen Gottesgelahrten
veneriret.
Jch verſtehe aber durch einen rechtſchaf-
fenen Weltweiſen
einen Mann/ der
einen ſcharffſinnigen und penetranten
Verſtand hat/ und allezeit juſt und buͤn-
dig raiſoniret: Der in dem allgemeinen
und hoͤchſtnoͤthigen Inſtrument aller
Wiſſenſchafften/ ich meine in der Hiſto-
rie,
wohl erfahren iſt; Der von ſeiner
Selbſterkaͤntniß ſeine Philoſophie an-
faͤngt/ und durch die Daͤmpffung der
Gemuͤths-Bewegungen ſein hoͤchſtes
Gut/ die innerliche Gemuͤths-Ruhe ſich
zu verſchaffen bemuͤhet iſt; Der nach die-
ſem die Boßheit der Welt kennet/ und
durch
[] durch eine taͤgliche/ und auff unbetrieg-
liche Regeln ſich gruͤndende Erfahrung
allen Menſchen mit denen Er converſi-
r
et/ wenn ſie auch noch ſo ſehr diſſimuli-
r
en/ biß in das innerſte ihrer Gedancken
penetriret, und dieſe Seine Wiſſenſchafft
zu Nutzen des gemeinen Beſten/ und zu
Abwendung des gemeinen Schadens an-
zuwenden weiß: der geſchickt iſt/ eine ſei-
nem Genio und Stande gemaͤße profeſ-
ſion
zu erkieſen/ und die darzu gehoͤrige/
und/ ſeine Tugend deſto nachdruͤcklicher
blicken zu laſſen/ noͤthige Guͤter des
Gluͤcks rechtmaͤßig zu erwerben/ die er-
worbenen zu erhalten/ und zu vermeh-
ren/ und beyde nach der Richtſchnur der
geſunden Vernunfft unter die Beduͤrff-
tigen auszutheilen gelernet hat. Ja end-
lich der alles ſein Thun und Laſſen dar-
nach einrichtet/ daß man in denenſelben
ein rechtmaͤßiges decorum, ohne wel-
ches alle Philoſophie eitel und eine bloſ-
ſe Pedanterey ſeyn wuͤrde/ handgreiff-
lich ſpuͤhren koͤnne. Einen vortreffli-
chen
JCtum nenne ich denjenigen/ der
* 4nicht
[] nicht nur in der Rechts-Gelartheit dieſes
begriffen/ was zur Endſcheidung der
privat controverſien und zu adminiſtri-
r
ung der heilſamen Juſtiz in denenſelben
noͤthig iſt/ ſondern auch der capabel iſt/
die Streitigkeiten der Majeſtaͤten nach
denen Grund-Geſetzen des natuͤrlichen
rnd Voͤlcker-Rechts/ ſo wohl auch des
Juris Publici zu beurtheilen. Und end-
lich/ ſo halte ich unmaßgeblich dafuͤr/ daß
dieſer alleine den Titel eines ungemei-
nen Gottesgelehrten
verdiene/ der
ohne dem Vorurtheil einer ihme von
Jugend auff beygebrachten Einbildung
nach der Jhm von GOTT verliehenen
Erkentniß lediglich aus der goͤttlichen
Offenbahrung der heiligen Schrifft und
aus der unverfaͤlſchten Kirchen-Hiſtorie
ſo wohl des Alten als Neuen Bundes/
ohne Anſehung menſchlicher autoritaͤt
und tradition, die uͤberall im Schwang
gehenden Maͤngel des heutigen Chri-
ſtenthumbs wohl und deutlich verſtehet/
und verſichert iſt/ daß der Grund des
wahren Chriſtenthumbs in nichts an-
ders/
[] ders/ als in der Liebe GOttes/ und in
auffrichtiger Liebe aller Menſchen/ ſie
moͤgen ſeyn von was Religion ſie wol-
len/ fuͤhrnehmlich aber in gebuͤhrender
Hochachtung frommer/ d. i. friedfertiger
und GOttes Ehre nicht in hochmuͤthi-
gen und eigennuͤtzigen Zanck-Haͤndeln
ſuchender Chriſten beſtehe. Wiewohl
ich nun bey dieſer Bewandniß ſchon eine
geraume Zeit hero Gelegenheit geſucht/
in genauere Kundſchafft eines ſo vor-
trefflichen/ und bey dieſen letzten Zeiten
ſo raren Mannes zu gerathen; So ha-
be ich doch dieſelbige nur fuͤr etlichen we-
nigen Jahren finden koͤnnen. Es war
beynahe umb dieſelbige Zeit/ als Eure
Magnificenz ſich wegen der/ der
Stadt Leipzig durch alle Staffeln der
Ehren-Aembter ſo viele Jahr her erwie-
ſenen nachdruͤcklichen und ungemeinen
Dienſte/ in etwas belohnet ſahe. Jch
meine: als das Vaterland ſeine Schuld
eines theils abzutragen EurerMagni-
ficenz
mit allgemeinen Vergnuͤgen der
* 5gan-
[] gantzen Stadt die hoͤchſie Wuͤrde des
Buͤrgemeiſter-Ambts aufftruge. Nichts
deſtoweniger habe ich nicht Urſach uͤber
dieſen Verzug mich in geringſten zu be-
klagen/ indem EureMagnificenz,
an ſtatt daß ich zufrieden geweſen/ wenn
Sie ſo wohl wegen Jhres Standes als
Alters/ und der daſſelbige begleiten-
den allezeit hochzuvenerirenden Weiß-
heit/ mich als einen Clienten oder Sohn
tractiret haͤtte; ohne meinen geringſten
Verdienſt mich mit einer ſolchen Freund-
ſchafft beehret/ als wenn Derſelben in
allen dieſen Stuͤcken ich gleich geweſen
waͤre. Und gewiß ich habe durch Eurer
Magnificenz Gutheit zu erſt den recht-
ſchaffenen Unterſcheid zwiſchen einer
Freundſchafft die keinen andern End-
zweck hat/ als eine ehrliche Vergnuͤgung
des Gemuͤths/ und zwiſchen den gemei-
nen Verbindungen/ die einig und allein
auff den Eigennutz abzielen/ klar und
deutlich erkennen lernen. Ein Patron
thue einen Clienten ſo viel guts als er
wol-
[] wolle/ ſo gehet es doch insgemein nicht
anders her/ als daß der Patron hierin-
nen ja ſo wohl und oͤffters noch mehr ſei-
nen Eigennutz durch den Clienten zu
befoͤdern ſucht/ als dieſer vielleicht von
jenen zu hoffen hat. Alleine ſo wenig
EureMagnificenz auch den gerin-
ſten Dienſt zu Erwartung einiges Nu-
tzens von mir iemahls benoͤthiget gewe-
ſen/ ſo offentlich war mein Zuſtand ſchon
ſo beſchaffen/ daß vielleicht iederman be-
greiffen kunte/ daß uͤber das Verlangen
aus EurerMagniſiceez hoͤchſt ange-
nehmen converſation etwas gutes zu
lernen/ ich kein anders Abſehen auch auff
meiner Seiten haben kunte. Denn ob
ſchon nicht zu laͤugnen/ daß EureMa-
gnificenz
vermoͤgend genug geweſen/
diejenigen die Derer Huͤlffe beduͤrffig
empor zu heben; So hatte doch eines
Theils mein Vaterland ſchon damahls
mir nicht verbluͤmt/ ſondern ziemlich
deutlich zu erkennen gegeben/ daß es mei-
ner Dienſte niemahls vonnoͤthen haben
wuͤr-
[] wuͤrde/ und daß meine um die rechtſchaf-
fene Erforſchung der Warheit und wah-
ren Froͤmmigkeit allzugenaue Sorge ſich
mit ſeinem Staats-Intereſſe nicht com-
portir
ete; Anders theils aber hatte ich
vermittelſt Goͤttlicher Gnade die Eitel-
keit der menſchlichen Ehre/ und die War-
heit des bekandten Spruchs: Non ſit al-
terius qui ſuus eſſe poteſt,
allbereit all-
zuwohl erkennet/ daß ich wider meine
Erkentniß wuͤrde gehandelt haben/ wenn
ich einige Ehrenſtelle daſelbſt haͤtte affe-
ctiren
wollen. Am allermeiſten aber
hat EureMagnificenz Dero ohn-
interesſirte Affection zu der Zeit bezeu-
get/ als meine zuvor heimliche Feinde
mich oͤffentlich zu verfolgen angefangen/
und/ ſo viel es an ihnen geweſen/ den gar-
aus mit mir zu machen getrachtet. Deñ
ob ſchon die Kuppel und der Anhang mei-
ner Verfolger nicht wenig von meinen
guten Freunden ſchuͤchtern zu machen
vermoͤgend geweſen/ ſo habe ich doch al-
lezeit zu meiner Beſchaͤmung erfahren
inuͤſſen/ daß EureMagnificenz ſo
wohl
[] wohl in privat-als oͤffentlichen conver-
ſationen
durchgehends das beſte von mir
geredet/ und meine unſchuldigen actio-
nes juſtificir
et/ auch ſolcher geſtalt/ wie-
wohl ohne Dero intention meine Wider-
ſacher nicht wenig mortificiret. Zu ge-
ſchweigen/ daß Selbige bey der fuͤr ei-
niger Zeit mit mir erfolgten mutation,
bey der ich die Wercke Goͤttlicher Vorſe-
hung allenhalben geſpuͤhret/ durch Dero
vielguͤltige recommendation mir nicht
wenig Gnade Hoher Perſonen zugewen-
det. Wannenhero meine Obligenheit
in Mangel anderer Gelegenheiten erfor-
dert/ zum wenigſten in Zuſchreibung die-
ſes meinen geringen Buchs/ die mir biß-
hiro erzeigte vielfaͤltige Freundſchafft oͤf-
fentlich zu ruͤhmen/ und EurerMa-
gnificenz
mich als einen danckbegie-
rigen Schuldener darzuſtellen. Wie-
wohl ich nicht laͤugnen kan/ daß bey die-
ſer Zuſchrifft ich auch zugleich ein ziemli-
ches Abſehen auff meinen eigenen Vor-
theil gehabt. Meine Feinde haben ei-
nige
[] nige Jahr her ſo wohl in ihren Hand-
Brieffen als in oͤffentlichen Paſquillen
mich als ein Monſtrum auszuſchreyen
ſich bemuͤhet/ daß ich in meinem Vater-
lande bey iederman verhaſt/ und kein
ehrlicher Mann mir mit Freundſchafft
zugethan waͤre. Wiewohl nun dieſes
ein offenbahrer Ungrund iſt/ und wenn
ich Ruhmraͤthig waͤre/ ich vielleicht ja ſo
viel Vornehme und beruͤhmte Leute haͤt-
te finden wollen/ die mir auff meine biß-
her edirte Schrifften/ oder auch auff
dieſe Vernunfft-Lehre Epiſtolas Gratu-
latorias, Epigrammata,
Sonnete u. d. g.
haͤtten machen ſollen/ als immermehr
vor denen herrlichen operibus und opu-
ſculis
meiner Herren Widerſacher zu le-
ſen ſind/ hiernechſt auch durch GOttes
Gnade bey zugeſtoſſener Noht es mir
an auffrichtigen Freunden/ die mir treu-
lich beygeſtanden/ nie gemangelt; So
halte ich doch gaͤntzlich dafuͤr/ daß wenn
auch niemand in gantz Leipzig/ als al-
leine EureMagnificenz waͤre/ der
mich
[] mich unter die Zahl ſeiner auffrichtigen
Diener rechnete/ dennoch der æſtim und
die Gnade/ welche Selbige durch Dero
meriten bey unzehlichen beruͤhmten ſo
wohl inlaͤndiſchen als auslaͤndiſchen Leu-
ten/ und ſelbſt bey den Goͤttern dieſer
Welt ſich erworben/ meine Feinde al-
lenthalben Luͤgen ſtraffen wuͤrde. Ja
ich zweiffele nicht/ es werden dieſe bey
Erblickung dieſer Zuſchrifft nicht wenig
grißgramen/ indem ihr eigenes Gewiſ-
ſen ihnen vorhalten wird/ daß mir die-
ſer oͤffentliche Ruhm von der Freund-
ſchafft eines Mannes/ deſſen treueſte und
unermuͤdeſte Vorſorge fuͤr das rechte
Wohlſeyn des Vaterlandes Seinen Nah-
m[e]n unſterblich machen wird/ mir
mehr Vortheil bringen moͤchte/ als
die Feindſchafft ihrer insgeſamt/ derer
Raſerey ſich mit ihren Todte endigen
muß/ und denen Nachkommen nichts
als ein Andencken einer Pedantiſchen Heu-
cheley nach ſich laſſen kan/ mir bißher
durch GOttes Gnade hat ſchaden koͤn-
nen.
[] koͤnnen. Derowegen erſuche Eure
Magnificenz ich gehorſamſt/ dieſe
meine Zuſchrifft nicht unguͤtig auffzu-
nehmen/ und mit fernerer Wohlgewo-
genheit mir zugethan zu verbleiben/ als


Eurer Hoch-Edlen
Magnificenz
auffrich[ti]gſten
Diener
Chriſtian Thomas/

[[1]]

Vorrede/
An die ſtudirende Jugend.


Jnnhalt.


1. Des bißherigen Vorſchlags Erlenterung. 2. Was in
der erſten Stunde gelehret werden ſoll. 3. Von
Mißbrauch des nachſchreibens/ und derer Collegio-
rum MSS.
4. Warum der Autor ſeine Philoſophie
und zwar in Deutſcher Sprache druͤcken zu laſſen ge-
ſonnen. 5. Mißbrauch/ daß man alle terminos te-
chnicos
deutſch geben will. 6. Ein Exempel hier-
von aus einer deutſchen Logic. 7. Von der andern
Stunde. Ob es rathſam Collegia gratuita zu halten.
8. Von einer abſonderlichen Stunde wegen der Lehre
de præjudiciis. 9. Hiſtorie deſſen/ was dem Autori,
mit dem Autore Speciminis Logicæ Carteſianæ bege-
anet. 10. des Autoris 4. hypotheſes von der Philo-
ſophia Carteſiana,
und warumb er dem Autori ſpecimi-
nis
nicht antworten werde. 11. 12. 13. 14. 15. Etliche
Fehler des Autoris ſpeciminis, die in ſelnen erſten vier
Bogen anzutreffen. 16. Das Abſehen gegenwaͤrtiger
Vernunfft-Lehre.


1.


JCh habe unlaͤngſt in einem
deutſchen Programmate einen
Vorſchlag gethan/ wie ich einen
jungen Menſchen/ der ſich ernſtlich
fuͤrgeſetzet/ GOtt und der Welt
dermahleins in vita civili recht-
ſchaffen zu dienen/ und als ein honnêt und galant
Ahom-
[2]Vorrede.
homme zu leben/ binnen dreyen Jahrfriſt in der
Philoſophie und ſingulis Juriſprudentiæ par-
tibus
zu informiren geſonnen ſey. So habe ich
auch zu Ende deſſelbigen gedacht/ daß ich hierzu
taͤglich zwey Stunden anwenden/ und ſo viel das
honorarium betrifft/ mich dergeſtalt gegen meine
Auditores bezeugen wolte/ daß die Armen umb-
ſonſt/ die mitlern vermoͤgens ſind/ gegen ein billi-
ges accommodiret werden ſolten/ die uͤbrigen a-
ber denen GOTT Reichtum beſcheret/ durch ein
raiſonnable, jedoch beliebte Danckbarkeit ihren
æſtim und Hochachtung gegen die ſtudia wuͤrden
bezeugen koͤnnen. Nachdem nun hierauff un-
terſchiedene ſich zu dieſem Collegio bey mir
angegeben/ bin ich bemuͤhet geweſen/ wie ich ſie
nach meinen Verſprechen alle und jede vergnuͤ-
gen moͤchte; ich habe aber gleichwohl bedacht/
daß die Ungleichheit des honorarii fuͤr gleiche
Arbeit gar leicht bey meinem Auditoribus
Verdruß erwecken/ und zu einigen Wieder-
willen gegen mich/ und unterſich ſelbſt Anlaß
geben koͤnte; zumahlen/ da man zwar das Ar-
muth noch wohl von dem Vermoͤgen wuͤrde zu
entſcheiden wiſſen; das mitlere Vermoͤgen a-
ber von dem Reichthum zu erkennen wuͤrde
ſehr ſchwer werden/ indem die eigene Geſtaͤnd-
nuͤß des letztern von jungen Leuten bey itziger
Welt/ da man lieber das Geld/ ich will nicht
ſagen
[3]Vorrede.
ſagen an die exercitia, ſondern an den Wein-
Keller und compagnie als auff collegia
wendet/ nicht zuhoffen/ uud die generoſitaͤt/ die
bey alten Leuten nicht gar zuhaͤuffig anzutref-
fen iſt/ bey der Jugend durchgehends nicht præ-
ſumi
ret werden darff; andere inconvenien-
tien
zugeſchweigen. Wannenhero ich mich
nach einigen uͤberlegen reſolviret/ die Sache
auff folgende Weiſe anzugreiffen.


2. Zu der einen Stunde dieſes Collegii
werde ich jedermann zulaſſen/ er ſey arm oder
reich/ mitlern oder groſſen Vermoͤgens/ der nu-
merus
mag ſeyn ſo wenig oder ſo groß als er
will/ weil ich in derſelbigen bloß zu diſcuriren
geſonnen bin. Jch werde fuͤr dieſe Stunde
durchgehends ein billiches/ und zwiſchen denn
Hohen und Niedrigen temperirtes honora-
rium
fordern; mit denenjenigen aber/ die ſo
unvermoͤgen ſind/ daß ſie ſolches nicht geben
koͤnnen/ werde ich nicht anfangen zu handeln/ o-
der qvid pro quo zunehmen/ ſondern/ wenn
ſie mir dieſes ihr Unvermoͤgen/ wie noͤthig/ be-
ſcheinigen werden/ will ich ſie fuͤr arm paßiren/
und ihnen mein collegium umbſonſt zubeſu-
chen zulaſſen. Damit es auch nicht das An-
ſehen gewinnen moͤge/ ob ſuchte ich junge Leute/
A 2mit
[4]Vorrede.
mit groſſen promeſſen, die ich nicht erfuͤllen
koͤnte/ an mich zu locken/ als will ich einen jeden
davon ſelbſt urtheilen laſſen/ und ſo wohl in der
erſten/ als in der andern Stunde/ niemand ad-
ſtringi
ren/ daß er dieſen curſum gantz hinaus
zuhalten ſich verbindlich machen ſolte/ ſondern
ich werde einen jeden freyſtellen/ nach Verflieſ-
ſung halbjaͤhriger Friſt/ von Anfang dieſes col-
legii
biß zu Ende/ nach Gefallen ab und zuzu-
treten. Jn dieſer Stunde aber/ werde ich
nichts als theſin, oder dasjenige/ was ausge-
gruͤndeten und offenbahrten Urſachen zu Erfor-
ſchung der Warheit/ einem tugendhafften und
weltklugen Leben gehoͤret/ lehren/ und weiſen/
wie durch eine nothwendige connexion im-
mer eine Warheit mit der andern verknuͤpfft
wird/ und wie man aus rechtſchaffener Erkaͤnt-
nuͤß der Warheit und des Guten allen Zweiffel/
ſo wieder dieſelbe fuͤrgebracht werden koͤnte/ mit
leichter Muͤhe zu wiederlegen vermoͤgend ſey.
Dannenhero werde ich in dieſer Stunde von
keiner antitheſi etwas erwehnen/ und weder
wieder die Ariſtotelicos noch Carteſianer, o-
der wieder andere/ denen Philoſophia Secta-
ria
beliebet/ diſputiren ſondern meinen Zuhoͤ-
rern die nackende Warheit/ wie ſie an ſich ſelbſt
iſt/
[5]Vorrede.
iſt/ vorſtellen/ auch zu dieſem Ende zu Bewei-
ſung meiner Lehr-Saͤtze mich nichts anders als
der einem jeden von ihnen eingepflantzten Ver-
nunfft bedienen/ keines weges aber mit der Au-
toritaͤt/ derer die etwa ſolches vor mir gelehret/
pochen/ weil ich ſonſten das præjudicium au-
toritatis humanæ,
das fuͤr andern die Jugend
an Erkaͤntnuͤß der Warheit hindert/ nimmer-
mehr wuͤrde in einen mercklichen Grad aus-
rotten koͤnnen. Gleich wie ich aber mich fleißig
bemuͤhen werde/ daß in dieſer Stunde alle
nothwendige Stuͤcke (partes neceſſariæ) zu
der ihnen von mir verſprochenen Gelahrheit
meinen Zuhoͤrern beygebracht werden koͤnne/
alſo wolte ich auch gerne die zu jeden ſtudio ge-
hoͤrige attention bey ihnen durch etwas er-
wecken/ oder vielmehr dieſelbige befoͤrdern und
erleichtern.


3. Durch bloſſes zuhoͤren eines diſcurſes
eine doctrin vollſtaͤndig zufaſſen/ iſt faſt mo-
raliter
unmoͤglich/ theils weil an gehoͤriger
Auffmerckſamkeit uns gar oͤffters frembde Ge-
dancken hindern; theils/ weil doch unſer Ge-
daͤchtnuͤß ſo geartet iſt/ daß/ wenn es keine ſub-
ſidia
zum Grunde hat/ es die connexion der
Warheiten und Lehren gar leicht wieder aus
A 3der
[6]Vorrede.
der acht laͤßt. Nun pflegen ſich wohl junge
Leute gemeiniglich dadurch zu helffen/ daß ſie in
denen Collegiis den diſcurs ihrer Lehrer von
Wort zu Wort nachſchreiben/ und dadurch ih-
rer Gedaͤchtnuͤß durch fleißiges uͤberleſen gu-
ten Nutzen zu ſchaffen wiſſen/ und will ich auch
dieſes nachſchreiben uͤberhaupt nicht tadeln.
Gleichwohl habe ich durch eine langwierige Er-
fahrung ſo wohl deſſen/ was ich ehe deſſen an-
dern nachgeſchrieben/ als deſſen/ was mir von
andern nachgeſchrieben worden/ ſehr viel Miß-
braͤuche dabey angemercket/ die ich bey meinen
Auditoribus gerne vermeiden wolte/ welche
mehrentheils daher zu ruͤhren ſcheinen/ weil der
Menſchliche Verſtand alſo beſchaffen iſt/ daß
er auff zwey euſerliche Dinge zugleich mit glei-
cher att[e]ntion nicht wohl acht geben kan/ und
dannenhero/ wenn er ſich ſolches zuthun forci-
ret/ gar ſelten etwas taugliches zu wege bringt.
Einer/ ſo nachſchreibet/ muß nicht alleine auff
das/ was geſagt wird/ acht haben/ ſondern auch
auff das/ was er ſchreibet/ weil es doch in waͤh-
renden nachſchreiben unmoͤglich iſt/ in dem Au-
genblick/ da etwas geredet wird/ ſolches auf das
Papier zu ſetzen; und alſo iſt es gar leichte ge-
ſchehen/ daß er ein Wort fuͤr das andere hoͤret/
oder
[7]Vorrede.
oder ſchreibet. Es iſt mir unzehlig mahl mit
meinen Auditoribus ſo ergangen/ daß wenn
ich etliche unter ihnen angemercket/ die fuͤr an-
dern fleißig nachgeſchrieben/ und ich mir von
ihnen ihre Arbeit zeigen laſſen/ daß ich in die-
ſer ihrer Nachſchrifft Dinge gefunden/ die mir
die Zeit meines Lebens nicht in Sinn gekom̃en
zu lehren/ unerachtet ich unter denen beyden
Maͤngeln eines Lehrers der Dunckelheit/ und
tavtologie, aus guter intention eine Sache
recht deutliche zu ſagen/ mehr mit dieſen letztern
als mit jenen behafft bin. Aber hieraus ent-
ſtehet ſo wohl einem Zuhoͤrer/ als einem Lehrer
ein mercklicher Schaden: Ein Zuhoͤrer/ weil
er auff ſein MStum als auff das jenige/ was
die Lehrer geſagt/ bauet/ druͤckt ſich eine irrige/
und mit dem vorhergehenden oder nachfolgen-
den gantz nicht uͤbereinſtim̃ende Lehre ein/ und
muß ſolcher geſtalt nothwendig confus werden
Seinem Lehrer thut er dieſerwegen Schaden/
weil er bey andern Leuten ihm in Verdacht
bringet/ als ob er ſo thoͤricht Zeug/ als dieſer
nachgeſchrieben/ dociret habe. Geſetzt aber/
daß alles recht nachgeſchrieben/ und durch con-
feri
rung ihrer etlicher der diſcurs eines Leh-
rers vollkommen excipiret wuͤrde; ſo will ich
A 4itzo
[8]Vorrede.
itzo davon nicht erwehnen/ daß derjenige/ ſo
nachſchreibet/ ſich doppelte Muͤh machet/ und
bey nahe des Nutzes/ denn vox viva in der in-
formation
hat ſich beraubet. Man frage
jemand/ der ein judicium hat/ und welcher
zum Exempel/ einer Predigt attent zugehoͤret
hat/ den Jnnhalt derſelben/ ob er ihr nicht beſ-
ſer wird herzu erzehlen wiſſen/ als der/ der die-
ſelbe von Wort zu Wort nachzuſchreiben ſich
angelegen ſeyn laſſen/ wenn er nicht zuvor ſein
nachgeſchriebenes wieder uͤberlieſet. Denn
jener giebt bey ſeiner auffmerckſamen Zuhoͤ-
rung auff die Sache ſelbſt achtung/ dieſer aber
hat in waͤhrenden nachſchreiben mit denen
Worten gnung zu thun. So wird man auch
hiernaͤchſt dieſen Mißbrauch bey vielen Studie-
renden antreffen/ daß man alle ohnnoͤtige Wor-
te/ und unſtreitige Dinge/ die weder zu Erfor-
ſchung einer verborgenen Warheit/ oder zu
Erweiſung und Herleitung derſelben dienen/
(derer ſich aber ein Lehrender nicht allerdings
entbrechen kan) mit nieder ſchreibet/ oder die-
jenigen die ſchon bey dem Autore, der erklaͤh-
ret wird/ gedruckt ſeyn und fuͤr der Naſen lie-
gen; da man doch nur das vornehmſte auffzei-
chen ſolte/ das Gedaͤchtnuͤß zu ſubleviren/ und
was
[9]Vorrede.
was uns vordieſen zweiffelhafft geſchienen/ o-
der uns unbekand geweſen/ damit wir demſel-
bigen hernach deſtobeſſer nachzudencken Anlei-
tung uͤberkaͤmen. Zum Exempel/ wie viel
mahl findet man in einem Collegio MSS. fol-
gende formulas. Heſternâ lectione diſſe-
ruimus de \&c. nunc vero pergendum
ad \&c. Autoris præſens Caput habet ſex
paragraphos, in qvorum primo proponit
definitionem --- quæ ita ſona \&c. Hæc
de definitione ſufficiant, pergimus ad di-
viſionem \&c. Craſtina die ob hoc vel il-
lud impedimentum non potero pergere.

u. ſ. w. Aber dieſes moͤchte noch endlich hin-
gehen/ wenn nur nicht bey der gleichen nachge-
ſchriebenen Collegiis ein noch viel groͤſſerer
Mißbrauch pflegte gemein zu werden/ man
ſetzt gemeiniglich zu einem ſandigten Grunde/
daß/ wenn man das verſtehe/ was der Lehrer
bey Erklaͤhrung dieſer oder jener diſciplin vor-
geſagt/ man auch gelehrt genung ſeyn/ und ſich
umb nichts mehr werde bekuͤmmern duͤrffen.
Und wenn man dannenhero einmahl den diſ-
curs
nachgeſchrieben/ und/ wenn es hoch koͤm̃t/
einmahl wieder uͤberleſen/ ſo meinet man/ man
doͤrffe der Sache nun weiter nicht nachdencken/
A 5ſon-
[10]Vorrede.
ſondern habe allbereit einen vortrefflichen
Schatz durch ſein Collegium MSS. erhalten/
den man ſo dann gemeiniglich biß auff beduͤrf-
fenden Fall hinleget/ und nicht weiter anſiehet.
Andere aber/ die nicht ſelbſt nachſchreiben/ ſon-
dern entweder andern die Abſchrifft des diſcur-
ſes
bezahlen/ oder von denen/ die fleißig heiſſen/
denſelben ſelbſt abcopiren/ nehmen dadurch
zum oͤfftern Gelegenheit/ auch wohl wenn die
noͤhtigſten doctrinen fuͤrkommen/ das colle-
gium
aus Faulheit/ oder allzugroſſer Geſel-
ligkeit zu verſaͤumen/ indem Sie ſich bereden/
es werde ihnen dieſe Verſaͤumnuͤß wenig ſcha-
den/ weil ſie doch den diſcurs von andern er-
halten koͤnten. Und bedencken alſo nicht/ daß
ſie nicht nur ſich den groͤſten Schaden hiedurch
erweiſen/ ſondern auch wieder ihrer Eltern gut-
gemeinte intention groͤblich ſuͤndigen/ die/
wenn es damit genung waͤre/ daß man colle-
gia MSC.
in der Lade haͤtte/ oder dieſelbige
durch leſen ſich in den Kopff zu bringen trach-
tete/ warhafftig nicht ſo groſſe Sorge und Ko-
ſten uͤber ſich nehmen wuͤrden/ ſondern wuͤrden
vielmehr die Collegia MSC. mit geringen
Gelde an ſich handeln/ und ihren Kindern zur
Meſſe oder heiligen Chriſt verehren. Mit ei-
nem
[11]Vorrede.
nem Worte/ die muͤndliche information eines
Lehrmeiſters giebt der Lehre bey unerfahrnen
Leuten gleichſam das Leben/ und hat die auff-
merckſame Zuhoͤrung derſelben fuͤr dem aller-
fleißigſten nachſchreiben oder Leſung deſſen/ was
gelehret wird/ einen unzehlichen Vortheil. Und
wird mir dannenhero ein jeder Gelehrter leicht
zugeben/ daß kein beqvemer Mittel ſey/ den Zu-
hoͤrer bey gehoͤriger attention zu erhalten/
und demnach auch ſein Gedaͤchtnuͤß zu erleich-
tern/ als/ wenn der Doctor den Kern und den
Grund von ſeiner Lehre kurtz und dergeſtalt/
daß nicht leichte ein Wort vergebens geſetzt ſey/
ſeinen Zuhoͤrern zuvorher mittheilet; dieſe her-
nachmahls ſolches zuvorhero uͤberleſen/ bey
dem diſcurs auff die Erklaͤhrung deſſelbigen
genau auffmercken/ und nach der lection bey
jedem Worte ſich der Erklaͤhrung erinnern/
und was ihnen an auffmerckſamſten und wuͤr-
digſten duͤncket/ mit wenig Worten auffzeich-
nen/ oder auch wohl bey waͤhrender lection,
ſolche Sachen/ mit zwey verlohrnen Worten/
oder anderen willkuͤhrlichen Zeichen/ zu kuͤnffti-
ger repetition bemercken.


4. Derowegen hab auch ich mir vorgenom-
men/ den Kern meiner Philoſophie auff das
kuͤrtze-
[12]Vorrede.
kuͤrtzeſte als moͤglich iſt zu entwerffen/ und die
theſin bey allen diſciplinen, die ich in dem
programmate zu lehren verſprochen/ ohne
Beruͤhrung der irrigen Meinung meinen
Auditoribus zum Gebrauch beſagter erſten
Stunde zu communiciren. Nun iſt es
wohl an dem/ daß ſolches nur haͤtte per dicta-
ta in calamum,
oder durch vorherige Ver-
goͤnſtigung abzuſchreiben geſchehen koͤnnen;
ich habe aber dennoch aus vielfaͤltigen Urſachen
fuͤr rathſamer geachtet/ dieſe meine Lehr-Saͤtze
druͤcken zu laſſen/ damit ich fuͤr meine Audito-
res
und mich die Zeit ſo auf das dictiren und
excipiren gehet/ erſpahren moͤchte/ und damit
meine Wiederwaͤrtigen erkennen koͤnten/ wie
ich meine Lehre der allgemeinen cenſur zu un-
ter werffen keinen Scheu trage/ und alſo ferner-
weit meine Lehr-Saͤtze als ſchaͤdliche Dinge
zu ſchmaͤhen abſtehen moͤchten. So habe ich
auch meine vielfaͤltige und bedenckliche Urſa-
chen/ warumb ich dieſe meine Philoſophie
und Lehre in Teutſcher Sprache heraus gehen
laſſe/ unter welchen eine von denen vornehmſten
iſt/ daß ich in der That erweiſen moͤge/ daß die
Sprachen und derer Wiſſenſchafft zwar ein
weſendliches Stuͤcke ſey/ die jenigen die in an-
dern
[13]Vorrede.
dern Sprachen geſchrieben zuverſtehen/ und in
Sachen/ die von der autoritt einer gewiſſen
Schrifft dependiren/ nicht wohl unterlaſſen
werden ſolte/ dergleichen ich doch hier zu tra-
cti
ren nicht Vorhabens bin; aber daß in Sa-
chen/ die durch die/ allen nationen auff gemei-
ne Arteingepflantzte Vernunfft/ erkennet wer-
den die Erkaͤntnuͤß auslaͤndiſcher Sprachen
gar nicht von noͤthen ſey. Die Weltweißhei[t]
iſt ſo leichte/ daß dieſelbige von allen Leuten/ ſie
moͤgen ſeyn/ von was fuͤr Stande oder Ge-
ſchlecht ſie wollen/ begriffen werden kan. So
ſchrieben auch nicht die Griechiſchen Philo-
ſophi Hebræ
iſch/ noch die Roͤmiſchen Grie-
chiſch; ſondern ein jeder gebraucht ſich ſeiner:
Mutter-Sprache. Die Frantzoſen wiſſen
ſich dieſes Vortheils heut zu Tage ſehr wohl zu
bedienen. Warumb ſollen denn wir Teut-
ſchen ſtets waͤhrend von andern uns wegen die-
ſes Vortheils auslachen laſſen/ als ob die Phi-
loſophie
und Gelahrheit nicht in unſerer
Sprache vorgetragen werden koͤnte. Daß
dieſe Schreib-Art vor dieſen nicht gebraucht
worden/ oder von andern verworffen wird/ iſt
wohl die Urſach/ weil man gemeinet/ oder noch
ſich heredet/ als wenn Ariſtoteles, Thomas,
Sco-
[14]Vorrede.
Scotus, Carteſius, Gaſſendus u. ſ. w. der
Probierſtein der Warheit waͤren. Denn
wenn dieſes iſt/ ſo kan es wohl nicht fehlen/ man
muß der Sprachen kuͤndig ſeyn/ in welchen die-
ſe gelehrte Leute geſchrieben haben. Wenn
man aber beſorgt iſt/ was Ariſtoteles und
Carteſius haͤtten lehren ſollen/ und nicht was
ſie gelehret/ oder ihre Meinung geweſen/ ſo hat
man auch dieſer ihrer Sprache nicht von noͤ-
then: wiewohl ich dißfalß die Sprachen Wiſ-
ſenſchafft gantz nicht verwerffe/ ſondern dieſelbe
vielmehr fuͤr eine groſſe Zierrath eines weiſen
und gelehrten Mannes paſſiren laſſe.


5. So weiß ich auch wohl/ daß von etlichen
wenigen/ die bißhero einerley Zweck mit mir
gehabt/ darinnen nicht wenig verſtoſſen wor-
den/ daß ſie die Kunſt-Woͤrter alle in die deut-
ſche Sprache uͤberſetzen wollen/ wodurch ſie
entweder ein Gelaͤchter oder eine Verdrieß-
lichkeit bey dem Leſer erwecket: Wenn aus-
laͤndiſche Sachen zu uns uͤberkommen/ ſo kom-
men auch bey denen meiſten auslaͤndiſche
Nahmen mit/ und naturaliſiren ſich gleich-
ſam in unſerer Sprache. Und wuͤrde man
dem jenigen ſehr ſpotten/ der dißfals bey ſei-
ner Sprache ſo aberglaͤubiſch halten/ und alle
ſolche
[15]Vorrede.
ſolche Woͤrter verdeutſchen wolte. Jch rede
viel vernehmlicher/ wenn ich ſpraͤche/ dieſes
Frauen-Zimmer traͤgt eine groſſe
fon-
tange
,
als wenn ich ſagte: Sie traͤgt einen
groſſen gegoſſenen Engel auff dem Kopffe.
Ebener maſſen iſt es auch mit denen Kuͤnſten
und Wiſſenſchafften bewand/ derer Lehren von
andern Voͤlckern auff uns gepflantzt worden.
Wer in des Ciceronis Schrifften bewandert
iſt/ wird ſich entſinnen daß in philoſophiſchen
Dingen er zum oͤfftern Griechiſche Woͤrter/
die er nicht wohl lateiniſch geben koͤnnen/ behal-
ten/ ob er gleich ſonſten der vornehmſte derer
lateiniſchen Scribenten iſt. Ein Teutſcher
Fechtmeiſter thut deßwegen ſeiner Sprache
keinen Schimpff an/ wenn er von Primen,
Secunden, Terti
en und Quarten redet/ und
derjenige wuͤrde von jederman fuͤr einen Tho-
ren gehalten werden/ oder wohl gar die Ge-
fahr eines proceſſus ausſtehen muͤſſen/ der
einen Muſicanten einen Spielmann nen-
nen/ und von ihm an ſtatt einer courante
ſimple
einen einfaͤltigen oder einfachen
Schritt-Lauff
begehren ſolte. Es iſt aber
nichts deſtoweniger auch nicht zu leugnen/ daß
unterſchiedene Kunſt-Woͤrter in deutſche
Sprache
[16]Vorrede.
Sprache uͤberſetzt/ und durch oͤfftern Gebrauch
Gelehrter Leute in ſchwang gebracht worden/
derer man ſich zu ſchaͤmen heut zu Tage nicht
fernern Urſache hat. Dannenhero muß man
hierinnen ſeinen natuͤrlichen Verſtand brau-
chen/ daß man die Mittel-Straſſe gehe/ und
weder allzuſehr affectire, auslaͤndiſche Woͤr-
ter in eine Sprache zu miſchen/ noch auch alle
Kunſt-Woͤrter in die Sprache/ darinnen man
ſchreibet/ uͤberſetzen wolle. Der Gebrauch
und die Deutlichkeit muß wohl allemahl deſ-
ſen/ ſo etwas ſchreibet/ ſeine vornehmſte Richt-
ſchnur ſeyn. Dannenhero/ gleichwie ich
mich nicht entbrechen werde zu weilen vom dem
Selbſtaͤndigen Weſen/ von dem Gegen-
ſtand
eines Dinges/ von dem Stoff deſſelbi-
gen und ſo weiter zu reden; Alſo werde ich
mich doch vieleicht oͤffters der ſubſtanz, des
Objecti der materie u. ſ. w. bedienen; aber
niemahls werde ich Unterlage an ſtatt Sub-
jecti,
oder die Zeuge-Mutter aller Dinge/
an ſtatt Natur brauchen.


6. Jch erinnere mich hierbey einer deut-
ſchen Logic die anno 1621. zu Coͤthen ge-
druckt iſt/ und den Titul hat: Kurtzer Be-
griff der Verſtand Lehre zu der Lehr-Art.

An
[17]Vorrede.
Jn dieſer hat der Verfertiger alle terminos
technicos
deutſch geben wollen/ welches
oͤffters ſo anmuthig und tunckel heraus koͤm̃t/
daß man ſich des Lachens unmoͤglich enthal-
ten kan. Jch will nur itzo das vornehmſte in
Geſtalt eines kurtzen Brieffs/ den ein Sohn
an ſeinen Vater geſchrieben/ den Leſer zugefal-
len vorſtellen. Geliebter Vater: Jch habe nun
nach angewendeten ſauren Fleiß die Verſtand-
Lehre
gelernet/ und habe zu deſſen Beweiß ohn-
laͤngſt oͤffentlich eine aus die ſer Lehre hergenom-
mene Streit-Schrifft als ein Beantworter
vertheidiget: Unſers Nachbars Soͤhne ſind Ge-
gen-Setzer
geweſen; der aͤlteſte hat folgende
Fragen auffgeworffen: 1. Ob der Menſch eine un-
terſte Art
ſey/ und ob er nicht vielmehr zu denen
Geſchlechten oder doch zum wenigſten zu denen
untergeordneten Arten gehoͤre. 2. Was die
Urſache ſey daß alleine die Menſchen und etliche
Thiere nicht aber alle Dinge eigentliche einzele
waͤren. 3. Ob das rernuͤnfftliche in der Be-
ſchreibung des Menſchen ein theilender oder
artmachender Unterſcheid ſey. 4. Ob Va-
ter und Sohn zu dem Orden des Selbſtaͤndi-
gen
oder des Gegenblicks gehoͤre. 5. Ob der
Froſt und Hitze wiederwaͤrtig oder benehm-
lich entgegen geſetzte
waͤren. Er wolte ſich
zwar auch zu denen Nachorden wenden/ und
aus denenſelben die Weiſen des foͤrdern und
Bhin-
[18]Vorrede.
hintern unterſuchen: Weil aber in deſſen die
Stunde verfloſſen war/ uͤbergab er ſeinen juͤn-
gern Bruder die Lampe/ der dem Stoff von
denen Ausſpruͤchen mit ſeinen Gegenſaͤtzen be-
ruͤhrete. Er machte mir viel zuthun/ denn er
wolte behaupten/ daß die Unterlage manchmahl
weitlaͤufftiger ſeyn koͤnte/ als das ausgeſagte/
daß der bedingte Ausſpruch beſſer waͤre/ als
der einfache/ und der maßhabende deutlicher
als der nicht maßhabende/ ingleichen/ daß ein
allgemeiner bejahender Ausſpruch allezeit
ſchlecht umbgewendet werden koͤnte; Die weil
er aber oͤffters Schluß-Reden von vier Enden
machte/ das mittlere Ende zuweilen in den Be-
ſchluß
einmiſchte/ auch manchmahl Schluß-Re-
den fuͤrbrachte/ die in der erſten Geſtalt ſeyn ſol-
ten/ und doch zu keiner Weiſe gerechnet werden
koͤnten/ auch oͤfters der kleinere Fuͤrſatz verneinend
war; anderer vielfaͤltiger Betrugs-Schluͤſſe/
derer er ſich durchgehends bedienete/ zugeſchwei-
gen/ ſo habe ich ihn dergeſtalt mit Auffloͤſungen/
Grundſaͤtzen/ Eintheilungen/ Anfuͤgungen

und Begraͤntzungen zuruͤck getrieben/ daß nicht
allein alle Zuhoͤrer wohl mit mir zufrieden gewe-
ſen/ ſondern auch mein Herr Vorſitzer mich durch
eine oͤffentliche Lobrede meinen andern Mitſchuͤ-
lern zu einem Muſter vorgeſtellet. Jch habe hin-
wiederumb zu Bezeugung meiner Danckbarkeit/
ihn bey ſeinem ohnlaͤngſt erſchienenen Nahmens-
Tage nicht alleine mit beykommenden aus lauter
ſechß-
[19]Vorrede.
ſechß-fuͤßigten Dichtlingen beſtehenden Hel-
dengedichte
angebunden/ in welchen ich umb de-
ſto beſſeren Anſehens willen mich der Freyheit/ an-
ſtatt des letztẽ langkurtzkurtzen und langkurtzen
Fuſſes
zweyer langlangen zu ſechß mahlen bedie-
net/ ſondern auch mit 4. Lauten 2. Kniegeigen
und ſechß Hertzens-Schluͤſſeln ein angenehmes
Nachtſpiel zugebracht/ bey welchen mein Bru-
der einen fuͤnff-ſtuffichten deutſchen finge-
richten Geſang
abgeſungen/ viel tauſend Leute
aber/ ſo wohl auff offener Straſſen bey brennen-
den Kertzen/ als rundherumb durch die Hage-
leuchter
mit groſſer Andacht zugehoͤret. Der
Jnhalt dieſes Brieffs iſt nicht zuverwerffen/
ſo ſind auch in demſelben viel termini techni-
ci
verdeutſcht/ die nunmehro in dem deutſchen
uͤblich ſind. Es ſetze ſich aber einer von de-
nen Studierenden druͤber/ und ſehe/ wie ſauer
es ihn wegen des meiſten unvernehmlichen
Deutſchen werden wird/ denſelben zu uͤberſe-
tzen/ ob er gleich ſeine Vernunfft-Lehre gar wol
innen hat. Aber ich muß wieder in die Ord-
nung kommen/ und nachdem ich von der erſten
Stunde meines Collegii zur gnuͤge geredet/
auch ferner von der andern Erwaͤhnung thun.


7. Der Unterſcheid der Erkaͤntnuͤß der
Warheit und des Falſchen/ iſt unter andern
auch folgender/ daß/ wer die Warheit recht er-
B 2kennet/
[20]Vorrede.
kennet/ nicht nothwendig einen abſonderlichen
Unterricht brauche/ irrige Meinungen zu wie-
derlegen/ aber wer gleich eine oder die andere
irrige Meinung erkennet/ der iſt deßhalben
nicht alſobald der Warheit maͤchtig. Denn
die Warheit iſt einerley/ und alſo die Richt-
ſchnur/ die uns das Falſche zumeiden lehret/
aber eine Warheit kan wohl hundert ihr ent-
gegen geſetzte Jrrthuͤmer haben/ dieweil ſie
alle von der Warheit abfuͤhren/ uns dieſelbige
nicht weiſen. Wer bey drey oder vier Schei-
dewegen die rechte Straſſe weiß/ bekuͤmmert
ſich nicht/ wohin die anderen Wege leiten/ aber
wer ſchon/ weiß daß unter vieren ein Weg nicht
an den beſtimmten Ort fuͤhret/ der weiß dennoch
nicht alsbald/ welches unter denen uͤbrigen
dreyen der rechte Weg ſey. Wer alſo bey der
erſten Stunde/ meines Collegii, die/ wie er-
meldet/ auch fuͤr Arme und die von mittlern
Vermoͤgen ſind/ eingerichtet iſt/ auffmerckſam
und fleißig ſeyn/ und dem/ ſo er gehoͤret zu hau-
ſe fleißig nachdencken wird/ der wird verhof-
fentlich ſich damit begnuͤgen laſſen koͤnnen/ und
weder eines examinis, noch einer Erklaͤhrung
der ander ſeitigen Meinung beduͤrffen. Gleich-
wohl iſt die Jugend nachlaͤßig/ und will es ſich
nicht
[21]Vorrede.
nicht allemahl ein wenig ſauer werden laſſen/
abſonderlich aber diejenigen/ denen GOtt fuͤr
andern Mittel beſcheret. Jch will dannen-
hero auch dieſen nach meinen Vermoͤgen un-
ter die Arme greiffen/ und in der andern Stun-
de mit ihnen (1.) durch ein continuirliches
examen repetiren/ was ſie in der erſten
Stunde gehoͤret haben. (2.) Sie/ wenn ſie mir
unrecht antworten/ glimpflich auff den rechten
Weg weiſen/ und ihnen den Urſprung ihres
Fehlers zeigen. (3.) Jhre Zweiffel und ob-
jectiones
anhoͤren/ und dieſelbige benehmen.
(4.) Jhnen zu Bekraͤfftigung der Warheit/
ſelbſten dubia machen/ und dieſe ihnen zube-
antworten fuͤrlegen/ (5.) die Autores diſſen-
tientes
ihnen kuͤrtzlich erzehlen/ und den Ur-
ſprung gegenſeitiger Meinung mehrentheils
mit erwehnen. Aber ſie werden ſich auch nicht
mißfallen laſſen/ mir dieſe Stunde abſonderlich/
und zwar um ein merckliches theurer als die er-
ſte Stunde zubezahlen/ in anſehen/ wegen des
continuirlichen examinis ich eine gar gerin-
ge Zahl in derſelben werde accommodiren
koͤnnen. Wiewohl ich dennoch das honora-
rium
dergeſtalt temperiren will/ daß wenn
gleich jemand das gantze Collegium die drey
B 3Jahr
[22]Vorrede.
Jahr uͤber abzuwarten Luſt hat/ und alle beyde
Stunden beſuchen wil/ ihm das honorarium
dennoch nicht viel hoͤher komme/ als mir von
meinen privatiſten, die die Jurisprudentz
ohne die Philoſophie durchgehoͤret/ und mit
denen ich ordentlich nur zwey Jahr/ und des
tages eine Stunde zugebracht/ nun etliche Jahr
hero mit guten Willen gegeben worden. De-
nen aber dieſe Stunde zu theuer fallen moͤchte/
die doͤrffen nur bey der erſten deſto fleißiger ſeyn/
und ein wenig mehr Muͤhe an ſtatt des Gel-
des drauff anwenden. Jch wolte zwar wuͤn-
ſchen/ daß mein eigen Vermoͤgen ſo beſchaffen
waͤre/ daß ich meine wenige Wiſſenſchafft allen
Studierenden umbſonſt beybringen koͤnte/ ich
wolte gewiß denen alten Philoſophen an Be-
gierde/ ſie ohne entgelt zu unterweiſen/ nichts
nachgeben. Aber ſo hat es GOtt gefallen/
daß ich mich durch das/ ſo ich gelernet habe/
ſuſtentiren ſoll. Die alten Philoſophi hat-
ten gut machen; Sie hatten zum theil ſelbſten
ein gutes Vermoͤgen; zum theil erhielten ſie
von der Freygebigkeit groſſer Herren auff ein-
mahl mehr/ als wir in vielen Jahren mit Col-
legiis,
fuͤr uns bringen koͤnnen. Und wer da
ein anſehnliches Landgut/ dort etliche tauſend
Thaler
[23]Vorrede.
Thaler Gnadengelder/ wie ſie/ verehrt bekoͤm̃t/
kan wohl mit froͤlichen Muthe collegia gra-
tuita
halten. Aber dieſe Mode iſt ſchon vor-
laͤngſt abkommen/ und heut zu Tage duͤrffen
wir uns fuͤr dergleichen Verſuchungen nicht
leichte fuͤrchten. Uber dieſes ſo ſtaͤnde es auch
noch dahin/ ob es rathſam waͤre der ſtudirenden
Jugend/ heut zu Tage viel collegia gratis zu-
halten. Es iſt ein alt Spruͤchwort: Quotidia-
na \& Vulgaria vileſcunt.
Die menſchliche
Hochachtung ſiehet ſelten die Nutzbarkeit eines
Dinges in Formirung des Werths davon an/
ſondern ſie urtheilet von der Hochachtung aus
der Raritaͤt der Dinge/ und aus anderer ihrer/
nicht allemahl wohlgegruͤndeten Einbildung.
Das edle Getraͤide/ ohne welches wir ein elen-
des Leben fuͤhren wuͤrden/ wird bey wohlfeiler
Zeit wohl mit Fuͤſſen getreten/ und eine ſchnoͤde
Perle/ die an den Ort ihres Urſprungs um
Kinder-Puppen iſt gegeben worden/ wird als
was ſonderliches geachtet. Einer buntfarbi-
gen Tulipanen-Zwiebel wird/ wenn ſie unge-
mein iſt/ wohl umb 800. Guͤlden bezahlet/ weñ
aber alle Gaͤrten damit prangen/ kan man fuͤr
einen Groſchen ihrer viel damit erhandeln.
Die unverſtaͤndige Jugend denckt/ wenn ein
B 4Leh-
[24]Vorrede.
Lehrer ſich ſeiner Arbeit nicht bezahlen laͤßt/ es
wende auch derſelbe nicht groſſen Fleiß an/ und
aus dieſer irrigen Meinung ſtehen die audito-
ria publica
zum oͤffter leer/ da man doch in
Gegentheil zu mehrenmahlen fleißiger præ-
mediti
ret/ wenn man vermuthen muß/ daß
Leute von allerhand judicio, Zuhoͤrer werden
abgeben/ als wenn man verſichert iſt/ daß die/
die uns unſere Arbeit bezahlen/ wie offte ge-
ſchiehet/ gute Leute ſeyn/ die fuͤnffe fuͤr eine ge-
rade Zahl annehmen.


8. Nichts deſtoweniger aber/ damit auch
in dieſem Stuͤck ich nicht von einen extremo
in das andere fallen moͤge/ ſo wil ich quoad do-
ctrinam antitheſeos
dieſes temperament
brauchen/ und woͤchentlich zweymal (wie ich
auch ſolches allbereit angefangẽ) die hochnoͤthige
doctrin de Præjudiciis oder von denen Vor-
urtheilen/ die uns an der Erforſchung der
Warheit hindern
/ ohne einigen Entgelt fuͤr
jedermann leſen. Carteſius iſt deshalben
billich zu loben/ daß er in dieſen letzten Zeiten
der erſte geweſen/ der auf die Beobachtung ſol-
cher Vorurtheil gedrungen/ und waͤre zu wuͤn-
ſchen/ daß er die Art und Natur derſelbigen et-
was genauer unterſucht haͤtte/ maſſen er die
Capa-
[25]Vorrede.
Capacitaͤt hierzu allerdings gehabt/ und wenn
dieſes geſchehen waͤre/ ſo wuͤrde er aus groſſer
Begierde ein oder das andere Vorurtheil zu
meiden/ mit in ein anders unvermerckt gefal-
len ſeyn. Es iſt nicht genung/ daß ich etliche
Præjudicia nur Exempelsweiſe erkenne/ ſon-
dern ich muß zu foͤrderſt mir einen genauen
und deutlichen Concept von denen Vorur-
theilen uͤberhaupt machen/ weil eines ſo wohl
als das andere mich von der Warheit ableitet.
Alſo iſt mein Vorhaben/ nach dem ich bißher in
Beſchreibung der Vorurtheile mich einige
Zeit aufzuhalten habe/ und bey dieſer gar deut-
lich gewieſen/ warum Cartheſius, da er bey
dieſen Concept ſo zu ſagen nur eine Haarbreit
gefehlet/ dennoch ſeiner Philoſophie dadurch/
(ich wil nicht ſagen in der Phyſic) als welcher
eben nicht viel dadurch zum Præjudiz geſche-
hen) ſondern in ponendo primo veritatis
criterno,
und in der Grundlage zu der Mo-
rale
hauptſaͤchlich ſich geſchadet: Daß ich kuͤnf-
tig die Hauptquelle aller Vorurtheile ſu-
chen/ und aus derſelben hernach die unterſchie-
dene herflieſſende Baͤchlein/ die uns in Erfor-
ſchung der Warheit in allen Diſciplinen und
Wiſſenſchafften hindern/ leiten wolle. Wann
B 5dieſes
[26]Vorrede.
dieſes geſchehen/ wil ich meinen Zuhoͤrern die
Remedia die Zuhemmung dieſer ſchaͤdlichen
Dinge dienlich ſind/ vorſtellen/ auch zugleich
die Bewegungs-Urſachen/ ſolche je eher je
beſſer zuergreiffen/ ihnen vorlegen/ und die Klei-
nigkeit derer hierbey vorfallenden Veꝛdrießlig-
keiten
erweiſen/ welche viel Leute/ die die Vor-
urtheile wohl erkennen/ dennoch von Daͤmpf-
fung derſelben abhalten/ wie etwan die Herrlig-
keit einer Artzney einen Krancken von deren Ge-
brauch abzuhalten pfleget. Wann dieſes ge-
ſchehen/ wil ich die Diſciplinen nacheinander
durchgehen/ und bey jeder gemeine Vorur-
theile
anmercken/ die entweder von denen al-
ten oder neuen Philoſophis in denenſelben fuͤr
unſtreitbare Warheiten ſind ausgegeben/ und
ſie dadurch veranlaſſet worden/ immer weiter
und weiter von der Warheit ſich zu entfernen.
So dann wil ich mich zu denen præjudiciis,
die in dem menſchlichen Leben gemein ſind/
und taͤglich in demſelben vorkommen/ wenden/
und dieſelben nach Unterſcheid aller Staͤnde/
die unter denen Menſchen gebraͤuchlich ſind/ be-
[t]rachten/ u ſ. w. Der Endzweck dieſer Stun-
den beſtehet darinnen/ daß durch dieſe Erwe-
gung die Begierde bey der ſtudierenden Jugend
ver-
[27]Vorrede.
vergroͤſſert werde/ ſich von dem elenden Joch
der Ungewißheit oder verlarvten Gelahrheit
loß zureiſſen/ und daß hernach dieſelbigen durch
Erkaͤntnuͤs derer primorum falſorum bey
jeder Diſciplin geſchickt werden/ die antithe-
ſes Diſſentientium
auf gantz leichte Weiſe zu
wiederlegen/ maſſen denn wenn das πρῶτον
ψεύδος
einer irrigen Lehre niedergeriſſen iſt/ die
daraus flieſſenden Concluſiones von ſich ſelbſt
nachfallen. Wiewohl ich nicht leugnen kan/
daß es mit dieſen Stunden etwas langſam um-
gehen werde/ weil/ ob ſchon meines wiſſens
niemand ex profeſſo von dieſer Materie ge-
ſchrieben/ dennoch dieſelbige ſo fertil iſt/ daß ich
nicht alleine die gantzen drey Jahre uͤber/ ſo lan-
ge ſich der Lauff meines gantzes Collegii erſtre-
cket/ ſondern noch eine viel laͤngere Zeit genung
Vorrath zu diſcuriren vor mir finden werde.
Weßhalben ich auch das noͤthigſte von dieſer
Doctrin in gegenwertigen Begriff der Ver-
nunfft-Lehre
in einen abſonderlichen Capitel
entwerffen werde/ von welchen Begriff ich noch
etwas weniges zu ſagen habe.


9. Es ſind ja Logicken genung in oͤffentli-
chen Schrifften/ und wenn ich mir nichts an-
ders vorgeſetzet haͤtte/ als die ſelbe ab zucopiren/
wuͤrde
[28]Vorrede.
wuͤrde ich es ſelbſt fuͤr eine unnoͤthige Muͤhe er-
kennen. Jch habe aber allbereit fuͤr dem Jah-
re in meiner Introductione ad Philoſophi-
am aulicam,
oder de Prudentia cogitandi
\& ratiocinandi
die Fehler/ ſo ich bey denen ge-
meinen Logicken angemerckt/ und die Zweiffel/
die mir bey der Carteſianer Jhrer vorgefal-
len/ treulich und ausfuͤhrlich entdeckt/ auch hin
und wieder den Weg gezeiget/ die Warheit oh-
ne Gefahr zuerforſchen. Jch habe daſelbſt in
der Vorrede jederman gebethen/ daß wenn ich
uͤberverhoffen ſelbſt von der Warheit abgewi-
chen waͤre/ man mir einen Gefallen thun wuͤr-
de/ wenn man mir ſolches zeigete. Nun kan
ich nicht leugnen/ daß ſich unter denen Herren
Carteſianis bald jemand gefunden/ der ſich
erklaͤret/ dieſes zu præſtiren. Denn mein Buch
ware kaum durch den Druck verfertigt/ und
ich diſputirete eben privatim uͤber ſelbiges/
umdeſto eher hinter die Warheit zu kommen/ ſo
wurden unterſchiedene Zettel ausgeſtreuet/ auf
welchen folgender Titul zu befinden war: Jo-
hannis Claubergii Specimen Logicæ
Carteſianæ, ſeu modus Philoſophandi;
Ubi certa Carteſianorum veritatem inve-
niendi via oſtenditur, \& in quibusdam

novæ
[29]Vorrede.
novæ introductionis in Philoſophiam
Aulicam veritas examinatur. Studio Pau-
li Michaelis Rhegenii:
Jch muß bekennen/
daß mir dieſer Titul etwas wunderlich voꝛkam/
denn ich konte mir nicht einbilden/ wie Johan-
nes Claubergius,
der nicht mehr in Leben
waͤre/ meine Introduction haͤtte examini-
ren koͤnnen/ und ich wuſte nicht/ was ich fuͤr ein
Opus aus dieſen Specimine Logicæ Car-
teſianæ
machen ſolte/ nachdem ich des Clau-
bergii
ſeine ausfuͤhrliche Logicam Carte-
ſianam
ſchon laͤngſt geleſen hatte/ und es fuͤr
was ungewoͤhnliches hielte/ daß man ein Spe-
cimen
von einem Buche erſt/ nachdem ſelbiges
ſchon lange in Druck geweſen/ heraus geben
ſolte. So konte ich es auch nicht fuͤr einen
Extract aus des Claubergii Logic halten/
theils weil unter einem Specimine und einen
Extract ein mercklicher Unterſcheid iſt/ theils
auch/ weil der Titul auf dieſe Art vielmehr Spe-
cimen Logicæ Claubergianæ
haͤtte heiſſen
muͤſſen. Jch muthmaſſete endlich wohl/ daß
die præcepta dieſer Logic aus dem Clauber-
gio
wuͤrden hergenommen ſeyn/ und daß der
Unterzeichnete anderer Autor dabey wuͤrde
Gelegenheit genommen haben/ wider mich zu
diſpu-
[30]Vorrede.
diſputiren; Aber ich war doch begierig die
Urſache zu erforſchen/ warum er mir durch di-
vulgi
rung dieſes Titels gleichſam ein ſchrifft-
lich Cartel inſinuiren ließ/ da er doch Gele-
genheit hatte/ mit mir muͤndlich uͤber meine
Meynung zu conferiren/ indem in meinen
damahligen Diſputationen ich jedermann/
der wider meine Lehre was zu ſagen hatte/ ad-
mittir
te/ und wie es jederman bewuſt/ allezeit
beſcheiden tractirte; auch je ſchaͤrffer die Op-
ponenten
waren/ je lieber mir derſelben An-
ſpruch zu ſeyn pflegte. Jch konte keine ande-
re raiſon conjecturiren/ als daß der Autor/
weil er nach der Phraſi des damahligen Titels
mich wegen meines Buchs examiniren wolte/
gemuthmaſſet/ er doͤrffte in der Qualitaͤt eines
Examinatoris von miꝛ nicht ſo bald ange-
nommen werden/ bevor er ſich hierzu gnung-
ſam habilitiret haͤtte. Jedoch/ dem mochte
ſeyn wie ihm wolte/ weil ich eben jedweder die
Freyheit gar gerne lieſſe einen Weg wider mich
zu diſputiren zu wehlen/ welcher ihn beliebte/
ſo war ich auch zu dieſem Examine bereit/ und
haͤtte es lieber alſobald mit dem Titel des
Buchs gehabt. Aber es ſey nun/ daß mein
Examinator mir dieſe Fertigkeit nicht zuge-
trauet/
[31]Vorrede.
trauet/ oder daß er mir ſonſten ex liberalitate
eine voͤllige Saͤchſiſche Friſt mit einigen Dila-
tionibus
einraͤumen wollen/ ſo kame dieſes
Specimen erſt nach vier oder fuͤnff Monden
nach Diſtribuirung des Titels an das Tage-
Licht. Es wurden auch die einzelen Bogen/
die bey dem Drucker nach Anleitung des
Symboli Kayſers Auguſti verfertiget worden/
ſo heimlich gehalten/ daß ich/ wie gerne
ich bey Zeiten meines Jrrthums mich wolte
entnehmen laſſen/ eine gute Zeit davon nichts
zu ſehen bekommen konte/ maſſen es ſcharff ver-
boten war/ kein Exemplar wegzugeben. Und
koͤnte es ſeyn/ daß ſich vielleicht der Autor be-
fahret haͤtte/ ich moͤchte/ wenn ich ſein examen
ſo geſchwind zu ſehen kriegte/ mit meiner Ant-
wort etwa eher fertig ſeyn/ als er mit ſeinen
Fragſtuͤcken. Doch ſchaffte mir endlich ein
guter Freund noch ziemlich zeitig die erſten vier
Bogen/ welche ich ſehr begierig und mit gutem
Bedacht geleſen/ auch mir zu deſtobeſſerer
Nachricht excerpta daraus gemacht: Aus
welchen ich aber ſo viel geſehen/ daß ich keiner
weitern Curioſitaͤt die folgenden Bogen zu le-
ſen wuͤrde vonnoͤthen haben/ weil ich ſchon aus
dieſen Specimine Speciminis, klar und deut-
lich
[32]Vorrede.
lich erkennete/ daß dieſes das Buch nicht ſey
noch werden wuͤrde/ daß zu dem divulgirten
Titel gehoͤrete/ und daß/ weil in demſelben mei-
ne Introduction weder examiniret/ noch mit
einigen Grunde angefochten wuͤrde/ ich auch
nicht wuͤrde vonnoͤthen haben/ mich wider den
Autorem zu defendiren.


