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Die neueren Methoden
der
Festigkeitslehre
und der
Statik der Baukonstruktionen,

ausgehend von dem Gesetze der virtuellen Verschiebungen
und den Lehrsätzen über die Formänderungsarbeit;


Mit 121 Textfiguren in Holzschnitt.

Leipzig,:
Baumgärtner's Buchhandlung.
1886.

[]
[[I]]
Die neueren Methoden
der
Festigkeitslehre
und der
Statik der Baukonstruktionen,

ausgehend von dem Gesetze der virtuellen Verschiebungen und
den Lehrsätzen über die Formänderungsarbeit;


Leipzig,:
Baumgärtner's Buchhandlung.
1886.

[[II]]

Druck von Grimme \& Trömel in Leipzig.


[[III]]

Vorwort.


In dem vorliegenden Buche werden die von dem Gesetze der
virtuellen Verschiebungen ausgehenden, hauptsächlich von Mohr,
Castigliano
und Fränkel begründeten Methoden der Festigkeits-
lehre im Zusammenhange vorgetragen. Die zur Erläuterung der
allgemeinen Beziehungen zwischen den äusseren und inneren Kräften
gewählten Aufgaben sind grösstentheils der Statik der Bauwerke
und hier wiederum der Theorie der statisch unbestimmten Träger
entlehnt worden; sie beziehen sich sowohl auf schwierigere als
auch auf solche einfachere Fälle, die in anderer Weise ebenso kurz
— und vielleicht noch kürzer — behandelt werden können, die
aber mit aufgenommen wurden, weil die Gewinnung bekannter
Ergebnisse auf neuen Wegen besonders geeignet sein dürfte, den
Leser schnell mit den fraglichen Verfahren vertraut zu machen, wie
denn überhaupt sämmtliche Aufgaben vornehmlich darauf hinzielen,
die gegebenen Gesetze in möglichst lehrreicher Art zu erklären,
nicht aber, die Theorie einer beschränkten Anzahl von Fällen bis
ins Einzelne auszufeilen. Es sind deshalb die meisten Aufgaben
über statisch unbestimmte Träger nur soweit durchgeführt worden,
bis die statische Unbestimmtheit gehoben war, da gerade die ein-
heitliche Berechnung der an Elasticitätsgleichungen gebundenen
äusseren und inneren Kräfte neben einer übersichtlichen Darstellung
der Formänderungen das Feld bilden, auf welchem das Vorgetragene
erfolgreich zu verwerthen ist.


Besonders eingehend wurde die Aufsuchung der Einflusslinien
für die statisch nicht bestimmbaren Grössen ebener Träger behandelt,
wozu es nöthig war, die — vielfach erweiterten und vereinfachten —
Gesetze über das Biegungspolygon und die Biegungslinie (elastische
Linie) abzuleiten, um mit deren Hilfe die Berechnung der gesuchten
[IV] Einflusslinien in besonders übersichtlicher Weise auf die Berechnung
von Momentenpolygonen für einfache Balken zurückführen zu können.


Trotzdem sich das Buch an reifere, mit den Grundzügen der
Festigkeitslehre und der Statik der Bauwerke bereits vertraute Leser
wendet, und sein Umfang durch Voranstellung der im § 24 ent-
haltenen allgemeineren Untersuchungen etwas hätte gekürzt werden
können, erschien es rathsam, mit der Betrachtung des übersicht-
lichsten Falles — der Theorie des Fachwerks — zu beginnen, und
auch im zweiten Abschnitte der schärferen Untersuchung einfach
gekrümmter Stäbe diejenigen vereinfachten Entwickelungen voraus-
zuschicken, die beispielsweise im Hochbau und Brückenbau bei der
Berechnung von Bogenträgern stets Anwendung finden, da hier den
Vorbedingungen der genaueren Theorie nur sehr unvollkommen ent-
sprochen wird.


Die Ableitung des Gesetzes der virtuellen Verschiebungen für
den elastischen Körper wurde, da sie den meisten Lesern aus der
Mechanik geläufig sein dürfte, in einen Anhang verwiesen, der auch
geschichtliche Angaben und Anführung einschlägiger Schriften ent-
hält.


Auf die in diesem Buche gebotenen eigenen Untersuchungen
brauche ich Kenner der Literatur nicht besonders hinzuweisen.


Hannover, im September 1885.


H. Müller-Breslau.

[[1]]

Abschnitt I.
Theorie des Fachwerks.


§ 1.
Allgemeines über das ebene Fachwerk.


1) Ein Fachwerk ist eine Verbindung von Stäben, welche in den
Knotenpunkten, d. h. in den Punkten, in denen mehrere Stabachsen
zusammentreffen, durch reibungslose Gelenke miteinander befestigt sind.
Greifen alle äusseren Kräfte in den Knotenpunkten an (was streng-
genommen nur bei gewichtslosen Stäben möglich ist), so tritt in jedem
Stabe eine mit der Achse desselben zusammenfallende Spannkraft auf,
welche positiv oder negativ angenommen werden soll, je nachdem sie
Zugspannungen oder Druckspannungen hervorbringt. Liegen alle Stab-
achsen und äusseren Kräfte in derselben Ebene, so heisst das Fachwerk
ein ebenes.


Wir betrachten das ebene Fachwerk unter der Voraussetzung, dass
die äusseren Kräfte sowohl für sich allein als auch mit den inneren
Kräften im Gleichgewichte sind, und dass es zulässig ist, die durch die
Elasticität des Materiales der Fachwerkstäbe und der das Fachwerk
stützenden frem-
den Körper be-
dingten Form-
änderungen als
verschwindend
klein aufzufassen.
Es dürfen in
diesem Falle in die
Gleichgewichts-
bedingungen alle

Figure 1. Fig. 1.


Hebelarme und die Neigungswinkel der Stäbe mit denjenigen Werthen
eingeführt werden, welche dem spannungslosen Anfangszustande des Fach-
werks entsprechen.


Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 1
[2]

Die äusseren Kräfte sind theils gegeben und sollen dann Lasten
heissen und mit P bezeichnet werden, theils bestehen sie aus den zu
suchenden Widerständen C der das Fachwerk stützenden Körper. Die Stütz-
punkte, auch Auflager genannt, können bewegliche oder feste sein.
Ein bewegliches Auflager entsteht, sobald ein Knotenpunkt gezwungen
wird, auf einer gegebenen Linie zu bleiben, an der Bewegung längs
dieser Linie aber durch den Zusammenhang mit dem Fachwerke ge-
hindert wird; der Stützenwiderstand wirkt, wenn keine Reibung auf-
tritt, senkrecht zu dieser Bahn, seine Richtung ist gegeben, seine Grösse
wird gesucht.*)


Von dem Widerstande eines festen Auflagers ist sowohl die Grösse
als auch die Richtung unbekannt, es sind — wie wir bei der Her-
leitung der allgemeinen Gesetze voraussetzen wollen — zwei Seitenkräfte
desselben anzugeben.


  • Bedeutet also n' die Anzahl der beweglichen Auflager,
  • n'' „ „ „ festen „
  • r „ „ „ Fachwerkstäbe,

so sind n' + 2 n'' Auflagerkräfte und r Spannkräfte zu berechnen, und
hierzu stehen, bei k Knotenpunkten, 2 k Gleichgewichtsbedingungen zur
Verfügung.


Bezieht man nämlich das Fachwerk auf ein rechtwinkliges Koor-
dinatensystem (x, y) und bezeichnet mit Qxm und Qym die parallel den
Koordinatenachsen gebildeten Seitenkräfte der im Knotenpunkte m an-
greifenden äusseren Kraft Qm (welche gegebene Last oder unbekannte
Auflagerkraft sein kann), ferner mit S1, S2 ..... Sp die Spannkräfte
in den von m ausgehenden Stäben und mit α1, α2 .... αp die Neigungs-
winkel dieser Stäbe gegen die x-Achse, so ergeben sich die beiden
Gleichgewichtsbedingungen:
und zwei solcher Gleichungen ersten Grades lassen sich für jeden Knoten-
punkt aufstellen.


Ist nun n' + 2 n'' + r \> 2 k, so ist es nicht möglich, die Un-
[3] bekannten lediglich mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen zu berech-
nen, und das Fachwerk heisst ein statisch unbestimmtes.


Ist dagegen n' + 2 n'' + r \< 2 k, so kann im Allgemeinen kein
Gleichgewicht zwischen den äusseren und inneren Kräften bestehen; das
Fachwerk heisst ein verschiebliches (labiles).


Soll das Fachwerk statisch bestimmt und unverschieblich
(stabil) sein, d. h. sollen sich die Auflagerkräfte und Spannkräfte mittelst
der Gleichgewichtsbedingungen eindeutig durch die äusseren Kräfte
ausdrücken lassen, so muss r + n' + 2 n'' = 2 k sein, und ausserdem
darf die aus den Koefficienten der Bedingungsgleichungen (1) gebildete
Determinante nicht gleich Null sein.*) Die Untersuchung dieser Deter-
minante ist sehr umständlich, aber auch entbehrlich, da sich die Frage
nach der statischen Bestimmtheit und Unverschieblichkeit eines ebenen
Fachwerks stets schnell und sicher durch den Versuch entscheiden lässt,
die Auflagerkräfte und Spannkräfte eindeutig zu berechnen, etwa mit
Hilfe der Ritterschen Methode oder mit Hilfe eines Kräfteplanes. Beide
Verfahren werden hier als bekannt vorausgesetzt.


Jedes statisch unbestimmte Fachwerk lässt sich durch Beseitigung
gewisser Stäbe und Auflagerkräfte — welche in der Folge überzählig
genannt werden sollen — in ein statisch bestimmtes Fachwerk (das
Hauptnetz) verwandeln. Die Stäbe und Auflagerkräfte des Haupt-
netzes heissen die nothwendigen Glieder des Fachwerks.


2) Werden die überzähligen Stäbe eines statisch unbestimmten
Fachwerks entfernt und, damit an dem Spannungszustande des Fach-
werkes nichts geändert werde, die Spannkräfte in den weggenommenen
Stäben als äussere Kräfte wieder hinzugefügt, so ist es möglich, die
Spannkräfte in den nothwendigen Stäben und die nothwendigen Auf-
lagerkräfte durch die gegebenen Lasten und die unbekannten über-
zähligen Stabkräfte und Auflagerkräfte auszudrücken. Hierbei können
sich nur Beziehungen ersten Grades ergeben, weil in den Gleichgewichts-
1*
[4] bedingungen alle Kräfte ausschliesslich in der ersten Potenz vorkommen.
Da es nun weiter freisteht, die überzähligen Stabkräfte und Auflager-
kräfte als geradlinige Funktionen anderer, ebenfalls in der ersten Potenz
vorkommender Unbekannten darzustellen, beispielsweise als Funktionen
ihrer Momente, bezogen auf gegebene Drehpunkte, so darf man behaupten:
Sämmtliche Spannkräfte S und Auflagerkräfte C eines statisch
unbestimmten Fachwerks lassen sich stets auf die Form bringen:

wobei X', X'', X''' ...... gewisse, statisch nicht bestimmbare Grössen
bedeuten, während S0, S', S'' ...., C0, C', C'' .... Werthe
vorstellen, welche von den Unbekannten X unabhängig sind. Ins-
besondere bedeuten S
0und C0die Spannkräfte und Auflagerkräfte
des statisch bestimmten Hauptnetzes, in welches das Fachwerk
übergeht, sobald sämmtliche Grössen X verschwinden; sie sind
geradlinige Funktionen der Lasten P, während die S', S'' ....
C', C'' .... von den P unabhängig sein sollen.
*)


Beispiel. Der in Fig. 2 dargestellte, bei A, B und C fest gelagerte
Dachbinder wird statisch bestimmt, sobald der Stab E C, dessen Spannkraft =
X sein möge, beseitigt wird. In den Knotenpunkten E und C sind die Kräfte
X wieder anzubringen.


Um nun die Spannkraft in irgend einem Stabe, z. B. in L N zu berechnen,

Figure 2. Fig. 2.


werde die Ritter’sche Methode
angewendet. Es wird das Fach-
werk durch einen Schnitt, wel-
cher ausser L N nur noch zwei
Stäbe trifft, in zwei Theile zer-
legt. An den Schnittstellen
werden die inneren Kräfte S1, S2,
S3 der geschnittenen Stäbe als
äussere Kräfte angebracht, und
nun wird für die auf den einen
der beiden Fachwerkstheile, z. B.
den linken, wirkenden äusseren
Kräfte die Gleichung der
statischen Momente aufgestellt,
wobei, wenn es sich um die
Berechnung von S1 handelt,
der Schnittpunkt von S2 und S3
zum Drehpunkte gewählt wird. Mit den Bezeichnungen in Fig. 2 ergiebt sich
und hieraus
[5] und in gleicher Weise lassen sich die Kräfte S in sämmtlichen übrigen noth-
wendigen Stäben als geradlinige Funktionen der Lasten P und der Grösse X
darstellen.


An Stelle von X hätte man auch das auf den Knotenpunkt B bezogene
Moment: M = X d dieser Kraft zu derjenigen statisch nicht bestimmbaren
Grösse wählen können, durch welche die S ausgedrückt werden sollen und
würde erhalten haben:

3) Für die Folge ist es nicht unwichtig, besonders hervorzuheben,
dass die mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen hergestellten Be-
ziehungen (2) zwischen den S, C, P und X für beliebige Werthe der
Lasten P und der statisch nicht bestimmbaren Grössen X giltig sind,
und dass mithin die theilweise Differentiation von S und C beispiels-
weise nach X' liefert:
Ferner ist zu beachten, dass S' und C' diejenigen Werthe bedeuten,
welche die Spannkräfte und Auflagerkräfte annehmen, sobald X' = 1
wird, während sämmtliche Lasten P und die übrigen statisch nicht be-
stimmbaren Grössen: X'', X''' ..... verschwinden, ein Belastungszustand,
der in der Folge kurz der „Zustand X' = 1“ genannt werden möge.


Man kann sagen:
Die durch die Ursache X' = 1 hervorgerufenen Auflagerkräfte
C' und Spannkräfte S' sind miteinander im Gleichgewichte.


Ebenso sind die C'' im Gleichgewichte mit den S'', die C''' mit
den S''' u. s. w.


§ 2.
Allgemeines über das räumliche Fachwerk.


Bedeuten für ein Fachwerk mit beliebig im Raume vertheilten
Knotenpunkten Qxm, Qym, Qzm die den Achsen eines rechtwinkligen Ko-
ordinatensystems parallelen Seitenkräfte der in irgend einem Knoten-
punkte m angreifenden äusseren Kraft Qm, ferner S1, S2Sp die
Spannkräfte in den von m ausgehenden Stäben und α1, α2 .... αp,
β1, β2 .... βp, γ1, γ2 .... γp die Neigungswinkel der Stabachsen gegen
die Koordinatenachsen x, y und z, so lauten die Bedingungen für das
Gleichgewicht der in m wirksamen äusseren und inneren Kräfte:
[6] und es ist, bei k Knotenpunkten, die Anzahl dieser Bedingungen = 3 k.
Zu berechnen sind
r + 3 n''' + 2 n'' + n' Unbekannte,
wobei r = Anzahl der Stäbe,
n''' = „ „ festen Stützpunkte,
n'' = „ „ auf einer Linie als Auflagerbahn beweglichen
Stützpunkte,
n' = „ „ auf einer Fläche als Auflagerbahn beweglichen
Stützpunkte.
Es erfordert nämlich die Bestimmung des Widerstandes eines festen
Stützpunktes die Angabe von 3 Seitenkräften, während bei Führung
des beweglichen Stützpunktes durch eine Linie oder eine Fläche be-
ziehungsweise zwei Seitenkräfte oder eine Seitenkraft zur Feststellung
des Auflagerdruckes ausreichen.


Im Falle r + 3 n''' + 2 n'' + n' \> 3 k ist das Fachwerk statisch
unbestimmt und im Falle r + 3 n''' + 2 n'' + n' \< 3 k ist es ver-
schieblich.


Ist r + 3 n''' + 2 n'' + n' = 3 k, und ist die aus den Koeffi-
cienten der Gleichungen (3) gebildete Determinante nicht gleich Null
(vergl. die Anmerkung auf Seite 3), so ist das Fachwerk statisch be-
stimmt und unverschieblich; sämmtliche Unbekannten lassen sich mit
Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen eindeutig berechnen. Die umständ-
liche Untersuchung der Determinante kann man sparen, indem man
sofort versucht, die Spannkräfte und Auflagerkräfte zu ermitteln. Jedes
statisch unbestimmte, räumliche Fachwerk lässt sich durch Beseitigung
der überzähligen Stäbe und Auflagerkräfte in ein statisch bestimmtes
verwandeln.


Die in § 1 unter 2) und 3) angestellten Betrachtungen gelten nicht
nur für das ebene, sondern auch für das räumliche Fachwerk; auch
bei dem letzteren ist es stets möglich, die Spannkräfte S und Auflager-
kräfte C als geradlinige Funktionen der Lasten P und gewisser statisch
nicht bestimmbarer Grössen X', X'' .... darzustellen.


§ 3.
Berechnung der statisch nicht bestimmbaren Grössen
X', X'' .... für beliebige, ebene oder
räumliche Fachwerke.


1. Allgemeine Form der Bedingungen für die Grössen X.
Die Längen s der Stäbe eines ebenen oder räumlichen Fachwerks mögen
um Strecken Δs zunehmen, und im Zusammenhange hiermit mögen die
[7] Knotenpunkte ihre auf ein beliebiges, festes Koordinatensystem bezogenen
Lagen ändern, wobei:


  • Δ c = Verschiebung eines Stützpunktes im Sinne der in demselben
    angreifenden Auflagerkraft C,
  • δ = Verschiebung des Angriffspunktes irgend einer Last P im
    Sinne von P.

Bezüglich aller dieser Verschiebungen wird nur vorausgesetzt, dass
sie möglich sind und klein genug, um als verschwindende
Grössen aufgefasst werden zu dürfen
. Es gilt dann der Satz
von den virtuellen Verschiebungen
(Princip der virtuellen Ge-
schwindigkeiten), welcher aussagt, dass im Falle des Gleichgewichtes
der inneren und äusseren Kräfte die Arbeit der ersteren gleich der-
jenigen der letzteren ist, und es folgt die Gleichung:
(4)
welche wir in der Folge die Arbeitsgleichung des Fachwerks nennen
wollen, und welche mit den durch die Gleichungen 2 für C und S
gegebenen Werthen übergeht in
(5)
sie gilt für beliebige Werthe der Lasten P und statisch nicht
bestimmbaren Grössen
X', X'' ....


Wir nehmen nun den besonderen Fall an, dass X' = 1 wird,
während sämmtliche Lasten P und die übrigen statisch nicht bestimm-
baren Grössen verschwinden und erhalten die Beziehung
(6)
Es können diese Gleichungen — mit Hinweis auf die Ausdrucksweise
am Schlusse des § 1 — beziehungsweise als die Arbeitsgleichungen für
die Zustände X' = 1, X'' = 1, X''' = 1 u. s. w. bezeichnet werden;
ihre Anzahl stimmt mit derjenigen der Unbekannten X überein, und
sie ermöglichen deshalb die Berechnung der Werthe X; man braucht
sie nur auf die wirklichen elastischen Formänderungen des Fachwerks,
welche nach einem durch die Erfahrung gegebenen Gesetze von den
inneren und äusseren Kräften abhängen, anzuwenden.


Bevor dies geschehe, werde noch bemerkt, dass sich die Bedingungen
6 mit Beachtung der Gleichungen
auch in der Form anschreiben lassen:
[8](7)
in welcher sie sich unmittelbar ergeben, sobald die Gleichung 4 nach
allen unabhängigen Veränderlichen X', X'' ..... theilweise differentiirt
wird und hierbei die Verschiebungen δ, Δ c, Δ s, sowie die Lasten P
als Konstanten betrachtet werden, was bei der Willkürlichkeit dieser
Grössen gestattet ist.


2. Die Verschiebungen Δ s und Δ c. Es wird vorausgesetzt,
dass das Fachwerk bei einem bestimmten Temperaturzustande vor Ein-
wirkung der Belastung spannungslos sei (Anfangszustand), und
dass sich die Anfangstemperatur eines Stabes in allen Theilen desselben
um den gleichen Betrag t ändere. Bedeutet dann:


  • E den Elasticitätsmodul des Stabmateriales,
  • F „ Inhalt des Stabquerschnittes,
  • ε „ Ausdehnungskoefficienten für t = 1,

so ist erfahrungsgemäss
(8)
wobei, bezogen auf die Tonne und das Meter als Einheiten, und wenn
t in Celsiusgraden ausgedrückt wird, durchschnittlich gesetzt werden
darf:


  • für Schmiedeeisen: E = 20000000, ε = 0,000012, ε E = 240,
  • „ Gusseisen: E = 10000000, ε = 0,000011, ε E = 110,
  • „ Holz: E = 1100000, ε = 0,000004, ε E = 4,4.

Die Verschiebungen Δ c der Stützpunkte hängen von der Form,

Figure 3. Fig. 3.


der Elasticität, der
Belastung und der
Temperaturände-
rung der das Fach-
werk stützenden
Körper ab; sie lassen
sich fast nie mit
Sicherheit angeben
und werden
meistens gleich Null
gesetzt oder ge-
schätzt. Besitzen
unbeabsichtigte Störungen der Stützlage einen grösseren Einfluss auf
den Spannungszustand eines Fachwerkes, so darf dieses nur bei sicherer
[9] Stützung ausgeführt werden. Beispielsweise sind kontinuirliche Balken
und Bogenträger ohne Gelenke bei unsicherem Baugrunde zu verwerfen.


Im Falle starrer und reibungsloser Widerlager lauten die Be-
dingungsgleichungen, denen die statisch nicht bestimmbaren Grössen X
zu genügen haben:
(9)


3. Beispiel zur Erläuterung der allgemeinen Theorie. Der
in Fig. 3 dargestellte Dachbinder sei bei A und B fest gelagert und
werde bei E und F durch Säulen gestützt, welche am Kopfe und am
Fusse reibungslose Gelenke besitzen.


Alle Verschiebungen mögen auf das feste Koordinatensystem (x, y)
bezogen werden. Nachgeben der Widerlager verursache eine Vergrösserung
der Stützweite l um
Δ l und Senkungen
der Stützpunkte E
und F um δ' bezieh.
δ''. Die Lasten P
seien beliebig ge-
richtet; die senkrech-
ten Seitenkräfte der
Stützendrücke an den
Enden seien = A und
= B, die wage-
rechten = C und
= D; die Säulen
üben die Gegen-
drücke X' und X''
aus.


Beseitigung der
beiden Mittelstützen
führt zu dem statisch
bestimmten Haupt-
netze, Fig. 4 (Bogen
mit 3 Gelenken),
dessen Auflagerkräfte
A0, B0, C0, D0 und
Stabkräfte S0 sich

Figure 4. Fig. 4

— 6.


leicht berechnen lassen. (Zeichnen eines Kräfteplanes oder Anwendung
der Ritter’schen Methode).


Werden alle Kräfte P und auch X'' = 0 gesetzt, während X' = 1
angenommen wird, so entsteht der in Fig. 5 dargestellte Belastungs-
zustand mit den Auflagerkräften
[10]*) und den leicht zu berechnenden Spannkräften S'; wir nennen ihn kurz:
Zustand X' = 1. Verschwinden die Kräfte P und X', während X'' = 1
wird, so entsteht der Belastungszustand Fig. 6 (Zustand X'' = 1)
mit den Auflagerkräften
und den Spannkräften S''.


Für das statisch unbestimmte Fachwerk in Fig. 3 ergiebt sich nun
(I)


Die Gleichungen zur Berechnung von X' und X'' werden durch
Anschreiben der Arbeitsgleichungen für die Zustände X' = 1 und X'' = 1
erhalten. Im ersteren Belastungsfalle (Fig. 5) leistet die Auflagerkraft
D' die virtuelle Arbeit D' · Δ l = und die in E angreifende
Kraft 1 leistet, da sich Punkt E um δ' senkt, die Arbeit (— 1 · δ');
es ergiebt sich daher:
während für den Belastungsfall in Fig. 6 in derselben Weise die Gleichung
gewonnen wird. Drückt man Δ s nach Gleich. 8 aus, so folgt:
und
Wir wollen E, ε und t für sämmtliche Stäbe konstant annehmen und
die vorstehenden Gleichungen mit einer beliebigen Querschnittsfläche Fc
[11] multipliciren. Drücken wir dann noch S nach der letzten der Gleich. I
aus und setzen zur Abkürzung
so erhalten wir:
(II)


Die Multiplikation mit Fc ist zu empfehlen, sobald, was meistens
der Fall sein wird, mehrere Stäbe des Fachwerks denselben Querschnitt
erhalten; setzt man dann Fc gleich der am häufigsten vorkommenden
Querschnittsfläche, so erhält man möglichst viele Verhältnisse = 1.
Stimmen für eine grössere Anzahl von Stäben sowohl Länge als Quer-
schnitt überein, so kann man Fc so annehmen, dass s' = durch
eine runde Zahl ausgedrückt wird.


Sollen nun die Gleichungen II für einen bestimmten Fall der An-
wendung aufgelöst werden, so müssen gewisse Voraussetzungen über
die Grösse der Verschiebungen δ', δ'' und Δ l gemacht werden. Lehnt
sich der Dachstuhl bei A und bei B gegen gemauerte Widerlager, so
wird in der Regel Δ l = 0 angenommen. Weiter wird meistens die
Zusammendrückung des Baugrundes und der Säulen-Fundamente (weil
schwer anzugeben) vernachlässigt, so dass δ' und δ'' gleich sind den
Verkürzungen der Säulen in Folge der Drücke X' und X'', vermindert
um die Verlängerungen derselben in Folge einer Erhöhung der Tempe-
ratur. Ist also


  • E0 = Elasticitätsmodul des Säulenmateriales,
  • ε0 = Ausdehnungskoefficient für t = 1 0,
  • F0 = Inhalt des Säulenquerschnittes,
  • s0 = Länge einer Säule,

so ergiebt sich
und es gehen die Gleichungen II über in
[12] sie enthalten jetzt nur noch die Unbekannten X' und X''.


Die Durchführung der Rechnung in Zahlen erfordert natürlich, dass
alle Querschnittsinhalte (deren Bestimmung in der Regel das Ziel einer
statischen Berechnung ist) bekannt sind; es müssen also diese Inhalte,
sobald es sich um ein neu zu entwerfendes Fachwerk handelt, zunächst
abgeschätzt oder mit Hilfe von angenäherten Rechnungsmethoden er-
mittelt werden.


4. Zahlenbeispiel. Es ist der Horizontalschub X des in Fig. 7
dargestellten, bei A und B fest gelagerten Bogenträgers zu berechnen.
Stützweite 20m, Feldweite 2m. Die unteren Knotenpunkte liegen auf
einer Parabel, deren Pfeil = 2,5m ist; die obere Gurtung ist gerad-
linig; Höhe der Endvertikale = 3m. Die Knotenpunktslasten sind = 1t
bezieh. 0,5t. Die in Fig. 7 an die Stäbe gesetzten Zahlen geben, links
von der Mitte, die Stablängen in cm und, rechts von der Mitte, die In-
halte der Querschnitte in qcm an.


Im Falle X = 0 entsteht ein statisch bestimmter Fachwerkbalken,
dessen Spannkräfte S0 mit Hilfe eines Kräfteplanes ermittelt und in
der nachstehenden Tabelle zusammengestellt wurden. Sodann sind in
Fig. 8 diejenigen Stabkräfte S' eingetragen worden, welche thätig sind,

Figure 5. Fig. 7

u. 8.


sobald in A und
B zwei auswärts
gerichtete, wage-
rechte Kräfte 1
auf das im übrigen
unbelastet und
gewichtslos ge-
dachte Fachwerk
wirken. Aus den
Werthen S0 und
S' ergeben sich
die Spannkräfte:
(I) S = S0S' X.
Um X zu berech-
nen, schreiben wir die Arbeitsgleichung für den Belastungszustand in
Fig. 8 an; sie lautet, wenn sich l um Δ l vergrössert:
und geht mit
[13] über in
(III)
Werden E und ε für alle Stäbe gleich gross angenommen, und wird
die vorstehende Gleichung mit der beliebigen Querschnittsfläche Fc mul-
tiplicirt, so geht sie, mit der Abkürzung
über in
und liefert
(IV)
Die Belastung erzeugt für sich allein
(V)


In der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Stäben entsprechen-
den Werthe S' S0s' und , bei deren Berechnung Fc = 100qcm an-
genommen wurde, zusammengestellt worden. Es ergiebt sich für die
eine Hälfte des in Bezug auf die Mitte symmetrischen Trägers
mithin ist
und
also beispielsweise für die erste Diagonale
Werden die Knotenpunktslasten 1t und 0,5t beziehungsweise durch P
und 0,5 P ersetzt, so entsteht X = 8,8 P und dieser Werth bleibt giltig,
wenn man sämmtliche Querschnittsflächen mit ein und derselben Zahl
multiplicirt, so dass es bei der Berechnung des durch die Belastung er-
zeugten Horizontalschubes H eines zu entwerfenden Fachwerkbogens nur
darauf ankommt, das gegenseitige Verhältniss der Querschnittsflächen
abzuschätzen.


Der durch eine Erhöhung der Temperatur hervorgerufene Horizon-
talschub möge unter der Voraussetzung eines konstanten t berechnet
werden; er ergiebt sich nach Gleichung IV:
und, wenn für Schmiedeeisen ε E = 240 (bezogen auf die Tonne und das
[14] Meter) gesetzt und t = 400 Cels. angenommen wird, mit Fc = 100qcm
= 0,01qm,

Um den Werth Σ S' s, welcher sich über den ganzen Träger erstreckt,
schnell zu berechnen, beachte man, dass in der Arbeitsgleichung II unter
Δ l und Δ s beliebige, aber mögliche und genügend kleine Verschiebungen
verstanden werden dürfen. Solche mögliche Verschiebungen entstehen
unter Anderem, wenn das Fachwerk eine der früheren ähnliche Form
annimmt, wenn sich also s um ω s und l um ω l ändert, unter ω eine
Konstante verstanden. Gleichung II geht dann über in
sie liefert
[15] und es folgt somit:
X = 0,214 · 20 = 4,3t.


Eine durch Nachgeben der Widerlager entstandene Vergrösserung
der Stützweite um Δ l bedingt nach Gleich. IV den Horizontalschub
und beispielsweise für Δ l = 1cm = 0,01m:
X = — 4,5t.


§ 4.
Verschiebungen der Knotenpunkte eines Fachwerks.
Allgemeine Untersuchungen.


Werden die Knotenpunkte des Fachwerks mit 1, 2, 3 … m .... n
bezeichnet und die in denselben angreifenden Lasten mit P1, P2,
P3Pm .... Pn, so lautet die in § 3 aufgestellte Arbeitsgleichung (4):
(10) ;
sie gilt für beliebige mögliche Verschiebungen δ, Δ c und Δ s und für
beliebige Werthe der Lasten P und liefert unmittelbar die durch be-
stimmte Δ c und Δ s hervorgerufene Verschiebung δm des Knotenpunktes
m im Sinne von Pm, sobald P1 bis Pm — 1 und Pm + 1 bis Pn gleich Null
gesetzt werden, während Pm = 1 angenommen wird. Da nun aber die
Gleichung 10 auch für beliebige Werthe der statisch nicht bestimm-
baren Grössen X giltig ist, so wird es sich empfehlen, sämmtliche X
gleich Null zu setzen, d. h.
man wird, um die durch irgend einen, kurz mit L bezeichneten,
Belastungszustand erzeugte Verschiebung
δm zu berechnen, die
Arbeitsgleichung für das durch Pm = 1 belastete, statisch be-
stimmte Hauptnetz anschreiben und in diese Gleichung die dem
Belastungszustande
L entsprechenden Verschiebungen Δ c und Δ s
einsetzen.


Hierbei ist es ganz gleichgiltig, in welcher Weise das statisch be-
stimmte Hauptnetz gebildet wird. Dass dies auf verschiedenartige Weise
geschehen kann, geht daraus hervor, dass bei der Auswahl der als
statisch nicht bestimmbar aufzufassenden Grössen — innerhalb gewisser
Grenzen — nach Willkür verfahren werden darf.


Auch ist hervorzuheben, dass bei der Berechnung der Knotenpunkts-
verschiebungen δ andere Hauptnetze gebildet werden dürfen, wie bei
der Berechnung der Spannkräfte.


[16]

Zahlenbeispiel. Es wird die Senkung δ3 des Knotenpunktes 3 des

Figure 6. Fig. 9

u. 10.


in Fig. 9 dargestellten, statisch
bestimmten Fachwerkträgers ge-
sucht. Die Knotenpunktslasten
sind 8t und 4t. Stützweite = 12m,
Trägerhöhe = 4m, Feldweite
= 3m, Länge einer Diagonale
= 5m. In Fig. 9 sind die Spann-
kräfte S zusammengestellt worden;
die ihnen entsprechenden Aen-
derungen der Stablängen sind,
wenn die Anfangstemperatur er-
halten bleibt,
.
Figur 10 giebt diejenigen Spann-
kräfte 𝔖, welche entstehen, so-
bald im Knotenpunkte 3 nach der Richtung der gesuchten Verschiebung
(d. i. also im vorliegenden Falle senkrecht) eine Last 1 angreift. Die
Arbeitsgleichung lautet für diesen Belastungszustand
,
sie gilt für beliebige zusammengehörige Werthe δ3 und Δ s, und liefert
insbesondere die dem Belastungsfalle in Fig. 9 entsprechende Senkung
δ3, sobald die für diesen Belastungsfall berechneten Δ s eingesetzt werden.
Bei konstantem E folgt:
.
Die den einzelnen Stäben entsprechenden Produkte sind in der
Tabelle auf Seite 17 zusammengestellt worden. Man findet
und, wenn, für Schmiedeeisen, E = 2000t für das qcm gesetzt wird,
.


Beispiel 2. Es soll die Senkung δ des Scheitels G des in Fig. 3
auf Seite 8 dargestellten Dachbinders ermittelt werden.


Nachdem die statisch nicht bestimmbaren Grössen X' und X'' nach
der im § 3 gegebenen Anleitung berechnet und die Spannkräfte S = S0
+ S' X' + S'' X'' ermittelt worden sind, werden die wirklichen Längen-


[17]

(Tabelle zum Zahlenbeispiele auf Seite 16.)


änderungen Δ s = für sämmtliche Stäbe, sowie etwaige Ver-
schiebungen der Stützpunkte festgestellt.


Hierauf wird das statisch bestimmte Hauptnetz (Fig. 11) mit der

Figure 7. Fig. 11

u. 12.


in G angreifenden Kraft 1 belastet. Es entstehen die Auflagerkräfte
A = B = ½ und ,
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 2
[18] sowie gewisse, leicht bestimmbare Spannkräfte 𝔖, und es lautet die
Arbeitsgleichung
,
sie gilt für beliebige zusammengehörige δ und Δ s. Setzt man also die
wirklichen (dem Belastungszustande in Fig. 3 entsprechenden) Form-
änderungen Δ l und Δ s ein, so erhält man auch die wirkliche Senkung δ.


Wird die wagerechte Verschiebung δ' des Punktes G gesucht und
hierbei δ' positiv angenommen, sobald sich G nach rechts verschiebt,
so ist das statisch bestimmte Hauptnetz mit einer nach rechts gerich-
teten Kraft 1 zu belasten (Fig. 12). Diese erzeugt die Auflagerkräfte
A' = , abwärts gerichtet*),
B' = , aufwärts gerichtet,
C' = D' = ½,

sowie Spannkräfte 𝔖', und es ergiebt sich die Arbeitsgleichung
, aus welcher
erhalten wird.


Beispiel 3. Gesucht sei die Senkung δm des Knotenpunktes n
der Mittel-Oeffnung eines kontinuirlichen Fachwerkträgers mit 4 Stütz-
punkten (Fig. 13 a).


Nachdem für den vorgeschriebenen Belastungsfall die Spannkräfte
S ermittelt worden sind, wird der Theil des Fachwerks, welchem der
Knotenpunkt m angehört, statisch bestimmt gemacht. Dies geschielt
am zweckmässigsten durch Beseitigung der beiden Stäbe L N und R T.
Der Trägertheil C1C2 ist jetzt als ein einfacher Balken aufzufassen
(Fig. 13 b); er wird im Punkte m mit der senkrechten Kraft 1 belastet,
und hierauf werden die Auflagerkräfte und und die Spannkräfte
𝔖 berechnet. Schliesslich wird die Arbeitsgleichung
angeschrieben; sie liefert, wenn für Δ s die wirklichen Aenderungen
[19] der Stablängen gesetzt werden, die wirkliche senkrechte Verschiebung
des Punktes m gegen die fest gedachte Gerade C1C2. Senken sich die

Figure 8. Fig. 13

a, b u. c.


Stützpunkte C1 und C2 beziehungsweise um δ' und δ'', so ist zu δm noch
der durch die Figur 13 c nachgewiesene Betrag
hinzuzufügen.


§ 5.
Die Biegungspolygone für ebene Fachwerkträger.


1) Trägt man die (nach unten positiv gezählten) senkrechten Ver-
schiebungen .... δm ‒ 1, δm, δm + 1 ...... der Knotenpunkte .... m — 1,
m, m + 1 ..... einer Gurtung A B eines in einer lothrechten Ebene
gedachten Fachwerks von einer Wagerechten A' B' aus als Ordinaten
auf und verbindet die Endpunkte derselben durch gerade Linien, so erhält
man das der gegebenen Belastung entsprechende Biegungspolygon
der Gurtung A B (Fig. 14 a). Dasselbe lässt sich bestimmen, sobald
die Längenänderungen der Gurtstäbe und die Aenderungen der von je
zwei aufeinander folgenden Gurtstäben gebildeten Winkel, welche wir
kurz die Randwinkel nennen und = ϑ setzen wollen, bekannt sind.


Die Fläche zwischen dem Biegungspolygone und der zugehörigen
Abscissenachse möge die Biegungsfläche der Gurtung heissen.


Wir betrachten zuerst das
Biegungspolygon einer unteren Gurtung, bezeichnen


  • mit sm und sm + 1 die Längen der einem Knotenpunkte m benachbarten
    Gurtstäbe,
  • „ γm und γm + 1 die von der Wagerechten durch das linke Stab-
    ende aus nach unten positiv gezählten Neigungswinkel dieser Stäbe,

2*
[20]
Figure 9. Fig. 14

c, 14, 14 a, 14 b.


  • mit cm und cm + 1 die senk-
    rechten Projektionen
    von sm und sm + 1,
  • „ λm und λm + 1 die wage-
    rechten Projektionen
    von sm und sm + 1,
  • „ Δ s, Δ γ, Δ c, Δ λ die
    Aenderungen von s, γ,
    c und λ, und erhalten
    δm — δm ‒ 1 = Δ cm,
  • δm + 1 — δm = Δ cm + 1.
    Wird die Gleichung
    cm = sm sin γm

differentiirt und hierbei das
Differentialzeichen d durch
das Zeichen Δ ersetzt, so
folgt:
Δ cm = Δ sm sin γm
+ sm cos γm Δ γ m

und nach Division durch
λm = sm cos γm:
,
und ebenso ergiebt sich
,
so dass
wird.


Nun ist aber
ϑm + γm — γ m + 1 = 180°, mithin Δ ϑm + Δ γm — Δ γm + 1 = 0,
und es entsteht, wenn die Δ c durch die δ ausgedrückt werden:
.


Bezeichnet man mit
und
die Spannungen in den Gurtstäben sm und sm + 1 und setzt zur Ab-
kürzung
(11) ,
[21] so folgt die Gleichung
(12) ,
welche eine einfache Deutung zulässt.


Wird ein Balken A' B' (Fig. 14 b) durch senkrechte Lasten
..... Pm ‒ 1, Pm, Pm + 1 ....., welche in Abständen .... λm, λm + 1 ....
wirken, beansprucht, so besteht zwischen den Vertikalkräften Vm und
Vm + 1, welche beziehungsweise innerhalb der Strecken λm und λm + 1
konstant sind, die Beziehung
VmVm + 1 = Pm.
Bedeuten nun .... Mm ‒ 1, Mm, Mm + 1 .... die Biegungsmomente für
die durch die Angriffspunkte der Lasten ..... Pm ‒ 1, Pm, Pm + 1 ....
gelegten Balkenquerschnitte, so ist
und ,
und es folgt:
.*)


Vergleicht man diese Beziehung mit der Gleichung (12), so ist
ersichtlich, dass man das Biegungspolygon einer Fachwerks-
gurtung auffassen darf als das Momentenpolygon eines
Balkens A' B', welcher durch Lasten
wm ‒ 1, wm, wm + 1 .....
beansprucht wird (Fig. 14 a).


Sind insbesondere die Verschiebungen des ersten und des letzten
Knotenpunktes (o und n) der Gurtung gleich Null, wie dies in der
Fig. 14 a vorausgesetzt worden

Figure 10. Fig. 15.


ist, so ist der Balken A' B' ein
einfacher, d. h. an den Enden frei
aufliegender.


Handelt es sich um das
Biegungspolygon einer Gurtung
A B, deren Endknotenpunkte sich
um Strecken δ' und δ'' senken
(beispielsweise der Gurtung des
Mittelfeldes eines kontinuirlichen
Trägers mit verschieblichen Stütz-
punkten, Fig. 15), so setze man zuerst δ' und δ'' gleich Null, berechne
[22] also das den Lasten w entsprechende Momentenpolygon A' L B' eines
einfachen Balkens A' B' und füge schliesslich zu den Ordinaten dieses
Polygons die Ordinaten der Geraden A'' B'', welche durch A' A'' = δ' und
B' B'' = δ'' gegeben ist. Die in der Fig. 15 schraffirte Fläche ist die
gesuchte Biegungsfläche. Für das
Biegungspolygon einer oberen Gurtung ergiebt sich, wenn


  • βk und βk + 1 die von der Wagerechten durch das linke Stabende
    aus nach oben positiv gezählten Neigungswinkel der Gurtstäbe
    sk und sk + 1

bedeuten (Fig. 14), in gleicher Weise
,
wobei
(13)
ist. Der durch die Lasten wk beanspruchte Balken A' B', dessen Mo-
mentenpolygon mit dem gesuchten Biegungspolygone übereinstimmt, ist,
wie vorhin, als ein an den Enden frei aufliegender anzusehen, sobald
der erste und der letzte Knotenpunkt der betrachteten Gurtung keine
senkrechten Verschiebungen erfahren. Handelt es sich nun beispielsweise
um die obere Gurtung eines Fachwerkträgers mit Endvertikalen (Fig. 14 c),
so hat man, nach Aufzeichnung des Momentenpolygons A' C B' für den
an den Enden freiliegenden Balken A' B', zu den Ordinaten dieses Po-
lygons noch die der Geraden A'' B'' zu addiren, wobei die Strecken
A'̅ A''̅ und B'̅ B''̅ gleich den Verkürzungen δo bezieh. δn der Endver-
tikalen zu machen sind.


Will man die Senkungen der Knotenpunkte C, D, E, F der oberen

Figure 11. Fig. 16.


Gurtung einer Mittelöffnung eines kontinuirlichen
Balkens bestimmen (Fig. 15), so betrachte man
das Polygon A C D E F B als obere Gurtung und
die Stützpunkte A und B, deren Verschiebungen
stets gegeben sind, beziehungsweise als Anfangs-
und Endknotenpunkt.


