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DIE
NEUESTE SPRACHFORSCHUNG.
BETRACHTUNGEN
ÜBER
GEORG CURTIUS SCHRIFT ZUR KRITIK DER
NEUESTEN SPRACHFORSCHUNG


[figure]

LEIPZIG: ,
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF \& HÄRTEL.
1885.

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Der Begründer der vergleichenden Lautlehre der indo-
germanischen Sprachen August Friedrich Pott hat bekannt-
lich vom Anfang seiner bahnbrechenden Wirksamkeit an die
Ansicht verfochten, dass die Präpositionen häufig mit Verbal-
wurzeln Verbindungen eingegangen seien, in welchen von
ihnen nur noch ein geringer Rest übrig geblieben sei, wie er
denn z. B. duh melken auf úd-vah (herauf, heraus führen),
bhrāǵ fulgeo auf abhí-rāǵ (anglänzen) zurückführt. Gegen
diese Versuche erhob sich Georg Curtius, und es entwickelte
sich zwischen den beiden ausgezeichneten Gelehrten ein jetzt
fast vergessener Streit, in welchem (wie heute wohl allgemein
angenommen wird) Curtius seine Meinung siegreich durch-
geführt hat. Während des Kampfes — vor nunmehr drei und
zwanzig Jahren — äusserte sich über denselben Steinthal (Zeit-
schrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 2, 455)
wie folgt: »Es sei hier der (im Wesentlichen sehr erfreulichen)
Erscheinung gedacht, dass in der zweiten Auflage [der ety-
mologischen Forschungen] Potts Polemik eine ganz andere
Richtung genommen hat, als sie in der ersten verfolgte. Zwi-
schen beiden liegen freilich dreissig Jahre, d. h. fast ein
Menschenalter. Während sich nun Pott ehemals gegen das
Treiben der völlig unwissenschaftlichen alten Etymologie in
stürmendem Angriffe zu wenden hatte, so kämpft er jetzt bei-
nahe durchweg sich vertheidigend gegen die Angriffe jüngerer
Männer, die ihm mit den strengsten Gesetzen der etymologi-
schen Kunst entgegengetreten sind. Es ist mir ein schönes
1*
[4] Schauspiel: der halbgraue, aber noch immer nicht nur rüstige,
sondern heisse Kämpfer im Streite gegen junges, und doch
höchst nüchternes Blut — und Blut von seinem Blut.« An
diese Worte Steinthals, die sich mir aus irgend einem Grunde
eingeprägt hatten, wurde ich beim Durchlesen der jüngsten
Schrift von Georg Curtius: Zur Kritik der neuesten Sprach-
forschung (Leipzig 1885) lebhaft erinnert. In der That hat
das, was sich heute in der Sprachforschung vollzieht, manche
Aehnlichkeit mit dem von Steinthal geschilderten Vorgange.
Sind es doch wesentlich Curtius' eigene Schüler (zu denen auch
ich mich gern zähle, wenn ich auch nicht das Glück gehabt
habe, seine Vorlesungen zu hören), mit denen der Lehrer
sich heute auseinandersetzt. Und mit noch grösserem Rechte
als damals, glaube ich, kann man heute das Schauspiel ein
erfreuliches nennen, erfreulich namentlich, weil es sich nicht
um Rechthaberei, sondern um schaffende Polemik handelt,
und erfreulich auch deshalb, weil der Verfasser es verstan-
den hat, auch da, wo er sich persönlich durch den erfahre-
nen Angriff schmerzlich berührt fühlt, seinen Widerspruch
in edle Form zu kleiden. Einer in so liebenswürdiger Weise
ausgesprochenen Aufforderung zu öffentlichem Zwiegespräch
lässt sich schwer widerstehen, und so gestatte ich mir denn,
als einer der Betheiligten, dem philologischen Publikum
dasjenige vorzulegen, was ich im Augenblick über oder
gegen die Schrift von Curtius auf dem Herzen habe. Ich
sage mit Bedacht: dem philologischen Publikum, denn wie
Curtius sich in seinen Aeusserungen an einen weiteren Kreis
wendet, so hoffe auch ich, dass es mir gelingen wird, neben
den Fachleuten auch die Nachbaren zur Theilnahme herbei-
zulocken.

Ehe ich indessen auf die Sache selbst eingehe, erlaube
ich mir ein Wort über meine von Curtius häufig erwähnte
Schrift: Einleitung in das Sprachstudium, Leipzig 1880
[5] (2. Auflage 1884). Seit es Schriftsteller und Leser in der
Welt giebt, behaupten die ersteren, dass sie trotz aller Vor-
reden und Schlussworte von den letzteren in ihren eigent-
lichen Absichten nicht völlig verstanden werden. Ich meine,
dass dies allgemeine Loos auch meine kleine Schrift ge-
troffen hat, und will deshalb hier erzählen, wie ich dazu
gekommen bin, sie zu verfassen. Schon lange war mir in
Gesprächen mit Männern, die an der Entwickelung der
Sprachwissenschaft mehr empfangend als thätig theilnehmen,
klar geworden, dass sich in der wissenschaftlichen Bewegung
eine starke Unterströmung entwickelt hatte, welche zunächst
in der Literatur kaum zu Tage trat. So war z. B. die
Lehre von den zwei Steigerungen, an welcher Schleicher
eine besondere Freude gehabt hatte, von den Fachleuten
längst aufgegeben, ehe sie öffentlich bekämpft wurde; manche
der neuen Ansichten, z. B. die Lehre von den zwei K-Reihen
war in Vorlesungen vorbereitet und schon in ähnlicher Ge-
stalt verbreitet worden, wie diejenige, in welcher sie dann
ans Licht trat; die Theorie, dass man bei der Auffassung
der sogenannten Steigerung den umgekehrten Weg ein-
schlagen müsse, hat mir schon vor etwa zwölf Jahren einer
meiner Freunde, der jetzt wie es scheint den Ansichten
von Curtius näher steht als den meinigen, lebhaft entwickelt,
ohne mich damals zu überzeugen; die Wichtigkeit des Ge-
sichtspunktes der Analogiewirkungen hatte Leskien so ein-
drücklich in seinen Vorlesungen gepredigt, dass seine eigene
Schrift über die Declination im Slavisch-Litauischen und
Germanischen (Leipzig 1876) nicht mehr mit dem Reiz der
Neuheit wirkte, wie sie gethan haben würde, wenn Leskien
nur Schriftsteller, nicht auch Lehrer wäre; die Lehren der
Lautphysiologie haben ihren stillen aber starken Einfluss
auf die Gestaltung unserer Ansichten vielleicht mehr auf
dem Wege mündlicher wie schriftlicher Mittheilung gewonnen,
[6] und so liesse sich noch manches anführen, um die Be-
hauptung zu erhärten, dass mir und anderen die neuen
Lehren von Brugmann, Osthoff und ihren befreundeten oder
feindlichen Genossen (so viel des Neuen wir auch aus ihnen
gelernt haben, an das wenigstens ich vorher nicht gedacht
hatte) nicht überraschend gekommen sind. Wenn Curtius
diesen Ausdruck S. 9 gebraucht, so bezieht er sich nur auf
diejenigen, welche ihre Kenntniss wesentlich aus der Lite-
ratur schöpfen zu müssen in der Lage waren. Von solchen
allerdings habe ich wiederholt verdriessliche Klagen über
a₁, a₂, a₃, über den unnatürlichen Brummlaut der nasalis
sonans, und endlich die Erklärung vernommen, dass es am
besten sei, sich einstweilen von einer Wissenschaft zurück-
zuziehen, in welcher das Alte umgeworfen und das Neue
noch nicht reif zu sein scheine. Ich habe solchen Klagen
gegenüber stets betont, es sei nicht richtig, dass eine Kata-
strophe stattgefunden, dass ein völlig Neues sich entwickelt
habe; wer näher zusehe, werde die Continuität bald gewahr
werden, der neue Glaube sei nichts anderes als die natür-
liche Weiteientwickelung der Anschauungen von Bopp und
Pott, von Benfey, Schleicher und Curtius. Diese Ansicht
wünschte ich in meiner Schrift in geschichtlicher Dar-
stellung zur Geltung zu bringen. Natürlich kam es mir
darauf an, diejenigen Meinungen, welche ich für richtig
halte, zu empfehlen, aber die Hauptabsicht war doch auf
den Nachweis des Zusammenhanges zwischen dem Alten
und dem Neuen gerichtet. Um diesen Theil meiner Be-
strebung deutlich einzuführen, hatte ich als Motto den ersten
Satz aus Goethe's Geschichte der Farbenlehre gewählt:
»Wird einer strebenden Jugend die Geschichte eher lästig
als erfreulich, weil sie gern von sich selbst eine neue, ja
wohl gar eine Urwelt-Epoche beginnen möchte, so haben
die in Bildung und Alter Fortschreitenden gar oft mit leb-
[7] haftem Danke zu erkennen, wie mannigfaltiges Gute, Brauch-
bare und Hülfreiche ihnen von den Vorfahren hinterlassen
worden.« Wenn ich dieses Motto schliesslich wieder ge-
strichen habe, so ist es nur deshalb geschehen, weil ich
auch den Schein vermeiden wollte, als missgönnte ich den
trefflichen Gelehrten, denen ich so viel Belehrung und An-
regung verdanke, den Ausdruck frohen Kraftbewusstseins,
der gelegentlich in ihrem Ankämpfen gegen frühere An-
sichten hervortritt. Hiermit vergleiche man einige Aeus-
serungen von Curtius, z. B. S. 3, wo es von Paul's Prin-
cipien der Sprachgeschichte und meiner Einleitung heisst:
»Beide Schriften sind wesentlich eine Empfehlung und Aus-
einandersetzung der neuen Principien«, und Seite 12:1)
»Diese Entgegnungen, vielleicht auch eigene weitere Er-
wägungen der Sache blieben selbst auf die ersten Begründer
der neuen Lehre nicht ohne Wirkung. Die anfangs schroff
und bedingungslos aufgestellte Behauptung wurde vorsich-
tiger gefasst und zum Theil eingeschränkt. Ich verweise
namentlich auf Delbrück's Einleitung in das Sprachstudium.«
Man wird es, glaube ich, nicht unnatürlich finden, dass ich
gegenüber solchen Stellen ausdrücklich zugleich die Be-
scheidenheit meines Antheils an der neuen Bewegung und
die Freiheit meiner Stellung hervorhebe. Ich bin in der
That nicht berechtigt, für irgend jemand zu sprechen, als
für mich selbst.

[8]

I.
Die Lautgesetze.


Nach dieser Vorrede komme ich zur Sache selbst.
Curtius handelt in vier Abschnitten nach einander von den
Begriffen des Lautgesetzes und der Analogie, von dem Vo-
calismus, von der Ursprache. Dabei gehören die beiden
ersten Capitel so eng zusammen, dass sie auch ein einziges
bilden könnten, und dass die Schlusstheile des zweiten viel-
leicht besser zum ersten geschlagen würden. Indessen um
der Uebersichtlichkeit willen schliesse ich mich Curtius'
Vorgange durchaus an, und spreche demnach zuerst über
den Begriff des Lautgesetzes, und im Besonderen über die
brennende Frage, inwiefern man behaupten kann, dass
die Lautgesetze ausnahmslos seien. Ist es nun schon an
sich schwierig, ja vielleicht anmasslich, überhaupt über
eine solche Frage handeln zu wollen, so tritt im vorliegen-
den Falle noch als besonders erschwerender Umstand für
die Vertheidigung die Art hinzu, wie der Angriff geführt
worden ist. Curtius hat es nämlich in seinem ersten Ca-
pitel nicht darauf angelegt, die Stellung der Gegner zu
durchbrechen, als vielmehr darauf, sie ins Schwanken zu
bringen. Er bedauert die Schroffheit der Fassung des
Axioms, bemerkt Widersprüche zwischen den einzelnen Ver-
tretern desselben Glaubens, weist unrichtige Belege zurück,
trägt allerhand rationes dubitandi vor, findet, dass wichtige
Gesichtspunkte übersehen sind, und durch diese und andere
Einwirkungen ähnlicher Art entsteht dann in dem Leser
das Gefühl, dass er sich auf einer schwankenden Eisfläche
befinde, von der er gern wieder auf das feste Land der
früheren, vorsichtigen und bewährten Auffassung zurück-
kehren möchte. Unter diesen Umständen glaube ich am besten
[9] zum Ziele gelangen zu können, wenn ich mit einiger Pe-
danterie der Anordnung zuerst über die Entstehung der
Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, sodann
von dem Sinn und Wesen, und endlich von der praktischen
Bedeutung derselben spreche.