10. Denn 1. hatte ich zwar in meiner In-
troduction
wie auch allezeit anderswo hono-
rificè
von dem Carteſio ſentiret/ und halte ihn
noch fuͤr einen ſehr gelehrten Mann/ dem wir
es nicht genung verdancken koͤnnen/ daß er an-
gefangen die Welt aus dem dienſtbahren Joch
der Scholaſtiſchen Philoſophie loß zureiſſen/
aber ich hatte ihn deßwegen etlicher præjudi-
ciorum
bezuͤchtiget/ daß er in Erforſchung der
Warheit 2. â particulari ad univerſale ge-
ſchloſſen: Senſus me aliquoties fefelle-
runt, ergo me ſemper fallere poſſunt,

oder/ wenn er es gleich anders geben wolte er-
go in ſenſibus non poſſum invenire cer-
titudinem;
zumahlen dieſer modus argu-
mentandi
auch ſein eigen Principium um-
ſtoͤſſt/ maſſen nicht nur nach ihm die Senſio ei-
ne Art von denen Gedancken iſt/ ſondern auch
wuͤrcklich/ wenn ich zum Exempel dencke/ ein
vier-
[33]Vorrede.
viereckter Thurm ſey rund/ entweder nicht der
enſerliche Sinn/ ſondern die Gedancke von dem
Thurm/ oder doch zum wenigſten die Gedan-
cke ſo wohl als der euſerliche Sinn mich hin-
tergehet/ und ich alſo ebenfals ſchlieſſen koͤnte:
Si cogitatio aliquoties me fefellit, ergo in
cogitatione non poſſum in venire certitu-
dinem.
3. Daß gleichwie aus dieſem præ-
judicio
ein anderes entſtehet/ daß nemlich der
Concept von denen Gedancken (weil ich der-
ſelben vergewiſſert waͤre/ da ich von allen ſinnli-
chen Coͤrpern abſtrahirte) keinen Concept
von einigen Coͤrper inferirte, und folgbar in
demſelben der Menſch erkennen muͤſſe/ daß die
Seele ein Geiſt ſey/ ja daß das Weſen eines
Geiſtes in denen Gedancken beſtehe/ da ich doch
theils aus Carteſii Beſchreibung ſelbſt von der
Gedancke/ theils aus einer andern viel aus-
fuͤhrlichern/ die ich in meinen Buch de pru-
dentia ratiocinandi
nach dem innerlichen
Beyfall eines jeden Menſchen geſetzt/ gar klar
und deutlich dargethan/ daß kein Menſch nach
ſeiner Vernunfft ſich einigen Gedancken ein-
bilden kan/ weñ er nicht vielfaͤltige conceptus
von Coͤrpern mit einmiſcht. So habe ich
auch 4. darinne von Carteſio diſſentiret/
Cwenn
[34]Vorrede.
wenn ich behauptet/ daß der Menſch kein einig
ſelbſtaͤndiges Weſen klar und deutlich erkenne-
te/ ſondern daß alle ſeine Wiſſenſchafft von der
Erkaͤntnuͤß derer Zufaͤlle oder accidentium
herruͤhrete/ aus welchen er hernach allezeit ei-
ne dunckele oder confuſe impreſſion ſich von
der Subſtantz ſelbſt mache. Wenn nun der
Autor Speciminis mir mit ſeinem Examine
rechtſchaffen haͤtte auf die Haube greiffen wollẽ/
haͤtte er in dieſen vier Puncten mich recht atta-
qui
ren/ und mir dieſelben darnieder legen ſol-
len; So habe ich auch in der Vorrede meiner
Introduction proteſtiret und gebeten/ daß
ſich niemand mit mir einlaſſen moͤchte/ der nicht
in der Hiſtoria Philoſophica wohlerfahren
waͤre/ und die hypotheſes ſo wol derer alten
als neuen Philoſophen wohl inne haͤtte/ wie-
drigenfals wuͤrde er ſich es nicht ver-
drieſſen laſſen/ wenn ich ſeine objectiones mit
ſtillſchweigen uͤbergienge. Weil ich nun die-
ſes alles weder in denen vier erſten Bogen/ noch
in dem uͤbrigen Werck/ als ſelbiges heraus
kommen/ gewahr werden koͤnnen/ wird mir der
Autor Speciminis nicht verdencken/ daß ich
bißher ihm nicht geantwortet/ noch kuͤnfftig ant-
worten werde/ weil doch alle unſer Streit in
nichts
[35]Vorrede.
nichts/ als bloſſen Wiederſprechungen beſtehen
wuͤrde. Damit auch weder er noch der Leſer
dafuͤr halten duͤrffe/ als ob dieſe meine Entſchul-
digung nur ein prætext waͤre/ damit ich ent-
weder einen Hochmuth oder ungeziemende
Verachtung/ oder ein Unvermoͤgen zu ant-
worten bedecken wolte/ ſo hoffe ich/ es ſollen fol-
gende kurtze Anmerckungen/ die ich bald an-
fangs bey Durchleſung der erſten vier Bogen
aufgezeichnet/ die Urſachen/ die ich jetzo angefuͤh-
ret/ gnungſam beſcheinigen.


11. Jn erſten Capitelp. 6. ſagt er/ er
wolle beſcheiden unterſuchen/ was Jhn in
meinen Buche mißfiele
/ in welchen er auch
mir in vielen beypflichtete. Daß er ſich die Be-
ſcheidenheit fuͤrgeſetzt/ iſt ſehr gut/ und wil ich
auch glauben/ daß er zu dem Ende ſeinen zu an-
fangs divulgirten Titel hernachmahls bey pu-
blici
rung ſeines ſpeciminis etwas geaͤndert/
und anſtatt des odioſen Worts: examina-
tur,
ſetzen laſſen paucis expenditur. Jch kan
auch wohl leiden/ daß er unterſucht/ was Jhm
in meinen Buche Mißfalle/ wenn es aber nur
bey dem bloſſen anzeigen des mißfallens beru-
hen wird/ ſo wird er ſelbſt erkennen/ daß das an-
zeigen meines Mißfallens keine Unterſuchung
C 2der
[36]Vorrede.
der Warheit/ die ſein Titel verſpricht/ inferire.
p.
7. gedencket er unter andern/ daß er glaube/
es waͤren mir die Grundſaͤtze derCarteſia-
ni
ſchenPhiloſophiezur gnuͤge bekant/
welches ich mit Danck acceptirre, uñ alſo dem
jenigen keinen Glauben beymeſſen will/ was ei-
nige von ſeinem damahligen Patronen von ihm
ausgeſprengt/ als wenn er dieſes veraͤchtliche
Urtheil von mir gefaͤllet/ daß ich die Carteſia-
ni
ſche Philoſophie gar nicht verſtaͤnde. Jch
verſichere ihn auch in Gegentheil/ daß ich von
Jhm glaube/ daß er ein guter Carteſianer ſey/
deꝛ nicht bloß etliche Meynungen aus dem Car-
teſio
erſchnapt/ ſondern der die Carteſianiſche
Philoſophie ſo zu ſagen in ſuccum \& ſan-
guinem converti
ret hat/ und von dem ich ſol-
cher geſtalt einen geziemenden æſtim, wie von
allen Carteſianis mache/ auch gar wohl haͤt-
te leiden koͤnnen/ wenn er zu defenſion ſeiner
Secte meine Philoſophie rechtſchaffen ange-
griffen haͤtte. p. 8. conteſtiret er/ daß er mir
durch ſeine contradictionnicht zuinſultiren
vorhabens ſey. Es iſt mir auch dieſes lieb/
wenn nur die proteſtation mit der That uͤber-
einkoͤm̃t. Aber ich acceptire hierbey/ daß er
bald anfangs mir nur zu contradiciren ſich fuͤr-
genom-
[37]Vorrede.
genommen/ welches abermals weder fuͤr ein
Examen, noch pro expenſione veritatis
paſſi
ren kan. Wenn er ſeinen Titel recht
conform ſeinen Buche haͤtte machen wollen/
haͤtte er ſetzen ſollen \& novæ introductio-
ni \&c. contradicitur,
oder \& quid in nova
introductione diſpliceat, indicatur.
Aber
ſo haͤtte vielleicht der Titel dem Leſer nicht das
Maul ſo waͤſſerig gemacht. Daß er ferner
p. 9. erwehnet/ es werde mir nicht mißfal-
len/ daß er ſich die Freyheit genom̃en von
mir zu
diſſentiren, da iſt er nicht irrig/ weil
dieſes einen jeden freyſtehet/ daß er aber zugleich
wider diejenigenproteſtiret/ die mit
Schmaͤhungen oder
calumnienwider ihn
ſtreiten wolten
/ daran hat er mir unrecht ge-
than/ wenn er ſich deſſen bey mir befahret/ maſ-
ſen ich Jhm dann gegenwaͤrtig ohne Schmaͤ-
hung anzeige/ warum ich mit Jhm nicht ſtrei-
ten wolle.


12. Bey dem 2. Capitel theilet er p. 15.
ſeq. n. 19. ſeqq.
die Logicam carteſianam
in 4. Theile ein/ nemlich in Partem Geneti-
cam, \& Analyticam,
und ein jedes von die-
ſen beyden wiederum in zwey Stuͤcke/ recht wie
Claubergius in ſeiner Logic thut/ welcher
C 3auch
[38]Vorrede.
auch nach dieſer Eintheilung hernach ſeine Lo-
gic
vollfuͤhret. Aber unſer Autor haͤlt dafuͤr/
Claubergius (wiewohl er ſeines Nahmens
nicht erwehnet) habe darinnen mentem Carte-
ſii
nicht rechtaſſequiret/ weil pars Analyti-
ca
von des Carteſii inſtituto gantz entfernet
geweſen waͤre/ als der ſich nicht vorgenommen
haͤtte/ von andern etwas zu lernen (p. 16. n. 29.)
auch der andere Theil partis Geneticæ hieher
nicht gehoͤre/ weil Carteſius nicht vorgenom-
men haͤtte/ andere zu informiren (ib. n. 30. 31.)
wannenhero er auch nur den erſten Theil par-
tis Geneticæ tracti
ren wolte/ jedoch/ weil die-
ſer der Grund der uͤbrigen drey Stuͤcke waͤre/
ſo wolle er doch weiſen/ wie man denſelben bey
denen uͤbrigen Dingen mit gebrauchen ſolle.
Nun wil ich hier Claubergium nicht defen-
di
ren/ oder unterſuchen/ ob der Autor ſeinen
verſprechen nachgekommen ſey/ und in folgen-
den den uſum primæ partis in denen uͤbrigen
gewieſen habe/ ſondern ich mercke nur daraus/
daß/ wei er hier in dem Hauptwerck von Clau-
bergio
abweicht/ und zwar/ ohne daß er ſolches
dem Leſer mit deutlichen Worten ſage/ er
nicht fein ingenuè gehandelt habe/ und alſo
das Werck gantz nicht dem Titel ſeines Buchs
gemaͤß
[39]Vorrede.
gemaͤß ſey/ maſſen denn auch ein jeder/ der die-
ſe ſeine Logic mit des Claubergii und an-
derer Carteſianer Schrifften conferiret-
gar leichtlich finden wird/ daß/ gleichwie von
Claubergii Logic kaum der ſechßte Theil in
dieſen ſpecimine anzutreffen/ alſo ein gut
Theil uͤber die Helffte dieſes ſpeciminis man
vergebens in Claubergio ſuchen werde/ ſon-
dern befinden/ daß es dem de la Forge, Raéo,
der Logic der Herren des Port Royal, oder
(wie Baillet den Autor davon angiebt) den le
Bon
abgeborget ſey. Jch will zwar den
Autorem Speciminis dieſerwegen nicht als
einen plagiarium angeben/ oder ihn eines do-
li mali
beſchuldigen/ ſondern ich will das aller-
dinges als fraudem piam paßiren laſſen/ daß
man bey dem Verleger des Speciminis ge-
ſagt/ es ſey deßwegen auff dem Titel der Nah-
me des Claubergii geſetzt worden/ weil dieſer
ein beruffener Carteſianer waͤre/ und man
ſich befahret/ das Specimen moͤchte nicht ſo
wohl abgehen/ wenn der Autor Speciminis
als noch unbekant ſeinen Nahmen alleine hin-
ſetzte; Jedoch wird der Autor mir dieſes zu
gute halten/ daß ich auch umb dieſer Urſache
willen bedencken trage/ mich mit ihm einzu-
C 4laſſen/
[40]Vorrede.
laſſen/ denn ich mag gerne mit Leuten zu thun
haben/ die fein gerade heraus mir die Warheit
ſagen/ wiewohl ich ihm doch dißfalls hiebey
dancke/ daß er ſeinen Nahmen gegen mich mel-
den wollen/ und nicht ſo ex inſidiis, wie ande-
re/ wieder mich geſchrieben. Jn denen Con-
ſectariis
bey dieſen cap. 2. laͤßt es ſich der Au-
tor
ſehr angelegen ſeyn/ darzuthun/ daß ich ei-
ne groſſe Unfoͤrmligkeit begangen haͤtte/
daß ich in meiner
Introd. cap. 4. dieLogic ad
prudentiam referiret,
weßhalben er alle argu-
menta
die man wieder dieſe Weynung fuͤr-
bringen koͤnte/ und zwar meiſtentheils ex prin-
cipiis Philoſophiæ Ariſtotelicæ
zuſam̃en
ſucht/ auch hernach zu Ende des Capitels p. 23.
mir den Rath giebt/ daß ich lieber meine
Logic per artem aut ſcientiamhaͤtte beſchrei-
ben ſollen
/ und wenn ich das gethan haͤtte/ ſo
waͤre meine definition ſonſt vortrefflich. Er
nennet ſie egregiam definitionem, und ſagt
in fine: Cætera benè ſe habent, nun be-
dancke ich mich zwar fuͤr dieſe guͤtige cenſur;
aber ich gebe dem Autori ſelbſten zu erwegen/
ob er es Urſache gehabt/ an dieſen Ort ſich nicht/
ſo wohl die Perſon eines examinatoris, als
die qualitaͤt eines præceptoris oder præſi-
dis
[41]Vorrede.
dis, der ein argument oder eine diſputation
corrigi
ret/ ſo ungebeten heraus zu nehmen.
Denn (1.) ſehe ich aus allen Umbſtaͤnden/ daß
der Autor die objectiones die er mir macht/
oder die hypotheſes ſectæ, ex qua hæ ob-
jectiones petitæ ſunt,
ſelbſten nicht verſtehet/
ſondern vielleicht dieſelbigen ſich von einem
guten Freund hat beytragen laſſen/ und her-
nach mit ſeinen additionibus wiewohl mit
wenig judicio vermehret und verbeſſert. Die-
ſes ſpuͤhre ich daraus/ wenn er pag. 20. §. 44.
denterminum Philoſophiæ rationales \& Theo-
reticæ ſynonymicè
braucht/ da doch bekant
daß die diviſio der Stoicker/ Philoſophiæ
in rationalem, naturalem \& moralem,

und die Ariſtoteliſche in Theoreticam \&
Practicam
gantz und gar von einander ent-
ſchieden ſey/ und rationalis Philoſophia gar
nicht fuͤr Synonymum Theoreticæ paßi-
ren koͤnne/ auch ſolches der Autor Specimi-
nis
zur Noht aus dem 2. Cap. meiner Intro-
duction
§. 8. ſeqq. haͤtte erlernen koͤnnen.
So zeigt dieſes auch eine groſſe ignorantiam
Philoſophiæ communis
an (aus welcher er
mich attaquiret) wenn er §. 51. p. 21. die ter-
minos artis \& ſcièntiæ ſynonymicè
braucht/
C 5ſon-
[42]Vorrede.
ſonderlich de Philoſophia morali, auff wel-
che ſich doch ſchwerlich einer von beyden ſchickt/
und ſcheinet alſo daraus/ daß er die diviſionem
communem habituum intellectualium

gar nicht innen habe muͤſſe. Aber er haͤtte
(2.) aller dieſer objectionum wieder mich
entbehren koͤnnen/ wenn er nur betrachten wol-
len/ was ich in meiner introd. §. 71. ſeq. cap. 2.
geſchrieben/ und wenn er nur einen von meinen
auditoribus haͤtte gefragt/ was ich daſelbſt
durch das alibi verſtaͤnde/ ſo wuͤrde man ihn
auff das 1. Buch meiner inſtit. Juris divini
c.
1. verwieſen/ und er ſo dann aus dieſen bey-
den locis erſehen haben/ daß mir ſeine obje-
ctiones,
die er wieder mich macht/ nicht unbe-
wuſt geweſen/ ſondern ſchon daſelbſt zur gnuͤge
beantwortet worden. Aber ſo ſcheinets wohl/
daß es wahr ſey/ was man mich von ihm be-
richtet/ daß/ als nach publicirung ſeines Ti-
tels ihn ein guter Freund gewarnet/ er ſolle
mein Buch etwas attent leſen/ er demſelbigen
zur Antwort gegeben; Er wolle es nicht ſo
gut achten/ daß er es thaͤte.


13. Bey dieſer Bewandnuͤß aber kan der
Autor Speciminis leicht gedencken/ was ich
muͤſte gedacht haben/ als ich ſein III. Capitel de
Sectis
[34[43]]Vorrede.
Sectis veterum Philoſophorum geleſen.
Fuͤr das erſte ſahe ich nicht/ zu was Ende er die-
ſes Capitel in ſeine Logicam Carteſianam
geſetzt. Claubergius noch einiger Carteſia-
ner
haͤtte ſonſt dergleichen gethan. So ſchickte
ſich auch dieſes fuͤr ihn nicht/ als der ſo offte
proteſtiret, daß er ein purer Carteſianer
ſey/ und mit der Philoſophia Eclectica
nichts zuthun habe. Mir aber war dieſes
Capitel in meiner Introduction noͤthig/ weil
ich Philoſophiam Eclecticam inculcire.
Dannenhero meinete ich/ es waͤre dieſer Ur-
ſachen halben geſchehen/ weil ich/ wie obgedacht/
in meiner Vorrede gebeten/ daß niemand wie-
der mich ſchreiben ſolle/ der in Hiſtoria Phi-
loſophica
nicht verſiret waͤre/ oder daß er
eine Fehler zeigen wolte/ die ich in meinen ca-
pite
begangen/ zumahl da er bald anfangs die
erſten paragraphos, ſonderlich quintum,
wieder den Anfang meines capitis 1. §. 4. ſchie-
ne geſetzt zu haben. Nichts deſtoweniger lieſſe
mir die klare und deutliche Erkaͤntnuͤß/ die ich
mir von ſeiner capacitè aus ſeinem objectio-
nibus de prudentia
gemacht hatte/ nicht zu/
daß ich mir einbilden koͤnte/ daß dieſes Capitel
auff ſeinem Beete gewachſen/ oder nur von
ihm
[44]Vorrede.
ihm ex Hiſtoria antiqua colligiret waͤre.
Weil ich dann befunde/ daß er in fine capitis,
wie wohl nur mit 2. Worten Clarisſimum
Raéum allegirte,
lieſſe ich dieſes ſeine opera
bey einem guten Freunde hohlen/ und fande
nach wenigen durchblaͤttern zu letzt p. 721. ſeq.
eine diſſertation des Raéi de ſapientia Ve-
terum,
welche/ nachdem ich ſie mit dem Au-
tore Speciminis conferiret
hatte/ ſahe ich/
daß dieſes ſein caput 3. von dem §. 2. p. 24.
an biß auff den §. 109. p. 48. aus dem Raéo
von Wort zu Wort abcopiret ſey/ auſſer daß
der Autor Speciminis eines und das andere
was ihm zu ſeinen Zweck nicht gedienet/ und
doch beym Raéo zu finden/ uͤbergangen/ und
manchmahl ordinem verborum etwas ge-
aͤndert: als zum Exempel: Weñ Raèus ſpricht
quibus veritatem cœperunt ac veram
ſcientiam quærere \& comprehendere ex
parte,
ſo ſagt der Autor Speciminis, qui-
bus veritatem ac veram ſcientiam cœpe-
runt quærere \& ex parte comprehende-
re,
u. ſ. w. Bey dieſer Bewandnuͤß aber ha-
be ich ſchlieſſen muͤſſen daß der Autor Speci-
minis
wohl ſonſten in der Hiſtoria Philoſo-
phica
wenig erfahren ſeyn muͤſſe/ weil er/ da
Raéus
[45]Vorrede.
Raeus eines und das andere geſetzt/ daß un-
wahrſcheinlich iſt/ ſo gar ohne einige Anmer-
ckung oder Aenderung ſeinem ſpecimini ein-
verleibet/ bloß weil er geſehen/ daß die Ausar-
beitung des Raéi ſich zu ſeinen Zweck/ den er
gehabt wieder mich zu ſchreiben/ vortrefflich
geſchickt. Als/ wenn bald anfangs Raéus
geſetzet/ daß man den Urſprung der Philoſo-
phie
nicht von Anfang der Welt/ ſondern von
denen Periodis, die der Autor Speciminis
§. 13. ſeq. p. 25. anfuͤhret/ anrechnen ſolte/ ſo
iſt dieſes dem Autori Speciminis gefunden
geweſen/ weil ich in Cap. 1. §. 4. ſeqq. und in
Cap. 2. §. 1. ſeqq. die Philoſophie und die
Sectas von Anfang der Welt hergeleitet/ wie-
wohl man aus dem wenigen/ was ich daſelbſt
angefuͤhret/ dasjenige was Raéus weitlaͤufftig
von dieſer Frage diſputiret, d. diſſert. pag.
723. uſque ad p.
732. wiederlegen und beant-
worten kan/ abſonderlich aber iſt dasjenige/ was
der Autor Speciminis daraus excerpiret,
quod non omnes homines natura ſcire
deſiderent, quod non omnis veritas ſit
Philoſophiæ propria, quod veritas arti-
um à veritate Philoſophica diſcerni de-
beat,
u. ſ. w. entweder gantz falſch/ oder uͤber
ſchlieſ-
[46]Vorrede.
ſchlieſſend/ oder laͤufft auff einen bloſſen Wort-
Streit aus. So iſt auch dasjenige/ was der
Autor Speciminis aus Raéo n. 57. p. 36.
von Socrate referiret, als wenn dieſem die
Urſach des Ubels und deren Spaltungen/ die
unter ſeinen Zuhoͤrern nach ſeinem Todte ent-
ſtanden/ zuzuſchreiben ſey/ ſehr harte/ und iſt ei-
ne Anzeigung/ daß Raéus (denn von dem Au-
tore Speciminis
will ich nicht ſagen) die herr-
lichen teſtimonia der Alten/ ſo wohl Heyden
als Chriſten von Socrate, abſonderlich aber
des Xenophontis Buch de memorabili-
bus Socratis
nicht muͤſſe geleſen haben/ ge-
ſchweige denn/ daß er ſich umb des Socratis Le-
bens-Lauff und Lehre (welche heut zu Tage
Charpentier aus denen alten Scribenten
mit Fleiß zuſammen gezogen) ſolle genau be-
kuͤmmert haben. Endlich ſo halte ich das vom
Raéo fuͤr eine affectirte Unwiſſenheit/ wenn
er vorgegeben/ daß die Eclectici wenig von
denen Pyrrhoniis und Scepticis differir-
ten/ welches wiewohl es offenbahr falſch iſt/
und aus dem/ was ich Cap. 1. §. 36. item
§. 90. ſeqq. geſetzet habe/ beantwortet wer-
den koͤnnen/ ſo hat es doch der Autor Spe-
ciminis n. 70. p.
38. mit beyden Haͤnden er-
griffen/
[47]Vorrede.
griffen/ weil er ſich fuͤrgenommen/ auf die
Philoſophiam Eclecticam ſehr unguͤtig zu
ſprechen. Aber dieſes mag von denen Excer[-]
ptis Raéi
genung ſeyn/ denn wir muͤſſen nun-
mehr ſehen/ wie der Autor Speciminis wei-
ter fortfahre/ Raéus handelt in ſeiner Diſſer-
tation de Sapientia Veterum,
von denen
fuͤrnehmſten Secten derer Griechiſchen Philo-
ſophen,
und derſelben Zuſtand/ wie er allbe-
reit vor Chriſti Geburt geweſen. Unſer Au-
tor
aber/ nachdem er beym Raéo nichts mehr
zu excerpiren gefunden/ continuiret p. 48.
§. 110. folgender Geſtalt: Weil Ariſtoteles
der Vorgaͤnger derer folgenden Philoſophen
geweſen/ ſonderlich derer Scholaſticorum, ſo koͤn-
ne man leicht ſchlieſſen/ daß dieſe es nicht beſſer ge-
macht/ als ihre irrigen Vorgaͤnger/ dannenhero
ſey es ohnnoͤthig/ daß er alle und jede durchlauffe
und ſie examinire/ zumahl da er geſehen/ daß ich
allbereit in meiner Introduction ad Philoſophi-
am Aulicam
ſolches zur gnuͤge gethan. Ob hier
der Autor Speciminis dieſe connexion bey
geſchieden Leuten werde als einen dolum bo-
num
entſchuldigen koͤnnen/ gebe ich dem Leſer
anheim. Denn (1.) was ware es wohl zu ſei-
nem Zweck noͤthig/ derer alten Griechiſchen
Philoſophen ſectas zu erzehlen? haͤtte es
(2.) nicht
[48]Vorrede.
(2.) nicht vielmehr Nutzen gehabt/ die neuern
Secten zuerzehlen/ umb die Vortreffligkeit der
Carteſianiſchen Lehre darzuthun/ (3.) ware
denn Ariſtoteles bald anfangs unter denen
Chriſten der Vorgaͤnger derer Philoſophen,
und wo laͤßt denn der Autor den langwieri-
gen Flor der Platoniſchen Philoſophie bey
denen Vaͤtern der erſten Kirchen/ (4.) wenn
er deßhalben nicht fuͤr noͤthig haͤlt/ von denen
Philoſophiſchen Sectis bey denen Chriſten
was ausfuͤhrliches zugedencken/ weil ich es
ſchon zur gnuͤge gethan/ ſo muß er ja ſelbſt ge-
ſtehbn/ daß ſeine excerpta, die er aus Raeo
gemacht/ unnoͤhtig geweſen; Denu ich habe
auch von denen Sectis Græcorum ja ſo aus-
fuͤhrlich referiret als Raéus, zumal wenn man
das 2. Capitel meiner Introduction zu dem er-
ſten Capitel mit conferiren will. Oder warum
weiſet er mir in denen conſectariis nicht/ wor-
innen es Raéus beſſer getroffen habe/ als ich.
Solte ſich nun wohl bey dieſer Bewandnuͤß der
Autor Speciminis nicht ein wenig ſchaͤmen/
wenn aus dem/ was ich angefuͤhret/ ein jeder
Leſer gar deutlich erkennen kan/ daß er die Le-
ctores tacitè
bereden wollen daß dieſe Diſſer-
tatio de Sectis Veterum
ſeine Arbeit ſey/ und
daß
[49]Vorrede.
daß er dieſelbe auch ad ſequentia tempora
continui
ren koͤnte/ wenn er nur wolte/ da doch
in gegentheil gantz wahrſcheinlich/ daß er ger-
ne weiter continuiren wollen/ wenn es Jhm
nur in ſeinem Vermoͤgen geweſen/ oder wenn
Raéus nur weiter cotinnuiret haͤtte. Zumal
wenn man erweget das/ was der Autor Spe-
ciminis a
§. III. biß zu ende dieſes Capitels
p. 52. ferner geſchrieben von denen Urſachen/
warum die alten Secten der Warheit verfeh-
let haͤtten/ daß/ ſage ich/ dieſes alles wiederum
aus beſagter Diſſertation des Raéi, p. 730.
731. 732. ausgeſchrieben ſey. Jn denen con-
ſectariis
zu den 3. Capitel diſputirter n. 7. \&
ſeqq. p. 54. ſeq.
wider diePhiloſophiam
Eclecticam
recht cavillatoriè, weil er ſub no-
mine Philoſophiæ Eclecticæ
eine Philoſo-
phie
verſtehet die zu vertheidigen denen Phi-
loſophis Eclecticis
nie in den Sinn gekom-
men. Und wenn er nur haͤtte leſen wollen/
was ich in meiner Introduction cap. 1. §. 90.
ad finem capitis de Philoſophia Eclectica
\& ejus præſtantia præſectaria
angefuͤh-
ret haͤtte/ wuͤrde er ſo unfoͤrmlich Zeug/
und/ daß daſelbſt ſchon beantwortet iſt/ nicht
fuͤr gebracht haben. Und damit er nicht meine/ als
D
[50]Vorrede.
ob ich/ von dem er eine uͤbele præſumption
hat/ weil ich die Carteſianiſche principia ve-
ritatis
nicht fuͤr zulaͤnglich halte/ die Philoſo-
phiam Eclecticam
alleine defendirte; ſo
wil ich ihn auf des grundgelehrten Profeſſoris
zu Altorff/ des Herrn Sturmii, der des Car-
teſii Philoſophie
verhoffentlich ſo wohl inne
hat/ als der Autor Speciminis, auch den Car-
teſium
wieder ſeine unzeitigen Veraͤchter nach-
druͤcklich verdefendiret/ ſeine gantze Diſſer-
tation de Philoſophia Eclectica
verweiſen/
als woraus ich meine itzo allegirte § §os ex-
cerpi
ret habe/ wie ich ſolches nicht alleine mei-
nen Auditoribus in explication meiner In-
troduction
angezeiget/ ſondern auch §. 91.
verbis \& ab aliis jam demonſtratum eſt
\& §. 93. verbis: \& ex Profeſſoribus Alt-
dorffinis Sturmium,
darauff gezielet. Daß
aber der Autor Speciminis meinet/ er wolle
mich mit dem dilemmate p. 55. n. 12. \& 13.
fangen/ daran betruͤgt er ſich mercklich. Denn
anfangs irret er ſehr/ wenn er ſpricht: ich gaͤbe
meine Introduction ohne Zweiffel pro vera
\& certiſſima
aus. Ein anders wird ihn mei-
ne præfation weiſen/ als woraus er erſehen
wird/ daß ich ſie ſo lange fuͤr wahr halte/ biß mir
ein
[51]Vorrede.
ein anderer einen Jrrthum zeiget; daß ich ſie
aber deßwegen nicht pro certiſſima ausgebe/
ſondern gantz offenbahr meine menſchliche
Schwachheit/ die mich zu einigen Jrrthum haͤt-
te verleiten koͤnnen/ bekenne. So verlange
ich auch nicht von meinen Auditoribus, daß
ſie meine Sectarii werden ſollen/ weil ich meine
Philoſophie fuͤr wahr halte/ ſondern ich will/
daß ſie mir folgen ſollen/ wenn ſie die Warheit
derſelben ſo erkennen werden/ als ich: daferne
ſie aber ſehen/ und ſehr deutlich ſpuͤreten/ daß ich
gefehlet haͤtte/ ſo inculcire ich ihnen taͤglich/
daß ſie alsdenn meine Meynung ſollen fahren
laſſen/ gleichwie ich ſelbſt in einen und andern
meine Meynung endere/ wenn eine reiffere
meditation mir meine Jrrthuͤmer zuerkennen
giebet: Wenn ferner der Autor Speciminis
p. 55. n.
14. fortfaͤhret: Sed inquies, ſaltem Car-
teſius non eſt ſeqvendus
, ut qui ratiocinandi arte
mininè fuerit inſtructus, â præjudiciis præte-
reà nimium \& parum ſibi cavens, nimius et-
iam ac aliqvatenus faſtuoſus veterum Philoſo-
phorum contemptor videatur,
ſo ſpuͤre ich
wohl/ daß er abermals wieder mich diſputiren
wolle/ weil ich mich entſinne/ daß dieſe ange-
fuͤhrte Worte zum Theil aus meinem § 75.
cap. 1. Introd. hergenommen ſind; Aber er
D 2gehet
[52]Vorrede.
gehet auch hier nicht aufrichtig mit mir um.
Denn 1. wo wird er mir jemals dieſe propoſi-
tion: Saltem Carteſius non eſt ſequendus

in meinem Schrifften weiſen koͤnnen. Meine
Auditores wiſſen am beſten/ daß ich von Car-
teſio
allezeit honorificè ſentire; Meine
Introduction ſagt ſelbſten/ daß ich ſeine Phy-
ſic recommendire:
Warum verknuͤfft deñ
der Autor Speciminis dieſe odiöſe theſin, die
mir nie in Sinn kommen mit denen andern
Worten? 2. Warum excerpiret er aus dem
75. §. eben nur dasjenige/ was ich an Carteſio
deſideri
ret? und laͤſſet auſſen/ daß ich daſelbſt
geſagt/ quod Carteſius fuerit vir judicio
naturali \& ingenio maxime pollens, \&
veritatis cupidus, libertatis philoſophan-
di amantiſſimus, \& cum adverſariis ſuis
placidiſſime diſputaverit, ac ita exem-
plum præbuerit Politici modeſtiſſimi \&
humaniſſimi.
Ja (3) warum laͤſſt der Au-
tor
in denen defectibus, die ich an dem Carte-
ſio
bemerckt/ meine Worte nicht/ wie er ſie fin-
det/ und warum ſetzt er: ratiocinandi arte
minime inſtructus:
da ich doch nur geſagt
htte: non probè inſtructus. Aber dem ſey
allen wie ihm wolle/ ich habe mein judicium
von
[53]Vorrede.
von Carteſio in folgenden/ fuͤrnemlich cap. 3.
§. 12. ſeq. item Cap. 6. §. 16. ſeqq.
erwieſen.
Dieſes haͤtte er refutiren ſollen/ anſtatt/ daß
er des Carteſii ſcripta und ſonderlich ſein
Buch de methodo more magis oratorio,
als ſecundum artem ratiocinandi biß zu
ende dieſes Capitels heraus ſtreicht/ und die an-
dern Logicken verachtet/ welches mich dannen-
hero alles nichts angehet/ wenn er auch gleich
p. 58. n. 22. meine Prudentiam ratiocinandi
ohne Zweiffel mir ein Exempel ſeiner p. 6. \& 8.
verſprochenen modeſte zu geben) unter die
Dinge rechnet/ quæ marite ſuo nauci ba-
bentur.


14. Beym vierten Capitel tadelt er mich
p. 66. ſeqq. daß ich die probation des Carte-
ſii de diſtinctione mentis \& corporis, \& quod
conceptus mentis non involvat conceptum
corporis
nicht paſſiren laſſen wolte. Meine
Urſachẽ/ warum dieſes letzte nicht thun kan/ ſon-
dern gaͤntzlich dafuͤr halte/ daß der concept,
den wir uns natuͤrlicher weiſe von denen Ge-
dancken machen/ auch nach des Carteſii Be-
ſchreibung ſelbſt/ allezeit auf den concept eines
coͤrperlichen Weſens reflectire/ habe ich weit-
laͤufftig angezeiget cap. 3. meiner Introd. §. 27.
D 3ſeqq.
[54]Vorrede.
ſeqq. und haͤtte mir wohlgefallen ſollen/ wenn
der Autor Speciminis der p. 66. 67. 68. 69.
in dieſem Stuͤck wieder mich ſchreibet/ und etli-
che mal quod conceptus cogitationis non
involvat conceptum corporis
wiederho-
let/ doch nur eine eintzige raiſon von denen
meinigen angefuͤhret haͤtte/ geſchweige denn/
daß er dieſelbe beantwortet. Und alſo wird er
mir wieder verzeihen/ wenn ich mich auf das
Gewaͤſche d. p. 66. ſeqq. nicht einlaſſe/ weil es
in bloſſer contradiction beſtehet/ und zweiffels
ohne aus Claubergio oder einen andern Car-
tefia
ner absque judicio ausgeſchrieben iſt.
Und dennoch denckt der Autor Speciminis, er
habe es ſehr wohl ausgerichtet/ wenn er p. 70.
n.
18. mir manifeſtos errores de homine bey-
miſſet. Eben an denſelben Ort muß die be-
kante definitio hominis, quod ſit animal
rationale
herhalten/ als wieder welche er gantz
eyffrig à n. 19. d. p. 70. biß ad n. 43. p. 76.
diſputir
ete/ und doch zugleich ſich anſtellet/ als
wenn mich dieſes Gekeiffe alles angienge/ wenn
er anfaͤnget: Neque hominem tam obſcura
\& imperfecta definitione definiviſſet, [au-
tor Introd.) ut diceret, hominem eſſe ani-
mal rationale.
Jch habe anfangs abermalnicht
gewuſt/
[55]Vorrede.
gewuſt/ was ich daraus machen ſolte/ weil ich
nirgends dieſe definition in meinem Buche
fuͤr eine vollkommene und deutliche definition
ausgegeben. Meine Worte ſind cap. 3. §. 2. Ho-
mo quis? Eſt animal rationale. At hoc
quid? De eo nobis altius videndum, tan-
quam de re vel communiter neglecta vel
erroneò tradita.
Und nachdem ich hier-
von in folgenden ausfuͤhrlich meine Meynung
erwehnet/ ſage ich ausdruͤcklich §. 21. p.
80. Hominem perſpicue aliter definire
non poſſum, quam quod ſit ſubſtantia
corporea loco motiva \& facultate cogi-
tandi prædita.
Weil mir aber die objectio-
nes,
die der Autor Speciminis vorbringt/ ex
lectione Carteſianorum
bekant waren/ und
ich allbereit an ihnen gewohnet war/ daß er die
Carteſianer ſo ſehr liebete/ daß er auch nicht
gerne ihre Worte enderte/ ſo habe ich ſo lange in
dem Claubergio nachgeſucht/ biß ich gefun-
den/ daß er abermals uͤber 3. Blat de verbo
ad verbum ex part. 4. Logicæ Claubergi-
anæ cap. 7. §. 56. usque ad 61. p. 294. ſeqq.
Edit. Sulzbac. de ann.
1685. ausgeſchrieben/
wiewohl ich ihm dieſes nicht als was unrechtes
vorwerffe/ denn der Titel ſeines ſpeciminis
D 4giebt
[56]Vorrede.
giebt ihm dieſe Freyheit/ wenn er es doch aber
uur mit einer mica judicii gethan haͤtte/ Clau-
bergius diſputi
ret daſelbſt wieder die Peri-
pateticos
insgemein/ der Autor Speciminis
diſputi
ret wider mich/ und alſo haͤtte er auch
die Worte des Claubergii temperiren ſollen/
daß ſie ſich auff mich ſchickten. Nun ſehe man a-
ber n. 26. p. 71. die in parentheſi geſetzte
Worte an (buic enim cognitionem tribuunt
illius definitionis autores)
die er/ wie recht/
auch bey dem Claubergio antreffen wird; auff
mich aber reimen ſie ſich/ wie eine Fauſt auf ein
Auge/ weil ich denen beſtiis cognitionem
und ſenſum denegire §. 9. \& 11. d. cap. 3.
Wiewohl der Autor Speciminis laufft
groſſe Gefahr/ wenn er aus denen Buͤchern/
da er ausſchreibet/ etwas aͤndern oder aus-
laſſen will/ daß man flugs nicht weiß/ was
er habenwill/ auch er ſelbſt nicht/ ſo gar man-
gelt es ihn an der Secunda Petri. z. e. Wenn
Claubergius d. l. §. 61. pag. 297. ſpricht;
Quomodo tertiæ conditioni ſatisfacit u-
ſitata hominis definitio? Reſp. An defi-
nitio aliqua ſit adæquata inductione co-
gnoſcitur, ſi, de quocunque dicitur defi-
nitū, de eodem etiam definitio dicatur, \&

vice
[57]Vorrede.
vice verſa? Ratione hujus conditionis
nihil deeſt hominis definitioni. Sed nec
deeſſet quicquam, ſi animal ridendi fa-
cultate pollens definiretur, quam tamen
definitionem approbaret nemo, quia
aperte incurrit in præcepta Log.
1. 102.
Der Autor Speciminis aber hat dieſes auf
folgende weiſe in ſein Buch eingetragen.
Neque tertiæ conditioni uſitata illa hominis
definitio ſatisfacit. Definitio enim debet
eſſe adæqvata defin to. Hoc unum ſit, in-
ductione cognoſcitur, ut ſi, de quocunque
dicitur definitum, de eo etiam definitio di-
catur \& vice verſa. Ratione hujus condi-
tionis nibil deeſt hominis definitioni. Fa-
teor, ſed nec ſi animal ridendi facultate pol-
lens definiretur, quicquam deeſſet, quam ta-
men definitionem nemo probaret. Vid. Log.
Clauberg.
1. §. 102. hat man wohl iemahln
einen Autorem unbedachtſamer excerpi-
ren ſehen/ daß man ſententias apertè con-
tradictorias
ſo offenbar und ſo bald auff ein-
ander ſetzet. Darvon will ich itzo nichts ge-
dencken/ daß/ weil er ja Logicam Clauber-
gii
zu ende allegiren wollen/ er ſich bey dem
Leſer wegen des bonæ fidei ſchlecht recom-
mendi
ren werde/ daß er nicht den rechten
locum, woraus er die geſamten § § os geſchrie-
D 5ben/
[58]Vorrede.
ben/ ſondern einen andern/ der nur etwas we-
niges von dieſer materie beruͤhret/ allegiret.
Nun leugne ich zwar nicht/ daß doch gleichwol
unter denen objectionibus des Claubergii
etliche enthalten ſind/ die meine definitionem
hominis
mit treffen; aber ſie ſind offte allbe-
reit von denen Ariſtotelicis beantwortet wor-
den/ daß ich fuͤr ſehr ohnnoͤthig halte/ dieſerwe-
gen das Papier anzufuͤllen. Der Autor Spe-
ciminis
darff nur ſeine Commilitones fra-
gen/ die ein Jahr die Philoſophie durch gehoͤ-
ret haben/ ſie werden ihm gar leicht dieſe ſcru-
pel
benehmen. Bey dieſer Bewandnuͤß ſolte
ſich wohl ein jeder wundern/ wie der Autor
das Hertze gehabt/ und ſich unternommen/ ich
will nicht ſagen/ wieder andere zu ſchreiben/ ſon-
dern nur in genere unter ein Buch ſeinen
Nahmen zu ſetzen. Aber der Autor Speci-
minis
faͤngt vielmehr an/ ſich ſelbſt uͤber mei-
ne Kuͤhnheit zu verwundern/ und decidirt nun
rechtſchaffen pro autoritate. Secundum, ſagt
er in 5. cap. p. 79. quod conſiderari VOLO
eſt, nos illam ſubſtantiam quæ cogitat; ſive
IDEM CUM EXTENSA, quam corpus appel-
lamus, ſivè abeâ diverſa ſit, citius cognoſcere,
magisque certos eſſe de ejus exiſtentia \& eſ-

ſentia,
[59]Vorrede.
ſentia, quam de corpore \& ſubſtantia extenſa.
(Benè eſt, quod Noſter talia VULT, nam
eruditus Carteſianus nunquam dixit:
ſubſtantiam quæ idem eſt cum corpore,
citius cognoſci quam corpus. Num
enim IDEM citius cognoſcitur SE
IPSO? ſed Noſter pergit:) Qvæ veritas
adeò clara eſt, ut mir er à Doctiſſ. Autore In-
trod. in Philoſ. Aul. in controverſiam vocari
eam potuiſſe.
Es heiſſet hier wohl recht:
Miri Mir antur \&c. Jch wundere mich gantz
nicht druͤber/ denn ich habe in meiner Intro-
duction cap.
3. meine Urſachen gnugſam ge-
ſetzt/ die vielleicht kraͤfftiger ſeyn als Carteſii
ſeine/ wenn er in Anfang ſeines methodi dieſe
klare Warheit/ daß er Haͤnde und Fuͤſſe habe/
in Zweiffel gezogen. Alleine der Autor Spe-
cimis
wird nein darzu ſagen/ denn er will die
Leute bereden/ quod ſuo jure id fecerit Carte-
ſius.
Fragſt du QUO JURE, ſo antwortet er/
quia placuit ipſi, dum ſolidam ſapientiam me-
ditaretur, omnes opiniones veteres, etſi pro-
babiles, ut falſas tamen eſſe ad tempus abdi-
candas \&c. etiam de rebus ſenſibilib 9 \&c. quia à
ſomno vigiliam diſtinguere
haud poterat \&c. igi-
tur patet etiam ipſum eo tem pore jure de-
corpore proprio dubitare pot uiſſe. vid

noſtr.
[60]Vorrede.
noſtr. p. 82. \& 83. in conſectariis. Jch
entſinne mich/ daß dieſes des Carteſii ſeine ei-
gene Worte ſeyn. Aber ich will itzo nur mit
dem Autore Speciminis zuthun haben. Weñ
er kuͤnfftig auch Specimen Ethicæ Clau-
bergianæ
ſchreibẽ wird/ ſo wird wohl propri-
um beneplacitum
das hauptfundament
juſtitiæ \& juris
werden. Das iſt eben/ was
ich in meiner Introduct an Carteſio getadelt/
daß er bey dieſer dubitation de corpore
nichts anders als ſein beneplacitum hat fuͤr-
bringen koͤnnen/ und die ſchlechte Entſchuldi-
gung/ daß er à ſomno vigihã nicht hat unter-
ſcheiden koͤnnen. Denn gleichwie dieſes ein
haupt præjudicium iſt/ daß er dahero/ weil
ein traumender oͤffters irret und meinet er
wache/ auch geſchloſſen/ es koͤnne ein wachender
auch irren/ daß er ſich gewiß perſuadire, er-
ſchlaffe; alſo habe ich ihm in meiner Introd.
p.
77. wegen ſeines Placuit entgegen geſetzt/
daß ein Scepticus, wenn er wieder ihn diſpu-
tirt,
ſich eben das Placuit werde bedienen/ und
ſagen/ es gefiele ihn auch zu zweiffeln/ daß er
gedencke/ und daß dannenhero er eben ſo ein
ſtarck Jus fuͤr ſeine Meinung habe/ als Car-
teſius
fuͤr die ſeinige. Dieſe meine inſtantz
aber
[61]Vorrede.
aber hat der Autor Speciminis einmahl be-
antworten wollen/ weil er zu allem Gluͤck et-
was in des Carteſii Text gefunden/ daß er
paucis verbis mutatis wieder mich retor-
qui
ren koͤnnen. Drumb ſpricht er p. 84.
Patet etiam, quam nulla ſpecie opponatur,
eadem fictione, qua Carteſius fingebat, ſe
non habere corpus, poſſit etiam fingi quod
non cogitet. Nam revera fingat, quod, vult
\& quantum vult, nunquam tamen fingere po-
terit, quod eo ipſo, quo fingit non fingat, \&
ſic non cogitet atque adeò non ſit \&c.
Die-
ſe replic des Carteſii iſt mir nichts neues; a-
ber ich wolte/ das Carteſius da waͤre/ und ant-
wortete mir auff meine duplic: Jch nehme
dieſe diſputation des Carteſii wieder die
Scepticos an/ und diſputire nunmehro aus
eben dem fundament wieder ihn/ wenn er in
ſeinen methodo inquirendi veritatem ex
beneplacito fingiret,
er haͤtte keinen Coͤrper:
Denn ich ſage eben auch ſo. Nam revera
fingat Carteſius, quod vult, \& quantum
vult, nunquam tamen fingere poterit,
quod eo ipſo quo fingit reverà non ha-
beat corpus;
oder daß ich des Carteſii Wor-
ten und hypotheſi noch naͤher kom̃e/ nun-
quam tamen fingere poterit, quod eo

ipſo
[62]Vorrede.
ipſo quo fingit, non fingat, \& ſic non in
glandula pineali alicujus rei conſcius ſit,
atque adeò non corpus habeat.
Was
meint der Autor Speciminis hiervon? Er
kan alle Carteſianer durchleſen und verſu-
chen/ ob er aus einem einigen ſo viel ſuccurs
bringen kan/ daraus er wieder mich triplicire.
Aber vielleicht wird er ſagen/ ich habe das Recht
nicht wieder Carteſium, was Carteſius wie-
der die Scepticos hat/ oder ich verſtaͤnde die
Philoſophie nicht. Denn dergleichen re-
ſponſiones
ſind bey ihm nichts neues/ und
treffen wir eine ſolche eadem p. 84. bey ihm an.
Patet etiam, ſpricht er/ objectionem eo-
rum, qui ajunt, corporis noſtri notitiam
priorem, aut ſaltem æquè claram \& evi-
dentem eſſe, quam mentis noſtræ, nul-
lo fundamento niti.
Und wenn weiter je-
mand fragen wolte: Unde vero hoc patet,
darff unſer Autor Speciminis gantz nicht
lange umb eine Antwort bekuͤmmert ſeyn/
ſondern nimmt ſie gleich aus der Lufft. O-
mnes enim, qui ita judicant, manifeſte
produnt, ſe nunquam legitimo modo \& or-
dine philoſophatos fuiſſe, nec unquam ſatis
accuratè mentem à corpore diſtinxiſſe,
das iſt
auff gut deutſch ſo viel geſagt/ ſe nunquam vo-
luiſſe
[63]Vorrede.
luiſſe beneplacito Carteſii ſubjicere. p. 89. ſeq.
diſputi
rt der Autor wieder mich/ daß ich an ſtatt
der Propoſition: Ego cogito, Ergo ſum mit de-
nen Peripateticis das Impoſſibile eſt idem ſi-
mul eſſe \& non eſſe pro primo principio
aus-
gegeben/ denn er hat da zweiffels ohne einen
Carteſianer gefunden/ den er ausſchreiben
koͤnnen. Jch wolte aber wuͤnſchen/ daß er ei-
nen angetroffen haͤtte/ der ihm was ſuppedi-
tiret,
mit welchem er die bekante diſtinction
inter primum cognitum \& primum
principium,
als welche alle ſeine objectiones
bombardiret,
haͤtte unterminiren koͤnnen.
Zuletzt will er p. 92. doch diejenigen abfinden/
die da ſagen/ als wenn Carteſius die Platoni-
ſche Philoſophie wieder auffgewaͤrmet haͤtte.
Jch weiß wohl/ daß dieſes Carteſius nicht ge-
ſtehen wollen/ und daß einige differentz unter
der Platoniſchen und der Carteſianiſchen ſey/
wannenhero ich auch in meiner Introd. p. 35.
geſetzt/ daß die Carteſianiſche ſecta media
inter Platoniſmum \& Scepticiſmum
ſey/
und mich ſolcher geſtalt dieſe diſputatio des
Autoris Speciminis nicht angehet/ jedoch wird
er ſo gut ſeyn/ und zulaſſen/ daß ich ihm des
Raéi Wort fuͤrlege ex diſſertatione de for-
ma ſubſtantiali \& anima hominis, p. m.

473.
[64]Vorrede.
473. ſeq. Noſtra ſententia eſt, hominem anima
\& corpore conſtare, quæ duæ ſubſtantiæ ſint
intimæ unitæ inter ſe \&c. hominis vero, ut ex
his compoſitus eſt, nullam eſſe formam præter
unionem iſtam, qua anima mancipata corpo-
ri eſt, in plerisque functionibus ſuis \&c. Huic
proximè accedit platonis ſententia, hominem
nihil aliud quam animam eſſe, utentem cor-
pore, ubi homo denominatur à potiore par-
te ſua \& corpus non juxta ſed intrà animam
ponitur, ut inſtrumentum, \& domicilium \&
carcer quoque, in quo frui ſatis non poſſit li-
bertate ſua \& verum hominem referre. Quæ fa-
cilè tolerari \& in meliorem partem accipi poſ-
ſunt, maxime ſi cogitemus, ſic quoque homi-
nem in ſacra ſcriptura conſiderari \&c. A Plato-
nis \& noſtra
ſententia adhuc longius recedunt
\&c.
Mich duͤnckt/ aus dieſen Worten des
Raèi konte man gar leicht das jenige umbſtoſ-
ſen/ was Autor Speciminis p. 92. pro offen-
denda differentia inter Carteſii \& Plato-
nis dogmata
anfuͤhren will. Und ich will
nicht hoffen/ daß der Autor ſo kuͤhne ſeyn wer-
de/ daß er uns dieſen locum des Raéi nicht
wolle paßiren laſſen/ nachdem er uns das gan-
tze caput 3. de Veterum Philoſophorum
ſecta
aus dem Raéo als ein glaubwuͤrdiges
Evangelium hergebetet. Das letzte arca-
num,
das der Autor zu Ende des V. Capi-
tels
[65]Vorrede.
tels p. 94. ſetzet/ geſtehe ich gar gerne/ daß ich es
nicht verſtehe/ wenn er ſpricht: Qua ratione
demonſtratur corpus non poſſe cogi-
tare? Reſp. Hac ratione: Omne id, quod
poteſt cogitare, eſt mens ſive vocatur
mens, ſed cum mens \& corpus realiter
diſtinguantur, nullum corpus eſt mens
\&c.
Dieſes iſt eine ſehr kuͤnſtliche demon-
ſtration,
denn ich kan auch daraus demon-
ſtri
ren/ quod homo non poſſit cogitare,
quia homo \& mens realiter diſtingvun-
tur (differunt ſiquidem definitione) nul-
lus homo eſt mens, quare etiam nullus
homo cogitare poteſt.
Ja aus dem prin-
cipio
dieſer demonſtration will ich demon-
ſtri
ren/ daß der Menſch weder hoͤrt noch ſieht/
quia auris audit \& oculus videt, und was
mehr fuͤr dergleichen herrliche Dinge aus die-
ſer demonſtration koͤnnen hergeleitet wer-
den.


15. Dieſes ſind alſo meine wenigen An-
merckungen uͤber die erſten 4. Bogen des Au-
toris Speciminis,
aus welchen verhoffentlich
der Leſer meine Urſachen erkennen wird/ war-
umb ich mich mit ihm/ ehe und bevor er die
EPhilo-
[66]Vorrede.
Philoſophie beſſer lerne/ und anfange ultra
verba
derer Carteſianorum, daraus er ſein
Buch zuſammen getragen/ etwas zu verſtehen
nicht einlaſſen koͤnne/ denn in dem folgenden
iſt ebenfalls nichts als bloſſe contradictiones
wieder meine aſſertiones, aber keine einige
Beantwortung meiner oberwehnten dubio-
rum
und hypotheſium, auſſer daß er zuwei-
len mich etwas grober tractiret/ als in denen 4.
erſten Bogen geſchehen/ auch mir gefaͤhrliche
Meinungen andichtet/ als z. e. wenn er p. 101.
unter meinen errores zehlet: quod mens ſit
materialis,
und p. 102. quod anima natu-
ra ſua non ſit immortalis.
Dahin auch die-
ſe ſpitzige Worte zielen/ die er p. 133. ſetzet: Mi-
rum certè eſt, licet omnes homines de-
ſiderent eſſe immortales, inveniritamen
viros, qvi bellum apertum immortali-
tati ſuarum mentium indicant.
Wenn
ich nicht rechtſchaffen Mitleiden mit des Au-
toris
elenden Zuſtand quoad intellectum
\& voluntatem
haͤtte/ ſo wuͤſte ich wohl/ was
ſich auf dergleichen calumnien gehoͤrete.
Er weiſe mir doch/ wo ich immortalitati ani-
mi bellum inferi
re/ oder aſſerire, animam
non
[67]Vorrede.
non eſſe immaterialem aut immorta-
lem.
Das ſage ich wohl/ ex ratione ſola
neſcio, qvod anima ſit immaterialis \&
immortalis.
Aber ich daͤchte unter dieſen
beyden waͤre ja noch wohl ein mercklicher Un-
terſchied. Wenn einer zu dem Autore ſpraͤ-
che: Er wiſſe zwar nicht gewiß/ ob er aus
guter intention ſich zu uns gewendet/ er glaͤu-
be es aber doch: wolte wohl der Autor ihn
beſchuldigen/ er haͤtte ihm eine ſchlimme inten-
tion
beygemeſſen/ oder ſeiner guten intention
bellum infe
rirt? Aber gnung hiervon. Jch
verzeihe dem Autori die uͤbele intention, die
er gehabt/ wieder mich zu ſchreiben/ und gleich
wie mir es leyd iſt/ daß er bey denen/ ſo er da-
durch cour machen wollen/ ſeinen Zweck
nicht nach Willen erreicht/ auch der ihm dar-
aus eingebildete Nutzen noch kuͤnfftig aus-
bleiben moͤchte/ alſo kan er ſich verſichern/ daß
ich nie ermangeln werde/ ihm/ wenn er es von
mir verlanget/ nach vermoͤgen gutes zuthun/
und daß ich ihn aus gutem auffrichtigen Hertzen
vermahne das bekante Symbolum: Fide,
ſed cui vide,
kuͤnfftig beſſer zu practiciren/
auch warne/ daß er ferner nicht eher ſich an an-
E 2dern
[68]Vorrede.
dern machen wolle/ biß er erſt ſein Vermoͤgen
beſſer unterſucht habe. Sinihil eſt pronun-
ciandum, niſi quod clare \& diſtinctè fu-
erit cognitum, profectò, nihil temerè
erit ſuſcipiendum, ſi non prius clarè \&
diſtinctè id te effecturum cognoveris.