Bei einem Fachwerke mit Vertikalen (Fig. 16)
findet man nach Bestimmung des Biegungspoly-
gones der unteren Gurtung dasjenige der oberen
(oder umgekehrt) mit Hilfe der Beziehung
δm — δk = Δ h,


  • wobei δm = Senkung des unteren Knotenpunktes m,
  • δk = Senkung des oberen Knotenpunktes k,
  • Δh = Verlängerung der die beiden Punkte m und k verbindenden
    Vertikale.

[23]

Berechnung der Δ ϑm. Wir beschränken uns in diesem Buche
auf die Behandlung des Falles, in welchem das

Figure 12. Fig. 17.


Fachwerk durch Aneinanderfügung von Dreiecken
entstanden gedacht werden kann. Es setzt sich
dann jeder Winkel ϑ aus einzelnen Dreieckswinkeln
zusammen, und es genügt, die Berechnung der
Aenderung eines solchen zu zeigen.


Sind a1, a2, a3 die Seiten eines Dreiecks und
α1, α2, α3 die ihnen gegenüberliegenden Winkel,
und bedeutet h das Loth von A auf a1, so folgt:
a1 = a2 cos α3 + a3 cos α2
und hieraus durch Differentiiren:
Δ a1 = Δ a2 cos α3a2 sin α3 Δ α3 + Δ a3 cos α2a3 sin α2 Δ α2
.


Nun ist aber α1 + α2 + α3 = 180° also Δ α1 + Δ α2 + Δ α3 = 0
und Δ α2 + Δ α3 = — Δ α1, ferner ist a2 cos α3 = h cotg α3 und
a3 cos α2 = h cotg α2, weshalb sich ergiebt:
.
Bezeichnet man mit σ1, σ2, σ3 die Spannungen in den Stä ben a1, a2
a3 und setzt die Temperaturänderung

Figure 13. Fig. 18.


t = 0 voraus, so ist
.
Beachtet man noch
,
so findet man, wenn E konstant ist, zur Berechnung der durch die
Spannungen σ hervorgebrachten Winkeländerung die Gleichung
(14) E Δ α1 = (σ1 — σ2) cotg α3 + (σ1 — σ3) cotg α2.
Für die Aenderung des Winkels ϑ in Fig. 18 ergiebt sich z. B. mit
den an die einzelnen Stäbe geschriebenen Spannungen σ die Gleichung:
(15) E Δ ϑ = (σ2 — σ1) cotg α1 + (σ2 — σ3) cotg α2 + (σ4 — σ3) cotg α3
+ (σ4 — σ5) cotg α4 + (σ6 — σ5) cotg α5 + (σ6 — σ7) cotg α6.


Sollen Temperaturänderungen berücksichtigt werden, so ergiebt
sich die Aenderung Δ s einer Stablänge s aus
;
[24] es treten alsdann in den Gleichungen (11) bis (15) an die Stelle der
Spannungen σ die Werthe σ + ε Et.


Zahlenbeispiel. Es soll das Biegungspolygon für die untere
Gurtung des in Fig. 19 dargestellten Schwedler-Trägers berechnet

Figure 14. Fig. 19.


werden. Material: Schmiedeeisen. Jeder untere Knotenpunkt ist mit
11,39t, jeder obere mit 1,33t belastet. In Figur 17 geben links von
der Mitte die nicht eingeklammerten Zahlen die Stablängen in cm an
und die eingeklammerten Zahlen die Querschnittsinhalte F in qcm; die
Zahlen rechts von der Mitte sind gleich den Spannkräften in Tonnen.


In Figur 20 bedeuten die an die Stäbe geschriebenen Zahlen die

Figure 15. Fig. 20.


in Tonnen für das qcm ausgedrückten Spannungen und die in die
Winkel gesetzten Zahlen sind gleich den Cotangenten der Winkel.


Es ergeben sich folgende Werthe für die den unteren Randwinkeln
entsprechenden Produkte E Δ ϑm:
E Δ ϑ1 = (— 0,68 — 0,71) 1,33 + (— 0,68 + 0,28) 0,75 + (0,48
+ 0,28) 0,75 + (0,48 — 0,71) 1,33 = — 1,88
[25]E Δ ϑ2 = (— 0,28 — 0,48) 0,75 + (— 0,69 — 0,48) 0,66 + (— 0,69
— 0) 0,39 + (0,51 — 0) 1,11 + (0,51 — 0,65) 0,90 = — 1,17
E Δ ϑ3 = (0 — 0,51) 1,11 + (— 0,72 — 0,51) · 0,68 + (— 0,72
+ 0,04) 0,14 + (0,53 + 0,04) 1,25 + (0,53 — 0,71) 0,8
= — 0,93
E Δ ϑ4 = (— 0,04 — 0,53) 1,25 + (— 0,68 — 0,53) 0,8 + (0,27
+ 0,06) 1,25 + (0,27 — 0,73) 0,8 = — 1,64
E Δ ϑ5 = {(— 0,06 — 0,27) 1,25 + (— 0,71 — 0,27) 0,8} 2
= — 2,39.


Da die untere Gurtung wagerecht ist, so folgt aus der Gleichung 11:
wm = — Δ ϑm.


Berechnet man also das Momentenpolygon für einen einfachen, an
den Enden frei aufliegenden Balken A' B' (Fig. 19), welcher durch die
Einzellasten
E · Δ ϑ1 = 1,88, — E Δ ϑ2 = 1,17 u. s. w.
beansprucht wird, so sind die Ordinaten M dieses Polygons gleich den
mit E multiplicirten Durchbiegungen δ. Ist die Feldweite λ konstant,
so darf man bei der Berechnung der Momente M für den Balken A' B'
die Annahme λ = 1 machen und erhält dann .


Es ergiebt sich:
M1 = 6,815, M2 = 11,750, M3 = 15,515, M4 = 18,350
und M5 = 19,545
*),
und es folgen nun, wegen λ = 400cm und E = 2000t für das qcm,
die Durchbiegungen:
;
also ,
δ3 = 3,1cm, δ4 = 3,7cm, δ5 = 3,9cm.


[26]

§ 6.
Das Biegungspolygon eines Netzwerkes.
(Zweites Verfahren.)


Haben sämmtliche Stäbe eine gegen die Senkrechte geneigte Lage,
so nennt man das Stabsystem ein Netzwerk. Für ein solches möge
dasjenige Polygon bestimmt werden, dessen Ordinaten gleichzeitig die
senkrechten Verschiebungen δ der Knotenpunkte der oberen und der
unteren Gurtung liefern.


Mit Bezugnahme auf die aus der Fig. 21 zu ersehende Bezeich-

Figure 16. Fig. 21

u. 22.


nung der Knotenpunkte sollen
bedeuten:


  • om die Länge des einem Knoten-
    punkte m der unteren
    Gurtung gegenüberliegen-
    den Obergurt-Stabes,
  • uk die Länge des einem Knoten-
    punkte k der oberen Gurtung
    gegenüberliegenden Unter-
    gurt-Stabes,
  • dm die Länge der mten Diago-
    nale,
  • βm den Neigungswinkel von om
    gegen die Wagerechte,
  • γk den Neigungswinkel von uk
    gegen die Wagerechte,
  • φm den Neigungswinkel von dm
    gegen die Wagerechte,
  • em die senkrechte Projektion
    von dm.

Um eine einfache Beziehung
zwischen den Verlängerungen
Δ om, Δ dm, Δ dm + 1 der Seiten
des Dreiecks (m — 1) — m — (m + 1), und den Verkürzungen
Δ em = δm ‒ 1 — δm und Δ em + 1 = δm + 1 — δm
der Strecken em und em + 1 zu erhalten, denken wir dieses Dreieck heraus-
gelöst und in den Punkten m — 1 und m + 1 mit den senkrechten
Kräften und belastet, Fig. 22, während wir den Punkt m
festlegen. In den drei Stäben om, dm, dm + 1 entstehen gewisse Spann-
kräfte μ1, μ2, μ3, und es lautet, da μ2, und μ3 Drücke sind, die Arbeits-
gleichung:
[27] Mit Hilfe des Kräfteplanes in Fig. 22 ergiebt sich nun, wenn hm die
bei m gemessene senkrechte Höhe des Fachwerks bedeutet,
= λm sec βm : hm und hieraus ,
= dm : hm = λm sec φm : hm „ „ ,
= dm + 1 : hm = λm + 1 sec φm + 1 : hm und hieraus
,

und es wird
.
Werden die Δ e durch die δ ausgedrückt, so folgt
,
und ebenso ergiebt sich, wenn k ein Knotenpunkt der oberen Gurtung
ist, zwischen den Verschiebungen δk ‒ 1, δk, δk + 1 die Beziehung
.


Vergleicht man diese Beziehungen mit den auf Seite 20 abgeleiteten
Gleichungen 11 und 12, so erkennt man,
dass das gesuchte Biegungspolygon mit dem Mo-
mentenpolygone eines Balkens A' B' übereinstimmt,
welcher durch senkrechte Kräfte

(16) , und
(17)

belastet wird.


In Figur 21 ist vorausgesetzt worden, dass die senkrechten Ver-
schiebungen der Endpunkte a und B gleich Null sind, dass also A' B'
ein an den Enden frei aufliegender Balken ist.


Zahlenbeispiel. Es sollen die senkrechten Verschiebungen sämmt-
licher Knotenpunkte des in Fig. 23 dargestellten schmiedeeisernen Netz-
werkes unter der Voraussetzung berechnet werden, dass in jedem
Knotenpunkte der oberen Gurtung eine Last = 12t angreift.


In Fig. 23 sind die Spannkräfte in Tonnen (nicht eingeklammerte
Zahlen) und die Stablängen in dm (eingeklammerte Zahlen) angegeben
[28] und in Fig. 24 die unter der Annahme E = 100 (statt des wirklichen

Fig. 23—25.


Werthes E = 200000t für
das qdm) berechneten Ver-
längerungen der Stäbe in dm
und die Querschnittsflächen
in qdm zusammengestellt wor-
den. Für den ersten Stab der
oberen Gurtung beträgt z. B.
die Querschnittsfläche 0,45 qdm
und die Verlängerung Δ o
.
Schliesslich wurden in Fig. 25
die senkrechten Trägerhöhen
und die mit der Sekante des
Stab-Neigungswinkels (gegen
die Wagerechte) multiplicirten
Verlängerungen eingetragen,
z. Beisp. für eine Diagonale
des Mittelfeldes Δ d · sec φ
.


Es ergeben sich jetzt mittelst
der Gleichung 16 für die un-
teren Knotenpunkte 1, 3 und 5 die Werthe
,
,
und mittelst der Gleichung 17 für die oberen Knotenpunkte die Werthe
,
.


Um die Biegungsmomente für den mit den Werthen w belasteten
Balken A' B' schnell zu erhalten, berechnen wir zuerst die Vertikalkräfte
V5 = ½ w5 = 0,30, V4 = 0,30 + w4 = 2,76, V3 = 2,76 + w3 = 3,37,
V2 = 3,37 + w2 = 5,21, V1 = 5,21 + w1 = 7,34
und hierauf, unter der vorläufigen Annahme: λ = 1, die Biegungs-
momente
[29] M1 = V1 = 7,34, M2 = M1 + V2 = 12,55, M3 = M2 + V3 = 15,92,
M4 = M3 + V4 = 18,68 und M5 = M4 + V5 = 18,98.
Um die Durchbiegungen zu erhalten, müssen wir die Momente M mit
λ = 20dm multipliciren und (da wir vorhin E = 100 statt E = 200000
setzten) durch 2000 dividiren. Es ergiebt sich
und ebenso δ4 = 18,7mm, δ3 = 15,9mm, δ2 = 12,6mm, δ1 = 7,3mm.


§ 7.
Aenderung der Länge einer Gurtsehne. (Fig. 26.)


Es soll die Verlängerung ξ der irgend zwei Knotenpunkte 0 und
n einer Gurtung verbindenden Sehne bestimmt werden. Die Lothe von
den Knotenpunkten

Figure 17. Fig. 26

u. 27.


1, 2, … m .... auf
diese Sehne seien =
y1, y2, .... ym ....,
und die Projektionen
der Längen s1, s2,
..... sm ..... der
von der Sehne 0 — n
unterspannten Gurt-
stäbe auf 0 — n seien
= e1, e2, .... em .....


Die Vergrösserung
irgend eines Rand-
winkels ϑm um Δ ϑm bedingt die durch die Figur 27 nachgewiesene
Aenderung ξ = ym Δ ϑm, und die Verlängerung Δ Sm der Länge sm eines
Gurtstabes erzeugt ξ = Δ sm cos ψm, wobei
ψm = Neigungswinkel des Stabes sm gegen die fragliche Sehne.


Im Ganzen entsteht also
und, wenn für den Fall t = 0
gesetzt wird,
(18) .


Beispiele für die Anwendung dieser Gleichung finden sich im § 8
und § 10.


[30]

§ 8.
Aufgaben, betreffend die Ermittelung von
Biegungspolygonen.


Aufgabe 1. Gesucht die senkrechten Verschiebungen der Knoten-

Figure 18. Fig. 28.


punkte der unteren Gurtung des
in Fig. 28 dargestellten Fach-
werkträgers mit 2 nicht an den
Enden stehenden Stützen a und B.


Man nehme zunächst C und
D in senkrechter Richtung un-
verschieblich an und zeichne das
Momentenpolygon C' A' N B' D' für
einen bei C' und D' frei auf-
liegenden Balken, auf welchen
die nach Gleich. 11 berechneten
Lasten w (welche theils positiv,
theils negativ sind *) wirken.
Bringt man hierauf die Senkrech-
ten durch die festen Stützpunkte a und B in A' und B' mit dem Mo-
mentenpolygone zum Schnitte und zieht die Gerade A' B', so erhält man

Figure 19. Fig. 29.


in der schraffirten Fläche die gesuchte Biegungsfläche. Beispielsweise
ist die Senkung der Knotenpunkte o und 5 gleich δo bezieh. δ5.


Aufgabe 2. Gesucht die Biegungsfläche für die obere Gurtung
C D A B E F des Gerber’schen Trägers in Fig. 29.


[31]

Nachdem die den Knotenpunkten 1 bis 3, 4 bis 12 und 13 bis 15
entsprechenden (theils positiv, theils negativ ausfallenden) Werthe w be-
rechnet worden sind, werden die Momentenpolygone gezeichnet:
C' N D' für den einfachen Balken C' D' mit den Lasten w1 bis w3,
D' L E' „ „ „ „ D' E' „ „ „ w4w12,
E' R F' „ „ „ „ E' F' „ „ „ w13w15.


Hierauf werden die Senkrechten durch die Punkte a und B mit
dem Momentenpolygone D' L E' in A' und B' zum Schnitte gebracht,
die Strecken
A'̅ A''̅ = δ' = Senkung des Punktes a,
B'̅ B''̅ = δ" = „ „ „ B

abgetragen und der durch A'' und B'' gehende Linienzug C' D'' E'' F', dessen
Ecken senkrecht unter D und E liegen, eingezeichnet. Die Fläche
zwischen diesem Linienzuge und dem Momentenpolygone ist die ge-
suchte Biegungsfläche.


Bei starren Stützen a0 und B0 ist
δ' = Verkürzung der Vertikale a0a,
δ" = „ „ „ B0B.


Aufgabe 3. Gesucht das Biegungspolygon für die obere Gurtung
des in Fig. 30 dar-

Figure 20. Fig. 30.


gestellten Drei-
gelenk-Bogens.


Es handelt sich
hier nur um die
Berechnung des
Momentenpoly-
gons für den ein-
fachen Balken
A' B', auf welchen
die Lasten w1, w2,
...... w7 wirken.
Die Werthe w1 bis
w3 und w5 bis w7
lassen sich ohne weiteres mit Hilfe der im § 6 gegebenen Gleich. 13
berechnen, da sich die Randwinkel ϑ1 bis ϑ3 und ϑ5 bis ϑ7 aus Drei-
eckswinkeln zusammensetzen. Um w4 mittelst der Gleich. 13 bestimmen
zu können, muss Δ ϑ4 bekannt sein. Nun ist die durch die Aenderungen
der Randwinkel und die Spannungen in den Gurtstäben bedingte Aen-
derung ξ der Stützweite A B nach § 7, zunächst für den Fall t = 0:
[32] und man erhält somit, bei gegebener Verschiebung ξ = Δ l, den Werth
.
Bei starren Stützen ist Δ l = 0. Sind die Kämpfer a und B durch
eine Zugstange mit dem Querschnitte Fo verbunden, so ist Δ l = Ver-
längerung dieser den Horizontalschub H des Bogens aufnehmenden Stange;
es folgt dann . Sollen Temperaturänderungen berücksichtigt
werden, so ist σ durch σ + ε Et zu ersetzen, während für Δ l der Werth
einzuführen ist. Hierbei bedeutet t die Temperaturänderung
für einen Stab der oberen Gurtung und to die Temperaturänderung für
die Stange A B.


§ 9.
Ebene Fachwerkträger mit veränderlicher Belastung.
Einflusslinien (Influenzlinien) für die statisch
nicht bestimmbaren Grössen X.


1) Stellt man bei Fachwerken mit veränderlicher Belastung die
Spannkraft S eines jeden Stabes in einer solchen Form als Funktion
der Lasten P dar, dass der Einfluss jeder einzelnen Last auf S ersicht-
lich ist, so vermag man anzugeben, welche Lasten in dem Stabe einen
Zug und welche Lasten einen Druck hervorbringen, und wie gross die
Grenzwerthe Smax (= grösster Zug) und Smin (= grösster Druck) sind.
In gleicher Weise können die Werthe Cmax und Cmin für jede Auflager-
kraft berechnet werden.


Handelt es sich um ein ebenes Fachwerk mit senkrechter Belastung,
so verfolge man den Einfluss einer über den Träger fortschreitenden Last
„Eins“, trage den Werth S beziehungsweise C unter dem jedesmaligen
Angriffspunkte der Last als Ordinate auf und verbinde die Endpunkte
dieser Ordinaten durch eine Linie, welche die Einflusslinie fürS
bezieh. C heisst; die zwischen ihr und der Abscissenachse gelegene
Fläche wird die Einflussfläche fürSbezieh. C genannt.


Die Einflusslinien für die Werthe S und C lassen sich mit Hilfe
der Gleichungen
S = S0 + S' X' + S'' X'' + S''' X''' + ....
C = C0 + C' X' + C'' X'' + C''' X''' + ....

leicht finden, sobald die Einflusslinien für die Grössen X', X'', X''' ....
gegeben sind. Die Ermittelung dieser „X-Linien“ ist das Ziel der nach-
stehenden Untersuchungen, und zwar soll sie unter der Voraussetzung
[33] erfolgen, dass jede zwischen zwei Knotenpunkten wirkende Last durch
einfache Zwischenträger auf die benachbarten

Figure 21. Fig. 31.


Knotenpunkte übertragen wird. Es ist dann
jede Einflusslinie ein aus geraden Linien be-
stehendes Polygon, dessen Ecken den Knoten-
punkten des Fachwerkes entsprechen. Be-
sitzt z. B. (Fig. 31) die X'-Linie unter den
Knotenpunkten (m — 1) und m die Ordinaten
X'm ‒ 1 und X'm, und wird der durch eine
zwischen m — 1 und m gelegene Last P
verursachte Werth X' gesucht, so bestimmt
man die durch den Zwischenträger auf die
Knotenpunkte (m — 1) und m übertragenen Lastantheile
und erhält:
P X' = Pm ‒ 1X'm ‒ 1 + Pm X'm.
Hieraus folgt aber
,
und dieser Ausdruck ist in Bezug auf die Veränderliche x vom ersten Grade.


2) Die statisch nicht bestimmbaren Grössen X', X'' ..... müssen,
wenn im Allgemeinen nachgiebige Stützen vorausgesetzt werden, den
im § 3 abgeleiteten Gleichungen genügen:
Σ C' Δ c = Σ S' Δ s, Σ C'' Δ c = Σ S'' Δ s, Σ C''' Δ c = Σ S''' Δ s, .....
und diese gehen mit
und nach Einsetzen der Werthe S über in
(19),
wobei, zur Abkürzung,
(20)
gesetzt wurde.


Wird das Fachwerk zunächst unbelastet gedacht, so verschwinden
die von So abhängigen Glieder, und es ergeben sich, durch Auflösung
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 3
[34] der Gleichungen 19, die durch die Verschiebungen der Stützpunkte und
durch eine Aenderung des anfänglichen Temperaturzustandes hervor-
gerufenen Grössen X in der Form
(21) ,
wobei α', β', γ', ...... α", β", γ", ..... Werthe sind, welche nur von
den Koefficienten der Grössen X in den Gleichungen 19 abhängen und
nur einmal berechnet zu werden brauchen, da sie lediglich durch die
Form des Fachwerks bestimmt sind.


Nach Erledigung dieser in der Regel wenig zeitraubenden Rech-
nungen ergeben sich die von der Belastung abhängigen Werthe:
(22) ,
und mit Hilfe dieser letzteren Gleichungen lassen sich die Einflusslinien
für die Grössen X', X'' .... schnell finden, sobald die Einflusslinien
für die von der jedesmaligen Belastung abhängigen Summen
Σ S0S' ρ, Σ S0S'' ρ, .....
bekannt sind.


Wir zeigen jetzt die Ermittelung dieser Summen für den Fall, dass
auf das Fachwerk nur eine senkrechte Lasteinheit P wirkt, welche in
irgend einem Knotenpunkte des statisch bestimmten Hauptnetzes, das
meistens ein einfacher Balken oder ein Drei-Gelenkbogen oder ein

Figure 22. Fig. 32.


Gerber’scher Balken sein wird, angreift.


Da die Last P in den Stäben des
Hauptnetzes die Spannkräfte S0 erzeugt
(Fig. 32), so ist die durch irgend welche
Aenderungen Δ s der Stablängen hervor-
gebrachte Senkung δ ihres Angriffspunktes
(nach § 4) durch die Arbeitsgleichung
P δ = Σ S0 Δ s*)
gegeben, und es besteht insbesondere
zwischen den durch die Ursache X' = 1 (welche die Spannkräfte S'
erzeugt) bedingten Verschiebungen δ' und Δ' s die Beziehung:
[35],
aus welcher sich
(23 a) Σ S0S' ρ = P δ'
ergiebt.


Da nun δ' die Ordinate des den Spannungen entsprechenden
Biegungspolygones derjenigen Gurtung ist, welcher der Angriffspunkt
von P angehört, so ergiebt sich der wichtige Satz:


Bewegt sich über den Träger eine Last „Eins“, welche der Reihe
nach in den verschiedenen Knotenpunkten der Gurtung
des Hauptnetzes angreift, so stimmt die Einflusslinie für den Aus-
druck
Σ SoS' ρ mit dem für den Belastungszustand X' = 1 berech-
neten Biegungspolygone der Gurtung des Hauptnetzes
überein
.


In gleicher Weise lassen sich die Einflusslinien für die übrigen in
den Gleichungen 22 vorkommenden Summen darstellen. Man erhält
(23 b) Σ S0S'' ρ = Pδ", Σ S0S''' ρ = P δ''' u. s. f.,
unter δ", δ''', .... die unter dem jedesmaligen Angriffspunkte von P
gemessenen Ordinaten der Biegungspolygone verstanden, welche be-
ziehungsweise für die Spannungszustände X'' = 1, X''' = 1, ..... und
für die Gurtung berechnet worden sind, in deren Knotenpunkten die
Last P nacheinander angreift.


Die Gleichungen 22 gehen jetzt über in
X' = — (α' δ' + β' δ" + γ' δ"' + .....) P
X''
= — (α" δ' + β" δ" + γ" δ''' + .....) P
.........................

und ermöglichen eine schnelle Berechnung der Einflusslinien für sämmt-
liche Grössen X.


Meistens greift die veränderliche Belastung nur in den Knoten-
punkten der einen Gurtung an, und ist es dann in der Regel zulässig,
das Eigengewicht ausschliesslich auf die Knotenpunkte dieser Gurtung
zu vertheilen. Sind die Knotenpunkte beider Gurtungen Angriffspunkte
veränderlicher Lasten, so hat man für jeden Werth X zwei Einflusslinien
zu zeichnen, da die Wirkungen der oben und unten angreifenden Lasten
gesondert untersucht werden müssen.


Beispiel 1.Der vereinigte Balken- und Bogenträger in
Fig. 33 mit einem festen Lager bei B und einem wagerechten Gleit-
lager bei a ist einfach statisch unbestimmt. Es lassen sich deshalb
die Spannkräfte in der Form
S = S0 + S' X
3*
[36] darstellen, und es ergiebt sich, da die Verschiebungen der Stützen im
vorliegenden Falle ohne Einfluss auf die Beanspruchung des Fachwerks
sind, zur Berechnung der statisch nicht bestimmbaren Grösse X, aus
der ersten der Gleichungen 19 die Bedingung:
aus welcher erhalten wird
der Einfluss einer Temperaturänderung:
und „ „ der Belastung: .


Als statisch nicht bestimmbare Grösse X wählen wir die konstante

Figure 23. Fig. 33

a u. c.


Seitenkraft der in den
Stäben 1, 2, 3, 3′, 2′,
1′ des Bogens wirk-
samen Spannkräfte.
Ist X = 0, so sind
diese Stäbe span-
nungslos, und ebenso
verschwinden die nur
von X abhängigen
Spannkräfte in den
senkrechten Stäben
4, 5, 6, 5′, 4′. Als
statisch bestimmtes
Hauptnetz verbleibt
der einfache Balken
A B C D. *)


Soll nun die Einflusslinie für X unter der Voraussetzung ermittelt
werden, dass eine Lasteinheit P der Reihe nach in sämmtlichen Knoten-
punkten der unteren Gurtung A B angreift, so müssen die durch die
Ursache X = 1 hervorgerufenen Spannkräfte S', sowie das Biegungs-
polygon der Gurtung A B für diesen Spannungszustand bestimmt werden.


Die Kräfte S' werden zweckmässig mit Hilfe des in Fig. 33 b dar-
gestellten Kräfteplanes gefunden. In diesem Plane schneiden die von
dem Punkte O aus zu den Stäben 1, 2, 3, 3′, 2′, 1′ gezogenen Parallelen
auf der im Abstande „Eins“ von O gezeichneten Senkrechten die in den
[37] Stäben 4, 5, 6, 5′, 4′ wirksamen Spannkräfte S' ab, und die Längen
der Strahlen 1, 2, ..... 1′ stellen die Spannkräfte S' in den Bogen-
gliedern vor.

Figure 24. Fig. 33

b.


Aus der Spann-
kraft 1 findet
man die Kräfte
9 und 10, hier-
auf 11 und 12
u. s. w. Für
die Stäbe 7, 8,
8′ und 7′ ist
S' = 0.*)


Nach Zeich-
nen dieses
Kräfteplanes werden die Spannungen und die von den σ' ab-
hängigen Aenderungen Δ' ϑ der den unteren Knotenpunkten (1), (2),
(3) … (6) entsprechenden Randwinkel ϑ berechnet, letztere nach der
im § 5 gegebenen Anleitung, und hierauf kann das zugehörige Biegungs-
polygon A' C B' der Gurtung A B ermittelt werden; dasselbe stimmt,
nach § 5, Gleich. 11, mit dem Momentenpolygone eines einfachen Balkens
A' B' überein, welcher durch die senkrechten Lasten
w1 = — Δ' ϑ1, w2 = — Δ' ϑ2 ......
beansprucht wird.


Bedeutet nun δ' die unter P gemessene Ordinate des Polygons
A' C B', so ist nach dem vorhin bewiesenen Satze:
Σ S0S' ρ = Pδ',
mithin
.


Dividirt man also die Ordinaten δ'1, δ'2 .... des Biegungs-
polygones A' C B' durch den konstanten Werth , so erhält
man die Ordinaten X1, X2 .... der gesuchten Einflusslinie
.


Wird beispielsweise durch den Träger ein Eisenbahngleis gestützt,
und bedeutet L die Belastung einer Lokomotivachse, T die Belastung
einer Tenderachse, und entsprechen den Lasten L und T beziehungs-
weise die Polygon-Ordinaten η1, η2 …, so ist der durch die Belastung
in Fig. 33 c erzeugte Werth X' bestimmt durch die Gleichung
= — L1 + η2 + η3) — T4 + η5 + η6).


[38]

Das Zeichen (—) deutet an, dass der Bogen auf Druck beansprucht
wird.


Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass der durch eine
Temperaturänderung erzeugte Werth Xt gleich Null wird, sobald ε und
t konstant sind; denn setzt man in die dem Spannungszustande X = 1
entsprechende Arbeitsgleichung
Σ S' Δ s = 0,
welche für beliebige, mögliche Formänderungen Δ s gilt, den Werth
Δ s = ω s, wobei ω eine Konstante, d. h. nimmt man an, dass das Fach-
werk eine der früheren Form ähnliche Form annimmt, so findet man
Σ S' s = 0.
In der Regel setzt man innerhalb einzelner Gruppen von Stäben konstante
Temperaturänderungen voraus, und kann dann die vorstehende Gleichung
zur Abkürzung der Rechnung benutzen. Macht man z. B. die Annahme,
dass sich die dem spannungslosen Anfangszustande des Fachwerks ent-
sprechende Temperatur in allen Punkten des Bogens um den Betrag t1
ändere und in allen übrigen Punkten des Trägers um t2, so folgt
,
wobei sich der Ausdruck auf die Bogenglieder 1, 2, 3, 3′, 2′, 1
und der Ausdruck auf alle übrigen Stäbe bezieht. Bezeichnet man
mit s1, s2, s3, s'3, s'2, s'1 die Längen der Stäbe 1, 2, 3, 3′, 2′, 1′ und
mit α1, α2, α3, α'3, α'2, α'1 deren Neigungswinkel gegen die Wagerechte,
so sind die Spannkräfte S' in diesen Stäben beziehungsweise gleich
1 · sec α1, 1 · sec α2, 1 · sec α3, ....... 1 sec α'1
und es folgt
= s1 sec α1 + s2 sec α2 + ...... + s'1 sec α'1.


Da nun ist, so ergiebt sich schliesslich
.


Beispiel 2. Es soll der Horizontalzug X der in Fig. 34 a dar-
gestellten, durch einen Balken versteiften Kette ermittelt werden.
Der Balken ist mit der Kette durch senkrechte Stäbe verbunden und
besitzt bei B ein festes und bei a ein auf einer Wagerechten geführtes
Lager. Bei ausschliesslich senkrechten Lasten P wirken auf den Balken
nur senkrechte Kräfte. Die Kette ruht auf Pendelpfeilern (10 und 10′),
welche aus demselben Materiale hergestellt sein sollen, wie alle übrigen
Stäbe des Fachwerks und als Bestandtheile des Fachwerks aufgefasst
werden. Die Stabverbindung ist eine einfach statisch unbestimmte,
und es mögen die Spannkräfte auf die Form
[39]S = S0S' X
gebracht werden. Die Spannkräfte S' entsprechen dann dem Zustande
X = — 1, welchen man erhält, wenn man sich in irgend einem Stabe

Figure 25. Fig. 34a

u. b.


der Kette einen Druck erzeugt denkt, dessen wagerechte Seitenkraft
= „Eins“ ist, und es lautet die Gleichung zur Berechnung von X,
sobald die Stützen starr angenommen werden,
;
sie liefert den durch eine Aenderung der Temperatur entstehenden
Horizontalzug
und den durch eine Belastung hervorgerufenen
.


Den Kräfteplan für den Zustand X = — 1 zeigt Fig. 34 b; er wird
in ähnlicher Weise konstruirt wie in dem vorigen Beispiele. Die Spann-
kräfte in den Kettengliedern 1, 2, 3, 4, 4', 3', 2', 1' bilden einen Strahlen-
[40] büschel, dessen wagerechte Projektion der Horizontalschub „Eins“ ist
und welcher auf der Senkrechten L N die in den Hängestangen wirk-
samen Spannkräfte 5, 6, 7, 8, 7', 6', 5' abschneidet. Die Kräfte 9
und 10, desgleichen 9' und 10' ergeben sich aus den Kräften 1 und 1'.
Die Kräfte 5, 6, 7, 8, 7', 6', 5' wirken als Drücke auf den Balken
und rufen die senkrechten Auflagerwiderstände A' und B' hervor. Ist
das Fachwerk symmetrisch (wie in Fig. 34 angenommen wurde), so ist
A' = B'; im Gegenfalle verlängere man in Fig. 34 a die Auflagersenk-
rechten A und B bis zu ihren Schnittpunkten mit der Kette, verbinde
diese durch die Schlusslinie (s) und ziehe von O aus (Fig. 34 b) eine
Parallele zu (s); letztere zerlegt nach einem bekannten Satze der gra-
phischen Statik den Kräftezug 5 + 6 + 7 + 8 + 7' + 6' + 5' in A'
und B'. Nunmehr lassen sich die Spannkräfte S' auch für den Balken
ermitteln.*)


Nach Zeichnen dieses Kräfteplanes werden die Spannungen
und die von den σ' abhängigen Aenderungen Δ'ϧ der oberen Rand-
winkel ϧ bestimmt, und hierauf wird das Biegungspolygon AoCBo der
Gurtung A B, in dessen Knotenpunkten die über den Balken wandernde
Last P der Reihe nach angreifen möge, berechnet; dasselbe stimmt
(nach § 5, Gleich. 13) mit dem Momentenpolygone eines einfachen Balkens
AoBo überein, welcher durch senkrechte Lasten
w1 = Δ'ϧ1, w2 = Δ'ϧ2, w3 = Δ'ϧ3, ......
beansprucht wird.


Bedeutet nun δ' die unter P gemessene Ordinate des Biegungs-
polygones, so ist
,
und es erzeugt mithin die Last P in der Kette den Horizontalzug
.**)


§ 10.
Der Maxwell’sche Lehrsatz und Anwendungen desselben.


Wir betrachten ein Fachwerk, dessen Stützpunkte unverrückbar
sind oder über reibungslose Lager gleiten, dessen Auflagerkräfte mithin
[41] bei der eintretenden Formänderung keine
Arbeit leisten.


Die durch irgend welche Aenderungen Δs

Figure 26. Fig. 35.


der Stablängen s verursachten Verschiebungen
δ1 und δ2 der Knotenpunkte A1 und A2 nach
den Richtungen A1B1 bezieh. A2B2 ergeben
sich nach § 4 aus den Arbeitsgleichungen
1 · δ1 = ΣS1Δs und
1 · δ2 = ΣS2Δs,

wobei für irgend einen Stab


  • S1 diejenige Spannkraft ist, welche eine in A1 angreifende, nach
    der Richtung A1B1 wirkende Kraft „Eins“ hervorbringt und
  • S2 diejenige Spannkraft, welche entsteht, sobald in A2 nach der
    Richtung A2B2 die Kraft „Eins“ wirksam ist.

Herrscht in allen Stäben die dem spannungslosen Anfangszustande
entsprechende Temperatur, so ist für irgend einen Belastungsfall
mithin
und .


Ist insbesondere S = S2, so ergiebt sich
,
während im Falle S = S1
ist, und es folgt aus der Uebereinstimmung dieser beiden Werthe der
zuerst von Maxwell bewiesene, hinsichtlich seiner Giltigkeit an die
oben gemachten Annahmen gebundene Satz:
Eine in dem Knotenpunkte A1 und im Sinne A1B1 angreifende
Kraft „Eins“ verschiebt einen Knotenpunkt A2 im Sinne A2B2
um eine Strecke, welche ebenso gross ist wie die Verschiebung,
welche der Knotenpunkt A1 im Sinne A1B1 erfährt, sobald im
Punkte A2 und im Sinne A2B2 eine Kraft „Eins“ angreift.


Wie vortheilhaft dieser Satz in der Fachwerkstheorie verwerthet
werden kann, wird die Lösung der folgenden Aufgaben zeigen.


Aufgabe 1. Gesucht die Einflusslinie für die Senkung δm eines
Knotenpunktes m eines Fachwerkträgers (Fig. 36).


Wir nehmen das gewichtslose Fachwerk nur mit einer in m an-
greifenden senkrechten Kraft „Eins“ belastet an, berechnen die hierbei
entstehenden Spannkräfte S und Spannungen σ und bestimmen (nach
§ 5 bis § 8) das diesen Spannungen entsprechende Biegungspolygon der-
[42] jenigen Gurtung (beispielsweise von A C B), in deren Knotenpunkten die

Figure 27. Fig. 36.


Verkehrsbelastungen
angreifen sollen. Ist
nun die unter k ge-
messene Ordinate
dieses Biegungspoly-
gones = ηk, so ver-
schiebt die in m an-
greifende Last „Eins“
den Knotenpunkt k im
senkrechten Sinne um
ηk, und es wird mit-
hin (nach dem eben
bewiesenen Satze) eine in k angreifende Last „Eins“ den Knotenpunkt m
ebenfalls um ηk verschieben. Hieraus folgt, dass das gezeichnete Biegungs-
polygon die Einflusslinie für δm ist.


Die Lasten P1, P2, P3 in Fig. 36, denen die Ordinaten η1, η2,
η3 entsprechen, verursachen beispielsweise bei m die Senkung
δm = P1η1 + P2η2 + P3η3.


Aufgabe 2.Einflusslinie für den Widerstand X der
Mittelstütze des in Fig. 37 dargestellten kontinuirlichen Fach-

Figure 28. Fig. 37.


werkträgers mit 3 Stütz-
punkten
. Die Lasten greifen
in den Knotenpunkten der
unteren Gurtung an.


Beseitigt man die Mittel-
stütze, so entsteht der statisch
bestimmte Balken A B. Für
diesen werden, unter der
Voraussetzung dass bei C
eine senkrechte, abwärts ge-
richtete Last „Eins“ angreift, die Spannkräfte S', Spannungen σ' und
Aenderungen Δ'ϧ der unteren Randwinkel berechnet, und hierauf wird
das Biegungspolygon der wagerechten Gurtung A B als Momentenkurve
eines durch die Aenderungen (— Δ'ϧ1), (— Δ'ϧ2), ..... belasteten,
einfachen Balkens A' B' gezeichnet (vergl. § 5, Gleich. 11). Dieses Polygon
ist die Einflusslinie für die Senkung δ des Punktes C. Wirken nun auf
das Fachwerk die beiden Kräfte P und X, und misst man unter P die
Polygonordinate η und unter C die Ordinate c, so folgt
δ = Pη — X c.


Aus der Bedingung δ = 0 ergiebt sich
[43].
Es ist also das Biegungspolygon A' D B' die Einflusslinie für X, und
ist der Multiplikator für diese Linie.


Der Elasticitätsmodul E darf bei gleichem Materiale sämmtlicher
Stäbe beliebig gross angenommen werden, da es nur auf das gegen-
seitige Verhältniss von η und c ankommt, und ebenso leuchtet ein, dass
A' D B' ein mit beliebigem Polabstande zu den Lasten (— Δ'ϧ) gezeich-
netes Seilpolygon sein darf.


Aufgabe 3.Einflusslinien für die Widerstände X' und
X'' der Mittelstützen des in Fig. 38a dargestellten, in den
Knotenpunkten der unteren Gurtung belasteten kontinuir-
lichen Fachwerkträgers mit 4 Stützpunkten
.


Man beseitige die Mittelstützen, verwandle also den Träger in einen
einfachen Balken A B, berechne diejenigen Spannkräfte S' und Spannungen
, welche eine im Punkte C' wirksame, senkrechte, abwärts
gerichtete Last „Eins“ hervorbringt und zeichne das den Spannungen
σ' entsprechende Biegungspolygon A' L' B' der Gurtung A B; dasselbe
stimmt mit dem Momenten-
polygone eines mit den
Randwinkeländerungen
(— Δ'ϧ1), (— Δ'ϧ2) ....
belasteten einfachen Balkens
A' B' überein.


In gleicher Weise wird
dasjenige Biegungspolygon
A'' L'' B'' der Gurtung A B
ermittelt, welches eine im
Punkte C'' angreifende Last
„Eins“ verursacht.


Es sind nun A' L' B' und
A'' L'' B'' die Einflusslinien
für die Senkungen δ' und

Figure 29. Fig. 38

a, b, c, d.


δ'' der Punkte C' und C'' des einfachen Balkens A B, und es erzeugen
somit die drei Kräfte P, X' und X'' zusammen die Durchbiegungen
δ' = Pη' — X' c' — X'' c'' und
δ'' = Pη'' — X' d' — X'' d'',

wobei c' und c'' die unter den Stützpunkten C' und C'' gemessenen Or-
dinaten des Polygons A' L' B' und d' und d'' die entsprechenden Ordinaten
des Polygons A'' L'' B'' sind.


[44]

Aus den Bedingungen δ' = 0 und δ'' = 0 ergeben sich zur Be-
rechnung von X' und X'' die Gleichungen
X' c' + X'' c'' = Pη'
X' d' + X'' d'' = Pη''

und aus diesen folgt:
.


Sind die Ordinaten des in Fig. 38 b gestrichelten Polygons A' R B'
gleich den mit multiplicirten Ordinaten η'' des Polygons A'' L'' B'',
und ist der Unterschied der Ordinaten der Polygone A' L' B' und A' R B',
unter P gemessen, = η und, unter der Stütze C' gemessen, = c,
so folgt
und
, und es ergiebt sich
.


Da es nun, um X' zu bestimmen, nur auf das Verhältniss ankommt,
so leuchtet sofort folgende einfache Konstruktion der Einflusslinie für X' ein.


Man zeichne Fig. 38 d zu den als senkrechte Lasten aufzufassenden
Randwinkeländerungen (— Δ'ϧ1) (— Δ'ϧ2) ..... mit beliebigem Pol-
abstande ein Seilpolygon Ao L Bo, welches die Senkrechte durch den
Stützpunkt C'' in J und die Senkrechten durch die Endstützen in Ao
und Bo schneiden möge. Hierauf zeichne man zu den Aenderungen
(— Δ''ϧ1), (— Δ''ϧ2) ...... ein durch die 3 Punkte Ao, J und Bo
gehendes Seilpolygon. Misst man jetzt unter P den senkrechten Ab-
stand η der beiden Seilpolygone und unter der Stütze C' den Abstand
c, so folgt
.


Es ist also die in Fig. 38 d schraffirte Fläche die Einflussfläche für
X'; dieselbe ist links von der Stütze C'' positiv, rechts von dieser Stütze
negativ. Der Werth ist der Multiplikator der Einflussfläche.


In gleicher Weise wird die Einflussfläche für X'' gefunden.


Sind sämmtliche Stäbe aus gleichem Materiale, so darf bei Be-
rechnung der Winkeländerungen der Elasticitätsmodul beliebig gross
angenommen werden.


[45]

Aufgabe 4.Gesucht der Horizontalschub X des bei A
und B festgelagerten Bogenträgers in Fig. 39
. Es handelt
sich um den Einfluss einer der Reihe nach in sämmtlichen Knotenpunkten
der oberen, wagerechten Gurtung angreifenden Last P, und gleichzeitig
soll der Einfluss einer Aenderung der Anfangstemperatur und eines
Nachgebens der Widerlager bestimmt werden.


Zuerst wird angenommen, dass auf das Fachwerk nur zwei in A
und B angreifende, nach aussen gerichtete wagerechte Kräfte „Eins“
wirken. Es entstehen Spannkräfte S', Spannungen σ' und Aenderungen

Figure 30. Fig. 39

a.


Figure 31. Fig. 39

b.


Figure 32. Fig. 39

c.