Der Begründer unserer Wissenschaft Franz Bopp hatte
die Ansicht, es gäbe in den Sprachen zwei Arten von
»euphonischen Veränderungen«: »die eine, zum allgemeinen
Gesetz erhoben, kommt bei jeder gleichen Veranlassung in
gleicher Gestalt zum Vorschein, während andere nicht zum
Gesetz gewordene nur gelegentlich hervortreten« (vgl. meine
Einleitung² 21). Die Thätigkeit derjenigen, welche Bopp's
Werk auf dem Gebiete der Lautlehre fortgesetzt und ergänzt
haben, lässt sich nun dahin zusammenfassen, dass sie das
erste Gebiet ausdehnten, das zweite einschränkten. Was
Pott, Schleicher, Curtius, Ascoli in dieser Hinsicht geleistet
haben, kann sich derjenige, dem es aus eigener Erinnerung
oder geschichtlichen Studien nicht geläufig ist, leicht vor-
stellig machen, wenn er in Bopp's allbekanntem Sanskrit-
glossar herumblättert. Da wird z. B. unter grah, nachdem
greipa, giba u. a. herbeigezogen ist, hinsichtlich der grie-
chischen und lateinischen Verwandten Folgendes geäussert:
e graeca lingua huc retulerim γρῖφος γρῖπος, rete, ita ut α
capiendo sint nominata. Fortasse ἀγρεύω ἀγρέω dissolvenda
sunt in ἀ-γρεύω, ἀ-γρέω, abjecta radids consonanti finali,
ita ut ἀ respondeat praepositione ā vel ava. Lat. prehendo
e grehendo ortum esse possit. mutata gutturali in labialem
et media in tenuem, sicut in gr. κλέπτω
u. s. w. Warum
hat nun Bopp für solche Vermuthungen keine Theilnahme
gefunden? Offenbar doch, weil man so vereinzelte Abwei-
chungen gegenüber der sonst durchgehenden Entsprechung
von sanskr. p und lat. p für unannehmbar hielt, oder an-
ders ausgedrückt: weil die Vorstellung, die Lautgesetze
[10] duldeten keine Ausnahme, ein treibender Factor in der
Seele der Sprachgelehrten war. Dieses Gefühl hat sich all-
mählich, indem es durch immer zahlreichere und zahlreichere
Beobachtungen gestärkt wurde, zu einem Grundsatz ver-
dichtet, der gegenüber anderen Erwägungen immer mehr
Ausschlag gebend wird. Ein Beispiel mag diese Behauptung
erhärten. Es ist hergenommen von der Geschichte der Ver-
handlungen über das r des lateinischen Passivums. Bopp
hat das r bekanntlich aus s gedeutet, und also z. B. amor
auf amose zurückgeführt (1820). Diese Erklärung ist von
Seiten der Bedeutung so ansprechend und, wenn man lediglich
das Lateinische in Betracht zieht, lautlich so nahe liegend,
dass sie allgemeinste Zustimmung fand. Im Laufe der Zeit
wurde die Aufmerksamkeit der Forscher darauf gelenkt,
dass doch auch im Oskischen, welches das s zwischen Vo-
calen nicht in r übergehen lässt, sondern erhält, und im
Irischen, welches das s zwischen Vocalen wie das Grie-
chische behandelt, die Passivformen mit r vorliegen. Nun
standen sich das unmittelbar Einleuchtende der Erklärung
und das lautliche Bedenken gegenüber. Zunächst siegte
noch die erstere Vorstellung, so bei Schleicher, welcher sagt:
»dies (nämlich der Uebergang von s in r im Passivum) fand
auch in den Sprachen statt, welchen sonst der Lautübergang
von s zu r fremd ist « (Compendium § 703, 1866 . Dazu
bemerkte Scherer ZGDS1 224, wer einen solchen Extralaut-
wandel von s in r »auch in Sprachen, welchen sonst der
Uebergang von s zu r fremd ist«, statuiren möge, begebe sich
seiner besten Waffen gegen die vielbekämpfte Identificierung
lautgesetzlich unvereinbarer Suffixe, und jetzt ist die Bopp-
sche Erklärung von Georg Curtius ebenso wie von der Mehr-
zahl der jetzigen Sprachforscher aufgegeben. Curtius spricht
S. 134 seiner neuesten Schrift von der italokeltischen Passiv-
bildung als einem Nachwuchs, »der sich bis jetzt noch in tiefes
[11] Dunkel hüllt«. Der hier vorgeführte Vorgang ist typisch,
überall ist das Streben, ausnahmslose Gesetze zu gewinnen,
in der Praxis in siegreichem Vordringen begriffen. Zu den
praktischen Erfahrungen kommt dann noch eine theoretische
Erwägung, die ich mit Curtius' Worten so ausdrücke: »Trä-
ten in der Sprachgeschichte wirklich so erhebliche spora-
dische Verirrungen und völlig krankhafte unberechenbare
Lautentstellungen ein, wie sie von manchen Gelehrten mit
Zuversicht angenommen werden, so müssten wir in der That
auf alles Etymologisiren verzichten. Denn nur das Gesetz-
mässige und innerlich Zusammenhängende lässt sich wissen-
schaftlich erforschen, das Willkürliche höchstens errathen,
nie erschliessen« (Grundz.5 80). In der That, von hier aus
war nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem Aperçu: die
Lautgesetze sind ausnahmslos.

Was bedeutet nun dieser Satz? Zunächst ist wohl klar,
dass zwischen principieller Richtigkeit und praktischer Durch-
führbarkeit eines Grundsatzes unterschieden werden muss.
Wer sich zu der Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Laut-
gesetze bekennt, behauptet damit nicht, im Besitze eines
Mittels zu sein, durch welches er alle Ausnahmen erklären
könne. Für jeden Forscher bleiben selbstverständlich eine
Menge Schwierigkeiten übrig, die er nicht lösen kann, ja,
man kann wohl sagen, dass demjenigen, welcher überall
nach festen Gesetzen sucht, sich Anstösse einstellen, wo man
sie früher nicht fand. Ich würde diesen Vorbehalt zu machen
nicht für nöthig finden, wenn ich nicht sähe, dass selbst Curtius
die Selbstverständlichkeit desselben gelegentlich ausser Acht
lässt. So äussert er auf Seite 21 Anm.: »will man etwa auch
sanskr. pibāmi (trinke), das doch gewiss auf pipāmi zurückgeht,
will man der Aspiration in λύχνος, πάσχω (wofür jetzt die
ältere Form πάσκω [elisch I. A. 112, 8] vorliegt) und anderen
sehr vereinzelten Abweichungen von weit verbreiteter Regel-
[12] mässigkeit die Existenz absprechen?«; und auch an
anderen Stellen trägt er auffällige bis jetzt noch nicht er-
klärte Abweichungen von der bisher erkannten Regel in der
Weise vor, als unterliesse er es nur aus Höflichkeit hinzu-
zufügen: habemus confitentem reum. Gegenüber diesen Aeusse-
rungen, zu denen man auch die Worte Toblers halten möge,
welche Curtius auf S. 23 anführt, gestatte ich mir von einer
Form der Argumentation Gebrauch zu machen, welche Cur-
tius bisweilen gegen meine grundsätzlichen Aufstellungen
zur Anwendung bringt. Ich behaupte entschieden, dass kein
Urtheilsfähiger, wenn er von der Ausnahmslosigkeit der Laut-
gesetze gesprochen hat, etwas Anderes hat meinen können,
als was ich Einl. S. 129 in die Worte gefasst habe: »Somit
ist zwar zuzugestehen, dass völlige Gesetzmässigkeit des
Lautwandels sich nirgend in der Welt der gegebenen That-
sachen findet, es liegen aber genügende Gründe vor, welche
zu der Annahme führen, dass gesetzmässig verlaufender Laut-
wandel einer von den Factoren ist, aus deren gemeinschaft-
lichem Wirken die empirische Gestalt der Sprache hervor-
geht. Im einzelnen Falle freilich wird es immer nur an-
nähernd möglich sein, diesen einen Factor in seiner Rein-
heit darzustellen.«

Die Erläuterung dieses Satzes knüpfe ich ebenfalls an
eine Stelle meiner Einleitung an, welche längere Erörte-
rungen kurz zusammenfasst und so lautet: »Nunmehr sind
wir gerüstet, die im Eingang aufgeworfene Frage »sind die
Lautgesetze an sich ausnahmslos?« zusammenfassend zu be-
antworten. Wir haben gesehen, wo man derartige Gesetze
zu finden erwarten kann. Jedenfalls nicht in der gesammten
Masse irgend einer vorliegenden Volks- oder Cultursprache.
Denn es lässt sich nicht erwarten, dass alle Individuen
innerhalb einer Sprachgemeinschaft völlig gleich sprechen
werden. Wir können sie also nur erwarten bei dem ein-
[13] zelnen Individuum, oder vielmehr, wenn wir ganz genau sein
wollen, nur im Momentandurchschnitte der Sprache eines
Individuums. Von demjenigen nun, was ein Individuum in
einem bestimmten Moment seines Lebens spricht oder spre-
chen würde, wenn es den gesammten Wortschatz durch sein
Organ passiren liesse, ist zunächst alles das abzuscheiden,
was man als Entlehnung (im weitesten Sinne) ansehen muss,
sodann sind alle auf Wirkung der Analogie beruhende Laut-
gestaltungen wieder aufzuheben. Ist das geschehen, so bleibt
die durch den Lautwandel an sich bewirkte Lautgestalt
übrig. In dieser erst dürfen wir — abgesehen von den
etwaigen Schwankungen innerhalb eines Uebergangsstadiums
— erwarten, völlige Gleichmässigkeit in der Behandlung
aller analogen Fälle zu finden, und in diesem Sinne muss
man behaupten, dass die Lautgesetze an sich ausnahmslos
seien« (S. 129). Aus dieser Erklärung hebe ich zunächst
zwei Fragen hervor, die wir wohl alle übereinstimmend be-
antworten, nämlich diejenigen, welche sich um die Schlag-
worte »Entlehnung« und »Uebergangszustand« gruppiren.
Niemand zweifelt daran, dass die meisten Sprachen, das Sans-
krit so gut wie das Englische, voll von fremden Worten
sind. Diese kommen natürlich, wenn es gilt den Lautstand
der leihenden Sprache zu ermitteln, nicht mit in Betracht.
»Echt« ist z. B. ein aus dem Niederdeutschen stammendes
Lehnwort im Hochdeutschen, und kann deshalb keine Aus-
nahme von der Regel bilden, dass im Hochdeutschen unter
gewissen Bedingungen die Gruppe ft und nicht cht entsteht,
ebenso wenig wie etwa die Thatsache. dass bei uns in
Treibhäusern Palmen gedeihen, der Richtigkeit der Be-
hauptung Abbruch thun kann, dass diese Pflanzen in
Deutschland im Freien nicht fortkommen. Ich leugne
ebenso wenig wie Curtius (S. 14 Anm.), dass es in der Praxis
oft Schwierigkeiten hat, diese fremden Bestandteile rein-
[14] lich auszuscheiden, aber diese praktische Schwierigkeit bil-
det keinen Gegengrund gegen die principielle Richtigkeit
der Forderung, welche Curtius übrigens jetzt nicht leugnet 1).
Unter diesen Umständen darf es nicht auffallen, wenn
wiederholt gerathen worden ist, man solle die Natur des
Lautwandels weniger an den Literatursprachen des Alter-
thums, als vielmehr an den Volkssprachen der Gegenwart
studiren. Curtius scheint nicht geneigt, die Richtigkeit
dieser Forderung in Abrede zu stellen, fügt aber (S. 13) die
Frage an, wo uns denn solche dem Naturzustand näher
liegende Sprachen wirklich vorliegen. Ich hatte, als ich die
von Curtius angeführten Worte schrieb, namentlich ein Buch
im Sinne, das eine derartige Mundart in musterhafter Weise
beschreibt, nämlich J. Winteler, die Kerenzer Mundart des
Kantons Glarus (Leipzig und Heidelberg 18 76). Wer dieses
Buch (auch die Vorrede ist beherzigenswerth) studirt, wird
gewiss den Eindruck empfangen, dass es jetzt noch Sprachen
giebt, die viel einfacher sind, als z. B. das Neuhochdeutsche.
Dass freilich auch diese nicht frei von Mischung und Asso-
ciationsbildungen sind, bedarf keiner besonderen Versiche-
rung. Die Verschiedenheit von den Cultursprachen ist vor-
handen, aber sie ist nicht so gross, wie Curtius sie hin-
stellt, wenn er S. 13 sagt: »Man stellt ein Axiom an die
Spitze, das wenigstens ,vorzugsweise' in jenen mehr vor-
ausgesetzten als factisch nachgewiesenen
Natur-
mundarten gelten soll, und wendet es ohne alles Be-
denken
auf Sprachen an, die von ganz anderer Art
sind.« Die von mir gesperrt gedruckten Worte dieses Satzes
scheinen mir nicht frei von Uebertreibung zu sein.