16. Wiewohl aber dißfalls ich mit Grund
der Warheit ſagen kan/ daß ſo wohl in beſa-
gten Specimine Logicæ Carteſianæ, als in
denen uͤber meine Introduction angeſtelle-
ten diſputationibus ich nichts gefunden oder
gehoͤrt/ daß mich in meinen daſelbſt gelegten
principiis zu wancken haͤtte vermoͤgen koͤn-
nen/ ſo iſt doch bey gegenwaͤrtiger Vernunfft-
Lehre
meine intention nicht/ beſagte meine
Introduction in das Teutſche zu uͤberſetzen/
ſondern wer dieſe mit jener conferiren wird/
wird gar leichte befinden/ daß viel in der Ver-
nunfft-Lehre enthalten ſey/ das in der Intro-
duction
nicht anzutreffen/ noch mehr aber in
die Introduction zu finden/ daß ich hier zu
der Vernunfft-Lehre nicht gebracht/ welches
alles aus folgenden Urſachen herruͤhret/ weil
ich in der Introduction nicht ſo wohl die Er-
forſchung der Warheit/ als die Erkaͤntnuͤs
derer
[69]Vorrede.
derer gemeinen Jrrthuͤmer habe/ wollen zu er-
kennen geben/ auf dieſelbe ſolchergeſtalt mehr
fuͤr die Lehrenden als Lernenden geſchrieben/
wie ich allbereit damahlen in der Vorrede
mich erklaͤhret. Aber itzo bin ich/ wie oben
erwehnet/ bloß umb die theſin beſorgt/ und
will meinen Zuhoͤrern zu gute weiſen/ wie im-
mer eine Warheit aus der andern hergeleitet
werden ſoll/ und zwar ſolchergeſtalt/ daß ſie das-
jenige/ was ich weitlaͤufftig dabey diſcuriren
werde/ deſto beſſer mercken koͤnnen. Sol-
chergeſtalt aber wird das gantze Werckgen
mehr kurtzen ſummarien aͤhnlich ſeyn/ als ei-
nem ausfuͤhrlichen tractat, und faſt aus nichts
anders/ als aus hypotheſibus, definitioni-
bus, axiomatibus, propoſitionibus
und
obſervationibus beſtehen/ wiewohl ich/ umb
meinen Zuhoͤrern/ die Luſt nicht zu vermin-
dern/ nicht jedes von dieſen claſſen à part
tracti
ren/ ſondern mit Fleiß die axiomata,
definitiones, obſervationes
u. ſ. w. mit ein-
ander vermiſchen will/ doch alſo/ daß die me-
thode
dadurch nicht confus gemacht werde/
ſondern leichte und naturell bleibe. Und
weil ich meine Auditores gerne von dem præ-
E 3judicio
[70]Vorrede.
judicio autoritatis gantz abwenden und da-
hin diſponiren wolte/ daß ſie bloß auff die
Sache ſelbſt ſaͤhen/ als werde ich umb dieſer
Urſache willen gar ſelten autores allegiren/
es waͤre denn/ daß ich mich umb kuͤrtze willen
auff andere bezoͤge/ die mir ſpecial materie
recht nach meiner Meinung tractiret haͤtten.
Jedoch koͤnnen ſich meine Zuhoͤrer verſichern/
daß ich meine Vernunfft-Lehre/ weder aus
zwoͤlff Logicken zuſammen geſchrieben/ und die
dreyzehende draus gemacht/ noch die allegi-
rung der Autorum unterlaſſen habe/ umb
dadurch ein plagium zubegehen/ und die an-
dern Leuten gebuͤhrende Ehre mir zuzuſchrei-
ben. Was jenes anlanget/ ſo habe ich etliche
Jahre darauff meditiret/ eher ich mir dißfalls
was neues zu ſchreiben unterſtanden. Jch habe
zu foͤrderſt quoad hiſtoriam Philoſophicam
Ciceronis quæſt. Academicas, Vosſium,
Hornium
und meines S. Vaters hierzu dien-
liche Schrifften/ ſo wohl die MSS. als gedruck-
ten fleißig durchgeſehen/ quoad Philoſophi-
am Stoicam
ſeine diſſertationes varias,
Senecam, Lipſium,
und Scioppium; quo-
ad Epicuream Laërtium
und Gaſſendum
ge-
[71]Vorrede.
geleſen; quoad Platonicam aber mir Plato-
nem
ſelbſt Maximum Tyrium und andere
bekant gemacht/ auch des Schefferi ſein ge-
lehrtes Buch de Philoſophia Italica mit at-
tention
durchleſen. Von denen neuen habe
ich ſonderlich Petrum Ramum, und etliche
von ſeinen aſſeclis und adverſariis durch-
ſucht/ und Carteſii Buch de methodo, wie
auch ſeine meditationes nebſt denen obje-
ctionibus
mit guten Bedacht meditiret.
Die Logic des Port Royal, hat mir in vie-
len wohlgefallen/ wiewohl ich auch viel ohn-
noͤhtige ſubtilitaͤten darinnen angetroffen/ die
Carteſio (nach deſſen hypotheſibus ſie ſon-
ſten eingerichtet iſt) ſchwerlich gefallen wuͤrden.
Claubergii methode hat mir wohl angeſtan-
den/ aber das judicium in der Ausarbeitung
habe ich oͤffters ziemlich vermiſſet. So habe ich
auch ohnlaͤngſt ein klein Frantzoͤſiſch Buͤchlein
von ohngefehr 13. Bogen zu geſichte bekom̃en/
welches zu Paris 1678. in 12. gedruckt wor-
den und folgenden Titel hat. Eſſay de Lo-
giqve, contenant les principes des ſcien-
ſes, \& la maniere de s’en ſervir pour fai-
re de bons raiſonnemens,
in welchen ich
E 4viel
[72]Vorrede.
viel gute Anmerckungen gefunden/ die ich biß-
her bey andern nicht beobachtet. Von denn
Logicken/ die nach der Peripatetiſchen Lehr-
Art eingerichtet ſind/ habe ich nebſt meines
Seel. Vaters quæſtionibus Logicis, und
dem/ was ich in collegiis auff Academien
gehoͤret Jungii Logicam Hamburgenſem
mit conferiret/ auch des Herrn Weiſens zu
Sittau ſeine Logic, in welcher er allbereit
einen und den andern defect zu emendiren
angefangen/ mit guten Vergnuͤgen durchle-
ſen. Andere Autores, die mir eben nicht ſo
einfallen/ anitzo zugeſchweigen. Dieſe alle
nun habe ich nicht gebraucht/ daß ich aus ih-
ren centonibus meine Vernunfft-Lehre o-
der Introductionem ad Philoſophiam
Aulicam
bauen wolte/ ſondern nachdem ich
bald bey dieſen bald bey einem andern gute
und zweiffelhaffte Dinge angetroffen/ habe ich
mir einen gewiſſen Grund geſucht/ aus wel-
chen ich nicht alleine alle Zweiffel beantworten/
ſondern auch ſolches andern Leuten deutlich
beybringen moͤchte/ hernachmahls aber durch
Anleitung deſſen/ was ich bey andern gefun-
den/ der Sachen immer mehr und mehr nach-
geſon-
[73]Vorrede.
geſonnen/ entweder dadurch meine Grund-
Regeln bekraͤfftiget/ oder die gemeiniglich un-
terlaſſenen doctrinen/ zu ſuppliren dahero
Anlaß genommen. Und hoffe ich nicht/ daß
man mir mit Warheit werde zeugen koͤnnen/
daß ich hier oder da gantze Plaͤtze aus andern
autoribus geſchrieben habe/ ja wenn iemand
der hiſtoriæ philoſophicæ kuͤndig iſt/ der
wird gar leicht erkennen/ daß zwar eines oder
das andere/ dieſer oder jener Secte nahe kom-
me/ aber doch allezeit mit meinen Lehr-Saͤtzen
genung verknuͤpfft ſey/ und daß dieſelbigen ſon-
derlich die Mittel-Straſſe zwiſchen der gemei-
nen und Carteſianiſchen Logic gehe/ oder/
nach denen alten Secten, daß ſie zwiſchen de-
nen Platoniſchen principiis ratiocinandi,
und denen fundamenten der Stoicker des E-
picuri
und Ariſtotelis, die dißfalls auf ge-
wiſſe maſſe fuͤr einen Mann ſtunden/ den
Mittelweg beobachte. Habe ichs nun wohl
getroffen/ und das gemeine beſte einen Nu-
tzen daraus zu hoffen/ ſo gehoͤret Gott dafuͤr die
Ehre. Habe ich geirret/ ſo bin ich allezeit er-
boͤthig/ meine Jrrthuͤmer/ da ſie mir gezeiget
werden/ zu aͤndern/ und hoffe ich/ man werde
E 5mit
[74]Vorrede.
mit mir zu frieden ſeyn koͤnnen/ wenn ich in
Anſehen deſſen/ was in meinen Saͤtzen mit an-
deren Philoſophen uͤberein zukommen ſchei-
nen wird/ conteſtire/ daß ich ſolcher geſtalt mei-
ne gantze Philoſophie mit ihnen theilen wol-
le/ daß ich mir die bloſſen Fehler/ die ich hier-
innen begangen/ ihnen aber alles gute/ das man
in meinem Buche antreffen wird/ zu-
eignen wolle.


Der[75]

Der
Vernunfft-Lehre
I. Hauptſtuͤck.
Von der
Gelahrheit insgemein.


Jnnhalt.


Beſchreibung der Gelahrheit. § 1. Derſelben ſind alle
Menſchen faͤhig. §. 2. Waͤren auch vor dem Fall alle
gelehrt geweſen §. 3. Nach dem Fall aber ſind ſie
theils gelehrt/ theils ungelehrt. §. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Was ein gelehrter Mann ſey. §. 10. 11. Nach dem
Fall koͤnnen nicht alle Lente gelehrt ſeyn. §. 12. jedoch
ſollen dieſe auch nicht gar ignoranten ſeyn. §. 13. 14
Zwey Lichter zu Erlangung der Gelahrheit: das na-
tuͤrliche und uͤbernatuͤrliche. §. 15. 16. 17. Wie weit
die Sprachen Wiſſenſchafft zur Gelahrheit von noͤ-
then. §. 18. 19. 20. Gottes Gelahrheit: Weltweißheit.
§. 21. 22. Die Vernunfft-Lehre und hiſtorie zwey ge-
meine inſtrumente der Gottes-Gelahrheit und Welt-
Weißheit. §. 23. biß §. 33. Bey der Vernunfft-Lehre
hat man ſich nach meinen Lehren umbzuthun. §. 34. 35.
Deſſen und des Lehrlings requiſita, §. 36. 37. Etliche
Aumerckungen. §. 38. biß zum Ende.


1.


DJe Gelahrheit iſt eine Erkaͤntnuͤß/
durch welche ein Menſch geſchickt
gemacht wird das wahre von den

falſchen
[76]1. Hauptſtuͤck von der
falſchen/ das gute von dem boͤſen wohl zu
unterſcheiden/ und deſſen gegruͤndete wah-
re/ oder nach Gelegenheit wahrſcheinliche
Urſachen zu geben/ umb dadurch ſein ei-
genes als auch anderer Menſchen in ge-
meinen Leben und Wandel zeitliche und
ewige Wohlfarth zu befoͤrdern.


2. Sie hat ihren Sitz im Verſtande des
Menſchen/ und weil dieſer allen Menſchen
gemein iſt/ als ſind auch alle Menſchen faͤhig
die Gelahrheit zu erlangen/ ob gleich die we-
nigſten wegen vieler Urſachen dieſelbige nicht
beſitzen.


3. Zwar in dem Stande der Unſchuld/
in welchem der Menſch keine Unvollkommen-
heit hatte/ waͤren wol alle Leute gelehrt gewe-
ſen/ ja ſie haͤtten wahrſcheinlich nicht einmal
hierinnen einige Unterweiſung von andern
bedurfft.


4. Aber nachdem durch den Suͤnden-
Fall
der Verſtand gar ſehr verfinſtert wor-
den/ und man ſolcher Geſtalt durch unter-
ſchiedene muͤhſame Mittel denſelben zuer-
leuchten vonnoͤthen gehabt/ iſt der Unterſcheid
zwiſchen denen Gelehrten und Ungelehrten
entſtanden.


5. Nach
[77]Gelahrheit insgemein.

5. Nach der Geburt iſt ein jedweder
Menſch/ wes ſtandes er ſey/ gantz unwiſſend/
ſo gar/ daß wenn er in dieſem Zuſtande von de-
nen Menſchen abgeſondert auferzogen wer-
den ſolte/ wuͤrde er ja ſo wenig/ wo nicht weni-
ger Vernunfft von ſich ſpuͤhren laſſen/ als
manche Beſtien.


6. Wenn er aber durch gute Aufer ziehung/
converſation mit andern Leuten/ Leſung gu-
ter Buͤcher/ eigne Erfahrung/ und reiffes
Nachſinnen/ zufoͤrderſt aber durch die Gnade
Gottes die Wolcken ſeiner Unwiſſenheit ver-
treibet/ kan er endlich zu dem hohen Grad
der Weißheit/
der in dieſem Leben erhalten
werden kan/ gelangen/ maſſen denn unter de-
nen Heyden dißfalls Socrates, Plato und ſo
weiter/ unter denen Rechtglaͤubigen aber Jo-
ſeph, Salomon, \&c.
fuͤr andern beruͤhmt
geweſen.


7. Zwiſchen dieſem Grad der hoͤchſten
menſchlichen Weißheit/ und den unterſten
Grad der hoͤchſten Unwiſſenheit/ ſind unzeh-
lich viel mittlere Stuffen/ die nach Gelegen-
heit bald zu der Gelahrheit/ bald zu der Un-
gelahrheit gerechnet werden.


8. Denn
[78]1. Hauptſtuͤck von der

8. Denn ſo ſchwer es iſt zu ſagen/ das wie
vielſte Korn aus einer Hand voll einen Hauf-
fen mache/ ſo ſchwer iſt es auch zu determi-
ni
ren/ durch welchen Grad der Wiſſenſchafft
man aus einem ungelehrten Menſchen ein
rechtſchaffener Gelehrter werde.


9. Dannenhero darf man ſich auch nicht
wundern/ daß oͤfters den Nahmen gelehrter
Leute diejenigen mißbrauchen/ die nichts we-
niger ſind/ oder daß man die Gelahrheit nach
Titeln und Ehren-Aemtern ausmißt.


10. Jch halte den vor einen gelehrten
Mann/ der etliche wenige Wahrheiten ge-
wiß weiß/ die er zum gemeinen Nutzen an-
wenden/ und daraus in allerhand Wiſ-
ſenſchafften andere Warheiten wieder
herleiten kan/ im uͤbrigen aber das gemei-
ne Spruͤchwort rechtſchaffen verſtehet/ daß
die Welt von leeren Wahne angefuͤllet ſey/
und ſo wohl ſeine Warheiten/ als den leeren
Wahn der Welt andern gar leichte und
deutlich kan vor Augen ſtellen.


11. Jedoch muß ein ſolcher taͤglich fortfah-
ren
ſeinen Verſtand auszubeſſern/ weil es
taͤglich Gelegenheit haben wird/ neue War-
heiten zu entdecken/ und neue Vor-Urtheile/
die
[79]Gelahrheit insgemein.
die an Erforſchung der Warheit hinderlich
ſeyn/ theils bey ſich ſelbſt/ theils bey andern zu
entdecken.


12. Wiewol nun die Gelahrheit den Men-
ſchen aus ſeiner Unvollkommenheit heraus
reiſſet/ und dannenhero billich alle Menſchen
ſich bemuͤhen ſolten/ gelehrt zu werden/ ſo

laͤſſet doch der Zuſtand der menſchlichen Ge-
ſellſchafft
nach dem Fall ſolches nicht zu/
weil der Unterſcheid der Staͤnde denen mei-
ſten ſo viel zu thun giebt/ daß ſie die Zeit/ ſo zu
Erlangung der Gelahrheit erfordert wird/
dem gemeinen Weſen zum beſten zu was an-
dern anwenden muͤſſen.


13. Jedoch ſollen ſich auch dieſe bemuͤhen/
daß ihre Ungelahrheit doch fuͤr keine grobe
Unwiſſenheit gehalten werden koͤnne/ und
ſolcher Geſtalt durch taͤgliche Erfahrung und
Rachfragung der Gelehrten/ ſo viel erkennen/
daß ſie ihres Orts nach ihrem Stande ſo
viel moͤglich/ die gemeine und ihre eigene
Gluͤckſeeligkeit befoͤrdern koͤnnen/ ob ſie gleich
von andern Staͤnden keine Wiſſenſchafft ha-
ben/ auch von den Jhrigen nicht eben deutliche
Rechenſchafft zu geben wiſſen.


14. Die Ubrigen aber/ die Muſſe und
Ge-
[80]1. Hauptſtuͤck von der
Gelegenheit haben/ ihren Verſtand genauer
auszubeſſern/ ſolten/ ob ſie gleich nicht pro-
feſſion
von der Gelahrheit machen/ dennoch
ſich ſo viel moͤglich bemuͤhen/ uͤber den Zuſtand
der Erſten zu erheben/ daß/ ob ſie gleich nicht
fuͤr Gelahrte paſſiren koͤnnen/ dennoch auch
nicht ungelehrt genennet werden moͤgen.


15. Wenn ſie aber von der Gelahrheit
profeſſion machen/ muͤſſen ſie zufoͤrderſt wol
erwegen/ daß ihnen GOtt in dieſem Leben
zwey ſonderbare Lichte uͤberlaſſen/ ihren ver-
finſterten Verſtand zu erleuchten/ und die-
ſelbigen wol zu unterſcheiden wiſſen.


16. Das eine iſt das natuͤrliche Licht oder
der Verſtand ſelbſt/ wodurch der Menſch ver-
moͤgend iſt/ aus natuͤrlichen Kraͤfften von de-
nen ſinnlichen und irrdiſchen Dingen ſich einen
wahren und deutlichen concept zu machen/
zu Nutzen dieſes zeitlichen Lebens.


17. Das andere iſt ein uͤbernatuͤrliches/
und das von Goͤttlicher Offenbahrung ent-
ſtehet/ durch welches der Menſch die Goͤttli-
che Geheimnuͤſſe/ ſo ihn zu einem kuͤnfftigen
Leben fuͤhren/ ſo viel als ſeine gegenwaͤrtige
Unvollkommenheit zulaͤſſt/ erkennet.


18. Dieſe Goͤttliche Offenbahrung/ gleich-
wie
[81]Gelahrheit ingemein.
wie ſie in der heiligen Schrifft enthalten iſt;
alſo muß auch einer/ der hierinnen recht geleh-
ret ſeyn will/ die Sprachen ſo wol Altes als
Neues Teſtaments wol innen haben.


19. Aber zu Brauchung des natuͤrlichen
Lichts/ ſind keine frembde Sprachen eben
nothwendig/ ſondern man kan ſich deſſen auch
ohne dieſelben bedienen/ es moͤgen nun Man-
nes-
oder Weibes-Perſonen/ Junge oder Al-
te/ Arme
oder Reiche ſeyn.


20. Jedoch iſt es in ſo weit beſſer/ wenn
man frembder Sprachen maͤchtig iſt/ daß man
durch Leſung anderer gelehrten Leute/ die in
denenſelben Sprachen geſchrieben/ Gelegen-
heit nehme von Dingen/ ſo nicht taͤglich denen
Sinnen fuͤrfallen/ einige Erkaͤnntnuͤß zu
erlangen/ oder auch ſonſten durch eine und an-
dere Anmerckung/ an die man ſonſt nicht ge-
dacht haͤtte/ der Erkaͤnntnuͤß der Dinge weiter
nachzudencken/ weil doch viel Augen mehr
ſehen/ als zwey.


21. Die Erkantnuͤß ſo aus der heiligen
Schrifft entſtehet/ wird Gottes Gelahr-
heit/
die aber ſo aus der menſchlichen Ver-
nunfft herruͤhret/ Welt-Weißheit genen-
net. Und wenn der Menſch nach dieſer oder
Fjener
[82]1. Hauptſtuͤck von der
jener ſein Leben anſtellet/ ſo heiſſets ein Tu-
gendhaff[t]es
oder Gottesfoͤrchtiges Leben.


22. Die Gottes-Gelahrheit iſt bey dieſer
Schrifft nicht meines Vorhabens/ weil ich
mich noch ſelbſt einen Schuͤler darinnen erken-
ne/ ſondern mein Zweck iſt/ die zu einem tu-
gendhafften und begluͤckten Leben in dieſer
Welt fuͤhrende Welt-Weißheit fuͤrzuſtellen.


23. Ob aber ſchon die Gottes-Gelahrheit
aus einer Offenbahrung herruͤhret/ die Welt-
Weisheit aber aus der innerlichen Vernunfft
hergeleitet wird/ ſo kan doch jene nicht gaͤntz-
lich ohne die menſchliche Vernunfft ſeyn/ dieſe
aber præſupponiret auch zuweilen wo nicht ei-
ne Goͤttliche/ doch menſchl. Offenbahrung.


24. Denn die Gottes-Geheimnuͤſſe
ſind zwar uͤber den menſchlichen Verſtand/
aber ſie ſind nicht demſelbigen zuwider/ ſon-
dern GOtt hat in ſeinem heiligen Wort/ ſich
ſo viel moͤglich nach uns Menſchen accom-
modir
et/ und redet ſolchergeſtalt mit uns als
ein Menſch/ der zugleich GOtt der HErr iſt.


25. Was ferner die Welt-Weißheit be-
trifft/ die uͤber die creaturen raiſoniret/ ſo iſt
unſtreitig/ daß dieſelbige ſich nicht allein uͤber
gegenwaͤrtige/ ſondern guten Theils uͤber
ent-
[83]Gelahrheit insgemein.
entfernete oder vergangene Dinge erſtrecke/
uͤber welche ſie aber ſolcher geſtalt nichts ver-
nuͤnfftiges ſchlieſſen kan/ wenn ſie nicht zum
wenigſten einige hiſtoriſche Relation præ-
ſupponir
et.


26. Dannenhero ſind die Vernunfft-
Lehre
und die hiſtorie zwey Inſtrumente,
die ſo wol der Gottes-Gelahrheit als Welt-
Weißheit gemein ſind/ jedoch mit dieſem merk-
lichen Unterſcheid.


27. Die Welt-Weißheit braucht die Ver-
nunfft-Lehre als den Grund ihrer gantzen
Wiſſenſchafft/ und præſupponiret nur die
aus der Offenbahrung herruͤhrende hiſtori-
ſchen Relationes als poſtulata und hypo-
theſes,
ihre Kunſt daran auszuuͤben/ wan-
nenhero auch dieſelbe nicht hauptſaͤchlich be-
kuͤmmert iſt/ ob die hiſtorie aus Goͤttlicher
oder menſchlicher Offenbahrung entſtanden.


28. Aber bey der Gottesgelahrheit iſt die
Goͤttliche Offenbahrung der ſtetswaͤhrende
Grund/ nach welcher ein Gottes-Gelahrten
nicht allein die von dem Menſchen herruͤhren-
de hiſtorie richtet/ ſondern auch die Vernunfft
zufoͤrderſt angewoͤhnet/ daß ſie nicht ſich un-
terfange mit ihren Vernunfft-Schluͤſſen die
F 2Goͤtt-
[84]1. Hauptſtuͤck von der
Goͤttlichen Geheimnuͤſſe auszumeſſen/ ſon-
dern den Verſtand in uͤbernatuͤrlichen Din-
gen unter den Glauben gefangen nehme.


29. Und ſolcher Geſtalt braucht man bey
der Gottes-Gelahrheit die Vernunfft-Leh-
re
nicht als ein Mittel die Goͤttliche Offen-
bahrungen zu begreiffen/ als worzu eine Goͤtt-
liche Erleuchtung allerdings erfordert wird/
jedoch eine ſolche/ wie unſere Kirche dieſelbe
zu erklaͤren pflegt/ die nicht auf eine Enthu-
ſiaſter
ey hinaus laͤufft.


30. Sondern man braucht die Vernunfft-
Lehre nur darzu/ daß man ſeinen Verſtand
dadurch fein von allen præjudiciis ſaubere/
ihme die irrigen Vernunfft. Schluͤſſe und Fol-
gerungen uͤberhaupt zu erkennen gebe/ auch
angewehnt/ daß er ſich fuͤr Sophiſtiſchen und
cavillatoriſchen interpretationen huͤte.


31. Denn wenn GOtt in ſeinem Wort
mit uns redet/ ſo hat er ſich nicht nach ſolchen
Leuten accommodiret/ die ihre Vernunfft
in der Verwirrung laſſen/ und mit unzehli-
chen Vor-Urtheilen/ die ſie an Begreiffung
Goͤttlicher Geheimnuͤſſe hindern/ umgeben
ſind/ ſondern nach ſolchen/ die in ihrem Ver-
ſtand dißfalls gnug geſaubert haben. Denn
jenen
[85]Gelahrheit insgemein.
jenen iſt freylich die heilige Schrifft ſchwer zu
verſtehen/ und werden dadurch verwirret/ al-
leine weil ſie eben ungelehrige und leichtfertige
oder Sophiſtiſche Leute ſeyn/ ſo geſchiehet
ſolches durch ihre eigene Schuld/ und gera-
then ihnen ſelbſt zur Verdammnuͤß.


32. So hat auch Gottes Geiſt ſich zwar
oͤffters ſolcher Leute bedienet/ die in menſchli-
cher Weißheit nicht gelehrt geweſen/ wan-
nenhero auch der ſtylus der heiligen Schrifft
nach Unterſcheid dieſer Leute ungleich iſt; aber
es ſind doch alles Leute geweſen/ die ihren na-
tuͤrlichen Verſtand nicht mißbraucht haben.


33. Solchergeſtalt nun darff man ſich
nicht wundern/ wenn man ſiehet/ daß Got-
tes-Gelehrte oͤffters hauptſaͤchlich von der
Vernunfft-Lehre/
von der Auslegung
uͤberhaupt/
u. ſ. w. geſchrieben/ da ſolches
zu keinem andern Ende geſchehen/ als die
Rechtglaͤubigen zu warnen/ daß ſie ſich fuͤr ir-
riger Sophiſterey deſto beſſer huͤten ſollen/
oder die Unrechtglaͤubigen zu uͤberweiſen/ daß
ſie die Vernunfft-Lehre dißfalls gemißbraucht.


34. So muß auch hiernaͤchſt ein Lehr-be-
gieriger dieſes bald Anfangs wohl betrachten/
ſonderlich der zu der Welt-Weißheit (als von
F 3wel-
[86]1. Hauptſtuͤck von der
welcher wir fuͤrnemlich handeln) Luſt hat/
daß ob ſchon die innerliche Vernunfft ſelbſt
vermoͤgend iſt/ die Vorurtheilte vermittelſt
eigener Kraͤffte zu vertreiben/ er dennoch bey
Anfang ſeines Studirens nicht ſelbſt alleine
Hand anlege/ ſondern ſich um einen Lehrer/
der ihn leite/ bekuͤmmere.


35. Denn ſonſten muß es faſt nothwendig
geſchehen/ daß er ſich in denen Vorurtheilen
mehr ein-als auswickelt. Jch werde zu ſei-
ner Zeit ausfuͤhrlicher hievon handeln. Jtzo
wird es genung ſeyn/ wenn ich dieſen Satz mit
einem Gleichnuͤß von einem Menſchen/ der
zum Exempel viel Scheid-Wege fuͤr ſich hat/
von welchen nur einer zu dem verlangten Ort
weiſet/ erklaͤren werde.


36. Er muß aber in Erkieſung eines Leh-
rers
nicht ſo wol um deſſen groſſen Ruhm
von eigener Gelahrheit bekuͤmmert ſeyn/ als
vielmehr erforſchen/ ob er dabey deutlich/ ge-
treu
und freundlich ſey/ als welches die drey
Haupt-Tugenden eines Lehrmeiſters ſind.


37. Hergegen auf ſeiner Seite muß ein
Lehrling eine Kindliche Furcht und hertzli-
ches Vertrauen zu ſeinem Lehrmeiſter ha-
ben/ zufoͤrderſt auf das/ was er hoͤret/ attent
ſeyn/
[87]Gelahrheit insgemein.
ſeyn/ ſich nicht ohnnoͤthige und aus Mißtrau-
en herruͤhrende Scrupel machen/ jedoch aber/
da er einigen Zweiffel bey ſich befaͤnde/ oder
des Lehrers Meinung nicht recht gefaſſet haͤt-
te/ ihn alſobald/ ehe der Mißverſtand und
Zweiffel einwurtzelt/ denſelben entdecken und
zu rathe ziehen.


30. Aus dem was wir bißhero angefuͤhret/
werden verhoffentlich folgende kurtze Anmer-
ckungen erhellen/ und keines ferneren Be-
weiſes vonnoͤthen haben. (1.) Dieſes iſt
keine Gelahrheit zu nennen/ die weder in
dem menſchlichen Leben einigen Nutzen
ſchaffet/ noch zur Seeligkeit anfuͤhret.


39. (2.) Viel Sprachen wiſſen/ iſt der ge-
ringſte Theil der Gelahrheit.


40. (3.) Zur Gelahrheit braucht man
keines abſonderlichen Beruffs.


41. (4.) Weibes-Perſonen ſind der Ge-
lahrheit ſo wohl faͤhig/ als Manns-Per-
ſonen.


42. (5.) Viel wiſſen macht nicht eben ei-
nen gelehrten Mann.


43. (6.) Der iſt nicht gelehrt/ der es in
der That nicht erweiſen kan.


F 4(44.)
[88]2. Hauptſtuͤck von der

44. (7.) Der iſt nicht gelehrt/ der das na-
tuͤrliche und uͤbernatuͤrliche Licht unter-
einander wirfft.


Das 2. Hauptſtuͤck.
Von der
Vernunfft-Lehre
inſonderheit.


Jnnhalt.


Was die Vernunfft-Lehre ſey. n. 1. Sie gehet allein den
Menſchen an. n. 2. Von dem Unterſcheid der natuͤrli-
chen Vernunfft-Lehre/ und der die aus der Unte wel-
ſung herruͤhret. n. 3. 4. 5. 6. 7. Jn gleichen Logicæ do-
centis \& utentis. n.
8. 9. 10. Unterſcheid zwiſchen der
Vernunfft-Lehre und der Grammatic und Rece-
Kunſt. n. 11. Die Erkaͤninuͤs der Wahrheit iſt der
fuͤrnehmſte Zweck der Vernunfft-Lehre n. 12. und ver-
diente dieſen Nahmen nicht/ wenn ſie dieſes nicht leh-
rete. n. 13. Ein anders iſt der Warheit nachforſchen/
ein anders/ ſie erforſchen. n. 14. Die Vernunfft-Leh-
re lehret auch das wahrſcheinliche von dem unſtreitig
wahren zuerkennen n. 15. Eintheilung der Ver-
nunfft-Lehre. n. 16. 17. 18.


1.


DJe Vernunfft-Lehre iſt eine Lehre/ die
die Menſchen unterweiſet/ wie ſie
ihre Vernunfft/ das iſt/ ihre Gedancken
uͤber-
[89]Vernunfft-Lehre inſonderheit.
uͤberhaupt in Erkaͤntnuͤs der Warheit/ in
waſerley Theilen der Gelahrheit es auch
ſeyn moͤge/ recht gebrauchen/ und andern
Menſchen damit dienen ſollen.


2. Die Vernunfft-Lehre gehet die Men-
ſchen an/ und keine andere Creaturen/ weil
keine andere Creaturen eine Vernunfft ha-
ben. Denn die Vernunfft iſt nichts anders/
als ein Vermoͤgen der menſchlichen Seele.


3. Dieſe Lehre iſt in der Vernunfft des
Menſchen ſelbſt gegruͤndet/ und alſo von
GOtt dem menſchlichen Geſchlecht ſelbſten
von Natur eingegeben. Bey welcher Be-
wan[d]nuͤß denn es keiner abſonderlichen Lehre
brauchen wuͤrde/ wenn des Menſchen Zu-
ſtand in dieſem Leben nicht ſo beſchaffen waͤre/
daß von Jugend auf das natuͤrliche Licht der
Vernunfft durch vielfaͤltige Urſachen verdun-
ckelt wuͤrde.


4. Jndem von Jugend auf denen kleinen
Kindern/ deren Verſtand noch nicht bekraͤffti-
get iſt/ das Wahre von dem Falſchen zu ent-
ſcheiden/ viel falſche Einbildungen fuͤr war-
hafftige imprimiret werden/ welche falſche
impreſſiones ſich ſo lange mehren/ biß bey
heranwachſenden Alter der Menſch geſchickt
F 5wird/
[90]2. Hauptſtuͤck von der
wird/ die begangenen Fehler zu erkennen/ und
wieder auszubeſſern.


5. Dannenhero lehret auch die Vernunfft-
Lehre nichts Ubernatuͤrliches/ ſondern ſie
weiſet nur an/ wie man die Vernunfft der
Natur nach recht gebrauchen ſolle/ oder viel-
mehr/ wie man die Verduncklungen des na-
tuͤrlichen Lichts loß werden ſolle.


6. Wannenhero nicht zu verwundern iſt/
daß bey manchen Menſchen das natuͤrliche
Licht ſo ſtarck iſt/ daß es ſelbſten faͤhig iſt/ ohne
darzu kommende Unterweiſung die duͤſtern
Wolcken der Jrrthuͤmer zu zertheilen.


7. Jedoch iſt deß halben die Unterweiſung
nicht zu verwerffen/ weil die Exempel der-
gleichen Leuterar ſind/ und durch dazu kom-
mende Unterweiſung andern die Sache noch
einmal ſo leichte gemacht wird.


8. Es weiſet aber dieſe Lehre nur/ wie man
die Vernunfft uͤberhaupt gebrauchen ſolle/ in
waſerley Theilen der Gelahrheit es auch
ſeyn moͤge/ weil wir allbereit erwehnet/ daß
die Vernunfft-Lehre ein gemein Inſtrument
der Gelahrheit ſey.


9. Und alſo wuͤrde ſie dieſen Namen mit
nichten verdienen/ wenn man ſie nicht in allen
Stuͤ-
[91]Vernunfft-Lehre inſonderheit.
Stuͤcken der Gelahrheit nuͤtzen koͤnte/ denn
das iſt kein Werckzeug/ daß ich nicht zu was
anders gebrauchen kan.


10. Alſo ſoll nun die Vernunfft-Lehre
Haupt-Regeln geben die Warheit zu erken-
nen/ die uͤberall genutzt werden koͤnnen. Aber
die Applicirung dieſer Regeln zu dieſen oder
jenen Stuͤcke der Gelahrheit uͤberlaͤſſt die
Vernunfft-Lehre andern Diſciplinen.


11. Die Warheit iſt der Zweck der Ver-
nunfft-Lehre. Und ſolchergeſtalt iſt ſie
von der Grammatic und von der Rede-Kunſt
entſchieden/ weil jene nur anweiſet/ wie man
ſeine Gedancken ohne Anſehung auf die War-
heit durch die Rede an den Tag geben ſolte/ die-
ſe aber/ wie man durch eine zierliche Rede an-
dere Leute zu etwas/ es ſey nun wahr oder
nicht/ bereden ſolle.


12. Es hat aber die Vernunfft-Lehre zu ih-
rem fuͤrnehmſten Zweck die Erkaͤntnuͤß der
Warheit/ weil dahin alle Theile der Ver-
nunfft-Lehre/ jedoch auf unterſchiedene Wei-
ſe/ zielen.


13. Und wuͤrde alſo den Namen der Ver-
nunfft-Lehre mit nichten meritiren/ wenn ſie
den Menſchen nur lehrete/ wie er die allbe-
reit
[92]2. Haupt-Stuͤck von der
reit erkannte Warheit ausſprechen/ oder an-
dern fuͤrtragen/ oder wie der Menſch von
Dingen/ die er gar nicht verſtuͤnde/ etwas or-
dentlich herplaudern ſolte.


14. Uber dieſes muß man auch die Nach-
forſchung der Warheit nicht mit der Erſor-
ſchung oder wuͤrcklichen Erkaͤntnuͤß derſelbi-
gen vermiſchen. Denn es iſt nicht genung/
daß die Vernunfft-Lehre dem Menſchen wei-
ſe/ wie er die Warheit nachjagen ſolle. Sie
muß ihm auch die Mittel zeigen/ durch welche
er dieſelbe erhalten koͤnne.


15. Dieweil aber die Schwachheit des
menſchlichen Verſtandes dergeſtalt beſchaffen
iſt/ daß es ohnmoͤglich iſt/ alle Warheiten
genau und deutlich zu erkennen/ oder derer
Warheiten/ die ein Menſch weiß/ gewiß ver-
ſichert zu ſeyn/ als iſt genung/ wenn die Ver-
nunfft-Lehre nur zeiget/ wie man das unſtrei-
tig wahre/ von dem unſtreitigen falſchen
entſcheiden/ im uͤbrigen aber in denen andern
Dingen erkennen ſolte/ ob bey denenſelben ei-
ne Wahrſcheinlichkeit/ und in was fuͤr einem
Grad anzutreffen ſey/ und wie weit der menſch-
liche Verſtand mit ſeiner Wiſſenſchafft darin-
ne zunehmen koͤnne.


16. So
[93]Vernunfft-Lehre inſonderheit.

16. So muß auch die Vernunfft-Lehre
nicht allein einen Menſchen fuͤr ſich unter-
richten/ wie er Warheiten erlangen/ ſondern ſie
muß auch zeigen/ wie er dem menſchlichen Ge-
ſchlecht daraus dienen ſolle. Denn die Ver-
nunfft-Lehre iſt nicht alleine ein inſtrument
der Gelahrheit/ ſondern auch das erſte und
noͤhtigſte Stuͤck derſelben.


17. Dannenhero kan dieſelbe fuͤglich in
zwey Theile eingetheilet werden/ in denen er-
ſten
uͤberhaupt von der menſchlichen Ver-
nunfft von der Warheit/ von denen erſten Ken-
zeichen und Grund-Regeln der Warheit/ von
denen unterſcheidenen Dingen/ an welchen die
Vernunfft die Warheit erforſchen kan/ von
denen Mitteln zu Erforſchung unerkanter
Warheiten zu gelangen/ von der methode
und Ordnung/ deren man ſich dißfalls zubedie-
nen hat/ u. ſ. w. gehandelt wird.


18. Der andere Theil betrachtet inſon-
derheit/ wie man ſich verhalten ſolle/ wenn man
1. fuͤr ſich die Warheit erforſchen/ 2. die erkante
Warheit andern beybringen; 3. anderer Leute
Meinungen verſtehen/ 4. von denenſelben ju-
diciren,
und 5. ſie wiederlegen will.



[94]Das 3. Hauptſtuͤck von der

Das 3. Hauptſtuͤck.
Von der
Menſchl. Vernunfft
und derſelben unterſchiede-
nen Wirckungen.


Jnnhalt.


Man muß zufoͤrderſt wiſſen/ was der Menſch ſey. n. 1. Und
wie er fuͤrnemlich von den beſtien entſchieden werden
muͤſſe. n. 2. 3. 4. Dieſer Unterſcheid iſt hauptſaͤchlich/
weder euſerlich in der glatten Haut des Menſchen
n. 5. 6. in ſeinen Haͤnden. n. 7. in dem Angeſichte
n. 8. 9. in ſeinen auffgerichteten Gange. n. 10. noch
in denen innerlichen Theilen des menſchlichen Leibes
zu ſuchen iſt. n. 11. 12. 13. ſondern in denen Reden und
Gedancken. n. 14. 15. 16. Nothwendigkeit der Be-
trachtung von dem Weſen der Gedancken. n. 17. 18.
19. und derer deutlichen Beſchreibung. n. 20. Ein
jeder kan nur von ſeinen Gedancken Rechenſchafft ge-
ben. n. 21. Beſchreibung der Gedancken. n. 22. 23.
Sie beſtehen in einer innerlichen Rede. n. 24. Die
der Menſch mit ſich ſelbſt haͤlt n. 25. Von denen Bil-
dungen. n. 26. Die von denen euſerlichen Coͤrpern
eingedruckt ſind. n. 27. 28. Sie gehen in dem Gehirne
vor. n. 29. Euſerliche und innerliche Sinne des Men-
ſchen. n. 30. 31. 32. Der gemeine Verſtand dieſer
Eintheilung. n. 33. 34. Die Gedancken des Menſchen
ſind vel paffiones vel actiones. n. 35. 36. 37. Genauere
Anmerckungen von der Reſidentz der Gedancken in dem
menſchlichen Gehirne. n. 38. 39. 40. 41. Die Thiere
haben
[95]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.
haben gantz keine Gedancken/ oder innerliche Re-
de von denen enſerlichen Dingen. n. 42. biß. 53. Die
Thiere ſehen und hoͤren ei[g]en[t]lich nicht. n. 54. Sie
traͤumen nicht. n. 55. Sie haben kein Gedaͤchtnuͤß.
n. 56. Die Thiere haben einen innerlichen directo-
rem
ihrer Gedancken. n. 57. 58. Wir wiſſen aber nicht
eigentlich was es ſey. n. 59. Beſchreibung des Men-
ſchen. n. 60. Deſſen Leib und Seele. n. 61. 62. 63.
Unterſcheid zwiſchen der Seelen Verſtand und Wil-
len. n. 64. 65. 66. 67. 68. Die Wuͤrckungen des Ver-
ſtandes. n. 69. koͤnnen nicht wohl der Ordnung nach
determiniret werden. n. 70. Sie ſind entweder zweif-
felhafftig oder ohne Zweiffel. n. 71. 72. 73. 74. Sie ha-
ben I. mit enſerlichen Dingen zu thun. n. 75. entwe-
der an uñ fuͤr ſich ſelbſt n. 76. 77. 78. oder in conferirung
mit andern n. 79. 80. 81. 82. II. mit innerlichen/ d. i.
mit abſtractionibus. n. 83. als mit welchem das Ge-
daͤchtnuͤß. n. 84. die phantaſie n. 85. und die Ver-
nunfft oder ratiotinatio. n. 86. zu ſchaffen hat/ welche
letztern entweder auff das vorhergehende oder zu-
kuͤnfftige zielet. n. 87. Unterſchiedene Benennungen
der Wirckungen des Verſtandes n. 88. Was eine kla-
re n. 89. und dunckele n. 90. handgreiffliche n. 91.
und ſubtile n. 92. Erkaͤntnuͤß heiſſe. n. 93. Eine con-
fuſe
und diſtincte Erkaͤntnuͤß. n. 94. 95. 96. 97. Eine
wahre/ falſche/ gewiſſe und ungewiſſe Erkaͤntnuͤß.
n. 98.


1.


WEnn der Menſch nicht weiß/ worinnen
ſeine Vernunfft beſtehet/ wie will er
dieſelbe brauchen die Warheit zu erforſchen.
Wie will er aber wiſſen/ was ſeine Vernunfft
ſey/ wen er nicht vorher weiß/ was er der gan-
tze Menſch
ſey.


2. Er
[96]Das 3. Hauptſtuͤck von der

2. Er iſt etwas/ das iſt kein Zweiffel; Er
iſt eine Creatur ſeines Schoͤpffers der Geburt
und Sterben unterworffen/ das zeiget ihm
die taͤgliche Erfahrung. So darff man ſich
auch nicht befahren/ daß man ihn mit denen
Engeln vermiſchen werde. Denn von die-
ſen weiß die Vernunfft ohne dem nichts/ ſon-
dern ſie glaubet hierinnen der heiligen Schrifft/
ob ſie gleich keine klahre Erkaͤntnuͤß von denen
Engeln hat.


3. So wird man auch nicht leichte den Men-
ſchen mit denen himmliſchen Coͤrpern/ als
Sonnen Mond und Sternen in eine Claſſe
ſetzen/ vielweniger mit denen Baͤumen/ Stei-
nen/ Metallen/
Mineralien und andern der-
gleichen Dingen vermiſchen. Alſo bleiben
alleine die Thiere uͤbrig/ als welche unter al-
len Creaturen/ die umb uns ſind/ dem Men-
ſchen am naͤchſten kommen/ ſo gar/ daß auch et-
liche/ als die Affen/ bey denen/ die nicht genau
ſich in acht nehmen/ fuͤr halbe Menſchen paßi-
ren koͤnnen.


4. Derowegen muͤſſen wir uns hier etwas
laͤnger auffhalten/ und den Unterſcheid/ der zwi-
ſchen denen Menſchen und Beſtien iſt/ etwas
genauer unterſuchen/ umb uns deſtomehr zu
ver-
[97]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.
verſichern/ daß die Vernunfft-Lehre fuͤr den
Menſchen alleine gehoͤre.


5. Es iſt wahr/ die euſerliche Geſtalt des
Menſchen iſt etwas anders beſchaffen/ als an-
dere Thiere. Denn andere Thiere/ ob ſie
gleich einen Kopff Haut und Knochen/ einen
Bauch und Beine haben/ ſo iſt doch der Menſch
mit einer glatten Haut begabet/ da die Thie-
re hingegen mit ihren haarichten Fellen u. ſ. w.
umbgeben ſind.


6. Aber es giebt auch haarichte Menſchen
und z. Exempel nackende Huͤndgen/ und die-
ſes giebt dem Menſchen keine prærogatio fuͤr
denen Thieren/ ſondern iſt deſto ſchlim̃er fuͤr ihn.


7. Jedoch haben die Menſchen Haͤnde/ mit
denen ſie allerhand Dinge verrichten koͤnnen.
Aber die Affen und Meerkatzen haben Pfoten/
die denen Haͤnden der Menſchen ſehr nahe kom-
men/ und wie wenn der Menſch deßwegen mit
denen Haͤnden begabet waͤre/ weil ihm ſonſt
andere Gliedmaſſen oder Waffen mangeln
ſich wieder euſerliche Gewalt zu vertheydigen/
damit ſonſt andere Thiere von Natur verſe-
hen ſind.


8. Die Thiere von einerley Art haben or-
dentlich einerley Bildung an ihren Kopffe.
GAber
[98]Das 3. Hauptſtuͤck von der
Aber das Angeſicht des Menſchen aͤnder[t]
ſich ſo unendlich/ daß unter etlichen Millionen
Menſchen nicht zwey werden gefunden wer-
den/ die einander dißfalls rechtſchaffen gleichen.


9. Dieſes iſt etwas. Aber vielleicht iſt es
deßhalben geſchehen/ damit ein Menſch/ der
mehrentheils an denen uͤbrigen Theilen des Lei-
bes bekleidet iſt/ von dem andern koͤnne ent-
ſchieden werden/ und die Thiere haben andere
Kennzeichen an ihren Leibern. So bleibt
auch ein Hund eine Beſtie/ wenn gleich zum
Exempel alle Hunde an denen Koͤpffen anders
gebildet waͤren/ der Sirenen anitzo zugeſchwei-
gen.


10. Aber der Menſch gehet auffgerich-
tet/
und die Thiere ſehen auff die Erde. Aber
thut der Menſch dieſes von Natur oder aus
Gewohnheit? und kan man Thiere/ als Hun-
de und Affen nicht auch angewoͤhnen/ daß ſie
auffgerichts einhergehen?


11. Laſt uns demnach das Uhrwerck des
Leibes der Menſchen und Thiere/ gleichſam
zergliedern/ und innwendig hinein ſchauen.
Denn die euſerliche Geſtalt wird es alleine
nicht thun/ indem alle Beſtien/ ſo viel dieſe be-
trifft/ gleichfalls von einander entſchieden ſind.


12. Aber
[99]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.

12. Aber inwendig findeſt du ſo wohl an
Thieren als Menſchen Gehirne/ Hertz/ Lun-
gen/ Leber/ Eingeweide/ Blut/ Pulß-und
Sennadern u. ſ. w.


13. Sprichſt du gleich/ es haͤtte der Menſch
nach proportion mehr Gehirne als ein Och-
ſe/ ſein Blut ſey mehr und waͤrmer als an-
dere Thiere/ die Sennadern ſeyn anders ge-
ordnet/ als in andern Thieren/ das Zwerch-
fell
ſey mit dem Hertzbaͤndel gleichſam verei-
niget u. ſ. w. ſo wird man dir entgegen ſetzen/
daß auch eine Beſtie/ was die innerſte Theile
betrifft/ nicht durchgehends ſo beſchaffen ſey/
als die andere; und ein anderer wird vielleicht
wollen obſerviret haben/ daß ein Eſel nach
proportion mehr Gehirne habe/ als ein
Menſche.


14. Nun wohl dann/ vieleicht wiſſen die
Thiere ſelbſten den Unterſcheid beſſer/ der zwi-
ſchen ihnen iſt und dir. Derowegen frage
dieſelben.


15. Aber du haͤlteſt dieſes fuͤr thoͤricht/ denn
ſagſt du/ die Thiere koͤnnen nicht mit mir re-
den.
Es iſt wahr/ auch die Affen koͤnnen nicht.
Siehe/ da haſt du vielleicht den begehrten Un-
terſcheid.


G 216. Doch
[100]Das 3. Haupſtuͤck von der

16. Doch die Papegoye reden auch. Du
irreſt dich. Die Rede iſt eine Anzeigung
der menſchlichen Gedancken/
und ſind dieſe
beyde ſtets waͤhrend mit einander verknuͤpfft/
weßwegen auch die Gedancken von denen Al-
ten ſind eine innerliche Rede genennet wor-
den. Aber ein Papegoy braucht ſich nur ei-
nerley Lauts mit der Rede des Menſchen/ und
ſchreyet denſelben ohne Verſtand her.


17. Ach/ ſprichſt du/ nun weiß ichs/ worin-
nen der Unterſcheid des Menſchen und der
Thiere beſtehet. Die Thiere eſſen/ trincken/
zeugen/ wachſen/ wachen/ ſchlaffen/ ſehen/ hoͤren/
riechen/ ſchmecken/ fuͤhlen/ begreiffen/ traͤu-
men/
und erinnern ſich wie die Menſchen;
aber ſie gedencken und reden nicht/ ſondern
dieſes koͤmmt denen Menſchen alleine zu.


18. Eile nicht zu ſehr mein Freund/ ſonſt
wirſt du weniger als zu vor wiſſen. Mein/
ſage mir/ warumb ſprichſt du/ wenn du in tief-
fen Gedancken u. ſ. w. biſt/ du habeſt dieſe und
jene Koſtbarkeit in einen Gemach nicht geſe-
hen/ da dir dieſelbe doch fuͤr der Naſe gelegen/
oder du habeſt nicht geſehen/ was das Frauen-
zimmer/ mit der du doch uͤber eine Stunde
converſiret haſt/ fuͤr Kleider angehabt.


19. Du
[101]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.

19. Du giebſt zur Antwort/ du habeſt nicht
daran gedacht/ weil du deine Gedancken wo
anders gehabt. Jch nehme es an. So ſieheſt
du demnach und hoͤreſt nicht/ wenn du nicht
dran denckſt. Und du ſprichſt doch/ die Thie-
re ſehen/ hoͤreten u. ſ. w. und koͤnten doch nicht
gedencken/ laſt uns zuvor ein wenig genauer
beſehen/ was die Gedancken des Menſchen
ſeyn.


20. Wenn die Gedancken auſſer uns waͤ-
ren/ wolten wir uns uͤber die Beſchreibung
nicht ſehr bekuͤmmern/ ſondern ich wolte dir
dieſelbige nur zeigen/ als wie ich dir etwan ei-
nen Loͤwen/ oder Triangel oder eine Bewe-
gung zeige. Aber ſo ſtecken ſie in uns drin-
nen/ und wir koͤnnen auch nicht einmahl ver-
mittelſt der anatomie darzu kom̃en. Dem-
nach iſt es noͤthig/ daß wir einander von unſern
Gedancken eine deutliche Beſchreibung geben/
damit wir nicht in der Blindheit herumb tap-
pen.


21. Jch weiß aber meine Gedancken an be-
ſten/ und du die deinigen. Dannenhero kan
auch ich dir beſſer beſchreiben wie ich dencke/
als wie du gedenckeſt/ und du hingegen kanſt
mir von deinen Gedancken die beſte Rechen-
G 3ſchafft
[102]Das 3. Hauptſtuͤck von der
ſchafft geben. Wenn wir nun dieſes werden
gegeneinander halten/ und mit anderen Leuten
ihren Gedancken conferiren/ ſoll es nicht feh-
len/ wir wollen entweder eine rechte Beſchrei-
bung der Gedancken heraus bringen/ oder ver-
gewiſſert werden/ daß ein Menſch anders ge-
dencke/ als der andere. Wohlan ich will hierzu
den Anfang machen.


22. Wenn ich gedencke/ ſo rede ich allezeit
innerlich mit mir ſelbſt von denen Bil-
dungen/ die durch die Bewegung der eu-
ſerlichen Coͤrper/ vermittelſt der anderen
Gliedmaſſen dem Gehirne eingedruckt
ſind/
und wenn ich drauff ſchweren ſolte/ ſo iſt
eine innerliche Empfindligkeit bey mir/ daß
auch dieſe meine innerliche Rede nirgends an-
ders/ als in meinen Gehirne/ vorgehe.


23. Denckſt du nun auff eine andere Wei-
ſe/ ſo wirſt du mich ſehr verbinden/ wenn du
mir ſolches ſageſt/ oder nur ein eintzig Exempel
geben wirſt einer Gedancke/ die nicht auff dieſe
Art eingerichtet iſt. Wo aber nicht/ ſo laß
uns nur die Worte meiner Beſchreibung noch
ein wenig genauer betrachten.


24. Jch habe einer innerlichen Rede er-
wehnet/ und habe bißher noch keine angetrof-
fen/
[103]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.
fen/ der nicht bey ſeinen Gedancken die Em-
pfindligkeit bey ſich gehabt/ die er hat/ wenn ein
anderer mit ihn redet. Es iſt wahr/ Kinder
und von Natur taube Leute koͤnnen nicht mit
ſich ſelbſt reden. Aber frage doch auch ein
Kind/ und einen ſolchen tauben Menſchen/ was
es damahls gedacht habe oder noch dencke?
Und mit was fuͤr Gruͤnden/ die den Stich hal-
ten/ wilſt du einen einzigen Menſchen bereden/
daß dergleichen Leute gedencken. Sie ſind ja
wohl Menſchen/ aber du haſt noch nicht er-
wieſen/ daß ein Menſch allezeit gedencken muͤſſe.


25. Dieſe innerliche Reden halte ich mit
mir ſelbſten. Jch der ich hier fuͤr dir ſtehe
mit Haut und Haaren/ Fleiſch und Beine/ und
alles was in und an mir iſt.


26. Jch rede mit mir ſelbſt von denen Bil-
dungen.
Durch dieſe verſtehe alle Eindru-
ckungen der euſerlichen Coͤrper oder derſelben
Eigenſchafften und Bewegungen in unſer Ge-
hirne; Sie moͤgen nun vermittelſt der Augen
oder der Ohren/ oder der Naſe/ oder der Zun-
ge/ oder anderer Gliedmaſſen und denen da-
bey befindlichen Sennadern/ die alle in dem
Gehirne zuſammen kommen/ daſelbſt einge-
druckt werden. Und alſo verſtehe ich uͤber
G 4die
[104]Das 3. Hauptſtuͤck von der
die Bildung der euſerlichen Geſtalt/ auch die
Bildung des Klangs/ des Geruchs/ u. ſ. w.


27. Was das Gefuͤhle betrifft/ ſo leugne
ich nicht/ daß daßelbe durch alle Gliedmaſſen
des menſchlichen Leibes zerſtreuet ſey/ und alſo
auch durch die coͤrperliche Bewegung derer
innerlichen Gliedmaſſen/ das Gehirne beruͤhre.
Dannenhero wenn ich in vorigen §. der eu-
ſerlichen Coͤrper
gedacht habe/ ſo verſtehe
nicht eben diejenigen/ die auſſer dem gantzen
Menſchen ſeyn/ ſondern alle diejenigen/ die
außer dem Gehirne des Menſchen ſeyn.


28. Und alſo begreiffe ich unter den Ge-
fuͤhle
auch etliche ungemeine Arten der Em-
pfindligkeiten/ die von andern als ein abſon-
derlicher Sinn betrachtet werden/ als den Hun-
ger/ Durſt/ tactum venereum u. d. g.


29. Dieſe innerliche Rede aber empfinde
ich/ daß ſie in meinen Gehirne vorgehe/ nicht
in dem Hertzen noch in einem andern Theile
des menſchlichen Leibes. Denn ich fuͤhle gar
eigen/ daß ich in dem obern Theile des Haupts
wo das Gehirne liegt/ gedencke/ wiewohl dieſe
Empfindligkeit viel ſubtiler iſt/ als die andern/
die unmittelbar von Bewegung der euſerlichen
Coͤrper herruͤhren/ und beſtehet dieſe Empfind-
ligkeit
[105]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.
ligkeit in nichts anders/ als daß ich bedencke/
daß ich gedencke/ oder nach dem Stylo der Car-
teſianer in conſcientia.


30. Dannenhero ſind die menſchlichen Sinn-
ligkeiten (ſenſus) etliche euſerlich die andern
innerlich.


31. Die euſerlichen ſind/ wenn des Men-
ſchen Gehirne unmittelbar/ durch die euſerli-
chen Coͤrper geruͤhret wird/ wenn er ſiehet/ hoͤ-
ret/ riechet/ ſchmaͤcket/ fuͤhlet/ Hunger/ Durſt/
Kuͤtzelung/ und Schmertzen oder die Gemuͤths-
Regungen empfindet u. ſ. w.


32. Der innerliche iſt/ wenn ihm die ein-
gedruckten Bildungen wieder vorkommen/
und wenn er mit wiſſend iſt/ was er geden-
cket.


33. Aber huͤte dich/ daß du dieſe Eintheilung
der Sinne nicht vermiſcheſt/ mit der gemeinen
Bedeutung. Denn was man insgemein
euſerliche Sinne nennet/ das ſind nichts an-
ders als die euſerlichen Gliedmaſſen des
menſchlichen Leibes/ dergleichen auch bey denen
Coͤrpern der Beſtien anzutreffen ſind. Dieſe
aber haben gar keine wuͤrckliche Sinnligkeit/
als welche niemahls ohne eine Erkaͤntnuͤß/
und folgends ohne Gedancken ſeyn kan.


G 534. Was
[106]Das 3. Hauptſtuͤck von der

34. Was aber die gemeinen innerlichen
Sinne betrifft/ davon iſt der erſte/ nemlich der
gemeine Sinn (ſenſus communis) nichts
anders als mein euſerlicher Sinn/ die phan-
taſie
und Gedaͤchtnuͤß aber gehoͤren theils
zu dem innerlichen Sinne/ theils zu denen thaͤ-
tigen Gedancken.


35. Denn die Gedancken des Menſchens
ſind entweder leidende/ oder thaͤtig (pasſio-
nes vel actiones.
)


36. Die Paſſiones ſind nichts anders/ als
die itzt erzehlte Sinnligkeiten.


37. Die Actiones ſind/ wenn der Menſch
dasjenige/ was er geſehen/ gehoͤret/ u. ſ. w. mit
Willen bedenckt/ wenn er rechnet/ miſſet/ zu-
ſammen ſetzet/ von einander ſondert/ wenn er
dichtet/ wenn er ſich etwas zu thun reſol-
vi
ret.


38. Es iſt aber das Gehirne groß/ und wird
gemeiniglich in cerebrum \& cerebellum
eingetheilet. Nun kan ich dir zwar eben ſo ge-
wiß nicht ſagen/ an welchen Orthe des Ge-
hirns
eben der Menſch gedencke. Doch wei-
ſet es wohl der Augenſchein/ daß es ohnmoͤglich
ſey/ daß der Menſch alle Gedancken in glan-
dula pineali
verrichte.


39. Je-
[107]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.

39. Jedoch duͤnckt mir wahrſcheinlicher zu
ſeyn/ daß die Gedancken mehr in cerebro als
in cerebello geſchehen/ wenn nun ein jeder
auff ſeine eigene Empfindligkeit/ die er davon
hat/ attendiren will.


40. Ja ich halte dafuͤr/ wenn es moͤglich
waͤre/ daß man die kleinen Coͤrpergen daraus
das Gehirne zuſammen geſetzt iſt/ vermoͤge
des Geſichts oder der microſcopiorum recht
genau betrachten koͤnte/ man ſo wohl bey denen
Menſchen als bey dem Vieh die Eindruckun-
gen
der Bildungen des Geſichts wuͤrde in et-
was erkennen koͤnnen.


41. Oder/ wenn es moͤglich waͤre/ daß ein
Menſch beym Leben bliebe/ wenn man ihm
ſeine Hirnſchale abſeegte; wuͤrde man auch et-
was von der Bewegung/ die zu der Zeit/ wenn
der Menſch gedenckt oder meditiret in dem
Gehirne vorgehet (wenn anders dieſelbe nicht
auch gar zu ſubtil waͤre) erkennen koͤnnen.


42. Nachdem wir alſo die Gedancken der
Menſchen genauer betrachtet/ ſo ſieheſt du/ daß
die Thiere weil ſie nicht gedencken/ keine eu-
ſerliche Rede verſtehen/ nicht innerlich mit ſich
ſelbſten reden/ keine erkaͤntnuͤß von etwas ha-
ben/ nichts bedencken/ dichten/ rechnen/ meſ-
ſen/
[108]Das 3. Hauptſtuͤck von der
ſen/ zuſammen ſetzen/ nichts von einander ſon-
dern/ nichts wollen.


43. Die Eindruckungen geſchehen wohl
in ihr Gehirne durch die Augen/ Ohren und
anderer Gliedmaſſen ihres Coͤrpers/ aber ſie
reden davon nicht innerlich mit ſich/ wie
der Menſch/ denn ſie verſtehen keine euſer-
liche Rede.


44. Und ob wohl ein Hund/ wenn gewiſſe
Worte geredet werden/ auch etwas gewiſſes zu
thun pfleget/ ſo verſtehet er doch die Worte
nicht/ ſondern thut das aus bloſſer Gewohn-
heit/
maſſen denn/ wenn er zum Exempel auf
Zuruffung ſeines Herren: ſuch/ ſuch/ ver-
lohren/
der weggeſchmiſſenen Sache nachzu-
gehen pflegt/ eben das thun wuͤrde/ ſo man
ihm dazu angewehnen wuͤrde/ weñ man ruffte/
bleib da.


45. Wenn der Hund vor einen Pruͤgel
laͤufft/ oder bey Zeigung einer Suppe darzu
laͤufft/ gedenckt er ſo wenig an das/ was er thut/
als ein Menſch wenn er faͤllt/ daß er die Haͤn-
de vorwirfft/ oder wenn der Magen leer iſt/
und bey dem Tiſche in tieffen Gedancken/ den-
ſelben fuͤllet.


46. Be-
[109]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.

46. Betrachte nur die Augen eines jeden
Thieres/ ja auch eines Affens/ der dem Men-
ſchen am naͤheſten koͤmt: Sie ſehen gantz todt
und tum̃ aus. Siehe aber die Augen eines
Menſchen an/ du findeſt nicht alleine vielmehr
Lebhafftigkeit drinnen/ ſondern man ſiehet es
ihme auch oͤffters an Augen an/ daß er geden-
cket/ weil man daraus erkennet/ was er ge-
dencket.


47. Ja ſprichſt du/ die Thiere koͤnnen doch
gleichwohl viel Kuͤnſte/ wie ſolten ſie denn
gantz ohne Gedancken ſeyn. Das iſt aber
gleichwohl nicht ohnmoͤglich. Ein guter Lau-
teniſt zum Exempel ſpielet oͤffters/ wenn er
ſeine Gedancken wo anders hat/ die artigſten
Stuͤckgen weg/ ohne daß er dran denckt.
Und alſo ſieheſt du/ daß es nicht ohnmoͤglich
ſey etwas kuͤnſtliches zu treiben/ ohne daß man
dran denckt.


48. Aber du faͤhreſt fort; die Erlernung
der Kuͤnſte
koͤnnen doch nicht ohne Gedan-
cken ſeyn. Denn wenn ein Menſch nicht
attent ſey/ werde er die Zeit ſeines Lebens nichts
lernen; und folglich wuͤrden auch die Thiere
bey Erlernung der Kuͤnſte muͤſſen attent
ſeyn.


49. Hier
[110]Das 3. Haupſtuͤck von der

49. Hier muſt du erſt bedencken/ daß der
Menſch auch oͤffters ohne attention was lerne:
wenn ihm nehmlich ein Ding durch oͤfftere
Wiederhohlung vermittelſt der euſerlichen
Gliedmaſſen in das Gehirne ein gedruckt wird.
Alſo wenn man etliche Tage auf denen Bauer-
Kirmeſſen geweſen/ wird man befinden/ daß
die offt wiederhohlten Bauerſtuͤckgen in dem
Gehirne ſo feſte hafften/ daß man ſie etliche Ta-
ge nicht wieder loß werden kan.


50. Alſo lernen auch die Voͤgel z. e. ſin-
gen/ wenn man durch offte Wiederhohlung der
Floͤthe ihnen das Stuͤckgen/ das ſie lernen ſol-
len/ eindruckt.


51. Jn uͤbrigen aber was die jenigen Sa-
chen anlanget/ die ein Menſch mit attention
erlernet/ muß bey denen Thieren die offt wieder-
hohlte Gewohnheit die Stelle der attention
vertreten/ maſſen du dich dann einer gantz an-
dern Lehrart bey einem Thiere als bey einem
Menſchen bedienen muſt.


52. Bey der Unterweiſung eines Men-
ſchen/ thut die Rede das vornehmſte; aber re-
de einen Thiere vor/ was du wilſt/ wenn du
nicht durch andere Mittel ihnen die Kunſt/ die
es lernen ſoll/ beybringſt/ wirſt du wenig aus-
richten.
[111]Menſchl. Vern. u. deren Wirckung.
richten. Dieſe Mittel aber werden dir ſelbſt
zu erkennen geben/ daß das Thier bey der Er-
lernung keine Gedancken brauche.


53. Die manier, mit welcher jener vor al-
ters ſeinem Eſel tantzen lehrete/ iſt bekant/ und
auff was maſſe man heut zu Tage denen Pfer-
den und Hunden die Schulen beybringe/ be-
kraͤfftigen das/ was ich geſagt.