Δ'ϧ der oberen Randwinkel, und man erhält die entsprechende Biegungs-
fläche der oberen Gurtung, wenn man die den Lasten Δ'ϧ1, Δ'ϧ2, ....
entsprechende Momentenfläche A' L B' eines an den Enden A' und B' frei
aufliegenden Balkens bestimmt und zu dieser das Trapez A' A'' B'' B' hinzu-
fügt, dessen Endhöhen gleich den (ebenfalls für den Belastungszustand
in Fig. 39 b berechneten) Verkürzungen δ0 und δn der Endvertikalen sind.


Hierauf wird die dem Belastungszustande in Fig. 39 b entsprechende
Verlängerung ξ der Sehne A B berechnet; sie ist nach § 7, Gleich. 18:
,
wobei sich die erste Summe über sämmtliche Randwinkeländerungen der
oberen Gurtung erstreckt und die zweite die Spannungen σ' in sämmt-
lichen Stäben dieser Gurtung umfasst.


[46]

Nunmehr lassen sich folgende Schlüsse ziehen:


  • 1) Die in A und B wirksamen wagerechten Kräfte 1 verschieben
    den Knotenpunkt m um δm senkrecht nach abwärts, mithin wird
    eine in m angreifende Last Eins eine Vergrösserung der Stütz-
    weite um δm hervorbringen, und eine in m angreifende Last P
    wird Δl = P · δm erzeugen.
  • 2) Der Horizontalschub X verursacht für sich allein
    Δl = — Xξ.
  • 3) Eine gleichmässige Aenderung der Anfangstemperatur sämmtlicher
    Stäbe um t bedingt
    Δl = εtl.
  • 4) Soll sich bei gleichzeitigem Wirken von P und X sowie der
    Temperaturänderung die Stützweite l um einen vorgeschriebenen
    Werth Δl ändern, so besteht die Bedingung
    Δl = PδmXξ + εtl,
    und aus dieser ergiebt sich
    .

Insbesondere lautet also die Gleichung der gesuchten Einflusslinie
für X:
.


Bei gleichem Materiale sämmtlicher Stäbe darf die Berechnung der
Δ'ϧ und der Strecke ξ unter der Annahme E = 1 erfolgen. Es muss
dann in der Gleich. II gesetzt werden:
ε E an Stelle von ε und
Δl E „ „ „ Δl.


Zahlenbeispiel zu Aufgabe 4. Es möge der bereits im § 3,
Seite 12, für den Fall einer vollen Belastung untersuchte, in Fig. 7
dargestellte Bogenträger vorliegen. Die über den Träger wandernde
Last P = 1 greife der Reihe nach in sämmtlichen Knotenpunkten der
oberen Gurtung an. In Fig. 7 geben die links von der Mitte an die
Stäbe gesetzten Zahlen die Stablängen s in cm. an und die Zahlen rechts
von der Mitte die Stabquerschnitte F in qcm., während in Fig. 8 die
in Tonnen ausgedrückten, durch die in A und B angreifenden Kräfte 1
erzeugten Spannkräfte S' eingetragen sind.


In der (der Deutlichkeit der Zahlen wegen verzerrt gezeichneten)
Trägerskizze in Fig. 40 bedeuten die an die Stäbe geschriebenen Zahlen
die Spannungen in Tonnen für das qdm und die in die Winkel
gesetzten Zahlen die Kotangenten dieser Winkel. Aus diesen Zahlen er-
[47] geben sich — mit E = 1 — die folgenden Aenderungen der Randwinkel
der oberen Gurtung (vergl. § 5, Gleich. 15, Seite 23):


Figure 33. Fig. 40.

  • Δ'ϧ0 = (0,92 + 0,90) 0,450 + (0,92 — 1,24) 0,352 + (— 1,00
    — 1,24) 1,050 = — 1,42
  • Δ'ϧ1 = (1,24 + 1,07) 0,952 + (1,24 + 1,00) 1,050 + (1,42
    + 1,00) 0,350 + (1,42 — 1,74) 0,719 + (— 1,08 — 1,74) 0,700
    = + 3,19
  • Δ'ϧ2 = (1,74 + 1,90) 1,429 + (1,74 + 1,08) 0,700 + (2,21
    + 1,08) 0,250 + (2,21 — 2,60) 1,268 + (— 1,00 — 2,60) 0,450
    = + 7,34
  • Δ'ϧ3 = (2,60 + 2,91) · 2,222 + (2,60 + 1,00) 0,450 + (3,37
    + 1,00) 0,150 + (3,37 — 3,48) 2,122 + (— 0,50 — 3,48) 0,300
    = + 11,63
  • Δ'ϧ4 = (3,48 + 4,00) 3,333 + (3,48 + 0,50) 0,300 + (5,00
    + 0,50) 0,050 + (5,00 — 2,06) 3,292 + (0 — 2,06) 0,250
    = 35,56
  • Δ'ϧ5 = [(2,06 + 5,00) 4,000 + (2,06 — 0) 0,250] 2 = 55,25

und es folgt nach Gleich. I (wegen h = 30dm und λ = 20dm)


  • ξ = 30 ΣΔ'ϧ + 20 Σσ'
    = 30 [(— 1,42 + 3,19 + 7,34 + 11,63 + 35,56) 2 + 55,25]
    + 20 [— 1,07 — 1,90 — 2,91 — 4,00 — 5,00] 2 = 4440,3.

Die Ordinaten des Momentenpolygones eines mit den Winkel-
änderungen Δ'ϧ1, Δ'ϧ2..... belasteten, einfachen Balkens A' B' sind:
[48]M1 = 1706,9; M2 = 3350,0; M3 = 4846,3;
M4 = 6110,0; M5 = 6662,5;

fügt man zu ihnen die Verkürzung der Endvertikale, welche (für E = 1)
gleich (— σ'h) = 0,90 · 30 = 27 ist, so erhält man die dem Elasticitäts-
modul E = 1 entsprechenden Ordinaten des Biegungspolygons der oberen
Gurtung:
δ0 = 27; δ1 = 1733,9; δ2 = 3377,0; δ3 = 4873,3;
δ4 = 6137,0; δ5 = 6689,5,

und es ergeben sich jetzt die Ordinaten der gesuchten Einflusslinie für X:
u. s. w.
X2 = 0,76; X3 = 1,10; X4 = 1,38; X5 = 1,50.


Liegt nun beispielsweise der in Fig. 7 dargestellte Belastungsfall
vor (Knotenpunktslasten 0,5t und 1t), so folgt
X = [0,5 · 0,01 + 1,0 (0,39 + 0,76 + 1,10 + 1,38)] 2
+ 1,0 · 1,50 = 8,8t,

ein Ergebniss, welches mit dem auf Seite 13 erhaltenen übereinstimmt.


Der Einfluss einer Aenderung der Temperatur und einer Ver-
schiebung der Widerlager ist
,
worein für Schmiedeeisen E = 200000t für das qdm und ε = 0,000012
zu setzen ist. Eine Erhöhung der Temperatur um t = 40° erzeugt
(wegen l = 200dm)
und eine Verschiebung Δl = 0,1dm bedingt
. (Vergl. Seite 15.)


§ 11.
Bemerkungen über die angenäherte Berechnung der statisch
nicht bestimmbaren Grössen X ebener Fachwerkträger.


Die genaue Berechnung von neu zu entwerfenden, statisch un-
bestimmten Fachwerken wird durch den Umstand sehr erschwert, dass
die Grössen X', X'', ..... von den Querschnitten sämmtlicher Stäbe
oder — wenn es sich nur um den Einfluss der Belastung handelt — von
dem gegenseitigen Verhältnisse dieser Querschnitte abhängen. Es müssen
deshalb die Querschnittsflächen zunächst abgeschätzt und hierauf an der
[49] Hand der Ergebnisse der schärferen Untersuchung geändert werden.
Bei wesentlichen Abweichungen zwischen den so erhaltenen und zuerst
angenommenen Querschnitten muss die ganze Rechnung wiederholt werden.


In sehr vielen, für die Praxis besonders wichtigen Fällen lässt sich
nun eine wesentliche Abkürzung (ohne dass die Ergebnisse der Rechnung
an Zuverlässigkeit einbüssen) dadurch erzielen, dass bei der Be-
rechnung der Grössen X', X'' ..... die Formänderungen der
Wandglieder des
Hauptnetzes ver-
nachlässigt und
hinsichtlich der
Querschnitte der
Gurtungen ver-
einfachende An-
nahmen (z. B. Ein-
führung eines
gleichen Quer-
schnittes für die
Stäbe einer Gur-
tung)
gemacht wer-
den.


Ein Beispiel möge
den Vorgang er-
läutern.


Es handele sich
um die Berechnung
der Einflusslinie für

Figure 34. Fig. 41.


den Horizontalschub X des in Figur 41 dargestellten Bogenträgers, dessen
Spannkräfte, wie im § 3, auf die Form
S = S0S' X
gebracht werden sollen. Die Spannkräfte S' entstehen, sobald P = 0
und X = — 1 wird, und zur Berechnung von X dient die Gleichung:
(vergl. § 3, Seite 13),
wofür geschrieben werden darf (nach § 10):
,
wenn δ' die unter der Last P gemessene Ordinate des Biegungspolygons
der oberen Gurtung für den Belastungsfall (P = 0 und X = — 1) be-
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 4
[50] deutet. Dieses Polygon stimmt, wenn nur die Formänderungen der Gurt-
stäbe berücksichtigt werden sollen, mit dem Momentenpolygone A' L B'
eines einfachen Balkens A' B' überein, auf welchen senkrechte Lasten
(nach Gleich. 16 im § 6)
und
(nach Gleich. 17 im § 6)
wirken, welche beziehungsweise durch die Knotenpunkte der unteren
und der oberen Gurtung gehen. Hierbei ist
rm = Loth vom Knotenpunkte m auf Stab om,
rk = „ „ „ k „ „ uk.


In den Gurtstäben om und uk entstehen im Belastungsfalle (P = 0
und X = — 1) die mit Hilfe der Ritter’schen Methode leicht nachzu-
weisenden Spannkräfte:
und ,
unter ym und yk die auf die Wagerechte A B bezogenen Ordinaten der
Punkte m und k verstanden, und es folgt, wenn Fm und Fk die Quer-
schnitte der Stäbe om und uk bedeuten,
und mithin
und .


Diese Werthe w darf man — ein konstantes E vorausgesetzt —
ersetzen durch
und ,
wobei Fc eine beliebige Querschnittsfläche ist (vergl. § 3 Seite 11); nur
muss man dann schreiben:
.


Für einen Stab om der oberen Gurtung ist
,
und für einen Stab uk der unteren Gurtung
,
und es folgt, wenn zur Abkürzung gesetzt wird:
zm = ymwm und zk = ykwk
.


[51]

Die Summe im Nenner des Werthes X erstreckt sich über alle
Werthe zm und zk.


Es ist statthaft, für sämmtliche Stäbe der oberen Gurtung den-
selben Querschnitt Fo anzunehmen und für sämmtliche Stäbe der unteren
Gurtung denselben Querschnitt Fu. Setzt man dann die willkürliche
Querschnittsfläche Fc = Fo, so ist für alle Stäbe om:
, mithin
und für alle Stäbe uk:
, mithin ,
und es wird sich empfehlen:


  • 1) ein Momentenpolygon A'' R B'' zu zeichnen, entsprechend den
    durch die Knotenpunkte m der unteren Gurtung gehenden Lasten
    ,
  • 2) desgleichen ein Momentenpolygon A''' T B''', entsprechend den
    durch die Knotenpunkte k der oberen Gurtung gehenden Lasten
    ,
  • 3) die beiden Summen zu berechnen:
    ,
    aus denen sich dann
    ergiebt.

Sind nun δ'' und δ''' die unter der Last P gemessenen Ordinaten
der Momentenpolygone A'' R B'' und A''' T B''', so ist offenbar
,*)
und man ist jetzt im Stande, für verschiedene Verhältnisse eine Reihe
von Einflusslinien für X zu zeichnen und durch vergleichende Rechnungen
4*
[52] festzustellen, welchen Einfluss die Wahl des Verhältnisses auf die
Spannkräfte S besitzt.


Betont werde noch, dass in dem Falle einer von der Wagerechten
wenig abweichenden oder mit dieser zusammenfallenden Gurtung unter

Figure 35. Fig. 42.


das mittlere Verhältniss der Querschnitte
der oberen und unteren Gurtstäbe in der
Nähe des Scheitels
zu verstehen ist, weil
die Längenänderungen der hier gelegenen
Gurtstäbe einen besonderen Einfluss auf X
ausüben, und dass es sich bei der geringen
Höhe, welche derartige Bogenträger in der
Regel im Scheitel erhalten, empfiehlt (wenigstens
für die erste Berechnung) = 1 zu wählen.


In gleicher Weise kann auch der Fachwerkbogen mit senkrechten
Wandgliedern berechnet werden; hier fallen je zwei Lasten w in die-
selbe Senkrechte, Fig. 42.*)


§ 12.
Die Lehrsätze über die Formänderungsarbeit.


1. Der Satz von der kleinsten Formänderungsarbeit. Wir
betrachten ein statisch unbestimmtes Fachwerk mit spannungslosem An-
fangszustande, nehmen an, dass der anfängliche Temperaturzustand be-
stehen bleibt, dass also die Aenderungen der Stablängen durch die
Gleichung gegeben sind und setzen festliegende oder über
reibungslose Lager gleitende Stützpunkte voraus. Es sind dann sämmt-
liche Verschiebungen Δc = 0, und die statisch nicht bestimmbaren Grössen
X', X'', X''' ..... haben (nach Seite 8) den Gleichungen zu genügen:
,
[53] welche man durch die Forderung ersetzen darf:
Es müssen die Grössen X', X'', ...... den Ausdruck
zu einem Minimum machen.


In der That stimmen die aus der Bedingung A = minimum ge-
folgerten Gleichungen
mit den Gleichungen 24 überein.*)


Der Werth A lässt sich in einfacher Weise deuten. Verlängert
sich ein Fachwerkstab unter dem Einflusse einer von 0 bis S wachsenden
Spannkraft allmählich um die Strecke , so wird er in dem
Augenblicke, in welchem die Verlängerung den zwischen 0 und Δs
liegenden Werth x erreicht hat, durch die Kraft gespannt.
Schreitet die Verlängerung um d x fort, so leistet Sx die Arbeit
,
und es ist somit die gesammte Formänderungsarbeit des Stabes:
,
und diejenige des Fachwerks
.


Es folgt mithin der hinsichtlich seiner Giltigkeit an die im Ein-
gange dieses Paragraphen gemachten Annahmen Δc = 0 und t = 0
und an die Voraussetzung eines spannungslosen Anfangszustandes ge-
bundene Satz:
Werden die Spannkräfte S eines statisch unbestimmten Fach-
werks als Funktionen der unabhängigen Veränderlichen X', X'', ....
aufgefasst, so müssen den Grössen X diejenigen Werthe beigelegt
[54] werden, welche die Formänderungsarbeit A zu einem Minimum
machen
.


2. Der Satz von der Abgeleiteten der Formänderungsarbeit.
Die Arbeitsgleichung eines Fachwerks lautet bei festliegenden oder über
reibungslose Lager gleitenden Stützpunkten (vergl. § 4, Gleich. 10)
P1δ1 + P2δ2 + .... + Pmδm + .... + Pnδn = ΣSΔs;
sie gilt für beliebige, genügend kleine, zusammengehörige Verschiebungen
δ und Δs und für beliebige Werthe der Lasten P, und es dürfen somit
bei der theilweisen Differentiation dieser Gleichung nach Pm sämmtliche
δ und Δs sowie alle Lasten P1 bis Pm ‒ 1 und Pm + 1 bis Pn als Kon-
stanten aufgefasst werden. Es ergiebt sich
und, wenn ist, wenn also die dem spannungslosen Anfangs-
zustande entsprechenden Temperaturen ungeändert bleiben,
d. i.
.


Für den Fall: (Δc = 0 und t = 0) und unter der Voraussetzung
eines spannungslosen Anfangszustandes gilt somit der Satz:
Die Verschiebung δm des Angriffspunktes m einer Last Pm im
Sinne von Pm ist gleich der nach Pm gebildeten theilweisen Ab-
geleiteten der Formänderungsarbeit A des Fachwerks.


Bei der Anwendung dieses Satzes ist zu beachten, dass man die
Spannkräfte in den überzähligen Stäben und die überzähligen Stützen-
widerstände stets als Lasten auffassen darf, welche auf das Hauptnetz
wirken. Es ist aus diesem Grunde zulässig, unter A nur die Form-
änderungsarbeit für die dem statisch bestimmten Hauptnetze angehörigen
Stäbe zu verstehen und zu setzen, d. h. bei der Berech-
nung der Abgeleiteten die Grössen X als Konstanten zu betrachten.


Die Ausdehnung von A über das ganze Fachwerk, entsprechend
dem Wortlaute des oben gegebenen Satzes, und die Behandlung der X
als Funktionen der Lasten P führt natürlich zu demselben Ergebnisse.
Man muss dann setzen:
[55] und, da für die X stets Ausdrücke von der Form
X' = z1'P1 + z2'P2 + .... + zm'Pm + ......
X'' = z1''P1 + z2''P2 + .... + zm''Pm + ......
..........................

gefunden werden, wobei sämmtliche z von den P unabhängige Werthe
sind,
und

Nun ist aber ΣS'Δs = 0, ΣS''Δs = 0, ...... (vergl. Seite 9),
d. h.
und es ergiebt sich, genau wie bei der obigen Auffassung,
.


3. Berücksichtigung einer Aenderung des Temperaturzu-
standes.
Aendert sich die Anfangstemperatur in allen Punkten eines
Fachwerkstabes um den gleichen, gegebenen Betrag t, so ist
,
und es gehen die Gleichungen 24, denen die Grössen X bei festliegenden
oder über reibungslose Lager gleitenden Stützpunkten genügen müssen,
über in
sie führen zu dem für den Fall Δc = 0 und bei Bestehen eines spannungs-
losen Anfangszustandes giltigen Satze:
Die statisch nicht bestimmbaren Grössen X müssen den Ausdruck
zu einem Minimum machen.
*)


Den Werth Ai, welcher gleich der Summe der für den Zustand
t = 0 sich ergebenden Formänderungsarbeit und der von t abhängigen
[56] virtuellen Arbeit Σεt S s ist, nennen wir die ideelle Formänderungs-
arbeit
.


Die für die Verschiebung δm des Angriffspunktes m der Last Pm
im Sinne von Pm abgeleitete Gleichung
geht über in
und führt zu dem hinsichtlich seiner Giltigkeit an dieselben Voraus-
setzungen wie der Satz Ai = Minimum gebundenen Satze:
,
bei dessen Benutzung wieder zu beachten ist, dass die Grössen X als
Konstanten aufgefasst werden dürfen, sobald Ai theilweise nach Pm
differentiirt wird, und dass sich mithin der Ausdruck Ai nur über die
dem Hauptnetze angehörigen Stäbe zu erstrecken braucht.


4. Berücksichtigung von Verschiebungen der Stützpunkte bei An-
wendung der unter 1 bis 3 aufgestellten Sätze.
Es verdient noch besonders
hervorgehoben zu werden, dass die für den Fall Δ c = 0 abgeleiteten
Sätze Ai = minimum und die Berechnung der Grössen X und der
Verschiebungen δ auch dann ermöglichen, wenn sich die Angriffspunkte der
Auflagerkräfte C bei der Formveränderung des Fachwerks verschieben. Die
Kräfte C dürfen nämlich stets als die Spannkräfte in Stäben aufgefasst werden,
welche gleiche Richtung wie die Kräfte C haben und die Stützpunkte mit
ausserhalb des Fachwerks gelegenen festen Punkten (zuweilen auch mit festen
Punkten des Fachwerks selbst) verbinden. Werden diesen Auflagerstäben
solche Eigenschaften beigelegt, dass ihre Längenänderungen mit den vor-
geschriebenen Verschiebungen Δ c der Stützpunkte übereinstimmen, so sind
sie als den Stützen vollkommen gleichwerthig aufzufassen, und man hat, wenn
die Verschiebungen Δ c bei der Berechnung der X und δ berücksichtigt werden
sollen, nur nöthig, die ideelle Formänderungsarbeit Ai des Fachwerks um die-
jenige der Auflagerstäbe zu vermehren, wobei für jeden Auflagerstab ein be-
liebiger Elasticitätsmodul und ein beliebiger Querschnitt angenommen werden darf.


Bedeutet nun für einen Auflagerstab:


  • c die Länge, Ec den Elasticitätsmodul,
  • Fc den Querschnittsinhalt, tc die Temperaturänderung,
  • εc den Ausdehnungskoefficienten für tc = 1,

so ist . Mit EcFc = ∞ wird Δ c = εctcc, d. i. unabhängig
von C, und die ideelle Formänderungsarbeit der Fachwerkstäbe und Auflager-
stäbe beträgt zusammen:
,
wobei Δ c als eine Konstante zu betrachten ist.


[57]

Beispiel. Handelt es sich um den Horizontalschub X des in Fig. 7,
Seite 12 dargestellten Bogenträgers, dessen Stützweite l sich um Δl ändern
möge, so denke man die Kämpfergelenke A und B durch einen Stab ver-
bunden, in welchem die Spannkraft X wirksam ist und mache
zu einem Minimum. Es ergiebt sich die Gleichung
.


Ist (wie in § 3, Seite 12) S = S0X S', so folgt und
,
und hieraus ergiebt sich, wie auf Seite 13,
.


Abschnitt II.
Biegungsfestigkeit gerader und einfach
gekrümmter Stäbe.


§ 13.
Allgemeine Gesetze für Stäbe, deren Querschnittsab-
messungen im Verhältniss zu den Krümmungs-
halbmessern klein sind.


1) Arbeitsgleichung. Wird ein Stab, dessen Schwerpunktsachse
A B eine Linie einfacher Krümmung ist, durch äussere Kräfte angegriffen,
welche in der die Linie A B
enthaltenden Ebene (Kräfte-
ebene, Stabebene
) liegen,
so besitzen, bei im Vergleiche
zur Länge des Stabes geringen
Querschnittsabmessungen,
ausser den Temperaturände-
rungen nur die senkrecht zu
den Querschnittselementen
wirkenden Spannungen (Nor-
malspannungen
) σ einen
wesentlichen Einfluss auf die
Formänderung. Der Stab lässt

Figure 36. Fig. 43.


sich, bei Vernachlässigung aller übrigen Spannungen, in unendlich kleine,
[58] annähernd prismatische Theilchen zerlegen, welche durch der Stabachse
parallele Spannkräfte S auf Zug oder auf Druck beansprucht werden (Fig. 43).


Bedeutet


  • F die im Allgemeinen veränderliche Querschnittsfläche des Stabes,
  • d s die Länge des zwischen den unendlich nahen Querschnitten I und
    II gelegenen Elementes der Stabachse,
  • d sv die dem Bogenelemente d s parallele Länge irgend eines der
    zwischen I und II gedachten, unendlich kleinen Prismen,
  • σ die Normalspannung für den Endquerschnitt d F dieses Prismas,
  • Δ d sv die Strecke, um welche sich d sv in Folge irgend einer geringen
    Verbiegung des Stabes ändert,

so ist S = σ d F,
und es ergiebt sich, mit Vernachlässigung der Aenderungen der
Querschnittsabmessungen,
die virtuelle Formänderungs-Arbeit
, wobei
d V = d sv d F

den Inhalt des Stabtheilchens bedeutet. Bezeichnet nun, wie im Ab-
schnitte I auf Seite 7:


  • P eine Last,
  • C eine Auflagerkraft,
  • δ die durch jene Δ d sv bedingte Verschiebung des Angriffspunktes
    von P im Sinne von P,
  • Δ c die durch jene Δ d sv bedingte Verschiebung des Angriffspunktes
    von C im Sinne von C,

und wird angenommen, dass die äusseren und inneren Kräfte mit-
einander im Gleichgewichte sind, so folgt, wenn die Gewichte der Stab-
theilchen zu den Lasten gerechnet werden, aus dem Satze von den vir-
tuellen Verschiebungen die Arbeitsgleichung:
,
welche für beliebige mögliche Verschiebungen δ, Δ c und Δ d sv gilt,
sobald diese nur klein genug sind, um als verschwindende Grössen auf-
gefasst werden zu dürfen.


In den meisten Fällen der Anwendung handelt es sich um Stäbe,
deren Querschnittsabmessungen, verglichen mit den Krümmungshalb-
messern r, so gering sind, dass es zulässig ist, d sv = d s zu setzen und
die Spannungen σ genau so zu berechnen, als sei an der betrachteten
Stelle r = ∞, d. h. der Stab gerade. Wir wollen auch (ausgenommen
sind die genaueren Entwickelungen im § 22) mit dieser vereinfachenden
Annahme rechnen, trotzdem aber die Bezeichnung d sv beibehalten, um
[59] die Verschiedenheit der Lagen, nicht der Längen, der Stabtheilchen
zu kennzeichnen.


2) Bedingungsgleichungen zur Berechnung statisch nicht
bestimmbarer Grössen.
Unter gewissen vereinfachenden Annahmen
gelingt es mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen, die Spannungen σ
ebenso wie die Auflagerkräfte C als geradlinige Funktionen der ge-
gebenen Lasten P und gewisser statisch nicht bestimmbarer Grössen
X', X'', X''' ..... darzustellen; sie erscheinen dann in den für beliebige
Werthe der P und X giltigen Formen:
(29) ,
wobei σ', σ'', σ''' ....., C', C'', C''' gegebene, von den Lasten P und
den Grössen X unabhängige Koefficienten sind, während σ0 und C0 die
als geradlinige Funktionen der Kräfte P darstellbaren Spannungen und
Auflagerkräfte für denjenigen statisch bestimmten Belastungszustand be-
deuten, welcher entsteht, sobald alle statisch nicht bestimmbaren Grössen
X verschwinden.


Wird X' = 1 angenommen, und werden gleichzeitig alle Lasten
P, sowie die übrigen statisch nicht bestimmbaren Grössen X'', X''', .....
gleich Null gesetzt, so entsteht ein Belastungsfall, welcher „Zustand
X' = 1“ heissen soll, und welchem die Spannungen σ' und Auflager-
kräfte C' entsprechen, und in gleicher Weise soll in der Folge von
ZuständenX'' = 1 oderX''' = 1 u. s. w. gesprochen werden.


Die Arbeitsgleichung für den Zustand X' = 1 bildet einen be-
sonderen Fall der Arbeitsgleichung (28); sie ergiebt sich aus jener,
sobald P = 0, C = C' und σ = σ' gesetzt wird und lautet:
(30) .


Die Gleichungen (30), deren Anzahl mit derjenigen der Unbekann-
ten X übereinstimmt, ermöglichen die Berechnung dieser Grössen; man
hat nur nöthig, sie auf die wirklichen elastischen Verschiebungen Δ c
und Δ d sv anzuwenden. Die Δ c werden meistens geschätzt (vergl. § 3,
Seite 8) und die Δ d sv unter der Voraussetzung eines spannungslosen
Anfangszustandes als Funktionen der Spannungen σ und Temperatur-
änderungen t dargestellt. Es ist dann nach Gleich. (8):
[60](31) ,
und es folgen somit die Bedingungsgleichungen:
(32) ,
in denen L' = Σ C' Δ c, L'' = Σ C''Δ c ..... die virtuellen Arbeiten der
beziehungsweise den Zuständen X' = 1, X'' = 1 u. s. w. entsprechenden
Auflagerkräfte bedeuten.


Bringt man die dem wirklichen Belastungszustande entsprechende
virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte auf die Form
𝔄 = 𝔄0 + 𝔄' X' + 𝔄'' X'' + 𝔄''' X''' + .....,
wobei 𝔄0, 𝔄', 𝔄'', 𝔄''' .... Grössen vorstellen, welche von den Werthen
X und (mit Ausnahme von 𝔄0) von den Lasten P unabhängig sind,
so ist:
L' = 𝔄', L'' = 𝔄'', .......


Beachtet man nun, dass
, .....
ist, so sieht man ein, dass die Gleichung:
(33) ,
welche auch unmittelbar durch theilweise Differentiation der Gleich. (28)
erhalten werden kann, als allgemeine Form der Bedingungsgleichungen
(32) aufgefasst werden darf; man braucht nur X der Reihe nach durch
X', X'' .... zu ersetzen, um die Gleichungen (32) zu erhalten. Lbe-
deutet die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den Zu-
stand
X = 1.


Führt man die Bezeichnung ein:
(34) ,
so kann man Gleich. (33) noch kürzer schreiben:
(35) .


Für den besonderen Fall festliegender oder über reibungslose Lager
gleitender Stützen verschwindet die Arbeit L, und es ergiebt sich die Be-
dingung
(I) = 0, also Ai = minimum.


Ist ausser L = 0 auch t = 0, so folgt
[61](II) = minimum,
wobei die Formänderungsarbeit für den Fall t = 0 vorstellt. Die vor-
stehenden Sätze (I) und (II) entsprechen den für das Fachwerk im § 12 unter
3 bezieh. 1 abgeleiteten; sie ergeben sich sofort aus jenen, sobald die Spann-
kraft S des Fachwerkstabes ersetzt wird durch σ d F, der Stab-Inhalt s F
durch d V und das Zeichen Σ durch das Zeichen ∫.


3) Bestimmung der Verschiebung δ irgend eines in der
Kräfteebene gelegenen Punktes des Stabes nach irgend einer
in die Kräfteebene fallenden Richtung.
Werden die auf den Stab
wirkenden Lasten mit P1, P2 .... Pm .... Pn bezeichnet, die Angriffs-
punkte derselben mit 1, 2, … mn und die Verschiebungen dieser
Punkte im Sinne der entsprechenden P mit δ1, δ2 … δm .... δn, so
lautet die Arbeitsgleichung:
;
sie gilt für beliebige zusammengehörige Verschiebungen δ, Δ c und Δ d sv
und für beliebige Werthe der Lasten P und statisch nicht bestimmbaren
Grössen X und liefert unmittelbar einen einfachen Ausdruck für die
Verschiebung δm, sobald sämmtliche Grössen X sowie die Lasten P1
bis Pm — 1 und Pm + 1 bis Pn gleich Null gesetzt werden, während Pm = 1
angenommen wird. Es entsteht dann ein statisch bestimmter Stab,
welcher in der Folge der Hauptträger genannt werden möge, und
an welchem ausser Pm = 1 noch die durch diese Last hervorgerufenen
Auflagerkräfte angreifen, während im Innern gewisse Spannungen σ̅
erzeugt werden. Die obige Arbeitsgleichung geht über in
(36)
und gestattet, die durch einen beliebigen Belastungs- und Temperatur-
zustand verursachte Verschiebung δm aus den diesem Zustande ent-
sprechenden Verschiebungen Δ c und Δ d sv zu berechnen. Insbesondere
ergiebt sich mit
der Werth
(37) ,
wobei die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den
durch Pm = 1 belasteten Hauptträger bezeichnet
.


Denselben Ausdruck für δm erhält man — in anderer Form —
durch theilweise Differentiation der allgemeinen Arbeitsgleichung nach
der Last Pm, wobei die δ, Δ c und Δ d sv als Konstanten aufgefasst werden
[62] dürfen, da jene Arbeitsgleichung für beliebige zusammengehörige Werthe
dieser Verschiebungen giltig ist. Man gelangt zu
und findet schliesslich das übersichtliche Gesetz:
(38) ,
wobei Ai durch die Gleich. 34 erklärt ist.


Bei festliegenden oder über reibungslose Lagerflächen gleitenden Stütz-
punkten verschwinden sämmtliche Δ c, und es ergiebt sich
und im Falle Δ c = 0 und t = 0 folgt
,
wobei die Formänderungsarbeit bedeutet.


Mit Hilfe der entwickelten Gesetze ist man auch im Stande, die
Verschiebungen von solchen Punkten eines Stabes zu bestimmen, welche
nicht Angriffspunkte von Lasten sind; man hat nur nöthig, in dem
fraglichen Punkte nach der Richtung der gewünschten Verschiebung eine
beliebig grosse Last P hinzuzufügen und nachträglich P = 0 zu setzen.
Bedingung ist nur, dass die Verschiebungsrichtung in die Kräfteebene fällt.


Bedient man sich bei der Berechnung von δ der Gleichung (38),
so ist zu beachten, dass nicht nur die Lasten P, sondern auch die
Grössen X als unabhängige Veränderliche aufgefasst werden dürfen, dass
es also zulässig ist, die X als Konstanten anzusehen, sobald nach einer
Last P differentiirt wird. Vergl. Seite 54.


4) Auflager. Ausser den im § 1 (Fig. 1) angeführten festen und

Figure 37. Fig. 44

a.


Figure 38. Fig. 44

b.


beweglichen Lagern,
deren Widerstände be-
ziehungsweise durch die
Angabe von zwei Seiten-
kräften oder einer Seiten-
kraft bestimmt sind,
müssen bei den auf
Biegungsfestigkeit be-
anspruchten Stäben noch
Auflager unterschieden
werden, welche der im
Stützpunkte an die Stab-
achse gelegten Tangente eine bestimmte Lage, beziehungsweise Bewegung,
vorschreiben. Es kommen zwei Anordnungen in Betracht.


[63]

a) Feste Einspannung (Fig. 44 a). Bei vollkommener Starrheit
des stützenden Körpers liegt der Stützpunkt A fest, desgleichen die in
A an die Stabachse gelegte Tangente (Auflagertangente). Der Stützen-
widerstand lässt sich zerlegen in zwei Seitenkräfte C1 und C2 und in
ein Kräftepaar, dessen Moment M das Einspannungs-Moment heisst.
Verschiebt sich, in Folge der Elasticität des stützenden Körpers, der
Punkt A im Sinne von C1 um Δ c1 und im Sinne von C2 um Δ c2, während
sich die Auflagertangente im Sinne des Momentes M um τ dreht, so
leisten die Auflagerkräfte die virtuelle Arbeit
C1Δ c1 + C2Δ c2 + Mτ.*)


b) Lose Einspannung (Fig. 44 b). Der Stützpunkt A gleitet
auf vorgeschriebener Bahn A B. Die Auflagertangente liegt bei starrem
Stützkörper fest. Der Stützenwiderstand zerfällt in das Einspannungs-
moment M und in einen Gegendruck C, welcher bei glatter Bahn senk-
recht zu A B wirkt. Verschiebt sich A im Sinne von A um Δ c, während
sich die Auflagertangente im Sinne von M um τ dreht, so leisten die
Auflagerkräfte die virtuelle Arbeit
C Δ c + M τ.


c) Beispiel für die Berechnung der ArbeitenL. Um die Er-
mittelung der in den
Gleichungen 32 vor-
kommenden Arbeiten L',
L''
, .... der Auflager-
kräfte für die Zustände
X' = 1, X'' = 1, ....
durch ein Beispiel zu
erläutern, betrachten wir
einen bei A und B fest
eingespannten Bogen-
träger ohne Gelenke
(Fig. 46). Die senkrech-
ten und wagerechten
Seitenkräfte der Stützen-

Figure 40. Fig. 46.


drücke seien A, B, H1, H2, und die Einspannungsmomente seien M1 und M2.
In Folge der Nachgiebigkeit der Widerlager gehe über
c in c + Δ c, l in l + Δ l, φ0 in φ0 + Δ φ0, φ1 in φ1 + Δ φ1;
[64] es leisten dann die Auflagerkräfte (wenn Punkt B und die Wagerechte durch
B festliegen) die virtuelle Arbeit
(I) 𝔄 = — AΔ cH1Δ l — M1Δ φ0 + M2Δ φ1.


Bedeutet R die Mittelkraft aus sämmtlichen Lasten, α den Neigungs-
winkel von R gegen die Wagerechte, r das Loth von B auf R, so bestehen
die Gleichgewichtsbedingungen:
(II) H1 + R cos α — H2 = 0
(III) AR sin α + B = 0
(IV) AlH1cRr + M1 — M2 = 0.


Da sich weitere statische Beziehungen zwischen den 6 Unbekannten A,
B, H1, H2, M1 und M2 nicht aufstellen lassen, so ist der Träger ein dreifach
statisch unbestimmter. Werden A, H1 und M1 als statisch nicht bestimmbare
Grössen aufgefasst, so muss der aus (IV) sich ergebende Werth: M2 = AlH1c
Rr + M1 in (I) eingeführt werden, worauf die Arbeit 𝔄 als Funktion der
statisch nicht bestimmbaren Grössen in der Form
𝔄 = A (lΔ φ1 — Δ c) — H1 (cΔ φ1 + Δ l) + M1 (Δ φ1 — Δ φ0) — RrΔ φ1
erhalten wird, und es folgt schliesslich


  • für den Zustand X' = A = 1 der Werth L' = lΔ φ1 — Δ c
  • „ „ „ X'' = H1 = 1 „ „ L'' = — (cΔ φ1 + Δ l)
  • „ „ „ X''' = M1 = 1 „ „ L''' = Δ φ1 — Δ φ0.

5) Belastung durch Kräftepaare. Drehung von Tangenten
an die Stabachse.
Die in irgend einem Punkte m an die Stabachse
gelegte Tangente T T (Fig. 47) können wir als materielle Linie auffassen,
welche mit dem Stabe fest verbunden ist. Wirkt auf diese Linie ein

Figure 41. Fig. 47.


Kräftepaar, dessen Moment
= 𝔐m ist, so werden an den
Auflagern gewisse Gegen-
drücke und im Stabe gewisse
Spannungen hervorgerufen.
Es möge m der Angriffs-
punkt des Kräftepaares
heissen.


Denken wir uns nun in
gleicher Weise (ausser den
bislang vorausgesetzten
Lasten P) in beliebigen
Punkten 1, 2, .... n der Stabachse Kräftepaare mit den Momenten 𝔐1,
𝔐2, .... 𝔐n angreifend und bezeichnen mit τ1, τ2, ... τn die Winkel,
um welche sich die in den Punkten 1, 2, .... n an die Stabachse ge-
legten Tangenten in Folge der Umgestaltung des elastischen Stabes drehen,
so leisten die Kräftepaare die virtuelle Arbeit 𝔐1τ1 + 𝔐2τ2 + ....
+ 𝔐nτn, und es ergiebt sich die Arbeitsgleichung:
.


[65]

Sie gilt im Falle des Gleichgewichtes und bei verschwindend kleinen,
möglichen Verschiebungen für beliebige Werthe der Lasten P und Momente
𝔐m und liefert, theilweise nach 𝔐m differentiirt, die Beziehung:
,
aus welcher sich die (der Gleich. 38 gegenüberzustellende) Gleichung
(38 a)
ableiten lässt; dieselbe ermöglicht die Berechnung des Drehungswinkels
τ jeder Tangente an die Stabachse. Tritt das Kräftepaar mit dem
Momente 𝔐m in Wirklichkeit nicht auf, so hat man nach Ausführung
der Differentiation 𝔐m = 0 zu setzen.


Weiter leuchtet sofort die Richtigkeit der (der Gleich. 37 gegen-
überzustellenden) Gleichung ein:
(37a) ,
in welcher σ̅ diejenige Spannung bedeutet, die in irgend einem Quer-
schnittselemente des statisch bestimmten Hauptträgers entsteht, sobald
im Punkte m ein Kräftepaar mit dem Momente 𝔐m = 1 angreift, während
die virtuelle Arbeit der durch diese Belastung hervorgerufenen Auf-
lagerkräfte vorstellt.


§ 14.
Die Spannungen σ im geraden Stabe. Navier’sche
Biegungsformel.


1) Durch einen Querschnitt im Abstande x von irgend einem in
der Stabachse angenommenen Anfangspunkte A denken wir den Stab
in zwei Theile zerlegt
und vereinigen alle
an dem einen der
beiden Theile, z. B.
an dem linken, an-
greifenden äusseren
Kräfte zu ihrer Mittel-
kraft R (Fig. 48).


R heisst die äus-
sere Kraft für den
geführten Quer-

Figure 42. Fig. 48.


schnitt und zerfällt in die LängskraftN, senkrecht zum Querschnitte,
und die QuerkraftQ in der Ebene des Querschnittes. Die Kraft N
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 5
[66] möge positiv angenommen werden, sobald sie das Bestreben hat, den
linken Stabtheil von dem festgehalten gedachten rechten Theile zu ent-
fernen.


Die durch den Schwerpunkt O des Querschnittes und den Schnitt-
punkt B der Kraft R mit dem Querschnitte gelegte Gerade heisse die
Kräftelinie, sie ist die Schnittlinie der Kräfteebene und der Quer-
schnittsebene und möge mit der u-Achse eines in der Querschnittsebene
angenommenen rechtwinkligen Koordinatensystems (u, v), dessen Ursprung
der Punkt O ist, den Winkel α einschliessen. Bedeuten dann:
f den Abstand des Punktes B vom Ursprunge,
fu und fv die Koordinaten von B,

so zerfällt das dem betrachteten Querschnitte entsprechende Biegungs-
moment

M = N f
in das um die u-Achse drehende Moment
Mu = N fv = M sin α
und in das um die v-Achse drehende Moment
Mv = N fu = M cos α,
und es bestehen zwischen den in dem Querschnitte wirksamen Spannungen
σ und den äusseren Kräften die Gleichgewichtsbedingungen:
N = ∫ σ d F
Mu = ∫ v · σ d F
Mv = ∫ u · σ d F.


Die Berechnung der σ soll unter folgenden Voraussetzungen durch-
geführt werden:


1. Die Strecke Δ d xv, um welche sich im Punkte u, v die Ent-
fernung d x des betrachteten Querschnittes von dem unendlich nahe
gelegenen Querschnitte ändert, sei eine geradlinige Funktion der Ko-
ordinaten u und v, d. h. es sei
,
unter a', a'', a''' Werthe verstanden, welche für den betrachteten Quer-
schnitt Konstanten sind. *)


[67]

2. Die Temperaturänderung t im Punkte u, v sei ebenfalls eine
geradlinige Funktion von u und v, es bestehe also die Gleichung
t = t' + t'' v + t''' u,
deren Koefficienten gegeben sind, sobald die Temperaturänderungen für
drei nicht in einer Geraden gelegene Punkte des Querschnittes bekannt
sind.


Dann folgt aus der Gleichung
für die Spannung σ der Ausdruck
σ = E (a' — εt') + E (a'' — εt'') v + E (a''' — ε t''') u
und hierfür soll kürzer geschrieben werden
σ = a + b v + c u,
wobei a, b, c Konstanten sind, welche sich mit Hilfe der drei Gleich-
gewichtsbedingungen berechnen lassen. Jene Bedingungen gehen über in
N = a ∫ d F + b ∫ v d F + c ∫ u d F
M sin α = a ∫ v d F + b ∫ v2d F + c ∫ u v d F
M cos α = a ∫ u d F + b ∫ u v d F + c ∫ u2d F;

sie nehmen eine besonders einfache Gestalt an, sobald zu den Koor-
dinatenachsen Hauptachsen gewählt werden. In diesem Falle ist das
Centrifugalmoment ∫ u v d F = 0, und weiter folgt, da der Ursprung O
mit dem Schwerpunkte des Querschnittes zusammenfällt, ∫ u d F = 0 und
∫ v d F = 0. Es ergeben sich die Werthe:
,
in denen Ju und Jv die Trägheitsmomente des Querschnittes in Bezug
auf die Hauptachsen bedeuten, und es entsteht die Navier’sche Formel
(39) .
Besonders hervorzuheben ist, dass eine ungleichmässige Erwärmung des
Stabes nach dem Gesetze t = t' + t'' v + t''' u nur dann Spannungen σ
hervorbringt, wenn die Werthe N und M von den Temperaturänderungen
abhängig sind, was nur bei statisch unbestimmten Stäben der Fall sein
kann. Verschwinden alle äusseren Kräfte, so verschwinden auch die
Spannungen σ.