Auch in Bezug auf die Nothwendigkeit, Uebergangs-
zustände anzunehmen, scheint keine Meinungsverschieden-
[15] heit zu herrschen. Ich habe Einl. S. 124 dahin gehende
Aeusserungen von Sievers und Brugmann beistimmend an-
geführt, und will jetzt ein treffliches Beispiel aus Boeht-
lingks jakutischer Grammatik hinzufügen, wo über den
Uebergang von s in h (S. 62, § 139) Folgendes bemerkt
wird: »s wird seit nicht gar langer Zeit von vielen Jakuten,
namentlich von den Bewohnern der Stadt Jakutsk, zwischen
zwei Vocalen wie h gesprochen. Ja sogar ein an- und ein
auslautendes s, sobald es durch ein vorangehendes, vocalisch
auslautendes oder ein nachfolgendes, vocalisch anlautendes
Wort zwischen zwei Vocale zu stehen kommt, schwächt sich
zu h. In suoch nein wird e, auch ohne dass ein Vocal
vorherginge, wie h gesprochen. Da indessen diese Schwä-
chung noch nicht bei allen Jakuten eingetreten ist, wird
man mir die Beibehaltung des s zwischen zwei Vocalen
hoffentlich nicht zum Vorwurf machen«, und dazu die An-
merkung: »Die vorhandenen Wörtersammlungen weisen fast
ohne Ausnahme s auf und auch die Russen in Jakutsk und
sogar Uwarowskij, der in diesem Falle immer h spricht,
schreiben s. Die Jakuten, mit denen Middendorf zusammen-
kam, bemerkten, wenn sie auch kihi u. s. w. sprachen, dass
es eigentlich kisi heissen müsse. Die Schwächung des s zu
h lässt sich bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts ver-
folgen, da Sauer neben busak (unser bysach) auch buhak
aufführt; Witsen schreibt immer sFiat applicatio!

Auch darüber dürfte wohl allgemeines Einverständniss
herrschen, dass man alle Wirkungen der Associationen ab-
ziehen muss, wenn man den gesetzmässig verlaufenden Laut-
wandel rein darstellen will.

Bis hierher scheint also Curtius, wenn ich ihn recht
verstehe (was vielleicht nicht der Fall ist, da er sich, wie
gesagt, über diesen Punkt nur aphoristisch äussert), nicht
gerade Einwände zu erheben, über welche sich nicht ein
[16] Einvernehmen erzielen liesse. Nun aber kommt ein Punkt,
in welchem er abweicht, und in welchem ich ihm Recht
gebe. Er hebt nämlich hervor, dass ausser den genannten
doch auch noch andere störende Kräfte im Leben der
Sprache vorhanden sein könnten. Das hat nun zwar Brug-
mann gelegentlich auch hervorgehoben, sogar in übertrei-
bender Fassung, wenn er in Curtius' Studien 9, 373 be-
hauptet, dass es der hemmenden und ablenkenden Kräfte
im Sprachleben tausendfache gebe, aber ich und andere
haben bei der systematischen Formulirung diesen Gesichts-
punkt nicht hinreichend gewürdigt. Ob freilich solche
Kräfte schon gefunden sind, das ist eine andere Frage.
Durch das, was Curtius im zweiten Capitel beibringt, schei-
nen sie mir nicht nachgewiesen.1)

Wir kommen nunmehr, wenn wir sämmtliche Ent-
lehnungen ausgeschieden, sämmtliche Wirkungen hemmen-
der Kräfte, die sich vielleicht nicht alle unter den Begriff
der Association bringen lassen, aufgehoben, endlich das
Schwanken eines etwaigen Uebergangsstadiums beseitigt den-
ken, zu demjenigen Zustand des Gesprochenen, in welchem
der gesetzmässige Lautwandel herrscht, und es ist nun noch
in der Kürze zu erörtern, was uns zu dieser Annahme ge-
setzmässigen Lautwandels treibt. Es sind das — wenn ich
hier von der philosophischen Seite der Sache absehen darf —
wesentlich die folgenden Erwägungen:

Erstens: Dass Gesetze in der Sprache herrschen, wird
allgemein anerkannt.Wir haben uns bemüht, Alles das,
was den gesetzmässigen Verlauf hindert, zu erkennen, und
dürfen nunmehr hoffen, die Masse gefunden zu haben, wo
die Gesetzmässigkeit ihren Sitz hat.

[17]

Zweitens: Die Erfahrung zeigt, dass die Veränderungen
der Laute nicht bei einzelnen Wörtern beginnen und etwa
die verschiedenen Wortklassen nach einander ergreifen, son-
dern dass die Bewegung bei der Aussprache der Laute be-
ginnt (vgl. Einl. S. 126). Es ist nicht abzusehen, warum
Jemand, der in tausend Fällen ein k palatalisirt, in einem
Falle davon ablassen sollte, und warum die Uebrigen es
ihm nachmachen sollten.

Drittens: Es ist das um so weniger anzunehmen, als
die Erfahrung zu zeigen scheint, dass diese Veränderungen
unbewusst vor sich gehen, und als es

Viertens: sehr wahrscheinlich ist, dass vermöge des
psychophysischen Mechanismus eine Veränderung die andere
nach sich zieht, z. B. die Veränderung eines k auch die
eines g. Es kann also in dieser Beziehung in der That
von einer Naturnotwendigkeit gesprochen werden, mit der
gewisse Veränderungen sich abspielen (vgl. Einl. S. 120).

Mit allem diesem ist über die Gründe der Sprach-
veränderungen nichts ausgesagt, und in der That sind
wir nicht in der Lage, für das Eintreten des einzelnen
Gesetzes einen bestimmten Grund anzugeben, wenn wir
auch die allgemeine Tendenz nach Ersparung der Ar-
beit, welcher alle Veränderungen zustreben, und vielleicht
noch andere Tendenzen zu erkennen glauben. Es ist des-
halb auch wiederholt hervorgehoben worden, dass man
besser thäte, nicht von Gesetzen, sondern bescheidener von
geschichtlichen Gleichmässigkeiten zu reden. Namentlich
ist die Vergleichung mit Naturgesetzen wiederholt abgewie-
sen worden, so z. B. von mir in den Worten: »Nicht bil-
ligen kann ich die Bezeichnung der Lautgesetze als Natur-
gesetze. Mit chemischen oder physikalischen Gesetzen haben
offenbar diese geschichtlichen Gleichmässigkeiten keine Aelm-
lichkeit. Die Sprache setzt sich aus menschlichen Hand-
2
[18] lungen zusammen, und folglich gehören die Lautgesetze nicht
in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der Naturvorgänge,
sondern in die Lehre von der Gesetzmässigkeit der schein-
bar willkürlichen menschlichen Handlungen« (Einl. S. 130).1)

Wo nun auch dieses letzte Kriterium für den Begriff
des Gesetzes, nämlich eine Mehrheit gleicher Einzelerschei-
nungen nicht vorhanden ist, kann man nicht mehr von
einem »Gesetze« reden. Völlig vereinzelte Vorgänge fallen
nicht unter den Begriff des Gesetzes2). Wenn also Curtius
fragt: »aus welchem Lautgesetz oder welcher Analogiebildung
könnte man das in gut attischen Inschriften überlieferte
ἡμέδιμνον statt ἡμιμέδιμνον, ἀμφορεύς statt ἀμφιφορεύς
erklären« (S. 86), so erwidere ich, aus keinem Gesetz, denn
es ist ein vereinzelter Fall, und aus keiner Analogiewirkung,
aus demselben Grunde. Wir können in diesem Falle nur
sagen, dass wir an dem Uebergang von ἀμφιφορεύς in ἀμ-
φορεύς
die allgemeine Tendenz zur Ersparung der Arbeit
erkennen können, diese Tendenz veranlasste einen Einzel-
[19] nen zu der Bildung ἀμφορεύς und sie kam der Ausbreitung
dieser Form wirksam entgegen. Wenn wir aber constatiren,
dass es Fälle giebt, wo wegen der Isolirtheit des Vorganges
ein specielles Gesetz nicht aufgestellt werden kann, so ist
damit natürlich nicht die Berechtigung zugegeben, in sol-
chen Fällen Ausnahmen zuzulassen, wo ein Gesetz aufge-
stellt werden kann.

Das also bedeutet es, wenn behauptet wird: die Laut-
gesetze an sich sind ausnahmslos.
Wesentlich so hatte
ich, nicht wesentlich abweichend hatte Brugmann, hatte
Paul sich geäussert. Ich darf nun wohl fragen: Sind das
wirklich νόμοι ὑψίποδες οὐρανίαν δἰ αἰϑέρα τεχνωϑέντες,
ὧν Ὄλυμπος πατὴρ μόνος, οὐδέ νιν ϑvατὰ φύσις ἀνέρων
ἔτικτεν?
oder sind es Anschauungen, welche in sehr irdi-
schem Ringen mit der Widerspenstigkeit der Einzelthat-
sachen gewonnen sind?

Dass ich nun mit dieser Fassung nicht glaube etwas
Endgültiges erreicht zu haben, bedarf wohl nicht einer be-
sonderen Versicherung. Mir ist sehr wohl bewusst, dass
ein Fortschritt der Wissenschaft wieder eine Umformung
nöthig machen kann, und dass alle solche Zusammen-
fassungen nichts anderes sind, als (um mit Lotze zu reden)
unbehilfliche Formelausdrücke für nicht hinlänglich über-
schaute Thatsachen. Das gilt aber schliesslich, wenn man
will, von allem Philosophiren.

Aus dieser ganzen etwas lang ausgefallenen Erörterung
geht hervor, dass allerdings einige Meinungsverschieden-
heiten über theoretische Dinge zwischen uns vorhanden
sind, aber, wie mir scheint, nicht von solcher Art, dass nicht
eine allmähliche Verständigung erhofft werden könnte.

In der Praxis vollends haben diese Meinungsverschie-
denheiten keine Bedeutung. Wir sehen im Leben, dass die
theoretischen Ansichten über Freiheit oder Unfreiheit des
2*
[20] Willens auf die ethischen Handlungen der betreffenden
Philosophen keinen Einfluss üben. Ebenso geht es in der
Sprachforschung. Auch wer der Lehre von der Ausnahms-
losigkeit der Lautgesetze huldigt, ist gezwungen, eine Menge
von Einzelfällen anzuerkennen, die er mit dem Gesetz nicht
in Uebereinstimmung bringen kann, und findet kein Arg
darin, diese Fälle als Ausnahmen zu bezeichnen (d. h. als
solche Erscheinungen, welche bis jetzt noch nicht unter ein
Gesetz zu bringen sind), und auf der anderen Seite giebt
es für denjenigen, der die Möglichkeit beliebiger, d. h. von
dem absolut freien Willen abhängiger Ausnahmen behauptet,
keine grössere Freude, als wenn es ihm gelingt, solche Aus-
nahmen zu beseitigen.

Der Schluss des Capitels bringt eine Zusammenstellung
»kleinerer« Lautvorgänge, wie Hyphaeresis anlautender Vocale,
Ungleichmässigkeiten bei der Contraction oder in der Be-
handlung des Auslauts, Erscheinungen, welche nach Cur-
tius' Meinung unter feste Gesetze nicht gebracht werden
können. Für manches dieser Probleme hat sich nach mei-
ner Meinung eine Erklärung bereits gefunden, oder lässt
sich finden (so wird wohl ὤν richtig als die ursprüngliche
Form aufgefasst, — gleicht sie doch dem indischen sán und
dem lateinischen sens —, und das ε von ἐών aus Anlehnung
an die übrigen mit ε anlautenden Formen des Verbums
εἶναι erklärt, die Erlebnisse des Digamma wird man mit
denen des s im Jakutischen vergleichen können, u. a. m.),
mit andern dagegen weiss ich so wenig etwas anzufangen,
wie Curtius. Das sind dann eben Fälle, für die eine Er-
klärung noch zu suchen ist. Man wolle auch nicht ver-
gessen, dass Curtius seine Beispiele vorzüglich aus solchen
Sprachen wählt, welche die allercomplicirtesten Probleme
stellen. Die Gestalt z. B., in welcher uns die lateinischen
Auslaute vorliegen, ist gewiss theilweise ein Product gram-
[21] matischer Reflexion, welche von den Schreibenden angestellt
wurde. In anderen Sprachen, wo die Dinge nicht so ver-
wickelt liegen (man denke z. B. an das Germanische und
Keltische), lassen sich am Auslaut der Worte die Gesetze
mit gleicher Strenge durchführen, wie an anderen Stellen
der Sprache.