54. So folget auch aus dieſen/ daß die Thie-
re zwar nach gemeiner Redens-Art ſehen und
hoͤren/ ſo ferne dieſe Dinge von denen Ein-
druckungen in das Gehirne gebraucht wer-
den/ aber eigentlich darvon zu reden ſehen und
hoͤren ſie nicht/ denn es mangelt ihnen der ſen-
ſus communis,
der nichts anders iſt als die
Gedancke/ daß ich ſehe und hoͤre.


55. Die Thiere koͤnnen auch nicht traͤumen
denn die Traͤume ſind Gedancken. Und wenn
ein Thier in Schlaffe bellet/ oder ſonſten was
vornimmet/ gehet es auff gleiche Art zu/ als wie
mit denen Nachtgaͤngern/ die des Morgens
nicht wiſſen/ was ſie gethan.


56. Am aller unglaublichſten aber iſt es/ daß
die Thiere ein Gedaͤchtnuͤß haben ſolten.
Denn wie wilſt du dir ein Gedaͤchtnuͤß ohne
Gedancken einbilden.


57. Je-
[112]Das 3. Haupſtuͤck von der

57. Jedoch iſt es auch nicht wahrſcheinlich/
daß die Bewegung der Thiere bloß von der
Bewegung der euſerlichen Coͤrper herruͤhre/
und gantz keine innerliche Urſache habe. Denn
es ſind gar zu viel Verrichtungen der Beſtien
die einen innerlichendirectorem anzei-
gen.


58. Jch will dir nur ein eintzig Exempel
geben. Es ware ein Affe/ den vexirte ſein
Herr mit einem Stock/ indem er ſich ſtellte/ als
wolte er ihm auff die rechte Seite ſchlagen und
wenn der Affe parirte, traff er ihn auff die
lincke/ der Affe gabe zuletzt ſeinem Herrn nicht
mehr auff den Stock/ ſondern allezeit auff die
Augen achtung.


59. Was aber dieſes fuͤr ein innerlich We-
ſen ſey/ weiß man ſo genau nicht/ ſo wenig/
als dieß innerliche Weſen anderer Dinge.


60. Nun wollen wir uns wohl getrauen
den Menſchen zubeſchreiben. Der Menſch
iſt ein coͤrperliches Weſen/ welches ſich
bewegen und gedencken kan.


61. Er beſtehet aus zwey Haupttheilen/
deren der eine ihme mit den Thieren gemein
iſt/ der anderer aber ihm von denenſelben ent-
ſcheidet/ nemlich Leib und Seele.


62. Der
[113]Menſchl. Vern. und deren Wirck.

62. Der Leib iſt das Theil/ das ſich bewe-
gen/ und die Seele der Theil/ das dencken
kan;


63. Weiter kan ich von des Menſchen See-
le nicht ſagen/ wie unten mit mehrern ſoll erklaͤ-
ret werden.


64. So viel aber die Gedancken des Men-
ſchen betrifft/ beſtehen dieſelbigen in zwey unter-
ſchiedenen Arten/ in dem Verſtand und dem
Willen.


65. Der Verſtand wird auch ſonſten Ver-
nunfft
genennet/ wie wir ſolche hier gebrau-
chen/ wiewol durch das Wort Vernunfft
auch ſo wol der Verſtand als Wille begriffen
wird/ und dadurch alle Gedancken verſtan-
den werden.


66. Der Verſtand und Wille ſind meh-
rentheils miteinander vergeſellſchafftet/ dan-
nenhero muß ich ſie wol und geſchickt vonein-
ander entſcheiden.


67. Jnsgemein ſagt man/ daß in dem
Verſtand die leidenden Gedancken der
menſchlichen Seelen beſtuͤnden/ in dem Willen
aber das Thun derſelben/ und auf dieſe Weiſe
wuͤrden wir am deutlichſten ſagen/ daß der
Verſtand blos in denen Sinnlichkeiten oder
HEm-
[114]Das 3. Hauptſtuͤck von der
Empfindlichkeiten beſtuͤnde/ wie wir ſolches
oben erklaͤret haben/ die uͤbrigen Gedancken
aber alle gehoͤreten zu dem Willen. Und ſol-
chergeſtalt gehoͤrete auch zu dem Willen/ wenn
ich was meditiren will.


68. Aber dieſe Meinung iſt nicht accurat,
weil die Vernunfft des Menſchen auch viel
thut/ und der menſchliche Wille auch viel lei-
det Dannenhero iſt der andre Unterſcheid
beſſer/ der Verſtand des Menſchen iſt das
Thun oder Leiden der Seelen/ ſoferne dieſelbe
das Weſen oder Beſchaffenheit der Dinge be-
trachtet und erkennet. Der Wille aber iſt
das Thun oder Leiden der Seele/ ſoferne die-
ſelbe etwas durch Bewegung der euſerlichen
Gliedmaſſen zu thun gedencket. Und auf
dieſe Weiſe gehoͤret die Reſolution des Men-
ſchen von vergangenen und abweſenden Din-
gen/ etwas nachzudencken/ zu dem Verſtande.


69. Von dem Willen des Menſchen wer-
den wir an einem andern Ort weitlaͤufftiger
handeln. Was aber den Verſtand betrifft/
iſt noͤthig/ noch etwas von deſſen Wirckungen
zu melden.


70. Und zwar wollen wir uns nicht bemuͤ-
hen zu erforſchen ob zwey/ drey oder vier
ope-
[115]Menſchl. Vern. und deren Wirck.
operationes mentis ſeyn/ und worinnen
dieſelbigen beſtehen? Denn alle die Meinun-
gen von dieſer Frage (auch unſere eigene/ die
wir bisher vertheidiget) ſind undeutlich/ und
vielen ſcrupulis unterworffen/ haben auch
keinen andern Nutzen/ als die gemeine metho-
de
der Vernunfft-Lehre zu juſtificiren. Weil
wir uns aber derſelben nicht bedienen/ koͤnnen
wir ſie am eheſten entbehren.


71. Die Wirckungen des menſchlichen
Verſtandes/ in Anſehen der euſerlichen Din-
ge/ ſind entweder zweiffelhafftig/ oder ohne
Zweiffel.
Bey denen zweiffelhafftigen fra-
get
ein Menſche allezeit nach etwas.


72. Aber bey denen kein Zweiffel iſt/ dieſel-
bigen bejahen etwas von einer Sache/ oder
verneinen etwas davon.


73. Die Zweiffelhafftigenpræſuppo-
nir
en eine Unvollkommenheit des Menſchen
in ſeinen gegenwaͤrtigen Zuſtande; aber ſie
ſind doch gleichſam ein nothwendig Ubel/ weil
man ohne ſie nicht leichte zu einer gewiſſen Er-
kaͤntnuͤß der Warheit kommen kan.


74. Die aber ohne Zweiffel ſind/ ſind zu-
weilen Zeichen einiger Vollkommenheit im ge-
genwaͤrtigen Leben/ zuweilen auch einer groſſen
Unvollkommenheit.


H 275.
[116]Das 3. Hauptſtuͤck von der

75. Ferner ſo gehen die Wirckungen der
menſchlichen Vernunfft entweder auf ein eu-
ſerlich Ding an und fuͤr ſich ſelbſt/ oder in Be-
trachtung uud conferirung mit andern
Dingen.


76. An und fuͤr ſich ſelbſt betrachtet man
etwas entweder nach ſeinem Seyn oder exi-
ſtenz,
oder nach ſeinem Weſen/ Beſchaffen-
heit/ oder eſſenz.


77. Bey beyden betrachtet man entweder
das gantze Ding uͤberhaupt/ oder eintzelen
nach ſeinen Theilen und Stuͤcken.


78. Zu der exiſtenz gehoͤret die Frage
Ob? Wenn? und Wo? Zu dem Weſen/ die
Frage: Welcher geſtalt/ und was maſſen?


79. Wenn der Verſtand ein euſerlich
Ding mit dem andern conferiret/ und beyde
als gegenwaͤrtig betrachtet/ ſo zehlet er ent-
weder dieſelben/ oder miſſet ſie gegen einander
ab/ das iſt/ er ſuchet entweder einige Gleichfoͤr-
migkeit/ oder den Unterſcheid zwiſchen ihnen.


80. Hieher gehoͤren die Fragen: Wie viel?
Wie groß? Wie gleich?


81 Wenn er aber das eine als gegenwaͤr-
tig/
das andere aber als vergangen oder zu-
kuͤnfftig anſiehet/ ſo betrachtet er entweder der
Din-
[117]Menſchl. Vern. und deren Wirck.
Dinge Bewegung/ oder ihre Dauerung/
oder ihren Urſprung/ oder ihre Wuͤrckung.


82. Hieher gehoͤren die Fragen: Woher?
Wohin? Woraus? Zu was Ende?


83. Bey allen dieſen Erkaͤntnuͤſſen werden
dem menſchlichen Gehirne/ wie oben gedacht/
Bildungen eingedruckt/ welche ſo ferne der
menſchliche Verſtand damit innerlich zu thun
hat/ abſtractiones genennet werden.


84. Und zwar/ ſo betrachtet er entweder die-
ſe abſtractiones, wie ſie an und vor ſich ſelbſt
bey Gegenwaͤrtigkeit der euſerlichen Dinge
ihm eingedruckt worden. Dieſe innnerliche
Wuͤrckung wird gemeiniglich Gedaͤchtnuͤß
genennet.


85. Oder er ſetzt ſie nach ſeinem Gefallen
zuſammen/ oder ſondert ſie von einander/ und
macht gleichſam neue abſtractiones davon.
Dieſes heiſt phantaſia, imagination, oder
Einbildungs-Krafft.


86. Wenn er aber aus den erkannten ab-
ſtractionibus
bisher unerkannte Dinge her-
vor ſucht/ ſo heiſt dieſe Wirckung des Verſtan-
des/ rechnen/ ſchlieſſen/ raiſonniren: com-
putare, rationari.


H 387. Und
[118]Das 3. Hauptſtuͤck von der

87. Und dieſer Schluß forſchet entweder
das Vergangene den Urſprung und die Urſa-
che eines Dinges/ oder er rechnet das Zukuͤnff-
tige/
die Wuͤrckungen/ und Erfolgungen deſ-
ſelbigen aus.


88 Nach Unterſcheid derer itzo erzehlten
Wuͤrckungen des Verſtandes/ oder die Er-
kaͤntnuͤſſen deſſelbigen/ erlangen dieſelbe auch
unterſchiedene Nahmen. Denn bald werden
ſie klar oder dunckel/ bald handgreifflich oder
ſubtil, bald confus oder diſtinct ge-
nennt.


89. Eine klare Erkaͤntnuͤß iſt diejenige/
wenn dem Verſtand etwas durch die euſerli-
chen Sinne durch eine ſtarcke Bewegung bey-
gebracht wird/ wenn nemlich die Sache denen
Sinnen nahe iſt.


90. Eine dunckele Erkaͤntnuͤß iſt dieſe/
wenn die Sache von denen Sinnen entweder
gantz entfernet iſt/ oder doch dieſelben auf ſchwa-
che Art beruͤhret.


91. Eine handgreiffliche (augenſcheinli-
che) Erkaͤntnuͤß (cognitio craſſa) iſt/ wenn
man dasjenige/ was man erkennet/ einem an-
dern wieder ſo deutlich beybringen kan/ als
wenn es ihm fuͤr den Augen laͤge/ oder wenn
man
[119]Menſchl. Vern. und deren Wirck.
man es ihm wuͤrcklich fuͤr die Sinne leget/ daß
er es begreiffen kan.


92. Eine ſubtile Erkaͤntnuͤß iſt/ die ich ei-
nem andern nicht ſo deutlich beybringen kan.


93. Alſo iſt zwiſchen der klaren und hand-
greifflichen/ ingleichen zwiſchen der dunckeln
und ſubtilen Erkaͤntnuͤß wol kein groͤſſerer Un-
terſcheid/ als daß die Begreiffungen der Dinge
in Anſehen unſerer ſelbſt klar und dunckel/ aber
in Anſehen anderer handgreifflich und ſubtil ge-
nennet werden/ wiewol in denen gemeinen
Redens-Arten dieſe beyden Benennungen offt
miteinander vermiſcht werden.


94. Eine confuſe und diſtincte Erkaͤnt-
nuͤß aber wird entweder von einem Dinge/ oder
von vielen geſagt.


95. Von einem Dinge iſt diejenige Er-
kaͤntnuͤß confus, wenn ich das gantze uͤber-
haupt begreiffe/ und die ander iſt diſtinct, wenn
ich die Theile des gantzen betrachte. Und je
mehr ich die Theile eines Dinges von einander
unterſcheide/ je diſtincter iſt meine Erkaͤnt-
nuͤß.


96. Wenn ich aber unterſchiedene Dinge
miteinander vermiſche/ ſo heiſſt dieſer concept
auch confus. Je genauer ich aber dieſelben
H 4von-
[120]Das 4. Hauptſtuͤck von denen
voneinander zu entſcheiden weiß/ je diſtincter
iſt mein concept.


97. Huͤte dich/ daß du dieſe letzten Benen-
nungen [nicht] mit denen erſten vermiſcheſt/ denn
es kan daraus groſſe Hindernuͤß in Erforſchung
der Warheit entſtehen.


98. Aber huͤte dich auch um eben dieſer Ur-
ſache willen/ daß du mit obigen Benennungen
nicht die confundireſt/ wenn eine Erkaͤntnuͤß
wahr oder falſch/ gewiß oder ungewiß ge-
nennet wird. Denn dieſe Benennungen
ruͤhren aus einem gantz andern fundament
her/ maſſen aus dem Capitel von der Warheit
zur Gnuͤge erhellen wird.


Das 4. Hauptſtuͤck.
Von denen
Kunſt-Wortern/
derer man ſich bey der Ver-
ſtand-Lehre und derer Ausuͤbung
zu bedienen pfleget.


Jnnhalt.


Was Kunſt-Woͤrter heiſſen §. 1. Die Kunſt-Woͤrter der
Vernunfft-Lehre §. 2. ſollen noch von dem Capitul
von der Warheit §. 3. jedoch nur die vornehmſten e@-
klaͤret
[121]Kunſt-Woͤrtern der Vern. Lehre.
klaͤret werden. §. 5. Ens §. 6. Non-ens §. 7. Ens
potentiale, rationis, reale
§. 8. Unterſchied zwiſchen
ente rationis und non-ente §. 9. Eſſentia \& Exiſten-
tia §. 10. 11. 12. 13. 14. Eſſentiale \& Accidontale. §. 15.
16. 17. Individuum §. 18. Species, Genus §. 19.
Differentia §. 20. Ens reale vel Deus vel Creatura.
§. 21. Subſtantia §. 22. 24. Accidens §. 23. Attribu-
tum, Modus.
§. 25. Coͤrperligkeit und Bewegung-
Thun und Leiden §. 26. Totum §. 27. Situs, Figu-
ra, Menſura.
§. 28. 29. 30. 31. Bewegung und Ruhe
§. 32. 33. Qvalitates ſenſiles §. 34. Flieſſende §. 35.
und beſtehende Subſtanzen §. 36. Weiche und harte
§. 37. Lockern und dichte §. 38. Schwere und leichte.
§. 39. 40. Den Ori. Continens \& Contentum §. 41.
Die Zeit/ die Zahl. §. 42. Lebendige und todte ſub-
ſtanz
en. §. 43. Steine/ Metallen/ Pflantzen §. 44.
Beſtien und Menſchen §. 45. Ens naturale ſuperna-
turale, morale, artificiale §. 46. Ens rationis. §. 47.
Logicum §. 48. Factum Mathematicum §. 49. Hiſto-
ricum, Poeticum, Morale §. 50.
Die vier cauſæ §. 51.
Die materiæ §. 52. Die Form §. 53. Die cauſa effi-
ciens phyſica
§. 54. und moralis §. 55. Subjectum,
Adjunctum
§. 56. 57. Andere Kunſt-Woͤrter §. 58.
Kunſt-Woͤrter der H. Schrifft: Geiſt/ Engel/ Ewig-
keit/ ꝛc. §. 59. Subſtantia infinita §. 60. Definitum
Mathematicum
iſt ein non-ens §. 61.


1.


DEr Menſch giebet ſeine Gedancken
durch Worte zu verſtehen/ dieſe aber be-
deuten entweder ſolche Dinge/ die taͤglich in ge-
meinen Weſen und allen Staͤnden vorkom-
men/ oder ſie bedeuten Sachen/ die Perſonen
H 5ſo
[122]Das 4. Hauptſtuͤck von denen
ſo in einem gewiſſen Stande leben/ eigen ſind/
und werden Kunſt-Woͤrter genennet/ wenn
dieſer Stand eine ſonderbare Geſchicklichkeit
oder Gelahrheit des Menſchen inferiret.


2. Gleichwie nun eine jede Wiſſenſchafft ih-
re abſonderlichen Kunſt-Woͤrter hat/ alſo hat
das allgemeine Inſtrument der Gelahrheit
die Vernunfft-Lehre ſolche Woͤrter/ die nicht
allein in derſelben gebraucht werden/ ſondern
auch in allen diſciplinen pflegen fuͤrzukom-
men.


3. Und von dieſem iſt billich/ daß man noch
fuͤr Abhandlung der Warheit und derer Erfor-
ſchung etwas rede/ weil dieſelbe zwar an ſich
ſelbſt nichts contribuiren/ einige nutzbare
Warheit zu finden/ aber doch derer Dunckel-
heit oder Zweydeutigkeit zu vielen abwegen An-
leitung geben kan.


4. Denn die Warheit ruͤhret her aus Er-
kaͤntnuͤß des Weſens der Dinge/ die Kunſt-
Woͤrter
aber von denen wir reden/ ſind nichts
anders als gewiſſe concepte und abſtractio-
nes,
die ſich ein Menſch von dem Weſen aller
Dinge macht.


6. Dieſe Kunſt-Woͤrter nun pflegen ins-
gemein von denen Gelehrten in der heutigen
Meta-
[123]Kunſt-Woͤrtern der Vernunfft-Lehre.
Metaphyſic auch zum Theil in der Logic
ſelbſt in dem Tractat de primâ mentis ope-
ratione
erklaͤret zu werden. Wir wollen
nur die vornehmſten und noͤthigſten kuͤrtz-
lich anfuͤhren/ und ſonderlich dieſe/ von derer
genauen Betrachtung die Meidung gemeiner
Jrrthuͤmer in etwas dependiret.


6. Das alleroberſte und gemeineſte Kunſt-
Wort iſt Ens oder Aliqvid ein Ding/ We-
ſen/
oder Etwas/ durch welches ich alles/ was
auſſer dem Menſchen oder in demſelbigen/ und
in ſeinen Gedancken geweſen iſt/ noch iſt/ und
kuͤnfftig ſeyn wird/ verſtehe.


7. Jhm wird entgegen geſetzt; Nihil \&
non-ens:
Nichts das iſt/ was nie und nirgend
geweſen noch ſeyn wird/ auch nicht ſeyn kan.


8. Dasjenige Ding/ dergleichen ſchon ge-
weſen iſt und kuͤnfftig wieder ſeyn wird/ wird
Ens potentiale genennet; das in des Men-
ſchen Gedancken alleine iſt/ heiſſe ich ens ratio-
nis,
und was wuͤrcklich auſſer des Menſchen
iſt/ heiſſt ens reale.


9. Alſo iſt nun Ens rationis und non-ens,
gantz unterſchieden. Denn der Menſch denckt
allezeit etwas/ und kan nicht nichts ge-
dencken.


10. Von
[124]Das 4. Hauptſtuͤck von denen

10. Von einem jedweden ente reali ſagt
man/ daß es ein Weſen (eſſentiam) habe/
und daß es ſey (qvod exiſtat.)


11. Die exiſtenz eines Dinges nenne ich
dasjenige/ dadurch der Menſch empfindet/ daß
ein Ding etwas ſey/ oder dadurch des Men-
ſchen ſeine Sinne uͤberhaupt geruͤhret werden.


12. Das Weſen eines Dinges aber nenne
ich die Beſchaffenheit deſſelbigen/ oder die Art
und Weiſe (modum) mit dem ein Ding em-
pfunden wird.


13. Die Exiſtenz aller Dinge iſt einerley/
aber das Weſen der Dinge iſt ſo vielfaͤltig als
viele Dinge ſeyn.


14. Ferner ſo hat ein jedes Ding nur ein ei-
nig
unveraͤnderliches Haupt-Weſen/ aber
ſo viel exiſtentias als faſt Augenblicke ſeyn/ die
aber gar fuͤglich zu drey Haupt-Claſſen gebracht
werden koͤnnen/ dem vergangenen Sein/ dem
gegenwaͤrtigen und dem zukuͤnfftigen.


15. Jch ſage ein Haupt-Weſen. Denn
die Beſchaffenheit eines Dinges iſt entweder
weſentlich oder zufaͤllig.


16. Die weſentliche Beſchaffenheit oder
das HauptweſenEſſentia ſtrictè dicta vel
Eſſentiale
iſt diejenige Beſchaffenheit/ durch
wel-
[125]Kunſt-Woͤrtern der Vern-Lehre.
welche der Menſch begreifft/ daß dieſes Ding
præciſè dieſes und kein anders ſey/ und ohne
welches er auf die Frage/ was ein Ding ſey/ nicht
antworten kan.


17. Die zufaͤllige Beſchaffenheit/mo-
dus rei accidentalis
iſt die Beſchaffenheit ei-
nes Dinges/ die dieſem Dinge kein beſonders
Weſen gibt/ ſondern in dieſem Dinge ſich ver-
aͤndern kan/ wiewol dieſe Veraͤnderung/ derer
modorum accidentalium doch nicht ſo viel-
faͤltig iſt/ als derer exiſtentiarum.


18. Das Hauptweſen eines Dinges iſt ent-
weder in einem eintzelen Dinge/ welches auch
deßwegen individuum genennet wird.


19. Oder es iſt in vielen individuis gemein/
und heiſt Species. Wenn aber die individua
die ein gemein Weſen haben/ von unterſchiede-
nen ſpeciebus ſeyn/ ſo heiſſt dieſes gemeine
Weſen Genus, oder eſſentia generica.


20. Wiederum wenn die Dinge gegen an-
dere/ die ein unterſchiedenes Weſen haben/ be-
trachtet werden/ ſo heiſſt das Weſen eines jeden
Differentia, und dieſe iſt ſolchergeſtalt vel ge-
nerica,
vel ſpecifica, vel individuifica.


21. Ein jedes Ding/ auſſer des Menſchen
Gedancken (Ens reale) iſt entweder ein ur-
ſpruͤng-
[126]Das 4. Hauptſtuͤck von denen
ſpruͤngliches Ding/ von dem alle andern ih-
ren Urſprung haben/ und welches von ſich
ſelbſt iſt/ oder es iſt ein Ding/ das von dieſem ur-
ſpruͤnglichen Weſen herruͤhret. Jenes heiſſt
mit einem Wort Gott/ dieſes aber ein Ge-
ſchoͤpffe
oder Creatur.


22. Ob nun wol alle Geſchoͤpffe von Gott
herkommen/ ſo beſtehet doch ein jedwedes/ ſofer-
ne es ein entzelen iſt/ fuͤr ſich ſelbſt/ und wird in
dieſem Anſehen ſo wol als Gott eine ſubſtanz
oder ſelbſtaͤndiges Weſen genennet.


23. Unter denen Creaturen iſt eine jede ſub-
ſtanz
mit vielen Beſchaffenheiten begabt/ die
fuͤr ſich ſelbſt nicht beſtehen koͤnnen/ ſondern in
dem ſelbſtaͤndigen Weſen gleichſam ſtecken/ ihm
ankleben/ und ihm vereiniger ſeyn/ oder von
ihm herruͤhren und es beruͤhren/ dieſe Be-
ſchaffenheiten werden accidentia oder Zufaͤlle
genennet/ welche man nicht mit denen Zufaͤllen
vermiſchen muß/ von denen wir oben n. 17. ge-
redet haben.


24. So heiſt demnach ein Selbſtaͤndiges
Weſen dasjenige/ das fuͤr ſich beſtehet/ das
iſt/ das keinem andern anklebet/ und in
welchem viel Beſchaffenheiten oder
acci-
dentia
vereiniget ſind/ oder von ihm her-
ruͤhren.


25. Die
[127]Kunſt-Woͤrtern der Vern. Lehre.

25. Die Beſchaffenheiten aber/ die von der
ſubſtanz dependiren/ nennet man in regard
derſelben ent weder ein attributum, wenn nem-
lich dadurch das Hauptweſen dieſer ſubſtanz
fuͤr einer andern erkennet wird/ oder modum
(in ſpecie)
wenn es von der ſubſtanz ihrem
Weſen ohne derſelben Verletzung entfernet
ſeyn kan.


26. Ferner ſo beſtehen die Beſchaffenhei-
ten der Geſchoͤpffe/ ſoferne dieſelbigen von der
menſchlichen Vernunfft begriffen werden koͤn-
nen/ entweder in der Coͤrperligkeit der ſub-
ſtanz
en/ oder in ihrer Bewegung: Jene
klebt gleichſam denen ſubſtanzen an/ dieſe
aber ruͤhret von ihnen her/ und beruͤhret ſie hin-
wiederum/ wird auch ſolchergeſtalt bald ein
Thun bald ein Leiden genennet.


27. Die Coͤrperligkeit/corporeitas ei-
ner ſubſtanz beſtehet darinnen/ daß ſie ein to-
tum
oder etwas gantzes ſey/ das iſt/ daß ſie
mehr als einen Theil habe.


28. Sie wird aber dieſer Theile halber mit
unterſchiedenen Nahmen beleget/ nachdem die-
ſelbigen gegen einander oder gegen andern ſub-
ſtanti
en gehalten werden.


29. Haͤlt man die Theile einer ſubſtanz
ſelbſt
[128]Das 4. Hauptſtuͤck von denen
ſelbſt gegen einander/ ſo nennet man es ſitum
oder poſitur am.


30. Und wenn die poſituræ einer ſubſtanz
mit der poſitur der andern conferiret werden/
ſo nennet man es figuram.


31. Wenn man aber die Vielheit oder We-
nigkeit der Theile einer ſubſtanz gegen die
Theile der andern haͤlt/ ſo nennet man es Men-
ſur am
die Maſſe/ die Groͤſſe oder Kleinigkeit
einer ſubſtanz.


32. Die Bewegung einer ſubſtanz heiſſt
dasjenige/ Krafft welcher dieſelbe von dem
Menſchen mit denen Sinnen begriffen
wird.


33. Wenn nun bey dieſer Bewegung die
ſubſtanz ihren Ort oder ſitum veraͤndert/
ſo heiſſt es motus ſimpliciter oder eine Be-
wegung
in ſpecie. Veraͤndert ſie aber ih-
ren Ort oder ſitum nicht/ ſo heiſſt es die Ruhe
der ſubſtanz.


34. Aus dem Unterſchied dieſer Bewegun-
gen und der Coͤrperligkeiten einer ſubſtanz
ruͤhren alle conceptè von Farben/ von Klan-
ge/
von Geruch/ von Geſchmack und von der
Hitze oder Kaͤlte/ Trockene oder Feuchte/
der ſubſtanzen her.


35. Die
[129]Kunſt-Woͤrtern der Vern. Lehre.

35. Die ſubſtanzen werden entweder flieſ-
ſend
oder beſtehend/fluidæ vel conſiſten-
tes
genennet. Flieſſend ſind ſie/ wenn man
ihre Theile/ daraus ſie beſtehen/ durch eine
ſchlechte Beruͤhrung von einander ſepariren
kan/ doch dergeſtalt/ daß die abgeſonderten
Theile alſobald/ und gleichſam von ſelbſt ſich
wieder vereinigen/ wenn ſie einander nur ein
wenig beruͤhren.


36. Beſtehend aber heiſſen ſie/ wenn ſie
mit einiger Muͤhe von einander geſondert
werden.


37. Wenn aber die Theile der ſubſtanzen
in ihrer poſitur koͤnnen geaͤndert werden/ heiſ-
ſen ſie weich/ wenn es mit leichter Muͤhe zuge-
het/ und dieſen ſetzet man hart entgegen.


38. Mit keinen von beyden Redens-Arten
muß man dieſe vermiſchen/ wenn die ſub-
ſtanz
en locker oder dichte (raræ \& denſæ)
genennet werden/ denn das nennet man locker/
wenn die Theile der ſubſtanzen nicht genau
aneinander haͤngen/ dichte aber/ wenn ſie ge-
nau miteinander vereinigt ſeyn/ wiewol dieſe
Redens-Arten mehrentheils von ſubſtantiis
conſiſtentibus
geſagt werden.


J39. Als
[130]Das 4. Hauptſtuͤck von denen

39. Als wie auch die Schwere und Leich-
te/
welche in denen ſubſtantiis conſiſtenti-
bus
gleichſam mit der Lockerheit und Dichte
vereiniget ſind/ maſſen in Lockern eine ſub-
ſtanz
iſt/ in Leichten pflegt ſie auch zu ſeyn/
und je dichter ſie iſt/ je ſchwerer iſt ſie auch.


40. Es heiſſen aber diejenigen ſchwer/ die
andere ſubſtanzen/ die ſie beruͤhren/ harte druͤ-
cken/ und von ihrem Ort zu vertreiben ſuchen/
die ſolches nicht thun/ heiſſen leichte.


41. Die flieſſenden ſubſtantien umgeben
die conſiſtentes, ja ſie umgeben ſich ſelbſten
untereinander allenthalben/ und die unmittel-
bare Umgebung nennet man den Ort derer/
die umgeben werden. Wenn aber eine ſub-
ſtantia conſiſtens
flieſſende oder andere
conſiſtentes in ſich begreifft/ nennet man
jene continens, dieſe aber contenta.


42. Wenn man die exiſtentias einer je-
den ſubſtanz zuſammen haͤlt/ wird ſolches die
Zeit genennet/ wenn man aber die individua
zuſammen ſetzt/ und voneinander ſondert/ heiſt
es numerus die Zahl.


43. Die ſubſtanzen ſind guten Theils le-
bendig
oder todt. Lebendig werden ſie ge-
nennet/ wenn ſie ſichdurch einen innerlichen
Trieb
[131]Kunſt-Woͤrtern der Vern. Lehre.
Trieb bewegen. Todt/ wenn dieſer innerliche
Trieb aufhoͤret/ ſeine Wirckung zu thun.


44. Dieſe Bewegung geſchiehet entweder
ohne Veraͤnderung des Orts/ durch bloſſen
Wachsthum/ und zwar entweder alleine un-
ter der Erden/ wie bey denen Steinen/ Me-
tallen
und Mineralien/ oder auch uͤber der-
ſelbigen bey denen Pflantzen und Baͤumen.


45. Oder ſie geſchiehet mit Veraͤnderung
des Orts/ entweder ohne Erkaͤntnuͤß/ als wie
bey denen Beſtien/ oder mit Erkaͤntnuͤß/ wie
bey denen Menſchen.


46. Die Dinge/ von denen wir bisher ge-
redet/ und welche von GOtt herruͤhren/ heiſ-
ſen Entia natur alia, natuͤrliche Dinge/ Gott
ſelbſt aber iſt Ens ſupernatur ale, oder ein Uber-
natuͤrliches. Was von menſchlichen Verſtand
herruͤhret/ nennet man Entia moralia, ſoferne
ſein Thun und Laſſen mit denen Geſetzen uͤber-
ein koͤmmt oder nicht/ oder Entia artificialia,
ſoferne daſſelbige denen natuͤrlichen Dingen
nachahmet.


47. Aber wir muͤſſen auch derer Entium ra-
tionis
nicht vergeſſen/ die in des Menſchen
Verſtand einig und alleine ihr Weſen haben.
Dieſe ſind nichts anders als die eingedruckten
J 2ſche-
[132]Das 4. Hauptſtuͤck von denen
ſchemata oder Ideæ von denen wuͤrcklichen
Dingen/ und derer Zuſammenſetzung oder Ab-
ſonderung/ die vermittelſt des Verſtandes ge-
ſchehen.


48. Wenn der Verſtand die gleichen ideas
zuſammen fuͤgt/ und die ungleichen von einan-
der ſondert/ und ein jedes gleichſam an ſeinen
gehoͤrigen Ort bringet/ ſo nennet man es Ens
rationis Logicum vel Metaphyſicum.


49. So ferne er aber von denen eingedruck-
ten ſchematibus entweder eine mixtur
macht/ oder eine ideam in gewiſſe Theile ab-
ſondert/ ſo kan man es Ens rationis fictum nen-
nen/ wenn der Verſtand mit denen ideis figu-
rarum vel motuum
zu thun hat/ daferne er
aber mit denen ideis numeri, temporis, und
menſuræ beſchaͤfftiget iſt/ wird es Ens rationis
matbematicum
genennet.


50. Endlich wenn der Verſtand abſonder-
lich mit denen ſchematibus des menſchlichen
Thuns umgehet/ und daſſelbige in eine gewiſſe
Ordnung bringet/ ſo betrachtet er entweder
wie es ſich verhalten; dieſes heiſſet Ens ra-
tionis Hiſtoricum,
oder wie es ſich haͤtte ver-
halten koͤnnen/ woraus Ens rationis Poëticum
ent-
[133]Kunſt-Woͤrternder Vern. Lehre.
entſtehet/ oder wie es ſich verhalten ſollen/ ſo
nennet manes Ens rationis morale.


51. Von denen Dingen/ abſonderlich aber
von denen Geſchoͤpffen/ pflegt man vier cauſis
zu ſagen/ die materie, die form, die cauſam
efficientem,
und den Nutzen oder Zweck der-
ſelben.


52. Die materie nennet man die kleinen
Tbeilgen der Coͤrperligkeit einer ſubſtanz, aus
welchen dieſelbe zuſammen geſetzt iſt.


53. Die Form aber iſt die Vereinigung
und gleichſam der Leim/ welche dieſe kleinen
Theile zuſammen haͤlt/ daß ſie ein gantzes
machen.


54. Die cauſa efficiens wird genennet/
durch derer Bewegung etwas in einem andern
Dinge gethan oder gewuͤrcket wird/ und iſt
insgemein cauſa efficiens phyſica.


55. Soferne aber dieſe Wuͤrckung ein
Menſch mit Wiſſen und Willen verrichtet/ es
ſey mittelbar oder unmittelbar/ oder wenn man
ihm dieſelbe ſonſt imputiret/ ſo nenne ich ihn
cauſam moralem.


56. So pfleget man auch zum offtern die
Kunſt-Woͤrter ſubjecti \& adjuncti von denen
J 3Din-
[134]Das 4. Hauptſtuͤck von denen
Dingen zu brauchen/ wiewol dieſelbigen auf
vielerley Weiſe genommen werden.


57. Hauptſaͤchlich nennet man die ſubſtanz
ſubjectum,
und die accidentia adjuncta, und
heiſſt ſolchergeſtalt ſubjectum dasjenige/ dem
andere Dinge gleichſam ankleben/ und adjun-
ctum,
was in einem andern dergeſtalt ſteckt/
daß es ohne daſſelbe nichts iſt.


58. Die andern Kunſt-Woͤrter der Ver-
nunfft-Lehre koͤnnen aus andern Logicis oder
Metaphyſicis hergehohlet werden. Die kuͤr-
tzeſten und deutlichſten ſind wol hierinnen fuͤr
einen/ der ſich ad vitam civilem appliciren
will/ die beſten. Jch habe mich bey meines
ſeel. Vaters Logic und Metaphyſic in die-
ſem Stuͤck nicht uͤbel befunden.


59. Jedoch muß man zu der Vernunfft-
Lehre die terminos nicht rechnen/ die die Ver-
nunfft nicht begreifft/ und von denen der
Menſch blos aus Goͤttlicher revelation ſich
einen dunckelen concept machet: Dannen-
hero habe ich nichts von Geiſte/ von Engeln/
von der Ewigkeit/ von infinito, u. ſ. w. gere-
det. Denn alle dieſe concepte muß ein Ge-
lehrter aus der H. Schrifft herhohlen.


60. Und
[135]Kunſt-Woͤrtern der Vern. Lehre.

60. Und zwar ſo viel das infinitum anlan-
get/ ſo glaube ich wohl/ daß unter denen ſub-
ſtanz
en GOtt alleine infinitus heiſſe/ und
uͤber meinen Verſtand ſey/ als welcher ſeine
Graͤntzen hat.


61. Was aber qvantitatem infinitam oder
infinitum mathematicum betrifft/ ſo iſt
wohl dieſelbe nirgends/ weder in denen enti-
bus realibus,
noch in denen entibus rationis,
ſondern ein bloſſes Wort/ das nichts bedeutet/
und nichts nutzet/ als blos die Unwiſſenheit un-
ſers Verſtandes oder den Mangel unſerer
Kraͤffte damit zu bemaͤnteln.


Das 5. Hauptſtuͤck
Von der
Warheit/
Und derer unterſchiedenen
Arten.


Jnnhalt.


Warhafftigkeit. n. 1. 2. Ob etwas wahr ſey, n. 3. 4. 5.
Exempel unſtreitiger Warheiten. n. 6. 7. 8. 9. War-
umb das Exempel ausgelaſſen worden/ daß der
Menſch gedencke. n. 10. 11. und warumb man zwey-
erley Art Exempel gegeben. n. 12. Beſchreibung der
J 4War-
[136]Das 5. Hauptſtuͤck von der Warheit
Warheit. n. 13. Beſchaffenheit der Ubereinſtim-
mung des Verſtandes mit denen euſerlichen Dingen.
n. 14. 15. 16. Das Falſche. n. 17. Jrrthum und Ge-
dichte. n. 18. Schuld des Jrrthumbs iſt mehr bey dem
Verſtande. n. 19. Das Wahre iſt zweyerley n. 20.
Uuſtreitig wahr. n. 21 und wahrſcheinlich. n. 22.
Die Urſache dieſes Unterſchieds iſt am Verſtande des
Menſchen. n. 23. Unerweißliche Wachen. n. 24. de-
monſtrable. n.
25. und probable Dinge. n. 26. Ge-
gen einander Haltung des unſtreitig wahren mit dem
wahrſcheinlichen. n. 27. 28. 29. 30. Gleiche Betrach-
tungen wegen des falſchen. n. 31. 32. 33. 34. 35. Wie
unerkante Dinge von den wahren und falſchen un-
terſchieden. n. 36. 37. 38. 39. 40. 41. Das Wahre und
Falſche iſt nicht in bloſſen Worten n. 42. 43. 44. noch
in bloſſen Gedancken. n. 45. 46. gehet auch die no[n]
entia
nicht an. n. 47. und kan weder von denen terminis
ſimplicibus n.
48. noch von denen qvæſtionibus geſagt
werden. n. 49.


1.


DUrch die Warheit wird allhier nicht die
Warhafftigkeit verſtanden/ welches
eine Sitten-Tugend iſt/ ſondern eine innerli-
che Beyſtimmung des Menſchen/ daß ſich
etwas ſo verhalte/ als er gedencket.


2. Aber dieſer concept von der Warheit
iſt noch zu weitlaͤufftig. Denn dieſer inner-
liche Beyfall findet ſich auch zuweilen bey de-
nen/ die einer falſchen Meinung/ oder einer
Schein-Warheit beypflichten. Demnach
muͤſſen
[137]und derſelben unterſchiedenen Arten.
muͤſſen wir die Warheit beſſer kennen lernen/
wenn wir Haupt-Regeln/ dieſelbe zu erforſchen/
betrachten wollen.


3. Aber vielleicht iſt dieſelbige nicht in der
Welt/
und ein eiteler Wahn derer/ die ſich Ge-
lehrte nennen: Oder ſie iſt fuͤr dem Menſchen
ſo verborgen/ daß er ſie nicht finden kan. Und
wie viel tauſend Jahr haben die Gelehrten
darum geſtritten/ und doch noch nicht ſich verei-
nigen koͤnnen/ wer ſie gefunden.


4. Aber die Schuld iſt nicht an der War-
heit/ ſondern an der Hartnaͤckigkeit oder præ-
cipitanz
derer Philofophen.


5. Deine eigene Gedancken werden dich
uͤberzeigen/ daß etwas wahr ſey/ und wenn
du dieſes gegen mich leugnen wilſt/ ſo iſt alle
unſere Intention vergebens/ denn dieſe Pro-
poſition,
daß etwas wahr ſey/ kan durch
nichts als den gemeinen Beyfall aller vernuͤnff-
tigen Menſchen/ und eines jeden ſeiner eigenen
Verſicherung/ behauptet werden.


6. Wir werden aͤber das Weſen der War-
heit deſto deutlicher erkennen/ wenn wir zuvor-
her um etliche Exempel unſtreitiger Warhei-
ten uns vergleichen.


J 5Zum
[138]Das 5. Hauptſt. von der Warheit

Zum Exempel: Dieſer Thurm iſt vier-
eckigt/ dieſer Stock iſt ger ade/ wir wachen
itzo alle beyde. Wir haben Haͤnde und
Fuͤſſe. Der Schnee ſtehet weiß und nicht
ſchwartz. Die Auſtern/ die wir geſtern
aſſen/ waren keine Schoͤps-Keulen: Wenn
du die Hand ins Feuer haͤltſt/ ſo thut dir
es wehe. Wenn du traurig biſt/ ſo biſt
du nicht luſtig/
u. ſ. w.


8. Jch will dir noch eine andere Art von
Exempeln fuͤrſtellen: Es iſt ohnmoͤglich/
daß etwas zugleich ſey und nicht ſey. Vier
und drey iſt ſieben. Das Gantze iſt groͤſ-
ſer als das Halbe. Drey Winckel eines
Dreyangels gelten ſo viel/ als zwey gleiche
Winckel. Wenn der Eſel ein Menſch
waͤre/ ſo waͤre er vernuͤnfftig. Ja/ wenn
er vernuͤnfftig waͤre/ ſo waͤre er kein Eſel
mehr/
u. ſ. w.


9. Daferne dir aber unter dieſen Exem-
peln eines gewiſſer vorkoͤmmt als das andere/
ſo waͤhle dir nur aus jedweder Art eines. Biſt
du aber ſo unverſchaͤmt und laͤugneſt ſie alle/
oder wenn du nur ſo unverſchaͤmt biſt/ daß du
dir nur ein eintziges falſch zu ſeyn einbildeſt/
und
[139]und derſelben unterſchiedenen Arten.
und mit Ernſt daran zweiffelſt/ ſo iſt es am be-
ſten/ daß wir uns von einander begeben.


10. Jch haͤtte auch wohl unter die Exempel
ſetzen koͤnnen: Daß wir beyde gedencken.
Aber ich habe es mit Fleiß unterlaſſen. Denn
du wuͤrdeſt mit keiner groͤſſern Unverſcham-
heit dieſes Exempel als jene leugnen.


11. Und wie viel kluge Leute ſind/ die andere
bereden wollen/ daß ſie jezuweilen an nichts ge-
dencken. Ja es iſt gar offenbarlich wahr/ daß
der Menſch nicht allezeit gedencke.


12. Jch habe aber begehret/ du ſolteſt aus
jeden von beyderley Arten/ dir ein Exempel
waͤhlen/ damit/ wenn du nun auf die eine claſſe
reflectir
eſt/ du das Weſen der Warheit nicht
enger einſchrencketeſt/ als es waͤre/ wie aus dem
folgenden Capitul erhellen wird.


13. Denn die Warheit iſt nichts anders als
eine Ubereinſtimmung der menſchlichen
Gedancken/ und die Beſchaffenheit der
Dinge auſſer denen Gedancken.


14. Hier muſt du aber nicht fragen/ ob der
Verſtand mit denen Dingen/ oder die Dinge
mitdem Verſtande uͤberein kommen muͤſten/
ſondern dieſe harmonie iſt ſo beſchaffen/ daß
keines des andern ſonderliche Richtſchnur iſt/
ſon-
[140]Das 5. Hauptſt. von der Warheit
ſondern die harmonie von beyden zugleich
præſupponiret wird/ auſſer daß die euſerli-
chen Dinge gleichſam den Anfang zu derſel-
ben machen.


15. Denn die Dinge ſind ſo beſchaffen/ daß
ſie von dem Menſchen begriffen werden koͤn-
nen/ und der Verſtand iſt ſo beſchaffen/ daß er
die euſerlichen Dinge begreiffen kan.


16. Die euſerlichen Dinge ruͤhren die
Empfindligkeit des menſchlichen Verſtandes.
Dieſer aber betrachtet dieſe Beruͤhrungen/
theilet ſie ab/ und ſetzt ſie zuſammen/ ſondert ſie
voneinander/ und haͤlt ſie gegeneinander.


17. Wenn aber zwiſchen denen euſerli-
chen Dingen und denen Gedancken keine

harmonie iſt/ ſo entſtehet daraus das Fal-
ſche/
oder das nicht wahr iſt.


18. Giebt man nun daſſelbige aus ernſtli-
cher Meinung fuͤr wahr aus/ ſo nennet man es
einen Jrrthum; laͤſſt man es aber fuͤr eine
bloſſe Wuͤrckung des Verſtandes paſſiren/ ſo
nennet man es eine fiction oder Gedichte.


19. Ob aber gleich bey dem Falſchen ſo wohl
die euſerlichen Dinge mit denen Gedancken/
als die Gedancken mit denen euſerlichen Din-
gen nicht uͤberein kommen/ ſo iſt doch die
Schuld
[141]und derſelben unterſchiedenen Arten.
Schuld des Jrrthums mehr bey dem Ver-
ſtande
des Menſchen/ als bey denen euſerli-
chen Dingen/ wiewol durch die euſerlichen
Dinge Entfernung zum Exempel die Unbe-
dachtſamkeit des Verſtandes offte zu irren An-
laß nimmt.


20. Das Wahre aber iſt entweder un-
ſtreitig wahr/
oder wahrſcheinlich.


21. Unſtreitig wahr iſt dasjenige/ von
deſſen Ubereinſtimmung ein jeder erwachſener
Menſch/ mit dem wir umgehen/ nebſt uns in-
nerlich vergewiſſert iſt/ wenn wir ihm nur un-
ſere Gedancken durch deutliche Worte haben zu
erkennen gegeben.


22. Wahrſcheinlich iſt/ wenn dieſer inner-
liche Beyfall mit einigem Zweiffel/ daß die
Sache ſich anders verhalten koͤnte/ vergeſell-
ſchafftet iſt.


23. Dieſe unterſchiedene Arten des Wah-
ren ruͤhren nicht ſo wol von denen euſerlichen
Dingen/ als von der unterſchiedenen Be-
ſchaffenheit der menſchlichen Vernunfft her.
Denn die euſerlichen Dinge ſind in ihrem We-
ſen allezeit einerley; Aber der Verſtand des
Menſchen iſt/ wiewol durch ihre eigene Schuld/
nicht
[142]Das 5. Hauptſt. von der Warheit
nicht gleich faͤhig/ die Warheiten von denen Din-
gen zu faſſen.


24. Und alſo ſind etliche Dinge/ die des
geringſten Beweiſes nicht brauchen/ oder
bewieſen werden koͤnnen/
weil nichts war-
hafftigers zu finden iſt/ ſondern von allen Men-
ſchen/ wenn ſie gleich noch ſo einfaͤltig ſeyn/ als-
bald verſtanden werden: Als daß wir beyde
itzo wachen/ daß zweymal dreye ſechſe
machen.


25. Manche aber koͤnnen bewieſen wer-
den
durch etwas klaͤrers: Als daß die drey
Winckel des Dreyangels ſo viel austra-
gen/ als zwey gleiche Winckel:
Und wenn
daraus eine unſtreitige Warheit entſtehet/ ſo
heiſſt man dieſen Beweiß eine Demonſtration.


26. Wenn aber der Beweiß nicht klar ge-
nung iſt/ daß die innerliche Vergewiſſerung
darauf folgen kan/ ſo iſt es eine bloſſe probabili-
taͤt. Z. E. Daß die Warheit in zweyer
Zeugen Auſſage beſtehe.


27. Hieraus folget (1.) Daß aus wahr-
ſcheinlichen
Dingen zuweilen unſtreitig
wahre werden koͤnnen/ zuweilen auch nicht.


28. (2.) Daß wohl etwas unſtreltig
wahr
ſeyn koͤnne/ das doch nur fuͤr wahr-
ſchein-
[143]und derſelben unterſchiedenen Arten.
ſcheinlich/ oder wohl gar fuͤr falſch gehalten
wird/ wegen Mangel der Menſchen z. e. daß
die Erd-Kugel rund iſt.


29. (3.) Daß manches Falſche oder
Wahrſcheinliche aus gleichen Mangel fuͤr
unſtreitig wahr gehalten werde z. e. qvod
non dentur antipodes.


30. (4.) Daß viel unſtreitige Warhei-
ten
von etlichen Menſchen erkannt werden/
von etlichen aber nur fuͤr wahrſcheinlich we-
gen Unwiſſenheit des Beweiſes erkannt wer-
den/ z. e. daß der Menſch ohne menſchliche
Geſellſchafft ungluͤcklich ſey.


31. Wie wir bisher das Wahre eingethei-
let haben/ alſo iſt auch das Falſche entweder
unſtreitig falſch/ oder nur mit einiger Wahr-
ſcheinligkeit
vergeſellſchafftet.


32. Unſtreitig falſch iſt/ von deſſen dis-
harmonie
mit denen Dingen abermal jedwe-
der Menſch durch deutliche Worte kanverge-
wiſſert werden.


33. Wahrſcheinlich falſch iſt dasjenige/
wenn man bey dieſen Beyfall erkennet/ daß
die Sache endlich auch wahr ſeyn koͤnne.


34. Ebenmaͤſſig ſo ſind in Anſehung des
menſchlichen Verſtandes/ etliche Dinge ſo
falſch/
[144]Das 5. Hauptſt. von der Warheit
falſch/ daß ſie keines Beweiſes brauchen; als
daß ich keine Haͤnde und Fuͤſſe habe/ daß
ein Dreyangel viereckigt ſey;
etliche koͤn-
nen falſch zu ſeyn klaͤrlich demonſtriret wer-
den; als daß 2. Winckel eines Dreyangels
2. gleiche Winckel austragen/ daß die
Thiere gedencken/
etliche aber nur mit pro-
babeln
conjectur
en z. e. Daß die Sonne
um die Erdeherum lauffe.


35. So haben auch die n. 27. ſeqq. ange-
zogenen vierconcluſiones wiederum mutatis
mutandis
hier ſtatt.


36. Alle Dinge unter denen eine harmo-
nie
und disharmonie ſeyn kan/ muͤſſen eine
proportion zuſammen haben/ und gleichſam
von gleicher capacitaͤt ſeyn; und præſuppo-
nir
en auch eine Gegeneinanderhaltung/
daß man von der harmonie oder disharmo-
nie judicir
en koͤnne. Denn wenn ſie gar
nicht in einen tertio zuſammen kommen/ und
von gantz ungleicher capacitaͤt ſeyn/ oder
wenn man ſie nicht gegen einander halten kan/
ſo iſt weder harmonie noch diſharmonie dar-
zwiſchen.


37. Alſo iſt zwiſchen denen Farben und
dem Klange/ zwiſchen dieſen beyden und dem
Ge-
[145]und deren unterſchiedenen Arten.
Geruch/ eigentlich weder eine harmonie
noch disharmonie. Alſo iſt zwiſchen zweyen
Farben von einerley Hauptcouleur

zwiſchen zweyenViolinen u. ſ. w. davon ich
von der einen nichts weiß oder doch abweſend
iſt/ eigentlich weder Ubereinſtimmung noch
Unterſchied.


38. Ebenmaͤßig giebt es auch Dinge/ die
man weder fuͤr wahr noch falſch ausgeben
kan/ entweder weil ſie gar unterſchiedener Na-
tur mit der capacitaͤt unſers Verſtandes
ſeyn/ deßhalben weil ſie wegen ihrer gar zu
groſſen Kleinigkeit keine ſenſible impres-
ſion
drein machen koͤnnen/ als die particulæ
minutisſimæ materiæ,
oder weil ſie wegen der
uͤbermaͤßigen Groͤſſe in unſern kleinen Ver-
ſtand nicht gantz eingedruckt werden koͤnnen/
als uͤbernatuͤrliche geiſtliche und Goͤttliche
Dinge.


39. Oder weil wegen ihrer Abweſen-
heit
man ſie mit dem Verſtand nicht conte-
riren
kan/ als abermals uͤbernatuͤrliche und
viel natuͤrliche Dinge/
die von uns allzuweit
entfernet ſind.


40. Dieſe nun/ ſo ferne ſie in ſolcher Be-
trachtung bleiben/ heiſſen unbekandte oder
Kuner-
[146]Das 5. Hauptſt. von der Warheit
unerkandte Dinge/ und ſind alſo in anſehen
unſers Verſtandes weder wahr noch falſch/
weil ſo wohl zu wahren als falſchen einige Er-
kaͤntnuͤß erfordert wird.


41. Sie koͤnnen aber wohl nach Gelegen-
heit wahr/ wahrſcheinlich und falſch wer-
den/ wenn ſie bekant werden/ das iſt/ wenn ſie
entweder auffhoͤren abweſend zu ſeyn/ oder
wenn per revelationem uns etwas davon
beygebracht wird/ aber alsdenn ſind ſie nicht
mehr ignotæ.


42. Aus obigen allen folget (1) daß bloſſe
Worte/
ſo ferne ſie nicht weiter als bloſſe
Worte betrachtet/ und auff die Dinge/ die ſie
bedeuten oder andere euſerliche Dinge nicht
referiret werden/ weder falſch noch wahr
ſeyn/ aber in applicirung zu beyden geſchickt
ſeyn. Denn die Worte gelten ex arbitrio
hominum,
nicht ex natura.


43. Alſo wenn ich das Wort Menſch
ohne anſehen auff einigen Menſchen/ oder den
Laut oder die Figur/ die es macht/ wenn es aus-
geſprochen oder geſchrieben wird/ oder der-
gleichen etwas fuͤr mir nehme/ iſt es weder
wahr noch falſch. u. ſ. w.


44. Ja
[147]und deren unterſchiedenen Arten.

44. Ja wenn ich gleich ſage: der Schnee
ſey ſchwartz/
ſo kan doch dieſe Rede wohl
wahr ſeyn/ wenn ich mich erklaͤhre/ daß durch
das Wort Schnee ich dasjenige verſtuͤnde/
was andere Dinte heiſſen.


45. (2) So folget ebenmaͤßig daraus/
daß die Gedancken des Menſchen ohne re-
lation
auf etwas anders an und fuͤr ſich ſelbſt
gleichergeſtalt weder wahr noch falſch ſeyn/
ſondern/ in Betrachtung gegen etwas anders
beydes zu werden geſchickt ſeyn.


46. Alſo wenn ich mit meinem Gemuͤthe
ſechſe
formire, oder chimæram, iſt dieſes we-
der wahr noch falſch: Es wird aber beydes/
wenn ich gedencke/ daß ſechſe 2. mahl dreye
ſey/
oder daß ſechſe 3. mahl 2. ſey/ daß chi-
mæra
als ein Gedancke in meinen Kopffe
ſtecke/ oder daßchimæraauſſer meinen Ge-
dancken etwas ſey.


47. (3) Daß wenn ich meine Gedancken
auf ein non ens richte/ und von demſelben et-
was bejahe und verneine/ daß ich ſolcher Ge-
ſtalt vielmehr nichts gedencke/ als daß ich
was wahres oder was falſches gedencken
ſolte. Denn ein non ens, wie wir es oben
beſchrieben haben/ z. e. ein unvernuͤnfftiger
K 2Menſch
[148]Das 5. H. von der Warheit \&c.
Menſch/ eine kalte Glut iſt weder in unſern
Verſtande noch auſſer demſelben/ ſondern ein
bloſſes gar nichts bedeutendes Wort/ das ſich
alſo weder zur harmonie noch diſharmo-
nie
ſchickt/ und weder wahr noch falſch
werden kan.


48. (4) Daß weil jede harmonie eine
relation, dieſe aber allezeit zwey Dinge er-
fordert/ daß eigentlich zu reden in conceptu
termini ſimplicis
weder veritas noch falſi-
tas
ſey/ ſondern daß beyde zum wenigſten ei-
ne propoſition erfordern.


49. (5) Daß von denen zweiffelhaffti-
gen Gedancken
oder qvæſtionibus animi
keine Warheit oder Falſchheit geſagt werden
koͤnne/ ſondern bloß von denen unzweiffel-
hafften/
die etwas bejahen oder verneinen.
Denn jene haben allezeit pro objecto
eine unerkante Sache.




[149]Das 6. H. von denen erſten \&c.

Das 6. Haupſtuͤck.
Von denen erſten und unbe-
weißlichen Warheiten/ ingleichen
de primis veritatis criteriis
\& principiis.


Jnnhalt.


Continuation n. 1. 2. Eine Grundwarheit muß unerweiſt-
lich ſeyn n. 3. 4. General concept von primo princi-
pio, n.
5. es muß eine univerſal propoſition ſeyn. n.
6. 7. 8. Unterſcheid zwiſchen denen erſten Warheiten
und primis principiis n. 9. Es iſt nur ein einziges pri-
mum principium n.
10. biß 16. der Begriff aller War-
heiten n. 17. welches aus der deſinition der Warheit
hergenommen werden muß/ n. 18. 19. nehmlich: Was
mit der Menſchlichen Vernunfft uͤbereinſtimmet iſt
wahr \&c. n. 20. Das iſt was mit denen Sinnen und
ideis uͤbereinſtimmet n. 21. 22. Unterſcheid zwiſchen
denen Sinnen und ideis n. 23. 24. 25. Was der
Menſchliche Verſtand durch die Sinne erkennet/ das
iſt wahr n. 26. Ob die Sinne betruͤgen koͤnnen n. 27.
Wer die Warheit erforſchen will/ muß geſund an Lei-
be n. 28. und Gemuͤthe ſeyn/ n. 29. Er muß au[ch] wa-
chen n. 30. welche reqviſita uͤberhaupt auch bey denen
ideis zu beobachten n. 31. der Schlaff hindert an Er-
kaͤntnuͤß aller Warheiten n. 32. Die Raſerey zu weile[n]
nur an wenigen n. 33. Die Ungeſundheit des Leibes al-
lezeit nur an etlichen n. 34. Nutzen dieſer Anmer-
ckungen n. 35. 36. 37. 38. was von denen diſputationi-
bus
der blinden von den Farben zu halten ſey. n. 39.
Ein jeder Menſch weiß gewiß/ wenn er geſund iſt/ und
K 3wachet
[150]Das 6. Haupſtuͤck von denen
wachet n. 40. 41. 42. 43. Derinnerliche Sinn betruͤ-
get niemahlen n. 44. Bey denen euſerlichen truͤgen
auch die Bildungen nicht. n. 45. 46. Daß man aber
dieſelben zuweilen denen Sachen ſelbſt zu ſchreibet/
iſt die Schuld bey denen thaͤtlichen Gedancken. n. 47.
48. 49. Bey der Erkaͤntnuͤß der Sinnen n. 50. muͤſ-
ſen die objecta in debitâ diſtantiâ ſeyn. n. 51. biß 55.
Das medium muß lichte und nicht zu duͤcke ſeyn/ auch
durch gehoͤrige Bewegung die Bildungen zu uns brin-
gen n. 56. Von denen ſubſtantzen muß man nicht mit
einen Sinn alleine judiciren/ n. 57. auch nicht eben mit
allen fuͤnffen n. 58. Unterſchiedener Nutzender Sinne
nach Unterſcheid der ſubſtantzen n. 59. Veraͤnderlig-
keit derer Senſoriorum n. 60. 61. 62. des Geſichts und
Gehoͤrs n. 63. 64. 65. des Geruchs/ Geſchmacks/ Ge-
fuͤhles n. 66. 67. 68. Nutzen dieſer Anmerckung in Er-
forſchung der Warheit n. 69. 70. Von derer idearum
Verknuͤpffung mit denen Sinnen n. 71. Mercklicher
Unterſcheid zwiſchen denen Sinnen und ideis n. 72.
73. 74. 75. Ohne ideis waͤre der Menſch nicht Menſch
n. 76. 77. Ohne Sinnen haͤtte er keine ideas. n. 78.
79. Ideæ
oder abſtractiones n. 80. koͤnnen nicht fuͤg-
lich eingetheilet werden n. 81. 82. Ideæ qvantitatum
ſind die deutlichſten n. 83. 84. und unter denenſelben
ideæ numeri n. 85. Prima idea de individuo eſt, eſſe
unum n.
86. Die Dunckelbelt der Vernunfftlehre und
anderer diſciplinen kan fuͤglich ex arithmeticis erklaͤh-
ret werden n. 87. 88. 89. Aus denen numeris oder der
Algebra koͤnnen nicht alle diſciplinen, ſonderlich aber
die Phyſici und Philoſophia Practica nicht hergeleitet
werden n. 90. biß 97. Was von dem dicto: Eſſentiæ
rerum ſunt ſieut numeri
zu halten. n. 98. 99. Was
mit denen ideis uͤbereinkommet/ iſt wahr n. 100. Ideæ
und definitiones ſind eines n. 101. Dieſe propoſitio
iſt unerwelßlich n. 102. Falſche ideæ ruͤhren von dem
boͤſen Willen und præjudiciis her n. 103. 104. Jn
vielen
[151]erſten und unbeweißlichen Warh.
vielen ideis iſt das Menſchliche Geſchlecht einig n. 105.
Urſache warum ein ſo groſſer Streit unter denen phi-
loſophis de definitionibus
iſt n. 106. Die ideæ ſind
nicht etlichen Menſchen eigen n. 107. 108. 09. Primum
principium
kan nicht in ſpecies eingetheilet werden
n. 110. Principia lecundo prima n. 111. 1 2. 113. Princi-
pium primum practicum
iſt ſecundò primum. n. 114.


1.


NAchdem aus vorigen Hauptſtuͤck erhel-
let/ daß Warheiten und zwar von un-
terſchiedenen Gattungen ſeyn/ unter wel-
chen die unſtreitigen Warheiten billich den
Vorzug erhalten/ und fuͤrnehmlich zur Ver-
nunff[t]lehre gehoͤren/ auch gleichſam der Pro-
bierſtein ſeyn/ an welchen die Warheiten uͤ-
berhaupt geſtrichen werden/ als muͤſſen wir
dieſelbigen etwas genauer betrachten.