5*
[68]
Figure 43. Fig. 49.

2) Meistens fällt die Kräfte-
linie mit einer Hauptachse zu-
sammen. Wählen wir in diesem
Falle die Gerade B O zur v-Achse
(Fig. 49), so ist α = 90° und
(40) ,
wobei J das auf die u-Achse be-
zogene Trägheitsmoment des Quer-
schnittes bedeutet. Für die von
der u-Achse am entferntesten
gelegenen Querschnittspunkte er-
geben sich, wenn v = + e1 und
v = — e2 die Ordinaten dieser
Punkte sind, die Spannungen
(41) .


Wird angenommen, dass die Temperaturänderung t nur von v ab-
hängt, so darf
(42)
gesetzt werden; hierbei bedeutet (Fig. 49):


  • h die Höhe des Querschnittes,
  • t0 die Temperaturänderung für v = 0 (also z. B. für den Quer-
    schnittsschwerpunkt),
  • Δ t = t1t2 den Unterschied der den äussersten Querschnitts-
    punkten entsprechenden Temperaturänderungen,
  • t1 den Werth von t für v = + e1 und
  • t2 „ „ „ tv = — e2.

Zwischen t0, t1 und t2 besteht die Beziehung
(43) .


3) Die Werthe Δ d x1, Δ d x2 und Δ d x, welche Δ d xv beziehungs-
weise für v = + e1, v = — e2 und v = 0 annimmt, sind für den
Fall, dass die Kräftelinie mit der v-Achse zusammenfällt,
[69](44)
und es wird deshalb der Winkel d τ, um welchen sich der betrachtete
Stabquerschnitt gegen den Nachbarquerschnitt dreht,
, d. i.
(45) .


§ 15.
Bedingungsgleichungen für statisch unbestimmte
gerade Stäbe.


1) Integrationen. Es sollen die im § 13 abgeleiteten Bedingungs-
gleichungen für den Fall umgeformt werden, dass die Kräftelinie mit
der v-Achse zusammenfällt, dass also
ist, während die Temperaturänderung dem durch die Gleich. 42 und
43 gegebenen Gesetze folgt. Zu diesem Zwecke mögen zunächst die
Integrale
und ∫ σ ε t d V
berechnet werden, wobei
und
die Spannungen für irgend zwei durch die Zeichen a und b unter-
schiedene Belastungsfälle bedeuten.


Mit d V = d x d F folgt
und, wenn zuerst über den Querschnitt integrirt wird,
.


Nun ist ∫ d F = F, ∫ v2d F = J und ∫ v d F = 0, mithin folgt:
[70](46) .


Das zweite der gesuchten Integrale ist
;
es [l]ässt sich in gleicher Weise umformen in
(47) .


Man kann auch Gleich. (46) in der Weise ableiten, dass man nur
σa durch Na und Ma ausdrückt und die Gleichgewichtsbedingungen
∫ σbd F = Nb und ∫ σb v d F = Mb berücksichtigt. Es ergiebt sich dann:
.


Ebenso findet man
.


2) Umformung der Gleichungen (32). Die Auflagerkräfte C,
Biegungsmomente M und Längskräfte N eines mehrfach statisch un-
bestimmten Stabes lassen sich in der Form darstellen
(48) ,
wobei X', X'', X''', ..... statisch nicht bestimmbare Grössen bedeuten.


C0, M0, N0 sind die Auflagerkräfte, Biegungsmomente und Längs-
kräfte für den statisch bestimmten Hauptträger, in welchen der Stab
übergeht, sobald sämmtliche Unbekannten X verschwinden; sie sind gerad-
linige Funktionen der gegebenen Lasten.


C', M', N' sind die Werthe der Auflagerkräfte, Momente und Längs-
kräfte für den auf Seite 59 erklärten Zustand X' = 1, desgl. C'', M'',
N'' die Werthe für den Zustand X'' = 1 u. s. w.


[71]

Die Spannungen für den Zustand X' = 1 sind:
,
für den Zustand X'' = 1:
, u. s. w.
und die Gleichungen (32) gehen, mit Beachtung der Gleich. (46) und
(47), über in
(49) ,
wobei L', L'', ..... die virtuellen Arbeiten der Auflagerkräfte bei Ein-
treten der Zustände X' = 1, X'' = 1, ..... bedeuten.


Ist die Temperaturerhöhung für alle Punkte eines Stabquerschnittes
konstant und = t, so ist Δ t = 0 und t0 = t zu setzen.


3) Umformung der Gleichungen (33) und (34). Für die
durch die Gleich. 34 gegebene ideelle Formänderungsarbeit Ai findet
man mit Hilfe der Gleichungen (46) und (47) den Werth
(50) ,
und es geht somit die Bedingungsgleichung (33) über in
(51) ,
wobei X irgend eine der zu berechnenden statisch nicht bestimmbaren
Grössen und L die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den Zustand
X = 1 bedeutet.


Dass Gleich. (51) die allgemeine Form der Bedingungsgleichungen
(49) darstellt, leuchtet ein, sobald der Grösse X der Reihe nach die
Werthe X', X'', ...... beigelegt werden und
......
....

gesetzt wird.


4) Der auf Biegungsfestigkeit beanspruchte gerade Stab in
Verbindung mit einem Fachwerke.
Sehr häufig hat man es mit
[72] der Berechnung eines Körpers zu thun, der aus einem Fachwerke und
aus einem oder mehreren auf Biegungsfestigkeit beanspruchten, geraden
Stäben besteht. Die allgemeine Form der Bedingungsgleichungen, denen
die statisch nicht bestimmbaren Grössen X zu genügen haben, lautet
dann (vergleiche die für das Fachwerk abgeleiteten Gleichungen 26):
(52) ,
wobei angenommen wird, dass die Temperaturänderung t für alle Punkte
eines und desselben Fachwerkstabes gleich gross ist.


Meistens macht man die Annahme, dass auch für alle Punkte eines
und desselben Querschnittes der durch die M und N beanspruchten Stäbe
die Temperaturänderung t gleich gross ist und erhält dann die Bedingung
(53) .


L bedeutet die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den Zustand
X = 1.


5) Anwendungen.


Aufgabe 1. Wagerechter, bei B eingespannter und bei A frei auf-

Figure 44. Fig. 50.


liegender Balken. Gesucht ist der
durch eine gleichmässige Belastung
(= p für die Längeneinheit) her-
vorgerufene Auflagerwiderstand X
(Fig. 50). Temperaturänderungen
sollen unberücksichtigt bleiben, des-
gleichen Verschiebungen der Angriffs-
punkte der Auflagerkräfte; es ist
also L = 0 und t = 0.


Da nur Beanspruchung auf
Biegung vorliegt (N = 0), so muss X der Bedingung (vergl. Gleich. 51)
genügen, und bei konstantem E J der Bedingung
.
[73] Nun ist und , weshalb
,
woraus
.


Es ist mithin das Biegungsmoment an der Stelle x
.
Für folgt max und für x = 1 ergiebt sich das Ein-
spannungsmoment . Die grössten Beanspruchungen sind
und (nach Gl. 41).


Aufgabe 2. Wagerechter, bei A und B eingespannter Balken mit
Dreiecksbelastung (Fig. 51).
Es sei wie in Aufgabe 1 sowohl
L als auch t = 0.


Bedeutet X die senkrechte
Auflagerkraft und M1 das
Biegungsmoment am linken
Auflager, so ist das Biegungs-
moment an der Stelle x:
.

Figure 45. Fig. 51.


Die beiden statisch nicht bestimmbaren Grössen X und M1 müssen, bei
konstantem E J, den Bedingungen genügen:
und
und diese gehen, wegen und , nach Ausführung der
Integrationen über in
und
;

sie liefern:
.


[74]

Nun folgt an der Stelle x:
.


  • Für folgt max M = + 0,02144 p l2
  • Für x = l folgt .
  • Das grösste aller Momente ist M2.

Aufgabe 3. Das in Fig. 52 dargestellte Krahngerüst ist bei D

Figure 46. Fig. 52

— 55.


und C fest, aber gelenkartig ge-
lagert. Bei A und B sind starre
Eckverbindungen gedacht. Be-
deutet R die Mittelkraft aus den
auf den Balken A B wirkenden,
senkrecht angenommenen Lasten,
so sind die senkrechten Auflager-
kräfte bei D und C bezieh. =
und = . Die wagerechten
Auflagerkräfte sind gleich gross
und statisch nicht bestimmbar, sie
seien = X gesetzt.


Bleiben Verschiebungen der
Angriffspunkte der Auflagerkräfte
und Temperaturänderungen un-
berücksichtigt, so muss X der
Bedingung genügen:
.


  • Bedeuten J1 und E1 das Trägheitsmoment und den Elasticitäts-
    modul für alle Querschnitte der Stäbe A D und C B,
  • J und E die entsprechenden Werthe für den Stab A B,
  • F den konstanten Querschnitt des Stabes A B,

so folgt für den Stab A D:
,
(I) .


Dieselben Werthe der gesuchten Integrale ergeben sich für C B.


[75]

Dem Stabe A B entspricht
,
(II) .


Das Biegungsmoment für irgend einen Querschnitt G des Stabes
A B ist M = M0X h,
unter M0 das Biegungsmoment für einen einfachen, bei A und B frei
aufliegenden Balken verstanden (Fig. 53), und es folgt somit
= — h und
(III) .


Setzt man die Summe der mit I, II, III bezeichneten Integrale
(von denen das erste 2 mal zu nehmen ist) gleich Null, so erhält man
die Gleichung:
und aus dieser folgt:
(IV) .


Hierin bedeutet den Inhalt der dem einfachen Balken A B
(Fig. 53) entsprechenden Momentenfläche A L B. Wirkt z. B. auf A B
nur die Einzelkraft P, Fig. 54, so ist die Momentenfläche A L B ein
Dreieck mit der Höhe und mit dem Inhalte
(V) .


Einer gleichmässigen Belastung der Längeneinheit von A B mit g
entspricht eine Parabelfläche A L B mit der Höhe , Fig. 55, und
dem Inhalte
.
[76] Bei gleichzeitigem Auftreten einer gleichmässigen Last und einer Schaar
von Einzellasten entsteht:
(VI) .


Nachdem X gefunden ist, lassen sich die Spannungen σ in allen
Theilen des Gerüstes leicht berechnen.


Aufgabe 4. Ein bei A und C frei aufliegender, durch 2 Zug-

Fig. 56—59.


stangen und eine
Strebe verstärkter
Träger, Fig. 56,
sei durch senk-
rechte Lasten be-
ansprucht. Die
Spannkräfte S1, S2
in den gelenkartig
befestigten Fach-
werkstäben sind,
wenn X die wage-
rechte Seitenkraft
von S1 bedeutet:
S1 = X sec α und
S2 = — 2 X tg α,
und für den Balken-
querschnitt G bei x
ergiebt sich die
Längskraft
N = — S1 cos α
= — X
und das Biegungs-
moment
M = M0S1y cos α
= M0X y,
vobei M0 das Biegungsmoment für einen bei A und C frei aufliegenden,
nicht verstärkten Balken A C bedeutet (Fig. 57). Die Momentenfläche
A L C für diesen einfachen Balken A C möge die einfache Momenten-
fläche
heissen.


Die Grösse X ist statisch nicht bestimmbar, sie muss, wenn Tem-
peraturänderungen unberücksichtigt bleiben sollen, der Bedingung ge-
nügen:
(I) .


[77]

Bedeuten nun


  • E, J und F den Elasticitätsmodul, das Trägheitsmoment und den
    Inhalt für sämmtliche Querschnitte des Balkens A C,
  • E1 und F1 die entsprechenden Werthe für die Stäbe A D und D C,
  • E2 und F2 „ „ „ „ den Stab B D,

so folgt für die Fachwerkstäbe, wegen = sec α und
= — 2 tg α:
und für den Balken A B C, wegen und ,
und es geht, mit die Gleich. I über in
;
sie liefert den Werth:
,
wo
eine von den Querschnittsabmessungen abhängige Zahl ist.


Die einfache Momentenfläche A L C in Fig. 57 wird durch die
Mittel-Senkrechte in zwei Theile zerlegt, deren Inhalte gleich F' und
F'' und deren Schwerpunktsabstände von den benachbarten Auflager-
Senkrechten gleich e' und e'' sein mögen, und es folgt nun für das
Balkenstück A B:
und für den ganzen Balken A C:
[78],
mithin ergiebt sich
.
Zwei in Bezug auf die Mittel-Senkrechte gleich gelegenen Einzellasten
P entspricht z. B. als einfache Momentenfläche ein Trapez von der Höhe
Pa (Fig. 58), und für dieses ist
,
weshalb die beiden Lasten P hervorrufen:
.


Da beide Lasten zu X denselben Beitrag liefern, so entsteht bei
Aufbringen nur einer Last:
.


Eine gleichförmige Belastung g für die Längeneinheit (Fig. 59)

Figure 47. Fig. 60.


darf als aus unendlich kleinen
Einzellasten g d a bestehend auf-
gefasst werden; sie erzeugt,
wenn sie auf der ganzen Länge
des Trägers wirkt,
.
Wird also der Träger gleich-
zeitig durch eine gleichmässige
Last und eine Schaar von Einzel-
lasten beansprucht, Fig. 56,
so entsteht
.


Nach Berechnung von X lassen sich die Beanspruchungen σ in
allen Theilen des Trägers leicht angeben.


Aufgabe 5. Der in Fig. 60 dargestellte, oben durch ein Halsband
und unten durch einen Zapfen gestützte Giessereikrahn ist einfach statisch
unbestimmt; seine Beanspruchung lässt sich feststellen, sobald eine der
[79] beiden Streben-Spannkräfte D1 oder D2 bekannt sind. *) Wird D1 als
statisch nicht bestimmbare Grösse angesehen, so muss der Bedingung
genügt werden. Mit der erlaubten Vernachlässigung der Wirkung der
Längskräfte, welche im Vergleiche zu dem Einflusse der Momente gering
ist, entsteht:
(I) .


Zunächst sei eine Beziehung zwischen D1 und D2 aufgestellt. Auf
den wagerechten Krahnbalken wirken die Querkräfte P, D1 sin α1 und
D2 sin α2, und es muss sein:
P (l1 + l2 + l3) + D1 sin α1 (l2 + l3) + D2 sin α2l3 = 0,
mithin
(II) ,
und ebenso ergiebt sich für die an der Krahnsäule angreifenden Quer-
kräfte:
Hh + D2 cos α2 (l5 + l6) + D1 cos α1l6 = 0
und hieraus
(III) ,
wo
.


Wir bezeichnen mit J und J0 beziehungsweise die Trägheitsmomente
der Querschnitte von Balken und Säule, mit E und E0 die zugehörigen
Elasticitätsmoduln und erhalten für die Theile l1, l2, l3, l4, l5 und l6
folgende Momente und Werthe :
Theill1: M = Px1, ;
Theill2: M = P (l1 + x2) + D1 sin α1x2; sin α1
;

Theill3: M = P (l1 + l2 + x3) + D1 sin α1 (l2 + x3) + D2 sin α2 · α3,
oder, wenn D2 mittels Gl. II ausgedrückt wird,
[80]M = [P (l1 + l2) + D1l2 sin α1] ; sin α1;
;
Theill4: M = Hx4, ;
Theill5: M = H (l4 + x5) + D2 cos α2x5

und, wenn D2 mittels Gl. III ausgedrückt wird,
;
;
;

Theill6: M = H (l4 + l5 + x6) + D2 cos α2 (l5 + x6) + D1 cos α1x6
und, mit Beachtung von Gl. III,
;
.


Setzt man nun, nach Gl. I, die Summe aller vorberechneten Inte-
grale: gleich Null und multiplicirt mit 3 E J, so erhält
man die Gleichung:
und hieraus folgt, mit sin ,
.


Nun kann man nach Gl. II oder III die Strebenkraft D2 finden
und sämmtliche Biegungsmomente berechnen.


[81]

Aufgabe 6 (Fig. 61). Ein frei auf drei Stützpunkten ruhender,
ursprünglich wagerechter, kontinuirlicher Balken ohne Gelenke und mit
konstantem E und J sei durch beliebige senkrechte Lasten beansprucht;
ausserdem mögen auf die Endquerschnitte (1) und (3) beliebig grosse,

Fig. 61—63.


von ausserhalb des Balkens wirkenden Kräften herrührende Biegungs-
momente M1 und M3 wirken. Es soll das Biegungsmoment M2 für
den über der Mittelstütze gelegenen Querschnitt unter der Voraussetzung
berechnet werden, dass, bei festliegenden Stützpunkten (1) und (3), sich
der Stützpunkt (2) um δ senkt und der Balken ungleichmässig erwärmt
wird. Die Temperaturerhöhung sei für den untersten Punkt eines Quer-
schnittes = t1, für den obersten = t2; beide Werthe seien konstant
und es sei t1t2 = Δt. Querschnittshöhe = h (vergl. Fig. 49).


Wir benutzen (da N = 0 ist) die Bedingungsgleichung (vergl.
Seite 71, Gleich. 49):
,
in welcher M das wirkliche Biegungsmoment für irgend einen Querschnitt
bedeutet, während M' das demselben Querschnitte entsprechende Biegungs-
moment für den Fall ist, dass die Lasten verschwinden und die statisch
nicht bestimmbare Grösse (hier also M2) den Werth 1 annimmt (Zustand
X = M2 = 1). Die Momentenfläche für diesen Zustand ist das Dreieck
in Fig. 62 mit der Höhe 1, und die zugehörigen Auflagerkräfte sind
, , beide aufwärts wirkend, und
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 6
[82], abwärts gerichtet.


Senkt sich die Mittelstütze um δ, so ist die virtuelle Arbeit der
den Zustande X = M2 = 1 entsprechenden Auflagerkräfte:
,
und es folgt somit die Bedingung
(I) .


Für einen Querschnitt im Abstande x1 \> l1 von A folgt: ,
mithin für den Theil und
.


Das Integral: bedeutet das statische Moment der wirk-
lichen Momentenfläche, bezogen auf die Senkrechte durch den Stützpunkt
1. Diese Momentenfläche besteht aus einem Trapeze, das bei (1) und
(2) die Höhen M1 und M2 hat und aus der Momentenfläche AS1B,
welche dem bei (1) und (2) frei aufliegenden Einzelbalken l1 entsprechen
würde, Fig. 63. Wir nennen AS1B die einfache Momentenfläche für
den Theil l1, bezeichnen ihr statisches Moment in Bezug auf die links
von ihr gelegene Auflagersenkrechte mit 𝔏1 und erhalten, indem wir
das Trapez über A B in zwei Dreiecke zerlegt denken,
,
so dass sich für den Theil l1 ergiebt:
;
ebenso ergiebt sich für den Theil l2:
und ,
wobei 𝕽2 das statische Moment der zu dem Theile l2 gehörigen ein-
fachen Momentenfläche B S2C, bezogen auf die rechts von ihr gelegene
Aufagersenkrechte, bedeutet.


Die Gleichung I geht jetzt, nach Multiplikation mit 6 über in
[83](II) ;
sie ermöglicht die Berechnung von M2.


Die am häufigsten vorkommenden Belastungen sind:
Beanspruchung durch
Einzellasten und durch eine
gleichmässige Belastung.


Liegt auf einem ein-
fachen Balken eine Einzel-
last P in den Abständen a
und b von den Stützpunkten
(Fig. 64), so ist die Mo-
mentenfläche A S B ein Drei-
eck, dessen Höhe = ,

Figure 48. Fig. 64.


und dessen statisches Moment, bezogen auf die links gelegene Auflager-
senkrechte,
(III)
ist. In Bezug auf die rechtsseitige Auflagersenkrechte ergiebt sich das
statische Moment
(IV) .


Liegt zwischen den Grenzen ξ = s1 und ξ = s2 eine gleichmässige
Last p für die Längeneinheit (Fig. 65), so entspricht dem Lasttheilchen
p · d ξ nach Gleich. III der Werth
und es folgt
(V) .


Ist der ganze Balken A B mit
g für die Längeneinheit belastet,
so ergiebt sich aus (V) (mit p = g,
s2 = l und s1 = 0)
(VI) .


Wenn also, wie in Fig. 61
angenommen wurde, auf den kon-

Figure 49. Fig. 65.


tinuirlichen Balken gleichzeitig Einzellasten P und gleichmässige Lasten
6*
[84]g1, g2, p1, p2 wirken, so geht mit den aus der Fig. 61 ersichtlichen
Bezeichnungen die Gleich. II über in
(VII) ,
in welcher sich die Summen und beziehungsweise über die auf
den Theilen l1 oder l2 ruhenden Lasten P erstrecken.


Die Gleichungen II und VII ermöglichen die Berechnung der Stützen-
momente von kontinuirlichen Trägern, welche frei auf beliebig
vielen, sich um vorgeschriebene Strecken senkenden Stützen
liegen
(Fig. 66). Bedeuten für einen solchen Träger M1, M2, M3

Figure 50. Fig. 66.


irgend drei auf einander folgende Stützenmomente und δ die Strecke,
um welche sich der Stützpunkt 2 unter die Verbindungsgerade der beiden
benachbarten Stützpunkte 1 und 3 verschiebt, so besteht zwischen den
Momenten M1, M2, M3 die durch die Gl. II oder Gl. VII dargestellte
Beziehung. Bei n Stützen lassen sich n — 2 solcher Beziehungen an-
geben, und diese genügen zur Berechnung aller Momente M, da die
Momente MA und MB über den Endstützen bekannt sind. Setzen wir
im Allgemeinen überragende Trägerenden voraus und bezeichnen mit Q'
und Q'' die Mittelkräfte aus den auf die überragenden Trägerstücke
wirkenden Lasten, so erhalten wir
MA = — Q' e' und MB = — Q'' e''.


Werden die Verschiebungen der Stützpunkte (1, 2, 3) aus einer
gegebenen Anfangslage A0B0 des Balkens mit c1, c2, c3 bezeichnet, so ist
und es ergiebt sich
(VIII) .


[85]

Aufgabe 7. Es sollen die bei Lösung der Aufgabe 6 abgeleiteten all-
gemeinen Gleichungen
zur Berechnung der
Stützenmomente des
in Fig. 67 dargestell-
ten gleichmässig be-
lasteten, kontinuir-
lichen Trägers, dessen
Mittelstützen sich um
c2 und c3 gesenkt
haben, benutzt werden.


Zwischen den
Stützenmomenten M1,

Figure 51. Fig. 67.


M2 und M3 besteht (nach Gl. VII mit Beachtung von Gl. VIII) die Beziehung:
,
und ebenso folgt
,
und in diese Gleichungen ist zu setzen:
M1 = 0, M4 = 0, c1 = 0, c4 = 0.


Die Auflösung der beiden Gleichungen nach M2 und M3 ergiebt z. B. für
den Fall l1 = l2 = l3 = l:


1) den Einfluss der Lasten g1, g2, g3:

2) den Einfluss der Stützenverschiebungen c1, c2:

3) den Einfluss der Temperaturänderung:
.


Die im Querschnitte über der Stütze 2 durch die unter 2 und 3 angeführ-
ten Einflüsse erzeugten Spannungen σ1 und σ2 sind nach Gl. 41 (vergl. auch
Fig. 49):
und
.


Aufgabe 8. Es soll das Einspannungsmoment M1 für einen ur-
sprünglich wagerechten Balken berechnet werden, auf welchen Einzel-
lasten P wirken und der, bei gleich hoch gelegenen Stützpunkten 1 und
[86]

Figure 52. Fig. 68.


2, am linken Ende unter
einem gegebenen Winkel τ
eingespannt wird, während
er am rechten Ende frei
aufliegt. Es soll, wie in den
Aufgaben 6 und 7, eine un-
gleichmässige Erwärmung
berücksichtigt werden.
Fig. 68.


Wir betrachten den Balken
als frei auf 3 Stützen 0,
1, 2 ruhend. Die Endstütze
0 liegt unendlich nahe der
Stütze 1 und ist um l0 τ
angehoben. Gleich. VII in Aufgabe 6 liefert dann die Beziehung:
,
in welcher δ die Verschiebung des Punktes 1 gegen die Gerade 0 2̅ be-
deutet. Es ist
und es ergiebt sich, da l0 = 0, M0 = 0 und M2 = 0 ist, der Werth
und die Gleichung:
;
mithin ist das gesuchte Einspannungsmoment
.


Die Lösung dieser Aufgabe lehrt auch, in welcher Weise die
Gleichungen II und VII in Aufgabe 6 auf die Berechnung der Stützen-
nomente eines kontinuirlichen Balkens angewendet werden können, dessen
Enden unter bestimmten Winkeln eingespannt sind.


§ 16.
Berechnung der Verschiebungen von Punkten gerader Stäbe
und der Drehungswinkel von Tangenten an die Stabachse.


1) Umformung der Gleichungen (37) und (38) im § 13. Um
de Verschiebung δm eines in der Kräfteebene gelegenen Stabpunktes m
[87] nach einer in die Kräfteebene fallenden Richtung m m' zu berechnen,
bringe man im Punkte m eine durch m' gehende Last „Eins“ an und
bestimme die hierdurch hervorgerufenen Auflagerkräfte C̅, Biegungs-
momente M̅ und Längskräfte N̅. Sodann erhält man für den Fall, dass
die Gleich. (40) bis (43) giltig sind:
(54) ,
wobei

  • L̅ = virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte C̅,
    • N = Längskraft
    • M = Biegungsmoment
    hervorgerufen durch die wirkliche
     Belastung,


während t0 und Δt die auf Seite 68 erklärte Bedeutung haben.


Die Gleich. (54) ergiebt sich aus der Gleich. (37) mit Beachtung
der Gleich. (46) und (47).


Ist der Stab (oder die Stabverbindung) statisch unbestimmt, so
dürfen bei der Berechnung der C̅, M̅ und N̅ alle statisch nicht bestimm-
baren Grössen gleich Null gesetzt werden, wobei es freisteht, in welcher
Weise der Stab in einen statisch bestimmten Hauptträger verwandelt wird.


Man darf auch schreiben (nach Gleich. 38):
(55) ,
wobei Pm eine in m angreifende, durch m' gehende Last bedeutet, welcher
nöthigenfalls nach Ausführung der Differentiation der Werth Null bei-
zulegen ist. Vergl. Seite 62.


2) Drehung einer Tangente. Der Winkel τm, um welchen sch
die im Punkte m an die Stabachse gelegte Tangente bei der Form-
änderung des Stabes dreht, ist gegeben durch die Gleichung
(54 a) ,
wobei

    • N = Längskraft
    • M = Biegungsmoment
    in Folge der wirklichen Belastung,
    • N̅ = Längskraft
    • M̅ = Biegungsmoment
    für irgend einen Querschnitt des
    Hauptträgers,


falls auf letzteren ein, im Punkte m angreifendes Kräftepaar wirkt,
dessen Moment 𝕸m = 1 ist (vergl. Seite 64).


L̅ bedeutet die virtuelle Arbeit der gleichzeitig mit N̅ und M̅ ent-
stehenden Auflagerkräfte.


Man darf auch schreiben, entsprechend Gleich. 38 a und mit [Hin]-
weis auf Gleich. 55,
[88](55 a) ,
wobei das Moment 𝕸m nach Ausführung der Differentiation gleich Null
zu setzen ist, wenn das im Punkte m angenommene Kräftepaar in Wirk-
lichkeit nicht vorhanden ist.


3) Handelt es sich um einen Körper, der aus einem Fachwerke und
aus einem oder mehreren auf Biegungsfestigkeit beanspruchten, geraden
Stäben besteht, so tritt auf der rechten Seite der Gleich. (54) und (54 a)
noch der Werth hinzu:
,
auf der rechten Seite der Gleich. (55) der Werth
und auf der rechten Seite der Gleich. (55 a) der Werth
.


S̅ bedeutet die gleichzeitig mit N̅ und M̅ entstehende Spannkraft
eines Fachwerkstabes.


Bei Anwendung der Gleichungen (55) und (55 a) dürfen die statisch
nicht bestimmbaren Grössen X als Konstanten aufgefasst werden; es
genügt, die Integrale und Summen über den statisch bestimmten Haupt-
triger auszudehnen.


Aufgabe 1. Der in Fig. 69 dargestellte, ursprünglich wagerechte

Figure 53. Fig. 69.


Stab mit einem eingespannten und einem
freien Ende sei gleichmässig und ausserdem
im Punkte A mit P belastet. Gesucht die
senkrechte Verschiebung δ des Punktes A.
E
und J seien konstant; Verschiebungen
der Stützpunkte seien ausgeschlossen, hin-
gegen soll eine ungleichmässige Erwärmung
(nach Fig. 49) berücksichtigt werden.


Es ergiebt sich
,*)
[89],
,
.


Mit Hilfe dieser Gleichung findet man für einen ungleichmässig er-
wärmten und gleichmässig belasteten, bei
A frei aufliegenden, bei B wagerecht ein-
gespannten Balken (Fig. 70), dessen linke,
ursprünglich in der Wagerechten durch B
gelegene Stütze sich um δ gesenkt hat, die
Beziehung:

Figure 54. Fig. 70.


und hieraus die Auflagerkraft
.


Aufgabe 2. Es soll die Senkung δ des Punktes A des in Fig. 71
dargestellten, mit P be-
lasteten, festen Krahnes
berechnet werden.


Verschiebungen der Stütz-
punkte und Temperatur-
änderungen seien aus-
geschlossen. Es seien


  • F und J = Inhalt und
    Trägheitsmoment des
    Querschnittes von Stab
    A C,
  • F1 und J1 = Inhalt und
    Trägheitsmoment des
    Querschnittes von Stab
    C E,
  • F2 = Inhalt des Quer-
    schnittes, s = Länge
    von Stab B D,

Figure 55. Fig. 71.

  • E, E1, E2 bedeuten die entsprechenden Elasticitätsmoduln.

Wir wenden Gl. 54 an und setzen L̅ = 0, t0 = 0, Δt = 0.
M̅ und N̅ entsprechen der Last P = 1, und es folgt N = PN̅,


M = PM̅ mithin:
[90](I) .


In Fig. 71 sind die der Last P = 1 entsprechenden Momentenflächen
für die Stäbe A C und C E dargestellt; sie sind bestimmt durch
B = 1 · l1 = Moment für Querschnitt B und
D = 1 · l = „ „ die Querschnitte zwischen D und E.


Die Spannkraft S̅ im Stabe B D ist
(folgt aus der Bedingung Sr + Pl = 0),
wobei r = Loth von C auf B D.


Es folgt nun, wenn ∠ C B D = α ist,
für Theil;
für Theil,
;
für Theil,
;
für Theil,
;
für Theil,
.


Addirt man die berechneten Integrale, so erhält man nach Gl. I:
.


Aufgabe 3. Um welche Strecke δ senkt sich der Mittelpunkt S
des Balkens A B des in Aufgabe 3 (§ 15) behandelten Krahngerüstes?


Bezüglich aller Bezeichnungen wird auf § 15 verwiesen; die dort
gezeigte Berechnung der statisch nicht bestimmbaren Auflagerkraft X muss
des Ermittelung von δ vorausgehen. Hierauf wird die Stabverbindung
[91] statisch bestimmt gemacht, beispielsweise durch das bei D (Fig. 72) an-
geordnete wagerechte Gleitlager, und der so erhaltene Hauptträger in
Punkte S mit der senkrechten Kraft „Eins“ belastet. Es entstehen
bei D und C senkrechte Gegen-
drücke (= ½), welche im Vereine
mit der Last „Eins“ Momente M̅
und Längskräfte N̅ erzeugen, und
es ergiebt sich aus diesen — wenn
Verschiebungen der Stützpunkte
und Temperaturänderungen un-
berücksichtigt bleiben sollen —
(I) ,
wobei M = Biegungsmoment und
N = Längskraft für die wirkliche,
in Fig. 52 dargestellte Belastung.


Für die linke Hälfte des Stabes
A B ist N̅ = 0, M̅ = ½x, M = M0
Xh und
.


Fig. 72—75.


M0 bedeutet die Ordinate der früher erklärten einfachen Momenten-
fläche A L B (Fig. 53 und Fig. 73), welche durch die Mittel-Senkrechte
in 2 Theile zerlegt wird, deren Inhalte = F' und = F'', und deren
Schwerpunkts-Abstände von den benachbarten Auflagersenkrechten = e'
und = e'' sind. Da nun ist, so ergiebt sich für die
linke Hälfte des Stabes A B:
und für den ganzen Stab:
.


Für den Stab A D ist: (vergl.
Seite 74 und Fig. 52) und
[92] und dem Stabe B C entspricht: ,
.


Für beide Stäbe erhält man zusammen:
,
wobei R = Summe aller auf den Balken A B wirkenden Lasten.


Nach Gleich. I ist nun
.


Die einfache Momentenfläche für zwei in Bezug auf die Mittel-
Senkrechte gleich gelegene Lasten P ist ein Trapez mit der Höhe Pa
(Fig. 74), und für dieses ist
.


Da nun diesen beiden Lasten die Werthe entsprechen:
R = 2 P und
(nach Gl. IV und V auf Seite 75),
so folgt die durch beide Lasten erzeugte Verschiebung δ:
,
wobei
.
ist


Zu dieser Senkung liefern beide Lasten den gleichen Beitrag, so
dass eine Last P nur eine halb so grosse Senkung hervorbringt, nämlich:
(II) .


Die einfache Momentenfläche für eine gleichmässige Last
(= g für die Längeneinheit) ist eine Parabelfläche (Fig. 75) mit dem
Pfeile ; für diese ist
,
[93]
und weiter erzeugt diese gleichmässige Last:
R = gl, (nach Gl. VI, Seite 76),
und die Durchbiegung
(III) .


Nunmehr lässt sich die Senkung δ für den in Fig. 52 dargestellten
Belastungszustand (gleichzeitige Wirkung einer gleichmässigen Last und
einer Schaar von Einzelkräften P) mit Hilfe einer Summirung feststellen.


Aufgabe 4 (Fig. 76). Ein ursprünglich wagerechter, bei B fest
eingespannter, bei A freier Stab ist gleich-
mässig mit p für die Längeneinheit belastet
und wird ausserdem im Punkte A durch
eine Einzellast P und ein Kräftepaar, dessen
Moment = M1 ist, beansprucht. Gesucht
ist der Neigungswinkel τ der in A an die
elastische Linie gelegten Tangente. Tempera-
turänderungen und Nachgeben des Wider-
lagers seien ausgeschlossen. Da N = 0 ist,

Figure 56. Fig. 76.


so folgt aus Gleich. 55 a:
,
worein zu setzen:
.


Es ergiebt sich, bei konstantem E J,
.


§ 17.
Aufgaben über krumme Stäbe mit im Vergleiche zu der
Querschnittshöhe grossen Krümmungshalbmessern.


Ist ein einfach gekrümmter Stab symmetrisch in Bezug auf die die
Stabachse enthaltende Kräfteebene, so dürfen, bei im Vergleiche zur
[94] Querschnittshöhe grossen Krümmungshalbmessern, die senkrecht zur
Querschnittsebene wirkenden Spannungen mit Hilfe der für den geraden
Stab entwickelten Gleichung
berechnet werden, und ebenso ist es zulässig, bei Bestimmung von
statisch nicht bestimmbaren Grössen und von Verschiebungen δ und
Drehungen τ die Gleichungen 49 bis 53 und 54 bis 55 a anzuwenden. Für
alle im Brückenbau und im Hochbau vorkommenden Bogenträger ist diese
Vereinfachung der im § 22 abgeleiteten genaueren Theorie statthaft.


Wird das Element der Schwerpunkts-Achse des gekrümmten Stabes

Figure 57. Fig. 77.


mit d s bezeichnet, so ist in den genannten
Gleichungen d x durch d s zu ersetzen.


In den nachstehenden Aufgaben werden
die zu untersuchenden Bögen auf recht-
winklige Koordinaten (x, y) mit wage-
rechter x-Achse bezogen. Der Neigungs-
winkel der in irgend einem Punkte D
der Bogenachse an diese gelegten Tangente
gegen die Wagerechte wird mit φ bezeich-
net. Bedeutet dann für das Bogenstück
A D links von D (Fig. 77):


V die Mittelkraft aus sämmtlichen senkrechten äusseren Kräften,
H „ „ „ „ wagerechten „ „

Figure 58. Fig. 78

u. 79.


und wird V nach oben und H nach
rechts positiv gezählt, so muss die
den Querschnitt bei D beanspruchende
Längskraft N der Gleichung genügen
N + V sin φ + H cos φ = 0,
die man erhält, indem man die
Summe sämmtlicher auf das Stück
A D parallel zu N wirkenden Kräfte
gleich Null setzt, und aus der sich
(56) N = — V sin φ — H cos φ
ergiebt.


Aufgabe 1. Ein kreisförmiger
Bogenträger mit Kämpfergelenken,
aber ohne Scheitelgelenk, ist in Bezug
auf die Mittelsenkrechte symmetrisch
und trägt auf der linken und rechten
Hälfte gleichmässig über die Sehne
A B vertheilte Lasten z1 und z2 für die Längeneinheit. Die Kämpfer
[95] sind durch eine Stange verbunden. Bei B ist ein festes, bei A ein wage-
rechtes (reibungsloses) Gleitlager angeordnet, Fig. 78. Gesucht ist de
Spannkraft X in der Stange A B.


Wir nehmen zunächst an, es sei z1 = z2 = z und finden mit den
aus der Fig. 79 ersichtlichen Bezeichnungen für einen Querschnitt D, in
Abstande x vom Scheitel, das Biegungsmoment
d. i.
(I) .


Die Mittelkraft der auf das Stabstück A D wirkenden senkrechten
äusseren Kräfte ist
V = zaz (ax) = zx = zr sin φ,
und es ergiebt sich daher die Längskraft N für den Querschnitt D
mittelst Gleich. 56:
(II) N = — zr sin 2φ — X cos φ.


Fassen wir jetzt X als Auflagerkraft auf und bezeichnen mit Δa
die Verlängerung der Sehnen-Hälfte a, so ist die virtuelle Arbeit der
auf die linke Stabhälfte wirkenden Auflagerkräfte, bei festliegend an-
genommenen Linien R R und A B:
L' = — XΔa,
und es ergeben sich für den Zustand X = 1 die Werthe
M' = — r (cos φ — cos φ0), N' = — cos φ, L' = — Δa.


Die für den Fall einer gleichmässigen Erwärmung des Bogens
um t Grad giltige Gleichung
,
welcher die Unbekannte X zu genügen hat, geht, wenn E, F und J
für alle Bogenquerschnitte gleich gross angenommen werden, über in
(III) ;
die in derselben vorkommenden Integrale erstrecken sich nur über die
linke Hälfte des Trägers. Die Verlängerung Δa der Hälfte der Stange
[96]A B, deren Querschnitt = F0 und deren Elasticitätsmodul = E sein
möge, ist
,
wobei angenommen wird, dass sich nur der Bogen um t erwärmt,
während die Anfangs-Temperatur der Stange ungeändert bleibt. *) Es
geht Gl. III über in
.


Nun ist:
,
und es ergiebt sich somit, wegen a = r sin φ0:
,
wobei
μ' = ⅔ sin3 φ0 + ½ φ0 cos φ0 cos 2 φ0 — ½ cos2 φ0 sin und
.
**)


[97]

Der Einfluss einer Temperaturänderung ist für sich allein
und der Einfluss der Belastung:
.


Zu letzterem Werthe liefern die auf beiden Bogenhälften ruhenden
Lasten za den gleichen Beitrag: ; wirkt auf die eine Hälfte
(wie in Fig. 78) die Last z1a und auf die andere die Last z2a, so ent-
steht demnach
.


Handelt es sich um die Berechnung eines Dachbinders, dessen Eigen-
gewicht = g, und dessen gesammte Belastung = q für die Längeneinheit
der Sehne A B ist, so genügt es, die Werthe X, M und N sowie die
Spannungen

    vergl. Gleich. 41 und Fig. 49


für zwei Belastungsfälle zu berechnen.


Man setze einmal
z1 = g und z2 = q
und hierauf
z1 = z2 = q.


(Bei beträchtlicher Pfeilhöhe ist noch der Einfluss schräger Wind-
drücke mit Hilfe einer besonderen Untersuchung, die ähnlich durchzu-
führen ist, wie die vorstehende, festzustellen.)


Aufgabe 2. Ein in Bezug auf die Senkrechte durch die Mitte
symmetrischer Parabelbogen ist an den Enden fest eingespannt und im
Scheitel mit einem Gelenke versehen; es sollen die durch eine senkrechte
Einzellast P und durch Temperaturänderung hervorgerufenen Stützen-
drücke K1 und K2 ermittelt werden, Fig. 80.


Die 3 Kräfte K1, K2 und P müssen sich in einem Punkte C schneiden.
Liegt P links vom Scheitelgelenk S, so geht der Auflagerdruck K2 durch
S; er möge im Punkte S in die senkrechte Seitenkraft B und in die
wagerechte Seitenkraft H (Horizontalschub) zerlegt werden. Sind B und
H gefunden, so ist das aus P, K1 und K2 bestehende Kräftedreieck be-
stimmt und die gestellte Aufgabe gelöst.


B und H sind statisch nicht bestimmbare Grössen; sie sollen unter
der Voraussetzung berechnet werden, dass die Stützen starr sind und
der Bogen gleichmässig erwärmt wird; dann gilt die Gleichung
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 7
[98](I) ,
in welche erst X = B dann X = H zu setzen ist.


Ist der Scheitel der Ursprung eines rechtwinkligen Koordinaten-

Figure 59. Fig. 80.


systems, so ergiebt sich für
den bei x gelegenen Bogen-
querschnitt das Biegungs-
moment:
M = Hy + Bx — M0,
wobei (— M0) das Biegungs-
moment für den Fall: H = 0
und B = 0 bedeutet. Für
alle Querschnitte rechts von P
ist M0 = 0, und für die links
von P gelegenen Querschnitte
ist M0 gleich der Ordinate
einer Geraden C1A2, deren
Endordinate A1A2̅ = Pa ist,
während die Spitze C1 senk-
recht unter der Last P liegt.


Die Längskraft N ist für
einen Querschnitt rechts von C (wenn φ den Neigungswinkel der in x,
y
an die Bogenachse gelegten Tangente gegen die x-Achse bezeichnet)
N = B sin φ — H cos φ
und für einen Querschnitt links von C
N = (BP) sin φ — H cos φ;
beidemale ist und . Da nun weiter
und ist, so folgen aus Gleich. I mit X = B und
X = H die beiden Bedingungen:
;
sie sollen mit Vernachlässigung der von N abhängigen, das Endergebniss
nur wenig beeinflussenden Integrale aufgelöst werden; ausserdem soll
gesetzt und J cos φ = Const = J' angenommen werden.


Es gehen dann, wegen und , obige Gleichungen
über in:
[99]0 = ∫(Hy + Bx — M0) xdx
0 = ∫(Hy + Bx — M0) ydx — ε E J'tl.


Da die y-Achse eine Symmetrieachse ist, so folgt ∫yxdx = 0 und
xdx = 0, und es ergiebt sich aus der ersten Gleichung
(II)
und aus der zweiten
(III) .


∫M0xdx bedeutet das statische Moment des Dreiecks C1A1A2 in
Bezug auf die y-Achse; es ist also
und
, mithin folgt
(IV) .


Diese Gleichung gilt bei beliebiger Form des symmetrischen
Bogens; sie liefert den senkrechten Widerstand des rechtsseitigen Auf-
lagers. Zerlegt man K1 in A (senkrecht) und H (wagerecht), so folgt
(V) .*)


Aus Gleich. III ergiebt sich der durch die Belastung erzeugte
Horizontalschub
.