II.
Die Associationsbildungen.


Das zweite Capitel handelt von den Analogie- oder
besser Associationsbildungen. Wir betreten damit ein Ge-
biet, auf welchem (im Gegensatz gegen das im vorigen Ca-
pitel Behandelte) die Uebereinstimmung in der Theorie grösser
ist als in der Ausführung. Dass Associationsbildungen vor-
kommen, ist eine alte Lehre, und wird heute von Niemand be-
zweifelt. Man ist nur verschiedener Meinung über das Mass
der Anwendung. Curtius ist der Meinung, dass dieses Mittel der
Erklärung heutzutage zu viel gebraucht werde, während man
andererseits behauptet, es sei früher zu wenig damit operirt
worden. Beides wird richtig sein. Es liesse sich eine Liste
von Fällen aufstellen, auch auf dem Gebiete des Griechi-
schen und Lateinischen, in denen man jetzt allgemein zu
dem Mittel der Erklärung durch Association greift, während
man früher die Erklärung direct an eine erschlossene Form
der Ursprache anknüpfte. Ein Beispiel statt vieler möge
genügen. Es giebt in zwei tegeatischen Inschriften fünf
Genitive erster Declination auf αυ, z. B. ζαμίαυ, neben Ge-
nitiven auf ας, z. B. τᾶς. Um diese mit denen auf ας zu-
sammenzubringen, nimmt Gelbke in Curtius' Studien 2,
133 an, es habe eine Urform auf -αjoς existirt, αjoς sei
[22] einerseits zu αος ας geworden, und andererseits zu αος αυς
αυ
. Gegen diese Annahme hat Leskien Decl. p. 40 einge-
wendet, dass es völlig unglaublich erscheinen müsse, dass
in einem und demselben Dialekte der Ausgang ajos bald
sein s behalten, bald es verloren habe, bald sein ao zu a
contrahirt, bald es erhalten habe. Weiter machte er darauf
aufmerksam, dass -ajos nur aufgestellt sei, um diese beiden
Formen unter einen Hut zu bringen. Die europäischen
Sprachen weisen vielmehr auf einen Ausgang ās. Man
müsse deshalb die Form auf au im Fern, im Arkadischen
als einen jungen Eindringling ansehen. Diese Endung ver-
danke ihre Existenz lediglich einer Uebertragung aus dem
Masculinum. Dass Leskien Recht hatte, zeigt jetzt das Cy-
prische, der Zwillingsdialekt des Arkadischen, welches den
von Leskien für das Arkadische vorausgesetzten Zustand
noch zeigt, nämlich αυ für das Masculinum, ας für das Fe-
mininum (vgl. Baunack in Curtius' Studien 10, 133). Der
Fortschritt, welcher durch diese und ähnliche Erklärungen
bezeichnet wird, beruht besonders darin, dass die Auffassung
historischer geworden ist, und für diesen Fortschritt sind
wir wohl vor Allem den Forschern auf romanischem, ger-
manischem, slavischem Gebiet zu Dank verpflichtet. Auf
der anderen Seite ist zuzugeben, dass viele Erklärungen
durch Analogie aufgestellt sind, welche unwahrscheinlich
sind, und dass wir uns auf einem höchst gefährlichen Bo-
den bewegen, wenn wir die Kühnheit so weit treiben, As-
sociationsbildungen errathen zu wollen, die in der Ursprache
eingetreten sein könnten. Curtius stellt in diesem Capitel
eine Reihe von interessanten Fällen zusammen, in welchen
seiner Meinung nach das genannte Erklärungsmittel falsch
angewendet worden ist. Ob das geschehen ist, oder nicht,
ist eine Frage ohne hervorragende principielle Bedeutung.
Indem ich es daher den betheiligten Gelehrten überlasse,
[23] sich mit Curtius auseinander zu setzen, wende ich mich zu
einigen allgemeinen Fragen, die in diesem Capitel berührt
sind, und zwar zunächst zu einer Frage der Technik. Les-
kien hat, was Curtius S. 41 anführt, geltend gemacht, man
müsse immerzuerst die Frage nach Uebertragung und
Analogiebildung hervorheben, und dann erst nach den
Grundformen suchen, während J. Schmidt und gelegentlich
auch Brugmann in der Erklärung durch Analogie nur ein
ultimum refugium sehen. Ich glaube, diese Lehren haben
nur zeitgeschichtlichen Werth, insofern sie vor Uebertrei-
bungen nach beiden Seiten hin warnen. Als methodische
Regel kann man doch nur aufstellen, dass man in jedem
Falle alle Möglichkeiten der Erklärung erwägen und die
wahrscheinlichste wählen soll, eine Weisheit freilich, die so
trivial ist, dass sie Niemand fördern kann. Ueberhaupt
muss ich bei meiner schon ausgesprochenen Meinung blei-
ben, dass es jetzt nicht die wesentlichste Aufgabe ist, all-
gemein psychologische Gesichtspunkte zu suchen, es wird
vielmehr darauf ankommen, auf Gebieten, die uns geschicht-
lich zugänglich sind, innerhalb der einzelnen in den Spra-
chen vorhandenen Systeme (Stammbildung, Flexion u. s. w.)
den Stoff zu sammeln und nach Anleitung der exacten
Psychologie, wie sie von Herbart begründet worden ist, zu
bearbeiten. Dann erst wird man für jedes einzelne Gebiet
und vielleicht mit der Zeit für das Gesammtgebiet zu einer
vernünftigen Eintheilung kommen, und u.a. auch solche
Fragen, wie die, ob und inwieweit neben Ausgleichungs-
wirkungen auch Contrastwirkungen anzunehmen sind, beant-
worten können. Ich gehe also hier auf diese Erörterungen
im Allgemeinen nicht näher ein, kann aber nicht umhin,
wenigstens eine Frage zu berühren, nämlich die Frage, in
welcher Art von Silben man füglich Associationsbildungen
erwarten kann. Die Meinung von Curtius ist, dass die
[24] Wahrscheinlichkeit der Associationsbildung im umgekehrten
Verhältniss zu der Bedeutsamkeit einer Silbe stehe. Er
sagt nämlich S. 77 : »[Für das Griechische und Lateinische]
stellt sich heraus, dass die Analogiebildungen besonders in
wenig bedeutenden mittleren und Endsilben eintritt«, ferner
S. 76: »Wenn wir, was oben weiter erörtert wird, festhalten,
dass das bedeutungsvollste von den sprechenden relativ am
festesten gehalten wurde, so wird es begreiflich, dass die
Analogiebildung auf solchen Gebieten und in solchen Wör-
terclassen sich am leichtesten verbreitet, die wir nicht eben
als in besonderem Grade bedeutungsvoll betrachten können.
So bei den Zahlwörtern. Diese Wörter sind mehr als an-
dere conventionelle notae rerum. Sie stehen mit Wörtern
anderer Art ausser aller, den sprechenden bewusster oder
empfundener Verbindung, entbehren also des Schutzes, wel-
chen Wörter anderer Art in dem Gefühl der Zusammen-
gehörigkeit mit anderen angehörigen derselben Wortsippe
finden. Sie sind, so zu sagen, schutzlose Fremdlinge mitten
unter eng verbundenen Familiensippen.« Und endlich macht
er S. 72 geltend, dass die bedeutungsvollsten Silben der
Wörter, die Stammsilben, in weit geringerem Masse der
Analogiebildung unterworfen sind, als Präfixe und Suffixe.
Die thatsächlichen Behauptungen in diesen Stellen sind
gewiss richtig, aber die Erklärung leuchtet mir nicht ein,
namentlich vermag ich nicht einzusehen, wieso die Zahl-
wörter in höherem Grade Conventionelle notae rerum sein
sollen, als andere Wörter. Der wahre Grund der Erschei-
nung dürfte der auch von Curtius auf S. 77 angedeu-
tete sein. Offenbar sind diejenigen Wörter oder Silben am
meisten geeignet, die besprochene Einwirkung zu erfahren,
welche in der Seele der Sprechenden zu Reihen oder Sy-
stemen vereinigt sind. Solche Reihen bilden z. B. die
sämmtlichen Endungen eines Casus, die Zahlwörter u. s. w.
[25] Die Begriffe der Nomina und Verba in ihrer unendlichen
Mannigfaltigkeit bilden viel seltener zusammengehörige Paare
oder Reihen, wo indessen ein solches Verhältniss vorhanden
ist, wie z. B. bei leicht und schwer, sind auch Associations-
wirkungen eingetreten, freilich nicht in allen Fällen, aber
dann, wenn noch eine formelle Aehnlichkeit hinzukommt
(so bei levegreve, s. Curtius S. 72, bei ἧμαι, das seinen
Spiritus von ἕζομαι hat u. s. w.).

Bei dieser Gelegenheit habe ich noch einen Punkt zu
erwähnen, in welchem d'Ovidio und Curtius gegen mich im
Rechte sind. Die Sache ist folgende: Curtius hatte in sei-
nem Aufsatz über die Tragweite der Lautgesetze gemeint,
dass das ι in δοίην erhalten, in ποέω dagegen verschwun-
den sei, weil es in δοίην als bedeutungstragend empfunden
wurde, in ποιέω aber nicht. Ist doch ι das Zeichen des
Optativs. Ich hatte dagegen geltend gemacht, dass dasι
wohl deswegen erhalten sei, weil es mit δοῖμεν δοῖτε und
den Medialformen, in denen es bleiben muss, weil es vor
einem Consonanten steht, innerlich zu einer Reihe verbun-
den sei, und ich gebe mich der Hoffnung hin, dass Curtius
mir jetzt in dieser Beziehung Recht giebt. Dabei hatte ich
auch einen allgemeineren Grund angeführt in den Worten,
welche Curtius S. 71 citirt: »Man ist, wie mir scheint, nicht
berechtigt, anzunehmen, dass die Griechen und Inder noch
ein Gefühl für die Bedeutsamkeit des einzelnen Lautes in
einer Sprachform gehabt hätten, welches uns abhanden ge-
kommen wäre, denn auch ihnen waren, wie uns, von Ge-
neration zu Generation nur fertige Sprachformen überliefert,
und jene Urzeiten, in denen die indogermanischen Formen
nach der Bopp'schen Annahme aus bedeutsamen Elementen
zusammengesetzt wurden, lagen für sie nicht weniger wie
für uns in dämmernder Vorzeit.« Ich gebe zu, dass der
erste Theil dieser Behauptung unzutreffend ist, denn ich
[26] nehme ebenso wie d'Ovidio und Curtius an, dass sicher be-
treffs der Suffixe, z. B. desi des Locativs, ein Gefühl für die
Bedeutung vorhanden war und in entsprechenden Fällen
noch ist. Ich hätte sagen sollen, mir sei nicht bewiesen,
dass ein Laut deswegen geschont würde, weil er als Trä-
ger der Bedeutung empfunden sei. Sehen wir doch, dass
z. B. die Personalendungen des Verbums, die sicher be-
deutungstragend sind, den Auslautgesetzen gerade so wie
die übrigen auslautenden Silben verfallen. Der zweite Theil
meiner Ausführung («denn auch ihnen« u. s. w.) steht nicht
an der richtigen Stelle, enthält aber eine wie ich glaube
richtige Polemik gegen Ansichten, wie sie öfter in den
Schriften von Curtius und auch in der hier besprochenen
S. 67 hervortreten, wo es heisst: »es scheint mir gänzlich
unglaublich, dass die Sprachen schon in den frühesten Zei-
ten ihrer Feststellung, das ist in jener Periode, die W. v.
Humboldt die der Organisation nennt, von den kaum ge-
schaffenen, und wie wir vermuthen dürfen, frisch und leb-
haft im Gedächtniss festgehaltenen Formen aus gleich wieder
abgeirrt und ins Schwanken gerathen seien, dass die Men-
schen, durch den Dämmerschein beliebiger Aehnlichkeiten
verführt, das eben hervorgebrachte Sprachgut gleich massen-
haft durch Angleichungen und Nachbildungen verdunkelt
und gleichsam verdorben hätten.« Hier kann ich nicht
folgen. Nach meiner Meinung können die Sprechenden
kein Bewusstsein davon haben, ob eine Form vor tausend
oder hundert Jahren geschaffen ist, und behandeln die letz-
tere nicht anders als die erstere. Dabei leugne ich nicht,
dass in den alten Sprachen Analogiebildungen verhältniss-
mässig seltner sind, als in manchen modernen, leite dies
aber daraus ab, dass die alten Sprachen uns wesentlich in
der Gestalt von Schriftsprachen überliefert sind. Die Schrift
ist es, welche die Formen erhält, denn sie stellt einen
[27] Zusammenhang zwischen entfernteren Zeiten und der Ge-
genwart her, in viel höherem Grade, als es die mündliche
Ueberlieferung thut, welche ein weit kürzeres Gedächt -
niss hat.