2. Und zwar weil die unſtreitigen War-
heiten theils keines Beweiſes von noͤthen
haben/ theils aber aus andern hergeleitet wer-
den/ als ſcheinet es zwar/ ob doͤrfften wir uns
um jene nicht groß bekuͤmmern/ oder dieſelbi-
ge als was ſonderliches in unſerer Vernunfft-
Lehre weitlaͤufftig tractiren/ weil kein Menſch
an denenſelben zweiffelt/ dieweil aber bey
denen erweißlichen Warheiten man ſich fuͤr
allen Dingen um den Grund bekuͤmmern
K 4muß/
[152]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
muß/ aus welchen andere Warheiten herge-
lei[t]et werden/ ſo iſt zum wenigſten noͤthig zu
erforſchen/ ob wir denſelben nicht etwan
aus denen unerweißlichen herhohlen muͤſſen.


3. Was aus etwas anders erwieſen wird/
muß mit demſelbigen eine Vereinigung ha-
ben/ und wenn dieſes wieder aus was anders
erwieſen werden ſoll/ muß man eben der-
gleichen Vereinigung præſupponiren.


4. So folget nun daraus/ daß eine War-
heit mit der andern verknuͤpfft iſt/
und daß
ſo lange als eine Warheit durch eine andere
erwieſen wird jene der Hauptgrund oder Qvell
nicht genennet werden moͤge/ ſondern aller-
dings eine Grundwarheit unerweißlich
ſeyn muͤſte.


5. Dieſe Grundwarheit wird von denen
Philoſophis primum principium genen-
net/ und kan alſo noch zur Zeit beſchrieben wer-
den/ daß es eine unerweißliche Warheit
ſey/ aus welcher andere Warheiten herge-
leitet werden.
Dieweil aber von dieſen pri-
mo principio
groſſer Streit unter ihnen ent-
ſtanden/ muͤſſen wir deſto behutlamer in deſſen
Erforſchung ergehen.


6. Wir haben in vorigen Capitel viel
Exem-
[153]erſten und unbeweißlichen Warh.
Exempel ſolcher unerweißlicher Warheiten
erzehlet/ zum Exempel: daß dieſes ein
Hund/ dieſer Turm viereckigt/ zweymahl
dreye ſechſe ſeyn.


7. Aber dieſe koͤnnen noch nicht pro pri-
mis principiis
paßiren/ weil ſie alle eintzele
oder particulares propoſitiones ſeyn/ aus de-
nen man keine Warheit herleiten kan.


8. Dannenhero gehoͤret zu denen primis
principiis,
daß ſie univerſal propoſitiones
ſeyn/ damit man andere Warheiten daraus
herleiten koͤnne.


9. Und ſolchergeſtalt kan man einen Un-
terſcheid zwiſchen denen erſten Warheiten
und denen primis principiis machen. Alle
prima principia ſind erſte Warheiten/ aber
nicht alle erſte Warheiten ſind prima prin-
cipia.
Jene ſind auch propoſitiones par-
ticulares,
dieſe univerſales, aus jenen wer-
den dieſe formirt, jene fallen eher in dem
Menſchlichen Verſtand/ und wecken dieſe
gleichſam darinnen auff.


10. Jch will noch mehr ſagen/ jene koͤnnen
deßhalben nicht prima principia ſeyn/ weil
derſelben unzehlig ſind/ das primum princi-
pium
aber muß nur ein einiges ſeyn.


K 511. Denn
[154]Das 6. Hauptſtuͤck von denen

11. Denn ein Menſch hat nur einen eini-
gen Verſtand/
und der Verſtand/ der bey al-
len Menſchen iſt/ iſt nicht unterſchiedenes/ ſon-
dern eines Weſens.


12. Dannenhero beſcheidet man ſich zwar/
daß ſonſten das Wort primus auch von vie-
len auf gewiſſe Maſſe prædiciret werden koͤn-
ne/ alleine bey dem primo principio verita-
tis
bedeutet es nur ein einziges.


13. Denn wenn auch nur zwey principia
prima
waͤren/ ſo haͤtten dieſelbigen entweder
eine Verknuͤpffung mit einander/ oder keine.


14. Waͤren ſie durch das dritte mit einan-
der verknuͤpfft/ ſo waͤre das dritte principi-
um prius,
und folglich koͤnten dieſe beyden
nicht prima genennet werden.


15. Waͤren ſie nicht verknuͤpfft/ ſo muͤſte
folgen/ daß der Menſchliche Verſtand nicht
einerley waͤre/ ſondern zweyerley unterſchie-
denes Licht von ſich wuͤrffe/ welches abſurd
iſt.


16. Ja es muͤſte folgen/ daß Warheit
nicht Warheit waͤre/
weil zwey wiederwaͤr-
tige Dinge keine harmonie machen koͤnnen.


17. Wie mag aber nun dieſe propoſitio
prima
wohl heiſſen. Wir wollen die phi-
loſo-
[155]erſten und unbeweißlichen Warh.
loſophos wacker darum zancken laſſen/ und
unſers Orts ohne Anſtoß fortgehen. Es kan
nicht fehlen/ das primum principium muß
ein Begriff aller Warheiten ſeyn.


18. So muß ich demnach ſolches nothwen-
dig aus derdefinitionder Warheit herneh-
men/ denn wenn dieſe nicht alle Warheiten
begreiffe/ waͤre es keine definition.


19. So pfleget man auch in Mathematicis
aus denen definitionibus rerum alle axio-
mata
herzuleiten.


20. Solchergeſtalt aber heiſt dieſes pri-
mum principium
ſo: Was mit des Men-
ſchen Vernunfft uͤbereinſtimmet/ das iſt
wahr/ und was des Menſchen Vernunfft
zu wieder iſt/ das iſt falſch.


21. Ja ſprichſt du/ das habe ich laͤngſt ge-
wuſt/ aber ich wolte gerne wiſſen/ worinnen
denn dieſe Ubereinſtimmung beſtuͤnde/ und al-
ſo iſt dieſes primum principium fuͤr mich
viel zu dunckel/ weil ich noch nicht weiß/ ob das
wahre dasjenige ſey/ das mit denen Sinnen/
oder das/ welches mit denen ideis des Ver-
ſtandes uͤbereinkommet.


22. Mein lieber Freund/ du biſt an dieſer
Dunckelheit ſelbſt ſchuld/ weil du die Sinnen
und
[156]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
und ideas durch die Heydniſche philoſophie
verfuͤhret einander entgegen ſetzeſt/ da ſie doch
beyde zu dem Menſchlichen Verſtand gehoͤ-
ren/ und alſo die Warheit ſo wohl mit de-
nen Sinnen/ als mit denen
ideisuͤber ein-
kommen muß.


23. Denn die Sinnen ſind die leidenden
Gedancken/ die ideæ aber die thaͤtigen Ge-
dancken des Verſtandes.


24. Jene haben unmittelbar mit denen
individuis zu thun/ dieſe mit denen univer-
ſalibus.


25. Jene ſind der Anfang aller Menſch-
lichen Erkaͤntnuͤß/ dieſe aber folgen auff jene.
Jene ruͤhren ſich bald Anfangs bey denen
kleinen Kindern/ und ſind mehrentheils ie
gantze Lebenszeit durch einerley/ auſſer daß ſie
bey herannahenden Alter natuͤrlicher Weiſe
abnehmen/ dieſe aber erregen ſich erſt eine
gute Zeit hernach/ und veraͤndern ſich zu ei-
ner Verbeſſerung bey Wachßthum der Jah-
re/ zum wenigſten ſolte dieſe Verbeſſerung
geſchehen.


26. Alſo nun begreifft dieſes primum
principium
zwey propoſitiones in ſich/ o-
der es wird vielmehr in dieſelbige reſolviret.
Die
[157]erſten und unbeweißlichen Warh.
Die erſte heiſt: Was der Menſchliche Ver-
ſtand durch die Sinne erkennet/ das iſt
wahr/ und was denen Sinnen zu wieder
iſt/ das iſt falſch.


27. Dieweil aber es offte geſchiehet/ daß das-
jenige/ was durch die Sinne vorgeſtellet wird/
ſich in der That anders verhaͤlt z. e. ein Ste-
ckel der in Waſſer k[a]um ſcheinet/ da er doch
gerade iſt/ als muͤſſen wir dieſe Regel etwas
deutlicher erklaͤhren/ damit wir nicht auff die
Meinung gerathen/ als ob die Sinne auch
den Menſchen betroͤgen/ oder betruͤgen
koͤnten.


28. Derowegen præſupponiren wir/ daß
der Menſch/ der die Warheit unterſuchen
will/ geſunden Leibes ſey/ das iſt/ daß die
euſerlichen Gliedmaſſen/ die zu denen Sinn-
ligkeiten gehoͤren/ in dem natuͤrlichen Zuſtand
ſeyn/ in welchen ſie ſich bey andern Menſchen
befinden.


29. Zum 2. daß er auch einen geſunden
Verſtand habe/ und weder raſend/ noch ſon-
ſten verruckt in Gemuͤthe ſey.


30. Zum 3. daß er wache und nicht ſchlaffe.


31. Dieſe drey reqviſita gehoͤren ſo wohl
zu Erkaͤntnuͤß der Warheit/ die vermittelſt
deren
[158]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
deren Sinnen/ als der/ die durch die thaͤtli-
chen
Gedancken erhalten und ausgeuͤbet wird/
denn ein Blinder/ Raſender/ Schlaffender rai-
ſonni
ret nicht allein von individuis, ſondern
auch von abweſenden univerſalibus uͤbel.


32. Jedoch iſt unter dieſen dreyen reqvi-
ſitis
ein mercklicher Unterſcheid. Der
Schlaff hindert mich natuͤrlicher Weiſe an
Erkaͤntnuͤß aller Warheiten/ weil nehmlich
der Anfang aller Erkaͤntnuͤß/ ich meine/ das
Geſicht/ Gehoͤr und Gefuͤhl durch denſelben
verſchloſſen werden. Und es ſey nun/ daß der
Schlaff ohne Traͤume iſt/ ſo gedenckt der
Menſch weder was wahres noch falſches/ o-
der daß er mit Traͤumen vergeſellſchafft ſey/
fo weiſet es einem jeden ſein eigen Gewiſſen/
wenn er erwacht iſt/ daß dieſelbigen entweder
gantz falſch/ oder doch durch und durch mit fal-
ſchen vermiſchte Dinge vorgeſtellet haben.


33. Bey raſenden und verruckten Leuten
ſind die innerlichen theils des Gehirnes mehr
verderbet/ verruckt als die euſerlichen Gliedma-
ſen/ und obgleich mehrentheils dadurch die im-
preſſiones
der euſerlichen Gliedmaſſen gantz
gehindert werden/ ſo geſchiehet es doch zuwei-
len/ daß dieſe innerliche Verwirrung nur eine
ein-
[159]erſten und unbeweißlichen Warh.
eintzige propoſition beruͤhret/ in uͤbrigen aber
der patient den Gebrauch ſeines Verſtandes
hat/ z. e. wenn ſich einer eingebildet/ er ſey von
Glaſe/ habe Froͤſche in Leibe/ habe ein groß
Gewaͤchſe an der Raſe/ er ſey ein maͤchtiger
Potentate u. ſ. w.


14. Aber was die Ungeſundheit der euſer-
lichen Gliedmaſſen anlanget/ ſo iſt dieſelbige
allezeit ſo beſchaffen/ daß ſie uns an Erkaͤnt-
nuͤß der Warheit nur zum theil hindert z. e.
den Blinden an Erkaͤntnuͤß der Farben/ den
Tauben an Unterſcheidung des Klangs u. ſ. w.
Denn wenn alle ſinnliche und euſerliche Glied-
maſſen verdorben waͤren/ ja wenn nur ein
Menſche von Natur blind und taub waͤre/
wuͤrden wir uns gar keinen deutlichen con-
cept
von ihm machen koͤnnen/ daß er ein
Menſche ſey.


35. Aus dieſen folget/ daß man einen
ſchlaffenden/ ſo lange als er ſchlaͤfft/ die
Warheit nicht beybringen koͤnne.


36. Auch einen raſenden nicht/ wenn der
gantz verruckt iſt/ ehe das innerliche impe-
dimentum
durch Arzeney gehoben wird.


37. Aber wenn er ſich durch eine wunder-
liche phantaſie nur eine falſche propoſition
impri-
[160]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
imprimiret hat/ kan man ihm wohl dieſelbe
per impreſſionem contrariæ phantaſiæ
exſenſuum evidentia mediante aliqva ra-
tiocinatione
benehmen/ wenn man z. e. ihm
einbildet/ die Froͤſche waͤren per fæces von
ihm gangen/ wenn man ihn ſo lange ſchlaͤgt/
biß er empfindet/ daß er nicht von Glaſe ſey ꝛc.


38. So kan man auch einen/ der nur ein
einiglædirtes ſenſorium hat gar leicht convin-
ci
ren/ daß er entweder gar keinenconcept
von dem objecto deſſelbigen ſenſorii habe/
als z. e. ein Blinder von der Farbe/ oder ei-
nen Jrrigen/ z. e. ein Gelbſuͤchtiger/ einer
der den Schnupffen hat.


39. Jch weiß wohl/ daß von Natur blin-
de
de coloribus und zwar cum laude diſpu-
tiret
haben/ aber deßwegen folgt nicht/ daß ſie
einen warhafftigen concept de coloribus
gehabt haͤtten/ denn ich bin verſichert/ daß
wenn dieſe Blinde gleich nach vollbrachter
diſputation ſehend worden waͤren/ ſie nicht
eine einige vorgelegte Farbe wuͤrden haben
nennen koͤnnen/ ſondern es iſt vielmehr ein
indicium, daß die Philoſophie, aus welcher
dieſe Blinden diſputiret/ eine blinde philoſo-
phie
oder meri ſine mente ſoni geweſen ſey.


40. Ja
[161]erſten und unbeweißlichen Warh.

40. Ja ſprift du/ wer verſichert mich aber
dieſer Warheit/ daß ich geſund bin und wa-
che.
Jch habe gleichwohl offte im Traume
gemeinet/ daß ich wachete/ alſo kan ich mich
auch itzo wohl triegen.


41. Gewiß/ wenn du deinen eigenen Sin-
nen und deiner innerlichen Vergewiſſerung
nicht trauen willſt/ ſo kan ich dir nicht helffen/
weil dieſes præſuppoſitumunter die un-
erweißlichen Warheiten
mit gehoͤret.


42. Dein Einwurff aber iſt ſehr unver-
nuͤnfftig. Denn du ſolteſt daraus nur ſo viel
ſchluͤſſen/ daß ein traumender Menſch das
criterium veritatisnicht zubrauchen wiſſe/
und ſiehe nur/ wie du dich ſelbſt ſchlaͤgſt.


43. Denn antworte mir doch/ woher weiſt
du denn/ daß dich dein Traum betrogen hat/
wenn er dir vorſtellete/ daß du wacheteſt/
war es nicht das folgende wachen/ daß dich
dieſes Jrrthums uͤberzeugete?


44. Wenn wir nun dieſes præſupponi-
ret haben/ ſo iſt ferner zu wiſſen/ daß der in-
nerliche Sinn/
wie wir oben denſelben be-
ſchrieben haben/ den Menſchen niemahls/ auch
nur wahrſcheinlich/ betrogen habe.


45. Was aber die euſerlichen Sinne
L(nach
[162]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
(nach unſerer Beſchreibung) betrifft/ muͤſſen
wir zufoͤrderſt die Bildungen oder ſchema-
ta
mit denen Sachen ſelbſt/ davon ſie for-
mi
ret werden/ nicht vermiſchen:


46. Die Bildungen/ das iſt die Bewe-
gungen oder Eindruͤckungen in unſer Gehir-
ne truͤgen uns niemahlen. Alſo iſt z. e. es
warhafftig wahr/ daß uns etwas in denen Oh-
ren klinget/ daß ein viereckter Thurm von fer-
ne rund ſcheinet/ daß der im Waſſer ſteckende
gerade Stecken krum ſcheinet/ daß ein zaͤrtli-
cher Menſch durch eine kleine harte Beruͤh-
rung groſſe Schmertzen empfindet/ daß ein
Stein oder eine von Wachs zubereitete Frucht
wie eine natuͤrliche ſcheinen u. ſ. w.


47. Aber was die Sachen ſelbſt anlan-
get/ geſchiehet es zuweilen/ daß dieſe Bildun-
gen ſich nicht in der That an ihnen verhalten/
wie wir es uns einbilden/ oder nicht von ver
Urſachen herruͤhren/ die wir uns bereden/ wie
aus denen itzo angefuͤhrten Exempeln gar
leichte kan abgenommen werden.


48. Jedoch muß man deßwegen die Schuld
nicht denen Sinnen geben/ ſondern ſie liegt
viel-
[163]erſten und unbeweißlichen Warh.
vielmehr an der præcipitanzunſerer thaͤtli-
chen Gedancken
und des judicii.


49. Denn ich werde eben dieſes meines
Jrrthums durch die leidenden Gedancken
oder die Sinnligkeiten uͤberwieſen.


50. Damit alſo deſto deutlicher werde/ was
man durch die Erkaͤntnuͤß derer Sinnen
verſtehe/ muß ein jeder Menſch folgende
Stuͤcke in acht nehmen.


51. Die Sache/ die ich vermittelſt der Sin-
ne begreiffen will/ muß in debita diſtantia
ſeyn.


52. Jch kan aber debitam diſtantiam
nicht anders beſchreiben/ als daß die Sache
nicht zu weit und nicht zu nahe von mir
ſeyn muͤſſe/ in puncto kan ich dieſelbige nicht
ſetzen/ ſondern ein jeder muß ſie bey ſich ſelbſt
abnehmen/ theils/ weil die Sinne nicht alle ei-
nerley diſtantz haben/ theils weil ein Menſch
auch in anſehen eines einigen Sinnes eine an-
dere diſtantz erfordert/ als der andere.


53. Denn bey dem Gefuͤhl und Ge-
ſchmack
muͤſſen die ſubſtantzen/ von denen die
Erkaͤntnuͤß enſtehen ſoll/ gantz an das ſenſo-
rium applici
rt werden/ aber bey dem Ge-
ruch/ Gehoͤre/
und Geſichte/ koͤnnen dieſel-
L 2ben
[164]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
ben in weiterer diſtantz/ und unter dieſen drey-
en Sinnen immer bey einem weiter als bey
dem andern erkennet werden.


54. Dieweil auch ein Menſch ein ſubtiler
oder ſchaͤrffer Geſicht/ Gehoͤr/ Geruch/ u ſ. w.
hat als der andere/ ſo erfordert auch der eine
nothwendig eine naͤhere diſtantz derer obje-
ctorum,
als der andere.


55. Jedoch iſt auch bey dieſen drey letzten
Sinnen allezeit zu Erlangung einer deutli-
chen Erkaͤntnuͤß an beſten/ wenn die objecta
ſo nahe ſind/ als moͤglich/ und es die ſen-
ſoria
ertragen koͤnnen.


56. Hiernaͤchſt/ weil bey dem Geſicht/ Ge-
hoͤr und Geruch ordentlich einige Lufft zwi-
ſchen dem ſenſorio und dem objecto iſt/
durch derer Bewegung die ſchemata zu dem
ſenſorio gebracht werden/ welche auch deß-
wegen medium ſentiendi pflegt genennet zu
werden/ ſo iſt auch noͤthig/ daß dieſelbige ihre
ordentliche Beſchaffenheit erhalte/ das iſt/ daß
ſie genung Licht habe/ nicht zu dicke ſey/ und
die ſchemata durch eine wiedrige Bewe-
gung
nicht von uns wegfuͤhre.


57. Nachdem auch GOtt einer jeden ſub-
ſtan
tz viel accidentia, die durch die Sinne be-
griffen
[165]erſten und unbeweißlichen Warh.
griffen werden koͤnnen/ dem Menſchen aber
mehr als einen Sinn dieſelbigen zu begreif-
fen mitgetheilet/ ſo folget nothwendig/ daß in
dijudicirung einer ſubſtantz von der ande-
ren er Menſch nicht mit einen Sinn allei-
ne zuplumpen muͤſſe/ ſondern alle Sinne/
durch welche er dieſelbige zuvor begriffen/
brauchen muͤſſe/ weil er ſonſt gar leichte einen
Jrrthum begehen kan.


58. Jedoch kan man auch hierinnen keine
gewiſſe Regul in puncto geben/ ſondern man
muß es eines jeden eigener Erfahrung an-
heim ſtellen. Denn gleich wie ſich der Men-
ſche offte betruͤget/ wenn er eine ſubſtantz nur
vermittelſt eines einigen Sinnes erkennen
will/ alſo werden zu allen nicht eben alle fuͤnff
Sinne
erfordert/ ſondern manchmahl ſind
zwey genung/ manchmahl werden mehr er-
fordert.


59. Ja nach Unterſcheid der ſubſtantzen
giebt ein Sinn fuͤr dem andern bald mehre-
re/ bald weniger Erkaͤntnuͤß. Bey den
Steinen und Metallen thut das Geſicht und
Gefuͤhl
das meiſte/ bey denen Pflantzen der
Geruch/ bey denen Fruͤchten der Geſchmack/
bey denen Thieren das Gehoͤr/ und die
L 3Men-
[166]Das 6. Haupſtuͤck von denen
Menſchen unter einander zu entſcheiden das
Geſicht.


60. endlich muß auch dieſes wohl beobach-
tet werden/ daß die ſenſoria, in Vorſtellung
der Dinge nach Unterſcheid derer Sinne ein
Ding nicht allen Menſchen oder nicht zu
aller Zeit auff gleiche Art vorſtellen.


61. Wiewol ſolches nicht alſo zu verſtehen
iſt/ als ob das ſenſorium eines Menſchen
dem andern eine Sache gantz wieder waͤrtig
und entgegen geſetzt
eindrucke/ denn ſonſten
wuͤrde man gar keine gemeine Regeln von der
Warheit geben koͤnnen/ ſondern eines jeden
ſeiner Einbildung dieſelbe anheim ſtellen
muͤſſen.


62. Sondern ein ſenſorium iſt in gewiſ-
ſen Faͤllen mehr Verenderungen unter-
worffen/ als das andere/ oder bey einem Men-
ſchen mehr als dem andern.


63. Zwar was das Geſichte betrifft/ wird
man dieſe Veraͤnderung faſt gar nicht gewahr.
Denn was einem roth ſcheinet/ ſcheinet allen
Menſchen roth/ und die Sache die uns z. e.
einmahl roth geſchienen/ wenn nicht eine Ver-
aͤnderung in ihr ſelbſt/ oder in der Lufft vorge-
gangen/ ſcheinet uns niemahlen anders.


64. So
[167]erſten und unbeweißlichen Warh.

64. So iſt es auch ebenmaͤßig mit dem
Klange beſchaffen/ denn was dem einen holl
klinget/ das klinget dem andern nicht fa, und
niemand wird den Klang einer Trompete mit
dem Klang einer Violine vermiſchen.


65. Ja was des einem Auge und Gehoͤr
ſchaͤdlich iſt/
das iſt durchgehends auch dem
Auge und Gehoͤre des andern ſchaͤdlich.


66. Bey dem Geruch aber iſt ſchon einige
Veraͤnderung zu ſpuͤren. Denn ob gleich
niemand leichte den Geruch einer Roſe/ Lilie/
und Nelcke mit einander vermiſchen/ oder bey
jungen Jahren ſich davon eine andere im-
presſion
als im Alter machen wird/ ſo iſt
doch dieſes nicht zu leugnen/ daß ein Geruch
einem Menſchen zu wieder ſey/ dem andern
nicht/ oder dieſen wohl gar vergnuͤge/ oder daß
einem in Alter ein Geruch zu wieder werde/
den man in der Jugend wohl ertragen koͤn-
nen.


67. Mit dem Geſchmack gehen noch
mehr Veraͤnderungen vor/ dannenhero das
gemeine Sprichwort entſtanden: De guſti-
bus non eſt diſputandum.


68. Und die meiſten variationes findet
man bey dem Gefuͤhle/ was einem warm iſt/
L 4iſt
[168]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
iſt dem andern kalt/ was einem glatt oder
weich iſt/ iſt dem andern rauch oder harte u. ſ. w.


69. Dieſe obſervation hat in Erkaͤntniß
der Warheit ihren doppelten Nutzen; (1)
daß wir die Kentnuͤſſe/ die von einem Din-
ge genommen werden/ nicht dem Dinge
ſelbſt zu ſchreiben/ wenn ſie ohne Veraͤn-
derungen des Dinges/ vermittelſt der
Sinne ſich auch bey uns veraͤndern/
z. e.
die Waͤrme Kaͤlte.


70. (2) Daß wir bey denen veraͤnder-
lichen
concepten keineabſolutam propoſitio-
nem
machen/ ſondernrelativam. Nicht:
dieſe Speiſe ſchmeckt allen Leuten allezeit gut/
ſondern: Sie ſchmeckt mir itzo gut/ u. ſ. w.


71. Aber wir muͤſſen auch nunmehro von
denen ideis reden/ welche die andere Helffte
gleichſam des Menſchlichen Verſtandes/ und
zwar der fuͤrnehmſte Theil deſſelbigen ſind.
Jedoch iſt zwiſchen ihnen und denen Sinn-
ligkeiten
eine ſolche Verknuͤpffung/ daß ohne
einer von denenſelbigen ich mir nichts ver-
nuͤnfftiges von der andern einbilden kan.


72. Die Sinne ſtellen mir lauter indi-
vidua
vor/ und es iſt kein Zweiffel/ daß ſo viel
individua mir verkommen/ auch ſo viel Ein-
druckun-
[169]erſten und unbeweißlichen Warh.
druckungen in mein Gehirne geſchehen/ und
der Verſtand des Menſchen ſo viel refle-
xiones
daruͤber mache.


73. Nun aber hat ein jeder Menſch das
Vermoͤgen/ einjedwedes Ding in tauſend klei-
ne Theile mit ſeinen Gedancken zu theilen/
und dieſe Theile gegen einander ſo wohl auch
das gantze mit tauſend andern gantzen/ und die
Theile jenes mit dieſer ihren Theilen zucon-
feri
ren.


74. Dieſe Theilung und Zuſammenſe-
tzung kan von denen Sinnen nicht herruͤhren/
weil dieſe lauter individua ohne einige Ord-
nung/ und zwar jedes gantz vorſtellen.


75. Dannenhero muß dieſe Theilung und
combinirung nothwendig einactus purus
der Gedancken ſeyn/ der durch die ſchlechte
Eindruckung nicht geruͤhret wird/ wie die lei-
denden Gedancken/ ſondern der theils vorhe-
ro in dem Vermoͤgen des Menſchen geweſen
(welches er mit denen ſinnlichen und leiden-
den Gedancken gemein hat) theils auch nach
geſchehener Eindruͤckung nicht wieder Wil-
len gleichſam/ (wie die reflexion) ſondern
aus einiger Willkuͤhr des Menſchen entſtehet.


76. Dieweil aber dieſe Eintheilung und
L 5Zuſam-
[170]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
Zuſammenhaltung das complement des
Menſchlichen Verſtandes und Willens iſt/ ſo
wuͤrde der Menſch nicht Menſch ſeyn/
wenn er dieſe potentiam nicht beſaͤſſe/ ſon-
dern nur die Macht haͤtte uͤber die gegenwaͤr-
tigen individua zu reflectiren/ ja es wuͤrde
ihm die reflexion und apprehenſion nicht
viel nutzen/ wenn er dieſe letzte potentiam
nicht haͤtte.


77. (Und alſo wuͤrde ein Thier doch nicht
fuͤr vernuͤnfftig gehalten werden koͤnnen/ wenn
es gleich uͤber die res ſenſibus impreſſas
reflectirte.
)


78. Nichts deſto weniger aber koͤnte er
auch die thaͤtlichen Gedancken nicht ausuͤ-
ben/ wenn ihm nicht per ſenſus conceptus in-
dividuorum
waͤren imprimiret worden.
Denn wie wolte er ein gantzes in Theile ein-
theilen/ wenn er kein gantzes haͤtte/ wie wolte
er ein individuum mit dem andern confe-
ri
ren/ oder ſie ordnen/ wenn er nicht ſchon con-
ceptum individuorum
haͤtte.


79. Derowegen præſupponiren die thaͤt-
lichen Gedancken allezeit leidende/ und iſt ſo
ferne das gemeine dictum zu erklaͤhren/ Nibil
eſt in intellectu, qvod non prius fuerit in
ſenſu.


80. Al-
[171]erſten und unbeweißlichen Warh.

80. Alles nun/ was zu dieſen thaͤtigen Ge-
dancken des Verſtandes gehoͤret/ kanſt du ideas
oder abſtractiones, oder wie du fonſt willſt/
nennen.


81. Dieweil aber die Eintheilung eines
gantzen in unzehlige Stuͤcke/ und die Zuſam-
menhaltung mit unzehligen (das iſt ungewiſ-
ſen) Dingen geſchehen kan/ als kan man auch
die doctrin de ideis uͤberhaupt nicht eben ſo
deutlich erklaͤhren/ oder gewiſſe Eintheilun-
gen
davon machen.


82. Wolte man dieſelbigen nach dem Un-
terſcheid derer
entium, die wir in 4. Capitel
gegeben/ eintheilen/ koͤnnen wir es geſchehen laſ-
ſen/ jedoch wollen wir damit niemand nichts
vorgeſchrieben haben.


83. Jedoch iſt kein Zweiffel/ daß unter al-
len ideis keine deutlicher ſind/ als die ideæ
qvantitatis,
nehmlich numeri, menſuræ \&
temporis.


84. Denn dieſe erregen ſich auch bey de-
nen Kindern in erſten Jahren dergeſtalt/ daß
ſie faͤhig ſeyn aus denenſelben zu raiſoniren
und andere Warheiten herzuleiten. Die ideæ
ſubſtantiarum
aber/ qvalitatum, motuum
u. ſ. w. erregen ſich zwar auch bey ihnen/ doch
gehet
[172]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
gehet es mit combination und diviſion der-
ſelben ſehr ſchwer zu.


85. Ferner unter dieſen dreyen ſind keine
deutlicher als die ideæ numeri, ja es werden
auch die ideæ menſuræ \& temporis da-
durch reſolviret/ maſſen dann auch pun-
ctum
und momentum am deutlichſten per
unitatem concipi
ret wird.


86. Und vielleicht koͤm̃t dieſes daher/ weil
die idea prima de individuo qvolibet dieſe
ſcheinet zu ſeyn/ qvod ſit unum, aus welchen
hernach der conceptus totius folget. Denn
omne totum eſt unum, u. ſ. w.


87. Dannenhero haben diejenigen nicht
unfuͤglich gehandelt/ die die Dunckelbeiten
der Vernunfft-Lehre aus der Rechenkunſt
zu erklaͤhren geſucht/ und rationalitatem ho-
minis
eine Rechenſchafftligkeit uͤberſetzet/
denn man ſoll allezeit dunckele Dinge mit
deutlichen erklaͤhren.


88. Ja es iſt kein Zweiffel/ daß diejenigen/
die in denen ideis mathematicis und ſonder-
lich arithmeticis geuͤbet ſind/ nicht alleine ei-
nen groſſen Vortheil fuͤr andern haben/ in de-
nen andern diſciplinen fuͤr ſich etwas zu
thun/ ſondern auch ihnen die Schwierigkeit/
die
[173]erſten und unbeweißlichen Warh.
die in andern diſplinen fuͤrkoͤmmt/ durch
Gleichnuͤße ex arithmeticis gar leichte ge-
macht werden kan.


89. Maſſen wir denn ſelbſt allhier das-
jenige/ was wir oben von der Verknuͤpffung
der leidenden und thaͤtigen Gedancken erweh-
net/ aus der arithmetic illuſtriren koͤnnen.
Die ſinnlichen Gedancken ſind unitates,
die die ideen numeriren addiren und ſubtra-
hi
ren. Gleichwie nun unitas nicht nume-
rus
iſt/ ſondern initium numeri \& qvaſi fun-
damentum,
und alſo ohne beyden Arithme-
tica
nicht ſeyn kan/ alſo kan auch die Ver-
nunfft nicht ohne leidende oder thaͤtige Ge-
dancken ſeyn.


90. Jedoch muß man deßhalben nicht
meinen/ als ob alle Wiſſenſchafften aus der
doctrin de numeris tanqvam concluſiones ex
primo principio
hergeleitet werden muͤſten
oder koͤnten.


91. Oder als wenn dieAlgebrader
Grund zu allen Wiſſenſchafften waͤre/

daß wer in derſelbigen wohl beſchlagen ſey/
auch die fundamente zur Phyſic oder Mo-
rale
habe/ und die zweiffelhafften Fragen in
denenſelben dadurch auffloͤſen koͤnne.


92. Denn
[174]Das 6. Hauptſtuͤck von denen

92. Denn ſonſten wuͤrde man die argu-
menta illuſtrantia
mit denen probantibus
trefflich vermiſchen/ und wieder die Regel
groͤblich anſtoſſen/ ſimilia non probant,
ſed illuſtrant.


93. Gott hat denen Menſchen mehr als
einen Sinn
gegeben die euſerlichen Dinge
mit zu concipiren/ alſo ſind auch vielerley
ideæ, die der Menſch uͤber viel concipirten
Dinge machen kan.


94. Gleichwie nun unter denen euſerli-
chen Gliedmaſſen zwar das Auge das vor-
nehmſte iſt/ und vermoͤge deſſelbigen eine
Sache an deutlichſten/ ja die ſubſtantz ſelbſt/
ſo weit dieſelbige von denen Siñen kan begrif-
fen werden/ oder die Coͤrperligkeit derſelben
als ihr attributum, erkennet wird/ da die an-
dern Sinne als das Gehoͤre/ Geruch/ Ge-
ſchmack/ u. ſ. w. bloß mit denen Bewegungen
der ſubſtantzen und denen accidentibus
ſtrictè dictis
zuthun haben/ gleichwohl aber
vermittels deſſelbigen weder der Klang/ noch
der Geruch/ noch der Geſchmack/ noch die
qvalitates tactiles denen Gedancken præ-
ſenti
ret werden.


95. Alſo iſt es auch mit denen ideis nu-
mero-
[175]erſten und unbeweißlichen Warh.
merorum bewant/ daß zwar durch dieſelbe das-
jenige/ was zur Coͤrperligkeit der producir-
ten ſubſtantz gehoͤret/ fuͤglich und juſt demon-
ſtri
ret werden kan/ aber daraus doch die ideæ
motuum
oder die productio ſubſtantiæ nicht
her bewieſen werden koͤnne.


96. Die connexion dieſes Satzes iſt da-
hero deſto deutlicher zu verſtehen/ weil das
Auge oder die reflexio der Gedancken uͤber
die geſchehene Dinge bey dem Menſchen
inſtar poſtulatorum iſt/ ohne welche er ei-
nen dunckeln oder gar keinen concept von
denen numeris und menſuris ſich wuͤrde ma-
chen koͤnnen.


97. Zum wenigſten moͤchte ich wohl wiſ-
ſen/ was ein von natur blinder ſich fuͤr eine
ideam von einen Triangel/ von einer linic
und puncte machte/ und ob ſie mit derſelben
idee uͤbereinkaͤme/ die er ſich hernach formi-
rete,
wenn er ſehend worden waͤre.


98. Wannenhero das gemeine axioma,
Eſſentiæ rerum ſunt ſicut numeri,
zwar in ſo
weit/ wann es Gleichnuͤßweiſe redet/ ange-
nommen werden muß/ wenn es aber auf einen
Grund zur demonſtration in allen Din-
gen zielet/ wie es Plato, Pythagoras, und die
alten
[176]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
alten Ægyptier ſcheinen angenommen zu ha-
ben/ iſt es wieder oder doch zum wenigſten uͤ-
ber die Vernunfft.


99. Weßwegen auch dieſe Philoſophi
alle ihre philoſophie per numeros als das
groͤſte Geheimnuͤß tractiret/ und guten theils
ad ſacra appliciret haben.


100. So iſt demnach die andere haupt
propoſition, die in dem primo principio
ſteckt/ folgende. Was mit denenideis,die
der Menſchliche Verſtand von denen in
die Sinne
imprimirten Dingen macht/ uͤ-
bereinkoͤmmt/ das iſt wahr/ und was ih-
nen zu wieder iſt/ das iſt falſch.


101. Dieſen Satz wird niemand leugnen/
wenn er nur bedenckt/ daß die ideæ, wie wir
ſolche bißher beſchrieben/ nichts anders ſind
oder ſeyn koͤnnen/ als definitiones rerum.


102. Und wenn er auch dieſen Satz leug-
nete/ oder deſſen Beweiß forderte/ wuͤrden wir
uns nicht mit ihm einlaſſen/ weil dieſe pro-
poſition
ja ſo unerweißlich iſt/ als die erſte.


103. Die groͤſte Schwuͤrigkeit ſcheinet dar-
innen zu beſtehen/ daß die Menſchen zu wei-
len ja oͤffters ſich ſo gar wunderliche und
falſche
ideen von einen Dinge machen/ und
ſolcher-
[177]erſten und unbeweißlichen Warh.
ſolchergeſtalt die ideen den Menſchen zu be-
truͤgen ſcheinen/ folglich auch aus denenſelben
kein primum principium veritatis genom-
men werden kan.


104. Aber hierauff iſt kuͤrtzlich zu antwor-
ten/ daß dieſes wieder unſere propoſition
nicht ſtreite/ daß die Menſchen meiſtentheils
ſich falſche definitiones rerum \& ideas
machen/ dafuͤr kan der Menſchliche Verſtand
oder das natuͤrliche Liecht nicht/ ſondern ihr
boͤſer Wille/
mit welchen ſie muthwillig aus
Liebe zu denen in der Jugend gefaſten præ-
judiciis,
die der Urſprung alles Jrrthums
ſeyn/ ihren Verſtand verdunckeln/ und die
falſchen ideas pro genuinis achten/ ja wol
vorſetzlich dieſelbigen haͤuffen/ wovon in fol-
genden mit mehrern.


105. Jtzo wird genung ſeyn/ wenn ein er-
wachſener Menſch (als fuͤr welche unſere Ver-
nunfft-Lehre geſchrieben iſt) erweget/ daß
gleichwohl unzehlich vielideæoderabſtra-
ctiones
ſeyn/ darinnen das Menſchliche
Geſchlecht einig iſt/
als die idée eines Tri-
angels/ der Farbe/ des Hundes/ der Bewe-
gung/ der Hitze/ des Klanges/ u. ſ. w. maſſen
dann/ wenn der Menſch dieſelbigen nicht be-
Mſaͤſſe/
[178]Das 6. Hauptſtuͤck von denen
ſaͤſſe/ wuͤrde er keinen Triangel von einen vier-
eck/ die rothe Farbe nicht von der blauen/ den
Hund nicht von der Katze/ die unterſchiedenen
Schulen die z. e. ein Pferd macht/ die Em-
pfindligkeit des Feuers nicht von der Em-
pfindligkeit des Eiſes/ den Thon einer Trom-
pete nicht von dem Thon einer Laute accu-
rat
unterſcheiden koͤnnen.


106. Er muß ſich aber nicht irren laſſen/
daß gleichwohl jederzeit ſo ein groſſer Streit
unter denen
Philoſophis de definitionibus re-
rum
und ſonderlich der meiſten von mir ange-
fuͤhrten Exempel/ geweſen und noch ſey.
Denn meine folgende Lehre wird ihm zeugen/
daß dieſes alles daher entſtanden/ daß die
philoſophie die irrige Meinung geheget/
als wenn idea und definitio rei zwey un-
terſchiedene Dinge waͤren/ und die definitio
ideam,
die doch eine unerweißliche Warheit
iſt/ beweiſen muͤſſe/ oder daß ſie die ideas durch
definitiones bey ſolchen Leuten erwecken
wollen/ die die Sache/ von welcher die idea
gemacht wird/ niemahlen vermittelſt der Sin-
ne begriffen haben.


107. Ja er muß ſich auch ferner huͤten/ daß
er ex dictis nicht etwan ſchlieſſe/ als ob die
ideæ,
[179]erſten und unbeweißlichen Warh.
ideæ, von denen unſer axioma redet/ theils
dem Menſchlichen Geſchlecht gemein/
theils aber etlichen Menſchen eigen
waͤren.
Denn obgleich dieſe Eintheilung/ ſo ferne ſie
de actu ſecundo redet/ erduldet werden koͤnte/
ſo wuͤrde ſie doch in dieſen Verſtande wenig
Nutzen haben.


108. Wenn man ſie aber de potentia ver-
ſtuͤnde/ wuͤrde ſie hauptlaͤchlich falſch ſeyn/
weil ſo dann die nur etlichen Menſchen eigene
ideæ nichts anders als irrige Meinungen
hieſſen.


109. Welches auch daraus erhellet. Die
eigenen ſo genanten ideæ ſind vielerley und
einander zu wieder. Nun iſt die Warheit
aber allezeit nur einerley/ und alſo muͤſſe
nothwendig von denen eigenen ideis eine/ wo
nicht alle beyde/ falſch ſeyn.


110. Endlich nachdem wir auch oben er-
wieſen/ daß das primum principium ratioci-
nandi
nur eines ſeyn koͤnne/ ſo folget noth-
wendig/ daß wir daſſelbige nicht inſpecies
eintheilen koͤnnen.


111. Und ob man ſchon insgemein von de-
nen principiis primò primis \& ſecundò pri-
M 2mis
[180]Das 6. Hauptſtuͤck von denen \&c.
mis viel zu ſagen pfleget/ ſo iſt doch dieſes nicht
pro diviſione reali anzunehmen.


112. Denn das principium primò pri-
mum
gehoͤret nur hieher zu der Vernunfft-
Lehre. Die ſecundò prima ſind nichts an-
ders als ideæ generalisſimæ, uͤber welche
man in einer jedweden ſpecial diſciplin in
der philoſophie nicht kommen kan/ die aber
doch als concluſiones unſers primi princi-
pii
betrachtet werden muͤſſen.


113. Dannenhero ſind dieſer principio-
rum ſecundò primorum
ſo viel/ als ſpe-
cial diſciplinen
in der Philoſophie ſind.


114. Woraus gantz offenbahr folget/ daß
das
primum principium practicum, mit wel-
chen die philoſophia practica zu thun hat/
einprincipium ſecundò primumſeyn muͤſſe/
und alſo principium primò primum in
theoreticum \& practicum
nicht eingethei-
let werden koͤnte/ worvon an ſeinen
Ort ein mehrers.



Das
[181]Das 7. Hauptſtuͤck von denen \&c.

Das 7. Hauptſtuͤck.
Von denen andern unſtreiti-
gen Warheiten/ die durch die erſten
principia erwieſen werden/ und von
der Demonſtration.


Jnnhalt.


Dasprimum principium wird ſchlecht weg verſtanden. n. 1.
Mit ihm ſind die andern Warheiten verknuͤpfft. n. 2.
Ein Menſch braucht in anſehen ſein ſelbſt keines Be-
weiſes der Warheit n. 3. 4. ſondern in regard ande-
rer n. 5. Sie moͤgen ſeyn wer ſie wollen n. 6. 7. wenn
er nehmlich macht/ daß die andern die Warheit auch er-
kennen n. 8. Beſchreibung des Beweiſes n. 9. Der-
ſelbe muß den andern nicht durch euſerliche Gewalt
zwingen n. 10. Was allhier verknuͤpffen heiſſe n. 11.
Es iſt ein Gleichnuͤß-Wort n. 12. von einer Kette her-
genommen n. 13. nicht aber wie dieſelben insgemein
pflegen zu ſeyn/ n. 14. wie die alten Philoſophi es etwa
moͤgen gebraucht haben/ n. 15. ſondern von einer Kette
die einen Hauptring hat/ an dem zwey andere/ und
an deren jedem wieder zwey oder drey andere haͤngen
n. 16. wie an denen Stammbaͤumen n. 17. Warum in
vorigen Capitel nebſt dem Hauptringe (A) auch die bey-
den erſten Ringe (B) \& (C) mit erklaͤhret worden n. 18.
19. 20. 21. Der Beweiß iſt entweder eine Weiſung
(Oſtenſio) oder Erweiſung (Demonſtratio) n. 22.
Die Oſtenſio n. 23. iſt keine Kunſt n. 24. 25. Dahin
gehoͤren alle res ſenſiles n. 26. und hat nicht mehr als
einen Grad n. 27. Was fuͤr Fehler hierbey zu meiden
n. 28. 29. 30. Wegen der Demonſtration n. 31. ſtreiten
die Philoſophi n. 32. 33. Der erſte Grad iſt nicht ſchwer
M 3n. 34.
[182]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
n. 34. und wird auch von Ungelehrten begriffen n. 35.
aber die andern Grade ſind deſto ſchwerer n. 36. Doch
draucht es hierzu mehr eines Handgriffs als groſſen Ge-
lahrheit n. 37. 38. Dieſer Handgriff wird vergebens
in der Arithmetic n. 39. 40. oder bey andern Leuten
geſucht n. 41. 42. 43. welches mit einen Exempel erklaͤh-
ret wird. n. 44. Regeln die bey der Demonſtration
zu beobachten n. 45. Erſtlich in auſehen des Demon-
ſtri
renden. Demonſtrire nicht/ was du nicht verſte eſt
n. 46. Das iſt/ wenn du nicht die connexion der Sa-
che mit dem primo principio n. 47. und mit allen mit-
leren Gelencken innen haſt. n. 48. Was hierbey in
acht zu nedmen n. 49. 50. 51. 52. Probe der Gewißheit
n. 53. 54. Zum andern was dem betrifft/ dem man die
Sache demonſtriret n. 55. wenn er (1) eine wiedrige
Meinung hat n. 56. Man muß die Worte ſeiner de-
finitionum
nicht cavilliren n. 57. (2) wenn ihm die
Sache gantz unbekant iſt n. 58. 59. Jn demonſtratio-
nibus
muß man nicht unnuͤtzliche Dinge vornehmen n.
60. oder ſich bemuͤhen zu demonſtriren/ was nicht de-
monſtriret
werden kan n. 61. Nutzen dieſer einfaͤltigen
Lehre. n. 62. 63.


1.


DAs primum principium, von dem wir
in vorhergehenden Capitel geredet/ wird
nebſt denen beyden propoſitionibus, in wel-
che es reſolviret worden/ ſchlecht weg ver-
ſtanden/ und nicht erwieſen/ denn es koͤnte
nicht erwieſen werden. Intelligitur, non
probatur.


2. Nun aber begreifft es alle Warheiten
unter ſich/ das iſt/ alle Warheiten ſind mit ihm
ver-
[183]andern unſtreitigen Warheiten.
verknuͤpfft. Und alſo iſt kein Zweiffel/ daß
wenn ich die andern Warheiten begreiffen
will/ ich zugleich dererſelben Verknuͤpffung/
die ſie mit dem primo principio haben/ be-
greiffen muͤſſen.


3. So braucht es dannenhero in anſehen
meiner ſelbſt/ wenn ich anders mich von de-
nen haupt præjudiciis geſaubert habe/ und
in natuͤrlichen Dingen nichts/ als was mit
meinen Sinnen und ideis verknuͤpfft iſt/ fuͤr
unſtreitig wahr halte/ keines Beweiſes von
dieſen andern Warheiten/ ſondern ſie werden
in anſehen meiner eben ſo wohl vverſtanden/
(intelliguntur non probantur) wie jene.


4. Denn wenn ich die connexion nicht
begreiffe/ ſoll ich die Sache nicht fuͤr wahr
halten/ begreiffe ich ſie aber/ ſo braucht es in
anſehen meiner keines Beweiſes.


5. Aber in anſehen anderer/ denen dieſe
Verknuͤpffung unbekant iſt/ kan wohl von mir
die Erkaͤntnuͤß dieſer Warheit durch gewiſſe
Vorſtellungen er wecket werden.


6. Denn obgleich alles/ was eines Men-
ſchen
Verſtand zu erkennen faͤhig iſt/ auch der
andere erkennen kan/ ſo hat doch der andere
dieſe Erkaͤntnuͤß nicht alſobald wuͤrcklich.


M 47. Jn-
[184]Das 7. Hauptſtuͤck von denen

7. Jngleichen ob ſchon ein Menſch in der
That
mehr Warheiten wuͤrcklich erkennet
als der andere/ ja ob es ſchon mit einem lang-
ſamer zugehet
als mit dem andern/ ihm die
unerkanten Warheiten beyzubringen/ ſo muß
man doch nicht meinen/ als ob an der capaci-
taͤt des Verſtandes die Schuld waͤre/ ſondern
es ruͤhret ſolches von andern impedimentis
her.


8. Wenn nun die Erkaͤntnuͤß der vor un-
bekanten Warheit/ bey einen andern erwecket
worden/ daß er ſie ſo wohl verſtehet als ich/ ſo
ſagt man/ man habe ſolche Warheit bewie-
ſen.


9. Du ſiebeſt aber aus dieſen allen/ daß
der Beweiß (probatio) nichts anders ſey/ als
die Darthuung/ wie eine Warheit mit dem
primo principio verknuͤpfft ſey.


10. Und verſtehet ſich alſo von ſich ſelbſt/
daß du zu dieſer Darthuung dich nicht deiner
autoritaͤt bedienen/ ſondern zufoͤrderſt des an-
dern ſeinen Verſtand durch freundliche Art
ruͤhren muͤſſeſt/ daß er ſich ſeines ſelbſt eigenen
Vermoͤgens bediene/ und alle impedimenta
beyſeite ſchaffe.


11. Da-
[185]andern unſtreitigen Warheiten.

11. Damit aber bald anfangs dir die bey
Beſchreibung des Beweiſes gebrauchte Ver-
knuͤpffung
keinen Anlaß zu fehlen gebe/ ſo
muſt du dieſes Wort etwas deutlicher verſte-
hen.


12. Daran iſt kein Zweiffel/ daß es nicht in
eigenen Verſtande genom̃en werde. Denn
alles/ was wir von unſerer Seelen einander
zuerkennen geben/ wird Gleichnuͤß-Weiſe
vorgebracht.


13. So bilde dir demnach eine Kette ein
von vielen Gelencken/ da immer eines mit dem
andern verknuͤpfſt iſt.


14. Aber huͤte dich/ daß du dir nicht eine
Kette einbildeſt/ da immer ein Glied mit einen
andern/ und dieſes wieder mit einen andern
vereinigt iſt/ es moͤge nun das letzte mit dem
erſten wieder vereiniget ſeyn/ wie in einer
Hals-Kette/ oder moͤge unvereinigt eine
gleiche Linie machen/ wie etwan eine Schnur
Perlen.


15. Denn aus dieſer impreſſion ſcheinet/
als ob viel von denen alten Philoſophis An-
laß zu unterſchiedenen Jrthuͤmern genom̃en/
ſonderlich die/ welche das axioma: Eſſentia
rerum ſunt ſicut numeri
gar zu ſubtiel aus-
gruͤblen wollen.


M 516.
[186]Das 7. Hauptſtuͤck von denen

16. Sondern bilde dir eine ſolche Kette
ein/ an der ein Hauptglied iſt/ an welchen die
andern alle haͤngen/ und zwar alſo/ daß an ei-
nem Gliede nicht eines/ ſondern nach Gele-
genheit drey/ viere u. ſ. w. zum wenigſten
aber doch zwey
andere Glieder angehenck[t]
ſeyn/ wie etwan in arbore conſangvinitatis
der ſtipes communis eine Perſon iſt/ deme
wir auch denen perſonis intermediis nach
Unterſchied zwey/ drey und mehr Kinder an-
gefuͤgt werden.


17. Gleichwie ich nun in Außrechnung der
Verwandſchafft nichts mehr thue als die ge-
nerationes,
durch welche die Grade mit ein-
ander verknuͤpfft werden/ darzuthun/ und da-
bey allemahl einen communem ſtipitem
haben muß/ alſo brauche ich auch in Erwei-
ſung derer andern Warheiten nichts/ als daß
ich die connexion derſelben mit dem primo
principio
als gleichſam dem Hauptgliede
zeuge.


18. Ja weil es keines groſſen außrechnens
braucht/ wenn nur zwey Gelencke aneinan-
der haͤngen/ oder wenn ich in computatione
graduum
Vater und Sohn computire,
ſondern dieſe erſte connexion ja ſo ge-
ſchwind
[187]andern unſtreitigen Warheiten.
ſchwind von mir begriffen wird/ als die res
connexæ
ſelbſt.


19. Als hat es auch keines Beweiſes ge-
braucht/ darzuthun/ daß in dem primo prin-
cipio (A)
oder in der Ubereinſtimmung mit
der Vernunfft/ zwey andere principia, die
Ubereinſtimmung nehmlich mit denen ſenſio-
nibus
(B)
und ideis (C) ſtaͤcken/ oder als-
bald unmittelbahr damit verknuͤpfft waͤren/
ſondern wir haben eben deßwegen dieſe beyde
principia mit in vorigen Capitel abgehandelt.
Denn wer eins zehlen kan/ kan auch zwey
zehlen.


20. So haſt du dennoch allbereit in vori-
gen Capitel den Hauptring (A) nebſt denen
zweyen Ringen/ die am allererſten mit demſel-
ben verknuͤpfft ſeyn. (B) (C)


21. Was aber ferner vermittelſt dieſer bey-
den Glieder dem Hauptglied angehangen
wird/ das heiſt eigentlich bewieſen.


22. Dieſer Beweiß aber iſt zweyerley/ denn
es werden entweder die andern unerkanten
Warheiten nur ſchlecht weg gewieſen (O-
ſtenduntur
) oder werden erwieſen (de-
monſtrantur
).


23. Die Oſtenſio iſt nichts anders/ als
ein
[188]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
ein Beweiß/ das etwas unmittelbahr mit
denen Sinnligkeiten/ oder dem Ringe
(B)
verknuͤpfft ſey.


24. Und alſo iſt die Oſtenſio auff ſeiten
des Zeigenden keine Kunſt/ und auff ſeiten
des Begreiffenden keine Muͤhe: Denn das
muͤſte ein tummer Menſch ſeyn/ der nicht
dreye ordnen oder zehlen koͤnte.


25. Dannenhero ſind auch dieſes Beweiſes
alsbald kleine Kinder faͤhig/ als welche an
nichts zweiffeln/ was man ihnen per eviden-
tiam ſenſuum
vorleget/ auch alſobald falſche
Meinungen per evidentiam ſenſuum zu
wiederlegen wiſſen.


26. Demnach ſo gehoͤren zu dieſen Be-
weißthum alle Warheiten/ die unmittelbahr
per ſenſiones koͤnnen erkant werden/ welche
nichts anders als lauter ſubſumtiones ſind/
die zu dem principio (B) als Majore pro-
poſitione
gehoͤren.


27. Alſo ſind auch an dieſer Seite wenig
Grade
zuhoffen/ indem (B) an (A) haͤnget/
die andern Ringe aber alle miteinander/ derer
doch unzehlig ſind/ an den Ring (B) unmit-
telbar und gleichſam neben einander zu haͤn-
gen ſind.


28. Das
[189]andern unſtreitigen Warh.

28. Das eintzige/ was noch hiervon zu mer-
cken iſt/ wird darinnen beſtehen/ daß du den
gemeinen Fehler vermeideſt/ und dich nicht
bemuͤheſt Sachen an dieſen Ring zu haͤn-
gen/ die ſich weder an den Ring
(B) noch
(C) ſchicken/ oder die Warheiten/ die zu
dem Ring
(B) gehoͤren/ den andern ver-
mittelſt des Ringes
(C) zu weiſen.


29. Jch will dir dieſes gar deutlich zu be-
greiffen/ aus tauſend Dingen/ darvon klug
ſeinwollende Leute ſich vergebens zancken/ o-
der maceriren/ nur etliche wenige geben/ z. e.
du ſprichſt die Oliven ſchmeckten gut/ und
giebſt dem andern eine zu koſten/ der ſie aus-
ſpeyet/ und ſich vermaledeyet ſie ſchmeckten
uͤbel.
Jhr werdet in Ewigkeit mit einander
ſtreiten. Denn dieſe propoſition,die Oli-
ven ſchmecken gut
/ ſchickt ſich weder an den
Ring (B) noch (C). Aber wenn du ſprichſt:
ſie ſchmecken dir gut/ ſo betruͤgſt du dich
nicht/ denn es iſt gewiß/ daß dieſe propoſi-
tion
in deinen Verſtande mit dem Ring (B)
gleichſam verknuͤpfft iſt/ als wie die propo-
ſition:
daß ſie dem andern bitter ſchme-
cken
/ in des andern ſeinen Verſtand mit der
propoſition (B) ebenmaͤßig verknuͤpfft iſt.
Die
[190]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
Die Urſache haben wir in vorhergehenden
Capitel angezeigt.


20. Ferner: du ſolſt einen beſchreiben/ wie
ein Elephante oder Cajus ausſehe. Halte
ihn zehen Jahr ein collegium druͤber/ und
beſchreibe ihn von einem Glied zu dem an-
dern/ ja reſolvire ihn alle Aedergen/ und ver-
ſuche hernach/ ob nicht ein klein Kind das ein
wohlgemahlt Bild von einem Elephanten
oder das contrefait von Cajo eine viertel
Stunde genau betrachtet/ eher das Original
davon wird erkennen koͤnnen/ als der erſte.
Denn dieſe propoſition gehoͤret an den Ring
(B) und du haſt ſie ihm vermittelſt des Rin-
ges (C) beybringen wollen.


31. Die Demonſtration aber iſt ein Be-
weiß/ daß etwas mit denen
ideisoderdefi-
nitionibus rerum
oder mit dem Ringe (C)
verknuͤpfft ſey.


32. Und dieſe Demonſtration iſt das po-
mum Eridos
umb welche ſich die Gelehr-
ten ſo ſehr zancken
/ nicht allein was die
praxin derſelben/ ſondern auch was die theo-
rie
betrifft. Wir wollen uns befleiſſen dieſe
in wenigen Anmerckungen zu erklaͤhren.


33. Die Urſache/ warum man die Lehre
von
[191]andern unſtreitigen Warh.
von der Demonſtration ſo ſchwer gemacht/
ſcheinet deßhalben entſtanden zu ſeyn/ weil in
Oſtenſione nur ein Gelencke iſt/ an welches
hernach alle dahin gehoͤrige concluſiones
applici
ret werden/ aber in Demonſtratio-
ne
ſind unzehlige Gelencke/ die nicht alle
unmittelbahr an den Ring (C) verknuͤpfft
ſind/ ſondern vermittelſt 2. 3. ja 10. und mehr
andern Gelencken.


34. Nun iſts wohl leicht die concluſion,
die unmittelbahr an den Ring (C) angehan-
gen wird/ einem zu zeigen/ und braucht ſo we-
nig Gelahrheit/ als die oſtenſion, aber die
vermittelſt 10. oder 12. Gelencke mit derſel-
ben vereinigt iſt/ darzu braucht es einiger
Nachricht.


35. Zum Exempel: das weiß ein Bauer/
wenn er einen Menſchen ſiehet/ daß ein
Menſch und kein Hund iſt
/ u. ſ. w. Denn
die idèe, durch welche eine gantze ſubſtantz
mit der andern gantzen verglichen/ oder von
derſelben entſchieden iſt/ wird unmittelbar an
den Ring (C) angehaͤngt: Denn das iſt am
erſten und leichteſten/ daß der Menſch von
denen reflexionibus de individuis in ſen-
ſus incurrentibus
eine ideam ſpeciei ſeu
pluri-
[192]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
pluribus individuis communem formirt,
weiche er hernach auff alle individua, die er
zuvor nicht geſehen/ appliciren/ und folglich
dieſe individua von denen individuis diver-
ſæ ſpeciei
entſcheiden kan.


36. Aber frage einen Ungelehrten/ ja fra-
ge auch die/ die ſich Gelehrte nennen/ durch
was
eigentlich der Menſch von einem Hunde
unterſchieden werde/ oder was fuͤr ein Unter-
ſcheid inter ſubſtantiam \& accidens, inter al-
bedinem
\& rubedinem, inter actionem ho-
minis juſtam \& injuſtam \&c.
ſey/ und hoͤre
nur/ wie ſie entweder gar nichts/ oder doch
gantz wiederſinniſch antworten werden/ weil
ſie die demonſtration nicht verſtehen/ oder
vielmehr nicht verſtehen wollen.


37. Jch habe geſagt/ es brauche zu derglei-
chen demonſtration nicht eine Gelahrheit:
denn ein Ungelehrter kan dieſelbe ſo leicht be-
greiffen als ein/ dem Titel nach/ Gelehrter/
ja er wuͤrde ſie von ſich ſelbſt begreiffen koͤn-
nen/ wenn er nur ein klein wenig attention
und Gedult haͤtte. Aber weil dieſe beyden
reqviſita gar rar ſeyn/ ſo braucht man nur
eine wenige Nachricht als einen Handgriff
dazu/ durch welchen man geſchwinder fortge-
hen/
[193]andern unſtreitigen Warh.
hen/ und wenn man ſich verirret/ leichte wie-
der auff den Weg kommen kan.


38. Jch will dir ein klar Exempel oder
vielmehr ein Gleichnuͤß geben 1. 2. 3. 4. zeh-
len/ dieſe vier Zahlen addiren/ ſubtrahiren/
multipliciren/ und dividiren kan ein Kind
von 3. Jahren begreiffen. Nun beziehen ſich
alle myſteria Arithmetices auff ſo geringe
und ſchlechte fundamenta, und koͤnnen dar-
aus deduciret werden: Gleichwohl weil
denen Menſchen die Muͤhe und Gedult man-
gelt/ ihren Verſtand ſelbſt wuͤrcken zu laſſen/
hilfft ihnen der Rechenmeiſter/ und zeigt
ihnen einige Vortheil und Handgriffe/ durch
das einmahl eins/ die Logorythmos, die
Algebram u. ſ. w.


39. Ja/ ſprichſt du/ das iſt eben/ was ich
verlange/ ich wolte gerne die Logorythmos
wiſſen und die Algebram koͤnnen/ durch wel-
che ich alles demonſtriren koͤnte/ und war-
umb iſt kein Gelehrter/ der ſo viel Chriſtliche
Liebe erwieſe/ und ſolche Handgriffe anderen
Gelehrten zum beſten ausrechnete.


40. Aber du haſt vergeſſen/ daß ich oben
allbereit erwieſen habe/ daß man durch die
Algebram propriè dictam andere Warhei-
Nten
[194]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
ten/ als die ſich auff die qvantitates beziehen/
nicht ausrechnen koͤnne.


41. Ja was hilfft es dich/ daß ſo viel Ge-
lehrte ſolche Handgriffe in denen diſciplinis,
fuͤrnehmlich aber in practicis verfertigt ha-
ben. Denn es iſt daran kein Mangel/ ſon-
dern du haſt derer mehr als du brauchſt. Wo
weiſt du aber/ welches die rechten ſeyn.