7*
[100]

Für den Parabelbogen ist , wobei f = Pfeilhöhe, und
es folgt
,
.


∫M0x2dx · bedeutet das Trägheitsmoment des Dreiecks C1A1A2 in
Bezug auf die y-Achse. Der Inhalt dieses Dreiecks ist , der
Abstand seiner senkrechten Schwerlinie ss von der y-Achse:
und sein Trägheitsmoment in Bezug auf ss: ; es folgt
mithin
und man gelangt zu der Gleichung
(VI) ,
welche nur anwendbar ist, sobald P links vom Scheitelgelenk liegt.
Befindet sich P rechts von S, so ist
.


Bewegt sich P von S aus nach dem linken Auflager hin, so be-
schreibt der Schnittpunkt C der 3 Kräfte P, K1, K2 eine Linie S S',
welche die Kämpferdrucklinie genannt wird; ihre Ordinate η, be-
zogen auf eine in der Entfernung f vom Scheitel gelegene wagerechte
Gerade, ergiebt sich aus der Gleichung
tg β, wobei tg ist.


Man findet
(VII)
und kann nun Gleich. VI umformen in
(VIII) .


[101]

Zur Berechnung der η-Linie diene die folgende Tabelle:


Um mit Hilfe der Kämpferdrucklinie die Lagen der einer gegebenen
Einzellast P entsprechenden Kämpferdrücke K1 und K2 schnell feststellen
zu können, beachte man Folgendes:


Verbindet man die Punkte F1 und F2, in denen die Auflager-
senkrechten von den Kämpferdrücken geschnitten werden, durch die
„Schlusslinie“ F1F2, zerlegt K2 nach senkrechter Richtung und nach
der Richtung der Schlusslinie in B' und H', so findet man, indem man
die Summe der Momente aller Kräfte, in Bezug auf F1, gleich Null setzt:
B'l — Pa = 0 und hieraus .


Verlegt man die Kraft H' von F2 nach dem Punkte O, in welchem
die Schlusslinie von der Senkrechten durch S geschnitten wird, und zer-
legt sie dort in H und in eine senkrechte Seitenkraft, so erhält man
das Biegungsmoment in Bezug auf S:
und hieraus
.


Die Gerade O D schneidet nun auf der Last-Senkrechten die Ordinate
ab, und es ergiebt sich somit folgende einfache Konstruktion der Lagen
von K1 und K2.


Man bringt P mit der Kämpferdrucklinie in C zum Schnitte, zieht
die Gerade C S F2, setzt die Strecke u ab, zieht die Gerade D O und
von F2 durch O die Gerade F2F1; man erhält in F1C und F2C die
Richtungen von K1 und K2. Indem man diese Konstruktion für ver-
schiedene Lagen der Last P wiederholt, kann man die von den Kämpfer-
drücken K1 umhüllte Linie (Kämpferdruck-Umhüllungslinie) zeichnen,
deren hohe Bedeutung für die Theorie der gefährlichsten Belastung be-
kannt ist.


[102]

In gleicher Weise wird verfahren, wenn sich P von S aus nach
F2 hin bewegt.


Der durch eine Temperaturerhöhung um t hervorgerufene, durch
das Scheitelgelenk S gehende Horizontalschub Ht ist nach Gleich. (III):
,
woraus, mit , erhalten wird:
.


Aufgabe 3. Es wird der Einfluss von Verschiebungen der Wider-
lager auf die Stützenwiderstände B und H des in Aufgabe 2 behandelten
Bogenträgers gesucht. Fig. 81.


Mit E J' = E J cos φ = Konst. und Vernachlässigung von N be-
stehen die Gleichungen:
und ,
wobei L' und L'' die virtuellen Arbeiten der den Zuständen X' = 1
beziehw. X'' = 1 entsprechenden Auflagerkräfte bedeuten, während (da
die Belastung jetzt = 0 vorausgesetzt ist)
M = Hy + Bx, und
wird. Man erhält
E J'L' = ∫ (Hy + Bx) xdx, E J'L'' = ∫ (Hy + Bx) ydx
und, wegen ∫yxdx = 0,

Figure 60. Fig. 81.


und
.


Es senke sich nun (bei
relativ fest gelegenem Stütz-
punkte A) der Stützpunkt B
um δ, während l in l + Δl übergehe, und sich die Auflagertangenten im
Sinne der daselbst wirksamen Einspannungsmomente M1 und M2 um die
Winkel τ1 und τ2 drehen. Beachtet man dann, dass die äusseren Kräfte
nur im Gleichgewichte sein können, wenn bei A Auflagerdrücke wirken,
[103] die den in B angreifenden gleich und entgegengesetzt sind, so findet
man die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte
𝔄 = M1τ1 + M2τ2HΔlBδ,
und in diesen Ausdruck sind die aus den Gleichgewichtsbedingungen
und
folgenden Werthe
und
einzuführen, so dass entsteht:
.


Hieraus folgt für den Zustand B = 1 der Werth:
und „ „ „ H = 1 „ „ L'' = f1 + τ2) — Δl,
und es ergiebt sich mithin:
,
.


Aufgabe 4. Ein krummer
Stab A S B ohne Zwischen-
gelenke sei beliebig belastet
und ungleichmässig erwärmt.
Gesucht ist die Aenderung Δl
der Sehne A B. Fig. 82. Die
Temperaturänderung folge
innerhalb eines Querschnittes
dem in Fig. 49 dargestellten Gesetze.


Figure 61. Fig. 82.

Es ergiebt sich nach Gleich. 54:
,
wobei M̅ und bezieh. das Moment und die Längskraft bedeuten, welche
für irgend einen Querschnitt des Bogens durch zwei in A und B an-
greifende, in die Gerade A B fallende, nach Aussen gerichtete Kräfte
„Eins“ hervorgebracht werden.


Nun ist M̅ = 1 · y und = 1 · cos φ, unter φ den Neigungswinkel
der an die Bogenachse gelegten Tangente gegen die Sehne A B verstanden,
und es ergiebt sich deshalb
(57) .


[104]

Beispielsweise verlängert sich die Sehne A B eines symmetrischen,

Figure 62. Fig. 83.


durch zwei der Scheiteltangente
parallele Kräfte P belasteten und
gleichmässig um t erwärmten
Bogens, Fig. 83 (wegen M
= Py und N = P cos φ) um
(58 a) .
Setzt man J cos φ = J' und F sec φ = F' und führt an Stelle der ver-
änderlichen Werthe J' und F' konstante Mittelwerthe ein, was in allen
Fällen der Anwendung zulässig ist, so folgt bei parabolischer Achse (mit
):
, d. i.
(58 b) .


Aufgabe 5. Gesucht ist die Aenderung Δl der Sehne l eines beliebig
beasteten und ungleichmässig erwärmten Bogens A S B mit Zwischen-
geenken. Fig. 84.


Der Winkel ϑ, welchen die zu beiden Seiten eines Gelenkes G an

Figure 63. Fig. 84.


die Bogenachse gelegten Tan-
genten mit einander bilden,
ändert sich im Allgemeinen um
einen endlichen Werth Δϑ, und
hierdurch vergrössert sich l um
Δl = fΔϑ, wobei f das Loth
von G auf l bedeutet. Wären
alle Δϑ = 0, so würde sich der
Bogen bezüglich der Aenderung Δl genau so verhalten wie ein solcher
ohne Zwischengelenke, und es würde die Gleich. (57) giltig sein. Fügt
man nun zu dem Ergebnisse dieser Gleichung den von den Aenderungen
sämmtlicher Winkel ϑ herrührenden Werth Δl = ΣfΔϑ, so erhält man
für einen Bogen mit beliebig vielen Zwischengelenken:
(59) .


[105]

§ 18.
Die Biegungslinie.


Trägt man die nach unten positiv gezählten, senkrechten Ver-
schiebungen δ der Punkte der in einer lothrechten Ebene gedachten Achse
A S B eines einfach gekrümm-
ten Stabes von einer Geraden
A'B' aus als Ordinaten auf, so
erhält man die Biegungs-
linie
A''S''B''; die zwischen
ihr und der Geraden A'B'
gelegene Fläche heisse die
Biegungsfläche. Fig. 85.


1) Bestimmung der
Biegungslinie für ein Stab-
stück A B ohne Zwischen-
gelenke.
Die Stabachse möge
auf ein rechtwinkliges Koor-
dinatensystem mit nach oben

Figure 64. Fig. 85.


positiver, senkrechter y-Achse bezogen werden; φ bedeute den Neigungs-
winkel der im Punkte xy an die Stabachse gelegten Tangente gegen
die x-Achse. Fig. 85.


Die Aenderung Δy von y ergiebt sich durch Differentiiren der
Gleichung
dy = ds sin φ,
wobei das Differentialzeichen durch das Zeichen Δ zu ersetzen ist. Man
erhält
,
und es folgt, da δ = — Δy also
dδ = — dΔy = — Δdy*)
ist:
tg φ,
woraus (durch Differentiiren nach x) die Differentialgleichung der
Biegungslinie

(60)
[106] gefunden wird. Mit der Bezeichnung
(61)
wird
,
und hieraus folgt,
dass die Biegungslinie A''S''B'' als ein Seilpolygon aufgefasst werden
darf, welches mit dem Horizontalzuge (Polabstande) 1 zu einer
Belastungslinie, deren Ordinate = z ist, gezeichnet wird
.
*)


Die Belastungsrichtung z ist nach unten (also im Sinne der positiven
δ) positiv.


Weiter ergiebt sich aus der graphischen Statik, dass die Fläche
zwischen der Biegungslinie A''S''B'' und der Geraden A''B'' angesehen
werden darf
als die Momentenfläche eines einfachen, d. h. an den Enden frei auf-
liegenden Balkens A
1B1, dessen Belastungslinie die Ordinate z hat.


Sind die senkrechten Verschiebungen δa und δb der Endpunkte A
und B des betrachteten Bogenstückes gleich Null, so stimmt die Biegungs-
linie mit der Momentenkurve des einfachen Balkens A1B1 überein.


Handelt es sich nun (ebenso wie im § 17) um Stäbe, deren
Krümmungsradien im Vergleiche zur Stabachse sehr gross sind, und
auf deren Spannungen und Formänderungen die im § 14 entwickelten
Grundgleichungen angewendet werden dürfen, so ist in Gleich. 61 ein-
zuführen:
(nach Gleich. 44 im § 14)
und, da die Aenderung Δdφ des von zwei unendlich nahen Tangenten
eingeschlossenen Winkels dφ mit dem im § 14 mit dτ bezeichneten
Winkel übereinstimmt, um welchen sich ein Stabquerschnitt gegen seinen
Nachbarquerschnitt dreht,
ds (nach Gleich. 45 im § 14)
also
sec φ.


Es ergiebt sich mithin:
[107](62) ,
und es lässt sich jetzt die Biegungslinie A''S''B'' für jeden Belastungs-
zustand ermitteln. Bedingung ist nur, dass zwischen den Endpunkten
A und B des betrachteten Stabstückes kein Gelenk liegt, da der Winkel,
welchen die zu beiden Seiten eines Gelenkes an die Bogenachse gelegten
Tagenten mit einander bilden, sich im Allgemeinen um einen endlichen
Werth ändern wird.


Hervorzuheben ist noch, dass zur Bestimmung der Verschiebungen
δ ausser der Linie A''S''B'' die Werthe δ für 2 Punkte der Stabachse
A S B gegeben sein müssen, damit die Lage der Geraden A'B' festgelegt
werden kann.


2) Einführung von Einzellasten an Stelle der z-Linie.


Die
Stabachse sei durch Punkte, welche Knotenpunkte heissen sollen, in Stücke
zerlegt, deren wagerechte Projektionen λ1, λ2, λ3 … λm ..... sind.
Zwischen zwei Knotenpunkten werde der Querschnitt des Bogens konstant
angenommen und sowohl die Momentenkurve als auch die Bogenachse
durch eine gerade Linie ersetzt. Es bezeichne (Fig. 86):


  • Mm das Biegungsmoment für den mten Knotenpunkt,
    • Jm das Trägheitsmoment
    • Fm den Inhalt
    für den Querschnitt des Bogenstückes
    (m — 1) m,
  • sm die Länge der die
    Punkte (m — 1) und m
    verbindenden Sehne,
  • φm den Neigungswinkel
    dieser Sehne gegen
    die Wagerechte,
  • δm die Senkung des
    Knotenpunktes m
    (auch Durchbie-
    gung bei
    m genannt),
  • ym die Ordinate von m,
  • Nm den Mittelwerth der
    Längskraft für das
    Bogenstück (m — 1)m,
  • Jc ein beliebiges, kon-
    stantes Querschnitts-
    Trägheitsmoment,
  • λc eine beliebige, kon-
    stante Feldweite,

Figure 65. Fig. 86.

und es sei gesetzt Jm cos φm = J'm.


[108]

Der von den Biegungsmomenten abhängige Theil der Belastungs-
linie, um dessen Einfluss auf die Durchbiegungen es sich zunächst handeln
möge, besteht aus geraden Linien, und es ist somit die Belastungsfläche
für irgend eine Strecke λm ein Trapez, dessen Inhalt mit Tm bezeichnet
werden soll. Dieses Trapez ist bestimmt durch die Ordinaten
und .


Wird nun das der Biegungslinie einbeschriebene Polygon, dessen Ecken
senkrecht unter den Knotenpunkten liegen, gesucht, so darf (nach einem
hier als bekannt vorausgesetzten Satze aus der Theorie der Biegungs-
momente, als welche ja die Durchbiegungen δ aufgefasst werden dürfen)
die Belastungsfläche durch eine Schaar von Einzellasten ersetzt werden,
welche in die Senkrechten durch die Knotenpunkte fallen. Die durch m
gehende Einzellast ist hierbei
,
wenn ξm und ξ'm + 1 die Abstände der Schwerpunkte der Trapeze Tm und
Tm + 1 von den Senkrechten durch m — 1 und m + 1 bedeuten. Das
statische Moment des Trapezes (welches man sich in zwei Dreiecke zer-
legt denke) ist
und ebenso folgt
,
weshalb entsteht:
.


Für die Vergrösserung, welche diese Einzellast w erfahren muss,
wenn der Einfluss der Aenderungen Δs der Strecken s berücksichtigt
werden soll, ergiebt sich aus der Fachwerkstheorie der Werth
[nach § 5]*)
und es folgt, wenn (für den Fall t = 0):
[109] eingeführt wird, im Ganzen
,
wobei zur Abkürzung gesetzt wurde:
(63) .
Zeichnet man zu den w-Lasten mit dem Polabstande „Eins“ ein Seilpolygon
A''S''B'' und trägt die Schlusslinie A'B' ein, wozu 2 Verschiebungen
δ gegeben sein müssen (meistens die Werthe δ0 = 0 und δn = 0), so
erhält man die Durchbiegungen δ. Noch besser ist es, die Einzellasten
w mittelst der Gleich.


(64)
zu berechnen; man muss dann die Polentfernung „Eins“ durch die Ent-
fernung ersetzen. Wählt man hierfür , wobei γ
eine beliebige runde Zahl ist, so sind die Ordinaten des Seilpolygons
gleich den mit γ multiplicirten Durchbiegungen. *)


Wenn der Einfluss einer Temperaturänderung berücksich-
tigt werden soll, so muss
an die Stelle von treten
und „ „ „ „ (nach Gleich. 62).


Hierbei ist h' = hcosφ die vertikale Projektion der Querschnittshöhe h.


Macht man die Annahme, dass t0 und Δt für sämmtliche Bogen-
querschnitte gleich gross sind und bezeichnet den Werth von h' für das
mte Feld mit h'm, so findet man leicht, dass die durch die Gleich. (64)
gegebene Einzellast wm bei Eintreten einer Temperatur-Aenderung um
(65)
vergrössert werden muss. Ist die Bogenachse eine in Bezug auf die
Senkrechte durch die Mitte symmetrische Parabel mit dem Pfeile f, so ist
(66) ,
und es folgt dann bei konstantem λ und h' für alle Knotenpunkte der
gleiche Werth
[110](67) ;
derselbe ist auch bei flachen Kreisbögen brauchbar.


3) Bestimmung des Integrales: ∫y mit Hilfe der
Werthe ω.
Zuweilen soll gleichzeitig mit den Verschiebungen δ eines
Bogenträgers die Aenderung Δl der Stützweite l bestimmt werden. Wird
hierzu die im § 17 abgeleitete Gleich. (57) benutzt, so handelt es sich
u. A. um die Berechnung des Integrales
,
und es möge daher an dieser Stelle gezeigt werden, wie sich dieses Integral
durch die bereits bei der Berechnung der δ gebrauchten Werthe ω aus-
drücken lässt.


Für das Feld λm ergiebt sich mit den aus Figur 86 zu ersehenden
Bezeichnungen:
und
;

denn es sind und die statischen Momente des
Belastungstrapezes Tm in Bezug auf die Senkrechten durch die Knoten-
punkte m und m — 1. Es folgt deshalb für den ganzen Bogen (mit
yo = 0 und yn = 0):
,
und hierfür kann, mit Beachtung der Entwickelungen auf Seite 108, ge-
schrieben werden
(68) .


Fasst man die Werthe ω als Kräfte auf, welche, in den Knoten-
punkten 0, 1, … m .... angreifend, parallel zu o̅n̅ sind und zeichnet
[111] mit dem Polabstande 𝕳 ein Seilpolygon, dessen äusserste Seiten auf der
Geraden o̅n̅ die Strecke e abschneiden, Fig. 87, so ergiebt sich

Figure 66. Fig. 87

u. 88.


Σyω = 𝕳e
und es folgt, wenn gewählt wird, wobei γ eine beliebige
Zahl bedeutet,
.


stellt eine Linie vor, nämlich die von den Biegungsmomenten
herrührende Verlängerung Δl der Stützweite l.


Wendet man die unter 2) und 3) mitgetheilten Verfahren auf die
Berechnung der Formänderungen von Bogen-
brücken an, so genügt es in der Regel, die
Punkte, in denen die senkrechten, zwischen
die Fahrbahn und den Bogen eingeschalteten
Stäbe die Bogenachse schneiden, als Knoten-

Figure 67. Fig. 89.


punkte in dem vorhin erklärten Sinne anzunehmen. Fig. 89. In der
Regel ist die Feldweite λ konstant, und es wird dann λc = λ gesetzt.


4) Biegungslinie für einen Stab mit Zwischengelenken. Liegt
im Punkte G der Stabachse (Fig. 90) ein Gelenk, so wird sich der
Winkel ϑ, welchen die beiden in G an die angrenzenden Zweige der Stab-
achse gelegten Tangenten I und II miteinander bilden, in Folge der
Formänderung des Stabes um den sehr kleinen aber endlichen Werth Δϑ
ändern. Es müssen dann die in dem senkrecht unter G gelegenen Punkte
G'' an die entsprechenden Zweige A''G'' und G''B'' der Biegungslinie
gelegten Tangenten I' und II' miteinander den Winkel Δϑ einschliessen.
[112] Bedeuten α1 und α2 die Neigungswinkel der Tangenten I' und II', so

Figure 68. Fig. 90.


ergiebt sich
α1 — α2 = Δϑ
oder, da es sich hier um sehr
kleine Formänderungen handelt,
tg α1 — tg α2 = Δϑ
und hieraus folgt (vergl. Fig. 90,
in welcher O den Pol der Seil-
linie und L T den Kräftezug
vorstellt), dass bei der Verzeich-
nung der Seillinie A''S''B'' ausser
der stetigen Belastung (z) noch
unter jedem Gelenke eine Einzel-
last
Δϑ anzunehmen ist.


Beispiel. Biegungslinie
eines Bogens mit 3 Gelenken.

Die Kämpfer A und B seien in
senkrechter Richtung unver-
schieblich, die Stützweite l gehe
in Folge Nachgebens der Widerlager über in l + Δl. Die gesuchte
Biegungslinie stimmt mit der Momentenkurve eines einfachen Balkens

Figure 69. Fig. 91.


A1B1 überein, auf welchen eine
stetige Belastung mit der durch die
Gleich. (62) gegebenen Ordinate z
und eine Einzellast Δϑ wirkt. Zu-
erst möge Δϑ = 0 angenommen
werden; es entsteht dann eine
Biegungslinie, die am besten mit Hilfe
des unter 2) gegebenen Verfahrens
bestimmt wird und deren Ordinate
= δ' sein möge. In Folge von Δϑ
wird der Werth δ für einen Punkt D,
links vom Scheitel, um x ver-
grössert und für einen Punkt D',
rechts vom Scheitel, um x', *) weshalb sich ergiebt:
[113], beziehungsweise .


Hat man nun mittelst der auf Seite 104 entwickelten Gleichung
den Werth Δϑ berechnet, wobei mit Bezugnahme auf Seite 111:
gesetzt werden darf, so vermag man die Verschiebung δ eines
jeden Punktes der Stabachse festzustellen.


5) Nicht immer ist es bei Bögen mit Zwischengelenken nöthig, die
Aenderungen Δϑ zu berechnen. Ein Beispiel hierfür bietet die Lösung
der folgenden (der Aufgabe 2 auf Seite 30 gegenüber zu stellenden) Auf-
gabe: Gesucht wird die Biegungsfläche eines über 3 Oeffnungen
gespannten kontinuirlichen Bogens mit 4 Gelenken A, D, G
und L
(Fig. 92). *)


Die senkrechten Verschiebungen der Stützpunkte A, B, C, D seien

Figure 70. Fig. 92.


= 0. Es soll, wie unter 2), mit Einzellasten w an Stelle der Belastung
z gerechnet werden.


Man zeichne mit der Polentfernung :


das Momentenpolygon A' N G' für den einfachen Balken A'G' mit den
Lasten w1 bis w5,


Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 8
[114]

das Momentenpolygon G' E L' für den einfachen Balken G'L' mit den
Lasten w6 bis w16 und


das Momentenpolygon L' T D' für den einfachen Balken L'D' mit den
Lasten w17 bis w21, *)


bringe die Auflagersenkrechten durch B und C mit dem Momenten-
polygone G' E L' in B' und C' zum Schnitte, lege durch B' und C' eine
Gerade, welche die Senkrechten durch die Gelenke in G'' und L'' schneidet
und verbinde A' mit G'' und D' mit L'' durch Geraden. Die zwischen
den Momentenpolygonen und dem Linienzuge A'G''L''D' gelegene Fläche
ist die gesuchte Biegungsfläche.


6) Die elastische Linie des geraden Balkens ist ein besonderer
Fall der Biegungslinie eines krummen Stabes; ihre Differentialgleichung
ist (mit φ = 0)
(69) ,
und sie stimmt mit einem Seilpolygone überein, welches mit dem Pol-
abstande 1 zu einer Belastungslinie, deren Ordinate
(70)
ist, gezeichnet wird.


Sind die senkrechten Verschiebungen der Endpunkte A und B des
betrachteten Balkenstückes = 0, so lässt sich die elastische Linie als
Momentenkurve eines einfachen Balkens A B auffassen, dessen Belastungs-
höhe an der Stelle x gleich z ist.


Bei konstantem E J empfiehlt es sich,

Figure 71. Fig. 93.


(71)
zu setzen. Bedeutet dann (M)
die Ordinate der durch diese
Belastungslinie bedingten Mo-
mentenkurve (welche auch die
zweite Momentenkurve des
Balkens
A B heisst), so ist
(72) .


Beispiel. Auf einen Balken
mit konstantem E J, Fig. 93, der an den Enden frei aufliegt, wirken
zwei Einzellasten P. Es sollen die Durchbiegungen δ an den Stellen x
und x1 berechnet werden. Temperaturänderungen Δt seien ausgeschlossen.


[115]

Die Momentenfläche ist ein Trapez, dessen Höhe = Pa und dessen
Inhalt = 2 Pa2 ist; sie wird als Belastungsfläche des einfachen Balkens
A'B' aufgefasst und ruft an dessen Auflagern die Gegendrücke Pa2
hervor. Das zweite Moment für den Querschnitt bei x ist deshalb
und die gesuchte Durchbiegung:
.


An der Stelle x1 findet man das zweite Moment
und die Durchbiegung
.


§ 19.
Der Maxwell’sche Satz. Zusätze und Anwendungen.


Wir betrachten ein Stabwerk*), d. i. einen aus geraden und
krummen Stäben zusammengesetzten Körper, unter der Voraussetzung,
dass die auf Biegung beanspruchten Stäbe den Annahmen des § 13 ent-
sprechen, und dass die Stützpunkte fest liegen oder über reibungslose
Lagerflächen gleiten, mithin die Auflagerkräfte bei der eintretenden Form-
änderung keine Arbeit leisten.
Ferner setzen wir voraus, dass in
allen Punkten des Stabwerks die
dem spannungslosen Anfangszu-
stande entsprechende Temperatur
herrsche und alle in der Folge er-
wähnten Verschiebungsrichtungen
von Punkten eines krummen Stabes
in der die Achse desselben ent-
haltenden Ebene liegen.


Figure 72. Fig. 94.

Die durch irgend welche Aenderungen Δdsv verursachten Ver-
schiebungen δ1 und δ2 der Punkte A1 und A2 des Stabwerks nach den
Richtungen A1B1 bezieh. A2B2 (Fig. 94) sind nach Gl. (36):
8*
[116] und ,
wobei


  • σ1 diejenige Spannung ist, welche eine in A1 angreifende, nach der
    Richtung A1B1 wirkende Kraft „Eins“ in irgend einem Quer-
    schnittselemente des sonst unbelasteten und gewichtslosen Stab-
    werks hervorbringt und
  • σ2 diejenige Spannung, welche entsteht, sobald in A2 nach der Richtung
    A2B2 die Kraft „Eins“ an dem sonst unbelasteten, gewichtslosen
    Stabwerke angreift.

Wegen folgt
(73) und .


Denken wir uns durch A1 und A2 in beliebiger Richtung materielle
Linien A1C1 und A2C2 gelegt, die starr mit dem Stabwerke verbunden
sind, so werden sich diese in Folge der Formänderung des Stabwerks
um gewisse Winkel τ1 und τ2 drehen, welche kurz: Drehung beiA1
bezieh. beiA2 heissen mögen und durch die Gleichungen gegeben sind
(74) und ,
wobei, wenn diese Drehungen bezieh. im Sinne C1D1 und C2D2 (Fig. 94)
erfolgen,


  • σ' diejenige Spannung ist, welche ein in A1 angreifendes, im Sinne
    C1D1 drehendes Kräftepaar „Eins“ *) in irgend einem Querschnitts-
    elemente des sonst unbelasteten, gewichtslosen Stabwerks hervor-
    bringt und
  • σ'' diejenige Spannung, welche entsteht, sobald im Punkte A2 und
    im Sinne C2D2 ein Kräftepaar „Eins“ das sonst unbelastete,
    gewichtslose Stabwerk beansprucht.

Die Gleichungen (73) und (74) gelten für beliebige Belastungs-
zustände, von denen namentlich die folgenden von Bedeutung sind:


Fall I. Das Stabwerk wird ausschliesslich durch eine in A2 und im
Sinne A2B2 angreifende Kraft „Eins“ belastet; es entsteht σ = σ2 und
.


Fall II. Das Stabwerk wird ausschliesslich durch eine in A1 und im
Sinne A1B1 angreifende Kraft „Eins“ belastet; es entsteht σ = σ1 und
[117].


Fall III. Das Stabwerk wird ausschliesslich durch ein in A2 an-
greifendes, im Sinne C2D2 drehendes Kräftepaar „Eins“ belastet; es ent-
steht σ = σ'' und
.


Fall IV. Das Stabwerk wird ausschliesslich durch ein in A1 an-
greifendes, im Sinne C1D1 drehendes Kräftepaar „Eins“ belastet; es ent-
steht σ = σ' und
.


  • Da nun δ1 für Fall I = δ2 für Fall II,
  • τ1 „ „ III = τ2 „ „ IV,
  • δ1 „ „ III = τ2 „ „ II, *)
  • τ1 „ „ I = δ2 „ „ IV,

so ergeben sich die folgenden Sätze (von denen der erste, Maxwell’sche,
bereits im § 10 für das Fachwerk bewiesen wurde):


1) Eine im Punkte A1und im Sinne A1B1angreifende Kraft „Eins“
verschiebt einen Punkt A
2im Sinne A2B2um eine Strecke, die ebenso gross
ist, wie die Verschiebung, welche der Punkt A
1im Sinne A1B1durch eine
im Punkte A
2und im Sinne A2B2angreifende Kraft „Eins“ erfährt.


2) Ein im Punkte A1angreifendes, im Sinne C1D1drehendes Kräfte-
paar „Eins“ erzeugt bei A
2im Sinne C2D2eine Drehung, die ebenso
gross ist, wie die Drehung, welche bei A
1im Sinne C1D1durch ein im
Punkte A
2angreifendes, im Sinne C2D2drehendes Kräftepaar „Eins“
hervorgebracht wird
.


3) Eine im Punkte A1und im
Sinne A
1B1angreifende Kraft „Eins“
erzeugt bei A
2im Sinne C2D2eine
Drehung, die ebenso gross ist, wie
die Verschiebung, welche der Punkt
A
1im Sinne A1B1durch ein im
Punkte A
2angreifendes und im Sinne
C
2D2drehendes Kräftepaar „Eins“
erfährt
.


4) Ein im Punkte A1an-
greifendes, im Sinne C
1D1drehendes
Kräftepaar „Eins“ verschiebt einen
Punkt A
2im Sinne A2B2um eine
Strecke, welche ebenso gross ist, wie
die Drehung, welche bei A
1im Sinne
C
1D1durch eine in A2und im Sinne
A
2B2angreifende Kraft „Eins“ er-
zeugt wird
.


Von den folgenden, die Anwendung der vorstehenden Sätze er-
läuternden Aufgaben entsprechen die ersten vier genau den im § 10
behandelten.


[118]

Aufgabe 1.Gesucht ist die Einflusslinie für die Senkung

Figure 73. Fig. 95.


δ eines Punktes D der
Achse eines Bogenträgers

A S B (Fig. 95).


Wir denken den gewichts-
losen Träger nur mit einer in
D angreifenden senkrechten
Kraft „Eins“ belastet, be-
rechnen die hierdurch hervor-
gerufenen Auflagerkräfte, Mo-
mente M und Längskräfte
N und zeichnen nach der im
§ 18 gegebenen Anleitung die
Biegungslinie A'S'B'. Ist nun
die unter D1 gemessene Ordinate dieser Linie = η1, so verschiebt die
in D gedachte Last „Eins“ den Punkt D1 in senkrechtem Sinne um η1
nach unten, und es wird mithin (nach Satz 1) eine in D1 angreifende
Last „Eins“ den Punkt D ebenfalls um η1 senken. Hieraus folgt, dass
die Biegungslinie A'S'B' die gesuchte Einflusslinie für die Senkung δ
des Punktes D ist. Beispielsweise senken die Lasten P1, P2, P3 den
Punkt D um
δ = P1η1 + P2η2 + P3η3.


Die Einflusslinie A'S'B' für die Senkung δ des Punktes D der Achse
eines BalkensA B mit veränderlichem Querschnitte (Fig. 96) stimmt

Figure 74. Fig. 96.


mit der Momentenkurve eines ein-
fachen Balkens A'B' überein, dessen
Belastungsordinate
ist, wobei M' das Biegungsmoment
bedeutet, welches für irgend einen
Balkenquerschnitt durch eine in D an-
greifende Last „Eins“ erzeugt wird.
Die Momentenfläche für diesen Be-
lastungsfall ist ein Dreieck A' L B'
von der Höhe .


Für die Anwendung ist, bei konstantem E, zu empfehlen, die Be-
lastungshöhe durch
[119] zu ersetzen, unter Jc ein beliebiges aber konstantes Querschnitts-Träg-
heitsmoment verstanden. Die Momentenkurve A' S' B' ist dann nicht mehr
die Einflusslinie für die Verschiebung δ, sondern für den Werth E Jcδ,
und man erhält für die Belastung in Fig. 96
δ = .


Aufgabe 2.Gesucht ist die Einflusslinie für den Gegen-
druck X der Mittelstütze eines geraden kontinuirlichen
Balkens mit veränderlichem Querschnitte und mit 3 gleich
hohen Stützpunkten
. Fig. 97.


Beseitigung der Mittelstütze führt zu dem statisch bestimmten Balken
A B. Für diesen wird, unter der
Voraussetzung, dass bei C eine
senkrechte, abwärts gerichtete Last
„Eins“ angreift, die Momenten-
fläche A' D B' gezeichnet (Dreieck
mit der Höhe ) und
hierauf wird eine Linie A' D' B'
aufgetragen, deren Gleichung
z =
lautet, wobei J das wirkliche, ver-
änderlich angenommene und Jc ein

Figure 75. Fig. 97.


beliebiges aber konstantes Querschnitts-Trägheitsmoment bedeuten. Fasst
man diese Linie A' D' B' als Belastungslinie eines einfachen Balkens A' B'
auf und zeichnet die zugehörige Momentenkurve A' S B', so ist diese
(nach Aufgabe 1) die Einflusslinie für die mit E Jc multiplicirte Senkung
des Punktes C. Wirken also auf den Balken A B (ausser den in A und
B hervorgerufenen Auflagerkräften) die beiden Kräfte P und X, und
misst man unter P die Ordinate η und unter X die Ordinate c, so ergiebt
sich die Senkung δ des Punktes C:
δ = ,
und es folgt aus der Bedingung δ = 0 der Werth
X = .


Es ist mithin die Linie A' S B' die gesuchte Einflusslinie für den
Gegendruck X, und ist der Multiplikator für diese Linie.


Da es bei der Bestimmung von X nur auf das gegenseitige Ver-
hältniss von η und c ankommt, so darf die Höhe des Dreiecks A' D B'
[120] beliebig gross gewählt werden, und weiter darf die Linie A' S B' ein
mit beliebigem Polabstande gezeichnetes Seilpolygon sein.


Aufgabe 3.Gesucht sind die Einflusslinien für die Gegen-
drücke X' und X'' der Mittelstützen eines wagerechten kon-
tinuirlichen Balkens mit veränderlichem Querschnitte und
mit 4 gleich hohen Stützpunkten
.


Werden die beiden Mittelstützen beseitigt, so entsteht ein einfacher

Figure 76. Fig. 98.


Balken A D; die Punkte
B und C desselben mögen
sich um δ' und δ'' senken.
Die Einflusslinie für den
Werth E Jc δ' (wobei Jc
ein beliebiges Quer-
schnitts-Trägheitsmo-
ment bedeutet) stimmt
mit der Momentenkurve
A' N D' eines einfachen
Balkens A' D' überein,
dessen Belastungslinie
A' L' D' man erhält, wenn
man den Balken A D im
Punkte B mit der senk-
rechten Kraft „Eins“
belastet, die dieser Be-
lastung entsprechende
Momentenfläche A' L D'
(Dreieck mit der Höhe
L B' = ) zeichnet
und hierauf die Momente
M' mit multiplicirt; man erhält die Belastungsordinaten z' = .


In gleicher Weise wird die Einflusslinie A' O D' für den Werth E Jc δ''
gefunden; es wird nach Auftragen des Dreiecks A' T D', dessen Höhe
ist, die Belastungslinie A' T' D' mit der Gleichung z''
= ermittelt und die zugehörige Momentenkurve A' O D' gezeichnet.


Wirken nun auf den Balken A D (ausser den bei A und B hervor-
gerufenen Auflagerkräften) die drei senkrechten Kräfte P, X' und X'',
so ergeben sich, mit den aus der Fig. 98 ersichtlichen Bezeichnungen,
bei B und C die Durchbiegungen
[121]δ' = und
δ'' = ,

und es folgen aus den Bedingungen δ' = 0 und δ'' = 0 die beiden
Gleichungen
X' c' + X'' c'' = P η'
X' d' + X'' d'' = P η'',

aus denen sich die folgende Konstruktion der Einflussfläche für X' ab-
leiten lässt. *)


Man zeichne zu der Belastungslinie A' L' D' mit beliebig gewähltem
Polabstande ein Seilpolygon (I), welches die Senkrechten durch die Stütz-
punkte A, C, D in A0, C0, D0 schneiden möge und hierauf zu der
Belastungslinie A' T' D' ein durch die 3 Punkte A0, C0 und D0 gehendes
Seilpolygon (II). Die Fläche zwischen den Seilpolygonen (I) und (II)
ist die Einflussfläche für X'. Misst man unter P und X' beziehungs-
weise die Ordinaten η und c, so ist
X' = .


Die Höhen der Dreiecke A' L D' und A' T D', deren Ordinaten M'
und M'' mit multiplicirt die Belastungsordinaten z' und z'' liefern,
dürfen, da es bei der Berechnung von X' nur auf das gegenseitige Ver-
hältniss von η und c ankommt, beliebig gross gewählt werden.


Ganz ebenso wird die Einflussfläche für X'' gefunden.


Aufgabe 4.Gesucht ist der Horizontalschub X eines Bogen-
trägers mit 2 (an den Kämpfern
gelegenen) Gelenken
. Fig. 99. Es
handele sich um den Einfluss einer über
den Träger wandernden Last P, einer
gleichmässigen Erwärmung und eines Nach-
gebens der Widerlager.


Zuerst wird angenommen, dass auf den
Bogen nur zwei in A und B angreifende,
nach aussen gerichtete, wagerechte Kräfte
„Eins“ wirken (Zustand X = — 1). Die
Sehnenlänge l vergrössert sich hierbei nach
Gleich. 58 a um

Figure 77. Fig. 99.


ξ = ,
[122] und es entsteht eine Biegungslinie A' S B', welche als die Momentenkurve
eines einfachen Balkens A' B' aufgefasst werden darf, dessen Belastungs-
ordinate, nach Gleich. 62 und mit Vernachlässigung von N, stets ge-
nügend genau: z = gesetzt werden darf; denn es ist M = y · 1.


Mit Hilfe des Maxwell’schen Satzes lassen sich jetzt folgende Schlüsse
ziehen, wobei δ' die unter der Last P gemessene Ordinate der Biegungs-
linie A' S B' und D den Angriffspunkt von P bezeichnen möge.


  • 1) Die in A und B wirksamen wagerechten Kräfte 1 verschieben
    den Punkt D um δ' nach abwärts, mithin wird eine in D an-
    greifende Last „Eins“ eine Vergrösserung der Stützweite l um
    δ' hervorbringen, und eine in D angreifende Last P wird Δ l = P δ'
    erzeugen.
  • 2) Der Horizontalschub X verursacht für sich allein Δ l = — X ξ.
  • 3) Eine gleichmässige Aenderung der Anfangstemperatur um t be-
    dingt Δ l = ε tl.
  • 4) Soll sich bei gleichzeitigem Wirken von P und X sowie der
    Temperaturänderung die Stützweite l um einen vorgeschriebenen
    Werth Δ l ändern, so besteht die Bedingung

Δ l = P δ' — X ξ + ε tl,
und aus dieser ergiebt sich der für einen beliebig geformten Bogen
giftige Werth
(I) X = .


Für einen flachen Parabelbogen mit konstantem E J cos φ ist, wenn
J cos φ = J' gesetzt wird, nach Gleich. (58 b):
ζ =
und z = sec φ = .


Die Differentialgleichung der Biegungslinie A' S B' lautet
d. h.
;

ihre Integration liefert
,
.


Aus den Bedingungen:
x = 0 muss liefern δ = 0
x = l „ „ δ = 0

ergeben sich die Integrationskonstanten
[123]C1 = und C2 = 0
und es folgt die Gleichung
(75) δ = ,
so dass unter der bei a gelegenen Last P die Ordinate
(76) δ' =
gemessen wird. Bei Berechnung der im Hochbau und Brückenbau vor-
kommenden Parabelbögen ist es stets zulässig, den veränderlichen Werth
l2 + l a — a2 durch einen konstanten Mittelwerth zu ersetzen; derselbe ist (nach
der Methode der kleinsten Quadrate)
,
und es folgt somit
(77) δ' = .


Die für X abgeleitete Gleichung (I) geht über in
X = ,
wobei f1 = .


Eine Aenderung der Temperatur und eine Verschiebung der Widerlager
erzeugen hiernach
X = ,
und der Einfluss der Last P ist (wenn auf abgerundet wird)
X = .


Hiernach ist die Einflusslinie für X eine Parabel, deren bei a = b =
gelegener Pfeil = ist. An Stelle von f1 darf auch (genügend genau) f
gesetzt werden. *)


Aufgabe 5. Ein ursprünglich wagerechter Stab konstanten Quer-
schnitts liegt bei A frei auf und ist bei B unter dem Winkel τ1 ein-
gespannt. Es soll das durch eine senkrechte Einzellast P hervorgerufene
Einspannungsmoment M1 bestimmt werden. Fig. 100.


Wir betrachten zunächst den bei A und B frei aufliegenden, nur
durch ein in B angreifendes Kräftepaar, dessen Moment = 1 ist, be-
lasteten Stab (Zustand M1 = 1) und berechnen die bei a entstehende Durch-
biegung δ, sowie den Neigungswinkel τ der in B an die elastische Linie
[124] gelegten Tangente. Die Momentenfläche ist ein Dreieck A L B mit der

Figure 78. Fig. 100.


Höhe L̅ B̅ = 1; fasst man sie
als Belastungsfläche eines
einfachen Balkens A B auf, so
entstehen die Stützendrücke
(A) = und (B) =
und, an der Stelle a, das
zweite Moment (vergleiche
Seite 114):
(M) = ;
es ist mithin δ = .


Weiter ergiebt sich
τ = .*)


Der vierte der vorhin bewiesenen Sätze gestattet jetzt folgende
Schlüsse:


Ein bei B angreifendes, links drehendes Kräftepaar „Eins“ senkt
den Punkt D und δ, folglich verursacht eine in D wirksame Last „Eins“
bei B eine Links-Drehung δ, und eine Last P erzeugt die Drehung P δ.


Da nun das Moment M1 für sich allein die Drehung M1 τ bewirkt,
so entsteht im Ganzen die Drehung
τ1 = P τ + M1 τ,
und es folgt hieraus, bei vorgeschriebenem τ1, das gesuchte Einspannungs-
moment:
M1 = d. i.
M1 = .


[125]

§ 20.
Allgemeine Untersuchung des Einflusses einer Einzellast
auf die statisch nicht bestimmbaren Grössen X.


Wir betrachten ein Stabwerk, auf welches nur eine Last P wirkt
und suchen die statisch nicht bestimmbaren Grössen X', X'' .... für
eine beliebige Lage dieser Last unter der Annahme zu ermitteln, dass
bezüglich der auf Biegungsfestigkeit in Anspruch genommenen Stäbe die
Voraussetzungen des § 13 zutreffen.


Die Gleichungen:
L' = ,
L'' = ,
...............,

welche auf Seite 60 für den Fall abgeleitet wurden, dass die Spannungen
σ in der Form
σ = σ0 + σ' X' + σ'' X'' + ......
darstellbar sind, lassen sich, wenn der die Unbekannten X enthaltende
Theil von σ mit σx bezeichnet und
σ = σ0 + σx
gesetzt wird, schreiben:
(78)


Die von den Spannungen σ0 abhängigen Integrale erstrecken sich
über den statisch bestimmten Hauptträger, in welchen das be-
trachtete Stabwerk im Falle des Verschwindens sämmtlicher Unbekannten
X übergeht; sie lassen sich in folgender Weise deuten:


Bezeichnet, für irgend einen Spannungszustand des Hauptträgers,
δ die unter der Annahme unverrückbarer oder über reibungslose Lager
gleitender Stützpunkte und für den Fall t = 0 bestimmte Verschiebung
des Angriffspunktes von P, so besteht, da P die Spannungen σ0 hervor-
bringt, zwischen σ und den Formänderungen Δ d sv = d sv die Be-
ziehung (Arbeitsgleichung)
P δ = ,
und es ergiebt sich insbesondere für die dem Zustande X' = 1 ent-
sprechende Verschiebung δ' die Gleichung
[126](79)
wobei δ'', δ''', .... die bezieh. durch die Spannungen σ'', σ''', ....
(entsprechend den Zuständen X'' = 1, X''' = 1, ....) hervorgebrachten
Verschiebungen des Angriffspunktes von P bedeuten.