Der Schluss des Capitels von S. 84 an führt uns wieder
zu der Erörterung des Begriffes Lautgesetz zurück. Auf
einen Punkt — die Verkürzung von ἡμιμέδιμνον zu ἡμέδιμ-
vov
— bin ich oben schon mit einigen Worten eingegangen.
Hier bespreche ich zwei andere Verkürzungserscheinungen,
welche nach Curtius' Ansicht in durchaus sporadischer, nicht
unter die Begriffe Gesetz oder Analogie zu bringender Weise
auftreten. Es betrifft die Comparativ- und Superlativbildung
und die sog. Koseformen. Von den ersteren heisst es bei
Curtius S. 87: »Hierher gehören wahrscheinlich auch die
Stammkürzungen in den Comparativen und Superlativen,
die zu den merkwürdigsten Ausnahmen von der allgemeinen
Regel zu rechnen sind, dass die abgeleitete Stammbildung
aus dem vollen Stamme des primitiveren Wortes hervorgeht.
Man erinnere sich solcher Formen wie ῥίγιον. ἄλγιστος,
αἰσχίων, ἡδίων
. Man sagt wohl, der Comparativ werde hier
»aus der Wurzel« gebildet, allein mit welchem Rechte kann man
z. B. das aus Wurzel (?) aἰδ (αἴδομαι αἰδώς) hervorgegangene
αἰσχ von αἰαχίων eine Wurzel nennen, und was hat begriff-
lich die Wurzel mit der Comparation der Adjectiva zu thun?
Die Steigerung setzt unbedingt den Begriff einer Eigen-
schaft, also eines Nomens voraus; ἡδίων, ῥίγιον haben schwer-
lich von Haus aus ohne einen Positiv bestanden, vielleicht
nur nicht von Anfang an neben dem später üblichen.« Da
die Comparative auf ιων und die Superlative auf ιστoς im
Griechischen nur noch als Reste vorhanden sind, wird es,
wenn man das ursprüngliche Verhalten dieser Bildungen
kennen lernen will, gerathen sein, sich an eine Sprache zu
wenden, wo dieselben noch lebendig sind, d. i. das Sanskrit.
[28] Ich führe hier die entsprechenden Formen aus dem Rigveda
an, beschränke mich aber der Kürze wegen auf die Com-
parative. Es giebt im Rigveda 22 Comparative, neben welchen
kein Positiv vorkommt, nämlich: ǵávījas1) schneller, ǵjắjas
mächtiger, tárījas leicht durchdringend, távjas távījas stärker,
tvákshījas sehr kräftig, dhávījas schnell dahineilend, nédījas
ganz nahe, pánjas pánījas
wunderbar, sehr wunderbar, máṅ-
hījas reichlicher gebend, jáǵījas besser, aufs beste opfernd,
jódhījas streitbarer, rábhjas sehr ungestüm, vánījas mehr er-
langend, várshījas höher, váhījas trefflich fahrend, védījas
mehr erlangend, çáçījas häufiger, çréjas schöner, sáhjas sáh-
ījas
stärker, sehr stark, skábhījas sehr befestigend. In zwei
Fällen tritt die Endung ījas an eine mit einer Präposition
zusammengesetzte Wurzel, nämlich údjamījas mehr ausein-
ander sperrend, prátikjavījas mehr sich herandrängend. An
Comparativen dagegen, welche neben sich eine Form haben,
die man (theilweise allerdings nur bei wohlwollendem Ur-
theil) als den Positiv auffassen kann, sind 12 vorhanden: ṝǵījas
richtiger (ṛǵú) óǵījas stärker, sehr stark (ugrá),teǵījas schärfer,
eifriger (tigmá), dávījas weiter hinweg (dūrá), drắghījas länger
(dīrghá), návjas návījas neu, ganz neu (náva), préjas lieber
(prijá), bhṹjas bhávījas mehr, sehr viel (bhṹri), várījas weiter,
sehr weit (urú), vásjas besser, höchstes Gut (vásu), svắdījas
süsser (svādú). Vielleicht ist auch kánījas jünger, hierher-
zustellen, woneben ein erschlossenes Adjectiv kaná jung
(s. Grassmann s. v.). Aus diesem Material folgt, dass die
Comparative auf ījas allerdings etwas mit der Wurzel zu
thun haben. Wie könnte sonst údjamījas und prátikjavījas
[29] entstehen? Es zeigt sich ferner, dass nicht ein einziger Fall
vorliegt, in welchem ījas Secundärsuffix wäre. Man wird
also den Gedanken aufgeben müssen, als wäre vor ījas stets
ein Suffix ausgefallen, und vielmehr annehmen, dass das
Suffix ījas primäre Adjectiva bildet und die specielle Auf-
gabe hat, den Begriff der Wurzel besonders zu betonen.
Diese Andeutungen mögen genügen, um meine Behauptung
zu rechtfertigen, dass bei den Comparativen und Super-
lativen eine Verkürzung, wie Curtius sie annimmt, nicht
eingetreten ist.

Anders steht es mit den Kosenamen. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass sie aus Vollnamen auf dem Wege einer
sonst nicht nachweisbaren Kürzung hervorgegangen sind,
und es ist klar, dass in Formen wie Bob aus Robert, Dick
aus Richard alle Lautgesetze auf den Kopf gestellt sind.
Wie sind diese seltsamen Vorgänge zu erklären? Offenbar
haben wir es hier mit Bildungen der Kindersprache zu thun,
die in die Sprache der Erwachsenen aufgenommen sind.
Man kann den Process auch heute noch beobachten. In
den Familienanzeigen unserer Zeitungen tauchen ja immer
zuversichtlicher Namen wie Lulu, Lili, Mimi u. s. w. auf,
die erst ganz vor Kurzem die Kinderstube verlassen haben,
und die der Standesbeamte vorderhand noch nicht als wirk-
liche Namen gelten lassen will. Ich sehe also die Kose-
namen als Lehnwörter an und kann deshalb die an ihnen
auftretenden Lauterscheinungen nicht als Ausnahmen gelten
lassen (s. oben S. 13). In den Einzeldarstellungen ist dann
zu zeigen, wie diese zum Theil formlosen Lehnwörter gram-
matisch umgeformt werden, und wie sich im Anschluss an
sie der Typus der kosenden Verkürzung ausbildet, der also
im System als Analogiebildung nach Lehnwörtern aufzu-
fassen wäre.

[30]

III.
Vocalismus.


Das dritte Capitel handelt von einigen Fragen des Voca-
lismus, welche unter sich in einem systematischen Zusammen-
hang stehen, der enger ist, als man nach Curtius' Schrift
annehmen sollte. Wie sehr die Untersuchungen über das e
mit denen über denr-Vocal und n-Vocal zusammengehören,
ersieht man am besten aus J. de Saussure's, von Curtius mit
Recht als feinsinnig bezeichnetem mémoire sur le Système
primitif des voyelles dans les langues indo-européennes. Ich
werde diesen Zusammenhang der einzelnen Erscheinungen
später streifen, handle aber jetzt, indem ich mich der von
Curtius gewählten Reihenfolge anschliesse, zuerst νοη den-
jenigen Vocalen, welche man früher als A-Vocale bezeich-
nete, von ă, ĕ, ŏ. Bekanntlich entspricht ein ă des Sanskrit
bald einem α des Griechischen, z. B. in áǵāmi ἄγω, bald
einem ε, z. B. in bhárāmi φέρω, bald einem ο, z. B. in
ávis ὄϝiς. Während man sich nun, wie billig, zunächst mit
der Feststellung dieser Thatsache begnügte, that Curtius den
ersten Schritt zur Anbahnung eines geschichtlichen Ver-
ständnisses, indem er nachwies, dass das e in allen euro-
päischen Sprachen in vergleichbaren Wörtern an derselben
Stelle erscheint (z. B. in φέρω fero berim u. s. w.), und dar-
aus schloss. dass ein e an diesen Stellen schon in der Zeit
der vorauszusetzenden europäischen Einheit vorhanden ge-
wesen sei. Hinsichtlich desο schienen ihm die Thatsachen
für die Gewinnung eines gleichen Schlusses nicht auszu-
reichen. Wir sind aber an diesem Punkte in der eigen-
thümlichen Lage, behaupten zu dürfen, dass der Schrift-
steller mehr wahrscheinlich gemacht hat, als er selber zu-
giebt. Denn man muss, glaube ich, annehmen, dass, wenn
[31] eine da war, auch dasjenige ο nicht wohl fehlen konnte,
welches zu dem e in einem Ablautsverhältniss steht. Ich
lasse diese Frage, zu welcher ich später zurückkehren werde,
augenblicklich auf sich beruhen, und gestatte mir hier nur
die subjective Behauptung, dass Curtius meiner Meinung
nach wahrscheinlich gemacht hat, dass im Europäischen e
und ο vorhanden war. Demnach steht also die Sache so, dass
wir bei den Ostindogermanen a haben, bei den Westindo-
germanen a, e, o. Wo ist nun der ursprüngliche Zustand?
Curtius vermuthet in Asien, andere Gelehrte, denen ich
mich anschliesse, in Europa. Im ersten Falle hat man ab-
zunehmen, dass ein a sich in Europa in a e ο spaltete, im
anderen Falle, dass in Asien sowohl e wie ο zu a geworden
ist. Curtius weiss natürlich sehr wohl, wie schwierig und
verantwortlich es ist, über prähistorische Zustände etwas zu
behaupten, und drückt sich daher stets mit einer der Sache
angemessenen Vorsicht aus. »Ich begnüge mich übrigens —
so sagt er S. 91 — einige Hauptpunkte und namentlich
solche zur Sprache zu bringen, welche mir mehr für die
ältere, als für die jüngere Ansicht zu sprechen scheinen.«
Schliesslich fasst er die gegen die neue Ansicht sprechenden
Erwägungen S. 109 in folgende drei Sätze zusammen. Es
sprechen dagegen

1) Die Unerklärbarkeit der Entstehung des arischen a
aus ursprünglicher Dreiheit.

2) Die Unzulänglichkeit der Versuche, auch für das
Arische Spuren eines alten e nachzuweisen.

3) Der gänzliche Mangel eines Beweises für die Existenz
eines arischen o.

Indem ich mich auch dieser Reihenfolge anschliesse,
erörtere ich zuerst die behauptete Unerklärbarkeit des
arischen a aus a e o, und trete damit so zu sagen in die
Generaldiscussion der ganzen Frage ein. Selbstverständlich
[32] ist dabei zunächst zu erörtern, warum man nicht an der
alten Hypothese festhalten will. Ein allgemeiner Grund
dafür ist von Brugmann angegeben worden in den von
Curtius S. 93 angeführten Worten: »Die Annahme, dass
unter ganz denselben Verhältnissen ein Laut in einem Theil
der Formen auf diesem, in einem andern Theil auf jenem
Wege umgestaltet worden sei — etwa in Folge der Laune
des Sprechenden — widerstreitet den heutzutage immer
mehr und mehr zur Geltung kommenden methodologischen
Principien durchaus.« Curtius meint dagegen, es komme
auf derartige, a priori construirte Principien viel weniger
an als auf die Thatsachen der Sprachen und deren wahr-
scheinliche Deutung. Den Abscheu gegen a priori con-
struirte Principien theilen wir heutzutage wohl Alle (wenn
auch zuzugeben ist, dass wir uns unbewusst recht oft von
ihnen leiten lassen), aber es handelt sich, wie mir scheint,
im vorliegenden Falle nicht um ein aus den Fingern ge-
sogenes, sondern um ein mittelst der Erfahrung aus den
Thatsachen destillirtes Princip, das übrigens auch durch
die Geschichte der Spaltungshypothesen zwar nicht bewiesen,
aber doch empfohlen wird. Wir hatten früher in der indo-
germanischen Lautlehre zwei grosse Spaltungshypothesen
und eine Anzahl kleinerer. Die beiden grossen waren die
Hypothesen von der Spaltung des a-Lautes und der k-Laute,
eine kleinere z. B. die Hypothese von der Spaltung eines
indogermanischen j in griechisches ζ und . Hinsichtlich
der k-Laute nahm Schleicher mit grosser Bestimmtheit an,
es sei nur ein k, ein p, ein gh in der Ursprache vorhanden
gewesen, und aus ihnen seien die mannichfaltigenk-Laute
der Einzelsprachen durch Spaltung hervorgegangen. Diese
Ansicht nun ist jetzt (auch von Curtius) verlassen und zwar
zu Gunsten einer von Ascoli und Fick, aufgestellten An-
sicht, wonach bereits in der Urzeit zwei k-Reihen vorhan-
[33] den waren. Hier also ist die Ureinheit aufgegeben und bei-
nahe einstimmig1) eine Urzweiheit an die Stelle gesetzt worden.
Aehnlich steht es nach meiner (freilich nicht nach Curtius')
Meinung mit der Hypothese der zwei indogermanischen j.
Ich kann nicht glauben, dass (um einen Ausdruck zu ge-
brauchen, den Pott bei anderer Gelegenheit anwendet) nur
für die Langeweile ein j einmal, z. B. in ζνγόν, zu ζ ge-
worden sei, das andere Mal, z. B. in ὑμεῖς, zu , sondern
glaube nach dem Vorgange von Schulze auch in diesem
Falle eine ursprüngliche Zweiheit (ein halbvocalisches und
ein consonantisches j) annehmen zu sollen. Man wird nun
gewiss zugeben, dass durch diese Erfahrungen, und auch
schon durch die eine mit denk-Lauten gemachte Erfahrung
die Hypothese von der Spaltung des a an Credit einbüssen
musste. Ich weiss wohl, dass es noch andere als die ange-
führten Fälle giebt, in welchen solche Spaltungen vorzu-
liegen scheinen, so bei r undl, was Curtius anführt (S. 93).
Ich bin nicht in der Lage, hierfür eine plausible Erklärung
vorzutragen. Aber selbst wenn gar keine Hoffnung wäre,
diese zu finden, wird doch zuzugeben sein, dass die Hypo-
these von der Spaltung des a, nachdem ihr wichtigstes
Gegenstück beseitigt worden ist, nicht mehr als ein wands-
frei gelten kann. Dazu kommt noch die besondere Natur
des vorliegenden Falles. An denselben Stellen soll danach
das a das eine Mal geblieben sein (z. B. in ἄγω), und das
andere Mal zu e geworden (z. B. in φέρω), und dieses e hat
noch dazu die Eigenthümlichkeit, mit ο in einem Ent-
sprechungsverhältniss zu stehen, welches a nicht kennt! Es
wird danach, meine ich, zuzugeben sein, dass die Spaltungs-
3
[34] hypothese an und für sich ihre bedenklichen Seiten hat.
Ist nun die entgegengesetzte Hypothese, wonach in Asien a
aus e und ο geworden wäre, an sich wahrscheinlicher?
Curtius behauptet das Gegentheil, indem er S. 97 sagt: »Zu-
»nächst fragen wir: Woher kommt, wenn man den bunten
»Vocalismus als den ältesten betrachtet, bei den Indern und
»Iraniern der ihre Sprache charakterisirende eintönige Voca-
»lismus? Kann man nicht hier ebenso wie vorhin sagen:
»»Kein Mensch weiss zu sagen, nach welchem Gesetz sich e
»und ο durchweg in das eine a verwandelte«? Auf diese
»Frage ist die Antwort der neueren Sprachforscher altum si-
»lentium, wie es denn überhaupt den orientalischen Sprachen
»in der Geschichte der Wissenschaft eigenthümlich ergangen
»ist. Einst das Orakel der aufkeimenden Forschung, dem
»man blindlings folgte, stehen sie jetzt bei Seite. Man kann
»fast sagen, statt des geflügelten Wortes -»ex oriente lux«
»muss es jetzt heissen: »in oriente tenebrae«. Wo kommt es
»denn sonst vor, dass eine Sprache, die doch ihrem Charakter
»nach eine reich und fein unterscheidende ist, einen wich-
»tigen Theil des Lautbestandes nicht etwa nur hier und da
»verändert, sondern förmlich verwüstet? Finden sich irgend-
»wo für diesen seltsamen Vorgang Analoga, so bringe man
»sie vor«, und etwas später: »Es bleibt der befremdliche Um-
»stand, dass nach der neuen Lehre ein völlig unverständ-
»liches Zusammenfallen dreier ursprünglich geschiedener Vo-
»cale bei den Ostindogermanen eintrat, ungeschwächt stehen.«