42. Jch mercke wohl/ daß du urgireſt/
daß dir es eben daran mangele/ weil du keine
gewiſſe general Handgriffe haͤtteſt/ nach
welcher du die demonſtrationes in denen
ſpecial diſciplinen abmeſſen koͤnteſt/ und deß-
wegen ſuchſt du dieſelben mit ſo groſſer Muͤ-
he und Arbeit.


43. Mich dauret deines elenden Zuſtan-
des/ der ja ſo erbaͤrmlich iſt/ als deſſen/ der
ſein Pferd ſuchte/ und drauff ſaſſe. Du ar-
mer Menſch/ du ſuchſt die regulas demon-
ſtrandi
auſſer dir/ beymAriſtotele, Car-
teſio, Gaſſendo, Malebranche, \&c. \&c.

und ſo lange du ſie nicht bey dir ſelbſten ſuchſt/
wirſt du ſie nimmermehr finden.


44. Mein ſage mir/ wie wolteſt du es
machen/ wenn 20. Rechenmeiſter unterſchie-
dene und wiederwaͤrtige einmahl eins oder
Logo-
[195]andern unſtreitigen Warheiten.
LogorythmosoderAlgebras geſchrieben haͤt-
ren/ und ein jeder von ihnen ſeine Anhaͤnger
haͤtte/ die dich alle außlachten/ wenn du dich
unterſtehen wolteſt/ das rechte Einmahleins
von dir ſelber zu ſuchen? Jch glaube du wuͤr-
deſt ſie alle lachen laſſen/ und dich gewiß ver-
ſichern/ daß z. e. 3. mahl 8. 24. waͤren/ ob
ſchon alle die andern ſonſt uneinigen Rechen-
meiſter darinnen einig waͤren/ und wieder dich
aſſerirten/ daß 3. mahl 8. 23. außtrage.


45. Nun wohl dann/ ſo laſſe doch auch alle
Philoſophos de demonſtratione ſchreiben/
was ſie wollen/ und das Werck noch ſo bund-
ſcheckigt machen/ und hoͤre mich nur/ ob ich
nicht ad analogiam der unſtreitigen verita-
tum arithmeticarum
die Regulas demon-
ſtrandi
bey dir erwecken kan.


46. Demonſtrirenicht/ eher du ſelbſt
weiſt/ was du
demonſtriren willſt/ oder die
Sache ſelbſt recht wohl verſteheſt. Denn
wuͤrdeſt du mich nicht auslachen/ wenn ich die
ſpecies ſimplices arithmetices nicht wuͤſte/
oder wenn ich ſchon dieſe perfect kennete/
haͤtte aber die Algebram nicht wohl begrif-
fen/ und ich wolte mich doch unterſtehen/ dir
N 2die
[196]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
die Algebram zu lehren/ weil ſie ex ſpecie-
bus ſimplicisſimis
kan hergeleitet werden.


47. Nun verſteheſt du aber die Sache
ſelbſt nicht wohl/ wenn du nicht weiſt/ wie
dieſelbige mit dem
primo principioin dei-
ner Vernunfft
connectirt iſt/ ob es gleich
par hazard kom̃en kan/ daß die Sache wahr
iſt/ z. e. wenn einer ſagt 3. mahl 777. ſey 2331.
und hat es bloß von hoͤren ſagen.


48. Du kanſt die Sache nicht vor con-
nex
halten mit dem primo principio,wenn
du nicht alle Gliedergen/ die dazwiſchen
ſeyn/ kenneſt/ und auch weiſt wie dieſelbi-
gen aneinander haͤngen
/ z. e. du weiſt nicht
daß 3. mahl 777. 2331. außtraͤgt/ wenn du nicht
weiſt daß 3. mahl 700. 2100. mache/ daß drey-
mahl 70. 210. außtrage/ daß 3. mahl 7. 21.
mache/ und daß alle dieſe Sachen eben ſo ge-
wiß miteinander vereinigt ſeyn/ als wenn ich
ſage 2. mahl 1. iſt 2. oder 1. mahl 2. iſt 2. oder
1. und 1. iſt 2.


49. Dannenhero weil wir oben erwehnet
haben/ daß die ideæ und definitiones eins
ſeyn/ und alſo folglich bey jeder demonſtra-
tion
ich wiſſen muß/ wie eine definition mit
der andern verknuͤpfft ſey/ ſo muß ich mich ge-
wiß
[197]andern unſtreitigen Warh.
wiß verſichern/ daß ich die Warheit von keiner
propoſition begreiffe/ wenn ich nicht weiß/
daß das ſubjectum mit dem prædicato ſo ge-
wiß vereinigt ſey/ als 3. mahl 70. mit 210.


50. Dieſes kan ich aber nicht wiſſen/ wenn
ich nicht das ſubjectum und prædicatum
zu beſchreiben weiß. Und die definitiones
ſubjecti
und prædicati weiß ich wiederum
nicht/ wenn ich nicht verſtehe und verſichert
bin/ was fuͤr eine idee durch jedes Wort/
das ich in der definition des ſubjecti und
prædicati gebraucht habe/ geruͤhret werde.


51. Und wenn ich befinde/ daß dieſe idee
noch mit einer andern connectirt, und in ihrer
definition noch nicht den Ring (C) beruͤhret/
oder mir die ultimam abſtractionem, die
ich nicht weiter eintheilen kan/ vorſtellet/ ſo
muß ich dieſelbigen/ vermittelſt neuer idea-
rum
oder definitionum ſo lange ſuchen/ biß
ich dahin gelange.


52. Wenn dir das Gleichnuͤß exarithme-
ticis
zu dunckel iſt/ ſo brauche ein anders à
computatione graduum
z. e. wenn du er-
weiſen willſt/ daß Titius und Sempronius
in gradu 8. lineæ collateralis æqvalis vel
inæqvalis
mit einander verwandt waͤren \&c.


N 353. Die-
[198]Das 7. Hauptſtuͤck von denen

53. Dieweil aber es offte geſchieht/ daß ein
Menſch in dieſer Pruͤffung ſich ſelbſt hinter ge-
het/ gleichwie es wohl geſchehen kan/ daß ein
guter Rechenmeiſter ein Exempel unrecht
rechnet/ ob er es ſchon 2. oder 3. mahl uͤberſe-
hen/ ſo iſt kein beſſer Mittel/ als daß du dich
wohl probireſt/ ob deine demonſtration
richtig ſey.


54. Gleichwie nun in der arithmetic un-
ter allen Proben die beſte iſt/ und die faſt
ohnmoͤglich truͤgen kan/ wenn ihrer zwey oder
dreye ein Exempel außrechnen/ und die Sum-
me gegeneinander halten/ alſo iſt auch die ſi-
cherſte Probe in der demonſtration, weñ ein
Menſch mit andern der demonſtration nicht
unerfahren/ die ſeinige conferiret/ und wenn
ihm dieſelbigen eines Jrrthums beſchuldigen/
den er nicht alsbald benehmen kan/ wieder
von fornen mit ihnen anfaͤngt/ biß die Sum̃e
oder die demonſtratio bey allen dreyen
uͤbereinſtimmet.


55. Haſt du es nun bey dir ſo weit gebracht/
ſo darffſt du keine Regeln/ dieſe deine Wiſſen-
ſchafften in andern zu demonſtriren/ ſondern
du weiſeſt ihm nur und erzehleſt ihm/ wie die
ideæ bey dir connectiret ſeyn. Aber der
gemei-
[199]andern unſtreitigen Warheiten.
gemeinen Jrrthuͤmer halber reflectire nur
auff dieſe wenige Anmerckungen.


56. Hat derjenige/ den du etwas demon-
ſtri
ren willſt/ eine wiedrige Meinung von
der Sache/ laß ihn dir dieſelbe nur herſagen
und weiſen/ wie er dieideasunddefinitiones
miteinanderconnectiret/ ſo wirſt du gar
leichte den Fehler ſpuͤren/ und ihm weiſen koͤn-
nen/ daß er eine falſche ideé (die er nicht ſelb-
ſten gewuͤrckt/ ſondern von einem andern fuͤr
wahr angenommen) fuͤr eine wahre paßiren
laſſen/ indem er ſelbſt begreiffen wird/ daß die-
ſe mit andern nicht connectiret.


57. Aber binde ihn/ wenn er dir ſeine ideas
mit definitionibus erklaͤhret/ nicht an die
Worte
/ wormit du ſonſten gegen andere dieſe
ideam zubeſchreiben gewohnet wareſt/ wenn
du nur gewiß biſt/ daß ihr in denen ideis ſelbſt
einig ſeyd/ z. e. was verſchlaͤgt dir es/ ob dir der
andere ſeine Rechnung mit Rechenpfennigen
zeiget/ oder mit Ziffern/ ob er V. oder 5. IX.
oder 9. ſchreibet/ ob er in der computation
ſeiner Verwandſchafft ſeinen Vater Titium
oder Sempronium nennet.


58. Jſt ihm aber die Sache/ die du ihn de-
monſtri
ren willſt/ unbekant/ ſo laß dich nicht
N 4begnuͤ-
[200]Das 7. Hauptſtuͤck von denen
begnuͤgen/ daß du ihm nur die definition des
ſubjecti und prædicati giebſt/ und er dieſel-
ben wahr zu ſeyn glaͤubet/ ſondern du muſt
ihm dieſe definitiones ſo lange reſolviren/
biß du ihm eine bekanteideedamit ruͤh-
reſt
/ und dieſelben ſo anhaͤngeſt/ daß ihm nicht
der geringſte Zweiffel uͤbrig bleibt/ z. e. es iſt
nicht gnung/ wenn ich ſpreche: Titius und
Cajus ſind verwandt in gradu qvarto lineæ
æqvalis,
denn ihre Vaͤter wahren in gradu
tertio,
wenn der andere nicht weiß/ ob dieſe
letzte aſſertio wahr ſey.


59. Haſt du ihm aber einmahl eine bekante
idee geruͤhret/ ſo darffſt du nicht eben von
derſelben biß zu der erſten gehen
/ weil die
Sache ſchon ſo gut/ als demonſtrirt iſt/ z. e.
wenn du ſagſt/ des Titii Großvater ſey Mæ-
vius
geweſen/ und des Caji Großvater Sem-
pronius,
und der andere weiß ſchon/ daß Mæ-
vius
und Sempronius Geſchwiſter Kinder
geweſen/ ſo darffſt du ihn nicht eben biß auff
des Mævii und Sempronii Großvater als
communem ſtipitem fuͤhren.


60. Jn uͤbrigen muſt du aus dem erſten
Hauptſtuͤck hieher appliciren/ daß du in de-
monſtrationibus
nicht hoͤher geheſt/ als es
nuͤtze
[201]andern unſtreitigen Warh.
nuͤtze iſt/ oder Sachen demonſtriren willſt/
die nichts nuͤtze ſeyn/ z. e. was nuͤtzt es/ daß
ich einen Scherff in 100000. Theilgen theile/
oder daß ich eine Zahl von 40. Ellen lang aus-
ſpreche.


61. Letzlichen/ ſo huͤte dich deſto mehr/ je
oͤffter dawieder angeſtoſſen wird/ daß du nichts
demonſtriren wolleſt/ was nichtdemon-
ſtri
ret werden kan. Denn es iſt eben ſo
laͤcherlich/ als weñ du außrechnen wolteſt/ wie
weit ein jeder von einer Roſen rieche/ wenn
ihrer 17. in der Stube ſeyn/ oder wie nahe
Cajus und ſein Hund mit einander verwand
waͤren.


62. Siehe/ dieſes iſt meine gantze Wiſſen-
ſchafft de demonſtratione. Und ſie mag
dir ſo liederlich vorkommen als ſie will/ weil du
lauter gemeine Dinge darinnen antriffſt/ dar-
an niemand zweiffelt/ und nichts von denen
gewohnten ſubtilitaͤten darinnen findeſt/ ſo
ſtehet doch augenſcheinlich zuerweiſen/ daß ich
mit dieſer Einfallt weiter kommen will/ als
du mit deinen ſubtilitaͤten/ ja dieſen Weg
ſind alle Gelehrten gegangen/ die ſich auf Ra-
tionem \& Experientiam
gegruͤndet und noch
gruͤnden.


N 563. Alſo
[202]Das 8. Hauptſt. von denen erſten

63. Alſo darffſt du dir auch kuͤnfftig/ ſo
wohl in dieſen parte generali, als in denen
ſpecialibus, nichts neues verſprechen/ ſon-
dern was nun folgen wird/ ſind nichts als Con-
cluſiones
aus dieſen erſten 7. Capiteln.


Das 8. Hauptſtuͤck.
Von denen erſten und andern
unſtreitigen Unwarheiten.


Jnnhalt.


Unwarheit oder das Falſche n. 1. Primum principium die-
ſelbe zuerkennen n.2. die andern Unwarheiten/ n. 3.
Oſtenſio
und Demonſtratio derſelben n.4. Warum
die doctrin de falſo ſo kurtz ſey n.5. Etliche Anmer-
ckungen n. 6. Die Erkaͤntnuͤß des Wahren g[i]ebt die
Erkaͤntnuͤß des Falſchen/ aber das Wahre und Falſche
iſt dennoch unterſchieden n.7. 8. 9. 10. Ein anders iſt
wahr oder falſch ſeyn/ ein anders das Wahre oder
Falſche erkennen. n. 11. 12. 13. Die Unwarheit iſt gar
nichts. n. 14. Viel vernuͤnfftige und ſonſt kluge Men-
ſchen halten nichts fuͤr etwas n. 15. 16. Ein anders iſt;
begreiffen daß etwas falſch ſey/ ein anders das Falſche
begreiffen n. 17. 18. 19. Non entis nulla ſunt prædicata
n.
20. 21. Wer das Falſche erkennet/ erkennet darumb
nicht eben das Wahre. n. 22. 23. 24. 25. Nothwendig-
keit dieſer Anmerckung n. 26. Das Falſche wird da-
durch nicht erkennet/ wenn man die connexion eines
Satzes mit dem primo principio nicht begreiffet n. 27.
28. 29. 30. Die demonſtration einer Unwarheit ſoll
zufoͤrderſt dem irrenden geſchehen n. 31. Vier Anmer-
ckungen hieruͤber n. 32. 33. 34. 35. und derer Nutzen
[n.] 36.



[203]und andern unſtreitigen Unwarh.

1.


DEr Warheit iſt die Unwarheit entge-
gen geſetzt/ oder das Falſche/ von deſſen
Eintheilung und Beſchreibung wir allbe-
reit oben in 5. Capitel geredet haben.


2. Das primum principium die unſtreiti-
gen Unwarheiten zuerkennen/ haben wir
gleichfals in 6. Capitel n. 20. 26. und 100. mit
gewieſen.


3. So iſt demnach auch leichte zuermeſſen/
daß die andern unſtreitigen Unwarheiten
diejenigen ſeyn/ wenn ich gewiß verſichert bin/
daß eine aſſertion an die erſten principia co-
gnoſcendarum veritatum
nicht gehangen
werden koͤnne/ ſondern denenſelben ſchnur-
ſtracks zu wiederſey.


4. Und braucht alſo in anſehen meiner die
Sache keines fernern Beweiſes/ wenn ich a-
ber einen andern die falſchen Meinungen/ die
er heget/ zu erkennen geben will/ muß ſolches
gleichfals vel per oſtenſionem geſchehen/ vel
per demonſtrationem,
daß die Sache ohnmoͤg-
lich mit dem Ring (B) oder (C) verknuͤpfft
werden koͤnne/ alles nach Anleitung des vor-
hergehenden Capitels.


5. Die-
[204]Das 8. Hauptſt. von denen erſten

5. Dieſes iſt alſo alles dasjenige/ was wir
von denen erſten und andern Unwarheiten fuͤr
Grund-Lehren zu geben haben/ denn wer die
Warheit erkennet/ erkennet auch die Un-
warheit/ oder das Falſche.


6. Aber deßwegen laſſe dich nicht verdrieſ-
ſen/ daß wir ein abſonderlich Capitel von de-
nen Unwarheiten gemacht haben/ denn wir
wollen aus der bißherigen Lehre etliche noͤthi-
ge Anmerckungen hieher ſetzen/ theils in dem/
was wir oben geſetzt haben/ uns deſto mehr zu
befeſtigen/ theils fuͤr gemeine Jrrthuͤmern
uns deſto eher zu huͤten.


7. Jch habe geſagt/ wer das Wahre erken-
net/ erkennet auch das Falſche/ aber huͤte dich/
daß du nicht das Wahre und Falſche mit
einander vermiſcheſt.
Jch will dir ein E-
xempel geben: wer den rechten einigen Weg
zu einer Stadt erkennet/ der erkennet zugleich/
daß alle andere Wege Abwege ſeyn/ aber deß-
wegen iſt der rechte Weg und der Abweg nicht
eins.


8. Ja ſprichſt du/ daß iſt ja aber gleichwohl
wahr/ daß das Falſche falſch iſt/ und alſo iſt
doch etwas falſch und wahr zugleich.


9. Aber du irreſt dich ſehr/ denn es folget
nur
[205]und andern unſtreitigen Unwarh.
nur daraus/ daß du eine wahre Erkaͤntnuͤß
von eines andern ſeiner falſchen Meinung
haſt/ nicht aber daß das Falſche wahr/ oder das
Wahre falſch ſey.


10. Die Erkaͤntnuͤß des rechten Weges
verſichert dich/ daß der Abweg ein Abweg ſey/
ob ihn gleich der andere vor den rechten Weg
ausgiebet/ alleine deß wegen iſt der Abweg und
der Weg nicht eins.


11. Zu mehrerer Erleuterung kanſt du ei-
nen Unterſcheid machen unter wahr oder
falſch ſeyn
/ und unter dem erkennen/ daß
etwas wahr oder falſch ſey: Es iſt allezeit wahr/
daß eine circulatio ſangvinis ſey/ und das
Gegemheil allezeit falſch/ ob gleich fuͤr einiger
Zeit jenes fuͤr falſch und dieſes fuͤr wahr gehal-
ten worden.


12. Das wahr ſein inferirt die habitu-
dinem
derer euſerlichen Dinge und der Ge-
dancken eines Menſchen mit dem Verſtande/
der allen Menſchen gegeben iſt.


13. Wenn nun dieſe habitudo von jed-
weden in actum deduciret wird/ ſo erkennet
man auch das wahre.


14. Und alſo iſt eigentlich die Warheit o-
der Unwarheit eben ſo unterſchieden/ als ens
reale
[206]Das 8. Hauptſt. von denen erſten
reale atqve actuale, \& non ens. Denn die
Warheit iſt warhafftig etwas/ und die
Unwarheit iſt gar nichts.


15. Ey ſprichſt du/ wie kan das ſeyn? Wenn
die Unwarheit oder das Falſche gar nichts waͤ-
re/ ſo wuͤrden ja ſo viel kluge Leute das Fal-
ſche nicht einen Augenblick fuͤr wahr halten
koͤnnen/ und alſo waͤre mein Tage kein Jrr-
thum
in der Welt/ als unter unmuͤndigen
Kindern oder offenbahren Narren. Denn
wer wolte ſich/ zum Exempel/ bereden/ daß
er einen Menſchen ſaͤhe/ wenn kein Menſch
da waͤre/ oder hundert Thaler bekommen
haͤtte/ wenn ihm der andere eine leere Hand
gegeben.


16. Mein lieber Freund/ dieſes iſt alles
gar wohl moͤglich. Denn ich will dir nicht zu
Gemuͤthe fuͤhren/ daß man groſſe Leute bere-
den koͤnne/ daß ein Menſch gegenwaͤrtig ſey/
ob ſie gleich nichts ſehen/ ja daß in gemeinen
Leben die kluͤgſten Leute oͤffters eiteln Wind
fuͤr baar Geld annehmen/ giebt es doch viel
gelehrte Gecken/ die ſich feſte bereden/ ſie haͤt-
ten einen conceptum de nibilo oder non ente,
und dieſes waͤre wuͤrcklich in ihrer Vernunfft/
und nennen es deßwegen ens rationis im-
posſibile.


17. Denn
[207]und andern unſtreitigen Unwarh.

17. Denn eben dieſe Leute confundiren
dieſe zwey phraſes mit einander: begreiffen
daß etwas falſch ſey
/ und das Falſche be-
greiffen.


18. Jenes iſt nichts anders/ als begreiffen/
daß ein Subjectum und Prædicatum, die
beyde unter die Entia gehoͤren/ ſich nicht zu-
ſammen ſchicken/ und mit einander vereiniget
werden koͤnnen/ als z. e. die propoſition
Holtz iſt Eiſen vel vice verſa erkennet der
Verſtand/ daß ſie falſch ſey/ aber er hat deß-
wegen keinen concept de non ente, weil ſo
wohl Holtz und Eiſen etwas iſt.


19. Dieſes aber heiſt zwey terminos, die
ſich nicht zuſammen ſchicken als vereinigt be-
greiffen wollen/ oder als wenn ſie ein Subje-
ctum
oder prædicatum abgeben koͤnten/ als
z. e. ein hoͤltzern Eiſen/ Homo irrationalis,
\&c.


20. Aber dieſer Fehler iſt gar leichte zu e-
viti
ren/ wenn man nur bedencket/ was uͤberal
gelehret wird: Non entis nulla ſunt prædi-
cata.
Deme beygefuͤgt werden kan/ daß von
allen dem/ was man gedencket/ etwas prædi-
ci
ret werden kan.


21. Will dich aber ein Sophiſte mace-
riren/
[208]Das 8. Hauptſt. von denen erſtrn
riren/ und viel Exempel geben/ daß man von
einem non ente etwas prædiciren koͤnne/ ſo
darffſt du dir eben den Kopff nicht druͤber zu-
brechen/ ſondern du kanſt mit weniger atten-
tion
befinden/ daß alles da hinaus laͤufft/ als
wenn man in arithmeticis zu ſagen pflegt/
1. mahl 0. iſt 0. oder 0. und 0. iſt 0.


22. Aber wir muͤſſen weiter gehen/ wenn
ich geſagt habe/ daß wer das Wahre erkenne/
erkenne auch das Falſche/ ſo muſt du dich fer-
ner huͤten/ daß du nicht ſchlieſſeſt/ derjenige/
der das Falſche erkennet/ wiſſe auch das
Wahre.
Denn es iſt unter dieſen beyden ein
groſſer Unterſcheid.


23. Wenn ich den einigen rechten Weg
weiß/ ſo weiß ich/ daß die andern alle Abwege
ſeyn/ und wenn ihrer hundert waͤren; Aber
wenn ich unter hundert Wegen gleich erken-
ne/ daß ihrer 98. Abwege ſeyn/ ſo weiß ich deß-
halben doch nicht/ welches unter denen uͤbri-
gen zweyen der rechte Weg ſey/ geſchweige
denn/ wenn ich unter denen hundert Wegen
nur einen einigen Abweg erkennete.


24. Und alſo iſt es auch mit der Warheit
beſchaffen/ als welche nur eine iſt/ da hingegen
tauſend Unwarheiten ſind.


25. Jch
[209]und andern unſtreitigen Unwarh.

25. Jch geſchweige/ daß ohne dem in den
Schulen inculciret wird/ daß man die pro-
poſitiones univerſales affirmantes
nicht
ſimpliciter convertiren ſolle.


26. Doch darffſt du dieſe Erinnerung nicht
fuͤr vergebens halten/ denn es iſt nichts ge-
meiner
/ als daß Gelehrte in ihren Streit-
Schrifften den Hauptſchnitzer wieder die ge-
dachte Regel de converſione faſt taͤglich be-
gehen/ und vermeinen ein groſſes erjaget zu
haben/ wenn ſie nur erweiſen/ daß ihr Ge-
gner unrecht habe.


27. Jch habe hiernechſt oben erwehnet/
daß in Erkaͤntnuͤß unſtreitiger Unwarheiten/
ich gewiß verſichert ſeyn muͤſte/ daß dieſel-
bigen mit dem
primo principionicht uͤber-
einkaͤmen.
So muß ich nun ebenmaͤßig nicht
alſo ſchlieſſen/ daß ich unſtreitige Unwarhei-
ten ſo dann alsbald erkennete/ wenn ich nicht
gewiß verſichert
waͤre/ daß dieſelbigen
mit dem
primo principiouͤbereinkaͤmen.
Denn unter dieſen beyden iſt ein groſſer Un-
terſcheid.


28. Z. e. ich weiß gewiß/ daß ein Loͤwe kein
Menſch ſeyn koͤnne/ daß ein Triangel kein
Viereck ſey. Aber ich bin nicht gewiß verſi-
Ochert
[210]Das 8. Hauptſt. von denen erſten
chert/ ob in denen Beſtien ein intrinſecum
movens
ſey oder nicht.


29. Und alſo erkenne ich/ daß es eine Un-
warheit ſey/ wenn jemand jenes bejahen wol-
te/ aber von dieſen kan ich keines fuͤr wahr oder
falſch halten/ ſondern fuͤr unbekant.


30. Ebenmaͤßig iſt wohl wahr/ qvod o-
mnis cognitio clara \& diſtincta ſit vera,

aber es iſt falſch/ qvod omnis cognitio non
clara \& non diſtincta ſit falſa.


31. Endlich habe ich auch erwehnet/ daß die
demonſtratio falſitatis zufoͤrderſt dem-
jenigen geſchehen ſolle/ der dieſelbige heger.

Woraus unterſchiedene Anmerckungen zu-
nehmen ſind.


32. (1) Daß man die demonſtrationes
bey denen nicht von noͤthen hat/ die allbereit
die Warheit erkennen.


33. (2) Daß in anſehen derer/ die die fun-
damenta
der Warheit gar nicht verſtehen/
ſondern nach denen præjudiciis urtheilen/
keine Falſchheit demonſtriren koͤnne/ ehe man
ihnen die fundamenta demonſtrandi beyge-
bracht habe.


34. (3) Daß ſich keiner ruͤhmen koͤnne/
er habe den andern eine Unwarheit de-
mon-
[211]und andern unſtreitigen Unwarh.
monſtriret/ wenn dieſer ſolches nicht er-
kenne.


35. (4) Daß wenn man deutlich erken-
net/ daß dem andern an Erkaͤntnuͤß ſeines Jr-
thums ſein eigener Wille hindert/ man ſich
gar nicht weiter mit ihm einlaſſen ſolle.


36. Wie viel unnoͤthig Gezaͤncke wuͤrde
nach bleiben/ wenn man wieder dieſe Anmer-
ckungen nicht taͤglich anſtieſſe.


Das 9. Hauptſtuͤck.
Von denen unerkanten
Dingen. De incognito.


Jnnhalt.


Das unerkante n. 1. wird auff zweyerley Art genommen n. 2.
I.
in anſehen aller Menſchen n. 3. bedeutet es Dinge/
n. 4. von welchen der Verſtand nicht weiß/ ob ſie wahr
oder falſch ſind. n. 5. weil er nicht weiß was ſie ſeyn/
n. 6. und ſind alſo mitten inne. n. 7. Hieher gehoͤret
die natuͤrliche Wiſſenſchafft von GOtt/ n. 8. 9. 10. 11.
Solche Dinge ſind Goͤttlich und uͤbernatuͤrlich/ n. 12.
Noch unbekanter aber ſind dem Menſchlichen Ver-
ſtande die Engel/ als von welchen er gar nicht weiß/ ob
ſie ſeyn/ n. 13. 14. 15. 16. 17. und kan alſo denenſelben
nicht einmahl einen Nahmen geben n. 18. noch præter-
naturale à ſupernaturali
unterſcheiden n. 19. ſondern
uͤberlaͤſt beydes dem uͤbernatuͤrlichen Licht n. 20. II.
in anſehen etlicher Menſchen n. 21. welches entweder
O 2an
[212]Das 9. Hauptſtuͤck
an ſich ſelbſt wahr oder falſch iſt/ n. 22. 23. oder keines
von beyden n. 24. aber es iſt doch ein natuͤrlich Ding/
n. 25. Das uͤbernatuͤrliche und natuͤrliche Unerkandte
iſt zwiſchen dem Wahren und Falſchen n. 26. aber je-
nes in puncto und unbeweglich n. 27. Dieſes in lati-
tudine
und beweglich n. 28. nehmlich entweder war-
ſcheinlich oder unwarſcheinlich n. 29.


1.


WJr haben bißher zum oͤfftern unerkan-
ter
oder unbekante Dinge erwehnet/
auch dieſelben allbereit oben in 5. Capitel n.
38. ſeq.
uͤberhaupt beſchrieben und gezeiget/
aber es iſt nun Zeit/ daß wir dieſelben etwas
genauer betrachten.


2. Das unerkante wird auff zweyerley
Art genennet/ entweder in anſehen der ge-
ſambten
Menſchlichen Vernunfft/ oder in
Betrachtung etlicher Menſchen.


3. Jn der erſten Bedeutung begreifft es
ſolche Dinge/ die alle vernuͤnfftige Menſchen/
ſo ferne ihr Verſtand als ein natuͤrlich Liecht
betrachtet wird/ nicht wiſſen/ noch wiſſen koͤn-
nen/ ob ſie wahr oder falſch ſeyn.


4. Jch ſage es waͤren Dinge/ und alſo ſind
ſie etwas. Denn wenn ſie gar nichts waͤren/
ſo wuͤſte der Menſch gewiß/ daß ſie hauptſaͤch-
lich
[213]von denen unerkanten Dingen.
lich falſch waͤren/ weil das Falſch/ wie wir ge-
ſagt haben in der That nichts iſt.


5. Und gleichwohl ſage ich doch/ daß der
Verſtand nicht wiſſen koͤnne/ ob ſie wahr
oder falſch waͤren;
Aber wie koͤmmt dieſes
mit dem vorhergehenden uͤberein. Weiß der
Menſch gewiß/ daß ſie etwas ſeyn/ ſo weiß
er auch gewiß/ daß ſie wahr ſeyn.


6. Alleine hierauff iſt leichte zu antworten;
Dieſes weiß zwar der Menſchliche Verſtand
wohl/ daß ſie etwas ſeyn/ aber was ſie ſeyn/
das kan er nicht wiſſen.


7. Drum iſt zwiſchen dem wahren/ fal-
ſchen
/ und den unerkanten Dingen ein ſol-
cher Unterſcheid/ als zwiſchen dem nothwen-
digen/ unmoͤglichen
/ und moͤglichen. Das
iſt/ ſie ſind gleichſam zwiſchen den Wahren
und Falſchen als zweyen einander hauptſaͤch-
lich entgegen geſetzten mitten inne.


8. Daß ſolche unerkante Dinge wuͤrcklich
ſind/ oder daß es eine dergleichen Art giebet/
weiß der Menſchliche Verſtand gewiß. Denn
er weiß ja/ daß ein GOtt iſt/ nehmlich eine
cauſa prima, von welcher alle Dinge/ die er
vermittelſt der Sinnen gewiß begreifft/ her-
kommen/ und welche dieſelbe ſtets waͤhrend er-
O 3haͤlt/
[214]Das 9. Hauptſtuͤck
haͤlt/ wie zu ſeiner Zeit deutlich erklaͤhret wer-
den ſoll.


9. Aber er erkennet auch zugleich/ daß die-
ſer concept von Gott nothwendig ſehr con-
fus
und dunckel ſeyn muͤſſe/ und mehr auff
exiſtentiam Dei, als auff deſſen Weſen ziele.


10. Ja wenn er nur aus dieſen confu-
ſen conceptu exiſtentiæ
den Unterſchied
zwiſchen ſeinen Verſtand und dieſer cauſa
prima
genau erweget/ ſo erkennet er zugleich/
daß es unmoͤglich ſey das Weſen GOttes
mit dem Verſtande
zu begreiffen/ und daß
alles dasjenige/ wenn er ſeinen Verſtand
pouſſiret/ daß er mehr Warheiten von Got-
tes Weſen erforſchen ſolle dahinaus lauffe/ daß
er zwar unterſchiedenes ſagen kan/ was Gott
nicht ſey/ aber niemahls weiter/ was GOtt
ſey.


11. Mit einen Wort/ er ſiehet/ daß er durch
alle dergleichen Redensarten keine einige Un-
warheit erfunden/ ſondern daß dieſelbige
nichts anders ſind als Dinge/ die ſchon in den
conceptu de exiſtentia Dei ſtacken.


12. Dannenhero folget nun unſtreitig/ daß
der Menſchliche Verſtand die unbekanten
Dinge von dieſer Claſſe nicht deutlicher nen-
nen
[215]von denen unerkanten Dingen.
nen koͤnne/ als uͤbernatuͤrliche und Goͤttliche
Dinge
/ gleichwie alles Falſche wieder na-
tuͤrlich
iſt.


13. Alleine nechſt dieſer Art iſt noch eine
andere Art von Sachen/ die zwiſchen denen
Goͤttlichen und Menſchlichen gleichſam zwi-
ſchen inne ſind/ von denen die Vernunfft gar
nichts weiß/ ob ſie ſeyn oder was ſie ſeyn/ ſon-
dern was ſie davon hat/ iſt alles einer Offen-
bahrung zuzuſchreiben.


14. Dieſe nennen die Chriſten Engel/ die
Heyden intelligentias, dæmones, faunos,
Satyros \&c.


15. Und alſo ſind dieſe gantz offenbahr von
denen vorigen unterſchieden/ daß die Ver-
nunfft nicht einmahl von der exiſtenz dieſer
Dinge etwas unſtreitig wahres weiß/ oder
wiſſen kan/ ob er gleich ſo viel gewiß iſt/ daß
ihre exiſtenzmoͤglich ſey.


16. Denn ich moͤchte das Argument wohl
hoͤren/ durch welches ein Menſch aus der
bloſſen Vernunfftconvinciret werden
te/ daß Engel waͤren/ wenn er ſich nicht auff
eine uͤbernatuͤrliche revelation oder Menſch-
liche autoritaͤt gruͤndet/ aber beydes von dieſen
macht keine philoſophiſche unſtreitige War-
heit.


O 417. Und
[216]Das 9. Hauptſtuͤck

17. Und was die Heyden davon gewuſt
haben/ haben ſie alles aus einer uͤbernatuͤrli-
chen Wiſſenſchafft haben koͤnnen/ oder ſie ha-
ben ſich Menſchliche autoritaͤt darzu bereden
laſſen.


18. So kan demnach die Vernunfft dieſen
Dingen nicht einmahl einen Nahmen geben/
weil ſie gar nichts davon weiß.


19. Und ob ſchon etliche Gelehrte viel von
den Unterſcheid inter præternaturalia \& ſu-
pernaturalia
zuſagen wiſſen/ ſo kan doch die
Menſchliche Vernunfft/ wenn ſie ſich ſelbſt
gelaſſen iſt/ denſelben nicht verſtehen.


20. Sondern ſie thut an beſten/ daß ſie alle
dieſe Dinge dem uͤbernatuͤrlichē Licht uͤberlaͤſt.


21. Was ferner die andere Bedeutun-
gen unerkanter Dinge anlanget/ die etliche
Menſchen allein betreffen/ ſo iſt kein Zweif-
fel/ daß dieſelbige anderen Menſchen bekant/
das iſt/ von ihnen fuͤr wahr oder falſch gehal-
ten werden muͤſſen.


22. Dieweil aber aus der Meinung etli-
cher Menſchen/ wie wir offters erwehnet/ das
Wahre und Falſche ſelbſt nicht zu urtheilen
iſt/ ſondern nach dem Verſtande aller Men-
ſchen muß gemeſſen werden/ alſo iſt auch dieſes
uner-
[217]von denen unerkanten Dingen.
unerkanten zwar manchmahl/ aber nicht alle-
zeit wahr oder falſch.


23. Wahr oder falſch iſt es/ wenn es an-
dern Menſchen/ denen es zuvor unbekant iſt/
kan wahr oder falſch zu ſeyn erwieſen werden/
und in dieſen Gebrauch iſt wegen der unvoll-
kommenen Natur des Menſchen alles Wah-
re
oder Falſche erſtlich unerkant.


24. Es iſt weder wahr noch falſch/ wenn
keiner dem andern ſolches nach Anleitung der
obigen Regeln erweiſen kan/ z. e. daß die Erde
herum lauffe/ daß eins/ zwey/ drey oder vier
Elemente ſeyn u. ſ. w.


25. Wir koͤnnen dieſes zu deſto beſſern Un-
terſcheid des unbekanten aus der erſten Claſſe/
nehmlich des uͤbernatuͤrlichen/ ein natuͤrli-
ches unerkantes
nennen.


26. Beyde kommen darinnen uͤberein/
daß ſie gleichſam mitten zwiſchen den Wah-
ren und Falſchen ſeyn.


27. Aber darinnen iſt der Unterſcheid/
daß in uͤber natuͤrlichen Dingen der Verſtand
das unbekante gar nicht bewegen kan/ daß es
dem Wahren oder Falſchen naͤher trete/ und
alſo beſtehet es gleichſam in puncto, und iſt
unbeweglich.


O 528. Aber
[218]Das 10. Hauptſt. von wahrſcheinl.

28. Aber das natuͤrliche Unbekante kan von
dem Menſchlichen Verſtand beweget wer-
den
/ daß es dem Wahren oder Falſchen etwas
naͤher komme/ und alſo hat es eine gar ſenſible
latitudinem.


29. Koͤmmt es dem Wahren naͤher als
dem Falſchen/ ſo heiſt es wahrſcheinlich/ koͤm̃t
es aber den Falſchen naͤher/ ſo heiſt es unwar-
ſcheinlich.
Und dieſe Art verdienet eine viel
genauere Betrachtung.


Das 10. Hauptſtuͤck.
Von wahrſcheinlichen und
unwahrſcheinlichen Dingen/

\& de locis Dialecticis.


Jnnhalt.


Das wahrſcheinliche wird ſo weitlaͤufftig genommen/ daß es
das Wahre und Falſche unter ſich begreifft/ n. 1. 2. 3.
Was ſich nehmlich ein jeder wahr zu ſeyn einbildet n. 4.
Mundus regitur opinionibus n.
5. dieſes Wahrſcheinli-
che gehoͤret zu denen Jrthuͤmern n. 6. Und gehoͤret
hieher nicht. n. 7. Die Lehꝛe von der Wahrſcheinlig-
keit mit dem Gleichnuͤſſe von einer Wage erklaͤret n. 8.
biß 15. Man muß ſich wohl in acht nehmen/ daß man
ſich nicht einbilde/ unerforſchliche Dinge deutlich zu
begreiffen n. 16. oder offenbahrlich wahre fuͤr Unwar-
ſcheinlich n. 17. oder ſehr zweiffelhaffte fuͤr warſchein-
lich halte/ n. 18. Regeln von Erkaͤntnuͤß der Wahr-
ſchein-
[219]und unwahrſcheinlichen Dingen.
ſcheinligkeit n. 19. Man muß zufoͤrderſt ſehen/ ob et-
was wahr oder falſch ſey n. 20. Zwey criteria der Wahr-
ſcheinligkeit n. 21. das I. eines andern Erfahrung n. 22.
der mich nicht betruͤgen will und ſich nicht betrogen hat
n. 23. Nachdem das Vertrauen oder die Furcht zu ihm
groͤſſer iſt/ nachdem koͤmmt mir auch die Sache wahr-
ſcheinlich fuͤr oder nicht n. 24. 25. Hierbey iſt zumer-
cken n. 26. daß Menſchliche autoritaͤt niemahls un-
ſtreitige Warheiten verurſache n. 27. daß das Zeug-
nuͤß der meiſten oder gelehrteſten hier nicht in groſſe
conſideration kommen koͤnne/ n. 28. biß 32. Alte und
neue teſtimonia n. 33. 34. Die Autoritaͤt eines Fuͤr-
ſtens thut bey der Wahrſcheinligkeit nicht viel n. 35.
36. 37. 38. aber die Erkantnuͤß der Menſchen kan hier
guten Nutzen ſchaffen/ n. 39. Die man in der Politic
lernet n. 40. Einem Kuͤnſtler ſoll man in ſeiner Kunſt
Glauben zuſtellen n. 41. 42. Einen ſehenden Zeugen
glaubt man mehr als einen hoͤrenden n. 43. oder der
die Sache von andern gehoͤret hat. n. 44. Was viel
Menſchen/ die mit einander keine Abreden nehmen
koͤnnen zugleich bezeugen/ iſt ſehr wahrſcheinlich n. 45.
46. 47. Wo von alle Scribenten einer Zeit ſtille ſchwei-
gen/ iſt unwahrſcheinlich. n. 48. 49. 50. II. Conceptus
zufaͤlliger Dinge. n. 51. 52. die bey vielen anzutreffen
ſeyn/ machen eine Wahrſcheinligkeit n. 53. und ſind der
propoſitioni univerſali am naͤheſien n. 54. 55. bey we-
nigen aber oder nur einen eine Unwahrſcheinligkeit n.
56. 57. Ob es muͤglich ſey/ daß ein Menſch ideas verè
univerſales
haben koͤnne/ n. 58. ſeq. Unterſcheid zw@-
ſchen denen ideis und conceptibus veroſimilibus n. 59.
biß 69. Anmerckung uͤber den Beweiß der concluſio-
num
in wahrſcheinlichen Sachen n. 70. biß 74. Eine
qvaſi demonſtration n. 75. Regel von gantz unerkan-
ten Dingen n. 76. 77. Nichtigkeit der gemeinen Loco-
rum Dialecticorum. n.
78. 79.



[220]Das 10. Hauptſt. von wahrſcheinl.

1.


DAs Wahrſcheinliche und Unwahr-
ſcheinliche wird entweder von wahren
oder falſchen Sachen/ oder von ſolchen/ die
Zwiſchen den Wahren und Falſchen in Mit-
[t]el ſind/ geſagt.


2. Denn weil die Menſchen ſich nicht alle
[b]efleißigen das Wahre von dem Wahrſchein-
lichen und Falſchen zu unterſcheiden/ kan es
leichte geſchehen/ daß man wahre Dinge nur
fuͤr wahrſcheinlich oder falſch/ Wahrſcheinli-
che
fuͤr wahr oder falſch/ und falſch fuͤr wahr-
ſcheinlich oder wahr haͤlt.


3. Z. e. wenn man ſeinen præceptoribus
zugefallen glaubet/ daß die drey Winckel des
Trinangels zwey gleiche Winckel austragen/
wenn man ſich beredet/ der Menſch koͤnne
nicht in ſich ſelbſt das groͤſte Vergnuͤgen fin-
den/ wenn man behauptet/ es ſey unſtreitig/ o-
der es ſey unmoͤglich/ daß die Erde ſich bewege/
und die Sonne ſtille ſtehe/ wenn man glaubet
daß die Beſtien innerliche Sinne haͤtten/
wenn man ſich beredet/ man muͤſſe die Welt-
weißheit und die heilige Schrifft unter ein-
ander miſchen.


4. Und
[221]und unwahrſcheinlichen Dingen.

4. Und ſolcher Geſtalt waͤre alles dasjeni-
ge wahrſcheinlich/ was ſich ein jeder Menſch/
der keine Grund-Regeln der Warheit weiß/
wahr oder falſch zu ſeyn einbildet/ es moͤge
nun ſonſten mit der gemeinen Vernunfft uͤber-
einkommen oder nicht.


5. Von dieſer Wahrſcheinligkeit redet das
gemeine Sprichwort: Mundus regitur opi-
nionibus.


6. Aber dieſe gehet uns nichts an/ weil
dieſe Meinungen nichts anders ſind/ als Jrr-
thuͤmer
oder doch aus Jrrthuͤmern herge-
leitet
ſind.


7. Wir aber wollen von wahrſcheinlichen
Dingen reden/ bey welchen der Menſche in ſei-
ner Meinung nicht irret/ ſondern der Menſch-
liche Verſtand wohl erkennet/ daß es eine
bloſſe Meinung ſey/ die er zu keiner Ge-
wißheit bringen koͤnne
/ und in deſſen Anſe-
hen unerkant bleibe.


8. Jch habe dieſe Wahrſcheinligkeit in vor-
hergehenden Capitel mit einen beweglichen
punct verglichen/ vielleicht kanſt du dir ſolches
deutlicher einbilden mit einem Zuͤngelgen in
der Wage.


9. Jn Goͤttlichen Dingen ſoll der Menſch-
liche
[222]Das 10. Hauptſt. von wahrſcheinl.
liche Verſtand unbeweglich ſeyn/ und weder
zur rechten noch zur lincken weichen/ weil alle
Bewegung/ die der Menſchliche Verſtand
dißfals fuͤr ſich und ohne dem uͤber natuͤrlichen
Licht thut/ gefaͤhrlich iſt.


10. Aber in natuͤrlichen unerkanten Din-
gen ſoll er ſo viel als moͤglich/ ſich bewegen nach
Anleitung des Gewichts/ das ihm zum Er-
kaͤntnuͤß des Wahren oder Falſchen fuͤhret/
wie das Zuͤngelgen einer Wage in deren ei-
ner Schale nur ein ſchwer Gewichte lieget
/
ſich alsbald nur alleine auff dieſelbige Seite
richtet.


11. Es geſchiehet aber oͤffters/ daß man in
beyde Schalen ungleiche Gewichte leget/
und ſolcher Geſtalt beweget ſich das Zuͤnglein
auff beyden Seiten/ biß es endlich auff der
Seite/ allwo das ſchwerſte Gewichte iſt/ zu
ruhen pfleget/ aber doch lange ſo weit ſich nicht
uͤberleget/ als wenn auff derſelben Seite das
Gewichte nur allein gelegen waͤre.


12. Und wann gleiche Gewichte in beyde
Schalen geleget werden/ ſo beweget ſich das
Zuͤnglein in auffziehen auf beyde Seiten/ biß
es mitten inne ſtehen bleibet.


13. Und waͤre dannenhero eine abſurde
Wage/
[223]und unwahrſcheinlichen Dingen.
Wage/ wenn das Zuͤnglein ſich auff die ande-
re Seite bewegte/ wo kein Gewichte laͤge/ oder
auf der Seite ſtehen bliebe/ wo das leichteſte
laͤge/ oder nicht mitten innen ſtehen bliebe/ weñ
die Gewichte gleich waͤren.


14. Alſo ſoll es auch mit dem Menſchli-
chen Verſtand
beſchaffen ſeyn/ ſiehet er/ daß
er in denen Sachen/ in welchen er die Erkaͤnt-
nuͤß der Warheit ſuchet/ und doch zu keiner
demonſtration gelangen kan/ ſondern auff
beyden Theilen vernuͤnfftige Urſachen findet/
ſo muß er dieſelbige wohl erwegen/ und nach
Beſchaffenheit der Uberwegung auff dieſel-
bige Seite incliniren/ und dieſelbe fuͤr wahr-
ſcheinlich oder dem Wahren naͤher/ die wie-
derwaͤrtige Meinung aber fuͤr unwahr-
ſcheinlich oder den Falſchen naͤher achten.


15. Siehet er aber/ daß ſie gleich ſeyn/ ſo
muß er dafuͤr halten/ daß die Sache weder
unwahrſcheinlich noch wahrſcheinlich ſey/ ſon-
dern unerkant bleibe.


16. Erweget er aber dieſes nicht wohl/
ſondern uͤbereilet ſich/ ſo kan es leichte geſche-
hen/ daß er ſich in Dingen/ die er fuͤr unerkant
halten ſoll/ ſich niemahls zur Ruhe begiebt/ ſon-
dern dieſelbe mehr und mehr auszuforſchen
ſich
[224]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.
ſich angelegen ſeyn laͤſt/ als z. e. die deutliche
Erkaͤntnuͤß und production aller ſubſtan-
tzen.


17. Oder etwas fuͤr unwahrſcheinlich
haͤlt/ das doch gantz offenbahr iſt. Alſo wenn
man jemand fragt: ob man gewiß beweiſen
koͤnne/ daß zwey oder mehr Menſchen in der
Welt waͤren/ deren einer præciſè ſo viel
Haare hat als der andere? wird faſt einjeder/
der die Sache nicht wohl uͤberleget/ heraus
plumpen/ und ſagen/ es ſey ohnmoͤglich/ da er
doch des Gegentheils gar leichte convincirt
werden kan.


18. Oder aber etwas fuͤr wahrſcheinlich
haͤlt/ daß ſehr groſſen Zweiffel noch unter-
worffen iſt/ z. e. wenn man fraget: ob mehr
Augen oder Haare in der Welt ſind/ pflegt
man gemeiniglich dieſes zu behaupten/ weil z. e.
ein Menſch oder Thier nur 2. Augen/ aber
viel 100. oder 1000. Haare hat/ da doch ein
groſſer Zweiffel daran entſtehet/ wenn man be-
dencket/ wie viel millionen Voͤgel/ Fiſche und
andere Thiere in der Welt ſind/ die keine Haa-
re und doch Augen haben.


19. Damit man nun auch in Erkaͤntnuͤß
des Wahrſcheinlichen nicht anſtoſſe/ iſt noͤthig/
daß
[22[225]]und unwahrſcheinlichen Dingen.
daß dißfals gleichmaͤßige Regeln gegeben
werden/ wie in Erkaͤntnuͤß des unſtreitig Wah-
ren und Falſchen.


20. Derowegen muß man zu foͤrderſt in
Betrachtung einer propoſition bedacht
ſeyn/ ob man dieſelbige oder derſelbigen con-
tradictoriam
entweder per modum oſten-
ſionis
oder demonſtrationis obbeſchriebe-
ner maſſen behaupten koͤnne/ denn wenn die-
ſes angehet/ ſo wuͤrde man der Sachen zu we-
nig thun/ wenn man ſie fuͤr wahrſcheinlich oder
unwahrſcheinlich halten wolte/ weil ſie wahr
oder falſch iſt.


21. Will aber dieſes nicht angeben/ ſondern
ich befinde/ daß die Sache nicht unmoͤglich ſey/
ſo muß ich die criteria ſuchen/ die denen eige-
nen ſenſionibus und ideis an naͤchſten kom̃en/
deren das eine ſenſio vel experientia aliena,
das andere aber ein ſolcher eigenerconcept iſt/
der nicht zur definition eines Dinges gehoͤ-
ret/ gleichwohl aber bey etlichen individuis
anzutreffen iſt.


22. Ein Menſch kan ohnmoͤglich/ ich will
nicht ſagen alle individua, ſondern nur alle
Arten der ſubſtantzen zu denen Sinnligkei-
ten hringen/ und wenn er tauſend Jahr lebte/
Paber
[226]Das 10. Hauptſt. von wahrſcheinl.
aber was dem einem Menſchen an Gelegen-
heit abgehet/ das kan ein anderer/ und deſſen
Mangel wieder ein anderer in etwas erſetzen/
und weil der Verſtand des Menſchen ſeinem
Weſen nach bey einem iſt/ wie bey dem andern/
ſo iſt kein Zweiffel nicht/ daß dasjenige/ was
ein anderer durch die
experienznach de-
nen Grund-Regeln erkennet hat/ eben ſo
wahr ſey/ als wenn ich es ſelbſt erfahren
haͤtte.


23. Aber daran ſtoͤſt ſich es gar ſehr/ daß ich
verſichert werde/ ob denn der andere auch
die Sache ſo gruͤndlich erfahren habe/
als
er vorgiebet. Denn es kan gar leichte ſeyn/
daß mich derſelbe mit ſeinen Worten betruͤ-
gen will/
oder daß er ſich ſelbſten aus Unacht-
ſamkeit betrogen hat.


24. Und alſo erkenne ich wohl ſo viel/ daß
dasjenige/ was der andere vorgiebet/ wahr
ſeyn koͤnte/
aber ich habe auch zugleich Urſach
mich zu befahren/ daß es koͤñe nicht war ſeyn.


25. Nachdem nun das Vertrauen oder
die Furcht ſtaͤrcker iſt/ nachdem iſt die Sache
auch warſcheinlich oder unwahrſcheinlich.


26. Alleine ich ſpuͤre wohl/ daß du gerne
wiſſen wolteſt/ nach was fuͤr einer Richtſchnur
du
[227]und unwahrſcheinlichen Dingen.
du dieſes Vertrauen und Furcht abmeſſen
ſolteſt/ damit du nicht das wahrſcheinliche und
unwahrſcheinliche mit einander vermiſcheteſt.


27. Fuͤr allen Dingen muſt du feſte ſetzen/
daß alles von Menſchlicherautoritaͤt her-
ruͤhret/ deſſen innerliche Verſicherung du nicht
empfindeſt kanſt/ niemahlen eine unſtreitige
Warheit zu wege bringen koͤnne/ und wenn
gleich die gantze Welt dich deſſen bereden wolte.


28. Hiernechſt aber muſt du auch dieſes
nicht einmahl ohne Unterſcheid fuͤr warſchein-
lich halten/ was von denen meiſten oder de-
nen weiſeſten/ kluͤgeſten/ und gelehrteſten
fuͤr wahr ausgegeben wird/ und das fuͤr un-
wahrſcheinlich/ was die wenigſten/ oder ge-
meine Leute fuͤr wahr ausgeben wird.


29. Denn zu geſchweigen/ daß ohne dem
allezeit die meiſten nicht die weiſeſten ſeyn/
ſo ſind faſt mehr oder doch ja nicht weniger all-
gemeine Jrrthuͤmer/
als abſonderliche.


30. Die weiſeſten und gelehrteſten aber
ſind gar ſchwerlich zuerkennen/ wenn ich nicht
ſelbſten in einen groſſen Grad ſchon weiſe bin.


31. Zugeſchweigen/ daß zu Erweckung ei-
ner Wahrſcheinligkeit bey mir bey dem ande-
ren/ deſſen Zeugnuͤß ich Glauben zuſtellen ſoll/
P 2mehr
[228]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.
mehr Fleiß und Warhafftigkeit/ als Gelahr-
heit und Weißheit erfordert wird.


32. Maſſen denn/ wie erwehnet/ anderer
Leute Zeugnuͤß ich in rebus Experientiæ
\& ſenſionibus ſubjectis
mich zur Wahr-
ſcheinligkeit bedienen ſoll/ nicht aber in Er-
weckung derer idearum von denen Dingen/
die ich per Experientiam gepruͤffet habe/
oder fuͤglich pruͤffen kan.


33. So thut auch das Alterthum der Zeu-
gen/ oder die Neuligkeit derſelben/ oder die
continuation derer Zeugnuͤſſe nichts zur Sa-
che/ denn viel grobe Jrrthuͤmer haben lange
gedauret/ und die alten Zeugen ſind vor dieſen
neu geweſen/ gleich wie die neuen auch alt wer-
den koͤnnen.


34. Jedoch iſt das nicht zu leugnen/ daß/
weil allhier von denen Senſionibus die Fra-
ge iſt denen altenautoribus von denen Din-
gen/ die zu ihrer Zeit geweſen mehr Glau-
ben beygemeſſen wird/ denen neuen aber von
denen heutigen.


35. Wolteſt du nun gleich von dem Stand
der Menſchen hier eine Norm nehmen/ und
unter Fuͤrſten und Unterthanen/ oder ein
gemeines und privatZeugnuͤß einen Un-
terſcheid
[229]und unwahrſcheinlichen Dingen.
terſcheid machen/ ſo ſchickt ſich doch auch dieſes
ſehr uͤbel fuͤr die Vernunfft-Lehre.


36. Denn es koͤnnen auch Fuͤrſten ſich ſelbſt
und andere betruͤgen/ und gleichwie die ar-
chiva
einander oͤffters zu wieder ſind/ alſo ſchi-
cken ſie ſich zur Richtſchnur der Wahrſchein-
ligkeit und Unwahrſcheinligkeit hier gar nicht.


37. Jch weiß ja wohl/ daß die archive voͤl-
lig beweiſes/ die Geſetze der Richtſchnur der
Unterthanen ſeyn/ in zweyer oder dreyer
Zeugen
Munde die Warheit beſtehe/ u. ſ. w.


38. Aber ich weiß auch/ daß die Geſetze
nicht die Richtſchnur des Verſtandes/ ſondern
des Willens ſind/ und daß ein groſſer Unter-
ſcheid inter veroſimile Logicum \& Politicum,
oder deutlicher zureden/ unter wahrſcheinlich
ſeyn/ und fuͤr wahrſcheinlich muͤſſen gehal-
ten werden/
muͤſſe gemacht werden.


39. Und alſo wird man hierinnen das mei-
ſte eines jeden ſeiner Klugheit anheim ſtellen
muͤſſen/ die aus Erkaͤntnuͤß anderer Men-
ſchen
entſtehet/ denn daraus kan er leichte ab-
nehmen/ ob von denen teſtantibus, es moͤgen
nun derer wenig oder viel ſeyn/ das Vermoͤ-
gen und Willen wahr zu ſagen ſtarck oder we-
nig zu præſumiren ſeyn.


P 340. A-
[230]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.

40. Aber dieſes lernet man in der Politic
und practicirung der Welt/ auch durch lange
converſation.


41. Gleichwohl aber pfleget man insge-
mein die præſumtion von dem Vermoͤgen
daher zunehmen/ wenn einer in einer gewiſſen
Sache erfahren und beruffen iſt/ von dem
Willen aber/ wenn er kein intereſſe dabey
hat. Und ſcheinet die bekante Regel hierauff
ihr Abſehen gerichtet zu haben/ daß man ei-
nem Kuͤnſtler (das iſt einen/ der in waßerley
W[i] ſſenſchafft es wolle/ geuͤbt iſt) in ſeiner
Kunſt Glauben zuſtellen muͤſſe.


42. Wiewohl auch dieſe Regel vielen Ab-
faͤllen unterworffen iſt/ indem nicht allein zum
oͤfftern die Kuͤnſtler interreſſirt ſeyn/ ſondern
auch heut zu Tage ein jeder Schlingel den
Titel eines Kuͤnſtlers ſich gar leichte zu wege
bringen kan.


43. Sonſten iſt wohl kein Zweiffel/ daß
man auch bey Erwegung der experientz an-
derer Leute betrachten muß/ ob ſie auch alle
zu einer Sache gehoͤrige Sinne oder doch
die noͤthigſten adhibiret/ und hierauff zielet die
gemeine Regel/ daß man einen ſehenden
Zeugen mehr Glauben zuſtelle/ als einen
hoͤren-
[231]und unwahrſcheinlichen Dingen.
hoͤrenden (nehmlich in Sachen/ die mehr durch
das Geſicht als das Gehoͤr erkant werden.)


44. Oder wenn man per teſtem auri-
tum
den verſtehet/ der de auditu alieno depo-
nirt,
ſo iſt kein Zweiffel/ daß auch die ſtaͤrckſte
Wahrſcheinligkeit alleit ſich immer mehr und
mehr verliere/ je durch mehr Mittels-Perſo-
nen
das teſtimonium experientiæ auf mich
gebracht worden.


45. Damit aber gleichwohl zum wenigſten
eine gute Regel von der aus Menſchlichen
Zeugnuͤß herruͤhrenden Wahrſcheinligkeit an
die Hand gegeben werde/ ſo ſcheinet dieſe gantz
offenbahr zu ſeyn: Wenn zwey oder drey
Menſchen von einer Sache/ die unmittel-
bar
ab experientia dependirt, zu gleicher
Zeit ein Zeugnuͤß ablegen/ und zu erwei-
ſen iſt/ daß ſie miteinander keine Abrede
nehmen koͤnnen/ ſo iſt die Sache in dem
hoͤchſten Grad warſcheinlich/ und der War-
heit am naͤheſten.


46. Denn die Warheit iſt nur eine/ die
Luͤgen aber vielfaͤltig/ und iſt dannenhero faſt
nicht moͤglich/ daß zwey oder drey Leute uͤber-
einſtimmen/ und doch luͤgen ſolten.


P 447. De-
[232]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.

47. Derowegen auch/ je mehr Leute ein
dergleichen Zeugnuͤß ablegen/ je warſchein-
licher wird es.


48. Dieſem iſt ein anderer Grundſatz von
dem unwahrſcheinlichen entgegen geſetzt.
Worvon alleScribenten einer Zeit da et-
was merckwuͤrdiges geweſen oder fuͤr-
gangen ſeyn ſoll/ ſtillſchweigen/ das wird
fuͤr ſehr unwarſcheinlich gehalten.


49. Und ſolchergeſtalt iſt es falſch/ daß
man kein argumentum negativum ab auto-
toritate humana
hernehmen koͤnne.


50. Gleichwohl iſt nicht zu leugnen/ daß
dieſe Regel nicht in einen ſo groſſen Grad
ſchlieſſe als die vorige.


51. Aber wir muͤſſen nun auch das andere
criterium der Wahrſcheinligkeit beleuchten/
dieſes habe ich einen eigenen concept genen-
net/ der nicht von allen/ aber doch von etlichen
individuis hergenommen wird/ es ſey nun
von vielen oder von wenigen.


52. Dieſer concept iſt nicht anders als
conceptus accidentium, die der eſſentz entge-
gen geſetzt ſeyn. Denn weil derer etliche ſo
beſchaffen ſind/ daß ſie bey vielen individuis,
die unter einer idee begriffen/ ſind angetrof-
fen
[233]und unwahrſcheinlichen Dingen.
fen werden/ ſo wird in Zweiffel geſchloſſen/
daß ſie auch bey denen andern ſich befinden
laſſen/ biß man das Gegentheil behauptet.


53. Und alſo entſtehet daraus eine War-
ſcheinligkeit/
weil es ſehr wahrſcheinlich iſt/
daß ein individuum eine ſoche Natur habe
als viel andere/ aber es iſt doch nicht unſtreitig
wahr/ weil mich mein concept zugleich ver-
ſichert/ daß die Sache von der die Rede iſt/
ohne Verletzung des Weſens doch ſich anders
verhalten koͤnne


54. Denn es iſt kein Zweiffel/ daß die pro-
poſition,
die mehrentheils eintrifft der pro-
poſitioni univerſali,
die nichts anders als ei-
ne idee iſt/ zwar am nechſten komme/ aber
gleichwohl bleibt ſie particularis, wenn man
nur eine inſtantz darauff geben kan.


55. Alſo wuͤrde in Zweiffel davor gehal-
ten/ daß alle Raben ſchwartz ſind/ daß alle
Menſchen zwey Fuͤſſe haben u. ſ. w.


56. Jemehr nun individua ſeyn/ bey
denen der concept verificirt werden kan/
je wahrſcheinlicher iſt derſelbe/ und je we-
niger dieſelben ſeyn/ je unwahrſcheinlicher
laͤſt ſich derſelbe bey andern præſumiren.