Die Bedingungsgleichungen (78) gehen jetzt über in:
(80)
sie mögen für den Fall weiter umgeformt werden, dass für die auf
Biegungsfestigkeit beanspruchten Stäbe die Spannungen σ nach Gleich. 40
(§ 14) berechnet werden dürfen, und die Temperaturänderung innerhalb
eines Querschnittes dem in Fig. 49 dargestellten Gesetze folgt. Es ergiebt
sich dann (vergl. die im § 15 unter 1 durchgeführten Integrationen): *)
und
;

dabei wird angenommen, dass die Längskraft N und das Biegungsmoment
M durch die Gleichungen
N = N0 + N' X' + N'' X'' + .... und
M = M0 + M' X' + M'' X'' + .....

gegeben sind und für die von X abhängigen Theile von N und M die
Abkürzungen
Nx = N' X' + N'' X'' + …
Mx = M' X' + M'' X'' + ....

eingeführt werden.


Für die Fachwerkstäbe ist, wenn die Temperaturänderung in allen
Punkten eines Stabes den gleichen Werth t annimmt,
,
wobei die Spannkraft S in der Form
S = S0 + S' X' + S'' X'' + .....
dargestellt sein muss und
[127]Sx = S' X' + S'' X'' + .....
den von den Unbekannten X abhängigen Theil der Spannkraft S angiebt.


Die Gleichungen (80) gehen jetzt über in
(81)
sie ermöglichen u. A. die Berechnung der Einflusslinien für
die Grössen X', X'', ..... ebener Stabwerke auf die Er-
mittelung von Biegungslinien für stets sehr einfache Be-
lastungsfälle zurückzuführen
, da alle in den Gleichungen (81)
stehenden Integrale von der Lage der Last P unabhängig sind und nur
einmal berechnet zu werden brauchen.


Ist das Stabwerk nur einfach statisch unbestimmt, d. h. tritt
nur eine Unbekannte X auf, so folgt
N = N0 + N' X, M = M0 + M' X, S = S0 + S' X also
Nx = N' X, Mx = M' X, Sx = S' X

und es ergiebt sich dann aus der ersten der Gleichungen (81) der Werth
(82) X = .


Aufgabe 1.Gesucht ist die Einflusslinie für den Horizon-
talschub X eines kontinuirlichen Bogenträgers mit 3 Oeff-
nungen
. Die einzelnen Bögen sind bei B und C starr miteinander
verbunden; bei A und D, G und L sind Gelenke angeordnet. Ueber
den Mittelpfeilern liegen wagerechte Gleitlager, weshalb die Gegendrücke
B und C der Mittelstützen senkrecht wirken. Die Veränderlichkeit des
Bogenquerschnittes soll berücksichtigt werden; sodann ist anzunehmen,
dass der Bogen gleichmässig um t erwärmt wird, und, in Folge eines
Nachgebens der Widerlager, l in l + Δ l übergeht, während sich die
Mittelstützen um die sehr kleinen Strecken δ1 und δ2 senken.


Der Bogenträger ist einfach statisch unbestimmt; er geht im Falle
X = 0 in einen Gerber’schen Balken über, für den sich die Biegungs-
momente M0 und Längskräfte N0 leicht berechnen lassen.


[128]

Um die Unbekannte X mittelst der aus der Gleich. (82) folgenden
Formel
(I) X = *)
bestimmen zu können, muss zunächst der Zustand X = 1, welchem die

Fig. 101—104.


Momente M' und Längskräfte N' entsprechen, untersucht werden. Dieser
Zustand ist in Fig. 102 dargestellt. Ausser dem Horizontalschube „Eins“
wirken noch senkrechte Auflagerkräfte 1 · , denn es müssen, damit
sich die Bogenstücke A G und L D nicht um die Gelenke G und L drehen,
die Kämpferdrücke durch diese Gelenke gehen. Der Linienzug A R T D
ist (mit der Ausdrucksweise der graphischen Statik) das dem Zustande
X = 1 entsprechende Mittelkraftspolygon, und es ergiebt sich für irgend
einen Querschnitt des Bogenträgers das Biegungsmoment
M' = 1 · y,
wobei y den senkrechten Abstand des Querschnitts-Schwerpunktes vom
Mittelkraftspolygone bezeichnet. Die in Fig. 102 schraffirte Fläche ist
somit die dem Zustande X = 1 entsprechende Momentenfläche; der
mittlere Theil derselben ist positiv.


[129]

Ist φ der Neigungswinkel der Tangente an die Stabachse gegen
die Wagerechte, so ist die Längskraft für den Querschnitt durch den Be-
rührungspunkt:


  • 1) innerhalb einer Aussenöffnung: N' = — 1 · cos φ — 1 · sin φ,
  • 2) „ der Mittelöffnung: N' = — 1 · cos φ.

Da nun das über eine Aussenöffnung ausgedehnte Integral ∫ d s sin φ
= ∫ d y1 = 0 ist, weil B und A, desgl. C und D gleich hoch liegen,
so folgt
N' d s = — ∫ cos φ d s = — (l1 + l2 + l1) = — l.


Die virtuelle Arbeit L' der Auflagerkräfte ist, für den Zustand
X = 1 und bei den hier vorgeschriebenen Bewegungen der Stützpunkte:
L' =
und es entsteht, wenn Zähler und Nenner des Werthes für X (Gleichung I)
mit E Jc multiplicirt werden (unter Jc ein beliebiges, konstantes Quer-
schnitts-Trägheitsmoment verstanden) und die Bezeichnung
J cos φ = J'
eingeführt wird:
X = ,
wobei
𝔑 = .


Das erste Glied von 𝔑 ist gegen das zweite stets geringfügig, und
es genügt, dasselbe angenähert zu berechnen. Man setze für alle drei
Oeffnungen: N' = — 1 · cos φ und nehme für F sec φ einen konstanten
Mittelwerth Fc an; es entsteht dann
und
𝔑 =
*)


Nach Berechnung von 𝔑 braucht man, um X bestimmen zu können,
nur noch δ' anzugeben.


Es bedeutet δ' die unter der Last P gemessene Ordinate der für
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 9
[130] den Zustand X = 1 gezeichneten Biegungslinie, deren Differential-
gleichung
sec
unter Vernachlässigung des ganz unwesentlichen Gliedes
in
vereinfacht werden darf. Es folgt dann, wenn an Stelle der Linie mit
der Ordinate δ' diejenige mit der Ordinate E Jc δ' = η gesucht wird,
,
und es ergiebt sich nun im Anschlusse an die Entwickelungen des § 18
(wobei namentlich auf die Aufgabe unter 5 zu achten ist) die folgende
Darstellung der η-Linie.


Man bestimmt die Belastungslinie z = , wobei es sich empfiehlt
(damit die Gleichung — E Jc δ' = η besteht), das Vorzeichen der y um-
zukehren und die y zwischen G und L negativ anzunehmen. Hierauf
fasst man die in Fig. 103 mit I bezeichneten Flächen als Belastungs-
flächen einfacher Balken A' G' und L' D' auf, die mit II bezeichnete als
Belastungsfläche eines einfachen Balkens G' L' und zeichnet die zuge-
hörigen Momentenkurven A'' S G'', G'' Q L'' und L'' K D''. Nachdem hierauf
die Senkrechten durch die Stützpunkte B und C mit der Momenten-
kurve G'' Q L'' in B1 und C1 zum Schnitte gebracht worden sind, wird
der Linienzug A'' G1L1D'' eingetragen, dessen Eckpunkte G1 und L1
senkrecht unter den Gelenken liegen. Misst man nun unter der Last P
den senkrechten Abstand der Momentenkurve von dem Linienzuge
A'' G1L1D'', so besteht zwischen η und δ' die Beziehung
E Jc δ' = η
und es ergiebt sich der durch die Last P hervorgebrachte Horizontalschub
X = .


Sind die Momentenkurven A'' S G'', G'' Q L'', L'' K D'' Seilpolygone,
und ist der Polabstand = 𝔑, so folgt
X = P η.


Es ist dann die Fläche zwischen den Seilpolygonen und dem Linien-
zuge A'' G1L1D'' die Einflussfläche für X. Lasten zwischen B und C
erzeugen ein negatives X.


Besonders empfehlenswerth für den vorliegenden Fall ist die auf Seite 107
gelehrte Einführung von Einzellasten an Stelle der Belastungsflächen I und II.
[131] Vergl. auch Fig. 92. Wegen M' = 1 · y erhält man, wenn der Einfluss der
Längskräfte N auf die Werthe η vernachlässigt wird, nach Gleich. (64) und
(63) die im Knotenpunkte m anzunehmende Einzellast
wm = ωm = ,
wobei λc eine beliebige konstante Feldweite vorstellt. Zeichnet man zu diesen
Lasten w (welche zwischen G und L nach aufwärts, hingegen links von G und
rechts von L nach abwärts wirkend anzunehmen sind) die einfachen Momenten-
kurven A'' S G'', G'' Q L'' und L'' K D'' (Fig. 104), trägt den Linienzug A'' G1L1D''
ein und misst unter P die Ordinate η, so besteht die Beziehung — = η
und es folgt X = .


Nun ist
(nach Gleich. 68)
und ,
mithin ,
und man erhält, wenn a eine beliebig lange Strecke bedeutet,
X = , wobei 𝔋 = .


Sind die Linien A'' S G'', G'' Q L'', L'' K D'' Seilpolygone, welche zu den
Lasten w mit der Polentfernung 𝔋 gezeichnet wurden, so ist
X =
und, wenn die Lasteinheit P durch eine Strecke von der Länge a dargestellt
wird (Kräftemaassstab):
X = η.


Zu beachten ist, dass sowohl die Polentfernung 𝔋 als auch die Lasten w
„Strecken“ vorstellen, welche in beliebigem (vom Längenmaassstabe der Zeich-
nung unabhängigen) Maassstabe aufgetragen werden dürfen. Meistens ist λ
konstant; man wählt dann λc = wirkliche Feldweite und erhält
= 1. Ist ausserdem die Annahme: J' = Konst. zulässig, so wählt man Jc gleich
dem Mittelwerthe von J' und hat dann sehr einfach
wm = .


Bei kleiner Feldweite ist genügend genau wm = ym.


Aufgabe 2.Eine auf Pendelpfeilern ruhende Kette sei durch
senkrechte Stäbe mit einem Bogen verbunden, welcher an den Kämpfern
Gelenke besitzt. Auf den Bogen wirke eine Last P. Es soll der
Horizontalzug X' der Kette und der Horizontalschub X'' des Bogens
unter der Voraussetzung berechnet werden, dass sich die Stützpunkte
um beobachtete kleine Strecken verschieben und eine gleichmässige
Erhöhung der Anfangstemperatur um t stattfindet. Fig. 105.


Zunächst müssen die Spannkräfte in den Fachwerkstäben, sowie
9*
[132] die den Bogen beanspruchenden Biegungsmomente M und Längskräfte N
durch die Last P und die Unbekannten X' und X'' ausgedrückt werden.


a) Die Fachwerkstäbe. Es ergiebt sich für irgend ein Glied

Figure 79. Fig. 105.


der Kette, wenn α den Neigungswinkel desselben gegen die Wagerechte
bedeutet:
(I) S = X' sec α
und für irgend eine Hängestange G R, wenn αl und αr die links und
rechts von G R gelegenen Winkel α bedeuten:
(II) S = X' (tg αl — tg αr).
Für den linken Pendelpfeiler ist
(III) S = — X' (tg α1 + tg α2)
und für den rechten:
(IIIa) S = — X' (tg αn — 1 + tg αn).


b) Der Bogen. Die senkrechten Auflagerdrücke bei A und B
[133] seien = A bezieh. = B; sie mögen die Kette in L und T schneiden.
Die Gerade L T heisse die Schlusslinie, und es sei an der Stelle x
der senkrechte Abstand der Kette von der Schlusslinie = y' und die
Ordinate des Bogens = y''. Bei L denken wir die Kette durchge-
schnitten, zerlegen die Spannkraft X' sec α2 des geschnittenen Ketten-
gliedes in die Seitenkräfte Q' (in der Richtung der Schlusslinie) und Q''
(senkrecht) und schreiben die Momentengleichung für den Punkt T an;
sie lautet
(IV) (A + Q'') l — P b = 0,
und liefert A + Q'' = . Nun führen wir an der Stelle x einen
senkrechten Schnitt, welcher Bogen, Kette und Schlusslinie in D, K
und U trifft, verlegen Q' von L nach U, zerlegen sowohl Q' als auch
die Spannkraft S des vom Schnitte D U getroffenen Kettengliedes in
eine senkrechte und eine wagerechte Seitenkraft (welche letztere = X'
ist) und finden, wenn x \< a ist, das Biegungsmoment für den Bogen-
querschnitt bei D:
M = (A + Q'') x — X' y' — X'' y'' d. i.
M = x — X' y' — X'' y'',

während im Falle x \> a
M = x' — X' y' — X'' y''
erhalten wird, weshalb allgemein gesetzt werden darf
(V) M = M0X' y' — X'' y'',
wobei M0 = Biegungsmoment für einen bei A und B frei aufliegenden,
mit P belasteten Balken A S B.


Die Momentengleichung (IV) für den Punkt T lässt sich auch,
nach der (in Fig. 105 nicht angegebenen) Zerlegung von X' sec α2 in
X' (wagerecht) und X' tg α2 (senkrecht) in der Form schreiben:
(A + X' tg α2) l — X' c — P b = 0;
sie liefert dann den senkrechten Gegendruck des Bogenwiderlagers
(VI) A = ,
und ebenso lässt sich ableiten
(VII) B = ,
wobei αn — 1 den spitzen Neigungswinkel des vom Schnitte B T getrof-
fenen Kettengliedes ist.


Die Summe der auf das Bogenstück A D wirkenden senkrechten
Kräfte ist nun für x \< a:
[134]V =
und für x \> a
V = ,
weshalb man setzen kann
(VIII) V = V0X',
unter V0 die Querkraft (Vertikalkraft) für den Querschnitt x eines ein-
fachen Balkens A B verstanden.


Da die Summe der auf das Bogenstück A D wirkenden wagerechten
Kräfte = X'' ist, so ergiebt sich nach Gl. (56) für den Bogenquerschnitt
bei D die Längskraft
(IX) N = .


φ bedeutet den Neigungswinkel der in D an die Bogenachse ge-
legten Tangente gegen die Wagerechte.


Durch die abgeleiteten Gleichungen ist die Berechnung der In-
anspruchnahme unseres Stabwerks auf diejenige von X' und X'' zurück-
geführt.


c) Bestimmung von X' und X''. Es sollen die Gleichungen (81)
benutzt werden; dieselben gehen, wegen Δ t = 0, t0 = t und S'' = 0 *),
nach Multiplikation mit E Jc**) und mit der Bezeichnung J cos φ = J'
über in:
E Jc L' =
E Jc L'' = ,

und hierein ist zu setzen für den Bogen:
Mx = — X' y' — X'' y''; Nx = + X' sin φ — X'' cos φ
M' = — y'; N' = sin φ (Zustand X' = 1)
M'' = — y''; N'' = — cos φ; (Zustand X'' = 1)

und für sämtliche Fachwerkstäbe:
Sx = S' X',
wobei S' bez. den Koefficienten von X' in den Gleichungen I bis III bedeutet.


[135]

Mit der stets zulässigen Vernachlässigung des fast einflusslosen
Werthes N', sowie des ersten Gliedes des Ausdruckes für Nx, ergeben
sich zur Berechnung von X' und X'' die Gleichungen:
(X) *)


Die Summen Σ erstrecken sich über Kette, Hängenstangen und
Pendelpfeiler und die Integrale über den ganzen Bogen.


Um die virtuellen Arbeiten L' und L'' der Auflagerkräfte zu be-
rechnen, nehmen wir die Wagerechte durch die Punkte A und B relativ
festliegend an und bezeichnen die Verschiebungen der Stützpunkte N1
und N2 im Sinne von N1E1 bezieh. N2E2 mit ξ1 und ξ2, die Senkungen
der Punkte N3 und N4 mit ξ3 und ξ4 und die Vergrösserung der Stütz-
weite l mit Δ l. Es ist dann die von den Stützendrücken
X'', C1 = X' sec α1, C2 = X' sec αn,
C3 = X' (tg α1 + tg α2), C4 = X' (tg αn — 1 + tg αn)

geleistete virtuelle Arbeit:
𝔄 = — X'' Δ l — X' sec α1 · ξ1X' sec αn · ξ2X' (tg α1 + tg α2) ξ3
X' (tg αn — 1 + tg αn) ξ4

und es folgt für den Zustand X' = 1:
(XI) L' = — ξ1 sec α1 — ξ2 sec αn — ξ3 (tg α1 + tg α2)
— ξ4 (tg αn — 1 + tg αn)

und für den Zustand X'' = 1
(XII) L'' = — Δ l.


δ' und δ'' sind die unter der Last P gemessenen Ordinaten der
für die Zustände X' = 1 und X'' = 1 zu zeichnenden Biegungslinien
eines bei A und B frei aufliegenden Balkens A S B (des Hauptträgers
unseres Stabwerks); sie können mit Hilfe ihrer Differentialgleichungen:
(XIII)
berechnet oder nach der im § 18 gegebenen Anleitung auf graphischem
[136] Wege gefunden werden, während sich die in den Gleichungen (X) vor-
kommenden Integrale u. A. mittelst der Simpson’schen Formel er-
mitteln lassen. *)


Formeln für die durch einen Parabelbogen versteifte parabo-
lische Kette
. Sind f' und f'' die Werthe von y' und y'' bei x = ½ l, so ist
y' = und y'' =
und es folgt, wenn J' = J cos φ durch einen konstanten Mittelwerth Jc ersetzt wird,
(XIV) .


Die Gleichungen XIII gehen, mit Vernachlässigung der unwesentlichen,
von N' und N'' abhängigen Glieder, über in
und
,

und es ergeben sich nach Gleich. (76) bei x = a die Ordinaten
δ' = und δ'' = ,
wofür stets gesetzt werden darf (Gleich. 77):
(XV) δ' = und δ'' = .


Bei Berechnung der Summen Σ und Σ S' s ist es stets zulässig, nur
die Spannkräfte S' der Kette zu berücksichtigen; dieselben sind für die unter
α1, α2 ..... αn geneigten Stäbe bezieh.
1 · sec α1, 1 · sec α2, ......, 1 · sec αn,
so dass sich, wenn der Querschnitt der Kette dem Gesetze
F = Fs sec α
folgt, wobei Fs = Querschnitt der Kette im Scheitel,
ergiebt, und hierfür darf bei Annahme einer von L bis T stetig gekrümmten
Kette und wenn y den Abstand des bei x gelegenen Kettenpunktes von der
Wagerechten durch L bezeichnet, gesetzt werden
.**)


[137]

Bedeutet c den Höhenunterschied der Punkte L und T, so ist y = y'
, und es folgt somit (nach Ausführung der Inte-
gration):
(XVI) .


Werden die Werthe aus XIV, XV, XVI in X eingeführt und letztere
Gleichungen nach X' und X'' aufgelöst, so ergeben sich mit den Bezeichnungen:
(XVII)
und wenn (wie auf Seite 123) 35/48 auf ¾ abgerundet wird, folgende Ausdrücke
für X' und X'':


Die Last P erzeugt:
(XVIII) X' = und X'' = ,
die gleichmässige Erwärmung verursacht:
(XIX)
und eine Verschiebung der Stützpunkte bringt hervor
(XX) X' = und X'' = ,
wobei L' und L'' durch die Gleich. XI und XII gegeben sind.


Trägt man die Parabeln A' W' B' und A'' W'' B'' auf, deren Pfeilhöhen
beziehungsweise
h' = und h'' =
sind und bezeichnet die unter der Last P gemessenen Ordinaten dieser Parabeln
mit η' und η'', so findet man, dass
X' = Pη' und X'' = Pη''
gesetzt werden darf. Die Parabeln A W' B und A W'' B sind demnach die ge-
suchten Einflusslinien für X' und X''.


Horizontalzug der durch einenBalkenversteiften parabolischen
Kette
. Ordnet man bei A ein wagerechtes Gleitlager (das aber auch negative
Stützenwiderstände aufzunehmen im Stande sein muss) an, so ist X'' = 0. Der
Horizontalzug X' der Kette muss der Gleichung genügen (vergl. X):
E Jc L' = ,
und aus dieser folgt mit den durch die Gleichungen XIV und XV gegebenen
Werthen:
X' = ,
wobei
[138]ω =
ist, während L' durch die Gleich. XI bestimmt ist.


Den durch die Last P hervorgerufenen Horizontalzug kann man auch setzen:
X' = Pη',
wenn η' die unter P gemessene Ordinate einer Parabel A' W' B' bedeutet, deren
Pfeil h' = ist.


§ 21.
Fortsetzung.


Für den Fall, dass sämmtliche Unbekannten X Auflagerkräfte oder
Einspannungsmomente vorstellen, sollen die Gleichungen (32) noch auf
eine Form gebracht werden, die häufig eine besonders übersichtliche
Berechnung dieser Unbekannten gestattet.


1) Beliebige Belastung. Die Gleichungen (32) gehen mit
σ = σ0 + σ' X' + σ'' X'' + ......
über in
(83) ,
wobei σ', σ'', .... die Spannungen und L', L'', .... die virtuellen
Arbeiten der Auflagerkräfte für die Zustände X' = 1, X'' = 1, .....
sind. In Folge dieser Belastungszustände werden die Stützpunkte Ver-
schiebungen und die Auflagertangenten Drehungen erfahren, welche wie
folgt bezeichnet werden sollen:


Bedeuten m und n zwei beliebige Indices und ist Xm eine in m
angreifende Auflagerkraft, so sei


  • δm n die Verschiebung, welche der Punkt m im Sinne von Xm
    beim Eintreten des Zustandes Xn = 1 erfährt, und
  • δm t die in Folge einer Aenderung des Temperaturzustandes
    entstehende Verschiebung von m im Sinne von Xm,

während, falls Xm ein Einspannungsmoment vorstellt,


  • δm n und δm t die im Sinne des Momentes Xm gemessenen,
    bezieh. durch den Belastungszustand Xn = 1 und Tem-
    peraturänderungen hervorgerufenen Drehungen der durch
    den Punkt m gehenden Auflagertangente bedeuten. *)

Nun lautet die Arbeitsgleichung für den Zustand Xm = 1, unter
der Voraussetzung starrer und reibungsloser Widerlager:
[139],
wobei δm die Verschiebung von m im Sinne Xm und σm die durch den
Belastungszustand Xm = 1 erzeugte Spannung bedeutet; sie gilt für
beliebige zusammengehörige δm und Δ d sv und liefert, da dem Be-
lastungsfalle Xn = 1 der Werth und einer Aenderung der
Temperatur der Werth entspricht, die Verschiebungen:
und .


Es ergiebt sich mithin:
und es gehen die Gleichungen (83) über in
,
wobei zu beachten ist, dass δm · n = δn · m, also beispielsweise δ2 · 3 = δ3 · 2 ist.


2) Einfluss einer Einzellast. Wirkt auf das Stabwerk nur eine be-
liebig gerichtete Last P und bedeuten δ', δ'', δ''', .... die Verschiebungen,
welche der Angriffspunkt von P im Sinne von P erfährt, sobald bezieh.
die Zustände X' = 1, X'' = 1, ..... eintreten, so ist nach § 20:
und die Gleichungen (84) gehen über in:
*).


[140]

Bevor wir zur Durchführung eines Beispieles übergehen, bemerken
wir Folgendes:


Sollen die Gleich. 85 auf die Berechnung von statisch nicht be-
stimmbaren Auflagerkräften eines auf Biegung beanspruchten Stabes
angewendet werden, so wird bei der Ermittelung der δ', δ'', .... die
Gleichung der Biegungslinie stets in
vereinfacht werden dürfen, wobei J' = J cos φ ist. Sobald die Annahme
E J' = Const.,
erlaubt ist, was in der Regel der Fall sein wird, setze man bei der
Ermittelung der Biegungslinien (δ', δ'', δ''' ....): E J' = 1, integrire
also (auf analytischem oder graphischem Wege) Gleichungen von der Form
.


Man muss dann die in den Bedingungen (85) auf der linken Seite
stehenden Werthe Lm — ε t δm · t mit E J' multipliciren, desgl. den von
Längskräften N abhängigen Theil der Verschiebungen δm · n, während
der von den Biegungsmomenten abhängige Theil der δm · n ebenfalls
unter der Voraussetzung E J' = 1 berechnet wird.


Aufgabe.Gesucht sind die Stützenwiderstände eines durch
eine senkrechte Kraft P belasteten Bogenträgers mit 3 Oeff-
nungen
. Bei A und B sind Kämpfergelenke angeordnet; über den
Mittelpfeilern sind die einzelnen Bögen fest mit einander verbunden
und durch wagerechte Gleitlager unterstützt. E J' sei konstant.


Es bedeuten A und B die senkrechten Seitenkräfte der Kämpfer-
drücke, X' den Horizontalschub, X'' und X''' die senkrechten Gegen-
drücke der Mittelstützen. Im Falle X' = 0, X'' = 0, X''' = 0 liegt
ein an den Enden frei aufliegender Balken A B vor, und es nehmen
dann A und B die Werthe
an. Wirken auf diesen (den Hauptträger unseres Stabwerkes vor-
stellenden) einfachen Balken A B nur die wagerechten Kräfte X' = 1,
so ist der absolute Werth des Biegungsmomentes für irgend einen Quer-
schnitt: M' = 1 · y'. Die Fläche zwischen der Bogenachse und der
Geraden A B ist die Momentenfläche für den Zustand X' = 1; sie sei
kurz „Fläche I“ genannt.


Die „Momentenfläche II“ für den Zustand X'' = 1 ist ein Dreieck
A2S2B2 mit der Höhe , und die „Momentenfläche III“
[141] für den Zustand X''' = 1 ein Dreieck A3S3B3 mit der Höhe .
Die Biegungsmomente M'' und M''' für den beliebigen
Querschnitt D sind
M'' = — 1 · y'' und M''' = — 1 · y'''
und das gesammte Biegungsmoment für D wird
M = M0X' y'X'' y''X''' y''',
wobei (für den Hauptträger):
und .


Figure 80. Fig. 106.

Fasst man die Fläche I als Belastungsfläche eines einfachen Bal-
kens A1B1 auf und zeichnet die zugehörige Momentenkurve A1L1B1,
so erhält man in dieser die dem Zustande X' = 1 und der Voraus-
[142] setzung E J' = 1 entsprechende Biegungslinie, ihre unter dem Angriffs-
punkte C von P und unter den Stützpunkten C2 und C3 gemessenen
Ordinaten
δ', δ2 · 1, δ3 · 1
sind gleich den nach oben gerichteten, senkrechten Verschiebungen der
Punkte C, C2 und C3 für den Zustand X' = 1.


Ebenso bedeuten, wenn A2L2B2 und A3L3B3 die den Belastungs-
flächen II und III entsprechenden Momentenkurven der einfachen Balken
A2B2 und A3B3 sind, die Ordinaten
δ'', δ2 · 2, δ3 · 2
δ''', δ2 · 3, δ3 · 3

die nach oben gerichteten senkrechten Verschiebungen, welche die Punkte
C, C2, C3 bei Eintreten der Zustände X'' = 1 beziehw. X''' = 1 erfahren.


Da die Verschiebungen δ', δ'', δ''' entgegengesetzt gerichtet sind
wie P, während die Gleichungen (85) unter der Voraussetzung im Sinne
von P erfolgender Verrückungen δ', δ'', δ''' abgeleitet worden sind, und
da ferner bei Bestimmung dieser Verschiebungen E J' = 1 gesetzt wurde,
so müssen jene Gleichungen umgeformt werden in:

Die auf den rechten Seiten stehenden Verschiebungen δ sind (da
δ1 · 2 = δ2 · 1 und δ1 · 3 = δ3 · 1 ist) bereits bekannt bis auf δ1 · 1; letztere
bedeutet die mit E J' multiplicirte Verkürzung der Sehne l im Belastungs-
falle X' = 1; dieselbe ist, nach Gleich. (58 a) genügend genau
,
wobei F' den Mittelwerth von F sec φ und F den Inhalt des Bogen-
querschnitts bedeutet *), während
gesetzt werden darf, unter FI den Inhalt der Belastungsfläche I und
unter η den Abstand des Schwerpunktes dieser Fläche von der Geraden
A1B1 verstanden.


δ1 · t, δ2 · t, δ3 · t sind die im Sinne von X', X'', X''' positiv an-
genommenen Verschiebungen der Stützpunkte in Folge einer Tempe-
raturänderung. Wird eine gleichmässige Erwärmung um t ange-
nommen, so bleibt der Bogen seiner früheren Gestalt ähnlich; es
geht über:
l in l + ε t l, h2 in h2 + ε t h2, h3 in h3 + ε t h3,
[143] und es ergiebt sich
δ1 · t = — ε t l, δ2 · t = + ε t h2, δ3 · t = + ε t h3.


Aendert sich in Folge von Verschiebungen der Widerlager:
l in l + Δ l, h2 in h2 + Δ h2, h3 in h3 + Δ h3,
so ist die virtuelle Arbeit der Stützendrücke, bei relativ fest liegender A B:
𝔄 = — X' Δ l + X'' Δ h2 + X''' Δ h3,
und es folgt für den Zustand X' = 1: L' = — Δ l,
„ „ „ X'' = 1: L'' = + Δ h2,
„ „ „ X''' = 1: L''' = + Δ h3.


Nunmehr sind die sämmtlichen Konstanten der Gleichungen (I)
bestimmt, und es lassen sich die Werthe X', X'', X''' berechnen.


Wir geben die Auflösung für den Fall eines in Bezug auf die Mittelsenk-
rechte symmetrischen Trägers, setzen:
δ2 · 1 = δ3 · 1 = δ1,
δ2 · 2 = δ3 · 3 = δ2,
δ3 · 2 = δ2 · 3 = δ3,

führen für δ1 · 1 die Bezeichnung δ ein und erhalten mit den Abkürzungen:
die Auflagerkräfte:
.


Wird das eine der beiden festen Auflager A und B durch ein wagerechtes
Gleitlager ersetzt, so ist X' = 0; es entsteht ein kontinuirlicher Balken, dessen
Mittelstützen die Gegendrücke
X'' = P (α'' δ'' — α''' δ''') — ε E J' t (α'' h2α''' h3) + E J' (α'' Δ h2 + α''' Δ h3),
X''' = P (α'' δ''' — α''' δ'') — ε E J' t (α'' h3α''' h2) + E J' (α'' Δ h3 + α''' Δ h2)

ausüben.


Wird bei Lösung der vorstehenden Aufgabe eine Berücksichtigung der
Veränderlichkeit des Querschnittes verlangt, so ist leicht einzusehen, dass man
nur nöthig hat, die Belastungsordinaten y', y'', y''' der einfachen Balken
A1B1, A2B2, A3B3 durch die Ordinaten zu ersetzen,
wobei Jc ein beliebiges konstantes Querschnittsträgheitsmoment bedeutet. In
den Gleich. (I) muss dann Jc an die Stelle von J' treten, und schliesslich ist
zu setzen. *)


[144]

§ 22.
Schärfere Untersuchung einfach gekrümmter Stäbe.


1) Grundgleichungen für die Spannungen und Formänderungen.
Es wird, wie bei der bisherigen Untersuchung eines krummen Stabes
angenommen, dass dieser in Bezug auf die durch seine Mittellinie ge-
legte Ebene symmetrisch ist, dass alle äusseren Kräfte in jener Ebene
liegen, und nur die senkrecht zum Querschnitte wirkenden Spannungen
σ berücksichtigt zu werden brauchen. Hingegen wird die Voraussetzung
von im Verhältniss zu den Krümmungshalbmessern verschwindenden
Querschnittsabmessungen aufgegeben.


Indem der Querschnitt auf zwei durch seinen Schwerpunkt gehende
Koordinaten-Achsen (u und v) bezogen wird, deren eine (die u-Achse)

Figure 81. Fig. 107.


senkrecht zur Stabebene ist, wird angenommen,
dass in allen von der u-Achse gleichweit ab-
gelegenen Querschnittstheilchen gleich grosse
Spannungen σ und Temperaturänderungen t
entstehen, und die Berechnung der σ an die
Voraussetzung geknüpft, dass die vor der
Biegung ebenen Querschnitte auch nach der
Biegung Ebenen bleiben. *)


Sind in Fig. 107: A1B1 und A2B2 zwei
unendlich nahe Querschnitte, C1C2 = d s das
Element der Stabachse, C1D1 = C2D2 = + v,
D1D2 = d sv und ∠ A1O A2 = (— d φ), wobei φ den Winkel bedeutet,
den die im Punkte C1 an die Stabachse gelegte Tangente mit der
x-Achse eines rechtwinkligen Koordinatensystems (Fig. 85) bildet, so ist
vor Eintreten einer Verbiegung des Stabes, wenn r den Krümmungs-
halbmesser der Stabachse bezeichnet,
C1C2 = d s = — r d φ D1D2 = d sv = — (rv) d φ = d s + v d φ
und nach einer kleinen Verbiegung
C1C2 = d s + Δ d s, ∠ A1O A2 = — (d φ + Δ d φ),
D1D2 = d sv + Δ d sv = d s + Δ d s + (v + Δ v) (d φ + Δ d φ),

woraus, mit Vernachlässigung der sehr kleinen Grösse Δ v Δ d φ und mit
Beachtung von d s = d svv d φ:
(86) Δ d sv = Δ d s + Δ v d φ + v Δ d φ,
während andererseits entsteht
in Folge der Spannung ,
„ „ „ Temperaturänderung t: Δ d sv = ε t d sv

[145] und beim Zusammenwirken von σ und t:
,
so dass sich ergiebt:
.


Dividirt man Zähler und Nenner der rechten Seite dieser Gleichung
durch , so erhält man
,
worein zu setzen
,
unter den Koefficienten der Querdehnung verstanden; derselbe ist
für Metalle = bis .


Differentiirt man (88), um das nach Einführung von Δ v in dem-
selben stehende Integral zu beseitigen, so gelangt man zu einer Diffe-
rentialgleichung erster Ordnung zwischen den 3 Veränderlichen σ, v, t
und ist dann im Stande, σ als Funktion von v darzustellen, sobald t
als Funktion von v gegeben ist. Die beiden in σ noch enthaltenen
Unbekannten und können schliesslich mit Hilfe der Gleich-
gewichtsbedingungen
berechnet werden, unter N die Längskraft und unter M das Biegungs-
moment für den fraglichen Querschnitt verstanden. Vergl. Seite 66.


Wir wollen zunächst (vorbehaltlich einer späteren genaueren Unter-
suchung) den von σ abhängigen Theil von Δ v vernachlässigen und
Δ d v = ε t d v setzen; sodann wollen wir, ebenso wie beim geraden Stabe,
nur solche Temperaturzustände in Betracht ziehen, welche keinen un-
mittelbaren Einfluss auf die Spannungen σ haben.


Beim geraden Stabe wurde gezeigt, dass mit den äusseren Kräften
(P und C) auch die Spannungen σ verschwinden, sobald t eine Funktion
ersten Grades der Querschnittskoordinaten u und v ist; es können dann
durch Temperaturänderungen zwar beachtenswerthe Formänderungen,
aber nur im Falle statischer Unbestimmtheit Spannungen hervorge-
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 10
[146] rufen werden, sobald nämlich in Folge jener Temperaturänderungen
äussere Kräfte entstehen.


Es frägt sich nun:
Welchem Gesetze t = F (v) muss die Temperaturänderung
innerhalb des Querschnittes eines krummen Stabes folgen,
damit auch für diesen mit den äusseren Kräften die Span-
nungen verschwinden.


Wir gehen von der Gleichung
Δ d sv = Δ d s + Δ v d φ + v Δ d φ
aus, bezeichnen mit
t die Temperaturänderung an beliebiger Stelle v,
t0 „ „ für v = 0,
t1 „ „ „ v = + e1,
t2 „ „ „ v = — e2

setzen, da auf den Stab keine äusseren Kräfte wirken sollen und σ = 0
sein soll,
Δ d sv = ε t d sv = — ε t (rv) d φ
Δ d s = ε t0d s = — ε t0r d φ

und erhalten die Bedingung
.


Wird diese Gleichung differentürt, so entsteht, mit Δ d v = ε t d v:
und hieraus folgt:
.


Da nun für v = 0: t = t0 ist, so ergiebt sich
und
.


Setzt man erst v = — e2 und t = t2, hierauf v = + e1 und t = t1,
so findet man
,
und
,

[147] woraus sich mit der schon früher benutzten Bezeichnung t1t2 = Δ t
ergiebt:
und hierfür darf, mit e1 + e2 = h, stets gesetzt werden:
,
so dass schliesslich folgt
.


Im Falle r = ∞ entsteht, wegen
,
d. i. die früher vorausgesetzte geradlinige Funktion.


In der Regel werden die Ergebnisse von (91) und (92) nur wenig
von einander abweichen.


Indem wir in der Folge annehmen, dass sich t nach dem durch
die Gleichung 91 dargestellten Gesetze ändert, setzen wir:
und (angenähert):
.
*)


Um nun die durch äussere Kräfte erzeugten σ, Δ d s und Δ d φ zu
ermitteln, setzen wir, indem wir t = 0 und mithin auch Δ v = 0 an-
nehmen,
,
führen diesen Werth in die Gleichgewichtsbedingungen ein und erhalten
die Beziehungen
.


10*
[148]

Aus diesen ergeben sich, wenn
gesetzt wird, mit Hilfe der Integralwerthe:
die Ausdrücke:
und es folgt mithin
, wobei
.


Fügt man zu Δ d s und Δ d φ die vorhin gefundenen, unmittelbar
von t0 und Δ t abhängigen Werthe, so erhält man für den vorhin er-
klärten Temperaturzustand:
.


Im Falle r = ∞ ist
,
es entstehen die früher für den geraden Stab abgeleiteten Gleichungen,
welche auch dann noch anwendbar sind, wenn zwar r einen endlichen,
aber, verglichen mit dem grössten v, sehr grossen Werth besitzt.


2) Reihenentwickelung von Z. Setzt man
,
so erhält man
und für den Fall eines bezüglich der u-Achse symmetrischen Querschnittes:
[149]

Für das Rechteck von der Breite b und der Höhe h ergiebt sich
mit d F = b d v und :
u. s. w.
.


Im Falle r = 5 h wird z. B. Z = 1,006 J, und es leuchtet ein,
dass bei der Berechnung der im Brückenbau und Hochbau vorkommenden
Bogenträger stets Z = J gesetzt werden darf.


Für einen Kreisquerschnitt vom Halbmesser e ergiebt sich in
ähnlicher Weise
.


3) Arbeitsbedingungen. Berechnung statisch nicht bestimm-
barer Grössen.
Für die Folge sollen nur solche auf ein festes Ko-
ordinatensystem bezogene Verrückungen δ und
Δ c der Angriffspunkte der äusseren Kräfte P
und C in Betracht gezogen werden, welche
durch Aenderungen der die Gestalt der Stabachse
bestimmenden Werthe d s und d φ bedingt sind.
Man hat sich also entweder sämmtliche äusseren
Kräfte in Punkten der Stabachse angreifend zu
denken (wie dies in der Regel geschieht) oder
man muss eine starre Verbindung ihrer Angriffs-
punkte mit der Stabachse voraussetzen.


Figure 82. Fig. 108.

Um zu einem sehr übersichtlichen Ausdrucke für die virtuelle Form-
änderungs-Arbeit zu gelangen, denken wir uns durch zwei unendlich
nahe Querschnitte I und II (Fig. 108) ein plattenförmiges Stabstück ab-
gegrenzt und ersetzen die Spannungen σ eines jeden Querschnittes durch
die im Querschnittsschwerpunkte angreifende Längskraft und
ein Kräftepaar mit dem Momente . Letzteres ist für den
Querschnitt I rechts drehend. Verschiebt sich nun, bei relativ fest-
[150] liegendem Querschnitte II, der Querschnitt I im Sinne von N um Δ d s,
so leistet N die virtuelle Arbeit N Δ d s, während bei der hierauf vor-
genommenen Drehung des Querschnittes um den Winkel Δ (— d φ) das
Kräftepaar die Arbeit — M Δ (— d φ) verrichtet, wobei das erste Minus-
zeichen nöthig ist, weil Δ (— d φ) die Vergrösserung des ursprünglich
von den beiden Querschnitten gebildeten Winkels (— d φ) vorstellt, mit-
hin der Sinn der Querschnittsdrehung demjenigen des Kräftepaares ent-
gegengesetzt ist. Die virtuelle Formänderungs-Arbeit ist für die be-
trachtete Platte
d Av = N Δ d s + M Δ d φ
und für den ganzen Stab:
.


Die Arbeitsgleichung, welche ausdrückt, dass die von den äusseren
Kräften P und C geleistete virtuelle Arbeit gleich der virtuellen Form-
änderungs-Arbeit ist, lautet, mit den auf Seite 7 erklärten Bezeichnungen,
;
sie gilt für beliebige mögliche, verschwindend kleine Verschiebungen und
möge zunächst mit der im § 13 entwickelten Arbeitsbedingung verglichen
werden. Dazu führen wir ein:
,
erhalten
und setzen, indem wir die durch irgend einen, mittelst des Index a
gekennzeichneten Belastungszustand sowie durch Temperaturänderungen
hervorgerufenen Verschiebungen δa, Δ ca, Δ d sa, Δ d φ a einführen, nach
den Gleich. (86) und (87):
.


Wir gelangen, mit der abkürzenden Bezeichnung
zu der, irgend einem nur gedachten Belastungszustande, welcher von
dem die Verschiebungen erzeugenden (a) durch den Index b unterschieden
werde, entsprechenden Arbeitsgleichung:
[151];
diese hat die gleiche Form, wie die aus (28) und (31) auf Seite 59 und
60 für den geraden Stab sich ergebende und als Annäherungsgleichung
für Bögen mit grossen Krümmungshalbmessern bislang benutzte Beziehung
und es geht thatsächlich (102) in (103) über, sobald r = ∞ also ε' = ε
gesetzt wird, womit dann gleichzeitig σ den durch die Gleich. (40) ge-
gebenen Werth annimmt. *)


Aus der übereinstimmenden Form der Gleich. (102) und (103) folgt
überdies, dass die früher für den Fall eines beliebig veränderlichen ε t
und für beliebige σ gegebenen Ableitungen, namentlich die zu dem Max-
well’schen Satze führenden Gleichungen (73), (74) sowie die Gleichungen
(80), (84), (85) auch bei den in diesem Paragraphen gemachten Voraus-
setzungen giltig sind.


Die weiteren Entwickelungen knüpfen wir an die Gleichung (101);
die Anwendung derselben auf die Belastungszustände X' = 1, X'' = 1,
..... führt, wenn diesen Zuständen beziehungsweise die Längskräfte
N', N'', .... und Biegungsmomente M', M'', .... entsprechen, zu den
die Berechnung der statisch nicht bestimmbaren Grössen X ermöglichenden
Beziehungen:
,
wobei L', L'', ..... die von den Auflagerkräften bei Eintreten jener
Belastungszustände geleisteten virtuellen Arbeiten bedeuten.