Ich kann dieser Betrachtung eine schlagende Kraft nicht
beimessen. Meine Gegenargumentation beginne ich mit etwas,
das aussieht wie Silbenstecherei, es aber nicht ist. Ich
nehme Anstoss an dem Ausdruck: Zusammenfallen dreier
Vocale. Der betrachtende Grammatiker sagt freilich mit
Recht, die drei Vocale sind 'zusammengefallen', denn die
Einheit ist das schliessliche Resultat, für die Sprechenden
[35] jedoch lagen zwei von einander unabhängige Lautüber-
gänge vor, nämlich e wird zu a, und ο wird zu a. Die beiden
Vorgänge tragen ihre Wellen in denselben Strom, sind aber
jeder für sich als selbständige Erscheinung zu betrachten.
Hat es nun an und für sich etwas Unglaubliches, dass e
zu a, oder dass ο zu a wird? Gewiss nicht. Geht doch
z. B. im Mittelenglischen ae in a, im Neugriechischen ο in
gewissen Fällen in α über, wie Curtius S. 106 anführt.
Auch daran darf man nicht Anstoss nehmen, dass e zu a
ward, obgleich schon ein a vorhanden war, und dass es
mit ο ebenso ging. Der genau entsprechende Vorgang voll-
zog sich (und zwar auch nach Curtius' Meinung) im Goti-
schen. Das Gotische hat ein indogermanisches i, z. B. in vi-
tum
wir wissen, und verwandelte trotzdem, obgleich da-
durch frühere Unterschiede verwüstet werden, das europäi-
sche e in i (z. B. in ik ego). Ein Gleiches wäre für das ο
anzunehmen, welches im Gotischen zu a wurde und mit dem
alten a zusammenfiel. Curtius steht allerdings auf einem
anderen Standpunkt. Ich weiss aber nicht, ob ihm die Be-
merkungen von Möller in Paul und Braune's Beiträgen 7, 482
und Osthoff 8, 281 gegenwärtig gewesen sind. Niemand wird
ferner leugnen, dass das Lateinische massenhafte alte ο (wir
wissen noch nicht in welchen Grenzen) zu u verwandelt hat,
so die ο der zweiten Declination, obwohl diese nun mit den
alten u zusammenfielen und damit einstens vorhandene rein-
liche Unterschiede aufgehoben wurden. Auch auf dem Ge-
biete der Consonanten hat sich Aehnliches ereignet. Im
Indogermanischen waren nach allgemeiner Annahme tönende
Aspiraten (gh, dh, bh) und tönende Mediae (g, d, b) vor-
handen. Die Kelten haben kein Bedenken getragen, gh,
dh, bh
in Mediae zu verwandeln, so dass diese neuen Mediae
mit den alten zusammenfallen. Das scheinen mir genügende
Analoga für den Uebergang von e in a und ο in a. Dabei
3*
[36] wolle man noch bedenken, dass die Uebergänge, von denen
wir reden, in der That sehr nahe liegen. Man darf an-
nehmen, dass in der Ursprache a, ä, å vorhanden waren,1)
in Europa bildete sich ä zu e und å zu ο um, in Asien
ward ä zu a, und å zu a. Im Bilde ausgedrückt: ein Laut,
der zwischen a und e schwebt, wird auf der einen Seite zu
e, auf der anderen zu a, und analog ging es dem å der
Ursprache. Diese Uebergänge (so muss man bei dieser Hy-
pothese annehmen) waren vollzogen, ehe die Festsetzung der
Alphabete in Indien und Persien stattfand.

Somit scheint mir schon aus dieser allgemeinen Er-
örterung ein Mehr der Wahrscheinlichkeit für die trinita-
rische Hypothese gegenüber der unitarischen vorhanden zu
sein. Dazu kommen die speciellen Gründe, und zwar zu-
nächst die speciellen Gründe für die Annahme eines e in
der Ursprache. Der hauptsächlichste Grund liegt in dem
Umstande, dass man das einstige Vorhandensein eines e in
der indisch-iranischen Gruppe noch in seiner Wirkung auf
gewisse Consonanten dieser Sprachen erkennen kann. Es
ist, wie Curtius S. 98 anführt, von verschiedenen Gelehrten
zu gleicher Zeit die Vermuthung aufgestellt worden, dass
an dem Uebergang indischer Gutturale — ich beschränke
mich hier der Einfachheit wegen auf das Indische — in
Palatale der einst hinter ihnen vorhanden gewesene e-Laut,
welcher im historischen Sanskrit zu a geworden ist, Schuld
sei. Curtius fügt hinzu: »von mir wird Niemand erwarten,
dass ich in die meinen Studien ferner liegenden Einzelhei-
ten eingehe.« Diese Zurückhaltung ist nun zwar gerade an
dieser Stelle gefährlich, da die Richtigkeit der aufgestellten
Behauptung nur demjenigen vollständig aufgehen wird, der
[37] in die Discussion über die Einzelheiten eingeht. Indessen
will ich versuchen, mich ebenfalls von allem Detail mög-
lichst fern zu halten, muss aber den Leser, den meine Dar-
stellung nicht überzeugt, bitten, ehe er ein Urtheil fällt,
die Aufsätze von Collitz in Bezzenberger's Beiträgen 3, 177 ff.
und Johannes Schmidt in Kuhn's Zeitschrift 25, besonders
S. 64 ff. selbst durchzunehmen. Der Thatbestand ist kurz
folgender: wie oben angegeben worden ist, nehmen wir an
(auch Curtius), dass im Indogermanischen zwei k-Reihen
vorhanden waren, und zwar erstens die Reihe der festen
k-Laute, welche im Sanskrit durchç, ǵ (nicht g), h ver-
treten ist, und zweitens die Reihe der beweglichen k-Laute
oder die q-Reihe, welche im Sanskrit die Laute k ḱ, g ǵ,
gh h
enthält. Man sieht, die zweite Reihe hat einmal Gut-
turale und sodann Palatale. Nur um die Entstehung dieser
Palatale der q-Reihe handelt es sich. Ueber diese ist die
Vermuthung aufgestellt worden, dass sie aus den Guttura-
len durch Einwirkung von i oder e enstanden seien. Von
dem i spreche ich hier nicht. Wie man den Einfluss des
e ausgespürt hat, lässt sich gut deutlich machen an einer
Stelle aus Collitz' Aufsatz. Ich bemerke zum Verständniss
derselben noch, dass das k der zweiten Reihe im Griechi-
schen vorι und ε als τ, vor ο als π erscheint, so dass also
τίω und ποινή auf dieselbe Wurzel zurückgehen. Die Stelle
lautet (a. a. 0. 199): »Wenn in τίσις gleich avest. kithi
übereinstimmend Palatalisirung eingetreten ist, in ποινή
gleich avest. kaêna (kaina) hingegen die regelmässige Fort-
setzung des grundsprachlichen q vorliegt, so ist nicht zu
bezweifeln, dass diese gleiche Differenzierung des Anlautes
in der gleichen Verschiedenheit des folgenden Vocals ihre
Begründung findet. Nun aber ist der Gleichung τίσις : ποινή
= kithi : kaêna ganz analog die Gleichung τε : πóτερος =
ka : katarás. Wir haben also anzunehmen, dass auch die
[38] Verschiedenheit des, Anlauts in sanskr. ka = τε und in
sanskr. katarásπóτερος durch die Verschiedenheit des
folgenden Vocales bedingt ist. Und wenn nun in τε und
πóτερος eine Differenz der Vocale stattfindet, inka und
katarás aber eine solche Differenz nicht vorliegt, so folgt
weiter, dass der erstere Zustand der ältere, der letztere der
jüngere ist.« Mich dünkt, der Parallelismus ist schlagend.
Es ist dabei, wie ich wegen Curtius S. 103 bemerke, für
die hier vorliegende Erörterung gleichgültig, ob wir schon
für die Ursprache eine Palatalis ansetzen oder nicht.1) Wo-
rauf es hier ankommt, ist die Erwägung, dass, wenn das τ
von τε dem ε seinen Ursprung verdankt, dasselbe auch von
dem Κ des mit τε identischen ka gelten wird. Curtius, der
dem Scharfsinn, welcher bei der Entwickelung dieser Hy-
pothese thätig gewesen ist, alle Anerkennung zollt, meint
schliesslich, die Versuche, das e nachzuweisen, seien »unzu-
länglich«, und zwar wegen der vielen Ausnahmen, die schliess-
lich doch zugegeben werden müssten, und die sich keines-
wegs alle durch Nachweis der störenden Kräfte unschädlich
machen liessen. Darüber zu discutiren ist unter den vor-
liegenden Verhältnissen schwer. Ich kann nur die Leser
bitten: kommt und seht. Man lese die angeführten Seiten
in dem Aufsatz von J. Schmidt und man wird, wie ich
glaube, zugestehen, dass hier das Dunkel bereits in aner-
kennenswerther Weise gelichtet ist, namentlich wenn man
erwägt, dass wir eine Lautlehre des Sanskrit noch nicht
besitzen. Freilich, ohne Associationsbildungen kommt man
nicht aus, aber ich glaube, dass Curtius sich im vorliegen-
den Falle zu spröde gegen dieses Mittel verhält, ohne das
wir doch in unserer Wissenschaft nicht bestehen können.
So scheint mir z. B. nicht gerechtfertigt, wenn Curtius im
[39] indischen kim ,was' eine noch unerklärte Ausnahme sieht.
J. Schmidt scheint mir diesen Fall richtig erklärt zu haben,
wenn er S. 66 sagt: »Ebenso haben die Formen des Inter-
rogativstammes mit i kim kis nákis mắkis kíyant kívant kīdṝç
ihr k aus dem Stamme ka übertragen, wie die regelrecht
palatalisirten abaktr. kis kim kiṭ mākis kvañt beweisen. Nur
[das indische] kid, welches sich begrifflich von den Inter-
rogativformen geschieden hatte, ward durch seine Isolirung
der Einwirkung von ka entzogen.« Man darf auch nicht
vergessen, dass es sich nur um die aus der q-Reihe stam-
menden Palatalen handelt, nicht um jede Palatalis des Sans-
krit. Das ģ z. B. von áģas Treiber, von dem Curtius S. 101
annimmt, es sei nach der Meinung der neueren Gelehrten
im Sanskrit aus g entstanden, und zwar lediglich durch
Einwirkung des vocativischen e, gehört nicht in diesen Zu-
sammenhang, da es, wie das zendische az treiben beweist,
der ersten k-Reihe angehört. Ich muss also, abweichend
von Curtius, gestehen, dass mich eine erneute Durchsicht
der hierher gehörigen Abhandlungen in der Ansicht be-
stärkt hat, dass der richtige Weg beschritten worden ist.
Dass bei weitem noch nicht Alles zu Ende erklärt ist, sei be-
reitwillig zugegeben. Aber wo in der Wissenschaft sind wir
bei diesem, soll ich sagen beneidenswerthen oder beklagens-
werthen Zustand bereits angelangt? Die Geschicke der Gut-
turale sind aber nicht der einzige1) Grund für die Annahme
eines uralten e. Es kommt noch ein zweiter, aus der That-
sache der Stammabstufung gewonnener Grund hinzu, der
jedoch nur in Gemeinschaft mit der Erörterung über ο deut-
lich gemacht werden kann, zu der ich jetzt übergehe.