57. Am unwahrſcheinlichſten iſts/ wenn
P 5man
[234]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.
man von einem einigen individuo auff an-
dere ſchlieſſet/ weil 1. der 0. oder nichts am
nechſten iſt/ und oben haben wir geſagt/ daß
das Falſche nichts ſey.


58. Aber hier wirffſt du ein: Wie ſoll ich
denn ideas oder abſtractiones univerſa-
liter veras,
von denen abſtractionibus ve-
roſimilibus
entſcheiden? Alle propoſitio-
nes univerſales
werden von den individuis
abſtrahirt,
und gleichſam in inductionem
reſolvirt.
Nun haſt du aber oben ſelbſt ge-
ſagt/ daß ein Menſch ohnmoͤglich alle indi-
vidua
zu denen Sinnligkeiten bringen koͤn-
ne/ und alſo wird kein Menſch veras ideas
beſitzen/ ſondern lauter propoſitiones vero-
ſimiles.


59. Dieſer Einwurff iſt nicht zu verach-
ten/ denn er iſt ſehr wahrſcheinlich/ aber er iſt
doch nicht unſtreitig wahr/ weil dich dein eigen
Gewiſſen eines andern uͤberzeigen ſoll. Jſts
nicht wahr? du haſt alsbald in deiner zarten
Jugend dir ein gewiſſen concept, von einem
Menſchen/ von einem Hunde/ Katze \&c. von
dem Klange/ von der Farbe/ von Roſen-Ge-
ruch u. ſ. w. gemacht/ ob du gleich ſehr wenig
individua, von einem jeden vermittelſt der
Sin-
[235]und unwahrſcheinlichen Dingen.
Sinnen betrachtet/ denn du haſt vermoͤge die-
ſes concepts alle neuen individua alsbald
dahin zu ordiniren gewuſt/ daß nehmlich die-
ſes ein Menſch/ jenes ein Hund/ Katze/ Klang/
Farbe/ Roſen-Geruch u. ſ. w. ſey.


60. Wenn du aber z. e. einen Soldaten ge-
ſehen/ denn die Beine weggeſchoſſen gewe-
ſen/ haſt du alſobald geurtheilet/ daß dieſes ein
Menſch ſey/ dem die Beine mangeln: und
wenn man dir einen weiſſen Raben zeigen
wuͤrde/ wuͤrdeſt du nach genauer Betrachtung
ſelbſt ſagen/ daß es ein weiſſer Rabe ſey.


61. Du wuͤrdeſt aber nimmermehr ein
Kalb/ das reden konte/ oder eine menſchliche
Mißgeburt/ die keinen Kopff haͤtte/ oder die
keine Augen und Ohren haͤtte/ fuͤr einen
Menſchen halten.


62. Und alſo ſieheſt du ſelbſten/ daß du von
dir ſelbſt und deiner innerlichen Vergewiſſe-
rung den Unterſcheid zwiſchen denen ideis und
conceptibus veroſimilibus hernehmen muſt.


63. So kan es nun nicht fehlen/ dn muſt
auch die Beantwortung auff deine obje-
ction
deutlich begreiffen koͤnnen.


64. Die idee wird von etlichen wenigen
individuis nur geruͤhret/ und nicht erſt per
in-
[236]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.
inductionem formiret/ ſondern ſie iſt dem
Vermoͤgen nach alſobald in der Seele/ und
wird durch die Senſionem gleichſam nur auf-
geweckt.


65. Der conceptus veroſimilis aber wird
durch eine induction ex multis individuis
wuͤrcklichformiret, und entſtehet ex pluri-
bus ſenſionibus,
wannenhero er auch ohne
eine gute oder lange Erfahrung nicht ſeyn kan.


66. Die idee wird bey einem andern per
inductionem veram
nicht erwecket/ ſondern
bekraͤfftiget/ und dargethan/ daß alle andere
Menſchen ſolche ideas haben/ wie er/ und iſt
hier die bekante Formul: nec poteſt dari dis-
ſimile exemplum,
unſtreitig wahr.


67. Aber der conceptus veroſimilis wird
durch eine induction dem andern nicht ſo wol
erwieſen/ als durch die induction verſucht/
ob er dawieder etwas zuſagen habe/ wannen-
hero die Formul: nec poteſt \&c. allezeit cum
metu contrarii
vorgebracht/ und der andere
angehoͤret werden muß/ ob er ein diſſimile
exemplum
zuſagen habe.


68. Und alſo dienet die experientia alio-
rum
niemahlen dazu/ daß eine idee in dem an-
dern deſtruiret werde/ aber in rebus vero-
ſimili-
[237]und unwarſcheinlichen Dingen.
ſimilibus, dient ſie manchmahl die veroſimi-
litudinem
zu vergroͤſſer/ manchmahl zu ver-
ringern.


69. Wolteſt du dir die Sache durch ein
Gleichnuͤß deutlicher imprimiren/ und haſt
etwas weniges in der Geometrie gethan/ ſo
wirſt du dich entſinnen/ was fuͤr ein groſſer
Unterſcheid darunter ſey/ wenn man eine Sa-
che mechanicè darthut/ oder ſie Geometricè
demonſtriret.
Denn jenes geſchiehet ex ve-
roſimilibus,
dieſes ex ideis.


70. Dieſes ſind alſo die erſten Grund-
Regeln
in doctrina de veroſimili: Mit de-
nen concluſionibus aber/ ſo daraus herge-
leitet
werden/ hat es eben die Bewandnuͤß und
faſt einerley obſervationes, wie wir in dem
7. Capitel von der demonſtration erinnert
haben/ weßhalb wir uns auch hierbey nicht
auffhalten wollen.


71. Nur wollen wir dieſes wenige anmer-
cken/ daß aller Beweiß nur wahrſcheinlich
ſey/ wenn der Grund deſſelben in Experien-
tia aliorum,
oder conceptu ex inductione
orto fundi
rt iſt/ obgleich die Verknuͤpffung
der erwieſenen concluſion mit dieſen Grun-
de durch lauter propoſitiones univerſales
geſche-
[238]Das 10. Hauptſt. von warſcheinl.
geſchehen/ die aus denen conceptibus vero-
ſimilibus
entſtanden. Denn die conceptus
veroſimiles
koͤnnen ſo feſte mit einander
verknuͤpfft werden/ als die warhafftigen
ideen.


72. Jedoch geſchiehet ſolches nicht alle-
mahl/ ſondern es gruͤnden ſich zum oͤfftern die
propoſitiones intermediæ, aus denen eine con-
cluſion
hergeleitet wird/ auch nur in expe-
rientia aliorum,
oder einer qvaſi indu-
ction.


73. Je mehr nun dergleichen propoſi-
tiones intermediæ
ſind/ je lockerer iſt die
concluſion mit dem Grunde der veroſimi-
litudinum
verknuͤpfft/ und je mehr partici-
pirt
ein ſolcher Beweiß von der Natur einer
bloſſen Wahrſcheinligkeit/ oder je weiter ent-
fernet er ſich von denen unſtreitigen Wahr-
heiten.


74. Und alſo iſt ein wahrſcheinlicher Be-
weiß/ wie er n. 71. beſchrieben worden/ der de-
monſtration
am allernaͤheſten/ weßwegen
er auch von etlichen zur demonſtration mit
gerechnet wird.


75. Wir wollen uns deßhalben mit nie-
mand in einen Wort-Streit einlaſſen/ ſondern
es
[239]und unwahrſcheinlichen Dingen.
es gilt uns einerley/ wenn man dergleichen
Beweiß demonſtrationem ſecundariam, qvaſi
demonſtrationem,
oder demonſtrationem by-
potheticam
nennen wolte.


76. Endlich wenn der Menſchliche Ver-
ſtand erkennet/ daß in der Natur etwas ſey/
deſſen deutlichen concept,was es ſey/ oder
woher es entſtehe/
er weder mit ſeinen eige-
nen noch anderen Leuten Sinnligkeiten/ noch
vermoͤge derer warhafftigen oder qvaſi ideen
erreichen kan/ muß er es weder vor warſchein-
lich noch unwarſcheinlich halten/ ſondern ſei-
nen Verſtand mitten inne ſtehen/ und dabey
als unerkanten Dingen ruhen laſſen.


77. Zum Exempel das Weſen einerſub-
ſtan
tz/ die Darthuung des Weſens der Ele-
mente/ u. ſ. w.


78. Und dieſes wenige halten wir dafuͤr in
der Lehre von der Wahrſcheinligkeit merck-
wuͤrdig zu ſeyn/ obſchon insgemein die alten
und neuen Philoſophi viel Weſens von de-
nen Locis Topicis oder Dialecticis machen/ und
die Lernende mit vielen Regeln und maxi-
men uͤberhaͤuffen.


79. Aber gleichwie ich ſchon anderswo ge-
wieſen/ daß unter denenſelben regulæ de-
mon-
[240]Das 11. H. von denen unterſchied.
monſtrandi und regulæ dialecticæ wie
Kraut und Ruͤben untereinander geworffen
ſind/ alſo hat auch allbereit Clauberg in ſei-
ner Logic die Wichtigkeit dieſerLocorum
kurtz und gut geruͤhret.


Das 11 Hauptſtuͤck.
Von denen unterſchiedenen
Claſſen der Dinge/ aus welcher von
der Erkaͤntnuͤß unſtreitiger oder wahr-
ſcheinlicher Warheiten zu urtheilen iſt.
De objecto demonſtrationis
\& probabilitatis.


Jnnhalt.


Connexion n. 1. 2. Die Oinge/ von denen ein Menſch eine
wahre Erkaͤntnuͤß verlangt ſind I. auſſer ihm n. 3. Die-
ſe ſind theils gegenwaͤrtig/ theils vergangen/ theils zu-
kuͤnfftig n. 4. Die gegenwaͤrtigen werden entweder den
vergaugenen und znkuͤnfftigen oder den abweſenden
entgegen geſetzt n. 5. von abweſenden Dingen iſt die
Erkaͤntnuͤß nur wahrſcheinlich oder doch dunckel und
confus n. 6. biß II. Von gegenwaͤrtigen und nahen
entſiehet eine klare und deutliche Erkaͤntnuͤß. n. 12.
wenn dieſelben dauerhafft ſeyn/ denn ſonſt iſt die Er-
kaͤutnuͤß nicht deutlich n. 13. biß 17. ingleichen wenn
ſie enſerlich oder zur Euſerligkeit gebracht worden ſind
n. 18. Vergangene und zukuͤnfftige Dinge werden nur
wayrſchelnlich oder dunckel und confus erkennet/ n. 19.
20. 21. 22. und derſelben Erkaͤntnuͤß nach der Erkaͤntnuͤß
gegen-
[241]Claſſen wahrer u. warſcheinl. Dinge.
gegenwaͤrtiger Dinge gerichtet/ n. 21. Von der ſubſtantz
hat der Menſchliche Verſtand zwar eine gewiſſe/ aber
keine klare und deutliche Erkaͤntnuͤß. n. 24. biß 28. Un-
ter denen accidentibus n. 29. begreifft er die Coͤrper-
ligkeit mit einer klaren und deutlichen Erkaͤntnuͤß/ n.
30. biß 33. Die Bewegung aber begreifft er wohl klar
aber nicht allemahl deutlich. n. 34. biß 37. Zanck unter
denen Philoſophen de definitione motus n. 38. die ac-
cidentia
und nicht die ſubſtantzen koͤnnen demonſtriret
und ad oſtenſionem gebracht werden/ n. 39. 40. Die
Lehren de motu koͤnnen nicht allemahl demonſtriret
werden/ n. 41. weßwegen die Lehren de eorporeitate
fuͤr jenen einen Vortheil haben n. 42. Demonſtratio-
nes qvantitatum actionum \& paſſionum n.
43. Wie
es mit Erkaͤntnuͤß der qvalitatum n. 44. biß 47. Was
der Menſch fuͤr eine Erkaͤntnuͤß von denen 4. cauſis ha-
be/ n. 48. von der Materte/ n. 49. von der Form/ n. 50.
von der cauſa efficiente n. 51. biß 54. von dem Fine,
n.
56. und denen Wtrckungen der ſubſtantzen n. 57. 58.
59. Von der ſubſtantia ſpirituali weiß die Menſchliche
Vernunfft nichts n. 60. 61. 62. Von denen Elementis
und deren numero 63. ſo wohl auch von denen meteo-
ris
hat ſie eine wahrſcheinliche und dunckele Erkaͤntnuͤß
n. 64. Unterſcheid zwiſchen der Erkaͤntnuͤß der erdenen
Coͤrper/ n. 65. 66. der waͤſſerigten n. 67. 78. des
Feuers n. 69. der Lufft n. 70. der himmliſchen Coͤrper
n. 71. Unnoͤthiger Zanck der Philoſophen hieruͤber/
n. 72. Wahrſcheinligkeit/ daß die Steine und Metallen
ſo wohl leben als die Pflantzen/ n. 73. Ungewiſſe Er-
kaͤntnuͤß von dem Weſen der Steine/ Pflantzen n. 74.
und Beſtien n. 75. II Der Menſch ſelbſt hiervon hat
er die allergewiſſeſten und meiſten Warheiten n. 76. Er
kan vermittelſt der wenigen Erkaͤntnuͤß enſerlicher
Dinge unzehliche Warheiten erfinden/ n. 77. 78. und
dadurch Entia artificialia zu wege bringen n. 79. Nu-
tzen der entium fictorum in Erforſchung der Warheit
Qn. 80
[242]Das 11. H. von denen unterſchied.
n. 80. Er hat von ſeinen Weſen mehr Erkaͤntnuͤß als
von dem Weſen anderer Dinge n. 81. 82. hierdurch er-
kennet er ſeinen Endzweck/ n. 83. deſſen Richtſchnur/
n. 84. und ſeine Gluͤckſeeligkeit/ n. 85. Er weiß ſeine ei-
gene Gedancken beſſer als ein anderer. n. 86. Er erken-
net des andern ſeine Gedancken n. 87. Er kennet ei-
nen andern beſſer als dieſer ſich ſelbſt/ n. 88. zu Befoͤr-
derung Menſchlicher Gluͤckſeeligkeit. n. 89.


I.


NAchdem wir alſo das Wahre/ Falſche/
Unerkante/ und Wahrſcheinliche be-
trachtet/ gleichwohlaber oben Erwehnung ge-
than/ daß die Vernunfft-Lehre ein Grund
aller natuͤrlicher Wiſſenſchafften ſeyn ſolle/
wird es nicht undienlich ſeyn/ etwas genauer
zu beleuchten/ in was fuͤr Dingen denn ein
Menſch nach der bloſſen Vernunfft zu unſtrei-
tigen Warheiten gelangen koͤnne/ und worin-
nen er ſich nur mit bloſſen Wahrſcheinligkei-
ten muͤſſe begnuͤgen laſſen.


2. Hierbey aber wird es keiner groſſen ſub-
tili
taͤt gebrauchen/ ſondern es wird nur von
noͤthen ſeyn/ daß wir die Lehre des fuͤnfften
und der folgenden Capitel gegen das dritte und
vierte halten.


3. Nehmlich alles/ worinnen ein Menſch
die Erkaͤntnuͤß der Warheit ſucht/ das iſt ent-
weder
[243]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge
weder ein Weſen/ das auſſer ihm ſeine Selb-
ſtaͤndigkeit hat/ oder er iſt es ſelbſt.


4. Bey euſerlichen ſubſtantzen muß er zu-
foͤrderſt beobachten/ daß dieſelben entweder
gegenwaͤrtig oder vergangen/ oder zu-
kuͤnfftig
ſind.


5. Aller Anfang unſerer Erkaͤntnuͤß ge-
ſchiehet durch gegenwaͤrtige Dinge/ ja ſie
wird auch durch dieſelbigen taͤglich erhalten/
aber ſie werden auff zweyerley Art genom̃en/
(1.) in weitlaͤufftigen Gebrauch/ ſo ferne die-
ſelbigen itzo etwas ſind/ ob der Menſch gleich
von denenſelben en fernet iſt/ und alſo begreif-
fen ſie auch abweſende Dinge unter ſich (2.)
in engern Verſtande/ ſo ferne ſie itzo etwas
und dem Menſchen nahe ſind/ und werden
ſolchergeſtalt den abweſenden entgegen geſetzt


6. Von abweſenden Dingen koͤnnen wir
niemahlen unſtreitige Warheiten vermittels
einer klaren und deutlichen Erkaͤntnuͤß be-
greiffen/ ſondern alles/ was wir davon bejahen/
iſt entweder nur wahrſcheinlich oder doch
ſehr dunckel und confus.


7. Denn wir koͤnnen vermittelſt der Sin-
ne
dieſelbigen nicht begreiffen/ weil alle Sinn-
ligkeiten eine Gegenwart erfordern/ und alſo
Q 2koͤnnen
[244]Das 11. Hſt. von denen unterſchied.
koͤnnen wir auch von ihren Weſen uns keine
ideas machen/ weil die ideæ de rerum eſſen-
tiis
allezeit per ſenſiones geruͤhret werden
muͤſſen.


8. Derowegen laͤufft aller Urſprung der
natuͤrlichen Erkaͤntnuͤß/ die wir von dem We-
ſen ſolcher Sachen haben/ auff das Zeugnuͤß
anderer Menſchen hinaus/ welches nichts
mehr als eine Wahrſcheinligkeit wuͤrcken kan.


9. Zwar iſt es nicht zu leugnen/ daß man
zuweilen per ratiocinationem von etlichen
Dingen/ die denen Sinnligkeiten nicht unter-
worffen ſind/ eine unſtreitige Warheit erhalten
koͤnne/ aber ſie iſt doch zum weniſten ſehr dun-
ckel
und confus, oder ſie gehet nicht ſo wohl auf
das Weſen ſolcher Dinge/ ſondern auff ihre
bloſſe exiſtentz.


10. Wir haben hiervon in dem 9. Capitel
allbereit die natuͤrliche Erkaͤntnuͤß Gottes
zum Exempel dargeſtellet. Aber wir koͤnnen
auch derer vielfaͤltige aus denen natuͤrlichen
Dingen herfuͤrſuchen.


11. Zum Exempel wenn ein Stein durch
das Fenſter in die Stube faͤllet/ ſo erkenne ich
gewiß/ daß der Stein nicht von ſich ſelbſt her-
ein gefallen/ aber ich weiß darum nicht was das
etwas
[245]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge.
etwas ſey/ dadurch die Bewegung des Stei-
nes hergeruͤhret/ geſchweige denn/ daß ich eine
klare oder recht deutliche Erkaͤntnuͤß von dem
Weſen deſſelbigen haben ſolte.


12. So muß demnach eine Sache/ von der
ich mir eine gewiſſe klare und deutliche Er-
kaͤntnuͤß machen ſoll/ gegenwaͤrtig und nahe
ſeyn/ und je naͤher ſie iſt/ je vollkommener kan
auch die Menſchliche Erkaͤntnuͤß werden. Je-
doch muß dasjenige allhier wiederholet wer-
det/ was wir im 6. Capitel n. 51. ſeqq. erin-
nert haben.


13. Jedoch muͤſſen wir auch der Dauer-
hafftigkeit
gegenwaͤrtiger Dinge nicht ver-
geſſen. Denn dieſelbige iſt entweder kurtz
und augenblicklich/ oder dauret einige gerau-
me Zeit.


14. Zu einer klaren Erkaͤntnuͤß iſt jene
zwar genung/ aber nicht zu einer deutlichen/
ſondern dieſe erfordert eine gar merckliche
und langwierige Dauerung.


15. Alſo erkenneſt du wohl gewiß und klaͤr-
lich
den Blitz/ und das Gemaͤhlde/ daß dir ei-
ner einen kleinen Augenblick zeiget/ aber du
haſt keine deutliche Erkaͤntnuͤß davon.


16. Denn dein Verſtand begreifft in einen
Q 3Augen-
[246]Das 11. H. von denen unterſchied.
Augenblick/ daß ein gegenwaͤrtig Ding etwas
oder ein gantzes ſey/ aber durch die Betrach-
tung der Theile deſſelben zu einer deutlichen
Erkaͤntnuͤß zugelangen/ dazu gehoͤret eine gute
Zeit.


17. Je dauerhaffter alſo die Gegenwaͤr-
tigkeit eines Dinges iſt/ je deutlicher kan die
Erkaͤntnuͤß deſſelben werden/ und je geſchwin-
der dieſelbe vergehet/ je confuſer iſt auch die-
ſelbe.


18. Mit der Gegenwart der Dinge hat die
Euſerligkeit derſelbigen eine ziemliche Ver-
wandnuͤß/ weil dieſelbige an klaͤreſten erken-
net wird/ auch das innerliche nicht eher klar
und deutlich begriffen werden kan/ wenn es
nicht zu einer Euſerligkeit gebracht wird/ ſon-
dern anderer Geſtalt allezeit nur warſchein-
lich oder confus und dunckel erkennet wird/
und alſo eben ſo viel iſt/ als wenn es abweſend
waͤre.


19. Was wir bißher von Erkaͤntnuͤß der
abweſenden Dinge erinnert haben/ das muß
noch mehr bey denen vergangenen und zu-
kuͤnfftigen
verſtanden werden/ denn dieſe ſind
mehr als abweſend.


20. Derowegen koͤnnen vergangene und
zukuͤnff-
[247]Claſſen waren u. warſcheinl. Dinge.
zukuͤnfftige Dinge nur warſcheinlich oder
doch nur mit einer confuſen und dunckelen
Erkaͤntnuͤß qvoad exiſtentiam begriffen
werden.


21. Dann was der Menſch von den We-
ſen des vergangenen gewiß und deutlich ver-
ſtehet/ das iſt nicht anders als eine Erinne-
rung ſolcher Dinge/ die er zuvorher als gegen-
waͤrtig allbereit begriffen.


21. Dieweil auch zukuͤnfftige Dinge nie-
mahls gegenwaͤrtig geweſen ſeyn/ und der
Menſch ſich ſolchergeſtallt derſelbigen nicht er-
innern kan/ ſo hat er auch von denenſelben nie-
mahlen natuͤrlicher Weiſe eine gewiſſe Er-
kaͤntnuͤß.


23. Und muß alſo auch in Erwegung der
warſcheinlichen Dinge das Vergangene und
Zukuͤnfftige nach dem Gegenwaͤrtigen ge-
richtet werden/ daß man jenes fuͤr wahrſchein-
lich haͤlt/ wann es mit dieſen uͤbereinkom̃t/ und
unwahrſcheinlich/ wenn es dieſen zu wieder iſt.


24. Aber nunmehro muͤſſen wir erwegen/
wie weit die Menſchliche Erkaͤntnuͤß an de-
nen gegenwaͤrtigen Dingen ſich ereigene.
Der Menſch erkennet wohl/ und weiß gewiß/
daß das gegenwaͤrtige Ding etwas ſey/ ja er
Q 4erken-
[248]Das 11. H. von denen unterſchied.
erkennet auch/ daß es dem Weſen nach eine
ſubſtantz ſey/ alleine er hat keine klare und
deutliche Erkaͤntnuͤß von keiner ſubſtantz.


25. Er weiß wohl/ daß die ſubſtantz der
accidentium ihr ſubjectum ſey/ und die ac-
cidentia
in der ſubſtantz ſtecken als adjuncta,
und alſo die ſubſtantz und accidentia zwey-
erley ſeyn/ aber er hat doch davon nur eine
confuſe und dunckele/ nicht aber eine klare
und deutliche Erkaͤntnuͤß.


26. Denn er erkennet das Weſen aller ſub-
ſtantien
aus dererſelben attributis, welche
unter denen accidentibus die vornehmſten
ſeyn/ und alſo erkennet er die ſubſtanznicht
durch ſich ſelbſt.


27. Die Erkaͤntnuͤß der ſubſtantzen kan
nicht klar ſeyn/ denn das Weſen jeder ſub-
ſtan
tz iſt innerlich/ nemlich die Unreinigung
der accidentium, und kan alſo nicht ad evi-
dentiam ſenſuum
gebracht werden/ das eu-
ſerliche aber gehoͤret ad accidentia.


28. Sie kan ferner nicht deutlich ſeyn/
denn ich concipire mir eine jede ſubſtantz als
ein unum oder totum indiviſum, und ein
jedes gantzes als eine ſubſtantz. Aber eine
deutliche Erkaͤntnuͤß hat mit denen Theilen
des
[249]Claſſen waren u. warſcheinl. Dinge.
des gantzen zu thun/ und von denen Theilen hat
der Menſch keine andere Erkaͤntnuͤß als von
denen accidentibus, nehmlich daß ſie in gan-
tzen als in einen ſubjecto ſtecken/ und auſſer
demſelben keine Theile mehr ſeyn.


29. Ferner was die accidentia betrifft/ ſo
haben wir oben geſagt/ daß dieſelbigen zu
zweyen Claſſen gebracht werden koͤnnen/ zur
Coͤrperligkeit und Bewegung. Jenes iſt
das attributum der ſubſtantzen oder ihr es-
ſentiale,
dieſe der modus derſelben oder ac-
cidens prædicabile.


30. Was die Coͤrperligkeit betrifft/ ſo
weiß der Menſch gewiß was ſie ſey/ ja er hat
auch eine klare und deutliche Erkaͤntnuͤß da-
von.


31. Eine klare Erkaͤntnuͤß hat er von der
Coͤrperligkeit der ſubſtantzen/ weil er dieſel-
bige vermittelſt der Sinnen begreiffen kan/
und weil alles/ was die Sinne unmittelbahr
ruͤhret/ was Coͤrperliches iſt.


32. Eine deutliche Erkaͤntnuͤß aber hat er
davon/ weil er die Coͤrperligkeit als das Weſen
des gantzen (totalitatem) wieder in Theile
eintheilen kan/ nehmlich in longitudinem, la-
titudinem \& profunditatem,
und die lon-
Q 5gitu-
[250]Das 11. H. von denen unterſchied.
gitudinem in puncta, und alſo die ſubſtantz
als ein unum und totum diviſibile be-
trachtet.


33. Jedoch muß er ſich damit nicht bereden/
daß er auch eine klare und deutliche Erkaͤnt-
nuͤß des Coͤrpers habe. Denn der Coͤrper
iſt die ſubſtantz/ der Coͤrperligkeit aber das ac-
cidens.


34. Was die Bewegung anbelanget/ ſo
hat abermahls der Menſch eine gewiſſe und
klare Erkaͤntnuͤß davon/ aber nicht allemahl
eine deutliche.


35. Die Erkaͤntnuͤß der Bewegung iſt klar/
weil er ſo wohl die Ruhe/ als den motum lo-
calem
vermittelſt der Sinne begreifft.


36. Aber ſie iſt nicht allemahl deutlich/
weil zuweilen die Bewegung ſo geſchwinde iſt/
ſo wohl in der Ruhe als in dem motu locali,
daß man ſie nicht in gewiſſe Theile abſondern
kan/ und alſo die zu der deutlichen Erkaͤntnuͤß
gehoͤrige Dauerhafftigkeit nicht hat.


37. Z. e. wenn der Pfeil von Bogen ge-
ſchoſſen
wird/ wenn der auff etwas geworffe-
ne Stein in centro reflexionisruhet.


38. Und alſo iſt ſich nicht zu verwundern/
daß man mit der genauen Beſchreibung der
Bewe-
[251]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge.
Bewegung nicht uͤbereinkom̃en kan/ da doch
von der Erkaͤntnuͤß der Bewegung ſelbſt kein
Streit iſt/ denn es iſt mit allen Dingen derer
Erkaͤntnuͤß klar und nicht deutlich iſt/ ſo be-
wand.


39. Aus dem/ was wir bißher von der Er-
kaͤntnuͤß derer ſubſtantzen und der acciden-
tium
erwehnet haben/ folget/ daß zwar alle
demonſtrationes ein ſelbſtaͤndiges Weſen
præſupponiren/ von deme etwas demon-
ſtri
ret wird/ aber daß eigentlich die ſubſtanz
nichtdemonſtriretwird/ ſondern dieacci-
dentia.
Und ebenmaͤßig iſt es auch mit der
oſtenſion beſchaffen.


40. Denn es gehoͤret zur oſtenſion eine
klare/ zur demonſtration aber eine deutli-
che
Erkaͤntnuͤß/ derer keine von einer ſub-
ſtan
tz/ ſo ferne ſie von denen accidentibus
præſcindirt
wird/ wie obgemeldet/ geſagt
werden kan.


41. Und hieraus ſo folget ferner/ daß die
Lehren de corporeitate \& motu beyde ad
oſtenſionem,
dieſe letzte aber nicht allezeit ad de-
monſtrationem
koͤnne gebracht werden.


42. Alſo haben die Lehren ſo à corporeitate
dependi
ren/ fuͤr denen/ ſo von dem motu her-
geleitet werden/ einen mercklichen Vortheil.


43. Ja
[252]Das 11. H. von denen unterſchied.

43. Ja alle demonſtrationes lauffen ſol-
chergeſtalt auff corporeitates oder motus hin-
aus/ deren jene insgemein qvantitates genen-
net/ dieſe aber in actiones \& pasſiones reſol-
vi
ret werden.


44. Was auch die qvalitates belangt/ ſo
koͤnnen diejenigen/ die mehr à corporeitate
ſubſtantiæ
als à motu participiren/ an be-
ſten demonſtriret werden/ als figura und
ſitus.


45. Und diejenigen ſind ſchon viel duncke-
ler/ die mehr von einer geſchwinden und ſub-
tilen Bewegung herruͤhren als die Farben/
die Hitze und Kaͤlte\&c.


46. Aber mit dem Klange gehet es leich-
ter her/ weil die Bewegung hierbey viel ſen-
ſibler
und langſamer iſt.


47. Der Geruch und Geſchmack aber
wird von jeden Menſchen fuͤr ſich wohl klar
und deutlich mehrentheils erkennet/ aber er kan
andern nicht allemahl demonſtriret werden/
weil die organa dißfals bey den Menſchen
ſehr variren.


48. Nun iſt noch uͤbrig/ daß wir betrachten
was die vier cauſæ, die von denen ſubſtantzen
geſagt werden/ in Betrachtung der Warheit
und Warſcheinligkeit fuͤr Nutzen ſchaffen.


49. Die
[253]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge

49. Die Materie iſt gegenwaͤrtig/ und
wird vermittelſt der Euſerligkeit erkant/ alſo
hat man davon eine gewiſſe klare und deut-
liche
Erkaͤntnuͤß.


50. Die Form aber/ oder die Vereini-
gung der Theile in der ſubſtantz iſt verborgen
und innerlich/ und alſo iſt die Erkaͤntnuͤß da-
von ſehr dunckel oder nur wahrſcheinlich.


51. Die efficiens iſt auſſer dem Weſen der
ſubſtantz/ und kan nicht beſſer erkennet und
erwieſen werden/ als wenn die Bewegung der-
ſelben gegenwaͤrtig und langſam iſt. Wenn
ſie aber unter die vergangenen Dinge gerech-
net wird/ iſt ihre Erkaͤntnuͤß nur warſcheinlich.


52. Und je weiter dannenhero die Frage
von dem Urſprung der Dinge getrieben wird/
je confuſer und dunckeler wird auch die Er-
kaͤntnuͤß davon.


53. Welches auch von der urſpruͤnglichen
Materie wegen gleicher Urſachen zu verſte-
hen iſt.


54. Daß eine cauſa efficiens prima ſey/
weiß der Menſch gewiß/ und alſo weiß er auch
gewiß/ daß eine materia prima ſey.


55. Aber ſo wenig er weiß/ worinnen das
Weſen
dieſer cauſæ efficientis primæ be-
ſtehe/
[254]Das 11. H. von denen unterſchied.
ſtehe/ ſo wenig begreifft er auch das Weſen der
materiæ primæ.


56. Der finis oder die Endurſache der
ſubſtantzen dependiret von dem Willen des
Schoͤpffers her. Und weil der Menſch von
jener ſo viel die euſerlichen ſubſtantzen anlan-
get/ keine natuͤrliche gewiſſe Erkaͤntnuͤß hat/ ſo
iſt auch die Erkaͤntnuͤß von denen finibus nur
wahrſcheinlich.


57. Wolte man auch gleich ſagen/ daß die
fines rerum in ihren Wuͤrckungen oder effe-
ctibus
und in dem Nutzen/ den ſie den Men-
ſchen leiſteten/ beſtuͤnden/ ſo wuͤrde man doch
dadurch unſern Satz nicht umſtoſſen.


58. Denn zugeſchweigen/ daß es ſehr war-
ſcheinlich/ daß der Menſchliche Nutz nicht
der vornehmſte Zweck aller andern Geſchoͤpf-
fe ſey/ ſo hat auch der Menſch keine Erkaͤntnuͤß
von dem Nutzen/ der ihn durch euſerliche ſub-
ſtan
tzen wiederfaͤhret/ als per experientiam
aliorum vel inductionem,
die beyderſeits
nur eine Wahrſcheinligkeit wuͤrcken.


59. So iſt es auch mit den Wuͤrckungen
der ſubſtantien nicht anders beſchaffen.
Denn ſie ſind ſo vielerley Verenderungen
unterworffen/ daß ſie zu keiner demonſtra-
tion
[255]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge
tion gebracht werden koͤnnen/ ja ſie ſind auch
uͤber dieſes/ ſo ferne ſie zu denen finibus der-
ſelben gerechnet werden ſolten/ noch zukuͤnff-
tig/
und gehoͤren alſo auch in dieſen Anſehen
nur zu einer wahrſcheinlichen Erkaͤntnuͤß.


60. Die Eintheilung der ſubſtantien,
gleich wie ſie von denen accidentibus herge-
nommen werden muß/ alſo faͤllet die gemeine
diſtinction inter ſpiritualem \& corpoream,
ſo lange wir nach der bloſſen Vernunfft gehen/
von ſich ſelbſt hinweg.


61. Denn wenn die Coͤrperligkeit das at-
tributum ſubſtantiæ
iſt/ ſo kan ſich der Ver-
ſtand keinen concept de ſpiritu machen.


62. Ja es haben die Philoſophi ſelbſt ent-
weder geſtanden/ daß ſie nur wuͤſten/ worinnen
das Weſen eines Geiſtes nicht beſtehe/ oder
die das Weſen des Geiſtes haben bejahen wei-
ſen exprimiren wollen/ haben in ihren Lehr-
Saͤtze handgreiffliche præjudicia begangen.


63. Ferner wenn die ſubſtantia corpora
rea in ſimplicem \& mixtam
eingetheilet
wird/ ſo gehoͤret die ſubſtantia ſimplex, die man
Elementum nennet/ zu denen Dingen/ die der
Menſch ſeinen Verſtande noch eher fuͤr un-
warſcheinlich
als fuͤr unſtreitig war halten
muß/
[256]Das 11. H. von denen unterſchied.
muß/ geſchweige denn/ daß er etwas gewiſſes
de numero elementorum wiſſen ſolte/ denn er
begreifft die Elemente weder vermittelſt der
Sinnligkeiten/ noch durch ideas, ja er empfin-
det vielmehr/ daß alle Coͤrper/ die er ſiehet und
begreiffet/ gemiſchet ſeyn.


64. Und weil er bey allen eine vollkom-
mene
mixtur empfindet/ auch gar bald erken-
net/ daß er von denen meteoris zwar viel war-
ſcheinliche
Dinge/ aber nichts gewiſſes ſagen
koͤnne/ als entbehret er auch gar leichte der
Eintheilung der ſubſtantien in imperfectè
\& perfectè mixtas,
und haͤlt ſich lieber zu
dieſen letzten allein.


65. Jedoch ob er gleich das Feuer/ Lufft/
Waſſer
und Erde nicht fuͤr Elemente halten/
vielweniger das Weſen eines jeden auffs deut-
lichſte begreiffen kan/ ſo giebt ihm doch der
Unterſcheid dieſer vier Dinge Gelegenheit/
die Unvollkommenheit ſeiner Wiſſenſchafft in
Betrachtung derſelbigen gegeneinander zu
halten.


66. Von denen erdenen Coͤrpern kan der
Menſch noch die gewiſſeſten/ klaͤreſten und
deutlichſten Erkaͤntnuͤſſen haben/ weil er bey
Betrachtung derſelben vieler Warheiten ſo
wohl
[257]Claſſen wahrer u. warſcheinl. Dinge.
wohl durch die Sinne/ als durch die ideas ver-
ſichert wird.


67. Die Erkaͤntnuͤß der Waſſers iſt ſchon
dunckeler/ weil daſſelbige wegen der continu-
irlichen Fließigkeit nicht beſtaͤndig gegenwaͤr-
tig bleibet/ auch die Theile deſſelbigen ſich gar
zu geſchwind wieder mit dem gantzen vereini-
gen/ auch gar zu gleichfoͤrmig ſind.


68. Ja es hat der Menſchliche Verſtand
nicht einmahl eine klare Erkaͤntnuͤß von der
ſubſtanz des Waſſers/ theils weil er niemahl
das geſamte Waſſer vermittelſt der Sinnen
begreifft/ theils weil er das Waſſer allezeit
vermittelſt irrdiſcher Coͤrper faſſen und umge-
ben muß/ wenn er es betrachten will/ ſondern
er begreifft die Selbſtaͤndigkeit deſſelbigen
gantz dunckelper ideas.


69. Noch dunckeler aber iſt die Erkaͤnt-
nuͤß von dem Feuer/ weil die Bewegung deſ-
ſelbigen gar zu geſchwind und vehement iſt/
auch durch nichts auffgehalten werden kan
wie das Waſſer/ ja der menſchliche Verſtand
mag in Ewigkeit raiſonniren/ ſo wird er doch
nicht gewiß begreiffen/ wie es zu gehe/ daß ein
Funcke durch den Stahl und Feuerſtein fuͤr-
gebracht werde.


R70. Und
[258]Das 11. H. von denen unterſchied.

70. Und weil die Lufft noch ſubtiler iſt als
das Feuer/ ſo iſt auch die Erkaͤntnuͤß davon
noch dunckeler/ weil ihre Bewegung oͤffters
gar durch keinen Sinne empfunden wird/ ob
ſie gleich nahe um uns iſt/ und unſere ſenſoria
ſtetswaͤhrend beruͤhret.


71. Was wollen wir den ſolchergeſtalt
uns vieler unſtreitigen Warheiten von denen
himmliſchen Coͤrpern/ von der Sonne und
Sternen/de æthere de lumine u. ſ. w. be-
ruͤhmen/ da alle dieſe Dinge noch viel flieſſen-
der ſubtiler/ und von uns weit entferneter ſind
als die Lufft/ Feuer und Waſſer.


72. Wir laſſen dannenhero die Philoſo-
phos
um die gewiſſe Erkaͤntnuͤß dieſer Din-
ge
mit einander zancken/ ſo lange ſie wollen/
und ſtellen zwiſchen ihren Schrifften faſt keine
andere Vergleichung an/ als z. e. zwiſchen der
Aramene, dem Amadis/ dem Kaͤyſer Octa-
vianus
u. ſ. w. bey deren keinen man bekuͤm-
mert iſt/ wer was Wahres oder Falſches ge-
ſchrieben habe/ ſondern welches Buch an
wahrſcheinlichſten ſey/ welches unſere Ge-
muͤther beluſtige/ und nuͤtzlich angewendet
werden koͤnne/ und welches hinwiederum un-
ter die alten Weiber Maͤhrlein gerechnet
werden muͤſſe.


73. Dan-
[259]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge

73. Dannenhero wollen wir uns wieder zu
denen erdenen Coͤrpern wenden/ und geſtehen
unſere Unwißheit/ daß wir nicht gewiß begreif-
fen koͤnnen/ ob unter denenſelben ſolche Coͤr-
per ſind/ die niemahlen leben/ ja wir halten
vielmehr wahrſcheinlicher zu ſeyn/ daß die
Steine/ Metallen und Mineralien unter
der Erden ſo wohl wachſen/ als die Pflan-
tzen
und Baͤume uͤber der Erden.


74. Das meiſte ja faſt alles/ was wir von
beyden (Pflantzen und Steinen\&c.) verſte-
hen/ iſt nur wahrſcheinlich und ungewiß/
und wenn wir mit unſerer Vernunfft tauſend
Jahr daruͤber ſpeculirten.


75. Und ob wir ſchon von denen Thieren/
als die unſern Weſen naͤher kommen/ noch
mehrere gewiſſe Erkaͤntnuͤß haben/ ſo iſt doch
auch dieſelbige ſo geringe und wenig/ daß nach
proportion gegen 100000. Wahrſchein-
ligkeiten
kaum eine unſtreitige Warheit
kan rorgebracht werden.


76. Alſo ſind wir nun wieder an den Men-
ſchen
ſelbſt kommen. Dieſer/ wenn er die Er-
kaͤntnuͤß/ die er von ſich ſelbſt haben kan/ gegen
die Warheiten/ die er von andern Dingen zu
erlangen ſucht/ haͤlt/ befindet er/ daß gleichwie
R 2der
[260]Das 11. Hſt. von denen unterſchied.
der Grund aller Warheiten in ihm ſelbſt lie-
get/ alſo auch er von ſich ſelbſt die allerge-
wiſſeſten
und meiſten Warheiten haben
koͤnne.


77. Zwar wenn er ſich betrachtet/ daß er
ein Weſen hat/ welches mit denen ſubſtantzen
auſſer ihn eine Gemeinſchafft hat/ befindet er/
daß er dißfalls keine klare und deutlichere Er-
kaͤntnuͤß von ſich ſelbſt hat/ als von anderen
irdiſchen ſubſtantzen/ oder zum wenigſten doch
von den Thieren.


78. Aber auch dieſer Erkaͤntnuͤß ſey nun
ſo wenig als ſie wolle/ ſo befindet doch ein je-
der bey ſich/ daß er vermittelſt derer idearum
de corporeitate \& motu ſubſtantiarum

viel und unzehlich andere Warheiten her-
leiten
und erfinden koͤnne.


79. Derer etliche ihm immer mehr und
mehr zu deutlicher Erkaͤntnuͤß der euſerlichen
Dinge anfuͤhren/ etliche aber Anleitung ge-
ben/ vermittelſt dererſelben als unſtreitiger
Warheiten kuͤnſtliche Dinge auſſer ſich/ die
denen Geſchoͤpffen Gottes nachahmen/ zuver-
fertigen.


80. Ja ob er ſchon weiß/ daß in denen enti-
bus rationis fictis
keine Warheit ſey/ ſo
weiß
[261]Claſſen waren u. warſcheinl. Ding.
weiß er doch auch/ daß er dieſelbe gebrauchen
koͤnne/ unſtreitige Warheiten dadurch zu er-
klaͤhren/ und vermittelſt derer entium ficto-
rum
dieſe ſich und andern deſto beſſer und an-
nehmlicher zu imprimiren.


81. Ferner/ ob er ſchon nicht weiß/ was
ſeine Seele ſey/ die in ihm gedencket/ ſo weiß
er doch gewiß/ was die Gedancken ſeyn/ die in
ihm von der Seele gewuͤrckt werden/ maſſen
er davon eine klare und deutliche Erkaͤntnuͤß
hat. Ja er weiß auch per modum ideæ,
daß die Gedancken bey allen Menſchen eben
das Weſen haben/ das ſie bey ihm haben.


82. Wordurch er vergewiſſert wird/ daß er
mehr Erkaͤntnuͤß von der Menſchlichen Na-
tur
habe/ als von allen andernſubſtantzen/
weil er von keiner (auch von der beſtien) ih-
ren innerlichen Weſen ſo viel erkennet/ als von
dem ſeinigen.


83. Und dieſe Erkaͤntnuͤß fuͤhret ihm zu
noch einer weiteren Vollkommenheit/ daß/ da
er aus Mangel des Erkaͤntnuͤſſes der inner-
lichen Form in denen anderen ſubſtantien ih-
ren Endzweck und ihre Wuͤrckungen nur
wahrſcheinlich begriffe/ er ſeinen Endzweck
R 3und
[262]Das 11. H. von denen unterſchied.
und ſein Thun und Laffen gantz gewiß und
unſtreitig wiſſen kan.


84. Denn er erkennet gantz gewiß die
Richtſchnur deſſelbigen/ als die ihm GOtt
in die Gedancken oder ins Hertz geſchrieben
(wie ihm die Richtſchnur anderer Dinge ver-
borgen iſt) und wenn er ſein Thun und Laſſen/
deſſen er Meiſter iſt/ darnach einrichtet/ ſo
weiß er/ daß er ihn erhalten habe/ wie er denn
auch weiß/ daß er denſelben (ſo viel er durch
die Philoſophie davon erkennet) erhalten
koͤnne.


85. Woraus weiter folget/ daß er ſeine
groͤſte (zeitliche) Gluͤckſeeligkeit klar und
deutlich begreifft/ auch zugleich gewiß weiß/
daß es in ſeinem Vermoͤgen ſtehe dieſelbe zu
erhalten.


86. Betrachtet er aber ſein eigen indivi-
duum,
ſo weiß er/ daß er ſich/ wann er nur ſei-
nen Verſtand recht brauchen will beſſer und
gewiſſer wiſſe/ als ein anderer.


87. Ja er weiß/ daß ob gleich ſein Verſtand
nicht ſo beſchaffen iſt/ daß er ſeine oder eines
andern innerliches Weſen des Leibes durch
unſtreitige Warheiten oder durch ſehr wahr-
ſcheinliche
Gruͤnde erkennen ſolte/ er dennoch
vermoͤ-
[263]Claſſen warer u. warſcheinl. Dinge.
vermoͤgend ſey/ des andern ſeine Gedancken/
wenn er auch noch ſo ſehre dieſelben zu ver-
bergen ſucht/ mit einen ſolchen Grad der
Wahrſcheinligkeit/ die unſtreitigen War-
heiten an naͤchſten koͤmmt/ groͤſten theils zu
erkennen.


88. Er weiß/ daß wenn er ſich ſelbſten recht
hat kennen lernen/ er einen andern/ der ſich
darinnen nicht geuͤbet/ beſſer und gewiſſer
kennet/ als dieſer ſich ſelbſt.


89. Endlich ſo weiß er/ daß er durch dieſe
Wiſſenſchafft ſeines und eines anderen Nu-
tzen zu wege bringen/ ſeines und eines andern
Schaden verhuͤten/ und mit einem Wort die
allgemeine Menſchliche Gluͤckſeeligkeit be-
foͤrdern
koͤnne.


Das 12. Hauptſtuͤck.
Von denen Mitteln/ auch der
Art und Weiſe neue Warhei-
ten zuerfinden.


Jnnhalt.


Connexion n.1. 2. Was neue Warheiten ſeyn/ n. 3. 4. 5. 6.
Dieſelbigen werden durch die natuͤrliche Wuͤrckung des
wohl eingerichteten Verſtandes erfunden/ n. 7. 8. Ver-
gebene Muͤhe der Philoſophen, neu Warheiten durch
R 4die
[264]Das 12. Hauptſtuͤck
die Syllogiſtic zu erfinden/ und die doctrin deinventio-
ne medii, n.
9. 10. 11. ingleichen durch die Streitigkei-
ten de methodo n.12. Urſprung dieſes alles/ n. 13. 14.
15. 16. Unmoͤgligkeit durch die Syllogiſtic, neue War-
heiten zu erfinden/ n. 17. 18. 19. 20. Syllogiſmus iſt eine
eitele Art allbereit erkante Warheiten vorzubringen/
n. 21. 22. 23. 24. Unfoͤrmligkeit der Lehren de inventio-
ne medii, n.
25. biß 30. Unnoͤthiger Streit de metho-
do n.
31. Eine einige Rege[l]de methodo, n. 32. 33. 34.
Ohnmaßgebliche Regein bey Erfindung neuer War-
heiten zu gebrauchen/ n. 35. (1) daß man einmahl die
Buͤcher bey Seite legen ſolle/ n. 36. (2) daß man
durch eigene Erfahrung etwas erfinden ſolle n. 37. 38.
(3) daß man definitiones mache und (4) die ideas divi-
dire, n.
39. Mit drey Worten/ Experire, Defini, Divi-
de, n.
40. Wegen der Experientz giebt es nicht viel
Schwierigkeiten/ n. 41. aber wohl wegen der definition
und diviſion n. 42. an welche ſich doch wenig zu kehren/
n. 43. Signa damit der Menſch die individua benen-
net/ n. 44. und die univerſalia, n. 45. nehmlich nomina
n. 46. definitiones nominales n.
47. und reales, n. 48.
dererſelben vornehmſtes reqviſitum, die Deutligkeit/
n. 49, wozu eine attention von noͤthen n. 50. Bey der
diviſion braucht es ſolcher Geſtalt keine neue Anmer-
ckung/ n. 51. als daß man nicht zu viel und nicht zu we-
nig Theile mache n. 52. in uͤbrigen ſo viel und zu offte
man will/ n. 53. 54. Bey beyden muß man keine duncke-
le und zweydeutigen Worte gebrauchen n. 55. Ferne-
re conferirung derer concepten n. 56. Principia, axio-
mata, propoſitiones n.
57. oder Concluſiones, n. 58.
zu unſtreitigen Warheiten ſchicken ſich propoſitiones
categoricæ
beſſer/ und zu denen warſcheinlichen hypo-
theticæ, n.
59, 60, Die hypotheticæ ſchicken ſich auch
zu dem falſchen/ n. 61. Hypotheſes ſchicken ſich nicht
zum Grund unſtreitiger Warheiten n. 62. aber wohl
poſtulata n. 63. Nutz derer hypotheſium bey war-
ſchein-
[265]von Erfindung neuer Warh.
ſcheinlichen Dingen n. 64. 65. und bey falſchen in de-
ductione ad abſurdum, n. 66. Deductio ad abſurdum

hilfft nichts zu Beredung der Warbeiten n. 67. Ex fal-
ſis nunqvam ſeqvitur verum n.
68. Unterſchiedener
Nutzen er propoſitionum affirmativarum \& negativa-
rum, n.
69. derer univerſalium particularium, indefini-
tarum, ſingularium, n.
70. ingleichen derer modalium.
n.
71.


1.


WJr haben in dem andern Capitel geſagt/
daß die Vernunfft-Lehre weiſen ſolle/
wie man nicht alleine der Warheit nachjagen/
ſondern auch dieſelbe finden ſolle/ und zwar
in waßerley diſciplinen es ſeyn moͤge.


2. Dannenhero iſt es nicht genug/ daß wir
in vorhergehenden Capitel gewieſen haben/ in
was fuͤr Dingen
ein Menſch unſtreitige
Warheiten oder Wahrſcheinligkeiten finden
koͤnne/ wenn wir nicht auch weiſen/ wie er ſie
finden ſolle.


3. Was er aber dergeſtalt findet/ das heiſ-
ſen neue Warheiten/ denn die alten War-
heiten weiß er nunmehr ſchon/ nehmlich die
prima fundamenta \& principia, und dero-
wegen darf er dieſelben nicht ſuchen/ weil er ſie
ſchon gefunden.


4. Jedoch muß er nicht meinen/ daß er
gantz andere Warheiten in dieſer Suchung
R 5antref-
[266]Das 12. Hauptſtuͤck
antreffen werde/ oder daß er dieſe Warheiten
auſſer ſich ſelbſt ſuchen muͤſte/ denn wenn die-
ſes waͤre/ ſo waͤren die prima principia, die
wir oben muͤhſam erklaͤret haben/ nicht prima
principia.


5. Und es iſt nichts neues/ daß ich dasjeni-
ge ſuche/ was ich ſchon beſitze/ weil dergleichen
offt bey denen vorzugehen pfleget/ die eine
weitlaͤufftig/ Bibliothec beſitzen/ oder ſich die-
ſelbige ohnlaͤngſt erkaufft haben.


6. Die neuen Warheiten ſind nichts an-
ders als neueconcluſiones, die aus denen ex
primis principiis
allbereit hergeleiteten
concluſionibus wieder hergeleitet werden/
und wiederum andere concluſiones hervor-
bringen.


7. Derowegen darffſt du gantz nicht be-
kuͤmmert ſeyn/ wie es zugehen werde/ daß du
neue Warheiten erfindeſt/ oder durch was
fuͤr ein Mittel
und methode du darzu ge-
gelangen werdeſt/ ſondern nachdem du in dei-
nen Verſtand die prima principia einmahl
feſte geſetzt/ ſo laß dieſelbige nur wuͤrcken/ und
habe Gedult darbey/ ſo wirſt du neue War-
heiten genung haben.


8. Jſts nicht wahr/ wenn du ein Canin-
gen
[267]von Erfindung neuer Warh.
gen Gehecke haben willſt/ ſo darffſt du dir nur
ein Paͤrgen kauffen/ und dieſelben ſich belauf-
fen/ und die jungen Caningen wiederum ihrer
Natur nachfolgen laſſen. Jn weniger Zeit
wirſt du ihrer mehr haben/ als ein anderer/ der
noch ſo tieff meditiret/ wie er per artem
chymicam
oder die Regel detri junge Canin-
gen zu wegen bringen werde.


9. Jch ſpuͤre wohl/ daß dir dieſe meine Leh-
re gantz nicht anſtehet/ und du ſolteſt wohl
meinen/ daß ich ſchwermte/ oder daß ich dich
fuͤr einen Gecken hielte.


10. Denn ſagſt du: Wenn die Kunſt neue
Warheiten zu erfinden ſo laͤppiſch und ſol leich-
te
waͤre/ warum haͤtten ſich dann die Gelehr-
ten
bißher ſo ſehr bemuͤhet und bemuͤheten
ſich noch/ dieſe Kunſt der gelehrten Welt bey-
zubringen.


11. Jch habe nun zwey Jahr nichs gethan/
als mich in der doctrinâ ſyllogiſtica geuͤbet/
ich habe nach dieſen ein gantzes Jahr mit ſau-
ren Schweiß in der doctrin, de inventione
medii termini,
die die Spoͤtter pontem aſi-
norum
nennen/ ſtudiret, ja ich habe ſelbſten
profundisſimè meditirt, wie man auff eine
galante und polite Art etwas de inventione
medii
[268]Das 12. Hauptſtuͤck
medii ſchreiben moͤchte/ und meine Muͤhe iſt
doch vergebens geweſen/ und ich kan mich nicht
ruͤhmen/ daß ich nur einige unerkante War-
heit damit haͤtte finden koͤnnen.


12. Ja ich habe gantze volumina de me-
tbodo
geleſen/ und bin doch noch ſo klug als
zuvor.


13. Jch weiß nicht/ mein Freund/ ob ich
mich uͤber dich erbarmen/ oder erzuͤrnen ſoll.
So viel weiß ich wohl/ daß du mir und dir viel
edle Zeit verderbeſt/ ohne Noth dieſes Capitel
lang zumachen/ daran ich ſonſt ſchon haͤtte auf-
hoͤren koͤnnen.


14. Haſt du ſchon vergeſſen/ was wir oben
eroͤrtert haben/ daß alle Menſchen der Ge-
labrheit faͤhig ſeyn/ daß die Vernunfft-Lehre
nichts uͤbernatuͤrliches lehren/ ſondern nur
weiſen ſolle/ wie wir nach der allgemeinen
Natur unſere Vernunfft brauchen muͤſſen/
daß die Kunſt der Natur nachahmen muͤſſe/
ja daß die Warheit nichts anders ſey/ als eine
Ubereinſtimmung der euſerlichen Dinge mit
der Menſchlichen Vernunfft/ u. ſ. w.


15. Haͤtten die Gelehrten nicht den be-
truͤglichen Wahn gefolget/ als wenn gemeine
Leute
der Gelahrheit nicht faͤhig waͤren/ als
wenn
[269]von Erfindung neuer Warh.
wenn die Logica artificialis gleichwohl zwi-
ſchen einen Doctor und einen Handwercks-
mann einen Unterſcheid machen muͤſte/ als
wenn die Kunſt die Natur uͤbertreffen ſolte/
ja als wenn die Warheit nur eine Uberein-
ſtimmung mit gelehrter Leute ihren Gedan-
cken waͤre/ ſo haͤtten ſie ſich dieſe vergebene
Muͤhe ſo viel hundert Jahre durch nicht ge-
macht.


16. Wie wolteſt du dich bezeigen/ wenn
die Gelehrten auf die Thorheit geriethen/ und
wolten ſich bemuͤhen/ eine Kunſt zuerfinden/
wie ſie auf eine beſondere Art/ dadurch ſie von
denen Bauern und Handwercksleuten unter-
ſchieden werden koͤnten/ Kinder zeigen moͤch-
ten? Nun iſt aber die Erfindung der War-
heit dem Menſchen eben ſo natuͤrlich/ als das
Kinderzeugen/ nur daß dieſes letzte nicht mit
ſo viel gemeinen Jrrthuͤmern verdunckelt iſt/
als jenes.


17. Jch glaube dir es ja wohl/ daß du mit
der doctrina Syllogiſtica keine neue Warhei-
ten erfinden werdeſt/ ſondern daß ſolcherge-
ſtalt die Warheit allezeit der finis externus
der Vernunfft-Lehre bleiben werde.


18 Denn mein/ was haͤlteſt du wohl von
jenen
[270]Das 12. Hauptſtuͤck
jenen Kerl/ der ſich verſchwure/ er wolte nicht
eher ins Waſſer kommen/ biß er ſchwimmen
koͤnte? Alſo verſchweren ſich viel Gelehrte/
ſie wolten nicht eher die diſciplin, welche de
primis principiis
handelt/ anſehen/ biß ſie ver-
mittelſt der Syllogiſtica haͤtten gelernet neue
Warheiten erfinden.


19. Jſt es nicht wahr/ es mag ein Syllo-
giſmus Categoricus
oder Hypotheticus,
oder eine Inductio oder ein Sorites u. ſ. w.
in forma noch ſo richtig ſeyn/ ſo koͤnnen doch
alle propoſitiones deſſelbigen in Grunde
falſch ſeyn.


20. Und wiederum kan ein Syllogiſmus
in forma
gantz nichts taugen/ und doch alle
drey propoſitiones deſſelbigen wahr ſeyn.


21. Mache mir doch einen Syllogiſmum,
wenn du nicht drey terminos oder eine pro-
poſition
und dererſelben ration haſt. Alſo
ſieheſt du/ daß du die Warheit eher haben
muſt/ eher du einen Syllogiſmummachen kanſt/
und daß der Syllogiſmus kein Mittel zu Er-
findung der Warheit/ ſondern nur eine Mode
ſey/ die erfundene Warheit in Ordnung zu-
bringen oder zu zieren.


22. Und zwar eine ſolche Mode/ die mehr
in
[271]von Erfindung neuer Warh.
in der eitelen Thorheit der Menſchen/ als in
der Natur ihr Fundament hat.


23. Derowegen gemahneſt du mich mit dei-
ner Syllogiſtica nicht anders/ als die Apote-
cker
mit der zierlichen Beſchreibung ihrer
[Buͤchſen]/ und kuͤnſtlichen Beſchneidung derer
Zettelgen/ auf welche der Titel der außgetheil-
ten Artzneyen geſchrieben iſt/ wiewohl dieſe viel
geſcheider ſeyn/ als du und deine Meiſter.


24. Denn wo haſt du wohl gehoͤrt/ daß ein
Apotecker ſeinen Geſellen weiß gemacht haͤt-
te/ daß ſie vermittelſt der Erlernung/ wie ſie
die Buͤchſen beſchrieben/ oder die Pappiergen
ſchneiden muͤſten/ die Artzneyen kennen und
præpariren lernen ſolten/ da doch an einer
Buͤchſe/ darinnen moſchus gelegen/ die in-
ſcription
von Teuffels-Dreck/ und darinnen
Gifft gelegen/ die inſcription von Mithridat
melden koͤnnen/ oder da die Zierath der Pap-
piergen mehr vanitaͤt als Klugheit andeutet.


25. Aber haſt du wohl jemahls etwas un-
foͤrmlichers
vornehmen koͤnnen/ als dich zu
bemuͤhen de inventione medii gewiſſe Grund-
Regeln zu erfinden/ oder vermittelſt der alten
hinter neue Warheiten zukommen.


26. Heiſt das nicht um einen Wagen be-
ſorgt
[272]Das 12. Hauptſtuͤck
ſorgt ſeyn/ ehe man weiß/ ob man zu Waſſer
oder zu Lande fahren ſoll/ oder aber/ wenn man
ſchon an einen Orte iſt/ erſt zu meditiren/ wie
man hinkommen ſolle.


27. Die Erfindung neuer Warheiten iſt
die Erfindung neuerconcluſionum aus alten
und ſchon bekanten mediis terminis, und du
willſt die medios terminos zu denen conclu-
ſionibus
erfinden.


28. Wenn du die concluſion ſchon haſt/ ſo
muſt du auch nothwendig den medium ter-
minum
haben/ haſt du ſie aber nicht/ ſo ſuchſt
du den medium terminum vergebens.


29. Ja wolteſt du gleich fuͤrwenden/ daß
du durch die concluſion keine cogitationem
determinatam
ſondern dubiam oder qvæ-
ſtionem
verſteheſt/ die vermittelſt des medii ter-
mini
determiniret,
und zu der concluſion
werden ſolte/ ſo wirſt du doch auch dadurch die
Nichtigkeit deines Vorhabens nicht entſchul-
digen koͤnnen.


30. Dieſe determination kan nicht an-
ders geſchehen/ als wenn du ſieheſt/ ob und wie
die Eroͤrterung der Frage an die prima prin-
cipia
gehangen/ und mit denenſelben ver-
knuͤpfft werden moͤge. Haſt du nun deine
prima
[273]von Erfindung neuer Warh.
prima principia wohl eingerichtet/ ſo wirſt
du die concluſiones gar leicht dran haͤngen
koͤnnen/ und keine Lehre de inventione me-
dii
brauchen/ haſt du aber dieſelbe in deinen
Kopff nicht auffgeraͤumet/ ſo wird alle dein
meditiren de inventione medii ſo eitel
ſeyn/ als wenn dn einen pontem aſinorum
bauen/ und denſelben an den einen extremo
mit Steckenadeln feſte machen wolteſt/ denn
es iſt kein Zweiffel/ es wuͤrden deine armen E-
ſel alle erſauffen.


31. Und was endlich die eitelen Grillen
de methodo ſyntheticâ und analytica, u. ſ. w.
betrifft/ ſo iſt es eben damit bewand/ als wenn
zwey Zaͤncker an einer Taffel ſaͤſſen/ und ſtrit-
ten mit einander/ ob es beſſer waͤre/ daß man
den erſten Schnitt in den Fluͤgel/ oder in die
Keule/ von unten hinauff/ oder von oben
herunter/ auf der rechten oder lincken Seite
thaͤte/ und die andern Gaͤſte verſuchten alle
dieſe Arten an denen auffgetragenen Huͤ-
nern/ und verzehreten ſie/ weil dieſe ſich druͤ-
ber zanckten.