Die Gleichungen (104) lassen sich auch durch die Bedingung
ersetzen, unter X irgend eine statisch nicht bestimmbare Grösse und
unter L die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den Zustand X = 1
verstanden.


[152]

Drückt man Δ d s und Δ d φ mittelst der eine ungleichmässige Er-
wärmung berücksichtigenden, hingegen an die Voraussetzung
gebundenen Gleich. (97) und (98) aus, so gehen die Beziehungen (104)
über in
,
wobei
, .....
ist, und Gleich. (105) lautet:
;
sie lässt sich, mit der Bezeichnung
auch schreiben:
,
und im Falle L = 0:
Ai = minimum,
wobei Ai bei angenommenen Lasten und Temperaturänderungen als
Funktion der zunächst unabhängig veränderlich gedachten X aufzufassen ist.


Beispiel. Ein Bogenträger mit Kämpfergelenken, dessen Mittel-
linie A B ein Kreisbogen ist, wird in der Mitte durch eine senkrechte

Figure 83. Fig. 109.


Kraft P belastet. Es soll der
Horizontalschub X mit Hilfe der
Gleich. (107) unter der Voraus-
setzung bestimmt werden, dass
l in l + Δ l übergeht und der
Bogen gleichmässig um t er-
wärmt wird.


Für den Bogenquerschnitt
bei ist (wenn φ0 den
Werth von φ bei x = 0 bedeutet)
,
[153],

während die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den Fall X = 1:
L = — 1 · Δ l
wird. Mit d s = — r d φ, t0 = t und Δ t = 0 folgt deshalb bei konstantem
E, F und Z, wenn gesetzt wird:
,
und hieraus ergiebt sich
.


4) Verschiebungen und Drehungen. Die Verschiebung δ des
Angriffspunktes einer Last P (die auch = 0 sein kann) im Sinne von
P ist
,
wobei = Längskraft,
= Biegungsmoment,
= virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte

für den Fall, dass P = 1 wird und sämmtliche statisch nicht bestimm-
baren Grössen X verschwinden, während Δ d s und Δ d φ demjenigen Be-
lastungszustande entsprechen müssen, welcher die Verschiebung δ hervor-
bringt. Man darf auch setzen
[154].


Die Einführung der für Δ d s und Δ d φ durch die Gleich. (97) und
(98) gegebenen Werthe liefert die den Gleichungen 54 und 55 gegen-
über zu stellenden Beziehungen
,
wobei
ist. In derselben Weise ergiebt sich für die Aenderung Δ φ des Neigungs-
winkels φ irgend einer an die Stabachse gelegten Tangente die Gleichung
,
in welcher und M̅ bezieh. die Längskraft und das Biegungsmoment
für den Fall bedeuten, dass an der als starre, mit dem betrachteten
Stabe fest verbundene Linie aufzufassenden Tangente und im Sinne der
gesuchten Drehung ein Kräftepaar angreift, dessen Moment gleich „Eins“
ist, während die Grössen X verschwinden. stellt die virtuelle Arbeit
der Auflagerkräfte für diesen Belastungszustand dar. An Stelle von
Gleich. (115) darf auch gesetzt werden:
,
wenn 𝔐 das beliebig grosse Moment eines an der Tangente angreifenden
Kräftepaares vorstellt. Vergl. Seite 64.


Beispiel. Es soll die Verlängerung Δ l der Sehne A B̅ = l eines
ungleichmässig erwärmten krummen Stabes ohne Zwischengelenke be-
stimmt werden. Fig. 82.


Man erhält
,
wobei N und M der wirklichen Belastung entsprechen, während und
M̅ bezieh. die Längskraft und das Biegungsmoment bedeuten, welche
[155] für irgend einen Querschnitt des Bogens durch zwei in die Gerade A B
fallende, im Sinne der gesuchten Verschiebung Δ l wirkende Kräfte „Eins“
hervorgebracht werden.


Es ist = 1 · cos φ, M̅ = 1 · y und
,
mithin ergiebt sich, bei konstantem ε, t0, Δ t:
.


Beispielsweise ist für einen Halbkreisbogen, welcher die in Fig. 110
dargestellte Belastung durch zwei Kräfte Q erfährt:

Figure 84. Fig. 110.


und, wegen d s = — r d φ, bei konstantem E, Z, h:
.


5) Die Biegungslinie. Setzt man in die im § 18 für die Biegungs-
linie eines einfach gekrümmten Stabes entwickelte Gleichung:
,
die durch die Gleich. (97) und (98) für Δ d φ und Δ d s gegebenen
Werthe ein, so erhält man (mit d x = d s cos φ = — r d φ cos φ):
,
[156] und es lassen sich jetzt, ebenso wie im § 18, die Verschiebungen δ
mittelst eines Seilpolygons darstellen, dessen Belastungsordinate
ist. Sind Zwischengelenke vorhanden, so ist nach Seite 112 zu verfahren.


Für manche Fälle ist es vortheilhaft, Gleich. (120) umzuformen in
;
hierbei ist t0 für sämmtliche Punkte der Stabachse gleich gross ange-
nommen.


Beispiel 1. Gesucht ist die Biegungslinie eines Halbkreisbogens,
welcher nach Fig. 110 durch zwei Kräfte Q belastet wird. Es sei t = 0.


Für den Stabquerschnitt bei x ist
,
mithin .


Nach § 18 stimmt die gesuchte Biegungslinie mit der Momenten-
kurve eines einfachen Balkens überein, dessen Längeneinheit die kon-
stante Belastung
trägt, und es ist mithin die Biegungslinie eine Parabel, deren Pfeil
ist, und deren Gleichung
lautet.


Beispiel 2. Gesucht sei für einen Bogenträger mit halbkreisförmiger
Mittellinie der durch eine Einzellast P, eine gleichmässige Erwärmung
um t und eine Vergrösserung der Stützweite l um Δ l erzeugte Ho-
rizontalschub X. Der Querschnitt sei konstant, und an den Kämpfern
mögen Gelenke liegen. Fig. 111.


Nachdem für den in Fig. 110 dargestellten Belastungsfall (mit
Q = 1) die Biegungslinie A' S' B' und die Verlängerung
[157] (nach Gleich. 119)
der Sehne A B ermittelt worden sind, wird, genau wie auf Seite 122,

Figure 85. Fig. 111.


mit Hilfe des Maxwell’schen Satzes der Werth gefolgert:
,
wobei δ die unter der Last P gemessene Ordinate der Linie A' S' B'
bedeutet. Wegen
(nach Gleich. 124)
ergiebt sich
.


Bei ungleichmässiger Erwärmung tritt nach Gl. (119) an die Stelle
von 2 ε t r der Werth .


Ist beispielsweise r = 12 h und , so folgt , und der
durch die ungleichmässige Erwärmung erzeugte Horizontalschub ergiebt sich
viermal so gross wie der für den Fall t = Konst. entstehende. Man ersieht
hieraus, welch grossen Einfluss eine ungleichmässige Erwärmung oder Ab-
kühlung haben kann.


6) Berücksichtigung der Aenderung der Querschnittsab-
messungen bei Berechnung der σ, Δ d s und Δ d φ.
Die Differen-
tiation der aus Gleich. (86) und (87) folgenden Beziehung
liefert, wenn zunächst der Zustand t = 0 vorausgesetzt wird,
,
[158] worein zu setzen
.


Es entsteht mit der Abkürzung :
und hieraus durch Integration *)
,
wobei C die Integrationskonstante bedeutet. Für v = 0 soll sein:
, und es folgt daher
, mithin
und schliesslich
,

wobei
und .


Die beiden Gleichgewichtsbedingungen
gehen über in
und liefern, mit den Bezeichnungen:
die Werthe
[159],
weshalb sich für die Spannung σ der Ausdruck ergiebt
(125) ;
derselbe bleibt bei Eintreten einer ungleichmässigen Erwärmung un-
geändert, sobald t dem durch die Gleich. (91) gegebenen Gesetze folgt.


Bestimmt man noch und und
fügt zu diesen Werthen die für jene ungleichmässige Erwärmung auf
Seite 146 und 147 nachgewiesenen Beiträge und
, so gelangt man zu
(126)


Für ein Rechteck von der Breite b und der Höhe h ergiebt sich
beispielsweise, wegen d F = b d v:
; , wobei
,
.


Ist r = 5 h und m = 3, so erhält man ω1 = 0,201042, ω2 = 0,200148,
= 5 ω1 = 1,005210, r K2 = 25 F h1 — ω2) = 0,02235 b h2,
und für v = + ½ h bezieh. v = — ½ h:
.


Die Anwendung der Gleich. (96) hätte mit Z = 1,006 J geliefert:
[160] und die für den geraden Stab abgeleitete Gleich. (40):
.


Abschnitt III.


§ 23.
Drehungsfestigkeit.


1) Spannungen. Wird ein gerader Stab durch Kräftepaare be-
ansprucht, deren Ebenen die Stabachse rechtwinklig schneiden, so besitzen
nur die in den Querschnitten hervorgerufenen und in der Folge mit τ

Figure 86. Fig. 112.


bezeichneten Schubspannungen einen wesentlichen
Einfluss auf die Formänderung. Auf jeden
Querschnitt wirkt ein Moment Md, welches das
Drehungs- oder Torsions-Moment genannt
wird und gleich der algebraischen Summe der
Momente der zwischen jenem Querschnitte und
dem Stabende angreifenden Kräftepaare ist.


Ist der Querschnitt ein Kreis vom Radius
e, auf welchen Fall die folgenden Untersuchungen beschränkt bleiben
mögen, so ist die in irgend einem Punkte C (Fig. 112) auftretende Schub-
spannung τ rechtwinklig zu der von C nach dem Kreismittelpunkte S
gezogenen Geraden, deren Länge S̅ C̅ = ρ sein möge, und es verhält sich,
wenn τ1 den Werth von τ für ρ = e bedeutet,
τ : τ1 = ρ : e.


Das Gleichgewicht zwischen den inneren und äusseren Kräften ver-
langt:
,
wobei das Integral über den ganzen Querschnitt auszudehnen ist, und
es ergiebt sich, wenn
(127) ∫ ρ2d F = Jp
gesetzt wird,
(128) .


[161]

2) Drehungswinkel. Der von irgend einem auf der Stabachse
angenommenen Ausgangspunkte A um s ent-
fernte Querschnitt D wird sich gegen den bei
s + d s gelegenen Querschnitt D1 um einen
Winkel d ϑ drehen, und hierbei wird sich der
Angriffspunkt C der Schubspannung τ gegen
den gleich gelegenen Punkt C1 des Querschnittes
D1 um ρ d ϑ verschieben. Ist C' die neue Lage
von C und setzt man

Figure 87. Fig. 113.


C' C1C = γ,
so folgt C'̅ C̅ = γ d s, und es ist mithin ρ d ϑ = γ d s, woraus sich
ergiebt. Man nennt γ die Gleitung im Punkte C; sie ist der Spannung
τ proportional und durch
(129)
gegeben, wobei G den Gleitmodul (Schub-Elasticitätsmodul) bedeutet.


Der Ausdruck für d ϑ geht nun über in
(130)
und die Drehung des Querschnittes D gegen einen um s von ihm ent-
fernten Querschnitt wird
(131) .*)


Zwischen den beiden Elasticitätsmoduln E und G besteht die Beziehung
(132) ,
wenn den Koefficienten der Querdehnung bedeutet. Für Metalle ist
m = 3 bis 4.


3) Die Arbeitsgleichung. Da man alle in einem Querschnitte
wirksamen Schubkräfte zu einem Kräftepaare vereinigen kann, dessen
Moment den absoluten Werth Md hat, so ist die virtuelle Arbeit dieser
Schubkräfte bei einer Drehung des Querschnittes um einen beliebigen
Winkel d ϑ (wenn der um d s entfernte Nachbarquerschnitt relativ fest liegt):
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 11
[162]d Av = Md d ϑ,
und es ergiebt sich die virtuelle Formänderungs-Arbeit des ganzen Stabes
Av = ∫ Md d ϑ.


Die Arbeitsgleichung lautet mit den auf Seite 7 erklärten Bezeich-
nungen P, C, δ, Δ c:
(133) Σ P δ + Σ C Δ c = ∫ Md d ϑ;
sie gilt im Falle des Gleichgewichtes zwischen den äusseren und inneren
Kräften für beliebige, verschwindend kleine, zusammengehörige Form-
änderungen und kann in derselben Weise wie die entsprechenden Arbeits-
gleichungen der Abschnitte I und II benutzt werden, um statisch nicht
bestimmbare Grössen X und Verschiebungen δ zu ermitteln. Die theil-
weise Differentiation von Gleich. 133 nach einer Grösse X oder einer
Last P führt zu den Beziehungen
(134) und
(135) ,

wobei die Lasten P und die Grössen X als unabhängige Veränderliche
aufzufassen sind. L bedeutet, wie früher, die virtuelle Arbeit der Auf-
lagerkräfte für den Zustand X = 1.


4) Zusammensetzung von Drehungs- und Biegungs-Festigkeit.
Die Gleichungen (134) und (135) eignen sich besonders für die Be-
urtheilung des Einflusses der Drehungsmomente in Fällen gleichzeitiger
Beanspruchung auf Drehungs- und Biegungs-Festigkeit, namentlich für
die Untersuchung von Stäben kreisförmigen Querschnitts, die bei beliebiger
Gestalt der Mittellinie durch irgend welche Kräfte belastet werden.


Ist die Mittellinie des Stabes eine Kurve doppelter Krümmung, so
beziehe man den Querschnitt auf rechtwinklige Koordinatenachsen (u, v)
und lasse die v-Achse mit dem Krümmungsradius (d. h. also mit der
Hauptnormale) zusammenfallen; die u-Achse steht dann senkrecht zur
Schmiegungsebene und deckt sich mit der Binormale. Nun denke man
den Stab durch den fraglichen Querschnitt in zwei Theile zerlegt, ersetze
die Mittelkraft R der auf den einen der beiden Theile wirkenden äusseren
Kräfte durch die aufeinander senkrechten Seitenkräfte:
N (Längskraft) senkrecht zur Querschnittsebene,
Qu (Querkraft) parallel der u-Achse,
Qv „ „ „ v-Achse

und bestimme die von der Kraft R ausgeübten Momente:
Md, in Bezug auf eine zum Querschnitte senkrechte Achse,
Mu, „ „ „ die u-Achse,
Mv, „ „ „ „ v-Achse.


[163]

In Folge von N und Mu entsteht nach § 22, Gl. 96 in irgend einem
Querschnittspunkte (u, v) die Spannung
,
wobei
,
,
, F = π e2, e = Halbmesser des Kreisquerschnittes,
r = Krümmungshalbmesser der Mittellinie,

während die durch das Moment Mv erzeugte Spannung σ mittelst der
für den geraden Stab entwickelten Formel
zu berechnen ist, da die Schmiegungsebene drei aufeinander folgende
Punkte der Mittellinie enthält.


Zu der gesammten Längsspannung
(136)
tritt noch eine Schubspannung, welche mit der hier als zulässig an-
genommenen Vernachlässigung der von Qu und Qv abhängigen Beiträge
gleich
(137)
ist, und es ergiebt sich hiermit die Inanspruchnahme an der Stelle (u v):
(138)


Hinsichtlich der Vorzeichen der von den äusseren Kräften abhängigen
Werthe gilt Folgendes:


Das Moment Mu ist positiv, sobald es den Krümmungshalb-
messer r der Stab-Mittellinie zu vergrössern sucht; der Krümmungs-
mittelpunkt muss hierbei auf dem positiven Theile der v-Achse
liegen, vergl. § 22.


Das Moment Mv ist positiv, sobald es bestrebt ist, auf der
Seite der positiven u-Achse Zugspannungen hervorzubringen.


Die Längskraft N ist positiv, sobald sie den Stab an der
betrachteten Stelle zu zerreissen trachtet.


Das Vorzeichen von Md ist gleichgiltig, da in k die Schubspannung
τ nur im Quadrat vorkommt.


11*
[164]

Statisch nicht bestimmbare Grössen X lassen sich (für den in der
Folge vorausgesetzten Zustand t = 0) mit Hilfe der aus (53), (107)
und (134) sich ergebenden Arbeitsbedingung
(139)
ermitteln, und zur Berechnung von Verschiebungen δ kann die Gleichung
(140)
benutzt werden.


Aufgabe 1. Ein Ring von konstantem Querschnitte und kreisförmiger

Figure 88. Fig. 114.


Mittellinie (Fig. 114) wird
bei A durchschnitten und
unmittelbar zu beiden
Seiten der Schnittstelle
von zwei entgegengesetzt
gleichen, zur Stabebene
rechtwinkligen Kräften P
ergriffen. Es soll angegeben
werden, um wie viel sich
der Ring, dessen Quer-
schnitt ein Kreis vom Halb-
messer e ist, bei A öffnet,
und wie gross seine Beanspruchung ist.


Bedeuten y und x die von A auf eine beliebige Tangente und den
durch ihren Berührungspunkt gehenden Halbmesser gefällten Lothe, so
entsteht in Bezug auf die in die Stabebene fallende v-Achse jenes Quer-
schnittes das Biegungsmoment
Mv = P x.


Das Drehungsmoment ist
Md = P y
und die gesuchte Oeffnungsweite:
.


Mit Rücksicht auf
[165] und
folgt:
,
und beispielsweise für m = 3, mit :
.


Die Inanspruchnahme des Ringes ist nach (138) mit m = 3:
worein zu setzen:
.


Es folgt .


Dieser Werth wird am grössten für φ = 137° 4' und zwar ergiebt
sich hiermit
.*)


Aufgabe 2. Ein Stab A S A (Fig. 115) mit halbkreisförmiger, in
einer wagerechten Ebene gedachten Mittellinie und konstantem Quer-
schnitte ist an beiden Enden fest eingespannt und mit einer Kraft 2 P
belastet, welche in der zur Stabebene senkrechten Symmetrieebene liegt,
mit der Stabebene den Winkel α einschliesst und auf der im Halbirungs-
punkte S des Kreisbogens zur Stabebene errichteten Senkrechten die
Strecke S B = c abschneidet. Es soll die Inanspruchnahme des Stabes,
dessen Querschnitt ein Kreis vom Radius e ist, ermittelt werden.


Wir denken den Stab bei S aufgeschnitten, nehmen an jeder Stab-
hälfte die Kraft P an und ersetzen die in der Schnittfläche bei S wirkenden
[166]

Figure 89. Fig. 115.


inneren Kräfte durch ihre Mittelkraft H. Wegen der Symmetrie des
Belastungszustandes ist H parallel der in S an die Stabachse gelegten

Figure 90. Fig. 116.


Tangente T T; sie habe von der Stabebene den
Abstand b, während die Entfernung ihrer Pro-
jektion auf die Stabebene vom Punkte S gleich
a sein möge, und es werde gesetzt
H a = M1; H b = M2.


Nach Zerlegung von P in P' = P cos α
und P'' = P sin α ergiebt sich für einen be-
liebigen Querschnitt D (vergl. Fig. 116, in
welcher die auf eine Stabhälfte wirkenden
Kräfte auf die Stabebene projicirt sind):
die Längskraft N = H cos φ + P' sin φ,
das um die zur Stabebene senkrechte u-Achse drehende Biegungs-
moment
Mu = P' r sin φ — H (r + ar cos φ)
= P' r sin φ — H r (1 — cos φ) — M1,
das um die in die Stabebene fallende v-Achse drehende Biegungs-
moment (nach Zerlegung von H in H cos φ und H sin φ)
Mv = — P''r sin φ — P' sin φ · cH cos φ · b
= — (P'' r + P' c) sin φ — M2 cos φ
und das um die in D an die Stabachse gelegte Tangente T1T1
drehende Torsionsmoment
Md = P'' r (1 — cos φ) — P' c cos φ + M2 sin φ.


Sind nun H, M1, M2 bekannt, so vermag man für jeden Punkt
u, v des Querschnittes die Spannungen σ und τ sowie die Inanspruchnahme
k mit Hilfe der Gleichungen (136) bis (138) anzugeben, worauf der stets
einem Umfangspunkte entsprechende Werth kmax berechnet werden kann.


Die statisch nicht bestimmbaren Grössen H, M1, M2 lassen sich
mittelst der Bedingung
[167],
in welcher ist, berechnen; man hat nur
nöthig, für X der Reihe nach H, M1 und M2 zu setzen, um drei
Gleichungen mit drei Unbekannten zu erhalten.


Zunächst sollen die in jenen drei Gleichungen vorkommenden,
zwischen den Grenzen 0 und ½ π zu nehmenden Integrale gesondert
berechnet werden. Es ist, mit d s = r d φ:
,
,
,
,
,
,
,
und es lautet daher die obige Arbeitsgleichung
[168]für X = H:
,
für X = M1:
,
für X = M2:
.


Setzt man zur Abkürzung
und beachtet, dass ist, so ergeben sich aus den drei
Bedingungen die Werthe:
,
,
.


Die gestellte Aufgabe ist hiermit gelöst.


Ist die Last 2 P parallel zur Stabebene, d. h. ist α = 0, so er-
giebt sich
.


H und M1 sind unabhängig von c; beide Werthe hätten mit Hilfe
der im § 22 für den einfach gekrümmten Stab gegebenen Gesetze ent-
wickelt werden können.


Ist die Last 2 P senkrecht zur Stabebene (α = 90), so ergiebt sich
.


Für eine beliebige, jedoch in Bezug auf den Halbirungspunkt S des Bogens
A S A symmetrische Belastung erhält man
𝕹 = F (P) + H + ; Mu = F1 (P) — H r (1 — cos φ) — M1;
Mv = F2 (P) — M2 cos φ Md = F3 (P) + M2 sin φ,

wobei F (P), F1 (P), F2 (P), F3 (P) gegebene Funktionen der Lasten sind. Die
nach H, M1 und M2 gebildeten theilweisen Differentialquotienten der Grössen
𝕹, Mu, Mv, Md behalten die oben angegebenen Werthe, und es ergeben sich
daher, wenn der Reihe nach X = H, X = M1, X = M2 gesetzt wird, die Be-
dingungen:
(I)
[169](II)
(III) ,

in denen alle Integrale zwischen den Grenzen 0 und ½ π zu nehmen sind.


Für den Fall, dass alle Lasten, die theils senkrecht zur Stabebene, theils
in dieser Ebene wirken mögen, in Punkten der Stabachse angreifen und der
Querschnit des Stabes, desgl. E und G konstant sind, lässt sich Gleich. III
noch wie folgt vereinfachen.


An einem Stabstücke d s wirken, um die Tangente T1T1 drehend, die
Momente Mv d φ (gewonnen durch Zusammensetzung der auf die Endquerschnitte
des Stabstückes wirkenden Momente Mv und Mv + d Mv) und d Md (Unterschied
zwischen den auf jene Endquerschnitte wirkenden Drehungsmomenten), und
es erfordert das Gleichgewicht das Bestehen der Beziehung:
Mv d φ + d Md = 0.


Verbindet man diese Gleichung mit der durch theilweise Integration ge-
folgerten:
und beachtet, dass φ = 0 und φ = ½ π beziehungsweise liefern: Md = 0 (wegen
der Symmetrie des Belastungszustandes) und cos φ = 0, so erhält man
,
und es geht deshalb (bei konstantem E, J, G, Jp) Gleich. III über in
(IIIa) ;
sie gilt für Stäbe mit beliebig geformtem, jedoch in Bezug auf die v-Achse
symmetrischem und konstantem Querschnitte.


§ 24.
Gesetze für beliebige isotrope, feste Körper.


1) Arbeitsbedingungen. Im Inneren eines festen Körpers, dessen
äussere und innere Kräfte mit einander im Gleichgewichte sein mögen,
sei ein Parallelepipedum abgegrenzt, dessen Kanten den Achsen eines
rechtwinkligen Koordinatensystems parallel sind und die anfänglichen
Längen d x, d y, d z haben.


Die Spannung in der zur x-Achse senkrechten, den Punkt (x, y,
z
) enthaltenden Seitenfläche d y d z sei in die Seitenspannungen
σx, parallel der x-Achse und positiv, wenn im Sinne von (— x) wirkend,
τx y, „ „ y-Achse „ „ „ „ „ „ (— y) „,
τx z, „ „ z-Achse „ „ „ „ „ „ (— z) „,
[170]

Figure 91. Fig. 117.


zerlegt, und in gleicher Weise mögen die Spannungen in den dem
Punkte O anliegenden Seitenflächen d z d x und d x d y durch ihre Seiten-
spannungen
σy, τy z, τy x,
σz, τz x, τz y

gegeben werden. Die σ sind Zug- oder Druckspannungen, die τ Schub-
spannungen.


Wird die Momentensumme aller auf das Parallelepipedum d x d y d z
wirkenden Kräfte in Bezug auf die der y-Achse parallele Schwerachse

Figure 92. Fig. 118.


des Körpertheilchens gleich Null
gesetzt und hierbei davon ab-
gesehen, dass sich die Spannungen
in gegenüberliegenden Seiten-
flächen um Differentiale unter-
scheiden, weil die Berücksichtigung
dieser Unterschiede zu unendlich
kleinen Grössen der vierten Ord-
nung führen würde, welche gegen
die der dritten Ordnung verschwin-
den, so erhält man (mit Hinweis
auf Fig. 118, in der die Projektion des Parallelepipedums auf die
(z x)-Ebene dargestellt ist) die Gleichung:
z x d x d y) d z = (τx z d y d z) d x,
und hieraus und aus ähnlichen Momentengleichungen für die der x-Achse
und z-Achse parallelen Schwerachsen des Körpertheilchens folgt
τz x = τx z, τz y = τy z, τx y = τy x,
weshalb die kürzere Bezeichnung eingeführt werden soll:
τx = τy z = τz y; τy = τz x = τx z; τz = τx y = τy x,
[171] wobei zu merken ist, dass
τxd x, τyd y, τzd z.


Aendern sich die anfänglichen Längen d x, d y, d z um Strecken
Δ d x, Δ d y, Δ d z, so leisten die von den Spannungen σ herrührenden
Kräfte σx d y d z, σy d z d x, σz d x d y die virtuelle Arbeit
d Av = σx d y d z Δ d x + σy d z d x Δ d y + σz d x d y Δ d z
d x d y d z

und hierfür kann, wenn die in der Folge Dehnungen genannten Ver-
längerungs-Verhältnisse mit
bezeichnet werden und der Inhalt des Körpertheilchens d x d y d z = d V
gesetzt wird, geschrieben werden
d Av = (σx εx + σy εy + σz εz) d V.


Gleichzeitig mit den Dehnungen entstehen Winkeländerungen, und
es sei, mit Bezugnahme auf Fig. 117:
γx die Aenderung des Winkels Y O Z,
γy „ „ „ „ Z O X,
γz „ „ „ „ X O Y.


Man nennt γx, γy, γz die Gleitungen im Punkte x y z; sie seien
positiv oder negativ, je nachdem sie Verkleinerungen oder Vergrösserungen
der Winkel Y O Z, Z O X, X O Y vorstellen.


In Folge der Aenderung des Winkels Y O Z um γx verschiebt sich
die Fläche Y O' im Sinne O Z gegen die Fläche O Y' um γx d y, wobei
dann die in Y O' und senkrecht zu d x wirksame Schubkraft τx d x d z
die virtuelle Arbeit τx d x d z γx d y leistet, oder es verschiebt sich die
Fläche Z O' im Sinne O Y gegen die Fläche O Z' um die Strecke γx d z,
bei welcher Bewegung die in Z O' und senkrecht zu d x wirkende Schub-
kraft τx d x d y die Arbeit τx d x d y γx d z verrichtet. In beiden Fällen
entsteht die virtuelle Formänderungs-Arbeit:
d Av = τx γx d x d y d z = τx γx d V,
und ebenso ergeben sich die den Winkeländerungen γy und γz ent-
sprechenden virtuellen Arbeiten
τy γy d V und τz γz d V,
so dass die gesammte virtuelle Formänderungs-Arbeit der an dem Pa-
rallepipedum angreifenden Kräfte gleich
x εx + σy εy + σz εz + τx γx + τy γy + τz γz) d V
wird und diejenige sämmtlicher inneren Kräfte des Körpers:
(141) Av = ∫ (σx εx + σy εy + σz εz + τx γx + τy γy + τz γz) d V.


Setzt man nun Av gleich der von den äusseren Kräften geleisteten
virtuellen Arbeit, so erhält man die Gleichung
[172] (142) Σ P δ + Σ C Δ c = ∫ (σx εx + σy εy + σz εz + τx γx + τy γy + τz γz) d V;
sie gilt für beliebige durch einander bedingte äussere und innere Ver-
schiebungen δ, Δ c, εx, εy, εz, γx, γy, γz, wenn diese nur klein genug
sind, um als verschwindende Grössen aufgefasst werden zu dürfen. Zu
den äusseren Kräften gehören ausser den in Punkten der Oberfläche
angreifenden, die auf die Massentheilchen wirkenden (z. B. die Erd-
anziehung, Ergänzungskräfte der relativen Bewegung) und, wenn Theile
des Körpers auf einander reiben, die an den Berührungsstellen wirk-
samen Reibungswiderstände.


Nehmen wir nun an, es sei geglückt, die Auflagerkräfte C, sowie
die Spannungen σ und τ in der Form
C = C0 + C' X' + C'' X'' + C''' X''' + …
als geradlinige Funktionen der gegebenen Lasten P und gewisser, sta-
tisch nicht bestimmbarer Grössen X herzustellen, wobei nur die mit
dem Index 0 behafteten Werthe von P abhängen sollen, und wenden
die obige Arbeitsgleichung der Reihe nach auf die früher erklärten
Zustände X' = 1, X'' = 1, .... an, so ergeben sich, da die Kräfte C'
mit den Spannungen σ' und τ', die C'' mit den σ'' und τ'' im Gleich-
gewichte sind, die bei gegebenen Δ c, εx, εy, εz, γx, γy, γz zur Berech-
nung der X ausreichenden Bedingungen
(143)
dieselben lassen sich auch durch die eine Gleichung:
(144)
ersetzen, in welcher X irgend eine statisch nicht bestimmbare Grösse
und L die virtuelle Arbeit der Auflagerkräfte für den Zustand X = 1
bedeutet, während die Differentialquotienten und die Span-
nungen σ und τ für jenen Zustand vorstellen.


Die Verschiebung δm des Angriffspunktes m einer Last Pm wird
(145) ,
wobei σ̅, τ̅ und C̅ diejenigen Spannungen und Auflagerkräfte sind,
[173] welche mit einer Last Pm = 1 im Gleichgewichte sind. Man darf
hierfür auch setzen
(146) ,
welche Gleichung durch theilweise Differentiation der Arbeitsgleichung
nach der Last Pm, bei als Komstanten betrachteten willkürlichen Form-
änderungen, δ, Δ c, εx, εy, εz, γx, γy, γz gewonnen wird.


2) Einführung der durch Spannungen und Temperatur-
änderungen verursachten Dehnungen und Gleitungen.
Wir wen-
den jetzt die Gleichungen (143) bis (146) auf die wirklichen Dehnungen
und Gleitungen an und beschränken uns hierbei auf den isotropen (d. h.
in allen Punkten gleich beschaffenen) festen Körper mit spannungslosem
Anfangszustande.


Die Seite d x des betrachteten Parallelepipedums erleidet, wenn
die Spannung σx allein wirkt, die Dehnung , während
eine Aenderung der Anfangs-Temperatur um t erzeugt:
und in Folge von σy und σz entsteht: , wobei
den Koefficienten der Querdehnung (= ¼ bis ⅓ für Metalle) bedeutet.
Beim Zusammenwirken aller Ursachen ergiebt sich die Dehnung
(147) ,
während die nur von den Schubspannungen abhängigen Gleitungen
(148)
sind, wobei
den Schub-Elasticitätsmodul bedeutet.


Die Gleichungen (144) und (146) gehen nach Einsetzen der vor-
stehenden Werthe der Dehnungen und Gleitungen über in
(149) und
[174] (150) , wobei

(151) .


Im Falle t = 0 ergeben sich die Gesetze:
(152) und
(153) , wobei
(154) .


A bedeutet die wirkliche Formänderungsarbeit, wie aus der
folgenden Entwickelung hervorgeht.


Die Arbeit, welche die an dem Körpertheilchen wirkenden Kräfte
leisten, während die im Entstehen begriffenen Dehnungen und Gleitungen
um die Werthe d εx, d εy, d εz, d γx, d γy, d γz zunehmen, ist nach den
Entwickelungen unter 1):
x d εx + σy d εy + σz d εz + τx d γx + τy d γy + τz d γz) d V,
worein zu setzen
,
,
, also
und .


Integrirt man diesen Ausdruck bei von 0 aus wachsenden Span-
nungen, so erhält man für das Körpertheilchen die gesammte Form-
änderungsarbeit
,
[175] und hieraus folgt dann für den ganzen Körper der durch die Gleich. (154)
gegebene Arbeitswerth A.*)


Im Falle t = 0 und L = 0 entstehen aus (152) und (153) die
Castigliano’schen Sätze:


1) Die statisch nicht bestimmbaren Grössen X machen die
Formänderungsarbeit A, welche als Funktion der zuerst unab-
hängig veränderlich angenommenen Werthe X darzustellen ist, zu
einem Minimum.


2) Die Verschiebung des Angriffspunktes m einer Last Pm
im Sinne von Pm ist gleich der nach Pm gebildeten theilweisen Ab-
geleiteten der Formänderungsarbeit A.


Bei der Ausführung der durch die Gleich. 150 und 153 vor-
geschriebenen Differentiationen dürfen sämmtliche Grössen X als Kon-
stanten aufgefasst werden. Man gehe gewissermassen von dem all-
gemeineren Falle willkürlicher Werthe X aus, wende also die Gleich. 150
und 153 (wie in den Abschnitten I und II) auf den statisch bestimmten
Hauptträger an. Die Auffassung der X als Funktionen der Lasten P
führt, wenn die Bedingungsgleichungen 143 berücksichtigt werden, zu
denselben Ergebnissen; der (übrigens überflüssige) Beweis hierfür kann
ähnlich geführt werden wie beim Fachwerke. Vergl. Seite 54.


3) Der Maxwell’sche Satz. Wir nehmen an, dass die dem
spannungslosen Anfangszustande entsprechende Temperatur ungeändert
bleibt (t = 0) und die Auflagerkräfte bei eintretenden elastischen Ver-
schiebungen keine Arbeit leisten (Δ c = 0). Den Körper denken wir
durch drei einander rechtwinklig schneidende Flächen-Schaaren in un-
endlich kleine Theilchen zerlegt, in deren Seitenflächen nur Normal-
spannungen auftreten, welche dann Hauptspannungen heissen und
mit σ1, σ2, σ3 bezeichnet werden mögen. Dass eine derartige Zerlegung
stets ausführbar ist, setzen wir hier als bekannt voraus.


Die Verschiebungen δ1 und δ2, welche beliebige Körperpunkte A1
und A2 in Folge irgend welcher Belastung nach den Richtungen A1B1
und A2B2 erfahren, ergeben sich nach (143) aus den Arbeitsgleichungen
und
,

wobei für irgend einen Punkt des Körpers
, , diejenigen Hauptspannungen bedeuten, welche eine
[176] in A1 angreifende, nach der Richtung A1B1 wirkende Kraft
„Eins“ hervorbringen würde und
, , diejenigen Hauptspannungen, welche eine in A2 und
in der Richtung A2B2 wirksame Kraft „Eins“ erzeugen würde,

während
, ,
die Dehnungen in Folge der durch die wirkliche Belastung hervor-
gerufenen Hauptspannungen σ1, σ2, σ3 sind. Es ergiebt sich
,
.


Besteht nun die wirkliche Belastung einmal aus einer in A2 an-
greifenden, durch B2 gehenden Last „Eins“, sodann aus einer in A1
wirksamen, durch B1 gehenden Last „Eins“, so ist im ersten Falle
und im zweiten Falle
,
und es ergeben sich beziehungsweise die Werthe
,
,
aus deren Uebereinstimmung folgt, dass das auf Seite 41 und 117 für
gewisse Stabverbindungen gefundene, als Maxwell’scher Lehrsatz be-
zeichnete, wichtige Gesetz unter den gleichen Voraussetzungen (t = 0,
Δ c = 0) auch für einen beliebigen isotropen festen Körper gilt. In der-
[177] selben Weise lässt sich auch die allgemeine Giltigkeit der auf Seite 117
gegebenen, mit 2, 3, 4 bezeichneten Gesetze nachweisen.


§ 25.
Schubfestigkeit.


Im Anschluss an die Entwickelungen des § 24 soll der Einfluss der
durch die Querkräfte Q (vergl. Seite 65) hervorgerufenen Schubspannungen
τ auf die Formänderungen und
statisch nicht bestimmbaren
Grössen von auf Biegungs-
festigkeit beanspruchten geraden
Stäben untersucht werden.


1) Formänderungs-Arbeit
der Schubkräfte.
Ist die
Kräfteebene eine Symmetrie-
ebene des Stabes (welcher Fall
hier ausschliesslich betrachtet
werden möge), so wird durch
die Querkraft Q in irgend einem
Punkte D des Querschnitts eine
Schubspannung τ hervorgerufen,
welche die v-Achse in einem
Punkte H schneidet, dessen Lage
erhalten wird, indem man durch
D die der u-Achse parallele
Sehne A B zieht und in B eine
Tangente B H an den Quer-
schnittsumfang legt. Fig. 119.

Figure 93. Fig. 119.


Von den beiden Seitenspannungen τv und τu, in welche sich τ zerlegen
lässt und die beziehungsweise senkrecht zur v-Achse und senkrecht zur
u-Achse sind, folgt τu bekanntlich dem Gesetze:
,
wenn 2 z die Länge der Sehne A B,


  • S das auf die u-Achse bezogene statische Moment des einen der
    beiden durch die Sehne A B begrenzten Querschnittstheile
    (z. B. des Theiles A C B) und
  • J das Trägheitsmoment des ganzen Querschnitts in Bezug auf
    die u-Achse

bedeuten. Es ist somit τu unabhängig von u und gleich gross für alle
Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre. 12
[178] auf der Sehne A B gelegenen Querschnittspunkte, und es folgt, wenn φ
den Winkel bezeichnet, welchen die Tangente B H mit der v-Achse ein-
schliesst, für den Punkt B: τv = τu tg φ und für den Punkt D:
.


Der von den Schubspannungen abhängige Theil der Formänderungs-
Arbeit ist, bei innerhalb des Querschnitts konstantem G und wenn das
Element der Stabachse = d x gesetzt wird,
, d. i.
(155) .


Hiernach ergiebt sich beispielsweise für
den Rechteckquerschnitt, dessen Breite b und dessen Höhe h = 2 e
sein möge, wegen
:
,

und, da ist,
(156) .


Für den Kreisquerschnitt vom Radius e ist
,
und wegen
[179](157) .


Allgemein darf gesetzt werden:
,
wobei β eine von der Gestalt des Querschnittes abhängige Zahl bedeutet.
Für das Rechteck ist β = und für den Kreis: β = .


2) Arbeitsgleichung zur Berechnung statisch nicht bestimm-
barer Grössen. Ermittelung von Verschiebungen δ.
Die auf
Seite 71 mit Hilfe des Satzes
(158)
abgeleitete Bedingung
geht, wenn der Einfluss der durch die Querkräfte Q erzeugten Schub-
spannungen berücksichtigt werden soll, über in
(159) .


An Stelle der zur Berechnung von Verschiebungen abgeleiteten
Gleich. (55) tritt die Beziehung
(160) .


Der Einfluss der Schubkräfte Q auf die Ergebnisse der Gleich. (159)
und (160) ist ein so geringfügiger, dass er stets vernachlässigt werden
darf. Ein Beispiel möge dies zeigen.


12*
[180]

Aufgabe. Ein wagerechter Balken ist gleichmässig mit p für die
Längeneinheit belastet, bei B wagerecht eingespannt, bei A frei aufliegend.
Gesucht ist der senkrechte Stützenwiderstand X bei A. Fig. 50. Die
Stützen seien starr (L = 0), und eine Erhöhung der Anfangstemperatur
habe nicht stattgefunden (t = 0).


Wegen N = 0 ergiebt sich die Bedingung
,
worein zu setzen:
,
so dass, bei konstantem G, F, E, J entsteht:
,
woraus, wegen :
.


Ist der Balkenquerschnitt ein Rechteck (b, h), so ist β = und
, weshalb sich mit m = 3 ergiebt:
.
liefert z. B. X = 1,01 · , während die Vernachlässigung
der Querkraft Q zu X = geführt hätte.


[[181]]

Anhang.


I. Entwickelung der Arbeitsgleichungen.


Obgleich das Gesetz der virtuellen Verschiebungen zu den bekann-
testen Lehren der Mechanik gehört, dürfte eine Entwickelung der in
diesem Buche benutzten Arbeitsgleichungen, welche dieses Gesetz für
die betrachteten Fälle ausdrücken, manchem Leser erwünscht sein; sie
möge deshalb hier gegeben werden, zuerst für das Fachwerk, sodann
für einen beliebigen Körper.


1) Das Fachwerk. Wirken an den Endpunkten m und n eines
Stabes von unveränderlicher Länge zwei entgegengesetzt gleiche, mit der
Stabachse zusammenfallende Kräfte S, so ist die bei irgend einer Be-
wegung des Stabes von den beiden Kräften verrichtete Arbeitssumme
gleich Null.


Um dies einzusehen, zerlege man jene Bewegung in eine fort-
schreitende und eine drehende und wähle für die letztere irgend einen
Punkt der Stabachse (z. B. n1) zum Drehpunkte,
Fig. 120. Während des ersten Theiles der Orts-
veränderung leisten die Kräfte S entgegengesetzt
gleiche Arbeiten, die sich mithin tilgen, und wäh-
rend des zweiten verrichten sie, weil fortwährend
durch den Drehpunkt gehend, überhaupt keine
Arbeit. Dabei ist es gleichgiltig, ob die Stab-
kräfte S konstant sind oder sich stetig ändern;
im letzteren Falle dürfen sie innerhalb jedes un-
endlich kleinen Zeittheilchens als konstant be-
trachtet werden.


Wächst die anfängliche Länge s des Stabes
während jener Bewegung um Δ s, und bedeutet
für irgend ein Theilchen der Bewegungsdauer:

Figure 94. Fig. 120.


Sx den augenblicklichen Werth der Stabkraft und d Δ s die Aenderung
der Stablänge, so ist die Arbeitssumme für dieses Zeittheilchen = Sx d Δ s
und für die ganze Bewegungsdauer:
,
wobei Sa den anfänglichen und S den schliesslichen Werth der Stabkraft
vorstellt.


[182]

Der Ausdruck A giebt hiernach die Arbeitssumme an, welche die
an den Endpunkten eines elastischen Stabes m n eines Fachwerks
wirkenden Spannkräfte verrichten, sobald irgend welche Ursachen die
Knotenpunkte m, n in die Lagen m1, n1 (wobei m1̅ n1̅ = s + Δ s ist)
verschieben, während die Stabkräfte von Sa bis S wachsen.