Bei dem jetzigen Stande der Forschung lässt sich, so viel
[40] ich sehe, für das Indogermanenthum des ο nur dasjenige
geltend machen, was sich aus seinem Verhältniss zu e
ergiebt. Ein festes Verhältniss zu ο (am bequemsten im
Griechischen zu übersehen) zeigt sich bekanntlich in der
Stammbildung der Nomina und Verba, z. B. in ϑοός neben
ϑέω, in βρομέω neben βρέμω, in δέδορκα neben δέρκομαι,
ferner in der Flexion, z. B. in γένος neben γένεος, in φέ-
ρομεν
neben φέρετε, lauter weitgreifende Erscheinungen von
grosser Bedeutung. Curtius nimmt an, dass von allen die-
sen Entsprechungen im Indogermanischen nicht eine Spur
vorhanden war, dass sie sich vielmehr alle in Europa später
entwickelt haben, und zwar unter Einwirkungen, von denen
wir nichts wissen oder ahnen. Schon an und für sich ist
das eine harte Zumuthung, vollends aber für denjenigen,
der, wie ich es thue, das e für indogermanisch hält. Die e
sollten indogermanisch sein, und die ο sich mit ihnen erst
in Europa zu Reihen verbunden haben? Besonders lehrreich
ist das Verhältniss von e und ο in Wörtern wie ἕδος ἕδεος.
Aus Bildungen wie σακεσφόρος ergiebt sich mit hoher Wahr-
scheinlichkeit, dass der Wechsel zwischen e und einem an-
dern Vocal, also die Stammabstufung in dieser Art von
Wörtern schon indogermanisch war. Im Sanskrit gilt näm-
lich für die ersten Glieder der Composita die Regel, dass bei
stammabstufenden Wörtern die schwache, und wenn sie mehr
als zwei Stufen unterscheiden, die mittlere Form gewählt
wird. Dieses Gesetz von dem es zweifelhaft ist, ob es das
einzige für die Bildung der betreffenden Compositionsglieder
im Indogermanischen gewesen ist, hätte man aus den euro-
päischen Sprachen schwerlich gewonnen (vgl. Brugmann MU
2, 250 ff.). Wo sich in Europa Spuren davon finden, z. B.
in ἀνδράποδον haben wir Reste aus vergangener Zeit vor
uns. Nichts anderes als ein solcher Rest nun kann σακες-
in σακεςφόρος sein, denn aus griechischer Gewohnheit
[41] ist es nicht zu deuten. Es ist die schwache Form des
Stammes, welche nach einem indogermanischen, in Asien
noch deutlich erhaltenen, aber in Griechenland kaum
mehr erkennbaren Gesetze im ersten Gliede des Composi-
tums gesetzt wird. Wie sollten wohl die Griechen, wenn
ihnen nur eine Form wie sádas überliefert war, dazu ge-
kommen sein, gerade im Compositum zu ἕδες- zu greifen?
Darum wird man annehmen müssen, dass eine Form wie
sedes- als Vorderglied eines Compositums schon indogerma-
nisch war, und wir hätten damit mindestens eine neue Stütze
für das indogermanische e gewonnen. Ich denke aber auch
eine Wahrscheinlichkeit für das o. Wenn die eine Stufe
da war, wird auch die andere nicht gefehlt haben.

Curtius greift sodann die Theorie von der Buntheit des Vo-
calismus auch noch so zu sagen von hinten an, indem er vom
Standpunkt der erschlossenen indogermanischen Grundformen
dagegen operirt. Ich muss gestehen, dass ich mich mit dieser
Partie des C.'schen Buches am wenigsten befreunden kann. Al-
les was von mir über e und ο vorgetragen wurde, ist, wie der
Leser hoffentlich zugeben wird, nicht aus der Luft gegriffen,
sondern ist an Thatsachen der Sprache, die vorhanden sind,
entwickelt worden. Wie könnten solchen Schlüssen gegen-
über die Vorstellungen ins Gewicht fallen, die wir uns an
der Hand der bisherigen Erfahrungen über die Entstehung
der Flexion in fernster Urzeit gebildet haben? Unsere Vor-
stellungen über die Ursprache sind ein Niederschlag un-
serer Forschungen über die Einzelsprachen. Erleiden diese
eine Veränderung, so müssen jene Vorstellungen nachfolgen.
Kommen wir z. B. durch unsere Rückschlüsse zu einer
zweifachen Gestalt des Stammes statt der erwünschten ein-
heitlichen, so bleibt nichts übrig, als uns vorerst bei dieser
Zweiheit zu beruhigen. Ich würde also sagen, wir kommen
auf ein Präsensthema bhere bhero. Ob und wie es gelingt,
[42] eine Einheit zu erreichen, hleibe der Forschung der Zukunft
vorbehalten. Ebenso wenig wie diese Erörterungen vom
Standpunkte der Grundsprache leuchtet es mir ein, wenn
Curtius in der Verwickeltheit der neuen Anschauung einen
Gegengrund gegen dieselbe findet (S. 123). Dass die Ur-
sprache von ,einfacher' Construction gewesen sei, kann man
durch die an sich treffliche Maxime ἁπλοῦς ὁ μῦϑος τῆς
ἀληϑείας ἕφυ
meiner Meinung nach nicht wahrscheinlich
machen. Vielleicht war die Ursprache ausserordentlich ver-
wickelt. Sehen wir doch, dass die indogermanischen Spra-
chen — man denke z. B. an das Englische — im Laufe der
Zeit immer einfacher werden.

Wenn Curtius endlich S. 119 behauptet, die neuen An-
schauungen seien noch keineswegs durchgeführt, und es
blieben noch viele Schwierigkeiten übrig, so ist das freilich
zuzugeben. Aber die Schwierigkeiten auf dem Gebiet des
Lateinischen, welche Curtius S. 119 anführt, scheinen mir
keinen richtigen Beleg für diese Behauptung zu liefern.
Auch ich weiss nicht, was wir mit dem a von oskisch anter
und lateinisch quatuor machen sollen, aber ich sehe nicht
ein, wie das Vorhandensein dieses a eine Instanz gegen den
indogermanischen Charakter des e bilden soll, denn dieses a
steht der Annahme, dass dase in den genannten Worten
italisch, wie der dass es europäisch, wie der dass es indo-
germanisch sei, gleich feindlich gegenüber. Dieses a be-
reitet dem Streben, feste Lautgesetze zu gewinnen, ein
Hemmniss, aber für die vorliegende Frage, wo es sich um
das Indogermanenthum des e handelt, scheint es mir ohne
Interesse.

Nach allem diesen kann ich meinerseits nur bei der
früher ausgesprochenen Meinung bleiben, dass mit Sicherheit
ein indogermanisches e, mit Wahrscheinlichkeit ein gleiches
ο anzunehmen sei. Dabei bitte ich den Ausdruck Sicher-
[43] heit nicht übel zu nehmen. Ich meine eine solche Sicher-
heit, wie sie bei historischen Rückschlüssen erreichbar ist.

Curtius kommt sodann auf die sogenannte Guṇatheorie
(S. 120 ff.). Neben φεύγειν steht φυγεῖν. Wo steckt die
ältere Form der Wurzel? Im Anschluss an die indischen
Grammatiker nahm man bis in die neuere Zeit an, φυγ sei
die reine Wurzel und φευγ daraus durch Steigerung ent-
standen. Jetzt sind viele Forscher geneigt, von φευγ aus-
zugehen und φυγ daraus durch Verdünnung abzuleiten. Zu
dieser Meinung führten besonders zwei Gründe. Wenn man
skr. émi (εἶμι) mit imás (ἵμεν) vergleicht, liegt es sehr nahe,
ei als die ursprüngliche Gestalt anzusehen, weil man in der
vermuthlich älteren Betonung des Sanskrit einen Grund für
die Verkürzung erkennen kann. Der Schluss wird weiter
empfohlen, wenn man άsmi smάs neben émi imάs stellt.
Sieht man nämlich i als Wurzel an, welche in der schwachen
Form imάs rein vorliegt, so muss man aus der schwachen
Form smάs auch s als Wurzel ausziehen, was nach unseren
bisherigen Anschauungen anstössig sein würde. Demnach
erscheint es richtiger von es auszugehen, also auch von ei
und bheug. Der zweite Grund ist eine Parallele ähnlicher
Art. Seit man erkannt hat, dass ρα in ἕδρακον demr-Vocal
des Indischen entspricht, ergiebt sich, dass ἕδρακον sich zu
δέρχομαι verhält, wieἕφυγον zu φεύγω. Da man sich nun
gewöhnt hat, δερκ und nicht δρακ als Wurzel anzusetzen,
sollte man auchφευγ und nicht φυγ als Urgestalt auf-
stellen. Es lässt sich wohl nicht leugnen, dass diese Erwä-
gungen guten Grund haben. Auf der anderen Seite scheint
mir aber auch der Einwand von Curtius bedeutsam, wo-
nach es die Consequenz der absteigenden Theorie sein würde,
Wurzeln mit kurzen Vocalen1) einer späteren Periode zuzu-
[44] schreiben. Ich glaube deshalb, dass man gut thut, sich
einstweilen mit der Erkenntniss zu begnügen, dass zwischen
ei oi i, eu ou u, er or ṛ, en on η in der Wurzel ein festes
Verhältniss, das Ablautsverhältniss besteht, wozu ich zu
vergleichen bitte, was ich oben über die doppelten Gestalten
der Stämme bemerkt habe.

Auf die nasalis sonans, die Curtius zum Schluss be-
handelt, gehe ich hier nicht ein, da Curtius einen richtigen
Kern in dieser Lehre anerkennt und ich über Einzelheiten
nicht disputiren mag.

IV.
Die Ursprache.


Das vierte Capitel, welches sich mit der Ursprache be-
schäftigt, giebt mir zunächst in zwei Punkten zu einer Art
von Selbstvertheidigung Veranlassung. Curtius beginnt dies
Capitel mit den Worten: »Unleugbar bringt man in neuerer
Zeit den Untersuchungen über die Entstehung der ursprach-
lichen Formen ein viel grösseres Misstrauen entgegen als
früher. Von manchen Seiten wird sogar mit einem gewissen
Selbstbewusstsein die ars nesciendi gerühmt, mit welcher
man jetzt Fragen behandle, die früher mit grosser Zuver-
sicht in Angriff genommen wurden. Es genügt in dieser
Beziehung auf Delbrück's Einleitung 2. Aufl. S. 57 und auf
Joh. Schmidt, Ztschr. XXIV, S. 321 zu verweisen.« Die Stelle
aus meiner Einleitung, auf welche Curtius Bezug nimmt,
lautet so: »Das Hypothetische aller solcher Analysen ist der
realistischen Zeit, welche sich von Dingen, die sich nicht
wissen lassen, lieber fern halten möchte, immer deutlicher
zum Bewusstsein gekommen, und man kann somit behaupten,
[45] dass bei einer nicht geringen Zahl von Sprachforschern alle
glottogonischen Hypothesen, d. h. alle Versuche, die Formen
der Ursprache zu erklären und darauf eine Geschichte
der Flexion aufzubauen, in Misscredit gerathen sind.« Ich
führe sodann dieselbe Stelle von Joh. Schmidt an, welche
auch Curtius als zweiten Beleg seiner Behauptung neben
dem betreffenden Passus meiner Einleitung anzieht. Wie
nun in diesen meinen Worten, welche gelassen mitthei-
len, was sich vor Aller Augen vollzogen hat, ein Selbst-
bewusstsein gefunden werden könnte, das einen tadelnden
Seitenblick verdiente, entgeht mir.