32. Es iſt eine einige Regel de methodo.
Ordne eine Erweiſung oder Erfindung
der Warheit wie du willſt/ mache es nur
nicht ungeſchickt und laͤcherlich.


S33. Das
[274]Das 12. Hauptſtuͤck

33. Das iſt/ fange allezeit von leichte-
ſten und bekanteſten an/
nicht aber von den
ſchwereſten oder dunckelſten/ denn man ſuchet
das Licht nicht mit dem verborgenen/ ſondern
das Verborgene mit dem Lichte/ und ein Kind
weiß/ daß es tolle werde heraus kom̃en/ wenn
man einen Ubelthaͤter erſt zu Pulver verbren-
nen/ darnach koͤpffen/ nach dieſen haͤngen/ und
endlich den Staupbeſen geben wolte.


34. Und alſo ſey du auch ſo gut/ und un-
terſtehe dich nicht qvæſtiones intricatas zu
reſolviren oder concluſiones remotas an
die principia zu haͤngen/ eher du concluſiones
propinqvas
gelernet haſt ex principiis her-
aus zubringen/ nnd darinnen geuͤbet biſt.
Denn ſonſten wird man dich eben ſo auslachen/
als wenn einer radicem cubicam extrahi-
ren wolte/ der nur ein wenig addiren und
ſubtrahiren koͤnte/ oder ſich manu propria
uͤber die duplicationem cubi machen wolte/
der kaum die ſpecies triangulorum ver-
ſtuͤnde.


35. Aber ich mercke wohl/ du willſt mich
noch nicht ſo guten Kauffs davon laſſen/ ſon-
dern begereſt inſtaͤndig/ ich ſolte dir doch nur
in etwas Anleitung geben/ wie du aus denen
prin-
[275]von Erfindung neuer Warh.
principiisneueconcluſionesherausbringen
ſolteſt.
Denn die Schwerigkeit die man dir
bißher dieſerwegen gemacht/ hat dich ſo furcht-
ſam gemacht/ fuͤr dich ſelbſt etwas zuverſuchen/
als ein klein Kind/ daß ſich aus Furcht zu fal-
len bey allbereit ſtarcken Schenckeln nicht ge-
trauet alleine zu gehen/ weil man es gewehnet
hatte zu gaͤngeln und zufuͤhren.


36. Nun wohl dann/ ſo muß ich dir auch
ſolche lectiones geben/ wie einem ſolchen
Kinde. 1. Lege den Zaum und den Lauff-
wagen beyſeite/ das iſt: verlaſſe dich auff
die Huͤlffe anderer Leute nicht mehr/ und
lege einmahl die Buͤcher aus welchen du
bißher gewohnet geweſen neue Warhei-
ten zuſammlen/ beyſeit.


37. 2. Halte dich anfangs biß du ein recht
Vertrauen zu dir ſelbſt kriegſt/ an der Wand
oder an denen Baͤncken an/ und hutſche ſo von
dir ſelbſt fort. Das iſt: Erfahre vermit-
telſt der euſerlichen Sinnen in natuͤrli-
chen Dingen auſſer dir immer mehr und
mehr die zuvor unbekante unſtreitige
Warheiten/
die du an den Ring (B) haͤngen
oder per evidentiam ſenſuum begreiffen
kanſt/ wodurch du deines eigenen Vermoͤgens
immer mehr und mehr verſichert wirſt.


S 238. 3.
[276]Das 12. Hauptſtuͤck

38. 3. Stehe alleine ohne anhalten. Das
iſt: betrachte dieconcluſionesdie duper ſen-
ſiones
erhalten haſt/ und ſuche bey dem
ſubjectoundprædicatoderſelbendefinitio-
nes
undideas.


39. 4. Nun gehe weiter fort wohin und
wie weit du willſt/ das iſt: Reſolvirediedefi-
nitiones
oder die gantzenideasin ihre
Theile/ und dieſe wiederum in andere
Theile/ ſo weit es angehet und du von
noͤthen haſt.


40. Willſt du die gantze Kunſt in drey
Worte faſſen/ Experire, Defini, Divide.


41. Aber nun iſt abermals eine neue Noth
fuͤrhanden. Denn mir duͤnckt/ du biſt noch
nicht hiermit zu frieden. Mit der Experienz
moͤchte es endlich nicht viel zu bedeuten haben/
theils/ weil dieſelbe nicht vielen Zweiffeln un-
terworffen ſcheinet/ theils weil wir allbereit o-
ben in 6. Capitel ſo viel als noͤthig geweſen/
hiervon Unterweiſung gethan. Ja es iſt
eben bey denen adultis die experientz zu Er-
findung neuer Warheiten mehr uͤberfluͤßig
als noͤthig/ weil ſie von Jugend auf ſchon
gnugexperientiashaben/ und die Zeit ihres
Lebens gnung zuthun finden/ wenn ſie die-
ſelbi-
[277]von Erfindung neuer Warh.
ſelbigen zum definitionibus \& diviſioni-
bus
bringen wollen. Alſo wenn die Kinder
lange genung gegaͤngelt worden/ brauchen ſie
nicht eben ſich an den Waͤnden anzuhalten.


42. Alleine die definition und diviſion
macht dir das Hertze ſchwer. Denn du fin-
deſt von dieſen ſo vielfaͤltige/ dunckele/ und un-
terſchiedene Regeln bey denen philoſophis
von guter und accurater Verfertigung der-
ſelbig[e]n/ daß du nicht weiſt/ zu welchen du dich
halten ſolſt.


43. Lieber kehre dich an nichts/ und binde
dich
in definitionibusnicht an die Worte/
noch die ſubtilen Regeln/
denn die defini-
tiones
ſind nichts anders als ſigna derer Ge-
dancken von denen conceptibus univerſa-
libus.


44. Denn wenn du in denen Gedancken
individua betrachteſt/ ſo magſt du dieſelben
nennen wie du wilſt/ aber dieſes ſignum nen-
net man keine definition nicht einmahl no-
minalem,
ſondern nur nomen oder einen
Nahmen. Und du kanſt von keinen indi-
viduo
keine definition machen/ weil du von
denſelben keine conceptus diſtinctos aus-
ſprechen kanſt. Eine rechte definition aber
S 3ſoll
[278]Das 12. Hauptſtuͤck
conceptus diſtinctos haben. Zugeſchwei-
gen daß eine jede definition eine propoſi-
tion
iſt/ in einer ieden propoſition aber muß
das Prædicatum ein univerſale ſeyn.


45. Die Signa de rebus univerſalibus
ſind entweder nomina, oder definitiones nomi-
nales,
oder reales.


46. Die nomina ſtellen das univerſale
als ein totum indiviſum vor/ und ſtehen zwar
auch/ was die Erforſchung der Warheit be-
trifft/ in eines jeden Willkuͤhre/ auſſer daß ei-
nem die Sitten-Lehre verbindet von dem ge-
meinen oder gewoͤhnlichen Gebrauch nicht
ohne Urſach abzuweichen/ worvon zu ſeiner
Zeit mit mehrern.


47. Die definitio nominalis oder deſcrip-
tio
ſtellet das univerſale fuͤr als ein totum
cum aliis utcunqve collatum aut in par-
tes utcunqve diviſibile:
Und weil derglei-
chen diviſiones und collationesunzehlich
ſeyn koͤnnen/ ſo ſtehet wiederum in eines jeden
Willkuͤhr dieſelbe ſo oder ſo anzuſtellen.


48. Die definitio realis oder definitio
ſtrictè dicta,
die eigentlich hujus loci iſt/ ſtel-
let das univerſale fuͤr als ein totum cum a-
liis totis proximioribus collatum, \& in par-

tes
[279]von Erfindung neuer Warh.
tes præcipuas diviſibile. Und iſt zwar ſol-
chergeſtalt ſo willkuͤhrlich nicht als die vorigen
ſigna, jedoch iſt auch denen Worten nach
niemand eingeſchrenckt/ ſondern man darff
derer viel oder wenig/ dieſe oder jene brau-
chen/ wenn nur die definition fein deutlich
iſt.


49. Alsdenn aber iſt ſie deutlich/ wenn
die vornehmſien Theile eines gantzen alle-
ſamt
darinnen erwehnet werden. Dieſe a-
ber ſind die vornehmſten/ durch welche ein
Ding mit einem andern das ihm am naͤchſten
iſt entweder eine Gemeinſchafft hat/ oder von
demſelben eigentlich entſchieden iſt.


50. Hierzu aber iſt nichts mehr noͤthig/ als
daß man ſich nicht uͤbereile/ ſondern mitrecht-
ſchaffener attention die tota an ſich ſelbſt be-
trachte/ und gegen andere halte.


51. Und alſo ſieheſt du allbereit ſelbſten/
daß du in anſehen der diviſion keiner neuen
Regel gewaͤrtig ſeyn darffſt/ denn die diviſion
und definitionſind ſo mit einander ver-
knuͤpfft/ daß du keine
definitonhaben
kanſt/ wenn du nicht zuvor das gantze in
gewiſſe Theile abſonderſt/
und mit einem
andern univerſali das unter einem com-
S 4mun
[280]Das 12. Hauptſtuͤck
muni genere iſt/ conſiderireſt/ und du
kanſt keine
genus in ſpecieswol eintheilen/
wenn du nicht zugleich auf die
definitiones
derſelbenreflectireſt.


52. Denn wenn ich dir gleich ſagen wolte/
du ſoltcſt nicht mehr oder weniger Stuͤcke
bey jeder Eintheilung machen/ als du in gan-
tzen haͤtteſt/ ſo wuͤrde ich mich doch befahren
muͤſſen/ daß du mir dieſe Lehre wenig dancken
wuͤrdeſt/ weil ich dir ſo dann eine groſſe Nach-
laͤßigkeit/ ja in anſehen des erſten gar eine groſ-
ſe Thorheit zutrauen wuͤrde.


53. Jn uͤbrigen aber mache ſo viel Theile
als du wilſt/
und binde dich eben nicht alle-
mahl an zwey/ wiewohl die Eintheilung die
allemahl in zwey Theile geſchieht/ darzu noͤ-
thig iſt/ wenn du die eingetheilten Theile wie-
derum als neue gantze definitione reali be-
ſchreiben/ und ihre Ubereinſtimmung und Un-
terſcheid mit und von dem nechſten Theilen zei-
gen oder concipiren willſt.


54. Theile auch die erſten Theile ſo
offte du willſt/
und es angehet wieder in an-
dere ab. Denn je oͤffter du mit denen Ein-
theilungen fortgeheſt/ je mehr kriegſt du neue
Warheiten.


55. Je-
[281]von Erfindung neuer Warh.

55. Jedoch brauche ſo wohl in der defini-
tion
als diviſiondeutliche/ und wo es nur
moͤglich iſt/ gewoͤhnliche und gemeine Wor-
te. Und wo ein zweiffelhafftes oder dunckeles
Wort darinnen vorkoͤmmt/ ſo erklaͤre es als-
bald mit einer neuen definition, und ſo wei-
ter fort/ biß du ad primas ideas koͤmmſt/ die
keine weitere definition zulaſſen/ oder doch zu
ſolchen ſecundis, die allbereit bekant ſind.


56. Hiernechſt ſteht dir es frey/ wenn du
noch mehr neue Warheiten erfinden willſt/
daß du ein totum mit einem toto remotiori,
und einen Theil des gantzen mit einem parte
remotiori
oder mit einem parteeines andern
gantzen conferireſt. Denn du wirſt auch
auf dieſe Art immer neue Warheiten erlan-
gen.


57. Dieſe Warheiten nun mit Nahmen
zu unterſcheiden/ magſt du fuͤr Titel gebrau-
chen wie du willſt. Doch wird es nicht un-
foͤrmlich ſeyn/ wenn du die Warheiten/ die
aus der definition des gantzen unmittelbar
flieſſen/ und ſo ferne dieſelbe mit dem definito
reciproci
ret und convertirt wird/ principia,
die aus der diviſion oder Betrachtung der
Theile hergeleitet werden/ Axiomata, und
S 5die
[282]Das 12. Hauptſtuͤck
die endlich ex collatione reliqva entſtehen/
propoſitiones nenneſt.


58. Jedoch fange dieſer Benennung hal-
ber/ mit niemand keinen Streit an/ weßwe-
gen du auch die letzte Claſſe kanſt Concluſiones
nennen/ weil/ wie bekant in Logicis alle beſte-
hende Gedancken
propoſitiones genennet
werden.


59. Was bißher von Erfindung neuer
Warheiten gemeldet worden/ das kanſt du al-
les auch in Erfindung neuer Warſcheinlig-
keiten
anwenden/ wenn du nur darinnen einen
Unterſcheid machſt. Zu denen unſtreitigen
Warheiten ſchicken ſich propoſitiones cate-
goricæ
beſſer/ und zu denen Wahrſcheinlig-
keiten
propoſitiones bypotheticæ.


60. Deßwegen haben wir auch oben die
Darthuung hoͤchſtwarſcheinlicher Dinge de-
monſtrationem hypotheticam
genennet.


61. Ja es kan auch das Falſchebypotheticè
eine gute connexion haben/ wie aus dem ge-
meinen Exempel; ſiaſinus volat, habet pen-
nas
erhellet.


62. Dannenhero muß man ſich wohl huͤ-
ten/ daß man zum Grund unſtreitiger War-
heiten keine bypotheſes lege/ denn ſonſt koͤnte
man
[283]von Erfindung neuer Warh.
man keinen rechtſchaffenen Unterſcheid zwi-
ſchen denen unſtreitigen Warheiten und de-
nen Wahrſcheinligkeiten/ ja auch dem Fal-
ſchen ſelbſt machen.


63. Man muß aber hierbey die Poſtulata
und Hypotbcſes nicht miteinander vermiſchen.
Denn die poſtulata ſind veritates primæ in-
demonſtrabiles,
die allerdings zu unſtreiti-
ger Warheiten Grund erfordert werden.


64. Ja es hat auch die Hypotheſis einen
andern Nutzen in anſehen wahrſcheinlicher
Dinge/ einen andern in anſehen der falſchen.


65. Bey jenen braucht man ſie fuͤrnehm-
lich zuerkennen/ welche Wahrſcheinligkeit/
der andern vorzuziehen ſey/ aus welcher nem-
lich die meiſten concluſiones koͤnnen herge-
leitet werden/ oder die bey denen meiſten indi-
viduis
eintrifft.


66. Bey dieſen aber braucht man ſie ad
hominem
zu diſputiren und die falſche Mei-
nung eines abſurdi zu convinciren.


67. Weil aber/ wie oben erwehnet/ doch
unter der cognitione veri \& cognitione
falſi
ein mercklicher Unterſcheid iſt/ muß man
ſich wohl in acht nehmen/ daß man nicht da-
vor haͤlt man habe per deductionem ad ab-
ſurdum
[284]Das 12. Hauptſtuͤck
ſurdum den andern die Warheit unſerer
Meinung uͤberzeiget/ weil wir ihn nur die
Falſchheit ſeiner Meinung baben zu erkennen
geben. Nun iſt aber zwiſchen den Wahren
und Falſchen das ignotum als ein tertium
intermedium.


68. Gleichergeſtalt kan ich zwar nicht
ſagen/ qvod ex veris aliqvando ſeqvatur
falſum.
Aber das/ was wir nur itzo de
hypotheſi
erwehnet lehret uns/ qvod ex
falſis qvandoqve poſſit ſeqvi verum.


69. Nicht weniger iſt zwiſchen den pro-
poſitionibus affirmativis \& negativis
ein
groſſer Unterſcheid. Mit denen negativis
erkennen wir das Falſche und Unwarſcheinli-
che/ mit denen affirmativis die Warheiten
und das Warſcheinliche. Denn der Grund
aller Warheiten und Waricheinligkeiten ſind
propoſitiones affirmativæ, und die ſenſio-
nes
nnd ideæ, ingleichen experientia alie-
na \& conceptus accidentialis
gehoͤren alle
zu denen affirmationibus.


70. Ferner ſo gehoͤren die propoſitiones
univerſales
zu denen ideis, die ſingulares mei-
ſtentheils zu denen ſenſionibus, die indefinita
und
[285]von Erfindung der Warh.
und particulares zu denen Warſcheinligkei-
ten.


71. Wie dann auch unter denen modali-
bus
der modus Neceſſe zu denen unſtreitigen
Warheiten/ das Contingens zu denen War-
ſcheinligken/ das poſſibile zu denen unwar-
ſcheinligkeiten und das impoſſibile zu denen
unſtreitigen Unwarheiten/ da jemand Luſt da-
zu hat/ gebracht werden koͤnnen.


Das 13. Hauptſtuͤck.
Von denen Jrrthuͤmern und
deren Urſprung.


Jnnhalt.


Connexion n. 1. Nothwendinkeit dieſes Capitels n. 2. und
was bey denen ſcriptoribus, dißfals zu erinnern ſey-
n. 3. Abermahlige Betrachtung der Natur des Men-
ſchen n. 4. des Menſchen Zuſtand viel elender als der
Beſtien n. 5. was den Leib betrifft n. 6. Auch der
Seele nach kan der Menſch ohne anderer Menſchen
huͤlffe nicht gedencken n. 7. und begrelfft eher was an-
dere Leute von dem Weſen der Dinge gedencken/ als
er ſelbſt n. 8. die ſolcher geſtalt ſein natuͤrliches ver-
moͤgen zu gedencken gleichſam anfeuren n. 9. und ihm
die ſigna ſeiner concepte ſuppeditiren muͤſſen n. 10.
Die er doch Anfangs von denen Dingen ſelbſt nicht
wohl zu unterſcheiden weiß n. 11. Vortheil der Beſtien
fuͤr denen Menſchen in nachtrachtung des guten und
Meydung des boͤſen n. 12. 13. Weswegen bey dem
Men
[286]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
Menſchen auch andere Leute die Erkaͤntnuͤß des guten
und boͤſen erwecken muͤſſen n 14. und keine principia
connata moralia
wuͤrcklich bey ihm anzutreffen ſind/
n. 15. Obligation der Menſchen und ſonderlich der
Eltern/ denen Kindern die Erkaͤntnuͤß der Warheit
bey zubringen n. 16. Gegen-Obligation der Kinder
das was ihnen geſagt wird fuͤr warſcheinlich anzuneh-
men n. 17. Vorzug der Eitern vor andern Menſchen
n. 18. Exempel etlicher weniger unſtreitiger Warhel-
ten die ſich bald bey den Kindern ereignen. n. 19. Die
Kinder muͤſſen das/ was ihnen geſagt wird/ nicht fuͤr
unſtreitig wahr annehmen n. 20. Fehler ſo allenthal-
ben hierwieder begangen werden verurſachen die Jrr-
thuͤmer n. 21. Die erwachſenen Menſchen koͤnnen oder
wollen denen Kindern nicht allemahl die Warheit
beybringeu n. 22. auch die Eltern n. 23. 24. Ja was
die Eltern gut machen/ verderben die andern wieder
n. 25. Denen die Kinder mehr trauen als den Eltern
n. 26. Man lehret denen Kindern/ das ſie das was
man ihnen ſagt/ fuͤr unſtreitig wahr halten muͤſſen/
n. 27. Die Kinder haben eine groͤſſere Begierde etwas
zu erkennen als die erwachſenen Menſchen n. 28. 29.
Aber ihre meditation bierbey taugt nicht viel n. 30.
Weil die groͤſſe ihrer Begierde ihnen keine attention
zulaͤſt n. 31 ſondern eine Ubereilung wuͤrcket/ die von
einer Ungedult herruͤhret n. 32. Ubereilung bey denen
Sinnligkeiten n. 33. ideis n. 34. raiſonirung n. 35.
Erforſchung neuer Warheiten n. 36. Vorurtheile und
præjudicia woher ſie den Nahmen haben n. 37. Was
ſie ſind n. 38. Unterſcheld zwiſchen den præjudiciis und
andern Jrrthuͤmern n. 39. Jhr Hauptqvell iſt die
Leichtglaͤubigkeit n. 40. Zweyhaupt-præjudicia: Das
Vorurtheil menſchlicher autoritaͤt/ und das Vorur-
theil der Ubereilung n. 41. deren Zuſammenhaltung
n. 42. in Betrachtung ihres Urſprungs n. 43. 44. al-
ters n. 45. und Tauerhafftigkeit n. 46. Das præjudici-
um
[287]Jrrthuͤmern und deren Urſprnng
um autoritatis kan man ſehr ſchwerlich loß werden
num. 46 biß 51. Es wird durch das præjudicium præ-
cipitantiæ
beſeſtiget n. 52. und befeſtiget dieſes eben-
fals n. 53. Der Menſch ſchleppet ſich mit dieſen bey-
den præjudiciis auch in ſeinem zunehmenden Alter
n. 54. 55. theils wegen der augewehnten Ubereilung
n. 56. theils weil dieſe præjudicia von denen Gelehr-
ten gewaltig vertheydiget werden: n. 57. Der Ur-
ſprung derer abſonderlichen præjudiciorum der Ge-
lehrten/ n. 58. iſt der Ehrgeitz n. 59. Wodurch das
præjudicium autoritatis gleichſam ſein Leben er-
haͤlt n. 60.


1.


WJr haben bißhero von Erkaͤntnuͤß
des wahren/ falſchen und warſcheinli-
chen/ wie auch von Erfindung neuer
Warheiten genung geredet. Wir haben aber
oben gedacht/ daß ein Jrrthum heiſſe/ wenn
man das falſche wahr zu ſeyn glaube/ oder das
unwahrſcheinliche fuͤr wahrſcheinlich halte. Ja
wir haben oͤffters vieler allgemeiner Jrr-
thuͤmer
erwehnet/ und oben geſagt/ daß die
Menſchen muthwillig aus Liebe zu denen præ-
judiciis
ihren Verſtand verdunckelten. Alſo
iſt nun nichts mehr uͤbrig/ als daß wir von der-
gleichen gemeinen Jrrthuͤmern und deren
Urſprung
etwas deutlicher reden.


2. Denn weil die Warheit und Warſchein-
ligkeit/ ja die gantze Vernunfft-Lehreauff ſo
leichte
[288]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
leichte Regeln gegruͤndet iſt/ als wir ſolches dar-
gethan/ auch die Erfindung neuer Warheiten
mehr Auffmerckſamkeit als ſonderlichen Witz
erfodert/ ſo verdienet die Unterſuchung von
den Urſprung der gemeinen Jrrthuͤmer/ denen
die ſo genannten Gelehrten ja ſo wohl/ und zu-
weilen noch mehr beypflichten/ als die Unge-
lehrten/ allerdings eine genaue Betrachtung/
umb zu ſehen/ was die Urſache ſey/ daß die
Menſchen/ die ohne Muͤhe die Warheit
beſitzen ſolten/ derſelben ſo gar vielfaͤltig
verfehlen/
und daß ſonderlich diejenigen/ die
andere von denen Jrrthuͤmern zu der War-
heit fuͤhren ſolten/ oͤffters am tieffſten darinnen
ſtecken.


3. Ja es wird unſere Muͤhe dißfalls weder
vergebens noch unangenehm ſeyn/ weil die
Gelehrten entweder gar nichts von dieſer Sa-
che in ihren Schrifften hinterlaſſen/ oder die
wenigen/ bey denen man hiervon etwas findet/
theils ſolche noͤthige doctrin uur uͤberhaupt
und obenhin
tractiret, und alſo wegendieſer
Nachlaͤßigkeit aus allzugroſſer Begierde die
Jrthuͤmer zu meiden/ am eheſten in dieſelben
verfallen/ theis hiervon ſehr confus und ohne
accuraterOrdnungtractiret; theils neuer
und
[289]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
und dunckeler Woͤrter/ die die Sache ver-
druͤßlich machen/ ſich bedienet; theils aber
mehr umb ſpecificirung etlicher allge-
meiner Jrrthuͤmer/ als um Erforſchung de-
rer Haupt-Quellen/ oder doch nur um den Ur-
ſprung der Jrrthuͤmer in der Religion nach
Anleitung der heiligen Schrifft beſorgt ge-
weſen/ zu geſchweigen/ daß auch etliche von
denen/ die von dieſer materie geſchrieben/ von
andern Gelehrten vor Atheiſten pflegen aus-
geſchrien zu werden.


4. Wir werden aber nichts fuͤglicher hier-
innen ſchaffen koͤnnen/ als wenn wir die Na-
tur des Menſchen von Jugend auff
wie-
derum in Betrachtung ziehen/ damit wir ge-
wahr werden/ zu welcher Zeit denn die Jrr-
thuͤmer bey denſelben anheben.


5. Obſchon der Menſch eine viel vollkom-
menere Creatur iſt als die unvernuͤnfftigen
Thiere; ſo iſt doch offenbahr/ daß in gewiſſer
maſſe ſein Zuſtand in ſeiner zarten Jugend
mit groͤſſern Elende uͤmbgeben ſey als de-
rer Beſtien.


6. Denn viele unvernuͤnfftige Thiere ſind
alſobald nach der Geburt in der Vollkom-
menheit/ daß zur Noth/ auch ohne Zuthuung
Tan-
[290]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
anderer Thiere ihres Geſchlechts ſie ſich wuͤr-
den hinbringen und ihre Nahrung ſuchen
koͤnnen. Aber die Menſchen-Kinder wuͤrden
verderben und umkommen/ wenn nicht ande-
re Menſchen nach ihrer Geburt ſich ihrer an-
naͤhmen/ ſie mit Nahrung und Speiſe ver-
ſaͤhen/ ihre Gliedmaſſen zum Gehen ange-
woͤhneten. ꝛc.


7. Ja die Seele ſelbſt kan ſich ohne Zu-
thuung anderer Menſchen ſo zu ſagen nicht
fort helffen. Und wir erkennen wohl/ daß ſie
bey denen kleinen Kindern etwas thun muͤſſe;
aber ehe ſie reden/ oder zum wenigſten ande-
rer Menſchen Reden verſtehen/ koͤnnen wir
nicht ſagen/ daß ſie gedencken/ weil wir oben
behauptet/ daß die Gedancken in einer inner-
lichen Rede beſtehen/ welche innerliche Rede
eine euſſerliche Rede præſupponiret.


8. Dieweil aber die euſſerliche Rede eine
Anzeigung iſt der Gedancken anderer Men-
ſchen/ ſo folget daraus nothwendig/ Daß die
Kinder erſt begreiffen/ was andere Men-
ſchen von den Weſen der Dinge geden-
cken/
ehe ſie ſelbſt davon eigentlich zu reden et-
was gedencken/ oder daß in der zarten Ju-
gend die Gedancken der Kinder von dem We-
ſen
[291]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
ſen der Dinge ſich nach denen Gedancken
anderer Menſchen richten.


9. Den ob wir gleich gerne zugeben/ daß
in der menſchlichen Seele ein natuͤrliches
Vermoͤgen
ſey zu gedencken. und das wahre
von dem falſchen zu entſcheiden/ ſo wuͤrde doch
ſolches Vermoͤgen ihm nichts nuͤtzen/ wenn es
nicht durch Huͤlffe anderer Menſchen ange-
feuret wuͤrde: und man ſtelle ſich nur einen
Menſchen vor/ der in der Wildniß von ſei-
ner Geburt an/ auch in die 20. Jahr ſich auff-
gehalten/ und daſelbſt unter den wilden Thie-
ren gelebet haͤtte/ ob man begreiffen koͤnne/ daß
deſſelben Seele in Erkaͤntniß der Warheit
merckliche Wuͤrckungen habe vollfuͤhren koͤn-
nen.


10. Dannenhero iſt es zwar an dem/ daß die
kleinen Kinder bey Erblickung anderer crea-
turen
einige dunckeleconcepte ſich von de-
nenſelben machen/ aber ſie haben das Vermoͤ-
gen nicht/ dieſe concepte vor ſich ſelbſt von
andern concepten durch gewiſſe Zeichen
zu entſcheiden/ ſondern ſie begreiffen es nach
denen ſignis die ſie hoͤren/ daß ſie ihnen von
andern Menſchen gegeben werden: undfra-
T 2gen
[292]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
gen dannenhero allezeit bey Erblickung einer
Sache: Was iſt das?


11. Daraus pflegt ferner zu geſchehen/ daß
die Kinder noch nicht faͤhig ſind die ſigna von
denen Gedancken oder von denen euſſerli-
chen Dingen
ſelbſt zu entſcheiden/ ſondern
ſie glaͤuben/ daß das ſignum und das Weſen
das es bedeutet/ eines ſey. Z. e. das Wort:
Pferd/ Menſch/ Eſel/ ſey die Idea des Pfer-
des ꝛc.


12. Ferner/ gleich wie alle Wiſſenſchafft
dem Menſchen gegeben iſt/ ſeinen warhaffti-
gen Nutzen zu befoͤrdern/ und ſeinen Schaden
zu verhuͤten; alſo iſt es leider mit dem Men-
ſchen ſo bewandt/ daß/ wie die beſtien von Na-
tur das was ihnen ſchaͤdlich iſt/ meiden/ und
dem was ihnen nutzet/ nachtrachten/ der
Menſch in ſeiner Kindheit das boͤſe von
dem guten nicht zu entſcheiden weiß.


13. Ein junges Pferdt/ wenn es Berg-
unter gehet/ oder uͤber einen Graben gehen
ſoll/ gehet ſehr langſam/ und richtet die Be-
wegung ſeines Leibes darnach ein/ daß es nicht
faͤllt. Das Vieh ſcheuet gemeiniglich das
Feuer/ und iſt wenig Gelegenheit unterworf-
fen ſich ſelbſt zu verletzen: Aber die Kinder
lauf-
[293]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
lauffen ordentlich tollkuͤhne zu; Ja ſie halten
bey denen erſten Faͤllen nicht einmahl die
Haͤnde vor; ſie ſcheuen ſich nicht fuͤr dem Feu-
er/
biß ſie ſich gebrandt haben; Sie thun ſich
ſelbſt Schaden an/ wenn man ſpitzige oder
ſchneidende Sachen ihnen in die Haͤnde giebet
u. ſ. w.


14. Dannenhero erfodert abermahl die hoͤch-
ſte Nothwendigkeit/ daß in dieſer zarten Ju-
gend durch andere Menſchen die concepte
der Kinder von guten und boͤſen excitiret
werden; nicht alleine was den Leib und deſ-
ſen Unterhaltung betrifft/ ſondern auch noch
vielmehr was die Guͤter der Seelen/ und
ſonderlich was das bonum morale anlan-
get.


15. Denn was man insgemein de princi-
piis moralibꝰ connatis
zu ſchwatzen pfleget/
laſſen wir zwar ietzo in ſeinem Werth und Un-
werth beruhen; Jedoch wuͤrde es ſehr thoͤricht
gehandelt ſeyn/ wenn man glauben wolte/ daß
die kleinen Kinder von ſelbſt die Wiſſenſchafft
derer principiorum moraliumwuͤrcklich
und in der That beſaͤſſen/ da man doch taͤglich
ſiehet/ daß ihr meiſtes Thun und laſſen nicht
alleine denen Grund-Regeln der Morale zu-
T 3wider
[294]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
wider iſt; ſondern auch gnugſam zu verſtehen
giebt/ daß ſie nicht einmahl pon denen terminis,
die man bey denen principiis moralibus zum
ſubjecto und prædicato brauchen muß/ eine
ideam oder deutlichen concept haben.


16. Derowegen lieget theils insgemein an-
dern Menſchen/ theils aber abſonderlich de-
nen Eltern ob/ nicht nur ſich zu huͤten/ daß
denen Kindern nichts falſches von Erkaͤntniß
des Weſens der Dinge/ und fuͤrnehmlich des
guten uñ boͤſen beygebꝛacht weꝛde/ ſondern auch
hauptſaͤchlich ſich dahin zu bearbeiten/ daß die
Erkentniß der Warheit und des guten bey
ihnen taͤglich mehr zunehme und befeſtiget
werde.


17. Wiederum kan es nicht fehlen/ es muͤſ-
ſen die Kinder in dieſer zarten Jugend/ und ſo
lange ihr Verſtand noch nicht reiff iſt/ das
wahre von dem falſchen und das boͤſe von dem
guten ſelbſt zu entſcheiden/ gleichfals ſchuldig
ſeyn/ dasjenige was ihnen von andern Men-
ſchen/ und ſonderlich von ihren Eltern/ oder
denen ſolches von ihren Eltern auffgetragen
worden/ dißfalls geſaget wird/ ſo lange wahr
zu ſeyn glauben/ oder vielmehr ſo lange
als wahrſcheinlich
annehmen. Denn ohne
dieſe
[295]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
dieſe obligation der Kinder wuͤrde die obliga-
tion
der erwachſenen Menſchen und der El-
tern vergebens ſeyn/ und ihren effect nicht er-
reichen.


18. Ja weil denen Eltern die ſchwereſte
Laſt auff dem Halſe lieget/ ihre Kinder in die-
ſem Stuͤcke wohl auff zu erziehen; als erfor-
dert die Vernunfft/ daß wenn andere Men-
ſchen denen Kindern eine widrige Meinung
von Erkentniß der Warheit und des guten
imprimiren wolleu/ als die Eltern/ oder die/
an welche die Eltern die Kinder gewieſen/ ge-
than haben/ die Kinder ſo dann dieſen letztern
mehr Glauben
beymeſſen ſollen/ als jenen.


19. Denn in dieſen zarten Jahren iſt der
Verſtand gantz ungeſchickt das wahre oder fal-
ſche von ſich ſelbſt zu entſcheiden/ auſſer daß
man ſiehet/ daß man ein Kind nicht bereden
koͤnne daß etwas zugleich ſey oder nicht ſey;
daß es dieſes und zugleich ein anders ſeyl;
daß das gantze nicht groͤſſer ſey als ſein
Theil/
und was dergleichen wenige unſtreiti-
ge Lehrſaͤtze mehr ſeyn/ die ſich bey denen Kin-
dern ſo bald ereignen/ als ſie ihren Verſtand
nur in etwasan den Tag geben koͤnnen.


20. Gleichwohl iſt es noͤthig/ daß wier die-
T 4ſe
[296]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
ſe obligation der Kinder nicht weiter erſtre-
cken/ als dieſelbige gehet. Denn ſie will nicht
mehr ſagen/ als daß die Kinder dasjenige was
ihnen die Eltern u. ſ. w. beybringen/ nur
ſo lange fuͤr wahrſcheinlich halten/ biß ihr
Verſtand ſelbſt reiff wird die Warheit zu un-
terſuchen; nicht aber/ daß ſie glauben/ daß ſol-
ches unſtreitig wahr ſey/ vielweniger/ daß
ſie ſich ſolches taͤglich iemehr und mehr bere-
den. Denn wir haben oben verhoffentlich ge-
nugſam erwieſen/ daß die euſſerliche Verſiche-
rung von andern Menſchen/ ohne unſerer eige-
nen innerlichen Vergewiſſerung/ nach Gele-
genheit der Umſtaͤnde zwar eine Wahrſchein-
ligkeit/ niemahls aber eine unſtreitige Wahr-
heit zuwege bringen koͤnne.


21. Wenn dannenhero der Zuſtand des
menſchlichen Geſchlechts zulieſe: daß eines
Theils die Eltern oder andere Menſchen de-
nen Kindern die wahre Errkaͤntniß des We-
ſens der Dinge und des guten beybraͤchten;
anders theils die Kinder alles das was ihnen
von verſtaͤndigen Leuten geſagt wird/ fuͤr be-
kant annaͤhmen/ auch ihren Eltern und Præ-
ceptoribus
mehr glaubten als andern/ die ſie
von der Lehre dieſer abzufuͤhren trachten/ oder
doch
[297]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
doch zum wenigſten daßjenige/ was ſie in der
Jugend von andern begriffen/ nur fuͤr wahr-
ſcheinlich hielten/ und ſich ſolches nicht als un-
ſtreitige wahre Dinge imprimirteu/ ſo wuͤr-
den vielleicht gar keine oder wenig Jrrthuͤmer
in der Welt ſeyn. Alleine nachdem leider !
durchgehends die menſchliche Geſellſchafft ſo
verderbet iſt/ daß faſt uͤberall in allen dieſen
Stuͤcken das Gegentheil beobachtet wird/ darff
man ſich nicht wundern/ daß alles voller Jrr-
thuͤmer wimmelt/ und daß ſolcher geſtalt/ de-
nen Kindern nebſt etlichen wenigen War-
heiten viel
millionen Jrrthuͤmer nothwen-
dig beygebracht werden muͤſſen.


22. Denu anfaͤnglich iſt es ausgemacht/
daß/ weil die erwachſenen Menſchen/ die mit
denen Kindern umgehen/ ſelbſten groſſe Maͤn-
gel entweder am Verſtande oder am Willen
haben/ ſo wollen ſie auch nicht/ oder koͤnnen
zum wenigſten nicht/ wenn ſie gleich gerne
wolten/ denen Kindern Warheiten beybrin-
gen/ ſondern ſie ſuchen vielmehr ihnen ihre ei-
gene Jrrthuͤmer theilhafftig zu machen/ oder
bereden ſie etwas falſches aus Schertz/ oder ih-
rer zu ſpotten/ u. ſ. w.


23. Ja die Eltern ſelbſt begehen in dieſem
T 5Stuͤck
[298]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
Stuͤck gleiche Fehler/ indem unter ſo viel tau-
ſend Eltern die meiſten die Warheit ſelbſt nicht
erkennen/ ſondern in den præjudiciis biß an
den Hals ſtecken. Wie ſolte nun ein Blin-
der dem andern den Weg weiſen.


24. Und wie offte geſchiehets/ daß die El-
tern den Kindern was imprimiren, daß ſie
ſelbſt wohl wiſſen/ daß es nicht wahr ſey/ und
dennoch die Kinder dergleichen bereden/ ent-
weder mit ihnen zu ſpielen/ oder aber mehren-
theils zwar zu einem guten Abſehen/ welches
aber doch/ wenn man es genau beſiehet/ ein
thoͤrichtes Mittel iſt darzu zu gelangen. z. e.
Die Fabeln von dem heillgen Chriſt; viel eite-
le perſvaſiones die gebraucht werden/ der
Kinder ihre affecten zu beſaͤnffeigen u. ſ. w.


25. Geſetzt aber/ der weiſeſte Mann bemuͤ-
hete ſich ſeine Kinder dergeſtalt auffzuerziehen/
daß er ihnen nichts als eitel Warheiten/ deren
ihr Verſtand faͤhig iſt/ beybraͤchte/ (welches
doch eine conditio iſt/ die unter 10000.
Menſchen kaum ein einig mahl zu hoffen iſt/)
wie iſt es moͤglich/ daß ein ſolcher weiſer Mann
ſtetig um ſeine Kinder iſt/ und alſo abwehret/
daß/ ich will nicht ſagen/ durch ſein Weib/ ſon-
dern durch ſein Geſinde und durch andere
Men-
[299]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
Menſchen/ abfonderlich aber durch die Spiel-
Cameraden/
an ſtatt derer von ihm erler-
neten Warheiten/ ſie nicht mit falſchen Thor-
heiten angefuͤllet werden.


26. Zumahlen da es wegen der denen Kin-
dern von Jugend auff anklebenden inclina-
tion
zu den bloſſen Sinnligkeiten und Muͤſ-
ſiggang/
leider durchgehends ſo beſchaffen iſt/
daß ſie dem Geſinde und ihres gleichen muth-
willigen Kindern/
die gemeiniglich ihren
Sinnligkeiten und Muͤßiggang ſchmeicheln/
mehr glauben/ als denen Eltern/ und folglich
dieſe boͤſe Geſellſchafft in einem Augenblick der
Erkentniß der Warheit mehr ſchaden thut/ als
der Eltern [und]Præceptoren ihre gute In-
formation
in langer Zeit Nutzen geſchaf-
fet.


27. Endlich giebt es die taͤgliche Erfah-
rung/ daß ſo wohl die Eltern zu Hauſe/ als
die Præceptores in denen Schulen gemeini-
glich denen Kindern das hoͤchſtſchaͤdliche prin-
cipium
beybringen/ und durch alle Mittel
und Wege daſſelbige befeſtigen/ daß ſie die ih-
nen in der Jugend beygebrachte Erkentniß
nicht ad interim fuͤr wahrſcheinlich anneh-
men/ ſondern fuͤr unſtreitig wahr und in-
fal-
[330[300]]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
fallibel, ja gar fuͤr Glaubens-Articulhal-
ten ſolten; und iſt nichts neues/ daß man unter
uns wohl gar des vierdten Geboths hierzu
mißbrauchet.


28. Dieſes iſt nun der Zuſtand der Kinder in
Anſehen der Erkaͤntniß der Warheit/ ſo ferne
ihnen dieſelbige von andern Menſchen bey-
gebracht wird/. Wir muͤſſen aber auch ein
wenig noch erwegen/ auff was Art die Kinder
fuͤr ſich ſelbſt die Warheit zu erforſchen be-
gierig ſind/ und zu dieſem Ende raiſoniren;
Denn ob gleich/ wie obgedacht/ die Seele der
Kinder noch nicht faͤhig iſt/ von ſelbſt das wahre
und falſche zu entſcheiden; ſo laͤſt ſich doch auch
in der Jugend eine groſſe Begierde unbe-
kandte Dinge zu wiſſen/
und theils vermit-
telſt der Sinnligkeit/ theils auch vermittelſt
eigenen Nachdenckens darhinter zu kommen
ſpuͤhren. Und gewiß die kleinen Kinder ſind
in dieſem Stuͤck noch curieuſer als erwachſene
Menſchen.


29. Denn ſie haben mehr Zeit darzu als
erwachſene Menſchen einer Sache nachzuden-
cken/ indem ſie mit keinen Geſchaͤfften uͤber-
haͤufft ſind/ und die natuͤrliche Luſt/ die ein ie-
der Menſch bey ſich empfindet/ wenn er etwas
bißher
[301]Jrrthuͤmern und deren Urſpung.
bißher unbekandtes zu wiſſen kriegt/ treibet die
Kinder um ſo viel ſtaͤrcker an/ vermittelſt der
Sinnligkeiten etwas zu erfahren/ weil ihnen
wegen ihrer wenigen Wiſſenſchafft nnd Er-
fahrung faſt alles unbekandt und alſo neu
iſt.


30. Wenn demnach die Kinder bey dieſer
ihrer eigenen Curioſitaͤt und meditation.
diejenigen Umſtaͤnde beobachteten/ die wir oben
weitlaͤufftig erklaͤret/ als wir von denen erſten
und unſtreitigen Warheiten gehandelt; So
wuͤrden ſie auch durch dieſelbige zu keinen neu-
en Jrrthuͤmern verfuͤhret werden; dieweil ſie
aber allbereit/ wie erwehnet/ durch beybrin-
gung anderer Leute mit vielen Jrrthuͤmern uͤ-
berhaͤuffet ſind/ und alſo der Grund ihrer
Wiſſenſchaffe nichts tauget; ſo iſt leichte zu er-
achten/ daß die darauff gebautemeditation
oder experienz gleichfalls vielen Jrthuͤmern
unterworffen ſeyn muͤſſe.


31. Denn weil die Begierde etwas unbe-
kandtes zu wiſſen bey den Kindern mit einen
ſtarcken Trieb ſich ereignet/ ſo laͤſt die ſelbi-
ge ihnen die bey Erkentniß der Warheit hoͤchſt
noͤthige/ aber eine ſonderliche Gemuͤths-Ru-
he erfordernde attention und genaue Be-
trach-
[302]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
trachtung derer Umſtaͤnde bey denen vorfal-
lenden Sinnligkeiten/ ſo wohl auch die genaue
Unterſuchung/ wie man die rechten ideas
von denen conceptibus veroſimilibus ent-
ſcheiden ſolle/ nicht zu.


32. Dannenhero findet man durchgehends
bey denen Kindern eine merckliche Uberei-
lung
in ihren eigenen experienzen und rai-
ſonir
ungen/ welches aus nichts anders her-
ruͤhret/ als aus einer ihre Begierde unbekant-
te Warheiten zu erforſchen begleitenden Un-
gedult. Denn gleich wie jene ſie zwar inſti-
gir
et/ zu dieſen guten endzweck zu gelangen/ alſo
hindert ſie doch dieſe/ daß ſie derer hier zu dien-
lichen Mittel ſich faſt durchgehends nicht bedie-
nen/ und alſo auch faſt nimmer beſagten ſco-
pum
erhalten.


33. Denn dieſe Ungedult verurſachet/ daß
ſie bey denen vorfallenden Sinnligkeiten von
einer Sache eher urtheilen/ eher dieſelbige zu
gehoͤriger diſtanz gebracht worden/ daß ſie
die Bildungen/ die ſich in unſern Gehirne ein-
druͤcken/ oder den Schein der Sache/ mit der
Sache ſelbſt oder deren Urſache vermiſchen/
daß ſie von Sachen urtheilen/ darvon ſie nur
durch einen Sinn einige Bildungen erhalten/
ehe
[303]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
ehe und bevor ſie mit denen andern Sinnen
auch das Weſen derſelben gepruͤfet/ das ſie bey
denen Sinnligkeiten/ die nicht allen Men-
ſchen gemein ſind/ oder da ſich die ſenſoria.
eines einigen Menſchen offte zu aͤndern pfle-
gen/ gar zu abſolut von einer Sache urthei-
len u. ſ. w.


34. Sie verurſachet ferner/ daß ſie oͤffters
conceptus rerum accidentales, die bey vielen
(oder auch wohl die bey wenigen) individuis
zu finden ſind/ fuͤr rechte ideas annehmen.


35. Sie verurſachet/ daß in Herleitung oder
Erkentniß derer Warhriten/ ſo von denen pri-
mis principiis
etwas entfernet ſind/ ſie eine
propoſition mit der andern vermiſchen/
fuͤr gleichguͤltig annehmen/ die dergleichen
nicht ſind/ oder dieſelben umbkehren/ die
nicht convertiret werden koͤnnen; oder die
Urſachen/ ſo ihnen am erſten beyfallen/ ohne
Unterſuchung ob ſie was taugen oder nicht/ an-
nehmen/ und nicht betrachten/ ob ſie mit un-
ſtreitigen Warheiten verknuͤpfft werden koͤn-
nen.


36. Zu geſchweigen/ daß eben dieſe unge-
dultige Begierde in Erforſchung neuer War-
heiten/
oͤffters die Menſchen von Jugend
auff
[304]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
auff antreibet/ verbotene und unzulaͤßige
Sinnligkeiten
zu begreiffen/ und das Boͤſe
mehr als das Gute zu erkennen/ oder allzu
ſubtilen/ unnoͤthigen/ auch wohl verbote-
nen Wiſſenſchafften
nachzutrachten/ und
darzu zu gelangen/ ſich entweder laͤcherlicher/ o-
der ebenmaͤßig unfertiger Mittel zu bedienen.


37. Aus dieſen/ was wir bißher geſagt ha-
ben/ werden gar leicht die Urſpruͤnge und
Haupt-Quellen aller Jrrthuͤmer
zu er-
kennen ſeyn. Sie werden insgemein præju-
dicia
oder vorurtheile genennet/ theils weil
dieſelbe bey den Menſchen alsbald ſich ereig-
nen/ ehe ſein Verſtand und judicium noch
recht reiff iſt/ theils/ weil vermittelſt derſelben
der Menſch aus Unbedachtſamkeit eher urthei-
let/ als er die Sache gehoͤrig gepruͤfet.


38. Dannenhero ſind die præjudicia und
Vor-Urtheile nichts anders als falſche Mei-
nungen die uns von Erkentniß der War-
heit abfuͤhren/ welche ſich der Menſch oh-
ne Urſache wahr zu ſeyn beredet/ entwe-
der/ weil er aus Leichtglaͤubigkeit von an-
dern/ deren
autoritaͤt er getrauet/ deſſen
beredet worden/ oder weil er aus Unge-

dult
[305]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
dult und darauff erfolgter Ubeꝛeilung ſich
deſſen ſelbſt beredet:


39. Daß die præjudicia uns von der Er-
kentniß der Warheit ab
fuͤhren/ das haben ſie
mit allen falſchen Meinungen gemein/ darinnen
aber iſt der Unterſcheid/ daß bey denen præjudi-
ciis
die Urſache/ darauff ſie ſich gruͤnden/ gantz
keine nothwendigeconnexion mit dergleichen
Jrthuͤmern hat/ und alſo fuͤr keine Urſache zu hal-
ten iſt/ da doch in andern/ aus dergleichen præju-
diciis
hergeleiteten falſchen Meinungen zum we-
nigſten eine nothwendige connexion zwiſchen
dem Jrrthum und præjudicio ſeyn kan. Die
præjudicia ſind der Quell aller falſchen Mei-
nungen/ die uͤbrigen Jrrthuͤmer ſind die daraus
flieſſenden Baͤchlein.


40. Der Hauptquell aller præjudiciorum.
iſt der elende Zuſtand des Verſtandes der
Menſchen in ſeiner Jugend/ und die demſelben
anklebende Leichtglaͤubigkeit/ durch welche er
ſich was falſches geſchwinde bereden laͤſt/ oder
ſelbſt beredet.


41. Und weil dieſe eitele Beredung theils
auſſer dem Menſchen von andern herruͤhret/
theils in ihm ſelbſt verborgen iſt/ ſo entſtehen da-
hero zwey allgemeine Haupt
præjudicia denen
man alle Jrrthuͤmer/ die auff der Welt ſeyn/ zu-
ſchreiben kan/ davon wir das eine das Vorur-
theil menſchlicher
autoriiaͤt/ das andere aber
das Vornurtheil der Ubereilung neñen wollen.


U42. Wie
[306]Daß 13. Haupſtuͤck von denen

42. Wie es mit beyden in der Jugend hergehe/
haben wir allbereit in vorigen gnugſam betrach-
tet/ ietzo wollen wir nur dieſe beyden Bruñquellen
alles Ubels noch ein wenig gegen einandercon-
feriren.


43. Jenes/ das præjudicium autoritatis, ruͤhret
aus einer unvernuͤnfftigen Liebe gegen an-
dere Menſchen
her/ und wird zuweilen durch ei-
ne eingedruckte Furcht/ daß uns nichts Ubels
wiederfahre/ bekraͤfftiget.


44. Dieſes aber/ das præjudicium pracipitan-
tia.
ruͤhret aus einer unvernuͤnfftigen Selbſt-
liebe
zn unſerer Gemachligkeit her/ unſerer Nach-
laͤßigkeit und Ungedult zu ſchmeicheln und ihnen
ſanffte zu thun/ uñ wird auf gleiche weiſe durch ei-
ne unzeitige Scham oder faulheit bekraͤfftiget.


45. Jenes iſt aͤlter als dieſes/ und dannenhero
tieffer eingewurtzelt. Denn wir glauben an-
dern Leuten eher als wir ſelbſt zu raiſoniren an-
fangen.


46. Alſo folget auch daraus/ daß man dieſes e-
her loß werden kan/ als jenes/ wiewohl dieſer
Satz auch aus dem erſten Uuterſchied erwieſen
werden kan.


47. Denn weil das præjudicium autoritatis
ſich fuͤrnehmlich in einer unvernuͤnfftigen Liebe
anderer Menſchen gruͤndet/ die præcipitanz aber
mehr auff eine unvernuͤnfftige Selbſtliebe zielet;
ſo haͤnget auch jenes dem Menſchen feſter an/ als
dieſes; maſſen wir dann ſchon zu ſeiner Zeit dieſes
para-
[307]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.
paradoxum gar ausfuͤhrlich beweiſen wollen/
daß die unvernuͤnfftige Liebe gegen andere
Dinge allezeit ſtaͤrcker iſt/ als die unver-
nuͤnfftige Eigenliebe.


48. Z. e. Ein Menſch der aus præcipitanz einen
viereckten Thurm fuͤr rund; einen geraden Ste-
cken fuͤr krumm/ u. ſ. w. angeſehen/ erkennet ſei-
nen Jrrthum
[durch] augenſcheinliche Erwei-
ſung gar leichte/ ja wenn er einen uͤbel zuſam̃en-
hengenden Schluß gemacht/ kan man ihn ohne
ſonderliche Muͤhe dahin bringen/ daß er ſeine U-
bereilung erkenne.


49. Aber [wenn] einer einmahl aus Thoͤrichter
Liebe zu menſchlicherautorit aͤt eine falſche Mei-
nung eingeſogen/ iſt dieſelbe ſo ſchwer wieder loß
zu werden/ daß oͤffters die ſonſt kluͤgſten Leute
nicht dran wollen/ den Jrthum zu erkennen/ ob ſie
gleich die Wiederlegung deſſelben nicht beant-
worten koͤnnen/ ſondern liebkoſen demſelbigen/
wenn ſie nicht weiter koͤnnen/ daß ſie ſich bereden/
es ſey der Mangel an ihrem Verſtande und
wuͤrden die/ von denen ſie ihre Meinuung her-
haben/ dieſelben ſchon beſſer vertheidigen koͤñen.


50. Ja wie oͤffters hoͤret man dieſe unvernuͤnff-
tige Reden: Jch will mit dieſen vornehmen
Manne lieber irren/ als mit einen andern
Menſchen der Warheit bey pflichten; oder:
Jch werde mich dieſes nicht bereden laſſen/
wenn auch gleich meine An en mich eines
andern verſicherten.


U 2Zu
[308]Das 13. Hauptſtuͤck von denen

51. Zu geſchweigen/ daß viel tauſend Exem-
pel
koͤnten angefuͤhret werden derer/ die viel eher
um anderer Menſchen irrige Meinung ihr
Leben gelaſſen/
als derer die umb diejenigen/
derer Urſprung von ihnen ſelbſt hergeruͤhret/ viel
gelitten haͤtten.


52. Wiewohl nun dieſe beyden Haupt-præ-
judicia
dergeſtalt dem Weſen nach unterſchie-
den ſind/ ſo ſind ſie doch mehrentheils in der That
mit einander in denen Menſchen vereiniget/ und
biethen einander huͤlffliche Hand; denn das præ-
judicium autoritatis
wird nachgehends bey dem
Menſchen taͤglich durch eine groſſepræcipitanz
befeſtiget/ indem er theils taͤglich ſiehet/ daß ihn
die menſchliche autoritaͤt betrieget/ und doch in
denen meiſten/ was er wahr zu ſeyn glaͤubet/ ſich
auff ſelbige gruͤndet; theils aber auch aus denen
in menſchlicher autoritaͤt ſich gruͤndenden irrigen
Meinungen/ zum oͤfftern durch nachlaͤßige præci-
pitanz
immer neue Jrrthuͤmer vorbringet.


53. Hinwiederum hilfft das præjudicium auto-
ritatis
auch die præcipitanz nicht wenig ſtaͤrcken/
in Anſehung daß die Ubereilung und die daraus
herruͤhrende Jrrthuͤmer vielen Menſchen gemein
ſind/ und alſo indem ein Blinder dem andern den
Weg weiſen will/ einer ſo wohl von der Warheit
abweichet als der andere/ und beyde doch eben
deßhalben/ weil ſie ſehen/ daß ihre Meinungen
von vielen vertheydiget weꝛden/ auch ſich beꝛeden/
daß ſie deßhalben in der allen Menſchen gemeinen
Vernunfft gegruͤndet waͤren.


54. Und
[309]Jrrthuͤmern und deren Urſprung.

54. Und mit dieſen beyden Haupt-præjudi-
ciis
muß ſich nicht alleine der Menſch in ſeiner
zarten Jugend/ und ſo lange ſein Verſtand nicht
reiff iſt/ ſchleppen/ ſondern es iſt zu beklagen/ daß
auch bey erfolgter Reiffe der menſchlichen Ver-
nunfft dieſelben faſt die gantze Lebens-Zeit den
Menſchen dergeſtalt tyranniſiren/ daß alle Jrr-
thuͤmer/ und auch alles daraus entſtehende Boͤſe
einig und allein dieſen beyden Quellen zugeſchrie-
ben werden kan.


55. Die Urſache aber/ warumb die Men-
ſchen in dem Alter/ da ſie ſich von dieſer ſclave-
rey gar leicht befreyen koͤnten/ doch ſo muthwillig
allergroͤſten theils darunter verharren/ iſt aber-
mahls theils die Nachlaͤßigkeit/ theils die un-
vernuͤnfftige Liebe.


56. Wer ſich aus den Jrrthuͤmern heraus reiſ-
ſen will/ muß doch zum wenigſten anfaͤnglich es
ſich laſſen ſaueꝛ werden/ ehe er bey ſich eine recht-
ſehaffene attention erwecket. Aber die lange
Gewonheit zu derpræcipitanz ſtellet ihm dieſes
Werck ja ſo unmuͤglich vor/ als denen Land-
Bettlern die Arbeit.


57. Jedoch contribuiren wohl diejenigen/
die uns in dieſem Stuͤck mit guten exempeln
vorgehen/ und uns zu Ablegung derer Jrrthuͤmer
anmahnen ſolten/ das meiſte darzu/ denn an ſtatt/
daß wir hierzu fleißig ſolten angetrieben werden/
ſo finden wir leider faſt allenthalben niemand/ der
es thut/ aber wohl tauſend/ die uns alle Augen-
blick
[310]Das 13. Hauptſtuͤck von denen
blick in die Ohren ruffen/ daß wir uns von der
Meinung des Ehrwuͤrdigen Alterthumbs
nicht ſolten laſſen abwendig machen/ daß wir
alle Neuerungen aͤrger als dir Peſt meiden ſol-
ten; oder die diejenigen/ die entweder die præju-
dicia
ſelbſt ablegen/ oder andere ſolches zu thun
erinnern woilen/ theils mit guten Worten und
Geſchencken/ theils mit harten Bedrohungen und
Verfolgungen davon abwendig zu machen/ ſich
euſſerſt laſſen angelegen ſeyn.


58. Gleichwie wir nun bißhero die allen Menſchen ge-
meine præjudicia gruͤndlich unterſucht haben/ und aber am
Tage iſt/ daß biejenigen ſo ſich Gelehrte nennen/ vielmehr
Thorhelten und Jrrthuͤmern unterworffen ſind/ als die
Menſchen/ die in andern Staͤnden leben; als ſolten wir
hillich auch etwas beſehen/ was denn der Urſprung
dieſes Ubels ſey.
Jedoch weil dieſes ohne die Hiſtoriam
Philoſophicam
nicht wohl geſchehen kan/ und wir von der-
ſelben ancerswo ausfuͤhrlicher zu reden uns fuͤrgenommen
haben; als wollen wir auch dieſe Betrachtung biß dahin
verſchleben.


59. Jndeſſen kanſtu dieſes wenige dir nur zu einen kleinen
Vorſchmack dienen laſſen/ daß der Urſprung dieſes Ubels
der Ehrgeitz und die Herrſchſucht ſey/ aus welchen
der Haupt Jrrthum hergefloſſen/ daß die Weiſen und Ge-
lebrten von andern Menſchen gantz unterſchieden waͤren/ uñ
alſo auch gantz andere Grund-Regeln zu raiſoniren/ als an-
dere gemeine Leute haben muͤſten.


60. Zum wenigſten kanſtu aus dieſem kurtzer Satz gar
leicht abnehmen/ daß hier durch das præjudicium autoritatis
gleichſam ſein Leben erhalten/ und ohne Austilguugdieſes
Haupt Jrrhumbs auch das præjudicium autoritatis
unter denen Menſchen nicht ausgerottet
werden koͤnne.


ENDE.

[]

Appendix A Erinnerung des Autoris an
den Leſer.


Jch habe die Vernunfft-Lehre in dem 2. Cap.
n.
17. in zwey Theil eingetheilet/ und gegen-
waͤrtiges iſt nur der pars generalis davon.
Jch bin aber aus folgenden Urſachen bewogen
worden/ denſelben inſtehende Leipziger Neue-
Jahrs-Meſſe zu publiciren. Es iſt am verwi-
chenen Michaelis ein Jahr verfloſſen/ als ich die-
ſe Vernunfft-Lehre in Leipzig zu verfertigen und
daruͤber zu leſen angefangen; Jch hatte mir auch
feſte fuͤrgeſetzt an vergangener Oſtermeſſe dieſel-
be voͤllig heraus zu geben/ maſſen denn allbereit
menſe Februario dieſes Jahrs der pars gene-
ralis
biß auff das letzte Capitel abſolviret und
gedrucketwar. Alleine die Welt-bekante Ver-
druͤßligkeit/ die mich genoͤthiget/ mich aus meinem
Vaterlande zubegeben/ hat verurſacht/ daß auch
mein damahliges gutes Vorhaben biß itzo inter-
rumpir
et worden. Wannenhero/ weil ſolcher-
geſtalt die Sache in einen gantz andern Stand
gerathen/ als ich in dem zu Leipzig publicirten
Programmate und in dem Anfang der Vorre-
de allhier dieſelbe vorgetragen; im uͤbrigen aber
dasjenige/ was ich in beſagter Vorrede wider den
Autorem Speciminis Logicæ Claubergianæ
weitlaͤufftig erinnert/ ziemlich alt werden wuͤr-
de/ wenn es biß auff kuͤnfftige Oſter-Meße ver-
ſparet werden ſolte; und endlich von auswerti-
gen
[] gen Orten unterſchiedene Nachfrage darnach
geſchehen; Als wird der Leſer vorietzo mit dieſem
parte generali zufrieden ſeyn/ und wenn mich
GOtt geſund laͤſt/ auf kuͤnfftige Oſter-Meße den
partem ſpecialem, wie ich denſelben d. cap. 2. n.
18. entworffen/ nebſt der Einleitung zu derHi-
ßorie
und einen general diſeursuͤber diePhiloſo-
phi
ſchen diſciplinen gewaͤrtig ſeyn. Denn die
Erkentniß Goͤttlicher Guͤte und die hohe Gnade
meines Genaͤdigſten Chur-Fuͤrſtens und
Herrns
machet mich hoffen/ kuͤnfftig in einen
ſolchen Zuſtande leben zu koͤnnen/ daß ich der
Erforſchung und Lehre der Warheit frey und
ohne Furcht obliegen/ und mich der ſtudieren-
den Jugend gantz und gar widmen/ auch durch
publicir[ung] der geſamten Grundſaͤtze meiner
Lehre der gantzen erbaren und verſtaͤndigen
Welt darthun moͤge/ theils daß ich nichts ge-
faͤhrliches oder was der Kirche oder dem Staat
ſchaͤdlich waͤre/ profitire, theils auch/ daß die
ehedeſſen zu Leipzig und nunmehr auch hier zu
Halle von mir publicirten Programmata der
ſtudierenden Jugend nichts verſprochen/ was
ich mir nicht rechtſchaffen und ehrlich zu
halten getrauete. Lebe
wohl.


Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq5x.0