Der wirklichen Arbeit A wollen wir nun diejenige Arbeit Av = S Δ s
gegenüberstellen, welche die Stabkräfte in dem nur gedachten Falle
verrichten, dass sie während der ganzen Dauer der Bewegung ihre End-
werthe S besitzen, und dass an Stelle der wirklichen Verschiebungen
der Knotenpunkte irgend welche willkürliche Verschiebungen treten, die
wir uns zwar als möglich vorstellen können, die aber in Wirklichkeit
nicht einzutreten brauchen und virtuelle Verschiebungen genannt
werden. Die Arbeit Av heisst die virtuelle Arbeit der auf den
Stab s wirkenden Spannkräfte
S. Für das ganze Fachwerk er-
giebt sich
Av = Σ S Δ s,
welche Summe über sämmtliche Stäbe auszudehnen ist.


Wir betrachten jetzt die Spannkräfte S als Kräfte, die an den
Knotenpunkten angreifen, also entgegengesetzte Richtung wie vorhin haben
und die virtuelle Arbeit: — Σ S Δ s leisten; sodann setzen wir voraus,
dass an jedem Knotenpunkte Gleichgewicht besteht und keine Kraft un-
endlich gross wird. Erfahren die Knotenpunkte irgend welche unendlich
kleine
Verschiebungen, so ist die Arbeitssumme für sämmtliche Kräfte
gleich Null, weil für jeden Knotenpunkt die Mittelkraft aus allen da-
selbst angreifenden Kräften zu Anfang gleich Null ist und während
jener Elementarbewegung bis auf eine verschwindend kleine Grösse den
Werth Null behält.


Bedeutet also für irgend einen Knotenpunkt m: Qm die Mittelkraft
aus den daselbst angreifenden äusseren Kräften und rm die Projektion
der Verschiebung des Punktes m auf die Kraft Qm (positiv, wenn im
Sinne von Qm erfolgend), so ist die virtuelle Arbeit der äusseren Kräfte
= Σ Qm rm, und es folgt:
Σ Qm rm — Σ S Δ s = 0
und hieraus:
Σ Qm rm = Σ S Δ s.


Diese Gleichung drückt das Gesetz aus:


Für ein im Gleichgewichte befindliches Fachwerk ist die bei
unendlich kleinen virtuellen Verschiebungen der Knotenpunkte von
den äusseren Kräften verrichtete virtuelle Arbeit ebenso gross wie
die virtuelle Arbeit der Stabkräfte S
.
*)


[183]

Unterscheiden wir die äusseren Kräfte ganz allgemein in Lasten
und Auflagerkräfte und führen die auf Seite 7 erklärten Bezeichnungen
P, C, δ, Δ c ein, so erhalten wir Σ Q r = Σ P δ + Σ C Δ c, und es ent-
steht die Gleichung
(I) Σ P δ + Σ C Δ c = Σ S Δ s,
welche wir die Arbeitsgleichung des Fachwerks genannt und zum Aus-
gangspunkte unserer Entwickelungen gemacht haben.


Hinsichtlich der auf das Fachwerk wirkenden äusseren Kräfte wurde
bei der Ableitung der Gleich. (I) nur vorausgesetzt, dass sie miteinander
im Gleichgewichte sind. Hat man also die Spannkräfte S und Auflager-
kräfte C eines statisch unbestimmten Fachwerks durch die Lasten P
und durch gewisse statisch nicht bestimmbare Grössen X so ausgedrückt,
dass die Gleichgewichtsbedingungen erfüllt sind (vergl. Seite 4), so darf
man bei Einsetzen der S und C in die Gleich. (I) den Grössen P und
Xwillkürliche Werthe beilegen. Indem man nun diese Werthe ver-
schiedenartig wählt, ist man im Stande, aus (I) beliebig viele Gleichungen
zu folgern und erhält, sobald man diese nun auf die wirklichen Ver-
schiebungen δ, Δ c, Δ s (die ja nur besondere Fälle von willkürlichen
Verschiebungen sind) anwendet, eine genügende Anzahl von Beziehungen,
um die wirklichen Grössen X berechnen und die wirkliche Formänderung
des Fachwerkes feststellen zu können. Dabei wird allerdings voraus-
gesetzt, dass die wirklichen Verschiebungen klein genug sind, um als
verschwindende Grössen aufgefasst werden zu dürfen.


2) Beliebiger Körper. Wir gehen von der Voraussetzung einer
stetigen Erfüllung des Raumes durch die Materie aus, im Gegensatze
zur Auffassung des Körpers als ein System von Massenpunkten, die zwar
einander unendlich nahe liegen, immerhin aber durch Zwischenräume
von einander getrennt sind, und denken uns an irgend einer Stelle ein
unendlich kleines Körpertheilchen abgegrenzt, beispielsweise, um die Vor-
stellung zu erleichtern, ein Parallelepipedum. Die auf die Seitenflächen
desselben wirkenden Kräfte sollen Flächenkräfte genannt und ins-
besondere als innere Kräfte oder Oberflächenkräfte bezeichnet
werden, je nachdem die durch sie beanspruchten Flächen im Inneren des
Körpers liegen oder zur Oberfläche gehören; ausser ihnen wird an dem
Körpertheilchen im Allgemeinen noch eine auf die Masse desselben
wirkende äussere Kraft angreifen, welche eine Massenkraft heisst
(z. B. die Erdanziehung, Ergänzungskräfte der relativen Bewegung).


Bezüglich sämmtlicher Kräfte wird vorausgesetzt, dass sie endlich
sind.


*)


[184]

Nehmen wir nun an, es erleide ein anfänglich im Gleichgewichte
befindlicher Körper durch Hinzutreten äusserer Kräfte und durch Tem-
peraturänderung eine Umgestaltung; dieselbe hört auf, sobald sich ein
neuer Gleichgewichtszustand gebildet hat und bestehen bleibt; während
ihrer Erzeugung werden die Flächenkräfte des betrachteten Körper-
theilchens eine bestimmte Arbeitssumme verrichten, und von dieser ist
besonders derjenige Theil von Wichtigkeit, der nur von der Form-
änderung des Körpertheilchens abhängt, der also verschwindet, wenn
sich das Theilchen bewegt, ohne seine Gestalt zu ändern. Man nennt
diesen Theil der Gesammtarbeit der Flächenkräfte die Formänderungs-
arbeit des Körpertheilchens
; ihre Integration über den ganzen
Körper liefert die Formänderungsarbeit des Körpers. Bei der Berechnung
dieser Arbeit ist zu beachten, dass die Flächenkräfte, deren schliessliche
Werthe wir ganz allgemein mit R bezeichnen wollen, sich im Verlaufe
jener Umgestaltung ändern.


Denkt man sich hingegen die Flächenkräfte während der ganzen
Dauer der Formänderung konstant und mit ihren Endwerthen R wirkend,
bestimmt die von den Kräften R geleistete Formänderungsarbeit und
ersetzt hierbei die wirkliche Formänderung durch eine willkürliche,
die zwar als möglich gedacht werden kann, in Wirklichkeit aber nicht
einzutreten braucht, so erhält man einen Ausdruck d Av, welcher die
virtuelle Formänderungs-Arbeit heisst, während jene willkürliche,
mögliche Umgestaltung des Körpers eine virtuelle Formänderung
genannt werden soll.


Um die im Vorstehenden erklärten Begriffe an einem Beispiele zu er-

Figure 95. Fig. 121.


läutern, betrachten wir ein unendlich kleines
Parallelepipedum, welches an der Stelle x,
y, z
eines auf rechtwinklige Koordinaten be-
zogenen Körpers abgegrenzt ist, und dessen
den Koordinatenachsen parallele Kanten die
Längen d x, d y, d z haben. Es mögen nur
Normalspannungen auftreten und zwar nur
solche, die der (x, y)-Ebene parallel sind; sie
seien stetige Funktionen der Koordinaten
(Fig. 121). Ist dann die Normalspannung
für Fläche A B gleich σx (positiv im Sinne — x),
„ „ A D „ σy („ „ „ — y),
so ist die Normalspannung
für Fläche C D gleich und
„ „ C B „ .


Diesen Spannungen entsprechen die Flächenkräfte:
;
[185]
und zwar seien dies die schliesslichen Werthe der Kräfte R.


Erleidet nun das Körpertheilchen im Sinne von x und y beziehungsweise
die virtuellen Verschiebungen Δ x und Δ y, ohne dass sich hierbei die Gestalt
des Theilchens ändert, so leisten die Kräfte R die Arbeit:
,
unter d V = d x d y d z den Inhalt des Körpertheilchens verstanden. Aendert
sich während jener Bewegung: d x um Δ d x = εx d x (wobei das
Verlängerungsverhältniss der Kante d x bedeutet) und d y um Δ d y = εy d y, so
nimmt die vorhin ermittelte Arbeitssumme zu um die virtuelle Formänderungs-
arbeit d Av, bei deren Berechnung R2 ersetzt werden darf durch R1 und R4
durch R3. Denn die Flächenkräfte für gegenüberliegende Seitenflächen des
Körpertheilchens unterscheiden sich bei stetigen Spannungen nur um unendlich
kleine Werthe, so dass in Folge der Gleichsetzung von R2 und R1, sowie von R4
und R3 nur verschwindende Grössen vierter Ordnung vernachlässigt werden.*)
Mithin folgt:
d Av = R1 Δ d x + R3 Δ d y = (σx εx + σy εy) d V,
und es ergiebt sich schliesslich die virtuelle Gesammtarbeit der Flächenkräfte:
.


Wir fassen jetzt eine unendlich kleine, virtuelle Formänderung
eines im Gleichgewichte befindlichen Körpers und insbesondere die Be-
wegung und Umgestaltung eines Körpertheilchens ins Auge und bezeichnen
die virtuelle Arbeit der auf dieses Körpertheilchen wirkenden Massen-
kraft mit d Am, diejenige der Flächenkräfte mit d Af. Letztere Arbeit
besteht aus zwei Theilen; der eine, d Av, hängt nur von der Umgestaltung
des Körpertheilchens ab, der andere, nämlich d Af — d Av, von der Be-
wegung des Massenmittelpunktes und der Drehung des Körpertheilchens
um diesen Punkt. Somit stellt d Am + d Af — d Av diejenige virtuelle
Arbeit vor, welche sämmtliche auf das Körpertheilchen wirkenden Kräfte
leisten, wenn dessen Bewegung ohne eine Formänderung vor sich geht.
Diese Arbeit muss aber = Null sein, da die Mittelkraft der auf das
Körpertheilchen wirkenden Kräfte während der ganzen Dauer der an-
genommenen Elementarbewegung, bis auf eine verschwindende Grösse,
den anfänglichen Werth Null beibehält.


Es folgt somit d Am + d Af = d Av und, wenn entsprechende
Gleichungen für sämmtliche Körpertheilchen aufgestellt und hierauf
addirt werden,
(II) Am + Af = Av.


[186]

Da sich nun in dem Ausdrucke Af die Arbeiten der inneren
Flächenkräfte gegenseitig tilgen, weil auf die Flächen, in denen an-
einandergrenzende Körpertheilchen zusammenhängen, bei gleichen Ver-
schiebungen entgegengesetzt gleiche Kräfte wirken, so leuchtet ein, dass
Af die virtuelle Arbeit der Oberflächenkräfte, mithin Af + Am
die virtuelle Arbeit sämmtlicher äusseren Kräfte vorstellt, und
es drückt deshalb die Gleichung II das Gesetz aus:


Bei einer verschwindend kleinen virtuellen Formänderung eines
im Gleichgewichte befindlichen Körpers ist die virtuelle Arbeit der
äusseren Kräfte gleich der virtuellen Formänderungsarbeit
.


Die Ableitung dieses Satzes nimmt an, dass alle anfänglich sich
deckenden Seitenflächen von aneinandergrenzenden Körpertheilchen auch
während des ganzen Verlaufes der Formänderung sich decken, weil nur
dann die Arbeiten der auf diese Flächen wirkenden Kräfte sich auf-
heben. Besteht nun der betrachtete Körper aus mehreren einander be-
rührenden Theilen, von denen jeder einzelne der obigen Voraussetzung
entspricht, und finden gegenseitige Verschiebungen von anfänglich zu-
sammenliegenden Berührungsflächen je zweier Theile statt, so müssen,
wenn das bewiesene Gesetz giltig bleiben soll, alle diese Flächen der
Oberfläche zugezählt werden; d. h. es sind die auf diese Flächen wir-
kenden Kräfte, soweit sich ihre Arbeiten nicht tilgen, zu den äusseren
Kräften zu rechnen. In allen Fällen der Anwendung genügt die Fest-
setzung, dass bei aufeinander reibenden Theilen eines Körpers die an
den Berührungsstellen wirkenden Reibungswiderstände als äussere Kräfte
aufzufassen sind.


Wird der betrachtete Körper durch fremde Körper gestützt, so
nennen wir die Drücke, welche die letzteren auf den ersteren ausüben,
Stützenwiderstände oder Auflagerkräfte. Alle übrigen äusseren
Kräfte mögen Lasten heissen. Es ergiebt sich dann, mit den auf
Seite 7 erklärten Bezeichnungen P, C, δ, Δ c, die virtuelle Arbeit der
äusseren Kräfte = Σ P δ + Σ C Δ c, und es entsteht die Arbeitsgleichung
(III) Σ P δ + Σ C Δ c = Av,
welche in den Abschnitten II und III in derselben Weise wie die Arbeits-
gleichung des Fachwerks zur Berechnung von statisch nicht bestimmbaren
Grössen und von Verschiebungen beliebiger Punkte benutzt worden ist.


II. Geschichtliche Anmerkungen und Angabe ein-
schlägiger Schriften.


Die ersten Anwendungen des Satzes von der Arbeit auf Aufgaben
der Festigkeitslehre finden sich bei Clapeyron, welcher die von
[187]Navier*) aus dem Principe der virtuellen Verschiebungen gefolgerte
allgemeine und einzige Bedingung für das Gleichgewicht zwischen den
inneren und äusseren Kräften eines elastischen Körpers anwendet und
in diese an Stelle der virtuellen die wirklichen elastischen Verschiebungen
einführt. Indem er hierbei die Annahme eines spannungslosen Anfangs-
zustandes macht und voraussetzt, dass in jedem Punkte des Körpers
die anfängliche Temperatur herrscht, erhält er die von ihm später zur
Berechnung der Durchbiegung von Federn benutzte Gleichung:
½ Σ Q r = A.**)


Lamé nennt diese Gleichung in seinen „Leçons sur la théorie
mathématique de l’élasticité des corps solides“ (Paris 1852 und 1866)
das Clapeyron’sche Gesetz; er erläutert dasselbe an mehreren Bei-
spielen und hebt dessen Wichtigkeit für die Statik der Bauwerke hervor.


Im Jahre 1864 leitet Clerk Maxwell in der im Philosophical
Magazine, Band 27, Seite 294 abgedruckten Abhandlung: „On the cal-
culation of the equilibrium and stiffness of frames“ mittelst der Clapey-
ron’schen Gleichung das im § 10 dieses Buches der „Maxwell’sche Lehr-
satz“ genannte Gesetz ab und entwickelt mit Hilfe desselben eine all-
gemeine Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks. Er setzt hierbei
einen spannungslosen Anfangszustand voraus und lässt Temperatur-
änderungen unberücksichtigt.


Die erste vollständige Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks
gab, ebenfalls auf Grund des Gesetzes der virtuellen Verschiebungen,
Mohr in seiner bahnbrechenden Arbeit: „Beitrag zur Theorie des Fach-
werks“ (Zeitschr. des Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover).***)
In dieser Abhandlung findet sich auch der in unserem Buche gegebene
Beweis für den Maxwell’schen Satz sowie die Benutzung dieses Satzes
zur Bestimmung der Einflusslinie für die Verschiebung eines Fachwerk-
Knotenpunktes. Mohr stellte auch zuerst die elastische Linie des geraden
Stabes und die Biegungspolygone der Fachwerke mit Hilfe des Seil-
polygons dar.


Besonders gefördert wurde die Festigkeitslehre und namentlich die
Theorie der statisch unbestimmten Konstruktionen durch das hervor-
ragende Werk des leider so früh verstorbenen italienischen Ingenieurs
Castigliano: „Theorie de l’équilibre des systèmes élastiques“, welches
eine Fülle schöner Anwendungen auf die Statik der Bauwerke enthält,
und an dessen Spitze der mit Hilfe der Clapeyron’schen Gleichung ent-
[188] wickelte Satz von der Abgeleiteten der Formänderungsarbeit sowie der
aus diesem folgende Satz von der kleinsten Formänderungsarbeit stehen.*)
Den letzteren Satz gab bereits früher Menabrea in der Abhandlung:
„Nouveau principe sur la distribution des tensions dans les systèmes
élastiques“ [Comptes rendus 1858, I, S. 1056]**) und, ohne die Arbeiten
seiner Vorgänger zu kennen, Fränkel (1882) in der Zeitschrift des
Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover.


[189]

Bemerkenswerth ist, dass auch Daniel Bernoulli ein Gesetz der
kleinsten Biegungsarbeit gerader Stäbe aufstellte und Euler brieflich
mittheilte.*)Euler macht hiervon Gebrauch in der seinem berühmten
Werke: „Methodus inveniendi curvas maximi minimive proprietate
gaudentes“ angehängten Abhandlung: „De curvis elasticis“, in welcher
er bei der Untersuchung der elastischen Linie eines geraden Stabes
gleichen Querschnitts und gleicher Elasticität von dem Satze ausgeht:
ut inter omnes curvas ejusdem longitudinis, quæ non solum per puncta
A et B transeant, sed etiam in his punctis a rectis positione datis
tangantur, definiatur ea in qua sit valor hujus expressionis mi-
nimus. Hierbei bedeutet d s das Bogenelement und R den Krümmungs-
radius. Setzt man , so erhält man, da E J = Konst. ist:
ein minimum. Das Integral: nennt Bernoulli die „vis
potentialis“.


Wir schliessen mit der Anführung einiger Schriften, in denen der
Leser weitere Anwendungen der in diesem Buche vorgetragenen Gesetze
findet.


  • 1. Castigliano,Théorie de l’équilibre des systèmes élastiques et ses ap-
    plications
    . Turin (bei Negro), 1879.
  • 2. — Intorno ad una proprietà dei sistemi elastici. Atti della Accademia
    delle Scienzi di Torino, Juni 1882;
    enthält eine Entwickelung des
    Maxwell’schen Lehrsatzes.
  • 3. Fränkel,Das Princip der kleinsten Arbeit der inneren Kräfte
    elastischer Systeme und seine Anwendung auf die Lösung bau-
    statischer Aufgaben
    . Zeitschrift des Architekten- und Ingenieur-
    Vereins zu Hannover 1882, S. 63.
  • 4. Könen,Vereinfachung der Berechnung kontinuirlicher Balken mit
    Hilfe des Satzes von der Arbeit
    . Wochenbl. f. Archit. u. Ing.
    1882, Seite 402.
  • 5. — Theorie gekrümmter Erker- und Balkonträger. Deutsche Bau-
    zeitung 1885, S. 607.
  • 6. Krohn,Der Satz von der Gegenseitigkeit der Verschiebungen und
    Anwendung desselben zur Berechnung statisch unbestimmter Fach-
    werkträger;
    Zeitschr. des Archit.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1884,
    [190] S. 269. Enthält eine Ableitung des Maxwell’schen Satzes und
    zeigt, wie dieser Satz in Verbindung mit einem von Williot ge-
    gebenen Formänderungspolygone zur Berechnung statisch unbe-
    stimmter Träger benutzt werden kann.
  • 7. Melan,Berechnung eiserner Hallengespärre unter Anwendung des
    Satzes von der kleinsten Arbeit
    . Wochenschr. des österr. Archit.-
    u. Ing.-Ver. 1883, S. 149 u. 162.
  • 8. — Ueber den Einfluss der Wärme auf elastische Systeme. Eben-
    daselbst 1883, S. 183 u. 202.
  • 9. — Beitrag zur Berechnung statisch unbestimmter Stabsysteme. Zeit-
    schrift des österr. Archit.- u. Ing.-Ver. 1884, S. 100.
  • 10. Mohr,Beitrag zur Theorie des Fachwerks. Zeitschr. des Archit.-
    u. Ing.-Ver. zu Hannover 1874, S. 509 und 1875, S. 17.
  • 11. — Beitrag zur Theorie der Bogenfachwerkträger. Ebendaselbst
    1881, S. 243.
  • 12. Müller-Breslau,Der Satz von der Abgeleiteten der ideellen Form-
    änderungsarbeit
    . Zeitschr. des Archit.- u. Ing.-Ver. zu Hannover
    1884, S. 211.
  • 13.*)Zur Theorie der durch einen Balken versteiften Kette. Eben-
    daselbst 1883, S. 347. Diese Arbeit schliesst sich an den in der-
    selben Zeitschrift (1881, S. 57) von demselben Verfasser veröffent-
    lichten Aufsatz an.
  • 14. — Vereinfachung der Theorie der statisch unbestimmten Bogenträger.
    Ebendaselbst 1884, S. 575. Ein Sonderabdruck erschien bei
    Schmorl u. von Seefeld in Hannover.
  • 15. — Theorie des durch einen Balken verstärkten steifen Bogens.
    Civilingenieur 1883, S. 13.
  • 16. — Influenzlinien für kontinuirliche Träger mit drei Stützpunkten.
    Wochenbl. f. Archit. u. Ing. 1883, S. 353.
  • 17. — Ueber kontinuirliche Bögen und Balken. Ebendaselbst 1884.
  • 18. — Zur Theorie der Versteifung labiler und flexibler Bogenträger.
    Zeitschr. f. Bauwesen 1883, S. 312.
  • 19. — Beitrag zur Theorie des durch einen Balken versteiften Bogens.
    Ebendaselbst 1884, S. 323.
  • 20. — Elasticitäts-Theorie der nach der Stützlinie geformten Tonnen-
    gewölbe
    . Ebendaselbst 1886.

[191]
  • 21. Stelzel,Berechnung der Ferdinandsbrücke in Graz. Enthalten in
    der Schrift: v. Gabriely u. Winter, Ferdinandsbrücke in Graz,
    Mittheilungen des Polytechnischen Klubs in Graz 1883.
  • 22. Swain,On the application of the principle of virtual velocities to
    the determination of the deflection and stresses of frames
    . Journal
    of the Franklin Institute 1883, Febr. bis April, S. 102, 194, 250.
  • 23. Weyrauch,Theorie elastischer Körper. Leipzig (bei Teubner) 1884.
  • 24. — Aufgaben zur Theorie elastischer Körper. Leipzig (bei Teubner)
    1885.
  • 25. — Arbeitsbedingungen für statisch unbestimmte Systeme. Wochenbl.
    f. Archit. u. Ing. 1884, S. 200.
  • 26. Winkler,Berechnung der Windverstrebungen in Brücken mit zwei
    Trägern
    . Civilingenieur 1884, S. 211.

Appendix A Verbesserungen.


  • Seite 10 Zeile 10 v. u. ist für zu setzen.
    „ 20 „ 5 v. u. schalte man hinter: „Bezeichnet man“ die Worte ein:
    zunächst für den Temperaturzustand t = 0.
    „ 37 „ 4 v. u. ist X für X' zu setzen.
    „ 138 „ 2 v. u. schalte man hinter: „reibungsloser Widerlager“ die
    Worte ein: des Hauptträgers.
    „ 168 „ 8 v. u. ist für zu setzen.

[[192]]

Appendix B Inhalt.


Abschnitt I.Theorie des Fachwerks.


  • Seite
  • § 1. Allgemeines über das ebene Fachwerk 1
  • § 2. Allgemeines über das räumliche Fachwerk 5
  • § 3. Berechnung der statisch nicht bestimmbaren Grössen X', X'' . . . .
    für beliebige, ebene oder räumliche Fachwerke 6
  • § 4. Verschiebungen der Knotenpunkte eines Fachwerks. Allgemeine
    Untersuchungen 15
  • § 5. Die Biegungspolygone für ebene Fachwerkträger 19
  • § 6. Das Biegungspolygon eines Netzwerkes (zweites Verfahren) 26
  • § 7. Aenderung der Länge einer Gurtsehne 29
  • § 8. Aufgaben, betreffend die Ermittelung von Biegungspolygonen 30
  • § 9. Ebene Fachwerkträger mit veränderlicher Belastung. Einflusslinien
    (Influenzlinien) für die statisch nicht bestimmbaren Grössen X32
  • § 10. Der Maxwell’sche Lehrsatz und Anwendungen desselben 40
  • § 11. Bemerkungen über die angenäherte Berechnung der statisch nicht
    bestimmbaren Grössen X ebener Fachwerkträger 48
  • § 12. Die Lehrsätze über die Formänderungsarbeit 52
  • Abschnitt II.Biegungsfestigkeit gerader und einfach
    gekrümmter Stäbe
    .

    § 13. Allgemeine Gesetze für Stäbe, deren Querschnittsabmessungen im
    Verhältniss zu den Krümmungshalbmessern klein sind 57
  • § 14. Die Spannungen σ im geraden Stabe. Navier’sche Biegungsformel 65
  • § 15. Bedingungsgleichungen für statisch unbestimmte gerade Stäbe 69
  • § 16. Berechnung der Verschiebungen von Punkten gerader Stäbe und
    der Drehungswinkel von Tangenten an die Stabachse 86
  • § 17. Aufgaben über krumme Stäbe mit im Vergleiche zu der Quer-
    schnittshöhe grossen Krümmungshalbmessern 93
  • § 18. Die Biegungslinie 105
  • § 19. Der Maxwell’sche Satz. Zusätze und Anwendungen 115
  • § 20. Allgemeine Untersuchung des Einflusses einer Einzellast auf die
    statisch nicht bestimmbaren Grössen X125
  • § 21. Fortsetzung 138
  • § 22. Schärfere Untersuchung einfach gekrümmter Stäbe 144
  • Abschnitt III.
    § 23. Drehungsfestigkeit 160
  • § 24. Gesetze für beliebige isotrope, feste Körper 169
  • § 25. Schubfestigkeit 177
  • Anhang.
    I. Entwickelung der Arbeitsgleichungen 181
  • II. Geschichtliche Anmerkungen und Angabe einschlägiger Schriften 186

[[193]][[194]]

Appendix D

Leipzig,
Druck von Grimme \& Trömel.


[[195]][[196]][[197]]
Notes
*)
Reibungswiderstände an den beweglichen Auflagern dürfen wir hier
ausschliessen. Bei grossem Reibungskoefficienten kann ein bewegliches Lager
zu einem festen werden; tritt Bewegung ein, so ist der Reibungswiderstand
in bestimmter Weise von dem Normaldrucke auf die Auflagerbahn abhängig;
wir zählen ihn in diesem Falle zu den Lasten, über deren Grösse ja nichts
vorausgesetzt zu werden braucht.
*)
Bezeichnet man die zu berechnenden Unbekannten allgemein mit Z1,
Z2, Z3 .... Zi = 2 k, so lassen sich die Gleichgewichtsbedingungen auf die Form
bringen:
wobei a1 · 1 bis ai · i und c1 bis ci gegebene Grössen bedeuten. Damit sich
sämmtliche Z mit Hilfe dieser Gleichungen berechnen lassen, ist erforderlich
und ausreichend, dass die aus den Koefficienten a gebildete Determinante
nicht gleich Null wird.
*)
Die Gleichungen 2 gelten für die nothwendigen und überzähligen
Stäbe und Auflagerkräfte. Ist z. B. X'' die Spannkraft in einem überzähligen
Stabe, so entsprechen diesem die Werthe: S0 = 0, S' = 0, S'' = 1, S''' = 0
u. s. w. und es folgt S = X''.
*)
Folgt aus der Momentengleichung für Punkt G:
*)
Es ist B' gleich aber entgegengesetzt A', damit die senkrechten
Kräfte im Gleichgewichte sind. Sodann verlangt das Gleichgewicht gegen
Drehen: A' l = 1 · h, woraus A' = . Schliesslich folgt
und ebenso D' = ½, weil die Mittelkraft K1 aus A' und C,
desgl. K2 aus B' und D' durch den Punkt G gehen muss.
*)
Die Vertikalkraft V ist hierbei als Mittelkraft der auf das Balkenstück
links vom betrachteten Querschnitte wirksamen äusseren Kräfte aufgefasst
und positiv angenommen, wenn aufwärts gerichtet. M bedeutet das Moment
von V, bezogen auf den Schwerpunkt des betrachteten Querschnitts als Dreh-
punkt, und wird positiv gesetzt, wenn es rechts drehend ist.
*)
Hat man die Biegungsmomente für einen durch eine grössere Zahl
von Einzellasten beanspruchten Balken zu berechnen, so ermittele man zuerst
die Vertikalkräfte. Für den vorliegenden symmetrischen Belastungsfall erhält
man folgenden Ansatz:
für Feld 5 ist V5 = ½ · 2,39 = 1,195
dazu addirt .... 1,640 = w4
giebt V4 = 2,835
+ 0,930 = w3
V3 = 3,765
+ 1,170 = w2
V2 = 4,935
+ 1,880 = w1
V1 = 6,815
M1 = V1 = 6,815
dazu addirt 4,935 = V2
giebt M2 = 11,750
+ 3,765 = V3
M3 = 15,515
+ 2,835 = V4
M4 = 18,350
+ 1,195 = V5
M5 = 19,545
*)
In Fig. 28 wurden w4 und w5 positiv, die übrigen w negativ (also
nach oben gerichtet) angenommen.
*)
Bei Aufstellung dieser Arbeitsgleichung werden die Stützen starr vor-
ausgesetzt, da der Einfluss etwaiger Verschiebungen Δ c der Stützpunkte ge-
sondert mit Hilfe der Gleich. 21 beurtheilt wird. Die Reibungswider-
stände an den Auflagern werden gleich Null angenommen
.
*)
Sind α2 und α3 die Neigungswinkel der Stäbe 2 und 3, so sind die
Spannkräfte in diesen Stäben bezieh.: S2 = X sec α2 und S3 = X sec α3. Für
den Stab 5 erhält man aus der Bedingung S5 + S2 sin α2S3 sin α3 = 0 den
Werth: S5 = — X (tg α2 — tg α3). In gleicher Weise werden die S für alle
übrigen Bogenglieder und für die senkrechten Stäbe 4 bis 4′ berechnet.
*)
Die Stäbe 1, 2, 3, 3′, 2′, 1′, 9, 12, 13, 16, 17, 20, 17′, 16′, 13′, 12′, 9′
werden gezogen, die übrigen gedrückt.
*)
Die Spannkräfte S' sind, links von der Mitte, negativ (Drücke) für
die Stäbe: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 12, 13, 16, 17, 20, 21, 24, 25 und positiv
(Züge) für die Stäbe: 10, 11, 14, 15, 18, 19, 22, 23.
**)
Weitere Anwendungen der Gleich. 23 finden sich in des Verfassers
Abhandlung: „Beitrag zur Theorie des Fachwerks“ in der Zeitschrift
des Architekten- u. Ing.-Vereins zu Hannover. 1885, Heft 5.
*)
Der Horizontalschub in Folge einer gleichmässigen Erhöhung der An-
fangstemperatur um t wird, nach § 3, Seite 13,
.
*)
Weiteres über die praktische Berechnung von Bogenträgern (u. a. ein
ausführliches Zahlenbeispiel) findet sich in der Abhandlung:
Müller-Breslau, Vereinfachung der Theorie der statisch unbestimm-
ten Bogenträger, in der Zeitschrift des Architekten- u. Ing.-Vereins zu
Hannover, 1884. S. 575.
Sonderabdrücke dieser Abhandlung sind von Schmorl \& von Seefeld,
Buchhandlung in Hannover, zu beziehen.
*)
Dass A ein Minimum und nicht ein Maximum wird, lehrt die Unter-
suchung des zweiten Differentialquotienten. Es ist
und , also positiv.
*)
Es ist , also positiv.
*)
Um die Richtigkeit des letzten Gliedes dieses Ausdruckes einzusehen‘
betrachte man ein Kräftepaar, dessen Moment M = Q e
ist und welches an einem sich um den Punkt D
drehenden, beliebigen Systeme materieller Punkte
angreift. Bedeuten c und c + e die Lothe von D
auf die Kräfte Q, und ist τ der im Sinne von M ge-
messene Drehungswinkel, so ist die virtuelle Arbeit der
Kräfte Q:
Figure 39. Fig. 45.
*)
Es stimmt diese Annahme mit der bekannten Voraussetzung Navier’s
überein, dass ursprünglich ebene Querschnitte des Stabes auch nach der Biegung
Ebenen sind. Die Zuverlässigkeit der Navier’schen Methode ist durch die
Arbeiten von Saint-Venant (in Liouville’s Journal 1856), Kirchhoff (in
Crelle’s Journal 1859) und namentlich von Pochhammer (in dessen Werke
über das Gleichgewicht des elastischen Stabes, Kiel, 1879) nachgewiesen worden.
*)
Es ist dies nur dann streng richtig, wenn alle Krahntheile durch
reibungslose Gelenke miteinander befestigt werden, was oben vorausgesetzt wird.
*)
Δt = t1t2, wobei t1 = Temperaturänderung für den untersten, t2 desgl.
für den obersten Punkt des Querschnittes.
*)
Bei gleichmässiger Erwärmung von Stange und Bogen ist der un-
belastete Träger spannungslos. Es ist zu empfehlen, einen Unterschied der
Temperaturen von Bogen und Stange von t = ± 10° bis ± 15° Cels. in Rech-
nung zu stellen.
**)
Die von abhängigen Glieder der Ausdrücke μ' und μ'' dürfen in
der Regel vernachlässigt werden.
*)
Die für die senkrechten Auflagerdrücke A und B abgeleiteten Aus-
drücke stimmen mit denen eines wagerechten, an beiden Enden eingespannten,
durch eine senkrechte Last P beanspruchten Balkens überein und bleiben auch
bei fehlendem Scheitelgelenke S giltig, wie der Verfasser in der Abhandlung:
„Elasticitätstheorie der Tonnengewölbe“, Zeitschrift für Bauwesen 1881, nach-
gewiesen hat. Besonders wichtig ist, dass die Form des (symmetrischen) Bogens
gleichgiltig ist.
*)
Nach einem bekannten Satze der Variationsrechnung dürfen die Zeichen
d und Δ vertauscht werden.
*)
Die Differentialgleichung einer Seillinie mit dem Horizontalzuge H und
der Belastungsordinate z ist, bezogen auf rechtwinklige Koordinaten (y x):
.
*)
Geht man zur Grenze über, indem man λ durch dx ersetzt, so wird
, und es folgt, wenn die
Einzellast wm durch das Element zdx einer Belastungsfläche ersetzt wird,
genau wie früher die Ordinate .
*)
Bezüglich der Einheiten ist zu betonen, dass sowohl die Werthe ω und
w als auch die Polentfernung 𝕳 Momente vorstellen.
*)
Die auf A1B1 wirkende Einzellast Δϑ erzeugt die Auflagerwiderstände
(bei A1) und (bei B1) und die Biegungsmomente x (bei x)
und x' (bei x').
*)
Bei B und C sind keine Gelenke angeordnet, die einzelnen Bögen sind
vielmehr über den Auflagern fest mit einander verbunden. Ein besonderer
Fall dieses Bogenträgers ist der bekannte Gerber’sche Balken (auch kon-
tinuirlicher Gelenkträger genannt).
*)
In Fig. 92 wurden die nach Gleich. 64 zu berechnenden Werthe w3
bis w5, w10 bis w12 und w17 und w18 positiv (d. h. abwärts gerichtet), die
übrigen w hingegen negativ angenommen.
*)
Wir wählen das deutsche Wort Stabwerk (an Stelle von Stabsystem)
mit Rücksicht auf die für besondere Fälle desselben geläufigen Benennungen:
Fachwerk, Netzwerk, Gitterwerk.
*)
Unter einem Kräftepaare „Eins“ wird ein solches verstanden, dessen
Moment gleich „Eins“ ist.
*)
Beim Vergleiche von Drehungen und Verschiebungen hat man sich
erstere mit der Längeneinheit multiplicirt zu denken. Die Strecke 1 · τ ist ein
Kreisbogen, dessen Radius = 1 und dessen Centriwinkel = τ ist.
*)
Vergl. Seite 43 und 44.
*)
Eine andere Ableitung der Formel X = findet sich bei Müller-
Breslau
, Theorie und Berechnung der eisernen Bogenbrücken, Berlin 1880,
Seite 31.
*)
Da E J δ als Biegungsmoment aufgefasst werden darf, so lässt sich
E J τ = E J als Querkraft (Vertikalkraft) deuten. Es folgt dann (Fig. 100):
E J τ = (B) und ebenso E J τ' = (A).
*)
Wir schreiben jetzt d s an Stelle von d x.
*)
Da Fachwerkstäbe nicht vorkommen, so fallen die Glieder Σ in Gleich. 82
fort; ferner ist, wegen der hier vorausgesetzten gleichmässigen Erwärmung
Δ t = 0 und t0 = t zu setzen.
*)
Wenn der Querschnitt nicht sehr stark veränderlich ist, ist es auch
zulässig, für J' (wenigstens innerhalb der einzelnen Oeffnungen) einen kon-
stanten Mittelwerth zu setzen.
*)
In den für die Spannkräfte S gefundenen Ausdrücken ist die Unbekannte
X'' nicht enthalten.
**)
Jc bedeutet, wie früher, ein beliebiges, konstantes Trägheitsmoment.
*)
Es bedeutet, wie in Aufgabe 1, Fc den konstanten Mittelwerth aus den
veränderlichen Werthen F sec φ, wobei F = Querschnitt des Bogens an der
Stelle x.
*)
In den Gleichungen XIII dürfen die von N' und N'' abhängigen Glieder
stets vernachlässigt werden.
**)
Es ist hierbei die Dehnung der Stücke E1L und T E2 der Kette ver-
nachlässigt worden.
*)
Vergl. Seite 62 und 63.
*)
Die Gleichungen (85) lassen sich auch mit Hilfe der im § 19 aufgestellten
Gesetze ableiten.
*)
Bei flachen Bögen ist genügend genau F' = dem Mittelwerthe von F.
*)
Weiteres über kontinuirliche Bogenträger enthält eine Abhandlung des
Verfassers im „Wochenblatte für Architekten und Ingenieure, 1884“.
*)
Man kann hierfür auch die Annahme machen, dass zwei unendlich nahe
Querschnitte in Folge der Biegung gleich gekrümmt werden und die Stabachse
unter gleichen Winkeln schneiden.
*)
Bei der Berechnung ungleichmässig erwärmter Bogenträger ist die
Näherungsformel schon deshalb am Platze, weil das Gesetz, welchem t folgt,
sich nie scharf angeben lässt.
*)
Man gelangt auch zur Gleich. 102 durch die Erwägung, dass die Kräfte
S = σ d F (Fig. 43) eine in die Halbirungslinie des Winkels (— d φ) fallende
Mittelkraft besitzen, dass ihnen also die virtuelle Formänderungsarbeit
entspricht.
*)
Einer Differentialgleichung entspricht das
Integral: .
*)
Ist der Stabquerschnitt kein Kreis, so tritt nach Saint-Venant (Comptes
rendus 1879, Band 88, Seite 144) an die Stelle von Jp der Werth , wobei,
genügend genau, x = 40 gesetzt werden darf.
*)
Vergl. Grashof, Theorie der Elasticität und Festigkeit. Berlin 1878,
Seite 296.
*)
Führt man in Gleich. 142 die wirklichen Werthe von εx, εy, εz, γx, γy,
γz ein, so erhält man für den Zustand t = 0: Σ P δ + Σ C Δ c = Av = 2 A.
Bezeichnet man also mit Q irgend eine äussere Kraft und mit r die Ver-
schiebung ihres Angriffspunktes im Sinne von Q, so besteht die Beziehung:
½ Σ Q r = A,
welche das Clapeyron’sche Gesetz heisst.
*)
Die Arbeit Σ S Δ s, welche man aus den Aenderungen der Stablängen
berechnen kann, ohne die anfänglichen und schliesslichen Lagen der Knoten-
*)
punkte zu kennen, wird auch die virtuelle Formänderungsarbeit des
Fachwerks genannt.
*)
Bei unstetigen Spannungen muss der Körper in Theile zerlegt werden,
innerhalb welcher alle Spannungen stetig sind; die Werthe d Av werden für
die einzelnen Theile gesondert integrirt und schliesslich addirt.
*)
Mém. de l’acad. des sciences 1827, Seite 388.
**)
Vergl. die Anmerkung auf Seite 175 dieses Buches.
***)
1874—1875.
*)
Wir können nicht umhin, an dieser Stelle ein abfälliges Urtheil zu
erwähnen, welches Herr Prof. Mohr in der Schrift: Beitrag zur Theorie
des Fachwerks
(im Civil-Ingenieur 1885) über die Castigliano’schen Sätze
ausspricht, und das sich auf die Behauptung stützt, es sei, obgleich zu rich-
tigen Ergebnissen führend, bei der Anwendung jener Sätze ein Irrthum, die
statisch nicht bestimmbaren Grössen X als die unabhängigen Veränderlichen
der Arbeit A aufzufassen, woraus dann u. A. gefolgert wird, es führe der —
zwar als richtig anerkannte — Satz: δ = bei einem statisch unbestimm-
ten Fachwerke nicht zum Ziele.
Dabei hat Herr Mohr einmal übersehen, dass man, falls A auf das ganze
Fachwerk bezogen wird, und die X als Funktionen der Lasten aufgefasst wer-
den sollen, nur nöthig hat, bei der Ausführung der Differentiation die Be-
dingungen, denen die X genügen müssen und die auf verschiedenen Wegen
gewonnen werden können, zu berücksichtigen, um sofort zu erkennen, dass der
Werth δ von den nach P gebildeten Differentialquotienten der Grössen X unab-
hängig ist; sodann aber scheint Herrn Mohr entgangen zu sein, dass der frag-
liche Satz für jeden beliebigen Theil des Fachwerks giltig ist, beispielsweise für
das statisch bestimmte Hauptnetz, an dem die Spannkräfte in den überzähligen
Stäben als äussere Kräfte anzubringen sind. Betrachtet man nun zunächst
den allgemeineren Fall, in welchem sämmtliche überzähligen Stabkräfte
und Auflagerkräfte Xwillkürliche, d. h. unabhängig veränderliche
Werthe besitzen und stellt mit Hilfe des Satzes δ = die Verschiebungen
der Knotenpunkte als Funktionen der Spannkräfte in den nothwendigen
Stäben dar, so erhält man für diese Verschiebungen Ausdrücke, welche für
alle endlichen Werthe der Kräfte X giltig sind, in die mithin auch diejenigen
besonderen Werthe X eingesetzt werden dürfen, die sich aus den Bedingungen
ergeben, an welche einzelne der dargestellten Verschiebungen gebunden sind.
Auf diese Weise gelangt man gleichzeitig — und zwar lediglich mit Hilfe
des Satzes δ = — zu den Elasticitätsgleichungen und zu den gesuchten
Verschiebungen; erstere lassen sich, falls die Auflagerkräfte bei der Form-
änderung keine Arbeit leisten, auch in dem Satze zusammenfassen: es müssen
die Grössen X die Formänderungsarbeit des Hauptnetzes, vermehrt um die
auf die überzähligen Stäbe sich beziehende Arbeit: , zu einem Minimum
machen. — In unserem Buche zogen wir es vor, beide Sätze Castigliano’s aus
einer allgemeineren Arbeitsgleichung zu folgern; vergl. § 12.
**)
Man sehe auch: Comptes rendus, 1884, S. 174.
*)
Vergl. Fuss, Correspondance mathématique et physique, Tome II,
S. 457, 507, 533.
*)
In den Abhandlungen 13 bis 19 werden die Einflusslinien für die je-
weiligen statisch nicht bestimmbaren Grössen (in ähnlicher Weise wie im vor-
liegenden Buche) als Momentenpolygone einfacher Balken dargestellt.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq5b.0