Die zweite Aeusserung findet sich auf S. 131: »Wir
beginnen mit einem Vorwurf, den man von verschiedenen
Seiten dem bis vor Kurzem allgemein geltenden Verfahren
gemacht hat. Brugmann spricht Literar. Centralblatt 1884,
S. 1027 von »dem alten Vorurtheil, als hätten die Wurzeln
noch in nachursprachlicher Zeit ein selbständiges Leben
gehabt«. Aehnlich drückt sich Delbrück a. a. O. aus: »je
eindringender die Vergleichung der indogermanischen Spra-
chen zu Werke gegangen ist, um so deutlicher ist der Satz
geworden: die Flexion war schon in der Ursprache abge-
schlossen; in die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter
überliefert worden«. Beide Urtheile beruhen, wie ich glaube,
auf einem blossen Missverständniss. Ich wüsste nicht, wo
jemand jenes Vorurtheil geltend gemacht hätte, das Brug-
mann mit Recht tadelt, und das, was Delbrück gegen-
sätzlich ausspricht, ist, glaube ich, stets die Meinung aller
urtheilsfahigen Forscher gewesen«, und ebenso S. 134: »der
Behauptung Delbrück's: die Flexion war schon in der Ur-
sprache abgeschlossen u. s. w. wird, glaube ich, niemand in
dieser Allgemeinheit widersprechen wollen, und hat auch,
so viel ich weiss, niemand je widersprochen.«

Dem gegenüber behaupte ich, dass von der Begründung
[46] unserer Wissenschaft an die namhaftesten Sprachforscher
angenommen haben, dass noch in den Einzelsprachen Zu-
sammensetzungen mit ungeformten Sprachelementen wie
Wurzeln und Stämmen (und zwar nicht etwa blos in An-
lehnung an Urtypen) stattgefunden hätten, und dass man
sich erst allmählich der Unzulässigkeit dieser Annahme be-
wusst geworden ist. Was zunächst Bopp selbst betrifft, so
wird wohl Niemand, der die vergl. Gr. auf diesen Gesichts-
punkt hin durchliest, leugnen, dass er sehr häufig solche
Zusammensetzung in Einzelsprachen annimmt; so heisst es
z. B. 2, § 526: »während das Sanskrit und Griechische in
dem Aorist die andere Wurzel des Verb, subst., nämlich as
ἐς
mit den attributiven Wurzeln verbinden, wendet
sich das Lateinische an die Wurzel fu.« An dieser Stelle,
wie an vielen anderen ist deutlich gesagt, dass in einer
Einzelsprache die Zusammensetzung einer attributiven Wur-
zel mit as ες fu stattgefunden habe. Aber auch bei den Ge-
lehrten, welche in der Periodisirung schon weiter gegangen
waren als Bopp und im Allgemeinen deutlicher als dieser die
Ursprache von den Einzelsprachen schieden, finden wir dieselbe
Anschauung. Um von Corssen ganz abzusehen, der mir viele
Beispiele für meine Behauptung liefern könnte, nenne ich in-
star omnium Schleicher. In dem Abschnitte seines Compen-
diums »zusammengesetzte Neubildungen« findet man vielleicht
§ 303, 1 ein theoretisches Bedenken gegen Annahmen dieser
Art, aber in der Praxis werden sie zugelassen. Sehr schlagend
ist in § 301 die Bemerkung über das lateinische Perfectum
auf si: »Formen wie -lexi d. i. -leg-si, neben älterem lēgi
(*leligi), Wurz. leg (lesen); panxi, d. i. *pang-si, neben älterem
pepigi, Wurz.pag (festigen);punxi, d. i.*pung-si, neben pu-
pugi
, Wurz, pug (stechen), beweisen die späte Entstehung
dieser Zusammensetzung. Es liegt also diesen Formen, häufig
wenigstens, nicht die Wurzel, sondern der Präsensstamm zu
[47] Grunde.« In si, sisti u. s. w. sieht Schleicher ein Perfectum,
welches in voller Form etwa ēsi gelautet habe. Ich mache
besonders darauf aufmerksam, dass in dieser Stelle (welche
im Wesentlichen auf Curtius' Tempora und Modi S. 303 zu-
rückgeht), der Zusammenhang von -lexi mit dem Aorist ab-
gelehnt, und eine besondere Art der Zusammensetzung mit
dem Perfectum ēsi, welche in keiner anderen indogermani-
sehen Sprache vorliegt, angenommen wird, und dass diese im
Lateinischen selbst verhältnissmässig jung sein soll, weil sie
andere ältere Bildungen verdrängt hat. Ist es wirklich ein
»blosses Missverständniss«, wenn ich behaupte, dass Schlei-
cher -lexi für eine lateinische Neubildung aus der Wurzel
leg und dem Perfectum ēsi erklärt? Wie sich die richtigere
Auffassung allmählich Bahn gebrochen hat, lässt sich am
besten an Curtius' Schriften verfolgen. In seinen Tempora
und Modi steht er wesentlich auf Bopp'schem Standpunkt,
ja er erklärt a. a. O. ausdrücklich die Perfecta auf ui vi si
und das Imperfectum auf bam für »völlig originell«. In
seiner Chronologie (1867) S. 243 äussert er sich so: »Der
Trieb nach zusammengesetzter Tempusbildung muss längere
Zeit lebendig geblieben sein. Im Sanskrit bietet der ,Con-
ditionalis und Precativ Beispiele davon, im Griechischen
die Passivaoriste, im Lateinischen die zusammengesetzten
Imperfecta, Perfecta und was dazu gehört, im Deutschen
das sog. schwache Präteritum. Ob alle diese jüngeren Ge-
bilde wirklich erst nach der Sprachtrennung aufgekommen
sind, dürfte zweifelhaft sein. Es wäre sehr wohl denkbar,
dass die Ansätze zu allen diesen Bildungen schon dieser
frühen Zeit angehörten, während allerdings das Ueber-
wuchern derselben und die bestimmtere Ausprägung ihres
Gebrauchs offenbar viel späteren Datums und, zum Theil
wenigstens, dem Bedürfniss nach Ersatz ungefügig gewor-
dener einfacher Bildungen entsprungen ist. Das Zusammen-
[48] Präteritis auf -ϑo-v ist dafür besonders instructiv.« In dieser
Stelle wird immerhin eine Neubildung der fraglichen Art
in einer Einzelsprache noch als möglich zugelassen. Da-
gegen ist auch diese Möglichkeit aufgegeben in der neuesten
Aeusserung von Curtius, nämlich S. 140 des hier bespro-
chenen Werkes, wo es heisst: »Etwas anderes ist es mit
solchen, lange Zeit nach demselben Princip [wie ádik-
sham] gedeuteten Formen, wie die lateinischen Perfecta auf
ui und vi, z. B. al-ui, ama-vi, aber auch mit den Im-
perfecten auf bam. Da durchaus nicht nachgewiesen wer-
den kann, dass dieser Typus mit der W.bhū, lat. fu ein ur-
sprachlicher ist, da er vielmehr den italischen Sprachen
eigenthümlich bleibt, so ist mir für diese Formen jetzt eine
andere Deutung wahrscheinlicher, deren Erörterung ich mir
für eine andere Gelegenheit vorbehalte.« Warum wohl hat
Curtius seine Ansicht über das Perfectum auf ui vi mit der
Zeit geändert? Offenbar weil ihm im Verlauf seiner wissen-
schaftlichen Arbeit immer deutlicher geworden ist, dass in
der Einzelsprache nicht mehr gestattet ist, was wir der Or-
ganisationsperiode der Ursprache mit Recht zuschreiben.

Dass nun ein solches Princip erst sehr allmählich ge-
wonnen wurde, darüber wird sich niemand wundern, der
die Geschichte auch nur einer Wissenschaft kennt. Gerade
die allgemeinen Wahrheiten, die nachher wie Trivialitäten
aussehen, ringen sich aus der Fülle der Einzelheiten am
schwersten los.

Hinsichtlich der morphogonischen Forschungen im All-
gemeinen habe ich dem, was ich in meiner Einleitung ge-
sagt habe, kaum etwas hinzuzufügen. Ich habe daselbst die
ungeheuren Schwierigkeiten hervorgehoben, die diesen Unter-
suchungen im Wege stehen, aber zugleich es für unmöglich
erklärt, derartige Forschungen gänzlich über Bord zu werfen.
[49] »Denn — so heisst es daselbst S. 101 — die Versuche, die
Sprachformen zu zerlegen, beruhen schliesslich doch nicht
auf willkürlichen Entschlüssen und Einfällen der Gelehrten,
sondern haben gewisse sprachliche Thatsachen zur Grund-
lage (so z. B. die Aehnlichkeit der Personal- und Stamm-
bildungssuffixe mit gewissen Pronominibus u. ähnl.) und
werden also vermuthlich auch in Zukunft wiederholt wer-
den. Ob freilich jemals ein befriedigenderes Resultat als
das jetzige erreicht werden wird, das zu entscheiden ist
nicht Sache der Gegenwart. Sollte der Versuch je besser
gelingen, so wird das jedenfalls nur mit Hinzuziehung eines
unendlich viel grösseren Materials, als jetzt gewöhnlich ge-
schieht, also mit reichlicher Benutzung der ausserindoger-
manischen Sprachwelt möglich sein.«

Curtius' Stellung ist principiell kaum anders, doch sieht
er die Dinge hoffnungsvoller an als ich. Ich glaube, wir
können das Weitere der Zukunft anheimgeben.


Ich bin am Ende meiner Betrachtungen angekommen.1)
Ich hoffe, der Leser hat den Eindruck empfangen, dass
allerdings Fortschritte gemacht worden sind, aber Fort-
schritte in der bisher schon verfolgten Richtung, so dass
die Hoffnung auf allmähliche Verständigung wohl begründet
erscheint. Der weiteren Forschung darf man mit frohem
Muthe entgegen sehen, aber freilich sollte Niemand, der
danach trachtet, diesen Problemen ernstlich auf den Grund
zu gehen, das Goethe'sche Wort vergessen.

Hier muss sieh manches Räthsel lösen,
Doch manches Räthsel knüpft sich auch.


[][]
Notes
1).
Die von Curtius an dieser Stelle angeführten Schriften ausser
einer Recension von Collitz sind nach der ersten Auflage meiner Ein-
leitung erschienen. In der zweiten ist keine irgendwie erhebliche Aen-
derung eingetreten.
1).
Vgl. dazu meine Einleitung S. 114.
1).
Die von Curtius S. 51 Anm. angeführte Arbeit de Saussure's
habe ich noch nicht einsehen können.
1).
Curtius sagt S. 12 Anm.: »wenn Delbrück doch wieder in dieser
Beziehung von Naturnothwendigkeit redet, so vermag ich darin den
ebenangeführten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht
zu erkennen.« Ich weiss nicht, welche Stelle Curtius im Auge hat.
Sollte es die oben angeführte sein (Einl. S. 120), so würde ich den Aus-
druck aufrecht erhalten. Oder sollte es nicht gestattet sein, von psycho-
physischen Nothwendigkeiten zu reden? Vielleicht habe ich das Wort
noch an anderen Stellen gebraucht, dann aber jedenfalls nur in dem
Sinne wie Curtius selbst, der ja auch sagt, dass sich gerade in dem
Leben der Laute am sichersten feste Gesetze erkennen lassen, »die sich
beinahe mit der Consequenz von Naturkräften geltend machen« (Grund-
züge⁵ 81).
2).
Gegen diesen Satz darf die öfter gehörte richtige Behauptung,
dass an isolirten Wörtern sich das ursprüngliche Lautgesetz besser er-
kennen lasse, als an solchen, die mit anderen zu Reihen vereinigt und
die deshalb Associationsbildungen ausgesetzt sind, nicht angeführt
werden. Denn in einem solchen Falle nimmt man an, dass zuerst eine
Reihe gleicher Erscheinungen da war, und dass dann die Majorität der
Fälle vielleicht alle Fälle bis auf einen, durch Association verändert
sind.
1).
Der Nom. Sing, lautet bekanntlich ǵávījān. Ich stelle im An-
schluss an Grassmann, dessen Index ich die Formen entnehme, -jas
(-ījas) als Ausgang auf, nur weil es unbequem ist, mehrere Stamm-
formen zugleich zu nennen. Dass wirklich jas der ursprüngliche Aus-
gang sei, behaupte ich hiermit nicht.
1).
J. Egger (Studien zur Geschichte des indogermanischen Conso-
nantismus, Wien 1880) geht wieder auf die eine k-Reihe zurück, nimmt
aber auch seinerseits an, dass die Palatalen im Arischen durch Ein-
wirkung eines hellerena entstanden seien.
1).
Dass damit die sämmtlichen Nuancen angegeben seien, wird nicht
behauptet.
1).
Das habe ich Einleitung S. 59 nicht hinreichend erwogen.
1).
Die Schlüsse aus skr. edhí petimά u. s.w. lasse ich hier als un-
sicher bei Seite.
1).
Inwiefern man ein Recht hat, eine Wurzelform wie bheug als
langvocalisch zu bezeichnen, will ich hier nicht erörtern.
1).
Es sei mir noch gestattet zu bemerken, dass Joh. Schmidt's Re-
cension der Curtius'schen Schrift (Deutsche Litz. 7. März 1885) erschie-
nen ist, nachdem mein Manuscript in die Druckerei gegangen war, und
dass Veränderungen desselben nicht stattgefunden haben.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Die neueste Sprachforschung. Die neueste Sprachforschung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq5f.0